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Full text of "Kant-Studien; philosophische Zeitschrift"

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Otto  Liebmonn 


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KANT- 
STUDIEN. 


PHILOSOPHISCHE  ZEITSCHRIFT 

UNTER  MITWIRKUNG  VON 

E.   ADICKES,    E.    BOUTROUX,    J.   E.   CREIGHTON, 

W.  DILTHEY,    B.  ERDMANN,    R.  EUCKEN,    P.  MENZER,   A.  RIEHL, 

F.  TOCCO.    W.  WINDELBAND 

UND   MIT   UNTERSTÜTZUNG    DER    .KANTGESELLSCHAFT" 

HERAUSGEGEBEN  VON 
Dß     HANS    VAIHINGER    und   D^    BRUNO    BAUCH 

PKOFESSOE  IN  TTAT.T.K  PROFESSOK  IN  HALLE. 


1      ( 

BERLIN, 

VERLAG  VON   REUTHER  &   REICHARD 

1910. 

WILLLAM8  4  NORGATE,  LEMCKE  &  BUECHNEB, 

LONDON.  NEW  YORK. 

H.  LE  SOUDIER,  CARLO  CLAUSEN, 
PARIS.  TORINO. 


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INHALT. 


Seite 

An  Otto  Liebmann.  2  Sonnette  von  WalterKinkel  .  .  i 
Otto  Liebmanns  Philosophie.  Von  Wilhelm  Windelband,  in 
Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.     Von  Erich  Adickes.        i 

Otto    Liebmanns   Kampf  mit   dem   Empirismus.    Von  Hugo 

Falkenheim 53 

Das  Verhältnis  von  Philosophie  und  Mathematik  nach  Lieb- 
mann.    Von  Walter  Kinkel 54 

Otto  Liebmanns  Lehre  vom  Organismus.     Von  Hans  Driesch       86 

Zu  Liebmanns  Kritik  der  Lehre  vom  psychophysischen  Pa- 
rallelismus.    Von  Richard  Hönigswald      ....       94 

Kritizismus  und  Naturphilosophie  bei   Otto  Liebmann.    Von 

Bruno  Bauch iiö 

Otto  Liebmann  als  Dichter.    Von  Fritz  Medicus  ....     139 

Der    idealistische    Begriff    des    Subjekts.      Von    Oswald 

Weidenbach 152 

Carlo  CantonI  zum  Gedächtnis.  Von  H.  Dreyer  ....  179 
Kants   Antinomien   und   das   Wesen   des  Unendlichen.    Von 

K.  Geissler 195 

Die  Grundfragen  der  Ästhetik  unter  kritischer  Zugrundelegung 

von    Kants    Kritik    der    Urteilskraft.     Von  Prof.   Dr. 

R.  V.  Schubert-Soldern 233 

Das  Wertsystem   Hegels   und   die  entwertete  Persönlichkeit. 

Von  M.  Rubinstein 263 

August  Stadler,  geb.  am  24.  August  1850,  gest.  am  16.  Mai 

1910.     Ein  Nachruf.     Von  Hermann  Cohen      ...  404 

Die  deutsche  Philosophie  Im  Jahre  1909.    Von  0.  Ewald  421 

Zur  Methode  der  Philosophiegeschichte.    Von  N.  Hartmann  459 

Kant  und  Fries.    Von  W.  Reinecke 486 

Rezensionen : 

Windelband.    Wilhelm,    Die  Philosophie    im  Geistesleben  des 

XIX.  Jahrhunderts.    Von  Oskar  Ewald 270 

Becher,   Erich,    Philosophische   Voraussetzungen   der  exakten 

Naturwissenschaften.    Von  Friedrich  Kuntze      ....      271 


ly  Inhalt. 

Seite 

Drews,  Arthur,  Eduard  von  Hartmanns  philosophisches  System 

im  Grundriss.    Von  Franz  Erhardt 278 

Lasswi'tz,  Kurd,  Seelen  und  Ziele.    Von  Bruno  Bauch    .    .      283 
Rehmke,    Johannes,   Philosophie  als  Grundwissenschaft.    Von 

Hugo  Bergmann 285 

Uphues,     Goswln,    Erkenntniskritische    Logik.      Von    Hugo 

Bergmann •      292 

del  Vecchio,    Gorgio,    II   concetto   della   natura  e  il  principio 

del  diritto.    Von  Hans  Reichel 294 

—  Su  la  teoria  del  contratto  sociale.    Von  Hans  Reichel     .      296 
Kern,   Berthold,    Das  Erkenntnisproblem   und  seine  kritische 

Lösung.    Von  Julius  Schultz 297 

Arnim,     Bäumker,     Goldziher,    Grube,    Inouye.    Oldenberg, 
Windelband,    VVundt,     AUg.    Geschichte    der    Philosophie 

(Kultur  der  Gegenwart  I,  5).    Von  G.  Jacoby 299 

Richter,  R.,  Einführung  in  die  Philosophie.   Von  Erich  Becher      301 
Sidgwick,    Henry,    Die   Methoden    der  Ethik.     Bd.  H.     Von 

Brich  Becher 303 

Verworn,    M.,    Die  Mechanik   des  Geisteslebens.    Von  Erich 

Becher 305 

Busse,  L.,  Die  Weltanschauungen  der  grossen  Philosophen  der 

Neuzeit.    Von  Erich  Becher 306 

Wittmann,    M.,    Die    Grundtragen    der   Ethik.     Von   Erich 

Becher 307 

Apel,  Max,  Kommentar  zu  Kants  Prolegomena.    Von  A.  Rüge      308 
Levy,   Heinrich,    Kants   Lehre  vom  Schematismus  der  reinen 

Verstandesbegriffe.    Von  A.  Lewkowitz 310 

Messer,  August,  Empfindung  und  Denken,  Von  K.  Oester reich  312 
Scholz,  Heinrich,  Christentum  und  Wissenschaft  in  Schleier- 
machers Glaubenslehre.  Von  Eduard  Spranger  ...  314 
Meumann,  Ernst,  Intelligenz  und  Wille.  VonK.  Oesterreich  316 
Welssfeld,  M.,  Kants  Gesellschaftslehre.  Von  K.  Oesterreich  318 
Engel,  B.  C,  Schiller  als  Denker.  Von  G.  Lasso n  .  .  .  .  319 
Mlchaltschew,  D.,  Philosophische  Studien.  Von  S.  Hessen  .  326 
Hönlgswald,  Richard,  Über  die  Lehre  Humes  von  der  Reali- 
tät der  Aussendinge.    Von  PaulWüst 331 

Lorenz,  Paul,  Lessings  Philosophie.    Von  JosefKremer      .      341 
Keyserling,    Hermann,    Graf,    Unsterblichkeit.      Eine    Kritik 
der    Beziehungen    zwischen   Naturgeschehen    und  mensch- 
licher Vorstellungswelt.    Von  HermannMaas      .     .     .    .      343 
Moeller.  van  den  Brück,  Die  Deutschen.  IV.  Bd.  Von  H.Maas      349 

—  Dasselbe.    VL  Bd.    Von  H.  Maas       350 

Arndt,  E.,   Das  Verhältnis  der  Verstandeserkenntnis  zur  sinn- 
lichen in  der  vorsokratischen  Philosophie.    VonM.  Wundt      351 
Flnckh,  Theodor,   Lehrbuch   der  philosophischen  Propädeutik. 

Von  A.  Rausch 353 

Hoffmann,  K.,  Die  Umbildung  der  Kantischen  Lehre  vom 
Genie  in  Schellings  System  des  transscendentalen  Idealis- 
mus.    Von  E.  Fuchs 365 

Kinkel,  Walter.  Der  Huraanitätsgedanke.    Betrachtungen  zur 

Beförderung  der  Humanität.    Von  Johannes  Paulsen     .      356 
Richter,   R.,   Friedrich  Nietzsche,  sein  Leben  und  sein  Werk. 

Von  0.  Braun 357 


Inhalt.  V 

Seite 

Wagner,  G.  Fr.,  Encyklopädisches  Register  zu  Schopenhauers 

Werken.    Von  Fritz  Ohmann 358 

Nelson,   Leonhard,    Über   das  sogenannte  Erkenntnisproblem. 

Von  F.  Ohmann '^^^ 

Weichelt,  Hans,  Friedrich  Nietzsche,  „Also  sprach  Zarathustra" 

erklärt  und  gewürdigt.    Von  F.  Oh  mann 363 

Rausch,    Alfred,    Elemente    der    Philosophie.       Von    Paul 

Schwartzkopff 364 

Marcus,  Ernst,  Die  Elementarlehre  zur  allgemeinen  Logik 
und  die  Grundzüge  der  transscendentalen  Logik.  Von 
A.  Jacobs 365 

Fischer,    Kuno,     Immanuel    Kant    und    seine    Lehre.      Von 

Bruno  Bauch *99 

Storring,  G.,     Einführung     in     die     Erkenntnistheorie.       Von 

Erich  Becher 501 

Volkmann,  Paul,  Erkenntnistheoretische  Grundzüge  der  Natur- 
wissenschaft.   Von  Erich  Becher     .  ' .      506 

Wundt,   W.,    Einleitung    in    die    Philosophie.      Von    Erich 

Becher 508 

Ach,  N.,    Über   den  Willensakt   und    das  Temperament.    Von 

A.  Messer       509 

Förster,  Fr.  W.,  Autorität  und  Freiheit.  Von  P.  Messer- 
Platz      509 

Ledere,  A.,  L'education  morale  rationelle.     Von  A.  Buchenau      511 

Stöhr,  A.,  Der  Begriff  des  Lebens.    Von  B.  Kern      ....      512 

Pichler,  Hans,  Die  Erkennbarkeit  der  Gegenstände. 

Derselbe,  Über  Christian  Wolffs  Ontologie.    Von  A.  Levy     .      513 

Eucken,    Rudolf,    Der    Sinn    und    Wert    des    Lebens.      Von 

0.  Braun , 515 

Theophrastos,  Charakterbilder,  Piaton,  Verteidigung  des  So- 
krates.  Deutscli  von  A.  und  E.  Horneffer.  Von  Otto 
Braun 515 

Krieck,  E.,  Persönlichkeit  und  Kultur.    Von  O.Braun.     .     .      516 

Kühnemann,   Eugen,    Schillers   philosophische   Schriften   und 

Gedichte.    Von  B.  C.  Engel       517 

Janssen,    Otto,    Das   Wesen   der   Gesetzesbildung.     Von   H. 

Bergmannn ''l' 

Switalski,   W.,   Der  Wahrheitsbegriff  des  Pragmatismus  nach 

William  James.     Von  A.  Liebert 520 

Montgomery,   Edm..   Philosophical   Problems   in   the   light  of 

vital  Organisation.     Von  FritzOhmann 524 

V.  Schultze-Gäyernitz,G.,  Marx  oder  Kant?    VonA,  Salomon      525 

Goldschmidt,    L.,    Zur    Wiedererweckung    Kantischer    Lehre. 

Von  Joh.  Paulsen 52o 

Braun,    Otto,    Schellings  geistige  Wandlungen  in  den  Jahren 

1800—1810.    Von  L.  Sautreaux 527 

Selbstanzeigen: 

Wentscher,  Der  Wille.  S.  369.  —  Bauch,  Das  Substanz- 
problem in  der  griechischen  Philosophie  bis  zur  Blütezeit. 
S.  371.  —  Görland,  Mein  Weg  zur  Religion.  S.  371.  — 
Werner,  Aristote  et  l'idöalisme  platonicien.    S.  371.  —  Sadee, 


VI  Inhalt. 

Seite 

Schiller  als  Realist.  S.  372.  —  Lewkowitz,  Hegels  Ästhetik. 
S.  372.  —  Dorner,  Enzyklopädie  der  Philosophie.  S.  373.  — 
Graue,  Wegweiser  zur  Selbstgewissheit  der  sittlichen  Persön- 
lichkeit. S.  375.  —  Leclfere,  Pragmatisme,  Modernisme,  Pro- 
testantisme.  S.  376.  —  Stern,  Das  Denken  und  sein  Gegen- 
stand. S.  376.  —  Eilers,  Das  Bedürfnis  des  Gebildeten  nach 
einer  Weltanschauung.  vS.  377.  —  Müller,  Kraft  und  Stoff, 
S.  378.  —  Cyon,  Dieu  et  Science.  8.378. —  von  der  Pfordten, 
Konformismus.  S.  379.  —  Schmitt,  Die  unendlichen  Modi 
bei  Spinoza.  S.  380.  —  Eckertz,  Nietzsche  als  Künstler. 
S.  380.  —  Eber,  Hegels  Ethik.  S.  881.  —  Gross,  Kant- 
Laien-Brevier.  S.  382;  —  Gross,  „Form''  und  „Materie"  des 
Erkennens  in  der  tr.  Ästhetik.  S.  383.  —  Enriques,  Probleme 
der  Wissenschaft.  S.  384.  —  Rein  hold,  Machs  Erkenntnis- 
theorie. S.  384.  —  Falkenheim-Fischer,  System  der  Logik 
und  Metaphysik  oder  Wissenschaftslehre.  S.  385.  —  Mühle- 
thaler,  Die  Mystik  bei  Schopenhauer.  S.  386.  —  Frost, 
Naturphilosophie.  S.  ,386.  —  Pötschel,  J.  S.  Beck  und  Kant. 
S.  387.  —  Alberti,  Die  Grundlagen  des  Systems  Spinozas, 
S.  388.  —  Lowtzky,  Studien  zur  Erkenntnistheorie.    S,  389. 

H ab  erlin,  Wissenschaft  und  Philosophie.  S.  531.  —  Wer- 
nicke,  Die  Begründung  des  deutschen  Idealismus  durch  Im- 
manuel Kant.     S.  531.  —  Katzer,  Luther  und  Kant.     S.  532. 

—  V.  Keyserling,  Prolegomena  zur  Naturphilosophie.  S.  532. 

—  Neumark,  Geschichte  der  jüdischen  Philosophie  des 
Mittelalters.  S.  533.  —  Janssen,  Das  Wesen  der  Gesetzes- 
bildung.    S.   534.  —  Lorenz,   Lessings   Philosophie.     S.  534. 

—  Haering,  Der  Duisburgscbe  Nachlass  und  Kants  Kritizis- 
mus. S.  534.  —  Ledere,  La  vanitö  de  l'experience  reli- 
gieuse.  S.  535.  —  Grat  er,  Neu-Christentum.  S.  536.  — 
Slun,  Englands  Schutz  durch  den  Aussenhandel,  S.  536.  — 
Krieck,  Persönlichkeit  und  Kultur.  S.  536.  —  Forsyth, 
English  Philosophy.    S.  538. 

Entgegnung  von  W.  Kinkel.  S.  539.  —  Duplik  von  J.  Paulsen. 
S.  540.  —  Erklärung  von  F.  Wagner.  S.  540.  —  Erwiderung 
von  F.  Ohmann.    S,  541. 

Mitteilungen : 

Jahresbericht  und  Mitgliederverzeichnis  der  Kantgesellschaft 

für  das  .Tahr  1909.     Mit   einer  Vorbemerkung  von  H,  Vai- 
hinger 163 

Eine  neue  Ausgabe  der  Kr,  d.  r.  V.    S.  390.  —  Erklärung.    Von 
H.  Scheinert.    S.  390,  —  Entgegnung  von  F.  Spranger,    S.  391.  — 
IV.  Internationaler  Kongress  für  Philosophie.    S.  391.  —  Karl 
Gebert  f.    S.  392. 
K.autgesellscliaft.    A.  Neueingetretene  Jahresmitgl. f.d.  Jahr  1910      393 
„  B.  Neuangemeldete  Mitglieder  f.  d.  Jahr  1911      394 

Fünftes  Preisausschreiben  der  Kantgesellschaft 395 

Die   ersten   sechs  Jahre    der  Kantgesellschaft.     Bericht  von 

H.  Vaihinger 399 

Untersuchung  von  Kants  Schädel  gemäss  Galls  Lehre  durch 
Dr.  W.  Kelch,  mitgeteilt  und  eingeleitet  von  E.  v.  Lipp- 
mann   542 

IV.  Internationaler  Kongress  für  Philosophie 545 


Inhalt.  VII 

Reite 

KantgesellBChaft : 

Drittes  Preisaiis^iclneiben  der  Kantgesellschaft 547 

Xeiieingetretene  Jahresmitglieder  für  das  Jahr  1910     ....  550 

Neuangemeldete  Mitglieder  für  das  .Jahr  1911 551 

Mitteilung 552 

Ein  von  Kant  an  Jacobi  geschenktes  Porträt.  Von  H.  Vaihinger  553 

Vom  Autographenmarkt 553 


Register: 

Sach-Register    • 654 

Personen-Register 559 

Besprochene  Kantische  Schriften 561 

Verfasser  besprochener  Novitäten 562 

Verzeichnis  der  Mitarbeiter 563 


« 


An  Otto  Liebmann. 

Von  Walter  Kinkel. 


I. 

Wer  lehrt  das  Herz,  den  rechten  We^  zu  finden? 
Von  Leid  zu  Lust,  von  Lust  zu  Leid  getragen, 
Erwacht  der  Mensch  aus  dumpfen  Kindheitstagen 
Und  sieht  verwundert  Stund'  um  Stunde  schwinden. 

Vergeblich  sucht  er  Wechselndes  zu  binden: 
Das  Schicksal  achtet  nicht  sein  bittres  Klagen. 
Da  stirbt  gemach  des  Einen  Hoffen,  Wagen, 
Wie  des  Genusses  Fesseln  ihn  umwinden; 

Sein  Ich  verweht  wie  nächtlich  dunkle  Schatten  — 

Der  Andre  aber  fühlt  den  Mut  sich  heben; 

Er  mag  sich  nicht  der  Macht  der  Zeit  ergeben, 

Und  will  auch  endlich  seine  Kraft  ermatten, 
Er  lässt  nicht  ab  zu  ringen,  suchen,  streben,  — 
Weltheimweh  führt  ihn  fort  zu  ewgem  Leben, 

iL 

Weltheimweh  hat  auch  Dir  das  Herz  entzündet: 
Und  in  des  Tages  wechselnden  Gestalten 
Empfandest  Du  ein  unverbrüchlich  Walten, 
Das  sich  dem  Geist  in  stillen  Stunden  kündet 


Und  so,  der  Menschheit  reinstem  Trieb  verbündet, 
Hast  Du  die  Sehnsucht  ewig  wach  gehalten 
Und  hast  uns  so,  im  Neuen  wie  im  Alten, 
Manch  ernst  Geheimnis  klaren  Blicks  ergründet. 

Und  wie  in  Dir  die  Seele  jung  geblieben, 

Entfachtest  Du  in  Deiner  Schüler  Scharen 

Den  Drang  zum  Schönen  und  den  Trieb  zum  Wahren, 

Und  lehrtest  sie  des  Forschens  Mühe  lieben: 
An  ihrem  Danke  magst  Du's  heut  erfahren, 
Dass  nicht  vergeblich  Deine  Werke  waren. 


AX- 


Otto  Liebmanns  Philosophie. 

Von  Wilhelm  Windelband. 


Man  könnte  Liebmann  den  treuesten  aller  Kantianer  nennen. 
Er  ist  einer  der  Ersten  gewesen,  die  mit  eindrucksvoller  Energie 
auf  den  vergessenen  Kritizismus  zurückwiesen:  er  hat  dann  red- 
lich daran  gearbeitet,  die  besten  und  höchsten  Ergebnisse  der 
Wissenschaft  des  neunzehnten  Jahrhunderts,  vor  allem  der  Natur- 
forschung unter  Kants  philososophische  Gesichtspunkte  zu  rücken 
und  in  die  grossen  Linien  seiner  Weltanschauung  einzufügen :  und 
er  hat  dabei  so  streng  wie  kein  anderer  diese  Linien  eingehalten 
und  immer  wieder  mit  fester  Hand  ihr  unverrückbares  Grundgefüge 
gezeichnet. 

Als  sein  erstes  Buch  „Kant  und  die  Epigonen"  erschien 
(1865),  da  sassen  auf  den  Kathedern  noch  die  Schüler  von  Kants 
metaphysischen  Nachfolgern,  und  ihre  Diskussionen  erfüllten  die 
zünftige  Literatur:  aber  das  Interesse  der  gebildeten  Welt  war 
ihren  Systemen  entfremdet;  statt  ihrer  hatte  die  naturwissen- 
schaftliche Denkart  sich  ausgebreitet  und,  aller  kritischen  Vorsicht 
ledig,  ihren  naiven  Materialismus  zum  metaphysischen  Dogma  er- 
hoben. Gegen  beide  Fronten  war  es  gerichtet,  wenn  Liebmann 
mit  jedem  Kapitel  seines  frischen  und  schneidigen  Büchleins  auf 
das  Ceterum  censeo  kam :  also  muss  auf  Kant  zurückgegangen 
werden. 

Aber  freilich,  Kant  musste  erst  wieder  entdeckt  werden;  ja, 
Liebmann  musste  ihn  selbst  erst  für  sich  selbst  entdecken!  Denn 
ein  klein  wenig  lag  damals  auch  für  ihn  noch  über  Kants  Bilde 
der  Schleier,  den  dereinst  Reinholds,  von  den  Kantianern  der 
Schule  angenommene,  Missdeutuug  darüber  geworfen  hatte.  Es 
war  die  Auffassung  der  kritischen  Erkenntnistheorie,    wonach  alle 


IV  W.  Windelband, 

Weltvorstellung-  als  eine  rätselhafte  Funktion  zwischen  einem  un- 
bekannten An-sich  des  Objekts  und  einem  ebenso  unbekannten 
An-sich  des  Subjekts  schweben  sollte,  von  jenem  nach  ihrem  In- 
halt, von  diesem  nach  ihrer  Form  bestimmt.  Diese  Auffassungs- 
weise hatte  den  Naturforschern  bei  ihrer  Theorie  der  Sinneswahr- 
nehmung gelegen,  und  die  letztere  hat  deshalb  das  Feld  gebildet, 
auf  dem  eine  Zeitlang  Naturforschung  und  Kantische  Philosophie 
zusammenarbeiten  zu  können  glauben  durften.  Von  hier  ist  auch 
Liebmann  ausgegangen.  Als  der  Tübinger  Privatdozent  seine 
Untersuchung  „Über  den  objektiven  Anblick"  herausgab  (1869), 
wandelte  er  die  Wege,  die  Schopenhauer  und  Helmholtz  gebahnt 
hatten.  Mit  ihnen  setzte  er  neben  den  sensualeu  Faktor  der 
Wahrnehmung  den  intellektuellen,  zu  dem  letzteren  rechnete  er 
ausser  den  Anschauungen  Raum  und  Zeit  von  den  Kategorien 
nicht  nur  die  Kausalität,  sondern  auch  sehr  richtig  die  Subsistenz: 
aber  er  war  dem  wahren  Sinn  der  transscendentalen  Analytik 
schon  damals  auf  der  Spur,  wenn  er  unter  dem  dritten,  dem 
„transscendenten"  Faktor  die  überempirische  Notwendigkeit  ver- 
stand, die  zwischen  den  beiden  andern  so  besteht,  dass  erst  aus 
ihr  sich  das  ergiebt,  was  wir  „Existenz",  Wirklichkeit  im  Sinne 
des  transscendentalen  Idealismus  nennen  dürfen.  Gerade  in  der 
Art,  wie  Liebmann  hier  den  landläufigen,  Jacobi-Reinholdschen 
Begriff  des  „Diug-an-sich"  mit  Recht  als  völlig  unbrauchbar  be- 
kämpft, kommen  die  Prinzipien  des  wahren  Kant  zu  ihrem  Rechte. 
Darin,  wie  in  der  Kritik  der  Kategorienlehre,  stand  Liebmann 
schon  damals  auf  dem  Staudpunkte,  den  er  später  dahin  formuliert 
hat,  dass  zwar  viele,  vielleicht  alle  einzelnen  und  buchstäblichen 
Fassungen  der  bei  Kant  historisch  bedingten  Begriffe  seiner  Lehre 
korrigiert  werden  müssen,  dass  aber  der  Geist  der  Transscendental- 
philosophie  unsterblich  sei. 

Diesen  Geist  galt  es  in  der  Folgezeit  zu  begreifen,  zu  be- 
gründen, zu  vertreten,  zu  verteidigen.  Denn  es  kamen  die  Tage, 
in  denen  gerade  jene  scheinbare  Intimität  zwischen  der  kritischen 
Erkenntnistheorie  und  der  Physiologie  der  Sinnesorgane  und  jener 
Bund  zwischen  Kantianismus  und  Naturforschung,  den  Albert  Langes 
Geschichte  des  Materialismus  inaugurierte,  zu  einer  Ausdeutung 
der  Kantischen  Lehre  in  Psychologismus  und  Relativismus  führte. 


Otto  Liebmanns  Philosophie.  V 

Die  Philosophie  sollte  in  Erkenntnistheorie  und  diese  in  ein  tat- 
sächliches Beschreiben  des  empirischen  Wissens  aufgehen.  In 
diesen  Zeiten  hat  Liebmann  auf  dem  Strassburger  Katheder  den 
Kampf  um  den  Geist  der  Transscendentalphilosophie  gekämpft. 
Wer  ihm  damals  persönlich  nahestand,  der  weiss,  unter  wie 
schwierigen  Verhältnissen,  —  er  weiss  aber  auch,  mit  wie  glück- 
lichem Erfolge  dieser  Kampf  geführt  wurde.  Es  war  eine  grosse 
Wirkung  der  Persönlichkeit.  Eine  Fülle  des  Wissens  strömte  in 
seiner  Eede,  aber  sie  war  stets  zu  lebendigster  Anschaulichkeit 
geformt.  Und  in  diesem  Wissen  wühlte  ein  scharfer  Grübelsinn, 
um  überall  in  die  Tiefe  zu  graben.  Unvermerkt  fand  der  Zuhörer 
das  Selbstverständliche  in  ein  Problem  verwandelt,  —  nun  tauchten 
die  Heroen  des  Denkens  vor  ihm  auf,  diö  sich  daran,  ach  ver- 
gebens! gequält,  —  und  zum  Schlüsse  ward  aus  der  Sache  selbst  die 
Einsicht  in  die  Stelle  gewonnen,  an  der  alle  menschliche  Erkenntnis 
halt  machen  muss.  Diesen  Zwang  des  kritischen  Philosophierens, 
den  Liebmann  auf  seine  Zuhörer  ausübt,  bezeugen  Zug  um  Zug 
die  im  Zusammenhange  mit  seinen  ^Vorlesungen  erwachsenen  Ab- 
handlungen, die  er  in  der  Schrift  „Zur  Analysis  der  Wirklichkeit" 
(zuerst  1876)  zu  einem  wohlgefügten  Ganzen  vereinigt  hat.  Es  ist 
eines  der  eigenartigsten  Werke,  in  denen  je  ein  Philosoph  seine 
Weltanschauung  dargelegt  hat.  Da  ist,  so  scheint  es,  keine  Spur 
von  lehrhafter  Gesamtdarstellung:  jede  Abhandlung  stellt  ihr 
Sonderproblem  und  diskutiert  es  durch  die  ganze  Fülle  seiner 
historischen  Dialektik  hindurch,  um  schliesslich  an  den  Punkt  zu 
führen,  an  dem  sich  übersehen  lässt,  welche  Fragen  daran  be- 
antwortet sind,  welche  beantwortbar  bleiben  und  welche  niemals 
beantwortet  werden  können:  und  höchstens  will  sich  bei  diesem 
ersten  Anblick  aus  diesen  Einzelbetrachtungen  schliesslich  so  etwas 
wie  ein  Ganzes  summieren.  Wer  aber  genauer  zuschaut,  der  findet, 
dass  alle  diese  Besonderheiten  Teile  eines  organischen  Ganzen 
sind,  die  sich  gegenseitig  verlangen  und  bedingen  und  ein  einheit- 
liches Leben  des  Gedankens  darstellen. 

Nicht  zufällig  versuche  ich  damit  den  Eindruck  von  Liebmanns 
Hauptwerk  an  dem  Gegensatze  mechanischen  und  organischen  Zu- 
sammenhanges zu  veranschaulichen:  denn  keinem  Problem  ist  er 
selbst   häufiger,   vielseitiger,    energischer   zu  Leibe   gegangen,   als 


VI  W.  Windelband, 

diesem   Verhältnis.      Das    hängt    offenbar    damit    zusammen,    dass 
er   mit   der   Grundstruktur   auch    seiner   eignen   Erkenntnistheorie 
immer    bei    der    Kantischen    Lehre    von     den    Grundsätzen    des 
reinen   Verstandes    beharrt    hat,    die    wesentlich    auf   die    Recht- 
fertigung   der    mathematisch -physikalischen    Theorie   hinauslaufen 
und    deshalb    die    mechanistische    Erklärung    aller    Erscheinungen 
nach    den   Gesetzen    von  Raum,  Zeit   und    den  Kategorien,    insbe- 
sondere  der  Substanz  und  der  Kausalität,   mit  so  ausschliesslicher 
Bestimmtheit    verlangen,    dass    eben    damit    der   Organismus    zum 
Wunder   in   dieser  Welt   des  Mechanismus  wird.     Zwar  hat  Lieb- 
mann   sich   von    dem    architektonisch    symmetrischen   Aufbau    des 
Kantischen  Kategorien-  und  Grundsätzesystems  völlig  frei  gehalten; 
aber  auch  hierin  ist  er  dem  Geiste  der  Transscendentalphilosophie 
insofern    durchaus    treu    geblieben,    als    er    den   Zweck    nicht    als 
konstitutive   Kategorie,     wohl    aber   als   eine    vernunftnotwendige 
und    völlig    unausweichliche    Betrachtungsweise    angesehen    haben 
will.     Mit    unermüdlichem  Scharfsinn    hat    er   immer    wieder    den 
darwinistischen  Theorien,  wenn  sie  das  Problem  der  Zweckmässig- 
keit aus  der  Welt  geschafft  zu  haben  glaubten,  ihre  eigene,  heim- 
liche, ihnen  selbst  nicht  klar  gewordene  Teleologie  als  ihre  Voraus- 
setzung nachgewiesen.    Von  verschiedenen  Seiten  her  hat  er  gezeigt, 
wie  in  der  Weltauffassung  neben  dem  platonischen  Motiv,  das  von 
der    Ideenlehre   zu    dem    Prinzip    der   Naturgesetzmässigkeit   fort- 
geschritten ist,  das  aristotelische  Motiv  der  Entelechie  unabweisbar 
und  unentbehrlich  sei.     Wenn  ihm  das  Verhältnis  zwischen  beiden 
als  ein  letztes,  unlösbares  Rätsel  gilt,  so  weiss  er  sich  auch  darin 
mit  der  Stellung  Kants,  wie  sie  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  aus- 
gesprochen  ist,   im  Prinzip   völlig  einverstanden.     Aber   indem  er 
das   konstatiert,    bemerkt   er   gelegentlich:    „nur   das  könne  dabei 
fraglich   bleiben,    ob    die    Grenzen    des    menschlichen    Erkenntnis- 
vermögens wirklich  genau  an  dem  Orte  liegen,  wo  Kant  sie  gezogen 
hat".     Was   dies   bedeutet,   ist  nicht  schwer  festzustellen.     Kant 
hat   nicht    nur   die    mechanische  Erklärung   der   gestaltenden   und 
erhaltenden  Vorgänge  im  einzelnen  Organismus,  sondern  auch  das 
kühne  Abenteuer  des  Archaeologen  der  Natur,  der  die  ganze  Reihe 
der  organischen  Bildungen   aus  einer  Urform  mechanisch  ableiten 
wollte,   wenigstens  im  Prinzip  und  dem  regulativen  Postulat  nach 


Otto  Liebmanns  Philosophie.  VII 

für  möglich  gehalten  und  nur  die  „ursprüngliche  Organisation"  als 
schlechterdings  unbegreiflich  für  das  menschliche  Denken  angesehen : 
Liebmann  dagegen  findet  schon  in  dem  „idiotypischen"  Charakter 
eines  jeden  Organismus  und  einer  jeden  Art  das  der  mechanischen 
Erklärung  spottende  Wunder  der  Zweckmässigkeit  und  Zielstrebig- 
keit. Hier  zieht  also  der  Kantianer  die  Grenzen  der  menschlichen 
Erkenntnis  ein  gut  Stück  enger  als  Kant  selbst. 

Das  ist  um  so  charakteristischer,  als  Liebmann  das  Bedürfnis 
nach  einer  Lösung  dieser  Probleme  so  stark  und  lebhaft  empfindet 
als  nur  irgend  einer.  Und  damit  stehen  wir  unmittelbar  vor  der 
Eigenart  seiner  intellektuellen  Persönlichkeit,  die  sich  eben  damit 
als  durchaus  kantisch  bestimmt.  Er  besitzt  im  höchsten  Grade 
das  metaphysische  Bedürfnis,  man  könnte  aitch  von  ihm  sagen,  er 
sei  ,.in  die  Metaphysik  verliebt".  Er  verfügt  dazu  über  den  Ernst 
der  Betrachtung  und  die  Schärfe  des  Verstandes,  die  dazu  gehören, 
um  gerade  in  dem  scheinbar  Selbstverständlichen  das  Problem  zu 
entdecken,  und  er  hat  den  Trieb  und  den  Schwung  der  Phantasie, 
die  das  Erkennen  vom  Einzelnen  zum  Ganzen  hinaustreiben  und 
emporziehen:  wer  sich  davon  überzeugen  will,  der  lese  die  Dichtungen, 
die  der  Denker  unter  dem  Titel  ,. Weltwanderungen"  veröffentlicht 
hat.  Aber  er  besitzt  in  gleich  hohem  Grade  die  Selbstbeherrschung 
des  Intellekts,  die  innere  Disziplin,  die  den  Erkenntnistrieb  bändigt, 
die  niemals  das  Verlangen  für  ein  Vollbringen  nimmt,  und  damit 
die  Eesignation  innerhalb  der  selbstgesetzten  Schranken.  Von 
diesen  Voraussetzungen  her  hat  Liebmann  seine  ».kritische  Meta- 
physik" geschaffen.  Ihre  Grundlage  und  ihre  Richtschnur  bilden 
die  Gesetze  des  Intellekts,  ohne  die  es  nun  und  nimmermehr  irgend 
eine  Theorie  geben  kann:  als  die  Klimax  der  Theorien,  als  die 
Arten  der  Notwendigkeit,  als  die  Schichten  des  Apriori  hat  sie  Lieb- 
mann entwickelt.  Ihre  Geltung  für  alle  Erfahrung  ist  ihm  die  all- 
gemeinste und  zugleich  die  gewisseste  aller  Tatsachen  selbst,  —  er  be- 
zeichnet sie  gern  und  glücklich  als  die  „Logik  der  Tatsachen",  aber 
er  hält  in  echt  kritischem  Sinne  jeden  Versuch,  sie  noch  wieder  zu 
„begreifen",  zu  „erklären"  oder  dogmatisch- metaphysisch  zu  deuten 
für  aussichtslos.  In  dem  Rahmen  dieser  generellen  Notwendig- 
keiten entspringen  nun  aber  die  sachlichen  Wirklichkeiten,  welche 
die  Probleme  des  metaphysischen  Denkens  bilden,  so  unentfliehbar 


Vin  W.  Windelband, 

und  so  gewichtig,  so  tief  in  unser  ganzes  Wesen  greifend  wie 
ihre  Erlebnisse  selbst  in  ihrer  Unmittelbarkeit.  Niemals  reicht 
ihre  Analyse  bis  an  das  Letzte  ihrer  Gegebenheit:  aber  darum  ist 
unsre  Denkarbeit  an  ihnen  doch  nicht  umsonst.  Jedesmal  zeigt 
die  Geschichte  für  diese  immer  wiederkehrenden  Probleme  ver- 
schiedene, auch  ihrerseits  immer  wiederkehrende  Lösungsversuche. 
Wir  können  feststellen,  was  darin  nach  den  Tatsachen  und  ihrer 
Logik  als  einwandfreies  Ergebnis  gewonnen  worden  ist  —  was 
bei  weiterem  Wachstum  unseres  Wissens  und  seiner  rechten  Be- 
arbeitung noch  gewonnen  werden  kann  —  und  andrerseits,  was 
der  Natur  der  Sache  nach  unsrer  Erkenntnis  immer  verborgen 
bleiben  wird  und  muss.  Das  ist  die  philosophische  „Analysis  der 
Wirklichkeit",  die  kritische  Metaphysik.  Sie  umfasst  die  Fragen 
der  Ethik  und  Ästhetik  in  gleicher  Weise,  wie  diejenigen  der 
wissenschaftlichen  Erkenntnis:  in  der  Ausführung  des  Buches  und 
in  den  Fortsetzungen,  welche  dessen  Untersuchungen  in  den  beiden 
Bänden  „Gedanken  und  Tatsachen"  (1882—1904)  erfahren  haben, 
ist  den  Problemen  der  Werte  zwar  kein  so  grosser  Umfang  wie 
denen  des  Seins  und  des  Geschehens  gewidmet,  aber  dafür  in  ge- 
drängter, oft  lapidarer  Kürze  aus  einer  ernsten  und  grossen 
Lebensanschauung  heraus  ein  reicher  Ertrag  begrifflicher  Festigung 
abgerungen  worden. 

Diese  kritische  Metaphysik  scheidet  Liebmaun  scharf  und 
sicher  von  aller  dogmatischen,  alter  und  neuer.  Die  apodiktische 
Wissenschaft  vom  Wesen  der  Dinge  soll  mit  Kant  ein  für  allemal 
preisgegeben  sein :  die  kritische  Metaphysik  will  nichts  sein  als 
„eine  strenge  Erörterung  menschlicher  Ansichten,  menschlicher 
Hypothesen  über  das  AVesen  der  Dinge".  Aber  man  würde  sehr 
irren,  wenn  man  nach  solchen  Erklärungen  Liebmanns  Stellung 
irgendwie  in  die  Nähe  relativistischer  oder  gar  pragmatistischer 
Auffassungsweisen  rücken  wollte.  Die  Hypothesen,  die  seine 
Metaphysik  diskutiert,  beziehen  sich  auf  die  sachlichen  Einzel- 
probleme der  Weltansicht,  und  die  Kriterien,  die  dieser  Diskussion 
zu  Grunde  liegen,  sind  für  ihn  die  aller  Relativität  überhobenen 
notwendigen  und  ewigen  Wahrheiten  des  Denkens  und  An- 
schaueus.  „Mit  ihnen  üben  wir  das  Hausrecht  unserer  In- 
telligenz"   über    alles    aus,    was  je   Inhalt   unseres   Bewusstseins 


Otto  Liebmanns  Philosophie.  IX 

werden  kanu.  Und  diese  Grandstruktur  alles  Bewusstseins  ist 
für  Liebmanu  durchaus  Kautisch:  dazu  gehören  vor  allem 
die  Notwendigkeiten  räumlicher  und  zeitlicher  Anschauung,  ob- 
wohl die  interessanten  und  vielseitigen  Grübeleien  über  das  Zeit- 
problem Liebmann  an  mehr  als  einem  Punkte  über  den  Kantischen 
Horizont  der  Phänonienalität  hinauszudrängen  scheinen,  dazu 
gehört  weiter  die  Identifikation  des  Prinzips  der  Kausalität  mit  dem 
der  Gesetzmässigkeit:  auch  Liebmann  kennt  kein  anderes  Kausal- 
verhältnis als  dasjenige,  worin  die  Ursache  der  Wirkung  ihr  Dasein 
in  der  Zeit  nach  einer  allgemeinen  Regel  bestimmt. 

Auch  insofern  bleibt  diese  kritische  Metaphysik  durchaus 
Kantisch,  als  sie  mit  vollem  Bewusstsein  an  den  Grenzen  mensch- 
licher Erkenntnis  stehen  bleiben  will.  In  beiden  Fällen  soll  dieser 
Anthropologismus  freilich  nicht  bedeuten,  dass  sie  auf  die  empirischen 
Bestimmungen  der  menschlichen  Spezies,  auf  ihre  Bedürfnisse,  Ge- 
wohnheiten und  Entwickelungen  begründet,  wohl  aber,  dass  sie  in 
ihrer  Geltung  für  unser  Wissen  darauf  beschränkt  sei.  Auch 
Liebmann  bemerkt  wohl  gelegentlich,  die  (formal)  logische  Not- 
wendigkeit habe  absolute  Gültigkeit  für  jedes  vernünftig  denkende 
Wesen  überhaupt,  gleichviel  ob  dessen  sonstige  Geisteskonstitution 
mit  der  unsrigen  zusammen  stimmt  oder  nicht:  aber  da  aller  Inhalt, 
den  wir  damit  denken  können,  in  die  „menschlichen"  Anschauungen 
von  Raum  und  Zeit  gebannt  ist,  so  bleibt  jene  Möglichkeit  völlig 
unfruchtbar.  Auch  das  „Bewusstsein  überhaupt"  fasst  Liebmann 
lediglich  als  logisches  Subjekt  und  ebensowenig  als  überpersönliche 
wie  als  individuelle  Realität.  Allen  Spekulationen  deshalb,  die  von 
diesem  Punkte  aus  den  Bann  des  Kantischen  Phänomenalismus  zu 
durchbrechen  suchen,  hält  er  die  transscendale  Ästhetik  als  den 
Kernpunkt  der  kritischen  Philosophie  entgegen. 

Das  ist  Liebmanns  historische  Stellung:  zwischen  der  Scylla 
des  psychogeuetischen  Empirismus  und  der  Charybdis  der  neu- 
idealistischen Metaphysik  hat  er  mit  fester  Hand  das  Schiff  des 
Kritizismus  hindurchgesteuert.  Die  Erneuerung  des  Kantianismus 
ist  zuerst  auf  den  einen  Seiten vveg  geraten,  sie  ist  jetzt  im  Be- 
griffe, den  andern  einzuschlagen.  Liebmann  hat  den  Kurs  Kant's 
eingehalten,  und  er  hat  gezeigt,  dass  er  zu  einer  kritischen  Meta- 
physik führt,  —  dass  er  nicht  hängen  zu  bleiben  braucht  in  einer 


X  W.  Windelband,  Otto  Liebmanns  Philosophie. 

formalen  Erkenntnistheorie,  sondern  dass  die  kritische  Methode 
eine  lebendige  und  ertragreiche  Bearbeitung  aller  inhaltlichen 
Probleme  der  Weltanschauung  nicht  nur  gestattet,  sondern  ver- 
langt. Freilich  muss  man  nicht  darauf  zählen,  fertige  Weisheit 
lockend  ausgebreitet  zu  finden,  sondern  gewillt  sein,  ernstlich 
mitzudenken,  und  darauf  gefasst,  au  den  Grenzen  der  Menschheit 
sich  mit  wohlerwogenem  Verzicht  zu  bescheiden.  Diese  sachliche 
Fülle,  dieser  anschauliche  Reichtum  bei  allem  Ernst  und  aller 
Strenge  der  Gedankenführung  sichert  dem  Liebmann'schen  Kriti- 
zismus seine  dauernde  Wirkung  auf  unser  philosophiebedürftiges 
Geschlecht.  Ich  habe  oft  die  Erfahrung  gemacht,  dass  sich  für 
jüngere  oder  ältere  Menschen,  die  aus  modernen,  praktischen  oder 
spezial\\assenschaftlichen  Zuständen  heraus  Zugang  zur  Philosophie 
suchten,  nichts  so  wirksam,  so  anregend  und  lehrreich,  so  zum 
Selbstdenken  erziehend  erwies  als  Liebmann's  Bücher.  Möchte  er 
in  so  intensiver  Wirkung  den  reichen  Lohn  seiner  edlen  Gedanken- 
arbeit noch  lange  geniessen! 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker. 

(üntersuchiins-en  zur  Theorie  der  Apriorität,  sowie  über  die  Evidenz 

der  geometrischen  Axiome.) 
Von  Erich  Adickes. 


I. 

Als  Liebmann  1865  die  Parole:  „Es  muss  auf  Kaut  zurück- 
gegangen werden"  ausgab,  da  trat  er  als  Erkenntnistheoretiker 
dem  metaphysischen  Dogmatismus  entgegen.  Tnd  vorwiegend 
Erkenntnistheoretiker,  seinen  Neigungen  nach  wie  in  der 
Richtung  seines  Forschens,  ist  er  auch  weiterhin  geblieben,  seine 
ganze  wissenschaftliche  Laufbahn  hindurch. 

Er  selbst  will  sich  jene  Parole  garnicht  als  persönliches  Ver- 
dienst angerechnet  wissen:  er  habe  mit  ihr  nur  „einem  Gedanken 
präzisen  Ausdruck  verliehen,  welcher  damals  sozusagen  in  der  Luft 
schwebte"  (A.  231).  M 

Gewiss!  wäre  letzteres  nicht  der  Fall  gewesen,  so  hätte  der 
Gedanke  nicht  derart  wirken  können,  wie  er  es  tat.  Aber  dass 
gerade  Liebmann  jene  Parole  ausgab,  und  zwar  in  so  scharfer, 
energischer  Form:  das  war  doch  kein  Zufall,  es  war  in  seineui 
ganzen  Geisteshabitus  begründet.  Kritik  geübt  war  an  den  dog- 
matischen Systemen  auch  schon  vor  ihm  genug  und  übergenug. 
Scharfsinnig  hatte  der  eine  des  andern  Schwächen  erspäht,  nur  die 
eigenen  sah  keiner.  Jeder  glaubte  seine  Vorgänger  bündig  wider- 
legen zu  können  und  war  trotzdem  überzeugt,  seinerseits  ein  Ge- 
bäude errichtet  zu  haben,  das  dem  Sturm  der  Jahrtausende  werde 
widerstehen  können.  Fnd  das,  obwohl  er  doch  auf  derselben 
Grundlage  gebaut  und  dieselben  Materialien  benutzt  hatte  wie  die 
vor  ihm.     Aber  so  redet  oder  denkt  eben  der  echte  Metaphysiker: 


1)  Ich  zitiere  .,Zur  Aualysis  der  Wirklichkeit"  3.  Auflage  als  „A.";  ..Ge- 
danken und  Tatsachen"  Bd.  I  und  II  als  „G.  I",  ..G.  II"',  „Kant  und  die 
Epigonen"  als  „K.**,  „Über  den  objektiven  Anblick"  als  ..Ohj.",  „Die  Klimax 
der  Theorien"  als  „Kl.". 

Kantstudien    XV.  1 


^  E.  Adickes, 

bis  auf  ihn  nur  eine  Kette  von  Irrtümern,  er  aber  bildet  den 
Wendepunkt  der  Zeiten  als  Inkarnation  der  ewigen  Wahrheit.  Und 
dass  andere  ähnlich  vermessen  reden,  stört  ihn  so  wenig  wie  den 
Offenbarungsgläubigen  die  Tatsache,  dass  auch  andere  Rehgionen 
beanspruchen,  Offenbarungen  des  lebendigen  Gottes  zu  sein. 

Und  in  die  Mitte  dieser  metaphysischen  Architekten  tritt  nun 
Liebmann  als  echter  Erkenntnistheoretiker  und  zeigt  ihnen,  dass 
der  Grund,  auf  dem  sie  bauen,  überhaupt  nicht  fähig  ist,  Paläste  der 
Wissenschaft  zu  tragen,  dass  ihre  Materialien  gar  nicht  aus  wirk- 
lichen Quadern  und  Balken  und  Säulen  bestehen,  sondern  nur  aus 
—  Karten,  und  dass  deshalb  ihre  sämtlichen  Bauwerke  nichts  sind 
als  Kartenhäuser,  die  schon  das  leiseste  Lüftchen  erkenntnistheo- 
retischer Kritik  umbläst.  Das  eigentliche  Thema  der  kritischen 
Philosophie  sieht  er  in  der  „Durchführung  der  Regel,  dass  die 
menschliche  Spekulation,  bevor  sie  an  grossartige,  weitschauende 
Gedankenkonstruktionen  geht,  sich  erst  darüber  Rechenschaft  geben 
muss,  wie  weit  ihre  Kräfte  reichen",  in  der  „Beantwortung  der 
Frage:  Was  kann  ich  überhaupt  erkennen?"  (K.  10 — 11).  In 
konsequenter  Entwicklung,  ihren  Prinzipien  getreu,  könnte  die 
kritische  Philosophie  niemals  transscendent  werden  (K.  207).  Denn 
trausscendent  ist  „ein  Problem,  das  die  menschliche  Fassungskraft 
übersteigt",  oder  das,  „wovon  wir  nichts  wissen  und  nichts  begreifen 
können"  (0.  129—30).  Er  fragt:  „Wozu  sollen  wir  in  einem  un- 
möglichen Gebiete  Probleme  suchen,  da  uns  auf  dem  wirklichen 
zahllose  fesseln?  Immanente  Probleme  finden  sich  überall  und 
vermehren  sich  fortwährend,  mit  jedem  Schritte,  den  die  Forschung 
der  Erkenntnis  gewinnt.  Je  grösser  der  Inhalt,  desto  weiter  die 
Grenze.  Und  das  gilt  nicht  etwa  bloss  für  die  Empirie;  nein, 
für  die  Spekulation,  die  Philosophie.  Wozu  wollen  wir  also 
weiter  schweifen,  da  das  Gute  so  nahe  liegt?"  (K.  208). 

Dies  „Gute"  ist  vor  allem  die  Erkenntnistheorie:  ihr  blieb 
er  treu  bis  auf  den  heutigen  Tag.  Für  sie  war  er  praedestiniert, 
insofern  er  alle  die  Eigenschaften,  die  den  Erkenntnistheoretiker, 
gleichsam  als  Typ  betrachtet,  charakterisieren,  in  reichem  Masse 
in  sich  vereinigt. 

Lieb  mann  ist  einer  der  grossen  Frager,  einer  von  denen,  die 
an  der  Aufstellung  der  Probleme  nicht  geringere  —  fast  hätte  ich 
gesagt:  noch  grössere  —  Freude  haben,  als  an  ihrer  Lösung. 
Häufig  stellt  er  die  Prämissen  zu  einem  transsceudenten  Schluss 
unmittelbar  neben  einander,  ohne  die  Konklusion  zu  ziehen;  manches 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  3 

höchst  wichtige  Problem  sucht  er  nur  als  Problem  scharf  und 
treffend  zu  formulieren,  lässt  es  dann  aber  ungelöst  stehen,  obwohl 
eine  konjekturale  Lösung  ganz  nahe  liegen  würde:  das  letzte 
Wort  schwebt  ihm  zwar  auf  den  Lippen,  aber  er  spricht  es 
nicht  aus.  Es  hindert  ihn  daran,  wie  er  selbst  sagt,  „eine 
gewisse  Keserve,  ja  eine  heilige  Scheu.  Denn  der  Philosoph,  wenn 
er  kein  Wahrsager  ist,  so  sei  er  doch  ein  Wahrheitsager;  und  dazu 
gehört,  dass  er  nichts  als  gewiss  behaupte,  was  er  nicht  gewiss 
weiss''  (A.  12). 

Ich  wüsste  keinen  unter  den  modernen  Philosophen,  der  es 
Liebmann  im  scharfen  Erfassen  und  klaren  Herausarbeiten  des 
springenden  Punktes  zuvor  täte,  und  dabei  die  grosse  päda- 
gogische Kunst  in  der  Art,  wie  er  den  Leser  vom  Bekannten, 
Alltäglichen  aus  in  die  Tiefe  führt,  wie  er  ihn  im  Selbstverständ- 
lichen die  verborgenen  Schwierigkeiten  finden  lässt.  Es  geht  eine 
suggestive  Kraft  von  seinen  Erörterungen  gerade  der  fundamentalen 
erkenntnistheoretischen  Probleme  aus.  Er  zwingt,  mit  zu  arbeiten, 
mit  zu  bohren.  Weshalb  seine  Schriften  auch  gerade  zur  Ein- 
führung in  die  Philosophie  so  sehr  geeignet  sind!  Bei  manchem 
naiven  Realisten  dürften  die  scharfen  Pfeile  seines  Zweifels  schon 
das  dreifache  Erz  des  Dogmatismus  durchbohrt  haben. 

Viel  Fragen  macht  vorsichtig  und  kritisch,  noch  mehr  aber 
hat  es  Vorsicht  und  Kritik  zur  Voraussetzung.  Beide  Eigenschaften 
sind  bei  Liebmann  in  hervorragendem  Maasse  ausgebildet.  Mit  ihnen 
verbindet  sich  das  Bedürfnis  nach  Selbstbesinnung,  nach  völliger 
Klarheit  über  Art  und  Tragweite  der  getanen  oder  zu  tuenden 
Schritte.  Daher  überall  sein  energisches  Dräugen  auf  strenge 
Scheidung  zwischen  Gegebenem  und  Hinzugedachtem,  zwischen  Tat- 
sachen und  Deutungen,  sein  grosses  Interesse  an  methodologischen 
Erwägungen  und  vor  allem  an  dem  Grundproblem:  der  Frage  nach 
den  Grenzen,  dem  Wahrheitswert  und  Gewissheitsgrad  menschlichen 
Erkennens. 

Hier  ist  er  unerbittlich:  jeden  Versuch  einer  wissenschaft- 
lichen Metaphj'sik  des  Transscendenten  schneidet  er  radikal  ab, 
Wissen  giebt  es  nur  von  der  Erfahrungswelt  und  ihren  Bedingungen, 
das  Reich  des  ovTwg  6v  bleibt  dem  subjektiven  Glauben  und  Wähnen 
des  Einzelnen  überlassen.  Die  Philosophie  ist  ihm  wie  Kant  die 
Wissenschaft  von  den  Grenzen  der  Vernunft  (A.  6).  Die  Hoffnung 
auf  Erreichbarkeit  einer  endgültigen  philosophischen  Weltdeduktion 
hält   er   für  vergeblich   (A.  11).     Immer  wieder  weist  er  auf  das 


4  E.  Adickes, 

nachdrücklichste  auf  die  vielen,  für  immer  unübersteigbaren  „imma- 
nenten Schranken  der  menschlichen  Intelligenz"  hin,  „von  welchen 
der    gedankenlose    gewöhnliche  Menschenverstand    und    das   kurz- 
sichtige   Selbstvertrauen    des    dogmatischen    Metaphysikers    nichts 
weiss   oder   wissen   will"  (A.  62;   ferner  99,    112,    113,    160,  166, 
194,   G.  II  35,   50,    89,    105—106   und   sonst  oft).     Demütig  und 
bescheiden  zieht  er  „um  der  reinen  Wahrheit  willen  resignierenden 
Zweifel  der  ausschweifenden  Behauptung  vor"  (A.  113).    Der  echte 
Metaphysiker    dagegen    „muss    kategorisch   sprechen,    weil   er   die 
endgültige  Lösung  des  Welträtsels  geben  will;  er  kann  nicht  anders. 
Er  darf  keinen  Widerspruch,  keinen  Zweifel,  kein  Bedenken  gelten 
lassen;  denn  die  vermeintliche  Absolutheit  seines  Standpunktes  ver- 
bietes  dies".     In  Wirklichkeit  freilich  handelt  es  sich  in  der  dog- 
matischen Metaphysik   gar    nicht   um    ,.ein    objektiv   begründbares 
Wissen,  sondern  um  einen  Glauben,  eine  zwar  sehr  feste,  aber 
doch    lediglich    subjektive    Überzeugung,     genau    so    wie    in    der 
Religion;    um    ein   Credo,    das    sich    der   wissenschaftlichen  Kritik 
ohne  weiteres  entzieht,  dessen  Wahrheit  nur  nachempfunden,  nach- 
gefühlt, aber,  ebenso  wie  die  Schönheit  eines  Kunstwerks,  nie  streng 
bewiesen  werden  kann"  (Kl.  61/62,  vgl.  A.  251).    Die  Entscheidungs- 
gründe  sind  auf  diesem  Gebiet  subjektiver  Art:  „wo  unsre  strenge 
Einsicht  ein  Ende  hat,  da  pflegen  ästhetische  Neigungen  und  zum 
Teil   moralische   Überzeugungen   das   letzte   Gewicht  in    die  Wag- 
schale zu   werfen"  (A.   154).     Ähnlich  G.  II  229-230  mit  Bezug 
auf  den  Gegensatz  zwischen  Theismus,  Pantheismus  und  Atheismus: 
wie  man  sich  „den  Hervorgang  des  Vielen  aus  dem  Einen"  denkt, 
„das  ist  und  bleibt  sozusagen  Sache  des  ästhetischen  Geschmacks  und 
wird  vielmehr  durch  Neigungen,  Abneigungen,  durch  Phantasie-  und 
Gemütsbedürfnisse,  als  durch  zwingende  Vernunftgründe  bestimmt". 
Dogmatische   Metaphysik   giebt  Liebmann   also   völlig   preis. 
Dagegen  hält  er  fest  an  der  Möglichkeit  einer  kritischen  Meta- 
physik im  Sinn  einer  strengen  Erörterung  menschlicher  Ansichten, 
menschlicher  Hypothesen  über  Wesen,   Grund   und  Zusammenhang 
der  Dinge  (Kl.  112,  G.  II  113). 


II. 

Fern  von  allem  Dogmatismus  ist  Liebmann  auch  in  seinem 
Verhältnis  zu  Kant.  Auf  dessen  orthodoxe  Schüler  nach  Art 
der  Kiesewetter,   Krug,  Jäsche  blickt   er  mit  einer  gewissen  Ver- 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  5 

achtung-  herab,  nicht  ohne  Grund.  Von  der  Sucht  mancher  Moderner, 
ä  tout  prix  Anschluss  bei  Kant  zu  finden,  ist  er  frei.  Er  miss- 
braucht auch  nicht,  was  heutzutage  keine  Seltenheit  ist,  die  von 
jenem  geschaffenen  Begriffe  und  Lehren,  sie  umprägend  und  mit 
neuem  Inhalt  füllend,  nur  um  sich  auf  sie  berufen  und  unter  des 
Meisters  Flagge  segeln  zu  können.  Kant  ist  ihm  eine  historische 
Grösse:  sein  System  erforschen  und  selbständig  philosophieren  sind 
für  ihn  zwei  verschiedene  Dinge.  Das  geschichtliche  Verständnis 
Kants  leidet  nicht  unter  dem  Bedüi-fuis  nach  aktueller  Verwertung. 
Einen  wesentlichen  Bestandteil  Kantischen  Denkens,  die  Lehre  vom 
Ding  an  sich,  hat  er  sogar  wiederholt  auf  das  schärfste  angegriffen, 
viel  schärfer,  als  sachlich  und  historisch  berechtigt  ist.  Von  seiner 
Aualysis  der  Wirklichkeit  sagt  er  (A.  232):  Dies  Werk  nimmt  „nicht 
innerhalb,  sondern  ausserhalb  der  Kantischeü  Autoritätssphäre  seine 
Stellung.  Auf  Grund  eigener  Untersuchungen  trifft  es  in  manchen 
Punkten  mit  Kant  zusammen,  in  manchen  mit  Piaton,  mit  Aris- 
toteles oder  Spinoza  oder  Locke,  in  anderen  mit  Niemand;  und 
nirgendwo,  meines  Wissens,  gibt  es  sich  irgendwelcher  ungeprüften 
Autorität  dogmatisch  gefangen".  So  redet  echte  Philosophie,  der 
es  um  die  Sache,  nicht  um  Dogmen  oder  Namen  zu  tun  ist! 

Kants  Idee  einer  Transscendentalphilosophie  rechnet  Liebmann 
zu  den  Ideen,  „von  denen  ein  vorher  unbekannt  gewesener,  höherer 
Standpunkt  enthüllt  und  für  immer  festgestellt  wird",  „die,  wenn 
einmal  ihre  Konzeption  gelungen  ist,  im  Strom  der  Geschichte  ruhig 
feststehen,  während  Geschlecht  auf  Geschlecht  an  ihnen  vorüber- 
zieht". Solche  „bahnbrechende  und  unvergängliche  Konzeptionen" 
sind  zwar  „der  Ergänzung,  Berichtigung  und  Umbildung  fähig;  sie 
können  von  der  Grundlage  aus  in  verändertem  Stil  neu  aufgebaut 
werden;  aber  ihr  wesentlicher  Kerngedanke  bleibt  bestehen"  (G.  II 
1—2).  In  allen  Einzelheiten  und  Spezialdoktrinen  ist  die  Kritik 
der  reinen  Vernunft  dem  Schicksal  der  Veraltung  ausgesetzt,  nicht 
so  als  Ganzes,  als  Verkündigung  eines  völlig  neuen,  vorher  niemals 
dagewesenen  und  nie  zu  überwindenden  Denkstandpunktes.  „Ob 
wirklich  zwischen  analytischen  und  synthetischen  Urteilen  ein 
absoluter  Unterschied  besteht;  ob  die  transscendentale  Hauptfrage 
'wie  sind  synthetische  Urteile  a  priori  möglich?'  wirklich  die  ihr 
zugemutete  Tragkraft  und  Tragweite  besitzt;  ob  Raum  und  Zeit 
in  der  Tat  ursprüngliche,  reine  Anschauungsformen  sind,  und  ob 
aus  ihrer  Apriorität  in  Wahrheit  ihre  transscendentale  Idealität 
folgt;    ob    irgendwelche    und   welche   von    den    zwölf   Kategorien 


6  ■  E.  Adickes, 

wirklich  Kategorien,  d.  h.  unableitbare  und  notwendige  Grund- 
begriffe der  menschlichen  Intelligenz  sind;  das  bleibt  disputabel. 
Die  transscendentale  Deduktion  der  reinen  Verstaudesbegriffe  .  .  . 
kann  in  vieler  Hinsicht  lebhaften  Zweifel  erregen."  Die  Anwendung 
des  Kategorienschemas  auf  jedes  beliebige  Thema  der  Philosophie 
„ist  als  eine  persönliche  Pedanterie  und  doktrinäre  Schwäche  des 
grossen  Denkers  längst  anerkannt".  In  den  Analogien  der  Erfahrung 
hat  Kant  „nicht,  wie  er  meint,  die  Vorbadingungen  der  Erfahrung, 
sondern  höchstens  die  der  Erfahrungswissenschaft  aufgedeckt". 
Seine  „von  vornherein  aufgestellte  Behauptung,  dass  die  Tatsachen 
der  Wahrnehmung  'nur  Erscheinungen'  seien,  ist  ein  unbewiesenes 
Dogma".  Ebenso  giebt  Liebmann  den  Grundgedanken  der  Dialektik 
und  die  Ableitung  der  Ideen  aus  den  Schlussformen  preis.  Aber 
der  ganze  Standpunkt,  der  prinzipielle  Grundgedanke  des  Werkes 
ist  nach  ihm  unveraltet  und  unsterblich.  Und  dies  „Neue,  Bahn- 
brechende, Epochemachende"  besteht  darin,  dass  Kant  „nicht  etwa 
von  der  Seele  ausgeht,  oder  vom  Gehirn,  oder  von  der  tabula  rasa, 
oder  von  einer  Leibnizschen  Monade,  sondern  vom  Bewusstsein, 
welches  das  Ursprüngliche,  die  Urtatsache  xar'  sio%riv  ist;  dass  er 
nicht  nach  der  intellektuellen  P]ntwicklungsgeschichte  des  Einzel- 
menschen oder  auch  der  Menschheit  forscht,  sondern  nach  den 
allgemeinen,  typischen  Vorbedingungen  der  Welterkenntnis  über- 
haupt", nach  dem,  „was  aller  Wissenschaft  überhaupt  und  ihrem 
Objekte  ewig  zu  Grunde  liegt"  (G.  II  2—8). 

Kants  „Forschen  nach  'den  Erkenntnissen  a  priori'  war  nichts 
anderes  als  ein  Suchen  nach  den  höchsten  Gesetzen  des  erkennenden 
Bewusstseins".  Ob  „diejenigen  Intellektualgesetze,  auf  die  er  kommt, 
die  höchsten  und  letzten  oder  sekundäre,  weiter  ableitbare  sind, 
ja  ob  sie  überhaupt  das  echte  Apriori  darstellen,  .  .  .  dies  mag 
disputabel  bleiben.  Soviel  jedoch  steht  fest,  jene  höchsten  In- 
tellektualgesetze, —  welche  es  auch  sind,  —  werden  auf  jeden 
Fall  ebenso  sehr  für  den  Erkenntnisakt  des  Subjekts,  als  für  das 
erkennbare  Objekt,  d.  h.  für  die  empirisch -phänomenale  Welt, 
schlechthin  maassgebend  sein  müssen" :  in  dieser  Lehre  findet  Lieb- 
mann den  tiefsten  Wahrheitsgehalt  der  Vernunftkritik  (A.  237/8). 
Und  von  dieser  Auffassung  aus  schreibt  er  seinen  „Geist  der 
Transscendentalphilosophie"  (G.  II  1 — 90).  Sie  ist  identisch  mit 
Erkenntniskritik  und  hat  Bedingungen,  Grundgesetze,  Tragweite 
und  Grenzen  unseres  Erkenneus  zu  bestimmen  (A.  13,  G.  II  5). 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  7 

Die  Grenzen  sind  eng-,  wie  wir  sahen  (oben  S.  3 — 4):  unser 
Wissen  ist  für  immer  in  den  Kreis  der  Erfahrung-  gebannt.  Und 
diese  zeig-t  uns  nicht  das  wahrhaft  Seiende,  sondern  nur  Er- 
scheinungen. Die  ganze  Wirklichkeit  ist  bloss  innerhalb  unseres 
Bewusstseins  gegeben,  als  Vorstellungsiuhalt  oder  Vorstellung:  wir 
können  die  Welt  nur  so  erkennen,  wie  unser  Erkenntnisvermögen 
seiner  Natur  und  Organisation  gemäss  sie  uns  zeigen  muss.  Das 
sind  Wahrheiten,  die  Liebmann  unter  die  Gemeinplätze  der  Philo- 
sophie glaubt  rechnen  zu  dürfen  (A.  36).  Trotzdem  hält  er  es 
—  mit  Recht  —  nicht  für  überflüssig,  alle  Mittel  anzuwenden,  um 
seinen  Lesern   die   Wahrheit   dieser  Gemeinplätze   aufzuzwingen. 

Er  geht  in  seinem  Idealismus  nicht  soweit  wie  Berkeleys 
Immaterialismus,  der  das,  was  dem  Cartesianer  eine  absolut  reale 
körperliche  Substanz  ausserhalb  des  wahrnehmenden  Subjekts  war, 
zu  einem  blossen  Accidens  der  geistigen  Substanz  herabdrückte, 
dessen  Esse  ganz  und  gar  in  seinem  Percipi  aufgehe.  Berkeley 
zwar  glaubte  dieses  sein  Dogma  strikte  beweisen  zu  können, 
Liebmann  hält  es  mit  Recht  nur  für  eine  zwar  höchst  seltsame, 
aber  doch  immerhin  mögliche  metaphysische  Hypothese,  für  einen 
Glaubenssatz,  einen  denkbaren  Fall  neben  anderen,  und  mit  nicht 
weniger  Recht  weist  er  auf  die  wunderliche  Inkonsequenz  des  so 
scharfsinnigen  und  doch  auch  wieder  so  dogmatischen  Bischofs 
hin,  der  keine  Schwierigkeit  darin  findet,  bei  andern  Geistern 
und  bei  Gott  ohne  Weiteres  ein  über  ihr  Percipi  hinausgehendes 
eigenes  Esse  anzunehmen  (A.  19  ff.). 

Gegen  die  Trugschlüsse  des  subjektiven  Idealismus  und  der 
Immanenzphilosophie  macht  er  geltend,  dass  sie  schlechterdings 
nicht  im  Stande  sind  zu  beweisen,  „dass  es  keine  vom  vorstellen- 
den Subjekt  unabhängige  Existenz  giebt,  sondern  nur,  dass  das 
Subjekt  sie  nicht  direkt  auffassen,  sie  nicht  anders  als  durch  das 
intellektuelle  Medium  seiner  subjektiven  Gedanken  imaginieren, 
fingieren,  denken,  erkennen,  vielleicht  auch  nicht  erkennen  kann  .. . 
Gerade  deshalb,  weil  in  der  Tat  kein  vorstellendes  Subjekt  aus 
der  Sphäre  seines  subjektiven  Vorstellens  hinauskann;  gerade  des- 
halb, weil  es  nie  und  nimmermehr  mit  Überspringung  des  eigenen 
Bewusstseins,  unter  Emanzipation  von  sich  selber.  Dasjenige  zu 
erfassen  und  zu  konstatieren  im  Stande  ist,  was  jenseits  und 
ausserhalb  seiner  Subjektivität  existieren  oder  nicht  existieren  mag; 
gerade  deshalb  ist  es  ungereimt,  behaupten  zu  wollen,  dass  das 


8  E.  Adickes, 

vorgestellte  Objekt   ausserhalb   der  subjektiven  Vorstellung  nicht 
dasei"  (A.  28). 

Trotz  schärfster  Polemik  gegen  Kants  Ding  an  sich  („be- 
kanntlich ein  hölzernes  Eisen,  ein  existenzunfähiges  asylum  igno- 
rantiae,  dem  alle  unverdaulichen  Probleme  der  Metaphysik  in  den 
Rachen  geschoben  werden"  A.  21)  ist  Liebmann  der  Überzeugung, 
„dass  die  Wirklichkeit  mehr  ist  als  blosse  Vorstellung,  dass  eine 
absolut-reale,  jenseits  der  subjektiven  Bewusstseins-  und  Erkennt- 
uisgrenzen  gelegene  Welt  (mundus  intelligibilis)  dem  empirischen 
Weltphänomen  (mundus  sensibilis)  zu  Grunde  liegt,  und  dass  das 
wahrnehmende  Subjekt  zur  Entwicklung  seiner  sinnlichen  Anschau- 
ungen durch  den  realen  Einfluss  der  absolut-realen  Welt  auf  das 
subjektive  Vorstellungsvermögeu  genötigt  wird"  (A.  196—7,  vgl. 
A.  38,  53,  68,  Obj.  129  ff.). 

An  diese  absolut-reale  Welt  können  wir  aber  mit  unserem  Er- 
kennen nie  heran.  Das  letztere  ist  samt  allen  seinen  Objekten 
ganz  und  gar  von  der  Natur  und  Organisation  des  erkennenden 
Subjekts  abhängig,  und  darum  gilt  es  vor  allem  —  was  ja  auch  für 
Kant  die  Hauptfrage  war  — ,  die  Gesetze  aufzufinden,  denen  ge- 
mäss das  erkennende  Subjekt  verfährt,  die  Formen  des  Erkennens, 
die  es  mit  Notwendigkeit  aus  sich  hervorbringt.  Dabei  wird  der 
Begriff  des  Apriori  von  grundlegender  Bedeutung  (vgl.  besonders 
den  Aufsatz  über  „die  Metamorphosen  des  Apriori"  A.  208—58). 
Zugleich  ergiebt  sich  die  Notwendigkeit,  den  Psychologismus  zu 
bekämpfen,  was  in  sehr  scharfsinniger,  erfolgreicher  Weise  ge- 
schieht. In  dieser  Frage  stehe  ich  ganz  auf  Liebmanns  Seite, 
und  in  der  Lehre  vom  Wesen  und  von  der  Bedeutung  des  Apriori 
kann  ich  wenigstens  eine  gute  Strecke  mit  ihm  gemeinsam  gehen. 
Wohltuend  ist  auch  hier,  dass  er,  im  Gegensatz  zu  so  manchem 
Neukantianer,  nicht  die  eigenen  Ansichten  Kant  unterschiebt, 
sondern  seine  Abweichungen  von  ihm  rückhaltlos  zugiebt,  sicher, 
im  letzten  Ziel  der  Untersuchung  und  im  eigentlichen  punctum 
saiiens  doch  mit  ihm  übereinzustimmen. 


IIL 

A  priori   ist   nach  Liebmann    „nichts   Anderes,   als  das  für 

uns  und  für  jede  uns  homogene  Intelligenz  streng  Allgemeine  und 

Notwendige,    das  Nichtanderszudenkende,  Das,    wovon   unser  Geist 

und  sein  Erkennen  schlechthin   geleitet  und  gelenkt  wird  (wie  die 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  9 

Materie  und  ihre  Bewegungen  vom  Gravitationsgesetz),  welches, 
über  dem  empirischen  Subjekt  und  seinem  empirischen  Objekt  gleich 
erhaben  und  für  beide  gleich  maassgebend,  alle  Erfahrung  und 
ihren  Gegenstand  durchaus  beherrscht"  (A.  98).  In  teleologischer 
Gedankenwendung:  als  unumgängliche,  unentbehrliche  Mittel  zum 
Zweck  der  Welterkenntnis  müssen  dem  erfahrungbedingenden 
Bewusstsein  gewisse  Attribute  oder  Funktionen  zukommen,  sie 
nennt  man  apriorisch  (G.  II  36). 

Indem   die  Transscendentalphilosophie   dieselben   festzustellen 
sucht,    darf   sie    nun    aber  nicht,    wie  die  vorkantische  Lehre  von 
den    angeborenen    Ideen,    von    dem  Begriff    einer    übersinnlichen 
Seeleusubstanz  oder  sonst  einer  metaphysischen  oder  auch  psycho- 
logischen Konzeption  ausgehen,  sondern  allein  vom  Bewusstsein  als 
dem  schlechthin  Ursprünglichen,  der  Urtatsache  xai'  i\ofrv.    Denn 
in  ihm  ist  für    uns    alle  Wirklichkeit  ein  für  allemal  beschlossen, 
von  ihm  und  seinen  Formen  und  Normen  ist  sowohl  unser  geistiges 
Leben  als  die  Wissenschaft  von  demselben :  die  Psychologie,  sowohl 
das    körperliche    Sein    und   Geschehen    als    die  Naturwissenschaft, 
sowie  nicht  minder   die  Metaphysik  abhängig.     „Unsere"  Welt  ist 
die  Bewusstseinswelt:  wie  sie  nur  „im  Eahmen  des  Bewusstseins" 
werden    konnte,    so    wird    sie    „von    den  immanenten  Intellektual- 
formen    dieses  Bewusstseins   schlechterdings   beherrscht,    gestaltet, 
reguliert,    wie    die    Bilder   im    Kaleidoskop    von    der  Konstruktion 
dieses    Instruments    und    den    darin    herrschenden    Gesetzen    der 
spiegelnden  Reflexion."     Auch  der  Begriff  der  ,. Seele",  ob  sie  nun 
angeblich  ein  spirituelles  oder  materielles  Ding  ist,  ob  „Individual- 
substanz  oder   Modus  der  all-einen  Weltsubstanz",    ob  „von  Natur 
tabula  rasa  oder  von  Gottes  Gnaden   Ideenmagazin",  ist  doch  zu- 
nächst  nichts    als    „ein    (gleichviel    ob    legitimes   oder  illegitimes) 
Gedankeuprodukt  des  erkennenden  Bewusstseins,    innerhalb  dessen 
der  Gegensatz    von  Ich  und  Nicht-Ich,  von  räumlichem  Universum 
und  psychischer  Persönlichkeit,  von  materieller  und  geistiger  Sub- 
stanz   sich    vor   uns  auftut  und  nun  einmal  da  ist,  ohne  dass  wir 
wissen  und  ahnen  können,  ob  er  jenseits  jenes  Bewusstseins  auch 
noch    Bestand    hat    oder    vielleicht   jegliche    Bedeutung   verliert." 
Und    das    Epochemachende    an    Kants  Kritizismus   soll    vor    allem 
darin  liegen,  dass  er  als  erster  die  Unmöghchkeit  erkannte,  irgend 
einen    solchen    erst    im   Bewusstsein   gewordenen  Seelenbegriff  der 
Lehre    von    den    Formen    und    Gesetzen    dieses    Bewusstseins    zu 
Grunde  zu  legen.     Dadurch  „gewinnt  das  Apriori  eine  völlig  neue 


10  ■  E.  Adickes, 

Bedeutung,  eine  kosmische,  ja  metakosraische  ;  es  hört  gänzlich  auf , 
sekundäres  Anhängsel  und  Corollarium  einer  spiritualistischen  oder 
monadologischen  Metaphysik  zu  sein ;  es  wird  zur  Basis,  zur  Grund- 
lage und  Grundvoraussetzung  der  Welt;  derjenigen  Welt  näm- 
lich, die  ich  mit  Augen  sehe,  mit  Ohren  höre,  mit  Händen  greife, 
sowie  derjenigen,  die  ich  mit  dogmatisch  denkendem,  über  Leib 
und  Seele,  Materie  und  Geist  spekulierendem  Verstand  mir  in 
den  Traumäther  des  Übersinnlichen  hiueinkonstruiere"  (A.  222 — 4, 
G.  II  2—4,  35—6). 

Doch  verkennt  Liebmann  durchaus  nicht,  dass  das  Apriori 
neben  der  raetakosmischen  Bedeutung  auch  bei  Kant  noch  eine 
psychologische  hat,  sofern  „innerhalb  der  empirischen  Welt  der 
intellektuelle  Prozess  im  Kopfe  der  Einzelperson"  den  Gesetzen 
des  erkennenden  Bewusstseins  gemäss  verläuft,  und  dass  „in  dieser 
individuell-psychologischen  Hinsicht"  die  Erkenntnisse  a  priori 
auch  bei  Kant  noch  ebenso  wie  bei  Leibniz  als  connaissances  vir- 
tuelles und  idees  innees  bezeichnet  werden  können  (A.  241). 
Und  auch  im  eigenen  Namen  giebt  Liebmann  zu,  dass,  sobald  man 
den  Versuch  macht,  „die  Urtatsache  des  Bewusstseins  unter  einen 
logisch-metaphysischen  Grundbegriff  zu  subsumieren",  „es  nicht  wohl 
anders  denkbar  ist,  denn  als  Funktion  eines  fungierenden,  in  specie 
vorstellenden  und  erkennenden  Subjekts,  welches  letztere  jedoch  an 
und  für  sich,  d.  h.  losgelöst  und  abgesehen  von  seiner  Funktion, 
sich  unserer  Erkenntnis  und  Selbsterkenntnis  ein  für  alle  Mal  ent- 
zieht" (A.  251). 

Die  Transsceudentalphilosophie  hat  demgemäss  drei  verschie- 
dene Ichs  zu  unterscheiden:  das  metaphysische,  individuelle  und 
transscendentale.  ,.Das  metaphysische  Substrat  des  Selbst- 
bewusstseins  bleibt  uns  verborgen  und  ist  das  ewig  erstrebte,  nie- 
mals erfasste  Objekt  dogmatischer  Spekulation.  Das  individu- 
elle Ich  oder  das  einheitliche  Subjekt  des  Bewusstseins  unserer 
eigenen  Existenz,  welches  die  ebenbürtige  Realität  sehr  vieler 
ähnlicher  Subjekte  neben  sich  anerkennt,  bildet  die  verschwiegene 
Voraussetzung  und  das  niegelöste  Endproblem  der  beobachtenden 
und  analysierenden  Psychologie.  Das  transscendentale  Ich 
oder  das  typische  Bewusstseinssubjekt  der  menschlichen  Gattungs- 
intelligenz ist  die  Grundbedingung  der  ganzen  empirischen  Welt" 
(G.  II  50-1). 

Dazu  möchte  ich  bemerken,  dass  bei  Kant  das  metaphy- 
sische und  das  transscendentale   Ich  oft  zusammenfallen,  so  wenig 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  1 1 

gewisse  erkenntnistheoretische  Prämissen  es  zulassen.  Aber  einer- 
seits wird  das  über  dem  ersteren  lagernde  Dunkel  auf  praktischem 
Gebiet  etwas  erhellt,  anderseits  hat  Kant  seine  ganz  bestimmten 
Privatansichten  über  das  Ich  an  sich,  die  sich  auch  da  zudriingen, 
wo  sie  der  Strenge  des  Systems  nach  ausgeschlossen  sein  sollten. 
Beides  bewirkt,  dass  das  metaphj^sische  Ich  häufig  auch  dem  Er- 
kenntnistheoretiker Kant  aus  einem  x  zu  einer  relativ  bekannten 
Grösse  wird  und  dann  mit  dem  transscendentalen  Ich  verschmilzt. 

Der  Begriff  „tj'pisches  Bewusstseinssubjekt  der  menschlichen 
Gattungsintelligenz''  zwingt  mich  zu  verweilen:  er  hält  eine  Anzahl 
schwerer  Probleme  in  sich  verborgen  und  scheint  mir  ein  Stück 
Metaphysik  inmitten  der  Transscendentalphilosophie  zu  sein. 

Man  könnte  sich  versucht  fühlen,  ihn  dahin  zu  interpretieren, 
das  transscendentale  Ich  sei  etwas  Typisches",  insofern  bei  jedem 
Menschen  dieselben  Formen  und  Normen  des  erkennenden  Be- 
wusstseins  wiederkehren,  weshalb  man  letzteres  als  menschliche 
Gattungsintelligenz  bezeichnen  könne;  so  rede  A.  232  davon,  die 
Kritik  der  reinen  Vernunft  habe  „gleichsam  den  Gattungstypus 
der  menschlichen  Intelligenz  herauspräparieren"  wollen. 

Aber  die  Seiten  G.  II  36 — 37,  48 — 50  zwingen  doch  wohl 
zu  einer  andern  Deutung.  Denn  nach  ihnen  sind  „die  Attribute 
und  Funktionen  des  erfahrungbedingenden  Ich  nicht  Seelenkräfte 
oder  Seelenvermögeu  des  individuellen  Menschen,  sondern  etwas, 
woran  der  individuelle  Mensch  beim  Welterkennen  partizipiert, 
oder  wovon  er  beioi  Welterkennen  beherrscht  wird,  wie  der  Ver- 
stand beim  richtigen  Denken  von  den  ewigen  Gesetzen  der  Logik. 
Dieses  transscendentale  Subjekt  ist  jedenfalls  auch  eine  Vor- 
bedingung für  das  empirische  Dasein  der  Vielheit  von  Geistern, 
mit  denen  das  menschliche  Individuum  im  geistigen  Wechsel- 
verkehr steht,  und  an  deren  Realität  zu  zweifeln,  eine  Ungereimtheit 
sein  würde".  Liebmann  scheint  also  ein  überindividuelles  trans- 
scendentales  Ich,  eine  wirkhche  Bewusstseinseinheit  der  menschlichen 
Gattungsintelligenz,  zu  der  die  einzelnen  Geister  im  Verhältnis  der 
Unterordnung  oder  der  Teilnahme  stehen,  anzunehmen.  „Ich  selbst 
als  geistiges  Individuum  bin  mit  meinen  Vorstellungen,  meinem 
individuellen  Fühlen  und  Wollen  ebensogut  wie  alle  anderen  von 
mir  als  real  anerkannten  Geister,  Bewusstseinsinhalt;  und 
zwar  Bewusstseinsinhalt  eben  jenes  erfahrungbedingenden,  zeit- 
vorstellenden, mit  sich  identisch  bleibenden,  transscendentalen 
Subjekts,   ohne   welches   wir  Alle   samt  der  ganzen  uns  bekannten 


12  '  E.  Adickes, 

Welt  in  der  finsteren  Nacht  des  absolut  Unerkennbaren  ver- 
schwinden würden."  Liebmaun  selbst  erläutert  jenes  Partizipieren 
mit  Piatons  Lehre,  nach  der  das  sinnliche  Einzelding-  an  der 
Gattungsidee  teilnimmt  (ß^vExei).  Nahe  liegt  auch  ein  Vergleich 
mit  dem  Verhältnis  des  individuellen  Bewusstseins  zum  abstrakten 
Ich  oder  Bewusstsein  überhaupt  bei  Schuppe,  sowie  mit  den 
Stufenreihen  über-  und  untergeordneter  Bewusstseinseinheiten  bei 
Fechner. 

