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Otto Liebmonn
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KANT-
STUDIEN.
PHILOSOPHISCHE ZEITSCHRIFT
UNTER MITWIRKUNG VON
E. ADICKES, E. BOUTROUX, J. E. CREIGHTON,
W. DILTHEY, B. ERDMANN, R. EUCKEN, P. MENZER, A. RIEHL,
F. TOCCO. W. WINDELBAND
UND MIT UNTERSTÜTZUNG DER .KANTGESELLSCHAFT"
HERAUSGEGEBEN VON
Dß HANS VAIHINGER und D^ BRUNO BAUCH
PKOFESSOE IN TTAT.T.K PROFESSOK IN HALLE.
1 (
BERLIN,
VERLAG VON REUTHER & REICHARD
1910.
WILLLAM8 4 NORGATE, LEMCKE & BUECHNEB,
LONDON. NEW YORK.
H. LE SOUDIER, CARLO CLAUSEN,
PARIS. TORINO.
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K
SO
INHALT.
Seite
An Otto Liebmann. 2 Sonnette von WalterKinkel . . i
Otto Liebmanns Philosophie. Von Wilhelm Windelband, in
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. Von Erich Adickes. i
Otto Liebmanns Kampf mit dem Empirismus. Von Hugo
Falkenheim 53
Das Verhältnis von Philosophie und Mathematik nach Lieb-
mann. Von Walter Kinkel 54
Otto Liebmanns Lehre vom Organismus. Von Hans Driesch 86
Zu Liebmanns Kritik der Lehre vom psychophysischen Pa-
rallelismus. Von Richard Hönigswald .... 94
Kritizismus und Naturphilosophie bei Otto Liebmann. Von
Bruno Bauch iiö
Otto Liebmann als Dichter. Von Fritz Medicus .... 139
Der idealistische Begriff des Subjekts. Von Oswald
Weidenbach 152
Carlo CantonI zum Gedächtnis. Von H. Dreyer .... 179
Kants Antinomien und das Wesen des Unendlichen. Von
K. Geissler 195
Die Grundfragen der Ästhetik unter kritischer Zugrundelegung
von Kants Kritik der Urteilskraft. Von Prof. Dr.
R. V. Schubert-Soldern 233
Das Wertsystem Hegels und die entwertete Persönlichkeit.
Von M. Rubinstein 263
August Stadler, geb. am 24. August 1850, gest. am 16. Mai
1910. Ein Nachruf. Von Hermann Cohen ... 404
Die deutsche Philosophie Im Jahre 1909. Von 0. Ewald 421
Zur Methode der Philosophiegeschichte. Von N. Hartmann 459
Kant und Fries. Von W. Reinecke 486
Rezensionen :
Windelband. Wilhelm, Die Philosophie im Geistesleben des
XIX. Jahrhunderts. Von Oskar Ewald 270
Becher, Erich, Philosophische Voraussetzungen der exakten
Naturwissenschaften. Von Friedrich Kuntze .... 271
ly Inhalt.
Seite
Drews, Arthur, Eduard von Hartmanns philosophisches System
im Grundriss. Von Franz Erhardt 278
Lasswi'tz, Kurd, Seelen und Ziele. Von Bruno Bauch . . 283
Rehmke, Johannes, Philosophie als Grundwissenschaft. Von
Hugo Bergmann 285
Uphues, Goswln, Erkenntniskritische Logik. Von Hugo
Bergmann • 292
del Vecchio, Gorgio, II concetto della natura e il principio
del diritto. Von Hans Reichel 294
— Su la teoria del contratto sociale. Von Hans Reichel . 296
Kern, Berthold, Das Erkenntnisproblem und seine kritische
Lösung. Von Julius Schultz 297
Arnim, Bäumker, Goldziher, Grube, Inouye. Oldenberg,
Windelband, VVundt, AUg. Geschichte der Philosophie
(Kultur der Gegenwart I, 5). Von G. Jacoby 299
Richter, R., Einführung in die Philosophie. Von Erich Becher 301
Sidgwick, Henry, Die Methoden der Ethik. Bd. H. Von
Brich Becher 303
Verworn, M., Die Mechanik des Geisteslebens. Von Erich
Becher 305
Busse, L., Die Weltanschauungen der grossen Philosophen der
Neuzeit. Von Erich Becher 306
Wittmann, M., Die Grundtragen der Ethik. Von Erich
Becher 307
Apel, Max, Kommentar zu Kants Prolegomena. Von A. Rüge 308
Levy, Heinrich, Kants Lehre vom Schematismus der reinen
Verstandesbegriffe. Von A. Lewkowitz 310
Messer, August, Empfindung und Denken, Von K. Oester reich 312
Scholz, Heinrich, Christentum und Wissenschaft in Schleier-
machers Glaubenslehre. Von Eduard Spranger ... 314
Meumann, Ernst, Intelligenz und Wille. VonK. Oesterreich 316
Welssfeld, M., Kants Gesellschaftslehre. Von K. Oesterreich 318
Engel, B. C, Schiller als Denker. Von G. Lasso n . . . . 319
Mlchaltschew, D., Philosophische Studien. Von S. Hessen . 326
Hönlgswald, Richard, Über die Lehre Humes von der Reali-
tät der Aussendinge. Von PaulWüst 331
Lorenz, Paul, Lessings Philosophie. Von JosefKremer . 341
Keyserling, Hermann, Graf, Unsterblichkeit. Eine Kritik
der Beziehungen zwischen Naturgeschehen und mensch-
licher Vorstellungswelt. Von HermannMaas . . . . 343
Moeller. van den Brück, Die Deutschen. IV. Bd. Von H.Maas 349
— Dasselbe. VL Bd. Von H. Maas 350
Arndt, E., Das Verhältnis der Verstandeserkenntnis zur sinn-
lichen in der vorsokratischen Philosophie. VonM. Wundt 351
Flnckh, Theodor, Lehrbuch der philosophischen Propädeutik.
Von A. Rausch 353
Hoffmann, K., Die Umbildung der Kantischen Lehre vom
Genie in Schellings System des transscendentalen Idealis-
mus. Von E. Fuchs 365
Kinkel, Walter. Der Huraanitätsgedanke. Betrachtungen zur
Beförderung der Humanität. Von Johannes Paulsen . 356
Richter, R., Friedrich Nietzsche, sein Leben und sein Werk.
Von 0. Braun 357
Inhalt. V
Seite
Wagner, G. Fr., Encyklopädisches Register zu Schopenhauers
Werken. Von Fritz Ohmann 358
Nelson, Leonhard, Über das sogenannte Erkenntnisproblem.
Von F. Ohmann '^^^
Weichelt, Hans, Friedrich Nietzsche, „Also sprach Zarathustra"
erklärt und gewürdigt. Von F. Oh mann 363
Rausch, Alfred, Elemente der Philosophie. Von Paul
Schwartzkopff 364
Marcus, Ernst, Die Elementarlehre zur allgemeinen Logik
und die Grundzüge der transscendentalen Logik. Von
A. Jacobs 365
Fischer, Kuno, Immanuel Kant und seine Lehre. Von
Bruno Bauch *99
Storring, G., Einführung in die Erkenntnistheorie. Von
Erich Becher 501
Volkmann, Paul, Erkenntnistheoretische Grundzüge der Natur-
wissenschaft. Von Erich Becher . ' . 506
Wundt, W., Einleitung in die Philosophie. Von Erich
Becher 508
Ach, N., Über den Willensakt und das Temperament. Von
A. Messer 509
Förster, Fr. W., Autorität und Freiheit. Von P. Messer-
Platz 509
Ledere, A., L'education morale rationelle. Von A. Buchenau 511
Stöhr, A., Der Begriff des Lebens. Von B. Kern .... 512
Pichler, Hans, Die Erkennbarkeit der Gegenstände.
Derselbe, Über Christian Wolffs Ontologie. Von A. Levy . 513
Eucken, Rudolf, Der Sinn und Wert des Lebens. Von
0. Braun , 515
Theophrastos, Charakterbilder, Piaton, Verteidigung des So-
krates. Deutscli von A. und E. Horneffer. Von Otto
Braun 515
Krieck, E., Persönlichkeit und Kultur. Von O.Braun. . . 516
Kühnemann, Eugen, Schillers philosophische Schriften und
Gedichte. Von B. C. Engel 517
Janssen, Otto, Das Wesen der Gesetzesbildung. Von H.
Bergmannn ''l'
Switalski, W., Der Wahrheitsbegriff des Pragmatismus nach
William James. Von A. Liebert 520
Montgomery, Edm.. Philosophical Problems in the light of
vital Organisation. Von FritzOhmann 524
V. Schultze-Gäyernitz,G., Marx oder Kant? VonA, Salomon 525
Goldschmidt, L., Zur Wiedererweckung Kantischer Lehre.
Von Joh. Paulsen 52o
Braun, Otto, Schellings geistige Wandlungen in den Jahren
1800—1810. Von L. Sautreaux 527
Selbstanzeigen:
Wentscher, Der Wille. S. 369. — Bauch, Das Substanz-
problem in der griechischen Philosophie bis zur Blütezeit.
S. 371. — Görland, Mein Weg zur Religion. S. 371. —
Werner, Aristote et l'idöalisme platonicien. S. 371. — Sadee,
VI Inhalt.
Seite
Schiller als Realist. S. 372. — Lewkowitz, Hegels Ästhetik.
S. 372. — Dorner, Enzyklopädie der Philosophie. S. 373. —
Graue, Wegweiser zur Selbstgewissheit der sittlichen Persön-
lichkeit. S. 375. — Leclfere, Pragmatisme, Modernisme, Pro-
testantisme. S. 376. — Stern, Das Denken und sein Gegen-
stand. S. 376. — Eilers, Das Bedürfnis des Gebildeten nach
einer Weltanschauung. vS. 377. — Müller, Kraft und Stoff,
S. 378. — Cyon, Dieu et Science. 8.378. — von der Pfordten,
Konformismus. S. 379. — Schmitt, Die unendlichen Modi
bei Spinoza. S. 380. — Eckertz, Nietzsche als Künstler.
S. 380. — Eber, Hegels Ethik. S. 881. — Gross, Kant-
Laien-Brevier. S. 382; — Gross, „Form'' und „Materie" des
Erkennens in der tr. Ästhetik. S. 383. — Enriques, Probleme
der Wissenschaft. S. 384. — Rein hold, Machs Erkenntnis-
theorie. S. 384. — Falkenheim-Fischer, System der Logik
und Metaphysik oder Wissenschaftslehre. S. 385. — Mühle-
thaler, Die Mystik bei Schopenhauer. S. 386. — Frost,
Naturphilosophie. S. ,386. — Pötschel, J. S. Beck und Kant.
S. 387. — Alberti, Die Grundlagen des Systems Spinozas,
S. 388. — Lowtzky, Studien zur Erkenntnistheorie. S, 389.
H ab erlin, Wissenschaft und Philosophie. S. 531. — Wer-
nicke, Die Begründung des deutschen Idealismus durch Im-
manuel Kant. S. 531. — Katzer, Luther und Kant. S. 532.
— V. Keyserling, Prolegomena zur Naturphilosophie. S. 532.
— Neumark, Geschichte der jüdischen Philosophie des
Mittelalters. S. 533. — Janssen, Das Wesen der Gesetzes-
bildung. S. 534. — Lorenz, Lessings Philosophie. S. 534.
— Haering, Der Duisburgscbe Nachlass und Kants Kritizis-
mus. S. 534. — Ledere, La vanitö de l'experience reli-
gieuse. S. 535. — Grat er, Neu-Christentum. S. 536. —
Slun, Englands Schutz durch den Aussenhandel, S. 536. —
Krieck, Persönlichkeit und Kultur. S. 536. — Forsyth,
English Philosophy. S. 538.
Entgegnung von W. Kinkel. S. 539. — Duplik von J. Paulsen.
S. 540. — Erklärung von F. Wagner. S. 540. — Erwiderung
von F. Ohmann. S, 541.
Mitteilungen :
Jahresbericht und Mitgliederverzeichnis der Kantgesellschaft
für das .Tahr 1909. Mit einer Vorbemerkung von H, Vai-
hinger 163
Eine neue Ausgabe der Kr, d. r. V. S. 390. — Erklärung. Von
H. Scheinert. S. 390, — Entgegnung von F. Spranger, S. 391. —
IV. Internationaler Kongress für Philosophie. S. 391. — Karl
Gebert f. S. 392.
K.autgesellscliaft. A. Neueingetretene Jahresmitgl. f.d. Jahr 1910 393
„ B. Neuangemeldete Mitglieder f. d. Jahr 1911 394
Fünftes Preisausschreiben der Kantgesellschaft 395
Die ersten sechs Jahre der Kantgesellschaft. Bericht von
H. Vaihinger 399
Untersuchung von Kants Schädel gemäss Galls Lehre durch
Dr. W. Kelch, mitgeteilt und eingeleitet von E. v. Lipp-
mann 542
IV. Internationaler Kongress für Philosophie 545
Inhalt. VII
Reite
KantgesellBChaft :
Drittes Preisaiis^iclneiben der Kantgesellschaft 547
Xeiieingetretene Jahresmitglieder für das Jahr 1910 .... 550
Neuangemeldete Mitglieder für das .Jahr 1911 551
Mitteilung 552
Ein von Kant an Jacobi geschenktes Porträt. Von H. Vaihinger 553
Vom Autographenmarkt 553
Register:
Sach-Register • 654
Personen-Register 559
Besprochene Kantische Schriften 561
Verfasser besprochener Novitäten 562
Verzeichnis der Mitarbeiter 563
«
An Otto Liebmann.
Von Walter Kinkel.
I.
Wer lehrt das Herz, den rechten We^ zu finden?
Von Leid zu Lust, von Lust zu Leid getragen,
Erwacht der Mensch aus dumpfen Kindheitstagen
Und sieht verwundert Stund' um Stunde schwinden.
Vergeblich sucht er Wechselndes zu binden:
Das Schicksal achtet nicht sein bittres Klagen.
Da stirbt gemach des Einen Hoffen, Wagen,
Wie des Genusses Fesseln ihn umwinden;
Sein Ich verweht wie nächtlich dunkle Schatten —
Der Andre aber fühlt den Mut sich heben;
Er mag sich nicht der Macht der Zeit ergeben,
Und will auch endlich seine Kraft ermatten,
Er lässt nicht ab zu ringen, suchen, streben, —
Weltheimweh führt ihn fort zu ewgem Leben,
iL
Weltheimweh hat auch Dir das Herz entzündet:
Und in des Tages wechselnden Gestalten
Empfandest Du ein unverbrüchlich Walten,
Das sich dem Geist in stillen Stunden kündet
Und so, der Menschheit reinstem Trieb verbündet,
Hast Du die Sehnsucht ewig wach gehalten
Und hast uns so, im Neuen wie im Alten,
Manch ernst Geheimnis klaren Blicks ergründet.
Und wie in Dir die Seele jung geblieben,
Entfachtest Du in Deiner Schüler Scharen
Den Drang zum Schönen und den Trieb zum Wahren,
Und lehrtest sie des Forschens Mühe lieben:
An ihrem Danke magst Du's heut erfahren,
Dass nicht vergeblich Deine Werke waren.
AX-
Otto Liebmanns Philosophie.
Von Wilhelm Windelband.
Man könnte Liebmann den treuesten aller Kantianer nennen.
Er ist einer der Ersten gewesen, die mit eindrucksvoller Energie
auf den vergessenen Kritizismus zurückwiesen: er hat dann red-
lich daran gearbeitet, die besten und höchsten Ergebnisse der
Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts, vor allem der Natur-
forschung unter Kants philososophische Gesichtspunkte zu rücken
und in die grossen Linien seiner Weltanschauung einzufügen : und
er hat dabei so streng wie kein anderer diese Linien eingehalten
und immer wieder mit fester Hand ihr unverrückbares Grundgefüge
gezeichnet.
Als sein erstes Buch „Kant und die Epigonen" erschien
(1865), da sassen auf den Kathedern noch die Schüler von Kants
metaphysischen Nachfolgern, und ihre Diskussionen erfüllten die
zünftige Literatur: aber das Interesse der gebildeten Welt war
ihren Systemen entfremdet; statt ihrer hatte die naturwissen-
schaftliche Denkart sich ausgebreitet und, aller kritischen Vorsicht
ledig, ihren naiven Materialismus zum metaphysischen Dogma er-
hoben. Gegen beide Fronten war es gerichtet, wenn Liebmann
mit jedem Kapitel seines frischen und schneidigen Büchleins auf
das Ceterum censeo kam : also muss auf Kant zurückgegangen
werden.
Aber freilich, Kant musste erst wieder entdeckt werden; ja,
Liebmann musste ihn selbst erst für sich selbst entdecken! Denn
ein klein wenig lag damals auch für ihn noch über Kants Bilde
der Schleier, den dereinst Reinholds, von den Kantianern der
Schule angenommene, Missdeutuug darüber geworfen hatte. Es
war die Auffassung der kritischen Erkenntnistheorie, wonach alle
IV W. Windelband,
Weltvorstellung- als eine rätselhafte Funktion zwischen einem un-
bekannten An-sich des Objekts und einem ebenso unbekannten
An-sich des Subjekts schweben sollte, von jenem nach ihrem In-
halt, von diesem nach ihrer Form bestimmt. Diese Auffassungs-
weise hatte den Naturforschern bei ihrer Theorie der Sinneswahr-
nehmung gelegen, und die letztere hat deshalb das Feld gebildet,
auf dem eine Zeitlang Naturforschung und Kantische Philosophie
zusammenarbeiten zu können glauben durften. Von hier ist auch
Liebmann ausgegangen. Als der Tübinger Privatdozent seine
Untersuchung „Über den objektiven Anblick" herausgab (1869),
wandelte er die Wege, die Schopenhauer und Helmholtz gebahnt
hatten. Mit ihnen setzte er neben den sensualeu Faktor der
Wahrnehmung den intellektuellen, zu dem letzteren rechnete er
ausser den Anschauungen Raum und Zeit von den Kategorien
nicht nur die Kausalität, sondern auch sehr richtig die Subsistenz:
aber er war dem wahren Sinn der transscendentalen Analytik
schon damals auf der Spur, wenn er unter dem dritten, dem
„transscendenten" Faktor die überempirische Notwendigkeit ver-
stand, die zwischen den beiden andern so besteht, dass erst aus
ihr sich das ergiebt, was wir „Existenz", Wirklichkeit im Sinne
des transscendentalen Idealismus nennen dürfen. Gerade in der
Art, wie Liebmann hier den landläufigen, Jacobi-Reinholdschen
Begriff des „Diug-an-sich" mit Recht als völlig unbrauchbar be-
kämpft, kommen die Prinzipien des wahren Kant zu ihrem Rechte.
Darin, wie in der Kritik der Kategorienlehre, stand Liebmann
schon damals auf dem Staudpunkte, den er später dahin formuliert
hat, dass zwar viele, vielleicht alle einzelnen und buchstäblichen
Fassungen der bei Kant historisch bedingten Begriffe seiner Lehre
korrigiert werden müssen, dass aber der Geist der Transscendental-
philosophie unsterblich sei.
Diesen Geist galt es in der Folgezeit zu begreifen, zu be-
gründen, zu vertreten, zu verteidigen. Denn es kamen die Tage,
in denen gerade jene scheinbare Intimität zwischen der kritischen
Erkenntnistheorie und der Physiologie der Sinnesorgane und jener
Bund zwischen Kantianismus und Naturforschung, den Albert Langes
Geschichte des Materialismus inaugurierte, zu einer Ausdeutung
der Kantischen Lehre in Psychologismus und Relativismus führte.
Otto Liebmanns Philosophie. V
Die Philosophie sollte in Erkenntnistheorie und diese in ein tat-
sächliches Beschreiben des empirischen Wissens aufgehen. In
diesen Zeiten hat Liebmann auf dem Strassburger Katheder den
Kampf um den Geist der Transscendentalphilosophie gekämpft.
Wer ihm damals persönlich nahestand, der weiss, unter wie
schwierigen Verhältnissen, — er weiss aber auch, mit wie glück-
lichem Erfolge dieser Kampf geführt wurde. Es war eine grosse
Wirkung der Persönlichkeit. Eine Fülle des Wissens strömte in
seiner Eede, aber sie war stets zu lebendigster Anschaulichkeit
geformt. Und in diesem Wissen wühlte ein scharfer Grübelsinn,
um überall in die Tiefe zu graben. Unvermerkt fand der Zuhörer
das Selbstverständliche in ein Problem verwandelt, — nun tauchten
die Heroen des Denkens vor ihm auf, diö sich daran, ach ver-
gebens! gequält, — und zum Schlüsse ward aus der Sache selbst die
Einsicht in die Stelle gewonnen, an der alle menschliche Erkenntnis
halt machen muss. Diesen Zwang des kritischen Philosophierens,
den Liebmann auf seine Zuhörer ausübt, bezeugen Zug um Zug
die im Zusammenhange mit seinen ^Vorlesungen erwachsenen Ab-
handlungen, die er in der Schrift „Zur Analysis der Wirklichkeit"
(zuerst 1876) zu einem wohlgefügten Ganzen vereinigt hat. Es ist
eines der eigenartigsten Werke, in denen je ein Philosoph seine
Weltanschauung dargelegt hat. Da ist, so scheint es, keine Spur
von lehrhafter Gesamtdarstellung: jede Abhandlung stellt ihr
Sonderproblem und diskutiert es durch die ganze Fülle seiner
historischen Dialektik hindurch, um schliesslich an den Punkt zu
führen, an dem sich übersehen lässt, welche Fragen daran be-
antwortet sind, welche beantwortbar bleiben und welche niemals
beantwortet werden können: und höchstens will sich bei diesem
ersten Anblick aus diesen Einzelbetrachtungen schliesslich so etwas
wie ein Ganzes summieren. Wer aber genauer zuschaut, der findet,
dass alle diese Besonderheiten Teile eines organischen Ganzen
sind, die sich gegenseitig verlangen und bedingen und ein einheit-
liches Leben des Gedankens darstellen.
Nicht zufällig versuche ich damit den Eindruck von Liebmanns
Hauptwerk an dem Gegensatze mechanischen und organischen Zu-
sammenhanges zu veranschaulichen: denn keinem Problem ist er
selbst häufiger, vielseitiger, energischer zu Leibe gegangen, als
VI W. Windelband,
diesem Verhältnis. Das hängt offenbar damit zusammen, dass
er mit der Grundstruktur auch seiner eignen Erkenntnistheorie
immer bei der Kantischen Lehre von den Grundsätzen des
reinen Verstandes beharrt hat, die wesentlich auf die Recht-
fertigung der mathematisch -physikalischen Theorie hinauslaufen
und deshalb die mechanistische Erklärung aller Erscheinungen
nach den Gesetzen von Raum, Zeit und den Kategorien, insbe-
sondere der Substanz und der Kausalität, mit so ausschliesslicher
Bestimmtheit verlangen, dass eben damit der Organismus zum
Wunder in dieser Welt des Mechanismus wird. Zwar hat Lieb-
mann sich von dem architektonisch symmetrischen Aufbau des
Kantischen Kategorien- und Grundsätzesystems völlig frei gehalten;
aber auch hierin ist er dem Geiste der Transscendentalphilosophie
insofern durchaus treu geblieben, als er den Zweck nicht als
konstitutive Kategorie, wohl aber als eine vernunftnotwendige
und völlig unausweichliche Betrachtungsweise angesehen haben
will. Mit unermüdlichem Scharfsinn hat er immer wieder den
darwinistischen Theorien, wenn sie das Problem der Zweckmässig-
keit aus der Welt geschafft zu haben glaubten, ihre eigene, heim-
liche, ihnen selbst nicht klar gewordene Teleologie als ihre Voraus-
setzung nachgewiesen. Von verschiedenen Seiten her hat er gezeigt,
wie in der Weltauffassung neben dem platonischen Motiv, das von
der Ideenlehre zu dem Prinzip der Naturgesetzmässigkeit fort-
geschritten ist, das aristotelische Motiv der Entelechie unabweisbar
und unentbehrlich sei. Wenn ihm das Verhältnis zwischen beiden
als ein letztes, unlösbares Rätsel gilt, so weiss er sich auch darin
mit der Stellung Kants, wie sie in der Kritik der Urteilskraft aus-
gesprochen ist, im Prinzip völlig einverstanden. Aber indem er
das konstatiert, bemerkt er gelegentlich: „nur das könne dabei
fraglich bleiben, ob die Grenzen des menschlichen Erkenntnis-
vermögens wirklich genau an dem Orte liegen, wo Kant sie gezogen
hat". Was dies bedeutet, ist nicht schwer festzustellen. Kant
hat nicht nur die mechanische Erklärung der gestaltenden und
erhaltenden Vorgänge im einzelnen Organismus, sondern auch das
kühne Abenteuer des Archaeologen der Natur, der die ganze Reihe
der organischen Bildungen aus einer Urform mechanisch ableiten
wollte, wenigstens im Prinzip und dem regulativen Postulat nach
Otto Liebmanns Philosophie. VII
für möglich gehalten und nur die „ursprüngliche Organisation" als
schlechterdings unbegreiflich für das menschliche Denken angesehen :
Liebmann dagegen findet schon in dem „idiotypischen" Charakter
eines jeden Organismus und einer jeden Art das der mechanischen
Erklärung spottende Wunder der Zweckmässigkeit und Zielstrebig-
keit. Hier zieht also der Kantianer die Grenzen der menschlichen
Erkenntnis ein gut Stück enger als Kant selbst.
Das ist um so charakteristischer, als Liebmann das Bedürfnis
nach einer Lösung dieser Probleme so stark und lebhaft empfindet
als nur irgend einer. Und damit stehen wir unmittelbar vor der
Eigenart seiner intellektuellen Persönlichkeit, die sich eben damit
als durchaus kantisch bestimmt. Er besitzt im höchsten Grade
das metaphysische Bedürfnis, man könnte aitch von ihm sagen, er
sei ,.in die Metaphysik verliebt". Er verfügt dazu über den Ernst
der Betrachtung und die Schärfe des Verstandes, die dazu gehören,
um gerade in dem scheinbar Selbstverständlichen das Problem zu
entdecken, und er hat den Trieb und den Schwung der Phantasie,
die das Erkennen vom Einzelnen zum Ganzen hinaustreiben und
emporziehen: wer sich davon überzeugen will, der lese die Dichtungen,
die der Denker unter dem Titel ,. Weltwanderungen" veröffentlicht
hat. Aber er besitzt in gleich hohem Grade die Selbstbeherrschung
des Intellekts, die innere Disziplin, die den Erkenntnistrieb bändigt,
die niemals das Verlangen für ein Vollbringen nimmt, und damit
die Eesignation innerhalb der selbstgesetzten Schranken. Von
diesen Voraussetzungen her hat Liebmann seine ».kritische Meta-
physik" geschaffen. Ihre Grundlage und ihre Richtschnur bilden
die Gesetze des Intellekts, ohne die es nun und nimmermehr irgend
eine Theorie geben kann: als die Klimax der Theorien, als die
Arten der Notwendigkeit, als die Schichten des Apriori hat sie Lieb-
mann entwickelt. Ihre Geltung für alle Erfahrung ist ihm die all-
gemeinste und zugleich die gewisseste aller Tatsachen selbst, — er be-
zeichnet sie gern und glücklich als die „Logik der Tatsachen", aber
er hält in echt kritischem Sinne jeden Versuch, sie noch wieder zu
„begreifen", zu „erklären" oder dogmatisch- metaphysisch zu deuten
für aussichtslos. In dem Rahmen dieser generellen Notwendig-
keiten entspringen nun aber die sachlichen Wirklichkeiten, welche
die Probleme des metaphysischen Denkens bilden, so unentfliehbar
Vin W. Windelband,
und so gewichtig, so tief in unser ganzes Wesen greifend wie
ihre Erlebnisse selbst in ihrer Unmittelbarkeit. Niemals reicht
ihre Analyse bis an das Letzte ihrer Gegebenheit: aber darum ist
unsre Denkarbeit an ihnen doch nicht umsonst. Jedesmal zeigt
die Geschichte für diese immer wiederkehrenden Probleme ver-
schiedene, auch ihrerseits immer wiederkehrende Lösungsversuche.
Wir können feststellen, was darin nach den Tatsachen und ihrer
Logik als einwandfreies Ergebnis gewonnen worden ist — was
bei weiterem Wachstum unseres Wissens und seiner rechten Be-
arbeitung noch gewonnen werden kann — und andrerseits, was
der Natur der Sache nach unsrer Erkenntnis immer verborgen
bleiben wird und muss. Das ist die philosophische „Analysis der
Wirklichkeit", die kritische Metaphysik. Sie umfasst die Fragen
der Ethik und Ästhetik in gleicher Weise, wie diejenigen der
wissenschaftlichen Erkenntnis: in der Ausführung des Buches und
in den Fortsetzungen, welche dessen Untersuchungen in den beiden
Bänden „Gedanken und Tatsachen" (1882—1904) erfahren haben,
ist den Problemen der Werte zwar kein so grosser Umfang wie
denen des Seins und des Geschehens gewidmet, aber dafür in ge-
drängter, oft lapidarer Kürze aus einer ernsten und grossen
Lebensanschauung heraus ein reicher Ertrag begrifflicher Festigung
abgerungen worden.
Diese kritische Metaphysik scheidet Liebmaun scharf und
sicher von aller dogmatischen, alter und neuer. Die apodiktische
Wissenschaft vom Wesen der Dinge soll mit Kant ein für allemal
preisgegeben sein : die kritische Metaphysik will nichts sein als
„eine strenge Erörterung menschlicher Ansichten, menschlicher
Hypothesen über das AVesen der Dinge". Aber man würde sehr
irren, wenn man nach solchen Erklärungen Liebmanns Stellung
irgendwie in die Nähe relativistischer oder gar pragmatistischer
Auffassungsweisen rücken wollte. Die Hypothesen, die seine
Metaphysik diskutiert, beziehen sich auf die sachlichen Einzel-
probleme der Weltansicht, und die Kriterien, die dieser Diskussion
zu Grunde liegen, sind für ihn die aller Relativität überhobenen
notwendigen und ewigen Wahrheiten des Denkens und An-
schaueus. „Mit ihnen üben wir das Hausrecht unserer In-
telligenz" über alles aus, was je Inhalt unseres Bewusstseins
Otto Liebmanns Philosophie. IX
werden kanu. Und diese Grandstruktur alles Bewusstseins ist
für Liebmanu durchaus Kautisch: dazu gehören vor allem
die Notwendigkeiten räumlicher und zeitlicher Anschauung, ob-
wohl die interessanten und vielseitigen Grübeleien über das Zeit-
problem Liebmann an mehr als einem Punkte über den Kantischen
Horizont der Phänonienalität hinauszudrängen scheinen, dazu
gehört weiter die Identifikation des Prinzips der Kausalität mit dem
der Gesetzmässigkeit: auch Liebmann kennt kein anderes Kausal-
verhältnis als dasjenige, worin die Ursache der Wirkung ihr Dasein
in der Zeit nach einer allgemeinen Regel bestimmt.
Auch insofern bleibt diese kritische Metaphysik durchaus
Kantisch, als sie mit vollem Bewusstsein an den Grenzen mensch-
licher Erkenntnis stehen bleiben will. In beiden Fällen soll dieser
Anthropologismus freilich nicht bedeuten, dass sie auf die empirischen
Bestimmungen der menschlichen Spezies, auf ihre Bedürfnisse, Ge-
wohnheiten und Entwickelungen begründet, wohl aber, dass sie in
ihrer Geltung für unser Wissen darauf beschränkt sei. Auch
Liebmann bemerkt wohl gelegentlich, die (formal) logische Not-
wendigkeit habe absolute Gültigkeit für jedes vernünftig denkende
Wesen überhaupt, gleichviel ob dessen sonstige Geisteskonstitution
mit der unsrigen zusammen stimmt oder nicht: aber da aller Inhalt,
den wir damit denken können, in die „menschlichen" Anschauungen
von Raum und Zeit gebannt ist, so bleibt jene Möglichkeit völlig
unfruchtbar. Auch das „Bewusstsein überhaupt" fasst Liebmann
lediglich als logisches Subjekt und ebensowenig als überpersönliche
wie als individuelle Realität. Allen Spekulationen deshalb, die von
diesem Punkte aus den Bann des Kantischen Phänomenalismus zu
durchbrechen suchen, hält er die transscendale Ästhetik als den
Kernpunkt der kritischen Philosophie entgegen.
Das ist Liebmanns historische Stellung: zwischen der Scylla
des psychogeuetischen Empirismus und der Charybdis der neu-
idealistischen Metaphysik hat er mit fester Hand das Schiff des
Kritizismus hindurchgesteuert. Die Erneuerung des Kantianismus
ist zuerst auf den einen Seiten vveg geraten, sie ist jetzt im Be-
griffe, den andern einzuschlagen. Liebmann hat den Kurs Kant's
eingehalten, und er hat gezeigt, dass er zu einer kritischen Meta-
physik führt, — dass er nicht hängen zu bleiben braucht in einer
X W. Windelband, Otto Liebmanns Philosophie.
formalen Erkenntnistheorie, sondern dass die kritische Methode
eine lebendige und ertragreiche Bearbeitung aller inhaltlichen
Probleme der Weltanschauung nicht nur gestattet, sondern ver-
langt. Freilich muss man nicht darauf zählen, fertige Weisheit
lockend ausgebreitet zu finden, sondern gewillt sein, ernstlich
mitzudenken, und darauf gefasst, au den Grenzen der Menschheit
sich mit wohlerwogenem Verzicht zu bescheiden. Diese sachliche
Fülle, dieser anschauliche Reichtum bei allem Ernst und aller
Strenge der Gedankenführung sichert dem Liebmann'schen Kriti-
zismus seine dauernde Wirkung auf unser philosophiebedürftiges
Geschlecht. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass sich für
jüngere oder ältere Menschen, die aus modernen, praktischen oder
spezial\\assenschaftlichen Zuständen heraus Zugang zur Philosophie
suchten, nichts so wirksam, so anregend und lehrreich, so zum
Selbstdenken erziehend erwies als Liebmann's Bücher. Möchte er
in so intensiver Wirkung den reichen Lohn seiner edlen Gedanken-
arbeit noch lange geniessen!
Liebmann als Erkenntnistheoretiker.
(üntersuchiins-en zur Theorie der Apriorität, sowie über die Evidenz
der geometrischen Axiome.)
Von Erich Adickes.
I.
Als Liebmann 1865 die Parole: „Es muss auf Kaut zurück-
gegangen werden" ausgab, da trat er als Erkenntnistheoretiker
dem metaphysischen Dogmatismus entgegen. Tnd vorwiegend
Erkenntnistheoretiker, seinen Neigungen nach wie in der
Richtung seines Forschens, ist er auch weiterhin geblieben, seine
ganze wissenschaftliche Laufbahn hindurch.
Er selbst will sich jene Parole garnicht als persönliches Ver-
dienst angerechnet wissen: er habe mit ihr nur „einem Gedanken
präzisen Ausdruck verliehen, welcher damals sozusagen in der Luft
schwebte" (A. 231). M
Gewiss! wäre letzteres nicht der Fall gewesen, so hätte der
Gedanke nicht derart wirken können, wie er es tat. Aber dass
gerade Liebmann jene Parole ausgab, und zwar in so scharfer,
energischer Form: das war doch kein Zufall, es war in seineui
ganzen Geisteshabitus begründet. Kritik geübt war an den dog-
matischen Systemen auch schon vor ihm genug und übergenug.
Scharfsinnig hatte der eine des andern Schwächen erspäht, nur die
eigenen sah keiner. Jeder glaubte seine Vorgänger bündig wider-
legen zu können und war trotzdem überzeugt, seinerseits ein Ge-
bäude errichtet zu haben, das dem Sturm der Jahrtausende werde
widerstehen können. Fnd das, obwohl er doch auf derselben
Grundlage gebaut und dieselben Materialien benutzt hatte wie die
vor ihm. Aber so redet oder denkt eben der echte Metaphysiker:
1) Ich zitiere .,Zur Aualysis der Wirklichkeit" 3. Auflage als „A."; ..Ge-
danken und Tatsachen" Bd. I und II als „G. I", ..G. II"', „Kant und die
Epigonen" als „K.**, „Über den objektiven Anblick" als ..Ohj.", „Die Klimax
der Theorien" als „Kl.".
Kantstudien XV. 1
^ E. Adickes,
bis auf ihn nur eine Kette von Irrtümern, er aber bildet den
Wendepunkt der Zeiten als Inkarnation der ewigen Wahrheit. Und
dass andere ähnlich vermessen reden, stört ihn so wenig wie den
Offenbarungsgläubigen die Tatsache, dass auch andere Rehgionen
beanspruchen, Offenbarungen des lebendigen Gottes zu sein.
Und in die Mitte dieser metaphysischen Architekten tritt nun
Liebmann als echter Erkenntnistheoretiker und zeigt ihnen, dass
der Grund, auf dem sie bauen, überhaupt nicht fähig ist, Paläste der
Wissenschaft zu tragen, dass ihre Materialien gar nicht aus wirk-
lichen Quadern und Balken und Säulen bestehen, sondern nur aus
— Karten, und dass deshalb ihre sämtlichen Bauwerke nichts sind
als Kartenhäuser, die schon das leiseste Lüftchen erkenntnistheo-
retischer Kritik umbläst. Das eigentliche Thema der kritischen
Philosophie sieht er in der „Durchführung der Regel, dass die
menschliche Spekulation, bevor sie an grossartige, weitschauende
Gedankenkonstruktionen geht, sich erst darüber Rechenschaft geben
muss, wie weit ihre Kräfte reichen", in der „Beantwortung der
Frage: Was kann ich überhaupt erkennen?" (K. 10 — 11). In
konsequenter Entwicklung, ihren Prinzipien getreu, könnte die
kritische Philosophie niemals transscendent werden (K. 207). Denn
trausscendent ist „ein Problem, das die menschliche Fassungskraft
übersteigt", oder das, „wovon wir nichts wissen und nichts begreifen
können" (0. 129—30). Er fragt: „Wozu sollen wir in einem un-
möglichen Gebiete Probleme suchen, da uns auf dem wirklichen
zahllose fesseln? Immanente Probleme finden sich überall und
vermehren sich fortwährend, mit jedem Schritte, den die Forschung
der Erkenntnis gewinnt. Je grösser der Inhalt, desto weiter die
Grenze. Und das gilt nicht etwa bloss für die Empirie; nein,
für die Spekulation, die Philosophie. Wozu wollen wir also
weiter schweifen, da das Gute so nahe liegt?" (K. 208).
Dies „Gute" ist vor allem die Erkenntnistheorie: ihr blieb
er treu bis auf den heutigen Tag. Für sie war er praedestiniert,
insofern er alle die Eigenschaften, die den Erkenntnistheoretiker,
gleichsam als Typ betrachtet, charakterisieren, in reichem Masse
in sich vereinigt.
Lieb mann ist einer der grossen Frager, einer von denen, die
an der Aufstellung der Probleme nicht geringere — fast hätte ich
gesagt: noch grössere — Freude haben, als an ihrer Lösung.
Häufig stellt er die Prämissen zu einem transsceudenten Schluss
unmittelbar neben einander, ohne die Konklusion zu ziehen; manches
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 3
höchst wichtige Problem sucht er nur als Problem scharf und
treffend zu formulieren, lässt es dann aber ungelöst stehen, obwohl
eine konjekturale Lösung ganz nahe liegen würde: das letzte
Wort schwebt ihm zwar auf den Lippen, aber er spricht es
nicht aus. Es hindert ihn daran, wie er selbst sagt, „eine
gewisse Keserve, ja eine heilige Scheu. Denn der Philosoph, wenn
er kein Wahrsager ist, so sei er doch ein Wahrheitsager; und dazu
gehört, dass er nichts als gewiss behaupte, was er nicht gewiss
weiss'' (A. 12).
Ich wüsste keinen unter den modernen Philosophen, der es
Liebmann im scharfen Erfassen und klaren Herausarbeiten des
springenden Punktes zuvor täte, und dabei die grosse päda-
gogische Kunst in der Art, wie er den Leser vom Bekannten,
Alltäglichen aus in die Tiefe führt, wie er ihn im Selbstverständ-
lichen die verborgenen Schwierigkeiten finden lässt. Es geht eine
suggestive Kraft von seinen Erörterungen gerade der fundamentalen
erkenntnistheoretischen Probleme aus. Er zwingt, mit zu arbeiten,
mit zu bohren. Weshalb seine Schriften auch gerade zur Ein-
führung in die Philosophie so sehr geeignet sind! Bei manchem
naiven Realisten dürften die scharfen Pfeile seines Zweifels schon
das dreifache Erz des Dogmatismus durchbohrt haben.
Viel Fragen macht vorsichtig und kritisch, noch mehr aber
hat es Vorsicht und Kritik zur Voraussetzung. Beide Eigenschaften
sind bei Liebmann in hervorragendem Maasse ausgebildet. Mit ihnen
verbindet sich das Bedürfnis nach Selbstbesinnung, nach völliger
Klarheit über Art und Tragweite der getanen oder zu tuenden
Schritte. Daher überall sein energisches Dräugen auf strenge
Scheidung zwischen Gegebenem und Hinzugedachtem, zwischen Tat-
sachen und Deutungen, sein grosses Interesse an methodologischen
Erwägungen und vor allem an dem Grundproblem: der Frage nach
den Grenzen, dem Wahrheitswert und Gewissheitsgrad menschlichen
Erkennens.
Hier ist er unerbittlich: jeden Versuch einer wissenschaft-
lichen Metaphj'sik des Transscendenten schneidet er radikal ab,
Wissen giebt es nur von der Erfahrungswelt und ihren Bedingungen,
das Reich des ovTwg 6v bleibt dem subjektiven Glauben und Wähnen
des Einzelnen überlassen. Die Philosophie ist ihm wie Kant die
Wissenschaft von den Grenzen der Vernunft (A. 6). Die Hoffnung
auf Erreichbarkeit einer endgültigen philosophischen Weltdeduktion
hält er für vergeblich (A. 11). Immer wieder weist er auf das
4 E. Adickes,
nachdrücklichste auf die vielen, für immer unübersteigbaren „imma-
nenten Schranken der menschlichen Intelligenz" hin, „von welchen
der gedankenlose gewöhnliche Menschenverstand und das kurz-
sichtige Selbstvertrauen des dogmatischen Metaphysikers nichts
weiss oder wissen will" (A. 62; ferner 99, 112, 113, 160, 166,
194, G. II 35, 50, 89, 105—106 und sonst oft). Demütig und
bescheiden zieht er „um der reinen Wahrheit willen resignierenden
Zweifel der ausschweifenden Behauptung vor" (A. 113). Der echte
Metaphysiker dagegen „muss kategorisch sprechen, weil er die
endgültige Lösung des Welträtsels geben will; er kann nicht anders.
Er darf keinen Widerspruch, keinen Zweifel, kein Bedenken gelten
lassen; denn die vermeintliche Absolutheit seines Standpunktes ver-
bietes dies". In Wirklichkeit freilich handelt es sich in der dog-
matischen Metaphysik gar nicht um ,.ein objektiv begründbares
Wissen, sondern um einen Glauben, eine zwar sehr feste, aber
doch lediglich subjektive Überzeugung, genau so wie in der
Religion; um ein Credo, das sich der wissenschaftlichen Kritik
ohne weiteres entzieht, dessen Wahrheit nur nachempfunden, nach-
gefühlt, aber, ebenso wie die Schönheit eines Kunstwerks, nie streng
bewiesen werden kann" (Kl. 61/62, vgl. A. 251). Die Entscheidungs-
gründe sind auf diesem Gebiet subjektiver Art: „wo unsre strenge
Einsicht ein Ende hat, da pflegen ästhetische Neigungen und zum
Teil moralische Überzeugungen das letzte Gewicht in die Wag-
schale zu werfen" (A. 154). Ähnlich G. II 229-230 mit Bezug
auf den Gegensatz zwischen Theismus, Pantheismus und Atheismus:
wie man sich „den Hervorgang des Vielen aus dem Einen" denkt,
„das ist und bleibt sozusagen Sache des ästhetischen Geschmacks und
wird vielmehr durch Neigungen, Abneigungen, durch Phantasie- und
Gemütsbedürfnisse, als durch zwingende Vernunftgründe bestimmt".
Dogmatische Metaphysik giebt Liebmann also völlig preis.
Dagegen hält er fest an der Möglichkeit einer kritischen Meta-
physik im Sinn einer strengen Erörterung menschlicher Ansichten,
menschlicher Hypothesen über Wesen, Grund und Zusammenhang
der Dinge (Kl. 112, G. II 113).
II.
Fern von allem Dogmatismus ist Liebmann auch in seinem
Verhältnis zu Kant. Auf dessen orthodoxe Schüler nach Art
der Kiesewetter, Krug, Jäsche blickt er mit einer gewissen Ver-
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 5
achtung- herab, nicht ohne Grund. Von der Sucht mancher Moderner,
ä tout prix Anschluss bei Kant zu finden, ist er frei. Er miss-
braucht auch nicht, was heutzutage keine Seltenheit ist, die von
jenem geschaffenen Begriffe und Lehren, sie umprägend und mit
neuem Inhalt füllend, nur um sich auf sie berufen und unter des
Meisters Flagge segeln zu können. Kant ist ihm eine historische
Grösse: sein System erforschen und selbständig philosophieren sind
für ihn zwei verschiedene Dinge. Das geschichtliche Verständnis
Kants leidet nicht unter dem Bedüi-fuis nach aktueller Verwertung.
Einen wesentlichen Bestandteil Kantischen Denkens, die Lehre vom
Ding an sich, hat er sogar wiederholt auf das schärfste angegriffen,
viel schärfer, als sachlich und historisch berechtigt ist. Von seiner
Aualysis der Wirklichkeit sagt er (A. 232): Dies Werk nimmt „nicht
innerhalb, sondern ausserhalb der Kantischeü Autoritätssphäre seine
Stellung. Auf Grund eigener Untersuchungen trifft es in manchen
Punkten mit Kant zusammen, in manchen mit Piaton, mit Aris-
toteles oder Spinoza oder Locke, in anderen mit Niemand; und
nirgendwo, meines Wissens, gibt es sich irgendwelcher ungeprüften
Autorität dogmatisch gefangen". So redet echte Philosophie, der
es um die Sache, nicht um Dogmen oder Namen zu tun ist!
Kants Idee einer Transscendentalphilosophie rechnet Liebmann
zu den Ideen, „von denen ein vorher unbekannt gewesener, höherer
Standpunkt enthüllt und für immer festgestellt wird", „die, wenn
einmal ihre Konzeption gelungen ist, im Strom der Geschichte ruhig
feststehen, während Geschlecht auf Geschlecht an ihnen vorüber-
zieht". Solche „bahnbrechende und unvergängliche Konzeptionen"
sind zwar „der Ergänzung, Berichtigung und Umbildung fähig; sie
können von der Grundlage aus in verändertem Stil neu aufgebaut
werden; aber ihr wesentlicher Kerngedanke bleibt bestehen" (G. II
1—2). In allen Einzelheiten und Spezialdoktrinen ist die Kritik
der reinen Vernunft dem Schicksal der Veraltung ausgesetzt, nicht
so als Ganzes, als Verkündigung eines völlig neuen, vorher niemals
dagewesenen und nie zu überwindenden Denkstandpunktes. „Ob
wirklich zwischen analytischen und synthetischen Urteilen ein
absoluter Unterschied besteht; ob die transscendentale Hauptfrage
'wie sind synthetische Urteile a priori möglich?' wirklich die ihr
zugemutete Tragkraft und Tragweite besitzt; ob Raum und Zeit
in der Tat ursprüngliche, reine Anschauungsformen sind, und ob
aus ihrer Apriorität in Wahrheit ihre transscendentale Idealität
folgt; ob irgendwelche und welche von den zwölf Kategorien
6 ■ E. Adickes,
wirklich Kategorien, d. h. unableitbare und notwendige Grund-
begriffe der menschlichen Intelligenz sind; das bleibt disputabel.
Die transscendentale Deduktion der reinen Verstaudesbegriffe . . .
kann in vieler Hinsicht lebhaften Zweifel erregen." Die Anwendung
des Kategorienschemas auf jedes beliebige Thema der Philosophie
„ist als eine persönliche Pedanterie und doktrinäre Schwäche des
grossen Denkers längst anerkannt". In den Analogien der Erfahrung
hat Kant „nicht, wie er meint, die Vorbadingungen der Erfahrung,
sondern höchstens die der Erfahrungswissenschaft aufgedeckt".
Seine „von vornherein aufgestellte Behauptung, dass die Tatsachen
der Wahrnehmung 'nur Erscheinungen' seien, ist ein unbewiesenes
Dogma". Ebenso giebt Liebmann den Grundgedanken der Dialektik
und die Ableitung der Ideen aus den Schlussformen preis. Aber
der ganze Standpunkt, der prinzipielle Grundgedanke des Werkes
ist nach ihm unveraltet und unsterblich. Und dies „Neue, Bahn-
brechende, Epochemachende" besteht darin, dass Kant „nicht etwa
von der Seele ausgeht, oder vom Gehirn, oder von der tabula rasa,
oder von einer Leibnizschen Monade, sondern vom Bewusstsein,
welches das Ursprüngliche, die Urtatsache xar' sio%riv ist; dass er
nicht nach der intellektuellen P]ntwicklungsgeschichte des Einzel-
menschen oder auch der Menschheit forscht, sondern nach den
allgemeinen, typischen Vorbedingungen der Welterkenntnis über-
haupt", nach dem, „was aller Wissenschaft überhaupt und ihrem
Objekte ewig zu Grunde liegt" (G. II 2—8).
Kants „Forschen nach 'den Erkenntnissen a priori' war nichts
anderes als ein Suchen nach den höchsten Gesetzen des erkennenden
Bewusstseins". Ob „diejenigen Intellektualgesetze, auf die er kommt,
die höchsten und letzten oder sekundäre, weiter ableitbare sind,
ja ob sie überhaupt das echte Apriori darstellen, . . . dies mag
disputabel bleiben. Soviel jedoch steht fest, jene höchsten In-
tellektualgesetze, — welche es auch sind, — werden auf jeden
Fall ebenso sehr für den Erkenntnisakt des Subjekts, als für das
erkennbare Objekt, d. h. für die empirisch -phänomenale Welt,
schlechthin maassgebend sein müssen" : in dieser Lehre findet Lieb-
mann den tiefsten Wahrheitsgehalt der Vernunftkritik (A. 237/8).
Und von dieser Auffassung aus schreibt er seinen „Geist der
Transscendentalphilosophie" (G. II 1 — 90). Sie ist identisch mit
Erkenntniskritik und hat Bedingungen, Grundgesetze, Tragweite
und Grenzen unseres Erkenneus zu bestimmen (A. 13, G. II 5).
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 7
Die Grenzen sind eng-, wie wir sahen (oben S. 3 — 4): unser
Wissen ist für immer in den Kreis der Erfahrung- gebannt. Und
diese zeig-t uns nicht das wahrhaft Seiende, sondern nur Er-
scheinungen. Die ganze Wirklichkeit ist bloss innerhalb unseres
Bewusstseins gegeben, als Vorstellungsiuhalt oder Vorstellung: wir
können die Welt nur so erkennen, wie unser Erkenntnisvermögen
seiner Natur und Organisation gemäss sie uns zeigen muss. Das
sind Wahrheiten, die Liebmann unter die Gemeinplätze der Philo-
sophie glaubt rechnen zu dürfen (A. 36). Trotzdem hält er es
— mit Recht — nicht für überflüssig, alle Mittel anzuwenden, um
seinen Lesern die Wahrheit dieser Gemeinplätze aufzuzwingen.
Er geht in seinem Idealismus nicht soweit wie Berkeleys
Immaterialismus, der das, was dem Cartesianer eine absolut reale
körperliche Substanz ausserhalb des wahrnehmenden Subjekts war,
zu einem blossen Accidens der geistigen Substanz herabdrückte,
dessen Esse ganz und gar in seinem Percipi aufgehe. Berkeley
zwar glaubte dieses sein Dogma strikte beweisen zu können,
Liebmann hält es mit Recht nur für eine zwar höchst seltsame,
aber doch immerhin mögliche metaphysische Hypothese, für einen
Glaubenssatz, einen denkbaren Fall neben anderen, und mit nicht
weniger Recht weist er auf die wunderliche Inkonsequenz des so
scharfsinnigen und doch auch wieder so dogmatischen Bischofs
hin, der keine Schwierigkeit darin findet, bei andern Geistern
und bei Gott ohne Weiteres ein über ihr Percipi hinausgehendes
eigenes Esse anzunehmen (A. 19 ff.).
Gegen die Trugschlüsse des subjektiven Idealismus und der
Immanenzphilosophie macht er geltend, dass sie schlechterdings
nicht im Stande sind zu beweisen, „dass es keine vom vorstellen-
den Subjekt unabhängige Existenz giebt, sondern nur, dass das
Subjekt sie nicht direkt auffassen, sie nicht anders als durch das
intellektuelle Medium seiner subjektiven Gedanken imaginieren,
fingieren, denken, erkennen, vielleicht auch nicht erkennen kann .. .
Gerade deshalb, weil in der Tat kein vorstellendes Subjekt aus
der Sphäre seines subjektiven Vorstellens hinauskann; gerade des-
halb, weil es nie und nimmermehr mit Überspringung des eigenen
Bewusstseins, unter Emanzipation von sich selber. Dasjenige zu
erfassen und zu konstatieren im Stande ist, was jenseits und
ausserhalb seiner Subjektivität existieren oder nicht existieren mag;
gerade deshalb ist es ungereimt, behaupten zu wollen, dass das
8 E. Adickes,
vorgestellte Objekt ausserhalb der subjektiven Vorstellung nicht
dasei" (A. 28).
Trotz schärfster Polemik gegen Kants Ding an sich („be-
kanntlich ein hölzernes Eisen, ein existenzunfähiges asylum igno-
rantiae, dem alle unverdaulichen Probleme der Metaphysik in den
Rachen geschoben werden" A. 21) ist Liebmann der Überzeugung,
„dass die Wirklichkeit mehr ist als blosse Vorstellung, dass eine
absolut-reale, jenseits der subjektiven Bewusstseins- und Erkennt-
uisgrenzen gelegene Welt (mundus intelligibilis) dem empirischen
Weltphänomen (mundus sensibilis) zu Grunde liegt, und dass das
wahrnehmende Subjekt zur Entwicklung seiner sinnlichen Anschau-
ungen durch den realen Einfluss der absolut-realen Welt auf das
subjektive Vorstellungsvermögeu genötigt wird" (A. 196—7, vgl.
A. 38, 53, 68, Obj. 129 ff.).
An diese absolut-reale Welt können wir aber mit unserem Er-
kennen nie heran. Das letztere ist samt allen seinen Objekten
ganz und gar von der Natur und Organisation des erkennenden
Subjekts abhängig, und darum gilt es vor allem — was ja auch für
Kant die Hauptfrage war — , die Gesetze aufzufinden, denen ge-
mäss das erkennende Subjekt verfährt, die Formen des Erkennens,
die es mit Notwendigkeit aus sich hervorbringt. Dabei wird der
Begriff des Apriori von grundlegender Bedeutung (vgl. besonders
den Aufsatz über „die Metamorphosen des Apriori" A. 208—58).
Zugleich ergiebt sich die Notwendigkeit, den Psychologismus zu
bekämpfen, was in sehr scharfsinniger, erfolgreicher Weise ge-
schieht. In dieser Frage stehe ich ganz auf Liebmanns Seite,
und in der Lehre vom Wesen und von der Bedeutung des Apriori
kann ich wenigstens eine gute Strecke mit ihm gemeinsam gehen.
Wohltuend ist auch hier, dass er, im Gegensatz zu so manchem
Neukantianer, nicht die eigenen Ansichten Kant unterschiebt,
sondern seine Abweichungen von ihm rückhaltlos zugiebt, sicher,
im letzten Ziel der Untersuchung und im eigentlichen punctum
saiiens doch mit ihm übereinzustimmen.
IIL
A priori ist nach Liebmann „nichts Anderes, als das für
uns und für jede uns homogene Intelligenz streng Allgemeine und
Notwendige, das Nichtanderszudenkende, Das, wovon unser Geist
und sein Erkennen schlechthin geleitet und gelenkt wird (wie die
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 9
Materie und ihre Bewegungen vom Gravitationsgesetz), welches,
über dem empirischen Subjekt und seinem empirischen Objekt gleich
erhaben und für beide gleich maassgebend, alle Erfahrung und
ihren Gegenstand durchaus beherrscht" (A. 98). In teleologischer
Gedankenwendung: als unumgängliche, unentbehrliche Mittel zum
Zweck der Welterkenntnis müssen dem erfahrungbedingenden
Bewusstsein gewisse Attribute oder Funktionen zukommen, sie
nennt man apriorisch (G. II 36).
Indem die Transscendentalphilosophie dieselben festzustellen
sucht, darf sie nun aber nicht, wie die vorkantische Lehre von
den angeborenen Ideen, von dem Begriff einer übersinnlichen
Seeleusubstanz oder sonst einer metaphysischen oder auch psycho-
logischen Konzeption ausgehen, sondern allein vom Bewusstsein als
dem schlechthin Ursprünglichen, der Urtatsache xai' i\ofrv. Denn
in ihm ist für uns alle Wirklichkeit ein für allemal beschlossen,
von ihm und seinen Formen und Normen ist sowohl unser geistiges
Leben als die Wissenschaft von demselben : die Psychologie, sowohl
das körperliche Sein und Geschehen als die Naturwissenschaft,
sowie nicht minder die Metaphysik abhängig. „Unsere" Welt ist
die Bewusstseinswelt: wie sie nur „im Eahmen des Bewusstseins"
werden konnte, so wird sie „von den immanenten Intellektual-
formen dieses Bewusstseins schlechterdings beherrscht, gestaltet,
reguliert, wie die Bilder im Kaleidoskop von der Konstruktion
dieses Instruments und den darin herrschenden Gesetzen der
spiegelnden Reflexion." Auch der Begriff der ,. Seele", ob sie nun
angeblich ein spirituelles oder materielles Ding ist, ob „Individual-
substanz oder Modus der all-einen Weltsubstanz", ob „von Natur
tabula rasa oder von Gottes Gnaden Ideenmagazin", ist doch zu-
nächst nichts als „ein (gleichviel ob legitimes oder illegitimes)
Gedankeuprodukt des erkennenden Bewusstseins, innerhalb dessen
der Gegensatz von Ich und Nicht-Ich, von räumlichem Universum
und psychischer Persönlichkeit, von materieller und geistiger Sub-
stanz sich vor uns auftut und nun einmal da ist, ohne dass wir
wissen und ahnen können, ob er jenseits jenes Bewusstseins auch
noch Bestand hat oder vielleicht jegliche Bedeutung verliert."
Und das Epochemachende an Kants Kritizismus soll vor allem
darin liegen, dass er als erster die Unmöghchkeit erkannte, irgend
einen solchen erst im Bewusstsein gewordenen Seelenbegriff der
Lehre von den Formen und Gesetzen dieses Bewusstseins zu
Grunde zu legen. Dadurch „gewinnt das Apriori eine völlig neue
10 ■ E. Adickes,
Bedeutung, eine kosmische, ja metakosraische ; es hört gänzlich auf ,
sekundäres Anhängsel und Corollarium einer spiritualistischen oder
monadologischen Metaphysik zu sein ; es wird zur Basis, zur Grund-
lage und Grundvoraussetzung der Welt; derjenigen Welt näm-
lich, die ich mit Augen sehe, mit Ohren höre, mit Händen greife,
sowie derjenigen, die ich mit dogmatisch denkendem, über Leib
und Seele, Materie und Geist spekulierendem Verstand mir in
den Traumäther des Übersinnlichen hiueinkonstruiere" (A. 222 — 4,
G. II 2—4, 35—6).
Doch verkennt Liebmann durchaus nicht, dass das Apriori
neben der raetakosmischen Bedeutung auch bei Kant noch eine
psychologische hat, sofern „innerhalb der empirischen Welt der
intellektuelle Prozess im Kopfe der Einzelperson" den Gesetzen
des erkennenden Bewusstseins gemäss verläuft, und dass „in dieser
individuell-psychologischen Hinsicht" die Erkenntnisse a priori
auch bei Kant noch ebenso wie bei Leibniz als connaissances vir-
tuelles und idees innees bezeichnet werden können (A. 241).
Und auch im eigenen Namen giebt Liebmann zu, dass, sobald man
den Versuch macht, „die Urtatsache des Bewusstseins unter einen
logisch-metaphysischen Grundbegriff zu subsumieren", „es nicht wohl
anders denkbar ist, denn als Funktion eines fungierenden, in specie
vorstellenden und erkennenden Subjekts, welches letztere jedoch an
und für sich, d. h. losgelöst und abgesehen von seiner Funktion,
sich unserer Erkenntnis und Selbsterkenntnis ein für alle Mal ent-
zieht" (A. 251).
Die Transsceudentalphilosophie hat demgemäss drei verschie-
dene Ichs zu unterscheiden: das metaphysische, individuelle und
transscendentale. ,.Das metaphysische Substrat des Selbst-
bewusstseins bleibt uns verborgen und ist das ewig erstrebte, nie-
mals erfasste Objekt dogmatischer Spekulation. Das individu-
elle Ich oder das einheitliche Subjekt des Bewusstseins unserer
eigenen Existenz, welches die ebenbürtige Realität sehr vieler
ähnlicher Subjekte neben sich anerkennt, bildet die verschwiegene
Voraussetzung und das niegelöste Endproblem der beobachtenden
und analysierenden Psychologie. Das transscendentale Ich
oder das typische Bewusstseinssubjekt der menschlichen Gattungs-
intelligenz ist die Grundbedingung der ganzen empirischen Welt"
(G. II 50-1).
Dazu möchte ich bemerken, dass bei Kant das metaphy-
sische und das transscendentale Ich oft zusammenfallen, so wenig
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 1 1
gewisse erkenntnistheoretische Prämissen es zulassen. Aber einer-
seits wird das über dem ersteren lagernde Dunkel auf praktischem
Gebiet etwas erhellt, anderseits hat Kant seine ganz bestimmten
Privatansichten über das Ich an sich, die sich auch da zudriingen,
wo sie der Strenge des Systems nach ausgeschlossen sein sollten.
Beides bewirkt, dass das metaphj^sische Ich häufig auch dem Er-
kenntnistheoretiker Kant aus einem x zu einer relativ bekannten
Grösse wird und dann mit dem transscendentalen Ich verschmilzt.
Der Begriff „tj'pisches Bewusstseinssubjekt der menschlichen
Gattungsintelligenz'' zwingt mich zu verweilen: er hält eine Anzahl
schwerer Probleme in sich verborgen und scheint mir ein Stück
Metaphysik inmitten der Transscendentalphilosophie zu sein.
Man könnte sich versucht fühlen, ihn dahin zu interpretieren,
das transscendentale Ich sei etwas Typisches", insofern bei jedem
Menschen dieselben Formen und Normen des erkennenden Be-
wusstseins wiederkehren, weshalb man letzteres als menschliche
Gattungsintelligenz bezeichnen könne; so rede A. 232 davon, die
Kritik der reinen Vernunft habe „gleichsam den Gattungstypus
der menschlichen Intelligenz herauspräparieren" wollen.
Aber die Seiten G. II 36 — 37, 48 — 50 zwingen doch wohl
zu einer andern Deutung. Denn nach ihnen sind „die Attribute
und Funktionen des erfahrungbedingenden Ich nicht Seelenkräfte
oder Seelenvermögeu des individuellen Menschen, sondern etwas,
woran der individuelle Mensch beim Welterkennen partizipiert,
oder wovon er beioi Welterkennen beherrscht wird, wie der Ver-
stand beim richtigen Denken von den ewigen Gesetzen der Logik.
Dieses transscendentale Subjekt ist jedenfalls auch eine Vor-
bedingung für das empirische Dasein der Vielheit von Geistern,
mit denen das menschliche Individuum im geistigen Wechsel-
verkehr steht, und an deren Realität zu zweifeln, eine Ungereimtheit
sein würde". Liebmann scheint also ein überindividuelles trans-
scendentales Ich, eine wirkhche Bewusstseinseinheit der menschlichen
Gattungsintelligenz, zu der die einzelnen Geister im Verhältnis der
Unterordnung oder der Teilnahme stehen, anzunehmen. „Ich selbst
als geistiges Individuum bin mit meinen Vorstellungen, meinem
individuellen Fühlen und Wollen ebensogut wie alle anderen von
mir als real anerkannten Geister, Bewusstseinsinhalt; und
zwar Bewusstseinsinhalt eben jenes erfahrungbedingenden, zeit-
vorstellenden, mit sich identisch bleibenden, transscendentalen
Subjekts, ohne welches wir Alle samt der ganzen uns bekannten
12 ' E. Adickes,
Welt in der finsteren Nacht des absolut Unerkennbaren ver-
schwinden würden." Liebmaun selbst erläutert jenes Partizipieren
mit Piatons Lehre, nach der das sinnliche Einzelding- an der
Gattungsidee teilnimmt (ß^vExei). Nahe liegt auch ein Vergleich
mit dem Verhältnis des individuellen Bewusstseins zum abstrakten
Ich oder Bewusstsein überhaupt bei Schuppe, sowie mit den
Stufenreihen über- und untergeordneter Bewusstseinseinheiten bei
Fechner.
Die Annahme einer solchen überindividuellen transscenden-
talen Bewusstseinseinheit scheint freilich andern Äusserungen zu
widersprechen, in denen Liebmanns transscendentales Ich ent-
schieden ein individuelles ist. Das gilt z. B. von der Stelle A, 251/2,
aus der oben (S. 10) ein Satz zitiert wurde. Besonders aber ist
seine Lehre von der Willensfreiheit nur vom letztgenannten Stand-
punkt aus verständlich. In jedem einzelnen zurechnungsfähigen
Menschen ist nach ihm ein unausrottbares Freiheitsbewusstsein
vorhanden, ein Bewusstsein des Auchanderskönnens; Subjekt dieses
Bewusstseins aber ist das transscendentale „im Wechsel der Seelen-
zustände beharrende, seine Identität mit sich erkennende Ich"
(G. II 88, vgl. 32). Mit einem überindividuellen Ich wäre hier
nichts zu machen. Denn der einzelne Mensch ist es, der sich
frei fühlt; darum muss auch das Subjekt dieses Freiheitsbewusst-
seins ein individuelles sein, nicht aber eine Gattungsintelligenz
als Bewusstseiussubjekt gedacht, an der alle Menschen gleich-
massig partizipieren.
Aber die Sprache der Seiten G. II 36—7, 48—50 ist doch
zu deutlich: sie reden entschieden von einem überindividuellen
transscendentalen Ich. Mit ihm zieht freilich, wie schon gesagt,
die Metaphysik mit fliegenden Fahnen in die Erkenntnistheorie
ein. Denn ein transscendentales Ich oder Bewusstseiussubjekt als
beharrlich mit sich selbst identisch bleibende Bewusstseinseinheit,
in dem „ich selbst als geistiges Individuum" mit meinem ganzen
psychischen Erleben und ebenso „alle anderen von mir als real
anerkannten Geister" als Bewusstseinsiuhalte gegeben sind, ist
weder Erfahrungstatsache noch unentbehrliche erfahrungbe-
dingende Voraussetzung noch eine notwendige Hypothese, um Er-
fahrungstatsachen begreiflich zu machen, sondern nichts als eine
metaphysische Annahme, nicht besser und nicht schlechter als
Schuppes Bewusstsein überhaupt oder Fechners Gestirnseelen oder
Spinozas Allsubstanz, deren Modi die Einzelbewusstseine sind. Es
Liebmann als Erkenntnistheoretiker, 13
ma^ so etwas vorhanden sein, gewiss! Aber die Trausscenden-
talphilosophie weiss auf jeden Fall nichts davon. Und in der
Erfahrung gegeben ist mir stets nur mein eignes individuelles
Bewusstsein.
Insofern ist der theoretische Solipsismus der unvermeidliche
erkenntnistheoretische Ausgangspunkt. Beziehe ich gewisse meiner
Bewusstseinszustäude auf fremde Bewusstseine und betrachte jene
als Wiederholungen von Zuständen dieser, so werden dadurch doch
die fremden Bewusstseine nie und nimmer mein Bewusstseins-
inhalt; ich nehme dann nur an, dass gewissen meiner Bewusst-
seinserscheinungen etwas jenseits meiner Bewusstseinswelt und
unabhängig von ihr entspricht, und zwar in Form eines Bewusst-
seins. Soweit Erfahrungstatsachen und deren Interpolation durch
Anerkennung der extramentalen Existenz anderer Geister in Be-
tracht kommen, kennen wir nur die eine Möglichkeit, von fremden
Bewusstseinsinhalten dadurch Kunde zu bekommen, dass wir sie
in uns wiedererzeugen, sie abbilden. Was uns in der Körperwelt
zu solcher Abbildung veranlasst, sind Bewegungen, wie vor allem
Minenspiel, Luft- und Atherschwingungeu, an die unsere assoziativen
Interpolationen, Deutungen, Analogieschlüsse sich knüpfen. Wie
weit unsere Abbilder den von uns angenommenen oder erschlossenen
oder postulierten Originalen entsprechen, bleibt immer zweifelhaft.
Ganz ausgeschlossen aber ist es, dass die fremden Bewusstseine
samt ihren Inhalten jemals als an sich seiende in mein Bewusst-
sein hinüberspazierten und in ihm enthalten wären als meine
Bewusstseiusinhalte; das wäre eine contradictio in adjecto: absohit
real und doch zugleich, als mein Bewusstseinszustand, phänomenal.
Möglich, dass mein Abbild dem absolut Realen genau entspricht,
aber dann nur als Abbild, ohne dass aus ihm durch diese Ge-
nauigkeit der Korrespondenz das absolut Reale selbst würde.
Das Verhältnis des empirischen Bewusstseins zum Bewusstsein
überhaupt bei Schuppe, das der niederen zu den höheren Bewusst-
seinseinheiten bei Fechner hat also Voraussetzungen, wie die
beschränkte menschliche Erfahrungswelt sie nicht bietet: die Art
des Bewusst-Werdens und Bewusst-Seins muss eine ganz andere
sein, die Schranken, mit denen uns unser Bewusstsein nach allen
Seiten hin abschliesst, müssen dort teilweise fallen. Ganz dasselbe
gilt aber, wie mir scheint, auch für Liebmanns trausscendentales
Ich, das mein Ich und das der andern von mir als real anerkannten
Geister als Bewusstseiusinhalte in sich umfassen soll. Auch dieser
14 E. Adickes,
Begriff ist durchaus transscendent: um ihn konzipieren zu können,
muss man sich Verhältnisse erdenken, nicht nur andersartig, als
die Erfahrunjg sie zeigt, sondern zum Teil sogar entgegenge-
setzter Art,
Mit vollem Recht bezeichnet Liebmann das Bewusstsein als
das Ursprüngliche, als die Urtatsache xax^ iSox^jv (A. 222, Gr. II 3).
Nun wissen wir aber unmittelbar nur von einem Bewusstsein,
vom unsrigen, also einem individuellen. Die Grundnormen und
Formen und Funktionen dieses unseres individuellen Bewusstseins
gilt es also aufzusuchen, die unabhängig sind von jedem speziellen
Inhalt, ihn vielmehr ihrerseits bedingen und also die Voraus-
setzungen unserer ganzen empirischen Welt, unseres ganzen
geistigen Lebens sowie auch der Psychologie als der Wissenschaft
von den Erscheinungen und der Entwicklung des letzteren dar-
stellen. Sie sind das Apriori und können nicht auf dem Weg
psychologischer Entwicklung und Analogie gewonnen werden, weil
die Psychologie als Erfahrungswissenschaft nur mit einzelnen
geistigen Akten und Zuständen, als dem allein unmittelbar Ge-
gebenen, zu tun hat, die aber alle jenes Apriori schon voraussetzen
und durch dasselbe bestimmt werden. Erkenntnistheorie ist nur
möglich in der Form von Rückschlüssen aus der Erfahrung als
Tatsache und Wirkung auf ihre Ursachen und Bedingungen. Nun
kennt aber jeder nur eine Erfahrung: seine eigne; nur von ihr
kann er also ausgehn, nur von ihr aus ihre Bedingungen, das
Apriori, erschliessen. Zu diesen Bedingungen gehört, wie Liebmann
mit Recht behauptet, auch die beharrliche Identität des transscen-
dentalen Bewusstseinssubjektes, das, was Kant als das „stehende
und bleibende Ich der transscendentaleu Apperzeption" bezeichnet
(G. II 28 ff). Auch dies letztere muss daher ein individuelles
sein, denn es bildet die Grundvoraussetzung meiner individuellen
Erfahrung, und diese Grundvoraussetzung besteht ja in nichts
Anderem als darin, dass eben mein erfahrungbedingendes Ich
— von andern derartigen Ichs weiss ich zunächst nichts! —
von beharrlicher Identität ist.
Um nun aber in meiner Bewusstseins-(Erfahruugs-)welt Sinn
finden zu können, sehe ich mich gezwungen, andere Geister ausser
mir anzunehmen, fremde Bewusstseine, jenseits des meinen, unab-
hängig von ihm, jedes ebenso wie ich Subjekt einer Bewusstseins-
fErfahrungs-)welt, jedes daher auch mit Grundnormen, Formen
und Funktionen ausgestattet, die den meinigen ganz entsprechen.
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 15
Wie sie mir als Phänomene erscheinen, indem ich die Inhalte
ihres Bewiisstseins in dem meinen wiederbilde, so ich ihnen.
Dadurch gewinnt nun das Apriori eine neue, höhere Be-
deutung-: vom individuellen Niveau erhebt es sich auf das nieta-
kosmische (welchen Ausdruck Liebmanns ich auch von meinem
Standpunkt aus gern akzeptiere), es wird zur Bedingung der
empirischen Welt, des Kosmos, für jedes dem meinigen ähnliche,
speziell also für jedes menschliche Bewusstsein. Das Apriori in
diesem Sinn ist die Grundlage aller für die Menschheit jemals
erreich Itaren Wahrheit, zugleich aber auch die Ursache, weshalb
sie stets nur eine relative sein kann, es ist die Grundlage der
Wissenschaft, und zugleich die Ursache, weshalb sie für immer
in feste, unüberschreitbare Grenzen eingeschlossen ist: es kann
und muss dies alles sein, weil es im Verhältnis zur menschlichen
Gesamterfahrung das Erfahruugbedingende ist und also gleichsam
die Organisation der menschlichen Gattungsintelligenz zum Ausdruck
bringt. Letzteres aber nicht in der Bedeutung, als ob diese
Gattungsintelligenz irgend eine Art des Seins ausser oder über
den einzelnen Menschen hätte. Zur Erklärung des Tatbestandes
genügt ihre gleichmässige Wiederkehr in allen Individuen.
Dass man aber überhaupt andere Menschen, fremde Bewusst-
seine ausser sich annimmt: das setzt — nach dem Vorhergehenden
kann darüber kein Zweifel sein — eine Überschreitung der Grenzen
unserer Bewusstseinswelt, einen Sprung in das dunkle Gebiet des
Absolut-Realen voraus. Liebmann meint zwar vom erkennenden
Bewusstsein, jener Urtatsache xai' e'ioxrv: innerhalb seiner entstehe
allererst „für das Subjekt eine empirische Körperwelt, ein räum-
licher Makrokosmos mit individuellen Geistern darin" (A. 222 — 3).
Dass aber von einem transscendentalen Ich, das als Bewusstseins-
einheit sich und andere Geister als Bewusstseinsinhalte in sich
enthielte, die Erfahrung nichts weiss, dass in ihr auch nichts zu
jener Annahme als zu einer unentbehrlichen Interpolation hin-
drängt oder gar zwingt, suchte ich auf den letzten Seiten nach-
zuweisen.
Auch von einer „reziproken Kausalität", von einer „realen
Wechselwirkung zwischen den in der Zeit koexistierenden Indivi-
duen", wie Liebmann sie G. II 50 für die Bewusstseinswelt seines
transscendentalen Ich fordert, weiss die unmittelbare, reine Er-
fahrung nichts zu melden. Nicht etwa deshalb, weil sie stets nur
ein post hoc, nie ein propter hoc zeigt, oder weil das Gesetz der
16 E. Adickes,
Kausalität, wie Liebmann selbst meint, bloss eine Interpolations-
maxime der Erfahrungswissenschaft ist. Beides kommt hier nicht
in Betracht, wohl aber die Tatsache, dass eine solche Wechsel-
wirkung- zwischen g-eistigen Individuen ohne eine entsprechende
Wechselwirkung auch zwischen den Körpern nicht stattfinden
kann und dass doch anderseits ein wirklicher Einfluss irgend
eines der mich umgebenden Körper, auf mich ganz ausgeschlossen
ist. Denn ihre empirische Realität in allen Ehren, sie sind doch
sämtlich nichts als Phänomene in meinem empirischen Bewusstsein,
nichts als Empfindungskomplexe, Farbenflecke etc., von meinem
„empirischen Ich" in bestimmten zeitlichen Akten an gewissen
Raumstellen objektiviert (oder wie mau den Vorgang bezeichnen
will). Zieht man alle sekundären Qualitäten von ihnen ab, so bleibt
überhaupt nichts übrig. Jede Veränderung in ihnen, jede Bewegung
ist eine Wirkung, nicht aber eine Ursache meines veränderten
Bewusstseinszustandes, der eine andersartige Objektivierung meiner
Empfindungen nach sich zog. Auch die menschlichen Körper, die
meine Erfahrungswelt mir zeigt, sind meine, d. h. meines „empiri-
schen Ichs" Geschöpfe, denn im Lauf meines geistigen Lebens
entstehen Empfindungen in mir, die dann, als Farben an be-
stimmten Orten geschaut oder als Tastempfindungen gefühlt, das
ausmachen, was mir die sinnliche Erfahrung, unmittelbar und
ohne intellektuale Zutaten, von den Menschen zu erkennen giebt.
Und das sollte nun auf mich einwirken? in meinen Bewusstseins-
lauf eingreifen können ? dieser Komplex meiner eigenen hinaus-
geschauten und hinausgetasteten Empfindungen? Nein! Was auf
mich einwirkt, muss etwas ganz anderes sein ! Nicht jene sekun-
dären Empfindungsqualitäten. Was aber?
Die Antwort auf diese Frage wird ganz verschieden lauten,
je nachdem ob man transscendentaler Idealist oder Realist, resp.
wie weit man das eine oder das andere ist. Ich für meine Person
betrachte den Euklidischen Raum wie die Bewegung in ihm als
etwas auch dem ovzcog ov Zukommendes und denke oder träume
mir das Absolut-Reale in der Form von psycho-physischen Kraft-
zentren. Von diesem Standpunkt aus kann ich hoffen, dass mein
ßewusstseinsraum den Raum des an sich Seienden adäquat
rekonstruiert und dass an derselben Stelle (a), wo ich im ersteren
einen Menschen in der Gestalt von Farben- und Tastempfindungen
sehe und fühle, im erschlossenen (hinzugedachten) transscendenten
Raum sich eine Ansammlung von Kraftzentren befindet, von
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 17
denen die Bewegungen ausgehen, die der naturwissenschaftliche
Realismus als die objektive Grundlage der subjektiven Sinnes-
empfinduugen betrachtet, — Bewegungen, die au derselben Stelle
(b), wo in meinem Bewusstseinsraume mein Körper (auch wieder
ein blosser Empfindungskomplex) ist, im transscendenten Raum
auf eine diesem Körper entsprechende Masse von Kraftzentren
stossen und in ihr gewisse Veränderungen auslösen, die als Em-
pfindungen zum Bewusstsein kommen und in den phänomenalen
Raum gerade an die Stelle a hinausgesehen und -getastet
werden. Was hier also auf mich einwirkt, ist das ovrcog ov: die
räumlichen Kraftzentren, und als Reaktion auf diese Einwirkungen
entstehen in mir die Empfindungen, die alsbald im Raum zu
Gegenständen objektiviert werden, die aber, als meine Geschöpfe,
nun nicht etwa wieder auf mich zurückwirken können.
Dass diese Ansicht möglich ist, dürfte eben so sicher sein,
wie dass sie keine Wissenschaft, sondern Metaphysik und darum
Glaubenssache ist.
Wer sich dagegen zur transscendentalen Idealität von Raum
und Zeit bekennt, wie Liebmann es in seinem Herzen entschieden
tut, so vorsichtig auch manche seiner Wendungen lauten (siehe
darüber unten S. 19—20), für den ist die Antwort auf die obige Frage
bedeutend schwieriger. Das Absolut-Reale kann als unmittelbare
Ursache der Einwirkung nicht in Frage kommen, da es sich weder
im Räume noch in der Zeit befindet. Da muss man dann, um
den naturwissenschaftlichen Realismus als untergeordnetes Moment
in seine Auffassungsweise aufnehmen zu können, zu komplizierteren
Theorien greifen, sei es, dass man sich, wie Kaut an manchen
Stellen, besonders in seinem letzten unvollendeten, von R. Reicke
herausgegebenen Manuskripte vom „Übergange von den metaphy-
sischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik", zu
der Lehre von der doppelten Affektion des erkennenden Subjekts
(durch Dinge an sich und durch Erscheinungen) bekennt, sei es,
dass man aus Kants „Bewusstsein überhaupt" ein Allgemein-
bewusstsein von realer Existenz macht, sei es, dass mau mit
Liebmann das transscendentale Ich als ein übergeordnetes Bewusst-
sein betrachtet, das die Einzel-Iche samt der Körperwelt als seine
Inhalte umfasst, oder wie sonst die Wege beschaffen sein mögen,
auf denen man den von allen Seiten drohenden Schwierigkeiten zu
entgehen sucht. Alle diese Theorien haben für meine Auffassung
etwas sehr Gekünsteltes und scheinen mir ernsten Einwänden
Kautitudiea XV. 2
18 " E. Adickes,
ausgesetzt zu sein, und das eben ist es vor allen Dingen, was
mich mit Bezug auf Raum und Zeit dem „transscendentalen Rea-
lismus" in die Arme treibt.
Von der metaphysischen Stellungnahme, von der Ansicht
über das Absolut-Reale und seine Verhältnisse (Realität oder Idea-
lität von Raum und Zeit) hängt also die Art ab, wie man den Be-
griff des transscendentalen Ich bestimmt, ob man letzteres vom
metaphysischen Substrat des Selbstbewusstseins und vom indivi-
duellen Ich streng absondert wie Liebmann, oder ob man in
ihm die Gruudzüge der lutellektualorganisation des Einzelgeistes
sieht, dessen metaphysisches An-sich der Wissenschaft für immer
unerreichbar bleibt und der, auf Einwirkung des Absolut-Realen
hin, auf Grund jener lutellektualorganisation, die er mit jedem
seinesgleichen teilt, das Bewusstseinsleben und die Bewusstseins-
welt hervorbringt, die seine geistige und körperliche Wirklichkeit
ausQiachen.
Diesen Nachweis hier zu liefern, schien mir im Interesse der
Transscendentalphilosophie selbst zu liegen, die ja vor allen Dingen
zwischen Tatsache und Deutung, Wissenschaft und Metaphysik
scharf zu scheiden berufen ist und, wo sie den zweiten Gliedern
der Gegensätze Zutritt zu verstatten gezwungen ist, dies wenigstens
nur mit dem vollen Bewusstsein der Tragweite des Schrittes
tun sollte.
IV.
Was den Umfang und die einzelnen Arten des
A priori anlangt, so rechnet Liebmann unter gewissen Kautelen
auch die Farbe dazu, und, was von der Farbe gilt, würde natürlich
auch auf die übrigen sekundären Sinnesqualitäten ausgedehnt
werden müssen. Ihnen kommt eine „Art von Apriorität" zu, in-
sofern sie „in unseren spezifischen Sinnesenergien präformiert"
liegen; doch nennt Liebmann ihre Apriorität „ganz relativ und
sekundär im Vergleich zu der des Raumes, da ein mit völlig
anderen Sinnesenergien ausgestattetes Wesen doch in genau der-
selben Raumform anschauen kann wie ich" (A. 233/4). Gewiss ist
das ein wesentlicher Unterschied. Aber er berechtigt nicht, den
sekundären Sinnesqualitäten die Bezeichnung „Apriori" zu ver-
weigern (wie Kant es tut), sondern zwingt nur, verschiedene Arten
des Apriori mit verschiedenen Graden der Allgemeingültigkeit zu
unterscheiden. Wenigstens solange man auf eine Theorie des
Liebmaim als Erkenntuistheoretiker. 19
Apriorismus abstellt. Wenn Kant in der Kritik der reinen Ver-
nunft am Schluss des Abschnitts über den Raum den sekundären
Siuuesqualitäten die Apriorität völlig abspricht, so zeigt er damit
auf das deutlichste, dass ihm ein ganz anderes Ziel vorschwebt
als eine solche Theorie: nämlich die Rettung des Rationalismus,
seine Begründung in neuer Form und auf neuer Basis. Liebmann
tut daher Recht daran, hier von Kant abzurücken; fraglich ist
nur, ob es nicht noch weiter hätte geschehen sollen. Freilich
passt diese, wenn auch nur relative, Apriorität der sekundären
Sinnesqualitäten, die nur eine individuelle sein kann, nicht recht
zu der Lehre vom transscendentalen Ich, das ein üb er individuelles
sein soll.
In seiner Lehre von Raum und Zeit geht Liebmanu
vorsichtiger zu Werke als Kant, insofern er zwar beide als er-
fahrungbedingende Anschauungsformeu a priori betrachtet, in
dieser Apriorität jedoch ihre transscendeutale Idealität nicht ohne
Weiteres beschlossen sein lässt. Wiederholt betont er stark, dass
aus dem Nachweis der Apriorität des Raumes über diese angebliche
Idealität nichts folge, die letztere vielmehr ebenso unbeweisbar ist
wie ihr Gegenteil: die transscendeutale Realität; beide sind trans-
scendent-metaphysische Dogmen oder Hypothesen. „Dergleichen
wissen wir eben nicht. Es kann so sein, oder auch nicht"
(A. 154. Vgl. A. 185—6, G. II 26, 45—7). „Ob die transscen-
dente Anordnung der absolut-realen Welt, welche ausserhalb unseres
Bewusstseius liegt, mit unserer Raumanschauung übereinstimmt,
ob sie ihr kommensurabel oder inkommensurabel ist, wissen wir
nicht" (A. 68). Ebenso wird die Frage, ob die Zeitlichkeit ein
Attribut des absolut Realen ist oder nicht, für eine transscendcnte
erklärt, „indem sie ein Rätsel hinstellt, das wir nur mit Über-
springung des eigenen Erkenntnisvermögens und unter Emanzipation
von uns selbst lösen könnten, d. h. das wir garnicht lösen können".
Und von der Möglichkeit einer absoluten Inteüigenz, für die jede
Zeitlichkeit in Wegfall kommt, heisst es demgemäss auch nur, sie
bleibe offen (A. 198, 207; vgl. HO). Das ist die einzig mögliche
Sprache vom Standpunkt der Wissenschaft, der Erkenntnistheorie
aus. Jede Parteinahme für die eine oder andere Ansicht macht
aus dem Erkenntnistheoretiker einen Metaphysiker und führt ihn
vom festen 'Lande der Erfahrung und des Wissens fort auf den
unsicheren Ozean subjektiver Glaubensüberzeuguugen.
2Ö E. Adickes,
Solche metaphysische Glaubensüberzeug-ung-en hat auch
Liebmann, und, soweit sie in Frage kommen, ist er entschieden
für die trausscendentale Idealität von Raum und Zeit „vorein-
genommen", um einen Ausdruck zu gebrauchen, den er selbst auf
Überweg und sein Verhältnis zur entgegengesetzten Lehre an-
wendet (A. 153). Indem er der transscendentalen Eealität des
Raumes ausdrücklich das Zeugnis einer möglichen metaphysischen
Hypothese ausstellt, setzt er doch hinzu, sie habe „den Anstrich
einer gewissen — wie soll ich sagen? — : Philistrosität, einer
Gebundenheit an das Hergebrachte, Gewohnte, rein Empirische.
Sie gleicht etwa der Ptolemäischen Astronomie, welche die gäo-
zentrischen Bewegungen für absolut hält, weil — wir sie sehen"
(A. 154). Dem wahrhaft Realen, dem einheitlichen Weltwesen,
das „allem individuellen Bewusstsein, allem Gegensatz von Subjekt
und Objekt vorangeht", das den Grund aller Gesetzlichkeit der
Erscheinungswelt in sich trägt, kommt „Zeitlosigkeit, zeitlose
Ewigkeit" zu, „im Gegensatz zur Vergänglichkeit aller endlichen,
in der Zeit entstehenden und wieder verschwindenden Dinge. Aller
Zeitlauf und Weltlauf, alles Geschehen, Werden, Entstehen und
Vergehen, das ganze Wandelspiel der wechselnden Gebilde, welches
den Gegenstand der Erfahrung ausmacht, vollzieht sich am Zeit-
losen, Unentstandenen, Unvergänglichen, Unwandelbaren; alles
Endliche, Einzelne entstammt dem Unendlichen, dem Ganzen, dem
Allumfassenden, Demjenigen, welches nie ,gewesen ist' und nie
,sein wird', sondern immer ist in über Raum und Zeit erhabener
Allgegenwart" (G. II 225 ff.).
Das ist Liebmanns Glaube, der ihn in eine Reihe mit den
indischen Weisen und den Eleaten, mit Plato, Plotiu, Spinoza,
Schopenhauer stellt, und wie die Denker und Dichter und Mystiker
alle heissen, denen diese Welt des Wandels und Wechsels nicht
genügt, die es über alle Unruhe des Geschehens und der Ent-
wicklung hinausdrängt in den Frieden ewigen Seins, zeitloser
Unwandelbarkeit.
Mir dagegen ist das All auch in seinem innersten Grunde,
in seinem An-Sich pulsierendes Leben, stetes Schaffen, unbegrenztes
Werden und Sich-Entwickelu. Wie Goethe von der Natur sagt:
,. Leben ist ihre schönste Erfindung". Und mit dieser Goetheschen
Freude an der unendlichen Vielgestaltigkeit der Offenbarungen
des alle Räume und Zeiten füllenden Alls im Herzen frage ich
mich: wie kann von einem Zeitlosen, ewig Ruhenden, sich selbst
liiebmann als Erkenntnistheoretiker. 21
Gleichen aus das Werden, sei es auch nur der Schein des Werdens,
erklärt werden? wie auf seiner Grundlage eine Spaltung in Objekt
und Subjekt möglich sein? Vielleicht antwortet man: „das sind
Verhältnisse weit über menschliches Verstehen hinaus; jenes ein-
heitliche Weltwesen ist eben das Unerkennbare, Un wissbare." Ganz
einverstanden! Doch dann sollte mau sich aller Bestimmungen
enthalten, aber nicht solche aufstellen, die eine Erklärung der
Erfahrungswelt völlig ausschliessen. Denn schon das Entstehen
jenes Scheins, geschweige denn das Werden selbst in der Er-
scheinungswelt, Beginn und Ende individuellen Lebens mitsamt
seinem Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt tragen doch die
Zeitbestimmungen in das angeblich Zeitlose hinein, zwingen sie
ihm auf, bringen auch in ihm Wechsel und Wandel hervor. Zumal
wenn man mit Liebmann behauptet, dass „das wahrnehmende
Subjekt zur Entwicklung seiner sinnlichen Anschauungen durch
den realen Einfluss der absolut-realen Welt auf das subjektive
Vorstellungsvermögen genötigt wird" , dass „eine durchgängige
Korrespondenz zwischen der Ordnung desjenigen Unbekannten,
was uns zu einem Nacheinander von Sinnesempfindungen nötigt,
und diesem bekannten Empfindungs-Nacheinander selbst" besteht
(A. 197). Und auch eine absolute Intelligenz, welche die Unend-
lichkeiten der Zeit mit einem Blick in concreto überschaute, vor
welcher der gesamte Weltprozess bis in die kleinsten Einzelheiten
hinein als vollendete Logik der Tatsachen^) offen daläge wie ein
aufgeschlagenes Buch (A. 198 ff.) — sie würde diese Logik nicht
anders betrachten können denn als eine in Zeitverhältnissen sich
abwickelnde oder durchsetzende; die Zeitunterschiede würden für
sie aufhören, das zu sein, was sie für uns sind: nämlich Hinder-
1) Unter dem selbstgeprägten Begriff „Logik der Tatsachen« versteht
Liebmann „zunächst schon den Umstand, dass vermöge der gesetzlichen
Anordnung des Universums jeder Einzelvorgang in der Natur als reale
Konklusion eines objektiven Schlusses aufgefasst werden kann, dessen
Major das Naturgesetz, dessen Minor der vorangehende Zustand des ver-
änderten Objektes ist; weiterhin aber auch den viel umfassenderen Ge-
samtumstand, dass, vermöge der Subordination spezieller und immer
speziellerer Naturgesetze unter allgemeine und immer allgemeinere Gesetze,
für eine hypothetisch angenommene absolute Weltintelligenz der ganze
im Raum und in der Zeit distrahierte Weltprozess von den höchsten Ge-
setzen herab bis in alle individuellen Einzelvorgänge sich als reines Kon-
ditional- und Kausal-Geflecht darstellen und somit sub specie aetemitatis
als zeitlose Weltlogik offenbaren würde" (G. I 18/9, vgl. 153-5).
22 E. Adickes,
nisse der Erkenntnis, aber sie würden nicht völlig- verschwinden;
trotz aller Log-ik der Tatsachen würde auch sie die Welt als
Entwicklung- sehen, in der das Später dem Früher folgt, nur dass
sie im Stande wäre, beides, und sei es durch Jahrmilliarden ge-
trennt, in einem Blick zu vereinigen.
Um ein Beispiel Liebmauns, aber als Waffe gegen ihn, zu
benutzen: vom Bergesgipfel aus übersieht man gleichzeitig, uno
aspectu, was drunten die Bewohner wegen der sie trennenden,
undurchsichtigen Gebirgsstöcke unmöglich auf einmal erfassen
können; was für den von oben Herabblickenden diese trennenden
Gebirgsstöcke sind, das sollen für jene absolute Intelligenz die
Scheidewände zwischen dem tiqoteqov, af.ia und votsqov sein (A. 201).
Aber die Gebirgsstöcke bleiben auch für den Wanderer oben be-
stehen, er sieht sie ja unter sich, aber er übersieht sie auch
zugleich, und darum können sie seinen Blick nicht hindern. So
auch die absolute Intelligenz: ein Früher, Jetzt und Einst giebt
es auch für sie in der Weltentwicklung, aber sie ist in ihrer Er-
kenntnis nicht daran gebunden, von einem zum andern fortzu-
schreiten, ihr ist eine avvoipig möglich, die dem Menschen versagt
ist, der statt dessen nur einen schwachen Ersatz im abstrakten
Denken und Berechnen hat.
V.
Im Zusammenhang mit der Frage nach transscendentaler
Idealität oder Realität des Raumes behandelte Liebmann schon
1876 als Erster vom philosophischen Standpunkt aus die ra eta-
geometrischen Probleme. Fr. A. Lange machte ihm darauf-
hin in seiner Geschichte des Materialismus den Vorwurf, er
verwerte diese Spekulationen voreilig als positive Argumente für
die Phänomenalität des Raumes. Mit Unrecht! Denn Liebmann
stellt auch bei diesen metageometrischen Erörterungen, sowohl
inmitten der Untersuchung (A. 63) als in der Zusammenfassung
ihrer Ergebnisse (A. 68), ausdrücklich fest, dass wir darüber, ob
ein unserem Euklidischen Anschauuugsraum „ähnliches absolutes
Korrelat desselben realiter existiert", „ob die transscendente An-
ordnung der absolut-realen Welt, welche ausserhalb unseres Be-
wusstseins liegt, mit unserer Raumanschauung übereinstimmt, ob
sie ihr kommensurabel oder inkommensurabel ist," nichts wissen.
Als Metaphysiker allerdings, der von der transscendentalen Idealität
unseres Raumes aus subjektiven Gründen überzeugt ist, begrüsst
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 23
er diese Spekulationen der modernen Mathematik mit Freuden als
Fingerzeig-, der in die Richtung seines Glaubens hinweist. Er
führt Gauss und Helmholtz als Kronzeugen für die Möglichkeit
an, dass eine mehr als dreidimensionale Welt ausserhalb unseres Be-
wusstseins existiere (A. 63 — 4), Und grade wenn man sich der
metageometrischen Spekulationen erinnert, gewinnt nach seiner
Meinung die Hypothese von der transscendeutalen Realität unseres
Raumes den Anstrich einer gewissen Philistrosität, einer Gebunden-
heit an das Hergebrachte, Gewohnte, rein Empirische (A. 154,
vgl. oben S. 20). Ähnlich heisst es A. 62 — 3: wer „aus dem
subjektiven, intellektuellen Unvermögen unserer und jeder uns
homogenen Intelligenz", einen nicht-euklidischen Raum anzuschauen,
,.die objektive, reale, die transscendente Existenzunfähigkeit eines
solchen Raumes folgere," erkläre damit unser Anschauungsvermögen
oder dessen spezifische Organisation für absolut und infallibel; er
denke also nach dem philiströsen Grundsatz „c'est partout comme
chez nous" — eine Denkweise, die eines Philosophen unwürdig sei.
Im Gegensatz dazu meine ich, man sollte die metageometrischen
Spekulationen aus den Erörterungen über transscendentale Idealität
oder Realität unseres. Raumes ganz und gar ausschalten: sie be-
weisen nicht nur nichts, wie ja auch Liebmann selbst feststellt,
sie geben auch keinen Fingerzeig, weder nach der einen noch nach
der andern Richtung, ja! sie lassen sich nicht einmal als Wahr-
scheinlichkeitsgrund für die Möglichkeit, dass andere Intelligenzen
eine andere Raumanschauung haben oder dass ein vom unsrigen
völlig verschiedener absoluter Raum realiter existiere, verwerten.
An der logischen Denkbarkeit und Zulässigkeit nicht-Eu-
klidischer Räume (sei es mehr als dreidimensionaler, sei es nicht-
ebener mit einem nicht konstanten oder einem andern Krümm-
ungsmaass als Null) lässt sich schlechterdings nicht zweifeln. Aber
auch nur sie ist zuzugeben, nicht die Anschauungsmöglichkeit.
Liebmann sagt mit Recht, dass wir einen mehr als dreidimensionalen
oder einen pseudosphärischeu oder sphärischen Raum oder „eine
der Euklidischen widersprechende — nicht sowohl Streometrie,
sondern auf die dritte Potenz erhobene Planimetrie" nur denken,
aber absolut nicht anschauen können (A. 79). ^)
^) Inhaltlich übereinstimmend äussern sich z. B. auch Sigwart in
seiner Logik 11^ S. 83 — 85 und W. Meinecke in seinem Aufsatz: „Die
Bedeutung der Nicht-Euklidischen Geometrie in ihrem Verhältnis zu Kants
Theorie der mathematischen Erkenntnis" (Kantstudien XI 222/3, 228, 231).
24 E. Adickes,
p]r unterscheidet streng zwischen logischer Notwendigkeit und
Anschauungsnotwendigkeit — eine Unterscheidung, die ich (trotz
der Angriffe, die gegen sie gerichtet worden sind) für sehr be-
deutsam halte. Zu den Anschauungsnotwendigkeiten gehört der
Euklidische Raum samt den Euklidischen Axiomen, aus denen dann
weiter die ganze Euklidische Geometrie mit logischer Notwendig-
keit hervorgeht. Abweichende Axiome (etwa: dass zwischen zwei
Punkten mehr als zwei Grade möglich sind oder dass zwei gerade
Linien sich in mehr als zwei Punkten schneiden können) sind,
obwohl sie keinen logischen Widerspruch in sich enthalten, doch
intuitiv nicht vorstellbar (A. 77, vgl. G. I 20 ff.). In allen meinen
Anschauungen bin ich an den Euklidischen Raum und seine Gesetz-
mässigkeiten, wie sie in den Axiomen zum Ausdruck kommen,
gebunden. Dies Gebunden-Sein, diese Notwendigkeit, gerade so
anzuschauen und nicht anders, ist ein unbestreitbares Faktum, das
wir in unserem geistigen Erleben vorfinden. Zwei Ursachen sind
dafür denkbar und möglich. Entweder ist seine Grundlage eine
rein subjektive (ob es nun nur auf unserer apriorischen Geistes-
organisation beruht, mit ihr steht und fällt, oder etwa — nach
empiristischer Lesart — nur auf unserm tatsächlichen Mangel an
anderen Erfahrungen als solchen im Euklidischen Raum): dann ist
damit die Möglichkeit von andersartigen Räumen oder von Wesen
mit andersartigen Raumanschauungen ohne Weiteres gegeben.
Oder aber ein anderer als der Euklidische Raum ist aus uns un-
bekannten, unfassbaren Gründen überhaupt nicht existenzfähig,
objektiv-reale Ursachen verhindern es, dass z. B. zwei gerade
Linien sich je in mehr als einem Punkte schneiden, dass durch
einen Punkt je mehr als drei rechtwinklig auf einander stehende
Koordinatenebenen gelegt werden. Der beliebte Hinweis auf fin-
gierte zweidimensionale, auf einer Ebene lebende Wesen, die in
ähnlicher Weise auf ihre zwei Dimensionen beschränkt wären,
(obwohl es doch in Wirklichkeit drei gäbe), wie wir auf unsere
drei, wäre in diesem zweiten Fall nicht am Platz. Wenn jene
Geschöpfe auch in ihrer Erfahrungswelt nirgends eine dritte
Dimension antreffen könnten, so scheint mir doch nichts der An-
nahme im Wege zu stehen, dass ihre Phantasie ihnen die Möglich-
keit an die Hand gäbe, sich in einem Punkt ausser den zwei in
ihrer Erfahrungswelt möglichen Senkrechten noch eine dritte senk-
recht zu ihrer ganzen Ebene zu denken. Wir dreimensionalen
Liebmann als Brkenntnistheoretiker. 25
Wesen dageg-en würden uns eine vierte Koordinatenebeue nicht
denken können, weil sie auch realiter unmöglich wäre.
Welcher von diesen beiden denkbaren E'ällen der Wirklichkeit
entspricht, darüber lässt sich aus den metageometrischen Speku-
lationen nicht das Geringste entnehmen, auch nicht einmal mit dem
leisesten Grad von Wahrscheinlichkeit. Das allein vorliegende
Faktum: die Notwendigkeit, in bestimmter Weise räumlich an-
zuschauen, Hesse sich auf dem einen wie auf dem andern Wege
in gleich befriedigender Weise erklären. Wer sich also für die
transscendentale Idealität unseres Raumes entscheidet, der hat keiu
Recht, die Metageometrie irgendwie, wenn auch nur von fern her,
als Grund heranzuziehen; andernfalls deutet er ihre Resultate in
^\illkürlicher Weise, voreingenommen durcH seine metaphysische
Stellung.
Das, was einen begrifflichen Widerspruch in sich schliesst,
hält man allgemein nicht nur für logisch unmöglich, d. h. un-
denkbar, sondern auch für existenzunfähig. Warum sollte es nicht
gerade so gut möglich sein, dass auch jene Anschauungsnotwendig-
keiten nicht nur für mein Anschauen, sondern auch für das ab-
solut-reale Sein maassgebend sind? Es liegen bei der räumlichen
Anschauung ganz eigenartige Verhältnisse vor, die nirgends sonst
wiederkehren. Warum sollte nur in der logischen Denk-Unmöglich-
keit die objektive Real-Unmöglichkeit inbegriffen sein, und nicht
vielmehr auch in jener eigenartigen Anschauuugs-Unmöglichkeit?
Wird das ohne Weiteres geleugnet, so begeht man eine petitio
principii.
Wer nun der Meinung ist, dass der Erklärung unserer Er-
fahrungswelt aus der Lehre von der transsceudentalen Idealität
des Raumes unüberwindliche Schwierigkeiten erwachsen, wer sich
deshalb zu der entgegengesetzten Ansicht bekennt und demgemäss
die besprochene Anschauungsnotwendigkeit auf dem zweiten der
beiden möglichen Wege zu erklären sucht: muss das wirklich
durchaus ein Philister und an das Hergebrachte Gebundener sein?
Oder könnte man dann nicht Philistrosität mit demselben Recht auch
dem vorwerfen, der die notwendige Gültigkeit der logischen Regeln
für jede Wirklichkeit behauptet?
9
26 E. Adickes,
VI.
Ein Hauptarg-ument für die Apriorität der Raiimesanschaiiung
sieht Liebmann im Anschluss an Kant in dem besonderen Grad
von Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit, welcher der
Geometrie zukommt. Mit ihren Sätzen verknüpft sich ,.die feste
Überzeugung, dass der objektive Sachverhalt ihnen stets und unter
allen Bedingungen entsprechen muss, und eine Ausnahme davon
unmöglich ist". Sie stehen in dieser Beziehung in einer Reihe
mit den Sätzen der Arithmetik und der auf beiden aufgebauten
Phoronomie, sowie mit den analytischen Denkprinzipien der formalen
Logik. „Während [aber] unsere Geometrie nur für solche Intelli-
genzen, die in derselben Raumform wir wir anschauen, Apodikti-
zität besitzt, erstreckt sich die Apodiktizität der allgemeinen
Grössenlehre, sowie der Logik auf alle, wie auch immer gearteten
Intelligenzen überhaupt." Sie bilden also Systeme von Gesetzen
für unser resp. für alle erkennenden Bewusstseine. Von blossen
verites de fait unterscheiden sie sich subjektiv durch die mit
ihrem Verständnis verknüpfte „Überzeugung, dass der empirisch-
wahrnehmbare Sachverhalt ihnen schlechterdings nie widersprechen
kann", objektiv dadurch, „dass, der subjektiven Antizipation
entsprechend, jene Überzeugung von den Tatsachen wirklich stets
bestätigt wird und nur dann widerlegt werden könnte, wenn die
Welt mit unserem Verstand zugleich völlig aus den Fugen ginge,
wenn sie sich z. B. plötzlich aus einer Welt von drei Dimensionen
in eine solche von vieren verwandelte". Und demgemäss spitzt
Liebmann das vorliegende Problem zu den beiden Fragen zu:
„Woher stammt einerseits das subjektive Notwendigkeitsbewusstsein,
welches jenen apodiktischen Gesetzen anhaftet? Wie erklärt sich
andererseits der Umstand, dass eben die objektive Erfahrung
niemals widersprechen kann?" (A. 253—6). Die beste Antwort
auf diese Fragen gibt nach seiner Meinung der Apriorismus (z. B.
für die Geometrie die Apriorität der Euklidischen Raumanschauung,
für die Phoronomie ausserdem auch noch die der Zeit); und darum
bekennt er sich zu ihm, als zu der bestbegründeten, wahrschein-
lichsten Hypothese (A. 256—7).
Mit Freuden begrüsse ich zunächst, dass diese Art der
Fragestellung das Problem viel schärfer erfasst als die Kants.
Vor allem tritt darin klar hervor, dass es sich um einen Rück-
schluss von einer vorhandenen Wirkung auf ihre verborgene Ur-
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 27
Sache handelt, und dass (bei der prinzipiellen Unsicherheit aller
solcher Schlüssel) der Apriorismus, soweit nur dieses eine Problem
in Betracht kommt, bloss den Charakter einer Hypothese trägt.
Die Wirkung aber, die in Frage steht, ist ein Bewusstseins-
phänomen : das eigenartige Evidenzgefiihl, welches sich mit jenen
Wahrheiten verbindet. Das gilt auch für die zweite Frage, in
der deshalb meiner Meinung nach die Worte „der Umstand" durch
„die Überzeugung" ersetzt werden müssen. Diese Überzeugung
teile ich durchaus und zweifle keinen Augenblick daran, dass sie
berechtigt ist. Aber die Tatsache des Vorhandenseins dieser
Überzeugung ist etwas ganz Anderes, als die Tatsache sein würde,
dass die Wirklichkeit dieser Überzeugung entspricht. Wer beides
gleichstellt, verwechselt Gegebenes und seine hypothetische Deutung.
Die zweite (angebliche!) Tatsache, dass jene Überzeugung von der
Erfahrung, wie Liebmann sich ausdrückt, „wirklich stets bestätigt
wird", würde ja voraussetzen, dass die Gesamterfahrung des
Menschengeschlechts (auch die ganze künftige) dem offen vor
Augen läge, der jene Tatsache erkennt. Denn da von einem
„stets" geredet wird, kann die betreffende Kenntnis nur gewonnen
werden auf Grund einer Übersicht über alle in dem „stets" ent-
haltenen Fälle. Es sei denn, dass die Unmöglichkeit feststehe,
dass etwas anders sei, als es in Wirklichkeit ist. Und dies
letztere scheint Liebmann allerdings im Auge zu haben, da er
neben der Berufung auf das „stets bestätigt werden" auch mit
der Unmöglichkeit eines Widerspruchs der objektiven Erfahrung
gegen jene Überzeugung resp. mit der Unmöglichkeit ihres Wider-
legtwerdens durch die Erfahrung operiert. Aber auch dadurch
wird die Situation nicht gerettet. Denn auch diese Unoiöglichkeit
ist keine Tatsache und kann unter keinen Umständen, durch keine
noch so subtilen Beweisführungen zu einer werden. Mit Bezug
auf die ganze „objektive Erfahrung" können wir niemals über
die Kenntnis des So-seins hinaus bis zu unmittelbarer Erkenntnis
des So-sein-müssens vordringen. Wir können, solange wir uns an
das in ihr Gegebene halten, wohl das Nicht-vorhandensein eines
Dinges oder Vorganges behaupten, nie aber das Nicht- vorhanden-
sein-können oder die [Jnmöglichkeit des Vorhandenseins. Not-
wendigkeit, Müssen, Unmöglichkeit sind Deutungen, die wir an
die Dinge und Ereignisse heranbringen, um sie begreifen zu
können. Es sind Denkkategorien, die uns über das unmittelbar
Gegebene hin wegführen, vermittelst deren wir innere Beziehungen
28 E. Adickes,
zu erfassen slichen. Ich biu auf das festeste davon überzeug-t,
dass es auch in den Erfahrung-s-Diugen und -Vorgängen selbst
(und ebenso im Absolut - Realen) Gesetzmässigkeiten und Not-
wendigkeiten giebt; aber dieses etwaig-e Muss im Sein können wir
nicht unmittelbar erkennen, wir können es nur erschliessen, indem
wir das Sein deuten oder „interpoheren" im Sinne des Muss, d. h.
im Sinne eines g-esetzmässigen Zusammenhanges. Daher können
mir auch keine Notwendigkeiten oder UnraögUchkeiten jemals un-
mittelbar gegeben werden, als nur solche, die sich auf den ein-
zelneu Geistesakt in mir beziehen und in dem Evidenzgefühl
bestehn, das seinen Inhalt begleitet: darin, dass ich mich innerlich
gezwungen sehe, gerade dies Bestimmte zu denken und anzu-
schauen, oder dass es mir in anderen Fällen unmöglich ist, jenen
Gedanken oder jene Anschauung zu vollziehen.
Dieses Evidenzgefühl ist also die ursprüngliche psychische
Tatsache, welche die Grundlage und den Ausgangspunkt für die
Behandlung der ganzen Frage, die uns hier beschäftigt, bilden
muss. Als psychische Tatsache ist es selbstverständlich auch
Untersuchungsobjekt für die Psychologie; aber die Aufgabe dieser
Wissenschaft beschränkt sich darauf, es zu beschreiben und fest-
zustellen, wie es im Lauf des geistigen Geschehens entsteht und
vergeht, eventuell auch noch die Situationen, die seiner Entstehung
günstig sind, d. h. seine Gelegeuheitsursachen, zu klassifizieren.
Wo sie endet, beginnt die Erkenntnistheorie: sie fragt nach der
objektiven Grundlage und Berechtigung des Evidenzgefühls, nach
seiner Bedeutung für das Erkennen, d. h. für die anschauliche
oder begriffliche Eekonstruktion (Abbildung) irgend einer Wirklich-
keit; sie forscht also einerseits nach der tieferen Ursache, aus der
heraus es bei Gelegenheit dieser oder jener Erfahrung entspringt,
anderseits nach der Rolle, die es im Gesamtorganismus des Er-
kennens spielt. Diese tieferen Ursachen können entweder in der
allgemeinen geistigen Organisation oder in der Natur der Erkennt-
nisobjekte oder in beiden gesucht werden. Sie können aber auch
ganz fehlen : dann entpuppt sich das Evidenzgefühl als eine
Täuschung, die Ansprüche, die gestellt wurden, waren unbe-
rechtigt.
So liegt die Sache bei allen metaphysischen Denknot-
wendigkeiten. Als subjektive Bewusstseinsphänomene können auch
hier die Evidenzgefühle nicht bestritten werden: der einzelne
Metaphysiker ist von seinen Dogmen so sehr überzeugt, dass ihm
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 29
ein Auch-anders-deukeu-können ganz ausgeschlossen erscheint.
Ein Spinoza würde von der Tadellosigkeit seiner Definitionen, von
der Evidenz seiner Axiome und von der Notwendigkeit der auf
beide gebauten Schlüsse auf das innigste durchdrungen geblieben
sein, wenn auch hunderte von Gegnern ihm entgegen getreten
wären. Und doch kann nicht einmal von objektiv begründeten
Wahrscheinlichkeiten auf diesem Gebiet die Rede sein. Es wäre
deshalb sehr falsch, wollte man von vornherein ohne Weiteres
alle Evidenzgefühle als gleichwertig betrachten und nach einer
Schablone behandeln.
Auch da, wo man, wie beim logischen Evidenzgefühl, als
Grundlage Gesetzmässigkeiten und Notwendigkeiten in der allge-
meinen geistigen Organisation annimmt, sind .diese doch nicht im
Bewnsstsein selbst gegeben, können also auch nicht unmittelbar
erkannt und erfahren werden. Die ganze geistige Organisation
tritt ja nie in das Bewnsstsein, sie muss stets erschlossen werden,
und zwar durch einen Schluss von der Wirkung auf die unbe-
kannte Ursache. Kann also bei ihr nicht einmal von einer Er-
kenntnis des So-seins die Rede sein, dann natürlich erst recht
nicht von einer Erkenntnis des So-sein-müssens. Und am aller-
wenigsten ist es, wenn mau die Worte wägt, zulässig, von der
Notwendigkeit, dass die „objektive Erfahrung" (oder meinetwegen
auch: jede Wirklichkeit) den logischen Gesetzen stets entspreche
(oder von der Unmöglichkeit, dass dem je anders sei), als von
einer nicht nur tatsächlich vorhandenen, sondern auch als tat-
sächlich erkannten zu sprechen. Über die feste Überzeugung von
dem Vorhandensein einer solchen ausnahmslosen Korrespondenz
können wir nie hinauskommen; nie wird es möglich sein, sie zu
verifizieren, da wir weder je den ganzen Umkreis objektiver Er-
fahrung (oder: der Wirklichkeit) zu überschauen, noch je ihr So-
sein-müssen und Nicht-anders-sein-können unmittelbar zu erfassen
im Stande sein werden. Dass jene Überzeugung nie getäuscht
werden kann, das steht mir so fest, wie jedem andern Geistes-
gesunden. Ihre ursprüngliche Grundlage aber kann nirgends
anderswo gefunden werden, als im logischen Evidenzgefühl: aus
ihm wird auf gewisse Gesetzmässigkeiten der geistigen Organi-
sation zurückgeschlossen. Dabei mögen sich noch verschieden-
artige Argumente zu Gunsten jener Überzeugung geltend machen
— auch sie ziehen doch ihre Beweiskraft letzthin ganz und gar
aus dem logischen Evidenzgefühl. Es ist für mich selbstverständ-
30 E. Adickes,
lieh, dass das Denken insofern in das Sein (die Wirklichkeit)
überoreift, als es auch in dem (resp. der) letzteren keine Denk-
unmöglichkeiten geben kann. Aber kein Mensch kann es beweisen,
und keiner kann die Unmöglichkeit des Vorhandenseins solcher
Denkuumöglichkeiten im Sein unmittelbar im letzteren selbst er-
fahren und erfassen. Unser Denken müsste denn zum Sein selbst
werden, das Sein freitätig setzen. Jene Selbstverständlichkeit ist
wieder nichts als nur ein anderer Name für das logische Evidenz-
gefühl. Und dies letztere kann nie etwas unmittelbar über das
Sein selbst aussagen, sondern stets nur über die Art, wie wir
das Sein denken (resp. anschauen) müssen.
Materiell stimme ich Liebmann darin völlig bei, dass den
analytischen Denkprinzipien der formalen Logik wie den Axiomen
der reinen Grössenlehre (Arithmetik und Algebra) Apriorität zu-
kommt, dass sie also auf gewisse höchste Intellektualgesetze zurück-
weisen und aus ihnen hervorgehn. Erkenntnisgrund für die letzteren
ist das mit jenen Prinzipien und Axiomen verbundene Evidenz-
gefühl: aus ihm als Wirkung wird auf die unbekannte Ursache
(Realgrund) zurückgeschlossen. Der formalen Logik und der
reinen Grössenlehre gemeinsam ist, dass sie keine materialen Er-
kenntnisse über Gegenstände, die ausserhalb unseres Denkens vor-
handen sind, enthalten. Die Logik stellt die Normen fest, denen
unser Denken unbedingt entsprechen muss, wenn es iQi Stande
sein soll, reale Erkenntnisse zu vermitteln. Die reine Grössen-
lehre hat mit selbstgemachten Begriffen zu tun, die sie zwar nur
auf Grund des von der Erfahrung gelieferten Materials bilden
kann, doch so, dass sie mit demselben frei schaltet und waltet
und in die Begriffe nur das hineinnimmt, was sie brauchen kann
und nötig hat. Diese Begriffe, die also im Gegensatz zu den Er-
fahrungsbegriffen eine erschöpfende, völlig eindeutige Definition
zulassen, verbindet sie dann in der mannigfachsten Weise gemäss
Gesetzen, die in unserer Intellektualorganisation ursprünglich ge-
gründet sind. Und soweit die objektive Erfahrungswelt jenen
freigebildeten Begriffen entspricht, letztere also auf sie anwend-
bar sind, werden auch die Resultate der reinen Grössenlehre in
ihrer ganzen Ausdehnung für die Gegenstände und Vorgänge der
Erfahrungswelt Gültigkeit haben müssen. Wird eine Einzel-
erfahrung als Spezialfall unter einen allgemeinen Satz der reinen
Grössenlehre subsumiert, so stellt sich sofort das logische Evidenz-
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 31
gefühl ein und zwingt uns die feste Überzeugung auf, dass der
letztere auch für die erstere unbedingt gelten muss.
Im Gegensatz zu Logik und reiner Grössenlelire geht die
Euklidische Geometrie unmittelbar darauf aus, materiale Erkennt-
nisse von einem allein ausserhalb des Denkens vorhandenen
Objekt zu verschaffen: nämlich von dem Erfahrungsraum und
seineu Eigenschaften. Denkt man auch allen Rauminhalt weg und
behält also das blosse Raumschema übrig, oder stellt man sich
eine geometrische Figur nur mit der Phantasie vor, so muss man
doch in jedem E^all (im Gegensatz zur Logik und reinen Grössen-
lehre) aus dem reinen Denken heraustreten und zur Anschauung
seine Hülfe nehmen. Es kann keine Geometrie ohne Raum und
keinen Raum ohne Anschauung (sei es auch nur eine solche in
der Phantasie) geben. Und die Geometrie sagt demgemäss nichts
über Eigenschaften und Gesetze des Denkens, sondern über
Eigenschaften und Gesetze eines Anschauungsobjektes aus.
Auch bei den geometrischen Axiomen und Sätzen liegt ein
eigenartiges Evidenzgefühl vor. Und die schwere Frage ist: wie
ist es zu erklären?
VIL
Hier trenne ich mich von Liebmann und kann als Empirist
seiner Antwort nicht beipflichten. Liebmann ist auf den Empiris-
mus nicht gut zu sprechen, er lässt ihn fast im. Sensualismus
aufgehen, und Hume ist einer der wenigen Philosophen, denen er
nicht gerecht zu werden vermag. Apriorismus und Empirismus
sind nach meiner Ansicht §ehr wohl vereinbar mit einander. Wäre
es nicht, dann müsste der Empirismus ganz von der Bildfläche
verschwinden, denn um die Annahme, dass es überhaupt Apri-
orisches gibt, kommen wir gar nicht herum. Die eigentlichen
Gegensätze sind vor wie nach Kaut Empirismus und Rationalismus,
und die Hauptstreitpuukte betreffen gar nicht die ursprüngliche
Beschaffenheit unseres Geistesvermögens, sondern die Methode des
Erkennens und die Kriterien der Wissenschaft oder die Gewissheits-
grade menschlichen Erkennens, also die Frage der Notwendigkeit
und Allgemeingültigkeit. Und was das Apriori betrifft, so werden
beide füglich nur darüber streiten können, wieviel davon vor-
handen ist: der Rationalist wird die naturgemässe Tendenz haben,
möglichst viel anzunehmen, der Empirist: möglichst wenig.
32 E. Adickes,
Als 23jährig'er habe ich meiner Ausgabe von Kants Kritik
der reinen Vernunft (1889) von extrem-empiristischem Standpunkt
aus gegen Kant manche Einwürfe erhoben, die ich jetzt, reifer
geworden, nicht mehr aufrecht erhalten kann. Die 2. Auflage des
schon länger vergriffenen Werkes wird die inzwischen erfolgte
Wandlung bezeugen. Aber insofern bin ich noch immer Empirist,
als ich auf das Apriori nur im höchsten Notfall zurückgreife. Der
aber scheint mir hier nicht vorzuliegen. Eine Theorie der geo-
metrischen Axiome ist möglich ohne Apriorismus, ja! der Vertreter
des letzteren hat sogar vor seinem Gegner nichts voraus, weil
gerade am entscheidenden Punkt sein Apriorismus ihn doch im Stich
lässt und nichts zur Erklärung beizutragen vermag.
Ich sehe hier ganz davon ab, dass manche hervorragende
Mathematiker das Vorhandensein jenes Evidenzgefühls bei den
geometrischen Axiomen überhaupt leugnen. So behauptet z. B.
Helmholtz, dass „die geometrischen Axiome, in demjenigen Sinne
genommen, wie sie allein auf die wirkliche Welt augewendet werden
dürfen, durch Erfahrung geprüft, erwiesen, eventualiter auch wider-
legt werden können" und dass sie als Naturgesetze „natürlich an
der nur approximativen Erweisbarkeit aller Naturgesetze durch
Induktion teilhaben" (Vorträge und Reden ^ 1896 II 233, 393).
Ich stelle mich vielmehr auf den Standpunkt Liebmanns und
betrachte das Evidenzgefühl bei den geometrischen Axiomen als
tatsächlich vorhanden, sehe auch davon ab, dass es nicht bei
allen Axiomen mit gleicher Stärke auftritt, beim Parallelenaxiom
vielmehr, wo die Verhältnisse verwickelter liegen, entschieden
schwächer als bei den übrigen. Aber schweigen wir davon und
halten uns an einen der für den Apriorismus günstigsten Fälle:
an das Axiom, dass zwischen zwei Punkten nur eine kürzeste
Linie, die gerade, möglich ist. Wie soll man sich seine etwaige
Apriorität vorstellen?
Leider unterlässt Liebmann es, konkret-anschaulich anzugeben,
wie er sich den Zusammenhang zwischen der apriorischen Er-
kenntnis eines solchen Axioms und der Apriorität der Raum-
anschauung denkt. Er beschränkt sich auf allgemeine Wendungen,
wie: das Euklidische Raumgesetz sei das Grundgesetz der geo-
metrischen Wahrheiten (A. 257), die formale Natur und Charak-
teristik unseres Raumes finde man als wissenschaftlich wohl-
gegliedertes System in der Euklidischen Geometrie niedergelegt
(A. 185), der Raum sei ein Lokalisatiousgesetz, das unser an-
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 33
schauendes Bewusstsein despotisch beherrsche und die gesamte
apodiktische Gesetzlichkeit der Geometrie in sich schliesse (G. II 27).
Ich begreife vollkommen, dass, die Apriorität der Raum-
auschauung vorausgesetzt, ihre Eigentüoilichkeiten und Gesetze für
alle Erfahrungsgegenstände maassgebend sein werden. Ich verstehe
auch, was man meint, wenn man als Aufgabe der Geometrie eine
wissenschaftlich-systematische Darlegung jener Eigentümlichkeiten
und Gesetze bezeichnet. Nun beginnt aber erst die Schwierigkeit.
Das eigentliche Problem ist: woher weiss ich, dass die Euklidische
Geometrie diese Aufgabe richtig löst? bezugs weise: wie ist das
Evidenzgefühl zu erklären, mit dem sich mir und jedem Andern
die Überzeugung aufdrängt, dass die Lösung die richtige sei? Aus
der Apriorität der Raumanschauung würde . sich nur die tat-
sächliche Geltung der Euklidischen Geometrie für alle Gegen-
stände der Erfahrungswelt ergeben, und auch diese bloss unter
der Voraussetzung, dass die Geometrie eine richtige Charakteristik
des Raumes enthält. Ganz etwas Anderes aber wäre das Wissen
um diese tatsächliche Geltung, die Überzeugung von ihrer Not-
wendigkeit und damit die Überzeugung von der apodiktischen
Gewissheit der Geometrie. Wie dieses Wissen und diese Über-
zeugung sich aus der Apriorität der Raumanschauung ergeben
sollen, ist mir unverständlich.
Liebmann meint, die Geometrie sei „für alle empirischen
Objekte oder Anschauungsphänomene aus demselben Grund a priori
maassgebend, aus welchem die im optischen Apparat einer Camera
obscura herrschenden Refraktious- und Reflexionsgesetze für die in
derselben entstehenden Bilder a priori maassgebend sind" (A. 235).
Gewiss! sobald die Geometrie die Natur des Raumes richtig wieder-
giebt! Im Übrigen aber spricht das Gleichnis gegen Liebmann.
Bekäme die Camera plötzlich ein dem menschlichen ähnliches Be-
wusstsein, so würde sie zwar die in ihr entstandenen Bilder vor
sich sehen, das Entstehen derselben aber fände doch noch immer
ihr selbst unbewusst statt (wie beim Menschen das Entstehen der
räumlichen Empfindungen), und eine Erkenntnis der bei diesem
ihrem unbewussten Tun herrschenden Refraktions- und Reflexions-
gesetze wäre ihr nicht unmittelbar gegeben, sie müsste sie vielmehr
erst aus der Erfahrung abstrahieren. Ähnlich bei uns Menschen,
die wir unsere Empfindungen unbewusst, einem innern unbekannten
Drang gehorchend, an den verschiedenen Orten des Raumes lokali-
sieren oder objektivieren. Ein Wissen um die auf diese Weise
KantBtudien XV, O
34 E. Adickes,
entstehende Form des Nebeneinander können wir, wie mir scheint,
nur dadurch bekommen, dass wir die von uns unbewusst geschaffenen
und empirisch vorgefundenen Verhältnisse des Nebeneinander zum
Objekt der Erfahrung und des Studiums machen. Zwei ganz
verschiedene Dinge kommen in Frage: einerseits ein unbewusstes
Tun, ein Anordnen gemäss einer unbewussten inneren Gesetz-
mässigkeit, anderseits die Erkenntnis der Eigentümlichkeiten
der durch jenes unbewusste Tun hervorgebrachten Raumform,
Jenes würde Liebmanns transscendentalem Ich zufallen, dieses
wäre Sache seines individuellen Ich (vgl. oben S. 10, 17 — 18).
Nun könnte man vielleicht einwenden: es handle sich um
durchgehende Gesetzmässigkeiten unseres Geistes. Wie Kant ein
und dieselbe Gesetzmässigkeit in den Funktionen der Vergegen-
ständlichung unserer Empfindungen, in den Urteilsformen, in den
Stammbegriffen des reinen Verstandes, in seinen höchsten Grund-
sätzen annehme, so sei auch hier eine Gesetzmässigkeit, die sowohl
jenes un- oder vorbewusste Tun beherrsche, als auch unsere
Erkenntnis von den Eigentümlichkeiten des Raumes als des aus
jenem Tun hervorgegangenen Produktes. Dort erscheine sie in
der Notwendigkeit des Lokalisierens, hier in der Apodiktizität der
geometrischen Axiome und Sätze.
Aber gerade davon wird ein Empirist sich schwerlich über-
zeugen können. Für ihn kommen zwei ganz heterogene Dinge in
Betracht. Apriorische Funktionen, d. h. einen Zwang, so oder so
zu handeln, zu objektivieren, zu lokalisieren, kann er sehr wohl
akzeptieren, nicht aber apriorische Erkenntnisse betreffend das
Resultat dieses Handelns. Solche Erkenntnisse, wird er meinen,
könnten nur durch Erfahrung erworben werden, wenn auch durch
innere Erfahrung. Er sieht keine Brücke, die von der Notwendigkeit
des Handelns zu der Notwendigkeit des Erkennens hinüberführte.
Es sind gleichsam zwei ganz verschiedene Regionen unseres Geistes.
Wohl vermag er sich von dem Vorhandensein höchster Denkgesetze
zu überzeugen, die a priori, d. h. in der Organisation unseres
Intellekts gegründet sind; aber dann kommt das Denken nur als
ein Handeln in Betracht, das durch apriorische Funktionen in
bestimmte Bahnen gelenkt wird, und die Formulierung der formalen
logischen Grundprinzipien ist nur eine Selbstbesinnung auf die
innere formale Gesetzmässigkeit unseres ganzen Denkens, steht
also auch unter dieser letzteren und nimmt an dem Evidenzgefühl
teil, mit dem sie sich überhaupt aufdrängt. Ganz anders bei den
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 35
geometrischen Axiomen! Hier soll eine Gesetzmässigkeit als all-
gemeingültige erkannt werden, die sich garnicht in unserm Denken,
sondern vielmehr nur in unserm unbewussten Lokalisieren und
Objektivieren geltend macht. Und materiale Erkenntnisse sollen
gewonnen werden, die sich auf ein vom Denken verschiedenes,
selbständiges Objekt beziehen.
Handelte es sich, wie es nach A. 241 scheint, nur um „an-
geerbte Vorstellungsarten in demselben Sinn, wie man von er-
erbten, angeborenen Instinkten der Tiere oder von erblichen
Krankheiten spricht", also um den Zwang so und so zu lokalisieren:
dann läge keine Schwierigkeit vor. Aber was gefordert wird, ist
in Wirklichkeit etwas ganz Anderes: nämlich eine apriorische Er-
kenntnis dieser Vorstellungsarten, nur sie könnte die Apodiktizität
der geometrischen Axiome und das Evidenzgefühl, mit dem sie
konzipiert werden, erklären (falls man letzteres überhaupt auf
diesem Wege zu begreifen sucht!). Das blosse Vorhandensein
der Vorstellungsarten würde nur die tatsächliche Geltung der geo-
metrischen Axiome für die ganze Erfahrungswelt erklären, nicht
unser Wissen um diese Geltung noch unsere Überzeugung von
ihrer Notwendigkeit. Im einen Fall käme nur die unbewusst
vor sich gehende räumliche Anordnung unserer Empfindungen als
Tatsache in Betracht, im andern Notwendigkeiten und Un-
möglichkeiten in unserm Anschauen, also in unserer bewussten
Erkenntnis.
Nach Liebmann liegt „der wesentliche, von empiristischer
Seite übersehene Unterschied zwischen Erkenntnissen a priori
und a posteriori garnicht in der verschiedenen Art ihrer psycho-
logischen Entstehung, sondern in dem grundverschiedenen Modus
der Evidenz; . . . darin, dass eine apriorische Wahrheit, z. B.
3X3 = 9, wenn einmal erkannt, dann auch mit einem Grade von
Gewissheit anerkannt wird, der die Möglichkeit einer empirischen
Widerlegung schlechterdings ausschliesst, jede empirische Be-
stätigung daher durchaus überflüssig macht; mit einem Grade von
Gewissheit also, den eine bloss aposteriorische Wahrheit nie und
nimmer erreichen kann" (A. 240). Dies „nie und nimmer" ist
eine dogmatische Behauptung und enthält eine petitio principii:
das Problem ist ja gerade, ob nicht auch aposteriorische Wahr-
heiten unter gewissen Umständen einen solchen Grad von Gewissheit
erlangen können, wie sie den geometrischen Axiomen erfahrungs-
gemäss zukommt. Den Ausgangspunkt darf nicht der Begriff des
3*
36 E. Adickes,
Apriori und eine willkürliche Definition desselben bilden, vermöge
deren die geometrischen Axiome ohne Weiteres unter ihn sub-
sumiert werden können und müssen, sondern vielmehr das Evidenz-
gefühl, das daraufhin zu untersuchen ist, ob es auf ein Apriori
zurückweist oder nicht.
Und diese Untersuchung kann nach meiner Ansicht nur so
geführt werden, dass man zunächst den psychischen Tatbestand
genau analysiert. Man findet dann, dass das Evidenzgefühl eine
doppelte Überzeugung einschliesst resp. gebiert: einmal die, dass
ich in diesem Augenblick absolut nicht anders kann, als gerade
so oder so anschauen, oder unmöglich dies oder das in der An-
schauung vollziehen kann, z. B. zwischen diesen zwei Punkten
mehr als eine kürzeste (gerade) Linie ziehen, anderseits die
Überzeugung, dass dasselbe Gefühl der absoluten Notwendigkeit
oder Unmöglichkeit sich auch bei allen andern einstellen werde,
die sich in meiner Lage befinden, und bei mir selbst auch in
jedem beliebigen anderen Raumteile, sobald ich in ihm versuche
oder tue, was ich soeben versuchte oder tat. Dort handelt es
sich um die Notwendigkeit meines Erlebens, hier um seine Allge-
meingültigkeit.
Kann nun der Apriorismus diese beiden Erscheinungen oder
wenigstens eine von ihnen befriedigender erklären als der Empi-
rismus? oder ist er gar allein im Stande, es zu tun? Wäre
das eine oder andere der Fall, dann müsste man ihn als die
wahrscheinlichere Hypothese (denn das bliebe er auch dann noch,
da es sich immer nur um einen Rückschluss von einer vorliegen-
den Wirkung auf ihre erfahrungsmässig nie aufweisbare Ursache
handeln würde) der empiristischen Erklärung vorziehen. Aber es
wird sich zeigen, dass er vor dieser, soweit die erste Er-
scheinung in Frage kommt, nichts voraus hat, während er der
zweiten gegenüber völlig versagt.
Was zunächst die Notwendigkeit meines Erlebens angeht,
so wird der Apriorismus sie aus der ursprünglichen Organi-
sation meines Geistes (der apriorischen Anschauungsform) ableiten,
die mit demselben Zwang, mit welchem sie mich meine Empfind-
ungen hier oder dort objektivieren lässt, mich nötigt, in der be-
sonderen Weise des Euklidischen Raumes anzuschauen, es mir da-
gegen unmöglich macht, andere Formen der Raumanschauung,
sei es auch nur in der Phantasie, zu vollziehen, z. B. zwischen
zwei Punkten mehr als eine kürzeste (gerade) Linie zu ziehen.
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 37
Aber auch der Empirismus würde in der Erklärung dieses
Notwendigkeitsgefühls keine Schwierigkeit finden. Freilich würde
er sich wohl zu der metaphysischen Hypothese von der trans-
scendentalen Realität des Eukhdiscben Raumes gedrängt sehen ^) und
1) An sich giebt es allerdings noch eine dritte Möglichkeit, die für
mich persönlich jedoch wenig Wahrscheinlichkeit hat: eine Verbindung
nämlich von transscendentaler Idealität des Euklidischen Raumes und
empiristischer Erklärung der Anschauungsnotwendigkeit. In der Annahme
zunächst, dass wir, auch wenn das Absolut-Reale völlig raumlos wäre,
doch die Eigenschaften des empirisch gegebenen Raumes aus der Er-
fahrung, und nicht aus apriorischen Quellen kennen lernten, liegt keinerlei
Schwierigkeit. Denn im Absolut-Realen müsste doch auch dann irgend
eine (uns zwar ganz unbekannte und unerkennbare) Ordnung oder Gesetz-
mässigkeit angenommen werden, die den Grund dafür bildete, dass die
Dinge der empirischen Welt uns gerade hier oder dort, in dieser Grösse
und Gestalt, in dieser Lage zu einander, ruhend oder bewegt, erscheinen
(vgl. A. 68). Werden aber die einzelnen räumlichen Verhältnisse der
Körperwelt auf das Absolut-Reale in dem Sinne zurückgeführt, dass ihnen
dort irgend eine Gesetzmässigkeit entsprechen muss, so ist nicht abzusehen,
weshalb dasselbe nicht auch mit der Räumlichkeit überhaupt, mit dem
Räumlich-Sein im Sinne der Euklidischen Geometrie geschehen sollte. So
wenig wir begreifen könnten, weshalb das an sich Raum- (und eventuell
auch Zeit-) lose uns in Raum und Zeit distrahiert erscheint, warum uns
dieses hier, jenes dort, dieses früher, jenes später gegeben ist, so wenig
würden wir verstehen, warum wir gerade in der Form des Euklidischen
Raumes anschauen müssen. Aber für Beides würde, wenn vom Empiris-
mus als a priori nur der Zwang, überhaupt räumlich anzuschauen, nicht
dagegen die ganze Euklidische Raumanschauung mit aUen ihren Gesetzen
zugegeben wird (vgl. hierüber S. 43—4), im Absolut-Realen die entsprechende
LTrsache anzunehmen sein. Und wie man Vorgänge und Dinge im Raum
nur erfahrungsmässig kennen lernen kann, wie weder über Farben noch
über Töne (resp. die ihnen zu Grunde liegenden Schwingungen) noch
über Gravitation noch über irgend ein Naturgesetz irgend etwas a priori
ausgemacht werden kann, so würde man auch die Natur und Gesetze des
Raumes erfahrungsmässig erforschen müssen. Was aber die Anschauungs-
not wendigkeit betrifft, so würde die L'nmöglichkeit, in dem Erfahrungs-
raum selbst (der uns ja samt seinen Gesetzen durch die unbekannte Ur-
sache im Absolut-Realen aufgezwungen wäre) Anschauungen zu vollziehen,
die den Euklidischen Axiomen entgegen sind, keinen Schwierigkeiten der
Erklärung unterliegen. Anders wäre es allerdings mit der Unmöglichkeit,
auch nur mit der Phantasie andere Raumformen (als die Euklidische),
mit andern Axiomen wirklich anschaulich (und nicht nur als abstrakte,
logisch denkbare Möglichkeiten) vorzustellen. Hier müsste man seine Zu-
flucht zu der Hilfshypothese nehmen: das, was von den Sinnesempfind-
ungen gilt, dass wir nämlich nicht imstande sind, uns neue Sinnesquali-
täten zu erdenken und sie mit unserer Phantasie konkret-sinnlich vorzu-
38 E. Adickes,
demgemäss der Meinung sein, dass unsere Erfahrungen und Er-
lebnisse mit Bezug auf unseren Bewusstseinsraum uns zugleich
auch einen Einblick in die räumlichen Verhältnisse und Gesetze
des Absolut-Realen verschaffen. Dann würde die Anschauungs-
notwendigkeit oder -Unmöglichkeit, die ich in mir erlebe, keine
subjektiv begründete sein, sondern wäre auf Notwendigkeiten im
Absolut-Realen zurückzuführen. Es darf nicbt etwa der Einwand
erhoben werden, wir kennten dies Absolut-Reale gar nicht und
könnten nicht einmal über seine Beschaffenheit, geschweige denn
über Notwendigkeiten in ihm etwas sagen. Dasselbe gilt ja auch
von unserer geistigen Organisation: auch sie ist uns nicht ge-
geben, auch über sie können wir nichts wissen im strengen Sinne
des Worts. Wir befinden uns eben ganz im Gebiet der Hypo-
these, unsichere Rückschlüsse von gegebenen Wirkungen auf un-
bekannte Ursachen müssen uns leiten. Und wie bei der Frage
nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit von mehr als drei Di-
mensionen (oben S. 25) muss ich auch hier wieder sagen: ich
sehe nichts, was dagegen spräche, dass die von mir erlebten An-
schauungsnotwendigkeiteu eine durchaus objektive Grundlage haben,
dass ich also nur darum zwischen zwei Punkten nicht mehr als
eine kürzeste (gerade) Linie ziehen kann, weil es der Natur der
Sache nach, wie nun einmal die Eigentümlichkeiten und Gesetze
des absolut-realen Raumes und überhaupt alles Räumlich-Seins
sind, objektiv unmöglich ist. Ich kann diese objektive Unmöglich-
keit als solche nie erkennen, gewiss nicht! Aber es ist durchaus
denkbar, dass nur diese objektive Unmöglichkeit es mir sub-
jektiv unmöglich macht, die betreffende Anschauung zu voll-
ziehen, und es steht demgemäss auch nichts im Wege, von der
subjektiven Unmöglichkeit meines Erlebens aus auf jene objektive
Unmöglichkeit als die eigentliche Ursache zu schliessen. Ähn-
stellen, sei auch auf unser Anschauungsvermögen anzuwenden; auch bei
ihm seien wir an die Erfahrung, an ihre Formen und Gesetze gebunden
und könnten nur abstrakt-denkend, nicht aber anschaulich-vorstellend über
sie hinauskommen (vgl. oben S. 23-4). — Dieser letzteren Hypothese werden
sich auch die Empiristen bedienen müssen, die zwar unserem Erfahrungs-
raum transscendentale Realität zuschreiben, die es aber für wahrschein-
lich halten, dass wir nicht in einem ebenen Raum leben, sondern in einem
solchen, dessen Krümmungsmaass von Null verschieden ist, jedoch so wenig,
dass wir diese Abweichung nicht wahrzunehmen vermögen und deshalb
stets nur solche Erfahrungen machen können, die mit den Formen und
Gesetzen des Euklidischen^^Raumes^in^Einklang sind.
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 39
liehen Anschauungsunmögliclikeiten wie beim Axiom von der
geraden Linie begegnen wir ja täglich und stündlich : so erscheint
mir unmöglich, dass der meinem Ofen gegenüberstehende ßücher-
tisch in dessen Öffnung hineingehe, dass der Deckel einer kleinereu
Kiste die grössere schliesse etc. Sollen wir auch da überall
zur Erklärung auf die angebliche apriorische Raumanschauung
zurückgreifen? Liegt nicht die Annahme viel näher, dass die
objektiv-realen Verhältnisse selbst es sind, die mir jene Unmög-
lichkeit aufzwingen und in ihr zui' Geltung kommen?
Soweit wir bis jetzt sehen, scheinen also die beiden rivali-
sierenden Theorien einander ganz gleich zu stehen: beides sind
mögliche Hj-pothesen, keine hat etwas vor der andern voraus.
Und was das Zweite betrifft: die AUgeni eingültigkeit
meines Erlebens, d. i. meine feste Überzeugung, dass ein Fall für
alle gilt, dass, was ich eben jetzt erlebe, alle in meiner Lage
erleben würden, und ich wiederum unter denselben Umständen
eben dasselbe auch in jedem andern Raumteil, so versagt hier
meiner Ansicht nach der Apriorismus völlig. Ich begreife
schlechterdings nicht, wie die etwaige Tatsache, dass unser
Raum eine apriorische Anschauungsform ist, jenes Allgemeingültig-
keitsgefühl sollte hervorzaubern können. Denn nur die Tatsache
kann selbstverständlich in Betracht kommen, nicht die Erkenntnis
der Tatsache. Eine solche liegt ja bei den allermeisten der Tausende
und Abertausende, welche die geometrischen Axiome mit jenem
Allgemeingültigkeitsgefühl vollziehen, gar nicht vor. Und ausserdem !
Wie sollte eine blosse Hypothese (und das wäre jene Erkenntnis ja!)
ein derartiges Gefühl hervorbringen können! Also nur die Tat-
sache der Apriorität selbst, rein als solche, könnte sich geltend
machen. Aber wie? Apriori würden doch nur Funktionen sein:
der Zwang, gerade im Euklidischen Raumschema zu lokalisieren
oder zu objektivieren, ihm gemäss anzuschauen. Aber dieser Zwang
kann sich doch immer nur in einer bestimmten Situation durch-
setzen und da dann nicht anders als in dem Notwendigkeitsgefühl,
von dem soeben gesprochen wurde, zum Bewusstsein kommen. Aber
damit wäre doch nur für den gerade vorliegenden Fall etwas
bestimmt, nicht auch für alle die unendlich vielen andern gleich-
artigen Fälle. Sowie ich mich in einen von ihnen wirklich hinein-
versetze, wäre natürlich sofort auch das Notwendigkeitsgefühl
wieder da, aber auch wieder in seiner Beschränktheit auf nur
diesen einen Fall. Aus der Apriorität könnte unmöglich eine
40 E. Adickes,
gleichsam abstrakte, allgemeine Anschauungsnotwendigkeit hervor-
wachsen : die gibt es nicht, eine abstrakte Notwendigkeit kann nur
begrifflicher Art sein. Dass aber die Apriorität der Raumform
unmittelbar aus sich heraus ein Bewusstsein von der Allgemein-
gültigkeit der Axiome oder ein Bewusstsein von den ihr eigenen
Gesetzmässigkeiten hervorbringe: das ist ein, für den Empiristen
wenigstens, unvollziehbarer Gedanke. Denn es hiesse nichts anderes,
als dass jene Apriorität, d. h. das blosse Vorhandensein eines
Systems apriorischer Gesetzmässigkeiten in unserm Objektivieren
und Anschauen, sicli plötzlich in ein klares Wissen um diese
Gesetzmässigkeiten verwandle. Und das wäre ein Wunder optima
forma!
Der Apriorismus bleibt also dem Allgemeingültigkeitsgefühl
(in der oben umschriebenen Bedeutung) gegenüber jede Erklärung
schuldig. Man muss sich daher nach anderen Ursachen umsehen,
um die Tatsache begreiflich zu machen, dass wir bei allen, auch
den allgemeinsten Naturgesetzen, das Gefühl des Auch-anders-sein-
könnens haben, dass wir zu ihnen nur auf dem Wege der Induk-
tion gelangen und erst eine vielmalige tatsächliche Bestätigung
fordern, bevor wir sie anerkennen, und auch dann nur mit dem
Vorbehalt, uns durch neue Erfahrungen eventuell anders belehren
zu lassen, während bei den geometrischen Axiomen sofort das
Allgemeingültigkeitsgefühl auftritt und uns, ohne auch nur von
ferne den Gedanken an die Notwendigkeit einer Bewahrheitung
durch Induktion aufkommen zu lassen, zwingt, den ersten besten
Fall als typisch und entscheidend für alle Fälle gelten zu lassen.
(Ich wähle diese Formulierung, um den Vertretern des Apriorismus
möglichst entgegenzukommen und ihnen möglichst viel zu kon-
zedieren. Ich sehe also ganz davon ab, dass hervorragende Mathe-
matiker die Axiome faktisch durch Induktion erweisen wollen —
vgl. oben S. 32 — und dass wirklich Versuche, wenn auch ver-
gebliche, gemacht worden sind, durch Messungen das Euklidische
Parallelenaxiom zu erschüttern und nachzuweisen, dass Dreiecke
von sehr grossem Flächeninhalt eine Winkelsumme von weniger
oder mehr als 2 R. haben, wir also in einem pseudosphärischen
oder sphärischen Raum leben.)
Woher nun dieser unbestreitbare grosse Unterschied zwischen
geometrischen Axiomen und Naturgesetzen? Ich erkläre ihn,
empiristisch, daraus, dass es sich bei letzteren stets um kausale
Beziehungen handelt, die in der Erfahrung fast nie für sich, klar
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 41
abgetrennt von allem Andern, gegeben werden, sondern nur in
einem verwirrenden Vielerlei grosser zeitlich auf einander folgender
Komplexe. Hier ist es daher immer fraglich, ob wir das post hoc
richtig als ein propter hoc deuten, ob wir mit dieser Deutung
wirklich die vorausgesetzten inneren Beziehungen zwischen den
Dingen und Vorgängen erfassen, ob wir alle Gelegenheitsursachen
und mitwirkenden Faktoren mit dem ihnen zukommenden Werte
in Rechnung zu setzen und anderseits die eigentliche Ursache
und Wirkung aus den verwickelten Komplexen reinlich heraus-
zulösen vermögen. Dabei sind tausende von Irrtümern möglich, neue
Erfahrungen, genauere Experimente können uns eines Besseren
belehren, und darum kann in den empirischen Wissenschaften
nirgends dies Evidenzgefühl, dies Gefühl des.Gar-nicht-anders-sein-
könnens aufkommen. Ganz anders bei den geometrischen Axiomen :
da sind die denkbar einfachsten Verhältnisse, keine Kausalverbindung,
kein Nacheinander kommt in Frage, keine Vielheit der Beziehungen,
aus der die entscheidenden erst herauspräpariert werden müssten,
auch keinerlei qualitative Unterschiede, sondern nur rein quan-
titative, einfachste, auf das leichteste übersehbare Verhältnisse des
räumlichen Nebeneinander.
Kein Wunder, wenn da ein Fall für alle gilt! Es ist gar kein
Grund einzusehen, weshalb das, was man in und an dem einen Raum-
teil erlebt, in und an dem andern anders sein sollte! Raum ist Raum,
überall, soweit man sieht, von denselben Eigenschaften. Und nur
der Raum kommt in Betracht, keinerlei andere Verhältnisse, die
das Resultat beeinflussen, es hier so, dort anders gestalten könnten.
Unter solchen Umständen ist eigentlich das bei den geometrischen
Axiomen auf Grund des Einzelfalls sich einstellende Allgemein-
gültigkeitsgefühl viel weniger seltsam, als sein Nicht-eintreten sein
würde.
Diese Ableitung des AUgemeingültigkeitsgefühls ist keine
psychologische, sondern eine erkeuntnistheoretische, „transscen-
dentale". Nicht um seine Entstehung im einzelnen Individuum
handelt es sich, sondern um die objektive Grundlage, die logisch-
sachliche Voraussetzung, von der aus resp. unter der es allein
erwachsen kann. Und diese Grundlage oder Voraussetzung ist die
überaus grosse Einfachheit, Übersichtlichkeit, Gleichmässigkeit der
in Frage kommenden Verhältnisse, die den Gedanken an ein Anders-
sein-köunen garnicht aufkommen lassen.
42 E. Adickes,
Die eigentliche Frage bei dem Allgemeingültigkeitsgefühl ist
Dicht: kommen dem Raum überall dieselben Eigenschaften zu?,
sondern: erkennen wir im Einzelfall wirklich die Natur, die Eigen-
schaften und Gesetze des überall sich gleichbleibenden Raumes
und bringen wir sie in den Axiomen auf einen richtigen Ausdruck?
Was das Erste betrifft, so würde allerdings durch die Apriorität
der Raumanschauung ein Wechsel in ihren Eigenschaften ohne
Weiteres völlig ausgeschlossen sein. Hätten wir eine vollkommen
sichere Erkenntnis von ihnen, so könnten wir mit Bestimmtheit
sagen, dass auch beim Sirius dieselbe Art der Räumlichkeit mit
denselben von uns erkannten Eigenschaften vorhanden sein muss.
Wäre dagegen unser Bewusstseinsraum nur das Abbild eines absolut-
realen Raumes und richtete sich nach ihm, so wäre zwar die
abstrakte Möglichkeit zuzugeben, dass beim Sirius ein pseudo-
sphärischer Raum beginne, oder dass wir überhaupt in einem sphä-
rischen oder pseudosphärischen Raum von so kleinem Krümmungs-
maass leben, dass wir das Vorhandensein eines solchen in allen
uns und unserer Berechnung jemals zugänglichen endlichen Räumen
niemals bemerken könnten und infolgedessen meinen müssten, im
Euklidischen Raum zu sein ; aber für meine Person bin ich geneigt,
diese Möglichkeiten als verschwindend kleine zu bezeichnen. Und
was für die vorliegende Frage das Wichtigste ist: das Kind und
der weder mathematisch noch erkenntnistheoretisch geschulte Durch-
schnittsgebildete rechnen auf keinen Fall mit ihnen. Vollziehen
sie die geometrischen Axiome mit jenem Allgemeingültigkeitsgefühl,
so ist die überall gleichmässige Beschaffenheit des Raumes eine
selbstverständliche Voraussetzung für sie, die zu ihrer Erklärung
nicht der Theorie der Apriorität bedarf, sondern sich auf Grund
der überall gleichartigen Erfahrung naturgemäss mit Macht auf-
drängt.
Was das Zweite angeht, so kann die Erkenntnis der Eigen-
schaften und Gesetze des als bleibend gleichmässig vorausgesetzten
Raumes immer nur der Erfahrung entstammen, sei es der äusseren,
sei es (wenn wir die Axiome nur in der Phantasie vollziehen) der
inneren. In einer bestimmten Erfahrung an einem Einzelfall
erleben wir die Anschauungsnotwendigkeit oder -Unmöglichkeit, auf
Grund ihrer formulieren wir (gleichsam als den materiellen Gehalt
dieses Erlebnisses) das Axiom. Und die grosse Frage ist nun:
enthält dies Axiom eine richtige Erkenntnis der Natur des Raumes?
und gilt es deshalb, obwohl nur an einem Einzelfall gewonnen,
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 43
(loch auch von allen andern Raumteilen (in denen wir also etwa
versuchen, zv\ischen zwei Geraden eine kürzeste Linie zu ziehen)?
Das Allgemeingültigkeitsgefühl zwingt uns, diese Fragen be-
dingungslos mit einem Ja zu beantworten. Und den objektiven
Grund, weshalb dieser Zwang in uns wirkt, habe ich auf S. 40—41
aufzuzeigen versucht.
Soweit unsere bisherigen Betrachtungen reichen, stehen also
Apriorismus und Empirismus einander hinsichtlich des Notwendig-
keitsgefühls ganz gleich, bei Erklärung des AUgemeingültigkeits-
gefühls dagegen versagt der Apriorismus völlig und muss dem
Empirismus das Feld räumen.
Diesen Erfolg wird nun aber der Empirismus auch beim
ersten Problem, wo die Wagschalen objektiv betrachtet gleich-
stehen, geltend machen und wird meinen, dadurch die seine zum
Sinken bringen zu können.
Nach der auf S. 36 gegebenen Darstellung der aprioristischen
Theorie würde zwar nicht das einzelne Axiom unmittelbar ange-
boren sein (ein für den Empiristen ganz unerträglicher Gedanke!);
a priori wäre vielmehr nur die Anschauungsform des Euklidischen
Raumes, d. h. der Zwang, gerade im Euklidischen Raum zu loka-
lisieren und zu objektivieren, und die Notwendigkeit, stets seinen
Verhältnissen gemäss anzuschauen. Aber auch dies letztere wird
für den Empiristen schon zu weit gehen. Er wird suchen, auch
hier mit einem Mindestmaass vonApriori auszukommen und möglichst
viel aus der Erfahrung abzuleiten.
Dies Mindestmaass scheint mir in der Funktion oder dem
Zwange zu bestehen, überhaupt räumlich anzuschauen, d.h. unsere
Empfindungen als räumlich bestimmte zu erleben. Das kann nicht
aus der Erfahrung stammen, denn Empfindungen (die Bausteine
unserer ganzen Erfahrungswelt) sind nichts als Bewusstseinstat-
sachen, Bewusstsein als solches aber ist nicht räumlich. Jede
Erfahrung von einem Ausser-uns, jede Beziehung auf ein Ausser-
uns wäre also unoiöglich, wenn nicht jene Raumfunktion, jener
Zwang ursprünglich mit unserer geistigen Organisation gegeben
wäre. Fehlte er bei irgend einem Menschen, so würde es für ihn
nur eine Innenwelt, aber keine Aussenwelt geben, weil ihm jede
Möglichkeit abginge, sich ein Aussen auch nur vorzustellen. Auch
sein eigner Körper wäre für ihn nicht vorhanden, sondern nur
Änderungen seines inneren Zustandes, in deren Verlauf er vielleicht
Gesetzmässigkeiten entdecken würde, die ihm aber in keiner Weise
44 E. Adickes,
Anlass werden könnten, von ihnen als Wirkungen auf äussere
Dinge oder Vorgänge als einwirkende Ursachen zurückzuschliessen.
Ihm wäre zu Sinn, wie es etwa einer Qualle sein mag, die vom
Meer an eine Brücke geworfen wird: sie mag intensive Schmerz-
gefühle haben, auf die hin gewisse Bewegungen ihres Organismus
erfolgen, aber von Brücke und Meereswogen weiss und erfährt
sie nichts.
Also der Zwang, bestimmte Empfindungen aus unserm Be-
wusstsein gleichsam hinauszuversetzen , ihnen einen räumlichen
Charakter zu verleihen, sie „ausser uns", sei es als unsern Körper,
sei es als ihm selbständig gegenüberstehende Objekte, anzuschauen,
muss etwas Apriorisches sein. Aber auch nicht mehr! Die Eigen-
schaften und Gesetze dies Ausser-uns, der Räumlichkeit, lernen
wir erst durch Erfahrung kennen. Erst in und mit der Lokalisation
und Verschmelzung unserer Empfindungen, vor allem der Gesichts-
und Tasteindrücke (auch der Innern), sowie mannigfacher Be-
wegungsempfindungen, entstehen für uns in dem „Ausser-uns" die
einzelnen Verhältnisse räumlichen Nebeneinanderseins. Und noch
viel später kommen wir, durch Abstraktion von allen Qualitäts-
unterschieden des Raumerfüllenden, ja! sogar von seiner Existenz,
zu der rein formalen Raumanschauung, der blossen Raumform.
So gut wie die Dinge und Vorgänge im Raum, ist also auch dieser
reine, Euklidische Raum selbst für uns ein Erfahrungsobjekt,
dessen Natur und Gesetze die Geometrie erfahrungsmässig zu er-
forschen hat, wie die Naturwissenschaft seinen mannigfaltigen
Inhalt. Nur mit dem grossen Unterschied, dass letztere induktiv
vorgehen muss, während der Geometer sich an den einzelnen Fall
und die in ihm hervortretenden Anschauungsnotwendigkeiten hält
und, wegen der in Betracht kommenden ganz eigenartigen Ver-
hältnisse, garnicht anders kam, als die in ihm gewonnene Erkenntnis
ohne Weiteres verallgemeinern.
Diese empiristische Auffassung nötigt zu keiner bestimmten
Annahme betreffend das An-sich des Raumes. Sie ist, wie ich in
der Anmerkung auf S. 37 — 8 nachwies, auch mit seiner transscenden-
talen Idealität (sogar in extremster Fassung!) verträglich. Ihre
naturgemässe Ergänzung scheint mir persönlich jedoch die
metaphysische Hypothese von der transscendentalen Realität des
Raumes zu sein, der Glaube also: dass mit unserer geistigen Or-
ganisation die Fähigkeit verbunden ist, die räumliche Ordnung des
Absolut-Realen zu rekonstruieren, indem wir unsere Empfindungen
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 45
an die Ursprung-sorte der sie veranlassenden Reize versetzen, dass
ferner die Euklidische Geometrie (und Stereometrie) auch für die
Verhältnisse des Absolut-Realen Gültig^keit hat, und dass demge-
mäss die beim Vollzug der Axiome erlebten Anschauungsnotwendig-
keiten und -Unmöglichkeiten uns einen Einblick in das ovvoog 6v
gewähren.
Auch mit Bezug auf die Zeit wird der Empirismus suchen,
mit einem Mindestmaass von Apriorität auszukommen, und sie da-
her lieber nicht als apriorische Form der Anschauung oder gar
als apriorische Anschauung bezeichnen, wohl aber von einer in
unserer geistigen Organisation liegenden Möglichkeit und Not-
wendigkeit zeitlich anzuschauen reden. Die logisch-sachliche Vor-
aussetzung dafür ist psychische Veränderungsfähigkeit und Iden-
tität des Selbstbewusstseins. Mit Recht stellt Liebmann deshalb
fest, dass ohne „das mit sich identisch bleibende und zugleich
des Wechsels seiner Zustände sich bewusste Ich" „keine Zeit und
keine zeitliche Succession empirisch [d. h. für das erfahrende
Individuum] vorhanden sein würde*' (G. II, 14). Und wie diese
beharrliche Identität des Ich „die eigentliche, letzte Fundamental-
bedingung" für jeden von uns wahrzunehmenden Zeitverlauf und
zeitlichen Vorgang ist, so auch für die ganze, geistige wie körper-
liche, Erfahrungswelt. Für einen Stein giebt es weder eine Zeit
noch eine Welt, ebensowenig aber für einen Menschen von abso-
luter Vergesslichkeit, ,.der im nächsten Augenblick immer Nichts
mehr von Dem wüsste, was er im vorangegangenen Moment wahr-
genommen hat", oder für ein Subjekt, das „sich, mit dem Wechsel
der Wahrnehmungen selbst wechselnd, in immer ein anderes Sub-
jekt umwandelte, also mit den Wahrnehmungen selbst immer im
unaufhörlichen Entstehen und Verschwinden begriffen wäre" (G. II,
14-5, 28, 35).
VIII.
Noch ein kurzes Wort über die „theoretischen Inter-
polationsmaximen der Erfahrungswissenschaft", die Lieb-
mann 1884 in seiner „Klimax der Theorien" zuerst formulierte.
Er geisselte da mit verdientem, scharfem Spott die seltsame Ver-
irrung derer, die, unter Ausscheidung aller subjektiven Verstandes-
46 E. Adickes,
zutaten, sich ganz auf das Gegebene, auf die reine Erfahrung
zurückziehen wollen und nicht einsehen, dass dann „die Erfahrung
in ein ungeordnetes, zusammenhangsloses Aggregat völlig diskonti-
nuierlicher Wahrnehmungsfragmente auseinander fallen, und das
Resultat nicht sowohl eine reine Erfahrung, als gar keine Er-
fahrung" sein würde. Denn alles, was nicht gerade im Augen-
blick an bestimmten Raumstellen direkt wahrgenommen wird oder
sonst unser Bewusstsein unmittelbar erfüllt, müsste eliminiert
werden. Demgegenüber weist er „ein System über jeden möglichen
und wirklichen Beobachtungsinhalt hinausreichender, mithin nicht-
empirischer Prämissen" nach, „durch deren Anwendung auf die
Wahrnehmungsdata erst dasjenige zu Stande gebracht wird, was
im wissenschaftlichen, teilweise auch im alltäglichen Sinne Er-
fahrung heisst. Diese Prämissen dienen zur Herstellung des Zu-
sammenhangs zwischen Wahrnehmungsdatis, die ihrer Natur nach
isoliert sind". Darum nennt Liebmann sie im Anschluss an den
mathematischen Sprachgebrauch Interpolationsmaximen (Kl. 76;
vgl.., 78—81, 86, 94—5).
Es sind ihrer vier. 1. Das Prinzip der realen Identität:
„Wenn das vorstellende Subjekt in einem ersten Zeitpunkt das
Phänomen A, in einem zweiten Zeitpunkt das mit jenem A seinen
sämtlichen Merkmalen nach vollkommen übereinstimmende Phä-
nomen A^ wahrnimmt, so sind A und A^ realiter identisch (numero
idem); sie sind nicht zwei verschiedene Dinge, sondern nur zwei
zeitlich getrennte Perzeptionen eines einzigen Dinges". 2. Das
Prinzip der Kontinuität der Existenz: „Die Existenz eines Realen
ist zeitlich ununterbrochen und lückenlos. Nur unsere Wahr-
nehmung des Realen intermittiert ; die Existenz des Realen inter-
mittiert nicht." 3. Das Prinzip der Kausalität: „Alles natürliche
Geschehen wird durchgängig von konstanten Gesetzen beherrscht;
das heisst überall im Räume und zu jeder Zeit erfolgt beim Ein-
tritt gleicher Ursachen die gleiche Wirkung." 4. Das Prinzip der
Kontinuität des Geschehens: „Jeder wirkliche Vorgang, jede Be-
wegung oder qualitative Veränderung, jeder Naturprozess verläuft
lückenlos, so dass er die Zeitstrecke seines Geschehens kontinuier-
lich ausfüllt, nicht aber durch inhaltsleere Zeitintervalle in ein
Diskretum zerfällt wird, also in einem Moment plötzlich aufhört,
um in einem anderen, davon getrennten Moment ebenso plötzlich
von Neuem anzuheben" (G. II, 51 — 3).
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 47
Ich halte diese Untersuchungen für ausserordentlich wert-
voll; sie zeigen in glänzender Weise Liebmauns echt kritischen
Geist, seine Kraft zu tief eindringender Analyse, seinen scharfen
Blick bei Scheidung zwischen Tatsache und Deutung. Denn um
Deutungen, durch die allein wir Sinn und Ordnung in das sonst
völlig regellose und zusammenhangslose Durcheinander unserer
Bewusstseinserscheinungen, vor allem unserer Empfindungen,
bringen, handelt es sich bei allen diesen Maximen. Als Deutungen
sind sie zunächst nichts als subjektive Zutaten des Einzelneu.
Aber sie kehren (die 3. Maxime freilich oft nur in abgeschwächter,
weniger prinzipieller Form) bei allen normalen Menschen, soweit
unsere Erfahrung reicht, mit grösster Gleichmässigkeit wieder,
und die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich geltend machen,
ist so stark, dass man ihrer meistens gar nicht inne wird, wes-
halb das durch sie Postulierte auch so unendlich oft verkannt
und unter die Rubrik des tatsächlich Gegebenen versetzt wird.
Auch gehen diese Deutungen meistens gar nicht aus absichtsvoller
Überlegung hervor, sondern aus der unbewussten mit blossen Asso-
ziationen arbeitenden Tätigkeit unseres Geistes. Woraus zu
schliessen sein dürfte, dass die Erfahrung selbst sie nahe legt.
Trotzdem aber wird auch der Empirist Liebmann beistimmen
können, wenn er sie als „wesentliche Charakterzüge, typische
Merkmale der menschlichen Intelligenz" bezeichnet (G. II, 56).
Nur sind diese Ausdrücke allerdings nicht in dem Sinne der Kan-
tischen Apriorität des Kausalbegriffes und Kausalgesetzes zu ver-
stehen, und Liebmann selbst würde gegen eine solche Auffassung
sein entschiedenes Veto einlegen.
Es handelt sich auch hier wieder um einen Rückschluss von
einer Tatsache auf ihre unbekannte Ursache. Tatsache ist,
dass jeder im alltäglichen Leben fortwährend jener Maxime gemäss
(die 3. oft nur weniger prinzipiell genommen) das unmittelbar
Gegebene interpoliert und sich dabei dieses seines Tuns meistens
nicht einmal bewusst ist, ferner dass die Wissenschaft ohne solche
Deutungen jeden Boden unter den Füssen verlieren würde, dass
sie also die Richtigkeit jener Maximen zur logisch-sachlichen Vor-
aussetzung hat. Und die Frage ist: — nicht etwa: wie entstehen
die Maximen, sei es im ganzen Menschengeschlecht, sei es im
einzelnen Menschen? (denn das wäre eine rein psychologische
Untersuchung!), sondern: — sind die Maximen sachlich berechtigt?
haben sie objektive Gültigkeit? welches ist ihre Grundlage? (vergl.
48 E. Adickes
Kl. 73/4, 77/8, 99 — 106). Das sind die echt erkenntnistheoretischen
Probleme. Und die Antwort wird füglich gar nicht anders können
als feststellen, dass diese Grundlage auf jeden Fall zum Teil im
menschhchen Geist und seiner typischen Konstitution zu suchen ist.
Aber wieder wird der Empirist suchen, mit einem Mindest-
maass von Apriorität auszukommen. Wie mir scheint, bedarf es,
um die Tatsache, so wie sie vorliegt, erklären zu können, nicht
der Annahme von besonderen (gerade für diesen Fall erdachten)
apriorischen Formen oder Funktionen in der menschlichen Intelligenz.
Es genügen schon die mit der letzteren gegebenen Fähigkeiten des
Vergleichens, Verbiudens, Trennens, Unterscheidens, Ideutifizierens,
abstrakten Denkens, und die aus diesen Fähigkeiten und Tätig-
keiten des weiteren sich ergebenden Qualitäten. Anderseits zeigt
das schlechthin Gegebene in der inneren und äusseren Erfahrung
inmitten seines regellosen und zusammenhangslosen Durcheinander
doch auch wieder überraschende Fälle von Konstanz (wenn ich ein
und dasselbe Ding oder einen und denselben Vorgang lange be-
obachte) und von Regelmässigkeit im Nacheinander; und solcher
Fälle werden noch viel mehr, wenn ich meine unmittelbaren Be-
obachtungen mit denen Anderer kombiniere, wobei ich freilich
den Kreis des schlechthin Gegebenen weit überschreite, da ja auch
„die Andern" mir nur als in Raum und Zeit zerstreute Empfindungen
„gegeben" sind. Indem nun unser Intellekt vermittelst der ge-
nannten Funktionen das schlechthin Gegebene teils unbewusst teils
bewusst bearbeitet, entstehen in ihm auf Grund der in eben diesem
Gegebenen vorhandenen Konstanz und Regelmässigkeit zunächst
gewisse Handelnsgewohnheiten, im Sinn jener Maximen das Ge-
schehen aufzufassen, Empfindungen zu Objekten zu verschmelzen
u. s. w. ; und erst lange danach, wenn die Aufmerksamkeit sich auf
das eigene geistige Tun gerichtet hat und mit Erfolg bestrebt ist,
die Gewohnheitsgesetze, die man bei diesem Tun instinktiv-un-
bewusst befolgte, zu erkennen, kann, als späte Frucht der Ent-
wicklung und Resultat langer wissenschaftlicher Forschung, eine
begriffliche Formulierung jener Handelnsgewohnheiten in der Art
der Liebmanuschen Maximen zu Stande kommen.
Ich weiss wohl, dass dieser letzte Satz eine psychologisch-
genetische Digression enthält. Aber sie ist nötig, um die Be-
deutung der objektiven Grundlage der Maximen in das rechte Licht
zu stellen. Die im unmittelbar Gegebenen wahrnehmbare Konstanz
und Regelmässigkeit ist zwar nur eine sehr beschränkte — sie
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 49
reicht ja, genau genommen, nicht weiter als meine individuelle,
direkte Betrachtung — , und darum gibt sie durchaus kein Recht
auf Maximen von so prinzipieller Bedeutung und solchem Anspruch
auf Allgemeingültigkeit. Aber immerhin kann sie doch unser
Denken in eine gewisse Richtung weisen, ihm eine gewisse gewohn-
heitsmässige Tendenz eindrücken. Und diese Tendenz treibt es
dann, einerseits die Interpolationen faktisch zu vollziehen, ander-
seits aber auch, über dies ihr eigenes Tun nachdenkend, ihm in
den Interpolationsmaximen einen möglichst prinzipiellen, allgemein-
gültigen Ausdruck zu geben. Da der letztere weit über die schmale
im unmittelbar Gegebenen vorhandene objektive Grundlage hinaus-
geht, hat Liebmann durchaus Recht, wenn er seine Maximen als
nichtempirisch oder überempirisch bezeichnet '(z. B. G. II 53, 54,
56). Auch durch keine noch so weit getriebene Induktion können
sie jemals rein empirisch werden. Im Gegenteil! Jede Induktion
setzt ihrerseits schon die Interpolationsraaximen voraus: nur z. B.
insofern das Kausalgesetz allgemeingültig ist oder als allgemein-
gültig betrachtet wird, hat Induktion überhaupt Sinn. Trotzdem
fehlt ihnen der Zusammenhang mit der „reinen" Erfahrung nicht.
Sie sind nicht apriorische Geschöpfe unserer geistigen Organisation,
nur in ihr gegründet und von ihr an die zusammenhangslose Masse
der Empfindungen herangebracht, sondern unser Geist tut, indem
er sie vollzieht und formuliert, nichts Anderes, als den objektiven
Andeutungen folgen, die ihm im unmittelbar Gegebenen entgegen-
treten. Die Art aber, wie er ihnen folgt, ist sein und typisch
für die menschliche Intelligenz.
Auch darin stimme ich Liebmann bei, dass die „reine Er-
fahrung", also das, was, nach Ausscheidung aller subjektiven Zu-
taten, als unmittelbar Gegebenes überbleibt, eigentlich gar nicht
den Namen „Erfahrung" verdient, dass auf jeden Fall eine geord-
nete, objektive Erfahrung, also die Erfahrung, wie sie jedem im
alltäglichen Leben vorliegt (von der wissenschaftlichen ganz zu
schweigen!), nur durch Interpolationen gemäss den namhaft ge-
machten Maximen möglich ist. Insofern kann man die letzteren
als erfahruugstiftend, als intellektuelle Bänder und Klammern des
Gebäudes der Empirie, als unentbehrliche Möglichkeitsbedingungen
der Erfahrungswissenschaft bezeichnen (Kl. 98, G. II 51, 55, 56).
Und ferner: sind sie weder Erfahrungssätze noch Axiome,
weder apriorische Gesetze noch notwendige, ewige Wahrheiten,
so bleibt nichts übrig, als in ihnen Hypothesen oder Postulate zu
Kantstudien XV. 4-
50 E, Adickes,
sehen, aber allerdings eigenartige, insofern sie die conditio sine
qua non für jede höhere Erfahrung, vor allem für jede wissen-
schaftliche Betrachtung bilden.
Doch steht nichts der Annahme im Wege, dass diese Hypo-
thesen, obwohl ,. Produkte der typischen Konstitution menschlicher
Intelligenz" (Kl. 107), trotzdem Verhältnisse und innere Zusammen-
hänge des Absolut-Realen zum Ausdruck bringen. Wer letzteres
als in der Zeit uud im Euklidischen Raum seiend denkt, für den
wird diese metaphysische Annahme ein sehr wahrscheinlicher
Glaube sein. Mit den Tatsachen ist er verträglich: sie beweisen
ihn nicht, aber widerlegen ihn auch nicht, lassen sich überhaupt
weder nach der einen noch nach der andern Seite hin als Gründe
verwerten. Sollte der Glaube Recht haben, dann würde unser
Geist die im schlechthin Gegebenen liegenden Andeutungen richtig
verfolgt, würde, indem er die „reinen" Tatsachen durch seine
Interpolationen auf die einfachste Weise zu verstehen trachtete,
sie zugleich richtig gedeutet haben. Andernfalls wären die Inter-
polationsmaximen ebenso viel Schranken menschlichen Erkennens,
die in unserer geistigen Organisation selbst gegründet sind
(Kl. 96, 98). Dass es mich zum Glauben ersterer Art drängt,
brauche ich nach dem früher Gesagten kaum noch besonders zu
betonen.
Liebmann erhebt hinsichtlich seiner Interpolationsmaximen
keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit (Kl. 97). Wie sollte
letztere auch je erreichbar sein, wenn es ein einheitliches, not-
wendiges Deduktionsprinzip, wie Kant es in seiner Urteilstafel ge-
funden zu haben glaubte, in Wirklichkeit nicht giebt!
Ich würde zu den vier aufgestellten Maximen noch zwei
andere hinzufügen, deren eine das Dasein selbständiger Iche
ausserhalb meines Bewusstseins anzuerkennen hätte (vgl. G. II,
39 ff. sowie oben S. 14 — 15), während die andere der Überzeugung
Ausdi'uck verleihen würde, dass ich mit jenen fremden Ichen eine
gemeinsame Sinnenwelt habe. Beiden Maximen gemäss interpoliert
schon die alltägliche Erfahrung auch des Kindes und ungebildeten
Menschen fortwährend das Gegebene. Wissenschaftlich wäre vom
Standpunkt des transscendeutalen Realismus aus die zweite Maxime
dahin zu erläutern und zu begründen, dass zwar jedem Ich seine
Sinnenwelt besonders entsteht, auf Grund der ihm eigenen geistigen
Konstitution und ihrer Beeinflussung durch die ihrem Wesen
nach unbekannten Einwirkungen des Absolut-Realen, dass aber
Liebmann als Erkenntnistheoretiker. 51
diese geistige Organisation typische, allen menschlichen Individuen
gemeinsame Züge aufweist, infolge deren die ihrer Entstehung
nach getrennten Sinnenwelten der einzelnen Iche doch faktisch,
wenigstens im Grossen und Ganzen, zusammenfallen. Auch bei
Volkelt bilden die fremden Bewusstseine und die Einmaligkeit
der Sinnenwelt (neben dem kontinuierlichen Bestehen transsubjek-
tiver Wesenheiten und ihrer gesetzmässigen Verknüpfung) Teil-
inhalte des von ihm sogenannten transsubjektiven Minimums, d. h.
des .,von den einfachsten Urteilen in gleicher Weise denknot-
wendig anerkannten transsubjektiven Sachverhalts" (Die Quellen
der menschlichen Gewissheit 1906, S. 43 ff.)-
Ausser dem bisher behandelten theoretischen Teil hat Lieb-
manns Transscendentalphilosophie auch noch einen praktischen,
der sich mit der sittlichen Wertschätzung beschäftigt und ..ihre
Bedingungen a priori ans Tageslicht zu bringen" hat (G. II 59—60).
Da aber Liebmanns Stellung zum Problem der Werte von anderer
Seite behandelt wird, gehe ich auf diese Untersuchungen nicht
weiter ein. ^)
Dasselbe gilt von seinen inhaltsreichen Aufsätzen zur Natur-
philosophie. Auch mit ihnen wird sich eine besondere Abhandlung
beschäftigen.
Und so schliesse ich denn, damit das Ende sich an den
Anfang knüpfe, mit dem Hinweis darauf, wie sehr Liebmann auch in
diesen naturphilosophischen Arbeiten überall erkenntnistheoretische
Vorsicht und Kritik walten lässt. Unwillkürlich vergleicht man
ihn mit Haeckel, wenn man jene Aufsätze liest. Vielfach sind es
dieselben Probleme, die von den beiden Forschern behandelt werden.
Aber welch ein Unterschied! Haeckel ist wie ein Jüngling, der
sich wagemutig in das Leben stürzt und meint, die Welt sei sein;
aber um sie zu erobern, fehlt ihm das Wichtigste: er sieht nicht
die Schwierigkeiten und Abgründe, die ihn umgeben, nicht die
Feinde, die sich ihm entgegenstellen, und so fällt er rettungslos
in ihre Hände. Liebmann dagegen gleicht einem erfahrenen,
klugen Manne, der vor allem die Grenzen seiner Kraft einsehen
gelernt hat, der deshalb nichts plant und nichts angreift, bevor
1) Erst nachdem diese Worte gesetzt waren, erfahre ich, dass der
geplante Aufsatz leider ausfällt,
4*
52 E. Adickes, Liebmann als Erkenntnistheoretiker.
er nicht Hindernisse und Schwierigkeiten, seine Energie und der
Andern Widerstand in Ansatz gebracht hat; er weiss sich zu
bescheiden: und gerade darum hat er Erfolg. Aach inmitten der
Naturphilosophie verlässt ihn keinen Augenblick die fuudamentale
Einsicht, die Haeckel so völlig abgeht: dass der Mensch Alles
schlechthin nur in dem Medium des menschlichen Bewusstseins
erkennt.
Indem Liebmann bei völliger Beherrschung des naturwissen-
schaftlichen Stoffes ihn doch zugleich von höherer, erkenntnis-
theoretischer Warte aus überschaut, indem er. Tiefe und Klarheit
paarend, mit grosser Sicherheit und Schärfe überall den springenden
Punkt an den Problemen erfasst und überzeugend zur Darstellung
bringt, giebt er einen glänzenden Beweis dafür, wie frucht-
bringende, auch dem Naturwissenschaftler wertvolle Arbeit gerade
der Philosoph auf diesem Grenzgebiet zu leisten im Stande ist.
Otto Liebmanns Kampf mit dem Empirismus.
Von Hugo Falkenheim.
1.
Otto Liebmanns Erstlingsschrift „Kaut und die Epigonen"
ist 1865 erschienen. Dies besagt, dass er die, bestimmenden wissen-
schaftlichen Eindrücke seines Lebens in einer aller Philosophie
feindlichen Periode empfangen hatte und sich in die Reihe der.
Männer stellte, die der Philosophie den entrissenen Boden schritt-
weise wiederzuerobern strebten. So vorsichtig wie ausdauernd
hat seine Lebensarbeit das Ziel verfolgt, von den Voraussetzungen
des Kantischen Systems her, wie er sie auffasste und konsequent
gegen Missdeutungen verfocht, einen sich stetig erweiternden
Kernbestand gesicherter Ergebnisse zu gewinnen. In stets betonter
Anknüpfung an Kant hat er seine Untersuchungen von der Er-
kenntnistheorie aus auf die anderen Gebiete der Philosophie,
namentlich auf Naturphilosophie und Metaphysik, ausgedehnt und
im Laufe seiner Entwicklung zu fast allen Hauptwerken des Meisters
Stellung genommen. In der lebendigen Darlegung und selbständigen
Weiterführung Kantischer Grundgedanken besteht in der Haupt-
sache sein Lebenswerk, ohne dass er sich jedoch ängstlich an den
Buchstaben der kritischen Lehre klammerte; vielmehr ist es für ihn
charakteristisch, dass er da, wo seine Ansichten mit den geschicht-
lich gegebenen Resultaten anders gearteter Systeme zusammen-
treffen, gern ihren Wahrheitserwerb in seine eigenen Gedankengänge
aufnimmt, dass er z. B. die Kantische Teleologie durch Ein-
schmelzung gewisser Grundbegriffe der platonisch -aristotelischen
Metaphysik eigenartig modifiziert. In den entscheidenden Motiven
seines Denkens aber bleibt er überzeugter Kantianer, auch wo er
— wie wir sehen werden — sich von seiner ursprünglichen Grund-
lage soweit zu entfernen scheint, wie in der Anerkennung einer
„Vernunft im Universum" und in der Forderung einer „kritischen
Metaphysik".
54 H. Falkenheim,
Liebmanns wichtigste Untersuchungen sind in einzelnen Ab-
handlungen niedergelegt, die stets in die Tiefe führen, aber mehr
auf Herausarbeitung der wesentlichen Züge als auf erschöpfende
Behandlung und endgültige Beantwortung der Probleme gerichtet
zu sein pflegen. Schon aus den Titeln seiner Schriften ersieht
man diese Eigentümlichkeit seiner Schaffensweise: „Zur Analysis
der Wirklichkeit, eine Erörterung über die Grundprobleme der
Philosophie-', „Die Klimax der Theorien, eine Untersuchung aus
dem Bereich der allgemeinen Wissenschaftslehre", „Gedanken und
Tatsachen, philosophische Abhandlungen, Aphorismen und Studien"
— in allen diesen Werken haben wir wertvolle Bausteine zur
Gedankenwelt ihres Verfassers vor uns, aber nicht eigentlich diese
selbst in ihrer systematischen Struktur. Verleiht nun diese Dar-
stellungsform mit ihrer durch keine schulmässigen Rücksichten
beengten Beweglichkeit uud Frische den Schriften einen besonderen
künstlerischen Reiz, so nötigt sie doch den Leser, den zusammen-
hängenden Plan, der ihnen zu Grunde liegt, sich selber zu kon-
struieren, die getrennten Glieder zu einem Ganzen zu verbinden.
Bei näherer Beschäftigung erkennt man freilich in zunehmendem
Masse, mit wie fester Hand der Verfasser uns selber zur Klarheit
über die beherrschenden Gedanken verhilft: er weiss sie uns
durch starke Hervorhebung und mannigfache Beleuchtung aufs
zwingendste einzuprägen. Besonders intensiv treten die Wahr-
heiten, auf deren Geltendmachung es ihm ankommt, in Verteidigung
und Abwehr zutage; hier unterstützt seine hervorstechende Fähig-
keit, die Gegensätze der Anschauungen auf den einfachsten und
schlagendsten Ausdruck zu bringen, seine Absichten überaus
wirkungsvoll. Man fühlt durchweg, wie sich ihm seine philo-
sophischen Überzeugungen gerade im Ringen mit skeptischen und
positivistischen Anfechtungen befestigt und vertieft haben. Er
hat hier sein eigenes Wort zu bewähren gesucht: „Die skeptischen
Reaktionen, weit entfernt den Hang zur Theorie abzutöten, dienen
nur zu dessen Reinigung, Selbstbesinnung, stiller Sammlung und
Höherbildung."
Um sich in Kürze die Stellung zu vergegenwärtigen, die
Otto Liebmann in der modernen philosophischen Bewegung ein-
nimmt, mag es deshalb nicht unangebracht erscheinen, einen kon-
zentrierenden Blick auf die seine Arbeiten durchziehende polemische
Auseinandersetzung mit dem Empirismus zu werfen, wie er von
ihm in seinen mancherlei Spielarten — als Psychologismus und als
Otto Liebmanns Kampf mit dem Empirismus. 55
Nominalismus, als Atomismus und als mechauische Weltansicht —
in den Bereich der Erörterung- g-ezogen wird. Dabei soll es sich
in dieser Skizze nicht darum handeln, Liebmanns Argumentation
in ihre Einzelheiten zu verfolgen, sondern nur sie im Zusammen-
hange mit dem Ganzen seiner Anschauungen soweit klarzulegen,
dass die Grundstimmung seines Geistes sowie überhaupt sein
Verhältnis zur Philosophie der Gegenwart und ihren Richtungen
aus seinen eigenen Formulierungen einleuchtet. Wir können uns
diese Beschränkung ohne Furcht vor Missverständnissen, wie sie
sonst aus allzu knapper Charakteristik allgemeinster Gedanken
leicht entstehen können, hier sehr wohl auferlegen, da die anderen
Beiträge dieses Heftes für die Kenntnis der spezielleren Züge von
Liebmanns Denken ja ergänzend eintreten. Auch eine kritische
Kommentierung liegt uns fern: je ausschliesslicher Avir in diesem
Rückblick den Jenenser Philosophen an seinem Ehrentage selber
zu Worte kommen lassen, je geschlossener unser Referat seine
Ideen in Reih und Glied hinstellt, desto objektiver wird das Urteil
ausfallen können über das schwerwiegende Verdienst, das ihm am
Durchdringen heiss umstrittener, von ihm frühzeitig mit dem vollen
Einsatz seiner Persönlichkeit vertretener Einsichten zukommt —
mögen auch viele von diesen heute dem kundigen Leser nichts
Neues mehr sagen, andere nur in veränderter Gestalt Verwendung
gefunden haben.
2.
Liebmanns erkenntnistheoretischer Standpunkt ist in ausge-
sprochener Weise der transscendentalphilosophische. Was ihn in
seiner Formuherung auszeichnet, ist die unermüdliche, eindrucks-
volle Präzision, womit er ihn seinen Lesern unter Fortlassung
alles Beiwerks in einfachen grossen Linien vor Augen führt und
gegen abweichende Deutungen abgrenzt. Seine eigene Forschung
baut sich auf dem Grundgerüst der Prinzipien des Kritizismus
auf. Die fundamentale Urtatsache, das unentbehrliche Medium,
innerhalb dessen für das Subjekt die gesamte empirische Wirklich-
keit, uns selber mit eingeschlossen, als Phänomen entsteht, ist
ihm ein- für allemal das erkennende Bewusstsein mit seinen
Normen und Formen. Diese höchsten Intellektualgesetze sind die
allgemeine Voraussetzung aller Welterkenntnis: sie haben „meta-
kosmische" Bedeutung, liegen der gesamten Aussen- und Innen-
56 H. Falkenheim,
weit zugrunde, müssen also ebenso für den Erkenntnisakt des
Subjekts als für das erkennbare Objekt schlechthin massgebend
sein. Daher stammt sowohl das subjektive Notwendigkeitsbewusst-
sein, das den höchsten Erkenntnisgesetzen anhaftet, als auch der
Umstand, dass die objektive Erfahrung ihnen niemals widersprechen
kann. Apriori heisst nichts anderes, als das für jede der unsrigen
homogene Intelligenz streng Allgemeine und Notwendige, das
Nichtauderszudeukende, das, über dem empirischen Subjekt und
seinem Objekt gleich erhaben, alle Erfahrung und ihren Gegen-
stand gestaltet — und den Erscheinungen objektive Realität
sichert. Die immanenten Funktioueu, die dem metakosmischen
Bewusstsein zukommen, beherrschen zusammenwirkend als er-
fahrungstiftende Bedingungen alles individuelle Erkennen. So
bleiben Subjekt und Objekt, Erkennendes und Erkanntes durch die
gemeinsamen transscendentalen Formen ihrer Existenz als unauf-
lösliche Korrelate zur gegebenen Wirklichkeit miteinander ver-
bunden. In dem berühmten Satze Kants, dass der menschliche
Verstand die Gesetze nicht aus der Natur schöpfe, sondern ihr
vorschreibe, findet Liebmann „den tiefsten Wahrheitsgehalt der
Vernunftkritik" ausgesprochen.
Dieser konsequent gedachte Apriorismus musste ihn notge-
drungen in Gegensatz bringen zu dem zeitweilig zu erneuter
Herrschaft gelangten Standpunkt, der die Alleingültigkeit der
„reinen Erfahrung" als Lösung des erkenntnistheoretischen
Problems verfocht. Gegen diesen Neobaconismus richtete er 1884
seine Schrift „Die Klimax der Theorien", als deren Motto jener
Kantische Satz gelten darf. In origineller Durchführung wird
hier der Gedanke Kants verteidigt gegen die Illusion, lediglich
aus Beobachtetem und Beobachtbarem, nach Abzug alles vom
Verstände Hinzugebrachten, ein ausreichendes Weltbild gewinnen
zu können. Da das geistvolle Büchlein, nach Seiten der Kompo-
sition und Formgebung wohl das Meisterstück Liebmanns, zur
Zeit seines Erscheinens in weitern Kreisen wegweisend und be-
freiend gewirkt hat, wird es dem Zwecke unserer Ausführungen
am besten entsprechen, seinen wesentlichen Gedankengang zu
rekapitulieren, wenn auch — nicht zuletzt Dank dem Erfolg der
kleinen Schrift — dem modernen Leser Manches darin selbstver-
ständlich oder überholt vorkommen wird. Im Hinblick auf den
bleibenden Wert des Inhalts hat Liebmann selber die Haupt-
gesichtspunkte später in seiner Darstellung des „Geistes der
Otto Liebmanns Kampf mit dem Empirismus. 57
Transscendentalphilosophie", die der zweite Band der „Gedanken
und Tatsachen-' enthält, ausdrücklich wiederholt. Thema und
Ziel seiner Untersuchung ist der Nachweis, dass alle Erfahrung
nur mit Hilfe unerfahrbarer Faktoren zustande kommen kann.
Wenn man — so führt Liebmann aus — die kausalen Theo-
rien des Geschehens nach ihrer Tragweite und ihren letzten Vor-
aussetzungen ins Auge fasst, so springen drei Hauptstufen als
besonders charakteristisch hervor; er nennt sie Theorien erster,
zweiter und dritter Ordnung. Die ersten entnehmen ihre Er-
klärungsprinzipien aus dem Bereich des unmittelbar Gegebenen;
ohne das empirische Beobachtungsfeld mit einem Schritte zu ver-
lassen, leiten sie sekundäre Tatsachen aus ursprünglichen ab.
Die Theorien zweiter Ordnung greifen zur Befriedigung des Er-
klärungsbedürfnisses über das direkt Wahrnehmbare hinaus und
nehmen jenseits der Erfahrung Realgründe an, aus denen sie
ganze Erscheinungsgebiete deduzieren können. Die dritten Theo-
rien sind metaphysischer Art, sie wollen über allem Relativen ein
absolut Reales aus unbedingt obersten Prinzipien erfassen. Zu-
nächst scheint es, als seien die ersten, vom Prinzip bis zu den
abgeleitetsten Folgesätzen herunter, empirisch kontrollierbar, als
könnten Theorien dieses Ursprungs nur mit den bestehenden Natur-
gesetzen selber umgestossen werden. Dagegen können die zweiten
nur an ihren Konsequenzen geprüft werden, und selbst wenn das
Schlussgewebe vom Prinzip zu den Folgerungen Schritt für Schritt
den Anforderungen der Logik entspricht, bleibt der Rückgang von
der empirisch gegebenen Wirkung auf eine hypothetische Ursache
stets unsicher und misslich. Bei den Theorien dritter Ordnung
bedarf es keiner näheren Darlegung, dass sie sich objektiv-ge-
wissen Wahrheitskriterien gänzlich entziehen.
Eine genauere Revision ändert jedoch dieses Resultat erheb-
lich, ja sie führt zu einer förmlichen „Peripatie" und nötigt zur
Neukonstruktion der entworfenen Ordnung. Es ergiebt sich näm-
lich, dass bei Ausscheidung aller subjektiven Verstandeszutat an
Begriffen und Grundsätzen Erfahrung überhaupt nicht zustande
kommen kann. Eliminiert man dies Geflecht von geistigen
„Bändern und Arterien", so fällt die Erfahrung in ein zusammen-
hangsloses Aggregat von diskontinuierlichen Wahrnehmungsfrag-
menten auseinander: das Resultat ist nicht reine Erfahrung,
sondern garkeine Erfahrung. Diese wird erst möglich durch
stillschweigende Anwendung eines Systems von nichtbeobachtbaren.
58 H. Falkenheim,
Überempirischen Prämissen, die den Zusammenhang- zwischen den
isolierten Tatsachen der Wahrnehmung herstellen. Liebmann
definiert sie als Einschaltungen von ergänzenden Zwischengliedern,
als „theoretische Interpolationsmaximen der Erfahrungs Wissen-
schaft", und entwickelt eine Reihe von ihnen: reale Identität,
Kontinuität der Existenz, durchgängige Kausalität, Kontinuität des
Geschehens. Bei allen diesen Maximen führt er den Beweis, dass
ohne ihre Befolgung die praktische Erfahrung des Alltags wie die
methodische Erfahrung der Wissenschaft gleich unmöglich wären.
Und so lautet das endgültige Ergebnis: obwohl diese Prinzipien
nicht im erkenntnistheoretischen Sinne empirisch sind, gehören sie
doch zu den unentbehrlichen Bestandteilen aller Erfahrung; nur
indem wir die Beobachtungslücken durch Nichtbeobachtbares aus-
füllen, indem wir die Sphäre der Erfahrung um ein Enormes
überschreiten, entsteht für uns ein objektives Weltbild statt eines
verworrenen und gesetzlosen Vorstellungsspiels. Lediglich in der
einleuchtenden Klarheit der Maximen ist es begründet, dass man
sie gewöhnlich nicht bemerkt. So ist das Ideal einer reinen Er-
fahrung, einer bloss aus tatsächlich Beobachteten zusammen-
gesetzten Wissenschaft, als „doktrinäre Fiktion" aufgezeigt. Die
Erfahrung ist vielmehr ein Geschenk des Verstandes, und bei
näherem Zusehen zeigt sich, dass es Theorie erster Ordnung über-
haupt nicht giebt, diese vielmehr in die zweite und dritte Ordnung
hinaufrücken. Empirie und Empirismus sind eben zwei sehr ver-
schiedene Dinge: „Aller reiner Empirismus und Positivismus, in-
dem er die überempirische Interpolationsmaximen irrtümlicherweise
für Erfahrungssätze hält, also das Nichtwahrgenommene mit dem
Wahrgenommenen auf gleiche Stufe stellt, ist genau genommen
nichts Anderes als eine besondere Art von dogmatischer Meta-
physik."
3.
Eine Hauptquelle, aus welcher der Empirismus bei seiner
Bestreitung der aprioristischen Theorie seine Argumente schöpft,
deckt Liebmann auf in der Vermischung und Verwechslung des
erkenntnistheoretischen Problems mit dem psychologischen. Nach-
dem sich die Erörterungen der letzten Jahrzehnte so vielfach um
diese Streitfrage gedreht haben, darf es heute als Ruhmestitel
Liebmanns hervorgehoben werden, wie einfach, klar und über-
Otto Liebmanns Kampf mit dem Empirismus. 59
zeugend er von Anfang an die für seine Stellung ausschlaggeben-
den Gesichtspunkte vertreten hat. Wir finden in der Tat bei ihm
mit grosser Eindringlichkeit diejenigen Grundgedanken in den
Vordergrund gestellt, die seither das gemeinsame Eigentum aller
antipsj'chologistischen Philosophie geworden sind. Wer die Trans-
scendentalphilosophie in Psychologie „verwässern" oder durch
Psychologie ersetzen will, verdrängt nach der Auffassung Lieb-
manns die zentrale Frage nach den Vorbedingungen aller Er-
kenntnis durch die untergeordnete, wie im individuellen Menschen-
geiste die Vorstellungen empirisch entstehen und das Erkennen
allmählig in zeitlicher Entwicklung heranreift. Dass durch die
Einsicht in die Genesis eines Gedankens zugleich ein Urteil über
dessen Gültigkeitssphäre und Erkenntniswert gewonnen werden
könne, ist der verhängnisvolle psychologistische Irrtum. Nicht mit
der psychogenetischen Frage nach dem subjektiven Ursprung
unserer Gedanken hat es die Erkenntniskritik zu tun, sondern mit
der Feststellung ihrer logischen Dignität, und so liegt aller
Unterschied zwischen apriorischen und aposteriorischen Erkennt-
nissen nicht in der verschiedenen Art ihrer Entstehung, sondern
in der grundverschiedenen Art ihrer Evidenz. Mit der Aufsuchung
der Kriterien der Wahrheit eröffnet sich ein neues, eigentümliches
Gebiet in souveräner Höhe über aller psychologischen Gesetz-
mässigkeit. Einmal erkannt, wird eine apriorische "Wahrheit mit
einem solchen Grade von Gewissheit anerkannt, dass jede empi-
rische Widerlegung ausgeschlossen, jede empirische Bestätigung
überflüssig wird; wer sie verstanden hat, glaubt sie sofort ein-
für allemal. Im Gegensatze zu den psychischen Naturgesetzen
sind die Erkenntnisgesetze kategorische Vorschriften, bei deren
Einhaltung der natürliche Gedankenverlauf die Wahrheit trifft,
bei deren Verletzung er sie verfehlt.
Liebraann betont sodann, dass der Einwand der „doktrinäien
Empiristen hergebrachten Stils" : weil unsere Erkenntnisurteile
psychologisch aus Wahrnehmungen entstanden sein, besässen sie
auch erkenntnistheoretisch nur in Hinsicht auf die bereits beob-
achteten Einzelfälle Gewissheit — noch aus einem besonderen
Grunde sein Ziel verfehle. Der Empirist setzt in seinen psycho-
logischen Theorien die objektive AUgemeingiltigkeit der gleichen
Sätze, die er bestreiten will, selber voraus. Jene transscendentalen
Interpolationsmaximen, die für jede Erfahrungswissenschaft gelten,
beanspruchen ihr Recht auch in der empirischen Psychologie; von
60 H. Falkenheim,
individuellem Vorstellungsverlauf kann nur die Rede sein, wenn
sie in ihm bereits enthalten sind. Das Gleiche gilt von den Ver-
suchen, die org-anische Grundlag-e der psychischen Vorg-äng-e
festzustellen: auch diese Hypothesen sind bereits in der Sphäre des
erkennenden Bewusstseins entsprungen und von dessen Intellektual-
formen beherrscht.
Aus solchen Erwägung-en gewinnt Liebmann seine Auffassung
vom Wesen des Geistes und seiner Funktionen überhaupt; auch hier
haben die Ergebnisse, zu denen er gelangt, weithin gewirkt und
ebenso rückhaltlose Anerkennung wie fruchtbare Weiterbildung ge-
funden. Worauf er hinstrebt, ist eine Theorie der Werte, wie sie
ihm aus der Unterscheidung von Normalgesetzen und Naturgesetzen
des Denkens erwächst. Er nimmt seinen Ausgangspunkt von dem
Ideal der psychologischen Mechanik, um darzutun, dass aus dem
von ihr behaupteten Assoziatious- und Reproduktionsraechauismus
das erkennende Denken auf keine Weise erklärbar sei. Wohl
steht unzweifelhaft fest, dass dem denkenden Subjekt der Inhalt
der Urteile durch eine unwillkürliche Vorstellungsmechanik geliefert
wird; aber damit ist noch nicht die Denk- und Urteilsfunktion als
solche gegeben. Denn nicht im Verknüpfen und Trennen besteht
das Urteil, wie die Assoziatiouspsychologie annimmt, sondern im
Bejahen und Verneinen von Verknüpfung oder Trennung; nicht
der vom Vorstellungswechsel erzeugte Bewusstseinsinhalt bringt
das Urteil hervor, sondern das über dem Vorstellungswechsel
herrschende Subjekt erteilt oder verweigert seine Genehmigung.
Liebmann erklärt den Gedanken eines psychischen Mechanismus
für eine durchaus berechtigte Spezialanwendung des Kausalprinzips:
wer nicht das Seelenleben vom allgemeinen Naturzusammenhang
ausnehmen wolle, müsse diesen Gedanken akzeptieren. Aber wo
die Psychologie auf das Ich trifft, das allem Erkennen vorangeht,
hat sie ihre Grenze erreicht: das im Wechsel der Vorstellungen,
Gefühle und Willensakte mit sich identisch bleibende Ich ist nicht
mehr Untersuchungsobjekt, sondern Fundamentalbedingung aller
Psychologie, unter der allein von innerem Geschehen die Rede
sein kann. „Aus Mechanik der Vorstellungen die Einheit der Person
ableiten, heisst ungefähr soviel, als aus Sand einen Strick drehen."
Ohne die Identität des Selbstbewusstseins gäbe es für uns, wie
keine erkennbare Welt, so auch kein Seelenleben. Der Mensch
geht in dem zeitlichen Ablauf seiner Seelenzustände nicht ohne
Rest auf, sondern erhebt sich über sich selbst; er tritt aus dem
Otto Liebmanns Kampf mit dem Empirismus. 61
Flusse des psychischen Geschehens heraus und stellt sich seinem
eigenen Seelenleben als Richter g-egenüber, der seine Gedanken
und Taten zum Objekt selbsteig-ener Kritik macht. Kausal be-
trachtet, ist das Denken ein Naturprozess; teleologisch betrachtet,
ist es ein Organon der Erkenntnis. Bei tyrannischer Alleinherrschaft
des Kausalprinzips im Denken, bei Leugnuug überpersönlicher
Wahrheitsnormen verschwände die Grundvoraussetzung aller Wissen-
schaft, die Unterscheidung von W^ahr und Falsch; eine psychologisch
naturnotwendige Meinung wäre dann genau so berechtigt wie die
andere, da es logische Erkenntnisgründe, die Anspruch auf allge-
meine Anerkennung besässen, nicht mehr gäbe. Der Naturalist
widerlegt sich selbst, wenn er Anerkennung für die Richtigkeit
seiner Ansicht verlangt, obwohl nach seiner Theorie jede Ansicht
ein gleichwertiges, kausal notwendiges Naturprodukt sein 'soll.
Dem Denken sind die Regeln der Logik immanent, sie sind „Natur-
gesetze höherer Art" als die der Assoziation: in unserem Kopfe
waltet ein logischer Naturprozess, der sich der psychologischen
Assoziationsgesetze als eines Mittels bedient, ein logisches Apriori,
dem sich das Individuum als selbstverständlicher Autorität unter-
wirft. Diese Freiheit des Denkens ist wesentliche Grundbedingung
aller Wissenschaft, da nur sie objektive Wahrheitserkenntnis ver-
bürgt.
Wie beim Intellekt, so betont Liebmanu auch bei der ge-
staltenden Phantasie die lenkende Funktion der psychischen Ente-
lechie, die lebendige Organik im Gegensatze zum „telegraphenartig
klappernden Assoziationsmechanismus". Mag sie aus der Aussenwelt
ununterbrochen Stoff entnehmen: sich assimilieren, prägen muss
sie ihn durch die formgebende Schöpferkraft, die von innen stammt.
Die Gebilde der Phantasie, die nach der Lehre des „vulgären
Sensualismus" als künstliches Mosaik aus fertigen Steiuchen und
Stiftchen zusammengesetzt erscheinen, versteht die Ästhetik
Liebmanns als Frucht eines organischen Wachstums, als Offen-
barung der Autonomie des Genies; zugleich weist er darauf hin,
wie ja die bildende Phantasie als solche nicht isoliert dastehe,
sondern zu der Dynamik der Stimmungen, Gemütsbewegungen und
Leidenschaften in Wechselwirkung trete.
Aus dem nämlichen Gesichtspunkte beantwortet Liebmann
die Frage nach dem Kausalverhältnis von Gehirntätigkeit und
Geistestätigkeit, speziell nach der Lokalisierung der psychischen
Funktionen im Gehirn. Die funktionelle Wechselwirkung, die trotz
62 H. Falkenheim,
des radikalen Gegensatzes zwischen Materiellem und Geistigem
hier herrscht, erkennt er in vollem Umfang an, wenn auch mit
erheblichen Einschränkungen im Bezug auf die Möglichkeit einer
eigentlichen physiologischen Deduktion geistiger Vorgänge; in
einer bedeutenden Abhandlung seiner „Analysis der Wirklichkeit"
hat er aus diesem Parallelismus sogar wichtige Folgerungen hin-
sichtlich einer Korrektur des herrschenden Naturbegriffs gezogen.
Aber zugleich legt er dar, dass der Nachweis eines solchen Zu-
sammenhanges seine unüberschreitbare Grenze finde an der rätsel-
haften Urtatsache der Identität des Selbstbewusstseins. Auch wenn
die Lokalisation der psychischen Vorgänge restlos abgeschlossen
wäre, so würde doch ein materielles Substrat für den geistigen
Mittelpunkt des Seelenlebens fehlen: das identische Ich, das den
zeitlidieu Wechsel seiner Zustände als zeitlos höhere Instanz
überragt, steht auch über der Gesamtheit der psychophysischen
Tatsachen. In einem geistreichen Aphorismus hat Liebmann eine
epigrammatische Formulierung dieses Sachverhalts gegeben: „Die
neueren Versuche zur Lokalisation der Geistesfähigkeiten im Gehirn
haben die alte Wahrheit, dass man mit den Augen sieht, mit den
Ohren hört und mit der Zunge spricht, etwas weiter nach oben,
innen und hinten zurückverfolgt. Ob aber der Weg von der
Zunge, den Ohren und den Augen bis zu mir weiter ist, als der
Weg von der Brocaschen Windung, dem Schläfenlappen und dem
Hinterlappen der Gehirnrinde bis zu mir, das bleibt fraglich."
4.
Wenn für Liebmann eine der hauptsächlichsten Aufgaben
der Philosophie in der „Erweiterung unseres Gedankenhorizonts
über die beschränkte Sphäre der Tatsächlichkeit hinaus" bestand,
so rausste er durch dies Programm dazu geführt werden, die Auf-
weisung der übersinnlichen Voraussetzungen unseres Weltbildes
nicht nur vom Subjekt, sondern auch vom Objekt her in Angriff
zu nehmen. Freilich fast mehr noch als vorher stösst er hier auf
die Einwendungen jenes Positivismus, „der nicht müde wird, feierlich
und trocken die Versicherung zu geben, dass die Welt genau da
zu Ende sei, wo der Horizont unseres empirischen Wissens liegt".
Ihm gegenüber weist Liebmann durchgängig darauf hin, wie sehr
es aller gesunden Logik widerspricht, das Unbegriffene dem
Unmöglichen gleichzustellen, Denkschwierigkeiten dadurch zu über-
Otto Liebmanns Kampf mit dem Empirismus. 63
winden, dass man die Unfähigkeit zu erschöpfender begrifflicher
Analyse mit objektiver Existenzunfähigkeit identifiziert und dabei
nötigen Falls Realitäten zu subjektiven Vorstellungsphänomenen
herabsetzt. Es giebt unausdenkbare Gedanken, die uns doch durch
die Logik der Tatsachen unvermeidlich aufgedrängt werden. Nach-
drücklich wendet sich Liebmann gegen „die kurzsichtig-beschränkte
Sorte von Nominalismus, wie sie seit Hobbes namentlich bei
englischen Philosophen grassiert" und die Naturgesetze für etwas
lediglich Ideelles, für bequeme Abbreviaturen erklärt, die der Zu-
sammenfassung des Ähnlichen und Gleichen an einer Vielheit von
Einzelheiten ihre Entstehung verdanken sollen.
Allerdings — entgegnet Liebmann — sind unsere Natur-
gesetze, wie sie als Formeln ausgesprochen 'werden, universalia
post rem und als solche nur in unserem Kopfe vorhanden; aber
das, was ihnen im Laufe der Dinge korrespondiert, sind universalia
arte rem. „Naturgesetze werden gedacht iu intellectu humano;
sie gelten und herrschen in rerum natura." Die reale Gesetz-
lichkeit, die neben dem gedachten Formelsystem existiert, ist
Vorbedingung für die nominale: sie besteht in der Tatsache, dass
die Dinge selbst sich so regelmässig betragen, dass uns Menschen
die Abstraktion von Gesetzesformeln überhaupt möglich wird. Wäre
der Gang der Natur nicht objektiv so geregelt, dass wir auf sub-
jektiver Seite zur Konzeption von Allgemeinbegriffen genötigt
werden, ginge der Weltlauf chaotisch oder launenhaft von statten,
so wäre unser Verstand dem Gange der Natur gegenüber zur
Ohnmacht verurteilt. Sind die Gesetze auch ein Unsichtbares,
Übersinnliches, nur in Verstandesbegriffen Erfassbares, so ist dafür
ihre Realität eine solidere, konstantere, als die des vergänglichen
Einzelphänomens. Die Erscheinungen wechseln, die Gesetze ver-
harren: „Das Eis auf dem Wasser schmilzt im Frühling, aber das
Gesetz, wonach beim Eintritt des Winters alsbald auf dem Wasser
neues Eis entsteht, schmilzt nicht." Ja, das einzelne Faktum
verdankt seine vorübergehende Existenz den Gesetzen: es ist nur
wirklich, weil es notwendig, d. h. gesetzlich ist. In der Tat lässt
sich nachweisen, dass die positivistischen Theorien von Demokrit
und Epikur bis zur modernen Zeit, so sehr sie die Herrschaft des
Allgemeinen über das Einzelne ableugnen, stillschweigend eine
Gesetzmässigkeit überempirischer Art voraussetzen. Ohne eine
solche Anerkennung würde eben jedes Naturverständnis zu einem
Ding der Unmöglichkeit; im Zweifel an der allgemeinen Gesetz-
64 H. Falkenheim,
liclikeit würde konsequenterweise der skeptische Empirismus mit
dem irrationalen Mystizismus zusammentreffen: wie der eine aus
Abscheu gegen die Annahme realer Allgemeinheit nur im Zwange
der sinnlichen Einzelwahrnehmung eine Art von Naturnotwendigkeit
erblickt, so will der andere zugunsten gemütlicher Bedürfnisse die
immanente Vernunft des Weltlaufs aufgehoben wissen und behält
nur die empirische Einzelheit als sicher in der Hand. Erst durch
ein System von Naturgesetzen, dem alles Einzelne in der Welt
unweigerlich Folge leistet, wird der Weltprozess begreiflich; weit
entfernt, nur den ökonomischen Wert einer Gedächtnishilfe zu be-
sitzen, ist das Gesetz ein unmittelbarer Beleg für die objektive
Weltordnung, ist es „ein Einblick in die Weltlogik".
Aus solchen Überlegungen ist Liebmann einer der Kern-
gedanken seiner Philosophie entstanden, der Begriff der „Logik
der Tatsachen". Er ist nichts Anderes als der Ausdruck für die
Realität konstanter Gesetze, ohne die es keine Naturerklärung
geben kann. Die strenge Gesetzmässigkeit des Weltlaufs im
Ganzen wie im Einzelnen fällt zusammen mit seiner Begreiflich-
keit. Wo sie aufhörte, stände der Verstand still; ohne sie träte
an Stelle des Kosmos der Wirrwarr, an Stelle der Logik der
Wahnwitz ; wer ihr seine Zustimmung versagt, muss an Wunder
in seinem Kopfe glauben. Was auf subjektiver Seite vom mensch-
lichen Verstand aus richtigen Prämissen richtig erschlossen ist,
eben dies ist die Natur, vermöge der durchgängigen Gesetzhchkeit
des Geschehens, genötigt auf objektiver Seite wirklich zu voll-
ziehen. Bei vorausgesetzter Giltigkeit des Kausalprinzips stellt
sich jeder der zahllosen Vorgänge der Natur unter eine bestimmte
Schlussformel: der Zusammenhang der Ereignisse muss mit der
Logik des korrekten Denkens völlig harmonieren. Insofern die
allgemeine Gesetzlichkeit des natürlichen Geschehens das objektive
Korrelat dessen in uns ist, was wir Vernunft nennen, darf Lieb-
mann sie als die Vernunft im Universum bezeichnen. Wer an die
allgemeine Gesetzlichkeit glaubt, der glaubt an eine realisierte
Weltvernunft, an eine grosse Ideenordnung in der Natur. Und
eine beträchtliche Verstärkung empfängt dieser Begriff der Welt-
logik noch durch den Umstand, dass in vielen Fällen eine Mehr-
heit spezieller Naturgesetze als notwendige Konsequenz höherer
Gesetze erkennbar ist, dass auf manchen Gebieten sich sämtliche
Spezialgesetze als zusammenhängendes System aus weniger allge-
meinen Grundgesetzen ergeben haben. Für eine absolute Welt-
Otto Liebmanns Kampf mit dem Empirismus. 65
Intelligenz würde das System sämtlicher Naturgesetze als logisch
gegliederte Totalität offen zutage liegen: „Da ist es denn nicht
vage Konjektur, sondern Aufdämmern des Lichtes der Wahrheit,
wenn wir glauben, dass die Gesamtheit aller Naturgesetze Ein
logisches Vernunftganze bildet."
Liebmanu weiss wohl, dass nach Ansicht des Empirismus,
der die Uinge „nur von aussen her, nur von der sinnlich wahr-
nehmbaren Oberfläche her" betrachtet, eine solche Überzeugung
von der Logik der Tatsachen aus unerlaubter Hypostasierung
subjektiver Abstraktionen entspringt. Und weit genug liegt sie
freilich entfernt von einer Theorie, wie etwa der atoraistischen,
die unserem Denken bei der Existenz unendlich vieler im Räume
zusammengeschneiter Massenpüuktchen Halt gebieten will. Doch
gerade dieser Theorie hält Liebmann entgegen : sie selber mache
sich ja einer offenkundigen Inkonsequenz schuldig, insofern ihre
Atome eine durchaus überempirische Annahme seien. Was den
Atomen recht ist, das darf den Gesetzen billig sein ; so geht Lieb-
mann auf seinem Wege unbeirrt sogar noch einen Schritt weiter
fort zu dem Begriffe eines gemeinsamen Realgrundes der Dinge.
Wenn in allen Vorgängen der Welt Übereinstimmung und Gesetz-
mässigkeit herrscht, so weist dies auf eine tiefere Einheit zurück,
die sich zwar der empirischen Beobachtung entzieht, die wir aber
„der Organisation unseres Verstandes gemäss hinzuzudenken nicht
umhin können". Wir ahnen und fühlen den Allzusammenhang,
wir begreifen die Tatsache der Welteinheit, wenn uns auch ihr
„Wie" und „Was" unerreichbar bleibt. Für unlösbar kann man
dieses Problem halten, aber es abzuleugnen hat man kein Recht.
In scharfgeprägten Sätzen charakterisiert es Liebmann als For-
derung der Denknotwendigkeit, die natura naturata als Wirkung
einer natura naturans zu erklären, dem uralten Gedanken einer
substantiellen Einheit des Universums zuzustimmen, der die Viel-
heit der Einzeldinge und Einzelereignisse entstammt. Die kausale
Reduktion über das Gebiet des Geschehens hinaus in das des
Seins vollzieht methodisch nichts Anderes, als die Theorie des
Geschehens selbst mit ihrer Zurückführung empirisch-tatsächlicher
Gesetze auf höhere, nichtempirische als zureichenden Grund.
Wenn innerhalb des der Empirie zugänglichen Gebiets die Ab-
leitung z. B. der Keplerschen Gesetze aus den Prinzipien der
Gravitationstheorie gestattet ist, so ist durchaus nicht einzusehen,
weshalb die Zurückführung der Naturgesetzlichkeit auf einen ein-
Kaotstudlea XY. 5
66 H. Falkenheim,
heitlichen Weltgrund als unstatthaft zurückgewiesen werden darf.
Ohne die Welt als Ganzes mit ihrem einheitlichen gesetzlichen
Zusammenhang — das gilt auch hier — würden die Einzeldiuge
gar nicht existenzfähig sein; Natur überhaupt ist „Einheit in der
Vielheit, allwaltende Gesetzlichkeit in der verwirrenden Überfülle
der Einzelfälle".
Hier ist die Stelle, an der Liebmann den Grundideen des
spekulativen Idealismus am nächsten kommt. Im Hinausgreifeu
über das Erfahrbare, sagt er, sucht unser Denken „einen innersten
Kern, ein bleibendes Wesen des empirischen Universums" zu er-
fassen, das, von der Vielheit wechselnder räUQilich-zeitlicher Phä-
nomene verhüllt, dem sinnlichen Blick unzugänghch bleibt: „Ktän
gründlich denkender Verstand kann sich dieses Forschens nach
der Tiefe hin eutschlagen und den Gedanken des wesenhaften
Weltgrundes entbehren; kein philosophisches System kann an
dieser letzten Endfrage gleichgültig vorübergehen" — nur über
den Grad der Erkennbarkeit dieses Weltwesens können die
Meinungen auseinandergehen. In mannigfacher Gestalt tritt dieser
Zeutralgedanke in Liebmanus Arbeiten hervor. So erklärt er die
empirische Welt für ein phaenomenon bene fundatum, weil sie in
einer absolut-realen Weltordnung wurzle ; so bemerkt er, dass sich
in allem Äusseren ein Inneres, im sichtbaren Realen ein unsicht-
bares Reale kundgebe und deshalb die der Betrachtung des Mate-
riellen zugewandte Naturwissenschaft nicht die ganze Natur,
sondern nur eine Seite derselben erfasse. Von den Atomen sagt
er: sie seien, falls es welche gäbe, „nicht die Natur, sondern nur
Material der Natur". In den Abänderungen der räuuilichen Kon-
stellation erkennt er bloss Symptome eines innerlichen, räumlich
nicht wahrnehmbaren Geschehens, ja im Räume selbst eine von
den Gesetzen unserer Anschauung bedingte Manifestation eines
rein intensiven, au sich unräumlichen Seins und Geschehens, und
demgemäss in der Mechanik „nicht eine Ätiologie des absolut
Realen, sondern blosse Semiotik der für den Menschen wahrnehm-
baren Symptome des Realen." Ein Ausspruch, der wie ein letztes
persönhches Bekenntnis klingt, schliesst alle diese Gedankengänge
folgendermasseu ab: „Der Mensch trägt in seinem Innern, in
seines Herzens Herzen jenes Unsichtbare, wahrhaft Reale, welches
ewig ist, welches alleui individuellen Bewusstsein, allem Gegensatz
von Subjekt und Objekt vorangeht, welchem er sich vielleicht
durch zunehmende Vertiefung mehr und mehr annähern kann,
Otto Liebmanns Kampf mit dem Empirismus. 67
. . . und welches der reflektierende, in endlichen Bestimmungen
diskursiv denkende Verstand immer nur als unnahbaren Grenz-
gedanken am Horizont der sichtbaren Welt schweben siebt."
5.
Unsere Zeichnung der anti-empiristischen Tendenz von
Liebmanns Naturanschauung würde unvollständig bleiben, wenn
wir nicht auf zwei ihrer tragenden Begriffe noch einen zusammen-
fassenden Blick würfen: auf die Begriffe der Kraft und des
Zwecks. Beide stellt Liebmann in den Dienst seines durch-
gängigen Strebens nach einer geistigeren Fassung des Weltproblems.
Die dynamische Auffassung, die in den Naturkräften die Urfaktoren
und Grundagenzien alles materiellen Geschehens und seiner sinn-
lich wahrnehmbaren Veränderungen erblickt, gehört zu den Ge-
danken, die er mit besonderer Entschiedenheit akzentuiert. Kraft
ist ihm eine unvermeidliche Grund- und Grenzvorstellung, mit der
alle Naturerklärung operieren, auf die alle Mechanik ihr Er-
scheinungsgebiet zurückführen muss. Kräfte sind permanente
Realgründe, ohne deren Wirksamkeit alle Gelegenheitsursachen
ohnmächtig zur Hervorbringung von Veränderungen sein würden;
sie sind die nach ihrer Intensität genau bestimmten Realprinzipien
des Geschehens, somit Kraft und Gesetz notwendige Ergänzungs-
begriffe. Gesetze sind der Ausdruck immer und überall gleich-
massig wirkender Kräfte: „Die Kraft ist der in rerum natura
liegende, objektive Realgrund dafür, dass das Gesetz gilt. Kräfte
sind Kausalgespenster, aber reale, nicht imaginäre." Sie sind ein
Naturrätsel, aber sie sind da, sie wirken — gleich so manchem
Andern in der Welt, das unsichtbar ist und doch realiter existiert.
Denken wir etwa an die Begriffe der Spannkraft und der kine-
tischen Energie, so haben wir — ganz im Einklänge mit dem
alten aristotelischen Gedanken der Dynamis — eine reale, den
Dingen selbst innewohnende Tendenz zur Aktion vor uns, die sich
bei Hinzutritt äusserer Bedingungen in Geschehen umsetzt. Will
man diese reale Tendenz, weil sie kein wahrgenommenes Faktum,
sondern nur interpretatorische Hypothese sei, eine subjektive Idee
nennen, so vergisst man, dass sie dies in keinem andern Sinne ist,
als die übrigen Fundamentalprädikate des Räumlich-Realen auch,
Trägheit, Masse, Dichtigkeit u. s. w.
5*
68 H. Falkenheim,
Auch von der Bedeutung des Kraftbegriffs für die Mechanik
der Atome gilt, dass sie ohne dies „unentbehrliche Inventarstück
des naturwissenschaftlichen Begriffsapparats" nicht durchzuführen
ist. Die Körper sind nach der Definition Liebmanns „kraft-
erfüllte Räume voll raumerfüllender Kräfte". Das Phänomen
körperlicher Ausdehnung und EaumerfüUung, das von der Korpus-
kulartheorie als unerklärte Tatsache hingenommen wird, erkennt
der Dynamismus als Folge von Kräften, die ja auch der Korpus-
kulartheoretiker — in Gestalt von Attraktions- und Repulsions-
kräften — nicht entbehren kann. So steigt der Dynamismus in
der Erklärung nicht nur tiefer hinab als der Atomismus, sondern
erklärt auch aus weniger Prinzipien mehr. In seiner meister-
haften Kritik der Atomistik, die das Hypothetische, Widerspruchs-
volle, nicht selten Abenteuerliche der verschiedenen Atomtheorien
einlässlich entwickelt, stellt Liebmann zwei Gedankenreihen auf,
die den ausschliesslich mechanischen Atombegriff von Grund aus
umgestalten müssten. Einmal würde, falls das Atom überhaupt
Volumen und Gestalt haben soll, seine Denkbarkeit an der Rela-
tivität unserer Grössenvorstellungen scheitern, die in endloser
Perspektive zu immer kleineren Bestandteilen fortgehen müssen;
der einzige Ausweg bleibt dann, aus der Vorstellung räumlicher
Extensität ganz herauszutreten und die Atome als ausdehnungs-
lose Massen- und Kraftzentra anzunehmen: Diese aber wären gar
kein Materielles mehr, sondern nur Etwas, das nach aussen im
Zusammenwirken mit andern seinesgleichen das Phänomen der
Materialität hervorbrächte. Sodann bliebe, wenn die Atome leb-
lose Massenpünktchen wären, die Entstehung geistiger Wesen un-
erklärlich; überwindet man diese Schwierigkeit, indem man den
Atomen selbst psychische Attribute beilegt, so „beschreitet man
einen transscendenten Gedankenweg, der über die theoretischen
Vorstellungen der heute herrschenden Physik und Chemie himmel-
weit hinausführt". Liebmanu betont, dass es ewige, metaphysische
Grenzen der Atomistik sind, die er hiermit fixiert hat.
Auch an den Einwendungen, die gegen die Realität des
kosmischen Gesaratagens, der actio in distans, gerichtet worden
sind, geht Liebmann keineswegs achtlos vorüber — freilich nur
um nachzuweisen, dass der vorgeschlagene Ersatz durch die
Kontaktwirkuug seinen Zweck nicht erfüllt. Denn wenn wir vor-
urteilslos die Erfahrung befragen, so spricht der fühlbare unsicht-
bare Zug gegen den Erdmittelpunkt weit eher für die Fernwirkung
r
Otto Liebmanns Kampf mit dem Empirismus. 69
als für den Kontaktmechanismus. Aber die Kontaktwirkun^ ist
nicht bloss um nichts gewöhnlicher, sie ist auch um nichts be-
greiflicher. Es beruht auf Selbsttäuschung, wenn man meint,
durch sie das vermeintliche Axiom zu retten, dass ein Körper da
nicht wirken könne, wo er nicht sei. Schon oft ist gezeigt worden,
dass dieser Glaube sich auf die Verwechslung von mathematischer
und physischer Berührung gründet; auch die Kontaktwirkung
würde in Wahrheit auf eine in minimaler Entfernung stattfindende
actio in distans hinauslaufen: „Zwischen der physischen Bewegung
und der bloss phoronomischen Bewegung bleibt stets der Unter-
schied, dass erstere wirkt, während letztere nicht wirkt." Zudem
bleiben auch bei konsequentester Durchführung der Kontaktfiktion
immer gewisse intensive Merkmale übrig: wie die Fern Wirkung
Trägheit und beschleunigende Kraft annehmen rauss, so hat die
Kontaktwirkung Undurchdringlichkeit und Trägheit zu Voraus-
setzungen. So sind in letzter Instanz beide Tatsachen gleich
unerklärt; beide sind gleichermassen Äusserungen derselben rätsel-
haften Bewegungstendenz, der Schwerkraft. "Will man aber, wie
es im Hinblick hierauf versucht worden ist, gar das abstrakte
Bewegungsgesetz hji)OStasieren, so setzt man sich mit dem ge-
sunden Menschenverstand in einen weit schärferen Konflikt als
durch die Annahme der Fernwirkung und lädt den dieser ge-
machten Vorwurf in erhöhtem Masse auf sich.
6.
Liebmann hat in seiner „Weltwanderung" die Ergebnisse
seines Denkens auch in poetischer Form niedergelegt. Im An-
schluss an die zuletzt wiedergegebenen Betrachtungen sind hier
die Verse geschrieben:
„Was verbindet Staub zu Sachen?
Zermalme Perlen, und Du hast den Sand,
Doch wirst aus Sand Du keine Perlen machen.
Staubwolke der Xatur? Sandwirbel? Dunst?
Formloser Nebel? Nein, da fehlt Jemand:
Gestaltenbildend schöpferische Kunst."
Mit der letzten Wendung leitet er zu einem Thema über, das er
mit besonderer Vorliebe behandelt: zur Realität des Zwecks, der
Entelechie — um auch hier Worte seiner Dichtung zu zitieren:
70 H. Falkenheiwi,
„Was sich entfaltet
Aus Knospen, Keimen, was sich selbst gestaltet,
Nach Zielen strebt aus zukunftsreichem Samen,
Was planvoll schafft."
An der Hand einer erschöpfenden Zergliederung des komplizierten
Phänomens der organischen Zweckmässigkeit stellt er eine Reihe
von Funktionen fest, denen im Unorganischen jede Analogie fehlt.
Das substantielle Beharren der Form im Wechsel des Stoffs, das
zielstrebige Hineinwachsen des Keims in einen prädestinierten
Typus, die autoplastische Hervorbriugung der Organe durch eigene
Triebkraft, das generelle Vermögen zur Fortpflanzung des Gattungs-
typus, die wechselseitige Beziehung der sämtlichen Teile zu ein-
ander als Zweck und Mittel, die Berechnung der Struktur und
der Funktionen auf Selbsterhaltung des Lebens — alle diese
Momente werden der Reihe nach lichtvoll erörtert und im Anschluss
daran die Unmöglichkeit gekennzeichnet, solche beispiellosen Eigen-
tümlichkeiten aus dem blossen Stoffwechsel herzuleiten. Statt
dessen wird, lange bevor in der modernen Biologie die gleiche
Tendenz wieder aufkam, mit kritischer Vorsicht die totgesagte
Lebenskraft in ihre Rechte eingesetzt. Liebmann lässt alle die
gegen die Lebenskraft vorgebrachten triftigen Gründe in geschlos-
sener Phalanx aufmarschieren; dann aber wendet er das Blatt um
und fordert, indem er überaus fein und geistreich die Möglichkeit
von Gegenbedenken aufzeigt, für den über Physik und Chemie
hinausreichenden Rest ebenfalls Beachtung. Auf mechanistischer
Seite hat man für das unbequeme Etwas, das der Theorie nicht
gehorchen will, Bezeichnungen wie „organischer Bildungstrieb" oder
„organische Bildungsgesetze" in Bereitschaft; übersetzt man das
auf Griechisch, so heisst es — Entelechie, Liebmann fügt hinzu:
„Wenn das Wort für manche Nasen einen unangenehmen Geruch
hat, — was werden sich ernsthafte Männer um Worte streiten?"
Die Irrtümer des alten Vitalismus, der das ganze Getriebe des
Lebens durch die Annahme einer spezifischen Kraft erklären wollte
und dabei den anorganischen Naturprozess vernachlässigte, will er
damit nicht von neuem erwecken; aber das Wort „Lebenskraft"
behält seinen guten Sinn, wenn man darunter nicht sowohl einen
Begriff als eine Begriffslücke versteht, nämlich jenes rätselhafte
Plus, das in der organischen Natur zum Mechanismus und Chemismus
hinzukommt und das formlose Aggregat in eine bedeutungsvolle
Gestalt umwandelt. Eine Begriffslücke aber, ein Nichtgewusstes
Otto Liebmanns Kampf mit dem Empirismus. 71
— das schärft Liebmann auch hier wieder ein — „ist keineswegs
ein Nichts, sondern eben ein X".
Dass Liebniann von hier aus schon vor mehr als einem
Menschenalter zur Abrechnung mit dem Darwinismus kommen
musste, liegt auf der Hand. Er gesellt sich zu denjenigen Kritikern
der Deszendenztheorie, die bei aller Anerkennung des grossen
Verdiensts und relativen Rechts ihrer historisch-mechanischen Be-
trachtungsweise doch zu dem Ergebnis kommen, dass sie das
Problem der zweckmässigen Entwicklung unerklärt lasse. „Selbst
wenn man," so resümiert er sich, „dem Kampf ums Dasein absolute
Vollmacht erteilt und ihn sämtliches Unpassende schonungslos
ekrasieren lässt, so bleiben auch bei dieser denkbar gründlichsten
Durchsiebung doch als Urfaktoren die Fortpflanzungsfähigkeit,
Erblichkeit, Entwicklungsfähigkeit stehen, ohne die gar kein
Organismus existieren, kein Kampf ums Dasein stattfinden könnte".
Diese Faktoren aber sind eminent und ausschliesslich teleologische,
mechanisch unerklärte, für Physik und Chemie unbegreifliche Ur-
tatsachen in der lebendigen Natur; der ganze Darwinismus ruht
auf teleologischer Basis. Oder wie Liebmanu diesen Gedanken
an anderer Stelle mit epigrammatischer Zuspitzung ausdrückt:
„Der Darwinismus ist die Teleologie, moderiert durch den Kampf
ums Dasein."'
So machen die unüberwindlichen Grenzen des kausalen Ver-
fahrens der Naturforschung eine prinzipielle Ergänzung und
Weiterführung nötig. Ob es ausser den Naturkräften noch be-
sondere Zweck Ursachen giebt, darüber kann Schulstreit
herrschen; dass es in der Natur eine vom Menschen unabhängige,
seiner Kunst unendlich überlegene Zweckmässigkeit giebt, da-
rüber nicht. Die den Naturlauf regulierenden Gesetze und in ihm
zusammenwirkenden tätigen Substanzen sind so geartet, dass da-
raus die bewunderungswürdige Zweckmässigkeit normaler Natur-
produkte resultieren muss. Das mechanische Erklärungsideal
koexistiert noch heute, wie einst im Altertum, mit der Lehre von
der Substanzialität der Form. Je genaueren Einblick man in das
Getriebe des Naturmechanismus gewinnt, desto genauer erkennt
man seine Zweckmässigkeit. Selbst aus dem Gesichtspunkte der
mechanischen Kausalität bliebe doch der Unterschied grösserer
oder geringerer Kompliziertheit der Naturphänomene bestehen; sie
bilden eine „wohlgegliederte Hierarchie", eine vom Unvollkom-
menen und Niedrigen zum Vollkommenen und Höheren empor-
72 H. Falkenheim,
steigende Stufenleiter. In das Begriffsschema der aristotelischen
Metaphysik passen die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft
vortrefflich hinein, — nur dass diese den bei Aristoteles noch
fehlenden Mechanismus der Höherentwicklung hinzufügt: Aristo-
teles betrachtet von teleologischem Standpunkte den Plan der
Welt, die Naturwissenschaft erkennt aus dem Getriebe der Kräfte
die Mittel zur Realisierung des Weltplans. Der blinde Mechanis-
mus dieser wirkenden Kräfte steht im Dienste einer Naturlogik;
in den Augen rationeller Teleologie fallen beide, das System not-
wendiger Mittel und Zwecke und das System der Ursachen und
Wirkungen, kongruent zusammen, „wie die vorwärts gelesene und
die rückwärts buchstabierte Rede". Und zwar reicht diese Technik
samt dem ihr dienstbaren Mechanismus bis in die idealen Wert-
urteile des menschlichen Geistes hinauf. Der landläufige Natur-
begriff freilich wird dadurch „von Grund aus revolutioniert". Man
wird zu der Idee genötigt, dem Naturmechanismus müsse etwas
eminent Logisches zugrunde liegen: „Ist die Vernunft Naturpro-
dukt, so muss die Natur Vernunft haben", so muss sie in ihrem
Kern etwas dem menschlichen Logos Analoges sein. In diesem
Gedanken erreicht Liebmanns Teleologie ihr abschliessendes Er-
gebnis.
Doch ein schiefer Zug würde in das von uns entworfene
urkundliche Bild kommen, wenn wir beim Rückblick von dieser
gewonnenen Höhe nicht eine Einschränkung hinzufügten. Bei
allem energievollen logischen Vordringen ins Reich des Überempi-
rischen bleibt Liebmann sich seines transscendentalen Ausgangs-
punktes wohl bewusst, und so hält er sich stets vor Augen, dass
unsere Gedanken über den Weltgrund, bei vollkommener Überein-
stimmung ihrer Konsequenzen mit der tatsächlich gegebenen Er-
scheinungswelt, im günstigsten Falle nichts Anderes enthalten
können als die notwendige Art und Weise, wie sich das absolut
Reale für eine Intelligenz von spezifisch menschlicher Geistes-
konstruktiou repräsentiert. Daraus geht Liebmanns charakteristi-
sches Postulat einer „kritischen Metaphysik" hervor, die nicht
apodiktische Wissenschaft, sondern hypothetische Erörterung
menschlicher Vorstellungen über Wesen, Grund und Zusammenhang
der Dinge sein will; ihre Begriffe sind demgemäss keine ontolo-
gischen Dogmen, sondern der Ausdruck logisch konsequenter Inter-
pretationen der Erfahrung. Nicht jede metaphysische Hypothese
ist mit den Tatsachen der Empirie logisch vereinbar; den Spiel-
Otto Liebmanns Kampf mit dem Empirismus. 73
raura deuknotwendiger Hypothesen zu finden, ist Aufgabe sorg-
fältiger kritischer Untersuchnng. lu diesem Sinne bleibt die
Metaphysik als Theorie der Vorbedingungen des empirisch Ge-
gebenen Verstandespflicht und behauptet zugleich als still-
schweigend angerufene Instanz über den grundsätzlichen Kontro-
versen der Spezialforschung den Rang einer Fundamentalwissen-
schaft. —
Wieweit ein jeder, insbesondere der Kantisch gesinnte Leser,
den Gedanken Otto Liebraanns im ganzen wie im einzelnen folgen
will, mag er bei sich beantworten. Und auch das mag jeder nun-
mehr in seiner Weise prüfen, welche Bestandteile aus Liebmanns
Philosophie im Laufe der Jahrzehnte Gemeingut geworden sind,
um welche noch heute gestritten wird, und schliesslich mit
welchen er verhältnismässig einsam dasteht. Dass sein Wirken
in mehr als einer Hinsicht wegbahnendes Verdienst gehabt und
tiefgehende Spuren hinterlassen hat, kann trotz aller Wandlungen
und Korrekturen, denen Fassung und Behandlung der Probleme in
der Folgezeit unterworfen gewesen sind, gerechterweise nicht in
Zweifel gezogen werder ; zu jedem Gedankengange Liebmanns
wird der mit den philosophischen Erörterungen der Gegenwart
vertraute Leser eine Fülle von erläuternden oder kritischen Glossen
hinzufügen können, die dafür Zeugnis ablegen wwden. Wem es
dann bei der Beurteilung einer solchen Leistung nicht auf den
Grad der Übereinstimmung mit den eigenen Ansichten, sondern
auf die darin bekundete Energie des philosophischen Denkens an-
kommt, der wird dem Siebzigjährigen gern den Zoll der Verehrung
darbringen, der einer so eindringenden und umfassenden Geistes-
arbeit gebührt. Und um so herzlicher wird diese Anerkennung
sein dürfen, als unter den Vorzügen Liebmanns nicht der ge-
ringste jederzeit der Mut einer mannhaften Überzeugung gewesen
ist, womit er, oft genug im Widerspruch zur herrschenden Mei-
nung des Tages, die ihm am Herzen liegenden Wahrheiten ver-
fochten hat. Deshalb Hess sich gerade aus seinem lebensläng-
lichen Kampfe mit dem Empirismus das Endziel seiner Be-
strebungen besonders klar erkennen, wie wir es zum Schlüsse
nochmals mit seinen eigenen Worten aussprechen wollen: „Die
Emanzipation von der puren Tatsächlichkeit ist zwar nicht die
einzige, aber eine Hauptquelle aller Religion und Kunst, aller
Philosophie und Theorie."
Das Verhältnis von Philosophie und Mathematik
nach 0. Liebmann.
Von Professor W. Kinkel, Giessen.
Platon, der über das Eingangstor seiner Akademie schrieb:
f^iriSelg dyswfibTQr^Tog tlahco, ist nicht nur in der Geschichte der
Mathematik rühmlichst bekannt als Begründer der sogenannten
analytischen Methode, sondern hat auch eine tiefreichende logische
Grundlegung der Mathematik aus seiner Ideenlehre heraus gegeben.
Er tadelt es an den Mathematikern, dass sie von gewissen Grund-
sätzen ausgehen und diese, als seien sie selbstverständlich, unbe-
wegt lassen, während der Dialektiker vielmehr über jene Grund-
sätze hinaus nach den Ursprüngen der Erkenntnis fragen
müsse. ^) Die hohe Würdigung, welche Platon der Mathematik
zuteil werden Hess, geht unter anderem auch aus seinen Worten
hervor: Wenn z. B. jemand aus allen Künsten die Rechenkunst,
die Messkunst und die Wägekunst ausscheidet, so scheint mir das,
was übrig bleibt, nicht viel wert zu sein.^) In diesem platonischen
Geiste sprach Nikolaus von Cusa, der erste moderne Philosoph,
das Wort aus: Nihil certi habemus, nisi nostram matheraaticam.