Die  Annahme  einer  solchen  überindividuellen  transscenden- 
talen  Bewusstseinseinheit  scheint  freilich  andern  Äusserungen  zu 
widersprechen,  in  denen  Liebmanns  transscendentales  Ich  ent- 
schieden ein  individuelles  ist.  Das  gilt  z.  B.  von  der  Stelle  A,  251/2, 
aus  der  oben  (S.  10)  ein  Satz  zitiert  wurde.  Besonders  aber  ist 
seine  Lehre  von  der  Willensfreiheit  nur  vom  letztgenannten  Stand- 
punkt aus  verständlich.  In  jedem  einzelnen  zurechnungsfähigen 
Menschen  ist  nach  ihm  ein  unausrottbares  Freiheitsbewusstsein 
vorhanden,  ein  Bewusstsein  des  Auchanderskönnens;  Subjekt  dieses 
Bewusstseins  aber  ist  das  transscendentale  „im  Wechsel  der  Seelen- 
zustände  beharrende,  seine  Identität  mit  sich  erkennende  Ich" 
(G.  II  88,  vgl.  32).  Mit  einem  überindividuellen  Ich  wäre  hier 
nichts  zu  machen.  Denn  der  einzelne  Mensch  ist  es,  der  sich 
frei  fühlt;  darum  muss  auch  das  Subjekt  dieses  Freiheitsbewusst- 
seins  ein  individuelles  sein,  nicht  aber  eine  Gattungsintelligenz 
als  Bewusstseiussubjekt  gedacht,  an  der  alle  Menschen  gleich- 
massig  partizipieren. 

Aber  die  Sprache  der  Seiten  G.  II  36—7,  48—50  ist  doch 
zu  deutlich:  sie  reden  entschieden  von  einem  überindividuellen 
transscendentalen  Ich.  Mit  ihm  zieht  freilich,  wie  schon  gesagt, 
die  Metaphysik  mit  fliegenden  Fahnen  in  die  Erkenntnistheorie 
ein.  Denn  ein  transscendentales  Ich  oder  Bewusstseiussubjekt  als 
beharrlich  mit  sich  selbst  identisch  bleibende  Bewusstseinseinheit, 
in  dem  „ich  selbst  als  geistiges  Individuum"  mit  meinem  ganzen 
psychischen  Erleben  und  ebenso  „alle  anderen  von  mir  als  real 
anerkannten  Geister"  als  Bewusstseinsiuhalte  gegeben  sind,  ist 
weder  Erfahrungstatsache  noch  unentbehrliche  erfahrungbe- 
dingende Voraussetzung  noch  eine  notwendige  Hypothese,  um  Er- 
fahrungstatsachen begreiflich  zu  machen,  sondern  nichts  als  eine 
metaphysische  Annahme,  nicht  besser  und  nicht  schlechter  als 
Schuppes  Bewusstsein  überhaupt  oder  Fechners  Gestirnseelen  oder 
Spinozas  Allsubstanz,  deren  Modi  die  Einzelbewusstseine  sind.    Es 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker,  13 

ma^  so  etwas  vorhanden  sein,  gewiss!  Aber  die  Trausscenden- 
talphilosophie  weiss  auf  jeden  Fall  nichts  davon.  Und  in  der 
Erfahrung  gegeben  ist  mir  stets  nur  mein  eignes  individuelles 
Bewusstsein. 

Insofern  ist  der  theoretische  Solipsismus  der  unvermeidliche 
erkenntnistheoretische  Ausgangspunkt.  Beziehe  ich  gewisse  meiner 
Bewusstseinszustäude  auf  fremde  Bewusstseine  und  betrachte  jene 
als  Wiederholungen  von  Zuständen  dieser,  so  werden  dadurch  doch 
die  fremden  Bewusstseine  nie  und  nimmer  mein  Bewusstseins- 
inhalt;  ich  nehme  dann  nur  an,  dass  gewissen  meiner  Bewusst- 
seinserscheinungen  etwas  jenseits  meiner  Bewusstseinswelt  und 
unabhängig  von  ihr  entspricht,  und  zwar  in  Form  eines  Bewusst- 
seins.  Soweit  Erfahrungstatsachen  und  deren  Interpolation  durch 
Anerkennung  der  extramentalen  Existenz  anderer  Geister  in  Be- 
tracht kommen,  kennen  wir  nur  die  eine  Möglichkeit,  von  fremden 
Bewusstseinsinhalten  dadurch  Kunde  zu  bekommen,  dass  wir  sie 
in  uns  wiedererzeugen,  sie  abbilden.  Was  uns  in  der  Körperwelt 
zu  solcher  Abbildung  veranlasst,  sind  Bewegungen,  wie  vor  allem 
Minenspiel,  Luft-  und  Atherschwingungeu,  an  die  unsere  assoziativen 
Interpolationen,  Deutungen,  Analogieschlüsse  sich  knüpfen.  Wie 
weit  unsere  Abbilder  den  von  uns  angenommenen  oder  erschlossenen 
oder  postulierten  Originalen  entsprechen,  bleibt  immer  zweifelhaft. 
Ganz  ausgeschlossen  aber  ist  es,  dass  die  fremden  Bewusstseine 
samt  ihren  Inhalten  jemals  als  an  sich  seiende  in  mein  Bewusst- 
sein hinüberspazierten  und  in  ihm  enthalten  wären  als  meine 
Bewusstseiusinhalte;  das  wäre  eine  contradictio  in  adjecto:  absohit 
real  und  doch  zugleich,  als  mein  Bewusstseinszustand,  phänomenal. 
Möglich,  dass  mein  Abbild  dem  absolut  Realen  genau  entspricht, 
aber  dann  nur  als  Abbild,  ohne  dass  aus  ihm  durch  diese  Ge- 
nauigkeit der  Korrespondenz  das  absolut  Reale  selbst  würde. 

Das  Verhältnis  des  empirischen  Bewusstseins  zum  Bewusstsein 
überhaupt  bei  Schuppe,  das  der  niederen  zu  den  höheren  Bewusst- 
seinseinheiten  bei  Fechner  hat  also  Voraussetzungen,  wie  die 
beschränkte  menschliche  Erfahrungswelt  sie  nicht  bietet:  die  Art 
des  Bewusst-Werdens  und  Bewusst-Seins  muss  eine  ganz  andere 
sein,  die  Schranken,  mit  denen  uns  unser  Bewusstsein  nach  allen 
Seiten  hin  abschliesst,  müssen  dort  teilweise  fallen.  Ganz  dasselbe 
gilt  aber,  wie  mir  scheint,  auch  für  Liebmanns  trausscendentales 
Ich,  das  mein  Ich  und  das  der  andern  von  mir  als  real  anerkannten 
Geister  als  Bewusstseiusinhalte  in  sich  umfassen  soll.    Auch  dieser 


14  E.  Adickes, 

Begriff  ist  durchaus  transscendent:  um  ihn  konzipieren  zu  können, 
muss  man  sich  Verhältnisse  erdenken,  nicht  nur  andersartig,  als 
die  Erfahrunjg  sie  zeigt,  sondern  zum  Teil  sogar  entgegenge- 
setzter Art, 

Mit  vollem  Recht  bezeichnet  Liebmann  das  Bewusstsein  als 
das  Ursprüngliche,  als  die  Urtatsache  xax^  iSox^jv  (A.  222,  Gr.  II  3). 
Nun  wissen  wir  aber  unmittelbar  nur  von  einem  Bewusstsein, 
vom  unsrigen,  also  einem  individuellen.  Die  Grundnormen  und 
Formen  und  Funktionen  dieses  unseres  individuellen  Bewusstseins 
gilt  es  also  aufzusuchen,  die  unabhängig  sind  von  jedem  speziellen 
Inhalt,  ihn  vielmehr  ihrerseits  bedingen  und  also  die  Voraus- 
setzungen unserer  ganzen  empirischen  Welt,  unseres  ganzen 
geistigen  Lebens  sowie  auch  der  Psychologie  als  der  Wissenschaft 
von  den  Erscheinungen  und  der  Entwicklung  des  letzteren  dar- 
stellen. Sie  sind  das  Apriori  und  können  nicht  auf  dem  Weg 
psychologischer  Entwicklung  und  Analogie  gewonnen  werden,  weil 
die  Psychologie  als  Erfahrungswissenschaft  nur  mit  einzelnen 
geistigen  Akten  und  Zuständen,  als  dem  allein  unmittelbar  Ge- 
gebenen, zu  tun  hat,  die  aber  alle  jenes  Apriori  schon  voraussetzen 
und  durch  dasselbe  bestimmt  werden.  Erkenntnistheorie  ist  nur 
möglich  in  der  Form  von  Rückschlüssen  aus  der  Erfahrung  als 
Tatsache  und  Wirkung  auf  ihre  Ursachen  und  Bedingungen.  Nun 
kennt  aber  jeder  nur  eine  Erfahrung:  seine  eigne;  nur  von  ihr 
kann  er  also  ausgehn,  nur  von  ihr  aus  ihre  Bedingungen,  das 
Apriori,  erschliessen.  Zu  diesen  Bedingungen  gehört,  wie  Liebmann 
mit  Recht  behauptet,  auch  die  beharrliche  Identität  des  transscen- 
dentalen  Bewusstseinssubjektes,  das,  was  Kant  als  das  „stehende 
und  bleibende  Ich  der  transscendentaleu  Apperzeption"  bezeichnet 
(G.  II  28  ff).  Auch  dies  letztere  muss  daher  ein  individuelles 
sein,  denn  es  bildet  die  Grundvoraussetzung  meiner  individuellen 
Erfahrung,  und  diese  Grundvoraussetzung  besteht  ja  in  nichts 
Anderem  als  darin,  dass  eben  mein  erfahrungbedingendes  Ich 
—  von  andern  derartigen  Ichs  weiss  ich  zunächst  nichts!  — 
von  beharrlicher  Identität  ist. 

Um  nun  aber  in  meiner  Bewusstseins-(Erfahruugs-)welt  Sinn 
finden  zu  können,  sehe  ich  mich  gezwungen,  andere  Geister  ausser 
mir  anzunehmen,  fremde  Bewusstseine,  jenseits  des  meinen,  unab- 
hängig von  ihm,  jedes  ebenso  wie  ich  Subjekt  einer  Bewusstseins- 
fErfahrungs-)welt,  jedes  daher  auch  mit  Grundnormen,  Formen 
und  Funktionen  ausgestattet,   die  den  meinigen  ganz  entsprechen. 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  15 

Wie  sie  mir  als  Phänomene  erscheinen,  indem  ich  die  Inhalte 
ihres  Bewiisstseins  in  dem  meinen  wiederbilde,  so  ich  ihnen. 

Dadurch  gewinnt  nun  das  Apriori  eine  neue,  höhere  Be- 
deutung-: vom  individuellen  Niveau  erhebt  es  sich  auf  das  nieta- 
kosmische  (welchen  Ausdruck  Liebmanns  ich  auch  von  meinem 
Standpunkt  aus  gern  akzeptiere),  es  wird  zur  Bedingung  der 
empirischen  Welt,  des  Kosmos,  für  jedes  dem  meinigen  ähnliche, 
speziell  also  für  jedes  menschliche  Bewusstsein.  Das  Apriori  in 
diesem  Sinn  ist  die  Grundlage  aller  für  die  Menschheit  jemals 
erreich  Itaren  Wahrheit,  zugleich  aber  auch  die  Ursache,  weshalb 
sie  stets  nur  eine  relative  sein  kann,  es  ist  die  Grundlage  der 
Wissenschaft,  und  zugleich  die  Ursache,  weshalb  sie  für  immer 
in  feste,  unüberschreitbare  Grenzen  eingeschlossen  ist:  es  kann 
und  muss  dies  alles  sein,  weil  es  im  Verhältnis  zur  menschlichen 
Gesamterfahrung  das  Erfahruugbedingende  ist  und  also  gleichsam 
die  Organisation  der  menschlichen  Gattungsintelligenz  zum  Ausdruck 
bringt.  Letzteres  aber  nicht  in  der  Bedeutung,  als  ob  diese 
Gattungsintelligenz  irgend  eine  Art  des  Seins  ausser  oder  über 
den  einzelnen  Menschen  hätte.  Zur  Erklärung  des  Tatbestandes 
genügt  ihre  gleichmässige  Wiederkehr  in  allen  Individuen. 

Dass  man  aber  überhaupt  andere  Menschen,  fremde  Bewusst- 
seine  ausser  sich  annimmt:  das  setzt  —  nach  dem  Vorhergehenden 
kann  darüber  kein  Zweifel  sein  —  eine  Überschreitung  der  Grenzen 
unserer  Bewusstseinswelt,  einen  Sprung  in  das  dunkle  Gebiet  des 
Absolut-Realen  voraus.  Liebmann  meint  zwar  vom  erkennenden 
Bewusstsein,  jener  Urtatsache  xai'  e'ioxrv:  innerhalb  seiner  entstehe 
allererst  „für  das  Subjekt  eine  empirische  Körperwelt,  ein  räum- 
licher Makrokosmos  mit  individuellen  Geistern  darin"  (A.  222 — 3). 
Dass  aber  von  einem  transscendentalen  Ich,  das  als  Bewusstseins- 
einheit  sich  und  andere  Geister  als  Bewusstseinsinhalte  in  sich 
enthielte,  die  Erfahrung  nichts  weiss,  dass  in  ihr  auch  nichts  zu 
jener  Annahme  als  zu  einer  unentbehrlichen  Interpolation  hin- 
drängt oder  gar  zwingt,  suchte  ich  auf  den  letzten  Seiten  nach- 
zuweisen. 

Auch  von  einer  „reziproken  Kausalität",  von  einer  „realen 
Wechselwirkung  zwischen  den  in  der  Zeit  koexistierenden  Indivi- 
duen", wie  Liebmann  sie  G.  II  50  für  die  Bewusstseinswelt  seines 
transscendentalen  Ich  fordert,  weiss  die  unmittelbare,  reine  Er- 
fahrung nichts  zu  melden.  Nicht  etwa  deshalb,  weil  sie  stets  nur 
ein  post  hoc,  nie  ein  propter  hoc  zeigt,   oder  weil  das  Gesetz  der 


16  E.  Adickes, 

Kausalität,  wie  Liebmann  selbst  meint,  bloss  eine  Interpolations- 
maxime der  Erfahrungswissenschaft  ist.  Beides  kommt  hier  nicht 
in  Betracht,  wohl  aber  die  Tatsache,  dass  eine  solche  Wechsel- 
wirkung- zwischen  g-eistigen  Individuen  ohne  eine  entsprechende 
Wechselwirkung  auch  zwischen  den  Körpern  nicht  stattfinden 
kann  und  dass  doch  anderseits  ein  wirklicher  Einfluss  irgend 
eines  der  mich  umgebenden  Körper,  auf  mich  ganz  ausgeschlossen 
ist.  Denn  ihre  empirische  Realität  in  allen  Ehren,  sie  sind  doch 
sämtlich  nichts  als  Phänomene  in  meinem  empirischen  Bewusstsein, 
nichts  als  Empfindungskomplexe,  Farbenflecke  etc.,  von  meinem 
„empirischen  Ich"  in  bestimmten  zeitlichen  Akten  an  gewissen 
Raumstellen  objektiviert  (oder  wie  mau  den  Vorgang  bezeichnen 
will).  Zieht  man  alle  sekundären  Qualitäten  von  ihnen  ab,  so  bleibt 
überhaupt  nichts  übrig.  Jede  Veränderung  in  ihnen,  jede  Bewegung 
ist  eine  Wirkung,  nicht  aber  eine  Ursache  meines  veränderten 
Bewusstseinszustandes,  der  eine  andersartige  Objektivierung  meiner 
Empfindungen  nach  sich  zog.  Auch  die  menschlichen  Körper,  die 
meine  Erfahrungswelt  mir  zeigt,  sind  meine,  d.  h.  meines  „empiri- 
schen Ichs"  Geschöpfe,  denn  im  Lauf  meines  geistigen  Lebens 
entstehen  Empfindungen  in  mir,  die  dann,  als  Farben  an  be- 
stimmten Orten  geschaut  oder  als  Tastempfindungen  gefühlt,  das 
ausmachen,  was  mir  die  sinnliche  Erfahrung,  unmittelbar  und 
ohne  intellektuale  Zutaten,  von  den  Menschen  zu  erkennen  giebt. 
Und  das  sollte  nun  auf  mich  einwirken?  in  meinen  Bewusstseins- 
lauf  eingreifen  können  ?  dieser  Komplex  meiner  eigenen  hinaus- 
geschauten  und  hinausgetasteten  Empfindungen?  Nein!  Was  auf 
mich  einwirkt,  muss  etwas  ganz  anderes  sein !  Nicht  jene  sekun- 
dären Empfindungsqualitäten.     Was  aber? 

Die  Antwort  auf  diese  Frage  wird  ganz  verschieden  lauten, 
je  nachdem  ob  man  transscendentaler  Idealist  oder  Realist,  resp. 
wie  weit  man  das  eine  oder  das  andere  ist.  Ich  für  meine  Person 
betrachte  den  Euklidischen  Raum  wie  die  Bewegung  in  ihm  als 
etwas  auch  dem  ovzcog  ov  Zukommendes  und  denke  oder  träume 
mir  das  Absolut-Reale  in  der  Form  von  psycho-physischen  Kraft- 
zentren. Von  diesem  Standpunkt  aus  kann  ich  hoffen,  dass  mein 
ßewusstseinsraum  den  Raum  des  an  sich  Seienden  adäquat 
rekonstruiert  und  dass  an  derselben  Stelle  (a),  wo  ich  im  ersteren 
einen  Menschen  in  der  Gestalt  von  Farben-  und  Tastempfindungen 
sehe  und  fühle,  im  erschlossenen  (hinzugedachten)  transscendenten 
Raum    sich    eine    Ansammlung    von    Kraftzentren    befindet,    von 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  17 

denen  die  Bewegungen  ausgehen,  die  der  naturwissenschaftliche 
Realismus  als  die  objektive  Grundlage  der  subjektiven  Sinnes- 
empfinduugen  betrachtet,  —  Bewegungen,  die  au  derselben  Stelle 
(b),  wo  in  meinem  Bewusstseinsraume  mein  Körper  (auch  wieder 
ein  blosser  Empfindungskomplex)  ist,  im  transscendenten  Raum 
auf  eine  diesem  Körper  entsprechende  Masse  von  Kraftzentren 
stossen  und  in  ihr  gewisse  Veränderungen  auslösen,  die  als  Em- 
pfindungen zum  Bewusstsein  kommen  und  in  den  phänomenalen 
Raum  gerade  an  die  Stelle  a  hinausgesehen  und  -getastet 
werden.  Was  hier  also  auf  mich  einwirkt,  ist  das  ovrcog  ov:  die 
räumlichen  Kraftzentren,  und  als  Reaktion  auf  diese  Einwirkungen 
entstehen  in  mir  die  Empfindungen,  die  alsbald  im  Raum  zu 
Gegenständen  objektiviert  werden,  die  aber,  als  meine  Geschöpfe, 
nun  nicht  etwa  wieder  auf  mich  zurückwirken  können. 

Dass  diese  Ansicht  möglich  ist,  dürfte  eben  so  sicher  sein, 
wie  dass  sie  keine  Wissenschaft,  sondern  Metaphysik  und  darum 
Glaubenssache  ist. 

Wer  sich  dagegen  zur  transscendentalen  Idealität  von  Raum 
und  Zeit  bekennt,  wie  Liebmann  es  in  seinem  Herzen  entschieden 
tut,  so  vorsichtig  auch  manche  seiner  Wendungen  lauten  (siehe 
darüber  unten  S.  19—20),  für  den  ist  die  Antwort  auf  die  obige  Frage 
bedeutend  schwieriger.  Das  Absolut-Reale  kann  als  unmittelbare 
Ursache  der  Einwirkung  nicht  in  Frage  kommen,  da  es  sich  weder 
im  Räume  noch  in  der  Zeit  befindet.  Da  muss  man  dann,  um 
den  naturwissenschaftlichen  Realismus  als  untergeordnetes  Moment 
in  seine  Auffassungsweise  aufnehmen  zu  können,  zu  komplizierteren 
Theorien  greifen,  sei  es,  dass  man  sich,  wie  Kaut  an  manchen 
Stellen,  besonders  in  seinem  letzten  unvollendeten,  von  R.  Reicke 
herausgegebenen  Manuskripte  vom  „Übergange  von  den  metaphy- 
sischen Anfangsgründen  der  Naturwissenschaft  zur  Physik",  zu 
der  Lehre  von  der  doppelten  Affektion  des  erkennenden  Subjekts 
(durch  Dinge  an  sich  und  durch  Erscheinungen)  bekennt,  sei  es, 
dass  man  aus  Kants  „Bewusstsein  überhaupt"  ein  Allgemein- 
bewusstsein  von  realer  Existenz  macht,  sei  es,  dass  mau  mit 
Liebmann  das  transscendentale  Ich  als  ein  übergeordnetes  Bewusst- 
sein betrachtet,  das  die  Einzel-Iche  samt  der  Körperwelt  als  seine 
Inhalte  umfasst,  oder  wie  sonst  die  Wege  beschaffen  sein  mögen, 
auf  denen  man  den  von  allen  Seiten  drohenden  Schwierigkeiten  zu 
entgehen  sucht.  Alle  diese  Theorien  haben  für  meine  Auffassung 
etwas    sehr   Gekünsteltes    und    scheinen   mir  ernsten    Einwänden 

Kautitudiea  XV.  2 


18  "  E.  Adickes, 

ausgesetzt  zu  sein,  und  das  eben  ist  es  vor  allen  Dingen,  was 
mich  mit  Bezug  auf  Raum  und  Zeit  dem  „transscendentalen  Rea- 
lismus" in  die  Arme  treibt. 

Von  der  metaphysischen  Stellungnahme,  von  der  Ansicht 
über  das  Absolut-Reale  und  seine  Verhältnisse  (Realität  oder  Idea- 
lität von  Raum  und  Zeit)  hängt  also  die  Art  ab,  wie  man  den  Be- 
griff des  transscendentalen  Ich  bestimmt,  ob  man  letzteres  vom 
metaphysischen  Substrat  des  Selbstbewusstseins  und  vom  indivi- 
duellen Ich  streng  absondert  wie  Liebmann,  oder  ob  man  in 
ihm  die  Gruudzüge  der  lutellektualorganisation  des  Einzelgeistes 
sieht,  dessen  metaphysisches  An-sich  der  Wissenschaft  für  immer 
unerreichbar  bleibt  und  der,  auf  Einwirkung  des  Absolut-Realen 
hin,  auf  Grund  jener  lutellektualorganisation,  die  er  mit  jedem 
seinesgleichen  teilt,  das  Bewusstseinsleben  und  die  Bewusstseins- 
welt  hervorbringt,  die  seine  geistige  und  körperliche  Wirklichkeit 
ausQiachen. 

Diesen  Nachweis  hier  zu  liefern,  schien  mir  im  Interesse  der 
Transscendentalphilosophie  selbst  zu  liegen,  die  ja  vor  allen  Dingen 
zwischen  Tatsache  und  Deutung,  Wissenschaft  und  Metaphysik 
scharf  zu  scheiden  berufen  ist  und,  wo  sie  den  zweiten  Gliedern 
der  Gegensätze  Zutritt  zu  verstatten  gezwungen  ist,  dies  wenigstens 
nur  mit  dem  vollen  Bewusstsein  der  Tragweite  des  Schrittes 
tun  sollte. 

IV. 

Was  den  Umfang  und  die  einzelnen  Arten  des 
A  priori  anlangt,  so  rechnet  Liebmann  unter  gewissen  Kautelen 
auch  die  Farbe  dazu,  und,  was  von  der  Farbe  gilt,  würde  natürlich 
auch  auf  die  übrigen  sekundären  Sinnesqualitäten  ausgedehnt 
werden  müssen.  Ihnen  kommt  eine  „Art  von  Apriorität"  zu,  in- 
sofern sie  „in  unseren  spezifischen  Sinnesenergien  präformiert" 
liegen;  doch  nennt  Liebmann  ihre  Apriorität  „ganz  relativ  und 
sekundär  im  Vergleich  zu  der  des  Raumes,  da  ein  mit  völlig 
anderen  Sinnesenergien  ausgestattetes  Wesen  doch  in  genau  der- 
selben Raumform  anschauen  kann  wie  ich"  (A.  233/4).  Gewiss  ist 
das  ein  wesentlicher  Unterschied.  Aber  er  berechtigt  nicht,  den 
sekundären  Sinnesqualitäten  die  Bezeichnung  „Apriori"  zu  ver- 
weigern (wie  Kant  es  tut),  sondern  zwingt  nur,  verschiedene  Arten 
des  Apriori  mit  verschiedenen  Graden  der  Allgemeingültigkeit  zu 
unterscheiden.      Wenigstens    solange   man    auf   eine    Theorie    des 


Liebmaim  als  Erkenntuistheoretiker.  19 

Apriorismus  abstellt.  Wenn  Kant  in  der  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft am  Schluss  des  Abschnitts  über  den  Raum  den  sekundären 
Siuuesqualitäten  die  Apriorität  völlig  abspricht,  so  zeigt  er  damit 
auf  das  deutlichste,  dass  ihm  ein  ganz  anderes  Ziel  vorschwebt 
als  eine  solche  Theorie:  nämlich  die  Rettung  des  Rationalismus, 
seine  Begründung  in  neuer  Form  und  auf  neuer  Basis.  Liebmann 
tut  daher  Recht  daran,  hier  von  Kant  abzurücken;  fraglich  ist 
nur,  ob  es  nicht  noch  weiter  hätte  geschehen  sollen.  Freilich 
passt  diese,  wenn  auch  nur  relative,  Apriorität  der  sekundären 
Sinnesqualitäten,  die  nur  eine  individuelle  sein  kann,  nicht  recht 
zu  der  Lehre  vom  transscendentalen  Ich,  das  ein  üb  er  individuelles 
sein  soll. 

In  seiner  Lehre  von  Raum  und  Zeit  geht  Liebmanu 
vorsichtiger  zu  Werke  als  Kant,  insofern  er  zwar  beide  als  er- 
fahrungbedingende Anschauungsformeu  a  priori  betrachtet,  in 
dieser  Apriorität  jedoch  ihre  transscendeutale  Idealität  nicht  ohne 
Weiteres  beschlossen  sein  lässt.  Wiederholt  betont  er  stark,  dass 
aus  dem  Nachweis  der  Apriorität  des  Raumes  über  diese  angebliche 
Idealität  nichts  folge,  die  letztere  vielmehr  ebenso  unbeweisbar  ist 
wie  ihr  Gegenteil:  die  transscendeutale  Realität;  beide  sind  trans- 
scendent-metaphysische  Dogmen  oder  Hypothesen.  „Dergleichen 
wissen  wir  eben  nicht.  Es  kann  so  sein,  oder  auch  nicht" 
(A.  154.  Vgl.  A.  185—6,  G.  II  26,  45—7).  „Ob  die  transscen- 
dente  Anordnung  der  absolut-realen  Welt,  welche  ausserhalb  unseres 
Bewusstseius  liegt,  mit  unserer  Raumanschauung  übereinstimmt, 
ob  sie  ihr  kommensurabel  oder  inkommensurabel  ist,  wissen  wir 
nicht"  (A.  68).  Ebenso  wird  die  Frage,  ob  die  Zeitlichkeit  ein 
Attribut  des  absolut  Realen  ist  oder  nicht,  für  eine  transscendcnte 
erklärt,  „indem  sie  ein  Rätsel  hinstellt,  das  wir  nur  mit  Über- 
springung des  eigenen  Erkenntnisvermögens  und  unter  Emanzipation 
von  uns  selbst  lösen  könnten,  d.  h.  das  wir  garnicht  lösen  können". 
Und  von  der  Möglichkeit  einer  absoluten  Inteüigenz,  für  die  jede 
Zeitlichkeit  in  Wegfall  kommt,  heisst  es  demgemäss  auch  nur,  sie 
bleibe  offen  (A.  198,  207;  vgl.  HO).  Das  ist  die  einzig  mögliche 
Sprache  vom  Standpunkt  der  Wissenschaft,  der  Erkenntnistheorie 
aus.  Jede  Parteinahme  für  die  eine  oder  andere  Ansicht  macht 
aus  dem  Erkenntnistheoretiker  einen  Metaphysiker  und  führt  ihn 
vom  festen  'Lande  der  Erfahrung  und  des  Wissens  fort  auf  den 
unsicheren  Ozean  subjektiver  Glaubensüberzeuguugen. 


2Ö  E.  Adickes, 

Solche  metaphysische  Glaubensüberzeug-ung-en  hat  auch 
Liebmann,  und,  soweit  sie  in  Frage  kommen,  ist  er  entschieden 
für  die  trausscendentale  Idealität  von  Raum  und  Zeit  „vorein- 
genommen", um  einen  Ausdruck  zu  gebrauchen,  den  er  selbst  auf 
Überweg  und  sein  Verhältnis  zur  entgegengesetzten  Lehre  an- 
wendet (A.  153).  Indem  er  der  transscendentalen  Eealität  des 
Raumes  ausdrücklich  das  Zeugnis  einer  möglichen  metaphysischen 
Hypothese  ausstellt,  setzt  er  doch  hinzu,  sie  habe  „den  Anstrich 
einer  gewissen  —  wie  soll  ich  sagen?  — :  Philistrosität,  einer 
Gebundenheit  an  das  Hergebrachte,  Gewohnte,  rein  Empirische. 
Sie  gleicht  etwa  der  Ptolemäischen  Astronomie,  welche  die  gäo- 
zentrischen  Bewegungen  für  absolut  hält,  weil  —  wir  sie  sehen" 
(A.  154).  Dem  wahrhaft  Realen,  dem  einheitlichen  Weltwesen, 
das  „allem  individuellen  Bewusstsein,  allem  Gegensatz  von  Subjekt 
und  Objekt  vorangeht",  das  den  Grund  aller  Gesetzlichkeit  der 
Erscheinungswelt  in  sich  trägt,  kommt  „Zeitlosigkeit,  zeitlose 
Ewigkeit"  zu,  „im  Gegensatz  zur  Vergänglichkeit  aller  endlichen, 
in  der  Zeit  entstehenden  und  wieder  verschwindenden  Dinge.  Aller 
Zeitlauf  und  Weltlauf,  alles  Geschehen,  Werden,  Entstehen  und 
Vergehen,  das  ganze  Wandelspiel  der  wechselnden  Gebilde,  welches 
den  Gegenstand  der  Erfahrung  ausmacht,  vollzieht  sich  am  Zeit- 
losen, Unentstandenen,  Unvergänglichen,  Unwandelbaren;  alles 
Endliche,  Einzelne  entstammt  dem  Unendlichen,  dem  Ganzen,  dem 
Allumfassenden,  Demjenigen,  welches  nie  ,gewesen  ist'  und  nie 
,sein  wird',  sondern  immer  ist  in  über  Raum  und  Zeit  erhabener 
Allgegenwart"  (G.  II  225  ff.). 

Das  ist  Liebmanns  Glaube,  der  ihn  in  eine  Reihe  mit  den 
indischen  Weisen  und  den  Eleaten,  mit  Plato,  Plotiu,  Spinoza, 
Schopenhauer  stellt,  und  wie  die  Denker  und  Dichter  und  Mystiker 
alle  heissen,  denen  diese  Welt  des  Wandels  und  Wechsels  nicht 
genügt,  die  es  über  alle  Unruhe  des  Geschehens  und  der  Ent- 
wicklung hinausdrängt  in  den  Frieden  ewigen  Seins,  zeitloser 
Unwandelbarkeit. 

Mir  dagegen  ist  das  All  auch  in  seinem  innersten  Grunde, 
in  seinem  An-Sich  pulsierendes  Leben,  stetes  Schaffen,  unbegrenztes 
Werden  und  Sich-Entwickelu.  Wie  Goethe  von  der  Natur  sagt: 
,. Leben  ist  ihre  schönste  Erfindung".  Und  mit  dieser  Goetheschen 
Freude  an  der  unendlichen  Vielgestaltigkeit  der  Offenbarungen 
des  alle  Räume  und  Zeiten  füllenden  Alls  im  Herzen  frage  ich 
mich:   wie   kann  von  einem  Zeitlosen,  ewig  Ruhenden,  sich  selbst 


liiebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  21 

Gleichen  aus  das  Werden,  sei  es  auch  nur  der  Schein  des  Werdens, 
erklärt  werden?  wie  auf  seiner  Grundlage  eine  Spaltung  in  Objekt 
und  Subjekt   möglich   sein?     Vielleicht   antwortet   man:    „das  sind 
Verhältnisse   weit   über   menschliches  Verstehen  hinaus;  jenes  ein- 
heitliche Weltwesen  ist  eben  das  Unerkennbare,  Un wissbare."    Ganz 
einverstanden!     Doch    dann    sollte   mau  sich  aller  Bestimmungen 
enthalten,    aber    nicht    solche    aufstellen,    die    eine  Erklärung  der 
Erfahrungswelt   völlig   ausschliessen.     Denn   schon   das   Entstehen 
jenes   Scheins,    geschweige    denn    das  Werden    selbst   in    der   Er- 
scheinungswelt,   Beginn    und    Ende    individuellen  Lebens    mitsamt 
seinem  Gegensatz   zwischen  Subjekt   und  Objekt   tragen    doch    die 
Zeitbestimmungen    in    das    angeblich  Zeitlose    hinein,    zwingen  sie 
ihm  auf,  bringen  auch  in  ihm  Wechsel  und  Wandel  hervor.    Zumal 
wenn    man    mit    Liebmann    behauptet,    dass    „das    wahrnehmende 
Subjekt    zur  Entwicklung    seiner    sinnlichen  Anschauungen    durch 
den    realen  Einfluss    der    absolut-realen  Welt    auf    das    subjektive 
Vorstellungsvermögen    genötigt    wird" ,    dass    „eine    durchgängige 
Korrespondenz    zwischen    der    Ordnung    desjenigen    Unbekannten, 
was   uns    zu   einem  Nacheinander  von  Sinnesempfindungen  nötigt, 
und    diesem    bekannten  Empfindungs-Nacheinander   selbst"  besteht 
(A.  197).     Und   auch  eine  absolute  Intelligenz,  welche  die  Unend- 
lichkeiten  der  Zeit  mit  einem  Blick  in  concreto  überschaute,  vor 
welcher  der  gesamte  Weltprozess  bis  in  die  kleinsten  Einzelheiten 
hinein   als  vollendete  Logik  der  Tatsachen^)  offen  daläge  wie  ein 
aufgeschlagenes  Buch  (A.  198  ff.)  —  sie  würde  diese  Logik  nicht 
anders  betrachten  können  denn  als  eine  in  Zeitverhältnissen  sich 
abwickelnde  oder   durchsetzende;   die  Zeitunterschiede  würden  für 
sie  aufhören,  das  zu  sein,  was  sie  für  uns  sind:  nämlich  Hinder- 


1)  Unter  dem  selbstgeprägten  Begriff  „Logik  der  Tatsachen«  versteht 
Liebmann  „zunächst  schon  den  Umstand,  dass  vermöge  der  gesetzlichen 
Anordnung  des  Universums  jeder  Einzelvorgang  in  der  Natur  als  reale 
Konklusion  eines  objektiven  Schlusses  aufgefasst  werden  kann,  dessen 
Major  das  Naturgesetz,  dessen  Minor  der  vorangehende  Zustand  des  ver- 
änderten Objektes  ist;  weiterhin  aber  auch  den  viel  umfassenderen  Ge- 
samtumstand, dass,  vermöge  der  Subordination  spezieller  und  immer 
speziellerer  Naturgesetze  unter  allgemeine  und  immer  allgemeinere  Gesetze, 
für  eine  hypothetisch  angenommene  absolute  Weltintelligenz  der  ganze 
im  Raum  und  in  der  Zeit  distrahierte  Weltprozess  von  den  höchsten  Ge- 
setzen herab  bis  in  alle  individuellen  Einzelvorgänge  sich  als  reines  Kon- 
ditional- und  Kausal-Geflecht  darstellen  und  somit  sub  specie  aetemitatis 
als  zeitlose  Weltlogik  offenbaren  würde"  (G.  I  18/9,  vgl.  153-5). 


22  E.  Adickes, 

nisse  der  Erkenntnis,  aber  sie  würden  nicht  völlig-  verschwinden; 
trotz  aller  Log-ik  der  Tatsachen  würde  auch  sie  die  Welt  als 
Entwicklung-  sehen,  in  der  das  Später  dem  Früher  folgt,  nur  dass 
sie  im  Stande  wäre,  beides,  und  sei  es  durch  Jahrmilliarden  ge- 
trennt, in  einem  Blick  zu  vereinigen. 

Um  ein  Beispiel  Liebmauns,  aber  als  Waffe  gegen  ihn,  zu 
benutzen:  vom  Bergesgipfel  aus  übersieht  man  gleichzeitig,  uno 
aspectu,  was  drunten  die  Bewohner  wegen  der  sie  trennenden, 
undurchsichtigen  Gebirgsstöcke  unmöglich  auf  einmal  erfassen 
können;  was  für  den  von  oben  Herabblickenden  diese  trennenden 
Gebirgsstöcke  sind,  das  sollen  für  jene  absolute  Intelligenz  die 
Scheidewände  zwischen  dem  tiqoteqov,  af.ia  und  votsqov  sein  (A.  201). 
Aber  die  Gebirgsstöcke  bleiben  auch  für  den  Wanderer  oben  be- 
stehen, er  sieht  sie  ja  unter  sich,  aber  er  übersieht  sie  auch 
zugleich,  und  darum  können  sie  seinen  Blick  nicht  hindern.  So 
auch  die  absolute  Intelligenz:  ein  Früher,  Jetzt  und  Einst  giebt 
es  auch  für  sie  in  der  Weltentwicklung,  aber  sie  ist  in  ihrer  Er- 
kenntnis nicht  daran  gebunden,  von  einem  zum  andern  fortzu- 
schreiten, ihr  ist  eine  avvoipig  möglich,  die  dem  Menschen  versagt 
ist,  der  statt  dessen  nur  einen  schwachen  Ersatz  im  abstrakten 
Denken  und  Berechnen  hat. 

V. 

Im  Zusammenhang  mit  der  Frage  nach  transscendentaler 
Idealität  oder  Realität  des  Raumes  behandelte  Liebmann  schon 
1876  als  Erster  vom  philosophischen  Standpunkt  aus  die  ra eta- 
geometrischen Probleme.  Fr.  A.  Lange  machte  ihm  darauf- 
hin in  seiner  Geschichte  des  Materialismus  den  Vorwurf,  er 
verwerte  diese  Spekulationen  voreilig  als  positive  Argumente  für 
die  Phänomenalität  des  Raumes.  Mit  Unrecht!  Denn  Liebmann 
stellt  auch  bei  diesen  metageometrischen  Erörterungen,  sowohl 
inmitten  der  Untersuchung  (A.  63)  als  in  der  Zusammenfassung 
ihrer  Ergebnisse  (A.  68),  ausdrücklich  fest,  dass  wir  darüber,  ob 
ein  unserem  Euklidischen  Anschauuugsraum  „ähnliches  absolutes 
Korrelat  desselben  realiter  existiert",  „ob  die  transscendente  An- 
ordnung der  absolut-realen  Welt,  welche  ausserhalb  unseres  Be- 
wusstseins  liegt,  mit  unserer  Raumanschauung  übereinstimmt,  ob 
sie  ihr  kommensurabel  oder  inkommensurabel  ist,"  nichts  wissen. 
Als  Metaphysiker  allerdings,  der  von  der  transscendentalen  Idealität 
unseres  Raumes   aus   subjektiven  Gründen  überzeugt  ist,  begrüsst 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  23 

er  diese  Spekulationen  der  modernen  Mathematik  mit  Freuden  als 
Fingerzeig-,  der  in  die  Richtung  seines  Glaubens  hinweist.  Er 
führt  Gauss  und  Helmholtz  als  Kronzeugen  für  die  Möglichkeit 
an,  dass  eine  mehr  als  dreidimensionale  Welt  ausserhalb  unseres  Be- 
wusstseins  existiere  (A.  63 — 4),  Und  grade  wenn  man  sich  der 
metageometrischen  Spekulationen  erinnert,  gewinnt  nach  seiner 
Meinung  die  Hypothese  von  der  transscendeutalen  Realität  unseres 
Raumes  den  Anstrich  einer  gewissen  Philistrosität,  einer  Gebunden- 
heit an  das  Hergebrachte,  Gewohnte,  rein  Empirische  (A.  154, 
vgl.  oben  S.  20).  Ähnlich  heisst  es  A.  62 — 3:  wer  „aus  dem 
subjektiven,  intellektuellen  Unvermögen  unserer  und  jeder  uns 
homogenen  Intelligenz",  einen  nicht-euklidischen  Raum  anzuschauen, 
,.die  objektive,  reale,  die  transscendente  Existenzunfähigkeit  eines 
solchen  Raumes  folgere,"  erkläre  damit  unser  Anschauungsvermögen 
oder  dessen  spezifische  Organisation  für  absolut  und  infallibel;  er 
denke  also  nach  dem  philiströsen  Grundsatz  „c'est  partout  comme 
chez  nous"  —  eine  Denkweise,  die  eines  Philosophen  unwürdig  sei. 

Im  Gegensatz  dazu  meine  ich,  man  sollte  die  metageometrischen 
Spekulationen  aus  den  Erörterungen  über  transscendentale  Idealität 
oder  Realität  unseres.  Raumes  ganz  und  gar  ausschalten:  sie  be- 
weisen nicht  nur  nichts,  wie  ja  auch  Liebmann  selbst  feststellt, 
sie  geben  auch  keinen  Fingerzeig,  weder  nach  der  einen  noch  nach 
der  andern  Richtung,  ja!  sie  lassen  sich  nicht  einmal  als  Wahr- 
scheinlichkeitsgrund für  die  Möglichkeit,  dass  andere  Intelligenzen 
eine  andere  Raumanschauung  haben  oder  dass  ein  vom  unsrigen 
völlig  verschiedener   absoluter  Raum  realiter  existiere,   verwerten. 

An  der  logischen  Denkbarkeit  und  Zulässigkeit  nicht-Eu- 
klidischer Räume  (sei  es  mehr  als  dreidimensionaler,  sei  es  nicht- 
ebener mit  einem  nicht  konstanten  oder  einem  andern  Krümm- 
ungsmaass  als  Null)  lässt  sich  schlechterdings  nicht  zweifeln.  Aber 
auch  nur  sie  ist  zuzugeben,  nicht  die  Anschauungsmöglichkeit. 
Liebmann  sagt  mit  Recht,  dass  wir  einen  mehr  als  dreidimensionalen 
oder  einen  pseudosphärischeu  oder  sphärischen  Raum  oder  „eine 
der  Euklidischen  widersprechende  —  nicht  sowohl  Streometrie, 
sondern  auf  die  dritte  Potenz  erhobene  Planimetrie"  nur  denken, 
aber  absolut  nicht  anschauen  können  (A.  79).  ^) 


^)  Inhaltlich  übereinstimmend  äussern  sich  z.  B.  auch  Sigwart  in 
seiner  Logik  11^  S.  83 — 85  und  W.  Meinecke  in  seinem  Aufsatz:  „Die 
Bedeutung  der  Nicht-Euklidischen  Geometrie  in  ihrem  Verhältnis  zu  Kants 
Theorie  der  mathematischen  Erkenntnis"  (Kantstudien  XI  222/3,  228,  231). 


24  E.  Adickes, 

p]r  unterscheidet  streng  zwischen  logischer  Notwendigkeit  und 
Anschauungsnotwendigkeit  —  eine  Unterscheidung,  die  ich  (trotz 
der  Angriffe,  die  gegen  sie  gerichtet  worden  sind)  für  sehr  be- 
deutsam halte.  Zu  den  Anschauungsnotwendigkeiten  gehört  der 
Euklidische  Raum  samt  den  Euklidischen  Axiomen,  aus  denen  dann 
weiter  die  ganze  Euklidische  Geometrie  mit  logischer  Notwendig- 
keit hervorgeht.  Abweichende  Axiome  (etwa:  dass  zwischen  zwei 
Punkten  mehr  als  zwei  Grade  möglich  sind  oder  dass  zwei  gerade 
Linien  sich  in  mehr  als  zwei  Punkten  schneiden  können)  sind, 
obwohl  sie  keinen  logischen  Widerspruch  in  sich  enthalten,  doch 
intuitiv  nicht  vorstellbar  (A.  77,  vgl.  G.  I  20  ff.).  In  allen  meinen 
Anschauungen  bin  ich  an  den  Euklidischen  Raum  und  seine  Gesetz- 
mässigkeiten, wie  sie  in  den  Axiomen  zum  Ausdruck  kommen, 
gebunden.  Dies  Gebunden-Sein,  diese  Notwendigkeit,  gerade  so 
anzuschauen  und  nicht  anders,  ist  ein  unbestreitbares  Faktum,  das 
wir  in  unserem  geistigen  Erleben  vorfinden.  Zwei  Ursachen  sind 
dafür  denkbar  und  möglich.  Entweder  ist  seine  Grundlage  eine 
rein  subjektive  (ob  es  nun  nur  auf  unserer  apriorischen  Geistes- 
organisation beruht,  mit  ihr  steht  und  fällt,  oder  etwa  —  nach 
empiristischer  Lesart  —  nur  auf  unserm  tatsächlichen  Mangel  an 
anderen  Erfahrungen  als  solchen  im  Euklidischen  Raum):  dann  ist 
damit  die  Möglichkeit  von  andersartigen  Räumen  oder  von  Wesen 
mit  andersartigen  Raumanschauungen  ohne  Weiteres  gegeben. 
Oder  aber  ein  anderer  als  der  Euklidische  Raum  ist  aus  uns  un- 
bekannten, unfassbaren  Gründen  überhaupt  nicht  existenzfähig, 
objektiv-reale  Ursachen  verhindern  es,  dass  z.  B.  zwei  gerade 
Linien  sich  je  in  mehr  als  einem  Punkte  schneiden,  dass  durch 
einen  Punkt  je  mehr  als  drei  rechtwinklig  auf  einander  stehende 
Koordinatenebenen  gelegt  werden.  Der  beliebte  Hinweis  auf  fin- 
gierte zweidimensionale,  auf  einer  Ebene  lebende  Wesen,  die  in 
ähnlicher  Weise  auf  ihre  zwei  Dimensionen  beschränkt  wären, 
(obwohl  es  doch  in  Wirklichkeit  drei  gäbe),  wie  wir  auf  unsere 
drei,  wäre  in  diesem  zweiten  Fall  nicht  am  Platz.  Wenn  jene 
Geschöpfe  auch  in  ihrer  Erfahrungswelt  nirgends  eine  dritte 
Dimension  antreffen  könnten,  so  scheint  mir  doch  nichts  der  An- 
nahme im  Wege  zu  stehen,  dass  ihre  Phantasie  ihnen  die  Möglich- 
keit an  die  Hand  gäbe,  sich  in  einem  Punkt  ausser  den  zwei  in 
ihrer  Erfahrungswelt  möglichen  Senkrechten  noch  eine  dritte  senk- 
recht  zu   ihrer  ganzen  Ebene   zu   denken.     Wir   dreimensionalen 


Liebmann  als  Brkenntnistheoretiker.  25 

Wesen   dageg-en   würden  uns   eine  vierte   Koordinatenebeue   nicht 
denken  können,  weil  sie  auch  realiter  unmöglich  wäre. 

Welcher  von  diesen  beiden  denkbaren  E'ällen  der  Wirklichkeit 
entspricht,  darüber  lässt  sich  aus  den  metageometrischen  Speku- 
lationen nicht  das  Geringste  entnehmen,  auch  nicht  einmal  mit  dem 
leisesten  Grad  von  Wahrscheinlichkeit.  Das  allein  vorliegende 
Faktum:  die  Notwendigkeit,  in  bestimmter  Weise  räumlich  an- 
zuschauen, Hesse  sich  auf  dem  einen  wie  auf  dem  andern  Wege 
in  gleich  befriedigender  Weise  erklären.  Wer  sich  also  für  die 
transscendentale  Idealität  unseres  Raumes  entscheidet,  der  hat  keiu 
Recht,  die  Metageometrie  irgendwie,  wenn  auch  nur  von  fern  her, 
als  Grund  heranzuziehen;  andernfalls  deutet  er  ihre  Resultate  in 
^\illkürlicher  Weise,  voreingenommen  durcH  seine  metaphysische 
Stellung. 

Das,  was  einen  begrifflichen  Widerspruch  in  sich  schliesst, 
hält  man  allgemein  nicht  nur  für  logisch  unmöglich,  d.  h.  un- 
denkbar, sondern  auch  für  existenzunfähig.  Warum  sollte  es  nicht 
gerade  so  gut  möglich  sein,  dass  auch  jene  Anschauungsnotwendig- 
keiten nicht  nur  für  mein  Anschauen,  sondern  auch  für  das  ab- 
solut-reale Sein  maassgebend  sind?  Es  liegen  bei  der  räumlichen 
Anschauung  ganz  eigenartige  Verhältnisse  vor,  die  nirgends  sonst 
wiederkehren.  Warum  sollte  nur  in  der  logischen  Denk-Unmöglich- 
keit  die  objektive  Real-Unmöglichkeit  inbegriffen  sein,  und  nicht 
vielmehr  auch  in  jener  eigenartigen  Anschauuugs-Unmöglichkeit? 
Wird  das  ohne  Weiteres  geleugnet,  so  begeht  man  eine  petitio 
principii. 

Wer  nun  der  Meinung  ist,  dass  der  Erklärung  unserer  Er- 
fahrungswelt aus  der  Lehre  von  der  transsceudentalen  Idealität 
des  Raumes  unüberwindliche  Schwierigkeiten  erwachsen,  wer  sich 
deshalb  zu  der  entgegengesetzten  Ansicht  bekennt  und  demgemäss 
die  besprochene  Anschauungsnotwendigkeit  auf  dem  zweiten  der 
beiden  möglichen  Wege  zu  erklären  sucht:  muss  das  wirklich 
durchaus  ein  Philister  und  an  das  Hergebrachte  Gebundener  sein? 
Oder  könnte  man  dann  nicht  Philistrosität  mit  demselben  Recht  auch 
dem  vorwerfen,  der  die  notwendige  Gültigkeit  der  logischen  Regeln 
für  jede  Wirklichkeit  behauptet? 


9 


26  E.  Adickes, 


VI. 

Ein  Hauptarg-ument  für  die  Apriorität  der  Raiimesanschaiiung 
sieht  Liebmann  im  Anschluss  an  Kant  in  dem  besonderen  Grad 
von  Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit,  welcher  der 
Geometrie  zukommt.  Mit  ihren  Sätzen  verknüpft  sich  ,.die  feste 
Überzeugung,  dass  der  objektive  Sachverhalt  ihnen  stets  und  unter 
allen  Bedingungen  entsprechen  muss,  und  eine  Ausnahme  davon 
unmöglich  ist".  Sie  stehen  in  dieser  Beziehung  in  einer  Reihe 
mit  den  Sätzen  der  Arithmetik  und  der  auf  beiden  aufgebauten 
Phoronomie,  sowie  mit  den  analytischen  Denkprinzipien  der  formalen 
Logik.  „Während  [aber]  unsere  Geometrie  nur  für  solche  Intelli- 
genzen, die  in  derselben  Raumform  wir  wir  anschauen,  Apodikti- 
zität  besitzt,  erstreckt  sich  die  Apodiktizität  der  allgemeinen 
Grössenlehre,  sowie  der  Logik  auf  alle,  wie  auch  immer  gearteten 
Intelligenzen  überhaupt."  Sie  bilden  also  Systeme  von  Gesetzen 
für  unser  resp.  für  alle  erkennenden  Bewusstseine.  Von  blossen 
verites  de  fait  unterscheiden  sie  sich  subjektiv  durch  die  mit 
ihrem  Verständnis  verknüpfte  „Überzeugung,  dass  der  empirisch- 
wahrnehmbare Sachverhalt  ihnen  schlechterdings  nie  widersprechen 
kann",  objektiv  dadurch,  „dass,  der  subjektiven  Antizipation 
entsprechend,  jene  Überzeugung  von  den  Tatsachen  wirklich  stets 
bestätigt  wird  und  nur  dann  widerlegt  werden  könnte,  wenn  die 
Welt  mit  unserem  Verstand  zugleich  völlig  aus  den  Fugen  ginge, 
wenn  sie  sich  z.  B.  plötzlich  aus  einer  Welt  von  drei  Dimensionen 
in  eine  solche  von  vieren  verwandelte".  Und  demgemäss  spitzt 
Liebmann  das  vorliegende  Problem  zu  den  beiden  Fragen  zu: 
„Woher  stammt  einerseits  das  subjektive  Notwendigkeitsbewusstsein, 
welches  jenen  apodiktischen  Gesetzen  anhaftet?  Wie  erklärt  sich 
andererseits  der  Umstand,  dass  eben  die  objektive  Erfahrung 
niemals  widersprechen  kann?"  (A.  253—6).  Die  beste  Antwort 
auf  diese  Fragen  gibt  nach  seiner  Meinung  der  Apriorismus  (z.  B. 
für  die  Geometrie  die  Apriorität  der  Euklidischen  Raumanschauung, 
für  die  Phoronomie  ausserdem  auch  noch  die  der  Zeit);  und  darum 
bekennt  er  sich  zu  ihm,  als  zu  der  bestbegründeten,  wahrschein- 
lichsten Hypothese  (A.  256—7). 

Mit  Freuden  begrüsse  ich  zunächst,  dass  diese  Art  der 
Fragestellung  das  Problem  viel  schärfer  erfasst  als  die  Kants. 
Vor  allem  tritt  darin  klar  hervor,  dass  es  sich  um  einen  Rück- 
schluss   von    einer   vorhandenen  Wirkung  auf  ihre  verborgene  Ur- 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  27 

Sache  handelt,  und  dass  (bei  der  prinzipiellen  Unsicherheit  aller 
solcher  Schlüssel)  der  Apriorismus,  soweit  nur  dieses  eine  Problem 
in  Betracht  kommt,  bloss  den  Charakter  einer  Hypothese  trägt. 

Die  Wirkung  aber,   die  in  Frage  steht,  ist  ein  Bewusstseins- 
phänomen :   das  eigenartige  Evidenzgefiihl,   welches  sich  mit  jenen 
Wahrheiten    verbindet.     Das    gilt    auch   für  die  zweite  Frage,    in 
der  deshalb  meiner  Meinung  nach  die  Worte  „der  Umstand"  durch 
„die  Überzeugung"    ersetzt    werden    müssen.     Diese  Überzeugung 
teile  ich  durchaus    und    zweifle  keinen  Augenblick  daran,  dass  sie 
berechtigt    ist.      Aber    die    Tatsache    des    Vorhandenseins    dieser 
Überzeugung  ist  etwas  ganz  Anderes,  als  die  Tatsache  sein  würde, 
dass  die  Wirklichkeit  dieser  Überzeugung  entspricht.     Wer  beides 
gleichstellt,  verwechselt  Gegebenes  und  seine  hypothetische  Deutung. 
Die  zweite  (angebliche!)  Tatsache,  dass  jene  Überzeugung  von  der 
Erfahrung,  wie  Liebmann  sich  ausdrückt,  „wirklich  stets  bestätigt 
wird",    würde    ja    voraussetzen,    dass    die    Gesamterfahrung    des 
Menschengeschlechts    (auch    die    ganze    künftige)    dem    offen   vor 
Augen    läge,    der  jene    Tatsache    erkennt.      Denn    da    von  einem 
„stets"  geredet  wird,  kann  die  betreffende  Kenntnis  nur  gewonnen 
werden    auf  Grund    einer  Übersicht  über  alle  in  dem  „stets"  ent- 
haltenen   Fälle.     Es    sei    denn,    dass  die  Unmöglichkeit  feststehe, 
dass    etwas    anders    sei,    als    es   in    Wirklichkeit    ist.      Und    dies 
letztere    scheint  Liebmann    allerdings   im  Auge    zu    haben,    da    er 
neben    der  Berufung    auf    das  „stets    bestätigt  werden"    auch  mit 
der  Unmöglichkeit    eines  Widerspruchs    der    objektiven    Erfahrung 
gegen  jene  Überzeugung  resp.  mit  der  Unmöglichkeit  ihres  Wider- 
legtwerdens   durch    die   Erfahrung    operiert.     Aber    auch    dadurch 
wird  die  Situation  nicht  gerettet.     Denn  auch  diese  Unoiöglichkeit 
ist  keine  Tatsache  und  kann  unter  keinen  Umständen,  durch  keine 
noch    so    subtilen  Beweisführungen    zu    einer  werden.     Mit  Bezug 
auf    die    ganze    „objektive  Erfahrung"    können   wir    niemals    über 
die  Kenntnis    des  So-seins    hinaus  bis  zu  unmittelbarer  Erkenntnis 
des  So-sein-müssens  vordringen.     Wir  können,  solange  wir  uns  an 
das    in    ihr  Gegebene   halten,    wohl  das  Nicht-vorhandensein  eines 
Dinges  oder  Vorganges  behaupten,    nie    aber  das  Nicht- vorhanden- 
sein-können    oder    die    [Jnmöglichkeit    des    Vorhandenseins.     Not- 
wendigkeit,   Müssen,    Unmöglichkeit    sind  Deutungen,    die    wir  an 
die    Dinge    und    Ereignisse    heranbringen,    um    sie    begreifen    zu 
können.     Es    sind  Denkkategorien,    die    uns    über  das  unmittelbar 
Gegebene  hin  wegführen,  vermittelst  deren  wir  innere  Beziehungen 


28  E.  Adickes, 

zu  erfassen  slichen.  Ich  biu  auf  das  festeste  davon  überzeug-t, 
dass  es  auch  in  den  Erfahrung-s-Diugen  und  -Vorgängen  selbst 
(und  ebenso  im  Absolut  -  Realen)  Gesetzmässigkeiten  und  Not- 
wendigkeiten giebt;  aber  dieses  etwaig-e  Muss  im  Sein  können  wir 
nicht  unmittelbar  erkennen,  wir  können  es  nur  erschliessen,  indem 
wir  das  Sein  deuten  oder  „interpoheren"  im  Sinne  des  Muss,  d.  h. 
im  Sinne  eines  g-esetzmässigen  Zusammenhanges.  Daher  können 
mir  auch  keine  Notwendigkeiten  oder  UnraögUchkeiten  jemals  un- 
mittelbar gegeben  werden,  als  nur  solche,  die  sich  auf  den  ein- 
zelneu Geistesakt  in  mir  beziehen  und  in  dem  Evidenzgefühl 
bestehn,  das  seinen  Inhalt  begleitet:  darin,  dass  ich  mich  innerlich 
gezwungen  sehe,  gerade  dies  Bestimmte  zu  denken  und  anzu- 
schauen, oder  dass  es  mir  in  anderen  Fällen  unmöglich  ist,  jenen 
Gedanken  oder  jene  Anschauung  zu  vollziehen. 

Dieses  Evidenzgefühl  ist  also  die  ursprüngliche  psychische 
Tatsache,  welche  die  Grundlage  und  den  Ausgangspunkt  für  die 
Behandlung  der  ganzen  Frage,  die  uns  hier  beschäftigt,  bilden 
muss.  Als  psychische  Tatsache  ist  es  selbstverständlich  auch 
Untersuchungsobjekt  für  die  Psychologie;  aber  die  Aufgabe  dieser 
Wissenschaft  beschränkt  sich  darauf,  es  zu  beschreiben  und  fest- 
zustellen, wie  es  im  Lauf  des  geistigen  Geschehens  entsteht  und 
vergeht,  eventuell  auch  noch  die  Situationen,  die  seiner  Entstehung 
günstig  sind,  d.  h.  seine  Gelegeuheitsursachen,  zu  klassifizieren. 
Wo  sie  endet,  beginnt  die  Erkenntnistheorie:  sie  fragt  nach  der 
objektiven  Grundlage  und  Berechtigung  des  Evidenzgefühls,  nach 
seiner  Bedeutung  für  das  Erkennen,  d.  h.  für  die  anschauliche 
oder  begriffliche  Eekonstruktion  (Abbildung)  irgend  einer  Wirklich- 
keit; sie  forscht  also  einerseits  nach  der  tieferen  Ursache,  aus  der 
heraus  es  bei  Gelegenheit  dieser  oder  jener  Erfahrung  entspringt, 
anderseits  nach  der  Rolle,  die  es  im  Gesamtorganismus  des  Er- 
kennens  spielt.  Diese  tieferen  Ursachen  können  entweder  in  der 
allgemeinen  geistigen  Organisation  oder  in  der  Natur  der  Erkennt- 
nisobjekte oder  in  beiden  gesucht  werden.  Sie  können  aber  auch 
ganz  fehlen :  dann  entpuppt  sich  das  Evidenzgefühl  als  eine 
Täuschung,  die  Ansprüche,  die  gestellt  wurden,  waren  unbe- 
rechtigt. 

So  liegt  die  Sache  bei  allen  metaphysischen  Denknot- 
wendigkeiten. Als  subjektive  Bewusstseinsphänomene  können  auch 
hier  die  Evidenzgefühle  nicht  bestritten  werden:  der  einzelne 
Metaphysiker  ist  von  seinen  Dogmen  so  sehr  überzeugt,   dass  ihm 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  29 

ein  Auch-anders-deukeu-können  ganz  ausgeschlossen  erscheint. 
Ein  Spinoza  würde  von  der  Tadellosigkeit  seiner  Definitionen,  von 
der  Evidenz  seiner  Axiome  und  von  der  Notwendigkeit  der  auf 
beide  gebauten  Schlüsse  auf  das  innigste  durchdrungen  geblieben 
sein,  wenn  auch  hunderte  von  Gegnern  ihm  entgegen  getreten 
wären.  Und  doch  kann  nicht  einmal  von  objektiv  begründeten 
Wahrscheinlichkeiten  auf  diesem  Gebiet  die  Rede  sein.  Es  wäre 
deshalb  sehr  falsch,  wollte  man  von  vornherein  ohne  Weiteres 
alle  Evidenzgefühle  als  gleichwertig  betrachten  und  nach  einer 
Schablone  behandeln. 

Auch  da,  wo  man,  wie  beim  logischen  Evidenzgefühl,  als 
Grundlage  Gesetzmässigkeiten  und  Notwendigkeiten  in  der  allge- 
meinen geistigen  Organisation  annimmt,  sind  .diese  doch  nicht  im 
Bewnsstsein  selbst  gegeben,  können  also  auch  nicht  unmittelbar 
erkannt  und  erfahren  werden.  Die  ganze  geistige  Organisation 
tritt  ja  nie  in  das  Bewnsstsein,  sie  muss  stets  erschlossen  werden, 
und  zwar  durch  einen  Schluss  von  der  Wirkung  auf  die  unbe- 
kannte Ursache.  Kann  also  bei  ihr  nicht  einmal  von  einer  Er- 
kenntnis des  So-seins  die  Rede  sein,  dann  natürlich  erst  recht 
nicht  von  einer  Erkenntnis  des  So-sein-müssens.  Und  am  aller- 
wenigsten ist  es,  wenn  mau  die  Worte  wägt,  zulässig,  von  der 
Notwendigkeit,  dass  die  „objektive  Erfahrung"  (oder  meinetwegen 
auch:  jede  Wirklichkeit)  den  logischen  Gesetzen  stets  entspreche 
(oder  von  der  Unmöglichkeit,  dass  dem  je  anders  sei),  als  von 
einer  nicht  nur  tatsächlich  vorhandenen,  sondern  auch  als  tat- 
sächlich erkannten  zu  sprechen.  Über  die  feste  Überzeugung  von 
dem  Vorhandensein  einer  solchen  ausnahmslosen  Korrespondenz 
können  wir  nie  hinauskommen;  nie  wird  es  möglich  sein,  sie  zu 
verifizieren,  da  wir  weder  je  den  ganzen  Umkreis  objektiver  Er- 
fahrung (oder:  der  Wirklichkeit)  zu  überschauen,  noch  je  ihr  So- 
sein-müssen  und  Nicht-anders-sein-können  unmittelbar  zu  erfassen 
im  Stande  sein  werden.  Dass  jene  Überzeugung  nie  getäuscht 
werden  kann,  das  steht  mir  so  fest,  wie  jedem  andern  Geistes- 
gesunden. Ihre  ursprüngliche  Grundlage  aber  kann  nirgends 
anderswo  gefunden  werden,  als  im  logischen  Evidenzgefühl:  aus 
ihm  wird  auf  gewisse  Gesetzmässigkeiten  der  geistigen  Organi- 
sation zurückgeschlossen.  Dabei  mögen  sich  noch  verschieden- 
artige Argumente  zu  Gunsten  jener  Überzeugung  geltend  machen 
—  auch  sie  ziehen  doch  ihre  Beweiskraft  letzthin  ganz  und  gar 
aus  dem  logischen  Evidenzgefühl.     Es  ist  für  mich  selbstverständ- 


30  E.  Adickes, 

lieh,  dass  das  Denken  insofern  in  das  Sein  (die  Wirklichkeit) 
überoreift,  als  es  auch  in  dem  (resp.  der)  letzteren  keine  Denk- 
unmöglichkeiten  geben  kann.  Aber  kein  Mensch  kann  es  beweisen, 
und  keiner  kann  die  Unmöglichkeit  des  Vorhandenseins  solcher 
Denkuumöglichkeiten  im  Sein  unmittelbar  im  letzteren  selbst  er- 
fahren und  erfassen.  Unser  Denken  müsste  denn  zum  Sein  selbst 
werden,  das  Sein  freitätig  setzen.  Jene  Selbstverständlichkeit  ist 
wieder  nichts  als  nur  ein  anderer  Name  für  das  logische  Evidenz- 
gefühl. Und  dies  letztere  kann  nie  etwas  unmittelbar  über  das 
Sein  selbst  aussagen,  sondern  stets  nur  über  die  Art,  wie  wir 
das  Sein  denken  (resp.  anschauen)  müssen. 

Materiell  stimme  ich  Liebmann  darin  völlig  bei,  dass  den 
analytischen  Denkprinzipien  der  formalen  Logik  wie  den  Axiomen 
der  reinen  Grössenlehre  (Arithmetik  und  Algebra)  Apriorität  zu- 
kommt, dass  sie  also  auf  gewisse  höchste  Intellektualgesetze  zurück- 
weisen und  aus  ihnen  hervorgehn.  Erkenntnisgrund  für  die  letzteren 
ist  das  mit  jenen  Prinzipien  und  Axiomen  verbundene  Evidenz- 
gefühl: aus  ihm  als  Wirkung  wird  auf  die  unbekannte  Ursache 
(Realgrund)  zurückgeschlossen.  Der  formalen  Logik  und  der 
reinen  Grössenlehre  gemeinsam  ist,  dass  sie  keine  materialen  Er- 
kenntnisse über  Gegenstände,  die  ausserhalb  unseres  Denkens  vor- 
handen sind,  enthalten.  Die  Logik  stellt  die  Normen  fest,  denen 
unser  Denken  unbedingt  entsprechen  muss,  wenn  es  iQi  Stande 
sein  soll,  reale  Erkenntnisse  zu  vermitteln.  Die  reine  Grössen- 
lehre hat  mit  selbstgemachten  Begriffen  zu  tun,  die  sie  zwar  nur 
auf  Grund  des  von  der  Erfahrung  gelieferten  Materials  bilden 
kann,  doch  so,  dass  sie  mit  demselben  frei  schaltet  und  waltet 
und  in  die  Begriffe  nur  das  hineinnimmt,  was  sie  brauchen  kann 
und  nötig  hat.  Diese  Begriffe,  die  also  im  Gegensatz  zu  den  Er- 
fahrungsbegriffen eine  erschöpfende,  völlig  eindeutige  Definition 
zulassen,  verbindet  sie  dann  in  der  mannigfachsten  Weise  gemäss 
Gesetzen,  die  in  unserer  Intellektualorganisation  ursprünglich  ge- 
gründet sind.  Und  soweit  die  objektive  Erfahrungswelt  jenen 
freigebildeten  Begriffen  entspricht,  letztere  also  auf  sie  anwend- 
bar sind,  werden  auch  die  Resultate  der  reinen  Grössenlehre  in 
ihrer  ganzen  Ausdehnung  für  die  Gegenstände  und  Vorgänge  der 
Erfahrungswelt  Gültigkeit  haben  müssen.  Wird  eine  Einzel- 
erfahrung als  Spezialfall  unter  einen  allgemeinen  Satz  der  reinen 
Grössenlehre  subsumiert,  so  stellt  sich  sofort  das  logische  Evidenz- 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  31 

gefühl  ein  und  zwingt  uns  die  feste  Überzeugung  auf,  dass  der 
letztere  auch  für  die  erstere  unbedingt  gelten  muss. 

Im  Gegensatz  zu  Logik  und  reiner  Grössenlelire  geht  die 
Euklidische  Geometrie  unmittelbar  darauf  aus,  materiale  Erkennt- 
nisse von  einem  allein  ausserhalb  des  Denkens  vorhandenen 
Objekt  zu  verschaffen:  nämlich  von  dem  Erfahrungsraum  und 
seineu  Eigenschaften.  Denkt  man  auch  allen  Rauminhalt  weg  und 
behält  also  das  blosse  Raumschema  übrig,  oder  stellt  man  sich 
eine  geometrische  Figur  nur  mit  der  Phantasie  vor,  so  muss  man 
doch  in  jedem  E^all  (im  Gegensatz  zur  Logik  und  reinen  Grössen- 
lehre)  aus  dem  reinen  Denken  heraustreten  und  zur  Anschauung 
seine  Hülfe  nehmen.  Es  kann  keine  Geometrie  ohne  Raum  und 
keinen  Raum  ohne  Anschauung  (sei  es  auch  nur  eine  solche  in 
der  Phantasie)  geben.  Und  die  Geometrie  sagt  demgemäss  nichts 
über  Eigenschaften  und  Gesetze  des  Denkens,  sondern  über 
Eigenschaften  und  Gesetze  eines  Anschauungsobjektes  aus. 

Auch  bei  den  geometrischen  Axiomen  und  Sätzen  liegt  ein 
eigenartiges  Evidenzgefühl  vor.  Und  die  schwere  Frage  ist:  wie 
ist  es  zu  erklären? 


VIL 
Hier  trenne  ich  mich  von  Liebmann  und  kann  als  Empirist 
seiner  Antwort  nicht  beipflichten.  Liebmann  ist  auf  den  Empiris- 
mus nicht  gut  zu  sprechen,  er  lässt  ihn  fast  im.  Sensualismus 
aufgehen,  und  Hume  ist  einer  der  wenigen  Philosophen,  denen  er 
nicht  gerecht  zu  werden  vermag.  Apriorismus  und  Empirismus 
sind  nach  meiner  Ansicht  §ehr  wohl  vereinbar  mit  einander.  Wäre 
es  nicht,  dann  müsste  der  Empirismus  ganz  von  der  Bildfläche 
verschwinden,  denn  um  die  Annahme,  dass  es  überhaupt  Apri- 
orisches gibt,  kommen  wir  gar  nicht  herum.  Die  eigentlichen 
Gegensätze  sind  vor  wie  nach  Kaut  Empirismus  und  Rationalismus, 
und  die  Hauptstreitpuukte  betreffen  gar  nicht  die  ursprüngliche 
Beschaffenheit  unseres  Geistesvermögens,  sondern  die  Methode  des 
Erkennens  und  die  Kriterien  der  Wissenschaft  oder  die  Gewissheits- 
grade  menschlichen  Erkennens,  also  die  Frage  der  Notwendigkeit 
und  Allgemeingültigkeit.  Und  was  das  Apriori  betrifft,  so  werden 
beide  füglich  nur  darüber  streiten  können,  wieviel  davon  vor- 
handen ist:  der  Rationalist  wird  die  naturgemässe  Tendenz  haben, 
möglichst  viel  anzunehmen,  der  Empirist:  möglichst  wenig. 


32  E.  Adickes, 

Als  23jährig'er  habe  ich  meiner  Ausgabe  von  Kants  Kritik 
der  reinen  Vernunft  (1889)  von  extrem-empiristischem  Standpunkt 
aus  gegen  Kant  manche  Einwürfe  erhoben,  die  ich  jetzt,  reifer 
geworden,  nicht  mehr  aufrecht  erhalten  kann.  Die  2.  Auflage  des 
schon  länger  vergriffenen  Werkes  wird  die  inzwischen  erfolgte 
Wandlung  bezeugen.  Aber  insofern  bin  ich  noch  immer  Empirist, 
als  ich  auf  das  Apriori  nur  im  höchsten  Notfall  zurückgreife.  Der 
aber  scheint  mir  hier  nicht  vorzuliegen.  Eine  Theorie  der  geo- 
metrischen Axiome  ist  möglich  ohne  Apriorismus,  ja!  der  Vertreter 
des  letzteren  hat  sogar  vor  seinem  Gegner  nichts  voraus,  weil 
gerade  am  entscheidenden  Punkt  sein  Apriorismus  ihn  doch  im  Stich 
lässt  und  nichts  zur  Erklärung  beizutragen  vermag. 

Ich  sehe  hier  ganz  davon  ab,  dass  manche  hervorragende 
Mathematiker  das  Vorhandensein  jenes  Evidenzgefühls  bei  den 
geometrischen  Axiomen  überhaupt  leugnen.  So  behauptet  z.  B. 
Helmholtz,  dass  „die  geometrischen  Axiome,  in  demjenigen  Sinne 
genommen,  wie  sie  allein  auf  die  wirkliche  Welt  augewendet  werden 
dürfen,  durch  Erfahrung  geprüft,  erwiesen,  eventualiter  auch  wider- 
legt werden  können"  und  dass  sie  als  Naturgesetze  „natürlich  an 
der  nur  approximativen  Erweisbarkeit  aller  Naturgesetze  durch 
Induktion    teilhaben"    (Vorträge    und    Reden  ^    1896  II  233,   393). 

Ich  stelle  mich  vielmehr  auf  den  Standpunkt  Liebmanns  und 
betrachte  das  Evidenzgefühl  bei  den  geometrischen  Axiomen  als 
tatsächlich  vorhanden,  sehe  auch  davon  ab,  dass  es  nicht  bei 
allen  Axiomen  mit  gleicher  Stärke  auftritt,  beim  Parallelenaxiom 
vielmehr,  wo  die  Verhältnisse  verwickelter  liegen,  entschieden 
schwächer  als  bei  den  übrigen.  Aber  schweigen  wir  davon  und 
halten  uns  an  einen  der  für  den  Apriorismus  günstigsten  Fälle: 
an  das  Axiom,  dass  zwischen  zwei  Punkten  nur  eine  kürzeste 
Linie,  die  gerade,  möglich  ist.  Wie  soll  man  sich  seine  etwaige 
Apriorität  vorstellen? 

Leider  unterlässt  Liebmann  es,  konkret-anschaulich  anzugeben, 
wie  er  sich  den  Zusammenhang  zwischen  der  apriorischen  Er- 
kenntnis eines  solchen  Axioms  und  der  Apriorität  der  Raum- 
anschauung denkt.  Er  beschränkt  sich  auf  allgemeine  Wendungen, 
wie:  das  Euklidische  Raumgesetz  sei  das  Grundgesetz  der  geo- 
metrischen Wahrheiten  (A.  257),  die  formale  Natur  und  Charak- 
teristik unseres  Raumes  finde  man  als  wissenschaftlich  wohl- 
gegliedertes System  in  der  Euklidischen  Geometrie  niedergelegt 
(A.  185),    der  Raum   sei   ein   Lokalisatiousgesetz,    das   unser   an- 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  33 

schauendes   Bewusstsein    despotisch   beherrsche    und    die   gesamte 
apodiktische  Gesetzlichkeit  der  Geometrie  in  sich  schliesse  (G.  II  27). 

Ich  begreife  vollkommen,  dass,  die  Apriorität  der  Raum- 
auschauung  vorausgesetzt,  ihre  Eigentüoilichkeiten  und  Gesetze  für 
alle  Erfahrungsgegenstände  maassgebend  sein  werden.  Ich  verstehe 
auch,  was  man  meint,  wenn  man  als  Aufgabe  der  Geometrie  eine 
wissenschaftlich-systematische  Darlegung  jener  Eigentümlichkeiten 
und  Gesetze  bezeichnet.  Nun  beginnt  aber  erst  die  Schwierigkeit. 
Das  eigentliche  Problem  ist:  woher  weiss  ich,  dass  die  Euklidische 
Geometrie  diese  Aufgabe  richtig  löst?  bezugs weise:  wie  ist  das 
Evidenzgefühl  zu  erklären,  mit  dem  sich  mir  und  jedem  Andern 
die  Überzeugung  aufdrängt,  dass  die  Lösung  die  richtige  sei?  Aus 
der  Apriorität  der  Raumanschauung  würde  .  sich  nur  die  tat- 
sächliche Geltung  der  Euklidischen  Geometrie  für  alle  Gegen- 
stände der  Erfahrungswelt  ergeben,  und  auch  diese  bloss  unter 
der  Voraussetzung,  dass  die  Geometrie  eine  richtige  Charakteristik 
des  Raumes  enthält.  Ganz  etwas  Anderes  aber  wäre  das  Wissen 
um  diese  tatsächliche  Geltung,  die  Überzeugung  von  ihrer  Not- 
wendigkeit und  damit  die  Überzeugung  von  der  apodiktischen 
Gewissheit  der  Geometrie.  Wie  dieses  Wissen  und  diese  Über- 
zeugung sich  aus  der  Apriorität  der  Raumanschauung  ergeben 
sollen,  ist  mir  unverständlich. 

Liebmann  meint,  die  Geometrie  sei  „für  alle  empirischen 
Objekte  oder  Anschauungsphänomene  aus  demselben  Grund  a  priori 
maassgebend,  aus  welchem  die  im  optischen  Apparat  einer  Camera 
obscura  herrschenden  Refraktious-  und  Reflexionsgesetze  für  die  in 
derselben  entstehenden  Bilder  a  priori  maassgebend  sind"  (A.  235). 
Gewiss!  sobald  die  Geometrie  die  Natur  des  Raumes  richtig  wieder- 
giebt!  Im  Übrigen  aber  spricht  das  Gleichnis  gegen  Liebmann. 
Bekäme  die  Camera  plötzlich  ein  dem  menschlichen  ähnliches  Be- 
wusstsein, so  würde  sie  zwar  die  in  ihr  entstandenen  Bilder  vor 
sich  sehen,  das  Entstehen  derselben  aber  fände  doch  noch  immer 
ihr  selbst  unbewusst  statt  (wie  beim  Menschen  das  Entstehen  der 
räumlichen  Empfindungen),  und  eine  Erkenntnis  der  bei  diesem 
ihrem  unbewussten  Tun  herrschenden  Refraktions-  und  Reflexions- 
gesetze wäre  ihr  nicht  unmittelbar  gegeben,  sie  müsste  sie  vielmehr 
erst  aus  der  Erfahrung  abstrahieren.  Ähnlich  bei  uns  Menschen, 
die  wir  unsere  Empfindungen  unbewusst,  einem  innern  unbekannten 
Drang  gehorchend,  an  den  verschiedenen  Orten  des  Raumes  lokali- 
sieren   oder   objektivieren.     Ein  Wissen   um    die    auf  diese  Weise 

KantBtudien    XV,  O 


34  E.  Adickes, 

entstehende  Form  des  Nebeneinander  können  wir,  wie  mir  scheint, 
nur  dadurch  bekommen,  dass  wir  die  von  uns  unbewusst  geschaffenen 
und  empirisch  vorgefundenen  Verhältnisse  des  Nebeneinander  zum 
Objekt  der  Erfahrung  und  des  Studiums  machen.  Zwei  ganz 
verschiedene  Dinge  kommen  in  Frage:  einerseits  ein  unbewusstes 
Tun,  ein  Anordnen  gemäss  einer  unbewussten  inneren  Gesetz- 
mässigkeit, anderseits  die  Erkenntnis  der  Eigentümlichkeiten 
der  durch  jenes  unbewusste  Tun  hervorgebrachten  Raumform, 
Jenes  würde  Liebmanns  transscendentalem  Ich  zufallen,  dieses 
wäre  Sache  seines  individuellen  Ich  (vgl.  oben  S.  10,  17 — 18). 

Nun  könnte  man  vielleicht  einwenden:  es  handle  sich  um 
durchgehende  Gesetzmässigkeiten  unseres  Geistes.  Wie  Kant  ein 
und  dieselbe  Gesetzmässigkeit  in  den  Funktionen  der  Vergegen- 
ständlichung unserer  Empfindungen,  in  den  Urteilsformen,  in  den 
Stammbegriffen  des  reinen  Verstandes,  in  seinen  höchsten  Grund- 
sätzen annehme,  so  sei  auch  hier  eine  Gesetzmässigkeit,  die  sowohl 
jenes  un-  oder  vorbewusste  Tun  beherrsche,  als  auch  unsere 
Erkenntnis  von  den  Eigentümlichkeiten  des  Raumes  als  des  aus 
jenem  Tun  hervorgegangenen  Produktes.  Dort  erscheine  sie  in 
der  Notwendigkeit  des  Lokalisierens,  hier  in  der  Apodiktizität  der 
geometrischen  Axiome  und  Sätze. 