Nach Galilei ist das Buch der Natur mit mathematischen Buch-
staben geschrieben, nämlich in Dreiecken, Quadraten, Kreisen,
Kugeln u. s. w.^) Descartes und Leibniz sind als selbstschöpferische
Mathematiker aufgetreten: Descartes hat das Gebiet der Mathe-
matik um die Provinz der analytischen Geometrie bereichert;
1) Vergl. Rep. 510 CD: olfiai yng ae eUevai, oti oi negi xus yew/uezQias
le xai /.oytnfj.ovs xat tu rvtavia n^ay^atevo^evoi, vnod-s/^eyoi to te TiEQCTtoy
xat TO ccQTCoy xcd tu a^ri^aia xcd ywuidöy TQitia. eidt] xal aXXcc Tovxoiv a&£Xg>a
xct&^ exäarrjy fj,ed-odoy, rcevzcc fj,ev wg Eidöreg, noiriaä^evoi vnod-eastg avr«, ovdeya
köyoy ovT€ avToig ovte aXkoig eri u^ioigi tteqI cwtcvy SiSovui wg navtL (fauegwy,
ex tovTtoy d'uQ-(<'>^i£voi zu 'Äoina ijdri dcatcöyzeg ZE'Aevzojaty ofxokoyov^eycog ezi
Tovzo, oi) av inl axexpiy OQfxrjawaiv.
«) Vergl. Phileb. 55 E.
») II Saggiatore op. IV, 171, Vergl. E. Cassirer: Das Erkenntnis-
problem I, 324.
Das Verhältnis von Philosophie und Mathematik nach 0. Liebmann. 75
Leibniz ist einer der Schöpfer der Infinitestimalmethode. Den hohen
Kang, welchen beide Denker der Mathematik zuerkannten, bestätigt
ihre eigene Philosophie. Man darf in dieser Hinsicht nur auf das
bedeutende Werk von E. Cassirer über das Erkenntnisproblem
verweisen. Kant begegnet sich fast wörtlich mit Piaton, wenn er
sagt: Ich behaupte aber, dass iu jeder besonderen Naturlehre nur
soviel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als
darin Mathematik anzutreffen ist.i) Die Grundfrage der Kritik
der reinen Vernunft: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?
richtet sich in erster Linie an die Mathematik und die mathe-
matische Naturwissenschaft.
Jene platonische Methode, welche ausgehend von der exakten
Wissenschaft nach deren grundlegenden Voraussetzungen fragt, hat
zur Entdeckung des a priori geführt. Wie bei Piaton, so ist es
auch bei Descartes darauf abgesehen, die Prinzipien der exakten
Wissenschaften rein herauszuarbeiten und zu beglaubigen.^)
Und dies ist denn auch ganz und gar der Sinn der transscenden-
talen Methode Kants. A priori sind nach Kant die allgemeinen
und notwendigen Voraussetzungen der Wissenschaft, welche zugleich
die Bedingungen der Gegenstände der Erfahrung bedeuten. Der
Begriff des Transscendentalen wird von Kant, wie folgt, definiert:
„Ich nenne alle Erkenntnis transscendental, die sich nicht sowohl
mit Gegenständen, sondern mit unseren Begriffen a priori von
Gegenständen überhaupt, beschäftigt."^) Das richtige Verständnis
dieser Worte ist die Voraussetzung einer gerechten Würdigung der
Lebensarbeit Imm. Kants. Wir sehen denn auch, wie sich die
bedeutendsten Schüler Kants in der modernen Zeit in der richtigen
Würdigung und Einsicht in die Bedeutung der transscendentalen
Methode begegnen.*) „Wenn die Aufgabe der theoretischen Philo-
sophie in erster Linie in dem „Suchen nach den höchsten Gesetzen
des erkennenden Bewusstseins" ^ besteht, so versteht sich die enge
Beziehung derselben zur Mathematik und mathematischen Natur-
wissenschaft sozusagen von selbst. Es darf uns daher nicht Wunder
1) 1mm. Kants Werke ed. Hartenstein IV, 360.
2) Cassirer a. a. O. S. 379/80.
') Vergl. Krit. d. r. V. 2. Aufl., S. 25; dazu auch S. 40 u. S. 80.
*) Vergl. z. B. 0 Liebmann: Zur Analysis der Wirklichkeit. 3. Aufl.,
S. 222 sq. Gedanken und Tatsachen II, 1. Abschn.: Geist der Trausscen-
dentalphilosophie. sowie H. Cohens, Kants Theorie der Erfahrung. 2. Aufl.
6) Analys. S. 287.
76 W. Kinkel,
nehmen, dass auch Liebmann den Wert der Mathematik und math.
Naturwissenschaft ähnlich wie Kant und Piaton einschätzt.^) Lieb-
niann ist es gewesen, welcher als einer der ersten die Bedeutung
der modernen sogenannten metageometrischen Untersuchungen für
die Erkenntnistheorie festzustellen unternahm, wovon später noch
zu reden sein wird.
Hier aber ist der Ort zuerst einer allgemeineren Untersuchung
Eaum zu geben, welche sich auf die Bedeutung der Untersuchung
der transscendentalen, oder wie Liebmann zu sagen pflegt, der
metakosmischen Erkenntnisformen für die Erkenntniskritik der
Mathematik bezieht. Wer in Wahrheit den „Geist der Trans-
scendentalphilosophie" in sich aufgenommen hat, der kann hinfort
nicht mehr eine exakte philosophische Begründung der Mathematik
von der Psychologie erwarten. In dieser Ablehnung der Psychologie
als der grundlegenden philosophischen Disziplin begegnen sich
wiederum 0, Liebmann und H. Cohen. Es handelt sich aber bei
der transscendentalen Methode nicht um die Entstehung desjenigen
Wissens, w^elches das ein^lne Individuum in irgend einem Zeitpunkt
seines Lebens sein eigen nennt, sondern um die Voraussetzungen
der Wissenschaft. Die Frage nach der Entstehung des Wissens
im Einzelnen mag interessant genug sein; aber um sie zu lösen,
muss man bereits die Erkenntniskritik, die Mathematik und mathem.
Naturwissenschaft voraussetzen; und jedenfalls trägt die Unter-
suchung der Frage nach der Entstehung des Wissens nichts bei
zu einer allgemeinen philosophischen Begründung der exakten
Wissenschaften.^) Wir sehen denn auch, wie die Vertreter des
Sensualismus, die überall vom Subjekt und seinen Eindrücken aus-
gehen, an der logischen Begründung der Mathematik scheitern.
Berkeley kommt von seinem Standpunkt aus zu einer V^erwerfung
der Grundbegriffe der modernen Infinitesimalrechnung. Die Grenze
der Sichtbarkeit ist für ihn auch die Grenze der Teilbarkeit. Daher
wird der Begriff des Unendlichkleinen als widersinnig abgelehnt.
Ebenso richtet sich seine sensualistische Kritik gegen den Begriff
des Inkommensurablen;^) jede geometrische Grösse muss aus einer
endlichen Zahl von Punkten bestehen. So kommt Berkeley sogar
1) Vergl. z. B. Analys. S. IV und S. 285.
^) Husserl, der früher von der Psychologie die Begründung der
Arithmetik und des Zahlbegriffs erwartete, hat sich in seinen logischen
Untersuchungen von diesem Standpunkt losgesagt.
3) Vergl. Cassirer, Erkenntnisproblem II, 223 sq.
Das Verhältnis von Philosophie und Mathematik nach 0. Liebmann. 77
dahin, den pythagoreischen Lehrsatz für falsch zu erklären. Der
Mathematik spricht er nur eine annähernde Gültigkeit aber keine
exakte und sichere Geltung- zu. Und David Hunie ist ihm hierin
treulich gefolgt. Wenn er der Arithmetik zwar strenge Gültigkeit
zubilligen will, so geschieht dies nur, weil er in ihren Grundsätzen
analytische Urteile zu erkennen glaubte. Der Geometrie dagegen
spricht er die Sicherheit in seinem Hauptwerk direkt ab.^)
Eine logische Begründung der Mathematik ist nur vom
Standpunkt des kritischen Idealismus aus möglich. Liebmann
lehnt daher auch das Ausgehen von der Seele, von einer Seelen-
substanz und ihren Fähigkeiten ausdrücklich ab. ..Und worin
besteht die radikale differentia specifica dieses Kantischen a priori
gegenüber den ehemaligen ideis innatis? Kurz' gesagt, darin, dass
Kant die allgemeinen und notwendigen Erkenntnisse — (mathe-
matische, logische und metaphysische Grundwahrheiten) — nicht,
wie die Dogmatiker, als Mitgift einer individuellen Seelensubstanz,
Psyche, Monade, mens u. d. m. auffasst, — denn der Kritiker
weiss, dass wir von einer solchen übersinnlichen Seeleusubstanz
nichts wissen; sondern als herrschende Grundnormen und -formen
jenes erkennenden Bewusstseins, welches die Urtatsache xar" e^oyj]v
genannt werden kann, und innerhalb dessen für das Subjekt eine
empirische Körperwelt, ein räumlicher Makrokosmos mit indivi-
duellen Geistern darin, allererst entsteht."''*) Wenn wir nun des
Näheren die Stellung der Mathematik im System der Wissen-
schaften, wie sie sich Liebmann darstellt, untersuchen wollen, so
ist es nötig, auf gewisse erkenntniskritische Erörterungen einzu-
gehen. Es handelt sich um den Begriff der Notwendigkeit.
Liebmann unterscheidet zunächst die intellektuelle Notwendigkeit,^)
„welche darin besteht, dass etwas gedacht oder vorgestellt werden
muss, weil sein Gegenteil nicht denkbar und nicht vorstellbar ist"
von der realen Notwendigkeit, „darin bestehend, dass etwas sein
oder geschehen muss, weil sein Gegenteil nicht sein oder nicht
geschehen kann." Wichtiger als dieser Unterschied ist die Differenz,
welche Liebmann unter zwei Arten der intellektuellen Notwendigkeit
macht, und die er mit den Namen der logischen und der intuitiven
M Vergl. L. Falter, Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der
Mathematik bei Kant und Hume. Diss. Giessen 1903. S. 69.
2) Analysis S. 222/223. Vergl. Gedanken und Tatsachen II, 3.
3) Gedanken und Tatsachen I, S. 2 sq. und zum Folgenden : Analysis
S. 77 sq.
78 W. Kinkel,
Notwendigkeit bezeichnet. „Ein anderes ist logische Notwendigkeit,
ein anderes Anschauungsnotwendigkeit. Jene, die sich über eine
viel umfassendere Sphäre erstreckt, besteht darin, dass etwas ge-
dacht werden muss, weil dessen Aufhebung einen begrifflichen
Widerspruch (a = Non-A) involviert, mithin ungereimt ist. Die
andere aber darin, dass etwas in der Sinnes- und Phantasiean-
schauung bildlich vorgestellt werden muss, weil dessen Aufhebung,
obwohl gar keinen begrifflichen Widerspruch involvierend, unserem
Anschauungsvermögen schlechterdings nicht gelingen will, folglich
mit der Organisation dieses Vermögens unvereinbar ist."^) Ehe
ich meine kritischen Bedenken gegen diese Unterscheidung vor-
bringe, möchte ich meinen objektiven Bericht über die Anschauungen
Liebmanns zu Ende führen. Die logische Notwendigkeit gilt über-
greifend für alle Gebiete des Wissens. Daher gebührt der Logik
in der Stufenordnung der deduktiven Wissenschaften die oberste
und grundlegende Stellung. An sie reiht sich an zweiter Stelle
die allgemeine Mathematik oder reine Grössenlehre (Logik der
Quantität).^) Diese ist nichts anderes als eine Spezialanwendung
der Logik. „Sobald der Gattungsbegriff der Grösse, welcher bei
scharfer Fassung diejenigen der Einheit und der Zahl involvieren
muss, eingeführt ist, ergiebt sich durch Anwendung des principium
contradictionis auf den Begriff der Grösse als ein Spezialfall das
Axiom der vermittelten Grössenidentät." ^) Durch seine Anwendung
auf die arithmetischen Denkoperationen ergiebt sich das ganze
System der allgemeinen mathematischen Gesetze. Diesen Wissen-
schaften der logischen Notwendigkeit folgen nun die Wissenschaften
der intuitiven Notwendigkeit. Diese sind nun zwar einerseits den
logischen Gesetzen unterwoi-fen, bringen aber andererseits „gewisse,
den von ihnen behandelten Grössenarten inhärierende Notwendig-
keiten mit ins Spiel, deren apodiktische Gewissheit sich nicht
mehr auf eine Denknotwendigkeit zurückführen lässt".*) Es sind
dies die Geometrie, die Chronometrie und Phoronomie. Es folgen
dann die Wissenschaften der realen Notwendigkeit, auf welche wir
aber hier nicht einzugehen brauchen. Von besonderem Interesse
1) Analysis S. 77. Gedanken uad Tatsachen I, 21.
2j Vergl. zum Folgenden : Gedanken und Tatsachen I, 38 ff.
3) a. a. O. S. 39. Mit diesem Axiom ist der Satz gemeint: Zwei
Grössen, die derselben dritten Grösse gleich sind, sind auch untereinander
gleich. Vergl. S. 28 a. a. O.
*) a. a. 0. S. 40.
Das Verhältnis von Philosophie und Mathematik nach 0. Liebmann. 79
ist hier uiin für uns das, was Liebmann über die Eigenart der
Geometrie sagt. Die metageometrischen Spekulationen werden
zwar, wie schon gesagt, von Liebmann gebührend gewürdigt, allein
sie dienen nur zum Beweis dafür, dass es uns möglich ist, durch
reine Begriffe im Denken, also nur der logischen Notwendigkeit
folgend über die begrenzte Natur unserer Raumanschauung hinaus-
zugehen. „Eine Metageometrie ist möglich, weil eben die in-
tuitive Notwendigkeit der geometrischen Axiome keine logische
Notwendigkeit ist. Metamathematik ist unmöglich, weil die
Notwendigkeiten der allgemeinen Grössenlehren oder Mathematik
rein logische Notwendigkeiten sind."^) Von diesem Standpunkt
der Metageometrie aus nun kann man sogar unseren gegebenen
(euklidischen) Anschauungsraum als einen Spezialfall eines höheren
allgemeineren, aber eben nur logischen, nicht intuitiven Raum-
begriffes auffassen. Die Untersuchungen, welche zu dieser Er-
kenntnis geführt haben, sind ausgegangen von den Versuchen,
das sogenannte Parallelenaxiom des Euklid (das 5. Postulat des
Euklid, in manchen Ausgaben das 11. Axiom) zu beweisen. Darüber
wird sogleich noch mehr zu sagen sein. Unser Raum, dergestalt
als Spezialfall eines höheren logischen Raumbegriffes gefasst, kann
mit Liebmann definiert werden als: „ein ebener Raum von 3
Dimensionen, in welchem die euklidische Geometrie unter der Be-
dingung gilt, dass sein Krümmungsmass überall den konstanten
Wert Null besitzt."^) Als besonders hervorstechende Merkmale
werden also hervorgehoben: die Gültigkeit des Parallelenaxioms,
die Dreidimensionalität und die Ebenheit des Raumes.
Die Axiome nun, durch welche diese Besonderheiten des
euklidischen Raumes gegenüber allen andern denkbaren Räumen
formuliert werden, sollen nun eben nach Liebmann keine logischen
Notwendigkeiten, sondern intuitive sein, d. h. sie sollen sich aus
der besonderen Natur unseres subjektiven Anschauungsvermögens
ergeben. „Der Apriorismus glaubt in der euklidischen Rauraform
ein Anschauungsgesetz unserer Intelligenz und damit eine
immanente, in unserer eigenen Natur begründete Schranke unseres
Anschauungsvermögens entdeckt zu haben." ^) Während z. B. ein
Raum von mehr als 3 Dimensionen logisch sehr wohl denkbar ist,
1) a. a. 0. S. 28.
2) Vergl. Analysis S. 60.
3) A.nalysis S. 81-82.
80 W. Kinkel,
SO können wir uns denselben doch unmöglich anschaulich vorstellen.
Anschauungsnotwendig ist vielmehr die Dreidimensionalität. Und
hierher gehören „alle spezifisch geometrischen Axiome des Euklid".^)
Als Beispiele führt Liebmanu an: „Um einen Punkt in der Ebene
herum giebt es nicht mehr und nicht weniger als 4 rechte Winkel".
„Zwei gerade Linien, die auf eine gewisse Strecke hin gleich weit
von einander entfernt sind, sind ins Unendliche verlängert überall
gleich weit von einander entfernt" (Parallelenaxiom). Ferner:
„Zwei gerade Linien, die sich einmal geschnitten haben, schneiden
sich ins Unendliche verlängert nie wieder". 2) Das Gegenteil dieser
Sätze, so sagt Liebmann, sollen wir uns zwar denken können,
aber nicht anschaulich vorstellen.
Es muss nun zweierlei wohl bedacht werden, wenn man der
Lehre Liebmanus gerecht werden will. Erstens: Liebmann akzep-
tiert die Lehre Kants, nach welcher Raum und Zeit reine An-
schauungsformen a priori sind. Deshalb kann es sich bei der
Begründung der geometrischen Axiome nicht um die sinnlich-
empirische Anschauung handeln, sondern um die reine Anschauung
a priori handeln; d. h. aber: Der Raum „ist ein Gesetz, ein Loka-
lisationsgesetz, welches unser anschauendes Bewusstsein despotisch
beherrscht, die gesamte apodiktische Gesetzlichkeit der Geometrie
in sich schliesst und für uns alle eine unantastbare empirische
Realität besitzt":^) Besonders sei nochmals darauf hingewiesen,
dass hier der Raum als ein Gesetz des erkennenden Bewusstseins
gefasst wird. Zweitens muss im Auge behalten werden, dass
durch diese Zurückführung des Raumes auf die erkenntniskritische
Subjektivität garnichts über die absolute Realität des Raumes
ausgesagt werden soll. Wenn der euklidische Raum auch für
unser Anschauungsvermögen und dessen spezifische Organisation
massgebend ist, so bleibt doch (für Liebmann) die Möglichkeit
bestehen, dass für andersgeartete Intelligenzen als die menschlichen
andere Raumarten, also auch insbesondere Räume von mehr
als 3 Dimensionen und irgendwelchem positiven oder negativen
Krümmungsmass (die wir uns nur logisch denken können), intuitive
Notwendigkeit haben.
Man muss nun jedenfalls Liebmann darin Recht geben, dass
es gewisse allgemeinste logische Grundgesetze gibt, welche den
1) Analysis S. 77.
'^) Vergl. Gedanken und Tatsachen I, 28—29.
3) Gedanken und Tatsachen II, 27,
Das Verhältnis von Philosophie und Mathematik nach 0. Liebmann. 81
spezielleren Gesetzen der Geometrie und Mechanik übergeordnet
sind. Aber was dann in der Geometrie, deren Besonderheit be-
stimmend, hinzukommt, das beruht nach unserer Überzeugung
nicht auf subjektiver Anschauungsnotwendigkeit, sondern in Be-
griffen, also in etwas, das seineu Ursprung ebenso wie die allge-
meinsten logischen Gesetze (der Identität, des Widerspruchs u. s. w.)
im Denken hat. Mit der Anschauuugsnotwendigkeit ist es über-
haupt so eine zweifelhafte Sache. Erstens könnte man dieselbe
doch nur mit Hilfe der sinnlichen Wahrnehmung, in welcher sich
ja die reine Anschauung betätigt und die sie ermöglicht, konstatieren
und würde so in alle Ungewissheit der individuellen Subjektivität
zurückgeworfen. Und zweitens scheint mir -durch J. Wellstein
der Beweis erbracht, dass das Aussehen der geometrischen Grund-
gebilde, d. h. ihre anschauliche Natur, durchaus nichts zur Gültig-
keit der geometrischen Lehrsätze beiträgt, die vielmehr ganz und
gar auf Begriffen und begrifflichen Voraussetzungen beruhen.^)
Man kann in der Tat, wie Wellstein zeigt, an Stelle derjenigen
Grundgebilde, von denen gemeinhin die euklidische Geometrie
spricht, andere Gebilde setzen von ganz anderem anschaulichen
Charakter. Von den vielen Beispielen, die Wellstein anführt, will
ich hier nur eines erwähnen: „Man nimmt im Räume R der
euklidischen Geometrie einen Punkt 0 an und versteht unter R'
den Raum, der mit R ausser 0 alle Punkte gemeinsam hat." In
dem durch 0 gehenden Kugelgebüsch definieren wir als Geraden
und Ebenen des Raumes R' die Kreise und Kugeln des R. Dann
gelten von diesen Scheingeraden und Scheinebenen, aber eben nur,
soweit sie dem Raum R' angehören, d. h. den Punkt 0 nicht
enthalten, nicht nur die Hilbertschen Axiome der Verknüpfung
und Anordnung, sondern auch das Euklidische Parallelenaxiom.
Dass tatsächlich die Scheingeometrie des R' mit der euklidischen
des R übereinstimmt, kann ausserdem noch dadurch bewiesen
werden, dass man vermittelst Inversion die Scheinebenen und
Scheingeraden des R' in wirkliche Ebenen und Geraden des R
verwandelt.'^) Nach den weiteren Ausführungen Wellsteins muss
man seiner Behauptung zustimmen, welche lautet: „Alle Sätze
über die gegenseitigen Beziehungen zwischen den Punkten, Geraden,
Ebenen und ihren Erzeugnissen lassen sich notwendigerweise über-
1) Vergl. H. Weber und J. Wellstein, Enzyklopädie der Elementar-
mathematik II. 33 ff. 2. Aufl. 1907.
2) a. a. 0. S. 34 ff. zu vergleichen.
Kantatndien XT. 6
82 W. Kinkel,
tragen auf jede andere Mannigfaltig-keit oder Meug-e von Dingen,
die sich den Voraussetzungen entsprechend ordnen lassen, aus
denen die Sätze der Geometrie rein deduktiv folgen. Das sinnliche
Aussehen der Grundgebilde z. B. des Vorherrschen der Längen-
dimension bei der Geraden, die vollkommene Gestalt der Kugel,
die ästhetisch so ansprechende Form der Ellipse — alles das hat
für die Geometrie als solche nicht den geringsten Wert".^) Ja
man kann sogar, wie man bei Wellstein a. a, 0. nachlesen kann,
die euklidische Geometrie in einer linearen Zahlenmenge dritter
Stufe analytisch darstellen, wo denn z. B. an Stelle der räumlichen
Punkte Systeme von je drei in bestimmter Reihenfolge genommenen
reellen Zahlen treten. In dieser Behandlungsweise ist die Raum-
anschauung völlig ausgeschaltet, und die euklidische Geometrie
bleibt dennoch bestehen. Im Kugelgebüsch kann man aber
auch den beiden nichteuklidischen Geometrien eine Versinnlichung
geben. '^)
Vielleicht würde Liebmann auf diese Einwände erwidern:
Das mag ja alles richtig sein, trifft aber meine Behauptung von
der anschaulichen Notwendigkeit der euklidischen Geometrie für
die menschliche Bewusstseinsorganisation garnicht; denn auch ich
habe nicht geleugnet, sondern sogar behauptet, dass sich die
euklidische Geometrie, rein logisch betrachtet, als ein Spezialfall
einer allgemeineren, eben der Metageometrie darstellen lässt. Was
ich aber geleugnet habe, ist nur, dass wir uns eine andere als
die euklidische Geometrie anschaulich vorstellen können. Hierauf
aber wäre wiederum Verschiedenes zu erwidern. Erstens ist tat-
sächlich, wie Wellstein gezeigt hat, mit Hilfe der Kugelgeometrien
eine Versinnlichung der nichteuklidischen Geometrien für uns
möglich. Und zweitens, was mir noch wichtiger erscheint, die
spezifisch geometrische Notwendigkeit, die aus den spezifisch geo-
metrischen Axiomen des Euklid folgt, kann unmöglich irgend etwas
mit der anschaulichen Natur derselben zu tun haben, wenn sich
doch zeigen lässt, dass dieselben, ohne dass der Inhalt der Geo-
metrie im geringsten verändert wird, durch anschaulich ganz anders
geartete Gebilde ersetzt werden können. Ferner muss ich Wellstein
auch darin Recht geben, wenn er sagt, dass die ursprüngliche
Vorstellung vom Räume durchaus unbestimmt ist.^)
1) a. a. 0. S. 83.
2) a. a. O- S. 54 ff.
3) a. a. 0. S. 130.
Das Verhältnis von Philosophie und Mathematik nach 0. Liebmann. 83
Wie unbestimmt die Anschauung ist, ehe sie logisch-begrifflich
fixiert wird, habe ich meinen Hörern zuweilen durch ein einfaches
Experiment vorgeführt.^) Ich zeichnete an die Tafel eine Gerade
und einen Punkt ausserhalb dieser Geraden. Dann stellte ich die
Frage: Wieviel Geraden giebt es innerhalb der Tafelebene, die
durch den ausserhalb der Geraden liegenden Punkt gehen und die
gegebene Gerade nicht schneiden? Bei allen mathematisch nicht
sehr versierten Hörern lautete die Antwort unbedenklich: Nur
eine. Dann aber nahm ich einen Punkt auf der gezeichneten
Geraden an und fragte nunmehr: Wenn ich von diesem Punkt aus
in den beiden entgegengesetzten Richtungen (nach rechts und links)
auf der Geraden ins Unendliche fortgehe, wieviel unendlich ferne
Punkte werde ich erhalten? Die Antwort lautete ebenso unbe-
denklich: 2 unendlich ferne Punkte. Diese beiden auf die blosse
Anschauung gestützten Antworten widersprechen sich aber, wie
bekannt; denn in der euklidischen Geometrie hat jede Gerade nur
einen unendlich fernen (uneigentlicheu) reellen Punkt, wie jede
Ebene nur eine uneigentliche (gerade und der Raum nur eine
uneigentliche Ebene. 2) Wir müssen also die spezifisch intuitive
Notwendigkeit der Geometrie bestreiten.
1) Vergl. meine Einleitung in die Philosophie S. 13.
2) Dass meine Fragestellung unkorrekt war, darüber bin ich mir
völlig im Klaren. Denn dass man in der Weise, wie ich es tat, bloss auf
die Anschauung gestützt, niemals zu einer eindeutigen und festen Bestim-
mung über die Natur des unendlich fernen (uneigentlichen) Punktes
kommen kann, ist sicher. Aber das ist es gerade, worauf ich aufmerksam
machen wollte, ^^^e unbestimmt die Anschauung hier ist. Auch ist die
anschauliche Vorstellung von der Einen euklidischen Parallele durchaus
nicht so zwangsmässig für uns, wie es zunächst erscheint. Es widerspricht
der sinnlichen Anschauung durchaus nicht, sich die Parallele als Asymptote
zu denken (vergl. R. Baltzer : Die Elemente der Mathematik, 2. Bd.,
6. Aufl., S. 12—13). Will man zu einer bestimmten Entscheidung darüber
gelangen, welche Annahme in Betreff des uneigentlichen Punktes, d. h.
aber auch in Betreff des Parallelenaxioms für die eine oder andere Art
der Geometrie massgebend ist, so muss man von gewissen begrifflichen
(nicht anschaulichen) Bestimmungen ausgehen, wie es z. B. M. Pasch in
seinen Vorlesungen über neuere Geometrie (Leipzig 1882) tut. Im Allge-
meinen gilt der Satz, dass, wenn man von 3 auf ein und derselben Ge-
raden gegebenen Punkten zwei als harmonisches Punktepaar auffasst und
zu dem dritten gegebenen einen harmonisch entsprechenden suchr, sich
immer nur ein vierter harmonischer Punkt ergiebt. Wenn aber der dritte
Punkt, zu welchem man den entsprechend harmonischen sucht, genau in
der Mitte zwischen den als harmonisches Punktpaar gegebenen liegt, so
6*
84 W. Kinkel,
Es scheint uns sogar, als ob sich die moderne Geometrie im
Kampf geg-en die Geltung der Anschauung entwickelt habe. Die
Versuche, das euklidische Parallelenaxiora zu beweisen, wie wir sie
noch bei Saccheri, Lambert, Legendre u. a. finden, erklären sich
gerade daraus, dass man der unbestimmten unmittelbaren An-
schauung zu sehr vertraute; doch waren auch jene Männer viel
zu sehr Mathematiker, als dass sie nicht nach einem logisch be-
grifflichen Widerspruch gesucht hätten, zu welchem die Annahme
eines anderen als des euklidischen Axioms führen sollte. Erst wenn
sie solche logische (nicht intuitive) Widersprüche aufgewiesen zu
haben glaubten, beruhigten sie sich.^)
Wenn wir so die Anschaulichkeit als Quell geometrischer
Notwendigkeit im Gegensatz zu Liebmann abweisen zu müssen
glauben, so muss doch einem doppelten Missverständnis durch
folgende Bemerkungen vorgebeugt werden. Selbstverständlich
leugnen wir nicht, dass bei der psychologischen Ausbildung
unserer Begriffe vom Raum die Anschauung eine nicht zu ver-
achtende Rolle gespielt hat. Und was Liebmann in dieser Hinsicht
beibringt,^) erscheint uns äusserst wertvoll und zutreffend. Daher
kann man auch Wellstein nur zustimmen, wenn er im mathe-
matischen Schulunterricht die Anschauung weitgehend zu Hilfe
rufen will. — Ferner sei noch einmal darauf verwiesen, dass die
Stufenfolge der Wissenschaften, wie sie von Liebmann aufgestellt
wird, auch für uns ihre Bedeutung behält, insofern wir anerkennen,
dass es allgemeine logische Gesetze gibt, welche den spezifisch
geometrischen (aber gleichfalls logischen) übergeordnet sind. Und
dass es sich bei allen diesen Grundbegriffen auch für uns um ein
bleibt es der willkürlichen begrifflichen Festsetzung überlassen, ob man
für diesen Fall auch an dem Satz festhalten will, dass es nur einen vierten
harmonischen Punkt giebt oder deren zwei. Im ersteren Fall ist man in
der euklidischen, sonst in der nichteuklidischen Geometrie. Wie man
nun mit Hilfe des Begriffes der Polaren zu den Festsetzungen über die
uneigentliche Gerade und uneigentliche Ebene gelangen kann, möge man
bei Pasch nachlesen. Die Anschauung hat mit alledem nichts zu tun.
Wellstein behauptet, dass sich auch die nichteuklidische Mechanik in der
Anwendung bewähre, a. a. O. S. 146.
1) Vergl. Engel und Stäckel: Die Theorie der Parallellinien. Leip-
zig 1895, und Bonola: Die nichteuklidische Geometrie, übers, von H. Lieb-
mann, Leipzig 1908.
2) Vergl. z. B. Analysis S. 48 ff.
Das Verhältnis von Philosophie und Mathematik nach 0. Liebmann. 85
transscendentales a priori im Sinne Kants handelt, sei ausdrücklich
betont.
Wenn Liebraanu, und alle die von Kant gelernt haben, in
ihren erkenntniskritischen Untersuchungen anknüpfen an die Arbeit
der exakten Wissenschaften insbesondere der Mathematik, so be-
deutet das doch nicht ein blindes, sklavischen sich Unterordnen
diesen Wissenschaften gegenüber, sondern im Gegenteil die Forderung
eines kritischen Verhaltens. So muss mau Liebmann zustimmen,
wenn er fordert, dass die Philosophen die Eesultate der Mathe-
matiker keineswegs ungeprüft hinnehmen dürften.^) Soll aber
hierbei der Philosoph nicht in die Irre gehen, so bedarf es der
angestrengten und ernsthaften Beschäftigung mit den exakten
Wissenschaften. Und hierzu können uns die Schriften Liebmanns
erziehen.
1) Analysis S. 60.
Otto Liebmanns Lehre vom Organismus.
Von Hans Driesch.
Unter den Philosophen der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts ist Otto Liebmann, neben Hartmann und
Spencer, der einzige Philosoph, welcher sich über das Wesen
des Organischen eine selbständige, das heisst eine nicht nur die
Gedanken Kants oder der Descendenztheoretiker reproduzierende
Ansicht gebildet hat. Die Kenntnis von Liebmanus Gedanken-
system über das Belebte ist aber durchaus nicht in einem solchen
Masse verbreitet, wie sie es, zumal in unseren Tagen einer neu
erblühenden vitalistischen Biologie, zu sein verdiente; es gereicht
daher dem Verfasser dieser Skizze zu besonderer Freude, dass er,
der seinen Werken eine so nachhaltige Anregung verdankt, hier
Gelegenheit findet, theoretischen Biologen und Philosophen die
Lebenstheorie Otto Liebmanns im Abrisse vorzuführen.
Liebmanns Denkarbeit fiel in die Zeit, da Materialismus
und Darwinismus das europäische Geistesleben überfluteten. Der
Materialismus als Metaphysik konnte nun zwar einem Philosophen
nichts anhaben, wohl aber konnte das, wie wir an manchen Bei-
spielen gesehen haben, der mechanistisch gefasste Darwinismus,
das heisst die Lehre, dass die Gesamtheit des räumlichen Ge-
schehens für unser Begreifen ein zufälliges Spiel bewegter Ma-
terienelemente sei und nichts weiter, gleichgültig, welches unbe-
kannte Ansichsein sich hinter diesem räumlichen Geschehen ver-
berge.
Lieb mann hat auch dem Darwinismus, wie wir sehen
werden, widerstanden, wenigstens dem Darwinismus in seiner me-
chanistisch ausgedeuteten Form, welche ja leider die allmählig all-
gemein angenommene geworden war.
Zu vier Malen hat unser Philosoph seine Ansichten über das
Leben dargestellt, zuerst und am gründlichsten in den Abschnitten
„Piatonismus und Darwinismus" und „Das Problem des Lebens"
Otto Liebmanns Lehre vom Organismus. 87
der „Analysis der Wirklichkeit", sodann in den Abschnitten „Idee
und Entelechie" (1882), „Organische Natur und Teleologie" (1899)
des ersten Bandes der „Gedanken und Tatsachen", endlich im
dritten „Stoff und Form, Mechanismus und Teleologie" betitelten
Buche des „Grundrisses der kritischen Metaphysik" („Gedanken
und Tatsachen", Band II). Diesen Arbeiten sind zum vollen Ver-
ständnis von Liebmanns Standpunkt die Abschnitte „Über den
Instinkt" und „Gehirn und Geist" aus der „Analysis der Wirk-
lichkeit" sowie das vierte Buch des „Grundrisses der Metaphysik",
betitelt „Materie und Geist, Notwendigkeit und Freiheit", noch
hinzuzugesellen.
Liebmann geht aus von der Frage nach dem Verhältnis
einer ideellen Auffassung des Lebens zur historischen Lehre Dar-
wins. Es besage für diese Frage wenig, ob die erstere die
Universalia, mit Plato, ante rem oder, mit Aristoteles, in re,
also immanent sein lasse, in beiden Fällen scheine sie auf den
ersten Blick gegensätzlich zum Darwinismus zu stehen. Aber eben
nur auf den ersten Blick; denn der Darwinismus setzt ja die
letzten Eigentümlichkeiten des Lebendigen, die Gesetze des Be-
lebten, wenn wir so wollen, voraus, also die Tatsachen der Ver-
änderhchkeit, der Fortpflanzung, der Erblichkeit. Wie soll da
einer ideellen Auffassung der Lebensformen die Lehre wider-
streiten, dass diese Formen historisch durch Blutsverwandtschaft
mit einander verknüpft, dass existenzunfähige Formen durch
„natürliche Zuchtwahl" ausgemerzt seien?
Man sieht es: Liebmann fasst hier den „Darwinismus" so,
wie ihn Anfangs Charles Darwin selbst fasste, das heisst nicht
in mechanistischer oder gar materialistischer Ausdeutung. Es
wäre ein grosses Glück für die Biologie gewesen, hätte solche
Auffassung dogmatischem Ansturm stand gehalten. Nach unserer
Meinung ist zwar die Darwinsche Lehre, das heisst die Lehre,
dass unbestimmt gerichtete kontinuierliche Variabilität und natür-
liche Zuchtwahl die einzigen bei der Descendenz der Organismen
in Betracht kommenden Faktoren seien, sachlich falsch, aber es
wird, wenn die Variabilität neben der Erblichkeit als hinge-
nommene Eigentümlichkeit des Lebendigen erscheint, doch wenig-
stens nicht von allem Anfang an über das „Wesen" des Lebens
im Sinne mechanischer Dogmatik entschieden.
Darwin braucht also keinen Gegensatz zu Plato zu
bedeuten. Eine andere Frage ist nun freilich, was Darwin
88 H. Driesch,
bedeutet, und die Entscheidung über diese Frage ist unabweisbar.
Denn das entgeht Lieb manu nicht, dass der blosse Nachweis
der Genealogie der Organismen, sei er auch seiner Tatsächlichkeit
nach vollständig geglückt, nie und nimmer eine Erklärung sei:
in der Variabilität würde ja die Wurzel aller Verschiedenheiten
des Belebten, ja das Wesen des Belebten selbst gewissermassen
darin gesteckt haben. Hier gebraucht Lieb mann das von mir
und anderen später übernommene Wort von der „Ahnengallerie",
welche durch die sogenannte Phylogenie im günstigsten Falle ge-
liefert werden könne:
„Angenommen ... der grosse Stammbaum der organischen
Naturwesen . . . läge offen vor uns aufgerollt; und zwar nicht
als Hypothese, sondern als historisch aufgestelltes Faktum, sozu-
sagen als echtes Palimpsest, was hätten wir dann? Eine
Ahnengallerie, wie man sie auf fürstlichen Schlössern auch
findet; nur nicht als Fragment, sondern in abgeschlossener Totalität."
(Anal. d. Wirkl. 2. Aufl. S. 358.)
An diesem Punkte ist es, wo Lieb mann in die Tiefe zu
dringen versucht, zu der Frage nach der Urgesetzlichkeit des
Lebendigen überhaupt. Es verrät seine grosse Unbefangenheit
und zugleich seinen Scharfblick, dass er ein zoologisches Werk
in seiner Bedeutung würdigte, welches etwa fünfzehn Jahre hin-
durch sozusagen auf dem zoologischen Index stand und dessen
Autor von gewisser Seite aufs äusserste geschmäht wurde, ein
Werk, das gleichwohl, trotz sehr zahlreicher Unrichtigkeiten im
Einzelnen, eine Vorahnung der seit 1890 erblühten exakten und
experimentellen Physiologie der Formbildung, deren erste bewusste
Grundlegung sich an den Namen Wilhelm Rouxs knüpft, be-
deutet: Alexander Goettes „Entwicklungsgeschichte der
Unke" (1875), ein in jeder Beziehung höchst eigenartiges Werk.
Lieb mann erkannte eben seine Eigenart und Bedeutung besser
als irgend ein zeitgenössischer Biologe, abgesehen etwa
von dem verstorbenen Leipziger Anatomen W. His. Dass Nach-
weis von Genealogie keine Wesens-Erklärung sei, das war der
damals unter Biologen höchst unpopuläre Gedanke, für den
Goette eintrat; er wollte wenigstens zu Höherem hinauf.
Doch wir kehren zu Liebmanns Stellung zum Zentral-
problem der Biologie, zur Frage „Vitalismus oder Mechanismus?",
zurück.
Otto Liebmanns Lehre vom Organismus. 89
Mit Eecht könnte man behaupten, dass, ungeachtet der
zentralen Natur dieser Frage, eine andere vorher ihre Erledigung
gefunden haben müsse, nämlich die Frage ,.Teleologie oder Zu-
fall«. — Der allgemeine Begriff der Teleologie, der „Zweck-
mässigkeit" überhaupt, ist nämlich in der Form der „Mascliinen-
theorie" mit einer „mechanischen-' Aufklärung der Lebenserschei-
nuugen prinzipiell durchaus verträglich.
Für Lieb mann, als für einen auf den Schultern Kants
stehenden Denker, ist nun freilich die Beantwortung dieser Frage
zu Gunsten der Teleologie so selbstverständlich, dass die Frage
bei ihm nicht eigentlich als Frage auftritt, sondern dass, gerade
wie bei Kant, der Begriff des „Zweckmässigen" nur erläutert wird:
die organischen Wesen sind nicht Zwecke für anderes, sondern
Zwecke in sich. Das ist einmal so.
Hier tritt denn auch der Aristotelische Ausdruck „Entelechie"
bei unserem Philosophen auf, um hinfort eine grosse Rolle in
seinen Schriften zu spielen ; ich möchte sagen : weniger als Begriff,
denn als Zeichen für eine Frage — für die Frage nämlich
„Yitalismus oder Mechanismus?''
Wenn wir uns nunmehr der Betrachtung der Kardinalfrage
der biologischen Naturphilosophie in Liebmann scher Beleuchtung
zuwenden, so tun wir wohl am besten, aller Sonderuntersuchung
das Resultat vorauszuschicken, und dieses lautet: Zu einer ganz
endgültigen Lösung der Frage gelangt Lieb mann nicht. Es
scheint, als wenn die Erinnerung an die Erwägungen von
Kants „Kritik der Urteilskraft" ihn immer wieder von einer
ganz unzweideutigen Antwort zurückhielte, so nahe er einer solchen
Antwort auch bisweilen ist. Denn oft ist er einer solchen Ant-
wort sehr nahe, und zwar einer Antwort im Sinne des Vitalismus.
Trotz ihrer grossen Selbständigkeit im Einzelnen haben also
Liebmanns biotheoretische Erwägungen denselben Grundcharakter
wie diejenigen Kants; ich möchte von beiden sagen: Die richtige
Einsicht wird verschleiert durch ein Misstrauen gegen sich selbst,
durch die Furcht, eine Illegitimität des Denkens zu begehen.
Hören wir nun zunächst einmal Lieb mann selbst:
„Die unorganischen Naturstoffe und Kräfte und Gesetze ver-
halten sich zum Organismus der Pflanze und des Tieres wie das
Mittel zum Zw^eck. Sie werden an sich nicht alteriert durch die
Aufnahme in den Organismus, aber sie sind hier so eigentümlich,
so ungemein günstig kombiniert, dass sie eine eminent künstliche
90 H. Driesch,
Wirkung- hervorbringen müssen ... — Den übermenschlichen,
natürlichen Techniker, der sie so gruppiert, kennen wir nicht.
Neunen wir ihn die Natura naturans oder die verschleierte Gottheit
— oder wie wir sonst wollen. Genug, er oder es ist und wirkt.
Nie hebt es die unorganischen Naturgesetze auf; aber es benutzt
sie in wunderbarer Weise. — Und so behält denn trotz des sieg-
reichen Kampfes gegen den „Vitalismus" das Wort „Lebenskraft"
einen guten Sinn. Es bezeichnet eine Lücke in unserer exakten
Naturerkenntnis; es bedeutet jenes rätselhafte Plus, welches in der
organischen, plastischen, morphologischen, belebten Natur zum
Mechanismus und Chemismus hinzukommt. Das organische Leben
ist mehr als ein ungebundenes Spiel physikalischer und chemischer
Prozesse. . . . Sagt man: „Lebenskraft" soll ein prägnanter Aus-
druck, eine Abbreviatur sein für die weitschichtige Partizipial-
konstruktion „Das allem im Organismus für blosse Physik und
Chemie Unerklärten und Unerklärbaren als zureichender Realgrund
zu supponierende X, respektive die unter jenem X vorhandene
Totalität unbekannter Agentien"; dann wird kein Vernünftiger
gegen den Gebrauch des Wortes „Lebenskraft" etwas einzuwenden
haben, — ich meine keiner von Denjenigen, welche wissen, dass
das sinnlich und geistig Verborgene, das Unfassbare, Unbegriffene
und vielleicht Unbegreifbare keineswegs mit dem Nichts identisch
ist" (Anal. d. Wirkl. 2. Aufl. S. 336 f.).
„So lange nicht Erzeugung organischer Keime und lebendiger
Wesen durch physikalisch-chemische Experimente zu Stande gebracht
ist, so lange bleibt nur die Annahme übrig, dass im Organismus
zu den uns bekannten physikalischen und chemischen Kräften noch
irgend ein unbekanntes Etwas hinzukommen, ein gestaltbildender
Faktor, der die Kräfte der unorganischen Natur als Mittel und
Werkzeug benutzt, um das Leblose zu verlebendigen, das Un-
organische zu organisieren. Dieses unbekannte, plastisch gestaltende
Etwas, heisse es nun Bildungstrieb, Nivus formativus, Lebenskraft
oder „die organischen Bildungsgesetze" ist eben da" (Gedanken
und Tatsachen II, S. 161).
Soll mit solchen Äusserungen nun ein unräumliches immanent-
oder dynamisch-teleologisches Naturagens, wie etwa Hartmanns
potentiallose Kraft oder des Verfassers dieser Skizze „Entelechie"
eingeführt sein?
Doch wohl nicht. Die „Idee des vollendeten Naturmechanis-
mus" wird an anderer Stelle (Ged. u. Tats. II, S. 171) „ein aus
Otto Liebmanns Lehre vom Organismus. öl
dem Prinzip der Kausalität notwendig fliessendes Verstandes-
postulat" genannt.
Also sind Liebmanns „organische Bildungsgesetze" nur ein
kurzer Ausdruck für die gegebene und hinzunehmende teleologische
Struktur des Weltmechanismus, also ist seine Teleologie, um mit
des Lesers Erlaubnis in meiner eigenen Terminologie zu reden,
statisch, wie etwa im Systeme Schellings?
Auch das trifft wohl nicht das Rechte.
Es giebt ein paar Stellen in Liebmanns Ausführungen —
und es sind das gerade besonders denkunabhängige Stellen, un-
abhängig auch von Kant — welche denn doch die Ansicht hindurch-
scheineu lassen, es sei das Teleologische in den Organismen mehr
als nur die Ausprägung einer zum spezifisch struierteu Mecha-
nismus erstarrten Idee.
Die Materie, so sagt Liebmann einmal, i) ist vielleicht „etwas
Anderes, ist unendlich viel mehr, als der Physiker, der Chemiker,
ja auch der Physiolog sich bei diesem Worte zu denken pflegt".
Und ein anderes MaP) heisst es: „Vielleicht liegt das hinter dem
vielgescholtenen Wort „Lebenskraft" verborgene Etwas in der
geheimen Natur der Atome selbst versteckt".
Man mag hier einwenden, dass die „Materie", die „Atome"
als solche dynamisch nicht wohl anders denn als Sitze kugel-
förmig ausstrahlender Zentralkräfte gedacht werden können, dass
also jene „geheime Natur" der Atome, jenes „mehr" an der Materie,
als der Physiker in ihr sieht, im Grunde doch etwas Nicht-
Materielles und doch Naturwirkliches sei; genug: Liebmanns
Äusserungen scheinen hier auf jeden Fall mehr sagen zu wollen,
als nur dieses, dass die gegebene Struktur des Weltmechauismus
die Teleologie des Belebten in sich enthalte.
Und nun eine wichtige Äusserung zur Kritik des Erkennens.^)
Nachdem er an Kant gerühmt hat, dass er in den Erörterungen
seiner „Kritik der Urteilskraft" „weder als Vitalist, noch als
Antivitalist; überhaupt nicht als Dogmatiker" dastehe, fährt er
fort: „Nur das kann fraglich bleiben, ob die Grenzen des mensch-
lichen Erkenntnisvermögens wirklich genau an dem Orte liegen,
wo Kant sie gezogen hat."
1) Analysis d. Wirkl. 2. Aufl. S. 552.
2) Gedanken u. Tatsachen I. S. 257.
3) Gedanken und Tatsachen I. S. 249.
92 H. Driesch,
Klingt das nicht wie ein Zweifel an der bloss „regulativen"
Natur des Begriffs der Teleologie, welche Kant lehrt? Scheint
es nicht, als sähe hier Lieb mann jene im Kantischen Schema
nicht enthaltene konstitutive Kategorie der Relation, welche
ein dynamischer Vitalismus in der Tat nötig hat?^) —
Das Problem „Gehirn und Geist", anders gesagt, das Problem
,. Parallelismus oder psycho -phj^sische Wechselwirkung" ist im
letzten Grunde mit dem Problem des Vitalismus identisch; auch
hier handelt es sich um die Frage: Kann räumliches Geschehen
durch Faktoren, welche selbst nicht räumlicher Art sind, bestimmt
sein oder nicht?
Es liegt im Plane dieses Festheftes begründet, dass an dieser
Stelle Liebmanns Stellung zum Parallelismusproblem nur kurz
und anhangsweise behandelt werden kann. Diese Stellung ist im
wesentlichen dieselbe kritisch abwägende wie gegenüber dem
eigentlichen Vitalismus; eine Hinneigung zur Lösung der Frage
durch die Wechselwirkungslehre ist trotz vieler entgegenstehender
Indizien unverkennbar.
Bekanntlich gipfelt die Lehre vom psycho-physischen Paralle-
lismus für Liebmann in dem Paradoxon, dass nach dieser Lehre
ein Geschehen, welches notorisch nach physikalisch -chemischen
Gesetzen abläuft, gleichzeitig unter der Form logischer Gesetz-
lichkeit erscheinen würde. Führt durch diese Konsequenz nicht
der Parallelismus sich selbst ad absurdum? Es scheint so; jeden-
falls würde der Begriff der Wahrheit im Rahmen dieser Lehre
jeder Bedeutung entkleidet werden. „Wer den strengen psycho-
physischen Parallelismus als letztes Wort behauptet, der hebt
eben damit konsequenterweise das Recht, diesen Parallelismus als
objektiv wahr zu behaupten, auf."'')
Im Interesse der Möglichkeit der Wissenschaft muss also
die „Freiheit des Denkens postuliert" werden.
Im Vergleich zu dieser Einsicht sind Erwägungen wie jene,
dass z. B. für die Einheit des denkenden Ich die zugehörige
physische Parallele fehle, von niederer Bedeutung. —
Wir beschliessen unsere Skizze, deren Zweck es ja lediglich
ist, zur Beschäftigung mit den Werken Liebmanns anzuregen,
1) Man vergleiche auch die gelegentlich einmal (Gedanken und Tat-
sachen I, S. 95) getane Äusserung, der Gedanke, dass alles physische Ge-
schehen Bewegung sei, sei nicht notwendig.
2) Gedanken und Tatsachen II. S. 203.
Otto Liebmanns Lehre vom Organismus. 93
mit einer Aufzählung^) der wichtigsten derjenigen „Funktionen,
Leistungen und Tätigkeiten" des Organismus ,.zu denen in der
unorganischen Natur jegliches Analogen, jede geringste Spur voll-
ständig fehlf. Es sind dieses:
1. Substantialität der Form, d. h. das Bewahren der
wesentlichen Form trotz fortwährenden Wechsels des Stoffes. Die
trivialen Gleichnisse der Flamme, des Springbrunnens u. s. w.
weist Lieb mann hier unschwer zurück.
2. Zielstrebigkeit, Entelechie; letztere also als Kenn-
zeichnung des Organischen, nicht etwa als Agens gedacht; dem
Wachsen, der Differenzierung des Keimes in einen bestimmten
Tj^pus hinein soll hier Ausdruck verliehen werden.
3. Individuelle Autoplastik; der Organismus ist, wenn
überhaupt, eine Maschine, welche ihre eignen Teile selbst hervor-
bringt; er ist „causa sui".
4. Generelle Autoplastik, Palingenesie; ein Ausdruck
für Fortpflanzung und Vererbung; der Organismus ist „Causa sui
zweiten Grades".
5. Causale und teleologische Correlation; ein Ausdruck
für die innere Harmonie des Werdens und Funktiouierens sowie
für das Angepasstsein an die Aussenwelt.
6. Autoteile; der Organismus ist Selbstzweck, causa sui;
hier liegt der Nachdruck auf dem Worte „sui", ebenso wie er
oben auf dem Worte „causa" lag.
Wenn wir von den Ergebnissen der neuereu biologischen
Experimentalforschung absehen, so decken die hier aufgezählten
Eigentümlichkeiten des Organismus wohl in der Tat seine sämt-
lichen wesentlichen Eigenschaften; sie machen die Realdefinition
des Organismus aus; und jede Eigentümlichkeit bedeutet zugleich
ein Problem für die gedankliche Analyse.
1) Ebenda I. S. 239 ff.
Zu Liebmanns Kritik
der Lehre vom psychophysischen Parallelismus.
Von Richard Hönigswald.
„Die berüchtigte Frage, welches denn bei Tieren und
beim Menschen das wahre, innere Verhältnis zwischen Leib und
Seele sei, greift über das Gebiet wirklicher und möglicher Er-
fahrung weit hinaus, lässt sich auf empirischem Wege gar nicht
entscheiden, liegt ganz und gar im Felde der Metaphysik und
bildet dort, wie bekannt, den Knotenpunkt, von dem aus die Viel-
heit der dogmatischen Systeme, wie Dualismus und Monismus,
Spiritualismus und Materialismus, das System des Okkasionalismus,
das der praestabilierten Harmonie, das neuplatonische Emanations-
system u. s. w. nach den verschiedensten Richtungen hin diver-
gieren."^)
Diese sachliche und historische Wertung der Frage nach der
Natur der Beziehungen des Psychischen zum Physischen enthält
genau besehen das Bekenntnis der Motive, welche Liebmanns phi-
losophisches Schaffen überhaupt beherrschen. Sie enthält das
Programm einer zielbewussten Weiterentwicklung der „philoso-
phischen Tradition" in der Richtung einer durch kritische Ge-
sichtspunkte zu läuternden, d. h. vor unberechtigten Übergriffen
in das Gebiet wissenschaftlicher Forschung zu bewahrenden Meta-
physik. Die „ungelösten, zum Teil unlösbaren Probleme" aufzu-
zeigen, „wovon der Horizont unseres Wissens allseitig umlagert
ist",^) d. h. von einer kritischen Analyse der Erkenntnis fort-
zuschreiten zu einer „Analysis der Wirklichkeit" — das ist
die, auch in seinem Verhältnis zum psychophysischen Problem
sich realisierende philosophische Absicht Liebmanus.
Dabei entgeht seiner, der historischen und sachlichen Zu-
sammenfassung Weitauseinanderliegender Momente stets geneigten
1) Liebraann, Gedanken und Tatsachen, Erster Band, 1899, S. 286.
2) Liebmann, Gedanken und Tatsachen, Zweiter Band, 1900, S. 91.
Zu Liebmanns Kritik der Lehre vom psychophysischen Parallelismus. 95
Betrachtimgsweise die universelle Bedeutung unseres Problems
auch für die Wissenschaften der Erfahrung nicht.
Jedes bewusste Wirken der Tiere und des Menschen auf ihre
Umgebung, jede bewusste Reaktion auf Reize seitens dieser Um-
gebung ist — Liebmann betont es nachdrücklich — psychophy-
sische Betätigung; denn es giebt kein bewusstes Wirken und Rea-
gieren ohne physische Ausdrucksbewegung des Gedachten oder
Gewollten einerseits, ohne Umsetzung physischer Ausdrucksbe-
wegungen in Gedachtes oder Gewolltes andererseits. Es ist kein
Zufall, dass wir metaphorisch vom Worte des Redners, vom Stift
des Zeichners, vom Pinsel des Malers, von der festen Hand des
Staatsmannes und des Erziehers oder von der Feder des Schrift-
stellers sprechen, auch wenn wir deren geistige Leistungen be-
werten. Der ganze Umkreis der Erfahruugswisseuschaft zum
Mindesten vom Menschen tritt in eine unmittelbare Beziehung
zum psychophysischen Problem, mag der Mensch nun als psycho-
physiologisches Einzel- oder als soziales Gattungswesen betrachtet
werden.
Aber schon die blosse Frage nach dem Verhältnis der
Psychischen zur Physischen bedarf nach mannigfachen Richtungen
hin der Rechtfertigung und der Begründung.
Dem naiven Menschen wird sie zunächst überflüssig er-
scheinen. Er weiss von keinerlei „Verhältnis" des Psychischen
zum Physischen, weil er ohne besonders darauf gerichtete Re-
flexion Psychisches und Physisches gar nicht als getrennte Mo-
mente seines normalen Daseins erlebt. Der Willensakt und die
ihm entsprechende Handlung sind eben für ihn zunächst noch
eins. — Doch wird er nicht schwer zu belehren sein. — Wenn er
nämlich seine Pläne und Absichten einmal von dem Gedanken
ihrer Realisierung zu trennen versucht, d. h. sobald er nur
gelernt hat, das Gewollte dem Erreichten und Erreichbaren gegen-
überzustellen, dann hat er die Trennung der Begriffe des Psy-
chischen und des Physischen bereits vollzogen. Er braucht hier-
bei über die Sphäre des Psychophysiologischen im engsten Sinne
gar nicht hinauszugehen. Im Gegenteil! Gerade in ihr manifestiert
sich ihm jene Sonderung der Begriffe des Psychischen und des
Physischen am deutlichsten. Das gelegentliche Auftreten soge-
nannter motorischer Ausfallserscheinungen, d. h. die unter ge-
wissen Umständen mangelhafte oder völlig aufgehobene Fähigkeit
der körperlichen Organe den Befehlen des bewussten Willens zu
96 R.. Hönigswald,
gehorchen, werden ihm die Verschiedenheit und doch wieder ein-
deutige Zusammengehörigkeit des Psychischen und des Physischen
in ebenso eindrucksvoller Weise zu Bewusstsein bringen, wie die
Schwierigkeiten, welchen er etwa bei der Erlernung einer neuen
und komplizierten Technik begegnet. An sich selbst, ganz be-
sonders aber an anderen bemerkt er sodann — unter Zuhülfe-
nahme weitreichender Analogieschlüsse, die sich als solche freilich
erst einer viel späteren Analyse seines Verhaltens entdecken —
Zustände, die ihn unweigerlich vor das Problem des Zusammen-
hanges des Psychischen und des Physischen stellen müssen. Hierher
gehören, ganz abgesehen von psychotischen Störungen, alle jene
Ereignisse, bei welchen früher vorhanden gewesenes Bewusstsein
zu verschwinden scheint — sei es, dass mit dem Entschwinden
des Bewusstseins jede aktive Beweglichkeit der Körperorgane
überhaupt aufhört, wie in der tiefen Ohnmacht oder im Tode, sei
es, dass trotz des scheinbar entschwundenen Bewusstseins die
aktive Beweglichkeit in irgend einem Umfange oder Grade noch
vorhanden ist, wie etwa im normalen physiologischen Schlafe;
kurz alle jene Umstände, die etwa für den Empiriokritizisten zu-
gleich als Motive der „Introjektiou" in Betracht kommen. Dabei
sind für den naiven Menschen die Momente der Problemstellung
und der Problemlösung wiederum kaum unterschieden: hat er
sich einmal auf die Verschiedenheit einerseits, auf die Zusammen-
gehörigkeit andererseits des Psychischen und des Physischen be-
sonnen, dann bestimmt er zugleich auch schon die Art dieser
Zusammengehörigkeit als die kausale. — Die Aufgaben einer
wissenschaftlichen Theorie sind solchen naiv-doguiatischen Lösungs-
versuchen des psychophysischen Problems gegenüber weitaus
komplexer. Sie wird vor allem die Frage nach der Möglichkeit
einer kausalen Beziehung zwischen Psychischem und Physischem
an dem Masstab des Begriffs der Wissenschaft prüfen müssen,
d. h. sie vor dem Forum einer Theorie der Wissenschaft zu recht-
fertigen suchen.
Niemals wird sich m. a. W. eine wissenschaftliche Erörterung
des psychophysischen Problems bei der Feststellung beruhigen
dürfen, dass die Beziehung zwischen geistigem und körperlichem
kausal sein müsste, weil „in dem unmittelbaren Bewusstsein der
eigenen lebendigen Ursächlichkeit psychologisch der Ursprung des
Kausalitätsgedankens zu suchen" sei.^) Der psychologische Ur-
') Busse, Körper und Geist, Leib und Seele, 1903, S. 191,
Zu Liebmanns Kritik der Lehre vom psychophysischen Parallelismus. 97
Sprung- des Kausalitätsgedankens müsste zugleich dessen objektive
Gültigkeit verbürgen, sollte er über das Recht, die Beziehungen
zwischen Psychischem und Physischem als kausale zu bezeichnen,
entscheiden können. So gewiss er jenes nicht vermag, so gewiss
ist dieses Recht anderweitig zu erweisen. Die Frage ist eben
gerade die, ob und inwieweit ,.das unmittelbare Bewusstsein der
eigenen lebendigen Ursächlichkeit" einer Rechtfertigung durch
Gründe überhaupt fähig ist. — Ohne Zweifel liegen die Verhältnisse
hier, wo der unbestrittene Anlass zur Bildung des Kausalgedankens
zugleich das Objekt darstellt, an dem er sich legitimieren soll,
weitaus komplizierter als in anderen Fällen der Verwechselung
psychologischer und erkenntnistheoretischer Gesichtspunkte. Sachlich
aber begründet dieser Umstand keine Veränderung der theoretischen
Fragestellung. — Nicht die Psychologie also, sondern allein die Er-
kenntnis Wissenschaft ist zur Stellung des Problems von der Natur
des Verhältnisses zwischen Psychischem und Physischem kompetent.
Die Erkenntniswissenschaft aber bringt dieses Problem naturgemäss
in die ihren spezifischen Aufgaben angemessene Form: Welche
Beziehung zwischen Psychischem und Physischem entspricht dem
in seinem Recht zu begründenden Begriff der Wissenschaft? In
welchem Sinne ist auch nur die Frage nach dem Verhältnis des
Psychischen zum Physischen begründet?
Nicht an solchen Fragen orientieren sich im wesentlichen die
Erwägungen Liebmanns über das psychophysische Problem. Wohl
sind auch sie seinem vom „Geist der Transscendentalphilosophie"
erfüllten Denken an sich gewiss nicht fremd. Allein, schon der An-
satzpunkt seiner Erörterungen rückt ihm ganz andere Gesichtspunkte
der Fragestellung in den Vordergrund. Liebmaun knüpft mit seinen
kritischen Betrachtungen über das psychophysische Problem, um es
kurz zu sagen, nicht an eine Theorie, sondern au gewisse Ergeb-
nisse der Erfahrung an. Seinen methodischen Ausgangspunkt bildet
m. a. W. eine durch die psychophysiologische Erfahrung nahegelegte
Annahme über das Verhältnis zwischen dem Psychischen und dem
Phj^sischen. Es ist die einer durchgängigen, eindeutigen und aus-
nahmslosen funktionellen Zuordnung alles Psychischen zu einem phy-
sischen Substrat und Korrelat. Eine nähere theoretische Determina-
tion dieser Annahme selbst steht für Liebmann augenscheinlich nicht
im Vordergrunde. Ihm kommt es m. a. W. nicht so sehr darauf an,
etwa die Lehre von dem sogenannten Parallelismus im engeren Sinne
dieses Wortes gegenüber einer psychophysischen Kausalitätstheorie
Kautstudien XV. 7
98 R. Hönigswald,
erkenntnistheoretisch zu begründen, als vielmehr aus gewissen
Konsequenzen der Annahme einer absolut ausnahmslosen und ein-
deutigen Korrespondenz zwischen Psychischem und Physischem
Rückschlüsse auf die Natur ihrer gegenseitigen Beziehungen und
darüber weit hinausgehend auf das Verhältnis von Materie und Geist
im „Universum" überhaupt zu machen.^) So gewinnt für Liebmann
die im letzten Grunde erkenntnistheoretische Frage von vornherein
jene metaphysische Betonung, die seinem ganzen theoretischen
Denken das charakteristische Gepräge giebt. Auf dem Boden
der Erfahrung mit kritischer Besinnung auf deren Begriff
Anhaltspunkte zu gewinnen für die Beurteilung und Diskussion
transscendenter Möglichkeiten, ist eben das Grundmotiv seines
Philosophierens. „Dogmatische Metaphysik," so heisst es einmal
an einer bedeutsamen Stelle bei Liebmauu, „welche Kant als
eine Illusion, eine Selbsttäuschung, als einen „transscendenten
Schein" verworfen hat, w-ollte, mit Überspringung der immanenten
Schranken menschlicher Erkenntnis, eine apodiktische Wissenschaft
vom Wesen der Dinge sein. Wir geben sie bereitwillig preis.
Kritische Metaphysik hingegen bescheidet sich, von Kant belehrt,
eine strenge Erörterung menschlicher Ansichten, menschlicher
Hypothesen über das Wesen der Dinge zu sein. Wir halten sie
fest. Sie bleibt nach wie vor eine aus tiefwurzelnden, unausrott-
baren Geistesbedürfnissen hervorwachsende Gedankenarbeit und
eine logische Verstandespflicht. "^) In die „kosmische" Beleuchtung
seiner „kritischen Metaphysik" sollte auch das Problem von dem
Verhältnis des Körperlichen zum Geistigen aus der Sphäre der
psychophysiologischen Erfahrung gerückt werden. Ja, man darf
vielleicht hinzufügen: die Diskussion des psychophysischen Problems
ist bei Liebmauu nur eines der Mittel für die Erreichung der
Zwecke jener kritischen Metaphysik. Das erfahrungsgemäss vor-
handene und im Sinne funktioneller Abhängigkeit gedeutete Ver-
hältnis zeitlicher Kontinuität zwischen Psychischem und Physischem
bildet für ihn den Ausgangspunkt von Erwägungen, die uns mittelst
einiger weniger energischer Züge bis an den Rand des meta-
physischen Abgrundes hinführen, dessen Dasein man anerkennen
müsse, weil man wie von unsichtbaren Kräften sich zu ihm hin-
gezogen fühlt, dessen Inhalt man jedoch höchstens nur ahnen,
1) Liebmann, Gedanken und Tatsachen, II, 1900. S. 173.
2) Ebenda S. 113.
Zu Liebmauns Kritik der Lehre vom psychophysischen Parallelismiis. 99
veruinten, vielleicht auch unter Zuhülfenahme mancher Ergebnisse
der Erfahrung wissenschaftlich diskutieren, nicht aber erkennen
könne.
Unübersehbar schier sind — wie oben schon angedeutet —
die Instanzen, welche auf das Vorhandensein einer beständigen
Beziehung zwischen Psychischem und Physischem überhaupt, einer
Abhängigkeit des Psychischen von den Zuständen des Physischen
im besonderen schliessen lassen : nicht nur die an sich wieder so
komplexe Tatsache des „unverkennbaren Parallelismus zwischen
der Ausbildungsstufe des Gehirns und der Eutwicklungshöhe der
Intelligenz" ^) im einzelnen Individuum sowohl, wie in der Gattung,
sondern vor allem auch die physiologische, pathologische und
anthropologische Korrespondenz und Proportionalität zwischen
Körperlichem und Geistigem in ihren tausendfachen Äusserungen.
Unüberbrückbar aber erscheint dabei die Kluft zwischen Psy-
chischem und Phj'sischem. Gerade in dieser eigenartigen Ver-
knüpfung negativer und positiver Instanzen liegt das treibende
Motiv für die Stellung des psychophysischen Problems überhaupt.
Sie liefert auch den Ansatzpunkt für die kritischen Betrachtungen
Liebmanns. „Die Leistung eines Organs empirisch erklären heisst
nichts anderes als aus den physischen Beschaffenheiten dieses
Organs dessen Leistung als naturgesetzlich notwendigen Effekt
deduzieren, so etwa wie man die Leistung einer Lokomotive aus
der Expansionskraft des heissen Wasserdampfs und dem Mechanis-
mus der Maschinenteile als notwendige Folge deduzieren kann.^)
Nichts von einer solchen Deduktion ist auf psychophysiologischem
Gebiete möglich. „Ich würde mich gHickUch schätzen," erklärt
temperamentvoll Liebmann, „wenn ich wüsste, was die elektrischen
Prozesse in meinen Hirnzellen mit dem Satze zu schaffen haben, den
ich hier soeben niederschreibe."^) Und doch ist an der Zugehörigkeit
auch der höchsten Formen des geistigen Lebens zu körperlichen Sub-
straten nicht zu zweifeln. „Der psychologische Typus eines
Geschöpfes und sei es selbst der stolze Geist des Menschen, ist
kein Gespenst, schwebt nicht körperlos im leeren Räume oder in
freiem Äther der Übersinnlichkeit, sondern ist an einen leiblichen
Organisationstypus gebunden, der zu ihm passt, in Beziehung zu
welchem er erst Sinn, Berechtigung und Daseiusmöglichkeit be-
1) Ebenda. S. 181.
2) Liebmann: Zur Analysis der Wirklichkeit, n. Aufl., 1900, S. 539.
3) Ebenda. S. 542.
7*
100 R. Höuigswald,
sitzt." ^) Zweifach also ist — um diesen entscheidenden Punkt
noch einmal hervorzuheben — das Ergebnis der Erfahrung-en auf
psychophysiologischem Gebiete: „einerseits absolute Verschieden-
heit des Geistigen und des Materiellen, tiefe unausfüllbare Kluft
zwischen zwei völlig heterogenen Klassen von EeaUtät; anderer-
seits durchgängiger funktioneller Zusammenhang zwischen diesen
zwei Seiten der empirischen Welt, gesetzmässiger Parallelismus
des Geistig-Realen und des Körperlich-Realen".^) An den zweiten
Teil dieses Ergebnisses knüpft Liebmann seine scharfsinnige
Kritik, und zwar formal, indem er seine methodologische Valenz
als Hypothese fixiert und material, indem er die letzten Kon-
sequenzen dieser durch die Erfahrung nahegelegten Hypothese für
die Auffassung des Verhältnisses von Materie und Geist überhaupt
entwickelt. Denn hypothetisch ist und bleibt die These von einem
durchgängigen funktionellen Zusammenhang zwischen Psy-
chischem und Physischem. Sie ist, genau besehen, kaum mehr
als eine durch die psychophysiologische Erfahrung veranlasste und
in deren Richtung gelegene Forderung. Nur in diesem methodo-
logisch sehr bedingten Sinn kann man sie daher als ein Ergebnis
der Erfahrung bezeichnen. Ja, die durchgängige Parallelität
zwischen Psychischem und Physischem muss schon deshalb Hypo-
these sein und bleiben, weil „trotz aller Fortschritte der Gehirn-
physiologie und aller Lokalisation der Geistesfunktion die trans-
mikroskopisch zarten Gehirnprozesse, von denen das Seelenleben
begleitet wird, sich gar nicht beobachten lassen". Auch müsse
man überdies „sehr wohl bedenken, was dieser strenge Parallelis-
mus besagen will. Wer ihn annimmt, der muss behaupten, dass
jedem psychischen Geschehen überhaupt, auch dem unsichtbarsten,
dem unbildlichsten Geistesakt, ein körperlicher Zustand in der
Gehirusubstanz eindeutig als physisches Korrelatum aggregiert
sei. Also nicht etwa bloss das Auftreten konkreter Erinnerungs-
bilder, die Assoziation der Vorstellungen, der gedäcbtnismässige
Ablauf einer Vorstellungsreihe, die uns Erlebnisse der Vergangen-
heit wiederholt, muss an einen gleichzeitig ablaufenden Gehirn-
prozess funktionell geknüpft sein, sondern auch das Denken im
engeren Sinne, die logische Verstandestätigkeit; jeder ürteilsakt,
jedes Erkennen oder Nichterkennen, jedes Bejahen und Verneinen,
Zustimmen oder Verwerfen, jede Geisteshandlung des Vergleichens,
1) Gedanken und Tatsachen, IL, S. 181.
2) Ebenda. S. 183.
Zu Liebmanns Kritik der Lehre vom psychophysischen Parallelismus. 101
Uuterscheidens, Identifizierens, jedes Fürwahrhalten oder Fürfalsch-
halten, Glanben oder Nichtglauben, jedes Verknüpfen nud Trennen
abstrakter oder konkreter Vorstellnngen, jede Synthese, jede be-
wnsste oder unbewnsste Auswahl zwischen verschiedenen, einander
kontradiktorisch entgegengesetzten Möglichkeiten, jede induktive
oder deduktive Schlussfolgerung, kurz alles, was geistig da ist
und geschieht, muss im Gehirn ein physisches Analogen und
gesetzlich damit verknüpftes körperliches Korrelatum haben, wenn
von strengem, psychophj^sischen Parallelismus die Rede sein soU."^)
— Dazu kommt noch die unübersehbare Fülle jener stets vorhan-
denen, nebelhaft ineinanderfliessenden und unstet darcheinander-
wogenden, kaum fassbaren, geschweige denn fixierbaren psychischen
Ereignisse, die vom Parallelismusprinzip ebenso umfasst w^erden
müssten, wie die scharf begrenzten Produkte des planvoll bewussten
Denkens. Aber seihst wenn die Beobachtung dieser feinsten psy-
chischen und jener zartesten physischen Prozesse auch Herr
werden könnte, niemals vermöchte sie dies an einem und demselben
psychophysiologischen Objekt. Das psychische Erlebnis und der
ihm koordinierte physiologische Prozess sind stets auf die Erfah-
rung zweier Beobachter verteilt. 2) Ein allerdings an Beobachtung
anknüpfender, und durch Erfahrung fundierter Analogieschluss
von den beobachtbaren, bezw. suppouierten Vorgängen des eigenen
Geisteslebens auf fremdes tritt hier an die Stelle der unmittelbaren
Beobachtung. Auch im Hinblick auf diesen Umstand schon ist
also die These von einer durchgängigen Parallelität des Psychischen
und des Physischen durchaus hypothetisch. — Indessen, sie ist ohne
Zweifel eine „hypothesis bene fundata''. Und deshalb gerade ist
die weitere kritische Frage Liebmanns: „Was folgt aus der
Annahme ihrer Geltung?" begründet. Ja, mit dieser zweiten
Frage erst tritt Liebmann dem eigentlichen Gegenstande seiner
Untersuchung näher. Gesetzt, der Parallelismus bestünde wirk-
lich in jener absoluten Ausnahmslosigkeit, die unsere Hypo-
these fordert, leistet er auch das, was billigerweise, d. h. im
Sinne jener Hypothese, von ihm verlangt werden muss, und
w^enn er es zu leisten vermöchte, welches sind die theoretischen
Konsequenzen dieser seiner Leistung? Welchen Bedingungen muss
m. a. W. das Parallelismusprinzip im Sinne jener Hypothese ge-
nügen und welche Folgerungen wären aus dem Umstände der
1) Ebenda. S. 188 f.
2) Riehl, Philos. Kritizismus, Bd. II, 1887, S. 196 f.
102 R. Hönigswald,
Erfüllung- jener Beding-ungen durch unsere Hypothese zu ziehen?
Schon S ig wart hatte verwandte Probleme aufgerollt.^) Bei
Liebmann aber treten sie aus dem Zusammenhang der engeren
methodologischen Interessen, die für Sigwart naturgemäss be-
stimmend gewesen waren, heraus. Dadurch gewinnen sie denn
auch für ihn jene theoretische Selbständigkeit, die vor allen Dingen
in der Schärfe seiner Exposition zum Ausdruck kommt. —
Gerade den spezifischen Äusserungen des entwickelten Seelen-
lebens gegenüber — so meint Liebmann — versagt das Parallelismus-
prinzip. Gesetzt nämlich, „die Lokalisation der Geistesfunktionen
wäre eine fertig abgeschlossene, vollendete Leistung, die Gesichtsvor-
stellungen, Gehörsvorstellungen u. s. w. wären an bestimmten Stellen
der Gehirnrinde endgültig untergebracht": weder für die funda-
mentale Tatsache der Enge, noch für die der Einheit des Be-
wusstseins oder gar für jene wunderbare Fähigkeit des „selbst-
bewussten Ich", die Zustände seines eigenen Seelenlebens zu
objektivieren, lässt sich ein zureichendes physisches „Analogon,
SubStratum oder Correlatum" auch nur vermuten. 2) Nirgends
wird die völlige Disparität zwischen physischem und psychischem
Geschehen so klar, wie an diesen Punkten, wo einem räumlich-
zeitlichen Phänomen, dem physischen Vorgang, das nicht nur
räumlich, sondern genau genommen, auch zeitlich bestimmungs-
lose Produkt einer „Verknüpfung" im Bewusstsein gegenübertritt.
Hier vor allem muss die Kritik einsetzen. „So lange die physischen
Analoga oder körperlichen Correlata dieser charakteristischen
Grundtatsachen fehlen, so lange bleibt unsere Kenntnis des psycho-
physischen Parallelismus lückenhaft und die Lehre, dass ein solcher
überhaupt existiert, eine Hypothese von zweifelhaftem Werte." ^)
Indessen, diese Schwierigkeit ist für den Anhänger des
Parallelismusgedanken, in dessen strengster Fassung wenigstens
keineswegs unüberwindlich. Er kann einmal darauf hinweisen,
dass ja die absolute Disparität zwischen Psychischem und Phy-
sischem geradezu eine Bedingung des Parallelitätsgedanken darstelle,
da er ja gerade an die Voraussetzung des Mangels jeglicher
Analogie zwischen Psychischem und Physischem gebunden sei. Und
er wird der Frage Liebmanns nach dem physiologischen Substrat
und Korrelat des erwähnten Grundphänomens der Bewusstseins-
1) Sigwart, Logik, III. Aufl., 1904, II. Bd., S. 546 ff .
2) Gedanken und Tatsachen, 11, S. 190.
=0 Ebenda.
Zu Liebmanns Kritik der Lehre vom psj'chophysischen Parallelismus. 103
einheit vielleicht die andere entgegenhalten: Kanu man es denn
bezweifeln, dass das physiologische Substrat auch der Einheits-
phänomene das Bewusstsein, ganz allgemein gesprochen, die
nervöse oder gar die lebendige i\[aterie überhaupt sei? Und was
sonst sollte deren Korrelat darstellen, als gewisse ener-
getische Transforniationsprozesse dieser nervösen, bezw. der
lebendigen Materie? Ja, der Vertreter der Parallelismuslehre wird
vielleicht vermuten, dass die Schwierigkeit, vor die Liebmann sich
hier gestellt sieht, letzten Endes mit jener streng quantitativen
Fassung des Atombegriffs zusammenhängt, in welcher z. B. Rickert,
freilich unter ganz anderen Voraussetzungen und im Zusammen-
hange einer ganz anders gerichteten Untersuchung, einen schlagenden
Beweis gegen die Berechtigung des Parallelismusgedankens erblickt.
„Versuchte man das Psychische im Ernst der mechanischen Körper-
welt entsprechen zu lassen, so müsste man auch zu einer rein
quantitativen Bestimmung jeder Veränderung ... in ihm schreiten
..." Damit aber „hörte das Wesen des Psychischen auf, im
Qualitativen zu bestehen und sein Begriff hätte keinen vom Phy-
sischen unterscheidbaren Inhalt mehr".^) M. a. W.: Der Verteidiger
des Parallelismusprinzips könnte Liebmann vorhalten, dass die von
diesem in den Vordergrund gerückte Schwierigkeit nur unter dem
Gesichtspunkte der nicht realisierbaren Idee einer psychophysischen
Atomistik vorhanden sei. Wird nun aber die Berechtigung dieser
Idee geleugnet, und der Parallelismustheoretiker wird kein Be-
denken tragen, dies zu tun, dann fällt zugleich der von Liebmann
betonte Mangel des Parallelismusgedankens. Erkenntnistheoretische
Erwägungen — so etwa Hesse sich die kritische Position des
Parallelismustheoretikers formulieren — , welche uns veranlassten, die
durch die Tatsachen geforderte Parallelität über das Mass einer funk-
tionellen Abhängigkeit des Psychischen von den energetischen Trans-
formationsprozessen der „nervösen Substanz" hinaus auszudehnen,
lägen nicht vor; deshalb involvierte auch die Frage eines phy-
siologischen „Analogons" der Einheitsphänomene gewiss kein
grösseres Problem als die nach dem physischen Analogen etwa
der Empfindung. Gleichwie diese, so habe man sich auch jene
Einheitsphänomene als an eine ganz bestimmte quahtative Be-
schaffenheit und Reaktionsweise des physischen Substrates gebunden
1) Rickert: Psychophysische Kausalität und psychophysischer Paral-
lelismus. Sigwart-Festschrift 1902.
104 R. Hönigswald,
vorzustellen. — Es ist fraglich, ob die Position Liebmanns durch
solche Einwände getroffen wird.- Das Argument z. B., dass der
Maugel jeglicher Analogie zwischen Psychischem und Physischem
geradezu eine Voraussetzung der Parallelismustheorie darstelle,
versagt, wo der Gedanke der Parallelität nicht in scharfen und
grundsätzlichen Gegensatz zum Begriff der psychophysischen
Kausalität tritt. Das aber ist gerade bei Liebmann der Fall.
Nicht als ob Liebmann die völlige Disparität der beiden Erscheinungs-
gebiete verkennen würde; auch nicht als ob er sich einer Täuschung
darüber hingäbe, dass ein Verständnis des kausalen Zusammen-
hanges, d. h. die Auffindung einer auf der Identität eines Faktors
beruhenden Beziehung zwischeu Psychischem und Ph3^sischem tat-
sächlich nicht möglich sei. Bei Liebmann fehlt nur eine Be-
gründung der prinzipiellen Unmöglichkeit einer psychophysischen
Kausalitäts-, oder was dasselbe bedeutet, der Unerlässlichkeit einer
psychophysischen Parallelitätstheorie. Das Problem, in welchem,
wie wir sehen w^erden, seine Erörterung des Verhältnisses des
Psychischen zum Physischen gipfelt, fordert schliesslich jene Be-
gründung auch gar nicht. Aber nur wenn eine solche gegeben
wäre, könnte das oben genannte Argument als stichhaltig betrachtet
werden. Denn nur in diesem Falle wäre jene Identitätsbeziehung
zwischen Psychischem und Physischem wirklich ausgeschlossen,
deren Begriff sich in der Forderung eines physiologischen Analogous
zu den psychischen Phänomen geltend macht. Und w^as die Kritik
der Frage nach einem physiologischen Substrate der psychischen
Einheitsphänomene anlangt, so konnte Liebmaun hier ohne Schwierig-
keit eine Unterscheidung einführen, welche die ganze Probleralage
mit einem Schlage zu Ungunsten seines supponierten Gegners ver-
änderte.
Ein anderes nämlich ist Einheit des Mannigfaltigen
im Bewusstsein, ein anderes das Bewusstsein jener Ein-
heit. Nur das letztere ist einer physiologischen Parallelisierung
fähig, nur auf dieses könnte sich daher der oben diskutierte
Einwand gegen die Liebmannsche Position baziehen. Die Ein-
heit des Bewusstseins, bezw. der diese Einheit repräsentierende
Gedanke des Ich, ist ein ausser-zeitliches, rein logisches Moment
und die Bedingung aller Zeitlichkeit von Phänomen überhaupt.
Nur das Bewusstsein von der einheitlichen Verknüpfung des
Mannigfaltigen in aller Erkenntnis ist selbst ein zeitliches, psy-
chologisches und physiologisch parallelisierbares Phänomen. M.a. W.:
^1
Zu Liebmanns Kritik der Lehre vom psychophysischen Parallelismus. 105
Die Liebmannsche Lehre von dem Fehlen eines jeglichen
physiologischen Substrates für die Einheit des Bewusst-
seins bleibt aufrecht. Denn wer die Möglichkeit eines Sub-
strates für diese Einheit behauptet, der hat eben schon an die
Stelle des Begriffs der Einheit des Bewusstseins unvermerkt den
des Bewusstseins jener Einheit treten lassen. „Es ist ein er-
kenntuistheoretischer Standpunkt möglich" — bemerkt zu diesem
Punkt einmal mit Recht Rickert^) — „der das zusammenfassende
Bewusstsein, etwa wie Kant die transscendentale Apperzeption, in
seiner Bedeutung als Bedingung alles Seins, des Physischen ebenso
wie des Psychischen, streng von dem psychologischen Subjekt
unterscheidet. Das psychologische Subjekt, das in erkenntnis-
theoretischer Hinsicht Objekt ist, und zu dem daher die Einheit
des ,Bewusstseins überhaupt' begrifflich nicht in prinzipiell anderer
Weise gehört als zu jedem anderen Objekte, macht dann allein
den empirisch gegebenen Gegenstand der Psychologie aus, und nur
mit Rücksicht auf diesen braucht man den Parallelismus durch-
zuführen".
Niemand hat den Gegensatz zwischen der jenseits aller zeit-
lichen Bestimmungen stehenden Eiuheitsfunktion des Bewusstseins
und den in der Zeit verlaufenden psychischen Phänomenen schärfer
formuliert als Liebraann selbst. „Aus dem zeitlichen Verlauf des
psychischen Geschehens als zeitlos höhere Instanz heraustretend,
fasst das Ich zeitlich Getrenntes in die Einheit eines einheitlichen
Gedankenzusammenhangs synthetisch zusammen. . . . Ohne dieses
Ich giebt es für uns kein Seelenleben; ohne dieses Ich gäbe es
für uns auch keine Welt. "2) Einheit des Bewusstseins ist eben
nicht — um dies noch einmal auszusprechen — ein psychisches
Phänomen, wie es das Bewusstsein dieser Einheit ist. Einheit
des Bewusstseins ist ein jedem Bewusstsein von der Einheit über-
geordnetes Formalgesetz, eine Bedingung, der jegliches Bewusst-
sein, auch das von der Einheit selbst, genügen muss. Einheit des
Bewusstseins ist die jedem empirischen Bewusstsein gemeinsame
„Möglichkeit, zu sich selbst Ich zu sagen". Nur dieses tatsäch-
liche Ich-Sagen, bezw. das Bewusstsein jener Möglichkeit ist ein
physiologisch parallelisierbares psychisches Phänomen; die „Mög-
r lichkeit" selbst aber ist es nicht. Einheit des Bewusstseins ist
1) a. a. O. S. 69.
2j Gedanken und Tatsachen, II, S. 197.
106 R. Hönigswald,
eben nicht die psycholog-ische Funktion eines organisierten „Wesens",
sie ist eine Beding-ung-, unter der jede psychische Funktion eines
organisierten „Wesens" als solche steht. Daher kann Einheit des
ßewusstseins ein physiologisches Substrat überhaupt nicht haben.
Es ist eine Konsequenz der Liebmannschen Problemstellung,
die hiermit gezogen wird, eine Konsequenz freilich, die einerseits
über jene Problemstellung hinausweist, schon, weil sie in dem
Fehlen einer Antwort auf die Frage nach einem Substrat der
Einheit des ßewusstseins keinen Mangel des Parallelismuspriuzips
entdecken k du, und die andererseits von selbst hinüberleitet zur
Diskussion de zwwten Teils der kritischen Betrachtungen, die
Liebmanu dem P rallelismusprinzip widmet.
Denn nicht nur das Moment der Einheit des Bewusstseins,
sondern auch der Tatbestand der Logik stellt nach Liebmann
das Parallelismusprinzip vor ernste Schwierigkeiten. Schon Sig-
wart hatte, wie oben angedeutet, mit Nachdruck auf diesen Punkt
hingewiesen. Für ihn sowohl wie für Liebmann handelt es sich
darum, die Anerkennung einer prinzipiell unerfüllbaren Forderung
als Konsequenz des Parallelismusgedankens aufzuzeigen. Soli, so
meint Sigwart, eine logische Operation in der Gestalt eines be-
liebig einfachen ßechenexempels ausgeführt werden, dacn muss
der dieser logischen Operation als einem psychischen Vorgang unter
der Voraussetzung des Parallelismusprinzips eindeutig korrespon-
dierende Gehirnprozess augenscheinlich zweierlei Gesetzen ent-
sprechen: „einmal den chemischen Gesetzen, nach welchen Kohlen-
stoff, Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Phosphor u. s. w. die
Umlagerungen ihrer Atome in der Gehirnsubstanz vollziehen, resp.
den physikalischen, nach welchen die dabei frei werdenden oder
sich bindenden Kräfte nach dem Energiegesetz sich umformen,
und zum zweiten den logischen Gesetzen des Rechnens, den
Regeln der Addition und Subtraktion, den Regeln des Einmaleins
u. s. f."^) So haben „die umfassendsten Kombinationen der Ele-
mente, wie sie in weitausgreifenden Gedankenverbindungen in
dichterischer oder musikalischer Komposition vollzogen werden, zu
ihrem genauen Gegenbild ebenso verwickelte Umsetzungen der
Gehirnsubstanz, welche einerseits nach chemischen und physika-
lischen Gesetzen mit streng mechanischer Gesetzmässigkeit ver-
laufen, andererseits aber zugleich unter den Gesetzen der Logik,
1) Sigwart, Logik, II. Bd. III. Aufl. 1904, S. 547.
Zu Liebmanns Kritik der Lehre vom psychopliysischen Parallelismus. 107
der Ästhetik, der Harmonielehre u. s, w. stehen". Hatte Sigwart
in diesen Sätzen die prinzipielle Frage des Gegensatzes zwischen
Verursachung und Normierung auf dem Boden des psychophy-
sischen Problems aufgerollt, so hat sie Liebraann in ihrer ganzen
Prägnanz und Folgerichtigkeit entwickelt. „Sollen wir an-
nehmen, die dem verstandesmässigen Denken aggre-
gierten Gehirnzustände folgten einander nicht nach
den Gesetzen der Physik und Chemie, sondern nach den
Gesetzen der Logik? Oder sollen wir annehmen, das
Denken richte sich nicht nach den Gesetzen der Logik,
sondern nach den Gesetzen der Physik und Chemie?
Eines von Beiden muss der Fall sein, wenn ein strenger psycho-
physischer Parallelismus existieren soll."') Träfe das erstere zu,
dann wären die dem Denken aggregierten Gehirnprozesse „aus
dem Herrschaftsgebiet der Naturgesetze enthoben und einer allem
materiellen Geschehen fremdartigen Welt von logischen Denk-
geboten unterstellt". Und wäre das zweite der Fall, dann stünde
das Denken nur scheinbar unter der Herrschaft der logischen
Normen, etwa des Satzes der Identität und des Widerspruchs; in
Wahrheit gehorchte es „der mit blinder Notwendigkeit ablaufenden
Mechanik der Gehirnprozesse". f) Folgt m. a. W. unter der Vor-
aussetzung des ParallelisQius die Natur logischen Normen, oder
folgt die Logik kausalen, physikalisch-chemischen Gesetzen? Ist
— so fragen wir mit Liebmanns eigenen Worten — ,.jener, nach
physischen Naturgesetzen entstandene und nach solchen notwendig
wirkenden Hirnmechanismus gleichzeitig so wunderbar konstruiert,
als ob er nicht nach Naturgesetzen, sondern nach lo-
gischen Gesetzen wirkte?" Mit anscheinend unweigerlicher
Konsequenz ergiebt sich aus diesem harten „Kompetenzkonflikt"
für Liebmann die Entscheidung: „Ist die ipvxri oder die von innen
betrachtete Intelligenz ein automaton spirituale logicum, so muss
das cerebrum, die von aussen betrachtete Intelligenz ein antomaton
materiale logicum sein; ist der Psychomechanismus logisch, so
muss der Cerebromechauismus ebenfalls logisch sein."^) — Mit der
ihm eigenen Unmittelbarkeit der Darstellung stützt Liebmann diese
Folgerung durch den Hinweis auf konkrete Umstände. Wenn lo-
gisches Denken an ganz bestimmte, kausal determinierte Gehirn-
1) Gedanken und Tatsachen, n, S. 193.
2) Ebenda. S. 194.
3) Zur Analysis der Wirklichkeit, S. 554.
108 R. Hönigswald,
funktionen g-ebunden ist — und dass sich dies so verhalte, scheint
nicht nur durch die Erfahrung- bestätigt zu werden, es entspricht vor
allen Ding-eu auch der Grundforderung des Parallelismusprinzips — ,
dann müsste auch schon die geringste Veränderung im Ablauf der
chemisch-physikalischen Krscheinungsreihen des Gehirns das logische
Denken revolutionieren. Gesetzt, „mein Gehirn hätte nach den
darin herrschenden Naturgesetzen . . . nicht die Zustandsreihe
a b c d, sondern die andere a c b d . . . durchlaufen, so würde als
Folge dieser materiellen Metathesis eine logische Metathesis not-
wendigerweise eingetreten sein".^) Ich würde etwa anstatt
2X2 = 4 gedacht haben 2X4 = 2. Eine solche logische Meta-
thesis aber findet in dem geistig gesunden Menschen nicht statt,
folglich müssen „die Kunstregeln der Schullogik dem intellektuellen
Naturprozess immanent sein",^) folglich sind „die logischen
Normalgesetze selbst Naturgesetze unserer Intelligenz, Natur-
gesetze höherer Art als die der Assoziation",^) folglich „stehen
wir hier vor dem ungeheueren, alle unsere Begriffe übersteigenden
Naturphänomen, dass bliudwirkende Naturgesetze, dass Mechanis-
mus,- Chemismus u. dergl. m. einen materialeu Naturprozess zu
Stande bringen und in Gang erhalten, der — einem idealen
Kodex logischer Normalgesetze gehorcht".*) Besteht also der
Parallelismus zu Recht — und dass er wenigstens im Sinne
der funktionellen Zuordnung des Psychischen an Physisches zu
Recht besteht, kann nicht wohl bezweifelt werden — dann ist
„die Materie, die Natur etwas anderes, ist unendlich viel mehr
als der Physiker, der Chemiker, ja auch der Physiolog sich bei
diesem Worte zu denken pflegt".^) Sie kann, „obwohl überall
nach mechanischer Kausalität mit blinden Kräften wirkend, nicht
bloss in kausalem Mechanismus bestehen, wenn sie mittelst dieses
Mechanismus ein logisches Organ, wie das Cerebrura hervor-
bringt ".ß) „Ist die Vernunft Naturprodukt, so muss die Natur
Vernunft haben." 7)
Das ist das bedeutsame Ergebnis der Betrachtungen Lieb-
raanns, der damit das psychophysische Problem in die Beleuchtung
1) Ebenda. S. 653.
2) Ebenda. S. 557.
3) Ebenda. S. 559.
4 Ebenda. S. 561.
ö) Zur Analysis der Wirklichkeit. S. 561.
6) Zur Analysis der Wirklichkeit. S. 563.
') Zur Analysis der Wirklichkeit. S. 564.
Zu Liebmanns Kritik der Lehre vom psychophysischen Parallelisraus. 109
letzter metaphysischer Fragen gerückt hat. Es ist der Gipfel
einer Untersuchung, welche die vollendete Beherrschung des Tat-
sächlichen von vornherein als eines der Mittel zur Realisierung des
Programms einer kritischen Metaphysik betrachtet. Und doch kann
dieses Ergebnis nicht das letzte Wort in einer Sache sein, die zu-
gleich die Grundlagen der Erkenntniswissenschaft betrifft. Wenn
die Analyse des Parallelismusproblems für Liebmann den Gedanken
einer metaphysischen Verschmelzung kausaler und normativer Re-
geluug zeitigte, so ergiebt sich als die nächste methodische Konse-
quenz dieses Gedankens die kritische Frage nach dessen Recht.
Zunächst bedarf der Begriff einer logischen Metathesis
wegen der in ihm enthaltenen Vereinigung erkenntnistheoretisch
heterogener Elemente einer näheren Erläuterung. Nur dort, wo
von Teilen, genauer von einer räumlichen, bezw. zeitlichen An-
ordnung und Relation der Teile eines Ganzen gesprochen werden
kann, kann die Rede sein von einer Metathesis. Um es im
Hinblick auf unser Problem mit einem Worte zu sagen: Nur phy-
sisches, bezw. psychisches Geschehen kann eine Metathesis erfahren,
logische Beziehungen sind einer solchen von vornherein entrückt.
Logische Beziehungen sind jenseits jeglicher räumlicher oder zeit-
licher Bestimmungen stehende Relationen der Einheit. Ein
Deduktionsschluss bleibt, was er ist, d. h. die logische Beziehung
zwischen den Prämissen untereinander, sowie zwischen Prämissen
und Folgesatz verändert sich nicht, auch wenn die zeitliche Ab-
folge der Bestandteile des Schlusses umgekehrt wird. Nur dem
psychischen Geschehen des Schliessens kommt eine zeitliche Ord-
nung seiner Elemente und die Möglichkeit einer Aufhebung dieser
Ordnung, eine Metathesis zu, nicht aber dem logischen Gebilde des
Schlusses. — 2X2 bleibt 4, auch wenn die psychophysiologisch
begründete Metathesis 2X4 = 2 stattgefunden haben sollte, gleich-
wie etwa die Sätze der Identität und des Widerspruchs von jeder
tatsächlichen Verletzung ihrer Gebote — wie sich eine solche im Ver-
lauf eines komplizierten Schlussverfahrens psychologisch oft genug
ereignet — unberührt bleiben. Wo Sein Geltung und nur Geltung
bedeutet, da ist jede Beziehung zu räumlichen und zeitlichen Ver-
hältnissen, somit die Möglichkeit jeglicher ^letathesis ausgeschlossen.
Liebmanns Begriff einer logischen Metathesis kann sich daher nur
auf den psychologischen Tatbestand des Denkens und nicht auf
logischen Qualitäten des Gedachten beziehen, er kann also günstig-
sten Falls nur den Hinweis darauf enthalten, dass ein Produkt
110 R. Hönigswald,
psychophysiologischer Vorg-äuge einer räumlichen oder zeitlichen
Umordnung ihrer Elemente zufolge den Forderungen der Logik
möglicherweise nicht mehr genügt, wobei natürhch für unser
Problem der „analytische" oder der „synthetische" Gebrauch der
Logik nicht in Frage kommt. — So selbstverständlich dieses Er-
gebnis auch erscheinen mag, für die sachgemässe Stellungnahme
zu unserem Problem ist es doch von einschneidender Bedeutung.
Die Begriffe der Norm und der Kenntnis der Norm, bezw. des
normgemässen Geschehens, der logischen Notwendigkeit und des
Bewusstseins ihrer Forderungen, des Wahrseins und der Umstände
des Fürwahrhaltens, sondern sich mit aller Schärfe von einander
und ganz von selbst erhebt sich hier im Hinblick auf die Betrach-
tungen Liebmanns die Frage: Ist die Vernunft im Sinne der
logischen Notwendigkeit oder aber sind das Bewusstsein ihrer
Geltung und die psychischen Umstände der Erfüllung ihrer
Forderungen „Naturprodukt"? Es ist dies die Frage nach
dem Verhältnis zwischen Norm und Naturgesetz, genauer die
Frage, ob denn die logischen Normalgesetze wirklich „Natur-
gesetze unserer Intelligenz" sind, weiterhin die Frage nach
der Berechtigung einer Parallelisierung logischer Normen und
uaturgesetzmässiger Vorgänge in der organisierten oder nervösen
Materie überhaupt. — Tatsache ist, dass gewisse Produkte des
psychischen Geschehens, bezw. ein bestimmter Verlauf psychischer
Ereignisse den Bedingungen logischer Normgesetze genügen. Das
Ergebnis jener komplexen psychischen Vorgänge etwa, das wir
Urteil nennen, entspricht den Forderungen des Prinzips der Iden-
tität und in der gewohnten ohne Zweifel psychologisch bedingten
und natürlichen Gesetzen unterliegenden Aufeinanderfolge der
Urteile in einem deduktiven Schluss symbolisiert sich gleichsam
in zeitlicher Entfaltung die zeitlose Struktur der gegenseitigen
logischen Abhängigkeit seiner Glieder. Sicherlich ist nun die
Kenntnis dieser Abhängigkeit zunächst mit ein starkes Motiv, jene
zeitliche, die Verhältnisse der logischen Abhängigkeit extensiv
symbolisierende Ordnung herbeizuführen und innezuhalten. Aber
so gewiss auf dem Standpunkte einer gereiften Reflexion etwa
der tatsächliche psychologische Vollzug und die logische Ordnung
des Schlusses ihrem Begriff nach gänzlich auseinanderfallen, so
gewiss also die Aufhebung der zeitlichen Ordnung die logische
Ordnung als solche unberührt lässt, so gewiss müssen die
Ursachen der zeitlichen Ordnung — auch sofern diese den
Zu Liebmanns Kritik der Lehre vom psychophysischen Parallelismus. 1 1 1
Foi'derungen der logischen genügt — von der letzteren unabhängig
sein. „Kausalgesetze, nach welchen das Denken so ablaufen muss,
wie es nach den idealen Normen der Logik gerechtfertigt werden
könnte, und diese Normen selbst — das ist doch keineswegs das-
selbe."^) Liebniann selbst ist weit davon entfernt, die Begriffe
der logischen Norm und des kausalen Naturgesetzes zu verwechseln.
Ist es doch gerade die Einsicht in ihren Gegensatz, die seine Er-
wägungen bestimmt. Er spricht — wie wir gesehen haben —
nicht nur im allgemeinen von einer ,.alleQi materiellen Geschehen
fremdartigen Welt von logischen Denkgeboten". ^) Er determiniert
diesen Gegensatz auch durch den Hinweis auf die Verschieden-
artigkeit der Aufgaben von Psychologie und Logik. ,.Für den
Psychologen sind Irrtum und Wahrheit, Vernunft und Wahnsinn
gleich interessante Untersuchungsobjekte, deren Ursache aufzufinden
es gilt. Nach logischen (Normal-)Gesetzen dagegen muss das
Denken von Statten gehen, wenn es korrekt sein will; und das
inkorrekte Denken ist für den Logiker nur verwerflich, während
es für den Psychologen nur natürlich ist."^) Weil und sofern
aber das Produkt des Natürlichen logischen Normen genügt, ver-
senkt Liebmann die Logik in die Natur. Die absolute Diskrepanz
der logischen und der natürlichen Gesetzlichkeit auf der einen,
und ihre scheinbare Vereinigung in der Tatsache des normgemässen
Denkens auf der anderen Seite — das sind — wie schon er-
wähnt — die logischen Motive der Liebmannschen Problemstellung
und des Liebmannschen Begriffs einer „Logik der Natur". Der
erkenntnistheoretisch begründeten Unmöglichkeit einer Paralle-
lisierung von Logik und Naturgesetzlichkeit steht hier die sich
augenscheinlich auf Tatsachen gründende Forderung einer
Parallelisierung der beiden gegenüber. Deshalb aber wird diese
gerade bei Lieb mann so scharf betonte Forderung sich nur
dann mit einem scheinbaren Erfolge behaupten können, wenn sie
ihre P>fülluug auf dem Boden der Metaphysik findet. Das nun
ist bei Liebmann durchaus der Fall. Jedes psychophysiologische
Geschehen nämlich — mögen nun dessen Produkte den Bedingungen
logischer Normen genügen oder nicht — ist naturgesetzlich deter-
miniert. Sind nun kausale Naturgesetzlichkeit und die normative
Regelung durch die Logik von einander prinzipiell unterschieden,
1) Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I, 1901, S. 68.
2) Gedanken und Tatsachen, II, S. 193.
3) Zur Analysis der Wirklichkeit, S. 586.
112 R. Hönigswald,
dann kann kein Glied der unendlichen Kausalreihe, auch wo diese
ein log-jsch positiv zu bewertendes Produkt liefern sollte, zugleich,
d. h. im Sinne naturgesetzlicher Kausierung von logischen Normal-
gesetzen beherrscht sein. Die von Liebraanu postulierte Ver-
einigung der Naturgesetzlichkeit und der logischen Normierung
muss daher gleichsam hinter der Szene einer „möglichen Erfahrung",
auf metaphysischem Gebiete vor sich gehen. Die geforderte
Vereinigung von Logik und Natur geschieht jenseits der „Natur".
Was sie aber dort bedeuten mag, das ist — wie wir kritisch
hinzufügen müssen — nur „praktischen", nicht mehr theoretischen
Erwägungen zugänglich.
• Überblicken wir noch einmal die gesamte Problemlage, wie
sie sich uns aus den voransteheudeu Erörterungen ergiebt, so werden
wir zusammenfassend vielleicht erklären dürfen: Nicht die logische
Notwendigkeit, sondern höchstens nur das Bewusstsein ihrer Geltung,
bezw. die empirischen Umstände der Erfüllung ihrer Forderungen
sind „Naturprodukt" und als solches natürlicher Gesetzlichkeit
unterliegenden Vorgängen parallelisierbar. Es handelt sich m. a. W.
für das Parallelismusprinzip nicht um das Verhältnis einer ein-
deutigen Zuordnung der Logik, sondern höchstens nur um das
einer Psychologie des logischen Denkens zur Gesetzlichkeit der
Natur, Nur das psychische Geschehen selbst, mag es logische
Valenz besitzen oder nicht, korrespondiert physischen Vorgängen;
nicht aber auch die Normen, welchen es etwa genügt oder die
Tatsache, dass es solchen in einem gegebenen Falle genügt. Das
Parallelismusprinzip ist ein „natürliches" Prinzip. Will es sich
der Logik bemächtigen, so vermag es dies auf dem erkenntnis-
kritisch nicht mehr zu rechtfertigenden Umweg über die Meta-
pkysik. „Nur die Denkakte" - sagt einmal Eickert^) — „sind
wirklich, die wahren Gedanken dagegen" — wir würden vielleicht
hinzufügen: gleichwie die Wahrheit der Gedanken — „gehören gar
nicht zur empirischen Wirklichkeit, nicht zur psychischen und zur
physischen auch nicht". Liebmann hat unzweifelhaft recht: der
Tatbestand der Logik, bezw. des norragemässen Verhaltens psy-
chischer Produkte und Vorgänge entzieht sich seiner Natur nach,
gleich der Einheit des Bewusstseins jedem Versuch einer physio-
logischen Parallelisierung. Aber nur dann wäre in solchem Ver-
halten ein Mangel des Parallelismusprinzips zu entdecken, wenn
1) Zwei Wege der Erkenntnistheorie „Kantstudien", Bd.XIV, Heft2 — 3.
Zu Liebmanns Kritik der Lehre vom psychophysischen Parallelismus. 113
der Gegensatz zwischen logischen Normen und naturgesetzlich
determinierten psychophj'siologischeu Phänomen kein absoluter wäre.
Liebmaun selbst hat ihn als solchen anerkannt, nicht nur aus-
drücklich und in der klaren Konsequenz seines Verhältnisses zur
Fragestellung Kants, sondern vor allem auch da, wo er den Ge-
danken einer Verbindung von logischer Normierung und natur-
gesetzlicher Verursachung unverkennbar in die Spare des Meta-
physischen, in das Gebiet der „verborgenen Substanz der Natur",
in die Welt der „Natura naturalis" verweist.^) Hier, auf dem
Gebiete der Metaphysik allein ist die Norm „Naturgesetz";
und umgekehrt, wo die Norm als solche „Naturgesetz" wird,
da ist Mataphysik. — Gewiss, die Formen der logischen Funktionen
konstituieren gerade im kritischen Sinne den Begriff der Natur
und das oberste Gesetz ihrer Gesetze ist Logik. Fast scheint es
daher so, als hätte gerade die kritische Philosophie am wenigsten
Grund, den Gegensatz zwischen kausalem Naturgesetz und logischer
Normierung zu überspannen. Und dennoch ist das Festhalten an
diesem Gegensatz eine Bedingung ihres eigenen Bestandes. Denn
so gewiss kritische Philosophie die Begründung der Voraussetzungen
für die Objektivität der Erfahrung ist, so gewiss bestimmt in ihr
die Logik als konstitutives Prinzip nur die Form der Erfahrung.
Eine Veränderung ist ein Glied der Erfahrung, wenn sie un-
abhängig von den zeitlichen und individuellen Umständen ihres
Beobachtetwerdens gilt. Und sie gilt in solchem Sinne, wenn sie
den nur in den Normen der Logik realisierten Bedingungen zeit-
loser Geltung genügt. Ein Vorgang ist objektiv, wenn er kausal
ist, weil Kausalität mit der Form des hypothetischen Urteils
identisch ist. Die logische Norm definiert den Begriff der Natur,
d. h. sie bestimmt deren Form. Aber sie ist nicht selbst Natur,
so gewiss die Geltung ihrer Form nicht aus dem Inhalt der Natur
deduziert werden kann, so gewiss diese Deduktion eine „Begründung
synthetischer Urteile a priori" bedeutet. Nur jenseits und unab-
hängig von den Bedingungen einer solchen Begründung kann Natur
— auch abgesehen von den formalen Bestimmungseleraenten in ihrem
Begriff — logisch genannt werden, wie denu auch nur jenseits
einer im schulgemässen Sinne des Wortes erkenntniskritischen
etrachtung die Unterscheidung menschlicher und kosmischer Ge-
.chtspunkte möglich ist. Innerhalb dieser Betrachtung wird sie
1) Zur Analysis der Wirklichkeit S. 564.
KanUtudlen XY.
114 R. Honigs wald, Zu Liebmanns Kritik etc.
aufgehoben in dem kritischen Begriff des Objekts. Die Begriffe
des logischen Denkens, als eines „Produkts" und der Logik als
der formalen Bedingung der Natur fallen eben auseinander.
Planmässig, d, h. im vollen Bewusstsein der prinzipiellen
Grenzen aller Erkenntnis treibt Liebmann Metaphysik. Ebendarum
aber ist diese Metaphysik kritisch. „Philosophisch ist es nach
dem Höchsten zu streben ; philosophisch aber auch sich über seine
Leistungsfähigkeit Rechenschaft zu geben."^) Nicht was jenseits
der berechtigten Sphäre der Erkenntnis etwa noch erkennbar sein
möchte, sondern was auf Grund der Erkenntnis in ihr denkbar
sei — darin allein besteht das Problem seiner Metaphysik. Sie
ist ein Postulieren in der Erkenntnis nicht mehr realisierbarer
aber auf Grund und mit Hülfe der methodischen Mittel der Er-
kenntnis erwogener Möglichkeiten. Und echt kritischen Sinn ver-
rät es, dass Liebmann gerade den Abschnitt seines philosophischen
Hauptwerkes, in welchem unser Problem mit der ganzen Wärme
einer in jahrzehntelanger Arbeit gereiften Überzeugung vertreten
worden war, mit den Worten Hamlets abschliesst: — The rest is
silence. — Weit entfernt davon, ein müssiges Gedankenspiel zu
sein, ist die kritische Metaphysik Liebmanns vielmehr eine er-
giebige Quelle fruchtbarer methodischer Anregungen; sie bringt
nur, aristotelische Reminiszenzen erneuernd, das „regulative" Ele-
ment der Wissenschaft, die Vielgestaltigkeit und die Komplexität
ihres Betriebes in der gedanklichen Form des „Seins" zum Aus-
druck. Sie ist — und dies gilt ganz besonders auch für unser
Problem — ihrem Begriffe nach schon ein beständiger Hinweis
auf die Grenzen und auf den Begriff möglicher Erkenntnis. Und
deshalb ist auch sie ein Symbol der Kontinuität des Liebmannschen
Lebenswerks. Sie ist — so positiv sie ihrem Inhalte nach auch
sein mag — in ihrer letzten methodischen Begründung doch nur
eine Erfüllung der Forderung des jungen Liebmann: Zurück
zu Kant.
1) Liebmanu, Die Klimax der Theorien, 1884, S. 49.
Kritizismus und Naturphilosophie bei Otto Liebmann.
Von Bruno Bauch.
Man mag über Schopenhauers Vorwurf gegen Fichtes Wissen-
schaftslehre, dass sie Wissenschaftsleere sei, denken wie man will:
ob Schopenhauer gegen Fichte gerecht sei oder nicht; ob sein
Vorwurf sich auch auf manche andere Tendenzen der Philosophie
nach Kant ausdehnen lasse oder nicht; ob er vielleicht auch gegen-
wärtig manche gutgläubige Wiederkäuer der „dialektischen Methode"
treffe oder nicht; ob zuguterletzt der Vorwurf zumal bei seiner
Gegnerschaft gegen die Mathematik, — horribile dictu! — auf
Schopenhauer selbst zurückfalle oder nicht; — dem allem mag
sein, wie ihm wolle. Das kümmert uns hier nicht. Aber Eines
ist sicher: Wissenschaftslehre ohne Wissenschaft ist leer. Denn
das ist ja gerade das Problem der Wissenschaftslehre, dass sie
fragt, wie Wissenschaft überhaupt und ihr Gegenstand möglich
ist. In diesem Problem liegt ihr Wesen, Wissenschaft von der
Wissenschaft, in lüTt^inri rrfi miac^nr^c zu sein. So wenig darum
irgend eine Einzelwissenschaft noch auch die ganze Mannigfaltigkeit
aller Einzelwissenschaften das zu leisten im Stande ist, was im
Problem der Wissenschaftslehre aufgegeben ist, weil es ja eine
Frage für sich ist, wie Wissenschaft möglich ist, aus der erst
ermittelt werden soll, was für alles Einzelwissen bereits Fundament
und Voraussetzung ist, so wenig kann auf der anderen Seite jene
eminent philosophische Fragestellung nach der Möglichkeit des
Wissens überhaupt der exakten Wissenschaft entbehren, weil nur
von ihr aus das Problem der Möglichkeit des Wissens seinen Inhalt,
sein inhaltliches Rüstzeug empfängt. Philosophie und exakte
Wissenschaft sind so aufs innigste aneinander verwiesen.
Es ist die Tat des philosophischen Kritizismus, wie ihn Kant
begründet hat, gewesen, die der Transscendentalphilosophie die
Aufgabe stellte, die unentbehrlichen Grundlagen zu ermitteln, die
den Zweck der Erkenntnis verbürgen. Unter denen aber, die
8*
116 B. Bauch,
nicht bloss Kant als historische Grösse historisch behandelten,
sondern, unter Wahrung eigener Freiheit zu selbständiger Fort-
entwicklung der kritischen Positionen, den Kritizismus zu fruchtbar
systematischem Wissenschaftsleben weitergeführt haben, steht
Otto Liebmaun mit in allererster Reihe. Weit entfernt von irgend
welcher Nachbeter- und Nachtreter-Gebundenheit an das Kantische
Werk und seinen Buchstaben, die dem Geiste des Kritizismus
selbst aufs innerlichste zuwider wäre, in der rechten und tiefen
Einsicht in den „Geist der Transscendentalphilosophie" hat Liebmann
von der Höhe seiner eigenen philosophischen Entwicklung aus
seine Stellung zu Kant in lapidarer Präzision selbst formuliert:
„Sämtliche Einzeldoktrineu der Kritik der reinen Vernunft sind
streitig, oder zweifelhaft, oder bereits widerlegt. Aber der ganze
Standpunkt, der prinzipielle Grundgedanke des Werkes ist unveraltet
und unsterblich."^) Damit ist er auf der Höhe seines Denkens
seinen philosophischen Anfängen treu geblieben. Denn das hatte
ja schon seine philosophische Stellung in Beziehung auf „Kaut und
die Epigonen" charakterisiert, dass er bei selbständigster Kritik
der dogmatischen Residua innerhalb des Kritizismus, — wie sie,
um es paradox auszudrücken, etwa an dem ominösen „Ding an
sich" am verhängnisvollsten in die Erscheinung treten, — gerade
das Nie-Veraltende der Vernuuftkritik in ihrer lebendigen Beziehung
zur exakten Wissenschaft zu neuer systematischer Fruchtbar-
machung herauszuarbeiten suchte, dass er die Forderung, der die
„Epigonen" nicht gewachsen waren, auf seine Weise neu zu er-
füllen strebte. Und nur von den Prämissen systematisch-lebendiger
Aufgabestellung her war er zu der berühmten Konklusion gelangt:
„Also rauss auf Kant zurückgegangen werden".^) Eine Konklusion,
die sodann freilich historisch für den ganzen Neukantianisuius
selbst eine neue Prämisse und ein neues methodisches Arbeitssignal
bedeutete, das an allen Ecken und Enden in der Philosophie, wie
in der exakten B^rschung, ein Echo fand, als Losung tausendfach
wiederholt wurde. So hatte Otto Liebmann, der übrigens au einem
ganz speziellen Problem der Einzelforschung ^) transscendental-
philosophische und exakte Problemstellung zu lebendiger Einheit
verschmolz, seine eigeue Stellung innerhalb des Kritizismus gefasst,
für dessen Weiterentwicklung er selbst Dauerndes und Bleibendes
1) Gedanken und Tatsachen, II, S. 8.
2j Die Schrift „Kant und die Epigonen" war es, die die Losung ausgab.
^) „Über den objektiven Anblick" handelt eine seiner ersten Arbeiten,
Kritizismus und Naturphilosophie bei Otto Liebmann. 117
ZU leisten berufen war. In einem speziellen Falle, gerade in dem
prinzipiellen Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft und
auch da wieder in einer besonderen, an sich selbst freilich eben-
falls prinzipiellen Beziehung kann das deulHch werden. Sofern
das Problem der Transscendentalphilosophie darin liegt, dass sie
nach den Bedingungen der Erkenntnis überhaupt fragt, wofür
sie selbst an die exakte Forschung verwiesen bleibt, sofern werden
auch die Bedingungen insbesondere der Naturerkenntnis zu ihrem
Problem. Denn transscendental heisst nicht transscendent, nicht
irgend ein mj'stisches Gespenst aus Wolkenkuckucksheim, sondern
allein Erkenntnis stiftend und Erkenntnis verbürgend. Wenn wir
nach den die Naturerkenntnis gewährleistenden Erkenntnismitteln
fragen, sind Phüosophie und Naturerkenntnis selbst im Problem
schon zur Einheit verbunden: die Philosophie mit der Natur-
erkenntnis, insofern deren Bedingungen ihr problematischer Inhalt
sind; die Naturerkenntnis mit der Philosophie, insofern sie ein
Kriterium, eine Instanz fordert, von der aus und auf Grund deren
entschieden werden kann, ob jene Bedingungen wirklich Erkennt-
nisbediugungeu sind und inwieweit sie das sind. Insofern die
Voraussetzungen der Naturerkeuntnis unbesehen hingenommen
werden, könnte man von einer „Metaphj'sik der Naturwissenschaft"^)
oder einer dogmatischen Natui'philosophie zum Unterschiede von
der Naturwissenschaft als solcher sprechen. Insofern aber der
Erkenutniswert jener Voraussetzungen erst kritisch untersucht
wird, würde es sich um eine Kritik der Metaphysik der Natur-
wissenschaft handeln. Und damit wiederum wäre die entscheidende
Problembestimmung für das prinzipielle Verhältnis von Kritizismus
und Naturphilosophie gewonnen. Lediglich auf dieses prinzipielle
Verhältnis kommt es mir an. Kritizismus und Naturphilosophie
in ihrem Verhältnis zu einander, wie sie innerhalb der philo-
sophischen Arbeit Liebmanns bestimmt w^erden, stehen zur Dis-
kussion. Ich will also weder Liebmanns Kritizismus noch seine
kritische Naturphilosophie in ihrem vollen Umfange darstellen.
Das würde ein recht stattliches Buch erfordern. Alles, worauf es
die folgenden Blätter absehen, ist in dem Problem der Relation
beider Begriffe beschlossen.
Sofern es sich um Erkenntnis- und Wissens -Begründung
handelt, scheidet alle dogmatische Metaphysik von vornherein aus.
i) Analysis der Wirklichkeit, S. 192 f.
118 B. Bauch,
Für eine Grundlegung der Naturwissenschaft kommen, das folgt schon
aus dem Problem, dogmatisch-philosophische Standpunkte nicht in
Betracht. Wissenschaftliche Bedeutung hat weder der philosophi-
sche Mystizismus noch der philosophische dogmatische Empirismus,
die darum mit einander enger verwandt sind, als es dem naiven
Glauben zunächst scheinen mag.^) Der Mystiker, wie der Empirist
sind keine Männer wissenschaftlicher Philosophie. Der Mystizismus
ist Gefühlsphilosophie, der Empirismus Empfinduugsphilosophie,
jener Gefühlsphilosophie mit Gefühl, dieser Gefühlsphilosophie
ohne Gefühl. Diese Charakteristik mag paradox klingen. Aber
sie ist ebenso wahr, wie das Faktum, dass es Verstandesmenschen
mit Verstand und Verstandesmenschen ohne Verstand giebt, eben
Faktum ist. Tatsacheubelege für beide „philosophische" Richtungen
liegen auf der Hand: für die Gefühlsphilosophie die grandiosen
Weltdichtungen eines Giordano Bruno, Jacob Böhme und ungezählte
schwächere Versuche der vielen dii minorum gentium; für die
Erapfindungsphilosophie sind die Tatsachenbelege zwar minder
grandios, aber nicht minder zahlreich. Wer ein schlagendes
konkretes Beispiel haben will, der denke an eine gewisse Richtung
innerhalb unseres heutigen Pragmatismus. Sie macht das Para-
doxeste unmittelbar anschaulich. In ihr leistet der Empirismus der
Mystik Vorspanndienste. Denn sie versucht nicht blos die Philo-
sophie zur ancilla theologiae herabzudrücken und dem Wunder-
glauben, wie es sich für „reinen" Empirismus schickt, gewisse
reservierte Plätze auf Kanzeln, Lehrstühlen und im Himmel zu
erobern. Das tun andere auch. Aber sie tut noch mehr: sie
versucht mit ebensoviel Verstandesleere, wie Gefühlsleere, wieder
einmal die Bedürfnisse des Gemütes mit den Ergebnissen der
Wissenschaft zu versöhnen. Das ist ihr grösstes Kunststück; und
das ist, wie gesagt, ihr reiner Empirismus. Schade nur, dass die
ganze „reine Erfahrung" jedes reinen Empirismus, wie Liebmann
genugsam gezeigt hat,^) eine contradictio in adjecto ist, und dass
Empirismus und Empirie selbst grundverschieden sind. 3) Der
Empirismus ist nichts anderes als eine „Unterart der dogmatischen
Metaphysik", nämlich, wie ich hinzufügen möchte, jene, die sich
gegen das Wesen und die Bedeutung der Empirie die Augen ver-
1) Vgl. ebenda S. 188 f.
2) Vgl. besonders a. a. 0. ebenda S. 258 f., sowie Klimax der Theorien
S. 96 ff. und Gedanken und Tatsachen I, S. 6 ff.
3) KUmax d. Th. S. 113.
Kritizismus und Naturphilosophie bei Otto Liebmann. 119
schliesst, und zwar — aus Grundsatz. Erfahrungswissenschaft,
Naturerkenntnis, ja überhaupt Natur sind für den Empirismus
noch weniger möglich, wie für den Mystizismus. Das hat Liebmann
allenthalben, am eindringlichsten Yielleicht in seiner leider viel zu
wenig gelesenen kleinen aber inhaltreichen Schrift über ,.Die Klimax
der Theorien", mit zwingender Schärfe und Deutlichkeit gezeigt.
Damit hat er zugleich den Boden für das positive Verhältnis des
Kritizismus zur Naturphilosophie geebnet und den Sinn für den
Standpunkt innerhalb des „fruchtbaren Bathos der Erfahrung"
erschlossen, dem gemäss eben aus dem Problem der Erfahrungs-
wissenschaft deren Grundlagen allein ermittelt werden können.
Damit aber ist weiterhin auch Unterschied, wie positives Verhältnis
von „Gedanken und Tatsachen", um dafür gleich den Titel von
Liebmanns zweitem Hauptwerke nutzbar zu machen, in einer Weise
klargestellt, dass sich an ihnen sofort das ganze Fundamental-
problem des Kritizismus enthüllt.
Dabei ist eine Unterscheidung, die Liebmann mit fulminanter
Deutlichkeit getroffen hat, für unser Problem von grundlegender
Bedeutung. Es ist die Unterscheidung zwischen dem Faktum und
der transscendentalphilosophischen Ausdeutung des Faktums, die von
vornherein auf das Verhältnis von Kritizismus und Naturphilo-
sophie das hellste Licht wirft. Es kommt von vornherein für das
ganze Problemverständnis darauf an, scharf und klar zu erkennen,
dass ein Unterschied besteht zwischen dem ,.Dass" und dem „Was"
der Fakta, oder, wie Liebmann mit glänzender Begriffsklarheit
sagt, zwischen der „Tatsächlichkeit der Tatsachen" und der Frage,
was die Tatsachen „an sich" sind und ob sie überhaupt etwas
„an sich" sind.^) Wer den abstrakten Gedanken bildlich und in
gewissem, nämlich im optischen Sinne wirklich ad oculos demon-
striert haben will, der findet bei Liebmann selbst die beste
konkretere Explikation an den kontroversen Theorien des Sehens
von Johannes Müller und Überweg einerseits und Volkmann,
Nagel etc. andererseits.-) Auch hinsichtlich der Gravitation^) wird
das exemplifiziert. Aber ausser dieser mehr spezialwissenschaftlichen
Exemplifikation, die ausserhalb unseres engbegrenzten Themas liegt,
findet diese Unterscheidung auch ihre transscendentalkritische
1) Analysis der Wirküchkeit. S. 267 ff.
^^) a.a.O. S. 145 ff.; vergl. auch Über den objektiven Anblick S. 61 ff .
3j Analysis der Wirklichkeit S. 153 ff. und Gedanken und Tatsachen.
I. S. 70 f.
120 B. Bauch,
Fruchtbarmachung-, die zu unserem Thema g-ehört. Wenn nämlich
jene Unterscheidung- zunächst auch mit zwing-ender Bestimmtheit
den weiteren Unterschied zwischen realer und logischer Notwendig-
keit ergiebt, so enthüllt sich in diesem sofort ein weiterer eigent-
licher Fuudamentalfaktor des Kritizismus, insofern „das empirische
Gegeusatzverhältnis zwischen dem subjektiven Felde der Gedanken
und dem objektiven Felde der Tatsachen, obwohl Urphänomen,
doch nicht als letzte Operationsbasis annehmbar ist".^) Diese
Operationsbasis nun aber liegt in der Instanz des Kritizismus. Zu
dessen unaufgebbarem Bestände aber gehört die Einsicht, dass
ein Erkennen der Tatsachen, wie sie unabhängig von den Er-
kenntnisbediugungen des Bewusstseins wären, ein hölzernes Eisen
ist. Ein EIrkeunen unabhängig vom Erkennen, ein Bewusstsein
unabhängig vom Bewusstsein ist ein kompletter Nonsens. Dass
die ganze „für uns vorhandene empirische Natur, wenn sie über-
haupt für uns vorhanden sein will", immer schon Inhalt und
Gegenstand des Bewusstseins sein muss, das ist eine Fundamental-
einsicht, die nachgerade zum Inventar der philosophischen Kinder-
stube gehören sollte, und das nicht zuletzt dank dem Umstände,
dass Liebmann sie aufs nachdrücklichste allen, die verstehen
wollen und können, eingeschärft und zum Bewusstsein gebracht
hat. Und auch das hat er, wie nur wenige andere, aufs nach-
drücklichste betont, dass jenes Bewusstsein, das Voraussetzung und
Grundbedingung alles Erkennens ist, und das Bewusstsein, durch
das jene Voraussetzungen selbst erst erkannt werden, zu dem also
eine Einsicht gebracht werden kann, toto coelo verschieden sind.
Jenes ist ein transscendentalphilosophischer Begriff, dieses ist
selbst psychologisches Faktum. So wahr nun die Psychologie, um
Wissenschaft sein zu können, die Bedingungen der Erkenntnis
überhaupt voraussetzt, so wahr ist Transscendentalphilosophie
nicht Psychologie. Das Bewusstsein, für das die Natur bereits
Inhalt und Gegenstand und das darum selbst die Voraussetzung
der Natur ist, ist also kein psychologisches Bewusstsein von mir
oder dir, das ja selbst schon immer ein winziges Bestandstück der
Natur ist, sondern das transscendentale oder, wie Liebmann sagt,
metakosmische Bewusstsein als der Inbegriff objektiver Gesetz-
mässigkeit schlechthin. Der Gedanke der Gesetzlichkeit ist es
darum, der das wissenschaftliche Denken charakterisiert und es
1) Ebenda. S- 34.
Kritizismus und Naturphilosophie bei Otto Liebmann. 121
von „unwissenschaftlich phantastischer Träumerei" unterscheidet.^)
Ist darum die Natur im wissenschaftlichen Sinn genau das, als
was die exakte Naturwissenschaft ihren Beg-riff nimmt, nämlich
mit Kant als „Dasein, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt
ist", oder als „Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung" und
ist das transscendentale Bewusstsein im objektiven Sinne der In-
begriff der Gesetzlichkeit schlechthin, dann ergibt sich für das
Verhältnis von Kritizismus und Naturphilosophie der von Liebmann
akzeptierte^) Satz Kants, dass der Verstand die Gesetze nicht
aus der Natur schöpft, sondern sie dieser vorschreibt. Ein Satz,
den die Wissenschaft permanent bewährt und von dem man heute
wohl nicht mehr zu befürchten braucht, dass er im subjektiven
Sinne genommen wird. Wer meinte, sein persönlicher Verstand
schriebe der Natur die Gesetze vor, der muss eben seinen Verstand
verloren haben, was der Natur freilich, wie jedes Irrenhaus beweist,
ziemlich gleichgültig ist.
Wird aber der Begriff der Natur in dem soeben bezeichneten
streng exakten Sinne und der Begriff des Verstandes in dem nicht
minder strengen transscendental-kritischen Sinne genommen, dann
stellt sich die Natur streng wissenschaftlich-kritisch gefasst, selbst
als gegenständliche oder „objektiven Welt-Logik"^) dar. Und nun
wird das Verhältnis von Gedanken und Tatsachen erst im tiefsten
Sinne evident. Wissenschaft ist kein blindes Hinnehmen der
„rohen, unbegriffenen Tatsache".*) Der Glaube an solche ist
überhaupt nur eine „doktrinäre Fiktion" des Empirismus. Die
Tatsachen sind für die Wissenschaft eben deshalb niemals bloss
roh und unbegriffen, sie stehen bereits immer unter der Gesetz-
mässigkeit der Natur und damit der objektiven Logik, unter Be-
griffen. Das ist der tiefe Sinn des Liebmannschen Begriffes der
„Logik der Tatsachen ".5) Er will nicht besagen, dass die Tat-
sachen, losgelöst von aller logischen Gesetzlichkeit, noch für sich
eine besondere Logik hätten, sondern dass die Tatsachen selbst
eine logische Gesetzmässigkeit darstellten, wie der Begriff der
Tatsache für die Wissenschaft eben schon ein Begriff ist, und
1) Anal. d. W. S. 568.
2) Gedanken und Tatsachen II, S. 3 f.
3) Analysis der Wirklichkeit, S. 269 f.
*) Gedanken und Tatsachen 11, S. 209, vgl. Klimax der Theorien,
i. 96 ff.
5) Vgl. besonders Analysis der Wirklichkeit, S. 187 ff.
122 B. Bauch,
dass, wie wir das schon gesehen haben, Tatsachenerkenntnis ohne
gesetzmässige Bedingungen des Erkennens eine contradictio in
adjecto ist. Kein Geringerer als der den „abstrusen Allgeraein-
heiten" der Spekulation so abgewandte und mit seinem Denken
so sehr auf „Gegenständlichkeit" dringende Goethe, hat das dahin
ausgedrückt, dass „alles Tatsächliche schon Theorie ist". Und
wenn ich selber einmal gesagt habe, dass die Logik der Tatsachen
nichts ist ohne die Tatsachen der Logik, so glaube ich mit Lieb-
manu in voller Übereinstimmung zu sein.
Erkennt die Philosophie der Naturwissenschaft diese nun auch
als Gesetzeswissenschaft, so wird doch nicht die Bedeutung des
Konkreten verkannt. Damit wird, und das ist ein bedeutsames
methodologisches Moment des Kritizismus, die Philosophie der
Natur von der Philosophie der Geschichte von vornherein strikte
unterschieden. Zwar ist die Natur als solche ewige Vernunft-
gesetzlichkeit und ein logisches Vernunftganzes. Allein die Wirk-
lichkeit in der Totalität des Konkreten ist mehr als reines Ge-
setz, Das, womit die Naturforschung sich beschäftigt, ist also
nicht die ganze Wirklichkeit,^) sondern der gesetzmässige Aus-
schnitt der Wirklichkeit, die in ihrer Totalität in einem eminenten
Sinne ebenso gut Geschichte heisst wie Natur. ^) Diese be-
griffliche Unterscheidung und Abgrenzung ist von der allergrössten
methodologischen Bedeutung. Und wenn sie uns auch als solche
nicht weiter hier zu beschäftigen hat, so beleuchtet sie doch die
Bedeutung des Kritizismus für die spezifisch naturphilosophische
Fragestellung gleichsam durch Kontrastwirkung hier noch einmal
aufs glücklichste, ganz davon abgesehen, dass sie auch für Spezial-
fragen wichtige Bestimmungen ermitteln hilft ; so z. B. über die
„Existenz abstrakter Begriffe" **) einerseits und andererseits über
die Philosophie der Sprache.^)
Indem für unseren Zusammenhang aber vor allen Dingen
der Begriff der Gesetzmässigkeit seine beherrschende Bedeutung
gewinnt, erlangt durch ihn unser ganzes Problem seine genauere
Bestimmtheit und Präzision. Ohne Gesetzmässigkeit keine Natur-
wissenschaft und keine Natur; an Stelle der Natur höchstens, —
wenn überhaupt Etwas, was aber noch fraglich wäre — Chaos
1) Gedanken und Tatsachen, I, S. 136.
2) a. a. O. S. 128, vgl. auch Analysis der Wirklichkeit, S. 269 ff.
3) a. a. O. S. 478 ff., s. das ganze gleichlautende Kapitel.
4) Gedanken und Tatsachen, I, S. 387 ff.
Kritizismus und Naturphilosophie bei Otto Liebmann. 123
und Regellosigkeit. Freilich, und das ist eine weitere kritische
Grundforderuug an die Wissenschaft, gilt es den Naturgesetzes-
begriff gegen den der blossen Regelmässigkeit abzugrenzen. Was
bloss nicht regellos ist, ist etwa nicht auch schon Naturgesetz,
und was etwa regellos ist, das ist nicht etwa unabhängig von der
Naturgesetzlichkeit; und blosse Regelmässigkeit, wie z. B., dass
sich Kant regelmässig um 5 Uhr morgens wecken liess, ist kein
Naturgesetz, ob es gleich durchaus naturgesetzlich bedingt ist.
Naturgesetz kann allein jene allgemeine objektive permanente
Regel heissen, nach der sich das Geschehen in Raum und Zeit
mit Notwendigkeit vollziehen muss ; Naturgesetze sind also Gesetze
der Physik, Chemie, Physiologie, Psychologie etc. ^) Indem aber
die unerschütterliche Gesetzlichkeit des Naturmechanismus ebenso
zum Irrtum, wie zur Wahrheit, zum Wahnsinn, wie zur Vernunft,
zum Bewusstlosen, wie zum Bewussten führt, scheint sich zunächst
noch eine Schwierigkeit zu erheben. Auf der einen Seite sollte
Bewusstseiu und Vernunft für Natur und Naturerkenntnis schon
Voraussetzung sein, auf der anderen können beide doch selbst nur
Naturprodukte sein. Wenn aber Bewusstsein und Vernunft selbst
Naturprodukte sind, sind dann nicht auch die Normalgesetze des
Erkennens selbst blosse Spezialfälle von Naturgesetzen? Das ist
ohne Frage ganz richtig, nämlich für den empirischen Gesichts-
punkt. Für ihn sind Vernunft und Bewusstsein Naturprodukte und
Erkenntnisgesetze Spezialfälle von Naturgesetzen. Allein der em-
pirische Gesichtspunkt ist unter transscendentalem selbst zum
Problem geworden. Und wir haben es in den beiden Fällen, dass
einmal Bewusstsein und Vernunft schon Voraussetzung der Natur,
das andere Mal Produkt der Natur ist — und beides ist richtig, —
wieder mit den verschiedenen Bedeutungen des Bewusstseins und der
Vernunft zu tun; im letzten Falle mit der empirischen, im ersten mit
der transscendentalen. Und wenn wir Bewusstsein und Vernunft
als Produkt der Natur erkennen, so dürfen wir dabei bloss nicht
vergessen, dass diese Erkenntnis selbst schon Bewusstsein und
Vernunft voraussetzt. Und gerade daraus, dass die Vernunft ein
Produkt der Natur ist, folgert Liebmann sehr richtig, dass dann
„dem durchgängigen Naturmechanismus etwas eminent Logisches
zu Grunde liegen muss". 2) Und wer sich etwa dazu verstiege,
1) Gedanken und Tatsachen, I, S. 171 ff.
2) Analysis der Wirklichkeit S, 564; zu vergleichen wäre auch Ge-
danken und Tatsachen, ü, S. 28 ff. und 66 ff.
124 B. Bauch,
Liebmanns Begriff der Natur als „objektiver Weltlogik" unter
Hinweis auf das Vernunftlose in der Natur, etwa die chemischen
Elemente, die Mineralien, die Pflanzen und niederen Tiere, oder
unter Hinweis auf das Vernunftwidrige und Disharmonische, etwa
die Kliniken und Irrenhäuser als unhaltbar zurückweisen zu wollen,
der würde, so möchte ich ihm auf diese Verstiegenheit bemerken, nur
beweisen, dass er gar nicht wisse, worum es sich handelt und dass
er wohl für Philosophie und Wissenschaft überhaupt verloren ist.
Denn alles das, was gegen den Begriff der Natur als „objektiver
Weltlogik" sprechen soll, spricht und zeugt für ihn. Denn alles
das wird doch von Chemie, Mineralogie, von Botanik, Zoologie,
von der Medizin überhaupt und der Psychiatrie im besonderen
studiert, begriffen und erkannt. Sind nicht also die chemischen
Elemente, die Mineralien, Pflanzen, Tiere, Kranke und Verrückte
ebenso wie Gesunde, Objekt wissenschaftlicher Forschung? Und
könnte es Objekte wissenschaftlicher Forschung geben ohne Logik,
oder ist nicht schon der Begriff des Objektes wissenschaftlicher
Forschung ein logischer Begriff ebenso, wie der Begriff der
Natur?
Dass alles Naturgeschehen gesetzlich bestimmt ist, das ist
das Fundament, auf dem Natur und Naturwissenschaft ruhen, ohne
das Natur und Naturwissenschaft in der Luft schweben würden
und, weil das etwas ganz Widersinniges wäre, — es ist doch, wie
ich an anderer Stelle einmal betont habe, zu mindesten recht be-
merkenswert, dass sich selbst Widersprechendes auch nicht
existieren kann, worin sich doch auch schon zeigt, dass die Logik
in gewisser Weise für die Existenzmöglichkeit keine gleichgültige
Sache ist! — überhaupt nicht existieren können. Alles Natur-
geschehen von dem Gange der Gestirne bis zu jedem Buchstaben,
den ich hier auf diesem Blatte an diesem Schreibtisch, mit dieser
Tinte, dieser Feder schreibe, ist gesetzlich und naturnotwendig
bestimmt. Die allgemeinste Form dieser gesetzlich notwendigen
Bestimmtheit bezeichnet das allgemeine Kausalitätsgesetz. Es ist
Grundlage der Möglichkeit einer Natur und Naturwissenschaft,
Möglichkeitsgrundlage darum aller „wissenschaftlichen Erfahrung
und Erfahrungswissenschaft". ^) Es ist die allgemeinste Form
aller inhaltlich bestimmten Naturgesetze und ihm gemäss stellt
1) Analysis der Wirklichkeit S. 569; vgl, die Klimax der Theorien
S. 78 f.
Kritizismus und Naturphilosophie bei Otto Liebmann. 125
sich jedes Geschehen in der Natur, jede Veränderung- eines Ob-
jektes, wie Liebmaun zu wiederholten Malen den Sachverhalt mit
zwingender Schärfe einleuchtend macht, dar als „reale Konklusion
eines objektiven Schlusses, dessen Major das Naturgesetz, dessen
Minor der nächstvorangegangene Zustand des Objekts ist."^) Das
ist eben die ,.Logik der Tatsachen," das ist die Natur als „ob-
jektive Weltlogik."
Die durchgängige, unverbrüchliche Naturgesetzlichkeit aber
involviert die Idee der Einheit der Natur. Als Idee ist sie auch
für den trausscendentalphilosophischen Kritizismus unanfechtbar
und unaufgebbar; und sie wird selbst von der exakten Natur-
wissenschaft mit derselben Notwendigkeit, mit der diese die
Wahrscheinlichkeit des Zufalls als - bestimmt, mit der Wahr-
00
scheinlichkeit = 1 postuliert.^) Wird die Idee aber als realer
Einheitsgrund der Naturgesetzhchkeit selbst gedacht, so treten wir
aus dem Gebiete der strengen Wissenschaft heraus und in das
der Metaphysik hinein.^) Aber die Metaphysik bleibt für Lieb-
mann selbst immer „kritische Metaphysik". Das kritische Moment
verbindet ihn auch an diesem Punkte mit Kant, so sehr sich hier
auch sonst die Wege beider Denker scheiden mögen. Liebmanus
Verhältnis zur Metaphysik würde eine besondere, lohnende Unter-
suchung fordern. Wir aber wollen hier streng bei unserem Thema
bleiben und die Grenzen des Problems, die durch das Verhältnis
von Kritizismus und Naturphilosophie unserer Untersuchung ge-
zogen sind, nicht überschreiten. Aber auch im rein transscenden-
tallogisch-kritischen Sinne behält der Satz seine Gültigkeit: „Ohne
Regelmässigkeit und Gesetzmässigkeit wäre die Welt nicht Natur,
sondern ein unbegreiflicher Wirrwarr; und dass sie eben dieses
nicht ist, dies bedarf einer Ratio sufficiens."*)
Für das engere Verhältnis von Kritizismus und Naturphilo-
sophie aber ist es weiterhin von einschneidender Bedeutung, dass
die Mathematik ihre entscheidende Stellung innerhalb des Systems
des Wissens und Erkennens überhaupt erhält und vom Kritizismus
in ihrer Bedeutung für die Philosophie und die Naturwissenschaft
1) Analysis der Wirklichkeit S. 568; Gedanken und Tatsachen, I,
19 und S. 153; II, S. 215 f.
2) Analysis der Wirklichkeit S. 572 ff.
3) Gedanken und Tatsachen, n, S. 205 ff. und I, S. 126 ff.
4 Ebenda.
126 B. Bauch,
erfasst, dass mit einem Worte der „philosophische Wert der
mathematischen Naturwissenschaft"^) kritisch erkannt wird. So
wahr der Begriff der Quantität eine gesetzmässige Voraussetzung
aller Erkenntnis ist, so wahr ist die Mathematik selbst ein inte-
grierender Faktor des philosophischen und des naturwissenschaft-
lichen Denkens. Sie hat also nicht bloss den Wert einer nega-
tiven Instanz gegen die Gaukeleien falscher philosophischer
Systeme. Freilich ist auch hier ihre Bedeutung von unschätz-
barem Werte, und es hat für den Sachkundigen etwas ungemein
Imposantes, zu bemerken, wie jede einfachste mathematische Re-
lation als jener archimedische Punkt betrachtet werden kann, von
dem aus alle Welten des Empirismus nicht bloss bewegt, sondern
aus den Angeln gehoben, aus den Fugen gebracht werden können,
um in sich selber zusammenzustürzen; jede einfachste mathe-
matische Position ist ein Fels, an dem alles Gewässer empirischer
Systeme sich zerschlägt, zerstiebt und als nebuloser Dunst auf-
löst. Allein so wichtig und wertvoll die Mathematik in dieser
Funktion einer negativen Instanz sein mag, als wichtiger und
wertvoller muss der Kritizismus sie in ihrer positiven Funktion
für die Erkenntnis ansehen. „Alle Dinge und Ereignisse in der
Welt sind Grössen."^) Darum wird unsere gesetzliche Natur-
erkenntnis erst durch die quantitative Bestimmung exakt, denn
die Gesetzlichkeit der Natur fordert die quantitative Bestimmung.
Unter dem Gesichtspunkte der Quantität erhält die naturwissen-
schaftliche Erklärung mit ihren prinzipiellen Voraussetzungen des
Raumes, der Zeit, der reinen Bewegung, der Masse, der Beschleu-
nigung, der kinetischen und der potentiellen Energie ihre grund-
legende Stellung für das ganze System der Naturforschung, indem
sie allein unter jenem Gesichtspunkte zur mechanischen Natur-
erklärung werden kaun.^) Weil „alles in der Welt," so führt
Liebmann, nach Erbringung des reichsten Materials aus dem Ge-
biete der exakten Forschung überhaupt und im Hinblick auf
Newton insbesondere,*) aus, „quantitativ bestimmt ist," da also
„schlechthin alles in der Welt, nenne es sich Ding, Eigenschaft,
Zustand, Relation, Tätigkeit, Zustandswechsel oder wie sonst
immer, quantitativ bestimmt ist, da Realität ohne quantitative
1) Analysis der Wirklichkeit, S. 275 ff.
2) a. a. O. S. 284.
3) Vgl. a. a. O. S. 60 ff.
4) a. a. O. S. 284 ff.
Kritizismus und Naturphilosophie bei Otto Liebmanu. 127
Bestioimtheit ein Unding-, mithin letztere ein wesentliches
Merkmal aller Wii-klichkeit ist; da ferner die mathematische
Naturwissenschaft die quantitativ bestimmten Gesetze der Wirk-
lichkeit mit mustergültiger Strenge auf eine geringe Anzahl von
Prinzipien zurückführt und aus ihnen ableitet; da endlich die
quantitativen Merkmale sich aus quahtativen allein ebensowenig
erklären lassen, wie umgekehrt," — so folgt, ,.dass die mathe-
matische Naturwissenschaft stets einen integrierenden, und zwar
vorläufig den formell vollendetsten Bestandteil der Philosophie
ausmacht."^)
Es ist nicht nur ein reiner Vorteil, den die Philosophie aus
der Mathematik gewinnt, indem gerade an dieser das rein philo-
sophische Verhältnis von der Sphäre der Anschauung und der
Sphäre des Begriffes zur Klarheit gelangt, für das sich die be-
griffliche Sphäie der anschaulichen gegenüber als die umfassendere
erweist. Vielmehr vermag gerade mit Hilfe der Mathematik auch
die erkenntnistheoretische Fragestellung der mechanischen Natur-
erklärung ihre rechte Stelle innerhalb der Wirklichkeitsanalysis
anzuweisen. Vor dem Forum des erkenntuistheoretischen Kritizis-
mus erweist sich die mechanische Naturerklärung als Hypothesis
des Naturverständnisses und der Naturerkenntnis, ohne aber als
Metaphysik, als welche sie in materialistischen Dogmatismus um-
schlüge, standhalten zu können.^} Es ist im besonderen die Atom-
theorie, die Liebmann mit mathematischer Strenge in den dyna-
mischen Sinn überführt.^) Die Gründe, die gegen den Atomismus
als Metaphysik und damit gegen die Absolutheit des Atomes, das
richtig als „sowohl logisch als historisch ein Sprössling" des
Substanzgesetzes erkannt wird,*) ins Feld geführt werden, sind
zum guten Teile mathematischer Natur. Denn es ist nicht bloss
die „Irreduzibilität des Geistigen", die unmöglich ist, wenn dessen
materielle Grundlagen, die wir nun einmal gezwungen sind als
solche anzunehmen, selbst als absolut gesetzt werden, was gegen
die Absolutheit der Atome streitet. Ihr widerspricht vor allem
die Phänomenalität des Raumes, zufolge deren das im Räume ge-
setzte Atom selbst nur phänomenale, nicht absolute Bedeutung
1) a. a. 0. S. 306.
2) Gedanken und Tatsachen I, S. 95 ff.
3) Analysis der Wirklichkeit, S. 311 ff.; vgl. auch Gedanken und Tat-
sachen I, S. 48 ff. und S. 209 ff., sowie die Klimax der Theorien, S. 25.
*) Gedanken und Tatsachen I, S. 215.
128 B. Bauch,
haben kann, und sodann — last not least! — ., die Relativität der
Grössenbegriffe", vermöge deren es unendlich viele Ordnungen des
Unendlich-Kleinen und ebendarum auch des Unendlich-Grossen
giebt.^) Das aber sind gerade fundamental -mathematische In-
stanzen. Auf sie sind wir in letzter Linie auch verwiesen, um —
und dafür führt Liebmann den glücklichsten und wertvollsten
Nachweis — die Masse als „ein rein intensives Merkmal" zu er-
kennen. 2) Man kann vielleicht dennoch dem Atom eine höhere
Bedeutung als die eines „luterimsbegriffes"^) vindizieren, ohne
ihm eine absolute Realität zuzuschreiben, indem sich schliesslich
zeigen Hesse, dass sowohl der regressive, wie der progressive
Weg der Wirklichkeitsanalyse durch den Atombegriff bleibend
hindurchführen müsse, sodass sich das „Interim" nicht zeitlich
auf den Begriff, sondern logisch auf seine Stellung innerhalb der
Analysis der Wirklichkeit selbst beziehen müsste. Allein das
auszuführen mag einer späteren Untersuchung vorbehalten bleiben.
Bei dieser Gelegenheit wäre es recht abgeschmackt, wollte einer
etwa, um nur ja seine eigene liebe Meinung zu vertreten, mit
Liebmann in eine Diskussion eintreten. Wir wollen es hier überall
nur mit Positivem zu tun haben, und dessen bietet uns Liebmann
soviel, dass wir kaum annähernd eine Vorstellung davon geben
können. Zeit und Raum hier mit Kritik zu verzetteln wäre ent-
weder töricht oder eitel, weil gerade in diesem Augenblicke
dieser Gelegenheit unwürdig. Vielmehr sei hier ausgesprochen,
dass selbst der, der dem Atombegriff eine höhere Bedeutung als
die eines „Interimsbegriffs" geben mag, doch die Bedeutung der
prinzipiellen Wendung zum Dynamismus und den Wert ihrer
Begründung durch Liebmann nicht zu verkennen braucht. Schon
die Gründe, die Kant, der den Dynamismus bekanntlich begründet
hat, indem er an die Stelle letzter starrer Körper (Corpusceln,
Atome) Kräfte als Fundamente der Natur setzte, waren wichtig
genug; die exakte Forschung gerade der letzten Dezennien von
der Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung der Energie bis
zu der der Radioaktivität und bis zu den modernsten Umgestaltungen
in den physikalischen Theorien über die Struktur der Materie hat
für den Dynamismus Gründe auf Gründe gehäuft. Und was
Liebmanns Kritizismus für den naturphilosophischen Unterbau des
») a. a. O. I, S. 224 ff.
Ji) Ebenda I, S. 65,
3) Analysis der Wirklichkeit, S. 311 f.
Kritizismus und Naturphilosophie bei Otto Liebmann. 129
Dynamismus leistet, bat bleibenden Wert. Nie und nirgends sonst
ist mit der begrifflieben Schärfe, wie bei ihm, die Masse als
„rein intensives Merkmal" angesprochen. Und dass das in letzter
Linie auch die grundlegende Bedingung ist für die für alle
mechanische Naturerklärung notwendige Voraussetzung, den Ener-
gieumsatz als reziprokes Kausalverhältnis zwischen dem Wechsel
der Massenkonfiguration, die ja als solche auch schon der mathe-
matischen (nämlich geometrischen) Bestimmung untersteht, und
der Beschleunigungsintensität ansprechen zu können, das zeigt
Liebmann in zwingender Weise, ^) wie er es auch mit Recht gegen
die Absolutheit der Atome geltend macht. Rein physikalisch-
immanent, ohne metaphysische Aspirationen, fordert jedenfalls be-
reits der Begriff des Naturgesetzes den der Natürkraft als logische
Ergänzung.-) Insofern bedarf der Kraftbegriff innerhalb der
kritischen Naturphilosophie einer kritischen Analyse; diese erweist
ihn für den Kritizismus als notwendigen Grenzbegriff, der für die
Physik, wie das Newton deutlich genug ausgesprochen, die Trans-
formation ins Mathematische, also die mathematische Bestimmung
selbst fordert.^) Mit ihm werden keine geheimen spirits eingeführt,
solange er lediglich im mathematischen Funktionsverhältnis zur
Massenbeschleunigung betrachtet wird, wie das auch Newton tat,
solange er z. B. als Physiker nicht „causam gravitatis" suchte,
sondern lediglich „per vim gravitatis" erklärte, ob er freilich als
Physikotheologe diesem trefflichen Grundsatze, den er als Physiker
stets befolgte, nicht treu geblieben ist. Mau denke also hier nicht
an irgendwelche moderne hylozoistische Phantastereien. Aus-
drücklich heisst es einmal: Von dem „Aberglauben der Alchymisten
unterscheidet sich nur dem Grade, nicht der Art nach, der phan-
tastische Hylozoismus des Cardanus, des Giordano Bruno und
1) Gedanken und Tatsachen I, S. 73 f. und 84 f.
2) Ebenda S. 181 ff. und Analysis der Wirklichkeit, S. 287 ff.
3) Dass Liebmann dabei die vis a tergo und die vis a fronte einer
eingehenden kritischen Prüfung unterzieht und beide in ihrem Wertver-
hältnis zu einander misst, das zu behandeln, gehört vielleicht als zu speziell
nicht mehr zu unserem Thema. Es soll aber, da hier doch auch eine
philosophische Aufgabe vorliegt, nicht unerwähnt bleiben, wie hier auch
ausdrücklich auf die feinen Erörterungen über das Energieprinzip, insbe-
ondere auf die im Grunde doch unanfechtbaren, logisch meisterhaft vor-
ächtigen Ausführungen über den zweiten Hauptsatz verwiesen sei (vgl.
besonders Analysis der Wirklichkeit, S. 403 ff. und Gedanken und Tat-
sachen I, S. 206 ff.).
Kantstndien XV, 9
130 B. Bauch,
anderer Italiener des sechzehnten Jahrhunderts, bei denen mystische
Sympathien und Antipathien das wirksame Agens sind, welches
die Gestirne durch den Raum treibt und die Körperwelt im Ganzen
erhält." 1) Und das gilt von aller mystischen Naturphilosophie bis
auf den heutigen Tag, ob sie nun mit Schopenhauer den blinden
„Weltwillen" oder nach anderen berühmten Mustern, die logisch
unverdaute „Substanz" oder sonst ein Wort zum agierenden Welt-
fetisch macht. Für die Naturwissenschaft ist alles das nichts als
aus Worten bereitetes System.
Wenn darum die Philosophie der Naturwissenschaft ganz
allgemein als Kausalitätslehre und Kausalforschung angesprochen
wird, so kann es nach dem Vorangehenden nicht mehr zweifelhaft
sein, in welchem Sinne das gemeint ist. Die besondere Be-
deutung jedoch, in der hier die Kausalforschung zu verstehen ist,
bedarf noch einer näheren Bestimmung. Für das Kausalproblem
hat Liebmann eine alte Unterscheidung in vertiefter Bedeutung
von neuem fruchtbar gemacht. Es ist die alte Unterscheidung der
causa occasionalis von der causa efficiens, die für kein geringeres
Problem als das der Kausalität im Sinne Humes und Kants —
vielleicht richtiger: Kant contra Hume — , der Controverse, ob die
Kausalbeziehung analytisch oder synthetisch sei, eine Bedeutung
gewinnt, die nun ihrerseits angesichts des eigentlich auch neuen
Problems, selbst eine neue Bedeutung sein muss. Dass die blosse
„Kraft" ohne Wirkungsbedingungen ebensowenig einen Effekt hat,
wie Wirkungsbedingungen ohne Kraft, das ist es, was aus der
synthetischen Natur des Kausalgesetzes analytisch folgt.
Insofern nun die a priori gesetzte Ursache nie der empirischen Be-
obachtung zugänglich ist, die sich immer nur den empirisch wahrnehm-
baren Wirkungsbedingungen zuwenden kann, insofern aber eines ohne
das andere den Sinn verliert, und also auch die empirischen Wirkungs-
bedingungen, ebensowenig ohne die a priori gesetzte Ursache
gedacht werden können, wie diese ohne sie, ist unsere heutige
Naturwissenschaft kausaler Occasionalismus, und zwar immanenter
Occasionalismus^) zum Unterschiede von dem transscendenten
dogmatischen Occasionalismus der vorkritischen Cartesianer. In
diesem immanenten Sinne haben wir in letzter Linie auch den
Begriff der „Naturkraft" zu verstehen, der für den immanenten
1; Gedanken und Tatsachen I, S. 149.
2; Analysis der Wirklichkeit S. 193.
Kritizismus und Naturphilosophie bei Otto Liebmann. 131
Occasionalismus die Funktion übernommen hat, die im trans-
scendenten Occasionalismus Gott angewiesen war. Deus war causa
efficiens. Der kritischen Naturphilosophie aber kann die causa
efficiens lediglich und ausschliesslich einen wissenschaftlichen
Begriff bedeuten im Sinne streng mechanischer Naturerklärung.
Die mechanischen Gesetze behaupten ihre Gültigkeit auch
innerhalb der Sphäre des organischen Lebens, selbst wenn der
Organismus für die Erklärung die Bedeutung eines Grenzbegriffs
behält.^) Die funktionale Korrelation der Teile zur systematischen,
nicht blos zur aggregativen Einheit des Ganzen bezeichnet das
"Wesen des Organismus. Darin liegt zunächst das Faktum der
Naturzweckmässigkeit, seine Deutung und Erklärung mag sein,
welche sie wolle. Auch hier gilt es, Faktum einerseits und
Deutung und Erklärung des Faktums anderseits scharf und klar
von einander zu unterscheiden, wenn man nicht von vornherein
das ganze Problem des Organischen von Grund aus verwirren will.
Faktum ist zunächst die Naturzweckmässigkeit in dem Sinne, dass
das Ganze und jeder seiner Teile wechselweise sowohl Ursache als
auch Wirkung ist, und in dieser Wechselseitigkeit liegt weiter die
andere, dass das Ganze und jeder seiner Teile wechselseitig sowohl
Zweck als auch Mittel ist. 2) Das Faktum gilt es zunächst als
Faktum anzuerkennen. Über seine Erklärung ist aber damit noch
nichts ausgemacht. Aber schon aus den obersten Bedingungen der
Möglichkeit einer Naturerkenntnis überhaupt ergiebt sich mit Not-
wendigkeit eine Forderung. Sie formuliert Liebmauu auf folgende
Weise: „Innerhalb der Grenzen der menschlichen Vernunft ist die
Idee des vollendeten Naturmechanismus, d. h. das Ideal einer
mechanischen Kausalerklärung sämtlicher, auch der zweckmässigen
Naturerscheinungen ein aus dem Prinzip der Kausalität notwendig
fliessendes Verstandespostulat, dessen Erfüllung als möglich voraus-
zusetzen und mehr und mehr zu verwirklichen als eine Grundpflicht
und Lebensbedingung des wissenschaftlichen Denkens betrachtet
werden muss."^) Damit ist auch die Urzeugung ein notwendiges
Postulat. So ist die einzig mögliche Position des konsequenten
philosophischen Kritizismus dem Problem des Lebens gegenüber
bezeichnet.
1) Analysis der Wirklichkeit S. 338 ff.
2) Gedanken und Tatsachen II, S. 147.
3) a. a. 0. 11, S. 171.
132 B. Bauch,
Wie wir nun vorhin bereits zwischen B'aktum und Erklärung
des Faktums, so müssen wir nun zwischen Erklärung und Ent-
stehung scharf unterscheiden; wir müssen weiter die verschiedenen
Unterscheidungen, die in Liebmanns eben zitierten Worten impli-
zite geoiacht sind, auch explizite durchführen und ansehnlich
unterstreichen; die Unterschiede, als da sind zwischen Postulat
und Erfüllung des Postulats; und hinsichtlich der Erfüllung
wiederum die Möglichkeit der Erfüllung von deren wirklicher
Vollendung. Und wenn ich diesen scharfen, logischen und unan-
fechtbaren Unterschieden ernstlich ins Auge sehe, so muss ich im
Hinblick auf die gegenwärtigen Strömungen in der Biologie be-
kennen : Zwei Dinge sind es, die mir da unverständlich geblieben
sind : Auf der einen Seite ist es mir unbegreiflich, wie Reinke
sich so sehr über Kants Stellung zur Biologie — oder über seine
Stellung zu Kant — zu täuschen vermag, um glauben zu können,
dass seine Ansichten mit denen Kants verwandt sein, ja auch nur
das Geringste zu tun haben sollten. Auf der anderen Seite ver-
stehe ich es nicht, wie August Weismann, dessen biologische
Grundansichten im Prinzip, soviel auch im Einzelnen davon ab-
bröckeln möge, für spätere Generationen in der Biologie das be-
deuten werden, was uns heute in der Physik das Energieprinzip
bedeutet, wie also Weismann sich auch nur einen Augenblick im
Gegensatz zu Kant stellen und Kants „Teleologie" in einem ganz
falschen Lichte sehen kann. Im Prinzip ist der „Weismannismus"
nichts anderes als die grandioseste Durchführung jenes Programms,
das Kant in der Kritik der Urteilskraft bereits der Biologie ge-
stellt hat. Und so wenig auch hier alles vollendet sein mag —
in der Wissenschaft giebt es keine Vollendung — , so sehr darum
manches der Verbesserung fähig und bedürftig sein mag, die
Gruudzüge der Weismannschen Theorie werden bleiben und sie
werden vielleicht dann erst richtig verstanden werden, wenn
Spencer und mancher andere popularbiologische Philosoph unserer
Tage längst vergessen ist. Gerade darum aber müssen wir Weis-
manns Ansicht, als habe Kant oder als wollte der philosophische
Kritizismus sonst den Zweck als naturwissenschaftliches Erklärungs-
prinzip an die Stelle des mechanischen setzen, energisch wider-
sprechen. Kant hat diese „faule Teleologie" als den „Tod aller
Naturphilosophie" bezeichnet. Und wenn Liebmann, wie wir
sahen, den „vollendeten Naturmechanismus, d. h. das Ideal einer
mechanischen Kausalerklärung sämtlicher, auch der zweck-
Kritizismus und Naturphilosophie bei Otto Liebmann. 133
massigen Naturerscbeiuung-en" postuliert, wenn ihm die „causae
finales mythisch" sind, wenn sie ihm vor dem Forum des Kriti-
zismus in die ,.M3'thologie" gehören, nicht in die Naturwissen-
schaft,^) so leuchtet ein: die These Weismanns, ^) dass wir „über-
haupt danach streben dürfen, die Entstehung der Zweckmässigen
mit Ausschluss zwecktätiger Kräfte im Prinzip zu begreifen", ist
zugleich die Position der kritischen Naturphilosophie. Dass das
aber „entgegen der ileinung Kants" sei, — das ist ein Irrtum
\\'eisraanus. Vielmehr ist dieses Streben, wie Liebmanu gesagt
hat, „Grundpflicht und Lebensbedingung des wissenschaftlichen
Denkens". Wenn wir nun trotzdem von einer „teleologischen
Idee der Naturtechnik" reden, so muss daraus schon folgen, dass
sie dem Mechanismus nicht nur nie und nirgends Abbruch tut,
oder gar widerspricht, sondern ihn sogar fordort.^) Um das zu
erhärten, brauchen wir noch keineswegs das Gebiet der Meta-
physik zu betreten und das der Wissenschaft zu verlassen. Wer
ein grandioses Beispiel aus der Geschichte für eine widerspruchs-
lose Vereinigung von Mechanismus und Teleologie im Metaphy-
sischen haben will, der denke an Goethe, der bei seiner ausge-
sprochenen „Abneigung gegen die Endursachen", die Synthese
beider antithetischer Glieder darin findet, dass er das Zweckvolle
mit kausaler Notwendigkeit entstanden und die kausale Notwendig-
keit zweckvoll wirksam denkt. Man wird in gewisser Weise
heute auch an Bölsche, den poetischen Metaphysiker, denken
dürfen. Und — last not least! — Liebmanns kritische Meta-
physik hat im philosophischen Sinne das Problem am profundesten
aufgegraben. Allein, wie er selbst sagt, hier „reicht der Begriff
der Teleologie weit über das Gebiet der Naturphilosophie hinaus".'*)
Auf dieses aber haben wir uns hier gerade zu beschränken. Die
vom Kritizismus für die Naturphilosophie geforderte Unterscheidung
zwischen dem Faktum des Zweckmässigen und seinem Begreifen
und Erklären, die ja übrigens auch in den zitierten Worten Weis-
manns mit klassischer Deutlichkeit zum Ausdruck gelangt, ist für
die exakte Fragestellung der fundamentale Ausgangspunkt. Inso-
fern nun aber auch als biologische Erklärung unter kritischem
1) Analysis der Wirklichkeit S. 396.
2) Weismann, Vorträge über Deszendenztheorie, 2. Aufl., S. VII.
3) Gedanken und Tatsachen, II, S. 171.
*) Ebenda, I, S. 274. Über die metaphysische Seite der Teleologie
vgl. auch schon S. 266 ff., femer 11, S. 141 ff.'
134 B. Bauch,
Gesichtspunkte ganz allein die mechanische Kausalerklärung
dienen kann, ist und bleibt es ein Postulat, die organischen Pro-
zesse auf physikalisch-chemische zu gründen, „auf dem Mechanis-
mus den Chemismus und auf dem Chemismus den Organismus"
aufbauen.^) Nachdem Lotze in der Philosophie den spiritus
mysticus der Lebenskraft logisch totgeschlagen hat, ist eben damit
der Vitalismus, dessen dogmatisch-metaphysische Preisgabe für
das exakte Gebiet vor allem das Gesetz von der Erhaltung der
Energie fordert, gestürzt.^) Fortan gilt: „das Wort ,Lebenskraft*
bezeichnet nicht sowohl einen Begriff, als eine Begriff slücke".^)
Allein gerade hier muss der Kritizismus, sofern er eine Selbst-
verständiguug des wissenschaftlichen Denkens sein soll, vor phan-
tastisch übereilten dogmatischen Spekulationen warnen und darauf
hinweisen, dass wir mit den bisherigen Ausführungen noch nie
und nirgends die begriffliche Sphäre des blossen Postulats ver-
lassen und also auch gar nicht in die seiner Erfüllung eingetreten
sind. Möglich muss die Erfüllung sein, insofern überhaupt Natur-
erklärung möglich sein muss, wenn Wissenschaft möglich sein
soll. Allein von der logischen Möglichkeit bis zur Wirklichkeit
im empirisch-B^aktischen ist noch ein weiter Weg. Und unter
diesem Gesichtspunkte bleibt es zunächst selbst noch Problem, ob
das Postulat sich jemals ohne Rest erfüllen lasse oder ob wir ein
für Physik und Chemie unauflösliches Problemresiduum auch dann
zu konstatieren hätten, wenn wir diese Wissenschaften in einem
uns unerreichlichen Zustande des Ideals denken, weil wir über
diesen als solchen selbst nichts wissen können.'*) Das auch trotz
der bereits von Kant prophezeiten, also als logisch möglich ange-
nommenen und nun von der Wissenschaft als reale Möglichkeit
erwiesenen mechanischen Herstellung des Organischen. Aber ein
anderes ist und bleibt auch jetzt die Entstehung, ein anderes die
Erklärung der Entstehung.
Hat darum in der Biologie auch die Mechanik allein das
Recht des Erklärens als Mechanik des Lebens, so zeigt sich der
scharfen kritischen Grenzbestimmung doch sofort, dass bei dem
Unterschied zwischen dem Postulat und seiner Erfüllung das
Leben als noch nicht gegebenes, darum selbst erst noch zu erklä-
') Analysis der Wirklichkeit, S. 384.
2) Ebenda, S. 338 ff.
3) Gedanken und Tatsachen. I, S. 244.
4) Ebenda I, S. 110.
Kritizismus und Naturphilosophie bei Otto Liebmann. 135
rendes Leben Problem bleibt. Und hier tritt der Zweckbegriff in
seine Rechte, und zwar auch für die exakte Forschung, freilich
nicht als erklärende Kategorie,^) sondern als regulativ-heuristisches
Prinzip. Dadurch wird die Deszendenztheorie ein für allemal
unter dem Gesichtspunkt des Kritizismus richtig als regulativ
methodische Hypothese erkannt, an der sich die frühere Unter-
scheidung zwischen occasionalen und effizienten Ursachen aufs
glänzendste bewährt, insofern auch hier die occasionalen Ursachen
sich als das der mechanischen Forschung Zugängliche erweisen, der
„permanente Realgrund" aber nichts anderes als das Lebensproblem
selber bezeichnet. Damit wird an die Stelle des dogmatischen
Standpunktes des Vitalismus, unter Wahrung seines lediglich
methodisch berechtigten Problemkernes, die Problematik gesetzt.
Für ihn tritt ein die Methode eines heuristischen Prinzips in
Form der Deszendenztheorie, die selbst nicht dogmatischer Stand-
punkt, sondern Hypothese und Methode der Forschung bleiben
niuss, da über die Heuristik hinaus in der exakten Forschung für
die Erklärung die mechanischen Gesetze in Kraft bleiben müssen,
auch wenn diese ihrerseits bisher das Faktum des Lebens selber
aus dem Stadium des Problems in das der Erklärung nicht über-
zuführen vermocht haben. ^) Das Leben mit den Bestimmungen
der Variabilität, Erblichkeit, Entwickelungsfähigkeit, Fortpflanzungs-
fähigkeit bilden so auch für den Darwinismus immer schon die
Voraussetzung, und dieser vermag lediglich die Gesetze der Um-
wandelung und Entwickelung der immer schon vorausgesetzten
Lebewesen zu ermitteln. Dabei leistet ihm die heuristische Tele-
ologie, bei der man freilich weder an die gerade von Kant ein für
allemal abgetane Physikotheologie,^) noch an eine anthropomor-
phistische Nützlichkeitsteleologie,^) die ja nichts anderes als ein
närrischer Einfall ist, denken darf, die wesentlichsten Dienste.
Allein daraus folgt, dass der Darwinismus keineswegs bereits das
Postulat mechanischer Naturerklärung restlos erfüllt hat. Er
bezeichnet zwar einen ungeheuren Fortschritt dem Vitalismus
gegenüber, der „beim Eintritt in die Organologie und Biologie der
r
1) Vielleicht könnte man das auch so ausdrücken: Der Zweck ist
überhaupt keine naturwissenschaftliche, sondern eine naturphilosophische
Kategorie.
ä) a, a. 0. I, S. 250 ff. und Analysis der Wirklichkeit S. 340 ff.
3) Gedanken und Tatsachen n, S. 157.
*) Ebenda. S. 147.
136 B. Bauch,
Physik und Chemie den Rücken zukehrte, um sie draussen im Vor-
zimmer unbeachtet und nur gelegentlicher Winke harrend stehen
zu lassen"/) ihnen also im besonderen eine ähnliche untergeord-
nete Domestikenrolle anwies, wie zeitweise eine gewisse philo-
sophische Spekulation der Naturwissenschaft überhaupt. Dem-
gegenüber hat der Darwinismus wenigstens das Postulat einer
erklärenden Wissenschaft allen Ernstes aufgenommen, wenn sich
vor der Kritik auch herausstellt, dass er noch keineswegs ein
Prinzip „mechanischer Erklärung", sondern ganz allein ein solches
„historischer Erklärung"^) ist. Es ist also zum mindesten sehr
übereilt, nun in Darwin den Kantischen „Newton des Grashalms"
zu sehen. Wie Kant sagt: gebt mir Materie und ich will euch
erklären, wie daraus die Welt mechanisch entsteht, so kann also
Darwin sagen: gebt mir Lebewesen und ich will euch erklären,
wie sie sich kausalmechanisch umbilden und entwickeln. Aber
ebensowenig, wie Kant sagen konnte: ich will euch die Materie
selbst erklären, so wenig hat Darwin sagen können : ich will euch
aus der Materie das Leben selber erklären. Mit dem „Newton
des Grashalms" hat es also „mindestens, mildestens" - gute
Weile. Das letzte Jahrzehnt hat uns freilich einer Theorie der
Materie im höchsten Sinne näher gebracht. Eine Theorie des
Lebens im höchsten Sinne wird immer freilich eine unaufgebbare
Idee der Wissenschaft darstellen müssen. Ob sie aber nicht selbst
immer Idee bleiben wird — darüber erlasse man uns billig alles
Prophezeien. Wir können Geschichte nicht a priori konstruieren.
Jedenfalls aber sind die Fundamentalbegriffe der Biologie, wie
Variabilität, Entwickelungsfähigkeit, Erblichkeit, Fortpflanzungs-
fähigkeit zwar notwendige Prämissen, aber sie sind als solche
schon historischer Natur. In mechanischer Hinsicht aber sind sie
Problem. Und diese konzentrieren sich recht eigentlich in dem
der Vererbung. Für dieses Problem aber kommt alles darauf an,
dass man nicht aus der unverstandenen Vererbung die Lebewesen,
sondern aus den verstandenen Lebewesen die Vererbung zu ver-
stehen sucht. Das ist es, was Liebmann von einer kausalen Er-
klärung des organischen Lebens mit Recht fordert.^) Und darin
liegt im Prinzip die unvergängliche Bedeutung der Weis-
mannschen Keimplasmatheorie, die Liebmann freilich nur kurz
1) Analysis der Wirklichkeit S. 337.
2) Gedanken und Tatsachen I, S. 257.
3) a. a. O. U, S. 166.
Kritizismus und Naturphilosophie bei Otto Liebmann. 137
erwähnt. Die Vererbung ist zunächst keine Erklärung, sondern
ein Problem.^) Und wenn wir diesen echt kritischen Gedanken
auf die bedeutendste Vererbungstheorie anwenden, so können wir
sagen: er findet an dem Gedanken der Vererbungssubstanz seine
exakte Darstelhmg. Unter kritischem Betracht wird die Zukunft
freilich diese gleichsam zu entsubstanziieren haben. Aber sie ist
trotzdem von eminent kritischer Bedeutung. Das Keimplasma ist
kein alle Rätsel hinwegrätselndes Universalmittel, sondern philo-
sophisch betrachtet gleichsam eine kritische Warnungstafel vor
dem naiven Darauflosdogmatisieren in der Deszendenztheorie.
Hier wird davor gewarnt, das, was Liebmann die permanente
Ursache nennt, bei Seite zu schieben oder in occasionale aufzulösen
und zugleich bezeugt, dass aller Analyse ein unauflöslicher Problem-
rest verblieben ist. Und alle „Widerlegungen", die Weismanns
Theorie bisher gefunden hat — das ist ein gemeinsamer Grundzug,
den ich bei allen, soweit sie mir bekannt geworden sind, ange-
troffen habe — , haben nur das Verfängliche an sich, dass sie sich
heimlich, ohne es zu wissen und zu wollen, über die Prinzipien
hinwegsetzen, ohne die überhaupt keine Mechanik möglich ist,
insbesondere über das sogen, dritte Newtonische, ja eigentlich auch
schon über den Fundamentalgrundsatz jeder Erklärung über-
haupt, dass aus Nichts auch Nichts werden kann. Freilich kann
darauf hier nicht eingegangen werden, da ich mich allein auf das
Prinzipielle beschränke, zumal da mehr im Speziellen noch das
biologische Problem hier behandelt werden soll. Vielmehr sei zum
Schluss noch ein Wort über ein Spezialproblem der Biomechanik,
das man als Psychomechanik bezeichnen könnte, gesagt:
„Als ein Corollarium des allgemeinen Kausalprinzips," sagt
Liebmann, „bleibt auch der Gedanke einer psychologischen Mechanik",
das „Ideal der Psychologie", wieweit diese auch immer hinter dem
Ideal zurückstehen mag.^) Denn alles Psychische untersteht selbst
Naturgesetzen, die eben „psychologische Naturgesetze"^) sind.
Weil nun auch im Psychophysischen die Ermittelung gesetzmässiger
Kausalzusammenhänge im besonderen ebenso Aufgabe bleibt, wie
dies überhaupt Aufgabe aller rationellen Wissenschaft ist, so billigt
Liebmann konsequenterweise auch den Satz Lichtenbergs: „Der
Materialismus bildet die Asymptote der Psychologie", um zugleich
1) Analysis der Wirklichkeit S. 438.
2) a. a. 0. S. 476.
3) Gedanken und Tatsachen II, S. 66.
138 B. Bauch, Kritizismus und Naturphilosophie bei Otto Liebmann.
die in dem Begriff der Asymptote zu Tage tretende kritische
Grenzbestimmung scharf zu beleuchten und zu würdigen.^) Denn
dass damit dem Materialismus als System metaphysischer Welt-
anschauung nicht das Wort geredet wird, braucht kaum noch
besonders hervorgehoben zu werden. Das versteht sich nach den
früheren Ausführungen eigentlich von selbst.^) Denn alle wissen-
schaftlich brauchbare Naturphilosophie hat ja ihre letzte Ent-
scheidungsinstanz auch hier im Kritizismus. In jenem Lichtenberg-
schen Satze kündigt sich also für den Kritizismus kein System an,
es ist vielmehr in ihm eine Aufgabe, ein methodisches Postulat
bezeichnet. Und auch hier haben wir nicht bloss zwischen dem
Postulat und seiner Erfüllung zu unterscheiden, es bleibt auch zu
bedenken, dass Postulat, wie Erfüllung des Postulates zu ihrer
Möglichkeit und um überhaupt einen logischen Sinn zu haben
nicht bloss einen anderen Begriff der Materie, als den hergebrachten,
sondern auch einen anderen Begriff der Natur, als den naiven
landläufigen voraussetzen. Es ist das eben der Naturbegriff im
Sinne des philosophischen Kritizismus, der in dem Satze formuhert
war, dass der Verstand seine Gesetze nicht aus der Natur schöpft,
sondern ihr die Gesetze vorschreibt.
1) Analysis der Wirklichkeit S. 536.
'^) a, a. O. S. 537 f. Über das Gehirn als „logisch denkendes Auto-
maton" vergl. auch S. 552 ff. Hier wird in einer ausserordentlich inter-
essanten und neuen Weise, in einer Art von psychophysischem Paradoxon,
über den psychomechanischen Zusammenhang Aufschluss erteilt, der aber
in das Spezialproblem des Verhältnisses von Physischem und Psychischem
gehört.
Otto Liebmann als Dichter.
Von Fritz Medicus.
„Wenn ich Altäre zu errichten hätte, so würde ich dem
^oyog und der 'Aydnifj, der Vernunft und der Liebe, Altäre er-
richten." Liebmann scheint in diesen Worten — sie stehen am
Schluss einer Abhandlung über den Ursprung der Werte — zu
sagen, dass er, als Philosoph, keine Altäre zu errichten hat. In
der Tat kann eine oberflächliche Kenntnisnahme seiner bekanntesten
Werke zu der Meinung verführen, Liebmann sei der typische Ver-
treter jenes Kantianismus, der seine Lebenssphäre im Bewusstsein
der Begrenztheit aller Vernunft hat. Wo „kritische Besonnenheit"
als das Letzte und Höchste gepriesen wird, was der Philosoph
zu bewähren hat, da werden keine Altäre errichtet : des kritischen
Gedankens Blässe lässt selbst die alten Altäre veröden, indem
sie von allen Gaben, die etwa dort dargebracht werden möchten,
ihren Tribut einzieht; alles lebendige Feuer, aller Enthusiasmus
fällt ihr, der schneidenden Kritik, zum Opfer: sie selbst ist dann
die einzige Opferstätte — eine Opferstätte, die nicht durch das
Übermass des belebenden Feuers tötet, sondern die nichts ist als
die eisige Negation des Lebens.
Nun ist es in einer gewissen Hinsicht ganz wahr, dass der
Philosoph keine Altäre zu errichten hat: sein Geschäft ist theore-
tische Reflexion. Und die Reflexion begeistert sich nicht. Andrer-
seits aber wurzelt die Reflexion selbst im Leben; sie ist nicht
von sich selbst, nicht causa siä. Und sie ist auch nicht um ihrer
selbst willen, nicht Ziel ihrer selbst. Wir reflektieren nicht, um
zu reflektieren. Sondern wie die Reflexion im Leben wurzelt, so
strebt sie auf das Leben hin. Wir reflektieren um des Lebens
willen. Philosophie erhöht das Leben. Sie trägt in das
Leben, das zunächst eine blosse Tatsache ist, die weiter nichts
zu bedeuten hat, als dass sie eben da ist, ein Bewusstsein seiner
selbst hinein. Ein phüosophisch selbstbewusstes Leben ist in
140 F. Medicus,
höherem Sinne Leben als ein solches, das in den Schranken der
nichts von sich selbst wissenden Naturgesetzlichkeit verläuft.
Von hier aus lässt sich verstehen, dass durch die Philosophie
ein neuer Enthusiasmus wachgerufen werden kann. Nicht sie
selbst zwar ist es, die Altäre baut. Aber wo das Leben von ihr
ergriffen ist, wo das Leben durch sie sich selbst ergriffen hat,
da wird es andere Altäre bauen als vordem, und es wird im
Altäre-Bauen sich selbst verstehen, es wird wissen, warum es
diese Altäre baut. Das von der sich selbst nicht kennenden
Naturgesetzlichkeit gefesselte Leben baut weder dem Aoyog noch
der ^Aydnri Altäre : es ist vernuuftlos und selbstsüchtig — gerade
auch da, wo es Altäre baut.
Der Philosoph als solcher hat überhaupt keine Altäre zu
errichten; er hält sich in der kühlen Sphäre der Reflexion. Aber
die phüosophische Reflexion steigert das Leben der Persönlichkeit,
und die Persönlichkeit wird Altäre bauen. Die philosophisch ge-
bildete Persönlichkeit wird es um so sicherer tun, je näher in ihr
die philosophische Reflexion an ihr Ziel herangekommen ist. Meist
freilich wird es nur ein bescheidener Hausaltar sein können : denn
Altäre, die sich sehen lassen dürfen, baut nur der Künstler — der
Architekt oder, im metaphorischen Sinne, der Dichter, der Kom-
ponist u. s. w. Mit Fug aber bemerkt Liebmann, der Philosoph,
einmal, dass die beiden grundverschiedenen Anlagen zu theore-
tischer Reflexion und zu künstlerischer Produktion nicht häufig
in derselben Persönlichkeit vereinigt sind. Zu den Ausnahmen
von dieser Regel gehört ohne Zweifel Lieb mann selbst.
Liebmanns Gedichte sind philosophische Gedichte, sofern
sie der Ausdruck eines philosophisch gebildeten Persönlichkeits-
lebens sind. Es sind keine Ergüsse zufälliger Stimmungen:
Der Philosoph lässt sich nicht durch die Umstände machen, sondern
über das, was ihm auf seinem Wege begegnet, giebt er sich
Rechenschaft: so entreisst er es dem blinden Ungefähr und macht
es zu einem Moment seiner durch innere Notwendigkeit in sich
geschlossenen Persönlichkeit. Der Philosoph hasst das unüber-
wundene Ungefähr. Darum sagt er nur dann etwas, w^nn er
weiss, dass er etwas zu sagen hat. Im Schwätzer tobt sich das
Ungefähr aus. Philosophische Kultur ist dagegen notwendig vor-
nehm. Das ist denn auch einer der allerunausweichlichsten Ein-
drücke, die Liebmanns schriftstellerische Eigenart auf den Leser
machen muss: Hier ist grösste Vornehmheit. Schon der Stil
Otto Liebmann als Dichter. 141
der ganz eigentlich philosophischen Arbeiten verrät das; mehr
noch naturgemäss zeigen es das Kriegstagebuch und die Gedichte.
Welche Abneigung gegen das Laute, Aufdringliche, Unanständige,
mit einem Wort gegen alle Volksrednerallüren I Wie prachtvoll
bricht oft im Kriegstagebuch die Empörung über die lärmende,
prahlerische Nichtigkeit des französischen Wesens hervor!
Vornehmheit ist die formale Eigenschaft philosophischer
Kultur. Sie ist die notwendige Erscheinungsweise jener inneren
Haltung, die alles Ungefähr, das im eigenen Innern aufsteigen
möchte oder das von aussen kommend Anerkennung beansprucht,
als eine Hemmung erlebt, als einen Anstoss, der überwunden sein
will. Aber wenn es zur Vornehmheit gehört, nur dann etwas zu
sagen, wenn man etwas zu sagen hat, so stellt jeder vornehme
Mensch dem, der ihn verstehen will, die Aufgabe, nun auch da-
nach zu fragen, was denn dieses Etwas ist, das den Inhalt
seiner Persönlichkeit ausmacht. Keine Persönlichkeit besteht aus
Vornehmheit allein, eben weil das nur eine formale Eigenschaft
ist; weil Vornehmheit nur die Form bezeichnet, in der dasjenige
erscheint, was diese Persönlichkeit au Inhalt in sich trägt. Lieb-
mann hat in dem Worte vom Aoyog und der ^Aydnrj selbst ausge-
sprochen, was ihm die höchsten Lebenswerte sind: allein es ver-
steht sich, dass damit der Inhalt seiner Persönlichkeit noch nicht
auf eine Formel gebracht ist: solcher Inhalt ist überhaupt nicht
formulierbar. Formulierungen sind abstrakt, persönliches Leben
ist konkret. Nur die Kraft künstlerischer Gestaltung vermag
konkretes Leben gegenständlich und mitteilbar zu machen. Nun
ist Liebraann Künstler auch da, wo er streng philosophische
Untersuchungen zu Papier bringt; nicht minder ist er es auf deai
Katheder. Wenn er etwas sagt, so ist es nicht gleichgiltig, ob
hier ein einsilbiges oder ein zweisilbiges Wort, ein Wort mit
hellem oder mit dunklem Vokal steht: in seinem Stil ist Not-
wendigkeit. Und darum sind seine Schriften so ungemein aus-
drucksvoll: sie entwickeln ihren Inhalt nicht bloss in abstracto,
sondern so, wie er der lebendigen Persönlichkeit Liebmanns ange-
hört. Der Leser oder Hörer muss sich nicht bloss mit philoso-
phischen Theoremen und ihrer Begründung, sondern ausserdem
noch mit Otto Liebmann abfinden — wie sich auch der Leser
einer gedankenschweren Dichtung niemals bloss mit Problemen als
solchen zu befassen hat. Indessen tritt in Liebmanns philoso-
phischen Arbeiten das Persönlich-Künstlerische insofern zurück,
142 F. Medicus,
als der Zweck immer die umfassende Klarlegung der wissenschaft-
lichen Aufgabe bleibt: der Leser kommt mit der Persönlichkeit
des Verfassers nur darum in Berührung, weil dieser gar nicht
anders kann als künstlerisch gestalten und mithin mehr geben
als bloss Wissenschaft.
Ähnlich, wenn auch nicht mehr ganz ebenso, liegt es in
Liebmauns Kriegstagebuch.^) Auch da ist ja der Zweck, zu
berichten, was sich in Wahrheit begeben hat, und die Kunst der
Darstellung ist zunächst nur um dieses Zweckes willen da. Allein
da es sich um die Darstellung persönlicher Erlebnisse handelt,
gewinnt das künstlerische Moment ganz natürlicherweise eine
erhöhte Bedeutung. Liebmann erlebt, was ihm begegnet, als ein
Philosoph von ungemeiner künstlerischer Befähigung; und oftmals
macht der künstlerische Drang sein Recht geltend, nicht bloss in
Unterordnung unter den theoretischen Zweck etwas zu sein: die
intellektuelle Verarbeitung des Erlebten wird zur blossen Voraus-
setzung, und es entsteht, auf sich selbst gestellt und durch seine
künstlerische Form in sich geschlossen, ein Gedicht. Ein garnicht
kleiner Teil des Belagerungstagebuches ist in Versen geschrieben,
und viele unter ihnen sind von grosser Schönheit. Das in Er-
innerung an den schweren Kampf von le Bourget entstandene
Gedicht „Fürs Vaterland" gehört unter die allerbesten künstlerischen
Erzeugnisse, die jemals Kriegsbegeisteruug hervorgerufen hat. Es
ist gewiss kein „philosophisches" Gedicht, und doch ist auch ihm
die philosophische Kultur seines Verfassers zu gute gekommen :
die kraftvolle Entschlossenheit, der Wille zu opfermutiger Hin-
gebung erscheinen durchdrungen von einer Besonnenheit, die ihnen
nichts an Stärke nimmt, wohl aber jenen (vielleicht durch etwas
Sentimentalität abgeschwächten) Leichtsinn von vorne herein ver-
bannt, der die Kriegspoesie der Haudegen zu charakterisieren
pflegt. In den meisten Gedichten aber, die Liebmann in den vier
Monaten vor Paris geschrieben hat, ist er doch nicht bloss der
Soldat, der sich klar darüber ist, was er tut und zu tun hat,
sondern vielmehr der Philosoph im Waffenrock. Sehr eindrucksvoll
sind jene Verse, in denen er erzählt, wie er in einer Nacht auf
Posten stehend vom feindlichen Wachtfeuer herüber die Marseillaise
hört und im Herzen mitsingt: das Freiheitslied ist ihm zu seinem
Liede geworden:
1) Vier Monate vor Paris. 1870—1871. Belagerungstagebuch
eines Kriegsfreiwilligen im Gardefüsilierregiment.
Otto Liebmann als Dichter. 143
» Allons enfants de la patrie! <
So singen wir jetzt, — hör' es, gall'scher Hahn!
Hört es, Franzosen! — Ihr, ihr habt's geschändet
Das edle Freiheitslied . . .
Der Marseillaise
Hochteierliche Klänge . . .
Der Gassenbuben Chor hat sie gebrüllt,
Der Buben, deren Herz des Namens Freiheit
Heiligen Sinn nicht kennt, nicht fühlt, nicht ehrt.
Nach Freiheit schrien sie; wollten unsern Rhein,
Den deutschen Rhein dem deutschen Volke rauben.
Und feile Dirnen, deren frecher Mund
Sonst nur gemeine Zoten kennt, sie haben
Dem trunk'nen Pöbel gellend vorgekreischt
Das heil'ge Freiheitslied. Nun ist's geschändet,
Nun ist es Blasphemie auf euren Lippen.
Die Freiheit wolltet ihr dem Nachbar rauben,
Dieweil schmachvolle Knechtschaft bei euch herrschte,
Ihr wolltet in des deutschen Rheines Flut,
Den heil'gen Wellen, eure Rosse tränken.
Der Freiheit Göttin hat uns hergeführt,
Und unsre Rosse trinken aus der Seine.
Ums eitle Trugbild eurer Weltherrschaft
Habt ihr der Freiheit Sache längst verraten,
Und statt der Göttin huldigt ihr der Metze.i)
Leute, die die Philosophie nur vom Hörensagen und uner-
betenen Hineinreden kennen — es ist mancher „Zünftige" unter
ihnen — , bilden sich hin und wieder ein, dass beim Philosophen
alle Kraft männlichen Parteinehmens im allgemeinen Grau der
Abstraktion verblassen müsse. Liebmanns Beispiel könnte eines
besseren belehren: mau braucht nicht die Energie des Willens
einzubüsseu, wenn man sich darüber klar wird, für welche Zwecke
1) Mit wahrhaft erquickendem Zorn schlägt Liebmann noch einmal
an einer späteren Stelle dieses Thema an. Im Dezember wurde sein
Regiment gegen die in der Picardie spukende Guerilla geschickt: „Durch
an sich unverdächtiges Glockengeläut und nächtliche Feuerfanale wurde
unser Herannahen von Ort zu Ort, über Berg und Tal vorausgemeldet.
Wer am Morgen noch mit Käppi und Chassepot einherstrich, konnte am
Mittag, sowie eine erhebliche Kolonne von weitem sichtbar ward, in
Blouse und Zivilmütze als friedlicher Bürger oder Landmann erscheinen,
■^'nd so kämpften wir gleichsam mit einem unsichtbaren Feind. . . . Eine
anz infame Afterart des Kriegs! Sie hätte uns unheimlich werden müssen,
v^enn wir den Feind nicht zu gründlich verachten gelernt hätten. Solches
Lumpenpack singt die Marseillaise!"
144 F. Medicus
man letzten Endes wirkt. Nur wer niemals mit seiner Persönlich-
keit für einen wahrhaft wertvollen Zweck eingetreten ist, kann
jenem Schweben zwischen dem Misstrauen gegen das philosophische
Denken und dem Misstrauen gegen den Sinn des Lebens verfallen.
Liebmann ist auch im Felde der Philosoph gewesen: aber die
Philosophie hat ihn nicht zum arbeitsmüden, widerwillig mit-
ziehenden, innerlich neutralen Kosmopoliten gemacht. Im Gegen-
teil, sein philosophisches Bewusstsein der Freiheit war der
persönHch lebendige Grund der patriotischen Parteinahme dieses
„Campagne-Freiwilligen". Allerdings ist Liebmanns Patriotismus
von der Art, wie er nur dann möglich ist, wenn ein Volk für
nichts anderes kämpft als für sein wahrhaftes Recht. Aber es
wäre gewiss nicht schlecht um einen Staat bestellt, in dem es
von solchem sich selber klaren Patriotismus recht viel und einen
anderen Patriotismus überhaupt nicht gäbe. Im ganzen Verlauf
des Krieges ist Liebmann, wie das Tagebuch immer wieder zeigt,
vom Bewusstsein der Gerechtigkeit der deutschen Sache erfüllt
gewesen, und gewaltig bricht diese Überzeugung am Ende der
langen Mühen in den Ottaven hervor, die die Kapitulation von
Paris feiern: „Der Eindruck dieser Nachricht — sagt Liebmann
selbst — lässt sich nicht in gewöhnlichen Worten beschreiben."
Die letzte Stanze lautet:
Paris gefallen! — Welt, dir sei's gesungen!
Europas ew'ger Störenfried vernichtet!
Nicht bloss für Deutschland haben wir gerungen.
Nein, für die Menschheit; und — Gott hat gerichtet.
Sieh! Diese Hände, die den Feind bezwungen
Und blutige Trophäen aufgeschichtet,
Sie bringen Dir den jungen Völkerfrieden, —
Amen! Und sei er lange Dir beschieden!
Fürwahr, Liebmann hat den Aoyoc, und die ^Ayäny\ nicht
verleugnet, als er „ohne gesetzliche Nötigung die Feder mit der
Kugelbüchse vertauschte". Seine Kriegspoesie verkündigt die
Herrlichkeit jener hingebenden Liebe zum Vaterland, die in
der Überzeugung von der (theoretischen und praktischen) Ver-
nünftigkeit der staatlichen Ordnung und der von ihr beschützten
Werte wurzelt. —
Seine im strengeren Sinne philosophischen Gedichte hat
Liebmann in dem Bändchen „Weltwanderung" vereinigt. Das
Otto Liebmann als Dichter. 145
Buch ist, wenn man die Reihenfolge der Gedichte beachtet —
und sie ist beachtenswert — , einem System der Philosophie
vergleichbar. Freilich nur vergleichbar: ein wirkliches System der
Philosophie müsste mehr sein, sofern es die Probleme in ge-
schlossenem Zusammenhang zu entwickeln, nicht aber sie rhap-
sodisch aufzugreifen hätte. Und es würde weniger sein, sofern
es der Anschaulichkeit entbehrte , die das Eigentümliche der
Kunst ist, — abgesehen davon, dass ein System der Philosophie
in unseren Tagen schwerlich mehr in Versform auftreten würde.
Die Weltwanderung beginnt, nachdem ein einleitender Teil „Vor
der Schwelle" den Blick für das Rätselvolle in und um uns ge-
schärft hat, mit einer Art historischer Orientierung: „Aus alter
Zeit". Liebmann führt uns zu alten Völkern, den Griechen,
Indern, Ägyptern, Germanen und lässt uns ihr Ringen um das
Wesen und den Sinn der Welt nacherleben: So verschiedenartig
sich das geistige Leben bei diesen Völkern entwickelt hat, ihnen
allen ist das Bewusstsein einer geheimnisvollen, ja zuweilen selbst
schauerlichen Macht gemeinsam, einer unbegreiflichen unendlichen
Einheit, der alles Dasein entstammt. — Den Anfang der systema-
tischen Probleme machen die „Urgedanken", eine Folge von
Sonetten über die Grundbegriffe des Denkens. Zuerst dogmatisch
bestimmte Erklärungen über Sein und (jeschehen; dann aus ihnen
auftauchend Probleme, die sich mehr und mehr komplizieren. Die
letzten dieser Sonette reden von tiefen Geheimnissen („Zeit und
Ewigkeit", „^'Ev xal Tiäv") und schliesslich von der Unvermeidlich-
keit, mit der all diese „Urgedanken" sich im Bewusstsein der
Menschheit geltend machen und nach Antwort verlangen.
Auf die allgemeine Metaphysik folgt als erstes Sonderproblem
das der Natur, und „Natur" betitelt sich der auf die „Urgedanken"
folgende Abschnitt. Hier führt Liebmann, von dem unmittelbarsten
Naturgefühl anhebend — man lese das stimmungsvolle, innige
Gedicht „Waldrätsel", das erste dieser Abteilung — über natur-
wissenschaftliche und naturpbilosophische Konzeptionen hinweg bis
dahin, wo die naive Identifikation von Natur und Wirklichkeit zum
Problem wird. „Weltmittelpunkt" ist das letzte Gedicht aus dieser
Reihe überschrieben; es beginnt mit dem Verse: „Einsam bist du
'amitten der Natur", und seine letzten Worte sind: „Vernunft ist
)ffenbarung". So leitet es schon hinüber zu der notwendigen
Fortsetzung dieses der Natur gewidmeten Teiles: „Gut und
Böse". Den Bruch mit der Natur schafft das Bewusstsein des
Kantstudien XV. 10
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Bis se ^nertil^ br:, — —
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Der D»rizK HjniTix- ^Carius' euxr&ut aae guMse kasBoscae
VlsHMi: ans der Zrasuöst bfiraas gestattet aidi die Weit, der Sdas-
fiatz des Kaspfes aller feg» al]& Ais die ToOeadn^ der Wdt,
ak ihre EriSsn^ t«w EI»d lad Siimloaigkeit eisebeiBt zaletzt
£e liebe: theoretisdier Wdsiieit ist lie matetSmsdäätSk, aber ae
fStrt .^ans Herz der Weit*. Eine rein tiieoretisdie PoätMm ergieM
kein Verrtiadnis der Wbtiidhkeit. Der dritte ^nuns ^äam^an^
iHili<.M4 skk e^ aa die Intnitiooen an, in denen der zweite an»-
geMingen war, ffier findet lieiHnaBn waliri»ft bewvndemswerte
Torte, ■■ das Unsagtore zm sagen. Li Wendn^m Ton grSnster
FoTMsehdnbeit, die ibetrasdifli vnd doefa, als ob ae sdbstrerstind-
iA wiren, fbet/engen, redet er Ton der in^idlidien Übol^enheft
des Weftwesens fSier alles a^BAfidie Terst^en. Temimft und
Liebe snd das Hddiste, was wir kennen. Aber was wisKn wir
darlAer, wie sie des Weitwesea entstaaaen? Sie etsdieinen n,
ans nnerfofseUidKSi Dmkel eaparflasBKnd. Iknen eiriditen
wir Altice: das Weltwesen irt sdbst ffir nnsere Yerdnng
^11 äodi.
An die ^ynaea'^ sciuiessaL sidi, ais letzter Teil d@ Bndies,
«die Konfessionen*: Sonette über die id^ifisen nnd ^dk»-
sofhiideB TenKiie, die ewigen G^rTr!?!!??«? zn entrSt?^?!:. Ana
146 F. Medicus,
Sündenfalls; die Natur ist unschuldig, und nur solange das Be-
wusstsein der Schuld noch fehlt, lebt der Mensch in ihr. Von
dem Eritis siciit Dens der „weltberühmten Schlange" ausgehend
behandelt Liebmann, wieder in Form von Sonetten, die sittlichen
Grundbegriffe. Alte Eeligionen und philosophische Schulen geben
hin und wieder die historische Unterlage. Wie bei den meta-
physischen „Urgedanken" lässt sich auch hier eine Steigerung von
einem Sonett zum andern erkennen bis zu denen, die die sittliche
Liebe feiern. Das Sonett „Ich und Du", eines der tiefsten und
schönsten der ganzen Sammlung, zeigt in bedeutungsschweren
Versen, wie sich in der Liebe die ursprüngUche Einheit der Lebe-
wesen offenbart: die metaphysische Grundlage des Ethischen
erscheint angedeutet. Nachdem die sittlichen Werte in ihrer
Reinheit aufgewiesen sind, folgen zum Schlüsse des Abschnittes
noch, bereits auf den nächsten vorauszeigend, ein paar Sonette
über die Begrenztheit alles sittlichen Strebens in der Menschenwelt.
Der folgende Abschnitt redet vom „Schicksal der Mensch-
heit". Künstlerisch bewertet stellt er, zusammen mit dem nächsten,
wohl den Gipfel der Weltwanderung dar. Und das ist nicht ver-
wunderlich; denn der höchste Gegenstand der Kunst ist der Mensch.
In den bisher genannten Abteilungen konnte der Mensch nur unter
abstrakten Gesichtspunkten, also in starker Verkürzung gesehen,
in Frage kommen: jetzt erscheint er in der Konkretheit seines
geschichtlichen Lebens. Nacheinander werden in dieser philo-
sophisch-poetischen Deutung des Laufes der Menschheitsgeschichte
die grossen Kulturepochen in typischen Eepräsentanten oder
Momenten vorgeführt, und zwar so, dass stets die Beziehung auf
das Allgemeine gegenwärtig bleibt: Der Philosoph kann das Ver-
gangene nicht vergangen sein lassen, weil er in ihm das Ewige
sieht; und dieses Ewige in plastisch-anschaulichen Bildern zeigen,
den eigentümlichen Ewigkeitscharakter der historisch bedingten
Gestalten künstlerisch erfassbar machen, dichterisch künden was
die Vergangenheit in Wahrheit gewesen ist: das ist's, was diese
Gedichte wollen und leisten. Liest man sie in ihrer Reihenfolge,
so wird man bemerken, wie sie mehr und mehr das Problematische,
Fragwürdige im geschichtlichen Leben betonen. Den Schluss
machen „Utopia", das glückliche Eiland, als asymptotisches Ziel
der Weltepochen, und die „Nachtgedanken", eine etwas resignierte
(1870 vor Paris gedichtete) Verteidigung des menschlichen Strebens
gegen die eisige mathematisch-astronomische Weisheit des Mondes.
Otto Liebmann als Dichter. 147
Die geschichtsphilosophischen Gedichte drängen über das
Geschichtliche hinaus: die Geschichte der Menschheit ist nicht das
Weltwesen selbst. Der Weltmittelpimkt ist ein übergeschicht-
liches Ich; in ihm ist das Schicksal der Menschheit verankert:
der nächste Teil der Weltwanderung bringt „Hymnen". Die erste,
„Prometheus", lenkt nochmals den Blick zurück auf die geschicht-
liche Entwicklung. Aber dem au den Felsen geschmiedeten Märtyrer
stellt sie den ans Kreuz geschlagenen gegenüber, dem Märtyrer
der Kultur den Märtyrer der Liebe:
Wird Kunst und Wissen
Den Kranz erringen,
Die Menschheit erretten? —
0 nein! ...
Waffen wird sie, stets bessere Waffen
Sinnreich erfinden; klüger und klüger
Sich selbst zerfleischen,
Bis sie vertilgt ist, — —
Wenn nicht Liebe sie lernt,
Wenn nicht Liebe den Hass besiegt.
Der zweite Hymnus „Caritas" entrollt eine grosse kosmische
Vision : aus der Urnacht heraus gestaltet sich die Welt, der Schau-
platz des Kampfes aller gegen alle. Als die Vollendung der Welt,
als ihre Erlösung von Elend und Sinnlosigkeit erscheint zuletzt
die Liebe: theoretischer Weisheit ist sie unerforschlich, aber sie
führt „ans Herz der Welt". Eine rein theoretische Position ergiebt
kein Verständnis der Wirklichkeit. Der dritte Hymnus ,^^'AneiQov^^
schliesst sich eng an die Intuitionen an, in denen der zweite aus-
geklungen war. Hier findet Liebmann wahrhaft bewundernswerte
Worte, um das Unsagbare zu sagen. In Wendungen von grösster
Formschönheit, die überraschen und doch, als ob sie selbstverständ-
lich wären, überzeugen, redet er von der unendlichen Überlegenheit
des Weltwesens über alles menschliche Verstehen. Vernunft und
Liebe sind das Höchste, was wir kennen. Aber was wissen wir
darüber, wie sie dem Weltwesen entstammen? Sie erscheinen uns,
aus unerforschlichem Dunkel emporflammend. Ihnen errichten
wir Altäre: das Weltwesen ist selbst für unsere Verehrung
u hoch.
An die „Hymnen" schliessen sich, als letzter Teil des Buches,
„die Konfessionen": Sonette über die religiösen und philo-
sophischen Versuche, die ewigen Geheimnisse zu enträtseln. Aus
10*
148 F. Medicus,
den „Hymnen" her klingt auch hier noch, bald stärker bald
schwächer vernehmbar, die Überzeugung von der Unbegreiflichkeit
dessen hindurch, was sich in den Tiefen reiner Menschlichkeit
ankündigt; zugleich aber bewähren sich Aoyoc, und ^Aydnri als die
Massstäbe der Wertbeurteilung. —
Man braucht, um vor Liebmanns künstlerischer Begabung,
wenigstens nach ihrer formalen Seite, Kespekt zu bekommen,
eigentlich nur irgendeine, gleichviel welche, seiner in Prosa ge-
schriebenen Abhandlungen zu lesen. Überall muss man seine
erstaunliche Sprachgewandtheit und die hohe Vornehmheit seiner
Ausdrucksweise beoierken. Indessen, hier soll nur von den Schriften
die Rede sein, die ausdrücklich mit dem Anspruch auf ästhetische
Bewertung auftreten. Sieht man von einigen zerstreut gedruckten
kürzeren Gedichten ab — die Kantstudien haben zweimal Fest-
gedichte gebracht; besonders hingewiesen sei auch auf die vier
Sonette zu den vier Sätzen der neunten Symphonie von Beethoven^)
— , so sind noch zwei (in den „Gedanken und Tatsachen" enthaltene)
längere Dichtungen hervorzuheben, die ganz eigentlich zu den
„philosophischen" gehören: die „Trilogie des Pessimismus" und
die „Episoden". Diese Dichtungen haben (mit Ausnahme des
letzten Stückes der „Episoden") kein Versmass und keinen Reim;
aber sie haben das, wovon das Versmass nur eine vergleichsweise
beschränkte Spezies und wozu der Reim nur ein Mittel ist: sie
haben Rhythmus — in dem Sinne, in dem auch der Roman oder
das Drama (auch das „in Prosa" verfasste) Rhythmus hat: d. h.
die Teile des Ganzen folgen nach einer ästhetischen Notwendigkeit
aufeinander; sie sind ihrer Qualität und Intensität nach derart
aufeinander abgestimmt, dass sich aus ihrer Abfolge eine synthetisch
einheitliche Gesamtstimmung ergiebt; die Bewegung, die vom einen
Glied zum andern weitertreibt, ist derart durch Stimmuugsakzente,
Wertakzente begründet, dass das Ganze als eine unauflösbare
Einheit dieser Akzente erscheint.
Alle echte Kunst hat ihren Gegenstand da, wo die Prosa
unzuständig ist; das aber hat ernste Kunst mit ernster Prosa ge-
mein, dass sie ihren Gegenstand so zeigen will, wie er in Wahr-
heit ist. Die „Trilogie des Pessimismus" bringt das
Wesen des Pessimismus dem künstlerischen Verständnis dadurch
1) Kantstudien IX, 1 ff. u. X, 249 ff.; Gedanken u. Tatsachen II, 356 f.
Otto Liebmann als Dichter. 149
nahe, dass sie drei Typen des Pessimismus vorführt und diese
nicht bloss als drei verschiedene Typen behandelt, so dass es
g'leichgiltig- wäre, welchen der Leser zuerst und welchen zuletzt
vornimmt: sondern indem wir uns von Liebmauu führen lassen,
erleben wir im Übergehen von einem Typus zum andern eine
eminente und ihrer Qualität nach in Prosa durchaus nicht zu
formulierende Steigerung; und gerade durch diese Steigerung,
gerade durch das bei aller Verschiedenheit doch in charakteri-
stischer Weise einheitliche Zusammenwirken der Stimmungswerte
erscheint die unaussprechliche Lebenswurzel des Pessimismus (in
der ganzen grossen Skala seiner mannigfachen Gestaltungen) bloss-
gelegt. Liebmann führt uns zuerst nach Alexandria zuHegesias
Peisithanatos: die Darstellungsweise spielt -stark ins Komische
hinüber, nirgends wird der Stoff ganz ernst genommen, und doch
handelt es sich überall um mehr als um ein blosses Spiel. Dann
kommt mit etwas barocker Entwicklung und bedeutungsvoll zartem
Schluss Timon von Athen, der Misanthrop. Endlich Buddha
Sakyamuni, der Pessimist, der unter dem Leid nicht klagend
oder grollend zusammenbricht, sondern der, stärker als das Leid,
dieses durch barmherzige Liebe überwindet: der Scherz in der
Darstellung ist verstummt, aber die künstlerische Einheit mit den
beiden vorangegangenen Abschnitten ist keineswegs aufgegeben:
sondern ebenso wie man nur dann eine Melodie (und nicht bloss
aufeinanderfolgende Töne) hört, wenn man das objektiv Vergangene
in der Subjektssphäre noch immer festhält, so vernimmt man auch
nur dann das Thema der ganzen Dichtung, wenn man sie als eine
durch einen mächtigen Rhythmus (und nicht etwa bloss durch den
abstrakten Begriff „Pessimismus"') zusammengehaltene Einheit auf-
zufassen vermag. — In der künstlerischen Form verwandt mit der
„Trilogie des Pessimismus" sind die in fünf Abschnitten verlaufen-
den „Episoden". Ihr Thema ist das Menschengeschlecht — das
Menschengeschlecht in seiner tragischen Sehnsucht nach dem
Höchsten; in seiner schier unheilbaren Neigung, sich in abstrakt-
phantastischen Weltbeglückungsträumen gross zu dünken; das
Menschengeschlecht in seiner verschwindenden Nichtigkeit im Ver-
hältnis zur Ewigkeit des Universums ; in seiner wunderlichen
Mischung von Kleinem und Grossem : den Schluss macht der (aus
1er „Weltwanderung" hier wiederabgedruckte) Hymnus „Caritas",
las hohe Lied von der den unvollkommenen Kosmos vollendenden
— also auch die Menschheit in Einklang mit ihm bringenden —
150 F. Medicus,
Liebe. — „Eine Gedankensympbonie" bat Liebmann die „Episoden"
genannt. Natürlich darf man den Ausdruck nicbt zu sebr pressen:
um blosse „Gedanken" bandelt es sieb bei den Elementen dieser
Sympbonie nicbt; blosse Gedanken würden nicbt klingen, wenn
sie zusammengefügt werden. Aber etwas Treffendes liegt doch
in jener Bezeichnung, und man könnte versucht sein, (freilich auch
hier ohne den Anspruch auf volle Genauigkeit) zu formulieren:
in der „Weltwanderung" entsteht aus der Zusammenordnuug von
Gedichten — Philosophie, in den „Episoden" (und in der
„Trilogie des Pessimismus") aus der Zusammenordnung philoso-
phischer Gedanken — Dichtung. —
Namentlich in den von 1899 — dem Erscheinungsjahre der
„Weltwanderung" — an veröffentlichten Schriften tritt eindringlich
hervor, wie Liebmanns Dichter- und Denkerpersönlichkeit in Aoyog
und 'AyaTTti die letzten Werte des Menschendaseins gefunden bat.
(Nicht als ob damals ein Bruch mit der früheren Periode ein-
getreten wäre: es konnte oben schon vom Belagerungstagebuch
gesagt werden, dass es denselben Werten huldigt: aber aus-
gesprochenermassen in den Vordergrund gestellt werden Vernunft
und Liebe doch erst in der späteren Zeit.) — Es ist der Kritizis-
mus, der diese Dualität als solche zum letzt Erreichbaren macht:
die Tendenz des philosophischen Denkens geht auf Einheit; allein
dem Bewusstsein bleibt sie unerfassbar. Dem Dichter aber werden
selbst die Grenzen der Menschheit zum Anlass künstlerischer Ver-
klärung des Unendlichen:
Was ist uns heilig? heilig? Was verehren
Was beten wir in tiefster Seele an?
Was zwingt das Herz, was beugt den starrsten Sinn?
Was hebt uns über uns und alle Schranken
Auf Geisterschwingen in das bessre Reich? —
O Sonnenlicht — Vernunft! Der Wahrheit Leuchte,
Des dumpfen Wahnes strahlende Siegerin!
Und du, 0 Wunderbild, — du, reine Liebe,
Göttliche Liebe, Allerbarmerin !
Vernunft und Liebe, Höchstes, was wir kennen,
Trost der Verzagenden, der Sehnsucht Ziel,
Köstliches Kleinod, lichtumflossener Gral,
Aus tiefer Nacht aufflammend wunderbar,
Und Segen spendend Allen, die da ringen,
Woher stammst du? —
Weltwe«en !
I
Otto Liebmaun als Dichter. 151
Kein Bild, kein Gleichnis kann dich je erreichen.
Bist ohne Gleichen.
Die beiden Altäre des Aoyog und der ''Aydnri sind nicht zwei
Gottheiten geweiht: nur um der menschlichen Schwachheit willen
sind sie zu zweien. Zuletzt gelten sie doch dem selben Einen, dem
ewig Ungenannten.
Der idealistische Begriff des Subjel<ts.
Von Oswald Weidenbach,
Der Empirismus und der Idealismus sind typische Erschein-
ungen, fast könnte man sagen, es sind die zwei charakteristischen
Temperamente, durch die das Erlebnis des Seins überhaupt vom
Menschen beurteilt wird. Im Idealismus der Sinn für die strenge
Zusammengehörigkeit alles Besonderen in der Einheit des Ge-
setzes, das Durchdrungensein aller Erscheinungen mit der Not-
wendigkeit des Logos, wenn anders sie Anspruch auf wirkliches
Sein erheben wollen; im Empirismus das Gefühl für das Preis-
gegebensein des Menschen an Irrtum und Halbheit, für die AU-
mähligkeit alles Fortschreitens, für die Relativität aller endlich ge-
fundenen Wahrheit.
Der Idealismus nimmt seine Orientierung vorwiegend an der
Mathematik, der Empirismus an den Erscheinungen des orga-
nischen Lebens — und die Strenge der dort herrschenden Regel,
wie die Unbestimmtheiten der hier mit dem Zufall ringenden
Wissenschaft wirken als Paradigma für beide Wissenschaften in
ihrer Beurteilung aller Gebiete nach, sodass der eine den Versuch
macht, auch in der Mathematik schliesslich nur Empirisches, —
dem anderen, auch in der organischen Natur nur Apriorität zu
erscheinen.
Beide Anschauungen fassen gleich viel an Lebensinteresse
in sich; den Empirismus ziert bescheidene Ehrlichkeit als Grund-
affekt, ein Nicht -mehr-scheinen-wollen, oder in seinen höheren
Formen jener ästhetische Sinn für das Individuelle und Indivi-
duellste, aus dem Verständigkeit und Gerechtigkeit gegen andere
Menschen fliessen ; der Idealismus hat dagegen für sich das
heroische Pathos, das den Menschen über sich selbst zu den
fernsten und höchsten Zielen fortreissen will.
Der Empirismus ist fast immer die menschlich liebens-
würdigere Form; es ist bezeichnend, wie viele Empiristen auch
Der idealistische Begriff des Subjekts. 153
als pädagogische Schriftsteller tätig gewesen sind; während dem
unerbittlichen Geiste des Idealismus solche lapidaren, aber fast
menschenfeindliche Sätze, wie etwa der Wahlspruch: fiat justitia
pereat mundus, entstammen.
Aber mit dieser s. z. s. persönlichen Gleichwertigkeit beider
Anschauungen ist noch nichts über ihren philosophischen Wert
und Rang entschieden. Denn erst der philosophischen Frage
des quid juris gegenüber treten die Argumente in den Vorder-
grund, die eine Entscheidung über wahr und falsch ermöglichen.
Je mehr unsere beiden Parteien vor dieses Forum rücken,
desto deutlicher wird, dass der Empirismus sich zum Subjekt be-
kennt, der Idealismus zum Sein. Sosehr ist dem Empirismus alles
nur menschlich, dass er die Objekte bildet und ausstattet nach
unserer Psyche. Die Ungewissheit unseres Wissens findet objektiv
ihren Ausdruck in der Ungiltigkeit des Kausalgesetzes; blosse
Wahrscheinlichkeiten treten an Stelle der Wahrheit; zufälliges
assoziatives Beieinander statt gesetzmässiger Zusammengehörigkeit
soll den „Dingen" eignen.
Dies alles ist richtig, sobald es sich nur um das Dasein
handelt, d. h. um das Sein soweit es unser Haben ist. Aber
über diese Frage nach dem psychologischen Besitze (dessen Eigen-
tumsrechte doch letztlich illusorisch sind, sofern das Subjekt ein
focus immaginarius ist) steht die eigentlich philosophische nach
dem Wesen des Seins, noch der Art der reinen Objektivität an
sich selbst.^)
Diese Frage ist (dogmatisch) oft unglücklich beantwortet
worden und das hat sie in Misskredit gebracht. Hier aber handelt
es sich zunächst nicht um die Antwort, sondern um die Frage
und den prinzipiellen Unterschied, der in der Frage des Empiris-
mus und der der Philosophie, genauer der idealistischen Philoso-
phie, liegt.
Dieser Unterschied ist vor allem ein Rangunterschied. Denn
die Frage nach dem Haben setzt überall die Frage nach dem
Sein als getan und irgendwie positiv erledigt voraus. Es ist un-
möglich, von einer Ungewissheit zu reden, ohne nicht wenigstens
die Möglichkeit einer Gewissheit anzuerkennen, es giebt keine
Wahrscheinlichkeit, wenn es nicht überhaupt Wahrheit geben
ann; es hat keinen Sinn, von den assoziativen Zufälligkeiten zu
^) Was hat Psychologie im Grunde anderes mit Philosophie zu tun,
als dass sie sämtliche Lehrstühle der Philosophie besetzt?
154 O. Weidenbach,
reden, wenn nicht als Masstab die Notwendig-keit des Gesetzes
als vorhanden angenommen wird. Das Haben setzt das Sein
voraus. Deshalb ist die Philosophie, sofern sie das Sein zu ihrem
Ziele macht, die voraussetzungslose Wissenschaft im Gegensatz
zu allen andern (etwa dem Empirismus oder der Psychologie),
denn sie allein handelt von den letzten Voraussetzungen selbst.
Nun ist aber das Sein (die absolute Wahrheit oder das voll-
kommene Gesetz) nicht in der Form des Daseins vorhanden,
sondern — vom Menschen und vom Haben aus gesehen — in der
des Ansichseins, des Gefordertseins oder der Möglichkeit. Kant
nennt die Art dieser Existenz die Idee und charakterisiert sie
einfach und klar dadurch, dass sie die Voraussetzung aller
anderen Existenz — also der Existenz der Erscheinungen in der
Erfahrung sei. Jener Begriff der „Möglichkeit" aber ist schon
von Leibniz erkenntnistheoretisch in unserem Sinne verwertet
worden.
Diesen Ausmachungen wäre nun eigentlich nichts hinzuzu-
fügen. Aber das Innehalten der Erkenntnis ist schwerer als ihr
einmaliges Begreifen.
So viel erhellt unmittelbar, dass die Existenzart der Idee
eine absonderliche und gefährdete ist. Denn einerseits ist sie das
Erste und Wichtigste, andererseits aber das Fernste und Unbe-
stimmteste. Die Idee ist die Voraussetzung alles Daseins und
doch nirgends ein Gegenstand unserer Welt.
Das „Haben" droht das Ansichsein zu etwas Wesenlosen
herabzusetzen. Aus der Praxis des Lebens, aus der Intensität
des Herrschens über die Mannigfaltigkeit kraft deutlichen Wissens
erwachsen ständig Feinde der Idee. Es sind dieselben Argumente,
die mit besserem Rechte im Namen einer Realpolitik die Utopie
befehden. Die Gegnerschaft erwacht namentlich dann, wenn (wie
wir es wollen) nun in Konsequenz des prinzipiellen Vorrangs des
Seins das Subjekt von seiner massgebenden Stelle endgiltig weg-
gewiesen werden soU.^)
1) Hier ist anzumerken, dass alle Formen des subjektiven Idealismus
— und sie sind die meistverbreiteten — im Grunde nicht wesentlich vom
Empirismus verschieden sind. Sie teilen mit ihm die Ansicht, dass das
Subjekt als die massgebende Substanz anzusehen ist — und es ist keine
Rettung der prinzipiellen Preisgabe des Gedankens des Seins, wenn nach-
träglich das von der empiristischen Grundanschauung getragene Weltbild
dadurch vor dem Skeptizismus bewahrt werden soll, dass das Subjekt
Der idealistische Begriff des Subjekts. 155
Es ist ein Nachgeben gegen diese Anklagen, wenn der Geist
der idealistischen Philosophie, wie es etwa im dogmatischen Ra-
tionalismus geschieht, vorgiebt, von der Idee ein ebensolches
konkretes Wissen zu besitzen, wie von den Erscheinungen, die
für uns durch die wissenschaftliche Arbeit bereits „Gegenstände"
und „Dinge" geworden sind. Dieses Unterfangen hat seit jeher
die „Liebhaber der Idee" dem Spott überliefert.
Dem gegenüber ist daran festzuhalten, dass ein Dasein, also
ein Haben der Wirklichkeit erst dann vorliegt, wenn die Details
der Erscheinung so völlig durchschaut sind, dass an ihnen nichts
mehr verborgen, alogisch, ist, so dass aus den Einzelheiten des
unmittelbaren Erlebnisses Besonderheiten des Gesetzes geworden
sind. Das Sein oder die Idee aber als die Totalität aller mög-
lichen Erscheinungen ist als „erreicht" nur nach unendlichen
Fortschritte zu denken — besser: nach Überwindung aller
Schranken der Endlichkeit, d. h. also wenn wir etwa einen intui-
tiven Verstand besässen (denn das zeitliche Vollendetsein ist
selbst nur ein Surrogat für die zeitlos vollendete Einheit des
Seins).
Aber nichts destoweniger bleibt diese Idee die Bedingung
der Möglichkeit aller Erfahrung. Die Objekte selbst, die in un-
serer Erfahrung zur Reife gelangen, erfordern zu ihrer eigenen
absoluten Existenzmöglichkeit die Totalität aller Beziehungen, wie
sie im Sein gefordert wird. Deshalb ist dieses Gefordertsein auch
nicht so zu verstehen, als ob es seinen Grund in unserer mensch-
lichen Natur habe, sondern es bedeutet einen objektiven Wert,
eine Notwendigkeit in den Dingen selbst.
Die Opposition gegen die Macht der Ideen erwuchs, wie wir
oben sagten, aus der Praxis des Lebens, aus dem Verkehre der
Menschen untereinander, bei welchen die Selbständigkeit des In-
dividuums oder ein kulturelles Gemeinschaftsbewusstsein den fort-
währenden Hintergrund oder gleichsam die letzten Dinge bildet,
von denen aus alles andere bestimmt wird. So stark wird durch
das „Leben" der empiristische Widersacher des idealistischen
Gedankens, dass uns die Ausdrucksmittel der Philosophie nicht
twa in seiner „Organisation" oder sonstwie mit ethischer Kraft oder mit
lem „unabweisbaren Bedürfnis" an eine Gesetzheit zu glauben, ausge-
stattet wird.
156 0. Weidenbach,
genügend erscheinen, ihn auch mitten im Leben bekämpfen zu
können. ^)^)
Gegenüber dem Zweifel und dem theoretischen Skeptizismus
genügt die idealistische Feststellung, dass ohne vorgesetztes ob-
jektives Sein keine einzige Erscheinung möglich ist — gegenüber
der Verzweiflung aber, diesem schrecklichsten und gewalttätigsten
Kinde aus dem Schosse menschlicher Angelegenheiten, gewinnt
derselbe uralte Gedanke eindringlichere Gestalt.
Diese Gestalt ist gegeben in aller wahrhaften Religiosität.
Da es nun hier nicht unsere Absicht ist, über Theologie zu
schreiben, so sei es erlaubt, unvermittelt einige Worte wieder-
zugeben, wie sie uns eben in einem Referat von Weineis Buch
(über Nietsche, Ibsen und Björnson) vorliegen; es heisst dort: „den
Sinn der Welt findet der Christ in der festen Gewissheit, dass
ein heiliger Wille über und in der Welt wirkt. Er nennt ihn
Gott. Gott ist nichts anderes als die Gewähr, dass eine höchste
Sittlichkeit irgendwann möglich sein wird". Hier formt sich die
Kantische „Idee" und weiter der Kantische Gedanke des trans-
scendentalen a priori zum „heiligen Willen" und die Funktion der
1) Selbst in der idealistischen Philosophie werden vom praktischen
Leben aus die kritischen Gedanken ins Wanken gebracht. Wir finden
einen Beweis hierfür in der z. B. auch von Windelband vertretenen An-
sicht, dass die Zeit unserer Handlungen wegen, unseres ethischen Interesses
halber, eine an-sich-selbst-seiende Realität sein müsse, während im Übrigen
der kritische Grundgedanke Kants festgehalten bleibt.
2) Von den im Text zu erörterten Schwierigkeiten bleibt diejenige
Richtung der idealistischen Philosophie am meisten verschont, welche ihre
Schritte über den Kreis der Mathematik nur der Vollständigkeit des
Systems wegen wagt. Hier in der Mathematik, im Reiche des „Denkens
der Götter", verlieren die Stimmungen ihre Schrecken, der ihnen sonst in-
mitten der gehäuften Schwierigkeiten der Wissenschaften anhaften. Des-
halb gelang es in der Mathematik, den Begriff des Unendlichen zuerst der
Vernunft dienstbar zu machen. Das Unendliche garantiert sozusagen das
Fortgelten eines Gesetzes über sinnlich erfüllbare Bedingungen hinaus.
Aber wenn aus der Stille jener Wissenschaft diese idealistische Erfassung
des ünendlichkeitsgedankens hinausgetragen wird in den lebendigen Kampf
der Forschung, wenn also der allgemeingiltige Obersatz seine Ansprüche
gegen die Unendlichkeit andringender Erfahrung zu verteidigen hat, so
kann man mit der entstehenden Gefahr nicht einfach durch die Berufung
auf das Kontinuitätsprinzip fertig werden. Und wieviel schwieriger wird
vollends die Lage, wenn sich in Handlungen die Vernunft in der Form
des Guten verteidigen soll gegen die Unendlichkeit schwebender oder
kaum erst geahnter Probleme.
Der idealistische Begriff des Subjekts. 157
Idee, nämlich die Möj^lichkeit alles Einzeldaseins zu sein, wird zur
,.Gewäbr", dass Sittlichkeit möglich, d. h. Daseiend werden kann.
Gott garantiert die Realität menschlicher Sittlichkeit ebenso wie
bei Kaut allgemeiner die ,.Idee", die Realität menschlicher Er-
fahrung (menschlichen Habens) überhaupt.
In der religiösen Litteratur nimmt die Beschreibung der
Aufnahme Gottes in den menschlichen Willen einen breiten Raum
ein. Dieser Umstand weist darauf hin, wie die Entsetzung des
Subjektes von seinem Prioiat von der Religion mitten auch im
empirischen Leben durchzusetzen versucht wird, und das Subjekt-
Individuum von vornherein als Fragment oder Derivat eines ab-
soluten an-sich-Seins nicht nur erdacht, sondern auch erlebt wird.
Diese durch die Religion erhärtete idealistische Platzanweisung
des Subjektes macht es nötig, dass vieles umgedacht oder nach-
träglich gerechtfertigt werden muss, was in der gewöhnlichen
— das ist empiristischen — Denkweise selbstverständlich erscheint.
Was das Erste (das Umdenken) anlangt, so ist hierfür der
Begriff der Erfahrung am meisten charakteristisch. Für den
Empiristen ist die Erfahrung sinnliche Wahrnehmung. Die Welt
(die allerdings fehlerhafter Weise im Anfange der Untersuchung
schon einmal als fertig vorausgesetzt wird) ist nach der empiristischen
Theorie nichts anderes als eben die Ausgestaltung jener sinnlichen
Wahrnehmung zu einer grossen subjektiven Phantasmagorie. In
den Nerven und den Sinnesorganen haben wir den metaphysischen
Mechanismus, dessen Produkte „Erfahrungen" sind.
Hingegen ist Erfahrung im Sinne des Idealismus zu definieren
als das Besonderswerden der allgemeinen Idee. Der Idealismus
hat kein Rezept, welches angebe, wodurch Erfahrung hervorgebracht
wird; er kann nicht im vorhinein das allgemeine Gepräge dessen
feststellen, was immer Erfahrung sein wird. Wenn in Analogie
zum Empirismus eine angeborene seelische Struktur angenommen
wird, die (gleich den Sinnen bei der Wahrnehmung) der Erfahrung
die Form diktiert, so sind das eben Verirrungen des Idealismus,
die von nicht völliger Überwindung des Empirismus zeugen, Ver-
irrungen, von denen zwar auch Kant nicht frei war, von denen
er sich aber mehr und mehr zu befreien gesucht hat.
Die Erfahrung im Sinne des Idealismus ist die Ergänzung
lessen, was an der Idee für uns noch mangelhaft war: das ist
hre Unbestimmtheit. Die Idee ist der allgemeine Entwurf der
Wirklichkeit, mögen wir nun mit religiöser Inbrunst in die tiefste
158 0. Weidenbach,
Einheit des Seins uns versenken, damit sie uns zum lebendigen
Gotte wird, oder mögen wir sie als triviale Selbstverständlichkeit,
ohne die es ja weder ein Denken noch Gegenstände geben kann,
verschweigen: immer ist die Form, in der wir das Sein als Tota-
lität haben, nur eine gefühlsmässige, unbestimmte, im besten
Falle eine symbolische. Die Erfahrung erst ist es, die durch die
Einzelheiten der Erscheinungen die Möglichkeit des Details hervor-
bringt; nichts anderes als das bedeutet Erfahrung im Sinne des
Ideahsmus. Durch sie kann die ursprüngliche Einheit der Idee
zum Gesetze werden, indem sie an den Erscheinungen unter-
scheidbare Besonderheiten gewinnt. Die Einheit ist ohne Viel-
heit für uns unbestimmt, die Vielheit ohne Einheit sinnlos; erst
die von der Einheit durchdrungene Vielheit ist die Statuierung der
Realität. 1)2)
Was nun den zweiten Punkt anlangt, nämlich die idealistische
Stellung zu der „Selbstverständlichkeit" des Empirismus, so ist
die Wendung zwischen beiden Anschauungen am besten am Be-
griffe des Einzelnen zu zeigen.
1) Vielleicht ist das Drängen auf Prüfung aller Erkenntnisse durch
die Erfahrung die Fortnel, die am besten die Weite des Kantischen Denkens
erfasst. Gegen den Dogmatismus erfunden, verwirft sie nicht nur jedes
Genug-sein-lassen an einer Endlichkeit, sondern predigt positiv ein Evan-
gelium der Arbeit, zu deren Ziel ein unendliches Fortschreiten führt.
2) Die Subjekte sind entsprechend dem Sinne der Erfahrung s. z, s.
ein Wurf ins Konkrete; sie sind eine Aufgabe, innerhalb gewisser Be-
dingungen (die man sich zusammengefasst unter dem, was wir Körper
nennen, denken kann) ein Maximum der Idee zu verwirklichen. Alle
Entwickeluiig, alle Arbeit des Einzelnen hat diesen Sinn; in der Erziehung
und den Tugendbegriffen wird er mit Bewusstsein uns vorgesetzt. Die
Verwirklichung, die jedem zufällt, füllt oder vielmehr ist sein Wesen.
Die gewöhnliche Unterscheidung eines Subjektes von anderen aber ist dar-
geboten durch den Umriss, durch den jedes Subjekt als ein Positives sich
vor dem Nichtseienden abhebt. Die Form dieser Silhouette wird gebildet
durch die Linie, zu der sich die Irrtümer, das Versagen, die Unfähigkeit
eines Individuums zusammenschliessen — kurz eben durch die Punkte, an
denen seine Vernunft aufhört, Macht zu haben über das Problem. An sich
steht jedem Subjekte der Weg zum Unendlichen offen, aber so wenig es
begründbar ist, warum der einzelne Schranken hat, so wenig steht es doch
— einfach tatsächlich — in unserer Kraft, sie zu überwinden, und der
uralte Gedanke von der Gerechtigkeit des Todes kommt hier in den Sinn,
der in dem Tode das Korrelat zu der endlichen Beschränktheit der Indivi-
dualität sieht. Er löscht die Fackeln, weil ihr Licht an ihrem Platze
genügsam sichtbar gemacht hat, was von Sein an diesem Orte sichtbar ge-
macht werden konnte.
Der idealistische Begriff des Subjekts. 159
Für den Empirismus ist die Einzelheit das Natürliche.
Sowohl die Diuge wie die einzelnen Subjekte sind von ein-
ander getrennt. Dieser Zustand der Vereinzelung besteht nach
Anschauung des Empirismus zu Recht, nur abstrakte Ähnlichkeiten
(wie sie den aristotelischen Begriff des Begriffes bilden) führen
als schmale und nur scheinbare Brücken von Individualität zu
Individualität. Jede dieser Einzelheiten ist eine Selbständigkeit,
und es ist nicht zu leugnen, dass diese Selbständigkeit für die
Forschung den methodischen Vorteil festhält, jede Neuerscheinung
in ihrer Eigenart würdigen zu wollen; entstanden aber ist diese
Meinung wiederum aus der Substanziahsierung des Subjekts;
denn für diese muss das fortwährende Sich-emanzipieren-wollen
der Dinge die hervorragendste Eigenschaft der Dinge sein; in ihr
zückt der Rest der Objektivität auf; sie liegt an der Grenze der
Unmöglichkeit der empiristischen Theorie, den verlorenen Weg
zur Befreiung aus subjektiven Schranken anzeigend.
Den Vorteil, der eben der empiristischen Theorie nachgesagt
wurde, wahrt sich der Idealismus (sofern er nicht Dogmatismus
wird), obwohl er den Begriff der Einzelheit völlig umgestaltet.
Im Idealismus ist das Einzelne nicht mehr verwegen genug, sein
Existenzrecht auf ein Wahrgenommen-Werden zu gründen; un-
selbständig, weiss es sich vom Sein bedingt und fordert die Tota-
lität des Seienden zu seiner Ergänzung. Das Einzelne verliert
seine Isoliertheit und wird damit „Besonderheit".
Aber die Umwandlung der Einzelheit in Besonderheit ist de
facto nicht ganz durchgeführt — wir müssten sonst die vollendete
Kenntnis der Allgemeinheit besitzen (— die Umwandlung wird
auch niemals absolut durchführbar sein, weil unsere Errungen-
schaften an Seiendem nur in der Form des Werdens, nicht in der
zeitlosen und absoluten, gemacht werden können). Daher bleibt
im Einzelnen ein Rest von Selbständigkeit (nur Dogmatismus könnte
ihn ihm entziehen wollen). Aber ist es darum nötig, zum empi-
ristischeu Begriffe der Einzelheit zurückzukehren? Nein, denn
auch dieser Rest, möge er der Gesetze spotten, die wir haben,
fordert an sich das Gesetz. Seine Selbständigkeit ist nur relativ
•^ iderem Endlichen gegenüber, und nur, wenn man das, was am
ndlichen negativ ist, positiv setzt, wird jene Selbständigkeit
^auktioniert. —
160 0, Weidenbach,
Der Begriff der Einzelheit oder Besonderheit ist, in's Mensch-
liche gewendet, der des Subjektes — und so kehren wir, indem
wir ihn weiter verfolgen, zugleich zum Hauptthema zurück.
Wie schon vorhin bemerkt: im Gebiete menschlicher An-
gelegenheiten gewinnen die erkenntnistheoretischen Argumente,
wie ihre Gegnerschaft, weitere Ausdehnung und verstärkte In-
tensität.
Aus sekundärer Polemik gegen den Naturmechanismus oder
den Pantheismus entstanden, wird das Ich-Subjekt unter der Form
der „Persönlichkeit" zu strengen Für-sich-sein emporgehoben —
und der Hymnus an die Persönlichkeit ist vieler Anschauungen
letztes Ende.
Wenn anders aber dieser Begriff der Persönlichkeit ohne Er-
schleichung eines anderen Sinnes gedacht wird, bleibt er um seiner
Herkunft willen an die Einzelheit als solche gebunden. Er ist
daher nicht im Stande, die Gefahren, die von jener herkommen,
zu bannen. Und diese Gefahren sind hier ungleich grösser als
innerhalb der Naturprobleme, denn während in diesen das Einzel-
sein Schlimmstenfalles zum „Widerspruch" oder „Irrtum" wird,
wird es im Menschlichen zum „Kampf" und zum „Bösen".
Das Prinzip der Persönlichkeit kann höchstens als eine der
eigentlichen Grunglegung vorangehenden Propädeutik, als eine Er-
ziehung zur Wahrhaftigkeit Geltung behalten. Die eigentlichen
Rechte des Seins aber werden im Leben zwischen den Subjekten
von ethischen, religiösen und rechtlichen Prinzipien gewahrt.
In ihnen wird nicht nur die Erkenntnis, sondern auch der
Wille, wie schlechthin alles, was das Subjekt konstituiert, der
Idee als dem eigentlichen Sein unterworfen. In der Idee ist alle
Einzelheit des Subjektes aufgehoben. Die Idee ist Macht und
vernichtet vermittels der Arbeit (in jeglicher Bedeutung) die
Vereinzelung durch Darlegung positiver Zusammenhänge.
Diese Macht der Idee besteht auch, wenn unser Haben
immer in Schranken geschlossen bliebe: Denn diese Schranken,
auch nicht die allgemein-menschlichen, sind letztlich begründbar,
wie dann alles Endliche, in Sonderheit das Böse, unnotwendig ist ;
die Schranken haben mit der Idee nichts zu schaffen und die
Vorstellungen von ihnen sind nur Namen für eine Regelmässigkeit
des Zufalles, nicht echte, d. h. konstitutive Begriffe.
Da nun aber im unmittelbaren Eindruck des Erlebten diese
Negationen eben so als Tatsächliches gewertet werden, wie irgend
Der idealistische Begriff des Subjekts. 161
etwas positives, genügt die geringste Beimischung empirischer
Denkweise, um bei ihrer Beurteilung ihre logische Qualität ver-
gessen zu machen und sie als positive Wirklichkeiten zu setzen.^)
So geschieht es, dass eine dem „gesunden Menschenverstände"
nicht allzufern stehende Meinung irgend ein Gebiet des Bloss-
individuellen mit Hilfe der Vorstellung der unübersteiglichen
Grenzen aussondert, dem das absolute Für-sich-sein auch sub
specie aeternitatis bewahrt bleiben soll.
Und ein nicht unähnlicher Tadel trifft auch im Allgemeinen
den Geist der Ethik. Ethik hat die Tendenz, sich innerhalb
der grossen Schranken zu halten, die nun einmal allem Irdischen
zu teil geworden zu sein scheinen. Man könnte sagen: Ethik
kämpft um das Leben, aber sie ringt nicht mit dem Tode.