Aber  gerade  davon  wird  ein  Empirist  sich  schwerlich  über- 
zeugen können.  Für  ihn  kommen  zwei  ganz  heterogene  Dinge  in 
Betracht.  Apriorische  Funktionen,  d.  h.  einen  Zwang,  so  oder  so 
zu  handeln,  zu  objektivieren,  zu  lokalisieren,  kann  er  sehr  wohl 
akzeptieren,  nicht  aber  apriorische  Erkenntnisse  betreffend  das 
Resultat  dieses  Handelns.  Solche  Erkenntnisse,  wird  er  meinen, 
könnten  nur  durch  Erfahrung  erworben  werden,  wenn  auch  durch 
innere  Erfahrung.  Er  sieht  keine  Brücke,  die  von  der  Notwendigkeit 
des  Handelns  zu  der  Notwendigkeit  des  Erkennens  hinüberführte. 
Es  sind  gleichsam  zwei  ganz  verschiedene  Regionen  unseres  Geistes. 
Wohl  vermag  er  sich  von  dem  Vorhandensein  höchster  Denkgesetze 
zu  überzeugen,  die  a  priori,  d.  h.  in  der  Organisation  unseres 
Intellekts  gegründet  sind;  aber  dann  kommt  das  Denken  nur  als 
ein  Handeln  in  Betracht,  das  durch  apriorische  Funktionen  in 
bestimmte  Bahnen  gelenkt  wird,  und  die  Formulierung  der  formalen 
logischen  Grundprinzipien  ist  nur  eine  Selbstbesinnung  auf  die 
innere  formale  Gesetzmässigkeit  unseres  ganzen  Denkens,  steht 
also  auch  unter  dieser  letzteren  und  nimmt  an  dem  Evidenzgefühl 
teil,  mit   dem  sie  sich  überhaupt  aufdrängt.     Ganz  anders  bei  den 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  35 

geometrischen  Axiomen!  Hier  soll  eine  Gesetzmässigkeit  als  all- 
gemeingültige erkannt  werden,  die  sich  garnicht  in  unserm  Denken, 
sondern  vielmehr  nur  in  unserm  unbewussten  Lokalisieren  und 
Objektivieren  geltend  macht.  Und  materiale  Erkenntnisse  sollen 
gewonnen  werden,  die  sich  auf  ein  vom  Denken  verschiedenes, 
selbständiges  Objekt  beziehen. 

Handelte  es  sich,  wie  es  nach  A.  241  scheint,  nur  um  „an- 
geerbte Vorstellungsarten  in  demselben  Sinn,  wie  man  von  er- 
erbten, angeborenen  Instinkten  der  Tiere  oder  von  erblichen 
Krankheiten  spricht",  also  um  den  Zwang  so  und  so  zu  lokalisieren: 
dann  läge  keine  Schwierigkeit  vor.  Aber  was  gefordert  wird,  ist 
in  Wirklichkeit  etwas  ganz  Anderes:  nämlich  eine  apriorische  Er- 
kenntnis dieser  Vorstellungsarten,  nur  sie  könnte  die  Apodiktizität 
der  geometrischen  Axiome  und  das  Evidenzgefühl,  mit  dem  sie 
konzipiert  werden,  erklären  (falls  man  letzteres  überhaupt  auf 
diesem  Wege  zu  begreifen  sucht!).  Das  blosse  Vorhandensein 
der  Vorstellungsarten  würde  nur  die  tatsächliche  Geltung  der  geo- 
metrischen Axiome  für  die  ganze  Erfahrungswelt  erklären,  nicht 
unser  Wissen  um  diese  Geltung  noch  unsere  Überzeugung  von 
ihrer  Notwendigkeit.  Im  einen  Fall  käme  nur  die  unbewusst 
vor  sich  gehende  räumliche  Anordnung  unserer  Empfindungen  als 
Tatsache  in  Betracht,  im  andern  Notwendigkeiten  und  Un- 
möglichkeiten in  unserm  Anschauen,  also  in  unserer  bewussten 
Erkenntnis. 

Nach  Liebmann  liegt  „der  wesentliche,  von  empiristischer 
Seite  übersehene  Unterschied  zwischen  Erkenntnissen  a  priori 
und  a  posteriori  garnicht  in  der  verschiedenen  Art  ihrer  psycho- 
logischen Entstehung,  sondern  in  dem  grundverschiedenen  Modus 
der  Evidenz;  .  .  .  darin,  dass  eine  apriorische  Wahrheit,  z.  B. 
3X3  =  9,  wenn  einmal  erkannt,  dann  auch  mit  einem  Grade  von 
Gewissheit  anerkannt  wird,  der  die  Möglichkeit  einer  empirischen 
Widerlegung  schlechterdings  ausschliesst,  jede  empirische  Be- 
stätigung daher  durchaus  überflüssig  macht;  mit  einem  Grade  von 
Gewissheit  also,  den  eine  bloss  aposteriorische  Wahrheit  nie  und 
nimmer  erreichen  kann"  (A.  240).  Dies  „nie  und  nimmer"  ist 
eine  dogmatische  Behauptung  und  enthält  eine  petitio  principii: 
das  Problem  ist  ja  gerade,  ob  nicht  auch  aposteriorische  Wahr- 
heiten unter  gewissen  Umständen  einen  solchen  Grad  von  Gewissheit 
erlangen  können,  wie  sie  den  geometrischen  Axiomen  erfahrungs- 
gemäss  zukommt.     Den  Ausgangspunkt  darf  nicht  der  Begriff  des 

3* 


36  E.  Adickes, 

Apriori  und  eine  willkürliche  Definition  desselben  bilden,  vermöge 
deren  die  geometrischen  Axiome  ohne  Weiteres  unter  ihn  sub- 
sumiert werden  können  und  müssen,  sondern  vielmehr  das  Evidenz- 
gefühl, das  daraufhin  zu  untersuchen  ist,  ob  es  auf  ein  Apriori 
zurückweist  oder  nicht. 

Und  diese  Untersuchung  kann  nach  meiner  Ansicht  nur  so 
geführt  werden,  dass  man  zunächst  den  psychischen  Tatbestand 
genau  analysiert.  Man  findet  dann,  dass  das  Evidenzgefühl  eine 
doppelte  Überzeugung  einschliesst  resp.  gebiert:  einmal  die,  dass 
ich  in  diesem  Augenblick  absolut  nicht  anders  kann,  als  gerade 
so  oder  so  anschauen,  oder  unmöglich  dies  oder  das  in  der  An- 
schauung vollziehen  kann,  z.  B.  zwischen  diesen  zwei  Punkten 
mehr  als  eine  kürzeste  (gerade)  Linie  ziehen,  anderseits  die 
Überzeugung,  dass  dasselbe  Gefühl  der  absoluten  Notwendigkeit 
oder  Unmöglichkeit  sich  auch  bei  allen  andern  einstellen  werde, 
die  sich  in  meiner  Lage  befinden,  und  bei  mir  selbst  auch  in 
jedem  beliebigen  anderen  Raumteile,  sobald  ich  in  ihm  versuche 
oder  tue,  was  ich  soeben  versuchte  oder  tat.  Dort  handelt  es 
sich  um  die  Notwendigkeit  meines  Erlebens,  hier  um  seine  Allge- 
meingültigkeit. 

Kann  nun  der  Apriorismus  diese  beiden  Erscheinungen  oder 
wenigstens  eine  von  ihnen  befriedigender  erklären  als  der  Empi- 
rismus? oder  ist  er  gar  allein  im  Stande,  es  zu  tun?  Wäre 
das  eine  oder  andere  der  Fall,  dann  müsste  man  ihn  als  die 
wahrscheinlichere  Hypothese  (denn  das  bliebe  er  auch  dann  noch, 
da  es  sich  immer  nur  um  einen  Rückschluss  von  einer  vorliegen- 
den Wirkung  auf  ihre  erfahrungsmässig  nie  aufweisbare  Ursache 
handeln  würde)  der  empiristischen  Erklärung  vorziehen.  Aber  es 
wird  sich  zeigen,  dass  er  vor  dieser,  soweit  die  erste  Er- 
scheinung in  Frage  kommt,  nichts  voraus  hat,  während  er  der 
zweiten  gegenüber  völlig  versagt. 

Was  zunächst  die  Notwendigkeit  meines  Erlebens  angeht, 
so  wird  der  Apriorismus  sie  aus  der  ursprünglichen  Organi- 
sation meines  Geistes  (der  apriorischen  Anschauungsform)  ableiten, 
die  mit  demselben  Zwang,  mit  welchem  sie  mich  meine  Empfind- 
ungen hier  oder  dort  objektivieren  lässt,  mich  nötigt,  in  der  be- 
sonderen Weise  des  Euklidischen  Raumes  anzuschauen,  es  mir  da- 
gegen unmöglich  macht,  andere  Formen  der  Raumanschauung, 
sei  es  auch  nur  in  der  Phantasie,  zu  vollziehen,  z.  B.  zwischen 
zwei  Punkten  mehr  als  eine  kürzeste  (gerade)  Linie  zu  ziehen. 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  37 

Aber  auch  der  Empirismus  würde  in  der  Erklärung  dieses 
Notwendigkeitsgefühls  keine  Schwierigkeit  finden.  Freilich  würde 
er  sich  wohl  zu  der  metaphysischen  Hypothese  von  der  trans- 
scendentalen  Realität  des  Eukhdiscben  Raumes  gedrängt  sehen  ^)  und 


1)  An  sich  giebt  es  allerdings  noch  eine  dritte  Möglichkeit,  die  für 
mich  persönlich  jedoch  wenig  Wahrscheinlichkeit  hat:  eine  Verbindung 
nämlich  von  transscendentaler  Idealität  des  Euklidischen  Raumes  und 
empiristischer  Erklärung  der  Anschauungsnotwendigkeit.  In  der  Annahme 
zunächst,  dass  wir,  auch  wenn  das  Absolut-Reale  völlig  raumlos  wäre, 
doch  die  Eigenschaften  des  empirisch  gegebenen  Raumes  aus  der  Er- 
fahrung, und  nicht  aus  apriorischen  Quellen  kennen  lernten,  liegt  keinerlei 
Schwierigkeit.  Denn  im  Absolut-Realen  müsste  doch  auch  dann  irgend 
eine  (uns  zwar  ganz  unbekannte  und  unerkennbare)  Ordnung  oder  Gesetz- 
mässigkeit angenommen  werden,  die  den  Grund  dafür  bildete,  dass  die 
Dinge  der  empirischen  Welt  uns  gerade  hier  oder  dort,  in  dieser  Grösse 
und  Gestalt,  in  dieser  Lage  zu  einander,  ruhend  oder  bewegt,  erscheinen 
(vgl.  A.  68).  Werden  aber  die  einzelnen  räumlichen  Verhältnisse  der 
Körperwelt  auf  das  Absolut-Reale  in  dem  Sinne  zurückgeführt,  dass  ihnen 
dort  irgend  eine  Gesetzmässigkeit  entsprechen  muss,  so  ist  nicht  abzusehen, 
weshalb  dasselbe  nicht  auch  mit  der  Räumlichkeit  überhaupt,  mit  dem 
Räumlich-Sein  im  Sinne  der  Euklidischen  Geometrie  geschehen  sollte.  So 
wenig  wir  begreifen  könnten,  weshalb  das  an  sich  Raum-  (und  eventuell 
auch  Zeit-)  lose  uns  in  Raum  und  Zeit  distrahiert  erscheint,  warum  uns 
dieses  hier,  jenes  dort,  dieses  früher,  jenes  später  gegeben  ist,  so  wenig 
würden  wir  verstehen,  warum  wir  gerade  in  der  Form  des  Euklidischen 
Raumes  anschauen  müssen.  Aber  für  Beides  würde,  wenn  vom  Empiris- 
mus als  a  priori  nur  der  Zwang,  überhaupt  räumlich  anzuschauen,  nicht 
dagegen  die  ganze  Euklidische  Raumanschauung  mit  aUen  ihren  Gesetzen 
zugegeben  wird  (vgl.  hierüber  S.  43—4),  im  Absolut-Realen  die  entsprechende 
LTrsache  anzunehmen  sein.  Und  wie  man  Vorgänge  und  Dinge  im  Raum 
nur  erfahrungsmässig  kennen  lernen  kann,  wie  weder  über  Farben  noch 
über  Töne  (resp.  die  ihnen  zu  Grunde  liegenden  Schwingungen)  noch 
über  Gravitation  noch  über  irgend  ein  Naturgesetz  irgend  etwas  a  priori 
ausgemacht  werden  kann,  so  würde  man  auch  die  Natur  und  Gesetze  des 
Raumes  erfahrungsmässig  erforschen  müssen.  Was  aber  die  Anschauungs- 
not wendigkeit  betrifft,  so  würde  die  L'nmöglichkeit,  in  dem  Erfahrungs- 
raum selbst  (der  uns  ja  samt  seinen  Gesetzen  durch  die  unbekannte  Ur- 
sache im  Absolut-Realen  aufgezwungen  wäre)  Anschauungen  zu  vollziehen, 
die  den  Euklidischen  Axiomen  entgegen  sind,  keinen  Schwierigkeiten  der 
Erklärung  unterliegen.  Anders  wäre  es  allerdings  mit  der  Unmöglichkeit, 
auch  nur  mit  der  Phantasie  andere  Raumformen  (als  die  Euklidische), 
mit  andern  Axiomen  wirklich  anschaulich  (und  nicht  nur  als  abstrakte, 
logisch  denkbare  Möglichkeiten)  vorzustellen.  Hier  müsste  man  seine  Zu- 
flucht zu  der  Hilfshypothese  nehmen:  das,  was  von  den  Sinnesempfind- 
ungen gilt,  dass  wir  nämlich  nicht  imstande  sind,  uns  neue  Sinnesquali- 
täten  zu   erdenken   und  sie  mit  unserer  Phantasie  konkret-sinnlich  vorzu- 


38  E.  Adickes, 

demgemäss   der  Meinung   sein,    dass    unsere  Erfahrungen  und  Er- 
lebnisse  mit   Bezug    auf   unseren  Bewusstseinsraum    uns  zugleich 
auch    einen  Einblick    in    die   räumlichen  Verhältnisse  und  Gesetze 
des  Absolut-Realen    verschaffen.     Dann    würde    die  Anschauungs- 
notwendigkeit   oder    -Unmöglichkeit,    die   ich   in  mir  erlebe,    keine 
subjektiv  begründete  sein,    sondern    wäre  auf  Notwendigkeiten  im 
Absolut-Realen  zurückzuführen.     Es  darf  nicbt  etwa  der  Einwand 
erhoben    werden,    wir    kennten    dies  Absolut-Reale   gar  nicht  und 
könnten  nicht  einmal  über  seine  Beschaffenheit,   geschweige  denn 
über  Notwendigkeiten  in  ihm  etwas  sagen.     Dasselbe  gilt  ja  auch 
von    unserer   geistigen    Organisation:    auch   sie   ist  uns  nicht  ge- 
geben, auch  über  sie  können  wir  nichts  wissen  im  strengen  Sinne 
des  Worts.     Wir   befinden    uns    eben    ganz   im  Gebiet  der  Hypo- 
these,  unsichere   Rückschlüsse  von  gegebenen  Wirkungen  auf  un- 
bekannte  Ursachen    müssen    uns   leiten.     Und  wie  bei  der  Frage 
nach   der  Möglichkeit   oder   Unmöglichkeit   von  mehr  als  drei  Di- 
mensionen   (oben  S.  25)   muss   ich    auch   hier   wieder  sagen:    ich 
sehe  nichts,  was  dagegen  spräche,  dass  die  von  mir  erlebten  An- 
schauungsnotwendigkeiteu  eine  durchaus  objektive  Grundlage  haben, 
dass   ich   also    nur   darum  zwischen  zwei  Punkten  nicht  mehr  als 
eine  kürzeste  (gerade)  Linie   ziehen  kann,    weil   es  der  Natur  der 
Sache  nach,    wie    nun  einmal  die  Eigentümlichkeiten  und  Gesetze 
des   absolut-realen  Raumes    und    überhaupt   alles   Räumlich-Seins 
sind,  objektiv  unmöglich  ist.     Ich  kann  diese  objektive  Unmöglich- 
keit als  solche  nie  erkennen,  gewiss  nicht!     Aber  es  ist  durchaus 
denkbar,   dass   nur   diese    objektive  Unmöglichkeit   es  mir  sub- 
jektiv  unmöglich    macht,    die   betreffende    Anschauung   zu   voll- 
ziehen,   und    es    steht  demgemäss  auch  nichts  im  Wege,   von  der 
subjektiven  Unmöglichkeit  meines  Erlebens  aus  auf  jene  objektive 
Unmöglichkeit   als    die    eigentliche   Ursache    zu  schliessen.     Ähn- 


stellen, sei  auch  auf  unser  Anschauungsvermögen  anzuwenden;  auch  bei 
ihm  seien  wir  an  die  Erfahrung,  an  ihre  Formen  und  Gesetze  gebunden 
und  könnten  nur  abstrakt-denkend,  nicht  aber  anschaulich-vorstellend  über 
sie  hinauskommen  (vgl.  oben  S.  23-4).  —  Dieser  letzteren  Hypothese  werden 
sich  auch  die  Empiristen  bedienen  müssen,  die  zwar  unserem  Erfahrungs- 
raum transscendentale  Realität  zuschreiben,  die  es  aber  für  wahrschein- 
lich halten,  dass  wir  nicht  in  einem  ebenen  Raum  leben,  sondern  in  einem 
solchen,  dessen  Krümmungsmaass  von  Null  verschieden  ist,  jedoch  so  wenig, 
dass  wir  diese  Abweichung  nicht  wahrzunehmen  vermögen  und  deshalb 
stets  nur  solche  Erfahrungen  machen  können,  die  mit  den  Formen  und 
Gesetzen  des  Euklidischen^^Raumes^in^Einklang  sind. 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  39 

liehen  Anschauungsunmögliclikeiten  wie  beim  Axiom  von  der 
geraden  Linie  begegnen  wir  ja  täglich  und  stündlich :  so  erscheint 
mir  unmöglich,  dass  der  meinem  Ofen  gegenüberstehende  ßücher- 
tisch  in  dessen  Öffnung  hineingehe,  dass  der  Deckel  einer  kleinereu 
Kiste  die  grössere  schliesse  etc.  Sollen  wir  auch  da  überall 
zur  Erklärung  auf  die  angebliche  apriorische  Raumanschauung 
zurückgreifen?  Liegt  nicht  die  Annahme  viel  näher,  dass  die 
objektiv-realen  Verhältnisse  selbst  es  sind,  die  mir  jene  Unmög- 
lichkeit aufzwingen  und  in  ihr  zui'  Geltung  kommen? 

Soweit  wir  bis  jetzt  sehen,  scheinen  also  die  beiden  rivali- 
sierenden Theorien  einander  ganz  gleich  zu  stehen:  beides  sind 
mögliche  Hj-pothesen,  keine  hat  etwas  vor  der  andern  voraus. 

Und  was  das  Zweite  betrifft:  die  AUgeni  eingültigkeit 
meines  Erlebens,  d.  i.  meine  feste  Überzeugung,  dass  ein  Fall  für 
alle  gilt,  dass,  was  ich  eben  jetzt  erlebe,  alle  in  meiner  Lage 
erleben  würden,  und  ich  wiederum  unter  denselben  Umständen 
eben  dasselbe  auch  in  jedem  andern  Raumteil,  so  versagt  hier 
meiner  Ansicht  nach  der  Apriorismus  völlig.  Ich  begreife 
schlechterdings  nicht,  wie  die  etwaige  Tatsache,  dass  unser 
Raum  eine  apriorische  Anschauungsform  ist,  jenes  Allgemeingültig- 
keitsgefühl  sollte  hervorzaubern  können.  Denn  nur  die  Tatsache 
kann  selbstverständlich  in  Betracht  kommen,  nicht  die  Erkenntnis 
der  Tatsache.  Eine  solche  liegt  ja  bei  den  allermeisten  der  Tausende 
und  Abertausende,  welche  die  geometrischen  Axiome  mit  jenem 
Allgemeingültigkeitsgefühl  vollziehen,  gar  nicht  vor.  Und  ausserdem ! 
Wie  sollte  eine  blosse  Hypothese  (und  das  wäre  jene  Erkenntnis  ja!) 
ein  derartiges  Gefühl  hervorbringen  können!  Also  nur  die  Tat- 
sache der  Apriorität  selbst,  rein  als  solche,  könnte  sich  geltend 
machen.  Aber  wie?  Apriori  würden  doch  nur  Funktionen  sein: 
der  Zwang,  gerade  im  Euklidischen  Raumschema  zu  lokalisieren 
oder  zu  objektivieren,  ihm  gemäss  anzuschauen.  Aber  dieser  Zwang 
kann  sich  doch  immer  nur  in  einer  bestimmten  Situation  durch- 
setzen und  da  dann  nicht  anders  als  in  dem  Notwendigkeitsgefühl, 
von  dem  soeben  gesprochen  wurde,  zum  Bewusstsein  kommen.  Aber 
damit  wäre  doch  nur  für  den  gerade  vorliegenden  Fall  etwas 
bestimmt,  nicht  auch  für  alle  die  unendlich  vielen  andern  gleich- 
artigen Fälle.  Sowie  ich  mich  in  einen  von  ihnen  wirklich  hinein- 
versetze, wäre  natürlich  sofort  auch  das  Notwendigkeitsgefühl 
wieder  da,  aber  auch  wieder  in  seiner  Beschränktheit  auf  nur 
diesen    einen    Fall.      Aus    der  Apriorität   könnte   unmöglich   eine 


40  E.  Adickes, 

gleichsam  abstrakte,  allgemeine  Anschauungsnotwendigkeit  hervor- 
wachsen :  die  gibt  es  nicht,  eine  abstrakte  Notwendigkeit  kann  nur 
begrifflicher  Art  sein.  Dass  aber  die  Apriorität  der  Raumform 
unmittelbar  aus  sich  heraus  ein  Bewusstsein  von  der  Allgemein- 
gültigkeit der  Axiome  oder  ein  Bewusstsein  von  den  ihr  eigenen 
Gesetzmässigkeiten  hervorbringe:  das  ist  ein,  für  den  Empiristen 
wenigstens,  unvollziehbarer  Gedanke.  Denn  es  hiesse  nichts  anderes, 
als  dass  jene  Apriorität,  d.  h.  das  blosse  Vorhandensein  eines 
Systems  apriorischer  Gesetzmässigkeiten  in  unserm  Objektivieren 
und  Anschauen,  sicli  plötzlich  in  ein  klares  Wissen  um  diese 
Gesetzmässigkeiten  verwandle.  Und  das  wäre  ein  Wunder  optima 
forma! 

Der  Apriorismus  bleibt  also  dem  Allgemeingültigkeitsgefühl 
(in  der  oben  umschriebenen  Bedeutung)  gegenüber  jede  Erklärung 
schuldig.  Man  muss  sich  daher  nach  anderen  Ursachen  umsehen, 
um  die  Tatsache  begreiflich  zu  machen,  dass  wir  bei  allen,  auch 
den  allgemeinsten  Naturgesetzen,  das  Gefühl  des  Auch-anders-sein- 
könnens  haben,  dass  wir  zu  ihnen  nur  auf  dem  Wege  der  Induk- 
tion gelangen  und  erst  eine  vielmalige  tatsächliche  Bestätigung 
fordern,  bevor  wir  sie  anerkennen,  und  auch  dann  nur  mit  dem 
Vorbehalt,  uns  durch  neue  Erfahrungen  eventuell  anders  belehren 
zu  lassen,  während  bei  den  geometrischen  Axiomen  sofort  das 
Allgemeingültigkeitsgefühl  auftritt  und  uns,  ohne  auch  nur  von 
ferne  den  Gedanken  an  die  Notwendigkeit  einer  Bewahrheitung 
durch  Induktion  aufkommen  zu  lassen,  zwingt,  den  ersten  besten 
Fall  als  typisch  und  entscheidend  für  alle  Fälle  gelten  zu  lassen. 
(Ich  wähle  diese  Formulierung,  um  den  Vertretern  des  Apriorismus 
möglichst  entgegenzukommen  und  ihnen  möglichst  viel  zu  kon- 
zedieren. Ich  sehe  also  ganz  davon  ab,  dass  hervorragende  Mathe- 
matiker die  Axiome  faktisch  durch  Induktion  erweisen  wollen  — 
vgl.  oben  S.  32  —  und  dass  wirklich  Versuche,  wenn  auch  ver- 
gebliche, gemacht  worden  sind,  durch  Messungen  das  Euklidische 
Parallelenaxiom  zu  erschüttern  und  nachzuweisen,  dass  Dreiecke 
von  sehr  grossem  Flächeninhalt  eine  Winkelsumme  von  weniger 
oder  mehr  als  2  R.  haben,  wir  also  in  einem  pseudosphärischen 
oder  sphärischen  Raum  leben.) 

Woher  nun  dieser  unbestreitbare  grosse  Unterschied  zwischen 
geometrischen  Axiomen  und  Naturgesetzen?  Ich  erkläre  ihn, 
empiristisch,  daraus,  dass  es  sich  bei  letzteren  stets  um  kausale 
Beziehungen  handelt,  die  in  der  Erfahrung  fast  nie  für  sich,  klar 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  41 

abgetrennt  von  allem  Andern,  gegeben  werden,  sondern  nur  in 
einem  verwirrenden  Vielerlei  grosser  zeitlich  auf  einander  folgender 
Komplexe.  Hier  ist  es  daher  immer  fraglich,  ob  wir  das  post  hoc 
richtig  als  ein  propter  hoc  deuten,  ob  wir  mit  dieser  Deutung 
wirklich  die  vorausgesetzten  inneren  Beziehungen  zwischen  den 
Dingen  und  Vorgängen  erfassen,  ob  wir  alle  Gelegenheitsursachen 
und  mitwirkenden  Faktoren  mit  dem  ihnen  zukommenden  Werte 
in  Rechnung  zu  setzen  und  anderseits  die  eigentliche  Ursache 
und  Wirkung  aus  den  verwickelten  Komplexen  reinlich  heraus- 
zulösen vermögen.  Dabei  sind  tausende  von  Irrtümern  möglich,  neue 
Erfahrungen,  genauere  Experimente  können  uns  eines  Besseren 
belehren,  und  darum  kann  in  den  empirischen  Wissenschaften 
nirgends  dies  Evidenzgefühl,  dies  Gefühl  des.Gar-nicht-anders-sein- 
könnens  aufkommen.  Ganz  anders  bei  den  geometrischen  Axiomen : 
da  sind  die  denkbar  einfachsten  Verhältnisse,  keine  Kausalverbindung, 
kein  Nacheinander  kommt  in  Frage,  keine  Vielheit  der  Beziehungen, 
aus  der  die  entscheidenden  erst  herauspräpariert  werden  müssten, 
auch  keinerlei  qualitative  Unterschiede,  sondern  nur  rein  quan- 
titative, einfachste,  auf  das  leichteste  übersehbare  Verhältnisse  des 
räumlichen  Nebeneinander. 

Kein  Wunder,  wenn  da  ein  Fall  für  alle  gilt!  Es  ist  gar  kein 
Grund  einzusehen,  weshalb  das,  was  man  in  und  an  dem  einen  Raum- 
teil erlebt,  in  und  an  dem  andern  anders  sein  sollte!  Raum  ist  Raum, 
überall,  soweit  man  sieht,  von  denselben  Eigenschaften.  Und  nur 
der  Raum  kommt  in  Betracht,  keinerlei  andere  Verhältnisse,  die 
das  Resultat  beeinflussen,  es  hier  so,  dort  anders  gestalten  könnten. 
Unter  solchen  Umständen  ist  eigentlich  das  bei  den  geometrischen 
Axiomen  auf  Grund  des  Einzelfalls  sich  einstellende  Allgemein- 
gültigkeitsgefühl  viel  weniger  seltsam,  als  sein  Nicht-eintreten  sein 
würde. 

Diese  Ableitung  des  AUgemeingültigkeitsgefühls  ist  keine 
psychologische,  sondern  eine  erkeuntnistheoretische,  „transscen- 
dentale".  Nicht  um  seine  Entstehung  im  einzelnen  Individuum 
handelt  es  sich,  sondern  um  die  objektive  Grundlage,  die  logisch- 
sachliche Voraussetzung,  von  der  aus  resp.  unter  der  es  allein 
erwachsen  kann.  Und  diese  Grundlage  oder  Voraussetzung  ist  die 
überaus  grosse  Einfachheit,  Übersichtlichkeit,  Gleichmässigkeit  der 
in  Frage  kommenden  Verhältnisse,  die  den  Gedanken  an  ein  Anders- 
sein-köunen  garnicht  aufkommen  lassen. 


42  E.  Adickes, 

Die  eigentliche  Frage  bei  dem  Allgemeingültigkeitsgefühl  ist 
Dicht:   kommen   dem   Raum   überall   dieselben  Eigenschaften   zu?, 
sondern:  erkennen  wir  im  Einzelfall  wirklich  die  Natur,  die  Eigen- 
schaften   und   Gesetze    des    überall    sich    gleichbleibenden  Raumes 
und  bringen  wir  sie  in  den  Axiomen  auf  einen  richtigen  Ausdruck? 
Was  das  Erste   betrifft,  so  würde  allerdings  durch  die  Apriorität 
der  Raumanschauung   ein   Wechsel    in   ihren   Eigenschaften    ohne 
Weiteres  völlig  ausgeschlossen  sein.     Hätten  wir  eine  vollkommen 
sichere  Erkenntnis   von   ihnen,   so   könnten   wir   mit  Bestimmtheit 
sagen,   dass   auch   beim  Sirius   dieselbe  Art   der  Räumlichkeit  mit 
denselben  von    uns  erkannten  Eigenschaften  vorhanden  sein  muss. 
Wäre  dagegen  unser  Bewusstseinsraum  nur  das  Abbild  eines  absolut- 
realen  Raumes    und   richtete   sich   nach   ihm,   so   wäre   zwar   die 
abstrakte   Möglichkeit    zuzugeben,    dass   beim   Sirius    ein   pseudo- 
sphärischer Raum  beginne,  oder  dass  wir  überhaupt  in  einem  sphä- 
rischen oder  pseudosphärischen  Raum  von  so  kleinem  Krümmungs- 
maass  leben,  dass   wir  das  Vorhandensein   eines   solchen   in  allen 
uns  und  unserer  Berechnung  jemals  zugänglichen  endlichen  Räumen 
niemals  bemerken  könnten   und  infolgedessen  meinen  müssten,  im 
Euklidischen  Raum  zu  sein ;  aber  für  meine  Person  bin  ich  geneigt, 
diese  Möglichkeiten  als  verschwindend  kleine  zu  bezeichnen.     Und 
was  für  die  vorliegende  Frage  das  Wichtigste  ist:  das  Kind  und 
der  weder  mathematisch  noch  erkenntnistheoretisch  geschulte  Durch- 
schnittsgebildete  rechnen   auf   keinen  Fall   mit  ihnen.     Vollziehen 
sie  die  geometrischen  Axiome  mit  jenem  Allgemeingültigkeitsgefühl, 
so   ist   die   überall   gleichmässige  Beschaffenheit   des  Raumes  eine 
selbstverständliche  Voraussetzung  für   sie,  die  zu  ihrer  Erklärung 
nicht   der  Theorie   der  Apriorität   bedarf,    sondern  sich  auf  Grund 
der  überall   gleichartigen  Erfahrung   naturgemäss   mit  Macht   auf- 
drängt. 

Was  das  Zweite  angeht,  so  kann  die  Erkenntnis  der  Eigen- 
schaften und  Gesetze  des  als  bleibend  gleichmässig  vorausgesetzten 
Raumes  immer  nur  der  Erfahrung  entstammen,  sei  es  der  äusseren, 
sei  es  (wenn  wir  die  Axiome  nur  in  der  Phantasie  vollziehen)  der 
inneren.  In  einer  bestimmten  Erfahrung  an  einem  Einzelfall 
erleben  wir  die  Anschauungsnotwendigkeit  oder  -Unmöglichkeit,  auf 
Grund  ihrer  formulieren  wir  (gleichsam  als  den  materiellen  Gehalt 
dieses  Erlebnisses)  das  Axiom.  Und  die  grosse  Frage  ist  nun: 
enthält  dies  Axiom  eine  richtige  Erkenntnis  der  Natur  des  Raumes? 
und   gilt    es   deshalb,    obwohl   nur  an  einem  Einzelfall  gewonnen, 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  43 

(loch  auch  von  allen  andern  Raumteilen  (in  denen  wir  also  etwa 
versuchen,  zv\ischen  zwei  Geraden  eine  kürzeste  Linie  zu  ziehen)? 
Das  Allgemeingültigkeitsgefühl  zwingt  uns,  diese  Fragen  be- 
dingungslos mit  einem  Ja  zu  beantworten.  Und  den  objektiven 
Grund,  weshalb  dieser  Zwang  in  uns  wirkt,  habe  ich  auf  S.  40—41 
aufzuzeigen  versucht. 

Soweit  unsere  bisherigen  Betrachtungen  reichen,  stehen  also 
Apriorismus  und  Empirismus  einander  hinsichtlich  des  Notwendig- 
keitsgefühls ganz  gleich,  bei  Erklärung  des  AUgemeingültigkeits- 
gefühls  dagegen  versagt  der  Apriorismus  völlig  und  muss  dem 
Empirismus  das  Feld  räumen. 

Diesen  Erfolg  wird  nun  aber  der  Empirismus  auch  beim 
ersten  Problem,  wo  die  Wagschalen  objektiv  betrachtet  gleich- 
stehen, geltend  machen  und  wird  meinen,  dadurch  die  seine  zum 
Sinken  bringen  zu  können. 

Nach  der  auf  S.  36  gegebenen  Darstellung  der  aprioristischen 
Theorie  würde  zwar  nicht  das  einzelne  Axiom  unmittelbar  ange- 
boren sein  (ein  für  den  Empiristen  ganz  unerträglicher  Gedanke!); 
a  priori  wäre  vielmehr  nur  die  Anschauungsform  des  Euklidischen 
Raumes,  d.  h.  der  Zwang,  gerade  im  Euklidischen  Raum  zu  loka- 
lisieren und  zu  objektivieren,  und  die  Notwendigkeit,  stets  seinen 
Verhältnissen  gemäss  anzuschauen.  Aber  auch  dies  letztere  wird 
für  den  Empiristen  schon  zu  weit  gehen.  Er  wird  suchen,  auch 
hier  mit  einem Mindestmaass  vonApriori  auszukommen  und  möglichst 
viel  aus  der  Erfahrung  abzuleiten. 

Dies  Mindestmaass  scheint  mir  in  der  Funktion  oder  dem 
Zwange  zu  bestehen,  überhaupt  räumlich  anzuschauen,  d.h.  unsere 
Empfindungen  als  räumlich  bestimmte  zu  erleben.  Das  kann  nicht 
aus  der  Erfahrung  stammen,  denn  Empfindungen  (die  Bausteine 
unserer  ganzen  Erfahrungswelt)  sind  nichts  als  Bewusstseinstat- 
sachen,  Bewusstsein  als  solches  aber  ist  nicht  räumlich.  Jede 
Erfahrung  von  einem  Ausser-uns,  jede  Beziehung  auf  ein  Ausser- 
uns  wäre  also  unoiöglich,  wenn  nicht  jene  Raumfunktion,  jener 
Zwang  ursprünglich  mit  unserer  geistigen  Organisation  gegeben 
wäre.  Fehlte  er  bei  irgend  einem  Menschen,  so  würde  es  für  ihn 
nur  eine  Innenwelt,  aber  keine  Aussenwelt  geben,  weil  ihm  jede 
Möglichkeit  abginge,  sich  ein  Aussen  auch  nur  vorzustellen.  Auch 
sein  eigner  Körper  wäre  für  ihn  nicht  vorhanden,  sondern  nur 
Änderungen  seines  inneren  Zustandes,  in  deren  Verlauf  er  vielleicht 
Gesetzmässigkeiten  entdecken  würde,  die  ihm  aber  in  keiner  Weise 


44  E.  Adickes, 

Anlass  werden  könnten,  von  ihnen  als  Wirkungen  auf  äussere 
Dinge  oder  Vorgänge  als  einwirkende  Ursachen  zurückzuschliessen. 
Ihm  wäre  zu  Sinn,  wie  es  etwa  einer  Qualle  sein  mag,  die  vom 
Meer  an  eine  Brücke  geworfen  wird:  sie  mag  intensive  Schmerz- 
gefühle haben,  auf  die  hin  gewisse  Bewegungen  ihres  Organismus 
erfolgen,  aber  von  Brücke  und  Meereswogen  weiss  und  erfährt 
sie  nichts. 

Also  der  Zwang,  bestimmte  Empfindungen  aus  unserm  Be- 
wusstsein  gleichsam  hinauszuversetzen ,  ihnen  einen  räumlichen 
Charakter  zu  verleihen,  sie  „ausser  uns",  sei  es  als  unsern  Körper, 
sei  es  als  ihm  selbständig  gegenüberstehende  Objekte,  anzuschauen, 
muss  etwas  Apriorisches  sein.  Aber  auch  nicht  mehr!  Die  Eigen- 
schaften und  Gesetze  dies  Ausser-uns,  der  Räumlichkeit,  lernen 
wir  erst  durch  Erfahrung  kennen.  Erst  in  und  mit  der  Lokalisation 
und  Verschmelzung  unserer  Empfindungen,  vor  allem  der  Gesichts- 
und Tasteindrücke  (auch  der  Innern),  sowie  mannigfacher  Be- 
wegungsempfindungen, entstehen  für  uns  in  dem  „Ausser-uns"  die 
einzelnen  Verhältnisse  räumlichen  Nebeneinanderseins.  Und  noch 
viel  später  kommen  wir,  durch  Abstraktion  von  allen  Qualitäts- 
unterschieden des  Raumerfüllenden,  ja!  sogar  von  seiner  Existenz, 
zu  der  rein  formalen  Raumanschauung,  der  blossen  Raumform. 
So  gut  wie  die  Dinge  und  Vorgänge  im  Raum,  ist  also  auch  dieser 
reine,  Euklidische  Raum  selbst  für  uns  ein  Erfahrungsobjekt, 
dessen  Natur  und  Gesetze  die  Geometrie  erfahrungsmässig  zu  er- 
forschen hat,  wie  die  Naturwissenschaft  seinen  mannigfaltigen 
Inhalt.  Nur  mit  dem  grossen  Unterschied,  dass  letztere  induktiv 
vorgehen  muss,  während  der  Geometer  sich  an  den  einzelnen  Fall 
und  die  in  ihm  hervortretenden  Anschauungsnotwendigkeiten  hält 
und,  wegen  der  in  Betracht  kommenden  ganz  eigenartigen  Ver- 
hältnisse, garnicht  anders  kam,  als  die  in  ihm  gewonnene  Erkenntnis 
ohne  Weiteres  verallgemeinern. 

Diese  empiristische  Auffassung  nötigt  zu  keiner  bestimmten 
Annahme  betreffend  das  An-sich  des  Raumes.  Sie  ist,  wie  ich  in 
der  Anmerkung  auf  S.  37 — 8  nachwies,  auch  mit  seiner  transscenden- 
talen  Idealität  (sogar  in  extremster  Fassung!)  verträglich.  Ihre 
naturgemässe  Ergänzung  scheint  mir  persönlich  jedoch  die 
metaphysische  Hypothese  von  der  transscendentalen  Realität  des 
Raumes  zu  sein,  der  Glaube  also:  dass  mit  unserer  geistigen  Or- 
ganisation die  Fähigkeit  verbunden  ist,  die  räumliche  Ordnung  des 
Absolut-Realen  zu  rekonstruieren,  indem  wir  unsere  Empfindungen 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  45 

an  die  Ursprung-sorte  der  sie  veranlassenden  Reize  versetzen,  dass 
ferner  die  Euklidische  Geometrie  (und  Stereometrie)  auch  für  die 
Verhältnisse  des  Absolut-Realen  Gültig^keit  hat,  und  dass  demge- 
mäss  die  beim  Vollzug  der  Axiome  erlebten  Anschauungsnotwendig- 
keiten und  -Unmöglichkeiten  uns  einen  Einblick  in  das  ovvoog  6v 
gewähren. 


Auch  mit  Bezug  auf  die  Zeit  wird  der  Empirismus  suchen, 
mit  einem  Mindestmaass  von  Apriorität  auszukommen,  und  sie  da- 
her lieber  nicht  als  apriorische  Form  der  Anschauung  oder  gar 
als  apriorische  Anschauung  bezeichnen,  wohl  aber  von  einer  in 
unserer  geistigen  Organisation  liegenden  Möglichkeit  und  Not- 
wendigkeit zeitlich  anzuschauen  reden.  Die  logisch-sachliche  Vor- 
aussetzung dafür  ist  psychische  Veränderungsfähigkeit  und  Iden- 
tität des  Selbstbewusstseins.  Mit  Recht  stellt  Liebmann  deshalb 
fest,  dass  ohne  „das  mit  sich  identisch  bleibende  und  zugleich 
des  Wechsels  seiner  Zustände  sich  bewusste  Ich"  „keine  Zeit  und 
keine  zeitliche  Succession  empirisch  [d.  h.  für  das  erfahrende 
Individuum]  vorhanden  sein  würde*'  (G.  II,  14).  Und  wie  diese 
beharrliche  Identität  des  Ich  „die  eigentliche,  letzte  Fundamental- 
bedingung" für  jeden  von  uns  wahrzunehmenden  Zeitverlauf  und 
zeitlichen  Vorgang  ist,  so  auch  für  die  ganze,  geistige  wie  körper- 
liche, Erfahrungswelt.  Für  einen  Stein  giebt  es  weder  eine  Zeit 
noch  eine  Welt,  ebensowenig  aber  für  einen  Menschen  von  abso- 
luter Vergesslichkeit,  ,.der  im  nächsten  Augenblick  immer  Nichts 
mehr  von  Dem  wüsste,  was  er  im  vorangegangenen  Moment  wahr- 
genommen hat",  oder  für  ein  Subjekt,  das  „sich,  mit  dem  Wechsel 
der  Wahrnehmungen  selbst  wechselnd,  in  immer  ein  anderes  Sub- 
jekt umwandelte,  also  mit  den  Wahrnehmungen  selbst  immer  im 
unaufhörlichen  Entstehen  und  Verschwinden  begriffen  wäre"  (G.  II, 
14-5,  28,  35). 


VIII. 

Noch  ein  kurzes  Wort  über  die  „theoretischen  Inter- 
polationsmaximen der  Erfahrungswissenschaft",  die  Lieb- 
mann 1884  in  seiner  „Klimax  der  Theorien"  zuerst  formulierte. 
Er  geisselte  da  mit  verdientem,  scharfem  Spott  die  seltsame  Ver- 
irrung  derer,  die,  unter  Ausscheidung  aller  subjektiven  Verstandes- 


46  E.  Adickes, 

zutaten,  sich  ganz  auf  das  Gegebene,  auf  die  reine  Erfahrung 
zurückziehen  wollen  und  nicht  einsehen,  dass  dann  „die  Erfahrung 
in  ein  ungeordnetes,  zusammenhangsloses  Aggregat  völlig  diskonti- 
nuierlicher Wahrnehmungsfragmente  auseinander  fallen,  und  das 
Resultat  nicht  sowohl  eine  reine  Erfahrung,  als  gar  keine  Er- 
fahrung" sein  würde.  Denn  alles,  was  nicht  gerade  im  Augen- 
blick an  bestimmten  Raumstellen  direkt  wahrgenommen  wird  oder 
sonst  unser  Bewusstsein  unmittelbar  erfüllt,  müsste  eliminiert 
werden.  Demgegenüber  weist  er  „ein  System  über  jeden  möglichen 
und  wirklichen  Beobachtungsinhalt  hinausreichender,  mithin  nicht- 
empirischer Prämissen"  nach,  „durch  deren  Anwendung  auf  die 
Wahrnehmungsdata  erst  dasjenige  zu  Stande  gebracht  wird,  was 
im  wissenschaftlichen,  teilweise  auch  im  alltäglichen  Sinne  Er- 
fahrung heisst.  Diese  Prämissen  dienen  zur  Herstellung  des  Zu- 
sammenhangs zwischen  Wahrnehmungsdatis,  die  ihrer  Natur  nach 
isoliert  sind".  Darum  nennt  Liebmann  sie  im  Anschluss  an  den 
mathematischen  Sprachgebrauch  Interpolationsmaximen  (Kl.  76; 
vgl..,  78—81,  86,  94—5). 

Es  sind  ihrer  vier.  1.  Das  Prinzip  der  realen  Identität: 
„Wenn  das  vorstellende  Subjekt  in  einem  ersten  Zeitpunkt  das 
Phänomen  A,  in  einem  zweiten  Zeitpunkt  das  mit  jenem  A  seinen 
sämtlichen  Merkmalen  nach  vollkommen  übereinstimmende  Phä- 
nomen A^  wahrnimmt,  so  sind  A  und  A^  realiter  identisch  (numero 
idem);  sie  sind  nicht  zwei  verschiedene  Dinge,  sondern  nur  zwei 
zeitlich  getrennte  Perzeptionen  eines  einzigen  Dinges".  2.  Das 
Prinzip  der  Kontinuität  der  Existenz:  „Die  Existenz  eines  Realen 
ist  zeitlich  ununterbrochen  und  lückenlos.  Nur  unsere  Wahr- 
nehmung des  Realen  intermittiert ;  die  Existenz  des  Realen  inter- 
mittiert  nicht."  3.  Das  Prinzip  der  Kausalität:  „Alles  natürliche 
Geschehen  wird  durchgängig  von  konstanten  Gesetzen  beherrscht; 
das  heisst  überall  im  Räume  und  zu  jeder  Zeit  erfolgt  beim  Ein- 
tritt gleicher  Ursachen  die  gleiche  Wirkung."  4.  Das  Prinzip  der 
Kontinuität  des  Geschehens:  „Jeder  wirkliche  Vorgang,  jede  Be- 
wegung oder  qualitative  Veränderung,  jeder  Naturprozess  verläuft 
lückenlos,  so  dass  er  die  Zeitstrecke  seines  Geschehens  kontinuier- 
lich ausfüllt,  nicht  aber  durch  inhaltsleere  Zeitintervalle  in  ein 
Diskretum  zerfällt  wird,  also  in  einem  Moment  plötzlich  aufhört, 
um  in  einem  anderen,  davon  getrennten  Moment  ebenso  plötzlich 
von  Neuem  anzuheben"  (G.  II,  51 — 3). 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  47 

Ich  halte  diese  Untersuchungen  für  ausserordentlich  wert- 
voll; sie  zeigen  in  glänzender  Weise  Liebmauns  echt  kritischen 
Geist,  seine  Kraft  zu  tief  eindringender  Analyse,  seinen  scharfen 
Blick  bei  Scheidung  zwischen  Tatsache  und  Deutung.  Denn  um 
Deutungen,  durch  die  allein  wir  Sinn  und  Ordnung  in  das  sonst 
völlig  regellose  und  zusammenhangslose  Durcheinander  unserer 
Bewusstseinserscheinungen,  vor  allem  unserer  Empfindungen, 
bringen,  handelt  es  sich  bei  allen  diesen  Maximen.  Als  Deutungen 
sind  sie  zunächst  nichts  als  subjektive  Zutaten  des  Einzelneu. 
Aber  sie  kehren  (die  3.  Maxime  freilich  oft  nur  in  abgeschwächter, 
weniger  prinzipieller  Form)  bei  allen  normalen  Menschen,  soweit 
unsere  Erfahrung  reicht,  mit  grösster  Gleichmässigkeit  wieder, 
und  die  Selbstverständlichkeit,  mit  der  sie  sich  geltend  machen, 
ist  so  stark,  dass  man  ihrer  meistens  gar  nicht  inne  wird,  wes- 
halb das  durch  sie  Postulierte  auch  so  unendlich  oft  verkannt 
und  unter  die  Rubrik  des  tatsächlich  Gegebenen  versetzt  wird. 
Auch  gehen  diese  Deutungen  meistens  gar  nicht  aus  absichtsvoller 
Überlegung  hervor,  sondern  aus  der  unbewussten  mit  blossen  Asso- 
ziationen arbeitenden  Tätigkeit  unseres  Geistes.  Woraus  zu 
schliessen  sein  dürfte,  dass  die  Erfahrung  selbst  sie  nahe  legt. 
Trotzdem  aber  wird  auch  der  Empirist  Liebmann  beistimmen 
können,  wenn  er  sie  als  „wesentliche  Charakterzüge,  typische 
Merkmale  der  menschlichen  Intelligenz"  bezeichnet  (G.  II,  56). 
Nur  sind  diese  Ausdrücke  allerdings  nicht  in  dem  Sinne  der  Kan- 
tischen Apriorität  des  Kausalbegriffes  und  Kausalgesetzes  zu  ver- 
stehen, und  Liebmann  selbst  würde  gegen  eine  solche  Auffassung 
sein  entschiedenes  Veto  einlegen. 

Es  handelt  sich  auch  hier  wieder  um  einen  Rückschluss  von 
einer  Tatsache  auf  ihre  unbekannte  Ursache.  Tatsache  ist, 
dass  jeder  im  alltäglichen  Leben  fortwährend  jener  Maxime  gemäss 
(die  3.  oft  nur  weniger  prinzipiell  genommen)  das  unmittelbar 
Gegebene  interpoliert  und  sich  dabei  dieses  seines  Tuns  meistens 
nicht  einmal  bewusst  ist,  ferner  dass  die  Wissenschaft  ohne  solche 
Deutungen  jeden  Boden  unter  den  Füssen  verlieren  würde,  dass 
sie  also  die  Richtigkeit  jener  Maximen  zur  logisch-sachlichen  Vor- 
aussetzung hat.  Und  die  Frage  ist:  —  nicht  etwa:  wie  entstehen 
die  Maximen,  sei  es  im  ganzen  Menschengeschlecht,  sei  es  im 
einzelnen  Menschen?  (denn  das  wäre  eine  rein  psychologische 
Untersuchung!),  sondern:  —  sind  die  Maximen  sachlich  berechtigt? 
haben  sie  objektive  Gültigkeit?  welches  ist  ihre  Grundlage?  (vergl. 


48  E.  Adickes 


Kl.  73/4,  77/8,  99 — 106).  Das  sind  die  echt  erkenntnistheoretischen 
Probleme.  Und  die  Antwort  wird  füglich  gar  nicht  anders  können 
als  feststellen,  dass  diese  Grundlage  auf  jeden  Fall  zum  Teil  im 
menschhchen  Geist  und  seiner  typischen  Konstitution  zu  suchen  ist. 

Aber  wieder  wird  der  Empirist  suchen,  mit  einem  Mindest- 
maass  von  Apriorität  auszukommen.  Wie  mir  scheint,  bedarf  es, 
um  die  Tatsache,  so  wie  sie  vorliegt,  erklären  zu  können,  nicht 
der  Annahme  von  besonderen  (gerade  für  diesen  Fall  erdachten) 
apriorischen  Formen  oder  Funktionen  in  der  menschlichen  Intelligenz. 
Es  genügen  schon  die  mit  der  letzteren  gegebenen  Fähigkeiten  des 
Vergleichens,  Verbiudens,  Trennens,  Unterscheidens,  Ideutifizierens, 
abstrakten  Denkens,  und  die  aus  diesen  Fähigkeiten  und  Tätig- 
keiten des  weiteren  sich  ergebenden  Qualitäten.  Anderseits  zeigt 
das  schlechthin  Gegebene  in  der  inneren  und  äusseren  Erfahrung 
inmitten  seines  regellosen  und  zusammenhangslosen  Durcheinander 
doch  auch  wieder  überraschende  Fälle  von  Konstanz  (wenn  ich  ein 
und  dasselbe  Ding  oder  einen  und  denselben  Vorgang  lange  be- 
obachte) und  von  Regelmässigkeit  im  Nacheinander;  und  solcher 
Fälle  werden  noch  viel  mehr,  wenn  ich  meine  unmittelbaren  Be- 
obachtungen mit  denen  Anderer  kombiniere,  wobei  ich  freilich 
den  Kreis  des  schlechthin  Gegebenen  weit  überschreite,  da  ja  auch 
„die  Andern"  mir  nur  als  in  Raum  und  Zeit  zerstreute  Empfindungen 
„gegeben"  sind.  Indem  nun  unser  Intellekt  vermittelst  der  ge- 
nannten Funktionen  das  schlechthin  Gegebene  teils  unbewusst  teils 
bewusst  bearbeitet,  entstehen  in  ihm  auf  Grund  der  in  eben  diesem 
Gegebenen  vorhandenen  Konstanz  und  Regelmässigkeit  zunächst 
gewisse  Handelnsgewohnheiten,  im  Sinn  jener  Maximen  das  Ge- 
schehen aufzufassen,  Empfindungen  zu  Objekten  zu  verschmelzen 
u.  s.  w. ;  und  erst  lange  danach,  wenn  die  Aufmerksamkeit  sich  auf 
das  eigene  geistige  Tun  gerichtet  hat  und  mit  Erfolg  bestrebt  ist, 
die  Gewohnheitsgesetze,  die  man  bei  diesem  Tun  instinktiv-un- 
bewusst  befolgte,  zu  erkennen,  kann,  als  späte  Frucht  der  Ent- 
wicklung und  Resultat  langer  wissenschaftlicher  Forschung,  eine 
begriffliche  Formulierung  jener  Handelnsgewohnheiten  in  der  Art 
der  Liebmanuschen  Maximen  zu  Stande  kommen. 

Ich  weiss  wohl,  dass  dieser  letzte  Satz  eine  psychologisch- 
genetische Digression  enthält.  Aber  sie  ist  nötig,  um  die  Be- 
deutung der  objektiven  Grundlage  der  Maximen  in  das  rechte  Licht 
zu  stellen.  Die  im  unmittelbar  Gegebenen  wahrnehmbare  Konstanz 
und  Regelmässigkeit  ist   zwar   nur   eine   sehr  beschränkte  —  sie 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  49 

reicht  ja,  genau  genommen,  nicht  weiter  als  meine  individuelle, 
direkte  Betrachtung  — ,  und  darum  gibt  sie  durchaus  kein  Recht 
auf  Maximen  von  so  prinzipieller  Bedeutung  und  solchem  Anspruch 
auf  Allgemeingültigkeit.  Aber  immerhin  kann  sie  doch  unser 
Denken  in  eine  gewisse  Richtung  weisen,  ihm  eine  gewisse  gewohn- 
heitsmässige  Tendenz  eindrücken.  Und  diese  Tendenz  treibt  es 
dann,  einerseits  die  Interpolationen  faktisch  zu  vollziehen,  ander- 
seits aber  auch,  über  dies  ihr  eigenes  Tun  nachdenkend,  ihm  in 
den  Interpolationsmaximen  einen  möglichst  prinzipiellen,  allgemein- 
gültigen Ausdruck  zu  geben.  Da  der  letztere  weit  über  die  schmale 
im  unmittelbar  Gegebenen  vorhandene  objektive  Grundlage  hinaus- 
geht, hat  Liebmann  durchaus  Recht,  wenn  er  seine  Maximen  als 
nichtempirisch  oder  überempirisch  bezeichnet '(z.  B.  G.  II  53,  54, 
56).  Auch  durch  keine  noch  so  weit  getriebene  Induktion  können 
sie  jemals  rein  empirisch  werden.  Im  Gegenteil!  Jede  Induktion 
setzt  ihrerseits  schon  die  Interpolationsraaximen  voraus:  nur  z.  B. 
insofern  das  Kausalgesetz  allgemeingültig  ist  oder  als  allgemein- 
gültig betrachtet  wird,  hat  Induktion  überhaupt  Sinn.  Trotzdem 
fehlt  ihnen  der  Zusammenhang  mit  der  „reinen"  Erfahrung  nicht. 
Sie  sind  nicht  apriorische  Geschöpfe  unserer  geistigen  Organisation, 
nur  in  ihr  gegründet  und  von  ihr  an  die  zusammenhangslose  Masse 
der  Empfindungen  herangebracht,  sondern  unser  Geist  tut,  indem 
er  sie  vollzieht  und  formuliert,  nichts  Anderes,  als  den  objektiven 
Andeutungen  folgen,  die  ihm  im  unmittelbar  Gegebenen  entgegen- 
treten. Die  Art  aber,  wie  er  ihnen  folgt,  ist  sein  und  typisch 
für  die  menschliche  Intelligenz. 

Auch  darin  stimme  ich  Liebmann  bei,  dass  die  „reine  Er- 
fahrung", also  das,  was,  nach  Ausscheidung  aller  subjektiven  Zu- 
taten, als  unmittelbar  Gegebenes  überbleibt,  eigentlich  gar  nicht 
den  Namen  „Erfahrung"  verdient,  dass  auf  jeden  Fall  eine  geord- 
nete, objektive  Erfahrung,  also  die  Erfahrung,  wie  sie  jedem  im 
alltäglichen  Leben  vorliegt  (von  der  wissenschaftlichen  ganz  zu 
schweigen!),  nur  durch  Interpolationen  gemäss  den  namhaft  ge- 
machten Maximen  möglich  ist.  Insofern  kann  man  die  letzteren 
als  erfahruugstiftend,  als  intellektuelle  Bänder  und  Klammern  des 
Gebäudes  der  Empirie,  als  unentbehrliche  Möglichkeitsbedingungen 
der  Erfahrungswissenschaft  bezeichnen    (Kl.  98,  G.  II  51,  55,  56). 

Und  ferner:  sind  sie  weder  Erfahrungssätze  noch  Axiome, 
weder  apriorische  Gesetze  noch  notwendige,  ewige  Wahrheiten, 
so  bleibt  nichts  übrig,  als  in  ihnen  Hypothesen  oder  Postulate  zu 

Kantstudien    XV.  4- 


50  E,  Adickes, 

sehen,  aber  allerdings  eigenartige,  insofern  sie  die  conditio  sine 
qua  non  für  jede  höhere  Erfahrung,  vor  allem  für  jede  wissen- 
schaftliche Betrachtung  bilden. 

Doch  steht  nichts  der  Annahme  im  Wege,  dass  diese  Hypo- 
thesen, obwohl  ,. Produkte  der  typischen  Konstitution  menschlicher 
Intelligenz"  (Kl.  107),  trotzdem  Verhältnisse  und  innere  Zusammen- 
hänge des  Absolut-Realen  zum  Ausdruck  bringen.  Wer  letzteres 
als  in  der  Zeit  uud  im  Euklidischen  Raum  seiend  denkt,  für  den 
wird  diese  metaphysische  Annahme  ein  sehr  wahrscheinlicher 
Glaube  sein.  Mit  den  Tatsachen  ist  er  verträglich:  sie  beweisen 
ihn  nicht,  aber  widerlegen  ihn  auch  nicht,  lassen  sich  überhaupt 
weder  nach  der  einen  noch  nach  der  andern  Seite  hin  als  Gründe 
verwerten.  Sollte  der  Glaube  Recht  haben,  dann  würde  unser 
Geist  die  im  schlechthin  Gegebenen  liegenden  Andeutungen  richtig 
verfolgt,  würde,  indem  er  die  „reinen"  Tatsachen  durch  seine 
Interpolationen  auf  die  einfachste  Weise  zu  verstehen  trachtete, 
sie  zugleich  richtig  gedeutet  haben.  Andernfalls  wären  die  Inter- 
polationsmaximen ebenso  viel  Schranken  menschlichen  Erkennens, 
die  in  unserer  geistigen  Organisation  selbst  gegründet  sind 
(Kl.  96,  98).  Dass  es  mich  zum  Glauben  ersterer  Art  drängt, 
brauche  ich  nach  dem  früher  Gesagten  kaum  noch  besonders  zu 
betonen. 

Liebmann  erhebt  hinsichtlich  seiner  Interpolationsmaximen 
keineswegs  den  Anspruch  auf  Vollständigkeit  (Kl.  97).  Wie  sollte 
letztere  auch  je  erreichbar  sein,  wenn  es  ein  einheitliches,  not- 
wendiges Deduktionsprinzip,  wie  Kant  es  in  seiner  Urteilstafel  ge- 
funden zu  haben  glaubte,  in  Wirklichkeit  nicht  giebt! 

Ich  würde  zu  den  vier  aufgestellten  Maximen  noch  zwei 
andere  hinzufügen,  deren  eine  das  Dasein  selbständiger  Iche 
ausserhalb  meines  Bewusstseins  anzuerkennen  hätte  (vgl.  G.  II, 
39  ff.  sowie  oben  S.  14 — 15),  während  die  andere  der  Überzeugung 
Ausdi'uck  verleihen  würde,  dass  ich  mit  jenen  fremden  Ichen  eine 
gemeinsame  Sinnenwelt  habe.  Beiden  Maximen  gemäss  interpoliert 
schon  die  alltägliche  Erfahrung  auch  des  Kindes  und  ungebildeten 
Menschen  fortwährend  das  Gegebene.  Wissenschaftlich  wäre  vom 
Standpunkt  des  transscendeutalen  Realismus  aus  die  zweite  Maxime 
dahin  zu  erläutern  und  zu  begründen,  dass  zwar  jedem  Ich  seine 
Sinnenwelt  besonders  entsteht,  auf  Grund  der  ihm  eigenen  geistigen 
Konstitution  und  ihrer  Beeinflussung  durch  die  ihrem  Wesen 
nach    unbekannten   Einwirkungen   des    Absolut-Realen,   dass   aber 


Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker.  51 

diese  geistige  Organisation  typische,  allen  menschlichen  Individuen 
gemeinsame  Züge  aufweist,  infolge  deren  die  ihrer  Entstehung 
nach  getrennten  Sinnenwelten  der  einzelnen  Iche  doch  faktisch, 
wenigstens  im  Grossen  und  Ganzen,  zusammenfallen.  Auch  bei 
Volkelt  bilden  die  fremden  Bewusstseine  und  die  Einmaligkeit 
der  Sinnenwelt  (neben  dem  kontinuierlichen  Bestehen  transsubjek- 
tiver Wesenheiten  und  ihrer  gesetzmässigen  Verknüpfung)  Teil- 
inhalte des  von  ihm  sogenannten  transsubjektiven  Minimums,  d.  h. 
des  .,von  den  einfachsten  Urteilen  in  gleicher  Weise  denknot- 
wendig anerkannten  transsubjektiven  Sachverhalts"  (Die  Quellen 
der  menschlichen  Gewissheit  1906,  S.  43  ff.)- 


Ausser  dem  bisher  behandelten  theoretischen  Teil  hat  Lieb- 
manns  Transscendentalphilosophie  auch  noch  einen  praktischen, 
der  sich  mit  der  sittlichen  Wertschätzung  beschäftigt  und  ..ihre 
Bedingungen  a  priori  ans  Tageslicht  zu  bringen"  hat  (G.  II  59—60). 
Da  aber  Liebmanns  Stellung  zum  Problem  der  Werte  von  anderer 
Seite  behandelt  wird,  gehe  ich  auf  diese  Untersuchungen  nicht 
weiter  ein.  ^) 

Dasselbe  gilt  von  seinen  inhaltsreichen  Aufsätzen  zur  Natur- 
philosophie. Auch  mit  ihnen  wird  sich  eine  besondere  Abhandlung 
beschäftigen. 

Und  so  schliesse  ich  denn,  damit  das  Ende  sich  an  den 
Anfang  knüpfe,  mit  dem  Hinweis  darauf,  wie  sehr  Liebmann  auch  in 
diesen  naturphilosophischen  Arbeiten  überall  erkenntnistheoretische 
Vorsicht  und  Kritik  walten  lässt.  Unwillkürlich  vergleicht  man 
ihn  mit  Haeckel,  wenn  man  jene  Aufsätze  liest.  Vielfach  sind  es 
dieselben  Probleme,  die  von  den  beiden  Forschern  behandelt  werden. 
Aber  welch  ein  Unterschied!  Haeckel  ist  wie  ein  Jüngling,  der 
sich  wagemutig  in  das  Leben  stürzt  und  meint,  die  Welt  sei  sein; 
aber  um  sie  zu  erobern,  fehlt  ihm  das  Wichtigste:  er  sieht  nicht 
die  Schwierigkeiten  und  Abgründe,  die  ihn  umgeben,  nicht  die 
Feinde,  die  sich  ihm  entgegenstellen,  und  so  fällt  er  rettungslos 
in  ihre  Hände.  Liebmann  dagegen  gleicht  einem  erfahrenen, 
klugen  Manne,  der  vor  allem  die  Grenzen  seiner  Kraft  einsehen 
gelernt   hat,    der   deshalb    nichts    plant  und  nichts  angreift,  bevor 


1)  Erst   nachdem   diese  Worte  gesetzt  waren,    erfahre  ich,    dass  der 
geplante  Aufsatz  leider  ausfällt, 

4* 


52  E.  Adickes,  Liebmann  als  Erkenntnistheoretiker. 

er  nicht  Hindernisse  und  Schwierigkeiten,  seine  Energie  und  der 
Andern  Widerstand  in  Ansatz  gebracht  hat;  er  weiss  sich  zu 
bescheiden:  und  gerade  darum  hat  er  Erfolg.  Aach  inmitten  der 
Naturphilosophie  verlässt  ihn  keinen  Augenblick  die  fuudamentale 
Einsicht,  die  Haeckel  so  völlig  abgeht:  dass  der  Mensch  Alles 
schlechthin  nur  in  dem  Medium  des  menschlichen  Bewusstseins 
erkennt. 

Indem  Liebmann  bei  völliger  Beherrschung  des  naturwissen- 
schaftlichen Stoffes  ihn  doch  zugleich  von  höherer,  erkenntnis- 
theoretischer Warte  aus  überschaut,  indem  er.  Tiefe  und  Klarheit 
paarend,  mit  grosser  Sicherheit  und  Schärfe  überall  den  springenden 
Punkt  an  den  Problemen  erfasst  und  überzeugend  zur  Darstellung 
bringt,  giebt  er  einen  glänzenden  Beweis  dafür,  wie  frucht- 
bringende, auch  dem  Naturwissenschaftler  wertvolle  Arbeit  gerade 
der  Philosoph  auf  diesem  Grenzgebiet  zu  leisten  im  Stande  ist. 


Otto  Liebmanns  Kampf  mit  dem  Empirismus. 

Von  Hugo  Falkenheim. 


1. 

Otto   Liebmanns   Erstlingsschrift   „Kaut   und    die   Epigonen" 
ist  1865  erschienen.    Dies  besagt,  dass  er  die,  bestimmenden  wissen- 
schaftlichen   Eindrücke    seines   Lebens    in    einer    aller  Philosophie 
feindlichen  Periode    empfangen    hatte    und    sich    in   die  Reihe  der. 
Männer  stellte,  die  der  Philosophie  den  entrissenen  Boden  schritt- 
weise   wiederzuerobern    strebten.     So    vorsichtig    wie    ausdauernd 
hat  seine  Lebensarbeit  das  Ziel  verfolgt,  von  den  Voraussetzungen 
des  Kantischen  Systems  her,   wie  er  sie  auffasste  und  konsequent 
gegen    Missdeutungen    verfocht,    einen    sich    stetig    erweiternden 
Kernbestand  gesicherter  Ergebnisse  zu  gewinnen.    In  stets  betonter 
Anknüpfung   an  Kant  hat   er   seine  Untersuchungen   von  der  Er- 
kenntnistheorie   aus    auf    die    anderen    Gebiete    der    Philosophie, 
namentlich   auf  Naturphilosophie  und  Metaphysik,  ausgedehnt  und 
im  Laufe  seiner  Entwicklung  zu  fast  allen  Hauptwerken  des  Meisters 
Stellung  genommen.    In  der  lebendigen  Darlegung  und  selbständigen 
Weiterführung  Kantischer  Grundgedanken   besteht   in    der  Haupt- 
sache sein  Lebenswerk,  ohne  dass  er  sich  jedoch  ängstlich  an  den 
Buchstaben  der  kritischen  Lehre  klammerte;  vielmehr  ist  es  für  ihn 
charakteristisch,  dass  er  da,  wo  seine  Ansichten  mit  den  geschicht- 
lich  gegebenen    Resultaten   anders   gearteter    Systeme   zusammen- 
treffen, gern  ihren  Wahrheitserwerb  in  seine  eigenen  Gedankengänge 
aufnimmt,    dass    er    z.  B.    die    Kantische    Teleologie    durch    Ein- 
schmelzung   gewisser   Grundbegriffe   der   platonisch -aristotelischen 
Metaphysik  eigenartig  modifiziert.    In  den  entscheidenden  Motiven 
seines  Denkens  aber  bleibt  er  überzeugter  Kantianer,  auch  wo  er 
—  wie  wir  sehen  werden  —  sich  von  seiner  ursprünglichen  Grund- 
lage  soweit   zu   entfernen   scheint,  wie  in  der  Anerkennung  einer 
„Vernunft  im  Universum"  und  in  der  Forderung  einer  „kritischen 
Metaphysik". 


54  H.  Falkenheim, 

Liebmanns  wichtigste  Untersuchungen  sind  in  einzelnen  Ab- 
handlungen niedergelegt,  die  stets  in  die  Tiefe  führen,  aber  mehr 
auf  Herausarbeitung  der  wesentlichen  Züge  als  auf  erschöpfende 
Behandlung  und  endgültige  Beantwortung  der  Probleme  gerichtet 
zu  sein  pflegen.  Schon  aus  den  Titeln  seiner  Schriften  ersieht 
man  diese  Eigentümlichkeit  seiner  Schaffensweise:  „Zur  Analysis 
der  Wirklichkeit,  eine  Erörterung  über  die  Grundprobleme  der 
Philosophie-',  „Die  Klimax  der  Theorien,  eine  Untersuchung  aus 
dem  Bereich  der  allgemeinen  Wissenschaftslehre",  „Gedanken  und 
Tatsachen,  philosophische  Abhandlungen,  Aphorismen  und  Studien" 
—  in  allen  diesen  Werken  haben  wir  wertvolle  Bausteine  zur 
Gedankenwelt  ihres  Verfassers  vor  uns,  aber  nicht  eigentlich  diese 
selbst  in  ihrer  systematischen  Struktur.  Verleiht  nun  diese  Dar- 
stellungsform mit  ihrer  durch  keine  schulmässigen  Rücksichten 
beengten  Beweglichkeit  uud  Frische  den  Schriften  einen  besonderen 
künstlerischen  Reiz,  so  nötigt  sie  doch  den  Leser,  den  zusammen- 
hängenden Plan,  der  ihnen  zu  Grunde  liegt,  sich  selber  zu  kon- 
struieren, die  getrennten  Glieder  zu  einem  Ganzen  zu  verbinden. 
Bei  näherer  Beschäftigung  erkennt  man  freilich  in  zunehmendem 
Masse,  mit  wie  fester  Hand  der  Verfasser  uns  selber  zur  Klarheit 
über  die  beherrschenden  Gedanken  verhilft:  er  weiss  sie  uns 
durch  starke  Hervorhebung  und  mannigfache  Beleuchtung  aufs 
zwingendste  einzuprägen.  Besonders  intensiv  treten  die  Wahr- 
heiten, auf  deren  Geltendmachung  es  ihm  ankommt,  in  Verteidigung 
und  Abwehr  zutage;  hier  unterstützt  seine  hervorstechende  Fähig- 
keit, die  Gegensätze  der  Anschauungen  auf  den  einfachsten  und 
schlagendsten  Ausdruck  zu  bringen,  seine  Absichten  überaus 
wirkungsvoll.  Man  fühlt  durchweg,  wie  sich  ihm  seine  philo- 
sophischen Überzeugungen  gerade  im  Ringen  mit  skeptischen  und 
positivistischen  Anfechtungen  befestigt  und  vertieft  haben.  Er 
hat  hier  sein  eigenes  Wort  zu  bewähren  gesucht:  „Die  skeptischen 
Reaktionen,  weit  entfernt  den  Hang  zur  Theorie  abzutöten,  dienen 
nur  zu  dessen  Reinigung,  Selbstbesinnung,  stiller  Sammlung  und 
Höherbildung." 

Um  sich  in  Kürze  die  Stellung  zu  vergegenwärtigen,  die 
Otto  Liebmann  in  der  modernen  philosophischen  Bewegung  ein- 
nimmt, mag  es  deshalb  nicht  unangebracht  erscheinen,  einen  kon- 
zentrierenden Blick  auf  die  seine  Arbeiten  durchziehende  polemische 
Auseinandersetzung  mit  dem  Empirismus  zu  werfen,  wie  er  von 
ihm  in  seinen  mancherlei  Spielarten  —  als  Psychologismus  und  als 


Otto  Liebmanns  Kampf  mit  dem  Empirismus.  55 

Nominalismus,  als  Atomismus  und  als  mechauische  Weltansicht  — 
in  den  Bereich  der  Erörterung-  g-ezogen  wird.  Dabei  soll  es  sich 
in  dieser  Skizze  nicht  darum  handeln,  Liebmanns  Argumentation 
in  ihre  Einzelheiten  zu  verfolgen,  sondern  nur  sie  im  Zusammen- 
hange mit  dem  Ganzen  seiner  Anschauungen  soweit  klarzulegen, 
dass  die  Grundstimmung  seines  Geistes  sowie  überhaupt  sein 
Verhältnis  zur  Philosophie  der  Gegenwart  und  ihren  Richtungen 
aus  seinen  eigenen  Formulierungen  einleuchtet.  Wir  können  uns 
diese  Beschränkung  ohne  Furcht  vor  Missverständnissen,  wie  sie 
sonst  aus  allzu  knapper  Charakteristik  allgemeinster  Gedanken 
leicht  entstehen  können,  hier  sehr  wohl  auferlegen,  da  die  anderen 
Beiträge  dieses  Heftes  für  die  Kenntnis  der  spezielleren  Züge  von 
Liebmanns  Denken  ja  ergänzend  eintreten.  Auch  eine  kritische 
Kommentierung  liegt  uns  fern:  je  ausschliesslicher  Avir  in  diesem 
Rückblick  den  Jenenser  Philosophen  an  seinem  Ehrentage  selber 
zu  Worte  kommen  lassen,  je  geschlossener  unser  Referat  seine 
Ideen  in  Reih  und  Glied  hinstellt,  desto  objektiver  wird  das  Urteil 
ausfallen  können  über  das  schwerwiegende  Verdienst,  das  ihm  am 
Durchdringen  heiss  umstrittener,  von  ihm  frühzeitig  mit  dem  vollen 
Einsatz  seiner  Persönlichkeit  vertretener  Einsichten  zukommt  — 
mögen  auch  viele  von  diesen  heute  dem  kundigen  Leser  nichts 
Neues  mehr  sagen,  andere  nur  in  veränderter  Gestalt  Verwendung 
gefunden  haben. 


2. 

Liebmanns  erkenntnistheoretischer  Standpunkt  ist  in  ausge- 
sprochener Weise  der  transscendentalphilosophische.  Was  ihn  in 
seiner  Formuherung  auszeichnet,  ist  die  unermüdliche,  eindrucks- 
volle Präzision,  womit  er  ihn  seinen  Lesern  unter  Fortlassung 
alles  Beiwerks  in  einfachen  grossen  Linien  vor  Augen  führt  und 
gegen  abweichende  Deutungen  abgrenzt.  Seine  eigene  Forschung 
baut  sich  auf  dem  Grundgerüst  der  Prinzipien  des  Kritizismus 
auf.  Die  fundamentale  Urtatsache,  das  unentbehrliche  Medium, 
innerhalb  dessen  für  das  Subjekt  die  gesamte  empirische  Wirklich- 
keit, uns  selber  mit  eingeschlossen,  als  Phänomen  entsteht,  ist 
ihm  ein-  für  allemal  das  erkennende  Bewusstsein  mit  seinen 
Normen  und  Formen.  Diese  höchsten  Intellektualgesetze  sind  die 
allgemeine  Voraussetzung  aller  Welterkenntnis:  sie  haben  „meta- 
kosmische"   Bedeutung,   liegen    der   gesamten  Aussen-  und  Innen- 


56  H.  Falkenheim, 

weit  zugrunde,  müssen  also  ebenso  für  den  Erkenntnisakt  des 
Subjekts  als  für  das  erkennbare  Objekt  schlechthin  massgebend 
sein.  Daher  stammt  sowohl  das  subjektive  Notwendigkeitsbewusst- 
sein,  das  den  höchsten  Erkenntnisgesetzen  anhaftet,  als  auch  der 
Umstand,  dass  die  objektive  Erfahrung  ihnen  niemals  widersprechen 
kann.  Apriori  heisst  nichts  anderes,  als  das  für  jede  der  unsrigen 
homogene  Intelligenz  streng  Allgemeine  und  Notwendige,  das 
Nichtauderszudeukende,  das,  über  dem  empirischen  Subjekt  und 
seinem  Objekt  gleich  erhaben,  alle  Erfahrung  und  ihren  Gegen- 
stand gestaltet  —  und  den  Erscheinungen  objektive  Realität 
sichert.  Die  immanenten  Funktioueu,  die  dem  metakosmischen 
Bewusstsein  zukommen,  beherrschen  zusammenwirkend  als  er- 
fahrungstiftende Bedingungen  alles  individuelle  Erkennen.  So 
bleiben  Subjekt  und  Objekt,  Erkennendes  und  Erkanntes  durch  die 
gemeinsamen  transscendentalen  Formen  ihrer  Existenz  als  unauf- 
lösliche Korrelate  zur  gegebenen  Wirklichkeit  miteinander  ver- 
bunden. In  dem  berühmten  Satze  Kants,  dass  der  menschliche 
Verstand  die  Gesetze  nicht  aus  der  Natur  schöpfe,  sondern  ihr 
vorschreibe,  findet  Liebmann  „den  tiefsten  Wahrheitsgehalt  der 
Vernunftkritik"  ausgesprochen. 

Dieser  konsequent  gedachte  Apriorismus  musste  ihn  notge- 
drungen in  Gegensatz  bringen  zu  dem  zeitweilig  zu  erneuter 
Herrschaft  gelangten  Standpunkt,  der  die  Alleingültigkeit  der 
„reinen  Erfahrung"  als  Lösung  des  erkenntnistheoretischen 
Problems  verfocht.  Gegen  diesen  Neobaconismus  richtete  er  1884 
seine  Schrift  „Die  Klimax  der  Theorien",  als  deren  Motto  jener 
Kantische  Satz  gelten  darf.  In  origineller  Durchführung  wird 
hier  der  Gedanke  Kants  verteidigt  gegen  die  Illusion,  lediglich 
aus  Beobachtetem  und  Beobachtbarem,  nach  Abzug  alles  vom 
Verstände  Hinzugebrachten,  ein  ausreichendes  Weltbild  gewinnen 
zu  können.  Da  das  geistvolle  Büchlein,  nach  Seiten  der  Kompo- 
sition und  Formgebung  wohl  das  Meisterstück  Liebmanns,  zur 
Zeit  seines  Erscheinens  in  weitern  Kreisen  wegweisend  und  be- 
freiend gewirkt  hat,  wird  es  dem  Zwecke  unserer  Ausführungen 
am  besten  entsprechen,  seinen  wesentlichen  Gedankengang  zu 
rekapitulieren,  wenn  auch  —  nicht  zuletzt  Dank  dem  Erfolg  der 
kleinen  Schrift  —  dem  modernen  Leser  Manches  darin  selbstver- 
ständlich oder  überholt  vorkommen  wird.  Im  Hinblick  auf  den 
bleibenden  Wert  des  Inhalts  hat  Liebmann  selber  die  Haupt- 
gesichtspunkte   später    in    seiner    Darstellung    des    „Geistes    der 


Otto  Liebmanns  Kampf  mit  dem  Empirismus.  57 

Transscendentalphilosophie",  die  der  zweite  Band  der  „Gedanken 
und  Tatsachen-'  enthält,  ausdrücklich  wiederholt.  Thema  und 
Ziel  seiner  Untersuchung  ist  der  Nachweis,  dass  alle  Erfahrung 
nur  mit  Hilfe  unerfahrbarer  Faktoren  zustande  kommen  kann. 

Wenn  man  —  so  führt  Liebmann  aus  —  die  kausalen  Theo- 
rien des  Geschehens  nach  ihrer  Tragweite  und  ihren  letzten  Vor- 
aussetzungen   ins    Auge    fasst,    so    springen    drei  Hauptstufen  als 
besonders    charakteristisch    hervor;    er    nennt  sie  Theorien  erster, 
zweiter    und    dritter   Ordnung.      Die    ersten    entnehmen    ihre    Er- 
klärungsprinzipien   aus    dem  Bereich   des  unmittelbar  Gegebenen; 
ohne   das   empirische  Beobachtungsfeld  mit  einem  Schritte  zu  ver- 
lassen,    leiten    sie    sekundäre    Tatsachen   aus   ursprünglichen   ab. 
Die  Theorien    zweiter  Ordnung   greifen    zur  Befriedigung  des  Er- 
klärungsbedürfnisses   über    das    direkt  Wahrnehmbare    hinaus  und 
nehmen   jenseits    der    Erfahrung    Realgründe    an,    aus    denen    sie 
ganze  Erscheinungsgebiete   deduzieren  können.     Die  dritten  Theo- 
rien sind  metaphysischer  Art,  sie  wollen  über  allem  Relativen  ein 
absolut   Reales    aus   unbedingt  obersten  Prinzipien  erfassen.     Zu- 
nächst   scheint    es,    als    seien   die  ersten,  vom  Prinzip  bis  zu  den 
abgeleitetsten  Folgesätzen    herunter,    empirisch  kontrollierbar,    als 
könnten  Theorien  dieses  Ursprungs  nur  mit  den  bestehenden  Natur- 
gesetzen selber  umgestossen  werden.     Dagegen  können  die  zweiten 
nur  an  ihren  Konsequenzen   geprüft  werden,    und  selbst  wenn  das 
Schlussgewebe  vom  Prinzip  zu  den  Folgerungen  Schritt  für  Schritt 
den  Anforderungen  der  Logik  entspricht,  bleibt  der  Rückgang  von 
der  empirisch  gegebenen  Wirkung  auf  eine  hypothetische  Ursache 
stets    unsicher    und    misslich.      Bei  den  Theorien  dritter  Ordnung 
bedarf    es    keiner    näheren  Darlegung,    dass    sie   sich  objektiv-ge- 
wissen Wahrheitskriterien  gänzlich  entziehen. 

Eine  genauere  Revision  ändert  jedoch  dieses  Resultat  erheb- 
lich, ja  sie  führt  zu  einer  förmlichen  „Peripatie"  und  nötigt  zur 
Neukonstruktion  der  entworfenen  Ordnung.  Es  ergiebt  sich  näm- 
lich, dass  bei  Ausscheidung  aller  subjektiven  Verstandeszutat  an 
Begriffen  und  Grundsätzen  Erfahrung  überhaupt  nicht  zustande 
kommen  kann.  Eliminiert  man  dies  Geflecht  von  geistigen 
„Bändern  und  Arterien",  so  fällt  die  Erfahrung  in  ein  zusammen- 
hangsloses Aggregat  von  diskontinuierlichen  Wahrnehmungsfrag- 
menten auseinander:  das  Resultat  ist  nicht  reine  Erfahrung, 
sondern  garkeine  Erfahrung.  Diese  wird  erst  möglich  durch 
stillschweigende  Anwendung  eines  Systems  von  nichtbeobachtbaren. 


58  H.  Falkenheim, 

Überempirischen  Prämissen,  die  den  Zusammenhang-  zwischen  den 
isolierten  Tatsachen  der  Wahrnehmung  herstellen.  Liebmann 
definiert  sie  als  Einschaltungen  von  ergänzenden  Zwischengliedern, 
als  „theoretische  Interpolationsmaximen  der  Erfahrungs Wissen- 
schaft", und  entwickelt  eine  Reihe  von  ihnen:  reale  Identität, 
Kontinuität  der  Existenz,  durchgängige  Kausalität,  Kontinuität  des 
Geschehens.  Bei  allen  diesen  Maximen  führt  er  den  Beweis,  dass 
ohne  ihre  Befolgung  die  praktische  Erfahrung  des  Alltags  wie  die 
methodische  Erfahrung  der  Wissenschaft  gleich  unmöglich  wären. 
Und  so  lautet  das  endgültige  Ergebnis:  obwohl  diese  Prinzipien 
nicht  im  erkenntnistheoretischen  Sinne  empirisch  sind,  gehören  sie 
doch  zu  den  unentbehrlichen  Bestandteilen  aller  Erfahrung;  nur 
indem  wir  die  Beobachtungslücken  durch  Nichtbeobachtbares  aus- 
füllen, indem  wir  die  Sphäre  der  Erfahrung  um  ein  Enormes 
überschreiten,  entsteht  für  uns  ein  objektives  Weltbild  statt  eines 
verworrenen  und  gesetzlosen  Vorstellungsspiels.  Lediglich  in  der 
einleuchtenden  Klarheit  der  Maximen  ist  es  begründet,  dass  man 
sie  gewöhnlich  nicht  bemerkt.  So  ist  das  Ideal  einer  reinen  Er- 
fahrung, einer  bloss  aus  tatsächlich  Beobachteten  zusammen- 
gesetzten Wissenschaft,  als  „doktrinäre  Fiktion"  aufgezeigt.  Die 
Erfahrung  ist  vielmehr  ein  Geschenk  des  Verstandes,  und  bei 
näherem  Zusehen  zeigt  sich,  dass  es  Theorie  erster  Ordnung  über- 
haupt nicht  giebt,  diese  vielmehr  in  die  zweite  und  dritte  Ordnung 
hinaufrücken.  Empirie  und  Empirismus  sind  eben  zwei  sehr  ver- 
schiedene Dinge:  „Aller  reiner  Empirismus  und  Positivismus,  in- 
dem er  die  überempirische  Interpolationsmaximen  irrtümlicherweise 
für  Erfahrungssätze  hält,  also  das  Nichtwahrgenommene  mit  dem 
Wahrgenommenen  auf  gleiche  Stufe  stellt,  ist  genau  genommen 
nichts  Anderes  als  eine  besondere  Art  von  dogmatischer  Meta- 
physik." 


3. 

Eine  Hauptquelle,  aus  welcher  der  Empirismus  bei  seiner 
Bestreitung  der  aprioristischen  Theorie  seine  Argumente  schöpft, 
deckt  Liebmann  auf  in  der  Vermischung  und  Verwechslung  des 
erkenntnistheoretischen  Problems  mit  dem  psychologischen.  Nach- 
dem sich  die  Erörterungen  der  letzten  Jahrzehnte  so  vielfach  um 
diese  Streitfrage  gedreht  haben,  darf  es  heute  als  Ruhmestitel 
Liebmanns   hervorgehoben    werden,    wie    einfach,    klar    und    über- 


Otto  Liebmanns  Kampf  mit  dem  Empirismus.  59 

zeugend  er  von  Anfang  an  die  für  seine  Stellung  ausschlaggeben- 
den Gesichtspunkte  vertreten  hat.  Wir  finden  in  der  Tat  bei  ihm 
mit  grosser  Eindringlichkeit  diejenigen  Grundgedanken  in  den 
Vordergrund  gestellt,  die  seither  das  gemeinsame  Eigentum  aller 
antipsj'chologistischen  Philosophie  geworden  sind.  Wer  die  Trans- 
scendentalphilosophie  in  Psychologie  „verwässern"  oder  durch 
Psychologie  ersetzen  will,  verdrängt  nach  der  Auffassung  Lieb- 
manns die  zentrale  Frage  nach  den  Vorbedingungen  aller  Er- 
kenntnis durch  die  untergeordnete,  wie  im  individuellen  Menschen- 
geiste die  Vorstellungen  empirisch  entstehen  und  das  Erkennen 
allmählig  in  zeitlicher  Entwicklung  heranreift.  Dass  durch  die 
Einsicht  in  die  Genesis  eines  Gedankens  zugleich  ein  Urteil  über 
dessen  Gültigkeitssphäre  und  Erkenntniswert  gewonnen  werden 
könne,  ist  der  verhängnisvolle  psychologistische  Irrtum.  Nicht  mit 
der  psychogenetischen  Frage  nach  dem  subjektiven  Ursprung 
unserer  Gedanken  hat  es  die  Erkenntniskritik  zu  tun,  sondern  mit 
der  Feststellung  ihrer  logischen  Dignität,  und  so  liegt  aller 
Unterschied  zwischen  apriorischen  und  aposteriorischen  Erkennt- 
nissen nicht  in  der  verschiedenen  Art  ihrer  Entstehung,  sondern 
in  der  grundverschiedenen  Art  ihrer  Evidenz.  Mit  der  Aufsuchung 
der  Kriterien  der  Wahrheit  eröffnet  sich  ein  neues,  eigentümliches 
Gebiet  in  souveräner  Höhe  über  aller  psychologischen  Gesetz- 
mässigkeit. Einmal  erkannt,  wird  eine  apriorische  "Wahrheit  mit 
einem  solchen  Grade  von  Gewissheit  anerkannt,  dass  jede  empi- 
rische Widerlegung  ausgeschlossen,  jede  empirische  Bestätigung 
überflüssig  wird;  wer  sie  verstanden  hat,  glaubt  sie  sofort  ein- 
für allemal.  Im  Gegensatze  zu  den  psychischen  Naturgesetzen 
sind  die  Erkenntnisgesetze  kategorische  Vorschriften,  bei  deren 
Einhaltung  der  natürliche  Gedankenverlauf  die  Wahrheit  trifft, 
bei  deren  Verletzung  er  sie  verfehlt. 

Liebraann  betont  sodann,  dass  der  Einwand  der  „doktrinäien 
Empiristen  hergebrachten  Stils" :  weil  unsere  Erkenntnisurteile 
psychologisch  aus  Wahrnehmungen  entstanden  sein,  besässen  sie 
auch  erkenntnistheoretisch  nur  in  Hinsicht  auf  die  bereits  beob- 
achteten Einzelfälle  Gewissheit  —  noch  aus  einem  besonderen 
Grunde  sein  Ziel  verfehle.  Der  Empirist  setzt  in  seinen  psycho- 
logischen Theorien  die  objektive  AUgemeingiltigkeit  der  gleichen 
Sätze,  die  er  bestreiten  will,  selber  voraus.  Jene  transscendentalen 
Interpolationsmaximen,  die  für  jede  Erfahrungswissenschaft  gelten, 
beanspruchen  ihr  Recht  auch  in  der  empirischen  Psychologie;  von 


60  H.  Falkenheim, 

individuellem  Vorstellungsverlauf  kann  nur  die  Rede  sein,  wenn 
sie  in  ihm  bereits  enthalten  sind.  Das  Gleiche  gilt  von  den  Ver- 
suchen, die  org-anische  Grundlag-e  der  psychischen  Vorg-äng-e 
festzustellen:  auch  diese  Hypothesen  sind  bereits  in  der  Sphäre  des 
erkennenden  Bewusstseins  entsprungen  und  von  dessen  Intellektual- 
formen  beherrscht. 

Aus  solchen  Erwägung-en  gewinnt  Liebmann  seine  Auffassung 
vom  Wesen  des  Geistes  und  seiner  Funktionen  überhaupt;  auch  hier 
haben  die  Ergebnisse,  zu  denen  er  gelangt,  weithin  gewirkt  und 
ebenso  rückhaltlose  Anerkennung  wie  fruchtbare  Weiterbildung  ge- 
funden. Worauf  er  hinstrebt,  ist  eine  Theorie  der  Werte,  wie  sie 
ihm  aus  der  Unterscheidung  von  Normalgesetzen  und  Naturgesetzen 
des  Denkens  erwächst.  Er  nimmt  seinen  Ausgangspunkt  von  dem 
Ideal  der  psychologischen  Mechanik,  um  darzutun,  dass  aus  dem 
von  ihr  behaupteten  Assoziatious-  und  Reproduktionsraechauismus 
das  erkennende  Denken  auf  keine  Weise  erklärbar  sei.  Wohl 
steht  unzweifelhaft  fest,  dass  dem  denkenden  Subjekt  der  Inhalt 
der  Urteile  durch  eine  unwillkürliche  Vorstellungsmechanik  geliefert 
wird;  aber  damit  ist  noch  nicht  die  Denk-  und  Urteilsfunktion  als 
solche  gegeben.  Denn  nicht  im  Verknüpfen  und  Trennen  besteht 
das  Urteil,  wie  die  Assoziatiouspsychologie  annimmt,  sondern  im 
Bejahen  und  Verneinen  von  Verknüpfung  oder  Trennung;  nicht 
der  vom  Vorstellungswechsel  erzeugte  Bewusstseinsinhalt  bringt 
das  Urteil  hervor,  sondern  das  über  dem  Vorstellungswechsel 
herrschende   Subjekt   erteilt   oder   verweigert   seine   Genehmigung. 

Liebmann  erklärt  den  Gedanken  eines  psychischen  Mechanismus 
für  eine  durchaus  berechtigte  Spezialanwendung  des  Kausalprinzips: 
wer  nicht  das  Seelenleben  vom  allgemeinen  Naturzusammenhang 
ausnehmen  wolle,  müsse  diesen  Gedanken  akzeptieren.  Aber  wo 
die  Psychologie  auf  das  Ich  trifft,  das  allem  Erkennen  vorangeht, 
hat  sie  ihre  Grenze  erreicht:  das  im  Wechsel  der  Vorstellungen, 
Gefühle  und  Willensakte  mit  sich  identisch  bleibende  Ich  ist  nicht 
mehr  Untersuchungsobjekt,  sondern  Fundamentalbedingung  aller 
Psychologie,  unter  der  allein  von  innerem  Geschehen  die  Rede 
sein  kann.  „Aus  Mechanik  der  Vorstellungen  die  Einheit  der  Person 
ableiten,  heisst  ungefähr  soviel,  als  aus  Sand  einen  Strick  drehen." 
Ohne  die  Identität  des  Selbstbewusstseins  gäbe  es  für  uns,  wie 
keine  erkennbare  Welt,  so  auch  kein  Seelenleben.  Der  Mensch 
geht  in  dem  zeitlichen  Ablauf  seiner  Seelenzustände  nicht  ohne 
Rest   auf,    sondern    erhebt   sich  über  sich  selbst;  er  tritt  aus  dem 


Otto  Liebmanns  Kampf  mit  dem  Empirismus.  61 

Flusse  des  psychischen  Geschehens  heraus  und  stellt  sich  seinem 
eigenen  Seelenleben  als  Richter  g-egenüber,  der  seine  Gedanken 
und  Taten  zum  Objekt  selbsteig-ener  Kritik  macht.  Kausal  be- 
trachtet, ist  das  Denken  ein  Naturprozess;  teleologisch  betrachtet, 
ist  es  ein  Organon  der  Erkenntnis.  Bei  tyrannischer  Alleinherrschaft 
des  Kausalprinzips  im  Denken,  bei  Leugnuug  überpersönlicher 
Wahrheitsnormen  verschwände  die  Grundvoraussetzung  aller  Wissen- 
schaft, die  Unterscheidung  von  W^ahr  und  Falsch;  eine  psychologisch 
naturnotwendige  Meinung  wäre  dann  genau  so  berechtigt  wie  die 
andere,  da  es  logische  Erkenntnisgründe,  die  Anspruch  auf  allge- 
meine Anerkennung  besässen,  nicht  mehr  gäbe.  Der  Naturalist 
widerlegt  sich  selbst,  wenn  er  Anerkennung  für  die  Richtigkeit 
seiner  Ansicht  verlangt,  obwohl  nach  seiner  Theorie  jede  Ansicht 
ein  gleichwertiges,  kausal  notwendiges  Naturprodukt  sein 'soll. 
Dem  Denken  sind  die  Regeln  der  Logik  immanent,  sie  sind  „Natur- 
gesetze höherer  Art"  als  die  der  Assoziation:  in  unserem  Kopfe 
waltet  ein  logischer  Naturprozess,  der  sich  der  psychologischen 
Assoziationsgesetze  als  eines  Mittels  bedient,  ein  logisches  Apriori, 
dem  sich  das  Individuum  als  selbstverständlicher  Autorität  unter- 
wirft. Diese  Freiheit  des  Denkens  ist  wesentliche  Grundbedingung 
aller  Wissenschaft,  da  nur  sie  objektive  Wahrheitserkenntnis  ver- 
bürgt. 

Wie  beim  Intellekt,  so  betont  Liebmanu  auch  bei  der  ge- 
staltenden Phantasie  die  lenkende  Funktion  der  psychischen  Ente- 
lechie,  die  lebendige  Organik  im  Gegensatze  zum  „telegraphenartig 
klappernden  Assoziationsmechanismus".  Mag  sie  aus  der  Aussenwelt 
ununterbrochen  Stoff  entnehmen:  sich  assimilieren,  prägen  muss 
sie  ihn  durch  die  formgebende  Schöpferkraft,  die  von  innen  stammt. 
Die  Gebilde  der  Phantasie,  die  nach  der  Lehre  des  „vulgären 
Sensualismus"  als  künstliches  Mosaik  aus  fertigen  Steiuchen  und 
Stiftchen  zusammengesetzt  erscheinen,  versteht  die  Ästhetik 
Liebmanns  als  Frucht  eines  organischen  Wachstums,  als  Offen- 
barung der  Autonomie  des  Genies;  zugleich  weist  er  darauf  hin, 
wie  ja  die  bildende  Phantasie  als  solche  nicht  isoliert  dastehe, 
sondern  zu  der  Dynamik  der  Stimmungen,  Gemütsbewegungen  und 
Leidenschaften  in  Wechselwirkung  trete. 

Aus  dem  nämlichen  Gesichtspunkte  beantwortet  Liebmann 
die  Frage  nach  dem  Kausalverhältnis  von  Gehirntätigkeit  und 
Geistestätigkeit,  speziell  nach  der  Lokalisierung  der  psychischen 
Funktionen  im  Gehirn.    Die  funktionelle  Wechselwirkung,  die  trotz 


62  H.  Falkenheim, 

des  radikalen  Gegensatzes  zwischen  Materiellem  und  Geistigem 
hier  herrscht,  erkennt  er  in  vollem  Umfang  an,  wenn  auch  mit 
erheblichen  Einschränkungen  im  Bezug  auf  die  Möglichkeit  einer 
eigentlichen  physiologischen  Deduktion  geistiger  Vorgänge;  in 
einer  bedeutenden  Abhandlung  seiner  „Analysis  der  Wirklichkeit" 
hat  er  aus  diesem  Parallelismus  sogar  wichtige  Folgerungen  hin- 
sichtlich einer  Korrektur  des  herrschenden  Naturbegriffs  gezogen. 
Aber  zugleich  legt  er  dar,  dass  der  Nachweis  eines  solchen  Zu- 
sammenhanges seine  unüberschreitbare  Grenze  finde  an  der  rätsel- 
haften Urtatsache  der  Identität  des  Selbstbewusstseins.  Auch  wenn 
die  Lokalisation  der  psychischen  Vorgänge  restlos  abgeschlossen 
wäre,  so  würde  doch  ein  materielles  Substrat  für  den  geistigen 
Mittelpunkt  des  Seelenlebens  fehlen:  das  identische  Ich,  das  den 
zeitlidieu  Wechsel  seiner  Zustände  als  zeitlos  höhere  Instanz 
überragt,  steht  auch  über  der  Gesamtheit  der  psychophysischen 
Tatsachen.  In  einem  geistreichen  Aphorismus  hat  Liebmann  eine 
epigrammatische  Formulierung  dieses  Sachverhalts  gegeben:  „Die 
neueren  Versuche  zur  Lokalisation  der  Geistesfähigkeiten  im  Gehirn 
haben  die  alte  Wahrheit,  dass  man  mit  den  Augen  sieht,  mit  den 
Ohren  hört  und  mit  der  Zunge  spricht,  etwas  weiter  nach  oben, 
innen  und  hinten  zurückverfolgt.  Ob  aber  der  Weg  von  der 
Zunge,  den  Ohren  und  den  Augen  bis  zu  mir  weiter  ist,  als  der 
Weg  von  der  Brocaschen  Windung,  dem  Schläfenlappen  und  dem 
Hinterlappen  der  Gehirnrinde  bis  zu  mir,  das  bleibt  fraglich." 


4. 

Wenn  für  Liebmann  eine  der  hauptsächlichsten  Aufgaben 
der  Philosophie  in  der  „Erweiterung  unseres  Gedankenhorizonts 
über  die  beschränkte  Sphäre  der  Tatsächlichkeit  hinaus"  bestand, 
so  rausste  er  durch  dies  Programm  dazu  geführt  werden,  die  Auf- 
weisung der  übersinnlichen  Voraussetzungen  unseres  Weltbildes 
nicht  nur  vom  Subjekt,  sondern  auch  vom  Objekt  her  in  Angriff 
zu  nehmen.  Freilich  fast  mehr  noch  als  vorher  stösst  er  hier  auf 
die  Einwendungen  jenes  Positivismus,  „der  nicht  müde  wird,  feierlich 
und  trocken  die  Versicherung  zu  geben,  dass  die  Welt  genau  da 
zu  Ende  sei,  wo  der  Horizont  unseres  empirischen  Wissens  liegt". 
Ihm  gegenüber  weist  Liebmann  durchgängig  darauf  hin,  wie  sehr 
es  aller  gesunden  Logik  widerspricht,  das  Unbegriffene  dem 
Unmöglichen  gleichzustellen,  Denkschwierigkeiten  dadurch  zu  über- 


Otto  Liebmanns  Kampf  mit  dem  Empirismus.  63 

winden,  dass  man  die  Unfähigkeit  zu  erschöpfender  begrifflicher 
Analyse  mit  objektiver  Existenzunfähigkeit  identifiziert  und  dabei 
nötigen  Falls  Realitäten  zu  subjektiven  Vorstellungsphänomenen 
herabsetzt.  Es  giebt  unausdenkbare  Gedanken,  die  uns  doch  durch 
die  Logik  der  Tatsachen  unvermeidlich  aufgedrängt  werden.  Nach- 
drücklich wendet  sich  Liebmann  gegen  „die  kurzsichtig-beschränkte 
Sorte  von  Nominalismus,  wie  sie  seit  Hobbes  namentlich  bei 
englischen  Philosophen  grassiert"  und  die  Naturgesetze  für  etwas 
lediglich  Ideelles,  für  bequeme  Abbreviaturen  erklärt,  die  der  Zu- 
sammenfassung des  Ähnlichen  und  Gleichen  an  einer  Vielheit  von 
Einzelheiten  ihre  Entstehung  verdanken  sollen. 

Allerdings  —  entgegnet  Liebmann  —  sind  unsere  Natur- 
gesetze, wie  sie  als  Formeln  ausgesprochen  'werden,  universalia 
post  rem  und  als  solche  nur  in  unserem  Kopfe  vorhanden;  aber 
das,  was  ihnen  im  Laufe  der  Dinge  korrespondiert,  sind  universalia 
arte  rem.  „Naturgesetze  werden  gedacht  iu  intellectu  humano; 
sie  gelten  und  herrschen  in  rerum  natura."  Die  reale  Gesetz- 
lichkeit, die  neben  dem  gedachten  Formelsystem  existiert,  ist 
Vorbedingung  für  die  nominale:  sie  besteht  in  der  Tatsache,  dass 
die  Dinge  selbst  sich  so  regelmässig  betragen,  dass  uns  Menschen 
die  Abstraktion  von  Gesetzesformeln  überhaupt  möglich  wird.  Wäre 
der  Gang  der  Natur  nicht  objektiv  so  geregelt,  dass  wir  auf  sub- 
jektiver Seite  zur  Konzeption  von  Allgemeinbegriffen  genötigt 
werden,  ginge  der  Weltlauf  chaotisch  oder  launenhaft  von  statten, 
so  wäre  unser  Verstand  dem  Gange  der  Natur  gegenüber  zur 
Ohnmacht  verurteilt.  Sind  die  Gesetze  auch  ein  Unsichtbares, 
Übersinnliches,  nur  in  Verstandesbegriffen  Erfassbares,  so  ist  dafür 
ihre  Realität  eine  solidere,  konstantere,  als  die  des  vergänglichen 
Einzelphänomens.  Die  Erscheinungen  wechseln,  die  Gesetze  ver- 
harren: „Das  Eis  auf  dem  Wasser  schmilzt  im  Frühling,  aber  das 
Gesetz,  wonach  beim  Eintritt  des  Winters  alsbald  auf  dem  Wasser 
neues  Eis  entsteht,  schmilzt  nicht."  Ja,  das  einzelne  Faktum 
verdankt  seine  vorübergehende  Existenz  den  Gesetzen:  es  ist  nur 
wirklich,  weil  es  notwendig,  d.  h.  gesetzlich  ist.  In  der  Tat  lässt 
sich  nachweisen,  dass  die  positivistischen  Theorien  von  Demokrit 
und  Epikur  bis  zur  modernen  Zeit,  so  sehr  sie  die  Herrschaft  des 
Allgemeinen  über  das  Einzelne  ableugnen,  stillschweigend  eine 
Gesetzmässigkeit  überempirischer  Art  voraussetzen.  Ohne  eine 
solche  Anerkennung  würde  eben  jedes  Naturverständnis  zu  einem 
Ding   der  Unmöglichkeit;   im  Zweifel   an   der  allgemeinen  Gesetz- 


64  H.  Falkenheim, 

liclikeit  würde  konsequenterweise  der  skeptische  Empirismus  mit 
dem  irrationalen  Mystizismus  zusammentreffen:  wie  der  eine  aus 
Abscheu  gegen  die  Annahme  realer  Allgemeinheit  nur  im  Zwange 
der  sinnlichen  Einzelwahrnehmung  eine  Art  von  Naturnotwendigkeit 
erblickt,  so  will  der  andere  zugunsten  gemütlicher  Bedürfnisse  die 
immanente  Vernunft  des  Weltlaufs  aufgehoben  wissen  und  behält 
nur  die  empirische  Einzelheit  als  sicher  in  der  Hand.  Erst  durch 
ein  System  von  Naturgesetzen,  dem  alles  Einzelne  in  der  Welt 
unweigerlich  Folge  leistet,  wird  der  Weltprozess  begreiflich;  weit 
entfernt,  nur  den  ökonomischen  Wert  einer  Gedächtnishilfe  zu  be- 
sitzen, ist  das  Gesetz  ein  unmittelbarer  Beleg  für  die  objektive 
Weltordnung,  ist  es  „ein  Einblick  in  die  Weltlogik". 

Aus  solchen  Überlegungen  ist  Liebmann  einer  der  Kern- 
gedanken seiner  Philosophie  entstanden,  der  Begriff  der  „Logik 
der  Tatsachen".  Er  ist  nichts  Anderes  als  der  Ausdruck  für  die 
Realität  konstanter  Gesetze,  ohne  die  es  keine  Naturerklärung 
geben  kann.  Die  strenge  Gesetzmässigkeit  des  Weltlaufs  im 
Ganzen  wie  im  Einzelnen  fällt  zusammen  mit  seiner  Begreiflich- 
keit. Wo  sie  aufhörte,  stände  der  Verstand  still;  ohne  sie  träte 
an  Stelle  des  Kosmos  der  Wirrwarr,  an  Stelle  der  Logik  der 
Wahnwitz ;  wer  ihr  seine  Zustimmung  versagt,  muss  an  Wunder 
in  seinem  Kopfe  glauben.  Was  auf  subjektiver  Seite  vom  mensch- 
lichen Verstand  aus  richtigen  Prämissen  richtig  erschlossen  ist, 
eben  dies  ist  die  Natur,  vermöge  der  durchgängigen  Gesetzhchkeit 
des  Geschehens,  genötigt  auf  objektiver  Seite  wirklich  zu  voll- 
ziehen. Bei  vorausgesetzter  Giltigkeit  des  Kausalprinzips  stellt 
sich  jeder  der  zahllosen  Vorgänge  der  Natur  unter  eine  bestimmte 
Schlussformel:  der  Zusammenhang  der  Ereignisse  muss  mit  der 
Logik  des  korrekten  Denkens  völlig  harmonieren.  Insofern  die 
allgemeine  Gesetzlichkeit  des  natürlichen  Geschehens  das  objektive 
Korrelat  dessen  in  uns  ist,  was  wir  Vernunft  nennen,  darf  Lieb- 
mann sie  als  die  Vernunft  im  Universum  bezeichnen.  Wer  an  die 
allgemeine  Gesetzlichkeit  glaubt,  der  glaubt  an  eine  realisierte 
Weltvernunft,  an  eine  grosse  Ideenordnung  in  der  Natur.  Und 
eine  beträchtliche  Verstärkung  empfängt  dieser  Begriff  der  Welt- 
logik noch  durch  den  Umstand,  dass  in  vielen  Fällen  eine  Mehr- 
heit spezieller  Naturgesetze  als  notwendige  Konsequenz  höherer 
Gesetze  erkennbar  ist,  dass  auf  manchen  Gebieten  sich  sämtliche 
Spezialgesetze  als  zusammenhängendes  System  aus  weniger  allge- 
meinen Grundgesetzen    ergeben    haben.     Für    eine    absolute  Welt- 


Otto  Liebmanns  Kampf  mit  dem  Empirismus.  65 

Intelligenz  würde  das  System  sämtlicher  Naturgesetze  als  logisch 
gegliederte  Totalität  offen  zutage  liegen:  „Da  ist  es  denn  nicht 
vage  Konjektur,  sondern  Aufdämmern  des  Lichtes  der  Wahrheit, 
wenn  wir  glauben,  dass  die  Gesamtheit  aller  Naturgesetze  Ein 
logisches  Vernunftganze  bildet." 

Liebmanu  weiss  wohl,  dass  nach  Ansicht  des  Empirismus, 
der  die  Uinge  „nur  von  aussen  her,  nur  von  der  sinnlich  wahr- 
nehmbaren Oberfläche  her"  betrachtet,  eine  solche  Überzeugung 
von  der  Logik  der  Tatsachen  aus  unerlaubter  Hypostasierung 
subjektiver  Abstraktionen  entspringt.  Und  weit  genug  liegt  sie 
freilich  entfernt  von  einer  Theorie,  wie  etwa  der  atoraistischen, 
die  unserem  Denken  bei  der  Existenz  unendlich  vieler  im  Räume 
zusammengeschneiter  Massenpüuktchen  Halt  gebieten  will.  Doch 
gerade  dieser  Theorie  hält  Liebmann  entgegen :  sie  selber  mache 
sich  ja  einer  offenkundigen  Inkonsequenz  schuldig,  insofern  ihre 
Atome  eine  durchaus  überempirische  Annahme  seien.  Was  den 
Atomen  recht  ist,  das  darf  den  Gesetzen  billig  sein ;  so  geht  Lieb- 
mann auf  seinem  Wege  unbeirrt  sogar  noch  einen  Schritt  weiter 
fort  zu  dem  Begriffe  eines  gemeinsamen  Realgrundes  der  Dinge. 
Wenn  in  allen  Vorgängen  der  Welt  Übereinstimmung  und  Gesetz- 
mässigkeit herrscht,  so  weist  dies  auf  eine  tiefere  Einheit  zurück, 
die  sich  zwar  der  empirischen  Beobachtung  entzieht,  die  wir  aber 
„der  Organisation  unseres  Verstandes  gemäss  hinzuzudenken  nicht 
umhin  können".  Wir  ahnen  und  fühlen  den  Allzusammenhang, 
wir  begreifen  die  Tatsache  der  Welteinheit,  wenn  uns  auch  ihr 
„Wie"  und  „Was"  unerreichbar  bleibt.  Für  unlösbar  kann  man 
dieses  Problem  halten,  aber  es  abzuleugnen  hat  man  kein  Recht. 
In  scharfgeprägten  Sätzen  charakterisiert  es  Liebmann  als  For- 
derung der  Denknotwendigkeit,  die  natura  naturata  als  Wirkung 
einer  natura  naturans  zu  erklären,  dem  uralten  Gedanken  einer 
substantiellen  Einheit  des  Universums  zuzustimmen,  der  die  Viel- 
heit der  Einzeldinge  und  Einzelereignisse  entstammt.  Die  kausale 
Reduktion  über  das  Gebiet  des  Geschehens  hinaus  in  das  des 
Seins  vollzieht  methodisch  nichts  Anderes,  als  die  Theorie  des 
Geschehens  selbst  mit  ihrer  Zurückführung  empirisch-tatsächlicher 
Gesetze  auf  höhere,  nichtempirische  als  zureichenden  Grund. 
Wenn  innerhalb  des  der  Empirie  zugänglichen  Gebiets  die  Ab- 
leitung z.  B.  der  Keplerschen  Gesetze  aus  den  Prinzipien  der 
Gravitationstheorie  gestattet  ist,  so  ist  durchaus  nicht  einzusehen, 
weshalb  die  Zurückführung  der  Naturgesetzlichkeit  auf   einen  ein- 

Kaotstudlea    XY.  5 


66  H.  Falkenheim, 

heitlichen  Weltgrund  als  unstatthaft  zurückgewiesen  werden  darf. 
Ohne  die  Welt  als  Ganzes  mit  ihrem  einheitlichen  gesetzlichen 
Zusammenhang  —  das  gilt  auch  hier  —  würden  die  Einzeldiuge 
gar  nicht  existenzfähig  sein;  Natur  überhaupt  ist  „Einheit  in  der 
Vielheit,  allwaltende  Gesetzlichkeit  in  der  verwirrenden  Überfülle 
der  Einzelfälle". 

Hier  ist  die  Stelle,  an  der  Liebmann  den  Grundideen  des 
spekulativen  Idealismus  am  nächsten  kommt.  Im  Hinausgreifeu 
über  das  Erfahrbare,  sagt  er,  sucht  unser  Denken  „einen  innersten 
Kern,  ein  bleibendes  Wesen  des  empirischen  Universums"  zu  er- 
fassen, das,  von  der  Vielheit  wechselnder  räUQilich-zeitlicher  Phä- 
nomene verhüllt,  dem  sinnlichen  Blick  unzugänghch  bleibt:  „Ktän 
gründlich  denkender  Verstand  kann  sich  dieses  Forschens  nach 
der  Tiefe  hin  eutschlagen  und  den  Gedanken  des  wesenhaften 
Weltgrundes  entbehren;  kein  philosophisches  System  kann  an 
dieser  letzten  Endfrage  gleichgültig  vorübergehen"  —  nur  über 
den  Grad  der  Erkennbarkeit  dieses  Weltwesens  können  die 
Meinungen  auseinandergehen.  In  mannigfacher  Gestalt  tritt  dieser 
Zeutralgedanke  in  Liebmanus  Arbeiten  hervor.  So  erklärt  er  die 
empirische  Welt  für  ein  phaenomenon  bene  fundatum,  weil  sie  in 
einer  absolut-realen  Weltordnung  wurzle ;  so  bemerkt  er,  dass  sich 
in  allem  Äusseren  ein  Inneres,  im  sichtbaren  Realen  ein  unsicht- 
bares Reale  kundgebe  und  deshalb  die  der  Betrachtung  des  Mate- 
riellen zugewandte  Naturwissenschaft  nicht  die  ganze  Natur, 
sondern  nur  eine  Seite  derselben  erfasse.  Von  den  Atomen  sagt 
er:  sie  seien,  falls  es  welche  gäbe,  „nicht  die  Natur,  sondern  nur 
Material  der  Natur".  In  den  Abänderungen  der  räuuilichen  Kon- 
stellation erkennt  er  bloss  Symptome  eines  innerlichen,  räumlich 
nicht  wahrnehmbaren  Geschehens,  ja  im  Räume  selbst  eine  von 
den  Gesetzen  unserer  Anschauung  bedingte  Manifestation  eines 
rein  intensiven,  au  sich  unräumlichen  Seins  und  Geschehens,  und 
demgemäss  in  der  Mechanik  „nicht  eine  Ätiologie  des  absolut 
Realen,  sondern  blosse  Semiotik  der  für  den  Menschen  wahrnehm- 
baren Symptome  des  Realen."  Ein  Ausspruch,  der  wie  ein  letztes 
persönhches  Bekenntnis  klingt,  schliesst  alle  diese  Gedankengänge 
folgendermasseu  ab:  „Der  Mensch  trägt  in  seinem  Innern,  in 
seines  Herzens  Herzen  jenes  Unsichtbare,  wahrhaft  Reale,  welches 
ewig  ist,  welches  alleui  individuellen  Bewusstsein,  allem  Gegensatz 
von  Subjekt  und  Objekt  vorangeht,  welchem  er  sich  vielleicht 
durch   zunehmende    Vertiefung    mehr   und    mehr    annähern   kann, 


Otto  Liebmanns  Kampf  mit  dem  Empirismus.  67 

.  .  .  und  welches  der  reflektierende,  in  endlichen  Bestimmungen 
diskursiv  denkende  Verstand  immer  nur  als  unnahbaren  Grenz- 
gedanken am  Horizont  der  sichtbaren  Welt  schweben  siebt." 


5. 

Unsere  Zeichnung  der  anti-empiristischen  Tendenz  von 
Liebmanns  Naturanschauung  würde  unvollständig  bleiben,  wenn 
wir  nicht  auf  zwei  ihrer  tragenden  Begriffe  noch  einen  zusammen- 
fassenden Blick  würfen:  auf  die  Begriffe  der  Kraft  und  des 
Zwecks.  Beide  stellt  Liebmann  in  den  Dienst  seines  durch- 
gängigen Strebens  nach  einer  geistigeren  Fassung  des  Weltproblems. 
Die  dynamische  Auffassung,  die  in  den  Naturkräften  die  Urfaktoren 
und  Grundagenzien  alles  materiellen  Geschehens  und  seiner  sinn- 
lich wahrnehmbaren  Veränderungen  erblickt,  gehört  zu  den  Ge- 
danken, die  er  mit  besonderer  Entschiedenheit  akzentuiert.  Kraft 
ist  ihm  eine  unvermeidliche  Grund-  und  Grenzvorstellung,  mit  der 
alle  Naturerklärung  operieren,  auf  die  alle  Mechanik  ihr  Er- 
scheinungsgebiet zurückführen  muss.  Kräfte  sind  permanente 
Realgründe,  ohne  deren  Wirksamkeit  alle  Gelegenheitsursachen 
ohnmächtig  zur  Hervorbringung  von  Veränderungen  sein  würden; 
sie  sind  die  nach  ihrer  Intensität  genau  bestimmten  Realprinzipien 
des  Geschehens,  somit  Kraft  und  Gesetz  notwendige  Ergänzungs- 
begriffe. Gesetze  sind  der  Ausdruck  immer  und  überall  gleich- 
massig  wirkender  Kräfte:  „Die  Kraft  ist  der  in  rerum  natura 
liegende,  objektive  Realgrund  dafür,  dass  das  Gesetz  gilt.  Kräfte 
sind  Kausalgespenster,  aber  reale,  nicht  imaginäre."  Sie  sind  ein 
Naturrätsel,  aber  sie  sind  da,  sie  wirken  —  gleich  so  manchem 
Andern  in  der  Welt,  das  unsichtbar  ist  und  doch  realiter  existiert. 
Denken  wir  etwa  an  die  Begriffe  der  Spannkraft  und  der  kine- 
tischen Energie,  so  haben  wir  —  ganz  im  Einklänge  mit  dem 
alten  aristotelischen  Gedanken  der  Dynamis  —  eine  reale,  den 
Dingen  selbst  innewohnende  Tendenz  zur  Aktion  vor  uns,  die  sich 
bei  Hinzutritt  äusserer  Bedingungen  in  Geschehen  umsetzt.  Will 
man  diese  reale  Tendenz,  weil  sie  kein  wahrgenommenes  Faktum, 
sondern  nur  interpretatorische  Hypothese  sei,  eine  subjektive  Idee 
nennen,  so  vergisst  man,  dass  sie  dies  in  keinem  andern  Sinne  ist, 
als  die  übrigen  Fundamentalprädikate  des  Räumlich-Realen  auch, 
Trägheit,  Masse,  Dichtigkeit  u.  s.  w. 

5* 


68  H.  Falkenheim, 

Auch  von  der  Bedeutung  des  Kraftbegriffs  für  die  Mechanik 
der  Atome   gilt,  dass    sie  ohne  dies  „unentbehrliche  Inventarstück 
des  naturwissenschaftlichen  Begriffsapparats"    nicht  durchzuführen 
ist.     Die    Körper    sind    nach    der    Definition    Liebmanns    „kraft- 
erfüllte   Räume    voll    raumerfüllender    Kräfte".       Das    Phänomen 
körperlicher  Ausdehnung  und  EaumerfüUung,  das  von  der  Korpus- 
kulartheorie   als    unerklärte  Tatsache    hingenommen  wird,  erkennt 
der  Dynamismus    als  Folge  von  Kräften,    die  ja  auch  der  Korpus- 
kulartheoretiker —  in   Gestalt   von   Attraktions-    und   Repulsions- 
kräften  —  nicht    entbehren    kann.      So  steigt  der  Dynamismus  in 
der  Erklärung   nicht  nur  tiefer  hinab  als  der  Atomismus,  sondern 
erklärt    auch    aus    weniger   Prinzipien    mehr.      In    seiner  meister- 
haften Kritik  der  Atomistik,  die  das  Hypothetische,  Widerspruchs- 
volle, nicht   selten  Abenteuerliche  der  verschiedenen  Atomtheorien 
einlässlich    entwickelt,    stellt  Liebmann    zwei  Gedankenreihen  auf, 
die    den    ausschliesslich    mechanischen  Atombegriff  von  Grund  aus 
umgestalten   müssten.      Einmal   würde,    falls  das  Atom  überhaupt 
Volumen   und  Gestalt   haben  soll,  seine  Denkbarkeit  an  der  Rela- 
tivität   unserer    Grössenvorstellungen    scheitern,    die    in    endloser 
Perspektive   zu    immer    kleineren  Bestandteilen  fortgehen  müssen; 
der    einzige  Ausweg   bleibt  dann,    aus  der  Vorstellung  räumlicher 
Extensität   ganz    herauszutreten   und  die  Atome  als  ausdehnungs- 
lose  Massen-  und  Kraftzentra  anzunehmen:   Diese  aber  wären  gar 
kein   Materielles    mehr,    sondern   nur   Etwas,   das  nach  aussen  im 
Zusammenwirken    mit    andern    seinesgleichen    das    Phänomen    der 
Materialität    hervorbrächte.      Sodann  bliebe,    wenn  die  Atome  leb- 
lose Massenpünktchen  wären,    die  Entstehung  geistiger  Wesen  un- 
erklärlich;   überwindet    man    diese  Schwierigkeit,    indem  man  den 
Atomen    selbst    psychische  Attribute    beilegt,    so  „beschreitet  man 
einen    transscendenten  Gedankenweg,    der   über    die   theoretischen 
Vorstellungen  der  heute  herrschenden  Physik  und  Chemie  himmel- 
weit hinausführt".    Liebmanu  betont,  dass  es  ewige,  metaphysische 
Grenzen  der  Atomistik  sind,  die  er  hiermit  fixiert  hat. 

Auch  an  den  Einwendungen,  die  gegen  die  Realität  des 
kosmischen  Gesaratagens,  der  actio  in  distans,  gerichtet  worden 
sind,  geht  Liebmann  keineswegs  achtlos  vorüber  —  freilich  nur 
um  nachzuweisen,  dass  der  vorgeschlagene  Ersatz  durch  die 
Kontaktwirkuug  seinen  Zweck  nicht  erfüllt.  Denn  wenn  wir  vor- 
urteilslos die  Erfahrung  befragen,  so  spricht  der  fühlbare  unsicht- 
bare Zug  gegen  den  Erdmittelpunkt  weit  eher  für  die  Fernwirkung 


r 


Otto  Liebmanns  Kampf  mit  dem  Empirismus.  69 

als  für  den  Kontaktmechanismus.  Aber  die  Kontaktwirkun^  ist 
nicht  bloss  um  nichts  gewöhnlicher,  sie  ist  auch  um  nichts  be- 
greiflicher. Es  beruht  auf  Selbsttäuschung,  wenn  man  meint, 
durch  sie  das  vermeintliche  Axiom  zu  retten,  dass  ein  Körper  da 
nicht  wirken  könne,  wo  er  nicht  sei.  Schon  oft  ist  gezeigt  worden, 
dass  dieser  Glaube  sich  auf  die  Verwechslung  von  mathematischer 
und  physischer  Berührung  gründet;  auch  die  Kontaktwirkung 
würde  in  Wahrheit  auf  eine  in  minimaler  Entfernung  stattfindende 
actio  in  distans  hinauslaufen:  „Zwischen  der  physischen  Bewegung 
und  der  bloss  phoronomischen  Bewegung  bleibt  stets  der  Unter- 
schied, dass  erstere  wirkt,  während  letztere  nicht  wirkt."  Zudem 
bleiben  auch  bei  konsequentester  Durchführung  der  Kontaktfiktion 
immer  gewisse  intensive  Merkmale  übrig:  wie  die  Fern  Wirkung 
Trägheit  und  beschleunigende  Kraft  annehmen  rauss,  so  hat  die 
Kontaktwirkung  Undurchdringlichkeit  und  Trägheit  zu  Voraus- 
setzungen. So  sind  in  letzter  Instanz  beide  Tatsachen  gleich 
unerklärt;  beide  sind  gleichermassen  Äusserungen  derselben  rätsel- 
haften Bewegungstendenz,  der  Schwerkraft.  "Will  man  aber,  wie 
es  im  Hinblick  hierauf  versucht  worden  ist,  gar  das  abstrakte 
Bewegungsgesetz  hji)OStasieren,  so  setzt  man  sich  mit  dem  ge- 
sunden Menschenverstand  in  einen  weit  schärferen  Konflikt  als 
durch  die  Annahme  der  Fernwirkung  und  lädt  den  dieser  ge- 
machten Vorwurf  in  erhöhtem  Masse  auf  sich. 


6. 

Liebmann    hat   in   seiner    „Weltwanderung"    die   Ergebnisse 

seines   Denkens   auch   in   poetischer   Form    niedergelegt.     Im  An- 

schluss   an   die   zuletzt   wiedergegebenen  Betrachtungen  sind  hier 

die  Verse  geschrieben: 

„Was  verbindet  Staub  zu  Sachen? 
Zermalme  Perlen,  und  Du  hast  den  Sand, 
Doch  wirst  aus  Sand  Du  keine  Perlen  machen. 

Staubwolke  der  Xatur?     Sandwirbel?    Dunst? 
Formloser  Nebel?    Nein,  da  fehlt  Jemand: 
Gestaltenbildend  schöpferische  Kunst." 

Mit  der  letzten  Wendung  leitet  er  zu  einem  Thema  über,  das  er 
mit  besonderer  Vorliebe  behandelt:  zur  Realität  des  Zwecks,  der 
Entelechie  —  um   auch  hier  Worte   seiner  Dichtung  zu  zitieren: 


70  H.  Falkenheiwi, 

„Was  sich  entfaltet 
Aus  Knospen,  Keimen,  was  sich  selbst  gestaltet, 
Nach  Zielen  strebt  aus  zukunftsreichem  Samen, 
Was  planvoll  schafft." 

An  der  Hand  einer  erschöpfenden  Zergliederung  des  komplizierten 
Phänomens  der  organischen  Zweckmässigkeit  stellt  er  eine  Reihe 
von  Funktionen  fest,  denen  im  Unorganischen  jede  Analogie  fehlt. 
Das  substantielle  Beharren  der  Form  im  Wechsel  des  Stoffs,  das 
zielstrebige  Hineinwachsen  des  Keims  in  einen  prädestinierten 
Typus,  die  autoplastische  Hervorbriugung  der  Organe  durch  eigene 
Triebkraft,  das  generelle  Vermögen  zur  Fortpflanzung  des  Gattungs- 
typus, die  wechselseitige  Beziehung  der  sämtlichen  Teile  zu  ein- 
ander als  Zweck  und  Mittel,  die  Berechnung  der  Struktur  und 
der  Funktionen  auf  Selbsterhaltung  des  Lebens  —  alle  diese 
Momente  werden  der  Reihe  nach  lichtvoll  erörtert  und  im  Anschluss 
daran  die  Unmöglichkeit  gekennzeichnet,  solche  beispiellosen  Eigen- 
tümlichkeiten aus  dem  blossen  Stoffwechsel  herzuleiten.  Statt 
dessen  wird,  lange  bevor  in  der  modernen  Biologie  die  gleiche 
Tendenz  wieder  aufkam,  mit  kritischer  Vorsicht  die  totgesagte 
Lebenskraft  in  ihre  Rechte  eingesetzt.  Liebmann  lässt  alle  die 
gegen  die  Lebenskraft  vorgebrachten  triftigen  Gründe  in  geschlos- 
sener Phalanx  aufmarschieren;  dann  aber  wendet  er  das  Blatt  um 
und  fordert,  indem  er  überaus  fein  und  geistreich  die  Möglichkeit 
von  Gegenbedenken  aufzeigt,  für  den  über  Physik  und  Chemie 
hinausreichenden  Rest  ebenfalls  Beachtung.  Auf  mechanistischer 
Seite  hat  man  für  das  unbequeme  Etwas,  das  der  Theorie  nicht 
gehorchen  will,  Bezeichnungen  wie  „organischer  Bildungstrieb"  oder 
„organische  Bildungsgesetze"  in  Bereitschaft;  übersetzt  man  das 
auf  Griechisch,  so  heisst  es  —  Entelechie,  Liebmann  fügt  hinzu: 
„Wenn  das  Wort  für  manche  Nasen  einen  unangenehmen  Geruch 
hat,  —  was  werden  sich  ernsthafte  Männer  um  Worte  streiten?" 
Die  Irrtümer  des  alten  Vitalismus,  der  das  ganze  Getriebe  des 
Lebens  durch  die  Annahme  einer  spezifischen  Kraft  erklären  wollte 
und  dabei  den  anorganischen  Naturprozess  vernachlässigte,  will  er 
damit  nicht  von  neuem  erwecken;  aber  das  Wort  „Lebenskraft" 
behält  seinen  guten  Sinn,  wenn  man  darunter  nicht  sowohl  einen 
Begriff  als  eine  Begriffslücke  versteht,  nämlich  jenes  rätselhafte 
Plus,  das  in  der  organischen  Natur  zum  Mechanismus  und  Chemismus 
hinzukommt  und  das  formlose  Aggregat  in  eine  bedeutungsvolle 
Gestalt  umwandelt.     Eine  Begriffslücke  aber,  ein  Nichtgewusstes 


Otto  Liebmanns  Kampf  mit  dem  Empirismus.  71 

—  das  schärft  Liebmann  auch  hier  wieder  ein  —  „ist  keineswegs 
ein  Nichts,  sondern  eben  ein  X". 

Dass  Liebniann  von  hier  aus  schon  vor  mehr  als  einem 
Menschenalter  zur  Abrechnung  mit  dem  Darwinismus  kommen 
musste,  liegt  auf  der  Hand.  Er  gesellt  sich  zu  denjenigen  Kritikern 
der  Deszendenztheorie,  die  bei  aller  Anerkennung  des  grossen 
Verdiensts  und  relativen  Rechts  ihrer  historisch-mechanischen  Be- 
trachtungsweise doch  zu  dem  Ergebnis  kommen,  dass  sie  das 
Problem  der  zweckmässigen  Entwicklung  unerklärt  lasse.  „Selbst 
wenn  man,"  so  resümiert  er  sich,  „dem  Kampf  ums  Dasein  absolute 
Vollmacht  erteilt  und  ihn  sämtliches  Unpassende  schonungslos 
ekrasieren  lässt,  so  bleiben  auch  bei  dieser  denkbar  gründlichsten 
Durchsiebung  doch  als  Urfaktoren  die  Fortpflanzungsfähigkeit, 
Erblichkeit,  Entwicklungsfähigkeit  stehen,  ohne  die  gar  kein 
Organismus  existieren,  kein  Kampf  ums  Dasein  stattfinden  könnte". 
Diese  Faktoren  aber  sind  eminent  und  ausschliesslich  teleologische, 
mechanisch  unerklärte,  für  Physik  und  Chemie  unbegreifliche  Ur- 
tatsachen  in  der  lebendigen  Natur;  der  ganze  Darwinismus  ruht 
auf  teleologischer  Basis.  Oder  wie  Liebmanu  diesen  Gedanken 
an  anderer  Stelle  mit  epigrammatischer  Zuspitzung  ausdrückt: 
„Der  Darwinismus  ist  die  Teleologie,  moderiert  durch  den  Kampf 
ums  Dasein."' 

So  machen  die  unüberwindlichen  Grenzen  des  kausalen  Ver- 
fahrens der  Naturforschung  eine  prinzipielle  Ergänzung  und 
Weiterführung  nötig.  Ob  es  ausser  den  Naturkräften  noch  be- 
sondere Zweck  Ursachen  giebt,  darüber  kann  Schulstreit 
herrschen;  dass  es  in  der  Natur  eine  vom  Menschen  unabhängige, 
seiner  Kunst  unendlich  überlegene  Zweckmässigkeit  giebt,  da- 
rüber nicht.  Die  den  Naturlauf  regulierenden  Gesetze  und  in  ihm 
zusammenwirkenden  tätigen  Substanzen  sind  so  geartet,  dass  da- 
raus die  bewunderungswürdige  Zweckmässigkeit  normaler  Natur- 
produkte resultieren  muss.  Das  mechanische  Erklärungsideal 
koexistiert  noch  heute,  wie  einst  im  Altertum,  mit  der  Lehre  von 
der  Substanzialität  der  Form.  Je  genaueren  Einblick  man  in  das 
Getriebe  des  Naturmechanismus  gewinnt,  desto  genauer  erkennt 
man  seine  Zweckmässigkeit.  Selbst  aus  dem  Gesichtspunkte  der 
mechanischen  Kausalität  bliebe  doch  der  Unterschied  grösserer 
oder  geringerer  Kompliziertheit  der  Naturphänomene  bestehen;  sie 
bilden  eine  „wohlgegliederte  Hierarchie",  eine  vom  Unvollkom- 
menen  und   Niedrigen   zum    Vollkommenen   und   Höheren    empor- 


72  H.  Falkenheim, 

steigende  Stufenleiter.  In  das  Begriffsschema  der  aristotelischen 
Metaphysik  passen  die  Ergebnisse  der  modernen  Naturwissenschaft 
vortrefflich  hinein,  —  nur  dass  diese  den  bei  Aristoteles  noch 
fehlenden  Mechanismus  der  Höherentwicklung  hinzufügt:  Aristo- 
teles betrachtet  von  teleologischem  Standpunkte  den  Plan  der 
Welt,  die  Naturwissenschaft  erkennt  aus  dem  Getriebe  der  Kräfte 
die  Mittel  zur  Realisierung  des  Weltplans.  Der  blinde  Mechanis- 
mus dieser  wirkenden  Kräfte  steht  im  Dienste  einer  Naturlogik; 
in  den  Augen  rationeller  Teleologie  fallen  beide,  das  System  not- 
wendiger Mittel  und  Zwecke  und  das  System  der  Ursachen  und 
Wirkungen,  kongruent  zusammen,  „wie  die  vorwärts  gelesene  und 
die  rückwärts  buchstabierte  Rede".  Und  zwar  reicht  diese  Technik 
samt  dem  ihr  dienstbaren  Mechanismus  bis  in  die  idealen  Wert- 
urteile des  menschlichen  Geistes  hinauf.  Der  landläufige  Natur- 
begriff freilich  wird  dadurch  „von  Grund  aus  revolutioniert".  Man 
wird  zu  der  Idee  genötigt,  dem  Naturmechanismus  müsse  etwas 
eminent  Logisches  zugrunde  liegen:  „Ist  die  Vernunft  Naturpro- 
dukt, so  muss  die  Natur  Vernunft  haben",  so  muss  sie  in  ihrem 
Kern  etwas  dem  menschlichen  Logos  Analoges  sein.  In  diesem 
Gedanken  erreicht  Liebmanns  Teleologie  ihr  abschliessendes  Er- 
gebnis. 

Doch  ein  schiefer  Zug  würde  in  das  von  uns  entworfene 
urkundliche  Bild  kommen,  wenn  wir  beim  Rückblick  von  dieser 
gewonnenen  Höhe  nicht  eine  Einschränkung  hinzufügten.  Bei 
allem  energievollen  logischen  Vordringen  ins  Reich  des  Überempi- 
rischen  bleibt  Liebmann  sich  seines  transscendentalen  Ausgangs- 
punktes wohl  bewusst,  und  so  hält  er  sich  stets  vor  Augen,  dass 
unsere  Gedanken  über  den  Weltgrund,  bei  vollkommener  Überein- 
stimmung ihrer  Konsequenzen  mit  der  tatsächlich  gegebenen  Er- 
scheinungswelt, im  günstigsten  Falle  nichts  Anderes  enthalten 
können  als  die  notwendige  Art  und  Weise,  wie  sich  das  absolut 
Reale  für  eine  Intelligenz  von  spezifisch  menschlicher  Geistes- 
konstruktiou  repräsentiert.  Daraus  geht  Liebmanns  charakteristi- 
sches Postulat  einer  „kritischen  Metaphysik"  hervor,  die  nicht 
apodiktische  Wissenschaft,  sondern  hypothetische  Erörterung 
menschlicher  Vorstellungen  über  Wesen,  Grund  und  Zusammenhang 
der  Dinge  sein  will;  ihre  Begriffe  sind  demgemäss  keine  ontolo- 
gischen  Dogmen,  sondern  der  Ausdruck  logisch  konsequenter  Inter- 
pretationen der  Erfahrung.  Nicht  jede  metaphysische  Hypothese 
ist    mit   den  Tatsachen  der  Empirie  logisch  vereinbar;    den  Spiel- 


Otto  Liebmanns  Kampf  mit  dem  Empirismus.  73 

raura  deuknotwendiger  Hypothesen  zu  finden,  ist  Aufgabe  sorg- 
fältiger kritischer  Untersuchnng.  lu  diesem  Sinne  bleibt  die 
Metaphysik  als  Theorie  der  Vorbedingungen  des  empirisch  Ge- 
gebenen Verstandespflicht  und  behauptet  zugleich  als  still- 
schweigend angerufene  Instanz  über  den  grundsätzlichen  Kontro- 
versen der  Spezialforschung  den  Rang  einer  Fundamentalwissen- 
schaft. — 

Wieweit  ein  jeder,  insbesondere  der  Kantisch  gesinnte  Leser, 
den  Gedanken  Otto  Liebraanns  im  ganzen  wie  im  einzelnen  folgen 
will,  mag  er  bei  sich  beantworten.    Und  auch  das  mag  jeder  nun- 
mehr in  seiner  Weise  prüfen,   welche  Bestandteile  aus  Liebmanns 
Philosophie    im    Laufe    der    Jahrzehnte  Gemeingut  geworden  sind, 
um    welche    noch    heute    gestritten    wird,    und    schliesslich    mit 
welchen    er    verhältnismässig    einsam    dasteht.     Dass  sein  Wirken 
in  mehr    als    einer   Hinsicht  wegbahnendes  Verdienst    gehabt   und 
tiefgehende  Spuren  hinterlassen  hat,  kann  trotz  aller  Wandlungen 
und  Korrekturen,  denen  Fassung  und  Behandlung  der  Probleme  in 
der  Folgezeit  unterworfen  gewesen  sind,    gerechterweise    nicht   in 
Zweifel   gezogen   werder ;    zu  jedem    Gedankengange   Liebmanns 
wird    der    mit    den    philosophischen  Erörterungen    der   Gegenwart 
vertraute  Leser  eine  Fülle  von  erläuternden  oder  kritischen  Glossen 
hinzufügen  können,  die   dafür  Zeugnis  ablegen  wwden.      Wem  es 
dann   bei   der  Beurteilung    einer    solchen    Leistung   nicht  auf  den 
Grad    der  Übereinstimmung   mit   den    eigenen  Ansichten,    sondern 
auf  die  darin    bekundete  Energie  des  philosophischen  Denkens  an- 
kommt, der  wird  dem  Siebzigjährigen  gern  den  Zoll  der  Verehrung 
darbringen,    der    einer  so  eindringenden  und  umfassenden  Geistes- 
arbeit gebührt.     Und    um    so    herzlicher    wird   diese  Anerkennung 
sein    dürfen,    als    unter    den  Vorzügen    Liebmanns    nicht  der    ge- 
ringste jederzeit  der  Mut   einer  mannhaften  Überzeugung  gewesen 
ist,  womit  er,    oft    genug    im  Widerspruch    zur  herrschenden  Mei- 
nung des  Tages,    die    ihm    am   Herzen   liegenden  Wahrheiten  ver- 
fochten  hat.      Deshalb    Hess    sich    gerade    aus  seinem  lebensläng- 
lichen   Kampfe     mit     dem    Empirismus    das    Endziel    seiner    Be- 
strebungen  besonders    klar    erkennen,    wie    wir    es    zum  Schlüsse 
nochmals    mit    seinen    eigenen  Worten    aussprechen    wollen:    „Die 
Emanzipation    von   der  puren  Tatsächlichkeit    ist    zwar   nicht    die 
einzige,    aber    eine  Hauptquelle    aller   Religion    und    Kunst,    aller 
Philosophie  und  Theorie." 


Das  Verhältnis  von  Philosophie  und  Mathematik 

nach  0.  Liebmann. 

Von  Professor  W.  Kinkel,  Giessen. 


Platon,  der  über  das  Eingangstor  seiner  Akademie  schrieb: 
f^iriSelg  dyswfibTQr^Tog  tlahco,  ist  nicht  nur  in  der  Geschichte  der 
Mathematik  rühmlichst  bekannt  als  Begründer  der  sogenannten 
analytischen  Methode,  sondern  hat  auch  eine  tiefreichende  logische 
Grundlegung  der  Mathematik  aus  seiner  Ideenlehre  heraus  gegeben. 
Er  tadelt  es  an  den  Mathematikern,  dass  sie  von  gewissen  Grund- 
sätzen ausgehen  und  diese,  als  seien  sie  selbstverständlich,  unbe- 
wegt lassen,  während  der  Dialektiker  vielmehr  über  jene  Grund- 
sätze hinaus  nach  den  Ursprüngen  der  Erkenntnis  fragen 
müsse.  ^)  Die  hohe  Würdigung,  welche  Platon  der  Mathematik 
zuteil  werden  Hess,  geht  unter  anderem  auch  aus  seinen  Worten 
hervor:  Wenn  z.  B.  jemand  aus  allen  Künsten  die  Rechenkunst, 
die  Messkunst  und  die  Wägekunst  ausscheidet,  so  scheint  mir  das, 
was  übrig  bleibt,  nicht  viel  wert  zu  sein.^)  In  diesem  platonischen 
Geiste  sprach  Nikolaus  von  Cusa,  der  erste  moderne  Philosoph, 
das  Wort  aus:  Nihil  certi  habemus,  nisi  nostram  matheraaticam. 
Nach  Galilei  ist  das  Buch  der  Natur  mit  mathematischen  Buch- 
staben geschrieben,  nämlich  in  Dreiecken,  Quadraten,  Kreisen, 
Kugeln  u.  s.  w.^)  Descartes  und  Leibniz  sind  als  selbstschöpferische 
Mathematiker  aufgetreten:  Descartes  hat  das  Gebiet  der  Mathe- 
matik   um    die    Provinz    der    analytischen   Geometrie    bereichert; 


1)  Vergl.  Rep.  510  CD:  olfiai  yng  ae  eUevai,  oti  oi  negi  xus  yew/uezQias 
le  xai  /.oytnfj.ovs  xat  tu  rvtavia  n^ay^atevo^evoi,  vnod-s/^eyoi  to  te  TiEQCTtoy 
xat  TO  ccQTCoy  xcd  tu  a^ri^aia  xcd  ywuidöy  TQitia.  eidt]  xal  aXXcc  Tovxoiv  a&£Xg>a 
xct&^  exäarrjy  fj,ed-odoy,  rcevzcc  fj,ev  wg  Eidöreg,  noiriaä^evoi  vnod-eastg  avr«,  ovdeya 
köyoy  ovT€  avToig  ovte  aXkoig  eri  u^ioigi  tteqI  cwtcvy  SiSovui  wg  navtL  (fauegwy, 
ex  tovTtoy  d'uQ-(<'>^i£voi  zu  'Äoina  ijdri  dcatcöyzeg  ZE'Aevzojaty  ofxokoyov^eycog  ezi 
Tovzo,  oi)  av  inl  axexpiy  OQfxrjawaiv. 

«)  Vergl.  Phileb.  55  E. 

»)  II  Saggiatore  op.  IV,  171,  Vergl.  E.  Cassirer:  Das  Erkenntnis- 
problem I,  324. 


Das  Verhältnis  von  Philosophie  und  Mathematik  nach  0.  Liebmann.       75 

Leibniz  ist  einer  der  Schöpfer  der  Infinitestimalmethode.  Den  hohen 
Kang,  welchen  beide  Denker  der  Mathematik  zuerkannten,  bestätigt 
ihre  eigene  Philosophie.  Man  darf  in  dieser  Hinsicht  nur  auf  das 
bedeutende  Werk  von  E.  Cassirer  über  das  Erkenntnisproblem 
verweisen.  Kant  begegnet  sich  fast  wörtlich  mit  Piaton,  wenn  er 
sagt:  Ich  behaupte  aber,  dass  iu  jeder  besonderen  Naturlehre  nur 
soviel  eigentliche  Wissenschaft  angetroffen  werden  könne,  als 
darin  Mathematik  anzutreffen  ist.i)  Die  Grundfrage  der  Kritik 
der  reinen  Vernunft:  Wie  sind  synthetische  Urteile  a  priori  möglich? 
richtet  sich  in  erster  Linie  an  die  Mathematik  und  die  mathe- 
matische Naturwissenschaft. 

Jene  platonische  Methode,  welche  ausgehend  von  der  exakten 
Wissenschaft  nach  deren  grundlegenden  Voraussetzungen  fragt,  hat 
zur  Entdeckung   des  a  priori   geführt.     Wie  bei  Piaton,   so  ist  es 
auch  bei  Descartes  darauf  abgesehen,  die  Prinzipien  der  exakten 
Wissenschaften    rein    herauszuarbeiten    und    zu    beglaubigen.^) 
Und  dies  ist  denn  auch  ganz  und  gar  der  Sinn  der  transscenden- 
talen  Methode  Kants.     A  priori   sind   nach  Kant   die   allgemeinen 
und  notwendigen  Voraussetzungen  der  Wissenschaft,  welche  zugleich 
die  Bedingungen   der  Gegenstände   der  Erfahrung  bedeuten.     Der 
Begriff  des  Transscendentalen  wird  von  Kant,  wie  folgt,  definiert: 
„Ich  nenne  alle  Erkenntnis  transscendental,   die  sich  nicht  sowohl 
mit   Gegenständen,    sondern    mit    unseren   Begriffen    a  priori   von 
Gegenständen  überhaupt,  beschäftigt."^)    Das  richtige  Verständnis 
dieser  Worte  ist  die  Voraussetzung  einer  gerechten  Würdigung  der 
Lebensarbeit  Imm.  Kants.      Wir   sehen    denn    auch,    wie   sich   die 
bedeutendsten  Schüler  Kants  in  der  modernen  Zeit  in  der  richtigen 
Würdigung  und  Einsicht   in   die  Bedeutung  der  transscendentalen 
Methode  begegnen.*)     „Wenn  die  Aufgabe  der  theoretischen  Philo- 
sophie in  erster  Linie  in  dem  „Suchen  nach  den  höchsten  Gesetzen 
des  erkennenden  Bewusstseins"  ^  besteht,  so  versteht  sich  die  enge 
Beziehung   derselben   zur  Mathematik   und   mathematischen  Natur- 
wissenschaft sozusagen  von  selbst.    Es  darf  uns  daher  nicht  Wunder 


1)  1mm.  Kants  Werke  ed.  Hartenstein  IV,  360. 

2)  Cassirer  a.  a.  O.  S.  379/80. 

')  Vergl.  Krit.  d.  r.  V.  2.  Aufl.,  S.  25;  dazu  auch  S.  40  u.  S.  80. 

*)  Vergl.  z.  B.  0  Liebmann:  Zur  Analysis  der  Wirklichkeit.  3.  Aufl., 
S.  222  sq.  Gedanken  und  Tatsachen  II,  1.  Abschn.:  Geist  der  Trausscen- 
dentalphilosophie.  sowie  H.  Cohens,  Kants  Theorie  der  Erfahrung.  2.  Aufl. 

6)  Analys.  S.  287. 


76  W.  Kinkel, 

nehmen,  dass  auch  Liebmann  den  Wert  der  Mathematik  und  math. 
Naturwissenschaft  ähnlich  wie  Kant  und  Piaton  einschätzt.^)  Lieb- 
niann  ist  es  gewesen,  welcher  als  einer  der  ersten  die  Bedeutung 
der  modernen  sogenannten  metageometrischen  Untersuchungen  für 
die  Erkenntnistheorie  festzustellen  unternahm,  wovon  später  noch 
zu  reden  sein  wird. 

Hier  aber  ist  der  Ort  zuerst  einer  allgemeineren  Untersuchung 
Eaum  zu  geben,  welche  sich  auf  die  Bedeutung  der  Untersuchung 
der  transscendentalen,  oder  wie  Liebmann  zu  sagen  pflegt,  der 
metakosmischen  Erkenntnisformen  für  die  Erkenntniskritik  der 
Mathematik  bezieht.  Wer  in  Wahrheit  den  „Geist  der  Trans- 
scendentalphilosophie"  in  sich  aufgenommen  hat,  der  kann  hinfort 
nicht  mehr  eine  exakte  philosophische  Begründung  der  Mathematik 
von  der  Psychologie  erwarten.  In  dieser  Ablehnung  der  Psychologie 
als  der  grundlegenden  philosophischen  Disziplin  begegnen  sich 
wiederum  0,  Liebmann  und  H.  Cohen.  Es  handelt  sich  aber  bei 
der  transscendentalen  Methode  nicht  um  die  Entstehung  desjenigen 
Wissens,  w^elches  das  ein^lne  Individuum  in  irgend  einem  Zeitpunkt 
seines  Lebens  sein  eigen  nennt,  sondern  um  die  Voraussetzungen 
der  Wissenschaft.  Die  Frage  nach  der  Entstehung  des  Wissens 
im  Einzelnen  mag  interessant  genug  sein;  aber  um  sie  zu  lösen, 
muss  man  bereits  die  Erkenntniskritik,  die  Mathematik  und  mathem. 
Naturwissenschaft  voraussetzen;  und  jedenfalls  trägt  die  Unter- 
suchung der  Frage  nach  der  Entstehung  des  Wissens  nichts  bei 
zu  einer  allgemeinen  philosophischen  Begründung  der  exakten 
Wissenschaften.^)  Wir  sehen  denn  auch,  wie  die  Vertreter  des 
Sensualismus,  die  überall  vom  Subjekt  und  seinen  Eindrücken  aus- 
gehen, an  der  logischen  Begründung  der  Mathematik  scheitern. 
Berkeley  kommt  von  seinem  Standpunkt  aus  zu  einer  V^erwerfung 
der  Grundbegriffe  der  modernen  Infinitesimalrechnung.  Die  Grenze 
der  Sichtbarkeit  ist  für  ihn  auch  die  Grenze  der  Teilbarkeit.  Daher 
wird  der  Begriff  des  Unendlichkleinen  als  widersinnig  abgelehnt. 
Ebenso  richtet  sich  seine  sensualistische  Kritik  gegen  den  Begriff 
des  Inkommensurablen;^)  jede  geometrische  Grösse  muss  aus  einer 
endlichen  Zahl  von  Punkten  bestehen.     So  kommt  Berkeley  sogar 


1)  Vergl.  z.  B.  Analys.  S.  IV  und  S.  285. 

^)  Husserl,  der  früher  von  der  Psychologie  die  Begründung  der 
Arithmetik  und  des  Zahlbegriffs  erwartete,  hat  sich  in  seinen  logischen 
Untersuchungen  von  diesem  Standpunkt  losgesagt. 

3)  Vergl.  Cassirer,  Erkenntnisproblem  II,  223  sq. 


Das  Verhältnis  von  Philosophie  und  Mathematik  nach  0.  Liebmann.       77 

dahin,  den  pythagoreischen  Lehrsatz  für  falsch  zu  erklären.  Der 
Mathematik  spricht  er  nur  eine  annähernde  Gültigkeit  aber  keine 
exakte  und  sichere  Geltung-  zu.  Und  David  Hunie  ist  ihm  hierin 
treulich  gefolgt.  Wenn  er  der  Arithmetik  zwar  strenge  Gültigkeit 
zubilligen  will,  so  geschieht  dies  nur,  weil  er  in  ihren  Grundsätzen 
analytische  Urteile  zu  erkennen  glaubte.  Der  Geometrie  dagegen 
spricht  er  die  Sicherheit  in  seinem  Hauptwerk  direkt  ab.^) 

Eine  logische  Begründung  der  Mathematik  ist  nur  vom 
Standpunkt  des  kritischen  Idealismus  aus  möglich.  Liebmann 
lehnt  daher  auch  das  Ausgehen  von  der  Seele,  von  einer  Seelen- 
substanz und  ihren  Fähigkeiten  ausdrücklich  ab.  ..Und  worin 
besteht  die  radikale  differentia  specifica  dieses  Kantischen  a  priori 
gegenüber  den  ehemaligen  ideis  innatis?  Kurz'  gesagt,  darin,  dass 
Kant  die  allgemeinen  und  notwendigen  Erkenntnisse  —  (mathe- 
matische, logische  und  metaphysische  Grundwahrheiten)  —  nicht, 
wie  die  Dogmatiker,  als  Mitgift  einer  individuellen  Seelensubstanz, 
Psyche,  Monade,  mens  u.  d.  m.  auffasst,  —  denn  der  Kritiker 
weiss,  dass  wir  von  einer  solchen  übersinnlichen  Seeleusubstanz 
nichts  wissen;  sondern  als  herrschende  Grundnormen  und  -formen 
jenes  erkennenden  Bewusstseins,  welches  die  Urtatsache  xar"  e^oyj]v 
genannt  werden  kann,  und  innerhalb  dessen  für  das  Subjekt  eine 
empirische  Körperwelt,  ein  räumlicher  Makrokosmos  mit  indivi- 
duellen Geistern  darin,  allererst  entsteht."''*)  Wenn  wir  nun  des 
Näheren  die  Stellung  der  Mathematik  im  System  der  Wissen- 
schaften, wie  sie  sich  Liebmann  darstellt,  untersuchen  wollen,  so 
ist  es  nötig,  auf  gewisse  erkenntniskritische  Erörterungen  einzu- 
gehen. Es  handelt  sich  um  den  Begriff  der  Notwendigkeit. 
Liebmann  unterscheidet  zunächst  die  intellektuelle  Notwendigkeit,^) 
„welche  darin  besteht,  dass  etwas  gedacht  oder  vorgestellt  werden 
muss,  weil  sein  Gegenteil  nicht  denkbar  und  nicht  vorstellbar  ist" 
von  der  realen  Notwendigkeit,  „darin  bestehend,  dass  etwas  sein 
oder  geschehen  muss,  weil  sein  Gegenteil  nicht  sein  oder  nicht 
geschehen  kann."  Wichtiger  als  dieser  Unterschied  ist  die  Differenz, 
welche  Liebmann  unter  zwei  Arten  der  intellektuellen  Notwendigkeit 
macht,  und  die  er  mit  den  Namen  der  logischen  und  der  intuitiven 


M  Vergl.    L.    Falter,    Die    erkenntnistheoretischen    Grundlagen    der 
Mathematik  bei  Kant  und  Hume.     Diss.  Giessen  1903.     S.  69. 

2)  Analysis  S.  222/223.     Vergl.  Gedanken  und  Tatsachen  II,  3. 

3)  Gedanken  und  Tatsachen  I,  S.  2  sq.  und  zum  Folgenden :  Analysis 
S.  77  sq. 


78  W.  Kinkel, 

Notwendigkeit  bezeichnet.    „Ein  anderes  ist  logische  Notwendigkeit, 
ein   anderes  Anschauungsnotwendigkeit.     Jene,  die   sich   über  eine 
viel   umfassendere  Sphäre   erstreckt,  besteht  darin,  dass  etwas  ge- 
dacht  werden    muss,    weil   dessen    Aufhebung   einen    begrifflichen 
Widerspruch   (a  =  Non-A)   involviert,   mithin  ungereimt  ist.     Die 
andere   aber   darin,    dass    etwas   in    der   Sinnes-  und  Phantasiean- 
schauung bildlich  vorgestellt  werden  muss,  weil  dessen  Aufhebung, 
obwohl  gar  keinen  begrifflichen  Widerspruch  involvierend,  unserem 
Anschauungsvermögen   schlechterdings   nicht  gelingen  will,  folglich 
mit   der   Organisation  dieses   Vermögens   unvereinbar   ist."^)     Ehe 
ich    meine   kritischen   Bedenken   gegen   diese   Unterscheidung   vor- 
bringe, möchte  ich  meinen  objektiven  Bericht  über  die  Anschauungen 
Liebmanns  zu  Ende  führen.    Die  logische  Notwendigkeit  gilt  über- 
greifend  für  alle  Gebiete  des  Wissens.     Daher  gebührt  der  Logik 
in   der  Stufenordnung   der   deduktiven  Wissenschaften  die  oberste 
und    grundlegende  Stellung.     An   sie   reiht   sich   an  zweiter  Stelle 
die    allgemeine    Mathematik    oder    reine    Grössenlehre    (Logik    der 
Quantität).^)     Diese  ist  nichts  anderes   als  eine  Spezialanwendung 
der  Logik.     „Sobald   der  Gattungsbegriff   der  Grösse,   welcher  bei 
scharfer  Fassung   diejenigen  der  Einheit  und  der  Zahl  involvieren 
muss,  eingeführt  ist,  ergiebt  sich  durch  Anwendung  des  principium 
contradictionis   auf   den  Begriff   der  Grösse  als  ein  Spezialfall  das 
Axiom  der  vermittelten  Grössenidentät."  ^)    Durch  seine  Anwendung 
auf    die    arithmetischen  Denkoperationen    ergiebt    sich    das    ganze 
System  der  allgemeinen  mathematischen  Gesetze.     Diesen  Wissen- 
schaften der  logischen  Notwendigkeit  folgen  nun  die  Wissenschaften 
der  intuitiven  Notwendigkeit.     Diese  sind  nun  zwar  einerseits  den 
logischen  Gesetzen  unterwoi-fen,  bringen  aber  andererseits  „gewisse, 
den   von   ihnen   behandelten  Grössenarten  inhärierende  Notwendig- 
keiten   mit   ins   Spiel,    deren    apodiktische   Gewissheit   sich   nicht 
mehr   auf  eine  Denknotwendigkeit  zurückführen  lässt".*)     Es  sind 
dies   die  Geometrie,  die  Chronometrie  und  Phoronomie.     Es  folgen 
dann  die  Wissenschaften  der  realen  Notwendigkeit,  auf  welche  wir 
aber  hier   nicht   einzugehen  brauchen.     Von  besonderem  Interesse 


1)  Analysis  S.  77.     Gedanken  uad  Tatsachen  I,  21. 

2j  Vergl.  zum  Folgenden :  Gedanken  und  Tatsachen  I,  38  ff. 

3)  a.  a.  O.  S.  39.  Mit  diesem  Axiom  ist  der  Satz  gemeint:  Zwei 
Grössen,  die  derselben  dritten  Grösse  gleich  sind,  sind  auch  untereinander 
gleich.    Vergl.  S.  28  a.  a.  O. 

*)  a.  a.  0.  S.  40. 


Das  Verhältnis  von  Philosophie  und  Mathematik  nach  0.  Liebmann.       79 

ist  hier  uiin  für  uns  das,  was  Liebmann  über  die  Eigenart  der 
Geometrie  sagt.  Die  metageometrischen  Spekulationen  werden 
zwar,  wie  schon  gesagt,  von  Liebmann  gebührend  gewürdigt,  allein 
sie  dienen  nur  zum  Beweis  dafür,  dass  es  uns  möglich  ist,  durch 
reine  Begriffe  im  Denken,  also  nur  der  logischen  Notwendigkeit 
folgend  über  die  begrenzte  Natur  unserer  Raumanschauung  hinaus- 
zugehen. „Eine  Metageometrie  ist  möglich,  weil  eben  die  in- 
tuitive Notwendigkeit  der  geometrischen  Axiome  keine  logische 
Notwendigkeit  ist.  Metamathematik  ist  unmöglich,  weil  die 
Notwendigkeiten  der  allgemeinen  Grössenlehren  oder  Mathematik 
rein  logische  Notwendigkeiten  sind."^)  Von  diesem  Standpunkt 
der  Metageometrie  aus  nun  kann  man  sogar  unseren  gegebenen 
(euklidischen)  Anschauungsraum  als  einen  Spezialfall  eines  höheren 
allgemeineren,  aber  eben  nur  logischen,  nicht  intuitiven  Raum- 
begriffes auffassen.  Die  Untersuchungen,  welche  zu  dieser  Er- 
kenntnis geführt  haben,  sind  ausgegangen  von  den  Versuchen, 
das  sogenannte  Parallelenaxiom  des  Euklid  (das  5.  Postulat  des 
Euklid,  in  manchen  Ausgaben  das  11.  Axiom)  zu  beweisen.  Darüber 
wird  sogleich  noch  mehr  zu  sagen  sein.  Unser  Raum,  dergestalt 
als  Spezialfall  eines  höheren  logischen  Raumbegriffes  gefasst,  kann 
mit  Liebmann  definiert  werden  als:  „ein  ebener  Raum  von  3 
Dimensionen,  in  welchem  die  euklidische  Geometrie  unter  der  Be- 
dingung gilt,  dass  sein  Krümmungsmass  überall  den  konstanten 
Wert  Null  besitzt."^)  Als  besonders  hervorstechende  Merkmale 
werden  also  hervorgehoben:  die  Gültigkeit  des  Parallelenaxioms, 
die  Dreidimensionalität  und  die  Ebenheit  des  Raumes. 

Die  Axiome  nun,  durch  welche  diese  Besonderheiten  des 
euklidischen  Raumes  gegenüber  allen  andern  denkbaren  Räumen 
formuliert  werden,  sollen  nun  eben  nach  Liebmann  keine  logischen 
Notwendigkeiten,  sondern  intuitive  sein,  d.  h.  sie  sollen  sich  aus 
der  besonderen  Natur  unseres  subjektiven  Anschauungsvermögens 
ergeben.  „Der  Apriorismus  glaubt  in  der  euklidischen  Rauraform 
ein  Anschauungsgesetz  unserer  Intelligenz  und  damit  eine 
immanente,  in  unserer  eigenen  Natur  begründete  Schranke  unseres 
Anschauungsvermögens  entdeckt  zu  haben."  ^)  Während  z.  B.  ein 
Raum  von  mehr  als  3  Dimensionen  logisch  sehr  wohl  denkbar  ist, 


1)  a.  a.  0.  S.  28. 

2)  Vergl.  Analysis  S.  60. 

3)  A.nalysis  S.  81-82. 


80  W.  Kinkel, 

SO  können  wir  uns  denselben  doch  unmöglich  anschaulich  vorstellen. 
Anschauungsnotwendig  ist  vielmehr  die  Dreidimensionalität.  Und 
hierher  gehören  „alle  spezifisch  geometrischen  Axiome  des  Euklid".^) 
Als  Beispiele  führt  Liebmanu  an:  „Um  einen  Punkt  in  der  Ebene 
herum  giebt  es  nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  4  rechte  Winkel". 
„Zwei  gerade  Linien,  die  auf  eine  gewisse  Strecke  hin  gleich  weit 
von  einander  entfernt  sind,  sind  ins  Unendliche  verlängert  überall 
gleich  weit  von  einander  entfernt"  (Parallelenaxiom).  Ferner: 
„Zwei  gerade  Linien,  die  sich  einmal  geschnitten  haben,  schneiden 
sich  ins  Unendliche  verlängert  nie  wieder". 2)  Das  Gegenteil  dieser 
Sätze,  so  sagt  Liebmann,  sollen  wir  uns  zwar  denken  können, 
aber  nicht  anschaulich  vorstellen. 

Es  muss  nun  zweierlei  wohl  bedacht  werden,  wenn  man  der 
Lehre  Liebmanus  gerecht  werden  will.  Erstens:  Liebmann  akzep- 
tiert die  Lehre  Kants,  nach  welcher  Raum  und  Zeit  reine  An- 
schauungsformen a  priori  sind.  Deshalb  kann  es  sich  bei  der 
Begründung  der  geometrischen  Axiome  nicht  um  die  sinnlich- 
empirische Anschauung  handeln,  sondern  um  die  reine  Anschauung 
a  priori  handeln;  d.  h.  aber:  Der  Raum  „ist  ein  Gesetz,  ein  Loka- 
lisationsgesetz,  welches  unser  anschauendes  Bewusstsein  despotisch 
beherrscht,  die  gesamte  apodiktische  Gesetzlichkeit  der  Geometrie 
in  sich  schliesst  und  für  uns  alle  eine  unantastbare  empirische 
Realität  besitzt":^)  Besonders  sei  nochmals  darauf  hingewiesen, 
dass  hier  der  Raum  als  ein  Gesetz  des  erkennenden  Bewusstseins 
gefasst  wird.  Zweitens  muss  im  Auge  behalten  werden,  dass 
durch  diese  Zurückführung  des  Raumes  auf  die  erkenntniskritische 
Subjektivität  garnichts  über  die  absolute  Realität  des  Raumes 
ausgesagt  werden  soll.  Wenn  der  euklidische  Raum  auch  für 
unser  Anschauungsvermögen  und  dessen  spezifische  Organisation 
massgebend  ist,  so  bleibt  doch  (für  Liebmann)  die  Möglichkeit 
bestehen,  dass  für  andersgeartete  Intelligenzen  als  die  menschlichen 
andere  Raumarten,  also  auch  insbesondere  Räume  von  mehr 
als  3  Dimensionen  und  irgendwelchem  positiven  oder  negativen 
Krümmungsmass  (die  wir  uns  nur  logisch  denken  können),  intuitive 
Notwendigkeit  haben. 

Man  muss  nun  jedenfalls  Liebmann  darin  Recht  geben,   dass 
es   gewisse    allgemeinste   logische  Grundgesetze  gibt,    welche   den 

1)  Analysis  S.  77. 