Erst der Geist der Religion führt bis jenseits unseres Habens
und unserer empirischen Habens-möglichkeit den Kampf für die
Idee. Mit der Vernichtung des Todes will sie Ewigkeit, mit der
Ewigkeit Zeitlosigkeit und mit dieser das Sein selbst erbeuten.
Religion bestreitet nicht, wie Ethik, nur die Steigerung der Ver-
einzelung in der Feindschaft, sondern das Für-sich-sein überhaupt,
wie es sich noch äussert im einfachen Anders-seiu des Ichs vom
Du. „Bruder" Vogel, „Schwester" Sonne nennt Franz von Assisi
die Geschöpfe; was er aber meinte, war, dass sie in ihres Wesens
Grunde nichts Unterschiednes mehr sein dürften untereinander und
von ihm selbst. Hier ist die Aufhebung des Subjekts in die
Einheit des Seins lebendiger Ausdruck geworden.
So geht der Geist der Religion fern ab vom unmittelbaren
Leben seine idealistischen Bahnen; so fern, dass das Ethos unserer
„Arbeit", deren Begriff immer als Ziel ein Habenkönnen voraus-
setzt, nicht zu genügen scheint und die Vorstellung der Gnade
') Ist (wie auch Kant annimmt) der empirische Charakter berechen-
bar ? — Sofern hier ,.berechenbar" irgendwie eine Notwendigkeit als zu
Grunde liegend involvieren will — sobald es also einen strengeren Sinn
haben soll, als den eines Kunststückes oder einer geschickten Konjunktur,
ist die Hypothese strikte zu verneinen. Denn es giebt keinen notwen-
digen Grund, weshalb ein Charakter nicht seine Schranken durchbrechen
könnte (und oft treten solche unerwarteten Wendungen — in der reli-
giösen Sprache Bekehrungen — auf). Gebe es einen solchen Grund, so
'' ce das darauf hinaus, die blosse Negation und also auch das Böse als not-
ndig verursacht zu denken. Dieser Gedanke aber würde selbst wieder-
_i den Sinn des Bösen, der Endlichkeit u. s. w. — kurz unseren ganzen
positiven Weltaufbau zerstören.
Kantatndieu XV. 1 1
162 O. Weidenbach, Der idealistische Begriff des Subjekts.
und des Geschenkes zu Hilfe genommen wird, um die iVufhebung-
der allgemeinen Schranken des Menschen als ermöglicht zu denken;
so fern, dass auch die menschliche Erkenntnisart nicht mehr aus-
kömmlich zu sein scheint; so fern, dass auch etwas von der
Grausamkeit jener Ibsenschen Worte an ihm zu spüren ist: „wer
Gott schaut, der stirbt". —
Mögen diese extremen Formen des idealistischen Gedankens
in der Religion anfechtbar, selbst verfehlt, sein: worauf es uns in
erster Linie hier ankam, war zu zeigen, dass die grundlegende
Tendenz des Idealismus, nämlich die Entsubstanzialisierung des
einzelnen Subjekts, auch im Pantheon menschlichen Denkens und
Fühlens im weitesten Sinne gebietet.
In der Tat, nicht nur bei einer letzten geistigen Eechenschafts-
legung des Weltproblems, sondern auch bei den entscheidenden
Tathandlungen der Menschen, die eine neue Bahn durch die End-
lichkeit brachen, war es der Geist des Idealismus, nicht der des
Empirismus, der führte, denn kein Weg in's Grosse ist möglich
ohne das Einzelsein zu einem Scheine herabzusetzen und somit
aufzugeben.
Als letzte grosse Manifestation dieses idealistischen Denkens
rechnen wir Kant; heute aber danken wir dem Getreuen, der die
Parole ausgab: „zurück zu Kant".
Anhang.
Jahresbericht und Mitgliederverzeichnis der Kantgesellschaft
für das Jahr 1909.
Vorbemerkung.
Wenn in dieser, dem Nestor des Neukantianismus gewidmeten, Fest-
schrift der Jahresbericht sowie das Mitgliederverzeichnis der Kantgesell-
schaft für das Jahr 1909 abgedruckt werden, so hat dies zunächst seinen
äusseren Grund darin, dass dieses dem Gefeierten gewidmete Festheft
gleichzeitig das erste Heft des neuen Jahrganges der „Kantstudien" ist, in
welchem Heft wir, wie bisher immer, den genannten Jahresbericht für
das vergangene Jahr satzungsgemäss zu bringen haben. Aber dieser rein
äusserliche Grund vertieft sich für den Tieferblickenden zu einem inner-
sachlichen Zusammenhang. Wie hätte jemals eine „Kantgesellschaft" ge-
gründet werden können, wie hätte sie leben, blühen und wachsen können,
ohne dass eben seit 4 Jahrzehnten Otto Liebmann als Schriftsteller, als
Dozent, als Mensch vorbildlich gewirkt hätte? Wie hätte die Anregung
zur Begründung der Kantgesellschaft auf guten Boden fallen können,
wenn der Boden nicht durch die schneidige Schärfe seines Kritizismus
aufgepflügt, durch seine Ideen als 'AÖyoi aneQ^azixoi besamt worden wäre?
Und die Saat, die er gesät, ist fruchttragend aufgegangen. Davon zeugt
eben das Gedeihen der Kantgesellschaft, welcher auch Otto Liebmann von
Anfang an als Dauermitglied sich angeschlossen hat. So erscheinen alle
unten aufgezählten Mitglieder der Kantgesellschaft als seine Gratulanten
an seinem Ehrentag und feiern im Geiste den 25. Februar 1910 mit.
Und nicht bloss sie : wie die Religionsphilosophie eine sichtbare und eine
unsichtbare Kirche unterscheidet, so erweitert sich dem Weiterblickenden
die empirisch vorhandene Kantgesellschaft zur idealen Kantgemeinde, als
welche die ganze moderne Kulturgemeinschaft zu betrachten ist, soweit
sie nach links hin vom geistlosen Materialismus und nach rechts hin vom
romantischen Traumidealismus sich abgrenzt. Jene ideale Kantgesellschaft
wird vertreten durch die historisch entstandene, aber nach jener Idee hin
orientierte Kantgemeinde, deren Jahresbericht und Mitgliederverzeichnis
hier anhangsweise folgen. Wer die kahlen Ziffern, wer die langen Reihen
der Namen in jenem Sinne liest, für den setzen sich die Ziffern in lebende
Arbeit, die Namen in lebendige Persönlichkeiten um.
H. Vaihinger.
11*
Kantgesellschaft.
VI. Jahresbericht. 1909.
A. Jahres-Einnahmen und -Ausgaben.
I. Einnahmen.
1) Die Jahresrechnung für 1908 schloss mit einem Überschuss von
147 Mk. 47 Pf. ab.
2) Die Zahl der Jahresmitglifder (Jahresbeitrag 20 Mk ) ist wiederum
gestiegen, und zwar von 191 auf 246 MitgUeder — eine überaus erfreuliche
Zunahme. Die Jahresbeiträge dieser 246 Mitglieder betragen 4925 Mk. : ein
Mitglied (Mr. Webb in Oxford) hat dankenswerter Weise wieder 25 Mk. ein-
gesendet. Dieser Mehrzahlung von 5 Mk. stehen andererseits 16 Mk. 3 Pf.
Einziehungskosten für die 246 Beitragssendungen (Bestellgelder, Bankspesen
u. s. w.) gegenüber. An Jahresbeiträgen sind somit eingegangen : 4908 Mk. 97 Pf.
3) Die Zinsen der Kantstiftung, welche seitens der Kgl. Universitäts-
kasse in Halle dem Geschäftsführer am 1. April, 1. Juli, 1. Oktober und
31. Dezember eingehändigt wurden, betrugen: IUI Mk. 39 Pf.
4) Die Bankzinsen für sämtliche bei der Firma H. F. Lehmann in
Halle a. S. liegenden Gelder betrugen: 329 Mk. 30 Pf.
5) Wie in den vorigen Jahresberichten mitgeteilt worden ist, werden
die von uns herausgegebenen Ergänzungshefte, welche den Mitgliedern
gratis zugestellt werden, auch an Nichtmitglieder verkauft, und zwar kom-
missionsweise durch den Verlag von Reuther & Reichard in Berlin.
Seitens dieser Firma sind an uns im Jahre 1909 für die im Verlauf des
Jahres 1908 verkauften Ergänzungshefte im Ganzen abgeführt worden: 818 Mk.
88 Pf. Im Einzelnen sind während der genannten Zeit nachträglich abgesetzt
worden von Heft 1 (Guttmann) noch 16 Ex.; von Heft 2 (Österreich) noch 9 Ex.;
von Heft 3 (Döring) noch 14 Ex.; von Heft 4 (Kertz) noch 6 Ex.; von Heft 5
(Fischer) noch 7 Ex ; von Heft 6 (Aicher) noch 40 Ex. Von den im Jahr 1908
ausgegebenen neuen Heften sind abgesetzt worden: von Heft 7 (Dreyer)
155 Ex.; von Heft 8 (O'Sullivan) 142 Ex.; von Heft 9 (Rademaker) 144 Ex,;
von Heft 11 (MüUer-Braunschweig) 129 Ex. — Die Verrechnung für die im
Jahre 1909 verkauften Exemplare kann, nach Buchhändler-Usancen, erst nach
Ostern 1910 erfolgen.
Für bezogene Extra-Exemplare des Heftes No. 8 entrichtete dessen Ver-
fasser noch 20 Mk., so dass die Einnahmen aus diesem Posten insgesamt sich
beliefen auf: 838 Mk. 88 Pf.
Die Gesamteinnahmen betrugen somit: 7336 Mk. Ol Pf.
II. Ausgaben.
1) Honorare für die Mitarbeiter der „Kantstudien", Es wurden an
Honoraren für den Band XIV im Ganzen ausbezahlt: 1225 Mk. 03 Pf. (Die
Herren Professor Dr. Adickes und Dr. Dreyer haben in sehr dankenswerter
Weise auf das ihnen zustehende Honorar zu Gunsten der Kantgesellschaft ver-
zichtet ; auch der unterzeichnete Geschäftsführer hat, wie bisher, für seine Bei-
träge kein Honorar bezogen.) Die Kantgesellschaft glaubt u. A. auch durch
reichliche Bemessung der Honorare für die Mitarbeiter der Kantstudien die
Ziele, die sie in ihren Satzungen niedergelegt hat, zweckmässig zu fördern.
Über die Honorarzahlungen im Einzelnen ist dem Verwaltungsausschuss Rechen-
schaft abgelegt worden.
Kantgesellschaft. 165
2) Freiexemplare der „Kantstudien" für die Jahresmitglieder nnd
bezugsberechtigten Dauermitglieder. Nach dem zwischen der Kantgesell-
schaft und der Verlagshandlung Reuther & Reichard am 15./6. Mai 1905 ge-
schlossenen Vertrag ist die Letztere verpflichtet, an die obengenannten Mit-
glieder der Kantgesellschaft je ein Freiexemplar der auf ihre Kosten gedruckten
Kantstudien heftweise gratis und franko zu senden. Auf Grund der darüber
stipulierten Bedingungen erhält die Verlagshandlung für diese Versendung an
246 Jahresmitglieder und 23 bezugsberechtigte Dauermitglieder an Entschä-
digungen: 1096 Mk.
3) Heransgabe von Ergänzungsheften zu den „Kantstudien",
a) Herstellungskosten.
Über die von uns getroffene Einrichtung von „Ergänzungsheften" zu den
Kantstudien ist in dem Rechenschaftsbericht für das Jahr 1907 ausführlich berichtet
worden. Es wird daher hier nur das Nötigste wiederholt. Es stellte sich als
zweckmässig heraus, grössere, der Redaktion der Kantstudien anvertraute Unter-
suchungen aus dem Rahmen der regulären Hefte herauszulösen und separat in
Form von Supplementen erscheinen zu lassen; diese Ergärizungshefte sind buch-
händlerisch selbständige Schriften, mit eigenem Titel. Die Jahresmitglieder
und bezugsberechtigten Dauermitglieder erhalten diese Supplemente gratis und
franko zugesendet, ausserdem werden aber auch Exemplare an Nichtmitglieder
durch die Verlagshandlung Reuther & Reichard kommissionsweise für unsere
Rechnung vertrieben. Die Herstellungskosten der Ergänzungshefte trägt die
Kantgesellschaft.
1) Das Ergänzungsheft No. 10 (Hans Amrhein, Kants Lehre vom
„Bewusstsein überhaupt" u. s. w.) konnte, wie im Jahresbericht pro 1908 mit-
geteilt worden ist, in dem genannten Jahre nicht mehr fertiggestellt werden,
sondern ist erst im Frühjahr 1909 zur Versendung gelangt, gehört aber rechne-
risch zum Jahrgang 1908. Es war dafür an die Druckerei im Jahre 1908 die
Pauschalsumme von 600 Mk. bezahlt worden. Da aber die Herstellungskosten
704 Mk. 35 Pf. betrugen, so betrug die Restzahlung für Heft No. 10 noch:
104 Mk. 35 Pf.
2) Das Ergänzungsheft No. 12 (Kurt Bache, Kants Prinzip der Auto-
nomie u. s. w.) ist vollständig auf Kosten des Verfassers selbst hergestellt
worden (234 Mk. 75 Pf.). Für diese ausserordentliche Liberalität ist die Kant-
gesellschaft dem Verfasser zu ganz besonderem Dank verpflichtet.
3) Das Ergänzungsheft No. 13 (Josef Kremer, Das Problem der
Theodicee u. s. w., gekrönte Preisschrift der Walter Simon-Preisauf gäbe),
kostete: 768 Mk. 80 Pf.
4) Das Ergänzungsheft No. 14 (Wilhelm Ernst. Der Zweckbegriff bei
Kant u. s. w.) kostete : 337 Mk. 60 Pf. Da der Verfasser selbst hiervon in sehr
dankenswerter Weise 203 Mk. 20 Pf. bezahlt hat, so betrugen unsere Kosten:
134 Mk. 40 Pf.
5) Das Ergänzungsheft No. 15 (Sergius Hessen, Über individuelle
Kausalität u. s. w.) kostete: 633 Mk. 50 Pf. Hierzu hat der Verfasser selbst
beigesteuert (für Autoren-Korrekturen und Extra-Exemplare) 52 Mk. 60 Pf.
Unsere Auslagen betrugen somit: 580 Mk. 90 Pf.
Die Herstellungskosten der einzelnen Hefte variieren nicht bloss nach
dem Umfang des Heftes, sondern auch nach der Höhe der Auflage.
Herstellungskosten der 4 Ergänzungshefte No. 10, 13, 14, 15 : 1588 Mk. 45 Pf.
b) Remuneration für den zweiten Redakteur der Kantstudien.
Die Herausgabe der Ergänzungshefte (in diesem Rechnungsjahre wieder
ber 30 Bogen) bürdet dem die Geschäfte der Redaktion allein und selbständig
ahrenden zweiten Redakteur eine beträchtliche Mehrarbeit an Durchsicht von
Manuskripten, an Korrespondenzen, Korrekturen u. s. w. auf. Dafür und da
wir ausserdem die Förderung von jüngeren Gelehrten Kantischer Richtung unter
166 Kantgesellschaft.
unsere Ziele satzungsgemäss aufgenommen haben, ist dem Betreffenden für die
Herausgabe der 4 Ergänzungshefte No. 12—15 wiederum wie in den beiden
Vorjahren pro Heft eine Remuneration von 100 Alk., somit im Ganzen von
400 Mk. zugewiesen worden.
c) Versendung der Ergänzungshefte an die Mitglieder.
Die Versendung besorgt die Hofbuchdruckerei C. A. Kaemmerer & Co.
in Halle a. S., welche auch die Ergänzungshefte herstellt. Die Versendungs-
kosten betrugen für die Hefte 10, 12, 13, 14, 15 im Ganzen: 290 Mk. 62 Pf.
4) Versendung: verschiedener Drucksachen der Kantgesellschaft.
Die neueintretenden Jahresmitglieder erhalten, so lange noch der Vorrat
reicht, zum Eintritt je ein Exemplar unserer im Jahre 1904 herausgegebenen
Kantfestschrift (360 Seiten und 4 Abbildungen) sowie unsere im Jahre 1905
herausgegebene Schillerfestschrift (170 Seiten nebst 3 Abbildungen) gratis und
franko zugesendet. Infolge Spezialabkommens erhält die Verlagsbuchhandlung
von Reuther & Reichard, in deren Besitz sich der ganze Vorrat jener Festhefte
befindet, hierfür (sowie für einige andere im Interesse der Kantgesellschaft er-
folgte Lieferungen) die Entschädigung von 204 Mk. 50 Pf.
Durch die Hofbuchdruckerei von C. A. Kaemmerer & Co. in Halle a. 5.
haben wir eine grössere Anzahl von Exemplaren der Kantstudien im Umtausch
an die Redaktionen anderer philosophischer Zeitschriften gesendet; ferner be-
sorgte dieselbe Firma die Versendung der zahlreichen Separate von Abhand-
lungen, Rezensionen und Selbstanzeigen an deren verschiedene Verfasser;
Kosten: 34 Mk. 65 Pf.
Gesamtbetrag für diese Versendungen: 239 Mk. 15 Pf.
5) Beigabe von Porträts. Dem 1. Heft unseres XIV. Bandes haben
wir eine vortrefflich gelungene Wiedergabe der wieder aufgefundenen Original-
zeichnung zu dem bekannten Kantbilde von Schnorr von Carolsfeld gebracht,
ebenso im Heft 2 u. 3 von der von Luise Staudinger modellierten Kant-Plaquette,
und im Heft 4 die Reproduktion einer Kantischen Unterschrift unter ein wichtiges
Aktenstück zu dem Artikel von Theob. Ziegler: Zu Kants Rechtslehre). Ge-
samtausgaben: 75 Mk. 75 Pf. ^
6) Zuschuss zur Drucklegung der Kantstudien. Der Band XIV der
.Kantstudien" umfasst statt wie gewöhnlich ca. 30 Bogen, diesmal 36 Bogen
(ca. 100 Seiten mehr). Es hatte sich in den letzten Jahren so viel Material,
besonders an teilweise umfangreichen Rezensionen aufgehäuft, dass die Redaktion
notwendig damit aufräumen musste. Der innere Wert des Bandes XIV ist da-
durch wesentlich erhöht worden; aber die Verlagshandlung Reuther & Reichard
in Berlin, auf deren Kosten die „Kantstudien" hergestellt werden, hat (da sie
dieser einmaligen grösseren Überschreitung des Umfangs wegen für ihre eigenen
Abonnenten doch das Abonnement nicht erhöhen konnte, woraus sie den Druck
der Kantstudien bestreitet) dadurch beträchtliche Mehrkosten gehabt. Daher hat
die Kantgesellschaft, deren Mitglieder ja den Vorteil jener Umfangserweiterung
mit den erstgenannten gewöhnlichen Abonnenten mitgeniessen, der genannten
Firma zur Deckung für Mehrkosten einen Beitrag geleistet in Höhe von: 140 Mk.
7) Ehrengabe für den zweiten Redakteur. Im Jahre 1909 waren es
5 Jahre, seitdem der zweite Redakteur die Schriftleitung der Kantstudien über-
nommen hat, die er seitdem selbständig führt. In Anbetracht der seitdem
eingetretenen stetigen Erhöhung der Mitgliederzahl der Kantgesellschaft votierte
der Verwaltungsausschuss für den Betreffenden in Anerkennung seiner erfolg-
reichen Mühewaltung eine einmalige Ehrengabe von: 500 Mk.
8) Zuschuss zur Stammler -Ehrung. Wie den Mitgliedern aus den
Mitteilungen zum Heft 2 u. 3 bekannt ist, hat die Kantgesellschaft im Verein
mit Freunden, Schülern und sonstigen Verehrern Stammlers zum 22. April 1909 eine
Ehrung des Letzteren veranstaltet, indem durch eine Sammlung die Mittel zu einer
Rudolf Stammler-Preisaufgabe zusammengebracht wurden. Diese durch unser Mit-
glied Herrn Dr. phil. u. jur. Jorges veranstaltete Sammlung ergab nach Abzug
der Unkosten: 2557 Mk. 25 Pf. Zur Erhöhung dieser Summe auf 2800 Mk.
(näheres unter B II) gab die Kantgesellschaft einen Beitrag von: 242 Mk. 75 Pf.
Kantgesellscliaft. 167
9) Drnck verschiedener Mitteilungen, Formulare u. s. w. Seitens
der Hofbuchdruckerei von C. A. Kaemmerer & Co. in Halle a. S. sind für den
Zweck der Gesellschaft verschiedene Druckaufträge ausgeführt worden: die
Neujahrszirkulare im Januar 1909, Separatabdrücke des Jahresberichtes und des
Mitgliederverzeichnisses von 1909, „Mitteilungen an Mitglieder und solche, die
es werden wollen", Verzeichnisse der Ergänzungshefte, Mitgliedskarten, Formu-
lare zu Adressen von Interessenten, Neudruck der Satzungen, Aufklebeadresscn
zur Versendung der Ergänzüngshefte, Übersicht über die ersten fünf Jahre der
Kantgesellschaft, Viertes Preisausschreiben (Rudolf Stammler-Preisaufgabe), ins-
gesamt: 225 Mk.
10) Verschiedenes. Briefpapier, Kouverts u. s. w. für den Geschäftsführer
und den II. Redakteur; Beschaffung eines nicht vom Verleger gelieferten Rezen-
sionsexemplares u. s. w. Insgesamt: 104 Mk. 94 Pf.
11) Schreibhilfe für den Geschäftsführer. In Anbetracht der sich
stets steigernden Korrespondenz (im Jahre 1909: 2261 Postsendungen) wurde
für den Geschäftsführer die Inanspruchnahme einer ständigen stenographisch
geschulten Schreibhilfe notwendig. Auslagen hierfür: 216 Mk. 50 Pf.
12) Korrespondenz. Die Zahl der von dem Geschäftsführer der Kant-
gesellschaft ausgegangenen Postsendungen betrug laut vorliegendem und vor-
gelegtem Journal 2261. Portokosten hierfür: 180 Mk. 05 Pf. Von dem zweiten
Redakteur der Kantstudien wurden laut vorgelegtem Journal 830 Postsendungen
befördert. Porto hierfür: 67 Mk. Ol Pf. Zusammen: 247 Mk. 06 Pf.
13) Reisespesen für den II. Redakteur. Im Interesse der Redaktions-
geschäfte war eine mehrtägige Reise nach Berlin notwendig, für welche dem
II. Redakteur an Reiseentschädigung gewährt wurden: 79 Mk. 50 Pf.
14) Zuschuss zum Dispositionsfonds. Diesem weiter unten noch ein-
mal erwähnten Fond sind aus den Überschüssen 600 Mk. überwiesen worden.
Wiederholung.
I. Einnahmen.
1) Übertrag aus dem Vorjahr 147 Mk. 47 Pf.
2) Jahresbeiträge 4908 „ 97 .
3) Zinsen der „Kantstiftung" HU . 39 -.
4) Bankzinsen 329 , 30 „
5) Verkaufte Ergänzungshefte . 838 , 88 ,
Summe der Einnahmen : 7336 Mk. Ol Pf.
II. Ausgaben.
1) Honorare an die Mitarbeiter .... 1225 Mk. 03 Pf.
2) Freiexemplare für die Mitglieder . . . 1096 „ — „
3) Ergänzungshefte No. 10, 13, 14, 15
a) Herstellungskosten 1588 „ 45 „
b) Remuneration für den 2. Redakteur 400 „ — ,
c) Versendung 290 . 62 „
4) Verschiedene Versendungen .... 239 , 15 ,
5) Beigabe von Porträts 75 , 75 „
6) Zuschuss zur Drucklegung der KSt. 140 , — ,
7) Ehrengabe für den II. Redakteur ... 500 , — ,
8) Zuschuss zur Stammler-Ehrung . . . 242 „ 75 ,
9) Verschiedene Drucksachen 225 „ — „
10) Verschiedenes 104 . 94 ,
11) Schreibhilfe für den Geschäftsführer . 216 „50 „
12) Korrespondenz 247 „ 06 ,
13) Reisespesen für den II. Redakteur 79 . 50 ,
Ausgaben : 6670 Mk. 75 Pf.
14) Zum Dispositionsfond . 600 , — .
Gesamtsumme der Ausgaben : 7270 Mk. 75 Pf. = 7270 Mk. 75 Pf.
Rest und Übertrag für 1910: 65 Mk. 26 Pf.
170 Kantgesellschaft.
Der Vorstand resp. der Verwaltungsausschuss setzte sich im Jahre 1909
aus folgenden Personen zusammen, welche sämtlich in Halle wohnen:
Vorstand: der Kurator der Universität, Geh. Ober-Reg.-Rat Meyer,
Professor Dr. Meumann,
Professor Dr. Menzer,
Geh. Justizrat Dr. jur. et phil. (h. c.) Stammler,
Direktor der Univ.-Bibliothek Geh. Reg.-Rat Dr. Gerhard,
Geh. Kommerzienrat Dr. phil. (h. c.) Lehmann,
Geh. Reg.-Rat Professor Dr. Vaihinger, Geschäftsführer.
übrige
Mitglieder
des
Verwaltungs-
ausschusses
Zu der am Freitag, den 22. April, abends 6 Uhr, satzungs-
gemäss in den Räumen des Kuratoriums der Universität Halle stattfindenden
allgemeinen Mitgllederversamiulung werden hiermit sämtliche Mitgheder
gebührend eingeladen.
Tagesordnung
für die allgemeine Mitgliederversammlung:
1. Ablegung der Jahresrechnung für das Jahr 1909.
2. Wahl der wechselnden Mitglieder des Verwaltungsausschusses,
sowie des Geschäftsführers für das Jahr 1910.
3. Entgegennahme der event. zum Ablieferungstermin (22. April)
eingelaufenen Bewerbungsschriften zur Karl Güttler-Preisauf-
gabe: „Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Meta-
physik seit Hegels und Herbarts Zeiten in Deutschland gemacht
hat?
4. Verschiedene Mitteilungen.
Es ist zu wünschen und hoffen, dass die diesjährige allgemeine Mit-
gliederversammlung ebenso zahlreich besucht werden wird, wie die vorjährige,
an welcher 17 Mitglieder teilgenommen haben, darunter 9 Auswärtige (davon
5 aus Berlin). Die Teilnehmer versammelten sich von 3 Uhr an in der Woh-
nung des Unterzeichneten, und Jeder fand beim Austausch der Gedanken Ge-
legenheit, Anregung zu geben und zu finden. Auch in diesem Jahre findet
von 3 Uhr an Vorversammlung beim Unterzeichneten statt, wozu alle Teilnehmer
hiermit freundlichst eingeladen werden.
Diejenigen Jahresmitglieder, welche bis zum Erscheinen dieses Jahres-
berichtes ihre Jahresbeiträge noch nicht eingesendet haben sollten, werden
ebenso höflich als dringend gebeten, die Einsendung (20 M.) an den Unter-
zeichneten oder an das Bankhaus H. F. Lehmann hier baldigst bewerk-
stelligen zu wollen.
Halle a. S., im Februar 1910.
Reichardtstr. 15.
Der Geschäftsführer:
H. Vaihinger.
Kantgesellschaft.
Mitgliederverzeichiiis für das «Fahr 1900,
JGhrennittglted.
Stadtrat a. D. Professor Dr. Walter Simon, Königsberg i. Pr., Ehren-
bürger der Stadt Königsberg.
JaliresniKglleder 1909.
(Jahresbeitrag 20 M.)
Professor Dr. Narciss Ach, Königsberg i. Pr., Tragheimer Kirchenstr. 58.
Dr. Erich A dickes, Professor an der Universität Tübingen.
Dr. phil. Severin Aicher, Vikar, Stuttgart, Kanzleistrasse 23.
Dr Bernät Alexander, Professor an der Universität Budapest IV., Franz-
Josef-Quai 27.
Dr. phil. Johannes Amrhein, Direktor der Deutschen Schule in Lüttich
(Belgien), Rue des Carmes 13.
Dr. Apel, Dozent an der „Freien Hochschule", Berlin - Charlottenburg,
Uhlandstrasse 194.
Dr. phil. Kurt Bache, Halle a. S., Lessingstrasse 5.
Dr. W. E. Biermann, Privatdozent, Leipzig, Wiesenstrasse 3b.
Geheimer Sanitätsrat Dr. med. Alfons Bilharz, Sigmaringen.
Mr. George Ashton Black, New York, 621 W. 113tii Street.
Direktor Dr. Paul Boehm, Achern in Baden.
Dr. Otto Boelitz, Direktor der Deutschen Schule in Barcelona, Barcelona-
Gracia, 4sta Ana 4.
Dr. Bötte, Pfarrer. Allendorf (Werra).
Dr. jur. G. A. E. Bogeng, Berlin W. 30, Martin Lutherstrasse 74.
Sanitätsrat Dr. Brennecke, Magdeburg, Westendstrasse .35. ,
Ph. Bridel, Professeur k la Faculte de Theologie de l'Eglise Libre,
Lausanne, Glos-Maria.
Dr. Baron Gay v. Brockdorff, Professor an der Technischen Hochschule,
Braunschweig, Kasemenstrasse 4.
Dr. phil. Nicolai von Bubnoff, München, Kaulbachstrasse 22a.
Oberlehrer Dr. Artur Buchenau, Charlottenburg, Schlüterstr. 78.
Dr. G. E. Burckhardt (jr.), Godesberg, Augusta- Viktoriastrasse 77.
Dr. med. W. Camerer, Medizinalrat, Urach (Württemberg).
Dr. Paul Carus, La Salle, Illinois, U. S. A.
Dt. Ernst Cassirer, Privatdozent, Berlin W. 50, Pragerstrasse 9.
Frau Professor Helene Claparede-Spir, Genf, Champel 11.
Oberlehrer A.Cr am er, am kgl. Luthergymnasium in Eisleben, Lindenstr.9.
Dr. B. Christiansen, Freiburg i. Br., Lorettostrasse 33.
1 72 Kantgesellschaft,
Dr. Delbos, Professeur adjoint ä la Facultö des Lettres ä l'Universitö de
Paris, Quai Henry IV 46.
Professor Giorgio Del Vecchio, nella R. Universitä di Sassari, Genova,
Corso Paganini 77.
Dr. phil. Ludwig Dilles, Bielitz, Oesterr. Schlesien, Elisabethstrasse 2.
Dr. phil. et jur. Oskar Döring, Chemnitz, Parkstrasse 2a.
Dr. H. Dreyer, Florenz, Via dei Bardi 3.
Dr. Hans Driesch, Heidelberg, Uferstrasse 52.
Johannes Fr. Dürr, Verlagsbuchhändler u. Landtagsabgeordneter, Leipzig,
Querstrasse 14.
Professor Dr. G. Dwelshauvers, Genval (Belgien).
Dr. jur. Hermann Dzialas, Breslau II, Tauentzienstrasse 58.
Pastor Ebeling in Erbisdorf bei Brand i. Sa.
Dr. 0. A. Ellissen, Professor, Einbeck (Hannover).
Professor Dr. Theodor Elsenhans, an der Technischen Hochschule
Dresden, Hohe Strasse 37 b.
Dr. jur. Bernhard Carl Engel, Berlin -Zehlendorf (Wannseebahn), Schütz-
strasse 26.
Jacob H. Epstein, Frankfurt a. M., Hermannstrasse 22.
Pfarrer Dr. phil. Wilhelm Ernst, Harskirchen i. Eis.
Geheimer Hofrat Professor Dr. Rudolf Eucken, Jena.
Dr. phil. Oskar Ewald, Wien XIX, Scheibengasse 15.
Dr, Richard Falckenberg, Professor an der Universität Erlangen,
Goethestrasse 20.
Dr. Anton Feigs, Gross-Lichterfelde, Carstenstrasse 6.
Obermedizinalrat Dr. v. Fetz er, Kgl. Leibarzt, Stuttgart, Akademie.
Geheimer Justizrat Professor Dr. Finger, Halle a. S., Reichard tstr. 2.
Dr. Ernst Fischer, Posen. St. Martin 27.
Rechtsanwalt Julius Fischer, Karlsruhe (Baden).
Oberlehrer G. Fittbogen, Rixdorf, Hertzbergerstrasse 15.
Edmund Foerster, Kandidat des Höheren Lehramts, Rogasen, Bez. Posen,
Kl. Posenerstrasse 326.
Frau Dr. Elisabeth Förster-Nietzsche, Weimar, Nietzsche-Archiv.
Dr. Erich Franz, Oberlehrer, Kiel, Sophienblatt 64.
Dr. med. Paul C. Franz e, Bad Nauheim.
Dr. Max Frischeisen-Köhler, Privatdozent an der Universität Berlin,
S. 14, Sebastianstrasse 87.
Oberstabsarzt Dr. Jos. Ans. Froehlich, Dresden, Loschwitzerstrasse 4.
Dr. phil. Stanislaus Garfein-Garski, Krakau, Grodgasse 69.
Dr. R. Gaul, Sanitätsrat, Stolp i. P.
Dr. Karl Gebert, München, Leopoldstrasse 70.
V. Geis 1er, Prediger, Friedcnau, Friedrich- Wilhelmplatz 11.
Dr. Alfred Giesecke, Verlagsbuchhändler, Leipzig, Poststrasse 3.
Dr. Giessler, Erfurt, am Augustapark 2.
Landgerichtsdirektor Dr. H. Goebe], Charlottenburg, Tegeler Weg 97.
Fräulein Huberta Goesen, Strassburg i. E.. Wenkerstrasse 8.
Rudolf Goldscheid, Wien III, Richardstrasse 1.
Superintendent a. D., D. thel. Georg Graue, Nordliausen a. H., Promenade 6.
Dr. Julius Guttmann, Breslau, Gartenstrasse 51.
Dr. med. H. Gutzmann, Professor an der Universität Berlin W., Schöne-
berger Ufer 11.
Fränlein Dr. phil. Frieda Hansmann, Göttingen, Weender-Chaussee 26.
Dr. P. Hauck, Oberlehrer in Essen a. R., Bernhardstrasse 26.
Seminaroberlehrer G. Hecke, Braunschweig, Fasanenstrasse 52 A.
Eugen Heck er, Fabrikdirektor, Braunschweig, Kaiser- Wilhelmstrasse 50.
J. N. Heidemann, Geh. Kommerzienrat, Köln a. Rh.
Kantgesellschaft. 1 73
Lic. theol. Dr. phil. Karl Heim, Privatdozent und Konviktinspektor,
Halle a. S., Wilhelmstrasse 10.
Dr. Bernhard Hell, Wickersdorf bei Saalfeld (Saale).
Dr. phil. J. U. Herz, Wien VTH, Josephstädterstrasse 29,
Dr. Sergius Hessen, St. Petersburg, Zerkovnaja 4a.
Dr. phil. G. Dawes Hicks, Professor of Philosophy in University College,
London.
Dr. phil. J. W. A. Hickson, Montreal (Canada), Mountain street 272.
Adolf Hinze, Technischer Direktor, Wronke (Prov. Posen).
Dr. Karl Hoffmann, Charlottenburg, Schlüterstrasse H2.
Dr. K. B. Hof mann, Professor an der Universität Graz, Schillerstrasse 1.
Dr. Alois Höfler, Universitätsprofessor, Wien XIU, Onno Kloppstrasse 6.
Dr. Richard Honigs wald, Privatdozent an der Universität Breslau,
XVIII, Scharnhorststrasse 21.
Dr. phil. G. Hub er, Grassau (Oberbayern).
Friedrich Freiherr v. Hügel, London-Kensington W., Vicarage Gate 13.
Professor Dr. E. Husserl, an der Universität Göttingen, Hoher Weg 7.
Geheimer Reg.-Rat Professor Dr. J. Imelmann, Berlin-Charlottenburg 4,
Giesebrechtstrasse 13.
Dr. Wladimir Iwanovsky, Privatdozent, Kasan, Wosdwischenskaja 13,
Haus Korsakovpa.
Dr. Jacobs, Oberlehrer, Essen-Rüttenscheid, Elfriedenstrasse 38.
Dr. Ludwig Jaffe, Berlin W. 50, Rankestrasse 34.
Dr. W. Jerusalem, Professor, Wien XVHI 5, Pötzleinsdorferstrasse 92.
Dr. R. Jorges, Halle a. S., Seebenerstrasse 61.
Dr. Franz Jünemann, Oberlehrer in Neisse (Schlesien), Zollstrasse 10.
Privatdozent Dr. Willy K a b i t z , Breslau, Kaiserstrasse 88.
D. Dr. Katzer, Pastor primarius a. D., Kirchenrat, Oberlössnitz-Dresden,
Kaiser Wilhelmstr. 19.)
Professor Dr. Kern, Generalarzt, Inspekteur der 2. Sanitätsinspektion,
Berlin- Wilmersdorf, Xantenerstr. 4.
Dr. Gustav Kertz; Inspektor der Erziehungsanstalt Schw^arzenbach, Amt
Eberbach.
Dr. med. Paul Kieback, Praktischer Arzt, Drossen.
Oberbürgermeister Dr. Kirschner, Berlin.
Franz Kluxen, cand. phil., Strassburg i. E., Universitätsplatz 2 I.
Otto Kohlmann, Greiz, Elstersteig 7.
Professor Dr. E. König, Sondershausen.
Professor Lic. theol. Dr. Koppelmann, Privatdozent an der Universität
Münster i. W., Breul 12.
Dr. med. Joseph Krem er in Mahrenberg in Steiermark.
Dr. Richard K r o n e r , Freiburg i. Br., Schwimmbadstrasse 19.
Professor Dr. Eugen Kühnemann, Universität Breslau, Breslau-Krietern,
Altes Schloss.
Professor Dr. Oswald Külpe an der Universität Bonn.
Dr. Friedrich K u n t z e , Nordhausen a. Harz, Bahnhofstrasse 8.
Georg Küspert, Inspektor am Königl. Prot. Alumneum in Ansbach
(Bayern).
Dr. J. Lange-Lonkorrek, Lonkorsz, Westpreussen.
Dr. phil. Iwan L a p s c h i n , Privatdozent an der Universität St. Petersburg,
Kirotchnaja 7.
oreh. Regierungsrat Dr. A. Lasson, Professor, Friedenau-Berlin, Handjery-
strasse 49.
Professor Dr. Rudolf Lehmann, an der Akademie Posen W. 3, Derff-
lingerstrasse 10.
174 Kantgesellschaft.
Vikar Otto Lempp, Berlin NW. 52, Thomasiusstrasse 15.
A. Levy, Hamburg, Fruchtallee 69.
Dr. Heinrich Levy, Suhl i. Th. (z. Z. Friedenau, Wilhelmstrasse 12).
Dr. J. A. Levy, Advokat, Amsterdam.
Dr. Levy-Brühl, Professor, Paris, Rue Lincoln 7.
Cand. phil. Albert Lewkowitz, Breslau XHI, Kronprinzenstrasse 2L
Dr. Arthur Liebert, Berlin W. 15, Fasanenstrasse 48 (Gartenhaus).
Franz v. Liel, Kgl. Finanzassessor, München, Schönfeldstrasse 28.
Dr. Hans Lindau, Berlin-Charlottenburg, Kantstrasse 123.
Karl Linnebach, Militär-Intendanturassessor, Posen O, Gartenstr. 10.
Dr. Edmund v. Lippmann, Professor, Halle a. S., Raffineriestrasse.
D. Dr. Loof s, Professor an der Universität Halle a. S., Lafontainestrasse 6.
Dr, N. Losskij, Professor an der Universität St. Peterburg, Kabinets-
kaja 20.
Dr. Victor Lowinsky, Charlottenburg, Königin Elisabethstrasse 51.
Karl Maisch, Buchdruckereibesitzer, Karlsruhe.
Siegfried Marck, cand. phil., Breslau, Tauentzienstrasse 11.
M. P. Mason, Bryn Mawr, Pa. Roberts Road, No. 1, U. S. A.
Professor Masuch, am Gymnasium in Rogasen (Prov. Posen).
Dr. Fritz Mauthner, Freiburg i. Er. Konradstrasse 4.
Walter Mechler, cand. phil., Bonn, Am Hof 1. (Weimar, Sedanstrasse 16 ^).
Dr. A. V. Meinong, Professor an der Universität Graz.
Dr. Mengel, Diakonus a. D., Leipzig-Volkmarsdorf, Konradstrasse 58a.
Dr. Paul Menzer, Professor an der Universität Halle, Richard Wagner-
strasse 27 A.
Frau Bertha Meyer, Dresden A., Lennestrasse 2.
Frau Landgerichtsrat Berta Meyer-Liepmann, Berlin, Viktoriastrasse 31.
Dr. phil. Martin Meyer, Berlin W., Königin-Augustastrasse 21.
Professor E. Meyerson, Paris VIII e, Boulevard Malesherbes 78^.
Stadtschulrat Dr. Carl Michaelis, Berlin W. 35, Derfflingerstrasse 17.
Dimitri Michal tschew, Oberlehreram I. Gymnasium in Sofia (Bulgarien)
Haus „Rasslatiza".
Robert Min los, Schriftsteller, St. Petersburg 8 «> Linie 37.
Alexis Minor, cand. phil., Freiburg i. Er., Nägeleseestrasse 43.
Dr. Georg Misch, Privatdozent, Gr.-Lichterfelde, Margaretenstr. 9.
Frau Emma Mitterdorfer, Amstetten, Nieder-Österreich.
Joan Mongesco (aus Rumänien), Bad Meinberg (Lippe).
Dr. Leo Müffelmann, Kaufmann, Berlin-Halensee, Johann-Sigismund-
strasse 4/5.
Privatgelehrter Carl Müller-Eraunschweig, Braunschweig, An der
Martinikirche 2.
Professor Conrad Müller, Charlottenburg, Oranienstrasse 2.
Referendar Fritz Münch, Strassburg i. E., Judengasse 34.
Dr. med. Robert Nitzsche (A. Zosimus) Dubuque (Jowa) U. S. A.
Dr. H. N o h 1 , Privatdozent, Jena, Stoystrasse 3.
Dr. Konstantin Oesterreich, Berlin W. 30, Goltzstrasse 19.
Dr. phil. John M. O'Sullivan, Dublin (.Irland), Co. Rathmines, Belgrave
Terrace 2.
Otto P a s q u a y , Königl. Bezirksamtmann a. D., München, Hermann Schmid-
strasse 8i.
Dr. Johannes Pauls en, Altona, Gr. Bergstrasse 125.
Dr. ph. Stefan Pawlicki, Universitätsprofessor in Krakau.
Dr. Hans Pichler, Wien IV, Karlsgasse 5.
Lehrer am Realgymnasium F. Pinski, Berlin, Kniprodestrasse 118b.
Lic. Dr. Arno Pommrich, Dresden-A., Münchenerstrasse 24.
Cand. phil. Hans Prag er, Wien XIX, 1, Leidesdorfgasse 15.
Kantgesellschaft. 175
Dr. Franz Rademaker, Bonn, HolienzoUernstrasse 21.
Direktor Dr. Alfred Rausch, Rektor der Latina, Halle a. S., Königstr. 94.
Professor Dr. Adolf o Ravä, Universität Camerino (Italien).
Reichardt, Stadtrat, Magdeburg, Beethovenstrasse 2.
Dr. Johannes Reicke, Oberbibliothekar, Göttingen, Friedländerweg 28.
Dr. phil. W. Reinecke, Oberlehrer, Bitterfeld, Weststrasse 9.
Dr. R. Reininger, Privatdozent, Wien IX, Giessergasse 6.
Pastor Reinstein in Crölhvitz bei Dürrenberg (Prov. Sachsen).
Kgl. Realschuldirektor H. Rieh er t, Pleschen, Prov. Posen.
Augenarzt Dr. med. Richter, Zeitz.
Professor Dr. Heinrich Rickert an der Universität Freiburg i. Br.,
Thurnseestrasse 66.
Riedel, Geh. Komraerzienrat, Halle a. S., Advokatenweg 36.
Dr. P. H. Ritter, ord. Professor der Philosophie in Utrecht.
Dr. jur. Francisco Rivera, Madrid, Museo Pedagögico Nacional, Daoiz 7,
Dr. Maximilian Runze, Prediger und Dozent an der Humboldt-Akademie,
Berlin XW. 21, Alt-Moabit 106.
Dr. jur. J. Sacker, St. Petersburg, Nadejdinskaja 34, Gesellschaft „Energie".
Dr. phil. et jur. Max Salomon, Frankfurt a. M.. Guiollettstrasse 8.
Professor Leon Sautreaux, Agrege de Philosophie, Lycee de Grenoble,
Rue Denfert-Rochereau 9.
Frau Anna Schellenberg, Mannheim, O. 3. 5.
Dr. med. C. J. M. Schmidt, Odessa, Boulevard 6.
Dr. Karl Schmitt, Karlsruhe i. B., Eisenbahnstrasse 14.
Dr. Schmitz, Direktor des Realgymnasiums in Langenberg (Rheinland).
Professor Dr. Otto Schneider, Küstrin-Xeustadt, Landsbergerstrasse 107.
Dr. Ernst Schrader, Privatdozent an der Technischen Hochschule, Darm-
stadt, Mathildenstrasse 11.
Franz Schraube, Hauptmann a.D., Halberstadt, Voigtei 48.
Professor Dr. Julius Schultz, Berlin XO. 43, Friedenstrasse 111.
f A. Schulze, Direktor, Halle a. S., Raffineriestrasse 28.
Professor Dr. P. S c h w a r t z k o p f f , am Gymnasium zu Wernigerode a.Harz.
Dr. Charles Sentroul (Agrege ä TEcole St. Thomas, Louvain), Morteiro
de Sao Bento, Sao Paolo, Brasilien.
Geh. Hofrat Dr. phil. hon. c. Ernst Sie gl in, Fabrikbesitzer, Stuttgart,
Felgersburg.
Dr. Ed. Simon, Geheimer Kommerzienrat, Berlin, Victoriastrasse 7.
Dr. Sit zier, Regierungsreferendar, Brieg.
Dr. A. J. de Sopper, Velsen (Holland).
Dr. H. Spitta, Professor an der Universität Tübingen,
Dr. H. Staeps, Pfarrer in Theningen (Baden).
Oberlandesgerichtsrat Walter Staffel, Dresden-Blasewitz, Kaiserallee 2.
Gymnasialprofessor a.D. Dr. Staudinger, Darmstadt, Inselstrasse 26.
Dr. Kurt Sternberg, Berlin SO. 36, Bouchestrasse 79.
Dr. jur. Kurt Steinitz, Rechtsanwalt beim Oberlandesgericht, Breslau XHI,
Kaiser Wilhelmstrasse 57.
Pfarrer Strothmann, Märten bei Dortmund.
Professor Dr. Carl.Stumpf, Geh. Reg.-Rat, BerUn W., Augsburgerst. 45.
Dr. Anton Thomsen, Privatdozent, Kopenhagen, Skindergade 29.
Cand. jur. Kuno Tiemann, Berlin, Brückenallee 4.
Charles H. Toll, Amherst (Mass.) Lincoln Avenue 18.
Stadtrat Tourbie, Berlin NW., Wikinger Ufer 1.
Oberlehrer Dr. Alois Uhl, Köln, Volksgartenstrasse 19.
Dr. Hans Vaihinger, Professor an der Universität Halle a. S., Geh.-Reg.-
Rat, Reichardtstrasse 15.
176 Kantgesellschaft.
Dr. Theodor Valentin er, Oberlehrer am Alten Gymnasium, Bremen,
Humboldtstrasse 72.
Oberst a. D. Vitztum von Eckstädt, Berlin W. 15, Fasanenstr. 37.
G. Vocke, Amtsrichter, Günzburg LB.
Dr. Volkelt, Professor an der Universität Iieipzig, Auenstrasse 3.
Dr. h. c. V oller t, Verlagsbuchhändler, Berlin SW., Zimmerstrasse 94.
Lic. Dr. E. Vowinkel, Realschuldirektor, Mettmann, Rheinprovinz.
Gustav Wagner, Privatmann, Achern (Baden).
Julius Wagner, TuUn a. d. Donau bei_ Wien, Kirschbaumgasse 17.
Dr. J. Waldapfel, Professor am Übungsgynmasium des Kgl. Unga-
rischen Seminars für Kandidaten des höheren Schulamts, Buda-
pest VIII, Trefortstrasse 8.
A. Warda, Amtsrichter Königsberg i. Pr., Tragheim, Pulverstrasse 21.
Lecturer C. C. J. Webb, M. A. Oxford, Magdalen College.
Dr. R. Wedel, Privatgelehrter, München, Prinzregentenstrasse 8.
Dr. Richard Wegener, Berlin-Halensee, Georg Wilhelmstrasse 20.
Dr. Alexander Wer nicke, Professor an der Technischen Hochschule
Braunschweig.
Verlagsbuchhändler H. Wessel, Wolfenbüttel.
Dr. R. Wilbrandt, Professor an der Universität Tübingen, Garten-
strasse 57.
Landrat Paul Win ekler, Salsitz-Neuhaus bei Zeitz.
Achim V. Winterfeld, Steglitz bei Berlin, Filandastrasse 1.
Dr. phil. et med. K. Wize, Jezewo bei Borek (Prov. Posen).
Professor D. Dr. G. Wobbermin, Breslau 18, Carmerstrasse 17.
Justizrat Dr. Wolf, Dresden, Johann Georgen-Allee 5.
Dr. Karl Wollf, Berlin-Friedenau, Wilhelmshöherstrasse 17.
Wladimir Wrana, Schulleiter in Laskes, PostZlabings (Süd-Mähren).
Privatdozent Dr. M. Wundt, Strassburg i. E., Sternwartenstrasse 23.
Dr. Theobald Z i e g 1 e r , Professor an der Universität Strassburg i. E.,
Fischartstr. 22.
Kgl. Universitätsbibliothek in Göttingen.
Königliche und Universitätsbibliothek in Königsberg i. Pr.
(Vermittlungsstelle Beyersche Buchhandlung daselbst).
Kais. Russ. Universität Charkow.
Stadtbibliothek Frankfurt a. M. (Direktor Dr. Ebrard, Geh. Kons.-
Rat), Schöne Aussicht 2.
Magistrat der Stadt Hildes heim (Stadt-Bibliothek).
Bibliothek der St. Nicolai-Kirche in Berlin (Prediger Göhrke,
Berlin C 2, Poststrasse 15).
Bibliothek des Kgl. Wilhelmsgymnasiums in Berlin (Bibliothekar
Prof. Dr. Draheim). Vermittlungsstelle: Webersche Buchhandlung,
Berlin W. 8, Charlottenstrasse 48.
Bibliothek des Realgymnasiums Coblenz (Direktor Dr. Goossen).
Philosophisches Seminar der Universität Heidelberg.
Philosophisches Seminar der Universität Strassburg i. E.
(Kollegiengebäude).
Ein ungenannt bleibendes Mitglied.
Summa: 246 Jahresmitglieder.
Kantgesellschaft. 177
Bezngsbereclittg^te Danernilfglieder.
(Einmaliger Beitrag von mindestens 400 Mark,)
Geh. Kommerzienrat Ludwig Bethcke, Halle a. S., Burgstrasse.
Konsul B. Brons jr., Emden, Grosse Brückstrasse 30.
Frau Geh. Kommerzienrat Albert Dehne, Halle a. S., Schimmelstrasse 7.
Verlagsbuchhändler Dr. Robert Faber, Magdeburg, Westendstrasse 13.
Kommerzienrat Robert Frank, Ludwigsburg.
Direktor der deutschen Bank Arthur von Gwinnner, Berlin, Rauch-
Professor Dr. G. H. Howison, Berkeley (Calif.), Bancroft-Way 273L
Fabrikbesitzer und Baumeister Friedrich Kuhnt, Halle a. S., Steinweg.
Justizrat Dr. Lachmann, Berlin W. 10, Bendlerstrasse 9.
Geh. Kommerzienrat Heinrich Lehmann, Halle a. S., Burgstrasse 46.
August Ludowici, Genf, Route de Florissant 36.
Prof. Dr. Götz Martins, an der Universität Kiel, Hohenbergstrasse.
Verlagsbuchhändler Rittergutsbesitzer Rudolf Mosse, Berlin SW. 19,
Jerusalemerstrasse 46/9.
Fabrikbesitzer W. v. Siemens, Berlin W., Tiergartenstrasse 10.
Stadtrat a.D. Professor Dr. Walter Simon, Königsberg i. Pr., Kopernikus-
strasse, Ehrenmitglied der Kantgesellschaft, Ehrenbürger der Stadt
Königsberg i. Pr.
Professor Dr. August Stadler, Zürich H, Alpenstrasse 33.
Generalarzt Dr. med. Stechow, Hannover, Hohenzollernstrasse 44.
Professor Dr. Strong, Xew-York, Columbia L'niversitiy.
Verlagsbuchhändler Dr. pliil. hon. c. Ernst VoUert, Berlin SW. 12, Zimmer-
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12
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''^^m^-
t
C. Cantoni
f Professor an der Universität Pavia.
Kantstudien XV.
Carlo Cantoni zum Gedächtnis 0
(Mit einem Portrait Caiitonis.)
Von H. Dreyer.
Der Name Carlo Cantoni hat von Anfang- an unter den
Mitherausgebern der Kantstudien gestanden, bis zu seinem am
11. September 1906 erfolgten Tode, auf de;i in Bd. XI S. 485
hingewiesen worden ist. Es ist für die Kantstudien eine selbst-
verständliche und gern erfüllte Pflicht, noch etwas ausführlicher,
als es damals geschehen konnte, auf diese bedeutende und
charaktervolle Persönlichkeit zurückzukommen, die für die Ver-
breitung Kantischer Denkungsart in Italien mehr getan hat, als
vielleicht irgend jemand vor ihm, Mantovani, Romagnosi, Galluppi,
Testa, Colecchi nicht ausgenommen. Äusseren Anlass dazu bietet
eine Sammlung kleinerer Schriften Cantonis, ein stattlicher Quart-
band mit dem Wiederabdruck von 23 meist in Zeitschriften ver-
streuten Arbeiten, deren älteste aus dem Jahre 1862 und deren
jüngste aus dem Jahre 1904 stammt, die also gewiss den Über-
blick über ein gesamtes Lebenswerk gestatten. Der Kritiker einer
solchen Sammlung, die aus dem persönlichen Motiv pietätvoller
Erinnerung hervorgegangen ist und die nur „den Verwandten,
Freunden und Kollegen" zu pietätvoller Erinnerung dargereicht
wird, befindet sich in einer bevorzugten Lage. Er braucht sich
nicht damit zu beschäftigen, ob eine solche Publikation reichlich
mit Druckfehlern ausgestattet ist, oder nicht. Er wird auch nicht
über die Auswahl des Gebotenen rechten. In dem kurzen Vor-
wort, das die Lebensgefährtin des Verstorbenen selbst dem Bande
voranschickt und das man nicht ohne Bewegung liest, wird aus-
drücklich gesagt, dass die Zusammenstellung des Materiales zum
Teil unter dem Gesichtspunkt erfolgt ist, dass die betreffenden
Arbeiten ihr persönlich irgendwie besonders lieb und teuer ge-
% worden sind. Für den, der sich mit solcher Auswahl nicht zu-
1) In memoria di Carlo Cantoni. Scritti vari, Pavia, Bizzoni 1908.
XXVIII, 710 S. in 4°.
Kautstudien XY. 22
180 H. Dreyer,
frieden giebt, enthält übrigens der Band eine vollständige Biblio-
graphie der Schriften Cantouis, die 84 Nummern zählt. ^) Als Ein-
leitung in das Werk ist die offizielle Gedächtnisrede des Professor
G. Vidari abgedruckt, die dieser im Auftrag der philosophischen
Fakultät von Pavia am 2i. März 1908 gehalten hat.
Man wird sagen dürfen: wenn man drei Publikationen zu-
sammennimmt, erstens Cantonis dreibändiges Kant- Werk, zweitens
sein Kompendium der Philosophie, das es bis zur 13. resp. (Bd. 2)
9. Auflage gebracht hat und als das beste italienische Gymnasial-
Schulbuch philosophischer Propädeutik entschieden seinen Namen
und seine Denkungsart in die breitesten Kreise getragen hat, und
nun endlich diesen Band kleiner Schriften, so hat man das Mate-
rial, nach dem auch in später Zukunft ein zutreffendes Bild Can-
tonis gezeichnet werden kann.
Es soll hier nicht eine gleichmässige Inhaltsangabe des um-
fangreichen Bandes versucht werden, dessen bunte Mannigfaltigkeit
von Themen in vier Abschnitte gruppiert ist: 1. Geschichtliches.
2. Politisches. 3. Akademisches. 4. Verschiedenes. Gewiss wäre
es ja nicht uninteressant, davon Kenntnis zu nehmen, wie Cantoni
schon in seiner Dissertation von 1862 über die Grenzen seines
Heimatlandes hinausgeht, damals nach Frankreich, wie hernach
nach Deutschland, und die Philosophie Theod. Jouffroys kritisch
analysiert, dabei in liebenswürdiger Freiheit und Unbefangenheit
der Diktion französische Eleganz mit italienischer Klarheit ver-
1) Es seien aus dieser Bibliographie hier diejenigen Arbeiten heraus-
gehoben, die schon in ihrem Thema auf Kant Bezug nehmen:
Appunti sulla filosofia di Kant. Quattro letture in „Rendiconti dell'
Istituto lombardo" 1873.
I precursori di Kant nella filosofia moderna, in „Filosofia delle scuole
italiane" 1877 (= 1. Kap. des nachbenannten Werkes).
Emanuele Kant. 1. Bd. Milano Brigola 1879. — 2. Bd. ebda. 1883. —
3. Bd. Milano, Hoepli (con ristanipa dei due voll, precedenti).
1884.
Kantiana in „Cultura" Roma, Vallardi. 1884.
Über Werner „Kant in Italien" in „Filosofia delle scuole italiane" 1884.
Studii Kantiani in „Rivista filosofica" Pavia. 1901 fasc. 5» u. 1902
fasc. P 3".
L'aprioritä dello spazio nella dottrina critica di Kant in „Rivista filo-
sofica" 1904 (in französ, Übersetzung in Revue de metaphysique
et de m orale. Mai, Juni 1904).
Emanuele Kant, 2. Aufl. des 1. Bandes (posthum). Mit Vorwort von
Luigi Credaro. Torino. Bocca. 1907. XIX, 346 p. in 8.
Carlo Cantoni zum Gedächtnis. 181
bindencl; wie er im Anschluss an Äusserung-en über Bellini und
Verdi nmsikästhetische und „musikalisch-psycholog-ische" Frag-eu
aufwirft, wie er auch auf rechtsphilosophischem Boden sich sicher
bewegt (kritische Inhaltsaugabe eines Buches von Eugen Florian
„la nuova psicologia della diffamazione", Torino 1893); oder
wie er vor Wählern, die ihn aber zu seiner Freude dann nicht
gewählt haben, sein politisches Programm entfaltet. Indessen
möchte es doch geraten sein, hier nur auf dasjenige einzugehen,
was die deutschen Leser an der Veröffentlichung vorzugsweise
interessiert. Und so werden wir fragen, was wir für die ge-
schichtliche Beurteilung italienischer Philosophie der letzten beiden
Menschenalter aus diesem Material gewinnen können, ferner welche
Einblicke wir in italienisches Hochschulwesen erhalten, wobei zu-
gleich das Urteil des Italieners über deutsches Universitätsleben
Interesse bietet, und endlich, um auch dem speziellen Charakter
der vorliegenden Zeitschrift Rechnung zu tragen, inwiefern Cantoni
als vornehmer Vertreter des Kritizismus in Italien zu gelten hat.
Wegen des Allgemein-Biographischen über Cantoni muss auf
die dem Werk vorangestellte, schon erwähnte Gedächtnisrede
Vidaris sowie auf die in Cantonis Todesjahr 1906 in seiner eigenen
Zeitschrift Rivista filosofica^) über ihn veröffentlichten Aufsätze
hingewiesen werden. Nur kurz sei der Bequemlicjikeit wegen,
da diese Arbeiten deutscheu Lesern nicht ohne weiteres zugäng-
lich sind, zusammengefasst: Cantoni ist 1840 geboren und hat
nach vorübergehender Tätigkeit in Turin und Mailand 28 Jahre
lang eine philosophische Professur in Pavia bekleidet, an der auf
seine eigene Anregung hin durch das hochherzige Legat des Medi-
ziners Porta wieder ins Leben gerufenen philosophischen Fakultät,
um welche die Paveser Universität in der uapoleonischen Zeit
gekürzt worden war. Entscheidend für seine Arbeitsrichtung war
1} Das nach seinem Tode ausgegebene Heft 5 ist fast ganz der Er-
innerung an den Gründer und Herausgeber gewidmet. Es beginnt mit
der Grabrede, die ihm der Präsident des R. Istituto Lombarde di Scienze
e Lettere, der Astronom G. Celoria, gehalten hat. Celoria hat mit Can-
toni auf derselben Schulbank gesessen und ist. ihm in öOjähriger Freund-
schaft verbunden geblieben. Die durch feine Knappheit sich auszeichnende
Rede enthält daher wertvolle persönliche Züge. — Alsdann folgen die
Aufsätze : B. Varisco, C. Cantoni e la teoria della conoscenza.
A. Faggi, Cantoni e Vico.
G. Vidari, La morale di C. Cantoni.
A. Piazzi, Carlo Cantoni e l'educazione nazionale.
12*
1Ö2 H. Dreyer,
ein Studienaufenthalt in Deutschland (1865—66) geworden, wo er
in Berlin bei Trendelenburg und besonders in Göttingen bei Lotze
studierte, durch diesen stark und bleibend beeinflusst. Von hier
rührt wohl auch das seine Kantauffassung begleitende Missver-
ständnis, dass die entsagungsvolle Reinheit gedanklicher Abstraktion
psychologisch ergänzt, vertieft und gestützt werden müsse. In
Italien hatte Cantoni schon vorher drei Lehrer gehabt, denen er
dankbares Andenken bewahrte, Bertini, Berti und Rayneri. Über
Gian Battista Rayneri, der in der Geschichte des piemontesischen
Unterrichts Wesens durch seine pädagogischen Reformen der 50er
Jahre sich einen Namen gemacht hat, äussert Cantoni sich nur
beiläufig, während wir über Bertini und über Berti in zwei be-
sonderen Aufsätzen unterrichtet werden. Gian Maria Bertini, der
still zurückgezogene, ängstliche und melancholische Gelehrte mit
bleichem schmalen Angesicht, philosophisch wohl der bedeutendere,
Domenico Berti, der gew^andte Forscher mit seiner in Italien ja
so leicht genährten Leidenschaft, alte Dokumente aufzufinden, den
seine Studien und Vorlesungen an freimütiger politischer Betätigung
nicht hinderten, die ihn zweimal ins ünterrichtsministeriLim ge-
führt hat und schliesslich zum Sekretär des Mauritiusordens em-
porsteigen liess. An Bertini rühmt Cantoni die grosse Objektivi-
tät historischer Darstellung, die nie das Bild eines Denkers zu-
gunsten eines vorher fertigen System-Rahmens beschneidet. Über
Bertinis dogmatische Grundauffassung, dass der Geist intuitiv das
Reale an sich erfasst, ist Cantoni durch die in Deutschland ihm
nahetretenden kritischen Probleme bald hinausgeführt worden.
In der kirchlich-rehgiöseu Frage, die in Italien eine so grosse
Rolle spielt und deren Verantwortung bei dem Mangel theolo-
gischer Fakultäten gerade der Philosoph sich nicht entziehen
kann, ist Bertini selbst vom katholischen Dogmatismus (in Filosofia
della vita 1850) in seinen späteren die religiöse Frage behandeln-
den Schriften, in seinen vier Briefen über das katholische System,
in seinem letzten Buch II Vaticano e lo Stato, zu einer frei-
mütigen, unabhängigen, ja gegenüber dem Vatikan recht entschie-
denen Haltung übergegangen, mit besonderem Nachdruck den
Schwerpunkt seiner Bedenken und Vorschläge auf das Kapitel
der religiösen Erziehung legend, eine Haltung, in der Cantoni
seinem Lehrer nur anerkennend folgen konnte.
Besondere Anerkennung literarischer oder sonstiger Art hat
Bertini, abgesehen von der Dankbarkeit seiner Schüler, nicht ge-
Carlo Cantoni zum Gedächtnis. 183
fluiden. Darin wenigstens hat ihn der Weltmann und Minister
Domenico Berti reichlich übertroffen. Die Gedächtnisrede, die
Cantoni in der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Turin
diesem seinem zweiten Lehrer gewidmet hat, ist kürzer gefasst,
als die ausführliche, systematisch geordnete Arbeit über Bertini,
doch giebt sie uns einen fein erwogenen Überblick über die öffent-
liche Tätigkeit des Mannes und eine knappe Analyse seiner
Schriften. Auch Berti bekämpft die gesamte päpstliche Politik,
die nachmals mit dem Namen Vaticanismus bezeichnet wurde,
nicht aus Feindschaft oder Indifferenz gegen die Religion, sondern in
deren eigenem Interesse. Der religiöse Glaube, meint er, müsse sich
mit der Freiheit verbinden. Und wirklich scheint ja Berti unbe-
schadet seines Katholizismus und seiner Gläubigkeit eine sympa-
thische Vorliebe für die Häretiker und von der Kirche Verfolgten
gehabt zu haben. Wenigstens zeigen das seine auf eigenen Quellen-
studien beruhenden Untersuchungen über Giordano Bruno, über Cam-
panella, über Pomponatius, über Galilei. Cantoni hat aufgrund
einer solchen Publikation über Giordano Bruno ein formvollendetes
Lebens- und Charakterbild dieses unrastvollen Feuergeistes um-
rissen,^) das wohl eine Übertragung ins Deutsche verdient hätte.
Ein ins neunzehnte Jahrhundert und ins Politische, Sozial-
politische übersetzter Bruno, der allerdings nicht verbrannt wurde,
aber als ein von selbstbereitetem Schicksal hin und her Geworfener,
sich schhesslich am eigenen inneren Feuer schnell verzehrt hat,
war Giuseppe Ferrari. Es verdient besonders hervorgehoben zu
werden, dass Cantoni es fertig bringt, durch seine eingehende und
dem seltsamen Lebensrhythmus Ferraris auch formell fein auge-
passte Studie uns in ein näheres und zwar freundliches Verhält-
nis zu diesem ihm persönlich gewiss nicht von vornherein sympa-
tischen Charakter zu bringen. Die impulsive Art Ferraris, die
das Tendenziöse und Agitatorische selbst in den wissenschaftlichen,
philosophischen und historischen Arbeiten selten ganz verleugnete,
die ihn der Überzeugung leben liess, dass es in der Wissenschaft
Skandal geben müsse, war gewiss nicht Cantouis Sache. Aber
Cantoni lässt uns das dramatisch bewegte Leben Ferraris mit
Spannung und Teilnahme verfolgen. Von Frankreich her hatte
') Nicht ohne dabei auf die einschlägigen Arbeiten Feiice Toccos,
seines Nachfolgers auf dem Titelblatt der Kantstudien, hinzuweisen, soweit
sie damals erschienen waren ; in der Folge sehen wir ja Tocco als Heraus-
geber der grossen, von F. Fiorentino begonnenen, Bruno-Ausgabe.
184 H. Dreyer,
dieser das Heil für Italien erhofft: Qu' est ce donc la I'>ance pour
ritalie? Elle est plus qu'une iiatiou: c'est uue religiou; j'ai droit
de le dire, et j'aurai l'houneur de lui rester toujours fidele. Wir
wundern uns deshalb nicht, dass Ferrari bei solcher Vorliebe für
das Land der Revolution und der Freiheit sich für einen grossen
Teil seines Lebens zum Franzosen gemacht hat. Aber er ist von
seiner freiwilligen Verbannung nach Frankreich, dem Elsass, der
Schweiz, schliesslich wieder in die Heimat zurückgekehrt, der er
doch auch als Abwesender in seinem Herzen und auch was die
Gegenstände seines schriftstellerischen Interesses betraf, nie ganz
untreu geworden war. Cantonis liebevollen Analysen seiner
nimmermüden Publizistik sind uns umso wertvoller, als gewiss
nicht so leicht einer dieses umfassende Material aufs neue ganz
durcharbeiten wird. Dafür enthält es doch wohl zuviel Paradoxes
und nur für jene Zeit Bedeutendes neben allem Genialen und
Tiefen, das Ferrari so weit über den Durchschnitt emporhob.
Das Andenken und die Nachwirkung des freimütigen und stets
offenen Charakters, welcher allzulebhaft und dabei wohl ungerecht,
nie aber malitiös und ironisch werden konnte, wird auch so noch
lange lebendig bleiben. Von den rein wissenschaftlichen Leistungen
Ferraris giebt Cantoni seiner vortrefflichen A^ico- Ausgabe, die er
als 26j ähriger veranstaltete, sowie von den späteren Arbeiten
seiner Filosofia della Rivoluzione (1851. ^1873) das meiste Lob.
An seinem philosophischen System hebt er hervor, dass Ferrari
in seiner Theorie des Gefühls jedenfalls seiner Zeit voraus war.
Auch ist Ferraris antiutilitaristische Auffassung der Beziehungen
des Interesses zur Tugend um ihrer klaren Entschiedenheit willen
bedeutsam: Tugend ist das, wozu uns nicht das Interesse treibt
(Generosität, Gastlichkeit, Mut, Redlichkeit, Bewunderung, Ge-
meinsinn).
Was wir sonst beiläufig über die Geschichte italienischer
Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts aus Cantonis Arbeiten
entnehmen dürfen, kann hier nur angedeutet werden.^) Galluppi
ist ihm, wenn wir von der vorausgegangenen glänzenden Er-
scheinung des doch nur auf dem Gebiet der Geschichtsphilosophie
wirklich selbständigen Vico absehen, der erste originelle Philosoph
seit der Renaissance, der erste, der sich von dem scholastischen
1) Es sei ganz besonders auf den Umriss S. 247— 250 der Scritti vari
hingewiesen,
Carlo Cantoni zum Gedächtnis. 185
Schematismus völlig- frei macht. Dann folgt das leuchtende Drei-
gestirn Rosmini, Gioberti, Maraiani.^) Rosmini^) ist wohl der be-
deutendste Denker seiner Zeit, nur leider kirchlich etwas zu
conciliant und hinterlässt bei dem schwierigen Bestreben, seine
Gedankenfreiheit mit dem hl. Thomas in Einklang- zu bring-en,
nach beiden Seiten hin keinen voll befriedigenden Eindruck. Gio-
berti, der italienische Hegel, schliesslich doch mehr durch seine
politischen Bestrebungen und Leistungen als durch seine rein
wissenschaftlichen Arbeiten von weitreichender Wirkung-. Und
Mamiaui, der, von kirchlichen und scholastischen Rücksichten frei,
auf der Basis des dogmatischen Rationalismus ein strenges System
zu bauen unternahm gerade in einer Zeit, da die Abneigung gegen
die Metaphysik in Italien und in ganz Europa besonders lebhaft
war. Keiner von den dreien hat schliesslich eine nachhaltige
Schulwirkung gehabt. Aber für ein erneutes und vertieftes Ein-
gehen auf die Probleme des Kantischen Kritizismus haben sie
nicht unwesentlich positiv und negativ vorgearbeitet.
Zeigt sich in den vier genannten biographischen Essays
Cantoni als feinsinniger und formal gewandter Historiker, so ist
ein noch grösserer Teil der in dem jüngst veröffentlichten Bande
vereinigten kleineu Schriften geeignet, seine Bedeutung für das
italienische höhere Unterrichtswesen in ein helles Licht zu stellen.
Die „akademische Frage" war für ihn eine Lebensfrage. Er war
ein Gegner des französischen Systems der völlig von einander
getrennten Fakultäten. Er hat diese seine Anschauung philoso-
phisch und durch den Hinweis auf die Grenzgebiete begründet
und schöne Worte über die bleibende Bedeutung der Philosophie
als Repräsentantin einer wirklichen Universitas litterarum gegen-
über der nicht unbedenklich zunehmenden Isolierung der einzelnen
Wissenschaften gesprochen. Er ist auch selbst in organisatorischer
Arbeit dafür tätig gewesen, dass der Streit der Fakultäten in der
höheren Einheit seine Schlichtung fände. Es wurde oben bei-
läufig schon bemerkt, dass wesentlich mit auf seine Anregung hin
die Reintegration der Universität erfolgt ist, welcher er dann
dauernd angehört hat. Die Frage, ob Fachhochschule oder wissen-
^) Über die politische Bedeutung dieser Männer vgl. Franz Xaver
Kraus „Die Erhebung Italiens im 19. Jahrhundert, Cavour", Mainz 1902,
wo sich auch Porträts der Genannten und Literaturangaben finden.
2) F. X. Kraus, Essays I, 87 f., Berlin 1896.
186 H. Dreyer,
schaftliche Hochschule, hat er in mehreren Schriften zugunsten
der letzteren beantwortet,
Cantoni hat wiederholt bekannt, dass die in Deutschland
empfangenen Eindrücke ihm die Überzeugung von der Möglichkeit
und Notwendigkeit einer Hebung italienischen Universitätslebens
eingeprägt haben. Es schmerzt ihn, dass die doch einst nach
italienischem Vorbild eingerichteten deutschen Hochschulen einen
solchen Vorsprung haben, sie scheinen ihm so voll frischen
Lebens, wie man das von den Anstalten des eigenen Landes nicht
sagen kann. Das sagt er, obwohl er auch in Deutschland Partei-
geist, Pedanterie und Dogmatismus gefunden hat. Aber er hat
richtig herausgefühlt, dass unter dieser Kruste doch wirkliches
wissenschaftliches Leben pulsiert.
Seine Gedanken und Vorschläge knüpft Cantoni an eine Be-
sprechung des bekannten, für die Ausstellung in Chicago 1893
veranstalteten zweibändigen Werkes: „Die deutschen Universi-
täten" (Unter Mitwirkung zahlreicher Universitätslehrer heraus-
gegeben von W. Lexis) an, dabei auch die in der Akademischen
Revue, Zeitschrift für das internationale Hochschulwesen 1895 bis
1897^) niedergelegten Materialien benutzend.
Die Meinung, dass die deutschen Studenten im allgemeinen
fleissiger und disziplinierter seien, als die italienischen, hält
Cantoni nur teilweise für begründet. Die Art des Arbeitens ist
allerdings eine verschiedene. In Italien giebt es mehr Examina
und deshalb weniger Lernfreiheit, auch wird wohl mehr um des
Zeugnisses willen als um des Studiums selber willen studiert. Die
Wahl der Universität steht dem Studenten nicht frei, was er zu-
mal bei dem Vorhandensein der vielen kleinen Universitäten, die
nicht über bedeutende Lehrkräfte verfügen, für nachteilig hält.
Auf den deutschen Universitäten ist Cantoni die grosse Mannig-
faltigkeit von Vorlesungsthemen erfreulich aufgefallen, während in
Italien vielfach nur die Haupt- und Pflicht- Collegien in regel-
mässigem Turnus gelesen werden. Privatdozenten giebt es nur
ausnahmsweise und gerade diese pflegen ja in der Tat mancherlei
Abwechslung in den Lehrplan zu bringen. Zusammenfassend hebt
Cantoni an den deutschen Universitäten ein Zweifaches rühmend
hervor. Erstlich, sie dienten der Pflege reiner Wissenschaft und
1) Es ist dies die Zeitschrift, welche sich dann in die bescheideneren
Hochschulnachrichten verwandelt hat,
Carlo Cantoni zum Gedächtnis. 187
doch zugleich der praktischen Vorbildung für mannigfaltige Berufe
auch mittleren Grades. Zweitens, die Mittel seien reichlicher
vorhanden, als in Italien, und seien vor allem gerechter verteilt.
Für Cantoni erschöpft sich das pädagogische Interesse natür-
lich nicht mit den LTniversitätsfragen. Den Mittelschulen hat er
ja ein so wertvolles Schulbuch geschenkt. Das deutsche Gym-
nasium erscheint ihm übrigens weniger vorbildlich und wirkungs-
voll als die deutsche Universität. Was schliesslich das Yolks-
schulwesen betrifft, so würde der Italiener, bei dem notorisch so
grossen Prozentsatz von Analphabeten in seinem Lande, die deut-
schen Verhältnisse eher zu rühmen gehabt haben. Selbstbewusst,
doch nicht ungerecht, schätzt er aber sein Volk ein: „Mir schien
es immer, so misslich es auch ist, über solche Dinge ein kurzes
Urteil zu fällen, dass das niedere Volk in Deutschland und spe-
ziell auf dem Lande, obwohl es lesen und schreiben kann, tiefer
steht als unsere Analphabeten" (S. 491). Und dann meint Can-
toni, diejenigen, die lesen lernen, sollten auch etwas Gutes zu
lesen haben, woraus den educati, den Gebildeten, die selbst
schriftstellerisch tätig sein können, eine besondere Pflicht er-
wachse.
Es war Cantoni ein besonderes Lebensanliegen, auf dem
Gebiet der Pädagogik, dass wir so sagen dürfen, der pädago-
gischen Politik, anregend zu wirken. Er wünscht direkt, es
möchten sich einige pädagogische Parteien in Italien bilden, der
Kampf sei fruchtbar. Und der Regierung wünscht er etwas mehr
Stetigkeit. Die Unterrichts-Reglements wechselten jetzt zu leicht
und zu schnell in Italien. Im allgemeinen gebe es folgende Ge-
fahren für die Schule: die Staatstyrannei, den Asketismus (kirch-
lichen Dogmatismus), den Utilitarismus und, dass man der Schul-
bildung einen lediglich dekorativen Zweck zubillige. Zweimal im
Laufe der Weltgeschichte sei Italien kulturführend gewesen.
Wir teilen gewiss Cantonis Wunsch, dass es jetzt wenigstens den
Vorsprung einholt, den andere Nationen gewonnen haben.
Eine besonders schwere Hemmung liegt für dieses bevorzugte
Land mit seiner begabten Bevölkerung in der religiösen Frage.
Politisch liberal, wie sich das für den fast von selbst versteht,
der Cavours grosse Zeit in nächster Nähe mit erlebte, ist Cantoni
um diese heikle Frage nicht herumgegangen, sondern hat sie, in
getreuer Nachfolge seiner Lehrer Bertini und Berti, herzhaft auf-
gegriffen. Es verschlug ihm nichts, dass es für viele als ein
188 H. Dreyer,
Zeichen schlechten Geschmackes gilt, über diese Dinge zu reden.
Er hat den Stier bei den Hörnern gepackt und auch öffentlich
wiederholt diese Frage behandelt. In Deutschland kann man oft
das Urteil hören, dass die Italiener eigentlich für Religiosität nicht
veranlagt seien. Es fehle ihnen die Innerlichkeit, wie ja auch
der geringe Anklang beweise, den die deutsche Eeforaiation jen-
seits der Alpen gefunden hat. Im besten Falle erscheine bei
diesen Formkünstlern das religiöse und das moralische Gefühl als
Form des ästhetischen Gefühles. Cantoni teilt diese Meinung,
die auch in Italien viel Anklang findet, nicht; oder nicht unbe-
dingt. Die Italiener mögen ja von Haus aus Gegner des Mysti-
zismus sein. Das wäre indes nur eine von verschiedenen mög-
lichen Formen der Religion. Und wie die Philosophie nach Can-
tonis Meinung in gleicher Weise gegen theologischen Dogmatismus,
gegen Materialisoius, gegen religiöse Indifferenz zu kämpfen hat,
so ist es positiv Pflicht philosophischer Erziehung, Respekt vor
dem religiösen Gefühl zu wecken. In einer besonders feinen ana-
lytischen Arbeit, einem anatomischen Präparat vergleichbar, legt
Cantoni die verschiedenen gesunden und ungesunden Erscheinungs-
formen der in der italienischen Gesellschaft sich zeigenden Reli-
giosität auseinander (S. 349 ff.). „Ich bin der Meinung, dass
alle wirklich grossen Völker religiös waren und religiös sind.
Aber die Religion, wie sie in unseren Tagen verstanden werden
muss, ist wesentlich Reinheit der Sitten, Tendenz zum Idealen,
Sehnsucht nach dem Unendlichen (S. 446). Die wahre Religion
ist ein razionalismo generöse e credente, ein Dienst der Wahr-
heit, Menschenwürde; Gottesglaube und Unsterblichkeit die einzigen
Dogmen ; noch unausgemacht ist, wieviel Anteil an dieser Zukunfts-
religion das Christentum hat. Solcher von Cantoni selbst bekannten
wahren Religion kommt relativ am nächsten das liberale Christen-
tum, etwa wie es von Gioberti vertreten wurde, ein Christentum
der Moralität und Humanität. Dagegen finden die Versuche, den
orthodoxen Katholizismus mit dem Liberalismus zu vereinigen, bei
Cantoni wenig Anerkennung, während der politische Katholizismus
in allen seinen Formen ebenso wie die Indifferenz und der Un-
glaube ihm als die eigentlichen Gegner wahrer Religion erscheinen.
Die negative Kirchenpolitik religiöser Indifferenz, welche die ita-
lienische Regierung vertrat und — wenn man gerecht sein will,
notgedrungen — noch vertritt, findet daher durchaus nicht
seine Billigung: „Man kann nicht erziehen, ohne hohe moralische
Carlo Cantoni zum Gedächtnis. 189
Prinzipien. Nun, was sind denn die moralischen Prinzipien,
welche in seinen Unterrichtsprogrammen der italienische Staat zu
bekennen vorgiebt? Keine! Von dem richtigen Prinzip aus, dass
der Staat gegenüber den verschiedenen religiösen Konfessionen
indifferent sein müsse, sind wir bei dem Prinzip angelangt, dass
der Staat jeder religiösen Idee, folglich auch jedem höheren Be-
griff, jeder Idealität gegenüber indifferent sein müsse; denn mag
immer die Religion nach unserer Meinung der Moral untergeordnet
sein, so kann diese in einem Volk doch nicht bestehen, ohne jene.
Bei uns dagegen ist auch unter Männern von nicht geringer Be-
deutung die seltsame Idee aufgetaucht, unsere Jugend moralisch
zu erziehen und sie so auf die höchsten und schwersten Kämpfe
des modernen Lebens, durch die lateinischen und griechischen
Klassiker, durch die Ausgrabungen des forum romanum vorzube-
reiten" (S. 698 f.). Cantoni ist also von Radikalismus weit ent-
fernt. Vielleicht waren auch die ihm in Italien entgegengetretenen
Versuche eines nicht-religiösen Moral-Unterrichtes besonders un-
geschickt.
Auch über seine politischen Anschauungen kann man sich
aus dem Bande gesammelter Schriften genaue Auskunft erholen,
da er das im Mai 1886 vor einer Wahlversammlung entwickelte
vollständige Programm und ausserdem genug einzelne Äusserungen
politischer Art enthält. Für uns darf seine Stellung zur Bünduis-
frage von Interesse sein, die er in einem Artikel der Nuova Anto-
logia 1901 „Über den Dreibund" sehr ausführlich dargelegt hat.
Gerade heute, da in Italien mit einer Abneigung gegen öster-
reichisches und „folglich" auch gegen deutsches Wesen eine Über-
schätzung des Französischen Hand in Hand geht, könnte man von
Cantonis feinen und besonnenen Ausführungen noch viel hier
lernen. Er weist au der Hand einer Fülle von Einzelzügen über-
zeugend nach, dass Stammesverwandtschaft der Völker, sprach-
liche Zusammengehörigkeit und ökonomische Beziehungen, wie sie
ohne Zweifel Frankreich und Italien enger verbinden, nicht unbe-
dingt für ein Bündnis sprechen. Im Gegenteil pflegt hierdurch
die Reibungsfläche leicht vergrössert zu werden, wie ja auch im
privaten Leben zwischen nahen Verwandten nicht immer die
bessere Freundschaft besteht. Ganz abgesehen davon, dass in
Nordafrika und Corsika auch direkte Konfliktsmöglichkeiten latent
sind. Entscheidend für ein Bündnis ist nach Cantoni vielmehr
nur die allgemeine europäische Politik, die geographische Lage
190 H. Dreyer,
und die kulturelle Position der betreffenden Völker. Und in
dieser Hinsicht ist Deutschland und nicht Frankreich der gewiesene
Verbündete für Italien.
Eine erfreuliche Frucht der deutschen Studiensemester Can-
tonis und der dadurch ermöglichten Kenntnis deutscher Eigenart
werden auch diese politischen Überzeugungen genannt werden
dürfen. Noch wichtiger für uns ist ein anderes, das er mit über
die Alpen zurückgenommen hat: seine genaue Vertrautheit mit
der deutschen Sprache. Sie ermöglichte ihm, die deutsche Philo-
sophie und speziell die Kantische Philosophie nach den Quellen
zu studieren. Schon in seiner Dissertation von 1862, also vor
der Reise nach Deutschland, hatte er anerkennende Worte für
die deutsche Philosophie gefunden. Und dass man überhaupt auch
im Ausland nicht Philosophie studiereren kann, ohne mit dem
Alten vom Königsberge geistig Fühlung zu nehmen, versteht sich
ja von selbst. Ein anderes aber ist es, Kant aus zweiter und
dritter Hand zu kennen, ein anderes, ihn so nahe an den Mittel-
punkt seiner wissenschaftlichen Lebensaufgabe heranzurücken, wie
das Cantoni getan hat. Disciplinae Kautianae interpres subtilissi-
mus Existimator integerrimus Defensor acerrimus Amplificator
iugeniosissimus : so hat ihn die Königsberger Fakultät im Jubi-
läumsjahr im elogium des Ehrendoktordiploms genannt. Schon
seine erste Arbeit, die er nach der Rückkehr aus Deutschland
veröffentlicht, die kritischen und vergleichenden Studien über
G. B. Vico (1867) sind als Reaktion gegen die Metaphysik des
Absoluten zu verstehen. Kant oder wenigstens das kritische
Problem stand dann dauernd mit im Vordergrund seines Interesses
und über der neuen Ausgabe seines für die der deutschen Sprache
nicht kundigen Italiener grundlegenden Kant-Werkes ist er ge-
storben. Auch der von der Witwe uns jetzt geschenkte Band
gesammelter Schriften enthält wenigstens ganz am Schluss einen
kleinen Kant-Aufsatz, in welchem Cantoni für seine eigene Zeit-
schrift nach knapper Charakterisierung von Kants Eigenart einen
Bericht über den Verlauf der Köuigsberger Jahrhundertfeier
giebt, an der er selbst nur aus gesundheitlichen und klimatischen
Rücksichten nicht hat teilnehmen können, und schliesslich von der
Gründung der Kant-Gesellschaft seineu italienischen Lesern er-
zählt. Um hier doch wenigstens eine kleine Probe der Art und
Weise zu geben, wie Cantoni seine Leser mit Kant zu befreunden
verstand, sei aus dem genannten Aufsatz ein Passus zitiert, in
Carlo Cantoni zum Gedächtnis. 191
dem die angeblich zwischen der reinen und der praktischen Ver-
nunft bestehenden Widersprüche zurückgewiesen werden: „ — als
ob es ein Widerspruch wäre, zu sagen, dass einer, der gegen
Nord wandert, an den Fuss eines völlig unzugänglichen Gebirges
gelangt, so unzugänglich, dass er nie erfahren wird, was jenseits
desselben sein mag, ja nicht einmal, ob da noch etwas ist; wohin-
gegen er, seine Schritte nach Süden wendend, an ein offenes
unendliches Meer kommt, wo ein strahlender Leuchtturm sich er-
hebt, vor dem alles andere erbleicht. Dieser Leuchtturm ist das
moralische Gesetz, dessen Begriff sich als ragende Säule erhebt
und bei allem, was die Kautische Kritik zerstören und negieren
mag, fest steht und auch künftig so stehen bleiben wird als das
Einzige in der Welt, das absoluten Wert hat" (S. 707).
Wie Cantoni des Näheren die Philosophie Kants ins Italie-
nische übersetzt hat, würde mau aus seinem grossen Kant-Werke^)
zu ermitteln haben, das, wie es die italienischen Leser nun einmal
gern sehen und wie das übrigens alter italienischer Tradition ent-
spricht, in einzelnen Abschnitten in Dialogform geschrieben ist,
Vidari vergleicht ihn hinsichtlich einer gewissen, vielleicht auf
Lotze zurückgehenden, monadologischen Tendenz mit Renouvier,
der ja auch von Kant ausging, um ihn dann fortzubilden. Am-
plificator ingeniosissimus! Von den kleineren x^rbeiten über Kan-
tische Philosophie ist in der jetzt veranstalteten Sammlung von
Schriften keine wieder abgedruckt worden, vielleicht, weil man
annahm, dass ihre Hauptgedanken in dem grossen Kantbuch ver-
arbeitet und schon dadurch der Vergessenheit entzogen sind. In-
sofern darf man also in dieser Sammlung nicht das Wesentliche
von dem zu finden hoffen, was Cantoni wissenschaftlich interes-
sierte. Aber es kann ja nicht anders sein: wer, wie er, sich in
Kant eingelebt hat, wer sich seine Lehre, oder, wie er es lieber
ausgedrückt haben würde, die Tendenzen des Kritizismus zu eigen
gemacht hat, der kommt auch von abgelegenen Punkten aus leicht
darauf zurück. Und insofern ist der über 700 Quartseiten
starke Band gesammelter Schriften, obwohl fast nichts Kantisches
enthaltend, doch ein Beweis, dass zwischen Kant und Cantoni
mehr als eine Namen-Ähnlichkeit bestand.
Die Accademia dei Lincei hat im Jahre 1886 Carlo Cantoni
wegen seines Kant-Werkes den königlichen Preis für Philosophie
1) A. Faggi in Rivista filos. 1906 S. 593 bezeichnet dieses Werk ge-
radezu als ein Glaubensbekenntnis Cantonis.
192 H. Dreyei*,
erteilt; die Kommission, auf welche diese Entscheidung sich zu-
rückführt, setzte sich aus Domenico Berti, Ruggero Bonghi, Fran-
cesco Bonatelli, Augusto Conti und Luigi Ferri (Berichterstatter)
zusammen. Das Urteil, welches von diesen erlauchten itaUenischen
Gelehrten in Gegenwart der königlichen Majestäten verlesen wurde,
hat Credaro in seinem Vorwort zur posthumen zweiten Auflage
von Cantonis Kant-Werk (Bd. I) zum Abdruck gebracht. Da es
sich jedenfalls um ein formell und inhaltlich interessantes Doku-
ment handelt, mag es zum Schluss dieser Cantonis Gedächtnis
gewidmeten Zeilen auch in den Kantstudien seine Stelle finden:
„Die 3 Bände Cantonis umfassen ausser dem Leben und der
Zeit Kants die Lehren, welche den seinigen vorausgegangen sind,
und nachdem sie uns die Kantische Philosophie in ihrem ganzen
Umfang vorgeführt haben, fassen sie das Behandelte in einem
ausführlichen Schluss zusammen und ergänzen es durch einen
synthetischen Blick auf die nachfolgende Gedankenentwicklung.
Um den Forderungen seines Themas zu entsprechen, musste
Cantoni eine dreifache Tätigkeit auf sich nehmen. Er musste
Historiker, er musste Ausleger und er musste Kritiker sein.
Er hat die erste dieser Aufgaben mit Sorgfalt erfüllt. Er
hat dabei nichts übergangen, was zum Verständnis der Kantischen
Philosophie nötig ist, wenn man sie aus sich selbst heraus ver-
stehen will und ist zugleich bis ins Einzelne allen den wissen-
schaftlichen und sozialen Ursachen nachgegangen, welche auf ihr
p]rscheinen Eiufluss gehabt haben; so zwar, dass wir zuerst die
doppelte, idealistische und empirische Bewegung verfolgen, die im
17. Jahrhundert mit Descartes und Locke einsetzt und dann diese
beiden Richtungen im Geiste der deutscheu Philosophie sozusagen
convergieren sehen, um dann den vorbereitenden Phasen des
neuen Systems nachzugehen, bis zu dem Moment, in welchem der
dogmatische Schlummer durch den Anstoss der Humeschen Unter-
suchungen gebrochen, das kritische Problem erfasst ist und Kant
die berühmte Dissertation von 1770 veröffentlicht, Vorläuferiu
der Kritik der reinen Vernunft, mit welcher 1781 die grösste
philosophische Umwälzung der neueren Zeit anhebt.
Cantoni widmet natürlich diesem Hauptwerk den grössten
Teil seines ersten Bandes, der unter dem theoretischen Gesichts-
punkt der bedeutendste ist, aber in dem auch das Leben und der
Charakter Kants umrissen werden und in ihrer Verbindung mit
der sozialen Umgebung, mit der dieser neuen Philosophie erwach-
Carlo Cantoni zum Gedächtnis. 193
sendeu Zustimmung und Opposition, deren Geschichte illustrieren
und deren Verständnis erleichtern; ein Vorzug, der vielleicht in
noch höherem Äfasse den 2. und 3. Band auszeichnet, worin die
moralischen und religiösen Lehren behandelt werden, für deren
Unabhängigkeit der deutsche Philosoph nicht wenig angesichts
der rückschrittlichen Bestrebungen der Pietisten zu kämpfen und
zu leiden hatte. Sowohl die Geschichte der Gedanken, als die
Geschichte der Tatsachen werden in diesen zwei Bänden in einer
Weise geboten, dass wir uns eine vollständige Vorstellung von
der Bildung und der Entwicklung des Kantischen Systems machen
können.
Was die Aufgabe des Auslegers und Kritikers betrifft, so
muss man sagen, dass Cantoni nicht nur direkt aus den Büchern
seines Autors und der ganzen einschlägigen philosophischen Lite-
ratur geschöpft hat, sondern auch wirklich die jenseits der Alpen
erhobenen Fragen kennt und mit Kompetenz prüft, sei es in der
Verschiedenheit der beiden Auflagen der Kritik der reinen Ver-
nunft hinsichtlich des genauen Charakters des Kantischen Idealis-
mus, sei es über die verschiedenen und subtilen Auslegungen,
die sich auf einige fundamentale Punkte des Systems beziehen.
Gewiss hat ja Cantoni, als er an seine Arbeit heranging,
den Weg nicht nur offen, sondern auch gebahnt und auf manchen
Strecken von einem mehr als zahlreichen Heer von Historikern,
Kommentatoren und Kritikern geebnet gefunden. Aber wenn
diese Fülle von Studien und Untersuchungen ein reiches Material
für das vom Autor unternommene Werk bildete, stellte sie ihn
auf der anderen Seite auch vor die nicht leichte Aufgabe, sie
nachzuprüfen und zu beurteilen, eine Aufgabe, die er mit sichrem
Urteil durchgeführt hat.
Es mag noch bemerkt werden, wenn der Scharfsinn des
Autors schon durch die Schwierigkeiten der einfachen Auslegung
auf die Probe gestellt wurde, so haben ihn in noch höherem
Masse die spekulativen Fragen, an sich selbst betrachtet, in An-
spruch genommen. Cantoni stellt nicht nur ihre Lösung in das
hellste Licht, sondern er diskutiert sie dann noch mit intensivem
und freiem Gedankengang in Dialogen, die den Hauptabschnitten
angefügt sind.
Er ist nicht der Meinung, dass die Philosophie bei Kant
halt mache, aber er beurteilt auch nicht den Kantianismus unter
dem Gesichtspunkt eines der idealistischen oder empiristischen
194 H. Dreyer, Carlo Cantoni zum Gedächtnis,
Systeme, die aus einer der einseitigen Richtungen des philoso-
phischen Geistes hervorgegangen sind. Die Schule, der er sich
anschliesst, ist die neukantische, d. h. diejenige, welche sich be-
müht, den Kantianismus zum Realismus hin zu wenden, indem sie
ihn mit der Bewegung der modernen Wissenschaften in Einklang
bringt. Er ist der Meinung, dass die Philosophie sich in dem
der Forschung und der Wissenschaft treuen Geiste des Kritizismus
erneuern müsse, dass sie vor allem tiefer in die psychologischen
Forschungen eindringen müsse, die geeignet sind, in der theore-
tischen Philosophie den Realismus zu verstärken und die reine
und hohe Moral Kants von den Mängeln eines Formalismus zu
befreien, der sie der Gefahr aussetzt, unwirksam zu sein, weil sie
übermässig und zu Unrecht von den sinnlichen Bedingungen der
menschlichen Natur abstrahiert.
Hinsichtlich eines fundamentalen Punktes sagt sich der
Autor entschieden, und nach unserer Ansicht mit Recht, von dem
deutschen Philosophen los, in der Lehre des Bewusstseins und
folglich hinsichtlich der Existenz der Realität an sich, welche im
Kantischen Kritizismus problematisch geblieben war, ihm dagegen
durch die Theorie der Erfahrung logisch erfordert zu sein scheint."
«
Kants Antinomien und das Wesen des Unendlichen.
Von Kurt Geissler.
Die Schwierigkeiten des Uneudlichen spielen bei Kant eine
grosse Rolle. Zeigen sich Schwierigkeiten als offenbare Wider-
sprüche, so regen sie zu genauer Untersuchung der dabei vor-
kommenden Elemente des Denkens und der Anschauung, zu kri-
tischer Philosophie an. Vier sich widersprechende Paare von
Sätzen, die beiden mathematischen und die beiden dynamischen
Antinomien, sind für die gesamte „Kritik der reinen Vernunft"
von grösster Bedeutung. Kant will das Dasein des Dinges an
sich, mit dem Raum und Zeit nichts zu tun habe, ferner die über
die empirische Welt der Sinnendinge hinausgehende Freiheit nicht
direkt beweisen, nicht einmal deren Möglichkeit (Elementarlehre
II. Teil, II. Abt., II. Buch, IL Hauptst., 9. Abschn., Ausgabe A
vom Jahre 1781, S. 557, 558; Ausgabe B, vom Jahre 1787;
Kehrbachs Ausgabe, Reclam, 1877, S. 445),^) auch nicht das Da-
sein eines unbedingt notwendigen Wesens ausserhalb des Feldes
der gesamten Sinnlichkeit (S. 451) oder auch nur die Möglichkeit;
denn auch das könne man nicht. Aber die kosmologischen Ideen,
welche die Antinomien veranlassen (S. 450), fordern uns nach
Kant auf, uns nach solchen Erklärungen umzusehen, nach der
Unterscheidung der durch Anschauungs- und Denkformen (zufällig)
gestalteten räumlich-zeitlichen, empirisch-bedingten Welt und des
Dinges an sich, nach „intelligibeln Gegenständen", einen solchen
Schritt „zu wagen". Bei den Widersprüchen der Antinomien und
den von Kant versuchten Auflösungen ist immer das Unendliche
(in weiterem Sinne, mit den Begriffen von Begrenzungen, Anfang
und Ende) das Wichtigste, worauf alles hinausläuft. Eine genaue
Untersuchung des Unendlichen in der Kantischen Darstellung der
1) Ich werde der Kürze halber im folgenden meist nur die Seiten
von Kehrbachs Ausgabe anführen oder, unter Zusatz von A, die Seite der
ersten Ausgabe 1781.
Kantstudiea XV. 13
196 K. Geissler,
Antinomien wird also nützlich sein für eine richtige Beurteilung-
Kants und zur Abwehr vielfacher Missverständnisse, namentlich
von Seiten der Mathematiker. Ferner kann die Kritik dieser
Kantischen Ausführungen zur Aufweisung von Lücken oder Fehlern
in derselben beziehlich des Unendlichen führen. Andererseits aber
könnten neue Lehren vom Wesen des Unendlichen mit Kants Dar-
stellung verglichen und es könnte geprüft werden, ob eine solche
Lehre die Kantischen Lücken ausfüllen, seine Lehre verbessern
und eine für das Wissen der Gegenwart mögliche und hinreichende
Wesenserklärung zu liefern vermöchte.
Der Kantischen Darstellung, die so voll ist von Wieder-
holungen, der Reihe nach zu folgen, halte ich nicht für zweck-
mässig. Es kommt vor allem auf den Begriff des Seins an. Es
ist umständlich von der Angabe des Daseins als einer Kategorie
auszugehen, die Besprechung der Antinomien zu beginnen und
dann erst wie in der „Kritik" diesen Begriff auf verschiedene Art
zu erörtern und das, was mit ihm zusammenhängt, wie „ist",
„Wirklichkeit", „objektive Realität", „Existenz", „empirische Rea-
lität", „bestehen aus", „enthalten", zu unterscheiden. Ich werde
vielmehr angeben, wieso in der „Antinomie der reinen Vernunft",
dem für uns hier wichtigsten Teile der „Transscendentalen Dia-
lektik" vom Sein in verschiedenem Sinne die Rede ist. Auch die
begriffliche Bedeutung anderer Wörter wie „Welt", „Unendlich",
die im folgenden gesperrt gedruckt werden, habe ich anzugeben
und zu erörtern.
Die Welt ist bei ihm das, was wir als Erscheinungen
kennen lernen, die empirische oder Sinnen-Welt; aber Kant
versteht darunter nicht etwa bloss die sinnlichen Empfindungen
und ihre einfache Zusammenfassung, den blossen empirischen In-
halt von sinnlich empfundenen, geschauten Beobachtungen und
Experimenten (nach der heute so beliebten Auffassung), sondern
er meint alles, was räumlich und zeitlich vorgestellt und mit
Festhaltung dieser Vorstellungen begriffen und logisch beurteilt
wird. Er nennt die Welt den „Inbegriff aller Erscheinungen"
(S. 412; A. 506) oder „die ganze Reihe der Erscheinungen"
(S. 410), verlangt aber, dass man dieses „ganz", „alle" und „In-
begriff" nicht leichtfertig und ohne kritische Untersuchung hin-
nimmt oder auffasst. Die Welt ist niemals ganz gegeben, ist
kein unbedingtes Ganze (S. 410); es sei falsch, von einer abso-
luten Totalität der Grösse in der Erscheinung zu reden. Sprächen
Kants Antinomien und das Wesen des Unendlichen. 197
wir von einer absoluten Totalität, bildeten wir solche Idee, so
sprängen wir damit heraus aus dem, was die Welt ist, wir
müssen dann auch sofort die Bedeutung- des Wortes „ist", des
„Seins" aufgeben, wie wir dies Sein den Erscheinungen beilegen,
davon redeten, das Empirische, Räumlich-zeitlich Vorgestellte sei.
Es sei falsch (S. 412), dass die Welt (der Inbegriff aller Er-
scheinungen) ein an sich existierendes Ganzes sei, sondern die
Erscheinungen seien „ausser unseren Vorstellungen nichts, welches
wir eben durch die transscendentale Idealität derselben
sagen wollen". Die Welt „ist", sie hat ein Sein in unseren Vor-
stellungen, hat empirische Realität. Wir können aber auch
an eine andere Art Existenz, an das Sein eines Dinges an sich
ausser und unabhängig von unseren Vorstellungen denken, an ein
Sein schlechthin (S. 457; A. 575, 6). Wenn man behauptet oder
voraussetzt, dass die Welt ein an sich existierendes Ganzes sei,
so sei dies ein Begriff der Existenz, der nicht auf die empirisch
bekannte, räumlich-zeitliche Welt passe; vielmehr gelte (S. 411)
die Idee der absoluten Totalität nur als Bedingung der Dinge
an sich selbst. Will man die Welt als die ganze Reihe der Er-
scheinungen bezeichnen, so ist dieses Ganze ja nicht als ein un-
bedingtes, an sich existierendes Ganzes zu fassen. Die Welt
ist nach Kant (S. 410) jederzeit bedingt, niemals ganz gegeben,
ist kein unbedingtes Ganzes. „Das Weltganze habe ich jederzeit
nur im Begriffe, keineswegs aber (als Ganzes) in der An-
schauung" (S. 419). Wenn man von einer Totalität spricht,
diesen Begriff anwenden will auf das Objekt des Denkens, so ist
die Totalität niemals im Objekt als wirklich zu deuken (S. 412),
man erreiche auch dabei niemals das Unbedingte oder Schlecht-
hin-unbedingte (S. 414), es sei kein konstitutives, soudern nur ein
regulatives Prinzip für den Verstand, ein blosses Problem,
wie man es anstellen solle, um zum vollständigen Begriffe des
Objektes zu gelangen. Wir begeben uns aber mit diesem regula-
tiven Prinzipe, ebenso wie mit der Idee von einem All der Rea-
lität, mit dem über die Idee noch hinausgehenden Ideal (S. 452;
A. 568; ein einzelnes durch die Idee allein bestimmbares oder
gar bestimmtes Ding) schon über das in den Antinomien vorkom-
mende Sein hinaus. Diese Ideale sind freilich nach Kant (S.453)
„nicht Hirngespinste, ob man ihnen gleich nicht objektive Realität
(Existenz) zugestehen möchte, sondern geben ein unentbehrliches
Richtmass der Vernunft u. s. w." Das Ideal dürfte nicht etwa,
13*
198 K. Geissler,
wie der Weise in einem Roman, in einem Beispiele, d. h. in der
Erscheinung realisiert werden. Wir sehen, dass selbst solche
Ideale eine Art von Sein als „Richtmass der Vernunft" bei
Kant haben, halten uns aber zunächt noch an den Unterschied
der empirischen Realität und eines Seins, das fälschlich voraus-
gesetzt werde in dem Urteile: die Welt ist ein an sich existieren-
des Ganzes. Gebraucht man dieses „ist" als ein Ansichsein in den
bekannten Sätzen: „Die Welt ist der Grösse nach unendlich" und:
„Die Welt ist der Grösse nach endlich", so habe man einen kon-
tradiktorischen Gegensatz, also einen Widerspruch, die scheinbar
unauflösliche Schwierigkeit des Unendlichen und Endlichen. Kant
aber lehrt: Weil die Welt gar nicht an sich existiert, so existiert
sie weder als ein an sich unendliches, noch als ein an sich end-
liches Ganzes. Hier ist auch das zweite Wort „existiert" als
Ausdruck für bestimmte Art des Seins gebraucht (Sein an sich);
denn die Welt existiert wohl, sie existiert (im Sinne empirischer
Realität) sowohl als endliche wie als unendliche, freilich in beiden
Eigenschaften nicht als vollendetes Ganzes. Endlichsein und Un-
endlichsein sind hier nicht kontradiktorisch, sondern konträr. Das
Unendliche wird von Kant gefasst als etwas, was nicht endlich
ist; dieses „ist" oder ,,Seiu" des Endlichen und Unendlichen darf
nach ihm (der sonst daraus folgenden Widersprüche halber) nicht
gefasst werden wie das Sein von Eigenschaften eines unabhängig
und für sich, also wie ein absolutes Ganzes existierenden Dinges;
denn dann soll beides, wie er nachzuweisen glaubt, einander
widersprechen, widersprechendes Gegenteil sein (als: Sein an
sich). Fasst man die räumlich-zeitliche Welt aber als Erscheinung
und schreibt ihr eine derartige empirische Realität zu, wobei
Raum und Zeit nicht an sich existieren sollen, sondern nur als
Formen unserer Anschauung, so könne die Welt als Mannigfaltiges
von endlicher räumlicher Ausdehnung erscheinen, als solches eine
endliche Anzahl von endlichen Teilen enthalten und aus der
(endlichen) Einheit nach einander in der Vorstellung (vermittels
des Denkens) zusammengesetzt werden (successive Synthesis). Es
könne aber auch, zweitens, die Welt als ein Mannigfaltiges von
unendlicher räumlicher Ausdehnung vorgestellt werden, als solches
auch zugleich gegeben sein (S. 358; A. 432 — vgl. auch S.423;
A. 523—525). Diese Vorstellung einer unendlichen Welt ist offen-
bar eine andere Vorstellung als die einer endlichen Welt und
würde ohne Frage dieser widersprechen, wenn diese beiden Welt-
Kants Antinomien und das Wesen des Unendlichen. 199
bilder etwas an sich Existierendes, vollendete Ganze für sich
wären. Da beide aber nur Erscheinung^en sind, so haben sie
nicht den Widerspruch des an sich Seienden, sondern nur den
Gegensatz zweier Erscheinungsformen; so ist es nach meiner
Meinung aufzufassen, wenn hier nicht kontradiktorischer, sondern
konträrer Gegensatz vorliegen soll. Ein Gegensatz freilich ist
da und bleibt da, aber nur der Gegensatz zweier Erscheinungs-
formen, und diese sind in einem vorstellenden Wesen als Vor-
stellungsarten möglich. Freilich bewegt sich dieser Gegensatz auf
demselben Gebiete, nämlich auf dem der Raumvorstelluug (bez.
Zeitvorstellung) der Welt, also auf einem Gebiete von empirischer
Realität. Verlegen wir also vorläufig auch mit Kant das Endliche
und Unendliche nur hinein in diese Art der Existenz, so müssen
wir doch klar darüber werden, worin hier der Gegensatz besteht,
damit er keinen unmöglichen Widerspruch liefert. Kant wird
meinen, dass die als unendliches Mannigfaltiges vorgestellte oder
so „gegebene" Welt eine Totalität von Teilen an sich (mit der
Existenz des Ansichseins) zwar nicht besitze und eine vollendete
Synthesis der Teile nicht möglich sei (S. 358, 60; A. 432, 434).
Kant meint auch, dass bei einer empirisch-real vorgestellten un-
endlichen Welt eine successive Synthesis „die successive Synthesis
der Einheit in Durchmessung eines Quantum" (S. 358 ; A. 403 und
432) niemals vollendet sein kann". Aber dies ist für ihn kein
Hindernis, denn darin bestehe gerade der Begriff der Unendlich-
keit; das Quantum „enthalte dadurch (dass die Synthesis niemals
vollendet sein kann) eine Menge von gegebener Einheit, die
grösser ist als alle Zahl, welches der mathematische Begriff
des Unendlichen ist" (ebenda). Man darf nach Kant nicht
mehr fragen: wer hat recht, der behauptet, die (an sich existie-
rende) Welt sei endlich, oder der behauptet, sie sei unendlich;
aber kann man nicht fragen, einer von beiden müsse doch recht
haben, entweder der, welcher sagt, die Welt sei empririsch-real
endlich, oder der, welcher sagt, sie sei unendlich? Wäre bei
Kant die Welt (die Reihe der empirisch-realen Erscheinungen)
das, was uns (nach heutiger Vorstellung) direkt die sinnlichen
Empfindungen liefern (das Sinulichwahrgenommene oder Sinnlich-
wahrnehmbare), so würde man nur antworten, die Welt sei end-
lich. Aber, wie schon gesagt, umfasst die Welt nach Kant viel
mehr, nämlich alles das, was überhaupt in der räumlich-zeitlichen
Vorstellung liegt; und in dieser Vorstellung oder Anschauung
200 K. Geissler,
(nicht wörtlich vom Auge geuommeu) liegt auch die Vergrösserung
und die Teilung ohne Ende. Die Behauptung, beide Meinungen
seien richtig, erscheint uns insoforu nicht gut, weil wir doch bei
der Meinung, die Welt sei endlich, eine absichtUche Lückenhaftig-
keit, ein Beschränken auf Sinulichwahrnehmbares oder diesem
Ähnliches finden. In der Meinung freilich, die Synthesis nehme
nie ein Ende, könnte man wieder Einseitigkeit sehen, als ob es
bloss eine nie endende Synthesis für den vorstellenden Geist gebe.
Am besten würde uns dann die x\ntwort erscheinen, die Synthesis
brauche kein Ende zu nehmen, weil darin beide Vorstellungen
ohne kontradiktorischen Gegensatz stecken. Wenn also der Geist
will, so kann er in endlicher Weise aufhören; und wenn er nicht
will, so kann er ohne Ende weiter zusammensetzen oder zerlegen?
Dadurch erhielte die ganze Weltvorstellung etwas schwankend
Psychologisches, von dem augenblicklichen Willen Abhängiges.
Es sollte wirklich diese wichtigste Eigenschaft der Welt, ihre
zeitliche und räumliche Ausdehnung, etwas so Schwankendes sein?
Das Ding an sich, das bei Kant wenigstens trotzdem immer noch
existiert und mit der Erscheinungswelt irgendetwas zu tun hat
(wenn es auch nicht das Räumlich-zeitliche, nicht das Endliche
oder Unendliche liefert), wird in dieser Beziehung fast zur Be-
deutungslosigkeit erniedrigt (vgl. den Nachkan tischen Idealismus!);
aber auch die Raum- und Zeitanschauung, die doch erkenntnis-
theoretisch wichtig ist, scheint zu leiden. Wir müssen erst
noch verfolgen, wie Kant das Endliche bez. Unendliche in der
Welt von diesen Vorstellungen in den reinen Anschauungen Raum
und Zeit unterscheidet.
Nach dem ersten Teile der Kritik sind Raum und Zeit be-
kanntlich Formen unserer Anschauung, sind als solche wirklich,
nicht etwa absolut real (S. 65, dann wären es Undinge und be-
deuteten gar nichts — S. 55, 61), sondern von einer anderen
Realität, der subjektiven Realität (S. 63), von der Wirklichkeit
der äusseren Erfahrung (S. 32); er nennt die Vorstellung des
Raumes auch notwendigerweise objektiv in Ansehung der Er-
scheinungen (S. 55, 61) und spricht von Realität oder objektiver
Gültigkeit in Ansehung der sinnlichen Dinge (S. 55, 56).
Schwierig ist es, bei ihm den Begriff oder die Vorstellung des
Unendlichen bei Raum und Zeit zu verstehen. Der Raum wird
nach Kant (in beiden Auflagen), ebenso wie die Zeit, als eine
unendliche gegebene Grösse vorgestellt; nach der zweiten Auf-
Kants Antinomien und das Wesen des Unendlichen. 201
läge (ß. 39) sind alle Teile des Raumes ins Unendliche zugleich,
der Raum wird so gedacht, als ob er eine unendliche Menge von
Vorstellungen in sich enthielte; nach der ersten Auflage (A. 25)
führt die Grenzenlosigkeit im Fortgange der Anschauung ein
Priuzipium der Unendlichkeit bei sich, ein Begriff von Verhält-
nissen ; ein allgemeiner Begriff von Raum (der sowohl einem Fusse
als einer Elle gemein ist) könne in Ansehung der Grösse nichts
bestimmen. Die Teile des Raumes werden nach Kant nur in ihm
gedacht, können nicht vor dem einigen, allumfassenden Räume
gleichsam als dessen Bestandteile (daraus seine Zusammensetzung
möglich sei) vorhergehen (S. 52; A. 24, 25; B. 39). Er führt
dies allerdings hier an, um zu erläutern, dass der Raum kein all-
gemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt sei,
sondern eine reine Anschauung. Die Aufnahme der Erscheinungen
ins Bewusstsein (Apprehendieren) geschieht (nach B. 202, 3) durch
Synthesis des Mannigfaltigen; dadurch werden die Vorstellungen
eines bestimmten Raumes erzeugt; alle Erscheinungen ihrer
Anschauung nach oder (nach B.) alle Anschauungen sind extensive
Grössen.
Trotz des angeführten Gegebenseins des unendlichen Raumes
in der Vorstellung scheint es doch nach den Ausführungen in der
Antinomienlehre, als ob Kant die Vorstellung einer unendlichen
Grösse fehle, zu der man nicht erst durch Zusammensetzung von
Endlichem zu kommen brauche. Er spricht von einer unendlichen
bestimmten (also begrenzten) Grösse nicht, er scheint gar nicht
auf den Gedanken gekommen zu sein, dass zwei unendliche
Grössen in einem bestimmten Verhältnisse zu einander stehen
könnten, ebenso wie zwei endliche; er bezeichnet auch das Un-
endliche nicht positiv als übersinnlich-vorstellbar (wie ich es in
meiner Lehre von den Weitenbehaftungen tue). Aber es kommt
doch das Unendliche, nämlich die unendliche Teilung in der
zweiten Antinomie vor bei einer begrenzten Vorstellung, bei der
Frage, ob ein Ding in der Welt, eine zusammengesetzte Substanz
aus einfachen Teilen besteht oder ob überall nichts Einfaches in
der Welt existiert. Die widersprechenden Behauptungen scheinen
ihm richtig begründet, falls man nichts von dem Unterschiede des
empirischen Seins und des Seins an sich weiss; der Widerspruch
aber gelöst durch seine kritische Unterscheidung. Das Ausge-
dehnte der Erscheinung aber beruht auf den Anschauungsformen,
die Frage der unendlichen Teilung hat mit Raum und Zeit zu
202 K. Geissler,
tun. Es genügt ihm noch nicht die Aufklärung (S. 411; A. 505):
„Die Menge der Teile in einer gegebenen Erscheinung ist an sich
weder endlich noch unendlich, weil Erscheinung nichts an sich
selbst Existierendes ist", sondern er setzt hinzu: „und die Teile
allererst durch den Regressus der decoraponierenden Synthesis
und in demselben gegeben werden, welcher Regressus niemals
schlechthin ganz, weder als endlich noch als unendlich gegeben
ist". Absolute Totalität giebt es also bei solchem Regressus
nicht. Aber es fordert ihn doch die Vorstellung, nämlich, dass
begrenzte Substanzen vorgestellt werden, zur Unterscheidung
zwischen in infinitum und in indefinitum auf. Diese Unter-
scheidung erklärt er bei einer geraden Linie, die ins Unendliche
verlängert werden könne, für leere Subtilität (S. 414, A. 511).
Seine Begründung zeigt einen so schwierigen Satzbau, dass man
schwer daraus klug wird; ich werde sogleich darauf eingehen.
Progressus bez. Regressus in indefinitum bedeutet bei ihm:
Fortgang oder Rückgang in unbestimmte Weite und wäre ganz
richtig, wenn nur vom Können die Rede sei. Eine Übersetzung
von progressus und regressus in infinitum, welche ich bei Kant
hier nicht geradezu finde, wäre wohl: Fortgang oder Rückgang
in Gegeben-Unendliches und zwar in das durch eine Begrenzung
gegebene Unendliche. Kant sagt (S. 415; A. 511), in infinitum
bedeute: ihr sollt niemals aufhören sie (die Gerade) zu verlängern
(welches bei Verlängerung der Geraden ins Unendliche eben nicht
die Absicht sei). Bei einer zwischen ihren Grenzen gegebenen
Materie, einem Körper (S. 415) heisse es richtig: Teilung in infi-
nitum, also wenn das Ganze in der empirischen Anschauung ge-
geben ist. Er meint offenbar, es sei hier nicht bloss möglich in
unbestimmbare Weite fortzugehen (wie beim in indefinitum), man
gehe nicht etwa bloss von einem gegebenen Teile aus und könne
nun ins Unendliche weiter gehen (wie beim in indefinitum),
sondern die möglichen Teile, zu denen man weiter vor oder hier
rückwärts geht, seien in der empirischon Anschauung mitgegeben
(ich mache wieder darauf aufmerksam, dass bei Kant das Empi-
rische nicht etwa das im Experiment oder in der Beobachtung
sinnlich Empfundene allein heisst, sondern dass alles Räumliche
und Zeitliche nur zur empirischen Welt gehört, nicht weil wir es
als räumlich junge Menschenkinder durch die Sinneswahrnehmungen
kennen lernten, sondern weil es wegen der Form unserer An-
schauung und unseres Denkens von vorn herein nicht anders vor-
Kants Antinomien und das Wesen des Unendliclien. 203
stellbar sei). Die möoflichen Teile seien mitgegeben, weil das
Bedingte durch die Grenzen des Ganzen mitgegeben sei (S. 416,
423). Jede Bedingung sei immer wieder ein Teil, daruDi seien
die Glieder der fortzusetzenden Teilung empirisch gegeben, d. h.
die Teilung gehe ins Unendliche. Wenn also auch alle Teile in
dem gegebenen Ganzen als Aggregate enthalten seien, so doch
nicht die ganze Teilung. Er will den Ausdruck „Enthaltensein"
erlauben, offenbar weil das Ganze empirisch begrenzt gegeben sei;
er will aber nicht erlauben zu sagen: das Ganze bestehe aus
den unendlich vielen Teilen, oder die Handlung des Teilens sei
ganz gegeben oder enthalten. Das Unendliche (ob in indefinituoi
oder in infinitum) ist ihm hier eine Handlung, etwas Empirisches,
was freilich auch empirisch nicht vollendet wird (geschweige denn,
dass es transscendental oder absolut oder an sich, eine Totalität
sei). Bei der räumlich-zeitlichen Teilung des Begrenzten seien
immer noch mehr Glieder da und empirisch gegeben, als
ich durch den Regressus erreiche; beim Rückgang oder Fortgang
in indefinitum kann ich im Regressus immer noch weiter gehen,
weil immer noch ein höheres Glied möglich ist (S. 417). Beim
ersteren sei es notwendig, immer noch mehr Glieder der Reihe
anzutreffen, beim in indefinitum sei die Nachfrage nach höherem
Gliede als notwendig zugelassen, es sei hier notwendig nach
mehreren zu fragen, weil keine Erfahrung absolut begrenze.
Beim in infinitum „ist es möglich, ins Unendliche zurückzugehen",
beim in indefinitum „ist es ins Unendliche möglich zu noch
höheren Bedingungen der Reihe fortzugehen" (S. 416). Man
sieht bei dieser mannigfaltigen Ausdrucksweise, dass es Kant bei
beidem auf eine endlose (empirische, der Welt der Erscheinungen
und den Formen der Anschauung zugehörige) Handlung ankommt,
dass aber beim in infinitum durch die Begrenzung ein Abschluss
zwar nicht der Handlung des Fortsetzens oder Teilens statt-
findet, aber doch das Ganze da ist, das die unendlich vielen Teile
enthält. Wir haben gehört, dass bei ihm der Raum (und die
Zeit) überhaupt nicht aus vorher vorgestellten Bestandteilen zu-
sammengesetzt und dadurch vorgestellt werde, sondern als etwas
„Einiges, Allumfassendes", als „eine unendliche gegebene Grösse"
vorgestellt werde. Wir haben hier also nach Kant in der Vor-
stellung eine unendliche gegebene Grösse, freilich ist es eine
Form unserer Anschauung, die wir uns da vorstellen, nicht eine
begrenzte Grösse.
204 K. Geissler,
Wie steht es nun mit der unendlich verlängerten geraden
Linie bei Kaut? P> stellt sich offenbar zuerst eine endliche
Gerade, eine Strecke vor, ohne doch dabei eine bestimmte Länge
(also ein bestimmtes Verhältnis) heranzuziehen. Er sagt (S. 414;
A. 5U): „Von einer geraden Linie kann man mit Recht sagen,
sie könne ins Unendliche verlängert werden, und hier würde die
Unterscheidung des Unendlichen und des unbestimmbar weiten
Fortganges (progressus in indefinitum) eine leere Subtilität sein.
Denn obgleich, wenn es heisst: ziehet eine Linie fort, es freilich
richtiger lautet, wenn man hinzusetzt, in indefinitum, als wenn es
heisst, in infinitum; weil das erstere nicht mehr bedeutet als:
verlängert sie, so weit ihr wollet, das zweite aber: ihr sollt nie-
mals aufhören sie zu verlängern (welches hierbei eben nicht die
Absicht ist), so ist doch, wenn nur vom Können die Rede ist,
der erstere Ausdruck ganz richtig; denn ihr könnt sie ins Un-
endliche immer grösser machen. Und so verhält es sich auch
in allen Fällen, wo man nur vom Progressus, d. i. dem Fortgange
von der Bedingung zum Bedingten, spricht; dieser mögliche Fort-
gang geht in der Reihe der Erscheinungen ins Unendliche." Man
hat darauf zu achten, dass Kant den deutlichen Unterschied
zwischen „Beliebigweit" und „Unendlichweit" nicht macht, viel-
mehr mit dem Beliebigweit „könnt ins Unendliche", „möglich"
oder „soweit ihr wollet" die Vorstellung des Nichtauf hörens oder
Unendlichen sofort verbindet, auch das bei indefinitum gebrauchte
Wort „unbestimmt" (in unbestimmte Weite) nicht von einem „Be-
liebigweit" deutlich unterscheidet. Es ist aber sehr wohl möglich,
dass man (wie ich es bei der Lehre von den Weitenbehaftungen
getan habe) die Fähigkeit in einer Reihe und überhaupt bei Ver-
grösserung beliebigweit zu gehen, unterscheidet von „unend-
lich" oder dann (bei dieser feineren Unterscheidung) besser von
„übersinnlich- vorstellbar". Eine endliche Strecke von irgend einer
Länge (auf deren Grösse im Verhältnis zu anderen man auch
durch sinnliche Wahrnehmung geführt werden kann: „sinnlich-
wahrnehmbare Länge", oder deren Grösse doch zu irgend einer
solchen sinnlichwahrgenommenen in bestimmtem endlichen Zahlen-
verhältnis steht: „kurz sinnlichvorstellbare" endliche Länge)
braucht nicht bestimmt zu sein, sondern kann z. B. in der Länge
1 m oder 3 m angenommen sein. Sie kann nun „beliebig" ver-
vielfältigt oder verlängert werden und doch dabei immer sinnlich-
vorstellbar werden, immer zu anderen endlichen Längen in be-
Kants Antinomien und das Wesen des Unendlichen. 205
stimmtem endlichen Zahlenverhältuis stehen. Man kann sich auch
eine begrenzte unendlich-kleine „untersinnlich-vorstellbare" Strecke
vorstellen und dieselbe in der Vorstellung „beliebig" verlängern,
aber doch so, dass die Grösse stets untersinnlich (unendlich-klein)
bleibt, in demselben „Weitengebiete" bleibt oder diese „Weiten-
behaftung" nicht verlässt. Dies ist dann keine unendliche Ver-
längerung oder Vervielfältigung, sondern eine endliche, aber be-
liebige, bestimmte oder auch im übrigen (abgesehen vooi Ver-
bleiben im Untersinnlich-vorstellbareu) unbestimmte. Wenn man
sich aber z. B. eine endliche (sinnlich-vorstellbare) Strecke unend-
lichmal vervielfältigt vorstellt, so heisst dies : sie erhält in unserer
möglichen Vorstellung eine Grösse, die nicht in einem endlichen
(durch eine endliche Zahl ausdrückbaren) Verhältnisse zur ur-
sprünglichen Strecke steht; man geht dann nicht von Strecke zu
Strecke weiter, uqi plötzlich oder allmählich in das Unendliche zu
gelangen; man macht nicht etwa einen Sprung, wie es die im
Endlichen vorgestellten Sprünge sind, man gleitet aber auch nicht
an irgend einem Abschlusspunkte (nach Art der Endpunkte der
endlichen Einheitsstrecke) in das Unendliche, sondern man ver-
wendet im Geiste eine zwar räumliche Vorstellungsweise, aber
doch eine neue, ganz besondere Fähigkeit, die Fähigkeit sich
etwas Übersinnlich-grosses vorzustellen, eine andere Weitenbe-
haftung. Es liegt auch hier die Möglichkeit vor, ein Können,
eine Handlung, aber eine neuartige Handlung, mit andersartigen
Grössenvorstellungen. Der Gegensatz: ich verlängere die Gerade
ins Unendliche entweder durch einen Sprung (nach Art der im
Sinnlichen wahrgenommenen oder vorgestellten Sprünge) oder durch
einen Nichtsprung, d. h. das Fehlen des Sprunges dieser Art, also
durch Weitergleiten ohne Auslassen, durch plötzliches Hineingehen
ins Unendliche an irgend einem Grenzpunkte einer recht grossen
endlichen Strecke, dieser Gegensatz ist nicht kontradiktorisch; ich
tue weder das eine noch das andere, sondern benutze verschiedene
Arten von W^eitenbehaftungen, die klar zu unterscheidende Arten
des Seins in der Vorstellung haben (genaue Gesetze sind mathe-
matisch angebbar und angegeben). Kant findet die Widersprüche
des Unendlichen in den Antinomien darin, dass man die empirische
Eealität nicht von dem Sein an sich unterschieden habe; das
Endliche und Unendliche in Raum, Zeit und Zahl aber rechnet er
überhaupt dem empirischen Sein zu. Dass die Schwierigkeiten
des Unendlichen auch in diesem empirischen Sein auftreten,
206 K. Geissler,
scheint er nicht zu merken, oder will nicht soweit gehen, er
glaubt zunächst mit seiner kritischen Unterscheidung des Dinges
au sich und der Erscheinungen auszukommen (obgleich er doch
hernach noch von verschiedenen Seinsunterscheidungen sprechen
muss — siehe später!). Er fühlt sich zwar veranlasst, vom
Unterschiede des in infinitum und des in indefiuitum zu sprechen
und will sich hier (S. 414) nicht „aufhalten mit der Prüfung der
Bedenklichkeit", die den Philosophen eine Unterscheidung vom
blossen mathematischen Begriffe angeraten habe. „Die Mathe-
matiker sprechen lediglich von einem progressus in infinitum", so
meint er, natürlich von den Mathematikern seiner Zeit oder bis
zu seiner Zeit (ob mit Recht, mag hier nicht ausgesprochen
werden). „Die Forscher der Begriffe (Philosophen) wollen an
dessen Statt nur den Ausdruck von einem progressus in indefinitum
gelten lassen." Kant will diese Begriffe in Beziehung auf seine
Absicht genau zu bestimmen suchen. Die oben angeführte, in der
Kritik nun folgende Stelle über die gerade Linie macht allerdings
einen nicht ganz entschiedenen Eindruck, es scheint vielmehr, als
wenn er doch eine gewisse Lückenhaftigkeit gefühlt habe. Ob-
gleich er von leerer Subtilität jener Unterscheidung spricht, wenn
man sagt, sie könne ins Unendliche verlängert werden, so ist
nach ihm doch „wenn nur vom Können die Rede ist, der erstere
Ausdruck (in indefinitum) ganz richtig". Es laute freilich richtiger,
zu: „ziehet eine Linie fort" hinzuzusetzen: „in indefinitum, als
wenn es heisst in infinitum" ; aber er meint wohl, es sei über-
haupt nicht nötig etwas hinzuzusetzen; denn er sagt, das zweite
„ihr sollt niemals aufhören sie zu verlängern" sei „hierbei eben
nicht die Absicht". Das: „ihr sollt" hat offenbar bei ihm den
Sinn, dass man solle, weil in der Erscheinung Grenzen gegeben
seien (z. B. die Begrenzung eines bis in infinitum teilbaren
Körpers) und harmoniert mit dem anderen Ausdrucke (S. 416), es
sei bei Teilung in infinitum „möglich ins Unendliche" (das hier
gewissermassen als gegeben verbürgt ist durch die gegebenen
Grenzen) „zurückzugehen" ; bei in indefinitum aber ist es nach
ihm „ins Unendliche möglich" fortzugehen. Das mögliche Fort-
gehen ist bei beiden Arten des Regressus (bez. progressus) irgend-
wie zu verbürgen, so werden wir es von Kant verlangen dürfen,
der die Elemente der Anschauung und des Denkens geben will.
Kant giebt als Grund an (S. 417; A. 514—16), dass „keine Er-
fahrung absolut begrenze". Entweder es sei keine Grenze durch
Kants Autinomien und das "Wesen des Unendlichen. 207
Wahrnehmimg- da oder es gebe eine solche Wahrnehmung-, dann
sei das, was begrenzt, also die Grenze, zu unterscheiden von
dem, was dadurch begrenzt wird, die Grenze könne nicht ein Teil
der zurückgelegten Reihe sein. Ob letztere Bemerkung als richtig
zugegeben werden muss, darüber werde ich gleich sprechen;
jedenfalls erscheint es mir, als ob bei Kant der Grund : „weil
keine ..." für beide Fälle, den des in infinitum wie den des in
indefinitum gelten soll, in dem Satze (S. 417) : „Dort war es not-
wendig, mehr Glieder der Reihe anzutreffen, hier aber ist es
immer notwendig, nach mehreren zu fragen, weil keine F]rfahrung
absolut begrenzt." Denn nur so ist das folgende „Entweder
oder" zu verstehen in: „Denn ihr habt entweder keine Wahr-
nehmung, die euren euipirischen Regressus schlechthin begrenzt,
und dann müsst ihr euren Regressus nicht für vollendet halten;
oder ihr habt eine solche eure Reihe begrenzende Wahrnehmung,
so kann diese nicht ein Teil eurer zurückgelegten Reihe sein
(weil das, was begrenzt, von dem, was dadurch begrenzt wird,
unterschieden sein muss) und ihr müsst also euren Regressus auch
zu dieser Bedingung weiter fortsetzen, und so fortan." Ist aber
der negative Grund, dass keine Erfahrung absolut begrenze, ein
hinreichender Grund für das mögliche Fortgehen in beiden Fällen?
Könnte es nicht bei einem geistigen Wesen so sein, dass dieses
zwar in seiner Erfahrung keine absolute Grenze findet, sondern
entweder (wie Kant es für die unendliche Fortsetzung der Geraden
annimmt) gar keine, oder (wie Kant es für den materiellen Körper
annimmt) eine solche, die etwas ganz Anderes ist als die ausge-
dehnten Teilchen, in die man ins Unendliche einteilt, und dass
ein solches Wesen trotzdem nicht fähig wäre, sich ein mögliches
Fortgehen vorzustellen, einfach, weil es die Grundlage für ein
solches unendliches Fortgehen in sich gar nicht besitzt? Man
kann hier nicht sich einfach auf die Kategorie der Möglichkeit
berufen, auch nicht auf die der Wirklichkeit oder der Notwendig-
keit; denn diese Kategorien sind etwas Logisches und sind als
solches zwar anwendbar auf andere Gebiete des Geistigen, z. B.
auf die Anschauung, das Räumlich-zeitliche. Aber die Anwend-
barkeit muss durch etwas Vorhandenes begründet werden ; in der
Anschauungsforra und in den hierdurch geformten Erfahrungen
muss etwas tatsächlich Vorhandenes sein (Sein gefasst als Er-
scheinungssein). Dieses Tatsächliche muss als Grund für An-
wendbarkeit der genannten Kategorien vorgestellt werden können.
208 K. Geissler,
Ob man nun sagt (wie Kant beim regressus in infinitum) „mög-
lieh ins Unendliche" oder, wie bei Fortsetzung der Geraden „ins
Unendliche möglich" fortzugehen, für die räumliche Möglichkeit
müssen wir räumlich Tatsächliches als Grund suchen. Ob es nun
auch wie beim in infinitum, nach Kant notwendig sei mehr
Glieder der Reihe anzutreffen, weil das begrenzte Ganze eben
wegen der Begrenztheit in der räumlichen Empirie, der räumlichen
Vorstellungswelt enthalten sei, oder ob es notwendig sei, immer
nach mehreren in indefinitum zu fragen, wenn eine Bedingung
gegeben sei, diese Notwendigkeit setzt eine spezielle Tatsäch-
lichkeit in der räumlichen Anschauung voraus, die Tatsächlichkeit,
dass es überhaupt etwas Unendliches giebt. Dies Unendliche
muss sowohl im unendlichen Regressus bei der Teilung wie im
unendlichen Progressus bei der Verlängerung der Geraden stecken;
die blossen Kategorien der Modalität liefern es nicht; denn sie
sind nicht räumlich! Auch die Bemerkungen Kants, dass Not-
wendigkeit eine Existenz durch Möglichkeit sei, aber doch nicht
etwa dadurch die Kategorie der Notwendigkeit überflüssig oder
schon in den beiden anderen völlig enthalten sei, können hier
nicht entscheiden, falls man sie auch für ausreichend hält. Denn
es sind solche Bemerkungen auch nur gemacht für die Logik, die
Formen des Denkens, nicht für das Gebiet der Anschauung, auf
dem sich die Logik betätigen darf, auf dem sie aber nicht etwa
Raum und Zeit mit dem, was darin liegt, schaffen soll. Diese
Meinung würde auch Kant entschieden zurückweisen, er würde
sich sicher nicht einverstanden erklären mit der Meinung gewisser
neuerer Mathematiker, nach der man durch blosse Definition
sogar räumliche Vorstellungen schaffen kann. Im Gegenteile, er
würde auch auf dem Gebiete der blossen formalen Logik eine
Selbstschaffung durch die logischen Elemente nicht anerkennen,
falls diese Selbstschaffung irgend etwas dem Wesen nach Neues
geben soll.
Es ist als eine Lücke bei Kant zu bezeichnen, dass er
die Möglichkeit des unendlichen Fortgehens nicht ausdrücklich
durch eine ganz besondere Eigenschaft der Anschauungsformen,
des Raumes und der Zeit, auch der Zahl begründet hat. Diese
Lücke ist z. T. dadurch begreiflich, dass er sich so sehr an die
Handlung hält, das Zeitliche, den Fortgang immer wieder hinein-
bringt in das Räumliche, das Unendliche im Räume nicht scharf
trennt von der Handlung. Es erinnert dies an einen ähnlichen
Kants Antinomien nnd das Wesen des Unendlichen. 209
Fehler bei den neueren Mathematikern, die oft die Bewegung-
nicht zu trennen vermögen oder aus praktischen Gründen glauben
nicht trennen zu sollen von der blossen räumlich geometrischen
Vorstellung. Wenn aber Raum und Zeit etwas wesentlich Ver-
schiedenes sind, wie mau nicht zweifeln wird, so w'ird auch das
Unendliche zwar in beidem auftreten können, aber doch z. B. im
Räume betrachtet werden können und besser sollen ohne sofortige
Heranziehung der Zeit, der Handlung. Mag auch z. B. beim be-
grenzt vorgestellten sinnlichen Körper das Ganze auf einmal
überschaut oder besser vorgestellt werden (weil Grenzen vorge-
stellt werden), so ist damit, wie auch Kant merkt, nicht sofort
die unendliche Teilung gegeben ; von dieser spricht mau besonders,
sie muss auf einer besonderen Eigenschaft beruhen trotz des Ge-
gebenseins der Grenze; ebenso das unendliche Fortgehen oder
Vervielfachen einer endlichen Strecke. Warum kann man denn
die Zeit, die Handlung hier beim Räumlichen verwenden? Weil
ein Grund für die Verwendbarkeit vorliegen muss. Dieser Grund
muss hier mit dem Unendlichen zusammenhängen, das tatsächlich
sowohl beim Räumlichen w^ie beim Zeitlichen vorkommen kann.
Warum also sollte es nicht gesondert beim blossen Räumlichen
vorkommen und dabei untersucht werden können?
Und wenn nun, wie auch Kant sagt, die räumliche Grenze
etwas wesentlich Anderes ist als das Begrenzte (der räumliche
Inhalt der Figur mit deren Teilen), warum untersuchen wir nicht
näher das abweichende Wesen solcher Grenze? Die Linie als
Grenze eines Flächenstückes, die Fläche als Grenze eines Körpers
ist, auch beim phj^sikalischen oder chemischen Körper, etwas
Mathematisches; auch das Atom, das Elektron oder wie man
sagen mag, bedarf geometrisch-räumlicher Vorstellung, sei es nun
ein Körperchen oder ein Punkt. Der Punkt als Grenze würde
gemäss der Kantischen Ansicht von der Begrenzung etwas
wesentlich Anderes sein als die Teile der Linie, die er begrenzen
soll. Wir dürfen hier nicht stehen bleiben, da, wo Kant stehen
geblieben ist, der selbst bei seinen Ausdrücken „welches hier
eben nicht die Absicht ist" und „w^enn nur vom Können die Rede
ist", also bei Unterscheidung des Unendlichen trotz seines Aus-
drucks: „leere Subtilität" eine Lücke zu fühlen scheint. Die
Verlängerung der geraden Linie ist freilich eine Handlung und
hat mit der Zeit zu tun, die Teilung einer Strecke in unendlich-
viele Teile oder immer weiter als Handlung auch; der tatsächliche
210 K. Geissler,
Grund für das Vorkommen, für die Notwendigkeit einer solchen
Handlung- muss aber ein räumlicher sein, sonst könnte auch das
Resultat, die Tatsache der Teilungshandlung und Fortsetzungs-
handUmg räumlich gar nicht verbürgt sein, müsste etwa, bloss als
reine formale Äusserlichkeit angesehen werden. Ist er nun ein
räumlicher, so hat man auch die Sonderbarkeit, die Eigentümlich-
keit der Begrenzung, der Dünne der Linie, der Fläche, des
Punktes, räumlich zu untersuchen. Selbst der Punkt, der als
Raumpunkt doch sicher in das Räumliche gehört und tatsächlich
im Räumlichen einen Grund für seine Vorstellbarkeit besitzen
muss, ist genau zu erklären.
Eine gewisse Richtung heutiger Mathematiker, welche
es liebt, das Unendliche möglichst nur formal zu definieren, eben-
so das Endliche (was Kant sicher abweisen würde) unterlässt es,
auch die sonderbare Eigenschaft der Begrenzung genauer zu
untersuchen (die Kant wenigstens merkt, betont und anerkennt),
und begnügt sich auch hier mit blossen Worten. Und wenn man
die Erklärung des Limesbegriffes bei ihnen verfolgt, so findet
man vereinzelt wohl das Bedürfnis, diesen Begriff und die für
das Endliche richtigen Resultate des Limesüberganges als etwas
Besonderes zu bezeichnen (sogar von einer hierfür neu aufzu-
stellenden Kategorie zu sprechen), meist aber glaubt man das
Unendlichkleine durch einen Grenzübergang beseitigt zu haben.
Die Notwendigkeit überhaupt etwas so Eigentümliches wie den
Limesbegriff, der viele Schwierigkeiten gemacht hat und noch
macht, auszuarbeiten, beweist schon, dass irgend etwas existieren
muss, ausser dem gewöhnlichen Endlichen, Sinnlichwahrnehmbaren
oder sinnlich Vorstellbaren. Dieses Eigentümliche — man sage
z. B. das Unendlich-kleine — wird auch mit der Vorstellung der
Begrenzung, der Fläche, Linie, des Punktes zusammenhängen.
Das muss auch Kant gemerkt haben, wenn er davon spricht, dass
die Begrenzung nicht dasselbe sein kann wie die Teile bei der
unendlichen Teilung. Hier darf man nicht aufhören zu denken,
sich vorzustellen und zu erforschen. Sonst schafft man jene
Lücken nicht fort, die man deutlich auch in Kants Unterscheidung
vom Infiniten und Indefiniten verspürt, und welche man fühlt,
wenn Mathematiker die Definition des Punktes u, s. w. lieber
ganz weglassen. Sagen Mathematiker auch, der Punkt habe gar
keine Ausdehnung, die Linie keine Breite u. s. w., unterscheiden
sie hier auch so, dass sie gewissen Gebilden eine oder zwei oder
Kants Antinomien und das "Wesen des Unendlichen. 211
gar jede Dimension fortdefinieren, so entfernen sie doch damit
nicht die Schwierigkeit, welche man schon bei Kant verspürt.
Sie sind oft ungründlicher als Kant, w^eil sie gar über die
Schwierigkeit ganz hinweggehen wollen, wenn sie gar dies
Hinweggehen, dies einfache Fortstreichen von Dimensionen be-
nutzen wollen, um beliebig viele Dimensionen, andersbeschaffene
Räume durch blosse Definition (rein formal) aufzustellen.
Versucht man die Zeit bei den Kantischen Betrachtungen
fortzustreichen, um erst einmal das Unendliche nur räumlich zu
untersuchen, so ist auch der Kantische Ausdruck brauchbar, der
Körper enthalte unendlich viele Teile; wir brauchten auch das
Wort „bestehe aus" nicht so streng auszuschliessen (wenn wir
nur nicht darunter ein Sein an sich, ohne' vorstellenden Geist,
verstehen wollen oder eine ganz glatte Vollendung in unver-
änderter Vorstellungsart). Freilich erfordert das „Bestehen aus"
eine weitere Forschung über das Unendliche, aber diese Forschung
bleibt uns auch nicht bei dem Worte „Enthaltensein" erspart.
Denn man fragt: wie können unendlichviele Teile in einem end-
lichen begrenzten Ganzen enthalten sein? Dadurch, dass die
Grenze gegeben ist, ist diese Schwierigkeit nicht entfernt. Auch
ist das Gegebensein der Grenze nicht hinreichend klar, Sie soll
nicht mathematisch genau etwa durch das Auge gesehen werden,
Kant versteht ja auch die Empirie in weiterem Sinne; sie soll in
der Raumanschauung, als Vorstellung gegeben sein (mag dabei das
Ding an sich auch eine erregende Rolle spielen); und da müssen
wir fragen: was ist diese in der Vorstellung gegebene Grenze,
die doch wesentlich anders sein soll als ein enthaltenes Teilchen
des Ganzen? Die sinnlichen Organe geben uns keine mathema-
tische Grenze (die wesentlich anders sei als die Teilchen), die
reine Vorstellung muss sie uns geben; warum soll nun die reine
Vorstellung uns nicht auch eine unendliche begrenzte Gerade
liefern können? Zu sehen brauchen wir sie ja nicht! Eine un-
endliche Zählung oder die Forderung zum Nichtaufhören ist ja
auch bei der unendlichen Teilung des begrenzten Raumes vor-
handen, „antreffen" tun wir die immer kleineren Glieder auch
bei dieser Teilung nur in der Vorstellung, nicht mit den sinnlichen
Organen. Ein Grund dafür „immer nach mehreren zu fragen"
muss räumlich auch bei dem Fortsetzen in indefinitum vorhanden
sein; unendlich viele Teile enthält der begrenzte Körper in der
Vorstellung nach Kant auch (oder wenigstens die Teilung enthält
KantBtudieii XV. \A
212 K. Geisslei',
(las Unendliche). Darum könnte auch eine unendlichlang- vorge-
stellte Linie begrenzt sein, nur muss von dem ungenauen nega-
tiven Ausdrucke unendlich abgegangen werden. Der tatsächliche
positive Grund für unendliche Teilung und unendliche Verlängerung
erlaubt und verlangt auch ein positives Wort, ebenso der Unterschied
zwischen „beliebig" und „unendlich" ; die Unsicherheit des Aus-
drucks „immer mehr" verlangt ebenfalls eine andere Wortbildung.
Wie aber bei der unendlichen Teilung etwas Anderes, Eigentüm-
liches vor sich geht, was bei der endlichen Teilung nicht vor-
handen ist, wie auch beim „immer weiter gehenden Verlängern"
etwas wesentlich Neues vorhanden ist, was beim endlichen, sinn-
lichen Vervielfachen noch nicht da ist, so muss auch das positive
Wort einen klaren Unterschied aufweisen zum Endlichen. Das
Endliche ist das Sinnlichwahrnehmbare oder besser das direkt aus
dem Wahrnehmbaren heraus nach Art des Wahrnehmbaren Vor-
gestellte: wie ich sage: das Sinnlichvorstellbare. Das neue
Wort für das Unendliche müsste den wesentlichen Unterschied
andeuten und tut dies, wenn es lautet: das Übersinnlich- und
das Untersinnlich-vorstellbare (verschiedener Ordnungen).
Suchen wir nun die offenbaren Lücken auszufüllen oder die
Fehler zu beseitigen, die sich dadurch bei Kant zeigen, so werden wir
die Begrenzung des Übersinnlich-vorstellbaren (wie der sogenannten
unendlichen Geraden) ebensowohl annehmen dürfen wie die Be-
grenzung der sinnlich-vorstellbaren Strecke. Denn das „Bestehen"
aus unendlichvielen Teilen (sinnlich-vorstellbaren oder untersinn-
lich-vorstelibaren), das „Enthaltensein" kommt bei beiden vor.
Die, wie wir sahen, durchaus herbeizuziehende Begründung des
Vorkommens von endloser Teilung oder Verlängerung steckt dann
in beiden! auf ganz entsprechende Art. Freilich wird die über-
sinnliche Gerade mit ihren Enden oder mit Anfang und Ende
nicht durch Wahrnehmungen der Sinnesorgane gegeben, aber sie
wird doch (auch im Kantischen Sinne) „gegeben". Ein glattes
Übergehen aus der unendlichen Teilung heraus bis zur Begrenzung
oder bis zur endlichen Länge findet auch im Gebiete des Sinn-
lich-vorstellbaren nicht statt (man bedarf der Kantischen Unter-
scheidung oder der besonderen Bildung des Limesbegriffes); so
braucht und wird auch ein glattes Übergehen von irgend einem
so und so vielten (mit endlicher Zahl angebbaren) wieder ange-
setzten endlichen Einheitsteile zur unendlichen (übersinnlichen)
Länge der verlängerten Geraden nicht stattfinden. Beides ist auf
Kants Antinomien xmä das Wesen des Unendlichen. 213
dieselbe Art erklärt, weder durch einen Nichtsprung noch durch
einen Sprung-, sondern — wie ich schon oben erwähnte — durch
Wechsel der Weitenbehaftuugen, durch Zusammenfügen von Vor-
stelhingen, die verschiedenen räumlichen Seinsgebieten angehören,
zu einer gemischten, aber ganz exakten, gesetzraässigen Vor-
stellung.
Freilich ist es hierbei nötig, die Begrenzung aufzuklären,
sowohl die Begrenzung einer sinnlich-räumlichen Grösse wie einer
übersinnlichen (um so kurz statt „sinnlich-vorstellbar" etc. zu
sagen). Kant hat sicher Recht, wenn er wesentlich zwischen den
Teilchen und der Grenze unterscheiden will. Aber lückenhaft ist
es, wenn er nun von der weiteren Untersuchung des Wesens der
Begrenzung, die doch auch „räumlich" seiü soll und muss, ab-
sieht. Den Punkt als etwas ganz Raumloses aufzufassen, das
will selbst dem Kinde nicht in den Sinn. Auch der Lehrer bringt
das Kind auf den Punkt durch den Fleck, der aber immer zu
gross sei, weil er noch durch die Sinne wahrgenommen werde.
Besser hiesse es: weil er überhaupt noch die sinnlich-vorgestellte
Ausdehnung habe. Der Punkt muss wesentlich verschieden sein
von der begrenzten Strecke, dem begrenzten Elecke, er muss un-
vergleichlich viel kleiner sein. Dann würde die E]rklärung
stimmen, dass er unendlich klein oder untersiunlich-vorstellbar sei.
Aber damit würde wieder der scharfe Begriff einer Grenze nicht
stimmen, weil diese Grenze selbst ja nicht mehr mit Anfang und
Ende vorzustellen ist. Aus dieser Verlegenheit scheint mir meine
Erklärung zu helfen, dass der Punkt als Begrenzung einer end-
lichen Strecke zwar untersinnlich-klein vorgestellt werde, man
aber dabei jede Vorstellung einer Begrenzung dieser untersinn-
lich-kleinen Grösse aufgiebt. Die Vorstellung einer Begrenzung
ist etwas, was dem Geiste eigentümlich ist. Wie geschieht sie?
Sicher durch etwas wesentlich Kleineres; die Begrenzung der
sinnlich-vorstellbaren Strecke also durch das Untersinnlich-kleine,
die Begrenzung einer noch bestimmt ausgedehnten untersinnlichen
Strecke durch etwas noch viel Kleineres (das Untersinnliche
zweiter Ordnung). Stellt man sich überhaupt nur etwas Unter-
sinnlich-kleiues vor, ohne an dessen genaue Begrenzung, Anfang
und Ende zugleich zu denken, so erfüllt dies für das Sinnlich-
vorstellbare beide Eigenschaften eines Punktes. Auch das Un-
endlich-grosse, der unendlich-grosse Raum kann vorgestellt werden
ohne Grenze (wie Kant sagt : als solcher gegeben sein). Aber wir
14*
214 K. Geissler,
könueu uns auch eine endliche Strecke so verlängert denken, dass
sie gar nicht mehr endlich bestimmt mit der sinnlichen zu ver-
gleichen ist. Wir können dies ebenso gut, wie wir uns in einer
endlichen Strecke unendlich-viele Teile enthalten vorstellen. Was
aber muss dann die Begrenzung der positiv Unendlichen (Über-
sinnlich-vorstellbaren) sein? Wie man von der unendlich-kleinen
vorgestellten Grösse die Vorstellung einer Begrenzung fortlassen
kann, also z. B. irgend eine untersinnliche Strecke als Endpunkt
einer endlichen auffassen kann (hier aber nicht unter „irgendeiner" zu
verstehen eine ausgewählte, sondern jede beliebiggrosse, von Anfang
und Ende befreite solche Grösse), so kann auch jede im Endlichen
vorgestellte Grösse z. B. eine aufgezeichnete Strecke, als Anfangs-
punkt einer daselbst beginnenden Unendlichen (^Übersinnlich-langen)
gelten. Nur muss man mit der ursprünglichen Vorstellung einer
solchen endlichen Strecke eine gewisse Veränderung vornehmen,
man muss sie frei machen von der Vorstellung einer bestimmten
Grenze, einer sinnlichen bestimmten Länge, man muss die Vor-
stellung bilden einer „grenzenlosen" oder „von der Begrenzung
durch Grössen niederer Ordnung befreiten" Strecke. Diese ist,
wenn sie auch in die Weitenbehaftung des Sinnlichen gehören
soll, doch unvergleichlich klein gegenüber der übersinnlich-langen
Linie. Ebenso wird diese letztere als Endpunkt in der Vor-
stellung haben eine grenzenlose endliche (sinnlich-vorstellbare)
Grösse. Hierdurch wird der allbekannte, so oft besprochene
Widerspruch völlig entfernt, wonach eine unendliche Gerade
„ebensogut" beginnen könnte bei einem Punkte A wie bei einem
um Sinnliches davon entfernten Punkte B. Verlängert man in
der Vorstellung eine sinnlich-vorgestellte Strecke AB über B
hinaus in das Unendliche und lässt sie als Übersinnlich-vorstell-
bare irgendwo räumlich endigen, so ist es für ihre übersinnliche
(unendliche) Länge gleichgültig, ob sie bei A oder bei B beginnt;
weil eben die Strecke AB als Anfangspunkt der Übersinnlichen
von der Vorstellung eigener Begrenzung befreit werden muss.
Dennoch kann man auch die Unterscheidung des Punktes A und
B und ihrer Entfernung machen, aber nicht für die Grössenunter-
scheidung der übersinnlichen Grössen, sondern nur für die etwa
gleichzeitig oder in derselben Untersuchung vorgestellte Unter-
scheidung sinnlicher Grössen. Man hat dann Vorstellungen ver-
schiedener Weitenbehaftungen verbunden, eine Vorstellung ge-
mischter Weitenbehaftung gebildet und kann das mit völliger
Kants Antinomien und das Wesen des Unendlichen. 215
Klarheit, wenn man nur immer die Gesetze über die Grössen
innerhalb derselben Weiteubehaftung unterscheidet von den Ge-
setzen der Beziehung zwischen den verschiedenen Weitenbehaftungen.
Ist A ein Punkt für das Endliche (Sinulich-vorstellbare), also
selbst als Begrenzung des Sinnlichen von untersinulicher Aus-
dehnung, so kann er doch auch ein Anfangspunkt für eine über-
sinnlich-grosse Strecke sein, ebenso wie B. Wir hatten aber vor-
her gesagt, die endliche Strecke AB sollte als Anfangspunkt für
die übersinnliche gelten; das ist auch richtig, wenn es nur auf
Unterscheidung übersinnlicher Grössen untereinander, auf ihre
Verhältnisse ankommt. Dann bringt ein Hinzuziehen einer sinn-
lichen Grösse wie AB für die übersinnlichen. Grössenverhältuisse
allein nichts (Null oder Punkt), aber es macht diese Unterscheidung
von A und B wohl etwas aus, wenn wir uns Vorstellungen ge-
mischter Weitenbehaftungen bilden, wenn wir in derselben räum-
lichen, mathematischen Betrachtung sowohl übersinnliche Grösse
wie auch sinnlich-vorstellbare haben. Entsprechend kann ein
Anfang oder ein Ende einer sinnlichen Strecke oder sonst ein
Punkt auf einer sinnlichen Strecke vorgestellt werden als eine
grenzenfreie Grösse des Untersinnlichen und zwar des Untersinu-
lichen der nächst darunter liegenden Ordnung, aber es ist auch
möglich und oft notwendig, sich neben den sinnlichen Grössen auch
noch untersinnliche mit bestimmten Grenzen vorzustellen, z. B.
bei den Berührungen, bei Vorstellung einer Tangente, der Krüm-
mung (Krümmungsradius u. s. w.). Dann kann die Grenze für
eine sinnlich-wahrnehmbare Grösse das grenzenfreie der nächst-
niedrigen Weitenbehaftung sein, aber auch das Grenzenfreie
einer noch niedrigeren Weitenbehaftung, des Unendlich-kleinen
zweiter Ordnung oder des Punktes für das Untersinnliche erster
Ordnung. Kurz, es ist überhaupt der Punkt und entsprechend
jede Begrenzung das „Grenzenfrei-kleine von irgend einer nied-
rigeren Weitenbehaftung".^) So kompliziert dies auch zuerst
erscheinen mag, so verhältnismässig einfach gestaltet sich doch
das Unendliche danach sowohl auf dem Gebiete der Geometrie
wde der Zahlenlehre; es kommt hier nur darauf an, ob die Wider-
sprüche in der Erklärung des Unendlichen dadurch verschwinden.
') Das Nähere gehört nicht hierher, ist aber von mir ausgeführt in
zahlreichen Abhandlungen, in mehreren Büchern, z. B. auch in : „Moderne
Verirrungen auf philosophisch-mathematischen Gebieten", 1909, Verlag
Alpwacht, Lonay bei Lausanne. (Direkter Bezug.)
21H K. Geissler,
Es ist durch diese Unterscheidung der Weiteubehaftungen noch
nicht Stellung genommen zu der für Kant so wichtigen Unter-
scheidung vom Sein an sich und von der empirischen Realität
der Erscheinungswelt; es ist dadurch nur die Ausfüllung einer
offenbaren Lücke und Unklarheit bei Kaut möglich gemacht, näm-
lich der Unklarheit, die sich bei der Erörterung des Unendlichen
für die Geometrie, z. B. die unendliche Verlängerung der Geraden
zeigt. Wir haben durch Weiteubehaftungen eine Art Seinsunter-
scheidung innerhalb des Räumlichen; Kant kommt es bei den
Antinomien auf die Unterscheidung des Dinges an sich von der
Erscheinungswelt an, dadurch glaubt er die Widersprüche zu
lösen. Bei Betrachtung dieser Lösung, seiner Ausführung wird
aber das Vorstehende nützen.
Die Vorstellung des Endlichen wie des Unendlichen gehört
bei Kant der Erscheinungswelt an, Raum und Zeit sind überhaupt
nur in der Sinnenwelt (S. 422). Die Erscheinungswelt steht
allerdings in einer Beziehung zur Welt au sich, aber er spricht
(beim Endlichen und Unendlichen) nur von „einer Regel, nach
welcher Erfahrung ihrem Gegenstande angemessen, angestellt und
fortgesetzt werden soll" (S. 420, 421). Wenn auch nach dem
vorher von mir Ausgeführten der Unterschied von in indefinitum
und in infinitum nicht, wie bei Kant, bestehen bleiben kann, man
vielmehr bei beiden auf einen Grund schliessen muss, und wenn
dieser Grund ebenso wie der Grund für das Endliche (Sinnlich-
vorstellbare) gefunden werden kann durch Erkennung verschiedener
Weiteubehaftungen, so ist doch ein Vergleich zwischen den Kan-
tischen Ausführungen und der angedeuteten Weitenbehaftungslehre
möglich; er wird, hoffe ich, auch zum weiteren Verständnis der
bei Kant in den Ausdrücken scheinbar vorkommenden Wider-
sprüche beitragen. Wenn man eine geometrische Grösse mit
ihrer Begrenzung (z. B. Strecke mit Endpunkten) mit verschiedenen
Weitenvorstellungen behaften kann, so soll dies bedeuten, die
Strecke könne als sinnlich-endlich vorgestellt werden, die End-
punkte aber als grenzenfrei Kleines des Untersinulichen erster
Ordnung; oder aber die Strecke als übersinnhchgross und die
Punkte als grenzenfreie Grössen von sinnlicher Länge u. s. w.
Ebenso könne man sich ein gleichseitiges Dreieck vorstellen mit
endlichen Seiten und Schnittpunkten, angehörig dem Untersinn-
lichen, oder mit Übersinnlichgrossen Seiten und Eckpunkten von
niederer Behaftung, z. B. sinnhcher Fleckgrösse; und doch passen
Kants Antinomien und das Wesen des Unendlichen. 217
Dreieckssätze sowohl auf das Dreieck in erstgenannter Behaftung
wie auf das der letztgenannten Weiteubehaftung. Endlich können
bei derselben Figur auch Behaftungen verschiedener Ordnung vor-
kommen, z. B. bei einem gleichschenkhgen Dreiecke mit unend-
lichkleinen Winkeln an der Basis könnten die Seiten unendlichklein
vorgestellt werden; dann ist die auf der Basis senkrecht stehende
Höhe uutersinulich-klein von zweiter Ordnung (dies Dreieck ist
wichtig für die Krümmung, z. B. als Dreieck dreier unendlich-
naher Punkte einer Kurve). Mit diesen Vorstellungen ist nicht
unmittelbar die Frage von dem Sein an sich oder dem Vor-
stellungsseiu verknüpft; es stimmt aber insofern diese Lehre mit
Kant überein, als man hier zunächst das Endliche wie das Un-
endliche betrachten kann als angehörig einer Vorstellungswclt
(einer Erscheinungswelt); ich dürfte auch sagen: der Sinneuwelt,
wenn ich darunter die empirische Welt im weiteren, Kantischeu
Sinne verstehe und mit hineinfasse, dass auch in dieser Welt die
Begrenzung selbst nach Kant, noch etwas ganz Besonderes ist —
freilich versagt Kant bei der Begründung für letzteres und ge-
langt deshalb auch nicht dahin innerhalb des Seins der Vor-
stellungswelt eine Seinsunterscheidung zu machen zwischen
Grössengebieten.i) Nach der Lehre von den Weitenbehaftungen
findet die Vorstellung von Begrenzungen räumlicher Art (im
Räume) durch die Fähigkeit verschiedener Weitenbehaftungen
statt. Erst dadurch, dass man sich Uutersinnlichkleines vor-
stellen kann, begrenzt man (durch eine Fläche, als untersinulich
grenzenlos dünn) und hat die Vorstellung eines Körpers oder be-
grenzten Raumes ; ebenso wird die Linie und der Punkt erklärt
(der in neueren Versuchen geometrischer Grundlagen einfach gar
nicht mehr erklärt wird in offenbarer Verzweiflung an der
1) Es ist an mich oft die Aufforderung herangetreten, meine Aus-
drücke: Weitenbehaftungen, Weitengebiete etc. durch lateinische, franzö-
sische oder italienische Wörter auszudrücken, doch ist mir dies schwer
geworden, weil ja auch das Wort „Weiteubehaftung" im Deutschen neu
gebildet wurde und gebildet werden musste. Leichter wäre es vielleicht,
das hier gebrauchte Wort „Grössengebiete" zu übersetzen, aber es darf
freilich nicht missverstanden werden, nicht etwa als eine Zusammenfassung
eines Gebietes von räumlichem, zeitlichem, von Zahlengrössen, während
es in Wahrheit eine Unterscheidung von Gebieten ist, die sowohl bei der
Zeit, wie bei dem Räume, der Zahl u. s. w. vorkommen, von Gebieten,
die, selbst metaphysisch, unterscheidbar sind und doch mathematisch und
philosophisch gesetzmässig in Beziehungen stehen.
218 K. Geissler,
Lösung dieser Aufgabe). Die Dimeusionen unterscheidet man
auch erst dadurch klar, dass man Linien verschiedener Richtung
sich vorstellt; dazu ist also wieder die niedere Weitenbehaftung
nötig, welche den Begriff der unendlichen Dünne oder der
Ausdehnung Null in einer Richtung möglich macht u. s. w. Frei-
lich müssen im Räume Gründe auch für die nachher so vor-
gestellte Dreidimeusionalität vorhanden sein; aber es ist falsch,
wenn man anfängt (ohne Erklärung der Begrenzung, der Linie,
des Punktes), erst von einer räumlichen Dimension, dann von
zweien, dreien — und nun ganz kühn ohne eigentliche räumliche
Vorstellung von vier Dimensionen und ihrer räumlichen Möglichkeit
zu reden. ^) Sehr ähnlich klingt es bei Kant, wenn er sagt, der
Raum werde als eine unendliche gegebene Grösse vorgestellt, die
Teile des Raumes werden nur in ihm gedacht, können nicht vor
dem einzigen, allumfassenden Räume gleichsam als dessen Be-
standteile (daraus seine Zusammensetzung möglich sei) vorher-
gehen (S. 52); die Lückenhaftigkeit aber zeigt wieder an das:
„alle" in: alle Teile des Raumes ins Unendliche sind zugleich",
(S. 53; 2. Ausgabe), besser ist der Ausdruck „Bewusstsein", wenn
er sagt, die Erscheinungen könnten nicht anders apprehendiert,
d. i. ins empirische Bewusstsein aufgenommen werden als durch
die Synthesis des Mannigfaltigen, wodurch die Vorstellungen eines
bestimmten Raumes oder Zeit erzeugt werden (S. 159, auch Zusatz
der 2. Ausgabe). Man wird hiernach auch besser den Unterschied
von „enthalten" und „bestehen" bei Kant verstehen. Der Raum,
d. h. ein in seinen Grenzen angeschauter Raum, enthält nach
ihm alle uneudlich-vielen Teile; ebenso enthält der Körper alle
Teile (weil sich seine Teilbarkeit auf die Teilbarkeit des be-
grenzten Raumes gründe) oder: es sind alle seine Teile in der
Anschauung des Ganzen enthalten. Aber die Handlung der
Teilung, die fortgehende Decomposition, kommt niemals zu
ende; man könne nicht sagen, dass die ganze Teilung (die
Sperrung rührt von mir her ; K. G.) in dem begrenzten Räume
oder Körper enthalten sei. Solche Handlung der Teilung könne
niemals alle Zusammensetzung fortschaffen, weil sonst aller Rauoi
aufhören würde (S. 423, 424). Es ist bei der Handlung (ich be-
tone, um Kant so verständlicher zu machen, das Wort Handlung,
1) Vgl. meinen Aufsatz : Die Dimensionen des Raumes und ihr Zu-
sammenhang, Archiv f. syst. Philosophie XIII, H. 3, 1907.
Kauts Antinomien und das Wesen des Unendlichen. 219
K. G.) des Teileus in der Geometrie „möglich ins Unendliche
fortzugehen", nicht bloss, wie bei in iudefinitum : „ins Unendliche
möglich fortzugehen". Es liegt also bei Kant offenbar die An-
nahme eines Grundes für die Handlung vor, eines Grundes, der
gegeben ist, wie der unendliche Raum gegeben ist. Schade, dass
er die Tatsächlichkeit dieses Grundes — ohne dabei noch von der
Handlung zu sprechen — nicht näher untersucht hat; er wäre
dann auch vielleicht dahin gekommen, zweierlei oder mehrererlei
Tatsächlichkeiten anzuerkennen, auf die sich das Endliche, das
Übersinnlichgrosse und das Untersinnlichkleine stützt, und die nie
zu ende kommenden Handlungen, welche wir beim empirischen
Teilen und Zusammensetzen in Angriff nehmen, welche uns aber
nicht hindern dürften, eine bestimmte unendliche Anzahl oder be-
liebig viele derselben und ihre Verhältnisse, in der Vorstellung
klar zu bilden, ohne jenes sprunglose Weiterzählen oder Zerlegen,
auch ohne einen endlichen Sprung, sondern durch einen Wechsel
unserer Vorstellungsfähigkeiten.
Lehrt nun auch Kant, dass der begrenzte Raum oder Körper
uneudlichviele Teile enthalte, so sagt er doch, er bestehe nicht
daraus; er denkt bei dem Worte „bestehen" offenbar an ein Zu-
standekommen der ganzen unendlichen Teilung oder der ganzen
Zusammensetzung durch unsere ununterbrochene, sprunglose Kom-
position; die unendliche Teilung bezieht sich immer nur auf Er-
scheinung als quantum continuum. Ein solches Bestehen oder
eine Teilungshandlung bez. Zusammensetzungshandlung bis zum
Bestehen, bis zum auf solche Art hergestellten Sein oder Dastehen,
erscheint ihm unmöglich. Wenn man das kontinuierliche Weiter-
gehen oder Teilen nur innerhalb eines endlich-zeitlichen Erlebens,
einer menschlich ausführbaren Tätigkeit sucht und kennt, dann
kann man freilich nie zum „Bestehen" kommen, obgleich der
Raum als unendliches Ganzes gegeben und der Körper die Teile
„enthalten" soll. Wenn man aber die Möglichkeit einer Hand-
lung: „Teilen, Zusammensetzen, Zählen" vom Zeithchen befreit
und überlegt, was ausser dem Zeitlichen darin steckt, so muss
man auf einen tatsächlichen Grund schliessen, auf eine räumliche
und zahlenmässige Tatsächlichkeit. Und diese Tatsächlichkeit
enthält nicht bloss das räumliche Bestehen aus sinnlich-vorstell-
baren Stücken, die immer kleiner sind oder das Ganze immer
grösser machen, mit endlicher Kontinuität, d. h. mit sprunglosem
oder nicht irgendwo andersartigem Zusammenstehen (Zusammen-
220 K. Geissler,
sitzen oder Zusammenhäng-en). Denn dieses Zusammenhängen aus
bestimmten Stücken ist uuverständlicli ohne Begrenzung- jedes
Stückes, verlangt also die Hinzuziehung und die Aufklärung des
Wesens der „Begrenzung". Zieht man aber diese „Begrenzung"
hinzu, indem man versucht, sie aufzuklären, anstatt sie einfach
als etwas Unverständliches oder gar als blosses Wort dabei zu
lassen, so hat man damit ein anderes Gebiet von Grössenvorstel-
luug, die Vorstellung von unvergleichlich viel kleinereu Grössen
(der niederen Weitenbehaftung). Diese Uuvergleichlichkeit gilt
nicht mehr, sobald man sich diese Grössen eines niederen Ge-
bietes begrenzt und unendlichoft (übersiuulichmal) zusammengesetzt
vorstellt. Dann bilden, in der Vorstellung, übersinnlichviele unter-
sinnlichkleine Grössen eine sinnlichvorstellbare Grösse. Man
würde auch nach heutigem Sprachgebrauche aus dem Worte „Be-
stehen" die Vorstellung der Handlung, der zeitlich-menschlichen
Tätigkeit ausschliessen und dann sagen dürfen, eine übersinnliche
(unendliche) Grösse enthalte übersinnlichviele sinnlich-vorstellbare
Teile oder auch „bestehe" aus ihnen.
Wollen wir aber nun wieder von der zeitlichen Tätigkeit
des Zusammensetzens oder Teilens (oder eines zeitlich zu ende
kommenden Kantischen Bestehens) sprechen, so müssten auch wir
sagen, durch die gewöhnliche, bisher nur vorgestellte sprunglose
allmähliche Aneinandersetzung der sinulich-vorstellbaren Grössen
oder durch derartige Teilung käme man nicht zu einem sinnlichen
Ende, zu einem sinnlichen Bestehen — aus ; die sinnliche Kontinuität
führe dazu nicht; man könne auch nicht bei irgend einer Stelle
dieser zeitlich-sinnlichen Tätigkeit aufhören, einen Sprung (nach
sinnlicher Art vorgestellt) macheu und käme so nicht, ohne etwas
Weiteres zu gebrauchen, zu der Vorstellung einer übersinnlichen
(bisher unendlich genannten) Grösse. Vielmehr werden wir sagen,
wir geben zwar Kant Recht, wenn er ein solches Erreichen oder
Bestehen leugnet, aber wir gingen über Kant hinaus und müssten
über ihn hinausgehen in folgender Art, Wird auch die zeitlich-
sinnliche Tätigkeit bei der Composition und Decomposition mit
sinnlicher Kontinuität nie zuende geführt, so steht uns doch ein
Mittel zur Verfügung, um mit Abbrechung dieser Tätigkeit über-
zugehen zu einer tatsächlichen Vorstellung eines Untersinnlich-
kleinen oder eines Übersinnlich-grossen. Und wir besitzen tat-
sächlich nicht bloss die Fähigkeit der Vorstellung eines („ge-
gebenen") unendlichen Raumes, einer („gegebenen") Begrenzung
Kants Antinomien und das Wesen des Unendlichen. 221
bei endloser Teiluüg, sondern sogar die Fähigkeit der Vorstellung
von klar unterscheidbareu, in bestimmten Verhältnissen zu ein-
ander stehenden übersinnlichen und uutersinnlichen Grössen, und
die Fähigkeit sowohl durch Weglassung der Vorstellung bestimmter
Begrenzung einer Grösse niederen Gebietes gerade diese grenzen-
los-kleine Grösse als Begrenzung (Punkt u. s, w.) einer Grösse
höheren Gebietes (z. B. sinulich-vorstellbarer Strecke) zu fassen;
endlich auch die Fähigkeit der Vorstellung einer Zusammensetzung
von übersinnlichvielen Grössen eines Gebietes zu einer Grösse
höheren Gebietes. Nur muss man nicht verlangen, dass eine
sinnlich-endliche Tätigkeit der Zusammensetzung wirklich im zeit-
lichen Leben des Menschen ausgeführt werde; ein solches Ver-
langen wäre auch geradezu widerspruchsvoll; denn wie sollte man
etwas Nichtsiunliches einzig und allein durch etwas Sinnliches zu
Stande bekommen?: Dieses jahrtausendelange Rätsel des Zusammen-
hanges ohne Widerspruch zwischen dem Sinnlich-vorstellbaren und
dem Unendlichen wäre durch Ausweisung dieses negativen Wortes
und durch Auffindung widerspruchsloser Gesetze zwischen ver-
schiedeneu Seinsgebieten gelöst. Wir dürfen bei Kant die völlige
Lösung noch nicht suchen, wir dürfen es aber nicht auslegen als
Konfusion, wenn wir bei Kant noch nicht alles erklärt finden; er
hat im Gegenteil trotz des Fehlens, trotz der von mir oft ge-
nannten Lücken das Übrige, was ihm und seinen Vorgängern be-
kannt war, meist sehr scharf behandelt. Ihm kommt es besonders
darauf an, die Antinomien zu lösen durch Unterscheidung eines
Seins an sich, eines „Dinges an sich", bei den Begriffen der zeit-
lichen und räumlichen Welt, der Freiheit und Kausalität, der
Existenz Gottes. Er sucht das Endliche und das Unendliche nur
in der empirisch-realen Welt und zwar vermöge unserer Formen
der Anschauung und des Denkens, übersieht aber zu sehr die
Möglichkeit, dass es auch in dieser Auschauungs- und Vorstellungs-
welt verschiedene Gebiete geben könne, die man durchaus scharf
trennen muss in ihrem Vorstellungssein und zwischen denen man
Gesetze finden kann, welche diese Seinsarten verbinden, also ein
Sein der Beziehung geben. So wie wir nun hier die Seinsarten
des Sinnlichvorstellbaren und Über- oder Untersinnlich-vorstellbaren
unterscheiden und doch verbinden, so könnte man möglicherweise
auch das gesamte, umfassende Sein der von uns vorgestellten
Welt, ähnlich wie bei Kant, trennen von einem anderen Sein
(nach Kant: „an sich"), und doch über Kant hinausreichend und
222 K. Geissler,
ihn in seinem schroffen Gegensätze verbessernd metaphysische
Beziehimg-sg-esetze annehmen und dieselben, wenn sie dem Ver-
stände und der Vernunft nirgends widersprechen und ausserdem
sich auf eine bis dahin nicht genüg-end beachtete geistige Tat-
sächlichkeit stützen, erkenutnistheoretisch aussprechen und be-
nutzen. Diese Möglichkeit müssen wir offen lassen und an sie
denken, wenn wir nun die vielangegriffene Kantische Darstellung
seiner Antinomien überprüfen wollen. Auch hierbei wird viel-
leicht das Wesen des Unendlichen noch weiter zur bewussten Er-
kenntnis kommen.
Kant glaubt, jeder der beiden einander widersprechenden
Beweise, der für die Thesis und der für die Antithesis jeder
Antinomie, sei für sich richtig, falls man seine Unterscheidung
der Erscheinungswelt und des Dinges an sich nicht machte. Nach
meinen vorstehenden Ausführungen muss man hinzusetzen,
es sei ein weiterer Fehler vorhanden ; es sei zwar der Unterschied
zwischen der sinnlichen und unsinnlichen Weitenvorstellung geahnt,
aber doch nicht Rücksicht genommen auf ihre Unvereinbarkeit in
einem einzigen, nur eine Kontinuität enthaltenden Grössengebiete.
Das zeigt sich darin, dass erstens der Hauptbegriff (wie derjenige
der Welt), selbst wenn man in ihm nur sieht die empirische oder
Erscheinungswelt im Kantischen Sinne, umfassend Endliches und
Unendliches, nicht genau definiert, nicht getrennt ist in
einen von der sinnlich-vorstellbaren Welt und einen solchen, in
dem auch das Unsinnlich-Vorstellbare eine Rolle als Ausgedehntes
spielt. Zweitens zeigt es sich darin, dass, trotz der weiten
Fassung des Hauptbegriffes, innerhalb der Beweise nur ent-
weder eine sinnlich-endliche Kontinuität beweisend be-
nutzt wird oder nur die tatsächliche Vorstellbarkeit des
Unendlichen. Zur Vermeidung der Widersprüche des Endlichen
und Unendlichen muss man zwar schliesslich auch Rücksicht
nehmen auf den Unterschied eines allgemeinen Seins (oder
mehrerer Stufen eines solchen nebst ihren Beziehungen) und des
die Erscheiuuugswelt umfassenden Seins, aber auch auf den
Unterschied des siunlich-vorstellbaren und unsinnlich-vorstellbaren
Seins innerhalb dieser Erscheinungswelt.
Wenn man, wie Kant, den Beweis indirekt führt und das
Gegenteil der Behauptung annimmt, die Unmöglichkeit des Gegen-
teils zu zeigen sucht, und nun auf die Richtigkeit der Behauptung
schliesst, so wäre beim vollständigen sonstigen Gelingen dieses
Kants Antinomien und das Wesen des Unendlichen. 223
Beweises der Fehler nur darin zu suchen, dass diese beiden
Gegenteile Endlich und Unendlich sich in Wahrheit nicht aus-
schiiessen; dass sie sich nur dann ausschliessen, wenn die gegen-
teiligen Behauptungen sich auf ein von der Vorstellung un-
abhängiges Sein (an sich) beziehen. Eine klare Darstellung
dafür, dass für eine Vorstelluugs- und Erscheinungswelt diese
Gegenteile sich nicht ausschliessen, gelang Kant nicht; die
Schwierigkeit ist nicht entfernt durch den Namen des „regula-
tiven Prinzips", die Angabe (S. 422), dass „die Welt niemals ganz
gegeben werden kann*', „der Begriff der Weltgrösse nur durch
den Regressus", dass ,,jeuer immer nur im Bestimmen der
Grösse" bestehe und „also keinen bestimmten Begriff" gebe, „also
auch keinen Begriff von einer Grösse, die in 'Ansehung eines be-
stimmten Masses unendlich wäre", „nur in unbestimmte Weite
gehe". Wenn sich auch das Endliche und Unendliche nicht auf
ein Sein au sich bezöge, und wenn man auch, wie Kant lehrt
(S. 420), weder sagen kann: die Welt ist unendlich (da dies „in
Ansehung der Welt, als eines Gegenstandes der Sinne, schlechter-
dings unmöglich" sei), noch sagen kann; „sie ist endlich; denn
die absolute Grenze ist gleichfalls empirisch unmöglich", so reicht
doch der Ausweg nicht hin (S. 420): „demnach werde ich nichts
von dem ganzen Gegenstande der Erfahrung (der Sinnenwelt),
sondern nur von der Regel, nach welcher Erfahrung ihrem Gegen-
stande angemessen, angestellt und fortgesetzt werden soll, sagen
können". Eine solche Regel, ein solches regulatives Prinzip hat
keinen Inhalt, wenn nicht dabei eine tatsächliche Vorstellung des
Übersinnlichgrossen und des Eudlichgrossen benutzt, erwähnt wird,
oder irgendwie vorkommt. Man kommt nicht damit aus, das Un-
endliche nur als etwas Verneinendes zu fassen, sondern es muss
ein konträrer Gegensatz zweier tatsächlich möglicher Vorstellungen
vorhanden sein; und solche Vorstellungen sind beide etwas Posi-
tives, sie „sind" in einem gewissem Sinne, im Sein der Vor-
stellung überhaupt. Und dieses Sein kann in mehrere Arten
zerfallen. Der Drang „fortzusetzen" kann dabei wohl bestehen,
aber nicht bloss dieser leere oder halbleere Drang eines
regulativen Prinzips.
Sehen wir die Beweise zu den einzelnen Antinomien
m! Die Welt hat einen Anfang in der Zeit, wird behauptet.
Indirekt: sie habe keinen Anfang; dann müsse bis zu jedem ge-
gebenen Zeitpunkte eine unendliche Reihe verflossen sein. Das
224 K. Geissler,
soll unmög-lich sein. Um dies letztere zu zeigen, wird gesagt, die
Unendlichkeit bestehe eben darin, dass die Reihe durch successive
Synthesis niemals vollendet sein könne. Es wird hier also (in-
direkt) bewiesen mit Hilfe der Unendlichkeit. Kant hält den Be-
weis nur deshalb für falsch, weil „(S. 258) eine Ewigkeit wirk-
licher aufeinanderfolgender Zustände bis zu einem gegebenen
Zeltiiuukte nicht verflossen sein kann", er will mit dem Unterschiede
der Erscheinungswelt und des Dinges an sich aufklären. Aber
Kant streicht dabei die Unendlichkeit auch nicht heraus aus
der Erscheinungswelt. Die Vorstellung einer unendlichen Reihe
ist also wohl möglich, sogar in einer gewissen Art tatsäch-
lich. Man könnte Kant vorwerfen, auch in der Erscheinungswelt
dürfe das Unendliche nicht vorkommen, wenn man sich in dieser
Erscheinnngswelt nur auf die successive Synthesis (in endlicher
Art mit endlicher Kontinuität) stützt und nur dies als beweisend
und entscheidend angiebt; das regulative Prinzip nütze da nichts,
oder man müsse aus ihm alles Unendliche herausstreichen, und
dann hat es überhaupt keinen Zweck mehr. Also man müsse
auch für die Erscheinungswelt oder unsere Vorstellung (mit
Anschauungs- und Denkformen) anerkennen, dass der Wider-
spruch des Endlichen und Unendlichen bleibe. Diesem Einwurfe
kann man nur wieder begegnen, wenn man auch in der Vor-
stellungswelt eine verschiedene Art von Sein oder Seinsgebieten
anerkennt, die konträr, nicht kontradiktorisch sind, die beide tat-
sächlich sind und ohne Widerspruch durch Beziehuugsgesetze
vereint werden können. Die Vorstellung der unendlichen Zeit-
dauer bis zur Gegenwart ist wohl möglich, nur darf man sie sich
nicht verflossen denken durch Aneinandersetzen einer endlichen
Anzahl endlicher Zeitabschnitte, sondern man muss sie sich vor-
stellen durch ein Bestehen (dies Wort nicht in Kautischer Art
gebraucht, nach ihm ein Enthaltensein) aus übersinnlichvielen von
im einzelnen oder in endlicher Anzahl, also sinnlich-erlebbaren
Zeiten, und man braucht zu dieser Vorstellung ein Hinaufschwingen
auf einen höheren Seinsstandpunkt über das Einzelsinnliche hinaus,
einen Wechsel der Weitenbehaftung, oder eine gemischte Weiten-
behaftung. Zu sagen: jetzt geht es immer so weiter, wie ich es
eben sinnlich-geschichtlich für einige Abschnitte beschrieben habe,
und dadurch gelangen wir glatt hinein in die Ewigkeit, ist frei-
lich falsch, auch falsch für eine blosse Erscheinungs- oder Vor-
stellungs-Ewigkeit! Derselbe P'ehler oder dieselbe Lücke steckt
Kants Antinomien und das Wesen des Unendlichen. 225
in dem Beweise für die Thesis: die Welt ist dem Räume nach
in Grenzen eingeschlossen. Auch hier macht nicht bloss die Be-
rufung auf „wirkliche" Dinge den Beweis fehlerhaft, sondern das
einseitige Hineinbringen der successiven Sjmthesis oder der all-
mählichen Zusammensetzung aus endlich-sinnlichen Teilen, als
beweisend. Dinge an sich oder wirkliche Dinge in diesem Sinne,
die also von unserer Vorstellung ganz unabhängig wären, werden
freilich durch einen blossen Vorstellungsgegensatz nicht gegen-
sätzlich oder widersprechend gemacht. Wenn sich aber das End-
liche und Unendliche als konträre, nicht kontradiktorische, Vor-
stellungsart verträgt, so könnten auch bei den Dingen an sich
verschiedene Seinsstufen tatsächlich sein, die sich konträr ver-
tragen (wie Ton und Farbe bei den Empfindungen), und es wäre
damit die Behauptung Kants hinfällig, dass Endliches und Unend-
liches (nun besser: Unsinuliches und doch Ausgedehntes) nur in
der Vorstellungswelt vorkämen. Beziehhch der Antithesis: Die
Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Räume, sondern
ist sowohl in Ansehung der Zeit und des Raumes, unendlich,
wehrt sich Kant dagegen, hier überhaupt nur von einem allge-
meinen Begriffe der Welt, dem mundus intelligibilis, zu sprechen,
bei dem von allen Bedingungen der Anschauung abstrahiert sei.
Darüber sei gar kein synthetischer Satz möglich, wieder bejahend
noch verneinend (S. 361). Man rede bei den Behauptungen der
Antinomien von einem mundus phaenomenon, von räumlich-zeit-
licher Welt. Wäre diese begrenzt, so heisst es in dem indirekten
Beweise, so liege sie notwendig in dem sonst leeren unendlichen
Räume und beginne an einem Zeitpunkte einer vorher leeren Zeit.
Macht man nun den Fehler, gegen den sich Kants Lehre richtet,
zu behaupten, diese räumlich-zeitliche Welt existiere an sich, so
ist nach Kant der indirekte Beweis zur Antithesis sonst richtig
und ergiebt den Widerspruch zu dem sonst richtigen Beweise der
Thesis. Die unendliche Leere müsse das Dasein wirklicher Dinge
ihrer Grösse nach bestimmen. Man hätte das Verhältnis einer
(dann auch wirklich an sich existierenden) leeren Zeit und eines
leeren Raumes (natürlich ist gemeint die dem Weltanfange vorher-
gehende Zeit und der Raum mit Ausnahme des von der Welt
erfüllten Teiles) zu einer zeitlich-räumlich-begrenzten Welt; und
das sei das Verhältnis der Welt (eines absoluten Ganzen) zu
keinem Gegenstande. Er meint offenbar, die leere Zeit und der
leere Raum müssten etwas auch an sich Existierendes sein, wenn
226 K. Geissler,
sie als seiend ein seiendes Verhältnis zu der seienden räumlich-
zeitlichen Welt haben sollten, was ihm auch nötig erscheint. Es
soll aber nach ihm kein Teil einer leeren Zeit (eines leeren
Raumes) vor einem anderen eine unterscheidende Bedingung des
Daseins haben. Kant glaubt, dass durch seine Unterscheidung
des Dinges an sich von der Erscheinuugswelt (der räumlich-zeit-
lichen mit dem Endlichen und Unendlichen) der Widerspruch
eines Verhältnisses vom seienden unendlichen Leeren zur seienden
begrenzten Welt fortfiele. Er meint auch nicht, dass etwa die
Erscheiuungswelt räumlich und zeitlich unendlich oder endlich
sein müsse, sondern hofft von diesem „oder" loszukommen durch
sein regulatives Prinzip des Weitergehens. Nach dem früher
Ausgeführten müssen wir aber sagen: es steckt in dem Beweise
nicht etwa bloss ein Fehler wie der behauptete vom Verhältnisse
der seienden Leere zur seienden begrenzten zeitlich-räumlichen
Welt; es wird nicht alles klar, falls man die Kantische Unter-
scheidung nlacht. Sondern es fehlt überhaupt die klare Einsicht
in das Wesen der zeitlichen und räumlichen Grenze (als etwas
Ausgedehnten), die Anerkennung des räumlichen und zeitlichen
Über- und Untersinnlichen als tatsächlich Vorgestellten, auch beim
regulativen Prinzipe nicht Weglassbaren. Es fehlt die Vor-
stellung eines widerspruchslosen Ausgedehnten sinnlichen und un-
siunlichen Seins mit widerspruchslosen Beziehungsgesetzen. Ohne
diese Lehre bleibt die Schwierigkeit auch bestehen, trotz der
Kautischen Unterscheidung des Dinges an sich und der Au-
schauungs- und Denkformen, sie bleibt bestehen auch für die
blosse Lehre vom mathematischen Räume und der mathematischen
Bewegung. Bei Anerkennung der verschiedenen Weitenbehaftungeu
als geistiger Vorstellungsarten tritt aber auch wieder die Möglich-
keit auf, dass man über die blosse Vorstellung hinausdenkend,
also im Denken in ein höheres Seinsgebiet tretend, doch noch von
Endlichkeit oder Unendlichkeit einer Welt sprechen könnte, . die
nicht bloss in den niederen Seinsgebieten des Geistes völlig darin-
steckte, sondern von ihr in gewisser Weise unabhängig W'äre.
Nur müsste man sich hüten, hier einfach das Wort „Welt an
sich" oder „absolut seiende Welt" zu gebrauchen, so wie Kant
vom Ding an sich redet. Dass es eine höhere Art von Sein gebe,
die absolut abgeschnitten und ohne jede (!) Beziehung sei zu den
beim gewöhnlichen menschlichgeistigen Daseinskomplex vorkommen-
den Seinsarten (z. B. dem Sinnlichgrossen), das erscheint mir un-
Kants Antinomien nnd das Wesen des Unendlichen. 227
denkbar oder vielmehr fehlerhaft gedacht. Es hängt dies zu-
sammen mit der 4. Antinomie, worauf ich kurz zurückkommen
werde. Auch müsste unser Begriff von einer solchen in gewisser
Weise unabhängigen Welt in mehrere Seinsbegriffe mit verschie-
denen Weitengebieten getrennt werden, bez. als Begriff mit ge-
mischter Ausdehnungsart (und Beziehungssein) gefasst werden.^)
Beim zweiten Widerstreit der transscendentalen Ideen zeigen
sich dieselben Lücken, die unendliche Teilung des Begrenzten ist
im Frühereu ausreichend besprochen worden. Kant selbst geht
dabei sowohl auf die Monadenlehre wie die Atomistik ein. Er
wendet sich mit Recht gegen die auch heute bei Mathematikern
vorkommende Lehre, der Raum bestehe aus Punkten, oder die
Lehre mancher Physiker, der Körper bestehe • aus einfachen un-
teilbaren Atomen, natürlich nur, wenn diese Fachgelehrten ihren
Annahmen philosophische Bedeutung beimessen wollen. Nicht das
regulative Prinzip unendlichen Weitergehens löst nach unseren
Betrachtungen die Schwierigkeit des Unendlichen, dieselbe bleibt
auch in der blossen Erscheinungswelt mit empirischer Realität
stecken, totz der transscendentalen Idealität. Nimmt man unend-
lichkleiue Teilchen an, so müssen diese entweder Punkte sein —
dann füllen sie auch in unendlicher Anzahl nicht eine endliche
Raumgrösse -, oder unendlichklein ausgedehnt und begrenzt durch
Grösse noch niedrigerer Behaftung — dann können sie nur in
unendlicher Anzahl einen endlichen Körper füllen. Jedenfalls aber
darf man nur immer von einem Ausfüllen gewisser Vorstellungs-
art (mit gewissen Weitenbehaftungen) sprechen, nicht von einem
absoluten Ausfüllen in der Vorstellung; ebenso nicht von einer
absoluten Monas an sich, welche überhaupt nicht mehr in gewisser
Art des Seins aus Etwas bestände und entsprechend nicht mehr
als teilbar vorgestellt werden könnte.
Der dritte Widerstreit, zwischen der Freiheit und
Naturnotwendigkeit beruht ebenfalls auf dem unendlichen
Aneinanderreihen, nämlich von Ursachen. Der Beweis zur Thesis
(es gäbe ausser Kausalität nach Naturgesetzen noch eine Freiheit
in der Erscheinuugswelt) ist wieder indirekt und macht die An-
nahme, alles geschähe nach Naturgesetzen; dann gäbe es immer
wieder rückwärts einen vorigen Zustand, man käme niemals zu
1) Vgl. meinen Aufsatz : Ist die Annahme von Absolutem in der An-
schauung und dem Denken möglich, Archiv f. syst. Philosophie, Bd. XI.
^ H. 4. 03.
Eautatudien XV. 15
228 K. Geissler,
einem ersten Anfange, zu keiner Vollständigkeit der Reihe. Die
Natur verlange aber eine Vollständigkeit und Bestimmtheit Hier
wird wieder durch Kants Unterschied von Erscheinungswelt und
Ding an sich die Schwierigkeit nicht völlig gehoben. Nicht etwa
bloss die Natur an sich (unabhängig von unserer Vorstellung) ver-
langt eine völlige Bestimmtheit, unsere Vorstellung muss auch
einen tatsächlichen Grund dafür enthalten, dass man das Ver-
langen spürt, weiter zu reihen und nicht bloss inimer wieder in
derselben Art weiter, sondern derartig zum Unendlichen zu
kommen, dass es widersprechend oder besser neuartig erscheint
(wie ein anderes Vorstellungsgebiet). Kann man solchen tatsäch-
lichen Grund entdecken, so wird man gern den zweifelhaften Not-
behelf eines bloss regulativen Prinzipes entbehren. Im Übersinn-
lich-vorstellbaren, nicht etwa bloss in einer an sich bestehenden
Natur, wird man also etw^as Anderes suchen müssen und dürfen
als die blosse Naturgesetzlichkeit sinnlicher Art. Im Beweise zur
Antithesis (es giebt keine Freiheit, sondern alles in der Welt
geschieht lediglich nach Naturgesetzen) wäre wieder erstlich zu
unterscheiden zwischen einem Weltbegriffe nach Art der sinnlichen
Gesetze (denen obenein die Erklärung der Begrenzung fehlt) und
einem Weltbegriffe, bei dem auch das Unsinnliche erkannt und
die Grenzen für das Sinnliche erklärt sind. Ferner wird ange-
nommen, es gebe eine Freiheit als eine besondere Art der Kau-
salität, nach welcher die Begebenheiten der Welt erfolgen könnten ;
solche freiheitliche Ursache habe aber gar keinen Zusammenhang
der Kausalität mit der vorhergehenden naturgesetzmässigen Ur-
sache und folge daraus in keiner Weise, widerspräche also dem
Kausalgesetze. Solche Freiheit befreie vom Leitfaden aller Regeln,
die F'reiheit wäre nicht nach Gesetzen bestimmt, sonst wäre sie
nicht Freiheit, sondern nichts anderes als Natur (S. 371). Kant
will wieder die Freiheit nach seiner bekannten Unterscheidung
retten; er ist der Meinung, dass die Gesetzlichkeit des Endlichen
zur blossen Erscheinungswelt gehöre wie auch das Unendliche,
Durch Unterscheidung verschiedener Weitengebiete, deren eines
mit seiner Gesetzlichkeit die Gesetzlichkeit des anderen gar nicht
durchbricht, wäre er zur Möglichkeit einer Freiheit auch innerhalb
der Endliches und Unendliches enthaltenden Erscheinungswelt
gi'konnnen und hätte gar nicht nötig gehabt, das Endliche und
Unendliche vom Dinge an sich völlig auszuschliessen. Selbst wenn
man anninniit, dass die Mechanik des Gehirnes, sow^eit sie den
Kants Antinomien und das Wesen des Unendlichen. 229
sinnlich-endlichen Naturgesetzen gehorcht, parallel ist entsprechen-
den seelischen Vorgängen (ich gehe hier nicht auf den Vergleich
zwischen Parallelismus, Monismus u. s. w. ein^) und umgekehrt,
so könnten doch unter den seelischen solche vorkommen, bei denen
wir das Gefühl der Willensschwaukung haben, und entsprechende
Gehirnvorgänge, bei denen das labile Gleichgewicht^) entstände.
Die bisher bekannten mechanischen Naturgesetze beziehen sich
alle auf sinnlich-vorstellbare Raum- und Zeitgrössen mit bestimmten
Grenzen (z. B. Anfangs- und Endpunkt einer Strecke). Die un-
endlichkleinen Grössen kommen vermehrend oder vermindernd
nicht vor, wohl aber sind ihre Verhältnisse unentbehrlich (Diffe-
rentialrechnung), auch ist Anfangs- und Endpunkt nicht ohne sie
erklärt. Beim labilen Gleichgewichte kann dei- Ausfall nach einer
oder einer anderen Seite hin ohne jede Störung der endlich-sinn-
lichen Gesetze vorgestellt werden als bewirkt durch eine kleine
Grösse niederer Weitenbehaftung; diese Grösse kann sehr wohl
vorgestellt werden als Ausdruck einer Ursache, die nicht sinnlich-
vorstellbar gemessen werden kann, die einem Gebiete der Freiheit
angehört, nämlich einer Unabhängigkeit von den sinnlichen Natur-
gesetzen (freilich, im Sinne eines anderen Seinsgebietes, nicht einer
Beziehungslosigkeit oder vollständigen Regellosigkeit). Der vierten
Antinomie misst Kant eine besondere Bedeutung bei; sie veran-
lasse uns einen „Schritt zu w^ageu. Denn das in sich selbst ganz
und gar nicht gegründete, sondern stets bedingte Dasein der Er-
scheinungen fordert uns auf: uns nach etwas von allen Erschein-
ungen Unterschiedenem, mithin einem intelligibeln Gegenstande
umzusehen (S. 450)". Nur so könne man die scheinbare Antinomie
heben ; mit der durchgängigen Zufälligkeit aller Naturerscheinungen
und ihrer Bedingungen vertrage sich ganz wohl die willkürliche
Voraussetzung einer notwendigen, aber intelligibelen, also einem
ganz anderen Sein angehörigen Bedingung, sodass kein wahrer
Widerspruch anzutreffen sei (S. 448, 9). In der Thesis sowohl
^) Vgl. meine Dissertation : Ist die Einwirkung eines freien Willens
räumlich möglich, ohne Widerspruch gegen die Arbeitserhaltung? Halle
1898; mein Buch: Eine mögliche Wesenserklärung für Raum, Zeit, das
Unendliche und die Kausalität nebst einem Grundworte zur Metaphj'sik
der Möglichkeiten, 1900; Die Grundsätze und das Wesen des Unendlichen,
02; Das Willensproblem, Vierteljahrssch. f. wiss. Philos. XXXI. 1. 07; Zu-
sammenhang der Seeleneinheit mit dem Problem der Fortpflanzung, des
Todes, der soziol. Gemeinschaft etc., Zeitschr. f. Philos. u. phil. Kritik,
Bd. 134, H. 1. 09.
15*
ir>
230 K. Geissler,
wie in der Antithesis werde nur ein kosmologisches Moment ge-
braucht, „aus ebendemselben Beweisgrunde, woraus in der Thesis
das Dasein eines Urwesens geschlossen wurde", „wird in der
Antithesis das Nichtsein desselben und zwar mit derselben Schärfe,
geschlossen" (S. 379). Es ist ein notwendiges Wesen (genauer
Thesis: Zu der Welt gehört etwas das, entweder als ihr Teil,
oder ihre Ursache, ein schlechthin notwendig Wesen ist („weil
die ganze vergangene Zeit die Reihe aller Bedingungen und hier-
mit also auch das Unbedingte (Notwendige) in sich fasst". Jedes
Bedingte „setze, in Ansehung seiner Existenz, eine vollständige
Reihe von Bedingungen bis zum Schlechthin-unbedingten voraus
(S. 376)". Man sieht, es handelt sich hier wieder um eine un-
endliche Reihe; die Kausalität der notwendigen Ursache der Er-
scheinungen solle danach durchaus mit zur Zeit gehören. Nach
der Lehre von den Weitenbehaftungen wird nicht in derselben
Art (Weitenbehaftung) ohne Sprung bis in das Unendliche ge-
schlossen, vielmehr wird das „Beliebigweit" durchaus von dem
„Unendlichweit" unterschieden und es ist falsch, etwas Unendliches
in derselben Kontinuität hereinzuziehen, selbst wenn man bloss
innerhalb der Erscheinungen bleibt, vorausgesetzt, dass zu diesen
Erscheinungen auch das Unendliche mitgehört (das Über- und
Untersinnlich-vorstellbare z. B. als Grenze). Selbst wenn man
also gar nicht Zeit und Raum verlässt und nichts Anderes, vom
Sein des Intelligibelen, hinzuzieht, ist doch eine Lücke im Kau-
tischen Beweise zur Thesis. In der Antithesis wird geschlossen;
„die ganze verflossene Zeit fasst in sich die Reihe aller Be-
dingungen, die mithin insgesamt wiederum bedingt sind". Also
gebe es kein notwendiges Wesen (weder in der Welt, noch ausser
der Welt, als ihre Ursache. Auch das sei richtig, wenn man
überhaupt bei kosmologischer Darstellung bleibe und nicht zum
Sein des Intelligibelen hinaufsteige. Hier hat man wieder eine
Reihe vor sich und bleibt innerhalb derselben bei gleichbleibender
Kontinuität stehen, ohne diesmal überhaupt einen Sprung zu
wagen. Auch hier könnte mau wieder die Lücke finden, dass
selbst zum Begreifen des Ausgedehnten das Unsinnliche nötig
wäre (sowohl das Untersinnlich-vorstellbare wie das Übersinnlich-
vorstellbare) und mau also hier ebenfalls durch Wechsel der Be-
haftungen zum Unendlichen kommen könne. Dieser Beweis wäre
also darum falsch, weil man einfach bloss beim Sinnlich-vorstell-
baren bleibt und die übrigen Behaftungeu (Vorstellungsmöglich-
ö
Kants Antinomien und das Wesen des Unendlichen. 231
keiten) leugnet. Beim Beweise zur Thesis zieht man die „ab-
solute Totalität" mit hinein, bei dem zur Antithesis nur „die Zu-
fälligkeit alles dessen, was in der Zeitreihe bestimmt ist" (S. 381).
Es sei eine verschiedene Weite des Blickes oder des Standpunktes,
so meint offenbar Kant, der ja beides auch mit den Behauptungen
vergleicht, der Mond drehe sich nicht um sich selbst (nur be-
trachtet vom Standpunkte der Erde und des Mondes (oder, er
drehe sich um seine Achse) betrachtet von einem weiteren Staud-
punkte der Erde und des Mondes zusammen als einer Gruppe im
Planetensysteme überschaut). Ich kann aber nicht damit überein-
stimmen, dass der Widerspruch zwischen den beiden Behauptungen
über das notwendige Wesen nur durch Annahme des auf höherem
Sein stehenden intelligibelen Wesens gelöst werden könne, sondern
es genügt die Vorstellung, dass zur Welt mit gut erklärten
Grenzen und mit Hereinziehung des Unendlich-grossen verschiedene
Weitenbehaftungen des Raumes und der Zeit herangezogen werden.
Dann schon schwindet der Widerspruch, den Kant in der kosmo-
logischen Betrachtung findet. Natürlich hätte dann auch der
Begriff der Welt, je nach der Behauptung der Thesis oder Anti-
thesis, verschieden gefasst werden müssen. Es ist auch ein viel-
angestrittener Schritt von Kant, wenn er erst sich „die Erlaubnis
nimmt, ausser dem Felde der gesamten Sinnhchkeit eine für sich
bestehende Wirklichkeit anzunehmen", dann „Erscheinungen nur
als zufällige Vorstellungsarten intelligibeler Gegenstände von
solchen Wesen, die selbst Intelligenzen sind, anzusehen" (S. 451),
wenn er dann schliesst, es „bliebe uns nichts anderes übrig, als
die Analogie, nach der wir die Erfahrungsbegriffe nutzen, um uns
von intelligibelen Dingen, von denen wir an sich nicht die mindeste
Kenntnis haben, doch irgend einigen Begriff zu machen." Er
will dann vom schechthinnotwendigen Wesen anfangen „und von
den Begriffen desselben die Begriffe von allen Dingen, sofern sie
bloss intelligibel sind, ableiten" (im zweiten Buch der transscen-
dentalen Dialektik).
Wenn wir uns eine Welt nur nach denjenigen Eigenschaften
vorstellen, welche räumlich-zeitlich sind, so sind wir schon ge-
nötigt zu dem empirisch Beobachtbaren (nach heutiger Bedeutung
des Wortes), dem Sinnlich-vorstellbaren oder Endlichen die Er-
klärung der Begrenzungen, also das Untersiunlich-vorstellbare
hinzuzufügen, aber auch zum Übersinnlich-vorstellbaren zu schreiten
durch einen Wechsel der Weitenbehaftungen; und dann braucht
232 K. Geissler, Kants Antinomien und das Wesen des Unendlichen.
durchaus kein Widerspruch durch die Tatsachen des Unendlichen
ausser denen des Endlichen aufzutauchen bei richtiger Gestaltung
der Beziehungsgesetze; selbst der freie Wille menschlicher Wesen
ist im obigen Sinne zu verstehen. Aber es ist freilich wohl ein
Hinaufschwingen zum Begreifen eines noch höheren Seins mög-
lich, das noch über allen Weitenbehaftungen steht. Und damit
nähern wir uns wieder Kant, nur nicht mit seiner Begründung
der Widersprüche und des Wesens des Unendlichen.
II
Die Grundfragen der Ästhetik
unter kritischer Zugrundelegung von Kants Kritik
der Urteilskraft.
Von Prof. Dr. Richard v. Schubert-Soldern.
"[Forts. U. ScllllLSS.]
§ 7. Idealismus und Realismus.
Idealismus und Realismus lassen mancherlei Auffassungen
zu, doch gehen alle mehr oder weniger darauf hinaus: der Rea-
lismus ahme die Natur nach, der Idealismus stelle die Idee
dar. Der Idealismus könne freilich seine Darstellung der Idee
auch der Natur entnehmen, aber ihm liege nicht soviel daran,
meint man, dass er naturgetreu sei, als dass er die Idee wieder-
gebe. Die Naturtreue ist ihm also nur Mittel der Darstellung,
dem Realismus Zweck. Aber ebendeswegen sind Realismus und
Idealismus gar nicht so säuberlich von einander zu trennen, ihr
Gegensatz ist gar nicht so gross als man ihn oft dargestellt hat.
Ja man kann sagen, es giebt überhaupt keinen reinen Idealismus
und Realismus, weil es erstens keine objektive Anschauung
und Auffassung der Natur giebt und weil es zweitens
keine Darstellung der Idee ohne Berücksichtigung der
Natur giebt.
Ad 1. Man stelle sich vor, zwei Maler würden von einem
Punkte aus gleichzeitig ein- und dieselbe Landschaft aufnehmen
und beide würden das Bestreben zeigen, sie ganz realistisch so
wie sie ist, darzustellen. Werden beide Landschaften gleich aus-
fallen? Gewiss nicht I Jeder Maler wird eine andere Auffassungs-
weise der gegebenen Landschaft haben. D. h. er kann nicht das
ganze Detail der wirklichen Landschaft geben, er muss eine Aus-
■ ahl treffen und diese Auswahl wird individuell verschieden sein,
albst wenn die Technik beider gleicher Art ist. Das geht aber
offenbar darauf zurück, dass jeder Maler anders sieht, dass er in
der wirklichen Landschaft andere Elemente hervorhebt, und dass
234 R. V. Schubert-Soldern,
dadurch auch der Totaleiudruck der dargestellten Landschaft ein
anderer wird. Wie der Maler sieht und was er hervorhebt, das
wird von seiner Lebensbildung-, wie oben auseinandergesetzt wurde,
abhängen, dann auch von seiner Technik, soweit sie von anderen
Malern verschieden ist; endhch auch von seiner Kompositionsgabe,
soweit dieselbe in Anspruch genommen wird.
Dabei ist aber hier eine Voraussetzung gemacht, die nicht
einmal zutrifft. Beide Maler sehen gar nicht dieselbe Landschaft,
stellen nicht dieselbe Landschaft dar. Wo soll denn die Land-
schaft sein, die beiden gemeinsam ist? Nehmen wir selbst an,
da draussen (so widersprechend dieser Begriff ist) sei ein Ding
an sich Landschaft, das in beiden Malern jene Empfindungen
hervorruft, deren räumlich-zeitliches Zusammen mau die wirkliche
Landschaft nennt, so ist diese „wirkliche" Landschaft eigentlich
nur eine Wirkung der „wirklichen" Landschaft, nämlich des Dinges
an sich. Dann übt das Ding an sich zwei Wirkungen in zwei
Malern aus. Dann giebt es nicht eine Landschaft, sondern in
jedem Maler ist die Wirkung, wenn auch noch so ähnlich, eine
andere. Beide sehen ja eine andere Landschaft und diese stellen
sie dar. Das, was man die objektive Landschaft nennen könnte,
besteht nirgends, sie ist eine blosse Abstraktion aus den vielen
individuell wahrgenommenen Landschaften.
Dazu kommt noch, dass das Gesehene einer Menge von
Ergänzungen bedarf, um als bestimmter Gegenstand zu erscheinen.
Das Gesehene sind in einander verschwindende farbige Flecke,
verschiedenartige Linien, die nebeneinander laufen und sich durch-
kreuzen; das Alles muss erst gedeutet werden, dadurch entsteht
erst eine Landschaft. Deuten aber kann man diese Flecken und
Linien nur nach vergangenen Erfahrungen, nach Erinnerungen.
Wenn ich in der Landschaft z. B. einen grossen, glänzenden,
bläulichen oder grünlichen Fleck sehe, so weiss ich, dass das ein
See ist. Gegeben ist nur dieser Fleck (resp. Flecke), weiter nichts,
aber ich weiss aus frühereu Erfahrungen, dass, wenn ich mich
diesem Fleck nähere, er sowohl eine andere Gestalt für mein Ge-
sicht annimmt, als auch Gegenstard einer bestimmten Tast-
empfindung wird, die eben das Wasser kennzeichnet. Erst diese
Beziehung des Fleckes auf vergangene Erfahrungen macht den
Fleck für mich zu Wasser. Daraus wird klar, dass durch das,
was beide Maler an Verschiedenem erlebt haben, sie auch das
Gesehene anders auffassen werden — im Wesentlichen gleich
Die Grundfragen der Ästhetik etc. 235
aber im Einzelnen verschieden. Es werden sich aber auch ver-
schiedene Gefühle (je nach den Erinnerungen) an das Gesehene
knüpfen, es wird deswegen von beiden Malern Verschiedenes in
der Landschaft hervorgehoben werden, d. h. die beiden darge-
stellten Landschaften werden verschiedene Stimmungen zeigen.
Es ist daher sehr gedankenlos und oberflächlich, von einer
getreuen Nachahmung der Natur zu sprechen; man ahmt nie eine
objektive Natur nach, sondern stets eine subjektive, die objektive
ist eine wissenschaftliche Konstruktion. Naturtreue im objektiven
Sinne ist nicht nur in dem Sinn eine Unmöglichkeit, dass die
Kunst die Natur nie vollkommen wiedergeben kann,^) sondern auch
in dem, dass es eine anschauliche objektive Natur überhaupt gar
nicht giebt; die wissenschaftliche Konstruktion einer objektiven
Natur ist aber nicht anschaulich und die Ansicht, dass der
Künstler gerade sie in seinem Bilde anzudeuten hätte, m. E.
grundfalsch.-)
Ad 2. In Bezug auf den zweiten Punkt kann ich mich
kürzer fassen. Der Idealismus soll vor allem die Idee, das Ideale
darstellen. Die Idee kann nun nichts anders sein als ein Begriff,
wenn sie vom Konkreten unterschieden sein soll, denn was im
Gebiete des Seins nicht das eine ist, muss das andere sein. Doch
nicht jeder Begriff ist Idee, ist ideal; was man darunter versteht,
ist, wie mir scheint, teils der alte Gattungsbegriff Piatos als
jVIusterbegriff, teils sind es gewisse abstrakte besonders geschätzte
Eigenschaften, die in concreto dargestellt werden sollen. Auf
jeden Fall ist es aber etwas Begriffliches und dieses besteht nie
an und für sich, sondern stets am Konkreten, sowie das allge-
meine Dreieck nur am konkreten, bestimmten denkbar ist. Die
Idee ist daher nur am Konkreten oder am Anschaulichen im wei-
testen Sinn darstellbar, für sich existiert sie nach meiner Ansicht
überhaupt, aber doch gewiss wenigstens für die Kunst nicht.
Will ich z. B. die Idee der Freude darstellen, so kann ich sie
unmöglich als Abstraktum darstellen; ich kann sie nur darstellen
1) Vgl. auch Joh. Volkelt „Ästhetische Zeitfragen", München 1895,
p. 45 ff. Meine Ansichten stimmen im Resultat vielfach mit jenen Volkelts
in diesem Punkt überein, nur ist die Begründung eine andere, weil
Volkelt eine objektive Natur annimmt, die ich weder vom erkenntnis-
theoretischen noch vom ästhetischen Standpunkt annehmen kann.
2j Darin stimmt mir wohl auch Volkelt 1. c. zu.
236 R. V. Schubert-Soldern,
an einem Menschen, der sich freut, indem ich am Menschen jene
begrifflichen Elemente hervorhebe, die eben die Freude auszu-
drücken imstande sind; ich kann nicht bloss jene Züge darstellen,
welche Freude ausdrücken und alles andere auslassen, weil eben
das andere mit dem ersten zu einer unlöslichen Einheit verbunden
ist. Dabei ist davon abgesehen, dass die Freude nur durch eine
Beziehung vieler Züge auf einander ausgedrückt wird, also auch
in abstracto schon bis zu einem gewissen Grade ein Ganzes
verlangt.
Diese Darstellung einer Idee am Konkreten kann nun in
doppelter Weise erfolgen. 1. Ich kann die Idee darstellen an
einem Gegenstande, der die Idee vertritt, ohne sie selbst unmittel-
bar in sich zu fassen: das ist die symbolische Darstellung.
So kann ich den Tod durch eine Sense darstellen oder durch
einen Totenkopf oder ein Totengerippe. Diese Gegenstände
fassen die Idee des Todes nicht unmittelbar in sich, sie erinnern
nur daran, sie versinnbildlichen sie ; sie wirken also durch Asso-
ziation und zwar durch eine oft sehr vermittelte, entfernte Asso-
ziation ; deswegen kann auch hier das Verfahren wieder ein
doppeltes sein, je nachdem diese Assoziation eine direkte oder in-
direkte ist. So erinnert die Sense nicht direkt an den Tod,
sondern nur durch ein Gleichnis, dass der Tod die Menschen hin-
wegmäht wie die Halmen am Felde; dagegen erinnert der Toten-
kopf viel unmittelbarer an den Tod und man braucht hier nicht
erst ein Gleichnis einzuschieben. Streng zu trennen sind freilich
diese beiden Arten symbolischer Darstellung nicht, denn auch der
Totenkopf ist ein Produkt des Todes und daher erst durch Asso-
ziation mit ihm verknüpft.
Die erste Art der symbolischen Darstellung nähert sich dem
blossen Zeichen; auch das Zeichen bedeutet einen Begriff, diese
Verbindung ist aber eine ganz unvermittelte, wenn sie auch ur-
sprünglich keine unvermittelte war. Das blosse Zeichen kann sich
daher aus der symbolischen Darstellung entwickeln, wo die Ver-
mittlung, z. B. das Gleichnis, vergessen wurde, dagegen die Ver-
bindung des Dargestellten mit dem Begriff aufrecht erhalten
blieb: so entsteht aus symbolischer Schrift die Zeicbenschrift. Es
ist aber nur natürlich, dass durch das Vergessen der ursprüng-
lichen Bedeutung das Dargestellte verändert, weil nicht mehr ver-
standen wird; das Unverstandene wird dann selbstverständlich
immer schematischer und an sich bedeutungsloser. Die Kunst
Die Grundfragen der Ästhetik etc. 237
kauü nun sj'mbolisch sein, aber sie kann niemals ein blosses
Zeichen werden, weil das Zeichen keine oder nur eine sehr ge-
nüge Schönheit an sich besitzen kann, die Bedeutung aber, wenn
es bloss Zeichen sein soll, nicht in Frage kommt. Die Poesie
drückt sich allerdings in blossen Zeichen aus, aber hier ist nicht
das Zeichen das wesentliche, sondern die Bedeutung, die Vor-
stellungen, die es hervorruft, die Gefühle, die es weckt. Die
Kunst fordert daher immer mehr oder weniger Anschaulichkeit der
Idee nicht in einem Zeichen, sondern in einem Gegenstand, der
sogenannten innern oder äusseren Natur (Vorstellung oder Wahr-
nehmung), sei es, dass sie rein symbolisch verfährt oder die
Natur nachahmt, d. h. die Idee in dem Gegenstand darstellt, in
dem sie unmittelbar zu finden ist; das letzte z. B. wenn sie die
Idee des Todes an einem sterbenden oder toten Menschen
darstellt, den Trauernde umgeben. Hier wird die Idee des
Todes unmittelbar an einem Vorgang dargestellt, der sie in sich
enthält.
Es ist klar, dass nur die letzte Darstellungsweise einen
selbständigen Wert in der Kunst besitzen kann. Die Sense, der
Totenkopf treten nie als selbständige Darstellungen des Todes in
der Kunst auf, sondern entweder zu dekorativen Zwecken oder
als symbolische Beigaben bei unmittelbarer Darstellung der Idee.
Als symbolische Beigaben haben sie den Zweck, entweder die
W^irkung der unmittelbaren Darstellung des Todes zu verstärken
oder bei Darstellung einer andern Idee als Kontrast zu wirken
oder ein gewisses Gefühl zu erzeugen. So wenn ein König mit
Krone und Szepter in Ausübung seiner vollen Macht erscheint,
alle vor ihm sich beugend, hinter ihm steht aber der Tod als
Todengerippe, um die Vergänglichkeit aller Macht auf Erden an-
zudeuten; gleichzeitig erscheint aber auch durch diesen Gegensatz
die Idee der Macht und des Todes gehoben.
So ist also in der Kunst die Idee nicht für sich allein dar-
stellbar, sondern nur an einem Gegenstand der äussern oder
innern Natur. Dem Idealismus dient daher die Natur als Mittel
seiner Darstellung, er fordert Nachahmung der Natur und zwar
möglichst naturtreue, weil sonst der Schein der Wirkhchkeit ver-
oren geht und wo dieser fehlt, die dargestellte Idee nicht in
rollern Masse wirken kann.
In der Regel wird freilich das Wort Idealismus in einem be-
schränkteren Sinn in der Kunst gebraucht als Darstellung der
238 R. V. Schubert-Soldern,
schönen Idee, d. h. einer Idee, die allgemein gefällt. Doch
auch von diesem Idealismus gilt das oben Gesagte und ich brauche
daher hier nicht näher auf ihn einzugehen.
Gehen wir nun zur Betrachtung des Realismus über, so
ist schon darauf hingewiesen worden, dass auch das Konkrete
nicht ohne begriffliche Bestimmung dargestellt werden kann.
Dadurch, dass ich den Apfel als Apfel darstelle, bestimme ich ihn
begrifflich und diese begrifflichen Momente müssen in der Dar-
stellung zur vollen Geltung gelangen, sonst ist das Dargestellte
eben kein Apfel. Deswegen kann umgekehrt wieder der Realis-
mus keinen Gegenstand darstellen, ohne eine Idee, einen Begriff
zu Grunde zu legen. Wenn ich einen Sterbenden darstelle, so
brauche ich nicht dabei die Absicht zu haben, die Idee des Todes
darzustellen, oder die Macht des Todes; aber ob ich will oder
nicht, die Idee des Todes und seine Macht findet sich doch darin.
Dann aber, so könnte man glauben, giebt es überhaupt keinen
Unterschied zwischen Idealismus und Realismus - beide sind
dasselbe; doch auch das ist nicht der Fall und die vorhergehen-
den Erörterungen sollten nur dazu dienen, den richtigen Stand-
punkt festzustellen, von dem aus der Idealismus und Realismus
beurteilt werden soll, nicht aber dazu, ihren Unterschied zu
leugnen.
Worin besteht nun ihr Unterschied? Man ersieht das am
besten daran, wenn man untersucht, worauf die sogenannte Idea-
lisierung eines Gegenstandes in der Kunst beruht. Sicher ist nuu
damit nicht gemeint, der Gegenstand müsse dann so dargestellt
werden, wie er nur in der Phantasie des Künstlers, nicht aber in
der Natur vorkommen kann; man meint aber doch darunter die
Darstellung eines Gegenstandes, wie er in der Natur zwar tat-
sächlich nicht vorkommt, oder doch nur ausnahmsweise, wie er
aber doch vorkommen könnte. Der Gegenstand wird also so dar-
gestellt, wie er nach Ansicht des Künstlers sein konnte, vielleicht
sogar sein sollte. Wo die Idealisierung über diese Grenze hinaus-
geht, nähert sie sich dem Symbolischen und Stilistischen im
engern Sinne, d. h. sie stellt einen Gegenstand nach irgendwelchen
idealen Gesichtspunkten dar, ohne (mehr oder weniger) auf seine
Wirklichkeit Rücksicht zu nehmen. Damit ist aber gesagt, dass
vom idealistischen Standpunkt der Künstler die Natur nicht, so
wie sie ihm subjektiv gegeben ist, darstellt, sondern dass er eine
Auswahl trifft. Mit andern Worten, die idealistische Darstellung
Die Grundfragen der Ästhetik etc. 239
sucht jene Momente zu vereinigen, die (nach dem Ermessen des
Künstlers) schön sind, die aber in der Natur nicht an einem
Gegenstände, sondern an verschiedenen zerstreut vorkommen. So
haben die Griechen in ihrer Darstellung der Götter ideale Dar-
stellungen der menschlichen Gestalt gegeben, indem sie Schön-
heiten des menschlichen Körpers, die in der Wirklichkeit zerstreut
vorkommen, in der Kunst zu vereinigen suchten; selbstverständlich
mussten sie diese Göttergestalten ihrem besocdern göttlichen
Charakter gemäss auch zu individualisieren suchen, doch ging das
nie über das notwendigste Mass hinaus, ein Christus Uhdes wäre
für sie eine Unmöglichkeit gewesen.
Um das in der Natur zerstreut vorgefundene Schöne in
einem Gegenstande zu vereinigen, ist ein Massstab des Schönen
notwendig und das ist eben das Ideal. Dieses Ideal ist nun, wie
mir scheint, im Wesentlichen der Gattungscharakter oder besser
noch der Durchschnittscharakter der Individuen einer Gattung, die
als schön gilt individualisiert durch gewisse ebenfalls gefallende
besondere Charaktereigenschaften, wie oben auseinandergesetzt
wurde. Deswegen muss aber das Schönheitsideal verschieden nach
Zeitaltern, Völkern, Orten und Individuen sein, vveil es eben von
den Erfahrungen (Kunstdarstellungen natürlich mitgerechnet) ab-
hängt, die von diesen Gruppen von Menschen und ihren einzelnen
Individuen gemacht worden sind, denn es hängt von diesen Er-
fahrungen ab, was durchschnittlich als schön gilt. Man kann da-
her nur insoweit ein allgemein menschliches Schönheitsideal auf-
stellen wollen, als man voraussetzen kann, dass alle Menschen
dieselben Erfahrungen machen, sich an dasselbe gewöhnen, gegen
dasselbe sich abstumpfen und Ekel empfinden. Wenn man aus
allen diesen den Menschen gemeinsamen Erfahrungen das Mittel
zieht, so gelangt man zu einem allgemeinen Schönheitsideal: zur
durchschnittlichen Beschaffenheit eines Gegenstandes, der gefällt,
zum Gattuugsmuster, Damit ist aber nur eine sehr ohngefähre
Bestimmung getroffen. Zu grosse Beine, zu kurze Hände, eine
zu flache Nase ist gewiss nicht schön; aber wie lang die Beine,
wie kurz die Hände und wie flach die Nase sein dürfen, um noch
als schön zu gelten, das hängt von dem ab, was ein jeder (Gruppe
''der Individuum) gesehen und erfahren hat. Denn von diesen
"Irfahrungen hängt es ab, welche Assoziationen sich an einen
gegenständ knüpfen, gegen welche Reize man sich abstumpft, an
was man sich gewöhnt. So sehr nun ganz im Allgemeinen alle
240 il. V. Schubert-Soldern,
Menschen in ihren Erfahrungen übereinstimmen, so sehr unter-
scheiden sie sich darin im einzelnen; deswegen hat jeder mit
vollem Recht seinen eigenen Geschmack gegenüber den andern.
Das Ideal beruht daher nicht allein auf einer Phantasievorstellung
des Künstlers, sondern auch darauf, was ein jeder erfahren und
auf der Auswahl des Schönen, die er unter seinen Erfahrungen
getroffen hat. Deswegen ist das Ideal keine absolut geltende
Vorstellung, sondern es hängt von Ort, Zeit und Individuum resp.
Individuen ab. Von der Zeit hängt das Ideal besonders dann ab,
wenn schon eine Kunst vorhanden ist; dann ist der Künstler in
seinem Ideal am meisten von den schon gesehenen (gehörten)
Kunstwerken abhängig. Bei einer späten Periode der Kunstent-
wicklung wird der Künstler sehr oft von dem vor ihm Geschaffenen
erdrückt, so dass er kaum mehr einen „eigenen" Gedanken zu
fassen imstande ist. Künstler und Publikum sehnen sich dann
nach Originalität um jeden Preis (Sezession) und der Ruf nach
Rückkehr zur Natur wird laut. Doch mit der alten Technik
und den alten Kunstanschauungen sieht man eben in der Natur
nur das, was man schon früher in ihr geschaut hat. Daher oft
das gewaltsame Losriugeu der neueren Künstler von der Technik
und den Kunstanschauuugen der alten. Dabei bleibt nur fraglich,
ob eine im Wesentlichen neue Technik und neue Kunstanschauuug
überhaupt noch möglich ist, denn beides erscheint mir unmöglich
ohne neue Erfahrungen.
Vor allen ist nun zu beachten, wie vergangene Kunstepochen
auf die Ideale der nachfolgenden wirken. Hier spielt besonders
die Abstumpfung eine grosse Rolle: viele Schönheiten der ver-
gangenen Kunstepochen sind gemein, gewöhnlich geworden, so
dass man einen Ekel gegen sie empfindet, oder dass man wenig-
stens gleichgiltig gegen sie geworden ist. Dadurch entsteht aber
eine Hinneigung zu dem diesen Schönheiten Gegensätzlichen; ent-
gegengesetzte Eigenschaften des Dargestellten finden Beifall und
selbst dann vielleicht, wenn sie in der Technik recht stümperhaft
sind, weil sie eben etwas Neues bieten, sich durch einen neuen
Reiz auszeichnen. Schliesslich entsteht aber so Abstumpfung und
selbst Ekel gegen die idealistische Auffassungsweise selbst; nach-
dem alle möglichen idealistischen Auffassungsweisen erschöpft
worden sind, richten sich nun die Angriffe gegen die idealistische
Anschauungsweise selbst als Vereinigung alles Schönen der Er-
fahrung in einem Gegenstand. Das Ideal erscheint zu „subjektiv",
II
i)ie Grundfragen der Ästhetik etc. 241
„gekünstelt", „unwahr", „hat in der Natur keine Berechtigung"
oder wie immer die Angriffe der seichten ]\reuge lauten mögen,
die sich gegen den Idealismus abgestumpft hat. Dann erscheint
oft eine Periode der Selbstvernichtung des Idealismus in Kunst
und Literatur (Romantik): Das Ideal wird nur geschaffen, um es
zu zerstören, oft wirkt schon beim Schaffen der Gedanke, es in
der Darstellung zerplatzen zu lassen wie eine Seifenblase. Dabei
kann diese Selbstvernichtung des Idealen mehr in das Melancho-
lische und Pessimistische oder ins Frivole auslaufen, sie bedauert,
dass das Ideal nicht Wirklichkeit sei oder sie lacht das Ideal aus
— oft vereinigt sie aber auch beides abwechselnd (Heine). Natür-
lich wird dabei übersehen, dass das Ideal gar nicht darin seinen
Wert findet, dass es „wirklich" ist oder wird,' sondern als Mass-
stab der Beurteilung der Wirklichkeit, und dass in diesem Sinne
sich niemand seiner Idealität entschlagen kann, nur ist sie manch-
mal auch darnach.
Oft geht aber auch der Idealismus eines Zeitalters allmählich
aber unmittelbar (ohne Selbstvernichtung) in den Realismus über,
d. h. in das Bestreben, den Gegenstand in der Natur so darzu-
stellen, wie er „wirklich existiert"'. Es erscheint also hier wieder
die Fiktion der objektiv, an sich existierenden Natur. Obgleich
eine solche Natur eine blosse Fiktion ist, so wird sie doch zu
realisieren gesucht; will man daher das Prinzip des Realismus
richtig erkennen, so muss man diesen Versuch richtig analysieren.
Eine Darstellung, die realistisch sein soll, wird jeden-
falls nicht in einem Gegenstand das zu vereinigen suchen, was
sich an vielen Geger ständen gleicher Art Schönes vorfindet, denn
das wäre idealistisch gedacht; sie kann aber auch nicht den
Gegenstand so wiedergeben, wie er an sich in der Natur gegeben
ist, deun einen solchen Gegenstand giebt es nicht ; sie kann daher
nur die einzelne subjektive Auffassung der Natur wiedergeben
wollen, also nicht den Gegenstand, wie er an sich unabhängig von
jeder subjektiven Auffassung ist, sondern den Gegenstand in
seiner unmittelbaren subjektiven Auffassung durch das Individuum
— also nicht als Konstruktion aus vielen Gegenständen gleicher
Art, sondern als den subjektiv unmittelbar gesehenen, gehörten
'^tc. Gegenstand.
Die realistische Darstellung ist daher subjektiv, in gewissem
_^.3inn subjektiver als die idealistische, die aus vielen Erfahrungen
ein geraeinsames Muster abstrahiert; doch auch sie hängt ab von
242 U. V. Schubert-Soldern,
den Erfahrungen, welche der Künstler (Dichter u, s. w.) nach
allen Seiten hin gemacht hat, denn von diesen Erfahrungen
hängen die Assoziationen ab, die sich an einen Gegenstand
knüpfen und durch diese sind die Gefühle bestimmt, die er hervor-
ruft. Da aber die Gefühle, die ein Gegenstand hervorruft, nicht
immer am ganzen Gegenstand hängen, sondern vielfach an seinen
einzelnen elementaren und begrifflichen Teilen, so ist auch je
nach den individuellen Erfahrungen verschieden, was bei einem
Gegenstand in der Auffassung hervor- und was zurücktritt und
das ist dann auch entscheidend für seine Darstellung.^) Deswegen
gestaltet sich auch die realistische Darstellung eines und desselben
Gegenstandes verschieden je nach Zeit, Ort und Individuum, nur
dass hier das Bestreben hervortritt, den Gegenstand möglichst
unmittelbar zu erfassen, d. h. in seiner subjektiven Individualität
darzustellen. Dabei wird sehr oft vergessen, dass Individualität
nicht etwas unmittelbar Gegebenes ist, sondern auch ein Begriff,
der vieler Erfahrungen bedarf. Ich habe schon darauf hinge-
wiesen, dass eben deswegen die Photographie künstlerischen
Zwecken nie genügen kann, weil sie ein Augenblicksbild ist. Die
Individualität will ebenso studiert sein wie die Idealität; sie be-
darf der Hervorhebung des Charakteristischen sowohl der Gattung
als der Art des Gegenstandes bis zu seiner untersten Art, dem
Individuum. Dieses Charakteristische zu sehen, dazu bedarf es
vieler Erfahrungen und jeder wird es anders sehen je nach seinen
Erfahrungen. Dabei muss aber noch hervorgehoben werden, dass
der Realismus nicht etwa in der Darstellung einer wirklichen In-
dividualität allein besteht, dann wäre er auf das Porträt, die Bio-
graphie u. s. w. beschränkt, sondern dass er den Gegenstand dar-
zustellen strebt nicht als Muster, sondern individuell, als ob er
ein Gegenbild in der Wirklichkeit hätte und sehr oft hat er es
auch bis zu einem gewissen Grade.
Der Realismus hebt also bei der Darstellung eines Gegen-
standes das Zufällige, Subjektive hervor (freilich nicht ohne ge-
treue Nachahmung des Gattungscharakters, sonst wird er unwahr),
dieses erscheint als eine unmittelbare Erfassung des Gegenstandes,
1) Auch hier hat Volkelt sehr richtig darauf hingewiesen, dass die
Kunst die Natur nie erschöpfend wiedergeben kann, dass sie stets eine
Abbreviatur der Natur ist; ebendeswegen muss auch ein jeder Künstler
sie anders „abkürzen", d. h. eine andre Auswahl des Darzustellenden
treffen.
Die Grundfragen der Ästhetik etc. 243
obgleich sie es, wie ich nachgewiesen zu haben glaube, nicht ist.
Darin liegt aber die Gefahr, dass der Realismus in Naturalis-
mus') umschlägt. Denn der Realismus beruht auf der Darstellung
des Charakteristischen, dieses neigt aber, wie wir gesehen haben, dem
Hässlichen zu, kann wenigstens hässlich sein. Jedenfalls weicht
man dem Idealismus am meisten aus, wenn man das geradezu
Hässliche darstellt. Die Flucht vor dem Idealismus führt daher
oft zum Naturalismus. So wie der Idealismus das Schöne der
Natur in einem Gegenstand zu vereinigen strebt, so der Naturalis-
mus das Hässliche. Der Realismus will die Natur nicht hässlicher
machen als sie individualiter vorkommt, der Naturalismus will die
Natur noch natürlicher machen als sie ist, er übertreibt das Cha-
rakteristische bis zu einer Vereinigung des Hässlichen in einem
Gegenstände; er ist eine unbeabsichtigte Karrikatur der Natur,
die er freilich nicht immer soweit treibt, dass sie die beabsichtigte
Karrikatur erreicht. Deswegen tritt auch bei ihm wie beim Idea-
lismus oft die Technik dem Inhalt gegenüber in den Hintergrund,
das „Was" ist ihm wichtiger als das „Wie" der Darstellung.
Man kann beobachten, dass der Naturalismus oft technisch seinem
Darstellungsgegenstand gar nicht gewachsen ist, und dass er seine
Unfähigkeit oft durch gesuchte Originalität des Stoffes oder der
Darstellungsweise zu decken sucht.
Der Idealismus sammelt also das in der Natur zerstreute
Schöne in einem Gegenstand, wahrt aber dabei mindestens den
Schein der Naturwahrheit; wo er diesen nicht wahrt, wird er zum
H3^peridealismus. Der Realismus stellt den Gegenstand in
seiner Individualität dar, wie sie sich der subjektiven Auffassung
des Einzelnen bietet; wo das individuell Charakteristische zum
gesucht Hässlichen wird, schlägt der Realismus in den Natura-
lismus um.
Diese drei Kunstrichtungen stehen also in keinem so grossen
Gegensatz, dass nicht eine in die andere überginge. Der Idealis-
mus kann nach realistischer Darstellungsweise streben und der
Realismus sich idealistische Stoffe wählen, so dass beide Dar-
1) Realismus und Naturalismus werden vielfach gleichbedeutend ge-
braucht und gehen auch in einander über; mein Sprachgebrauch ist viel-
leicht nicht der gewöhnliche, doch ziehe ich ihn vor, um nicht einen
euen Terminus schaffen zu müssen, denn nichts erschwert das allgemeine
erständnis der Philosophie mehr als die stete Neuschaffung von Termini,
^ivo man mit den alten, bekannten auskommen könnte.
Kantstudiea XV. Iß
244 ' R. V. Schubert-Soldern,
stellungsweisen dann aneinander grenzen. Der Naturalismus kann
sogar eine Art Idealismus sein, er kann sich oft gerade daraus
entwickeln, dass er an die Natur und das Leben die höchsten
Anforderungen stellt; da diese nicht erfüllbar sind, so erscheint
ihm das Tatsächliche im Lichte dieses Hyperidealismus als ärmlich,
hässlich, schmutzig und so wie er die Natur sieht, so stellt er
sie dar. Freilich giebt es auch einen Naturalismus, den es freut,
sich im Schmutze zu wälzen, der unmittelbar am Hässlichen selbst
Vergnügen findet. Ein solcher Geschmack kann die Wirkung
einer Überreizung durch übermässigen Genuss sein. Der Be-
treffende bedarf dann eben des Absonderlichen, selbst Hässlichen,
weil er sich gegen das Schöne und Gewöhnliche abgestumpft hat.
§ 8. Die architekionische und geistige Schönheit.
Schiller hat die Begriffe der rein äusseren, architekto-
nischen Schönheit und der Schönheit des Ausdrucks auf-
gestellt. Die architektonische Schönheit besteht dann nur in einer
räumlichen und zeitlichen Anordnung der Elemente und in der
Schönheit der einfachen Elemente selbst. Ich habe oben schon
auf diesen Begriff hingewiesen, auch darauf, dass Schiller diesen
Begriff nicht fest genug umgrenzt hat; hätte er es getan, so
wäre wohl diese Art der Schönheit sehr mager geworden. Da
Schiller nämlich alle Zwecke von dieser Art Schönheit ausschliesst,
so bleibt es selbst zweifelhaft, ob er die Unterordnung unter eine
Regel als äussere Schönheit gelten Hesse, weil sie den Zweck
der leichten Zusammenfassung und Merkbarkeit in sich trägt.
Es ist nun aber, worauf ich ebenfalls schon hingewiesen
habe, die Frage, ob überhaupt viel von der architektonischen
Schönheit übrig bleibt, wenn man näher an sie herantritt. Ich
will gleich beim architektonischen Kunstwerk selbst anfangen.
Ein Gebäude findet seine Schönheit in der räumlichen Anordnung
seiner Teile, in den Linien, überhaupt in den räumlichen Formen.
Aber schon in der Architektur spricht man vom majestätischen
Bau, von würdevoller Auffassung, leichtem Emporstreben der Bau-
glieder, vom Ernst und von der Heiterkeit des Stüs. Fraglich
ist es schon, ob in Schillers Sinn auch die Anpassung eines Ge-
bäudes an seinen Zweck in ihrer äusseren Sichtbarkeit noch zur
architektonischen Schönheit zu rechnen ist, obgleich diese An-
passung unmittelbar gefällt, auch wenn die Zwecke gänzlich
Die Grundfrao-en der Ästhetik etc. 245
■t>
fremde sind: und doch beruht ein g-rosser Teil der Schönheit in
der Architektur auf dieser Zweckmässigkeit.!)
Aber auch in die kunstlose Natur trägt man Auffassungen,
Stimmungen und dadurch wird sie erst eigentlich schön. 2) Man
nennt die Natur gewaltig, anmutig, erhaben; die Natur scheint zu
lachen und zu weinen, zu grollen, zu zürnen, zu trauern und da-
durch erscheint sie uns erst poetisch, wenigstens im höheren
Sinn. Es ist ja auch ganz natürlich, dass der Mensch sich in
der Natur wieder sieht, dass er sich in die Natur hineinversetzt,
dass er die Natur vermenschlicht, und dass erst dadurch ihm jene
Naturschönheit ersteht, welche in der Beseelung der Natur liegt;
denn je weiter man in des Menschen Denken zurückgeht, desto-
mehr war er bei seinem Urteil über die Natur auf die Analogie
mit sich selbst verwiesen. Das gilt sogar von den einfachen
Linien: eine schön geschwungene Linie erregt ein Gefühl der
Leichtigkeit und Heiterkeit, während die gerade Linie mehr Ernst
und Nüchternheit zeigt. Das kommt m. E, daher, dass man die
Linie mit den Augen zieht, dadurch selbst in einen gewissen
Schwung, gleichsam einen Rhytmus gerät, der heiter oder ernst
ist, je nachdem die Linie langgezogen oder öfters ausbrechend in
Schnörkeln oder schwungvoll ist. So liegt auch schon in den
Linien eine gewisse Stimmung.
Sieht man daher genauer zu, so bleibt für die architektonische
Schönheit wenig übrig: vielleicht eine gewisse Ordnung überhaupt,
ob Proportion erscheint schon fraglich und endlich die einzelnen
einfachen Sinneselemeute wie Farben, Töne u. s. w. Auch die
einfachen Farben und Töne erregen zwar schon Stimmungen, helle
Farben, hohe Töne im allgemeinen heitere, tiefe Tone und dunkle
Farben düstere,^) doch sind sie vielleicht auch, abgesehen davon,
schön. Jedenfalls, wenn es eine architektonische Schönheit giebt,
die kein Ausdruck eines Geistigen ist, so ist ihr Umfang ver-
schwindend klein.
!) Vgl. Zdenko v. Schubert-Soldern „Ein Beitrag: zur Charakteristik
der Stilgesetze". Prag 1882, p. 7 f.
2) Vgl. Gottfried Semper, Der Stil. Frankfurt a. M. 1860. I. p. XXI,
'') Gewiss wirkt dabei auch schon Analogie mit: Dunkelheit der
■lacht, Helle des Sonnenlichtes; dann senkt man aber auch die Stimme
nwillkürlich, wenn man niedergeschlagen ist, man hebt sie in „gehobener"
Stimmung.
16*
246 il. V. Schubert-Soldern,
So kann man also wohl sagen, dass die Schönheit im höheren
(d. h. ausg-ebildeterem Sinn) eine geistige ist. Es rauss deswegen
festgestellt werden, worin dieses Geistige besteht. Das „Geistige"
kann nun offenbar nur in Vorgängen der Vorstellungs-, Gefühls-
und Begehrungswelt bestehen, denn die Aussenwelt gilt nicht als
geistig, soweit nicht Vorstellungen, Gefühle, Begehrungen berech-
tigter oder unberechtigter Weise aus ihr herausgedeutet werden.
Die Natur vergeistigen heisst daher, ihren äusseren Vorgängen
andere zugrundezulegen, die nur in der eben namhaft gemachten
Innenwelt liegen. Ein Teil der Naturvorgänge fordert dazu her-
aus, das ist der in der Menschen- und Tierwelt gelegene; ein
anderer Teil wird nur durch eine jetzt als unberechtigt erkannte
und doch als schön gefühlte Analogie mit jenen beiden ersten
Welten vermenschlicht; so wenn z. B. die Töne und Geräusche
des Sturmes als Klage oder Wutgeheul erscheinen, wenn man der
ihre Zweige hängen lassenden AVeide Trauergefühle zuschreibt,
wenn man vom Murmeln der Quelle spricht u. s. w. Diese Auf-
fassung der Natur ist aber nicht eine erst spät entstandene künst-
liche, sondern es ist die ursprüngliche Auffassung der ältesten
Kulturepochen und deswegen ist auch heute noch die Spi'ache
der sogenannten Naturvölker poetisch im Ausdruck, weil sie die
Natur noch viel mehr vermenschlichen als wir. Das Meer, Flüsse,
Winde, Jahreszeiten werden vermenschlicht, die Vorgänge in
ihnen werden, weil sie selbst mächtiger sind als die Menschen,
übermenschlichen Wesen zugeschrieben, den Göttern. Wo die
äussere Natur entgöttert und entmenschlicht wird, da erscheint
sie reizlos, oder „prosaisch". Der Mensch muss aber ursprüng-
liche alle Vorgänge in der äussern Natur vermenschlichen, weil
seine Innern Vorgänge ihm für die Erklärung der äussern Natur
das Zunächstliegende sind ; er muss die Natur nach sich selbst
beurteilen, weil er ja der beständige Mittelpunkt ist (eigentlich
sein Leib), von dem alles andere in seinem Wechsel abhängt.
Diese Auffassungsweise der Natur ist poetisch und schön und was
früher natürlich sich ergab, wird nun künstlich geschaffen. Doch
ist es nicht notwendig, stets eine antike Götterwelt in der Natur
zu sehen, heute ist der Dichter und Künstler mehr Theist oder
Pantheist, die Natur erscheint ihm belebt, als ein Ganzes, selbst
Göttliches oder vom götthchen Hauch belebt. Daneben giebt es
aber auch noch eine andere Belebung der äusseren Natur,
wenn der Künstler sie in ihren Verhältnissen zum Menschen
Die Grundlagen clei" Ästhetik etc. 247
darstellt, seine Bestrebungfen iu ihr sieht und sie in ihr mit-
fühlen lässt.
Das „Geistige" erscheint aber auch im Bilde im Gleichnis.
Auch das Bild ist nicht etwas erst später zu künstlerischen
Zwecken Geschaffenes, es ist ebenso ursprünglich wie die Ver-
menschlichung der äusseren Natur. Der Mensch konnte ursprüng-
lich Abstraktes nur im Bilde ausdrücken; er dachte zu konkret,
war zu sehr mit dem unmittelbar Gegebenen verbunden, um in
blossen Wortbegriffen zu denken,^) er dachte Abstraktes in Bildern
und Gleichnissen. So denken heute noch vielfach (wenn auch
nicht mehr ausschliesslich) die sogenannten Naturvölker. Wer
kein Wort für den Begriff „Mut" hat, kann ' seinen Inhalt nur
durch ein Gleichnis ausdrücken und auch wenn ein solches Wort
schon besteht, kann das Gleichnis noch der verständlichere und
populärere Ausdruck sein oder zum abstrakten gleichsam erläuternd
hinzutreten; daher der Bilderreichtum der ältesten Dichter, be-
sonders Homers. Ich möchte diese Art Schönheit die logische
Schönheit nennen.
Die höchste Schönheit liegt daher im Menschlichen, d. h. im
Geistigen, in dem, was den Menschen zum Menschen macht und
das ist seine am höchsten ausgebildete Innenwelt (Vorstellungs-,
Gefühls-, Begehrungswelt). Diese ist daher auch entweder das
mittelbare Ziel der ästhetischen Darstellung oder ihr unmittelbarer
Gegenstand.
§ 9. Die Darstellung des Geisügen in der Natur.
Das Geistige kann in der Natur auf zweierlei Art dargestellt
werden.
1. Das äusserlich Dargestellte steht unmittelbar in keinem
Zusammenhang mit Geistigem, es erregt aber eine gewisse Stim-
mung und diese ist schön. So können das Zwielicht, der Mond-
schein, Sonnenschein schön sein durch die entsprechende Stimmung,
die sie hervorbringen. Hier wird nicht dem Zwielicht unmittelbar
eine geistige Bedeutung untergelegt, die schön ist, sondern die
Wirkung, die es auf die Innenwelt ausübt, ist schön. In dem
liese Stimmung nicht hervorgebracht wird, dem erscheint das
Zwielicht weder schön noch hässlich. So verhält es sich auch
0 Vgl. meine „Grundlagen einer Erkenntnistheorie", p. 114 ff.
248 R. V. Schubert-Soldern,
mit der Musik. Die Musik wirkt durch Töne, aber die Töne an
sich sind nicht schön, sie haben wenigstens keine geistige Schön-
heit (nur die sogenannte architektonische); aber Töne erregen
Stimmungen und Gefühle und einen harmonischen Wechsel und
Übergang von Gefühlen und das ist das geistig Schöne. Aller-
dings wird der Musiker und Musikkenner auch die technische
Ausführung und Durchbildung einer Idee oder eines Satzes in
Tönen bewundern; darin liegt aber wieder eine andere Art des
Gefallens, nämlich an der Zweckmässigkeit der Anordnung der
Töne zur Darstellung einer Idee. Auch dieses Gefallen an der
Zweckmässigkeit und Übereinstimmung der Töne ist ein geistiges
Gefallen, denn die Zweckmässigkeit ist nicht denkbar ohne einen
Geist, der sie geschaffen hat und dieser Geist, der sich in der
Zweckmässigkeit kund giebt, gefällt. Dasselbe Gefallen entsteht
auch bei einem architektonischen Kunstwerk; auch hier gefällt
die Angemessenheit des Gebäudes in allen seineu Teilen zu einem
bestimmten Zweckganzen. Diese Angemessenheit und Zweck-
mässigkeit ist nun allerdings keine Stimmung, sie kann aber durch
den Zweck, den sie hat, Stimmung erregen (ein Wohngebäude
eine heimliche, eine Kirche eine andachtsvolle). Dasselbe gilt
vom Tanz: hier ist es der Ehythmus der Bewegungen, der die
Stimmung erregt, was ja auch bei der Musik mitwirkt. Derselbe
Rhythmus erscheint auch bei Linien : man kann sagen, jedes Ge-
bäude, jede Zeichnung, das Gebirge in seinen Umrissen hat einen
gewissen Rhythmus, der gefällt oder missfällt durch die Stimmung,
die er erregt. Natürlich spielt der Rhythmus auch in der Poesie
eine grosse Rolle, denn in ihm geben sich gewisse Gefühle und
Stimmungen kund, die in Übereinstimmung mit dem geschilderten
Vorgang oder Gefühl stehen sollen; die Ursache des Rhythmus
war aber wohl die alte Verbindung der Poesie mit der Musik
(Gesang). Weil bei dieser Art des Schönen überall gewisse Stim-
mungen hervortreten, die das Gefallen oder Missfallen kennzeichnen,
so möchte ich es das Stimmungsschöne nennen. Bei diesem
spielen nun auch die Assoziationen eine grosse Rolle. Wenn der
Mondschein magisch, mystisch, unheimlich erscheint, so wirken
dabei nicht nur die Undeutlichkeit des Gesehenen, die Bleichheit
des Lichtes (die auch die Gesichter bleich erscheinen lässt),
sondern auch die Assoziationen mit dem Gehörten und Geleseneu;
wer nie von Geistern und Gespenstern gehört hätte, dem würde
Nacht und Mondlicht wenig Mystisches bieten. Es ist bekannt,
1
Die Grundfraffen der Ästhetik etc. 249
"t?
dass besonders Gerüche durch ihre Assoziationskraft leicht Stim-
nmugeu hervorruf eu können, doch ist das ästhetisch nicht verwert-
bar, ein Geruchskunstwerk giebt es nicht, weil beim Geruch die
Möglichkeit kunstvoller und mannigfaltiger Kombinationen der
Elemente fehlt. Geschmacks-, Farben- und Tastempfindungen sind
weniger geeignet, für sich allein Stimmungen durch Assoziationen
hervorzurufen, wohl aber z. B. Farben in Verbindung mit Raum-
und andern Qualitäten (Farben in der Natur, Farben der Wohn-
räume).
Darin nun, dass gewisse elementare Sinnesqualitäten und
Beziehungen durch ihre Assoziationen Stimmungen hervorzurufen
vermögen, liegt etwas sehr zufälliges und willkiirliches. Deswegen
reflektiert auch die Musik in ihren Tönen nicht auf jene Assozia-
tionen, ausser wo sie Klänge der Natur nachahmt; wenn sie aber
das Eauschen des Meeres, Kirchen- oder Kuhglockengetöne musi-
kalisch wiedergeben will, dann muss auch sie Rücksicht auf die
Assoziationen nehmen, die sich an jene Töne knüpfen. Individuell
freilich wirken auch in der Musik Assoziationen und ein lustiges
Lied kann zu Thränen rühren, wenn sich daran die Erinnerung
an traurige Ereignisse knüpft.
2. Im Gegensatz zum Stimmungsschönen, das nur in der
Musik einer tiefen und weiten Ausbildung fähig ist, behandelt das
„Geistesschöne" im engereu Sinn einen geistigen Vorgang oder
eine Idee. Auch mit diesem geistigen Vorgang oder dieser Idee
sind Stimmungen und Gefühle verbunden, aber die Darstellungs-
mittel werden nicht unmittelbar zur Erzeugung einer Stimmung
verwendet, sondern zur Darstellung einer Idee oder eines Vor-
gangs, der dann Stimmungen, Gefühle hervorrufen kann. Der
Musiker ruft unmittelbar durch seine Darstellungsmittel Stimmungen
und Gefühle hervor, der Maler, der Bildhauer, selbst der Dichter
kann es nicht; sie müssen zuerst irgendwelche Ideen in Gegen-
ständen und Vorgängen der Aussenwelt verwirklichen und durch
sie erst erzeugen sie Gefühle. Das gilt sogar bis zu einem ge-
wissen Grade für den lyrischen Dichter: nur Gefühle, ohne dass
er auf irgendwelche äussere Vorgänge oder Gegenstände Bezug
nähme, kann auch er nicht schildern. "Wo er auch keinen Gegen-
stand und äusseren Vorgang zum Zweck lyrischer Gefühle dar-
tellt, da bedient er sich wenigstens des Gleichnisses in der
Aussenwelt. Denn nur Ton und Rhythmus können Gefühle un-
mittelbar hervorrufen, alle anderen Darstellungsmittel nur mittel-
250 R. V. Schubert-Soldern,
bar. Eiu Lyriker, der die Gefühle für sich allein schildern wollte,
wäre eher Psychologe als Dichter.
So ist die eigentliche Aufgabe der Kunst, die Innenwelt
durch die Aussenwelt darzustellen; sie kann das unmittelbar tun,
wie in der Musik und im Rhytmus des Tanzes, sie kann es mittel-
bar tun, indem sie durch ihre Mittel (welche stets der Aussenwelt
angehören müssen) zuerst die Aussenwelt darstellt und durch
diese erst die Innenwelt. Auch die Landschaft soll Stimmung
hervorrufen und ist insofern Mittel zur Darstellung der Innenwelt.
Die wichtigsten Arten nun der geistigen Schönheit im weiteren
Sinn (das Stimmungsschöne inbegriffen) sind das Erhabene und
Anmutige.
§ 10. Das Erhabene und das Anmutige.
Auch hier will ich, wie bei den Hauptbegriffen der Ästhetik
überhaupt, unter Benutzung ihrer Analyse durch Kant und auch
Schiller vorgehen, dabei aber ihre metaphysischen Voraus-
setzungen ausschliessen.
Das Erhabene, worauf E. v. Hartmann^) ganz richtig hin-
gewiesen hat, ist immer ein intensiv Erhabenes, das extensiv Er-
habene ist immer nur scheinbar vorhanden, indem die Extensität
die Idee einer dahinter steckenden gewaltigen Kraft hervorruft;
oder indem man sich an der Extensität der Grösse seiner eigenen
Auffassungskraft bewusst wird. Es giebt daher zweierlei Arten
des Erhabenen: 1. Jenes, das im Bewusstsein der Grösse der
eigenen Auffassungskraft wurzelt ; so wenn ich z. B. den Sternen-
himmel betrachte und mir vorzustellen versuche, dass er aus un-
endlich vielen unermesslich weit entfernten Welten besteht.
Dieser Versuch scheitert zwar an der Grösse der geforderten
Vorstellung, aber dennoch wird in diesem Versuch die Vor-
stellungskraft'-^) bis zu den äussersten Grenzen angespannt und
dadurch wird man sich der Macht und Grösse seines eigenen
Geistes bewusst. Das ist jenes Erhabene, das seinen Gegenstand
in der Natur findet, ohne die Natur zu vermenschlichen. Aber
nur der Gegenstand ist in der Natur zu finden, das Erhabene
liegt in uns, in unserer geistigen Auffassung.
1) „Philosophie des Schönen" II, p. 262.
2) Eigentlich die Möglichkeit, seinen VorsteUiingskreis zu erweitern
und zugleich zusammenzufassen.
I
Die Grundfragen der Ästhetik etc. 251
•ö
2. Es g^iebt aber auch ein Erhabenes, das auf einer g-e-
waltigen Macht, einer gewaltigen geistigen Kraft beruht, die sich
in furchtbarer Weise in der Aussenwelt kundgiebt. So erscheinen
Elementarereignisse in der Natur in diesem Sinn erhaben, wo wir
sie vermenschlichen; so wenn wir einen Orkan, ein stürmisches
Meer, ein Erdbeben als zornige Äusserungen eines geistigen
Wesens erfassen. Sie sind aber auch dadurch erhaben, dass sie
die Vorstellungskraft sich bis zu den äussersten Grenzen zu er-
weitern nötigen ; sie können also auch zur ersten Art des Er-
habenen gehören. Wo aber weder das eine noch das andere der
Fall ist, wo z. B. die Grösse oder Intensität eines Gegenstandes
nur durch Zahlen angegeben ist, da stellt sich auch nicht das
Gefühl der Erhabenheit ein. Das beruht also darauf, dass das
Erhabene sich immer an die Betätigung einer gewaltigen geistigen
Macht knüpft, die entweder unmittelbar unsere eigene Auffassungs-
kraft ist oder eine gewaltige geistige Kraft, die sich in der Natur
oder im Menschen kund giebt, wodurch im letzten Fall das ent-
steht, was Schiller Würde nennt. In den beiden letzten Fällen
muss ich aber die geistige Macht erschliessen und dadurch, dass
ich sie erschliesse, eigne ich mir sie gleichsam an: indem ich die
Älacht und Grösse eines fremden Geistes erschliesse, fühle ich sie
selbst. Doch die Äusserung dieser gewaltigen Macht darf mir
nicht mit Schaden und Leid drohen, weil ich sonst aus der blossen
Betrachtung zum Handeln herausgerissen werde (Abwehr), wo-
durch das Gattuugsmerkmal des Ästhetischen vernichtet erscheint.^)
Das Angenehme beim Erhabenen steckt ioi Machtbewusstsein, das
es hervorruft, entweder des eigenen Geistes oder des fremden, in
das ich mich hineinlebe, das ich nur gleichsam ausleihe.
Den Gegensatz zum Erhabenen bildet das Anmutige. War
das Erhabene eine gewaltige geistige Kraft, deren ich mir be-
wusst geworden bin, so ist das Anmutige ein blosses Spiel der
Kräfte. Dem Anmutigen liegt jede gewaltsame Anstrengung fern,
es muss sich von selbst ergeben; man darf die Anstrengung, die
zur Wirkung notwendig ist, nie sehen, sonst wird die Anmut zer-
stört. Das Anmutige ist also, wie Schiller so richtig hervor-
gehoben hat, die unwillkürliche Übereinstimmung des Innern
Fühlens und des äussern Handelns ; wobei Handeln im weitesten
Sinn genommen werden muss, auch als fest gewordene Bewegung
1) Deswegen tritt das Gefühl des Erhabenen (eines Meeressturmes
z. B.) erst hervor, wenn die Gefahr (der Sturm also) vorüber ist.
252 R. V. Schubert-Soldern,
(Handeln) im Ausdruck. Nur glaube ich, dass das Ziel des
Handelns dabei gleichgiltig ist, das Handeln niuss nicht moralisch
sein und das halte ich für einen Fehler der Schillerschen An-
schauung, dass die Anmut aus moralischer Gesinnung hervorgehen
soll. Es giebt auch eine Anmut des Bösen und nicht bloss des
Guten. Die Anmut besteht nicht darin, dass eine gute Gesinnung
in schöner Übereinstimmung mit der äussern Bewegung steht,
sondern darin, dass Gefühle, Gesinnungen überhaupt in völliger
Übereinstimmung mit dem von ihnen äusserlich Wahrnehmbaren
stehen. Gefühle haben ja an und für sich nichts mit der Moral
zu tun, sie werden erst moralisch oder unmoralisch durch ihre
Beziehung auf die Mitmenschen und gerade diese Beziehung ist
für die Anmut gleichgiltig. Was für Zwecke, Handlungen und
Bewegungen haben, ist für den Begriff der Anmut gleichgiltig.
Die Anmut liegt nicht im Zweck, sondern in der Art und Weise,
wie das Ziel äusserlich angestrebt und erreicht wird. Deswegen
fällt auch die Richtung der Bewegung, wie Schiller auch selbst
bemerkt, 1) nicht unter den Begriff der Anmut, sondern nur ihre
Ausführung. Das Ziel gehört zum willkürlichen und absichtlichen
Entschluss, das Anmutige ist unwillkürlich und unabsichtlich: es
liegt in der Art und Weise, wie das Ziel äusserlich angestrebt
und erreicht wird. Das Innere (Gesinnung im weitesten Sinn)
und Äussere (Bewegung im weitesten Sinn) sollen sich in der
Anmut das Gleichgewicht halten und einander entsprechen. Eine
äussere Bedingung muss aber allerdings die Gesinnung erfüllen:
sie muss nicht moralisch sein, aber sie muss selbst ein Gleich-
gewicht der Gefühle aufweisen, nur dann wird sie auch ein
Gleichgewicht und Ebenmass der Bewegungen zur Folge haben
können.^) Darin liegt auch der Gegensatz der Anmut zum Er-
habenen. Das Erhabene ist ein Unmessbares, das Anmutige ist
ein Ebenmässiges, Gemessenes; das Erhabene überschreitet das
^) 1. c. p, 20, obgleich mit andern Worten.
2) Das Gleichgewicht der Gefühle braucht nicht immer ein ent-
sprechendes Ebenmass der Handlungen und Bewegungen hervorzurufen,
denn das Ebenmass der Bewegungen beruht auch darauf, dass in ihnen
unwillkürlich nicht mehr Kraft angewendet wird, als zur Erreichung des
Zweckes notwendig ist und das dieser Zweck ebenso unwillkürlich durch
die leichtesten und einfachsten Bewegungen erreicht wird und das kann
durch das Ebenmass der Gefühle allein nicht erreicht werden, dazu gehört
auch willkürliche Übung oder unwillkürliche Nachahmung, die vorher-
gehen muss.
Die Grundfragen der Ästhetik etc. 253
Mass, das Aumutige hält sich im Mass; das Anmutige ist ge-
messene Selbstbeherrschung seines Äussern, die zur zweiten Natur
geworden ist, das Erhabene ist Anspannung aller Kräfte, selbst
bis zum Verlust der Selbstbeherrschung. Das Anmutige wird also
charakterisiert durch die Übereinstimmung zwischen dem Innern
und Äussern, aber die Art und Weise dieser Übereinstimmung
muss ein gewisses Ebenmass und relative Ruhe zeigen; relativ
muss die Ruhe sein im Gegensatz zum Kontrast, von dem sich
das Anmutige abhebt: auf stürmischem Hintergründe wird auch
die Anmut eine stürmischere sein können. Vor allem aber darf
man der Anmut nie eine Willkürlichkeit und Absichtlichkeit an-
merken, die wahre Anmut wird unwillkürlich' sein und die ge-
machte muss es wenigstens scheinen.
§ 11. Das Tragische und Komische.
Das Tragische geht aus dem Erhabenen hervor. Es ist der
Konflikt des menschlich Erhabenen, sei es mit der Natur oder mit
anderem menschlich Erhabenen; in diesem Konflikt -geht das Er-
habene unter. Man könnte das Tragische daher auch als den
Untergang des Erhabenen bezeichnen w^ollen, wenn dieser Begriff
nicht zu weit wäre, denn wo das Erhabene ohne gewaltigen Kon-
flikt zu Grunde geht, gehört es nicht dem Tragischen an; dieser
Konflikt muss ein schwerer, gewaltiger sein, also ein Konflikt
wieder mit einem Erhabenen in der Natur oder in der Menschen-
brust. Auf der Bühne ist aber nur darstellbar das menschlich
Erhabene (nicht das Erhabene der Natur), das gewaltigste mensch-
lich Erhabene ist aber das moralische, daher stellt die Tragödie
den moralischen Konflikt des Erhabenen dar oder eigentlich den
Untergang des Erhabenen im moralischen Konflikt.^)
Indem die Kunst das Tragische darstellt und der Beschauer
(Hörende oder Sehende) es in sich aufnimmt, es nacherlebt, fühlt
er sich zur Höhe des Erhabenen emporgezogen; dadurch wird er
gereinigt von allen kleinlichen Leidenschaften, banausischen Zielen
1) Tatsächlich muss freilich der Untergang des Erhabenen nicht er-
folgen (vgl. Volkelt, „Ästhetik des Tragischen-', München 1897, p. 47 ff.),
\ber die Gefahr muss eine wirkliche und nicht bloss scheinbare sein und
das Tragische in der Darstellung hört in dem Augenblick auf, wo die
Gefahr aufhört. Der Untergang des Erhabenen muss also wenigstens in
der Erwartung erfolgen.
254 R. V. Schubert-Soldern,
und Gedanken, die g-egenüber dem Erhabenen ihren Wert verloren
haben. Das ist m. E. der Sinn, in dem allein die Katharsis des
Aristoteles aufrecht erhalten werden kann, wenn es auch nicht
die strikte Ansicht dieses Philosophen selbst ist. Deswegen be-
darf das Tragische keiner Versöhnung, denn der Zuschauer soll
sie in jeuer Reinigung finden. Wo sie vorhanden ist, ist sie viel-
leicht kein Fehler, wenn sie bloss angedeutet ist. Wird die Ver-
söhnung aber zu weit durchgeführt, dann erscheint das Tragische
verwischt; der Künstler darf nur andeuten, dass mit dem be-
stimmten Erhabenen nicht alles Gute und Schöne untergegangen
ist, dass neues Leben aus den Ruinen heraus zu erhoffen ist;
führt er aber diesen Gedanken zu sehr im Einzelnen aus, so er-
Avacht im Beschauer das Interesse für das Neue und zerstört das
Interesse für das Tragische.
Den Gegensatz zum Tragischen bildet das Komische. Auch
im Komischen ist ein Konflikt, aber ein Konflikt von Kräften, die
keine Stärke, sondern Schwäche zeigen. Das, was im Konflikt
steht, will mehr sein als es ist oder auch zugleich ein anderes
sein; im Konflikt aber zeigt es, dass es viel weniger oder fast
nichts ist oder etwas ganz anderes, als es sein will. Dieser
Unterschied im Sein, Wollen und Wirklichsein ist das Komische.
Nicht notwendig ist es jedoch, dass im Komischen stets ein Er-
habenes erscheint, das sich dann als keines erweist, denn das ist
nur eine Art des Komischen. Notwendig ist nur, dass eines im
Gegensatz zum andern steht, oder dass beide sich zu einander im
Gegensatz befinden der Quantität oder Qualität nach, tatsächlich
aber fast nichts oder etwas ganz anderes sind. Der Gegensatz
zum Tragischen liegt also darin, dass der Konflikt beim Komischen
ein unbedeutender ist, und dass er die scheinbare Bedeutsamkeit
des in ihm Befindlichen zerstört, während beim Tragischen der
Konflikt das in ihm Befindliche zur Erhabenheit erhöht und in
volles Licht setzt.
Daraus ergiebt sich der Begriff des Tragikomischen,
Dieser besteht darin, dass das im Konflikt befindliche halb komisch,
halb tragisch ist; das kann wieder dadurch entstehen, dass ent-
weder ein Erhabenes in einem unbedeutenden (lächerlichen) Kon-
flikt zu Grunde geht oder dadurch, dass in einem bedeutenden
Konflikt ein Unbedeutendes zu Grunde geht.
Das Komische selbst kann ein subjektiv oder objektiv
Komisches sein. Das objektiv Komische ist das Lächerliche,
J
Die Grundfragen der Ästhetik etc. 255
wo das Komische am Andern hängt, ohne dass er es sein will;
das subjektiv Komische entsteht, wo der Andere komisch sein
will, das Komische darstellt. Zu diesem gehört auch der Witz.
Im Witz liegt Absichtlichkeit, ein unabsichtlicher Witz ist eigent-
lich keiner. Dann gehört aber auch dazu, dass der Witz etwas
Einzelnes, Augenblickliches ist, das ist die Pointe des Witzes.
Ein Komisches, das sich in einer ganzen Erzählung von einiger-
massen bedeutender Länge entfaltet ist, ist kein Witz, sie kann
höchstens eine Sammlung von Witzen sein. Der Witz ist das
isolierte Moment des Komischen und eben durch diese Isolierung
wirkt er packend, er muss den Gegensatz viel schärfer konzen-
trieren, als ein ausgeführt Komisches, sonst ist er schal.
§ 12. Der Humor.
Der Humor steht im Gegensatz zum Witz innerhalb des
Komischen : sowie der Witz das isolierte Moment des Komischen
ist, so ist der Humor eine ganze Lebensanschauung, die sich im
Komischen entfaltet. Vom Standpunkt des Humors aus sind alle
Konflikte des Lebens unbedeutend, sie laufen auf ein Nichts oder
auf ein ganz anderes hinaus, als sie scheinen. Der Kampf des
Lebens erscheint seiner selbst nicht wert und dadurch entsteht
die Komik, dass der Kampf des Lebens sich selbst in seiner
Uubedeuteudheit aufdeckt: das Leben erscheint selbst als eine
Komödie.
Innerhalb des Humors im allgemeinen sind aber zwei Stand-
punkte möglich: ein positiv idealer und ein negativ nüch-
terner: 1. Vom positiv-idealen Standpunkt kann das Leben als
eine Komödie erscheinen, w'eil der es Schildernde einen erhabenen
Standpunkt einnimmt, einen Standpunkt, der über das kleine Ge-
triebe des Lebens erhaben ist: er betrachtet die Welt gleichsam
von einem hohen Turme aus und sie schwindet ihm zu einem
Ameisenhaufen zusammen. So erscheint ihm aller Kampf und
Streit als lächerlich oder des Mitleids wert, des Mitleids, weil oft
ein das Menschliche zerstörender Kampf um Nichts geführt wird.
Dabei kann man aber auch sich selbst von diesem Standpunkt
aus betrachten, sich in ihn einschliessen, dann verliert der Humor
ine Schärfe und Bitterkeit, das Mitleid herrscht, vor allem Weh-
it darüber, dass das Unbedeutende und Nichtige im Leben eine
solche Rolle spielen muss. Diese Art des Humors, der Humor
256 R. V. Schubert-Soldern,
im engeren Sinn zerstört die Anschauungen des wirklichen
Lebens, um an ihre Stelle einen idealen Standpunkt zu setzen
oder wenigstens anzudeuten.
2. Die zweite Art des Humors ist die Satyre. Auch sie
betrachtet das Leben als eine Farce, in seiner ganzen lächerlichen
Nichtigkeit und Hohlheit, die sich als Bedeutsamkeit des Geistes
und Gefühls geben will. Doch sie ist nur negativ, sie spielt nur
einen Gegensatz gegen den andern aus, ohne alles von einem
höheren Standpunkt aus zu betrachten und es vielleicht in ihm
zu versöhnen. Die Satyre zeigt die Nichtigkeit des Einen durch
die Nichtigkeit des Andern, sie zerstört nur ohne, aufzubauen. In
der satj'rischen Lebensanschauung erscheint daher die eigene
Person meistens von der Satyre ausgeschlossen, weil sie nicht auf
einem idealen Standpunkt steht, von dem aus sie alles, auch sich
selbst, umfasst. Der Satyriker steht mitten im Leben darin, be-
kämpft eines durch das andere, stellt aber nichts an seine Stelle.
Beide Standpunkte können sich auch mengen (nicht aber organisch
verbinden), wenn bald die Freude am blossen Zerstören der auf-
geblasenen Nichtigkeiten des Lebens vorherrscht, bald ein idealer
mitleidsvoller Standpunkt im Hintergrund das grelle Licht der
Satyre gemildert erscheinen lässt. Hass und liiebe kämpfen in
einer solchen Natur, aber weder die eine, noch die andere behält
die Oberhand.
Damit sind die hauptsächlichsten Begriffe der Ästhetik auf
Kantischer Grundlage analysiert und mit Ausschluss aller Meta-
physik weiter durchgeführt. Das Prinzip oder die Prinzipien der
Einteilung der Künste und die Durchführung der gewonnenen
Begriffe in den einzelnen Künsten würde nicht mehr zu den all-
gemeinen Grundbegriffen der Ästhetik gehören.
Anhang.
Einige Bemerkungen zum Begriff des Suis.
Der Begriff des Stils wird in sehr verschiedenen Beziehungen ge-
braucht und im gewöhnlichen Leben oft sogar auch gleichbedeutend mit
dem Begriff der Manier. Manier und Stil unterscheiden sich aber wesent-
lich von einander, wenn man Manier nicht in dem allgemeinsten Sinn von
Art und Weise gebraucht, sondern in dem Sinn von Manieriertheit. Manier
ist dann der gedankenlos von irgendwoher übernommene Stil, also ein
Stil, der nicht aus der eigenen Tätigkeit des Künstlers hervorgegangen
ist, der einfach nachgeahmt ist. Freilich kann auch der selbsterfundene
Die Grundfragen der Ästhetik etc. 257
Stil eines Künstlers in Manier übergehen, wo dieser die Ziele, die seinen
Stil geschaffen, ausser Acht lässt und ihn gedankenlos anwendet. Damit
soll jedoch nicht gesagt sein, dass der Stil ein voll bewusstes Produkt
der Ziele des Künstlers sein rauss oder ist. In der Regel wird sogar der
Künstler ..nnbewusst" seinen Stil seinen Kunstzielen anpassen und auch
diese selbst brauchen ihm nicht zum vollen Be^\'usstsein zu kommen.
„Unbewusst" heisst aber hier nicht eine eigene Art psychischer Tätigkeit,
die sich von der bewussten scharf unterscheidet, sondern es fehlt nur das
die einzelnen Bewusstseinsmomente in der Erinnerung zusammenfassende
Bewusstsein und damit auch die Richtung, welche diese Bewusstseins-
momente einschlagen. Der Künstler lässt sich vielmehr vom konkreten
Augenblicksinhalt bestimmen wie jeder Praktiker und ist sich deswegen
viel weniger jener Begriffe bewusst, die durch die Zusammenfassung vieler
konkreter Augenblicke entstehen können ; in diesem Sinn arbeitet er „un-
bewusst" und viel „Reflexion" muss seiner Kunsttätigkeit schaden.^)
Unter „gedankenlosem" Arbeiten verstehe ich aber ' einen nahezu gänz-
lichen Mangel an eben dieser Reflexion auf seine Ziele, so dass nicht
mehr die Reflexion wirkt, sondern ihr erstarrtes Produkt, eben die Manier.
Zu viel Reflexion bewirkt einen gezwungenen Stil, der aber immer noch
Stil ist, zu wenig wird zur Manier. Stil und Manier sind also Art und
Weisen künstlerischer Darstellung, abhängig von den Zielen dieser Dar-
stellung; nur wirken im Stil diese Ziele noch lebendig, wenn auch nur
halbbewusst im erörterten Sinn, in der Manier ist die Art und Weise er-
starrt und die Wirkung der Ziele beschränkt sich auf ein Minimum ; es
wird also in der Manier der durch Ziele geschaffene Stil bloss nach-
geahmt.
Aber auch der Stil im allgemeinen lässt viele Abstufungen zu. Von
Stil im eigentlichen strengsten Sinn kann man m. E. nur reden, wo der
Zweck (die Ziele) des Kunstwerkes alle seine Teile bis ins Einzelne sj'ste-
matisch bestimmt, wie in der Architektur. In Malerei, Skulptur und
Poesie und in beschränkterer Weise auch in der Musik lassen sich die-
selben Ziele in der verschiedensten Weise äusserlich darstellen, so dass der
Zusammenhang zwischen Ziel und Darstellung im Einzelnen sich viel
weniger offenbart. Strengen Stil giebt es nur in der Architektur und
kann (muss aber nicht) es in der Musik geben, was man in den andern
Künsten oft Stil nennt, ist vielmehr Manier oder das, was ich Stilismus
nennen möchte, die Unterordnung der Kunst unter ihr fremde Zwecke;
so wenn die Malerei oder Skulptur sich gänzlich der Dekoration unter-
ordnet oder wenn das Symbolische bis ins Einzelne die Oberhand behält
wie bei den indischen Skulpturen. Gewiss giebt es auch in Malerei,
Skulptur und Poesie Stil, aber er ist äusserlich wenig sichtbar, nur für
den Kenner erfassbar und stets viel freier in seinen Formen und seiner
Handhabung. Das aber, was als Stil von bestimmten Kunstschulen be.
zeichnet wird, ist leider in der Regel mehr Manier als Stiel, der Meister
kinterlässt seinen Schülern die Manier und nur die tüchtigsten erwerben
1) über das Unbewusste vgl. meine Abhandlung „Über das Unbe-
.fusste im Bewusstsein", Vierteljahrsschr. f. wissensch. Philos. XXII. 4.
256
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Axbäi: Was ist Stfl?
Die Grnndfrag'en der Ästhetik etc. 259
lieh aucli Zweck und Stoff bestimmen („spezielle Stilgesetze", man kann
wolil besser sa^en historische Stilgesetze).*) Es wäre ein Fehler, zu
glauben, dass sich in einem Kunstwerk Stoff, Zweck und äussere Umstünde
in iliren Wirkungen genau trennen Hessen; die Idee beeinfhisst ebenso in
jedem Augenblick der Ausführung den Stoff wie der Stoff immerfort
während ihrer Gestaltung die Idee modifiziert ; denn Stoff und Idee ver-
halten sich zu einander wie Technik und Komposition. Deswegen wird
man m. E. im Einzelnen nie bestimmen können, wie viel bei einem
Kunstwerk auf Reclmung des (materiellen und aucli geistigen) Stoffes und
wie viel auf Rechnung der Idee zu stellen kommt.
Der Stoff bestimmt die Technik im materiellen Sinn, eine Be-
arbeitung des Stoffes, die seiner Natur zuwider ist, wird niemals zu einem
bis ins Einzelne durchgeführten Kunstwerk führen können ; soweit sie
aber dem Stoff entgegen doch ein Kunstwerk schafft, fühlt sich der
Kenner wenigstens, dadurch, dass dem Stoff Gewalt angetan wird, unan-
genehm berührt, so z. B. wenn der Holzschnitt auf Steinskulptur ange-
wendet wird.2) Doch vor allem lassen sich gewisse Arten der Technik
überhaupt nicht auf gewisse Stoffe anwenden, so kann man in Marmor
nicht giessen, in Kohle nicht malilen und in Ölfarbe nicht zeichnen. Hier
sind also ganz verschiedene Arten der Technik durch den Stoff erforder-
lich und sie ergeben mit Notwendigkeit einen bestimmten Stil, der bis
zu einem gewissen Grade auch das Detail bestimmt. Dieser rein vom
Stoff abhängige Stil ist notwendig, er kann vom Künstler mehr oder
weniger frei gehandhabt werden, aber er kann nicht ausser Acht gelassen
werden, selbst wenn der Künstler die Absicht hätte, es zu tun. Dagegen
kann der Holzschnitzer seine Technik bis zu einem gewissen Grade auf
Marmor übertragen, der Maler in Öl seine Teclmik auf Wasserfarben
übertragen; soweit der Künstler so etwas überhaupt tun kann, wird er
sich nur selbst im Licht stehen, aber er kann es wenigstens tun und tat-
sächlich Iiaben solche Übertragungen der Technik von einer Kunst auf
die andere stattgefunden, freilich nicht zum Vorteil der Kunst. Sie waren
sogar historisch notwendig, wo man von der Bearbeitung eines bekannten
Materials, z. B. Holz, zur Bearbeitung eines kunsttechnisch noch unbe-
kannten Materials, z. B. Stein, überging; man wandte dann eben, so gut
es ging, die Technik des einen Stoffes auf die anderen an, bis der Stoff
mittels der Erfahrung sich seine eigene Technik schuf.^) Dann giebt es
auch einen Teil der Technik, der vielen Stoffen gemeinsam ist. Holz-,
Stein-, Metallarbeiten haben z. B. (also die Plastik) der Malerei gegen-
über ihre eigene Technik und einen darauf beruhenden Stil, der natürlich
auch wieder bis zu einem gewissen Grad übertragbar, teilweise aber nur
1) In der zweiten Abhandlung p. 5. Vgl. auch Gottfr. Semper, Der
Stil. Frankfurt a. M. 1860. I. p. 7 f.
-) Wie sehr das Material den Stil beeinflussen kann, sieht man an
der ägyptischen Skulptur. Vgl. Semper 1. c. I. p. 104 f.
3) Semper 1, c. U. p. 209 f. Übertragung der Holztechnik auf Porös
und von da auf Marmor: ..Der Kalbträger'', Museum auf der Akropolis
in Athen.
Kautstadien XV, 17
260 R. V. Schubert-Soldern,
in der Malerei oder nur in der Plastik durchführbar ist. So kann man
natürlich auch von einem musikalischen, poetischen, architektonischen und
einem Stil der bildenden Künste überhaupt reden, der rein auf ihrer
Technik beruht und notwendig ist; teilweise kann aber die Technik auch
hier von einer Kunst auf die andere übertragen werden und endlich haben
natürlich alle Künste auch eine gemeinsame Technik, die sich freilich auf
wenige gemeinsame Züge beschränken muss, denn gemeinsam ist eigent-
lich allen Künsten nur, dass ein Stoff durch eine Idee gestaltet und die
dabei vorhandenen stofflichen Schwierigkeiten überwunden werden
müssen.
Dasjenige aber, was den Stoff gestaltet, ist die Idee, die Vorstellung
im Gegensatz zur Wahrnehmung. Die Vorstellung hat also die Wahr-
nehmung zu verändern; sie muss es auch da tun, wo sie die Natur nach-
ahmt, denn die Auffassung der „Natur" ist eben ihre Wiederspiegelung
in der Vorstellungswelt, ja die nachgeahmte Natur ist zum grossen Teil
selbst Vorstellung. Die Vorstellung kann aber nicht unmittelbar auf die
Wahrnehmungswelt einwirken, sie kann es nur mittels des Leibes. Die
Teile des Leibes, die dabei unmittelbar tätig sind, sind hauptsächlich Auge,
Ohr und Hände, wobei es von der Kunst abhängt, in welcher Weise Teile
des Leibes und ob sie überhaupt angewendet werden.^) Ausser diesen
Teilen sind aber immer noch (ausser bei Schauspielkunst und Tanz)
vermittelnde Instrumente notwendig, um den Stoff zu gestalten. Die
Handhabung dieser Instrumente mittels des Leibes ist bedingt durch die
Kunstfertigkeit. In der Dichtkunst ist diese Kunstfertigkeit eine reine
Äusserlichkeit (das Schreiben), während sie bei Schauspielkunst und Tanz
das Kunstwerk selbst bildet. Der Stoff der Dichtkunst ist eben kein der
Wahrnehmungswelt angehörender, sondern die menschliche Vorstellnngs-
welt selbst, Idee und Stoff fallen hier zusammen; bei der Schauspielkunst
und dem Tanz fehlt das Instrument der Bearbeitung, weil hier der mate-
rielle Stoff und das Kunstwerk selbst äusserlich im Leibe zusammenfallen.
Die Schauspielkunst stellt aber durch den Leib die Innenwelt dar, bei der
Tanzkunst bleibt das Kunstwerk mehr ein äusserliches, obgleich auch hier
die Innenwelt mitspricht und wo die Tanzkunst zur Mimik wird, bildet
sie den Übergang zur Schauspielkunst sowie ihre Verbindung mit der
Musik ihren inneren Gehalt hervorhebt.
Die Instrumente nun wie die Kunstfertigkeit, mit der sie gehand-
habt werden, drücken dem Kunstwerk ebenfalls einen bestimmten Stil
auf. Aber auch hier soll der Charakter des Instrumentes bei der Archi-
tektur und bei der Musik sich in stärkerem Masse kundgeben als bei den
andern Künsten, soweit sie Instrumente anwenden; am allermeisten ist
das bei der Musik der Fall, während bei der Malerei z. B. der Pinselstrich
als solcher, das Struktive bei ihr nicht hervortreten darf, so interessant
es für den Kenner und Künstler ist.
Die Instrumente drücken dem Kunstwerk ihren eigenen aber einen
allgemeinen Stil auf, der allen Instrumenten gleicher Art in gleicherweise
1) Schauspielkunst, Tanz verwenden freilich den ganzen Leib und
zugleich ist der Leib der materielle Stoff ihrer Kunst.
Die Grundfragen der Ästhetik etc. 261
gemeinsam ist. Die Art und Weise der Handhabung dieser Instrumente
prägt jedoch dem Kunstwerk den persönlichen Stil des Künstlers auf, der
eben nur diesem Künstler allein eigen ist, wenn er überhaupt Stil hat.
Er hat aber Stil, wo er sich diese Handhabung selbst erworben und nicht
bloss nachgeahmt hat. Ich sage bloss nachgeahmt, denn ursprünglich muss
jeder Kunstschüler seinen Meister in der Kunstfertigkeit nachahmen; wo
er das aber nicht bloss äusserüch tut, sondern- aus allen Zwecken, Zielen
und Elementen sich diese Kunstfertigkeit des Meisters noch einmal auf-
baut, da hat er sie dann selbst noch einmal erworben, selbst wenn sie der
Kunstfertigkeit des Meisters auf ein Haar gleichen sollte, was niemals der
Fall sein wird. Sich aber derart in die Kunstfertigkeit des Meisters
hineindenken, dazu gehört nicht nur Kunstanlage, sondern auch Gründ-
lichkeit und Fleiss; dann wird aber auch ein solcher Kunstschüler über
seinen Meister in origineller Weise hinausgehen, ob er es ursprüng-
lich beabsichtigt hat oder nicht. Heute allerdings, wie es scheint,
will der Kunstschüler oft den Meister an Originalität übertreffen, be-
vor er ihn noch gründlich kennen gelernt hat, weil er nicht weiss,
dass er ihn überhaupt nur soweit übertreffen kann, als er ihn gründ-
lich kennt.
Zweck, Ziel und geistiger und materieller Stoff des Kunstwerks
hängen aber selbst wieder von Zeit, Ort und Kultur jener Gemein-
schaft ab, in der sie erzeugt werden.
Sowie in der Wissenschaft nicht alle Konsequenzen einer neu auf-
getauchten Tatsache oder einer neuen Gesetzmässigkeit auf einmal ge-
zogen werden, sondern erst allmälig und wie schliesslich auch in der
Wissenschaft eine neue Idee in ihrer Anwendung übertrieben wird, bis sie
sich selbst ad absurdum führt, so ist es auch in der Kunst. Zwecke und
Ziele, die in Verbindung mit einem Stoff einen Stil geschaffen haben,
rufen immer weitere Konsequenzen hervor und führen diesen Stil bis ins
Einzelnste durch; dann wird er übertrieben, weil das Konsequente und
Massvolle schliesslich langweilig wird, man sich dagegen abstumpft. Man
bevorzugt dann gewisse Eigentümlichkeiten des Stils oder man ändert
seine Regelmässigkeit mehr oder weniger willkürlich ab, um etwas Neues
zu schaffen. Je willkürlicher aber diese Abänderungen werden, desto
leichter stumpft man sich dagegen ab, so dass man schliesslich diesen
Stil ganz verlässt, sobald von irgendwoher die Prinzipien eines neuen
Stiles auftauchen. Die Zeit entwickelt also einen Stil und sie stumpft
gegen ihn ab. Richtiger freilich ist es, zu sagen, nicht die Zeit bewirkt
dieses, sondern die Individuen in der Zeit sowohl die Künstler, Kunst-
kenner, Kunstgönner und endlich das Publikum überhaupt.
Auch der Ort wirkt auf den Stil ein: erstens durch seine Nachbar-
schaft zu andern Orten der Kunst auf ihre llotive (Zwecke und Ziele);
zweitens durch die Stoffe, die sich in materieller und geistiger Beziehung
an diesem Orte vorfinden (Sagen — Marmor); drittens durch seine land-
schaftliche Natur, die Nachahmung und Gegensätzlichkeit bewirken kann.
Denn der Kontrast ist, wie wir gesehen haben, ein Gnmdgesetz ästhe-
tischer Darstellung, es muss sich daher jedes Kunstwerk von seiner Um-
17*
262 R. V. Schubert-Soldern, Die Grundfragen der Ästhetik etc.
gebung abheben, es kann aber doch auch wieder gleichzeitig ihr ange-
passt werden.')
Was endlich die Kultur anbelangt, so wirkt hier die Vergangenheit
einer Gemeinschaft durch Auswahl der Zwecke und Ziele der Kunst auf
diese ein. Der Künstler, Kunstkenner, Kunstgönner und das Publikum
sind da erstens bestimmt durch das, was sie gesehen haben, was also von
vergangenen Kunstwerken noch vorhanden und für sie erreichbar ist.
Ihm wird vielfach die Art und "Weise der Darstellung, ihre Zwecke und
Ziele, oft aber auch der materielle und geistige Stoff entnommen. Alle
Individuen, die sich mit Kunst beschäftigen, sind aber zweitens auch
bestimmt durch ihre Lebensweise, die wieder durch die Wirtschaftsstufe
und die Art und Weise ihrer Wirtschaft, der Produktion und Konsumtion
von Gütern hervorgerufen wird. Denn die Kunstwerke sind ursprünglich
nicht für Museen bestimmt, sondern sie wachsen aus der zu nicht-künst-
lerischen Zwecken bestimmten Produktion heraus, indem sie ihre Produkte
in ihren Zwecken auch äusserlich hervorheben und in dieser Absicht auch
schmücken wollen. Erst allmählich trennt sich das Schöne vom Nützlichen,
ohne doch das letzte als notwendige Unterlage je ganz verlieren zu
können.
Endlich bestimmt die Kultur die Kunst durch die Phantasiewelt,
die stets mit einer bestimmten Art der Kultur und ihrer Kulturstufe ver-
bunden ist. Hier sind es vor allen die religiösen Anschauungen und
Sagen der Vergangenheit und der durch sie bedingten Gegenwart, welche
auf die Ziele der Kunst einwirken. Aber auch die hervorragenden
Persönlichkeiten, die Ständeeinteilung mit ihren sozialen Wertschätzungen,
die wissenschaftlichen vor allen historischen und sozialen Anschauungen
(natürlich fussend auf der Vergangenheit) bestimmen die Phantasie der
Individuen, die sich mit Kunst beschäftigen und wirken so auch auf die
Auswahl der Ziele uud Zwecke der Kunst ein. Es giebt überhaupt kein
Kulturmoment, das nicht auf die Kunst einwirken könnte, die Kunst ist
ein Spiegelbild ihrer Zeit, das aber als Spiegelbild keinen andern Zweck
hat, als an sich zu gefallen und das meistens, wenn auch nicht immer
(Schauspielkunst, Tanzkunst), fixiert erscheint. Doch spiegelt die Kunst
nicht bloss die äussere Kulturwelt, sondern auch die innere ab ; die innere
aber ist entweder durch die äussere bestimmte blosse Phantasie oder die
subjektive Wiederspiegelung der äusseren Kultur; und alles das seinen
verschiedenen Seiten nach ist wieder Objekt des Künstlers und der ver-
schiedenen Künste, die das Objektive wie Subjektive nun selbst wieder
subjektiv erfassen und objektiv darstellen.
1) Zdenko v. Schubert-Soldern, 1. c. p. 41 f. in der zweiten Ab-
handlung p. 32 f.
Das Wertsystem Hegels und die entwertete
Persönlichkeit.
Von Dr. phil, M. Rubinstein.
Der vom dogmatischen Mute beflügelte Mensch wiederholte
immer aufs neue seine Stürme gegen die Festung der sogenannten
Welträtsel, versuchte den Strom der Weltereignisse in seiner Er-
kenntnis zum Stehen zu bringen, zu fixieren, die unbeugsame
Wirklichkeit zu erfassen und ihr die Ketten eines Systems anzu-
legen — doch jedes Mal entschlüpfte sie ihm im ununterbrochenen
Flusse des Geschehens und Vergehens. Dem nach Erkenntnis
Lechzenden blieb nur ein Phantom der philosophischen Phantasie
zurück. Neue Angriffe — neue Niederlagen; die Menschheit
schien Sisiphusarbeit zu verrichten, bis endlich die kritische Philo-
sophie in das mächtige Ringen zur Erkenntnis durch ihre Methode
und Erkenntnistheorie das Licht hineintrug. Sie wies den einzigen,
formalen Weg philosophischer Wirklichkeitserkenntnis, auf welchem
die Philosophie neue Möglichkeiten fruchtbarer, wissenschaftlicher
Arbeit erwerben konnte. Der anthropomorphistische Standpunkt
und das Bewusstsein der, Unmöglichkeit, die Wirklichkeit ihrem
Inhalte nach zu umfassen, mussten der neuen Periode als Gebote
der Vergangenheit gelten.
Dennoch kam es nach Kant zu einem neuen Aufblühen der
Metaphysik. Hegel proklamierte das absolute Wissen, dessen
Macht keine Schranken kennen sollte. Das Ergebnis dieses
grossartigen Versuches eines neuen Titanen des Gedankens: ein
neues philosophisches System in Trümmern, eine neue Enttäuschung,
von der noch jetzt die Spuren in Gestalt instinktiver Abneigung
gegen jeden metaphysischen Gedankenaufbau fühlbar sind. Hegel
geriet in den Antagonismus zwischen Hegel — Mensch und
Hegel, der das absolute Wissen zu besitzen glaubte. Das Resultat
aber war, dass die elementare Grundlage des kulturellen Lebens,
die freie, autonome, aus dem Bewusstsein der Pflicht entspringende
264 M, Rubinstein,
Persönlichkeit, dieser Grundwert der Geschichte — vernichtet
wurde. Dieser Umstand ist umso lehrreicher, als dieser Wert
gerade in einer philosophischen Lehre keinen Platz fand, die
durch und durch als Wertsystem betrachtet werden muss.
Theorie und Praxis, die Welt der Ideale und die Welt der
Tatsachen, das, was ist, und das, was sein soll, dieser Widerstreit
lastete nach wie vor auf dem philosophischen Denken. Noch
mehr: Kant und Fichte hatten diesem Antagonismus prinzipiellen
Charakter verliehen. Das Sollen war der unerreichbare Stern,
der den Menschen im Streben zur sittlichen Vollkommenheit leiten
sollte. Und nun machte Hegel durch sein System den Versuch,
den Zwiespalt der beiden Welten zu vernichten. Seine Schluss-
kette ist ganz einfach: dieser Zwiespalt, meint er, erschien als
Endresultat einer ganz falschen Betrachtung der Wirklichkeit.
Man muss nur die Wirklichkeit vernünftig ansehen, um zu ent-
decken, dass gerade das ist, was sein soll, und damit den Anta-
gonismus zwischen Tatsache und Ideal aus der Welt zu schaffen.
Hegel setzte zu diesem Zwecke nur in seiner eigenen Art den
Kantischen Gedanken von der gesetzgeberischen Tätigkeit der
Vernunft in Rücksicht auf die Natur weiter fort und zog am
Ende den Schluss, dass der wahre Beweger der Welt nichts
anderes sei, als der logische Begriff. Somit muss alles, was
wirklich ist, an sich alle Merkmale seines wahren Schöpfers
tragen. Da aber der Begriff sich nach der dialektischen Methode
entwickelt, so ist eben in dieser Methode dasjenige Kriterium zu
erblicken, welches die Möglichkeit giebt, die wahre Wirklichkeit
zu finden. Die dialektische Entwickelung braucht nun keine Welt
der Idee, des Sollens : sie geht von einem entdeckten Widerspruch
aus, schafft aus den aus sich selbst hervorgebrachten Gegensätzen
eine neue, aber höhere Einheit, um einen neuen Antagonismus
und wieder neue, noch höhere Einheit zu erringen, in der alles
Wertvolle aus der vorherigen Entwickelung bewahrt, „aufgehoben"
bleibt u, s. w., ins Unendliche. Auf diese Weise gewinnt die
dialektische Entwickelung eine immer reicher werdende Wirk-
lichkeit, die eine sich unendlich verwirklichende Welt
der Werte darstellt, und beide Welten sollten in dieser Syn-
these, in der dialektischen vernünftigen Wirklichkeit ihren Frieden
schliesseu. Eine solche Wirklichkeit sich unendlich verwirklichen-
der Werte musste durch Hegels System abgebildet werden, das
vom Standpunkte des absoluten Wissens geschrieben war.
Das Wertsystem Hegels und die entwertete Persönlichkeit. 2G5
Man sollte erwarten, dass in einem Wertsystem, und noch
dazu in einem solchen, das durch und durch von kulturhistorischem
Charakter durchdrungen ist, auch der Grundwert des kulturellen
historischen Lebens die freie autonome Persönlichkeit Platz finden
niüsste, da ohne diesen Wert das Leben jeden Sinn verlöre. Aber
der Standpunkt des absoluten Wissens und besonders die not-
wendige Entstehung der Werte in der Hegeischen Weltent-
wickelung vernichtete vollständig den Wert der Persönlichkeit.
Ich versuchte schon in meiner Abhandlung „die logischen Grund-
lagen des Hegeischen Systems und das Ende der Geschichte"^)
zu zeigen, zu welchen Gewaltschlüssen und zu welchen Wider-
sprüchen mit sich selbst Hegel durch die dialektische Methode
und den Staudpunkt des absoluten Wissens geführt wurde. Im
vorliegenden Aufsatz möchte ich die Stellung der Persönhchkeit
in Hegels System kurz skizzieren und die Gründe aufzeigen, durch
welche diese Stellung bedingt war.
Schon in den Behauptungen, die Hegel in Bezug auf die
menschliche Erkenntniskraft macht, äusserte sich scharf der
Grundgedanke von der Schwäche des menschlichen Geistes. Den
stolzen Worten der Berhner Rede gegenüber, die ziemlich einsam
dastehen, tritt eine düstere Reihe späterer Aussprüche, welche
— und vom Standpunkte der logischen Grundlagen des Hegel-
schen Systems ganz folgerichtig — die volle Machtlosigkeit der
menschlichen Erkenntnis feststellen. Die Philosophie wurde der
Gewalt der Zeit, und zwar ihrer Zeit unterworfen. „Jede Philo-
sophie ist Philosophie ihrer Zeit". Noch mehr: Hegel identifiziert
die Philosophie mit ihrer Zeit. Auf diese Weise verlor die Per-
sönlichkeit ihr Heiligtum, den einzigen Weg zum Siege über die
alles zermalmende Zeit. Es blieb dem erkennenden Menschen
nichts in der Erkenntnis übrig, denn sie musste ja sich nach der-
selben dialektischen Methode entwickeln, deren Macht alles und
besonders die Entwickelung der Begriffe unterworfen wurde.
Das Wesen der Begriffe bestand ja in der Dialektik. Die dia-
lektische Entwickelung aber bewegte sich durch den Widerspruch
und mit unbeugsamer Notwendigkeit. So musste auch das theore-
tische Schaffen des Menschen, die Schöpfung der Begriffe not-
wendig der Machtsphäre der freien autonomen Persönlichkeit ent-
rissen und dem Wert der Persönlichkeit durch die dialektische
Methode der Todesstoss versetzt werden.
~ 1) Kantstucüen XI, 1, S. 40—108.
266 M. Rubinstein,
So stand es um den Wert der Persönlichkeit in Rücksicht
auf Erkenntnis. Auch aus der Geschichte musste sie verschwinden,
insofern wir in ihr bewusste von bestimmten Zielen geleitete
Tätigkeit suchen. Gerade hier in der Auffassung des geschicht-
lichen Lebens, in dieser eigentlichen Sphäre der menschlichen
Interessen und Handlungen zeigte es sich mit voller Klarheit,
dass es im Wertsystem Hegels für den Wert der Persönlichkeit
keinen Platz geben konnte. Denn dieser Wert der Persönlichkeit
hängt direkt von der Anerkennung der Zwecke, der noch nicht
verwirklichten Werte, des Sollens ab, die dialektische Methode
aber mit ihrer Notwendigkeit des Fortschritts und der Entwicke-
lung aus dem Widerspruche schnitt diesen Lebensnerv der wert-
vollen Persönlichkeit durch und degradierte sie zum Instrumente
der absoluten Idee. Schon die Beispiele, die Hegel zur Erläuterung
der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte anführt, bezeugen
beredt genug ihre Nichtigkeit in seiner Auffassung. Man erinnere
sich nur an das Beispiel des Hausbaues, dem Eisen, Holz, Feuer
und Wasser dienen, um am Ende „eine Gewalt gegen sich selbst"
zu erschaffen. Die Persönlichkeit tritt in der Hegelscheu Ge-
schichtsauffassung immer nur auf, um für den Weltgeist sozu-
sagen die Kastanien aus dem Feuer zu holen. „Die Idee bezahlt
den Tribut der Vergangenheit nicht aus sich, sondern aus den
Leidenschaften der Menschen."^) Und die Rolle der Persönlichkeit
konnte keine andere sein, weil sie durchaus durch die dialektische
Methode bedingt war. In der Tat: Die historischen Ereignisse
entwickeln sich fortschreitend mit dialektischer Notwendigkeit und
es bleibt der Persönlichkeit nichts übrig, als sich ihrem Schicksale
zu beugen. Denn sie ist nicht nur im Stande, mit ihrem ziel-
bewussten Streben von dem bestimmten Pfade der dialektischen
Entwickelung selbständig abzuweichen, sie kann auch nicht zurück-
bleiben. Ihre Tätigkeit schmilzt zu einer Art Illusion zusammen,
einem Haschen nach Seifenblasen, weil das wahre Ergebnis dieser
Tätigkeit in keinem Zusammenhange mit den Bestrebungen des
Menschen steht. Seihe Interessen und Handlungen stellen nur
Material dar. Der Mensch hat nichts, um dessen willen er
handeln könnte; denn das wirklich gute, die allgemeine göttliche
Vernunft ist auch zugleich die Macht, sich selbst in die Wirklich-
keit zu übersetzen.^) Was sein soll, das war, ist und wird zur
1) Philosophie der Geschichte, 2. Aufl., S. 41 f.
2) Ibid. S. 45.
Das Wertsystem Hegels und die entwertete Persönlichkeit. 267
entsprechenden Zeit sein. Ob die Individuen es wollen oder nicht,
ob sie es als Ziel anstreben oder nicht, das bleibt völlig gleich-
gültig. Und wenn Hegel von den „welthistorischen Individuen"
spricht, so geschieht das im schreienden Widerspruche zu seinem
ganzen System. Es wäre vergeblich, den Wert der Persönlichkeit
durch den Hinweis retten zu wollen, dass Hegels Wertsystem eine
Werttotalität ist und in ihr alle Werte in ihrer Individualität
„aufgehoben" sind; dass also die Persönlichkeit, indem sie das
Allgemeine als ihr Ziel betrachtet und anstrebt, sich auf diese
Weise auch Einwirkung auf den Gang der Gesamtentwickelung
sichert. Das wäre vergeblich, sagen wir, weil in Hegels System
Persönlichkeit als Selbstzweck absolut undenkbar ist, und ausser-
dem, ihr fehlt jede Möglichkeit einer freien, durch das Bewusst-
sein der Pflicht geleiteten Tätigkeit, weil der Begriff dessen, was
sein soll, was aber noch nicht ist, für Hegel rein absurd ist.
Eine Entwickelung aus dem Sollen giebt es für ihn gar nicht,
denn „was die Welt bewegt, das ist der Widerspruch". Somit
verliert auch hier, in ihrem spezifischen Gebiete die Persönlich-
keit vollständig ihren Wert.
Die Philosophie des Eechtes liefert nur ein neues Beispiel
dieser Vernichtung des Wertes der Persönlichkeit. Auch hier
stellt nicht das menschliche Individuum, sondern der Staat, diese
„konkretisierte Sittlichkeit", den Zweck dar. Nicht der Staat —
für die Persönlichkeit, sondern die Persönlichkeit — für den
Staat, — das ist der Schluss aus seiner Rechtsphilosophie. Die
Persönlichkeit als solche, und auch als Mitglied der Familie er-
scheint für Hegel als unwirklicher Schatten. Die absolute Idee
steigt nicht in ihrer Entwickelung in den Rahmen der Nation und
des Staates bis zum Individuum hinab. Die niedrigste Stufe ihrer
Vertiefung in das Leben des Volkes stellt eine Klasse dar, oder
in politischer Sprache: — der objektive Geist steigt nur bis zu
Ständen herab, nicht niedriger.^) Deshalb kommt auch hier das
Individuum nicht zu seinem Rechte. Seine Beteiligung am poli-
tischen Leben äussert sich mittelbar in der Zugehörigkeit zu
einem bestimmten Stande. Nur Stände haben das Recht, sich un-
mittelbar an dem politischen Leben zu beteiligen.
Jedoch vermochte Hegel nicht auf diesem spezifischen Ge-
biete der menschlichen Tätigkeit seinen Standpunkt ganz zu be-
1) Vgl. Phänomenologie des Geistes, S. 336, 346, 351.
268 M. Rubinstein,
haupten und sein Staat- nahm allmählich die ihm so verhasste
Form des unverwirklichten Ideals an. Nun treten die welthisto-
rischen Individuen auf; den Staatsmännern wird es ausnahmsweise
möglich, in die Zukunft hineinzublicken und dasjenige anzustreben,
was sein soll. Die absolute Vernunft wird schon nicht selten mit
der gewöhnlichen menschlichen verwechselt, die vernünftige Wirk-
lichkeit nähert sich bedenklich der spiessbürgerlichen, und schliess-
lich bleibt Hegel in seiner Philosophie der Geschichte vor dem
Dilemma stehen: entweder zum Begriffe einer freien autonomen
Persönlichkeit zu greifen, ohne die das geschichtliche Leben
keinen Sinn hätte, dann aber die dialektische Grundlage aufzu-
opfern und den Begriff des SoUens einzuführen : oder diese Grund-
lage beizubehalten und dann die Geschichte mit der germanischen
Periode zu beschliessen. In diesem Falle wären aber dem dia-
lektischen Gesetz Ketten angeschmiedet, denn dieses Gesetz ver-
langt unendliche Entwickelung. Weil Hegel den Begriff des
Sollens und der noch nicht verwirklichten Zwecke ausschloss,
vernichtete er im Grunde den Wert der Persönlichkeit. Und das
liegt tief in den Grundprinzipien des Systems begründet.
In der Tat, die absolute Idee nahm mit dem Übergange aus
dem formalen, logischen Gebiete in die Natur- und Geistesphilo-
sophie immer mehr metaphysischen Charakter an. Dieser aber
verdrängte den Wert der Persönlichkeit, da sie ihres Selbstzwecks
beraubt war und nicht bloss in eine Werttotalität eingehen musste,
die alle individuellen Werte in einem harmonischen Ganzen um-
fasste, sondern auch in eine metaphysische Wesenheit. Weiterhin
— die unbeschränkte Herrschaft des absoluten Geistes bekam
auch das Gebiet des Wissens unter ihre Gewalt und drängte
Hegel den Standpunkt des absoluten Wissens auf. Auf diese
Weise verlor die Persönlichkeit ihr teuerstes und wertvollstes Ge-
biet. So konnte das menschliche Individuum nur als Bestandteil
des Weltganzen, nicht als Persönlichkeit in das Hegeische Wert-
system aufgenommen werden, denn ihre wesentlichsten Prädikate
wurden ihr prinzipiell abgesprochen. Wegen seiner Grundprin-
zipien, vermochte Hegel, wie wir sahen, nicht den Wert der Per-
sönlichkeit zu behaupten. Zahlreiche Versuche, ihr einen Platz
in seinem System zu finden, führten ihn nur zu direkten Wider-
sprüchen, die um so grösser wurden, je näher er an das Gebiet
der Philosophie der Geschichte und des Rechtes herantrat.
Geniale Schöpfungskraft und äussere Harmonie des Systems ver-
Das Wertsystem Hegels und die entwertete Persönlichkeit. 261)
mochten nicht die Erbsünde der Hegeischen Philosophie zu
sühnen: 1. den Staudpunkt des absoluten Wissens, das dem
Menschen unzugänglich ist, und 2. die Notwendigkeit der pro-
gressiven Entwickelung, welche durch dialektische Methode hervor-
gezaubert werden musste. So kam Hegel zu der Vernichtung
des Wertes der Persönlichkeit, womit er eigentlich die ganze
Sphäre des kulturellen geschichtlichen Lebens sinnlos machte.
Rezensionen.
Windclbaiid, Wilhelm. Die Philosophie im deutschen Geistes-
leben des XIX. Jahrhunderts, Fünf Vorlesungen. Tübingen, Verlag
von Mohr, 1909. (120 S.)
Die Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, dieses in kul-
tureller, besonders in intellektueller Hinsicht so polyphonen und formen-
reichen Jahrhunderts zu schreiben, ist keine leichte Aufgabe. So mannig-
faltig verflechten und durchdringen hier die verschiedenartigsten Ein-
flüsse einander, dass es oft sehr schwierig ist, die Fäden zu entwirren
und die grosse, gerade Linie der Entwicklung zu gewinnen. Und ausser-
dem gerät eine solche Darstellung leicht in Versuchung, ungerecht und
misstrauisch gegen die Gegenwart zu werden, ihre Ansprüche zugunsten
der Vergangenheit zu verkürzen. Denn diese Vergangenheit erreichte in
den Schöpfungen der klassischen und romantischen Philosophie eine Höhe,
von der das spätere Zeitalter schroff herabsank. Allerdings geht es seit
ein paar Dezennien wieder aufwärts. Aber noch ist die Höhenlage, in der
sich das Denken vor einem Jahrhundert und darüber bewegte, lange nicht
erreicht.
Windelband hat es unternommen, im Rahmen eines kleinen Bänd-
chens das geistige Ringen dieses Jahrhunderts zu schildern. Und man
kann sagen, dass er all die eben bezeichneten Klippen glücklich gemieden
hat. Wohl verhehlt er es nicht, dass es sich um keine aufwärts steigende
Entwicklung handelt: aber es ist dennoch eine Entwicklung, das heisst
ein Fortschreiten zu neuen Gesichtspunkten. Windelband war freilich
berufen, die Geschichte dieser Zeit zu schreiben, soweit sie in philoso-
phischen Gebilden kristallisiert. Ihm danken wir wohl die glänzendste
und unmittelbarste Darstellung des klassischen und romantischen Idealis-
mus, der von Kant bis Hegel reicht und in Feuerbach abklingt. Von
solchen Voraussetzungen aus Hess sich ein souveräner Blick über die ver-
schiedenen Richtungen und Strömungeri gewinnen, der einerseits einen
zusammenfassenden Aspekt bot, andrerseits ihre geheimen Wurzeln ent-
blösste. Und so muss als erster und entscheidender Vorzug des Buches
hervorgehoben werden, dass es seinen Stoff unter wahrhaft weite und
grosse Perspektiven rückt. Es geht von jenem Phänomen aus, das gleich-
sam als ein Leitmotiv die kulturelle Situation der Gegenwart beherrscht:
der Rückkehr zum Idealismus, der Neuromantik. Das intensive Interesse,
das wir heute dieser Epoche entgegenbringen, treibt uns dazu, ihr Wesen
möglichst tief festzuhalten. Dem Zwecke seiner Schritt entsprechend,
verliert sich Windelband hier nicht in Abstraktionen, er sucht die geistige
Atmosphäre zu schildern, in der diese grossen Schöpfungen entsprangen.
Als ästhetisch-philosophisches Bildungssystem, als eine Kultur der reinen
Innerlichkeit, die sich mangels einer äusseren, sozialen und politischen
Entfaltung lediglich in der Tiefendimension entwickelt, wird zunächst die
Kultur des romantischen Idealismus charakterisiert. Den grossen Wende-
punkt, zugleich die Quelle der neuen Werte, bezeichnet die Kantische
Philosophie. Durch sie waren die beiden Hauptströmungen des achtzehnten
Jahrhunderts, des Aufklärungszeitalters, in das gemeinsame Bett des Kri-
tizismus geleitet worden: die rationalistische Strömung, die sämtliche
Rezensionen (Becher). 271
körperlichen und geistigen Gebilde restlos mit mathematischer Strenge
begreifen wollte, und die mystische Strömung, die gerade das Recht des
Individuellen, in seiner Eigenart und Einzigkeit Unbegreiflichen ver-
teidigte. Die Art, in der Kant beide Motive aufnahm, war alleidings
gleichbedeutend mit ihrer absoluten Trennung ; das individuelle Sein als
solches, die eigentliche Wurzel des Dingansichbegriffes, war die Grenze,
vor der das Erkennen Halt machen musste. Bei dieser schroffen dua-
listischen Scheidung konnte aber die neue Generation nicht zur Ruhe
kommen. Ihr schwebte ein Ideal vollendeter Einheit und Synthese vor,
wie es in seinem Schaffen und Leben Goethe verwirklicht zu haben
schien. Dies Ideal war die Sehnsucht der Romantik und aus ihm lässt
sich auch ihre politische und religiöse Haltung, wo allem der von Hegel
ausgebildete Staatsgedanke erklären. Der Hegelianismus bezeichnet
den Gipfelpunkt, zugleich aber auch die Überwindung der Romantik.
Eben der Umstand, dass er den rationalistischen Grundgedanken ins
Extrem überspannt hatte, musste, als das Vertrauen in die Allmacht der
Vernunft sich getäuscht sah, zu einer Reaktion führen. Schon Hegel
hatte der individuellen Mannigfaltigkeit der Natur ein Moment der Zu-
fälligkeit zuerkannt, das der Geist nicht zu bewältigen vermag. In diese
Lücke drang mit steigender Intensität der Irrationalismus ein, der einer-
seits zu materialistischen Konstruktionen führte, andrerseits den Pessimis-
mus vorbereitete. Schopenhauers Philosophie konnte erst jetzt zur An-
erkennung gelangen, wo der Glaube an die innere Logizität und Zweck-
mässigkeit alles Seins im Erlöschen war. So vereinigen sich auch hier
die verschiedenen geistigen Strömungen, es ergiebt sich die eine als
Konsequenz der anderen. Mit dem Überhandnehmen der praktischen,
politischen und nationalen Interessen vollzog sich eine noch radikalere
Abwehr von der idealistischen Lehre, die sich insbesondere im Herauf-
kommen des Positivismus äusserte. In seinem Gefolge erschienen Histo-
rismus und Psychologismus. Diese Tendenzen bedeuten den Verzicht auf
eine geschlossene Weltanschauung überhaupt, sie suchen bloss die histo-
rischen Bedingungen zu erklären, aus denen eine solche hervorgeht, oder
sie verlieren sich in individualpsychologischen Einzeluntersuchungen.
Beide Male wird der objektive, der absolute Gehalt der Weltanschauung
preisgegeben, sie wird bloss als vergänglicher Ausdruck bestimmter anthro-
pologischer Zuständlichkeiten betrachtet. Dadurch sank der philosophische
Betrieb auf sein tiefstes Niveau, von dem er sich allmählig wieder erheben
sollte. Dies geschah durch die Rückkehr zum Idealismus, die ihrerseits
in der voluntaristischen Richtung der Zeit trotz der anfänglichen Gegen-
sätzlichkeit wirksam vorbereitet wurde. Die universale Bedeutung, die
der Wille erlangte, forderte als Ziel seiner Wirksamkeit ein neues Wert-
system. Am intensivsten verkörpert Nietzsche dies titanische Ringen nach
neuen Werten, das aber in eine einseitige Verurteilung des reinen Er-
kennens zugunsten des Willens aiisHef, zugunsten jener praktischen
Gestaltung, der das neue Deutschland als politische Schöpfung entsprach.
Der letzte Aspekt, in den das Buch mündet, ist sonach die Forderung,
diese Einseitigkeit zu überwinden, freilich ohne Preisgabe ihres berech-
tigten Momentes. So zeigt Windelbands neueste Schrift nicht allein eine
souveräne Beherrschung des ungeheuren Stoffgebietes in Form und Inhalt
und eine Fülle glänzender Gesichtspunkte, sie kann uns auch zur Weg-
weiserin für die Zukunft dienen.
Wien. Oscar Ewald.
Becher, Erich. Philosophische Voraussetzungen der
exakten Naturwissenschaften. Verlag von Joh. Ambrosius Barth.
Leipzig 1907. (V u. 243 S.)
Dies sehr bemerkenswerte Buch hat nicht nur viel zu sagen, sondern
hat es auch in einer vortrefflichen Form zu sagen. Becher hat jenen
Sinn für die Architektonik des Gedankens, den man in den meisten er-
kenntnistheoretischen Schriften zu seiner Unbequemlichkeit vermisst.
272 Rezensionen (Becher).
Einen gewissen Fehler dieses Vorzuges hat B. auch. Da er den Sinn
immer auf das Wesentliche richtet, so begegnet es ihm manchmal, dass er
Dinge, die nicht direkt in den Gedankenfortschritt gehören, über die aber
dennoch allerlei gesagt werden müsste, etwas kurz behandelt. Diesem ge-
ringen Fehler könnte in einer sehr zu erwünschenden zweiten Auflage
durch längere, an den Schluss verwiesene Anmerkungen abgeholfen
werden.
Nach einer, über die Tendenz des Ganzen orientierenden Einleitung,
giebt Verf. in Abschnitt II eine Betrachtung über den Wert der Hypo-
thesen. Becher führt hier Gedanken Comtes, Mills, Benno Erdmanns
mit kritischem Geschick weiter und gründet schliesslich das Werturteil
über die Hypothesen auf den mathematischen Begriff der Wahrschein-
lichkeit. Hypothesen sind von Fiktionen unterschieden, die nach dem
Gesiclitspunkt der Zweckmässigkeit beurteilt werden. — Da man
übrigens bis heute keine allgemein anerkannte Definition der Wahrschein-
lichkeit hat, so erwartete ich eigentlich eine Schlussbemerkung zu II über
den Wahrscheinlichkeitsbegriff. — Dieser allgemeinen Erörterung des
Wesens der Hypothese überhaupt folgt in Abschnitt III eine Kritik der
Grundhypothese aller Einzelwissenschaften, der von der Realität der
Aussen weit. Mit Recht misst der Verfasser hier der Frage nach der
Realität des Ausdehnungsbegriffes die grösste Bedeutung bei, denn
die Weltanschauung der Mechanik kann in der Phantasie kühner Forscher
vielleicht der Begriffe „Kraft und Masse" entraten, ja, sie kann gar in
Begriffsgebilden, die genialen Visionen gleichen (Zeno — Clifford — Min-
kowski, und denen vielleicht gar die Zukunft gehört?) das, was sonst
durch den Begriff „Bewegung" bezeichnet wurde, durch formale statische
Eigentümlichkeiten ersetzen, mit denen sie die Zeit und den Raum be-
haftet, nimmer aber kann sie ohne den Ausdehnungsbegriff auskommen.
Immerhin aber bin ich nicht ganz einverstanden damit, dass Becher so
leicht über Zenos kühne Zweifel hinweggeht. Becher schreibt: „Jene
alten Sophistereien von der begrenzten oder unbegrenzten Teilbarkeit
eines Ausgedehnten können auf die empiristische Naturforschung keinen
Eindruck machen. Das mathematisch geschulte Denken merkt leicht, wo
dabei der Fehler steckt." Wirklich? Ist diese Leichtigkeit nicht vielleicht
eine schmerzliche Tugend, nämlich eine notwendige Genügsamkeit des
quantitativen Denkens? Man vergleiche: Rüssel, Principles of Mathe-
matics, S. 347 ff. — Die Aporien, die III aufgestellt hat, finden in IV
ihre Prüfung. Diese Prüfung ist ein Meisterwerk des Aufbaus. Becher
geht von zwei zuzugebenden Gruppen der Gewissheit: der des unmittel-
bar dem Bewusstsein Gegenwärtigen und der der logischen Axiome aus
und sucht von da aus die beiden andern Dimensionen des Erlebens oder
vielmehr die zwei Richtungen in der Zeitdiraension des Erlebens zu kon-
struieren. Sein Hilfsmittel ist dabei die Forderung einer möglichst ge-
ringen Lückenhaftigkeit unserer Erfahrung. Er kommt so, auf Grund
der Erinnerungsdeutung zur Konstruktion einer Vergangenheit des
individuellen Bewusstseins, auf Grund der Deutung des Wissens zur
Fortsetzung des Gegenwartspunktes in die Zukunft. Diese Gruppen der
Gewissheit können, wie die geometrischen Axiome, nicht auseinander ab-
geleitet werden; dafür aber widersprechen sie auch einander nicht.
Wir haben solchermassen anerkannt die Möglichkeit eines Wissens vom
ganzen individuellen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Be-
wusstsein. Aber Becher führt uns weiter mit seinem Prinzip: die Lücken
in der Regelmässigkeit des Geschehens auszufüllen, i) d. i. mit dem Kanti-
schen Prinzip der Einheitlichkeit der Erfahrung auch dazu, die Existenz
fremder Bewusstseine als eine höchst wahrscheinliche Hypothese an-
^) Becher sagt: „Regelmässigkeitsvoraussetzung". Die Sache ist
klar und die Bezeichnung eindeutig; trotzdem meide ich sie, denn das
Wort gehört zu denen, die geschrieben oder gedruckt; eine Art von Per-
spektive gewinnen.
Rezensionen (Becher). 273
zunehmen. Wir haben nun schon eine ganze Reihe von Punkten der
Linie gefunden, die die Kontinuität unserer Erfahrung vorstellen mag;
dennoch aber fehlt noch eine gewisse Punktmenge. Soll daher die Linie
perfekt werden, sind aber andeierseits alle Punkte, die auf Rechnung des
Bewusstseins kommen, eingetragen, so bleibt nichts, als den Rest der
Punkte ausserhalb des Bewusstseins zu suchen. Wir nennen daher
diese neuen Antecedenzien unserer Wahrnehmung die Aussen weit. Ein
letzter Schritt endlich geschieht dadurch, dass die Aussenwelt als Ursache
unserer Wahrnehmung aufgefasst wird. Die nächsten beiden Abschnitte
befassen sich damit, die spezielle Natur der als wahrscheinliche Hypo-
these anerkannten Aussenwelt festzulegen. Abschnitt V handelt von der
allgemeinsten, der raunizeitlichen Beschaffenheit der Aussenwelt. Es ist
dem Verfasser wohl nicht entgangen, dass an diese Stelle eigentlich eine
ganze Philosophie der Mathematik gehörte. Jedoch merkt man den
Becherschen Aufstellungen an, dass ihnen mehr Überlegungen zu Grunde
liegen, als er hat zu Papiere bringen wollen. Becher entscheidet sich
folgendermassen : ,.Wie die eindeutige Bestimmtheit der Wahrnehmungen
fordert, dass dem Auseinandersein der Wahrnehmungselemente in den
Sinnenräumen ein unterschied in der Aussenwelt' entspricht, so muss auch
dem Auseinandersein zweier Wahrnehmungselemente in der Zeit, dem
Nacheinander, dem zeitlichen Unterschied ein Unterschied in der etwaigen
zeitlosen Welt korrespondieren " _ Ich glaube, diese Becherschen Gedanken-
folgen würden an Klarheit und Überzeugungskraft gewonnen haben, wenn
Becher nicht eine raumlose und in gewissem Sinne auch zeitlose objektive
Welt unserer Subjektswelt hätte entsprechen lassen, sondern wenn er für
Raum und Zeit ihre Ordnungstypen eingeführt hätte. Für den Raum
wären hier die Einleitung zur Ausdehnungslehre Hermann Grassmanns
(vom Jahre 1844), für die Zeit der Erörterungen William Rowan Hamiltons
in dem Essay über Algebra als Wissenschaft der reinen Zeit in Frage
gekommen. Dann würden sich, glaube ich, die Becherschen Aufstellung'en
dahin kennzeichnen lassen : es ist nicht auszumachen, ob Raum und Zeit
gewissermassen in ihrem Rohzustande ein Gegenbild in der Aussenwelt
haben müssen, daliingegen dies unmittelbar gewiss ist für die Ordnungs-
typen, die in ihnen Gestalt gewinnen. Die Freunde der kritischen Philo-
sophie möchten auch hier eine Schlussanmerkung w'ünschen, da das Wort
„aussen" einer Präzisierung bedürftig scheint, denn man wird fragen :
„aussen" — secundum quid, nach welcher Kategorie? Nach Raum,
Kausalität, oder wie? — Auf den raumzeitlichen Schauplatz alles Natur-
geschehens tritt in Abschnitt VI der Körper. Körper ist das raumerfüllend
in der Aussenwelt Existierende. Die Mannigfaltigkeit der Qualitäten des
Körpers steht zu der Mannigfaltigkeit der Aussenwelt genau so, wie die
Mannigfaltigkeiten von Raum und Zeit zu den ihnen entsprechenden
Mannigfaltigkeiten stehen. Abschnitt VlI: Motive zur Bildung mecha-
nischer Hypothesen, geht von der Erfahrung aus, dass das Quantitative
Knotenpunkte hat, an denen es in Qualitatives übergeht (unterscheidbare
Einzelerschütterungen des Trommelfells und kontinuierlicher Ton B.).
Hieraus ergiebt sich dann, durch Verallgemeinerung, die Neigung, allem
Qualitativen in der Aussenwelt quantitative Mannigfaltigkeiten entsprechen
zu lassen. Abschnitt VHI setzt die Gründe auseinander, aus denen man
sich diese Mannigfaltigkeiten diskontuierlich denkt. Dieser Abschnitt
bringt eine äusserst interessante Stelle, die passend verallgemeinert zeigt,
dass die „Bilder" der Physik nach einem ganz bestimmten Gesetz der
Vervollkommnung durch angemessenere Bilder ersetzt werden. Dies Ge-
setz ist dasselbe, das nach Boltzmann das materielle Geschehen beherrscht:
wie in der materiellen Welt ein Zustand dem andern folgt um dess willen,
weil der erste Zustand eine Unwahrscheinlichkeit enthielt, die im zweiten
behoben ist, so folgt in der Welt der ,,Bilder" ein Bild dem andern um
der UnWahrscheinlichkeiten willen, die das relativ frühere enthält. Üb-
rigens, diese Unwahrscheinlichkeiten scheinen mir immer Anthropomor-
274 Rezensionen (Becher).
phisnien zu sein, und so würde denn der Fortschritt der exakten Natur-
wissenschaft darin bestehen, dass sie immer weniger anthropomorph wird.
Ich lasse nun Becher selbst reden. „Viele naturwissenschaftliche Hypo-
thesen sind dadurch fehlerhaft geworden, dass sie zu bestimmt waren,
d. h., dass sie mehr aussagten, als durch die Erfahrungstatsachen und
deren Erklärung gefordert war. Hätten die alten Anhänger der Wellen-
theorie des Lichtes allein die Aussage in ihre Hypothese aufgenommen,
das Licht bestände in einer transversalen Wellenbewegung, so wäre die
alte Hypothese in die neue elektromagnetische übergegangen, ohne, dass
ein Teil ihrer Annahmen hätte verworfen werden müssen. Sie wäre voll-
auf zu Recht bestehen geblieben; die Maxwellsche Theorie hätte allein
gezeigt, dass die transversale Schwingung speziell eine elektromagnetische
ist; sie hätte nur etwas Positives zur alten Auffassung hinzugefügt. Die
alte Undulationstheorie ging indessen waiter; sie behauptete, dass die
Lichtschwingungen speziell gewöhnliche elastische Schwingungen wären ;
sie musste infolgedessen dem sie vermittelnden Medium, dem Lichtäther,
eine Reihe von Eigenschaften zuschreiben, die mit Recht zu Bedenken
Anlass gaben. Mit dieser weiteren, zur Erklärung der optischen Er-
scheinungen unnötigen Annahme hatte sie kein Glück; daher wurde der
elektomagnetischen Lichttheorie neben der positiven auch eine negative
Aufgabe." Sehr wohl — nur ist die Entwicklung hier keineswegs zu
Ende. Seit das Bechersche Buch erschienen ist, haben sich die gewich-
tigsten Stimmen gegen den eigentlich vitalen Teil der Ätherhypothese
gewendet; gegen die Annahme eines substantiellen Trägers der elektro-
magnetischen Wellen überhaupt. Da mithin an dieser Stelle Becher zu
ergänzen ist, so will ich eine Stelle aus Plancks „Acht Vorlesungen über
theoretische Physik" für diejenigen Leser der Kantstudien hinsetzen, die
die Fortschritte der Physik nicht regelmässig verfolgen. „Damit fällt
also der Lichtäther ganz aus der Theorie fort, und mit ihm auch definitiv
die Möglichkeit, die elektrodynamischen Vorgänge mechanisch zu be-
greifen, d. h. auf Bewegungen zurückzuführen. Indessen will die letztere
Schwierigkeit hier nicht allzuviel bedeuten, da ohnehin schon bekannt
war, dass keine einzige der für kontinuierliche Ätherbewegungen aufge-
stellten mechanischen Theorien sich ganz durchführen lässt. An die Stelle
des sogenannten freien Äthers tritt nun das reine oder absolute Vakuum,
in welchem sich die elektomagnetische Energie ebenso selbständig fort-
pflanzt, wie die ponderablen Atome. Ich meine, es ist dann nur konse-
quent, dem absoluten Vakuum überhaupt keine physikalischen Eigen-
schaften beizulegen." Abschnitt IV ist im Wesentlichen eine Materialien-
sammlung und betrifft den feineren Ausbau, den neuere und neueste
Theorien (bis 1906)) unsern Vorstellungen über die Struktur der Materie
über das Wesen von Trägheit und Kraft, über die Notwendigkeit einer
Annahme des Äthers etc. gegeben haben. Vielerlei scheint mir auch
Eigenwert zu haben. So z. B. die sehr angebrachte Bemerkung über die
„scheinbare Trägheit" (und Masse) der Elektronen. „Man darf daher die
Behauptung von der nur scheinbaren Trägheit der Elektronen nicht miss-
verstehen. Die Elektronen sind tatsächlich träge, setzen jeder Änderung
ihrer Bewegung einen Widerstand entgegen; aber diese Trägheit offen-
bart sich, und das ist das Neue gegenüber der alten Trägheit der Materie,
als subsumierbar unter den Begriff der elektrischen Induktion. Trägheit
und Induktion sind ein und dieselbe Sache, gehorchen den gleichen Ge-
setzen; es handelt sich um die gleichen Kräfte, nur manifestieren sie
sich bei der Trägheit als Wirkung eines Elektrons auf sich selbst (nach
der Meinung anno 1910 doch wohl als Wirkungen auf den — problema-
tischen — Äther) als Induktion bei der Wirkung des Elektrons auf andere.
Die Erkenntnis, dass sich die Trägheit der Elektronen als ein Spezialfall
der Induktion, als Selbstinduktion auffassen lässt, macht die Variabilität
derselben mit der Geschwindigkeit erklärlich ..." — Ein wichtiger Teil
des Kapitels befasst sich mit dem Problem der Fernwirkung. Hier aber
Rezensionen (Becher). 275
kann ich dem Verfasser darin nicht recht geben, dass er die herrschende
Feindschaft gegen die Fernwirkung, mit der schon Huygens sich nicht
befreunden konnte, da sie keine rein meclianische Erklärung sei, lediglich
auf die psychologische Unbequemlichkeit dieser Vorstellung schiebt. Mir
scheint die Sache vielmehr so zu liegen. Unsere beiden allgemeinsten
Naturgesetze, die beiden Hauptsätze der Thermodjaiamik, sind nur auf
geschlossene Systeme anwendbar. Dann bestimmen sie alle Ver-
änderungen, die an oder in irgendeinem materiellen System vor sich
gehen, vollständig durch die augenblicklichen Vorgänge im System oder
an seiner Grenze. Es kann darum Energie wie Materie nur stetig mit
der Zeit ihren Ort ändern, daher denn, ins Grosse gerechnet, der gesamte
gegenwärtige Zustand des Weltsystems genau die Folge des genau voran-
gegangenen Zustandes in Raum und Zeit ist. Nach der Theorie der
Fernwirkung dagegen kann Energie plötzlich von einem Körper auf
den andern übertragen werden als womit die Möglichkeit wegfällt, für
die Ausbreitung dieses Vorganges die Differenzialgleichungen aufzustellen.
In diesem mathematischen Motiv vor allem scheint mir die Abneigung
gegen die Fern Wirkung ihren Grund zu haben: die Energieveränderungen
sollen auch im Prinzip differenzieli fassbar bleiben. — Indessen, wer
weiss? Kühne Mathematiker sprechen bereits von Funktionalgleichungen,
die die Differenzialgleichungen als einen besonderen Fall in sich schliessen,
und denen nicht mehr die infinitesimale Betrachtungsweise zu Grunde
liegt. Solche Gleichungen würden nicht nur das Wirken über räumliche,
sondern auch das über zeitliche Zwischenräume hinweg ausdrücken können
unter Überspringung der Nachbarelemente — eine Möglichkeit, die den
Philosophen warnt, seine Theorie der Kausalität zu früh für abge-
schlossen zu halten. —
Das Buch Bechers geht nach meiner Ansicht den einen der Wege,
die sein Problem zu gehen verstattet; den analytischen. Ist auch der
synthetische beschreitbar? Ich glaube: ja, und hoffe, nächstens mit einer
solchen Behandlung hervortreten zu können. Hier möchte ich noch, um
den Gegensatz zu dem Becherschen Verfahren zu gewinnen, die Grund-
züge solcher Behandlung skizzierend andeuten. Becher setzt die exakte
Wissenschaft als gegeben — wäe der Geometer die Lösung einer Aufgabe
und steigt dann auf zu den Bedingungen, unter denen allein diese Ge-
gebenheit stattfinden kann. Darf man aber auch umgekehrt vom Ein-
fachen zum Zusammengesetzten fortschreiten, und zwar nicht den Inhalt
der Wissenschaft, wohl aber deren Form synthetisch aus reiner Vernunft
begreifen? — Ein solches Unternehmen würde in derselben Analogie zur
synthetischen Geometrie stehen, in der das Bechersche zur analytischen
steht. Die synthetische Geometrie gewinnt, um ein elementares Beispiel
zu nehmen, die Eigenschaften der Kegelschnitte nicht dadurch, dass sie
solche Formen wie Kreis und Ellipse als konkrete Gegebenheiten auf-
greift und nun, etwa mit Hülfe der analytischen Methode Descartes',
deren Eigenschaften feststellt und vergleicht. Sie setzt vielmehr als pri-
märes Gebilde einen Kegel voraus, den man sich als Lichtkegel denken
mag. Von der Spitze dieses Kegels aus gesehen ist die Ellipse nur eine
zentrale Abschattung des Kreises und umgekehrt. Dass solche Abschatt-
ungen eintreten, hängt davon ab, ob ein geeigneter Gegenstand, z. B. ein
kreisrunder Teller in den Lichtkegel gebracht wird, oder nicht, wie aber
die Abschattung ausfällt, das ist vollkommen a priori bestimmt durch die
Gestalt des Tellers und die Art, wie er gehalten und wie seine Ab-
schattung aufgefangen wird auf der einen und durch die immanente Ge-
setzlichkeit des Lichtkegels auf der anderen Seite. Dies Verhältnis von
Tatsächlichkeit und Notwendigkeit scheint mir dasselbe zu sein, wie das
in der Transscendentalphilosophie obwaltende. Dass Gegenstände der
Erkenntnis gegeben werden, ist eine Ta'tsächlichkeit , Tatsächlich-
keiten sind ferner die realen Bestimmtheiten der Gegenstände (ihre ma-
teriale Ordnung), notwendig dagegen sind die Eigenschaften, die sie
Kantstudlea XV.
18
276 Rezensionen (Becher).
dadurch gewinnen, dass sie Teile einer, von einem Punkte ausstrahlenden
Erfahrung werden. Der Lichtkegel, mitsamt der Formgruppe, die ihm
durch die Eigenschaft, zentral zu projizieren eignet, das sind die allge-
meinen „Vermögen" des Geistes, d. i. die formale Beschaffenheit unseres
Verstandes, unserer Sinnlichkeit und deren apperzeptiver Einheit, den
Teller vertritt der empirische Sinneneindruck ; die Arten, darinnen er
sich abschattet, sind die unterschiedlichen, aber in einander überführbaren
Ausdrücke der Gesetzlichkeit, durch die ihn die Einheitsfunktion des Be-
wusstseins ergreift. Von welcher Art, von welcher immanenten Gesetz-
lichkeit nun diese Möglichkeit, Gegenstände überhaupt zu projizieren, sei,
und welche formalen Charaktere daher den Projektionen, d. i. den Ge-
setzen, anhaften müssen, — das ist nach meiner Meinung die eigentliche
Aufgabe, die einer synthetischen Behandlung der Naturphilosophie ge-
.stellt ist. Der Ausgangspunkt ist die transscendentale Deduktion, und
zwar die der zweiten Auflage, die vom Begriff einer Verbindung über-
haupt ausgeht. Es werden zwei Begriffe herausgearbeitet: der Begriff
der synthetischen Identität in der Verbindung und der Begriff der ein-
deutigen Bestimmtheit des Ergebnisses der Verbindung. Diese beiden
Begriffe erweisen sich als die letzten Formbestimmtheiten der Natur-
gesetze, die mithin nach dieser Rücksicht in zwei Formgruppen zerfallen.
In die erste Formgruppe gehören die Erhaltungsgesetze (z. B. der leben-
digen Kraft, der Flächen, des Schwerpunktes, der Energie), in die zweite
gehören die Maxima- und Minimagesetze, deren Wesen es ist, eine ein-
deutige Bestimmtheit auszusagen (z. B. das d'Alembertsche Prinzip, der
Satz vom kleinsten Zwange, der zweite Hauptsatz der Thermodynamik.)
Dieser Ableitung parallel läuft eine andere, die von den Hilfsmitteln der
Transscendentalphilosophie keinen Gebrauch macht.
Kants transscendentale Deduktion ist nämlich methodisch der Ge-
danke einer Wissenschaft von Synthesis überhaupt. Diesen Gedanken
haben Hermann und Robert Grassmann in der Gestalt einer allge-
meinen Formenlehre wieder vorgenommen. In dieser kommt es nur
auf die einzelnen, phänomenologisch festzustellenden Formen an, die ein
Akt der Synthesis haben mag, ganz abgesehen von jedem Inhalt. Solcher
Formen gaben die Grassmanns zwei an, die Fügung (Addition) und die
Webung (Multiplikation). Die Webung zeigt zwei charakteristische
Arten, die das Gesamtgebiet des Erkennens in zwei Gebiete zerlegen,
die innere Webung und die äussere Webung. Das Gebiet der
inneren Webung ist die Logik, das der äusseren Webung ist die Aus-
dehnungslehre. Die Formen der Logik sind danach der exakte Aus-
druck der Verfahrungsweisen des Verstandes, die Formen der Aus-
dehnungslehre sind der exakte Ausdruck der Formen der Sinnlichkeit.
Da nun alles, was erscheint, gemäss den Formen von Raum
und Zeit erscheinen muss, so muss es auch erscheinen, gemäss
den allgemeinen, in der Ausdehnungslehre beschriebenen
Formen. Die Formen der Synthesis, wie sie in der Ausdehnungslehre
beschrieben sind, stellen daher die apriorische Charakterologie der exakten
Wissenschaft dar und es ist durch sie zwar nicht der Inhalt, wohl aber
die Form der exakten Wissenschaft festgelegt. Es ist nun von den beiden
Grassmannschen Formen, der Addition und der Multiplikation, abermals
die Addition durch die ganze Ausdehuungslehre hindurch immer nur
eine. Die äussere Multiplikation dagegen zeigt zwei Arten, die algebraische
und die kombinatorische Multiplikation. Die algebraische Multiplikation
ist gekennzeichnet durch die Formel 6^.6^=6^.6^, die kombinatorische
Multiplikation durch die Formel e^. e^^ e^^. e^ oder e^^. e^,= — e^. e^. Die Be-
trachtung der letzten Form legt das Unterscheidende beider Ausdrucks-
weisen in den Umstand, dass bei der kombinatorischen Multiplikation
der Begriff der Richtung festgehalten wird. Hiermit ist der eine
Grundbegriff festgestellt ; als der andere ergiebt sich der der gegenseitig
eindeutigen Zuordnung oder der der Mächtigkeit. Diese Charakterologie
Rezensionen (Becher). 277
wird verfolgt fürs erste durch die reine Wissenschaft hindurch. Es wird
gezeigt, wie im Zahlbegriff die Kategorien der Richtung und Mächtigkeit
wirksam sind, in der Geometrie etc. Der Übergang ins Empirische wird
durch den Begriff der Dimension genommen, ferner aber tritt die Kau-
salität als ein neuer Faktor hinzu. Die — a posteriori gegebenen —
Elemente, zwischen denen die Kausalität hält, können verschiedener Natur
sein, sie können erstens einfache Punkte sein. Zwischen solchen Ele-
menten, die nur in der Abstraktion existieren, ist die Kausalität rever-
sibel (umkehrbar). Das erste Grundgebiet der exakten Naturwissenscliaft
ist danach das der umkehrbaren (stets idealen) Prozesse. Die Elemente
können aber zweitens empirische Prozesse sein. Es wird gezeigt,
dass diese in eine Form, darinnen sie mathematisch fassbar sind, nur durch
die Wahrscheinlichkeitsrechnung gebracht werden können. Ein empi-
rischer Prozess erscheint dann aufgelöst in eine Menge von Einzelprozessen,
die alle für sich umkehrbar sind. Nun ist Gegenstand weiterer Be-
traclitung allein der Spielraum, der diese Einzelprozesse einschliesst.
Die Kausalität hält also hier nicht zwischen Punkten, sondern zwischen
Spielräumen. Aus dem begrifflichen Wesen des. Spielraumes (der elemen-
taren Unordnung) folgt, dass eine solche Kausalität irreversibel (nicht um-
kehrbar) ist. So erscheint als zweites Reich das der nicht umkehr-
baren Prozesse.!) Dann wird nachgewiesen, dass sowohl die Elemente
als die Formen beider Arten der Prozesse bestimmt sind durch die Natur
der Operatoren, die wirksam sind in den beiden Arten der äusseren Mul-
tiplikation. Da nämlich alle Ausdrücke, die vorkommen können, eindeutig
bestimmt sind durch die Dimensionsgleichungen, die ihren mathe-
matischen Charakter definieren, da gleichzeitig das Wesen der Dimen-
sionen und alle Möglichkeiten von Verbindungen der Dimensionen be-
stimmt sind durch die in der Ausdehnungslehre entwickelte Gesetzlichkeit,
so werden diese Dimensionsgleichungen das Mittelglied, über das hinweg
sich die Ausdehnungslehre in die Empirie fortsetzt; die exakten Ausdrücke,
in denen wir das physikalische Geschehen beschreiben, sind daher ver-
schieden nur insofern, als sie von den Darstellungsmitteln der Ausdehnungs-
lehre einen verschiedenen Gebrauch machen. Die grösstmögliche Unter-
schiedlichkeit zwischen diesen Ausdrücken ist durch den Umstand gegeben,
dass gewisse Ausdrücke den Begriff der Richtung beibehalten, andere
ihn fallen lassen. Es teilen sich danach alle in den Rechnungen auf-
tretende Elemente in zwei Arten : Vektoren (Richtgrössen) und Skalare
(Zahlengrössen). Es wird nachgewiesen, dass die Fundamentalbegriffe der
Elemente beider Prozessarten, Kraft, Masse, Energie etc. vollkommen
eindeutig bestimmt sind durch ihre Dimensionsformeln und die durch
diese festgelegten Beziehungen zu den beiden Arten der Multiplikation.
Was die Formen beider Prozessarten angeht, so wird gezeigt, dass die
Gesetze der Mechanik wie der Physik entweder Richtungs-^) oder Mächtig-
keitsgesetze sind, indem etwa der erste Hauptsatz der Thermodynamik
ein Mächtigkeits-, der zweite dagegen ein Richtungsgesetz ist.
Zu beiden Programmen, dem Becherschen wie dem meinen, wird
man vielleicht sagen: „Wie bescheiden." Ich würde antworten: „Das ist
ein Lob, kein Tadel."' Ein Stück Erdenland zuverlässig vermessen zu
1) Der transscendentale Grund der Reversibilität ist der, dass die
Elemente, zwischen denen die kausale Relation hält, hier nicht die Er-
scheinuugsseite eines Dinges an sich vorstellen, sondern nur als Setzungen
betrachtet w^erden, denen kein Dasein ausserhalb der sie setzenden Phan-
tasie zugemutet wird. Dahingegen ist die Ordnung in allen Beschreib-
ungen wirklicher Prozesse irreversibel ; natürlich, denn hier ist die Be-
schreibung ja genötigt, eine materiale Ordnung wiederzugeben, die ihren
Grund in Bestimmtheiten der Dinge an sich hat, die unserer Willkür
entzogen sind.
''^) Die Richtung ist die in der Anschauung konstruierte eindeutige
Bestimmtheit.
18*
278 Rezensionen (Drews),
haben, ist Verdienst, Spekulationen über die Kontinente des Sirius anzu-
stellen, ist geistige Zuchtlosigkeit. Methoden der exakten Wissenschaft
beschreiben und ihr Dasein aus der Beschaffenheit unseres Werkzeuges
der Erkenntnis begreifen, ist Amt der Philosophen ; Methoden der exakten
Wissenschaft vorschreiben und etwa die Planetenbewegungen „aus dem
Begriff der Sache" ableiten, ist Anmassung des schwärmenden Idealisten.
Ich hoffe, den Leser dieser Anzeige auf die eigentliche Lektüre des
angezeigten Buches begierig gemacht zu haben. JDieser Tendenz diene
schliesslich noch die Bemerkung, dass Becher auch leicht zu lesen ist.
Er schreibt ausführlich und stellt mit vorzüglichem Takt die psycho-
logischen Voraussetzungen zum Verständnis der einzelnen Theorien an
den schicklichen Ort. Wir Deutsche sind lange arm gewesen und haben
aus dieser Zeit noch die Gewohnheit beibehalten, unsere Bücher so kon-
densiert und geklemmt zu schreiben, dass Dinge, die einen pragmatischen
Raum von 10 Seiten beanspruchen, ein asthmatisches Dasein auf einer
Seite fristen müssen. Darunter leiden namentlich unsere mathematischen
Werke. Die Engländer sind oft in das entgegengesetzte Laster verfallen;
immerhin aber sind ihre Bücher im Allgemeinen deshalb kürzer, weil sie
länger sind. Bechers Buch scheint mir deutschen wie englischen An-
sprüchen zu genügen, indem es den geschulten Kopf nie langweilt und
für den Anfänger nie etwas überspringt.
Berlin. Friedrich Kuntze.
Drews, Arthur. Eduard von Hartmanns philosophisches
System im Grundriss. Mit einer biographischen Einleitung und dem
Bilde E. von Hartmanns. Heidelberg 1902. Carl Winters Universitäts-
buchhandlung. (XXII u. 851 S.) — Zweite, durch einen Nachtrag ver-
mehrte Ausgabe. 1906. (937 S.)
Das philosophische System, welches Hartmann in langen Jahren
ununterbrochener wissenschaftlicher Arbeit geschaffen hat, gehört ohne
Zweifel zu den umfassendsten Systemen, die jemals aufgestellt worden
sind. Fast sämtliche philosophischen Disziplinen hat der unermüdliche
Denker in mehr oder weniger umfangreichen, zum Teil sehr ausführliclien
Werken behandelt, ohne deshalb seine schriftstellerische Tätigkeit auf die
rein systematische Produktion zu beschränken; in ganz besonderem Masse
hat er es sich auch angelegen sein lassen, durch die kritische Auseinander-
setzung mit anderen Standpunkten die Richtigkeit seiner eigenen Über-
zeugungen und das Irrige entgegengesetzter Ansichten darzutun; eine
ganze Reihe seiner Schriften und Abhandlungen verdanken diesem Be-
mühen ihren Ursprung. Dazu kommen nun drittens noch eine Anzahl
von historischen Darstellungen, die in ihrer Gesamtheit einen ziemlich be-
trächtlichen Raum in dem Ganzen der Hartmannschen Philosophie ein-
nehmen. Von der Menge dessen, was Hartmann sonst noch über politische,
soziale und andere Gegenstände von allgemeinerem Interesse geschrieben
hat, sehen wir dabei ganz ab, obwohl es auch in den Abhandlungen, die
diesen Fragen gewidmet sind, keineswegs an philosophisch interessanten
und bedeutsamen Ausführungen fehlt.
Ist hiernach ein genaues Studium der Philosophie Hartmanns schon
ihres Umfangs wegen mit nicht geringen Schwierigkeiten verknüpft, so
erhöhen sich diese Schwierigkeiten noch sehr beträchtlich durch den Um-
stand, dass die einzelnen Werke zwar nicht überall, aber doch sehr viel-
fach auch durch ihren Inhalt erhebliche Anforderungen an das Verständ-
nis des Lesers stellen. Trotzdem es sehr leicht ist, sich von ihrer Un-
wahrheit zu überzeugen, ist doch auch heute noch die Meinung nicht
ganz aufgegeben, als wäre Hartmann eigentlich nur ein oberflächlicher
Vielschreiber gewesen, der wissenschaftlich nicht ernst genommen werden
dürfe. Diese Anschauung ist in Wirklichkeit so wenig zutreffend, dass
sie nicht einmal das Recht hat, sich auf die für weitere Kreise bestimmten
Veröffentlichungen Hartmanns zu beziehen. Denn auch in diesen handelt
es sich fast immer um gediegene, sachliche, anregende und gedankenreiche
Rezensionen (Drews). 279
Untersucliiingen. Was aber die eigentlich philosophischen Schriften Hart-
nianns anbelangt, so wird niemand, der mit ihnen etwas genauer bekannt
und zu einem objektiven Urteil befähigt ist, mit gutem Gewissen leugnen
können, dass sich darin eine ganz ungewöhnliche Schärfe, Tiefe und syste-
matische Kraft des Denkens offenbart, mit der sich zugleich eine bewun-
derungswürdige Universalität des Wissens vereinigt. Trotz der Fülle von
Gegenständen, denen sein Interesse zugewendet war, sucht Hartmann den
Problemen doch fast stets irgendwelche neuen Seiten abzugewinnen ; er
begnügt sich nicht mit jener etwas äusserlichen, wenn auch geistreichen
Behandlung der Dinge, die man gerade auf philosophischem Gebiete nicht
so selten findet ; vielmehr ist er mit aller Energie bemüht, in das Innerste
der Probleme einzudringen und seine Untersuchung soweit zu führen, bis
ein greifbares und bestimmtes Ergebnis gewonnen ist. Und dies Verfahren
beobachtet er nicht etwa nur bei den verhältnismässig leichteren und
einfacheren, sondern gerade auch bei den letzten und tiefsten Fragen der
Philosophie, deren Schwierigkeit für ihn niemals ein Grund war, um sie
ganz unbeantwortet oder doch in einem gewissen Dunkel zu lassen, wie
das auch hervorragende Denker gar manchmal gßtan haben.
Nach alledem ist ein sehr eingehendes, gründliches und zeitrauben-
des Studium erforderlich, wenn sich jemand mit dem Inhalt der Hart-
mannschen Philosophie genauer vertraut machen will. Schon aus diesem
Grande lässt es sich einigermassen erklären, dass die Zahl der wirklichen
Kenner des Systems noch immer ziemlich gering ist. Denn darüber kann
nach unserem Dafürhalten nicht der mindeste Zweifel sein, dass die phi-
losophischen Schriften Hartmanns lange nicht in dem Masse beachtet und
gelesen werden, wie sie es bei ihrer grossen Bedeutung verdienen. Nachdem
Hartmann mit der Philosophie des Unbewussten einen ganz ungewöhn-
lichen Erfolg gehabt und seinen Namen in die weitesten Kreise getragen
hatte, wandte man der grossen Mehrzahl seiner späteren Werke auch
nicht im entferntesten die gleiche Aufmerksamkeit zu. Es war daher
ein sehr dankenswerter Entschluss, den Arthur Drews fasste, als er sich
seinerzeit vornahm, zu dem 60. Geburtstage Hartmanns eine zusammen-
hängende und übersichtliche Darstellung von dessen System zu veröffent-
lichen. Es gab wohl niemanden, der zu dieser Aufgabe in so hohem
Masse geeignet gewesen wäre wie gerade Drews. Denn schon in seinen
früheren Schriften hatte er sich nicht nur als genauen Kenner, sondern
auch als treuen Anhänger und begeisterten Jünger der Philosophie Hart-
manns gezeigt. Zugleich ging aus diesen Schriften hervor, mit wie
grosser Sicherheit und Selbständigkeit sich Drews in den Gedanken-
gängen des Hartraannschen Systems zu bewegen weiss. Ohne zu grosse
Uebertreibung wird man sagen dürfen, dass er das System kaum besser
beherrschen könnte, wenn er selbst der Urheber wäre.
Die Erwartungen, die man hiernach auf eine Darstellung der Philo-
sophie Hartmanns aus der Feder von Drews setzen durfte, werden durch
das vorliegende Buch in vollem Umfang erfüllt. Der Leser erhält durch
das Werk ein übersichtliches, lebendiges und eindrucksvolles Bild von
dem gewaltigen System, das allmählich vor seinem geistigen Auge ent-
steht. Handelt es sich für den Verfasser auch in erster Linie darum,
einen Grundriss des von Hartmann aufgeführten Gebäudes zu entwerfen,
weil es im Rahmen der so schon sehr umfangreichen Darstellung nicht
möglich war, eine eingehende Schilderung der einzelnen Teile zu geben,
so ist es doch nicht bloss das äussere Grundgerüst als solches, mit dem
wir bekannt gemacht werden. Vielmehr führt uns das Buch auch in das
Innere des Systems soweit ein, dass wir im Stande sind, von fast allem,
was es Bedeutendes enthält, eine mehr oder weniger bestimmte Vor-
stellung zu gewinnen.
Eine gleichmässige Ausführlichkeit in der Berücksichtigung der ver-
schiedenen Werke hat Drews nicht angestrebt ; im grossen und ganzen
wird allerdings den Hauptteilen des Systems ungefähr das gleiche Recht
280 Rezensionen (Drewc).
gewährt ; im einzelnen finden sich jedoch in dieser Hinsicht mancherlei
Verschiedenheiten, wie das bei der Darstellung eines so umfassenden
Systems auch kaum anders zu erwarten war. So sind z. B. dem geschicht-
lichen Teile der Hartmannschen Religionsphilosophie fast 90, der Geschichte
der deutschen Ästhetik seit Kant nur 6 Seiten gewidmet. Dies ist eine
Diskrepanz, die man vielleicht nicht ganz in der Ordnung finden wird.
Im übrigen aber geben die vorhandenen Uugleiclunässigkeiten kaum An-
lass zu besonderen Bedenken, da es sich von selbst versteht, dass der
Autor in dieser Hinsicht eine gewisse Freilieit des Verfahrens für sich in
Anspruch nehmen kann.
Die Darstellung des Systems, der als Einleitung eine ansprechende
Schilderung von Hartmanns Leben und literarischer Tätigkeit vorausgeht,
gliedert sich nun folgendermassen. Das erste Buch entwickelt die Grund-
lagen des Systems und zwar in der Weise, dass nach einer einleitenden
Auseinandersetzung über die Philosophie des Bewussten und das Prinzip
des Unbewussten die Methodenlehre, die Erkenntnislehre und die Meta-
physik Hartmanns behandelt werden. Das zweite Buch macht den Leser
mit den Grundgedanken der Hartmannschen Naturphilosophie bekannt,
während das dritte und letzte Buch, das bei weitem den grössten Umfang
hat, die gesamte Geistesphilosophie zur Darstellung bringt. Es zerfällt
demnach wieder in eine grosse Reihe einzelner Abschnitte, deren Titel
wir anführen, um dem Leser wenigstens zu zeigen, in welcher Weise
Drews den umfangreichen Stoff geordnet hat. Den Anfang macht die
Psychologie (S. 238—315), der dann weiter die Axiologie (bis.S. 357), die
Ethik (bis S. 442), die Religionsphilosophie (S. S. 599), die Ästhetik (bis
S. 672), die Philosophie der Geschichte (bis S. 706), die Sprachphilosophie
(bis S. 716), die Geschichte der Philosophie (bis S. 764) und die Kate-
gorienlehre (bis S. 847) folgen.
Die hier beigefügten Zahlen sind der ersten Auflage entnommen,
da sich für die zweite Auflage bestimmte Zahlen nicht anführen lassen.
Es handelt sich nämlich, wie zur Orientierung des Lesers bemerkt werden
muss, bei der sogenannten zweiten Ausgabe gar nicht um eine neue Auf-
lage im eigentlichen Sinne des Wortes ; vielmehr hat Drews auf Anregung
des Verlegers nur Ergänzungen geschrieben, die dem Texte der ersten
noch nicht ausverkauften Auflage als Nachtrag angefügt worden sind
(Vorw. z. 2. Ausg.) und so den Anlass zur Anwendung des Ausdrucks
zweite Ausgabe geboten haben. Diese Ergänzungen, unter denen sich
auch Verbesserungen und Veränderungen des Textes der ersten Auflage
befinden, betreffen vor allen Dingen die Naturphilosophie, die Religions-
philosophie und die Frage nach dem Beginn des Weltprozesses, die in
der 1904 erschienenen 11. Auflage der Philosophie des Unbewussten eine
etwas andere Beantwortung als früher erfahren hat. So stellen die Er-
gänzungen eine wichtige Bereicherung des Werkes dar; durch sie ist es
möglich geworden, die Darstellung so zu erweitern, dass nunmehr so gut
wie alles hat berücksichtigt werden können, was Hartmann bei Lebzeiten
veröffentlicht hat. Von dem Ganzen seiner Philosophie erhalten wir
freilich auch so noch kein absolut vollständiges Bild, da ja nach dem Tode
Hartmanns noch sein „System der Philosophie im Grundriss" erschienen
ist, das in seinen 8 Bänden seit kurzem abgesclilossen vorliegt. Doch ist
dieser Umstand für das Buch von Drews von keiner wesentlichen Be-
deutung. Denn Hartmann beschränkt sich in den Grundriss der Haupt-
sache noch auf eine zusammenfassende Darstellung seiner schon früher
ausgesprochenen philosophischen Überzeugungen, ohne zu ihnen neue Ge-
danken von erheblicher prinzipieller Wichtigkeit hinzuzufügen.
Im einzelnen schliesst sich Drews in seiner Darstellung auf das
engste an Hartmann selbst an ; wenn auch Einteilung und Auswahl des
Stoffes sein eigenes Werk sind, so hat er doch deshalb nicht eine ganz
freie Reproduktion der Gedanken Hartmanns geben wollen ; wie ich durch
eine ziemlich grosse Anzahl von Vergleichungen festgestellt habe, bedient
Rezensionen (Drews). 281
sich der Verfasser in sehr weitem Umfang und nicht etwa bloss in den
als Zitaten kenntlich gemachten Sätzen auch der eigenen Worte Hartmanns
zu seiner Darstellung. Er geht darin so weit, dass man wohl nur wenig
Partien finden wird, in denen diese äussere Abhängigkeit von dem Original
sich nicht nachweisen Hesse. Es würde mir nicht richtig zu sein scheinen,
wenn man Drews hieraus einen Vorwurf machen wollte. Denn offenbar
ist dieses Verfahren mit vollem Bewusstsein und in der Absicht gewählt
worden, auch im Ausdruck der Gedanken dem Original möglichst nahe
zu kommen ; ausserdem mag wohl auch die Erwägung mitgespielt haben,
dass es kaum möglich wäre, von Hartmanns philosophischen Anschauungen
eine noch klarere Formulierung zu geben, als sie in den Schriften des
Autors selbst sich findet. Eine gewisse Gefahr, die hierbei besteht, ist
allerdings nicht ganz vermieden worden; denn es dürfte wohl eine Folge
des geschilderten Verfahrens sein, dass der Leser öfters nicht weiss, ob
nun im einzelnen Falle Hartmann selbst oder Drews redet ; ich für meine
Person bin in dieser Hinsicht wenigstens nicht ganz selten im Zweifel
gewesen und glaube, dass andere, die Hartmann weniger genau kennen,
noch öfter in Zweifel geraten dürften. Ausserdem möchte ich hier be-
merken, dass die weitgehende Benutzung des Wortlauts der Hartmann-
schen Schriften doch nicht hat verhindern können, dass der Leser in vielen
Fällen das Bedürfnis einer noch genaueren Aufklärung über einzelne
Lehren und namentlich deren Begründung empfinden wird. Wer wenig-
stens mit der Philosophie Hartmanns nicht schon einigermassen vertraut
ist, wird nach meinem Dafürhalten nicht überall imstande sein, den Aus-
einandersetzungen von Drews trotz ihrer Klarheit und Bestimmtheit mit
genügendem Verständnis folgen zu können. Aber freilich ist das ein
Mangel, für den der Verfasser selbst nicht eigentlich verantwortlich ge-
macht werden kann. Denn es liegt in der Natur der Sache, dass bei der
Schwierigkeit und der Fülle der zu behandelnden Gegenstände selbst
eine so umfangreiche Darstellung doch noch mancherlei Lücken in sich
enthalten musste, die nur durch ein Studium der Originalschriften ausge-
füllt werden können. Nur wenn er seinem Werke noch einen erheblich
grösseren L^mfang gegeben hätte, würde Drews imstande gewesen sein,
diesen Missstand allenfalls zu vermeiden.
Bei dem persönlichen Standpunkt, den unser Autor zu der Philo-
sophie Hartmanns einnimmt, ist es kein Wunder, dass er es in seinem
Werke an einer kritischen Auseinandersetzung mit den Hartmannschen
Lehren gänzlich fehlen lässt, während er seine Zustimmung und Aner-
kennung um so deutlicher ausspricht. Ausdrücklich lehnt er die Kritik
in dem Vorwort zur zweiten Ausgabe ab, indem er behauptet, dass zur
kritischen Beurteilung eines philosophischen Systems nur derjenige berufen
und im Stande sei, der einen höheren Standpunkt besitze, von dem aus
er befälligt wäre, die betreffende Weltanschauung als Moment in jenen
aufzuheben. Das aber ist eine Erklärung, die man gewiss nicht wird
gelten lassen können; denn es ist gar nicht einzusehen, warum nicht auch
ohne einen in diesem Sinne höheren Standpunkt eine wertvolle und
fruchtbare Kritik eines philosophischen Systems oder wichtiger Teile des-
selben möglich sein soll. Der eigentliche Grund seines Verzichts auf jede
kritische Prüfung der dargestellten Lehren Liegt für Drews gewiss auch
viel weniger in der eben angeführten Erwägung, als in dem Umstände,
dass er von der Richtigkeit des Hartmannschen Systems in fast allen
Punkten fest überzeugt ist. Demnach stellt er auch die Lehre Hartmanns
nicht nur im ganzen, sondern auch in allen ihren wichtigeren Teilen weit
über alle anderen Leistungen der modernen Philosophie und stimmt ihr
auch da rückhaltlos bei, wo sich bei schärferer und genauerer Prüfung
vielleicht erhebliche Bedenken ergeben. Mit seiner Begeisterung für
Hartmann vereinigt sich auf diese Weise eine Beurteilung der übrigen
zeitgenössischen Philosophie, die oft unnötig scharf und absprechend und,
was wichtiger, in rein sachlicher Hinsicht, wie ich glaube, keineswegs
immer richtig ist. Was hat es z. B. für einen Sinn, wenn er das neuer-
282 Rezensionen (Drews).
dings so vielfach behandelte Problem des psychophysischen Parallelismus
als eine „modische Professorenstreitfrage" bezeichnet (1. Aufl. V), und die
Sache so hinstellt, als hätten bei dieser Angelegenheit weder die An-
hänger noch die Gegner des Parallelismus irgend etwas von Bedeutung
geleistet (862), während Hartmann mit seiner Lehre vom Unbewussten
die Schwierigkeiten im Begriffe der Wechselwirkung ZAvischen Leib und
Seele von Grund aus gelöst haben soll (251)? Als' ob die Frage nach
dem tatsächlichen Vorhandensein einer solchen Wechselwirkung, um deren
Beantwortung es sich hierbei im wesentlichen handelt, durch eine Ver-
legung der Vermittelung in das Gebiet des unbewussten Seelenlebens
irgendwie entschieden werden könnte! Dergleichen Äusserungen sind
unhaltbare Übertreibungen, die schwerlich darzu beitragen werden, der
Philosophie Hartmanns neue Freunde zu gewinnen.
Auch sonst sieht Drews im Begriff des Unbewussten, wie ihn Hart-
mann versteht, das geeignetste Mittel, um alle möglichen Probleme zu
lösen. Nach seiner Ansicht hat Hartmann, indem er diesen Begriff in
genialer Intuition erfasste und zur Grundlage seines Systems machte,
eine der grössten Umwälzungen in der ganzen Geschichte der Philosophie
hervorgebracht. Obwohl der Begriff auch schon vorher eine grosse Rolle
in der philosophischen Spekulation gespielt hat, so ist doch im Prinzip
alle frühere Philosophie Bewusstseinsphilosophie gewesen. Sie „identifi-
zierte das Bewusstsein mit dem Sein" (869), wie das in ganz besonders
charakteristischer Weise in der neueren Philosophie der Fall war, als
deren Prinzip das kartesianische Cogito ergo sum angesehen werden muss.
In diesem Satze ist die Identität von Bewusstsein und Sein, von Ideellem
und Realem unmittelbar ausgesprochen und zugleich als das metaphy-
sische Wesen der Dinge anerkannt (74). „Die ganze philosophische Ge-
dankenentwickelung seit Descartes ist" aber nichts anderes als „die fort-
schreitende Auseinanderlegung und selbständige Durcharbeitung derjenigen
begrifflichen Möglichkeiten, die implicite bereits im Cogito ergo sum ent-
halten waren" (75). Die letzte grosse Leistung, die diese Richtung des
Denkens hervorgebracht hat, war das System Hegels, dessen Zusammen-
bruch nicht nur den Untergang einer beliebigen Philosophie, sondern
einer ganzen Weltanschauung bedeutete, die zwei Jahrhunderte hindurch
die europäische Menschheit beherrscht hatte (76). Ein wirklicher grosser
Fortschritt in der Philosophie konnte infolgedessen nunmehr nur auf die
Weise gemacht werden, dass an Stelle der bisherigen Pliilosophie des
Bewussten eine Philosophie des Unbewussten gesetzt wurde, wie es durch
Hartmann geschah. Daher bedeutet sein System „den völligen Bruch mit
dem Cogito ergo sum, die Losreisung von der Vergangenheit, die Inau-
gurierung einer neuen Epoche des philosophischen Denkens" (77).
Gegen diese Auffassung von der geschichtlichen Entwickclung der
Philosophie ist nun gewiss sehr viel einzuwenden, ohne dass man deshalb
der Bedeutung Hartmanns irgendwie zu nahe zu treten braucht. Dass
die ganze frühere Philosophie Sein und Bewusstsein identifiziert haben
soll, ist eine unhaltbare Behauptung, die gar keiner Widerlegung bedarf.
Ebensowenig kann davon die Rede sein, dass durch das Cogito ergo sum
Sein und Bewusstsein schlechthin gleichgesetzt würden, wie sich zur
Genüge aus der cartesianischen Philosophie ergiebt; hätte der Satz aber
auch wirklich diese Bedeutung, so würde daraus doch keineswegs folgen,
dass auch die ganze neuere Philosophie im übrigen Bewusstseinsphilosophie
im Sinne von Drews wäre, da es eine undurchführbare Geschichtskon-
struktion ist, wenn man die Entwickelung der Spekulation von Descartes
bis Hegel im wesentlichen nur als die Ausgestaltung und konsequente
Durchbildung des cartesianisclien Grundprinzips betrachten will;i) ist doch
') Genauer hat Drews diese Ansicht schon in seinem 1897 erschie-
nenen Werke über „Das Ich als Grundproblem der Metaphysik" ausein-
andergesetzt (S. 14—133), ohne freilich n. m. M. seine Auffassung irgend-
wie wahrscheinlich zu machen,
Rezensionen (Lasswitz). 283
auch Cartesiiis weit davon entfernt, aus dem Cogito ergo sura sein ge-
samtes System ableiten zu wollen, wie verkehrter Weise freilich häufig
behauptet wird. Auf der anderen Seite erweist sich auch die Philosophie
Hartmauns insofern als Bewusstseinsphilosophie, als sie ebenfalls von dem
Bewusstsein und seinem Inhalt ausgehen muss, da es einen andern Aus-
gangspunkt nicht giebt und nicht geben kann. Daran vermag auch die
Tatsache nichts zu ändern, dass Hartmann in merkwürdiger Überein-
stimmung mit Kant, zu dem er sich sonst meist in mehr oder weniger
scharfem Gegensatz befindet, das Bewusstsein und die bewussten seelischen
Vorgänge für Erscheinungen im erkenntnistheoretischen Sinne des Wortes
erklärt. Denn einmal würde diese Ansicht, wenn sie zutreffend wäre, in
keiner Weise die Notwendigkeit aufheben, die uns zwingt, in der Philo-
sophie mit dem gegebenen Bewusstseinsinhalt zu beginnen ; zweitens aber
ist nach meinem Dafürhalten durchaus zu bestreiten, dass das Bewusstsein
als eine blosse Erscheinung betrachtet werden kann, da sich diese An-
schauung in ganz unlösbare Schwierigkeiten verwickelt (vgl. meine Er-
kenntnistheorie S. 425 — 433, 589—592). Drews freilich stimmt auch in
diesem Punkte Hartmann unbedingt zu und beruft sich dabei (919) auf
sein Werk über das Ich, in dem er den Gegenstand ausführlich behandelt
hat ; doch vermag ich auch in seinen eigenen Darlegungen durchaus
keinen Beweis für die Richtigkeit der in Frage stehenden Lehre zu
finden.
Mit alledem will ich nun hier nicht etwa Hartmanns Lehre vom
Unbewussten überhaupt und im Prinzip zurückweisen, wäe der Leser viel-
leicht glauben könnte ; vielmehr bin auch ich davon überzeugt, dass
dieser Lehre eine grosse und hervorragende Bedeutung zukommt, deren
Anerkennung für mich jedoch nicht eine Zustimmung zu der Theorie in
ihrem ganzen L'mfange bedeutet, wie es bei Drews der Fall ist. Dies
genauer auseinanderzusetzen, würde jedoch viel zu weit führen, da ich
hier ja keine Beurteilung der Hartmannschen Philosophie zu schreiben
habe. Infolgedessen verzichte ich auch darauf, noch eine Reihe weiterer
Punkte speziell zu erwähnen, bei denen ich glaube. Hartmann durchaus
widersprechen zu müssen. Nur soviel möchte ich bemerken, dass ich im
besonderen auf erkenntnistheoretischeui, psychologischem und etliischem
Gebiete gegen seine Anschauungen ziemlich viel Ausstellungen zu machen
habe, die sich dann natürlich auch gegen die Zustimmung richten, die
diese Anschauungen bei Drews finden. Doch hält mich dieser Gegensatz
nicht im mindesten ab, der Grösse Hartmanns gerecht zu werden, in dem
auch ich einen Denker ersten Ranges sehe, dessen Werke das genaueste
und gründlicliste Studium verdienen. Wer aber nicht im Stande ist, die
für ein solches Studium nötige Zeit zu erübrigen, der findet eben in dem
Werke von Drews einen Ersatz, wie er sich ihn kaum besser wünschen
kann. Ohne Zweifel ist das Buch, so manches ich dagegen auch ein-
wenden muss, eine gediegene und hervorragende wissenschaftliche Leistung,
deren Wert auch dadurch nicht vermindert wird, dass in den letzten
Jahren einige andere Darstellungen der Philosophie Hartmanns erschienen
sind; denn diese Schriften reichen, schon wegen ihres viel kürzeren Um-
fangs, durchaus nicht an die wissenschaftliche Bedeutung des Drew^sschen
Werkes heran. Dieses bietet daher auch jetzt nocli die bei weitem beste
und gründlichste Orientierung über des System Hartmanns und Avird
schwerlich in absehbarer Zeit durch eine andere Darstellung erreicht oder
gar übertroffen werden.
Rostock. Franz Erhardt.
Lasswitz, Kurd. Seelen und Ziele. Beiträge zum Weltverständ-
nis. Verlag von B. Elischer Nachfolger. Leipzig. (XI u. 320 S.)
Mit der dem poetischen Schriftsteller eigenen Anmut bietet uns der
pliilosophische Denker in der Form einzelner Essays eine ungemein reiche
Fülle interessanter Forschungsarbeit dar. Sein Buch über „Seelen und
Ziele" ist, wie er selbst sagt, ,.in gewissem Sinne eine Ergänzung" zu
284 Rezensionen (Lasswitz).
seiner Sclirift über „Wirklichkeiten", ohne dass es diese zum Verständnis
voraussetzte. Es ist bestrebt, zu zeig'en, „wie vom Standpunkte der mo-
dernen Erkenntnis uns jedes Emporkommen des Lebendigen in seiner
naturnotwendigen Entwickelung zugleich die Freiheit bedeutet". In
diesem Sinne ist sein Titel zu verstehen.
Um seine Aufgabe zu erfüllen, muss es also ausgehen von den
Grundlagen der Naturnotwendigkeitserkenntnis. Die beiden ersten Kapitel
behandeln darum die Zeit- und Raum-Probleme. Das geschieht in jener
edlen, von aller Trivialität freien Popularität, dass selbst der Laie auf die
einfachste Weise erkennen kann, um welche Fragen und Begriffe es sich
hier handelt. Auch wer von Hause aus etwa den metageometrischen Speku-
lationen fern und fremd gegenübersteht, erhält davon hier eine ungemein
klare und fassliche Darstellung. Das dritte Kapitel, das als „zwei Welt-
beseeler" G. Bruno und Fechner in ungemein liebevoller und persönlich
sympathischer, aber darum doch nicht minder objektiv sachlicher Art be-
liandelt, lässt sich als ungezwungener Übergang von der mathematisch-
naturwissenschaftlichen Problemgrundlegung zum Problem des Lebens an-
sprechen. Bei aller Zuneigung zu dem Persönlichen und Poetischen in der
Weltanschauung beider Männer weiss Lasswitz sehr wohl die kritischen
Grenzen zu ziehen zwischen den Fragen eben der Weltanschauung und
denen der Wissenschaft, zwischen dem, was wir „ahnen, hoffen, glauben"
und dem, was wir wissen und erforschen können. Zur Einführung in die
eigentlich biologischen Probleme verwertet Lasswitz die Semonsche
Theorie der Mneme, die er in einem besonderen Abschnitte behandelt,
um im nächsten Kapitel, wenigstens in aller Kürze, die „allgemeinen
Grundlagen der Biologie" in allgemeinverständlicher Weise darzustellen.
Nun muss sich unserem Autor die Beseelungsfrage unausweislich auf-
drängen. Ausblicke auf die „Pflanzenseele" und die „Planetenseele" er-
öffnen sich hier dem Dichter Lasswitz ebenso wie dem Denker. Wenn
dieser von der „Pflanzenseele" bekennt, dass wir mit ilir „in der wissen-
schaftlichen Betrachtung nichts anfangen können", so glaubt doch jener:
es könne „unser allgemeines Weltbild, die Auffassung der Natur von
Seiten des Gemütes durch die Anerkennung der Pflanzenseele vorteilhaft
beeinflusst werden". Nicht ganz so kritisch, weil nicht ganz so streng auf
Grund der Unterscheidung zwisclien Weltbild und Wissenschaft bestimmt,
erscheint uns dagegen Lasswitz' Stellungnahme zur Planetenseele. Dennoch
muss betont werden: Wer seine Stellung zur Frage des psychophysischen
Parallelismus und der psychophysischen Wechselwirkung kennt, \yird zu-
geben müssen, dass Lasswitz die von seinem Standpunkte aus einzig mög-
liche Konsequenz der Planetenbeseelung zieht. Wer mit ihm darüber in
eine Diskussion eintreten wollte, müsste' unbedingt die Frage : „Wechsel-
wirkung oder Parallelismus?" selbst eingehend erörtern, wozu hier freilich
nicht der Ort ist. Im weiteren werden die Verhältnisse von „Spiel und
Instinkt", von „Instinkt und Leben" erörtert, wobei es etwas befremden
muss, dass ein so guter Kenner Kants, wie Lasswitz es ist, gerade der
kritischen Bedeutung von Weismanns Vererbungstheorie doch nicht ganz
gerecht wird. Tier- und völkerpsychologische Abhandlungen schliessen
sich hier an. Mit ihnen erreicht der im Thema „Seelen" liegende Auf-
gabeteil des Werkes sein Ende.
Zu dem, was im Thema unter dem Namen der „Ziele" als Aufgabe
gestellt war, leitet eine Abhandlung über „die Zeichen der Kultur" über.
Auf die beiden Reiche der Wirklichkeit, die Natur und die Kultur, werden
hier ungemein helle Lichter geworfen, durch die auch die Unterscheidung
des genetischen, Avie des kritischen Momentes, um Windelbands Unter-
scheidung in diesem Zusammenhange nutzbar zu machen, selbst wieder
in sehr einfacher und einleuchtender Weise auch dem „Nicht-Fachmann"
deutlich werden kann, obschon immerhin selbst der „Fachmann" an ihr
leicht strauchelt. Um nun im Weiteren dem allgemeineren Verständnis
insbesondere gerade das Wesen der wissenschaftlichen Kultur zu er-
Rezensionen (Rehmke). 285
schliessen, dient die Untersclieidung von „Fühlen und Forschen", mit der
die Einsicht in die kritische Denkart erreicht wird, während das g:efühl-
volle „Schauen des Genies" am Beispiele Goethes verdeutlicht wird. Goethe
und Kant illustrieren aber nicht bloss Geg^ensätze. Sie sind freilich Gegen-
sätze in der Methode. Aber in letzter Linie bilden sie doch hinsichtlich
des Inhaltes ihrer Anschauung eine Ergänzung, ja in gewissem Sinne sogar
eine Einheit, nämlich im Sinne einer Synthese von Natur und Kultur, von
Natur und Freiheit. Unter diesem Gesiclitspunkte werden beide auf an-
sprechende Weise in einer besonderen Abhandlung zusammengestellt.
Gleichsam selbst als Synthese, als eine Synthese historischer Art, wird
ihnen zum Schluss „Schiller als Befreier" zur Seite gestellt. Dieser poe-
tische Verkünder und Verklärer des kritischen Idealismus der praktischen
Vernunft wird als solcher ebenfalls in einem eigenen Kapitel kurz be-
handelt. In die Idee der Freiheit klingt so Lasswitz' Werk aus, wie es
mit dem Begriff der Natur begonnen.
Von der Fülle seines gesamten Inhaltes konnten wir, trotzdem wir von
vornherein alle bloss kritischen Bemerkungen auf ein Minimum von Andeu-
tungen reduzierten, hier keine auch nur annähernd erschöpfende Vorstellung
geben. Immerhin mögen, hoffe ich, die vorstehenden Bemerkungen geeignet
sein, wenigstens anzudeuten, dass das Buch das, was es tun will, auch tun
kann. „Das Buch will suchen helfen," erklärt sein Autor. In der Tat, es
hilft suchen und noch mehr : es hilft finden. Es wird jeder mit ihm und
in ihm etwas finden. Wenn sein Verfasser bemerkt: „Für die Form der
Darstellung war das Streben nach Allgemeinverständlichkeit massgebend,"
so könnte es scheinen, als sei das Buch nur für „Laien" geschrieben.
Allein es unterscheidet sich himmelweit von den üblichen philosophischen
Laiendarstellungen. Gewiss, es ist so geschrieben, dass es alle, ohne besondere
philosophische Einzelkenntnisse mitzubringen, verstehen können, wenn sie
nur überhaupt die Fähigkeit des Verstehens haben, und darum mag es in
erster Linie für sie bestimmt sein. Trotz dieser Allgemeinverständlichkeit
verzichtet das Buch indes nicht auf Wissenschaftlichkeit. Da es nun aber
die Weltanschauung des kritischen Idealismus vertritt, und da man ferner
in dem Bestreben, diese verständlich zu machen auch wässensehaftlichen
Kreisen gegenüber, wie die Tatsachen tausendfältig zeigen, immer noch
nicht zu weit, ja kaum weit genug gehen kann, so kann das Buch auch
diesen seine guten Dienste leisten. Möge es darum — das ist der Wunsch,
mit dem ich von ihm Abschied nehme — viel gelesen werden, innerhalb
wie ausserhalb der blossen „Fachgelehrsamkeit",
Halle a. S. Bruno Bauch.
Rehmke, Johannes. Philosophie als Grundwissenschaft,
Frankfurt a, M,, Kesselring, 1910. (V u. 706 S.)
Der Autor hat in seiner Selbstanzeige für diese Zeitschrift als Ziel
seiner „Grundwissenschaft" hingestellt, die Philosophie „bodenständig" zu
machen, d. h. sie allein aus ihrem Gegenstande heraus aufzubauen, sie in
ihm zu „verankern". Jede Wissenschaft — so führt er im „grundlegenden
Teil" aus — hat das Ziel, Gegebenes (= Bewusstes, Bewuisstseinsbesitz)
fraglos zu bestimmen. Eine Einteilung der Wissenschaften wird sich an
der des Gegebenen orientieren müssen. Jenachdem sie Einziges oder All-
gemeines bestimmen will, ist sie Geschichts- oder Allgemeinwissenschaft.
Den beiden Gruppen von „Fachwissenschaften" steht nun die Grundwissen-
schaft als diejenige gegenüber, welche das Allgemeinste behandelt. Und
sie verdient diesen Namen durch die eigenartige Stellung, welche sie zu
ihrem Gegenstande einnimmt. Jede Wissenschaft nämlich muss inbezug
auf das Gebiet, das sie untersucht, voraussetzungslos in dem Sinne sein,
dass sie über ihren Gegenstand keine Urteile mitbringt, „vorurteilslos"
ist. Aber keine Fachwissenschaft ist schlechthin vorurteilslos. Die
Mechanik, deren besonderen Gegrenstand die Bewegungen der Dinge aus-
machen, untersucht nicht, was Bewegung schlechtweg und Ding schlecht-
weg ist, entnimmt vielmehr diese Bestimmungen den ihr übergeordneten
286 Rezensionen (Rehmke).
Wissenschaften. So nimmt jede Fachwissenschaft in ihren Ansatz Urteile
auf, die sie nicht selbst gefunden, sondern andern Wissenschaften entlelmt
hat und nur inbezug auf ihren Gegenstand selbst ist sie ohne Vorurteil.
Dagegen soll die Grundwissenschaft schlechthin vorurteilslos sein.
Vorurteils-, nicht voraussetzungslos ! Denn sie setzt etwas voraus : näm-
lich das Gegebene selbst, obgleich sie keine Bestimmung des Ge-
gebenen voraussetzt.
Ist aber die Voraussetzung „Es giebt Gegebenes" nicht schon selbst
ein Urteil? Man sieht leicht, wieviel bei Entscheidung dieser Frage da-
rauf ankommt, was man unter Urteil versteht. Heisst „urteilen", wie R.
will, „Gegebenes bestimmen" (S. 46), ist also jedes Urteil eine Prädi-
kation, dann ist freilich mit den Worten „Es giebt Bewusstes" kein Urteil,
nämlich keine Bestimmung des Bewussten oder Gegebenen ausgedrückt.
Was ein Urteil ist und ob die Anerkennungen nicht schon Urteilsakte
sind (Brentano), dies zu untersuchen, wäre Sache der Psychologie und
Logik ; und so zeigt sich gleich im Ansatz der „Grundwissenschaft"
eine gewisse Abhängigkeit von jenen Disziplinen. Auch das wird man
dem Autor nicht ohne weiteres zugeben, dass das Widerspiel des Urteils,
die Frage, immer nur auf Bestimmungen gehe. Frage ich: „Giebt es
Marsbewohner?" oder: „Giebt es eine Ähnlichkeit zwischen Affen und
Menschen?", so zielt diese Frage nicht auf eine Bestimmung, sondern auf
ein Sein. (Nicht auf ein Wirklich-sein, wie R. es darstellt, s. u.) Und
die Beantwortung dieser Fragen wäre kein Urteil im Sinne unseres Autors.
Wie wir noch sehen werden, findet sich überhaupt für den Begriff „Sein"
kein Platz im Systeme Rehmkes.
Das Gegebensein des Gegebenen ist dies Jöq ^ol nov orw der Grund-
wissenschaft. Wo aber soll diese ihre Arbeit beginnen? Am zweck-
mässigsten, meint R., beim Anschaulichen. Was „anschaulich" heisst, wird
nicht näher untersucht, wohl weil eine solche Untersuchung in die Psy-
chologie hineinführen müsste; vielmehr wird das Anschauliche sofort dem
Ding gleichgesetzt. Was aber ist Ding? Es ist in jedem Augenblick
eine Einheit, d. h. es bietet sich dem zergliedernden Denken als eine
Mehrzahl von bestimmten Gegebenen, u. zw. als Einheit von Grösse,
Gestalt und Ort. Welche Methode ermöglicht die Auffindung dieser
grundlegenden Bestimmungen ? Stillschweigend scheint R. das unabhängig
Veränderliche als das grundlegende anzusehen. Denn auf einen Einwand,
der bestreiten möchte, dass der Ort eine dem Dinge zugehörige Be-
stimmtheit sei, erwidert er, Dinge von gleicher Gestalt und Grösse könnten
noch immer inbezug auf ihren Ort sich unterscheiden. Diese Betrachtungs-
weise hat sicher ihre Berechtigung. Umso auffälliger ist es, dass R. sie nicht
auch auf Grösse und Gestalt angewendet hat. Giebt es denn Dinge, die
— zugleich oder nacheinander — denselben Ort einnehmen, aber ver-
schiedene Gestalt und Grösse haben könnten ? Ich denke : Nein ! Rehmkes
Beispiel für das Gegenteil, das sich an späterer Stelle (136 f.) findet, be-
friedigt mich nicht. Verändert ein zusammengedrückter Gummiball nur
die Gestalt, und nicht auch den Ort? Niemand wird bestreiten können,
dass — R.s zweites Beispiel — eine Seifenblase, die ich weiter aufblase,
einen grösseren, d.h. aber einen anderen Raum einnimmt. Und der Raum
ist die Summe der Orte. Die Zurückführbarkeit von Grösse und Gestalt
auf Ort scheint mir unzweifelhaft; die Gestalt ist dabei als eine besondere
Beziehung zwischen den Örtern der Begrenzung zu definieren. Dagegen
wird wohl jeder in Rehmkes Analyse des Dinges die Qualität vermissen.
Hierauf komme ich zurück.
Wenn R. sagt, dass Grösse, Gestalt und Ort im Dinge eines sind,
so soll dies nicht heissen, dass sie ihre Einheit einem verknüpfenden Orte
verdanken (110), vielmehr, dass sich das Ding mit Erfolg der zergliedern-
den Betrachtung des Denkens unterziehen lässt. Die durch solche Zer-
gliederung lierausgestellten besonderen Bestimmtheiten, besondere Grösse,
besondere Gestalt u. s. w. lassen sich noch zerlegen. Denn es giebt neben
Rezensionen (.Rehmke). 287
dieser besondei'en Gestalt noch andere „Gestalten". Es findet sich dem-
nach eine Gestalt schlechtweg in jeder besonderen Gestalt, die also selbst
eine Einheit von „Gestalt schlechtweg" nnd ihrer Besonderheit bildet.
Dasjenige, was keine Einheit ist, sich also nicht zergliedern lässt, ist
Einfaches. Das schlechthin Einfache ist als solches aus sich selber un-
bestimmbar, muss vielmehr durch seine Beziehungen zu anderen bestimmt
werden.
Die Analyse des Dinges in Grösse, Gestalt nnd Ort nimmt nur auf
den Ding au genblick Rücksicht. Ein bestimmter Z eitp unkt kommt
dem Dingaugenblick nicht zu ; das Zugleichgegebensein mehrerer Dinge
bedeutet nicht eine besondere Bestimmtheit (106, 395). Denn dadurch,
dass von Dingaugenblicken das Zugleichseiu ausgesagt wird, ist keiner von
ihnen zeitlich bestimmt. Dies folgt, meint R., schon darai;s, dass die Be-
hauptung, alles sei zugleich, geradezu jeder Zeitbestimmung den Boden
entziehen würde. Zeitliche Bestimmungen kommen also nicht dem Ding-
augenblick, sondern dem Ding zu, dass als eine Einheit von Ding-
augenblicken zu begreifen ist. Erst indem man das Ding in seinem Nach-
einander betrachtet, hat man ein Einzelwesen vor, sich, während der Ding-
augenblick ein Allgemeines ist (142). Abstraktionen aber kommt keine
Zeitbestimmtheit zu. Diese Unterscheidung löst alle Rätsel, welche man
in die Veränderung hineingeheimnisst hat, Veränderung ist ein Wechsel
von Bestimmtheitsbesonderheiten im Ding. Der Dingaugenblick aber ist
als Allgemeines auch nicht veränderlich. Wenn man Veränderung deshalb
für widersprechend erklärt hat, weil ein und dasselbe Ding nicht auch ein
anderes Ding sein könne, so hat man Ding und Dingaugenblick verwechselt.
Denn : „das Ding verändert sich" heisst : „es ist eine Einheit verschiedener
Dingaugenblicke"; die Veränderung ist demnach in dem Dinge. Dieses
aber darf nicht mit irgend einem seiner Dingaugenblicke gleichgesetzt
werden.
Alle Veränderungen sind solche der Bestimmtheitsbesonderheit
u. zw. ist jede Veränderung zugleich V^erlust und Gewinn einer Besonder-
heit. Man kann demgegenüber nicht darauf verweisen, ein bewegtes
Ding, das zur Ruhe kommt, verliere eine Besonderheit, ohne eine neue zu
gewinnen. Die Ruhe ist nicht weniger eine Bestimmung, als die Be-
wegung; beide jedoch kommen nicht dem Dingaugenblick, sondern der
Dingeinheit zu.
Diese Dingeinheit ist w^iederum nicht synthetisch gewonnen, sondern
dem Augenblicke gegenüber früher gegeben (190;. Dazu wäre freilich zu
bemerken, dass jenes „Zeitding" durchaus nicht so selbstverständlich ge-
geben ist, wie R. es darstellt. Dass sich ein Dingaugenblick vom nächsten
in seinen sämtlichen Besonderheiten unterscheiden kann — R. führt
S. 138 als Beispiel einen Schneeklumpen an, der auf schneebedecktem Ab-
hang hinabrollt imd dabei Grösse, Gestalt und Ort ändert — so ist nicht
recht einzusehen, woran sich die „Grundwissenschaft" halten will, wenn
sie ein Nacheinander von Dingaugenblicken als Einheit, als Ding an-
sprechen soll. J. Colin hat (Voraussetzungen und Ziele S. 43) die Frage
der Dingeinheit untersucht, hat aber dabei die zeitliche Ausdehnung nicht
berücksichtigt. Auch R. macht nicht klar, was im Nacheinander als
ein Ding betrachtet werden soll, wenn man weder Zusammenhang noch
Stetigkeit des Wechsels noch etwas in der Veränderung Beharrendes an-
nimmt.
Nach der Untersuchung des Dinges wendet sich R. der des Bewusst-
seins zu. Seine diesbezüglichen Ansichten hat er schon vielfach in früheren
Veröffentlichungen dargelegt. Er fasst die Seele als ein veränderliches
Einzelwesen auf. Sie ist kein blosses Vielerlei seelischer Tätigkeiten, kein
„Bündel" — ich nehme wahr, ich fühle, ich denke heisst mehr als
Wahrnehmen, Fühlen, Denken — ; die seelischen Tätigkeiten zeigen sich
alle auf gleiche Weise verknüpft mit einer ihre Einheit begründenden
Bestimmtheit. Die Sprache, welche jene Einheit als „Ich" bezeichnet,
288 Rezensionen (Rehmke).
hat für die einlieitsstiftende Bestimmtheit selbst keinen Namen ansge-
bildet. R. führt hierfür den Terminus „S u b j e k t" ein. Während die
übrigen Bestimmtheiten des Ich Einheiten einer Besonderheit und
eines Allgemeinen sind — dieses bestimmte Denken enthält ein Denken
schlechtweg, wie dieser Ort einen Ort schlechthin enthält — , ist die Sub-
jektsbestimmtheit durchaus einfach. Dies zeigt sich insbesondere darin,
dass ein Wechsel der Subjektsbestimmtheit sich im Gegebenen nicht findet.
Sie ist als einfache dem Ich unverlierbar, und hierin ist auch der Grund
dafür zu suchen, dass sie nicht für sich bemerkt und benannt worden ist
(244). Doch nicht nur im individuellen Seelenleben ändert sich das „Sub-
jekt" nicht, es ist überhaupt für alle Seelen dasselbe. Würde es von
Seele zu Seele ein anderes sein, so wäre es nicht einfach, vielmehr aus
dem Allgemeinen „Subjekt überhaupt" und einer von Individuum zu Indi-
viduum wechselnden Bestimmtheit zusammengesetzt (312). Referenten
will es scheinen, dass sich R. durch diese Ausführungen der Möglichkeit
beraubt, das Bewusstsein als Einzelwesen, als „Einziges" zu fassen. Denn
wenn „Ich" nichts anderes bedeutet als eine durch das — allen Individuen
gemeinsame — „Subjekt" gestiftete Einheit von Seelenbestimmtheiten, so
sind zwei Seelen denkbar, die einander vollständig gleichen. Wo
bleibt dann das principium identitatis indiscernibilium '? R. sah wohl diese
Schwierigkeit und will sie S. 320 f. damit lösen, dass er — wie Uphues
— die Seele durch den Leib individualisiert sein lässt, mit dem sie sich
in Wirkenseinheit findet. AUein wenn die Seele für sich genommen
etwas Allgemeines ist, dann ist sie unveränderlich und es ist nicht zu
verstehen, wie sie vom Leibe Wirkungen erfahren kann (vgl. S. 392).
Dies führt uns zu Rehmkes Untersuchungen über die Kausalität.
Das neue an diesen Untersuchungen ist die Auffassung der Wirkenseinheit
als einer d r e i gliederigen. Es wird nämlich auf Seite der Ursache neben
der wirkenden Bedingung eine „grundlegende" unterschieden, worunter
jenes Gegebene zu verstehen ist, auf das gewirkt wird und aus dem
durch Veränderung die Wirkung hervorgeht. Erfährt die wirkende Be-
dingung zugleich von der grundlegenden her eine Einwirkung, so sind
beide bezw. grundlegend und wirkend: Wechselwirkung. Man sieht, dass
R. nur die Veränderung als Wirkung in Betracht zieht (wie auch
Kant in den Analogien der Erfahrung). Dagegen Schöpfung und Ver-
nichtung „ist keine Wirkung in unserem Sinne" (289). Referent will
nicht um Worte streiten. Immerhin soll gesagt sein, dass mit der defini-
torischen Feststellung „Wirkung = notwendiges Anderssein (Veränder-
ung)" noch nichts darüber entschieden ist, ob nicht ein Gegebenes mit
Notwendigkeit zu sein beginnen könnte oder ob in diesem Begriff der
Schöpfung ein Widerspruch liegt. Diese Untersuchung würde gar wohl
in den Rahmen der „Grundwissenschaft" passen.
Auf die Wirkenseinheit stützt nun R. die bedeutsame Unterscheidung
des Wirklichen und Nichtwirklichen innerhalb des Gegebenen. Was zu
einer Wirkenseinheit gehört, ist wirklich (300). Nun hätte man er-
wartet, dass R., bevor er diese Einteilung des Gegebenen einführt, die
Gegenstände unseres Bewusstseins (das „Gegebene") erst einmal daraufhin
untersuchen wird, ob sie und wenn sie sind und nicht sind. Merk-
würdigerweise ignoriert R. das Sein vollständig. Soll das Seiende mit
dem Wirklichen, das Nichtseiende mit dem Nichtwirklichen zusammen-
fallen ? Marty hat (Untersuch, z. Grundleg. der allg. Gramm, u. Sprach-
philosophie S. 316—360) ausführlich einen Versuch besprochen, diese Iden-
tifizierung durchzuführen, und das s. g. Nichtreale als nichtseiend, fiktiv
hinzustellen. Allein es stellte sich die Aussichtslosigkeit eines solchen
Versuches heraus. R. setzt sich mit Marty nicht auseinander. Sicher ist
— wie immer die Entscheidung dieser Frage sich gestalten mag — , dass
das Wirkliche vom Seienden wenigstens begrifflich geschieden werden
muss. Es heisst etwas anderes zu sein, d. h. mit Recht bejaht werden
zu können, etwas anderes zu wirken. Die Verkennung dieser Tatsache
Rezensionen (Rehmke). 289
ist dadurch begründet, dass, wie oben schon bemerkt, das einfache, be-
jahende Urteil nicht vom bestimmenden (Doppel-)Urteil unterschieden
wird. Sie rächt sich in vielfacher Weise. Zunächst darin, dass R. die
Frage nach der Existenz von Wirklichem für massig erklärt (691). Denn
entweder bedeutet jene Frage (wenn „existieren" soviel bedeutet als „ge-
geben sein"): Ist uns Wirkliches bewusst? Dann erledigt sie sich mit
dem Hinweis darauf, dass wir von Wirklichem sprechen. Oder soll
..existieren" soviel heissen wie ,. wirklich sein?" Dann hätte jene Frage
den Sinn : „Ist das Wirkliche wirklich ? — ein leerer Fragesatz. Das aber
neben diesen beiden Fragen die sehr sinnvolle und gar nicht apriori zu
beantwortende Frage auftaucht, ob Wirkliches existiert (d. h. ob wir ein
solches mit Recht bejahen [und nicht bloss vorstellen] können), das
übersielit R. vollständig.
Ebensowenig weiss R. mit der Descartesschen Grundlegung der
Erfahrung „cogito, ergo sum" etwas anzufangen (525). Denn „sum" über-
setzt er mit „ich bin wirklich" und nicht hierin — da er „wirklich" mit
Recht als besondere Bestimmung ansieht — ein prädikatives Urteil, das
nicht fraglos hingenommen werden dürfe, das ja jede Bestimmung eines
Gegebenen unter Frage gestellt werden muss. Aber „ich bin" heisst zwar
mehr als „ich bin Gegebenes", aber doch nicht „ich bin Wirkliches", und
ist, wie schon Kant gezeigt hat, kein prädikatives Urteil. Gegeben sein.
Sein, Wirkliches sein — sind drei verschiedene Begriffe.
Auf die Untersuchung der Wirkenseinheiten folgt die der einfachen
und zusammengesetzten Einzelwesen. Die Dinge haben die merkwürdige
Eigenschaft, dass durch Wechselwirkung zweier unter ihnen ein neues
dinghaftes Einzelwesen, d. h. wiederum etwas auftritt, dass besondere
Grösse, Gestalt und Art hat. Daraus soll nun die besondere Aufgabe der
Naturwissenschaft resultieren, die zusammengesetzten Dinge zu zergliedern
und zu entscheiden, ob es letzte einfache Dinge giebt. Diese Aufgabe
fällt nicht notwendig mit jener zusammen, die Grenze der -wirklichen
Teilbarkeit der Dinge zu bestimmen. Denn es könnte sein, dass die
kleinsten wirklichen Dinge, die Atome, sich wohl nicht weiter teilen, aber
zergliedern, d. h. als Wirkenseinheiten einfacherer Dinge (z. B. Elektronen)
nachweisen lassen (347).
Also nach R. lässt sich ein Ding aus mehreren nur dann zusammen-
setzen, wenn diese mehrere Dinge in eine Wechselwirkenseinheit eingehen.
Danach also wäre z. B. eine aus zwei aufeinandergelegten Halbkugeln
bestehende Messingkugel kein Ding, denn ilire zwei Hälften stehen nicht
in Wechselwirkenseinheit. Und trotzdem ^\ärd man doch nicht behaupten
wollen, jene Kugel habe nicht einen eigenen Ort, eigene Gestalt und
Grösse. Hat sie aber diese Bestimmtheiten, so ist sie nach Rehmkes erster
Dingdefinition ein Ding. Dass R. diesen Widerspruch nicht aufklärt, ist
um so bedauerlicher, als er aus der obigen Behauptung über die Zusammen-
setzung der Dinge wichtige Folgerungen zieht. Er untersucht nämlicn
(351 ff.) die Frage, ob die Gesamtheit der Dinge, das physische Welt-
ganze, Ort, Grösse und Gestalt habe. Und den Schwierigkeiten dieser
Frage glaubt er nun dadurch zu entgehen, dass er bestreitet, dass jene
Gesamtheit ein Ding ist. Die „Dingwelt" ist kein „Weltding". Denn
wäre sie es, so müssten nach den obigen Ausführungen ihre sämtlichen
Teile in Wechselwirkung stehen. Dies aber stellt R. in Abrede, u. zw.
mit dem triftigen Grunde, dass es in der Wechselwirkungseinheit nur un-
mittelbare Wirkung giebt, während die Welt auch mittelbares Wirken
zeigt. Sie ist eine Verkettung von Wirkenseinheiten, nicht selbst eine
Wirkenseinheit (360). So richtig mir diese Bemerkung zu sein scheint,
so wenig kann ich Rehmkes Ansicht beitreten, dass man auf diesem
Wege den das Weltganze betreffenden Antinomien entgehen kann. Und
noch weniger kann ich einem andern Argumente beistimmen, das R. dafür
vorbringt, dass dem Weltganzen keine Dingbestimmtheiten zukommen :
denn es müssten ihm, "s^ie jedem anderen Dinge, besondere Bestimmt-
290 Rezensionen (Rehmke).
heiten zukommen. Jedem Diug muss also, meint R., ein anderes als
anderes gegenübergestellt werden können; eben deshalb kann die Ge-
samtheit aller Dinge kein Ding sein (354), „Besonderer Ort ist nur ge-
geben, wenn er von einem anderen Orte in seiner Besonderheit unter-
schieden ist, und dieser setzt natürlich wiederum ein anderes Ding voraus,
dessen Bestimmtheit er sein muss." Mit dieser Beweisführung stellt aber
R. den Ort als eine relative Bestimmung hin; dann aber war es von
vornherein verfehlt, ihn zu den absoluten Dingbestimmtheiten zu zählen.
Die Auffassung der Welt als einer Verkettung der Wirkenseinlieiten
ist nur dadurch möglich, dass die Welt ein Nacheinander ist. In diesem
Nacheinander unterscheidet die „Grundwissenschaft" das Frühere und das
Spätere. Dies ist der einzige im Nacheinander des Gegebenen begründete
Gegensatz. Es ist verfehlt, diesen Gegensatz durch die Dreiteilung in
Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu ersetzen (396). Denn, abge-
sehen davon, dass es nur aus praktischen Rücksichten geboten sein kann,
in dieser Weise auf die Zeit des Sprechenden Rücksicht zu nehmen —
der ja doch der Grundwissenschaft nur Gegebenes unter Gegebenem be-
deutet — ist das Gegenwärtige als solches zeitlos. Auf der Messer-
schneide des Zeitlosen lässt sich nicht einmal vom Unterschiede des Wirk-
lichen und Nichtwirklichen Rechenschaft geben, denn alles Wirken ge-
schieht in der Zeit. Das gemeinhin als „gegenwärtig" bezeichnete ist
blosse Abstraktion. (Diese bedeutsame Feststellung ist, nebenbei gesagt,
von grosser Wichtigkeit für die Grundlegung der Erfahrung. Einiges
hierzu siehe in meinen „Untersuchungen zum Problem der Evidenz"
(1908) S. 87.)
Das Nacheinander der Welt ist nun auch Voraussetzung für den
Unterschied des Vergänglichen, d. h. desjenigen, das sich nicht in jeder
besonderen Zeit findet, vom Unvergänglichen. Das Vergehen soll mit der
Veränderung nicht verwechselt werden. Das Einzelwesen tauscht, wenn
es sich ändert,,, eine Bestimmtheitsbesonderlieit gegen eine andere ein.
Wäre nun der Übergang von Wirklichkeit zu Un Wirklichkeit — R. hätte
richtiger sagen sollen : vom Sein zum Nichtsein — eine Veränderung, .so
wären Wirklichsein und Nichtwirklichsein zwei Bestimmtheiten, die in
einem Allgemeinen übereinstimmen müssten. Was aber soll jenes Allge-
meine sein?
Entstehen und vergehen kann nun nach R. bloss die Wirkenseinheit.
Das Bewusstsein und das einfache Ding sind unvergänglich. Wobei ich
freilich bemerken muss, dass hier „Unvergänglichkeit" nicht im gewöhn-
lichen Sinne der Erhaltung eines Individuums verstanden werden darf.
Denn nach des Autors oben auseinandergesetzter Ansicht ist die in der
Seelenveränderung allein sich erhaltende Bestimmtheit „Subjekt" nichts
für die einzelne Seele charakteristisches. Und die „Unvergänglichkeit"
des Dinges verhindert nicht, dass es seine sämtlichen Bestimmts-
besonderheiten ändert, sodass das Ding in einem späteren Augenblick
seines Daseins nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür bietet, es gegen-
über einem früheren als „dasselbe" wiederzuerkennen.
Der „grundlegende Teil" schliesst mit einer Nutzanwendung auf
den Menschen. Er ist wohl kein Einzelwesen, sondern eine Wirkensein-
heit aus Leib und Seele. Aber doch jedenfalls eine Einheit und ein
Einziges.
An diese systematischen Ausführungen schliessen sich nun metho-
dische. R. verteidigt seine „Grundwissenschaft" gegen die Versuche, die
Erkenntnistheorie an ihre Stelle zu setzen. Er unterscheidet psycholo-
gische, logische und psychologisch-logische Erkenntnistheorien, welche
Unterscheidung mit der von Empirismus, Rationalismus und Kritizismus
gleichgesetzt wird. Gegenüber so mancher Erkenntnistheorie ist nun R.
sicherlich dadurch im Vorteil, dass er die Bildertheorie des Be-
wusstsein s bekämpft. Die Einschiebung eines Mittlers zwischen
Bewusstsein und Objekt ist in den letzten Jahren von mehreren Seiten
Rezensionen (Relimke). 291
mit Recht bekämpft worden. In der Tat ist sie die Quelle zahlreicher
Scheinprobleme. (Wie kann das Bewusstsein über sich hinausreicheu ?
u. s. w. u. s. w.) Wäre es richtig, dass das Nicht-Ich, die Aussenwelt, in
keiner Weise Besitz unseres Bewusstseins werden könnte, und dass wir
ewig im Gespinnst unserer Subjektivität verharren, so wäre die Rede vom
„Andern", das auf unser Bewusstsein wirkt, nichts als ein W^ortemachen.
Etwas anderes freilich ist die Frage, ob die Aussenwelt so ist, wie sie
sich unserer Wahrnehmung bietet. Ist die äussere Wahrnehmung
trügerisch ? R. bestreitet das, und ich halte seine Beweisfülirung für sehr
beachtenswert, auch wenn ich ihr Ergebnis nicht für richtig halte. Zu-
nächst zeigt R., dass die üblichen Beweise für jene Trüglichkeit auf einer
Verwechslung des Erkennenden mit seinem Leibe beruhen (452). Wenn
dem einen sü.ss ist, was dem andern bitter, dem einen kalt, was dem
andern warm, so beruht dies auf einer Verschiedenheit ihrer leiblichen
Beschaffenheit. AVer darum behauptet, es müsse von den beiden Bestim-
mungen „bitter" und ..süss" eine imd n u r eine zutreffen, die andere
nicht, übersieht, dass das äussere Ding nicht unmittelbar, sondern durch
Vermittlung unseres Körpers auf die Seele wirkt; es kann also trotz
Gleichheit des auf den Körper einwirkenden äus'seren Dinges das letzte,
immittelbar auf die Seele wirkende Körperliche verschieden sein,
sodass beide Bestimmungen zu Recht bestehen könnten. Allerdings ist
dies eine blosse Möglichkeit.
R, zieht nun aus der richtigen Erkenntnis, dass die Sinnes-Quali-
täten uns nur durch Vermittlung unseres Leibes zum Bewusstsein kommen,
den falschen Schluss, dass die Dinge überhaupt eigenschaftslos sind und
nur die „Bestimmungen" (Grösse, Gestalt, Ort) aufzuweisen haben; Eigen-
schaften sollen ihnen nur im Wirkenszusammenhange mit anderen Dingen,
speziell mit unserem Leibe zukommen ; in diesem Zusammenhange sollen
sie ihnen aber wirklich zukommen, und man habe, so verstanden, kein
Recht, den Dingen Farben, Töne u. s, w. abzusprechen. Dank der Ver-
mittelung des Leibes besitzt also das Bewusstsein das Ding selbst, wie es
ist ((3ö8). Mir scheint diese Beweisführung niclit zutreffend. Abgesehen
davon, dass es nicht zu verstehen ist, wie durch Einwirkung von bloss
Räumlichem (Ding) auf Räumliches (Leib) jene metabasis eis allo genos
stattfinden soll, die aus geometrischen Bestimmtheiten Eigenschaften er-
zeugen soll, erbringt R. gar keinen Beweis dafür, dass jene Eigenschaften
gerade dem äusseren Dinge zugesprochen werden müssen. Warum nicht
ebensogut dem Leibe oder einem Teil von ihm? Wenn ein Ding aj auf
den Leib wirkt und die dadurch in diesem vor sich gehenden Änderungen
bj — >h.,, Ci — >-C2, dl — >-d.2 . . . schliesslich im Bewusstsein eine Veränderung
Vi — >-v.2 hervorrufen, infolge deren das Bewusstsein z. B. blau sieht, welches
Recht hat man, dieses Blau gerade dem ai und nicht dem bj, Ci . . .
zuzusprechen? Dies ist es, was uns hindert, die äussere Wahrnehmung
für richtig zu halten: wir haben kein Recht, einen solchen Parallelismus
der L^rsache und ihrer — noch dazu mittelbaren — Wirkung anzunehmen :
behauptet ihn jemand, so fällt ihm die Beweislast zu.
Nun aber wendet R. ein : wenn man der Aussenwelt jene Qualitäten
nehme, die wir kennen, so bleibe nur das leere Wort „Aussenwelt als
einwirkendes Anderes", man ende beim Solipsismus (466). Denn „Ein-
wirkendes Anderes" sei „ohne die Unterlage eines bestimmten Gegebenen"
sinnlos. Hier hat nun R. im Handumdrehen das Gegebene mit dem
Wahrgenommenen identifiziert und will jetzt dasjenige, was bloss ge-
dacht wird, u. zw. als Ursache unserer Empfindungen gedacht wird,
nicht mehr als Gegenstand gelten lassen. Das Wort für die begrifflich
gedachte L'rsache unserer Empfindungen soU bedeutungslos und leer sein,
obzwar doch die Worte nur dem begrifflichen Denken ihre Bedeutung
verdanken und ohne ein solches eine Sprache nicht existieren könnte.
R. übersieht völlig, dass die Dinge, auch wenn die Wahrnehmung sie
nicht unmittelbar „hat", dennoch in der wissenschaftlichen Bearbeitung
KttDtstudien XV. 19
^92 Rezensionen (Uphues).
unserer Wahrnehmung mehr oder weniger unser „Besitz" werden können.
Freilich hat die Erkenntnistheorie schwer gesündigt, als sie zu jedem
Ding ein Bild im Bewusstsein fingierte, und nun glauben machen wollte,
die Seele reiche, von diesen Bildern umgeben, nicht über sie zu den
Dingen hinaus ; allein die gegenteilige Ansicht würde sich selbst den Weg
versperren, würde sie nur das wahrnehmende Anschauen als Weg zum
„Besitz" der Gegenstände gelten lassen. Auch begrifflich denkend be-
sitzen wir — die Richtigkeit unserer Denkakte vorausgesetzt — die
Gegenstände selbst. Ja, einzig durch denkende Bearbeitung der Erfahrung
kommen wir über die Grenzen des Solipsismus hinaus, natülich nur, wenn
wir uns mit der grösseren oder geringeren Wahrscheinlichkeit begnügen,
welche die Naturwissenschaft bieten kann.
Soviel aber wird man Rehmkes Kritik zugeben müssen: alle „Er-
kenntnisromane", die ihren Stoff aus der Legende schöpfen, die Welt sei,
weil vorgestellt, auch schon abhängig vom Bewusstsein und die Gegen-
stände für sich könnten nicht mit den Gegenständen unseres Bewusstseins
identisch sein — auf falscher Fährte sind, „die Welt ist meine Vorstellung",
dies ist ein Beziehungs-, nicht ein einordnendes Urteil. „Vorgestellt" ist
hier determinierendes, nicht modifizierendes Prädikat, hat also einen ganz
anderen Sinn als in der Verbindung „bloss vorgestellt". Damit ist eine
ganze Anzahl von Scheinproblemen aus der Welt geschafft. Die Tatsache
des Vorgestelltseins allein begründet noch nicht die Unwirklichkeit.
Vielmehr ist die Scheidung der Bewusstseinsobjekte in seiende und nicht-
seiende Aufgabe der Fachwissenschaften,
Das Buch zeigt die Vorzüge der früheren Veröffentlichungen Rehmkes :
Formell ein ausgezeichnetes, kerniges Deutsch, inhaltlich scharfe und klare
Unterscheidungen und eine Präzision der Begriffe, die in unserer philo-
sophischen Literatur nur allzuselten ist.
Prag. Hugo Bergmann.
Uphues, Goswin. Erkenntniskritische Logik. Leitfaden für
Vorlesungen. Halle a. S., Niemeyer, 1909. (VHI u. 151 S.)
Nach der „Erkenntniskritischen Psychologie" und der „Geschichte
der Philosophie als Erkenntniskritik" hat der bekannte Verfasser nunmehr
auch eine „Logik" als Leitfaden für Vorlesungen erscheinen lassen.
„Gegenstand der Logik ist nur das Denken, das als Mittel zum Zweck
des Erkennens dient", es müssen also die logischen Untersuchungen in
erster Linie die Eigentümlichkeiten der Erkenntnisgegenstände berück-
sichtigen. Aristoteles hat vom Wollen gesagt, es habe mit dem zu tun,
was so ist und auch anders sein kann, vom Erkennen dagegen, es handle
von dem, was so ist, wie es ist. In diesem Sinne meint U. den Gegen-
stand des Erkennens als das Nichtandersseinkönnende definieren zu sollen.
Diese Definition legt freilich die Deutung nahe, all unser Erkennen sei
apodiktischen Charakters. Doch ist dies offenbar nicht die Meinung des
Autors. Denn S. 24 ff. betont er, bei allen Urteilen der Kenntnisnahme,
des blossen Kennenlernens und weiters bei allen im Gebiete des Em-
pfindens spielenden Kenntnisvorgängen, wie sie auch das Tier hat, sei
von einem Bewusstsein der Notwendigkeit keine Rede. Mit dem „Nicht-
andersseinkönnen", das den Erkenntnisgegenstand auszeichnet, dürfte also
nichts anderes gemeint sein als die Allgemeingültigkeit für alle Denkenden.
Auf sie als wichtigste Charakteristik des Erkenntnisgegenstandes legt U.
auch das grösste Gewicht. Wenn er bei dieser Stellungnahme doch öfters
erklärt, seine Philosophie sei an Kant orientiert, so wird hieraus klar,
dass er jede subjektivistische Interpretation Kants ablehnt. Kant ist ihm
neben Piato der grösste Philosoph (S. 14) und das Hauptverdienst beider
Forscher sieht U. in ihrer Methode: der analytischen, bezw. transscenden-
talen. Wenn es sich nämlich darum handelt zu entscheiden, was wahr
ist, dann sei es unzureichend, die Evidenz als Kriterium heranzuziehen.
Denn eine individuelle, subjektive Tatsache könne nicht Rechtfertigungs-
grund des Erkennens sein (S. 44 ff.). Auch scheint nach U. die Tatsache, dass
Rezensionen (Uphues). 293
es eine vermeintliche Evidenz neben der wirklichen giebt, eine In-
stanz ^egen die Proklamierung der letzteren als letzten Kriteriums der
Erkenntnis abzugeben. i) Hier soll nun die transscendentale Methode an
die Stelle der Evidenz treten: Es sind die Urteile aufzusuchen, ohne
welche eine Erkenntnis unmöglich ist, und die Wahrheit dieser Urteile
ohne Beweis anzunehmen (S. 14 ff., 47 u. s. w.). Leider übergeht U. den
gewichtigsten Einwand, den man gegen die analytische Methode als die
alleinherrschende vorbringen muss; dass sie für die Richtigkeit aposte-
riorischer Urteile nicht aufzukommen vermag.
Alle Urteile nun, welche Beziehung auf Gegenstände haben, nennt
U. sj-nt befische. Er stützt sich hierbei auf eine Äusserung Kants in
den von B. Erdmann herausgegebenen Reflexionen. Die Konsequenz
dieser Auffa.ssung ist aber, dass U. alle Urteile für synthetisch erklären
muss, auch die analytischen. Dies geschieht auch ausdrücklich S. 39, wo
denn auch z. B. das Gesetz des Widerspruchs als synthetisches Urteil
angesprochen wird. Mag nun schon diese Änderung der üblichen Termi-
nologie der gegenseitigen Verständigung nicht gerade zuträglich sein, so
ist es auch sachlich zu bedauern, dass der Verfasser die Einteilung der
Urteile, wie sie Kant in der ..Kritik" durch die Gegenüberstellung von
synthetisch-analytisch zum Ausdruck brachte, nicht — auch nicht in
anderer Terminologie — in seine Logik übernommen hat. Denn dadurch
entsteht die Gefahr, dass der Terminus „synthetisch" wieder in der üb-
lichen Bedeutung gebraucht wird. In der tat führt z.B. Uphues, nachdem
er S. 39 den ,,synthetischen" Charakter aller Urteile betont hat, S. 76 ff.
noch den ausführlichen Beweis, dass die mathematischen Urteile
synthetisch sind — nun aber im Sinne der „Kritik der reinen Vernunft".
Im übrigen nimmt U. die üblichen Urteilsklassifikationen an. Nur
der qualitativen Einteilung gegenüber wird bemerkt, dass das verneinende
Urteil dem bejahenden nicht neben-, sondern untergeordnet ist, weil es
immer den Versuch oder Vollzug des entsprechenden bejahenden Urteils
voraussetzt: „A ist nicht" heisst: „Es ist falsch, dass A ist". Demnach
würde, wenn ich recht verstehe, die Fällung eines negativen Urteils vor-
aussetzen, dass der Urteilende bereits den Begriff des Irrtums, der Falsch-
heit eines Urteils anderswoher gewonnen hat. Aber woher? Muss man
nicht, um zur Erkenntnis zu kommen, das eigene Urteil sei falsch gewesen,
erkannt haben, dass die Sache sich anders verhält, als erwartet wurde?
Und steckt in diesem ..Anders" nicht schon das „Nein" ? Auf alle diese
Einwände kann der Autor bei der Knappheit seines Buches leider nicht
eingehen.
Eine Kritik der herkömmlichen Schlusslehre schliesst sich an die
das Urteil betreffenden Partien. Riehls „Beiträge zur Logik" werden
mehrfach berücksichtigt, Brentano-Hillebrands Schlusstheorie referiert.
Die aristotelische Auffassung, nach welcher der nervus probandi in der
Identität des Mittelbegriffes liegt, wird ersetzt durch eine Regel, wonach
die Kraft des Schlusses „in der Identität des Objektes, das durch den
Subji-ktsbegriff bezeichnet ward", gelegen ist. Die Einteilung der Schlüsse
unterscheidet 1. solche aus begrifflich allgemeinen Prämissen, 2. aus be-
grifflich allgemeinen Obersätzen und Tatsachenurteilen, 3. aus blossen
Tatsachenurteilen.
Die spezielle Logik untersucht die einzelnen Wissensgebiete.
Wissenschaften werden als berechtigt nachgewiesen dadui'ch, „dass wir in
ihnen synthetische Urteile a priori ausfindig machen, die sie beherrschen
und gestalten". Es gilt also — da nach U. alle Urteile synthetisch sind
1) Uphues meint irrtümlich, dass Marty die Tatsache der Evidenz-
täuschungen bestreitet. Ebenso wird — um dies gleich hier anzufügen —
S. 60, 63 und an a. O. Marty irrtümlich die Ansicht zugeschrieben, dass
die s. g. „allgemein bejihenden", in Wahrheit negativen Urteile wie
„Alle Menschen sind sterblich" bloss Geltung haben, wenn entsprechende
Einzelgegenstände (hier also: Menschen) existieren.
19*
294 Rezensionen (del Vecchio).
— die apriorischen Bestandteile jeder Wissenschaft herauszuschälen. U.
beginnt mit der Mathematik; die Erörterung der Geometrie führt zur
Raum- und Zeitlehre. U. schliesst sich hier an Kant an, mit dem Zusatz,
dass der anschauliche Raum und die anschauliche Zeit, die Kant zunächst
im Auge hatte, nur Besonderungen eines allgemeinen Raum- und
Zeitgesetzes sind. Dieses Gesetz ist in seiner Allgemeinheit nicht formu-
lierbar (und es bleibt dem Leser auch etwas dunkel, was es sein soll).
U. bestimmt es näher als dasjenige, was das Neben- bezw. Nacheinander
ebenso wie alle Gültigkeit der mathematischen Sätze erst ermöglicht.
Das Raumgesetz ist das Individuationsprinzip und zugleich die Möglicli-
keitsbedingung und Grund der Materialität (S. 87). Materie und Substanz
werden identifiziert und dem Ding an sich gegenübergestellt.
Nun wendet sich U. der Logik anderer Wissenschaften zu. Es
werden die empirischen Elemente der Naturwissenschaft den apriorischen
gegenüber abgegrenzt, dann die Berechtigung einer beschreibenden Natur-
wissenschaft untersucht. Hier erfährt insbesondere der Begriff des Orga-
nismus und die rätselhafte Wechselwirkung zwischen dessen Teilen eine
Erörterung, worauf dann U. sich der Geschichtswissenschaft zuwendet. Als
ihre beiden Voraussetzungen werden die Existenz des Ich und die Freiheit
des Willens angeführt. Beide vertritt U., den Indeterminismus jedoch, wie
mir scheint, mehr dem wörtlichen Ausdruck als der Sache nach. Denn es
soll die Freiheit des Willens darin bestehen, dass wir uns nach letzten
Motiven entscheiden und die Entscheidung nach dem letzten Motiv —
unmotiviert ist. — Die Lamprechtsche Auffassung der Geschichte als Ge-
setzeswissenschaft wird gegenüber der Rankes verworfen. Nach einem
Exkurs über die Berechtigung der Theologie wendet sich U. in einem
letzten Kapitel gegen den Formalisnuis in der Logik, d. h. nach seiner
Terminologie gegen die Auffassung des Dinges an sich als blossen Grenz-
begriffes. Das Ding an sich ist unserm Wissen erreichbar, so z. B. indem
wir durch das Gesetz der beharrlichen Dieselbheit ein unsern Bewusst-
seinsvorgängen zugrundeliegendes Ich erschliessen. Unser Denken führt
uns über die Erscheinungswelt hinaus; da wir aber nach U. nur denken
können, was selbst gedanklicher Natur ist, so ist ihm die wahre Wirklich-
keit das Denken Gottes.
Zusammenfassend kann ich sagen : es ist wohl nicht zu leugnen,
dass auch diese Veröffentlichung wie die beiden hier früher besprochenen
„Leitfaden für Vorlesungen" infolge ihrer Kürze vieles an Ausführlichkeit
der Begründimg, hie und da auch etwas an Verständlichkeit zu wünschen
übrig lässt. Überaus sympathisch aber wirkt wieder der Umstand, dass der
Forscher überall — auch in kleinen Fragen — an eine grosse Weltanschauung
anknüpft, sodass seine Philosophie nicht Bruchstücke bietet, sondern im
besten Sinne ein Ganzes.
Prag. Dr. Hugo Bergmann.
del Vecchio, Giorgio, Prof. in Messina. II concetto della
natura e il principio del diritto. Turin (Bocca) 1908. (174 S.)
Es giebt einen empirischen und einen transscendentalen Naturbegriff.
Der empirische Naturbegriff ist ein mechanischer. Er orientiert sich am
Kausalgesetz (29 ff.). Von Wertungen und Beurteilungsmassstäben ist bei
solcher Betrachtungsweise keine Rede (25). Spinoza vergass dies, als er
auf seinen mechanischen Naturbegriff eine normative Ethik aufbaute (27,
140). Dem empirisch-kausalen Naturbegriff tritt gegenüber der meta-
physisch-teleologische (37, 39, 56). Kausale und teleologische Naturauf-
fassung unterscheiden sich nur durch den Betrachtungsgesichtspunkt; das
Objekt beider ist dasselbe (45). Beide sind unerlässlich und müssen sich
notwendig ergänzen. Hat jemand ein Gemälde ausreichend erklärt, Avenn
er dessen Farben chemisch analysiert hat? (72).
Diesem Naturbegriff ordnet sich auch der Mensch unter; dem em-
pirisch-kausalen jedoch nur insofern, als er Objekt in der Erscheinung,
homo phaenomenon ist (65, 72). Als denkendes Subjekt, Ich, homo nou-
Rezensionen (del Veccliio). 295
meuon dagegen steht er jenseits der empirischen Natur, jenseits des
Kausalgesetzes, ist er absohit autonom (67, 72), Diese intelligible
Natur des Menschen ist das Reich der Freiheit. Die transscendentale
Freiheit legt den Grundstein für die Ethik (70), d. h. den Inbegriff der
Gesetze des Handelns. Diese Gesetze sind moralische, wenn vorwiegend
subjektiv, rechtliche, wenn vorwiegend objektiv orientiert (79). Das
Prinzip der Moral heisst: handle vorbildlich, d. h. so, dass alle anderen
müssen ebenso handeln können wie Du (81 f.). Das Rechtsprinzip dagegen
stellt mehr auf die äusseren Beziehungen von Mensch zu Mensch ab (84).
Recht ist die objektive Ordnung des Nebeneinanderbestehens der inner-
halb einer Personenmehrheit möglichen Handlungen nach Massgabe eines
ethischen Prinzips, das den Handlungen ihre Grenzen bestimmt (deter-
mina), indem es deren Hinderung (Beeinträchtigung) verbietet (escluden-
doue rimpedimento. Diese Definition entnimmt Vf. seinem Buche über
il concetto del diritto, 1906, S. 150). Dieser Rechtsbegriff ist natürlich
ein transscendentaler (86); denn er fusst ja auf der intelligiblen Natur
des Menschen. II fondamento del diritto puö essere dato soltanto da una
concezione trascendentale della natura umana — da una concezione che
vada oltre la fenomenologia e la determinazione empirica delle azioni, e
ne ritrovi il principio e la norma neU' essere intelligibile del soggetto
(138). Dies ist das wahre Naturrecht: das ideale Recht, das sich
aus der transscendentalen Natur des Menschen ergiebt (teleologischer
Rechtsbegriff). Ob es im positiven Rechte „verwirklicht", d. h. in die
Erscheinung gebracht ist, darauf kommt nichts an (87). Naturrecht (in
diesem Sinne) und positives Recht verhalten sich zu einander wie Ding
an sich und Erscheinung, wie a priori und a posteriori.
Was frühere Jahrhunderte als Naturrecht bezeichneten, war etwas
anderes. Statt des transscendentalen nämlich legte man den empirischen
Naturbegriff zugrunde. Bald wurde demgemäss das commune ius omnium
gentium (155), bald das Recht primitiver Völkerschaften oder entlegenster
Urzeiten (95, 118) als Naturrecht ausgepriesen, bald nahm man auf die
empirische Psychologie des Menschen bezug und gründete das Recht je
nachdem auf die socialitas (Grotius), oder auf den wölfischen Egoismus
(Hobbes) des Menschen (119, 122 ff.). Das ngonov ipev&os dieser grund-
verkehrten Betrachtungsweise bestand darin, dass man glaubte, aus dem
faktisch Gegebenen könne ein Prinzip für normative Gestaltung ent-
nommen werden (130 ff.). Seit Kant den wahren, d.h. transscendentalen
Naturbegriff entdeckt hat, ist diesem falschen Naturrecht älterer Zeiten
der Garaus gemacht (145, 152, 169). Die Angriffe, welche moderne Posi-
tivisten (Vanni u. a.) gegen das Naturrecht richten, treffen nur die seit
Kant überwundenen Formen desselben, nicht das Naturrrecht schlecht-
hin (153).
Den Lesern der Kantstudien braucht nicht gesagt zu werden, dass
Vf. sich in diesem Buche [wie schon in früheren Schriften] als ziemlich
strenger Kantianer — hier und da mit einem Seitenblick auf Fichte —
zu erkennen giebt. Man vgl. hierüber vornehmlich des Vfs. Buch: pre-
sxipposti filosofici della nozione del diritto, 1905 (192 S.) und dazu die
Besprechung des Unterzeichneten in der Krit. Vierteljahrsschr. f. Gesetz-
gebung und Rechtswissenschaft, 3. Folge Bd. 11 (1908) S. *209— *224. In
der Anlehnung an Kant trifft sich del Vecchio mit Stammler; nicht ein-
verstanden aber ist er mit dessen Beschränkung auf das Formale.
Stammler irre, sagt er, wenn er leugne, che deUa natura umana . . . posse
dedursi un ideale giuridico con un contenuto determinato (132). Dieser
Punkt ist an del Vecchios Buche vielleicht der interessanteste. Vf. wagt
es, für das vielgeschmähte und völlig tot geglaubte Naturrecht wieder
eine Lanze zu brechen. Er steht auf dem Standpunkte, das Naturrecht
älterer Observanz sei nur um deswillen mit Recht zu Grabe getragen
worden, weil es einen falschen Naturbegriff zugnmdegelegt habe; er hegt
daher die Überzeugung, es bedürfe nur einer unter Rückgang auf Kant
296 Rezensionen (del Vecchio).
erfolgenden Läuterung des Naturbegriffes, um den Gedanken des Natur-
rechtes auch, für Gegenwart und Zukunft lebendig zu erweisen. Diesem
Nachweise ist das vorliegende Buch gewidmet, das sich ernstlicher und
eingehender Beachtung von selbst empfiehlt. Die schwierige Frage frei-
lich, ob sich aus der intelligiblen Natur des Menschen eine inhaltliche
Bestimmtheit des natürlichen Rechtes ergebe, wird vom Vf. zwar mit ja
beantwortet: nicht eingetreten wird jedoch in eine Begründung dieser
bejahenden Antwort, sowie in eine Darlegung darüber, welches die Me-
thode sei, mittels deren aus der menschlichen Natur inhaltlich bestimmte
Aussagen über die rechtliche Regelung konkreter (d. h. historisch bedingter)
Lebensverhältnisse zu gewinnen seien. Diese dornigste Aufgabe natur-
rechtlicher Betrachtungsweise sieht ihrer Erledigung noch entgegen. Es
bleibt abzuwarten, ob und mit welchem Erfolge der verdiente und gelehrte
Verfasser sich ihr unterziehen wird.
Jena. Hans Reichel.
del Vecchio, Giorgio, Prof. in Messina. Su la teoria del con-
tratto sociale. Bologna 1906. (118 S.)
Lange Zeit hindurch nahm man unwidersprochen an, die „Erklärung
der Menschen- und Bürgerrechte" 1789 führe auf Rousseauische Ideen
zurück. Seit 1895 indessen ist dieser Auffassung, wenigstes was den
Contrat social anlangt, ein bedeutsamer Gegner erstanden in Jellinek
(Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 2. Aufl., 1904). „Die
Prinzipien des contrat social", sagt Jellinek S. 7, „sind einer jeden Er-
klärung der Rechte feindlich. Aus ihnen folgt nicht das Recht des ein-
zelnen, sondern die Allmacht des rechtlich schrankenlosen Gemeinwillens."
Die wahre Wurzel der Declaration erblickt J. vielmehr in den Bills of
rights der nordamerikanischen Unionsstaaten (Jellinek S. 9 ff.). Diese
Auffassung hat ebensoviel Beifall wie Widerspruch gefunden (S. 9 des
hier besprochenen Werkes; vgl. auch die Zusammenstellung bei Zweig
in Beil. z. Münchener Allg. Zeitg. 1905, II. Quartal. S. 353 ff.) Zu den
Gegnern Jellineks gehört auch der Vf. des jetzt vorliegenden Werkes,
Schon in seiner Studie: La dichiarazione dei diritti dell' uomo e del
cittadino nella rivoluzione francese (Genua 1903) hat er daran festgehalten,
die Quelle der Declaration sei der Contrat social. Der näheren Aus-
führung und Verteidigung dieses Gedankens ist das vorliegende Buch ge-
widmet. In sorgfältiger historischer Ausführung wird die Geschichte cler
Vertragstheorien von Grotius bis auf Rousseau behandelt (39 ff.). Mit
besonderem Nachdruck wird bei Hob b es (67) und Locke (71) verweilt,
Hobbes allerdings vertrat die schrankenlose Allmacht des Staates; allein
schon Locke rationalisierte den Gesellschaftsvertrag ein wenig und limitierte
die Staatsgewalt (73). An diese freiheitlichen Gedanken Lockes knüpfte
Rousseau an. Rousseaus Lehre unterscheidet sich indes von der Locke-
schen insofern, als R, den Gesellschaftsvertrag nicht mehr wie jener als
historisch-empirisches Faktura, sondern grundsätzlich als gedankliche Kon-
struktion, dienend zur Veranschaulichung einer natürlichen Notwendigkeit
(veritä trascendentale) begriff (87; vgl. Li ep mann, Rechtsphilosophie
des J. J, R, 1898, S. 106) — insofern ein Vorläufer von Kant (Metaphys.
Anfangsgründe d. Rechtslehre § 47) und Fichte (Beitrag u. s. w. über
die franz. Revolution 1793 I 1). — Rousseaus Lehren bilden ein Ganzes.
Die Darlegungen des C. s. können nur im Zusammenhang mit den Lehren
des discours sur l'inegalite (1752) gewürdigt werden (15). Im Discours
werden Gleichheit und Freiheit als natürliche Menschenrechte proklamiert
(21). Diesen Grundgedanken ist R. auch im C. s. treu geblieben. Auch
der C. s. fusst auf dem unveräusserlichen Menschenrechte der Freilieit.
Renoncer ä sa liberte, c'est renoncer ä sa qualite d'homme, aux droits
de l'humanite . . . Une teile renonciation est incompatible avec la nature
de l'homme (C. s. I 4). Die Staatsgewalt kann daher von vornherein nur
so weit reichen, als sie mit dem Fortbestande der Freiheit aller verträg-
lich ist; nur nimmt diese Freiheit eines jeden eine entsprechend ver-
Rezensionen (Kern). 297
änderte Form an. Hierin liegt (nach Ansicht des Vfs.) der fundamente
Unterschied der Rousseauschen Staatslehre gegenüber derjenigen aller
seiner Vorgänger. Per essi (die Vorgänger) i diritti del cittadino nello
Statu erano nna conseguenza dell' atto contrattuale; per il R, e invice la
fonnula del contratto una conseguenza di quei diritti (86). Für jene sind
die Bürgerrechte (soweit überhaupt anerkannt) ein jederzeit widerrufliches
Gesclienk von Seiten der Staatsautorität ; für R. dagegen sind sie „Grund-
lage und wirkende Ursache (sostanza attuale) der Staatsautorität selbst"
(97). Grundverkehrt ist es daher, die Staatslehre des C. s. unfreiheitlich
oder gar absolutistiscli zu nennen: die Freiheit ist vielmehr ilir A und O,
und der Rousseau des C. s. ist und bleibt der Vater der „Menschenreclite".
Dies in Kürze die Ausführungen des Vf. Eine kritische Auseinander-
setzung mit ihnen würde den knappen Rahmen einer Anzeige über-
schreiten. Nur ein Kardinalpunkt des Streites sei kurz angedeutet. Vf.
geht davon aus, der Rousseau des C. s, sei derselbe wie der Rousseau des
Discours. Diese Unterstellung erscheint mir bedenklich; es scheinen mir
vielmehr die beiden Bücher in ihrer Grundauffassung so grundverschieden
zu sein, dass man anstehen muss, die Lehren des C. s. aus den Ijehren des
Discours zu ergänzen. (Ebenso Berolz heimer, Rechts- und Wirtschaf ts-
philosophie, Bd. II, 1905, S. 169, 173). Sehe ich recht, so hat zwar der
Rousseau des Discours die „Menschenrechte" mit gestalten helfen; im
übrigen aber dürfte es wohl auch gegenüber del Vecchios sorgfältigen und
interessanten Darlegungen bei Jellineks Auffassung verbleiben, wonach
Rousseau, nämlich der Rousseau des Contrat social, mit der Deklaration
der Menschenrechte nichts zu tun hat.
Jena. Hans Reichel.
Kern, Berthold. Das Erkenntnisproblem und seine kri-
tische Lösung. Berlin, Hirschwald, 1910. (195 S.)
Seinem „Problem des Lebens" lässt unser Verfasser eine ausführ-
liche Darstellung der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen seiner
Lehre folgen. Wiederum ein ernstes und scharfsinniges Buch, das Gegnern
und Freunden gleichmässig zum Studium empfohlen sei.
Kern findet in Kants System einen vierfachen Dualismus an.stössig.
Hier Denken, dort Empfindimg; hier Form, dort Inhalt; hier Phänomenon,
dort Dingansich; hier Subjekt, dort Objekt. Von den romantischen Philo-
sophen angeregt, sucht er die Gegensätze aufzuheben.
Denken und Empfindung ! Der unmodern gewordene und auch von
K. verschmähte (S. 101) „Psychologismus" kommt hier schnell zur Klar-
heit; er stellt das Denken als eine besondersartige Gruppierung von Em-
pfindungen dar. K. macht umgekehrt den Empfindungsakt zu einem Ur-
teil, die fertige Empfindung mithin zur elementarsten Form des Begriffes
(S. 39 ff., 89). Auch gut! Unser Philosoph sucht immer wieder die rela-
tive Berechtigung — und relative Beschränktheit aller „Standpunkte"
darzutun (vgl. z. B. das schöne Kapitel: ,Weltanschauungen', S. 138 ff.).
Ich vermute, er wird nichts dagegen haben, wenn der Referent ihn er-
gänzt: sofern der spätere, komplizierte Prozess genetisch aus dem früheren,
einfacheren heraus verstanden werden soll, konstruieren wir psycholo-
gistisch und erklären das Denken für Empfinden; sofern dagegen der
minder hell bewusste Vorgang durch die Analogie des bewusstereu zu
illustrieren ist, sei uns das Empfinden gerne ein primitives Denken.
So bleibt der zweite Gegensatz, der von Inhalt und Form. Denn
die Erkenntnis fasst ja eine ..Wirküchkeit" an (S. 42 f.), unser Denken
stösst auf etwas Denkfremdes. Dass ich Luftschwingungen überhaupt als
Töne „beurteile", mag ich immer meiner Tätigkeit zuschreiben, dass hin-
gegen eben jetzt, eben hier der Ton ,cis' erklingt und nicht etwa ,ges',
das hängt vom Denken nicht mehr ab. Ordnen und Gesetze vorschreiben
mag mein ., Verstand" ; das einzelne Quid aber, das Quäle und das Quantum,
die individuell charakterisierte Verteilung der Elemente in der Welt: das
bleibt ewig irrational, tatsächlich, inhalthaft. Und dieses Faktische mit
298 Rezensionen (Kern).
Hegel aus der Vernunft hervor entwickeln zu wollen, solcher Versuch ist
von vornherein widerlegt. Aber auch die solipsistische Aufhebung des
Dualismus weist K. mit Recht zurück (S. 172). Doch wie, wenn die Lösung
auf umgekehrtem Wege gelänge (S. 59)? Kann „Inhalt" nie zur „Form"
Averden, so ist doch „Form" vielleicht „Inhalt"? Unser Denken hat sich
in äonenlanger Entwicklung den Gegenständen angepasst und ist darum
dem Wesen dieser Gegenstände adäquat (S. 57, 106); es tritt also nicht
wie eine formende Macht seinem Stoffe fremd gegenüber, sondern ist mit
diesem Stoffe wesenseins — als „Erzeugnis des Objekts". Dass von einem
anderen Gesichtspunkte aus das Objekt auch Erzeugnis des Denkens (im
Sinne Kants) genannt werden könne, leugnet K. nicht (S. 59).
Der Phänomenalist wird hier einen Zweifel nicht unterdrücken.
Ein der Umwelt in beständiger Verfeinerung adaptiertes Denken braucht
doch wohl den Dingen deshalb nicht wesensgleich zu werden; seine
„Formen" könnten als angezüchtete Systeme zweckmässiger Signale
gelten, für andere Organisationen wären dann wieder andere Systeme brauch-
bar. Die Notwendigkeit, so oder so auf einen bestimmten Vorgang A zu
reagieren, kündigt sich uns meinetwegen durch das bewegte Bikl eines
gefärbten Dinges an; einem anders als wir gebauten Marsbewohner viel-
leicht als ein verwickelter und uns unnachlebbarer Komplex von Schmerz-
empfindungen oder was weiss ich? Die Züchtung könnte im einen Falle
so wirksam wie im anderen sein; und die verschiedenen Anschauungs-_ und
Denkformen dennoch mit den Formen der „Wirklichkeit" A keine Ähn-
lichkeit besitzen.
Und daran ändert auch die „Aktualitäts-Theorie" nichts, mit
der K. den dritten Gegensatz und damit zugleich den Phänomenalismus
selber aus der Welt schaffen möchte (S. 51, 59, 97, 167). „Das Urbild der
Wirklichkeit ist niclit das Sein, sondern das Geschehen" ; „alle Substanzia-
lität ist erst ein Erzeugnis des Denkens" (S. 117). Und da nun auch das
Denken selber ein Geschehen ist, „in den Relationen das Wesen der Er-
kenntnis, aber ebenso auch das Wesen der Welt liegt" (S. 170): so ist
unser Bewusstsein einfach ein Teil der absoluten Wirklichkeit, seine Ge-
setze sind zugleich Naturgesetze, „Denken und Objekt . . . sind eins"
(S. 59, 104 ff., 119, 173).
Hier indessen scheint ein Fehler zu stecken. Jenes Objekt, mit
dem mein Denken wirklich „eins" ist, besteht in nervösen Vorgängen
(S. 70 u. passim); was ich aber für gewöhnlich Objekt meines Denkens
nenne, sind Vorgänge ausserhalb meines Leibes. Und damit ist die Zwei-
heit wieder da, die den Phänomenalismus erzwang. Hier ein Geschehen
(oder „Relationen" — oder welchen Ausdruck der Verf. irgend brauchen
möchte) in der „Aussen weit", meinethalben im Äther; dort ein anderes
Geschehen im Gehirne; und dieses dem Erkennen identisch, doch selber
direkt nicht erkennbar; jenes dem Erkennen fremd, doch sein „Gegen-
stand". Auch wenn das dem Erkennen wesensgleiche Geschehen
zwischen dem Körper und dem Draussen spielen soll, z. B. also das
Sehen der Umwandlung von Strahlungsenergie in chemische der Nerven-
masse entsprechen soll, so gilt dennoch meine Behauptung weiter: eben
diese Umwandlung sehen wir nicht; sondern unser Sehen weist uns zur
Quelle der „äusseren" Strahlenenergie hinüber. Der „physiologische Be-
weis" für den Idealismus bleibt demnach trotz den Bemerkungen des
Verf. in Kraft. Und damit bleibt die Zweiheit Subjekt-Objekt so bestehen,
wie Kant sie dachte. Und es bleibt jenes grosse Paradoxon : dass das
Subjekt für den Naturforscher aus dem Objekte hervorwächst; und den-
noch soll wieder das Subjekt, im erkenntnistheoretischen Sinne, das Ob-
jekt erst möglich machen ! — Die Lösung des Scheinwiderspruches indessen
läge gerade unserem Verfasser nahe (vgl. S. 59). Wir haben — wie er
selber es prinzipiell stets fordert — die Standpunkte reinlich zu sondern,
statt die Gegenbegriffe zu verschweissen. Wir trennen das empirische
Ich vom transscendentalen Subjekt der Erkenntnis; und den phänomenalen
Rezensionen (von Annin). 299
Kosmos vom immanenten Datum. Es g'iebt mehrere „Welten" für die
Erkenntnistbeorie; und die Notwendigkeiten des Denkens drängen uns
immer aus der einen in die andere, aus der letzten wieder in die erste
zurück. Wer sich dieses Zirkels und seiner Unentrinnbarkeit bewusst ist,
an jedem Punkte der Bahn aber die eben für diesen Punkt erforderten
Begriffe deutlich festhält: der allein entgeht allen Widersprüchen.
Berlin. Julius Schultz.
von Arnim, Hans; Baeumker, Clemens; Goldziher, Ignaz: Grnbe,
Wilhelm: Inouye, Tetsujiro : Oldenberg, Hermann ; Windelband, Wilhelm;
Wandt, AVilhelm. Allgemeine Geschichte der Philosophie (die Kultur der
Gegenwart, Teil 1, Abt. 5). Verlag von B. G. Teubner. Berlin und Leipzig
1909. Lex.-Format. (VlII u. 572 S.)
Das Unternehmen der „Kultur der Gegenwart" den heutigen Stand
der Fachwissenschaften durch Gruppen von Einzeldarstellungen in einem
Gesamtbilde vereinigt vorzuführen, ist nunmehr auch auf die Geschichte
der Philosophie ausgedehnt worden. Die vielfachen Bedenken, die gegen
die „Kultur der Gegenwart" als Sammelwerk oft genug geltend gemacht
worden sind, sollen hier nicht wiederholt werden. ' Sie bestehen zu Recht.
Nur das sei betont, dass die Uneinheitlichkeit des Ganzen innerhalb des
Bandes über die Geschichte der Philosophie weniger störend wirkt wie
z, B. innerhalb des Bandes über die „Systematische Philosophie".
Der Wert des neuen Bandes der „Kultur der Gegenwart" geht über
den einer gewöhnlichen Darstellung des heutigen „Standes der Wissen-
schaft" insofern hinaus, als hier zum ersten Male ernstlich mit einem alt
überlieferten Vorurteile gebrochen wird. Diese Geschichte der Philosophie
ist zum ersten Male wirklich eine „allgemeine", d. h. sie behandelt nicht
nur die europäische Philosophie von Thaies bis zur Gegenwart, sondern
sie behandelt die gesamte Philosophie der Menschheit, von der die euro-
päische Philosophie nur als ein wichtiger Ausschnitt erschien. Damit
verbreitet sich über die Entwickelung des europäischen Philosophierens,
namentlich über die Anfangsstufen desselben, ein durchaus neues Licht,
So wäre denn die von den Anthropologen und Orientalisten längst ge-
stellte Forderung nach einer grösseren Berücksichtigung der Philosophie
anderer Völker endlich durchgedrungen und, wie mir scheint, glänzend
bewährt.
Zur Durchführung der neuen Erweiterung eignet sich die „Kultur
der Gegenwart" als Sammelwerk umsomehr, da die Philosophie der ausser-
europäischen Völker vorläufig erst von den Fachvertretern der östlichen
Sprachen sachgemäss dargestellt werden kann. Das ist nun hier geschehen
und es gereiclit dem Ganzen in mancher Hinsicht zum Vorteil. Aber mit
dem Vorteil verbindet sich ein Nachteil. Eine einheitliche Darstellung
der Geschichte der Philosophie würde vermutlich die in der Menschheit
auftretenden philosophischen Denkgebilde nach zeitlichen und sachlichen
Gesichtspunkten zu einer Entwickelungsgeschichte der Philosophie ver-
einigen. In einer Sammlung von Einzeldarstellungen ist eine solche An-
ordnung vorläufig wenigstens ausgeschlossen, da es ihr an leitenden Ge-
sichtspunkten fehlt. Und so erhalten wir in dem neuen Bande der „Kultur
der Gegenwart" das verquere Bild, dass die neu hinzugekommene Dar-
stellung der Philosophie des Ostens sich nach Ländern und Völkern
gliedert, während die Philosophie des Westens getrost den alten Weg der
zeitlichen und sachlichen Anordnung einschlägt. Es wäre für die Einheit-
lichkeit des Sammelbandes besser und wohl auch wissenschaftlich recht
wertvoll gewesen, wenn entgegen dem üblichen Verfahren auch für die
europäische Philosophie die Gliedenmg nach Ländern und Völkern vor-
genommen wäre.
Das philosophische Denken gehört in unlöslichem Vereine mit den
religiösen Vorstellungsweisen zum Urbesitz der Menschheit. Es ist daher
mit grösstem Danke zu begrüssen, dass in der neuen „Allgemeinen Ge-
schichte der Philosophie" an den Anfang eine Darstellung des Vorstellungs-
300 Rezensionen (von Armin).
und Gedankenskreises der Naturvölker gestellt ist. Sie ist von Wilhelm
Wundt verfasst und behandelt in vier Abschnitten die primitive Logik,
Psychologie, Naturphilosophie und Ethik. Dabei muss freilich betont
werden, dass der Abschnitt über die „Logik" lediglich eine Untersuchung
von Wundt über das Denken der Urvölker nicht eine den Urvölkern selbst
angehörende Denklehre darstellt. Dagegen behandelt der Abschnitt über
die „Psychologie" wirklich die Seelenvorstellungen der Naturvölker, nicht
Untersuchungen Wundts über ihr Seelenleben. Dasselbe gilt von der
Naturphilosophie und der Ethik. Der Abschnitt über die „Logik" der
Naturvölker wäre daher in der nächsten Auflage den anderen Abschnitten
nicht beizuordnen, sondern etwa als eine Einleitung zu ihnen zu behandeln,
und die Überschrift „Logik" fortzulassen.
Es folgt eine Darstellung der indischen Philosophie von Hermann
Oldenberg, welche angesichts des Reichtums im Denken der Indier und
der verhältnismässig zahlreichen Vorarbeiten etwas dürftiger ausgefallen
ist, als erwartet werden konnte. Auch spielt Oldenberg gleich im Anfang
seiner Darstellung auf eine Reihe von Erörterungen an, welche er „oben"
gegeben haben will, ohne dass der Leser wüsste, was mit jenem „oben"
gemeint sein könne. So hat es den Anschein, als wäre der ganze Ab-
schnitt ursprünglich Anhang zu einer anderen Arbeit gewesen und, ohne
umgearbeitet zu werden, der Kultur der Gegenwart eingegliedert. Man
darf wünschen, dass bei einer zweiten Auflage dieser absonderliche Miss-
stand geändert und der Abschnitt im Ganzen bereichert Avürde, selbst auf
die Gefahr hin, dass sein Umfang um einige Seiten wüchse. Im Hinblick
auf die verhältnismässig grosse Bedeutung der indischen Philosophie dürfte
dieser derselbe Raum zugebilligt werden, wie der chinesischen Philosophie
(zwanzig statt zehn Seiten).
Die Darstellung der chinesischen Philosophie von Wilhelm Grube
ist als besonders gelungen zu bezeichnen. "Wir sehen einen ungeahnt
grossen Reichtum philosophischer Gedankenbildungen namentlich zur
Sittenlehre in knapper aber sehr klarer und ansprechender Schilderung an
uns vorüberziehen. Vielleicht macht sich nirgends so stark wie in der
chinesischen und indischen Philosophie der Eindruck geltend, dass die
Gedankenbildungen der griechischen Philosophie zu begreifen sind als
Abarten und Fortsetzungen von Gedanken, die uns ganz ähnlich im Osten
begegnen. Im Einzelnen möchte ich bemerken, dass die 64 Hexagramme
des Yi-King, die Grube als ursprüngliche „Orakelsprüche" anspricht, ur-
sprünglich keine Orakelsprüche waren, sondern die Zeichen eines dya-
lischen Zahlensystems. Schon Leibniz hat hierauf hingewiesen (Werke
Ausg. von Gerhardt, Abt. 2 Bd. 3 S. 223 ff., 228 ff.). Wir haben also im
Yi-King unter Umständen eine ähnliche Zahlenspekulation vor uns, wie
sie in der griechischen Philosophie unter dem Namen der pythagoreischen
Lehre umgeht.
Wer von der Darstellung der Philosophie des Ostens in dem neuen
Bande der „Kultur der Gegenwart" zu der von Arnim behandelten grie-
chischen Philosophie übergeht, wird besonders lebhaft empfinden: dass
unsere herkömmliche Betrachtung der griechischen Philosophie dringend
einer Erweiterung ihres Gesichtskreises bedarf. Arnims Darstellung geht
in der Tat überall von der Annahme der schlechthinigen Einzigartigkeit
des griechischen Philosophierens als von einer Selbstverständlichkeit aus.
Auch weht im Ganzen seiner Darstellung vielfach ein merkwürdig un-
geschichtlicher, vernünftelnder Zug. Da „empfiehlt es sich" den Hylozoisten,
ihren Urstoff so zu wählen, dass er, abgesehen von seiner Einfachheit,
Beweglichkeit und Veränderlichkeit, auch für das organische und seelische
Leben als Erklärungsprinzip brauchbar wäi'e. Da vermutet Aristoteles
„mit Recht", dass Thaies das Wasser zum Urstoff genommen habe, weil
sich Feuchtigkeit im allem Lebendigen und im Feuer finde u. s. w. u. s. w.
Man sieht, wo immer uns die Quellen verlassen, da dichtet Arnim die Er-
gänzungen aus seinen eigenen Überlegungen gläubig hinzu, und so be-
Rezensionen (Richter). 301
schleicht den Leser bisweilen die Furcht, dass die griechischen Philosophen
doch nicht immer nach so trefflichen pragmatischen Maximen gedacht
haben mt')gen, als Arnim sie denken lässt.
Gegen den von Arnim behandelten Teil sticht die von Clemens
Baeumker bearbeitete Darstellung der Philosophie des Mittelalters erfreu-
lich ab. Mit ausserordentlicher Klarheit, Ruhe und Sachkenntnis wird
der Leser zunächst in den Gesichtskreis des mittelalterlichen Denkens, in
seine Quellen, seine Bedingtheit durch den Schulbetrieb und in seine all-
gemeinen Wesenszüge eingeführt, um dann durch die Geschichte der
Scholastik selbst zu gehen. In dieser ist als der typische Vertreter der
iu der mittelalterlichen Philosophie immer wiederkehrenden Gedanken-
kreise Thomas von Aquino besonders ausführlich behandelt. Bei den üb-
rigen geschichtlichen Erscheinungen dagegen sind nur diejenigen Eigen-
tümlichkeiten hervorgehoben worden, die in die Entwicklung bestimmend
eingegriffen haben und die einzelnen Richtungen kennzeichnen. Als
dankenswerte Ergänzung der Baeumkerschen Darstellung ist die Behand-
lung der islamischen und jüdischen Philosophie von Ignaz Goldziher zu
betrachten, die sich ebenfalls auf das Mittelalter -beschränkt.
Über den letzten grossen Schlussabschnitt des Buches, die von
Windelband behandelte Geschichte der neueren Philosophie, bedarf
es nur weniger Worte. Die Art der Windelbaudschen Geschichts-
schreibung ist den Lesern aus seinen grösseren Werken bekannt.
Hier erhalten wir eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse
dieser grösseren Werke. In ihr zeigt sich aufs Neue die einzigartige
Weite und Tiefe des geschichtlichen Blickes, die Feinheit der wissen-
schaftlichen Nachempfindung und die meisterhafte Kunst treffsicherer
Kennzeichnung, die Windelbands Arbeiten in der Tat zu einem Eliren-
zeichen der .,Kultur der Gegenwart" stempeln. Auch derjenige, der im
sachlichen Urteil häufig von Windelband erheblich abweicht, wird sich
dieser neuen kurzen Darstellung als einer Zierde des ganzen Buches von
Herzen freuen.
Greifswald. Günther Jacoby.
Richter, R. Einführung in die Philosophie. Aus Natur und
Geisteswelt. 155. Bd. B. G. Teubner, Leipzig 1910. (126 S.)
An Einleitungen in die Philosophie mangelt es nicht; ^ylr haben
umfangreiche und kurzgefasste, systematisch vollständige und im guten
Sinne einseitige, an die historische Entwickelung sich anlehnende und rein
sachlich vorgehende Darstellungen. R. giebt in der Form von sechs Vor-
trägen die Skizze einer umfassenden Weltanschauung; er verzichtet dabei
auf historische Exkurse. Ein solches Unternehmen, — der inbezug auf
systematische Vollständigkeit allerdings noch überlegenen kurzen Ein-
führung Wentschers vergleichbar — hat sehr erhebliche Schwierigkeiten,
und Verf. geht ihnen durchaus nicht aus dem Wege, indem er etwa alle
tieferen Probleme bei Seite lässt. Durch klare und lebendige, oft geradezu
drastische Darstellung sucht er den Stoff zu bemeistern. Freilich, ein
Anfänger im eigentlichsten Wortsinne wird doch kaum Alles verstehen
können; R. bedient sich z. B. mancher Fachausdrücke, ohne sie zu er-
läutern. Doch wie viele philosophische Schriften giebt es überhaupt, die
die meisten Leser in allen Teilen völlig verstehen? Und es ist zu be-
zweifeln, dass die Durchschnittsleser unserer Einführungen philosophisch
ganz ungeschulte Köpfe sind.
Deuten wir kurz den Inhalt an! Im Anschluss an die vorliegenden
einzelnen Philosophien und an den Sprachgebrauch bestimmt R. den Be-
griff: Philosophie ist das Streben nach Erkenntnis vom Zusammenhang
alles Seienden. Das „Grenzgebiet und Nachbarreich" der Rehgion wird
als Stellung unseres Fühlens und WoUens zum Zusammenhang alles Seien-
den definiert — was mehr dem Interesse einer reinlichen Scheidung als
den gesamtenTatsacheu des religiösen Lebens entsprechen dürfte.
302 (Rezensionen (Richter).
Ohne Orientierung über die Prinzipien des Erkennens und über
seine Grenzen sind haltbare Ergebnisse über den Daseinszusammenhang
nicht zu gewinnen. Die Erkenntnistheorie bildet daher das zuerst zu be-
handelnde Hauptofebiet. Dann folgt die „Seinslehre" als Wirklichkeits-
philosophie und Wertlehre (Ethik und Religionsphilosophie).
Die Theorie des Erkennens untersucht diese Funktion vom logischen
Gesichtspunkte aus, d. h. mit Bezug auf den Wahrheitsbegriff. „Wahrheit
ist die Eigenschaft eines Urteils, allgemein mit dem Beurteilten, näher
mit Erfahrung und Denken sich in Übereinstimmung zu befinden, und
unter der Bedingung, dass wir uns dieser Übereinstimmung bewusst sind,
sicher in mir und vermutlich in allen anderen Subjekten unter den
gleichen Bedingungen unausbleiblich Evidenz zu erregen" (S. 26).
Es giebt nur relative Wahrheit, Wahrheit für Subjekte. „Der Satz:
,Was einmal wahr gewesen, bleibt immer wahr' steht auf der gleichen
Gewissheitshöhe wie der Satz: ,Ein freigelassener Körper . . . fällt
immer zur Erde' " (S. 30). Aussermenschliche Wahrheiten sind denkbar,
wenn auch nicht mehr ganz auszudenken.
Augenblickserlebnisse und logisch-mathematische Beziehungen sind
denknotwendig. Der Gewissheitsgrad der Urteile über Erfahrungsgesetze
ist ein niedrigerer (Wissen zweiter oder Glauben erster Ordnung). Ohne
das grundsätzlich Unerfahrbare, das Metaphysische, ist nur ein hypothe-
tisches Wissen dritter, ein Glauben zweiter Ordnung möglich. Hier „ist
d er Erkenntnisgehalt daran zu messen, inwieweit diese Anschauungen mit
den geringstenMitteln oder auf die einfachste (ökonomischste)
Weise uns die gegebene, d. h. erfahrbare Wirklichkeit als
Ganzes verständlich machen" (S. 47).
R. prüft kurz eine Reihe metaphysischer Hypothesen, die Realismus-
frage, den Materialismus, Spiritualismus, Materio-Spiritualismus, Neutralis-
mus (d. h, die Identitätslehre in der Form der Zwei-Seitenhypothese),
Solipsismus, Polypsychismus und Panpsychismus. Eine restlose Erklärung
der Wirklichkeit giebt keine der Hypothesen; doch verdienen ein ge-
mässigter Idealismus sowie die I^ehre von der Allbeseeltheit den Vorzug.
Das Seelische wird am besten im Sinne des aktualistischen Voluntarismus
gedacht.
Der 5. Vortrag behandelt das Gottesproblem. Gott ist „der Urquell
aller Elemente und aller Gesetze der Wirklichkeit, und wenn diese Ele-
mente geistiger Natur sind, so wird auch Gott zu einem geistigen Wesen
und zwar zum allgeistigen, das sich auswirkt im Vernünftigen und Un-
vernünftigen, im Guten und Bösen, im Schönen und Hässlichen, in der
unendlichen Fülle alles Seins und alles Werdens" (S. 101). — Der Geist
dieses Vortrags entspricht dem Satze, der ihn beschliesst : „Die Philosophie
nämlich fängt — nach dem Ausspruch eines jüngst verstorbenen Denkers
— dort an, wo der Respekt aufhört" (S. 101).
„Die Worte Wert und Unwert bedeuten uns irgendein Etwas,
ganz gleich von welcher Art, insofern es auf ein fühlendes und wollendes
Wesen die Wirkung ausübt, von ihm als Zweck bewusst begehrt oder
gemieden zu werden" (S. 102). Wert und gewolltes Ziel sind vollkommen
gleichbedeutend (S. 104). Unter dem Fehler dieser dem üblichen Wort-
sinne gegenüber offenbar teils zu weiten teils zu engen Definition leidet
R.s ganze Ethik, Natürlich kann von dieser Bestimmung aus kein allge-
meiner „Oberwert" gefunden werden. — „Den extensiveren oder inten-
siveren oder den zentraleren Willen durchzusetzen gegen die konkurrieren-
den Wollungen, darin besteht die Sittlichkeit" (S. 112). — Ein Teufel
dürfte demnach wohl beanspruchen, von R. sittlich genannt zu werden.
Übrigens ist sich der Verf. wohl bewusst, „eine starke Verschiebung des
Sinnes von Sittlichkeit" vollzogen zu haben.
Die gefühls- und willensmässige Stellungnahme zum Weltganzen, die
Religion wird zunächst in den extremen Formen des Optimismus und
Pessimismus durch klassische Beispiele illustriert. R. selbst bekennt sich
Rezensionen (Sidgwick). 303
„weder zu der einseitigen Verwerfung, noch zu der einseitigen Beförderug
des Daseins in seiner Ganzheit, weder znm schrankenlosen Pessimismus,
noch zum schrankenlosen Optimismus. Unser religiöser Wille drängt uns,
das führende Entwickelungsgesetz der Welt, die Steigerung zu immer
geordneteren und zugleich umfassenderen, zu immer geschlosseneren und
zugleich in den Teilgliedern selbständigeren und freieren Formen des Da-
seins zu bejahen, die in der wissenschaftlichen, künstlerischen
und sittlich-religiösen Kultur der Menschheit bisher ihre
Gipfel erreichten . . . Doch das ist persönliche Willensentscheidung,
die niemanden von Ihnen bindet" (S. 124).
Zur Charakterisierung des ganzen Büchleins mögen noch einige
Sätze aus dem letzten Abschnitt dienen: „Gestehen wir es uns doch: wer
hätte nicht den stolzen Bau der mit einer Unzahl allgemeingültiger Inhalte
erfüllten Moral und Religion in den ernsten Stunden der Selbstbesinnung
in allen Fugen krachen hören ? Wem es noch nicht geschah, der höre
auch nicht auf meine Worte — sie werden ohnehin spurlos an ihm vor-
übergehen. Wem es aber geschah, der wird auf die Erschütterung der
Mauern auch noch den Sturz dieses Palastes folgen sehen. Und dann wird
er sich sehnen nach der Errichtung einer Moral und Religion, die nicht
steht und fällt mit Gesetzbüchern und kirchlichen Dogmen. Er wird
ganz von selbst die Wege philosophischer Betrachtung einschlagen, um
die Probleme zunächst sicher zu stellen, nachdem das scheinbar Ge-
sichertste problematisch geworden _ war" (S. 125). So schroff der Verf.
auch gegen verbreitete religiöse Überzeugungen, z. B. gegen die prak-
tischen Postulate, Stellung nimmt, das religiöse Problem ist offenbar
wesentliche Triebkraft seines Denkens. Vielfach zeigen sich die Ergeb-
nisse seiner Skeptizismus- und Nietzsche-Forschungen in der Einführung
wirksam.
Es versteht sich von selbst, dass bei der Fülle der angeschnittenen
Probleme der Ref. vielfach zur sachlichen Kritik Anlass zu haben glaubt.
Doch ist das Eingehen auf alle Differenzpunkte einer solchen Skizze
gegenüber nicht angebracht.
Erich Becher.
Sidewick, Henry. Die Methoden der Ethik. Deutsch von
C. Bauer. Bd. II. Leipzig 1909. Verlag von W. Klinkhardt. (XII
u. 307 S.)
Nachdem im Bd. I (der vom Ref. in den Kantstudien kürzlich ange-
zeigt wurde) die erste der drei Haupt-„Methoden" der Ethik, auf die
Sidgwick alle übrigen zurückführt, die des Egoismus eingehend geprüft
worden ist, folgt im zweiten und abschliessenden Bande die nicht weniger
sorgfältige Untersuchung der . intuitionistischen und der utilitaristischen
Methoden.
Das Vorhandensein von Beurteilungen des richtigen Verhaltens, die
als intuitive imponieren, muss jedenfalls anerkannt werden. Die Wer-
tungen von Weisheit und Selbstbeherrschung, Wohlwollen, Gerechtigkeit,
Wahrhaftigkeit, Mut, Bescheidenheit und anderen Tugenden und Pflichten
werden als ethische Intuitionen des gemeinen Menschenverstandes von
S. analysiert. Dabei ergeben sich grosse Schwierigkeiten inbezug auf
Abgrenzung und Rangordnung der Tugenden und Pflichten, Schwierig-
keiten, die der gemeine Menschenverstand vielfach durch Berufung auf
utilitaristische Massstäbe zu beseitigen sucht. Werden Motive als die
eigentlichen Gegenstände sittlicher Urteile betrachtet, so treffen wir auf
entsprechende Schwächen dieser Ausgestaltung des Intuitionismus.
Der philosophische Intuitionismus ist daher gezwungen, allgemeinere
Prinzipien hinter jenen Beurteilungen des gemeinen Menschenverstandes
zu suchen. Dabei hat er neben vielen tautologischen Sätzen einige be-
deutsame abstrakte Moralintuitionen aufgewiesen. „Ich weiss durch Nach-
denken, dass die Sätze »Ich soll die Wahrheit sagen«, »Ich soll meine
Versprechungen halten«, so wahr sie auch sein mögen, für mich selbst-
304 Rezensionen (Sidgwick).
verständlicli sind ; sie stellen sich als Sätze dar, die eine vernünftige
Rechtfertigung' irgendwelcher Art erfordern. Andererseits stellen sich die
Sätze »Ich soll ein kleineres gegenwärtiges Gute nicht einem grösseren
zukünftigen vorziehen« und »Ich soll mein eigenes kleineres Wohl nicht
dem grösseren eines anderen vorziehen« mir als selbstverständlich dar,
geradeso, wie etwa das mathematische Axiom" (S. 175). Indem S. die ge-
fundenen Intuitionen verbindet, gelangt er zum ütilitarismus oder „uni-
versalistischen Hedonismus"; bei letzterer Bezeichnung ist natürlich nicht
an Lust in irgend einem speziellen Sinne,_ sondern an die Gesamtsumme von
Glücksgefühlen zu denken. Zu dieser Überführung des Intuitionismus in
den Ütilitarismus ist eine Unternehmung über das höchste Gut, eine
werttheoretische Betrachtung erforderlich. Das im letzten Grunde Gute
kann nur in einem begehrenswerten Bewusstseinszustande bestehen, nicht
in etwas Un- oder Ausserbewusstem. Der gesunde Menschenverstand
scheint es zuletzt ausschliesslich in Glückseligkeit zu suchen.
Die Untersuchung des Ütilitarismus geht von der Festlegung der
Wortbedeutung aus; wie wichtig diese Aufgabe ist, geht daraus hervor,
dass ein sehr beträchtlicher Teil der Einwände gegen diese Methode einer
falschen Auffassung des nicht gerade glücklichen Ausdrucks entspringt.
Nocli kürzlich hat etwa bei uns Dürr diesen Terminus in einer Weise
verwandt, die zwar dem ursprünglichen Wortsinne, in keiner Weise aber
der historischen Fixierung desselben in der englischen Ethik angemessen
erscheint.
Der Ütilitarismus deckt sich in weiten Grenzen mit der Ethik des
gemeinen Menschenverstandes; der Moralsinn ist, nebst seinen Unter-
schieden bei verschiedenen Völkern, „unbewusst utilitarisch". Darum hat
der Utilitarier im allgemeinen die Pflicht, die herrschende Sittlichkeit zu
vertreten. Doch wird es Einzelfälle geben, in denen er mit ihr in Kon-
flikt kommen muss. Derartige Konsequenzen hebt S. schroff hervor, wie
er denn überhaupt gegen seine eigene Auffassung durchaus unparteiisch
die bemerkten Schwierigkeiten ins Feld führt. Ein Bedenken — und es
erscheint dem Ref. als theoretisch recht wesentlich, wenn auch praktisch
weniger bedeutsam — wird leider nicht berücksichtigt. Es entspringt aus
der Frage nach der Verteilung der letzten Werte. Denken wir uns zwei
Verteilungen der Glücksgefühle als möglich ; bei der ersten mögen die
Individuen einigermassen gleichmässig bedacht werden ; die zweite Ver-
teilnngsart führe im ganzen zu einem geringen Glücksüberschuss gegen-
über der ersten, komme aber zu diesem Ergebnis durch eine gänzlich un-
gleichmässige Verteilung, mache zahlreiche Menschen tief unglücklich, um
anderen um so mehr Glück zu verschaffen. Der Ütilitarismus entscheidet
.sich für die letztere Möglichkeit. Mir scheint hier eine Schwierigkeit
des Systems zu liegen ; kritische Bemerkungen Dürrs gaben mir von
Neuem Anlass, sie immer mehr zu empfinden. Es ist eine nicht leicht zu
entscheidende Frage, ob das, was Fechner vorbringt, in der Tat zur Be-
seitigung des Bedenkens genügt. Es giebt eben versoliiedene Formen
des altruistischen universellen Hedonismus oder Eudämonismus, und die
Entscheidung zwischen diesen Formen erscheint dem Ref. als eine der
schwierigsten Aufgaben der Ethik.
S. findet die tiefste Schwierigkeit für sein ethisches Denken an
einer anderen Stelle. Der egoistische Hedonismus erscheint ebensowoiil
rational als der universalistische. Nur die religiöse Sanktion könnte eine
Lösung, einen Ausgleich bringen. Man fühlt durch die nüchterne Dar-
stellung hindurch, wie hier um ein Lebensproblem gerungen wird, wie
innere Wahrhaftigkeit und ethisch-religiöses Empfinden nach harmonischer
Verbindung streben. S. deutet an, auf welchem Wege er den Ausgleich
sucht, vermeidet aber angesichts der grossen theoretischen Schwierigkeiten
des Problems jene Entschiedenheit der Stellungnahme zu den praktischen
Postulaten, die er bei Kant vorfand.
Rezensionen (Verworn). 305
Ein Anhang untersucht die Zweideutigkeit des Wortes Freiheit bei
Kant und die tiefgreifenden Konsequenzen, die sie für seine Ethik mit
sich bringt,
Ref. bekennt sieh gerne als Verehrer S.s, seiner unparteiischen,
nüchternen, von strengster Selbstkritik zeugenden Forschung. Wenn die
Gründliclikeit der Untersuchung zuweilen zu einer unnötigen Breite führt,
so wird dieser Fehler der Darstellung durch ihre Klarheit wohl reichlich
aufgehoben.
Erich Becher.
Verworn, M. Die Mechanik des Geisteslebens. 2. Aufl.
Aus Natur und Geisteswelt. 200. Bd. B. G. Teubner, Leipzig 1910.
(114 S.)
Das Büchlein enthält fünf gemeinverständliche Vorträge: Leib und
Seele, die Vorgänge in den Elementen des Nervensystems, die Bewusst-
seinsvorgänge, Schlaf und Traum, Suggestion und Hypnose. Nur der
erste Vortrag beschäftigt sich mit philosophisch-erkenntnistheoretischen
Fragen; die übrigen Ausführungen betreffen einzelwissenschaftliche, phy-
siologisch-psj'chologische Gegenstände.
Die Neuauflage bringt einige kleine Erweiterungen und neue Text-
abbildungen, im Ganzen 18 klare Figuren.
V. geht aus von einer Kritik der Leib-Seele-Hypothesen, des Dua-
lismus, des Parallelismus, des Materialismus, der Ostwaldschen Hypothese
einer psychischen Energie. Er hält die ganze Fragestellung für verfehlt,
und um dies zu erweisen, giebt er zunächst eine anschauliche Schilderung
der Entstehung dualistischer Ansichten. Doch erkenntnistheoretische
Überlegung zeigt, dass keine Dualität besteht; denn auch die Körperwelt
besteht nur aus Empfindungen. Immerhin sollen die Körper auch ausser-
halb des „Ich" existieren. Aber „wollte ich annehmen, dass die Dinge
etwas anderes sind, wenn ich die Augen geschlossen halte, als wenn ich
sie offen habe, so würde ich eine reine Hypothese aufstellen" (S. 15).
Ref. ist auch der Meinung, dass es sich um eine Hypothese handeln muss ;
aber er hält diese Hypothese für besser begründet als die des Verfs., der
einfach die Empfindungskomplexe objektiviert. Das Ding „für sich", wie
V. sagt, kann nicht mit dem Empfindungskomplexe des wahrnehmenden
„Ich" gleich oder gar identisch sein; denn zu gleicher Zeit haben ver-
schiedene „Ich" verschiedene Wahrnehmungskomplexe desselben Dinges.
Darum fasst der übliche naturwissenschaftliche Realismus das Ding für
sich als Ursache, oder, da Verworn nur von Bedingungen sprechen will,
als wichtigste Bedingung der Empfindung. Bedingung und Bedingtes,
Ding und Empfindung sind aber verschieden, und damit ist das Leib-
Seele-Pioblem wieder vorhanden. Das ist so unvermeidlich, dass auch V.
gelegentlich dazu gedrängt wird, die Empfindung als „Resultat" (S. 17)
der Beziehung des elektrischen Stromes zum Sinnesorgan aufzufassen..
Die Aufgabe, die V. auf Grund seiner erkenntnistheoretischen Über-
legungen der Wissenschaft stellt, besteht in der Ermittelung der Bedin-
gungen, unter denen die Zustände und Vorgänge des Geisteslebens Zu-
standekommen. Eine solche Aufgabe wird jeder Erkenntnistheoretiker
anerkennen. In der Tat giebt V. im Folgenden eine recht anschauliche
Darstellung der Hauptpunkte dessen, was über die körperlichen Grund-
lagen des Seelenlebens bekannt ist bezw. hypothetisch angenommen wird.
Da es sich um Dinge handelt, die nicht direkt in das Gebiet der wissen-
schaftlichen Arbeit dieser Zeitschrift fallen, deuten wir nur einige
Punkte an.
Die Neuronenlehre, welche die Nervenfasern als Teile der Nerven-
zellen auffasst, ist durch die Beobachtung der sich entwickelnden Zelle
(Ramon y Cajul, Harrison) besser fundiert als jemals. Die Physiologie von
Zelle und Faser wird auf Grund der neuesten, vielfach in V.s Laboratorium
durchgeführten Forschung skizziert.
306 Rezensionen (Busse).
Der 3. Vortrag schildert die Haupttatsachen der Lehre von der
Hirnlokalisation der Bewusstseinsinhalte, ferner die — recht erheblichen
Bedenken ausgesetzte — Bahnungshypothese der Assoziation und des
Denkens.
Im 4. Abschnitt wird zunächst eine interessante Erklärung der
Hemmungserscheinungen versucht. Dann folgt eine Kritik der be-
kanntesten Schlaftheorien, die als Grundlage der positiven Aufstellungen
über diese Erscheinung dient: „Der Schlaf ist die Resultante folgender
Bedingungen. Während der Dauer des wachen Zustandes unterhalten die
Sinnesreize fortwährend starke dissimilatorische Erregungen in den
Ganglienzellen der Grosshirnrinde und setzen ihre Erregbarkeit durch
Erschöpfung und Ermüdung herab. Wir schlafen dann ein, wenn wir die
Reize, die von den Sinnesorganen her zum Gehirn gelangen, ausschliessen.
Infolgedessen fallen die Bedingungen für die Erregung fort und die dis.si-
milatorische Erregung klingt ab. Auf Grund des Gesetzes von der
Selbststeuerung des Stoffwechsels vollzieht sich alsdann die Restitution
durch Überwiegen der Assimilationsprozesse und Beseitigung der Er-
müdungsstoffe von selbst, so dass die Erregbarkeit wieder steigt. Am
Morgen ist die Erholung vollendet. Die Erregbarkeit hat ihr physio-
logisches Maximum erreicht und die schwächsten Reize wecken uns auf"
(S. 93, 94).
Allen Träumen liegen Reizwirkungen zu Grunde, die Erregungen
in bestimmten Gebieten der Grosshirnrinde bedingen. Der Traum ist ein
partieller Wachzustand des Gehirns. Die Zustände der Somnambulie sind
„nahezu Wachzustände, wenn auch immerhin nur partielle. Jedenfalls
aber sind sie wohl von allen Traumzuständen diejenigen, die durch das
Wachsein der motorischen Sphäre am meisten nach der Seite des Wach-
lebens hinüberreichen" (S. 103).
Die Hypnose ist durchaus ein Wachzustand. Das Wesen der hypno-
tischen Erscheinungen liegt in der grossen Suggestibilität. Die so selt-
samen hypnotischen Phänomene werden durch ähnliche, minder auffällige
Suggestivwirkungen im Normalzustande erläutert.
„In Wirklichkeit kann in der Hypnose nichts geleistet
werden, was nicht von der betreffenden Person im gewöhn-
lichen Zustande auch willkürlich ausgeführt werden kann"
(S. 111). (? Man denke an die doch wohl gut verbürgten lokalen Reiz-
erscheinungen auf der Haut, die bis zur Blasenbildung führen. Ref.) —
Die Hypnose ist immerhin kein totaler Wachzustand. Die Intensität der
suggestiv hervorgerufenen Vorstellungen bedingt auch gesteigerte Hem-
mungswirkungen. Übrigens haben solche Hemmungen der Kritik, so auf-
fällig wirksam eie sind, doch ihre Grenzen. Deshalb ist es nicht möglich,
einen normalen Menschen in der Hypnose zu einem Verbrechen zu ver-
anlassen.
Die Schreibweise V's. ist hier wie in seinen anderen Schriften klar
und lebendig, und, wenn ich richtig urteile, auch einigermassen populär.
Erjch Becher.
Busse, L. Die Weltanschauungen der grossen Philosophen
der Neuzeit. 4. Aufl. Herausg. von R. Falckenberg. B. G. Teubner,
Leipzig 1909. (VIII u. 156 S.)