'^)  Vergl.  Gedanken  und  Tatsachen  I,  28—29. 

3)  Gedanken  und  Tatsachen  II,  27, 


Das  Verhältnis  von  Philosophie  und  Mathematik  nach  0.  Liebmann.       81 

spezielleren  Gesetzen  der  Geometrie  und  Mechanik  übergeordnet 
sind.  Aber  was  dann  in  der  Geometrie,  deren  Besonderheit  be- 
stimmend, hinzukommt,  das  beruht  nach  unserer  Überzeugung 
nicht  auf  subjektiver  Anschauungsnotwendigkeit,  sondern  in  Be- 
griffen, also  in  etwas,  das  seineu  Ursprung  ebenso  wie  die  allge- 
meinsten logischen  Gesetze  (der  Identität,  des  Widerspruchs  u.  s.  w.) 
im  Denken  hat.  Mit  der  Anschauuugsnotwendigkeit  ist  es  über- 
haupt so  eine  zweifelhafte  Sache.  Erstens  könnte  man  dieselbe 
doch  nur  mit  Hilfe  der  sinnlichen  Wahrnehmung,  in  welcher  sich 
ja  die  reine  Anschauung  betätigt  und  die  sie  ermöglicht,  konstatieren 
und  würde  so  in  alle  Ungewissheit  der  individuellen  Subjektivität 
zurückgeworfen.  Und  zweitens  scheint  mir  -durch  J.  Wellstein 
der  Beweis  erbracht,  dass  das  Aussehen  der  geometrischen  Grund- 
gebilde, d.  h.  ihre  anschauliche  Natur,  durchaus  nichts  zur  Gültig- 
keit der  geometrischen  Lehrsätze  beiträgt,  die  vielmehr  ganz  und 
gar  auf  Begriffen  und  begrifflichen  Voraussetzungen  beruhen.^) 
Man  kann  in  der  Tat,  wie  Wellstein  zeigt,  an  Stelle  derjenigen 
Grundgebilde,  von  denen  gemeinhin  die  euklidische  Geometrie 
spricht,  andere  Gebilde  setzen  von  ganz  anderem  anschaulichen 
Charakter.  Von  den  vielen  Beispielen,  die  Wellstein  anführt,  will 
ich  hier  nur  eines  erwähnen:  „Man  nimmt  im  Räume  R  der 
euklidischen  Geometrie  einen  Punkt  0  an  und  versteht  unter  R' 
den  Raum,  der  mit  R  ausser  0  alle  Punkte  gemeinsam  hat."  In 
dem  durch  0  gehenden  Kugelgebüsch  definieren  wir  als  Geraden 
und  Ebenen  des  Raumes  R'  die  Kreise  und  Kugeln  des  R.  Dann 
gelten  von  diesen  Scheingeraden  und  Scheinebenen,  aber  eben  nur, 
soweit  sie  dem  Raum  R'  angehören,  d.  h.  den  Punkt  0  nicht 
enthalten,  nicht  nur  die  Hilbertschen  Axiome  der  Verknüpfung 
und  Anordnung,  sondern  auch  das  Euklidische  Parallelenaxiom. 
Dass  tatsächlich  die  Scheingeometrie  des  R'  mit  der  euklidischen 
des  R  übereinstimmt,  kann  ausserdem  noch  dadurch  bewiesen 
werden,  dass  man  vermittelst  Inversion  die  Scheinebenen  und 
Scheingeraden  des  R'  in  wirkliche  Ebenen  und  Geraden  des  R 
verwandelt.'^)  Nach  den  weiteren  Ausführungen  Wellsteins  muss 
man  seiner  Behauptung  zustimmen,  welche  lautet:  „Alle  Sätze 
über  die  gegenseitigen  Beziehungen  zwischen  den  Punkten,  Geraden, 
Ebenen  und  ihren  Erzeugnissen  lassen  sich  notwendigerweise  über- 

1)  Vergl.  H.  Weber  und  J.  Wellstein,    Enzyklopädie  der  Elementar- 
mathematik II.  33  ff.     2.  Aufl.     1907. 

2)  a.  a.  0.  S.  34  ff.  zu  vergleichen. 

Kantatndien    XT.  6 


82  W.  Kinkel, 

tragen  auf  jede  andere  Mannigfaltig-keit  oder  Meug-e  von  Dingen, 
die  sich  den  Voraussetzungen  entsprechend  ordnen  lassen,  aus 
denen  die  Sätze  der  Geometrie  rein  deduktiv  folgen.  Das  sinnliche 
Aussehen  der  Grundgebilde  z.  B.  des  Vorherrschen  der  Längen- 
dimension bei  der  Geraden,  die  vollkommene  Gestalt  der  Kugel, 
die  ästhetisch  so  ansprechende  Form  der  Ellipse  —  alles  das  hat 
für  die  Geometrie  als  solche  nicht  den  geringsten  Wert".^)  Ja 
man  kann  sogar,  wie  man  bei  Wellstein  a.  a,  0.  nachlesen  kann, 
die  euklidische  Geometrie  in  einer  linearen  Zahlenmenge  dritter 
Stufe  analytisch  darstellen,  wo  denn  z.  B.  an  Stelle  der  räumlichen 
Punkte  Systeme  von  je  drei  in  bestimmter  Reihenfolge  genommenen 
reellen  Zahlen  treten.  In  dieser  Behandlungsweise  ist  die  Raum- 
anschauung völlig  ausgeschaltet,  und  die  euklidische  Geometrie 
bleibt  dennoch  bestehen.  Im  Kugelgebüsch  kann  man  aber 
auch  den  beiden  nichteuklidischen  Geometrien  eine  Versinnlichung 
geben.  '^) 

Vielleicht  würde  Liebmann  auf  diese  Einwände  erwidern: 
Das  mag  ja  alles  richtig  sein,  trifft  aber  meine  Behauptung  von 
der  anschaulichen  Notwendigkeit  der  euklidischen  Geometrie  für 
die  menschliche  Bewusstseinsorganisation  garnicht;  denn  auch  ich 
habe  nicht  geleugnet,  sondern  sogar  behauptet,  dass  sich  die 
euklidische  Geometrie,  rein  logisch  betrachtet,  als  ein  Spezialfall 
einer  allgemeineren,  eben  der  Metageometrie  darstellen  lässt.  Was 
ich  aber  geleugnet  habe,  ist  nur,  dass  wir  uns  eine  andere  als 
die  euklidische  Geometrie  anschaulich  vorstellen  können.  Hierauf 
aber  wäre  wiederum  Verschiedenes  zu  erwidern.  Erstens  ist  tat- 
sächlich, wie  Wellstein  gezeigt  hat,  mit  Hilfe  der  Kugelgeometrien 
eine  Versinnlichung  der  nichteuklidischen  Geometrien  für  uns 
möglich.  Und  zweitens,  was  mir  noch  wichtiger  erscheint,  die 
spezifisch  geometrische  Notwendigkeit,  die  aus  den  spezifisch  geo- 
metrischen Axiomen  des  Euklid  folgt,  kann  unmöglich  irgend  etwas 
mit  der  anschaulichen  Natur  derselben  zu  tun  haben,  wenn  sich 
doch  zeigen  lässt,  dass  dieselben,  ohne  dass  der  Inhalt  der  Geo- 
metrie im  geringsten  verändert  wird,  durch  anschaulich  ganz  anders 
geartete  Gebilde  ersetzt  werden  können.  Ferner  muss  ich  Wellstein 
auch  darin  Recht  geben,  wenn  er  sagt,  dass  die  ursprüngliche 
Vorstellung  vom  Räume  durchaus  unbestimmt  ist.^) 

1)  a.  a.  0.  S.  83. 

2)  a.  a.  O-  S.  54  ff. 

3)  a.  a.  0.  S.  130. 


Das  Verhältnis  von  Philosophie  und  Mathematik  nach  0.  Liebmann.       83 

Wie  unbestimmt  die  Anschauung  ist,  ehe  sie  logisch-begrifflich 
fixiert  wird,  habe  ich  meinen  Hörern  zuweilen  durch  ein  einfaches 
Experiment  vorgeführt.^)  Ich  zeichnete  an  die  Tafel  eine  Gerade 
und  einen  Punkt  ausserhalb  dieser  Geraden.  Dann  stellte  ich  die 
Frage:  Wieviel  Geraden  giebt  es  innerhalb  der  Tafelebene,  die 
durch  den  ausserhalb  der  Geraden  liegenden  Punkt  gehen  und  die 
gegebene  Gerade  nicht  schneiden?  Bei  allen  mathematisch  nicht 
sehr  versierten  Hörern  lautete  die  Antwort  unbedenklich:  Nur 
eine.  Dann  aber  nahm  ich  einen  Punkt  auf  der  gezeichneten 
Geraden  an  und  fragte  nunmehr:  Wenn  ich  von  diesem  Punkt  aus 
in  den  beiden  entgegengesetzten  Richtungen  (nach  rechts  und  links) 
auf  der  Geraden  ins  Unendliche  fortgehe,  wieviel  unendlich  ferne 
Punkte  werde  ich  erhalten?  Die  Antwort  lautete  ebenso  unbe- 
denklich: 2  unendlich  ferne  Punkte.  Diese  beiden  auf  die  blosse 
Anschauung  gestützten  Antworten  widersprechen  sich  aber,  wie 
bekannt;  denn  in  der  euklidischen  Geometrie  hat  jede  Gerade  nur 
einen  unendlich  fernen  (uneigentlicheu)  reellen  Punkt,  wie  jede 
Ebene  nur  eine  uneigentliche  (gerade  und  der  Raum  nur  eine 
uneigentliche  Ebene.  2)  Wir  müssen  also  die  spezifisch  intuitive 
Notwendigkeit  der  Geometrie  bestreiten. 


1)  Vergl.  meine  Einleitung  in  die  Philosophie  S.  13. 

2)  Dass  meine  Fragestellung  unkorrekt  war,  darüber  bin  ich  mir 
völlig  im  Klaren.  Denn  dass  man  in  der  Weise,  wie  ich  es  tat,  bloss  auf 
die  Anschauung  gestützt,  niemals  zu  einer  eindeutigen  und  festen  Bestim- 
mung über  die  Natur  des  unendlich  fernen  (uneigentlichen)  Punktes 
kommen  kann,  ist  sicher.  Aber  das  ist  es  gerade,  worauf  ich  aufmerksam 
machen  wollte,  ^^^e  unbestimmt  die  Anschauung  hier  ist.  Auch  ist  die 
anschauliche  Vorstellung  von  der  Einen  euklidischen  Parallele  durchaus 
nicht  so  zwangsmässig  für  uns,  wie  es  zunächst  erscheint.  Es  widerspricht 
der  sinnlichen  Anschauung  durchaus  nicht,  sich  die  Parallele  als  Asymptote 
zu  denken  (vergl.  R.  Baltzer :  Die  Elemente  der  Mathematik,  2.  Bd., 
6.  Aufl.,  S.  12—13).  Will  man  zu  einer  bestimmten  Entscheidung  darüber 
gelangen,  welche  Annahme  in  Betreff  des  uneigentlichen  Punktes,  d.  h. 
aber  auch  in  Betreff  des  Parallelenaxioms  für  die  eine  oder  andere  Art 
der  Geometrie  massgebend  ist,  so  muss  man  von  gewissen  begrifflichen 
(nicht  anschaulichen)  Bestimmungen  ausgehen,  wie  es  z.  B.  M.  Pasch  in 
seinen  Vorlesungen  über  neuere  Geometrie  (Leipzig  1882)  tut.  Im  Allge- 
meinen gilt  der  Satz,  dass,  wenn  man  von  3  auf  ein  und  derselben  Ge- 
raden gegebenen  Punkten  zwei  als  harmonisches  Punktepaar  auffasst  und 
zu  dem  dritten  gegebenen  einen  harmonisch  entsprechenden  suchr,  sich 
immer  nur  ein  vierter  harmonischer  Punkt  ergiebt.  Wenn  aber  der  dritte 
Punkt,  zu  welchem  man  den  entsprechend  harmonischen  sucht,  genau  in 
der  Mitte   zwischen   den   als  harmonisches  Punktpaar  gegebenen  liegt,   so 

6* 


84  W.  Kinkel, 

Es  scheint  uns  sogar,  als  ob  sich  die  moderne  Geometrie  im 
Kampf  geg-en  die  Geltung  der  Anschauung  entwickelt  habe.  Die 
Versuche,  das  euklidische  Parallelenaxiora  zu  beweisen,  wie  wir  sie 
noch  bei  Saccheri,  Lambert,  Legendre  u.  a.  finden,  erklären  sich 
gerade  daraus,  dass  man  der  unbestimmten  unmittelbaren  An- 
schauung zu  sehr  vertraute;  doch  waren  auch  jene  Männer  viel 
zu  sehr  Mathematiker,  als  dass  sie  nicht  nach  einem  logisch  be- 
grifflichen Widerspruch  gesucht  hätten,  zu  welchem  die  Annahme 
eines  anderen  als  des  euklidischen  Axioms  führen  sollte.  Erst  wenn 
sie  solche  logische  (nicht  intuitive)  Widersprüche  aufgewiesen  zu 
haben  glaubten,  beruhigten  sie  sich.^) 

Wenn  wir  so  die  Anschaulichkeit  als  Quell  geometrischer 
Notwendigkeit  im  Gegensatz  zu  Liebmann  abweisen  zu  müssen 
glauben,  so  muss  doch  einem  doppelten  Missverständnis  durch 
folgende  Bemerkungen  vorgebeugt  werden.  Selbstverständlich 
leugnen  wir  nicht,  dass  bei  der  psychologischen  Ausbildung 
unserer  Begriffe  vom  Raum  die  Anschauung  eine  nicht  zu  ver- 
achtende Rolle  gespielt  hat.  Und  was  Liebmann  in  dieser  Hinsicht 
beibringt,^)  erscheint  uns  äusserst  wertvoll  und  zutreffend.  Daher 
kann  man  auch  Wellstein  nur  zustimmen,  wenn  er  im  mathe- 
matischen Schulunterricht  die  Anschauung  weitgehend  zu  Hilfe 
rufen  will.  —  Ferner  sei  noch  einmal  darauf  verwiesen,  dass  die 
Stufenfolge  der  Wissenschaften,  wie  sie  von  Liebmann  aufgestellt 
wird,  auch  für  uns  ihre  Bedeutung  behält,  insofern  wir  anerkennen, 
dass  es  allgemeine  logische  Gesetze  gibt,  welche  den  spezifisch 
geometrischen  (aber  gleichfalls  logischen)  übergeordnet  sind.  Und 
dass  es  sich  bei  allen  diesen  Grundbegriffen  auch  für  uns  um  ein 


bleibt  es  der  willkürlichen  begrifflichen  Festsetzung  überlassen,  ob  man 
für  diesen  Fall  auch  an  dem  Satz  festhalten  will,  dass  es  nur  einen  vierten 
harmonischen  Punkt  giebt  oder  deren  zwei.  Im  ersteren  Fall  ist  man  in 
der  euklidischen,  sonst  in  der  nichteuklidischen  Geometrie.  Wie  man 
nun  mit  Hilfe  des  Begriffes  der  Polaren  zu  den  Festsetzungen  über  die 
uneigentliche  Gerade  und  uneigentliche  Ebene  gelangen  kann,  möge  man 
bei  Pasch  nachlesen.  Die  Anschauung  hat  mit  alledem  nichts  zu  tun. 
Wellstein  behauptet,  dass  sich  auch  die  nichteuklidische  Mechanik  in  der 
Anwendung  bewähre,  a.  a.  O.  S.  146. 

1)  Vergl.  Engel  und  Stäckel:  Die  Theorie  der  Parallellinien.  Leip- 
zig 1895,  und  Bonola:  Die  nichteuklidische  Geometrie,  übers,  von  H.  Lieb- 
mann, Leipzig  1908. 

2)  Vergl.  z.  B.  Analysis  S.  48  ff. 


Das  Verhältnis  von  Philosophie  und  Mathematik  nach  0.  Liebmann.       85 

transscendentales  a  priori  im  Sinne  Kants  handelt,  sei  ausdrücklich 
betont. 

Wenn  Liebraanu,  und  alle  die  von  Kant  gelernt  haben,  in 
ihren  erkenntniskritischen  Untersuchungen  anknüpfen  an  die  Arbeit 
der  exakten  Wissenschaften  insbesondere  der  Mathematik,  so  be- 
deutet das  doch  nicht  ein  blindes,  sklavischen  sich  Unterordnen 
diesen  Wissenschaften  gegenüber,  sondern  im  Gegenteil  die  Forderung 
eines  kritischen  Verhaltens.  So  muss  mau  Liebmann  zustimmen, 
wenn  er  fordert,  dass  die  Philosophen  die  Eesultate  der  Mathe- 
matiker keineswegs  ungeprüft  hinnehmen  dürften.^)  Soll  aber 
hierbei  der  Philosoph  nicht  in  die  Irre  gehen,  so  bedarf  es  der 
angestrengten  und  ernsthaften  Beschäftigung  mit  den  exakten 
Wissenschaften.  Und  hierzu  können  uns  die  Schriften  Liebmanns 
erziehen. 


1)  Analysis  S.  60. 


Otto  Liebmanns  Lehre  vom  Organismus. 

Von  Hans  Driesch. 


Unter  den  Philosophen  der  zweiten  Hälfte  des  neunzehnten 
Jahrhunderts  ist  Otto  Liebmann,  neben  Hartmann  und 
Spencer,  der  einzige  Philosoph,  welcher  sich  über  das  Wesen 
des  Organischen  eine  selbständige,  das  heisst  eine  nicht  nur  die 
Gedanken  Kants  oder  der  Descendenztheoretiker  reproduzierende 
Ansicht  gebildet  hat.  Die  Kenntnis  von  Liebmanus  Gedanken- 
system über  das  Belebte  ist  aber  durchaus  nicht  in  einem  solchen 
Masse  verbreitet,  wie  sie  es,  zumal  in  unseren  Tagen  einer  neu 
erblühenden  vitalistischen  Biologie,  zu  sein  verdiente;  es  gereicht 
daher  dem  Verfasser  dieser  Skizze  zu  besonderer  Freude,  dass  er, 
der  seinen  Werken  eine  so  nachhaltige  Anregung  verdankt,  hier 
Gelegenheit  findet,  theoretischen  Biologen  und  Philosophen  die 
Lebenstheorie  Otto  Liebmanns  im  Abrisse  vorzuführen. 

Liebmanns  Denkarbeit  fiel  in  die  Zeit,  da  Materialismus 
und  Darwinismus  das  europäische  Geistesleben  überfluteten.  Der 
Materialismus  als  Metaphysik  konnte  nun  zwar  einem  Philosophen 
nichts  anhaben,  wohl  aber  konnte  das,  wie  wir  an  manchen  Bei- 
spielen gesehen  haben,  der  mechanistisch  gefasste  Darwinismus, 
das  heisst  die  Lehre,  dass  die  Gesamtheit  des  räumlichen  Ge- 
schehens für  unser  Begreifen  ein  zufälliges  Spiel  bewegter  Ma- 
terienelemente sei  und  nichts  weiter,  gleichgültig,  welches  unbe- 
kannte Ansichsein  sich  hinter  diesem  räumlichen  Geschehen  ver- 
berge. 

Lieb  mann  hat  auch  dem  Darwinismus,  wie  wir  sehen 
werden,  widerstanden,  wenigstens  dem  Darwinismus  in  seiner  me- 
chanistisch ausgedeuteten  Form,  welche  ja  leider  die  allmählig  all- 
gemein angenommene  geworden  war. 

Zu  vier  Malen  hat  unser  Philosoph  seine  Ansichten  über  das 
Leben  dargestellt,  zuerst  und  am  gründlichsten  in  den  Abschnitten 
„Piatonismus    und  Darwinismus"    und    „Das  Problem  des  Lebens" 


Otto  Liebmanns  Lehre  vom  Organismus.  87 

der  „Analysis  der  Wirklichkeit",  sodann  in  den  Abschnitten  „Idee 
und  Entelechie"  (1882),  „Organische  Natur  und  Teleologie"  (1899) 
des  ersten  Bandes  der  „Gedanken  und  Tatsachen",  endlich  im 
dritten  „Stoff  und  Form,  Mechanismus  und  Teleologie"  betitelten 
Buche  des  „Grundrisses  der  kritischen  Metaphysik"  („Gedanken 
und  Tatsachen",  Band  II).  Diesen  Arbeiten  sind  zum  vollen  Ver- 
ständnis von  Liebmanns  Standpunkt  die  Abschnitte  „Über  den 
Instinkt"  und  „Gehirn  und  Geist"  aus  der  „Analysis  der  Wirk- 
lichkeit" sowie  das  vierte  Buch  des  „Grundrisses  der  Metaphysik", 
betitelt  „Materie  und  Geist,  Notwendigkeit  und  Freiheit",  noch 
hinzuzugesellen. 

Liebmann  geht  aus  von  der  Frage  nach  dem  Verhältnis 
einer  ideellen  Auffassung  des  Lebens  zur  historischen  Lehre  Dar- 
wins. Es  besage  für  diese  Frage  wenig,  ob  die  erstere  die 
Universalia,  mit  Plato,  ante  rem  oder,  mit  Aristoteles,  in  re, 
also  immanent  sein  lasse,  in  beiden  Fällen  scheine  sie  auf  den 
ersten  Blick  gegensätzlich  zum  Darwinismus  zu  stehen.  Aber  eben 
nur  auf  den  ersten  Blick;  denn  der  Darwinismus  setzt  ja  die 
letzten  Eigentümlichkeiten  des  Lebendigen,  die  Gesetze  des  Be- 
lebten, wenn  wir  so  wollen,  voraus,  also  die  Tatsachen  der  Ver- 
änderhchkeit,  der  Fortpflanzung,  der  Erblichkeit.  Wie  soll  da 
einer  ideellen  Auffassung  der  Lebensformen  die  Lehre  wider- 
streiten, dass  diese  Formen  historisch  durch  Blutsverwandtschaft 
mit  einander  verknüpft,  dass  existenzunfähige  Formen  durch 
„natürliche  Zuchtwahl"  ausgemerzt  seien? 

Man  sieht  es:  Liebmann  fasst  hier  den  „Darwinismus"  so, 
wie  ihn  Anfangs  Charles  Darwin  selbst  fasste,  das  heisst  nicht 
in  mechanistischer  oder  gar  materialistischer  Ausdeutung.  Es 
wäre  ein  grosses  Glück  für  die  Biologie  gewesen,  hätte  solche 
Auffassung  dogmatischem  Ansturm  stand  gehalten.  Nach  unserer 
Meinung  ist  zwar  die  Darwinsche  Lehre,  das  heisst  die  Lehre, 
dass  unbestimmt  gerichtete  kontinuierliche  Variabilität  und  natür- 
liche Zuchtwahl  die  einzigen  bei  der  Descendenz  der  Organismen 
in  Betracht  kommenden  Faktoren  seien,  sachlich  falsch,  aber  es 
wird,  wenn  die  Variabilität  neben  der  Erblichkeit  als  hinge- 
nommene Eigentümlichkeit  des  Lebendigen  erscheint,  doch  wenig- 
stens nicht  von  allem  Anfang  an  über  das  „Wesen"  des  Lebens 
im  Sinne  mechanischer  Dogmatik  entschieden. 

Darwin   braucht   also    keinen  Gegensatz   zu  Plato  zu 
bedeuten.     Eine    andere  Frage   ist   nun   freilich,    was   Darwin 


88  H.  Driesch, 

bedeutet,  und  die  Entscheidung  über  diese  Frage  ist  unabweisbar. 
Denn  das  entgeht  Lieb  manu  nicht,  dass  der  blosse  Nachweis 
der  Genealogie  der  Organismen,  sei  er  auch  seiner  Tatsächlichkeit 
nach  vollständig  geglückt,  nie  und  nimmer  eine  Erklärung  sei: 
in  der  Variabilität  würde  ja  die  Wurzel  aller  Verschiedenheiten 
des  Belebten,  ja  das  Wesen  des  Belebten  selbst  gewissermassen 
darin  gesteckt  haben.  Hier  gebraucht  Lieb  mann  das  von  mir 
und  anderen  später  übernommene  Wort  von  der  „Ahnengallerie", 
welche  durch  die  sogenannte  Phylogenie  im  günstigsten  Falle  ge- 
liefert werden  könne: 

„Angenommen  ...  der  grosse  Stammbaum  der  organischen 
Naturwesen  .  .  .  läge  offen  vor  uns  aufgerollt;  und  zwar  nicht 
als  Hypothese,  sondern  als  historisch  aufgestelltes  Faktum,  sozu- 
sagen als  echtes  Palimpsest,  was  hätten  wir  dann?  Eine 
Ahnengallerie,  wie  man  sie  auf  fürstlichen  Schlössern  auch 
findet;  nur  nicht  als  Fragment,  sondern  in  abgeschlossener  Totalität." 
(Anal.  d.  Wirkl.  2.  Aufl.  S.  358.) 

An  diesem  Punkte  ist  es,  wo  Lieb  mann  in  die  Tiefe  zu 
dringen  versucht,  zu  der  Frage  nach  der  Urgesetzlichkeit  des 
Lebendigen  überhaupt.  Es  verrät  seine  grosse  Unbefangenheit 
und  zugleich  seinen  Scharfblick,  dass  er  ein  zoologisches  Werk 
in  seiner  Bedeutung  würdigte,  welches  etwa  fünfzehn  Jahre  hin- 
durch sozusagen  auf  dem  zoologischen  Index  stand  und  dessen 
Autor  von  gewisser  Seite  aufs  äusserste  geschmäht  wurde,  ein 
Werk,  das  gleichwohl,  trotz  sehr  zahlreicher  Unrichtigkeiten  im 
Einzelnen,  eine  Vorahnung  der  seit  1890  erblühten  exakten  und 
experimentellen  Physiologie  der  Formbildung,  deren  erste  bewusste 
Grundlegung  sich  an  den  Namen  Wilhelm  Rouxs  knüpft,  be- 
deutet: Alexander  Goettes  „Entwicklungsgeschichte  der 
Unke"  (1875),  ein  in  jeder  Beziehung  höchst  eigenartiges  Werk. 
Lieb  mann  erkannte  eben  seine  Eigenart  und  Bedeutung  besser 
als  irgend  ein  zeitgenössischer  Biologe,  abgesehen  etwa 
von  dem  verstorbenen  Leipziger  Anatomen  W.  His.  Dass  Nach- 
weis von  Genealogie  keine  Wesens-Erklärung  sei,  das  war  der 
damals  unter  Biologen  höchst  unpopuläre  Gedanke,  für  den 
Goette  eintrat;  er  wollte  wenigstens  zu  Höherem  hinauf. 

Doch  wir  kehren  zu  Liebmanns  Stellung  zum  Zentral- 
problem der  Biologie,  zur  Frage  „Vitalismus  oder  Mechanismus?", 
zurück. 


Otto  Liebmanns  Lehre  vom  Organismus.  89 

Mit  Eecht  könnte  man  behaupten,  dass,  ungeachtet  der 
zentralen  Natur  dieser  Frage,  eine  andere  vorher  ihre  Erledigung 
gefunden  haben  müsse,  nämlich  die  Frage  ,.Teleologie  oder  Zu- 
fall«. —  Der  allgemeine  Begriff  der  Teleologie,  der  „Zweck- 
mässigkeit" überhaupt,  ist  nämlich  in  der  Form  der  „Mascliinen- 
theorie"  mit  einer  „mechanischen-'  Aufklärung  der  Lebenserschei- 
nuugen  prinzipiell  durchaus  verträglich. 

Für  Lieb  mann,  als  für  einen  auf  den  Schultern  Kants 
stehenden  Denker,  ist  nun  freilich  die  Beantwortung  dieser  Frage 
zu  Gunsten  der  Teleologie  so  selbstverständlich,  dass  die  Frage 
bei  ihm  nicht  eigentlich  als  Frage  auftritt,  sondern  dass,  gerade 
wie  bei  Kant,  der  Begriff  des  „Zweckmässigen"  nur  erläutert  wird: 
die  organischen  Wesen  sind  nicht  Zwecke  für  anderes,  sondern 
Zwecke  in  sich.     Das  ist  einmal  so. 

Hier  tritt  denn  auch  der  Aristotelische  Ausdruck  „Entelechie" 
bei  unserem  Philosophen  auf,  um  hinfort  eine  grosse  Rolle  in 
seinen  Schriften  zu  spielen ;  ich  möchte  sagen :  weniger  als  Begriff, 
denn  als  Zeichen  für  eine  Frage  —  für  die  Frage  nämlich 
„Yitalismus  oder  Mechanismus?'' 

Wenn   wir  uns  nunmehr  der  Betrachtung   der  Kardinalfrage 
der  biologischen  Naturphilosophie  in  Liebmann  scher  Beleuchtung 
zuwenden,    so  tun  wir  wohl  am  besten,    aller  Sonderuntersuchung 
das  Resultat  vorauszuschicken,  und  dieses  lautet:    Zu  einer  ganz 
endgültigen  Lösung   der   Frage    gelangt  Lieb  mann    nicht.     Es 
scheint,    als     wenn    die    Erinnerung     an     die    Erwägungen    von 
Kants    „Kritik   der  Urteilskraft"    ihn    immer   wieder    von    einer 
ganz  unzweideutigen  Antwort  zurückhielte,  so  nahe  er  einer  solchen 
Antwort    auch   bisweilen   ist.     Denn  oft  ist  er  einer  solchen  Ant- 
wort sehr  nahe,  und  zwar  einer  Antwort  im  Sinne  des  Vitalismus. 
Trotz    ihrer    grossen    Selbständigkeit    im    Einzelnen     haben    also 
Liebmanns  biotheoretische  Erwägungen  denselben  Grundcharakter 
wie  diejenigen  Kants;  ich  möchte  von  beiden  sagen:  Die  richtige 
Einsicht  wird  verschleiert  durch  ein  Misstrauen  gegen  sich  selbst, 
durch  die  Furcht,  eine  Illegitimität  des  Denkens  zu  begehen. 
Hören  wir  nun  zunächst  einmal  Lieb  mann  selbst: 
„Die  unorganischen  Naturstoffe  und  Kräfte  und  Gesetze  ver- 
halten  sich   zum  Organismus  der  Pflanze  und  des  Tieres  wie  das 
Mittel  zum  Zw^eck.     Sie  werden  an  sich  nicht  alteriert  durch  die 
Aufnahme  in  den  Organismus,  aber  sie  sind  hier  so  eigentümlich, 
so  ungemein  günstig  kombiniert,   dass  sie  eine  eminent  künstliche 


90  H.  Driesch, 

Wirkung-  hervorbringen  müssen  ...  —  Den  übermenschlichen, 
natürlichen  Techniker,  der  sie  so  gruppiert,  kennen  wir  nicht. 
Neunen  wir  ihn  die  Natura  naturans  oder  die  verschleierte  Gottheit 
—  oder  wie  wir  sonst  wollen.  Genug,  er  oder  es  ist  und  wirkt. 
Nie  hebt  es  die  unorganischen  Naturgesetze  auf;  aber  es  benutzt 
sie  in  wunderbarer  Weise.  —  Und  so  behält  denn  trotz  des  sieg- 
reichen Kampfes  gegen  den  „Vitalismus"  das  Wort  „Lebenskraft" 
einen  guten  Sinn.  Es  bezeichnet  eine  Lücke  in  unserer  exakten 
Naturerkenntnis;  es  bedeutet  jenes  rätselhafte  Plus,  welches  in  der 
organischen,  plastischen,  morphologischen,  belebten  Natur  zum 
Mechanismus  und  Chemismus  hinzukommt.  Das  organische  Leben 
ist  mehr  als  ein  ungebundenes  Spiel  physikalischer  und  chemischer 
Prozesse.  .  .  .  Sagt  man:  „Lebenskraft"  soll  ein  prägnanter  Aus- 
druck, eine  Abbreviatur  sein  für  die  weitschichtige  Partizipial- 
konstruktion  „Das  allem  im  Organismus  für  blosse  Physik  und 
Chemie  Unerklärten  und  Unerklärbaren  als  zureichender  Realgrund 
zu  supponierende  X,  respektive  die  unter  jenem  X  vorhandene 
Totalität  unbekannter  Agentien";  dann  wird  kein  Vernünftiger 
gegen  den  Gebrauch  des  Wortes  „Lebenskraft"  etwas  einzuwenden 
haben,  —  ich  meine  keiner  von  Denjenigen,  welche  wissen,  dass 
das  sinnlich  und  geistig  Verborgene,  das  Unfassbare,  Unbegriffene 
und  vielleicht  Unbegreifbare  keineswegs  mit  dem  Nichts  identisch 
ist"  (Anal.  d.  Wirkl.  2.  Aufl.  S.  336  f.). 

„So  lange  nicht  Erzeugung  organischer  Keime  und  lebendiger 
Wesen  durch  physikalisch-chemische  Experimente  zu  Stande  gebracht 
ist,  so  lange  bleibt  nur  die  Annahme  übrig,  dass  im  Organismus 
zu  den  uns  bekannten  physikalischen  und  chemischen  Kräften  noch 
irgend  ein  unbekanntes  Etwas  hinzukommen,  ein  gestaltbildender 
Faktor,  der  die  Kräfte  der  unorganischen  Natur  als  Mittel  und 
Werkzeug  benutzt,  um  das  Leblose  zu  verlebendigen,  das  Un- 
organische zu  organisieren.  Dieses  unbekannte,  plastisch  gestaltende 
Etwas,  heisse  es  nun  Bildungstrieb,  Nivus  formativus,  Lebenskraft 
oder  „die  organischen  Bildungsgesetze"  ist  eben  da"  (Gedanken 
und  Tatsachen  II,  S.  161). 

Soll  mit  solchen  Äusserungen  nun  ein  unräumliches  immanent- 
oder  dynamisch-teleologisches  Naturagens,  wie  etwa  Hartmanns 
potentiallose  Kraft  oder  des  Verfassers  dieser  Skizze  „Entelechie" 
eingeführt  sein? 

Doch  wohl  nicht.  Die  „Idee  des  vollendeten  Naturmechanis- 
mus"  wird  an  anderer  Stelle  (Ged.  u.  Tats.  II,  S.  171)  „ein  aus 


Otto  Liebmanns  Lehre  vom  Organismus.  öl 

dem    Prinzip    der   Kausalität    notwendig    fliessendes    Verstandes- 
postulat" genannt. 

Also  sind  Liebmanns  „organische  Bildungsgesetze"  nur  ein 
kurzer  Ausdruck  für  die  gegebene  und  hinzunehmende  teleologische 
Struktur  des  Weltmechanismus,  also  ist  seine  Teleologie,  um  mit 
des  Lesers  Erlaubnis  in  meiner  eigenen  Terminologie  zu  reden, 
statisch,  wie  etwa  im  Systeme  Schellings? 

Auch  das  trifft  wohl  nicht  das  Rechte. 

Es  giebt  ein  paar  Stellen  in  Liebmanns  Ausführungen  — 
und  es  sind  das  gerade  besonders  denkunabhängige  Stellen,  un- 
abhängig auch  von  Kant  —  welche  denn  doch  die  Ansicht  hindurch- 
scheineu  lassen,  es  sei  das  Teleologische  in  den  Organismen  mehr 
als  nur  die  Ausprägung  einer  zum  spezifisch  struierteu  Mecha- 
nismus erstarrten  Idee. 

Die  Materie,  so  sagt  Liebmann  einmal, i)  ist  vielleicht  „etwas 
Anderes,  ist  unendlich  viel  mehr,  als  der  Physiker,  der  Chemiker, 
ja  auch  der  Physiolog  sich  bei  diesem  Worte  zu  denken  pflegt". 
Und  ein  anderes  MaP)  heisst  es:  „Vielleicht  liegt  das  hinter  dem 
vielgescholtenen  Wort  „Lebenskraft"  verborgene  Etwas  in  der 
geheimen  Natur  der  Atome  selbst  versteckt". 

Man  mag  hier  einwenden,  dass  die  „Materie",  die  „Atome" 
als  solche  dynamisch  nicht  wohl  anders  denn  als  Sitze  kugel- 
förmig ausstrahlender  Zentralkräfte  gedacht  werden  können,  dass 
also  jene  „geheime  Natur"  der  Atome,  jenes  „mehr"  an  der  Materie, 
als  der  Physiker  in  ihr  sieht,  im  Grunde  doch  etwas  Nicht- 
Materielles  und  doch  Naturwirkliches  sei;  genug:  Liebmanns 
Äusserungen  scheinen  hier  auf  jeden  Fall  mehr  sagen  zu  wollen, 
als  nur  dieses,  dass  die  gegebene  Struktur  des  Weltmechauismus 
die  Teleologie  des  Belebten  in  sich  enthalte. 

Und  nun  eine  wichtige  Äusserung  zur  Kritik  des  Erkennens.^) 
Nachdem  er  an  Kant  gerühmt  hat,  dass  er  in  den  Erörterungen 
seiner  „Kritik  der  Urteilskraft"  „weder  als  Vitalist,  noch  als 
Antivitalist;  überhaupt  nicht  als  Dogmatiker"  dastehe,  fährt  er 
fort:  „Nur  das  kann  fraglich  bleiben,  ob  die  Grenzen  des  mensch- 
lichen Erkenntnisvermögens  wirklich  genau  an  dem  Orte  liegen, 
wo  Kant  sie  gezogen  hat." 


1)  Analysis  d.  Wirkl.  2.  Aufl.  S.  552. 

2)  Gedanken  u.  Tatsachen  I.  S.  257. 

3)  Gedanken  und  Tatsachen  I.    S.  249. 


92  H.  Driesch, 

Klingt  das  nicht  wie  ein  Zweifel  an  der  bloss  „regulativen" 
Natur  des  Begriffs  der  Teleologie,  welche  Kant  lehrt?  Scheint 
es  nicht,  als  sähe  hier  Lieb  mann  jene  im  Kantischen  Schema 
nicht  enthaltene  konstitutive  Kategorie  der  Relation,  welche 
ein  dynamischer  Vitalismus  in  der  Tat  nötig  hat?^)  — 

Das  Problem  „Gehirn  und  Geist",  anders  gesagt,  das  Problem 
,. Parallelismus  oder  psycho -phj^sische  Wechselwirkung"  ist  im 
letzten  Grunde  mit  dem  Problem  des  Vitalismus  identisch;  auch 
hier  handelt  es  sich  um  die  Frage:  Kann  räumliches  Geschehen 
durch  Faktoren,  welche  selbst  nicht  räumlicher  Art  sind,  bestimmt 
sein  oder  nicht? 

Es  liegt  im  Plane  dieses  Festheftes  begründet,  dass  an  dieser 
Stelle  Liebmanns  Stellung  zum  Parallelismusproblem  nur  kurz 
und  anhangsweise  behandelt  werden  kann.  Diese  Stellung  ist  im 
wesentlichen  dieselbe  kritisch  abwägende  wie  gegenüber  dem 
eigentlichen  Vitalismus;  eine  Hinneigung  zur  Lösung  der  Frage 
durch  die  Wechselwirkungslehre  ist  trotz  vieler  entgegenstehender 
Indizien  unverkennbar. 

Bekanntlich  gipfelt  die  Lehre  vom  psycho-physischen  Paralle- 
lismus für  Liebmann  in  dem  Paradoxon,  dass  nach  dieser  Lehre 
ein  Geschehen,  welches  notorisch  nach  physikalisch -chemischen 
Gesetzen  abläuft,  gleichzeitig  unter  der  Form  logischer  Gesetz- 
lichkeit erscheinen  würde.  Führt  durch  diese  Konsequenz  nicht 
der  Parallelismus  sich  selbst  ad  absurdum?  Es  scheint  so;  jeden- 
falls würde  der  Begriff  der  Wahrheit  im  Rahmen  dieser  Lehre 
jeder  Bedeutung  entkleidet  werden.  „Wer  den  strengen  psycho- 
physischen  Parallelismus  als  letztes  Wort  behauptet,  der  hebt 
eben  damit  konsequenterweise  das  Recht,  diesen  Parallelismus  als 
objektiv  wahr  zu  behaupten,  auf."'') 

Im  Interesse  der  Möglichkeit  der  Wissenschaft  muss  also 
die  „Freiheit  des  Denkens  postuliert"  werden. 

Im  Vergleich  zu  dieser  Einsicht  sind  Erwägungen  wie  jene, 
dass  z.  B.  für  die  Einheit  des  denkenden  Ich  die  zugehörige 
physische  Parallele  fehle,  von  niederer  Bedeutung.  — 

Wir  beschliessen  unsere  Skizze,  deren  Zweck  es  ja  lediglich 
ist,   zur  Beschäftigung   mit   den  Werken  Liebmanns   anzuregen, 


1)  Man  vergleiche  auch  die  gelegentlich  einmal  (Gedanken  und  Tat- 
sachen I,  S.  95)  getane  Äusserung,  der  Gedanke,  dass  alles  physische  Ge- 
schehen Bewegung  sei,  sei  nicht  notwendig. 

2)  Gedanken  und  Tatsachen  II.    S.  203. 


Otto  Liebmanns  Lehre  vom  Organismus.  93 

mit  einer  Aufzählung^)  der  wichtigsten  derjenigen  „Funktionen, 
Leistungen  und  Tätigkeiten"  des  Organismus  ,.zu  denen  in  der 
unorganischen  Natur  jegliches  Analogen,  jede  geringste  Spur  voll- 
ständig fehlf.     Es  sind  dieses: 

1.  Substantialität  der  Form,  d.  h.  das  Bewahren  der 
wesentlichen  Form  trotz  fortwährenden  Wechsels  des  Stoffes.  Die 
trivialen  Gleichnisse  der  Flamme,  des  Springbrunnens  u.  s.  w. 
weist  Lieb  mann  hier  unschwer  zurück. 

2.  Zielstrebigkeit,  Entelechie;  letztere  also  als  Kenn- 
zeichnung des  Organischen,  nicht  etwa  als  Agens  gedacht;  dem 
Wachsen,  der  Differenzierung  des  Keimes  in  einen  bestimmten 
Tj^pus  hinein  soll  hier  Ausdruck  verliehen  werden. 

3.  Individuelle  Autoplastik;  der  Organismus  ist,  wenn 
überhaupt,  eine  Maschine,  welche  ihre  eignen  Teile  selbst  hervor- 
bringt; er  ist  „causa  sui". 

4.  Generelle  Autoplastik,  Palingenesie;  ein  Ausdruck 
für  Fortpflanzung  und  Vererbung;  der  Organismus  ist  „Causa  sui 
zweiten  Grades". 

5.  Causale  und  teleologische  Correlation;  ein  Ausdruck 
für  die  innere  Harmonie  des  Werdens  und  Funktiouierens  sowie 
für  das  Angepasstsein  an  die  Aussenwelt. 

6.  Autoteile;  der  Organismus  ist  Selbstzweck,  causa  sui; 
hier  liegt  der  Nachdruck  auf  dem  Worte  „sui",  ebenso  wie  er 
oben  auf  dem  Worte  „causa"  lag. 

Wenn  wir  von  den  Ergebnissen  der  neuereu  biologischen 
Experimentalforschung  absehen,  so  decken  die  hier  aufgezählten 
Eigentümlichkeiten  des  Organismus  wohl  in  der  Tat  seine  sämt- 
lichen wesentlichen  Eigenschaften;  sie  machen  die  Realdefinition 
des  Organismus  aus;  und  jede  Eigentümlichkeit  bedeutet  zugleich 
ein  Problem  für  die  gedankliche  Analyse. 


1)  Ebenda  I.     S.  239  ff. 


Zu  Liebmanns  Kritik 
der  Lehre  vom  psychophysischen  Parallelismus. 

Von  Richard  Hönigswald. 

„Die  berüchtigte  Frage,  welches  denn  bei  Tieren  und 
beim  Menschen  das  wahre,  innere  Verhältnis  zwischen  Leib  und 
Seele  sei,  greift  über  das  Gebiet  wirklicher  und  möglicher  Er- 
fahrung weit  hinaus,  lässt  sich  auf  empirischem  Wege  gar  nicht 
entscheiden,  liegt  ganz  und  gar  im  Felde  der  Metaphysik  und 
bildet  dort,  wie  bekannt,  den  Knotenpunkt,  von  dem  aus  die  Viel- 
heit der  dogmatischen  Systeme,  wie  Dualismus  und  Monismus, 
Spiritualismus  und  Materialismus,  das  System  des  Okkasionalismus, 
das  der  praestabilierten  Harmonie,  das  neuplatonische  Emanations- 
system u.  s.  w.  nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin  diver- 
gieren."^) 

Diese  sachliche  und  historische  Wertung  der  Frage  nach  der 
Natur  der  Beziehungen  des  Psychischen  zum  Physischen  enthält 
genau  besehen  das  Bekenntnis  der  Motive,  welche  Liebmanns  phi- 
losophisches Schaffen  überhaupt  beherrschen.  Sie  enthält  das 
Programm  einer  zielbewussten  Weiterentwicklung  der  „philoso- 
phischen Tradition"  in  der  Richtung  einer  durch  kritische  Ge- 
sichtspunkte zu  läuternden,  d.  h.  vor  unberechtigten  Übergriffen 
in  das  Gebiet  wissenschaftlicher  Forschung  zu  bewahrenden  Meta- 
physik. Die  „ungelösten,  zum  Teil  unlösbaren  Probleme"  aufzu- 
zeigen, „wovon  der  Horizont  unseres  Wissens  allseitig  umlagert 
ist",^)  d.  h.  von  einer  kritischen  Analyse  der  Erkenntnis  fort- 
zuschreiten zu  einer  „Analysis  der  Wirklichkeit"  —  das  ist 
die,  auch  in  seinem  Verhältnis  zum  psychophysischen  Problem 
sich  realisierende  philosophische  Absicht  Liebmanus. 

Dabei  entgeht  seiner,  der  historischen  und  sachlichen  Zu- 
sammenfassung Weitauseinanderliegender  Momente  stets  geneigten 


1)  Liebraann,  Gedanken  und  Tatsachen,  Erster  Band,  1899,  S.  286. 

2)  Liebmann,  Gedanken  und  Tatsachen,  Zweiter  Band,  1900,  S.  91. 


Zu  Liebmanns  Kritik  der  Lehre  vom  psychophysischen  Parallelismus.       95 

Betrachtimgsweise  die  universelle  Bedeutung  unseres  Problems 
auch  für  die  Wissenschaften  der  Erfahrung  nicht. 

Jedes  bewusste  Wirken  der  Tiere  und  des  Menschen  auf  ihre 
Umgebung,  jede  bewusste  Reaktion  auf  Reize  seitens  dieser  Um- 
gebung ist  —  Liebmann  betont  es  nachdrücklich  —  psychophy- 
sische  Betätigung;  denn  es  giebt  kein  bewusstes  Wirken  und  Rea- 
gieren ohne  physische  Ausdrucksbewegung  des  Gedachten  oder 
Gewollten  einerseits,  ohne  Umsetzung  physischer  Ausdrucksbe- 
wegungen in  Gedachtes  oder  Gewolltes  andererseits.  Es  ist  kein 
Zufall,  dass  wir  metaphorisch  vom  Worte  des  Redners,  vom  Stift 
des  Zeichners,  vom  Pinsel  des  Malers,  von  der  festen  Hand  des 
Staatsmannes  und  des  Erziehers  oder  von  der  Feder  des  Schrift- 
stellers sprechen,  auch  wenn  wir  deren  geistige  Leistungen  be- 
werten. Der  ganze  Umkreis  der  Erfahruugswisseuschaft  zum 
Mindesten  vom  Menschen  tritt  in  eine  unmittelbare  Beziehung 
zum  psychophysischen  Problem,  mag  der  Mensch  nun  als  psycho- 
physiologisches Einzel-  oder  als  soziales  Gattungswesen  betrachtet 
werden. 

Aber  schon  die  blosse  Frage  nach  dem  Verhältnis  der 
Psychischen  zur  Physischen  bedarf  nach  mannigfachen  Richtungen 
hin  der  Rechtfertigung  und  der  Begründung. 

Dem  naiven  Menschen  wird  sie  zunächst  überflüssig  er- 
scheinen. Er  weiss  von  keinerlei  „Verhältnis"  des  Psychischen 
zum  Physischen,  weil  er  ohne  besonders  darauf  gerichtete  Re- 
flexion Psychisches  und  Physisches  gar  nicht  als  getrennte  Mo- 
mente seines  normalen  Daseins  erlebt.  Der  Willensakt  und  die 
ihm  entsprechende  Handlung  sind  eben  für  ihn  zunächst  noch 
eins.  —  Doch  wird  er  nicht  schwer  zu  belehren  sein.  —  Wenn  er 
nämlich  seine  Pläne  und  Absichten  einmal  von  dem  Gedanken 
ihrer  Realisierung  zu  trennen  versucht,  d.  h.  sobald  er  nur 
gelernt  hat,  das  Gewollte  dem  Erreichten  und  Erreichbaren  gegen- 
überzustellen, dann  hat  er  die  Trennung  der  Begriffe  des  Psy- 
chischen und  des  Physischen  bereits  vollzogen.  Er  braucht  hier- 
bei über  die  Sphäre  des  Psychophysiologischen  im  engsten  Sinne 
gar  nicht  hinauszugehen.  Im  Gegenteil!  Gerade  in  ihr  manifestiert 
sich  ihm  jene  Sonderung  der  Begriffe  des  Psychischen  und  des 
Physischen  am  deutlichsten.  Das  gelegentliche  Auftreten  soge- 
nannter motorischer  Ausfallserscheinungen,  d.  h.  die  unter  ge- 
wissen Umständen  mangelhafte  oder  völlig  aufgehobene  Fähigkeit 
der   körperlichen  Organe    den  Befehlen   des  bewussten  Willens  zu 


96  R..  Hönigswald, 

gehorchen,  werden  ihm  die  Verschiedenheit  und  doch  wieder  ein- 
deutige Zusammengehörigkeit  des  Psychischen  und  des  Physischen 
in  ebenso  eindrucksvoller  Weise  zu  Bewusstsein  bringen,  wie  die 
Schwierigkeiten,  welchen  er  etwa  bei  der  Erlernung  einer  neuen 
und  komplizierten  Technik  begegnet.  An  sich  selbst,  ganz  be- 
sonders aber  an  anderen  bemerkt  er  sodann  —  unter  Zuhülfe- 
nahme  weitreichender  Analogieschlüsse,  die  sich  als  solche  freilich 
erst  einer  viel  späteren  Analyse  seines  Verhaltens  entdecken  — 
Zustände,  die  ihn  unweigerlich  vor  das  Problem  des  Zusammen- 
hanges des  Psychischen  und  des  Physischen  stellen  müssen.  Hierher 
gehören,  ganz  abgesehen  von  psychotischen  Störungen,  alle  jene 
Ereignisse,  bei  welchen  früher  vorhanden  gewesenes  Bewusstsein 
zu  verschwinden  scheint  —  sei  es,  dass  mit  dem  Entschwinden 
des  Bewusstseins  jede  aktive  Beweglichkeit  der  Körperorgane 
überhaupt  aufhört,  wie  in  der  tiefen  Ohnmacht  oder  im  Tode,  sei 
es,  dass  trotz  des  scheinbar  entschwundenen  Bewusstseins  die 
aktive  Beweglichkeit  in  irgend  einem  Umfange  oder  Grade  noch 
vorhanden  ist,  wie  etwa  im  normalen  physiologischen  Schlafe; 
kurz  alle  jene  Umstände,  die  etwa  für  den  Empiriokritizisten  zu- 
gleich als  Motive  der  „Introjektiou"  in  Betracht  kommen.  Dabei 
sind  für  den  naiven  Menschen  die  Momente  der  Problemstellung 
und  der  Problemlösung  wiederum  kaum  unterschieden:  hat  er 
sich  einmal  auf  die  Verschiedenheit  einerseits,  auf  die  Zusammen- 
gehörigkeit andererseits  des  Psychischen  und  des  Physischen  be- 
sonnen, dann  bestimmt  er  zugleich  auch  schon  die  Art  dieser 
Zusammengehörigkeit  als  die  kausale.  —  Die  Aufgaben  einer 
wissenschaftlichen  Theorie  sind  solchen  naiv-doguiatischen  Lösungs- 
versuchen des  psychophysischen  Problems  gegenüber  weitaus 
komplexer.  Sie  wird  vor  allem  die  Frage  nach  der  Möglichkeit 
einer  kausalen  Beziehung  zwischen  Psychischem  und  Physischem 
an  dem  Masstab  des  Begriffs  der  Wissenschaft  prüfen  müssen, 
d.  h.  sie  vor  dem  Forum  einer  Theorie  der  Wissenschaft  zu  recht- 
fertigen suchen. 

Niemals  wird  sich  m.  a.  W.  eine  wissenschaftliche  Erörterung 
des  psychophysischen  Problems  bei  der  Feststellung  beruhigen 
dürfen,  dass  die  Beziehung  zwischen  geistigem  und  körperlichem 
kausal  sein  müsste,  weil  „in  dem  unmittelbaren  Bewusstsein  der 
eigenen  lebendigen  Ursächlichkeit  psychologisch  der  Ursprung  des 
Kausalitätsgedankens    zu   suchen"    sei.^)    Der   psychologische   Ur- 

')  Busse,  Körper  und  Geist,  Leib  und  Seele,  1903,  S.  191, 


Zu  Liebmanns  Kritik  der  Lehre  vom  psychophysischen  Parallelismus.       97 

Sprung-  des  Kausalitätsgedankens  müsste  zugleich  dessen  objektive 
Gültigkeit  verbürgen,  sollte  er  über  das  Recht,  die  Beziehungen 
zwischen  Psychischem  und  Physischem  als  kausale  zu  bezeichnen, 
entscheiden  können.  So  gewiss  er  jenes  nicht  vermag,  so  gewiss 
ist  dieses  Recht  anderweitig  zu  erweisen.  Die  Frage  ist  eben 
gerade  die,  ob  und  inwieweit  ,.das  unmittelbare  Bewusstsein  der 
eigenen  lebendigen  Ursächlichkeit"  einer  Rechtfertigung  durch 
Gründe  überhaupt  fähig  ist.  —  Ohne  Zweifel  liegen  die  Verhältnisse 
hier,  wo  der  unbestrittene  Anlass  zur  Bildung  des  Kausalgedankens 
zugleich  das  Objekt  darstellt,  an  dem  er  sich  legitimieren  soll, 
weitaus  komplizierter  als  in  anderen  Fällen  der  Verwechselung 
psychologischer  und  erkenntnistheoretischer  Gesichtspunkte.  Sachlich 
aber  begründet  dieser  Umstand  keine  Veränderung  der  theoretischen 
Fragestellung.  —  Nicht  die  Psychologie  also,  sondern  allein  die  Er- 
kenntnis Wissenschaft  ist  zur  Stellung  des  Problems  von  der  Natur 
des  Verhältnisses  zwischen  Psychischem  und  Physischem  kompetent. 
Die  Erkenntniswissenschaft  aber  bringt  dieses  Problem  naturgemäss 
in  die  ihren  spezifischen  Aufgaben  angemessene  Form:  Welche 
Beziehung  zwischen  Psychischem  und  Physischem  entspricht  dem 
in  seinem  Recht  zu  begründenden  Begriff  der  Wissenschaft?  In 
welchem  Sinne  ist  auch  nur  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  des 
Psychischen  zum  Physischen  begründet? 

Nicht  an  solchen  Fragen  orientieren  sich  im  wesentlichen  die 
Erwägungen  Liebmanns  über  das  psychophysische  Problem.  Wohl 
sind  auch  sie  seinem  vom  „Geist  der  Transscendentalphilosophie" 
erfüllten  Denken  an  sich  gewiss  nicht  fremd.  Allein,  schon  der  An- 
satzpunkt seiner  Erörterungen  rückt  ihm  ganz  andere  Gesichtspunkte 
der  Fragestellung  in  den  Vordergrund.  Liebmaun  knüpft  mit  seinen 
kritischen  Betrachtungen  über  das  psychophysische  Problem,  um  es 
kurz  zu  sagen,  nicht  an  eine  Theorie,  sondern  au  gewisse  Ergeb- 
nisse der  Erfahrung  an.  Seinen  methodischen  Ausgangspunkt  bildet 
m.  a.  W.  eine  durch  die  psychophysiologische  Erfahrung  nahegelegte 
Annahme  über  das  Verhältnis  zwischen  dem  Psychischen  und  dem 
Phj^sischen.  Es  ist  die  einer  durchgängigen,  eindeutigen  und  aus- 
nahmslosen funktionellen  Zuordnung  alles  Psychischen  zu  einem  phy- 
sischen Substrat  und  Korrelat.  Eine  nähere  theoretische  Determina- 
tion dieser  Annahme  selbst  steht  für  Liebmann  augenscheinlich  nicht 
im  Vordergrunde.  Ihm  kommt  es  m.  a.  W.  nicht  so  sehr  darauf  an, 
etwa  die  Lehre  von  dem  sogenannten  Parallelismus  im  engeren  Sinne 
dieses  Wortes  gegenüber  einer  psychophysischen  Kausalitätstheorie 

Kautstudien  XV.  7 


98  R.  Hönigswald, 

erkenntnistheoretisch  zu  begründen,  als  vielmehr  aus  gewissen 
Konsequenzen  der  Annahme  einer  absolut  ausnahmslosen  und  ein- 
deutigen Korrespondenz  zwischen  Psychischem  und  Physischem 
Rückschlüsse  auf  die  Natur  ihrer  gegenseitigen  Beziehungen  und 
darüber  weit  hinausgehend  auf  das  Verhältnis  von  Materie  und  Geist 
im  „Universum"  überhaupt  zu  machen.^)  So  gewinnt  für  Liebmann 
die  im  letzten  Grunde  erkenntnistheoretische  Frage  von  vornherein 
jene  metaphysische  Betonung,  die  seinem  ganzen  theoretischen 
Denken  das  charakteristische  Gepräge  giebt.  Auf  dem  Boden 
der  Erfahrung  mit  kritischer  Besinnung  auf  deren  Begriff 
Anhaltspunkte  zu  gewinnen  für  die  Beurteilung  und  Diskussion 
transscendenter  Möglichkeiten,  ist  eben  das  Grundmotiv  seines 
Philosophierens.  „Dogmatische  Metaphysik,"  so  heisst  es  einmal 
an  einer  bedeutsamen  Stelle  bei  Liebmauu,  „welche  Kant  als 
eine  Illusion,  eine  Selbsttäuschung,  als  einen  „transscendenten 
Schein"  verworfen  hat,  w-ollte,  mit  Überspringung  der  immanenten 
Schranken  menschlicher  Erkenntnis,  eine  apodiktische  Wissenschaft 
vom  Wesen  der  Dinge  sein.  Wir  geben  sie  bereitwillig  preis. 
Kritische  Metaphysik  hingegen  bescheidet  sich,  von  Kant  belehrt, 
eine  strenge  Erörterung  menschlicher  Ansichten,  menschlicher 
Hypothesen  über  das  Wesen  der  Dinge  zu  sein.  Wir  halten  sie 
fest.  Sie  bleibt  nach  wie  vor  eine  aus  tiefwurzelnden,  unausrott- 
baren Geistesbedürfnissen  hervorwachsende  Gedankenarbeit  und 
eine  logische  Verstandespflicht. "^)  In  die  „kosmische"  Beleuchtung 
seiner  „kritischen  Metaphysik"  sollte  auch  das  Problem  von  dem 
Verhältnis  des  Körperlichen  zum  Geistigen  aus  der  Sphäre  der 
psychophysiologischen  Erfahrung  gerückt  werden.  Ja,  man  darf 
vielleicht  hinzufügen:  die  Diskussion  des  psychophysischen  Problems 
ist  bei  Liebmauu  nur  eines  der  Mittel  für  die  Erreichung  der 
Zwecke  jener  kritischen  Metaphysik.  Das  erfahrungsgemäss  vor- 
handene und  im  Sinne  funktioneller  Abhängigkeit  gedeutete  Ver- 
hältnis zeitlicher  Kontinuität  zwischen  Psychischem  und  Physischem 
bildet  für  ihn  den  Ausgangspunkt  von  Erwägungen,  die  uns  mittelst 
einiger  weniger  energischer  Züge  bis  an  den  Rand  des  meta- 
physischen Abgrundes  hinführen,  dessen  Dasein  man  anerkennen 
müsse,  weil  man  wie  von  unsichtbaren  Kräften  sich  zu  ihm  hin- 
gezogen   fühlt,    dessen  Inhalt   man   jedoch    höchstens    nur   ahnen, 


1)  Liebmann,  Gedanken  und  Tatsachen,  II,  1900.  S.  173. 

2)  Ebenda  S.  113. 


Zu  Liebmauns  Kritik  der  Lehre  vom  psychophysischen  Parallelismiis.       99 

veruinten,  vielleicht  auch  unter  Zuhülfenahme  mancher  Ergebnisse 
der  Erfahrung  wissenschaftlich  diskutieren,  nicht  aber  erkennen 
könne. 

Unübersehbar  schier  sind  —  wie  oben  schon  angedeutet  — 
die  Instanzen,  welche  auf  das  Vorhandensein  einer  beständigen 
Beziehung  zwischen  Psychischem  und  Physischem  überhaupt,  einer 
Abhängigkeit  des  Psychischen  von  den  Zuständen  des  Physischen 
im  besonderen  schliessen  lassen :  nicht  nur  die  an  sich  wieder  so 
komplexe  Tatsache  des  „unverkennbaren  Parallelismus  zwischen 
der  Ausbildungsstufe  des  Gehirns  und  der  Eutwicklungshöhe  der 
Intelligenz"  ^)  im  einzelnen  Individuum  sowohl,  wie  in  der  Gattung, 
sondern  vor  allem  auch  die  physiologische,  pathologische  und 
anthropologische  Korrespondenz  und  Proportionalität  zwischen 
Körperlichem  und  Geistigem  in  ihren  tausendfachen  Äusserungen. 
Unüberbrückbar  aber  erscheint  dabei  die  Kluft  zwischen  Psy- 
chischem und  Phj'sischem.  Gerade  in  dieser  eigenartigen  Ver- 
knüpfung negativer  und  positiver  Instanzen  liegt  das  treibende 
Motiv  für  die  Stellung  des  psychophysischen  Problems  überhaupt. 
Sie  liefert  auch  den  Ansatzpunkt  für  die  kritischen  Betrachtungen 
Liebmanns.  „Die  Leistung  eines  Organs  empirisch  erklären  heisst 
nichts  anderes  als  aus  den  physischen  Beschaffenheiten  dieses 
Organs  dessen  Leistung  als  naturgesetzlich  notwendigen  Effekt 
deduzieren,  so  etwa  wie  man  die  Leistung  einer  Lokomotive  aus 
der  Expansionskraft  des  heissen  Wasserdampfs  und  dem  Mechanis- 
mus der  Maschinenteile  als  notwendige  Folge  deduzieren  kann.^) 
Nichts  von  einer  solchen  Deduktion  ist  auf  psychophysiologischem 
Gebiete  möglich.  „Ich  würde  mich  gHickUch  schätzen,"  erklärt 
temperamentvoll  Liebmann,  „wenn  ich  wüsste,  was  die  elektrischen 
Prozesse  in  meinen  Hirnzellen  mit  dem  Satze  zu  schaffen  haben,  den 
ich  hier  soeben  niederschreibe."^)  Und  doch  ist  an  der  Zugehörigkeit 
auch  der  höchsten  Formen  des  geistigen  Lebens  zu  körperlichen  Sub- 
straten nicht  zu  zweifeln.  „Der  psychologische  Typus  eines 
Geschöpfes  und  sei  es  selbst  der  stolze  Geist  des  Menschen,  ist 
kein  Gespenst,  schwebt  nicht  körperlos  im  leeren  Räume  oder  in 
freiem  Äther  der  Übersinnlichkeit,  sondern  ist  an  einen  leiblichen 
Organisationstypus  gebunden,  der  zu  ihm  passt,  in  Beziehung  zu 
welchem   er  erst  Sinn,    Berechtigung    und   Daseiusmöglichkeit    be- 

1)  Ebenda.     S.  181. 

2)  Liebmann:   Zur  Analysis  der  Wirklichkeit,  n.  Aufl.,  1900,  S.  539. 

3)  Ebenda.    S.  542. 

7* 


100  R.  Höuigswald, 

sitzt."  ^)  Zweifach  also  ist  —  um  diesen  entscheidenden  Punkt 
noch  einmal  hervorzuheben  —  das  Ergebnis  der  Erfahrung-en  auf 
psychophysiologischem  Gebiete:  „einerseits  absolute  Verschieden- 
heit des  Geistigen  und  des  Materiellen,  tiefe  unausfüllbare  Kluft 
zwischen  zwei  völlig  heterogenen  Klassen  von  EeaUtät;  anderer- 
seits durchgängiger  funktioneller  Zusammenhang  zwischen  diesen 
zwei  Seiten  der  empirischen  Welt,  gesetzmässiger  Parallelismus 
des  Geistig-Realen  und  des  Körperlich-Realen".^)  An  den  zweiten 
Teil  dieses  Ergebnisses  knüpft  Liebmann  seine  scharfsinnige 
Kritik,  und  zwar  formal,  indem  er  seine  methodologische  Valenz 
als  Hypothese  fixiert  und  material,  indem  er  die  letzten  Kon- 
sequenzen dieser  durch  die  Erfahrung  nahegelegten  Hypothese  für 
die  Auffassung  des  Verhältnisses  von  Materie  und  Geist  überhaupt 
entwickelt.  Denn  hypothetisch  ist  und  bleibt  die  These  von  einem 
durchgängigen  funktionellen  Zusammenhang  zwischen  Psy- 
chischem und  Physischem.  Sie  ist,  genau  besehen,  kaum  mehr 
als  eine  durch  die  psychophysiologische  Erfahrung  veranlasste  und 
in  deren  Richtung  gelegene  Forderung.  Nur  in  diesem  methodo- 
logisch sehr  bedingten  Sinn  kann  man  sie  daher  als  ein  Ergebnis 
der  Erfahrung  bezeichnen.  Ja,  die  durchgängige  Parallelität 
zwischen  Psychischem  und  Physischem  muss  schon  deshalb  Hypo- 
these sein  und  bleiben,  weil  „trotz  aller  Fortschritte  der  Gehirn- 
physiologie und  aller  Lokalisation  der  Geistesfunktion  die  trans- 
mikroskopisch zarten  Gehirnprozesse,  von  denen  das  Seelenleben 
begleitet  wird,  sich  gar  nicht  beobachten  lassen".  Auch  müsse 
man  überdies  „sehr  wohl  bedenken,  was  dieser  strenge  Parallelis- 
mus besagen  will.  Wer  ihn  annimmt,  der  muss  behaupten,  dass 
jedem  psychischen  Geschehen  überhaupt,  auch  dem  unsichtbarsten, 
dem  unbildlichsten  Geistesakt,  ein  körperlicher  Zustand  in  der 
Gehirusubstanz  eindeutig  als  physisches  Korrelatum  aggregiert 
sei.  Also  nicht  etwa  bloss  das  Auftreten  konkreter  Erinnerungs- 
bilder, die  Assoziation  der  Vorstellungen,  der  gedäcbtnismässige 
Ablauf  einer  Vorstellungsreihe,  die  uns  Erlebnisse  der  Vergangen- 
heit wiederholt,  muss  an  einen  gleichzeitig  ablaufenden  Gehirn- 
prozess  funktionell  geknüpft  sein,  sondern  auch  das  Denken  im 
engeren  Sinne,  die  logische  Verstandestätigkeit;  jeder  ürteilsakt, 
jedes  Erkennen  oder  Nichterkennen,  jedes  Bejahen  und  Verneinen, 
Zustimmen  oder  Verwerfen,  jede  Geisteshandlung  des  Vergleichens, 

1)  Gedanken  und  Tatsachen,  IL,  S.  181. 

2)  Ebenda.     S.  183. 


Zu  Liebmanns  Kritik  der  Lehre  vom  psychophysischen  Parallelismus.     101 

Uuterscheidens,  Identifizierens,  jedes  Fürwahrhalten  oder  Fürfalsch- 
halten, Glanben  oder  Nichtglauben,  jedes  Verknüpfen  nud  Trennen 
abstrakter  oder  konkreter  Vorstellnngen,   jede  Synthese,    jede    be- 
wnsste  oder  unbewnsste  Auswahl  zwischen  verschiedenen,  einander 
kontradiktorisch   entgegengesetzten   Möglichkeiten,   jede    induktive 
oder  deduktive  Schlussfolgerung,    kurz    alles,    was    geistig    da    ist 
und    geschieht,    muss    im    Gehirn    ein    physisches    Analogen    und 
gesetzlich  damit  verknüpftes  körperliches  Korrelatum  haben,  wenn 
von  strengem,  psychophj^sischen  Parallelismus  die  Rede  sein  soU."^) 
—  Dazu  kommt  noch  die  unübersehbare  Fülle  jener  stets  vorhan- 
denen,  nebelhaft  ineinanderfliessenden    und    unstet   darcheinander- 
wogenden,  kaum  fassbaren,  geschweige  denn  fixierbaren  psychischen 
Ereignisse,   die   vom  Parallelismusprinzip    ebenso    umfasst    w^erden 
müssten,  wie  die  scharf  begrenzten  Produkte  des  planvoll  bewussten 
Denkens.     Aber  seihst  wenn  die  Beobachtung   dieser  feinsten  psy- 
chischen   und    jener    zartesten    physischen    Prozesse    auch    Herr 
werden  könnte,  niemals  vermöchte  sie  dies  an  einem  und  demselben 
psychophysiologischen  Objekt.     Das   psychische    Erlebnis    und    der 
ihm  koordinierte  physiologische  Prozess   sind   stets   auf  die  Erfah- 
rung zweier  Beobachter  verteilt.  2)    Ein  allerdings  an  Beobachtung 
anknüpfender,    und    durch    Erfahrung    fundierter    Analogieschluss 
von  den  beobachtbaren,  bezw.  suppouierten  Vorgängen  des  eigenen 
Geisteslebens  auf  fremdes  tritt  hier  an  die  Stelle  der  unmittelbaren 
Beobachtung.     Auch   im  Hinblick   auf   diesen   Umstand   schon   ist 
also  die  These  von  einer  durchgängigen  Parallelität  des  Psychischen 
und  des  Physischen  durchaus  hypothetisch.  —  Indessen,  sie  ist  ohne 
Zweifel  eine  „hypothesis  bene  fundata''.     Und  deshalb   gerade   ist 
die    weitere    kritische    Frage    Liebmanns:    „Was    folgt    aus    der 
Annahme    ihrer    Geltung?"    begründet.     Ja,    mit    dieser    zweiten 
Frage  erst   tritt   Liebmann    dem    eigentlichen   Gegenstande   seiner 
Untersuchung  näher.     Gesetzt,    der   Parallelismus   bestünde   wirk- 
lich   in    jener    absoluten    Ausnahmslosigkeit,    die    unsere    Hypo- 
these   fordert,    leistet    er  auch    das,    was    billigerweise,    d.  h.   im 
Sinne    jener    Hypothese,    von    ihm    verlangt    werden   muss,    und 
w^enn    er  es  zu  leisten  vermöchte,   welches   sind  die  theoretischen 
Konsequenzen  dieser  seiner  Leistung?    Welchen  Bedingungen  muss 
m.  a.  W.   das  Parallelismusprinzip   im  Sinne  jener  Hypothese   ge- 
nügen  und   welche    Folgerungen   wären    aus   dem  Umstände    der 

1)  Ebenda.     S.  188  f. 

2)  Riehl,  Philos.  Kritizismus,  Bd.  II,  1887,  S.  196  f. 


102  R.  Hönigswald, 

Erfüllung-  jener  Beding-ungen  durch  unsere  Hypothese  zu  ziehen? 
Schon  S  ig  wart  hatte  verwandte  Probleme  aufgerollt.^)  Bei 
Liebmann  aber  treten  sie  aus  dem  Zusammenhang  der  engeren 
methodologischen  Interessen,  die  für  Sigwart  naturgemäss  be- 
stimmend gewesen  waren,  heraus.  Dadurch  gewinnen  sie  denn 
auch  für  ihn  jene  theoretische  Selbständigkeit,  die  vor  allen  Dingen 
in  der  Schärfe  seiner  Exposition  zum  Ausdruck  kommt.  — 

Gerade  den  spezifischen  Äusserungen  des  entwickelten  Seelen- 
lebens gegenüber  —  so  meint  Liebmann  —  versagt  das  Parallelismus- 
prinzip. Gesetzt  nämlich,  „die  Lokalisation  der  Geistesfunktionen 
wäre  eine  fertig  abgeschlossene,  vollendete  Leistung,  die  Gesichtsvor- 
stellungen, Gehörsvorstellungen  u.  s.  w.  wären  an  bestimmten  Stellen 
der  Gehirnrinde  endgültig  untergebracht":  weder  für  die  funda- 
mentale Tatsache  der  Enge,  noch  für  die  der  Einheit  des  Be- 
wusstseins  oder  gar  für  jene  wunderbare  Fähigkeit  des  „selbst- 
bewussten  Ich",  die  Zustände  seines  eigenen  Seelenlebens  zu 
objektivieren,  lässt  sich  ein  zureichendes  physisches  „Analogon, 
SubStratum  oder  Correlatum"  auch  nur  vermuten.  2)  Nirgends 
wird  die  völlige  Disparität  zwischen  physischem  und  psychischem 
Geschehen  so  klar,  wie  an  diesen  Punkten,  wo  einem  räumlich- 
zeitlichen Phänomen,  dem  physischen  Vorgang,  das  nicht  nur 
räumlich,  sondern  genau  genommen,  auch  zeitlich  bestimmungs- 
lose Produkt  einer  „Verknüpfung"  im  Bewusstsein  gegenübertritt. 
Hier  vor  allem  muss  die  Kritik  einsetzen.  „So  lange  die  physischen 
Analoga  oder  körperlichen  Correlata  dieser  charakteristischen 
Grundtatsachen  fehlen,  so  lange  bleibt  unsere  Kenntnis  des  psycho- 
physischen  Parallelismus  lückenhaft  und  die  Lehre,  dass  ein  solcher 
überhaupt  existiert,   eine  Hypothese  von  zweifelhaftem  Werte."  ^) 

Indessen,  diese  Schwierigkeit  ist  für  den  Anhänger  des 
Parallelismusgedanken,  in  dessen  strengster  Fassung  wenigstens 
keineswegs  unüberwindlich.  Er  kann  einmal  darauf  hinweisen, 
dass  ja  die  absolute  Disparität  zwischen  Psychischem  und  Phy- 
sischem geradezu  eine  Bedingung  des  Parallelitätsgedanken  darstelle, 
da  er  ja  gerade  an  die  Voraussetzung  des  Mangels  jeglicher 
Analogie  zwischen  Psychischem  und  Physischem  gebunden  sei.  Und 
er  wird  der  Frage  Liebmanns  nach  dem  physiologischen  Substrat 
und  Korrelat  des  erwähnten   Grundphänomens   der  Bewusstseins- 

1)  Sigwart,  Logik,  III.  Aufl.,  1904,  II.  Bd.,  S.  546  ff . 

2)  Gedanken  und  Tatsachen,  11,  S.  190. 
=0  Ebenda. 


Zu  Liebmanns  Kritik  der  Lehre  vom  psj'chophysischen  Parallelismus.     103 

einheit   vielleicht   die   andere   entgegenhalten:   Kanu   man  es  denn 
bezweifeln,   dass   das  physiologische  Substrat  auch  der  Einheits- 
phänomene   das    Bewusstsein,    ganz    allgemein    gesprochen,    die 
nervöse  oder  gar  die  lebendige  i\[aterie  überhaupt  sei?     Und  was 
sonst     sollte     deren     Korrelat     darstellen,      als     gewisse     ener- 
getische    Transforniationsprozesse     dieser     nervösen,     bezw.     der 
lebendigen  Materie?    Ja,  der  Vertreter  der  Parallelismuslehre  wird 
vielleicht  vermuten,  dass  die  Schwierigkeit,  vor  die  Liebmann  sich 
hier   gestellt   sieht,    letzten  Endes   mit  jener  streng  quantitativen 
Fassung  des  Atombegriffs  zusammenhängt,  in  welcher  z.  B.  Rickert, 
freilich   unter  ganz   anderen  Voraussetzungen   und   im  Zusammen- 
hange einer  ganz  anders  gerichteten  Untersuchung,  einen  schlagenden 
Beweis  gegen  die  Berechtigung  des  Parallelismusgedankens  erblickt. 
„Versuchte  man  das  Psychische  im  Ernst  der  mechanischen  Körper- 
welt   entsprechen    zu   lassen,    so   müsste   man   auch   zu  einer  rein 
quantitativen  Bestimmung  jeder  Veränderung  ...  in  ihm  schreiten 
..."     Damit   aber    „hörte   das  Wesen   des  Psychischen   auf,    im 
Qualitativen  zu  bestehen  und  sein  Begriff  hätte  keinen  vom  Phy- 
sischen unterscheidbaren  Inhalt  mehr".^)    M.  a.  W.:  Der  Verteidiger 
des  Parallelismusprinzips  könnte  Liebmann  vorhalten,  dass  die  von 
diesem  in  den  Vordergrund  gerückte  Schwierigkeit  nur  unter  dem 
Gesichtspunkte  der  nicht  realisierbaren  Idee  einer  psychophysischen 
Atomistik  vorhanden  sei.     Wird  nun  aber  die  Berechtigung  dieser 
Idee   geleugnet,    und    der   Parallelismustheoretiker   wird   kein   Be- 
denken tragen,  dies  zu  tun,   dann  fällt  zugleich  der  von  Liebmann 
betonte  Mangel  des  Parallelismusgedankens.  Erkenntnistheoretische 
Erwägungen  —  so    etwa   Hesse    sich    die   kritische    Position   des 
Parallelismustheoretikers  formulieren  — ,  welche  uns  veranlassten,  die 
durch  die  Tatsachen  geforderte  Parallelität  über  das  Mass  einer  funk- 
tionellen Abhängigkeit  des  Psychischen  von  den  energetischen  Trans- 
formationsprozessen der  „nervösen  Substanz"  hinaus  auszudehnen, 
lägen   nicht   vor;    deshalb   involvierte   auch   die  Frage   eines   phy- 
siologischen    „Analogons"     der    Einheitsphänomene     gewiss     kein 
grösseres  Problem    als    die   nach   dem   physischen  Analogen   etwa 
der  Empfindung.     Gleichwie    diese,    so   habe   man   sich   auch  jene 
Einheitsphänomene    als    an    eine    ganz   bestimmte    quahtative  Be- 
schaffenheit und  Reaktionsweise  des  physischen  Substrates  gebunden 


1)  Rickert:  Psychophysische  Kausalität  und  psychophysischer  Paral- 
lelismus.   Sigwart-Festschrift  1902. 


104  R.  Hönigswald, 

vorzustellen.  —  Es  ist  fraglich,  ob  die  Position  Liebmanns  durch 
solche  Einwände  getroffen  wird.-  Das  Argument  z.  B.,  dass  der 
Maugel  jeglicher  Analogie  zwischen  Psychischem  und  Physischem 
geradezu  eine  Voraussetzung  der  Parallelismustheorie  darstelle, 
versagt,  wo  der  Gedanke  der  Parallelität  nicht  in  scharfen  und 
grundsätzlichen  Gegensatz  zum  Begriff  der  psychophysischen 
Kausalität  tritt.  Das  aber  ist  gerade  bei  Liebmann  der  Fall. 
Nicht  als  ob  Liebmann  die  völlige  Disparität  der  beiden  Erscheinungs- 
gebiete verkennen  würde;  auch  nicht  als  ob  er  sich  einer  Täuschung 
darüber  hingäbe,  dass  ein  Verständnis  des  kausalen  Zusammen- 
hanges, d.  h.  die  Auffindung  einer  auf  der  Identität  eines  Faktors 
beruhenden  Beziehung  zwischeu  Psychischem  und  Ph3^sischem  tat- 
sächlich nicht  möglich  sei.  Bei  Liebmann  fehlt  nur  eine  Be- 
gründung der  prinzipiellen  Unmöglichkeit  einer  psychophysischen 
Kausalitäts-,  oder  was  dasselbe  bedeutet,  der  Unerlässlichkeit  einer 
psychophysischen  Parallelitätstheorie.  Das  Problem,  in  welchem, 
wie  wir  sehen  w^erden,  seine  Erörterung  des  Verhältnisses  des 
Psychischen  zum  Physischen  gipfelt,  fordert  schliesslich  jene  Be- 
gründung auch  gar  nicht.  Aber  nur  wenn  eine  solche  gegeben 
wäre,  könnte  das  oben  genannte  Argument  als  stichhaltig  betrachtet 
werden.  Denn  nur  in  diesem  Falle  wäre  jene  Identitätsbeziehung 
zwischen  Psychischem  und  Physischem  wirklich  ausgeschlossen, 
deren  Begriff  sich  in  der  Forderung  eines  physiologischen  Analogous 
zu  den  psychischen  Phänomen  geltend  macht.  Und  w^as  die  Kritik 
der  Frage  nach  einem  physiologischen  Substrate  der  psychischen 
Einheitsphänomene  anlangt,  so  konnte  Liebmaun  hier  ohne  Schwierig- 
keit eine  Unterscheidung  einführen,  welche  die  ganze  Probleralage 
mit  einem  Schlage  zu  Ungunsten  seines  supponierten  Gegners  ver- 
änderte. 