Ref. möchte das Büchlein durch einige Worte aus der Vorrede zur
1. Auflage charakterisieren. „Es wendet sich . . . mit weiteren Absichten
an weitere Kreise. Seinen Inhalt bilden volkstümliche Hochschul vortrage
. . ., und es verfolgt denselben Zweck, dem diese Vorträge gelten : weitere
Kreise in allgemeinverständlicher Form mit den bedeutendsten Er-
scheinungen der neueren Philosophie bekannt zu machen und dadurch
in ihnen Interesse und Verständnis für die Philosophie überhaupt und ihre
Probleme zu erwecken. . . . (Ich habe mich) auf die Darstellung der
grossen klassischen Systeme beschränken müssen; und auch von diesen
konnten nur die metaphysischen, erkenntnistheoretischen und ethischen
Rezensionen (Wittmann). 307
Grundanschauuno;en berücksichtigt werden. . . . Ferner habe ich beson-
deres Gewicht darauf gelegt, den Zusammenhang der einzelnen Systeme
untereinander, den durch sie hindurch sich vollziehenden Fortschritt der
philosophischen Gesamtentwickelung überall erkennbar zu machen. . . .
In der Darstellungsweise wurde Allgemeinverständlichkeit durchweg an-
gestrebt und der Klarheit und Deutlichkeit des Ausdrucks der Vorzug
gegeben vor rhetorischem Schmuck." Ref. wäre wahrscheinlich unbedenk-
lich gewesen, dem Büclüein die angestrebte Allgemeinverständlichkeit zu-
zusprechen, wenn ihm nicht vor wenigen Tagen zufällig ein Leser von
der Schwierigkeit dieser Lektüre gesprochen hätte!
F. hat den Text pietätvoll beibehalten, einige Notizen korrigiert,
Anmerkungen hinzugefügt und im Vorwort eine kurze Biographie des
Verf. geliefert.
Der Inhalt der kleinen Schrift ist wahrlich ein reicher. Denkern
allerersten Ranges wird natürlich verhältnismässig viel Raum gewährt,
und die Kantdarstellung, die 24 Seiten beansprucht, geht in manchen
Punkten schon bis zu Details. Als Historiker nimmt B. entschieden
Partei; so ist die Mill-Skizze wohl etwas reichlich mit Kritik belastet.
Vielleicht ist es auch nicht ganz unparteiisch, wenn Fechner unberück-
sichtigt bleibt, während Lotze nicht fehlt.
Doch lassen wir alle kritischen Bemerkungen beiseite. Es ist über-
aus erfreulich, dass der deutsche Leser für so billiges Geld einen ge-
diegenen Abriss der Geschichte der neueren Philosophie erhalten kann,
Erich Becher.
Wittmann, M. Die Grundfragen der Ethik. Sammlung Kösel.
Kempten und München. (179 S.)
Der Verf., Professor am bischöflichen Lyzeum in Eichstädt, giebt
eine in mancher Hinsicht geschickte Begründung der theologischen Ethik.
„In erster Linie muss . . . daranliegen, das Sittliche seinem empirische n
Wesen nach auf einen zutreffenden Begriff zu bringen" (S. 7). Da werden
zunächst in der Erfahrung bleibende sittliche Grundanschauungen vorge-
funden (Kritik des „Moralpositivismus", S. 15 f.); in der Wahl seiner Bei-
spiele ist W. allerdings mehrfach nicht glücklich, z. B. wenn er meint,
dass Grausamkeit immer moralisch verurteilt worden sei. Die sittliche
Qualität ist nicht — wie unter anderen Nominalisten lehrten — äusserlich
an die Handlungen herangebracht; der Zusammenhang ist vielmehr trotz
aller Wandelbarkeit im Einzelnen ein sachlicher und notwendiger. Aus-
fülirlich wird die Wohlfahrtsmoral besprochen und mit den üblichen, nach
der Ansicht des Ref. nicht genügenden Argumenten bekämpft. Auch die
Kultur kann nicht als höchstes Ziel sittlichen Handelns anerkannt werden.
Dies liegt in der Vollendung der Natur, in der Realisierung des durch sie
gebotenen Ideals der Persönlichkeit. „Was immer die materielle Natur
an Fähigkeiten enthält, wird zur Entfaltung eines geistigen Lebens auf-
geboten. Ein vernünftig freies Wesen, eine Persönlichkeit soll sich ent-
wickeln und vollenden. . . . Dies ist der Sinn, den wir aus der Menschen-
natur herauslesen müssen. Im Menschen verfolgt die Naturordnung ihren
höchsten Zweck" (S. 68, 69). — Auch wenn wir diese metaphysische Natur-
auffassung anzuerkennen bereit wären, bliebe es immer noch zweifelhaft,
ob wir den Naturzweck zum Inhalt des Sittengesetzes machen dürfen,
wie W. dies unbedenklich tut.
„Nimmehr wendet sich die Aufmerksamkeit einer anderen Seite des
Sittlichen zu, nicht dem, was vorgeschrieben ist, sondern dem Vorge-
schriebensein selbst, nicht dem inhaltlichen, sondern dem formellen Ele-
ment" (S. 81). Woher hat das Sittengesetz den Pflichtcharakter, die Ge-
setzesnatur? Verf. kritisiert mehrere Richtungen der autonomen Ethik
(Kant, Krueger, Messer, Wentscher, Feuerbach, Paulsen), um zu zeigen,
dass diese das Pflichtgebot nicht erklären könne; leider lässt es die ein-
gehende psychologische Analyse des Gewissens, welche in den letzten
Kantstudien XV. 20
308 Rezensionen (Apel).
Jahrzehnten vielfach gefördert worden ist, zu sehr ausser Betracht. Es
wäre zu berücksichtigen, dass das Gewissen ein Produkt zahlreicher Fak-
toren sein könnte, und dass daher in den kritisierten Anschauungen richtige
Elemente angedeutet sind, die, in ihrer Isolation ungenügend, bei ihrer
Verbindung dem Problem besser gerecht werden. — Verpflichtung kann
nur von einer Autorität ausgehen. Das höchste sittliche Gesetz fordert
einen höchsten sittlichen Willen; es ist nur verständlich als göttliches
Gebot. Indessen „der Nachweis hat nicht das Dasein eines höchsten
Wesens zum Gegenstand, sondern das Dasein der religiösen Denkweise. . . .
Das Ergebnis ist, dass unser sittliches Denken aus dem religiösen Bewusst-
sein stammt . . ." (S. 129). „Wo keine Religion, da auch keine Pflicht,
ja keine Moral" (S. 129). (Hierbei ist, nach der Meinung des Ref. mit
Unrecht, vorausgesetzt, dass das Pflichtbewusstsein allein aus dem Gottes-
glauben stamme.)
Das Sittliche ist Forderung der Natur, Gebot ihres göttlichen Ur-
hebers, Gewährleistung der Glückseligkeit. „Als Prinzip der Sittlichkeit
durchaus unbrauchbar, ist der Glückseligkeitsgedanke als untergeordneter
Beweggrund des sittlichen Handeln nicht abzuweisen" (S. 164).
Der Schlussabschnitt bekämpft den Determinismus. Für die Kritik,
wie Verf. sie vielfach übt, ist die Behauptung charakteristisch, dass nach
der Abschreckungstheorie auf ganz geringe Vergehen exorbitante Strafen
zu setzen seien (S. 175). Mit Konsequenzen von solcher Bündigkeit kann
man wohl jede ethische Theorie ad absurdum führen !
Erich Becher.
Ape!, Max, Dr., Kommentar zu Kants Prolegomena. Eine
Einführung in die kritische Philosophie. 1. die Grundprobleme der Er-
kenntnistheorie. 1908, Buchverlag der „Hilfe" Berlin-Schöneberg. (X
u. 224 S.)
Der Berichterstatter über populärwissenschaftliche Arbeiten unter-
nimmt eine Aufgabe, die ihn in eigenartige Schwierigkeiten bringt; legt
er den Masstab der Popularität an, wird er als Rezensent für eine wissen-
schaftliche Zeitschrift nicht gar viel zu sagen wissen, sucht er rigoros
nach Wissenschaftlichkeit, wird er zu schroffem Aburteilen meistens all-
zureiche Gelegenheit finden. Populärwissenschaftliche Arbeiten dürfen die
heissen, die in klarer Form die Resultate der Wissenschaft darstellen; es
liegt in ihrem Wesen, dass sie sich des methodischen Suchens bewusst
enthalten, dass sie deshalb auch von Kritiken, abweisenden wie zu-
stimmenden, absehen. Apels Kommentar soll eine populäre Einführung in
die kritische Philosophie sein, er verzichtet damit auf zweierlei: 1. auf die
Voraussetzung, dass der Leser wesentliche Kenntnisse und methodische
Schulung mitbringt, 2. auf die Vollständigkeit und Ausführlichkeit, die
man sonst von einem Kommentar mit vollem Rechte erwartet. Erst dieser
Verzicht rechtfertigt die Mängel eines solchen Kommentars im Verhältnis
zu einem wissenschaftlichen und macht sie im Rahmen des Bezweckten zu
Vorzügen. In dieser Beschränkung liegen in der Tat die Vorzüge unseres
Kommentars, seine Schwächen zumeist in dem Überschreiten des selbst
gezeichneten Rahmens, in dem Hinaustreten in eine die Anlage des Buches
negierende Wissenschaftlichkeit. Nur aus der Beschränkung der Aufgabe
begreift sich ja auch der Einfall, die Prolegomena und nicht die Kritik
der reinen Vernunft zu Grunde zu legen. Die mannigfachen Kommentare
zu Kants Hauptwerk, deren ersten Kant selbst sein Interesse entgegen-
brachte, verfolgen jeder für sich einen anderen Zweck. Apel stellt sich
selbst die Aufgabe, die Mitte zu halten zwischen dem grossangelegten
Kommentar Vaihingers und dem sich wesentlich auf eine erläuternde, nicht
leicht verständliche Zusammenziehung beschränkenden Kommentar Cohens.
Soviel sich aus einem sorgfältigen Vergleich mit dem Text ergiebt, bringt
er folgendes: 1. Kurze Zusammenfassungen und Erläuterungen zu den
einzelnen Abschnitten. 2. Kritiken an Kant. 3, Hinweise auf die Ent-
Rezensionen (Apel). 309
stehung der Kantischen Resultate, ihre Entwickhing und Veränderiin|.
4. Ergänzende Ausführungen aus dem Hauptwerk und aus den von Erd-
mann herausgegebenen ,.Reflexionen Kants zur kritischen Philosophie".
5. Hinweise auf die Geschichte der Philosophie. 6. Andeutungen und
Kritiken über die von Kant abweichenden Ansichten. Der vorliegende
erste Teil des Kommentars umfasst ausser der Vorrede die Paragraphen
1_39^ d. h. er beschäftigt sich im wesentlichen mit der „Allgemeinen
Aufgabe-' und der Grundlegung der Erkenntnistheorie. Die sechs an-
geführten Leistungsgebiete sind von ungleichem Wert. 1. Wenn Schulze
und Meilin es für ratsam hielten, Absatz für Absatz der Vernunftkritik
zusammenzufassen, so war das in der teilweisen Dunkelheit und Schwer-
fälligkeit des Textes begründet. Die Prolegomena dagegen bedürfen
einer derartigen Klärung keineswegs. Im Gegenteil belasten sie einen
Kommentar nur zu seinem Nachteil. Darin liegt der Grund, dass Apels
Kommentar für seinen Zweck zu umfangreich wurde; denn in den 224
Seiten sind nach der Dürrschen Ausgabe nur 90 Seiten bearbeitet. Dagegen
sind die Erläuterungen zu grundlegenden Erörterungen, so trefflich und
von Kenntnis der Kantischen Philosophie oftmals zeugend, an anderen
Stellen karg und ärmlich ausgefallen. So erwartet man wohl mit Recht
einige Ausführlichkeit bei der Besprechung von Kants Unterscheidung der
Urteile in analytische und synthetische, zumal diese zu den mannigfachsten
Einwendungen und Missdeutungen Anlass gegeben hat und sie vom Ver-
fasser des Kommentars selbst „berühmt" (nach anderen berüchtigt) genannt
wird. In dem was darüber gesagt ist, wird der Kern der Sache absolut
nicht getroffen. Zu den Fragen, die ganz ungenügend behandelt sind —
und dies natürlich vom Standpunkte einer ,Einführung' aus — , gehören
noch sehr viele. Die Grundlegung der Kategorienlehre (Prol. § 18—22)
ist so gut wie garnicht beachtet; über das Wesen der Kategorien, ihre
Begründung und Beziehung zu der herrschenden formalen Logik hätte
doch wohl einiges bemerkt werden müssen. Gänzlich ungenügend sind
die Erläuterungen zu dem schwierigsten Teil der Kantischen Erkenntnis-
theorie (§ 23—26). Sehr erläuterungsbedürftig wären auch die Ausführ-
ungen Kants gewesen über das Verhältnis der subiektiven Bedingungen
des Erkennens zu den objektiven, eines Bewusstseins zu dem Bewusst-
sein überhaupt. Hier liegt doch der letzte Grund, an dem die Trans-
scendentalphilosophie mit der Metaphysik verankert ist und der eigent-
liche Anknüpfungspunkt der nachkantischen grossen Systeme. Eine Frage
von ungleich wichtiger aber immerhin fundamentaler Bedeutung dürfte
auch die nach den wesentlichen Untersclieidungsmerkmalen der logischen
Verknüpfung im Wahrnehmungsurteil und der transscendentalen im Er-
fahrungsurteil sein. Dagegen sind manche Ausführungen des Kommen-
tators von grosser Klarheit, beispielweise die über euklidische und nicht-
euklidische Mathematik und die über das Kausalitätsproblem bei Hume.
Mit einigen Auslegungen der Kantischen Lehre kann ich mich jedoch gar
nicht einverstanden erklären, sie entstellen m. E. viel Wichtiges. Ich
würde Gelegenheit nehmen, auch darüber zu berichten, doch fehlt es hier
an Platz. 2. Die Kritiken an Kant erscheinen als überflüssig, weil sie im
Rahmen des kurzen Kommentars ungenügend belegt sein müssen. 8. Die Hin-
weise auf die Entstehung und Entwicklung der Kantischen Gedanken sind
keineswegs vollständig, trotzdem aber häufig zu weitläufig; sie tragen
manchmal fast nichts zum systematischen Verständnis des Textes bei.
4. Die ergänzenden Stellen aus der Kr. d. r V. und den Reflexionen sind
gut gewählt. 5. Die Verweise auf die Gescliiclite der Philosophie sind
ganz populär, doch sind sie orientierend und zweckentsprechend. 6. Die
Kritiken von anderen wissenschaftlichen Ansichten über Kant sowie die
literarischen Nachweise mussten ganz unvollständig bleiben; sie sind des-
halb oft irreführend. Sehr wünschenswert wäre ein Hinweis auf die zu-
sammenfassenden Darstellungen des Lebens und der Lehre Kants gewesen.
— Im Ganzen genommen, darf erwartet werden, dass der vorliegende
20*
310 Rezensionen (Levy),
Kommentar trotz vieler Mängel seinen Zweck erfüllen wird. Er ist von
den Kommentaren zur kritischen Philosophie der am wenigsten schwer-
fällige und deshalb geeignet, Ungeübte in das Werk Kants einzuführen.
Heidelberg. Arnold Rüge.
Levy , Heinrich , Dr. Kants Lehre vom Schematismus
der reinen Ve rs ta n d e s b e griff e. Ein Erklärungsversuch. Erster
Teil. Einleitung; Untersuchungen über die transscendentale Ästhetik und
die Analytik der Begriffe. Besonders über die transscendentale Deduktion.
Halle a. S. Druck und Verlag von C. A. Kaemmerer & Co. 1907. (165 S.)
Wie aus dem Untertitel vorliegender Abhandlung hervorgeht, bietet
sie Untersuchungen über die dem „Schematismus" vorangehenden Partieen
der Kr. d. r. V. in der systematischen Absicht, des Verf. Auffassung von
Kants Lehre vom Schematismus vorzubereiten durch eine Darlegung und
Abschätzung des bis zum Einsetzen des „Schematismus" in der Vernunft-
kritik Geleisteten. Für die Berechtigung der also erfolgenden Zweiteilung
des Kantischen Werks bringt Verf. Zeugnisse aus der ungedruckten,
sogenannten v. Korffschen Nachschrift der Kantischen Vorlesungen über
Metaphysik, in der die Einteilung der Analytik in Anal, der Begriffe und
Anal, der Grundsätze damit begründet wird, dass erstere den analytischen,
letztere den synthetischen Teil der Analytik enthalte, d. h. „die Grund-
sätze betrachte, die aus den reinen Begriffen des Verstandes entspringen".
Indem Verf. diese Disposition der Kantischen Vorlesungen über Metaphysik
in der Vernunftkritik wiederfindet, zieht er auch die transscendentale
Ästhetik mit in den analytischen Teil der Vernunftkritik, der also nun-
mehr die Ästhetik und Analytik der Begriffe umfasst, und beruft sich
liierfür auf Kr. d. r. V. S. 683 (ed. Kehrbach), wo Kant in ähnlicher Weise
den Fortfall der Paragraphen-Einteilung von der Anal, der Grundsätze ab
begründet. Alsdann aber steht die Lehre vom Schematismus am Beginn
des synthetischen Teils der Vernunftkritik und ist eine gesonderte Ab-
handlung des ihr vorangehenden analytischen Teils, der Gegenstand vor-
liegender als erster Teil erscheinenden Arbeit, gerechtfertigt.
Aus dieser Zweiteilung des Kantischen Werks ergiebt sich nun für
Verf. eine wichtige Konsequenz : eine neue Darstellung der Methode der Ver-
nunftkritik. Denn da Verf. den Grund jener Zweiteilung in der Absicht Kants
sieht, in einem analytischen, oder wie Verf. es lieber nennt, einem resolutiven
Teil die a priorischen Elemente der Erkenntnis zu isolieren, um sie als-
dann im synthetischen oder kompositiven Teil in ihrem einheitlichen Ge-
brauch verständlich zu machen, ergiebt sich für Verf. die Frage nach dem
Ausgangspunkte dieser die a priorischen Elemente der Erkenntnis iso-
lierenden Analyse. Diesen erkennt Verf. in dem Weltbild des naiven
Bewusstseins. Es handelt sich als nach Verf. für Kant darum — und dies
sei seine Methode der Entdeckung und Begründung der a priorischen Be-
dingungen der Erfahrung — , aus dem Weltbild der alltäglichen Erfahrung
die zufälligen, variablen Faktoren von den notwendig erforderlichen zu
sondern, wobei unter notwendig erforderlich ihr notwendiges Vorgestellt-
werden verstanden wird (S. 25), diese letzteren in solchem Sinne notwen-
digen Faktoren in ihrer psychologischen Apriorität als Elemente des Be-
wusstseins aufzuweisen, also die Erfahrung nach Aufhebung der extramen-
talen Welt aus ihren letzten Quellen im erfahrenden Subjekt abzuleiten
(S. 13. 14).
Als solcher a priorischer Quellen des naiven Weltbildes erkennt
Kants transscendalpsychologische Analyse zunächst in der Ästhetik die
Sinnlichkeit, die als reine Anschauung zur a priorischen d. h. not-
wendigen Form des Gemüts wird (S. 25). Gegenüber der als absoluten
Rezeptivität charakterisierten reinen Anschauung stellt die Analytik
der Begriffe, den Ausgangspunkt des naiven Weltbildes verlassend, an
dem Leitfaden der Logik die a priorischen Verstandesbegriffe als reine
Produkte der Spontaneität des Verstandes dar (S. 41 ff.). Die also
sich auftuende Kluft zwischen der starren Passivität der Anschauungs-
Rezensionen (Levj). 311
formen und der Spontaneität des Verstandes treibt nun das Problem der
Mögliclikeit des Zusammenwirkens von Sinnlichkeit und Verstand hervor
(S. 49), welclies die transscendentale Deduktion durch Aufgraben der
tiefsten subjektiven Quellen der Erfahrung löst, die uns „eine Ahnung
geben von dem „Webermeisterwerk" der Erkenntniselemente", „wo ein
Tritt tausend Fäden regt-' (S. 72). Diese letzten Quellen der Erfahrung
sind der 1. Deduktion gemäss, auf die Verf. alles Gewicht legt, Sinn,
Einbildungskraft und Apperzeption. Insbesondere ist es die transscenden-
tale Einbildungskraft, die den Gegensatz von Sinnlichkeit und Verstand
überwindet und die Lösung obigen Problem giebt (S. 92. 114). Denn in-
dem die transscendentale Einbildungskraft zur Sinnlichkeit in Beziehung
steht, wird sie zugleich durch das Ich der Apperzeption, dem sie wie die
Sinnlichkeit angehört, regelhaft gebunden und bringt also in die sinnliche
Anschauung Einheit und Konstanz (S. 120). Als der auch die transscen-
dentale Einbildungskraft beherrschende Quell, der ihr Identität und
Regelliaftigkeit verleiht, ergiebt sich das synthetische Ich der Apperzep-
tion, denn nur die Identität des apperzipierenden Bewusstseins bewirkt
die Konstanz der produzierenden Einbildungskraft und ihrer Produkte,
der Gegenstände der Erfahi-ung.
Aus dieser subjektiven Deduktion der Erfahrung aus ihren aprio-
rischen Quellen folgt aber als Konsequenz ihre objektive Deduktion,
oder vielmehr die objektive Deduktion ist in der subjektiven ge-
leistet. Denn die immer tiefer eindringende Analyse des naiven
Weltbildes hat den dogmatischen Schein einer an sich seienden Welt
zerstört und die notwendigen Bedingungen des Weltbildes als aprio-
rische Vermögen des transscendentalen Subjekts nachgewiesen. Die Be-
dingungen, auf denen die subjektive Erfahrung ruht, gelten notwendig
von ihren Produkten, den Gegenständen, die ja nichts als die durch sie
zu Stande gekommenen Vorstellungen des Subjekts sind. „Sachlich ist
das, was methodisch betrachtet Mittel ist, die Grundlage des Zwecks"
(S. 85), das subjektive a priori der Erfahrung darum auch ihre objektive
Bedingung (S. 125), „denn wahrhaft deduziert, heisst deduktiv abgeleitet
werden" (S. 110).
Dies ein Überblick der scharfsinnigen und durch Gründlichkeit aus-
gezeichneten Arbeit. Wir bedauern, dem vielfach feinsinnigen Detail in
der Aufhellung des psychologischen Mechanismus der Funktion der Er-
fahrung an dieser Stelle keinen Raum gönnen zu können. Um so
dringender aber erscheint uns erforderlich, zu des Verfassers Auffassung
der Methode der Vernunftkritik Stellung zu nehmen.
Da müssen wir betonen, dass bei des Verfassers Darstellung der
Methode der Vemunftkritik Eins schlechterdings ausfällt — der Kritizis-
mus. Denn wie Kant selbst bereits in der Vorrede zur 1. Ausgabe
der Vernunftkritik S. 8 hervorhebt, dass es ihm durchaus nicht auf eine
Beantwortung der Frage ankommt „Wie ist das Vermögen zu Denken
möglich", diese vielmehr in den Prolegomena S. 84 ausdrücklich der
empirischen Psychologie zuweist, liegt das Schwergewicht der Kantischen
Leistung in der Beantwortung des Problems nach dem Rechtsgrunde der
Geltung der Erkenntnis von ihrem Gegenstande. Wir sind Verf. dankbar,
dass er von seinem oben dargelegten transscendentalpsychologischem
Standpunkt aus mit grossem Scharfsinn alle Konsequenzen gezogen und
die psychologischen Partieen in Kants Vernunftkritik gründlich und fein-
sinnig analysiert hat, am Kritizismus in der Vernunftkritik, d. h. an der
Lösung obigen Problems, ist er vorbeigegangen.
Denn mag die Transscendentalpsychologie durch die Hypothese
einer überindividuellen Vernunft, deren Produkte, nicht aber deren
Produzieren dem individuellen, empiiischen Bewusstsein bekannt werden,
die Entstehung des naiven Scheins einer an sich seienden Welt ver-
ständlich machen, die Gegenständlichkeit d. h. die Objektivität der
uns als Gegenstände entgegentretenden Vorstellungen vermag sie nicht
312 Rezensionen (Messer).
zu erweisen. Wie immer und auf welchem empirischen oder über-
empirischem Wege Vorstellungen entstehen mögen — , sind sie Er-
kenntnis, haben sie gegenständliche Bedeutung, objektive Gültigkeit, ist
die Frage der Vernunftkritik. Und diese Frage bleibt bestehen gerade
nach Vernichtung des naiven Scheins einer extramentalen Welt. Denn
nun handelt es sich darum, ein neues Kriterium der Gegenständlichkeit zu
entdecken, nachdem das alte der Abbildstheorie zertrümmert ist. Die Be-
rufung auf die überindividuelle Vernunft nennt uns, selbst wenn sie mit
Recht geschähe, höchstens den Werkmeister gewisser Vorstellungen, dass
aber in seinem Werk Vernunft ist, muss bewiesen werden. Sogar erst
wenn letzteres bewiesen, werden die Transscendentalpsychologisten auf
jenen als Ursache schliessen können und auch dann mit fraglichem Recht.
Es ist dasselbe Verhältnis, wie es sich in der Ethik zwischen den Begriffen
Gott und Gut wiederholt.
Eines von Existenz unabhängigen, allgemein-gültigen Kriteriums
bedarf es, Erkenntnis von Irrtum zu scheiden. Kant entdeckt es in der
Logik, die nunmehr Bedingung der Objektivität nicht nur des formalen
Denkens ist, sondern Bedingung der Geltung auch aller inhaltlichen Er-
kenntnis, d. h. transscendentale Logik wird. Die faktischen — und sei es
überindividueUen psychologischen — Bedingungen der wissenschaftliclien
Erfahrung herauszustellen, ist der Sinn der metaphysischen Deduktion;
diese Bedingungen als logische und damit objektive zu erweisen, vermöge
deren die Erfahrung objektiv und allgemeingültig ist, der Sinn der transs-
cendentalen Deduktion, in welcher alle Kantische Denkarbeit gipfelt.
Von diesem prinzipiell anders gefassten Ziel der Kantischen Leistung
ergibt sich aber auch eine andere Auffassung der hierfür ins Werk
gesetzten Mittel. Ist das Ziel der Vernunftkritik Beweis der apriorischen
d. h. notwendigen Geltung der Erfahrung oder Naturwissenschaft durch
Aufhellung und Nachweis der Logik ihrer Grundlagen, so stellen die
Ästhetik und Analytik der Begriffe diese Grundlagen im Einzelnen heraus
und beweisen sie in ihrer Objektivität. Die transscendentale Ästhetik also
leistet die Herausstellung und Rechtfertigung der Mathematik als aprio-
rischer Wissenschaft und als Gesetz der Erfahrung; die Analytik der Be-
griffe die Herausstellung der philosophischen Prinzipien der Naturwissen-
schaft : Kausalität und Substantialität und die Rechtfertigung ihrer Objek-
tivität durch den Nachweis ihrer Identität mit den logischen Formen des
Urteils. Gern konzedieren wir alsdann dem Verf., dass der Zusammen-
schluss, allerdings nicht psychologischer Vermögen, sondern von Mathe-
matik und philosophischen Prinzipien der Naturwissenschaft zur Einheit
der mathematischen Naturwissenschaft in dem synthetischen Teil erfolge,
der Analytik der Grundsätze. Dem Schematismus kommt bei diesem
Zusammenschluss höchstens psychologische oder methodologische, aber
keine dem Kritizismus als solchem eigentümliche erkenntnistheoretische
Bedeutung zu.
Breslau. Albert Lewkowitz,
Messer, August. Empfindung und Denken. Leipzig, Verlag
von QueUe & Meyer, 1908. (199 S.)
In der modernen Psychologie hat sich im Laufe der letzten Jahre
ein Prozess vollzogen, oder besser zu vollziehen begonnen, dessen Wichtig-
keit den Fernerstehenden bisher nicht hinreichend zum Bewusstsein ge-
kommen ist. Lange Jahre hindurch hatte man sich gewöhnt, den Bereich
der Psychologie in Empfindungen, Vorstellungen, Gefühl und Willen
erschöpft zu sehen. Das bekannte Lehrbuch der Psychologie von E b b i n g-
haus spiegelt diese Sachlage deutlich wieder, und es muss daher dahin-
gestellt bleiben, ob der zweite Band, zu dessen Abschluss der Verfasser
nicht mehr gekommen ist, hier die nötige Ergänzung und nicht vielmehr
eine starke Enttäuschung gebracht hätte^
Der wichtige Umschlag, der eingetreten ist, datiert vor allem seit
dem Erscheinen von Husserls grossem Werk, den „Logischen Unter-
Rezensionen (Messer). 313
suchiingen", die bei weitem das folgenreichste und wichtigste philoso-
phische Werk des laufenden Jahrzehnts gewesen sind und deren Einfluss
auch auf die experimentelle Psychologie ein äusserst bedeutender gewesen
ist und ein noch bedeutenderer werden wird. Hat Husserl sich allein
auf die so lange Zeit so verpönt gewesene ,,iiitrospektive Methode*' ge-
stützt, die zuletzt doch das alleinige Fundament aller Psychologie ist und
die auch durch das Experiment keineswegs ausgeschaltet, sondern vielmehr
gezüchtet und nur unter bestimmte Bedingungen gesetzt wird, so sind
von der Experimentalpsychologie her besonders Forscher, die aus dem
Kreise Külpes stammen, der Psychologie des Denkens mit Hilfe des
Experiments nahegetreten. Es sind hier neben Külpe selbst vor allem
der Verfasser des oben genannten Werkes, Bühler, so%vie auch Ach zu
nennen. Die „unanschaulichen Bewusstheiten" Achs stehen in engster
Beziehung zu den Bedeutungen und Urteilen.
Durch die Untersuchungen der genannten Forscher ist einmal die
ungesunde Beschränkung des Experiments auf die niederen Seiten des
Seelenlebens endgültig durchbrochen worden. Und zweitens ist eine
höhere Schätzung der Selbstbeobachtung wieder hervorgetreten, die am
konsequentesten vielleicht von Bühler ausgesprochen worden ist. Dieses
prinzipielle Moment ist ohne Frage noch wichtiger als alle die neu ge-
wonnenen sachlichen Einsichten selbst, denn die volle Wiedereinsetzung
der Selbstwahrnehmung in ihre Rechte wird ihre Wirkung weit über die
Psychologie des Denkens hinaus erstrecken.
Die Ergebnisse gehen durchweg darauf zurück, dass neben dem
Empfinden, Vorstellen etc. das Denken als eine weitere spezifische, nicht
weiter reduzierbare psychische Funktion erkannt und anerkannt worden
ist. Die neuen Termini: „Bedeutung-', „Bewusstheif, „Gedanken", sie
sagen alle ein und dasselbe, eben dass das Denken etwas für sich ist.
Im Zusammenhang mit alledem steht weiter die schon von Brentano
inaugurierte, von ihm wieder aus der Scholastik entnommene Unter-
scheidung von Funktion (Akt) und Funktionsinhalt.
Das Verdienst des vorliegenden Werkes Messers nun ist es, die
bisherigen Resultate und die sich weiter eröffnenden Probleme in der
Gestalt einer Einführung in dieses Gebiet dargelegt zu haben. Seme
einzelnen Kapitel sind: 1. Einleitung. 2. Empfindungselemente der
äusseren Wahrnehmung. 3. Denkelemente der äusseren Wahrnehmung.
4. Die innere Wahrnehmung. 5. Wort und Bedeutung. 6. Aufmerksam-
keit und Abstraktion. 7. Satz und Urteil. 8. Gedankenverlauf und Er-
kenntnis. 9. Psychologische und logische Betrachtung des Denkens. 10.
Ausblicke auf die Pädagogik. Das Buch schlägt die Brücke zwischen spe-
zifisch experimenteller und mono-introspektiver Psychologie, z\^ischen der
gesamten experimentellen Psychologie des Denkens einerseits also und
Husserl anderseits, dessen grosser Vorgänger Bolzano übrigens auch
gelegentliche Berücksichtigung findet. Das Buch ist eine instruktive Ein-
leitung in beide Forschungssphären gleichzeitig. —
Eine volle Übereinstimmung bei so in Fluss befindlichen Unter-
suchungen ist natürlich nicht möglich. Der prinzipiellste Punkt, der mir
auffiel, ist vielleicht die Ablehnung der Lippsschen Ich-Auffassung, wie
denn überhaupt meines Erachtens Lipps' grosse Verdienste um die Psy-
chologie heute bei vielen noch nicht die liinreichende Schätzung finden :
Lipps' Leistungen zum mindesten für die Analyse der Gefühlssphäre
stehen denen Husserls auf dem intellektuellen Gebiet kongenial zur
Seite. — Die Ablehnung des Subjektbegriffs, wie sie seitens eines erheb-
lichen Teiles der Psychologie noch besteht, scheint mir nicht ein Fortschritt,
sondern im Gegenteil heute nur noch ein letzter Überrest jener sonst
^^^eder in der Überwindung befindlichen Bestrebungen zu sein, die die
psychischen Prozesse in eine Linie mit denen der Physik stellen wollten.
Auch in diesem Punkte müssen wir zu Bolzanos Standpunkt zurück,
wie er ihn deutlicher noch als in der „Wissenschaftslehre" in der „Atha-
314 Rezensionen (Scholz).
nasia" auseinandergesetzt hat. An seine metaphysischen Konsequenzen
sind wir freilich nicht gebunden.
"Wir leiden hier noch an der Nachwirkung einer tief unphilo-
sophischen Strömung, die an die Stelle einer analytischen Psychologie
einen physikalischen Dogmatismus setzte. An anderem Orte wird das
ausführlicher zu entwickeln sein.
Berlin. Dr. phil. K. Oesterreich.
Scholz, Heinrich, Lic. theol. Christentum und Wissenschaft
in Schleiermachers Glaubenslehre. Ein Beitrag zum Verständnis
der Schleiermacherschen Theologie. Arthur Glaue Verlag (vorm. Alex.
Duncker\ Berlin 1909. 8«. (205 S.)
Die Wandlungen in der Auffassung und Bewertung der Schleier-
macherschen Glaubenslehre sind sehr charakteristisch für den Wechsel
des theologischen Standpunktes im 19. Jahrhundert überhaupt. Bekannt-
lich stellt Schleiermacher Spekulation und Frömmigkeit als selbständige
Äusserungen des Geistes gleichberechtigt nebeneinander. Während die
ältere Generation, voran der Hegelianer David Fr. Strauss, sich berechtigt
glaubte, den zweiten Teil dieses Bekenntnisses zu überhören und die
Fundamente der Schleiermacherschen Dogmatik ganz in der Spekulation
zu suchen, zeigt sich heute, unter dem Einfluss des Ritschlschen Agnosti-
zismus, die entgegengesetzte Neigung, und man wagt zu behaupten, dass
die Philosophie an der dogmatischen Ausdeutung der Frömmigkeit durch
Schleiermacher ganz unbeteiligt sei. (So z. B. Mulert, Schleiermachers
geschichtsphilosophische Ansichten in ihrer Bedeutung für seine Theologie.)
Beide Auffassungen mussten eigentlich apriori unwahrscheinlich sein.
Denn sie setzen voraus, dass dieser Mann, der wie kein zweiter zur
inneren Einheit und Harmonie geschaffen war und noch auf dem Toten-
bette dies beglückende Bewusstsein der Übereinstimmung von Spekulation
und Frömmigkeit bekannte, einen unerträglichen Dualismus in sich ge-
duldet habe.») Äusserte er doch schon 1800 brieflich zu Brinckmann, dass
es einen Streit zwischen Philosophie und Mystik nicht geben könnte
(Briefwechsel IV, 73, vgl. auch I, 282).
Diesem inneren Zusammenhang und seiner begründeten Notwendig-
keit nun will der Verf. der vorliegenden Schrift zum ersten Male ernstlich
nachgehen. Wenn wir das Bild, in dem allein er leider das Grundproblem
formuliert (S. 7), richtig auflösen, so will er auseinanderlegen, welchen
Anteil das Christentum und welchen Anteil die wissenschaftliche Methode
an dem System der Glaubenslehre hat. Er tut dies mit so ersichtlich
voller Beherrschung des ganzen Materials, selbst bis in die peripherischen
Fragen hinein, dass sein Buch als die beste Darstellung der Schleier-
macherschen Prinzipien betrachtet werden muss, die wir besitzen. Da es
dem Verf. gelingt, seine Ideen überall scharf und sicher zu formulieren,
erfreut er überdies durch jene wissenschaftliche Kürze, die das Kennzeichen
der ausgereiften Arbeiten ist.
Es ist unverkennbar, dass der Verf. durch die Schule Kants hin-
durchgegangen ist.2) So mag es zu erklären sein, dass er auf die psycho-
logische Erklärung aus Schleiermachers Geistesart verhältnismässig geringen
Wert legt. Deduktion der wissenschaftlichen Grundsätze, auf denen
Schleiermachers Verfahren beruht — so könnte man seine Methode etwa
1) Nur für Schleiermachers mittlere Periode kann ein Primat der
Spekulation zugegeben werden.
2) Vgl. S. 32 : „Wir werden jenes grosse Geschlecht nicht durch die
traditionell gewordene Verachtung jener Denkleistungen überwinden.
Aber das wird jeder, der diese Epoche deutschen Geisteslebens für pro-
duktiv und fruchtbar hält, empfinden, dass es wie eine Befreiung wirkt,
nach solchen verworrenen Experimenten zur herrlichen Klarheit der
Kantischen Fragestellungen zurückzukehren." Über das Verhältnis von
Schleiermacher und Kant vgl. besonders S. 8. 29, 41.
Rezensionen (Scholz). 315
bezeichnen. Mir scheint, dass er in dem Bestreben, knappe Überschriften
zu finden, nicht immer gUicklich gewesen ist: diese Stichworte sind zu
unanschaulich und lassen vielfach nicht ahnen, wohin sie zielen. Der kri-
tische Stil, der kombinatorische Stil — das sind zunächst unergründliche
Rätselworte. Die meisten Bedenken aber habe ich gegen den Titel ,,^^"0"
lutionistische Methode", weil er den Gedanken selbst gefährdet, obwohl
ich zugeben muss, dass ich einen passenderen auch nicht anzugeben
wüsste. Was der Verf. meint, ist weniger Methode, als Weltanschauung,
nämlich jener alte Gedanke der Harmonie und Stufenordnung, den wir
von Leibniz und Shaftesbury her kennen (vgl. S. 100). Weil Schleier-
maclier ihn intuitiv voiaussetzt, kann er auch methodisch die Gegensätze
durch eine „planraässige Organisation der Begriffsbildung" in einander
übergehen lassen und sie von diesem Prinzip aus, das Leibniz bereits in
einem Briefe an Bayle entwickelte, erörtern. Dieses differentiierende
Verfahren fällt aber mit Evolution keineswegs zusammen, und wenn der
Verf. (S. 118) von evolutionistischer Geschichtsbetrachtung redet, so
schädigt er damit seine besten Resultate.^)
Denn das Ziel seiner Untersuchung besteht .doch in dem Nachweis,
dass Schleiermacher auf eine spekulative Begründung der Absolut heit
des Christentums verzichten konnte, weil diese Begründung in seiner
Christologie bereits mitgegeben war (S. 191). Wenn nämlich in
Christus das Urbild (d. h. die Idee) der Frömmigkeit in die Erscheinung
tritt, wenn sich in seiner Person der „allgemeine Lebensquell" gleichsam
restlos in die empirische Wirklichkeit ergiesst, so liegt darin der gerade
Gegensatz zum historischen Evolutionismus (vgl. S. 196). Wir haben
darin vielmehr die auch bei Ranke und Humboldt wiederkehrende Ideen-
lehre, für die das gegebene Leben eine mehr oder minder adäquate Dar-
stellung eines intelligiblen Grundes bedeutet, aufwallende metaphysische
Kräfte, die weit durch die Jahrhunderte hin mit elementarer Macht fort-
wirken. Diese Ideenlehre, die 1802 bei Schelling zuerst auftritt, von der
der Verf. mit Recht bemerkt, dass sie aus Kant nicht abgeleitet werden
könne, und die dann das Denken von Fichte und Hegel gleichfalls er-
greift, ist der spekulative Hintergrund der Schleiermacherschen Christo-
logie und die einzige spekulative Garantie für die Absolutheit des
Christentums bei ihm. Der Verf. liat diesen Zusammenhang mit feinem
Sinn erkannt; aber er ist bei ihm (S. 194) zu sehr in die Anmerkung ge-
raten, und die Abschnitte „Freiheit und Naturnotwendigkeit", „Natürlich
und Übernatürlich" sind m. E, nicht tief genug mit dieser Einsicht in
Verbindung gesetzt. Der Verf. hebt mit Recht den Johanneischen Accent
dieses Christentums hervor: es ist aber gewiss, dass die Grundstelle
Job. I, 14 (ebenso wie Ritschls Job. 7, 17) philosophisch nicht anders
umschrieben werden kann, als durch das Medium der platonischen Idee
oder des neuplatonischen Logos (vgl. B. Becker, Schleiermacher und die
Brüdergemeine, Monatshefte der ComeniusgeseUschaft 1894).
Auch in andern Punkten enveist sich der Verf. als philosophisch
wohl orientiert. So bemerkt er (S. 145) Ausgezeichnetes über Spinoza.
Er trifft den Kern, wenn er behauptet: „Schleiermacher ist in keiner
Epoche seines Lebens reiner Spinozist gewesen." Ob aber Spinoza „kein
Naturalist" war, ist terminologisch sehr schwer zu entscheiden; genug,
dass er kein Supranatnralist war. Über diese Frage hätte der Verf. in
Diltheys „Hegel" nähere Aufschlüsse gefunden, da dort die trausscenden-
tale Umbildung Spinozas durch Schelling, den der Verf. übrigens genau
kennt (vgl. S. 22, 51), dargestellt ist. Was den Pantheismus Sch.s betrifft,
so wird die pantheistische Stimmung scharf von dem eigentlichen Pan-
theismus geschieden, den der Verf. in der „Glaubenslehre" nicht zu finden
1) Gegen die S. 102 gestreifte Leibnizauffassung aber habe ich
ebenso erhebliche Bedenken wie gegen die Behauptung S. 108, dass
Schleiermacher Monadist gewesen sei.
316 Rezensionen (Meumann).
bekennt, M. E. aber ist dieser Gottesbegriff doch mehr spekulativ als
christlich.
Werfen wir zum Schluss einen Blick auf das prinzipielle Resultat.
Mit Freude stimmen wir dem Endsatz des Verf.s bei: „Die Leistung als
Ganzes ist so gross, dass sie nur durch eine entsprechende Gegenleistung,
nicht durch spitze Einzelkritik in ihrem Bestände bedroht werden kann."
Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass wir über Schleiermacliers
Grundsatz : das fromme Gefühl erhalte seine höchstmögliche Bewährung
durch die blosse Deskription (S. 58, 175), heute, nachdem Ritschis Theorie
der Werturteile sich durchgesetzt hat, in wesentlichen Punkten schon
herausgekommen sind. Bei Schleiermacher haben wir den Eindruck einer
vermittelnden Neigung, wie es ja auch seiner ganzen Natur entsprach
(vgl. S. 9, 33 f., 44, 123, 136). Er giebt dem Wissen, was des Wissens ist
(wobei denn, wie der Verf. zeigt, sein ganz eigenartiger, historisch be-
stimmter Wissenschaftsbegriff überall in Rechnung zu ziehen ist), und
findet doch noch freien Raum für die Frömmigkeit, die zwar nach ihm
immer nur in der wissenschaftlichen Weltsprache der Gegenwart ausge-
sprochen werden kann, die jedoch ihrem letzten Gehalt nach alle Philo-
sophie überbietet (vgl. S. 44, 85. 200). Bei diesem Vermitteln aber ent-
steht doch leicht die Frage : Wer giebt nach — Wissenschaft oder
Christentum?, und Ritschis Theologie beweist, wie sich dieses Prinzip im
Zeitalter des Positivismus bereits umbildete. Jene Gegenleistung also,
von der der Verf. spricht, müsste das Recht der religiös christlichen
Werturteile auf dem Wege, den Schleiermachers Glaubensmut gewiesen
hat, durch eine neue Synthese von Christentum und heutiger Wissenschaft
ableiten, in der die seltsame Tatsache wissenschaftlich frei und kräftig be-
gründet würde, weshalb unter den Mächten des Lebens das Christentum die
stabile, die Wissenschaft aber die fluktuierende Macht bedeutet. Die alte
Frage nach dem „Wesen des Christentums" tut sich hier auf, und damit
die ganze Reihe der Probleme, die uns Schleiermachers geniale apolo-
getische Entdeckung eröffnet hat. Denn es scheint, dass es notwendig
zum Zeitalter der Bildungsreligion gehört, Religionsphilosophie nur unter
dem Titel der Apologetik zu kennen,
Charlottenburg, Eduard Spranger.
Menmann, Ernst. Intelligenz und Wille. Leipzig, Quelle &
Meyer, 1908. (VIII u, 293 S.)
Die grosse Bedeutung Meumanns für die Gegenwart ist, wenn
ich recht sehe, der Hauptsache nach eine dreifache. Sie beruht erstens
auf der grossen Zahl experimenteller Eiuzeluntersuchungen mannigfachster
Natur, zweitens auf der Schöpfung der experimentellen Pädagogik, der
Inverbindung-Setzung der Pädagogik mit der modernen Psychologie und
drittens endlich ist es die grosse allgemeine Weitsicht in der Auffassung
der Gesamtaufgabe der Psychologie, die ihm seinen wohlgegründeten Ruf
verschafft hat. In dieser Fähigkeit zur Synthese und dem offenen Blick
für die grossen Aspekte, wie sie sich auch in seiner Hochschätzung eines
Denkers wie Eucken kundgiebt, hat sich Meumann der Schule
Wundts würdig erwiesen. Ist es doch ein hervortretender Charakterzug
in Wundts wissenschaftlicher Persönlichkeit, dass ihm niemals die Psy-
chologie in ein Aggregat untereinander zusammenhangsloser Detailspezial-
forschungen auseinandergefallen, sondern dass sie ihm immer ein grösseres
Ganze geblieben ist, in dem Spezialprobleme engstbegrenzter Natur sich
niemals soweit in den Vordergrund des Gesichtskreises geschoben haben,
dass sie den Schein, das Ganze zu sein, zu erwecken vermochten. Gewiss
bleiben unter solchen Umständen manche Einzelheiten vor der Hand un-
erledigt, aber die Geschichte der Wissenschaft zeigt, dass Lücken im
Einzelnen nachgeholt werden können, während umgekehrt das Aufgehen
im Einzelnen einen unausgleichbaren Verlust an Grösse der Gesichtspunkte
mit sich bringt, der selbst in speziellsten Untersuchungen sich schliess-
lich rächt.
Rezensionen (Meumann). 317
Diese Weite des Gesichtskreises finden wir also auch bei Meu-
mann und bei ihm in vorzüglichem Masse. Bei aller notwendigen und
höchst persönlichen Hingabe an das experimentelle Detail hat er es stets
versucht und je weiter seine Arbeiten f ortschritten, desto mehr, von
den gewonnenen Ergebnissen aus in den Gesamtzusammenhang des
höheren Seelenlebens einzudringen. Auch an dem vorliegenden Werke
tritt das wieder sehr deutlich zu Tage.
Auf Grund der Feststellungen des Experiments, wie sie heute nun
bereits für eine Anzahl seelischer Grundfunktionen in grösserer Voll-
ständigkeit vorliegen, unternimmt Meumann eine Durchwanderung der
grossen Gebiete, die die Worte Intelligenz und Wille bezeichnen.
Die erste Hälfte des Werkes behandelt die Intelligenz. Sie wird
nach allen ihren Seiten behandelt, von der Aufmerksamkeit und der Be-
obachtung an geht der Weg über das Gedächtnis hin zum schaffenden
Denken und zur produktiven Phantasie. Vielerlei bedeutungsvolle Neben-
erscheinungen : Übung, Ermüdung, Erholung u. dgl. finden eine gründ-
liche Erörterung. Die mannigfachsten Arten der Intelligenz gelangen zu
ihrem Recht. Bei jeder wird abgewogen, worin 'ihre Stärke und worin
ihre Schwäche liegt. Diese Untersuchungen geben gleichzeitig den Anlass,
allgemeine Typen des Menschen herauszuarbeiten. Auch die Begriffe von
Talent und Genie erfahren eine nach mehreren Seiten sich erstreckende
Aufhellung.
Der zweite Teil des Bandes behandelt den Willen und sein Verhält-
nis zur Intelligenz : Ohne in einen einseitigen Voluntarismus hineinzuge-
raten, wird der Wille als das eigentümliche Aktivitätserlebnis des Ich in
seiner ungeheuren Bedeutung für das gesamte geistige Leben einschliess-
lich der genialen Produktivität charakterisiert. Auch hier beginnt die
Erörterung bei den elementaren Formen und schreitet fort zu den höheren
Willensgebilden. In besonderen Gegensatz stellt sich Meumann zur
Gefühlstheorie des Willens. Es scheint mir jedoch, dass er den Gegensatz
schärfer darstellt, als er eigentlich ist oder doch zu sein braucht. Die
jüngste Gestalt wenigstens, in der die Gefühlstheorie heute auftritt, be-
hauptet nichts, als dass der Wille ein eigenartiger Aktivitätszustand des
Ich sei und im Grunde, meine ich, ist das genau dasselbe, was Meumann
behauptet. Eine Differenz besteht nur noch im Ausdruck, insofern als die
Bezeichnung , Gefühl' auf diese Aktivität mit ausgedehnt wird, eine Aus-
dehnung, die freilich ihre Bedenken hat, da der Vorgang des Tätigseins,
des Selbst-Wirkens, kurz des Handelns des Ich, das Meumann mit
Recht in den Vordergrund stellt, etwas ganz Spezifisches ist. Aber auf
der anderen Seite bilden doch die Vorgänge des Wünschens, des passiven
Strebeus, des .Triebes' — der wohl mit Achs determinierenden Tendenzen
beinahe identisch ist — eine Art Übergang von den Gefühlen her. Das
passive Streben ist mehr als die gewöhnlichen Gefühle, es liegt bereits ein
Moment des Wirksamseins darin, aber es fehlt das für den Willen, wie
auch mir scheint, entscheidende Moment der Aktivität, das demnach mit
dem Determinieren noch nicht völlig identisch ist, es ist vielmehr wohl
nur eine besondere Weise desselben. Die weitere Untersuchung führt
dann zur Aufstellung eines höchst interessanten Systems der Tempera-
mente. Es wird der energische Versuch gemacht, das Wesen des Cha-
rakters und seine Typen mit den Begriffen der modernen Psychologie zu
erfassen. Die Betonung der Bedeutung des Willens verführt die weitere
Darstellung jedoch nicht dazu, die Bedeutung des Faktors der reinen In-
telligenz in den Hintergrund zu stellen. Ihr gegenseitiges Verhältnis ist
mit sichtlicher Bemühung um volle Objektivität dargestellt.
Zusammenfassend ist zu sagen : Das Werk ist eins der besten Er-
zeugnisse der modernen Bestrebungen, die die Erforschung der höheren
Gebiete des Seelenlebens ernsthaft in Angriff nehmen. Seine Kenntnis-
nahme ist dem Psychologen von Fach ebensosehr zu empfehlen, wie sie
für jeden anderen wertvoll sein wird.
318 Rezensionen (Weissfeld).
Einen einzigen Punkt würde ich gerne näher erörtert gesehen haben,
es ist das Verhältnis der Gefühle zur Intelligenz, zur geistigen Produktion
überhaupt. Meumann ist in dieser Beziehung wohl doch etwas zu zu-
rückhaltend. Aber freilich handelt es sich hier um ein Problem, das erst
noch umfassender Vorarbeiten bedarf.
Berlin. Dr. K. Oesterreich.
•
Weissfeld, M. Kants Gesellschaftslehre. Berner Studien zur
Philosophie und ihrer Geschichte. Bd. LH. Bern 1907. (136 S.)
Die Beziehungen Kants zu den Gesellschaftswissenschaften ge-
hören zu denen, die relativ am seltensten zum Gegenstande näherer
Untersuchungen gemacht worden sind. Und wenn es geschah, so geschah
es meist unter ethischen und rechtsphilosophischen Gesichtspunkten. Es
hiingt das offensichtlich damit zusammen, dass Kants Verhältnis zu diesen
geisteswissenschaftlichen Disziplinen am wenigsten original ist. Er steht
hier ganz unter dem Einfluss der rationalistischen Aufklärung, So emi-
nente Verdienste dieselbe zum Teil gerade auf Grund ihres einseitigen
Radikalismus um die faktische Kulturentwicklung besitzt, und so sehr wir
alle für die relative Freiheit des Geisteslebens ihre Schuldner sind, so
wenig Befriedigendes hat sie auf dem Gebiete der positiven Gesellschafts-
forschung geleistet. Es fehlt ihr eben an der historischen Grundlegung
und dieser Mangel liegt auch bei Kant vor. Aller seiner unzweifelhaften
Belesenheit ungeachtet, sind die historischen Kenntnisse in ihm nicht zu
innerer Substanz geworden. Sie bleiben auch bei ihm ein rein intellek-
tuelles Gedächtniswissen. Vielleicht mehr noch als mit moralisierenden
Tendenzen hängt dieser Umstand wohl damit zusammen, dass grosse
wissenschaftliche Leistungen in den geschichtsphilosophischen Regionen
niemals auf rein intellektuellem Wege zu stände kommen, sondern eine
Mitwirkung der emotionalen und voluntaren Seite des Ich voraussetzen.
Alle Erkenntnis von Menschen und ihren Wechselbeziehungen ist, wenn
sie in die Tiefe gehen soU, eben an die emotionale Phantasie, das Nach-
erleben, die Einfühlung gebunden. Das aber ist gerade der Punkt, in
dem die Aufklärung versagt und in dem auch Kant uns so arna vor-
kommt. Erst die neue Dichtung hat hier den Wandel gebracht. Wie die
Kunst der Renaissance für die Erforschung der Natur von der grössten
Wichtigkeit würde, indem sie den Blick auf die Aussenwelt hinzog — - bei
Ijeonardo da Vinci ist diese innere Verwandtschaft der ästhetischen
und der erforschenden Naturbetrachtung noch ganz deutlich — , so lenkte
die neue Dichtung den Blick auf die inneren Seelenvorgänge und schuf
dem modernen Menschen die Fähigkeit des Nacherlebens, dessen Steigerung
wohl ohne Zweifel auch eine der Ursachen der damals so rasch fort-
schreitenden allgemeinen Humanisierung des Lebens gewesen ist. Wie in
der Renaissance die Naturwissenschaft entstand, entstehen im Klassizismus
die Geisteswissenschaften. Wo eigene schöpferische, Menschen schaffende
Phantasie nicht da ist, wie bei W. v. Humboldt, F. A. Wolf, Niebuhr
u. a., entsteht an Stelle von Dichtung nun die geisteswissenschaftliche
Erkenntnis. Der ungeheure Prozess beginnt, in dem die Geschichts-
forschung der Neuzeit hervortritt und in dessen Verlauf dann die Phäno-
mene Hegel,., Ranke und Jakob Burckhardt auftreten. Der Ratio-
nalismus, das Überwiegen des Denkens wirkt aber auch jetzt noch nach :
die Historiker der Neuzeit schreiben die Geschichte der Vergangenheit.
Die Historiker Athens im fünften Jahrhundert, Her odot undThukydides,
hatten vornehmlich zeitgenössische Geschichte geschrieben.
Von diesem ganzen grossen Prozess, dessen Anfänge mit Win ekel -
mann und Herder bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückreichen, ist
Kant unberührt geblieben. Seine Kenntnis der Menschen hat den intel-
lektuellen Grundzug niemals abgestreift, wie er denn auch an Herders
Ideen zur Geschichte der Menschheit das Grosse durchaus nicht ge-
sehen hat.
Rezensionen (Engel). 319
Jede Beschäftigung mit der Kantischen Gesellschaftsphilosophie
hat deshalb auf die Dauer etwas stark Unbefriedigendes an sich, so richtig
und gut zahlreiche seiner Einzelbemerkungen sind. Gleichwohl musste
die Bearbeitung von Kants „Gesellschaftslehre" einmal stattfinden. Der
Verfasser der vorliegenden Arbeit hat sogleich fast das ganze Gebiet be-
liandelt. Die Darstellung zerfällt in folgende Abschnitte: Die sozialen
Wissenschaften und ihr Gegenstand. — Bestimmungen des Gesellschaft-
lichen. — Die Familie. — Die Völker und die Nationen. — Der Staat. —
Der Völkerbund und der Staat. — Die Menschengattung.
Die bis ins Einzelne gehende Untersuchung ist ohne Frage sorgfältig
durchgeführt und die zerstreuten Äusserungen sind aus den verschiedenen
in Betracht kommenden Schriften und dem Nachlass für die einzelnen
Punkte Wühl vollzählig zusammengesucht. Die Arbeit, die, nach verschie-
denen Symptomen zu urteilen, eine Anfängerarbeit ist, hätte aber ausser-
ordentlich gewonnen, wenn der Verfasser in die Darstellung einen etwas
grösseren Zug hineingebracht hätte. Dadurch, dass dem Leser auch nicht
die geringste Gedankentätigkeit überlassen bleibt, sondern ihm mit pein-
liclier Genauigkeit die auf der Hand liegendsten Differenzen der einzelnen
angezogenen Aeusserungen bis ins einzelnste mitgeteilt werden, wirkt die
Lektüre, besonders der ersten Kapitel, teilweise peinvoll ermüdend. — Da
der Verfasser Ausländer zu sein scheint (ich hoffe es wenigstens), hätte
sich die Vorlegung der Revisionsbogen an einen Inländer empfohlen. Es
wären eine Reihe störender sprachlicher Fehler vermieden worden.
Berlin. Dr. K. Oesterreich.
Engel, Bernhard Carl, Schiller als Denker. Prolegomena zu
Schillers philosophischen Schriften. Berlin, Weidmannsche Buchhandlung,
1908.
Seit einer Reihe von Jahren macht die philosophische Arbeit der
Gegenwart den Eindruck, als sei sie damit beschäftigt, die Bewegung des
Gedankens zu wiederholen, die sich dereinst in der Zeit des deutsclien
Idealismus von Kant bis Hegel vollzogen hat. Natürlich kann es sich
nicht um eine blosse Wiederholung handeln ; schon der geschichtliche Ab-
stand, in dem wir uns jener Zeit gegenüber befinden, und die Bereicherung,
die das Wissen während der letzten hundert Jahre erfahren hat, bringt
für uns die innere Freiheit mit sich gegenüber dem zeitgeschichtlichen
Kostüm, in das sich die damalige Philosophie gekleidet hatte, und giebt
der zeitgenössischen Philosophie ein anderes Kostüm, dessen eigentümliche
Bedingtheit vermutlich auch erst spätere Zeiten wieder unbefangen werden
beurteilen können. Indessen bleiben doch durch alle Zeiten hindurch die
grossen Probleme des Denkens und die Versuche ihrer Lösung trotz aller
Modifikationen wesentlich die gleichen; und der Weg, den die Entwicke-
lung der Gedanken in früheren Epochen fruchtbarer philosophischer Ar-
beit genommen hat, bildet ein lehrreiches Muster für die Richtung, in der
das Denken späterer Geschlechter vorwärts schreitet. So erklärt es sich,
dass gegenwärtig das Interesse an der philosophischen Vergangenheit, das
jahrzehntelang um Kant nahezu ausschliesslich sich konzentriert hatte,
sich auf die Männer zu erstrecken anfängt, die Kants Philosophie nach
der einen oder nach der anderen Richtung fortzubilden unternommen
haben. Am stärksten treten dabei naturgemäss die Denker in den Vorder-
grund, die ihrer Zeit die kräftigsten Antriebe zur geistigen Durchbildung
geboten haben ; und dass in dieser Rücksicht niemand den Trägern und
Wortführern des deutschen Idealismus sich vergleichen lässt, der meiir
als einer Generation seinen Stempel aufgedrückt und die gesamte Mensch-
heitskultur um eine Stufe aufwärts gehoben hat, wird sich nicht bestreiten
lassen. Die Männer, die den Weg von Kant bis Hegel bezeichnen, be-
ginnen jetzt wieder unmittelbaren Einfluss auf die philosophische Arbeit
der Gegenwart zu üben.
Auf diesem Wege nimmt nun Schiller eine Stellung von höchst
selbständiger Bedeutsamkeit ein. Dass diese Stellung recht gewürdigt
320 Rezensionen (Engel).
worden wäre, daran hat es bisher noch in mancher Beziehung gemangelt.
Nicht bloss die dichterische Grösse Schillers, nicht bloss die unleugbaren
Unvollkommenheiten seiner philosophischen Vorbildung haben der Aner-
kennung seiner philosophischen Leistung im Wege gestanden ; es war vor
allem die überragende Grösse der philosophischen Schulhäupter, Kant an
der Spitze, in deren Schatten er mit seinen wenigen, gleichsam nur ge-
legentlich entstandenen Schriften weit zurücktrat. Dennoch ist die philo-
sophische Entwickelung jener Zeit ohne diese Schriften Schillers gar nicht
zu denken ; sie haben auf die grössten Geister der Epoche unmittelbar
befruchtend eingewirkt und haben gerade dadurch, dass sie der idealisti-
schen Philosophie, ausserhalb des schulmässigen Betriebes, den Weg in
das allgemein gebildete Bewusstsein bahnten und sie von gewissen ab-
strakten Härten des ursprünglichen Kantianismus befreiten, den Siegeszug
des deutschen Idealismus entscheidend gefördert. Darum gehört Schiller
durchaus zu den Grossen auch in der Philosophie, und seine Gedankenwelt
verdient eine Betrachtung, die von den höchsten Gesichtspunkten des
spekulativen Gedankens ausgeht.
Es ist der besondere Vorzug der Schrift Carl Engels, dass sie
„Schiller als Denker" in dieser Weise zu betrachten unternimmt. Für
Engel handelt es sich darum, den Kern, die „ideelle Einheit" der
Schillerschen Philosophie herauszuarbeiten, wodurch ihr in der Geschichte
der Philosophie der Wert einer typischen Gestalt zukommt. Er will
Schillers Anschauung in ihrer produktiven Kraft und als die systematische
Ausbreitung einer universalen Idee entwickeln. Selbstverständlich stellt
er Schiller in die nächste Verbindung mit Kant; aber zugleich legt er
überzeugend dar, wie ihn eine innere Notwendigkeit nach rückwärts mit
den Meistern der philosophischen Spekulation, vor allem mit Aiistoteles,
verbindet, und wie er zugleich nach vorwärts, in erster Linie auf Hegel,
vorausweist. Er bemerkt, dass die „edle Geisterschaft", die durch das
Wahre verbunden ist, fast nur auf den Höhenpunkten der philosophischen
Gedankenbildung anzutreffen sei, und dass man daher am besten tue, wo
es auf das letzte Geheimnis des Gedankens ankommt, sich an die wahrhaft
Grossen in der Geschichte der Philosophie zu halten (S. 8). Zu diesen
wahrhaft Grossen zählt er Schiller mit Recht, weil dieser den spekulativen
Gedanken in eigentümlicher Form und in fruchtbar neuer Auffassung aus-
gesprochen hat. „Die spekulative Gestaltung der Idee einer ästhetischen
Kultur ist das Neue, was Schiller der Welt bringt" (S. 13).
Was Schiller dadurch geleistet hat, wird man nicht leicht hoch ge-
nug anschlagen können. Zunächst wird man sagen dürfen, dass er der
Erste gewesen ist, dem es gelungen ist, den im Kantischen System noch
vorliegenden Dualismus tatsächlich zu überwinden. Und zwar hat er das
vollbracht durch seinen Begriff der Objektivität, durch den er sowohl
Fichte wie Schelling vorausgeeilt ist und für Hegel das Stichwort ge-
geben hat. Die Objektivität ist für Schiller nicht das indifferente Nicht-
ich, das dem Ich nichts weiter als einen Anstoss zur eigenen Tätigkeit
giebt, sie ist für ihn nicht die Natur, die mit der Intelligenz erst in dem
indifferenten Absoluten eins wird. Er versteht die Objektivität als die
Welt der Geschichte, als den geistigen Prozess der Kultur, durch den die
Menschheit aus der Natur zur Freiheit sich erhebt. So erscheint die Natur
miteinbegriffen unter die Wirklichkeit des Geistes ; das Objekt ist wie
das Subjekt der Geist, lenes das allgemeine, dieses das einzelne Selbst,
das in der Besonderheit seiner geschichtlichen Situation seine Allgemeinheit
verwirklicht erfasst. Engel hebt mit Nachdruck hervor, wie sich bei
Schiller „die Ahnung von der Realität und Gegenwart des objektiven
Geistes" in der Bemerkung ausspricht, der Mensch sei, ehe er anfängt zu
philosophieren, der Wahrheit näher als der Philosoph, der seine Unter-
suchung noch nicht geendet hat; und man könne deswegen ohne alle
weitere Prüfung ein Philosophieren für irrig erklären, sobald dasselbe,
dem Resultat nach, die gemeine Empfindung gegen sich habe (S. 69).
Ganz entsprechend hat sich Fichte z.B. in der „Bestimmung des Menschen"
Rezensionen (Engel). 321
geäussert, wie denn Engel über Ficlites Beeinflussung durch Schiller sehr
zutreffende Nachweise giebt (S. 66 f.). Mit seiner Intuition einer wirk-
lichen Identität von Subjekt und Objekt in dem geschichtlichen Dasein
des Geistes ist aber Schiller, wie gesagt, der unmittelbare Vorgänger
Hegels geworden, dessen Phänomenologie eben diese Intuition methodisch
zum Begriffe entwickelt. Gewiss liegt hier die Aristotelische Auffassung
von der Immanenz des Geistigen im Sinnlichen zu Grunde, wie sich
Schiller ausdrücklich dagegen wehrt, dass man sich das Materielle bloss
als Hindernis und die Sinnlichkeit in einem notwendigen Widerspruch
mit der Vernunft vorstelle (S. 56). Eben darum hat auch wie bei Aristo-
teles der unbewegte Beweger, so bei Schiller die „höchste Intelligenz"
ihren Platz, ,,die der Grund unseres Empfindens, Denkens und WoUens
ist und die aus .sich selbst alle Realität schöpft" (S. 57); nur wird man
diese so charakterisierte Intelligenz weder „rein" transscendent, noch
„ausser dem Ich befindlich" nennen dürfen. Sie kommt inhaltlich mit
„dem Begriff des absoluten Subjektes" überein, von dem Engel merk-
würdigerweise meint, dass er Schiller gefehlt habe (S. 160); und nicht
zufällig, sondern in dem Gefühle dankbarer Zustimmung hat Hegel seine
Phänomenologie, wo er im absoluten Wissen des absoluten Geistes sein
Ziel erreicht hat, mit den, nach seiner Weise modifizierten, Schillerschen
Versen geschlossen : Aus dem Kelch des ganzen Seelenreiches schäumt
ihm — dem absoluten Geiste — die Unendlichkeit.
Der Gesichtspunkt nun, der es Schiller möglich macht, den Grund
zu einer solchen Geschichts- und Kulturphilosophie zu legen, ist die ästhe-
tische Betrachtung der gesamten Wirklichkeit. Der Ansatz dazu war
ebenso wie der zur Ausbildung einer spekulativen Geschichtsphilosophie
überhaupt bei Kant vorhanden. Die „Kritik der Urteilskraft", dasjenige
der Kantischen Werke, dem Goethe nicht minder als Schiller den wärmsten
Anteil widmete, hatte dazu die Bahn gebrochen und den Dualismus der
Kantischen Denkweise bis zu einem gewissen Grade zu heilen versucht.
Engel bezeichnet kurz und treffend die Leistung Kants mit den Worten:
„Kant hat das unvergängliche Verdienst, die Absolutheit der autonomen
Vernunft, der Freiheit, zur Grundlage der Intelligenz und des Willens ge-
macht zu haben; die Gebiete der Natur und des sittlichen Lebens erwies
er als den Gesetzen der theoretischen, bezw. der praktischen Vernunft
Untertan" (S. 18). Nun liegt ja in dieser Trennung der theoretischen und
der praktischen Vernunft, in diesem Dualismus von Natur und sittlichem
Leben, noch ein Problem, das nach seiner Lösung verlangt. Wie Kant es
zu lösen oder die Einheit von Natur und Freiheit, von Gegenständlichkeit
und Vernunft zu erreichen suchte, giebt Engel mit folgenden Worten an:
„Er entdeckt eine doppelte Art des zweckmässigen Zusammenpassens von
Gegenstand und Vernunft, eine reale, wo der Gegenstand mit seinem
Wesen übereinstimmt, und eine formale, wo der Gegenstand der Natur
unseres Erkenntnisvermögens angemessen ist. Die formale veranlasst uns,
den Gegenstand schön zu finden" (S. 18 f.). Im Grunde bleibt aber hier
noch alles unbestimmt, weil ja für Kant der Gegenstand seinem Wesen
nach selber ausschliesslich durch unser Erkenntnisvermögen geformt ist;
wenn der Gegenstand selbst in seiner realen Übereinstimmung mit seinem
Wesen, also die Wahrheit des Gegenstandes, so durchaus das Erzeugnis unserer
vernünftigen Subjektivität ist, so bleibt für .die Einbildungskraft, die ihm
nach seiner Erscheinung in seiner formalen Übereinstimmung mit unserem
Erkenntnisvermögen, also als schön, empfindet, keine weitere Bestimmung,
als dass sie unkritisch oder ohne Begriffe eben dies notwendige Verhältnis
der Abhängigkeit des Gegenstandes von unserer Subjektivität wahrnimmt.
Es erhellt aber, dass wenn durch die Anerkennung einer solchen anschauenden
Wahrnehmung des Gegenstandes die Sinnlichkeit als „vernunftähnlich",
der Gegenstand als in „Analogie mit der Vernunft" erscheinend gefasst
wird, die Objektivität als Erscheinung selbst zu einer Organisation der
Vernunft und der ästhetische Gesichtspunkt zu einem massgebenden Faktor
322 Rezensionen (Engel).
des geistigen Lebens wird, der ergänzend und vollendend zu dem theore-
tischen und praktischen hinzutritt.
Hier setzt die originale Leistung Schillers ein. Kant hatte gemeint,
die Urteilskraft könne „im Notfalle gelegentlich" der theoretischen oder
der praktischen Vernunft angeschlossen werden. „Schiller," so sagt Engel,
„macht den Notfall zum Normalfall und einigt die Gebiete des Natur- und
Freiheitsbegriffs, die theoretisch hoffnungslos getrennt sind, im Prak-
tischen" (S, 25). Der Einheitsgrund, ..den auch Kant angedeutet hat, für
das der Natur zu Grunde liegende Übersinnliche und für das, was der
Freiheitsbegriff praktisch enthält, wird von Schiller näher bestimmt als
der Begriff der Freiheit in der Erscheinung (S. 27). Da nun Freiheit
recht eigentlich das Wesen des Geistes selber ausmacht, so kommt diese
Bestimmung des erscheinenden Gegenstandes auf die .einfache Wahrheit
hinaus, dass in der Tat das Sinnliche das Geistige ist (S. 144), eine Wahr-
heit, die Engel als „das Gesetz der Konkretheit" bezeichnet. Zugleich
wird durch diese Bestimmung das ästhetische Verhältnis aus einem blossen
Accidenz oder psychologischen Phänomen zu einem ideellen Momente des
Geistes selbst, das die beiden andern Momente des Geistes, das theore-
tische und das praktische, ebenso in sich begreift, wie es von ihnen mitinbe-
griffen wird. Hier liegt ein Punkt vor, in dem Schiller vielfach, besonders
von theologischer Seite, völlig missverstanden wird. Weil er die Kultur
der Menschheit wie des Einzelnen als ästhetische Kultur versteht, so wirft
man ihm vor, dass er an Stelle der Sittlichkeit die ästhetische Bildung
gesetzt, dass er die Vollendung des Menschen „bloss" im Ästhetischen
gesucht habe. Die Darstellung Engels widerlegt dieses Missverständnis
von Anfang an. Das Ästhetische ist von dem Praktischen und Theore-
tischen schlechterdings nicht zu trennen. Dass Schiller die Idee der
Selbstbestimmung auf die Welt der Erscheinungen angewandt hat, der Ge-
danke dieser Ungeheuern Vermenschlichung der Erscheinung (S. 29), bereitet
eine Änderung der ganzen Auffassung des Verhältnisses von Subjekt und
Objekt, von Geist und Natur, Begriff und Gegenstand vor (S. 82): also
die praktische wie die theoretische Vernunft nehmen an dem Fortschritte
des ästhetischen Bewusstseins teil.
Der Geist ist eben nicht in gesonderte Fächer abgeteilt; er selbst
in seiner Totalität ist es, der sich zu dem Gegenstande dies dreifache
Verhältnis giebt, ihn denkend zu begreifen, ihn wirkend zu beherrschen,
ihn mitempfindend anzuschauen. Jedes dieser Verhältnisse trägt die ganze
Wahrheit des Geistes in sich und führt, begrifflich entwickelt, dazu, die
beiden andern Verhältnisse als in ihm mitbegriffen erkennen zu lassen.
Schiller war durch seine geschichtliche Stellung darauf hingewiesen, das
ästhetische Moment im Leben des Geistes hervorzuheben und es als den
Schluss zu entwickeln, in dem sich das theoretische und praktische zur
Totalität vereinen. Diese beiden andern Momente hatte Kant in ihrer
vollen Reinheit herausgearbeitet. Schiller bemühte sich, das ästhetische
Moment zuerst ebenso in seiner Reinheit für sich zu erfassen, und ent-
wickelte so den objektiven Begriff der Schönheit. Aber kaum war er
mit dieser Entwickelung notdürftig zu Ende, als ihn die innere Not-
wendigkeit des Gedankens zwang, jeden Schein von Isoliertheit dieses
Momentes aufzuheben und es als die belebende Mitte, als das um-
schliessende Einheitsband der beiden anderen aufzuzeigen. Je länger, je
mehr aber weitete sich seine spekulative Anschauung dahin, dass er
wechselseitig jedes der drei Momente als solchen Ausdruck der Totalität
des Geistes begriff. Es dürfte nicht schwer fallen, Gedankengänge bei
ihm nachzuweisen, in denen das Praktische als der Schluss über dem
Tlieoretischen und Ästhetischen, und solche, in denen aus dem Ästhe-
tischen und Praktischen das Theoretische als die umfassende Einheit
sich erhebt.
Freilich ist nicht zu verkennen, dass Schiller mannigfach in der
Intention stecken geblieben ist und nur die Richtung hat angeben können,
in der sich der Gedanke fortbewegen sollte. Er war eben kein fach-
Rezensionen (Engel). 323
männischer Philosoph. So g^ross seine spekulative Begabung auch war,
sein dichterischer Gestaltungstrieb war stärker in ihm und rief ihn, kaum
dass er sich über seine philosophischen Grundanschauungen klar geworden
war, aus dem Felde des reinen Denkens wieder zum künstlerischen
Schaffen ab. Wiewohl er die sein Denken bestimmenden Ideale schon
früli in sich ausgebildet hatte, sind es nur wenige Jahre seiner männlichen
Reife, die er mit entscheidender Wirkung dem pliilosophischen Schrift-
stellern gewidmet hat. Die Veranlassung dazu hat ihm Kant gegeben,
und mit vollem Bewusstsein und warmer Anerkennung ist er auf den
Boden getreten, den Kant methodisch für alles Philosophieren gelegt hat.
Aber die Fähigkeit, das, was „bei Kant keimartig verborgen lag", auszu-
führen (S. 31), verdankt er doch der Ausrüstung mit Ideen, die ihn er-
füllten, längst ehe er Kant kennen lernte. Unstreitig ist die Auffassung
der Geschichte, die bei Schiller zum klaren Ausdruck kommt, ebenso wie
die Stellung des Ästhetischen im Leben des Geistes schon bei Kant
präformiert. Aber Schiller hat diese Ideen nicht von Kant übernommen,
sondern sie vor seiner Bekanntschaft mit diesem bereits zu leitenden Ge-
sicht.spunkten für sich durchgearbeitet. Sein „angeborenes Lebensideal"
(S. 16), das die Harmonie von Sinnlichkeit und Sittlichkeit erstrebte, ist
wohl in erster Linie dem Einfluss der religiösen Jugenderziehung im
Geiste des schwäbischen Pietismus zu verdanken, wie ja auch für Kant
der ostpreussische Pietismus seines Vaterhauses den Boden bezeichnet, in
dem die Prinzipien seiner Weltanschauung wurzeln. Die weitere Reife
seiner Gedanken hat sich in Schiller unter dem Einflüsse von Leibniz,
Shaftesbury und Herder vollzogen (S. 14 ff.); das merkwürdigste Beispiel
für die innere Wesensgemsinschaft aller konkret idealistischen Richtungen
bildet doch die von Engel liebevoll aufgezeigte Übereinstimmung Schillers
mit Aristoteles, den er schwerlich vor 1797 überhaupt, und auch dann nur
in einer deutschen Übersetzung der Poetik kennen gelernt hat. Eine
wissenschaftliche Ausbildung in der Philosophie hatte er nicht empfangen,
ehe er durch Kant zu einem völlig neuen methodischen Ausgangspunkte
für alles wissenschaftliche Denken geführt wurde. Es ist kein Wunder,
dass sich nun in seiner Terminologie und in der Form seiner Darstellung
die Elemente seiner verschiedenen Bildungsperioden seltsam mischen und
die Originalität des Gedankens nicht immer das angemessene Kleid des
sprachlichen Ausdrucks findet. Treffend weist Engel auf einen Fall hin,
wo Schiller einfach eine fehlerhafte Terminologie hat : er sagt vom Kunst-
werk, bei ihm sei die Form alles, derlnlialt nichts; und er meint schlechter-
dings nicht den Inhalt, sondern den Stoff (S. 111). Auch das hat Engel
richtig hervorgehoben, dass Schillers Denken zwar durchaus dialektisch
angelegt war, dass es ihm aber nicht immer gelungen ist, es bis zu einem
restlos befriedigenden Gesamtergebnis durchzuführen (S. 70). Schiller war
ein streng methodisch fortschreitender Denker jedem einzelnen Problem
gegenüber, das er aufgriff; er behandelte seinen Gegenstand systematisch
und dialektisch. Aber er ist nicht darauf aus gewesen, ein System in
allen Teilen gleichmässig auszubilden, sondern greift von Fall zu Fall die
Probleme auf, die sich ihm in den Weg stellen. Er denkt systematisch,
aber er entwirft kein System. Er bleibt mit seinem Denken in der Be-
wegung des Entdeckers und nuanciert mit jeder neuen Arbeit Gesichts-
punkt und Ausdruck. Daher liegt in der Tat die Versuchung nahe, den
Denker Schiller in erster Linie psychologisch und entwickelungsgeschicht-
lich verständlich zu machen und darüber die einheitliche Grundkonzeption
seiner Philosophie zu übersehen. Auch die Gefahr, ihn in vielen Einzel-
heiten misszuverstehen, wird durch die Form seiner Arbeiten hervor-
gerufen.
Engel ist dieser Gefahr durch seine tiefeindringende Analyse der
Schillerschen Gedankenwelt siegreich entgangen. Es gelingt ihm meister-
lich, den Sinn mancher oft missverstandenen Schillerschen Deduktion
klarzulegen, und vielfach überrascht er den Leser in erfreulichster Weise
KaDtatudieo XV. 21
324 Rezensionen (Engel),
durch die neue Beleuchtung, in die er die Gedanken Schillers dadurch
rückt, dass er sie mit der Gedankenarbeit früherer und späterer grosser
Denker verknüpft, ßntwickelungen, wie Engel sie giebt, lassen sich durch
ein epitomierendes Referat nicht wiedergeben. Ihr Verdienst liegt min-
destens ebensosehr in der methodischen Sorgfalt des dialektischen Ge-
dankenfortscliritts wie in dem schliesslichen Resultate. Darum müssen
wir unsere Leser darauf verweisen, das Buch selbst zur Hand zu nehmen
und sich schrittweise durch Engel von einem Momente der Schillerschen
Anschauung zu dem anderen leiten zu lassen. Er stellt in einer Reihen-
folge, die der Begriff selbst an die Hand giebt, zuerst die Idee der ästhe-
tischen Kultur nach Schiller dar, und zwar geht er von der Aufstellung
des objektiven Begriffes der Schönheit aus, um sein subjektives Korrelat
in dem Spieltriebe des Menschen und dann seine Verwirklichung in dem
Zustande der ästhetischen Kultur zu behandeln. Daran schliesst sich ein
Abschnitt, der die ästhetische Kultur als System der Künste, also die Be-
sonderung des Ästhetischen für sich selbst darstellt, und darauf folgen die
beiden Abschnitte, die der Synthese der Momente des praktischen und
theoretischen Geistes im Ästhetischen gewidmet sind und von der ästhe-
tischen Kultur und der Geschichte sowie von der ästhetischen Religion
handeln. Überall ist es Engel gelungen, der Eigentümlichkeit des
Schillerschen Gedankens gerecht zu werden; nur in einem, freilich sehr
wichtigen Punkte muss doch gegen sein Urteil Widerspruch erhoben
werden.
Engel hält Schillers Kritik von Kants moralischem Rigorismus für
verfehlt und raubt Schiller damit den Ruhm, der ihm vor allem gebührt, das
sittliche Bewusstsein philosophisch auf eine höhere Stufe der inneren Freiheit
gehoben zu haben. Zugegeben, dass auf dem Standpunkte der Moralität,
wo die Frage nach der Richtschnur für die menschlichen Handlungen ge-
stellt wird, die Kantische Moral die reinste und erhabenste Antwort giebt,
und dass Schiller, wenn er innerhalb dieses Standpunktes sich halten
wollte, duich Widerspruch gegen Kant notwendig hinter ihm hätte zurück-
bleiben müssen, so ist doch das Verdienst Schillers eben dies gewesen,
dass er den Standpunkt der Moralität gänzlich verlassen, ihn als einen
untergeordneten betrachtet und an Stelle des Dualismus zwischen einer
abstrakten Vernunftregel und einem singulären Tun die Idee des in sich
einheitlichen und versöhnten Lebens im Geiste gesetzt hat. Schiller fragt
gar nicht: wie soll der Mensch sittlich handeln? sondern: wie kann der
Mensch sittlich sein? und sieht vor und über der empirischen Tatsache
der Unvollkonimenheit des Individuums als den belebenden Geist aller
moralischen Anstrengung die allgemeine und ideelle Wirklichkeit des
Sittlichen in der Menschheit wie in dem Einzelnen. Die Sittlichkeit ist
nicht bloss ein Ideal, zu dem man in unendlichem Prozess hinstreben
muss, sie ist eine Idee, die sich im sittlichen Leben, in dem Bewusstsein
der persönlichen Freiheit und in der Hingabe an den Gott, den heiligen
Willen, dessen Wohnung die Brust des Menschen ist, beständig verwirk-
licht. Diese Auffassung des Sittlichen tritt in Schillers philosophischen
Schriften ebenso wie in seinen Dichtwerken überall klar ans Licht, wenn
man auch zugeben muss, dass er sich zu ihrer Formulierung oft solcher
Termini bedient, die aus dem von ihm überwundenen Standpunkte her-
stammen und zu seiner Anschauung nicht mehr passen. Wenn er sagt,
Tugend sei nichts anderes als Neigung zur Pflicht, so ist weder das Wort
Tugend, noch das Wort Neigung, noch das Wort Pflicht wirklich dazu
geeignet, seinen Gedanken auszudrücken. Das trifft auch auf den be-
rühmten Ausspruch zu, das Christentum habe an Stelle des kategorischen
Imperativs die „freie Neigung" gesetzt; dass aber Schiller unter freier
Neigung hier eben das versteht, was der religiöse Sprachgebrauch mit
dem Worte „Glauben" bezeichnet, und dass er den höheren Imperativ ;
„du musst glauben" oder „nehmt die Gottheit auf in euren Willen" an
Stelle des die Handlungen des moralischen Menschen regulierenden Ver-
Rezensionen (Engel), 325
nunftgebotes gesetzt bat, geht aus seinen Worten überall hervor. Man
wird ihn nicht tadeln dürfen, dass er in der wissenschaftlichen Erörterung
den melirdeutigen Terminus „Glauben"' nicht benutzt hat: Fichte hat ihn
schwerlich zum Vorteil für die Verständlichkeit angewendet. Wenn aber
Schiller in dem erwähnten Ausspruch als den Inhalt des Christentums die
„Menschwerdung des Heiligen" bezeichnet, so hat er für sein sittliches
Ideal tatsächlich den treffenden Ausdruck gefunden; man wird übrigens
auch den gewaltigen Fortschritt der ethischen und geschichtlichen Einsicht
nicht genug bewundern können, den Schiller zweifellos unter dem Ein-
flüsse Kants gemacht hat, wenn an derselben Stelle der Mann, der vor
kurzem die „Götter Griechenlands" gedichtet hatte, jetzt das Christentum
für die „einzige ästhetische Religion" erklärt.
Davon also, dass, wie Engel meint, bei Schiller der Gegensatz der
„beiden grössten ethischen Systeme, der Nikomachischen und der Kantischen
Ethik, der Hexis und der reinen praktischen Vernunft" ungelöst bestehen
bleibe (S. 85), kann nicht wohl die Rede sein. Auch das Schwanken in
der Wertung des Ästhetischen, das er bei Schiller bemerkt, liegt mehr
im Ausdruck als in einer Unsicherheit des Gedankens; man muss nur, was
wir oben hervorgehoben haben, im Auge behalten, dass in Schillers An-
schauung das Ästhetische als Moment des Geistes einesteils seine Be-
sonderheit hat, andernteils eine Form der Totalität alles geistigen Lebens
ist, also das theoretische und praktische Moment in sich enthält. Gewiss
ist „Neigung zur Pflicht" ein „unglücklicher Ausdruck" (S. 46). Aber was
Engel dagegen einwendet, trifft unter seinen eigenen Voraussetzungen
nicht zu. Er sagt: „das Sinnliche kann sich nicht vergeistigen", was es
nach Engel selber auch gar nicht nötig hat; denn er bekennt sich freudig
zu dem Satze: das Sinnliche ist das Geistige. Er meint: der Geist aber
kann sich versinnlichen, was wieder seiner sonstigen Überzeugung gar
nicht gerecht wird; denn diese ist doch nicht, dass der Geist sich ver-
.sinnlichcn kann, sondern dass er vielmehr dies ist, sich stetig zu ver-
sinnlichen. Darum gilt auf dem ethischen Gebiete eben auch das „Gesetz
der Konkretheit", und dies Gesetz wird durch den Kantischen Dualismus
zwischen dem kategorischen Imperativ als abstrakter Regel und der indi-
viduellen Situation als indifferenten Materials für das jeweilige Wollen
verleugnet. Das Sittliche ist nicht als einzelne Handlung noch als einzelne
Intention, ebensowenig aber als ein bloss formales Sollen zu begreifen,
sondern als dauernde Selbstbestimmung des Geistes, die im Einzelnen den
allgemeingiltigen Gehalt erfasst und also die Einzelheit zum Abbilde des
Allgemeinen verklärt. Das meint Schiller, wenn er von einem „ästhe-
tischen Übertreffen der Pflicht" redet, das darin besteht, dass „die Natur
sich geheiligt habe".
Hier führt die ästhetische Kultur im Sinne Schillers direkt auf das
religiöse Gebiet hinüber. Engel hebt als für Schiller bezeichnend hervor,
dass weder das Dogma noch die Kirche, die beiden unerlässlichen objek-
tiven Grundlagen für jede wirkliche Religion, jemals ernstlich in Schillers
Gesichtskreis getreten sind (S. 166). Das ist aber doch mehr für die Zeit
bezeichnend, in der Schiller lebte, als für ihn persönlich. Gewiss liegt
der Kirche die Aufgabe ob, den Glauben als ein Wissen in begrifflicher
Bestimmtheit durch das Dogma zu formulieren und zu konservieren ; aber
in dem Individuum lebt das Dogma doch nur in den seltensten Fällen als
entwickelter Begriff, vielmehr der Regel nach als Anschauung, die von
der „freien Neigung" angeeignet und festgehalten wird. In diesem Sinne
ist Schiller recht eigentlich der Dichter des „Glaubens" und des neuen
Lebens, das als ein Geschenk der Gnade von oben dem kindlich vertrauen- ^
den Gemüte, der sinnigen Einfalt zuteil wird. Dass er diese Gedanken *
dichterisch in Bildern aus der hellenischen Mythologie, philosophisch in
abstrakten, freilich nicht ausreichenden Formeln ausgesprochen hat und
nicht in den Ausdrücken des religiösen Sprachgebrauchs, ist gewiss nicht
zu beklagen. Denn seine Gedichte sollten ja keine Kirchenlieder und
21*
326 Rezensionen (Michaltschew).
seine Abhandlungen keine erbaulichen Traktate sein. So aber, wie sie
da sind, bilden sie die beglückendsten Zeugnisse dafür, dass hier der
grosse Gedanke der Reformation, der Begriff der evangelischan Freiheit
in Gott aus dem Bezirke der religiösen Anschauung in die gesamte Welt-
lichkeit eingedrungen ist und dem gebildeten Selbstbewusstsein zu einer
neuen Stellung inmitten seiner Welt verholfen hat.
Engel macht der Schillerschen Auffassung des sittlichen Lebens den
Vorwurf, dass durch sie „der ideale Zustand, nach dem die Entwickelung
gerichtet ist, leicht vorweggenommen werde". Vielleicht könnte dieser
Vorwurf gegenüber der Aristotelischen Ethik für nicht ganz unzutreffend
gelten, der die Zuspitzung und Versöhnung des sittlichen Problems, wie
sie im Christentum zu stände gekommen ist, noch unbekannt war. Schiller
gegenüber bedeutet er mutatis mutandis etwa dasselbe, wie der Vorwurf,
den die römische Kirche gegen Luther erhebt, dass er mit seiner Recht-
fertigungslehre den Ernst der sittlichen Anstrengung und der tugendhaften
Leistung abschwäche. Den sittlichen Kampf, das Ringen der zwei Seelen im
Individuum, das Schuldbewusstsein gerade des heiligen Menschen, den grausen
Abgrund, der zwischen dem Ideal und dem empirischen Dasein klafft,
hat doch Schiller wahrlich erschütternd genug dichterisch wie philoso-
phisch dargestellt. Dass er „den Weg nach Golgatha nicht mitmache"
und „keinen spekulativen Charfreitag erlebe", widerspricht dem tragischen
Ernste durchaus, der den Hintergrund ebenso seines persönlichen Lebens
wie seiner Gedankenwelt gebildet hat. Aber wie der Charfreitag in dem
Prozess der Versöhnung nur ein Moment, ihre Totalität aber, und zwar
der als Resultat hervorgetretene Grund des ganzen Prozesses, das neue
Leben der Auferstehung ist, so ist es nur freudig zu begrüssen, dass
Schiller nicht bei dem unüberwundenen Zwiespalt stehen gebliel)en,
sondern zu der daseienden Versöhnung vorgedrungen ist und nicht darin,
dass der Einzelne mit seiner Individualität nicht fertig wird, sondern
darin, dass er seine Individualität durch den Geist verklären lässt, die
Verwirklichung der praktischen Vernunft erkennt.
Berlin, NO 43. Georg Lasson.
Älichaltschew, Diniitri. Philosophische Studien. Beiträge zur
Kritik des modernen Psychologismus. Mit einem Vorwort von Prof. Dr.
Johannes Rehmke. Leipzig, W. Engelmann, 1909. (560 S.)
Das Buch stellt eine sehr scharfe Polemik gegen die Hauptrichtungen
der modernen theoretischen Philosophie dar. Obwohl das Namenregister
über 100 Namen zählt, sind hauptsächlich 4 Schulen gemeint und in Bezug
auf ihren Psychologismus kritisiert: der „teleologische Kritizismus"
(Windelband, Rickert), die Schule der „reinen Logik" (Bolzano, Husserl),
die immanente Schule (Schuppe) und der Empiriokritizismus (Avenarius,
Mach). Vor allem sind es aber die beiden ersten Schulen, gegen welche
der Verfasser die Pfeile seiner Polemik richtet, und dabei ist es haupt-
sächlich Rickert, dessen Lehre mehr als die Hälfte des dicken Buches
gewidmet ist. — Der Verfasser selber ist Schüler Rehmkes, dessen
noch nicht veröffentlichtes, nur vom Katheder gelehrtes System der
theoretischen Philosophie er in jeder Hinsicht vertritt. In seinem
kurzen Vorwort nennt Rehmke das Buch seines Schülers und ,jungen
Freundes", „filius ante patrem". Er freut sich dabei, „mit welcher
Sicherheit er (Michaltschew) unsere Anschauungen vertritt und als schneidige
Waffe gebraucht."
Trotz mancher grundlegender Unterschiede in ihrer Erkenntnis-
theorie haben nach M. die beiden hauptsächlich von ihm bekämpften
Schulen das gemeinsam, dass sie von einer „dualistischen" Voraussetzung
ausgehen: Der teleologische Kritizismus von dem Gegensatze „Seiendes—
Sollendes" oder „Gegebenes— Aufgegebenes", die reine Logik, die vom
Sollen in der theoretischen Philosophie nichts wissen will, von dem Gegen-
satze „Reales — Ideales", der jedoch prinzipiell sich von dem ersteren nicht
unterscheidet. Beide bekämpfen bekanntlich den offenen Psychologismus
Rezensioueu (Michaltschew). 327
in allen seinen Verzweigungen, und trotzdem verfehlen sie doch alle ihr
Ziel, denn die Grundvoraussetzungen jedes Psychologismus (den dua-
listischen Ausgangspunkt) teilen sie. Ja, sie stellen den letzten ver-
zweifelten Versuch dar, den Psychologismus in einer höchst verfeinerten,
fast nicht mehr erkenntjaren Form zu retten. Dieser Dualismus entspringt
aus dem platonischen Dualismus zwischen Gegebenem und Seiendem, seine
Wurzel „liegt in dem Satz, dass dem Bewusstsein nicht etwas gegeben
und zugleich in seinem Bestehen von ihm unabhängig sein kann" (S. 30f.).
Dieser Satz beruht auf der Verwechselung zweier grundverschiedener
Bedeutungen des Wortes ,,Haben"': nämlich 1. Haben als Besitzen und 2.
Haben als Zugehörigkeit. Jede psychologistische Erkenntnistheorie meint,
dass das, was die Seele besitzt, auch notwendig zu ihr gehört. Das Ge-
gebensein verwechselt sie mit dem Zugehörigsein. Im ersten Sinne des
„Habens" besitzt die Seele (oder ihr ist gegeben) sowohl das Psychische
als auch das Ph3'sische, die nicht aufeinander zurückführbar sind. Im
zweiten Sinne bedeutet das Zugehörige die Bestimmtheit des Einzelwesens
„Seele", und insofern ist es, ebenso wie diese selbst, nur psychisch und
freilich von der Seele abhängig. Das Gegebene aber (das, was die Seele
besitzt) braucht nicht von der Seele abhängig zu sein, ja, es ist von ihr
unabhängig, und nur die dogmatische Erkenntnistheorie lehrt die Ab-
hängigkeit des Gegebenen von der Seele, indem sie die beiden Be-
deutungen des „Haben" verwechselt. Sie will dem Solipzismus, zu dem
diese Verwechselung notwendig führt, entgehen. Daraus folgen alle Spitz-
findigkeiten und Subtilitäten der modernen Erkenntnistheorie. Sie nimmt
aber das solipsistische Dogma an, das ihren Ausgangspunkt bildet. Dem
Versuch, dem Solipsismus zu entgehen, entspricht auch die von Schuppe
begonnene Reform des Bewusstseins und das Hauptproblem der modernen
Erkenntnistheorie „das Bewusstsein überhaupt". Mit grossem Nanien-
apparat verfolgt M. eingehend die Entwickelung dieses Problems, um die
ganze wütende Kraft seiner Polemik gegen den Rickertschen Begriff des
..erkenutnistheoretischen Bewusstseins" auszuspielen. Er will nachweisen,
da^s das Bewusstsein überhaupt entweder ein psychologisches Bewusstsein
bedeutet, was zu einem maskierten Solipsismus führt, oder ein „leeres
Wort" ist. — Das Wichtige dieser Ausführungen M.s besteht in der Be-
tonung des psychologistischen Ursprunges des Problems des „Be-
wusstseins überhaupt". Dieser Begriff will eben das Problem der Trans-
scendenz lösen, und wenn der transscendentale Idealismus in der Lösung
des Problems der Transscendenz zu einer Fassung des „Bewusstseins
überhaupt" kommt, welche dem Namen der Begriffe nicht mehr entspricht,
so zeigt eben diese Paradoxie der Bezeichnung das Falsche des gegne-
rischen Ausgangspunkts. Deswegen irrt auch M,, wenn er durch die
Kritik des Bewusstseins überhaupt die positive Theorie Rickerts getroffen
zu haben meint. Er vergisst, dass dieser Begriff eine rein negative kri-
tische Bedeutung hat (gegen die Vertreter der transscendenten Wirklich-
keit), und wenn diese Kritik eine solche Auffassung des Bewusstseins
fordert, welche mit dem gewöhnlichen Begriff des Bewusstseins nichts
mehr gemeinsam hat, so ist das eben der beste Beweis für ihre Richtig-
keit. Vor allem aber übersieht M., dass seine eigene Kritik des Psycho-
logismus, die wir oben angedeutet haben, eigentlich nur eine Paraphrase
der von M. so scharf bekämpften Rickertschen Unterscheidung zwischen
dem psychologischen und erkenntnistheoretischen Subjekte ist. Denn das
„Haben" im Sinne der Zugehörigkeit, wobei wir mit Bestimmtheiten der
Seele zu tun haben und in der rein psychischen Sphäre uns bewegen, ist
eigentlich nichts anderes als das Rickertscbe Verhältnis des psycholo-
gischen Subjekts zur entsprechenden Objektssphäre. Die Inhalte dieser
Objektssphäre (das Vorstellen, das Fühlen, Wollen u. s. w.) gehören, wie
R. selber sagt, zum psychologischen Subjekt. Das dagegen, was die Seele
besitzt, oder „das Gegebene" (nach der Terminologie M.s) ist nichts
anderes als „der Inbegriff aller immanenten Objekte", d. h. die Objekts-
328 Rezensionen (Michaltschew).
Sphäre des erkenntnistheoretischen Gegensatzes, welche das Korrelat zum
Begriff des erkenntnistheoretischen Subjektes bildet. Dass auch sein Be-
griff des Gegebenen (wem Gegebenen?) einen solchen Korrelatbegriff
fordert, giebt M. am Ende des Buches selber zu, „Hoffentlich ist demnach
genügend klar geworden, sagt M., wie wir die Wirklichkeit als etwas
von uns Unabhängiges begründen. Was ihren Charakter einer Bewusst-
seinswelt betrifft, so schliessen wir weiter, dass ein Bewusstsein bestehen
muss, das die Wirklichkeit besitzt. Das Wirkliche ist Bewusstseiendes,
doch es ist nicht deswegen, weil wir, Menschen, Tiere oder Engel, es
haben. Der „Grund" für die Welt als Inbegriff aller Wirkenseinheiten
liegt in einem Bewusstsein, dass man meinetwegen „göttliches" nennen
könnte" (S. 555). Warum diese Umsetzung der „alten" Terminologie —
„erkenntnistheoretisches und psychologisches" Subjekt u. s. w. — in die
„neue", wo wir es mit der „Seele", „Einzelwesen", „Bestimmtheiten" und
einem „göttlichen Bewusstsein" zu tun haben, keine „Wortspielerei" ist,
— die Versuche aber mit den „alten" vom Kritizismus herrührenden Ter-
minis dieselbe Sache klarzulegen eine solche sind, — das können wir nicht
verstehen.
Damit wollen wir natürlich nicht behaupten, dass dieser ganze
Streit sich nur um die Terminologie dreht. Das Motiv der Kritik M.s,
das ihn dazu führt, im Kritizismus nur einen maskierten Solipsismus zu
sehen, ist ganz klar und ist nicht für M. allein charakteristisch. Er teilt
es z. B. mit Lossky (Die Begründung des Intuitivismus 1908), der ebenso
den Subjekt — Objekt-Gegensatz für das Hauptmoment des Kritizismus hält
und in der Gegebenheit den einzig möglichen Ausgangspunkt der Erkennt-
nistheorie sieht. Es ist die Leugnung jedes „Sollen" oder jedes „Idealen",
überhaupt jedes Etwas, das nicht Sein ist, das Streben also, alles auf das
Sein zu begründen. Dass dieses Streben ohne metaphysische Annahme
undurchführbar ist, giebt Lossky, der eine „nicht sinnliche Wahrnehmung"
annimmt, selber zu. Dass auch M. zu solchen Annahmen gezwungen ist,
haben wir gesehen. Allerdings behauptet er die „Gegebenheit" auch
seines „göttlichen Bewusstseins". Jedenfalls ist hier das Wort „Gegeben"
in einem sehr weiten Sinne gebraucht, der uns unverständlich macht, wa-
rum das erkenntnistheoretische Subjekt einerseits oder irgend welcher
Unsinn andererseits weniger „gegeben" ist als M.s „göttliches" Be-
wusstsein.
Dasselbe Motiv treibt M., das Problem der Wahrheit mit dem der
Wirklichkeit zu identifizieren. Wirklichkeit und Wahrheit sind zwei
gleichbedeutende Termini. Ja, er meint sogar, dass die Losreissung des
Wahrheits- von dem Wirklichkeitsbegriff eines der hauptsächlichsten Ge-
brechen der beiden Schulen (des teleologischen Kritizismus und „der
reinen Logik") ist. In dieser Trennung besteht eben das Interessante und
Charakteristische der zweiten Schule, welche die beiden für die dua-
listische Erkenntnistheorie allein möglichen Wege (Solipsismus oder Re-
form des Bewusstseins) vermeiden wollte. In seiner Kritik aber vergisst
M., dass die beiden Schulen, vor allem aber der transscendentale Idealis-
mus, die beiden Probleme nicht trennen, sondern insofern verknüpfen, als
das Wirklichkeitsproblem für sie einen Fall des allgemeineren Wahr-
heitsproblems überhaupt bedeutet. Um seine Identifizierung beider Pro-
bleme durchzuführen, ist M. gezwungen, in der Mathematik keine Wahr-
heit, sondern nur ein „i'ichtiges Rechnen" zu erblicken. Als ob diese
Namensänderung das schwierige Problem des Verhältnisses der mathema-
tischen Wahrheit zur empirischen irgendwie lösen könnte! Neben dieser
terminologischen Willkür, die die unbequemen Probleme wegscliaffen soll,
ist auch für die „grundwissenschaftliche" Betrachtung Rehmkes-Michaltschews
eine Auffrischung alter Theorien charakteristisch. Wirklich, d. h. von
dem Bewusstsein unabhängig ist nur die mechanische Welt, welche durch
die Bestimmtheiten charakterisiert wird : Grösse, Gestalt, Örtlichkeit,
Zeitlichkeit, d. h. solche, „über die man sich immer durch Messen ver-
Rezensionen (Michaltschew). 329
ständigen kann." Alle anderen Eigenschaften des Wirklichen sind eigent-
lich keine Wirklichkeit, sie sind subjektiv und aus der Einwirkung der
äusseren Wirklichkeit auf unseren Leib zu erklären. Wie diese Lockesche
Trennung der primären und sekundären Qualitäten die Wahrheit der
biologischen und psychologischen Wissenschaften begründen kann, bleibt
unerklärt. Warum kann man über die Grösse sich „verständigen", über
die Farbe nicht? Warum steht die Farbe in keinem Wirkungszusammen-
hang, wohl aber die Grösse ?
Mit dieser Auffassung des Wahrheits- bezw. Wirklichkeitsbegriffs
geht auch ein gewisser Begriffsrealismus zusammen, der ebenfalls M. mit
Lossky zusammenbringt. Das Allgemeine existiert ebenso wie das
Besondere, in Rücksicht auf die Realität unterscheiden sie sich nicht von
einander. In einem Nachtrage zu seinem Werke polemisiert M. ausführ-
lich gegen Rickertsche Untersuchungen im Gebiete des Allgemeinen (s. g.
verschiedene „Arten" des Allgemeinen). Diese Polemik bezieht sich nicht
nur auf die gedruckten Werke Rickerts, sondern auch auf Ansichten, die
teils aus seinem Kolleg, teils aus den Arbeiten seiner Schüler zu entnehmen
waren. Hier finden wir Stellen wie die folgende : „Ist „die italienische
Renaissance"' ein Begriff? Für Windelband und Ricke rt: ja. „Der
Begriff eines historischen Ganzen"', so spricht der letztere von ihr.
Ebenso: romantische Schule und Novalis! Ich meine jedoch, wir haben
gar kein Recht, von einem „Begriff der italienischen Renaissance" zu
reden. Der Begriff, das kann niemand leugnen, ist doch vor allem etwas
.allgemeines, etwas Mehreren Gemeinsames" (S. 454). „Das kann niemand
leugnen" — das ist der ganze Beweis, wo es sich gerade um die Frage
handelt, ob individuelle Begriffe vorhanden sind oder nicht. Eine solche
petitio principii findet man öfter in M.s Buche. Nicht viel zwingender
ist auch die Art, wie M. die transscendentale Allgemeinheit einer philo-
sophischen Form leugnet. Die Unterscheidung zwischen Form und Inhalt
hält M. überhaupt für eine „Wortspielerei". Form ist kein „Gegebenes",
es ist also ein leeres Wort! Und trotzdem „giebt" M. selber „zu" (S. 473),
dass die transscendentale Allgemeinheit, welche eine philosophische Vor-
aussetzung auszeichnet, und welche ein „Forderungsverhältnis"' ausdrückt,
etwas ganz anderes ist, als die empirische (vor allem die gattungsmässige)
Allgemeinheit. Ja, er sagt sogar, dass „dieses Verhältnis sachlich mit
dem Allgemeinen, bei dem das „Rote" die „Farbe" voraussetzt
(d. h. „gattungsmässig") absolut nichts zu tun" hat. Das ist aber das,
was eben Rickert behauptet. Er meint nur, dass in der früheren Ent-
wickelung der Philosophie das „Forderungsverhältnis" immer mit der
gattungsmässigen Allgemeinheit verknüpft war, und dass deswegen seine
Bezeichnung als einer besonderen Art der Allgemeinheit nur zur Klärung
des ganzen Problems beitragen kann, indem sie die Geschichte dieses Pro-
blems gleichsam konzentriert. Schliesslich erkennt auch M. dieses (philo-
sophische) Allgemeine (oder die Form) als ein „etwas" an, obwohl er
früher in ihm nur ein leeres Wort sah. Es ist, sagt er (S. 474), die Be-
ziehung, welche „für das zergliedernde Denken etwas Sinnvolles, Ge-
gebenes ist, nur soweit sich ihm ein . . . Bezogenes bietet". Diese Be-
ziehung ist nach M. das bestimmte Allgemeine und ist Gegenstand der
Philosophie, als Grundwissenschaft. Ist aber dieses Allgemeine dasselbe,
wie „Farbe", „rot" u. s.w.? Wenn ja, wie ist das Gebiet der Philosophie
gegen die generalisierenden Naturwissenschaften, welche auch mit „be-
stimmtem Allgemeinen" zu tun haben, abzugrenzen? Auch die Natur-
wissenschaften fragen nicht nach jenem oder diesem besonderen Allge-
meinen, sondern reden immer von „Säuren überhaupt", vom „Fall der
Körper überhaupt" u. s. w. Warum ist denn die Frage nach der „Wirk-
lichkeit überhaupt"' („grund\^^ssenschaftliche•' Frage) prinzipiell eine andere,
als die nach der „Gravitation überhaupt"? Weil die Allgemeinheit „der
Beziehung" prinzipiell eine andere ist, als die Allgemeinheit der natur-
wissenschaftlichen Begriffe. M. wendet ein, dass seine „Beziehung" immer
330 Rezensionen (Michaltschew).
mit dem „Bezogenen" verknüpft bleibt und nur soweit Sinn hat, als dieses
sich ihr bietet. Dasselbe behauptet auch Rickert von seinen Formen,
welche nur mit Rücksicht auf einen Inhalt Sinn haben. Das war doch
auch der Sinn der Kantischen Kritik, welche ebenfalls die Begriffe ohne
Inhalt „leer" nennt! Insofern finden wir bei Rehrake-Michaltschew nur
eine willkürliche Terminologie, welche von eigenartigen aber falschen
Motiven geleitet, dieselben Ergebnisse anders einkleidet. Dass die „Grund-
wissenschaft" nur die „Beziehungen" untersucht, dass sie vom „Bezogenen"
abstrahiert, wird auch M. zugeben. Warum ist es Rickert dann nicht ge-
stattet, in der Erkenntnistheorie nur die reinen Formen zu untersuchen?
M. vergisst eben, dass der Gegensatz zwischen Form und Inhalt die Vor-
aussetzung der Erkenntnistheorie bildet: er ist eigentlich nichts anderes,
als der Gegensatz zwischen der erkenntnistheoretischen (wertwissenschaft-
lichen) und empirischen (seinswissenschaftlichen) Betrachtung. Diesen Dualis-
mus (zwischen Philosophie und empirischer Wissenschaft) muss auch M.
anerkennen. Ja, ihn muss jeder anerkennen, der „antipsychologistisch"
denkt und jedes metaphysische Sein leugnet. In diesem Punkte, wo es
sich um die Abgrenzung der Philosophie gegen empirische Wissenschaft
handelt, vermag keine Terminologie den Umstand zu verhüllen, dass wenn
die empirischen Wissenschaften mit dem einzig möglichen Sein sich be-
schäftigen, die Philosophie etwas ganz anderes als ein Sein (ein „Nicht-
sein") zu untersuchen hat, d, h. eine Wertwissenschaft ist. —
Es fehlt uns der Raum, die Ansichten Rehmkes-Michaltschews weiter
zu verfolgen. Wir finden hier einige interessante Motive, die wir oben
hervorgehoben haben, und die, wie gesagt, nicht nur für Rehmke cliarak-
teristisch sind. Ausserdem finden wir eine neue aber höchst willkürliche
Terminologie, welche teilweise alte Lehren auffrischt, teilweise aber die
Probleme verhüllt oder dasselbe sagt, was sie bekämpft. Die sehr ein-
gehende Polemik M.s ist insofern von Nutzen, als sie manche termino-
logische Schwierigkeit ganz glücklich hervorhebt, was besonders für den
„teleologischen Kritizismus", der noch in der Entwickelung begriffen ist
und insofern keine feste Terminologie besitzt, wichtig ist. Wir vermissen
aber in diesem Werke und in der ganzen Richtung, die es vertritt, jenes
Verständnis für die Kontinuität der Geschichte, welches die Fruchtbarkeit
in der Zukunft verbürgt. Diesen Mangel kann auch nicht die eifervolle
Pietät M.s vor seinem Lehrer ersetzen, die ihn dazu treibt, Rehmke eine
exceptionelle, revolutionäre Rolle in der Geschichte der Philosophie zu-
zuschreiben, so dass nach M. Rehmke erst die Philosophie, die bis jetzt
in den Bahnen des Piatonismus sich bewegte, auf eine neue gesunde Basis
gestellt hat. Daraus entspringt auch eine in wissenschaftlichem Verkehr
ganz ungewöhnliche Art der Polemik. Stellen, wie „hier verliert auch der
beste Christ seine Geduld" (S. 441), „das Beispiel, mit dem Rickert seinen
Leser verblüffen will" (S. 411), „die dilettantische und oberflächliche Be-
handlung der spychologischen Fragen" — in Werken Ricker ts und
Windelbands (S. 208), „Spiel mit Phrasen", „barer Unsinn" (S.384 u. a.)
u. a., die geschmacklosen Beispiele, wie „die Tante Anna ist schwarz"
(S. 350), die Vergleiche, wie der Vergleich des Begriffs der Begriffsbildung
mit einem Kompagniegeschäft,i) die vielen Wiederholungen machen das
Buch höchst ungeniessbar. Sie verdecken leider manches Interessante
und Nützliche, was der aufmerksame Leser im Buche finden könnte. Die
vielen Zitate und Namen, die meistens nur für polemische Zwecke heran-
gezogen sind, ermüden auch den Leser. Möge das zweite Buch, dass M.
1) S. 517 : „Ich warf dem Kritizismus vor, er fasse das Erkennen als
ein Kompagniegeschäft, als eine Fabrikation auf und suche die Verant-
wortlichkeiten für diese Tat festzustellen: wieviel fällt auf das Konto des
Inhalts, und wieviel auf das der Form ? Rickert hat z. B. entdeckt, dass
das Formmässige tatsächlich doch mit mehr Aktien in dem Geschäft be-
teiligt ist, als es Kant meinte" . . . und in dieser Art weiter.
Rezensionen (Hönigswald). 331
bald herauszugeben verspricht, weniger Polemik und viel mehr positives
Material bringen !
St. Petersburg. Dr. S. Hessen.
Hönigswald, Richard, Dr. Über die Lehre Humes von der
Realität der Aussendinge. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung.
Berlin, C. A. Schwetschke & Sohn, 1904. (VIII, 88 S. 8".)
H. ist in der vorliegenden Schrift weniger historisch als systematisch
interessiert. Doch leitet ihn die systematische Prüfung der Lehre Humes
von der Realität und Substanzialität zu systemgeschichtlichen Erörterungen
hin: besonders das Verhältnis Humes zu Berkeley einerseits, zu Kant
und den Theorien Machs andererseits wird beleuchtet.
Jene Seite der Philosophie Humes war bisher von der erkenntnis-
theoretischen Ft)rschung wenig beachtet: die „Hume-Studien" Meinongs
(1877, 1882) und Zimmermanns „Über Humes Stellung zu Berkeley und
Kant" (1883) sind vorwiegend psychologisch interessiert. Nur kurz hatte
PaulXatorp auf den „wertvollen kritischen Ansatz" in der Substan-
zialitätslehre Humes (Hönigswald, S. 58) hingewiesen (Einleitung in die
Psychologie nach kritischer Methode (1888) S. 58f.'). Humes geschichtlich
wirksamere Kausalitätslehre hat von jeher das Interesse vorwiegend an sich
gezogen; die nur in dem Jugendwerk, dem Treatise entwickelte und also
Kant unbekannt gebliebene Realitätslehre trat dagegen zurück. i) Fehlte
ihr so ausser genügender erkenntnistheoretischer Würdigung die unmittel-
bare geschichtliche Wirkung, so fehlt ihr keineswegs eigene systemati-
sche Bedeutung; diesen ihren Wert zu erkennen und mit anderen Systemen
„aussergeschichtlich" zu messen ist lehrreich. H. kommt das Verdienst zu,
diese Arbeit geleistet zu haben.
Seit dem Erscheinen seiner Hume-Studie sind nun schon etliche
Jahre vergangen. Sie ist besprochen worden von Mally in der Deutschen
Literaturzeitung, von Th. Seh. in der Revue critique, 39« annee (Nr. 14,
8 avril 1905) p. 278, in der Wiener Abendpost, von Karl Vorländer
im Literaturblatt der Frankfurter Zeitung vom 26. November 1905, Sp. 3
und 4; von Karl Jentsch in der Wiener Zeit, April 1906, von W. Ost-
wald in den Annalen der Naturphilosophie, Bd. 5 (1906), S. 512, sowie
von mir im Literarischen Zentralblatt 1905, Nr. 47 (18. November),
Sp. 1573—74. Die Anzeigen von Mally und von Th. Seh. sind bloss knappe
Referate; das letztere ist zudem unzuverlässig; Ostwald hat gar nicht
verstanden, worum es sich handelt; Jentschs „Besprechung" ist keine,
sondern besteht bloss aus einigen philosophisch klingenden Sätzen. Nur
die Anzeige der Wiener Abendpost und besonders die von Vorländer
bemühen sich, von dem Inhalt des Buches einen genauen Begriff zu geben,
bieten indes auch nur einen gewissenhaften Überblick: einzelne Bedenken
hat Vorländer nicht weiter begründet. Da auch in meinem Referate hierzu
kein Raum war, und ich nur wenige Hauptpunkte hervorheben konnte,
halte ich einen zweiten ausführlichen Bericht nicht für überflüssig. —
Wenn H. im Vorwort (S. V.) feststellt, dass Humes „Realitätslehre,
d. h. die Erörterung der Natur unserer Gewissheit von der realen Existenz
beharrender Aussendinge, in keinerlei systematischem Zusammenhange" mit
dem Kausalproblem stehe, so ist zu betonen: „in keinerlei systematischem
Zusammenhange". Denn da Hume überhaupt die Teile seiner Philosophie
1) Vgl. den ersten Abschnitt meines Aufsatzes „Zu Theodor Lipps'
Neuausgabe seiner deutschen Bearbeitung von Humes Treatise of human
mture" (KSt. Bd. XIV, S. 249 ff.); über das Verhältnis der beiden philo-
sophischen Hauptschriften Humes Elkin, W. B. „Hume: The relation
of the Treatise of human nature , (book 1) to the Inquiry concerning
human understanding," New-York 1904, S. 315—330. Enthält zugleich die
vollständigste Hume-BibHographie, die auch im Verzeichnis der deutschen
Publikationen nur wenige Lücken aufweist. Vgl. meine Anzeige im Literar.
Zentralblatt 1905, Nr. 52, Sp. 1773ff.
332 Rezensionen (Hönigswald).
nicht einheitlich bindet, sondern selbst Gegensätze gleichberechtigt neben-
einander stellt, so kann auch zwischen den beiden Gipfelpunkten seiner
Erkenntnistheorie eine notwendige Verbindung nicht aufgezeigt werden.
Dagegen entspringen die Lösungen beider Probleme der gemeinsamen
Wurzel der Problemstellungsweise und der experimentellen Methode Humes,
und laufen genau parallel, i) Niclit zu vergessen ist auch die Verknüpfung
zwischen den beiden Problemen, die dadurch entsteht, dass Hume (Trea-
tise Book I, Part IV, Sect. II [ed Green & Grose I (1898), 499 f.]) die
Erkennbarkeit des Aussendinges u. a. auch durch die Erwägung abweist,
dass von der uns allein gegebenen j)erce})tion als solcher nicht auf ein
Objekt als Ursache der perception geschlossen werden dürfe: „ice may
observe a conjxmction or a relation of cause and effect between äifferent per-
ceptions, biit can nevcr observe it betiveen peicejMons and objects''^ Das Er-
gebnis der Kausalitätslehre wird hier praktisch in den Dienst der Rea-
litätsbetrachtung gestellt, ohne mit ihm streng sachlich verbunden zu
werden. Neben diesem nur losen Zusammenhange, trotz des Mangels einer
systematischen Verknüpfung beider Probleme bestehen , wie erwähnt,
wichtige Übereinstimmungen in der Methode der Lösungsversuche wie
in dem Abschluss.
Hier wie dort ist die einzelne Erfahrungstatsache {experiment), die
in einer 'Impression' begründet ist, der Ausgangspunkt und die Recht-
fertigung einer jeden Erkenntnis. Dort ist es der dogmatische und der
formal logische Ursachbegriff, wie die sensualistische Krafttheorie, die in
ein Nebeneinander ohne necessory eonncxion aufgelöst werden — hier wird
der dogmatische Substanzbegriff als eine Art „Ökonomieprinzip", das einer
tatsächlichen Grundlage entbehrt, die Erkennbarkeit der Realität eines
Dinges, des Dinges an sich, als unmöglich erwiesen. In beiden Fragen
also kritische Zergliederung dogmatisch -logischer Tradition auf Grund
gradliniger Durchführung empiristischer Prinzipien ohne theoretischen
Abschluss der Kritik durch eine einheitliche Lösung. In beiden Fällen
wird vielmehr nur ein praktischer Ausweg aus der negativen Atmos-
phäre des theoretischen Lösungsversuches für das philosophierende Indi-
viduum gegeben: dort wird die „Unentbehrlichkeit" des belief an das
tatsächliche „Vorhandensein" der Kausalrelation dargetan — hier wird
nach Auflösung des Dingbegriffes das „system of double existence",^ d. h. die
niere perceptions einer — der real objects andererseits als das einzige Mittel
bezeichnet to set ourselves at ease as mnch as possible, d. h. in beiden Fällen
wird die logisch unvermeidliche Konsequenz der Theorie durch eine
Flucht ins Praktische abgebrochen und so die ausgesprochene Skepsis
umgangen (Treatise, a. a. O. 500—505).
Den die Humesche Art überhaupt charakterisierenden Dualismus
in der Lösung des Realitäts- und Substanzialitätsproblems hat H. (S. 1— 11,
56) klar hervorgehoben, wie er auch (S. 33, 541, 58. 67. 70) zeigt, dass bei
Hume die Grenzen zwischen Realitätsproblem, d. h. Problem des Ding
an sich, und Beharrlichkeitsproblem stets ineinanderlaufen, was nicht
nur in dem von Hume beliebten miscellaneous ivay of 7-easoning seinen Grund
hat, sondern vielmehr seiner Unklarheit in der Unterscheidung der Problem-
gebiete entspringt, die ihrerseits wieder seinem dogmatischen Empirismus
entfloss.
Warum nun Hume die erkenntniskritische Lösung des Ding- und
Substanzproblems nicht finden konnte, wird S. 39 ff. entwickelt. Denn er
analysiert den „Prozess der Erkenntnis", weil er „ein empirisches Ver-
mögen . . . für die Bedingung der Erfahrung, beziehungsweise des Gegen-
standes der Erfahrujig" hält. „Humes Anschauung enthält die irrige Ant-
wort auf eine richtige Frage" (S. 41). Die rechte Antwort hat erst Kant
1) Ich treffe in dieser Auffassung zusammen mit E. Cassirer, Das
Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit II
(1907) S. 273.
Rezensionen (Hönigswald), 333
gregeben, „denn er hat logisch vereinigt, was Hiime biologisch ver-
knüpft liatte" (S. 42 f., 58 f., 63).
Hume bestreitet die Erkennbarkeit der Realität, nimmt aber doch
die Existenz von Aussendin<ien an als einzigen Ausweg aus der sicli auf-
drängenden Skepsis. An diesem Punkte muss H. zweifellos recht belialten
gegenüber der Behauptung Cassirers, dass Hume „die metapliysisciie
Frage nach der absoluten Existenz völlig dahingestellt sein" lasse, „weil
sie für ihn aus dem Gebiet der rechtmässigen Problemstellungen völlig"
herausfalle (Das Erkenntnisproblem a. a. O., S. 676, vgl. S. 274, vgl. dazu
die verwandte Auffassung B. Bauchs, Neuere Philosophie bis Kant
(Göschen) 1908, S. 145). Für Cassirer ist die Möglichkeit aller und jeder
Erkenntnis so fest in dem wissenschaftliehen, theoretischen Ergebnis
gegründet, dass er die gleiche systematische Einheitlichkeit und Folge-
richtigkeit auch bei Hume glaubt annehmen zu müssen. Er lässt hierbei
indes den von H. richtig betonten dualistischen — ich möchte sagen
proteusartigen — Charakter der Philosophie Humes aus dem Auge: wenn
Hume die Unmöglichkeit der Erkenntnis des Aussendinges dargetan
hat, indem er jede Wahrnehmung eines „objed^'' in „mere perception" auf-
löst und in diesem einen Ergebnis tatsächlich mit Berkeley Hand in
Hand geht, so ist für ihn damit noch nicht die Existenz des Aussen-
dinges abgetan. Wir als Schüler Kants können es schwer verstehen, wie
ein Denker den scheinbar unweigerlichen Forderungen seiner Theorie
sich entziehen könnte. Wir vergessen, dass Hume, trotzdem oder eben
weil er die letzte Selbstzersetzung des Empirismus bedeutet, im tiefsten
Grunde seines Denkens Empirist und also Dogmatiker ist und demgemäss
eine praktische Wissenschaft seiner theoretischen als gleichbereclitigt
gegenüberstellt, sowie das Recht beansprucht, einen dinglichen Halt zu
suchen, wo er einen theoretischen nicht findet. Leugnet er auch die
Beziehung zwischen dem Objekt der Erfahrung und dem Objekt an sich,
d.h. die Erkenntnismöglichkeit des letzteren, so bleibt letzteres doch
stehen. „Der metaphysische Gedanke einer doppelten Wirkliclikeit der
Dinge: eines Seins, das sie in unserem Bewusstsein und eines anderen,
das sie ausserhalb jeglicher Beziehung zu ihm besitzen" (Cassirer a. a. O.,
S. 274) wird wohl in der Theorie verworfen; dagegen hat Cassirer nur
in gewissem Sinne recht, wenn er fortfährt: „Berkeleys idealistischer
Hauptsatz bildet . . . fortan i) die selbstverständliche Grundlage jeder
Analyse des Erkenntnisprozesses". Denn Hume geht wohl von Berkeley
aus, verdeckt aber weiterhin die Konsequenz seiner Analyse durch die
Annahme des System of double existence als einer Forderung praktischer
Wissenschaft, die zwar nicht mehr „Analyse des Erkenntnisprozesses" ge-
nannt werden kann, immerhin aber unserem Wissen davon einen Abschluss
geben will. Dass Hume hierbei die Annahme unerkennbarer Gegen-
stände ausser uns einschliesst, scheint mir aus Treatise I, Part IV, Sect. H
hervorzugehen.
Tb. Lipps, welcher das Denken des transscendenten Gegenstandes
als das Wesen des Denkens bezeichnet, bestreitet, dass Hume mit jener
Annahme den „Begriff des dem Inhalte transscendenten Gegenstandes" ge-
funden habe. 2) Hönigswald indes bewertet diesen Abschluss Humes höher,
wenn er auch die Ausstattung des Humeschen Aussendinges mit formalen
Bestimmungen der Erfahrung, d. i. der Substanzialität abweist, und sieht
grade in der mehr oder minder deutlich ausgesprochenen Anerkennung
jener Realität der Aussendinge bei aller Unerkennbarkeit einen Unterschied
von Berkeley, der zugleich einen Fortschritt über diesen hinaus bedeute
(S. 18 f. bes. 19 ff.). Lipps wie H. sehen, wenn auch in verschiedener Weise,
im Aussending das letzte Regulativ des Denkens. So ist def Unterschied
in ihrer Auffassung des Humeschen Auswegs nur ein gradueller: Lipps
1) Von mir gesperrt.
2) David Humes Traktat über die menschliche Natur . . I, Teil,
2. Aufl. (1904), Anm. 282. Vgl. Wüst, KSt. a. a. 0., S. 262, 266.
334 (Rezensionen (Hönigswald).
behauptet, Hume sei der echten Realität, dem Gegenstand als Ergebnis
des Denkens nahe gekommen, habe sie aber durch seine Entgleisung in
die biologisch begründete belief-Theorie verfehlt; H. sieht sie als kon-
stitutive Voraussetzung der Gegenstände der Erfahrung von Hume wenig:-
stens geahnt und geachtet. Wälirend Lipps seine Kritik sowohl auf die
Kumesche Erfahrung wie auf ihren jenseitigen Abschluss erstreckt, zieht
H. nur die erstere in den Bereich der seinen, und er erblickt in Humes
Aussending zwar einzelne dogmatische Elemente (S. 70), im wesentlichen
aber eine Überwindung der Skepsis. Der Grund liegt in H.s erkenntnis-
theoretischer Einschätzung des Aussendinges.
Ich kann die bei Lipps und H. (vgl. S. 65 ff.) ähnliche Grundauf-
fassung des Aussendinges als eines Regulatives der Erkenntnis nicht teilen.
Denn nur als denkbarer Zielbegriff wie Kant es fordert, nicht aber
als „Gegenstand" an sich scheint es mir zulässig. Letzterer wäre eine
nicht zu rechtfertigende Subreption. Gegenstände sind lediglich Gegen-
stände der Erfahrung, welche nur in der Einheit des Bewusstseins und
nicht im Aussending ihre Wurzel haben können, weil es gar nicht zu
ersehen ist, wie ein ausserhalb der Erfahrung liegender Gegenstand über-
haupt Realität haben, d. h. Erfahrung erzeugen bezw. ihr Objektivität
geben könnte. Es bestände zwischen dem Aussending und der Erfahrung
ein Riss, der nicht zu überbrücken wäre.
Humes Lehre von der Realität des Aussendinges lässt die Unver-
einbarkeit der beiden Gebiete nur um so schärfer hervortreten. So ist
seine schliessliche Anerkennung jener Realität nur ein Notbehelf, ein Aus-
weichen vor dem Ergebnis der Theorie, keine Überbrückung und Funda-
mentierung — eine praktische „Lösung", keine systematische Konsequenz
der Theorie. Diese Kluft in der Philosophie Humes, das völlige Ausser-
achtlassen der vornehmsten Forderung strenger Methode : der systematischen
Einheitlichkeit zwingt uns die Frage auf: Besteht das systematische Ver-
dienst Humes nur in seiner Auflösung des dogmatischen Dingbegriffes
zu einer mere relation oder auch in der Beseitigung der für ihn von
rechtswegen daraus fliessenden Skepsis durch nachträgliche Anerkennung
einer äusseren Realität ? Die Antwort kann für den nicht zweifelhaft sein,
welche der Theorie der äusseren Realität die Möglichkeit der Beseitigung
jener Skepsis nicht zugesteht, weil ihr eines fehlt: die einheitliche
systematische Verknüpfung mit der Theorie der Erfahrung. Humes
Theorie ist uns eben wegen der uns auf die richtige Spur leitenden An-
sätze zur Lösung und trotz des negativen Ergebnisses wertvoll — in
demselben Sinne ist seine Behandlung des Kausalproblems für Kant wert-
voll und bedeutsam geworden: als Anregung, nicht als positives Resultat.
Was Hume als solches aufstellt, hat nur geschichtlichen Wert und vermag
die ursprüngliche Gewalt seiner aus der Analyse fliessenden Skepsis
nicht zu entkräften.
H. macht S. 15 ff. eben dies „positive" Ergebnis Humes: die Über-
zeugung von der Gewissheit der Aussendinge trotz ihrer Unerkennbar-
keit als Beweismoment geltend gegen die Ansicht, dass Humes Lehre als
skeptisch bezeichnet werden müsse. Jenes Resultat stehe „in schroffstem
Gegensatze zu jeglicher Skepsis, im Sinne eines Zweifels an der realen
Existenz der Dinge" (S. 17). Ich gebe zu, dass das „Ergebnis" der Hume-
schen Theorie nicht als skeptisch bezeichnet werden kann, sobald dieser
Begriff der Skepsis zu Grunde gelegt wird, welcher sich mit der Eigen-
art der antiken Skepsis als einer Lehre, die irgend eine These in keiner
Weise evident zu machen vermag, deckt. Von dieser unterscheidet sich
Hume allerdings durch sein Ergebnis in bezeichnender Weise, wie H.
neuerdings scharfsinnig in einer Abhandlung „Zum Problem der philoso-
phischen Skepsis" 1) dargetan hat. Aber besteht auch ein Wesensunter-
schied der Prinzipien? H. stellt abermals die Eigenart der Humeschen
^) Vierteljahrsschrift f. wissenschaftliche Philosophie u. Soziologie
1908, S. 62 ff. Vgl. bes. S. 63-67.
Rezensionen (Hünigswald). 335
Theorie als einer nur bedingungsweise geltenden Skepsis in der genannten
Schrift abermals dar und findet sich in dieser Auffassung zusammen mit
O. Söhring, „David Humes ,.Skeptizismus" ein Weg zur Philosophie",
der aber so weit geht, die Humesche Skepsis bloss als methodischen An-
satz etwa im Sinne des methodischen Zweifels des Descartes gelten zu
lassen, M einen Ansatz, auf den dann die Lösung in Gestalt des Hinweises
auf die Philosophie des „gesunden Menschenverstandes" gefolgt sei. Von
dieser Verkennung des wahren systematischen Verdienstes Harnes hält
sich H. durchaus fern. Er bewertet die Lösung Kants höher als den An-
satz und die praktische ,.Lösung" Humes (vgl. S. 63, sowie Z. Probl. d.
phil. Skeps. a. a. 0. S. 67). Aber doch gesteht er der physiologischen
Begründung der Gewissheit ein Eigenrecht zu gegenüber der systema-
tischen Lösung, für die es eine tJberordnung des Begriffes der Gewissheit
über den der Erkenntnis, wie sie H. a. a. O. 66 ff. richtig bei Hume fest-
stellt, nicht giebt; weil sie nämlich eine Gewissheit, die nicht Wissen-
schaft wäre, nicht anzuerkennen vermag; denn Wissenschaft ohne Er-
kenntnis ist ihr nicht möglich. So wenig die antike Skepsis den echten
Begriff der Erkenntnis gefasst hatte: darin hat sie das Wesen sj^stema-
tischer Wissenschaft wenigstens gealint, dass sie von der Tendenz be-
herrscht war, „den Begriff der Gewisslaeit dem der Erkenntnis unterzu-
ordnen" (H. a. a. O, S. 66), und wenn sie nach Prüfung des aristotelischen
Erkenntnisideals, das auch für sie als solches galt, zu einem non liquet in
Beziehung auf Gewissheit überhaupt gelangte, so wahrte sie die Ivonse-
quenz, die Einheit und Reinheit der Theorie, ohne die jedes Philosophieren
zur Temperamentfrage wird. Sie kennt nicht den Kompromiss, in den
Humes Theorie ausklingt. Jener allerdings, aber nicht das Wesen seiner
Theorie, sein theoretisches Ergebnis, unterscheidet ihn von der alten
Skepsis Es darf darum die Charakterisierung Humes durch Kant in vollem
Umfange bestehen bleiben, denn die Prinzipien und die daraus abzu-
leitenden denknotwendigen Folgerungen bestimmen das Wesen einer
Philosophie, nicht die tatsächlich gezogenen Folgerungen, mögen diese
nun, wie bei Hume, aus praktischen Rücksichten bejahender oder, wie
bei den alten Skeptikern, verneinender Art sein. Ausschlaggebend ist,
dass die theoretische Konsequenz bei beiden negativ sein muss in
gradliniger Entwickelung der Anfangssätze, die empirisch sind. Wie
Humes Empirismus folgerichtig zur Skepsis führt und sie nur äusserlich
umgeht, hat auch R. Hedvall Schritt um Schritt entwickelt.^) Ich glaube
indes, dass die Frage, ob Hume Skeptiker zu nennen sei oder nicht, zurück-
treten muss, wenn es sich um die Feststellung der fruchtbaren Anregungen
handelt, die durch seine kritische Zerfaserung der dogmatischen Begriffe
gegeben sind.^) Denn sein geschichtliches Verdienst ruht hier : er schürft
mit grossem Scharfsinn Probleme, um sie dann als etwas Unfassliches zu
besehen — er ist nicht der Mann, sie zu lösen. Denn was er giebt, ist
nicht nur keine Lösung, was auch H. zugiebt,*) sondern auch nicht einmal
der Ansatz dazu. Verlieren wir den von Kant in der Kr. d. r. V. wie in
den Prol. unübertrefflich geschilderten negativen Charakter von Humes
Verdienst aus dem Auge, so steht zu befürchten, dass uns der Blick für
1) Wissenschaftl. Beilage zum Jahresbericht der Hohenzollernschule
in Schöne berg, Ostern 1907 (auch Philos Wochenschrift Bd. 7 (1907), 31G ff.,
878 ff., Bd. 8 (1907), 18 ff., 60 ff., 79 ff.). Meine „Beiträge zur Hume-
Interpretation" zugleich Rezension von Söhring) hat der Herausgeber der
inzwischen eingegangenen Philos. Wochenschr. verschleppt.
2) R. Hedvall, Humes Erkenntnistheorie kritisch dargestellt. Eine
Untersuchung über empiristische Prinzipien I (L'ppsala Universitets Ars-
skrift 1906. Filosofi, Sprakvetenskap och Historiska vetenskaper 1); vgl.
meine Anzeige im Lit. Zentralbl. 1908, Sp. 156 f.
') Ähnlich auch Uphues, Kant und seine Vorgänger (1906) S. 62.
■*) Vgl. auch E. Marcus, Das Erkenntnisproblem u. s. w. S. 57, dazu
meine Anzeige KSt, XIH (1908 S. 148.
336 Rezensionen (Hönigswald).
das eigentlich Fruchtbare seiner geschichtlichen Wirkung verloren gelit.
Denn jene schliessliche Anerkennung des Aussendinges war nicht etwa
aus der Einsicht heraus geflossen, dass hier ein noch nicht gelöstes Pro-
blem ruhe, dessen Lösung jedenfalls zu dieser Anerkennung führen müsse;
sie bedeutete nicht einen Hinweis auf künftige Aufgaben der Erkenntnis-
kritik, sondern sie war ein Abbrechen der Spekulation, deren Arbeit
Hiune soweit überhaupt möglich getan glaubte. Mit der Einführung der
physiologischen Gewissheit als eines der Erkenntnis übergeordneten und
dieser unzulänglichen Weisheit letzten Schluss bildenden Prinzips wird,
um einen treffenden Ausdruck von Ernst Marcus zu gebrauchen, das zu
Anfang aufgedeckte Problem getötet. Und nur darin, dass Hume geschürft
hat und dabei das Problem aufdeckte, besteht das Unvergängliche seiner
philosophischen Leistung.
Ist er beim Aufdecken des Problems selbst bereits an dem und
jenem Punkte der Kantischen Lösung nahegekommen ? H. glaubt die
Frage in gewisser Hinsicht bejahen zu müssen. Nicht mehr und nicht
weniger als das Prinzip der Aktivität des Intellektes habe Hume
bereits begründet, indem er „den Aktivitätsgedanken des empiristischen
Nominalismus der kritischen Erkenntnistheorie dienstbar" mache; „auch
er erkennt die Dinge der Erfahrung als eine von unserem Intellekte durch
Einbildungskraft selbstgeschaffene Verknüpfung von Wahrnehmungen,
welche uns von unerkennbaren Gegenständen geliefert werden, d. h. als
durch die Aktivität des Intellektes gebildete Vorstellungssyrabole für
Dinge" (S. 29 f.). Wie hoch H. die Humesche Behandlung des Substanz-
und des Kausalitätsproblems wertet, hat er auch an anderer Stelle (KSt.
XI (1906) S. 273) ausgesprochen, indem er sagt, Hume habe „die Kausal-
relation als ein Produkt der Aktivität des Intellektes, als eine an dem
Wahrnehmungsmaterial der Erfahrung sich betätigende formale Funktion
des Geistes bestimmt. Das sichert dem Philosophen seine Stellung inner-
halb des Kritizismus". Ähnliche Wendungen finden sich S. 35 ff., 41 f.,
48. Die „Einbildungskraft" Humes fasst H. durchaus als „synthetisches
Prinzip". Trotzdem H. die subjektiv beschränkte Geltung der imagination
hervorhebt (S. 34 f.. 43), ihren Unterschied von dem „ihren Produkten
gegenständliche Gültigkeit" verleihenden „Prinzip der Synthesis" des
Denkens und damit seinen „Abstand von dem , logischen' Kritizismus
Kants" hervorhebt (S. 37 f., 41 f., 51, 58), erscheint die oben gegebene
Bewertung der „Einbildungskraft" geeignet, die Grenzen zwischen vor-
kritischem und kritischem Denken nach einer Richtung zu verschieben,
die das Eigenartige der Leistung Kants nicht völlig zu Genüge hervor-
treten lässt.
Denn die systematische Ftirderung des synthetischen Prinzipes
als einer Bedingung der Möglichkeit aller und jeder Erfahrung, wie sie
von Kant aufgestellt und lückenlos begründet wurde, kann nicht als die
gradlinige Fortbildung einer Theorie betrachtet werden, welche sich wie
die Humes von der Tätigkeit der imagination als ein blosses Nicht ver-
leugnen können irgend einer necessary connexion kennzeichnet. Diese
Hilflosigkeit Humes gegenüber dem Ergebnis seiner imjn-essmi-Theorie,
welch letztere den formal-logischen wie dem empirischen Dogmatismus zu
einem non liquet durchführte, ist von einer Ahnung des Problemes, das sich
nun auftat : nämlich wie trotz allem die Geschlossenheit in das tatsächlich
vorhandene Erfahrungsfaktum hineinkomme, weit entfernt. i) Dass ein
1) Ich kann nicht finden, dass die Notwendigkeit, die apriorische
Gesetzmässigkeit des Geistes einzugestehen, nur „einen Schritt weiter" in
der von Hume mit seiner custom- und imagination-Theorie eingeschlagenen
Richtung liege, wie Lipps a. a. O. meint. Für uns, ja. Aber für Hume?
Lipps bemerkt nachher selbst, dass jenes Eingeständnis ein Umdenken
seines ganzen Treatise bedeutet hätte: „Er hätte das von jedem blossen
Percipieren . . . toto coelo verschiedene Wesen des Denkens . . . finden
Rezensionen (Hönigswald). 337
Problem vorlag, hat er uns gezeigt, aber selbst nicht anerkannt ; welches
es sei, hat er nicht geahnt. Sein Nachweis, dass die imagination, die er
auch des öfteren faiicy nennt, jene Geschlossenheit hervorbringe, ist ein
Notbehelf, 7a\ dem er widerwillig greift, gebeugt durch die Maclit der
seiner eigentliclien Theorie sich entgegenstemmenden „Tatsachen", und
ist einer positiven Deutung dieser ,.Tatsachen" nicht gewachsen. An
Stelle der Kantischen Rastlosigkeit, welche aus eben diesem Zwiespalt die
Notwendigkeit zu weiterer Arbeit herleitete, zu einer Arbeit bis zu
dauerndem Verzicht oder zu einheitlicher Theorie, finden wir bei
Hume den Schluss: ,,'lhe mind ninnt he iineasy in that sihiation . . . Since
the nnea^ness anses from the Opposition of two conirary j/i-inciples, it must
look for relief by sacrificing the one to the other" und „Carelessness and in-
attention nlone can afford ns any remedy" {Treatise I, P. IV, Sect. 11;
Green- Grose a. a. O., S. 494, 505). Man' sieht, dass die Grenzen zwischen
einem bequemen Anerkennen der Geschlossenheit des Erfahrungsganzen,
die uns „nur" infolge der Tätigkeit der Einbildungskraft als Geschlossen-
heit erscheint, einerseits, und der kritischen Theorie andererseits, welche
die „psychophj^sische Nötigung-' beiseite schiebt und das darunter liegende
Problem der logischen Bedingung der Erfahrung aufdeckt und löst, sehr
scharf zu ziehen sind, und zwar so, dass Hume nicht innerhalb, sondern
ausserhalb der kritischen Grenze zu stehen kommt.
Anders wäre es, wenn Hume selbst in seiner imaginatioii- „Theorie^
eine Lösung erblickt hätte, wenn er unzweideutig der sich darin be-
tätigenden Aktivität (bei Hume nicht des Intellektes sondern eben der
eine smooth passage vollziehenden imagination; a.a.O., S. 494) eine sachliche
Berechtigung und einen problematischen Charakter zuerkannt hätte. Das
ist aber nicht der Fall. Die imagination, gewissermassen einem metaphy-
sichen, unabweisbaren Zwange gehorchend, — wir sehen hier wieder den
ungelösten Knoten, der überall bei Hume hervortritt — verbindet vielmehr
ohne Rechtfertigung das, was als ein blosses Neben- und Nacheinander
without any necessary connexion durch die Vernunft (reason) dargetan war.
H.s Worte, „In dem 'vereinigenden Prinzipe' sieht der kritische Scharfsinn
des Denkers die 'Hauptsache' der Substanz — oder, was dasselbe bedeutet,
der Dingvorstellung" (S. 33) dürfen also nur in wesentlich eingeschränktem
Sinne Geltung behalten. Hume spricht klar seine theoretische Verwerfung
des produktiven Prinzips der Einbildungskraft aus: „ . . . tve proceed to
imagine^) so corred a Standard of that relation . . . The same 'principle
makes tis easily entertain this opinion"^) of the continiied existence of hody
. . . we suppor^) the objects to have a continud existence'''' {Treatise a a. 0.,
S. 487f.) „ . . . ive disguise^) . . . the interruption'" (a. a. O., S. 488) „Nothing
is more apt to make ns mistake^) one idea for another, than any relation
betwixt the.m, ichich associates them together in the itnagination^) (a. a. O.,
S. 491) „The passage betwixt related ideas . . . seems^) like the continuation of
the same actioti^^ . . . „'tis for this reason we attribute^) sameness to every
succession of related objects''' (a. a. O., S. 494). Und immer wieder heisst es
mit Bezug auf die Frage der identical objects: „the thought . . . coyifoimds'' ,
we „asa-ibe" „mistake" (a. a. O., S. 493) — all dies ist das Werk der imagi-
nation, welche also ,,the fiction^) of a contimi'd existence''' erzeugt (a. a. O.,
S. 494, 497). „. . . tce not only feign tut believe this . . ." (a. a. O., S. 496)
„. . . we feign^) the continu'd existeiice'', „that fiction . . . is really false",^)
„'tis a false opinion . . . and consequently the opinion . . . can never
arrise from reason, biet must arise from the imagination"^) (a. a. O.,
S. 497). Huiue ist also weit entfernt, diese als „konstitutives Prinzip"
aufzustellen oder ein solches darin nur zu ahnen. Er lässt fancy als Ur-
sache der Annahme der Aussendinge schliesslich praktisch zu (a. a. O.,
S. 502 f.), spricht aber dann wieder von „trivial qualities of the fancy",
1) Von mir gesperrt.
B38 Rezensionen (Hönigswald).
und von einer ^Q't'o^s illusion'-'A) Nicht einmal unbewusst hat er das
Prinzip der Aktivität des Intellektes entdeckt, und seine iniaginaiion darf
auch nicht als eine unvollkommene, bedingte Form dieser Aktivität ange-
sprochen werden. 2) Erst die kritische Arbeit kann das synthetische
Prinzip erschliessen, das, wie jede Erfahrungshandlung, so auch den
Funktionen zu Grunde liegt, die Hume als Tätigkeit der imngination be-
zeichnet. Wer sich zu irgend einem kausalen oder substanzialen Schluss
des Prinzipes der Kausalität u. s. w. bedient und die Notwendigkeit dieser
„Schlussarten" für den praktischen Gebrauch anerkennt, ist darum nicht
der Entdecker des Gesetzes oder des Problemes davon. Nicht in dieser
praktischen Anerkennung besteht Humes Verdienst, sondern in seinem
negativen Arbeiten an der Erklärung, wodurch er überhaupt erst aufmerk-
sam machte auf ein zu lösendes Problem. Alles ist bei ihm nur Anfang,
Ansatz, negatives Verdienst. Hume dürfen nicht „die Konklusionen zugute
gerechnet werden, die (aus seiner Lehre) in höherer erkenntnistheoretischer
Richtung gezogen werden müssten" (Hedvall a. a. 0., S. 47, Anm. 1), und
durch Kant und uns, die wir ihm folgen, gezogen wurden. Dass Hume
mit dem Suchen an der richtigen Stelle den Aiifang machte, bleibt sein
unumstrittenes Verdienst. Aber darüber ist nicht zu vergessen, dass den
Schatz im Acker zu finden nur ein Grösserer vermochte. —
Während H.s Bewertung dessen, was man als Ansätze Humes zu
einer eigenen, positiven Lösung der angeregten Probleme bezeichnen mag,
hier und da zu hoch gegriffen scheint, behält er andererseits für die Begrenzt-
heit von Humes Leistung in der theoretischen Zergliederung der Probleme
die richtige Schärfe des Blickes. Können wir H.s Auffassung des Hume-
schen Aussendinges als einer Ahnung des „denknotwendigen Grundes der
Erscheinung" (wie H mit A, Riehl nicht das Kantische Objekt, sondern
das Ding an sich bezeichnet (S. 54 f.)) nicht zustimmen, so erfahren wir
wesentliche Förderung durch die Darlegung, warum Hume mit seiner
physiologischen Begründung der Annahme eines Beharrenden eine be-
friedigende Theorie der Konstanz der Wahrnehmungen nicht geben konnte:
diese kann durch ein subjektives Prinzip überhaupt nicht gewährleistet
werden (vgl. S. 337), sondern allein durch ein Gesetz des Denkens, das
schon in den Wahrnehmungen selbst wirkt. Dies aber „war dem scharf-
sinnigen Analytiker der Erfahrung noch unbekannt" (S. 56, vgl, S. 63 f.).
Worin dieses Gesetz des Denkens, das vereinigende Prinzip, zu sehen ist,
wird S. 57 ff. gezeigt. Es ist die synthetisclie Einheit der Apperzeption,
wofür H. bei Hume eine freilich negative Andeutung finden will in seiner
Auflösung der Identität des Ich mit dem Eingeständnis, dass er ausser
Stande sei, ein vereinigendes Prinzip des Bewusstseins theoretisch festzu-
stellen (S. 59). Mit Recht sieht H. in der Einheit des Selbtsbewusstseins,
wie Kant sie begründet hat, die Basis jeder Erkenntnis, die Überwindung
Humes.
Zur letzten Rechtfertigung der Objektivität, der Allgememgültig-
keit der Erkenntnis bedarf es indes keiner anderen Objektivität, als der
durch die Einheit der Gesetzlichkeit, d. i. durch die Einheit des Bewusst-
seins selbst gewährleisteten. Wie ich schon S. 334 andeutete, scheint H.
mit seiner Forderung des jenseitigen Objektes als eines „denknotwendigen
1) Vgl. auch Hedvall a. a. O., S. 75, Anm. 1, 118; 0. Quast, Der Be-
griff des belief bei David Hume (Abhdlg. z. Philos. u. ihrer Gesch., herausg.
V. B. Erdmann XVH) (1903) S. 43 f.; (vgl. meine Anzeige im Lit. Zentral-
blatt 1906, No 49, Sp. 16631). .
2) Belege für den „passiven" Charakter des nmting i)rinciple bringt
Quast a. a. O., S. 54, 71 u. Anm. 2, 4, dazu Schluss der Anm. 4 (zu S. 68),
74 u. Anm. 3, 87 u. Anm. 2. Dieser mechanische Charakter der imagmahon
schliesst natürlich ihre produktive Rolle beim Zustandekommen der Er-
kenntnis nicht aus (Quast, S. 88 ff.); doch darf die Anerkennung dieser
Produktivität durch Hume nicht als Vorstufe der Erkenntnis des syntheti-
schen Prinzips der „Aktivität des Intellektes" gewertet werden.
Rezensionen (Hönigswald). ^«>J
Grundes der Erscheinung" (S. 68-71, 82 f.), als einer konstitutiven Vor-
aussetzunir i^S. 27) für die Objektivität der Erkenntnis den Rahmen der
Erfahrung^ zu überschreiten. Indes ist H. von einer dogmatischen Auf-
fassung des Dinges, wenn er auch von ,,Be\vusstseinssymbolen für Dinge"
redet, weit entfernt, da ihm das Denken als die aktive Repräsentation
der ,!Dinge" gilt (S. 15, 66 f., 87 f.). Indes muss der wichtige Schritt
von der repräsentativ-symbolischen Auffassung der Erkenntnisfunktion zur
konstitutiven gemacht werden. Denn ,,Dinge" sind nicht ausser der Er-
kenntnis und nicht anders als durch die Erkenntnis möglich, und deren
Einheitlichkeit allein, nicht die Rücksicht auf einen äusseren Gegen-
stand konstituiert Objektivitität. Aus H.s neuester Schrift (Z. Pr. d.
philos. Skppsis S. 89, 94) glaube ich entnehmen zu können, dass er un-
mittelbar vor jenem Schritte steht, dass seine „kritische Metaphysik" im
Grunde auch jeder dinglichen Orientierung entraten kann und das Aussen-
ding in der Erkenntnis bei ihm nur noch die Rolle des Zielbegnffes
spielen wird. Dann erst wird „das Prinzip der synthetischen Einheit als
das höchste Gesetz von Natur und Wissenschaft" (S. 59) in seiner ganzen
Reinheit wirksam werden können.
Die Kritik einiger aktueller philosophischer Bestrebungen, mit
welchen H. in fruchtbarer systematischer Verwertung der historischen
Betrachtung Humes seine Arbeit beschliesst, liegen bereits durchaus in
der Richtung des transscendentalen Idealismus. So wird die Behauptung
einer psychophysischen Wechselwirkung als metaphysisch gekennzeichnet
und auf ihr kritisch bestimmtes Mass, „die^ eindeutige Zuordnung des
Physischen zum Psychischen" zurückgeführt (S. 72—87).
Von aktuellem Interesse sind ferner die gegen E, Mach gerichteten
Ausführungen. Indem Hume dem „Zusammen von Wahrnehmungen"
wesentlich „ökonomischen" Wert beimisst, ist er mit Mach verwandt.
Dieser verfehlt die Bestimmung des Begriffes der Erkenntnis in der
gleichen Weise wie Hume (vgl. S. 44 ff., 60 f-, 63 f.). Das Subjekt löst
sich beiden auf in ,,ein nur relativ beständiges Gebilde"; phy.siologischer
Zwang erscheint ihnen als (natürlich bloss zufällige) Bedingung der
Erfahrung (S. 61), und sie vermögen weder das Subjekt in seiner tieferen
Bedeutung als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung zu begreifen
noch zu "den notwendigen Bedingungen der Erkenntnis vorzudringen.
In diesem Zusammenhang sei auf H.s frühere Schrift „Zur Kritik der
Machschen Philosophie" (1903) bes. S. 7 hingewiesen. Darin, dass Hume,
weniger konsequent als Mach, der logischen Erkenntnis eine besondere
Sicherheit zugesteht, freilich ohne das dahinterliegende Problem zu ahnen,
darin, dass er ferner die „metaphysische Voraussetzung" unerkennbarer
Realitäten macht, unterscheidet er sich von Machs radikalem Psychologis-
mus (S. 40 f., 27). Dass dies Verdienst Humes indes durch Inkonsequenz
gegen sein Grundprinzip erkauft ist, hat Hedvall a. a. O. S. 9, 108 f.
gezeigt. Auch ist es lediglich ein rationalistischer Rest, der in der
sensualistischen Grundlage nicht aufgegangen ist, wenn Humes schärfere
Fassung des Begriffs als Einzelvorstellung sich von der streng „empi-
ristischen Gemeinbildstheorie" Machs und Ostwalds unterscheidet
(S. 47 f ). Doch fällt die Tatsache, dass ihm praktisch Logik nicht
restlos in Psychologie aufgeht, wenig ins Gewicht gegenüber der anderen,
dass er in der theoretischen Begründung der Erkenntnis in der Em-
pfindung überhaupt, in der Überordnung der Einzeltatsache gegenüber
dem Begriff (S. 49), prinzipiell mit den genannten Vertretern des
extremsten Empirismus Hand in Hand geht. Wie wenig er an der von
seinem Standpunkte aus eigentlich auch nicht zu rechtfertigenden logischen
Auffassung der idea als einer „scharf umschriebenen Einzelvorstellung"
(S. 47) festhält, zeigt sich auch darin, dass der empiristische Grundzug
seiner Lehre wieder durchbricht in der Theorie vom Allgeraeinbegriff als
eines bloss „sprachlichen Symbols-', das durch die Einzelvorstellung ge-
liefert wird, damit diese sich mit anderen Einzelvorstellungen verknüpfen
Kantstudien XV. 22
340 Rezensionen (Hönigswald).
könne (S. 48). Das kommt im wesentlichen auf die Machsche Gemeinbilds-
theorie hinaus. —
Man sieht, dieselben philosophischen Probleme tauchen immer wieder
auf, und ebenso dieselben Arten der „Lösung". Es scheint, als ob ein
nicht geringer Teil der philosophischen Arbeit unserer Zeit die Orientierung
an der Geschichte der Philosophie verschmähe, als ob hier keiner erben
und weiterbilden, sondern jeder Neuland in Angriff nehmen wolle, wobei
selten bemerkt wird, dass schon fast überall ein Pflug gegangen ist. So
sehr die stetige Entwickelung des systematischen Denkens durch dies
Verfahren gehemmt werden mag, so liegt letzteres doch zu tief begründet
im Wesen der Philosophie als der Wissenschaft, in welcher der geschicht-
lich erarbeitete Besitz nicht einfach ererbt werden kann, sondern von
jedem neu erworben werden muss, als dass man in dem sich immer wieder-
holenden Auftauchen geschichtlich überwundener Theorien ein Stillstehen
der Philosophie überhaupt sehen dürfte. Ein solches Stets-von-vorn-an-
fangen steht hoch über jedem Elektizismus. Aber die Vertreter dieser
kontinuitätslosen Forschungsweise berauben sich der Möglichkeit eines
fruchtbaren Weiterbaues des Selbsterschaffenen gewöhnlich durch kurz-
sichtige Unterschätzung des geschichtlich Geleisteten. Alois Höfler hat
diese Erscheinung gelegentlich witzig gekennzeichnet : „Wenn einige
Naturforscher von heute philosophieren wie die neugeborenen Kinder, so
können füglich das doch nur sie selbst mit einer Neugeburt der Philoso-
phie selber verwechseln."^)
Eine solche Verwechselung lässt sich neuerdings W. Ostwald zu-
schulden kommen, wenn er in seiner Anzeige der vorliegenden Arbeit ge-
wissermassen sich darüber wundert, dass Kant sich mit der „geheimnis-
vollen synthetischen Einheit der Apperzeption" geplagt habe, wo es sich
doch lediglich um das Problem der — Erinnerungsfunktion handle, die
übrigens „nicht so hoffnungslos weit entfernt" aussehe, „nicht nur von
psychologischer, sondern von physiologischer und sogar physikochemischer
Deutung, wie die , Einheit der Apperzeption'."
Nur eine von systematischer Absicht geleitete wirkliche Er-
forschung der Geschichte der Philosophie, bestehend in einer Ver-
gleichung und Abwägung der Lösungsversuche, kann über die Begrenzt-
heit solchen „Philosophierens" hinwegführen zu einem Erfassen oder
Ahnen dessen, was Kant auszeichnet, was Philosophie ist.
Ich bezweifle, dass W. Ostwald jemals diese Arbeit versucht hat
oder hat versuchen können. Das geht nicht nur aus seiner völligen Hilf-
losigkeit Kant gegenüber hervor, sondern auch daraus, dass er die in H.s
Schrift behandelten Probleme nicht sieht. Es braucht H. daher auch
wenig anzufechten, wenn Ostwald ihm erklärt, er habe nicht erkennen
können, „dass dies vielfach gewendete Heu durch die vorliegende Wendung
nahrhafter oder weniger trocken würde als es vorher war." Lasse er ihn
diese „nicht nur in psychologischer, sondern auch in physiologischer und
sogar physikochemischer" Hinsicht höchst bedeutsame Entdeckung, dass
man das Heu wendet, um es weniger trocken zu machen, logisch weiter
ausbauen. Ostwald steht es ja übrigens natürlich frei, „zwischen zwei
Gebündein Heu nachsinnlich grübelnd, welch's von beiden denn wohl das
beste Futter sei", sich für das auf naturphilosophischem Boden gewachsene
zu entscheiden, wofern er es nicht vorzieht, auf noch durchaus unabge-
grasten dornen- und distelreichen Pfaden sich noch schmackhaftere
Nahrung zu suchen.
Eine Kritik wie die Ostwalds, welche ausspricht, in H.s Schrift
handele „es sich anscheinend weniger darum, die Anschauungen Humes
geschichtlich zu untersuchen und klarzustellen, als vielmehr darum, aus
Anlass der sich an Humes Ansichten knüpfenden Erörterungen die eigenen
Anschauungen des Verfassers erneut darzulegen", verfehlt völlig das Ver-
dienst, welches in der Verbindung der systematischen mit der historischen
») KSt. XI, 258.
Rezensionen (Lorentz). 341
Betrachtungsweise liegt, eine Methode, die H. mit Erfolg auf Humes Rea-
litätslehre angewandt hat.
Ich fasse das Ergebnis zum Schluss kurz zusammen : Indem Hume
diejenige Einheit, welche der Erkenntnis erst Halt giebt, vergebens
sucht, lässt er in seiner Erkenntnistheorie „eine klaffende Lücke" (S. 59).
Jener Halt wird erst gefunden durch Kants Prinzip der synthetischen
Einheit der Apperzeption. H.s Schlussworte: „Die Frage nach dem Er-
kenntniswert, die Entdeckung des logischen Problems der Erfahrung und
der gescheiterte Versuch einer Lösung dieses Problems auf dem Wege
psychologischer Analyse bestimmen die historische Stellung der Humeschen
Erfahrungstheorie'' (S. 88), bedürfen für mich einer Berichtigung nur da-
hin, dass ich die eigentliche „Entdeckung des logischen Problems der Er-
fahrung" als positive Leistung Humes nicht anerkennen kann; seine
negative Arbeit daran hingegen hat Kant auf seinem Wege weiter
gewiesen bis zur Entdeckung. Xach H. hat Hume die rechte Antwort
verfehlt nicht durch Einführung der Aussendinge — das wird Hume viel-
mehr als Verdienst angerechnet — sondern weil er die „Bewusstseins-
symbole" dieser „Gegenstände" anstatt auf sj-nthetisches Denken auf den
beVief gründete. H.s Bewertung hat also zur Voraussetzung einen Begriff
des Gegenstandes der Erfahrung, den wir mit dem Kantischen Erfahrungs-
prinzip nicht vereinigen konnten. Er deckt sich hierin mit A. Riehl,
aus dessen Schule die Schrift hervorgegangen und dem sie gewidmet ist.^)
Wohl gilt dem Gegenstand der Erfahrung als Produkt der „Aktivität des
Intellektes-', doch wird ihm ein metaphysischer Rückhalt gegeben in einem
„Ding", das zwar unerkennbar ist und jeder Bestimmung durch formale
Erfahrungsbegriffe sich entzieht — dass Hume ihm Substanzialität zu-
schreibt, wird daher verworfen — das aber als denknotwendiger Grund
der Erscheinungen doch der Erfahrung erst Objektwert geben soU.
H. hat die Diskussion wesentlich gefördert und angeregt, wenn
auch einzelne seiner Ergebnisse angefochten werden mussten.
Düsseldorf. Paul Wüst.
Lorentz, Paul. Lessings Philosophie. Denkmäler aus der Zeit
des Kampfes zwischen Aufklärung und Humanität in der deutschen Geistes-
bildung. Leipzig, Verlag der Dürrschen Buchhandlung, 1909, Philosophische
Bibliothek, Band 119. (LXXXVI u. 396 S.)
Das Buch will ein Hilfsmittel der Anregung sein, philosophieren
zu lernen, für Gebildete und insbesondere für Lernende der höheren
Bildungsanstalten, und die alle Gebiete des Lessingschen Denkens
berücksichtigende Auswahl von Lesestücken ist diesem Zwecke sehr an-
gemessen.
Der Verfasser sieht die wesentliche Bedeutung Lessings für unsere
Zeit darin, dass auch wir, ähnlich wie Lessing gegen die Aufklärung,
einen Kampf gegen eine religionsfeindliche Naturforschung und Verstandes-
kultur für die Selbständigkeit von Wissenschaft und Religion
zu kämpfen haben. Abgesehen von der Frage, ob diese Charakteristik auf
unsere Zeit noch passt, ist damit Lessings Stellung selbst nicht richtig
angedeutet. Dieser hat ja, wie sein grosses Vorbild Leibniz, die Einheit
von Wissen und Glauben gesucht, nicht die durch Kant wieder das Ideal
der neueren Zeit gewordene Trennung verschiedener Wahrheitsgebiete.
Man kann Übergriffe einer gewissen Denkart dadurch zurückweisen, dass
man diese auf ein begrenztes Gebiet verweist, ausserhalb desselben ver-
leugnet; dann hat man eben nicht bloss zwei Gebiete, sondern auch zweier-
lei Begriff der Wahrheit geschaffen, was stets dazu führen muss, die eine,
als „theoretisch" anerkannte Wahrheit schliesslich auf Kosten der andern, die
^) Leider habe ich die kürzlich erschienene 2. Aufl. des I. Bandes
von Riehls „Der philosophische Kritizismus", welcher das bekannte ge-
diegene Humekapitel enthält, nicht mehr für diese Arbeit einsehen können.
[Das Manuskript wurde im November 1908 abgesclüossen.]
22*
342 Rezensionen (Lorentz).
dadurch zu einer subjektiven, blossen Gefühlsbedürfnissen dienenden Illusion
herabo:edrückt wird, zur alleinherrschenden zu machen. Oder man kann,
und dies ist etwas ganz anderes, die Begriffe selbst zu korrigieren ver-
suchen. Wenn dabei auf einer Vorstufe dieser Begriffsarbeit eine gewisse
Skepsis unterläuft, welche mithilft, starrgewordene Gedankensysteme
wieder für die Entwicklung bildsamflüssig zu machen, so widerspricht das
nicht dem Hauptgedanken, dass alle Wahrheit in ihrem Grunde nur Eine
sein kann. Daher weist auch Lessing, wo er das Gefühl zum Zeugen der
Wahrheit anruft, nicht auf ein eigenes, von der Verstandeswahrheit ge-
trenntes Wahrheitsgebiet hin, sondern sieht die Aufgabe der Philosophie
eben darin, das im Enthusiasmus Geschaute „in deutliche Ideen aufzu-
klären". Dadurch unterscheidet er sich im Prinzipe sowohl von Rousseau,
der auf diese Aufklärung verzichtet, wie von Kant, der die Verstandesein-
sicht von der Gefühlseinsicht trennt.
Bei Lorentz' Darstellung fehlt die genaue Rechenschaft über diese
kritische Vorfrage, der Begriff der religiösen Mystik und der Begriff der
mechanischen Weltanschauung stehen in ihr unvermittelt einander gegen-
über, bald die eine, bald die andere erscheinen als Blüte und Frucht
deutscher Geistesbildung, ohne wirkliche Trennung oder Vereinigung.
Spinozas Wirkung soll einerseits in der Mystik Hamanns, andererseits
in dem modernen mechanistischen Monismus zutagegetreten sein, und Jacobi,
Spinozas bester Kenner und eifrigster Gegner, dennoch auf ihm fussen.
Schliesslich verschlingt auch bei Lorentz die mathematisch-mechanische
Denkweise jede andere, wie man an seiner Tendenz sieht, diese als die
übergreifende bei Lessing auch dort darzustellen, wo er offenbar auf dem
Wege zu einem Begriffe jener höheren Einheit war, die er im Gespräche
mit Jacobi suchte. Das geschieht von Lorentz, indem selbst dort, wo
Lessing, ähnlich wie Diderot und vorbildlich für gleiche Tendenzen in
Kants „Urteilskraft", durch seinen Kunstbe griff hinausgeführt wird über
die Schranken der mathematischen Denkweise zu dem Wesensbegriff, auf
welchem die philosophischen Anschauungen Herders und Goethes beruhen,
indem selbst dort Lorentz in der „inneren Notwendigkeit der Handlung",
die Lessing vom Dichter fordert, in dem „Ineinandergegründetsein"
(Dramaturgie 30. Stück), nichts als den Begriff der mechanischen Ver-
kettung und der allgemein vorbestimmten Notwendigkeit der mathe-
malischen Denkweise sieht. Auf jenen höheren Begriff Lessings könnte
hingewiesen werden, wo dieser sagt: die Fakta seien etwas Zufälliges, die
Charaktere etwas Wesentliches (Dramat. 33. St.), oder: die Einheit des
Ganzen beruhe auf der Übereinstimmung aller Teile zu einem Endzwecke
(1. Abhdl. üb. d. Fabel). Gerade da, wo Lessing über die Alles deter-
minierende Notwendigkeit in der mathematischen Denkart hinausweist in
ein Reich der Freiheit, sieht Lorentz einen Sieg des „Monismus", des ein-
heitlichen „physikalisch-kosmischen Weltbildes, das Kopernikus, Kepler und
Newton schufen". Auch an Stelle der Lessingschen Zweifel an der
Willensfreiheit sieht L. ein Sichdurchringen zum absoluten Determinismus,
und die Freiheit, wo Lessing von ihr spricht, wird von L. im Sinne
Spinozas und ähnlich der modernen Physiologie als durch Unkenntnis der
vollständigen Ursachen bewirkte subjektive Illusion wegerklärt. „Deter-
minismus" Lessings sieht L. schon in dessen Äusserung („Erz. d. M.",
§ 3.Ö): das jüdische Volk habe seinen Gottesbegriff erweitert und veredelt,
dadurch dass es in der Gefangenschaft die religiösen Begriffe der Perser
kennen lernte (S. LXXXI).
Neben dieser Auffassung steht unvermittelt des Verfassers Würdigung
der Mystik, die, da sie nicht das Ganze durchdringen darf, auf einige
kümmerliche Ideen beschränkt bleibt. Für die mystische Religionsauf-
fassung Lessings bringt L. einige nicht stichhaltige Beweise, mit denen
er durch seine eigene, ganz im Sinne der Verstandesaufklärung sich be-
wegende Deutung der „Erziehung des Menschengeschlechts" in Wider-
spruch gerät.
Rezensionen (Keyserling). 343
Weil der Verfasser mit sich selbst nicht einig ist, misslingt ihm
auch die Unterbringung der Widersprüche unter die Rubriken „exoteri-
scher'' und „esoterischer" Lehre, die ja sonst sehr dazu geeignet ist, das
der eignen Meinung nicht Zusagende als „exoterisch" wegzudeuten und
als „esoterisch" die eigenen dogmatischen Voraussetzungen sich ein-
schleichen zu lassen. So ist bei Leibniz die „Theodicee" exoterisch, weil
die Monade hier Seele heisst, Spinozas „Deus"' ist exoterisch, esoterisch
dagegen und atheistisch ist „natura". Die monistische Form der Leibniz-
schen prästabilierten Harmonie dürfte L. für esoterisch, die dualistische
für exoterisch halten, obwohl Lessing die letztere seiner Unterscheidung
von Leibnizens und Spinozas Lehre zugrundelegt und L. ihm hierin nicht
widerspricht. Lessings Begriff der göttlichen Führung in dem Er-
ziehungswerke des Menschengeschlechts erklärt L. einmal für exoterisch,
Lessing habe esoterisch eine Selbstentwicklung im Sinne der Monadenlehre
gemeint; ein andermal erklärt er das Fehlen des Gedankens der Selbst-
entwicklung bei Lessing für die Schranke des Jahrhunderts, an der
auch Lessing litt, der über das Schwanken zwischen Theismus und Pan-
theismus nicht hinausgekommen sei. Darnach wäre also Lessings ausge-
sprochene Ansicht nicht exoterisch, sondern bloss beschränkt, und „Pantheis-
mus" scheint dem Verfasser bloss Atheismus zu bedeuten. Damit erscheinen
aber die eingangs verheissenen Waffen zum Kampfe für die Selbständigkeit
der Religion in einem unerwarteten Lichte.
Auch die Lessings Philosophie vom Verfasser zugeschriebene histori-
sche Bedeutung kann ich nicht gelten lassen. Lessings Philosophie blieb
leider nur bruchstückhaft, und dieses Unfertigsein selbst als Zeugnis für
eine tiefe Erfassung des Werdensbegriffs durch Lessing anzusehen (S. XLI),
ist wohl verkehrt.
Im Anhange des Buches findet sich ein „Begriffs- und Sachenver-
zeichnis", bei dem die Auswahl der Schlagwörter manchmal etwas sonder-
bar ist, und „Erläuterungen" zu dem Texte, die durchaus sehr brauchbar
und zweckdienlich sind.
Mahrenberg (Steiermark). Dr. Josef Kremer.
Keyserling, Hermann, Graf. Unsterblichkeit. Eine Kritik
der Beziehungen zwischen Naturgeschehen und menschlicher Vorstellungs-
welt. München, J. F. Lehmanns Verlag, 1907. (349 S.)
Ein umfangreiches Werk über die Unsterblichkeit, das uns darum
von vornhei'ein interessieren muss, weil der Verfasser gleich zu Beginn
verspricht, den Unsterblichkeitsglauben der erkenntnistheoretischen Kritik
zu unterwerfen. Und zwar stellt er sich auf den Boden der Kantischen
Erkenntniskritik.
Jedenfalls ist das sein bewusster Wille, wenn er in der Einführung
sagt: „Man argwöhne ja nicht, ich wolle die Unsterblichkeit der Seele
beweisen; ich will keine Religion stiften, stützen oder stürzen, sondern
nur die Erkenntnis bereichern und schärfen. Die Fortdauer nach dem
Tode ist aber kein möglicher Erkenntnisinhalt. Ich gedenke, soweit dies
in meiner Macht steht, die folgende Frage zu beantworten: Was ist der
Sinn des Unsterblichkeitsgedankens? Wie ist ein solcher möglich? —
Die Frage ist genau auf die gleiche Weise gestellt, wie die : wie ist Natur
möglich ? Im gleichen Sinne werden wir nicht fragen, wie und warum
und woraus der Unsterblichkeitsgedanke entstanden sein könnte; wir
fragen nach seinem innersten Gehalte. Es handelt sich um Kritik im
Kantischen Sinne. Folglich nicht um Psychologie" (S. 14). Und wenn
nun der Verf. darum psychologische Betrachtungen nur nebenbei anstellt,
nur „um die Bahn freizumachen" — das eigentliche Problem können sie
nicht berühren — , so mag man ihm gerne darin recht geben. Ohne sie
freilich ist eine kritische Arbeit auch nicht möglich, weil sie doch gleich-
sam das Arbeitsfeld abgiebt, auf dem dann der Kritiker seine sichtende
Arbeit vollzieht. Nur die Psychologie kann den Glauben darstellen, den
die Erkenntnistheorie kritisch zu begreifen hat. Der Erkenntniskritiker hat
344 Rezensionen (Keyserling).
aber das Recht, die Religionspsycliologie vorauszusetzen. Dagegen hat den
Rezensenten gewundert, dass gleich nach dieser klaren Auffassung der eigenen
Aufgabe im Kantischen Sinne nun die Bemerkung sich anschliesst, dass
der Verf. bei seiner kritischen Arbeit „selbstverständlich" nicht „werten"
wolle. „Wir betrachten den Glauben als Naturerscheinung — und kein
vernünftiger Mensch wird sich die Frage stellen, ob der Polarstern wert-
voller sei als der Sirius. Sie sind beide da, das genügt." Der Glaube,
die einzelne Glaubensvorstellung ist doch nur mit den astronomischen
Theorien über die Gestirne, oder über die Vorstellungen von ihnen auf
gleiche Linie zu setzen. Und der Erkenntniskritiker hat ein sehr gutes
Recht zwischen diesen psychologischen Tatbeständen zu sichten, zu werten,
was wahr und was falsch und irrtümlich ist. Gewiss wollen wir die Vor-
stellungen in ihrer bunten Mannigfaltigkeit nicht ausrotten, „sie tragen
zur Farbenpracht des Lebens bei", aber sie beweisen durch ihre blosse
Existenz noch lange nicht, wie K. sagt, „ihre Berechtigung, ihre Not-
wendigkeit". Das heisst psychologische und erkenntniskritische Notwendig-
keit verwechseln. Die Letztere, und um sie allein kann es sich hier handeln,
ist erst konstatiert, wenn jene an dem hinter den Vorstellungen waltenden
Apriori geprüft und als wahr erfunden wurde.
Woher diese Abneigung gegen das Werten? Sie ist begreiflich
gegenüber einer veralteten engherzigen Religionspsychologie und unzu-
länglichen Religionsgeschichte, gegenüber einem dürren Rationalismus,
der das Apriori für die Wirklichkeit nimmt und ein paar apriorische
Glaubenssätze an Stelle der bunten Mannigfaltigkeit der religiösen, psy-
chologischen Wirklichkeiten setzen will, die das Apriori hervorgetrieben
hat ; schliesslich einem Dogmatismus gegenüber, der den religiös-psycholo-
gischen Tatsächlichkeiten der asiatischen Religionen nicht gerecht zu
werden vermag und eine enge Theorie von der Absolutheit des Christen-
tums aufstellt. Darum sagt K.: „ich persönlich zweifle überhaupt an der
Zulänglichkeit der Werteskala, mit welcher die Europäer an die übrige
Menschheit heranzutreten gewohnt ist." Dieser Vorwurf trifft aber weder
die moderne Religionspsychologie noch die moderne Religionsgeschichte.
Er ist nur noch besonders begründet durch das liebevolle Sich-Versenken
des Verf. in die orientalischen, besser ostasiatischen Religionssysteme.
Wie oft erinnert er uns an Lafkadio Hearn, den feinsinnigen Japanophilen!
Doch — vielleicht bleibt K. im Übrigen trotzdem auf dem Boden
der Kantischen Erkenntniskritik? Eine kurze Darlegung des Gedanken-
gangs mag auf diese Frage die Antwort geben.
Im 1. Kapitel redet K. „vom Unsterblichkeitsglauben überhaupt".
„Überall herrschen andere Vorstellungen. Die meisten sind mit einander
unvergleichbar. So ist das Zeugnis des Menschengeschlechts für die Un-
sterblichkeit der Seele nicht eindeutig." Aber wenn auch die Glaubens-
vorstellungen verschieden sind, die „Glaubensrichtung" kann dennoch die
gleiche sein. Und dies letztere bejaht nun K. Dieses ist sie: Das Be-
wusstsein, dass das im Menschen wirksame Lebenspiinzip sich in der
räumlich-zeitUchen begrenzten Individualexistenz nicht erschöpft. „Dieses
Bewusstsein ist schlechthin allgemein ; es fehlt bloss dem, dessen para-
sitärer Verstand alles ursprüngliche Leben überwuchert und ertötet hat.
Die Nichtidentität des Lebensprinzips mit seiner jeweiligen Erscheinung,
eines Transscendenten als Urgrundes des Empirischen" ist also nach K.
das Apriori des Unsterblichkeitsglaubens. Das Überindividuelle ist eine
„übermenschliche", eine „kosmische Realität". Die Europäer haben aller-
dings nur.stets im Individuum das erste und das letzte erblicken können
und im Überindividuellen, in der Entelechie bloss eine menschliche Ab-
straktion, anstatt einer übermenschlichen, weil kosmischen Realität. „An
diesem Missverständnisse ist die Kantische Philosophie, vor allem diejenige
seiner mehr gläubigen als einsichtigen Jünger nicht ganz unschuldig." Das
Individuum ist Erscheinung. Das Wesen überindividuell. Das ist der
naturgemässe Standpunkt.
Rezensionen (Keylerling). 345
Zum gleichen Resultat kommt der Verf. auch im 2. Kapitel, das
„die Todesgedanken'' kritisch beleuchtet und die kosmische Bedeutung
des Sterbens herausstellt. Das dunkle Ahnen unserer Seele — das Apriori
— weist unaufhaltsam über uns hinaus. Auch alles geistige Erleben be-
steht darin, das Objekt zu überwinden, den Menschen die eigenste Indi-
vidualität zu nehmen, d. h. sie töten? Erst wessen eigenes Sein wir ge-
tötet, erwacht für uns zu echtem Sein. „Was kümmert mich der Goethe,
welcher „an und für sich", ich „verehre meinen Goethe".
Kej'serling sucht nun in einem dritten Kapitel durch eine Kritik
und Untersuchung über die Glaubensfuuktion überhaupt, wie sie ja auch
im Unsterblichkeitsglauben wirkt, den innersten Kern jenes Apriori
herauszustellen.
K. meint, dass wir wohl eine Psychologie des Glaubens besitzen,
aber nicht eine Kritik des Glaubens (im Kantischen Sinne). „Keinem der
grossen Philosophen scheint der innerste Gehalt des Problems aufgegangen
zu sein, weder Kant noch Fichte noch Hegel." „Kant konnte seiner
Xatur nacli zum Glauben kein richtiges Verhältnis gewinnen." Für ihn
war er: Nicht-wissen und gehörte darum nicht in sein Forschungsgebiet.
Glaube ist aber die oberste, letzte Voraussetzutig alles Wissens, die
Glaubensfunktion ist die zentrale, keiner Vermittelung überhaupt fähige
Lebensform des „Menschengeistes". Es ist eine Geistesfunktion rein for-
malen Charakters. (Das hätten nur die Psychologen und David Hnme
eingesehen.) Glauben und Wissen sind nicht durch die starre Kantische
Grenzlinie zu trennen. Denn stets bedarf das Wissen letzter Prämissen,
auf welche es sich stützen kann. Prämissen, die einfach geglaubt \yerden
müssen (vgl. die obersten Axiome der Mathematik). „In dieser Hinsicht
sind die (freilich anders formulierten) Ergebnisse des Rickertschen Denkens
durchaus zutreffend." Was wir voraussetzen, dem erkennen wir nun aber
implicite Existenz zu. So bezieht sich der Glaube unmittelbar auf das
Sein. Dass etwas da ist, kann ich nur glauben. Den Inhalt freilich
liefert die Aussen- und Innenwelt. So ist auch im Unsterblichkeitsglauben
der Glaube auf ein Sein gerichtet, und zwar auf das Sein meines Ich.
Aber dieses Sein hat einen eigentümlichen Charakter, es ist dies Mal eine
Funktion, eine Kraft, ein Fortwirkendes. Es ist „eine Dynamis, kein sta-
tisches Sein". So empfinden wir es. Das ist ja auch biologisch begreif-
lich. Das Ich ist das Gesetz des Menschen, sein formendes Prinzip. Und
zum Wesen aller Kraft gehört es, ins Grenzenlose zu wirken. Der
Glaubensinstinkt sagt darum: Mein Ich ist unsterblich. „Es ist eine
naturwissenschaftliche Tatsache, wenn ich fühle, dass ein fortwirkendes
Prinzip mich beherrscht." Das ist der innerste Kern des Apriori des Un-
sterblichkeitsglauben: das SelbstbewTisstsein. Kann ich dieses nicht auf-
heben, so kann ich auch jenes nicht aufheben.
Aber worin besteht nun das beharrliche Sein? warum fühlen wir
uns trotz aller Wandlungen mit uns selbst identisch? fragt nun K. im
4. Kapitel: Dauer und Ewigkeit. Die Antinomie von Sein und Werden
ist hier schroffer denn je. Aufzulösen ist sie nur dadurch, dass wir er-
kennen: Das Bewusstsein unseres beharrenden Seins ist ein Unpersönliches;
alles Persönliche gehört dem wechselvollen Werden der Phänomene an.
Eine unpersönliche, zeitlos beharrende Entelechie beherrscht den zeitlichen
Wandel persönlich bewusster Phänomene. Diese Grenzenlosigkeit des
überpersönlichen Prinzips gilt zeitlich und räumlich. Persönliche Unsterb-
lichkeit ist eine allzumenschliche Fiktion an Stelle der erhabenen Natur-
wahrheit. Das ist ein Faktum, keine Theorie. Meine Person reicht bis
zum Grund der Seele nicht hinab. Über dem ephemeren Ich steht das
überpersönliche Ich. Und das ist eine Idee. Natürlich darf dann auch
das Bewusstsein kein notwendiges Attribut des Lebens sein. Schlaf- und
Ohnmachtszustände beweisen dies. (5. Kapitel : Das Bewusstsein.) Nietzsche
allein hat diese Ansicht „konsequent vertreten". Bewusstsein ist bloss
eines der Mittel, um Leben zu erzeugen. Mit dem Bewusstsein fällt die
346 Rezensionen (Keyserling).
Person. Veränderte sich im Tiefschlaf meine Individualität, würde aus
dem Menschen ein Tier, so könnte ich es nicht spüren, und doch hätte
die Ichfunktion ständig fortgewirkt. Nur auf den unpersönlich-ideellen
Charakter des Ich bezieht sich der Selbsterhaltungstrieb.
Das in der Sukzession erwiesene Verhältnis, dass das tiefste Selbst-
bewusstsein einem Unpersönlichen, Überpersönlichen gilt, lässt sicli auch
in der Sphäre des Gleichzeitigen nachweisen, (6. Kapitel: Mensch und
Menschheit) — im Sittlichen. Wer Pflichten anerkennt, kann nicht ex-
tremer Individualist sein. Er unterwirft seine Person einem Höheren,
dem Sollen. Das verdanken wir Kant, dass er hinwies auf ein elemen-
tares unzurückführbares Bewusstseinsphänomen, das wir „Menschen mit
Sollen" bezeichnen. Der überindividuelle Zusammenhang ist die tiefste
und letzte Voraussetzung des ethischen Selbstbewusstseins. „Wir sind im
tiefsten Grund mit unserer Person nicht identisch."
Wenn das Individuum die letzte Tatsache vor der Natur be-
deutete, dann Hesse sich auf keine natürliche Weise verstehen, wieso der
Mensch ursprünglich von überindividuellen Zusammenhängen in seinem
Wollen und Werten ausgehen kann; man müsste zu einer andern, ausser-
oder übernatürlichen Sphäre seine Zuflucht nehmen. Und die Voraus-
setzung eines Weltjenseits der Wirklichkeit ist im Ernste nicht zu halten.
Postulieren wir aber einen natürlichen Zusammenhang oberhalb des Indi-
viduums, dann lassen sich alle Tatsachen restlos und einheitlich begreifen.
Ein sinnfälliges Phänomen ist dies nun freilich nicht. Es muss eine weitere
Kategorie des Wirklichen geben. Unsere Ideen und Allgemeinbegriffe,
wie Menschheit, Art, Gesamtheit entsprechen Realitäten vor der Natur,
sind nicht nur Abstraktionen. Gegen „allzu feurige Kantianer" wagt K.
das zu beweisen. Unsere Erfahrung geht tatsächlich nicht vom Einzelnen
aus und abstrahiert daraus das Allgemeine, sondern das Allgemeine wirkt
schon als solches unmittelbar. Gerade an der „Einheit des Lebens" lässt
sich das beweisen. Der Zusammenhang der Organismen im R,aume ist
gewiss nichts Materielles, er lässt sich schlechterdings nicht greifen, aber
er ist da. Die letzten Realitäten sind wohl ideale Einheiten. Aber der
objektive Zusammenhang des Lebens ist doch Tatbestand. Das Überindi-
viduelle, das den Grund der Individualität bildet, ist auch ein solcher
objektiver Tatbestand, bald eine unpersönliche Sache, bald Familie, bald
Volkseinheit. Im höchsten Falle Menschheit, im allerhöchsten der Zu-
sammenhang des Lebens. Lebe ich andern, bin ich mehr als ich ; schaffe
ich ewige Werte, so schaffe ich über mich hinaus; zeuge ich Kinder, so
setze ich mein Dasein über meine Leiche fort. Das Individuum ist eben
nicht das Letzte.
Im 7. Kapitel: „Individuum und Leben" weist der Verf. diesen Tat-
bestand nochmals nach in einer wetten biologischen und zoologischen
Untersuchung. In der Natur giebt es überhaupt keine Dauer des Indivi-
duums, sondern nur eine Dauer des Lebens. Die innersten Instinkte des
Individuums stimmen mit dem objektiven Weltgeschehen überein. Anstatt
uns an den Augenblick, das einzig Reale, zu klammem, suchen wir ihm
zu entrinnen. Das Leben, das ewige Sein, durchschreitet die Individuen.
Um nun das Ineinander von Idee und Wirklichkeit noch zum
Schlüsse zu erklären, schliesst K. sein Werk mit dem 8. Kapitel : „Die
Ideenwelt". Der Verf. stellt sich hier auf Kantischen Boden. Die Ideen,
die Denkprinzipien sind Grundsätze der Erfahrung, keine metaphysischen
Entitäten, aber auch keine subjektiven Geistesprodukte ; zwischen Denken
und Sein statuierte Kant einen notwendigen Zusammenhang. Aber nun
fragt K.: Besteht dieser Zusammenhang bloss vom Menschen her oder
gehört dieser vielmehr in den Zusammenhang hinein? Und gegen Kant
bejaht er das Zweite. Auch das Denken unterliegt der Naturgesetzlich-
keit. Darum muss eine reale Synthese ein überindividueller, kosmischer
Zusammenhang oberhalb des denkenden Subjekts angenommen und aner-
kannt werden. Es giebt Wahrheiten, die gelten, ohne dass sie Einer an-
Rezensionen (Keyserling). 347
erkennt. Die Denkprinzipien sind nicht nur Bedingungen der Erfahrung,
sondern Ausdruck einer Naturnotwendigkeit. Es ist möglich, die Gesetzes-
einheit der Natur nachzuweisen, zu zeigen, wie das Denken selbst in das
Gefiige der Welt gehört. Der Mensch schreibt der Natur nicht willkür-
lich Gesetze vor, sondern es gehört zur natürlichen Beschaffenheit des
Menschen, die wirkliche Welt nur im Rahmen von Ideen zu begreifen,
gerade wie das Auge nicht umhin kann, gewisse Ätherschwingungen als
Farben zu empfinden. Und ebendarum reiht sich die Natur, wie sie ob-
jektiv ist, notwendig in jene Schemen ein, sobald über sie gedacht wird.
Es giebt also wohl nicht „wirklich" Ideen, Arten , ein überin-
dividuelles Ich, denn sie alle sind nichts als Gedankendinge. Wirklich
existieren kann bloss die jeweilige konkrete Gegenwart. Aber wenn es
zu verstehen gilt, dann müssen wir das Wirkliche in die Rahmen ein-
spannen, an welche das Verständnis, seinem Wesen nach, geknüpft ist.
Die Ideen spiegeln den letzten Grund der Wirklichkeit, soweit wir ihn
zu fassen fähig sind; hinter sie können wir nicht blicken. Wichtig ist
nun aber, dass diese abstrakte Wahrheit sich dem Gehalte nach
mit dem religösen Ergebnis deckt. Jede Religion erhebt einen
Zusammenhang, der empirisch nicht nachzuweisen ist, zur Realität. Die
Mystik präzisiert ihn am Besten: In der Seele des Eiilzelnen ruht die
Ganze Synthese, seine Seele umschliesst das Universum. Der Mensch ist
mehr als er scheint. Sein eigen Wesen ist ein Strahl der Gottheit, eine
ewige Kraft, die Individualität ist nicht das Letzte, das Tiefste — darum
sind überindividuelle Synthesen die höchte Wirklichkeit. Ich bin unsterb-
lich, ewig — doch nicht als Person, die nachweislich vergeht, sondern als
göttliche Kraft, weil mein Selbst ein Überindividuelles ist, mit dem Welt-
all identisch. Ich bin unzerstörbar als überpersönliche, attributlose Ente-
lechie. Ich und Weltall sind Eins: Eins im Wesen sagt der Mystiker;
Eins nach dem Gesetze der Philosoph, Religion und begriffliche Erkennt-
nis unterscheiden sich darum dem Gehalte nach nicht spezifisch, sondern
nur der Richtung nach. Jene antizipiert in der Voraussetzung alle nur
möglichen Konsequenzen, diese steigt von den Folgerungen rückläufig zu
den Prämissen. Religion und Philosophie , Religion und Mathematik,
reügiöses Gefühl und Natur sind darum wohl im innersten Wesen nicht
durch eine unüberbrückbare Kluft geschieden. Vor dem Letzten, zu dem
sie gelangen, vor dem ewigen Leben, bleiben sie schliesslich alle stehen,
in der Ehrfurcht vor dem Geheimnisse".
Die Inhaltsangabe weist wohl nach, dass hier ein geistvoller und
gelehrter Denker ehrlich ringt mit dem Probleme. Gewiss ist gegen die
Ausführung oft einzuwenden, dass sie zu breit ist, mir scheinen der Ab-
schweifungen für ein philosophisches Werk zu viele zu sein, so unterhalt-
sam sie oft sind. Der Stil Chamberleins ist nicht das Ideal des philosophi-
schen Stils. Auch die Wiederholungen wirken ermüdend. Man hält
manchmal den Faden mit Mühe in der Hand. Viele Bemerkungen können
trotz ihrer geistreichen Form dem Vorwurf nicht ausweichen, dass sie
übertrieben und einseitig sind. Und andre sind so oft schon niederge-
schrieben worden, dass wir sie nicht noch einmal in jedem Buche lesen
wollen. Der Rezensent mochte das nicht verschweigen, weil er aus andern
Gründen lebhaft wünschen möchte, dass der Verfasser weiter sich aus-
spricht über sein Ringen mit den philosophischen Problemen, die ernsthaft
philosophische Darstellung leidet aber sehr unter dem Geranke und
Beiwerk.
Bei der Lösung des eigentlichen Problems nun ist Keyserling von
vornherein ehrlich und feinsinnig genug, um zu gestehen, dass er dies
ewige Problem nicht aus der Welt schaffen, dies Welträtsel lösen wolle.
Nur Richtungen will er weisen, ein „anhebender" Mensch sein. .,Ich habe
versucht, möglichst viele und hochragende Gesichtspunkte aufzuzeigen,
möglichst wenige Grenzen zu stecken. Vielleicht weisen einige ins Un-
endliche hinaus?"
348 Rezensionen (Keyserling).
Das darf man als Erstes dem Verfasser wohl zugestehen, dass er
das getan hat. Das Buch ist reich an tiefsinnigen Gedanken, an guten
Wegweisungen und ist arm an dogmatischen Begrenzungen. Der Verf.
hat die tiefsten Gedanken der Kantischen Philosophie in sich aufgenommen
und verarbeitet imd das besonders in der Anwendung der erkenntnis-
kritischen Methode. Wieweit das gilt, geht aus der Inhaltsangabe von
selbst hervor.
Ein zweites geht aber wohl ebenso klar aus ihr hervor, dass K.
manchmal mit einer gewissen Naivität glaubt, energische Schritte über
Kant hinausgegangen zu sein , tiefer als Kant gedrungen zu sein in
Problemaufstellungen und Problembeantwortungen, wo der Kantianer und
Schüler der grossen „Kantjünger" unsrer Tage nichts Neues und Tieferes
erfuhr von K., als er schon in seinem Kant gelesen oder über seinem Kant
gedacht hatte.
Und schliesslich geht wohl als ein drittes aus der Inhaltsangabe
hervor, dass der Verf. unbemerkt fast und man meint manchmal wider
seinen Willen, wider sein besseres an Kant geschultes Gewissen, eine
Metaphysik einführt, in der er allerdings den Boden des Kantischen
Apriorismus verlassen hat. Ist es keine metaphysische Annahme, das
überindividuelle Selbst, das überpersönliche Ich in seiner Kosmischen
Realität gleichsam hinter und über das Persönliche zu stellen, als das
wahre Sein, das durch das Werden schreitet? Ist es weiter keine meta-
physische Annahme, in der religiös-sittlichen Frage der Unsterblichkeit
die n a t u r gemässe Basis, und auch den n a t u r geuiässen Kern finden zu
wollen und darum die notwendige Beziehung des religiösen Gefühls zum
objektiven Sein der Natur und umgekehrt schlagend beweisen zu wollen?
Und über der Metaphysik ist das Wesen der Persönlichkeit, des Bewusst-
seins, des Konkreten einfach verkannt und durch lauter Abstraktionen
glücklich weggewischt.
Es liegt im Unsterblichkeitsglauben verborgen ein Apriori. Das ist
aber nie eine kosmische Realität, es ist keine n a t u r gemässe Basis und
kein n a t u r gemässer Kern, sondern dies Apriori, das „der empirischen
Innenwelt zu Grunde liegt, ist im tiefsten Grund ein metakosmisches",
wie Liebmanns treffende Bezeichnung für Kants Apriori lautet. Um dieser
Metakosmik zu entgehen, scheint mir nun der Verf. als Naturforscher beim
Kosmos bleiben zu wollen, aber er stellt dafür einen metaphysischen Satz
auf, der mehr erfahrungstransscendent ist als alles Kantische Apriori. Das
transscendentale „Ich", das als Bewusstseinssubjekt über dem Flusse der
Zeit, über dem Werden steht, wird zum transscendenten Ich, dem freilich
nun eine kosmisclie Realität zugeschrieben wird. Der Verfasser nimmt oft
eine so berückend nahe Stellung zu Kant ein, dass man versucht ist, den
reinen Apriorismus in seinem Werke zu entdecken, nach dem doch auch
Jenes Ich unentbehrliche: Voraussetzung des Weltdaseins ist, „an dem
der empirisclie Mensch bei seinem Welterkennen gleichsam teilnimmt".
Aber der Versuch wird zu energisch gemacht, dies Ich zu einem Absoluten
zu machen imd es zusammenzuwerfen mit jenem geheimnisvollen Träger
des Selbstbewusstseins, jenem „intelligiblen Charakter" Kants, über das
Kant freilich auch wieder nicht wagte zu reflektieren. Er wusste, dass
dies überpersönliche Ich aus seiner Tiefe nicht herauszuzerren, und in
seiner kosmischen Realität aufzuzeigen sei.
Wir wollen freilich nicht eine metaphysikfreie Philosophie, das
metaphysische Bedürfnis ist ein unabweisbares im Menschen. Und gerade
K. ringt aus diesem heraus mit den gewaltigsten Problemen: Sein und
Werden, mit dem Ich, mit Erscheinung und Idee. Darin spürt man deut-
lich die Einflüsse auch der modernen Naturphilosophie. Nur muss die
Metaphysik sich hüten, da und dort aus einer kritischen eine dogmatische
zu werden.
Doch mag hier manche Undeutlichkeit oder Unsicherheit im Aus-
druck diesen Eindruck mit hervorgerufen haben. Jedenfalls haben wir in
Rezensionen (Moeller van den Brück). 349
diesem Werke ein ernstes Ringen um die tiefsten Probleme, an denen
immer wieder die Arbeit einsetzen wird.
Eines bleibt gewiss Es handelt sich, so lange wir einer dogmati-
schen Metaphysik aus dem Wege gehen, bei allem Unsterblichkeitsglauben
in kritischem Betracht um ein unvermeidlich Apriori, dass das geistige
und sittliclie Leben das leibliche Leben überragt; das ist das normative
Werturteil, das mehr ist als ein blosser Unsterblichkeitsinstinkt. So löst
sich vom Seelengrunde alles Mensclienlebens ein Ewigkeitswille, ein
Ewigkeitsgedanke los. Weil Unvergängliches in uns liegt, darum wollen
und glauben wir die Unvergänglichkeit. Allein solcher aus einem sittlich-
religiösen Werturteil als Apriori geborener Unsterblichkeitsglaube ist ver-
einbar mit der religiösen Autonomie. Über persönliche und bewusste Un-
vergänglichkeit kann eine wissenschaftliche oder dogmatische Metaphysik
nichts aussagen, nicht Ja, nicht Nein! Darum fällt auch m. E. der Ein-
wurf gegen Rickert in sich zusammen. Im Unsterblichkeitsglauben steckt
eben doch im Tiefsten ein Urteil auf der einen Seite, ein Sollen auf der
andern Seite. Dieses Sollen allein ist Gegenstand der Erkenntnis, und
kein Sein. Darum ist auch der Übereifer gegen den persönlichen Uusterb-
lichkeitsglauben nicht am Platze. Es handelt sich eben darin um die
Persönlichkeit, um „den intelligiblen Charakter", nicht um die Person. Und
diese höchst wichtige, Kantische Unterscheidung sehe ich nirgends mit
Ernst angefasst. Nur einmal vorübergehend S. 2.S6 u. 292.
Zum Schlüsse muss aber dem energischen Ringen um die Grenz-
bestimmung von Glauben und Wissen und um das religiöse Apriori
besonders Anerkennung zugewiesen werden. Wir stehen hier eben immer
noch nicht am Ende des Sinnens über diese wichtigsten religionsphilosoplii-
schen Probleme. Wer hier mitarbeitet, fördert alle Religionsphilosophie,
auch die Kantische.
Laufen (Baden). Hermann Maas.
Moeller van den Brück. Die Deutschen. Vierter Band: Ent-
scheidende Deutsche. Vom Kritischen. — Friedrich der Grosse. — Winkel-
mann. — Lessing. — Herder. — Kant. — Fichte. — Moltke. J. C. C. Bruns
Verlag. Minden i. W. (262 S.)
Moellers Gesamtwerk soll für unsere deutsche Jugend, der er es
widmet, wohl eine Art deutsches Heldenbuch sein. Gut, dass Kant und
Fichte auch unter diese Helden aufgenommen sind. Schade nur, dass es
so kurz geschieht. Es müsste am Ende doch noch eindringlicher unserer
von monistischen Phrasen erfüllten Jugend gesagt werden, dass „einem
neuen Idealismus erst, der von Deutschland ausging, die Welt gehörte"
und nicht dem Utilitarismus oder Skeptizismus, und dass dieser Idealismus
immer wieder durchbrechen muss, „wo ein Deutscher nur deutsch denken
will". Hier sei nur darauf hingewiesen, dass es dem Verf. gelingt, einen
Eindruck wenigstens vom bleibenden Werte der Kantischen Lehre der
Jugend zu geben, dass sie die Wege zu ihr suchen lerne. Treffend stellt
er die Erkenntnistheorie in den Vordergrund und bezeichnet diese Kan-
tische Gesetzgebung als grund- und grosszügig und preist ihren Schöpfer
als den, der uns unser Köstliches, unseren Menschengeist wieder zurück-
gegeben hat und uns selbst mit ihm, als seine Herren von Neuem fest
auf unsere Erde stelle. Stark ist der Eindruck, den der Verf. vom Ethiker
Kant geben will, in dem er geradeso einen Wendepunkt sieht, wie in
dem Erkenntniskritiker. Die scharfe Form des kategorischen Imperativ
war das Grosse und Entscheidende: „Die Deutschen bedurften dieses ge-
waltigen Stosses." Auch hier wird auf die lebendigere Auffassung hin-
gewiesen, die der Grundforderung Kants noch unterlegt werden wird in
der Zukunft. Aber er sielit doch in dem „neuen gewaltigen Dogma: das
moralische Gesetz ist der alleinige Bestimmungsgrund des reinen Willens",
ein ,,Dogma so reich und weit", wie die Natur ist und wie es Menschen
giebt. „Wenn Kant nach Jenen sah, dann weiteten sich ihm die vier
Wände, in denen er lebte, zur Welt." Erfreulich ist der Nachweis der
350 Rezensionen (Moeller van den Brück).
Verbindungsfäden, die von Kant zu Luther und auch zur echten deutschen
Mystik führen. Luthers Lehre von der Freiheit eines Christenmenschen ist
doch keine andere, als die spätere Kants vom „moralischen Gesetz
in mir."
Schliesslich weist er auch auf die Stelle hin, wo das „über Kant
hinaus" liegt, wenn er mit den Mitteln des Kritizismus das Wesen der
Welt und die Bestimmung des Menschen ergründet wissen will, damit
wir eine kritische Weltanschauung besitzen. Er will, dass dies Werk
nicht ohne Kant geschähe und sieht in Kants kritischer Teleologie, die er
Kants „fruchtbarste Tat" nennt, die wichtigste Vorarbeit dazu. Die
Grenzen Kants sind richtig gezeigt, namentlich auch die seiner Religions-
philosophie und Ästhetik, ebenso aber auch die bleibende Bedeutung des
Richters über „Wahr und Falsch" auf allen diesen Gebieten.
Nicht ganz klar wird des Verfassers Begriff „Natur", der bei ihm
eine durchaus metaphysische Grösse ist und besonders an Einer Stelle als
Weltnotwendigkeit bezeichnet wird, deren Eine Form und zwar die höchste,
gesteigertste und bewussteste die Freiheit im Willen ist. Hier ist der
philosophierenden Jugend ein klarer, deutlicherer Begriff von Notwendig-
keit und Gesetz, wie Windelband und seine Schüler ihn in so mancher
eingehenden Untersuchung uns geboten haben, gewiss viel heilsamer und
fördernder.
Zum Schluss noch Eine Frage: Sollte wirklich die Persönlichkeit
Kants so wenig für unsere Jugend bedeuten? Ist sie denn wirklich „ohne
jede grosse Begeisterung", die den ganzen Menschen getragen hätte? Ich
meine, es ist genug und übergenug vom Pedanten Kant geredet worden.
Es ist Zeit, dass was die grossen Kantforscher für sich und ihr Leben
schon an edelstem Gehalt auch aus Kants Persönlichkeit geschöpft haben,
auch dem weiten deutschen Volke bekannt werde. Im tiefsten Innern
Kant verstehen, heisst, in ihm trotz Allem eine gewaltige, hinreissende,
begeisterte und begeisternde Persönlichkeit finden. Hinreissend ist jede
Persönlichkeit, die ihr Leben opfert für ihre Idee ; und den Enthusiasmus,
ohne den nach Kants Ausspruch in der Welt nichts Grosses geschehen kann,
hat er selber besessen. Es ist freilich ein moralischer und kein phan-
tastischer Enthusiasmus, aber ein Enthusiasmus, der zu jedem grossen
Aufschwung fähig ist und jeden grossen Aufschwung freudig begrüsst.
Darum mag Moeller in einer zweiten Auflage seines Buches die Stellen
streichen, in denen er Kant von Anfang an „greisenhaft" sein lässt und
sein Leben „leidlos, untragisch, unprometheisch" nennt. Das heisst deutsche
Jugend von Kant abschrecken, statt zu ihm hinführen, was doch der Ver-
fasser möchte.
Und der Verfasser kann das, denn er hat Sinn für das Grosse der
Persönlichkeit. Das zeigen sehr schön die andern Kapitel des vorliegenden
Buches, das wir einer klugen, selbständigen Jugend empfehlen, dass sie
begeistert zu unseren deutschen Geisteshelden wandern und an der Talmi-
grössentüre vorübergehe.
Laufen (Baden). Hermann Maas.
Moeller van den Brück. Die Deutschen. Unsere Menschen-
geschichte. Sechster Band : Goethe. J. C. C. Bruns Verlag, Minden i. W.
(200 S.)
Der Verfasser ist ein sehr feiner Goethekenner, der in manchen
Teilen seines Werkes dem allein richtigen Grundsatze folgt, Goethes
Leben und Schaffen als Äusserung des Genies zu fassen, das einem ge-
waltigen „Sollen" folgt. In Goethes Leben hat doch schliesslich Kants
Begriff des Genialem, wenn auch nicht seinen korrektesten, so doch seinen
lebendigsten Ausdruck empfangen. Dieses günstige Urteil über des Verf.
Arbeitsweise verschiebt sich nur etwas durch das Kapitel: „Der Ver-
schwärmte", in dem die italienische Reise und Goethes Erleben und
Schaffen daselbst wohl die schärfste Aburteilung erfährt, nicht aber die
gerechteste, die bei aller kritischen Zurückhaltung so fein und treffend
Rezensionen (Arndt). 351
Bielschowsky uns geschenkt hat: Sehr viel schaden kann ja aller-
dings diese Kritik der deutschen Jugend, der das Buch gewidmet ist,
nicht, wenn sie von anderer Seite her tiefer die positiven Kräfte der
Renaissance gewiesen bekommt, die auch der Verf. wohl kennt und auf
die er hindeutet, und wenn sie die im vorliegenden Buche zu sehr unter-
schätzte Iphigenie und Tasso ohne des Verf. Vorurteile liest. An den
wesentlichsten Punkten von Goethes Entwickelung weist Moeller auf
Kant hin. Er sieht in Goethe als Erkennendem den vollendeten Gegen-
pol von Kant, besonders was seine persönliche innere Fülle und Lebens-
mächtigkeit anlangt. „Dem Erkenntniskritiker musste der Naturforscher
an die Seite treten, damit Deutschland nicht einseitig Kantianisch werde,
d. h. Deutschlands Denken sich nicht einseitig in Kritik, Erkenntniskritik
auflöse." Sehr ruhig sieht Moeller Goethes Gegensatz zu Kant in seiner
Art, seine Erkenntnisse und Ergebnisse intuitiv herauszusagen. „Goethes
Denken kam aus jenem anderen Stamme menschlicher Erkenntnis, den
Kant selbst schon angegeben hatte, als er sagte : „„Es giebt zwei Stämme
der menschlichen Erkenntnis, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen,
aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Ver-
stand."" Ja er glaubt, dass Kant in Goethe einen Menschen erkannt
hätte, der aus der Urwurzel heraus erkannte, wenn er aus der Sinnlichkeit
herauserkannte, und dass Urwurzel und Sinnlichkeit hier in einem Genie,
das dem Weltwesen näher stand, als andere Menschen sonst, tatsäclilich
gleich waren. Ob Kant wirklich so weit in seiner Mystik gegangen wäre !
Ich möchte es stark bezweifeln. Wir wollen den Gegensatz des sinnen-
frohen Dichters gegen den unerbittlichen, kritischen Philosophen des
Apriori ruhig hinnehmen. Wir brauchen sie beide. Und für die Leser
des Buches freuen wir uns, dass Kant in der Gegenüberstellung nicht zu
kurz kommt, wie das in ungezählten Goetheschriften zu geschehen pflegt.
Denn ebenso ausführlich wird Goethes Verhältnis zur Kritik der Urteils-
kraft dargelegt, das nun freilich ein viel mehr zustimmendes als gegen-
sätzliches zu nennen ist. Gerade die grosse Schätzung des teleologischen
Teiles des Buches durch Goethe ist so auffallend und erfreulich und eine
Tat, die für uns heute noch wertvoll ist. Denn das „grenzenlose Verdienst"
Kants, der Natur wieder das Recht zugestanden zu haben, „aus grossen
Prinzipien zu handeln", ist wohl auch heute noch nicht genügend erkannt.
Schliesslich weist Moeller auf den Kantgeist in Goethes Wilhelm Meister
und nicht zuletzt im Faust mit treffenden Worten hin.
Darum wünschen wir dem Buche viel ernste Leser. Freilich wird
der deutschen Jugend ein tüchtiges Quantum Denkenergie zugemutet.
Doch das schadet nichts. Wir wünschen auch, dass für Viele Moellers
Buch eine Brücke zu Goethe selber werde, wie es ja in noch höherem
Masse der herrliche Bielschowsky schon geworden ist.
Laufen (Baden). Hermann Maas.
Arndt, E. Das Verhältnis der Verstandeserkenntnis
zur sinnlichen in der vorsokratischen Philosophie. Ab-
handlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, herausgeg. von Benno
Erdmann, 31. Heft. Halle, Niemeyer, 1908.
Das gesteigerte Interesse für die vorsokratische Philosophie kommt
neuerdings in erfreulicher Weise auch der Erkenntnistheorie dieser ältesten
Philosophen zu gute. Die alte Anschauung, als habe es vor Sokrates nur
extreme Dogmatiker gegeben, die sich über die Bedingungen und Schranken
der Erkenntnis den Kopf nicht weiter zerbrochen hätten, wird heute wohl
nirgends mehr festgehalten. Ist es doch kaum zuviel behauptet, wenn
man ihre erkenntnistheoretischen und logischen Errungenschaften für min-
destens ebenso bedeutungsvoll für die Entwicklung des philosophischen
Denkens erklärt, als ihre naturphilosophischen Einsichten. Überall knüpft
ja die Erörterung dieser Probleme in den sokratischen Schulen an die
Leistungen zumals Heraküts und der Eleaten an. Dass dies früher nicht
genügend anerkannt wurde, lag nicht zuletzt an unserer Überlieferung:
352 Rezensionen (Arndt).
unsere Hauptquelle, das erste Buch von Aristoteles' Metaphysik, berück-
sichtigt ganz einseitig die kosmologischeii Prinzipien. So hat auch nach
dieser Seite die Sammlung der Vorsokratiker von Diels, die zum ersten
Male das gesamte Material bequem zugänglich machte, eine ungemein
fruchtbare Wirkung ausgeübt.
Unter diesen Umständen ist es natürlich, dass zunächst die ein-
gehende Bearbeitung des vorhandenen Materials, die Frage nach den
positiv uns überlieferten Lehren der Philosophen im Vordergrunde steht.
Nach dieser Richtung scheint mir die Hauptbedeutung und das Hauptver-
dienst der vorliegenden Arbeit zu liegen. Sie selbst will vor allem Einzel-
untersuchung geben und die Einzelerklärung der Probleme fördern. So
werden die Fragmente, soweit sie sich auf das im Titel angegebene
Thema beziehen, von Heraklit bis auf Demokrit besprochen imd die sich
daran knüpfenden Streitfragen in besonnener Weise erörtert. Gewiss ist
gegen eine solche Fassung der Aufgabe im allgemeinen nichts einzu-
wenden und sie ist in jedem Falle weit förderlicher als die kühnen Flüge
ins Reich der Phantasie, die wir gerade während der letzten Jahre bei
der Darstellung der vorsokratischen Philosophie gelegentlicli erlebt haben.
Und doch trägt auch eine solche Betrachtungsweise, die um sich nur
streng an das Überlieferte zu halten, den Bück nicht von dem einzelnen
Datum der Überlieferung zum allgemeinen Zusammenhang zu erheben
wagt, ihre Gefahren in sich. Auch für die Philosophiegeschichte muss
der oberste Grundsatz aller historischen Kritik gelten, dass die einzelnen
Steine der Überlieferung sich zu einem einheitlichen, in sich verständ-
lichen Bau zusammenschliessen müssen. Ganz besonders in der Philo-
sophie empfängt jeder Satz erst seinen Sinn aus dem geistigen Zusammen-
hang, innerhalb dessen er konzipiert ist. So erfordert die Einzelinterpre-
tation geradezu die Berücksichtigung des ganzen Systems und darüber
hinaus der gesamten Gedankenentwicklung dieser ältesten Philosophie.
Wo sie unterbleibt oder wie hier doch mehr als billig zurückgedrängt
wird, da zerfällt zunächst die Entwicklung in eine Reihe unverbunden
neben und nach einander auftretender Meinungen. Und das ist gerade
bei der vorsokratischen Philosophie eine sehr bedeutende Beeinträchtigung,
weil die Einheit dieser Gedankenentwicklung bei der völligen Ver-
schiedenheit ihrer dogmatischen Inhalte gerade in den erkenntnistheore-
tischen Voraussetzungen ruht. Aber auch die Interpretation des Einzelnen
muss notwendig durch eine solche Beschränkung Schaden leiden. Dafür
zwei Beispiele.
Bei der Besprechung des Parmenides wird ein grosses Gewicht
darauf gelegt, dass nach unserer Überlieferung, worauf übrigens schon
Diels hingewiesen hatte, der Eleate nicht, wie meist angenommen, zwei,
sondern drei Wege der Forschung unterscheide : neben dem wahren, nach
dem das Sein ist und das Nichts nicht ist, ein ganz unmöglicher, der dem
Nichtseienden ein Sein zuschreibt, und ein bedenklicher, nach dem Sein
und Nichtsein identisch sind (Fragment 4 — 7 Diels), In der Tat scheint
die Überlieferung diese Dreiteilung an die Hand zu geben. Aber es muss
schon stutzig machen, dass für die zweite Behauptung gar kein Vertreter
angeführt werden kann, so dass Parmenides seine heftigsten Schläge
gegen Windmühlen zu führen scheint. Halten wir aber als allgemein-
giltige Methode den Grundsatz aufrecht, dass oberstes Kriterium für den
Text nur der Sinn sein darf, nicht umgekehrt, so springt ohne weiteres
in die Augen, dass inhaltlich die zweite und dritte Behauptung vollkommen
das nämliche sagen. Wer dem Nichtsein Sein zuschreibt, der behauptet
eben damit ihre Identität. Diesen selbstverständlichen Gedanken werden
wir uns nicht durch eine allzu peinliche Scheu vor der Überlieferung ver-
gewaltigen lassen, zumal diese hier deutliche Spuren der Verdorbenheit
zeigt. Wenn in den zwei ersten Versen von Fragment 6 Parmenides
seine eigene Ijehre aufstellt und dann fortfährt: das ist der erste Weg,
vor dem ich dich warne, so ist da offenbar dazwischen eine Lücke anzu
Rezensionen (Finckh). 353
nehmen. Das scheinbare philosophische Problem löst sich in ein rein
philologisclies auf. Mag das letztere nun auch nicht auf eine. glatte Rech-
nung zu bringen sein, wir sehen doch soviel, dass diese Überlieferung
allzu ungenügend ist, als dass sie uns zwingen könnte, die einfachsten
Sätze dieser klaren Dialektik in unverständliche Widersprüche zu ver-
wickeln.
Noch weniger kann ich mich mit der Behandlung Demokrits ein-
verstanden erklären. Im Mittelpunkte der Erörterung steht hier natürlich
das berülimte Fragment, das die Sinnesqualitäten als nur vöf^M vorhanden
erklärt, als Wirklichkeit nur die Atome und das Leere anerkennt. Der
Verf. polemisiert gegen die rationalistische Deutung Natorps. Aber wenn
er dabei den Nomos als die gesetzmässige Struktur der Sinnesorgane
fassen will, so ist das eine völlige Verkennung der Bedeutung, welche
dies Wort in der gesamten Reflexion jener Zeit besitzt. Wo da der
Nomos irgend einem Begriff wie Natur, Wirklichkeit gegenübergestellt
wird, bedeutet er stets das subjektiv Erschaffene und demnach Willkür-
liche im Gegensatz zum objektiv Gegebenen. Dagegen beweist nichts,
dass in den Schriften Galens dies Fragment als ein Gespräch zwischen
den Siunen und dem Verstände zitiert wird und dabei den Sinnen das
letzte Wort bleibt (Fragment 125 Diels). Unser Gewährsmann zitiert eben
nur soviel als ihm in seinen Kram passt ; dadurch wird die Glaubwürdig-
keit der bei Sextus überlieferten Fassung nicht erschüttert. Nur so wird
der Gegensatz zwischen der unechten und echten Erkenntnis (Fragment 11)
verständlich. Ich glaube in der Tat, dass hier Natorp vollkommen das
Richtige gesehen hat. Wiederum schadet dem Verf. seine allzu ängstliche
Haltung gegenüber dem positiv Überlieferten. Was die echte Erkenntnis
im Gegensatz zur unechten der Sinne sei, wird uns in der Tat ausdrück-
lich in den gut überlieferten Stellen nicht gesagt. Aber sind deshalb
wirklich ..Vermutungen vielleicht zu gewagt" ? Welche Erkenntnisart
kann denn überhaupt nur der sinnlichen so antithetisch entgegengestellt
werden ? Ist nicht fast die gesamte griechische Philosophie beherrscht
von dem Gegensatz Wahrnehmung-Denken, Sinne-Verstand ? Und nun
sollen wir den Begriff der Verstandeserkenntnis für Demokrit „gar nicht
in Anspruch nehmen?" „Die yvr^aii] yvüi^r,, die man so gern so taufen
möchte, war das kaum". Ja, was soll sie denn sonst gewesen sein?!
Diese Einwände sollen übrigens das Verdienst solcher Untersuchungen
nicht herabsetzen, sondern nur das lebhafte Interesse, das sie für sich
fordeni dürfen, und den Wunsch, etwas zur Förderung der Probleme bei-
zutragen, bekunden, Sind die Wege verschieden, auf denen der Einzelne
die Fragen zu lösen versucht, der Sache kann eine Betrachtung unter
verschiedenen Aspekten nur förderlich sein.
Strassburg i. Eis. M. Wundt.
Finckh, Theodor, Professor an der Oberrealschule in Reutlingen.
Lehrbuch der Philosophischen Propädeutik. Heidelberg
1909. 80. (132 S.).
Der Verfasser hat ein Lehrbuch der philosophischen Propädeutik
vorgelegt, das für alle Gattungen der höheren Schulen bestimmt ist. Er
vertritt die Meinung, dass philosophischer Unterricht unerlässlich sei: „die
in verschiedenen Fächern gewonnenen Erkenntnisse der Schüler müssen
durch ein geistiges Band zusammengeschlossen werden." Diese Ansicht
darf auf allgemeine Zustimmung rechnen; denn das Bedürfnis nach philo-
sophischer Unterweisung wird auf höheren Schulen von Lehrern und
Schülern lebhaft empfunden. Der Verfasser kennt die Bedürfnisse des
Unterrichts und er hat sich mit der philosophischen Literatur der Gegen-
wart vertraut gemacht. Philosophische Gegenstände in elementarer Weise
darzustellen, ist keineswegs leicht, vielleicht ist es noch schwerer, als die
Philosophie vor Fortgeschrittenen vorzutragen. Mehr als auf einzelwissen-
schaftlichen Gebieten muss hier der Lehrer oftmals mit dem Stoff geradezu
ringen. Ausführlich hat sich hierüber Rudolf Lehmann geäussert, ein Ge-
354 Rezensionen (Finckh).
lehrter, der zugleich auch ein ausgezeichneter Kenner des höheren Schul-
wesens ist (vgl. Rud. Lehmann, Wege und Ziele der philosophischen Pro-
pädeutik, Berlin 1905.) Auch habe ich selbst bei der Arbeit für mein fast
gleichzeitig mit Finckhs Werk erschienenes Lehrbuch mir von der Schwierig-
keit der Aufgabe ein Urteil bilden können. Ich begrüsse die Mitarbeit
des süddeutschen Kollegen und bringe ihm volle Sympathie entgegen.
In dem „Handbuch für Lehrer höherer Schulen", Leipzig 1905, hat
Ref. in dem Abschnitt über philosophische Propädeutik S. 215—242 die
Arten des philosophischen Unterrichts zu klassifizieren gesucht. Es sind
drei Grundformen zu unterscheiden: 1. der philosophisch gerichtete Fach-
unterricht, der bei Gelegenheit philosopiiische Belehrungen einschaltet.
2. Der logisch-psychologische Unterricht, der in besonderen Stunden einen
Abriss der Logik und Psychologie bietet. 3. Der eigentliche philosophische
Unterricht, der in besonderen Stunden einen Kursus der Philosophie ver-
anstaltet ohne Beschränkung auf Logik und Psychologie. Finckh's Lehr-
buch ist der zweiten Klasse beizuzählen, welche besonders in den öster-
reichischen Mittelschulen vertreten ist; und zwar hat er sich, was Inhalt
und Form seines Buches anlangt, besonders an Alois Höflers treffliche
Lehrbücher angeschlossen.
Der propädeutische Unterricht, der sich auf Psychologie und Logik
beschränkt, kann aber gegenwärtig nicht mehr auf allgemeine Zustimmung
rechnen; denn dem Verlangen des jungen Mannes nach philosophischer
Orientierung genügt er nicht. Er ist die Form der philosophischen Be-
lehrung, welche die Pensenschule oder Leruschule sich geschaffen hatte,
weil auf diese Weise eine gute Portion Kenntnisse eingeprägt und die
heiklen Fragen der Weltanschauung umgangen werden können. Darum
verlangt die Erziehungsschule, welche auf die Bedürfnisse angehender
Studenten wirklich eingehen will, eine nach Inhalt und Form andere Art
der philosophischen Propädeutik. Diese Auffassung wird auch durch
Finckhs Lehrbuch bestätigt; denn eigentlich will er auch nur Psychologie
und Logik in angemessener Verkürzung bieten. Aber es werden allent-
halben Stücke eingeflickt aus der Erkenntnislehre, der Metaphysik und
Ästhetik. Auf diese Weise wird der Rahmen des Werkes an vielen Stellen
gesprengt, die Darstellung lässt den Zusammenhang vermissen, der Schüler
wird unvermittelt von einem Gegenstande zum andern geführt und doch
ist das, was geboten wird, oft nicht ausreichend und nicht aufbauend.
Um das zu beweisen, brauche ich nur einiges hervorzuheben. Die
Entwickelungslehre wird absichtlich niclit berührt. Ja, was nützt denn
einem jungen Manne gegenwärtig der philosophische Unterricht, wenn
sein Lehrer diese wichtige Frage umgeht? Die Lehre vom Schluss ist in
herkömmlicher Weise behandelt, aber in so zusammengedrängter Form,
dass niemand daran Freude haben kann. Hier giebt es nur zwei Wege:
entweder werden mit breiter Vollständigkeit alle Formen entwickelt, oder
man verzichtet auf alles das, was Kant gelegentlich den alten Plunder
der syllogistischen Figuren genannt hat, und beschränkt sich auf die Grund-
form, um es dem gesunden Menschenverstände zu überlassen, dass er sich
im einzelnen Falle mit den Modifikationen abfinde. Wissenschaftlich
unhaltbar ist die Definition der Empfindung S. 15, auch die Unterscheidung
von drei Arten der psychischen Elemente. Die Darstellung will kurz sein
und begnügt sich deshalb oft mit blossen Stichworten. Mit Recht ver-
langt man aber jetzt von einem geschichtlichen oder naturwissenschaft-
lichen Lehrbuche eine zusammenhängende, gut lesbare Darstellung; ein
philosophisches Buch für Anfänger muss dieser Forderung erst recht
entsprechen, sonst wirkt seine Lektüre unerfreulich und abschreckend.
Trotz dieser Anmerkungen verlangt die Gerechtigkeit anzuerkennen,
dass in dem Buche ein redliches und löbliches Bemühen hervortritt. Ich
habe mich beim Studium des Buches oft gefreut, mit dem Verfasser in
Einzelheiten zusammenzutreffen, freilich nur in Einzelheiten. Im ganzen
habe ich, was Inhalt und was Form anlangt, in meinem Lehrbuche Ele-
Rezensionen (Hoffmann). 355
mente der Philosophie, Halle 1909, einen anderen Weg eingeschlagen; und
das vorliegende Buch hat mich in der Überzeugung bestärkt, dass das
Problem der philosophischen Belehrung, welches den höheren Schulen ge-
stellt ist, auf dem Wege eines lediglich logisch-psychologischen Unterrichtes
nicht gelöst wird.
Halle a. S. Alfred Rausch.
Holfmann, K. Die Umbildung der Kantischen Lehre vom
Genie in Schellings Sj'stem des transscen dentalen Idealismus.
Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte, herausgeg. von Dr.
L. Stein. Bd. LHI. Bern, Scheitlin, 1907.
Das Schriftchen weist nach, was es zu beweisen unternimmt, dass
nämlich Schellings Gedanken über das Genie und das ästhetische Schaffen
in ihren wesentlichen Grundzügen aus Kants Kritik der Urteilskraft über-
nommen, nur soweit umgebildet sind, als es sein System verlangt. Es ist
das eine sehr einschneidende Tatsache, weil diese Gedanken sowohl im
System des transscendentalen Idealismus als in dem späteren Ausbau der
Gedanken Schellings einen entscheidenden Platz , behaupten, geradezu
grundlegend sind.
Trotzdem scheint mir Schellings Bedeutung und Originalität in der
Beurteilung des Verfassers etwas zu kurz zu kommen. Im gesamten
deutschen Idealismus herrscht eine weitgehende Gemeinschaftlichkeit des
Denkens und Abhängigkeit von Kant, sodass man bei jedem einzelnen
Denker an verschiedenen Punkten die Originalität bestreiten könnte.
Gerade aber in seinen Ausführungen über das Ästhetische hat Kant
— wie überall, wo er Vorgänge des menschlichen Geisteslebens schildert —
eine solche Schärfe der Beobachtung entwickelt, dass es uns bei der Lek-
türe zu Mute ist, als ziehe er nur den Vorhang weg vom menschlichen
Innern und lege uns die innere Struktur dieser Vorgänge klar vor Augen.
Noch viel gewaltiger musste dieser Eindruck auf Zeitgenossen sein. Wenn
wir nun von der damals geschaffenen Basis weiter in die Tiefe graben,
so stehen wir doch noch völlig unter Kants Einfluss, wie viel mehr die
Denker jener Zeit. Es ist eben Schelling das Wesen des genialen Schaffens
und des ästhetischen Wertens durch die Lektüre der Kritik der Urteils-
kraft klar geworden und diese Erkenntnisse verwertet er nun.
Gerade dies beweist, wie wenig auf jene Denker der so häufig
törichterweise gemachte Vorwurf wirklichkeitsferner Spekulation zutrifft.
Sie fühlten sich gebunden an die im menschlichen Geistesleben tatsächlich
beobachteten Vorgänge, ob sie nun selbst oder andere in psychologischer
Beobachtung oder erkenntnistheoretischem Forschen sie aufgezeigt hatten.
Diese innere Gebundenheit ist ihre geraeinsame Basis, ihr Verständigungs-
punkt. Als man unter ihren Nachtreten! und noch mehr in der folgenden
Zeit der empirischen naturwissenschaftlichen Forschung dieses Beobachten
innerer Vorgänge nicht mehr hatte, hatte man auch kein zwingendes Tat-
sachenmaterial mehr, das als Grundlage solcher Spekulation gelten konnte,
und sie verlor ihre zwingende Macht über die Menschen. Schelling be-
deutet ein Einbilden dieses Kantischen Tatsachenmaterials in eine andere
Weltanschauung, aber sicherlich kein Dogmatisieren desselben, wie der
Verfasser annimmt.
Mit diesem Einbilden in eine neue Weltanschauung suchte Schelling
vielmehr an einem Punkte über die Kantische Weltanschauung hinaus-
zukommen, an dem sie selbst über sich hinausdrängt.
Kant muss annehmen, dass die subjektive Zweckmässigkeit, die die
ästhetische Lust erregt, die gesamte Teleologie, eigentlich von uns in die
Natur eingetragen wird. Genau besehen ist diese Annahme aber eine so
gewaltige Behauptung, dass wir hier immer wieder nach allen zwingenden
Beweisführungen am Kritizismus irre werden.
Hier versucht Schelling den Nachweis, dass wir hier nicht eintragen,
sondern etwas von dem Schaffenden in uns und um uns erleben, aus
dessen Tiefe die Welt emporgestiegen ist. Er hat den Nachweis nicht
Kaotatudlea XV. 23
356 Rezensionen (Kinkel).
führen können, wie man etwas von diesem Schaffenden erleben könne,
ohne dass die zwingenden kritischen Gedankengänge Kants bei Seite ge-
schoben werden, was wir eben nicht mehr können. Aber der Versuch
musste gemacht werden und irgendwie muss an diesem Punkte Kant ein-
mal zu Ende gedacht werden. Dass Schelling diesen Punkt traf, spricht
nicht für seine Abhängigkeit, sondern für seine Originalität.
Rüsselsheim. E. Fuchs.
Kinkel, Walter. Der Humanitätsgedanke. Betrachtungen
zur Beförderung der Humanität. Leipzig, Eckardt, 1908. (192 S.).
Der Verfasser vereinigt unter dem genannten Titel neun Abhand-
lungen, welche den Begriff der Humanität zu ihrem Mittelpunkt haben. —
Es wird der Versuch gemacht, Erscheinungen des geschichtlichen Lebens
in Politik und Kunst auf ihre ethische Bedeutung hin zu prüfen und damit
auf ihre philosophische Wurzel zurückzuführen. Diese Aufgabe setzt für
ihre Lösung zwei Bedingungen als unerlässlich voraus: Einerseits muss der
ethische Begriff, an dem die Erscheinungen des Lebens gemessen werden
sollen, sicher begründet und in aller Ausführlichkeit entwickelt werden,
andererseits ist darauf zu achten, dass die Anwendung dieser Idee auf die
Probleme des geschichtlichen Lebens darin besteht, in einzelnen Momenten
einer Entwicklung das Problematische auf die Idee zurückzuführen. Diese
Ableitung und Erklärung der Erscheinung durch den Begriff ist es,
die den philosophischen Leser fesseln kann.
Der ersten dieser beiden Forderungen sucht der Verfasser dadurch
gerecht zu werden, dass er am Anfang des Buches zwei „kritisch gehaltene"
Kapitel bringt, die zur Einführung in das Folgende dienen sollen. — In
dem ersten dieser beiden Abschnitte handelt der Verfasser vom „Werden
des Humanitätsgedankens"; der zweite ist überschrieben: „Fortsetzung;
Humanität wider Rassen- und Klassenhass. Frauenfrage, Rechtspflege
u. s. w." — Wie der Titel schon andeutet, kann für die Frage einer Grund-
legung des Humanitätsbegriffs nur die erste Abhandlung in Betracht
kommen — Aber auch hier lenkt der Verfasser vom Begrifflichen sogleich
in das Historische über. Er giebt uns nicht eine begriffliche Analyse der
Humanitätsidee, sondern eine Erzählung der mutmasslichen Geschichte
dieser Idee, eine Aufzählung der Motive und Anlässe, welche den Humani-
tätsgedanken zur Entstehung und Entwicklung gebracht haben können. —
Hierdurch wird allerdings der Huraanitätsbgriff zu allgemeineren Kultur-
erscheinungen in Beziehung gesetzt; dennoch aber fordert die geschicht-
liche Entwicklung gerade zuerst die genaue begriffliche Analyse. Für eine
philosophische Schrift über den Humanitätsgedanken kann es nicht ge-
nügen, den Begriff, der im Mittelpunkt aller Erörterungen steht, bis auf
den Ausdruck formuliert, anderen Quellen zu entnehmen (wenngleich diese
genannt sind) und, — wo auch immer die sittliche Betrachtung einsetzt,
das ethische Urteil nur schlechthin auszusprechen und als gültig bloss zu
behaupten.
So fehlt dem Buche von Kinkel der Reiz einer begrifflichen Dialek-
tik; dafür sucht der Verfasser durch die Fülle seiner Beispiele und An-
wendungen zu entschädigen. Wir gelangen auf wenigen Seiten von einer
Polemik gegen die brutale Unsittlichkeit der Sklaverei zu einer Be-
sprechung der gedanklichen Entgleisungen eines Schriftstellers, wie
Treitschke; von dort über das Universitätsstudium der Volksschullehrer
zur Rassentheorie, von der Rassentheorie zur Frauenfrage, von der Frauen-
frage zur Rechtspflege u. s. w. Das „und so weiter" hat der Verfasser
selbst wiederholt in den Titel einzelner Abhandlungen aufgenommen und
es ist in der Tat eine bezeichnende Überschrift. Denn diese Beispiele von
Erscheinungen des geschichtlichen Lebens, welche dem sittlichen Ideal
nicht entsprechen, lassen sich beliebig vermehren. Ihre Anführung wivd
aber willkürlich und planlos, wenn die Einheit der Betrachtungsweise,
nämlich die sittliche Idee selbst, sich als Leitgedanke nicht durchsetzt und
in der genauen Zurückführung auf diese Idee alle Beispiele als solche sich
Rezensionen (Richter). 357
dem Begriff unterordnen. Gerade diese begriffliche Disposition muss man
in dem Kinkelschen Buche vermissen; der Humanitätsgedanke ist nur
äusserlich eine Einheit. In Wirklichkeit bringt der Verlasser alle mög-
lichen Betrachtungen über Natur, Kunst und Politik, — die moralische
Betrachtung kommt hinterdrein und sie wirkt in den meisten Fällen, da
sie nur die einfache Gegenbehauptung enthält, leer, oft überflüssig und
trivial —
Es mag sein, dass in diesem Buche einzelne ansprechende Gedanken
und Wendungen zu finden sind; als Ganzes kann man diese Art von Be-
trachtungen nicht besonders hoch bewerten. — Auch eine Eigenart der
Form vermöchte das Werk nicht zu höherem Werte zu erheben; — nichts
anderes als der Inhalt prägt diese Form. So ist der Stil häufig hart und
brüchig; der Verfasser reiht die Sätze nur nebeneinander; Übergänge, die
mit einem „und" oder „aber" die heterogensten Dinge verbinden sollen,
können den Eindruck geschlossener Form nicht hervorrufen. — Bisweilen
gelingt es dem Verfasser einer seltenen gedanklichen Stimmung Ausdruck
zu verleihen — im ganzen herrscht eine gewisse Formlosigkeit vor, die
um so mehr verstimmt, als man gerade in den Vorzügen der Form den
Wert gemeinverständlicher Betrachtungen zu suchen pflegt.
Hamburg. Johannes Paulsen.
Richter, R. Friedrich Nietzsche, sein Leben und sein
Werk. 16 Vorlesungen, gehalten an der Universität Leipzig. 2., umge-
arbeitete und vermehrte Auflage. Dürrsche Buchhandlung, Leipzig 1909.
(VII u. 356 S.)
Da es sich um die 2. Auflage eines bereits ziemlich allgemein an-
erkannten Buches handelt, möge ein kurzer Hinweis genügen. Das Ver-
dienst Richters ist es, die psychologische Erklärung der Lehren Nietzsches
ausgeschieden und so gewissermassen den Menschen von seinem Werk
getrennt zu haben. Dadurch wird die philosophische Bedeutung von
Nietzsches Lehren klar herausgearbeitet und die Grundlinien seiner An-
schauungen sondern sich von dem reichen Beiwerk, das sonst die Beur-
teilung so erschwert. Die Ausschaltung aller kritischen Zwischenbemerk-
ungen gestattet eine zusammenhängende, eindrucksvolle Entwicklung der
Lehrmeinungen, die durch die drei Perioden der Geistesentwicklung des
Denkers hindurch genau verfolgt werden. Dass Richter als Grundzug des
Nietzscheschen Denkens den Idealismus aufstellt, halte ich für besonders
wichtig. Die Triebfeder alles Strebens ist bei dem Zarathustra-Dichter
die Sehnsucht nach einem übermenschlichen Ziele und der Wille zum
Schaffen dieses Zieles — das eben ist Idealismiis.
Die Darstellung des Lebens ist in ihrer Knappheit eine wohlge-
lungene, schriftstellerische Leistung. Die Behandlung des Verhältnisses
zu R. Wagner, wie die vornehme Stellungnahme zur Krankheitsfrage be-
rühren besonders sympathisch.
In der neuen Auflage sind Abschnitte über Nietzsches Stellung zur
Entwickelungslehre und seine verschiedenen Fassungen des Übermensch-
Begriffes hinzugekommen, die Metaphysik und Erkenntnislehre sind ein-
gehender dargestellt. All das sind sehr erwünschte Zusätze, da sie Gegen-
stände betreffen, die sonst in der Nietzsche-Literatur wenig berücksichtigt
werden. Namentlich die feinsinnige Untersuchung des Übermensch-Be-
griffes ist eine bewundernswerte Leistung.
Die Kritik am Schluss ist erfüllt von Achtung für den grossen
Gegenstand, sie ist massvoll und rein sachlich. Zustimmen kann ich ihr
nicht, da meine eigene philosophische Position eine andere ist als die des
Verfassers. Im übrigen halte ich das Buch für einen sehr wichtigen Bei-
trag zur Geschichte der modernen Philosophie und damit auch der Kultur.
Es hebt sich weit heraus über die meisten Erscheinungen der Nietzsche-
Literatur.
Hamburg. Dr. O. Braun.
23*
358 Rezensionen (Wagner).
Wagner, Gustav Friedrich. Encyklopädisches Register zu
Schopenhauers Werken. Karlsruhe, G. Braunsche Hofbuchhandlung 1909.
Unübertrefflich an Zuverlässigkeit und Umfang, fordert dies Werk
vieljährigen Fleisses als das Schopenhauer-Register xai i^oxrjf strengste
Kritik. Je dankbarer man für das Gebotene ist, um so mehr muss man
einen schweren Fehler in der Anlage bedauern: die Belege sind aus der
Frauenstädtschen Gesamtausgabe gegeben, vom Nachlass ist nur
der von demselben veröffentlichte Band benutzt worden, aber weder die
früheren Veröffentlichungen von Lindner, Gwinner etc. noch die neueren
von Grisebach noch endlich die Briefe. Diese Unvollständigkeit muss
einem Werk, das in seiner Breite überhaupt nur den Interessen historisch-
philologischer Kleinarbeit dienen kann, das Beste seines Wertes rauben.
Denn gerade das Abgelegene muss man doch in solchem Werke suchen,
die Hauptstellen findet man von selbst oder mit Hülfe des guten Registers
von Hertslet, das übrigens trotz seines weit geringeren Umfangs immer
noch unentbehrlich bleibt, da es nicht nur die Frauenstädtsche Gesamt-
Ausgabe, sondern auch die sonstigen damals erschienenen Quellenschriften
heranzieht. Nun erschien doch gerade 1891, als W. sich in seinen Vor-
arbeiten zunächst durch Hertslet überholt sah, die neue, textlich viel
bessere und bald allgemein benutzte Reclam-Ausgabe von E. Grisebach,
die durch den Naclilass und einen Briefband ergänzt wurde, sodass das
bis dahin in teueren Einzelschriften verstreute Material fast vollständig
und bequem vereinigt war. Hätte W. seine Belege für diese Ausgabe
umgearbeitet oder ergänzt, — die daraus erwachsene Mehrarbeit war im
Verhältnis zu dem Gewinn und zu dem an noch viel mühsamerer Arbeit
erprobten Fleiss des Autors nicht zu gross — , so wäre nicht nur der
praktische Wert des Buchs neben Hertslet weit grösser geworden, sondern
es hätten sich auch Mängel in der Anordnung des Stoffes vermeiden lassen,
die gerade in den wichtigsten Artikeln hervortreten.
Welch oberflächliches Gemengsei z. B. unter dem Stichwort „Schopen-
hauer, Über sich selbst!" Mehr über seinen Hund und seine Tabaksdose
als über sein Wesen ; das Bild wäre von selbst anders geworden, wenn die
wichtigen brieflichen Selbstzeugnisse benutzt wären. Oder wie ungeordnet
die Belege zu Fichte, Spinoza oder Schelling! Geboten war hier eine
gewisse chronologische Ordnung, denn gerade dabei macht es einen grossen
Unterschied, was der junge, was der alte Seh. sagt. Aber dazu mussten
die später gestrichenen Erwähnungen der Werke von 1813 und 1819 und
zahlreiche Stellen aus dem Nachlass gegeben werden. Die Beschränkung
auf das vollendete Gesamtwerk des Philosophen macht es auch unmöglich,
irgendwie die Entwicklung Sch.s erkennen zu lassen. Wenn W. die
Abweichungen der Erstausgaben von 1813 und 1819 für wichtig genug
hält, um sie im Anhang abzudrucken, warum ignoriert er sie dann im
Register? Es ist vielleicht zuviel gesagt, dass in der Dissertation „bereits
die Grundzüge der Willenslehre erkennbar sind"; aber es giebt darin doch
einige, später gestrichene Stellen, die höchst charakteristisch auf die Kon-
zeption des Hauptwerks hindeuten (S. 35, 105 über den Willen, S. 143 über
das Wesen des Künstlers und Heiligen): im Register fehlen sie. — Dass
die Gliederung des Stoffes unter so schwierigen Schlagworten wie „Wille",
„Idee" philosophisch unzulänglich erscheint, ist wohl unvermeidlich.
Eine höchst erfreuliche Zugabe des Werks bildet ein buchstäblich
getreuer Abdruck (ich habe nur einige leicht zu verbessernde Druckfehler
gefunden) des „Satzes vom Grunde" von 1813. Seh. fehlte der Respekt,
wie vor der Geschichte überhaupt, so auch vor seiner eigenen Entwicklung,
Er betrachtete sein ganzes Oeuvre als eine Einheit, in der Jugend- und
Altersschriften durch zahlreiche Hin- und Her-Verweisungen ineinander
gefugt wurden. Wir wollen uns das Recht auf die Erstausgabe, das sich
Seh. selbst bei der Kritik der reinen Vernunft mit so böser Begründung
nahm, auch wahren. Wenn uns die erste Fassung der Dissertation wesent-
lich als Entwicklungsdokument wertvoll ist, so möchte ich bei der „Welt
Rezensionen (Wagner). 359
als Wille und Vorstellung" der Erstauf läge von 1819 als schrift-
stellerischem Ganzen den Vorzug geben. Die späteren Änderungen sind
nur selten Verbesserungen des Ausdrucks und sacliliche Klärungen, sondern
meistens Zusätze von Belegen und Zitaten, auch Zornesergüsse, alles jeden-
falls zu dem gehörig, was Seh. einmal als den Zement in dem steinernen
Bau eines philosophischen Werks bezeichnet. W. druckt im Anhang
die wichtigeren der später gestrichenen Stellen ab ; sehr dankenswert,
aber die Liste ist zu unvollständig, um den Forscher des Rückgangs auf
das Original zu entheben, geschweige denn einen Neudruck zu ersetzen.
Einige von W. nicht gebrachte Abweichungen mögen das dartun : i)
S. V. Statt „Vorrede zur ersten Auflage".
A': „Vorrede statt der Einleitung".
S. 25, Z. 17. Statt „R. Hookes Entdeckung des Gravitationsgesetzes".
A^: „Newtons Entd. d. Gr." [dafür fehlt „wie sodann Neutons
Berechnungen solche bewährten"].
S. 38, Z. 5. Statt „die Scheinphilosophie des J. G. Fichte".
AI; „die Philosophie des J. G. Fichte".
S. 170, Z. 9—11. Statt „Mit Recht sagt daher Kant . . . d. h. auf".
A^: „Wir werden daher auch nicht mit Kant vom Newton des
Grashalms reden, d. h. von [demjenigen ..."
S. 170, Z. 34; S. 171, Z. 2. Statt „dieser ist . . sogar darin".
A*: „welcher das leitende Prinzip der vortrefflichen, in unsern
Tagen von den Franzosen ausgegangenen, zoologischen Systeme
ist, welcher am vollständigsten in der vergleichenden Anatomie
nachgewiesen wird, und welchen aufzufinden auch ein Haupt-
geschäft, oder doch gewiss die löblichste Bestrebung derjenigen
Schriftsteller ist, die sich in Teutschland heutzutage Naturphilo-
sophen nennen, und die darin [manches Verdienst . . ."
S. 259, Z. 2 V. u.; S. 260, Z. 2. Statt „und Mahavakya ... Tat twam asi".
AI: „dazugebrauchen können: „Tatoumes", wie sie der Persische,
oder „Tutwa", wie sie der Englische Übersetzer schreibt".
S. 324, Z. 2 V. u. Statt „Schiwa, zugleich".
A^: „Schiwa, Rudra, Mahadäh".
S. 421, Z. 17. Statt „Nirvana".
AI: „Nieban"-
S. 487, Z. 16. Statt „das Brahm oder Nirwana".
A^: „den Urgeist oder Nieban".
Zum Schluss muss noch auf die Vorwürfe eingegangen werden, die
W. gegen die bis jetzt für mustergültig gehaltene Grisebachsche Aus-
gabe erhebt und die ihn zur Bevorzugung der älteren Gesamtausgabe
veranlassen. W. hat sich nämlich die ungeheuere Mühe gemacht, diese
beiden wie auch alle von Schopenhauer selbst besorgten Ausgaben Buch-
stabe für Buchstabe zu vergleichen; er hat freilich die Hauptarbeit
„editorum in usum" getan, wie ein boshafter Engländer auf den Titel seiner
Plautus-Ausgabe schrieb. Das gilt vor allem von dem „Verzeichnis der
Druckfehler der Ausgaben letzter Hand". Dann folgt auf 37 Spalten zu
60 Zeilen das „Verzeichnis der wichtigeren Druckfehler der Frauen-
städtschen Gesamtausgabe". Das überrascht nicht, denn Grisebach hatte
schon vorgerechnet, dass diese Ausgabe 1619 „korrumpierte Stellen" habe.
Aber merkwürdiger Weise steht vor sehr vielen Fehlem ein Kreuz, und
dies Kreuz bedeutet, dass der gleiche Fehler sich bei Grisebach wieder-
findet.
Das passt in der Tat recht schlecht zu dessen Versicherung, er habe
„seinem Texte ausschliesslich die Ausgaben letzter Hand zum Grunde ge-
legt und dieselben mit diplomatischer Treue, die sich selbstredend auf
Orthographie und Interpunktion erstreckt, reproduziert".
^) Ich zitiere die bei Grisebach in Klammern beigefügten Seiten-
zahlen der Ausgabe letzter Hand, die mit denen der Frauenstädtschen
Ausgabe übereinstimmen.
360 Rezensionen (Wagner).
Man braucht es Gr. nicht zum Vorwurf zu machen, dass er dem Setzer
die Frauenstädt'schen Drucke in die Hand gab; aber dass seine Korrektur
soviele Fehler übersehen konnte, ist schlimm. Die Liste der „wichtigeren"
Fehler umfasst allerdings schon sehr grosse Kleinigkeiten, und da gibt es
etwa 500 Kreuze; wenn W. Grisebach 1800 aus Frauenstädt übernommene
Errata vorhält und diese Zahl gar mit den 1619 diesem von jenem ange-
kreideten „Korruptionen" vergleicht, so heisst das doch nicht nur mit
zweierlei Mass messen, sijndern auch den Ton kleinlicher Mäkelei, den auch
wir nie als eine Zierde des Griesebach'schen Anhangs zu seiner Ausgabe
(Bd. VI) empfunden haben, gegen den darob Gescholtenen mit doppelter
Ungerechtigkeit anwenden ! Die mechanische Buchung jeder Abweichung,
einerlei ob es eine Entstellung oder mögliche Emendation ist, lässt die
Sache überhaupt schlimmer erscheinen als sie ist. Von den 48 Kreuzen,
die auf den 1. Bd. der „Welt als Wille und Vorstellung" kommen, kann
ich nur 4 als wirklich sinnstörende Druckfehler anerkennen, die meisten
sind Kleinigkeiten der Interpunktion.
Immerhin bleibt das Ergebnis, dass Grisebach von den zahlreichen,
wenn auch nicht 1800 sinnstörenden Druckfehlern der Frauenstädt'schen
Ausgabe etwa ein Viertel, und nicht das schlimmste, beibehalten hat. Seine
Ausgabe ist also mindestens um so viel besser. t)azu kommt aber, dass
die schweren Fehler und vor allem Auslassungen, die Grisebach seinem
Vorgänger in den handschriftlichen Zusätzen nachweist, bei W.s
Vergleichung nicht in Betracht gezogen sind. Da Grisebach „den Vorzug
gehabt" — man kann auch sagen: sich die Mühe gemacht hat — Sch.s
Manuscriptbücher gründlich zu benutzen, so dürfen wir ihm bis zum Be-
weise des Gegenteils wohl zutrauen, dass sein Text an diesen Stellen wirk-
lich der bessere ist.
Aber W. behauptet, dass dafür Grisebachs Ausgabe wieder eigne
Druckfehler hat. Die Vermutung spricht ja dafür, und wir wären W. sehr
dankbar, wenn er seinen Fleiss auch auf ein Verzeichnis dieser Fehler der
Gr.schen Ausgabe erstreckt hätte. Statt dessen spricht er nur ganz all-
gemein von der „ Unzahl der schwersten Druckfehler im Gr.schen Text von
1891", um gleich danach zuzugeben, dass in der seit 93 erschienenen 2. Aus-
fabe, auf die es uns eigentlich allein ankommt, „die meisten eigenen Fehler
erichtigt worden sind". (Auffallend ist aber, dass von den aus Frauen-
städt abgedruckten Fehlern kein einziger berichtigt ist: daraus ist zu
schliessen, dass die zweite Ausgabe nicht auf einen völlig neuen Satz be-
ruht und nur durchgesehen, nicht abermals kollationiert ist, was Gr. freilich
auch nicht behauptet.) W. macht nun eine kleine Zahl von Fehlern der
zweiten Ausgabe namhaft, aber sie sind so harmlos, dass man sich erstaunt
fragt, ob wirklich keine stärkeren Beispiele von „Korruption" zu finden
waren; übrigens ist es W. entgangen, dass von Bd. III. eine dritte Aus-
gabe vorliegt, welche seine Monita (auf S. 531 und 536) z. gr. T. erledigt.
Alles in allem muss nach W.s gründlicher Nachprüfung der Grisebach'schen
Ausgabe das traditionelle Lob derselben eingeschränkt werden, aber dass
sie immer noch weitaus besser als die Frauenstädt'sche Ausgabe, frei von
willkürlichen Änderungen und darum auch weiterhin durchaus zu empfehlen
ist, dieses Urteil muss ich trotz W. aufrecht erhalten.
Dass natürlich die Reclam-Ausgabe keine editio definitiva sein konnte
noch wollte, hat doch Grisebach selbst anerkannt. Das verhinderte schon
das eigentümliche Schicksal der Handexemplare, die Frauenstädt, der
Erbe des handschriftlichen Nachlasses Seh. 's, für seine Ausgabe benutzte.
Durch ein böses Missgeschick kamen sie in den Besitz eines Herrn Fried-
rich Bremer, der sich daraufhin in Kürschners Literaturkalender von 1893
als „Herausgeber der ersten kritischen Gesamtausgabe von A. Seh. 's sämt-
lichen Werken" bezeichnen liess. An dieser Stelle und in der Phantasie
des Herrn fristete die Ausgabe ihr Dasein weiter, bis er 1902 starb (s.
Jhrgg. 1903, 1. Abt., Sp. 43). Grisebach versäumte den Moment, und die
Handexemplare verschwanden abermals. Erst nach seinem Tode ermittelte
Rezensionen (Nelson). 361
Herr Hans von Müller, dessen Freundlichkeit ich diese Mitteilungen ver-
danke, den jetzigen Besitzer; es ist wieder ein Liebhaber, der den Ehrgeiz
hat, auf Grund dieses Schatzes eine „grosse" „kritische" „Gesamtausgabe"
zu machen — , so dass eine solche abermals bis auf weiteres nicht zu er-
hoffen ist — .
Grisebach war bei seiner Ausgabe in Bezug auf die Zusätze der
Handexemplare zwar nicht gänzlich, wie W. meint, aber doch wesentlich
auf Frauenstädt angewiesen; er hat sich nur die Verweisungen auf die
Ms.-ßücher notieren können (welchen Raub ihm Herr Bremer zeitlebens
nicht verzielien hat). Eine abschliessende Ausgabe wird nur möglich sein,
wenn diese Exemplare genau verglichen werden können und auch die
Manuskriptbücher in weiterem Umfang verwertet bezw. veröffentlicht
werden, als es in der Reclam-Ausgabe angängig war. Möge W.'s kritische
Vorarbeit Veranlassung geben, das Bedürfnis nach einer solchen Ausgabe
bei den Freunden Sch.'s reger zu machen.
Bonn a. Rh. Fritz Ohmann.
Nelson, Leonard. Über das sogenannte Erkenntnisproblem.
Abhandlungen der Friesschen Schule Bd. II, Heft 4, Si 415 — 818. Göttingen,
Vandenhoeck & Ruprecht, 1908.
Kant hat die Frage nach der Beziehung der Erkenntnis auf den
Gegenstand in den Mittelpunkt der Diskussion gerückt. Wenn, wie vor-
ausgesetzt wird, alles Erkennen Urteilen ist, so muss nach einem Beweise
der in jedem Urteile mitbehaupteten „objektiven Geltung" des Gegen-
standes gesucht werden, das Problem der „Erkenntnistheorie". Dies Pro-
blem ist notwendig unlösbar, es ist überhaupt, weil auf falschen Voraus-
setzungen beruhend, ein Scheinproblem. Denn alles Beweisen ist nur ein
Zurückführen von reflektiv, durch Schlüsse gewonnenen Erkenntnissen auf
letzte, unmittelbar gegebene und nicht mehr beweisbare Elemente. Eine
solche letzte Tatsache ist nun in jedem Erkennen die Beziehung auf den
„Gegenstand"; „alle Versuche, diese unmittelbare Erkenntnis des Irrtums
zu verdächtigen oder ihre objektive Gültigkeit zu begründen, sind daher
gleich unmöglich." Denn beides ist „nur auf Grund der unmittelbaren
Erkenntnis möglich. Das Faktum des Selbstvertrauens der Vernunft ist
die entscheidende Instanz gegen allen Skeptizismus" (S. 525).
Auf dieser Grundlage beruht nicht nur die Gültigkeit der empirischen
Erkenntnis, in der sich das unmittelbare Erkennen als Anschauung dar-
stellt, sondern auch der unmittelbaren, nicht-anschaulichen Erkenntnis,
welche in den metaphysischen Urteilen vorliegt. In dieser Bestimmung
der Metaphysik verbindet sich auf eigentümliche Weise der Kantische
Rationalismus mit einem psychologischen Empirismus und zwar vermöge
einer scharfen Scheidung von Gegenstand und Inhalt (ich würde „Akt"
vorziehen) der Erkenntnis: „Die metaphysische Erkenntnis ist eine Er-
kenntnis allgemeiner Gesetze, und allgemeine Gesetze werden apriori
erkannt. Die Erkenntnis der allgemeinen Gesetze ist aber ein indi-
viduelles Faktum. Individuelle Fakta aber werden a posteriori erkannt.
Also wird auch das Faktum der unmittelbaren metaphysischen Erkenntnis
nicht a priori, sondern a posteriori, und zwar... durch innere Erfahrung
erkannt" (S. 532). Da wir aber keine intellektuelle Anschauung besitzen,
so werden wir uns dieser unmittelbaren Erkenntnis bewusst nur durch
Reflexion. Damit ist der „Kritik der Vernunft", welche methodisch in
strengem Gegensatz zum „System der Vernunft", der Metaphysik, steht,
die Aufgabe der „Deduktion" gestellt: sie muss die metaphysischen
Grundsätze — nicht beweisen, sondern aufweisen, und zwar „nach einer
Regel, die für die logische Unabhängigkeit und Vollständigkeit ihres
Systems die Gewähr enthalten muss" (S. 727). Diese Regel kann uns nur
die Psychologie geben. Die „Kritik" steht so in einem Doppelverhältnis
zur Philosophie und zur Psychologie: „Ihr Gegenstand sind Erkenntnisse
a priori, ihr Inhalt aber meist empirische Erkenntnisse" (S. 729). Das
Kausalgesetz z. B. in seiner objektiven Gültigkeit (oder als Bedingung
362 Rezensionen (Nelson).
möglicher Erfahrung überhaupt) beweisen zu wollen, bedeutet immer einen
Zirkelschluss. Dagegen können wir aus dem psychologischen Faktum der
kausalen Erwartung dartun, dass in unserem Geist die Möglichkeit der
Vorstellung einer notwendigen Verknüpfung, der Anspruch auf ob-
jektive Geltung dieser Synthesis liegt, und mit dieser subjektiven Deduk-
tion ist das Kausalprinzip als eine nicht aus Sinnlichkeit und Reflexion
erklärbare, mithin der unmittelbaren metaphysischen Erkenntnis ange-
hörende Tatsache aufgewiesen; damit ist zugleich die Möglichkeit der
Metaphysik überhaupt deduziert (S. 759).
So etwa lässt sich der Standpunkt andeuten, den Nelson im engsten
Anschluss an J. Fr. Fries (Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft
1807) entwickelt. Orthodoxe Vertreter der transscendentalen Methode
werden diese Lehre weiterhin als ein plumpes Missverständnis des Kan-
tischen Grundgedankens verwerfen, überzeugte Positivisten werden eben-
sowenig damit anfangen können. Aber alle, die ein Gefühl dafür haben,
dass die Erkenntnistheorie heute in einer Krisis steht, und die auf neuen
Wegen nach Gewissheit suchen, werden aus dieser bei aller Abhängigkeit
mit originalem Scharfsinn durchgeführten Erneuerung des Friesianismus
lernen. Ich sehe darin zwar nicht „die" Überwindung der Erkenntnis-
theorie, wie der Jünger mit übertreibendem Lobe verkündet, aber einen
neben anderer Betrachtungsweise durchaus möglichen und diskutablen
erkenntnistheoretischen Standpunkt.
Leider hat N. die Darstellung dieser positiven Grundgedanken nicht
zur Hauptsache gemacht ; der Leser erfährt nur allmählich, vom 9. Kapitel
an, und so recht erst im letzten Kapitel, was N. eigentlich will. Der
flüchtige Hinweis auf frühere Schriften ') kann zumal bei solcher Breite
den Mangel au Geschlossenheit nicht entschuldigen. Der erste Teil („Die
Unmöglichkeit der Erkenntnistheorie") ist eine lockere Folge von rein
polemischen Aufsätzen gegen Natorp, Marcus, Meinong, Simmel, Rickert,
Lipps: mit viel Scharfsinn sind überall Schwächen und falsche Voraus-
setzungen aufgedeckt, aber dass N. seinen Gegnern nicht völlig gerecht
wird, sie nie aus dem Mittelpunkt ihrer Auffassung heraus interpretiert,
diesen Eindruck wird der eine bei diesem, der andere bei jenem Kapitel
stärker haben. N. hält es selbst für nöti^, die häufigen Wiederholungen
desselben Arguments (Aufweisung eines Zirkelschlussel, eines in den Vor-
aussetzungen liegenden unendlichen Regresses) mit der polemischen Ab-
sicht zu entschuldigen. Aber gerade dadurch tritt das Outrierte in der
Methode der Beweisführung deutlicher hervor, und es ist Schuld der Dar-
stellung, wenn man sich oft peinlich an den Arzt der Satire von Shaw
erinnert findet, der bei jedem Kranken Blutvergiftung konstatiert. Durch-
gängig ist N. eine gewisse Dürre des logischen Schematismus eigen, eine
Überschätzung der Deduktion gegenüber der psychologisch unmittelbaren
Beschreibung.
Der zweite Teil entwickelt „das Problem der Vernunftkritik" in
positiver Form. Doch scheint mir eine nicht ungefährliche Bequemlichkeit
in der engen Anlehnung an Kants Terminologie und den systematischen
Aufbau der Kritik der reinen Vernunft" zu liegen. Wer nicht nur den
formalen Idealismus, sondern auch die transscendentale Deduktion so völlig
verwirft und z. T. so ungerecht beurteilt, wer die Begriffe „Anschauung",
„Vernunft" etc. in so unkantischem Sinne gebraucht, der soll seine Meinung
aus eigenen Mitteln entwickeln. Die eigentliche Schwierigkeit der N.schen
Auffassung, von dem empiristischen Boden der psychologischen Fakta zur
Aufweisung metaphysischer Erkenntnisse zu gelangen, wird durch die Be-
rufung auf Kant („Metaphysik ist das System der synthetischen Urteile
a priori aus reinen Begriffen") nur verdeckt: Auf eine psychologische
Darstellung der behaupteten „unmittelbaren nicht-anschaulichen Erkennt-
^) Vor allem : „Die kritische Methode und das Verhältnis der Psycho-
logie zur Philosophie" und „J. F. Fries und seine jüngsten Kritiker",
Heft 1 und 2 des 1. Bandes derselben Abhandlungen.
Rezensionen (Weichelt). 363
nis" (für die in gewissen Theorien von Husserl und der Külpe-Schule mo-
derne Stützen zu finden wären) warten wir vergebens, dafür folgt eine
Entscheidung des gegenwärtigen Streites um die psychologische oder
transscendentale Methode mit interessanter Polemik besonders gegen
Husserl und Lipps.
Den dritten Teil wird N. selbst nicht im Ernst für eine „Geschichte
der Erkenntnistheorie" halten. Denn abgesehen davon, dass der Neu-
kantianismus mit ein paar Injurien abgefertigt wird, Namen wie Schopen-
hauer, Hegel oder Mill überhaupt nicht genannt sind, würde eine solche
Darstellung doch wohl noch andere Aufgaben haben als die Aufweisung
von Beobachtungsfehlern, quaternio terminorum, Verwechselungen von
Inhalt und Gegenstand, Grund und Begründung etc. Im einzelnen wird
viel Interessantes beigebracht für die Problementwickelung, die von Kant
über Jacobi, Reinhold und Maimon zur „Systematisierung des transscen-
dentalen Vorurteils bei Fichte" und des „psychologistischen Vorurteils bei
Beneke" führt. Den Schluss bildet eine auf reichliche Zitate gestützte
DarsteUung der Lehren von Fries. Nicht alle Bedenken und Zweifel
freilich sind damit gelöst. Eins sei erwähnt, wenn ich auch im übrigen
auf jede sachliche Diskussion verzichten muss : wo bleibt die Regel,
welche die Vollständigkeit der psychologisch abzuleitenden metaphysischen
Sätze verbürgt ? Hier scheint mir das tiqwtov ipevdos zu liegen, aus
welchem der Unfehlbarkeitsanspruch aach dieser Lehre resultiert. Sollte
nicht diese Deduktion, wie jedes empirische Verfahren, verschiedenen
Lösungen Raum geben? Es ist meine Überzeugung, dass der Neubau der
Erkenntnistheorie nur gelingen wird, wenn die Maxime der Toleranz in
jede Auffassung hineingenommen wird. Wenn das Relativismus ist
(unter dieser Kategorie statt unter dem „biologischen Kriterium" hätte
N. Simmel behandeln sollen, es wäre schwieriger und lehrreicher gewesen),
— nun, so bekenne ich, dass ich aus N.s Darlegungen nichts stärker be-
griffen habe, als „die Unmöglichkeit jeder absolut geltenden Erkenntnis-
theorie".
Bonn a. Rh. Fritz Ohmann.
Weichelt, Hans. Friedrich Nietzsche, „Also sprach Zarathustra"
erklärt und gewürdigt. Leipzig, Dürrsche Buchhandlung, 1910. (S. — .)
Für einen, der sich in Nietzsche hineingelesen und hineingedacht
hat, ist es nicht leicht sich den Nutzen einer Zarathustra-Erklärung vor-
zustellen, die auf 194 Oktavseiten die nicht sehr viel längere Dichtung
in sehr gemeinverständliche Prosa überträgt. Man kann Iiohe Gedanken
recht gut auch einmal in einer Übersetzung lesen: das Altvertraute über-
rascht uns wohl im fremden Gewände durch neue Züge und einen unge-
wohnten Ausdruck (man lese nur einmal die italienische Übersetzung von
Zarathustra). Aber alle Reize des Gedankens und der Form in einem
besseren (keineswegs schlechten !) Aufsatzstil untergehen zu sehen — davon
zu reden schafft Verlegenheit. Immerhin mag es Leute geben, die eine
solche Einführung in die Lektüre den Schriften über den ganzen Nietzsche
vorziehen, und da ist es denn ein Trost, dass die Interpretation wenigstens
gewissenhaft, meist verständig und von groben Entstellungen frei ist.
Ein paar Beispiele. Zarathustra redet von den „Hinterweltlern". Das sind
die Metaphysiker, belehrt W. des längeren. Unbestreitbar. Oder Nietzsche
redet von den seeUsch Unkeuschen: „Schlamm ist auf dem Grund ihrer
Seele; und wehe, wenn ihr Schlamm gar noch Geist hat!" Daraus W.:
„Doppelt widerlich ist nun gar die Halbwelt (!), wenn sie noch geistreichelt."
Oder das Lied der Schwermut, das trunkene Lied: wie kann eine Para-
phrase da etwas anderes als ein Vorbei-Reden sein? Eine Interlinearversion
ist doch noch keine Übersetzung eines Dichtwerks.
Ein zweiter Teil bringt eine „Würdigung". In dem Bericht über
Vor- und Nachgeschichte spricht sich ein massvolles und meist gerechtes
Urteil aus. Nur die Universitätsdozenten kommen wieder zu schlecht weg:
nicht nur R. Richters, sondern auch Riehls, Vaihingers, Deussens, Simmeis
364 Rezensionen (Rausch).
Schriften tun doch wohl heute das Beste zum Verständnis Nietzsches, und
wenn Verf. von den Kollers über Nietzsche spricht, so hätten nicht zwei,
sondern wohl zwanzig Namen genannt werden können. Was W. zu
Nietzsche hinzieht, ist nicht seine philosophische Lehre, die er völlig ab-
lehnt, sondern der künstlerische Wert seiner Dichtungen. Man mag das
erste zugeben und sich bei dem zweiten mancher feinfühligen ästhetischen
Bemerkung freuen, aber dass das sachliche Verständnis der Grundgedanken
so dürftig, die Polemik so seicht ist, bleibt unverzeihlich.
Das Wertvollste an dem Buch sind die Materialien zu einer literar-
historischen Analyse, die in den Abschnitten über Kunstform und Quellen
nach einer freilich sehr äusserlichen Methode gegeben sind (aber dass der
rythmische Charakter dieser Prosa so ganz verkannt wird, verrät doch
eine arge Befangenheit in der Silbenzählerei einer veralteten Poetik).
Das Musikalische bei N. ist noch weit stärker zu betonen; es fehlt ihm
nicht nur, wie W. gut bemerkt, ein inneres Verhältnis zur bildenden Kunst,
sondern die visuellen Assoziationen treten überhaupt in seinem Vorstellungs-
verlauf vor den akustischen auffallend zurück: hierauf beruht die Kraft
vieler seiner geistvollsten Wortspiele.
In der Frage der Vorbilder lehnt W. die Abhängigkeit von Zoroaster
wie von Jordan, Spitteler u. a. ab, um uns dafür ein paar neue verfehlte
Parallelen zu bescheren: Plato, Erasmus und Augustin. Das Verhältnis
zur Antike kann nur auf breitester Grundlage, nicht mit ein paar Ver-
gleichspunkten erkannt werden, und um das Satirische, melir noch das
Autobiographische im „Zarathustra" zu erfassen, muss man doch tiefer
graben! Recht gut ist das Verhältnis zur Bibel gewürdigt und mit wert-
vollen Parallelen belegt. Durch die paar Zitate, die W. dafür beibringt,
sind wir in der Beurteilung des so wichtigen Einflusses Hölderlins leider
noch nicht weiter gekommen. Eine Stilvergleichung steht hier noch ganz
aus, und im übrigen ist es weniger der Inhalt als die Kunstform des
„Hyperion", die bei Nietzsches philosophischem Roman nachwirkt; dass
für die Konzeption des Zarathustra der „Empedokles" ebenso sehr in
Betracht kommt, sieht W. nicht.
Im Ganzen ist es ja für den popularisierenden Zweck des Buches
schon ein vergleichsweise hohes Lob, dass es kaum Schaden anrichten und
manches Gute wirken kann. Der zweite Teil bietet auch dem Fachmann
einzelnes Neue, wenn auch hier vieles „Anlass zu Ausstellungen gibt"'
(diese Geschmacklosigkeit läuft dem Verf. bei der Würdigung von Nietzsches
Stil unter). Das Register ist sehr sorgfältig; Nietzsches Briefe sind fleissi^,
die übrigen Schriften gar nicht herangezogen, so dass das Buch nicht mit
Naumanns Kommentar rivalisiert.
Bonn a. Rh. Fritz Ohmann,
Ransch, Alfred. Elemente der Philosophie. Ein Lehrbuch auf
Grund der Schulwissenschaften. Halle a. S., Buchhandlung des Waisen-
hauses, 1909. (376 S.)
Man beschränkte bisher den propädeutischen Unterricht an den höheren
Schulen im wesentlichen auf die Grundzüge der Logik und Psychologie.
Und doch bedarf der Primaner gerade der Grundlegung einer Welt- und
Lebensanschauung. Umsomehr, als keine Bürgschaft besteht, dass sich die
Mehrzahl der Studenten, zumal derer, die auf der Schule solche Einführung
entbehrt haben, überhaupt um Philosophie kümmert. Und gar die Nicht-
studierenden.
Eine derartige Grundlage wird nun hier in einer Weise geboten,
der man es anmerkt, dass sie aus der Praxis erwachsen ist. So ist sie
auch auf die besonderen Bedürfnisse der Schule zugeschnitten, indem sie
deren Stoff in weitem Umfange konzentriert, ordnet und in eine höhere
Einheit zusammenfasst. Und zwar gilt dies von den naturwissenschaft-
lichen, wie von den geisteswissenschaftlichen Fächern.
Man soll allerdings den didaktischen Materialismus, vor allem in der
Propädeutik, endgültig fahren lassen und einsehen, dass es sich hier mehr
Rezensionen (Marcus). 365
um Anleituns: zum Denken und denkendes Erfassen der "Wirklichkeit, als
um Einprägung von Gedächtnisstoffen handelt. Dennoch ist auch für diesen
Unterricht ein Arbeitsplan und eine geordnete Stoffverteilung sowohl dem
Lehrer als dem Schüler unentbehrlich. Was unser Buch hierin darbietet,
ist in der Hauptsache vollständig und gründlich.
Die Richtung des Verf.s wird teilweise durch Kant, vor allem aber
durch Wundt bestimmt. Das Ganze läuft in christlicher Sittlichkeit aus.
Eine Stärke der Schrift liegt in der klaren und scharfen Logik der Aus-
führung. Die Einteilung des Stoffes und die Definition der in Frage
kommenden wichtigsten Begriffe sind meist vortrefflich. Das Buch zerfällt
in die Hauptteile: „Stellung des Menschen zur Welt", „Natur", „Kultur",
„Bildung". Infolge dieser Einteilung: wird allerdings die Lehre vom Begriff
als L Hauptstück des 2. Teiles unter „Naturgegenstände", die Lehre vom
Urteil und Schluss als 4. Abschnitt des 3. Teils „Wissenschaft" unter den
„Formen des wissenschaftlichen Denkens" behandelt und so die „Logik"
auseinander gerissen. Immerhin wird ein für diesen Unterricht überhaupt
geeigneter Lehrer die sachlichen Lücken durch rückblickende Wiederholung
auszufüllen wissen. Ähnliches gilt von dem 1. Hauptstück des 1. Teiles
„Der Mensch", dessen leibliche Seite zunächst vermisst, indessen im wesent-
lichen im 2. Teile, 2. Hauptstück 2. Abschnitt II „Das Leben" nach ge-
bracht wird.
Die Methode des Buches ist mit Recht induktiv gehalten. Der Ge-
dankengang schreitet stetig fort und fesselt das Interesse. Der Ausdruck
ist schlicht und meist anschaulich und für den Primaner verständlich. Das
Buch steht auf der Höhe der Wissenschaft. So könnte es auch für manchen
angehenden Studenten ein erwünschtes Mittel sein, sich in die Philosophie
einführen zu lassen.
Eine gewisse Unsicherheit herrscht allerdings in den erkenntuis-
theoretischen und metaphysischen Anschauungen des eklektischen Verfassers.
Und zwar entsteht sie m. E. aus dem Konflikte seines gesunden Menschen-
verstandes mit gewissen nicht mehr haltbaren Kantischen Gedankengängen.
Dies tritt besonders in Bezug auf die Auffassung von Raum und Zeit und
den Kategorien hervor (S. 97 f., 101 f., 333). Doch ist dieser fast einzige
Mangel des in der Hauptsache vortrefflichen Buches weniger die Schuld
des Verfassers, als unserer Zeit überhaupt. Jenes wird gewiss dazu bei-
tragen, dem Abschluss der höheren Schulen grössere Klarheit und Ein-
heitlichkeit zu geben und die Grundlage einer gesunden Welt- und
Lebensanschauung zu legen.
Wernigerode. Paul Schwartzkopff.
Marcus, Ernst. Die Elementarlehre zur allgemeinen Logik
und die Grundzüge der Transscendentalen Logik. Herford,
Menckhoff, 1906. (XVI und 220 S.).
Ausgehend von der Kennzeichnung der Kantischen Lehre als
Zentrifugaltheorie [die Elemente mit dem Charakter a priorischer
Gewissheit gelangen von dem Centrum (dem denkenden ,.Ich") in die
Peripherie (Sinnlichkeit)], werden im 1. Teil des Werks die Grundlagen
und die Aufgaben der Logik angegeben. Die Aufgabe — das Problem
Kants — besteht darin, sämtliche, die apriorische Induktion der An-
schauungsformen (Raum und Zeit) ermöglichenden, Zentralfunktionen auf-
zufinden. (Ausgang: mit der ungeheuren, vor uns liegenden Leere —
dem Räume — werden zugleich die Begriffe der Teilbarkeit und der
Grösse induziert.)
Die Lösung der Aufgabe setzt Klarheit über einige Begriffe voraus,
die nicht eigentlich zur Logik gehören, aber zur völligen Einsicht unent-
behrlich sind. Diese Begriffe sind: Form und Materie, Begriff und Sinnes-
vorstellung. Es wird u. A. bewiesen: 1. dass die logische Form nicht nur
die Bedingung einer intellektuellen Ordnung, sondern Bedingung der Intelli-
genz selbst ist; 2. dass die sinnliche Kopula (eine Verbindung) zu unter-
scheiden ist von der logischen Kopula, die ausschliesslich als Beziehung
366 Rezensionen (Marcus).
oder Verhältnisform wirkt ; 3. dass eine Verbindung nicht gedacht werden
kann ohne Beihülfe logischer Formen (Subordination oder Koordination) ;
4. dass die Materialstücke eines Urteils (Begriffs) zwar aus der Sinnenwelt
entspringen, aber trotzdem keine sinnlichen Vorstellungen sind; 5. dass
Begriffe notwendige Elemente jeder Regelbildung sind.
Auf Grund dieser Klarstellungen lässt sich Ziel und Verfahren der
allgemeinen Logik genau bezeichnen. Als Regeln, die uns die Grenzen
der rein logischen Sphäre zeigen, werden angegeben: 1. dass die logische
Beziehung zwar in jeder Verbindung steckt, nicht aber diese in jener;
2. dass es in der rein logischen Sphäre keine ],ndividualvorstellungen giebt.
Das führt zu der Verhaltungsmassregel : sobald ich jedes Urteil nur als
klassifizierend ansehe, bleibe ich mit Sicherheit in den Grenzen der
reinen Logik.
Damit ist die Basis für die Aufdeckung der Formen, von denen
der dritte Teil handelt, geschaffen. Um die Gewissheit zu erlangen, dass
man sämtliche Formen der logischen Ordnung auffindet, wird ein ein-
heitliches Einteilungsprinzip aufgestellt. In der nun folgenden Aufdeckung
der Quantitativformen werden prinzipielle Dinge zur Klärung gebracht,
so die Feststellung, dass die Begriffe nicht unmittelbare Axiome der
Logik, sondern Ableitungen aus der Bedeutung der Urteilsformen sind,
eine Präzisionsfeststellung, gegen welche nicht nur die meisten Lehrbücher
der Logik, sondern auch Kant verstösst. Das Singularurteil bildet den
Übergang zu der überaus wichtigen, von Kant selbst nicht genügend
herausgehobenen Tafel der logischen Momente (das was Kant als Ur-
teilstafel giebt, ist ein Zwischending zwischen einer Tafel der logischen
Momente und einer Urteilstafel. Die Bestimmung des Charakters des
Moments im Unterschiede von der Urteilsform fehlt), die zwischen den
Urteilsformen und Kategorien vermitteln. (Das Individualurteil enthält
nämlich zwar keine neue Beziehungsform und gehört infolgedessen nicht
in die allgemeine Logik, aber es enthält eine neue Qualitätsform des Sub-
jekts (eine Begriffsform), wodurch es unmittelbar als Allgemeinheit
zur Kategorie der Allheit hinüberleitet.) Um Naturbegriffe (Kategorien)
zu bilden, muss der Materie der Natur die Form der logischen Momente
gegeben werden und zwar wirken bei dieser Formengebung als allge-
meines Material die reinen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit.
Die logischen Momente sind es also, welche die apriorische Induktion
der Anschauungsformen ermöglichen.
Ich kann hier nicht auf die Aufdeckung sämtlicher Urteilsformen
sowie auf die Ableitung der entsprechenden logischen Momente und Kate-
gorien eingehen. Nur an einem Beispiel will ich noch zeigen, wie der
Verf. sich einer logischen Form bemächtigt und in welcher Weise er sie
zergliedert und durchdenkt, um das charakteristische Moment herauszu-
holen. Ich wähle die disjunktive Urteilsform. M. stellt sich und löst
folgende Probleme:
Problem I: Warum ist es dem Urteil „Rosen sind entweder rot oder
weiss (nicht-rot") wesentlich, dass das Subjekt in den beiden Urteilen,
die seine Glieder bilden, dasselbe ist? Problem II: Warum müssen in
diesem Urteil beide Gliedurteile im problematischen Modus stehen ? (Rosen
können rot sein). Problem III: Warum enthält das Urteil daneben ein
kategorisches Moment, nämlich insofern, als es doch behauptet, dass von
beiden Gliedern eins im Modus ponens und das andere im Modus tollens
steht? Problem IV: Sind die Verneinung und Bejahung in diesem Urteil
modal oder qualitativ? Problem V: Warum sind hier Verneinung und Be-
jahung gegeneinander ausgespielt? Ist die hier vorliegende Relation an
die Form dieser Opposition gebunden? (Im hypothetischen Urteil lassen
sich doch beide Glieder bejahen oder verneinen.)
Um diese Probleme aufzulösen , entwickelt M. dann zuerst den
Charakter des disjunktiven Urteils. Ich will in Kürze angeben, wie er
das macht.
Rezensionen (Marcus). 367
I. Um das neue, wesentliche Moment des disjunktiven Urteils zu
finden, werden sämtliche schon bekannten Elemente (problematischer und
assertorischer Modus, partiell kategorische Form, Opposition in Bejahung
und Verneinung) weggedacht. II. Als Restmoment bleibt die Kopula: ent-
weder — oder. III. Durch Verstandesschluss werden aus dieser Kopula
vier hypothetische Momente herausanalysiert: a) Wenn Rosen rot sind,
dann sind sie nicht weiss, b) Wenn Rosen weiss sind, dann sind sie nicht
rot. c) Wenn Rosen nicht weiss sind, dann sind sie rot. d) Wenn Rosen
nicht rot sind, dann sind sie weiss. IV. Als Folgerungen aus (a) und (b)
(Konversionen gemäss der Sonderart der hypothetischen Kopula) können
(b) und (d) eliminiert werden, sodass bleiben: a) Wenn Rosen rot sind,
dann sind sie nicht weiss, c) Wenn Rosen nicht weiss sind, dann sind sie
rot. V. Resultat: Die Eigenart der disjunktiven Urteilsform besteht also
darin, dass seine Glieder sich ("im Gegensatz zur hypothetischen Urteils-
form, (die bekanntlich nur im Modus ponens konvertierbar ist) ohne Ver-
änderung des Modus konvertieren lassen. Das gesuchte neue Moment ist
also das der gegenseitigen oder wechselseitigen Bedingtheit.
Aus der Stofffülle des dritten Teils hebe ich dann noch ganz kurz
den Exkurs über die mathematische Anwendung der Momente (Konstruktion
der Begriffe) hervor, sowie die Deduktion des Gesetzes von der Erhaltung
des mathematischen Charakters (Intensität und Extensität bleiben erhalten),
das eine Ergänzung des von M. in seinem „Revolutionsprinzip" begründeten
Gesetzes von der Erhaltung des dynamischen Charakters bildet, und von
M. dazu verwendet wird, das Energieprinzip a priori zu deduzieren. Ich
möchte besonders die Mathematiker auf diese Kapitel hinge\\äesen haben.
Einen ganz neuen, aber notwendigen Ausbau der Kantischen Lehre
versucht der vierte und letzte Teil des Werkes, indem er sowohl die
Vollständigkeit des Systems der Kategorien wie auch die Vollständigkeit
der Urteilsformen nachzuweisen sucht. Dieser Beweis ist so neu und über-
raschend, dass ich den Leser wenigstens mit einer Skizze bekannt
machen will. I. Damit ein Gedanke als unterscheidbar von einem andern
gedacht werden kann, ist notwendig, dass er in mindestens zwei materiale
Elemente (Ms, Mp) auflösbar ist. Ausser diesen materialen Elementen
(Begriffen) ist mindestens ein formales Element (X) erforderlich, das die
Inbeziehungsetzung (Isolierung bezw. Vereinigung) dieser Elemente besorgt.
Die materialen Elemente mögen Materialstücke, das formale Element die
Grundkopula heissen. II. Die Materialstücke Ms und Mp (Subjekt- und
Prädikatmaterie) sind aufeinander beziehbar; a) einigend (mittels der Positiv-
subordination); b) entgegensetzend (mittels der Negativsubordination) und
diese einigende und entgegensetzende Funktion ist entweder : a) eine voll-
ständige (totale); b) eine unvollständige (partielle). Ausser diesen Be-
ziehungen ist ein Verhältnis von Materialstück zu Materialstück ebenso
undenkbar, wie es undenkbar ist, dass zwischen zwei entsprechenden Seiten
kongruenter Figuren hinsichtlich ihrer Lage im Raum noch mehr Be-
ziehungen bestehen als 1. vollkommene Berührung (Deckung), 2. teilweise
Berührung, 3. keine Berührung. III. Da Materialstück auf Materialstück
in keiner neuen Art aufeinander bezogen werden kann, können weitere
Formen nur dadurch zustande kommen, dass man es mit einer anderen
Art von Beziehung, nämlich der von Materie zur Form selbst, versucht.
In welcher Weise und auf wieviel Arten also kann die Form (Kopula) auf
die Begriffsmaterie (Subjekt- und Prädikatmaterie) bezogen werden? Da
eine Mehrheit von Kopulae existiert, die ich zwischen Ms und Mp ein-
schieben kann, so gewinnt diese Frage den Sinn, festzustellen, welche von
diesen Kopulae (Positiv- oder Negativkopula) an die Materie herangebracht
r werden sollen.
Da giebt es nun drei, aber nur drei Fälle: a) Sowohl die eine
Kopula (positiv) wie die andere (negativ) ist mit der Materie verbindbar
(problematischer Modus); b) Eine von mehreren Kopulae soll mit der
Materie verbunden werden (assertorischer Modus); c) die Verbindung einer
S68 Rezensionen (Marcus).
bestimraten Kopula mit der Materie ist formallogisch gesetzlich vorge-
schrieben (apodiktischer Modus). IV. Wir hatten bis jetzt 1. Materie auf
Materie, 2. Materie auf Form bezogen. Es bleibt also noch als einzigste
Möglichkeit neuer Beziehungen (Urteilsforraen) die Beziehung von 3. Form
auf Form. Damit der Leser es nicht übersieht, will ich unterstreichen,
dass der Hebel zum ganzen Beweise (die eigentliche Entdeckung) in dieser
Dreiteilung der Beziehungsmöglichkeiten liegt. Erst als dieser Hebel auf-
gefunden war, konnte mit mathematischer Sicherheit die Möglichkeit jeder
weiteren elementaren, nicht in der Tafel enthaltenen Urteilsform bestritten
werden.
Es bleibt jetzt nur noch aufzudecken, auf wieviel Weisen sich Form
auf Form beziehen kann. Nun, entweder kann man: a) die Grundkopula
der Grundkopula subordinieren (hypothetische Form = kopula subordinativa);
oder b) die Verneinung und Bejahung in Bezug auf dieselbe Materie pro-
blematisch koordinieren (disjunktive Form =• kopula coordinativa). Aus
I — IV ergäbe sich dann das (von M. nicht ausgeführte) Bild der Urteils-
tafel: Beziehungsformen zwischen Begriffsmaterie und Be-
griff smaterie. I. Grundkopula (kategorische), Sonderformen der Grund-
kopula, n. Qualitätsformen, 1. bejahende (positive), 2. verneinende
(negative). IH. Qualitätsformen, 1. allgemeine (universale), 2. be-
sondere (partikulare). Beziehungsformen zwischen Begriffsmaterie
und Urteilsform. IV. Modalitätsformen, 1. fragliche (problematische),
2. gültige (assertorische), 3. notwendige (apodiktische). Bezieh ungs-
formen zwischen Urteilsform und Urteilsform. V. Relations-
formen, 1. bedingte (hypothetische), 2. wechselseitig abhängige (dis-
junktive).
Es schliessen sich Kapitel über das Wesen der logischen und der
ewigen Wahrheiten, sowie über die Spontaneität des Intellekts an, die ich
nicht nur deshalb warm empfehlen möchte, weil sie ganz neu sind, sondern
vor allem, weil sie m. E. endgültige Klarheit schaffen können über die
schwerwiegenden Fragen der Tragweite und des Wertes logischer Beweis-
gänge überhaupt.
Insbesondere gegenüber dem immer mit den gleichen unerlaubten
Argumenten arbeitenden logischen Skeptizismus (der eine reale Möglich-
keit nicht von einer logischen unterscheiden kann) sind die M.schen Be-
weisgänge durchschlagend. Fein ist z. B. die Abfuhr, wenn M. die Frage
der logischen Relativisten, woher wir denn wissen, dass die Logik abso-
lute Wahrheit hat, da sie sich doch vom Standpunkt eines höher organi-
sierten Wesens als Unwahrheit darstellen könne, vergleicht mit der Frage
des die Geschichte des Schachspiels schreibenden historischen Gelehrten:
Ist es auch absolut richtig, wenn wir dem Turm nur gerade Züge ver-
statten, müssten ihm nicht eigentlich die Züge des Springers zugebilligt
werden, und welches von beiden ist nun absolute Schachwahrheit ? In
dem Abschnitt über die transscendentale organische Einheit, der folgt,
wird gezeigt, dass das „Ich" zwar „im mathematischen Sinne gänzlich
leer und blosse Form, dagegen im dynamischen Sinne ein vor allen Kate-
gorien und realisierten Denkfunktionen eben zugleich mit der Denkfunk-
tion selbst gegebenes Objectum logicum datum, d. h. ein dem Denken
gegebenes und nicht bloss erdachtes Objekt ist, auf das die Funk-
tionen des Denkens (Kategorien) reflexiv und analytisch anwendbar sind,
wodurch es in Ansehung seiner Realität dieselbe Bedeutung erhält, wie
alles wirklich Erkannte". Im Anhang wird dann noch das logische Mo-
ment der Vernunft und die transscendentale Idee behandelt.
Fassen wir zusammen, was das M.sche Werk uns Neues bringt:
1. Es versucht zum ersten Male mit einer der mathematischen gleich-
kommenden Strenge der Gedankenfolge für ein bestimmt formuliertes
Problem eine einwandfreie, auf Präzisionsbeweis gestützte Lösung zu
geben. 2. Es beweist, falls sich sein Inhalt rechtfertigen sollte, a) dass
sich aus der allgemeinen Logik, deren Gegenstand und Grenze vorher
Selbstanzeigen (Wentscher). 369
genau bestimmt ist, Begriffsformen oder logische Momente ableiten lassen ;
b) dass diese logischen Momente die apriorische Induktion der periphe-
rischen Formen (Raum und Zeit) ermögliclien, und dass durch Synthesis
beider die allgemeinsten mathematischen Begriffe entstehen ; c) dass durch
Entgegensetzung dieser mathematischen Begriffe zu der Materie des Em-
pfindens unter Vermittlung der assimilierten logischen Momente die
Kategorien der Qualität und Modalität und d) durch Anwendung auf die
Materie des Empfindens die Kategorien der Quantität und Relation ent-
stehen ; e) dass die Tafel der Urteilsfunktionen sowie die der Kategorien
Vollständigkeit aufweist. 3. Damit wäre : a) die allgemeine Logik (unter
Kants Führung) aus ihrem isolierten Zustande zu der Bedeutung einer
unerlässlichen Bedingung der transscendentalen Logik heraufgerückt (vgl.
damit z. B. den Standpunkt H. Cohens, der die Kategorieen aus den
synthetischen Grundsätzen deduzieren will. Darnach wäre also das Kate-
g'orieenproblem ganz unabhängig von der Frage der Urteilsformen, d. h.
dem Zentralinhalt der allgemeinen Logik lösbar) ; b) zum kritischen Organon
der Philosophie geworden ; c) die gesarate Philosophie auf eine der mathe-
matischen vergleichbare, feststehende Grundlage gestellt und also von dem
Zustande des Umhertappens in den Gang der sicheren Wissenschaft
gebracht.
Ob das geleistet ist, muss jeder Leser durch eigenes Studium selbst
entscheiden. Der Ref. hat keine ins Gewicht fallende Fehler in der Be-
weisführung entdecken können, wohl aber sind ihm an vielen Stellen
Präzisionslücken und Inkorrektheiten aufgestossen, die er des Raum-
mangels wegen aber hier nicht anfügen kann, die aber an anderer Stelle
zur Sprache kommen sollen.
Die Handhabung der äusseren Form ist durchaus nicht nach dem
Geschmacke des Ref., auch von einigen literarischen Gepflogenheiten des
Verfassers, z. B. von der Art der Polemik kann er sich keine Fruchtbar-
keit versprechen.
Das Buch sei allen denen warm empfohlen, die ernsthaft nach
Wahrheit streben.
Essen a. R. A. Jacobs.
Selbstanzeigeii.
Wentscher, Else. Der Wille. Leipzig 1910. Teubner.
Ein guter Wille ist bekanntlich das Einzige in der Welt, dem Kant das
Prädikat des Guten zuspricht. Die Frage aber, durch welche psychologischen
Faktoren ein solcher Wille, das Wollen überhaupt, zustande kommt, fällt nicht
in den Rahmen seiner Untersuchungen. Nach einer Richtung der modernen
Psychologie — Spencer, Ebbinghaus, Münsterberg — aber ist das Wollen nichts
als ein vorausschauender Trieb. Wie vermag ein solcher, sich selbst Gesetze
zu geben, das Handeln der Vernunfterkenntnis unterzuordnen? Das vorliegende
Buch nimmt — auf Grund psychologischer Analyse der Willensmotive, der ver-
schiedenen Formen der Willenshandlung, des zielbewussten Denkens, der sitt-
lichen Konflikte, der Willensenergie, des Charakters — zu jenen Theorien kritisch
Stellung. Es versucht zu zeigen, wie die Forderung kraftvollen, zielbewussten
Wollens, die Notwendigkeit sittlicher Verantwortlichkeit sinnvoll bleibt, auch
wenn wir mit der modernen Psychologie anerkennen, dass das Wollen zwar eine
eigenartige Komplikation unseres Fühlens und Vorstellens, aber kein neues Ele-
ment unseres Seelenlebens darstellt. Das Buch versucht ferner, die Ergebnisse
der Willenspsychologie für die Pädagogik fruchtbar zu machen, und es erörtert
370 Selbstanzeigen (Bauch).
schliesslich die Frage, ob und in welchem Sinne dieses unser Wollen frei ist.
Lässt sich diese Frage mit den Mitteln zwingender Beweisführung im letzten
Grunde nicht entscheiden, so scheint es doch, dass — entgegen der Ansicht
der Indeterministen — nur der Ausschluss der Spontaneität die Möglichkeit
einer Verantwortung für unser Handeln garantiert. Sind wir somit gezwungen,
das Wollen und Handeln eines Menschen unter dem Gesichtspunkt der inneren
Bedingtheit zu betrachten, so haben wir dieser Erkenntnis im menschlichen
Gemeinschaftsleben Rechnung zu tragen. So weist die Psychologie auf eine
Gestaltung des Gemeinschaftslebens hin, wie sie — in bestimmter Anwendung —
moderne Kriminalisten, vor allem unter Führung Franz von Liszt's — anstreben.
Bonn a. Rh. " Else Wentscher.
Banch, Bruno, Privatdozent, Dr. Das Substanzproblem in der
griechischen Philosophie bis zur Blütezeit. (Seine geschichtliche Ent-
wickelung in systematischer Bedeutung.) Heidelberg. 1910. Karl Winter's Ver-
lagsbuchhandlung. (XI u. 265 S.)
Es ist, wie Windelband betont hat, „das Grundproblem der griechischen
Philosophie, wie hinter der wechselnden Mannigfaltigkeit der Erscheinungen ein
einheitliches und bleibendes Sein zu denken sei". Ich konnte daher selbst
meine Aufgabe dahin formulieren: „Das Substanzproblem innerhalb der grie-
chischen Philosophie verfolgen heisst darum nichts Anderes, als die theoretische
Philosophie der Griechen unter dem Gesichtspunkte des Substanzproblems be-
trachten." Insofern nun die problemgeschichtliche Methodik im Probleme selbst
mit analytischer Notwendigkeit den systematischen Gesichtspunkt involviert,
fordert meine Untersuchung die Rücksicht auf die systematische Bedeutung.
Das soll, wie ich im Vorwort und in der Einleitung entwickele, nicht bedeuten,
dass wir von einem vorgefassten systematischen Standpunkte an die historischen
Erscheinungen heranzutreten haben. So wird freilich die problemgeschichtliche
Methode leicht missverstanden. Was in dem systematischen Moment der
problemhistorischen Untersuchung allein liegen kann, das ist die Ermittelung
des Anteils, den die Entwickelung der historischen Erscheinungen an der Be-
arbeitung eines Problems hat, nicht aber etwa Beziehungen auf ein bestimmtes
philosophisches System.
Gerade indem die historischen Erscheinungen unter Wahrung ihrer ge-
schichtlichen Eigenbedeutungen auf ein bestimmtes Problem bezogen werden,
kann der bleibende Ertrag ihrer Arbeit an diesem Problem deutlich werden.
Insofern ich nun das theoretische Grundproblem der griechischen Philosophie
in seiner geschichtlichen Entwickelung zum Gegenstande meiner Untersuchung
mache, liegt darin zugleich der Versuch vor, den bleibenden Ertrag des griechi-
schen Denkens in theoretischer Hinsicht überhaupt zu ermitteln. Damit erreichte ich
den Vorteil möglichster Abgrenzung der rein wissenschaftlichen Faktoren gegen
die mythologischen, und, soweit das tunlich ist, und soweit die theoretischen
mit den praktischen Momenten nicht in den konkreten Erscheinungen des
griechischen Geisteslebens selbst zur Einheit verschmolzen sind, soweit sie sich
also überhaupt trennen lassen, was freilich keineswegs für die unbefangene und
objektive Untersuchung restlos möglich ist, einerseits eine Abgrenzung der
theoretischen und der praktischen Momente selbst, und soweit beide Momente
in der lebendigen geschichtlichen Entwickelung unabtrennbar einheitlich ver-
schmolzen sind, andererseits ihre deutliche Beziehung auf einander.
Unter diesen Gesichtspunkten gliedert sich mir die Untersuchung des
Substanzproblems in folgende Kapitel: 1. Die Anfänge der Naturphilosophie bei
den Joniern. 2. Die eleatische Schule. 3) Die Anfänge der naturwissenschaft-
lichen Begriffsbildung innerhalb der Naturphilosophie. 4. Die Anfänge der
mathematischen Begriffsbildung. 5. Die Negation der wissenschaftlichen Er-
kenntnis. 6. Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 7. Der
Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems.
Halle a. S. Bruno Bauch.
Selbstanzeigen (Gürland— Werner). 371
Görland, A., Dr. Mein Weg zur Religion. Leipzig und Berlin, Ver-
lagsbuchhandlung Julius Klinkhardt. (35 S.)
Auch im Gebiete der Religion steht unsere Zeit in gewaltiger Umarbeit.
Da ist es wichtigste Forderung der Gegenwart, dass der Staat nicht mit Ge-
setzen und den hinter ihnen stehenden Machtmitteln sich zum Diener starrer
Institutionen, starrer Formen, zum Diener der Kirchen mache, also die Neu-
Besinnung des religiösen Bewusstseins nicht beirre noch fessele; das Religiöse
muss allem staatlichen Interesse enthoben sein. Diese Forderung wird gestellt
aus der Einsicht in die gesteigerte Notdurft unserer Zeit nach religiöser Ver-
tiefung; denn gerade das unvergleichliche Wogen der Gegenwartsprobleme lässt
die Sehnsucht mächtig werden nach einer Sicherheit der Hoffnung auf Frieden
in aller unserer Mühsal.
Unsterblichkeit und Gott sind die Ideen, in denen nach wie vor
dieses Sehnen sich zu Worte bringen muss; aber diese Worte und also der
Sinn jener Ideen werden durch den Weltbegriff bestimmt, zu dem die
Zeiten sich zusammenraffen können. Also wird auch in vorliegender Schrift
aller Gedanke sein Blut und sein Feuer aus der Kraft des Blicks erhalten, mit
dem die Probleme der Welt müssen umspannt werden.'
Hamburg. A. Görland.
Werner, Charles, professeur ä l'Universite de Geneve. Aristote et
I'idealisme platonicien. Paris, librairie F. Alcan, 1910.
Um die Metaphysik des Aristoteles zu verstehen, muss man in ihr zwei
Lehren unterscheiden: 1. die Lehre von der Form und vom Stoff; 2. die Lehre
vom Wesen.
Die Lehre von der Form und dem Stoff steht im Gegensatz zu der
platonischen Ideenlehre. Aristoteles lehnt es ab, die wahre Wirklichkeit von
der sinnlich wahrnehmbaren zu trennen und führt die Bedingungen des Seins
auf die Bedingungen des „Seins im Werden' zurück: Form und Stoff, als actus
und potentia begriffen.
In der Theorie des Wesens dagegen folgt er Piaton. Wie dieser macht
Aristoteles einen Unterschied zwischen dem Gegenstand der Wahrnehmung, der
mannigfaltig und veränderlich ist, und dem Gegenstand der Wissenschaft, der
in dem Allgemeinbegriff gegeben ist. Wie für Piaton ist auch für ihn der
Gegenstand der Wissenschaft eine Realität: die Realität ist das Wesen, d. h. der
Allgemeinbegriff. Aber nach wie vor lehnt er es ab, die wahre Wirklichkeit
von der sinnlich wahrnehmbaren zu trennen. Er verlegt das Wesen in das
Sinnending. So kommt er dazu, das Wesen mit der Form zu verwechseln.
Auf die Form, das Prinzip des „Seins im Werden", überträgt er die Merkmale
des Wesens, das ein dem „Sein im Werden" entgegengesetztes Prinzip ist. Auf
diese Weise verwickelt er sich in unheilbare Widersprüche: Aristoteles hat
Piaton verbessern wollen und ist dennoch Platoniker geblieben.
An die Lehre von der Form und vom Stoff, welche so mit der Lehre
vom Wesen kombiniert ist, schliesst sich die Lehre von der Natur und vom
Zufall, welche im 3. Kapitel des Buches untersucht wird.
Dies also ist der Idealismus des Aristoteles, verglichen mit dem des
Piaton. Aber wenn der Idealismus die ganze Philosophie Piatons ist, so ist er
keineswegs die ganze Philosophie des Aristoteles. Die Lehren, durch die
Aristoteles den platonischen Idealismus erweitert, sind von einer so glücklichen
Originalität, dass sie in gewissem Sinn die Grundlagen ablegen für die Philo-
sophie des Geistes und des Wertes.
Den Beweis dafür erbringen der 2. und 3. Teil des Buches. Wie ent-
wickle ich die Philosophie des Geistes? In einer Untersuchung der aristotelischen
Lehre von der Form, welche der Seele gleichgesetzt und als das Band zwischen
jeist und Stoff angesehen wird. Zunächst wird es festgestellt, in welchem
vlasse Aristoteles, nachdem er das Bewusstsein bewundernswert definiert hat,
ien Geist als Tätigkeit betrachtet. Und wie gewinne ich die Lehre vom Wert?
Ich stelle die Lehre von der Lust in Gegensatz zu der Lehre von der Tugend.
Diese ist rein intellektualistisch, während jene ein Element der Freiheit zur
KautBtudlen XV. 24
3?2 Selbstanzeigen (Sadee -Lewkowitz).
ersten Voraussetzung des Wertes macht. So erscheint uns Aristoteles als ein
Vorgänger Kants.
Nach Untersuchung der aristotelischen Lehre von der Wirklichkeit, dem
Geiste und dem Werte, musste noch geprüft werden, ob meine Schlussfolgerungen
sich mit der Lehre vom höchsten Wesen vertrugen, welches Aristoteles aner-
kennt. Es ergab sich die Übereinstimmung beider. Ich habe besonders den
Nachweis zu erbringen versucht, das der Gott des Aristoteles, wie er der plato-
nischen Ideenwelt entspricht, gleichzeitig auch am Stoff verwirklichte Form ist:
er ist Weltseele.
Genf. ' Charles Werner.
Sadöe, L. Schiller als Realist. Eine literarisch -psychologische
Studie. Leipzig, Verlag %^on Camillo Schneider, Asch i. Deutschböhmen, 1909.
Der Titel „Schiller als Realist" scheint nach dem jgewöhnlichen Urteil
einen inneren Widerspruch zu enthalten. Das beruht auf einer einseitigen Auf-
fassung des ästhetischen Realismus. In der vorliegenden Studie wird der
Versuch gemacht, diese Einseitigkeit zu berichtigen. Wir müssen eben die
volle typische Differenzierung des ästhetischen Realismus psychologisch er-
gründen. Dann tritt erst der Reichtum der fundamentalen Kategorie zu Tage.
Der Verfasser glaubt, 3 aufgestufte Formen des ästhetischen Realismus unter-
scheiden zu können. Diese Formen lassen sich nun bei Schiller in grösstem
Umfange empirisch nachweisen, wie ausführlich gezeigt wird, und sie rechtfertigen
somit den paradoxen Titel des Buches. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass
der neue ästhetische Kategorienapparat ein fruchtbares heuristisches Prinzip ist,
welches uns auf zahlreiche verborgene Feinheiten des Dichters aufmerksam
macht und ausserdem noch mannigfache weitere Anwendungen in der Kunst-
analyse gestattet.
Königsberg i. Pr. L. Sadee.
Lewkowitz, A. Hegels Aesthetik im Verhältnis zu Schiller.
Verlag der Dürr'schen Buchhandlung in Leipzig, 1910.
Auf der Grundlage des philosophischen Kritizismus will vorliegende Arbeit
den systematischen Gehalt der Hegeischen Aesthetik zu bestimmen suchen.
Diese systematische Stellungnahme wird vermittelt durch den Nachweis der
grundlegenden Bedeutung der Philosophie des Kantianers Schiller für die
Hegeische Spekulation.
Nachdem daher unter Berücksichtigung moderner erkenntnistheoretischer
Diskussionen Begriff und Methode des Kritizismus dargelegt worden, wird als
historische Einleitung in Hegels Aesthetik ein Abriss der Kantischen und
Schillerscheii Aesthetik gegeben mit besonderer Hervorhebung der zu Hegel
hinführenden Begriffe.
In einem besonderen Kap. .Schiller und das System des absoluten Idea-
lismus" überschrieben, wird der Nachweis zu erbringen gesucht, dass Hegel
das Rechte getroffen, wenn er Schellings und sein Verhältnis zu Schiller dahin
präzisiert: Schillers Idee des Schönen sei „als Idee selbst zum Prinzip der
Erkenntnis und des Daseins gemacht und die Idee als das allein Wahrhafte und
Wirkliche erkannt worden".
Hierauf werden die Grundbegriffe der Hegeischen Aesthetik entwickelt
und die in diesen Begriffen arbeitenden Motive des Hegeischen Philosophierens
zu bestimmen gesucht. Es folgen also Abhandlungen über den Begriff des
absoluten Geistes, die Idee des Schönen, die Funktion des Schönen in der
Entwicklung des Weltgeistes, das Verhältnis von Kunst und Metaphysik und
von Kunst und Religion.
Eine sich anschliessende Darstellung von Hegels Theorie der einzelnen
Künste hat die Absicht, die feinsinnige, geistige Regsamkeit dieser ernsten und
tiefen Persönlichkeit zu beleuchten und gipfelt in dem Nachweis der innigen
seelischen Verwandtschaft der beiden grossen idealistischen Denker Schiller
und Hegel.
Breslau. Albert Lewkowitz.
Selbstanzeigen (Domer). 373
Dorner, A. Enzyklopädie der Philosophie. Leipzig, Dürrsche
Buchhandlung, 1910 (VII u. 334 S.)
In dem vorliegenden Werke war es mir darum zu tun, die Aufgabe der
Philosophie zu bestimmen. Das ist eine doppelt schwierige Frage in einer Zeit,
die weit mehr durch praktische als theoretische Interessen bewegt wird, der es
um methodisches Denken wenig zu tun ist, die sich zuerst von der Verneinung,
dann von dionysischer Bejahung des Willens zum Leben berücken Hess, wo
selbst die Erkenntnistheorie, die bisher als das unumstrittene Gebiet der Philo-
sophie galt, nach praktischen Gesichtspunkten behandelt wird und man mehrfach
den Satz verteidigt, dass es nicht auf die Wahrheit, sondern nur auf die Nütz-
lichkeit der vermeintlichen Erkenntnisse ankomme. Mir war es deshalb darum
zu tun, den selbständigen Wert der Erkenntnis gegenüber einem einseitigen
Voluntarismus, der durchaus nicht ethisch zu sein braucht, zu wahren und darauf
hinzuweisen, dass es im Zweifelsfalle unser Denken ist, das eine Erkenntnis
ermöghcht, dass der Masstab, an dem wir die Wahrheit messen, der logische
ist, dass die Rolle des Willens bei dem Erkennen gerade auf den Wahrheits-
willen, das Erktnnenwollen und das sich unterordnen unter die Gesetze des
Denkens beschränkt ist und dass die Nützlichkeit einer Erkenntnis keineswegs
der Massstab ist, der für die Erkenntnis in Betracht kommt, wenn auch in Folge
der Einheitlichkeit der Fundamente des Geisteslebens und der Welt eine Er-
kenntnis in der Regel auch praktisch wertvolle Folgen haben wird.
Diese Selbständigkeit des Erkennens tritt in um so helleres Licht, je
mehr sich herausstellt, dass die Erkenntnis sich keineswegs mit der bloss
phänomenalen Welt begnügt, sondern auch auf das Sein gerichtet ist, dass
schon die empirischen Wissenschaften metaphysische Voraussetzungen machen,
dass die Kategorien des Denkens uns nötigen, das transsubjektive Gebiet zu
beschreiten.
Ich habe deshalb, um diese Sätze zu erhärten, sowohl die empirischen
Wissenschaften auf ihre erkenntnistheoretischen Voraussetzungen hin geprüft als
auch die Kategorien einer nach einigen Seiten noch eingehenderen Betrachtung
unterzogen, als es in meinem »menschlichen Erkennen" geschehen war. Bei
diesen Untersuchungen habe ich mich auch mit der bedeutendsten neueren Katego-
rienlehre von Hartmann an wichtigen Punkten, in Bezug auf die Auffassung
der Kausalität und Idealität, sowie der Substanz auseinandergesetzt.^) Von
besonderer Wichtigkeit scheint mir die Anerkennung zu sein, dass die Kategorie
des Zwecks durchaus nicht nur auf das Werturteil gegründet werden kann, da
hier vielmehr eine Idee zur Ursache wird, es sich also nicht bloss um ein Urteil
handelt, sondern um die Verwirklichung der Idee und diese Idee nicht etwa
erst durch den Willen zum Zwecke gemacht wird, sondern vielmehr als eine
notwendige Idee die Kausalität in Bewegung setzt. Der Zweck ist die Kategorie,
welche das Erkennen wie das Handeln gleichmässig umfasst, indem das einemal
die Idee des Erkennens das Erkennenwollen in Bewegung setzt, das anderemal
eine Zweckidee die Ursache ihrer Verwirklichung in der Welt wird. Die Vor-
aussetzung für Beides ist die, dass Sein und Denken zu gegenseitiger Ver-
bindung bestimmt sind
Als Resultat der Untersuchung der Kategorien ergiebt sich, dass dieselben
keineswegs nur formalen Charakter tragen, sondern auch inhaltliche Bestimmt-
heiten enthalten und, dass man keinen Grund hat, an metaphysischen Realitäten
zu zweifeln, wenn man genötigt ist, solche zu denken, weil etwa die Anschauung
fehlt, denn wenn sie auch vorhanden wäre, würde sie ja gerade nach Kant
doch keine Garantie für reale Existenz geben, weil sie nur phänomenal wäre.
Dazu kommt, dass der Begriff des Absoluten durch irgendwelche sinnliche
Anschauung versinnlicht würde. Vielmehr gilt es gerade von dem Metaphysischen,
dass wenn es überhaupt ist, es das der Sinnenerfahrung zu Grunde
liegende oder sie gänzlich Übersteigende sei.
Hiernach ergiebt sich mir das Resultat, dass metaphysische Erkenntnis
möglich ist und dass die Philosophie die Aufgabe hat, nicht nur Erkenntnis-
1) Ich habe eine eingehende Besprechung von Hartmanns Kategorienlehre
in den protestantischen Monatsheften veröffentlicht. II. J., 2—6.
24*
374 Selbstanzeigen (Üorner).
theorie zu sein, sondern auch die objektiven Grundlagen der Welt zu unter-
suchen und in diesem Sinne Fundamentalwissenschaft zu sein.
Am meisten Anstoss wird es wohl bei der noch immer überwiegend
empiristisch gerichteten Zeitströmung erregen, dass ich dabei bleibe, das onto-
logische Argument zum Fundament der Metaphysik des Absoluten zu machen.
Indes bin ich gerade hier durch Kant einigermassen gerechtfertigt, der mit
vollem Rechte bemerkt, dass aus der endlichen Welt der Schluss auf ein ab-
solutes Wesen immer einen Sprung darstelle. Will man also nicht in Abrede
stellen, dass der Einheitstrieb unseres Denkens uns zwingt, eine letzte Einheit
anzunehmen, die dann eo ipso auch Einheit von Denken und Sein sein muss
— sonst wäre sie nicht die letzte Einheit — , so wird man sich hier auf das
Denken verlassen müssen. Wenn man immer noch vielfach geneigt ist, dem
moralischen, praktischen Gottesbeweis den Vorzug zu geben, so übersieht man,
dass hier gerade von solchen, die das theoretische Moment gänzlich zurück-
stellen, die praktische Notwendigkeit der Annahme Gottes völlig in Abrede
gestellt wird. Man wird überhaupt zugeben müssen, dass diese Erkenntnisse
— wie alle Erkenntnisse von dem in Abrede gestellt oder bezweifelt werden
können, der nicht erkennen will. Es gehört zu der Unendlichkeit des Menschen-
geistes, dass er über jeden Standpunkt wieder zweifelnd hinausgehen kann.
Allein diese subjektive Freiheit schliesst nicht aus, dass es objektiv notwendige
Wahrheiten giebt, die in der Natur des Denkens begründet sind und in ihrer
Notwendigkeit erkannt werden können. So gewiss aber die Logik ihre Not-
wendigkeit behauptet, so gewiss wird auch das logisch Notwendig zu Denkende
nicht in seiner Wahrheit bezweifelt werden können. Man darf die empirische
Allgemeinheit eines Urteils und seine notwendige Allgemeingültigkeit nicht
verwechseln. Die letztere ist keineswegs immer von Allen empirisch angenommen
und doch ist sie allein der letzte Prüfstein auch dafür, ob eine empirisch von
den Meisten angenommene Ansicht wahr sei. Man kommt hier doch immer
zuletzt auf die Denknotwendigkeit zurück.
In Bezug auf die Metaphysik der Welt, die in Metaphysik der Natur und
Metaphysik des Geistes zerfällt, kam es mir bei der letzteren ganz besonders
darauf an, bei Anerkennung des psychophysischen Mechanismus doch zugleich
auf die Notwendigkeit einer Metaphysik des Geistes hinzuweisen, ohne die
seine Tätigkeit überhaupt nicht zu verstehen wäre. Es wird eine der wichtigsten
Aufgaben sein, jene empirische Psychologie, die Physik der Seele ist, mit der
Metaphysik des Geistes in Einklang zu setzen. Auch da kommt die Kategorie
des Zwecks in Betracht, der eben causa finalis ist, und den Kausalzusammen-
hang des psychophysischen Mechanismus in seine Dienste nehmen kann. Auch
hier kann man nicht sagen, dass erst durch den Willen der Zweck werde.
Vielmehr giebt es ein Ideal, das durch die Kausalität des Willens realisiert
werden soll, das aber seine vernunftnotwendige Geltung an sich hat und
sie dadurch nicht verliert, dass es in einzelnen Fällen nicht realisiert ist, sie
aber auch nicht erst durch die Anerkennung des Willens gewinnt.
Dasselbe Problem der Vereinigung beider Formen der Kausalität ist auch
in der Philosophie der Geschichte gegeben. Hier handelt es sich darum, einmal
das Verhältnis der einzelnen Persönlichkeiten zu den grossen Gemeinschaften
zu verstehen, dem individuellen persönlichen wie dem sozialen Faktor gerecht
zu werden, sodann aber auch einzusehen, wie die Geschichte von Ideen ge-
leitet wird, deren Vertreter die hervorragenden Persönlichkeiten sind, wie diese
Ideen mittels des Kausalzusammenhanges sich durchsetzen und so den teleo-
logischen Charakter tragen.
Schliesslich sei noch erwähnt, dass es mir nicht bloss darauf ankam, den
Zusammenhang der empirischen und metaphysischen Erkenntnisse, der empirischen
Wissenschaften und der Spekulation zu betonen, sondern auch den Zusammen-
hang dei theoretischen und praktischen Tätigkeit, die aufeinander angewiesen
sind und bei einem Zwiespalt beide notleiden und verkümmen würden. So
ist weder die Theorie allein das höchste Gut, noch die praktische Betätigung
allein, so ist aber auch keine von Beiden nur Mittel für die Andere,
sondern sie sind beide gleich notwendig und gleich berechtigt; im Grunde sind
Selbstanzeigeu (Graue). 37r»
beide Betätigungen der Vernunft und des Wollens, denn ein vernünftiges Er-
kennen ist geradesogut eine freie Betätigung des Geistes, wie das Realisieren
der vernünftigen Zweckbegriffe durch den Willen. Auch psychologisch wird es
schwerlich gelingen, das Wollen aus dem Erkennen oder das Erkennen aus dem
Wollen abzuleiten. Beide Funktionen sind Funktionen des Einen Geistes, der
bald nach der Einen bald nach der anderen Seite überwiegend sich betätigt,
dessen sittliche Aufgabe es eben ist, stets beide Funktionen in Harmonie zu
halten, dass in der intellektuellen Funktion stets das Erkennen, nicht das
blosse hin und her Räsonieren gewollt und stets das Wollen vernünftig be-
stimmt sei.
Königsberg i. Pr. A. Dorner.
Grane, G. Wegweiser zur Selbstgewissheit der sittlichen
Persönlichkeit. M. Heinsius' Nachfolger, Leipzig. 1910.
Dass die Tendenz dieser Schrift hauptsächlich gegen den modernen Skep-
tizismus gerichtet ist, zeigt schon der erste Teil derselben, der das Verhältnis
von intellektueller und Glaubens- Gewissheit behandelt, die Tatsache
anzuerkennen hat, dass die intellektuelle Forschung mehr oder minder des
„Glaubens", im wissenschaftlichen Sinne des Worts, bedarf, aber die mit innerer
Notwendigkeit sich bekundende Ailgemeingültigkeit der menschlichen Anschau-
ungsformen und Denkgesetze, auch der Euklidischen Geometrie, gegen die
Angriffe der Skepsis verteidigt, die blosse Phänomenalität des Raumes und die
völlige Unerkennbarkeit des Kantischen „Ding an sich" bestreitet und die Ein-
heitlichkeit des nicht bloss von mechanischem und zwangsweise wirkenden,
sondern auch von dynamischen Kausalitäten bewegten und getriebenen Makro-
kosmus mit seinem zentralen Einheitsgrunde, i) ebenso die Einheitlichkeit des
menschlichen Mikrokosmus mit seinem Ich-Zentrum verficht und vertritt. Der
zweite Teil, der die Selbstgewissheit der sittlichen Persönlichkeit und ihre
Grundlagen erörtert, behauptet und begründet die Apriorität des sittllichen Be-
wusstseins, hält sie auch gegen den modernen „Pragmatismus", allerdings nicht
streng Kantianisch, sondern mit Zugeständnissen an den Empirismus, aufrecht
und zeigt zugleich, wie wir gerade durch willige Einfügung in den Dienst der
sittlichen Weltordnung und rückhaltlose Hingebung an die sie tragende göttliche
Macht zu immer grösserer Selbständigkeit gegenüber den Einwirkungen der
Aussenwelt und zu immer festerer Selbstgewissheit gelangen. In den beiden
letzten Teilen, welche die aus dem sittlichen Bewusstsein stammenden Er-
schütterungen dieser Gewissheit untersuchen und besprechen und die Wege zu
ihrer Überwindung weisen, werden die hauptsächlichsten über den Ursprung
des Bösen aufgestellten Hypothesen kritisiert, die Irrwege, auf denen man die
durch Sünden- und Schuldbewusstsein hervorgerufenen Gemütserregungen bald
künstlich abzuschwächen, bald zu krankhaften Steigerungen zu bringen versucht
hat, gekennzeichnet und dabei namentlich gegen alle die polemisiert, die kirch-
lichen Interessen und Ansprüchen zu Liebe weder den wissenschaftlichen noch
den religiös sittlichen Bedürfnissen und Forderungen gebührende Berücksichtigung
und wirkliche Befriedigung gewähren und hierdurch nicht allein der neuzeitlichen
Zweifelsucht in die Hände arbeiten, sondern auch das schädigen, was kürzlich
Windelband mit vollem Recht als „das Höchste, was eigentlich erst Kultur und
Geschichte . . . ausgemacht hat", bezeichnete: das Persönlichkeitsleben.
Nordhausen a. H. Q. Graue.
») Der Verfasser hat bereits 1904 in „Selbstbewusstsein und Willensfreiheit'
"nd 1906 .zur Gestaltung eines einheitlichen Weltbildes- den seines Erachtens
(rossenteils durch Übertragung der mathematischen Betrachtungsweise auf
iie gesamte Weltanschauung entstandenen Irrtum gekennzeichnet, den zu-
eichenden Grund ohne Weiteres immer und überall als zwingenden
aufzufassen und darzustellen.
376 Selbstanzeigen (Leclfere— Stern).
Ledere, Albert, Privat-Docent ä l'Universite de Berne. Pragmatisme,
Modernisme, Protestantisme. Paris, Bloud, 1909. (294 S.)
L'auteur de ce livre s'est propose de degager le fonds de la philosophie
du Modernisme catholique, dont il montre les affinites etroites avec le Protes-
tantisme liberal, qu'il nomme le »Modernisme Protestant«. 11 rattache ces deux
Modernismes au Pragmatisme oü il lui semble voir, lorsqu'il affecte une forme
idealiste, comme la volonte de maintenir des croyances que l'intelligence deses-
pere de pouvoir prouver; le Pragmatisme invoque, faute de mieux, pour fonder
ces croyances, une sorte d'experience Interieure qui n'est, au fond, que le senti-
ment; fruit d'un scepticisme intellectuel plus ou moins conscient et declare, le
Pragmatisme pourrait etre appele »Modernisme philosophique«, puisqu'il minimise
et dcsintellectualise la philosophie comme les Modernismes proprement dits mi-
nimisent et desintellectualisent des religions. Le doute philosophique et religieux
est la vraie cause de tout Pragmatisme; la crise de lldealisme, dont le succes
multiforme du Pragmatisme est le Symptome, n'est pas nouvelle; l'auteur l'etudie
chez Gvyau, Secretan, Renouvier et M. Bergson. 11 fait voir dans OIle-Laprune,
le cardinal Dechamp et le cardinal Newman les principaux initiateurs du mou-
vement moderniste catholique, qu'il etudie ensuite chez M. Blondel, le P. Laber-
thonniere, M. Le Roy, M. Tyrrel et M. Loisy, dont chacun represente une etape
de l'evolution logique du Catholicisme vers sa propre negation dans la voie
moderniste. D'apres l'auteur de ce livre le »nouveau Positivisme« dont les
Modernistes se felicitent d'avoir introdvit la notion, est en contradiction absolue
avec la notion d'experience scientifique, et si l'on peut trouver chez A. Comte
une trace de pragmatisme, ce n'est pas lä ce qui faisait la vraie valeur du
Comtisme. En revanche, bien que Kant soit absolument oppose ä toute croyance
surnaturaliste, et qu'il n'y ait rien, chez lui, de favorable ä r»experience religieuse«
des nouveaux apologistes, ceux-ci ne fönt que reprendre, ä leur maniere, la
distinction kantienne des deux raisons; ils nomment autrement la raison pratique,
mais peu importe, et ils accordent le primat au succedane qu'ils donnent ä
celle-ci. Du Kant altere avec du Schleiermacher, voi lä le fond de leur philo-
sophie qu'ils amalgament avec un certain relativisme scientifique plus ou moins
emprunte ä M. Bergson ou ä M. Poincare pour l'adopter ä leur Apologetique.
Mais ni la science, ni l'orthodoxie ne peuvent se satisfaire de l'emploi d'une
teile methode; bref, de toute fa^on le Modernisme, en depit d'excellentes in-
tentions, est une tentative manquee. Un Appendice assez long, Joint ä ce livre,
est consacre ä l'etude historico-critique et comparee de toutes les theses communes
au Pragmatisme et au Modernisme.
Berne. Albert Ledere.
Stern, Norbert, Dr. phil. Das Denken und sein Gegenstand.
München. G. C. Stelnicke. 1909. (208 S.)
Der Verfasser untersucht im ersten Kapitel seiner Arbeit den Einfluss
der Sprache auf das Denken und gelangt zu dem Satze: Natur- und Denkgesetze
geben sich in, den Sprachgesetzen die Hand. Das individuelle Denken findet
schon eine fertige Logik vor, die Denkweise, Denkart der Allgemeinheit vor
und neben ihm. Einerseits muss sich das Denken nach den Forderungen der
Logik richten, andererseits aber vifird es stets auch den Bedürfnissen des Ich
Rechnung tragen. Das Denken ist also die lebendige Synthese der subjektiv-
psychologischen und der objektiv-logischen Welt. Es vereinigt Werden und
Sein, tätige Bildung mit festem Begriff, Momentan-Flüchtiges und Monumental-
Feststehendes.
Eine Ur-Doppeltätigkeit beherrscht — so zeigen die folgenden Kapitel —
das Denken: der Trieb der Vermenschlichung der Aussenwelt und der
Drang zur Verdinglichung der Innenwelt. Das heisst: der Mensch sucht
alles ihm Begegnende sich menschlich ver-ständlich und zugleich dinglich
gegen-ständlich zu machen. Das lebendige Gestaltungs- und das leblose Ord-
nungsprinzip sind die Grundtatsachen alles Denkens. Jenes macht alles per-
sönlich und dynamisch, dieses alles unpersönlich, sachlich und statisch, feststehend.
Das schaffende Denken kann nicht Vermenschlichung oder Verdinglichung sein,
es ist beides.
Selbstanzeigen (EilersV 377
Die im Menschen tätige Natur sucht der Verfasser sich l<!ar zu machen,
wie sie, im Lichte des Denkens betrachtet, durch Körper, Gefühl, Verstand,
Teperament, Geschlecht, Alter, Klima, Sprache, Recht, Religion, Kunst, Wissen-
schaft sich offenbart. Ferner: wie das vernunftbegal)te Denken die Nah-Natur
in concreto zu einer Fern-Natur in abstracto der Logik, Mathematik, Geometrie
umschafft. Die logischen Elemente, die Begriffe, sind die Fernzeichen alles
Greifbar-Nahen, die Zahlen die alles rhythmisch Wiederkehrenden, Kreis imd
Punkt die aller sichtbaren Objekte. (In den Gestirnen sehen wir Welten zu
Punkten und Kreisscheiben geworden.) Das Denken stellt sich uns als Fern-
tätigkeit des Sinnens dar. Alles ist nach Begriffen, Zahlen und Punkten ge-
ordnet. Der Mensch ist tatsächlich der Gesetzgeber der Natur, um mit Kant
zu reden. Die Gesetzmässigkeit aber, die er den Dingen vorschreibt, ist Regel-
mässigkeit, die er zuerst nachschreiben musste. Grundsätze sind stets ein
Extrakt aus einer Summe von Folgesätzen. Natur- und Denkgesetze sind
erkannte Natur- und Denkgewohnheiten.
Für das Denken kann es nur Denkformen geben, Fernwerte alles Seins
und Wirkens. Jede Zuständlichkeit wird im Denken zur Gegenständlichkeit,
wird Objektivität. Auch das Ich, mit dem sich das Denken befasst, ist eine
blosse Denkkategorie. Die subjektive Ichheit entspricht der objektiven Einheit.
Beide sind in allem, als Produkte der Personifizierung und der Versachlichung,
der Einfühlung und der Einordnung.
Das vorliegende Buch ist eine Dissertation. Man merkt es ihm wahr-
scheinlich an, dass der Verfasser es in seinem dritten philosophischen Semester
fertiggestellt hat. Er kam vom Ingenieurfache, von der Welt harter Tatsachen
her, und so darf es nicht Wunder nehmen, wenn dies amorphe empirische
Material die kristallinische Ordnung der logischen Struktur hie und da stört.
Das Zuviel war auch hier m.anchmal der Feind des Guten.
München. Norbert Stern.
Eilers, Konrad. Das Bedürfnis des Gebildeten nach einer
Weltanschauung. Zwei Vorträge. Rostock, Hermann Kochs Verlag, 1909.
Als Ausgangspunkt gilt die Bildungsaufgabe der Gegenwart, welche mit
dem Wachsen der wissenschaftlichen Einzelarbeit immer schwieriger geworden
ist. Aber das Bedürfnis nach einem möglichst vielseitigen, allgemeinen Wissen
und nach einer Aneignung aller geistigen, künstlerischen und sittlichen Bildungs-
werte ist da und macht sich gerade in der Gegenwart besonders lebhaft geltend.
Dies wird an Beispielen aus der neueren Literatur, welche auf Weltanschauungs-
fragen Bezug hat, und an dem Kultus grosser Persönlichkeiten, die als Bau-
meister einer modernen Weltanschauung gelten können, nachgewiesen. Ebenso
drängen die sozialen Verhältnisse der Gegenwart jedem Gebildeten die Welt-
anschauungsprobleme auf. Die Weltanschauung ist nicht nur eine Sache des
Denkens, sondern vor allem auch des Gefühls und Willens. Darum hat sie
eine individuelle Seite. Trotzdem gibt es vorherrschende Grundrichtungen.
Dem Idealismus gehört die Zukunft. Jeder moderne, wissenschaftlich begründete
Idealismus muss an Kant anknüpfen, den Kopernikus des wissenschaftlichen
Denkens.
Alles Erkennen ist durch die Eigenart des menschlichen Geistes bedingt.
Die Subjektivität der Erkenntnis im Sinne Kants wird durch das Bild des Spiegels
und der Maschine erläutert. Verfasser hielt die erkenntniskritische Position Kants
für grundlegend und versucht „von Kant aus vorwärts" zu führen. Materialis-
mus und Spiritualismus werden abgelehnt. Der kritische Idealismus Kants wird
mit dem kritischen Realismus verbunden. Verfasser erörtert nun einige Grund-
fragen der Weltanschauung, indem er von der unmittelbaren Gewissheit des
Selbstbewusstseins ausgeht. Von hier auch geht er weiter zur erfahrbaren
Wirklichkeit der Erscheinungswelt, betont die „praktische Vernunft" neben der
„theoretischen", berücksichtigt ihre Zusammengehörigkeit und Wechselbeziehung
und sucht durch Hervorhebung der Vollständigkeit des ästhetischen Empfindens
und vor allem des religiösen Bewusstseins die Gedanken Kants weiterzuführen.
Neben der Natur wird die Kunst, das sittliche Gemeinschaftsleben und die
Religion in den Kreis der Weltanschauung einbegriffen, indem der menschliche
378 Selbstanzeigen (Müller— Cyon).
Geist in seiner Gesamtheit als verstandesmässiges Erkennen, sittliches Wollen,
ästhetisches und religiöses Empfinden zum Ausgangspunkt genommen wird.
Darauf wird gezeigt, wie Naturerkenntnis zustande kommt, und wie weit sie
führen kann. Der Begriff Naturgesetz wird erörtert und begrenzt, das Problem
des organischen Lebens und der Entwicklungsgedanke wird besprochen, wirk-
liches Wissen von der Hypothese scharf geschieden (Entstehung und Entwicklung
des Menschen, Mensch und Tier) und die Eigenart des menschlichen Geistes
aufgezeigt unter besonderer Berücksichtigung der Kunst, der Sittlichkeit und
der Religion. Hierbei werden wieder Kants grundlegende Erörterungen über
das sittliche Gesetz und den kategorischen Imperativ nachdrücklich gewertet.
Zum Schluss wird die Selbständigkeit des religiösen Bewusstseins als eines
notwendigen Bestandteils des menschlichen Gesamtgeistes vertreten. Die Selbst-
ständigkeit der Religion wird psychologisch und empirisch-historisch an Beispielen
(Tolstoy, Nietzsche, Goethe und Augustinus) nachgewiesen. Der einzelne wird
auf den Weg der Erfahrung, des persönlichen Erlebens verwiesen, wobei ver-
schiedene Anknüpfungen als möglich bezeichnet werden. Einmal die Anknüpfung
an die Natur, wobei der Begriff des religiösen Wunders als innerhalb der Ge-
setzmässigkeit des Naturgeschehens liegend bezeichnet wird. Als zweite noch
weiterführende Anknüpfung für die Religion muss der menschliche Geist, die
menschliche Persönlichkeit als höchstes Produkt der Wirklichkeit gelten. In
diesem Zusammenhang wird die Einzigartigkeit der geschichtlichen Persönlichkeit
Christi geschildert und die Wahrheit der Religion auf ein Werturteil zurück-
geführt. „Wir erleben diese Wirklichkeiten, indem wir ihren Wert für unser
inneres Leben erfahren." Mit dem Hinweis darauf, dass die Weltanschauung
des Gebildeten möglichst vielseitig, aber in sich geschlossen und einheitlich
sein muss, schliesst die Erörterung ab.
Rostock. Konrad Eilers.
Müller, P. J., Professor. Kraft und Stoff im Lichte der neueren
experimentellen Forschung. Leipzig. Barth, 1909. (63 S.)
Wenn Kant der Metaphysik das Vermögen abspricht, das Dasein Gottes
beweisen zu können, so hat er gewiss durchausrecht. Für den blossen speku-
lativen Gebrauch der Vernunft bleibt eben das höchste Wesen ein blosses
Ideal, ein Begriff, der die ganze menschliche Erkenntnis schliesst und krönt,
dessen objektive Realität jedoch nicht apodiktisch bewiesen, freilich auch
nicht widerlegt werden kann.
Verfasser von Kraft und Stoff sucht nun nach einer kritischen Beleuchtung
des Monismus und Dualismus auf experimentellem, ja selbst rechnerischem
Wege mit Einbeziehung der neuesten bahnbrechenden Forschungen auf dem
chemisch-physikalischem Gebiete, das zu Kants Zeiten fast noch Terra incognita
war, einen Indizienbeweis zu führen, der den üblichen Gottesbeweisen ent-
schieden überlegen ist. Das Du Bois-Reymondsche Welträtsel von der Ursache
der Bewegung wird dabei in ein ganz neues Licht gerückt, und dem physikalisch-
chemischen Weltbilde der Monisten, in dem sich für Ethik und Ästhetik kein
Platz findet, ein psychisch-theistisches zur Seite gestellt, wie es Gemüt und
praktische Vernunft gebieterisch verlangen.
Zwickau. P. J. Müller.
Cyon, Elie de. Dieu et Science. Essais de Psychologie des Sciences.
1 vol. in-80, avec deux planches hors texte et le portrait de l'auteur. Paris.
F^lix Alcan, Editeur. 1910. (445 P.)
Cet ouvrage est consacrc ä l'examen scientifique des problemes les plus
elev^s de la pensee humaine, qui de tout temps ont preoccupe le monde civilise.
Les deux premiers chapitres exposent les conclusions philosophiques des recher-
ches experimentales sur l'origine de nos connaissances de l'espace et du temps,
poursuivies par l'auteur pendant pres de quarante ans, et qui ont abouti ä la
decouverte de deux organes des sens mathematiques, situes dans le labyrinthe
de I'oreille. Le 3® chapitre „Corps, äme et esprit" est un essai de differen-
ciation des fonctions psychique conforme aux progres faits par la physiologie
pendant le siecle dernier, depuis Flourens jusqu'ä nos jours.
Selbstanzeigen (Pfordten). 379
Apres avoir eclaire les rapports entre le Corps, l'ame et I'csprit et etabli
une nouvelle th^orie de nos sensations et perceptions, rautciir demontre I'inde-
pendiincc de I'csprit liiimain des pures fonctions de l'änie, et formule, en ces
termes son röle dans la vie intellectuelle: Le Createur regne et son esprit
gouverne. Dans les deux cliapitres suivants, consacres ä l'Evolution et au
Transformisine, l'auteur analyse les causes profondes de la dccadence definitive
du Darwinisme, fournit les prcuves de rccroulement de l'hypothcse de la des-
cendance simienne de riioinrnc et demontre la parfaite inanite de riiaeckelisme.
Dieu et l'Honimc, la derniere partie de l'ouvrage, examine le probleme
angoissant des rapports entre la Science et la Religion. Apres une enquete
minutieuse, tres documentee sur les conceptions religieuses et philosophiques
des plus illustres createurs des sciences physiques et biologiques modernes,
depuis Priestley, Lavoisier et Cuvier jusqu'ä Claude Bernard, Pasteur et Hertz,
en passant par Ampere, Berzelius, Faraday, Robert Mayer et bien d'autres,
l'auteur montre qu'ils etaient des croyants sinceres, des chretiens, convaincus de
Timmortalite de l'äme, ou des deistes-spiritualistes, tres respectueux de la religion,
meme quand ils ne la pratiquaient pas. La conclusion generale de l'auteur est
qu'il n'existe ni antagonisme, ni incompatibilite entre les sciences naturelles et
la religion revelee; elles ont la meme origine et rempirssent des missions ana-
logues. La science decouvre les verites, instruit les masses et ameliore les
conditions de leur vie materielle, la religion enseigne les verites eternelles et
devient ainsi l'educatrice morale des peuples.
Les deux derniers paragraphes sont consacres ä une etude approfondic
de la morale la'fque et de la guerre faite ä la religion, et terminent en constatant
la faillite de la philosophie dite positiviste.
Paris. E. de Cyon.
Pfordten, Otto von der, Dr. Privatdozent. Konformismus. Eine
Philosophie der normativen Werte. L Teil. Theoretische Grundlegung. Heidel-
berg, Winter, 1910. (156 S.)
Dieses Buch will eine neue Erkenntnislehre geben, die auch die Gebiete
des Ethischen und Ästhetischen umfasst, wie dies oft verlangt aber nicht versucht
worden ist. Sie fusst auf den nicht apriorischen, nicht mathematischen oder
exakten Wissenschaften, und will die in diesen gewonnenen normativen Werte
zur Grundlage machen. Die Hauptsache ist, ein Kriterium zu finden, wodurch
sich richtigere bez. der Wahrheit näher liegende Begriffe von anderen unter-
scheiden. Dieses wird in dem Gedanken des Wirkens auf ein Werden bez.
des Regeins einer Entwicklung gefunden; kann ein lebendig wirksamer Begriff
dazu dienen, so ist er eine Konformität.
Dieser Konformismus ist eine Erweiterung der in den KSt. XIII, 500
als „Vorfragen der Naturphilosophie" angezeigten naturwissenschaftlichen Er-
kenntnistheorie auf das ganze Gebiet der Wissenschaft, was nur durch die
Zugrundelegung des Begriffs normativer Werte möglich war. Wie sich in den
Geisteswissenschaften der Gedanke des Wirkens auf ein Werden durchführen
lässt (Abschnitt IV), kann hier nicht kurz wiedergegeben werden, ohne zu Miss-
deutungen Anlass zu geben, die schon der ausführlichen Darlegung nicht fehlen
werden.
Mit Kant beschäftigt sich dieser erste, grundlegende Teil sehr viel; der
Konformismus stellt sich neben oder gegen den Kritizismus — je nachdem
man diesen auffasst. Ist dieser nur an der Mathematik bez. dem apriorischen
Erkennen orientiert, wie dies neuerdings häufiger (Külpe, Messer u. a.) zugegeben
wird, dann gilt er auch nur für diese formalen, exakten Wissenschaften und
nicht für das ganze Denken. Allerdings, und das wird häufig vergessen, ist
dann die Idealität von Raum und Zeit nicht mehr fundiert und Kants Phänomena-
lismus gilt auch nur für die apriorischen Wissenschaften.
Dass aber der Apriorismus und die Sicherung der mathematischen Physik
Kants Grundgedanke war, der dann erst die phänomenalistische Konstruktion
nach sich zog, wird in einem eigenen, dem 7. Abschnitt über Kants Prole-
gomena zu zeigen unternommen. Nur wenn man Kants Kritik als eine Theorie
unseres ganzen Wissens, als eine Kritik aller Vernunft — nicht nur der
380 Selbstanzeigen (Schmitt— Ecker tz).
„reinen" — auffasst, ist der Grundgedanke des Konformismus gegen Kant ge-
richtet. Erkennen ist nur da, wo ein Seinsbegriff vorliegt, also niemals im
formal-apriorischen allein. Mit der Auseinandersetzung dieser Gegensätze be-
schäftigt sich der 2. Abschnitt: „Zur Erkenntnislehre " und der 6. über das
Weltbild.
Im 5. Abschnitt: „Kausalität, Wechselwirkung" versuche ich dieser meist
verschmähten Kantischen Kategorie einen neuen Inhalt zu geben, der mit dem
Begriff einer Dauerursache zusammenhängt.
Im letzten Abschnitt grenze ich den Konformismus gegen den Prag-
matismus ab, mit dem er äusserliche Ähnlichkeit, im Wesen aber durchaus
keine Übereinstimmung zeigt.
Strassburg i. E. ' O. v. d. Pfordten.
Schmitt, Elisabeth, Dr. Die unendlichen Modi bei Spinoza. Heidel-
berger Diss. 1910. Verlag G. A. Barth. Leipzig. (135 S.)
Was diese Arbeit auf Grund einer entwicklungsgeschichtlichen Unter-
suchung des Problems — entgegen der herrschenden Auffassung zum grossen
Teil — zu zeigen sucht, ist in den Grundzügen Folgendes:
Die unendlichen Modi sollen im Spinozistischen System die vollen
spezifischen Prinzipien der natura naturata bedeuten — (nach Essenz
und Existenz) — die ihrer Einheit sowohl als auch ihrer Mannigfaltigkeit.
Metaphysisch: vor allem — als unendliche ewige intensiv gesetzliche
Potenzen von verschiedener Form — die principia individuationis, und zwar die
unendlichen Modi 1. Grades die Prinzipien des einfachen Einzelmodus und
damit der Zeit, der Zahl, des Masses und der existentiellen Veränderung, die
Modi infiniti 2. Grades die Prinzipien des Einzelindividuums und damit auch
der Vergänghchkeit und Zufälligkeit. Erkenntnistheoretisch: die funda-
menta rationis, die höchsten Prinzipien aller menschlichen Erkenntnis, der Philo-
sophie überhaupt.
Diese Lehre entwickelt sich vom kurzen Traktat an kontinuierlich über
den Tract. de int. em. und Ep. XXXII hin bis zur Ethik, dem Tract. theol. pol.
und einigen Briefen aus den letzten Jahren Spinozas. Allerdings zeigt sie —
namentlich auf dem Gebiet der Cogitatio — beträchtliche Lücken und Unaus-
geglichenheiten und eine auffallende Dürftigkeit der Darstellung. Indessen lässt
sich die so vorhandene Inkongruenz zwischen Durchführung und Bedeutung
der Theorie vollständig aus der eigenartigen (z. T. schriftstellerischen) Entwicklung
des Systems und seinen verschiedenartigen Prinzipien und Voraussetzungen
erklären.
Heidelberg. E. Schmitt.
Eckertz, Erich, Dr. Nietzsche als Künstler. C. H. Becksche Ver-
lagsbuchhandlung. München 1910. (236 S.)
Nietzsche, dessen denkerischer Bestand auf dem äussersten Flügelposten
der Reihe Kant, Fichte, Schopenhauer vielfach abgewertet worden ist (besonders
durch die Bücher von Riehl, Vaihinger, Richter, Simmel, Ewald), wird hier ganz
auf das Nachbargebiet der Kunst verwiesen. Das starke Obwalten des Künst-
lerischen haben zwar schon Riehl und Simmel besonders hervorgehoben. Hier
jedoch wird N.'s ganzes Schaffen unter dem Gesichtswinkel der Kunst und des
Spieles betrachtet, von einer Warte aus, die N. selbst im Ecce homo erstiegen
hat, wenn er sagt: „Ich kenne keine andere Art mit grossen Aufgaben zu ver-
kehren als das Spiel" oder ein andermal: „Wir Wagehälse des Geistes, die wir
die höchste und gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert
haben, sind wir nicht eben darin Anbeter der Formen, der Töne, der Worte?
Eben darum Künstler?" Indem N. aber mit der spielerischen Vergewaltigung
der Dinge allem Stoffe und aller Erfahrung entsagt, erweist er sich als Fichtes
artistisctier Superlativ, als Kants äusserstes Gegenspiel.
Auf dieser Grundlage erhebt sich eine dreigeteilte Darstellung des Künstlers
Nietzsche; nämlich die seiner Bildlichkeit, die bei aller Fülle und Feinheit der
impressionistischen Anschauung und Sprachkraft eine dingliche Gesamtheit, ein
geschaffenes Wesen vermissen lässt; ferner sein Scherz, seine Possenlust, die
Selbstanzeigen (Eber). 381
ihn als den spielenden Vernichtcr offenbart, der, mehr witzig als wissend,
Kant als den Chinesen von Königsberg bezeichnet, und doch der tragische
Spieler ist, mehr Hamlet als Sokratcs; endlich seine Musik, die in der Sprache
erklingt wie in der Klaviatur seines Denkens, auf weicher sich Umwertung als
Modulationslust, Ewige Wiederkunft als Freude am Refrain offenbart, auf welcher
Gleichklängc wie „Besser und Böse" zu einer Genealogie der Moral komponiert
werden.
Ein weiterer Schwerpunkt des Buches ruht in der stammlichen Funda-
mentierung, die hier zum ersten Mal unternommen wird und die beispielsweise
den starken Predigerton, das stark Ethische bei N. in der Herkunft findet, in
ihr aber auch die ästhetische Freude am Vornehmen; die ferner das Lehrhafte,
das ästhetische Experimentieren mit der stark didaktischen und gelehrtenhaften
thüringischen Geistesart in Fühlung bringt, die Nüancenfreiheit mit Schumann
und Wagner und endlich auf diesem Anfangsweg zur Heimatsart auch einen
neuen Anschluss findet an den transcendentalen Idealismus Fichtes und den
magischen des Novalis.
EXlsseldorf. Erich Eckertz.
Eber, Heinrich. Hegels Ethik in ihrer Entwickelung bis zur
Phänomenologie. Dissertation. Strassburg. 1909. (180 S.)
Dass die philosophische Forschung Hegel gegenüber eine zu Unrecht
versäumte Ehrenpflicht wissenschaftlicher Behandlung nachzuholen und zu er-
füllen hat, wird heute wohl von niemand mehr in Frage gestellt. Einen kleinen
Teil von dieser grossen Schuld abzutragen, ist diese Studie bemüht.
Der Hauptzweck der Untersuchung wurde darin erblickt, in Hegels Ge-
dankenwelt das langsame Heranwachsen bestimmter ethischer Prinzipien zu
einem einheitlichen Systenibaue in der Phänomenologie zu erfassen und ihre
genetische Ursächlichkeit zu begreifen.
Wir beobachten mit steigendem Interesse die ersten selbständigen Flügel-
schläge dieses Geistes, der, befreit von den beengenden Fesseln der theologischen
Wissenschaft, den kühnen Flug wagt hinüber in das freiere Reich der reinen
Metaphysik. Diese Wandlung hat zur Folge, dass sich das ursprünglich religiöse
Ideal verweltlicht zu einem rein philosophischen. Indem dieser Loslösungs-
prozess, der zugleich eine immer bewusstere Hinwendung zum eigenen System
bedeutet, ferner sich vollzieht unter dem bestimmenden Einflüsse aktuell poli-
tischer Studien, bildet sich allmählich in Hegels Ideenwelt ein bestimmter
ethischer Grundbegriff heraus, der bald die herrschende Stellung in seiner
Moraltheorie einnimmt. Die Allgemeinheit, das Volk, der Staat ist der Gott,
dem allein unser sittliches Streben gilt, denn in ihm hat sich die „selbstbewusste
Vernunft", die geistige Weltsubstanz als solche realisiert Nicht „Egoität", wie
die Zeitphilosophen meinen, sondern Universalismus, metaphysisch und
ethisch, das ist des jungen Denkers zentrale Forderung.
Dieser originell gewonnene, in heisser Selbst- und Fremdkritik geläuterte
und erprobte Grundgedanke ist der Konzentrationspunkt aller Reflexionen Hegels
in dieser Frühzeit seiner philosophischen Arbeit, sodass wir mit gutem Rechte
sagen können: Hegels Weltanschauung bis zum Abschlüsse der Phänomenologie
ist durchaus ethisch fundiert und koloriert. Diese Erkenntnis vermag vielleicht
dem Gesamtbilde seiner geistigen Persönlichkeit, das wir bis jetzt wohl mehr
nach der panlogistischen Pointe gekannt haben, einen neuen, charakteristischen
Zug zu verleihen.
Indem so die verschiedenen Fäden ethischer Entwickelung, die in der
Phänomenologie zu einem fertigen Systemgewebe umfassender Art sich zu-
sammenfinden, klar und sichtbar freigelegt werden, fällt zugleich ein helles
Licht auch auf eine andere, nicht minder wichtige Frage: es ist die Frage nach
dem Verhältnisse Hegels in dieser Frühzeit seines philosophischen Denkens zu
Kants praktischer Vernunft. Dieses Problem interessiert uns so lebhaft wie
das vorhergehende; es ist mit ihm aufs innigste verknüpft und kann während
dieser ganzen Periode nie von ihm getrennt werden. An Kant und seiner
praktischen Vernunft bildet sich der junge Hegel zum absoluten Idealisten.
Kant ist der wichtigste Baustein in seiner geistigen Entwickelung. Zunächst
382 Selbstanzeigen (Gross).
positiv: indem der philosophisch interessierte Theologe die Meisterwerke des
Königsbergers mit schwäbisch-zäher Kraft in sich aufnimmt und verarbeitet;
dann aber vor allem negativ: indem er in leidenschaftlichem Gegensatze zu
Kant und den „Reflexionsphilosophen" überhaupt — zunächst unter Schellingscher
Flagge segelnd, dann auch diese preisgebend — sein wahres Selbst gewinnt
und den Boden sich erkämpft, da er neue und tiefere Quellen der Erkenntnis
und Wissenschaft zu graben meint.
Es ist vielleicht noch heute von einigem Wert, diese frühe, ernsthafte
und scharfe Kritik eines genialen Schülers an seinem genialen Meister in Bezug
auf Methode und Ergebnisse genauer kennen zu lernen.
Zabern i. Eis. H. Eber.
Gross, Felix, Dr. Kant-Laien-Brevier. Berlin. 1909. Verlag von
Reichl & Co. (216 S.) Das kleine Büchlein ist, wie schon sein Titel es anzeigt,
nicht für die Fachgenossen, sondern für den Laien bestimmt. Als Ziel schwebte
mir vor, ein Buch zu liefern, das, ohne bei seinem Leser philosophische Gelehrt-
heit und Geistesdressur voraussetzen zu müssen, ein wahres und inniges Ver-
ständnis nicht nur einzelner sogenannter „Lichtstrahlen", sondern des organischen
Ganzen der Kantischen Weltanschauung vermitteln könnte. Sollte dieses Ziel
erreicht werden, so waren zwei Bedingungen zu erfüllen: 1. mussten als Stoff
nur allerlebendigste, rein-menschlich interessante Stellen und diese aus allen
Gebieten des Kantischen Denkens und überall in genügender Anzahl und Voll-
ständigkeit sich auswählen lassen; 2. musste als Form dasselbe sinnvolle Gesetz
organischen Zusammenhanges, das dem System sein Leben sichert, auch sein
verjüngtes Abbild wiederbeleben können. Beide Bedingungen waren leichter
und vollständiger zu erfüllen, als man es von Anfang an gedacht hätte. Was
die erste betrifft, konnte ich z. B. selbst aus dem dem Laien scheinbar so gänzlich
unzugänglichen Gebiete der Metaphysik und transscendentalen Kritik nicht
weniger als 14 Seiten der köstlichsten Stellen bringen, von welchen ich glauben
möchte, dass kein wirklich heller Kopf und kein wirklich sicher treffendes Gefühl
sie lesen kann ohne eine absolut wahrhafte und lebendigste Vorstellung dieser
Seite der Kantischen Weltanschauung zu gewinnen und so überall. Was die
zweite Bedingung der Form betrifft, so möge das hier folgende Inhaltsverzeichnis
ein selbständiges Urteil darüber ermöglichen. In einem „Schlusswort" von
10 Seiten versuchte ich die reich-anschauliche Vorstellung des Kantischen Ge-
dankenbaues, die der Leser eben aus der Lektüre der Originalstellen gewonnen,
nun auch noch zu einer systematisch strafferen und abstrakt klaren Gesamtidee
seiner Bedeutung für unsere ganze Kultur zu verdichten.
Inhaltsverzeichnis:
Ein Vorwort. — Herder über Kant.
Wissen (Philosophie — Wissenschaft — Gelehrte).
Die alte Metaphysik. — Metaphysik wie sie sein soll, Philosophie, Kritik.
— Naturalismus, gesunder Menschenverstand. — Wissenschaft und wissenschaft-
liche Methode. — Wissenschaft und Leben, Gelehrte, Akademie.
Schauen (Kunst — Genie).
Das Schöne und die Kunst. — Genie und Schule in der Kunst. — Zu
einzelnen Künsten.
Glauben (Religion — Kirche).
Religion, Afterreligion. — Kirche, Schrift. — Afterkirche, Pfaffentum. —
Historische Religion, Judentum und Christentum.
Wirken (Moral — Recht).
Grundlage der Moral. — Moralisches. — Staat (Staatsrecht). — Recht.
Leben (Menschen und Welt;.
Lebensweisheit. — Zur Menschenkenntnis. — Mann und Frau, Ehe. —
Erziehung. — Rasse, Nationen. — Wirtschaft, Politik, Politiker. - Gesellschaft. —
Denken, Lesen, Schriftstellerei, Stil. — Hypochondrie, Hygienisches.
Schlusswort — Redaktioneller Anhang.
Paris. Felix Gross.
Selbstanzeigen (Gross). 383
Gross, Felix, Dr. „Form" und „Materie" des Erkennens in der
transscendentalen Ästhetik. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung.
Leipzig, Verlag von Johann Ambrosius Barth. 1910. (V, 100 S.)
Den Stoff der Erkenntnistheorie — die Gesamtheit unserer Bewusstseins-
vorgänge — gliedert in der „Kritik der reinen Vernunft" eine doppelte Zwei-
teilung: die Teilung der Quellen, aus welchen unsere Erkenntnis entspringt,
in Sinnlichkeit und Verstand, und die Scheidung der Elemente, aus
welchen alle Erkenntnis besteht in „Form" und ,,Materie". Wie verhalten
sich diese beiden Unterscheidungen zu einander? Im ersten Satze, der sie
einführt („Einleitung" 1), scheinen sie sich zunächst zu decken. „Das Erkenntnis-
vermögen'-, heisst es dort, „wird zur Ausübung erweckt durch Gegenstände,
die unsere Sinne rühren, und teils von selbst Vorstellungen bewirken, teils
unsere Verstandestätigkeit in Bewegung bringen, diese zu vergleichen, sie zu
verknüpfen oder zu trennen, und so den rohen Stoff sinnlicher Eindrücke zu
einer Erkenntnis der Gegenstände zu verarbeiten, die Erfahrung heisst." Hier
sind „die Gegenstände, die unsere Sinne rühren und von selbst Vorstellungen
bewirken", sowie „der rohe Stoff sinnlicher Eindrücke" (d. h. beides die
Empfindungen) die Materie, die „Verstandestätigkeit"', die „vergleicht, verknüpft
oder trennt", die Form des Erkennens und der Unterschied „Form" und „Materie"
scheint einfach daher zu stammen, dass die erste (die Empfindungen) eben aus
der Sinnlichkeit, die zweite (die Verstandestätigkeit ) aus dem Verstände entspringt.
Dieses einfache Verhältnis wird aber im weiteren Verlaufe der
Untersuchung kompliziert. In der „transscendentalen Ästhetik" schiebt
sich zwischen die „Form" der ordnenden und formenden Tätigkeit und die
„Materie" der zu ordnenden Empfindungen als ein drittes, neues Element die
.Form der Anschauung" ein, die zwar weder geordnet wird, noch selber ordnet,
aber „macht, dass geordnet werden kann". Diese „Form der Anschauung"
nimmt sich das Büchlein nun zunächst als „mittleres Problem" der zu be-
handelnden Frage und führt nun die Untersuchung folgendermassen durch:
1. Die Kantische Ableitung der Anschauungsformen Raum und Zeit in
der „Kritik" und den „Prolegomenis" wird Schritt für Schritt geprüft, als ihr
immer wiederkehrender Grundfehler eine zwar historisch begreifliche aber sachlich
ungerechtfertigte Identifizierung der „Sinnesempfindungen" (Empfindungen in
Raum und Zeit) mit den Empfindungen überhaupt („Vitalempfindungen" Kants,
wozu auch Empfindungen des Raumes und der Zeit selber, Raum- und Zeit-
empfindungen, gehören würden, obwohl sie nicht Sinnesempfindungen, d.h. in
Raum und Zeit sind) festgestellt und gezeigt, dass als tatsächliches Resultat der
Argumentation Kants nur eine wichtige, noch näher zu untersuchende Sonder-
stellung von Raum und Zeit als allen Wahrnehmungen und Empfindungen von
Gegenständen und Vorgängen im Räume und der Zeit „zu Grunde liegende"
und notwendig vorausgehende Vorstellungen, nicht aber ihr spezifischer Charakter
einer „reinen (empfindungsfreien) Form" hervorgeht.
2. Der Begriff der „reinen Anschauung" ist nach 1. unbewiesen, er ist
aber auch unhaltbar, weil er einer ganzen Reihe psychologischer Tatsachen, so
der Existenz charakteristischer Raum- und Zeitempfindungen, den Tatsachen der
Raum- und Zeitschätzung und ihrer Täuschungen, der Existenz eigentümlicher
Richtungsempfindungen und der Tatsache der Dimensionen, widerspricht.
3. Die „Anschauungsformen" Raum und Zeit lassen sich mit Hilfe einer
neuen Raum- und Zeittheorie auflösen in ein aposteriorisches oder Empfindungs-
element der Raum- und Zeitempfindungen und ein apriorisches oder Verstandes-
element der transscendentalen Apperzeption, die diese Empfindungen zur An-
schauung (dem eigentlichen Raum und der eigentlichen Zeit) verbindet. Der
merkwürdig „formale" Charakter schon der Raum- und Zeitempfindungen, der
iie zu einer solchen Verbindung zu „formaler Anschauung" geeignet macht,
stellt sich dabei als dadurch bedingt heraus, dass sie nichts anderes sind als
die Empfindung der Apperzeptionstätigkeit selber und zwar die Zeitempfindungen
die Empfindung der reinen, die Raumempfindungen die Empfindung der mit
Muskelbewegungen (beim „Durchlaufen" der Sinnesempfindungen z. B. beim
384 Selbstanzeigen (Enriques — Reinhold).
Bewegen des Auges) verbundenen Apperzeption. Aus dieser Lösung werden
die Hauptfragen des Raum- und Zeitproblemes beantwortet.
4. Nach Feststellung des tatsächlichen Charakters der „Anschauungs-
fonnen" Raum und Zeit wird der Kantische Begriff der „Form der Anschauung"
endgültig in seiner systematischen Rolle, seiner inneren und äusseren Unhalt-
barkeit, aber auch seiner grossen historischen Bedeutung festgestellt.
5. Die nun sowohl sachlich als systematisch klargestellte Auflösung der
„reinen Anschauungsform" in ein stoffliches (Empfindungs-) und ein Form-
(Verstandes-) Element führt schliesslich die ursprüngliche und einfache Gleichung
Materie-Sinnlichkeit, Form-Verstand als einzig gerechtfertigte und überall gültige
Grundunterscheidung zur Gliederung des erkenntnistheoretischen Untersuchungs-
materiales in ihre Rechte zurück. Ein letzter Überblick zeigt unsere Unter-
suchung als ersten Teil einer vollständigen Theorie des Erkennens, deren zweiten
Teil, „Form und Materie des Erkennens in der transscendentalen Analytik", der
Verfasser in nicht allzulanger Zeit zu liefern hofft.
Paris. Felix Gross.
Enriqnes, Fed., Professor in Bologna. Probleme der Wissenschaft
übersetzt von K. Grelling. I. Teil: Wirklichkeit und Logik (S. 1-258). IL Teil:
Die Grundbegriffe der Wissenschaft (S. 259—580). Teubner, Leipzig-Berlin. 1910.
Cet ouvrage est con^u dans l'esprit de la philosophie kantienne inter-
pretee d'apres un point de vue psychologique et positif. L' A. voit chez Kant
moins une theorie de la connaissance, que l'on doive reproduire suivant des
formules arretees, qu'un programme de travail, une position de problemes
qu'il y a lieu de developper d'une fa^on nouvelles par une analyse plus pro-
fonde des principes et des concepts scientifiques.
Par cette analyse il s'attache d'abord ä critiquer l'a priori kantien, ä
eliminer de la science toute idee d'absolu, et ä definir le role de l'esprit par
rapport ä la construction scientifique. 11 en est amene ä considerer la logique
comme un Systeme d'operations psychologiques qui suivant certaines lois tenant
ä la structure de l'esprit, et ä ramener ä cet element ä priori, ä l'exclusion de
tout autre, la forme des axiomes de la Geometrie et de la Mecanique, dont il
fait ressortir d'autre part le contenu reel qu'ils renferment.
La critique de l'A. ne saurait s'arreter ä la formule de Kant que la possi-
bilite de l'experience confere une realite objective aux conditions ä priori de la
pensee. En effet cette formule suppose une experience typique rigoureuse qui ne
se trouve nulle part dans la Science. Par consequent il y a lieu de mettre en
question meme la realite objective de la logique. L'A. n'a pas difficulte d'adopter
une Vision heracliteenne du monde, et — puis qu'il ne saurait suivre Hegel
dans son renversement de la logique ordinaire - il en est amene ä considerer
le Probleme critique de la connaissance sous une lumiere nouvelle: il trouve
dans la logique quelque chose qui a une realite approximative. De ce fait il
en deduit des consequences metodologiques quant ä l'emploi de la deduction
dans les differentes branches de la Science.
On ne saurait rendre par un court resume les idees de l'A., qu'il fache
d'expliquer par de nombreux exemples empruntes aux sciences mathematiques,
physiques, chymiques, biologiques etc.
Les quelques mots qui precedent suffisent cependant ä faire ressortir le
but general de la recherche qui est essentiellement un essai nouveau pour
constituer une gnoseologie expliquant la formation et la valeur de la connaissance
scientifique.
Bologna. Federigo Enriques.
Reinhold, C. Ferd., Dr. Machs Erkenntnistheorie. Darstellung
und Kritik. Verlag Dr. Werner Klinkhardt. Leipzig. 1908. (215 S.)
Der erste Teil versucht eine möglichst authentische aber zusammenhängende
und systematische Darstellung der in Machs Schriften gelegentlich und zerstreut
auftretenden Philosophie mit besonderer Rücksicht auf das erkenntnistheoretische
Problem.
Selbstanzeigen (Falkenheim). 385
Die lediglich immanente Kritik des zweiten Teils sucht zu zeigen, dass
der Empfindungsmonismus (^Phänomenaiismus) auch in der Ausgestaltung, die
Mach ihm giebt als Grundlage einer Gesamtweltanschauung, nicht haltbar ist,
da es unmöglich ist, die von Mach ausserdem behaupteten funktionalen Be-
ziehungen der Empfindungen von jenem ersten Ansatz „es giebt nichts als
Empfindungen* aus verständlich oder begreiflich zu machen. Dieser Nachweis
wird durch logische und psychologische Überlegungen zu führen gesucht. Die
übrigen Anschauungen Machs werden gleichfalls einer kurzen kritischen Prüfung
unterzogen.
München. C. F. Reinhold.
Falkenheim, Hugo; Knno Fischer. System der Logik und Meta-
physik oder Wissenschaftslehre. 3. Auflage. Heidelberg. 1909. Heraus-
gegeben von Hugo Falkenheim.
Die vorliegende Logik Kuno Fischers ist die Neuauflage eines Werkes,
dessen erstes Erscheinen noch dem Jahre 1852 angehört und das in erweiterter
Bearbeitung 1865 veröffentlicht worden ist. Sein prinzipieller Standpunkt, der
in beiden Auflagen der gleiche blieb, ist der des Hegeischen Systems, wie
schon der Titel bezeugt; als wirksamste Vertretung der methodischen Grund-
gedanken Hegels auf logischem Gebiet hat es seinerzeit seinen Platz errungen,
und nicht zuletzt das zunehmende Bedürfnis der Gegenwart nach erneutem ein-
dringendem Verständnis dieser Gedankenwelt, inmitten des Vorherrschens ganz
anders gearteter philosophischer Interessen, reifte in dem Verfasser vor seinem
Tode der Entschluss zur Wiederherausgabe. Innerhalb dieser Gesamtriclitung
aber weist seine Stellungnahme einige für seine besondere Auffassung charak-
teristische Züge auf. Vor Allem fällt — nicht nur vom Gesichtspunkt der
„Kantstudien" aus, sondern nach der ausgesprochenen Intention Kuno Fischers —
die nachdrückliche Anknüpfung an Kant ins Gewicht. Gegenüber einer Inter-
pretation Hegels, die den transscendentalen Ausgangspunkt gänzlich beiseite Hess
und durch ihre einseitig ontologische Fassung der Kategorienlehre den Vorwurf
des Dogmatismus hervorrief, formuliert er seine systematische Grundanschauung
als „kritische Identitätsphilosophie". Er stellt die Kantische Erkenntnis von den
Kategorien als den erzeugenden Bedingungen aller Erfahrung an die Spitze und
entwickelt von hier aus lichtvoll die Gedankengänge, die über Fichte zu Hegels
absolutem Idealismus als folgerichtigem Abschluss führen. Sein Bestreben geht
recht eigentlich auf eine Durchführung der Logik, die sowohl der transscenden-
talen als der metaphysischen Geltung der Kategorien gerecht wird, sie einheitlich
als Funktionen des Denkens und als Grundbestimmungen des Weltprozesses
erfasst.
Damit verbindet sich ein weiterer Kerngedanke, der Fischers methodische
Erörterungen — auch in ihren polemischen Teilen — beherrscht: seine pro-
grammatische Hervorhebung der entscheidenden Bedeutung des Entwicklungs-
begriffs. Wie er ihn versteht, ist er ihm zunächst erwachsen aus der Einsicht
in den notwendigen inneren Zusammenhang der Kategorien, deren dialektische
Gliederung als „fortgesetzte Selbstbewegung des reinen Denkens" verstanden
werden will, aus dem Gegensatze der „Begriffsentwicklung" zur „Begriffs-
einteilung". Aber das Problem, das sich ihm ergiebt, ist ein umfassenderes,
er fordert eine universale „philosophische" Fassung des Entwicklungsbegriffs,
die übergreifend das Verhältnis der dialektischen Methode der Logik zur gene-
tischen Methode der empirischen Forschung bestimmen soll und erst in dieser
Gestalt ein erschöpfendes Prinzip des wissenschaftlichen Denkens werden kann.
Seine Logik giebt, wie der Schlusssatz betont, „das System des Begriffs der
Entwicklung und das Organon, um sie in der Natur der Dinge zu erkennen*.
Die Prüfung der Philosophie Hegels nach ihrem positiven Einflüsse auf die
^ geistige Arbeit des Jahrhunderts einerseits und ihren Schranken andererseits
p ivar es, die Fischer hier zu einer Weiterbildung ihrer theoretischen Ergebnisse
geführt hat; insbesondere ist auch die Erfahrung an seiner eigenen philosophischen
Lebensarbeit für diese Ausprägung seiner Überzeugungen mitbestimmend gewesen.
Mein Vorwort giebt über Entstehung und Tendenz des Buches eine kurze
Darlegung, wie sie der Billigung des verewigten Verfassers gewiss sein durfte.
3Ö6 Selbstanzeigen (Mühlethaler— Frost).
Wenigstens in letzterem Sinne tragen auch die vorstehenden Zeilen den Charakter
einer „Selbstanzeige".
München. Hugo Falkenheim.
Mühlethaler, Jacob, Dr. Die Mystik bei Schopenhauer. Alexander
Duncker Verlag, Berlin 1910. (259 S.)
Der erste Teil der Arbeit stellt auf Grund einer genauen Quellenkritik
und unter umfassender Berücksichtigung der Schopenhauerschen Original-Manu-
skripte fest, wie weit sich Schopenhauers Lektüre der mystischen Literatur des
Abendlandes erstreckte. In einem folgenden Kapitel ist dann in ein paar skizzen-
haften Gedankengängen des Verfassers Auffassung vom Wesen der Mystik ge-
zeichnet. Ein weiteres Kapitel behandelt das Selbsterkenntnisproblem, da ja
bekanntlich sozusagen alle mystischen Denker die Selbsterkenntnis als Grundlage
für eine weitere Welterkenntnis angesehen haben. Die dabei gestreiften seltsamen
Phänomene in der seelisch-geistigen Entwicklung einer Persönlichkeit, wie z. B.
das Ich-Ereignis, bilden durchaus noch psychologisches Neuland. Möchten doch
durch jene Hinweisungen weitere Kreise zur exakten Beobachtung und zum
Nachdenken über solche Dinge angeregt werden.
Schopenhauers persönliche Stellung zur Mystik ist durch direkte Aus-
sprüche dieses Philosophen, die zum grössten Teil bisher noch ungedruckt
waren und unmittelbar den Original-Manuskripten entstammen, belegt worden.
Auch die Mystiker liess der Verfasser möglichst selber zu Worte kommen, weil
er sich sagt: In der Mystik spielt wie in der lyrischen Poesie die Wortgetreuheit
eine Hauptrolle. Gedanklicher Inhalt und sprachlicher Ausdruck sind in ihrer
Zusammengehörigkeit die wesentlichsten Kennzeichen zum tiefern Verständnis
des geistigen Erlebens der einzelnen Mystiker.
Im letzten Kapitel, das an Umfang jedes andere weit übertrifft, werden
die grossen Probleme der Weltanschauung, die Erkenntnistheorie, Metaphysik
und Ethik betreffend, formuliert und die Schopenhauerschen Lösungsversuche
denen der Mystik gegenübergestellt. Dabei hat der Verfasser, wo immer es
tunlich war, durchblicken lassen, aus welcher Richtung er eine mögliche Lösung
glaubt erhoffen zu können.
Nebst einem bescheidenen Beitrag zur Weltanschauungsfrage überhaupt,
glauben wir in erster Linie ein paar neue Gesichtspunkte, die bisher zu wenig
gewürdigt worden sind, geliefert zu haben, sodass das Verständnis jener vor
genau fünfzig Jahren dahingeschiedenen einzigartigen Persönlichkeit dadurch
wesentlich gefördert werden kann.
Dass in unserer Schrift auch öfters auf Kant bezug genommen werden
musste, versteht sich ohne weiteres, ist doch Schopenhauer ohne Kant kaum
zu denken.
Basel. Jacob Mühlethaler.
Frost, Walter, Dr., Privatdozent. Naturphilosophie I. Bd. Verlag
von Barth in Leipzig. 1910. (306 S.)
Wie ist Naturphilosophie möglich? Es kann eine empirische Bearbeitung
gewisser Begriffe geben (z. B. des Begriffs der Kausalität), an denen die heutige
Naturwissenschaft vorübergeht. Sie geht an ihnen vorüber, weil sie ihnen nicht
mit Massbestimmungen beikommen kann oder weil sie noch nicht in allen
Richtungen zur Beschreibung der Natur die notwendigen Anstösse empfangen
hat. Ich habe versucht, vom Begriffe der Ursache den des Anlasses und den
der Wechselwirkung zu unterscheiden, indem ich diejenigen Tatsachen aufmerk-
sam betrachtete, auf die diese Begriffe angewandt werden. Es zeigte sich mir,
dass der Begriff der Ursache hauptsächlich auf Fälle angewandt wird, in denen
die Erscheinungen der Natur bereits einen hohen Entwicklungsgrad haben.
Hier gewinnt er seine Lebenskraft. Besitzt man ihn alsdann, so wird er in die
elementarsten Erscheinungen der Natur, nicht immer mit Glück, hineingeschoben.
Hier verliert er seinen konkreten Sinn und hier mussten die Schwierigkeiten
entstehen, die die Machianer veranlassten, ihn ganz zu verwerfen. Es wird
also notwendig, den Begriff der Ursache von dem des Gesamtzusammenhanges
der Natur zu trennen. Das propter hoc ist dann empirisch vom post hoc unter-
Selbstanzeigen (Pötschel). B87
scheidbar. — Auf ähnliche Art habe ich eine empirisch -naturphilosophische
Betrachtung an die Kategorien von Täter und Tun und von Form und Stoff
angeknüpft.
Daneben enthält mein Buch viele Untersuchungen über logische Probleme.
Ich glaube auf meine Theorie des Verhältnisses von Grund und Folge besonders
hinweisen zu dürfen. Was meinen erkenntnistheoretischen Grundstandpunkt an-
betrifft, so täte ich vielleicht am richtigsten, mich einen Positivisten zu nennen.
Am meisten einer freundlichen Beachtung empfehlen aber möchte ich
folgendes. Ich bin überzeugt, dass man mit der Zeit wird dahin gelangen
müssen, das menschliche Geistesleben, so gut es gehen will, auch nach bio-
logischen Gesichtspunkten zu betrachten. Es handelt sich dabei nicht um eine
dogmatisch-materialistische Weltanschauung, sondern um ein methodisches Prinzip.
Ich suche nun eine Synthese herzustellen zwischen diesem Prinzip der biolo-
gischen Betrachtungsweise und den überlieferten starren Begriffen und Systemen
der Logik. S. 204—207; 256-261.
Gegen den heutigen Zustand und Begriff der Erkenntnistheorie polemisiere
ich. Ich halte alle Erkenntnistheorie für eine, vielleicht unvermeidliche Philo-
sophie des Anscheins, für uneigentliclie Erkenntnis. Das heisst: gewisse Begriffe
und Worte treten dem Menschen zusammen vor Augen, und der Mensch kann
nicht umhin, irgend eine Art von vorläufiger Ordnung unter ihnen herzustellen.
Dies Zusammen von Begriffen hat aber keine innere Wahrheit in sich. (Kap. V
Abschn. 5—7.)
In meinem Buch ist viel von Kant die Rede. Es war dort aber nicht
der Ort, seine Tiefe, die ich bewundere, und seine Bedeutung zu würdigen;
ich polemisiere gegen seine erkenntnistheoretischen Gedankengänge. Einiges
suche ich auf meine Art zu verstehen und mir zurecht zu legen, z. B. seine
Lehre von Schema und Begriff.
Bonn. Walter Frost.
Pötschel, Walter. Jakob Sigesmund Beck und Kant. Diss.. Bres-
lauer Genossenschafts-Buchdruckerei, Breslau 1910. (50 S.)
Vier Hauptpunkte sind es, zu denen sich nach Ansicht des Verfassers
der angezeigten Arbeit die Schwierigkeiten der Kantischen theoretischen Philo-
sophie verdichten : das Verhältnis von formaler zu transscendentaler Logik, die
Lehre von der Anschauung, die Lehre vom Ding an sich und schliesslich der
spezifische Begriff der Wahrheit bei Kant. Wenn auch die drei ersten Fragen
nur verschiedene Seiten desselben zentralen Problems, des Wahrheitsbegriffs bei
Kant, darstellen, so sind sie es, in welchen sich das zentrale Problem am An-
gemessensten (systematisch und historisch) für uns in die Einzelheiten verfolgen
lässt, ohne dass die Kernfrage in ihrer Einheit gefährdet würde. In diesen an-
gegebenen Schwierigkeiten, welche eben die Antriebe zur Weiterentwicklung
der Kantischen Philosophie in sich enthalten, bildet Jakob Sigesmund Beck ein
wichtiges Zwischenglied zwischen Kant auf der einen und Fichte und Schelling
auf der andern Seite. Das Hervorgehen Fichtes aus Kant scheint so schwierig
zu fassen, dass es notwendig ist, die Brücken aufzusuchen, die über den Abgrund
zwischen der Kritik der reinen Vernunft und der Wissenschaftslehre hinüber-
führen. Reinhold, Maimon und Beck sind diese wichtigsten Brücken. Beck
selbst stellt zwar seine intime Beziehung zu Kant in den Vordergrund und
bemüht sich seine eigene „Standpunktslehre" nur als selbständige Formulierung
streng Kantischer Gedanken auszugeben, aber schon ist seine Standpunktslehre
in den Hauptpunkten so nahe an der Wissenschaftslehre, dass Beck von Fichte
selbst zur Einführung in die Wissenschaftslehre empfohlen wird.
Hinsichtlich der zuerst angeführten Frage, des Verhältnisses von formaler
zu transscendentaler Logik, steht Beck im Gegensatz zu Kant. Die reine formale
l ogik untersteht wie die Mathematik und die Naturwissenschaft in gleichem
inne der transscendentalen Frage. Dementsprechend wird die formale Logik
d einer sekundären, abstrahierten Disziplin. Damit beteiligt sich Beck an der
Jegradierung der formalen Logik, die bei dem späteren Fichte und bei Schelling
schliesslich nur noch als Annex der empirischen Psychologie geführt wird.
Kantstudleu XV, 25
388 Selbstanzeigen (Alberti).
Ein bedeutender Schritt Becks in der Vereinheitlichung und zugleich
idealistischen Weiterbildung der Kantischen Philosophie bildet die Kategoriesierung
der Anschauung. An die Stelle der Anschauung als Form des Gegebenen tritt
eine ursprüngliche Synthesis, die in demselben Sinne wie die Kantischen Kate-
gorien sich an der Erzeugung des Objektes beteiligt. Damit beginnt sogar die
Anschauung in ihrem produktiven, konstruktiven Charakter in das Zentrum der
idealistischen Objektserzeugung zu treten. Diese Rolle der Anschauung erreicht
bei Schelling ihren Höhepunkt, und erst bei Hegel wird sie zurückgedrängt,
übrigens aus denselben Motiven wie in der Gegenwart in Hermann Cohens
.Logik der reinen Erkenntnis". Bei beiden Philosophen führt nämlich die Ana-
lyse des geometrischen Beweises zur Trennung der begrifflichen und anschau-
lichen Elemente. Dabei wird im Gegensatz zum Begrifflichen dem Anschaulichen
der Charakter der Notwendigkeit, die Beweiskraft, abgesprochen, und die An-
schauung (Konstruktion) als selbständige objektserzeugende Methode fallen
gelassen.
In der Lehre vom Ding an sich wendet sich Beck ebenfalls gegen jede
Gegebenheitsvorstellung, ohne aber sein Postulat der ursprünglichen Synthesis
zu einer befriedigenden Deduktion des Stoffes zu verwenden. Die Erfüllung des
idealistischen Programms, „das ganze Ding vor den Augen des Denkers ent-
stehen zu lassen". (Fichte, Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre) überlässt
Beck auch hier Fichte.
Kant will in seinem Erkenntnisbegriff die Forderungen der Gewissheit
und der Wirklichkeit befriedigen. Im Begriffe der Möglichkeit der Erfahrung
findet dieses doppelte Bestreben seinen Ausdruck. Der ontologischen Möglichkeit
wird die mathematisch-naturwissenschaftliche entgegengestellt. Beck steht hier
mit seiner gleichen Behandlung von Mathematik und Naturwissenschaft ganz auf
Kants Seiten. Neben der Einschränkung der kategorialen Synthesen auf die
Erfahrung steht nun aber das Interesse an der Ursprünglichkeit und Reinheit
dieser Synthesen als Tathandlungen des Bewusstseins. Das idealistische Interesse
beginnt den Erkenntnisbegriff im ontologischen Sinne zu erweitern. Aber erst
bei Fichte treten an die Stelle der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung
die Bedingungen des Selbstbewusstseins.
Die Beziehungen Becks zu den ersten Weiterbildnern der Kantischen
Philosophie sowie wichtige Analogien zur Entwicklung des Neukantianismus
konnten wegen ihrer weitreichenden Verzweigung nur gestreift werden, und es
war nötig, zunächst das Thema „Jakob Sigismund Beck und Kanf gesondert zu
behandeln.
Breslau. W. Pötschel.
Alberti, Herbert, Dr. Die Grundlagen des Systems Spinozas
im Lichte der Kritischen Philosophie und der modernen Mathe-
matik. Borna-Leipzig, Robert Noske, 1910. (81 S.).
Die Arbeit sucht einen Beitrag zur adäquaten Beurteilung Spinozas zu
liefern. Angeregt durch eine Prüfungsarbeit über die Methode Spinozas, deren
Thema der ehem. Leipziger Professor Dr. Heinze gestellt hatte, forschte der
Verfasser nach einer tieferen Einsicht, welche nur durch eine Grundbeziehung zu
Kant geliefert werden konnte. Es ergab sich, dass die Transscendentalphilosophie
den Weg zum richtigen Verständnis Spinozas weisen muss.
Da nun in der geometrischen Methode das Wesen des Spinozismus er-
kannt werden soll, wird zunächst über den Begriff der „Freien Mathematik"
referiert, als einer reinen Vernunftwissenschaft „der geordneten schöpferischen
Verknüpfung und Trennung". Jedes systematische Wissen bedarf ihrer zur
Grundlegung, also auch die Erfahrung. Aber Kant und in modifizierter Weise
die moderne Transscendentalphilosophie halten die Euklidische Geometrie für
grundstiftend. Demgegenüber wird hier die transscendentale Gleichwertigkeit
aller möglichen Geometrien erwiesen, nicht auf Grund eines ,Ding-an-sich-Dog-
matismus', sondern unter Aufdeckung jenes unendlich vielfachen Zwiespaltes in
unserer Erfahrung, welcher sich nur im „Endlichen" asymptotisch der Möglich-
Selbstanzeigen (Lowtzky) 389
keit einer eindeutigen Natur nähert, wie sie Kant und die ihm sich anschliessen-
den neueren Philosophen als Erfahrung der .Euklidischen Wesen" gelehrt haben.
Spinozas System liegt eine Erkenntnistheorie zu gründe, welche diese
Theorie über das Wesen der Mathematik und Erfahrung implicite vorausnimmt.
Wie die Geometrie die Mathematik der gegenständlichen Erfahrung ist, so tritt
Spinozas System mit den Ansprüche auf, die Mathematik der wahren Erfahrung
zu sein. Mit Hülfe dieser These werden im Weiteren die Grundlagen (Definitionen)
und der Grundbau des Systems einer Revision unterzogen und dabei besonders
der Attributbegriff, sowie der scheinbare Zwiespalt zwischen den Modi infiniti
und finiti behandelt.
Eine besondere Färbung erhält die Arbeit durch ihre Einkleidung in eine
ausführlichere Stellungnahme zu dem Werke Erhardts .Die Philosophie Spinozas
im Lichte der Kritik", Leipzig 1908.
Zwickau. H. Alberti.
Lowtzky, Fanny. Dr. .Studien zur Erkenntnistheorie" (Rickerts Lehre
über die logische Struktur der Naturwissenschaft und Geschichte). Borna-Leipzig
1910. (156 S.i
Als Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie, welcher Rickerts Anschauungen
iiber die Natur- und Geschichtswissenschaften bestimmt, dient für Rickert die
Überzeugung, dass die Wirklichkeit absolut irrationell ist. Wir können die
Wirklichkeit unmittelbar erleben, aber wissen können wir nichts von ihr. Alles,
was Wissen genannt wird, kann auf vollständig autonome Urteile in Bezug auf
die Wirklichkeit zurückgeführt werden, diese Urteile aber sagen von der Wirk-
lichkeit selbst nichts aus. Dementsprechend geben uns die zwei Hauptzweige
der Wissenschaft, die Natur- und die Geschichtswissenschaften, gar kein Wissen
von der Wirklichkeit: die Wirklichkeit existiert an und für sich, so wie auch
die Wissenschaften an und für sich existieren. Der Begriff der Wahrheit ist aus
demselben Grund vollständig autonom und beruht nicht auf dem Begriff des
Wirklichen. Im Gegenteil: begrifflich geht der erstere Begriff dem letzteren
voraus. Die Wahrheit ist ein selbständiger menschlicher Wert, wie das Gute
oder das Schöne. Wer nach diesem Wert strebt, kann in seinen Besitz gelangen,
wenn er sich gewissen Normen unterwirft. Man würde aber in einem grossen
Irrtum befangen sein, wenn man glauben wollte, es gelänge durch die Annahme
dieser Normen tiefer in die Wirklichkeit einzudringen. Das Einzige, was man
erzielen kann, ist das Recht zu der Behauptung, dass man seine höchste sittliche
Pflicht erfüllt hat. Rickert zeigt einen Weg in die Wirklichkeit einzudringen:
man soll möglichst viel von ihr erleben. Zwar wird man dabei in der Wirklich-
keit keine strenge Ordnung und Gesetzmässigkeit finden, im Gegenteil: man
wird immer mehr und mehr über die Ungesetzmässigkeit und Unordnung er-
staunen müssen.
Das sind Rickerts Grundideen, kurz zusammengefasst. Für uns steht es
ausser Zweifel, dass diese Ideen mit dem Namen Skeptizismus zu bezeichnen
sind. Man kann nicht zugeben, dass unsere Urteile vollständig autonom sind.
Wenn die Wirklichkeit nur auf dem Wege der unmittelbaren Erlebnisse erkannt
werden könnte, die heutzutage existierende Wissenschaft dagegen uns blosse
Schemen gäbe, so müsste ein Philosoph, der vor die Alternative gestellt würde,
diesen oder jenen Weg zu wählen, dem ersteren den Vorzug geben.
Rickerts Berufung auf Kant ist unberechtigt. Kants Satz, dass der Ver-
stand der Natur die Gesetze vorschreibt, berechtigt nicht zu einem teleologischen
Standpunkt.
Coppet. F. Lowtzky.
2i
*
390 Mitteilungen.
Mitteilungen.
Eine neue Ausgabe der Kr. d. r. V. ^)
Der Insel-Verlag zu Leipzig bereitet für das Jahr 1911 eine von Dr.
F. Ohmann in Bonn zu besorgende Neuausgabe der „Kritik der reinen Vernunft'
vor. Es wird ein diplomatischer Abdruck der ersten Auflage, unter Ausmerzung
der offenkundigen Druckfehler, gegeben werden, in einem Ergänzungsband die
Abweichungen der zweiten Auflage und textkritische Anmerkungen. Die Aus-
gabe, deren Auflage beschränkt sein wird, soll auch in der äusseren Ausstattung
ein möglichst getreues Bild des Originals bieten.
1) Auf Wunsch des Inselverlags bringen wir vorstehende Voranzeige, der
s. Z. eine ausführlichere Selbstanzeige des Herrn Herausgebers folgen wird.
D. Red.
Erklärung.
Dass ich Sprangers Aufsatz ,W. von Humboldt und Kant" nicht benutzt
habe (vgl. seine Besprechung meiner Schrift über W. von H.s Sprachphilosophie
hier XIV, 286 f.), erklärt sich einmal daraus, dass ich, als das betreffende Heft
der Kantstudien (XIII, 1) ausgegeben wurde (25.3.08), mich nach Neuerscheinungen
nicht mehr umsah: meine Arbeit ist am 6. 6. 08 an den Herausgeber des Arch.
f. d. ges. Psych, abgegangen. Sp.s Abhandlung Hist. Zschr. 100 wird nicht
vor seiner eben genannten erschienen sein. Gedruckt ist mein Heft Ende
Sept. 08, von Spr.s Buche erfuhr ich nicht vor Ende Okt.
Überhaupt aber hat mir eine historische Aufarbeitung vollkommen fern-
gelegen. Ich habe hauptsächlich für die geschrieben, die zu wissen begehren,
wie H. die sprachlichen Tatsachen angefasst, und wie weit er auf
ihrer Grundlage seine Theorien entwickelt hat. (Für sie ist auch der
Sonderabdruck gemacht worden, da ihnen das Archiv vielfach nicht zur Hand
ist.) Mein erster Satz heisst: „Wilhelm von Humboldts Sprachphilosophie
beruht in weiterem Umfange auf der Beurteilung von Tatsachen, als man gemein-
hin anzunehmen pflegt". Weiterhin habe ich die tatsächlichen Grundlagen nicht
bloss nach Möglichkeit hervorgezogen, sondern hier und da als solche bezeichnet
(z. B. S. 14 = Archiv 13, 154 u. S. 23 = 163), und ich bin bei Besprechung
der Methode (S. 45 = 185 ff) noch einmal nachdrücklich auf die klarbewusste
Induktion bei H. zurückgekommen. Also, es war mein Bestreben, H.s Studien
in einer konzentrierten und übersichtlichen Darstellung — auch mit geflissent-
licher, wenn gleich nicht ausgesprochener Betonung des für die heutige Arbeit
Wesentlichen — dem modernen Tatsachenforscher vorzuführen, damit er eine
Orientierung finde, sei es für sein Urteil, dem ich absichtlich nicht vorgreife, sei
es für weiteres Fragen an H.s Werke selbst. Von diesem Standpunkte aus hat
sich mir auch notwendig meine Disposition ergeben. Schliesslich habe ich am
Ende meiner Arbeit in aller Kürze einige Dinge zusammengestellt, die — teils
heute weitgehend aufgeklärt, teils vielseitigster Bearbeitung noch harrend — als
Tatsachen die Gegenwart interessieren. Hier hat meine Arbeit ihren
Lebensnerv. Das „rein Philosophische" dagegen habe ich nur kurz und prägnant
behandelt, soweit es zur Aufklärung von H.s Theorien für den heutigen Sprach-
forscher dienen kann und soweit es mich nicht zu sehr von meinem Wege
entfernte; ich verwende dazu den 7. Teil meiner Arbeit, etwa 7 Seiten — genau
soviel wie zur Erörterung der Methode, i)
^) Selbstverständlich werde ich aber jederzeit eine Ergänzung dazu, nament-
lich wenn sie zu dem bemerkten Zwecke nützt, dankbar aufnehmen.
Mitteilungen. 391
Ich kann übrigens jederzeit nachweisen, dass ich dem, der über sprach-
liche Probleme heute irgend nachdenken will, manches biete, was er bei Haym
(den ich keineswegs geringschätze) nicht findet (so u. a. über Agglutination,
Einverieibung, Sprachcharakter, Sprachidcal).
Leipzig, 16. Okt. 09. Moritz Scheinert.
Entgegnung.
Es ist mir angenehm, über die eigentliche Absicht der Publikation des
Herrn Scheinert hier etwas Näheres zu hören. Historische Zwecke also
verfolgt der Verfasser nicht; dann wundert es mich, dass er über Humboldt
schreibt. Er wendet sich doch an die, die zu wissen begehren, wie Humboldt
die sprachlichen Tatsachen angefasst hat. Dass der Verfasser in Wahrheit auf
seinen 55 Seiten nicht auf die Tatsachen einzugehen vermag, auf denen
Humboldts Sprachphilosophie beruht, habe ich ihm verständigerweise nicht übel
genommen. Er behandelt durchaus die Sprachphilosophie (vgl. Titel); diese
aber in den wichtigen Punkten unzulänglich. Ich weiss' sehr wohl, dass Herr
Scheinert meine Untersuchungen noch nicht benutzen konnte; aber ich habe auf
sie verwiesen, um zu belegen, dass mein Urteil auf eigner Sachkenntnis beruht.
Charlottenburg. Eduard Spranger.
IV. Internationaler Kongress für Philosophie.
Unter dem hohen Patronate S. M. des Königs von Italien.
Bologna, März-April 1911.
Nach dem Heidelberger Beschluss vom September 1908 wird sich der
IV., unter dem hohen Patronate S. M. des Königs von Italien stehende. Inter-
nationale Kongress für Philosophie während der Osterfeiertage 1911 in Bologna
versammeln. Der Unterzeichnete, welcher mit der Vorbereitung dieses Kon-
gresses beauftragt wurde, richtet die Einladung zur Teilnahme an alle, die sich
für die philosophischen Probleme interessieren, so dass die verschiedensten Ge-
dankenrichtungen sich dort vertreten werden und einer freien und fruchtbaren
Diskussion nichts im Wege steht. Die Tätigkeit des Kongresses wird sich in
allgemeinen Sitzungen entwickeln, denen man, durch Einladung einiger hervor-
ragenden Vertreter der Wissenschaft, mehr Ausdehnung wie vorher geben will,
und in Sektionssitzungen. Die allgemeinen Sitzungen werden zu Vorträgen und
Diskussionen verwendet, deren vorläufiges Programm hier angedeutet ist: Vor-
träge von S. Arrhenius, G. Barzellotti, E. Boutroux, R. Eucken, P. Langevin,
W. Ostwald, H. Poincare, A. Riehl, F. C. S. Schiller, H. v. Seeliger, G. F. Stout,
F. Tocco, W. Windelband. Diskussion über „La täche actuelle de la Philosophie
generale" von H. Bergson. Erwiderung von A. Chiappelli. Diskussion über
„Les jugements de valeur et les jugements de realite" von E. Durkheim. Die
Sektionen werden die folgenden sein: 1. Allgemeine Philosophie und Metaphysik.
2. Geschichte der Philosophie. 3. Logik und Wissenschaftstheorie. 4. Moral.
5. Religionsphilosophie. 6. Rechtsphilosophie. 7. Ästhetik und Kritikmethodik.
8. Psychologie. Die Mitteilungen für den Kongress müssen vor dem 1. Januar
1911 an das Sekretariat (Bologna, Piazza Calderini 2) gesandt werden, damit
die Einführenden der Sektionen deren Zulassung beurteilen und für den Druck
und die voriäufige Verteilung an die Mitglieder des Kongresses sorgen, so dass
die Diskussionen rascher und vorteilhafter von Statten gehen können. Mit-
teilungen, so wie Diskussionen erfolgen in den vier Sprachen: Deutsch, Englisch,
Französisch, Italienisch. Die Einschreibegebühr beträgt 25 Franken.
Bologna. F. Enriques.
Wir bringen die vorstehende Einladung gerne zum Abdruck. Auf dem
ongresse, an dem jeder philosophisch Interessierte teilnehmen kann, wird vor-
jssichtlich auch die Kant-Gesellschaft vertreten sein. Mitglieder und Freunde
nserer Gesellschaft dürften sich also aller Voraussicht nach leicht auch auf
diesem nächsten Kongresse zusammenfinden hönnen. Die Red.
392 Mitteilungen.
Karl Gebert f-
Ende Mai laufenden Jahres setzte der Tod einem einsamen Philosophen-
leben ein Ziel, dem des Münchener Privatgelehrten Dr. phil. Karl Gebert aus
Löffingen in Baden, der in Meran, im 50. Lebensjahre stehend, einem Herz-
leiden erlag.
Gebert hatte bei Windelband in Strassburg mit einer Schrift über die Theorie
vom Existenzialsatze; später wandte er sich der Kantischen Philosophie zu und
zählte zu den altern Mitgliedern der Kantgesellschaft; den Lesern dieser Blätter
dürfte eine Abhandlung Bruno Bauchs,^) welche sich eingehend auch mit der
Broschüre Geberts ,Der Katholizismus und die Entwicklung des Geisteslebens"
(Lampart, Augsburg 1905) beschäftigte, erinnerlich sein. Von schwächlicher
Konstitution, brachte Gebert das Opfer seiner Gesundheit dem heissen Bemühen
um die Synthese der ihm von Jugend an teuren katholischen Religion und Welt-
anschauung mit dem Kantianismus, für dessen ethisches Ideal er glühende Be-
geisterung hegte. Selbst mit grosser kritischer Schärfe begabt, führte er mittels
zahlreicher Abhandlungen in wissenschaftlichen Zeitschriften (XX. Jahrhundert,
Beilage zur Münchener Allgemeinen Zeitung und Beilage der Münch. Neuest.
Nachrichten, Deutscher Merkur, Zeitschr. f. Religion und Geisteskultur u. a.)
unentwegt den Kampf nach verschiedenen Fronten, gegen Monismus, Rationalismus
und überspannten Nietzscheanismus einerseits und gegen den ihm unchristlich,
unsittlich und kulturfeindlich erscheinenden Ultramontanismus andererseits.
Die Religion ist ihm ein durch die mystische Grundanlage des Menschen
ermöglichtes inneres Erlebnis; die kirchliche Ausdeutung desselben durch
Dogmen erschien ihm lediglich als ein Derivat, als ein Sekundäres. (Hierin
berührte sich seine Auffassung mit der der Neukantischen Schule in Frankreich,
mit der eines Blondel, Le Roy u. a.) Die kirchliche Autorität ist ihm eine,
„zum religiösen Leben und Denken lediglich anregende, der Innern geistigen
Verarbeitung aber völlige Freiheit belastende, die das Handeln aus religiöser
Gesinnung heraus möglich sein lässt." Die Kirche ist lediglich ein Institut, das
sich „die Pflege religiös-sittlichen Lebens und die Anleitung anderer hierzu zur
Aufgabe macht", also nicht eine Anstalt, von welcher irgend welcher geistige
Zwang auszugehen hat, sondern eine Anstalt im Reiche dienender Liebe, wo
der Höchste der Diener aller ist. In dem mystisch veranlagten Innern nun
liegen die unzerstörbaren Wurzeln der Religion; im Gefühl erlebt der Mensch
die Einheit mit dem unendlichen All, mit der Gottheit; doch muss es, soll es
nicht lediglich wertlose quietistische Schwärmerei und Beschauung zeitigen,
sondern vielmehr auf den Höhen der Kultur sich rechtfertigen, im sittlich
religiösen Bewusstsein verankert werden. Dadurch erst wird die wahre An-
näherung an jenes Ideal der mit voller innern Freiheit ausgestatteten Persönlichkeit
erreicht, das der Stifter der christlichen Religion den Menschen vorgelebt,
Immanuel Kant aber durch seine Begründung der ethischen Autonomie ihnen
zurückerobert hat.
V. Liel, Mitglied der Kantgesellschaft.
1) Kant in neuer ultramontan- und liberal-katholischen Beleuchtung (Bd. XIII,
S. 32 ff.).
Kantgesellschaft.
A. \eneingetreteue JahresmlttjUeder für das Jahr 1910.
Lic. Dr. Boelcke, Dresden-Blasewitz, Deutsche Kaiserallee 39.
Nicolai Boldyreff, St. Petersburja:, Krestowski ostrow, Morskoi prospekt 1.
Stud. litt, class. D. E. Bosselaar jr., lUrecht, Bleyenburgkade 41.
Professor Dr. Jonas Cohn, Freiburg i. ß., Talstrasse 62.
Dr. Hans Ehren berg, Heidelberg, Anlage 49.
Oberlehrer Arthur Ely, Stettin, Wilhelmstrasse 23.
Dr. Enno Enkelstroth, Ammendorf bei Halle a. S., Schachtstrasse 3.
Dr. Hugo Falkenheim, München, Franz Josefstrasse 15.
Dr. phil. Feyer, am Realgymnasium in Chemnitz.
A. Gerhardt, Pfarrer in Altsorge bei Driesen.
Fräulein M. Hellin, Wisch (Vogesen).
Privatdozent Dr. Günther Jacoby, Greifswald; vom 15. Sept. an: Research-
Fellow in philosophy at Harvard-Uni versity, Cambridge (Mass.)U. S. A.
Bernhard Ihringer, Karlsruhe i. B., Kriegsstrasse 137.
Major a. D. L. Kade, Coburg, Brückenallee.
Dr. phil. Hans Keller, Chemnitz— Altendorf, Weststrasse 110.
Dr. Gerhai'dt Kip, Neuenhaus in Hannover.
Prof. Dr. Leers, Eisleben.
Privatdozent Dr. Paul Linke, Jena, Westendstrasse 2a.
Oberstabsarzt Dr. Lippelt, Braunschweig, Theaterwall 18.
Professor Dr. Anton Marty, an der Deutschen Universität in Prag II,
Mariengasse 35.
Cand.ling. Orient. Emil Mauring, St. Petersburg, BolschajaPuschkarskaja 58a,
Dr. Alfred Menzel, Kiel, Beselerallee 68.
Privatgelehrter Dr. phil. Wilhelm Metzger, Freiburg i. B., Sedanstrasse 12.
Dr. med. et phil. Georg Moskiewicz, Breslau, Charlottenstrasse 12.
Dr. phil. Berta Mugdan, Breslau, Kaiser Wilhelmstrasse 39.
Realgymnasialdirektor Prof. Dr. Nath, Pankow bei Berlin.
Dr. Fr. Ohm an n, Bonn, Kurfürstenstrasse 55.
Bankdirektor Freiherr v. Pechmann, München, Bayrische Handelsbank,
• Maffeistrasse.
Professor Dr. Igino Petrone, Neapel, R. Universitä.
Professor Dr. H. Planer, Arnstadt i. Thür., Gehrenerstrasse IIa.
Dr. Swetomir Ristitsch, Belgrad, Popa Luka Strasse 25.
Dr. M. Rubinstein, Moskau, Powarskaja, Trubnikowsky 36, Wohnung 4.
Dr. Arnold Rüge, Heidelberg, Obere Neckarstrasse 13.
Hauptmann a. D. Dr. jur. Schnell, Berlin NW 52, Rathenowerstrasse 2.
Sanitätsrat Dr. Seiffart, Nordhausen a. Harz.
Dr. Fritz Taubert, Oberarzt an der Prov. Heilanstalt Lauenburg, Pommern.
Prof. Dr. Karl Vorländer, Solingen.
Professor Dr. K. Weidel, am Kloster U. L. Fr. zu Magdeburg.
Dr. Heinrich Wiegershausen, Bendorf a. Rh., Hauptstrasse 76.
Stadtbibliothek Aachen.
Lyceum Hoseanum, Braunsberg i. Ostpr.
Bibliothek des Philosophischen Seminars der Universität Breslau. (Adresse:
Kgl. Seminaraufseher Wolter).
Bibliothek des Evangelisch-theologischen Seminars (Stift) in Tübingen.
t Dr. Hugo Bergmann, Beamter der k. k. Universitätsbibliothek, Prag VII,
Baumgarten 102.
Dr. W. Bieganski, Primärarzt am allgemeinen Krankenhaus, Czenstochau
(Russ. Polen), Teatralnaja 32.
394 Kantgesellschaft.
Privatdozent Dr. Max Brahn, Leipzig, Waldstrasse 56.
Professor ßenedetto Croce, Senatore del Regno, Neapel, Via Atri 23.
Professor Dr. Franz Erhard t, Universität Rostock, Lloydstrasse 9.
August J. Giss, Boulder, Colorado U. S. A.
Rechtsanwalt Willi Goldberg, Charlottenburg 4, Waitzstrasse 32
Privatdozent Dr. Heinrich Gomperz, Wien XII, Grünbergstrasse .25.
Rechtsanwalt Dr, Richard Grasshoff, Berlin W. 57, Bülowstrasse 21.
Dr. P. Haeberlin, Privatdozent a. d. Universität Basel, Binningen b. Basel
(Schweiz).
Privatdozent Dr. phil. u. jur. Emil Ha mm acher, Bonn, Koenigstrasse 34.
Frau Eduard von Hartmann, Berlin W., Würzburgerstrasse 12.
Privatdozent Dr. Nicolai Hart mann, Marburg a.Lahn, Ockershäuser Allee 13.
Dr. Heinz Heimsoeth, Marburg a. L., Lutherstrasse 6.
Direktor Siegfried Hirschberg, München, Herzogspitalstrasse 14.
Rechtsanwalt Dr. G. Hollander, Berlin, Monbijouplatz 4.
Geheimer Schulrat Hermann Jaeger, Offenbach a. M.
Justizrat Siegfried K a t z , Rechtsanwalt u.Notar, Charlottenburg, Leibnizstr.60.
Direktor Max Kern, in Fa. Gebr. Hüff er, Lodz (Russland), Wölczanska243.
Oberlehrer Kurt Kesseler, Thorn.
Hermann Graf von Keyserling, Rayküll bei Rappel (Estland).
Kgl. Provinzialschulrat Professor L a m b e c k , Berlin W. 30, Eisenacherstr. 2L
Schriftsteller Samuel Lublinski, Weimar, Amalienstr. 29.
Dr. J. G. Meyer, Finkenau bei Coburg.
Privatier Josef Müller, Lodz, Ziegelstr. 87.
Dr. med. Robert Müller heim, Berlin W., Burggraf enstrasse 6.
Fabrikdirektor Richard Pinthus, i. Fa. Albert Fabian, Berlin W., Kur-
fürstenstrasse 110.
Kaufmann Alfred Pippel, Lodz, Nawrot No. 2.
Geheimer Regierungsrat Prof. Dr. Johannes R e h m k e , Universität Greifs wald.
Stadt- u. Kreisschulinspektor Dr. Arnold Reimann, Berlin W. 57, Winter-
feldstrasse 25.
Dr. Karl von Roretz, Assistent der k. k. Hofbibliothek, Wien 111/2,
Marxergasse 17.
Pfarrer O. Säur hier, Hohenebra bei Sondershausen.
Dr. Ferdinand Jakob Schmidt, Direktor der Margaretenschule, Berlin 0. 27,
Ifflandstrasse 11.
Professor Dr. Richard von Schubert-Soldern, Görz, Corso F. G. 89.
Professor Dr. Gerhard von Schulze Gaevernitz, Freiburg i. B., Schwaig-
hofstrasse 9.
Dr. Wilhelm Sesemann, Marburg a. L., Am Roten Berge 26.
Dr. Wladyslaw Tatarkiew icz, Warschau, Wiejska 17.
Professor Frank Thilly, Ithaka, New-York, Comell University.
Schulrat Robert W a e b e r , Schmargendorf b. Berlin, Marienbaderstrasse 1 — 2
Loge Victoria in Berlin (Vertreter: Sanitätsrat Dr. Paul Rosenberg, Berlin
Kurfürstendamm 219).
B. Nenangemeldete Mitglieder fttr das Jabr 1911.
Dr. A. Brotherus, Helsingfors, Fabrikstrasse.
Dr. Rudolf Eis 1er, Wien IT, Schütteis trasse 19a.
Kgl. Universitätsbibliothek Erlangen (Oberbibliothekar Dr. Zucker).
Biblioteca Filosofica, Florenz, Piazza Donatello 5 (Direttore: E. Amendola).
Professor Dr. Karl Joel, Universität Basel.
Dr. M. Kronenberg, Berlin W., Margaretenstrasse 13.
Professor Dr. Hugo Spitzer, Graz, Richard Wagner-Gasse 27.
Oberlehrer Dr. Paul Wüst, Düsseldorf -Grafenberg, Burgmüllerstrasse 23.
Fünftes Preisausschreiben der „Kantgeselisciiaft".
Durch die verständnisvolle Munifizenz mehrerer Freunde der
„Kantgesellschaft" ist diese in den Stand gesetzt, wiederum ein
neues Preisausschreiben zu erlassen, zu welchem Herr Geheimer
Regierungsrat Professor Dr. J. Imelmann in Berlin den ersten
Preis von 1500 M. gestiftet hat. Zur Gewährung eines zweiten
Preises von 1000 M., sowie zur Deckung der Kosten haben ausser-
dem folgende Mitglieder der Kantgesellschaft beigesteuert: Herr
Stadtrat a. D. Professor Dr. Walter Simon in Königsberg i. Pr.,
Ehrenbürger letzterer Stadt und Ehrenmitglied der Kantgesellschaft,
Herr Arthur von Gwinner, Direktor der Deutschen Bank in
Berlin, Herr Dr. Ludwig Jaffe in Berlin, Herr Dr. jur. Robert
Faber, Verlagsbuchhändler in Magdeburg, Herr Direktor Professor
Dr. Edmund von Lippmann in Halle a. S., Herr Hans Prager
in Wien.
Das Thema dieses fünften Preisausschreibens lautet:
Kantft Betriff der Wahrheit und seine Bedeutiin^j
für die erkeuntnistheoretischen Fritgen der Gegenwart,
Das Prohlem dm' Wahrheit, die Frage nach dem hihalt
und Wert des Wahrheitshegriffes, sowie ev. nach seinen ver-
schiedenen Arten ist in den letzten Jahren stark in den
Vordergrund des philosophischen Interesses getreten, sowohl
in Deutschland als im Ausland. Es ist daher an der Zeit,
Kants Begriff der Wahrheit neu zu iintersiiche^i oder viel-
mehr übei'haupt erst zu untei'suchen ; de7in dieser Begriff
ist weder in den grösseren Werken über Ka?it eingehend
396 Kantgesellschaft.
genug erörtert worden, noch gibt es bis jetzt über ihn eine
eigene Monographie. Es bedarf daher einer., aus den ersten
Quellen geschöpften, gründlichen und umfassenden Unter-
suchung darüber, welche Rolle dieser Begriff in Kants
Philosophie spiele. Eine notwendige Vorarbeit hierzu ist
eine möglichst vollständige Sammlung, Sichtung, und Fe?'-
gleichung aller Stellen, in ivelchen Kant den Begriff der
Wahrheit (und verwafidte Begriffe) verwendet. Doch würde
eine solche äusserliche Aufzählung allein nicht zum Ziele
führen', es erhebt sich vielmehr die wichtige Frage, ob niclit
Kant durch die innere Konsequenz seines Kritizismus zu
einem neuen Wahrheitsbegriff getrieben worden sei, ohne zu
dessen ausdrücklicher Formulierung zu gelangen. Es muss
auch untersucht werden, ob Kants Wahrheitsbegriff, wie er
in der Kritik der reinen Vernunft enthalten ist, überhaupt ein
einheitlicher ist, ferner ob er in den späteren Schriften fest-
gehalten oder ettua erweitert wird. Indem Kants Wahrheits-
begriff mit den Hauptbegriffen seiner Lehre in organische Ver-
bindung gebracht iverden soll, ist die ganze Kantische Erkennt-
nistheorie an diesem Begriff, so zu sagen, neu aufzureihen.
Diese historische Untersuchung soll die Grundlage bilden
für die kritische Prüfung des Kantischen Wahrheitsbegriffes,
und diese kritische Untersuchung seines Wertes für uns
Heutige wird von selbst dazu führen, den Wahrheitsbegriff
in den modernen erkenntnistheoretischen Richtungen zu ver-
folgen und mit demjenigen Kants kritisch zu vergleichen.
Die bedeutenderen erkemitnistheoretischen Strömungen
Deutschkmds und des Auslandes sollen in Bezug auf ihre?i
Walivheitsbegriff geprüft werden. Es sollen dabei sowohl die-
jenigeyi neueren Untersuchungen des Begriffes der Wahrheit
berücksichtigt werden, ivelche sich auf das natunvissen-
schaftliche und das historische Erkennen beziehen, als die-
jenigen, welche die metaphysischen Begriffe und die religiösen
Vorstellungen betreffen. Dabei wird die Erörterung der
Kantgesellschaft. 397
Frage, welche Bedeutung die Kantische Philosophie und ihr
Wahrheitshegriff für unsere heutige Prohlemlage auf diesen
Gebieten haben kann, den natürlichen Ähschluss der ganzen
Untersuchung bilden, deren Hauptresidtate zuletzt in kurzen
These7i zusammengefasst we^'den sollen. Auch wenn ein
Bearbeiter zu dem Rcsidtat gelangen sollte, dass Kants
Wahrheiisbcgriß heute nicht mehr genügt, sondern umzubilden
oder durch einen anderen zu ersetzen sei, soll dies kein
Hinderniss dei' Prämiierung bilden, da nur der rein
wissejischaftliche Wert der Arbeit entscheidend sein wird.
Für die Bewerbung an diesem Preisausschreiben
gelten folgende Bestimmungen:
1. Die BeAverbiingsschriften sind an das „Kuratorium der Univer-
sität Halle a. S." einzusenden.
2. Die Ablieferungsfrift läuft bis zum 22. April 1913.
3. Jede Arbeit ist mit einem Motto zu versehen. Name und
Adresse des Verfassers dürfen nur in geschlossenem Kouvert
beigefügt werden, das mit dem gleichen Motto zu über-
schreiben ist.
4. Nur deutlich hergestellte Manuskripte werden
berücksichtigt. Jeder Arbeit ist ein Verzeichnis der
benutzten Litteratur, sowie eine Inhaltsangabe beizufügen.
5. Die Blätter des Manuskripts müssen paginiert und mit Rand
versehen sein. Nur die Vorderseite der Blätter sollte be-
schrieben werden. Das Manuskript kann aus losen Blättern
in einer mit Bändern versehenen Mappe bestehen.
6. Die Arbeiten müssen in deutscher Sprache abgefasst sein.
7. Preisrichter sind:
Geheimer Hof rat Professor Dr. Otto Liebmann in Jena,
Professor Dr. Richard Falckenberg in Erlangen,
Professor Dr. Paul Menzer in Halle a. S.
398 Kantgesellschaft.
8. Der erste Preis beträgt 1500 Mk., der zweite 1000 Mk.
Sind mehrere Arbeiten des ersten Preises würdig, so erlialten
sie die Gesamtsumme von 2500 Mk. zu gleichen Teilen. Ist
keine des ersten Preises würdige Arbeit eingelaufen, sind eventuell
aber mehrere des zweiten Preises würdig, so können zwei
Arbeiten je 1000 Mk. erhalten und eine dritte eventuell noch
500 Mk. Ist keine der eingelaufenen Arbeiten eines Preises
würdig, so erfolgt neue Ausschreibung.
0. Zurückziehung einer eingelieferten Bewerbungsschrift ist
nicht gestattet.
10. Die Verkündigung der Preiserteilung findet spätestens
22. April 1914 statt und wird in den „Kantstudien" ver-
öffentlicht.
11. Die Redaktion der „Kantstudien" ist berechtigt, aber nicht
verpflichtet, preisgekrönte Arbeiten in ihrer Zeitschrift (oder
in den zugehörigen „Ergänzungsheften") abzudrucken. Macht
die Redaktion der „Kantstudien" von diesem Recht keinen
Gebrauch, so bleiben die preisgekrönten Arbeiten Eigentum
ihrer Verfasser.
12. Nichtgekrönte Arbeiten werden durch den Geschäftsführer
der Kantgesellschaft dem zurückgegeben, der sich als Ver-
fasser nach dem Urteil des genannten Geschäftsführers ge-
nügend legitimiert. Nicht zurückgeforderte Arbeiten werden
nach Verlauf eines Jahres, am 22. April 1915, samt dem
zugehörigen uneröffneten Kouvert vernichtet.
Halle a. S., im Juli 1910.
(Reichardtstr. 15.)
Der Geschäftsführer der „Kantgesellschaft**.
Professor Dr. H. Vaihinger.
Exemplare dieses Preissausschreibens versendet auf Wunsch
im Auftrag der Kantgesellscliaft gratis und franko Herr Dr.
Arthur lAebert, Berlin W. 15, Fasanenstrasse 48.
Die ersten sechs Jahre der Kantgesellschaft.')
1. Allgemeines.
Die Kantgesellschaft ist gelegentlich der hundertsten Wiederkehr des
Todestages Kants (12. Februar 1904) von Freunden der Kantischen Philosophie
gegründet worden mit dem Zweck, „das Studium der Kantischen Philosophie
zu fördern und zu verbreiten". Die konstituierende Versammlung fand statt
am 22. April 1904 (Kants Geburtstag), in welcher die Statuten beschlossen
worden sind. Die Gesellschaft ist in das Vereinsregister eingetragen worden.
Nach den Statuten ist dauernder Vorstand der jeweilige Kurator der Universität
Halle, z. Z. Geheimer Ober-Regierungsrat Meyer. Dem Verwaltungsausschuss,
dem früher auch der dann nach Berlin berufene Geh. -Rat Prof. Dr. Riehl, sowie
die unterdessen verstorbenen Proff. Busse und Ebbinghaus angehört haben, be-
steht z.Z. ausProf. Dr. Meumann, Prof. Dr. Menzer, Geh.RatProf, Dr. Stammler,
Geh. Rat Direktor der Univ.-Bibl. Dr. Gerhard, Geh. Rat Dr. Lehmann, sowie
aus dem Unterzeichneten, der seit 6 Jahren das Amt des Geschäftsführers
bekleidet hat. Die Kantgesellschaft wird im Personalverzeichnis der Universität
Halle-Wittenberg geführt. Die Gesellschaft hat teils Dauermitglieder, welche
einen einmaligen Beitrag bezahlen, der zur Kantstiftung verwendet wird, teils
Jahresmitglieder, welche einen jährlichen Beitrag von 20 M. entrichten.
2. Kanistiftung.
Dieser aus den Beiträgen von ca. 350 Dauermitgliedern errichtete Fond
betrug am 12. Februar 1904 bei der hundertjährigen Kantfeier 10000 M. Bis zum
22. April 1904, zum Tage der konstituierenden Versammlung, war der Fond
auf 15000 M. gestiegen. Ein Jahr darauf, am 22. April 1905, hatte sich der
Fond wiederum um 10000 Mark vermehrt und war auf 25000 M. gestiegen.
Der Fond beträgt jetzt 32530 M. Der Fond ist der Universität Halle als
Eigentum überwiesen worden und wird von derselben verwaltet. Die Zinsen
werden der Kantgesellschaft zu deren Zwecken eingehändigt und betrugen im
vergangenem Jahre 1112 M.
') Kurzer Bericht, erstattet auf Veranlassung des Vorstandes der Kant-
esellschaft Herrn Geh. Ober.-Reg.-Rat Meyer, Kurator der Universität Halle,
«in das Königl. Preuss. Kultusministerium.
. M.
2040
. M.
2360
. M.
3080
. M.
3820
. M.
4920
400 Kantgesellschaft.
3. Jahresmitglieder.
Die Zahl der Jahresmitglieder betrug in den Jahren:
Summe der Jahresbeiträge
1904: 79 .... M. 1580
1905: 102 . .
1906: 118 . .
1907: 154 . .
1908: 191 . .
1909: 246 . .
In diesem laufenden Jahr 1910 ist die Zahl der Jahresmitglieder bis jetzt
auf 300 gestiegen, sodass die Jahresbeiträge nunmehr 6000 M. betragen. In
Anbetracht der Höhe des Jahresbeitrags (20 M.) ist diese Zahl sehr beträchtlich,
denn andere Gesellschaften nehmen erheblich weniger Jahresbeitrag, so z. B.
die Goethegesellschaft 10 M., bieten dafür freilich auch viel weniger als die
Kantgesellschaft. Denn deren Jahresmitglieder erhalten gratis und franko
zugesandt nicht nur die , .Kantstudien" (jährlich vier Hefte im Umfang von ca.
30 Bogen, welche im Buchhandel 12 M. kosten), sondern auch die dazu ge-
hörigen Ergänzungshefte (jährlich etwa vier im Umfang von ca. 25 bis 33 Bogen,
welche im Buchhandel ca. 10 bis 15 M. kosten) und ausserdem noch von jetzt
ab auch die „Neudrucke seltener philosophischer Werke des 18. u. 19. Jahr-
hunderts", wovon voraussichtlich jährlich ein Band im Wert von 4 bis 6 M.
geliefert werden wird.
4. „Kantstudien" nebst Ergänzungsheften.
Als hauptsächliches Mittel, um ihren Zweck zu erreichen, „das Studium
der Kantischen Philosophie zu fördern und zu verbreiten", betrachtet die Kant-
gesellschaft in erster Linie die Unterstützung der Zeitschrift ,, Kantstudien",
welche jetzt von dem Universitäts-Professor Dr. Bauch in Halle, unter Mit-
wirkung des Unterzeichneten, herausgegeben werden. Um den „Kantstudien"
ein grösseres Schwergewicht zu geben, sind noch seit dem Jahre 1906 Ergänzungs-
hefte zu denselben eingerichtet worden. Jedes Ergänzungsheft enthält eine
grössere abgeschlossene Abhandlung für sich. Eine Übersicht über die Tätigkeit
der Kantgesellschaft nach dieser Seite hin gibt folgende Tabelle:
1904: Kantstudien Bd. IX (578 S.), darin das grosse Festheft zu Kants
Todestag 12. Februar 1904 (350 Seiten nebst vier Abbildungen). Sonderdruck
des Festhefts als Festschrift u. d. T. „Zu Kants Gedächtnis".
1905: Kantstudien Bd. X (600 S.), darin ein eigenes Festheft zu Schillers
hundertstem Todestag, das ebenfalls als eigene Festschrift erschienen ist u. d. T.
„Schiller als Philosoph und seine Beziehungen zu Kant". (166 S. und 3 Abbildungen.)
1906: Kantstudien Bd. XI (495 S.) und dazu Ergänzungsheft 1 bis 3
(296 S.) (von Guttmann, Oesterreich und Döring).
1907: Kantstudien Bd. XII (474 S.) und dazu Ergänzungsheft 4 bis 7
(492 S.) (von Kertz, Fischer, Aicher und Dreyer).
1908: Kantstudien Bd. XIII (518 S.) und dazu Ergänzungsheft 8 bis 11
(477 S.) (von O'Sullivan, Rademaker, Amrhein und Müller-Braunschweig).
1909: Kantstudien Bd. XIV (578 S.) und dazu Ergänzungsheft 12 bis 15
(486 S.) (von Bache, Kremer, Ernst, Hessen).
Kantgesellschaft. 401
An Honoraren für die Mitarbeiter an den Kantstudien, deren Her-
stellungskoston die Firma Rcuther & Reichard in Berlin trägt, haben wir
folgende Summen gezahlt;
1904: 791 M.
1905: 1170 M.
1906: 1062 M.
1907: 966 M.
1908: 917 M.
1909: 1225 M.
Für die Herstellung und Herausgabe der obenerwähnten Ergänzungs-
hefte, deren Herstellungskosten die Kantgesellschaft selbst trägt, haben wir
ausgegeben:
1906:
1339 M.
1907:
2308 M.
1908:
2068 M.
1909:
2279 M.
In den Bänden der „Kantstudien" Nr. IX bis XIV, die wir auf diese
Weise unterstützt haben, haben wir ausserdem noch 15 Porträts von Kant und
Kantianern u. s. w. veröffentlicht, für die wir im Ganzen ausgegeben haben:
441 M.
5. Neudrucke.
Auf Anregung von Prof. Menzer-Halle veranstaltet die Kantgesellschaft
„Neudrucke seltener philosophischer Werke des 18. und 19. Jahrhunderts", welche
zum Verständnis der Kantischen Philosophie und ihrer Geschichte dienen. Es
handelt sich dabei um wichtige Dokumente der Geschichte der Philosophie,
welche aus dem Buchhandel verschwunden sind, deren Studium aber doch
unentbehrlich ist. 1. Band: Aenesidemus von G. Ernst Schulze (1792).
Erscheint Ende 1909.
6. Sonstige Veranstaltungen.
Von sonstigen Veranstaltungen, welche die Kantgesellschaft getroffen hat,
seien folgende erwähnt:
1. Beisteuer zum Druck der Dissertation im Jahre 1905: 254 M.
2. Verteilung der „Kantstudien" an Institute und Bibliotheken: in Heidel-
berg, Halle, Graz, Jena, Tübingen, Rostock, Marburg. Auslagen hierfür: 509 M.
3. Delegation des Redakteurs der Kantstudien, Universitätsprofessor Dr.
Bauch, nach Heidelberg zum Internationalen philosophischen Kongress: 150 M.
4. Ernennung des Stadtrat a. D. Professor Dr. Walter Simon in
Königsberg i. Pr., Ehrenbürger dieser Stadt, zum Ehrenmitglied, welcher der
Kantgesellschaft und den „Kantstudien" im Ganzen die Summe von 7200 M.
gewidmet hat.
5. Schaffung eines Dispositionsfonds: Bis jetzt 2600 M.
6. Ehrengabe an den verantwortlichen Herausgeber der Kantstudien,
Prof. Dr. Bauch, nach erfolgreicher fünfjähriger Schriftleitung: 500 M.
7. Veranstaltung einer Stammler-Ehrung zum 22. April 1909 und
Beitrag zu einer von demselben zu stellenden Preisaufgabe: 242 M.
402 Kantgesellschaft.
7. Ausschreibung von Preisaufgaben.
Durch öffentliche Ausschreibung geeigneter Preisaufgaben glaubt die
Kantgesellschaft ganz besonders die Wissenschaft im Allgemeinen und ihre
Zwecke im Besonderen fördern zu können. Es sind bis jetzt folgende Preis-
aufgaben ausgeschrieben worden:
1. Kant- Aristoteles-Preisaufgabe: „Kants Begriff der Erkenntnis ver-
glichen mit dem des Aristoteles". I. Preis: 600 M., II. Preis: 400 M. (gestiftet
von der Kantgesellschaft selbst). Themasteller: Prof. Dr. Riehl. Preisrichter:
die Proff. Riehl, Heinze, Vaihinger. Preisträger: Dr. Sentroul, Dr. Aicher.
2. Walter Simon-Preisaufgabe: „Das Problem der Theodicee in der
Philosophie und Literatur des XVIII. Jahrhunderts mit besonderer Rücksicht
auf Kant und Schiller". I. Preis: 1000 M., II. Preis: in Form eines Accessit-
preises ebenfalls 1000 M., III. Preis: 300 M. (gestiftet von Professor Dr. Walter
Simon in Königsberg i. Pr.). Themasteller: Prof. Dr. Walter Simon. Preis-
richter: die Proff. Natorp, Ziegler, Menzer. Preisträger: Dr. Kremer, Dr. Lempp,
Dr. Wegener.
3. Karl Güttler-Preisaufgabe: „Welches sind die wirklichen Fortschritte,
die die Metaphysik seit Hegels und Herbarts Zeiten in Deutschland gemacht
hat?" I. Preis: 1000 M., II. Preis: 600 M. (gestiftet von Professor Dr. Karl
Güttier in München). Themasteller: Prof. Dr. Güttier. Preisrichter: Die Proff.
Riehl, Stumpf, Külpe.
4. Rudolf Stammler-Preisaufgabe: „Das Rechtsgefühl erkenntniskritisch
und psychologisch untersucht, in der Geschichte der Rechtsphilosophie bis zum
ersten Auftreten verfolgt und in seiner Bedeutung für die Theorie und Praxis
des heutigen Rechts dargelegt". I. Preis: 1500 M., II. Preis: 800 M. (gestiftet
von Schülern, Freunden und Verehrern Stammlers im Verein mit der Kant-
gesellschaft). Themasteller: Prof. Dr. Stammler. Preisrichter: die Proff.
Stammler, Huber, Natorp.
5. Fünfte Preisaufgabe: „Kants Begriff der Wahrheit und seine Be-
deutung für die erkenntnistheoretischen Fragen der Gegenwart. I. Preis: 1500 M.,
II. Preis: 1000 M. (gestiftet von Geh.-Rat Prof. Dr. Imelmann, Stadtrat a. D.
Prof. Dr. Walter Simon, Ehrenmitglied der Kantgesellschaft, Direktor Dr. von
Gwinner, Dr. Jaffe, Dr. jur. Faber, Prof. Dr. v. Lippmann, H. Prager). Thema-
steller: Prof. Dr. Vaihinger. Preisrichter: Die Proff. Liebmann, Falckenberg,
Menzer.
Eine kurze Geschichte der Kantgesellschaft befindet sich in dem Buche
von Dr. Franz Jünemann, Gymnasialoberlehrer in Neisse: „Kantiana. Vier
Aufsätze zur Kantforschung und Kantkritik nebst einem Anhange". Leipzig,
E. Demme, 1909, S. 91-97.
Halle a. S., im Juni 1910.
Der Geschäftsführer der Kantgesellschaft.
H. Vaihinger,
Kantstudien XV, 1910.
<-/ut>
August Stadler
geb. am 24. August 1850; gest. am 16. Mai 1910.
Ein Nachruf
von
Hermann Cohen.
Der Nachruf auf einen Gelehrten muss vor Allem
dem Menschen gelten, zumal wenn der Gelehrte von
Jugend auf afle Seiten des Menschtums in sich aus-
zubilden bestrebt war. Nur der Freund, der ein
Menschenalter mit ihm verbunden war, kann daher
einigermassen mit gerechtem Urteil über ihn berichten.
Deshalb konnte ich, durfte ich der Aufforderung mich
nicht versagen, in dieser Zeitschrift, die er selbst ge-
fördert hat, den Dank der Fachgenossen ihm auszu-
sprechen, wie ich denn auch schon zu seinem Leichen-
begängnis gefahren war, um in der Hausandacht den
Seinigen in Familie und Freundschaft den Dank der
Wissenschaft darzubringen.
Aber ich rede hier nicht allein als Fachgenosse,
noch auch nur als Freund, sondern zugleich als der-
jenige, der die ersten literarischen Schritte des Heim-
gegangenen begleitet und geleitet hat. Wenn ich nun
auch der Ältere bin, der den Verlust des jüngeren Ge-
nossen zu beklagen hat, so ist doch die Komplikation
mit meinem eigenen Leben und Streben, in dessen
literarischen Beginn die Anknüpfung meiner Verbindung
mit ihm fällt, schwer zu vermeiden; schwer zu ver-
meiden daher auch die Berührung meines eigenen Schick-
sals in meiner literarischen und in dem Umkreis meiner
Lehrtätigkeit. Indessen dürfte mir doch wohl auch in
dieser weiteren Beziehung das Benefiz des Alters zu-
zubilligen sein: wo ich urteilen muss, auch ermahnen
za dürfen, damit der Nachruf auf einen Toten zugleich
ein Weckruf werde für die Lebenden und vollends für
die Jünger unserer Wissenschaft.
KantgtndUn XT. 26
404 H. Cohen,
Es war im April 1872, als August Stadler nach Berliu zu
mir kam, mit einem Briefe seines Züricher Lehrers Albert Lange,
der ihn zu weiterer philosophischer Unterweisung an mich diri-
gierte. „Kants Theorie der Erfahrung" war ein halbes Jahr vor-
her erschienen, und im Unterschied und Gegensatz zu fast allen
damaligen Fachgenossen in Amt und Würden, hatte dieser Mann
mit seiner Freiheit von unwürdigen Vorurteilen, welche alsbald
ebensosehr das deutsche Geistesleben, wie die deutsche Gesittung
gefährden sollten, dieses Buches und seines Autors sich angelegent-
lich angenommen, und seiner Wärme und Energie, seiner Klarheit
und Wahrhaftigkeit habe ich es neben dem Wohlwollen der da-
maligen Kollegen zu danken, dass ich zu einer Lehrtätigkeit auf
einem deutschen Katheder gekommen bin. Zunächst aber musste
Lange den jungen Stadler mir zu privater Unterweisung empfehlen,
die jedoch durch eine zufällige Fügung sogleich eine Erweiterung
erfahren konnte.
Zu derselben Zeit nämlich war nach Berlin ein junger Ame-
rikaner an die soeben gegründete „Lehranstalt für die Wissen-
schaft des Judentums" herübergekommen, Felix Adler, der
spätere Gründer der „Gesellschaft für ethische Kultur". Er
mochte wohl auch das Bedürfnis empfinden, den philosophischen
Unterricht, den er damals nach Trendelenburgs Tode an der
Berliner Universität geniessen konnte, privatim zu ergänzen, und
so wandte er sich an Steinthal, ob dieser ihm zu einem philo-
sophischen Unterricht verhelfen könnte. Steinthal, der mein Lehrer
in Sprachpsychologie und vergleichender Mythologie war, hatte sich
auch für die ersten Schicksale meiner akademischen Bewerbungen in
eifriger Teilnahme interessiert, und so kam ihm diese Bitte sehr will-
kommen, um mir wenigstens privatim einen philosophischen Lehrkurs
einzurichten ; denn mit Adler traten alsbald mehrere Studierende aus
dieser Lehranstalt diesem Zirkel bei, in den ich nunmehr Stadler
aufnehmen konnte. Auch junge Ärzte hörten von dieser privaten
Einrichtung, in welcher die Kritik der reinen Vernunft emsig ge-
lesen und in einem zwanglosen Konversatorium möglichst gründ-
lich durchgesprochen wurde. Auch der später in Marburg do-
zierende Mathematiker Benno Klein war ihm beigetreten. Zuerst
waren es zweimal je vier Stunden, später sogar je sechs, in welchen
dieser auf nahezu zehn Personen angewachsene Kreis sich wöchent-
lich versammelte; und diese Vereinbarung erhielt sich drei Semester
hindurch, bis ich endlich nach Marburg gehen durfte.
August Stadler f. 405
Frau Stadtpräsident Pestalozzi, die Schwester Stadlers,
hat die Güte gehabt, aus seinen damaligen Briefen an seine
Eltern eine Stelle auszuschreiben, die ich für sein eigenes Urteil
charakteristisch halte. Er schreibt im November 1872 an den
Vater: „Der Zufall sucht uns nicht auf, bleiben wir an den Ort
gebannt, wie die Blumen, so fällt mancher Regentropfen, der uns
erfrischen könnte, an uns vorüber. Um ihn zu erhaschen, müssen
wir uns dreheu und bewegen. Mich hat nun endlich einer recht
schön auf die Lippen getroffen und ich habe nicht gesäumt, ihn
zu verschlucken. Es hat sich nämlich gezeigt, dass der Privat-
gelehrte, Dr. Cohen, an welchen mich Lange empfohlen hatte, ge-
rade der Mann war, dessen ich auf jenem Standpunkt bedurfte
und wie ich ihn besser gar nicht wünschen könnte." Er schreibt
nun weiter, wie er sich dem Studium Kants mit Eifer hingiebt
und wie er dadurch seine Lebensarbeit zu begründen hofft.
Hier muss ich nun erst über den Menschen berichten. Poe-
tisch, wie er in solchem Bilde über das damalige Privatissimum
berichtet, so war überhaupt seine ganze Erscheinung, von jugend-
licher Bescheidenheit und doch in einem reifen Erblühen. Freilich
hatte er sich schon bei diesem ersten Eintritt in die Welt sein
soziales Milieu mit einer imponierenden Sicherheit eingerichtet.
Er war der Sohn, der einzige Sohn angesehener Eltern, einer
alten Züricher Familie, deren Lebensführung bei aller Schlichtheit
durchaus nicht eng war. Ich selbst habe Jahrzehnte hindurch
ihre Gastfreundschaft genossen, und an dem biederen, in jeder
Hinsicht tüchtigen und gediegenen, gütigen und lauteren Vater,
wie an der feinsinnigen, ebenso für alles Schöne, wie für alles
frei Protestantische tief interessierten, liebenswürdigen Mutter bei
jedem Beginn der Ferienreise in die Schweiz mich erfreuen dürfen.
Den Lebensberuf des Vaters, das Baufach, hatte auch der Sohn
zunächst erstrebt, und es war Gottfried Semper, bei dem er
zwei Jahre hindurch am Züricher Polytechnikum studiert hatte.
Die Vorlesungen Langes an der Universität hatten ihn dann für
die Philosophie gewonnen; aber die polytechnischen Studien und
insbesondere der Vorblick auf das praktische Baufach hatten sein
jugendliches Milieu über das eines Studierenden hinaus erweitert,
und so kam mir damals, wenn ich mit freudigem Stolze auf diesen
Schüler blickte, der Gedanke, ob er bei aller seiner pünktlichsten
Gründlichkeit, seinem strengen Fleisse und rein wissenschaftlichen
Eifer nicht dennoch mehr zum Weltmann, und zwar zum Staats-
26*
406 H. Cohen,
mann im tiefsten Sinne des Wortes wahrhaft berufen sei als zum
Kathedergelehrten.
Zunächst aber galt es, das Doktorat vorzubereiten, und so
konnte ich ihm mein erstes Thema zu einer Doktorarbeit geben.
Es spricht gewiss schon dies für ihn, dass ich es wagen konnte,
das damals eben aufgekommene Problem zur Bearbeitung ihm an-
zuraten, welches den grossen Namen Darwins trug.
Nur seiner ausgebreiteten naturwissenschaftlichen Bildung
und seinen vielseitigen klaren und sicheren Kenntnissen konnte
es möglich werden, dieses schon damals grosse Material in kurzer
Zeit sich anzueignen und in logischer Überschau zu beherrschen.
So erkannte und durchdrang er den Zusammenhang in den Pro-
blemen des Organismus und des Stoffwechsels für die
Einheit des Individuums, für den Begriff des Lebens. Und
zugleich erkannte er den methodischen Zusammenhang und den
Unterschied in dem Begriffe des Lebens mit und von dem Be-
griffe der mechanischen Bewegung und der Einheit des mate-
riellen Punktes im System der Bewegung.
Für die Kantische Terminologie kam hier zunächst das Pro-
blem des Grenzbegriffs zu seiner Fruchtbarkeit. Und mit
dem Grenzbegriff kam der Begriff der transscendentalen
Idee zur Deckung. Aber hinzu trat der Nachweis, dass die Idee
die allgemeine Bedeutung des Zwecks zu vertreten hat, und
dass somit die Lehre von den transscendentalen Ideen, welche die
Kritik der reinen Vernunft enthält, ergänzt wird durch die Kritik
der Urteilskraft in ihrer Lehre von der objektiven formalen
Zweckmässigkeit.
Mit grosser Deutlichkeit und Bestimmtheit zeigt Stadler hier,
wie sehr die methodische Grundtendenz Darwins genauer, als
dieser selbst es vermochte, durch Kant vertreten und bestimmt
wird. Übrigens hat er nicht unterlassen, auf Mängel im Ausdruck
und in der Durchführung des Gedankens hinzuweisen, welche bei
Kant noch vorhanden waren.
Diese Schrift war in der Vorrede vom November 1873
datiert, und sie erschien in demselben Verlage, der auch „Kants
Theorie der Erfahrung" auf Empfehlung Steinthals übernommen
hatte. Aber schon im Spätsommer hatte er sie mir vorgelegt,
indem er mich dazu in meiner Anhaltischen Vaterstadt Coswig
besuchte. Mit welchem erstaunlichen Fleisse und mit welcher die
höchsten Erfolge versprechenden Reife wai' diese Schrift, die einen
August Stadler f. 407
dauernden Wert behält, zu Stande g-ekommen. Etwa ein Jahr vorher
hatten seine tieferen Studien über Kant erst begonnen, und jetzt zeigte
sich schon eine uneingeschränkte sichere Beherrschung des ge-
samten einschlägigen Quellenmaterials, verbunden mit einer weiten
Überschau über diese schwierigen sachlichen Probleme, Wäre er
damals in der Enge und Strenge dieser Studien verblieben, wie
anders würde sich dann sein Leben entwickelt haben.
Aber gegen eine solche Beschränkung seines Horizontes und
seines Arbeitsgebietes widersetzte sich die Vielseitigkeit seines
gelehrten Wesens und vollends die weltmännische Art seiner Per-
sönlichkeit. So kam es, dass er zunächst zwar noch in Berlin
verblieb, um zuvörderst seine mathematischen, physikalischen und
naturwissenschaftlichen Studien überhaupt zu erweitern — so
hörte er bei DuBois-Reymond beide Teile der Physiologie,
und bei H e 1 m h o 1 1 z mathematische Physik und Akustik — , zu-
gleich aber auch gewann er Zutritt zu den Vorlesungen von Ge-
heirarat Engel, in dessen statistischem Seminar, um in der
politischen Ökonomie Orientierung zu erlangen.
Nachdem sein Buch über „Kants Teleologie und ihre
erkenntnistheoretische Bedeutung" von der philoso-
phischen Fakultät der Universität Zürich 1874 als Dissertation
zur Erlangung des philosophischen Doktors angenommen worden
war, entwickelt er in einem Briefe an den Vater seine weiteren
Pläne: „1. Nicht vor 26 Jahren dozieren; dann Privatdozent . . .
womöglich in Zürich. Die konstruktive Zweckmässigkeit dieses
Luftschlosses brauche ich nicht zu begründen, ebensowenig die
selbstverständliche Folgerung, die nächsten zwei Jahre wieder im
Auslande zuzubringen. Die Frage ist nur, wie und wo." Schon
in diesem Briefe stellt er London in nähere Erwägung. „London
und England überhaupt ist für Philosophie ein äusserst frucht-
bares Gebiet. Namentlich stehen dort Logik und Naturphilosophie
in höchster Blüte." In der Tat war ja soeben das Lehrbuch der
theoretischen Physik von Thomson und Tait in deutscher
Übersetzung durch Helmholt z erschienen. Es war daher keines-
wegs allein oder vorwiegend etwa die Rücksicht auf Mill, welche
die englische Logik im Vorteil erscheinen Hess. Aber es war
zugleich wohl sein alter polytechnischer Sinn, der ihn nach Eng-
land hinzog, wo er zwei Jahre verblieb, bis er im Januar 1877
heimkehrte, um sich am Eidgenössischen Polytechnikum als Privat-
dozent für Philosophie und Pädagogik zu habilitieren.
408 H. Cohen,
Schon hierin und hierbei ist ein wichtig-er Schritt in seinem
Lebensgange zu bemerken. Sicherlich war es die eigenartige,
gleichsam zunftgenossenschaftliche Pietät seines altbürgerlichen
Wesens, die ihn mitbewogen haben mag, an das Polytechnikum zu
gehen, dem er seine eigene Ausbildung in der Grundlage verdankte;
und nicht minder auch die Absicht, bei den Technikern Lust und
Freude an gediegener allgemeiner, daher philosophischer Bildung
zu erwecken, und durch die eigene Tätigkeit ihnen diese Möglich-
keit zu verschaffen. Aber es spielen doch noch andere Motive mit,
deren Andeutung eine allgemeinere Bedeutung haben dürfte.
Man kannte in seiner Vaterstadt bereits sowohl die fach-
männische Tüchtigkeit, wie die ungewöhnliche allgemeine Bildung
dieses jungen Mitbürgers; und man kannte nicht minder seinen
altererbten patriotischen Sinn und Eifer, wie nicht minder aber auch
seinen Stolz und seine vornehme Zurückhaltung für eine Bewerbung
in seiner Vaterstadt: man versäumte aber, bei den mancherlei
Vakanzen, die auf dem philosophischen Lehrstuhl an der Uni-
versität eintraten, ihn heranzuziehen, während die Besetzungen
bisweilen mit Kräften erfolgten, die nicht mehr, die weniger auf-
zuweisen hatten, als von ihm bereits vorlag, und zumal im Aus-
tausch der gelehrten Unterhaltungen unverkennbar zu Tage trat.
Denn es war nachgerade stadtbekannt, wie durchaus bewandert
und ergiebig sich Stadler ebenso in der Unterhaltung mit dem
Chemiker und dem Physiker, wie mit dem Physiologen und dem Gehirn -
anatomen, wie andererseits auch mit dem Nationalökonomen und
dem historischen Politiker tagtäglich erwies. Und es war nicht
minder bekannt, einer wie grossen Schätzung und tiefen Anerkennung
er bei Gottfried Keller und bei Arnold Böcklin genoss, die
beide ebensosehr die gelehrte Kenntnis, wie die ästhetische Bildung
des frühreifen Mannes mit dem besonnenen, scharfen und klaren Urteil
zu schätzen verstanden, und für ihren täglichen Umgang genossen.
Es war weithin bekannt geworden, wie sehr dieser ganze Kreis
hervorragender Naturforscher und humanistischer Gelehrter durch
die philosophische Belehrung gefördert wurde, welche Stadler in
gesellschaftlicher Freigiebigkeit bei diesen abendlichen Zusammen-
künften über alle methodischen Fragen der Forschung und des
Wissens in anspruchsloser Offenheit und Gründlichkeit zu spenden
vermochte. — Im Jahre 1892 ist er zum Professor für Philosophie
und Pädagogik am Polytechnikum ernannt worden.
A.ugu8t Stadler f. 409
Eine entscheidende Tat haben wir jedoch noch gar nicht ver-
zeichnet, welche vor seiner Übersiedelung nach London vollbracht
wurde. Die Vorrede zu den „Grundsätzen der reinen Er-
kenntnistheorie in der Kantischen Philosophie, Kritische
Darstellung," ist vom Oktober 1875 datiert. Diese Arbeit bildet
ihrer Aufgabe gemäss den Höhepunkt in seinen der Wiederher-
stellung der Kantischen Philosophie gewiduieten Schriften. Wenn
schon „Kants Teleologie und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung"
durch die Genauigkeit der Untersuchung, wie durch die sachliche
methodische Beleuchtung eine erstaunliche Reife zeigte, so trat in
dieser neuen Schrift, die nur zwei Jahre später erschien, eine
kritische Selbständigkeit gegenüber der Kantischen Methodik zu
den früheren Vorzügen hinzu. Die Vorrede spricht es aus, dass
die Schrift von der Unterscheidung ausgeht, welche in „Kants
Theorie der Erfahrung" zwischen dem a priori in „metaphysischer"
und in „transscendentaler" Bedeutung gemacht worden war. Auf
dieser Unterscheidung beruht das ganze Reformwerk, welches ich
selbst, wie alle meine Mitarbeiter, der Wiederentdeckung der systema-
tischen Grundgedanken Kants gewidmet haben. Und damit ist
für die gesamte Methodik Kants der Schwerpunkt in die synthe-
tischen Grundsätze gelegt. So hat auch Stadler in dieser Schrift,
wie es schon der Titel besagt, den Grundsätzen die eigentliche
Bedeutung und Geltung des a priori zuerkannt, und Schwankungen
gegenüber, die er noch bei mir fand, mit deutlicher Bestimmtheit
geltend gemacht.
Indessen sind es einerseits noch Ansichten über die formale
Logik, welche das Durchgreifen der Urteile vermittelst der Kate-
gorien auf die Grundsätze hemmen, teils sind es besonders die
Reste des metaphysischen a priori, welche hier noch in der trans-
scendentalen Apperception hängen geblieben sind, die eine radikalere
Umgestaltung der gesamten systematischen Methodik verhindert
haben. Die transscendentale Apperception gilt hier noch
nicht vorzüglich als die Einheit der synthetischen Grund-
sätze, sondern vielmehr als die „Einheitsfunktion" des Bewusst-
seins. Und so bleibt es bei der Bedeutung der transscendentalen
Apperception als der Einheit des Bewusstseins. Damit aber
bleibt der Ertrag beeinträchtigt, den die Unterscheidung zwischen
dem transscendentalen und dem metaphysischen a priori als die
eigentliche Kernfrucht erzielte.
410 H. Cohen,
Es hängt damit zusammen, dass diese Schrift bei aller Freiheit
der Rekonstruktion, welche ihre Disposition darlegte, dennoch in
der Hauptsache bei den Kantischen Grundlagen stehen blieb. Man
erkennt dies mit aller Deutlichkeit an dem vierten Grundsatze, der
eine ebenso interessante, als instruktive Formulierung enthält in
dem „Prinzip der materiellen Verknüpfung" (ib. S. 64).
Der Grundsatz geht von den Empfindungen aus, von ihren
Qualitäten; das Bewusstsein aber fordert, dem erkenntnistheore-
tischen Prinzip zufolge, „eine kontinuierliche Synthesis von Em-
pfindungs-Qualitäten" (ib.S.67). Nach diesem Prinzip der materiellen
Verknüpfung folgen das Prinzip der räumlichen Verknüpfung und
das Prinzip der zeitlichen Verknüpfung.
Trotz diesem Stehenbleiben bei den Kantischen Grundlagen
zeigt sich hier doch schon die Schärfe seiner Kritik darin, dass er
den Begriff des Grades, der intensiven Grösse mit Ent-
schiedenheit ablehnt. „Der Grad gehört nicht in einen allgemeinen
erkenntnistheoretischen Grundsatz" (ib. S. 71). Freilich heisst es
weiter: „noch weniger aber irgend eine Eigenschaft desselben, z. B.
die Kontinuität." Es wird mithin erkannt, dass die Verbindung
der intensiven Grösse mit der Empfindung für den Begriff des
Gegenstands nicht von entscheidendem Belang sein kann; aber es
wird nicht erkannt, dass für den Begriff des Gegenstands eine
andere Begründung der Kontinuität notwendig, geschweige
dass sie möglich ist, und durch die wissenschaftliche, mathematische
Fassung dieses Grundprinzips geboten und dargeboten wird. Man
durfte damals jedoch eine solche Kritik diesem Buche gegenüber
nicht geltend machen; sie war damals noch nicht an der Zeit;
vielmehr war es schon ein Verdienst, das erste leiseste Bedenken
gegen die Bedeutung des Grades und seinen echten Zusammenhang
mit dem Prinzip der Kontinuität aufkommen zu lassen.
Inzwischen hatte sich Stadler mit dem Problem des zweiten
Kantischen Grundsatzes immer weiter beschäftigt, und eine Folge
davon war die Abhandlung in den „Philosophischen Monatsheften",
welche vom Februar 1878 datiert ist: „Über die Ableitung
des psychophysischen Gesetzes". Er hat darin Fechners
Fundamentalformel bestritten; er findet einen Widerspruch darin
zu dem Web er sehen Gesetze der Schwelle. Fechner übersetzt
die Schwelle in das Ebenmerkliche. Aber Stadler hält dieses
für ein „psychisches Atom", ^) oder aber für eine „unendlich kleine
1) Ph. Mh. Bd. XIV. S. 222.
August Stadler f. 411
Grösse", und in beiden Bedeutungen lasse es sich nicht als
„Wachstumselemeut der Empfindung" betrachten. „Es lässt sich
nicht zur Integration verwerten". So ist hier der wunde Punkt
in dem ganzen Problem der Psychophysik aufgedeckt; und ich bin
mir bewusst, durch diese Kritik zur ferneren grundsätzlichen Be-
streitung dieses Problems angeregt worden zu sein.
So weit also gehen unsere Wege zusammen. Von da ab
aber trennten sie sich : und es war zunächst keineswegs die Schuld
des Jüngers, dass eine Differenz eintrat. Nachdem ich nämlich
von der Theorie der Erfahrung vorab zu Kants Ethik weiter-
geschritten war, und diese neu zu begründen suchte, war es mein
nächstes Bestreben, den historischen Zusammenhang zwischen der
Methodik Kants und den wichtigsten Etappen in der Geschichte
der Philosophie klarzustellen: in diesem weltgeschichtlichen Sinne,
nach Leibniz der perennis phüosophia, glaubte ich die geschicht-
liche Aufgabe für die Erscheinungsformen der Philosophie fassen
zu müssen. Danach aber und daraus selbst wuchs die fernere
Aufgabe, in der Kantischen Methodik, in welcher der eigentliche
Grundwert des Kantischen Systems immer deutlicher erkennbar
wurde, die Disposition der Grundlagen zu verbessern. Und gerade der
zweite synthetische Grundsatz deckte den Grundfehler des Systems
auf. Auch das psychophysische Problem Hess iu seinem eigenen
Fehler diesen Grundfehler Kants nur schärfer erkennen. Der Ge-
danke wurde hier unabwendbar, dass es nicht zum Ziele führen
kann, dass es nicht der rechte Ausgang sein kann, mit der Em-
pfindung -anzufangen: dass man der transscendentalen Weisung
zufolge von dem wissenschaftlichen Problem des Gegen-
standes, nicht von seiner subjektiven Fassung ausgehen müsse.
Damit aber war eine fernere, noch tiefer gehende Änderung
geboten. Kant war ja eigentlich gar nicht schlechthin von der
Empfindung ausgegangen, sondern von Raum und Zeit, also von
Formen der reinen geometrischen und mechanischen Anschauung!
Indessen in dem Problem der Mechanik selbst lag der tiefere me-
thodische Anstoss. Die Mechanik ist, modern gesprochen, nicht
Kinematik, sondern Kinetik. Daher genügt es nicht, von der
Geometrie auszugehen, so wenig man bei der Statik des Archi-
medes stehen geblieben ist. Galilei hat die neuere Mechanik
als Dynamik begründet, dadurch und damit aber zugleich den
entscheidenden Grundbegriff der gesamten neueren Mathematik
antizipiert: die nicht mehr in Raum und Zeit ihren eigentlichen
412 H. Cohen,
Grund hat, sondern in der Kontinuität, welche neue Elemente,
die der Zeit und dem Räume zunächst entlegen zu sein scheinen,
aus sich heraus zu erzeugen vermag.
Von diesen Erwägungen aus kam ich zu meinem „Prinzip
der Infinitesimal-Methode" und allen den anderen Arbeiten, die
mir seither beschieden waren. Im Sommer des Jahres 1883 war
Stadler, wie schon manchmal vorher und nachher, eine längere
Zeit bei mir in Marburg, und es liefen damals gerade die letzten
Korrekturen zu seiner „Kants Theorie der Materie" bei ihm ein,
die vom März 1883 datiert war. Zu derselben Zeit aber ging
der Druck von meinem „Prinzip der Infinitesimal-Methode" zu
Ende. Zwar hatte er auch die Korrektur dieses meines Buches
mitgelesen, wie wir stets von unseren Arbeiten gemeinsam die
Korrektur besorgten — und nach der expektorativen Art unserer
ausgedehnten Unterredungen habe ich ihm gewiss keine Ruhe
gelassen, mit dem Fortgang meiner Gedanken über das infinitesi-
male Prinzip ihn auf dem Laufenden zu halten; dennoch aber
bleibt die Tatsache bestehen, dass die „Theorie der Materie" von
ihm bearbeitet wurde, bevor ich über das neue Prinzip zu voller
Klarheit und zur abschliessenden Darlegung gekommen war.
Es genügt, auf einen Satz hinzuweisen, um die Differenz in
ihrer ganzen Schärfe erkennen zu machen : „Übrigens verwechselt,
wer die intensive Grösse als solche dem Differential entsprechen
lässt, die Form mit dem Inhalt" (ib. S. 40). Und man weiss
andrerseits, dass Kants „Metaphysische Anfangsgründe der Natur-
wissenschaft", deren Interpretation jenes Buch übernimmt, durch-
aus in der Phoronomie ihr Fundament haben, welches auch in
der Dynamik durchwirkt. Die Vorzüge, welche Stadler in den
früheren Büchern bewährt hat, sind reichlich auch hier behauptet.
Die Genauigkeit der Interpretation, die Gründlichkeit der metho-
dischen Erwägungen, die Klarheit des Urteils sind allgemein an-
erkannt worden, wo inzwischen das Kantische Werk zur Heraus-
gabe gekommen ist. Auch darf sicherlich von Stadlers Darstellung
gerühmt werden, dass sie alles Material herbeizieht, das nur immer,
sei es zur Interpretation, sei es zur Beleuchtung und Beurteilung
in Frage kommen konnte. Aber man muss hier doch des Wortes
gedenken, welches Helmholtz über den Wert dieses Kantischen
Buches gefällt hat. Und man muss auch die veränderte Lage be-
rücksichtigen, welche seit dem Anfang der 80er Jahre des vorigen
August Stadler f. 413
Jahrhunderts die allgemeine Diskussion der naturphilosophischen
Probleme erfahren hat.
Es ist mir immer als ein Verhängnis in dem Lebensgang
meines Freundes erschienen, dass er in diesem seinem letzten
grösseren Buche nicht nur mit dem Neubeginn meiner eigenen
Entwickelung zusammenstiess, sondern nicht minder auch mit einer
ganz veränderten Situation in der modernen Physik. Er hätte
Kants Theorie der Materie als ein Werk lediglich dei- Interpre-
tation betrachten und hinter sich liegen lassen müssen, um für
die eigene Arbeit einen neuen Anfang zu suchen, oder aber, wie
es unsere wissenschaftliche Verbindung und Arbeitsgemeinschaft
erfordert hätte, in meinen eigenen neuen Anfang auch seinerseits
einzutreten, sei es ihn zu bestätigen und fortzubilden, sei es ihn
zu beurteilen, selbst ihn als fehlerhaft nachzuweisen.
Hier aber hat der Nekrolog sich zu bescheiden. Wir haben
für die Leistungen zu danken, welche dieses Leben hervorgebracht
hat. Und wenngleich beinahe ein Vierteljahrhundert zwischen
dieser Publikation und seinem Hingang liegt, so haben wir die
kleineren Früchte mit sorgsamer Anerkennung zu beachten, welche
dieser Zeitraum gebracht hat; und wir dürfen nicht, auch nicht
im Anspruch der Freundschaft, welche grosse Erwartungen hegte,
von diesen idealen Forderungen aus das fernere Leben beurteilen.
Wir haben hier die Krankheit zu verzeichnen, welche am Ende der
80er Jahre über ihn kam, und mehrere Monate ihn von aller
geistigen Arbeit fernhielt. Es ist zu vermuten, dass sie schon
die Jahre vorher die Arbeitskraft geschwächt haben mag, wie sie
tatsächlich im letzten Jahrzehnt seines Lebens, so beglückend es
für ihn durch seine späte, von Kindern gesegnete Heirat geworden
ist, dennoch bewirkt hat, dass er zwar von Plänen zu grösseren
Arbeiten immerfort getragen blieb, von der Publikation derselben
jedoch zurückgehalten wurde.
Meine Auffassung von dem Lebensgang dieses Mannes von
sicherlich seltener Begabung, die ich akademischen Freunden gegen-
über seit langen Jahren wiederholentlich und nachdrücklich aus-
gesprochen habe, glaube ich in diesem Nachruf ebenso der Gerechtig-
keit wegen, wie besonders auch als Mahnung nicht unterdrücken
zu dürfen. Wäre August Stadler von einer deutschen Universität
auf den philosophischen Lehrstuhl berufen worden, so würde sich
auch seine literarische Wirksamkeit siegreicher gestaltet haben;
und er wäre alsdann von der Verbitterung befreit geblieben, die
414 H. Cohen,
schon manchem Gelehrten die Gesundheit geschädigt und getrübt
hat. Keine Spur eines auf irgend einem bösen Vorurteil beruhenden
Vorwands lag gegen diesen Mann vor: es sei denn, dass er der
grundlegenden Richtung sich angeschlossen hatte, über deren Be-
deutung, allen Unklarheiten und aller Misgunst gegenüber, nunmehr
wohl ziemlich allgemein der Geschichte der Philosophie das Urteil
zugestanden wird.
Alle seine Arbeiten sind ebenso gründlich in der Unter-
suchung der Quellen, wie in der systematischen Beleuchtung.
Wenig Arbeiten dürfen, als Arbeiten, ihnen gleichgestellt werden.
So lange man die Werke Kants studieren und auf ihren Wortlaut
untersuchen wird, um ihren historisch ewigen Sinn zu erforschen,
so lange wird man auch die drei Kantbücher August Stadlers
studieren und würdigen. Und wie wenige unter den Fachgenossen
konnten sich mit ihm messen an Gründlichkeit und Vielseitigkeit der
allgemeinen naturwissenschaftlichen Bildung und der genauen paraten
Kenntnisse, die sich ebenso auf die Anatomie und die Physiologie,
wie auf die Mathematik und die Physik erstreckten. Und wie er in
Büdingers Seminar Geschichte studiert hatte, wie bei Gottfried
Sem per die Architektur, so war auch das gesamte humanistische
Gebiet der Ästhetik sein unmittelbarer Lebensgrund, den er in dem
längjährigen vertrauten Umgang mit Gottfried Keller, wie auch
mit Arnold Böcklin, zu fester und klarer Lebensanschauung
ausgestaltete.
Und welchen Reiz endlich hatte immerfort seine Persönlichkeit
selbst, seine vornehme Gestalt, sein unabhängiger, ehrenfester Sinn,
seine humorvolle, würdige, geistsprühende Unterhaltung. Welche
Zierde und welche wertvolle Kraft würde dieser selbständige
Charakter in der Majoritätenschaukel unserer Fakultäten geworden
sein. Und welchen Einfluss würde sein Lehrvortrag an einer
Universität gewonnen haben, bei der ungewöhnlich gründlichen
Vorbereitung, von welcher die Hefte seines Nachlasses Zeugniss
ablegen, für seine Vorlesungen, die ebenso reiches sachliches, wie
emsig gesammeltes geschichtliches Material für die Logik und die
Psychologie, wie für die Pädagogik enthalten.
Gerade in letzterer Hinsicht hat eine vom Februar 1887
datierte Schrift „Über die Aufgabe der Mittelschule" eine
zentrale Bedeutung. Ich erinnere mich genau, wie Gottfried
Keller sie mir als eine bedeutende Schrift bezeichnete. Und so
darf ich mich auch auf Max Simon berufen, der seine Literatur-
August Stadler f. 41 5
urteile nach eigener Wertung zu bemessen pflegt: „Hier wäre die
Stelle, auf den Begriff der Bildung ausführlich einzugehen, aber
dies hat weit besser, als ich es je vermocht hätte, August Stadler
in Zürich ebenso kurz als treffend erledigt. Seine Schrift: Über
die Aufgabe der Mittelschule (1887) mit ihren 38 Seiten die weitaus
bedeutendste, die ich in der ganzen „Reformfrage" kenne, ist z. B.
spurlos an der Mittelschule vorbeigegangen; eine herbe Anklage
nicht sowohl gegen die Lehrer als gegen die leitenden Stellen.
Es fehlt an einer wissenschaftlichen Zentrale, welche uns viel-
beschäftigte Lehrer auf solche Schriften hinweist und sie uns
zugänglich macht. Stadler setzt den Zweck der Schule ganz
allgemein in die Aufklärung, d. i. in die Befreiung der Massen
vom Vorurteil, d. i. von Urteilen, die ohne Überlegung als wahr
angenommen werden, und die so unendliches Unheil angerichtet
haben." ^)
Es kommt nicht darauf an, wie man über den praktischen
Wert der hier gemachten und begründeten Vorschläge denken mag;
auch mit Bezug auf die ethische Begründung, die nach dem Eudä-
monismus hin ausweicht, konnte und kann ich nicht ganz einver-
standen sein. Aber die kleine Schrift ist das Zeugnis eines ganzen
Mannes, das Erzeugnis eines reichen Lebens und tiefen Denkens
und das gewiss seltene Zeugnis eines Gelehrten, der nichts vor-
schlägt, was er nicht selbst in seiner eigenen Ausbildung angestrebt,
versucht und erworben hat. So ist diese Schrift der persönlichste
Abdruck seines Wesens, und daher, der Gediegenheit und Ehrlich-
keit dieses Wesens gemäss, von bleibendem Werte für pädagogische
Erwägungen.
Auch ist darin sein Prinzip der typischen Auswahl in den
Lehrgegenständen sicherlich von echter, praktischer Bedeutung
(s. S. 36). Und wie viele Bemerkungen sind über das Wissen, wie
über das Können in diesem Büchlein enthalten; nur eine sei hier
angeführt. Bei der Pflege des Volksliedes heisst es: „Dazu ist
ferner das reinliche Memorieren des Textes erforderUch, das
bei den Sängern nicht eben beliebt ist. So mancher Patriotismus
reicht nicht dazu hin, dass ein Vaterlandslied ordentlich auswendig
gelernt würde; so manche Festbegeisterung muss sich von der
zweiten Strophe an in ein Lied ohne Worte ergiessen, und die
») Die Didaktik uud Methodik des Rechnens und der Mathematik
II. Auflage 1908, S. 33.
416 H. Cohen,
Burschenherrlichkeit, die Wanderlust, die Liebe — wie oft erblasst
und erkaltet ihr Lob im Nebel textlicher Unwissenheit" (s. S. 54).
Von solchen ernst heiteren Anspielungen waren seine Gespräche,
wie seine Briefe gewürzt. Aber er hätte diese Bemerkung nicht
gemacht, wenn nicht das Textgedächtnis seines Liederschatzes von
felsenfester Sicherheit gewesen wäre.
Bevor wir die kleineu Schriften aus dem letzten Jahrzehnt
kurz betrachten, sei ein Vortrag erwähnt in der Sektion Uto des
S. A. C. vom November 1879 „Erinnerungen an Zermatt". ^)
Er beschreibt darin eine Besteigung des Matterhorn, die er mit
Güssfeldt unternommen hatte. Auch diese Beschreibung ist
charakteristisch für seine Denkart, wie für seinen Stil. Auch
spiegelt sich in den Andeutungen über das Verhältnis zwischen
dem Touristen und seinem Führer ein Grundzug seines Wesens,
nämlich seine nicht sowohl theoretische als praktische, durch und
durch gefühlte und -geführte Lebensansicht über das Verhältnis
des sogenannten vornehmen Herrn zu den dienenden Geistern
unseres Lebens. „Der Führer ist das Organ, durch welches der
Geist einer Gegend zu uns spricht. Wenn wir es verstehen, dieser
Stimme zu lauschen, so wird uns die Landschaft, die wir durch-
wandern, zu einem Schauplatz menschlichen Daseins. Würde solchen
Erfahrungen eine ebenso allgemeine Aufmerksamkeit geschenkt,
wie etwa dem Pfeifen der Murmeltiere oder dem Springen der
Gletscherflöhe, so würde die Einsicht verbreiteter sein, dass in dem
Stillleben der Alp dieselben geistigen Kräfte wirksam sind, die
unsere eigene grössere Welt störend und fördernd bewegen"
(ib. S. 30). Übrigens enthält dieser Vortrag auch besonders in
der Beschreibung eines gefahrvollen Momentes interessante Be-
obachtungen zur experimentellen Psychologie (vgl. ib. S. 16).
Der Psychologie sind zwei Vorträge gewidmet, der eine
„Über die Aufmerksamkeit".^) Gerade ihm musste die experimen-
telle Psychologie, seiner Gewohnheit zu lernen und zu beobachten,
persönlich durchaus nützlich und förderlich scheinen, und sein Be-
dürfnis, wie sein Verlangen nach anschaulicher Kenntnis aller
Einzelvorgänge des Wissens und des Könnens musste ihm jene
moderne Forschungsweise sogar sympathisch machen. So sehen
wir auch in diesem Vortrage genaue Bezugnahme auf neuere
1) Separatabdruck aus dem Jahrbuch des S. A. C. Bd. XV.
*) Separatabdruck aus der Schweiz. Pädagog. Zeitschrift Heft 1, 1894.
Augrust Stadler f- 417
Arbeiten aus diesem Gebiete, zugleich aber auch die tiefere philo-
sophische Fähigkeit einer genauen Analyse psychischer Assoziationen,
und daher die kritische Überlegenheit jenen Aufgaben gegenüber.
Der Vortrag schliesst mit einem Zitat aus Grillparzers Hero
und Leander: „Die Sammlung hats getan und hats erkannt,
und die Zerstreuung nur verkennts und spottet." Die Sammlung
wird dem modernen Leben hier als das wichtigste Heilmittel
empfohlen.
Der andere dieser Vorträge behandelt die „Übung".^) Der
Vortrag beginnt mit dem Hinweis auf einen Vortrag über dasselbe
Thema von Emil Du Bois-Reyraond, so wie auf ein Buch von
Dr. Lagrange „Physiologie des Exercises du corps". Ferner
aber ist es eine Arbeit Rosenbachs über '„die Seekrankheit
als Typus der Kinetosen", aus der er seine Betrachtungen und
Schlüsse herleitet.
Andere kleine Arbeiten betreffen mehr systematische Fragen;
so zuvörderst diejenige „Zur Klassifikation der Wissen-
schaften", ein Problem, das ihn schon in der „Mittelschule"
beschäftigt hatte. ^) Er geht hier auf die bekannte Kirchhoff sehe
Definition der Beschreibung ein. Es ist der Gesichtspunkt der
Klassifikation, der uusern Freund dazu verleitet hatte, die Be-
schreibung in den Vordergrund der philosophischen Methodik zu
rücken, und darüber die alten Waffen und Schutzmittel der Reinheit
und der Erzeugung wie zu vergessen. Es bleibt mir ein Rätsel,
wie er mein Befremden gar nicht verstehen wollte, das ich ihm
über diesen plötzlichen Wandel seiner methodischen Denkweise
unumwunden brieflich äusserte, nachdem ihn Freund Natorp bereits
als Redakteur darauf aufmerksam gemacht hatte.
Ein Rathausvortrag vom Dezember 1906 behandelt „Herbert
Spencer". Es ist, als ob die alte Liebe zu England hier wieder
erwachte. Die Vielseitigkeit dieses englischen Philosophen, der
von der Psychologie zur Soziologie übergegangen ist, und der
neben Darwin die Evolution zu seinem Grundgedanken gemacht
hat, sie musste für Stadler in gewisser Weise nicht bloss reizend,
sondern beinahe auch imponierend bleiben. Hatte er selbst doch
mit Darwin begonnen, und für seine Welterfahrung mit dem ge-
f
1) Separatabdruck aus der Schweiz. Pädagogisch. Zeitschrift Heft 1,
Jahrgang 1900.
«) Archiv für systematische Philosophie, Band 2, Heft 1.
418 H. Cohen,
nauen Studium des englischen Volkslebens. Dennoch aber wird
man keine Überschätzung- des englischen Polyhistors hier finden,
sondern deutlich genug die feine Ironie, welche bei aller Aner-
kennung des grossen Wissens dennoch den Mangel im Gebrauch
des eigentlichen philosophischen Handwerks nicht ungerügt lässt,
freilich nicht in der scharfen und musterhaften Energie, mit
welcher der grosse englische Physiker, der natural philosopher,
William Thomson, dem Denkmal für Spencer in der West-
minster Abtei aus der methodischen Schätzung der echten Philo-
sophie heraus sich widersetzt hat.
In ähnlicher Würdigung, nur mit deutlicherer Tendenz der
Ablehnung hat ein Vortrag im Wintersemester 1908/09 als „Er-
öffnungsvorlesung" den „Pragmatismus" behandelt.^) Er ge-
denkt hier seines alten Lehrers Friedrich Albert Lange in
Bezug auf dessen Charakteristik der deutschen Aufklärung. Der
Pragmatismus sei moderne Aufklärung. „Wenn Sie das Buch
von W. James lesen, werden Sie bemerken, dass der Verfasser
mit einer gewissen Nervosität bemüht ist, sich mit den traditio-
nellen Standpunkten auseinanderzusetzen, bezw. sie zu diskredi-
tieren" (ib. S. 12). Dieser Diskreditierung muss die „Schul-
philosophie" entgegenarbeiten, und somit geht er zum Studium
Kants über.
Zwei kleine Aufsätze bringen die „Kantstudien". Den einen
über den „§ 1 der transscendentalen Ästhetik. Erster Aufsatz.
Aus einem Konversatorium für Anfänger".^) Es handelt sich da
um die allgemeinsten Voraussetzungen für das Beginnen der
Lesung Kants. Und eine andere Abhandlung ist überschrieben:
„die Frage als Prinzip des Erkennens und die Einleitung
der Kritik der reinen Vernunft".'') Auch hier handelt es
sich um die allgemeinsten Vorbedingungen für das Verständnis
von Kants Stil und Denkweise. Es wird hier auch auf das Ver-
hältnis Kants zu Hume eingegangen, und mit jugendkräftiger
Energie wird der Standpunkt des apriorischen Idealismus
wieder vertreten. „Der Materialismus sucht in den Welten nach
dem Thron, auf dem er die Gottheit fände — der Idealismus
nimmt sie auf in seinen Willen, d. h. er schafft sie, um sie
1) Separatabdruck aus der Schweiz. Pädagog. Zeitschrift, Jahr-
gang 1908.
2) Kantstudien Bd. I S. 100 ff.
8) Kantstudien Bd. XIII S. 238 ff.
August Stadler f. 419
ewig ZU besitzen" (ib. S. 248). Es klingt wie ein Vermächtnis,
dieses letzte gedruckte Wort: der ewige Besitz der Gottheit
bildet den Schöpfungswert des Idealismus.
Eines anon3'meu Aufsatzes müssen wir zum Schluss noch ge-
denken, der als eine Opfergabe seines Zürcherischen Patriotismus
entstanden. „Johann Heinrich Füssli als Privatmann,
Schriftsteller und Gelehrter. Freier Auszug aus dem
Manuskripte seines Biographen Wilhelm Füssli".^) Es
handelt sich hier um keine selbständige Arbeit, sondern um einen
,.Auszug*'. Wir haben daher über diese Arbeit nicht zu berichten,
so interessant für die Literaturgeschichte ihr Inhalt ist. Indessen
zeigt sich in dieser patriotischen Arbeit der Zug seiner selbstlosen
Hingabe an Stoffe, welche seine Lern- und Wissbegierde, wie sein
Gemütsleben anzogen.
Und bei der wenngleich nur flüchtigen Durchsicht seines
Nachlasses ist mir zu wirklicher Bewunderung die Durchführung
dieser selbstlosen Hingabe entgegengetreten. Wer, wie ich, die
geistvolle Art dieses Mannes kannte, und zudem noch die bis zu
den Sportübungen hin erstreckte Virtuosität seiner weltmännischen
Lebensweise, der muss mit wahrhafter Bewunderung erfüllt werden,
wenn er die Hefte durchblättert, in denen dieser geistvolle Denker
ganze Bücher excerpiert, um insbesondere für die Vorlesungen mit
dem emsigsten Fleisse reichen Anschauungsstoff zu sammeln. Es ist
dies ja vielleicht nicht nur ein Vorzug; aber bei der vorwiegenden
Selbständigkeit dieses Mannes und bei seiner methodischen Denk-
kräftigkeit ist es eben ein Zeichen seiner selbstlosen pädagogischen
Hingabe an die Lehrtätigkeit, dass er sich nicht damit Genüge
tun wollte, seine Zuhörer mit seiner Gedankenwelt zu erfüllen,
sondern dass er sich verpflichtet fühlte, seine emsigen Lesefrüchte
ihnen mitzuteilen, und überhaupt durch Beispiele und allgemeines
lehrreiches Material seine Gedanken zu beleben, um auch dadurch
ihnen bei dem Schüler zu fernerer Fruchtbarkeit zu verhelfen. In
dieser Methode liegt ein grosses Stück der Selbstlosigkeit, zu
welcher der akademische Lehrer sich zu erziehen hat.
Es wäre geschmacklos, einen schulgerechten Philosophen mit
einem Künstler zu vergleichen, und gar mit einem Wundermann
1) Neujahrsblatt herausgegeben von der Stadtbibliothek in Zürich
auf das Jahr 1900.
Kantstudien XV. 27
420 H. Cohen, August Stadler f.
der schöpferischen Zauberkraft. Aber indem ich auf das Lebens-
bild des Freundes binblicke, kommen mir die Worte nicht aus dem
Sinn, welche Grillparzer dem geliebten Schubert auf den (Grab-
stein geschrieben hat; und bei aller ehrerbietigen Distanz kann
ich mich nicht enthalten, sie auf dieses Schlusswort zu übertragen:
Die Philosophie begrub hier einen reichen Besitz,
aber noch viel schönere Hoffnungen.
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909.^^
Von Privatdozent Dr. Oscar Ewald -Wien.
Der Gesamtaspekt, den die deutsche Philosopie des Jahres
1909 gewährt, schliesst bei aller Differenzierung und Mannigfaltig-
keit der wirksamen Faktoren, der einander zum Teil wider-
sprechenden Elemente gleichwohl eine bestimmte Einheitlichkeit
in der Grundrichtung nicht aus. Hier setzen sich naturgemäss
die Bestrebungen fort, die wir in den früheren Jahresberichten
feststellen konnten und die sich mit zunehmender Deutlichkeit auf
ein gemeinschaftliches Ziel zu vereinigen scheinen. Noch immer
ist es der erk-enntnistheoretische Charakter, welcher einem grossen
Teil der philosophischen Produktion das Gepräge verleiht; noch
immer ist es die Orientierung an Kant, die hier den zentralen
Punkt bildet; noch immer erneuern sich die Versuche, über Kant
hinauszugehen, die historische Entwickelungslinie — wenn auch
in neuen Formen, auf neuer Grundlage — zu wiederholen, die
vom Begründer des Kritizismus zu Fichte, Schelling und Hegel
führt. Der Zug zur Neuromantik — im weitesten Sinne des Wortes —
hat wenig an Intensität eingebüsst. Teils im Zusammenhang mit
diesen Tendenzen, teils von ihnen unabhängig hat sich aber eine
Wendung vollzogen, die, wenngleich schon in den vergangenen
Jahren vorbereitet, gerade in der letzteren Zeit mit einer be-
merkenswerten Rapidität und Entschiedenheit einsetzte: die
Wendung von der reinen Erkenntnistheorie zur Metaphysik.
So nachdrücklich tritt sie in den Vordergrund, dass die Stellung-
nahme zu ihr voraussichtlich bald die Diskussion beherrschen
wird. Eingeleitet wurde sie gerade durch jene Richtung, welcho
sie in ihrem offiziellen Programm vielfach verleugnet hat: den
Neukantianismus. Wenn nämlich die Bedeutung Kants hauptsäch-
lich in der Begründung der transscendentalen Logik besteht, der
Logik, die sich zum Unterschiede von der alten, formalen mit den
Gesetzen des Seienden, des Realen beschäftigt, nicht mit denen
1) Wir verweisen auf unsere dem ersten Jahresbericht (Bd. XII)
beigefügte Bemerkung. Die Redaktion.
27*
422 O. Ewald,
des Denkens im Allgemeinen, wenn in ihr besonders das Problem
der Aussenwelt, der mathematischen Physik entfaltet wird, so ist
es klar, dass diese auf das Seiende als solches gerichtete Be-
trachtungsart sich bloss künstlich von der Metaphysik isolieren
lässt. Immer gebieterischer muss sich hier die Frage aufdrängen,
ob die Kategorien, die wir an die Dinge herantragen, diesen auch
entsprechen, ob sich in ihnen das wirkliche Sein und Werden
spiegelt oder nicht. Wenn Windelband, einer der stärksten Neu-
kantianer, auf dem Heidelberger Kongresse erklärte, man könne
nicht über das Denken und Erkennen Untersuchungen anstellen,
ohne zugleich ihr Verhältnis zum Seienden in Rechnung zu ziehen,
die Erkenntnistheorie zeige sich daher aufs innigste mit der Meta-
physik verknüpft, so klingt das wie die Formulierung eines Pro-
grammes, das die nächste Zukunft erfüllen muss; und es ist sehr
bezeichnend, dass es wiederum Windelband war, der sich um die
Einführung eines strengen Metaphysikers wie Bergson in
Deutschland bemüht hat.
So kann das Interesse an den Problemen der Metaphysik, das
ja stets im eigentlichen Mittelpunkt des Philosophierens stand, auf
die Dauer nicht zum Schweigen gebracht werden: nicht durch die
antimetaphysischen und ametaphysischen Gedankengänge extremer
Positivisten und Phänomenalisten — man denke in erster Reihe
an Avenarius und Mach — und noch weniger durch die Indifferenz,
den Versuch, an den metaphysischen Fragen überhaupt vorbei-
zugehen, sie weder zu bejahen noch zu verneinen, der von
manchen Kantianern unternommen wurde. Wir werden sehen, dass
gerade im vergangenen Jahre die Beschäftigung mit der Meta-
physik innerhalb der wissenschaftlichen Philosophie eine intensivere
geworden ist.
Dass aber alle derartigen Versuche, sofern sie auf solider
Grundlage gebaut sind, ihre hauptsächliche Orientierung am Kri-
tizismus gewinnen oder wenigstens eine unmittelbare innere Be-
ziehung zu Kant besitzen, ist für den, der die Entwickelungs-
geschichte der deutschen Philosophie kennt, beinahe eine Selbst-
verständlichkeit. Wir können daher unsere Darstellung wieder
mit dem Neukantianismus beginnen und die Eigenart der einzelnen
Leistungen an ihrer grösseren oder geringeren Distanz von diesem
Ausgangspunkte bestimmen.
Hier möchte ich abermals Windelband nennen; so wenig
er, der ja schon in seineu „Präludien" die Annäherung an Fichte
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909. 423
vorbereitete, zu den dogmatischen Neukantianern gehört, hat
er dennoch stets allem gegenüber, was Empirismus, Psychologis-
mus und Relativismus heisst, die Grundsätze des Transscendenta-
lismus vertreten. Er ist es, dem wir die genaue Unterscheidung
der kritischen und der genetischen Methode verdanken, die von
den Empiristen meistenteils zusammengeworfen wurden.