Ein  anderes  nämlich  ist  Einheit  des  Mannigfaltigen 
im  Bewusstsein,  ein  anderes  das  Bewusstsein  jener  Ein- 
heit. Nur  das  letztere  ist  einer  physiologischen  Parallelisierung 
fähig,  nur  auf  dieses  könnte  sich  daher  der  oben  diskutierte 
Einwand  gegen  die  Liebmannsche  Position  baziehen.  Die  Ein- 
heit des  Bewusstseins,  bezw.  der  diese  Einheit  repräsentierende 
Gedanke  des  Ich,  ist  ein  ausser-zeitliches,  rein  logisches  Moment 
und  die  Bedingung  aller  Zeitlichkeit  von  Phänomen  überhaupt. 
Nur  das  Bewusstsein  von  der  einheitlichen  Verknüpfung  des 
Mannigfaltigen  in  aller  Erkenntnis  ist  selbst  ein  zeitliches,  psy- 
chologisches und  physiologisch  parallelisierbares  Phänomen.  M.a.  W.: 


^1 


Zu  Liebmanns  Kritik  der  Lehre  vom  psychophysischen  Parallelismus.     105 

Die  Liebmannsche  Lehre  von  dem  Fehlen  eines  jeglichen 
physiologischen  Substrates  für  die  Einheit  des  Bewusst- 
seins  bleibt  aufrecht.  Denn  wer  die  Möglichkeit  eines  Sub- 
strates für  diese  Einheit  behauptet,  der  hat  eben  schon  an  die 
Stelle  des  Begriffs  der  Einheit  des  Bewusstseins  unvermerkt  den 
des  Bewusstseins  jener  Einheit  treten  lassen.  „Es  ist  ein  er- 
kenntuistheoretischer  Standpunkt  möglich"  —  bemerkt  zu  diesem 
Punkt  einmal  mit  Recht  Rickert^)  —  „der  das  zusammenfassende 
Bewusstsein,  etwa  wie  Kant  die  transscendentale  Apperzeption,  in 
seiner  Bedeutung  als  Bedingung  alles  Seins,  des  Physischen  ebenso 
wie  des  Psychischen,  streng  von  dem  psychologischen  Subjekt 
unterscheidet.  Das  psychologische  Subjekt,  das  in  erkenntnis- 
theoretischer Hinsicht  Objekt  ist,  und  zu  dem  daher  die  Einheit 
des  ,Bewusstseins  überhaupt'  begrifflich  nicht  in  prinzipiell  anderer 
Weise  gehört  als  zu  jedem  anderen  Objekte,  macht  dann  allein 
den  empirisch  gegebenen  Gegenstand  der  Psychologie  aus,  und  nur 
mit  Rücksicht  auf  diesen  braucht  man  den  Parallelismus  durch- 
zuführen". 

Niemand  hat  den  Gegensatz  zwischen  der  jenseits  aller  zeit- 
lichen Bestimmungen  stehenden  Eiuheitsfunktion  des  Bewusstseins 
und  den  in  der  Zeit  verlaufenden  psychischen  Phänomenen  schärfer 
formuliert   als  Liebraann   selbst.     „Aus  dem  zeitlichen  Verlauf  des 
psychischen  Geschehens    als  zeitlos    höhere  Instanz   heraustretend, 
fasst  das  Ich  zeitlich  Getrenntes  in  die  Einheit  eines  einheitlichen 
Gedankenzusammenhangs  synthetisch   zusammen.  .  .  .  Ohne  dieses 
Ich  giebt  es  für  uns  kein  Seelenleben;    ohne    dieses    Ich  gäbe  es 
für   uns    auch    keine  Welt. "2)      Einheit  des  Bewusstseins  ist  eben 
nicht  —  um  dies    noch  einmal  auszusprechen  —  ein  psychisches 
Phänomen,    wie    es    das  Bewusstsein    dieser  Einheit    ist.     Einheit 
des  Bewusstseins  ist  ein  jedem  Bewusstsein  von  der  Einheit  über- 
geordnetes Formalgesetz,    eine  Bedingung,    der  jegliches  Bewusst- 
sein, auch  das  von  der  Einheit  selbst,  genügen  muss.    Einheit  des 
Bewusstseins    ist    die   jedem    empirischen  Bewusstsein  gemeinsame 
„Möglichkeit,  zu  sich  selbst  Ich  zu  sagen".     Nur  dieses  tatsäch- 
liche Ich-Sagen,   bezw.  das  Bewusstsein  jener  Möglichkeit  ist  ein 
physiologisch    parallelisierbares  psychisches  Phänomen;    die  „Mög- 
r      lichkeit"    selbst    aber  ist  es   nicht.     Einheit  des  Bewusstseins  ist 


1)  a.  a.  O.  S.  69. 

2j  Gedanken  und  Tatsachen,  II,  S.  197. 


106  R.  Hönigswald, 

eben  nicht  die  psycholog-ische  Funktion  eines  organisierten  „Wesens", 
sie  ist  eine  Beding-ung-,  unter  der  jede  psychische  Funktion  eines 
organisierten  „Wesens"  als  solche  steht.  Daher  kann  Einheit  des 
ßewusstseins   ein    physiologisches  Substrat  überhaupt  nicht  haben. 

Es  ist  eine  Konsequenz  der  Liebmannschen  Problemstellung, 
die  hiermit  gezogen  wird,  eine  Konsequenz  freilich,  die  einerseits 
über  jene  Problemstellung  hinausweist,  schon,  weil  sie  in  dem 
Fehlen  einer  Antwort  auf  die  Frage  nach  einem  Substrat  der 
Einheit  des  ßewusstseins  keinen  Mangel  des  Parallelismuspriuzips 
entdecken  k  du,  und  die  andererseits  von  selbst  hinüberleitet  zur 
Diskussion  de  zwwten  Teils  der  kritischen  Betrachtungen,  die 
Liebmanu  dem  P  rallelismusprinzip  widmet. 

Denn  nicht  nur  das  Moment  der  Einheit  des  Bewusstseins, 
sondern  auch  der  Tatbestand  der  Logik  stellt  nach  Liebmann 
das  Parallelismusprinzip  vor  ernste  Schwierigkeiten.  Schon  Sig- 
wart  hatte,  wie  oben  angedeutet,  mit  Nachdruck  auf  diesen  Punkt 
hingewiesen.  Für  ihn  sowohl  wie  für  Liebmann  handelt  es  sich 
darum,  die  Anerkennung  einer  prinzipiell  unerfüllbaren  Forderung 
als  Konsequenz  des  Parallelismusgedankens  aufzuzeigen.  Soli,  so 
meint  Sigwart,  eine  logische  Operation  in  der  Gestalt  eines  be- 
liebig einfachen  ßechenexempels  ausgeführt  werden,  dacn  muss 
der  dieser  logischen  Operation  als  einem  psychischen  Vorgang  unter 
der  Voraussetzung  des  Parallelismusprinzips  eindeutig  korrespon- 
dierende Gehirnprozess  augenscheinlich  zweierlei  Gesetzen  ent- 
sprechen: „einmal  den  chemischen  Gesetzen,  nach  welchen  Kohlen- 
stoff, Sauerstoff,  Wasserstoff,  Stickstoff,  Phosphor  u.  s.  w.  die 
Umlagerungen  ihrer  Atome  in  der  Gehirnsubstanz  vollziehen,  resp. 
den  physikalischen,  nach  welchen  die  dabei  frei  werdenden  oder 
sich  bindenden  Kräfte  nach  dem  Energiegesetz  sich  umformen, 
und  zum  zweiten  den  logischen  Gesetzen  des  Rechnens,  den 
Regeln  der  Addition  und  Subtraktion,  den  Regeln  des  Einmaleins 
u.  s.  f."^)  So  haben  „die  umfassendsten  Kombinationen  der  Ele- 
mente, wie  sie  in  weitausgreifenden  Gedankenverbindungen  in 
dichterischer  oder  musikalischer  Komposition  vollzogen  werden,  zu 
ihrem  genauen  Gegenbild  ebenso  verwickelte  Umsetzungen  der 
Gehirnsubstanz,  welche  einerseits  nach  chemischen  und  physika- 
lischen Gesetzen  mit  streng  mechanischer  Gesetzmässigkeit  ver- 
laufen,   andererseits    aber  zugleich  unter  den  Gesetzen  der  Logik, 


1)  Sigwart,  Logik,  II.  Bd.  III.  Aufl.  1904,  S.  547. 


Zu  Liebmanns  Kritik  der  Lehre  vom  psychopliysischen  Parallelismus.     107 

der  Ästhetik,  der  Harmonielehre  u.  s,  w.  stehen".     Hatte  Sigwart 
in  diesen  Sätzen  die   prinzipielle  Frage  des  Gegensatzes  zwischen 
Verursachung    und    Normierung    auf    dem    Boden    des    psychophy- 
sischen  Problems  aufgerollt,   so  hat  sie  Liebraann  in  ihrer  ganzen 
Prägnanz    und    Folgerichtigkeit    entwickelt.       „Sollen    wir    an- 
nehmen,    die    dem    verstandesmässigen    Denken    aggre- 
gierten    Gehirnzustände     folgten     einander     nicht    nach 
den  Gesetzen    der  Physik   und  Chemie,    sondern  nach  den 
Gesetzen    der   Logik?      Oder    sollen   wir   annehmen,    das 
Denken   richte   sich   nicht   nach  den  Gesetzen  der  Logik, 
sondern    nach    den    Gesetzen    der    Physik    und    Chemie? 
Eines    von  Beiden   muss  der  Fall  sein,    wenn  ein  strenger  psycho- 
physischer  Parallelismus    existieren    soll."')     Träfe  das  erstere  zu, 
dann    wären    die    dem   Denken    aggregierten  Gehirnprozesse    „aus 
dem  Herrschaftsgebiet  der  Naturgesetze  enthoben  und  einer  allem 
materiellen    Geschehen    fremdartigen    Welt    von    logischen    Denk- 
geboten unterstellt".     Und  wäre  das  zweite  der  Fall,  dann  stünde 
das    Denken    nur    scheinbar    unter    der  Herrschaft    der    logischen 
Normen,  etwa  des  Satzes  der  Identität  und  des  Widerspruchs;  in 
Wahrheit  gehorchte  es  „der  mit  blinder  Notwendigkeit  ablaufenden 
Mechanik    der    Gehirnprozesse". f)     Folgt  m.  a.  W.  unter  der  Vor- 
aussetzung   des  ParallelisQius    die  Natur    logischen    Normen,    oder 
folgt  die  Logik  kausalen,   physikalisch-chemischen  Gesetzen?     Ist 
—  so  fragen  wir  mit  Liebmanns  eigenen  Worten  —  ,.jener,  nach 
physischen  Naturgesetzen  entstandene  und  nach  solchen  notwendig 
wirkenden  Hirnmechanismus  gleichzeitig  so  wunderbar  konstruiert, 
als    ob    er    nicht    nach    Naturgesetzen,    sondern    nach  lo- 
gischen   Gesetzen    wirkte?"      Mit    anscheinend    unweigerlicher 
Konsequenz    ergiebt    sich    aus  diesem  harten  „Kompetenzkonflikt" 
für  Liebmann  die  Entscheidung:  „Ist  die  ipvxri  oder  die  von  innen 
betrachtete  Intelligenz    ein    automaton  spirituale  logicum,  so  muss 
das  cerebrum,  die  von  aussen  betrachtete  Intelligenz  ein  antomaton 
materiale    logicum    sein;    ist    der    Psychomechanismus    logisch,    so 
muss  der  Cerebromechauismus  ebenfalls  logisch  sein."^)  —  Mit  der 
ihm  eigenen  Unmittelbarkeit  der  Darstellung  stützt  Liebmann  diese 
Folgerung    durch  den  Hinweis  auf  konkrete  Umstände.     Wenn  lo- 
gisches Denken    an    ganz  bestimmte,  kausal  determinierte  Gehirn- 

1)  Gedanken  und  Tatsachen,  n,  S.  193. 

2)  Ebenda.    S.  194. 

3)  Zur  Analysis  der  Wirklichkeit,  S.  554. 


108  R.  Hönigswald, 

funktionen  g-ebunden  ist  —  und  dass  sich  dies  so  verhalte,  scheint 
nicht  nur  durch  die  Erfahrung-  bestätigt  zu  werden,  es  entspricht  vor 
allen  Ding-eu  auch  der  Grundforderung  des  Parallelismusprinzips  — , 
dann  müsste  auch  schon  die  geringste  Veränderung  im  Ablauf  der 
chemisch-physikalischen  Krscheinungsreihen  des  Gehirns  das  logische 
Denken  revolutionieren.  Gesetzt,  „mein  Gehirn  hätte  nach  den 
darin  herrschenden  Naturgesetzen  .  .  .  nicht  die  Zustandsreihe 
a  b  c  d,  sondern  die  andere  a  c  b  d  .  .  .  durchlaufen,  so  würde  als 
Folge  dieser  materiellen  Metathesis  eine  logische  Metathesis  not- 
wendigerweise eingetreten  sein".^)  Ich  würde  etwa  anstatt 
2X2  =  4  gedacht  haben  2X4  =  2.  Eine  solche  logische  Meta- 
thesis aber  findet  in  dem  geistig  gesunden  Menschen  nicht  statt, 
folglich  müssen  „die  Kunstregeln  der  Schullogik  dem  intellektuellen 
Naturprozess  immanent  sein",^)  folglich  sind  „die  logischen 
Normalgesetze  selbst  Naturgesetze  unserer  Intelligenz,  Natur- 
gesetze höherer  Art  als  die  der  Assoziation",^)  folglich  „stehen 
wir  hier  vor  dem  ungeheueren,  alle  unsere  Begriffe  übersteigenden 
Naturphänomen,  dass  bliudwirkende  Naturgesetze,  dass  Mechanis- 
mus,- Chemismus  u.  dergl.  m.  einen  materialeu  Naturprozess  zu 
Stande  bringen  und  in  Gang  erhalten,  der  —  einem  idealen 
Kodex  logischer  Normalgesetze  gehorcht".*)  Besteht  also  der 
Parallelismus  zu  Recht  —  und  dass  er  wenigstens  im  Sinne 
der  funktionellen  Zuordnung  des  Psychischen  an  Physisches  zu 
Recht  besteht,  kann  nicht  wohl  bezweifelt  werden  —  dann  ist 
„die  Materie,  die  Natur  etwas  anderes,  ist  unendlich  viel  mehr 
als  der  Physiker,  der  Chemiker,  ja  auch  der  Physiolog  sich  bei 
diesem  Worte  zu  denken  pflegt".^)  Sie  kann,  „obwohl  überall 
nach  mechanischer  Kausalität  mit  blinden  Kräften  wirkend,  nicht 
bloss  in  kausalem  Mechanismus  bestehen,  wenn  sie  mittelst  dieses 
Mechanismus  ein  logisches  Organ,  wie  das  Cerebrura  hervor- 
bringt ".ß)  „Ist  die  Vernunft  Naturprodukt,  so  muss  die  Natur 
Vernunft  haben."  7) 

Das   ist   das   bedeutsame   Ergebnis   der   Betrachtungen  Lieb- 
raanns,  der  damit  das  psychophysische  Problem  in  die  Beleuchtung 

1)  Ebenda.  S.  653. 

2)  Ebenda.  S.  557. 

3)  Ebenda.  S.  559. 
4  Ebenda.  S.  561. 

ö)  Zur  Analysis  der  Wirklichkeit.  S.  561. 
6)  Zur  Analysis  der  Wirklichkeit.  S.  563. 
')  Zur  Analysis  der  Wirklichkeit.     S.  564. 


Zu  Liebmanns  Kritik  der  Lehre  vom  psychophysischen  Parallelisraus.     109 

letzter  metaphysischer  Fragen  gerückt  hat.  Es  ist  der  Gipfel 
einer  Untersuchung,  welche  die  vollendete  Beherrschung  des  Tat- 
sächlichen von  vornherein  als  eines  der  Mittel  zur  Realisierung  des 
Programms  einer  kritischen  Metaphysik  betrachtet.  Und  doch  kann 
dieses  Ergebnis  nicht  das  letzte  Wort  in  einer  Sache  sein,  die  zu- 
gleich die  Grundlagen  der  Erkenntniswissenschaft  betrifft.  Wenn 
die  Analyse  des  Parallelismusproblems  für  Liebmann  den  Gedanken 
einer  metaphysischen  Verschmelzung  kausaler  und  normativer  Re- 
geluug  zeitigte,  so  ergiebt  sich  als  die  nächste  methodische  Konse- 
quenz dieses  Gedankens  die  kritische  Frage  nach  dessen  Recht. 
Zunächst  bedarf  der  Begriff  einer  logischen  Metathesis 
wegen  der  in  ihm  enthaltenen  Vereinigung  erkenntnistheoretisch 
heterogener  Elemente  einer  näheren  Erläuterung.  Nur  dort,  wo 
von  Teilen,  genauer  von  einer  räumlichen,  bezw.  zeitlichen  An- 
ordnung und  Relation  der  Teile  eines  Ganzen  gesprochen  werden 
kann,  kann  die  Rede  sein  von  einer  Metathesis.  Um  es  im 
Hinblick  auf  unser  Problem  mit  einem  Worte  zu  sagen:  Nur  phy- 
sisches, bezw.  psychisches  Geschehen  kann  eine  Metathesis  erfahren, 
logische  Beziehungen  sind  einer  solchen  von  vornherein  entrückt. 
Logische  Beziehungen  sind  jenseits  jeglicher  räumlicher  oder  zeit- 
licher Bestimmungen  stehende  Relationen  der  Einheit.  Ein 
Deduktionsschluss  bleibt,  was  er  ist,  d.  h.  die  logische  Beziehung 
zwischen  den  Prämissen  untereinander,  sowie  zwischen  Prämissen 
und  Folgesatz  verändert  sich  nicht,  auch  wenn  die  zeitliche  Ab- 
folge der  Bestandteile  des  Schlusses  umgekehrt  wird.  Nur  dem 
psychischen  Geschehen  des  Schliessens  kommt  eine  zeitliche  Ord- 
nung seiner  Elemente  und  die  Möglichkeit  einer  Aufhebung  dieser 
Ordnung,  eine  Metathesis  zu,  nicht  aber  dem  logischen  Gebilde  des 
Schlusses.  —  2X2  bleibt  4,  auch  wenn  die  psychophysiologisch 
begründete  Metathesis  2X4  =  2  stattgefunden  haben  sollte,  gleich- 
wie etwa  die  Sätze  der  Identität  und  des  Widerspruchs  von  jeder 
tatsächlichen  Verletzung  ihrer  Gebote  —  wie  sich  eine  solche  im  Ver- 
lauf eines  komplizierten  Schlussverfahrens  psychologisch  oft  genug 
ereignet  —  unberührt  bleiben.  Wo  Sein  Geltung  und  nur  Geltung 
bedeutet,  da  ist  jede  Beziehung  zu  räumlichen  und  zeitlichen  Ver- 
hältnissen, somit  die  Möglichkeit  jeglicher  ^letathesis  ausgeschlossen. 
Liebmanns  Begriff  einer  logischen  Metathesis  kann  sich  daher  nur 
auf  den  psychologischen  Tatbestand  des  Denkens  und  nicht  auf 
logischen  Qualitäten  des  Gedachten  beziehen,  er  kann  also  günstig- 
sten Falls  nur  den  Hinweis   darauf    enthalten,    dass    ein    Produkt 


110  R.  Hönigswald, 

psychophysiologischer  Vorg-äuge  einer  räumlichen  oder  zeitlichen 
Umordnung  ihrer  Elemente  zufolge  den  Forderungen  der  Logik 
möglicherweise  nicht  mehr  genügt,  wobei  natürhch  für  unser 
Problem  der  „analytische"  oder  der  „synthetische"  Gebrauch  der 
Logik  nicht  in  Frage  kommt.  —  So  selbstverständlich  dieses  Er- 
gebnis auch  erscheinen  mag,  für  die  sachgemässe  Stellungnahme 
zu  unserem  Problem  ist  es  doch  von  einschneidender  Bedeutung. 
Die  Begriffe  der  Norm  und  der  Kenntnis  der  Norm,  bezw.  des 
normgemässen  Geschehens,  der  logischen  Notwendigkeit  und  des 
Bewusstseins  ihrer  Forderungen,  des  Wahrseins  und  der  Umstände 
des  Fürwahrhaltens,  sondern  sich  mit  aller  Schärfe  von  einander 
und  ganz  von  selbst  erhebt  sich  hier  im  Hinblick  auf  die  Betrach- 
tungen Liebmanns  die  Frage:  Ist  die  Vernunft  im  Sinne  der 
logischen  Notwendigkeit  oder  aber  sind  das  Bewusstsein  ihrer 
Geltung  und  die  psychischen  Umstände  der  Erfüllung  ihrer 
Forderungen  „Naturprodukt"?  Es  ist  dies  die  Frage  nach 
dem  Verhältnis  zwischen  Norm  und  Naturgesetz,  genauer  die 
Frage,  ob  denn  die  logischen  Normalgesetze  wirklich  „Natur- 
gesetze unserer  Intelligenz"  sind,  weiterhin  die  Frage  nach 
der  Berechtigung  einer  Parallelisierung  logischer  Normen  und 
uaturgesetzmässiger  Vorgänge  in  der  organisierten  oder  nervösen 
Materie  überhaupt.  —  Tatsache  ist,  dass  gewisse  Produkte  des 
psychischen  Geschehens,  bezw.  ein  bestimmter  Verlauf  psychischer 
Ereignisse  den  Bedingungen  logischer  Normgesetze  genügen.  Das 
Ergebnis  jener  komplexen  psychischen  Vorgänge  etwa,  das  wir 
Urteil  nennen,  entspricht  den  Forderungen  des  Prinzips  der  Iden- 
tität und  in  der  gewohnten  ohne  Zweifel  psychologisch  bedingten 
und  natürlichen  Gesetzen  unterliegenden  Aufeinanderfolge  der 
Urteile  in  einem  deduktiven  Schluss  symbolisiert  sich  gleichsam 
in  zeitlicher  Entfaltung  die  zeitlose  Struktur  der  gegenseitigen 
logischen  Abhängigkeit  seiner  Glieder.  Sicherlich  ist  nun  die 
Kenntnis  dieser  Abhängigkeit  zunächst  mit  ein  starkes  Motiv,  jene 
zeitliche,  die  Verhältnisse  der  logischen  Abhängigkeit  extensiv 
symbolisierende  Ordnung  herbeizuführen  und  innezuhalten.  Aber 
so  gewiss  auf  dem  Standpunkte  einer  gereiften  Reflexion  etwa 
der  tatsächliche  psychologische  Vollzug  und  die  logische  Ordnung 
des  Schlusses  ihrem  Begriff  nach  gänzlich  auseinanderfallen,  so 
gewiss  also  die  Aufhebung  der  zeitlichen  Ordnung  die  logische 
Ordnung  als  solche  unberührt  lässt,  so  gewiss  müssen  die 
Ursachen    der    zeitlichen    Ordnung    —    auch    sofern    diese    den 


Zu  Liebmanns  Kritik  der  Lehre  vom  psychophysischen  Parallelismus.     1 1 1 

Foi'derungen  der  logischen  genügt  —  von  der  letzteren  unabhängig 
sein.  „Kausalgesetze,  nach  welchen  das  Denken  so  ablaufen  muss, 
wie  es  nach  den  idealen  Normen  der  Logik  gerechtfertigt  werden 
könnte,  und  diese  Normen  selbst  —  das  ist  doch  keineswegs  das- 
selbe."^) Liebniann  selbst  ist  weit  davon  entfernt,  die  Begriffe 
der  logischen  Norm  und  des  kausalen  Naturgesetzes  zu  verwechseln. 
Ist  es  doch  gerade  die  Einsicht  in  ihren  Gegensatz,  die  seine  Er- 
wägungen bestimmt.  Er  spricht  —  wie  wir  gesehen  haben  — 
nicht  nur  im  allgemeinen  von  einer  ,.alleQi  materiellen  Geschehen 
fremdartigen  Welt  von  logischen  Denkgeboten". ^)  Er  determiniert 
diesen  Gegensatz  auch  durch  den  Hinweis  auf  die  Verschieden- 
artigkeit der  Aufgaben  von  Psychologie  und  Logik.  ,.Für  den 
Psychologen  sind  Irrtum  und  Wahrheit,  Vernunft  und  Wahnsinn 
gleich  interessante  Untersuchungsobjekte,  deren  Ursache  aufzufinden 
es  gilt.  Nach  logischen  (Normal-)Gesetzen  dagegen  muss  das 
Denken  von  Statten  gehen,  wenn  es  korrekt  sein  will;  und  das 
inkorrekte  Denken  ist  für  den  Logiker  nur  verwerflich,  während 
es  für  den  Psychologen  nur  natürlich  ist."^)  Weil  und  sofern 
aber  das  Produkt  des  Natürlichen  logischen  Normen  genügt,  ver- 
senkt Liebmann  die  Logik  in  die  Natur.  Die  absolute  Diskrepanz 
der  logischen  und  der  natürlichen  Gesetzlichkeit  auf  der  einen, 
und  ihre  scheinbare  Vereinigung  in  der  Tatsache  des  normgemässen 
Denkens  auf  der  anderen  Seite  —  das  sind  —  wie  schon  er- 
wähnt —  die  logischen  Motive  der  Liebmannschen  Problemstellung 
und  des  Liebmannschen  Begriffs  einer  „Logik  der  Natur".  Der 
erkenntnistheoretisch  begründeten  Unmöglichkeit  einer  Paralle- 
lisierung  von  Logik  und  Naturgesetzlichkeit  steht  hier  die  sich 
augenscheinlich  auf  Tatsachen  gründende  Forderung  einer 
Parallelisierung  der  beiden  gegenüber.  Deshalb  aber  wird  diese 
gerade  bei  Lieb  mann  so  scharf  betonte  Forderung  sich  nur 
dann  mit  einem  scheinbaren  Erfolge  behaupten  können,  wenn  sie 
ihre  P>fülluug  auf  dem  Boden  der  Metaphysik  findet.  Das  nun 
ist  bei  Liebmann  durchaus  der  Fall.  Jedes  psychophysiologische 
Geschehen  nämlich  —  mögen  nun  dessen  Produkte  den  Bedingungen 
logischer  Normen  genügen  oder  nicht  —  ist  naturgesetzlich  deter- 
miniert. Sind  nun  kausale  Naturgesetzlichkeit  und  die  normative 
Regelung   durch   die  Logik   von  einander  prinzipiell  unterschieden, 

1)  Husserl,  Logische  Untersuchungen,  Bd.  I,  1901,  S.  68. 

2)  Gedanken  und  Tatsachen,  II,  S.  193. 

3)  Zur  Analysis  der  Wirklichkeit,  S.  586. 


112  R.  Hönigswald, 

dann  kann  kein  Glied  der  unendlichen  Kausalreihe,  auch  wo  diese 
ein  log-jsch  positiv  zu  bewertendes  Produkt  liefern  sollte,  zugleich, 
d.  h.  im  Sinne  naturgesetzlicher  Kausierung  von  logischen  Normal- 
gesetzen beherrscht  sein.  Die  von  Liebraanu  postulierte  Ver- 
einigung der  Naturgesetzlichkeit  und  der  logischen  Normierung 
muss  daher  gleichsam  hinter  der  Szene  einer  „möglichen  Erfahrung", 
auf  metaphysischem  Gebiete  vor  sich  gehen.  Die  geforderte 
Vereinigung  von  Logik  und  Natur  geschieht  jenseits  der  „Natur". 
Was  sie  aber  dort  bedeuten  mag,  das  ist  —  wie  wir  kritisch 
hinzufügen  müssen  —  nur  „praktischen",  nicht  mehr  theoretischen 
Erwägungen  zugänglich. 

•  Überblicken  wir  noch  einmal  die  gesamte  Problemlage,  wie 
sie  sich  uns  aus  den  voransteheudeu  Erörterungen  ergiebt,  so  werden 
wir  zusammenfassend  vielleicht  erklären  dürfen:  Nicht  die  logische 
Notwendigkeit,  sondern  höchstens  nur  das  Bewusstsein  ihrer  Geltung, 
bezw.  die  empirischen  Umstände  der  Erfüllung  ihrer  Forderungen 
sind  „Naturprodukt"  und  als  solches  natürlicher  Gesetzlichkeit 
unterliegenden  Vorgängen  parallelisierbar.  Es  handelt  sich  m.  a.  W. 
für  das  Parallelismusprinzip  nicht  um  das  Verhältnis  einer  ein- 
deutigen Zuordnung  der  Logik,  sondern  höchstens  nur  um  das 
einer  Psychologie  des  logischen  Denkens  zur  Gesetzlichkeit  der 
Natur,  Nur  das  psychische  Geschehen  selbst,  mag  es  logische 
Valenz  besitzen  oder  nicht,  korrespondiert  physischen  Vorgängen; 
nicht  aber  auch  die  Normen,  welchen  es  etwa  genügt  oder  die 
Tatsache,  dass  es  solchen  in  einem  gegebenen  Falle  genügt.  Das 
Parallelismusprinzip  ist  ein  „natürliches"  Prinzip.  Will  es  sich 
der  Logik  bemächtigen,  so  vermag  es  dies  auf  dem  erkenntnis- 
kritisch nicht  mehr  zu  rechtfertigenden  Umweg  über  die  Meta- 
pkysik.  „Nur  die  Denkakte"  -  sagt  einmal  Eickert^)  —  „sind 
wirklich,  die  wahren  Gedanken  dagegen"  —  wir  würden  vielleicht 
hinzufügen:  gleichwie  die  Wahrheit  der  Gedanken  —  „gehören  gar 
nicht  zur  empirischen  Wirklichkeit,  nicht  zur  psychischen  und  zur 
physischen  auch  nicht".  Liebmann  hat  unzweifelhaft  recht:  der 
Tatbestand  der  Logik,  bezw.  des  norragemässen  Verhaltens  psy- 
chischer Produkte  und  Vorgänge  entzieht  sich  seiner  Natur  nach, 
gleich  der  Einheit  des  Bewusstseins  jedem  Versuch  einer  physio- 
logischen Parallelisierung.  Aber  nur  dann  wäre  in  solchem  Ver- 
halten  ein  Mangel   des  Parallelismusprinzips  zu  entdecken,   wenn 


1)  Zwei  Wege  der  Erkenntnistheorie  „Kantstudien",  Bd.XIV,  Heft2 — 3. 


Zu  Liebmanns  Kritik  der  Lehre  vom  psychophysischen  Parallelismus.     113 

der  Gegensatz  zwischen  logischen  Normen  und  naturgesetzlich 
determinierten  psychophj'siologischeu  Phänomen  kein  absoluter  wäre. 
Liebmaun  selbst  hat  ihn  als  solchen  anerkannt,  nicht  nur  aus- 
drücklich und  in  der  klaren  Konsequenz  seines  Verhältnisses  zur 
Fragestellung  Kants,  sondern  vor  allem  auch  da,  wo  er  den  Ge- 
danken einer  Verbindung  von  logischer  Normierung  und  natur- 
gesetzlicher Verursachung  unverkennbar  in  die  Spare  des  Meta- 
physischen, in  das  Gebiet  der  „verborgenen  Substanz  der  Natur", 
in  die  Welt  der  „Natura  naturalis"  verweist.^)  Hier,  auf  dem 
Gebiete  der  Metaphysik  allein  ist  die  Norm  „Naturgesetz"; 
und  umgekehrt,  wo  die  Norm  als  solche  „Naturgesetz"  wird, 
da  ist  Mataphysik.  —  Gewiss,  die  Formen  der  logischen  Funktionen 
konstituieren  gerade  im  kritischen  Sinne  den  Begriff  der  Natur 
und  das  oberste  Gesetz  ihrer  Gesetze  ist  Logik.  Fast  scheint  es 
daher  so,  als  hätte  gerade  die  kritische  Philosophie  am  wenigsten 
Grund,  den  Gegensatz  zwischen  kausalem  Naturgesetz  und  logischer 
Normierung  zu  überspannen.  Und  dennoch  ist  das  Festhalten  an 
diesem  Gegensatz  eine  Bedingung  ihres  eigenen  Bestandes.  Denn 
so  gewiss  kritische  Philosophie  die  Begründung  der  Voraussetzungen 
für  die  Objektivität  der  Erfahrung  ist,  so  gewiss  bestimmt  in  ihr 
die  Logik  als  konstitutives  Prinzip  nur  die  Form  der  Erfahrung. 
Eine  Veränderung  ist  ein  Glied  der  Erfahrung,  wenn  sie  un- 
abhängig von  den  zeitlichen  und  individuellen  Umständen  ihres 
Beobachtetwerdens  gilt.  Und  sie  gilt  in  solchem  Sinne,  wenn  sie 
den  nur  in  den  Normen  der  Logik  realisierten  Bedingungen  zeit- 
loser Geltung  genügt.  Ein  Vorgang  ist  objektiv,  wenn  er  kausal 
ist,  weil  Kausalität  mit  der  Form  des  hypothetischen  Urteils 
identisch  ist.  Die  logische  Norm  definiert  den  Begriff  der  Natur, 
d.  h.  sie  bestimmt  deren  Form.  Aber  sie  ist  nicht  selbst  Natur, 
so  gewiss  die  Geltung  ihrer  Form  nicht  aus  dem  Inhalt  der  Natur 
deduziert  werden  kann,  so  gewiss  diese  Deduktion  eine  „Begründung 
synthetischer  Urteile  a  priori"  bedeutet.  Nur  jenseits  und  unab- 
hängig von  den  Bedingungen  einer  solchen  Begründung  kann  Natur 
—  auch  abgesehen  von  den  formalen  Bestimmungseleraenten  in  ihrem 
Begriff  —  logisch  genannt  werden,  wie  denu  auch  nur  jenseits 
einer  im  schulgemässen  Sinne  des  Wortes  erkenntniskritischen 
etrachtung  die  Unterscheidung  menschlicher  und  kosmischer  Ge- 
.chtspunkte  möglich  ist.     Innerhalb   dieser  Betrachtung   wird  sie 


1)  Zur  Analysis  der  Wirklichkeit  S.  564. 

KanUtudlen    XY. 


114  R.  Honigs wald,  Zu  Liebmanns  Kritik  etc. 

aufgehoben  in  dem  kritischen  Begriff  des  Objekts.  Die  Begriffe 
des  logischen  Denkens,  als  eines  „Produkts"  und  der  Logik  als 
der  formalen  Bedingung  der  Natur  fallen  eben  auseinander. 

Planmässig,  d,  h.  im  vollen  Bewusstsein  der  prinzipiellen 
Grenzen  aller  Erkenntnis  treibt  Liebmann  Metaphysik.  Ebendarum 
aber  ist  diese  Metaphysik  kritisch.  „Philosophisch  ist  es  nach 
dem  Höchsten  zu  streben ;  philosophisch  aber  auch  sich  über  seine 
Leistungsfähigkeit  Rechenschaft  zu  geben."^)  Nicht  was  jenseits 
der  berechtigten  Sphäre  der  Erkenntnis  etwa  noch  erkennbar  sein 
möchte,  sondern  was  auf  Grund  der  Erkenntnis  in  ihr  denkbar 
sei  —  darin  allein  besteht  das  Problem  seiner  Metaphysik.  Sie 
ist  ein  Postulieren  in  der  Erkenntnis  nicht  mehr  realisierbarer 
aber  auf  Grund  und  mit  Hülfe  der  methodischen  Mittel  der  Er- 
kenntnis erwogener  Möglichkeiten.  Und  echt  kritischen  Sinn  ver- 
rät es,  dass  Liebmann  gerade  den  Abschnitt  seines  philosophischen 
Hauptwerkes,  in  welchem  unser  Problem  mit  der  ganzen  Wärme 
einer  in  jahrzehntelanger  Arbeit  gereiften  Überzeugung  vertreten 
worden  war,  mit  den  Worten  Hamlets  abschliesst:  —  The  rest  is 
silence.  —  Weit  entfernt  davon,  ein  müssiges  Gedankenspiel  zu 
sein,  ist  die  kritische  Metaphysik  Liebmanns  vielmehr  eine  er- 
giebige Quelle  fruchtbarer  methodischer  Anregungen;  sie  bringt 
nur,  aristotelische  Reminiszenzen  erneuernd,  das  „regulative"  Ele- 
ment der  Wissenschaft,  die  Vielgestaltigkeit  und  die  Komplexität 
ihres  Betriebes  in  der  gedanklichen  Form  des  „Seins"  zum  Aus- 
druck. Sie  ist  —  und  dies  gilt  ganz  besonders  auch  für  unser 
Problem  —  ihrem  Begriffe  nach  schon  ein  beständiger  Hinweis 
auf  die  Grenzen  und  auf  den  Begriff  möglicher  Erkenntnis.  Und 
deshalb  ist  auch  sie  ein  Symbol  der  Kontinuität  des  Liebmannschen 
Lebenswerks.  Sie  ist  —  so  positiv  sie  ihrem  Inhalte  nach  auch 
sein  mag  —  in  ihrer  letzten  methodischen  Begründung  doch  nur 
eine  Erfüllung  der  Forderung  des  jungen  Liebmann:  Zurück 
zu  Kant. 


1)  Liebmanu,  Die  Klimax  der  Theorien,  1884,  S.  49. 


Kritizismus  und  Naturphilosophie  bei  Otto  Liebmann. 

Von  Bruno  Bauch. 


Man  mag  über  Schopenhauers  Vorwurf  gegen  Fichtes  Wissen- 
schaftslehre, dass  sie  Wissenschaftsleere  sei,  denken  wie  man  will: 
ob  Schopenhauer  gegen  Fichte  gerecht  sei  oder  nicht;  ob  sein 
Vorwurf  sich  auch  auf  manche  andere  Tendenzen  der  Philosophie 
nach  Kant  ausdehnen  lasse  oder  nicht;  ob  er  vielleicht  auch  gegen- 
wärtig manche  gutgläubige  Wiederkäuer  der  „dialektischen  Methode" 
treffe  oder  nicht;  ob  zuguterletzt  der  Vorwurf  zumal  bei  seiner 
Gegnerschaft  gegen  die  Mathematik,  —  horribile  dictu!  —  auf 
Schopenhauer  selbst  zurückfalle  oder  nicht;  —  dem  allem  mag 
sein,  wie  ihm  wolle.  Das  kümmert  uns  hier  nicht.  Aber  Eines 
ist  sicher:  Wissenschaftslehre  ohne  Wissenschaft  ist  leer.  Denn 
das  ist  ja  gerade  das  Problem  der  Wissenschaftslehre,  dass  sie 
fragt,  wie  Wissenschaft  überhaupt  und  ihr  Gegenstand  möglich 
ist.  In  diesem  Problem  liegt  ihr  Wesen,  Wissenschaft  von  der 
Wissenschaft,  in lüTt^inri  rrfi  miac^nr^c  zu  sein.  So  wenig  darum 
irgend  eine  Einzelwissenschaft  noch  auch  die  ganze  Mannigfaltigkeit 
aller  Einzelwissenschaften  das  zu  leisten  im  Stande  ist,  was  im 
Problem  der  Wissenschaftslehre  aufgegeben  ist,  weil  es  ja  eine 
Frage  für  sich  ist,  wie  Wissenschaft  möglich  ist,  aus  der  erst 
ermittelt  werden  soll,  was  für  alles  Einzelwissen  bereits  Fundament 
und  Voraussetzung  ist,  so  wenig  kann  auf  der  anderen  Seite  jene 
eminent  philosophische  Fragestellung  nach  der  Möglichkeit  des 
Wissens  überhaupt  der  exakten  Wissenschaft  entbehren,  weil  nur 
von  ihr  aus  das  Problem  der  Möglichkeit  des  Wissens  seinen  Inhalt, 
sein  inhaltliches  Rüstzeug  empfängt.  Philosophie  und  exakte 
Wissenschaft  sind  so  aufs  innigste  aneinander  verwiesen. 

Es  ist  die  Tat  des  philosophischen  Kritizismus,  wie  ihn  Kant 
begründet  hat,  gewesen,  die  der  Transscendentalphilosophie  die 
Aufgabe  stellte,  die  unentbehrlichen  Grundlagen  zu  ermitteln,  die 
den   Zweck   der   Erkenntnis   verbürgen.     Unter    denen    aber,    die 

8* 


116  B.  Bauch, 

nicht  bloss  Kant  als  historische  Grösse  historisch  behandelten, 
sondern,  unter  Wahrung  eigener  Freiheit  zu  selbständiger  Fort- 
entwicklung der  kritischen  Positionen,  den  Kritizismus  zu  fruchtbar 
systematischem  Wissenschaftsleben  weitergeführt  haben,  steht 
Otto  Liebmaun  mit  in  allererster  Reihe.  Weit  entfernt  von  irgend 
welcher  Nachbeter-  und  Nachtreter-Gebundenheit  an  das  Kantische 
Werk  und  seinen  Buchstaben,  die  dem  Geiste  des  Kritizismus 
selbst  aufs  innerlichste  zuwider  wäre,  in  der  rechten  und  tiefen 
Einsicht  in  den  „Geist  der  Transscendentalphilosophie"  hat  Liebmann 
von  der  Höhe  seiner  eigenen  philosophischen  Entwicklung  aus 
seine  Stellung  zu  Kant  in  lapidarer  Präzision  selbst  formuliert: 
„Sämtliche  Einzeldoktrineu  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  sind 
streitig,  oder  zweifelhaft,  oder  bereits  widerlegt.  Aber  der  ganze 
Standpunkt,  der  prinzipielle  Grundgedanke  des  Werkes  ist  unveraltet 
und  unsterblich."^)  Damit  ist  er  auf  der  Höhe  seines  Denkens 
seinen  philosophischen  Anfängen  treu  geblieben.  Denn  das  hatte 
ja  schon  seine  philosophische  Stellung  in  Beziehung  auf  „Kaut  und 
die  Epigonen"  charakterisiert,  dass  er  bei  selbständigster  Kritik 
der  dogmatischen  Residua  innerhalb  des  Kritizismus,  —  wie  sie, 
um  es  paradox  auszudrücken,  etwa  an  dem  ominösen  „Ding  an 
sich"  am  verhängnisvollsten  in  die  Erscheinung  treten,  —  gerade 
das  Nie-Veraltende  der  Vernuuftkritik  in  ihrer  lebendigen  Beziehung 
zur  exakten  Wissenschaft  zu  neuer  systematischer  Fruchtbar- 
machung herauszuarbeiten  suchte,  dass  er  die  Forderung,  der  die 
„Epigonen"  nicht  gewachsen  waren,  auf  seine  Weise  neu  zu  er- 
füllen strebte.  Und  nur  von  den  Prämissen  systematisch-lebendiger 
Aufgabestellung  her  war  er  zu  der  berühmten  Konklusion  gelangt: 
„Also  rauss  auf  Kant  zurückgegangen  werden".^)  Eine  Konklusion, 
die  sodann  freilich  historisch  für  den  ganzen  Neukantianisuius 
selbst  eine  neue  Prämisse  und  ein  neues  methodisches  Arbeitssignal 
bedeutete,  das  an  allen  Ecken  und  Enden  in  der  Philosophie,  wie 
in  der  exakten  B^rschung,  ein  Echo  fand,  als  Losung  tausendfach 
wiederholt  wurde.  So  hatte  Otto  Liebmann,  der  übrigens  au  einem 
ganz  speziellen  Problem  der  Einzelforschung ^)  transscendental- 
philosophische  und  exakte  Problemstellung  zu  lebendiger  Einheit 
verschmolz,  seine  eigeue  Stellung  innerhalb  des  Kritizismus  gefasst, 
für  dessen  Weiterentwicklung  er  selbst  Dauerndes  und  Bleibendes 

1)  Gedanken  und  Tatsachen,  II,  S.  8. 

2j  Die  Schrift  „Kant  und  die  Epigonen"  war  es,  die  die  Losung  ausgab. 

^)  „Über  den  objektiven  Anblick"  handelt  eine  seiner  ersten  Arbeiten, 


Kritizismus  und  Naturphilosophie  bei  Otto  Liebmann.  117 

ZU  leisten  berufen  war.  In  einem  speziellen  Falle,  gerade  in  dem 
prinzipiellen  Verhältnis  von  Philosophie  und  Wissenschaft  und 
auch  da  wieder  in  einer  besonderen,  an  sich  selbst  freilich  eben- 
falls prinzipiellen  Beziehung  kann  das  deulHch  werden.  Sofern 
das  Problem  der  Transscendentalphilosophie  darin  liegt,  dass  sie 
nach  den  Bedingungen  der  Erkenntnis  überhaupt  fragt,  wofür 
sie  selbst  an  die  exakte  Forschung  verwiesen  bleibt,  sofern  werden 
auch  die  Bedingungen  insbesondere  der  Naturerkenntnis  zu  ihrem 
Problem.  Denn  transscendental  heisst  nicht  transscendent,  nicht 
irgend  ein  mj'stisches  Gespenst  aus  Wolkenkuckucksheim,  sondern 
allein  Erkenntnis  stiftend  und  Erkenntnis  verbürgend.  Wenn  wir 
nach  den  die  Naturerkenntnis  gewährleistenden  Erkenntnismitteln 
fragen,  sind  Phüosophie  und  Naturerkenntnis  selbst  im  Problem 
schon  zur  Einheit  verbunden:  die  Philosophie  mit  der  Natur- 
erkenntnis, insofern  deren  Bedingungen  ihr  problematischer  Inhalt 
sind;  die  Naturerkenntnis  mit  der  Philosophie,  insofern  sie  ein 
Kriterium,  eine  Instanz  fordert,  von  der  aus  und  auf  Grund  deren 
entschieden  werden  kann,  ob  jene  Bedingungen  wirklich  Erkennt- 
nisbediugungeu  sind  und  inwieweit  sie  das  sind.  Insofern  die 
Voraussetzungen  der  Naturerkeuntnis  unbesehen  hingenommen 
werden,  könnte  man  von  einer  „Metaphj'sik  der  Naturwissenschaft"^) 
oder  einer  dogmatischen  Natui'philosophie  zum  Unterschiede  von 
der  Naturwissenschaft  als  solcher  sprechen.  Insofern  aber  der 
Erkenutniswert  jener  Voraussetzungen  erst  kritisch  untersucht 
wird,  würde  es  sich  um  eine  Kritik  der  Metaphysik  der  Natur- 
wissenschaft handeln.  Und  damit  wiederum  wäre  die  entscheidende 
Problembestimmung  für  das  prinzipielle  Verhältnis  von  Kritizismus 
und  Naturphilosophie  gewonnen.  Lediglich  auf  dieses  prinzipielle 
Verhältnis  kommt  es  mir  an.  Kritizismus  und  Naturphilosophie 
in  ihrem  Verhältnis  zu  einander,  wie  sie  innerhalb  der  philo- 
sophischen Arbeit  Liebmanns  bestimmt  w^erden,  stehen  zur  Dis- 
kussion. Ich  will  also  weder  Liebmanns  Kritizismus  noch  seine 
kritische  Naturphilosophie  in  ihrem  vollen  Umfange  darstellen. 
Das  würde  ein  recht  stattliches  Buch  erfordern.  Alles,  worauf  es 
die  folgenden  Blätter  absehen,  ist  in  dem  Problem  der  Relation 
beider  Begriffe  beschlossen. 

Sofern    es    sich    um    Erkenntnis-    und    Wissens -Begründung 
handelt,  scheidet  alle  dogmatische  Metaphysik  von  vornherein  aus. 


i)  Analysis  der  Wirklichkeit,  S.  192  f. 


118  B.  Bauch, 

Für  eine  Grundlegung  der  Naturwissenschaft  kommen,  das  folgt  schon 
aus  dem  Problem,  dogmatisch-philosophische  Standpunkte  nicht  in 
Betracht.  Wissenschaftliche  Bedeutung  hat  weder  der  philosophi- 
sche Mystizismus  noch  der  philosophische  dogmatische  Empirismus, 
die  darum  mit  einander  enger  verwandt  sind,  als  es  dem  naiven 
Glauben  zunächst  scheinen  mag.^)  Der  Mystiker,  wie  der  Empirist 
sind  keine  Männer  wissenschaftlicher  Philosophie.  Der  Mystizismus 
ist  Gefühlsphilosophie,  der  Empirismus  Empfinduugsphilosophie, 
jener  Gefühlsphilosophie  mit  Gefühl,  dieser  Gefühlsphilosophie 
ohne  Gefühl.  Diese  Charakteristik  mag  paradox  klingen.  Aber 
sie  ist  ebenso  wahr,  wie  das  Faktum,  dass  es  Verstandesmenschen 
mit  Verstand  und  Verstandesmenschen  ohne  Verstand  giebt,  eben 
Faktum  ist.  Tatsacheubelege  für  beide  „philosophische"  Richtungen 
liegen  auf  der  Hand:  für  die  Gefühlsphilosophie  die  grandiosen 
Weltdichtungen  eines  Giordano  Bruno,  Jacob  Böhme  und  ungezählte 
schwächere  Versuche  der  vielen  dii  minorum  gentium;  für  die 
Erapfindungsphilosophie  sind  die  Tatsachenbelege  zwar  minder 
grandios,  aber  nicht  minder  zahlreich.  Wer  ein  schlagendes 
konkretes  Beispiel  haben  will,  der  denke  an  eine  gewisse  Richtung 
innerhalb  unseres  heutigen  Pragmatismus.  Sie  macht  das  Para- 
doxeste unmittelbar  anschaulich.  In  ihr  leistet  der  Empirismus  der 
Mystik  Vorspanndienste.  Denn  sie  versucht  nicht  blos  die  Philo- 
sophie zur  ancilla  theologiae  herabzudrücken  und  dem  Wunder- 
glauben, wie  es  sich  für  „reinen"  Empirismus  schickt,  gewisse 
reservierte  Plätze  auf  Kanzeln,  Lehrstühlen  und  im  Himmel  zu 
erobern.  Das  tun  andere  auch.  Aber  sie  tut  noch  mehr:  sie 
versucht  mit  ebensoviel  Verstandesleere,  wie  Gefühlsleere,  wieder 
einmal  die  Bedürfnisse  des  Gemütes  mit  den  Ergebnissen  der 
Wissenschaft  zu  versöhnen.  Das  ist  ihr  grösstes  Kunststück;  und 
das  ist,  wie  gesagt,  ihr  reiner  Empirismus.  Schade  nur,  dass  die 
ganze  „reine  Erfahrung"  jedes  reinen  Empirismus,  wie  Liebmann 
genugsam  gezeigt  hat,^)  eine  contradictio  in  adjecto  ist,  und  dass 
Empirismus  und  Empirie  selbst  grundverschieden  sind.  3)  Der 
Empirismus  ist  nichts  anderes  als  eine  „Unterart  der  dogmatischen 
Metaphysik",  nämlich,  wie  ich  hinzufügen  möchte,  jene,  die  sich 
gegen  das  Wesen  und  die  Bedeutung  der  Empirie  die  Augen  ver- 


1)  Vgl.  ebenda  S.  188  f. 

2)  Vgl.  besonders  a.  a.  0.  ebenda  S.  258  f.,  sowie  Klimax  der  Theorien 
S.  96  ff.  und  Gedanken  und  Tatsachen  I,  S.  6  ff. 

3)  KUmax  d.  Th.  S.  113. 


Kritizismus  und  Naturphilosophie  bei  Otto  Liebmann.  119 

schliesst,  und  zwar  —  aus  Grundsatz.  Erfahrungswissenschaft, 
Naturerkenntnis,  ja  überhaupt  Natur  sind  für  den  Empirismus 
noch  weniger  möglich,  wie  für  den  Mystizismus.  Das  hat  Liebmann 
allenthalben,  am  eindringlichsten  Yielleicht  in  seiner  leider  viel  zu 
wenig  gelesenen  kleinen  aber  inhaltreichen  Schrift  über  ,.Die  Klimax 
der  Theorien",  mit  zwingender  Schärfe  und  Deutlichkeit  gezeigt. 
Damit  hat  er  zugleich  den  Boden  für  das  positive  Verhältnis  des 
Kritizismus  zur  Naturphilosophie  geebnet  und  den  Sinn  für  den 
Standpunkt  innerhalb  des  „fruchtbaren  Bathos  der  Erfahrung" 
erschlossen,  dem  gemäss  eben  aus  dem  Problem  der  Erfahrungs- 
wissenschaft deren  Grundlagen  allein  ermittelt  werden  können. 
Damit  aber  ist  weiterhin  auch  Unterschied,  wie  positives  Verhältnis 
von  „Gedanken  und  Tatsachen",  um  dafür  gleich  den  Titel  von 
Liebmanns  zweitem  Hauptwerke  nutzbar  zu  machen,  in  einer  Weise 
klargestellt,  dass  sich  an  ihnen  sofort  das  ganze  Fundamental- 
problem des  Kritizismus  enthüllt. 

Dabei  ist  eine  Unterscheidung,  die  Liebmann  mit  fulminanter 
Deutlichkeit  getroffen  hat,  für  unser  Problem  von  grundlegender 
Bedeutung.  Es  ist  die  Unterscheidung  zwischen  dem  Faktum  und 
der  transscendentalphilosophischen  Ausdeutung  des  Faktums,  die  von 
vornherein  auf  das  Verhältnis  von  Kritizismus  und  Naturphilo- 
sophie das  hellste  Licht  wirft.  Es  kommt  von  vornherein  für  das 
ganze  Problemverständnis  darauf  an,  scharf  und  klar  zu  erkennen, 
dass  ein  Unterschied  besteht  zwischen  dem  ,.Dass"  und  dem  „Was" 
der  Fakta,  oder,  wie  Liebmann  mit  glänzender  Begriffsklarheit 
sagt,  zwischen  der  „Tatsächlichkeit  der  Tatsachen"  und  der  Frage, 
was  die  Tatsachen  „an  sich"  sind  und  ob  sie  überhaupt  etwas 
„an  sich"  sind.^)  Wer  den  abstrakten  Gedanken  bildlich  und  in 
gewissem,  nämlich  im  optischen  Sinne  wirklich  ad  oculos  demon- 
striert haben  will,  der  findet  bei  Liebmann  selbst  die  beste 
konkretere  Explikation  an  den  kontroversen  Theorien  des  Sehens 
von  Johannes  Müller  und  Überweg  einerseits  und  Volkmann, 
Nagel  etc.  andererseits.-)  Auch  hinsichtlich  der  Gravitation^)  wird 
das  exemplifiziert.  Aber  ausser  dieser  mehr  spezialwissenschaftlichen 
Exemplifikation,  die  ausserhalb  unseres  engbegrenzten  Themas  liegt, 
findet     diese    Unterscheidung    auch    ihre    transscendentalkritische 


1)  Analysis  der  Wirküchkeit.     S.  267  ff. 

^^)  a.a.O.  S.  145  ff.;  vergl.  auch  Über  den  objektiven  Anblick  S.  61  ff . 
3j  Analysis  der  Wirklichkeit  S.  153  ff.  und  Gedanken  und  Tatsachen. 
I.  S.  70  f. 


120  B.  Bauch, 

Fruchtbarmachung-,  die  zu  unserem  Thema  g-ehört.  Wenn  nämlich 
jene  Unterscheidung-  zunächst  auch  mit  zwing-ender  Bestimmtheit 
den  weiteren  Unterschied  zwischen  realer  und  logischer  Notwendig- 
keit ergiebt,  so  enthüllt  sich  in  diesem  sofort  ein  weiterer  eigent- 
licher Fuudamentalfaktor  des  Kritizismus,  insofern  „das  empirische 
Gegeusatzverhältnis  zwischen  dem  subjektiven  Felde  der  Gedanken 
und  dem  objektiven  Felde  der  Tatsachen,  obwohl  Urphänomen, 
doch  nicht  als  letzte  Operationsbasis  annehmbar  ist".^)  Diese 
Operationsbasis  nun  aber  liegt  in  der  Instanz  des  Kritizismus.  Zu 
dessen  unaufgebbarem  Bestände  aber  gehört  die  Einsicht,  dass 
ein  Erkennen  der  Tatsachen,  wie  sie  unabhängig  von  den  Er- 
kenntnisbediugungen  des  Bewusstseins  wären,  ein  hölzernes  Eisen 
ist.  Ein  EIrkeunen  unabhängig  vom  Erkennen,  ein  Bewusstsein 
unabhängig  vom  Bewusstsein  ist  ein  kompletter  Nonsens.  Dass 
die  ganze  „für  uns  vorhandene  empirische  Natur,  wenn  sie  über- 
haupt für  uns  vorhanden  sein  will",  immer  schon  Inhalt  und 
Gegenstand  des  Bewusstseins  sein  muss,  das  ist  eine  Fundamental- 
einsicht, die  nachgerade  zum  Inventar  der  philosophischen  Kinder- 
stube gehören  sollte,  und  das  nicht  zuletzt  dank  dem  Umstände, 
dass  Liebmann  sie  aufs  nachdrücklichste  allen,  die  verstehen 
wollen  und  können,  eingeschärft  und  zum  Bewusstsein  gebracht 
hat.  Und  auch  das  hat  er,  wie  nur  wenige  andere,  aufs  nach- 
drücklichste betont,  dass  jenes  Bewusstsein,  das  Voraussetzung  und 
Grundbedingung  alles  Erkennens  ist,  und  das  Bewusstsein,  durch 
das  jene  Voraussetzungen  selbst  erst  erkannt  werden,  zu  dem  also 
eine  Einsicht  gebracht  werden  kann,  toto  coelo  verschieden  sind. 
Jenes  ist  ein  transscendentalphilosophischer  Begriff,  dieses  ist 
selbst  psychologisches  Faktum.  So  wahr  nun  die  Psychologie,  um 
Wissenschaft  sein  zu  können,  die  Bedingungen  der  Erkenntnis 
überhaupt  voraussetzt,  so  wahr  ist  Transscendentalphilosophie 
nicht  Psychologie.  Das  Bewusstsein,  für  das  die  Natur  bereits 
Inhalt  und  Gegenstand  und  das  darum  selbst  die  Voraussetzung 
der  Natur  ist,  ist  also  kein  psychologisches  Bewusstsein  von  mir 
oder  dir,  das  ja  selbst  schon  immer  ein  winziges  Bestandstück  der 
Natur  ist,  sondern  das  transscendentale  oder,  wie  Liebmann  sagt, 
metakosmische  Bewusstsein  als  der  Inbegriff  objektiver  Gesetz- 
mässigkeit schlechthin.  Der  Gedanke  der  Gesetzlichkeit  ist  es 
darum,   der   das  wissenschaftliche  Denken   charakterisiert   und   es 


1)  Ebenda.    S-  34. 


Kritizismus  und  Naturphilosophie  bei  Otto  Liebmann.  121 

von  „unwissenschaftlich  phantastischer  Träumerei"  unterscheidet.^) 
Ist  darum  die  Natur  im  wissenschaftlichen  Sinn  genau  das,  als 
was  die  exakte  Naturwissenschaft  ihren  Beg-riff  nimmt,  nämlich 
mit  Kant  als  „Dasein,  sofern  es  nach  allgemeinen  Gesetzen  bestimmt 
ist",  oder  als  „Inbegriff  aller  Gegenstände  der  Erfahrung"  und 
ist  das  transscendentale  Bewusstsein  im  objektiven  Sinne  der  In- 
begriff der  Gesetzlichkeit  schlechthin,  dann  ergibt  sich  für  das 
Verhältnis  von  Kritizismus  und  Naturphilosophie  der  von  Liebmann 
akzeptierte^)  Satz  Kants,  dass  der  Verstand  die  Gesetze  nicht 
aus  der  Natur  schöpft,  sondern  sie  dieser  vorschreibt.  Ein  Satz, 
den  die  Wissenschaft  permanent  bewährt  und  von  dem  man  heute 
wohl  nicht  mehr  zu  befürchten  braucht,  dass  er  im  subjektiven 
Sinne  genommen  wird.  Wer  meinte,  sein  persönlicher  Verstand 
schriebe  der  Natur  die  Gesetze  vor,  der  muss  eben  seinen  Verstand 
verloren  haben,  was  der  Natur  freilich,  wie  jedes  Irrenhaus  beweist, 
ziemlich  gleichgültig  ist. 

Wird  aber  der  Begriff  der  Natur  in  dem  soeben  bezeichneten 
streng  exakten  Sinne  und  der  Begriff  des  Verstandes  in  dem  nicht 
minder  strengen  transscendental-kritischen  Sinne  genommen,  dann 
stellt  sich  die  Natur  streng  wissenschaftlich-kritisch  gefasst,  selbst 
als  gegenständliche  oder  „objektiven  Welt-Logik"^)  dar.  Und  nun 
wird  das  Verhältnis  von  Gedanken  und  Tatsachen  erst  im  tiefsten 
Sinne  evident.  Wissenschaft  ist  kein  blindes  Hinnehmen  der 
„rohen,  unbegriffenen  Tatsache".*)  Der  Glaube  an  solche  ist 
überhaupt  nur  eine  „doktrinäre  Fiktion"  des  Empirismus.  Die 
Tatsachen  sind  für  die  Wissenschaft  eben  deshalb  niemals  bloss 
roh  und  unbegriffen,  sie  stehen  bereits  immer  unter  der  Gesetz- 
mässigkeit der  Natur  und  damit  der  objektiven  Logik,  unter  Be- 
griffen. Das  ist  der  tiefe  Sinn  des  Liebmannschen  Begriffes  der 
„Logik  der  Tatsachen ".5)  Er  will  nicht  besagen,  dass  die  Tat- 
sachen, losgelöst  von  aller  logischen  Gesetzlichkeit,  noch  für  sich 
eine  besondere  Logik  hätten,  sondern  dass  die  Tatsachen  selbst 
eine  logische  Gesetzmässigkeit  darstellten,  wie  der  Begriff  der 
Tatsache    für    die  Wissenschaft    eben    schon    ein  Begriff   ist,   und 


1)  Anal.  d.  W.    S.  568. 

2)  Gedanken  und  Tatsachen  II,  S.  3  f. 

3)  Analysis  der  Wirklichkeit,  S.  269  f. 

*)  Gedanken   und   Tatsachen   11,    S.  209,   vgl.  Klimax  der  Theorien, 
i.  96  ff. 

5)  Vgl.  besonders  Analysis  der  Wirklichkeit,  S.  187  ff. 


122  B.  Bauch, 

dass,  wie  wir  das  schon  gesehen  haben,  Tatsachenerkenntnis  ohne 
gesetzmässige  Bedingungen  des  Erkennens  eine  contradictio  in 
adjecto  ist.  Kein  Geringerer  als  der  den  „abstrusen  Allgeraein- 
heiten" der  Spekulation  so  abgewandte  und  mit  seinem  Denken 
so  sehr  auf  „Gegenständlichkeit"  dringende  Goethe,  hat  das  dahin 
ausgedrückt,  dass  „alles  Tatsächliche  schon  Theorie  ist".  Und 
wenn  ich  selber  einmal  gesagt  habe,  dass  die  Logik  der  Tatsachen 
nichts  ist  ohne  die  Tatsachen  der  Logik,  so  glaube  ich  mit  Lieb- 
manu  in  voller  Übereinstimmung  zu  sein. 

Erkennt  die  Philosophie  der  Naturwissenschaft  diese  nun  auch 
als  Gesetzeswissenschaft,  so  wird  doch  nicht  die  Bedeutung  des 
Konkreten  verkannt.  Damit  wird,  und  das  ist  ein  bedeutsames 
methodologisches  Moment  des  Kritizismus,  die  Philosophie  der 
Natur  von  der  Philosophie  der  Geschichte  von  vornherein  strikte 
unterschieden.  Zwar  ist  die  Natur  als  solche  ewige  Vernunft- 
gesetzlichkeit und  ein  logisches  Vernunftganzes.  Allein  die  Wirk- 
lichkeit in  der  Totalität  des  Konkreten  ist  mehr  als  reines  Ge- 
setz, Das,  womit  die  Naturforschung  sich  beschäftigt,  ist  also 
nicht  die  ganze  Wirklichkeit,^)  sondern  der  gesetzmässige  Aus- 
schnitt der  Wirklichkeit,  die  in  ihrer  Totalität  in  einem  eminenten 
Sinne  ebenso  gut  Geschichte  heisst  wie  Natur.  ^)  Diese  be- 
griffliche Unterscheidung  und  Abgrenzung  ist  von  der  allergrössten 
methodologischen  Bedeutung.  Und  wenn  sie  uns  auch  als  solche 
nicht  weiter  hier  zu  beschäftigen  hat,  so  beleuchtet  sie  doch  die 
Bedeutung  des  Kritizismus  für  die  spezifisch  naturphilosophische 
Fragestellung  gleichsam  durch  Kontrastwirkung  hier  noch  einmal 
aufs  glücklichste,  ganz  davon  abgesehen,  dass  sie  auch  für  Spezial- 
fragen  wichtige  Bestimmungen  ermitteln  hilft ;  so  z.  B.  über  die 
„Existenz  abstrakter  Begriffe" **)  einerseits  und  andererseits  über 
die  Philosophie  der  Sprache.^) 

Indem  für  unseren  Zusammenhang  aber  vor  allen  Dingen 
der  Begriff  der  Gesetzmässigkeit  seine  beherrschende  Bedeutung 
gewinnt,  erlangt  durch  ihn  unser  ganzes  Problem  seine  genauere 
Bestimmtheit  und  Präzision.  Ohne  Gesetzmässigkeit  keine  Natur- 
wissenschaft und  keine  Natur;  an  Stelle  der  Natur  höchstens,  — 
wenn   überhaupt  Etwas,    was    aber   noch   fraglich  wäre  —  Chaos 


1)  Gedanken  und  Tatsachen,  I,  S.  136. 

2)  a.  a.  O.  S.  128,  vgl.  auch  Analysis  der  Wirklichkeit,  S.  269  ff. 

3)  a.  a.  O.  S.  478  ff.,  s.  das  ganze  gleichlautende  Kapitel. 

4)  Gedanken  und  Tatsachen,  I,  S.  387  ff. 


Kritizismus  und  Naturphilosophie  bei  Otto  Liebmann.  123 

und  Regellosigkeit.     Freilich,    und    das   ist   eine  weitere  kritische 
Grundforderuug   an    die  Wissenschaft,    gilt  es  den  Naturgesetzes- 
begriff gegen  den  der  blossen  Regelmässigkeit  abzugrenzen.     Was 
bloss    nicht    regellos   ist,    ist    etwa   nicht  auch  schon  Naturgesetz, 
und  was  etwa  regellos  ist,  das  ist  nicht  etwa  unabhängig  von  der 
Naturgesetzlichkeit;    und   blosse  Regelmässigkeit,    wie  z.  B.,   dass 
sich  Kant   regelmässig   um  5  Uhr  morgens  wecken  liess,    ist  kein 
Naturgesetz,    ob    es    gleich    durchaus    naturgesetzlich    bedingt  ist. 
Naturgesetz    kann    allein   jene    allgemeine    objektive    permanente 
Regel    heissen,    nach    der    sich    das  Geschehen  in  Raum  und  Zeit 
mit  Notwendigkeit  vollziehen  muss ;  Naturgesetze  sind  also  Gesetze 
der  Physik,    Chemie,    Physiologie,    Psychologie  etc. ^)     Indem  aber 
die   unerschütterliche  Gesetzlichkeit  des  Naturmechanismus  ebenso 
zum  Irrtum,  wie  zur  Wahrheit,  zum  Wahnsinn,  wie  zur  Vernunft, 
zum  Bewusstlosen,  wie  zum  Bewussten  führt,  scheint  sich  zunächst 
noch    eine  Schwierigkeit   zu    erheben.      Auf  der  einen  Seite  sollte 
Bewusstseiu   und  Vernunft   für   Natur  und  Naturerkenntnis  schon 
Voraussetzung  sein,  auf  der  anderen  können  beide  doch  selbst  nur 
Naturprodukte  sein.     Wenn  aber  Bewusstsein  und  Vernunft  selbst 
Naturprodukte    sind,    sind    dann  nicht  auch  die  Normalgesetze  des 
Erkennens  selbst  blosse  Spezialfälle  von  Naturgesetzen?     Das  ist 
ohne  Frage   ganz   richtig,    nämlich   für  den  empirischen  Gesichts- 
punkt.    Für  ihn  sind  Vernunft  und  Bewusstsein  Naturprodukte  und 
Erkenntnisgesetze  Spezialfälle  von  Naturgesetzen.     Allein  der  em- 
pirische   Gesichtspunkt    ist   unter    transscendentalem    selbst    zum 
Problem  geworden.    Und  wir  haben  es  in  den  beiden  Fällen,  dass 
einmal  Bewusstsein  und  Vernunft  schon  Voraussetzung  der  Natur, 
das  andere  Mal  Produkt  der  Natur  ist  —  und  beides  ist  richtig,  — 
wieder  mit  den  verschiedenen  Bedeutungen  des  Bewusstseins  und  der 
Vernunft  zu  tun;  im  letzten  Falle  mit  der  empirischen,  im  ersten  mit 
der  transscendentalen.     Und   wenn   wir  Bewusstsein  und  Vernunft 
als  Produkt    der  Natur    erkennen,  so  dürfen  wir  dabei  bloss  nicht 
vergessen,    dass    diese    Erkenntnis    selbst    schon  Bewusstsein    und 
Vernunft  voraussetzt.     Und  gerade  daraus,   dass   die  Vernunft  ein 
Produkt    der  Natur  ist,    folgert  Liebmann  sehr  richtig,    dass  dann 
„dem    durchgängigen  Naturmechanismus   etwas    eminent  Logisches 
zu  Grunde    liegen   muss". 2)     Und   wer   sich   etwa  dazu  verstiege, 

1)  Gedanken  und  Tatsachen,  I,  S.  171  ff. 

2)  Analysis  der  Wirklichkeit  S,  564;    zu    vergleichen  wäre  auch  Ge- 
danken und  Tatsachen,  ü,  S.  28  ff.  und  66  ff. 


124  B.  Bauch, 

Liebmanns  Begriff  der  Natur  als  „objektiver  Weltlogik"  unter 
Hinweis  auf  das  Vernunftlose  in  der  Natur,  etwa  die  chemischen 
Elemente,  die  Mineralien,  die  Pflanzen  und  niederen  Tiere,  oder 
unter  Hinweis  auf  das  Vernunftwidrige  und  Disharmonische,  etwa 
die  Kliniken  und  Irrenhäuser  als  unhaltbar  zurückweisen  zu  wollen, 
der  würde,  so  möchte  ich  ihm  auf  diese  Verstiegenheit  bemerken,  nur 
beweisen,  dass  er  gar  nicht  wisse,  worum  es  sich  handelt  und  dass 
er  wohl  für  Philosophie  und  Wissenschaft  überhaupt  verloren  ist. 
Denn  alles  das,  was  gegen  den  Begriff  der  Natur  als  „objektiver 
Weltlogik"  sprechen  soll,  spricht  und  zeugt  für  ihn.  Denn  alles 
das  wird  doch  von  Chemie,  Mineralogie,  von  Botanik,  Zoologie, 
von  der  Medizin  überhaupt  und  der  Psychiatrie  im  besonderen 
studiert,  begriffen  und  erkannt.  Sind  nicht  also  die  chemischen 
Elemente,  die  Mineralien,  Pflanzen,  Tiere,  Kranke  und  Verrückte 
ebenso  wie  Gesunde,  Objekt  wissenschaftlicher  Forschung?  Und 
könnte  es  Objekte  wissenschaftlicher  Forschung  geben  ohne  Logik, 
oder  ist  nicht  schon  der  Begriff  des  Objektes  wissenschaftlicher 
Forschung  ein  logischer  Begriff  ebenso,  wie  der  Begriff  der 
Natur? 

Dass  alles  Naturgeschehen  gesetzlich  bestimmt  ist,  das  ist 
das  Fundament,  auf  dem  Natur  und  Naturwissenschaft  ruhen,  ohne 
das  Natur  und  Naturwissenschaft  in  der  Luft  schweben  würden 
und,  weil  das  etwas  ganz  Widersinniges  wäre,  —  es  ist  doch,  wie 
ich  an  anderer  Stelle  einmal  betont  habe,  zu  mindesten  recht  be- 
merkenswert, dass  sich  selbst  Widersprechendes  auch  nicht 
existieren  kann,  worin  sich  doch  auch  schon  zeigt,  dass  die  Logik 
in  gewisser  Weise  für  die  Existenzmöglichkeit  keine  gleichgültige 
Sache  ist!  —  überhaupt  nicht  existieren  können.  Alles  Natur- 
geschehen von  dem  Gange  der  Gestirne  bis  zu  jedem  Buchstaben, 
den  ich  hier  auf  diesem  Blatte  an  diesem  Schreibtisch,  mit  dieser 
Tinte,  dieser  Feder  schreibe,  ist  gesetzlich  und  naturnotwendig 
bestimmt.  Die  allgemeinste  Form  dieser  gesetzlich  notwendigen 
Bestimmtheit  bezeichnet  das  allgemeine  Kausalitätsgesetz.  Es  ist 
Grundlage  der  Möglichkeit  einer  Natur  und  Naturwissenschaft, 
Möglichkeitsgrundlage  darum  aller  „wissenschaftlichen  Erfahrung 
und  Erfahrungswissenschaft". ^)  Es  ist  die  allgemeinste  Form 
aller   inhaltlich    bestimmten   Naturgesetze   und    ihm    gemäss  stellt 


1)  Analysis  der  Wirklichkeit  S.  569;    vgl,   die  Klimax  der  Theorien 
S.  78  f. 


Kritizismus  und  Naturphilosophie  bei  Otto  Liebmann.  125 

sich  jedes  Geschehen  in  der  Natur,  jede  Veränderung-  eines  Ob- 
jektes, wie  Liebmaun  zu  wiederholten  Malen  den  Sachverhalt  mit 
zwingender  Schärfe  einleuchtend  macht,  dar  als  „reale  Konklusion 
eines  objektiven  Schlusses,  dessen  Major  das  Naturgesetz,  dessen 
Minor  der  nächstvorangegangene  Zustand  des  Objekts  ist."^)  Das 
ist  eben  die  ,.Logik  der  Tatsachen,"  das  ist  die  Natur  als  „ob- 
jektive Weltlogik." 

Die  durchgängige,  unverbrüchliche  Naturgesetzlichkeit  aber 
involviert  die  Idee  der  Einheit  der  Natur.  Als  Idee  ist  sie  auch 
für  den  trausscendentalphilosophischen  Kritizismus  unanfechtbar 
und  unaufgebbar;  und  sie  wird  selbst  von  der  exakten  Natur- 
wissenschaft    mit     derselben    Notwendigkeit,     mit    der    diese    die 

Wahrscheinlichkeit  des  Zufalls  als     -    bestimmt,    mit    der    Wahr- 

00 

scheinlichkeit  =  1  postuliert.^)  Wird  die  Idee  aber  als  realer 
Einheitsgrund  der  Naturgesetzhchkeit  selbst  gedacht,  so  treten  wir 
aus  dem  Gebiete  der  strengen  Wissenschaft  heraus  und  in  das 
der  Metaphysik  hinein.^)  Aber  die  Metaphysik  bleibt  für  Lieb- 
mann selbst  immer  „kritische  Metaphysik".  Das  kritische  Moment 
verbindet  ihn  auch  an  diesem  Punkte  mit  Kant,  so  sehr  sich  hier 
auch  sonst  die  Wege  beider  Denker  scheiden  mögen.  Liebmanus 
Verhältnis  zur  Metaphysik  würde  eine  besondere,  lohnende  Unter- 
suchung fordern.  Wir  aber  wollen  hier  streng  bei  unserem  Thema 
bleiben  und  die  Grenzen  des  Problems,  die  durch  das  Verhältnis 
von  Kritizismus  und  Naturphilosophie  unserer  Untersuchung  ge- 
zogen sind,  nicht  überschreiten.  Aber  auch  im  rein  transscenden- 
tallogisch-kritischen  Sinne  behält  der  Satz  seine  Gültigkeit:  „Ohne 
Regelmässigkeit  und  Gesetzmässigkeit  wäre  die  Welt  nicht  Natur, 
sondern  ein  unbegreiflicher  Wirrwarr;  und  dass  sie  eben  dieses 
nicht  ist,  dies  bedarf  einer  Ratio  sufficiens."*) 

Für  das  engere  Verhältnis  von  Kritizismus  und  Naturphilo- 
sophie aber  ist  es  weiterhin  von  einschneidender  Bedeutung,  dass 
die  Mathematik  ihre  entscheidende  Stellung  innerhalb  des  Systems 
des  Wissens  und  Erkennens  überhaupt  erhält  und  vom  Kritizismus 
in  ihrer  Bedeutung  für  die  Philosophie  und  die  Naturwissenschaft 


1)  Analysis    der    Wirklichkeit    S.  568;    Gedanken    und    Tatsachen,   I, 
19  und  S.  153;  II,  S.  215  f. 

2)  Analysis  der  Wirklichkeit  S.  572  ff. 

3)  Gedanken  und  Tatsachen,  n,  S.  205  ff.  und  I,  S.  126  ff. 
4  Ebenda. 


126  B.  Bauch, 

erfasst,  dass  mit  einem  Worte  der  „philosophische  Wert  der 
mathematischen  Naturwissenschaft"^)  kritisch  erkannt  wird.  So 
wahr  der  Begriff  der  Quantität  eine  gesetzmässige  Voraussetzung 
aller  Erkenntnis  ist,  so  wahr  ist  die  Mathematik  selbst  ein  inte- 
grierender Faktor  des  philosophischen  und  des  naturwissenschaft- 
lichen Denkens.  Sie  hat  also  nicht  bloss  den  Wert  einer  nega- 
tiven Instanz  gegen  die  Gaukeleien  falscher  philosophischer 
Systeme.  Freilich  ist  auch  hier  ihre  Bedeutung  von  unschätz- 
barem Werte,  und  es  hat  für  den  Sachkundigen  etwas  ungemein 
Imposantes,  zu  bemerken,  wie  jede  einfachste  mathematische  Re- 
lation als  jener  archimedische  Punkt  betrachtet  werden  kann,  von 
dem  aus  alle  Welten  des  Empirismus  nicht  bloss  bewegt,  sondern 
aus  den  Angeln  gehoben,  aus  den  Fugen  gebracht  werden  können, 
um  in  sich  selber  zusammenzustürzen;  jede  einfachste  mathe- 
matische Position  ist  ein  Fels,  an  dem  alles  Gewässer  empirischer 
Systeme  sich  zerschlägt,  zerstiebt  und  als  nebuloser  Dunst  auf- 
löst. Allein  so  wichtig  und  wertvoll  die  Mathematik  in  dieser 
Funktion  einer  negativen  Instanz  sein  mag,  als  wichtiger  und 
wertvoller  muss  der  Kritizismus  sie  in  ihrer  positiven  Funktion 
für  die  Erkenntnis  ansehen.  „Alle  Dinge  und  Ereignisse  in  der 
Welt  sind  Grössen."^)  Darum  wird  unsere  gesetzliche  Natur- 
erkenntnis erst  durch  die  quantitative  Bestimmung  exakt,  denn 
die  Gesetzlichkeit  der  Natur  fordert  die  quantitative  Bestimmung. 
Unter  dem  Gesichtspunkte  der  Quantität  erhält  die  naturwissen- 
schaftliche Erklärung  mit  ihren  prinzipiellen  Voraussetzungen  des 
Raumes,  der  Zeit,  der  reinen  Bewegung,  der  Masse,  der  Beschleu- 
nigung, der  kinetischen  und  der  potentiellen  Energie  ihre  grund- 
legende Stellung  für  das  ganze  System  der  Naturforschung,  indem 
sie  allein  unter  jenem  Gesichtspunkte  zur  mechanischen  Natur- 
erklärung werden  kaun.^)  Weil  „alles  in  der  Welt,"  so  führt 
Liebmann,  nach  Erbringung  des  reichsten  Materials  aus  dem  Ge- 
biete der  exakten  Forschung  überhaupt  und  im  Hinblick  auf 
Newton  insbesondere,*)  aus,  „quantitativ  bestimmt  ist,"  da  also 
„schlechthin  alles  in  der  Welt,  nenne  es  sich  Ding,  Eigenschaft, 
Zustand,  Relation,  Tätigkeit,  Zustandswechsel  oder  wie  sonst 
immer,    quantitativ   bestimmt   ist,    da  Realität   ohne   quantitative 


1)  Analysis  der  Wirklichkeit,  S.  275  ff. 

2)  a.  a.  O.  S.  284. 

3)  Vgl.  a.  a.  O.  S.  60  ff. 

4)  a.  a.  O.  S.  284  ff. 


Kritizismus  und  Naturphilosophie  bei  Otto  Liebmanu.  127 

Bestioimtheit  ein  Unding-,  mithin  letztere  ein  wesentliches 
Merkmal  aller  Wii-klichkeit  ist;  da  ferner  die  mathematische 
Naturwissenschaft  die  quantitativ  bestimmten  Gesetze  der  Wirk- 
lichkeit mit  mustergültiger  Strenge  auf  eine  geringe  Anzahl  von 
Prinzipien  zurückführt  und  aus  ihnen  ableitet;  da  endlich  die 
quantitativen  Merkmale  sich  aus  quahtativen  allein  ebensowenig 
erklären  lassen,  wie  umgekehrt,"  —  so  folgt,  ,.dass  die  mathe- 
matische Naturwissenschaft  stets  einen  integrierenden,  und  zwar 
vorläufig  den  formell  vollendetsten  Bestandteil  der  Philosophie 
ausmacht."^) 

Es  ist  nicht  nur  ein  reiner  Vorteil,  den  die  Philosophie  aus 
der  Mathematik  gewinnt,  indem  gerade  an  dieser  das  rein  philo- 
sophische Verhältnis  von  der  Sphäre  der  Anschauung  und  der 
Sphäre  des  Begriffes  zur  Klarheit  gelangt,  für  das  sich  die  be- 
griffliche Sphäie  der  anschaulichen  gegenüber  als  die  umfassendere 
erweist.  Vielmehr  vermag  gerade  mit  Hilfe  der  Mathematik  auch 
die  erkenntnistheoretische  Fragestellung  der  mechanischen  Natur- 
erklärung ihre  rechte  Stelle  innerhalb  der  Wirklichkeitsanalysis 
anzuweisen.  Vor  dem  Forum  des  erkenntuistheoretischen  Kritizis- 
mus erweist  sich  die  mechanische  Naturerklärung  als  Hypothesis 
des  Naturverständnisses  und  der  Naturerkenntnis,  ohne  aber  als 
Metaphysik,  als  welche  sie  in  materialistischen  Dogmatismus  um- 
schlüge, standhalten  zu  können.^}  Es  ist  im  besonderen  die  Atom- 
theorie, die  Liebmann  mit  mathematischer  Strenge  in  den  dyna- 
mischen Sinn  überführt.^)  Die  Gründe,  die  gegen  den  Atomismus 
als  Metaphysik  und  damit  gegen  die  Absolutheit  des  Atomes,  das 
richtig  als  „sowohl  logisch  als  historisch  ein  Sprössling"  des 
Substanzgesetzes  erkannt  wird,*)  ins  Feld  geführt  werden,  sind 
zum  guten  Teile  mathematischer  Natur.  Denn  es  ist  nicht  bloss 
die  „Irreduzibilität  des  Geistigen",  die  unmöglich  ist,  wenn  dessen 
materielle  Grundlagen,  die  wir  nun  einmal  gezwungen  sind  als 
solche  anzunehmen,  selbst  als  absolut  gesetzt  werden,  was  gegen 
die  Absolutheit  der  Atome  streitet.  Ihr  widerspricht  vor  allem 
die  Phänomenalität  des  Raumes,  zufolge  deren  das  im  Räume  ge- 
setzte  Atom    selbst   nur   phänomenale,    nicht    absolute   Bedeutung 


1)  a.  a.  0.  S.  306. 

2)  Gedanken  und  Tatsachen  I,  S.  95  ff. 

3)  Analysis  der  Wirklichkeit,  S.  311  ff.;  vgl.  auch  Gedanken  und  Tat- 
sachen I,  S.  48  ff.  und  S.  209  ff.,  sowie  die  Klimax  der  Theorien,  S.  25. 

*)  Gedanken  und  Tatsachen  I,  S.  215. 


128  B.  Bauch, 

haben  kann,  und  sodann  —  last  not  least!  —  ., die  Relativität  der 
Grössenbegriffe",  vermöge  deren  es  unendlich  viele  Ordnungen  des 
Unendlich-Kleinen    und    ebendarum    auch    des    Unendlich-Grossen 
giebt.^)      Das    aber    sind    gerade    fundamental -mathematische    In- 
stanzen.    Auf  sie  sind  wir  in  letzter  Linie  auch  verwiesen,  um  — 
und    dafür    führt    Liebmann    den    glücklichsten    und    wertvollsten 
Nachweis  —  die  Masse   als    „ein   rein  intensives  Merkmal"  zu  er- 
kennen. 2)     Man    kann    vielleicht    dennoch    dem  Atom    eine  höhere 
Bedeutung    als    die    eines    „luterimsbegriffes"^)    vindizieren,    ohne 
ihm   eine   absolute  Realität  zuzuschreiben,   indem   sich  schliesslich 
zeigen    Hesse,    dass    sowohl    der    regressive,    wie    der   progressive 
Weg    der    Wirklichkeitsanalyse    durch    den    Atombegriff    bleibend 
hindurchführen    müsse,    sodass    sich    das   „Interim"    nicht    zeitlich 
auf   den  Begriff,   sondern  logisch  auf  seine  Stellung  innerhalb  der 
Analysis    der    Wirklichkeit    selbst    beziehen    müsste.      Allein    das 
auszuführen  mag  einer  späteren  Untersuchung  vorbehalten  bleiben. 
Bei   dieser  Gelegenheit   wäre   es  recht  abgeschmackt,  wollte  einer 
etwa,    um    nur   ja    seine    eigene    liebe  Meinung    zu  vertreten,  mit 
Liebmann  in  eine  Diskussion  eintreten.    Wir  wollen  es  hier  überall 
nur  mit  Positivem  zu  tun  haben,  und  dessen  bietet  uns  Liebmann 
soviel,    dass    wir    kaum    annähernd    eine  Vorstellung  davon  geben 
können.     Zeit   und  Raum   hier   mit  Kritik  zu  verzetteln  wäre  ent- 
weder   töricht    oder    eitel,    weil    gerade    in    diesem    Augenblicke 
dieser    Gelegenheit   unwürdig.     Vielmehr   sei   hier   ausgesprochen, 
dass    selbst   der,    der  dem  Atombegriff  eine  höhere  Bedeutung  als 
die   eines  „Interimsbegriffs"    geben   mag,   doch  die  Bedeutung  der 
prinzipiellen    Wendung   zum    Dynamismus   und    den  Wert   ihrer 
Begründung   durch  Liebmann   nicht  zu  verkennen  braucht.     Schon 
die  Gründe,  die  Kant,  der  den  Dynamismus  bekanntlich  begründet 
hat,    indem    er    an   die    Stelle    letzter   starrer  Körper  (Corpusceln, 
Atome)  Kräfte    als  Fundamente    der  Natur   setzte,    waren    wichtig 
genug;    die    exakte  Forschung    gerade    der  letzten  Dezennien  von 
der  Entdeckung   des  Gesetzes   von   der  Erhaltung  der  Energie  bis 
zu  der  der  Radioaktivität  und  bis  zu  den  modernsten  Umgestaltungen 
in   den  physikalischen  Theorien  über  die  Struktur  der  Materie  hat 
für    den    Dynamismus    Gründe    auf    Gründe    gehäuft.      Und    was 
Liebmanns  Kritizismus  für  den  naturphilosophischen  Unterbau  des 

»)  a.  a.  O.  I,  S.  224  ff. 

Ji)  Ebenda  I,  S.  65, 

3)  Analysis  der  Wirklichkeit,  S.  311  f. 


Kritizismus  und  Naturphilosophie  bei  Otto  Liebmann.  129 

Dynamismus  leistet,  bat  bleibenden  Wert.  Nie  und  nirgends  sonst 
ist  mit  der  begrifflieben  Schärfe,  wie  bei  ihm,  die  Masse  als 
„rein  intensives  Merkmal"  angesprochen.  Und  dass  das  in  letzter 
Linie  auch  die  grundlegende  Bedingung  ist  für  die  für  alle 
mechanische  Naturerklärung  notwendige  Voraussetzung,  den  Ener- 
gieumsatz als  reziprokes  Kausalverhältnis  zwischen  dem  Wechsel 
der  Massenkonfiguration,  die  ja  als  solche  auch  schon  der  mathe- 
matischen (nämlich  geometrischen)  Bestimmung  untersteht,  und 
der  Beschleunigungsintensität  ansprechen  zu  können,  das  zeigt 
Liebmann  in  zwingender  Weise,  ^)  wie  er  es  auch  mit  Recht  gegen 
die  Absolutheit  der  Atome  geltend  macht.  Rein  physikalisch- 
immanent, ohne  metaphysische  Aspirationen,  fordert  jedenfalls  be- 
reits der  Begriff  des  Naturgesetzes  den  der  Natürkraft  als  logische 
Ergänzung.-)  Insofern  bedarf  der  Kraftbegriff  innerhalb  der 
kritischen  Naturphilosophie  einer  kritischen  Analyse;  diese  erweist 
ihn  für  den  Kritizismus  als  notwendigen  Grenzbegriff,  der  für  die 
Physik,  wie  das  Newton  deutlich  genug  ausgesprochen,  die  Trans- 
formation ins  Mathematische,  also  die  mathematische  Bestimmung 
selbst  fordert.^)  Mit  ihm  werden  keine  geheimen  spirits  eingeführt, 
solange  er  lediglich  im  mathematischen  Funktionsverhältnis  zur 
Massenbeschleunigung  betrachtet  wird,  wie  das  auch  Newton  tat, 
solange  er  z.  B.  als  Physiker  nicht  „causam  gravitatis"  suchte, 
sondern  lediglich  „per  vim  gravitatis"  erklärte,  ob  er  freilich  als 
Physikotheologe  diesem  trefflichen  Grundsatze,  den  er  als  Physiker 
stets  befolgte,  nicht  treu  geblieben  ist.  Mau  denke  also  hier  nicht 
an  irgendwelche  moderne  hylozoistische  Phantastereien.  Aus- 
drücklich heisst  es  einmal:  Von  dem  „Aberglauben  der  Alchymisten 
unterscheidet  sich  nur  dem  Grade,  nicht  der  Art  nach,  der  phan- 
tastische   Hylozoismus    des    Cardanus,    des    Giordano    Bruno    und 


1)  Gedanken  und  Tatsachen  I,  S.  73  f.  und  84  f. 

2)  Ebenda  S.  181  ff.  und  Analysis  der  Wirklichkeit,  S.  287  ff. 

3)  Dass  Liebmann  dabei  die  vis  a  tergo  und  die  vis  a  fronte  einer 
eingehenden  kritischen  Prüfung  unterzieht  und  beide  in  ihrem  Wertver- 
hältnis zu  einander  misst,  das  zu  behandeln,  gehört  vielleicht  als  zu  speziell 
nicht  mehr  zu  unserem  Thema.  Es  soll  aber,  da  hier  doch  auch  eine 
philosophische  Aufgabe  vorliegt,  nicht  unerwähnt  bleiben,  wie  hier  auch 
ausdrücklich   auf   die   feinen  Erörterungen  über  das  Energieprinzip,  insbe- 

ondere  auf  die  im  Grunde  doch  unanfechtbaren,  logisch  meisterhaft  vor- 
ächtigen  Ausführungen  über  den  zweiten  Hauptsatz  verwiesen  sei  (vgl. 
besonders  Analysis  der  Wirklichkeit,  S.  403  ff.  und  Gedanken  und  Tat- 
sachen I,  S.  206  ff.). 

Kantstndien  XV,  9 


130  B.  Bauch, 

anderer  Italiener  des  sechzehnten  Jahrhunderts,  bei  denen  mystische 
Sympathien  und  Antipathien  das  wirksame  Agens  sind,  welches 
die  Gestirne  durch  den  Raum  treibt  und  die  Körperwelt  im  Ganzen 
erhält."  1)  Und  das  gilt  von  aller  mystischen  Naturphilosophie  bis 
auf  den  heutigen  Tag,  ob  sie  nun  mit  Schopenhauer  den  blinden 
„Weltwillen"  oder  nach  anderen  berühmten  Mustern,  die  logisch 
unverdaute  „Substanz"  oder  sonst  ein  Wort  zum  agierenden  Welt- 
fetisch macht.  Für  die  Naturwissenschaft  ist  alles  das  nichts  als 
aus  Worten  bereitetes  System. 

Wenn  darum  die  Philosophie  der  Naturwissenschaft  ganz 
allgemein  als  Kausalitätslehre  und  Kausalforschung  angesprochen 
wird,  so  kann  es  nach  dem  Vorangehenden  nicht  mehr  zweifelhaft 
sein,  in  welchem  Sinne  das  gemeint  ist.  Die  besondere  Be- 
deutung jedoch,  in  der  hier  die  Kausalforschung  zu  verstehen  ist, 
bedarf  noch  einer  näheren  Bestimmung.  Für  das  Kausalproblem 
hat  Liebmann  eine  alte  Unterscheidung  in  vertiefter  Bedeutung 
von  neuem  fruchtbar  gemacht.  Es  ist  die  alte  Unterscheidung  der 
causa  occasionalis  von  der  causa  efficiens,  die  für  kein  geringeres 
Problem  als  das  der  Kausalität  im  Sinne  Humes  und  Kants  — 
vielleicht  richtiger:  Kant  contra  Hume  — ,  der  Controverse,  ob  die 
Kausalbeziehung  analytisch  oder  synthetisch  sei,  eine  Bedeutung 
gewinnt,  die  nun  ihrerseits  angesichts  des  eigentlich  auch  neuen 
Problems,  selbst  eine  neue  Bedeutung  sein  muss.  Dass  die  blosse 
„Kraft"  ohne  Wirkungsbedingungen  ebensowenig  einen  Effekt  hat, 
wie  Wirkungsbedingungen  ohne  Kraft,  das  ist  es,  was  aus  der 
synthetischen  Natur  des  Kausalgesetzes  analytisch  folgt. 
Insofern  nun  die  a  priori  gesetzte  Ursache  nie  der  empirischen  Be- 
obachtung zugänglich  ist,  die  sich  immer  nur  den  empirisch  wahrnehm- 
baren Wirkungsbedingungen  zuwenden  kann,  insofern  aber  eines  ohne 
das  andere  den  Sinn  verliert,  und  also  auch  die  empirischen  Wirkungs- 
bedingungen, ebensowenig  ohne  die  a  priori  gesetzte  Ursache 
gedacht  werden  können,  wie  diese  ohne  sie,  ist  unsere  heutige 
Naturwissenschaft  kausaler  Occasionalismus,  und  zwar  immanenter 
Occasionalismus^)  zum  Unterschiede  von  dem  transscendenten 
dogmatischen  Occasionalismus  der  vorkritischen  Cartesianer.  In 
diesem  immanenten  Sinne  haben  wir  in  letzter  Linie  auch  den 
Begriff  der   „Naturkraft"   zu  verstehen,   der  für  den  immanenten 


1;  Gedanken  und  Tatsachen  I,  S.  149. 
2;  Analysis  der  Wirklichkeit  S.  193. 


Kritizismus  und  Naturphilosophie  bei  Otto  Liebmann.  131 

Occasionalismus  die  Funktion  übernommen  hat,  die  im  trans- 
scendenten  Occasionalismus  Gott  angewiesen  war.  Deus  war  causa 
efficiens.  Der  kritischen  Naturphilosophie  aber  kann  die  causa 
efficiens  lediglich  und  ausschliesslich  einen  wissenschaftlichen 
Begriff  bedeuten  im  Sinne  streng  mechanischer  Naturerklärung. 

Die  mechanischen  Gesetze  behaupten  ihre  Gültigkeit  auch 
innerhalb  der  Sphäre  des  organischen  Lebens,  selbst  wenn  der 
Organismus  für  die  Erklärung  die  Bedeutung  eines  Grenzbegriffs 
behält.^)  Die  funktionale  Korrelation  der  Teile  zur  systematischen, 
nicht  blos  zur  aggregativen  Einheit  des  Ganzen  bezeichnet  das 
"Wesen  des  Organismus.  Darin  liegt  zunächst  das  Faktum  der 
Naturzweckmässigkeit,  seine  Deutung  und  Erklärung  mag  sein, 
welche  sie  wolle.  Auch  hier  gilt  es,  Faktum  einerseits  und 
Deutung  und  Erklärung  des  Faktums  anderseits  scharf  und  klar 
von  einander  zu  unterscheiden,  wenn  man  nicht  von  vornherein 
das  ganze  Problem  des  Organischen  von  Grund  aus  verwirren  will. 
Faktum  ist  zunächst  die  Naturzweckmässigkeit  in  dem  Sinne,  dass 
das  Ganze  und  jeder  seiner  Teile  wechselweise  sowohl  Ursache  als 
auch  Wirkung  ist,  und  in  dieser  Wechselseitigkeit  liegt  weiter  die 
andere,  dass  das  Ganze  und  jeder  seiner  Teile  wechselseitig  sowohl 
Zweck  als  auch  Mittel  ist.  2)  Das  Faktum  gilt  es  zunächst  als 
Faktum  anzuerkennen.  Über  seine  Erklärung  ist  aber  damit  noch 
nichts  ausgemacht.  Aber  schon  aus  den  obersten  Bedingungen  der 
Möglichkeit  einer  Naturerkenntnis  überhaupt  ergiebt  sich  mit  Not- 
wendigkeit eine  Forderung.  Sie  formuliert  Liebmauu  auf  folgende 
Weise:  „Innerhalb  der  Grenzen  der  menschlichen  Vernunft  ist  die 
Idee  des  vollendeten  Naturmechanismus,  d.  h.  das  Ideal  einer 
mechanischen  Kausalerklärung  sämtlicher,  auch  der  zweckmässigen 
Naturerscheinungen  ein  aus  dem  Prinzip  der  Kausalität  notwendig 
fliessendes  Verstandespostulat,  dessen  Erfüllung  als  möglich  voraus- 
zusetzen und  mehr  und  mehr  zu  verwirklichen  als  eine  Grundpflicht 
und  Lebensbedingung  des  wissenschaftlichen  Denkens  betrachtet 
werden  muss."^)  Damit  ist  auch  die  Urzeugung  ein  notwendiges 
Postulat.  So  ist  die  einzig  mögliche  Position  des  konsequenten 
philosophischen  Kritizismus  dem  Problem  des  Lebens  gegenüber 
bezeichnet. 


1)  Analysis  der  Wirklichkeit  S.  338  ff. 

2)  Gedanken  und  Tatsachen  II,  S.  147. 

3)  a.  a.  0.  11,  S.  171. 


132  B.  Bauch, 

Wie  wir  nun  vorhin  bereits  zwischen  B'aktum  und  Erklärung 
des  Faktums,  so  müssen  wir  nun  zwischen  Erklärung  und  Ent- 
stehung scharf  unterscheiden;  wir  müssen  weiter  die  verschiedenen 
Unterscheidungen,  die  in  Liebmanns  eben  zitierten  Worten  impli- 
zite geoiacht  sind,  auch  explizite  durchführen  und  ansehnlich 
unterstreichen;  die  Unterschiede,  als  da  sind  zwischen  Postulat 
und  Erfüllung  des  Postulats;  und  hinsichtlich  der  Erfüllung 
wiederum  die  Möglichkeit  der  Erfüllung  von  deren  wirklicher 
Vollendung.  Und  wenn  ich  diesen  scharfen,  logischen  und  unan- 
fechtbaren Unterschieden  ernstlich  ins  Auge  sehe,  so  muss  ich  im 
Hinblick  auf  die  gegenwärtigen  Strömungen  in  der  Biologie  be- 
kennen :  Zwei  Dinge  sind  es,  die  mir  da  unverständlich  geblieben 
sind :  Auf  der  einen  Seite  ist  es  mir  unbegreiflich,  wie  Reinke 
sich  so  sehr  über  Kants  Stellung  zur  Biologie  —  oder  über  seine 
Stellung  zu  Kant  —  zu  täuschen  vermag,  um  glauben  zu  können, 
dass  seine  Ansichten  mit  denen  Kants  verwandt  sein,  ja  auch  nur 
das  Geringste  zu  tun  haben  sollten.  Auf  der  anderen  Seite  ver- 
stehe ich  es  nicht,  wie  August  Weismann,  dessen  biologische 
Grundansichten  im  Prinzip,  soviel  auch  im  Einzelnen  davon  ab- 
bröckeln möge,  für  spätere  Generationen  in  der  Biologie  das  be- 
deuten werden,  was  uns  heute  in  der  Physik  das  Energieprinzip 
bedeutet,  wie  also  Weismann  sich  auch  nur  einen  Augenblick  im 
Gegensatz  zu  Kant  stellen  und  Kants  „Teleologie"  in  einem  ganz 
falschen  Lichte  sehen  kann.  Im  Prinzip  ist  der  „Weismannismus" 
nichts  anderes  als  die  grandioseste  Durchführung  jenes  Programms, 
das  Kant  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  bereits  der  Biologie  ge- 
stellt hat.  Und  so  wenig  auch  hier  alles  vollendet  sein  mag  — 
in  der  Wissenschaft  giebt  es  keine  Vollendung  — ,  so  sehr  darum 
manches  der  Verbesserung  fähig  und  bedürftig  sein  mag,  die 
Gruudzüge  der  Weismannschen  Theorie  werden  bleiben  und  sie 
werden  vielleicht  dann  erst  richtig  verstanden  werden,  wenn 
Spencer  und  mancher  andere  popularbiologische  Philosoph  unserer 
Tage  längst  vergessen  ist.  Gerade  darum  aber  müssen  wir  Weis- 
manns Ansicht,  als  habe  Kant  oder  als  wollte  der  philosophische 
Kritizismus  sonst  den  Zweck  als  naturwissenschaftliches  Erklärungs- 
prinzip an  die  Stelle  des  mechanischen  setzen,  energisch  wider- 
sprechen. Kant  hat  diese  „faule  Teleologie"  als  den  „Tod  aller 
Naturphilosophie"  bezeichnet.  Und  wenn  Liebmann,  wie  wir 
sahen,  den  „vollendeten  Naturmechanismus,  d.  h.  das  Ideal  einer 
mechanischen     Kausalerklärung     sämtlicher,     auch     der     zweck- 


Kritizismus  und  Naturphilosophie  bei  Otto  Liebmann.  133 

massigen  Naturerscbeiuung-en"  postuliert,  wenn  ihm  die  „causae 
finales  mythisch"  sind,  wenn  sie  ihm  vor  dem  Forum  des  Kriti- 
zismus in  die  ,.M3'thologie"  gehören,  nicht  in  die  Naturwissen- 
schaft,^) so  leuchtet  ein:  die  These  Weismanns, ^)  dass  wir  „über- 
haupt danach  streben  dürfen,  die  Entstehung  der  Zweckmässigen 
mit  Ausschluss  zwecktätiger  Kräfte  im  Prinzip  zu  begreifen",  ist 
zugleich  die  Position  der  kritischen  Naturphilosophie.  Dass  das 
aber  „entgegen  der  ileinung  Kants"  sei,  —  das  ist  ein  Irrtum 
\\'eisraanus.  Vielmehr  ist  dieses  Streben,  wie  Liebmanu  gesagt 
hat,  „Grundpflicht  und  Lebensbedingung  des  wissenschaftlichen 
Denkens".  Wenn  wir  nun  trotzdem  von  einer  „teleologischen 
Idee  der  Naturtechnik"  reden,  so  muss  daraus  schon  folgen,  dass 
sie  dem  Mechanismus  nicht  nur  nie  und  nirgends  Abbruch  tut, 
oder  gar  widerspricht,  sondern  ihn  sogar  fordort.^)  Um  das  zu 
erhärten,  brauchen  wir  noch  keineswegs  das  Gebiet  der  Meta- 
physik zu  betreten  und  das  der  Wissenschaft  zu  verlassen.  Wer 
ein  grandioses  Beispiel  aus  der  Geschichte  für  eine  widerspruchs- 
lose Vereinigung  von  Mechanismus  und  Teleologie  im  Metaphy- 
sischen haben  will,  der  denke  an  Goethe,  der  bei  seiner  ausge- 
sprochenen „Abneigung  gegen  die  Endursachen",  die  Synthese 
beider  antithetischer  Glieder  darin  findet,  dass  er  das  Zweckvolle 
mit  kausaler  Notwendigkeit  entstanden  und  die  kausale  Notwendig- 
keit zweckvoll  wirksam  denkt.  Man  wird  in  gewisser  Weise 
heute  auch  an  Bölsche,  den  poetischen  Metaphysiker,  denken 
dürfen.  Und  —  last  not  least!  —  Liebmanns  kritische  Meta- 
physik hat  im  philosophischen  Sinne  das  Problem  am  profundesten 
aufgegraben.  Allein,  wie  er  selbst  sagt,  hier  „reicht  der  Begriff 
der  Teleologie  weit  über  das  Gebiet  der  Naturphilosophie  hinaus".'*) 
Auf  dieses  aber  haben  wir  uns  hier  gerade  zu  beschränken.  Die 
vom  Kritizismus  für  die  Naturphilosophie  geforderte  Unterscheidung 
zwischen  dem  Faktum  des  Zweckmässigen  und  seinem  Begreifen 
und  Erklären,  die  ja  übrigens  auch  in  den  zitierten  Worten  Weis- 
manns mit  klassischer  Deutlichkeit  zum  Ausdruck  gelangt,  ist  für 
die  exakte  Fragestellung  der  fundamentale  Ausgangspunkt.  Inso- 
fern   nun    aber   auch    als   biologische  Erklärung  unter  kritischem 


1)  Analysis  der  Wirklichkeit  S.  396. 

2)  Weismann,  Vorträge  über  Deszendenztheorie,  2.  Aufl.,  S.  VII. 

3)  Gedanken  und  Tatsachen,  II,  S.  171. 

*)  Ebenda,  I,  S.  274.    Über   die   metaphysische  Seite  der  Teleologie 
vgl.  auch  schon  S.  266  ff.,  femer  11,  S.  141  ff.' 


134  B.  Bauch, 

Gesichtspunkte  ganz  allein  die  mechanische  Kausalerklärung 
dienen  kann,  ist  und  bleibt  es  ein  Postulat,  die  organischen  Pro- 
zesse auf  physikalisch-chemische  zu  gründen,  „auf  dem  Mechanis- 
mus den  Chemismus  und  auf  dem  Chemismus  den  Organismus" 
aufbauen.^)  Nachdem  Lotze  in  der  Philosophie  den  spiritus 
mysticus  der  Lebenskraft  logisch  totgeschlagen  hat,  ist  eben  damit 
der  Vitalismus,  dessen  dogmatisch-metaphysische  Preisgabe  für 
das  exakte  Gebiet  vor  allem  das  Gesetz  von  der  Erhaltung  der 
Energie  fordert,  gestürzt.^)  Fortan  gilt:  „das  Wort  ,Lebenskraft* 
bezeichnet  nicht  sowohl  einen  Begriff,  als  eine  Begriff slücke".^) 

Allein  gerade  hier  muss  der  Kritizismus,  sofern  er  eine  Selbst- 
verständiguug  des  wissenschaftlichen  Denkens  sein  soll,  vor  phan- 
tastisch übereilten  dogmatischen  Spekulationen  warnen  und  darauf 
hinweisen,  dass  wir  mit  den  bisherigen  Ausführungen  noch  nie 
und  nirgends  die  begriffliche  Sphäre  des  blossen  Postulats  ver- 
lassen und  also  auch  gar  nicht  in  die  seiner  Erfüllung  eingetreten 
sind.  Möglich  muss  die  Erfüllung  sein,  insofern  überhaupt  Natur- 
erklärung möglich  sein  muss,  wenn  Wissenschaft  möglich  sein 
soll.  Allein  von  der  logischen  Möglichkeit  bis  zur  Wirklichkeit 
im  empirisch-B^aktischen  ist  noch  ein  weiter  Weg.  Und  unter 
diesem  Gesichtspunkte  bleibt  es  zunächst  selbst  noch  Problem,  ob 
das  Postulat  sich  jemals  ohne  Rest  erfüllen  lasse  oder  ob  wir  ein 
für  Physik  und  Chemie  unauflösliches  Problemresiduum  auch  dann 
zu  konstatieren  hätten,  wenn  wir  diese  Wissenschaften  in  einem 
uns  unerreichlichen  Zustande  des  Ideals  denken,  weil  wir  über 
diesen  als  solchen  selbst  nichts  wissen  können.'*)  Das  auch  trotz 
der  bereits  von  Kant  prophezeiten,  also  als  logisch  möglich  ange- 
nommenen und  nun  von  der  Wissenschaft  als  reale  Möglichkeit 
erwiesenen  mechanischen  Herstellung  des  Organischen.  Aber  ein 
anderes  ist  und  bleibt  auch  jetzt  die  Entstehung,  ein  anderes  die 
Erklärung  der  Entstehung. 

Hat  darum  in  der  Biologie  auch  die  Mechanik  allein  das 
Recht  des  Erklärens  als  Mechanik  des  Lebens,  so  zeigt  sich  der 
scharfen  kritischen  Grenzbestimmung  doch  sofort,  dass  bei  dem 
Unterschied  zwischen  dem  Postulat  und  seiner  Erfüllung  das 
Leben  als  noch  nicht  gegebenes,  darum  selbst  erst  noch  zu  erklä- 


')  Analysis  der  Wirklichkeit,  S.  384. 

2)  Ebenda,  S.  338  ff. 

3)  Gedanken  und  Tatsachen.  I,  S.  244. 

4)  Ebenda  I,  S.  110. 


Kritizismus  und  Naturphilosophie  bei  Otto  Liebmann.  135 

rendes  Leben  Problem  bleibt.     Und  hier  tritt  der  Zweckbegriff  in 
seine  Rechte,    und    zwar   auch   für  die  exakte  Forschung,    freilich 
nicht  als  erklärende  Kategorie,^)  sondern  als  regulativ-heuristisches 
Prinzip.      Dadurch    wird    die    Deszendenztheorie    ein    für    allemal 
unter   dem    Gesichtspunkt   des    Kritizismus    richtig    als    regulativ 
methodische  Hypothese  erkannt,    an    der    sich    die   frühere  Unter- 
scheidung   zwischen    occasionalen    und    effizienten    Ursachen    aufs 
glänzendste  bewährt,  insofern  auch  hier  die  occasionalen  Ursachen 
sich  als  das  der  mechanischen  Forschung  Zugängliche  erweisen,  der 
„permanente  Realgrund"  aber  nichts  anderes  als  das  Lebensproblem 
selber  bezeichnet.    Damit  wird  an  die  Stelle  des  dogmatischen 
Standpunktes  des  Vitalismus,    unter    Wahrung    seines    lediglich 
methodisch  berechtigten  Problemkernes,  die  Problematik  gesetzt. 
Für  ihn   tritt    ein    die    Methode    eines    heuristischen    Prinzips    in 
Form  der  Deszendenztheorie,   die  selbst  nicht  dogmatischer  Stand- 
punkt,   sondern    Hypothese    und    Methode    der   Forschung   bleiben 
niuss,  da  über  die  Heuristik  hinaus   in  der  exakten  Forschung  für 
die  Erklärung  die  mechanischen  Gesetze  in  Kraft  bleiben  müssen, 
auch  wenn  diese  ihrerseits  bisher  das  Faktum   des  Lebens    selber 
aus  dem  Stadium  des  Problems  in  das  der  Erklärung   nicht  über- 
zuführen vermocht  haben. ^)     Das   Leben    mit    den    Bestimmungen 
der  Variabilität,  Erblichkeit,  Entwickelungsfähigkeit,  Fortpflanzungs- 
fähigkeit  bilden   so   auch  für  den  Darwinismus   immer   schon    die 
Voraussetzung,    und  dieser  vermag  lediglich  die  Gesetze  der  Um- 
wandelung    und   Entwickelung    der   immer    schon    vorausgesetzten 
Lebewesen   zu  ermitteln.     Dabei  leistet  ihm  die  heuristische  Tele- 
ologie,  bei  der  man  freilich  weder  an  die  gerade  von  Kant  ein  für 
allemal  abgetane  Physikotheologie,^)    noch    an    eine    anthropomor- 
phistische  Nützlichkeitsteleologie,^)    die  ja   nichts   anderes  als  ein 
närrischer  Einfall    ist,    denken    darf,    die    wesentlichsten    Dienste. 
Allein  daraus  folgt,   dass  der  Darwinismus  keineswegs  bereits  das 
Postulat    mechanischer    Naturerklärung    restlos    erfüllt    hat.      Er 
bezeichnet    zwar    einen    ungeheuren    Fortschritt    dem    Vitalismus 
gegenüber,  der  „beim  Eintritt  in  die  Organologie  und  Biologie  der 


r 


1)  Vielleicht  könnte  man  das  auch  so  ausdrücken:  Der  Zweck  ist 
überhaupt  keine  naturwissenschaftliche,  sondern  eine  naturphilosophische 
Kategorie. 

ä)  a,  a.  0.  I,  S.  250  ff.  und  Analysis  der  Wirklichkeit  S.  340  ff. 

3)  Gedanken  und  Tatsachen  n,  S.  157. 

*)  Ebenda.    S.  147. 


136  B.  Bauch, 

Physik  und  Chemie  den  Rücken  zukehrte,  um  sie  draussen  im  Vor- 
zimmer  unbeachtet  und   nur  gelegentlicher  Winke  harrend  stehen 
zu    lassen"/)    ihnen  also  im  besonderen  eine  ähnliche  untergeord- 
nete Domestikenrolle    anwies,    wie    zeitweise    eine    gewisse    philo- 
sophische   Spekulation    der    Naturwissenschaft    überhaupt.      Dem- 
gegenüber  hat    der    Darwinismus    wenigstens    das   Postulat    einer 
erklärenden  Wissenschaft  allen  Ernstes   aufgenommen,    wenn    sich 
vor   der  Kritik    auch    herausstellt,    dass    er    noch    keineswegs    ein 
Prinzip  „mechanischer  Erklärung",  sondern  ganz  allein  ein  solches 
„historischer  Erklärung"^)  ist.     Es    ist    also    zum    mindesten   sehr 
übereilt,   nun  in  Darwin  den  Kantischen  „Newton  des  Grashalms" 
zu  sehen.     Wie  Kant  sagt:    gebt    mir   Materie   und   ich  will  euch 
erklären,  wie  daraus  die  Welt  mechanisch  entsteht,    so    kann  also 
Darwin  sagen:  gebt  mir  Lebewesen    und    ich   will   euch   erklären, 
wie    sie    sich    kausalmechanisch    umbilden    und   entwickeln.     Aber 
ebensowenig,  wie  Kant  sagen  konnte:    ich    will    euch   die  Materie 
selbst  erklären,  so  wenig  hat  Darwin  sagen  können :  ich  will  euch 
aus  der  Materie    das    Leben    selber    erklären.     Mit   dem    „Newton 
des    Grashalms"    hat    es    also    „mindestens,    mildestens"    -     gute 
Weile.     Das  letzte  Jahrzehnt  hat   uns   freilich   einer   Theorie   der 
Materie    im    höchsten   Sinne    näher    gebracht.     Eine    Theorie    des 
Lebens  im  höchsten  Sinne   wird  immer  freilich   eine   unaufgebbare 
Idee  der  Wissenschaft  darstellen  müssen.    Ob  sie  aber  nicht  selbst 
immer  Idee  bleiben   wird  —  darüber   erlasse   man  uns  billig  alles 
Prophezeien.     Wir    können  Geschichte  nicht  a  priori  konstruieren. 
Jedenfalls    aber   sind    die    Fundamentalbegriffe  der  Biologie,    wie 
Variabilität,    Entwickelungsfähigkeit,    Erblichkeit,    Fortpflanzungs- 
fähigkeit  zwar   notwendige  Prämissen,    aber    sie    sind    als   solche 
schon   historischer  Natur.     In  mechanischer  Hinsicht  aber  sind  sie 
Problem.     Und    diese    konzentrieren   sich  recht  eigentlich  in  dem 
der  Vererbung.     Für  dieses  Problem  aber  kommt  alles  darauf  an, 
dass  man  nicht  aus  der  unverstandenen  Vererbung  die  Lebewesen, 
sondern    aus  den  verstandenen  Lebewesen  die  Vererbung    zu    ver- 
stehen sucht.     Das  ist  es,  was  Liebmann   von   einer  kausalen  Er- 
klärung des  organischen  Lebens   mit  Recht  fordert.^)     Und   darin 
liegt    im     Prinzip     die     unvergängliche     Bedeutung    der     Weis- 
mannschen    Keimplasmatheorie,    die    Liebmann    freilich    nur    kurz 

1)  Analysis  der  Wirklichkeit  S.  337. 

2)  Gedanken  und  Tatsachen  I,  S.  257. 

3)  a.  a.  O.  U,  S.  166. 


Kritizismus  und  Naturphilosophie  bei  Otto  Liebmann.  137 

erwähnt.  Die  Vererbung  ist  zunächst  keine  Erklärung,  sondern 
ein  Problem.^)  Und  wenn  wir  diesen  echt  kritischen  Gedanken 
auf  die  bedeutendste  Vererbungstheorie  anwenden,  so  können  wir 
sagen:  er  findet  an  dem  Gedanken  der  Vererbungssubstanz  seine 
exakte  Darstelhmg.  Unter  kritischem  Betracht  wird  die  Zukunft 
freilich  diese  gleichsam  zu  entsubstanziieren  haben.  Aber  sie  ist 
trotzdem  von  eminent  kritischer  Bedeutung.  Das  Keimplasma  ist 
kein  alle  Rätsel  hinwegrätselndes  Universalmittel,  sondern  philo- 
sophisch betrachtet  gleichsam  eine  kritische  Warnungstafel  vor 
dem  naiven  Darauflosdogmatisieren  in  der  Deszendenztheorie. 
Hier  wird  davor  gewarnt,  das,  was  Liebmann  die  permanente 
Ursache  nennt,  bei  Seite  zu  schieben  oder  in  occasionale  aufzulösen 
und  zugleich  bezeugt,  dass  aller  Analyse  ein  unauflöslicher  Problem- 
rest verblieben  ist.  Und  alle  „Widerlegungen",  die  Weismanns 
Theorie  bisher  gefunden  hat  —  das  ist  ein  gemeinsamer  Grundzug, 
den  ich  bei  allen,  soweit  sie  mir  bekannt  geworden  sind,  ange- 
troffen habe  — ,  haben  nur  das  Verfängliche  an  sich,  dass  sie  sich 
heimlich,  ohne  es  zu  wissen  und  zu  wollen,  über  die  Prinzipien 
hinwegsetzen,  ohne  die  überhaupt  keine  Mechanik  möglich  ist, 
insbesondere  über  das  sogen,  dritte  Newtonische,  ja  eigentlich  auch 
schon  über  den  Fundamentalgrundsatz  jeder  Erklärung  über- 
haupt, dass  aus  Nichts  auch  Nichts  werden  kann.  Freilich  kann 
darauf  hier  nicht  eingegangen  werden,  da  ich  mich  allein  auf  das 
Prinzipielle  beschränke,  zumal  da  mehr  im  Speziellen  noch  das 
biologische  Problem  hier  behandelt  werden  soll.  Vielmehr  sei  zum 
Schluss  noch  ein  Wort  über  ein  Spezialproblem  der  Biomechanik, 
das  man  als  Psychomechanik  bezeichnen  könnte,  gesagt: 

„Als  ein  Corollarium  des  allgemeinen  Kausalprinzips,"  sagt 
Liebmann,  „bleibt  auch  der  Gedanke  einer  psychologischen  Mechanik", 
das  „Ideal  der  Psychologie",  wieweit  diese  auch  immer  hinter  dem 
Ideal  zurückstehen  mag.^)  Denn  alles  Psychische  untersteht  selbst 
Naturgesetzen,  die  eben  „psychologische  Naturgesetze"^)  sind. 
Weil  nun  auch  im  Psychophysischen  die  Ermittelung  gesetzmässiger 
Kausalzusammenhänge  im  besonderen  ebenso  Aufgabe  bleibt,  wie 
dies  überhaupt  Aufgabe  aller  rationellen  Wissenschaft  ist,  so  billigt 
Liebmann  konsequenterweise  auch  den  Satz  Lichtenbergs:  „Der 
Materialismus  bildet  die  Asymptote  der  Psychologie",   um  zugleich 

1)  Analysis  der  Wirklichkeit  S.  438. 

2)  a.  a.  0.  S.  476. 

3)  Gedanken  und  Tatsachen  II,  S.  66. 


138     B.  Bauch,  Kritizismus  und  Naturphilosophie  bei  Otto  Liebmann. 

die  in  dem  Begriff  der  Asymptote  zu  Tage  tretende  kritische 
Grenzbestimmung  scharf  zu  beleuchten  und  zu  würdigen.^)  Denn 
dass  damit  dem  Materialismus  als  System  metaphysischer  Welt- 
anschauung nicht  das  Wort  geredet  wird,  braucht  kaum  noch 
besonders  hervorgehoben  zu  werden.  Das  versteht  sich  nach  den 
früheren  Ausführungen  eigentlich  von  selbst.^)  Denn  alle  wissen- 
schaftlich brauchbare  Naturphilosophie  hat  ja  ihre  letzte  Ent- 
scheidungsinstanz auch  hier  im  Kritizismus.  In  jenem  Lichtenberg- 
schen  Satze  kündigt  sich  also  für  den  Kritizismus  kein  System  an, 
es  ist  vielmehr  in  ihm  eine  Aufgabe,  ein  methodisches  Postulat 
bezeichnet.  Und  auch  hier  haben  wir  nicht  bloss  zwischen  dem 
Postulat  und  seiner  Erfüllung  zu  unterscheiden,  es  bleibt  auch  zu 
bedenken,  dass  Postulat,  wie  Erfüllung  des  Postulates  zu  ihrer 
Möglichkeit  und  um  überhaupt  einen  logischen  Sinn  zu  haben 
nicht  bloss  einen  anderen  Begriff  der  Materie,  als  den  hergebrachten, 
sondern  auch  einen  anderen  Begriff  der  Natur,  als  den  naiven 
landläufigen  voraussetzen.  Es  ist  das  eben  der  Naturbegriff  im 
Sinne  des  philosophischen  Kritizismus,  der  in  dem  Satze  formuhert 
war,  dass  der  Verstand  seine  Gesetze  nicht  aus  der  Natur  schöpft, 
sondern  ihr  die  Gesetze  vorschreibt. 


1)  Analysis  der  Wirklichkeit  S.  536. 

'^)  a,  a.  O.  S.  537  f.  Über  das  Gehirn  als  „logisch  denkendes  Auto- 
maton" vergl.  auch  S.  552  ff.  Hier  wird  in  einer  ausserordentlich  inter- 
essanten und  neuen  Weise,  in  einer  Art  von  psychophysischem  Paradoxon, 
über  den  psychomechanischen  Zusammenhang  Aufschluss  erteilt,  der  aber 
in  das  Spezialproblem  des  Verhältnisses  von  Physischem  und  Psychischem 
gehört. 


Otto  Liebmann  als  Dichter. 

Von  Fritz  Medicus. 


„Wenn  ich  Altäre  zu  errichten  hätte,  so  würde  ich  dem 
^oyog  und  der  'Aydnifj,  der  Vernunft  und  der  Liebe,  Altäre  er- 
richten." Liebmann  scheint  in  diesen  Worten  —  sie  stehen  am 
Schluss  einer  Abhandlung  über  den  Ursprung  der  Werte  —  zu 
sagen,  dass  er,  als  Philosoph,  keine  Altäre  zu  errichten  hat.  In 
der  Tat  kann  eine  oberflächliche  Kenntnisnahme  seiner  bekanntesten 
Werke  zu  der  Meinung  verführen,  Liebmann  sei  der  typische  Ver- 
treter jenes  Kantianismus,  der  seine  Lebenssphäre  im  Bewusstsein 
der  Begrenztheit  aller  Vernunft  hat.  Wo  „kritische  Besonnenheit" 
als  das  Letzte  und  Höchste  gepriesen  wird,  was  der  Philosoph 
zu  bewähren  hat,  da  werden  keine  Altäre  errichtet :  des  kritischen 
Gedankens  Blässe  lässt  selbst  die  alten  Altäre  veröden,  indem 
sie  von  allen  Gaben,  die  etwa  dort  dargebracht  werden  möchten, 
ihren  Tribut  einzieht;  alles  lebendige  Feuer,  aller  Enthusiasmus 
fällt  ihr,  der  schneidenden  Kritik,  zum  Opfer:  sie  selbst  ist  dann 
die  einzige  Opferstätte  —  eine  Opferstätte,  die  nicht  durch  das 
Übermass  des  belebenden  Feuers  tötet,  sondern  die  nichts  ist  als 
die  eisige  Negation  des  Lebens. 

Nun  ist  es  in  einer  gewissen  Hinsicht  ganz  wahr,  dass  der 
Philosoph  keine  Altäre  zu  errichten  hat:  sein  Geschäft  ist  theore- 
tische Reflexion.  Und  die  Reflexion  begeistert  sich  nicht.  Andrer- 
seits aber  wurzelt  die  Reflexion  selbst  im  Leben;  sie  ist  nicht 
von  sich  selbst,  nicht  causa  siä.  Und  sie  ist  auch  nicht  um  ihrer 
selbst  willen,  nicht  Ziel  ihrer  selbst.  Wir  reflektieren  nicht,  um 
zu  reflektieren.  Sondern  wie  die  Reflexion  im  Leben  wurzelt,  so 
strebt  sie  auf  das  Leben  hin.  Wir  reflektieren  um  des  Lebens 
willen.  Philosophie  erhöht  das  Leben.  Sie  trägt  in  das 
Leben,  das  zunächst  eine  blosse  Tatsache  ist,  die  weiter  nichts 
zu  bedeuten  hat,  als  dass  sie  eben  da  ist,  ein  Bewusstsein  seiner 
selbst   hinein.      Ein    phüosophisch    selbstbewusstes   Leben   ist   in 


140  F.  Medicus, 

höherem  Sinne  Leben  als  ein  solches,  das  in  den  Schranken  der 
nichts  von  sich  selbst  wissenden  Naturgesetzlichkeit  verläuft. 

Von  hier  aus  lässt  sich  verstehen,  dass  durch  die  Philosophie 
ein  neuer  Enthusiasmus  wachgerufen  werden  kann.  Nicht  sie 
selbst  zwar  ist  es,  die  Altäre  baut.  Aber  wo  das  Leben  von  ihr 
ergriffen  ist,  wo  das  Leben  durch  sie  sich  selbst  ergriffen  hat, 
da  wird  es  andere  Altäre  bauen  als  vordem,  und  es  wird  im 
Altäre-Bauen  sich  selbst  verstehen,  es  wird  wissen,  warum  es 
diese  Altäre  baut.  Das  von  der  sich  selbst  nicht  kennenden 
Naturgesetzlichkeit  gefesselte  Leben  baut  weder  dem  Aoyog  noch 
der  ^Aydnri  Altäre :  es  ist  vernuuftlos  und  selbstsüchtig  —  gerade 
auch  da,  wo  es  Altäre  baut. 

Der  Philosoph  als  solcher  hat  überhaupt  keine  Altäre  zu 
errichten;  er  hält  sich  in  der  kühlen  Sphäre  der  Reflexion.  Aber 
die  phüosophische  Reflexion  steigert  das  Leben  der  Persönlichkeit, 
und  die  Persönlichkeit  wird  Altäre  bauen.  Die  philosophisch  ge- 
bildete Persönlichkeit  wird  es  um  so  sicherer  tun,  je  näher  in  ihr 
die  philosophische  Reflexion  an  ihr  Ziel  herangekommen  ist.  Meist 
freilich  wird  es  nur  ein  bescheidener  Hausaltar  sein  können :  denn 
Altäre,  die  sich  sehen  lassen  dürfen,  baut  nur  der  Künstler  —  der 
Architekt  oder,  im  metaphorischen  Sinne,  der  Dichter,  der  Kom- 
ponist u.  s.  w.  Mit  Fug  aber  bemerkt  Liebmann,  der  Philosoph, 
einmal,  dass  die  beiden  grundverschiedenen  Anlagen  zu  theore- 
tischer Reflexion  und  zu  künstlerischer  Produktion  nicht  häufig 
in  derselben  Persönlichkeit  vereinigt  sind.  Zu  den  Ausnahmen 
von  dieser  Regel  gehört  ohne  Zweifel  Lieb  mann  selbst. 

Liebmanns  Gedichte  sind  philosophische  Gedichte,  sofern 
sie  der  Ausdruck  eines  philosophisch  gebildeten  Persönlichkeits- 
lebens sind.  Es  sind  keine  Ergüsse  zufälliger  Stimmungen: 
Der  Philosoph  lässt  sich  nicht  durch  die  Umstände  machen,  sondern 
über  das,  was  ihm  auf  seinem  Wege  begegnet,  giebt  er  sich 
Rechenschaft:  so  entreisst  er  es  dem  blinden  Ungefähr  und  macht 
es  zu  einem  Moment  seiner  durch  innere  Notwendigkeit  in  sich 
geschlossenen  Persönlichkeit.  Der  Philosoph  hasst  das  unüber- 
wundene Ungefähr.  Darum  sagt  er  nur  dann  etwas,  w^nn  er 
weiss,  dass  er  etwas  zu  sagen  hat.  Im  Schwätzer  tobt  sich  das 
Ungefähr  aus.  Philosophische  Kultur  ist  dagegen  notwendig  vor- 
nehm. Das  ist  denn  auch  einer  der  allerunausweichlichsten  Ein- 
drücke, die  Liebmanns  schriftstellerische  Eigenart  auf  den  Leser 
machen    muss:    Hier    ist   grösste  Vornehmheit.     Schon  der  Stil 


Otto  Liebmann  als  Dichter.  141 

der  ganz  eigentlich  philosophischen  Arbeiten  verrät  das;  mehr 
noch  naturgemäss  zeigen  es  das  Kriegstagebuch  und  die  Gedichte. 
Welche  Abneigung  gegen  das  Laute,  Aufdringliche,  Unanständige, 
mit  einem  Wort  gegen  alle  Volksrednerallüren  I  Wie  prachtvoll 
bricht  oft  im  Kriegstagebuch  die  Empörung  über  die  lärmende, 
prahlerische  Nichtigkeit  des  französischen  Wesens  hervor! 

Vornehmheit  ist  die  formale  Eigenschaft  philosophischer 
Kultur.  Sie  ist  die  notwendige  Erscheinungsweise  jener  inneren 
Haltung,  die  alles  Ungefähr,  das  im  eigenen  Innern  aufsteigen 
möchte  oder  das  von  aussen  kommend  Anerkennung  beansprucht, 
als  eine  Hemmung  erlebt,  als  einen  Anstoss,  der  überwunden  sein 
will.  Aber  wenn  es  zur  Vornehmheit  gehört,  nur  dann  etwas  zu 
sagen,  wenn  man  etwas  zu  sagen  hat,  so  stellt  jeder  vornehme 
Mensch  dem,  der  ihn  verstehen  will,  die  Aufgabe,  nun  auch  da- 
nach zu  fragen,  was  denn  dieses  Etwas  ist,  das  den  Inhalt 
seiner  Persönlichkeit  ausmacht.  Keine  Persönlichkeit  besteht  aus 
Vornehmheit  allein,  eben  weil  das  nur  eine  formale  Eigenschaft 
ist;  weil  Vornehmheit  nur  die  Form  bezeichnet,  in  der  dasjenige 
erscheint,  was  diese  Persönlichkeit  au  Inhalt  in  sich  trägt.  Lieb- 
mann hat  in  dem  Worte  vom  Aoyog  und  der  ^Aydnrj  selbst  ausge- 
sprochen, was  ihm  die  höchsten  Lebenswerte  sind:  allein  es  ver- 
steht sich,  dass  damit  der  Inhalt  seiner  Persönlichkeit  noch  nicht 
auf  eine  Formel  gebracht  ist:  solcher  Inhalt  ist  überhaupt  nicht 
formulierbar.  Formulierungen  sind  abstrakt,  persönliches  Leben 
ist  konkret.  Nur  die  Kraft  künstlerischer  Gestaltung  vermag 
konkretes  Leben  gegenständlich  und  mitteilbar  zu  machen.  Nun 
ist  Liebraann  Künstler  auch  da,  wo  er  streng  philosophische 
Untersuchungen  zu  Papier  bringt;  nicht  minder  ist  er  es  auf  deai 
Katheder.  Wenn  er  etwas  sagt,  so  ist  es  nicht  gleichgiltig,  ob 
hier  ein  einsilbiges  oder  ein  zweisilbiges  Wort,  ein  Wort  mit 
hellem  oder  mit  dunklem  Vokal  steht:  in  seinem  Stil  ist  Not- 
wendigkeit. Und  darum  sind  seine  Schriften  so  ungemein  aus- 
drucksvoll: sie  entwickeln  ihren  Inhalt  nicht  bloss  in  abstracto, 
sondern  so,  wie  er  der  lebendigen  Persönlichkeit  Liebmanns  ange- 
hört. Der  Leser  oder  Hörer  muss  sich  nicht  bloss  mit  philoso- 
phischen Theoremen  und  ihrer  Begründung,  sondern  ausserdem 
noch  mit  Otto  Liebmann  abfinden  —  wie  sich  auch  der  Leser 
einer  gedankenschweren  Dichtung  niemals  bloss  mit  Problemen  als 
solchen  zu  befassen  hat.  Indessen  tritt  in  Liebmanns  philoso- 
phischen   Arbeiten    das   Persönlich-Künstlerische   insofern    zurück, 


142  F.  Medicus, 

als  der  Zweck  immer  die  umfassende  Klarlegung  der  wissenschaft- 
lichen Aufgabe  bleibt:  der  Leser  kommt  mit  der  Persönlichkeit 
des  Verfassers  nur  darum  in  Berührung,  weil  dieser  gar  nicht 
anders  kann  als  künstlerisch  gestalten  und  mithin  mehr  geben 
als  bloss  Wissenschaft. 

Ähnlich,  wenn  auch  nicht  mehr  ganz  ebenso,  liegt  es  in 
Liebmauns  Kriegstagebuch.^)  Auch  da  ist  ja  der  Zweck,  zu 
berichten,  was  sich  in  Wahrheit  begeben  hat,  und  die  Kunst  der 
Darstellung  ist  zunächst  nur  um  dieses  Zweckes  willen  da.  Allein 
da  es  sich  um  die  Darstellung  persönlicher  Erlebnisse  handelt, 
gewinnt  das  künstlerische  Moment  ganz  natürlicherweise  eine 
erhöhte  Bedeutung.  Liebmann  erlebt,  was  ihm  begegnet,  als  ein 
Philosoph  von  ungemeiner  künstlerischer  Befähigung;  und  oftmals 
macht  der  künstlerische  Drang  sein  Recht  geltend,  nicht  bloss  in 
Unterordnung  unter  den  theoretischen  Zweck  etwas  zu  sein:  die 
intellektuelle  Verarbeitung  des  Erlebten  wird  zur  blossen  Voraus- 
setzung, und  es  entsteht,  auf  sich  selbst  gestellt  und  durch  seine 
künstlerische  Form  in  sich  geschlossen,  ein  Gedicht.  Ein  garnicht 
kleiner  Teil  des  Belagerungstagebuches  ist  in  Versen  geschrieben, 
und  viele  unter  ihnen  sind  von  grosser  Schönheit.  Das  in  Er- 
innerung an  den  schweren  Kampf  von  le  Bourget  entstandene 
Gedicht  „Fürs  Vaterland"  gehört  unter  die  allerbesten  künstlerischen 
Erzeugnisse,  die  jemals  Kriegsbegeisteruug  hervorgerufen  hat.  Es 
ist  gewiss  kein  „philosophisches"  Gedicht,  und  doch  ist  auch  ihm 
die  philosophische  Kultur  seines  Verfassers  zu  gute  gekommen : 
die  kraftvolle  Entschlossenheit,  der  Wille  zu  opfermutiger  Hin- 
gebung erscheinen  durchdrungen  von  einer  Besonnenheit,  die  ihnen 
nichts  an  Stärke  nimmt,  wohl  aber  jenen  (vielleicht  durch  etwas 
Sentimentalität  abgeschwächten)  Leichtsinn  von  vorne  herein  ver- 
bannt, der  die  Kriegspoesie  der  Haudegen  zu  charakterisieren 
pflegt.  In  den  meisten  Gedichten  aber,  die  Liebmann  in  den  vier 
Monaten  vor  Paris  geschrieben  hat,  ist  er  doch  nicht  bloss  der 
Soldat,  der  sich  klar  darüber  ist,  was  er  tut  und  zu  tun  hat, 
sondern  vielmehr  der  Philosoph  im  Waffenrock.  Sehr  eindrucksvoll 
sind  jene  Verse,  in  denen  er  erzählt,  wie  er  in  einer  Nacht  auf 
Posten  stehend  vom  feindlichen  Wachtfeuer  herüber  die  Marseillaise 
hört  und  im  Herzen  mitsingt:  das  Freiheitslied  ist  ihm  zu  seinem 
Liede  geworden: 

1)  Vier  Monate  vor  Paris.  1870—1871.  Belagerungstagebuch 
eines  Kriegsfreiwilligen  im  Gardefüsilierregiment. 


Otto  Liebmann  als  Dichter.  143 

»  Allons  enfants  de  la  patrie!  < 
So  singen  wir  jetzt,  —  hör'  es,  gall'scher  Hahn! 
Hört  es,  Franzosen!  —  Ihr,  ihr  habt's  geschändet 
Das  edle  Freiheitslied  .  .  . 

Der  Marseillaise 
Hochteierliche  Klänge  .  .  . 
Der  Gassenbuben  Chor  hat  sie  gebrüllt, 
Der  Buben,  deren  Herz  des  Namens  Freiheit 
Heiligen  Sinn  nicht  kennt,  nicht  fühlt,  nicht  ehrt. 
Nach  Freiheit  schrien  sie;  wollten  unsern  Rhein, 
Den  deutschen  Rhein  dem  deutschen  Volke  rauben. 
Und  feile  Dirnen,  deren  frecher  Mund 
Sonst  nur  gemeine  Zoten  kennt,  sie  haben 
Dem  trunk'nen  Pöbel  gellend  vorgekreischt 
Das  heil'ge  Freiheitslied.     Nun  ist's  geschändet, 
Nun  ist  es  Blasphemie  auf  euren  Lippen. 
Die  Freiheit  wolltet  ihr  dem  Nachbar  rauben, 
Dieweil  schmachvolle  Knechtschaft  bei  euch  herrschte, 
Ihr  wolltet  in  des  deutschen  Rheines  Flut, 
Den  heil'gen  Wellen,  eure  Rosse  tränken. 
Der  Freiheit  Göttin  hat  uns  hergeführt, 
Und  unsre  Rosse  trinken  aus  der  Seine. 
Ums  eitle  Trugbild  eurer  Weltherrschaft 
Habt  ihr  der  Freiheit  Sache  längst  verraten, 
Und  statt  der  Göttin  huldigt  ihr  der  Metze.i) 

Leute,  die  die  Philosophie  nur  vom  Hörensagen  und  uner- 
betenen Hineinreden  kennen  —  es  ist  mancher  „Zünftige"  unter 
ihnen  — ,  bilden  sich  hin  und  wieder  ein,  dass  beim  Philosophen 
alle  Kraft  männlichen  Parteinehmens  im  allgemeinen  Grau  der 
Abstraktion  verblassen  müsse.  Liebmanns  Beispiel  könnte  eines 
besseren  belehren:  mau  braucht  nicht  die  Energie  des  Willens 
einzubüsseu,  wenn  man  sich  darüber  klar  wird,  für  welche  Zwecke 


1)  Mit  wahrhaft  erquickendem  Zorn  schlägt  Liebmann  noch  einmal 
an  einer  späteren  Stelle  dieses  Thema  an.  Im  Dezember  wurde  sein 
Regiment  gegen  die  in  der  Picardie  spukende  Guerilla  geschickt:  „Durch 
an  sich  unverdächtiges  Glockengeläut  und  nächtliche  Feuerfanale  wurde 
unser  Herannahen  von  Ort  zu  Ort,  über  Berg  und  Tal  vorausgemeldet. 
Wer  am  Morgen  noch  mit  Käppi  und  Chassepot  einherstrich,  konnte  am 
Mittag,  sowie  eine  erhebliche  Kolonne  von  weitem  sichtbar  ward,  in 
Blouse  und  Zivilmütze  als  friedlicher  Bürger  oder  Landmann  erscheinen, 
■^'nd  so  kämpften  wir  gleichsam  mit  einem  unsichtbaren  Feind.  .  .  .  Eine 
anz  infame  Afterart  des  Kriegs!  Sie  hätte  uns  unheimlich  werden  müssen, 
v^enn  wir  den  Feind  nicht  zu  gründlich  verachten  gelernt  hätten.  Solches 
Lumpenpack  singt  die  Marseillaise!" 


144  F.  Medicus 


man  letzten  Endes  wirkt.  Nur  wer  niemals  mit  seiner  Persönlich- 
keit für  einen  wahrhaft  wertvollen  Zweck  eingetreten  ist,  kann 
jenem  Schweben  zwischen  dem  Misstrauen  gegen  das  philosophische 
Denken  und  dem  Misstrauen  gegen  den  Sinn  des  Lebens  verfallen. 
Liebmann  ist  auch  im  Felde  der  Philosoph  gewesen:  aber  die 
Philosophie  hat  ihn  nicht  zum  arbeitsmüden,  widerwillig  mit- 
ziehenden, innerlich  neutralen  Kosmopoliten  gemacht.  Im  Gegen- 
teil, sein  philosophisches  Bewusstsein  der  Freiheit  war  der 
persönHch  lebendige  Grund  der  patriotischen  Parteinahme  dieses 
„Campagne-Freiwilligen".  Allerdings  ist  Liebmanns  Patriotismus 
von  der  Art,  wie  er  nur  dann  möglich  ist,  wenn  ein  Volk  für 
nichts  anderes  kämpft  als  für  sein  wahrhaftes  Recht.  Aber  es 
wäre  gewiss  nicht  schlecht  um  einen  Staat  bestellt,  in  dem  es 
von  solchem  sich  selber  klaren  Patriotismus  recht  viel  und  einen 
anderen  Patriotismus  überhaupt  nicht  gäbe.  Im  ganzen  Verlauf 
des  Krieges  ist  Liebmann,  wie  das  Tagebuch  immer  wieder  zeigt, 
vom  Bewusstsein  der  Gerechtigkeit  der  deutschen  Sache  erfüllt 
gewesen,  und  gewaltig  bricht  diese  Überzeugung  am  Ende  der 
langen  Mühen  in  den  Ottaven  hervor,  die  die  Kapitulation  von 
Paris  feiern:  „Der  Eindruck  dieser  Nachricht  —  sagt  Liebmann 
selbst  —  lässt  sich  nicht  in  gewöhnlichen  Worten  beschreiben." 
Die  letzte  Stanze  lautet: 

Paris  gefallen!  —  Welt,  dir  sei's  gesungen! 

Europas  ew'ger  Störenfried  vernichtet! 

Nicht  bloss  für  Deutschland  haben  wir  gerungen. 

Nein,  für  die  Menschheit;  und  —  Gott  hat  gerichtet. 

Sieh!     Diese  Hände,  die  den  Feind  bezwungen 

Und  blutige  Trophäen  aufgeschichtet, 

Sie  bringen  Dir  den  jungen  Völkerfrieden,  — 

Amen!    Und  sei  er  lange  Dir  beschieden! 

Fürwahr,  Liebmann  hat  den  Aoyoc,  und  die  ^Ayäny\  nicht 
verleugnet,  als  er  „ohne  gesetzliche  Nötigung  die  Feder  mit  der 
Kugelbüchse  vertauschte".  Seine  Kriegspoesie  verkündigt  die 
Herrlichkeit  jener  hingebenden  Liebe  zum  Vaterland,  die  in 
der  Überzeugung  von  der  (theoretischen  und  praktischen)  Ver- 
nünftigkeit der  staatlichen  Ordnung  und  der  von  ihr  beschützten 
Werte  wurzelt.  — 

Seine  im  strengeren  Sinne  philosophischen  Gedichte  hat 
Liebmann   in  dem  Bändchen  „Weltwanderung"  vereinigt.     Das 


Otto  Liebmann  als  Dichter.  145 

Buch  ist,  wenn  man  die  Reihenfolge  der  Gedichte  beachtet  — 
und  sie  ist  beachtenswert  — ,  einem  System  der  Philosophie 
vergleichbar.  Freilich  nur  vergleichbar:  ein  wirkliches  System  der 
Philosophie  müsste  mehr  sein,  sofern  es  die  Probleme  in  ge- 
schlossenem Zusammenhang  zu  entwickeln,  nicht  aber  sie  rhap- 
sodisch aufzugreifen  hätte.  Und  es  würde  weniger  sein,  sofern 
es  der  Anschaulichkeit  entbehrte ,  die  das  Eigentümliche  der 
Kunst  ist,  —  abgesehen  davon,  dass  ein  System  der  Philosophie 
in  unseren  Tagen  schwerlich  mehr  in  Versform  auftreten  würde. 
Die  Weltwanderung  beginnt,  nachdem  ein  einleitender  Teil  „Vor 
der  Schwelle"  den  Blick  für  das  Rätselvolle  in  und  um  uns  ge- 
schärft hat,  mit  einer  Art  historischer  Orientierung:  „Aus  alter 
Zeit".  Liebmann  führt  uns  zu  alten  Völkern,  den  Griechen, 
Indern,  Ägyptern,  Germanen  und  lässt  uns  ihr  Ringen  um  das 
Wesen  und  den  Sinn  der  Welt  nacherleben:  So  verschiedenartig 
sich  das  geistige  Leben  bei  diesen  Völkern  entwickelt  hat,  ihnen 
allen  ist  das  Bewusstsein  einer  geheimnisvollen,  ja  zuweilen  selbst 
schauerlichen  Macht  gemeinsam,  einer  unbegreiflichen  unendlichen 
Einheit,  der  alles  Dasein  entstammt.  —  Den  Anfang  der  systema- 
tischen Probleme  machen  die  „Urgedanken",  eine  Folge  von 
Sonetten  über  die  Grundbegriffe  des  Denkens.  Zuerst  dogmatisch 
bestimmte  Erklärungen  über  Sein  und  (jeschehen;  dann  aus  ihnen 
auftauchend  Probleme,  die  sich  mehr  und  mehr  komplizieren.  Die 
letzten  dieser  Sonette  reden  von  tiefen  Geheimnissen  („Zeit  und 
Ewigkeit",  „^'Ev  xal  Tiäv")  und  schliesslich  von  der  Unvermeidlich- 
keit, mit  der  all  diese  „Urgedanken"  sich  im  Bewusstsein  der 
Menschheit  geltend  machen  und  nach  Antwort  verlangen. 

Auf  die  allgemeine  Metaphysik  folgt  als  erstes  Sonderproblem 
das  der  Natur,  und  „Natur"  betitelt  sich  der  auf  die  „Urgedanken" 
folgende  Abschnitt.  Hier  führt  Liebmann,  von  dem  unmittelbarsten 
Naturgefühl  anhebend  —  man  lese  das  stimmungsvolle,  innige 
Gedicht  „Waldrätsel",  das  erste  dieser  Abteilung  —  über  natur- 
wissenschaftliche und  naturpbilosophische  Konzeptionen  hinweg  bis 
dahin,  wo  die  naive  Identifikation  von  Natur  und  Wirklichkeit  zum 
Problem  wird.  „Weltmittelpunkt"  ist  das  letzte  Gedicht  aus  dieser 
Reihe  überschrieben;  es  beginnt  mit  dem  Verse:  „Einsam  bist  du 
'amitten  der  Natur",  und  seine  letzten  Worte  sind:  „Vernunft  ist 
)ffenbarung".  So  leitet  es  schon  hinüber  zu  der  notwendigen 
Fortsetzung  dieses  der  Natur  gewidmeten  Teiles:  „Gut  und 
Böse".     Den  Bruch  mit  der  Natur  schafft  das  Bewusstsein    des 

Kantstudien   XV.  10 


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-Jar  «feil  Märtyrer 


Wird 

Dea 

Die  VeBKfcbett  erretten.}  — 

O  Bciii!  ,  .  . 

Waffen,  wiid  »e,  fcetj  aeiwerg-  Wai&n 


Bis  se  ^nertil^  br:,  —  — 

Weaa.  mdsc  Liebe  äe  isss. 

Wem  aidit  UeW  des  BiMi  b^egC 


Der  D»rizK  HjniTix-  ^Carius'  euxr&ut  aae  guMse  kasBoscae 
VlsHMi:  ans  der  Zrasuöst  bfiraas  gestattet  aidi  die  Weit,  der  Sdas- 
fiatz  des  Kaspfes  aller  feg»  al]&  Ais  die  ToOeadn^  der  Wdt, 
ak  ihre  EriSsn^  t«w  EI»d  lad  Siimloaigkeit  eisebeiBt  zaletzt 
£e  liebe:  theoretisdier  Wdsiieit  ist  lie  matetSmsdäätSk,  aber  ae 
fStrt  .^ans  Herz  der  Weit*.  Eine  rein  tiieoretisdie  PoätMm  ergieM 
kein  Verrtiadnis  der  Wbtiidhkeit.  Der  dritte  ^nuns  ^äam^an^ 
iHili<.M4  skk  e^  aa  die  Intnitiooen  an,  in  denen  der  zweite  an»- 
geMingen  war,  ffier  findet  lieiHnaBn  waliri»ft  bewvndemswerte 
Torte,  ■■  das  Unsagtore  zm  sagen.  Li  Wendn^m  Ton  grSnster 
FoTMsehdnbeit,  die  ibetrasdifli  vnd  doefa,  als  ob  ae  sdbstrerstind- 
iA  wiren,  fbet/engen,  redet  er  Ton  der  in^idlidien  Übol^enheft 
des  Weftwesens  fSier  alles  a^BAfidie  Terst^en.  Temimft  und 
Liebe  snd  das  Hddiste,  was  wir  kennen.  Aber  was  wisKn  wir 
darlAer,  wie  sie  des  Weitwesea  entstaaaen?  Sie  etsdieinen  n, 
ans  nnerfofseUidKSi  Dmkel  eaparflasBKnd.  Iknen  eiriditen 
wir  Altice:  das  Weltwesen  irt  sdbst  ffir  nnsere  Yerdnng 
^11  äodi. 

An  die  ^ynaea'^  sciuiessaL  sidi,  ais  letzter  Teil  d@  Bndies, 
«die  Konfessionen*:  Sonette  über  die  id^ifisen  nnd  ^dk»- 
sofhiideB  TenKiie,  die  ewigen  G^rTr!?!!??«?  zn  entrSt?^?!:.     Ana 


146  F.  Medicus, 

Sündenfalls;  die  Natur  ist  unschuldig,  und  nur  solange  das  Be- 
wusstsein  der  Schuld  noch  fehlt,  lebt  der  Mensch  in  ihr.  Von 
dem  Eritis  siciit  Dens  der  „weltberühmten  Schlange"  ausgehend 
behandelt  Liebmann,  wieder  in  Form  von  Sonetten,  die  sittlichen 
Grundbegriffe.  Alte  Eeligionen  und  philosophische  Schulen  geben 
hin  und  wieder  die  historische  Unterlage.  Wie  bei  den  meta- 
physischen „Urgedanken"  lässt  sich  auch  hier  eine  Steigerung  von 
einem  Sonett  zum  andern  erkennen  bis  zu  denen,  die  die  sittliche 
Liebe  feiern.  Das  Sonett  „Ich  und  Du",  eines  der  tiefsten  und 
schönsten  der  ganzen  Sammlung,  zeigt  in  bedeutungsschweren 
Versen,  wie  sich  in  der  Liebe  die  ursprüngUche  Einheit  der  Lebe- 
wesen offenbart:  die  metaphysische  Grundlage  des  Ethischen 
erscheint  angedeutet.  Nachdem  die  sittlichen  Werte  in  ihrer 
Reinheit  aufgewiesen  sind,  folgen  zum  Schlüsse  des  Abschnittes 
noch,  bereits  auf  den  nächsten  vorauszeigend,  ein  paar  Sonette 
über  die  Begrenztheit  alles  sittlichen  Strebens  in  der  Menschenwelt. 
Der  folgende  Abschnitt  redet  vom  „Schicksal  der  Mensch- 
heit". Künstlerisch  bewertet  stellt  er,  zusammen  mit  dem  nächsten, 
wohl  den  Gipfel  der  Weltwanderung  dar.  Und  das  ist  nicht  ver- 
wunderlich; denn  der  höchste  Gegenstand  der  Kunst  ist  der  Mensch. 
In  den  bisher  genannten  Abteilungen  konnte  der  Mensch  nur  unter 
abstrakten  Gesichtspunkten,  also  in  starker  Verkürzung  gesehen, 
in  Frage  kommen:  jetzt  erscheint  er  in  der  Konkretheit  seines 
geschichtlichen  Lebens.  Nacheinander  werden  in  dieser  philo- 
sophisch-poetischen Deutung  des  Laufes  der  Menschheitsgeschichte 
die  grossen  Kulturepochen  in  typischen  Eepräsentanten  oder 
Momenten  vorgeführt,  und  zwar  so,  dass  stets  die  Beziehung  auf 
das  Allgemeine  gegenwärtig  bleibt:  Der  Philosoph  kann  das  Ver- 
gangene nicht  vergangen  sein  lassen,  weil  er  in  ihm  das  Ewige 
sieht;  und  dieses  Ewige  in  plastisch-anschaulichen  Bildern  zeigen, 
den  eigentümlichen  Ewigkeitscharakter  der  historisch  bedingten 
Gestalten  künstlerisch  erfassbar  machen,  dichterisch  künden  was 
die  Vergangenheit  in  Wahrheit  gewesen  ist:  das  ist's,  was  diese 
Gedichte  wollen  und  leisten.  Liest  man  sie  in  ihrer  Reihenfolge, 
so  wird  man  bemerken,  wie  sie  mehr  und  mehr  das  Problematische, 
Fragwürdige  im  geschichtlichen  Leben  betonen.  Den  Schluss 
machen  „Utopia",  das  glückliche  Eiland,  als  asymptotisches  Ziel 
der  Weltepochen,  und  die  „Nachtgedanken",  eine  etwas  resignierte 
(1870  vor  Paris  gedichtete)  Verteidigung  des  menschlichen  Strebens 
gegen  die  eisige  mathematisch-astronomische  Weisheit  des  Mondes. 


Otto  Liebmann  als  Dichter.  147 

Die  geschichtsphilosophischen  Gedichte  drängen  über  das 
Geschichtliche  hinaus:  die  Geschichte  der  Menschheit  ist  nicht  das 
Weltwesen  selbst.  Der  Weltmittelpimkt  ist  ein  übergeschicht- 
liches Ich;  in  ihm  ist  das  Schicksal  der  Menschheit  verankert: 
der  nächste  Teil  der  Weltwanderung  bringt  „Hymnen".  Die  erste, 
„Prometheus",  lenkt  nochmals  den  Blick  zurück  auf  die  geschicht- 
liche Entwicklung.  Aber  dem  au  den  Felsen  geschmiedeten  Märtyrer 
stellt  sie  den  ans  Kreuz  geschlagenen  gegenüber,  dem  Märtyrer 
der  Kultur  den  Märtyrer  der  Liebe: 

Wird  Kunst  und  Wissen 

Den  Kranz  erringen, 

Die  Menschheit  erretten?  — 

0  nein!  ... 

Waffen  wird  sie,  stets  bessere  Waffen 

Sinnreich  erfinden;  klüger  und  klüger 

Sich  selbst  zerfleischen, 

Bis  sie  vertilgt  ist,  —  — 

Wenn  nicht  Liebe  sie  lernt, 

Wenn  nicht  Liebe  den  Hass  besiegt. 

Der  zweite  Hymnus  „Caritas"  entrollt  eine  grosse  kosmische 
Vision :  aus  der  Urnacht  heraus  gestaltet  sich  die  Welt,  der  Schau- 
platz des  Kampfes  aller  gegen  alle.  Als  die  Vollendung  der  Welt, 
als  ihre  Erlösung  von  Elend  und  Sinnlosigkeit  erscheint  zuletzt 
die  Liebe:  theoretischer  Weisheit  ist  sie  unerforschlich,  aber  sie 
führt  „ans  Herz  der  Welt".  Eine  rein  theoretische  Position  ergiebt 
kein  Verständnis  der  Wirklichkeit.  Der  dritte  Hymnus  ,^^'AneiQov^^ 
schliesst  sich  eng  an  die  Intuitionen  an,  in  denen  der  zweite  aus- 
geklungen war.  Hier  findet  Liebmann  wahrhaft  bewundernswerte 
Worte,  um  das  Unsagbare  zu  sagen.  In  Wendungen  von  grösster 
Formschönheit,  die  überraschen  und  doch,  als  ob  sie  selbstverständ- 
lich wären,  überzeugen,  redet  er  von  der  unendlichen  Überlegenheit 
des  Weltwesens  über  alles  menschliche  Verstehen.  Vernunft  und 
Liebe  sind  das  Höchste,  was  wir  kennen.  Aber  was  wissen  wir 
darüber,  wie  sie  dem  Weltwesen  entstammen?  Sie  erscheinen  uns, 
aus  unerforschlichem  Dunkel  emporflammend.  Ihnen  errichten 
wir  Altäre:  das  Weltwesen  ist  selbst  für  unsere  Verehrung 
u  hoch. 

An  die  „Hymnen"  schliessen  sich,  als  letzter  Teil  des  Buches, 
„die  Konfessionen":  Sonette  über  die  religiösen  und  philo- 
sophischen Versuche,  die  ewigen  Geheimnisse  zu  enträtseln.     Aus 

10* 


148  F.  Medicus, 

den  „Hymnen"  her  klingt  auch  hier  noch,  bald  stärker  bald 
schwächer  vernehmbar,  die  Überzeugung  von  der  Unbegreiflichkeit 
dessen  hindurch,  was  sich  in  den  Tiefen  reiner  Menschlichkeit 
ankündigt;  zugleich  aber  bewähren  sich  Aoyoc,  und  ^Aydnri  als  die 
Massstäbe  der  Wertbeurteilung.  — 

Man  braucht,  um  vor  Liebmanns  künstlerischer  Begabung, 
wenigstens  nach  ihrer  formalen  Seite,  Kespekt  zu  bekommen, 
eigentlich  nur  irgendeine,  gleichviel  welche,  seiner  in  Prosa  ge- 
schriebenen Abhandlungen  zu  lesen.  Überall  muss  man  seine 
erstaunliche  Sprachgewandtheit  und  die  hohe  Vornehmheit  seiner 
Ausdrucksweise  beoierken.  Indessen,  hier  soll  nur  von  den  Schriften 
die  Rede  sein,  die  ausdrücklich  mit  dem  Anspruch  auf  ästhetische 
Bewertung  auftreten.  Sieht  man  von  einigen  zerstreut  gedruckten 
kürzeren  Gedichten  ab  —  die  Kantstudien  haben  zweimal  Fest- 
gedichte gebracht;  besonders  hingewiesen  sei  auch  auf  die  vier 
Sonette  zu  den  vier  Sätzen  der  neunten  Symphonie  von  Beethoven^) 
— ,  so  sind  noch  zwei  (in  den  „Gedanken  und  Tatsachen"  enthaltene) 
längere  Dichtungen  hervorzuheben,  die  ganz  eigentlich  zu  den 
„philosophischen"  gehören:  die  „Trilogie  des  Pessimismus"  und 
die  „Episoden".  Diese  Dichtungen  haben  (mit  Ausnahme  des 
letzten  Stückes  der  „Episoden")  kein  Versmass  und  keinen  Reim; 
aber  sie  haben  das,  wovon  das  Versmass  nur  eine  vergleichsweise 
beschränkte  Spezies  und  wozu  der  Reim  nur  ein  Mittel  ist:  sie 
haben  Rhythmus  —  in  dem  Sinne,  in  dem  auch  der  Roman  oder 
das  Drama  (auch  das  „in  Prosa"  verfasste)  Rhythmus  hat:  d.  h. 
die  Teile  des  Ganzen  folgen  nach  einer  ästhetischen  Notwendigkeit 
aufeinander;  sie  sind  ihrer  Qualität  und  Intensität  nach  derart 
aufeinander  abgestimmt,  dass  sich  aus  ihrer  Abfolge  eine  synthetisch 
einheitliche  Gesamtstimmung  ergiebt;  die  Bewegung,  die  vom  einen 
Glied  zum  andern  weitertreibt,  ist  derart  durch  Stimmuugsakzente, 
Wertakzente  begründet,  dass  das  Ganze  als  eine  unauflösbare 
Einheit  dieser  Akzente  erscheint. 

Alle  echte  Kunst  hat  ihren  Gegenstand  da,  wo  die  Prosa 
unzuständig  ist;  das  aber  hat  ernste  Kunst  mit  ernster  Prosa  ge- 
mein, dass  sie  ihren  Gegenstand  so  zeigen  will,  wie  er  in  Wahr- 
heit ist.  Die  „Trilogie  des  Pessimismus"  bringt  das 
Wesen  des  Pessimismus  dem  künstlerischen  Verständnis   dadurch 


1)  Kantstudien  IX,  1  ff.  u.  X,  249  ff.;  Gedanken  u.  Tatsachen  II,  356  f. 


Otto  Liebmann  als  Dichter.  149 

nahe,  dass  sie  drei  Typen  des  Pessimismus  vorführt  und  diese 
nicht  bloss  als  drei  verschiedene  Typen  behandelt,  so  dass  es 
g'leichgiltig-  wäre,  welchen  der  Leser  zuerst  und  welchen  zuletzt 
vornimmt:  sondern  indem  wir  uns  von  Liebmauu  führen  lassen, 
erleben  wir  im  Übergehen  von  einem  Typus  zum  andern  eine 
eminente  und  ihrer  Qualität  nach  in  Prosa  durchaus  nicht  zu 
formulierende  Steigerung;  und  gerade  durch  diese  Steigerung, 
gerade  durch  das  bei  aller  Verschiedenheit  doch  in  charakteri- 
stischer Weise  einheitliche  Zusammenwirken  der  Stimmungswerte 
erscheint  die  unaussprechliche  Lebenswurzel  des  Pessimismus  (in 
der  ganzen  grossen  Skala  seiner  mannigfachen  Gestaltungen)  bloss- 
gelegt.  Liebmann  führt  uns  zuerst  nach  Alexandria  zuHegesias 
Peisithanatos:  die  Darstellungsweise  spielt  -stark  ins  Komische 
hinüber,  nirgends  wird  der  Stoff  ganz  ernst  genommen,  und  doch 
handelt  es  sich  überall  um  mehr  als  um  ein  blosses  Spiel.  Dann 
kommt  mit  etwas  barocker  Entwicklung  und  bedeutungsvoll  zartem 
Schluss  Timon  von  Athen,  der  Misanthrop.  Endlich  Buddha 
Sakyamuni,  der  Pessimist,  der  unter  dem  Leid  nicht  klagend 
oder  grollend  zusammenbricht,  sondern  der,  stärker  als  das  Leid, 
dieses  durch  barmherzige  Liebe  überwindet:  der  Scherz  in  der 
Darstellung  ist  verstummt,  aber  die  künstlerische  Einheit  mit  den 
beiden  vorangegangenen  Abschnitten  ist  keineswegs  aufgegeben: 
sondern  ebenso  wie  man  nur  dann  eine  Melodie  (und  nicht  bloss 
aufeinanderfolgende  Töne)  hört,  wenn  man  das  objektiv  Vergangene 
in  der  Subjektssphäre  noch  immer  festhält,  so  vernimmt  man  auch 
nur  dann  das  Thema  der  ganzen  Dichtung,  wenn  man  sie  als  eine 
durch  einen  mächtigen  Rhythmus  (und  nicht  etwa  bloss  durch  den 
abstrakten  Begriff  „Pessimismus"')  zusammengehaltene  Einheit  auf- 
zufassen vermag.  —  In  der  künstlerischen  Form  verwandt  mit  der 
„Trilogie  des  Pessimismus"  sind  die  in  fünf  Abschnitten  verlaufen- 
den „Episoden".  Ihr  Thema  ist  das  Menschengeschlecht  —  das 
Menschengeschlecht  in  seiner  tragischen  Sehnsucht  nach  dem 
Höchsten;  in  seiner  schier  unheilbaren  Neigung,  sich  in  abstrakt- 
phantastischen Weltbeglückungsträumen  gross  zu  dünken;  das 
Menschengeschlecht  in  seiner  verschwindenden  Nichtigkeit  im  Ver- 
hältnis zur  Ewigkeit  des  Universums ;  in  seiner  wunderlichen 
Mischung  von  Kleinem  und  Grossem :  den  Schluss  macht  der  (aus 
1er  „Weltwanderung"  hier  wiederabgedruckte)  Hymnus  „Caritas", 
las  hohe  Lied  von  der  den  unvollkommenen  Kosmos  vollendenden 
—  also  auch  die  Menschheit  in  Einklang   mit  ihm  bringenden  — 


150  F.  Medicus, 

Liebe.  —  „Eine  Gedankensympbonie"  bat  Liebmann  die  „Episoden" 
genannt.  Natürlich  darf  man  den  Ausdruck  nicbt  zu  sebr  pressen: 
um  blosse  „Gedanken"  bandelt  es  sieb  bei  den  Elementen  dieser 
Sympbonie  nicbt;  blosse  Gedanken  würden  nicbt  klingen,  wenn 
sie  zusammengefügt  werden.  Aber  etwas  Treffendes  liegt  doch 
in  jener  Bezeichnung,  und  man  könnte  versucht  sein,  (freilich  auch 
hier  ohne  den  Anspruch  auf  volle  Genauigkeit)  zu  formulieren: 
in  der  „Weltwanderung"  entsteht  aus  der  Zusammenordnuug  von 
Gedichten  —  Philosophie,  in  den  „Episoden"  (und  in  der 
„Trilogie  des  Pessimismus")  aus  der  Zusammenordnung  philoso- 
phischer Gedanken  —  Dichtung.  — 

Namentlich  in  den  von  1899  —  dem  Erscheinungsjahre  der 
„Weltwanderung"  —  an  veröffentlichten  Schriften  tritt  eindringlich 
hervor,  wie  Liebmanns  Dichter-  und  Denkerpersönlichkeit  in  Aoyog 
und  'AyaTTti  die  letzten  Werte  des  Menschendaseins  gefunden  bat. 
(Nicht  als  ob  damals  ein  Bruch  mit  der  früheren  Periode  ein- 
getreten wäre:  es  konnte  oben  schon  vom  Belagerungstagebuch 
gesagt  werden,  dass  es  denselben  Werten  huldigt:  aber  aus- 
gesprochenermassen  in  den  Vordergrund  gestellt  werden  Vernunft 
und  Liebe  doch  erst  in  der  späteren  Zeit.)  —  Es  ist  der  Kritizis- 
mus, der  diese  Dualität  als  solche  zum  letzt  Erreichbaren  macht: 
die  Tendenz  des  philosophischen  Denkens  geht  auf  Einheit;  allein 
dem  Bewusstsein  bleibt  sie  unerfassbar.  Dem  Dichter  aber  werden 
selbst  die  Grenzen  der  Menschheit  zum  Anlass  künstlerischer  Ver- 
klärung des  Unendlichen: 

Was  ist  uns  heilig?  heilig?    Was  verehren 
Was  beten  wir  in  tiefster  Seele  an? 
Was  zwingt  das  Herz,  was  beugt  den  starrsten  Sinn? 
Was  hebt  uns  über  uns  und  alle  Schranken 
Auf  Geisterschwingen  in  das  bessre  Reich?  — 
O  Sonnenlicht  —  Vernunft!    Der  Wahrheit  Leuchte, 
Des  dumpfen  Wahnes  strahlende  Siegerin! 
Und  du,  0  Wunderbild,  —  du,  reine  Liebe, 
Göttliche  Liebe,  Allerbarmerin ! 
Vernunft  und  Liebe,  Höchstes,  was  wir  kennen, 
Trost  der  Verzagenden,  der  Sehnsucht  Ziel, 
Köstliches  Kleinod,  lichtumflossener  Gral, 
Aus  tiefer  Nacht  aufflammend  wunderbar, 
Und  Segen  spendend  Allen,  die  da  ringen, 
Woher  stammst  du?  — 
Weltwe«en ! 