In seiner Eektoratsrede „Der Wille zur Wahrheit" (Winter,
Heidelberg) hat er nun gegen die relativistische und psycholo-
gistische Form des Pragmatismus das Wort ergriffen. Dieser ge-
mäss sind theoretische Wahrheit und praktische Nutzbarkeit
Wechselbegriffe, wobei die letztere allerdings auch in einem
höheren Sinne genommen wird. Gegen eine solche Identifizierung
richtet Windelband die Spitze seiner Polemik. Die Beziehung,
die hier zwischen Theorie und Praxis gestiftet wird, ist übrigens
ein in der Geschichte der Philosophie häufig wiederkehrendes
Motiv. Es reicht bis auf die antiken Sophisten zurück, denen
Sokrates, Plato, Aristoteles die Lehre von der absoluten Wahrheit
entgegenhielten. In der modernen und modernsten Philosophie ist
es noch häufiger aufgetreten. Ja, man darf wohl sagen, dass die
ganze psychologistische und erapiristische Erkenntnistheorie der
Neuzeit unter diesem Zeichen steht. So ist Humes Erklärung der
Kausalität aus der organischen Übung und Gewöhnung, aus dem
hierin wurzelnden Instinkte der Erwartung, ein deutlicher Versuch,
abstrakte Verstandesprinzipien auf den Vorgang der Anpassung
an die Verhältnisse der Umgebung, mithin auf ein biologisches
Faktum zurückzuführen. Im neunzehnten .Jahrhundert sind unter
dem wachsenden Einflüsse der Naturforschung, zumal durch das
Emporkommen der evolutionistischen und Darwinistischen Theorien
die gleichen Gedankengänge noch viel mehr in den Vordergrund
getreten. Zumal Herbert Spencer unternahm es, in seinem System
das Logische im extremen Gegensatz zum Rationalismus dem Bio-
logischen unterzuordnen. Auch deutsche Philosophen, wie Mach
und Avenarius, haben die gleiche Tendenz verfolgt. Denn die
Prinzipien, die von ihnen als Grundgesetz des Geistigen hinge-
stellt werden, das der Ökonomie und das des kleinsten Kraft-
masses, sind ausschliesslich biologischen Ursprungs. Der Pragma-
tismus in seiner extremen Form zieht gleichsam die Summe dieser
Bestrebungen. Er wurde auch durch die Wendung vom Intellek-
tualismus zum Voluntarismus, die in der neuesten Philosophie zum
Ausdrucke gelangt, vorbereitet. Allerdings heisst es, hier besondere
424 O. Ewald,
Vorsicht üben und nicUt die äussere Ähnlichkeit verschiedener
Standpunkte überschätzen. Weder Kant, der den Primat der
praktischen Vernunft lehrte, noch Schopenhauer, der im Willen
die Wurzel alles Bewusstseins erblickt, hat eine nähere Beziehung
zur prag-matistischen Doktrin, was schon aus dem unzweideutigen
Faktum erhellt, dass beide strenge Aprioristen waren. Man niuss
hier die immanente und die metaphysische Betrachtungsweise aus-
einanderhalten. Das System der Erkenntnisbegriffe ist für den
Aprioristen unter dem Gesichtspunkte der Immanenz ein geschlos-
senes, es umschliesst keinerlei variable Inhalte. Aber unter dem
transscendeuten, metaphysischen Gesichtspunkte ist es immerhin
möglich, ihnen ein höheres Sein, zum Beispiele einem Urwillen
überzuordnen, dessen Erscheinungsform sie darstellen. Die letztere
ist dann relativ selbständig, ungeachtet ihrer ontologischen Ab-
hängigkeit.
Windelband hebt den Sachverhalt sehr deutlich heraus und
umgrenzt ihn logisch aufs Sorgfältigste. Er giebt ohne weiteres
zu, dass der Wille zur Wahrheit kein ursprünglicher ist, dass auch
alles Erkennen anfangs Mittel zur Erreichung praktischer Zwecke
war, dass aber, wie es im Psychischen so oft sich erweist,
das Mittel im Laufe der Entwickelung selbst zum Zwecke wurde.
Dieser Prozess der Übertragung sagt aber gar nichts über das
Wesen des Übertragenen, der W^ahrheit, aus. Denn er kann zu
sehr wertvollen, aber auch zu sehr verwerflichen Ergebnissen
führen. So ist zum Beispiele der Geiz daraus entstanden, dass
das Geld aus einem blossen Mittel zur Erwerbung wirklicher
Güter zu einem imaginären Selbstzwecke gerinnt. Es entstehen
mithin auf ganz dieselbe Weise so völlig verschiedene Phänomene
wie die Habgier und der Wahrheitstrieb, und daraus folgt, dass
der psychologische Mechanismus seiner Entstehung gar nichts über
den Wert eines Phänomens aussagt. Windelband erblickt in dieser
Theorie ein erkenntnistheoretisches Analogon zu dem schranken-
losen moralischen Individualismus und dem ästhetischen Impressio-
nismus, sofern alle diese Theorien einen Standpunkt jenseits der
Werte einnehmen wollen. Sodann trägt Windelband auch den
feineren Schattierungen des Pragmatismus Rücksicht, die in der
Lehre hervortreten, dass alles Erkennen Urteilen ist und dass das
Urteil einen Willensakt voraussetzt. Sicherlich die Urteilsfunktion
ist als ein Anerkennen oder Verwerfen eine Willensform, aber die
Geltung des Inhalts ist unabhängig von jedem Wollen. Die
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909. 425
Wahrheit stammt nicht aus ihm, sondern aus den „Sachen"
selbst.
Diese Auffassung- kommt allerdings dem Versuch ziemlich
nahe, den Josiah Royce auf dem Heidelberger Kongresse unter-
nahm, den Pragmatismus mit dem Rationalismus zu vereinigen,
ein Versuch, über den ich bereits im letzten Jahresberichte ge-
sprochen habe : Der Glaube an eine absolute Wahrheit soll mit der
Überzeugung in Verbindung gebracht werden, dass dieser Glaube
sich in voluntaristischer Form realisiert; ein Versuch, dessen
nahe Verwandtschaft mit dem Neufichteanismus ich damals dar-
legte, i)
Die Rede Windelbands zeigt aufs Neue, dass der kritische
Wahrheitsbegriff, der auf Kant zurückreicht, durch solche Angriffe
nicht erschüttert werden kann. Gleichwohl ist sein inneres Ge-
füge noch keineswegs ein geschlossenes und lückenloses. So deut-
lich er sich gegen die beiden anderen Wahrheitsbegriffe, den
metaphysischen und den psychologischen abgrenzt — und in dieser
Abgrenzung liegt seine Originalität, seine grundlegende Bedeutung
— es umgeben ihn noch viele Dunkelheiten, die der Klärung be-
dürfen. Vor allem ist es, wie ich schon angedeutet, sein Verhält-
nis zur Metaphysik, das in sich noch ungelöste Probleme verbirgt.
Die getreuesten Interpreten der Kantischen Lehre finden wir im
Kreise jener Denker, die sich in den „Kantstudien" zu einer mög-
lichst einheitlichen und widerspruchsfreien Auslegung und Weiter-
führung der transscendentalen Grundmotive vereinigen. Auch im
vergangenen Jahre boten sie eine Reihe von Beiträgen, (ieren Be-
deutung nicht auf das Historische beschränkt bleibt. Über „das
Verhältnis des Pragmatismus zu Kant" schreibt Lorenz-Ightham
(Kent), der sich bestrebt zeigt, die pragmatistischen Ansätze in
der kritischen Philosophie hervorzuheben. So die Postulate der
praktischen Vernunft, ihren Primat über die theoretische, die Ak-
tivität des Verstandes, die Bedeutung des Glaubensprinzips. Aber
gerade an diesen Analogien wird auch der Abstand zwischen
beiden Theorien sichtbar. Wie Lorenz nämlich mit Recht betont,
ist der Pragmatismus mit einer streng aprioristischen Theorie
unverträglich. Er erkennt keine geistigen Werte an, die in sich
selbst unbedingte und ewige Bedeutung haben, denn der Geist ist
ihm eine blosse Funktion des Willens und dementsprechend eine
1) Kantstudien, Bd. XIV, Heft 4, S. 357.
426 O. Ewald,
variable, abhängige, da der Wille ja selbst veränderlich ist, seine
Ziele und Richtungen wechseln kann. Die Beziehung zu Schopen-
hauer wird ausdrücklich hervorgehoben, freilich mit dem bezeich-
nenden Vorbehalt, dass die aprioristischen und metaphysischen
Momente auszuschalten sind. Die einzige wesentliche Konzession,
die dem Rationalismus gemacht wird, ist die, dass die Aussenwelt
nicht fix und fertig vom Bewusstsein vorgefunden, sondern mit
dessen eigenen Mitteln bearbeitet wird. Wie man sieht, ist da-
mit kaum das Minimum der transscendentalen Philosophie ge-
geben.
Von den anderen Beiträgen erwähne ich den unterhaltenden
Aufsatz „Das erste Auftauchen der Kantischen Philosophie in
Amerika" von Professor Mattoon Monroe Curtis, der von dem bei-
spiellosen Unverständnis zeugt, mit dem Kants Lehre zunächst
aufgenommen wurde, ferner Bruno Bauch „Zwei Gedenkschriften
zu D. Fr. Strauss' hundertstem Geburtstage"'. Die beiden Schriften,
mit denen sich Bauch beschäftigt, sind Kuno Fischer „Über David
Friedrich Strauss", gesammelte Aufsätze, die ungefähr vor einem
halben Jahrhundert entstanden und erst nach Fischers Tode her-
ausgegeben wurden, und Theobald Ziegler „David Friedrich
Strauss". Bauch sucht im Anschluss an beiden Arbeiten die
schweren Vorwürfe einigermassen zu entkräften, die heute zum
Teile unter Nietzsches Einfluss gegen den Verfasser des „alten
und neuen Glaubens" erhoben werden. Nachdrücklicher noch als
Ziegler weist er auf den schwachen Punkt in Straussens Ge-
dankenentwickelung hin, die Vernachlässigung der Kantischen
Philosophie, welche es offenbar mit sich brachte, dass Strauss
von dem einen Extrem, dem Hegelianismus, zum anderen, dem
materialistischen schwankte.
Über den dritten internationalen Kongress für Philosophie
berichtet Bubnoff in einem kurzen Referate.
Daneben erschien eine grosse Anzahl von Ergänzungsheften,
die sich durchwegs mit interessanten Problemen befassen: „Kants
Prinzip der Autonomie" von Kurt Bache, „Das Problem der
Theodicee in der Philosophie und Literatur des 18. Jahrhundert"
eine gekrönte Preisschrift von Josef Kremer, „Der Zweckbegriff
bei Kant und sein Verhältnis zu den Kategorien" von Wilhelm
Ernst, „Individuelle Kausalität" von Sergius Hessen, „Kants Lehre
vom Bewusstsein überhaupt" von Hans Amrhein. Insbesondere
die letztgenannte Schrift ist von aktueller Bedeutung. Der Be-
Die deutsche Philosophie im Jahi-e 1909. 427
griff des „Bewusstseins überhaupt" nimmt ja iu der g-egenwärtigen
Erkenntnistheorie eine zentrale Stelhing ein : er bezeichnet den
Punkt, an dem sich der >^eukantische Transscendentalismus gleich-
massig gegen den Psychologismus und gegen die Metaph}-sik ab-
grenzt, in dem er sozusagen verankert ist. Einerseits nämlich
repräsentiert er, als Begriff des Normalbewusstseins, das gemein-
same Mass, die allgemeine Richtschnur für die verschiedeneu in-
dividuellen Bewusstseinsformeu, wodurch die subjektive Willkür
und Relativität überwunden werden soll, andererseits wird er als
eine blosse Abstraktion, als logischer Begriff, nicht als metaphy-
sische Realität betrachtet. Das unterscheidet ihn streng vom ab-
soluten, transscendeutalen Ich der romantischen Identitätsphilo-
sophen.
In dieser Anwendung des Begriffes kommen Schuppe, Cohen,
Windelband, Rickert wenigstens dem Prinzip nach übereiu ; kleine
Nuancen des Unterschiedes verschwinden hinter der prinzipiellen
Gemeinschaft. Mit Recht bemerkt Yaihinger in seinem Geleits-
worte zu Amrheins Schrift, dass es die Stellungnahme zum Begriff
des Bewusstseins überhaupt ist, die es bedingt, dass einer Kriti-
zist oder Dogmatist genannt werden muss. Hier weist Yaihinger
in einigen kurzen und gehaltvollen Sätzen auf die bemerkenswerte
Wandlung hin, die sich an dem genannten Begriff gegenwärtig
vollzogen hat und der Wandlung entspricht, die den Übergang von
Kant zur Identitätsphilosophie bezeichnet. ,,Bei seinen letzten
Verwendern sprang aus diesem kritischen Grenzbegriff Kants, aus
dieser rein methodischen Hilfsvorstellung ein Gebilde heraus, das
dem ehemaligen „Absoluten"' seligen Angedenkens zum Verwechseln
ähnlich sieht." Vom „Bewusstsein überhaupt" zum intelligiblen
Subjekt und von hier zum Absoluten ist freilich bloss ein Schritt:
indessen dieser Schritt bedeutet eben einen völligen Wechsel der
Perspektive, das Vertauschen des transscendeutalen Standpunktes
mit dem transscendenten. Die Abhandlung Amrheins gliedert sich
in zwei Teile, deren erster Kants Bewusstseinstheorie enthält, deren
zweiter die Lehre vom „Bewusstsein überhaupt" in der nachkanti-
schen Philosophie behandelt. Hier wird die Untersuchung bis zur
jüngsten Gegenwart, bis Lipps und Münsterberg geführt und auch
die Einwände, die neuerdings gegen diesen Begriff von Drews,
Hartmann, Rehmke, Michaltschew, Uphues, Nelson erhoben wurden,
finden Berücksichtigung. Im allgemeinen richten sich diese Ein-
wände gegen den Versuch, mit Hilfe einer logischen Abstraktion,
428 0. Ewald,
wie es das „Bewiisstsein überhaupt" ist, Probleme der Meta-
phj^sik, mithin Probleme realen Seins zur Entscheidung zu bring-en.
Und das ist insofern richtig, als Realitäten und logische Begriffe
inkommensurabel sind und demnach Probleme, wie zum Beispiele
das der Aussen weit nicht allein durch die Beziehung auf jenen Hilfs-
begriff gelöst werden können. — Besondere Erwähnung verdient
Rickerts prinzipielle Untersuchung „Zwei Wege der Erkenntnis-
theorie'', deren Untertitel „Transscendentalpsychologie und Trans-
scendentallogik" die Wichtigkeit des Gegenstandes vollauf be-
zeichnet. Auch hier nimmt Rickert im Allgemeinen den Stand-
punkt seiner früheren Werke ein, aber er sucht denselben in be-
merkenswerter Weise zu ergänzen. Der Gegenstand der Erkennt-
nis ist insofern ein transscendentaler, als er ihr die Norm und
Richtung vorzeichnet, mithin von ihr unabhängig ist, nicht aber
sofern er eine zweite metaphysische Realität darstellt. Den Ten-
denzen, zu einer solchen metaphysischen Realität aufzusteigen,
hält er das Argument entgegen, dass die Annahme derselben sich
wieder in Form eines Urteils kleiden müsste und demgemäss
von der Wahrheit der Urteilsform abhängig bliebe; weiter als zur
Festsetzung der letzteren könne deswegen die Erkenntnistheorie
nicht gelangen. Und ihr eigentliches Problem ist es zu erklären,
was in dieser Wahrheit enthalten ist. Dass alles Erkennen ein
Urteilen ist, wird auch hier von Rickert vorausgesetzt. In den
weiteren, ungemein scharfsinnigen Analysen charakterisiert er die
zwei Wege, die zur Ergründung des Erkenntnisaktes führen. Der
transscendentalpsychologische fasst ihn als einen psychischen
Vorgang und dringt durch dessen genaue Zergliederung allmählig
zum Gegenstande der Erkenntnis vor, der andere, der transscenden-
tallogische, geht vom Gegenstande der Erkenntnis unmittelbar aus.
Wir können auch sagen, der erstere ist in seinem Ausgangspunkte
phänomenologisch, er betrachtet das Erkennen von der Seite des
Seins, als ein psychisches Phänomen, der letztere ist rein logisch,
er betrachtet das Erkennen nicht als reales Faktum, sondern aus-
schliesslich als ideale Bedeutung. Beide Betrachtungsarten be-
sitzen ihre Vorzüge und Mängel, eben deshalb ergänzen sie ein-
ander. Zunächst charakterisiert Rickert das transscendentalpsy-
chologische Verfahren. Selbstverständlich ist auch dieses, wie
bereits sein Namen zeigt, nicht mit dem Psychologismus zu ver-
wechseln, denn es erkennt die transscendentalen Werte ja an, es
will bloss die Art ihres inneren Gegebenseins erforschen, ohne sie
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909. 429
deswegen in empirische Zusammenhänge des Seelenlebens aufzu-
lösen. Der Gegenstand des Erkennens weist über die Erfahrung
hinaus, sofern er jede, auch die einfachste Erfahrung, erst er-
möglicht, er drückt sich in der Notwendigkeit aus, ein Urteil zu
vollziehen, seine logische Form zu bejahen, er tritt an das Be-
wusstsein demnach als ein Sollen, eine Forderung heran. Dies
überaus schwierige Verhältnis zwischen logischer Idealität und
psychischer Realisierung, das in seinen Tiefen überhaupt ein
Grenzproblem des menschlichen Geistes bezeichnet, skizziert Rickert
in einigen ausdrucksvollen Sätzen. „Wird nun aber der Gegen-
stand in einem transscendenten Sollen gefunden, so entsteht die
Frage, wie das Denken diesen von ihm unabhängigen Gegen-
stand erfasst, oder wie das Transscendente immanent wird. Wir
sahen, dass die Forderung, auch wenn sie nicht von einem Sein
gestellt wird, also auch wenn sie eine unbedingte und transscen-
dente Forderung ist, doch stets im wirklichen Erkennen als an
eine Wirklichkeit geknüpft auftritt. An dieser Wirklichkeit rauss
also etwas haften, das darauf hindeutet, dass sie mehr als ein
bloss psychischer Vorgang ist. Es muss sich mit anderen Werten
in unseren Denkprozessen ein Etwas finden, das immanent ist
und zugleich über sich ins Transscendente hinausweist, ein W^ahr-
heitskriterium, das einerseits der Bestandteil eines individuellen
Seelenlebens ist und andererseits eine schlechthin notwendige,
überindividuelle Forderung verbürgt. W^orin besteht dieses Etwas?
Wir haben willkürliche und notwendige Forderungen und deren
Anerkennung von einander unterschieden. Auf Urteile angewendet,
heisst dies, dass es evidente und nicht evidente Urteile giebt.
Betrachten wir das Erkennen als einen psychischen Prozess, so
ist also die Evidenz das psj'chische Sein, das uns die Wahrheit
des Urteils verbürgt." Genauer ausgedrückt, ist ein Evidenzgefühl
der psychische Repräsentant dieses transscendenten Sollens. So
weit reicht die psychische Betrachtung, von der Rickert nunmehr
zu zeigen versucht, dass sie schon insgeheim ein Anlehen bei der
transscendental-logischen nehmen muss. Denn ein Gefühl, über-
haupt ein seelischer Vorgang als solcher weist nicht über sich
hinaus, sondern erst seine Deutung. ,.Dem Relativismus sind wir
bloss dadurch entgangen, dass wir nicht ein psychisches Sein ana-
lysierten, sondern, wie wir sagen können, seinen Sinn kon-
struierten'' — somit durch ein logisches Verfahren. Der zweite
Weg, der transscendental-logische, richtet sich dementsprechend
430 0, Ewald,
überhaupt nicht mehr auf den Akt des Denkens, sondern auch
dasjenige, was in ihm zum Ausdruck kommt, auf seinen idealen
Gehalt. Er geht nicht auf die innere Vergegenwärtigung des
Gedankens, die immer in zeitlichen Grenzen eingeschlossen ist,
sondern auf die zeitlose, ewige Bedeutung des Satzes. Jene ist
ein Stück der empirischen Wirklichkeit, diese ist überhaupt nichts
Reales, Im Sinne dieser zweiten Methode unternimmt es Rickert
nun, das Wesen des Satzes, seine Bedeutung, seinen Wahrheits-
wert zu definieren und gelangt hier zu sehr interessanten Be-
stimmungen. Die Bedeutung eines Satzes, die auf Wahrheit An-
spruch macht, nennt er zum Unterschiede von der blossen Wort-
bedeutung seinen Sinn. Der Sinn deckt sich auch nicht mit dem
idealen Sein, das zum Beispiele den Gebilden der Mathematik
eignet, wiewohl er mit ihm manches gemeinsam hat. Diese
Unterscheidung, die man im Kantischen Sprachgebrauche auch als
eine Unterscheidung zwischen Apodiktizität und Idealität be-
zeichnen kann, ist so wichtig, dass ich die nähere Begründung
derselben wörtlich aus dem Texte anführe. „Ich bilde," so
schreibt Rickert, „einen wahren Satz über und von einem idealen
Sein, aber der Sinn dieses Satzes fällt ebensowenig mit dem
idealen Sein selbst zusammen, wie der Sinn eines Satzes über
reales Sein mit diesem identisch ist. Der Winkel im Halbkreis
ist nicht wahr, also kein logischer Sinn, wie wir dies Wort hier
verstehen wollen. Wahr ist erst der Sinn des Satzes über die
Grösse dieses Winkels." Der logische Sinn deckt sich weder mit
einem empirischen, noch mit einem idealen, noch auch mit
einem metaphysischen Sein, er ist überhaupt nichts Seiendes, des-
wegen aber nicht mit dem Nichts identisch, sondern ein Wert.
Für den Wert bleibt es charakteristisch, dass er nicht ist,
sondern gilt. So muss man die Erkenntnistheorie die Lehre von
den Werten nennen, eine Lehre, welche allen Wissenschaften, die
sich mit dem Seienden beschäftigen, notwendig vorausgeht. Der
Wert darf aber auch nicht, wie es häufig geschehen ist, mit der
Norm verwechselt werden. Erst indem er in die Sphäre des
Tatsächlichen, des Realen gezogen wird, indem er einem Subjekt
gegenübertritt, erheischt er dessen Anerkennung, wird er zur For-
derung, zum Sollen, zur Norm. Schon Husserl hatte darauf hin-
gewiesen, dass normative Disziplinen eines rein theoretischen Fun-
daments bedürfen. Nach Rickerts treffender Charakteristik ist
die Norm der psychologische Ausdruck des absoluten Wertes: für
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909. 431
einen streng logischen Gesichtspunkt kommt er daher kaum in
Anbetracht. Im letzten Abschnitt seiner Abhandlung sucht
Rickert zu zeigen, dass die beiden genannten Methoden nicht für
sich allein bestehen können, sondern einander zu ergänzen be-
stimmt sind. Oder, wie es Rickert sehr prägnant zum Ausdrucke
bringt: man kann nicht über den Gegenstand der Erkenntnis Be-
trachtungen anstellen, ohne zugleich die Erkenntnis des Gegen-
standes mit in Rechnung zu ziehen. Weit entfernt, der psycho-
logischen Vorbereitung gänzlich entraten zu können, muss jede
rein logische und gegenstaudstheoretische Untersuchung, um sich
ihres Objekts zu versichern, Phänomenologie und Psychologie
treiben. Denn die logischen Werte sind in psychische Erlebnisse
eingebettet, aus denen sie sozusagen erst herausgelöst werden
müssen. So wenig man beide Methoden durcheinanderwerfen darf,
sie schliessen einander gerade dann harmonisch zusammen, wenn
man sich ihrer Verschiedenheit bewusst geworden ist. Die
Transscendentalpsj^chologie führt vom ersten Ansatz bis zum er-
regenden Moment, um dann für die werttheoretischen Betracht-
ungen der transscendentalen Logik das Feld zu räumen.
Es sind sehr bedeutungsvolle Probleme, an die Rickert in
seiner neuen Schrift rührt. Im Allgemeinen gewinnt man den
Eindruck, dass sich darin eine leise Verschiebung des Schwer-
punktes vom Neufichteauismus zu jeuer Richtung des absoluten
Logismus kundgiebt, die in Husserl und Meinong, den Begründern
der Gegenstaudstheorie, ihre Vertreter hat. Dabei kann von
keiner Preisgabe, nicht einmal von einer wesentlichen Veränderung
der Position die Rede sein, die Rickert früher einnahm. Im
Gegenteile, sie erscheint mit all ihren charakteristischen Merk-
malen, ihrer merkwürdigen Verbindung eines reinen Phänomenalis-
raus, eines richtig verstandenen Positivismus mit einem strengen
Trausscendentalismus, hier noch deutlicher herausgehoben. Was
aber gleichwohl den Abstand zwischen Rickert und jenen Denkern
mindert, ist die stärkere Betonung des Abstandes von Norm und
Wert, die Darstellung des Wertes als einer in sich ruhenden und
vollendeten Essenz, der Hinweis auf das Objektive, Gegenständ-
liche in ihm. Wir gewinnen dadurch einen Einblick in den
inneren Zusammenhang der verschiedeneu Denkrichtungen, die
wohl weniger im Ziele als in den Mitteln und Wegen voneinander
abweichen. Diese Ausführungen sollen zur Grundlage einer
neuen Bearbeitung der Hauptprobleme der Logik dienen, die
432 0. Ewald.
Rickert in Aussicht stellt und der man mit Spannung entgegen-
sehen darf.
Das Verhältnis zwischen Tatsache und Wert, an dem sich
diese ganze Betrachtungsweise orientiert, bezeichnet ein philoso-
phisches Grenzproblem, das, wie Rickert richtig bemerkt, zwar
eine unmittelbare Erlebniseinheit repräsentiert, sowie es aber in
denkender Reflexion erfasst wird, in beide Seiten auseinanderfällt.
Es giebt keine Tatsache, die, um als solche fixiert zu werden,
nicht schon unter einem logischen Werte stünde; und andererseits
keinen Wert, der im Erleben nicht selbst wiederum als Tatsäch-
lichkeit gesetzt wäre.
Es geht gerade aus dieser Studie wieder hervor, dass Rickert
bloss mit grossen Einschränkungen als Urheber und Vertreter des
Neufichteanismus bezeichnet werden darf, dass er viel tiefer in
der Kantischen Weltauffassuug selbst wurzelt. Was ihn nämlich
zum Kritizisten stempelt und von allen Nachkantianern, Identitäts-
philosophen und Romantikern trennt, ist sein phänomenalistisches
Bekenntnis, seine Stellungaahme gegen die Metaphysik, seine
strenge Auseinanderhaltung des Theoretischen, Logischen und des
Ontologischen, Metaphysischen. Deswegen lehnt er auch Fichtes
Lehre vom Weltwillen als dem Urgründe alles Seins und Denkens,
als dem Erzeuger der Kategorien ab. Denn diese Annahme
würde, um auf Wahrheit Anspruch zu erheben, wieder die Giltig-
keit der obersten logischen Axiome voraussetzen: sodass mithin
die rein theoretischen Werte, die überhaupt keiner Realität an-
gehören, das Letzte und Tiefste sind, gleichsam den Endpunkt der
Analyse bezeichnen.
Zwischen diesem streng immanenten Logismus und der An-
schauung eines Fichte, Schelling, Hegel öffnet sich eine weite
Kluft. Denn das Wesentliche der Identitätsphilosophen ist —
was übrigens schon in ihrem Namen gelegen — eben dies, dass
sie die Distanz zwischen Denken und Sein überwinden wollen, sie
geradezu negieren, dass ihnen die logischen Formen zugleich die
Formen der Reahtät darstellen. Und zwar erreicht diese Tendenz
in Hegel ihren Höhepunkt. Fichte und Schelling nämlich gehen,
wohl im Anschluss an Kants Moralphilosophie, immer noch hinter
das Theoretische auf irgend ein metaphysisches Prinzip, den
Willen, das Absolute, zurück, um aus ihm das Theoretische zu
deduzieren. Hegel dagegen ist reiner Logiker: und damit scheint
er erst die transscendentale Methode zur vollen Verwirklichung zu
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909. 433
bringen, zu der Kant den entscheidenden Anstoss gegeben. , Es
muss den Hegelianern, auch den Neuhegelianern eingeräumt werden,
dass der Standpunkt ihres Meisters wirklich in einer Beziehung
der konsequentere war. Bei Kant zeigt sich die transscendentale
Methode noch mit einer unleugbaren Zweideutigkeit behaftet.
Einerseits ist es in ihrem Wesen gelegen, uns ewige, notwendige,
absolute Wahrheiten zu vermitteln, zum Beispiele die Wahrheiten
der Mathematik, uns über die Zufälligkeiten des Euipirischen,
Tatsächlichen zu erheben, andrerseits bindet Kant diese Wahr-
heiten dennoch wieder an etwas Tatsächliches, sofern er sie aus
dem Subjekt, als dessen innerste Formen, hervorgehen lässt. Das
Subjekt ist aber selbst ein Stück Realität wie das Objekt, mithin
eine blosse Tatsache, an der keine unmittelbare logische Not-
wendigkeit hängt. So ist Kant über den Subjektivismus, und
damit über den Psychologismus, die Tatsachenbetrachtung niemals
völlig hinausgekommen. Das Logische war bei ihm immer noch
in eine konstante Beziehung zum Ich gesetzt, es war gleichsam
eine Funktion des Ich, und erst Hegel befreite es von dieser Ab-
hängigkeit, nachdem Fichte und Schelling seine autonome Selbst-
ständigkeit vorbereitet hatten. Hegels Idee hat ihren Schwerpunkt
in sich selbst, sie ist eine absolute, logische Notwendigkeit, die
souverän das Reale meistert und demzufolge nicht wiederum E'unk-
tion einer Realität ist, sei dieselbe nun objektiver oder subjektiver
Art. Denn wenn die Kategorien auch nach der Darstellung Kants
Formen oder Produkte des Subjekts sind, so ist eben diese Zuge-
hörigkeit, diese Abhängigkeit vom Subjekt wiederum eine Tatsache,
über die daher nach logischen Kriterien entschieden werden muss.
Wenn zum Beispiele die Kategorien aus der Aktivität des Subjekts
hervorgehend gedacht werden, sich mithin zu diesem verhalten
wie die Wirkung zur Ursache, so setzt ein solches Verhältnis
schon die Kategorie der Kausalität voraus. Das Logische ist
mithin immer das Prius, das aus dem Faktischen nicht abgeleitet
werden kann. Hier sieht man am deutlichsten die verbindenden
Fäden, die vom Transscendentalismus zum Panlogismus hinüber-
laufen. Andererseits finden wir auch hier den Zusammenhang
zwischen dem Standpunkte Hegels und dem modernen Logismus,
der durch Windelband, Rickert, Husserl, schon durch Schuppe
vertreten wird. Jene Priorität des Logischen vor dem Realen
ist ja auch das Argument, auf das Rickert, wie wir soeben
gesehen, seine erkenntuistheoretische Position gründete. Der
434 O. Ewald,
grosse Unterschied zwischen dem modernen Logismus und dem
Hegels besteht vor allem darin, dass jener Idealität und Realität
auseinanderreisst, von den Tatsachen abstrahiert, während dieser
beide einander durchdringen lässt. Hegels Logik ist nicht der
Inbegriff und das System idealer Gesetze, die sich jenseits der
Ebene des Wirklichen entwickeln, sondern die Lehre von der
Wirklichkeit und ihren Gesetzen selbst, sie ist zugleich Metaphysik.
Dagegen ist der moderne Logismus ein blosser Formalismus, der
höchstens den Rahmen der Dinge zieht, nicht aber ihren konkreten
Inhalt berührt. Dieser fundamentale Unterschied geht wohl auch
daraus hervor, dass die Rationalisten und Antipsychologisten der
Gegenwart hauptsächlich an der formalen Logik orientiert sind,
wogegen Hegel als Nachfolger Kants von der neu begründeten
transscendentalen Logik ausging, die nicht die allgemeinen Grund-
sätze des Denkens, sondern den Zusammenhang von Denken und
Sein, wie er sich im Erkennen offenbart, betrachtet.
Wir können all diese Zusammenhänge und Übergänge
nicht allein den gegenwärtigen Nachbildungen und Kopien, sondern
in erster Reihe den grossen Originalen selbst entnehmen, die uns
in neuen, übersichtlichen Ausgaben, mit ausführlichen Einleitungen
versehen, vorliegen. Ein entschiedenes Verdienst um die Förder-
ung des Interesses an der grossen Geistesbewegung von Fichte
bis Hegel, vor allem um die Verbreitung der philosophischen
Meisterwerke jener Zeit, hat sich der Verlag Eckardt in Leipzig
durch die von ihm veranstaltete Ausgabe derselben erworben.
Nachdem schon vor längerer Zeit eine Auswahl von Schellings
Werken erschienen war, wurde eine solche von Fichtes Schriften
in sechs Bänden und eine auf zwölf Bände berechnete Gesamt-
ausgabe Hegels vorbereitet. Von Fichte liegen der zweite Band,
enthaltend die „Grundlage des Naturrechtes" und das „System
der Sittenlehre'' und der vierte vor, der die „Darstellung der
Wissenschaftslehre" aus dem Jahre 1801 enthält; die Herausgabe
besorgt Medicus, der Verfasser der bekannten Monographie über
Fichte. Von Hegel liegt der zweite Band vor, „Phänomenologie
des Geistes" mit einer ausführlichen Einleitung des Herausgebers
Otto Weiss. Dies ist, innerhalb der letzten Jahre, die dritte Neu-
ausgabe der „Phänomenologie", die der von Holland und Georg
Lasson auf dem Fusse folgt. Es ist sehr bezeichnend, dass dies
Werk, welches vor mehr als hundert Jahren den ersten Vorstoss
der grossen Bewegung bezeichnete, um einer späteren Generation
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909. 435
beinahe in Vergessenheit zu geraten, nunmehr eine glanzvolle
Wiederauferstehung feiert. In der Einleitung versucht Weiss eine
Skizze des Aufbaues der Phänomenologie vom elementaren sinn-
lichen Empfinden durch die Stufen der Wahrnehmung und des
Verstandes bis zum Selbstbewustsein der Vernunft. Es handelt
sich hier aber, wie neuerlichen Tendenzen, den Unterschied
zwischen Hegel und Darwin zu nivellieren, gegenüber nicht stark
genug hervorgehoben werden kann, keineswegs um eine genetische,
sondern um eine transscendentale, wesenhafte Entwickelung, um
ein Prius nicht der Zeit, sondern dem Werte nach. Die histo-
rische Stellung der „Phänomenologie" charakterisiert Weiss fol-
gendermassen. „Mit einem Fusse noch ganz in der Romantik
stehend, ja gleichsam die letzte Entfaltung der besten Elemente
derselben darstellend, ragt sie bereits in eine neue Ära der Aus-
breitung der elementaren Macht und des Aufbaues einer neuen
Welt. Diesem doppelten Grundzuge verdankt die Hegeische Phi-
losophie vielleicht gerade ihre überragende Bedeutung. Auf der
einen Seite der romantische Drang nach Einheit der Erkenntnis
und des Lebens, und doch andererseits das unstillbare Verlangen
nach Universalität und Ausbreitung, das Bestreben, die ganze
Mannigfaltigkeit und Wirklichkeit in diese Einheit aufzunehmen."
So grossartig dies Gedankengebäude vor uns steht, es wäre den-
noch ein Verhängnis, wollten wir von ihm mehr als den allge-
meinen Grundriss und vor allem den architektonischen Plan
übernehmen. Dies bestätigt auch eine andere Hegelschrift, der
wir uns nunmehr zuwenden.
Ungefähr zur selben Zeit nämlich erschien eine deutsche
Übersetzung von Benedetto Croces geistvollem Buche „Lebendiges
und Totes in Hegels Philosophie", eine Übersetzung, die Büchler
im Verlag von Winter veranstaltet [Heidelberg, 1909, XV u. 228].
Das Buch ist in zweifacher Hinsicht schätzenswert und interessant.
Fürs erste als Interpretation des Hegeischen Systems und seiner
Methode, zweitens als Zeugnis des Einflusses, den dies System
in Italien zu gewinnen beginnt. Croce ist, worauf bereits der
Titel seines Buches hinweist, kein unbedingter Anhänger Hegels.
Er feiert ihn vor allem als Entdecker der wahren philosophischen
Methode, zum Unterschiede von den Methoden der einzelnen
Wissenschaften, der Mathematik, der Naturforschung, der Ge-
schichte. Der logische Begriff, wie ihn Hegel versteht, ist zu-
gleich universell und konkret. Das heisst, er geht nicht wie die
Kantatudlea XV. 28
436 0. Ewald,
Allgemeinvorstellung aus einer Abstraktion hervor, er spiegelt
vielmehr die Realität in ihrer ganzen Fülle und Lebendigkeit
wieder. Dies leistet das dialektische Prinzip der Überwindung
und Synthese der Gegensätze. Während die gewöhnliche, formale
Logik des abstrakten Verstandes die Gegensätze isoliert, sie als
unvereinbar einander gegenüberstellt, lehrt Hegel, dass die Gegen-
sätze gerade damit, dass sie auf einander bezogen werden müssen,
nach ihrer Vereinigung in einem höheren Begriffe drängen, in dem
sie als dessen Momente aufgehoben sind. In dieser Bewegung
prägt sich deutlich der Rhytmus des Weltprozesses, das ewige
Werden, aus: Das Denken erscheint hier wirklich in Einklang
mit dem Sein gebracht, mit ihm zu einer Art Identität erhoben.
In diesem Sinne ist die Methode Hegels wenigstens eine glänzende
Interpretation des natürlichen Geschehens, eine vollendete Natur-
symbolik. Aber auch den fundamentalen Fehler in ihrer An-
wendung, der die Hegeische Philosophie schliesslich in Misskredit
bringen musste, bemüht sich Croce zu entdecken. Er besteht
darin, dass sie die Synthese der blossen Unterschiede ebenso be-
handelt wie die Synthese der Gegensätze, dass sie, in der kon-
ventionellen Sprache der Schullogik, nicht zwischen disparaten
und kontradiktorischen Begriffen unterscheidet. Was in Hegel
tot und veraltet ist, das ist der Versuch einer spekulativen Kon-
struktion des Individuellen, Empirischen in Natur und Geschichte,
was in ihm lebendig und entwickelungsfähig bleibt, ist die
Konzeption des universalen, konkreten Begriffes, der durch die
Widersprüche und Antithesen zu ihrer Überwindung und höheren
Vereinigung fortschreitet; an diese Seite seines Denkens muss die
Philosophie der Gegenwart von Neuem anknüpfen.
Einen solchen Anknüpfungspunkt findet Croce in Henri
Bergsons intuitiver Philosophie und ihrer Forderung, sich in den
Rhytmus der Dinge selbst hineinzuversetzen, an ihrer Bewegung
im Geiste unmittelbar teilzunehmen. Aber es ist gleichwohl ein
wesentlicher Unterschied, den auch Croce hervorhebt. Bergson,
dessen Lehre bereits nach Deutschland gedrungen ist und hier
an Ausbreitung gewinnt, wohl auch wegen ihrer grösseren Ver-
wandtschaft mit dem deutschen als mit dem französischen Geiste,
lässt sich als eine Art indirekter, negativer Ergänzung zum Neu-
hegelianismus ansehen. Der Verlag Diederichs veranstaltet eine
Übersetzung seiner Werke, die ihre Aufnahme und Wirkung noch
fördern wird. Aus diesem Grunde kommen sie für uns hier schon
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909. 437
äusserlich in Anbetracht, und zwar hauptsächlich „Materie und
Gedächtnis" und „Einführung in die Metaphysik". In „Materie
und Gedächtnis", einer Schrift, der Windelband eine wirkungsvolle
Einleitung vorausschickt, rührt er an das alte Problem der Be-
ziehung zwischen Körper und Seele. Er ergreift es indessen an
einem höchst prinzipiellen Punkte, an dem des Gedächtnisses. Das
Gedächtnis, die Bewahrung der Vergangenheit, ist das auszeich-
nende Merkmal der Seele dem Körper, überhaupt der Aussenwelt
gegenüber. In einer sehr gediegenen Analyse weist er die Un-
möglichkeit nach, dies Phänomen aus körperlichen Vorgängen,
aus Gehirnschwingungen zu erklären.
Es muss ein grosses Verdienst Bergsons genannt werden
— woraus sich wohl auch die erstaunliche Anziehungskraft
seiner Schriften erklärt — dass er von einem konkreten Problem,
dem der Beziehung zwischen Innenwelt und Aussenwelt, ausgeht,
dass er sich vom Denken wieder zum Sein wendet, mit einem
Worte, dass er wieder Metaphysik treibt. Und zwar scheint es
mir ein bedeutungsvoller Schritt, dass diese Metaphysik, ohne
deswegen im Psychologismus zu landen, an der Psychologie orien-
tiert ist. Die ausschliessliche Orientierung des Weltbildes am
Problem der Aussenwelt, des Objektes, die seit der Renaissance
besteht, hat, wenn wir den imposanten Aufbau der mathematischen
Physik und der philosophischen Systeme ins Auge fassen, der sich
von Descartes und Galilei bis Leibniz und Kant vollzog, zweifel-
los grossartige Gebilde hervorgerufen, aber zuletzt zu einer un-
haltbaren Einseitigkeit geführt. Schon bei Kant beginnt die
Wendung zum Problem der Innenwelt, dem hier durch die Über-
windung der alten, rationalen Psychologie zunächst kritisch der
Weg geebnet wird. Und das neunzehnte Jahrhundert sehen wir
in seinen philosophischen Bestrebungen zwischen beiden Seiten
geteilt, zwischen der Grundlegung der mathematischen Physik und
der Psychologie. Das Gedächtnisproblem bedeutet aber ohne
Zweifel die Einfahrt zu den Problemen des Seelenlebens, wie dies
schon Augustinus erkannt hat. Hier ist der tiefste Punkt der
Unterscheidung zwischen Materie und Geist erreicht. Allerdings
darf der Gegensatz nicht ins Extreme gesteigert werden. Auch
die Materie ist nicht reine Gegenwart, sondern, was sich im Phä-
nomen der Bewegung, überhaupt jeglicher Veränderung kundgiebt,
ein fortwährender Übergang von der Vergangenheit zur Gegen-
wart. Die Realität ist kein Seiendes, sondern ein Werdendes.
28*
438 0. Ewald,
und der Rhytmus des Werdens ist der der Kontinuität. Damit
gewinnt Bergson das Leitmotiv seiner Weltansicht, das die „Ein-
führung in die Metaphysik" weiter ausspinnt.
Man kann es zunächst als eine Kritik der abstrakten Be-
griffe, noch mehr, als eine Kritik des abstrahierenden Intellektes
bezeichnen. Dieser führt uns irre, er entfremdet uns dem tieferen
Verständnis der Wirklichkeit, indem er sie in getrennte Atome
zerlegt, zwischen denen die unmittelbare Verbindung und Wechsel-
wirkung sich nicht mehr herstellen lässt. Er atomisiert auch das
Werden und trachtet sodann, selbstverständlich vergebens, es aus
einzelnen, punktuellen Stadien des Seins wiederaufzubauen, sowie
er die Bewegung aus einer Anzahl ruhender Lagen rekonstruieren
will. Wie man sieht, wird hier, strenge genommen, am Stand-
punkte der Eleaten Kritik geübt, und derjenige Heraklits erneuert,
der ja auch in Hegel wiederkehrt. Was Bergson über die Ab-
straktion sagt, dass sie das Konkrete, Reale willkürlich ausein-
anderreisst und so isolierte Gegensätze hervorbringt, die in Wahr-
heit immer verbunden sind, erinnert durchaus an Hegel. Aber es
ist, im positiven Teil der Lehre, ein eminenter Unterschied.
Bergson erklärt die abstrakte Begriffsbildung, hierin vom Dar-
winismus und Pagmatismus abhängig, aus dem Bedürfnis zu
handeln, das sozusagen fester Ansatzstellen bedarf und deshalb
den Fluss des natürlichen Geschehens im Denken an einzelnen
Punkten künstlich zum Stillstande bringen muss. Der erkennende,
theoretische Mensch hingegen kann der Wirklichkeit bloss dadurch
gerecht werden, dass er, auf alles begriffliche Denken Verzicht
leistend, sich intuitiv in den kontinuierlichen Strom, in das Weben
und Werden der Dinge zu versenken strebt. Für Hegel dagegen
ist der abstrakte Begriff nicht die höchste Instanz, sondern bloss
ein Moment des Logischen, das nicht verselbständigt werden darf:
das richtige Verstehen der Wirklichkeit erfliesst allerdings nicht
aus ihm, aber es setzt nicht die Preisgabe des Begrifflichen
in der Rückkehr zur Intuition, sondern seine Reform durch das
dialektische Prinzip voraus.
Durch alle Verschiedenheiten zwischen dieser Richtung des
intuitiven Philosophierens und dem Hegelianismus leuchtet immer-
hin das gemeinsame Band auf: die Überzeugung, dass das Werden
die Grundform des Realen repräsentiert und dass die wahre Er-
kenntnis eine Art ist, sich diesem ewigen Werden irgendwie geistig
zu assimilieren. Im extremen Gegensatz dazu steht die Weltauf-
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909. 439
fassung eines noch nicht zur Genüge gewürdigten Denkers, African
Spirs, dessen gesammelte Werke uns in neuer Auflage und Aus-
gabe vorliegen. Frau Helene Claparede-Spir, die Tochter des
Philosophen, hat im Verlag von Ambrosius Barth diese Ausgabe
veranstaltet und durch ein pietätvolles Vorwort, das uns in
dankenswerter Weise über die wichtigsten biographischen Daten
unterrichtet, eingeleitet. Der erste Band [XXX u. 547 S.] ent-
hält das Hauptwerk „Denken und Wirklichkeit", der zweite Band
[390 S.] zwei grössere Schriften „Moralität und Religion", „Recht
und Unrecht", sowie eine Reihe kürzerer Aufsätze vermischten
Inhalts.
Das Hauptwerk Spirs erscheint auf einer sehr einfachen
Voraussetzung aufgebaut: dem Satz der Identität. Es gewinnt
seine Bedeutung und seine Eigenart dadurch, dass dieser Satz
als ein Unbedingtes festgehalten und in alle seine Konsequenzen
verfolgt wird. Und was das Wichtigste, es ist die Definition und
Auffassung des Satzes, die dem ganzen Gedankengang seinen
Schwerpunkt und sein Gepräge giebt. Der Satz der Identität ist
für Spir nämlich kein blosses Gesetz des Denkens, sondern, da er
dem Denken objektive und ontologische Bedeutung zuspricht, auch
ein Gesetz des Seins. Er ist für ihn kein identischer und kein
anal}tischer, sondern ein synthetischer, ein Existenzialsatz. Das
heisst: in der wahren Natur der Dinge ist es gelegen, dass sie
im strengsten Sinne mit sich identisch sind, dass es in ihnen
weder Verschiedenheit noch Veränderung giebt. Wo wir der-
gleichen finden, haben wir es nicht mit dem absoluten Wesen der
Welt, sondern bloss mit der Erscheinung zu tun, die aus dem
Absoluten in keiner Weise sich ableiten und erklären lässt. Man
sieht, Spir behandelt Identität und Substanz als einen und den-
selben Grundbegriff. Unsere sinnliche Auffassung der Dinge be-
ruht auf einer von der Natur eingerichteten Täuschung, der zu-
folge wir die sinnlichen Phänomene für wirkliche Substanzen
halten. Das wahre Sein, das Unbedingte, können wir bloss im
Denken erfassen, und insofern haben wir Anteil daran: ihm ent-
spricht aber weder die Aussenwelt noch unsere eigene Existenz,
weder Subjekt noch Objekt. Das Imposante dieser Weltanschauung,
die den Eleatischen Standpunkt wieder aufnimmt, liegt in der
Einfachheit des Grundgedankens und in seiner konsequenten, ein-
heitlichen Durchführung. Interessant ist sie vor allem auch durch
das zähe Verharren in der Abstraktion, durch die schroffe Gegen-
440 O. Ewald,
sätzlichkeit zu Hegel. Es erneuert sich auch hier der uralte,
niemals zu schlichtende Widerstreit zwischen Parraenides und
Heraklit. Wer am Seienden festhält, vermag das Werden nicht zu
begreifen, und umgekehrt, wer das Werdende mit dem Wirklichen
identifiziert, steht dem Sein ratlos gegenüber. Für Spir kehrt
sich das erkenntnistheoretische Verhältnis in seltsamer Weise um:
Das einzig Erkennbare, die empirische Welt ist ihm wegen ihres
unablässigen Wechsels das schlechthin Unbegreifliche und das
einzig Begreifliche ist das Unerkennbare, das Unbedingte und Ab-
solute. Die Schrift zerfällt in zwei Teile, deren erster in der
Norm des Denkens die allgemeine Grundlegung enthält, während
der zweite sich der Welt der Erfahrung zuwendet. Hier werden
die Vorstellungen der Zeit und des Raumes ausführlich analysiert.
Spir nimmt gegen Kant Stellung, der beide Vorstellungen dem-
selben Betrachtungsschema unterwirft. Bloss der Raum ist eine
Vorstellung a priori, die Zeit ist eine Abstraktion aus der Er-
fahrung. Eingehend wird ferner der Begriff des Ich behandelt,
den Spir nicht als den einer Substanz, sondern als den eines
Komplexes, eines Prozesses betrachtet. Die abschliessenden
Kapitel widmen sich dem Urteil, dem Syllogismus und der Induk-
tion. Nirgends verläugnet sich die analytische Kraft des Denkers,
wogegen die Synthese entschieden zu kurz gekommen ist.
Wie wir sehen, weitet sich der Gedankenkreis des Hegelianis-
mus in überraschender Weise, sofern er nicht allein in metho-
dologischer Hinsicht grosse Probleme aufrollt, sondern auch die
Metaphysik erneuert, die ihm mit der Logik zusammenfliesst. Wir
waren mit Rücksicht auf diese doppelte Bedeutung in der Lage,
genau die Punkte zu bezeichnen, an denen der moderne Logismus
mit Hegel zusammenhängt, an denen er sich ihm entfremdet. Wie
ich schon in früheren Berichten bemerkte, könnte man auch
Rudolf Eucken, den im vergangenen Jahre mit dem Nobelpreise
gekrönten Denker, dem Hegelianismus im engeren, metaphysischen,
nicht methodologischen Sinne zuordnen. Denn Eucken vertritt in
seinen zahlreichen Schriften die Ansicht, dass das wahre, absolute
Wesen der Wirklichkeit sich weder in den Phänomenen der Aussen-
welt noch in denen der Innenwelt, weder in der Physik noch in
der Psychologie erschliesst, sondern in einem Geistesleben, einem
Zusammenhang ewiger Werte und Notwendigkeiten, die sich zwar
in der Tiefe persönlichen Empfindens offenbaren, ohne aber jemals
mit dem Persönlichen zur Deckung zu gelangen. Auch eine seiner
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909. 441
neuesten Arbeiten „Hauptproblem der Religionsphilosophie der
Gegenwart", deren dritte Auflage, bereichert um ein wichtiges
Kapitel „Der Kampf der Gegenwart um das Christentum", im
vergangenen Jahr erschien, gewährt uns einen tieferen Einblick
in diese Betrachtungsweise.
Von einer anderen Seite nähert sich den romantischen Philo-
sophen, Hegel und noch mehr Schelling, das System Eduard von Hart-
manns, das uns nicht bloss in seiner ursprünglichen Gestalt, sondern
auch in dem als Nachlass erschienenen „Grundriss" vorliegt.
Von diesem Grundriss, auf den ich im nächsten Jahresberichte
ausführlicher zurückgreifen will, erschienen im Jahr 1909 drei
Bände, der sechste, siebente und achte, enthaltend: „Grundriss
der ethischen Prinzipienlehre", „Grundriss der Religionsphilo-
sophie", „Grundriss der Ästhetik". Alle schliessen sich zu dem
einheitlichen Gedankenbau einer Philosophie des Unbewussten zu-
sammen, welche darin die Tradition der Romantik wahrt, dass
sie das Wesen der Welt in etwas sucht, das weder auf Seite des
Subjektes noch auf Seite des Objektes gelegen ist, das also weder
rein physisch noch rein psychisch ist, sondern die gemeinsame
Wurzel von beiden, dem Materiellen und dem Seelischen, Geistigen.
Diese findet Hartmann ähnlich wie Schelling im Unbewussten,
gleichsam dem Identitätspunkte beider Reihen. Hierin unter-
scheidet er sich sowohl vom Materialismus als auch vom modernen
Panpsychismus, der das Absolute dem beseelten Stoffe gleichsetzt
und damit individualisiert, in eine Unsumme von Einzelseelen
auflöst.
Solchen metaphysischen Tendenzen gegenüber finden wir
den reinen Logismus, wie er in verschiedenem Sinne, aber auf
gleicher Grundlage von Rickert, Husserl, Meinong gelehrt wird,
höchstens in allgemein methodologischer Hinsicht der Identitäts-
philosophie, besonders dem Hegelianismus verwandt. Der letzt-
genannten Gruppe können wir wohl auch die von Leonard Nelson
geführte Friesschule in Göttingen einreihen. All diesen Richtungen
ist geraeinsam, dass sie im Gegensatze zum Fichteanismus und
Hegelianismus keine objektive, aprioristische Begründung, sondern
vor allem eine subjektive, psychologische Feststellung der spezi-
fisch logischen Sachverhalte erstreben. Darin stimmen Husserls
phänomenologischer, Meinongs gegenstandstheoretischer, Nelsons
anthropologischer Standpunkt überein. Die von Nelson und Hessen-
berg herausgegebenen Abhandlungen der Friesschen Schule, in
442 O. Ewald,
denen eine heftige Polemik gegen die Vertreter des Neukantianis-
mus geführt wurde, brachten im vergangenen Jahr Aufsätze über
„Darwinismus und ReUgion", sowie über die „Entwickelungs-
geschichte der Kantischen Erkenntnistheorie", ersteren von Rudolf
Otto, letzteren von Nelson. Von der unanfechtbaren These aus-
gehend, dass eine bestimmte philosophische Auffassung auch auf
die Geschichte der Philosophie stets in dem Sinne Einfluss übt,
dass der Historiker dementsprechend die Leistungen der Ver-
gangenheit wertet, auswählt und schliesslich auch darstellt, ver-
sucht Nelson, von seinem Standpunkte aus die Entwickelungslinie
des Kantischen Denkens zu skizzieren. Er weicht in folgenden
Punkten von den bisherigen Darstellungen ab, die sich auf Kants
Verhältnis zu Hume, auf Kants kritische Methode und auf die
Unterscheidung der analytischen und synthetischen Urteile be-
ziehen. „1. Das in den sogenannten vorkritischen Schriften Kants
behandelte Problem: Wie ist Kausalität möglich? ist ein anderes
Problem als das Humesche: Wie sind Kausalurteile möglich?
2. Die von Kant 1766 vertretene Auffassung, Kausalurteile Hessen
sich auf Erfahrung gründen, wird von Hume nicht geteilt, sondern
bestritten. 3. Kants analytische, von Erfahrungsgrundsätzen aus-
gehende Methode in der Preisschrift über die Deutlichkeit der
Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral ist nicht eine
Art der Induktion. 4. Die Unterscheidung der Kantischen Preis-
schrift zwischen analytischer und synthetischer Methode hat nichts
zu tun mit der späteren Unterscheidung analytischer und synthe-
tischer Urteile. Alle wesentlichen Abweichungen in den Ergeb-
nissen der Untersuchung sind blosse Folge des in diesen Sätzen
Enthaltenen."
Der Wahrheitswert dieser historischen Ausführungen ist mit-
hin von der Berechtigung abhängig, die Nelsons anthropologischer
Deutung des Kritizismus eignet.
Zur Phänomenologie und Psychologie des Denkens im
engeren Sinne gehört Meumanns Schrift „Intelligenz und Wille"
[Quelle & Meyer, Leipzig, 293 S.), die es sich zur Aufgabe
macht, den Anteil beider Faktoren am individuellen Geistesleben
zu bemessen. Zunächst werden die formalen Voraussetzungen der
Intelligenz, Aufmerksamkeit und Übung, untersucht, sodann die
materialen, Beobachtung, Gedächtnis und Phantasie. Die Ana-
lysen der beiden letzteren sind besonders sorgfältig und instruktiv,
insbesondere, was über ihre Verteilung bei jeder Art geistiger
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909. 443
Produktion gesagt wird. Hier verdient Erwähnung, dass die Dar-
stellung nicht abstrakt gehalten ist, sondern zahlreiche Beziehungen
zum Leben sucht. Auch an Hinweisen auf lehrreiche historische
Beispiele fehlt es nicht. Die Unterscheidung der analytischen
Begabung von der synthetischen ist fein ins Detail gearbeitet,
ebenso die Unterscheidung des Scharfsinns vom Tiefsinn, die der
ersteren gleichgesetzt wird. Für den analytischen Scharfsinn ist
es charakteristisch, dass er mehr mit Distinktionen, Verschieden-
heiten arbeitet, für den synthetischen Tiefsinn, dass er Ähnlich-
keiten und Analogien sucht. Es folgt die Charakteristik des
Willens in seinen Beziehungen zum Denken. Die Untersuchung
des Verhältnisses von Intelligenz und Wille bildet den Abschliiss.
Der Wille wird nicht als primäres Phänomen betrachtet, sondern
als ein sekundäres, das den Intellekt bereits voraussetzt, er ist
der Umsatz der Vorstellungen zur Handlung. Man sieht, diese
Untersuchungen führen schon von der Phänomenologie zur empi-
rischen Psychologie hinüber; aber indirekt sind sie auch für die
erkenntnistheoretische Betrachtung des Denkens von Nutzen.
Ausschliesslich der letzteren dient Pichlers Schrift „Über die
Erkennbarkeit der Gegenstände" [Wien und Leipzig, Braumüller,
1909, 105 S.]. Der Verfasser ist sich der Verwandtschaft mit
Meinong bewusst, was bereits im Titel der Arbeit zum Ausdrucke
gelangt. Interessant ist der Hinweis auf Christian Wolff, der als
eigentlicher Begründer der gegenstandstheoretischen Untersuchung
hingestellt wird, eine Beziehung, die schon Heinrich Gomperz in
seiner Noologie, freilich in polemischer Absicht, hervorgehoben
hatte. Pichler giebt sogar der Wolffschen Methode vor der Kants
den Vorzug, indem er in der letzteren allerdings einseitig die
psychologistische, subjektive Nuance in den Vordergrund rückt.
Darin vor allem, dass Wolff den Erkenntnisgrund dem Seinsgrunde
unterordnet, erblickt er eine entschiedene Wendung zur objekti-
vistischen Auffassungsart, die durch Kants Kategorienlehre wieder
verfehlt worden sei. So ist denn auch der längst totgesagte
Wolffianismus wieder auferstanden, neben den zahlreichen Auf-
erstehungen, die grosse Sj^steme der Vergangenheit in den letzten
Jahren gefeiert haben. Pichlers Schrift ist nicht allein um dieser
historischen Rückbeziehung, sondern auch um ihres Scharfsinnes
willen lesenswert. Man vermisst in den interessanten Ausführungen
über die ratio essendi und cognoscendi eine entschiedene Skizzierung
des Verhältnisses der Logik zur Metaphysik, sowie andererseits
444 0. Ewald.
die Polemik gegen Kants Transscendentalpsycholog'ie die siibjekti-
vistischen Züge der Lehre einseitig und allzu schroff akzentuiert
hervorhebt und damit Kant den vorkritischen Denkern gegenüber
ins Unrecht setzt.
Eine eigentümliche Stellung nimmt Stefan Malicevic in seiner
überaus anregenden Schrift „Zur Grundlegung der Logik" [Wien
und Leipzig, Brauraüller, 192 S.] ein. Er erklärt sich gegen den
Psychologismus, ohne den Standpunkt der reinen Logik einzu-
nehmen. So polemisiert er heftig gegen den modernen Vertreter
derselben, gegen Husserl, dem er eine unerlaubte Verraengung
Bolzanos und Leibnizens vorwirft. Bolzanos Auseinanderhaltung
des psychischen Urteilsaktes und des logischen Urteilsinhaltes, des
„Satzes an sich", durch die der psychologische Subjektivismus im
Prinzip überwunden wird, habe nichts mit der rationalistischen
Unterscheidung der Tatsachenwahrheiten von den Vernunftwahr-
heiten, der verites de fait von den verites de raison zu tun, so-
fern es Sätze giebt, die eben bloss tatsächliche Beziehungen zum
Ausdrucke bringen; dies ist der Hauptgedanke der gegen Husserl
gerichteten Polemik.
Die positive Seite der Schrift ist der Versuch, die Grund-
sätze der formalen Logik nicht als analytische, sondern als syn-
thetische aufzufassen, als solche, die nicht aus dem blossen Denken,
noch aus dem Wesen des Subjekts, sondern aus der empiristischen
Betrachtung der Objekte geschöpft sind.^) Es ergiebt sich hier
von selbst der Übergang zu einer andern Schrift, die wie die so-
eben genannte einen gleicher Massen jenseits vom Psychologismus
und Logismus gelegenen Standpunkt einnehmen will. Bisher ist
nämlich gegen den Logismus bloss von aussen Sturm gelaufen
worden: von den Empiristen und Psychologisten, sowie von ex-
tremen Metaphysikern, die vielfach auch auf psychologischer
Grundlage bauen. Denn im fundamentalen Prinzip, in der Auf-
fassung des Wahrheitsbegriffes, in der Anerkennung des Logischen
als eines absoluten, überzeitlichen, in sich gegründeten Wertes,
dessen Giltigkeit von seiner Realisierung, seiner psychischen Er-
scheinungsform, unabhängig ist, sind die verschiedenen Richtungen
— sie mögen einander im Einzelnen, in der Begründung des
Prinzips, in der Methodenlehre, noch so entgegengesetzt sein —
1) In der objektivistischen Tendenz dieser Logik ergiebt sich eine
Beziehung zu Spir, von dem ihre empiristische Richtung abweicht.
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909. 445
sind Neukantianer, Neufichteaner, Neuhegelianer, Neufrieseaner,
Phänoraenologen und Gegenstandstheoretiker einig. Umso auf-
fallender muss es erscheinen, dass neuerdings ein Versuch gemacht
wurde, die Anwälte des Logismus mit ihren eigenen Waffen und
Werkzeugen zu überwinden und sie eben auf Grund jenes oben
hervorgehobenen Prinzips zu — Psychologist en zu stempeln.
Dieser Versuch rührt von Dimitri Michaltschew her und betitelt
sich: „Philosophische Studien", Beiträge zur Kritik des modernen
Psychologismus [Leipzig, Engelmann, 573 S.].
Der Verfasser ist ein Anhänger Rehmkes, aber seine Polemik
gegen den Logismus erscheint nicht gänzlich durch diese An-
hängerschaft bedingt. Die Schrift ist schon wegen ihrer Tendenz
lesenswert und zeigt ausserdem Scharfsinn und Begabung. Aber
die Argumente sind nicht stichhaltig. Michaltschew wirft den
Logisten vor, dass sie die Aufgabe der Philosophie nicht erfasst
haben und schon ihren Ausgangspunkt mit dem der Psychologie
verwechseln. Die Voraussetzung der Psychologie ist nämlich eine
vom menschlichen Bewusstsein unabhängige Realität, von der das
Bewusstsein irgendwie Besitz ergreift. Sie fragt sich, wie in dem
Menschen die Vorstellung von diesem Objekt sich bilde. Die
Philosophie ist ursprünglich von derselben Voraussetzung ab-
hängig, und so formuliert sie das Erkenntnisproblem in der un-
lösbaren, sogar widersinnigen Frage, wie die transscendente, vom
Bewusstsein unabhängige Wirklichkeit ins Bewusstsein treten,
immanent werden könne. Diese psychologische Grundvoraus-
setzung, so meint Michaltschew, erscheint aber auch bei den mo-
dernen Logisten, freilich in verfeinerter Form: auch sie nehmen
ein vom Bewusstsein Unabhängiges an, von dem sie dann ver-
langen, dass es gleichwohl bewusst werde; bloss ist dies nicht
eine transscendente Existenz, sondern eine transscendente Norm.
Der wahre Ausgangspunkt der Philosophie ist aber das Gegebene
und nicht die Annahme einer vom erkennenden Subjekt unab-
hängigen Sphäre, die hier psychologistisch genannt wird, sofern
sie aus dem Betrieb der Psychologie abstrahiert sein soll. In der
Charakteristik des Gegebenen nun lehnt sich Michaltschew durch-
aus an Rehmke an. Er glaubt, den Relativismus damit am
sichersten überwinden zu können, denn die Bestimmung des Ge-
gebenen ist eine absolut eindeutige. Die Aufgabe des Philosophen
ist es, diese Bestimmung vorzunehmen. Eine P]rkenntnistheorie
dagegen giebt es überhaupt nicht, weil das Objekt nicht erst vom
446 0. Ewald,
Subjekt aufgenommen, noch von ihm erzeugt, noch mit dessen
Mitteln bearbeitet wird, sondern ihm von Anbeginn — gegeben
ist. Und zwar nicht in approximativer und symbolischer Form,
nicht als unendliche Annäherung an ein ideales Ziel, sondern in
unmittelbarer, greifbarer Gegenständlichkeit. So ist uns die Sache
als ein Einzelwesen, die Aussenwelt als Einheit von Dingen, Be-
stimmtheiten und Besonderheiten gegeben, wie wir dies alles
noch deutlicher aus Rehmkes sogleich zu besprechendem Buche
entnehmen können.
Dagegen ist zu bemerken, dass der Parallelismus ihres Wahr-
heitsbegriffes mit dem metaphysischen, psychologistischen, den
Michaltschew unermüdlich hervorhebt, den Transscendentalisten
und Logisten keineswegs entgangen ist. Besonders doutUch hat
Rickert diesen Übergang von der transscendenten Realität zum
transscendenten Werte charakterisiert und auf die Entwickelung
hingewiesen, die von der Deutung des Erkenntnisbegriffes als
einer Übereinstimmung des Denkens mit dem übersinnlichen Sein
zu seiner Deutung als einer Anerkennung des übersinnlichen
Wertes führt. Dies ArguQient wird die Anwälte des Logismus
weder verblüffen, noch aus dem Sattel heben. Wenn Michaltschew
aber meint, ihr Psychologismus verrate sich darin, dass sie den
Gegenstand der Erkenntnis als etwas betrachten, das über den
Rahmen des ßewusstseins hinausgreift, das bloss in mittelbarer,
symbolischer Form bewusst wird, das — um es noch präziser zu
bezeichnen — uns als eine Aufgabe, nicht als ein schlechtweg
Gegebenes entgegentritt, so ist dies eine willkürliche Definition,
die mit den Tatsachen nicht in Einklang zu bringen ist. Selbst-
verständlich müssen auch ideale Werte irgendwie „gegeben" sein,
damit wir von ihnen Kenntnis erlangen, damit wir überhaupt von
ihnen sprechen können. Und die Erforschung dieses Gegebenseins,
dieser Bewusstseinsart ist ja, wie ich in meinen Jahresberichten
stets hervorgehoben habe, das grosse Verdienst jeuer Gruppe von
Denkern, die zum Unterschiede von den Neukantianern, Neu-
fichteanern, Neuhegelianern nicht nach der objektiven Begründung,
sondern nach der subjektiven Erfassung der Kategorien fragen:
der Phänomenologen und Gegenstandstheoretiker. Sie beschäftigen
sich ja mit dem schwierigen Problem, das ein philosophisches
Grenzproblem darstellt, wie etwas Übersinnliches, ohne von seinem
Cliarakter einzubüssen, gleichwohl eine sinnliche Ausdrucksform
erhalten könne. Michaltschew bezeichnet dies als einen Wider-
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909. 447
sinn: entweder etwas ist gegeben oder es ist nicht gegeben.
Dass darin eine Antinomie gelegen ist, soll auch ohne weiteres
eingeräumt werden; aber eine solche aus dem Weltbegriff aus-
schalten wollen, ist auch purster Dogmatismus. Michaltschew be-
hauptet, auch das Allgemeine, der Begriff sei gegeben. Wie es
sich damit indessen auch verhalte, sicher ist es, dass es Begriffe
giebt, die als solche nicht gegeben sind, in deren Wesen es liegt,
dass sie nicht adäquat und unmittelbar gegeben sein können. So
der Begriff der Unendlichkeit, der ja gerade durch das Inkommen-
surable seines Inhalts bezeichnet erscheint. Ebensowenig sind uns
Vergangenheit und Zukunft direkt gegeben, sondern lediglich
in der symbolischen Form der Erinnerung und der Erwartung.
Die Erinnerung ist weder die Vergangenheit selbst, noch zeigt
sie uns dieselbe, sondern sie bedeutet in einer nicht näher zu
erklärenden Weise die Vergangenheit, die sich ja selber nicht er-
neuern kann. Wenn daher schon innerhalb des sinnlichen Be-
wusstseins jene Antinomie zwischen dem Gegenstande der Erkennt-
nis und dem Erkennen des Gegenstandes, jene symbolische Funk-
tion des Erfassens und Ergreifens stattfindet, so kann es uns
nicht Wunder nehmen, dass sie eine noch grössere Rolle in der
psychischen Darstellung des Übersinnlichen spielt. So vermisst
man bei Michaltschew überhaupt eine nähere Auseinandersetzung
darüber, wie die logischen und mathematischen Grundbegriffe und
Kategorien, die zum Unterschiede von den empirischen Begriffen
sich in keinerlei Wahrnehmung adäquat darstellen, gegeben sind :
in Anbetracht des psychischen Zwanges, alles Gegebene irgendwie
zu versinnlichen, phänomenologisch zu umkleiden.
Die Schrift Michaltschews hätte im Übrigen durch eine Mil-
derung des Akzentes ihrer Polemik, die sich besonders gegen
Rickert, Husserl, Ewald wendet, nicht gelitten. Im Übrigen em-
pfiehlt sie sich, abgesehen von den bedeutsamen Fragen, die in ihr
aufgerollt werden, auch als Einführung in das System Rehmkes.
Dieses tritt uns als ein geschlossenes Ganzes in dem kürzlich er-
schienenen Buche „Philosophie als Grundwissenschaft" entgegen
[Kesselringsche Hofbuchhandlung, Frankfurt a. M., V u. 706 S.].
Vorbereitet wurde es nicht so sehr durch des Verfassers bekannte
Schrift „Die Welt als Wahrnehmung und Begriff", wie durch sein
„Lehrbuch der allgemeinen Psychologie" und durch seine Mono-
graphie „Leib und Seele".
448 0. Ewald,
Die übliche Einreibung- Rebrakes unter die extremen Phäno-
menalisten ist nicht berechtig-t, zumal wenn mit dieser Richtung
ein relativistisches Bekenntnis verbunden wird. Im Vorworte
schreibt er: „Eine Wissenschaft, d. i, ein auf fraglose Klarheit
seines Gegenstandes abzielendes Unternehmen ist aber boden-
ständig, wenn der Gegenstand aus sich selbst seine Erklärung
findet. Die phänomenalistische Philosophie ihrerseits sucht da-
gegen die Welt schlechtweg aus Anderem, das dieser zugrunde
liege, zu erklären." Die Definition der Philosophie als der Grund-
wissenschaft, die das Allgemeinste des Gegebenen, seine Grund-
lagen prüft, nicht aber eine bloss enzyklopädische Zusammenfassung
der einzelnen Disziplinen darstellt, wird man unbedingt billigen
müssen. Im Prinzip ist es ja, soweit die Ergebnisse sonst aus-
einandergehen mögen, eine der kritischen, Kantischen ähnliche
Auffassung vom Wesen der Philosophie. Es wird hier die philo-
sophische Analyse an den Anfang der Dinge verlegt und nicht
an deren Ende, wie es dort der Fall ist, wo man von ihr bloss
eine widerspruchslose Vereinigung der aus den einzelnen Forschungs-
gebieten hervorgegangenen Resultate fordert. Es ist klar, dass
ihr hiermit jede Autonomie genommen wird. Sie ist dann einfach
von dem Betrieb der verschiedenen Wissenschaften abhängig,
deren Daten sie in formaler Weise zur Verknüpfung bringt. Aus
sich selbst heraus produziert sie nicht die geringsten positiven
Werte. Allerdings widerspricht diese Auffassung, die in der
neuesten Zeit wohl infolge des antimetaphysischen, positivistischen
Zuges eine ziemliche Verbreitung gewann, allem, was in der
philosophischen Entwickelungsgeschichte bisher an grossen Er-
rungenschaften zu verzeichnen ist. Dieselben bestehen letzten
Endes nicht in der Synthese des von anderer Seite Erarbeiteten,
sondern in der Kritik der Grundbegriffe, ohne die jene Arbeit
noch gar nicht von statten gehen konnte. So beschäftigt sich die
Physik mit einzelnen physischen Kräften und Substanzen, die
Psychologie mit einzelnen psychischen Phänomenen und deren Zu-
sammenhängen, aber nach dem Wesen einer Substanz, einer Kraft
überhaupt, nach dem Wesen des Physischen überhaupt zum
Unterschiede vom Psychischen zu fragen, ist Aufgabe der Philo-
sophie, der deswegen der Titel einer Grundwissenschaft völlig ge-
bührt.
Für Rehmkes Behandlung der philosophischen Probleme ist
ferner eine merkwürdige Realistik im Denkstile charakteristisch:
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909. 449
Die Tendenz, alles irgendwie als ein Seiendes, als eindeutig
Bestimmtes zu fixieren. Es ist hier unmöglich, alle Einzelheiten
seiner Lehre wiederzugeben und dazu Stellung zu nehmen: ledig-
lich die Grundlinien können nachgezogen werden.
Zunächst unterscheidet er zwischen dem Gegebenen überhaupt
und dem Wirklichen, sofern es im Gegebenen auch Nichtwirk-
liches giebt, Mathematik, Logik, Philosophie fragen nach dem Ge-
gebenen, ohne Rücksicht darauf, ob es wirklich ist oder nicht,
während die anderen Wissenschaften lediglich auf das Wirkliche
gerichtet sind. Der Philosophie ersteht ausserdem die Aufgabe,
die genaue Bestimmung desjenigen, was zum Wirklichen und zum
Nichtwirklichen gehört, zu leisten. Rehmke beginnt mit der
Aussenwelt, dem Objekt, oder, wie er es nennt, dem Ding-
gegebenen. Denn das Gegebene der Aussenwelt ist nicht als ein
vager Komplex von Phänomenen, sondern als Dingeinheit gegeben.
Und zwar greift Rehmke in abstrahierender Betrachtung jenen
zeitlichen Querschnitt der Dingeinheit heraus, den er als Ding-
augenblick bezeichnet, um ihn einer genauen Bestimmung zu
unterwerfen. Der Dingaugenblick ist eine Einheit von Grösse,
Gestalt und Ort; dies sind seine allgemeinen Bestimmtheiten, unter
denen der Ort wieder als die einheitsstiftende Bestimmtheit aus-
gezeichnet wird. Jedes Ding hat aber eine besondere Grösse,
einen besonderen Ort, eine besondere Gestalt. Dies ist für das
Phänomen der Veränderung, das sonst unerklärbar bliebe, von
grosser Wichtigkeit. Daran schliesst sich die Erörterung des
Problems, ob die Bewegung zum Wirklichen gehört. Die Eleaten
gingen mit ihrer radikalen Leugnung darin fehl, dass sie in der
Bewegung einen Widerspruch aufzudecken glaubten, was aber eine
unhaltbare These ist, sofern der Satz des Widerspruches als ein all-
gemein logisches Grundgesetz sich nicht allein auf das Wirkliche,
sondern auf das Gegebene überhaupt bezieht: da das Phänomen
der Bewegung aber, man denke über seinen Wirklichkeitswert wie
immer, doch zweifellos zum Gegebenen gehört, so darf es mit
keinem Widerspruch behaftet sein. Den Widerspruch aber kon-
struierten die Eleaten durch die falsche Annahme, dass das Ding
sich selbst verändert, dass es mithin zugleich ein von sich Unter-
schiedenes werde und mit sich identisch bleibe. Der Satz der
Veränderung, der dem Schein dieses Widerspruches vorbeugen
soll, lautet aber nach Rehmke: Veränderung ist ein Wechsel von
Bestimmtheitsbesonderheiten im Dinge. Wenn zum Beispiel ein
450 0. Ewald,
Ding, das früher rund war, jetzt viereckig wird, so hat nicht das
Ding gewechselt, noch auch die allgemeine Bestimmtheit Gestalt
— ein gestaltloses Ding giebt es ja nicht — sondern die Be-
sonderheit der Gestalt, die durch eine andere Besonderheit abge-
löst worden; jede Veränderung bedeutet dementsprechend einen
Verlust und einen Gewinn zugleich. Wer hierin noch einen
Widerspruch sieht, verwechselt eben das Ding mit jenem ab-
strakten zeitlichen Querschnitt, der Diugaugenblick heisst. Er
versteht nicht, dass das Ding Zeit in sich fasst, mithin auch
Veränderungen erleiden kann.
Sodann wendet sich Rehmke der anderen Sphäre des Wirk-
lichen, der Innenwelt zu. Hier wird die analoge Betrachtungsart
durchgeführt. Wie der Dingaugenblick, so ist auch der Seelen-
augenblick eine Einheit von mehreren Bestimmtheiten, des Wahr-
nehmens, Fühlens, Denkens und der eiuheitsstiftenden Bestimmt-
heit, des Subjektes. „Jede Augenblickeinheit einer Seele aber
weist viererlei einfache Bestimmtheiten, also viererlei Allgemeinstes
in sich auf: gegenständliche, zuständliche, denkende und Subjekt-
Bestimmtheit, von denen eine jede der ersten drei sich mit der
vierten als der einheitsstiftenden gleicherweise besonders verknüpft
zeigt." Das Seelische lässt sich demnach nicht restlos in Wahr-
nehmungen, Gefühle, Gedanken auflösen, es bedarf noch einer un-
verlierbaren schlechthin einfachen verknüpfenden Einheit. Sehr
präzis ist die Unterscheidung der Innenwelt von der Aussenwelt,
der Seele von dem Ding. Beide sind besondere Einzelwesen. Die
Seele unterscheidet sich indessen dadurch vom Ding, dass sie
nicht wie dieses in allen ihren Augenblicksbestimmtheiten, näm-
lich nicht in der einheitsstiftenden Bestimmtheit, veränderlich ist,
ferner aber dadurch, dass das Ding zwar in allen seinen Be-
stimmtheiten veränderlich ist, jedoch keineswegs in jeder Ver-
änderung sich in allen seinen Bestimmtheiten verändert, vielmehr
einmal bloss im Ort, nicht auch in Grösse und Gestalt, dann
wieder in der Grösse, nicht auch in Ort und Gestalt, die Seele
dagegen in jeder ihrer Veränderungen auch immer in jeder von
den Bestimmtheiten, in denen sie überhaupt veränderlich ist, also
in gegenständlicher, zuständlicher und denkender Bestimmtheit
sich verändert. „Der Ort, diese einheitsstiftende Dingbestimmtheit,
bedeutet also für alle zugleich gegebenen Dinge die unübersteig-
liche Schranke für ihr völhges Gleichsein; das Subjekt, die ein-
heitsstiftende Bewusstseinsbestimmtheit, bedeutet für alle Bewusst-
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909. 451
Seinswesen die unübersteigliche Schranke für ihr völliges Ver-
schiedensein. In ihrem Orte sind alle zugleichgegebenen Dinge
verschieden, in ihrem Subjekte sind alle Bewusstseiuswesen
gleich." Der Mensch ist Leib und Seele, Ding und Bewusstsein
zugleich, eine Einheit zweier Einzelwesen. Diese Einheit von
Einzelwesen, die er repräsentiert, ist als eine Wirkenseinheit zu
betrachten.
Aus dieser kurzen Darstellung ergiebt sich schon das
Wesentliche der Rehmkeschen Betrachtungsart. Wir können sie
als eine eigenartige und fruchtbare Durchdringung des Konkreten
und Abstrakten, des sensualistischen und des rationalistischen
Prinzips bezeichnen. Das Abstrakte wird • keineswegs geleugnet,
aber es wird sozusagen in die Ebene des Konkreten selber ver-
setzt. Für den Rationalismus ist der Dingbegriff ein Gebilde des
Denkens, streng isoliert von Wahrnehmung und Anschauung.
Ebenso sind Ort, Grösse, Gestalt, wenn ihnen jede weitere Spezi-
fizierung fehlt, für ihn blosse Abstraktionen des Verstandes, die
mit dem unmittelbaren Erlebnis der Aussenwelt nichts zu schaffen
haben. Eine solche Auffassung kommt auch in der Kategorien-
lehre Kants zum Ausdruck: die Erkenntnisbegriffe werden zur
Wahrnehmung hinzugedacht, das Allgemeine steht jenseits von
allem Besonderen, Individuellen, nicht aber wird es als ein im
Individuellen selbst Gegebenes vorgestellt. Rehmkes Verdienst
besteht darin, den Rahmen des Gegebenen gebührend erweitert
und, wenn ich so sagen darf, den kategorialen, begrifflichen
Charakter der Sinnenw^elt erkannt zu haben. Wenn man histo-
rische Rückschau hält, korrespondiert diese Auffassung im Grunde
genommen jenem Standpunkte der Scholastik, der die Universalität
nicht ante res noch post res, sondern in rebus suchte. Und in
der neueren Philosophie kommen ihr Avenarius' und Bergsons
Lehren vom unmittelbaren Gegebensein des Allgemeinen, von der
begrifflichen Färbung der Phänomene nahe. Auf Grund derselben
Betrachtung gelangt Rehmke zur Unsterblichkeit der Seele und
zu einem göttlichen Weltbewusstsein.
So isoliert Rehmke mit seiner Philosophie des Gegebenen
steht, so weit der Abstand zwischen ihm und sämtlichen Schat-
tierungen des Neuhegelianismus sein mag, es ist dennoch manches
Gemeinsame in der Grundrichtung dieser und der logistischen
Weltauffassung. Vor allem der objektivistische Zug, die
schroffe Scheidung zwischen psychologischer und philosophischer
Kantitndien XV. 29
452 0. Ewald,
Forschung, die Ablehnung der Erkenntnistheorie als einer Dis-
ziplin, die im Erkennen eine allmähliche Besitzergreifung des Ob-
jekts durch das Subjekt erblickt. Auch Rehmke will den Bann
des Subjektivismus überwinden und eine absolute, in sich selbst
ruhende Erkenntnis der Welt gewinnen: das heisst, auch ihm
weitet sich die Erkeuntnislehre zur Metaphysik. Und so finden
wir die namhaftesten Denker trotz allen Differenzen in dieser
Grundtendenz geeinigt, die wir demnach als das charakteristische
Merkmal der modernen Philosophie bezeichnen können.
* *
*
Es ist beinahe selbstverständlich, dass die Tendenzen, welche
die systematische, erkenntnistheoretische Philosophie beherrschen,
noch greifbarer in der Breite der philosophischen Literatur hervor-
treten, deren Erzeugnisse sich an den Grenzen des gesellschaft-
lichen, ästhetischen und religiösen Lebens entwickeln. Die Sehn-
sucht nach einer einheitlichen Kultur, die mit der Weite sozialer
Perspektiven die Innigkeit des individuellen Empfindens verbindet,
ist die treibende Kraft dieser Gestaltungen. Und aus demselben
Motiv geht die grosse Bewegung der Neuromantik hervor, von
der ich hier wiederholt gesprochen habe. Denn die Idee der
organischen, harmonischen Kultur als einer alle Sphären der Be-
tätigung durchdringenden Lebensmacht ist zuerst der Romantik
aufgegangen. Sehr schön zeigt dies Windelband in seinen Vor-
lesungen „Die Philosophie iui deutschen Geistesleben des XIX.
Jahrhunderts" [Tübingen, Mohr, 120 S.], eine Schrift, deren Lek-
türe keiner unterlassen soll, der sich für die Entwickelungs-
geschichte der modernen Probleme interessiert. Windelband
zeigt in feiner Analyse die Fäden, die vom romantischen Zeitalter
zur Gegenwart laufen: die mannigfachsten Strömungen, die teil-
weise noch in unsere Zeit hineinragen, Irrationalismus, Materialis-
mus, Pessimismus, Positivismus, Psychologismus und Neoidealismus
werden in die richtige Perspektive gerückt. Der architektonische
Stil des Aufbaues korrespondiert der Inhaltsfülle dieser vortreff-
lichen Schrift.
Ich habe schon im vergangenen Jahresberichte erwähnt, dass
sich das gesteigerte Interesse an der Philosophie in den zahl-
reichen neuen Klassikerausgaben kundgiebt, und dass der Verlag
der Dürrschen Buchhandlung in Leipzig vor allem das Verdienst
Die deutsche Philusophie im Jahre 1909, 453
für sich in Anspruch nehmen darf, solche durch seine „Philoso-
phische Bibliothek" den weitesten Kreisen zugänglich gemacht zu
haben. Die neuesten Bände beschäftigen sich mit Lessing;
Band 119 „Lessiugs Philosophie'', herausg. von Paul Lorenz,
Band 121 „Lessiugs Briefwechsel mit Mendelsohn und Nicolai
über das Trauerspiel", herausg. von Prof. Dr. Robert Petsch.
An einer systematischen Darstellung der Lessingschen Welt-
anschauung fehlt es wohl noch.^) Umsomehr ist der Versuch zu
begrüssen, die verschiedenen verstreuten philosophischen Beiträge
Lessiugs unter einheitlichen Gesichtspunkten zu ordnen. Nach
einer ausführlichen Einleitung über die Stellung Lessiugs in der
Geschichte der deutschen Philosophie und die Entwicklung seiner
philosophischen Anschauungen finden wir folgende Hauptgruppen:
I. Abhandlungen zur Philosophie im eugeren Sinne, IL Religions-
philosophie, III. Geschichtsphilosophie, IV. Kunstphilosophie und
einen Anhang, der die gelegentlichen philosophischen Äusserungen
enthält. Die massgebenden Einflüsse werden in Wolff, Spinoza
und Leibniz gesucht und zwar so, dass durch diese Reihenfolge
auch die zeitlichen Entwickeluugsstadien bezeichnet werden. Zum
Höhepunkte seiner Entwickelung soll Lessing das Studium der
erst 1765 erschienenen „Noveaux Essais" verholfen haben. In
diesen Abhandlungen zeigt sich der Reichtum und die staunens-
werte Vielseitigkeit des Lessingschen Denkens. Das Interesse an
ethischen und ästhetischen Fragen überwiegt darin entschieden
das erkenntnistheoretische Interesse. Das letztere ist enger um-
grenzt und historisch durch den Anschluss an die Systeme
Spinozas und Leibuizens bftdingt.
Der Verlag Diederichs, der sich der Neuroraantik mit be-
sonderem Eifer gewidmet hatte, bemüht sich jetzt auch um Aus-
gaben der klassischen Antike. Von seinen interessanten Publi-
kationen hebe ich hervor: Monrads „Sören Kierkegaard" (151 S.),
eine Monographie über den genialen dänischen Philosophen, dessen
Denken so manche Beziehungen zur Romantik verrät, den zweiten
Band von Meister Eckehardts „Schriften und Predigten", diesem
lebendigen Born aller Mystik, übersetzt und herausgegeben von
Büttner (232 S.) Übersetzungen von Piatons „Staat" (Preisendanz,
445 S.), „Timaios", „Kritias", „Gesetze" (Kiefer, 229 S.), Aristo-
1) Auszunehmen ist Schrempfs Monographie in Fromanns Klassikern
der Philosophie.
29*
454 O. Ewald,
teles' „Nikomachische Ethik" (Adolf Lasson, 254 S.), den sechsten
Band von Giordano Brunos sämtlichen Werken, enthaltend
„Kabbala", „Kyllenischer Esel", „Reden", „Inquisitionsakten",
übersetzt und herausgegeben von Kuhlenbeck, 294 S.), „Epikurs
Lehre", eingeleitet und zusammengestellt von Alexander von
Gleichen-Russwurm (165 S.).
Hierher gehören auch die „Ekstatischen Konfessionen", ge-
sammelt von Martin Buber (239 S.). Es sind Dokumente des
mystischen Grunderlebnisses, der Vereinigung der Menschenseele
mit dem Kosmos, mit der Gottheit. Dies Erlebnis als solches hat
Realität, wie Buber mit Recht in der Einleitung hervorhebt, und
schon deshalb verlohnt es sich, ihm vom Standpunkte der Psycho-
logie aus bis in seine tiefsten Tiefen nachzugehen. Die verschie-
densten Kulturen kommen hier zu Wort: indische, persische, ara-
bische, jüdische und christliche Mystik. Und ebenso die verschie-
densten Zeiten vom Altertum bis zum achtzehnten Jahrhundert.
Der Gesarateindruck, den wir von diesen Bekenntnissen gewinnen,
ist ein merkwürdig gemischter, der Zweischneidigkeit aller Mystik
entsprechend. Es ist schwer, die Grenze zwischen dem, was rein
subjektiver Natur ist und bloss eine abnorme — wenn auch nicht
unbedingt pathologische — Zuständlichkeit spiegelt, und der
objektiven Seite des Phänomens zu ziehen, in der ein Stück
des wahren Seins sich kundgiebt. Auch eine charakteristische
Armut und Monotonie trotz der individuellen Nuancen fällt pein-
lich auf: bloss die grössten Mystiker treten uns als ausgeprägte
Persönlichkeiten entgegen. Und das ist begreiflich: denn das
Prinzip des Persönlichen ist das Prinzip der klaren Umgrenzung
und Gestaltung, und letzteres mangelt der Mystik.
Von rein ethischen Tendenzen ist Professor Walter Kinkels
„Humanitätsgedanke" [Eckart, Leipzig, 192 S.] erfüllt. „Be-
trachtungen zur Beförderung der Humanität" nennt der Verfasser
die Schrift und diesem Untertitel entspricht der Grundgedanke,
der zum Humanitätsideal des achtzehnten Jahrhunderts in seiner
Reinheit zurückkehrt und sämtliche Konsequenzen zieht. Schroff
nimmt Kinkel gegen die modernen Umdeuter oder Gegner dieses
Gedankens Stellung, die ihn durch Einmischung nationaler und
Rassenfragen zu trüben oder durch aristokratische Kastenprin-
zipien umzustossen beabsichtigen. Er setzt sich aufs Entschie-
denste für den Demokratismus ein, der den Anteil aller an den
Kulturgütern garantiert, und fordert die absolute Emanzipation
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909. 455
und Gleichstellung- der Frauen. Auch in geschichtsphilosophischen
Erläuterungen ergeht sich das Buch. Die Bemerkungen über In-
dividualismus und Ästhetizismus, welche nicht wie die wahre
Kunst die innere Einheit und Gesetzlichkeit des Weltganzen,
sondern die Problematik des besonderen, persönlichen Daseins
ergreifen, sind sehr lesenswert. Humanität ist schliesslich nichts
anderes als das Göttliche im Menschen, als die Idee des Guten
und Wahren, die ewig ist, während alle Wirklichkeit als bloss
relativ und vergänglich erscheint. Es ist die Kantische Ansicht
vom Wesen des Idealen und Realen, und so auch vom Endziele
der Kultur, die hier vertreten wird.
Ich möchte hier auch auf meine bei Ernst Hofmann & Co.
erschienene zweibändige Schrift „Gründe und Abgründe" hinweisen,
die den Versuch unternimmt, in der Zergliederung und Deutung
höherer seelischer Erlebnisse den Unterbau für eine Philosophie
des Lebens zu legen. Den Mittelpunkt bildet die Gegenüber-
stellung des Willens zur Macht und des Willens zum Werte, die
in all ihren psychischen Erscheinungsformen geprüft werden, zu-
mal im erotischen, künstlerischen und religiösen Empfinden. Der
Wille zur Macht wird hierbei, entgegen einer heute weit ver-
breiteten Strömung, als ein Prinzip dargestellt, das in seinen
letzten Konsequenzen entblöst, nicht die Selbstbejahung und in
ihr die Bejahung des Seins enthält, sondern umgekehrt zur nihi-
listischen Aufhebung und Verneinung der eigenen Individualität
und der Welt führt. Hingegen ist die Idee des Wertes dasjenige,
das, indem es die unbedingte Hingabe der Einzelseele an das
Universum gebietet, dennoch wieder vermöge der Liebesidee auch
ihre Erhaltung gewährleistet und so vom Universalismus die
einzige Brücke zum Individualismus bildet.
Auch die Literatur über Nietzsche hat manche Bereicherung
erfahren. Ich mache hier auf die zweite vermehrte Auflage von
Raoul Richters „Friedrich Nietzsche" (Verlag der Dürrschen
Buchhandlung, Leipzig) aufmerksam. Richter bemüht sich vor
allem um die Entwickelungsgeschichte der Nietzscheschen Welt-
anschauung, deren Stadien er in sorgfältiger Betrachtung verfolgt.
Die Überschätzung des Einflusses, den Darwinismus und Evolutio-
nismus auf sie gewonnen, macht sich auch hier bemerkbar und es
scheint mir, dass Richter dadurch den innersten Intentionen des
Denkers nicht gerecht wurde. Zumal die Idee der ewigen
Wiederkunft lässt sich mit solch einer Auffassung schwer in Ein-
456 O. Ewald,
klang bringen. Überhaupt sehe ich nicht ein, wie die beiden
Leitmotive der Nietzscheschen Weltansicht, das Apollinische und
Dionysische, in irgend eine engere Beziehung zum Evolutionismus
gesetzt werden sollen. In der neueren Nietzscheliteratur ist auch
die Annahme eines solchen Zusammenhanges, die ehedem den
Schlüssel zum tieferen historischen und sachlichen Verständnis
des Denkers zu liefern schien, entschieden zurückgetreten. Ich
weise hier auf meine Schrift „Nietzsches Lehre in ihren Grund-
begriffen", sowie auf Simmeis Arbeiten über Nietzsche hin. Die
Veröffentlichung des Nachlasses bot eine glänzende Bestätigung
dieser Auffassung: hier zeigte es sich, dass für Nietzsche selbst
die Idee des Übermenschen sich mehr und mehr von allem Darwi-
nismus ablöste und eine ideale, symbolische Bedeutung gewann.
Wenn Richter demgegenüber an seinem Standpunkte prinzipiell
festhält und die Rechte des Evolutionismus verteidigt, so gelingt
ihm höchstens der Nachweis der formalen Verträglichkeit dieser
Lehre mit der vom Übermenschen, nicht aber der Nachweis einer
engeren inhaltlichen Verknüpfung und Abhängigkeit.
Richter setzt sich noch an anderer Stelle mit Nietzsches
Weltansicht auseinander: im zweiten Bande seines Werkes „Der
Skeptizismus in der Philosophie und seine Überwindung" [Leipzig,
Verlag der Dürrschen Buchhandlung, 1. Bd. 364 S., IL Bd. 584 S.],
das ein wertvoller Beitrag zur Entwickelungsgeschichte der philo-
sophischen Probleme genannt werden muss. Die Behandlung der
Skepsis reicht von der Antike bis zur Schwelle der Gegenwart.
Nach den Zweifelsgebieten wird der totale vom partiellen, nach
dem Zweifelsgrade der radikale vom gemässigten Skeptizismus
unterschieden. Es werden selbstverständlich nicht bloss die Denker
herangezogen, die wie Montaigne und Hume erklärte Skeptiker
waren, sondern die skeptischen Motive und Möglichkeiten der
hervorragenden Philosophen aller Richtungen einer sorgsamen
Analyse unterworfen. Während das erste Buch, der totale Skepti-
zismus, dermassen zum Abschlüsse gediehen ist, hat der Verfasser
vom zweiten, dem partiellen Skeptizismus, bloss einen allgemeinen
Ansatz, ein Programm entworfen. Richters Tendenz ist schon im
Titel des Werkes enthalten. Er ist kein Skeptiker, wiewohl er
allen Motiven dieser Denkrichtung gerecht zu werden strebt,
sondern er meint, dass gerade das Eindringen in ihre letzten
Voraussetzungen und Konsequenzen zu ihrer Überwindung führen
muss. Besonders ausführlich und wichtig ist die Behandlung
Die deutsche Philosophie im Jahre 1909. 457
Humes, in dessen Skepsis sich ja der moderne Positivismus und
Empirismus vorbereitet. Hier muss zumal der Nachweis Interesse
erregen, dass, der Behauptung Kants entgegen, die sich in der
Geschichte der Philosophie zähe festgesetzt hat, Hume in den
mathematischen Sätzen nicht analytische, sondern synthetische
Urteile erblickt. In dem Streite zwischen Transscendentalismus
und Psych ologisraus tritt Richter, hierin im Einklänge mit den
neuesten Bestrebungen, für die berechtigten Forderungen einer
Erkenntuispsychologie ein, die nicht bloss die psychische Struktur
der Urteile überhaupt, sondern gerade die der wahren Urteile
zum Unterschiede von den falschen erforschen soll, ohne dass
dadurch der transscendentale Wahrheitswert eingeschränkt oder
nivelliert wird. „Aber nicht bloss die Erforschung der Prinzipien,
denen auch die Erkenntnis untersteht, und die wahre wie falsche
Urteile gleichmässig betreffen, lehnt die Erkenntnistheorie ab,
sondern ebenfalls die Untersuchung von Prinzipien, welche zwar
den wahren und wahrscheinlichen Urteilen, also bloss der Erkennt-
nis eigentümlich, ihr aber lediglich als besonderem geistigen Akt,
als besonderem Lebensvorgang, als besonderem Glied des Welt-
ganzen eigentümlich sind. Nicht mehr die allgemeine Psychologie,
Biologie und Metaphysik, wohl aber die Erkenntnis-Psychologie,
Erkenntnis-Biologie und Erkenntnis-Metaphysik bearbeiten diese
Aufgaben. Die oft gehörte Behauptung, dass die übrigen Dis-
ziplinen die Erkenntnis ohne Rücksicht auf deren Wahrheit oder
Falschheit zu behandeln hätten, ist sehr cum grano salis zu ver-
stehen und, wörtlich genommen, eine zu einfache Lösung des
Knotens. Wahre Urteile nehmen vielleicht einen anderen Verlauf
im Bewusstsein als falsche oder ungewisse; ihr Lebenswert könnte
ein höherer oder tieferer sein als bei jenen; mit ihnen mag das
Weltwesen eine ganz besondere Absicht gehabt haben." Der
philosophischen Erkenntnistheorie wird lediglich die Aufgabe zu-
teil, die Giltigkeit der Erkenntnis zu untersuchen.
Den Abschluss des ersten Buches bildet der biologische
Skeptizismus. Als ein Vertreter desselben wird Friedrich Nietzsche
betrachtet. Ob die biologische Skepsis, die wiederum zum Dar-
winismus hinüberweist, als tiefster Ausdruck von Nietzsches
Zweifelslehre betrachtet werden kann, ob hier nicht ein noch
viel subtilerer Gesichtspunkt, der sich wohl am besten als Per-
spektivisraus bezeichnen lässt, hineinspielt, mag dahingestellt
458 O. Ewald, Die deutsche Philosophie im Jahre 1909.
bleiben. Immerhin empfiehlt sich dieser Teil auch der genauesten
Beachtung.
Einen Einblick in das intime Leben Nietzsches, in das er-
schütternde Schicksal seiner Vereinsamung gewähren uns seine
im Inselverlag in zwei Bänden erschienenen „Briefe an Mutter
und Schwester", deren Herausgabe Frau Elisabeth Förster-
Nietzsche besorgt hat. Sie bieten ein ungemein fesselndes, weil
persönliches Bild seines allmähligen Wachsens und Werdens, seiner
fortschreitenden inneren Befestigung in den Ideen, die schliesslich
zu den Grundpfeilern seiner Weltanschauung erwuchsen. Das
unablässige Ringen mit den düsteren Mächten des Schicksals, die
zuletzt die Oberhand gewannen, verleiht diesem Seelengemälde
seine einzigartige, tragische E'ärbung.
Wir lernen dadurch vielleicht besser noch als durch sein
Werk verstehen, dass er in vieler Hinsicht zum Repräsentanten
unseres Zeitalters wurde. Von der Romantik ausgehend, strebt er
danach, die Romantik zu überwinden. Durch und durch Psycho-
loge, sucht er gleichwohl, sich vom Psychologismus und Subjekti-
vismus zu befreien. Entschiedener Individualist, trachtet er
nichtsdestoweniger nach einer höchsten Perspektive über allen
Dingen, einer Versenkung in den Mittelpunkt des Universums.
Diese Synthese von Individualismus und Universalismus ist aber
die grosse Aufgabe der Gegenwart. Was die moderne Welt-
anschauung ersehnt, ist, ohne phantastische Willkür die Gleichung
von Denken und Sein zu finden, vom Standpunkte des persön-
lichen Bewusstseins aus den unendlichen Rhythmus des Welt-
geschehens zu ergreifen und festzuhalten.
Zur Methode der Philosophiegeschichte.
Von Nicolai Hartmann.
Die Geschichte von heute, so wie uns das letztvergangene
Jahrhundert ihren Begriff und ihre Aufgabe hinterlassen hat, —
erhebt einen Anspruch, den zu erfüllen die, heutige Wissenschaft
noch keineswegs die Mittel besitzt. Es ist der Anspruch der
Einheit der Geschichte.
Was Einheit der Geschichte bedeute, lässt sich am ein-
fachsten am Gegensatz zeigen. Wir treiben Geschichte der
Staaten, Geschichte des Rechts, Geschichte der Religion, Kunst
und Sprache, Geschichte aller Einzelwissenschaften, ja Geschichte
der Technik. Das alles ist aber noch nicht die Geschichte als
solche, nicht die Einheit der Geschichte. Einheit wäre erst alles
dieses ^n Eins gedacht und als eine Menschheitsgeschichte ver-
standen. Auf dieses Ziel strebt im Grunde alle Geschichts-
forschung hin. Denn die grossen Zusammenhänge können nirgends
ignoriert werden. Jeder besondere Geschichtszweig tendiert auf
die anderen Geschichtszweige hin und weist dadurch auf die Ein-
heit der Geschichte als auf die ideale Voraussetzung aller Spezial-
forschung zurück.
Für die Geschichte ist es also von vornherein wesentlich,
dass sie nicht aus einem einheitlichen Interesse hervorwächst,
sondern erst in ihrer Gesamtrichtung auf die Einheit eines Inter-
esses hinaustendiert. Dieses ist ihr wissenschaftliches Ziel, ihr
Endzweck. In ihren Anfängen aber bezieht sie ihr Interesse
durchaus von verschiedenen Seiten her, — aus welchen Einzel-
tendenzen sich jene Einheit erst im Laufe der Forschung sum-
mieren kann. So wenigstens stellt sich der Gang aller Geschichts-
forschung dar.
Wenn wir uns nun die Frage stellen, wie denn inmitten
dieses Komplexes von Geschichtszweigen und ihrer angestrebten
Einheit die Geschichte der Philosophie zu stehen kommt, so
zeigt sich uns ihre Stellung zunächst von einer ungünstigen Seite.
460 N. Hartmann,
Je zusammengesetzter sachlich ein Forschungsgebiet ist, desto
vielseitiger bedingt wird auch seine Geschichte sein. Denn auf
jeder Entwickeluugsstufe wollen die einschlägigen Faktoren alle
mitberücksichtigt sein. Nun sind die Fragen der systematischen
Philosophie zugestandeuermassen die kompliziertesten ihrem Inhalt
nach. Denn sie sind allemal schon bestimmt durch irgend ein
anderes Gebiet. — sei dieses nun eine der positiven Wissenschaften
oder der anderen Kulturschöpfungen, wie Kunst, Religion oder Mythos.
Aus allen Gebieten bezieht die Philosophie ihren Inhalt, ihre
Probleme, und hat sie von jeher aus ihnen bezogen. Darum setzt
ein wirkliches Eindringen in den Entwickelungsgang des philoso-
phischen Denkens unbedingt schon ein Eindringen in den Ent-
wickelungsgang aller dieser Gebiete voraus — besonders aber in
den der Wissenschaften, weil diese innerhalb des philosophischen
Problemmaterials die zentrale Stellung einnehmen.
Daraus ergiebt sich nun der Schluss, dass die Philosophie-
geschichte als der am weitgehendsten bedingte, d. h. als der un-
selbständigste Zweig der Gesamtgeschichte dasteht. Und wenn
es hierbei sein Bewenden hätte, so wäre es bei dem heutigen
Stande der Dinge beinahe ein aussichtsloses Unternehmen, Philo-
sophiegeschichte treiben zu wollen. Auf allen anderen Gebieten
lässt sich dort, wo die grossen Zusammenhänge noch fehlen, allen-
falls der vorläufige Weg deskriptiver Wiedergabe einschlagen.
Die Geschichte der Staaten kann in ihren Anfangsstadien auf
reine Quellenstudien, die Kunstgeschichte auf reine Beschreibung
und Vergleich ung reduziert werden. Aber die Geschichte des
Denkens verlangt mehr; sie kann erst beginnen, wo alles Vor-
läufige dieser Art schon aufgehört hat. Sie kann nicht das über-
lieferte Material erst zu Problemen ausgestalten wollen, denn
sie muss sich von vornherein in Problemen bewegen. Jedenfalls
würde sie erst dort anfangen Philosophiegeschichte zu sein, wo
Probleme bereits vorliegen. Zu diesen Problemen hat sie dann
eben die Vorstufen, die Vorgeschichte zu erbringen.
Nach dieser Überlegung könnte es scheinen, als befinde sich
die Geschichte der Philosophie in einer verzweifelten Lage. In
der Tat, wie soll sich in ihr der Zusammenschluss zur Einheit,
der Zusammenhang einer Entwickelungslinie ergeben, wo doch das
ganze ihr vorliegende Material bereits anderen spezielleren Ent-
wickelungslinien angehört, von denen es durchaus fraglich bleibt,
ob und wie weit sie sich überhaupt vereinigen lassen?
Zur Methode der Philosophiegeschichte. -161
Hier sehen wir uns nun vor die Frage gestellt, ob denn die
methodischen Mittel der Philosophiegeschichte sich überhaupt
in diesem ihrem Verhältnis zu den anderen Geschichtszweigen er-
fassen, oder gar erschöpfen lassen, und ob die Art des Zusammen-
hanges, die sie jenen zugleich mit ihrem Material entnimmt, wirk-
lich die einzige ist, um die es sich in ihr handeln kann. Es
fragt sich, ob sie nicht Mittel und Wege besitzt, aus sich selbst
heraus eine neue, eigentümliche Art des Zusammenhanges, eine
eigentümliche Art historischer Kontinuität zu erzeugen,
welche den Ansprüchen ihrer besonderen Interessen entspräche?
Eine solche Hesse sich wenigstens prinzipiell sehr wohl denken,
— nämlich wenn es gelänge, sie aus dem inneren systematischen
Wesen der Philosophie heraus zu gewinnen, aus dem sachlichen
Gehalt ihrer Probleme. Nur würde das freilich zur Folge haben,
dass der ganze Begriff der Philosophiegeschichte verschoben
würde und sich in dieser Verschiebung präzisierte zum Begriff
einer Geschichte der Probleme.
Die objektive Natur der Probleme ist es, die in der Tat eine
historische Einheit eigenster Art herzustellen die Kraft besitzt.
Der inhaltliche Bestand einer Fragestellung ist etwas Eigentüm-
liches und Unveräusserliches, etwas, dem die historischen Wand-
lungen keinen Abbruch tun. Unser systematisches Denken bewegt
sich durchweg in Problemen. Wenn nun aber diese unsere Pro-
bleme sich im Denken früherer Zeitalter in anderer und anderer
Gestalt wiederfinden lassen, und wenn gar jene wiedergefundenen
Problemansätze sich als fruchtbar erweisen weit über ihre histo-
rische Tatsächlichkeit hinaus — womöglich gar für unser eigenes,
gegenwärtiges, systematisches Denken, — dann ist es klar, dass
die Natur des Problems selbst bereits eine Einheit ist, die
über den Abstand der Zeit und die Differenz der zufälligen An-
lässe hinweg uns mit jenen frühen Problemansätzen verbindet und
so die Möglichkeit giebt, eine Kontinuität sachlicher, methodischer
Art herzustellen, deren Denknotwendigkeit uns die Möglichkeit
einer geschichtlichen Kontinuität verbürgt.
Wie diese Kontinuität beschaffen sein, wie sie sich für die
Geschichtsforschung als Grundlegung erweisen soll, das ist nun
die fernere Frage, die es zu betrachten gilt. Sollte sie sich aber
als durchführbar erweisen, so ist es leicht vorauszusehen, wie sehr
sie der Philosophiegeschichte zu Gute käme: jene selbe Eigentüm-
lichkeit, die uns vorhin die Philosophiegeschichte als den un-
462 N. Hartmann',
selbständigsten Zweig der Geschichte fassen liess, dürfte sie uns
dann auf Grund ihrer neuen methodischen Kompetenz als die
selbständigste und am sichersten in sich selbst beruhende histo-
rische Kontinuität verstehen lassen.
Dieser methodische Vorzug der Philosophiegeschichte beruht
aber auf keinem andern Grunde, als ihrer engen Verwachsenheit
mit der systematischen Philosophie. Wir können an diesem Punkt
das gegenseitige Verhältnis beider in folgender Weise charakteri-
sieren. Der Begriff des Problems ist es, der die Philosophie
mit ihrer Geschichte aufs engste verbindet — enger, als irgend
ein Kulturgebiet mit seiner Geschichte verbunden ist. Die Ge-
schichte der Philosophie und die Philosophie selbst schliessen ein-
ander nicht aus, sondern ein. Beide setzen einander voraus und
laufen doch wiederum aufeinander hinaus; nur beide zusammen
ergeben überhaupt eine geschlossene philosophische Ansicht. Denn
Philosophie muss ihre Probleme allseitig stellen: so muss sie sich
auch das Problem ihrer eigenen Entwickelung stellen; dieses
Problem ist ein notwendiges Glied in der Kette jener Probleme,
deren Entwickelung es betrifft. Es setzt diese Kette voraus und
schliesst sie ab, es ist ihr Endglied. Also muss die systematische
Philosophie auf ihre eigene Geschichte als auf ihr Endglied hinaus-
führen. Der Problembegriff ist — wenn man ein geometrisches
Bild herbeiziehen darf — die mittlere Proportionale zwischen
beiden, welche die inkommensurablen Forderungen beider ver-
gleichbar und vereinbar macht.
Aus dem bisher Gesagten ist soviel klar, dass es für die
Methode der Philosophiegeschichte in erster Linie erforderlich sein
wird, den Begriff der Problemgeschichte genauer zu präzisieren,
die Mittel und Wege, die er an die Hand giebt, sowie die Trag-
weite seiner Kompetenz zu untersuchen. Natürlich können wir
dabei nicht auf alle auftauchenden Spezialfragen eingehen, sondern
müssen uns auf die wichtigsten Punkte beschränken. Als erste
Aufgabe erwächst uns hieraus der Nachweis, was der Begriff der
Problemgeschichte für die Geschichte der Philosophie leiste und
wie weit er ihren Anforderungen gerecht wird. Als zweite Auf-
gabe aber hätten wir zu untersuchen, wie die methodischen Mittel,
die er an die Hand giebt, systematisch zu formulieren und zu
begründen sind.
Zur Methode der Philosophiegeschichte. 463
Wir wenden uns der ersten Aufgabe zu. Vor allem muss
hier ein Missverständnis abgelehnt werden. Der Begriff der
Problemgeschichte muss auf harten Widerstand derer stossen, die
von der Philosophiegeschichte mehr verlangen als die rein objek-
tive historische Entfaltung gedanklicher Inhalte. Man rechnet zur
„Philosophie" auch das denkende Bewusstsein, in welchem sie
entsteht. Nun ist es ohne Zweifel ein Anderes, das Denken eines
Philosophen in seiner subjektiven Eigentümlichkeit zu ermitteln,
ein Anderes aber, es in seinem bleibenden Gehalt, seinem Be-
griffs- oder Problemwert zu fixieren. Diejenige Wissenschaft, die
wir gemeinhin unter der „Geschichte der Philosophie" verstehen,
sieht es als ihre allgemeinzugestaudene -Aufgabe an, beiden ge-
recht zu werden, beides in einer Darstellung zu vereinigen und
so gleichsam eine Antwort auf zwei Fragen zu geben. Es
dürfte nicht Wunder nehmen, wenn bei solchem Verfahren statt
der zwei Antworten, die man erwartet, keine einzige zustande
käme. Gleichwohl muss diese Ansicht einen begreifbaren Grund
haben. Und dieser ist leicht genug zu finden: er liegt in der
Eigenart des historischen Materials. Es scheint nämlich in der
Tat, als liesse der Stoff, mit dem es die Philosophiegeschichte zu
tun hat, eine Trennung jener beiden Seiten nicht zu. So weit
uns historische Quellen für die Gedankenwelt eines Denkers vor-
liegen, sind sie ausnahmslos beides in einem: Zeugnisse der Per-
sönlichkeit und Zeugnisse wissenschaftlich objektiver Probleme.
So liegt es in der Natur der Sache; denn kein Denker schreibt
anders als in persönlicher Eigenart, aber auch keiner denkt anders
als in dem Geleise der durch ihn hindurch und über ihn hinaus
sich entwickelnden Kulturprobleme.
Dagegen ist nun zu fragen: warum sollte sich aber dieser
einheitliche Stoff nicht unter zweierlei verschiedener Frage-
stellung betrachten lassen? Wird etwa seine Einheitlichkeit
dadurch zerstört, dass er verschiedene historische Gesichtspunkte
zulässt? Dann stünde es schlimm um die Geschichtsforschung
überhaupt, die doch in allen komplizierteren Fragen sich zu aller-
erst die Gesichtspunkte absteckt, nach denen sie ihr Material ge-
sondert, von verschiedenen Seiten zu fassen sucht; und das tut
sie doch, ohne auf die Einheit Verzicht zu leisten, ja sogar in der
bestimmten methodischen Überlegung, dass sie erst auf diesem
Umwege zur Erfassung der Einheit gelangen kann. Um dieses
Bedenken also können wir beruhigt sein: die Zweiheit der Frage-
464 N. Hartmann,
punkte wird die Einheit der Philosophiegeschichte nicht auseinander-
reissen.
Dageg-en fällt eine andere Frage ernstlicher ins Gewicht:
vorausgesetzt also, wir hätten es mit einer Geschichte der Denker
einerseits und mit einer Geschichte der Probleme andererseits zu
tun, — welcher dieser beiden Geschichtszweige beansprucht dann
das erste und wichtigste Interesse, welcher ist voranzustellen?
Es soll hiermit nicht gefragt sein, in welcher der beiden
Richtungen die grössere Aufgabe der Philosophiegeschichte zu
suchen sei, oder gar in welcher die ernstere wissenschaftliche
Rechenschaft abzulegen wäre. Das hiesse, aus der JB>age der
geschichtlichen Disposition eine Wertfrage der beiderseitigen
Interessen machen. Selbst wenn sich solch eine Wertfrage mit
Bestimmtheit zu Gunsten einer Richtung entscheiden liesse, so
wäre damit dem Geschichtsproblem nicht geholfen; denn es würde
sich dann erst fragen, ob die Voranstellung der bevorzugten
Fragestellung auch methodisch durchführbar ist. Und das lässt
sich zum Voraus nicht ersehen. Vielmehr muss von vornherein
die Gleichwertigkeit beider Richtungen vorausgesetzt werden;
durch jede Vorwegnahme würde man sich das Problem nur er-
schweren. Für den Ausgangspunkt muss es genügen, dass beide
vorliegen, als Probleme dastehen, und dass unser historisches
Bewusstsein imstande ist, sie sowohl zu unterscheiden als auch in
ihrer Einheit zu begreifen. Und das kann ja wohl schwerlich be-
zweifelt werden, dass die Geistesgeschichte der Menschheit an
beiden ihr wohlberechtigtes Interesse hat. Ist doch allemal der
Genius der Wissenschaft ebensosehr bedingt durch die geniale
Persönlichkeit, als diese durch die geschichtliche Kontinuität
ihrer Probleme. In dieser wie in jener Richtung ist daher das
Interesse auf wirkliche Kulturwerte, auf sachliche Fragen ge-
richtet. Sofern wenigstens der Denker und sein Problem in
tieferem als bloss zufälligem Sinne eine innerlich untrennbare
Einheit bilden, so hat naturgemäss die Persönlichkeit mehr als
bloss biographisches Interesse — weil sie der Schneidepunkt
historischer Problemlinien ist — , das Problem aber mehr als aus-
schliesslich philosophisches Interesse, weil es als durchgehende
Linie zugleich der logische, oder vielmehr „historische" Ort ist
für solche Schneidepunkte, d. h. für neue und neue individuelle
Denkereigentümlichkeit.
Zur Methode der Philosophiegeschichte. 465
Es kann sich also nicht um Ausschliessung der einen oder
anderen Frage handeln, sondern nur um die Vorausteilung einer
von beiden. Und für diese Frage kommt es einzig darauf an,
welches von beiden Problemen das selbständigere ist, welches sich
am ehesten gesondert betrachten und womöglich für das andere
bereits zugrunde legen Hesse. Die Philosophiehistoriker sind in
der Tat immer entweder mehr auf das eine oder mehr auf das
andere Problem ausgegangen. Denn es ist bei der Grösse der
geschichtlichen Schwierigkeiten unmöglich, beide zugleich und im
gleichen Masse zu betreiben, — so sehr es immer wahr bleibt,
dass ein Schritt vorwärts auf dem einen Gebiet auch einen Schritt
vorwärts auf dem anderen bedeutet. Zur 'Orientierung verhelfen
kann man sich hier nur durch eine wenigstens vorläufige Iso-
lierung beider.
Hier ist es nun, wo Stellung genommen werden muss. Aber
nicht mit jeder Art von Stellungnahme ist dem Problem gedient.
Es giebt auch eine dogmatische Stellung zu unserer Frage; und
zwar begegnen wir ihr auf beiden Seiten, sowohl bei denen, die
mit dem Denker beginnen, als bei denen, die das Problem voran-
stellen. Solcher Stellungnahme gilt es nicht nur zu entgehen,
sondern auch sachlich entgegenzutreten. Der Forscher der all-
gemeinen Kulturgeschichte, dessen Interesse ja auch mit unab-
weislichem Recht an dem historischen Phänomen der Philosophie
haftet, wird immer geneigt sein, den Denker vor dem Gedanken
ins Auge zu fassen, ja unter Umständen ganz bei ihm stehen zu
bleiben und die Philosopheme, die ihn charakterisieren sollten, über
ihm zu vernachlässigen. Das beweist dann aber nur, dass es an
dem historischen Phänomen einer Denkerpersönlichkeit noch
anderes als philosophiegeschichtliches Interesse giebt. Jedenfalls
ist der Methodenfrage der Philosophiegeschichte mit solchem Ent-
scheid nicht geholfen.
Aber auch auf der anderen Seite gilt es, sich standpunkt-
licher Voreingenommenheit zu entschlagen. Es könnte nämlich
scheinen, als hätte der Spezialforscher der Philosophiegeschichte
hier bloss einer sehr einfachen Überlegung nachzugehen: die Ge-
schichte der Philosophie will es zugestandenermassen mit keinem
anderen Material zu tun haben, als mit der Philosophie selbst.
Die Philosophie selbst aber als solche besteht nicht in philoso-
phierenden Persönlichkeiten, sondern einzig in Philosophemen oder
Problemen. Also hat ihre Geschichte nichts anderes als Geschichte
466 N. Hartmann,
der Probleme zu sein. — Das ist ein Standpunkt, der manches
für sich hat. Ihn hat am deutlichsten Teichmüller vertreten;
denn was er „Geschichte der Begriffe" nennt, ^) ist sichtlich nichts
anderes als reine Problemgeschichte. Ist doch der „Begriff" im
strengen Sinne der auf seine definitorischen Grundmomente redu-
zierte Bestand eines systematischen Problems, also gleichsam
dessen Abbreviatur. Gleichwohl bringt uns dieser Standpunkt
einer Lösung der prinzipiellen Frage in unserem Geschichtsproblem
nicht näher. Denn auch er ist dogmatisch, auch hier ist die
Frage der geschichtlichen B'orschungsmittel in eine Wertfrage des
geschichtlichen Inhaltes umgewendet. Statt zu fragen: welche
Erkenntniskompetenz steht uns dem Historisch-Faktischen gegen-
über zu, wird hier gefragt: was gilt es überhaupt an dem Histo-
risch-Faktischen zu erkennen? Das war gerade die Frage, die
für unser Problem zurückgestellt werden musste. Wir müssen
vielmehr auf der Gleichwertigkeit aller historischen Interessen
fussen und unsere Voranstellung der einen oder der anderen
Forschungsrichtung lediglich danach bemessen, welche von beiden
zuerst — d. h. unabhängig von der anderen — einsetzen kann
und so auf Grund eigener, gesicherter Methodik den ersten Schritt
zu machen die Kraft hat.
An diesem Punkte nun müssen wir jene Komplizierung des
gesamten Geschichtsgebietes, auf die wir bereits zu Anfang auf-
merksam wurden, zum Massstabe der methodischen Kompetenz
heranziehen. Es giebt historische Erscheinungen, die sich auf
keine Weise in ein einziges Gebiet restlos einordnen lassen. Ein
politisches Ereignis findet leicht gleichzeitig seinen Platz in der
Kulturgeschichte oder Religionsgeschichte, ein litterarisches leicht
in der Sittengeschichte. Je konkreter und individueller das histo-
rische Faktum ist, um so vielseitiger ist es und in umsomehr
Spezialgebiete der Geschichte gehört es gleichzeitig hinein. Es
historisch in seiner Ganzheit wiedergeben, heisst dann die Einheit
aller jener Teilgebiete an ihm herstellen.
Es lässt sich nun leicht begreifen, inwiefern die Denker-
eigentümlichkeit und das Problem für die Geschichtsforschung
Gegenpole bilden. Die Individualität des Einzelmenschen ist das
komplizierteste, vielseitigste aller historischen Phänomene. Es
giebt keinen Geschichtszweig, in den sie nicht mit hineingehörte.
^) Studien zur Geschichte der Begriffe, Berlin 1874, Vorrede III.
Zur Methode der Philosoplaiegeschichte. 467
Daher ist sie ein höchstes und äusserstes unter den Geschichts-
problemen, eine Aufgabe, zu deren Erfüllung es einer unberechen-
bar weit ausholenden Vorarbeit bedarf. Die historische Persön-
lichkeit in ihrer vollen Eigenart rekonstruieren, bedeutet: die
Einheit der Geschichte in ihr herstellen. Ob diese sich aber
gegebenen Falles herstellen lässt, ist immer eine Frage mannig-
facher und durchaus zufälliger Bedingungen. Das Material, das
der Forscher hier übersehen, sichten und zur Darstellung bringen
muss, setzt seine Orientiertheit auf sämtlichen Teilgebieten, in
die es hineinspielt, voraus. So trägt die historische Aufgabe dieser
Art unvermeidlich den Charakter des Grenz- und Endproblems.
Die Philosophiegeschichte mit ihr beginnen,- hiesse die schwerste
und komplizierteste Frage zum Ausgangspunkt nehmen, das Ende
zum Anfang machen.
Den umgekehrten methodischen Charakter zeigt in jeder
Hinsicht das Problem als Gegenstand der Geschichtsforschung.
Denn das Problem, sofern es philosophisches oder Fundamental-
problem ist, bedarf keiner Umwege und Vorbereitungen, um in
deutlicher Prägnanz historisch fassbar zu werden. Es ist etwas
in sich Einfaches, auf sich selbst Beruhendes, in nichts anderem
als in der Vernunft Gegründetes. Vorbedingung für das histo-
rische Verständnis des Problems ist neben der Kenntnis des vor-
liegenden Quellenmaterials einzig und allein das systematische
Verständnis des Problems. D. h. der Geschichtsforscher muss
das Problem als solches bereits kennen, in sich tragen, denn er
muss das ihm vorliegende Material auf dasselbe hin sondern und
disponieren können; er muss die leisesten Spuren gleicher oder
ähnlicher Problemstellung wiederzuerkennen und auch die ver-
schwommenen, nur halb überlieferten Lösungsversuche als solche
herauszuheben und zu würdigen im Stande sein. Freilich kommt
er auf diesem Wege nicht unmittelbar dazu, die besonderen Privat-
meinungen des betreffenden Denkers auch als solche zu erfassen,
wohl aber dazu, den objektiven Problemwert in seinem Denken
und Schaffen festzulegen; d. h. er zeigt die problemgeschichtliche
Bedeutung seiner Leistung auf.
Sicherlich hat auch solch eine Aufgabe ihre Schwierigkeiten.
Aber diese sind hier von anderer Art. Sie liegen nicht im Ex-
tensiven, nicht in der Komplizierung. Denn für den Zweck der
Problemgeschichte braucht das ihr zugrundegelegte philosophische
Problem durch nichts ergänzt zu werden, was nicht wiederum
£&nUtadisQ XV. 30
468 N. Hartmann,
selbst philosophisches Problem wäre. Das Problem kann freilich
selbst, auch bloss systematisch genommen, schwer und verwickelt
sein, und deswegen mag es dann unter Umständen auch schwer
im Historischen wiederzuerkennen sein. Aber dann ist diese
Schwierigkeit vielmehr schon eine systematische und keine eigent-
lich historische mehr. Die eigentlich historische Aufgabe des
Wiederfindens ist dagegen, unter Voraussetzung systematischer
Klarheit über das Problem, durchaus einfach und beschränkt.
Eine solche Aufgabe ist in den Grenzen eines übersehbaren Mate-
rials immer erfüllbar. Das Material selbst aber ist hier eben des-
wegen in der Regel übersehbar, weil es durchweg homogen, durch-
weg Problem material ist.
Das ist der erste rein methodische Grund für die Voran-
stellung der Problemgeschichte innerhalb der methodischen Kom-
petenz der Philosophiegeschichte. An ihn schliesst sich unmittel-
bar ein zweiter, ebenso rein methodischer Grund an. Er liegt in
jener Eigentümlichkeit alles historischen Denkens, auf die wir
bereits einleitenderweise hingewiesen haben, in seinem Entwicke-
lungs- oder Kontinuitätscharakter. Geschichte will und muss
immer Zusammenhang sein; die Isolierung des Einzelnen, des
Stadiums im Prozess, ist allemal eine Unterbindung des eigentlich
historischen Verständnisses. Erst die Einheit der Stadien ist Ge-
schichte. Um aber solche historische Kontinuität herzustellen,
gilt es, die einheitliche historische Linie, oder das Geleise, fest-
zulegen, innerhalb dessen die Stadien einander ablösen.
Ein solches einheitliches Geleise ist für die historische
Forschung das systematisch-philosophische Problem. Denn der
einzelne Denker und seine Gedankenwelt wurzelt allemal in dem
Problem, oder in dem Komplex von Problemen, innerhalb dessen
sich seine systematische Forschung bewegt. Nicht aber umge-
kehrt wurzelt auch das Problem in ihm als Individualität, sondern
es wurzelt in dem objektiven Denkgehalt der Wissenschaften und
letzterdings in der Natur der Vernunft selbst. Diese Ver-
nunft aber ist eine in aller Mannigfaltigkeit der historischen
Stadien ihrer Selbstentfaltung, — ebenso wie ja auch die Mathe-
matik oder der Gesetzescharakter der Natur immer und überall
nur einer ist, während die geschichtliche Herausentwickelung solch
einer Vernunfteinheit immer nur ihre fortschreitende Besinnung
auf sich selbst, oder ihre Rechenschaft über sich selbst bedeutet.
Das Problem ist garnichts anderes als die Besonderung der in
Zur Methode der Philosophiegeschichte. 469
sich einheitlichen Vernunft auf eines ihrer Teilgebilde. Darum
ist für die geschichtliche Forschung das Problem unmittelbar das
Identische, und folglich auch das Vereinigende, innerhalb des
Wechsels der einander ablösenden gedanklichen Stadien.
Von hier aus gesehen, erweist sich die Geschichte der Pro-
bleme als die Betrachtung solcher Vernunfteinheiten in
ihrer zeitlichen Selbstentfaltung. Die gesuchte histo-
rische Kontinuität ist allemal eine solche Selbstentfaltung.
Diese ist in der Einheit des Problems zugrundegelegt.
Ihre Stufen aber sind in ihr nicht mit gegeben, sondern wollen
erst an ihrer Hand aus dem jedesmal vorliegenden Quellenmaterial
aufgelesen und als solche wiedererkannt sein. Die Eichtung der
Einordnung ist zugrundegelegt; und durch sie ist neben den Be-
stimmtheiten der unmittelbar vorliegenden Tatsachen bereits die
w^egweisende und regulierende (wohl auch gar kontrollierende)
Gegeninstanz einer anderen Art von Bestimmtheit an die Hand
gegeben, die ihrerseits nicht weniger schwer ins Gewicht fällt als
die Tatsachen. —
Wie steht es dieser historischen Kontinuität gegenüber nun
mit der Geschichte der Denker, der Persönlichkeiten? Die Per-
sönlichkeit ist vor allem Subjektivität, psychische Innerlichkeit,
und schon als solche das Schwerst-Erforschbare, das sich denken
lässt. Wo bleibt da jene „unmittelbare Gegebenheit", als welche
man sie greifen zu können meint, so lange einem die Vieldeutig-
keit ihrer Äusserungen nicht zum Bewusstsein kommt! Selbst die
Tatsachen, die litterarischen Zeugnisse, zeugen nicht unmittelbar
von der Subjektivität. Aller sprachliche Ausdruck ist in erster
Linie Ausdruck für Objekte und objektive Relationen; und diese
wären beim philosophischen Schriftsteller wiederum die sachlichen
Gegenstände, die er behandelt, die Probleme. Das Persönliche
aber, das individuell-Eigentümliche, das sich in ihrer Darstellungs-
weise wiederspiegelt, ist durchaus etwas Indirektes, erst durch
psychologisches E'eingefühl zu Erschliessendes; es setzt beim Ge-
schichtsforscher immer schon ein weitgehendes Interpretations-
moment voraus. Und dieses ist immer eine Frage zufälliger
Gleichgestimmtheit und Kongenialität. Es in solcher Fragestellung
zu einer gesicherten Methode zu bringen, liegt wenigstens vom
heutigen Stande der Forschung noch weit ab. Und selbst wenn
es erreicht wäre, wenn wir mit allem Scharfblick in die Subjekti-
vität des einmal dagewesenen Bewusstseins eindringen könnten,
30*
470 N. Hartmann,
— wie weit würde selbst dann das eigentlich Geschichtliche an
dieser Forschung reichen? Zu einer historischen Kontinuität im
grossen Stil könnte es trotzdem niemals kommen, weil Anfang
und Ende einer jeden Entwickelungslinie doch immer innerhalb
der zeitlichen und inhaltlichen Grenzen einer Persönlichkeit liegen
müssten, und bereits die nächste Denkerpersönlichkeit statt einer
Fortsetzung der alten vielmehr den Beginn einer neuen, von
Grund aus anderen und anders bedingten Linie bezeichnen würde.
Über den Massstab der Biographie würden wir also auch dann
nicht hinauskommen. Und die ganze Geschichte der Philosophie
bekäme den Charakter des Diskontinuierlichen, Vereinzelten.
So müsste denn selbst für den Zweck der monographischen
Geschichte eines Denkers letztlich immer von der Seite der
Probleme ausgegangen werden. Zwischen der Individualität des
Denkers und dem philosophischen Problem ist immer dieses Ver-
hältnis : der Denker kann das Problem nicht ändern. Es ist nicht
durch ihn geworden und nicht von ihm zu vernichten. Das Pro-
blem seinerseits dagegen, sofern es von ihm aufgegriffen und be-
handelt, womöglich gar gefördert wird, kann sehr wohl die Indi-
vidualität mit bestimmen; es ist Ingrediens ihrer Selbstentwicke-
lung. Das Problem selbst als solches steht fest; es hat nur
seinen systematischen Grund zur eigenen Bestimmung, und
alle historische Variabilität an ihm betrifft nicht es selbst, sondern
nur die Grade oder Stufen seines Hindurchdringens zum Selbst-
bewusstsein. Der einzelne Denker kann nichts Anderes, Hetero-
genes hineintragen. Er kann sich freilich ablenken lassen, er
kann das Problem verfehlen, oder doch nur halb und unrein er-
kennen. Aber mit alledem ändert er nicht das Problem, sondern
nur seine Stellung zu ihm. Die Philosophiegeschichte muss sich
daher vor allen Dingen au den systematischen Grundwert der
Probleme halten ; an ihnen erst kann sie die gedankliche Leistung
eines Denkers zu messen hoffen.
Aus diesem Grunde ist das Problem immer das historisch
Fasslichere und das für alles andere Orientierende. Am Problem
haben wir immer unmittelbar den systematischen Anknüpfungspunkt,
und daher auch den historischen Anknüpfungspunkt. Das zeigt
sich an den Punkten, wo uns die historischen Zeugnisse verlassen
und wo wir also darauf augewiesen sind, Rückschlüsse aus dem
späteren Denkstadium auf ein früheres zu machen. Wo wir in
bestimmten Punkten nicht wissen, wie ein Denker gedacht hat,
Zur Methode der Philosophiegeschichte. 471
da können wir unter Umständen noch sehr wohl wissen, wie im
Wesentlichen er gedacht haben muss, sofern einerseits er sich von
dem Rechenschaft gab, was ihm an Fragestellung bereits vorlag,
und andererseits sofern es begreiflich werden soll, dass der nächst-
folgende Denker, aus ihm hervorwachsend, zu den und den be-
stimmten Konsequenzen gelangen konnte. Die Gewähr hierfür
leistet uns eben jener systematische Grundcharakter, indem das
an sich unbeschränkte Feld der Möglichkeiten durch ihn auf die
Enge eines bestimmten Problemgeleises eingeschränkt wird. Denn
durch ihn ist nicht nur das Problem selbst, sondern auch die Ge-
samtrichtung seines Ganges durch die Geschichte bestimmt. Dieser
Gang ist eben selbst ein stetiger, oder systematischer Gang. Er
ist von innen heraus notwendig aus der Natur des Problems selbst,
und jedes seiner historischen Stadien ist notwendig aus der Stetig-
keit dieses Ganges heraus; d. h. es hat seinen inneren Charakter
vielmehr daran, dass es systematisches Stadium ist. Seine
Gesamtgeschichte aber ist nichts anderes als die Entfaltung dieses
inneren Charakters in seiner Ganzheit. Wenn man daher auf den
historischen Gang als Ganzes hinblickt, so muss aus ihm auch das
Einzelstadium bestimmbar werden.
Es kann hier leicht das Missverständnis entstehen, als sollte
zugleich mit der Gesamtrichtung des historischen Ganges auch der
Inhalt der einzelnen Stadien a priori vorwegnehmbar gemacht
werden. Das wäre freilich der Fall, wenn über die genauere Ge-
staltung dieses Ganges etwas mit ausgesagt würde, etwa seine
Gradlinigkeit und unabweichliche Fortschrittlichkeit, oder etwa
sein antithetischer Charakter, wie Hegel ihn beanspruchte.
Dieser meinte die Dialektik der Begriffsbestimmungen der logischen
Idee unmittelbar in der geschichtlichen Aufeinanderfolge der phi-
losophischen Systeme wiederzufinden.^) Ein derartiger Anspruch
ist immer eine Überschreitung der historischen Kompetenz und
eine Ignorierung des Eigentümlichen der Fakten. In Hegels Ge-
danken war soviel Richtiges und Verdienstliches, als durch ihn
zuallererst erkannt wurde, dass überhaupt ein systematischer
Kontinuitätscharakter der zeitlichen Aufeinanderfolge der Problem-
stadien zugrunde liege. Aber statt nun auf Grund dieser Vor-
aussetzung vorurteilslos an die Fakten heranzutreten und sich von
ihnen über den Spezialcharakter der einzelnen Stadien belehren
1) Hegel, Werke XIH, Gesch. d. Philos., Einleitung, S. 43.
472 N. Hartmann,
ZU lassen, unternahm er es, auch diese Stadien selbst aus dem
systematischen Gehalt der Grundprobleme heraus a priori zu
konstruieren.
Dieser Fehler Hegels ist oft genug gerügt worden und dürfte
dem Historiker von heute schwerlich mehr zur ernstlichen Gefahr
werden. Ebensowenig aber kann die systematische Problemeinheit
der historischen Stadien es rechtfertigen, wenn kontinuierlich von
Stadium zu Stadium ein gradliniger Fortschritt postuliert wird.
Im Gegenteil, diejenige Fortschrittlichkeit, die sich wirklich eben-
sowohl postulieren als an den Fakten verfolgen lässt, ist immer
bereits bedingt durch die Vereinigung und Kreuzung verschiedener
Problemlinien, oder auch durch ihre Spaltung und Differenzierung.
Beides aber ist vom Gesichtspunkt des einzelnen Problems aus
ein Umweg, der sicherlich niemals a priori aus seinem systema-
tischen Charakter erschlossen werden kann. Hier brauchen die
historischen Stadien einer Problementfaltung in ihrer Abfolge
keineswegs mit den systematischen Stadien der begrifflichen Be-
stimmungen eines Problems zusammenzufallen. Das einzige, was
sich behaupten lässt und was für die Methodik der Geschichts-
forschung auch durchaus hinreicht, ist der Satz, dass jedes histo-
rische Stadium überhaupt den Charakter eines systema-
tischen Stadiums bereits in sich enthält, und dass sich an
ihm daher dem Geschichtsforscher jederzeit die Möglichkeit dar-
bietet, die vernunftgemässe Problemeinheit in ihm wieder-
zuerkennen und es dadurch der Einheit einer historischen Konti-
nuität überhaupt zuzuordnen. An welchen Punkt dieser Konti-
nuität es zu setzen sei, und zwischen welche Nachbarstadien es
fallen wird, das ist nicht mehr Sache der systematischen Rekog-
nition, sondern — ebenso wie die besonderen Ausdrucksformen
und Begleiterscheinungen — Sache der Fakten und der sie dis-
ponierenden Chronologie. Das Problem als solches braucht weder
gradlinig noch antithetisch, noch etwa sonst irgendeinem anti-
zipierbarem Schema gemäss, durch die Geschichte zu gehen; es
kommt einzig darauf an, dass es überhaupt ein Geleise für die
einander ablösenden Formulierungen giebt. Die Art des Ganges
innerhalb dieses Geleises ist durch dasselbe nicht mit gegeben.
Das Geleise ist weit genug, um immer eine gewisse Bewegungs-
freiheit, eine Mannigfaltigkeit der Möglichkeiten offen zu lassen.
Es bedeutet den einzelnen geschichtlichen Bestimmtheiten gegen-
über nur die Frage- oder Forschungsrichtung, innerhalb derer sie
Zur Methode der Philosophiegeschichte. 473
ZU suchen sind. Ihnen greift die Fragestellung nicht vor. Sie
weist vielmehr zu allererst auf die Fakten hin. Denn die Fakten
wollen ja nicht einfach aufgereiht sein, sofern sie geschichtliche
Bestimmtheiten ergeben sollen; es muss eben in bestimmter Frage-
stellung auf sie abgezielt werden, um aus ihnen bestimmte Ant-
worten zu gewinnen.
Darum ist nun aber die Geschichte der Wissenschaft durch-
weg auf die wissenschaftliche Systematik hingewiesen; sie hat an
ihr das Leitprinzip ihrer eigenen, historischen Tendenzen. Und
nur so ist historische Kontinuität durchzuführen. Denn die Über-
lieferung schweigt von vielem, was für diese Kontinuität wesent-
lich ist, überspringt manche Stadien, unbekümmert darum, ob das
Ganze der Philosophiegeschichte durch dieses Überspringen leidet
oder nicht. Und wo es kein direktes Überspringen ist, da sind
doch vielfach die Zeugnisse unzureichend und lückenhaft. Man
denke dabei etwa jener tiefsinnigen frühesten Denker, deren
Schriften fast spurlos verloren sind, deren dürftige Fragmente
uns aber gleichwohl schliessen lassen, wie tiefgreifende wissen-
schaftliche Grundlegungen sie vollzogen haben müssen. Aber
dieses Schliessen ist eben keineswegs auf die Fragmente allein
angewiesen: sofern wir nur fähig sind, etwas von dem Problem-
charakter aus ihnen zu erkennen, so rückt dieses Wenige mit
einem Schlage an einem sehr bestimmten logischen Ort, nämlich
an einen bestimmten Punkt der systematischen, und folglich auch
der historischen Kontinuität. Das aber ergiebt einen Gesichts-
punkt, von dem aus die durchgehenden Fäden der Problem-
geschichte sich für das Einzelstadium als fruchtbar erweisen.
Denn wie ein Denker gedacht haben muss, wenn er durch seine
Denkarbeit Schlussfolgerungen bestimmter Art bei seinem nächsten
Nachfolger möglich machte, ist eine Frage, die in gewissen
Grenzen immer beantwortet werden kann. Und solche Frage-
punkte sind dann die rechtmässigen Ansatzpunkte für die Methode
des Rückschlusses. Diese Methode ist das kraftvollste Mittel,
das wir in der historischen Forschung als Ergänzung fehlenden
Faktenmaterials besitzen; aber nicht auf jedem Geschichtsfelde ist
sie so fruchtbar wie auf dem der Philosophiegeschichte. Denn
die reine Problemgeschichte hat die strengste Stetigkeit des
Ganges, die genaueste historische Kontinuität, — weil diese im
Grunde ja schon vielmehr systematische Kontinuität ist. An
474 N. Hartmann,
dieser aber hängt ganz und gar die Methode des Rück-
schlusses. ^)
Soviel möge genügen, die Leistung des Begriffs der Problem-
geschichte für das Problem der Philosophiegeschichte zu charak-
terisieren. Wir kommen nun zu unserer zweiten Frage, welche
die systematische Begründung dieser Leistung betreffen sollte. —
Die eigentliche Methodenforschung nämlich hat mit dem bisherigen
Resultat nicht sowohl ihr Ende als vielmehr erst ihren Anfang
gefunden. Denn Methodenforschung hat ja nicht bloss die Frucht-
barkeit und Leistungsfähigkeit einer bestehenden Methode zu be-
leuchten und so gleichsam nachträgliche Propaganda für sie zu
machen. Sie hat vielmehr dort, wo sie zum Begriff einer leistungs-
fähigen Methode gelangt ist, erst die eigentlich philosophische
Frage nach ihr zu stellen, die Frage nach den Bedingungen
der Möglichkeit in ihr, d. h. nach den Voraussetzungen, unter
denen es zu ihr kommen kann. Solange es über diese keine
Klarheit giebt, kann es auch keine Rechenschaft über die Berech-
tigung einer Methode geben und keine inneren Gründe für ihre
Haltbarkeit und Entwickelungsfähigkeit. An der letzteren aber
liegt alles. Denn es ist einer Wissenschaft nicht gedient mit der
Aufstellung „einer unter vielen Methoden", die dann bei zuneh-
mender Vervollkommnung sehr wohl wieder wird preisgegeben
werden können. Es handelt sich vielmehr um das noch zu er-
schaffende Ideal der Methode, die in ihrer Einzigkeit die not-
wendige Voraussetzung aller ferneren Vervollkommnung und Ver-
einheitlichung möglicher Methodik werden muss.
Die Frage, die uns vorliegt, ist nunmehr diese: wie ist
reine Problemgeschichte möglich?
Wenn man die Entwickelung von etwas erforschen will, so
muss man zuvor das fertig entwickelte Etwas kennen. Der
tierische Organismus will als Vollendeter verstanden sein, bevor
man seine Keimgeschichte begreifen lernt. So muss auch Philo-
sophie (systematisch) bereits vorliegen und geistiger Besitz ge-
^) Diese methodische Überlegung war es, die ich bereits bei meiner
Darstellung der Vorsokratiker in der historischen Einleitung zu „Platos
Logik des Seins" (Giessen 1909) im Auge hatte, die aber freilich dort
(S. 7 Anm.) nur ganz allgemein angedeutet, nicht näher begründet werden
konnte.
Zur Methode der Philosophiegeschichte. 475
worden sein, wo man Geschichte der Philosophie treiben will;
oder, wie wir nun sagen müssen: Wir müssen die Probleme
bereits haben, um Problemgeschichte treiben zu können. Wir
müssen im Besitz einer Philosophie sein, die imstande ist, Pro-
bleme prägnant zu machen und in den für sie zu machenden
Grundlegungen zu bestimmen. — Ks giebt eine Ansicht von Philo-
sophiegeschichte, die dem aufs heftigste widersprechen zu müssen
meint. Diese meint, sich einfach an Fakten halten zu müssen;
und diese Fakten, chronologisch angeordnet, ergäben dann bereits
eine geschichtliche Kontinuität. Aber solche Faktengeschichte
kann einem allerwesentlichsten Anspruch nicht gerecht werden,
dem Anspruch des durchgehenden Zusammenhanges. Sie hat
nichts, womit sie die Lücken der Überlieferung überbrücken könnte.
Aber auch abgesehen davon: selbst wenn uns die Motive des
historischen Denkens bis in alle Feinheiten hinein vorlägen, dürfte
man wohl selbst dann sagen, dass ihre einfache Totalität bereits
eine Geschichte der Probleme wäre? Würden wir nicht vielmehr
von dem ungeheuren undifferenzierten Ballast des Wichtigen und
Unwichtigen erdrückt und über alle Tragkraft des Geistes hinaus
belastet sein? Müsste nicht vielmehr erst hier die wissenschaft-
liche Arbeit einsetzen, die Arbeit des Sichtens, Heraushebens und
Weglassens? Und wie sollte diese Arbeit wohl anders geleistet
werden als durch Gesichtspunkte der Heraushebung, die man
erst in das Faktenmaterial hineintragen müsste! Was aber so
von der idealen Totalität der Fakten gilt, das gilt garnicht
weniger von jenen Bruchteilen, die gegebenen Falles dem Forscher
immer vorliegen. Nicht ihre Quantität oder Vollständigkeit ver-
ändert ihren Charakter; es handelt sich um das durchgehende
Quäle alles bloss quellenmässig vorliegenden Faktischen. Wieviel
oder wie wenig es immer sein mag, es ist weder im Einzelnen
noch als Entwickelungsreihe verständlich, solange es der Gesichts-
punkte entbehrt, um die es sich gruppieren muss, und unter denen
es sich erst zu geschichtlichen Linien der Selbstent Wickelung
zusammenschliesst.
So bedarf alles Faktische erst der Gesichtspunkte. Und wo-
rin sollten nun diese Gesichtspunkte wohl anders liegen als in den
Problemen, die das systematische Denken uns stellen lässt und
in denen sich alle unsere philosophische Arbeit bewegt? Ja,
unter welchen anderen Gesichtspunkten könnte das Faktenmaterial,
476 N. Hartmann,
zur Geschichte gereinigt, eine „Geschichte der Probleme" er-
geben?^)
Hiermit haben wir nun die Bedeutung und die metho-
dische Leistung der systematischen Probleme für die
Philosophiegeschichte: sie werden für sie zu leitenden Ge-
sichtspunkten, unter denen eine Geschichte des reinen Denkens
erst möglich wird. Sie werden zu Grundlegungen, zu trans-
scendentalen Bedingungen der Möglichkett der Ge-
schichte. Denn das heisst „Problerageschichte" im Unterschied
von aller anders verstandenen Philosophiegeschichte: dass die
historisch forschende Methodik erst ihre „Probleme" an die
Geschichte stellen muss, auf die diese dann aus dem Schatz
ihrer Quellen hervor Antwort schaffen soll. Geschichte will kein
indifferentes Etwas, keine Summe unendlicher Möglichkeiten sein;
sie will Aufgaben verfolgen, Probleme lösen. Deswegen kommt
es zu ihr überhaupt erst dort, wo man Probleme an sie stellt,
die sich in den Stufen des geschichtlichen Ganges wieder und
wieder erkennen lassen. Die Einheit dieser Probleme ist die
Einheit der historischen Kontinuität — jener Kontinuität, in der
aller innere Zusammenhang des zeitlich Getrennten beruht. Denn
hinter ihr steht die Einheit der Vernunft in aller Zeit,
welche uns unsere Probleme wiedereikennen lässt in der histo-
rischen Ferne. Darin liegt die Bedingung der Möglichkeit aller
Philosophiegeschichte.
Das Problem ist aber gleichwohl nicht nur Bedingung der
Möglichkeit der Philosophiegeschichte, sondern auch zugleich Be-
dingung ihrer Wirklichkeit. Es giebt nicht nur das methodische
Fundamentalmittel ihrer Forschung her, sondern von ihm rührt
1) Es ist erfreulich, zu sehen, wie gleichzeitig mit den hier ge-
zogenen Konsequenzen, und unabhängig von ihnen, ganz ähnliche auch
von anderer Seite gezogen worden sind. So am deutlichsten wohl bei
Br. Bauch, Das Substanzproplem in der griech. Philosophie bis zur
Blütezeit, wo es in der Einleitung S. 2 heisst: „der Historiker muss zu-
nächst wissen, was denn das ist, was er in seiner geschichtlichen Ent-
stehung und Entwickelung verstehen will." Das dürfte genau unseren Be-
griff des „Problems" als einer Vorbedingung der Geschichtsforschung
treffen. Ebenso deckt sich der daselbst im Vorwort S. VHI ausgeführte
Gedanke von der „überhistorischen" oder „systematischen Bedeutung"
der historischen Erscheinungen mit der hier (S. 471 f.) geltend gemachten
Bedingtheit des historischen Problemstadiums durch den ihm immanenten
Charakter des systematischen Stadiums.
Zur Methode der Philosophiegeschichte. 477
auch der eigentliche Anstoss zu ihr, ja überhaupt das Faktum
des historischeu Interesses an der Philosophie her. Wir würden
nie zum Interesse an der Vorgeschichte der menschlichen Speku-
lation kommen, wenn nicht dieselben Probleme, die uns beschäftigen
und bestimmen, in dieser Vorgeschichte bereits enthalten wären
und jedes in ihr seine eigentümliche Vorgeschichte hätte. Unsere
Probleme tendieren allseitig aus sich heraus; sie zwingen uns un-
abweislich, in die Zukunft zu schauen, nach Lösungen auszublicken,
die ihrer noch harren; und ehendadurch nötigen sie uns ebenso
unvermeidlich, rückwärts in die Vergangenheit zu schauen und
die Abfolge der bereits durchlaufenen Forriiulierungsstadien zu
rekonstruieren. Denn ist der Geist einmal 'auf die zeitliche Ent-
wickelung eines seiner Probleme als auf eine zusammenhängende
Kette systematischer Bestimmungen aufmerksam geworden, so ist
die Kontinuität vorwärts wie rückwärts angebahnt, und giebt es
kein Einhalten mehr für die weiter und weiter ausschauende
Frage nach früheren Entwickelungsphasen. Das ist der ürsprungs-
punkt des historischen Interesses an den Problemen : er liegt
sichtlich in dem systematischen Probleminteresse selbst. Das
Problem ist von Hause aus das vereinigende Glied zwischen Phi-
losophie und Geschichte — innerhalb des Begriffs der Philosophie-
geschichte. Und darum kann es nun aus doppeltem Grunde Phi-
losophiegeschichte nur dort geben, wo es systematische Philosophie
giebt. Denn nur das systematisch lebendige Problem ist
imstande, sowohl den Geist der Forschung auf seine Geschichte
zuallererst hinzuwenden, als auch ihm das einzig adäquate Mittel
für sie an die Hand zu geben: den leitenden Gesichtspunkt, oder
die Einheit einer geschichtlichen Kontinuität. —
Von hier aus gälte es nun, das Problem in seine verschie-
denen Zweige hinein zu verfolgen. Es würde sich dabei eine
ganze Reihe speziellerer Methodenfragen auftun, in denen sich
die Forschungsfrage tiefer in die besonderen Inhalte hinein ver-
lieren würde. Von solcher Durchführung müssen wir hier natür-
lich absehen. — Was dagegen als ein letzter Punkt von zentraler
Wichtigkeit noch zur Sprache kommen muss, das ist die Rela-
tivierung der ganzen Philosophiegeschichte, wie sie
bei der beanspruchten Abhängigkeit von der systematischen Phi-
losophie nicht zu umgehen ist. Es ist dieses zugleich derjenige
Punkt, der, wenn er einseitig betont wird, unfehlbar zu Missver-
ständnissen führt und den Begriff einer gesicherten Problem-
478 N. Hartmann,
geschichte wieder aufhebt. Wir stossen hier auf folgenden Ein-
wand: systematische Philosophie ist ja nicht eine und die gleiche
bei allen Philosophierenden, sondern immer wieder etwas Anderes,
von Bewusstsein zu Bewusstsein Wechselndes. Wie sollte da die
Philosophiegeschichte eine feste Einheit bilden, wenn sie doch erst
in der Rückwendung der systematischen Probleme auf das quellen-
raässig Vorliegende entstehen soll? Muss sie nicht notwendig
ebenso verschieden ausfallen wie die Systeme selbst, welche für
sie die Fragestellung hergeben?
Dieser Einwand beachtet freilich nicht, dass die Probleme
keineswegs ebenso veränderlich sind wie jene sogenannten Systeme.
Denn diese sind Lösungsversuche und keineswegs bloss Frage-
stellungen. Ein und dasselbe Problem durchläuft eine ganze
Reihe von „Systemen" der verschiedensten Art. Es selbst wird
aber dabei nur langsam verschoben, nur unwesentlich aus seiner
Linie gebracht. Die grossen, fundamentalen Problemverschiebungen
finden vielmehr nur dort statt, wo sich ganze Promblemlinien
vereinigen und in dieser Vereinigung neue, bisher unerkannte
Problemeinheiten ergeben, oder auch umgekehrt, wo bisher
ununterschiedene Probleme sich differenzieren. Beides aber
sind keine Aufhebungen, in beiden Fällen gehen die grossen
Problemlinien kontinuierlich durch. Im Einzelnen sind aber alle
Verschiebungen unmerklich und gleichsam infinitesimal.
Was dagegen wirklich die grosse, oft diametrale Ver-
schiedenheit philosophischer Systeme veranlasst und sie für den
in ihr stehenden Forscher unüberbrückbar macht, das ist nicht
die Änderung innerhalb einer Fragestellung, sondern vielmehr die
von Grund aus anders gewälte Fragestellung selbst. Die Philo-
sophie als Ganzes genommen wälzt einen ungeheuren Schatz von
Problemen mit sich. Dieser Schatz ist in seiner Gesamtheit unüber-
sehbar für den einzelnen Philosophierenden; und selbst die
Geistesarbeit eines ganzen Zeitalters bringt es nur selten zur an-
nähernden Synthese eines umfassenden systematischen Aufbaues.
Will der einzelne Philosoph sich nicht an diese Menge verlieren,
will er in seiner Fortarbeit fruchtbar werden, so muss er sich das
Arbeitsfeld einschränken, sich seine Probleme abgrenzen und auf
den weiten Zusammenhang mit dem Ganzen des weltgeschicht-
lichen Denkens nur als auf die unendliche Aufgabe der Philo-
sophie hinblicken, an welcher freilich — wie immer indirekt —
auch er seinen Teil hat. Aber das kann er nicht hindern, und
Zur Methode der Philosophiegeschichte. 479
braucht es auch nicht zu scheuen, dass er einen bestimmten Pro-
blemkomplex hervorheben und anderen Formen der Fragestellung
voranstellen muss, in welchem dann sein Denken erst fruchtbar
werden kann. So ist es nur konsequent gedacht, wenn es diese
selben und keine anderen Probleme sind, die er an die Ge-
schichte stellt, und in deren zeitlicher Entfaltung somit für
ihn die Geschichte der Philosophie besteht. Gerade der historische
Gesichtspunkt muss dieses sein Verfahren rechtfertigen. Freilich
rechtfertigt er ebensogut das analoge Verfahren bei seinem syste-
matischen Gegner, der von grundverschiedenen, aber gleichfalls
historisch bedingten Problemen ausgehend eine von der seinen
verschiedene Geschichte der Philosophie entwirft. So wahr es
ist, dass in solchem Falle die Geschichtsansicht beider Parteien
einseitig ist, so sehr verdient es betont zu werden, dass eben
deswegen doch das eigentlich Historische in ihrem Denken
sehr wohl einwandfrei und durchweg objektiv sein kann, —
während der Fehler, oder vielmehr die Einseitigkeit in den Pro-
blemen liegt, die hier wie dort „an die Geschichte" gestellt sind,
d. h. dass sie letzterdings nicht historische, sondern systematische
Einseitigkeit ist.
Und damit stehen wir nun vor dem ferneren, eigentlich
philosophischen Problem der Problemgeschichte: in
welchem Sinne lässt sich von einheitlicher Philosophie-
geschichte sprechen, während doch jede irgendwie systematische
Problemstellung ihre besondere Philosophiegeschichte macht und
zu machen berechtigt ist? Wo ist der höhere Vereinigungs-
punkt, der auch diese notwendige Divergenz der Forschungs-
richtuugen wieder zur Einheit zusammenzuschliessen imstande ist?
Oder sollte es etwa geboten sein, hier skeptisch zu resignieren
und auf die Einheit der Geschichte Verzicht zu leisten?
Das kann der systematische Standpunkt der Philosophie
nicht zugeben. Denn dieser verzichtet nicht auf seine eigene
Einheit, wie fern er immer von seinem Endziel seil sollte. So
kann er denn auch die Einheit seiner Geschichte nicht preis-
geben, denn er muss das Problem seiner eigenen Einheit auch an
seine Geschichte stellen; damit stellt er die Geschichte vor die
unendliche Aufgabe ihrer Selbstvereinheitlichung.
Dass eine solche Aufgabe unendlich ist — wie letztlich alle
Aufgaben der Forschung — , bedarf keines Wortes weiter. Aber
dass sie überhaupt Aufgabe ist, vielmehr Aufgabe werden kann,
480 N. Hartmann,
lässt sich ebensogut fragen als beantworten. Sie kann Aufgabe
sein, weil jede standpunktliche Einseitigkeit wieder auf hebbar ist,
weil jede Beschränkung auf einen bestimmten Komplex von Pro-
blemen den Charakter des Vorläufigen trägt und also die Erwei-
terungsfähigkeit bereits in sich einschliesst. Wo aber Er-
weiterungsmöglichkeit ist, da ist auch Erweiterungsnotwendigkeit:
die Forschung kann vor keiner sich auftuenden Möglichkeit un-
tätig stehen bleiben, sie tendiert immer über sich selbst hinaus.
AVo daher die systematische Philosophie ihre Probleme erweitert,
da stellt notwendig auch das historische Bewusstsein erweiterte
Fragen an die Geschichte und bekommt in ihrer Verfolgung die
höhere Einheit geschichtlicher Kontinuität zu fassen. So geht
die ewige Aufgabe der Philosophiegeschichte parallel der der
systematischen Philosophie selbst, indem sie in der Unendlichkeit
mit ihr coincidiert.
Es ist bei den Neueren die Ansicht geltend gemacht worden,
es genüge für den Historiker, sich seiner standpunktlichen Be-
schränktheit bewusst zu sein, um über ihr zu stehen und alle
Einseitigkeit zu vermeiden. Aber so plausibel das klingt, es
genügt dem Problem keineswegs. Vor allem würde es vom
Historiker bereits zu viel verlangen. Man kann sich seiner Be-
schränkung, und folglich auch der Erweiterungsmöglichkeit, immer
nur abstraktiv bewusst sein. Denn wenn man den Weg zu ihr
sähe, so würde man ihn ja bereits einschlagen und nicht lange
zögern, sich seiner zu versichern. Über seinem eigenen Staud-
punkt kann niemand stehen. Andererseits aber bedarf es dessen
auch garnicht. Man darf nur nicht den falschen Anspruch auf
absolute Geschiebte erheben. Die kann es erbrachterweise niemals
geben, die bleibt in ewiger Unerreichtheit. Die Geschichtsprobleme
sind ebenso unendlich wie die der Philosophie selbst. Und an
dieser Unendlichkeit bedeutet die Vorläufigkeit bestimmter Problem-
beschränkung keineswegs eine willkürliche Verendlichung, sondern
vielmehr die einzige Möglichkeit, überhaupt zu Bestimmungen zu
gelangen — und sei es auch noch so sehr vorläufigen — , über-
haupt eine nur annähernde Lösung des ganzen Geschichtsproblems
anzubahnen.
Die Konsequenz aber, die sich nun hieraus ergiebt, trägt
einen eminent methodischen Charakter. Die Methode der Philo-
sophiegeschichte hat sich der Methode der exakten Forschungs-
gebiete, und namentlich der der Philosophie selbst, in einem wich-
Zur Methode der Philosophiegescbichte. 481
tigen Punkt genähert. Denn wir halten jetzt den Punkt in
Händen, in welchem sie mit der Urform der transscendentalen
Methode, der Methode der vnoi^saic arbeitet. Der Unterschied
von der gleichen Methode auf anderen Gebieten ist nur der, dass
hier nicht Prinzipien für Probleme zugrundegelegt werden, sondern
die Problemstellungen selbst. Oder genauer gesprochen:
die systematischen Problemstellungen sind die Grund-
legungen für die historischen Probleme. Denn sie sind
die prinzipiellen Einheiten, unter denen sich das Mannigfaltige
der historischen Stufen als kontinuierliche Abfolge begreifen lässt.
Darin liegt die Rechtfertigung jener Vorläufigkeit, die jeder ge-
schichtlichen Rekonstruktion anhaften bleibt, weil sie in den Pro-
blemen wurzelt, die wir an die Geschichte stellen. Denn diese
Probleme spielen eben hier die Rolle von Voraussetzungen, die
einstweilen gemacht werden, um sie hernach an ihren Konse-
quenzen zu prüfen und nötigenfalls zu modifizieren. Und von
hier aus dürfte es freilich durchsichtig genug sein, dass diese Art
Vorläufigkeit und Verrückbarkeit kein methodischer Mangel,
sondern gerade der grösste Vorzug ist. Denn sie allein ist im-
stande, die Gewissheit des sachlichen Fortschreitens zu
gewährleisten, weil sie ihrem Begriff nach die Möglichkeit me-
thodischen Fortscheitens bedeutet. So ist auch hier — ge-
nau wie auf systematischem Gebiet — der Inhalt durch die Me-
thode ermöglicht.
Damit wird auch das Wechselverhältnis zwischen Philosophie
und Philosophiegeschichte klar. Die Einheit der Grundmethode
bindet ihren beiderseitigen Fortgang fester aneinander, als irgend
eine noch so weitgehende inhaltliche Übereinstimmung sie ver-
binden könnte. Es ist eine Wechselwirkung oder Wechsel-
bedingung zwischen beiden. Ein systematisches Moment ist
Ingrediens der Geschichtsforschung, ihre erste, fundamentalste
Grundlegung: das Problem, das an sich systematische Einheit ist,
wird zugleich zur Einheit der historischen Mannigfaltigkeit; und
ein historisches Moment wird Ingrediens der systematischen Philo-
sophie: die Probleme weisen rückwärts und vorwärts über sich
hinaus; sie enthalten es in ihrem Problemcharakter, dass sie
Stufenglieder einer Entfaltungslinie sind, deren stetiger Gang
wiederum als Aufgabe der Forschung sein besonderes kritisches
Licht auf die systematischen Grundlagen zurückwirft.
482 N. Hartmann,
Systematik legt die Probleme zugrunde für die Geschichte,
und Geschichte erwirbt der Sj^stematik mit diesen Grundlegungen
neue und neue Problemweite. Denn Philosophie als System
will umfassend sein und darf kein stellbares Problem ignorieren.
Deswegen übt die Historie auf sie die Rückwirkung aus, dass sie
durch neue Hinführung ihre Probleme erweitert.
So bewährt sich der Gedanke der Problemgeschichte aus
sich selbst heraus, und wird wiederum bewährt durch seine
Leistung für die systematische Grundwissenschaft, aus deren
mütterlichem Schoosse er hervorwächst.
Sicherlich befinden wir uns mit diesem Begriff der Problem-
geschichte im Gegensatz zu der heute noch vorherrschenden Ge-
schichtsschreibung der Philosophie. Dennoch lässt sich nicht
sagen, dass wir mit ihr durchaus neue, unbeschrittene Bahnen
einschlagen. Wir verfolgen vielmehr eine Tendenz, die das rück-
wärtsschauende Interesse der Philosophie an sich selbst überall
dort, wo sich ein systematischer Denker ihm zuwandte, notwendig
einschlagen musste, und die es auch in seinen ersten Anfängen
bereits in naiver Zielsicherheit eingeschlagen hatte. Denn so-
lange dieses historische Interesse der Philosophie an sich selber
ebenso rein dastand wie ihr systematisches Grundinteresse, reines
Sach- und Problemiuteresse war, konnten die Anfänge der Philo-
sophiegeschichte auch garnichts anderes als Problemgeschichte sein.
Das lehrt uns die Problemforschung des Aristoteles. Dieser
an seiner eigenen Systembildung noch unentwegt bauende Denker
kam zur historischeu Würdigung der reinen Problemwerte auf
Grund der fast allseitigen Polemik, die er gegen seine Vorgänger
führte. Denn alles polemische Interesse ist — sofern es nur
sachlich bleibt — reines Probleminteresse. Aristoteles pflegte
dort, wo er einer Grundfrage zustrebte, zuvor die Reihe der Vor-
gänger in dieser Frage kritisch durchzugehen und dabei eine
kurze Darlegung ihrer einschlägigen Grundlehren zu geben. Am
vollständigsten ist wohl jene kurze Geschichte des Seinsproblems,
die er der Metaphysik vorausschickt. Freilich ist es noch eine
sehr primitive Darstellung. Die Frage ist hier eben noch sehr
unvollkommen und einseitig an die Geschichte gestellt. Und den-
noch ist es in aller Unzulänglichkeit reine Problemgeschichte, und
Zur Methode der Philosophiegeschichte. 483
will auch sichtlich nichts anderes sein. So erklärt sich das
eigentümlich Orientierende, dass dieser kleine historische Versuch
für uns hat. Denn er ist orientierend nicht nur für den sehr
engen Stoff, den er behandelt, sondern auch für die Philosophie-
geschichte überhaupt, für ihre Methode. Denn dort ist deutlich,
und zwar in aller Naivität, das Problem zugrundegelegt, mit dem
nun die einzelnen Philosophen gleichsam befragt und genötigt
werden, ihre Meinung darüber abzugeben. Es ist dieses das
älteste Zeugnis der Selbstbesinnung eines Problembewusstseins
auf seine eigene Geschichte.
Wiewohl nun dieses Beispiel des Aristoteles den Doxographen
des Altertums noch Jahrhunderte lang vorschwebte, so ist es doch
in seiner methodischen Einfachheit und Strenge nicht wieder er-
reicht worden. Und wenn es daher trotz mannigfacher Bestreb-
ungen zu einer in diesem Sinne durchgeführten geschichtlichen
Würdigung der ganzen damaligen Philosophie nicht kam, so ist
das wohl einzig dem Umstände zuzuschreiben, dass Aristoteles
selbst schon an der Spätgrenze des philosophisch schöpferischen
Zeitalters stand, und dass aus diesem Grunde viele systematisch
wertvolle Initiativen seiner Philosophie — nicht anders als ja auch
die der Platonischen — fast unverarbeitet liegen blieben, wo er
sie liegen gelassen hatte, und bestenfalls Nachahmung, nicht aber
methodische Fortbildung erfuhren. Eine weitere Vertiefung der
philosophiegeschichtlichen Methodik hätte aber gerade im emi-
nenten Sinne systematischer Schaffenskraft bedurft.
Und ein rein systematisches Interesse kehrte im Altertum
auch nicht wieder. Selbst der Neuplatonismus reichte nicht hin,
das Problerabewusstsein bis zu einer Höhe zu bringen, von der
aus die rückwärtsschauende Selbstbetrachtung der Philosophie eine
Problemgeschichte hätte hervortreiben können. Im spätesten Alter-
tum verflachte dann schliesslich auch die Doxographie selbst ganz
und ging in ein Surrogat der Geschichtsschreibung über, eine
populäre, antiquarisch-sporadische Samaiellitteratur, die von dem
Erbteil der grossen Denker alles zusammenraffte, was sie er-
wischen konnte. Dieses Zeitalter, das selbst keine grossen Ge-
danken mehr hervorbrachte, besass vielfach auch nicht mehr den
Sinn für die grossen Leistungen früherer Zeiten. Da es sich aber
gleichwohl von deui Ruhme der Vorzeit nährte, so suchte es aus
ihr dasjenige hervor, was den populär-verständlichsten Wert hatte.
So kommt es, dass im Bestände dieser späten Geschichtslitteratur
KantstudieD XV. qi
484 N. Hartmann,
von allem, was sie an Geistesgeschichte enthält, das Biographische
noch das am meisten in die Augen springende war, — derjenige
Typus von Philosophiegeschichte, der am wenigsten imstande ist
Probleme zu fassen — geschweige denn zu verfolgen.
Es ist begreiflich, dass die ersten philosophiegeschichtlichen
Versuche der Neueren von den Traditionen dieser teils biogra-
phischen, teils wahllos kompilatorischen Litteratur nicht unbeein-
flusst bleiben konnte (die Jahrhunderte lange Überschätzung des
Diogenes Laertius ist bekannt). Eine Rückkehr zur naiven Pro-
blemgeschichte war auf dieser Stufe nicht mehr möglich. Dazu
hatten sich die Probleme selbst zu sehr kompliziert. Nicht anders
als durch das klare Bewusstsein der Methode hätte man zu ihr
gelangen können. Ein solches aber kann sich selbst nur langsam
an beständig neuen Versuchen herausbilden. Vor allem aber
musste es hierzu systematische Klarheit über die Grundprobleme
selbst geben ; denn diese sind es, um deren historischen Gang es
sich nur handeln kann. So ist es zu verstehen, dass es zu einer
Fixierung problemgeschichtlicher Methodik nicht früher kommen
konnte, als bis eine kraftvolle, zusammenfassende Systembildung
vorlag. Für das wissenschaftliche Problembewusstsein unserer
Zeit giebt es eine solche erst recht eigentlich seit Kant. So
finden wir denn den ersten bedeutsamen Versuch einer Formu-
lierung der philosophiegeschichtlichen Methodik bei einem der
frühen Nachkantianer. Welches Verdienst und welche Fehler den
Versuch Hegels bedeutsam und verhängnisvoll zugleich machten,
haben wir bereits gesehen. Nur ist da freilich noch ein Unter-
schied zwischen dem, was sein philosophiegeschichtlicher Gedanke
für uns bedeutet, und dem, was er für die nächsten Nachfolger
bedeutete. Während wir heute in ruhiger Kritik ablehnen und
anerkennen können, sahen die nächstfolgenden Methodiker der
Philosophiegeschichte nur das Fehlerhafte in ihm, und glaubten
am besten zu tun, allen Zusammenhang mit der systematischen
Philosophie aus dem Spiel zu lassen und sich an die nackten
Tatsachen zu halten. Ja man ist soweit gegangen, vom Histo-
riker die Preisgabe alles standpunktlich bedingten Probleminter-
esses zu verlangen und ihm so gleichsam einen standpunktlosen
Standpunkt als ideale Vorbedingung anzuempfehlen. Der eigent-
liche Sinn dieser Forderung war freilich ein wohlbegründeter: er
betraf das Genau-Nehmen des Tatsachenmaterials; und allerdings
bedurfte die Forschung von damals einer solchen Mahnung. Wenn
Zur Methode der Philosophiegeschichte. 485
aber die Nachwirkungen dieser weit über das Ziel hinausschiessen-
den Reaktion gegen Hegel sich bis in unsere Tage hinein lebendig
erhalten konnten, so scheint das freilich ein Anzeichen zu sein,
dass irgend etwas in dem alten Gegner immer noch nicht recht
überwunden und tot ist. Oder ist es bereits ein neuer Schössling,
der aus dem alten Stamme des Problembewusstseins aufspriesst
und nachgerade beginnt, sich als lebensfähig zu erweisen?
Es sprechen manche Anzeichen dafür, dass wir mit der
Philosophiegeschichte von heute im Aufkeimen des problematischen
Standpunktes und der problemgeschichtlichen Methode stehen.
Deutlich dürfte dafür das Erscheinen einer ganzen Reihe von
Untersuchungen (besonders im letzten Jahrzehnt) sprechen, in
denen weder die ganze Philosophie eines Zeitalters entwickelt,
noch auch etwa bloss monographisch ein einzelner Denker be-
handelt wird, sondern in denen ein besonderes Problem, oder ein
Begriff, innerhalb eines mehr oder weniger geschlossenen Zeit-
abschnittes verfolgt wird. Dieser neuen Art von Arbeitsteilung
auf philosophiegeschichtlichem Gebiet liegt sicherlich ein problem-
geschichtlicher Kerngedanke zugrunde, so sehr es immer der Fall
sein mag, dass derselbe nicht jedesmal bis zum klaren metho-
dischen Bewusstsein des Forschers gelangt. Denn dieses metho-
dische Bewusstsein als solches herauszuarbeiten, ist eben letzter-
dings nicht mehr Sache der historischen, sondern Sache der
systematischen Forschung. Die historische Methode ist nicht
historisches Faktum. Fakten muss die Geschichte, Methoden die
Systematik begründen.
31*
Kant und Fries.^^
Von W, Reinecke.
Gerade jetzt, da die Friessche Philosophie infolge der Bemühungen
einer neuen Friesschen Schule die Aufmerksamkeit wieder auf sich lenkt,
ist ein Werk wie das von Elsenhans doppelt willkommen, erstens als An-
sicht eines von jener Schule Unabhängigen, zweitens als erwünschte Ge-
samtdarstellung Friesscher Gedanken.
E. hat sich eine dreifache Aufgabe gestellt: eine eingehende Dar-
stellung der Fries ganzem System zugrunde liegenden Erkenntnistheorie
zu geben, den bleibenden Wert der Friesschen Bearbeitung Kantischcr
Aufgaben zu untersuchen und die Erkenntnistheorie von Kant und Fries
aus weiterzuführen. Aus solchen Absichten E.s erklärt sich auch der
versöhnliche Charakter des Buches : überall tritt das Bestreben hervor zu
vermitteln und die in der Form oft schroffen Gegensätze zwischen Kant
und Pries als in ihrem Wesen unbedeutende aufzuweisen. Das ist be-
sonders an der Darstellung der „unmittelbaren Erkenntnis" bemerkbar.
Nicht immer wird allerdings E.s Friedfertigkeit Beifall finden können, an
manchen Stellen scheint eine schärfere Ausprägung der Meinungsver-
schiedenheiten wünschenswert.
Das Inhaltsverzeichnis des Werkes hat E. ausserordentlich reich und
übersichtlich gegliedert, so dass das Nachschlagen angenehm erleichtert ist.
I. Band. Historischer Teil. Im I. Kapitel kennzeichnet E. die
Friessche Auffassung der Kritik als philosophische Anthropologie. Gegen-
über manchen Annahmen sei hervorgehoben, dass Fries in der Logik von
empirischer Psychologie nichts wissen wollte.
Das II. Kapitel handelt von den psychologischen Grundbegriffen
der Friesschen Philosophie. Fries gelangt zu drei geistigen Grundver-
mögen : Erkenntnis, Gemüt und Tatkraft. Durch Kombination derselben
erreicht der Geist verschiedene Bildungsstufen : Sinn, Gewohnheit, Verstand,
die Ideen des Wahren, Schönen und Guten.
1) II. Dr. Th. Elsenhans, Fries und Kant. Ein Beitrag zur
Geschichte und zur sy.stematischen Grundlegung der Erkenntnistheorie.
I. Historischer Teil. Jakob Friedrich Fries als Erkenntnihkritiker und sein
Verhältnis zu Kant. (XXVIII u. 347 S.) II. Kritisch-Systematischer Teil.
Grundlegung der Erkenntnistheorie als Ergebnis einer Auseinandersetzung
mit Kant vom Standpunkte der Friesischen Problemstellung. (XV u.
223 S.) Alfred Töpelmann, Giessen 1906. — Vgl. auch Kantstudien XII,
S. 417 ff.
Kant und Fries. 487
Bei jedem der drei Vermögen sind Spontaneität und Receptivität
zu unterscheiden. Im äusseren Sinn ist die Spontaneität reine Sinnlichkeit
und produktive Einbildungskraft, im inneren Sinn ist sie reine Appercep-
tion, in deren Auffassung Fries von Kant abweicht.
Zwischen Sinnlichkeit und Verstand steht das Gebiet der produk-
tiven und reproduktiven Einbildungskraft. In jener hat nach E. Fries
den Grund zu der ihm eigentümlichen von Kant abweichenden Kritik ge-
legt. Fries macht die produktive Einbildungskraft zum Objekt psycholo-
gischer Behandlung, ihr wird auch die anschauliche synthetische Einheit
der Dinge in Raum und Zeit zugeschrieben.
E. zeigt, wie Fries von vornherein auf seine Lehre von der un-
mittelbaren Erkenntnis zusteuert, z. B. mit der Behauptung, dass in der
produktiven Einbildungskraft dunkel, aber irrtumlos und vollständig
mathematische Erkenntnis enthalten sei. Fries schliesst sogar die ange-
wandte Mathematik mit ein.
Es folgt nunmehr der Hauptteil des Friesischen Lehrgebäudes, und
zwar in Kap. V die Reflexion, der obere Gedankenlauf, der die Gewöhnung
beherrscht und als willkürliche Selbsterkenntnis den Menschen zum Meister
seiner selbst macht. Das Verhältnis der inneren Anschauung zur Reflexion
wird von E. näher untersucht. Die Reflexion erweitert die innere Wahr-
nehmung des inneren Sinnes zur inneren Erfahrung. Dennoch ist sie
nicht mit dem Verstand als Bildungsstufe identisch, sondern bedeutet nur
das verständige Denken. Zum Verstände selbst gehört mehr: Geschmack
und Gewissen und der Charakter der Willkür. Die Reflexion bringt
femer nichts Neues hervor, sondern beobachtet nur den Besitz der Ver-
nunft an unmittelbaren Erkenntnissen. Darin, sagt E., „liegt nach Fries
das ganze Geheimnis der Philosophie verborgen". Fries glaubte dadurch
auch den Zwiespalt zwischen der Ohnmacht der spekulativen Verunft und
der Macht der praktischen Vernunft bei Kant erklärt zu haben; jene ist
eben nur Reflexion und diese daher dunkel.
Die eigentlichen Hilfsmittel der Reflexion sind Vergleichung und
Abstraktion. Dadurch vermag sich die Reflexion vom augenblicklichen
Inhalte loszureissen „und die Selbstbeobachtung zu einem Bewusstsein
überhaupt zu erheben", welches bei Fries die Vollendung der Reflexion
ist, also nur „die Spitze der subjektiven Bedingungen des Wiederbewusst-
seins der unmittelbaren Erkenntnis, für Kant die letzte Einheit der sub-
jektiven Bedingungen des Erkennens, die aber zugleich objektive Giltig-
keit mit einschliesst" (112). Durch Reflexion mit Hilfe der Abstraktion
will Fries den Ursprung der Erkenntnisse a priori erklärt wissen. Er
bezeichnet als „subjektiv allgemeingiltig oder apodiktisch" das, was für
jeden einzelnen immer die gleiche Giltigkeit hat, was man also bei jedem
Menschen, wenn auch nur als dunkle Vorstellung, voraussetzen kann.
Das Lernen der apodiktischen Erkenntnis ist nur ein Erinnern an das,
was im Innern der Vernunft Hegt. Dahin gehören die mathematischen
und philosophischen Erkenntnisse.
Diese Lehre der unmittelbaren Erkenntnis beruht also auf anthro-
pologischer Grundlage. Fries weist jedoch die Annahme eingeborener
488 W. Reinecke,
Ideen ab. Die unmittelbare Erkenntnis ist nur die „ursprüngliche apodik-
tische Form" jeder wirklichen, sinnlich angeregten Erkenntnis.
Ein charakteristischer Unterschied der Reflexion und der unmittel-
baren Erkenntnis ist folgender: jene geht vom Zusammengesetzten zum
Einfachen durch Abstraktion, eine Synthesis ist nur nach der Analysis
möglich; diese enthält eine unmittelbare Synthesis, welche E. der Kan-
tischen produktiven Synthesis der Einbildungskraft vergleicht.
Bei dieser Gelegenheit beschäftigt sich E. auch mehrfach mit den
Begründern der neuen Friesischen Schule und weist nach, dass die Be-
hauptung L. Nelsons, „Fries sei ein entschiedener Gegner der praktisch-
psychologischen Methode", falsch ist. Fries wollte ja die „philosophische
Logik" ob ihrer Armut von einer anthropologischen Logik abhängig
machen. Die entscheidende Stelle aus Fries' Logik hat L. Nelson nach E.
nicht angeführt.
Der von Fries gegen Kant gerichtete Vorwurf, er habe Deduktion
und Beweis verwechselt, wird von E. berichtigt. Kant sehe zwar in der
Deduktion einen „Beweis", aber eine eigentümliche Art Beweis. Nelsons
Einteilung in empirische und transscendentale Deduktion sei durch die
Erklärung Kants abgetan, dass empirische Deduktion auch auf Grund
physiologischer Ableitung ein eitler Versuch bleibe. Auch die metaphy-
sische Deduktion Kants, die nach E. „das a priori als tatsächlich vorhanden
aufweist", also der metaphysischen Erörterung des Raumes und der Zeit
ähnelt, sei doch von dem Friesischen Deduktionsbegriff völlig verschieden.
Hingegen erkennt E. in dem regressiven Verfahren der Spekulation bei
Fries eine Zusammenfassung der metaphysischen Erörterung und Deduktion
wieder. Die engste Beziehung zum Friesischen Deduktionsbegriff hat
„diejenige Seite des Kantischen Deduktionsbegriffs, welche dann von
Fries zur alleinherrschenden gemacht und mit dem Prädikat der vollen
Allgemeingiltigkeit ausgestattet wurde", das ist die subjektive Deduktion,
welche Kant in der Vorrede zur 1. Auflage der Kr. d. r. V. erwähnt und
die nach B. Erdmann im 2. Abschnitt der Deduktion vorzugsweise zu
suchen ist. Eine „eigentümliche Ergänzung" findet dieselbe nach E. durch
die Deduktion der Ideen als „regulativer Prinzipien". Durch diese „Be-
friedigung eines unabweisbaren Vernunftbedürfnisses" wird die Deduktion
„in gewissem Sinne" transscendentale Deduktion.
Durch Zusammenwirken der erwähnten Begründungsarten ergiebt
sich als „logisches Ideal" die Theorie. Hier vereinigen sich die Erkennt-
nisarten und zugleich die verschiedenen wissenschaftlichen Methoden. Die
historische Erkenntnis oder die Erkenntnis der Tatsachen gelangt zur
wirklichen Erklärung nur durch Mathematik. Das erinnert an einen Aus-
spruch Kants in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissen-
schaft". E. findet jedoch, dass erst Fries mit der Folgerung : „Qualitäten
sind daher unerklärbar", die Kantische Darstellung „zur vollen Deutlichkeit
herausgearbeitet" habe.
„Der Fortschritt der Refleiionserkenntnis", wie E. den letzten Teil
dieses wichtigen Kapitels überschreibt, führt uns nun mit seinen beiden
regressiven Methoden, der Spekulation und Induktion, ein in die „un-
mittelbare Erkenntnis". Denn durch Spekulation werden die philoso-
Kant und Fries. 489
phischen Prinzipien aufgefunden, danach durch Deduktion gerechtfertigt.
Weniger wichtig ist bei Fries die Induktion, welche in ihren Prinzipien
von der Spekulation abhängt. Sie wirkt mit an der inneren Erfahrung
und lässt die der Spekulation nicht erreichbaren leitenden Maximen der
einzelnen Erfahrungswissenschaften bewusst werden, „erraten". Diese
Stellung der Induktion betont E. ganz besonders in Anbetracht vieler
falscher Auffassungen.
In dem nun folgenden letzten und wichtigsten Kapitel des ersten
Bandes „Die unmittelbare Erkenntnis der Vernunft" hebt E. gleich das
Charakteristische der ganzen Friesischen Philosophie hervor: dass nämlich
die Untersuchung des psychischen Ursprungs der Grundsätze zugleich
auch ihre Giltigkeit entscheiden soll, dass sich ferner die unmittelbare
Erkenntnis durch ein ,, Wahrheitsgefühl" dem „gemeinen Menschenver-
stände" ankündigt. Dieser Ausdruck erinnert an .E. Cassirers Bezeichnung
der Friesischen Philosophie als einer Erneuerung der Philosophie des ge-
sunden Menschenverstandes.
Auch E. kommt auf diesen Punkt zu sprechen. Fries selbst habe
sich in seiner Metaphysik mit Reid auseinandergesetzt und mit besonderer
Schärfe die Begründung seines „Wahrheitsgefühls" durch die empirische
Psychologie der Engländer abgelehnt.
Von dem „herkömmlichen Begriff des Gefühls" unterscheidet sich
nach E. das Friesische „Wahrheitsgefühl" dadurch, dass es nicht durch
Lust und Unlust bestimmt wird, sondern den unmittelbaren willkürlichen
„Akt der Denkkraft" (Fries) bedeutet. „Der Zögling der Brüdergemeinde
in ihm erhebt die Gefühle zur Quelle der wahren Erkenntnis, der Schüler
Kants macht aus dem Gefühl die „unmittelbare Selbsttätigkeit der Urteils-
kraft" und fordert eine Rechtfertigung des Gefühlten durch Deduktion"
(231). Schleiermacher steht nach E. hierin Fries am nächsten, hat aber
eine Vorliebe für mystische Elemente.
Es folgt eine „systematische Übersicht der in der unmittelbaren
Erkenntnis der Vernunft vorhandenen Formen". Für beachtenswert hält
E. Fries' Versuch die Anlehnung des Kategoriensystems an die Tafel der
Urteile dadurch zu rechtfertigen, dass die logischen Formen das Bewusst-
sein der in der unmittelbaren Erkenntnis vorhandenen metaphysischen
Formen vermitteln sollen.
Die Kritik der Kantischen transscendentalen Apperception bei Fries
wird teilweise hinfällig, da Kant nicht, wie Fries meint, die Reflexion
mit der unmittelbaren Erkenntnis verwechselt, sondern die synthetische
Einheit, die auch der Reflexion zu Grunde liegt, aus der produktiven
Einbildungskraft ableitet, „die damit gewissermassen das ersetzt, was bei
Fries die unmittelbare Erkenntnis leistete".
Zu dem Verhältnis der Vernunfterkenntnis nach der „subjektiven
Seite, wie E. die Lehre von der Synthesis nennt, tritt andererseits die
Bestimmung des Gegenstandes, die „objektive Seite". Dass gerade hier
„eine der Hauptdifferenzen" zwischen Kant und Fries liegt, ist natürlich
bei der Bedeutung dieser Frage für Kants Kritik besonderer Aufmerksam-
keit würdig, zumal da Fries es sich mit der Lösung ausserordentlich be-
quem gemacht hat: „Für die mittelbare^rkenntnis liegt die Wahrheit in
490 W. Reinecke.
ihrer Übereinstimmung mit der unmittelbaren Erkenntnis." Bei der un-
mittelbaren Erkenntnis „beruht die Wahrheit auf dem blossen Dasein der
Erkenntnis im Geiste", Doch urteilt E. über den Gegensatz, dass er in
Wirklichkeit nicht so gross sei wie er scheine. In Anbetracht der Stel-
lung der Synthesis der reinen Einbildungskraft und der synthetischen
Einheit der Apperception glaubt E. sagen zu können, dass auch bei Kant
die objektive Giltigkeit nicht „in der Übereinstimmung der Vorstellung
mit einem davon unabhängigen Objekt" besteht, „sondern in einer Einheit
schaffenden Funktion des Erkenntnisvermögens". Fries entzieht überhaupt
die objektive Giltigkeit der unmittelbaren Erkenntnis „aller wissenschaft-
lichen Beweisführung und ebendamit auch der Abhängigkeit von der
Psychologie". Als Unterschied bleibt also nach E. bestehen, dass Fries
das Bewusstwerden dieser synthetischen Funktion als Reflexion von der
Funktion selbst als unmittelbarer Erkenntnis trennt und die Deduktion
anthropologisch fasst, während Kant die Deduktion der transscendentalen
Logik zuweist. Im Friesischen Deduktionsbegriff liegt nach E. eine Ab-
leitung der apriorischen Funktionen aus subjektiven Verhältnissen der
Vernunftorganisation, „ein dem ethischen und ästhetischen Gebiet mit
dem theoretischen gemeinsames Verfahren".
Für die Deduktion der „wirklich in uns vorhandenen Erkenntnis-
formen" ist das „oberste Verhältnis in der Erkenntnis, das der ursprüng-
lichen formalen, materialen und transscendentalen Apperception mass-
gebend". Daraus ergeben sich die „vier spekulativen Momente der Er-
kenntnis", Die Einheit der Welt des äusseren und inneren Sinnes wird
auf die ursprüngliche, notwendige, vernünftige Einheit des ganzen Er-
kenntnisgehaltes des Geistes gegründet. Alle Bestandteile unserer Er-
kenntnis sind nur Modifikationen der transscendentalen Apperception,
wenn sie objektiv giltig sein sollen. E. glaubt, dass Fries sich gerade in
diesem Punkte als der echte Schüler Kants erweist, insofern er die De-
duktion aller synthetischen Formen aus einem Prinzip darstellt. Natürlich
bleibt auch in der Deduktion der Kategorien der alte Unterschied be-
stehen, der sich aus Fries' subjektiv anthropologischer Methode ergiebt.
„Zweitens aber ist für Fries charakteristisch jene Ausdehnung des Deduk-
tionsverfahrens auf die Gesamtheit der Erkenntnisformen, sogar mit Ein-
schluss der Ideen." Der Grund liegt in dem Friesischen Begriffe der
transscendentalen Apperception als dem Ganzen der unmittelbaren Er-
kenntnis. Als drittes Unterscheidungsmerkmal führt E. die „eingehendere
deduktive Begründung der einzelnen Glieder des Kategoriensystems" bei
Fries an, viertens tritt bei Fries die Kategorie der Relation, das Moment
der Synthesis über die anderen heraus. Damit hat Fries nach E. „eine
der wichtigsten Erkenntnisse der neueren Logik, wie sie besonders durch
Sigwart begründet wurde, vorweggenommen". Für die Anwendung der
Kategorien ergeben sich zwei Systeme. Bei Ausgang von der gegebenen
Anschauung: „die metaphysischen Prinzipien unserer Naturerkenntnis",
bei Ausgang von der Einheit und Notwendigkeit: „die ideale Ansicht
der Dinge".
Als eine Erweiterung der Kantischen Grundsätze des reinen Ver-
standes kann nach E, Fries' „Metaphysik der inneren Natur" angesehen
Kant und Fries. 491
werden, besonders in Hinsicht auf die Mathematik: „Wie für Kant, so ist
auch für Fries die Anwendung der Mathematik im Gebiete der inneren
Erfahrung auf das Gesetz der Stetigkeit beschränkt."
Ganz abweichend von Kant hat Fries die Lehre von den Ideen
dargestellt, denn sie ist ihm nicht transscendentale Dialektik, sondern
gleichberechtigt den Prinzipien der Naturlehre. Kant sei von der falschen
Annahme ausgegangen, meint Fries, dass jede philosophische Wahrheit
eines Beweises bedürfe. Dabei müssten wir doch höchste Wahrheiten
haben, um aus ihnen Beweise führen zu können. Fries' eigene Lehre von
der Realität des Seins gründet sich natürlich auf die unmittelbare Er-
kenntnis. So bildet sich im Gegensatz zum praktischen Glauben Kants
ein spekulativer. Das ,,oberste Gesetz der Einheit" als ein „Gesetz der
Vollständigkeit"' führt durch Verneinung aller Beschränkungen, die am
Empirischen kleben, zur „Idee des Absoluten" und begründet eine Welt
der Ideen, die vom Wissen zu Glaube und „Ahndung" hinüberleitet. Da-
rin stimmt Fries also wieder mit Kant überein, dass wir hier vor einer
anderen Art der Überzeugung stehen.
n. Band. Kritisch-Systematischer Teil. In drei Kapiteln
stellt E. die Voraussetzungen, die Methode der Erkenntnistheorie und das
Problem der Grenzen der Erkenntnis dar. Er verzichtet wieder von An-
fang an auf eine Untersuchung des ErkenntnisDegriffes für sich, sondern
hält sich an den klassischen Vertreter der Erkenntnistheorie, an Kant,
gegen den Fries zunächst ein wenig zurücktreten muss, doch eigentlich
nur, um bald als ferner Zielpunkt der Untersuchung Richtung zu geben,
bald wenigstens als Gegenpol die Anziehungskraft Kantischer Gedanken-
kreise abzuschwächen.
E. unterscheidet psychologische, logische und erkenntnistheoretische
Voraussetzungen der Vernunftkritik.
Zu den psychologischen Voraussetzungen Kants zählt E. folgende:
1. die „psychologischen Begriffe wie Empfindung . . .",
2. die „psychologische Unterscheidung der beiden Hauptstämme der
Erkenntnis", der Sinnlichkeit und des Verstandes, die ein „Hauptelement
der Beweisführung" bleibt,
3. die Auffindung des Prinzips der Reduktion durch psychologische
Erwägungen — wenigstens in der 1. Auflage.
Mit Rücksicht auf Punkt 1. und 2. hält E. psychologische Voraus-
setzungen für unentbehrlich und auch für unbedenklich, wenn die nötige
wissenschaftliche Vorsicht waltet. Solche Voraussetzungen werden nicht
nur Kant, sondern überhaupt den Erkenntnistheoretikern, welche ihre
Unabhängigkeit von der Psychologie behaupten, gern von Freunden psy-
chologischer Vorherrschaft in der Philosophie nachgesagt Aus gleichen
Gründen bezeichnet z. B. AI. Höfler^) die Psychologie als die Grund-
wissenschaft der Philosophie, ohne die Logik und Erkenntnistheorie nicht
auskommen können. Das freilich ist klar, dass die Erkenntnistheorie
ohne Voraussetzung psychischer Vorgänge nicht auskommen kann; aber
1) Vgl. z. B. AI. Höfler, Zur gegenwärtigen Naturphilosophie.
Berlin 1904.
492 W. Reinecke,
ebenso klar ist, dass auch die Psychologie mit denselben Erfahrungen —
oder besser Erlebnissen „anheben" muss. Die Psychologie schafft sie
nicht, sie werden überhaupt von keiner Wissenschaft geschaffen, sondern
sie bilden einen unvermeidlichen Ausgangspunkt, ein Gemeingut aller
Wissenschaften. Wer diese Begriffe für psychologische erklärt, über-
schätzt die Leistungsfähigkeit der Psychologie und verwechselt das Psycho-
logische mit dem nur Psychischen. Husserl nennt solche Vorgänge psy-
chische Phänomene und die Feststellung und Beschreibung derselben Pliä-
nomenologie oder deskriptive Psychologie zum Unterschied von der
genetischen Psychologie. E. hätte in dem Namen aber nicht ein Zuge-
ständnis an die Psychologie erblicken, sondern folgende Bemerkung
Husserls beachten sollen -A) „die reine Phänomenologie stellt ein Gebiet
neutraler Forschungen dar, in welchem verschiedene Wissenschaften
ihre Wurzeln haben. Einerseits dient sie zur Vorbereitung der Psy-
chologie als empirischer Wissenschaft . . . Andererseits erschliesst sie
die „Quellen", aus denen die Grundbegriffe und die idealen Gesetze der
reinen Logik „entspringen" . . ."
Dazu noch ein weiterer beachtenswerter Punkt: Ist „Empfindung"
für den Erkenntnistheoretiker dasselbe wie für den Psychologen ? — Nein,
denn diesen kümmert das Erleben als solches, jenen der Erkenntniswert
des erlebten Inhalts, obwohl beide von derselben Tatsache ausgehen. Sie
meinen demnach mit dem Worte Empfindung ganz verschiedenes. Th.
Lipps hat einmal über den Standpunkt des Logikers und den des Psycho-
logen geäussert: 2) „Die logischen Sätze verhalten sich zu Bewusstseins-
erlebnissen lediglich ausdrückend," „Die Gesetze der empirischen Psycho-
logie dagegen sind Berichte." Wenn damit auch nach unserer Meinung
das Verhältnis nicht ganz richtig bestimmt ist, so wird doch auch von
Lipps ein nicht geringer Unterschied festgestellt. Somit kommen wir zu
dem Ergebnis, dass die von E. behaupteten psychologischen Voraussetz-
ungen Kants im Allgemeinen nicht vorhanden sind, dass sie jedenfalls
nicht der Kantischen Methode angehören.
Die logische Voraussetzung der Erkenntnistheorie, der Urteilsbegriff,
ist nach E. darum nicht wichtig, weil die Logik einer allgemeinen Er-
kenntnislehre eingegliedert werden kann.
Es sind also noch jene Voraussetzungen zu betrachten, die E. ab-
sichtlich „erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Erkenntnistheorie"
genannt hat. Den ersten Teil der erkenntnistheoretischen Voraussetzungen
müssen wir uns näher ansehen. Er ist überschrieben: „Die erkenntnis-
theoretischen Voraussetzungen hinsichtlich des Ausgangspunktes der Unter-
suchung" (24). Man achte auf den Unterschied zwischen „Voraussetzung"
und „Ausgangspunkt". Ein Ausgangspunkt braucht noch nicht grund-
legende Voraussetzung einer Untersuchung zu sein. Es sind z. B. ganz
verschiedene Fragen, ob die objektive Giltigkeit der Mathematik Aus-
gangspunkt oder ob sie Voraussetzung, Grundlage der Erkenntniskritik
^) Husserl, logische Untersuchungen II, 4.
■■') Th. Lipps, Inhalt und Gegenstand; Psychologie und Logik. S. 540.
K. B. Akademie der W. München 1905.
Kant und Fries. 493
ist. Der Ausgangspunkt kann, wie in dem Beispiel, eine Hypothese oder
ein Anspruch sein, dessen Berechtigung die Kritik untersucht, er be-
gründet dann aber nicht das kritische Verfahren selbst. Das hat auch E.
vielleicht trennen wollen, da er dem ersten Teil einen zweiten „die er-
kenntnistheoretischen Voraussetzungen hinsichtlich der Untersuchung
selbst" anschliesst. Ob es ihm gelungen ist?
Nach Fries ist die Vorbedingung erkenntnistheoretischer Unter-
suchung das Vorhandensein objektiv giltigen Erkennens, Kant verlangt
nur Anerkennung einer Erfahrung, und zwar nach E. der „gemeinen Er-
fahrung". E. vollzieht aber im Verlauf der Erörterung einen bemerkens-
werten Übergang von der blossen Anerkennung zur „Notwendigkeit" der
Anerkennung der Erfahrung: „nur dann, wenn Erfahrung möglich sein
muss", sind auch die kategorialen Begriffe notwendig. Hier treten noch
zwei Ausdrücke auf, welche wir beachten müssen : Notwendigkeit und
Möglichkeit, denn es kommt darauf an, den Sinn festzustellen, in dem die
„Notwendigkeit" der Kategorien an die „Notwendigkeit" der Erfahrung
geknüpft wird. Bedeutet diese Notwendigkeit Bedingung objektiver
Giltigkeit, so ist damit aus der Erfahrung als „Ausgangspunkt" eine be-
gründende „Voraussetzung" geworden. Es währt nicht lange, so finden
wir eine Überschrift „der Sinn des Kantischen Erfahrungsbegriffes als
der Grundvoraussetzung seiner Erkenntnistheorie" (30). Der Sinn
ist „gemeine Erfahrung" und die Folge. „Alle synthetischen Formen,
welche diese gemeine Erfahrung, welche allgemein anerkannte Tatsache
ist, erst möglich machen, sind aber damit als objektiv giltig bewiesen"
(32). Es ist wohl deutlich zu sehen, wie sich allmählich der „Ausgangs-
punkt" in Wichtigeres verwandelt hat. Ferner ist objektive Giltigkeit auf
allgemeine Anerkennung gestützt worden, Notwendigkeit ist also bei E.
nichts als subjektiver Zwang. Damit werden wir uns noch später in der
Lehre von der Evidenz zu beschäftigen haben. Die Existenz der Mathe-
matik, für Kant nur der Beweis ihrer Möglichkeit, bedeutet nun nach E.
ihre objektive Giltigkeit. „Dass es eine objektiv giltige Erfahrung und
objektiv giltige Sätze der Mathematik und Naturwissenschaft überhaupt
giebt, nimmt Kant von vornherein an ; welche apriorischen Funktionen
ihnen aber zugrunde liegen, und dass gerade diese in ihrer Vollständigkeit
aufgefundenen Formen objektiv giltig sind, und worin diese objektive
Giltigkeit besteht, bedarf des kritischen Nachweises" (36). Daraus geht
hervor, dass E. ganz nach Fries der gemeinen Erfahrung objektive Giltig-
keit zuschreibt anstatt mit der Frage anzufangen, worin überhaupt „ob-
jektive Giltigkeit besteht". Das heisst aber nichts anderes als sich über
das Grundproblem der Erkenntnistheorie hinwegsetzen. Bleibt bei solchem
Verfahren noch irgend ein Unterschied bestehen zwischen gemeiner und
wissenschaftlicher Erfahrung? Hätte es Zweck, nach Kategorien zu
suchen, wenn sie keinen Wert für den objektiven Zusammenhang haben,
sondern nur als Bestandteile jeder, auch der gemeinen Erfahrung gleich-
sam nach Voraussetzung objektiv ^iltig sind? Gemeine Erfahrung kann
nur subjektiv sein, z. B. die Beobachtung, auf A folgt B. Wird daraus
eine kausale Verknüpfung: weil A ist, so folgt B, so befinden wir uns
nicht mehr auf dem Boden der gemeinen Erfahrung; sondern haben einen
494 W. Reinecke
objektiven Zusammenhang konstruiert, dessen Giltigkeit durch neue Be-
obachtungen zu prüfen ist. So wird wohl objektive Giltigkeit aus sub-
jektiven Beobachtungen erschlossen, aber nicht syllogistisch abgeleitet.
Geraeine Erfahrung ist ein „Ausgangspunkt", nicht aber eine „Grundvor-
aussetzung" für objektive Erkenntnis. Die allmähliche Verwandlung des
„Ausgangspunktes" vollendet sich bei E. in der Frage: „Werden durch
diese empirische Begründung nicht die Prinzipien der Erkenntnis ihres
allgemeinen und notwendigen Charakters entkleidet?" (40). Es ist schade,
dass die ungemeine Sorgfalt E.s in vielen Dingen gerade an diesem wich-
tigen Punkte versagte.
Die eben genannte Frage führt zum Kantischen Begriff des Fak-
tums und der Erfahrung, für die nach E. Kants Begriff der „vernünftigen
Wesen" und seine erkenntnistheoretische Bedeutung eine Rolle spielt.
Zur Bildung dieses Begriffes soll Kant sich veranlasst gesehen haben, um
die nicht-anthropologische Begründung des Moralgesetzes und AUgemein-
giltigkeit auf praktischem und theoretischem Gebiete zu wahren. Doch
erweitert sich in Wirklichkeit nach E. nur die empirische Bedingtheit
nicht ohne „praktischen Vernunftglauben" zu einer „Gattungsorganisation
vernünftiger Wesen" als Grundlage des Kritizismus. Ein „Bewusstsein
überhaupt" hält E. für ein der Kantischen Anschauung „fremdes mystisches
Element". Wir sehen also, dass E. sich immer mehr einer subjektiv-psy-
chologischen Gestaltung der Erkenntnistheorie zuwendet. Ein objektiv
giltiger Satz würde doch zu der Gattungsorganisation gar keine Be-
ziehung haben.
„Hinsichtlich der Untersuchung selbst" befindet sich der Philosoph
in dem Zirkel, dass er erkennend Prinzipien des Erkennens voraussetzen
muss, eine Schwierigkeit, welche nach E. allein die Friesische Unter-
scheidung von Deduktion und Beweis beseitigt. Der Beweis objektiver
Giltigkeit wird ja überflüssig.
Noch eine dritte Art erkenntnistheoretischer Voraussetzungen zählt
E. „hinsichtlich der Mitteilbarkeit der Untersuchung" auf, nämlich Gleich-
artigkeit der Organisation, übereinstimmende Wortbedeutungen, An-
erkennung und Begründung. Aus dieser Aufzählung lässt sich wieder
schliessen, dass E. die „durchaus subjektive Wendung" der Friesischen
Vernunftkritik als die richtige anerkennt.
Wir kommen zum II. Kapitel, „Die Methode der Erkenntnistheorie".
Wenn E. dazu bemerkt: „durch die Gesamtheit dieser Voraussetzungen
ist nun die Methode der Erkenntnistheorie wesentlich bedingt" (9.S), so
kann man ihm nur zustimmen. Bisher führte die Entwickelung darauf
hin, dass „die objektive Giltigkeit der Erkenntnisprinzipien von der Er-
kenntnistheorie bereits vorausgesetzt werden muss". Es soll aber noch
ein Kriterium der objektiven Giltigkeit geben.
Wir haben bereits darauf hingewiesen, wie aus den „Ausgangs-
punkten" Grundvoraussetzungen von objektiver Giltigkeit geworden sind,
d. h. aber nach E.s Auffassung nichts weiter als Tatsachen, welche allge-
mein anerkannt werden müssen. Diese Allgemeinheit und Notwendigkeit
und damit die objektive Giltigkeit wird nunmehr auf das Evidenzgefühl,
das Friesische „Wahrheitsgefühl" gegründet. Hier ist die Quelle der Mei-
Kant und Fries. 495
nungsverschiedenheit. Denn von hier aus wird die Erkenntnistheorie
psycho! ogisiert, indem das individuelle Eriebnis der Evidenz der Psycho-
logie zugewiesen wird. Zunächst kann man einwerfen, ob eine psycho-
logische Analyse dieses Gefühls für die Erkenntnistheorie notwendig ist.
Nach unserer Meinung könnte man sich mit der Tatsache begnügen und
stände damit ausserhalb der Psychologie. Der Hauptstreit jedoch geht
um die richtige Würdigung der Evidenz und wird von E. mit Husserl
geführt.
Husserl betont : „Wahrheit ist eine Idee, deren Einzelfall im evi-
denten Urteil aktuelles Erlebnis ist".i) Wahrheit ist in der Evidenz er-
fasst, beide verhalten sich wie „das Sein eines Individuellen zu seiner
adäquaten Wahrnehmung. Nach E. wird „unmittelbare Gewissheit" nur
durch Evidenz „geschaffen". Das Abhängigkeitsverhältnis ist bei E. um-
gekehrt gedacht wie bei Husserl. Der Unterschied tritt noch deutlicher
hervor, wenn wir ergänzen : nach Husserl giebt es Wahrheit ohne Evi-
denz,2) nach Elsenhans giebt es ohne Evidenz keine Wahrheit. Husserl
hebt nach unserer Meinung mit Recht die Bedeutung des „Sachverhaltes"
gegenüber dem Evidenzgefühl hervor, z, B.: „dieses Blatt ist grün" be-
hauptet einen bestimmten Sachverhalt, der als solcher für mich evident
ist. Ein Farbenblinder bestreitet den Satz, dann hilft ihm gegenüber alle
meine Evidenz nichts, er hat einen anderen Sachverhalt vor sich, und
dieser ist für ihn auch evident. Beruht also die Erkenntnis von der Sub-
jektivität der Farbempfindungen nur auf Evidenz? Iin Gegenteil, wir
müssen über die blosse Evidenz hinausgehen und jenseits Objektivität
suchen. Wenn alles Evidente für objektiv genommen würde, kämen wir
nie über die Sinnenwelt hinaus zur Welt der physikalischen Begriffe. Da
es immer gut ist, sich bei erkenntnistheoretischen Erörterungen an die
Mathematik zu halten, sei noch aus dieser ein Beispiel angeführt. Beruht
das Urteil 2.3 = 6 auf Evidenz und — um gleich noch auf einen andern
von E. angeführten Punkt einzugehen — wird dabei eine allgemeine
Gattungsorganisation vorausgesetzt ? Wenn wir diese Frage verneinen —
und wir tun es — , so kann die objektive Giltigkeit nicht von der AUge-
meingiltigkeit im Sinne E.s abhängen, dann ist umgekehrt Allgemein-
giltigkeit eine Folge objektiver Giltigkeit und somit auch eine Notwendig-
keit nachgewiesen, die im Objekt sich gründet. Wir müssen freilich
wieder darauf hinweisen, dass E.s Ausdruck „objektive Giltigkeit" nicht
mit dem gleichnamigen Begriff Kants oder gar Husserls sich deckt, dazu
mangelt ihm die Schärfe, die ihm nur eine Untersuchung des Begriffs der
Erkenntnis verleihen könnte.
Wie hilft sich E. über diese Subjektivität hinweg, wo nach seinen
Worten unter Umständen „Urteil gegen Urteil", also „Gefühl gegen Ge-
fühl" steht ? Er meint, dass erst in dem Augenblick der Widerspruch
einsetze, in dem das andere Urteil — etwa durch Beweisführung —
1) Husserl, logische Untersuchungen I, 190.
2) Husserl I, 189: „dass selbst der Rekurs auf das Normale den Um-
fang der evidenten Urteüe mit dem der wahrheitsgemässen nicht zur
Deckung bringe".
496 W. Reinecke,
evident zu werden beginne. Es muss also vom Gegner ein stärkeres
Evidenzgefühl aufgeboten werden zur Überwindung des Gegensatzes.
„Wir könnten uns demnach Evidenzgefühle höherer und niederer Ordnung
denken, von denen die ersteren die letzteren in sich aufnehmen oder
annullieren würden und von denen die höchsten mit den Erkenntnis-
prinzipien selbst verbunden wären. Von einer solchen Hierarchie der
Gefühle aus ist dann eine Korrektur des Einzelgefühls nicht mehr un-
denkbar" (102).
E.s Auffassung lässt sich leicht aus einem Missverständnis der Auf-
gaben der Erkenntnistheorie erklären, in dem ihn vermutlich Fries be-
stärkt hat. E. und ebenso Fries lösen in Wirklichkeit mit ihrer Evidenz-
theorie nur die Frage: Wie lernen wir Menschen Erkenntnis, wie kommen
wir zum Verständnis von Wahrheiten? Denn die Evidenz bezieht sich
nur auf den psychischen Akt, auf das Verstehen, haftet nicht an einem
Satze für sich. Die angeführten „Voraussetzungen" sind nicht solche der
Erkenntnis selbst, sondern nur solche für eine Betätigung in der Er-
kenntnis, für das Lernen und Verstehen. Sonst hätte auch E. nicht an
dritter Stelle unter den Voraussetzungen der Erkenntnistheorie die „hin-
sichtlich der Mitteilbarkeit" aufführen können. Die Aufgabe, die E. und
auch Fries zu lösen versuchen, ist demnach gar nicht die erkenntnis-
theoretische, sondern die allgemeinste psychologisch-pädagogische. Den
Weg zu der wirklich erkenntnistheoretischen Frage nach den Bedingungen
der objektiven Giltigkeit, z. B. der Möglichkeit einer angewandten Mathe-
matik haben sich die Philosophen Friesischer Richtung durch die allzu
bequeme Annahme „unmittelbarer Erkenntnis" vollkommen verbaut.
Schon dieser Ausdruck „unmittelbare Erkenntnis" weist darauf hin,
dass sie sich nur mit den Mitteln zum Aneignen der Erkenntnis befassen,
nicht aber mit der Erkenntnis selbst. Darum können ihre Untersuchungen
nur für Psychologie und Pädagogik Wert haben.
Besonders gespannt wird man nun darauf sein, wie E. sich gegen-
über der „Methode der Untersuchung der Erkenntnisprinzipien" selbst
verhält. Hier liegt ja der Gegensatz zwischen Kant und Fries am klarsten
vor und kommt in dem Vorwurf Fries' zum Ausdruck, dass Kant die em-
pirisch-psychologische Natur seiner transscendentalen Untersuchung ver-
kannt habe. Es ist wieder ein schöner Beweis für E.s Gründlichkeit, dass
er folgende beiden Fragen scheidet: 1. „ob Kant selbst seine Vernunft-
kritik als eine im wesentlichen psychologische Untersuchung betrachtet
wissen wollte", 2. „ob er bei grundsätzlicher Ablehnung der psycho-
logischen Methode tatsächlich doch psychologisch verfuhr" (108). Aus
der 2. Frage geht schon hervor, dass die erste zu verneinen ist, die zweite
selbst aber kein blosses ja oder nein zulässt, weil nämlich der Begriff des
Tansscendentalen bei Kant mehrdeutig ist. Gerade dieser aber beweist
nach E., „dass Kant die von Fries eingeführte Problemstellung im Grunde
genommen fern lag" (119).
Das Kantische Verfahren zur Aufsuchung der reinen Verstandes-
begriffe ist nach E. 1. emprisch, denn es werden „bereits vorhandene
Begriffe" aufgesucht (121) und durch den transscendentalen Leitfaden
wird nur die Vollständigkeit festgestellt. 2. ist das Verfahren Kants aber
Kant und Fries. 497
von einem bloss psychologischen dadurch zu unterscheiden, „dass bei ihr
die Beziehung auf Gegenstände, die als transscendent betrachtet werden,
den Ausgangspunkt bildet" (130). Damit lässt aber E. immer noch die
Möglichkeit frei, dass sich die Aufgabe, wenn auch nicht restlos, auf Psy-
chologie gründet (125). Freilich sei Aufsuchung und Begründung der ein-
zelnen Erkenntnisprinzipien weder bei Fries noch bei Kant befriedigend
dargelegt, müsse vielmehr anders angefasst werden. Nachdem man vom
„gemeinsten Verstandesgebrauche" ausgehend der subjektiven Sphäre die
Form der Erkenntnis, der objektiven Sphäre den Stoff der Erkenntnis zu-
gewiesen habe, gelte es, „von der Erforschung des eigenen Erkennens aus
unter steter Vergleichung der Grundzüge menschlichen Erkennens, wie
sie in Geschichte und Gegenwart die Wissenschaft uns darbietet, die ein-
zelnen Erkenntnisprinzipien aufzusuchen und zu begründen"' (137). Beides
gehe Hand in Hand. Allgemeinheit und Notwendigkeit aber werde zu
Beginn der Untersuchung „vorausgesetzt, und zwar für alle diejenigen
Formen, mit deren Anwendung jenes Evidenzgefühl höchster Ordnung
sich verbindet" (137).
Es giebt also nach E. keine besondere erkenntnistheoretische Methode.
Welche Bedeutung hat nun die Psychologie nach E. für die Er-
kenntnistheorie?
Als „Psychologie des Erkennens" hat sie der Erkenntnistheorie vor-
zuarbeiten, sie geht dabei nicht über den Standpunkt des naiven Realis-
mus hinaus. Mit der Beziehung „auf den für transscendent gehaltenen
Gegenstand" beginnt die eigentliche Erkenntnistheorie, die sich mit der
Frage beschäftigt, „mit welchem Rechte wir von einem „Ding an sich"
reden" (153).
Um die Anwendbarkeit der vertretenen Methode zur Aufsuchung
der Erkenntnisprinzipien zu zeigen, stellt E. sich die Frage: „Was tun
wir, indem wir Gegenstände erkennen?'' (157). Der Erkenntnisprozess ist
ihm „Mathematisierung, Klassifikation und Kausalerklärung des Ge-
gebenen". Die entsprechenden Grundprinzipien sind: Raum und Zeit,
Substanz, das Gesetz der Kausalität. Bemerkenswert ist E.s Untersuchung
über die Frage: „Ist es richtig, nur von einem Substanzbegriff und von
einem Kausalgesetz zu reden?" (164). Er weist „die Form des Begriffes
und des Gesetzes je einem der beiden Grundprinzipien zu, während die
Anschauungsformen als Gruppe für sich bestehen bleiben".
Hier nähert sich E. wieder der Kantischen Lehre, nur dass er nach
unserer Meinung die Aufgabe der Erkenntnistheorie, indem er sie auf die
transscendenten Dinge an sich beschränkt, zu eng fasst und zu viel der
Psychologie zuweist.
An Stelle der Psychologie wäre das zu setzen, was Husserl Phäno-
menologie nennt.
Es bleibt noch als HI. Kapitel „das Problem der Grenzen der Er-
kenntnis". Es beginnt mit der Lehre von der Unerklärlichkeit der Quali-
täten, deren berechtigter Kern in der Unmöglichkeit einer vollständigen
Erklärung und Bezeichnung des Gegebenen liegt. Auch die Geschichte
sagt nach E. nichts dawider, dass die Grenzen der Erklärung mit den
Grenzen der Erkenntnis zusammenfallen. „Wir haben als Ziel der
498 W. Rein ecke, Kant und Fries.
Wissenschaft, auch der Naturwissenschaft, nicht die Bildung allgemeiner
Begriffe, sondern die Erklärung der Wirklichkeit selbst zu betrachten"
(179). Jede Erklärung aber macht aus dem „unübersehbaren" Individuellen
„Merkmalskomplexe und Gesetzeskomplexe", so dass die Wissenschaft un-
vollendbar bleibt. Da das sowohl für Naturwissenschaft wie für Geschichte
gilt, so liegt der Unterschied nur im Grade der Komplikation. Wertungen
nach Brauchbarkeit für die Erklärung leiten in beiden Fällen die Aus-
wahl des Verfahrens, nicht aber bestimmt das Prinzip der Auswahl das
Verfahren.
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen stellt E. Kants und Fries'
Auffassung dar, wobei wieder der Friesische Grundsatz des Selbstvertrauens
der Vernunft und die Giltigkeit der spekulativen Ideen von Bedeutung
wird. Aus Kants Erörterungen über das Transscendente zieht E. in der
Erwägung, „dass die Vorstellung eines Gegenstandes . . . um so mehr an
Realität gewinnt, je mehr sie dazu dient, die Wirklichkeit zu erklären,
die Folgerung: „nach den Grundsätzen des wissenschaftlichen Verfahrens
ist es völlig unvermeidlich, dass regulative Prinzipien, eben weil sie Sub-
strate der von der Wissenschaft anzustrebenden grösstmöglichen Einheit
der Erfahrungskenntnis liefern, zu Hypothesen werden" (200). So sei z. B.
in der Deszendenztheorie aus dem regulativen Prinzip „von der konti-
nuierlichen Stufenleiter der Geschöpfe" eine Hypothese geworden, welche
in die organische Welt „systematische Einheit" brachte. Ja, die Natur-
wissenschaft selbst geht mit ihren letzten Hypothesen des Atoms und des
Äthers über Anschauung und Erfahrung hinaus, so dass man diese Hypo-
thesen mit Külpe als „induktive Metaphysik" bezeichnen könnte. Solche
transscendenten Hypothesen sind an die Bedingungen der Einheitlichkeit
und des Bedürfnisses gebunden. Daher, schliesst E. weiter, können auch
„Annahmen, welche praktischen Bedürfnissen entsprungen sind, zugleich
dem Verständnis dieser Wirklichkeit dienstbar gemacht werden und theo-
retisch betrachtet als Hypothesen Verwendung finden" (216). Die empi-
rische Basis könne hier die Gesamtheit der Tatsachen des sittlichen
Lebens besonders des eigenen Gewissens bilden. Mag E. behaupten, dass
diese Basis fest genug ist ? Das „praktische Bedürfnis" ist wohl ein zu
vager Begriff, hier wäre erst noch einige Arbeit zu leisten, bevor man
über die Fruchtbarkeit der von E. entworfenen Gedanken entscheiden kann.
Damit sind wir am Ende des Werkes. Obwohl wir E.s Ansicht über
die Erkenntnistheorie nicht teilen können, sei betont, dass das Werk sehr
schöne Gedanken über Psychologie, Philosophiegeschichte und Ethik ent-
hält, namentlich aber zur Belehrung über Fries wegen seiner Gründlich-
keit und Klarheit in der Darstellung dringend zu empfehlen ist.
Rezensionen.
Fischer, Kuno. Immanuel Kant und seine Lehre. 5. Aufl.
Heidelberg 1909 und 1910. Carl Winters Universitätsbuchhandlung. (Zwei
Bände : XX u. 686 und XVIII u. 645 S.)
Es ist gerade ein halbes Jahrhundert vergangen, seit das Werk zum
ersten Male vor die Öffentlichkeit trat. Dass im Laufe dieses halben
Jahrhunderts das historische Interesse an Kant mannigfach andere Formen
annehmen musste, als es sich für Kuno Fischer gestaltet hatte, liegt in
der sj'stematischen Entwickelung begründet, die die Philosophie selbst in
diesem geschichtlichen Zeiträume erfahren hat. Und dass damit auch im
Speziellen der Kantforschung andere Aufgaben gestellt und andere Wege
gewiesen werden mussten, als sie ihr vor fünfzig Jahren, da Kuno Fischer
seine Mission antrat, bestimmt waren, liegt auf der Hand. Am klarsten
und offenbarsten mag einem das, von allem anderen abgesehen, an der
Tatsache entgegentreten, dass wir heute vor allen Dingen an den trans-
scendentalkritischen Momenten der Kantischen Lehre systematisch interessiert
sind und dieses Interesse auch in unserer historischen Untersuchung über
Kant mehr zur Geltung bringen, während Kuno Fischer mit ebensoviel
Interesse auch den transscendentalpsychologischen Faktoren im Systeme
Kants nachgeht. Aber darin liegt vielleicht gerade das Grossartige der
Fischerschen Darstellung, das sie für uns heutige ebenso wert macht, wie
sie es bei ihrem ersten Erscheinen der Zeit vor fünfzig Jahren war, dass
sie eben auch für unser heutiges Interesse mitbestimmend war und es in
entscheidender Weise wenigstens mittelbar selbst beeinflusst hat. Und das
wieder hat seinen tiefsten und letzten Grund in der Art und Weise, in
der Klarheit und Tiefe, mit der Kuno Fischer die Aufgabe des Philosophie-
historikers überhaupt erfasst. Soweit dieser eine konkrete Erscheinung
in ihrer bestimmten Bedeutung verstehen will, darf er nicht nach einem
persönlichen Interesse bloss diese oder jene Seite seines Gegenstandes,
sofern er eben nicht etwa ausschliesslich die Probleme als solche verfolgt,
allein herausstellen, er muss sie zunächst mit objektiver Unbefangen-
heit in ihrer ganzen historischen Bestimmtheit zu verstehen suchen.
Und zu dieser historischen Bestimmtheit gehört bei Kant, um auf unser
Beispiel zurückzukommen, das transscendentalpsychologische Moment eben-
sogut, wie das transscendentalkritische. Die Fort- und Weiterbildung der
Kannschen Lehre mag auf das eine oder das andere mehr Nachdruck
legen. Aber wer da behaupten wollte, bei Kant selbst sei nur das eine
oder das andere angelegt, der würde die historisch nun einmal vorliegende
Erscheinung in ihrem Wesen entweder verkennen oder entstellen. Der
systematische Fortbildner ist da frei, wo der Historiker durch die ge-
schichtliche Tatsächlichkeit zunächst gebunden ist. So musste denn zu-
nächst auch Kuno Fischer nicht bloss sowohl den transscendentalpsycholo-
gischen, wie den transscendentalkritischen Kant, sondern nach Möglichkeit
den „ganzen Kant" geschichtlich zu verstehen suchen, ohne sich freilich
auch auf den „ganzen Kant" hinsichtlich der Wertbedeutung und Wert-
betonung festzulegen. Dass Kuno Fischer nun die vollständige Einheit
und Totalität der Kantischen Philosophie mit einer in der unübersehbaren
Fülle der Kant-Litteratur nie wieder erreichten Meisterschaft und Ge-
Eaatitadltn XY. 99
500 Rezensionen (Fischer).
schlossenheit zur Darstellung zu bringen vermocht hat, das würde seinem
Werke über Kant einen dauernden Platz in der Geschichte der Kant-
forschung selber auch dann sichern, wenn diese sich noch so sehr von ihm
im Einzelnen entfernt haben würde. Was Vaihinger vor fast vierzehn
Jahren über Kuno Fischers Werk geschrieben, gilt aber mit unumstöss-
licher Gewissheit heute noch: „Hand aufs Herz! Hat die ganze Kant-
Litteratur seitdem ein Werk hervorgebracht, das sich rühmen kann, ein
so ausführliches und doch so geschlossenes Totalbild des Königsberger
Denkers zu geben, wie es das Werk Kuno Fischers ist?"i) Aber mit
dieser einheitlichen und ausführlichen Durchführung, mit dieser Totalität
und Geschlossenheit des Bildes ist keineswegs der ganze Wert des Werkes
von Kuno Fischer erschöpft. Alle diese Momente sind nur Hebel des
historischen Gesamtverständnisses, das Kants Philosophie als jenen Höhe-
punkt der geschichtlichen Entwickelung zu begreifen sucht, in dem sich
alle Tendenzen der philosophiegeschichtlichen Entwickelung vor Kant ver-
einigen, und in dieser entwickelungsgeschichtlichen Betrachtung liegt der
tiefste Gehalt und Wert der Fischerschen Darstellungsweise. Denn sie
macht auch verständlich, welche neuen Tendenzen von Kant selber wieder
ausgehen konnten. Ebendarum aber braucht sich der Historiker, wie ich
schon sagte, hinsichtlich der Wertbetonung und Wertbedeutung nicht auf
den „ganzen Kant" festzulegen, wenn er gleich diesen historisch zu ver-
stehen suchen musste. Aber ebendarum kann ihm die universelle Fülle
des Einzelnen selbst dazu dienen, im historischen Material die über-
historische Bedeutung und den überhistorischen Wert der geschichtlichen
Erscheinung zu ermitteln und von diesem aus selbst die systematische
Weiterentwickelung und Fortbildung zu verstehen. Hat sich heute also
auch unser Interesse an Kant in bestimmter Weise präzisiert, sind wir
vor allem mit Recht mehr darum bemüht, die eigentlich kritischen,
transscendentalkritischen Motive historisch zur Geltung zu bringen
und systematisch fruchtbar zu machen, so dürfen wir nicht ver-
gessen, dass hierin Kuno Fischer mittelbar auch für uns selber richtung-
gebend geworden und geblieben ist, dass er selbst das historische
Interesse an Kant mitbestimmt hat, in manchem von seiner eigenen
Auffassung abzugehen. Windelband bemerkt in seiner erwähnten Fest-
schrift*) darum mit einem von allen geschichtlichen Tatsachen in dieser
Richtung nur immer aufs neue bestätigten Rechte : „So viele seitdem, sei
es am Ganzen, sei es am Einzelnen des grossen Königsbaues, weiter-
gearbeitet und so andersartig und eigenartig sie ihren Teil der Arbeit
geleistet haben mögen, — sie alle stehen auf seinen Schultern, und jeg-
licher Versuch, zu Kants Lehre eine neue Stellung zu nehmen, muss sich
zunächst mit Kuno Fischer auseinandersetzen." In der Tat giebt es ja
wohl kein einziges Werk über Kant, das auf wissenschaftlichen Wert und
wissenschaftliche Bedeutung Anspruch erheben dürfte, und in dem unter
der Fülle der Kant-Litteratur nicht in erster Linie auf Kuno Fischers
Darstellung Bezug genommen wäre. Wo besitzen wir wohl eine treuere
und verständnisvollere Würdigung des erkenntnistheoretischen Teils der
Kantischen Philosophie, als sie uns Riehl im ersten Bande seines Kritizis-
mus gegeben hat? Und wodurch gelangt die Bedeutung des Fischer-
schen Werkes besser zu unmittelbarem Ausdruck, als gerade durch die
eingehende, hier gegebene Auseinandersetzung, trotz mancher Differenzen
und sachlich begründeter Berichtigungen, die Riehl hier anzubringen ge-
wusst hat?! —
Auf Einzelheiten hier noch weiter einzugehen, erübrigt sich
gerade in den „Kant-Studien", wo Windelband längst dargelegt hat,
was uns „Kuno Fischer und sein Kant" sein kann. Anstatt hier
1) Im Vorwort zur Festschrift der „Kant-Studien" zum 50. Doktor-
jubiläum Kuno Fischers : „Kuno Fischer und sein Kant". Von Wilhelm
Windelband. S. 4.
2) Kant-Studien Bd. H, S. 8.
Rezensionen (Störring). 501
Einzelheiten der Fischerschen Darstellung ausführlicher zu behandeln,
möchte ich vielmehr dem eigentümlichen Charakter der von Arnold Rüge
besorgten Neuauflage noch einige Worte widmen. Wie es überhaupt der
Plan des Verlags mit Recht ist, „das Werk Kuno Fischers als künstlerisches
Ganzes zu erhalten", so ist auch an dem Grundplan von Kuno Fischers
„Kant- nichts geändert. Sachlich notwendige Änderungen und begründete
Ergänzungen im Einzelnen sind freilich angebracht. Ein wertvolles Re-
gister für beide Bände ist dem zweiten Bande beigefügt. Was aber
dieser Neuauflage zu einem ganz besonderen Vorzug gereicht, das ist eine
eingehendere Berücksichtigung der Litteratur, auch der neuesten. Dadurch
charakterisiert sich das Werk in der Tat als Neuauflage und stellt keinen
blossen Abdruck der vorhergehenden dar. Ich freue mich um so mehr,
als ich der Ausgabe des Schopenhauer-Bandes hinsichtlich der Litteratur-
Auswahl und -Beurteilung keineswegs restlos zustimmen konnte, hier fast
in allen Stücken der nicht leichten Herausgeberarbeit Arnold Ruges meine
Anerkennung aussprechen zu können. Dass für die Neuauflage die Aka-
demie-Ausgabe mitherangezogen und dass besonders Zitate aus der Kr. d.
r. V. sowohl nach dieser, wie nach der Originalausgabe belegt werden,
das wird gewiss allen Lesern willkommen sein.
Kuno Fischers Werk hat, -wie Vaihinger treffend hervorgehoben
hat,i) „Tausenden den Eingang zur Kantischen Philosophie geöffnet".
Und die schriftstellerische Meisterschaft und Künstlerschaft seines Ver-
fassers macht es ja gerade zu der Aufgabe, die Kantische Philosophie dem
Verständnis zu erschliessen, wie bisher kaum ein zweites, geeignet. So
möge es denn auch nach dem Tode seines Urhebers die Wirkung fort-
setzen, die es vor einem halben Jahrhundert begonnen und in diesem
halben Jahrhundert aufs glücklichste entfaltet hat. Möge es abermals
Tausenden ein Führer sein zu den ewigen Geistesschätzen, die das
System Kants in seiner Gesamtheit umschliesst, und möge es, wie bisher,
auch fürder neues Verständnis wecken für Immanuel Kant und seine
Lehre, neue Werbekraft entfalten für seinen Gegenstand und Inhalt kraft
seiner künstlerischen Form, die in der Kant-Litteratur ihresgleichen nicht
gefunden hat bis auf den heutigen Tag.
Halle a. S. BrunoBauch.
Störring, G. Einführung in die Erkenntnistheorie. Eine
Auseinandersetzung mit dem Positivismus und dem erkeuntnistheoretischen
Idealismus. Leipzig, W. Engelmann, 1909. (V u. 330 S.)
Die Einleitung untersucht die Stellung der Erkenntnistheorie in der
Philosophie, insbesondere das Verhältnis zur Logik. Die Erkenntnis-
theorie hat die Voraussetzungen der Einzelwissenschaften begrifflich
zu fixieren und die Frage nach der Gültigkeit zu bearbeiten. „Da die
Logik Urteile behandelt, wie die: Ein Ding hat die und die Eigenschaft,
... ein Vorgang ist abhängig von einem anderen Vorgange u. dgl., so
hat es die Logik offenbar auch mit kategorialen Bestimmungen zu tun.
Es fragt sich nun, ob man der Logik oder der Erkenntnis-
theorie die begriffliche Fixierung dieser Vorstellungsweisen
zuweisen soll. Darauf möchte ich antworten: Die Logik kann sich mit
einer eindeutigen Angabe der bei dem richtigen Denken der Einzel-
wissenschaften gemachten Voraussetzungen begnügen, während die Er-
kenntnistheorie eine möglichst weitgehende begriffliche Fixierung dieser
Voraussetzungen zu geben hat" (S. 16). Indem der Logiker sich solche
Voraussetzungen zum Bewusstsein bringt, bestimmt er der Erkenntnis-
theorie ihre Aufgaben.
Die Lösung erkenntnistheoretischer Probleme setzt die Verwertung
skeptischer Betrachtungsweisen voraus. Die Skepsis ist geeignet, die Be-
deutung erkenntnistheoretischer Bestrebungen ins rechte Licht zu setzen.
St. hebt aus der antiken und modernen Skepsis charakteristische Ge-
1) a. a. O. ebenda.
32*
502 Rezensionen (Störring),
dankengänge heraus (Sextus Empiricus, Kritik der Kausalitäts-, der Sub-
stanz- und der Aussenweltsauffassung durch Hume, St. Mills Lehre vom
Syllogismus). Ref. geht auf diesen vorbereitenden I. Teil des Werkes
nicht ein und wendet sich sofort dem II. systematischen Hauptteile zu.
Auf Grund seiner wichtigen experimentellen Untersuchungen charak-
terisiert St. ein Urteil im psychologischen Sinne als ein Erlebnis, „das
sich mit dem Bewusstsein der Giltigkeit verbindet oder
mit dem ein Etwas gegeben ist, das, ohne ein Bewusstsein
der Gültigkeit zu sein, so beschaffen ist, dass auf Grund
der Frage nach der Gültigkeit im Hinblick auf jenes Er-
lebnis infolge dieses Etwas Bejahung eintritt" (S. 61).
„Unter richtigem Denken verstehen wir aber psychische Vorgänge,
die sich mit dem Be w usstsein absoluter, nicht mehr stei-
ferungsfähiger Sicherheit verbinden oder die, ohne mit
em Bewusstsein dieser Sicherheit verbunden zu sein, so be-
schaffen sind, dass auf Fragestellung nach der Richtig-
keit Bejahung mit dem Bewusstsein absoluter ni cht m ehr
steigerungsfähiger Sicherheit erfolgt, und zwar bei Zer-
legung komplexer Operationen in elementare bei jedem
Schritt" (S. 62). St. bemüht sich, die naheliegenden Einwände gegen
diese Bestimmung des Richtigen, wissenschaftlich Allgemeingültigen zu
entkräften, indem er zeigt, dass man „ohne die Inanspruchnahme
rewisser psychischer Akte als allgem eingültig ohne Veri-
ikation" nicht auskommt (S. 64). „Bei Tatsachenwahrheiten ist denknot-
wendig die Beziehungen zwischen dem unter bestimmtem Gesichtspunkt
betrachteten, unmittelbar gegebenen Tatbestand und der Behauptung einer
bestimmten Beziehung, aber nicht die behaupteten Beziehungen" (S. 68).
Ref. kann sich mit den Bestimmungen des Verf. über Richtigkeit, Denk-
notwendigkeit und Allgemeingültigkeit nicht überall einverstanden er-
klären.
Der „Satz vom unmittelbaren Bewusstsein" wird vom Verf. mit
Rücksicht auf die Fehler der Selbstbeobachtung (cf. Külpe, Ref.) im Sinne
seines Richtigkeitskriteriums modifiziert: „Wir setzen deshalb die in
Erlebnissen mit dem Charakter absoluter, nicht mehr stei-
gerungsfähiger Sicherheit als gedacht erscheinenden Gegen-
stände als wirklich gedacht und zwar mit diesem Charakter
der Sicherheit."
Sehr bedeutungsvoll erscheint das folgende. St. entwickelt einen
„kritischen Rationalismus bezüglich der formalen Wissenschaften ohne
psychologischen Apriorismus". Nehmen wir den Schluss:
p ist grösser als k
k ist grösser als f
also ist p grösser als f.
Der Schlusssatz ist eine synthetische Behauptung gegenüber den ein-
zelnen Prämissen; er ist analytisch freilich in Relation zu dem durch die
Synthese der Prämissen gewonnenen Gesamttatbestande. Auch ausserhalb
des Gebietes der Arithmetik vermag das schliessende Denken synthetische
und apriorische Bestimmungen zu machen.
Auf die erkenntnispsychologischen Untersuchungen über das Denken,
die Verf. — von psychopathologischen Tatbeständen ausgehend — einfügt,
gehe ich nicht ein. Die Denkgesetze (Identitätsprinzip u. s. w.) werden
aus der „Einstellung zum Denken" psychologisch abgeleitet, unter Voraus-
setzung der Gültigkeit des Kausalgesetzes für das psychologische Leben.
Natürlich lässt sich die Richtigkeit der Denkgesetze nicht auf eine
kausale Betrachtung des Denkgeschehens — die jene ja voraussetzt —
gründen.
Da die Denkgesetze zu der Denkmaterie nichts Neues hinzutragen,
"braucht man sich nicht zu wundern, dass die Denkgesetze auch für etwaige
unabhängig vom Denken existierende Objekte gelten.
Rezensionen (Stöning). 503
Das Problem der Existenz einer transscendenten Aussen weit wird
im Anschluss an eine Kritik des erkenntnistbeoretischen Positivismus und
Idealismus behandelt. Gegen das Argument: das Denken einer Aussen-
welt sei das Denken eines seinem Wesen nach Nicht-Gedanke-Seienden,
also sei es widerspruchsvoll, wird mit Recht eingewandt: „Wenn ich
behaupte, dass ich Dinge der Aussenwelt, ungedachtes Sein,
denke, so meine ich damit nicht ein Sein, welches in diesem
Denkakt nicht gedacht wird; es ist gemeint ein Sein, welches
sehr wohl in diesem Denkakt gedacht wird, welches aber nicht
durch mein Denken ist, nicht bloss gedacht wird" (S. 130). Der
Begriff des ungedachten Seins wird also in doppeltem Sinne gebraucht.
Vom positivistischen Standpunkte hat St. Mill in seiner Theorie
der permanenten Möglichkeiten der Empfindung die beste Ant-
wort auf die Frage gegeben, welches der Gegenstand der Naturwissen-
schaft sei. Laas hat diese Theorie weitergeführt, indem er „den Inbegriff
aller angemessen zu innerer Übereinstimmung reduzierter Wahrnehmbar-
keiten" als ReaHtät bezeichnet. Indessen sind die Wahrnehmungsmöglich-
keiten keine realen Grössen und können deshalb nicht in der Kausalkette
eingefügt werden. Die phänomenale Welt wird nicht vom Kausalgesetz
beherrscht; gilt dieses, so muss es transscendente Grössen geben.
Über Ergänzungen des direkt Wahrgenommenen im Sinne des Kau-
salzusammenhanges meint Rickert kritisch: „Sie werden nur dann ihren
Zweck erfüllen, wenn sie räumlicher oder jedenfalls zeitlicher Natur sind
und dadurch ihren immanenten Charakter dokumentieren. Ein transscen-
dentes Sein würde sich zur Ausfüllung dieser Lücken sehr schlecht eignen."
„Darauf ist zu antworten: die Lücken in der Wahrnehmung veranlassen
mich nicht dazu, diese Lücken mit Gliedern einer transscendenten Welt
in solcher Weise auszufüllen, dass in der Kausalkette friedlich neben
Gliedern der immanenten Welt die eingefügten Glieder der transscendenten
Welt zu stehen kommen. Diese Lücken veranlassen uns vielmehr, um die
Änderungen der Wahrnehmungsinhalte kausal zu begreifen, einen Kausal-
konnex zwischen transscendenten Grössen anzusetzen, dem-
gegenüber unsere Wahrnehmungsinhalte in einer Nebenleitung
entstehen . . ." (S. 150).
Der erkenntnistheoretische Realismus ist durch die Gültigkeit des
Kausalgesetzes gefordert. Letztere aber lässt sich nicht beweisen; be-
weisen lässt sich bezüglich der Kausalbeziehung erkenntnistheoretisch,
dass sich ohne Annahme derselben keine Wissenschaft treiben lässt.
„Ich beantworte . . .die Frage der Gültigkeit ... so, dass ich
nachzuweisen suche, in welcher Verkettung diese Voraussetzungen stehen,
welches dasSystem derselben ist, und dass ich die erkennt-
nistheoretische Dignität der einzelnen Glieder dieses
Systems zu bestimmen suche" (S. 153). Die eingehende Behand-
lung solcher Dignitätsfragen ist für St. besonders charakteristisch. Be-
züglich der Gültigkeitsfrage darf man von der Erkenntnistheorie nicht
Unmögliches verlangen. —
Der Positivismus überschreitet das Gegebene, indem er fremde Ich«
anerkennt.
„Erkenntnistheoretisch spreche ich vom Ich im
Sinne der Gesamtheit der Erlebnisse des denkenden
etc. Individuums" (S. 167). „In dem „gegenwärtigen Ich" sind . . .
zu unterscheiden die etwa jetzt gedachten Gegenstände von Ur-
teilsprozessen, die dadurch als existierend anzusetzen sind, und
solche Erlebnisse, die jetzt sich abspielen, ohne jetzt Gegenstand des
Denkens zu sein, . . . die also erst in einem späteren Moment zum Gegen-
stand unseres Denkens gemacht werden können und damit in diesem
früheren Moment gewesen seiend hypothetisch . . . angesetzt werden
können. So könnnte man von einer Transscendenz eines Teils
des gegenwärtigen Ichs im Gegensatz zu einem an-
504 Rezensionen (Störring).
deren Teil desselben sprechen. — Die vergangenen Ichphasen sind
in gleichem Sinne transscendent" (S. 169).
Es folgt eine eingehende Polemik gegen den erkenntnistheoretischen
Idealismus Windelbands und Rickerts. „W. und R. betonen ausser-
ordentlich den Gegensatz zwischen Psychologie einer-
seits und Logik und Erkenntnistheorie andererseits.
Sie haben aber das eigentümliche Missgeschick ge-
habt, dass sie als G r u n d 1 a ge n ihr e r 1 o gis c h- er k e n n t-
nistheoretischen Bestimmungen eine psychologische
Feststellung verwerten. Auf; dieser Bestimmung, dass es sich
beim Urteilen um ein Billigen oder Missbilligen handelt, ruht aber ihre
ganze Erkenntnistheorie. Dazu kommt noch, dass diese psychologischen
Bestimmungen falsch sind" (S. 179), was St. aus seinen experimentellen
Untersuchungen ersieht. Auch erlebt man den Denkzwang im Urteil nicht
als ein Sollen (Rickert).
Nunmehr setzt sich St. mit verwandten Standpunkten auseinander
(Helmholtz, Wundt, Riehl, Volkelt, Külpe).
Gegenüber den Annahmen von mehrdimensionalen Räumen sagt St.:
„W as wir denken, ist nicht der Raum von n Dimensionen,
wir denken vielmehr die bezeichnete Grössenfnnktlon, d i e
betreffenden analytischen Beziehungen" (S. 219). „Der
Raum ist eine s t e ti ge Gr öss e , i n d e r d as u nz e r 1 e g b a r e
Einzelne durch drei unabhängige Variable eindeutig
bestimmt ist, deren Dimensionen vertauschbar sind,
und welche als unendlich gedacht wird" (S. 220). Durch
diese eindeutige begriffliche Charakterisierung (Grössenbegriff vom Raum)
könnte indessen niemand, der keinen Raum angeschaut hat, eine volle
Orientierung darüber gewinnen, was wir unter Raum verstehen,
Durch Kants Argumente ist nicht bewiesen, dass unser Raum nicht
transscendent real ist. Bei Änderungen des Raumfaktors treten im kau-
salen Geschehen Änderungen der Wahmehmungsinhalte auf. „Deshalb
muss dem Raumfaktor mindestens etwas Reales trans-
scendent entsprechen" (S. 232). Nicht der Raum, wie er sich der
Anschauung darbietet, wohl aber ein Analogon dazu, das dem Grössen-
begriff vom Raum entspricht, muss transscendente Geltung haben.
Die psychologische Entwickelung der Zeitvorstellung ist noch nicht
genügend geklärt. „Von entscheidender Bedeutung ist...
in der Frage der transscendenten Realität der Zeit . . .
die Tatsache, dass die Real Wissenschaften mit dem
Zeitfaktor operieren müssen, um eine Kausal-Ver-
knüpfung der Tatbestände zustande zu bringen" (S. 250)
Kommen wir nun mit einem transscendenten Analogon der Zeit (ent-
sprechend dem Grössenbegriff des Raumes) aus? St. beruft sich auf einen
Gedankengang Lotzes, der dazu führt, die Zeit selbst als transscendent
real zu setzen.
Beim Kausalproblem wird zunächst wieder die Psychogenese unter-
sucht. Die begriffliche Formulierung des Kausalproblems lautet: „Alles
Geschehen steht als real Bedingtes in einer kon-
stanten Beziehung zu einem realen B edin gun gs k o m -
plex, welcher die notwendigen und hinreichenden
realen Bedingungen desselben darstellt" (S. 264). Die
Versuche, das Kausalprinzip auf die Annahme zu reduzieren, dass ein
wirkliches Entstehen und Vergehen unmöglich sei, werden zurückge-
wiesen.
„Das Auftreten des Zeitfaktorsbeim kausalen Ge-
schehen ist also auch bei Gleichzeitigkeit von Ur-
sache undWirkung durch das Tr ägh ei tsge s e tz garan-
tiert. Man hat also kein Recht, aufGund der Tatsache
Rezensionen (Störring). 505
des zeitlichenVerlaufs zwischen Ursache undWirkung
ein Zeitdifferential einzuschieben" (S. 271).
Der alte Satz: cessante causa cessat effectus ist jedenfalls im Ge-
biete des mechanischen Geschehens durch Galileis Trägrheitsprinzip ge-
stürzt (was freilich noch sehr von der Auffassung der Wirkung abhängt;
die Mechanik fasst diese zunächst als Beschleunigung, und letztere hört
mit der Ursache auf. Ref.)
Über die Frage nach der räumlichen Beziehung von Ursache und
Wirkung müssen die Tatsachen in Zukunft entscheiden.
Die alte Annahme einer Identität von Ursache und Wirkung kann
durch Berufung auf das Energieprinzip nicht gesichert werden. Ref. will
die folgende sehr berechtigte Bemerkung des Verf.s nicht unterdrücken;
„Sodann ist hervorzuheben, dass man in letzter Zeit die Bedeutung des
Energieprinzips für das Naturgescbehen überschätzt hat, man muss
im Auge behalten, dass der Energiesatz das Geschehen in der Natur
nicht in eindeutiger Weise bestimmt" (S. 274).
Das Kausalprinzip ist eine unbeweisbare, axiomatische Voraussetzung
der Einzelwissenschaften, welche in der Erfahrung die vorzüglichste Veri-
Kants Resultat, dass die arithmetischen Urteile synthetisch und
apriorisch seien, wird von St. anerkannt. Er kann sich hier auf seine
kritisch-rationalistische Auffassung zurückbeziehen. Anders liegen die
Dinge in der Geometrie. „Ein Axiom wie das Parallelenaxiom bedarf der
Verifikation gerade so gut wie die Newton sehen leges. Und es
erhält sie in ähnlicher Weise. Die Grundlagen der Geometrie sind also
jedenfalls z. T. hypothetischer Natur" (S. 319).
„Der synthetische Charakter der geometrischen Lehrsätze steht . . .
nicht in Gegensatz zu ihrer deduktiven Gewinnung ...In der räum-
lichen Anschauung ist... eine Synthesis der behaup-
teten Beziehungen gegeben und deshalb ist sie ein
wesentlich produktiver Faktor" (S. 327, 328).
Ref. führt noch einige Sätze aus dem Schlusswort des Verf. über
die Beziehungen von Psychologie und Erkenntnistheorie an. „Nach
unseren Entwickelungen scheint es vielleicht so, dass die Bedeutung der
Psychologie für die Erkenntnistheorie eine sehr geringe ist. Man unter-
schätze aber nicht die heuristische Bedeutung psychologischer Be-
trachtungen für die Erkenntnistheorie. Heuristische Bedeutung haben
psychogenetische Entwickelungen für die begriffliche Charakterisierung
der erkenntnistheoretisch zu behandelnden Voraussetzungen, . . . aber auch
sodann für die Behandlung der Frage nach der Gültigkeit der Voraus-
setzungen. Femer haben psychologische Entwickelungen eine pädago-
gische Bedeutung bei der Darstellung der Erkenntnistheorie. . . . Zu-
letzt kommt die Psychologie als eins der Gebiete in Betracht, auf denen
erkenntnistheoretisch zu behandelnde Voraussetzungen eine Verifikation
erfahren . . ." (S. 330). ^
Wir haben eine gründliche und sorgfältige Arbeit vor uns. Hervor-
ragend in ihrer knappen Klarheit ist zumeist die Kritik, die der Verf.
mit Vorliebe als Basis positiver Aufstellungen benutzt. Es kann freilich
nicht ausbleiben, dass die Kritik gelegentlich fehlgeht, wie mir scheint
z. B. bei Behandlung der Helmholtzschen Grundlegung der arithmetischen
Operationen, deren Tendenz St. wohl verkennt. Ref. freut sich in vielen
Fragen mit dem Verf. sich in weitgehender Übereinstimmung zu wissen,
so z. B. inbezug auf das Aussenwelt-, das Raum-, z. T. auch das Zeit-
problem, über die ich mich in den „Philosophischen Voraussetzungen der
exakten Naturwissenschaften" (Leipzig 2907) ausgesprochen habe. Aber
auch an den Stellen des vorliegenden Werkes, bei denen ich widersprechen
würde, glaube ich doch vielfach Wertvolles zu finden.
Als Einführung im pädagogischen Sinne erscheint das Buch vielleicht
zu schwierig. Leider sind zahlreiche und z. T. recht sinnstörende Druck-
506 Rezensionen (Volkmann),
fehler stehen geblieben, sodass man eine Beseitigung dieses Fehlers eines
wertvollen Werkes durch ein nachzulieferndes Druckfehlerverzeichnis an-
regen möchte.
Münster i. W. ErichBecher.
Yolkmann, Paul. Erkenntnistheoretische Grundzüge
der Naturwissenschaften und ihre Beziehungen zum
Geistesleben der Gegenwart. AUgemeinwissenschaftUche Vor-
träge. 2. vollständig umgearbeitete und erweiterte Auflage. (Wissen-
schaft und Hypothese, Bd. IX.) B. G. Teubner, Leipzig und Berlin, 1910.
(XXIII u. 454 S )
Verf. reiht in seltsamer Weise erkenntnistheoretische, methodo-
logische, erkenntnispsychologische, allgemein-philosophische, staatswissen-
schaftliche, pädagogische u, a. Betrachtungen aneinander, um die physika-
lische Methodenlehre für das allgemeine Geistesleben der Gegenwart
fruchtbar zu machen. In bewusstem Gegensatze zu den Versuchen des
Materialismus und des naturwissenschaftlichen Monismus sieht V. die
Kulturaufgabe der Physik wesentlich darin, dass sie als Vorbild dienen
kann, „in der Methode verwickelten Stoffes Meister und Herr zu werden"
(S. X).
Nach V. ist die Erkenntnistheorie eine Erfahrungswissenschaft, wie
jede Wissenschaft. Sie entnimmt ihren Stoff im wesentlichen der Ent-
wickelungsgeschichte des wissenschaftlichen Erkennens. Demnach beginnt
der Verf. mit einem Rückblick auf die Entwickeln ng der Physik seit
Newton.
Als Grundtatsache haben wir anzuerkennen, „dass die Er-
forschung eines Objektes gar nicht losgelöst werden
kann von dem Subjekt, welches forscht, so sehr der
eigentliche Gegenstand der Forschung ein Objekt ist"
(S. 26). Unser Geist ist nicht „ein a priori gegebenes Starres" (S. 37),
sondern ein Anpassungsfähiges (Mach). V. illustriert den Prozess der
Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt bei der naturwissenschaft-
lichen Begriffsbildung, indem er „das Bild des oszillierenden Denk-
prozesses" (S. 34) einführt.
Die richtige Antwort auf die Frage, „ob wir der Natur oder ob die
Natur uns die Begriffe vorschreibt", liegt in einer Verbindung beider Ge-
sichtspunkte. Immerhin hat die Logik in uns ihren Ursprung in dem ge-
setzmässigen Geschehen der Dinge ausser uns. „Unter der beständigen
Einwirkung eines äusseren Notwendigen entwickelte sich — naturwissen-
schaftlich betrachtet — oder musste sich entwickeln eine innere Not-
wendigkeit des Denkens, welches nichts anderes als ein Abbild der
äusseren Notwendigkeit war" (S. 40). Darin liegt die fundamentale Be-
deutung der Naturvnssenschaft für Logik und Erkenntnistheorie be-
gründet.
Für die Naturwissenschaft bedeutet Kausalität nur Gesetzlichkeit
der Erscheinungen. Übrigens darf die Notwendigkeit des Naturgeschehens
nicht zu einer Notwendigkeit alles Geschehens erweitert werden; die
Freiheit des menschlichen Willens ist nicht auszuschliessen. „Innerhalb
des notwendigen Ablaufs alles Naturgeschehens hat der Begriff Ursache
überhaupt keine Stelle; ihm kann eine Stelle nur für die Auslösungsvor-
gänge angewiesen werden, welche jenen notwendigen Ablauf des Natur-
geschehens einleiteten" (S. 47). Bei Auslösungen wird sowohl die aus-
gelöste Energie, als auch die auslösende Energie als Ursache bezeichnet.
V. geht dann zur Besprechung von Induktion und Deduktion über.
Wir werden nicht erstaunt sein, wenn er als Physiker die Induktion vor
Allem zu würdigen weiss. Für seine Auffassung ist es charakteristisch,
dass er die induktive Logik mit der Erkenntnistheorie identifiziert. Er
schildert die historisch bedeutsamen Induktionen, welche zum Gravitations-
gesetz, zum Energieprinzip und zur elektromagnetischen Lichttheorie
führten.
Rezensionen (Volkmann). 507
Von den gewonnenen Gesichtspunkten aus werden Newtons Axiome
und Postulate betrachtet. Es besteht ein Gegensatz zwischen der Unbe-
stimmtheit und Unsicherheit der deduktiven Einführung der Grundbegriffe
und Grundsätze Newtons und der Bestimmtheit und Sicherheit ihrer de-
duktiven Anwendung und Verwertung. Die Anwendungsfähigkeit bildet
aber für ein physikalisches Begriffssystem den ausschlaggebenden Ge-
sichtspunkt. Immer ist das System als Ganzes zu betrachten und zu be-
werten. „Das physikalische Begriffssystem ist nicht
etwa aufzufassen als ein System, welches nach Art
eines Gebäudes von unten aufgeführt wird, sondern
als ein durch und durch gegenseitiges Bezugssystem,
welches nach Art eines Gewölbes oder eines Brücken-
bogens aufgeführt wird. Ein solches Bezugssystem
fordert, dass ... die mannigfaltigsten Bezugnahmen
auf künftige Resultate bis zu einem gewissen Grade
von vornherein vorweg genommen werden müssen . . .
Die Physik ist kurz ein Begriffssystem mit rück-
wirkender Verfestigung" (S. 113, 114).
Die Newtonschen Grundbegriffe sind Raum, Zeit und Masse. Die
Unterscheidung des absoluten und relativen Raumes, der absoluten und
relativen Zeit hat innere physikalische Gründe, ist nicht als metaphysisch
abzulehnen. Neben den drei Grundbegriffen oder -postulaten stehen die
Verknüpfungspostulate, die Prinzipien der Trägheit, der Actio und der
Reactio. Die Kritik der Newtonschen Grundlagen erscheint V. wenig
treffend, soweit sie nicht durch die neueren Auffassungen über die Aus-
breitung der Kräfte u. s. w. bedingt ist. Das Reaktionsprinzip wird
zweifelhaft und unbestimmt, wenn Actio und Reactio nicht gleichzeitig
auftreten. Die neuesten Auffassungen, die von H. A. Lorentz, Wiehert,
Einstein, Planck und Minkowsky herrühren, werden kurz erwähnt.
„Ich verstehe unter Isolation den induktiven Ver-
such, innerhalb eines zusammengesetzten Erschein-
ungsgebietes ("Wirkungsgebietes) die Elemente aufzuspüren,
welche ihre Teilerscheinung (Wirkung) für sich unab-
hängig von anderen gleichzeitig bestehenden Er-
scheinungselementen (Wirkungselementen) bewahren, und
unter Superposition den deduktiven Versuch, aus den
so aufgefundenen E r s chein u n gs e 1 e m e n t en rückwärts
wieder das zusammengesetzte Er s ch ei n un gs ge b i e t ,
d. h. d i e W i r k 1 i c h k e i t z u erhalten" (S. 156). Als Beispiele für
die Anwendung dieses überaus wichtigen Denkmittel dienen das Studium
der Endtemperatur in der Nähe der Erdoberfläche und der Satz vom
Kräfteparallelogramm.
Ref. muss wichtige Kapitel des Buches übergehen, um die von V.
hervorgehobenen Beziehungen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis-
theorie zum Geistesleben der Gegenwart zu erwähnen. „Keine „unfertige"
Weltanschauung — Methoden- und Erkenntnislehre, das geeignete und
angemessene Mittel natui-wissenschaftlicher Betätigung an philosophischer
Mitarbeit und damit als Förderung des Geisteslebens der Gegenwart!"
(S. 244). V. billigt in weitem Umfange das Bestreben Mills und Buckles,
naturwissenschaftliche Methodik für die sozialen bezw. historischen Dis-
ziplinen fruchtbar zu machen. Buckles Anwendung der Methode der
Isolation und Superposition wird der Kritik von Lexis gegenüber verteidigt.
Allenthalben, in Wissenschaft und Kunst, in Staat und Kirche, im Bildungs-
wesen sieht V. in Isolation und Superposition die Mittel zur Orientierung
und zum Begreifen.
Auf die Reflexionen des Verf. über die grossen pädagogischen
Etagen, welche auf dem Gebiete des höheren und Hochschulwesens gegen-
wärtig diskutiert werden, kann Ref. nicht eingehen. Verf. bespricht (um
mich seines gegen Ladenburgs Kasseler Vortrag gerichteten Ausdrucks zu
508 Rezensionen (Wundt).
bedienen) Alles und noch Einiges mehr. Er fügt Darlegungen von Wend-
land-Göttingen ein, die über die Aufgabe der klassischen Philologie der
Gegenwart und über die Geschichte der Bildungsideale im Altertum, in
der Renaissance und im Humanismus handeln.
Als Anhang werden „Weitere Beiträge zur erkenntnistheoretischen
Würdigung des Systems der Newtonschen Mechanik" geboten. Die
Hertzsche Kritik der Newtonschen Grundlagen wird in eingehender Anti-
kritik zurückgewiesen.
Münster i. W. ErichBecher.
Wandt, W. Einleitung in die Philosophie. 5. Aufl.
Leipzig, Engelmann, 1909. (XVIII u. 471 S.)
Ref. würde wohl Eulen nach Athen tragen, wenn er eingehend über
eine Neuauflage der vorliegenden Einleitung in den Kantstudien berichten
wollte ; er beschränkt sich darauf, ganz kurz den Inhalt auszudeuten. —
Wundt wählt den Weg der geschichtlichen Orientierung. Er will
zeigen, wie die Philosophie und ihre wichtigsten Einzelprobleme ent-
standen sind. Die Schrift „will nur bis zur Schwelle der Philosophie
führen, verzichtet aber darauf, über diese Schwelle zu treten, insoweit
nicht die Folgerungen, die aus dem bisher Erreichten und Erstrebten auf
die Zukunft gezogen werden können, da und dort einen vorausschauenden
Blick gestatten" (IV, V); insbesondere will das Buch zu jener Behand-
lung der Philosophie vorbereiten, die auf den Zusammenhang mit den
positiven Wissenschaften das Hauptgewicht legt.
Zweck der Philosophie ist die Gewinnung einer allgemeinen Welt-
und Lebensanschauung, welche die Forderungen des Verstandes und die
Bedürfnisse des Gemütes befriedigen soll. Sie hat die durch die Einzel-
wissenschaften vermittelten Erkenntnisse zu einem widerspruchslosen
System zu vereinigen und die von der Wissenschaft benutzten allgemeinen
Methoden und Voraussetzungen auf letzte Prinzipien zurückzuführen.
Demnach kann die Philosophie als Ganzes natürlich nicht allein Güter-
oder Wertlehre sein.
Das zweite Kapitel bespricht historisch und sachlich die Klassifika-
tion der Einzelwissenschaften und der Philosophischen Disziplinen. Die
neueren Versuche, die Einteilung der realen Wissenschaften in Natur-
und Geisteswissenschaften umzuändei'n bezw. zu ersetzen, werden in recht
beachtenswerter Weise kritisiert. Die Psychologie gehört als Basis zu
den historisch-soziologischen Disziplinen. Sie kann für diese wohl schon
gegenwärtig mehr leisten, als manche Kritiker zugeben wollen. Jeden-
falls aber erscheint es unberechtigt, aus der Überzeugung, dass die heutige,
in den Anfängen stehende Psychologie für jene Wissenschaften nichts
Wesentliches leisten könne, den Schluss zu ziehen, dass dies immer so
bleiben müsse, dass demnach die Psychologie garnicht die grundlegende
Geisteswissenschaft, sondern eine Naturwissenschaft sei.
Es folgt der Abriss einer allgemeinen Philosophiegeschichte und
schliesslich die Darstellung der historischen Entwickelung der Haupt-
probleme (Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ethik). Über diese Hauptab-
schnitte des Buches kurz zu berichten ist nicht wohl möglich; wir dürfen
nur andeuten, dass W. die historischen Tatsachen vielfach in recht origi-
neller Auffassung und Beleuchtung zeigt. Der Natur der Sache ent-
sprechend kann es sich überall nur um stark vereinfachende Skizzen
handeln; dieser umstand bringt es fernerhin mit sich, dass der Leser an
mancher Stelle die vereinfachenden Linien in anderer Weise ziehen
möchte.
Ein Anhang giebt tabellarische Übersichten zur Geschichte der
Philosophie und zu ihren Hauptrichtungen.
Münster i. W. ErichBecher.
Rezensiouen (Ach— Förster). 509
Ach, Narciss. Über den Willensakt und das Temperament.
Eine experimentelle Untersuchung. Leipzig, Quelle & Meyer, 1910. (32-1 S.)
Schon 1905 hat Ach eine überaus gründliche Arbeit ,,Über die
Willenstätigkeit und das Denken" veröffentlicht. Aus seinen jahrelang
fortgesetzten experimentellen Untersuchungen ist nun das vorliegende
Werk hervorgegangen, welches das frühere an Bedeutung wohl noch über-
trifft. Über die ßewusstseinstatsachen beim Wollen berichtet der „phä-
nomenologische" Teil. Die Bewusstseinselemente, welche die Analyse
feststellt, sind teils anschaulicher Art: Empfindungen (besonders Spannungs-
empfindungen) und deren Reproduktionen, teils Lust- und Unlustgefühle,
teils unanschauliche, die Ach mit den von ihm geprägten Ausdruck „Be-
wusstheiten" bezeichnet, teils endlich nicht näher zu charakterisierende
„Bewusstseinslagen" (im Sinne Marbes). Die Empfindungen und ihre Re-
produktionen machen sich zwar am meisten bemerkbar, und so ist es be-
greiflich, dass die sensualistische Richtung in der Psychologie auch den
Bewusstseinsbestand des Wollens ganz auf diese sozusagen greifbaren
Elemente zurückführen will. Aber die eindringendere Analyse zeigt, dass
sie nicht eigentlich das Charakteristische und Wesentliche des Willens-
aktes ausmachen; auch die Gefühle erscheinen als lange nicht so bedeut-
sam, wie man gemeinhin annimmt. Als eigentlicher Kern des Willens-
erlebnisses stellt sich heraus eine „aktuelle Betätigung", das nicht weiter
analysierbare Erlebnis einer unmittelbaren Aktivität des Ich, das von
der Bewusstheit „Ich will" oder „Ich wiU wirklich" begleitet ist. Damit
ist also das Vorhandensein einer besonderen, nicht etwa auf Empfindungen
und Gefühle reduzierbaren, elementaren Willensqualität anerkannt. Ich
kann diesem Ergebnis auf Grund eigener Beobachtungen nur lebhaft zu-
stimmen. Natürlich liegt diesen Analysen das ausgeprägte Erlebnis des
energischen Entschlusses zu Grunde. Es ist ein weiteres wertvolles Er-
gebnis der Untersuchungen Achs, dass er an der Hand der Angaben seiner
Versuchspersonen gezeigt hat, wie ausserordentlich verschiedenartig der
Bewusstseinsbestand beim Wollen ist. Beim „abgekürzten", beim „schwachen"
und beim „geübten" Wollen tritt eine solche Verflachung der Tatbestände
des eigentlichen Wollens gelegentlich ein, dass von einem wirklichen
Wollen kaum noch die Rede ist. Man wird die Bedeutungen dieser müh-
samen und oft scheinbar in Kleinigkeiten sich verlierenden Untersuchungen
besser würdigen, wenn man z. B. bedenkt, wie vielfach bei der Diskussion
des Freiheitsproljlems die Erörterung fruchtlos bleibt, weil die Streitenden
von verschiedenen Tatbeständen der inneren Erfahrung ausgehen, die sehr
wohl neben einander gelten können.
Neben der „phänomenologischen" wird auch die „dynamische"
Seite des Wollens einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Ach hat
in geistreicher Weise eine Methode erdacht, die ihm ermöglichte, die
Wirkungen des Willensaktes gewissermassen zu messen. Diese Feststel-
lungen zeigen auch deutlich, wie der Bewusstseinsbestand ergänzt werden
muss durch die Annahme eines unbewusst Psychischen.
Auch seine ganze Versuchsanordnung und die Versuchsergebnisse
bei den einzelnen Versuchspersonen hat Ach ausführlich dargestellt, so
dass eine Nachprüfung seiner Resultate im einzelnen möglich ist. Ein
kurzes Schlusskapitel berichtet über Nebenergebnisse der Untersuchungen
hinsichtlich der Gefühle und des Temperaments.
Das überaus gediegene Werk sei allen, die das Verfahren der ex-
perimentellen Psychologie an einem trefflichen Beispiel kennen lernen
wollen, insbesondere aber auch dem Ethiker, Pädagogen und Juristen
empfohlen.
Giessen. A. Messer.
Förster, Fr. W, Autorität und Freiheit. Betrachtungen zum
Kulturproblem der Kirche. Kempten und München 1910. (XVI u. 191 S.)
Fr. W. Försters Buch „Autorität und Freiheit" ist nicht nur durch
den Titel ein Buch der Gegensätze und Extreme. Zwar heisst es: Ex-
510 Rezensionen (Förster).
trerae berühren sich, und im „Berühren", d. h. Annähern und Versöhnen
liegt wohl auch der Zweck dieses Buches, Ob es aber dem Züricher Pä-
dagogen gelungen ist, den uralten Brüderzwist zwischen Autorität und
Freiheit. Glauben und Wissen zu schlichten oder auch nur sich objektiv
zu verhalten und beiden Parteien gerecht zu werden ? Die Tendenz :
Zurück zu Rom !, die das ganze Werk durchzieht, dürfte kaum auch die
Vertreter der Freiheit und Wissenschaft befriedigen. Eben so wenig die
eigentümlich geringschätzige, ja verächtliche Art, mit welcher er von
„Anmassung und Geschwätz des Verstandes", „dünkelhafter Autonomie",
„modernem Aberglauben an die individuelle Vernunft" spricht.
Vor allem gilt es festzustellen, dass es den Vertretern der Autorität
wie der Freiheit um Erkenntnis des Wahren und Guten zu tun ist. Er-
kenntnis ist aber das Geschäft der Vernunft, sollte es wenigstens sein.
Förster jedoch will in Dingen der Religion und Ethik keine Sache der
menschlichen Vernunft sehen, sondern ein Gebiet, auf dem individuelles
Gewissen und individuelle Erfahrung zu schweigen habe. Wer aber soll
dann reden ? Nach seinen Worten nur „Seher", „auserwählte Persönlich-
keiten". — Also doch Menschen! Und , selbst diese „bedurften der Er-
leuchtung, die nur von der erhabensten Übersicht über das Leben kommt".
— Also doch von persönlicher Lebenserfahrung und Selbstbeobachtung!
Was abar will die ethische Wissenschaft anderes? Ein Vordringen des
Verstandes ohne Lebenserfahrung und Selbsterkenntnis, was Förster der
wissenschaftlichen Methode nachsagt, wird von echter Wissenschaft am
wenigsten anerkannt. Auch handelt es sich nicht darum, ob die Be-
gründung und Selbständigmachung der Moral auf wissenschaftlichem Wege
bereits gelungen, sondern ob das Prinzip verwerflich oder die Erreichung
des Zieles auf anderem Weg wahrscheinlicher sei.
Der andere Weg, das andere Extrem ist die Autorität, die Kirche.
Wieder einmal sehen wir das glänzende Bild sich er trollen, das der sich
malt, der vom Vielerlei, vom Ünsichern der Moderne niedergeschlagen,
staunend zu ihrer Einheit aufblickt. Man vergisst in der Ermüdung zu
leicht, dass dem Menschen, der das „Stirb und Werde" des Denkens
durchlebt, solch eine Einheit, die im Grunde Einförmigkeit ist, auf die
Dauer keine Lösung des Problems mehr bedeuten kann. Man vergisst,
dass diese „Einheit" langsam beginnt, von der Stelle eines höchsten Ideals
zu rücken. Einheit und Gleichheit für Alle! Aber doch nur für Gleiche ?
Sind wir denn gleich? Wieder, wie bei seinen Bemerkungen über Un-
entbehrlichkeit der Empirie, müssen wir Försters Aufstellungen für die
Seite der Freiheit in Anspruch nehmen, für die sie nicht gemünzt waren:
„Eine faustische Natur hat eine unvergleichlich innigere, persönlichere
Berührung mit den Realitäten des Leoens ... als etwa der Famulus
Wagner." Und doch für Beide gleiche Wege, gleiche Autorität?!
Wäre es da nicht ehrlicher, mit Nietzsche zu sagen: „den Weg — den
giebt es nicht?" Gerade der Pädagoge muss sich immer wieder bewusst
werden, dass es so viel Wege giebt, als Seelen nach dem Wahren und
Guten suchen. Dass sie aber alle nach dem Richtigen suchen, dass sie
alle ein Ziel haben, sollte dies nicht genügend Einheit geben, genügend
Schutz vor „Auflösung der Moral?"
Allerdings nicht immer Schutz vor Auflösung solcher Begriffe, die
bis dahin für moralisch gegolten haben, vergeistigterer Auffassung aber
nicht mehr genügen. Freilich, wo Kirche und Christentum, moralisch
und katholisch wahllos für einander gesetzt wird, wie in Försters Buch,
da besteht die Gefahr, beides auch wahllos mit einander zu verwerfen.
Gewiss ist es schwer, bei Läuterung der Moral nicht auf Irrwege zu
kommen, aber war die Autorität immer auf dem geraden Wege? Hören
wir Försters eigene Entscheidung: es ist eine „einfache Tatsache, dass
Lebenswahrheiten nur durch Lebenserfahrungen entdeckt werden können".
Aber ist das nicht der Weg der Autonomie?
Rezensionen (Leclfere). 511
Erst am Schluss des Buches, im dritten Kapitel, erfahren wir, dass
die Sonne der kirchlichen Autorität auch Flecken aufzuweisen hat. Bis
dahin hat Förster auf der Seite der Autorität nur das Ideal, auf der Seite
der Freiheit nur die unvollkommene Wirklichkeit gezeichnet. In diesem
letzten Kapitel geht er mit weitem Blick und grosser Mässigung auf
Schäden ein, die Intoleranz, Verleumdungssucht und zu straff gespannte
Autorität in der Kirche hervorgebracht. Hier, in einem mehr praktischen
Gebiet, tritt die Menschenkenntnis, die reiche innere und äussere Beob-
achtungsgabe des Pädagogen und Seelenführers glänzend zu Tage. Und
dass er die brüderliche und verstehende Liebe wieder mehr im kirchlichen
Mittelpunkt zu sehen wünscht, wer möchte dies nicht angesichts der
jüngsten Ereignisse ebenso freudig bejahen ?
Ob es Förster durch sein Buch gelungen ist, auch nur einen Ver-
treter der Wissenschaft und Freiheit zur Autorität zu bekehren? Wohl
zur erneuten Überzeugung, dass es nicht gilt, an Geheimnissen vorüber
zu gehen und an Gassenwahrheiten stehen zu bleiben. Nein, nicht stehen
bleiben ! Nicht Andere für uns suchen lassen ! Mögen alle Wissenschaften
und Berufe sich spezialisieren : wo es sich um das Allgemeinste, Wichtigste
des Menschenwesens und der Menschenwürde handelt, da muss jeder Ein-
zelne versuchen, der Wahrheit tief und ehrfürchtig ins Auge zu sehen.
Und darin soll uns Kant ein Vorbild bleiben trotz Försters „Kritik der
individuellen Vernunft."
Giessen. P. Messer-Platz.
Ledere, Albert. L'Education morale rationelle. Ouvrage
prdc^de d'une Preface de M. Luigi Luzzatti. Paris. Hachette. 19ü9.
(XII u. 291 S.)
Nicht der uninteressanteste Teil des wertvollen Buches des Berner
Professors Leclfere ist das kurze Vorwort des dem Verfasser augenschein-
lich befreundeten italienischen Ministerpräsidenten Luzzatti. Mit Recht
bemerkt dieser von dem vorliegenden Werke, dass es ein wertvoller Bei-
trag zum Studium einer Wissenschaft von allererster Wichtigkeit sei, der
Wissenschaft, die die Mittel und Werkzeuge darlegt, um die Menschen
insgesamt zu einem innerlicheren, vertiefteren, geistigen Leben zu führen.
— Den moralisch gesunden Individuen — so führt der Verfasser aus —
kommt es zu, die moralische Gesundheit der Mitmenschen aufrecht zu
erhalten, zu vermehren und wieder herzustellen, und so ist die erste Be-
dingung für das allgemeine Wohl die Festsetzung einer guten Moral-
Pädagogik der normalen Menschen. Eine solche aber besteht darin, die
beste erkannte Ethik auf eine mehr und mehr auf streng wissenschaft-
liche Grundfragen zu fundierende Art und Weise zu realisieren. So
kommt denn den philosophisch geschulten Erziehern eine gewaltige Rolle
in der Arbeit am Volkswohle zu. Ihre Aufgabe ist es, sich darauf vor-
zubereiten und die Reformen aus all ihren Kräften zu betreiben, die zur
Vollendung dieses grossen Werkes erforderlich sind. Zu diesem Zwecke
müssen sie selber eine Elite in der Gesellschaft bilden und eine ebensolche
Elite vorbereiten und deshalb unermüdlich die freie Genossenschaft ver-
künden, die hier mehr zu leisten vermag, als der Staat, der die Keime
menschlicher Grösse, anstatt sie zur Entwicklung zu bringen, häufig eher
erstickt und erstarren lässt. Die moderne Familie ebenso wie der moderne
Staat bedürfen solcher freidenkender, ganz von dem Prinzip der Ver-
gesellschaftung erfüllten Pädagogen ; in der Schule verfügen sie über alle
Mittel, die geeignet sind, Jünglinge heranzubilden, die dem Lebenskampfe
gegenüber gewappnet sind, wobei es freilich gilt, mit Stanley Hall die
Notwendigkeit einer vertieften Seelenkunde des Jünglings einzusehen.
Auch in der Armee können sie wahrhafte, brauchbare Bürger heranbilden,
indem sie ihre Gedanken in die Kasernen hineintragen und so den Sol-
daten von den rohen Vergnügungen ablenken. Vor allem aber müssen sie
die Selbsterziehung anregen, den zu Erziehenden lehren, sich selbst nach
seinen Fähigkeiten zu erforschen und den Platz zu erkennen, der ihm in
512 Rezensionen (Stöhr).
der „cit6 de Dieu" zukommt, wo nicht ein jeder durch die Totalität der-
jenigen Eigenschaften sich hervortun kann, die den Menschen ausmachen,
wo aber auch der weniger Begabte sich nach seinen Talenten nützlich
erweisen kann. Die Pädagogen sind demnach die Lehrer im Ideal, das
mehr oder weniger verborgen, eingeengt, gefälscht vielleicht, dennoch in
der Seele eines jeden heranwachsenden Menschen schlummert. So ist
nach Leclfere der vollkommene Pädagoge der vollkommene Ethiker, —
sonst ist er eben noch kein vollkommener Pädagoge. Vor allem aber
ist es notwendig, wie der Verfasser zum Schluss seines Werkes sehr mit
Recht betont, dass die Beiträge zu der Wissenschaft von der Erziehung
in Zukunft weit systematischer als bisher gesammelt und verwertet
werden. Ein permanenter Kongress würde allein hier vollen Nutzen
schaffen können, denn ohne einen solchen wird es der Pädagogik niemals
gelingen, sich in der rechten Weise zu organisieren und dadurch in dem
Masse fruchtbar zu werden, wie es das Wohl der Menschheit erheischt. —
Das Buch Leclferes bedarf keiner weiteren Empfehlung, jeder denkende
Pädagoge wird es mit Nutzen und innerem Gewinne lesen.
Charlottenburg, Artur Buchenau.
Stöhr, Adolf, Professor an der Universität Wien. Der Begriff
des Lebens. (Band 2 der Synthesis, Sammlung historischer Monogra-
phien philosophischer Begriffe.) Heidelberg, Karl Winters Universitäts-
buchhandlung, 1910. (356 'S.)
Der Verfasser legt seinem Werke den naturwissenschaftlichen
Begriff des Lebens zu Grunde und versucht, die Entwickelung dieses Be-
griffes und seiner Merkmale darzulegen. Er behandelt sein Thema als
Grenzgebiet der Naturwissenschaft und der Philosophie und verfolgt den
berechtigten und durchaus zeitgemässen Gedanken einer Annäherung der
Philosophen und der Naturforscher. Bei der Behandlung des allgemeinen
Begriffs des Lebens tritt die philosophische und geschichtliche Seite, bei
der Behandlung seiner einzelnen Merkmale, deren Sonderung ja erst der
neuesten Zeit angehört, notwendigerweise die naturwissenschaftliche und
systematische Seite mehr in den \ordergrund. Der Verfasser rechtfertigt
dies selbst sehr treffend mit den Worten: „Es giebt kein Altertum, kein
Mittelalter und keine Neuzeit in der Geschichte dieses Begriffs, sondern
die antiken Begriffe stagnieren in die Neuzeit hinein, um dann gänzlich
neuen Begriffsbildungen Platz zu machen" (S. 41). Unter den Merkmalen
des Begriffs behandelt der Verfasser in getrennten Abschnitten die Be-
deutung des Bewusstseins im Lebensbegriff, die Urzeugung, die Assimi-
lation (mit Wachstum, Selbstteilung und Vererbung), das Geformtwerden
und die Selbstformung, den Chemismus, die Anpassung, die Selbstbeweg-
lichkeit und Selbstregulierung, die Symbiose, die Zweckwnässigkeit und
die Vitalismusfragen.
Bei alledem steht er auf dem korrekten Standpunkt des Natur-
forschers, der den Erfolg in der stets weiter dringenden Analyse der
Lebenserscheinungen suclit und von vorzeitigen Schlussfolgerungen sich
fern hält. Der Verfasser selbst geht weit in der naturwissenschaftlichen
Analyse der einzelnen Lebenserscheinungen und verfolgt sie bis in die
äussersten Elemente unter Ausnutzung der neuesten Forschungsergebnisse.
Er gelangt dadurch mit Recht zu einer streng mechanistischen Auffassung
der Lebensvorgänge und zur Ablehnung der vitalistischen Bestrebungen.
Oft geht er sehr weit in die elementarsten Bedingungen ein und widmet
ihnen in systematischen Darlegungen einen grossen Teil seiner Ausführ-
ungen. Das scheint dem historischen Charakter der in jener „Sammlung"
beabsichtigten Monographien zwar zu widersprechen, aber der Verfasser
bedarf jener systematischen Ausführungen und benutzt sie, um die Be-
griffe durch und durch klar zu .stellen, und ermangelt nicht, von den ge-
wonnenen Gesichtspunkten aus die Geschichte der Begriffe überall ein-
gehend und mit grosser Schärfe zu beleuchten und darüber hinaus auch
zu zeigen, warum die geschichtliche Entwickelung kaum eine andere sein
Rezensionen (Pichler), 513
konnte, als sie gewesen ist. Besonders in die aristotelischen Vorstellungen
bringt er auf diese Weise ein helles Licht, welches den grossen Philo-
sophen auch bei seinen naturwissenschaftlichen Fehlwegen in grosszügiger
Weise rechtfertigt. Das ganze Werk ist durchdrungen von eingehender
und scharfer Begriffskritik und stellt in seiner Gesamtheit eine er-
frischende Erscheinung niodernen uaturphilosophischen Denkens vor.
Berlin. Berthold Kern.
Pichler, Han<^. Über die Erkennbarkeit der Gegenstände.
Wien und Leipzig, Wilhelm Braumüller, 1909. (105 S.)
Derselbe. Über Christian Wolffs Ontologie, Leipzig, Dürr-
sche Buchhandlung, 1910. (91 S.)
Mehr und mehr kommen auch die überzeugtesten Anhänger und
Verfechter des Kritizismus zu der Erkenntnis, dass es neben dem Grossen
und Bleibenden, das Kants Lehre gezeitigt hat, in dieser auch manche
wichtige Kapitel giebt, wo die Kantsche Auffassung eine Berichtigung
und Um- oder Fortbildung braucht, um auf die Rätselfragen einer ewigen
Sphinx, wie man die Sehnsucht nach der Wahrheit wohl nennen darf, eine
befriedigende Antwort bieten zu können. Zu solcher Einsicht ist auch
Hans Pichler gelangt, der sich in den beiden hier angezeigten Schriften
namentlich mit Kants Logik, unstreitig dem schwächsten Teile der „Kritik",
auseinandersetzt, wobei häufig auch andere grundlegende Gedankengänge
der kritizistischen Erkenntnistheorie scharfsinnig auf iliren Ursprung und
ihren Goldgehalt untersucht werden.
In der Schrift „Über die Erkennbarkeit der Gegenstände" inter-
pretiert Pichler Kants Forderung, dass die Erkenntnis mit ihrem Gegen-
stande übereinstimmen müsse, in der Weise, dass er den Ton auf „ihrem"
legt. „Es handelt sich darum," führt der Verfasser aus, indem er Kant
selbst sprechen lässt, „bestimmen zu können, ob eine Erkenntnis gerade
mit demjenigen Objekte, worauf es bezogen wird, und nicht mit irgend
einem Objekte überhaupt — womit eigentlich gar nichts gesagt wäre —
übereinstimme" (S. 49). Mit Trendelenburg und Ueberweg ist Pichler
der Meinung, die Erkenntnis der Dinge sei von einer Seite aus auch
durch den Gegenstand bedingt, einen Standpunkt, den er unter sou-
veräner Beherrschung der Materie mit Glück verteidigt, um dann die
Haltlosigkeit der sogenannten „formalen Logik" zu beleuchten. Indem er
Itelsons (Gregorius Itelson, „Reform der Logik", Vortrag für den Kon-
gress für Philosophie in Genf) Definition der Logik als „Lehre von den
Gegenständen überhaupt" acceptiert, geht er auf Aristoteles zurück und
nähert sich Christian Wolff, dessen „Ontologie" Pichler der unver-
dienten Vergessenheit zu entreissen sucht. Pichler erinnert daran, dass
Aristoteles mit tiefem Verständnis in der ovai« das Wesen (die Gattung)
der Erkenntnisobjekte erblickt, dass nach der Theorie des grossen grie-
chischen Philosophen Seinsgrund und Erkenntnisgrund, wo irgend möglich,
zusammenfallen sollen; von hier aus gewinnt Pichler die Einsicht, dass
den logischen Gesetzen eine anschauliche Notwendigkeit innewohnt,
um im kunstvollen geschlossenen Aufbau zu dem Ergebnis zu gelangen,
dass die konstitutiven Bedingungen für die Erkennbarkeit der Gegenstände
in der Formulierung dessen Liegen, was wir Systeme nennen. Unter
einem System versteht Pichler eine universitas ordinata, die „als Mannig-
faltigkeit von Gegenständen nach ihrem Sosein durch individualisierende
Gesetze der Nachbarschaft im Sosein bestimmt ist" (S. 67). Da es, um
ein System von Gegenständen erkennend zu beherrschen, nur des Wissens
des dem System zu Grunde liegenden Bildungsprinzips bedarf, so muss
man dem Verfasser darin beipflichten, dass im System hinsichtlich eines
vollkommenen Erkennens erkenntnistheoretisch der günstigste Fall ge-
geben ist. „Systeme lassen bei einem Minimum von vorgegebener Kennt-
nis über sie ein Maximum möglicher Erkenntnis zu", resümiert Pichler
(S. 76), woraus er schliesst : „In der Eignung von Systemen, in der Mannig-
faltigkeit ihrer Elemente eigentümliche gesetzliche Gebilde erfassen zu
514 Rezensionen (Pichler).
lassen, dürfte die wesentliche Bedingung zu einer ihnen eigentümlichen
gegenstandstheoretischen Wissenschaft genereller Gesetze liegen" (S. 78).
Dass es in der Tat die Anschauung ist, auf der die logischen Sätze
im letzten Grunde beruhen, darüber hofft der Referent sich in einer
eigenen Arbeit über die Logik zu verbreiten; hier genügt es umsomehr,
auf die Bedeutung der gehaltvollen Pichlerschen Arbeit kurz hinge-
w^iesen zu haben, als der Referent bereits in einer Besprechung der
Schrift für die „Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philo-
sophie" eine Analyse der wesentlichen Bestandteile von Pichlers
Theorie gegeben hat.
„Über Christian Wolffs Ontologie", die zweite der hier
angezeigten Novitäten, unternimmt es, die für die heutige Erkenntnis-
theorie noch wertvollen Einsichten Wolffs herauszuheben und kritisch zu
beleuchten. Der Verfasser zeigt, auf gründliche Quellenstudien gestützt,
dass es die Ontologie missverstehen heisst, wenn man sie, wie es gewöhn-
lich geschieht, als „Wissenschaft vom Seienden" definiert; Ontologie ist
Pichler die „W issenschaft von den Gegenständen über-
haupt" und ihr Wert liegt ihm vor allem darin, dass „sie es offenbar
macht, dass das Dasein nicht zu den wesentlichen Eigenschaften der
Gegenstände gehört" (S. 5). Da Wolffs Darstellung der Pichlerschen
Denkart eng verwandt ist, war gerade Pichler vorzüglich geeignet, in
zahlreiche dunkle Stellen der Ontologie Licht zu bringen. Er versucht
dies mit Glück in Bezug auf die Wolff sehe ratio sufficiens, die Schopen-
hauer für den „Erkenntnisgrund" gehalten hat, ein Irrtum, der insofern
folgenschwer wurde, als sich seitdem die Ansicht gebildet und erhalten
hat, Wolff stellte ratio und causa einander als Gegensätze gegenüber,
jene als Erkenntnisgrund, diese als Seinsgrund, wohingegen Wolff unter
causa das Ding versteht, das eine ratio, d. h. den Grund überhaupt,
enthält. Wir haben es hier also mit einer ähnlichen Auffassung zu tun,
wie wir sie bei Spinoza antreffen ; auch er gründet, zum Teil von Ein-
flüssen der Scholastik beeinflusst, die Kausalität auf die essentia und
existentia der Modi, woraus sich ihm die causa immenens und die causa
efficiens ergiebt. Die Wolff sehen Sätze über die ratio und causa
zeugen von einem nicht genug gewürdigten Tiefblick, und man wird,
wenn man zum Vergleiche Kants Behandlung derselben Materie heran-
zieht, nicht umhin können, Pichler in dem Urteil beizupflichten, „dass die
Entwicklung des Substanz- und Kausalitätsbegriffs bei Kant äusserst
dürftig ist, dass die beiden Kategorien beziehungslos neben einander
stehen und die in ihnen gegenüber H u m e behauptete „„notwendige""
Verknüpfung keinen Inhalt erhält" (S. 75).
Von grosser Bedeutung ist Wolffs Lehre von der „Möglichkeit",
und es ist ein Verdienst seines Interpreten, diesen Abschnitt der Ontologie
durchleuchtet zu haben. Wolff fasst den Satz des Widerspruchs so weit,
dass Widerspruch die Unverträglichkeit überhaupt bezeichnet ;
Möglichkeit ist ihm dann Widerspruchslosigkeit, womit Wolff demnach
nur sagen will, dass Existenz und Gegenständlichkeit zwei miteinander
verträgliche Attribute sind. Kants Polemik gegen Wolff sowie das in
der „Kritik" als Beweis für das Ungenügende aes Widerspruchskriteriums
gegebene berühmte Beispiel von der Figur, die nicht in zwei Graden ein-
geschlossen sein kann, treffen daher nicht das, was Wolff unter Wider-
spruch (= Unverträglichkeit) verstanden wissen will. Denn nach Wolff
liegt nur im Wesen der Gegenstände „die ratio possibilitatis der
Existenz", d. h. die Möglichkeit.
In dem Schlusskapitel „Ontologie und transscendentale Logik" zieht
Pichler eine Parallele zwischen den Hauptsätzen der Kant ischen und
Wolffschen Erkenntnistheorie. Dass vielfach das Urteil zu Ungunsten
Kants ausfällt, ist ohne Zweifel nicht zum geringeren Teile der Schwäche
der Kantischen Position zuzuschreiben (Kategorienlehre, Subjektivität des
kritizistischen Standpunktes. Kritik der Metaphysik u. s. w.); zum andern
Rezensionen (Eucken— Horneffer). 515
Teil ist Pichler aber geneigt, auch das Neue und Wertvolle, das sich
an den Namea Kants knüpft, in die Ontologie hineinzulegen und dadurch
die Originalität der „Kritik" herabzudrücken. Vor allem vermisst man
die Anerkennung dessen, was wohl den Hauptreiz und die bleibende Er-
rungenschaft der „Kritik" ausmacht, nämlich des Kant ureigenen Ge-
dankens von dem Zwingenden, das der Anschauung innewohnt.
Diese als konstitutives Element der Erfahrung aufgezeigt zu haben,
bleibt ein unsterbliches Verdienst Kants, auch wenn man das Apriori an
einen anderen Schnittpunkt verlegt, als es der Königsberger Philosoph
getan hat. Die Wolffsche veritas transscendentalis sowenig wie die
Wolffsche Supponierung der „Gegenstände überhaupt" machen die An-
schauung zum notwendigen, begleitenden Prinzip aller Erkenntnis ;
dass Pichler das Gegenteil glaubt, beweist nur, wie tief dieser Teil
der Kantischen Lehre in seine und unsere Ideenwelt eingedrungen ist:
■«är operieren oft mit ihr, ohne uns dessen bewusst zu sein; wie wir auf
Erden wandeln und dabei wohl der Schwerkraft vergessen, die uns doch
aufrecht hält.
Hamburg. A. Levy.
Eucken, Rudolf. Der Sinn und Wert des Lebens.
2., völlig umgearbeitete Aufl. Leipzig, Quelle & Meyer, 1916. (155 S.)
Eucken hat das Buch, das sehr rasch ins grössere Publikum ge-
drungen ist, der Form nach vollständig umgestaltet — natürlich ist der
Inhalt derselbe geblieben. Die Form aber hat wesentlich gewonnen : alles
ist frischer, bewegter, flüssiger geworden, so dass man oft ein ganz an-
deres Werk vorzuhaben glaubt. So ist denn kein Zweifel, dass die neuen
3000 bald den Weg der ersten 4000 gehen werden, und dass bald eine
.3. Auflage folgen wird. Zu besonderer Zierde dient dem Buche das ge-
lungene Bild des Philosophen.
Über den Inhalt können wir uns bei der Neuauflage wohl kurz
fassen. Nach einer Diskussion der „Antworten der Zeit" auf die Frage
nach dem Sinn des Lebens wendet sich Eucken zum eigenen Aufbau, wo-
bei er von dem Erscheinen eines neuen Lebens im Menschen gegenüber
dem Naturmechanismus ausgeht. Dabei wird eine teleologische Welt-
anschauung entwickelt: die Welt hat Sinn und Ziel, das nur in dem voll-
endeten Durchbrechen des Geistigen durch die Natur zu sehen ist, dem-
nach hat auch das Menschenleben Wert, indem eben der Mensch den
Durchbruchspunkt jener neuen Welt des Geistes darstellt. Wie sehr diese
Grundanschauung zu der allgemeineren Zeittendenz stimmt, weiss jeder
Einsichtige — die Frage nach den Werten und Zielen wird ja von ge-
wisser Seite als das Grundproblem und Spezialgebiet der Philosophie an-
gesehen. Die logischen Begründungen der Euckenschen Wertlehre finden
sich schon in seinen grossen Werken aus den 80er Jahren über die „Ein-
heit des Geisteslebens".
Otto Braun.
Theophrastos, Charakterbilder, Piaton, Verteidigung des Sokrates
und Kriton. Deutsch von A. und E. Horneffer. (Antike Kultur II u. IV).
W. Klinkhardt, Leipzig 1909.
Die Brüder Horneffer, die sich schon seit Jahren um die Einführung
der klassischen Kultur in weitere Kreise bemühen, haben in den zwei
kleinen Bändchen geschickte Übersetzungen geliefert, die sich würdig an
den zuerst erschienenen „Staat" Piatons anschliessen. Kurze Vorworte
und Anmerkungen orientieren den Unkundigen, die Übertragung hält sich
frei von den heute so grassierenden, stilwidrigen Modernisierungen. So
seien denn diese Hefte bestens empfohlen.
Otto Braun.
KaDtstndiea XV. 33
516 Rezensionen (Krieck).
Krieck, Ernst. Persönlichkeit und Kultur. Kritische
Grundlegung der Kultui'philosophie. Carl Winters Universitätsbuchhand-
lung, Heidelberg 1910. (XVI u. 512 S.)
„Der Zweck des vorliegenden Buches ist, mitzuarbeiten an der
grossen kulturellen Aufgabe der Gegenwart, an der Umgestaltung der
nationalen Kultur im Sinne einer Vertiefung und einer Neubelebung des
Idealismus." Damit ist die Grundrichtung des Werkes bezeichnet, das
sich uns als eine gründliche, meist kritisch-negative Arbeit im Dienste
einer idealistischen Philosophie darstellt, die an Hegel vornehmlich an-
knüpft, doch aber wesentlich modern ist. Die Form der Ausführungen
ist manchmal reichlich schwerfällig, manche Partien geben alte, ziemlich
einfache Erkenntnisse in fachtechnischer Sprache wieder und geben ihnen
dadurch ein originelles Ansehen. Ein Beispiel : „Der Rhythmus ist das
Verhältnis der Bewegung zum Selbst, nämlich die Einbildung des Selbst
in jene, wodurch sie zerlegt, angeeignet, begriffen wird" (S. 450). Doch
kann man gern die vom Verf. erbetene Nachsicht mit der Form ihm ge-
währen, da der Inhalt seiner Arbeit wirklich Anspruch auf volle Beachtung
machen kann. Da die positiven Anschauungen aus Kritik erwachsen, die
sich durch alle Teile des Buches hindurchzieht, ist es nicht möglich, in
einem Referat diese eigenen Ansichten des Verfassers vollständig zu ent-
wickeln. Krieck sucht auch nicht vornehmlich Erkenntnis absoluter
Wahrheiten zu erreichen; er will „die eingerosteten Grundformen und
Prinzipe in Fluss bringen". Er will mit seiner Philosophie dem Leben
dienen, wie es unsere grossen deutschen Denker stets gewollt, ich er-
innere nur an Herder. Die „Setzung von Lebenszwecken und Kultui*-
zielen" ist die wichtigste Aufgabe für Krieck. Die Philosophie wächst
heraus aus den Grundlagen des Lebens ; „ihr Zweck ist das zukünftige
Leben der Gemeinschaft, vor allem der Nation und ihrer Krone, der freien
Persönlichkeit".
Als „Lebenskeim der Kultur" erscheint die lebendige, freie Persön-
lichkeit. So wird diese denn im ersten Teil des Werkes behandelt, die
Kultur im zweiten. „Persönlichkeit ist die Wirklichkeit schlechthin, welche
allem anderen seine Wirklichkeit erst ermöglicht, welche Wirklichkeit
eben nur Beziehung auf anderes ist ; sie ist die metaphysische Wurzel des
gesamten Daseins. Persönlichkeit ist über das relative Sein hinaus zu-
gleich Ansichsein und Substanz" (S. 78 f.). Dabei ist sich Krieck voll
bewusst, dass das höchste philosophische Prinzip Ausdruck einer Lebens-
wertung ist (S. 80).
Die Persönlichkeit schafft alle geistige Wirklichkeit, ihre Aufgabe
ist es, das Dasein in den Geist aufzunehmen. Von dieser Grundanschauung
ausgehend, behandelt Krieck im zweiten Teil „Das Allemeine als Begriff:
Wissenschaftslehre," „Das Allgemeine als Motiv : Ethik" und schliesslich
„Das Ideal", seine Bildung in der Religion und seine Verwirklichung in
der Kunst. Damit, dass diese den Gipfel der Pyramide bildet, nähert sich
Krieck dem Systeme Schellings.
Als kritische Einzelbemerkung füge ich noch an, dass Verf. für das
Wesen R Wagners kein Verständnis zeigt, wenn er ihn in ein Verstandes-
genie und in einen Musiker zertrennt (S. 461). Wagners Dichtung als ein
„Gemisch aus allen möglichen Reflexionen von höchst gewaltsamer Form
und Sprache" zu bezeichnen, scheint mir ganz verfehlt.
Als Ganzes ist das Werk ein wissenschaftlich gediegener Versuch,
Grundlagen für eine Kulturphilosophie auf dem Wege der dialektisch-kri-
tischen Reflexion zu schaffen. Leider hat sich die Kulturphilosophie heute
schon wieder durch dilettantische Versuche diskreditiert. Trotzdem müssen
wir hoffen, dass diese Disziplin weiter ausgebaut wird. Allerdings glaube
ich, dass das ohne weitschichtige historische Begründung nicht möglich
sein wird.
Dr. Otto Braun.
Rezensionen (Kühnemann— Janssen). 51«
Schillers p hilo s o p his ch e S chrif t en undGedichte
(Auswahl). Zur Einführung in seine Weltanschauung. Mit ausführlicher
Einleitung herausgegeben von Eugen Kühnemann. 2. verm. Aufl. Leip-
zig, Verlag der Dürrschen Buchhandlung. 1910. (Philosophische Bibliothek,
Band 103.) (438 S.)
Die 1. Auflage dieses Büchleins (1902) ist mir nicht zu Gesicht ge-
kommen. Sie hatte, wie ich aus der Vorrede ersehe, einen noch be-
schränkteren, ausschliesslich den.. Schulbedürfnissen angepassten Rahmen
und enthielt nicht einmal die Ästhetischen Briefe vollständig. In der
vorliegenden Form wendet sich das Buch ganz besonders an den Lehrer,
der vor die Aufgabe gestellt wird, seine Schüler in die philosophischen
Arbeiten Sch.s hineinzuführen, dann aber auch an den Schüler, der sich
die angeregten Fragen noch einmal im Zusammenhang vergegenwärtigen
will. Zu dem Zwecke wird zunächst in einer „Einleitung" von 90 Seiten
die Kantische und Schillersche Philosophie in ihren Grundzügen und Zu-
sammenhängen erläutert und die Bedeutung der einzelnen Schillerschen
Abhandlungen festgestellt. Der Vortrag zeigt • einen dem Gegenstande
wohlangemessenen warmen Gefühlston und sucht Begeisterung zu wecken
für eine Philosophie, die aus dem Leben für das Leben erwachsen ist und
ihre Jünger zu ganzen Menschen erziehen will. Verf. zeigt überall den
unersetzlichen Wert der Sch.schen Gedanken auch für unsere Zeit. Und
dass auch in dieser, und zwar selbst in Lehrerkreisen das Verständnis für
Seh. noch sehr gering ist, beweist u. a. ein Schelling-Enthusiast, der die
„ästhetische Kultur" ablehnt, ohne auch nur eine Ahnung von ihrem
Wesen zu haben.
Die Kant- und Schiller- Auffassung des Verf. ist aus seinem grösseren
Werk „Kants und Schillers Begründung der Ästhetik" von 1895 schon
bekannt. Ich brauche daher nicht darauf zurückzukommen, umsoweniger,
als ich meine eigene abweichende Auffassung in meiner Schrift „Schiller
als Denker" von 1908 niedergelegt habe.
Was die Auswahl der Sch.schen Schriften anlangt, so bin ich mit
der Weglassung der beiden tragischen Abhandlungen einverstanden, möchte
aber empfehlen, die (auch nach des Verls Ansicht) bahnbrechenden
„Kallias"-Briefe in der nächsten Auflage mit abdrucken zu lassen, damit
sie endlich einmal auch äusserlich die ihnen gebührende gewichtige Stel-
lung erhalten. Welcher Jünger Sch.s würde nicht mit hingerissen werden
von der Entdeckerfreude des Meisters, seinem Enthusiasmus für die
Wissenschaft, seinem packenden, anschaulichen, lebenswarmen Stil! Die
übrigen Abhandlungen würde ich dann noch gern vervollständigt sehen
duich die im 8. Bande der Bellermannschen Ausgabe enthaltenen, die hier
fehlen. Dagegen wirken die beiden einzigen poetischen Gaben, nämlich
„das Ideal und das Leben", eingeklemmt zwischen der Abhandlung über
das Erhabene und der .,Von den notwendigen Grenzen" etc., und die
„Tabulae votivae" am Schluss stilwidrig. Da hätten auch vor allem „Die
Künstler" mitgegeben werden müssen, und so manches andere, das wir
ungern vermissen. Schon wegen der mir wohlbekannten Bedenken gegen
„Die Künstler" würde ich raten, künftighin die einzigschöne Sch.sche
Prosa für sich selber sprechen zu lassen.
Ein Namen- und Sachregister erleichtert den Gebrauch des Werks,
dem ich gern noch öfter, am liebsten in der angedeuteten, noch mehr
wissenschaftlichen Gestalt, begegnen möchte.
Zehlendorf (Wannseebahn). Bernhard Carl Engel.
Janssen, Otto. Das Wesen der Gesetzesbildung. Eine
kritische Untersuchung. Halle a. S., Niemeyer, 1910. (IV u. 278 S.)
Das Wesen der Gesetzesbildung zu ermitteln, ist das Ziel dieses
Buches. Mit einer Betrachtung über Wesen und Werden der Gesetze be-
ginnt der Verfasser seine Untersuchung. Das Gesetz erst ermöglicht Er-
fahrung in jenem Sinne, der seit Kant üblich geworden ist. Wäre die
Natur derart, dass niemals ein Augenblick den folgenden entschiede, so
33*
5l8 Rezensionen (Janssen).
gäbe es nur ein Chaos von Eindrücken. Das Gesetz nun weist auf eine
Gleichförmigkeit der ihm zugrunde liegenden Vorgänge hin, es geht also
stets auf eine Vielheit von Erscheinungen, die es unter sich begreift, und
aus der es durch isolierende Abstraktion gewonnen wird. Und zwar muss
das Gesetz, soll es nicht zu eng sein, bis an die Grenze der Abstraktion
gehen und darf nur so viele Merkmale der von ihm umfassten Gegen-
stände aufnehmen, als erforderlich und hinreichend sind.
Die Frage nach dem Werden der Gesetze führt den Verfasser zur
Untersuchung des Wertes der Induktion und Deduktion für die
Gesetzesbildung. Die Induktion wird als solche des Umfangs und des
Inhaltes unterschieden. Die letztere schliesst aus dem Vorhandensein ge-
wisser Merkmale an einem Gegenstand darauf, dass er auch gewisse
andere besitzt; die Umfangsinduktion schliesst von dem Vorhandensein
gewisser Eigenschaften bei einigen Gegenständen einer Klasse auf das
Vorhandensein dieser Eigenschaften bei allen Gegenständen der Klasse.
Sie konstituiert also die allgemeingülti^je Form des Gesetzes. Die De-
duktion übernimmt es dann, das Gesetz als Spezialfall einer höheren Ge-
setzlichkeit abzuleiten. Wie weit wir uns aber auch durch die Ver-
einigung von Induktion und Deduktion von der Wirklichkeit der Anschau-
ung entfernen, der empirische Ursprung der Gesetze zeigt sich immer
darin, dass ,sie nicht Sicherheit, sondern blosse Wahrscheinlichkeit
geben : ihre Änderung schliesst keinen Widersinn ein.
Das zweite Kapitel behandelt die Prinzipien der Gesetzesbildung.
Zuerst wird dem Kausalsatz eine eindringende Erörterung gewidmet. Es
liegt dem Verfasser daran, aus der Ursachbeziehung jede Spur von
Anthropomorphismus zu entfernen; was übrig bleibt, ist: Kausalität ist
nichts anderes als Regel der Sukzession. Allerdings erhebt sich gegen die
Gleichung : Kausalität = regelmässige Folge — der Reidsche Einwand, dass es
regelmässige Sukzessionen giebt, die nicht als kausal zusammenhängend
betrachtet werden. So die Folge von Tag und Nacht. Ich glaube, dass sich
dieses Argument mit dem Hinweise erledigen lässt, dass nach den Lehren der
Astronomie diese Folge nicht ausnahmslos zu nennen ist. Nehmen wir z. B.
einen allgemeinen Wärmetod als erwiesen an, so tritt mit diesem eine Nacht
ein, der kein Tag mehr folgt u. dgl. (Vgl. J. St Mills Logik III. 5.) Dagegen ist
eine Ursache im wahren Sinne nicht möglich, ohne dass ihr die Wirkung
nachfolgt. Janssen löst die Schwierigkeit nicht in dieser Weise. Er
giebt vielmehr regelhafte Sukzessionen zu, die nicht Repräsentanten eines
Kausalgesetzes sind. Der Wissenschaft bleibe es unbenommen, Erschein-
ungen, die im übrigen alle Voraussetzungen der Kausalform aufweisen,
nicht als kausal verknüpft gelten zu lassen, wenn dies ihre Begreifflichkeit
fordert (77). Damit scheint mir J. den eigenen Standpunkt aufzugeben.
Denn wenn die obige Gleichung, Kausalität = regelhafte Folge, gilt,
dann kann die Wissenschaft nur solchen Sukzessionen den kausalen Cha-
rakter absprechen, von denen sie nachweist, dass ihre Aufeinanderfolge
gesetzlich durchbrochen werden kann, d. h. in sich genommen zu-
fällig ist.
Immerhin hält J. späterhin an der genannten Gleichsetzung fest.
Aus ihr folgt die wichtige Tatsache, dass, logisch genommen. Kausalität
und Koexistenz für die Erklärung eines Faktums von gleicher, näm-
lich von — keiner Bedeutung sind. „Es sind Ordnungsformen, Schemata,
nach denen wir das Beisammensein gewisser Erscheinungen bestimmen,
die aber selber noch kein Verstehen im logischen Sinne vermitteln können."
Der Wert solcher Feststellungen liegt vielmehr darin, dass man die sie
aussprechenden Urteile selbst rein logisch mit einander verknüpfen kann
und auf diese Weise gedankliche Zusammenhänge schafft, welche
die blossen Feststellungen erst fruchtbar machen. (Vgl. hierzu Münster-
berg, Philos. d Werte, S. 134 ff.) Und es ist eben der Wert der
Funktionsbeziehung darin gelegen, dass sie die Koexistenz
und die Aufeinanderfolge als gleichberechtigte Formen des Zusammenseins
Rezensionen (Janssen). « 519
offenbart und so vor anthropomorphistischen Deutungen behütet. Dass
sich aber Funktionsbeziehungen zwischen den Dingen feststellen lassen,
ist in diesen selbst begründet und nicht ein von uns den Dingen gegen-
über ausgeübter, ihnen selbst fremder Zwang.
Ein drittes Kapitel ist „Die Gesetze im Lichte der Erkenntnis"
überschrieben. Auf seinen ersten Abschnitt „Vorstellung und Vorgestelltes"
will ich nicht näher eingehen, weil mir der Raum zur Auseinandersetzung
in dieser wichtigen Frage fehlt. Leider scheinen J. die für das Verständ-
nis der auf das intentionale Wesen der psychischen Tatsachen bezüglichen
Probleme grundlegenden Forschungen M a rtys unbekannt geblieben zu
sein (Untersuch, z. Grundlegung d. allgeni. Grammatik L). Im zweiten
Abschnitt ,.Grenzen der erkenutnistheoretischen Grundsätze" unternimmt
J. eine Auseinandersetzung mit Kant. „Ich glaube — hiess es schon an
einer früheren Stelle (97) — , dass die Lehre von der Kausalität zunächst
eine Forderung erfüllen muss, nämlich sich von den Fesseln des Kantischen
Denkens befreien." Hier wird nun gegenüber der Auffassung Kants, dass
die Kausalität der Leitfaden ist, mittels dessen wir die Aufeinanderfolge
im Subjekte und im Objekte unterscheiden können, eingewendet, jede
Sukzession, die wir wahrnehmen, sei objektiv (163). Sofern hier objektiv
soviel heissen soll wie tatsächlich, hätte Kant dies kaum bestritten. Aber
nicht jede tatsächliche Aufeinanderfolge ist objektiv in d e m Sinne, dass
sie im Objekt vor sich geht und nicht auf Rechnung der subjektiven Ima-
gination zu setzen ist. Hier die Unterscheidung zu treffen, ist schliess-
lich doch nur unter Voraussetzung einer Gesetzlichkeit in der Natur mög-
lich; dies giebt J. selbst zu (162). Die Frage aber, ob sich vielleicht
irgend welche Gesetze der Objekte aus der Natur unseres Denkens ab-
leiten lassen, verneint er (164 f.).
Einen tief in logische Fragen (Theorie des Urteilst hineinführenden
dritten Abschnitt übergehe ich und wende mich dem „Problem des letzten
Gesetzes" zu. Giebt es ein solches letztes Prinzip des Weltzusammen-
hanges? Wir wissen es nicht, antwortet der Verf., wir können aber
sagen, dass über die conditio sine qua non eines solchen Gesetzes — das
völlige Ausgeschlossensein des Zufalles aus der Welt — die Empirie
entscheiden wird. Dieser Zufall brauchte durchaus nicht ein solcher im
indeterministischen Sinne zu sein. Es würde genügen, dass ein Wirkens-
zusammenshang nur einmal vorkommt, um uns an der Aufstellung eines
ihn begreiflich machenden Gesetzes zu hindern. (Es hätte hier nahe
gelegen, an einige Spekulationen Simmeis zu erinnern.) Ob ireilich
ein solcher singülärer Wirkenszusammenhang unserer Erfahrung bisher
begegnet ist, möchte ich freilich bezweifeln. Historiker sind hier mit dem
Argument zur Hand, es gebe nur einen Napoleon oder dgl. Damit ist
natürlich nichts bewiesen, solange nicht gezeigt wird, dass sich das Seelen-
leben Napoleons nicht als ein Gebilde begreifen lässt, dessen Elemente
sich auch anderswo finden.
„Gesetze des seelischen Lebens und Gesetze des Zweckes" nennt
sich das vierte und letzte Kapitel von Janssens Schrift. Das zuletzt
angeschlagene Thema wird vorerst weiter ausgesponnen, indem Fragen
der historischen Methodologie behandelt werden. Es geschieht dies im
engsten Anschluss an Rickert. Während noch S. 115 bemerkt worden
war, dass .,eine Komplikation immer zahlreicher[er] Gesetzesbegnffe den
Umfang des Gemeingültigen bis zu dem äussersten Falle eines Einzel-
prozesses zu restringieren vermag", wird hier — im Gegensatz zu des
Ref. eben ausgesprochener Ansicht gesagt: „Nie würden wir auch durch
stetigste Determination der Gesetzesbegriffe zu den Individuen gelangen,
wie sie uns mal gegenwärtig sind." Nun ist es ja zweifellos, dass die
begriffliche Determination die ,.reale Gegenwart" des Gegenstandes m der
Anschauung nicht zu ersetzen' vermag. Aber giebt etwa eine noch so
lebhaft geschriebene historische Darstellung eine Anschauung und ist
520 Rezensionen (Switalski).
nicht auch sie ein durch Kombination von Begriffen dürftig hergestelltes
Surrogat ?
Im übrigen finden sich hier gute Bemerkungen zur Frage der psy-
chologischen Gesetze. Die Forderung, jedes Gesetz, und insbesondere
jedes Kausalgesetz, müsse quantitativ ausdrückbar sein, lehnt der Autor
ab (229). Die Einwirkung des Psj'chischen auf Physisches enthält — auch
wenn sie nicht quantitativ ausdrückbar ist — keinerlei erkenntuistheore-
tische Schwierigkeiten (234). Das Problem der psychophysischen Wechsel-
wirkung wird im folgenden Abschnitt („Die erkenntnistheoretische Posi-
tion des Willens") mit besonderer Rücksichtnahme auf den Willen als ur-
sächlichen Faktor untersucht. J. erörtert besonders die Stellung des
Problems in einer Theorie, welche die Geschlossenheit der physischen
Kausalgesetzlichkeit behauptet und die psychischen Elemente nur als
„Nebeneffekt'' gelten lässt. Für eine solche Auffassung muss natürlich die
Kausalität des Willens eine scheinbare werden und J. versucht in
diesem Sinne S. 240 eine ziemlich komplizierte (und unwahrscheinliche)
Hypothese. Es genüge der Hinweis auf diese sehr subtilen Erörterungen,
die in die Freiheitsfrage hineinführen. Den Schluss des Buches bildet
eine Auseinandersetzung mit Stam mlers Auffassung der sozialen Ge-
setze und ihrer teleologischen Struktur.
Prag. Hugo Bergmann.
Switalski, W., Prof. Dr. Der Wahrheitsbegriff des
Pragmatismus nach William James. Eine erkenntniskritische
Studie. Braunsberg (Ostpreussen), Benders Buchhandlung, Hans Grimme,
1910. (58 S.)
Wie engumgrenzt ist im letzten Grunde doch die Gruppe von Pro-
blemen, die innerhalb der Jahrtausende umfassenden philosophischen Dis-
kussion hervorgetreten sind und immer wieder hervortreten. Um sie
herzuzählen, genügen beinahe die Finger Einer Hand. Und weder die
Widersprüche, die gegen jegliche ihrer Lösungsangebote laut geworden sind,
noch die Eroberung neuer Wissensgebiete, noch der Wechsel und die
Entwickelung der intellektuellen Interessen haben zu einer Abschwächung
und Minderung in dem Bemühen um jene Grundfragen geführt.
Aus ihrer Mitte erhebt sich, als ihr Mittelpunkt, das Urproblem der
Wahrheit. Wie oft hat schon die philosophische Forschung in das un-
ergründliche Antlitz dieser Sphinx geblickt und trotz aller Misserfolge
und aller Ratlosigkeit Hoffnung und Glauben nicht verloren, doch noch
eines Tages die geheimnisvollen Züge entziffern zu können. Alle Richt-
ungen menschlicher Geistesarbeit treten mit Antworten vor uns hin, von
der Mystik und naiver Frömmigkeit an, für die im Mythos und Symbol
die Lösung des grossen Rätsels anklingt, bis zu dem strengen Rationalis-
mus der „reinen" Logik und dem plattesten Utilitarismus, der in dem
Streben nach Wahrheit nur einen Ausdruck des rein mechanisch sich be-
tätigenden, in nüchtern vitalen Interessen aufgehenden Instinktes und
Triebwillens erblickt. Und gerade die Gegenwart, die ja überhaupt ein
so starkes Anwachsen der philosophischen Arbeit zeigt, hat eine ganze
Reihe von Versuchen zu einer neuen erkenntnistheoretischen Grundlegung
erstehen sehen, und auf die Frage, was Wahrheit sei, und auf welchem
Wege ihre methodische Bestimmung erreichbar wäre, melden sich Ver-
treter der verschiedensten Standpunkte zu Worte.
Als Führer einer jüngsten Bewegung entwickelt Henry Bergson in
ausserordentlich feinsinnigen und von hohem künstlerischen Empfinden
geleiteten Analysen das Erlebnis der Intuition als Begründungsmoment
des Wissens. Hat diese Auffassung eben erst den Kampf aufgenommen,
um sich Existenzrecht und Anerkennung zu erobern, und begegnet man
in der Literatur vorerst nur einzelnen und einsamen Worten des Für und
Wider, so steht der Pragmatismus oder Instrumentalismus,
der in England und Amerika seine Heimat hat, im Mittelpunkte eines
lebhaft geführten Meinungsaustausches. Zahlreich sind seine Anhänger,
Rezensionen (Switalski). 521
nicht minder zahlreich seine Gegner: er kann sich nicht beklagen, dass
man sich mit ihm nicht beschäftige. Der Philosophen-Kongress in Heidel-
berg 1908 stand vielfach unter dem Zeichen des Pragmatismus.
Was man auch immer gegen ihn vorbringen mag, so muss man das Eine
doch anerkennen, dass er in die erkenntnistheoretischen Untersuchungen
neue Gesichtspunkte und also neue Anregungen hineinzutragen versucht.
Dadurch aber zwingt er die Kreise, die ihn ablehnen, zu einer schärferen
und gediegeneren Begründung ihrer eigenen Stellung. Jener neue Ge-
sichtspunkt brsteht in der Anwendung der entwickelungsgeschichtlich-
voluntaristischen Biologie auf das Problem der Erkenntnis. Und der
ganze Streit spitzt sich am letzten Ende zu der Frage zu, ob die Ent-
wickelungslehre in sich die Kriterien biete, um jenes Problem zu ent-
scheiden, oder ob nicht die Erkenntnis ihre Grundlegung in einer ihr
ganz eigentümlichen Theorie besitze.
Das hier angezeigte Schriftchen will nun die Erkenntnistheorie des
Pragmatismus nicht in ihrer ganzen Breite entwickeln und prüfen. Mit
treffendem Griff wird vielmehr das Grund- und Kardinalproblem der
theoretischen Philosophie, die Frage nach dem Begriff der Wahrheit, ans
Licht gestellt. Denn hält die in diesem Einen Punkte dargebotene Ent-
scheidung der Kritik Stand, dann ist die ganze Theorie gerettet und ge-
rechtfertigt, mögen in einzelnen Punkten auch Bedenken auftreten.
Leistet die biologische Methode — und in der Geltung und Berechtigung
der Methode liegt immer des Pudels Kern — was der Pragmatismus von
ihr verspricht, dann muss man diesem unumwunden den Ruhm zuschreiben,
endlich, endlich die Hilfsmittel entdeckt zu haben, um der alten Vexier-
frage nach dem Wesen der Wahrheit erfolgreich entgegentreten zu
können.
Switalskis Arbeit baut sich in drei Teilen auf. Zuerst eine knapp
und rein äusserlich gehaltene geschichtliche Einführung mit wertvollem
Literarischem Apparat, der sowohl die Schriften der Anhänger als der
Gegner verzeichnet (S. 5 — 12). Ihm hätte vielleicht noch Windelbands
hervorragende, kritisch ablehnende Rede: „Der Wille zur Wahrheit" (19' 9)
zugefügt werden können. Dann folgt als zweiter Teil eine vornehmlich
an James als dem erfolgreichsten und auch gewandtesten Verfechter des
Pragmatismus sich anschliessende Darstellung und Beleuchtung des Gegen-
standes (S. 13—36). Den Schluss bildet die Kritik und Ablehnung der
neuen Wissenschaftslehre (S. 36—58).
Der Hauptwert der Broschüre liegt in dem zweiten Abschnitt. So-
wohl die Entwickelung nnd Aufrollung der Frage, als auch deren kri-
tische Interpretation sind von mustergiltiger Klarheit und Bestimmtheit.
Darum wirkt dieser Abschnitt auch ausserordentlich instruktiv. Wie
häufig bekommt man doch sonst verschwommene und viel zu sehr in all-
gemeinen Redensarten verbleibende Berichte zu lesen. Unser Verfasser
dagegen entwickelt die Frage, ferner die Ansatzpunkte, Voraussetzungen
und Gesichtspunkte zu ihrer Behandlung und die Eigenart der Lösung
in scharfen Formulierungen. So gewinnt jeder Satz bei ihm volle Deut-
lichkeit und didaktischen Wert. Die aus James beigebrachten Zitate sind
treffend und aufklärend. Indem aber im Wesentlichen nur die amerika-
nische Form des Pragmatismus behandelt wird, bleiben die allgemeinen
philosophischen Grundlagen, aus denen die ganze Theorie erwächst, sowohl
was ihre methodischen Prinzipien als auch was die Technik des Aufbaues
anlangt, etwas im Dunkel. Sonst hätten wir wohl einen Hinweis auf
Herbert Spencer erhalten. Denn dessen biologisch-soziologische Be-
gründung des Erkennens bedeutet den umfassendsten Versuch, den Darwi-
nismus für die Förderung unserer Einsicht in das Wesen des Erkennens
fruchtbar zu machen. Nebenher sei hier noch angemerkt, dass auch
Nietzsche auf bestimmten Stufen seiner Entwickelung den Wahrheitswert
der Axiome und Begriffe von dem Nutzen und der Kulturförderung, die
sie ermöglichen und zu der sie beisteuern, abhängig machte. „Das Wohl
522 Rezensionen (Switalski).
der Menschheit muss der Grenzgesichtspunkt im Bereich der Forschung
nach Wahrheit sein" (vgl. R. Richter, Nietzsche S. 163).
In rein theoretischer Hinsicht stellt der Pragmatismus, wie der
Verfasser mit vollem Recht bemerkt, eine Absage an den extremen Ra-
tionalismus und Intellektualismus im Hegeischen Sinne dar, wie er noch
heutzutage auf den alten englischen Universitäten herrscht. Die Fremd-
heit und Kälte dieses Standpunktes dem Leben gegenüber, das er durch
seine apriorischen Konstruktionen zu gängeln und zu vergewaltigen sucht,
sein Unvermögen, die grenzenlose Fülle und Variabilität der wirklichen
Beziehungen und der wirkenden Bewegungen des Lebens durch die ab-
strakten Formeln und allzuweiten Netze seiner Dialektik zu fassen und
zu fangen, das sind die Punkte, die der Pragmatismus der Begriffsphilo-
sophie in erster Linie zum Vorwurf macht. Er dagegen stellt sich mitten
hinein in die Flut des Lebens, um so das Leben zu begreifen. Und da
nun die Wissenschaft selbst ein Erzeugnis des Lebens ist und in dessen
Dienst steht, so sind auch die Gesichtspunkte für die Erkenntnis der
Wissenschaft aus den praktisch-zweckmässigen Wollungen und aus den
biologischen Gesetzen, die das Leben beherrschen, zu entnehmen. So
erscheinen alle Begriffe und Urteile als biologische Anpassungserschein-
ungen, alle Theorien als „Werkzeuge", deren Beibehaltung und Anerkennung
auf ihrer Tauglichkeit beruht, „alte Tatsachen zusammenzufassen und
zu neuen hinzuführen", wie James sagt (nach Switalski S. 18). So gilt
es, bei aller Erkenntnis zunächst zu fragen : „Zu welchen praktischen
Folgen führt sie? Welches ist ihr tatsächlicher Wert für die persönliche
Lebensgestaltung?" (nach Switalski S. 17). Da es sich aber an dieser
Stelle nicht um eine Besprechung des Pragmatismus handelt, so mögen
diese Andeutungen über sein Wesen genügen. Besonders interessant sind
auch Switalskis Angaben über die evolutionistische Ableitung der Kate-
gorien (S. 29 ff.).
Gegen die pragmatische Theorie wird nun in dem 3. Teil eine zwie-
fache Kritik vorgebracht, eine vortreffliche logische und eine von einem
metaphysischen Standpunkt aus erfolgende. Erstens wird ihr mit gutem
Grunde entgegengehalten, dass sie nicht zwischen dem Urteils erlebnis
und dem Sinn oder der Bedeutung des Urteils, d. h. seinem wissen-
schaftlichen Geltungswert unterscheide. Als Erlebnis ist das Urteil aller-
dings in den zeitlichen Fluss unseres Seelenlebens dynamisch verflochten
(S. 39). Es nimmt Teil an dem Schicksal und an den Veränderungen,
denen alles Psychische unterliegt. Und es gehört unleugbar zum Haus-
halt des Lebens und der Natur als ein diesen dienstbares Glied. Insofern
kann man dem Pragmatismus nicht widersprechen. „Es lässt sich nicht
leugnen", dass die Behauptung, nur die Urteile seien wertvoll, die uns
zu einem zweckmässigen Handeln verhelfen, „eine bedeutsame Wahrheit
enthält". „Bereits Aristoteles weist darauf hin, dass die Ausbildung der
Fertigkeit, im praktischen Leben sich zurechtzufinden, im Menschheits-
leben das Erste gewesen ist" (S. 37 f.). Aber, und das eben unterliegt
nachdrücklichem Bedenken, „ob der Nutzen, die Rücksicht auf das Handeln
und Leben im weitesten Sinne die ganze Bedeutung der Erkenntnis aus-
macht" (S. 39)? „Der Nutzen ist ein unzureichend bestimmtes und darum
unzulängliches Kriterium der Wahrheit" (S. 54). Der Pragmatismus drückt,
so wird man auch sagen können, den Begriff der Wahrheit, unkundig
ihrer ideell-normativen Geltung, zu einer Sanitätsvorschrift herab. Was
Switalski von diesem Gesichtspunkt aus, oft unter Berufung auf
Husserls grundlegende und bahnbrechende ,Logische Untersuchungen',
am Pragmatismus bemängelt, trifft m. E. durchaus den Kern der Sache.
Es handelt sich bei der Erkenntnis der Urteilsorganisation „überhaupt nicht
um eine psychologische, sondern um eine logische Frage, nicht
um den Ursprung, sondern um den Geltungsgrund der Urteile. Aber
darum eben muss betont werden, dass die psychogenetische Er-
klärung unter keinen Umständen den logischen Wert der Kategorien
Rezensionen (Switalski). 523
uns verständlich machen kann. Entstehen und vererbt werden — falls
eine seelische Vererbung überhaupt nachweisbar ist — kann wohl das
Wissen um die Kategorien, — ihre Geltung ist aber auch dort vor-
ausgesetzt, wo man einen Denkakt vollzieht, ohne sich seiner Tragweite
ijewusst zu sein" (S. 53). Es ist ja der alte, alte Grundfehler der eng-
lischen Logik, inhaltliche und genetisch begründete Elemente des Be-
wusstseins, die im Laufe der Entwickelung kommen, sich unter dem Ein-
fluss individueller Erfahrungen und Umstände umbilden und sich mit
anderen ebenso individuell bestimmten Elementen zu höchst variablen
Ketten verschlingen, zu Kriterien der Geltung machen zu wollen. Seitdem
dieser Relativismus zuerst von der antiken Sophistik proklamiert worden ist,
sind die Bemühungen, an seine Stelle eine „reine" Logik zu setzen, deren
Bestimmungen „absolute" und ideelle Bedeutung tragen, nicht einge-
schlafen. Der bedeutendste systematische Versuch der Gegenwart, eine
solche Logik zu entwickeln, liegt, wie Switalski richtig hervorhebt, in
Husserls Werk vor. Aber dabei bleibt er nun nicht stehen. Er unternimmt
es vielmehr, für diese transscendentallogische Grundlegung — und dass
es sich bei Husserl um eine solche handelt, hat Natorp bei einer Be-
sprechung jenes Werkes vortrefflich gezeigt — noch ein tieferes Funda-
ment aufzugraben. Und dies ist der Punkt, an dem ich mich von dem
verehrten Verfasser und seiner schönen Arbeit scheide. Es erscheint mir
nämlich unmöglich, die Theorie des Wissens in der aristotelisch-scholasti-
sclien Metaphysik und Ontologie zu verankern, um von hier aus eine end-
giltige Widerlegung jeder relativistisch-evolutionistischen Logik ins Werk
setzen zu können. „Unter ,absoluter' Wahrheit," sagt Switalski, „ver-
stehen wir das Reich idealer Verhältnisse, das als Grundschema für alle
Wirklichkeit fungiert, es ist die Ideenwelt Piatos als Konzeption des
götthchen Geistes gedacht" (S. 44). „Die scholastische ,adafcquatio intel-
lectus cum re' bedeutet nicht eine Angleichung an ein unerreichbares
Ding, sondern die immer genauere Angleichung der Erkenntnis an all die
Daten, die von uns in den unmittelbaren Erlebnissen vorgefundeu werden"
(S. 45 f.). Von diesen unmittelbaren Erlebnissen aus will der Verfasser
allmählich zu den „Gegenständen der extramentalen Wirklichkeit" auf-
steigen (S. 46) und so den „Koinzidenzpunkt von Denken und Sein" er-
fassen (S. 57). Aber all dieses Erfassen extramentaler Gegenstände und
alle Vergegenständlichung und Prüfung des „Seins" wird ja doch von dem
erkennenden Bewusstsein vollzogen, das auf keine Weise zu einem Extra-
mentalen hinausgelangen kann. Was das Bewusstsein erkennt, ist und
bleibt ein Mentales. Die Durchfahrt, wie Fechner gern sagt und die auch
er durchführen zu können meinte, die Durchfahrt zum „Wirklichen" ist
an die einschränkenden Bestimmungen gebunden, wie sie der kritische
Phänomenalismus Kants entwickelt. Wie es um die Dinge der transscen-
denten Welt bestellt sein mag, kündet uns keine Wissenschaft. Jene
Metaphysik kann nicht die letzte Instanz für die Kritik, in unserem Falle:
für die gegen den Piagmatismus gerichtete, bilden. Bedarf sie doch
selbst der kritischen Rechtfertigung und Begründung. Und Gang und
Ausgang des richterlichen Verfahrens gegen sie sind für alle Zeiten in
den Blättern der Vernunftkritik gebucht. Nicht das System der scholasti-
schen Metaphysik mit seinen Konstruktionen einer transscendenten Welt,
sondern die Gesichtspunkte der transscendentalen, an dem Begriff des
Systems der Wissenschaft orientierten Logik, welche die idealen und,
wenn man so will, immanenten Beziehungen in jenem System und deren
konstruktive Gegenseitigkeit entdeckt, mit einem Worte : der Begriff
des transscendentalen Apriori, wie ihn gerade die Marburger Schule mit
ihrer grossartigen Entdeckung ans Licht zu stellen und mit vollstem
Recht zur Anerkennung zu bringen sucht, bietet das Kriterium für die
Bestimmung von Wesen und Wert des Pragmatismus. Trotz der neu-
anhebenden Verteidigung und apologetischen Behandlung, die der aristo-
telisch-scholastischen Erkenntnislehre zu Teil werden, trotz ihres neuer-
524 Rezensionen (Montgomery).
liehen Ausgespieltwerdens gegen Kant ruhen doch im Kritizismus allein
die Grundlagen jeder wissenschaftlichen Philosophie und die Momente für
die Prüfung entgegenstehender Theorien. So wenig als der Pragmatismus,
so wenig vermag auch Aristoteles das Problem der Wahrheit zu lösen.
Dort zerflattert der methodische Begriff der Wahrheit in den logisch
garnicht eindeutig fassbaren, unendlich fliessenden Gedanken des prak-
tischen Nutzens. Und um von diesem Gedanken überhaupt reden und auf
ihn eine Theorie stützen zu können, muss ja schon die Geltung der
logischen Grundgesetze vorausgesetzt werden. Hier, bei Aristoteles, ent-
flattert jener Begriff in das Reich des Unfassbaren.
Berlin. Arthur Liebert.
Montgomery, Edmund. Philosophical Problems in the
light of vital Organisation. G. P. Putnams Sons, New- York and
London (W. C, 24 Bedford Street, Strand) 1907. (446 S.)
Der Autor hat in Deutschland (wo er unter Helmholtz studiert hat)
mit einer Schrift debütiert, die in ihrem Untertitel schon die Richtung
auf eine „physiologische Naturauffassung" andeutete: „Die Kantische Er-
kenntnislehre widerlegt vom Standpunkt der Empirie" (München 1871),
und seitdem hat er eine lange Reihe mehr oder minder philosophischer
oder biologischer Aufsätze zumeist in amerikanischen Zeitschriften ver-
öffentlicht. Nun giebt er eine einheitliche und wohlgerundete Zusammen-
fassung seiner Gedanken, da eine vierzigjährige Forschertätigkeit ihn in
seinen Grundanschauungen nur bestärkt hat. Mit gutem Recht weist er
darauf hin, dass die antimechanische Auffassung der Lebenssvorgänge, mit
der er lange allein gestanden habe, nun im Neovitalisraus immer stärkere
Anerkennung finde. Dagegen darf er für die Philosophie, die er auf dieser
biologischen Grundlage entwickelt, kaum den Ruhm wirklicher Originali-
tät in Anspruch nehmen. Seit Spencer (den M. mit Unrecht fast ignoriert)
sind Versuche, in der Betrachtung des Bewusstseins als Lebensprozess das
grundlegende Prinzip der Realität zu finden, mehrfach gemacht worden.
Die Schwierigkeiten der idealistischen wie der materialistischen Weltan-
schauung lösen sich ihm in folgender Grundanschauung: „Es giebt in
Wirklichkeit nur einen einheitlichen Kosmos, der aus zusammenhängenden,
kraftbegabten, ausserbewussten Wesenheiten (entities) besteht. Von diesem
Kosmos bildet das ausserbewusste Organisch-Individuelle einen hochent-
wickelten itegrierenden Bestandteil, und sein alles erfassender bewusster
Inhalt ist hier auf Erden das höchste Produkt vitaler Wechselwirkung mit
der Aussenwelt" (S. 135).
Der zuerst zu bekämpfende Gegner ist demnach der Phänomenalis-
mus; um zu zeigen, dass er notwendig zum Nihilismus und Solipsismus
führe, lässt M. sich kaum an dem mephistophelischen: „Du musst es drei-
mal sagen I" genügen. Verworfen wird auch jede spiritualistische Meta-
physik wie der Dualismus Descartesscher Prägung: das Geistige ist eine
Funktion der organischen Substanz, die eben darum nicht als ein bloss
mechanisches Aggregat, sondern als vitale, teleologische Einheit aufgefasst
werden muss. Der Kampf gegen die mechanische Weltauffassung ist des-
halb die Hauptaufgabe des zweiten Teiles. Im einzelnen sei erwähnt die
Polemik gegen das Gesetz der Erhaltung der Energie (bei der Ablehnung
spricht etwas die Opposition gegen R. Mayers „Mechanismus" mit; der
entscheidende Punkt scheint mir nicht getroffen, dazu müsste man auch
statt der populären Darstellung eine etwas mathematisch-strengere Dis-
kussion fordern); die Ablehnung des kausalen Determinismus; der James-
Langeschen Gefühlstheorie (S. 316 ff.); des psychophysischen Parallelismus
(S. 324 ff.); endlich die Betonung der „ektodermischen" vor der „ento-
dermischen" Betrachtungsweise (S. 314 und 424 ff.) : die organischen Be-
dürfnisse und Triebe sind dienstbar der Erhaltung des Lebens des Indi-
viduums in seinen Beziehungen zur Umwelt, wie sie sich organisch in der
„ektodermen" sensori-motorischen Struktur darstellen, und es ist falsch,
Rezensionen (v. Schulze-Gävernitz— Goldschmidt). 525
die letzteren Funktionen der Befriedigung der Triebe etc. unterzuordnen
(wie es der Biologe Bichat und der ethische Hedonist Schopenhauer tun).
Der Darstellung merkt man die Herkunft aus einzelnen Stücken
noch an; um diese in Amerika beliebte Publikationsweise als Vorzug er-
scheinen zu lassen, muss man schon ein W. James sein. Zumal die philo-
sophiegeschichtlichen Orientierungen über die einzelnen Probleme sind
nicht eben aufschlussreich. Man kann das Historische zum Würzen und
zum Wässern benutzen ; hier ist die Suppe ziemlich breit geraten. Um
den Phänomenalismus und Rationalismus erfolgreich zu bekämpfen, bedarf
es heute schärferer Waffen, als sie der Biologismus sans phrase zu bieten
hat. Dies Buch ist mehr eine Truppenschau als eine Feldschlacht.
Bonn a. Rh. Fritz Ohmann.
V. Schulze-Gävernitz. G. Marx oder Kant? Rede, gehalten bei
der öffentlichen Feier der Übergabe des Prorektorats. 2. unveränderte
Auflage. Freiburg i. Br. und Leipzig, Speyer & Kärner, 1909. (63 S.)
Die Frage des Titels ist programmatisch. • Der für den modernen
Sozialismus charakteristischen Losung: „Zurück zu Kant!" reiht sich der
Ruf des Verfassers an : „Für die im Sozialismus wirkenden Ideen und
gegen ihre jetzigen falsch orientierten Ausprägungen ; nicht Marx, sondern
Kant."
Um Marx zu widerlegen, werden die Grundpfeiler seiner Lehre ge-
prüft, als welche sozialrevolutionärer Wertnihilismus, materialistische
Geschichtsauffassung, Mebrwertlehre und politischer Sozialismus erkannt
werden. Das Ergebnis der Kritik ist : in der philosophischen Grundlegung
fehlt die Kategorie des Wertes und damit auch der Idee im kritischen
Sinne als der ewigen Aufgabe; daher der Monismus, die zur Untätigkeit
verdammende Geschichtsauffassung und die ohne wissenschaftliche Ethik
gegründete Politik. Die Waffen zur Widerlegung von Marx liefert vor-
nehmlich Rickert mit seinem Wertbegriff und Windelbands Scheidung
der nomothetischen Naturwissenschaft und der idiographischen Geschichts-
wissenschaften. In seiner klaren Beweisführung bietet Verfasser viel be-
merkenswerte Argumente und vor allem auch eine erquickende Leiden-
schaftlichkeit, namentlich bei seinen Ausführungen über die Idee.
Deshalb muss man bedauern, dass gerade der Angelpunkt, der Be-
griff des Wertes, den Angriff herausfordert. Das Sollen über dem Sein,
den Wert über der Natur anzuerkennen, so wird ausgeführt, sei Sache
nicht des Beweises, sondern des Entschlusses, nicht Sache des Wissens,
sondern des Gewissens. Damit jedoch wird unter Verkennung von Kants
Lehre das Sollen entweder wieder dem deskriptiven Sein gleichgesetzt,
oder dem Masstab eines subjektiven Gutdünkens überliefert. Die Ethik,
die begründet werden soll, wird also in Wahrheit preisgegeben. Und ge-
rade Kants Begründung der Ethik ist es, die eine wissenschaftliche Ver-
tiefung des Sozialismus anbahnen lässt; seine Staats- und geschichtsphilo-
sophischen Anschauungen, die sonst vorwiegend berücksichtigt werden,
kommen erst in zweiter Linie in Betracht.
Marburg. M. Salomon.
Goldschmidt, Lndwig, Prof. Dr. Zur Wiedererweckung
Kantischer Lehre. Kritische Aufsätze. Gotha 1910. Verlag von
F. A. Perthes, (289 S.)
Der Verfasser hat unter dem genannten Titel eine grössere Reihe
meist früher veröffentlichter Aufsätze gesammelt und herausgegeben. Die
Arbeiten sind verschiedenartigen Inhalts, wie einige Überschriften an-
deuten mögen: „Kant und unsere Zeit". „Georg Samuel Albert Mellin".
„Wie die Mathematik im 19. Jahrhundert die Metaphysik entdeckte".
„Der Raum". „Monismus und Naturgesetz von Ernst Haeckel". „Die
causa sui bei Spinoza". „Der junge Goethe über die Freiheit" u. a. m.
Dennoch sind diese Aufsätze durch die Einheit ihres Zwecks und die
526 Rezensionen (Goldschmidt).
philosophische Gesinnung, die sich in ihnen ausspricht, innerlichst ver-
bunden und zusammengehalten. — Ihr Zweck ist in dem Titelbegriffe
enthalten und ausgedrückt; die philosophische Gesinnung, der diese Ar-
beiten entsprungen sind, ist das klare und begründete Bekenntnis zu Kant
und seiner Lehre.
„Wider vielfache an meinen Schriften geübte Scheinkritik behaupte
ich auf Grund strenger Prüfung, dass die Kritik der reinen Vernunft eine
vollkommen wahre, von jedem vernunftbegabten, zu solch abstrakten
Untersuchungen angt^leiteten Menschen ohne Beeinflussung durch Autorität
einzusehende Lehre enthält, die weder bisher widerlegt, noch jemals durch
Widerlegung umzustossen ist" — das ist die gedankliche Stimmung, in
der Goldschmidt überall seine Aufgabe anfasst. — Man wird die Schärfe
des Ausdruckes nicht länger besonderlich finden, wenn man erkannt hat,
wie der Autor Kant interpretiert.
Er bezeichnet mit Sicherheit den Stützpunkt der Kantischen Kritik
und ihr nächstes Ziel: „Was ist ihm doch der Beweisgrund für alle aprio-
rischen Grundsätze synthetischer Natur? Die Möglichkeit der Erfahrung
und das heisst nichts anderes, als die Möglichkeit einer gesetzmässigen
Physik. Wer aber hierin einen Beweisgrund sieht, der will nicht die
Physik beweisen, sondern durch ihre Existenz andere, dem Zweifel unter-
liegende Erkenntnisse schützen und werten."
Das sind allerdings Leitgedanken Kantischer Philosophie und Me-
thode und ebendeshalb, weil sie eine Methode der Philosophie bezeichnen,
sind sie „vollkommen wahr, weder bisher widerlegt, noch jemals durch
Widerlegung umzustossen". An dieser Einsicht muss sich auch heute
systematische Philosophie orientieren: „Wer die Tatsache der Mathematik
und die Existenz einer im beständigen Fortschritt sich entwickelnden
und nicht wie die frühere Metaphysik in einer Kreisdrehung verharrenden
Naturwissenschaft nicht zugeben kann, der mag auf Kant und alle Philo-
sophie verzichten." —
Das entschlossene Eintreten für die Lehre Kants muss unberechtigte
Kritik dieser Lehre mit Nachdruck abweisen. So wird die Arbeit Gold-
schmidts zum grossen Teil Polemik. In den Aufsätzen „Kants Voraus-
setzungen und Prof Dr. Fr. Paulsen", „Kant-Orthodoxie und kritische
Freidenker", „die „Wurzel" der „vierfachen Wurzel" des Satzes vom
Grunde", „Wie Schopenhauer Kant zitiert" — u. a. m. hält Goldschmidt
mit alten und neuen Gegnern der Kr. d. r. V. Abrechnung. Man kann
seinen Korrekturen ihre sachliche Berechtigung nicht absprechen; die
Unzulänglichkeit Schopenhauers, wie unter den Neueren Paulsens, gegen-
über den Problemen der Vernunftkritik wird wohl heute allgemein zu-
gestanden. —
Auch in den anderen Schriften zeigt sich Goldschmidt von streit-
barer Natur. Nicht immer zum Nutzen einer möglichen Diskussion und
Verständigung, da der polemische Stil dazu verleitet, aus Einzelheiten
einer abweichenden Meinung oder Lehre ein absprechendes Allgemein-
nrteil zu folgern, das den Verfasser sofort ins Unrecht setzt. Trotzdem
wird man diese Schriften mit Nutzen lesen, da der Verf. dort, wo die
Sache selbst zu Worte kommt, die Polemik durch die lehrhafte Darstellung
zu stützen und zu ergänzen weiss.
Ausser den Aufsätzen, welche sich direkt auf Kant beziehen, finden
sich in dieser Sammlung einige kleinere Arbeiten über die Beziehungen
Schillers und Goethes zu Kantischer Philosophie. Diese Aufsätze zeigen
ein intimes Verständnis der Zusammenhänge zwischen unserer klassischen
Litteratur und Philosophie. An einzelnen Beispielen wird die Durch-
dringung der dichterischen Werke mit den philosophischen Gedanken-
gängen aufgezeigt — , ein Zusammenhang, in dem das vertiefte Kultur-
bewusstsein unserer beiden grossen Dichter seinen Quell und Ur-
sprung hatte.
Hamburg. Dr. Johannes Paulsen.
Rezensionen (Braun). 527
Brann, Otto, Dr. pliil. Schellings geistige Wandlungen
in den Jahren 1800-1810. Quelle & Meyer, Leipzig 1906.
Ce sont, peut-etre, les limites meraes que M. Braun a su donner k
son 6tude qui en fönt le principal int^ret. Ne se proposaut, en effet, que
de mettre en ^vidence la suite des idöes par lesquelles son auteur a passe,
il n'a pas eu, comme l'historien, qui veut donner de l'ecrivain qu'il Studie
une image complfete, ä tenir compte de la masse respective des niatöriaux.
Or, pour Schellmg, c'est, de beaucoup, la p6riode de jeunesse qui a 6t6 \a
plus feconde : par suite, dans une exposition trop scrupuleuse, la quantite
des documents et des id^es de detail, qui se rapportent aux premieres
fonnes de sa pensäe, masque Timportance des id^es ultärieures On est
alors port6 ä ne voir dans Schelling que le philosophe de l'ideutittS, le
präeurseur et le maitre de Hegel, avec l'enseignement duquel sa philosophie
ne parait plus que faire double emploi. On sait bien que cette preraiere
Philosophie, ä laquelle son second prophfete a donne pendant longtemps
en Allemagne une si grande autoritö, Schelling l'avait, pour scn propre
compte, depassee et meme formellement combattue, dans la derniere
Periode de son activite philosophique. Mais si les documents de cette
toute derniere philosophie ont une iniportance materielle assez considerable,
la periode interm^diaire, par laquelle se fait I'ävolution, ne präsente qu'un
nombre d'äcrits relativement restreints en quantitä et en dimensions; et,
forcement, dans, une etude complfete de l'auteur, par un effet d'optique
naturel, cette periode intermädiaire. oü Schelling commence ä räpudier le
panlogisrae et prepare ces hardiesses de la periode dermiere, qui surprirent
le public berlinois de 1841, perd, par l'effet de la disproportion rnatärielle
des döveloppements donnäs, une grande partie de sa signification. Le
plan adoptä par M. Braun, par lequel il s'allege, non seulement des ouv-
rages des premiers däbuts, oü Schelling n'est que le disciple de Fichte,
mais encore de tout le bagage, interessant, pourtant, pour les specialistes,
de la Philosophie de la nature et des considerations finales de la periode
de la theosophie, lui permet de donner leur väritable valeur aux diverses
ätapes de la pensee de l'auteur ätudid, abstraction faite de toute considä-
ration de l'abondance plus on moins grande, suivant les circonstances, de
la production materielle, qui signale ces äpoques successives.
Aprfes une courte Introduction, dans laquelle l'auteur räclame pour
l'histoire et surtout pour l'histoire de la philosophie, le droit de ne pas
s'en tenir ä une reconstruction objective et achromatique da passe mort
(ce qui, comme l'indique Nietsche, ne ferail qu'erabarrasser le moment
präsent et vivant) mais de dägager de l'individuel „sur lequel l'histoire
ecrit,, ce qui est „plus que temporel,, ce qui est un document sur l'homme
äternel — il en arrive k l'ätude proprtment dite qui comportera quatre
grandes divisions: P) L'äpoque de l'idäalisme esthätique; 2°) Leneo-spino-
zisme ; 3°; Le passage de la conception esthätique du monde k la conception
äthique; 4°j La conception ethique du monde dans la doctrine de la
libertä :
Et voici la th^se gänärale, k notre avis, tres juste, qui va circuler k
travers ces quatre grandes divissions.
La päriode du däveloppement personnel de Schelling, qui s'ouvre
avec ridealisme transcendental, est une räaction contre Fichte par la
Substitution ä la these de l'effort morai indäfini — que räclamait la phi-
losophie de ce thäoricien de Tirreductibilite du monde thäorique au monde
pratique — de la thhse opposäe de la räconciliation de ces deux-mondes
dans la production artistique et de l'apaisement moral que cette räcon-
ciliation autorise. Et non-seulement la production artistique humaine est
fage de la possibilite d'une teile reconciliation, mais (comme cette pro-
uction artistique humaine n'est que la forme la plus haute de la produc-
tion dans la nature) eile est revälatrice de ce fait que cette räconciliation
possible est (pour qui sait voir la nature d'un cell impartial) la loi gänärale
de l'univers — que la beautä. eipression de la bont6 est le fait gän^ral —
528 Rezensionen (Braun).
que le monde est, au fond beau et bon, — sans que l'homme ait ä colla-
borer ä, son oeuvre autrement que pour la savourer, en prenant conscience
de ses tendances essentielles dans des cr^ations, qui ne sont que le pro-
longement de sa spontan^it^ et la r^velation ä l'esprit, en tant que formes
ultiraes de cette spontanöitö, de sa veritable nature. — En d'autres termes,
la premifere pöriode du d^veloppement personnel de Schelling est un cri
d'optimisme et de confiance en la vie et le monde; et cet optimisrae
trouve son expression dans la conception fouciferement esth^tique de l'uni-
vers et de toute r(5alit6.
Le neo-spinozisme ne fait qu'elargir ce point de vue. C'est la
raison irapersonnelle qui apparalt comme l'universel artiste dont il n'y a
lieu que de comprendre l'oeuve pour Fadrairer; tout est bien pour qui sait
coniprendre ; le mal n'est qu'une apparence qui tient ä la limitation du
champ de vision ; la vertu elle-meme ne doit pas comporter la lutte
(thöorie de la belle äme) ; eile n'est chez l'etre intelligent que la conscience
de l'harmonie fondamentale et de son harmonie propre avec le reste de
l'univeis.
Mais voici que, en 1803, des doutes prösent^s par un disciple, Eschen-
mayer, et la publication par celui-ci de l'ouvrage intitul6 „La Philosophie
dans son passage k la Non-Philosophie" ^branlent cette belle confiance.
Depuis lors, un courant d'idöes, contraire au preraier, prend naissance
dans la pensee du philosophe. il s'y etablit, d'abord, sourdenient et laisse,
pendant un certain temps encore, pr^dominer k la surface une circulation
de notions conformes ä l'orientation primitive. Mais l'impulsion donn^e
fait son CBuvre: pendant le troisieme piriode, malgre les lösistances natu-
relles d'habitudes intellectuelles qui ne cädent point sans lutte, une direc-
tion de pens^es, absolument difförente de la premifere, se constitue peu
ä peu ; — et, dans la quatri^me periode. an point de vue optimiste, qui
ne demandait que la compröhension joyeuse de l'univers, succede une
conception nettement pessiiniste, röclamant un effort conscient et continu
de la volonte humaine contre l'invasion perpetuelle du mal, une coUabo-
ration dnergique du bon vouloir au maintien d'un ordre moral perpetu-
ellement en p^ril, une lutte de l'individu de bonne volonte contre lui
m§me et contre les choses.
Jamals, pour qui sait comprendre l'histoire d'une äme, ne s'est
operöe transformation plus radicale que celle dont la pensee philosophique
de Schelling nous offre le spectacle, en nous faisant passer de la periode
confiante, et par lä meme, si heureusement productive de la preraifere
jeunesse, ä'la periode anxieuse de la maturitö. Mais (c'est l'avis de l'auteur
et c'est aussi le notrej, de quelque ddsenchantement qu'elle s'accompagne,
la transformation est salubre. L'optimisme naif 6tait creux et fade.
L'oeuvre de la vie, dans la conception finale, prend une signification plus
interessante et manifestement, plus vraie. Le grand phüosophe a öprouvö,
avec une energie peu commune, les deux etats extremes de l'absolue con-
fiance en la bontö du monde donn6 et de l'absolue d^fiance ä l'ögard de
ce meme monde, de cette meme nature premifere, dont il avait c616bre,
dans sa premiere jeunesse, la fonciere harmonie. Le monde n'est par bon
en soi; il n'est bon que si nous le faisous tel, en nous et par nous.
Schelling est, k notre avis, bien plus complet que H^gel. Mieux que
Hegel, dont la mort relativement prematuree a, d'ailleurs, peut-dtre
empech^ l'(5volution complete, il a port^ dans son äme l'äme du sifecle oü
il a vecu, de celui qui, en Allemagne surtout, a döbut^ par une sorte de
retour ä la confiance hellenique en la boutö naturelle de la cr6ation pour
se terminer par le pessimisme de Schopenhauer et de Hartmann et par
une protestation de la conscience Interieure (dont le sens est pour M. B.
la caracteristique de l'esprit germanique) contre le jeu naturel de la
röalite brutale.
Cette conscience de la n^cessitö de r^agir contre les Clements de
d^sharmonie morale et de souffrance, que contient le monde r^el, ne va
Rezensionen (Braun). 529
pas Sans celle de la n^cessitö de se concentrer pour agir, pour faire une
OBUvre effective et pröcise et dviter de se perdre dans les nuages; — et
c'est pourquoi le sentiment pessimiste de ce qui est, l'acceptation d'un
devoir de reforme et d'amelioration s'accompagne naturellement d'une
glorification de cette personnalitö que le pur rationalisme optimiste tend
au contraire, ä laisser dans l'ombre. M. B. montre nettement comment
le sentiment de progrfes ä r^aliser, ou naeme d'un ordre, par essence fragile,
ä maintenir, comment, par suite, un certain pessimisme, ä l'ögard de ce
qui est, est la conditionde la pleine notion du devoir moral, et comment
de cette pleine notion du devoir individuel resulte naturellement une mise
au premier plan de la notion d'effort volontaire et, par voie de consd-
quence, de la bonne volonte individuelle, de la personnalite. Voilä pour-
quoi aussi nous voyons, chez le grand philosophe Studio et dans le siecle
qu'il incarne, l'^volution de la notion de ce röle de la personnalite, qui
envisagee, d'abord, sous son aspect n^gatif, comme un obstacle ä la fusion
de toutes les raisons les unes dans les autres et dans une raison univer-
selle — finit par apparaitre comme l'instrument n6cessaire du maintien et
de la propagation du regne de cette raison, comme le v^hicule indispensable
de cette rationalitd, ä laquelle d'abord eile semblait contraire, mais qui,
depourvue de realitö par elle-meme et n'ayant proprement que la valeur
d'un ideal, ne peut se maintenir et progresser que par le continuel effort
de la bonne volonte, expression de la personnalite, qui, seule, peut la
faire durer et prospörer dans le domaine du temps.
Cette pensde g6r\6ra\e de l'ouvrage de M. B. etant une fois mise en
lumiere, il y aurait intär^t ä suivre dans la detail la s6vie dee indicatious
fermes et nettes par lesquelles il caract^rise, d'abord, l'^volution par la-
quelle la pensee allemande, dans les derni^res annöes du IS" sifecle, pense
se ddrober au relativisme de Kant en se debarrassent de la „chose en soi"
„conception sans laquelle on ne peut entrer dans la doctrine de Kant et
avec laquelle on ne s'y peut maintenir" et en dtablissant l'autonoraie
d'esprits paralleles destineesäse röconcilier dans un esprit des esprits, —
puis l'opposition de Schelling ä Fichte qui, comme on le sait, commence k
se dessiner, sans etre pleinement avouee, dans la p^riode de l'idealisme
esthetique : car, le moralisme du maitre ne laissant k la nature qu'un rOle
de moyen et la röduisant k un sch^matisme ä6co\oT6, une röaction toute
naturelle amfene le disciple ä vouloir complöter la doctrine antörieurement
expos^e par une philosophie propre de la nature et par une considöration
esthetique de l'univers. L'opposition des deux philosophies preud nette-
ment conscience d'elle-meme dans la p^riode du neo-spinozisme . . . Mais
cette analyse du detail d'un ouvrage qui ne contient pourtant qu'un petit
nombre de pages nous entralnerait bien vite au-delä, des bornes d'une
modeste r^cension.!)
i) Table des matiferes: Indroduction.
I) L'dpoque de l'idealisme esthetique.
l") La speculation post-Kantienne. Schelling se söpare de Fichte.
2^*) Importance de l'art chez Schelling.
30) Traits genäraux de la conception du monde.
4°) Les problfemes ethiques particuliers (.11 s'y trouve une analyse
vraiment ferme des diverses conceptions de la liberte dans
cette premifere pöriode du d^veloppement de Schelling).
II) Le neo-spinozisme.
1°) Le changement de la conception du monde.
2°) Les probl^mes ethiques particuliers.
a) La belle äme.
b) Moralite et intellect (II est heureusement tird parti dans
ce paragraphe des cel^bres „Le^ons sur la Methode dans
les Etudes Academiques" dont M. ß. a, d'ailleurs, donne
recemment un edition particulifere. Leipzig Automne 1906).
530 Kezensionen (Braun).
Nous nous contenterons de revenir, en terminant, sur l'indication
par laquelle nous avous döbute; le principal merite de ce travail est
d'avoir r^legu^ ä sa vraie place dans l'oeuvre de Schelline: et cela, en
depit de la masse bien plus consid^rable de documents qui la distingue,
la premifere philosophie de notre auteur, ce panlogisme, dont les d^tails
out bien leur interet, mais dont l'esprit general ne saurait suffire k con-
tenter toutes les aspirations de l'äme humaine, par suite ne saurait suffire
ä fonder une philosophie definitive, et dont, d'ailleurs, Hegel a, depius
longtemps, tirl, pour TAlleniagne et la pensee philosophique en g^n^ral,
les principaux fruits. — Par lä il a pu mieux mettre en sa vraie Turniere
la seconde philosophie de notre auteur, et montrer comment cette philo-
sophie est encore toute d'actualitö, comment eile correspond encoie aux
instincts de l'äme moderne, comment, en definitive, eile a peu vieilli. —
Schopenhauer, Hartmann ont successivement avoue qu'il y avait encore
d'importants emprunts ä faire ä cette seconde philosophie de Schelling.
Le philosophe de Munich a. en quelque sorte, porte, de son vivant, la
peine de la richesse de son temperament philosophique. Aprfes s'etre
assimiie la splendide abondance des d^tails de la premifere philosophie. le
lecteur avait peine ä croire que l'esprit qui avait mis au jour cette riebe
moisson d'id^es, eut encore ete capable d'une autre serie de productions
aussi importantes et radicalement difförentes. Maintenant que l'^volution
des temps a rejete au rang des philosophies qui appartiennent ä l'histoire
ce panlogisme qui fut une ^tape utile de la pensee humaine, mais qui, de
prime abord, masque la philosophie definitive de notre auteur, ce ne serait
peut-etre pas, autant qu'on pourrait le croire, un anachronisme que de
revenir sur cette seconde philosophie que, meme en AUemagne, l'orien-
tation contraire de la pensee publique a empeche de pleinement com-
prendre et de veritablement mettre k profit. — M. B. par cette esquisse,
dans laquelle il n'a pas accuse les traits d'apres le bagage matöriel laissö,
mais d'apres la valeur v^ritable que ces traits doivent prendre dans une
image exacte du philosophe etudie, aura peut-etre contribue k faire saisir
l'importance de cette seconde philosophie assez nögligee, de Schelling et
le parti que les temps modernes peuvent tirer de conceptions qui, com-
plfetement opposöes k celles du panlogisme, en sont par lä meme k notre
avis le contrepoids et le nöcessaire compiement.
Grenoble. Leon Sautreaux,
Agrdgd de l'universitö de France.
c) Personnalite.
d) Vues particuliferes sur l'art. L'intuition intellectuelle
L'histoire.
III) Le passage de la conception esthetique k la conception ethique du monde.
10) Generalites.
2^) La conception de la question ethique dans le detail.
. IV) La conception ethique du monde dans la doctrine de la liberte.
r^J Le changement fondamental dans la conception du monde.
2") Les problfemes particuliers.
Conclusion: Indication du devaloppement ulterieur.
Selbstanzeigen (Häberlin — Wernicke). 531
Selbstanzeigen.
Häberlin, Paul, Dr., Privatdozent. Wissenschaft und Philosophie.
Ihr Wesen und ihr Verhältnis. I. Bd. Wissenschaft. Basel 1910, Kober, C. F.
Spittlers Nachfolger. (360 S.)
Das Buch behandelt ein Problem, das zwar in erster Linie ein persön-
liches Problem des Verfassers gewesen ist, das aber doch wohl auch Anderen
zu schaffen macht. Sehnsucht nach umfassender und harmonischer Weltan-
schauung und Verehrung für die grossen Meister der Philosophie einerseits —
und andererseits Offenheit für die Kritik, mit der Psychologie und Erkenntnis-
wissenschaft, Naturwissenschaft und Geschichte jene Sehnsucht und Verehrung
zu ersticken drohen : daraus entsteht das Problem. Es verdichtet sich wohl zu
der Frage: Welchen Sinn und welche Bedeutung kann Philosophie heute noch
haben ; — hat sie überhaupt noch Sinn und Bedeutung?
Viele der Heutigen bestreiten ihr Existenzrecht. Sie tun es im Namen
der Wissenschaft, und sie sind der Meinung, dass jede irgendwie sinnvolle
Aufgabe der sogenannten Philosophie heute von der Wissenschaft übernommen
und durch sie allein erfüllbar sei. Wer aber Philosophie noch gelten lässt, tut
es ebenfalls im Namen der Wissenschaft, — so zwar, dass er Philosophie selber
als Wissenschaft erklärt und ihr eine Sonderstellung neben oder über den an-
erkannten Einzelwissenschaften zuspricht. Aus diesen Gründen verfangt die
Lösung unseres Problems in erster Linie die Beantwortung der Frage nach dem
Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie, und diese Beantwortung ist
wiederum nicht möglich ohne Untersuchung des ,. Wesens" beider, d. h. ihrer
Stellung innerhalb des Erfebens. — Diese Fragen, aus deren Lösung sich die
Lösung des Hauptproblems leicht ergiebt, bilden den Gegenstand des Buches.
Der I. Band beschäftigt sich nach einer das Problem entwickelnden Ein-
leitung ausschliesslich mit der Wissenschaft. Der 1. Abschnitt schildert in den
wesentlichen Punkten das Zustandekommen wissenschaftlichen Erkennens und
seine Stellung innerhalb des übrigen Erlebens. Er ist grundlegend für das
Folgende. — Der 2. Abschnitt sucht in Kürze die Beziehungen der Einzel-
wissenschaften untereinander und zur Wissenschaft als ganzer klarzustellen.
Von besonderer Bedeutung scheint mir die Einsicht in das Verhältnis zwischen
Naturwissenschaft und Psychologie zu sein. — Der 3. Abschnitt enthält eine in
sich zusammenhängende Untersuchung über wissenschaftliche Gesetze, Be-
dingung und Folge, Kausalität und Teleologie, Erklärung und einige andere
Grundbegriffe der Wissenschaft,
Ich habe mich jeder Auseinandersetzung mit der Literatur enthalten, um
das Buch, das von allen Gebildeten verstanden werden möchte, nicht zu be-
schweren. Die Fachleute werden meine Ausführungen mit denjenigen Anderer,
auch mit Kants grundlegenden Ideen, schon von sich aus kritisch ver-
gleichen. —
Der II. Band, der 1911 erscheinen soll, wird mit der Untersuchung über
das Wesen der Philosophie die Lösung der gestellten Fragen bringen.
Basel. Paul Häberlin.
Wernicke, Alexander. Die Begründung des deutschen Idea-
lismus durch Immanuel Kant. Ein Beitrag zum Verständnisse des gemein-
samen Wirkens von Goethe und Schiller. Braunschweig 1910. (XII u. 77 S.)
Der Verfasser versucht hier seine Arbeiten über Kant in gemeinverständ-
licher Form zusammenzufassen, um dabei erneut darauf hinzuweisen, dass Kant,
Goethe und Schiller seit den Briefen „Über die ästhetische Erziehung des
Menschen" wirklich in gemeinsamer Kulturarbeit für ihr deutsches Volk zu-
sammenstehen. Die Arbeit gliedert sich folgendermassen : 1. Die Weltanschauung
des deutschen Idealismus. 2. Leibniz und Kant. 3. Die Zwei, Welten "Lehre
Kants. 4. Die Geometrie als Lehrmeisterin und die allgemeine Wissenschaft
von der Sinnenwelt (Theorie des Gegenständlichen). 5. Die Tatsache der Frei-
KaotitudiSB XY. 34
532 Selbstanzeigen (Katzer — Keyserling).
heit und die religiös-ethische Weltanschauung. 6. Der Abschluss des Kantischen
Systems und seine Bedeutung.
Das Werkchen ist dem Lehrkörper des Herzogl. Wilhelm-Gymnasiums zu
Braunschweig gewidmet, dem der Verfasser vormals angehörte, und zwar ge-
legentlich des 25jährigen Bestehens der Anstalt.
Braunschweig. Alex. Wernicke.
Katzer, Ernst, Dr. theol. und phil., Kirchenrat. Luther und Kant.
Ein Beitrag zur inneren Entwickelungsgeschichte des deutschen Protestantismus.
Giessen, Verlag von Alfred Töpelmann. (126 S.)
Allgemeines Ringen nach einer klaren, in sich zusammenstimmenden
Weltanschauung ist ein unverkennbares Zeichen der Zeit. Es bewegt alle
Schichten der Gesellschaft. Das Verlangen danach kann gestillt werden durch
zwei Männer verwandten Geistes, die dem deutschen Volke vor Jahrhunderten
bereits geschenkt worden sind. Sie heissen Luther und Kant. Ihre Grund-
gedanken zu vergleichen und verstehen zu lehren, ist der Zweck des obenge-
nannten Buches, das allen Gebildeten einen Dienst leisten möchte. Es will
dartun, dass allein der moralisch-religiöse Determinismus im Stande ist, zu
einer befriedigenden Lebensanschauung zu führen. Luther und Kant haben ihn,
jeder nach seiner Art, vertreten. Luther lehrt ihn hauptsächlich in seiner
Schrift „vom unfreien Willen", Kant in seinem ganzen System. Die Lehre von
der menschlichen Freiheit bildet demgemäss den Mittelpunkt in dem Denken
beider Männer. Sie betrifft die tiefste Frage des menschlichen Daseins, das
Hauptproblem des gesamten Denkens und Handelns. Alle anderen Fragen
empfangen von ihr aus das rechte Licht. Um hiervon zu überzeugen, war es
notwendig, neben Luthers Weltbetrachtungsweise Kants philosophisches System
so kurz und verständlich als möglich darzustellen und den Versuch zu machen,
die Klagen über die Schwierigkeit in Kants Gedankengange einzugehen, nach
Kräften zu beseitigen. Luther und Kant, beide reformatorische Geister, können
dem „Suchen der Zeit" den sichersten Weg zum Finden zeigen. Ihr gemein-
sames Werk ist unsterblich. Auf ihm ruht der deutsche Protestantismus und
mit ihm eine gesunde religiöse Weltanschauung überhaupt. Das denke ich
durch die vorliegende Schrift begründet zu haben.
Oberlössnitz-Dresden. D. Katzer.
Keyserling, Hermann, Graf. Prolegomena zur Naturphiloso-
phie. München 1910, J. F. Lehmanns Verlag.
Inhalt: Vorrede. — Der kritische Gesichtspunkt. — Vernunft und Welt-
ordnung. — Die Erkenntniskritik als Zweig der Biologie. — Naturgesetze und
Naturerscheinungen. — Das Leben. — Vom Ideal des philosophischen Denkens.
In diesem Werke, das aus Vorlesungen entstanden ist, die ich im Herbste
1907 an der Freien Hochschule zu Hamburg abhielt, wird der Versuch unter-
nommen, zu einem abschliessenden Begriffe der Natur zu gelangen, festzustellen,
ob alles Wirkliche in diesem aufgeht und, falls solches nicht der Fall sein
sollte, den Charakter der für die Naturwissenschaft transscendenten Wirklichkeit
genau zu bestimmen. Es erweist sich die methodische Möglichkeit, über den
Kantischen Naturbegriff, der an sich selbst jeder Kritik standhält, insofern hinaus-
zugehen, als das System der Erkenntnisformen, welches für Kant die letzte In-
stanz bedeutet, seinerseits im Gesamtzusammenhange des Wirklichen betrachtet
werden kann, und diese Möglichkeit lässt die positive Beantwortung einer Reihe
von Fragen zu, über welche Kant von seinem Standpunkte aus nicht hat ent-
scheiden können. So die Fragen des Sinnes der Erkenntnis, dass uns nur
Erscheinungen gegeben sind, von den Erkenntnisformen bedingt und gestaltet,
des Verhältnisses der Denknormen zur objektiven Ordnung der Dinge, der ab-
soluten Bedeutung dessen, dass wir die Natur nur nach Gesetzen begreifen
können, die unbedingt zu gelten scheinen und doch der Selbsttätigkeit des
Subjektes ihr Dasein verdanken. Ja es erweist sich zuletzt die Möglichkeit,
die idealistische Weltansicht als solche — bisher die letzte Instanz jeder kri-
tischen Philosophie — dem Sinne nach zu begreifen und darzutun, dass diese
nicht die ganze Wirklichkeit, sondern nur den Ausschnitt derselben umfasst,
Selbstanzeigen (Neumark), 533
welche für den Menschen als seine Umwelt (im biologischen Sinne) in Betracht
kommt. Ist nun ein „Ausschnitt" als solcher bestimmt, so ist es offenbar mög-
lich, über das .Negativ" desselben gleichfalls Bestimmtes auszusagen. Durch
eindringliche Untersuchungen wird festgestellt, welche transscendenten Probleme
wir als gegenständlich gelten lassen müssen, und welche für die Wissenschaft
fortfallen. Es fallen alle fort bis auf eines : das Leben. Das Leben als auto-
nomes Prinzip, als schöpferische Spontaneität, liegt jenseits des Rahmens mög-
licher Naturwissenschaft, es ist zugleich das, was alle Wissenschaft nicht umhin
kann, vorauszusetzen, und endlich das, was alle Metaphysiker, von Heraklit
über Hegel bis Bergson, recht eigentlich gemeint haben, gleichviel mit
welchen Begriffen sie ihre unmittelbaren Einsichten verknüpften. So gelange
ich zum Schluss zu einem Begriff der Metaphysik, der manches deutlich machen
dürfte, was bisher nur undeutlich gefühlt wurde. Am Ende des Werkes habe
ich eine methodische Untersuchung darüber angestellt, wie philosophiert werden
muss, wenn das Ergebnis des Denkens echte Erkenntnis bedeuten soll.
Rayküll (Estland). Hermann Graf Keyserling.
Nenmark, David, Dr., Professor der Philosophie am Hebrew Union
College in Cincinnati, Ohio. Geschichte der jüdischen Philosophie des
Mittelalters. Band II, 1, Georg Reimer 1910.
Dieser Halbband enthält die erste Hälfte des dritten, die Attributen-
lehre behandelnden Buches (das ganze Werk ist auf 5 Bände in 9 Büchern
berechnet) und ist ausschliesslich der biblischen und griechisch-jüdischen
Literatur als Quellen der jüdischen Philosophie des Mittelalters gewidmet.
Nach einem kurzen einleitenden Kapitel (S. 1—9) wird im zweiten Kapitel
(S. 10—240) nachgewiesen, dass die gesamte biblische Literatur im Zeichen des
Attributenmotivs steht, dass die Verschiedenheit der Pentateuchquellen
auf verschiedenen Konzeptionen der Attributenlehre beruht, und dass auch die
damit zusammenhängende verschiedene Konzeption der Gottesnamen darauf
zurückzuführen ist, dass der Gottesname stets eine der mit einander rivalisierenden
Attributenformeln deckt und für jede Schule das Ideogramm der ihr eigenen
Konzeption der jüdischen Lehre ist. In der Schlussanmerkung werden Hoff-
manns „Gegeninstanzen" geprüft und zurückgewiesen und im Anschluss daran
die Anfänge der Halacha auf bibelkritischer Grundlage im Sinne Abraham
Geigers diskutiert. Das dritte Kapitel (S. 240-293) liefert eine Darstellung
der Philosophie Piatos aus dem Attributengesichtspunkt und legt be-
sonders jene Punkte frei, an welche die jüdische Spekulation der griechischen
Periode angeknüpft hat. Das vierte Kapitel (S. 294—473) führt den Nachweis,
dass die gesamte literarische Produktion der griechischen Periode im Zeichen
des biblisch-platonischen Attributenmotivs steht, und dass dieses Motiv
den Brennpunkt der Vereinigung von Judentum und Piatonismus gebildet hat.
Die gesamte jüdisch-griechische Literatur wird in zwei Gruppen eingeteilt:
1. die geschichtliche mit Josephus, 2. die philosophische, mit Philo
als dem zusammenfassenden Repräsentanten. Die erstere treibt vorwiegend
Staats- und Geschichtsphilosophie. Die letztere vorwiegend Philo-
sophie im engeren Sinne. Dieser Halbband schliesst mit einer umfang-
reichen Darstellung der Philosophie Philos (S. 391-473). In dieser wird das
System Philos auf dessen Motive hin so analysiert, dass es klar wird, dass
Philo, bei aller Neuheit der Kombination, nichts als der zusammenfassende
Repräsentant jener Motive und Spekulation ist, welche in der ihm vorangehenden
jüdischen Literatur dieser Periode vorliegen. An geeigneten Stellen werden die
Fäden biosgelegt, die von der Spekulation des jüdischen Altertums zur Philo-
sophie des Mittelalters führen. —
Die Beziehung dieses Werkes zu Kant ist in dem schon früher erschie-
nenen ersten Bande, Buch I, Kap. 3: „Orientierung und Disposition" dahin
formuliert, dass der Zweck der Forschung in der Geschichte der jüdischen Philo-
sophie für den Verfasser darin besteht, von der geschichtlichen Entwickelung
aus zu einer systematischen Anschauung auf transscendentalphilosophischer
Gnmdlage zu gelangen.
Cincinnati (Ohio). David Neumark.
31*
534 Selbstanzeigen (Janssen— Lorentz—Haering).
Janssen, Otto. Das Wesen der Gesetzesbildung. Halle, Max Nie-
meyer, 1910 (280 S).
Die vorliegende Arbeit will nicht die Art der Gesetzesbildung, wie sie in
den verschiedenen Wissenschaften vor sich geht, durchleuchten, sondern sie
sucht die ihnen allen gemeinsame Form im logischen, erkenntniskritischen und
teilweise psychologischen Sinne darzulegen. Zunächst wird gefragt, wie wir zu
Gesetzen gelangen, wie isolierendes und abstrahierendes Denken an ihrer Bildung
beteiligt sind, wie weit wir induktiv oder deduktiv tätig sind, ob einzelne oder
viele Fälle der Betrachtung zu Grunde liegen müssen, schliesslich, wie weit die
Erfahrung mitspricht und ob es im echten Sinne apriorische Gesetze giebt. Das
Gesetz der Natur macht zunächst ein Eingehen auf die Form der natürlichen
Beziehungsweise notwendig. Es gilt zu ermitteln, wie in diesem Umkreise Er-
kenntnisse gewonnen werden, was Kausalität und Coexistenz bedeuten, und wo
ihr innerster Sinn verborgen liegt. Dabei werden Anschauungen vertreten, die
denen David Humes nahe kommen, und zugleich eine Weiterführung und Ver-
tiefung seiner Gedanken erstrebt. Des Weiteren wird gezeigt, wie wir im Ge-
biete der Erkenntnistheorie und Logik zu Gesetzen gelangen und an einigen
Beispielen, zumal logischer Natur, deren Bildungsweise und Wirksamkeit auf-
gedeckt. Der umstrittene Begriff eines letzten Gesetzes . . . soll ebenfalls
seine Erledigung finden. Im Gebiete der Psychologie werden die Schwierig-
keiten aller gesetzlichen Erkenntnis diskutiert und von ihnen aus die Probleme
des Wollens beleuchtet. Hier wird versucht eine neue Einstellung der Willens-
frage zu geben. Den Schluss bilden Erörterungen über Gesetze der Geschichte.
Düsseldorf. Otto Janssen.
Lorentz, Paul, Dr., Gymnasialdirektor. Lessings Philosophie.
Denkmäler a. d. Zeit des Kampfes zwischen Aufklärung und Humanität in der
deutschen Geistesbildung. Dürrs Philos. Bibliothek. Bd. 119. Leipzig 1909.
(LXXXVI u. 396 S.).
Die Auswahl ist so gestaltet, dass neben kleineren, im engeren Sinne
philosophischen Abhandlungen vor allem die beiden Hauptgebiete der Religions-
philosophie und der Geschichtsphilosophie berücksichtigt wurden, das der Kunst-
wissenschaft nur soweit, als es zu allgemein philosophischen Ergebnissen führt.
Im Anhange wird das Bild des Philosophen Lessing durch eine Reihe syste-
matisch geordneter Einzelbemerkungen aus den verschiedensten Schriften des
stets tief schürfenden Denkers ergänzt und durch eine Auswahl von Briefen
die Möglichkeit gegeben, an Lessings allerpersönlichsten Ausführungen seine
philosophische Entvvickelung zu beobachten. Die Einleitung behandelt Lessing
Stellung in der Entwicklung der deutschen Philosophie und die Entwicklung
seiner philosophischen Anschauungen: Lessing bedeutet die Hauptvermittlung
zwischen der Aufklärung und der durch Kant begründeten deutschen idealistischen
Philosophie, und er weist durch seine Anknüpfung an Spinoza und den Leibniz,
wie er der Aufklärung unbekannt geblieben war, bereits auf die an Kant sich
anschliessende idealistische Philosophie voraus, namentlich durch die letzte Stufe
der Entwickelung seines Religionsbegriffs und des Begriffs der geschichtlichen
Entwickelung. Im Einzelnen wird die Auffassung in den Erläuterungen näher
ausgeführt, die sonst das sachlich und persönlich zum Verständnis Notwendige
beibringen.
Friedeberg (Neumark). P. Lorentz.
Haering, Theodor, Dr., Repetent am Seminar Schöntal. DerDuisburg-
sche Nachlass und Kants Kritizismus um 1775. Tübingen. J. C. B. Mohr
(Dr. P. Siebeck). 1910. (160 Seiten und 4 Faksimilereproduktionen von Blättern
des Nachlasses.)
In der Entwicklungsgeschichte des Kantischen Denkens sind die Jahre
zwischen der Dissertation (1770) und der ersten Kritikauflage (1781) die dunkelsten
wegen Mangel an Druckschriften aus dieser Zeit und wegen der bisherigen
Unmöglichkeit, die von Erdmann und Reicke publizierten Nachlassstücke, die
teilweise sicher auch diese Jahre betreffen, zeitlich zu fixieren.
Selbstanzeigen (Ledere). 535
Verf. geht nun von der Tatsache aus, dass ein Blatt des nach seinem
früheren Besitzer sogenannten Duisburgschen Kantnachlasses (Reicke, „Lose
Blätter" I, No. 1 — 18) ein Datum trägt, nämlich Blatt 8 desselben, welches aus
einem mit Kantischen Notizen versehenen Brief an Kant vom 20. Mai 1775
besteht. Die Gewohnheit Kants, solche (unwichtige) Briefe kurze Zeit nach
ihrem Eintreffen als Notizblätter zu verwenden, macht es sehr wahrscheinlich,
dass auch die betreffenden Notizen 1775 anzusetzen sind. Die Handschrift von
No. 8 zeigen aber auch die meisten andern Blätter des genannten Nachlasses,
und auch inhaltlich lässt sich leicht ihre Zusammengehörigkeit erweisen.
Wir besitzen somit in diesen Blättern ein Dokument genau aus der Mitte
des oben genannten dunkeln Zeitraums.
In einem sehr ausführlichen Kommentar werden die Blätter zunächst
vom Verf. einzeln besprochen. Schon der Text ergiebt eine grössere Zahl von
Abweichungen gegenüber Reickes Abdruck, sowohl in einzelnen Worten als in
der Umstellung ganzer Abschnitte. Durch den Kommentar selbst aber soll der
schwierige, bisher fast ganz vernachlässigte Gedankeninhalt für die künftige
Kantforschung verwertbar gemacht werden.
Auf den Kommentar folgt eine, auf den Einzelinterpretationen aufgebaute
Darstellung der Hauptprobleme, mit denen die Blätter sich beschäftigen.
Zum Schluss wird, soweit es das verarbeitete Material zulässt, Kants
kritische Stellung im Jahr 1775 im Unterschied zu der von 1770, 1772 (Brief
an Herz) und 1781 dargelegt.
Beigegeben ist ein Register der Hauptbegriffe der besprochenen Blätter
und ihrer Fundorte und eine Tabelle zur Vergleichung der Numerierung des
Kommentars mit Reickes Seitenzahl.
Reproduktionen einzelner Blätter veranschaulichen das Ganze.
Verf. glaubt, mit dieser Arbeit der Kantforschung ein neues, sehr wichtiges
Material zur Erforschung des Kantischen Entwicklungsganges zugänglich und
verwertbar gemacht zu haben. Auf Grundprobleme der „Kritik" und ihre
Lösungen fallen überall interessante Streiflichter aus diesem Stück des Kantischen
Nachlasses.
Schöntal (Württemberg). Theodor Haering.
Ledere, Albeii;, professeur agrege ä l'Universite de Berne. La Vanite
de l'Experience religieuse. Geneve, librairie Kündig, 1910.
Le but de ce travail est de faire la critique du concept d' >experience
religieuse^. L'auteur demontre que si la religion n'est pas chose illusoire, eile
ne saurait avoir qu'une justification d'ordre metaphysique; comparant l'experience
religieuse avec l'experience scientifique, il fait voir que tous les caracteres con-
stitutifs de la seconde et tout ce qui fait sa valeur probante manque ä la pre-
miere, et cela ä tel point que, si la verite religieuse etait affaire d'experiencc,
il faudrait dire que l'experience serait plutöt hostile ä cette verite. La vraic
religion, s'il en est une, doit avoir quelque chose d'irremediablement etonnant
et heurter en un sens toute la nature humaine, sans d'ailleurs etre fondec pour
cela ä se mettre en Opposition avec la science et avec la critique. Un'y aurait
d'experience religieuse conclvante que . . . si le spiritisme n'etait pas illusoire.
c'est par suite d'un scepticisme latent, que tant de croyants actuels versent dans
l'experimentalisme religieux: ou bien ils alleguent une experience intime qui ne
prouve rien, qui ne se distingue en rien de la fausse perception, de la fantaisie,
de ce qu'on nomme en science »une chose ä demontrers ou bien ils subtilisent
pour trouver des analogies entre deux experiences qui n'ont de commun que le
nom (equivoquant sur les deux sens du mot experience: >verification«: et »satis-
faction«), ou bien encore ils imaginent une sorte d' >experience sui generis«
qui n'est meme pas clairement definissable. En fin de compte, ils alterent et
le concept de science et celui de religion. L'experimentalisme religieux apparait
dans l'histoire chaque fois que, la foi tendant ä diminuer, l'homme se travaille
pour »croire quand mßme«; il cherche alors Dieu en lui-meme, dans une sorte
de perception du coeur, en dehors et ä l'abri des considerations scientifiques et
dialectiques dont il craint les conclusions negatives: ainsi s'explique l'apparition
du Protestantisme au XVI siecle, une grande partie de la Philosophie religieuse
536 Selbstanzeigeii (Gräter— Mun~Krieck).
protestantc allemande au XIX siede, et le Modernisme catholique. Ce sont lä,
en somme, des Pragmatismes ; et le Pragmatisme proprement dit n'est qu'un
Modernisme philosophique, issu de la volonte de »croire quand meme« ä des
theses metaphysiques que le coeur aime encore mais auxquelles l'intelligence,
au fond, ne donne guere plus son assentiment.
Albert Ledere.
Gräter, A. S., Dr. Neu -Christen tum. 1. Die Unhaltbarkeit der kirch-
lichen Glaubenslehre (130 S). II. Wahrheit und Irrtum bei Jesus von Nazareth
(157 S.). Stuttgart, Fr. Frommanns Verlag (E. Hauff), 1910.
Der erste Teil zeigt, dass die kirchliche Glaubenslehre sich mit einem
fremdartigen Ballaste beschwert hat, welcher mit dem modernen Denken und
Wissen unvereinbar ist, und findet den Grund dieser Tatsache in einer falschen
Auffassung der Stellung des Nazareners und seines Lebenszieles.
Im zweiten Teil folgt zunächst eine von hoher Verehrung getragene Dar-
stellung von Lehre, Wirken und Streben des Jesus von Nazareth, welcher, wie
es für eine wissenschaftliche Darlegung unumgänglich ist, als reiner Mensch
aufgefasst wird. Weiterhin wird aber auch nachgewiesen, dass der Mensch Jesus
Irrtümern unterworfen war, welche im letzten Grunde auf das damalige Weltbild
zurückgehen, welches für uns vergangen ist. Dies führt zu einer kritischen
Untersuchung des Problems vom Wesen, Wirken und Walten Gottes, womit das
Buch vom religiösen auf das philosophische Gebiet übergeht.
Das Bestreben des Buches geht durchweg dahin, dem modernen Denken
in religiösen Fragen zu seinem Rechte zu verhelfen, zugleich aber das Bleibende
und Wesentliche des Christentums festzuhalten. So erfährt das Christentum
nach den Wurzeln seines Ursprungs in der Vergangenheit, nach den Anforderungen
für die Gegenwart und nach den Ausblicken in die Zukunft eine eingehende
Wertung, die dem Buche seinen Gehalt verleiht.
Stuttgart. Dr. A. S. Grat er.
Mun, Thomas. Englands Schutz durch den Aussenhandel.
Nach dem Original (1664) übersetzt und eingeleitet von Dr. Rudolf Biach.
Wien-Leipzig, F. Tempsky, 1911. (LXLVIII u. 113 S.)
Erkenntnistheoretische Betrachtungen über die Entwickelung der
nationalökonomischen Theorie sind in der volkswirtschaftlichen Fachlitera-
tur vereinzelte Erscheinungen.
Thomas Mun, ein Zeitgenosse Descartes', war ein einfacher Kaufmann,
doch ein kluger und scharfer Beobachter, der als leitender Direktor der eng-
lischen Ostindienkompagnie erkannt hat, welche Bedeutung einer systematischen
Wirtschaftspolitik für das Wohl eines Landes beizumessen sei.
Sein Programm gründet sich auf eine Handelsbilanz, welche alljährlich
statistisch erweisen soll, dass die wirtschaftlichen Kräfte des Landes in richtiger
Weise ausgenützt worden sind. — Die Handelsbilanz stellt somit einen Versuch
dar, Kräfte numerisch auszudrücken und der Verfasser hat es unternommen,
an der Hand der Untersuchungen von Bergson, Duhem und Mach die Methode
dieser politischen Verwertung der Mathematik in einer Einleitung, welche der
deutschen Übersetzung dieses eigentümlichen philosophisch nicht uninteressanten
Buches vorangeschickt ist, erkenntnistheoretisch zu prüfen und hat beachtens-
werte Zusammenhänge dieses dogmatisch ungeschulten Schriftstellers mit den
Lehren des hl. Thomas v. Aquin und der Philosoohie des Descartes gefunden.
Florenz. *Dr. Rudolf Biach.
Krieck, Ernst. Persönlichkeit und Kultur. Kritische Grundlegung
der Kulturphilosophie. Heidelberg, Winter, 1910. (XVI u. 512 S.)
Dass man in seinem Selbstbewusstsein etwas unmittelbar Gegebenes und
Gewisses und darum den Ausgangspunkt der Philosophie habe, ist der Grund-
gedanke des neueren Idealismus. Über das Wesen des Selbstbewusstseins aber
und sein Verhältnis zum All hat man keine Einigung erzielt und wird man
niemals eine erzielen können, weil jede Weltanschauung und Weltbewertung
zuletzt auf der Grundlage autonomen Lebens und WoUens ruht, dessen Viel-
Selbstanzeigen (Krieck). 537
gestaltigkeit und Gegensätzlichkeit berechtigt und notwendig ist. Doch hat das
Prinzip einer Philosophie nicht nur subjektive Wahrheit ; es ist nicht nur Symbol
eines Einzellebens ; sondern die synthetische Kraft, mit der es die divergieren-
den Einzelstrebungen zusammenfasst zu einem Gemeinschaftsleben, zur Kultur,
also die kulturelle Wohltätigkeit, ist das Mass der Wahrheit und des Wertes
für das Prinzip. Kulturphilosophie ist demnach die Philosophie des Gemein-
schaftslebens und seines Verhältnisses zum Einzelleben. Und in dieser Be-
deutung umfasst sie alle philosophischen Probleme schlechthin, indem sie den-
selben die Wendung aus ihrem abstrakten Dasein ins Ethische giebt.
Welche Bedeutung hat das Ich für die Welt? Das vorliegende Buch
giebt zur Antwort : es ist nicht nur formales Subjekt, sondern durch seine spon-
tane Kraft das schöpferische Prinzip derselben, der Zugang und zwar der einzige
Zugang zum Intelligiblen. Das Ich ist als persönliches Selbst Transscendental-
prinzip. Die Konsequenz dieses Prinzips leitet aber nicht zum Solipsismus,
noch auch muss zu dessen Vermeidung ein höheres, absolutes oder Welt-Ich
angenommen werden, dessen Annahme metaphysische Dichtung wäre und dessen
Verhältnis zum persönlichen Ich die Achillesferse' dieser Art Philosophie seit
Fichte war. Vielmehr ist die Daseinsform des persönlichen Ich, sein Bewusst-
sein, nichts absolutes, sondern schon gegründet auf das tatsächliche Gemein-
schaftsleben, welches nicht als absolutes Ich in transscendenten Regionen hypo-
stasiert zu werden braucht. Die Gemeinschaft ist als Tatsache gegeben mit
der Existenz des Du, also anderer autonomer Ich, und deren Wechselwirkung
aufeinander. Das Bewusstsein entwickelt und verändert sich nicht bloss unter
dieser Einwirkung, sondern der vorliegende Versuch sucht zu zeigen, dass sie
Voraussetzung zur Bildung des Bewusstseins, dessen elementarste Tatsache ist.
So ist das Bewusstsein also von vornherein ethisch, gewissermassen historisch
begründet. Damit ist das Grundproblem der Philosophie über den verhängnis-
vollen toten Punkt, nämlich über das eindeutige erkenntnistheoretische Verhält-
nis von eindeutigem Subjekt zu eindeutigem Objekt hinaus, weil das primärste
Objekt (das Du) autononomes Selbst, also ebenfalls Subjekt, somit Subjekt-
Objekt ist, wodurch das Ich gleichfalls zu einem solchen wird. Das erkennt-
nistheoretische Problem des reinen Objekts ist aus diesem umfassenderen Pro-
blem alsdann abzuleiten.
Homo homini deus ; der Mensch ist in seinem Grunddasein dem Realis-
mus, der Naturwissenschaft entrückt; mit seiner transscendentalen Wurzel, seiner
Freiheit, ist er dem Mitmenschen die erhabenste, die grundlegende Wirklichkeit.
Das Selbst hat nämlich zur Grundeigenschaft den unendlichen, freien Trieb, die
Spontaneität. Diese Spontaneität beschränkt sich nicht, wie Fichtes Ich, durch
einen freiwilligen Akt, sondern sie wird beschränkt und bestimmt durch anderes
autonomes, spontanes Dasein. Die Möglichkeit der Beschränkung meiner Spon-
taneität durch fremde Spontaneität, also die Passivität des Ich, ist seine zweite
Eigenschaft, die hier Vernunft genannt wird als die Form des bewusstseins-
bildenden Verkehrs der substantiellen Selbste. Das reine Objekt gehört erst
dem so gebildeten Bewusstsein, d. h. der Reflexion des Ich gegen das Du an.
Die Sinnlichkeit des Gesichts und Getasts hat nämlich ebenfalls zunächst als
Akt der Spontaneität zu gelten. Erst durch die vernünftige Einwirkung wird
sie normiert, erhält sie allgemeine, objektive Bedeutung, wird sie als Bewusst-
seinsinhalt dem Selbstbewusstsein entgegengestellt und gestaltet durch Über-
tragung der reflektierten Selbstheit auf sie: der Anthropomorphismus ist das
dingbildende Prinzip. Vernunft ist demnach die Grundlage des Bewusstseins
wie seines objektiven Inhalts. Durch sie entsteht die Gemeinschaft des Objekts,
die Verständigung, ein gemeinsames Feld des Daseins und Wirkens, die Kultur.
Ihre Ergebnisse müssen wiederum in jedes beteiligte Bewusstsein aufgenommen
werden, wenn der Einzelne ein normales Glied der Gemeinschaft werden und
sich in ihr betätigen soll.
Die Spontaneität und die Passivität der Vernunft sind somit die Grund-
komponenten für die Wirklichkeit. Der ganze vorliegende Versuch läuft schliess-
lich auf eine Kritik des Begriffes der Wirklichkeit hinaus, welcher auf die
ethische Grundlage des Ich und Du zurückgeführt und (als Wertproblem im
538 Selbstanzeigen (Forsyth).
weitesten Sinne) dynamisch erbaut wird. Die Wirklichkeit hat gemäss ihren
zwei Komponenten zwei Dimensionen. Sie ist 1. die Stellung eines Objekts
(Wert und Wichtigkeit) im persönlichen Bewusstsein, welche durch die Sponta-
neität bestimmt ist ; 2. die Verbreitung einer solchen Wirklichkeit durch die
Gemeinschaft, d. h. die Grösse der Gemeinschaft, welcher das Objekt auf ent-
sprechende Weise Wirklichkeit, Motiv ist. Diese extensive Dimension der
Wirklichkeit beruht auf der Vernunft und entwickelt sich aus jener, dadurch,
dass die Persönlichkeit im Masse ihrer Kraft ihre subjektive Wirklichkeit, was
also für sie Ideal, Motiv ist, zu einer allgemeinen Wirklichkeit macht durch ihr
Werk, ihre vernünftige Einwirkung auf ihre Mitwelt. Zieht man aber von
irgendwelcher Wirklichkeit ihre ethische Bedeutung als Motiv, als Mittel zu
persönlichen oder allgemeinen Zwecken, also ihre immerhin subjektiv bedingte,
kulturelle Seite ab, so bleibt rein nichts übrig als ein leeres Postulat der Ob-
jektivität, des Ansichseins. Wissenschaftslehre und Ethik befassen sich mit der
allgemeinen oder extensiven Dimension der Wirklichkeit; Religion und Kunst
dagegen mit deren Wurzel, dem Ideal. So werden von dieser idealistischen
Wirklichkeitskritik aus die Grundlinien einer Weltanschauung gezogen.
Mannheim. Ernst Krieck.
Forsyth, Thomas M., Dr. English Philosophy. London, A. & C.
Black, 1910. (231 S.)
Der vollständige Titel dieses Buches deutet den Charakter desselben an:
English Philosophy; a Study of its Method and General Develop-
ment. Es ist nicht eine Geschichte der englischen Philosophie vom literarischen
oder biographischen Standpunkte aus betrachtet, sondern eine Untersuchung des
Charakters und der Entwicklung dieser Philosophie, wie diese in den Werken
der grossen englischen Denker — von Francis Bacon bis zu Shadworth Hodg-
son und William James — zu Tage treten. Das Buch strebt danach, den
wesentlichen Charakter der englischen Philosophie anzudeuten und uns
einen genauen Begriff von ihrer Entwicklung zu geben.
Indem er findet, dass der Charakter der Entwickelung in einer progres-
siven Anwendung der traditionellen englischen Methode besteht, — welche all-
gemein als die „Methode der Erfahrung' bezeichnet wird — bestrebt sich der
Autor, zu beweisen, wie Fortschritte in Methode und in Resultaten einander be-
gleitet und bedingt haben. Der Entwicklungsprozess zeigt sich in Modifikationen
der Auffassung der philosophischen Methode, verbunden mit abweichenden Er-
gebnissen, welche die Folge dieser Verschiedenheiten der Methode sind. Das
Endresultat der ganzen Entwicklung könnte man als „Erfahrungslehre" (ex-
perientalism) bezeichnen, sowohl was die Methode, als auch was die doctrinäre
Richtung anbetrifft. (.Experience is at once the starting-point, the pathway,
and the goal in the search for reality.")
Die Stellungnahme des Verfassers ist, dass die Entwicklung der Philo-
sophie in dem allmählichen Eliminieren von Voraussetzungen besteht, die
den ins Auge gefassten Standpunkt ungebührend einengen und infolge dessen
das Verfahren verdunkeln und die Schlüsse, zu denen man gelangt, beeinträch-
tigen. Solche Voraussetzungen sind in der englischen Entwicklung wesentlich
vorgefasste Meinungen betreffs des wahren Charakters der
Erfahrung gewesen; und die Entwicklung ist immer auf eine mehr kon-
krete Auffassung ihres Charakters gerichtet gewesen.
Diese Auffassung hat eine zweifache Bedeutung. (1) Die Methode der
Philosophie ist wesentlich dieselbe als die der anderen Wissenschaften. Der
Unterschied zwischen beiden ist der, dass während jede der speziellen Wissen-
schaften auf einer besonderen Voraussetzung beruht, von der wir als ausge-
macht annehmen, dass sie eine Seite der Erfahrung definitiv ausdrückt, die
Aufgabe der Philosophie die ist, — durch das Bestreben den innersten Cha-
rakter der Erfahrung darzustellen, und die Bedeutung ihrer verschiedenen Er-
scheinungen als Aspekte unseres Lebens oder unserer Erfahrung als Ganzes
aufzufassen — solche Voraussetzungen zu vermeiden und alle Unterschiede und
Beziehungen im Laufe der Interpretation der Erfahrung ans Licht zu bringen.
Die Philosophie folgt daher nicht nur den Wissenschaften, sondern geht ihnen
Entgegnung (Kinkel). 539
logischerweise voran. (2) Dieser Versuch ist die einzige Methode, durch welche
es möglich wird, die verschiedenen Abstraktionen zu überwinden — wie z. B.
Wissen und Sein, Geist und Materie, Intellekt und Wille — , welche sich im
Laufe der Untersuchung zeigen, und welche wir in Beziehung zu und Überein-
stimmung mit einander bringen müssen, um einen angemessenen Ausdruck des
Charakters und der Bedeutung unserer Erfahrung zu erlangen. Der Verfasser
versucht es, diese verschiedenen Aspekte der Erfahrung in dem Begriffe zu
vereinigen, dass Erfahrung Würdigung (appreciation) heisst, und dass alle
endliche Erfahrung als fortschreitende Würdigung ein Teilnehmen an der Reali-
tät der unendlichen Erfahrung ist.
St. Andrews, Scotland. Thomas M. Forsyth.
Entgegnung.^)
Herr Joh. Paulsen hat im letzten Heft dieser Zeitschrift eine Kritik meines
Buches über den »Humanitätsgedanken" gegeben, die geeignet ist, völlig falsche
Vorstellungen vom Inhalt und der Tendenz dieses Werkes zu erwecken. Dies
erklärt sich aus dem auffallend geringen Verständnis, welches Herr P. dem
Hauptgedanken meines Schriftchens entgegenbringt. Ich kann seine Kritik
nicht ohne einige Worte der Entgegnung lassen.
Herr P. vermisst z. B. die ausführlichere begriffliche Analyse des Begriffes
der Humanität; und in der Tat, er hätte ein Recht dazu, wenn ich geglaubt
hätte, dieser Analyse durch das Zitat fremder Aussprüche über diesen Begriff
enthoben zu sein. Aber Herr P. hätte doch leicht merken können, dass das
ganze Buch dieser Analyse dient. Wozu denkt Herr Paulsen z. B., dass die
Ausführungen über die Rezeptivität und Spontaneität der menschlichen Seele
dienen sollten? Wozu die Untersuchungen über Erhaltung und Veränderung
im geistigen Geschehen? Für Herrn Paulsen hat dies alles offenbar keine Be-
ziehung zum Begriffe reiner Menschlichkeit; es dient nicht dazu, diesen Begriff
zu klären. Vielleicht rechnet er alle diese Untersuchungen zu den „einzelnen
ansprechenden Gedanken und Wendungen, die — es mag sein — in dem Buche
zu finden sind". Ich aber hatte erwartet, dass ein ernsthafter Kritiker wenigstens
soviel Einsicht bewiese, in diesen Ausführungen den Kernpunkt des Werkchens
zu erkennen.
Es ist aber überhaupt mit der von Paulsen beliebten Methode der Kritik
eine eigene Sache. Mir wirft er vor, ich hätte statt der Beweise und der be-
grifflichen Analysen nur Behauptungen gegeben; er selbst aber stellt an die
Spitze seiner Kritik eine dogmatische, sehr anfechtbare, durchaus nicht be-
wiesene Behauptung, wie ein solches Buch, wie das meinige, be-
schaffen sein sollte; und da ich nun das Unglück habe, diesem Vorurteil
nicht gerecht zu werden, so muss sein Urteil natüriich sehr ablehnend ausfallen.
Ich wenigstens war bis jetzt der Überzeugung, dass das Humane nicht
das Ethische allein, sondern auch das Ästhetische umfassen müsste, sowie
auch das Logische — kurz, alle Seiten der Kultur. Herr Paulsen aber, der nun
einmal ein Kompendium der Ethik von mir erwartet hatte, hat hierfür keinen Sinn.
Seine, Herrn Paulsens Kritik, zeigt überhaupt alle Fehler, die einer Kritik
nur anhaften können. Kein Leser seiner Kritik wird auch nur entfernt eine
Ahnung davon bekommen, was denn nun eigentlich in meinem Buche steht
(und das ist, scheint mir, doch das wenigste, was man von einer Kritik ver-
langen kann: dass sie nämlich den Leser voriäufig über den Inhalt des zu be-
sprechenden Buches orientiert). Oder soll vielleicht dieser Forderung durch
jene oberflächliche Aufzählung der Stichworte eines Abschnittes, wie sie von
1) Anm. d. Red. Wir müssen im Folgenden leider wieder einmal zwei
Kontroversen bringen. Nachdem nun in jedem der beiden Streitfälle jede der
beiden Parteien zu Worte gekommen ist, schliessen wir hiermit zugleich die
Debatte. "= ^
540 Duplik (Paulsen)— Erklärung (Wagner).
Paulsen S. 356 unten gegeben wird, genügt sein? Den Dogmatismus seines
kritischen Ausgangspunktes habe ich schon erwähnt; so dogmatisch sind denn
auch seine kritischen Ausführungen im einzelnen.
Ich kann demgegenüber nur hoffen und wünschen, dass die Leser dieser
Zeitschrift mein Buch selbst zur Hand nehmen. Eine objektive Kritik scheue
ich nicht, sondern sie ist mir erwünscht. Auf diesen Titel einer objektiven
Kritik aber kann das Produkt der kritischen Tätigkeit des Herrn Paulsen keinen
Anspruch erheben. Walter Kinkel.
Duplik.
Ich kann nur dem Autor darin beipfUchten: man möge seine Schrift lesen,
falls man sich für die Sache interessiert. Darnach empfehle ich meine Kritik
der Aufmerksamkeit des Lesers. Das richtige Urteil wird sich dann einstellen,
— sowohl über die Arbeit Kinkels, wie über meine Recension, als endlich auch
über die „Entgegnung" des Verfassers.
Hamburg. Johannes Paulsen.
Erklärung.
Im letzten Hefte der .Kantstudien" (Bd. XV) findet sich auf S. 358 eine
Rezension meines Registers zu Schopenhauers Werken^von Dr. Ohmann.
Die einleitenden anerkennenden Worte, die es als „unübertrefflich an Zuverlässig-
keit und Umfang" bezeichnen, stehen in auffallendem Gegensatz zu den vielen
folgenden Bemängelungen über „Unvollständigkeit", .Fehler in der Anlage",
„philologische Kleinarbeit", „oberflächliches Gemengsei" u. dgl. m. Die über-
raschende Animosität der Rezension kann ich mir nur aus einer Verstimmung
über meine Kritik der Grisebachschen Ausgabe und die Benutzung der Frauen-
städtischen erklären. Dies veranlasst mich zu einigen Bemerkungen und Be-
richtigungen:
1. Ich hatte gute und wohlerwogene Gründe, das Register auf die Werke
zu beschränken: es sollte den dereinstigen Schülern das Studium er-
leichtern. Dieses Studium ist viel schwieriger, als man gemeiniglich ahnt,
und darf nicht durch Nebensächliches gestört werden. Nachlass und Briefe
bieten philosophisch nichts Neues, sind stilistisch oftmals unvollkommen, und
mehr eine Unterhaltungslektüre, z. T. allerdings belehrender Art. Ein Register
zu diesen sollte stets getrennt von jenem gegeben werden. — Wenn die Zeit
ernstlichen Studiums des Philosophen gekommen sein wird, dürfte die Reclam-
Ausgabe längst einer andern, wissenschaftlichen, den Platz geräumt haben, und
eine solche wird jedenfalls die Frauenstädtischen Seitenzahlen mitgeben.
2. Ich habe keine Enzyklopädie schreiben wollen, sondern ein möglichst
ausführliches Register in geniessbarer Form.
3. Unter dem „Abdruck" einer namentlich genannten Ausgabe versteht man
nicht den Abdruck einer andern Ausgabe, am wenigsten derjenigen, die man
vorher für wissenschaftlich unbrauchbar erklärt hat. Man sagt, wenn man dies
dennoch tut: „korrigiert nach der und der genannten Ausgabe". Der Rezensent
glaubt mit allerlei Ablenkungen über diesen Punkt hinwegkommen zu können.
So tritt z. B. das Wörtchen „sinnstörend" auf, wodurch Alles ein unschuldigeres
Ansehen gewinnt: es handelt sich aber um. den Abdruck! — Ein Herausgeber,
der die öffentliche Meinung in dieser Weise irre führt, darf sich nicht wundern,
wenn er bei Vielen das Vertrauen, auch für die unkontrollierbaren Zusätze,
verliert. Über den zweifelhaften Wert des wörtlichen Abdruckes der Posthuma
habe ich mich genügend geäussert (S. 529).
4. Den Vorwurf einer gegen Grisebach begangenen „doppelten Un-
gerechtigkeit" muss ich zurückweisen. Das grosse Ansehen der Reclam-Aus-
gabe gründet sich doch ausschliesslich auf die dem Rezensenten nunmehr auch
unsympathisch gewordene „kleinliche Mäkelei" des neuen Herausgebers. Früher
nannte man sie erstaunliche Akribie. Der Herr Rezensent wird, wenn er noch-
mals Alles durchliest, dies einsehen und dann auch nicht mehr von einer Ver-
gleichung meiner angeführten Errata mit Grisebachs .angekreideten Korruptionen"
Erwiderung (,01amann). 541
reden, sondern beide als gleichwertig erkennen. (Siehe S. 530 u. vgl. das
Druckfehlerverzeichnis der Ethik, wo die ,102 korrumpierten Stellen" (VI, 388)
nachgeprüft werden können).
5. Ebenso wird er aus einer nochmaligen Lektüre der Seite 531 ersehen,
dass die .harmlosen Druckfehler* bloss die Quantität der Fehler kennzeichnen
sollen, die vermissten Korruptionen aber reichlich daneben stehen. — Ein voll-
ständig korrigiertes Exemplar der Reclam-Ausgabe besitze ich nicht: ich habe
bloss Stichproben gemacht, allerdings zahlreiche.
6. Die Fehler der Ausgabe von 1891 konnten nur durch Kollationierung
gefunden werden: musste aber kollationiert werden, so waren dazu, der An-
kündigung gemäss, die Ausgaben letzter Hand zu benutzen.
7. Die S.Auflage des III. Bandes besitze ich seit Jahren; ich habe keines
der erwähnten Monita darin berichtigt finden können. Nicht einmal der ver-
druckte Satz (S. 191 Anm.) wurde korrigiert.
8. In der Vorbemerkung G habe ich gesagt, dass ich in dem Verzeichnis
bloss die später gänzlich gestrichenen Stellen der Welt a. W. u. V. v. 1819
gebe, nicht aber die Abänderungen des Textes." Der Rezensent bringt ein
längeres Verzeichnis der letzteren und bemerkt, dass das meinige unvollständig
sei und einen Neudruck nicht ersetzen könne. Was soll diese, wie ein Vorwurf
hingestellte Bemerkung eigentlich hier besagen?!
9. Der Ausspruch „editorum in usum" ist im Munde des ..boshaften Eng-
länders" humoristisch, in dem des Rezensenten ändert er aber seinen Charakter
in wenig schöner Weise. Den Freunden des Philosophen dürfte mit der Ver-
öffentlichung der Fehler der Ausgaben letzter Hand wohl mehr gedient sein,
als späteren Editoren.
10. Die Geschichte der Handexemplare wird ja dereinst auch noch ge-
schrieben werden. Es wird sich dann zeigen, ob die Bekanntmachung des
„Raubes" im Interesse Grisebachs gelegen war. Jedenfalls vermochte dieser
aus dem Raub keinen wissenschaftlichen Nutzen zu ziehen. Für ihn konnte er
nur den Wert haben, die Stellen in den Manuskriptenbüchern aufzufinden, was
ihm sonst nur unter großem Zeitveriust und vielleicht überhaupt nicht möglich
gewesen wäre. Auf der Beriiner Bibliothek konnte er all die in Dresden heimlich
und in der Eile notierten Verweisungen nur an der Hand der Frauenstädtschen
Ausgabe verwerten. Auf diese war er durchgängig angewiesen: daher ist eben
Frauenstädt der eigentliche Herausgeber der posthumen Ausgabe.
11. Meine Bemerkung, in der Dissertation von 1813 seien bereits die
Grundzüge der Willenslehre deutlich erkennbar, hat sowohl beim Rezensenten,
als bei Dr. R. Lehmann (Deutsche Literaturzeitung, 12. Febr. 1910) Widerspruch
gefunden. Aber man lese nur den § 46, namentlich S. 119, so wird man in
dem „ausserzeitlichen Willensäkt" das Ding an sich erkennen. Das philoso-
phische System Schopenhauers war eben in seinem Grundgedanken schon 1813
im Kopfe des Philosophen fertig; daher darf man nicht von einem „jungen"
und einem „alten-' Schopenhauer reden, und auch von keiner andern Entwicklung,
als derjenigen, welche naturgemäss jeder Mensch im Laufe seines Lebens durch-
macht. Die Dissertation des jungen Philosophen, als ein Entwickelungsdokument,
mit des alten Kants „Kritik von 1781" in Parallele zu stellen, geht nicht an.
Baden-Baden, im Oktober 1910. Gustav Friedrich Wagner.
Erwiderung.
Nur auf Punkt 7 der obigen Erklärung glaube ich dem Leser eine
Antwort schuldig zu sein, da ich hier einen Irrtum meinerseits zu berichtigen
habe. Die 3. Auflage des 3. Bandes der Grisebachschen Ausgabe enthält nicht
die von mir behaupteten Korrekturen. (Bei S. 536 bezog ich mich auf einen
Druckfehler Wagners, den ich freilich als solchen hätte erkennen müssen,
wenn ich Frauenstädts Text selbst auch für diese Stellen verglichen hätte, anstatt
mich auf W. zu verlassen; bei S. 531 ist mir offenbar eine Verwechselung der
Spalten passiert.) Im übrigen bitte ich den unbefangenen Leser, sich die »Ani-
mositäten* meiner Besprechung nochmals anzusehen und zu prüfen, ob man
542 Mitteilungen.
meine Behauptungen nicht anders verstehen und aus anderen Motiven erklären
kann, als Herr W. es tut. Ich hatte mit Büchern, aber nicht mit Interessen zu
tun, am wenigsten denen Grisebachs. Mag man über dessen persönliches
Verdienst denken, wie man will; dass seine Ausgabe — meinetwegen schlecht —
doch immer noch besser als die Frauenstädtsche ist, diese entscheidende Auf-
steilung scheint mir nicht widerlegt.
Bonn a. Rh, Fritz Ohmann.
Mitteilungen.
Untersuchung von Kants Schädel
gemäss Galls Lehre durch Dr. W. G. Kelch.
(Eingesandt, und mit einer kurzen Einleitung versehen,
von Edmund O. von Lippmann.)
Zu den denkwürdigsten der gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufgestellten
medizinischen Theorien gehört die Galische Schädellehre.*) Ihr Urheber,
J. F. Gall (1758—1828), der sich bei seinen Forschungen der Mithilfe des
trefflichen Anatomen Spurzheim (1776-1836) erfreute, hatte in zutreffender
Weise erkannt, dass im Allgemeinen ein enger Zusammenhang zwischen dem
Bau des Gehirnes und den sog. Seelen-Tätigkeiten bestehe, und dass im Be-
sonderen Einzelne dieser Tätigkeiten an ganz bestimmte, lokal begrenzte Gebiete
des Gehirnes gebunden seien, z. B. die „rein psychischen" an die Gehirnrinde,
die mit der Sprache Zusammenhängenden an die Stirnlappen, u. s. f. Die Vor-
lesungen, die Gall über seine neuen Entdeckungen an der Wiener Universität
hielt, waren nach dem Tode Kaiser Josephs II. als .gefährlich" verboten
worden, und dieser Umstand mag dazu beigetrageri haben, den von der Richtig-
keit und Wichtigkeit seiner Anschauungen fest Überzeugten vom mühsamen
Wege empirischer Forschung abzudrängen und zu übereilten Schlussfolgerungen,
sowie zu einer oft wenig wissenschaftlichen Propaganda für diese zu verleiten.
In vorschneller Verallgemeinerung seiner Lokalisations-Theorie behauptete Gall
nämlich, er habe für alle menschlichen Triebe und Anlagen, Sinne und Fähig-
keiten, die festen Sitze an (zunächst 27) bestimmten Stellen des Gehirnes, den
„Gehirn-Organen", ermittelt, und zugleich gefunden, dass sich diese auch schon
an der äusseren Schädelfläche, in Form gewisser Wölbungen und Hervorragungen,
zu erkennen gäben. Obwohl Aufstellung, Verteilung, und Nachweisung dieser
„Seelen-Vermögen" vielerlei Willkürlichkeiten einschlössen, machte dennoch das
„System der Phrenologie" das denkbar grösste Aufsehen, gewann zahlreiche
Anhänger, und verbreitete sich rasch über ganz Europa.
Galls eigene ausführliche Schriften über das Gehirn, die durch ihre
Methodik, ihre anatomischen Ergebnisse (Bau der Medullar-Substanz), und ihre
ausgezeichneten Abbildungen von dauernder Bedeutung für die Wissenschaft
wurden, erschienen erst in späterer Zeit; aber bereits vor und um 1800 wurden,
von Zuhörern, Schülern, und Nacheiferern seine phrenologischen Lehren in
Buchform herausgegeben. So erschienen u. a. 1801 in Weimar Dr. Froriep's
.Theorie der Physiognomik des Dr. Gall in Wien", und 1803 in Leipzig
^) s. Haeser, „Lehrbuch der Geschichte der Medizin" (Jena 1881; Bd. 2,
S. 874), und Puschmann, „Handbuch der Geschichte der Medizin" (Jena 1903ff.;
Bd. 2, S. 718; Bd. 3, S. 618).
Mitteilungeu. 543
Dr. Marten's .leichtfassliche Darstellung der Theorie ... des Dr. Gall in
Wien', und unter ausdrücklicher Berufung auf diese veröffentliche Dr. W. G. Kelch
in Königsberg 1804 eine Schrift .Über den Schädel Kants, Ein Beitrag zu
Galls Hirn- und Schädel-Lehre". Ein Auszug aus diesem Buche erschien 1805
in G. C. B. Busch s .Almanach der Fortschritte, neuesten Erfindungen und
Entdeckungen . . ." (Erfurt 1805; Bd. 9, S. 229), und dieser sei, der grossen
Seltenheit des Originalwerkes wie des Almanaches halber, im Nachstehenden
zum Abdrucke gebracht:
Kelch liefert, mit Kants Schädel, einen Beytrag zu Galls Hirn- und
Schädellehre.
Kants Schädel erhält (nach Hr. K.) durch die regelmässige Bildung seiner
einzelnen Theile und durch die Menge der an ihm' stark ausgezeichneten Er-
habenheiten, eine merkwürdige Form. Die hohe, breite und eckige Stirn, die
bis zur Kronnaht stark ausgezeichneten Spurlinien, die gerade Richtung des
Oberdachs des Schädels, die zu beyden Seiten stark hervorragenden Erhöhungen
der Seitenwandbeine, die allmählig sich nach hinten wölbenden Schlafflächen,
und auf ihnen befindlichen Erhabenheiten, der Eindruck und die Abplattung am
Hinterhaupte, und das stark nach hinten sich wölbende Hinterhauptsbein, gaben
dem Schädel Eigenheiten, die sich in diesen Zusammentreffen schwerlich an
einem anderen wieder finden werden. Die an ihm befindlichen Erhabenheiten
vermehrten durch ihre übereinstimmende Höhe und Umfang die Regelmässigkeit
seines Baues. — Auch hatte das Nutritionsgeschäfte in den Schädelknochen,
welches sonst im hohen Alter die Fläche des Schädels abebnet und die Nähte
verschmilzt, noch keinen oder nur geringen Einfluss auf die Verschwindung
jener Erhabenheiten und einiger Nähte geäussert. So war von den letzteren,
der obere Theil der Stirnnaht, der links gelegene der Kronnaht, und der hintere
der Peilnaht, noch deutlich zu fühlen. Die Stirn enthielt unter den übrigen
Theilen des Schädels die meisten Erhabenheiten, wenigere hatten die Seitenwand-
beine, noch wenigere die Schlafbeine, und fast keine, sich über die Schädelfläche
erhebende, zeigten sich am gleichförmig gerundeten Hinterhauptsbeine.
Der Durchmesser des Schädels betrug von der Protuberanz des Hinter-
hauptbeins bis an die Nasenwurzel sieben dreyviertel, und der von dem über
dem Gehörgange gelegenen mittlem Theil der Schlaffläche bis zu derselben Stelle
der anderen Seite, sechs und einen halben Zoll. Den senkrechten Durchmesser
konnte Hr. K. nicht mit Genauigkeit bestimmen, weil er diesen merkwürdigen
Schädel nicht zu zerlegen, sondern nur durch den Augenschein und durchs
Gefühl zu untersuchen hatte. — An dem Kantischen Schädel wölbt sich die
Stirn allmählig von vorne nach hinten und zu den Seiten, wo sie durch den .
vordem Theil der halbzirkelförmigen Linien zur Anlage der Schlafmuskeln von
den Seitenwänden des Schädels getrennt wird. Ihr unterer auf dem Gesichte
ruhender Theil ist schmal und eckig von den hervorragenden Stimbeinfortsätzen,
und ihr oberer Theil, welchen die Kranznaht mit den Seitenwandbeinen ver-
bindet, ist im Verhältnis mit jenem sehr breit. Sie erhebt sich nämlich
von dem Gesichte mit einer Breite von viertehalb Zollen, erhält schon in
der Gegend des Stimhügels eine Breite von fünf Zollen, und schliesst sich
der Kronnaht bis zu den Anfängen der Seitenwände des Schädels mit einer
Breite von siebentehalb Zollen an. Ihre Höhe von der Nasenwurzel bis zum
Scheitel beträgt fünf Zolle, und ihre deutlichste Wölbung nach hinten fängt
zwei dreyviertel Zolle von der Nasenwurzel an. — Von dem Scheitel nimmt
der Schädel nach hinten und zu beyden Seiten eine gerade Richtung an.
Nach hinten erhält sich diese Richtung beinahe drey Zoll lang bis zum Anfange
einer länglichen Vertiefung in der Pfeilnaht, womit der Schädel sich in ziemlich
schräger Richtung zum Hinterhaupte überwölbt. Seitwärts und zwar vorn erhält
sich jene Richtung bis zu den Gränzen der Schlafflächen, und hinten bis zu dem
Anfange der zu beyden Seiten stark hervorragenden Hügel der Seitenwandbeine.
544 Mitteilungen.
Diese geben dem Schädel oberwärts die grosseste Breite, nämlich von acht und
ein halb Viertel-Zöllen, und von oben ein eckiges Ansehen. Bis zu diesen Er-
höhungen erreicht der Schädel seine grösste Breite, und hinter denselben wird
er schmäler und geht zum Hinterhaupt über. — Das Hinterhaupt fängt mit
jenem von oben schräg nach hinten und unten gehenden Eindruck an, zu dessen
beiden Seiten es sich gleichförmig bis zu den Schlafflächen wölbt. Diesem
Eindrucke folgt eine drittehalb Zoll breite Abplattung des Schädels, welche
sich längs der Pfeilnaht bis zur Spitze des Hinterhauptbeines erhält, und zu
beiden Seiten in die Wölbung des Hinterhaupts übergeht. Der Theil des Schädels,
welchen das Hinterhauptsbein bis kurz vor seiner stark hervorragenden Protu-
beranz und vor denen von dieser seitwärts ausgehenden Linien bildet, tritt
merklich in gleichförmiger Wölbung über den Schädelgrund und jene Abplattung
hervor. Über der Protuberanz ist eine quere fingerbreite Furche, und zu beiden
Seiten derselben ist der Schädel ununterbrochen abgerundet. Die halbzirkel-
förmigen Linien des Hinterhauptes sind die hinteren Gränzen des Schädelgrundes.
Nämlich der Schädelgrund geht hier fast in horizontaler Richtung ab, und seine
Breite beträgt, so weit diese durch den Abstand der ziemlich starken herunter-
steigenden Spitzen der warzenförmigen Fortsätze der Schlafknochen beurteilt
werden kann, vier dreyviertel Zolle. Seine Fläche zur Insertion des sehr schmalen
Nackens lässt zu beiden Seiten keine deutliche Aufwölbungen fühlen. — Die
Seitenwände des Schädels, die Schläfe, sind vorn einen Querfinger breit über
die Jochbogen, und zwey Querfinger breit hinter den Rändern der Backenknochen
und der Stirnfortsätze vertieft. Sie erheben sich hierauf allmählig nach oben
und hinten, und werden vorn von denen am vordem Theil zu beyden Seiten der
Stirn deutlich zu fühlenden Spurlinien der Schlafmuskeln, und von dem Über-
gange derselben in die Stirnecken, von der Stirne getrennt. Ihre allmählige
Aufwölbung nach oben zum Scheitel geschieht ununterbrochen, und hinten werden
sie oben von den Hervorragungen an den Seitenwandbeinen und unten von den
Erhabenheiten über den Ohren, welche dem Scheitel unten eine grössere Breite
geben als jene, begränzt. Zwischen und hinter diesen Schädelerhöhungen nimmt
die Aufwölbung der Seitenwände wieder ab, und tritt in die Seitenwölbung des
Hinterhaupts über.
Zu Folge dieser Erklärung, bemerkte Hr. K. an Kants Schädel mehrere
von den in des Dr. Martens Schrift aufgezeichneten Organen, z.B. die Organe
des Ortsgedächtnisses ; die Organe des Zahlengedächtnisses bis auf wenige Ab-
weichungen; die Organe des Sachgedächtnisses; die Organe der Freygebigkeit;
die Organe des Witzes ; die Organe des vergleichenden Scharfsinnes, des meta-
physischen Scharfsinns oder der philosophischen Speculation, der Gutmüthigkeit,
die der Religion oder der Theosophie; auch schliesst Hr. K. auf die Gegenwart
der Organe der Darstellung an Kants Schädel, etc.
Mitteilungen. 545
IV. Internationaler Kongress für Philosophie.
Unter dem hohen Patronate S. M. des Königs von Italien.
Bologna 6.-11. April 1911.
Der vierte internationale philosophische Kongress, der bereits in einem
ersten Rundschreiben vom Mai d. J. angesagt wurde, soll in Bologna in der
Zeit vom 6. bis 11. April 1911 abgehalten werden. Die schon empfangenen
Beitrittserklärungen lassen keinen Zweifel darüber, dass alle spekulativen Richt-
ungen, alle philosophischen Standpunkte und Anschauungen in Bezug auf
Wissenschaft, Kunst, Geschichte und Religion vertreten sein werden und in
reichstem Masse zur Geltung gelangen können.
Die Tätigkeit des Kongresses wird teils in allgemeinen, teils in Ab-
teilungs-Sitzungen ihren Ausdruck finden.
Die allgemeinen Sitzungen sollen zu Vorträgen und Besprechungen
dienen, deren Programm hier folgt:
Vorträge:
S. Arrhenius: Über den Ursprung des Gestirnkultus. — G. Barzel-
lotti: Filosofia e Storia della Filosofia. — E. Boutroux: Du rapport de la
Philosophie aux Sciences. — R. Eucken: Die Aufgaben der Philosophie im
Kulturleben der Gegenwart. — P. Langevin: L'evolution du mecanisme. —
W. Ostwald: Elementare Begriffe und die Gesetze ihrer Verbindung. —
H. Poincare: La definition. — A. Riehl: Fortbildung Kantischer Gedanken
in der Philosophie der Gegenwart. — F. CS. Schiller: Error. — C. F. Siout:
The interrelation of Objects and Ejects. — F. Tocco: La questione platonica. —
VV. Windelband: Die Metaphysik der Zeit.
Besprechungen :
La täche actuelle de la Philosophie contemporaine, angeregt von H. Bergson.
Antwort von A. Chiappelli.
Les jugements de valeur et les jugements de realite, angeregt von E. Durkheim,
Die Zahl der Abteilungen beträgt acht:
1. Allgemeine Philosophie und Metaphysik. — 2. Geschichte der Philo-
sophie. — 3. Logik und Theorie der Wissenschaft. — 4. Moral. — 5. Philo-
sophie der Religion. — 6. Philosophie des Rechtes. — 7. Ästhetik und Me-
thodik der Kritik. — 8. Psychologie.
In diesen Abteilungen sollen freie Mitteilungen stattfinden, sowie von
den leitenden Ausschüssen vorher bestimmte Besprechungen, die durch be^
sondere Berichte eingeleitet werden.
Das Arbeitsprogramm der Abteilungen wird kurz vor der Eröffnung des
Kongresses durch ein neues Rundschreiben bekannt gemacht werden.
Vorschriften und andere Nachrichten.
Mitteilungen.
Jeder Teilnehmer darf in der Regel nur eine Mitteilung in einer Abteilung
des Kongresses machen.
Die Verfasser von Mitteilungen werden gebeten, diese vordem I.Januar 1911,
auf nur je eine Seite des Blattes mit der Maschine geschrieben, einzusenden,
damit die Mitteilungen zum Zwecke der Zeitersparnis und der grösseren Be-
quemlichkeit gedruckt und unter die Teilnehmer verteilt werden können.
546 Mitteilungen.
Mitteilungen für die Abteilungen sollen in der Regel 6 Druckseiten in
8.° nicht überschreiten. Auf Wunsch der leitenden Ausschüsse abgefasste
Berichte, welche die Besprechung bestimmter Gegenstände anregen sollen, dürfen
doppelt so lang sein, also 12 8.^ Seiten füllen.
Sollten einzelne Mitteilungen oder Berichte sich nicht innerhalb dieser
Grenzen halten, so sind die bezüglichen Druckkosten von den Verfassern zu
tragen.
Wissenschaftliche und akademische Vereine, Ministerien usw.
Gemäss dem Beschluss des beständigen internationalen Ausschusses
(Heidelberg 1908) werden wissenschaftliche und akademische Vereine, Ministerien
usw. ausdrücklich gebeten, an den Arbeiten des Kongresses teilzunehmen, indem
sie sich durch besondere Abgesandte vertreten lassen.
Ermässigte Fahrpreise.
Die Kongressleitung glaubt schon jetzt versichern zu können, dass,
wenigstens auf den italienischen Eisenbahnen, die Teilnehmer auf besondere
Preisermässigungen rechnen dürfen, da die bezüglichen Verhandlungen mit der
Staatsverwaltung schon eingeleitet sind.
Festlichkeiten, Ausflüge, Wohnungen usw.
Die Kongressleitung und die Stadtbehörden bereiten Festlichkeiten,
Ausflüge usw. vor, deren Programm, sobald es endgültig festgestellt ist, ver-
öffentlicht wird. Wer zum Kongress angemeldet ist, empfängt auch alle Nach-
weise über Gasthöfe und Pensionen in Bologna.
Beitrag.
Der Beitrag beträgt 25 Lire für alle Teilnehmer, auch für Abgesandte
oder Vertreter. Dafür erhalten sie die Abhandlungen und geniessen alle Vorteile,
die der Ausschuss für sie zu erlangen hofft.
Damen, welche Teilnehmer begleiten, entrichten einen Beitrag von 10 Lire.
Alle Beiträge sind an den Schriftführer und Schatzmeister Grafen Filippo
Cavazza, Bologna, Via Farini, 5 (Amministrazione Cavazza) einzusenden, der
sofort den Empfang bescheinigen und den Teilnehmern gegen Rückgabe der
Quittung in Bologna Erkennungskarte, Abzeichen, Drucksachen usw. über-
geben wird.
Alle, die dem Kongresse zustimmen, werden gebeten, sich bei dem
Schriftführeramt (Segreteria) in Bologna, Piazza Calderini, 2.-, behufs weiterer
Mitteilungen anzumelden,
Enriques, Ferrari,
Präsident Generalsekretär,
Wie schon im vorigen Heft S. 391 bemerkt worden ist, wird voraussichtlich
auch die Kantgesellschaft auf dem Kongress offiziell vertreten sein. Mitglieder
und Freunde unserer Gesellschaft fordern wir auf, sich recht zahlreich in Bologna
einzufinden, .Jeder philosophisch Interessierte kann ohne Weiteres teilnehmen.
Geh. Reg.-Rat Prof, Dr. Vaihinger,
Mitgl. des ständigen internat. Ausschusses für den Philos. Kongress.
Drittes Preisausschreilien der Jantgesellschaft^^
Carl Güttlcr-PrcisaufgabG.
Welches sind die wirklichen Fortschritte^
die die Metaphysik seit Hegels und, Herhdrts Zeiten
in Deutschland gemacht hat?
Dieses Thema ist der von der Berliner Akademie der Wissenschaften für
1791 gestellten und bis 1795 verlängerten Aufgabe nachgebildet, zu deren Be-
antwortung Kant selbst einen Entwurf hinterlassen hat: „Welches sind die
wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibniz und Wolffs Zeiten in
Deutschland gemacht hat?" In der zugehörigen Erläuterung des Themas wurde
ausgeführt, dass „Metaphysik", wie in der Berliner Preisaufgabe und wie bei
Kant selbst, im weiteren Sinne zu nehmen sei, so dass auch erkenntnistheore-
tische und naturphilosophische Probleme darunter fallen. Es sollte also eine
Art kritischer Revision der deutschen Philosophie seit etwa 60 Jahren gegeben
und es sollte untersucht werden, ob aus den philosophischen Systemen und
Richtungen der letzten Jahrzehnte ein positiver, dauernder Gewinn zu ziehen
sei. Die beste Bearbeitung dieses Themas sollte einen Preis von 1000 Mk. er-
halten, die zweitbeste einen solchen von 600 Mk. Als Preisrichter fun-
gierten die Herren Geh. Räte Proff. Riehl und Stumpf in Berlin, sowie Herr
Prof. Dr. O. Külpe, damals in Würzburg, jetzt in Bonn. Das Ausschreiben er-
folgte im März 1908 in Heft 1 u. 2 des Bandes XIII der „Kantstudien", und
wurde durch viele wissenschaftliche Zeitschriften, sowie auch durch viele poli-
tische Zeitungen den weitesten Kreisen bekannt gegeben. Ablieferungstermin
war der 22. April (Kants Geburtstag) 1910.
Während bei unseren beiden ersten Preisausschreiben — Kant-Aristoteles-
Thema, und Walter Simon-Preisaufgabe über das Problem der Theodicee im
XVIII. Jahrh. — je 7 Bearbeitungen eingelaufen sind, von denen dort 2, hier 3
preisgekrönt werden konnten, sind diesmal nur 3 Bewerbungsschriften einge-
sendet worden, davon keine einen Preis davongetragen hat.
Urteil des Preisrichterkollegiums.
Zur Preisaufgabe Carl Güttiers : „Welches sind die wirklichen Fortschritte,
die die Metaphysik seit Hegels und Herbarts Zeiten in Deutschland gemacht
hat?" sind drei Bearbeitungen eingegangen, von denen indess keine zur Er-
teilung des Preises in Frage kommen kann.
Wir vermissen in diesen Arbeiten zunächst jeden Versuch, den Begriff
der Metaphysik genauer zu bestimmen und namentlich auf das grundlegende
Problem ihrer Methode einzugehen; obschon für die Metaphysik des 19. Jahr-
hunderts gerade dies charakteristisch ist, dass nach einem Verfahren gesucht
Kantstudien XV. 35
548 Kantgesellschaft.
wird, welches erlaubt und berechtigt, über die einzelwissenschaftlichen Ergeb-
nisse zu einer Weltanschauung vorzudringen. Auch sind die Verfasser der ein-
gereichten Schriften sämtlich wie auf Verabredung dem eigentlichen Thema
mehr oder weniger weit aus dem Wege gegangen.
Die Arbeit, die das Motto trägt:
„«0« multa set miiltum colligatnus et proferamus"
(158 S. in Quart) verrät wohl einiges philosophisches Verständnis ; doch dringt
der Verfasser nirgends tiefer in die Probleme ein, auf deren genetische Dar-
stellung er fast gänzHch verzichtet. Daher ist ihm schon die Einleitung seiner
Schrift missglücitt; aber auch deren weitere Teile sind ohne rechte Ordnung
und entbehren des wissenschaftlichen Charakters. In seiner Auffassung Kants
schliesst er sich ohne Selbständigkeit hauptsächlich an Hartmann an und auch
von Lotze vermochte er ein gründlicheres Verständnis nicht zu gewinnen. Was
er gelegentlich und noch dazu am unrechten Orte über Lokalzeichen bemerkt,
ist ganz unverständig. Die neuen Arbeiten auf den Gebieten der Naturphilo-
sophie und der Psychologie sind ihm zu wenig bekannt, um seinem Urteile
über sie sachlichen Wert zu verleihen. Sein eigentlicher, im Grunde einziger
Gewährsmann ist Bertling, dessen Unterscheidung einer dreifachen Kausalität er
masslos überschätzt, sowohl hinsichtlich ihrer Neuheit wie ihrer Bedeutung.
Augenscheinlich erblickt er in ihr den wesentlichen Fortschritt der Metaphysik;
seine Schrift ist dadurch zu einem Kommentar einer nur wenig erheblichen
Lehre geworden.
Die zweite Bewerbungsschrift trägt das Kennwort :
Nie verlässt uns der Irrtum, doch zieht ein höher Bedürfnis
Immer den strebenden Geist leise zur Wahrheit hinan.
Schiller in den Yotiv-Tafeln.
Diese Arbeit (289 S. in Quart) fällt noch weiter aus dem Rahmen der Aufgabe
heraus. Der Verfasser will mit ihr den „Idealismus" vertreten, den er ohne
weiteres mit der Metaphysik identifiziert und so allgemein und unbestimmt ver-
steht, dass er es wirklich fertig brachte, auch Herbarts und Czolbes Lehren
darunter zu subsumieren, sowie die Einrichtungen von Verkehrsmitteln, ja selbst
die Gehaltsregulierungen damit in Zusammenhang zu bringen. Und so handelt
er weit mehr von Hegel und Herbart, als von Lotse (!), Düring (!), Rechner,
Wundt, die er nur aus Überweg-Heinzes Grundriss zu kennen scheint. Herbarts
Realen bilden, nach der Meinung des Verfassers, eine Vorstufe für die heutige
Molekulartheorie und von Hegel heisst es: er unterscheide sich in manchen
Bezieil ungen von der philosophischen Richtung Herbarts, Benekes und deren
Genossen. Auf untergeordnete Erscheinungen wie Vatke, Biedermann und
selbst V. Hellenbach wird grosses Gewicht gelegt ; die Behandlung der einzelnen
Philosophen in den betreffenden Abschnitten ist eine ganz willkürliche, der
Gliederung wie der Begründung entbehrende; besonders aber die Beurteilung
des Materialismus zeigt Mangel an Sachkenntnis und Schärfe des Denkens.
Kantgesellschaft. 549
Nur aus Versehen scheint endlich die Arbeit mit dem Motto:
„Ob nicht Natur zuletzt sich doch ergründe?''^
(122 S. Foho) unter die Bewerbungsschriften um den C. Güttler'schen Preis ge-
raten zu sein. Der Verfasser stellt darin seine eigene Philosophie dar, nach
der gar nicht gefragt wurde. Dabei geht ihm selbst die gewöhnliche Schul-
bildung ab; er schreibt habytus, kulturieU, cum granum salis.
Metaphysik bedeutet für ihn die Hypothesen über das, was an der Grenze des
Sichtbaren im Räume und jenseits davon liegt und seine Offenbarungen über
dieses räumlich Jenseitige sollen auch noch das letzte, von Haeckel übrig ge-
lassene Welträtsel lösen.. Nur mit Einem wird es seine Richtigkeit haben: der
Verfasser selbst kennzeichnet seine Weltanschauung als „die Philosophie der
absurden discordance". Mit diesem Masstab geht er an eine Revision der
neuesten Philosophie, die er aber unmöglich aus* den Originalschriften kennen
gelernt haben kann, so phrasenhaft, oberflächlich, nichtig ist alles, was er da-
rüber vorzubringen weiss. Den Schluss bilden 80 Thesen, die teils an Triviali-
tät, teils nn Sinnlosigkeit ihres Gleichen suchen; das Ganze — ein Machwerk
schlimmsten Dilettantismus mit der für Produkte dieser Art obligaten Begleitung
von Anmassung und Überhebung.
Berlin und Bonn, im August 1910.
Riehl. Stumpf. Külpe.
Nach Massgabe dieses Urteils, dem sich auch der geistige Urheber der
Preisaufgabe, Herr Professor Dr. Carl Güttier in München anschliesst, ist dieses
Mal eine Preisverteilung ausgeschlossen, doch wird die Preisaufgabe voraus-
sichtlich erneuert werden, worüber in dem nächsten Heft der „Kantstudien'- das
Nötige mitgeteilt werden wird.
Die Verfasser der nichtgekrönten Arbeiten erhalten ihre Manuskripte auf
Verlangen zurück, wenn sie sich dem unterzeichneten Geschäftsführer gegenüber
hinreichend als Absender ligitimieren. Werden die Manuskripte nicht bis zum
31. Dezember 1911 zurückverlangt, so werden sie, zusammen mit den zuge-
hörigen uneröffneten, die Verfassernamen enthaltenden Kuverts verbrannt
werden.
Halle a. S., im November 1910.
Der Geschäftsführer der „Kantgesellschaft".
Vaihinffer.
(Zweite Liste.)
Kantgeselischaft.
A. IVeneln getretene Mitglieder fttr das Jabr 1910.
Eliza Mercedes Brandes (aus Buenos-Aires), z. Z. Brüssel, Rue Zinuer 4.
Dr. Rudolf Biach, Florenz, Lungarno Torrigiani 1.
Dr. A. Brotlierus, Universität Helsingfors, Fabrikstrasse.
Mc. Horace Finalj^, Paris, Avenue Hoche 31.
Cand. phil. Fritz Frankfurther, Göttingen, Weender Chaussee 34.
Dr. med. et phil. Gent, Osnabrück, Eisenbahnstrasse 8.
Adolf Läpp, München, Friedrichstrasse 30.
Rod. Mondolfo, Professor an der Universität Turin, Corso Vinzaglio 35.
L. N o e 1 , Professor an der Universität Löwen (Belgien), Rue Marie Therese 20.
Oberlehrer Traebert, Delmenhorst, Bahnhofstrasse 28.
Dr. Max von Zynda, Coblenz, Rheinstrasse 19.
Bibliothek Madame Jenny Finaly, Florenz, Villa Landau alla Pietra, Via
Bolognese 56.
Dr. phil. Otto Closs, Jena, Jenergasse 18.
Dr. phil. Jan van Delden, Fabrikant, Gronau i. W.
Professor Dr. E. Dürr, an der Universität Bern, Bern, Seftigenstr. 53.
Dipl.-Ing. Georg Erdmann, Assistent der Kgl. Bergakademie, Frei-
berg i. Sa., Nonnengasse 9.
Lic. Emil Fuchs, Pfarrer, Rüsselsheim a. M.
Privatdozent Dr. Moritz Geiger, München, Ainmillerstrasse 131.
Dr. Kurt Geissler, Lonay, Kanton Vaud (Schweiz), Chäteau Roman.
Dr. Gerhardt Gotthardt, Charlottenburg, Grolmanstrasse 59a.
Dr. Georg Groddeck, Baden-Baden, Ybergstrasse 15.
Geheimer Hofrat Professor Dr. Adolf Hansen, Dir. d. bot. Gart. Giessen,
Löberstrasse 21.
Frau Dr. Fanny Lowtzky, Coppet (Schweiz), Villa „Les Saules".
G. Mannhardt, Prediger der Mennoniten-Gemeinde in Danzig.
Dr. phil. Stanley Alfred Mellor, Minister of Church of Our Father,
Rotherham, England, 14 Oakwood Grove.
Geheimer Hofrat H. G. Opitz, Vicepräsident der 2. Sächsischen Kammer,
Treuen i. V.
Dr. Walter Poetsc hei, Breslau, Paulstrasse 12.
Universitätsprofessor Dr. J. S t i 1 1 i n g - Strassburg i. E., Klingenthal bei
Ottrott i. E.
Pastor em. Dr. Emil Sülze, Dresden-Altstadt, Reinickstrasse 11.
Dr. B. W. Switalski, Kgl. Universitätspi'ofessor, Braunsberg i. Ostpr.,
Langgasse 10.
Kantgesellscheft. 551
Universitätsprofessor Dr. Richard Wähle, Czernowitz, Neue Weltgasse 20.
Seminarkandidat Georg Wendel, Berlin W. 50, Tauentzienstrasse 19b.
Dr. Hans Wendland, Berlin W., Königgrätzerstrasse 50.
Stadtbibliothek Bremen. Direktor: Professor Dr. H. Seedorf.
Philosophisches Seminar der Universität Jena. Bibliothekar : Dr. Dannen-
berg, Jena, Beethovenstrasse.
St. Johannis-Loge Germania zur Einigkeit. Vertreter: Justizrat Albert
Bereut, Berlin C, Alexanderstr. 49.
B. Xenangemeldete Mltglteder für das Jalir 1911.
Dr. Erich Eckertz, Düsseldorf, Uhlandstrasse 47.
Dr. Albert Görland, Hamburg 5, Kreuzweg 12.
Dr. Eberhard Grisebach, Jena, Kaiser Wilhelmstrasse 34.
Lic. Gerh. Heinzelmann, Privatdozent, Göttingen, Am Feuerschanzen-
graben 11 II.
Marie Joachimi-Dege, Dr. phil., Frankfurt a. 0., Bahnhofstrasse 16.
Professor Dr. A. Le eifere, Privatdozent an der Universität Bern, Fri-
bourg e/S., Avenue de Perolles 292.
Friedrich Meyerholz, Präparandenanstaltsvorsteher, Diepholz (Hannover).
Professor Dr. David Neumark, Cincinnati (Ohio), 2854 Winsh)w Ave.
Dr. Rudolf Odebrecht, Charlottenburg, Neue Kantstrasse 27 II.
Freiherr Albin von Reitzenstein , Major z. D., Berlin W. 50, Augs-
burgerstrasse 38.
Dr. Sänge, Schöneberg-Berlin, Ebersstrasse 16.
Direktor Dr. Ferdinand Jakob Schmidt, Direktor der Margaretenschule,
Berlin O. 27, Ifflandstrasse 11.
Oberzollkontrolleur John Schult, Hamburg, Kippingstrasse 8.
Geh Justizrat Prof. Dr. jur. et phil. (b.c.) Rudolf Stammler, Halle a. S.
Professor Dr. Oskar Walzel, Professor an der Technischen Hochschule
und an der Kunstakademie, Dresden-A., Marschnerstrasse 27.
Geheimer Reg.-Rat Prof. Dr. Max B. Weinstein, Stellvertr. Direktor
der Normal-Aichungskommission, Privatdozent an der Universität
Charlottenburg, Kantstrasse 148.
Professor Charles Werner, Professor an der Universität Genf, Route de
Florissant 4.
Philosophisches Seminar der Universität Belgrad.
Halle a. S.
Berlin
im Dezember 1910.
Die Geschäftsführung:
Vaihinger. Liebert.
Kantgcscllschaft.
J/iiiieilung.
Eine schwere Augenerkrankung, grauer Staar an beiden
Augen, erschwert mir seit längerer Zeit die Geschäftsführung der
Kantgesellschaft so sehr, dass ich dringend einer Unterstützung
darin bedarf. Zwar ist Aussicht vorhanden, dass in absehbarer
Zeit, wenn die Augen zur Operation reif geworden sind, durch
einen solchen Eingriff Besserung eintritt, aber bis dahin muss ich
mich fremder Hilfe bedienen. Die Kantgesellschaft hat in ihrer
Generalversammlung vom 22. April d. J. mich daher ermächtigt,
die zu diesem Zweck nötigen Massregeln zu ergreifen und so habe
ich in Herrn Dr. Arthur Liebert in Berlin (W. 15, Fasanen-
strasse 48) einen Mitarbeiter für die Geschäftsführung gewonnen.
Herr Dr. Liebert, ein Schüler von Dilthey, Riehl, Paulsen und
Menzer, und Mitarbeiter an der Redaktion der 2. Auflage der
Kantausgabe der Berliner Akademie, hat sich schon durch ver-
schiedene Arbeiten zur Geschichte der Philosophie und zur Er-
kenntnistheorie bekannt gemacht. Ich bitte ihm dasselbe ehrende
Vertrauen entgegenzubringen, das mir die Gründung und Leitung
der Kantgesellschaft ermöglicht hat. Ausdrücklich ermächtige ich
Herrn Dr. Liebert, in meiner Vertretung Zahlungen für die Kant-
gesellschaft entgegenzunehmen und rechtsgültig zu quittieren.
Insbesondere bitte ich die Mitglieder der Kantgesellschaft, ihre
Jahresbeiträge pro 191 1 gütigst direkt an den Genannten einsenden
zu wollen, der mich schon seit Mai vertritt und auch seitdem schon
eine grosse Anzahl neuer Mitglieder geworben hat.
Halle a. S., im Dezember 1910.
Der Geschäftsführer
Kantgesellschaft. 553
Ein von Kant an Jacobi geschenktes Porträt.
Friedrich Heinrich Jacobis Polemik gegen Kant, und auch seine
positiven Gedanken sind, wenn auch fragwürdig, doch noch immer lebendig.
Noch kürzlich erschien auf meine Veranlassung hin eine Schrift eines Schülers
von mir, Dr. Arthur Frank, F. H. Jacobis Lehre vom Glauben. Eine Dar-
stellung ihrer Entstehung, Wandlung und Vollendung (Verlag von C. A. Kaem-
merer & Co. in Halle a. S., 1910, 143 S.). Mit diesem seinem Gegner unter-
hielt Kant gute Beziehungen, ähnlich wie mit Hamann, von dem ja auch Jacobi
beeinflusst war. Im II. Band des von R. Reicke edierten Briefwechsels (S. 72
bis 75) ist ein sehr urbaner Brief Kants an Jacobi abgedruckt, ebendaselbst
S. 99—103 die Antwort Jacobis, sowie S. 109^110 eine Art Ehrenerklärung
Kants für Jacobi. Und so liegt es denn durchaus in der Linie dieser freund-
schaftlichen Beziehungen, dass Kant dem Pempelforter sein Porträt geschenkt
haben kann. In der Jacobischen Familie ist diese Tradition lebendig, zumal
das betreffende Porträt in derselben noch erhalten ist. Es ist ein Stich von
J. F. Bolt (Berlin 1794) nach dem bekannten Vernetschen Original. Das Blatt
(19X27 cm), gut erhalten, ist von der gegenwärtigen Besitzerin dem Unter-
zeichneten vorübergehend anvertraut worden. Es ist verkäuflich, jedoch zum
Mindestpreis von Mk. 20. Angebote werden durch den Unterzeichneten an-
genommen.
Halle a. S. (Reichardtstr. 15). Vaihinger.
Vom Autographenmarkt.
Kantautographen sind in den letzten Jahren enorm im Preis gestiegen.
Die Preise haben sich geradezu verzehnfacht ! So bietet die bekannte Auto-
graphenfirma J. A. Stargard, Berlin W 35, Lützowstrasse 47, in ihrem
neuesten Katalog No. CCXXVIII unter No. 308 einen Kantbrief für — 400 Mark
aus. Es ist der Brief Kants an F. W. Regge vom 22. März 1777, betreffend
das Erziehungsinstitut (Philanthropin) in Dessau. Der Brief ist in der Reicke-
schen Sammlung abgedruckt (Akademie-Ausgabe, Bd. X, S. 187—189).
Sach-Register.
Abbildtheorie 290. 312.
Absolute, das 190.820. 373f.427.439ff .491.
Abstraktion 487 f.
Addition 276.
Ästhetik 233. 372.
Äther 498.
Agnostizismus 314.
Ahnung 491.
Aktualitätstheorie 298.
Algebra 273.
AllgemeiEgrültigkeit 26.39.337f . 494. 562.
Analysis 488.
AnalvtL<!ches Urteil 309,
Anmutige, das 2.50 f.
Anschauung 24. 31. 80 ff. 127. 206. 309.
383. 487. 498. 514.
Anthropologie 486.
Antinomie 195. 201.
Apodiktizität 34. 4.30.
Apperzeption 311. 338 ff. 409. 487.
Apriorität 8. 18. 75. 310. 344.
Architektur 245. 258. 260.
Atom 65 f. 68. 127. 209. 227. 289.
Aufklärung 270. 341. 415.
Aufmerksamkeit 317. 416.
Ausdehnung 68. 272. 277.
Auslösung 506.
Aussenwelt 272 f. 291. 422. 426. 439.
449. 451. 503.
Autononaie 349. 510.
Autoplastik 93.
Autoteile 93.
Axiom 24. 29 f. 32. .34. 40 f. 79.
Bedeutung 428. 430.
Begriff 124. 127. 235. 366. 436. 438. 447.
Beschleunigung 126. 129.
Beschreibung 417.
Bewegung 16. 69. 126. 209. 272. 438.
Beweis 361. 488.
Bewu&stsein 120 f. 218. 282. 426.
Bewusstsein überhaupt 17. 105. 309.
327. 426 ff. 487.
Beziehung 329.
Biologie 70. 86. 132. 134.
Charakter 317.
Charakteristische, das (ästh.) 243.
Chemismus 70.
Christentum 188. 314. 326. 510.
Chronometrie 78.
Correlation 93.
Darwinismus 71. 861 135. 423. 455. 457.
Deduktion 488 ff. 506. 518 f.
Denken 200. 298. 312 ff. 376. 436. 502.
Deszendenztheorie 71. 135. 498.
Dialektik 264 f. 353. 436. 471.
Dichtkunst 260.
Dimension 218. 277.
Ding 286 f. 499 ff.
Ding an sich 116, 197. 200. 206. 210.
226. 228. 271. 387 f. 497.
Dingaugenblick 287. 449.
Dogmatik 314.
Dogmatismus 158.
Dualismus 94.
Dynamismus 68. 128.
Egoismus 302.
Einbildungskraft 311. 336 ft 487. 490.
Einheit 125.
Elektron 209. 274. 289.
Emanationssystem 94.
Empfindung 291. 312 ff. 492. 503. 509.
Empiriokritizismus 326. 457.
Empirismus 53. 64 f. 126. 152. 154.
159. 333. 423.
Energie 67. 126. 129. 275. 505 f.
Entelecbie 70. 90. 93.
Entwickelung 135 f.
Reeister.
ooo
^rbümaig 2. 31. 4€. 49. 57. 96. 118. 121
157. 207. 311. 333. 429. 440. 493 f.
Eiiahnuigsaxteil 309.
Ertahran^swisBenschaft 119.
Erhabene, das 250 fl
Erkenntmstheorie 2. 76. 97. 306. 361 f.
.S73. 3^ f. 421 ff. 428 ff. 452. 4^ t
491. 494. 496 f. 501 ft
Erscheinan^ 206. 216. 22& 228. 322.
Ethik 303. 307. 381. 510. 525.
Eudämonismus .304. 415.
Evidenz 2^2 f. 4-29. 495 f.
Evolutiocismas 315. 4-55 1
Existenz 197. 199. 208. 289.
Fachwissenschaft 286.
Familie 511.
Fernwirknng 68. 275.
Fiktion 272.
Fläche -209.
Fortpflanzung 135.
Frage 286.
Freüieit 12. 144. 221. 227. 286. 295. 320.
€iedächtnis 437.
Gefallen (ästh, 248-
Gefühlstheorie 317.
Gegebenheit 288. 327. 428. 446 f.
Gegenständlichkeit 312. 410 f. 4281 431.
Gehimphvsiologie lOO.
Geist 245. 322. 437.
Gemeinschaft 516.
Genetisch 423.
Genie 61. 355.
Geometrie 26. 31. 33. 78. 82 f. 215.
218. 275. 294.
Geschehen 125.
Geschichte 122. 266 fl 286. 294. 320.459.
Gesetz 65. 120. 122. 517 1 534.
Gestalt 2^.
Glauben 4. 314 1 491.
Glückseligkeit 304.
Grad 410.
Gravitation 65. 119. 506.
Grenze 207. 209. 211.
Grösse 286.
Grundwissenschaft 2851 290. 389.448.
Hisslichc, das 243.
Heu'^nisnins 304.
HLstonsmns 271.
Honoanitlt 454 1
Humor 25ö 1
Hylozoismus 129.
Hvpnose 306.
Hypothese 272.
Ich 10 fl 60. 288. 338. 427. 4.33. 440. 503.
Ideal 240. -2^4.
IdeaUsmns 66. 152. 154. 2.33. 270. 327.
371. 418 1 5CÖ.
Idee 2.35. 238. ÄS 1 267. 406.
Identität 46. 58. 276. 439.
Identitätsphilosophie 386. 427. 441.
Immanenz 32»). 424.
Immaterialismns 7.
Impressionismas 424,
Indefinite, das 210.
Indeterminismus 204.
Individualität 242. 294.
Induktion 40. 488. 506. 518.
Infinite, das 210.
Infinitesimalmethode 75 1 412.
Innenwelt 4.50.
In..— — -• ■•^''"? 520.
Int - 423.
Intelligenz 61. 317.
Intelligibel 229 1
Interpolationsmaiimen 46.
Introjektioa 96.
Intuitiomsmns 303. 328.
Isolation 507.
Judentum 533.
Kant als Persönlichkeit 3öO.
— und der Pietismus 323.
— s Schädel 542 fl
Kategorien 309. 366 1 373. 385- 422.
432" f. 490 ff. 522 ff.
Kateg. Imperativ 324 1 349.
Katharsis 254-
Katholizisnaus 188.
Kausalität 46. 58. 64. 124. 130. 221.
227. 273. 275. 277. 288. 2^ 309.
361. 433- 442. 497. 502. 506.
Klassifikation 417.
556
Register.
Konkrete, das 451.
Körper 68. 209. 273. 437.
Konformismus 379 f.
Kontinuität (bist.) 461. 468 f. 4721476.
— (log.-math.) 46. 58. 156. 219 ff.
224. 273. 410. 412. 438.
Kraft 67. 128 f. 244. 276. 378. 423.
Kritizismus 9. 115. 270. 311. 326.355.423.
Kugelgeometrie 82.
Kultur 262. 284 f. 307. 320. 432. 536.
Kunst 235. 242. 323.
Ijächerliche, das 254.
Leben 284. 512. 533.
Lebenskraft 90 f. 134.
Lernen 496.
Liebtäther 274.
Limes 210. 212,
Linie 209.
Logik 61. 113. 276.286. 291. 310. 365 ff.
434. 490 f.
Logos 152. 315. 501.
Lokalisationsgesetz 80.
Mächtigkeit 276 f.
Malerei 259 f.
Manier 256 f.
Mascbinentheorie 89.
Masse 126 f. 272.
Materialismus 86. 94. 440. 606.
Materie 91, 274 f. 437.
Mathematik 74. 125 f. 156. 208. 273.
309. 430. 433. 487 f. 496.
Mechanik 66. 68. 81. 134.277.285.411.505.
Mech. Naturerklärung 127.
Mechanismus 55. 60. 70. 72. 88. 133.
Metageometrie 22 f. 25. 76. 79. 82.
Metaphysik 4. 12. 72 f. 94. 114. 117.
125.127.263.339.361. 421ff.432ff. 452.
Metbodenforschung 474.
Mneme 284.
Modalität 208.
Möglichkeit 207 f.
Monadenlehre 227.
Monismus 94. 506.
Moral 295.
Multiplikation 276.
Musik 248. 258. 260.
Mystik 118. 314.
Mystizismus 64. 118.
188.
Nachahmung 235.
Natur 66. 119. 121. 228. 284 f. 320.
Naturalismus 243. 258.
Naturerkenntnis 119.
Naturphilosophie 116. 386 f. 532 f.
Naturrecht 295.
Naturwissenschaft 117. 121f. 127.271.606.
Naturzweckmässigkeit 131.
Neovitalismus 524.
Neukantianismus 118.
Neuplatonismus 483.
Neuromantik 270. 421 ff. 452.
Neuronenlehre 305.
Nominalismus 56. 63. 336.
Norm 110. 113. 430.
Normalbewusstsein 427.
Normalgesetz 60. 123.
Notwendigkeit 24. 26. 77. 120. 207 f.
227. 275.
Nützlichkeitsteleologie 135.
Objekt 8. 66. 298. 439.
Ökonomie 423.
Okkasionalismus 94. 130 f.
Ontologie 302. 614.
Optik 119.
Optimismus 302.
Organismus 86. 89. 131. 134. 294.
Ornamentik 258.
Ort 286.
Pädagogik 185. 187. 353. 496. 511.
Panlogismus 433.
Panpsychismus 441.
Pantheismus 315.
Parallelenaxiom 32. 79 ff. 84.
Parallelismus 62. 94. 97.
Patriotismus 144.
Persönlichkeit 140 f. 160. 263 ff. 307.
468. 611. 536 f.
Pessimismus 271. 302.
Phänomenalismus 524.
Phänomenologie 431. 435. 442. 492. 497.
Phantasie 61.
Philosophiegeschichte 469 ff.
Register.
557
Phoronomie 26. 78.
Physik 134. 277. 606 f.
Physikotheologie 135.
Physiologie 305.
Plastik 259 f.
Poesie 237. 248.
Positivismus 62. 271. 316. 431. 457. 503.
Postulat 425.
Pragmatismus 118. 375 f. 423ff . 438. 520ff .
Primat d. prakt. Vernunft 424 ff.
Problemgeschichte 370. 462 ff. 473. 476.
Problemmaterial 468.
Proportion 245.
Psychologie 59. 76. 97. 120. 152. 286.
312 f. 431. 442. 486. 490 f. 497. 505.
Psychologismus 2. 54. 271. 297. 326 ff.
423. 427 f. 433. 437.
Psychomechanismus 107.
Psychophys. Parallelismus 92. 284.
Punkt 213 f.
Qualität 127. 488. 497.
Quantität 126.
Rationalismus 318. 361. 423. 425 f.
451. 502.
Raum 16. 18 f. 24. 26. 32. 41. 68. 79 ff.
126 f. 198. 200. 205. 208. 211. 216 f.
229 f. 273. 276. 284. 286. 294. 383.
440. 487 f. 497. 504.
Realismus 223. 238. 242 f. 258. 497.
Realität 198. 205. 216. 272. 331 f. 371.
445. 503.
Receptivität 487.
Rechtsprinzip 295.
Rechtsphilosophie 267.
Reflexion 487 f.
Reformation 326.
Regelmässigkeit 123.
Regulativ 223.
Relation 490.
Relativismus 423. 429.
ReUgion 157. 161 f. 188. 302. 325. 344 f.
371. 510.
Religiosität 156.
Reversibilität 277.
Richtigkeit 502.
Richtung 276 f.
Romantik 241. 271. 435. 441.
Rückschluss 473 f.
Rythmus 248.
Satyre 256.
Satz 430.
Scharfsinn 443.
Schauspielkunst 260.
Scheingeometrie 81.
Schematismus 310 ff.
Schlaf 306.
Schluss 293.
Schönheit 236. 239. 244. 249. 324.
Schöpfung 288.
Scholastik 451. 514.
Seele 287. 437. 450.
Sein 196. 198. 205. 216. 282. 288. 328.
428 f. 436. 438. 491.
Selbstbeobachtung 313. 487.
Sensualismus 31. 61. 76.
Sicherheit 502.
Sinn 430.
Sinnesqualität 19. 291.
Sinnlichkeit 276. 311.
Sittlichkeit 302. 307.
Skepsis 332 ff. 368. 456 f. 501.
Solipsismus 13. 327 f.
Sollen 268. 328. 429 f. 525.
Spekulation 288 f.
Spielraum 277.
Spieltrieb 324.
Spontaneität 310. 487.
Staat 267. 511.
Stand 267. 296.
Stil 238. 244. 256 f. 260 f.
Stimmung 245. 248. 525.
Stoff 259. 378.
Subjekt 7. 66. 152. 154. 167. 288. 433.439.
Subjektivismus 433. 452.
Substantialität 93. 312. 331. 370.
Substanz 439. 497.
Superposition 507.
Symbol 236. 238.
Synthesis 276. 293. 336. 410. 488 f.
Synthetisches Urteil 309.
Systematik 473. 482.
558
Register.
Tatsache 119 ff. 265. 275. 432.
Technik 241. 259.
Teleologie 89. 132 f. 156. 355.
Temperament 317. 509.
Thermodynamik 275. 277.
Tiefsinn 443.
Trägheit 274. 504.
Tragikomische, das 254.
Tragische, das 253.
Transscendent 2. 117. 429. 498.
Transscendental 117. 120. 2751 423. 496.
Transscendentale Methode 75. 481.
Transscendentalismus 431. 433.
Transscendentalpsychologie 311.
Transscendenz 327. 503.
Traum 306.
Übertragung 424.
Unbedingte, das 439 f.
Unbewusste, das 283. 441,
Unendliche, das 156. 195 f. 1981 201.
222. 228.
Unendlichkeit 199.
Unendlichkleine, das 76. 128.
Unsterblichkeit 343 ff. 357.
Unvergänglichkeit 290.
Urteil 60. 286. 292 1 366. 423. 490.
495. 502.
Urzeugung 131.
Utilitarismus 304.
Tariabilität 135 f.
Veränderung 287 1 449.
Verantwortlichkeit 369 1
Verbindung 276.
Vererbung 137.
Vernichtung 288.
Vernunft 64. 266.
Verstand 276. 311. 487.
Verstehen 496.
Vitalismus 70. 88. 90. 92. 134 1
Voluntarismus 317. 423.
Vornehmheit 141.
Wahrheit 423 f. 495. 528 ff.
Wahrheitsgefühl 489.
"Wahrnehmung 46. 81. 273. 291. 333.
451. 505.
Wahrnehmungsurteil 309.
Wahrscheinlichkeit 272.
Wechselwirkung 61. 282. 288.294.339.
Weitenbehaftung 204 1 213 fl
Welt 196. 198. 290.
Weltanschauung 271.
Welteinheit 65.
Weltlogik 124.
Werden 438.
Wert 139. 263 f. 302. 424 1 430. 446. 525.
Widerspruch 293. 449. 514.
Wille 316 fl 369 1 424. 432. 442.
Willensakt 509.
Wirklichkeit 147. 207. 449.
Wirklichkeitsanalysis 127.
Wirkung 288.
Wissen 4.
Wissenschaftslehre 115.
Witz 255.
Wohlfahrtsmoral 307.
Würde 251.
Zahl 205. 208.
Zahlenlehre 214.
Zeit 18. 26. 45. 80. 126. 156. 198. 200.
205. 208. 211. 216. 229 1 273. 276.
284. 290. 294. 383. 440. 481 1 505.
Zufall 25.
Zweck 67. 266. 373. 400.
Zweckbegriff 135.
Zweckmässigkeit 70. 89. 248.
Zweckursache 71.
Register.
559
Personen-Register.
Ach 313. 317.
Adler 404.
Amrhein 426 f.
Archimedes 411.
Aristoteles 5. 72. 254. 292.
300. 320 ff. 323. 326.
352. 371 f. 423. 482 f.
513. 522. 524.
V. Arnim 299 f.
Augustin 364. 378. 437.
Avenarius 422 f. 451.
Bache 426.
Bacon 638.
Baeumker 299 f.
Baltzer 83.
Bauch 122. 333. 426. 486.
Bayle 315.
Beck 387 f.
Becker 315.
Beneke 363.
Bergson 422. 436 ff. 451.
520. 533.
Berkeley 7. 76. 331. 333.
Berolzheimer 297.
Berti 182. 187. 192.
Bertini 182. 187.
Bichat 525.
Bielschowsky 351.
Böcklin 408. 414.
Böhme 118.
Bölsche 133.
Bolland 439.
Boltzmann 273.
Bolzauo 313. 326. 444.
BonatelU 192.
Boughi 192.
Bonola 84.
Bremer 360 f.
Brentano 286. 293. 313.
Brinckmann 314.
Bruno, G. 118. 129. 183.
284.
Buber 454.
V. Bubnoff 426.
Buckle 507.
Büdinger 414.
Bühler 313.
Burckhardt 318.
Busse 96.
Campanella 183.
Cantoni 179 ff.
Cardanus 129.
Cassirer 75 f. 332 f. 489.
Celoria 181.
CJifford 272.
Cohen 76. 369. 388. 405.
427,
Cohn 286.
Coni 192.
Comte 272.
Credaro 192.
Croce 435 f.
Curtis 426.
Darwin 136. 406. 417. 435.
Demokrit 63. 352 f.
Descartes 74 f. 192. 275.
282. 3.35. 437.
Deussen 363.
Diels 352.
Dilthey 315.
Diogenes Laert. 482.
Drews 427.
Dubois-Reymond 378. 407.
417.
Dürr 304.
Ebbinghaus 312. 369.
Einstein 506.
Elsenhans 486 ff.
Engel 84.
Epikur 63.
Erasmus 364.
j Erdmann, B. 272. 309. 488.
! 534.
j Erhardt 389.
Ernst 426.
; Eucken 316. 440.
Euklid 79. 82.
Ewald 447. 455 f.
Faggi 191.
Falter 77.
Fechner 12 f. 284. 304.
410. 523.
Ferrari 183.
Ferri 192.
Feuerbach 270. 307.
Fichte 115. 264. 295 f. 314.
320 f. 325. 345. 349. 358.
363. 387. 420. 432 f. 534.
Fischer, K. 426. 531 f.
Förster-Nietzsche 458.
Frauenstädt 358 ff.
Fries 362 f. 486 ff.
Füssli 419.
Galen 353.
Galilei 74. 411. 437. 505.
Galluppi 184.
Gauss 73.
Gioberti 185. 188.
Goethe 122. 133. 271. 285.
321. ,342. 350 f. 378. 526.
531.
Goldziher 299 f.
Gomperz 443.
Grassmann 273. 276.
Grisebach 358 ff.
Grotius 296.
Grillparzer 417. 420.
Grube 299 f.
Güssfeld 416.
Gwinner 358.
Hamann 342.
Hamilton 273.
V, Hartmann 86. 250. 270 ff.
373. 427. 441.
Hedvall 335. 338 f.
Hegel 263 ff. 270 f. 315.
318 f. 321. 345. .363. 372.
381. 388. 420. 4321 435 f.
560
Register.
438. 440 f. 471 f. 484.
516. 522. 526. 533.
V. Helmholtz 23. 32. 407.
412. 504 f. 524.
Heine 241.
Heraklit .351 ff. 438. 440.
533.
Herder 318. 323. 342. 516.
Herodot 318.
Hertslet 358.
Hertz 505.
Hessen 426.
Hessenberg 441,
Hubert 81.
Hobbes 63. 296.
Höfler 340.
Hölderlin 364.
Hoffmann 533.
Homer 247.
Humboldt 315. 318.
Hume 8, 77. 192. 309.
331 ff. 345. 418. 425.
456 f. 500. 514. 534.
Husserl 76. 312 f. 326. 363.
430 ff. 433. 441. 447.
492. 495 f. 522 f.
Huygens 275.
Jacobi 342. 363. 553.
James 418. 520 f. 524 f.
538.
Jellinek 296.
Jentsch 331.
Jnouye 299.
Jordan 364.
Josephus 533.
Jouffroy 180.
Jtelson 513.
Keller 408. 414.
Kepler 342.
Kiesewetter 4.
Kinkel 454.
Klein 404.
Kirchhoff 417.
Kopernikus 34.
Kraus 185.
Kremer 426.
Krueger 307.
Krug 4.
Külpe 313. 363. 379. 498.
504.
Laas 503.
Ladenburg 507.
Lagrauge 417.
Lambert 84.
Lamprecht 294.
Lange, F. A. 22. 404. 418.
Lassen 484.
Legendre 84.
Lehmann 353.
Leibniz 6. 74 f. 315. 323.
341 ff. 411. 437. 444.
453. 534.
Lessing 341 ff. 453. 534.
Lexis 507.
Liebmann 1 — 162.
Liepmann 296.
Lindner 358.
Lionardo d. V. 318.
Lipps 313. 333 f. 362. 427.
492.
Lisst 370.
Locke 5. 192. 297. 329.
Lorenz 425.
Lossky 328 f.
Lotze 134. 182. 191. 504.
Luther 326. 356. 532.
Luzzati 511.
Mach 3.39 f. 384. 422 f.
Mally 331.
Maimon 363. 387.
Mamiani 185.
Marbe 508.
Marcus 335 f. 362.
Marty 288. 293. 519.
Marx 525.
Maticevic 444.
Maxwell 274.
Mayer 524.
Medicus 434.
Meinong 333. 362. 431.
Mellin 309.
Messer 307. 313. 379.
Meunaann 442.
Mill 274. 363. 407. 502 f.
518.
Minkowski 272. 507.
Michaltschew 427. 445 ff.
Montaigne 456.
Müller, Job. 119.
V. Müller 361.
Münsterberg 369. 427.
Mulert 317.
Uagel 119.
Natorp 331. 353, 362. 417.
523.
Nelson 427. 441 f. 488.
Newton 126. 129. 136. 342.
505 ff.
Nicolaus V. Cues 74.
Niebuhr 318.
Nietzsche 271. 345. 357.
378. 380. 426. 455 ff.
BIO.
Oldenberg 299.
Ostwald 331. 339 ff.
Otto 442.
Parmenides 352. 440.
Pasch 83 f.
Paulsen 307. 526.
Pestalozzi 405.
Petsch 453.
Philon 533.
Pichler 443.
Planck 274. 507.
Piaton 5. 12. 20. 74 f. 235.
364. 371. 423. 484. 515.
Plotin 20.
Quast 336.
Ranke 315. 318.
Rayneri 182.
Rehmke 285 ff. 326. 339.
427. 445. 447 ff.
Reicke 17. 534 f.
Reid 489.
Reinhold 387.
Register.
561
Reinke 132.
Renouvier 191.
Richter 363. 455 ff.
Rickert 103. 105. 112.
326 ff. 345. 349. 362.
417 ff. 441. 446 f. 503 f.
569. 525.
Riehl 293. 338. 341. 363.
500. 504.
Ritschi 314 f.
Rosenbach 417.
Rosmini 185.
Rousseau 297. 342.
Royce 425.
Rugs 501.
Rüssel 272.
Sacchieri 84.
Schelling 315. 320. 355 f.
358. 372. 3«2. 387 f. 421.
432 f. 441.
Schiller 244. 250 ff. 319 ff.
372 f. 517. 526. 531.
Schleiermacher 314 ff. 419.
Schopenhauer 20. 115. 130.
271. 358. 363. 386. 424.
614. 525 f.
Schubert 420.
V, Schubert-Soldern 245.
258.
Schulze 309.
Schuppe 12 f. 327 f. 427.
433.
Semper 245. 405. 414.
Sextus, Emp. 353. 502.
Shaftesbury 315. 323.
Sigwart 102. 106 f. 490.
Simmel 362 f. 456. 519.
Simon 414.
Söhring 335.
Sokrates 351. 423.
Spencer 86. 370. 417. 423.
524.
Spinoza 5. 12. 20. 29. 295.
315. 342 f. 358. 388. 453.
514. 534.
Spir 439.
Spitteler 364.
Stadler 403 ff.
Stäckel 84.
Stammler 295.
Steinthal 404 ff.
Strauss 314. 426.
Tait 407.
Teichmüller 466.
Thaies 360.
Thomas v. Aqu. 185.
Thomson 407. 418.
Tocco 183.
Thukydides 318.
Tolstoy 378.
Treitschke 336.
Trendelenburg 182. 404.
513.
Überweg 20. 119. 513.
Uphues 288. 335. 427.
Vaihinger 363. 427. 500 f.
Vico 184.
Vidari 180. 191.
Volkelt 51. 235. 242. 253.
258. 504.
Vorländer 331.
Wagner 357.
Weber 410.
Weinel 156.
Weismann 132 f.
Weiss 434.
Wellstein 81 f.
Wendland 508.
Wentscher 307.
Wiehert 507.
Winkelmann 318.
Windelband 1.-6. 284.2991
326. 329. 350. 370. 422.
424 f. 427. 433. 437. 452.
500. 504. 521. 525.
Wolff 443. 453. 513 f.
Wundt 299. 316. 604.
Zenon 272.
Ziegler 426.
Zweig 296.
Besprochene Kantische Schriften.
(Chronologisch.)
Kritik der reinen Vernunft 11.19.116.
123 f. 195 ff. 293. 309 ff. 335. 358.
361. 387. 404. 406. 418. 514 f. 526.
Prolegomena 308 f. 311. 335. 383.
Metaphysische Anfangsgründe der Na-
turwissenschaft 412.
Kritik der Urteilskraft 89. 91. 132.
233 ff. 240 ff. 250 ff. 321. 355. 406.
Metaphysik der Sitten 296.
Vorlesungen über Metaphysik 310.
Opus postumum 17.
Reflexionen 309.
562
Register.
Verfasser besprochener Novitäten.
Ach 509.
Alberti 388.
Apel 308.
Arndt 351.
V. Arnim 299.
Baeumker 299.
Bauch 370.
Becher 271.
Biach 536.
Braun 527.
Busse 306.
Cj^on 376.
öorner 373.
Drews 278.
Eber 381.
Eckertz 380.
Eilers 377.
Engel 319.
Enriques 384.
Finckh 353.
Fischer 385. 499.
Forsyth 538.
Frost 386.
Görland 371.
Goldschmidt 525.
Goldziher 299.
Gräter 536.
Graue 375.
Gross 382.
Grube 299.
Häberlin 531.
Haering 534.
Hönigswald 331.
Hoffmann 355.
Horneffer 515.
Janssen 517.
Inouye 299.
534.
Katzer 532.
Kern 297.
V. Keyserling 343.
Kinkel 356.
Krieck 516. 536.
Kühnemann 517.
liasswitz 283.
Ledere 376. 511.
Levy 310.
Lewkowitz 372.
Lorentz 341. 534
Lowtzky 369.
Ifarcus 365.
Meumann 316.
Messer 312.
Michaltschew 326.
Moeller v. d. Brück
Montgomery 524.
Müller 378.
Mühlethaler 386.
Nelson 361.
Neumark 533.
Oldenberg 299.
532.
349 f.
V. d. Pfordten 379.
Pichler 513.
Pötschel 387.
Rausch 364.
Rehmke 285.
Reinhold 384.
Richter 301. 357.
Sadee 372.
Schmitt 388.
Scholz 314.
V. Schulze-Gävernitz 521.
Sidgwick 303.
Stöhr 512.
Störring 501.
Storm 376.
Switalski 520.
Tetsujiro 299.
Uphues 292.
del Vecchio 294. 296.
Verworn 305.
Volkmann .506.
Wagner 358.
Weichelt 363.
Weissfeld 318.
Wentscher 369.
Werner 371.
Wernicke 531.
Windelband 270. 299.
Wittmann 307.
Wundt 299. 508.
Register.
563
Verzeichnis der Mitarbeiter.
Adickes 1—52.
Häberlin 531.
Oesterreich 312—314.316
Alberti 388 389.
Haering 534—535
—319.
Hartmann 459 — 485.
Ohniann 358—364.
Bauch 115-138. 283-
-285.
Hessen 346—331.
370. 499—501.
Hönigswald 94—114.
Paulsen ,356-357. 525—
Becher 301- 308.501-
-508.
526.
Bergmann 285—294.
517
Jacobs 365—369.
V. d. Pfordten 379-380.
— 521.
Biach 536.
Jacoby 299—301.
Pötschel 387.
Braun 357. 515—516
Janssen 534.
•
Uausch 353— .355.
Buchenau 511—513.
Katzer 532.
Reichel 294-297.
Reinecke 486—498.
Cohen 403—420.
V. Keyserling 532
—533.
Reinhold 384—385.
Cyon 378—379.
Kinkel I-II. 74-
Kremer 341—343.
-85.
Rubinstein 263—269.
Rüge 308-310.
»orner 373—375.
Krieck 536—538.
Dreyer 179-194.
Driesch 86—93.
Kuntze 271—278.
Sadee 372.
Salomon 525.
Eber 381—382.
tasson 319-326.
Sautreaux 527—530.
Eckertz 380 381.
Leclfere 376. 535-
536.
Schmitt 380.
Eilers 377-378.
Levy 513—515.
V. Schubert-Soldern 233—
Engel 517.
Enriques 384.
Erhardt 278—283.
Lewkowitz 310-312.372.
262.
Liebert 520—524.
Schultz 297—299.
V. Liel 392.
Schvvartzkopft 364—365.
Ewald 270-271. 421-
-458.
V. Lippmann 542-
Lorenz 534.
-544.
Spranger 314—316.
Stern 376-377.
Falkenheim 53—73.
385
Lowtzky 389.
—386.
Vaihinger 163-178. 393
Forsyth 538—539.
Maas 343—351.
-402. 544—552.
Frost 386-387.
Medicus 139—151.
Fuchs 355—356.
Messer, A. 509.
Weidenbach 152-162.
Messer-Platz 509-
-511.
Wentscher 369—370.
CJeissler 195—232.
Mühlethaler 386.
Werner 371—372.
Görland 371.
Müller 378.
Wernicke 531—532.
Gräter 536.
Windelband HI— X.
Graue 375.
Wüst 331—343.
Gross 382—384.
Nenmark 533.
Wundt 351—353.
V4h
Druck von C. A. Kaenamerer & Co, Halle a. S.
B
2750
Bd. 15
Kant-Studien
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