I 


Otto  Liebmaun  als  Dichter.  151 

Kein  Bild,  kein  Gleichnis  kann  dich  je  erreichen. 
Bist  ohne  Gleichen. 

Die  beiden  Altäre  des  Aoyog  und  der  ''Aydnri  sind  nicht  zwei 
Gottheiten  geweiht:  nur  um  der  menschlichen  Schwachheit  willen 
sind  sie  zu  zweien.  Zuletzt  gelten  sie  doch  dem  selben  Einen,  dem 
ewig  Ungenannten. 


Der  idealistische  Begriff  des  Subjel<ts. 

Von  Oswald  Weidenbach, 


Der  Empirismus  und  der  Idealismus  sind  typische  Erschein- 
ungen, fast  könnte  man  sagen,  es  sind  die  zwei  charakteristischen 
Temperamente,  durch  die  das  Erlebnis  des  Seins  überhaupt  vom 
Menschen  beurteilt  wird.  Im  Idealismus  der  Sinn  für  die  strenge 
Zusammengehörigkeit  alles  Besonderen  in  der  Einheit  des  Ge- 
setzes, das  Durchdrungensein  aller  Erscheinungen  mit  der  Not- 
wendigkeit des  Logos,  wenn  anders  sie  Anspruch  auf  wirkliches 
Sein  erheben  wollen;  im  Empirismus  das  Gefühl  für  das  Preis- 
gegebensein des  Menschen  an  Irrtum  und  Halbheit,  für  die  AU- 
mähligkeit  alles  Fortschreitens,  für  die  Relativität  aller  endlich  ge- 
fundenen Wahrheit. 

Der  Idealismus  nimmt  seine  Orientierung  vorwiegend  an  der 
Mathematik,  der  Empirismus  an  den  Erscheinungen  des  orga- 
nischen Lebens  —  und  die  Strenge  der  dort  herrschenden  Regel, 
wie  die  Unbestimmtheiten  der  hier  mit  dem  Zufall  ringenden 
Wissenschaft  wirken  als  Paradigma  für  beide  Wissenschaften  in 
ihrer  Beurteilung  aller  Gebiete  nach,  sodass  der  eine  den  Versuch 
macht,  auch  in  der  Mathematik  schliesslich  nur  Empirisches,  — 
dem  anderen,  auch  in  der  organischen  Natur  nur  Apriorität  zu 
erscheinen. 

Beide  Anschauungen  fassen  gleich  viel  an  Lebensinteresse 
in  sich;  den  Empirismus  ziert  bescheidene  Ehrlichkeit  als  Grund- 
affekt, ein  Nicht -mehr-scheinen-wollen,  oder  in  seinen  höheren 
Formen  jener  ästhetische  Sinn  für  das  Individuelle  und  Indivi- 
duellste, aus  dem  Verständigkeit  und  Gerechtigkeit  gegen  andere 
Menschen  fliessen ;  der  Idealismus  hat  dagegen  für  sich  das 
heroische  Pathos,  das  den  Menschen  über  sich  selbst  zu  den 
fernsten  und  höchsten  Zielen  fortreissen  will. 

Der  Empirismus  ist  fast  immer  die  menschlich  liebens- 
würdigere Form;   es   ist   bezeichnend,    wie   viele  Empiristen  auch 


Der  idealistische  Begriff  des  Subjekts.  153 

als  pädagogische  Schriftsteller  tätig  gewesen  sind;  während  dem 
unerbittlichen  Geiste  des  Idealismus  solche  lapidaren,  aber  fast 
menschenfeindliche  Sätze,  wie  etwa  der  Wahlspruch:  fiat  justitia 
pereat  mundus,  entstammen. 

Aber  mit  dieser  s.  z.  s.  persönlichen  Gleichwertigkeit  beider 
Anschauungen  ist  noch  nichts  über  ihren  philosophischen  Wert 
und  Rang  entschieden.  Denn  erst  der  philosophischen  Frage 
des  quid  juris  gegenüber  treten  die  Argumente  in  den  Vorder- 
grund,   die    eine  Entscheidung  über  wahr  und  falsch  ermöglichen. 

Je  mehr  unsere  beiden  Parteien  vor  dieses  Forum  rücken, 
desto  deutlicher  wird,  dass  der  Empirismus  sich  zum  Subjekt  be- 
kennt, der  Idealismus  zum  Sein.  Sosehr  ist  dem  Empirismus  alles 
nur  menschlich,  dass  er  die  Objekte  bildet  und  ausstattet  nach 
unserer  Psyche.  Die  Ungewissheit  unseres  Wissens  findet  objektiv 
ihren  Ausdruck  in  der  Ungiltigkeit  des  Kausalgesetzes;  blosse 
Wahrscheinlichkeiten  treten  an  Stelle  der  Wahrheit;  zufälliges 
assoziatives  Beieinander  statt  gesetzmässiger  Zusammengehörigkeit 
soll  den  „Dingen"  eignen. 

Dies  alles  ist  richtig,  sobald  es  sich  nur  um  das  Dasein 
handelt,  d.  h.  um  das  Sein  soweit  es  unser  Haben  ist.  Aber 
über  diese  Frage  nach  dem  psychologischen  Besitze  (dessen  Eigen- 
tumsrechte doch  letztlich  illusorisch  sind,  sofern  das  Subjekt  ein 
focus  immaginarius  ist)  steht  die  eigentlich  philosophische  nach 
dem  Wesen  des  Seins,  noch  der  Art  der  reinen  Objektivität  an 
sich  selbst.^) 

Diese  Frage  ist  (dogmatisch)  oft  unglücklich  beantwortet 
worden  und  das  hat  sie  in  Misskredit  gebracht.  Hier  aber  handelt 
es  sich  zunächst  nicht  um  die  Antwort,  sondern  um  die  Frage 
und  den  prinzipiellen  Unterschied,  der  in  der  Frage  des  Empiris- 
mus und  der  der  Philosophie,  genauer  der  idealistischen  Philoso- 
phie, liegt. 

Dieser  Unterschied  ist  vor  allem  ein  Rangunterschied.  Denn 
die  Frage  nach  dem  Haben  setzt  überall  die  Frage  nach  dem 
Sein  als  getan  und  irgendwie  positiv  erledigt  voraus.  Es  ist  un- 
möglich, von  einer  Ungewissheit  zu  reden,  ohne  nicht  wenigstens 
die  Möglichkeit  einer  Gewissheit  anzuerkennen,  es  giebt  keine 
Wahrscheinlichkeit,  wenn  es  nicht  überhaupt  Wahrheit  geben 
ann;    es  hat  keinen  Sinn,  von  den  assoziativen  Zufälligkeiten  zu 

^)  Was  hat  Psychologie  im  Grunde  anderes  mit  Philosophie  zu  tun, 
als  dass  sie  sämtliche  Lehrstühle  der  Philosophie  besetzt? 


154  O.  Weidenbach, 

reden,  wenn  nicht  als  Masstab  die  Notwendig-keit  des  Gesetzes 
als  vorhanden  angenommen  wird.  Das  Haben  setzt  das  Sein 
voraus.  Deshalb  ist  die  Philosophie,  sofern  sie  das  Sein  zu  ihrem 
Ziele  macht,  die  voraussetzungslose  Wissenschaft  im  Gegensatz 
zu  allen  andern  (etwa  dem  Empirismus  oder  der  Psychologie), 
denn  sie  allein  handelt  von  den  letzten  Voraussetzungen  selbst. 

Nun  ist  aber  das  Sein  (die  absolute  Wahrheit  oder  das  voll- 
kommene Gesetz)  nicht  in  der  Form  des  Daseins  vorhanden, 
sondern  —  vom  Menschen  und  vom  Haben  aus  gesehen  —  in  der 
des  Ansichseins,  des  Gefordertseins  oder  der  Möglichkeit.  Kant 
nennt  die  Art  dieser  Existenz  die  Idee  und  charakterisiert  sie 
einfach  und  klar  dadurch,  dass  sie  die  Voraussetzung  aller 
anderen  Existenz  —  also  der  Existenz  der  Erscheinungen  in  der 
Erfahrung  sei.  Jener  Begriff  der  „Möglichkeit"  aber  ist  schon 
von  Leibniz  erkenntnistheoretisch  in  unserem  Sinne  verwertet 
worden. 

Diesen  Ausmachungen  wäre  nun  eigentlich  nichts  hinzuzu- 
fügen. Aber  das  Innehalten  der  Erkenntnis  ist  schwerer  als  ihr 
einmaliges  Begreifen. 

So  viel  erhellt  unmittelbar,  dass  die  Existenzart  der  Idee 
eine  absonderliche  und  gefährdete  ist.  Denn  einerseits  ist  sie  das 
Erste  und  Wichtigste,  andererseits  aber  das  Fernste  und  Unbe- 
stimmteste. Die  Idee  ist  die  Voraussetzung  alles  Daseins  und 
doch  nirgends  ein  Gegenstand  unserer  Welt. 

Das  „Haben"  droht  das  Ansichsein  zu  etwas  Wesenlosen 
herabzusetzen.  Aus  der  Praxis  des  Lebens,  aus  der  Intensität 
des  Herrschens  über  die  Mannigfaltigkeit  kraft  deutlichen  Wissens 
erwachsen  ständig  Feinde  der  Idee.  Es  sind  dieselben  Argumente, 
die  mit  besserem  Rechte  im  Namen  einer  Realpolitik  die  Utopie 
befehden.  Die  Gegnerschaft  erwacht  namentlich  dann,  wenn  (wie 
wir  es  wollen)  nun  in  Konsequenz  des  prinzipiellen  Vorrangs  des 
Seins  das  Subjekt  von  seiner  massgebenden  Stelle  endgiltig  weg- 
gewiesen werden  soU.^) 


1)  Hier  ist  anzumerken,  dass  alle  Formen  des  subjektiven  Idealismus 
—  und  sie  sind  die  meistverbreiteten  —  im  Grunde  nicht  wesentlich  vom 
Empirismus  verschieden  sind.  Sie  teilen  mit  ihm  die  Ansicht,  dass  das 
Subjekt  als  die  massgebende  Substanz  anzusehen  ist  —  und  es  ist  keine 
Rettung  der  prinzipiellen  Preisgabe  des  Gedankens  des  Seins,  wenn  nach- 
träglich das  von  der  empiristischen  Grundanschauung  getragene  Weltbild 
dadurch   vor   dem   Skeptizismus   bewahrt  werden   soll,   dass   das  Subjekt 


Der  idealistische  Begriff  des  Subjekts.  155 

Es  ist  ein  Nachgeben  gegen  diese  Anklagen,  wenn  der  Geist 
der  idealistischen  Philosophie,  wie  es  etwa  im  dogmatischen  Ra- 
tionalismus geschieht,  vorgiebt,  von  der  Idee  ein  ebensolches 
konkretes  Wissen  zu  besitzen,  wie  von  den  Erscheinungen,  die 
für  uns  durch  die  wissenschaftliche  Arbeit  bereits  „Gegenstände" 
und  „Dinge"  geworden  sind.  Dieses  Unterfangen  hat  seit  jeher 
die  „Liebhaber  der  Idee"  dem  Spott  überliefert. 

Dem  gegenüber  ist  daran  festzuhalten,  dass  ein  Dasein,  also 
ein  Haben  der  Wirklichkeit  erst  dann  vorliegt,  wenn  die  Details 
der  Erscheinung  so  völlig  durchschaut  sind,  dass  an  ihnen  nichts 
mehr  verborgen,  alogisch,  ist,  so  dass  aus  den  Einzelheiten  des 
unmittelbaren  Erlebnisses  Besonderheiten  des  Gesetzes  geworden 
sind.  Das  Sein  oder  die  Idee  aber  als  die  Totalität  aller  mög- 
lichen Erscheinungen  ist  als  „erreicht"  nur  nach  unendlichen 
Fortschritte  zu  denken  —  besser:  nach  Überwindung  aller 
Schranken  der  Endlichkeit,  d.  h.  also  wenn  wir  etwa  einen  intui- 
tiven Verstand  besässen  (denn  das  zeitliche  Vollendetsein  ist 
selbst  nur  ein  Surrogat  für  die  zeitlos  vollendete  Einheit  des 
Seins). 

Aber  nichts  destoweniger  bleibt  diese  Idee  die  Bedingung 
der  Möglichkeit  aller  Erfahrung.  Die  Objekte  selbst,  die  in  un- 
serer Erfahrung  zur  Reife  gelangen,  erfordern  zu  ihrer  eigenen 
absoluten  Existenzmöglichkeit  die  Totalität  aller  Beziehungen,  wie 
sie  im  Sein  gefordert  wird.  Deshalb  ist  dieses  Gefordertsein  auch 
nicht  so  zu  verstehen,  als  ob  es  seinen  Grund  in  unserer  mensch- 
lichen Natur  habe,  sondern  es  bedeutet  einen  objektiven  Wert, 
eine  Notwendigkeit  in  den  Dingen  selbst. 

Die  Opposition  gegen  die  Macht  der  Ideen  erwuchs,  wie  wir 
oben  sagten,  aus  der  Praxis  des  Lebens,  aus  dem  Verkehre  der 
Menschen  untereinander,  bei  welchen  die  Selbständigkeit  des  In- 
dividuums oder  ein  kulturelles  Gemeinschaftsbewusstsein  den  fort- 
währenden Hintergrund  oder  gleichsam  die  letzten  Dinge  bildet, 
von  denen  aus  alles  andere  bestimmt  wird.  So  stark  wird  durch 
das  „Leben"  der  empiristische  Widersacher  des  idealistischen 
Gedankens,  dass  uns  die  Ausdrucksmittel  der  Philosophie  nicht 


twa  in  seiner  „Organisation"  oder  sonstwie  mit  ethischer  Kraft  oder  mit 
lem    „unabweisbaren   Bedürfnis"    an   eine  Gesetzheit  zu   glauben,   ausge- 
stattet wird. 


156  0.  Weidenbach, 

genügend    erscheinen,    ihn    auch    mitten   im  Leben    bekämpfen  zu 
können.  ^)^) 

Gegenüber  dem  Zweifel  und  dem  theoretischen  Skeptizismus 
genügt  die  idealistische  Feststellung,  dass  ohne  vorgesetztes  ob- 
jektives Sein  keine  einzige  Erscheinung  möglich  ist  —  gegenüber 
der  Verzweiflung  aber,  diesem  schrecklichsten  und  gewalttätigsten 
Kinde  aus  dem  Schosse  menschlicher  Angelegenheiten,  gewinnt 
derselbe  uralte  Gedanke  eindringlichere  Gestalt. 

Diese  Gestalt  ist  gegeben  in  aller  wahrhaften  Religiosität. 
Da  es  nun  hier  nicht  unsere  Absicht  ist,  über  Theologie  zu 
schreiben,  so  sei  es  erlaubt,  unvermittelt  einige  Worte  wieder- 
zugeben, wie  sie  uns  eben  in  einem  Referat  von  Weineis  Buch 
(über  Nietsche,  Ibsen  und  Björnson)  vorliegen;  es  heisst  dort:  „den 
Sinn  der  Welt  findet  der  Christ  in  der  festen  Gewissheit,  dass 
ein  heiliger  Wille  über  und  in  der  Welt  wirkt.  Er  nennt  ihn 
Gott.  Gott  ist  nichts  anderes  als  die  Gewähr,  dass  eine  höchste 
Sittlichkeit  irgendwann  möglich  sein  wird".  Hier  formt  sich  die 
Kantische  „Idee"  und  weiter  der  Kantische  Gedanke  des  trans- 
scendentalen  a  priori  zum  „heiligen  Willen"  und  die  Funktion  der 


1)  Selbst  in  der  idealistischen  Philosophie  werden  vom  praktischen 
Leben  aus  die  kritischen  Gedanken  ins  Wanken  gebracht.  Wir  finden 
einen  Beweis  hierfür  in  der  z.  B.  auch  von  Windelband  vertretenen  An- 
sicht, dass  die  Zeit  unserer  Handlungen  wegen,  unseres  ethischen  Interesses 
halber,  eine  an-sich-selbst-seiende  Realität  sein  müsse,  während  im  Übrigen 
der  kritische  Grundgedanke  Kants  festgehalten  bleibt. 

2)  Von  den  im  Text  zu  erörterten  Schwierigkeiten  bleibt  diejenige 
Richtung  der  idealistischen  Philosophie  am  meisten  verschont,  welche  ihre 
Schritte  über  den  Kreis  der  Mathematik  nur  der  Vollständigkeit  des 
Systems  wegen  wagt.  Hier  in  der  Mathematik,  im  Reiche  des  „Denkens 
der  Götter",  verlieren  die  Stimmungen  ihre  Schrecken,  der  ihnen  sonst  in- 
mitten der  gehäuften  Schwierigkeiten  der  Wissenschaften  anhaften.  Des- 
halb gelang  es  in  der  Mathematik,  den  Begriff  des  Unendlichen  zuerst  der 
Vernunft  dienstbar  zu  machen.  Das  Unendliche  garantiert  sozusagen  das 
Fortgelten  eines  Gesetzes  über  sinnlich  erfüllbare  Bedingungen  hinaus. 
Aber  wenn  aus  der  Stille  jener  Wissenschaft  diese  idealistische  Erfassung 
des  ünendlichkeitsgedankens  hinausgetragen  wird  in  den  lebendigen  Kampf 
der  Forschung,  wenn  also  der  allgemeingiltige  Obersatz  seine  Ansprüche 
gegen  die  Unendlichkeit  andringender  Erfahrung  zu  verteidigen  hat,  so 
kann  man  mit  der  entstehenden  Gefahr  nicht  einfach  durch  die  Berufung 
auf  das  Kontinuitätsprinzip  fertig  werden.  Und  wieviel  schwieriger  wird 
vollends  die  Lage,  wenn  sich  in  Handlungen  die  Vernunft  in  der  Form 
des  Guten  verteidigen  soll  gegen  die  Unendlichkeit  schwebender  oder 
kaum  erst  geahnter  Probleme. 


Der  idealistische  Begriff  des  Subjekts.  157 

Idee,  nämlich  die  Möj^lichkeit  alles  Einzeldaseins  zu  sein,  wird  zur 
,.Gewäbr",  dass  Sittlichkeit  möglich,  d.  h.  Daseiend  werden  kann. 
Gott  garantiert  die  Realität  menschlicher  Sittlichkeit  ebenso  wie 
bei  Kaut  allgemeiner  die  ,.Idee",  die  Realität  menschlicher  Er- 
fahrung (menschlichen  Habens)  überhaupt. 

In  der  religiösen  Litteratur  nimmt  die  Beschreibung  der 
Aufnahme  Gottes  in  den  menschlichen  Willen  einen  breiten  Raum 
ein.  Dieser  Umstand  weist  darauf  hin,  wie  die  Entsetzung  des 
Subjektes  von  seinem  Prioiat  von  der  Religion  mitten  auch  im 
empirischen  Leben  durchzusetzen  versucht  wird,  und  das  Subjekt- 
Individuum  von  vornherein  als  Fragment  oder  Derivat  eines  ab- 
soluten  an-sich-Seins  nicht  nur  erdacht,  sondern  auch  erlebt  wird. 

Diese  durch  die  Religion  erhärtete  idealistische  Platzanweisung 
des  Subjektes  macht  es  nötig,  dass  vieles  umgedacht  oder  nach- 
träglich gerechtfertigt  werden  muss,  was  in  der  gewöhnlichen 
—  das  ist  empiristischen  —  Denkweise  selbstverständlich  erscheint. 

Was  das  Erste  (das  Umdenken)  anlangt,  so  ist  hierfür  der 
Begriff  der  Erfahrung  am  meisten  charakteristisch.  Für  den 
Empiristen  ist  die  Erfahrung  sinnliche  Wahrnehmung.  Die  Welt 
(die  allerdings  fehlerhafter  Weise  im  Anfange  der  Untersuchung 
schon  einmal  als  fertig  vorausgesetzt  wird)  ist  nach  der  empiristischen 
Theorie  nichts  anderes  als  eben  die  Ausgestaltung  jener  sinnlichen 
Wahrnehmung  zu  einer  grossen  subjektiven  Phantasmagorie.  In 
den  Nerven  und  den  Sinnesorganen  haben  wir  den  metaphysischen 
Mechanismus,  dessen  Produkte  „Erfahrungen"  sind. 

Hingegen  ist  Erfahrung  im  Sinne  des  Idealismus  zu  definieren 
als  das  Besonderswerden  der  allgemeinen  Idee.  Der  Idealismus 
hat  kein  Rezept,  welches  angebe,  wodurch  Erfahrung  hervorgebracht 
wird;  er  kann  nicht  im  vorhinein  das  allgemeine  Gepräge  dessen 
feststellen,  was  immer  Erfahrung  sein  wird.  Wenn  in  Analogie 
zum  Empirismus  eine  angeborene  seelische  Struktur  angenommen 
wird,  die  (gleich  den  Sinnen  bei  der  Wahrnehmung)  der  Erfahrung 
die  Form  diktiert,  so  sind  das  eben  Verirrungen  des  Idealismus, 
die  von  nicht  völliger  Überwindung  des  Empirismus  zeugen,  Ver- 
irrungen, von  denen  zwar  auch  Kant  nicht  frei  war,  von  denen 
er  sich  aber  mehr  und  mehr  zu  befreien  gesucht  hat. 

Die   Erfahrung   im  Sinne   des  Idealismus   ist   die  Ergänzung 

lessen,    was    an    der  Idee    für   uns  noch  mangelhaft  war:  das  ist 

hre   Unbestimmtheit.     Die   Idee    ist    der    allgemeine  Entwurf    der 

Wirklichkeit,   mögen  wir  nun  mit  religiöser  Inbrunst  in  die  tiefste 


158  0.  Weidenbach, 

Einheit  des  Seins  uns  versenken,  damit  sie  uns  zum  lebendigen 
Gotte  wird,  oder  mögen  wir  sie  als  triviale  Selbstverständlichkeit, 
ohne  die  es  ja  weder  ein  Denken  noch  Gegenstände  geben  kann, 
verschweigen:  immer  ist  die  Form,  in  der  wir  das  Sein  als  Tota- 
lität haben,  nur  eine  gefühlsmässige,  unbestimmte,  im  besten 
Falle  eine  symbolische.  Die  Erfahrung  erst  ist  es,  die  durch  die 
Einzelheiten  der  Erscheinungen  die  Möglichkeit  des  Details  hervor- 
bringt; nichts  anderes  als  das  bedeutet  Erfahrung  im  Sinne  des 
Ideahsmus.  Durch  sie  kann  die  ursprüngliche  Einheit  der  Idee 
zum  Gesetze  werden,  indem  sie  an  den  Erscheinungen  unter- 
scheidbare Besonderheiten  gewinnt.  Die  Einheit  ist  ohne  Viel- 
heit für  uns  unbestimmt,  die  Vielheit  ohne  Einheit  sinnlos;  erst 
die  von  der  Einheit  durchdrungene  Vielheit  ist  die  Statuierung  der 
Realität.  1)2) 

Was  nun  den  zweiten  Punkt  anlangt,  nämlich  die  idealistische 
Stellung  zu  der  „Selbstverständlichkeit"  des  Empirismus,  so  ist 
die  Wendung  zwischen  beiden  Anschauungen  am  besten  am  Be- 
griffe des  Einzelnen  zu  zeigen. 

1)  Vielleicht  ist  das  Drängen  auf  Prüfung  aller  Erkenntnisse  durch 
die  Erfahrung  die  Fortnel,  die  am  besten  die  Weite  des  Kantischen  Denkens 
erfasst.  Gegen  den  Dogmatismus  erfunden,  verwirft  sie  nicht  nur  jedes 
Genug-sein-lassen  an  einer  Endlichkeit,  sondern  predigt  positiv  ein  Evan- 
gelium der  Arbeit,  zu  deren  Ziel  ein  unendliches  Fortschreiten  führt. 

2)  Die  Subjekte  sind  entsprechend  dem  Sinne  der  Erfahrung  s.  z,  s. 
ein  Wurf  ins  Konkrete;  sie  sind  eine  Aufgabe,  innerhalb  gewisser  Be- 
dingungen (die  man  sich  zusammengefasst  unter  dem,  was  wir  Körper 
nennen,  denken  kann)  ein  Maximum  der  Idee  zu  verwirklichen.  Alle 
Entwickeluiig,  alle  Arbeit  des  Einzelnen  hat  diesen  Sinn;  in  der  Erziehung 
und  den  Tugendbegriffen  wird  er  mit  Bewusstsein  uns  vorgesetzt.  Die 
Verwirklichung,  die  jedem  zufällt,  füllt  oder  vielmehr  ist  sein  Wesen. 
Die  gewöhnliche  Unterscheidung  eines  Subjektes  von  anderen  aber  ist  dar- 
geboten durch  den  Umriss,  durch  den  jedes  Subjekt  als  ein  Positives  sich 
vor  dem  Nichtseienden  abhebt.  Die  Form  dieser  Silhouette  wird  gebildet 
durch  die  Linie,  zu  der  sich  die  Irrtümer,  das  Versagen,  die  Unfähigkeit 
eines  Individuums  zusammenschliessen  —  kurz  eben  durch  die  Punkte,  an 
denen  seine  Vernunft  aufhört,  Macht  zu  haben  über  das  Problem.  An  sich 
steht  jedem  Subjekte  der  Weg  zum  Unendlichen  offen,  aber  so  wenig  es 
begründbar  ist,  warum  der  einzelne  Schranken  hat,  so  wenig  steht  es  doch 
—  einfach  tatsächlich  —  in  unserer  Kraft,  sie  zu  überwinden,  und  der 
uralte  Gedanke  von  der  Gerechtigkeit  des  Todes  kommt  hier  in  den  Sinn, 
der  in  dem  Tode  das  Korrelat  zu  der  endlichen  Beschränktheit  der  Indivi- 
dualität sieht.  Er  löscht  die  Fackeln,  weil  ihr  Licht  an  ihrem  Platze 
genügsam  sichtbar  gemacht  hat,  was  von  Sein  an  diesem  Orte  sichtbar  ge- 
macht werden  konnte. 


Der  idealistische  Begriff  des  Subjekts.  159 

Für  den  Empirismus  ist  die  Einzelheit  das  Natürliche. 

Sowohl  die  Diuge  wie  die  einzelnen  Subjekte  sind  von  ein- 
ander getrennt.  Dieser  Zustand  der  Vereinzelung  besteht  nach 
Anschauung  des  Empirismus  zu  Recht,  nur  abstrakte  Ähnlichkeiten 
(wie  sie  den  aristotelischen  Begriff  des  Begriffes  bilden)  führen 
als  schmale  und  nur  scheinbare  Brücken  von  Individualität  zu 
Individualität.  Jede  dieser  Einzelheiten  ist  eine  Selbständigkeit, 
und  es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  diese  Selbständigkeit  für  die 
Forschung  den  methodischen  Vorteil  festhält,  jede  Neuerscheinung 
in  ihrer  Eigenart  würdigen  zu  wollen;  entstanden  aber  ist  diese 
Meinung  wiederum  aus  der  Substanziahsierung  des  Subjekts; 
denn  für  diese  muss  das  fortwährende  Sich-emanzipieren-wollen 
der  Dinge  die  hervorragendste  Eigenschaft  der  Dinge  sein;  in  ihr 
zückt  der  Rest  der  Objektivität  auf;  sie  liegt  an  der  Grenze  der 
Unmöglichkeit  der  empiristischen  Theorie,  den  verlorenen  Weg 
zur  Befreiung  aus  subjektiven  Schranken  anzeigend. 

Den  Vorteil,  der  eben  der  empiristischen  Theorie  nachgesagt 
wurde,  wahrt  sich  der  Idealismus  (sofern  er  nicht  Dogmatismus 
wird),  obwohl  er  den  Begriff  der  Einzelheit  völlig  umgestaltet. 
Im  Idealismus  ist  das  Einzelne  nicht  mehr  verwegen  genug,  sein 
Existenzrecht  auf  ein  Wahrgenommen-Werden  zu  gründen;  un- 
selbständig, weiss  es  sich  vom  Sein  bedingt  und  fordert  die  Tota- 
lität des  Seienden  zu  seiner  Ergänzung.  Das  Einzelne  verliert 
seine  Isoliertheit  und  wird  damit  „Besonderheit". 

Aber  die  Umwandlung  der  Einzelheit  in  Besonderheit  ist  de 
facto  nicht  ganz  durchgeführt  —  wir  müssten  sonst  die  vollendete 
Kenntnis  der  Allgemeinheit  besitzen  (—  die  Umwandlung  wird 
auch  niemals  absolut  durchführbar  sein,  weil  unsere  Errungen- 
schaften an  Seiendem  nur  in  der  Form  des  Werdens,  nicht  in  der 
zeitlosen  und  absoluten,  gemacht  werden  können).  Daher  bleibt 
im  Einzelnen  ein  Rest  von  Selbständigkeit  (nur  Dogmatismus  könnte 
ihn  ihm  entziehen  wollen).  Aber  ist  es  darum  nötig,  zum  empi- 
ristischeu  Begriffe  der  Einzelheit  zurückzukehren?  Nein,  denn 
auch  dieser  Rest,  möge  er  der  Gesetze  spotten,  die  wir  haben, 
fordert  an  sich  das  Gesetz.  Seine  Selbständigkeit  ist  nur  relativ 
•^  iderem  Endlichen  gegenüber,  und  nur,  wenn  man  das,  was  am 
ndlichen  negativ  ist,  positiv  setzt,  wird  jene  Selbständigkeit 
^auktioniert.  — 


160  0,  Weidenbach, 

Der  Begriff  der  Einzelheit  oder  Besonderheit  ist,  in's  Mensch- 
liche gewendet,  der  des  Subjektes  —  und  so  kehren  wir,  indem 
wir  ihn  weiter  verfolgen,  zugleich  zum  Hauptthema  zurück. 

Wie  schon  vorhin  bemerkt:  im  Gebiete  menschlicher  An- 
gelegenheiten gewinnen  die  erkenntnistheoretischen  Argumente, 
wie  ihre  Gegnerschaft,  weitere  Ausdehnung  und  verstärkte  In- 
tensität. 

Aus  sekundärer  Polemik  gegen  den  Naturmechanismus  oder 
den  Pantheismus  entstanden,  wird  das  Ich-Subjekt  unter  der  Form 
der  „Persönlichkeit"  zu  strengen  Für-sich-sein  emporgehoben  — 
und  der  Hymnus  an  die  Persönlichkeit  ist  vieler  Anschauungen 
letztes  Ende. 

Wenn  anders  aber  dieser  Begriff  der  Persönlichkeit  ohne  Er- 
schleichung eines  anderen  Sinnes  gedacht  wird,  bleibt  er  um  seiner 
Herkunft  willen  an  die  Einzelheit  als  solche  gebunden.  Er  ist 
daher  nicht  im  Stande,  die  Gefahren,  die  von  jener  herkommen, 
zu  bannen.  Und  diese  Gefahren  sind  hier  ungleich  grösser  als 
innerhalb  der  Naturprobleme,  denn  während  in  diesen  das  Einzel- 
sein Schlimmstenfalles  zum  „Widerspruch"  oder  „Irrtum"  wird, 
wird  es  im  Menschlichen  zum  „Kampf"  und  zum  „Bösen". 

Das  Prinzip  der  Persönlichkeit  kann  höchstens  als  eine  der 
eigentlichen  Grunglegung  vorangehenden  Propädeutik,  als  eine  Er- 
ziehung zur  Wahrhaftigkeit  Geltung  behalten.  Die  eigentlichen 
Rechte  des  Seins  aber  werden  im  Leben  zwischen  den  Subjekten 
von  ethischen,  religiösen  und  rechtlichen  Prinzipien  gewahrt. 

In  ihnen  wird  nicht  nur  die  Erkenntnis,  sondern  auch  der 
Wille,  wie  schlechthin  alles,  was  das  Subjekt  konstituiert,  der 
Idee  als  dem  eigentlichen  Sein  unterworfen.  In  der  Idee  ist  alle 
Einzelheit  des  Subjektes  aufgehoben.  Die  Idee  ist  Macht  und 
vernichtet  vermittels  der  Arbeit  (in  jeglicher  Bedeutung)  die 
Vereinzelung  durch  Darlegung  positiver  Zusammenhänge. 

Diese  Macht  der  Idee  besteht  auch,  wenn  unser  Haben 
immer  in  Schranken  geschlossen  bliebe:  Denn  diese  Schranken, 
auch  nicht  die  allgemein-menschlichen,  sind  letztlich  begründbar, 
wie  dann  alles  Endliche,  in  Sonderheit  das  Böse,  unnotwendig  ist ; 
die  Schranken  haben  mit  der  Idee  nichts  zu  schaffen  und  die 
Vorstellungen  von  ihnen  sind  nur  Namen  für  eine  Regelmässigkeit 
des  Zufalles,  nicht  echte,  d.  h.  konstitutive  Begriffe. 

Da  nun  aber  im  unmittelbaren  Eindruck  des  Erlebten  diese 
Negationen  eben  so  als  Tatsächliches  gewertet  werden,  wie  irgend 


Der  idealistische  Begriff  des  Subjekts.  161 

etwas  positives,  genügt  die  geringste  Beimischung  empirischer 
Denkweise,  um  bei  ihrer  Beurteilung  ihre  logische  Qualität  ver- 
gessen zu  machen  und  sie  als  positive  Wirklichkeiten  zu  setzen.^) 

So  geschieht  es,  dass  eine  dem  „gesunden  Menschenverstände" 
nicht  allzufern  stehende  Meinung  irgend  ein  Gebiet  des  Bloss- 
individuellen  mit  Hilfe  der  Vorstellung  der  unübersteiglichen 
Grenzen  aussondert,  dem  das  absolute  Für-sich-sein  auch  sub 
specie  aeternitatis  bewahrt  bleiben  soll. 

Und  ein  nicht  unähnlicher  Tadel  trifft  auch  im  Allgemeinen 
den  Geist  der  Ethik.  Ethik  hat  die  Tendenz,  sich  innerhalb 
der  grossen  Schranken  zu  halten,  die  nun  einmal  allem  Irdischen 
zu  teil  geworden  zu  sein  scheinen.  Man  könnte  sagen:  Ethik 
kämpft  um  das  Leben,  aber  sie  ringt  nicht  mit  dem  Tode. 

Erst  der  Geist  der  Religion  führt  bis  jenseits  unseres  Habens 
und  unserer  empirischen  Habens-möglichkeit  den  Kampf  für  die 
Idee.  Mit  der  Vernichtung  des  Todes  will  sie  Ewigkeit,  mit  der 
Ewigkeit  Zeitlosigkeit  und  mit  dieser  das  Sein  selbst  erbeuten. 
Religion  bestreitet  nicht,  wie  Ethik,  nur  die  Steigerung  der  Ver- 
einzelung in  der  Feindschaft,  sondern  das  Für-sich-sein  überhaupt, 
wie  es  sich  noch  äussert  im  einfachen  Anders-seiu  des  Ichs  vom 
Du.  „Bruder"  Vogel,  „Schwester"  Sonne  nennt  Franz  von  Assisi 
die  Geschöpfe;  was  er  aber  meinte,  war,  dass  sie  in  ihres  Wesens 
Grunde  nichts  Unterschiednes  mehr  sein  dürften  untereinander  und 
von  ihm  selbst.  Hier  ist  die  Aufhebung  des  Subjekts  in  die 
Einheit  des  Seins  lebendiger  Ausdruck  geworden. 

So  geht  der  Geist  der  Religion  fern  ab  vom  unmittelbaren 
Leben  seine  idealistischen  Bahnen;  so  fern,  dass  das  Ethos  unserer 
„Arbeit",  deren  Begriff  immer  als  Ziel  ein  Habenkönnen  voraus- 
setzt,   nicht   zu   genügen    scheint    und    die  Vorstellung  der  Gnade 


')  Ist  (wie  auch  Kant  annimmt)  der  empirische  Charakter  berechen- 
bar ?  —  Sofern  hier  ,.berechenbar"  irgendwie  eine  Notwendigkeit  als  zu 
Grunde  liegend  involvieren  will  —  sobald  es  also  einen  strengeren  Sinn 
haben  soll,  als  den  eines  Kunststückes  oder  einer  geschickten  Konjunktur, 
ist  die  Hypothese  strikte  zu  verneinen.  Denn  es  giebt  keinen  notwen- 
digen Grund,  weshalb  ein  Charakter  nicht  seine  Schranken  durchbrechen 
könnte  (und  oft  treten  solche  unerwarteten  Wendungen  —  in  der  reli- 
giösen Sprache  Bekehrungen  —  auf).  Gebe  es  einen  solchen  Grund,  so 
''  ce  das  darauf  hinaus,  die  blosse  Negation  und  also  auch  das  Böse  als  not- 
ndig  verursacht  zu  denken.  Dieser  Gedanke  aber  würde  selbst  wieder- 
_i  den  Sinn  des  Bösen,  der  Endlichkeit  u.  s.  w.  —  kurz  unseren  ganzen 
positiven  Weltaufbau  zerstören. 

Kantatndieu    XV.  1 1 


162         O.  Weidenbach,  Der  idealistische  Begriff  des  Subjekts. 

und  des  Geschenkes  zu  Hilfe  genommen  wird,  um  die  iVufhebung- 
der  allgemeinen  Schranken  des  Menschen  als  ermöglicht  zu  denken; 
so  fern,  dass  auch  die  menschliche  Erkenntnisart  nicht  mehr  aus- 
kömmlich zu  sein  scheint;  so  fern,  dass  auch  etwas  von  der 
Grausamkeit  jener  Ibsenschen  Worte  an  ihm  zu  spüren  ist:  „wer 
Gott  schaut,  der  stirbt".  — 

Mögen  diese  extremen  Formen  des  idealistischen  Gedankens 
in  der  Religion  anfechtbar,  selbst  verfehlt,  sein:  worauf  es  uns  in 
erster  Linie  hier  ankam,  war  zu  zeigen,  dass  die  grundlegende 
Tendenz  des  Idealismus,  nämlich  die  Entsubstanzialisierung  des 
einzelnen  Subjekts,  auch  im  Pantheon  menschlichen  Denkens  und 
Fühlens  im  weitesten  Sinne  gebietet. 

In  der  Tat,  nicht  nur  bei  einer  letzten  geistigen  Eechenschafts- 
legung  des  Weltproblems,  sondern  auch  bei  den  entscheidenden 
Tathandlungen  der  Menschen,  die  eine  neue  Bahn  durch  die  End- 
lichkeit brachen,  war  es  der  Geist  des  Idealismus,  nicht  der  des 
Empirismus,  der  führte,  denn  kein  Weg  in's  Grosse  ist  möglich 
ohne  das  Einzelsein  zu  einem  Scheine  herabzusetzen  und  somit 
aufzugeben. 

Als  letzte  grosse  Manifestation  dieses  idealistischen  Denkens 
rechnen  wir  Kant;  heute  aber  danken  wir  dem  Getreuen,  der  die 
Parole  ausgab:  „zurück  zu  Kant". 


Anhang. 

Jahresbericht  und  Mitgliederverzeichnis  der  Kantgesellschaft 

für  das  Jahr  1909. 

Vorbemerkung. 

Wenn  in  dieser,  dem  Nestor  des  Neukantianismus  gewidmeten,  Fest- 
schrift der  Jahresbericht  sowie  das  Mitgliederverzeichnis  der  Kantgesell- 
schaft für  das  Jahr  1909  abgedruckt  werden,  so  hat  dies  zunächst  seinen 
äusseren  Grund  darin,  dass  dieses  dem  Gefeierten  gewidmete  Festheft 
gleichzeitig  das  erste  Heft  des  neuen  Jahrganges  der  „Kantstudien"  ist,  in 
welchem  Heft  wir,  wie  bisher  immer,  den  genannten  Jahresbericht  für 
das  vergangene  Jahr  satzungsgemäss  zu  bringen  haben.  Aber  dieser  rein 
äusserliche  Grund  vertieft  sich  für  den  Tieferblickenden  zu  einem  inner- 
sachlichen Zusammenhang.  Wie  hätte  jemals  eine  „Kantgesellschaft"  ge- 
gründet werden  können,  wie  hätte  sie  leben,  blühen  und  wachsen  können, 
ohne  dass  eben  seit  4  Jahrzehnten  Otto  Liebmann  als  Schriftsteller,  als 
Dozent,  als  Mensch  vorbildlich  gewirkt  hätte?  Wie  hätte  die  Anregung 
zur  Begründung  der  Kantgesellschaft  auf  guten  Boden  fallen  können, 
wenn  der  Boden  nicht  durch  die  schneidige  Schärfe  seines  Kritizismus 
aufgepflügt,  durch  seine  Ideen  als  'AÖyoi  aneQ^azixoi  besamt  worden  wäre? 
Und  die  Saat,  die  er  gesät,  ist  fruchttragend  aufgegangen.  Davon  zeugt 
eben  das  Gedeihen  der  Kantgesellschaft,  welcher  auch  Otto  Liebmann  von 
Anfang  an  als  Dauermitglied  sich  angeschlossen  hat.  So  erscheinen  alle 
unten  aufgezählten  Mitglieder  der  Kantgesellschaft  als  seine  Gratulanten 
an  seinem  Ehrentag  und  feiern  im  Geiste  den  25.  Februar  1910  mit. 
Und  nicht  bloss  sie :  wie  die  Religionsphilosophie  eine  sichtbare  und  eine 
unsichtbare  Kirche  unterscheidet,  so  erweitert  sich  dem  Weiterblickenden 
die  empirisch  vorhandene  Kantgesellschaft  zur  idealen  Kantgemeinde,  als 
welche  die  ganze  moderne  Kulturgemeinschaft  zu  betrachten  ist,  soweit 
sie  nach  links  hin  vom  geistlosen  Materialismus  und  nach  rechts  hin  vom 
romantischen  Traumidealismus  sich  abgrenzt.  Jene  ideale  Kantgesellschaft 
wird  vertreten  durch  die  historisch  entstandene,  aber  nach  jener  Idee  hin 
orientierte  Kantgemeinde,  deren  Jahresbericht  und  Mitgliederverzeichnis 
hier  anhangsweise  folgen.  Wer  die  kahlen  Ziffern,  wer  die  langen  Reihen 
der  Namen  in  jenem  Sinne  liest,  für  den  setzen  sich  die  Ziffern  in  lebende 
Arbeit,  die  Namen  in  lebendige  Persönlichkeiten  um. 

H.  Vaihinger. 


11* 


Kantgesellschaft. 

VI.  Jahresbericht.    1909. 


A.    Jahres-Einnahmen  und  -Ausgaben. 

I.     Einnahmen. 

1)  Die  Jahresrechnung  für  1908  schloss  mit  einem  Überschuss  von 
147  Mk.  47  Pf.  ab. 

2)  Die  Zahl  der  Jahresmitglifder  (Jahresbeitrag  20  Mk )  ist  wiederum 
gestiegen,  und  zwar  von  191  auf  246  MitgUeder  —  eine  überaus  erfreuliche 
Zunahme.  Die  Jahresbeiträge  dieser  246  Mitglieder  betragen  4925  Mk. :  ein 
Mitglied  (Mr.  Webb  in  Oxford)  hat  dankenswerter  Weise  wieder  25  Mk.  ein- 
gesendet. Dieser  Mehrzahlung  von  5  Mk.  stehen  andererseits  16  Mk.  3  Pf. 
Einziehungskosten  für  die  246  Beitragssendungen  (Bestellgelder,  Bankspesen 
u.  s.  w.)  gegenüber.    An  Jahresbeiträgen  sind  somit  eingegangen  :  4908  Mk.  97  Pf. 

3)  Die  Zinsen  der  Kantstiftung,  welche  seitens  der  Kgl.  Universitäts- 
kasse in  Halle  dem  Geschäftsführer  am  1.  April,  1.  Juli,  1.  Oktober  und 
31.  Dezember  eingehändigt  wurden,  betrugen:  IUI  Mk.  39  Pf. 

4)  Die  Bankzinsen  für  sämtliche  bei  der  Firma  H.  F.  Lehmann  in 
Halle  a.  S.  liegenden  Gelder  betrugen:  329  Mk.  30  Pf. 

5)  Wie  in  den  vorigen  Jahresberichten  mitgeteilt  worden  ist,  werden 
die  von  uns  herausgegebenen  Ergänzungshefte,  welche  den  Mitgliedern 
gratis  zugestellt  werden,  auch  an  Nichtmitglieder  verkauft,  und  zwar  kom- 
missionsweise durch  den  Verlag  von  Reuther  &  Reichard  in  Berlin. 

Seitens  dieser  Firma  sind  an  uns  im  Jahre  1909  für  die  im  Verlauf  des 
Jahres  1908  verkauften  Ergänzungshefte  im  Ganzen  abgeführt  worden:  818  Mk. 
88  Pf.  Im  Einzelnen  sind  während  der  genannten  Zeit  nachträglich  abgesetzt 
worden  von  Heft  1  (Guttmann)  noch  16  Ex.;  von  Heft  2  (Österreich)  noch  9  Ex.; 
von  Heft  3  (Döring)  noch  14  Ex.;  von  Heft  4  (Kertz)  noch  6  Ex.;  von  Heft  5 
(Fischer)  noch  7  Ex ;  von  Heft  6  (Aicher)  noch  40  Ex.  Von  den  im  Jahr  1908 
ausgegebenen  neuen  Heften  sind  abgesetzt  worden:  von  Heft  7  (Dreyer) 
155  Ex.;  von  Heft  8  (O'Sullivan)  142  Ex.;  von  Heft  9  (Rademaker)  144  Ex,; 
von  Heft  11  (MüUer-Braunschweig)  129  Ex.  —  Die  Verrechnung  für  die  im 
Jahre  1909  verkauften  Exemplare  kann,  nach  Buchhändler-Usancen,  erst  nach 
Ostern  1910  erfolgen. 

Für  bezogene  Extra-Exemplare  des  Heftes  No.  8  entrichtete  dessen  Ver- 
fasser noch  20  Mk.,  so  dass  die  Einnahmen  aus  diesem  Posten  insgesamt  sich 
beliefen  auf:  838  Mk.  88  Pf. 

Die  Gesamteinnahmen  betrugen  somit:  7336  Mk.  Ol  Pf. 

II.     Ausgaben. 

1)  Honorare  für  die  Mitarbeiter  der  „Kantstudien",  Es  wurden  an 
Honoraren  für  den  Band  XIV  im  Ganzen  ausbezahlt:  1225  Mk.  03  Pf.  (Die 
Herren  Professor  Dr.  Adickes  und  Dr.  Dreyer  haben  in  sehr  dankenswerter 
Weise  auf  das  ihnen  zustehende  Honorar  zu  Gunsten  der  Kantgesellschaft  ver- 
zichtet ;  auch  der  unterzeichnete  Geschäftsführer  hat,  wie  bisher,  für  seine  Bei- 
träge kein  Honorar  bezogen.)  Die  Kantgesellschaft  glaubt  u.  A.  auch  durch 
reichliche  Bemessung  der  Honorare  für  die  Mitarbeiter  der  Kantstudien  die 
Ziele,  die  sie  in  ihren  Satzungen  niedergelegt  hat,  zweckmässig  zu  fördern. 
Über  die  Honorarzahlungen  im  Einzelnen  ist  dem  Verwaltungsausschuss  Rechen- 
schaft abgelegt  worden. 


Kantgesellschaft.  165 

2)  Freiexemplare  der  „Kantstudien"  für  die  Jahresmitglieder  nnd 
bezugsberechtigten  Dauermitglieder.  Nach  dem  zwischen  der  Kantgesell- 
schaft und  der  Verlagshandlung  Reuther  &  Reichard  am  15./6.  Mai  1905  ge- 
schlossenen Vertrag  ist  die  Letztere  verpflichtet,  an  die  obengenannten  Mit- 
glieder der  Kantgesellschaft  je  ein  Freiexemplar  der  auf  ihre  Kosten  gedruckten 
Kantstudien  heftweise  gratis  und  franko  zu  senden.  Auf  Grund  der  darüber 
stipulierten  Bedingungen  erhält  die  Verlagshandlung  für  diese  Versendung  an 
246  Jahresmitglieder  und  23  bezugsberechtigte  Dauermitglieder  an  Entschä- 
digungen: 1096  Mk. 

3)  Heransgabe  von  Ergänzungsheften  zu  den  „Kantstudien", 

a)  Herstellungskosten. 
Über  die  von  uns  getroffene  Einrichtung  von  „Ergänzungsheften"  zu  den 
Kantstudien  ist  in  dem  Rechenschaftsbericht  für  das  Jahr  1907  ausführlich  berichtet 
worden.  Es  wird  daher  hier  nur  das  Nötigste  wiederholt.  Es  stellte  sich  als 
zweckmässig  heraus,  grössere,  der  Redaktion  der  Kantstudien  anvertraute  Unter- 
suchungen aus  dem  Rahmen  der  regulären  Hefte  herauszulösen  und  separat  in 
Form  von  Supplementen  erscheinen  zu  lassen;  diese  Ergärizungshefte  sind  buch- 
händlerisch selbständige  Schriften,  mit  eigenem  Titel.  Die  Jahresmitglieder 
und  bezugsberechtigten  Dauermitglieder  erhalten  diese  Supplemente  gratis  und 
franko  zugesendet,  ausserdem  werden  aber  auch  Exemplare  an  Nichtmitglieder 
durch  die  Verlagshandlung  Reuther  &  Reichard  kommissionsweise  für  unsere 
Rechnung  vertrieben.  Die  Herstellungskosten  der  Ergänzungshefte  trägt  die 
Kantgesellschaft. 

1)  Das  Ergänzungsheft  No.  10  (Hans  Amrhein,  Kants  Lehre  vom 
„Bewusstsein  überhaupt"  u.  s.  w.)  konnte,  wie  im  Jahresbericht  pro  1908  mit- 
geteilt worden  ist,  in  dem  genannten  Jahre  nicht  mehr  fertiggestellt  werden, 
sondern  ist  erst  im  Frühjahr  1909  zur  Versendung  gelangt,  gehört  aber  rechne- 
risch zum  Jahrgang  1908.  Es  war  dafür  an  die  Druckerei  im  Jahre  1908  die 
Pauschalsumme  von  600  Mk.  bezahlt  worden.  Da  aber  die  Herstellungskosten 
704  Mk.  35  Pf.  betrugen,  so  betrug  die  Restzahlung  für  Heft  No.  10  noch: 
104  Mk.  35  Pf. 

2)  Das  Ergänzungsheft  No.  12  (Kurt  Bache,  Kants  Prinzip  der  Auto- 
nomie u.  s.  w.)  ist  vollständig  auf  Kosten  des  Verfassers  selbst  hergestellt 
worden  (234  Mk.  75  Pf.).  Für  diese  ausserordentliche  Liberalität  ist  die  Kant- 
gesellschaft dem  Verfasser  zu  ganz  besonderem  Dank  verpflichtet. 

3)  Das  Ergänzungsheft  No.  13  (Josef  Kremer,  Das  Problem  der 
Theodicee  u.  s.  w.,  gekrönte  Preisschrift  der  Walter  Simon-Preisauf  gäbe), 
kostete:  768  Mk.  80  Pf. 

4)  Das  Ergänzungsheft  No.  14  (Wilhelm  Ernst.  Der  Zweckbegriff  bei 
Kant  u.  s.  w.)  kostete :  337  Mk.  60  Pf.  Da  der  Verfasser  selbst  hiervon  in  sehr 
dankenswerter  Weise  203  Mk.  20  Pf.  bezahlt  hat,  so  betrugen  unsere  Kosten: 
134  Mk.  40  Pf. 

5)  Das  Ergänzungsheft  No.  15  (Sergius  Hessen,  Über  individuelle 
Kausalität  u.  s.  w.)  kostete:  633  Mk.  50  Pf.  Hierzu  hat  der  Verfasser  selbst 
beigesteuert  (für  Autoren-Korrekturen  und  Extra-Exemplare)  52  Mk.  60  Pf. 
Unsere  Auslagen  betrugen  somit:  580  Mk.  90  Pf. 

Die  Herstellungskosten  der  einzelnen  Hefte  variieren  nicht  bloss  nach 
dem  Umfang  des  Heftes,  sondern  auch  nach  der  Höhe  der  Auflage. 

Herstellungskosten  der  4  Ergänzungshefte  No.  10, 13, 14, 15 :  1588  Mk.  45  Pf. 

b)  Remuneration  für  den  zweiten  Redakteur  der  Kantstudien. 

Die  Herausgabe   der  Ergänzungshefte  (in  diesem  Rechnungsjahre  wieder 

ber  30  Bogen)  bürdet  dem  die  Geschäfte  der  Redaktion  allein  und  selbständig 

ahrenden   zweiten   Redakteur   eine   beträchtliche  Mehrarbeit  an  Durchsicht  von 

Manuskripten,    an    Korrespondenzen,   Korrekturen   u.  s.  w.  auf.     Dafür  und  da 

wir  ausserdem  die  Förderung  von  jüngeren  Gelehrten  Kantischer  Richtung  unter 


166  Kantgesellschaft. 

unsere  Ziele  satzungsgemäss  aufgenommen  haben,  ist  dem  Betreffenden  für  die 
Herausgabe  der  4  Ergänzungshefte  No.  12—15  wiederum  wie  in  den  beiden 
Vorjahren  pro  Heft  eine  Remuneration  von  100  Alk.,  somit  im  Ganzen  von 
400  Mk.  zugewiesen  worden. 

c)  Versendung  der  Ergänzungshefte  an  die  Mitglieder. 

Die  Versendung  besorgt  die  Hofbuchdruckerei  C.  A.  Kaemmerer  &  Co. 
in  Halle  a.  S.,  welche  auch  die  Ergänzungshefte  herstellt.  Die  Versendungs- 
kosten betrugen  für  die  Hefte  10,  12,  13,  14,  15  im  Ganzen:  290  Mk.  62  Pf. 

4)  Versendung:  verschiedener  Drucksachen  der  Kantgesellschaft. 
Die  neueintretenden  Jahresmitglieder  erhalten,  so  lange  noch  der  Vorrat 
reicht,  zum  Eintritt  je  ein  Exemplar  unserer  im  Jahre  1904  herausgegebenen 
Kantfestschrift  (360  Seiten  und  4  Abbildungen)  sowie  unsere  im  Jahre  1905 
herausgegebene  Schillerfestschrift  (170  Seiten  nebst  3  Abbildungen)  gratis  und 
franko  zugesendet.  Infolge  Spezialabkommens  erhält  die  Verlagsbuchhandlung 
von  Reuther  &  Reichard,  in  deren  Besitz  sich  der  ganze  Vorrat  jener  Festhefte 
befindet,  hierfür  (sowie  für  einige  andere  im  Interesse  der  Kantgesellschaft  er- 
folgte Lieferungen)  die  Entschädigung  von  204  Mk.  50  Pf. 

Durch  die  Hofbuchdruckerei  von  C.  A.  Kaemmerer  &  Co.  in  Halle  a.  5. 
haben  wir  eine  grössere  Anzahl  von  Exemplaren  der  Kantstudien  im  Umtausch 
an  die  Redaktionen  anderer  philosophischer  Zeitschriften  gesendet;  ferner  be- 
sorgte dieselbe  Firma  die  Versendung  der  zahlreichen  Separate  von  Abhand- 
lungen, Rezensionen  und  Selbstanzeigen  an  deren  verschiedene  Verfasser; 
Kosten:  34  Mk.  65  Pf. 

Gesamtbetrag  für  diese  Versendungen:  239  Mk.  15  Pf. 

5)  Beigabe  von  Porträts.  Dem  1.  Heft  unseres  XIV.  Bandes  haben 
wir  eine  vortrefflich  gelungene  Wiedergabe  der  wieder  aufgefundenen  Original- 
zeichnung zu  dem  bekannten  Kantbilde  von  Schnorr  von  Carolsfeld  gebracht, 
ebenso  im  Heft  2  u.  3  von  der  von  Luise  Staudinger  modellierten  Kant-Plaquette, 
und  im  Heft  4  die  Reproduktion  einer  Kantischen  Unterschrift  unter  ein  wichtiges 
Aktenstück  zu  dem  Artikel  von  Theob.  Ziegler:  Zu  Kants  Rechtslehre).  Ge- 
samtausgaben: 75  Mk.  75  Pf.  ^ 

6)  Zuschuss  zur  Drucklegung  der  Kantstudien.  Der  Band  XIV  der 
.Kantstudien"  umfasst  statt  wie  gewöhnlich  ca.  30  Bogen,  diesmal  36  Bogen 
(ca.  100  Seiten  mehr).  Es  hatte  sich  in  den  letzten  Jahren  so  viel  Material, 
besonders  an  teilweise  umfangreichen  Rezensionen  aufgehäuft,  dass  die  Redaktion 
notwendig  damit  aufräumen  musste.  Der  innere  Wert  des  Bandes  XIV  ist  da- 
durch wesentlich  erhöht  worden;  aber  die  Verlagshandlung  Reuther  &  Reichard 
in  Berlin,  auf  deren  Kosten  die  „Kantstudien"  hergestellt  werden,  hat  (da  sie 
dieser  einmaligen  grösseren  Überschreitung  des  Umfangs  wegen  für  ihre  eigenen 
Abonnenten  doch  das  Abonnement  nicht  erhöhen  konnte,  woraus  sie  den  Druck 
der  Kantstudien  bestreitet)  dadurch  beträchtliche  Mehrkosten  gehabt.  Daher  hat 
die  Kantgesellschaft,  deren  Mitglieder  ja  den  Vorteil  jener  Umfangserweiterung 
mit  den  erstgenannten  gewöhnlichen  Abonnenten  mitgeniessen,  der  genannten 
Firma  zur  Deckung  für  Mehrkosten  einen  Beitrag  geleistet  in  Höhe  von:  140  Mk. 

7)  Ehrengabe  für  den  zweiten  Redakteur.  Im  Jahre  1909  waren  es 
5  Jahre,  seitdem  der  zweite  Redakteur  die  Schriftleitung  der  Kantstudien  über- 
nommen hat,  die  er  seitdem  selbständig  führt.  In  Anbetracht  der  seitdem 
eingetretenen  stetigen  Erhöhung  der  Mitgliederzahl  der  Kantgesellschaft  votierte 
der  Verwaltungsausschuss  für  den  Betreffenden  in  Anerkennung  seiner  erfolg- 
reichen Mühewaltung  eine  einmalige  Ehrengabe  von:  500  Mk. 

8)  Zuschuss  zur  Stammler -Ehrung.  Wie  den  Mitgliedern  aus  den 
Mitteilungen  zum  Heft  2  u.  3  bekannt  ist,  hat  die  Kantgesellschaft  im  Verein 
mit  Freunden,  Schülern  und  sonstigen  Verehrern  Stammlers  zum  22.  April  1909  eine 
Ehrung  des  Letzteren  veranstaltet,  indem  durch  eine  Sammlung  die  Mittel  zu  einer 
Rudolf  Stammler-Preisaufgabe  zusammengebracht  wurden.  Diese  durch  unser  Mit- 
glied Herrn  Dr.  phil.  u.  jur.  Jorges  veranstaltete  Sammlung  ergab  nach  Abzug 
der  Unkosten:  2557  Mk.  25  Pf.  Zur  Erhöhung  dieser  Summe  auf  2800  Mk. 
(näheres  unter  B  II)  gab  die  Kantgesellschaft  einen  Beitrag  von:  242  Mk.  75  Pf. 


Kantgesellscliaft.  167 

9)  Drnck  verschiedener  Mitteilungen,  Formulare  u.  s.  w.  Seitens 
der  Hofbuchdruckerei  von  C.  A.  Kaemmerer  &  Co.  in  Halle  a.  S.  sind  für  den 
Zweck  der  Gesellschaft  verschiedene  Druckaufträge  ausgeführt  worden:  die 
Neujahrszirkulare  im  Januar  1909,  Separatabdrücke  des  Jahresberichtes  und  des 
Mitgliederverzeichnisses  von  1909,  „Mitteilungen  an  Mitglieder  und  solche,  die 
es  werden  wollen",  Verzeichnisse  der  Ergänzungshefte,  Mitgliedskarten,  Formu- 
lare zu  Adressen  von  Interessenten,  Neudruck  der  Satzungen,  Aufklebeadresscn 
zur  Versendung  der  Ergänzüngshefte,  Übersicht  über  die  ersten  fünf  Jahre  der 
Kantgesellschaft,  Viertes  Preisausschreiben  (Rudolf  Stammler-Preisaufgabe),  ins- 
gesamt: 225  Mk. 

10)  Verschiedenes.  Briefpapier,  Kouverts  u.  s.  w.  für  den  Geschäftsführer 
und  den  II.  Redakteur;  Beschaffung  eines  nicht  vom  Verleger  gelieferten  Rezen- 
sionsexemplares  u.  s.  w.    Insgesamt:  104  Mk.  94  Pf. 

11)  Schreibhilfe  für  den  Geschäftsführer.  In  Anbetracht  der  sich 
stets  steigernden  Korrespondenz  (im  Jahre  1909:  2261  Postsendungen)  wurde 
für  den  Geschäftsführer  die  Inanspruchnahme  einer  ständigen  stenographisch 
geschulten  Schreibhilfe  notwendig.    Auslagen  hierfür:  216  Mk.  50  Pf. 

12)  Korrespondenz.  Die  Zahl  der  von  dem  Geschäftsführer  der  Kant- 
gesellschaft ausgegangenen  Postsendungen  betrug  laut  vorliegendem  und  vor- 
gelegtem Journal  2261.  Portokosten  hierfür:  180  Mk.  05  Pf.  Von  dem  zweiten 
Redakteur  der  Kantstudien  wurden  laut  vorgelegtem  Journal  830  Postsendungen 
befördert.    Porto  hierfür:  67  Mk.  Ol  Pf.    Zusammen:  247  Mk.  06  Pf. 

13)  Reisespesen  für  den  II.  Redakteur.  Im  Interesse  der  Redaktions- 
geschäfte war  eine  mehrtägige  Reise  nach  Berlin  notwendig,  für  welche  dem 
II.  Redakteur  an  Reiseentschädigung  gewährt  wurden:  79  Mk.  50  Pf. 

14)  Zuschuss  zum  Dispositionsfonds.     Diesem    weiter   unten  noch  ein- 
mal  erwähnten  Fond   sind  aus  den  Überschüssen  600  Mk.   überwiesen  worden. 

Wiederholung. 

I.  Einnahmen. 

1)  Übertrag  aus  dem  Vorjahr 147  Mk.  47  Pf. 

2)  Jahresbeiträge 4908     „     97     . 

3)  Zinsen  der  „Kantstiftung" HU     .     39     -. 

4)  Bankzinsen 329     ,     30     „ 

5)  Verkaufte  Ergänzungshefte .    838     ,     88     , 

Summe  der  Einnahmen :  7336  Mk.  Ol  Pf. 

II.  Ausgaben. 

1)  Honorare  an  die  Mitarbeiter     ....  1225  Mk.  03  Pf. 

2)  Freiexemplare  für  die  Mitglieder  .     .     .  1096     „     —     „ 

3)  Ergänzungshefte  No.  10,  13,  14,  15 

a)  Herstellungskosten       1588     „     45     „ 

b)  Remuneration  für  den  2.  Redakteur    400     „     —     , 

c)  Versendung 290     .     62     „ 

4)  Verschiedene  Versendungen     ....    239     ,     15     , 

5)  Beigabe  von  Porträts 75     ,     75     „ 

6)  Zuschuss  zur  Drucklegung  der  KSt.  140     ,     —     , 

7)  Ehrengabe  für  den  II.  Redakteur  ...    500     ,     —     , 

8)  Zuschuss  zur  Stammler-Ehrung     .     .     .    242     „     75     , 

9)  Verschiedene  Drucksachen 225     „     —     „ 

10)  Verschiedenes 104     .    94     , 

11)  Schreibhilfe  für  den  Geschäftsführer      .    216     „50     „ 

12)  Korrespondenz 247     „     06     , 

13)  Reisespesen  für  den  II.  Redakteur  79     .     50     , 

Ausgaben :  6670  Mk.  75  Pf. 

14)  Zum  Dispositionsfond .    600     ,     —     . 

Gesamtsumme  der  Ausgaben :  7270  Mk.  75  Pf.  =  7270  Mk.  75  Pf. 
Rest  und  Übertrag  für  1910:      65  Mk.  26  Pf. 


170  Kantgesellschaft. 

Der  Vorstand   resp.   der  Verwaltungsausschuss  setzte  sich  im  Jahre  1909 
aus  folgenden  Personen  zusammen,  welche  sämtlich  in  Halle  wohnen: 

Vorstand:  der  Kurator  der  Universität,  Geh.  Ober-Reg.-Rat  Meyer, 
Professor  Dr.  Meumann, 
Professor  Dr.  Menzer, 

Geh.  Justizrat  Dr.  jur.  et  phil.  (h.  c.)  Stammler, 
Direktor  der  Univ.-Bibliothek  Geh.  Reg.-Rat  Dr.  Gerhard, 
Geh.  Kommerzienrat  Dr.  phil.  (h.  c.)  Lehmann, 
Geh.  Reg.-Rat  Professor  Dr.  Vaihinger,   Geschäftsführer. 


übrige 

Mitglieder 
des 
Verwaltungs- 
ausschusses 


Zu  der  am  Freitag,  den  22.  April,  abends  6  Uhr,  satzungs- 
gemäss  in  den  Räumen  des  Kuratoriums  der  Universität  Halle  stattfindenden 
allgemeinen  Mitgllederversamiulung  werden  hiermit  sämtliche  Mitgheder 
gebührend  eingeladen. 

Tagesordnung 
für  die  allgemeine  Mitgliederversammlung: 

1.  Ablegung  der  Jahresrechnung  für  das  Jahr  1909. 

2.  Wahl  der  wechselnden  Mitglieder  des  Verwaltungsausschusses, 
sowie  des  Geschäftsführers  für  das  Jahr  1910. 

3.  Entgegennahme  der  event.  zum  Ablieferungstermin  (22.  April) 
eingelaufenen  Bewerbungsschriften  zur  Karl  Güttler-Preisauf- 
gabe:  „Welches  sind  die  wirklichen  Fortschritte,  die  die  Meta- 
physik seit  Hegels  und  Herbarts  Zeiten  in  Deutschland  gemacht 
hat? 

4.  Verschiedene  Mitteilungen. 

Es  ist  zu  wünschen  und  hoffen,  dass  die  diesjährige  allgemeine  Mit- 
gliederversammlung ebenso  zahlreich  besucht  werden  wird,  wie  die  vorjährige, 
an  welcher  17  Mitglieder  teilgenommen  haben,  darunter  9  Auswärtige  (davon 
5  aus  Berlin).  Die  Teilnehmer  versammelten  sich  von  3  Uhr  an  in  der  Woh- 
nung des  Unterzeichneten,  und  Jeder  fand  beim  Austausch  der  Gedanken  Ge- 
legenheit, Anregung  zu  geben  und  zu  finden.  Auch  in  diesem  Jahre  findet 
von  3  Uhr  an  Vorversammlung  beim  Unterzeichneten  statt,  wozu  alle  Teilnehmer 
hiermit  freundlichst  eingeladen  werden. 

Diejenigen  Jahresmitglieder,  welche  bis  zum  Erscheinen  dieses  Jahres- 
berichtes ihre  Jahresbeiträge  noch  nicht  eingesendet  haben  sollten,  werden 
ebenso  höflich  als  dringend  gebeten,  die  Einsendung  (20  M.)  an  den  Unter- 
zeichneten oder  an  das  Bankhaus  H.  F.  Lehmann  hier  baldigst  bewerk- 
stelligen zu  wollen. 

Halle  a.  S.,  im  Februar  1910. 
Reichardtstr.  15. 

Der  Geschäftsführer: 
H.  Vaihinger. 


Kantgesellschaft. 

Mitgliederverzeichiiis  für  das  «Fahr  1900, 


JGhrennittglted. 

Stadtrat   a.  D.    Professor   Dr.  Walter   Simon,   Königsberg  i.  Pr.,    Ehren- 
bürger der  Stadt  Königsberg. 


JaliresniKglleder  1909. 

(Jahresbeitrag  20  M.) 

Professor   Dr.  Narciss  Ach,    Königsberg  i.  Pr.,  Tragheimer  Kirchenstr.  58. 

Dr.  Erich  A dickes,  Professor  an  der  Universität  Tübingen. 

Dr.  phil.  Severin  Aicher,  Vikar,  Stuttgart,  Kanzleistrasse  23. 

Dr  Bernät  Alexander,  Professor  an  der  Universität  Budapest IV.,  Franz- 
Josef-Quai  27. 

Dr.  phil.  Johannes  Amrhein,  Direktor  der  Deutschen  Schule  in  Lüttich 
(Belgien),  Rue  des  Carmes  13. 

Dr.  Apel,  Dozent  an  der  „Freien  Hochschule",  Berlin  -  Charlottenburg, 
Uhlandstrasse  194. 

Dr.  phil.  Kurt  Bache,  Halle  a.  S.,  Lessingstrasse  5. 

Dr.  W.  E.  Biermann,  Privatdozent,  Leipzig,  Wiesenstrasse  3b. 

Geheimer  Sanitätsrat  Dr.  med.  Alfons  Bilharz,  Sigmaringen. 

Mr.  George  Ashton  Black,  New  York,  621  W.  113tii  Street. 

Direktor  Dr.  Paul  Boehm,  Achern  in  Baden. 

Dr.  Otto  Boelitz,  Direktor  der  Deutschen  Schule  in  Barcelona,  Barcelona- 

Gracia,  4sta  Ana  4. 
Dr.  Bötte,  Pfarrer.  Allendorf  (Werra). 

Dr.  jur.  G.  A.  E.  Bogeng,  Berlin  W.  30,  Martin  Lutherstrasse  74. 
Sanitätsrat  Dr.  Brennecke,  Magdeburg,  Westendstrasse  .35.  , 
Ph.  Bridel,    Professeur    k   la   Faculte    de    Theologie    de    l'Eglise    Libre, 

Lausanne,  Glos-Maria. 
Dr.  Baron  Gay  v.  Brockdorff,  Professor  an  der  Technischen  Hochschule, 

Braunschweig,  Kasemenstrasse  4. 
Dr.  phil.  Nicolai  von  Bubnoff,  München,  Kaulbachstrasse  22a. 
Oberlehrer  Dr.  Artur  Buchenau,  Charlottenburg,  Schlüterstr.  78. 
Dr.  G.  E.  Burckhardt  (jr.),  Godesberg,  Augusta- Viktoriastrasse  77. 

Dr.  med.  W.  Camerer,  Medizinalrat,  Urach  (Württemberg). 

Dr.  Paul  Carus,  La  Salle,  Illinois,  U.  S.  A. 

Dt.  Ernst  Cassirer,  Privatdozent,  Berlin  W.  50,  Pragerstrasse  9. 

Frau  Professor  Helene  Claparede-Spir,  Genf,  Champel  11. 

Oberlehrer  A.Cr  am  er,  am  kgl.  Luthergymnasium  in  Eisleben,  Lindenstr.9. 

Dr.  B.  Christiansen,  Freiburg  i.  Br.,  Lorettostrasse  33. 


1 72  Kantgesellschaft, 

Dr.  Delbos,  Professeur  adjoint  ä  la  Facultö  des  Lettres  ä  l'Universitö  de 

Paris,  Quai  Henry  IV  46. 
Professor  Giorgio    Del  Vecchio,    nella   R.  Universitä  di  Sassari,  Genova, 

Corso  Paganini  77. 
Dr.  phil.  Ludwig  Dilles,  Bielitz,  Oesterr.  Schlesien,  Elisabethstrasse  2. 
Dr.  phil.  et  jur.  Oskar  Döring,  Chemnitz,  Parkstrasse  2a. 
Dr.  H.  Dreyer,  Florenz,  Via  dei  Bardi  3. 
Dr.  Hans  Driesch,  Heidelberg,  Uferstrasse  52. 
Johannes  Fr.  Dürr,  Verlagsbuchhändler  u.  Landtagsabgeordneter,  Leipzig, 

Querstrasse  14. 
Professor  Dr.  G.  Dwelshauvers,  Genval  (Belgien). 
Dr.  jur.  Hermann  Dzialas,  Breslau  II,  Tauentzienstrasse  58. 

Pastor  Ebeling  in  Erbisdorf  bei  Brand  i.  Sa. 

Dr.  0.  A.  Ellissen,  Professor,  Einbeck  (Hannover). 

Professor  Dr.  Theodor  Elsenhans,  an  der  Technischen  Hochschule 
Dresden,  Hohe  Strasse  37  b. 

Dr.  jur.  Bernhard  Carl  Engel,  Berlin -Zehlendorf  (Wannseebahn),  Schütz- 
strasse 26. 

Jacob  H.  Epstein,  Frankfurt  a.  M.,  Hermannstrasse  22. 

Pfarrer  Dr.  phil.  Wilhelm  Ernst,  Harskirchen  i.  Eis. 

Geheimer  Hofrat  Professor  Dr.  Rudolf  Eucken,  Jena. 

Dr.  phil.  Oskar  Ewald,  Wien  XIX,  Scheibengasse  15. 

Dr,    Richard    Falckenberg,    Professor    an    der    Universität    Erlangen, 

Goethestrasse  20. 
Dr.  Anton  Feigs,  Gross-Lichterfelde,  Carstenstrasse  6. 
Obermedizinalrat  Dr.  v.  Fetz  er,  Kgl.  Leibarzt,  Stuttgart,  Akademie. 
Geheimer  Justizrat  Professor  Dr.  Finger,  Halle  a.  S.,  Reichard tstr.  2. 
Dr.  Ernst  Fischer,  Posen.  St.  Martin  27. 
Rechtsanwalt  Julius  Fischer,  Karlsruhe  (Baden). 
Oberlehrer  G.  Fittbogen,  Rixdorf,  Hertzbergerstrasse  15. 
Edmund  Foerster,  Kandidat  des  Höheren  Lehramts,  Rogasen,  Bez.  Posen, 

Kl.  Posenerstrasse  326. 
Frau  Dr.  Elisabeth  Förster-Nietzsche,  Weimar,  Nietzsche-Archiv. 
Dr.  Erich  Franz,  Oberlehrer,  Kiel,  Sophienblatt  64. 
Dr.  med.  Paul  C.  Franz  e,  Bad  Nauheim. 
Dr.  Max  Frischeisen-Köhler,   Privatdozent    an    der  Universität  Berlin, 

S.  14,  Sebastianstrasse  87. 
Oberstabsarzt  Dr.  Jos.  Ans.  Froehlich,  Dresden,  Loschwitzerstrasse  4. 

Dr.  phil.  Stanislaus  Garfein-Garski,  Krakau,  Grodgasse  69. 
Dr.  R.  Gaul,  Sanitätsrat,  Stolp  i.  P. 
Dr.  Karl  Gebert,  München,  Leopoldstrasse  70. 
V.  Geis  1er,  Prediger,  Friedcnau,  Friedrich- Wilhelmplatz  11. 
Dr.  Alfred  Giesecke,  Verlagsbuchhändler,  Leipzig,  Poststrasse  3. 
Dr.  Giessler,  Erfurt,  am  Augustapark  2. 

Landgerichtsdirektor  Dr.  H.  Goebe],  Charlottenburg,  Tegeler  Weg  97. 
Fräulein  Huberta  Goesen,  Strassburg  i.  E..  Wenkerstrasse  8. 
Rudolf  Goldscheid,  Wien  III,  Richardstrasse  1. 

Superintendent  a.  D.,  D.  thel.  Georg  Graue,  Nordliausen  a.  H.,  Promenade  6. 
Dr.  Julius  Guttmann,  Breslau,  Gartenstrasse  51. 

Dr.  med.  H.  Gutzmann,  Professor  an  der  Universität  Berlin  W.,  Schöne- 
berger Ufer  11. 

Fränlein  Dr.  phil.  Frieda  Hansmann,  Göttingen,  Weender-Chaussee  26. 
Dr.  P.  Hauck,  Oberlehrer  in  Essen  a.  R.,  Bernhardstrasse  26. 
Seminaroberlehrer  G.  Hecke,  Braunschweig,  Fasanenstrasse  52  A. 
Eugen  Heck  er,   Fabrikdirektor,  Braunschweig,  Kaiser- Wilhelmstrasse  50. 
J.  N.  Heidemann,  Geh.  Kommerzienrat,  Köln  a.  Rh. 


Kantgesellschaft.  1 73 

Lic.   theol.    Dr.   phil.    Karl   Heim,    Privatdozent    und   Konviktinspektor, 

Halle  a.  S.,  Wilhelmstrasse  10. 
Dr.  Bernhard  Hell,  Wickersdorf  bei  Saalfeld  (Saale). 
Dr.  phil.  J.  U.  Herz,  Wien  VTH,  Josephstädterstrasse  29, 
Dr.  Sergius  Hessen,  St.  Petersburg,  Zerkovnaja  4a. 
Dr.  phil.  G.  Dawes  Hicks,  Professor  of  Philosophy  in  University  College, 

London. 
Dr.  phil.  J.  W.  A.  Hickson,  Montreal  (Canada),  Mountain  street  272. 
Adolf  Hinze,  Technischer  Direktor,  Wronke  (Prov.  Posen). 
Dr.  Karl  Hoffmann,  Charlottenburg,  Schlüterstrasse  H2. 
Dr.  K.  B.  Hof  mann,  Professor  an  der  Universität  Graz,  Schillerstrasse  1. 
Dr.  Alois  Höfler,  Universitätsprofessor,  Wien  XIU,  Onno  Kloppstrasse  6. 
Dr.    Richard    Honigs wald,    Privatdozent    an    der    Universität  Breslau, 

XVIII,  Scharnhorststrasse  21. 
Dr.  phil.  G.  Hub  er,  Grassau  (Oberbayern). 

Friedrich  Freiherr  v.  Hügel,    London-Kensington  W.,    Vicarage   Gate  13. 
Professor  Dr.  E.  Husserl,  an  der  Universität  Göttingen,  Hoher  Weg  7. 

Geheimer  Reg.-Rat  Professor  Dr.  J.  Imelmann,  Berlin-Charlottenburg  4, 

Giesebrechtstrasse  13. 
Dr.  Wladimir  Iwanovsky,    Privatdozent,    Kasan,    Wosdwischenskaja  13, 

Haus  Korsakovpa. 

Dr.  Jacobs,  Oberlehrer,  Essen-Rüttenscheid,  Elfriedenstrasse  38. 

Dr.  Ludwig  Jaffe,  Berlin  W.  50,  Rankestrasse  34. 

Dr.  W.  Jerusalem,    Professor,  Wien  XVHI  5,   Pötzleinsdorferstrasse  92. 

Dr.  R.  Jorges,  Halle  a.  S.,  Seebenerstrasse  61. 

Dr.  Franz  Jünemann,  Oberlehrer  in  Neisse  (Schlesien),  Zollstrasse  10. 

Privatdozent  Dr.  Willy  K  a  b  i  t  z  ,  Breslau,  Kaiserstrasse  88. 

D.  Dr.  Katzer,    Pastor  primarius  a.  D.,   Kirchenrat,  Oberlössnitz-Dresden, 

Kaiser  Wilhelmstr.  19.) 
Professor   Dr.  Kern,    Generalarzt,    Inspekteur   der   2.   Sanitätsinspektion, 

Berlin- Wilmersdorf,  Xantenerstr.  4. 
Dr.  Gustav  Kertz;  Inspektor  der  Erziehungsanstalt  Schw^arzenbach,  Amt 

Eberbach. 
Dr.  med.  Paul  Kieback,  Praktischer  Arzt,  Drossen. 
Oberbürgermeister  Dr.  Kirschner,  Berlin. 

Franz  Kluxen,   cand.  phil.,  Strassburg  i.  E.,  Universitätsplatz  2  I. 
Otto  Kohlmann,  Greiz,  Elstersteig  7. 
Professor  Dr.  E.  König,  Sondershausen. 
Professor  Lic.  theol.  Dr.  Koppelmann,  Privatdozent  an  der  Universität 

Münster  i.  W.,  Breul  12. 
Dr.  med.  Joseph  Krem  er  in  Mahrenberg  in  Steiermark. 
Dr.  Richard  K  r  o  n  e  r ,  Freiburg  i.  Br.,  Schwimmbadstrasse  19. 
Professor  Dr.  Eugen  Kühnemann,    Universität  Breslau,  Breslau-Krietern, 

Altes  Schloss. 
Professor  Dr.  Oswald  Külpe  an  der  Universität  Bonn. 
Dr.  Friedrich  K  u  n  t  z  e ,  Nordhausen  a.  Harz,  Bahnhofstrasse  8. 
Georg   Küspert,    Inspektor    am    Königl.    Prot.    Alumneum    in    Ansbach 

(Bayern). 

Dr.  J.  Lange-Lonkorrek,  Lonkorsz,  Westpreussen. 

Dr.  phil.  Iwan  L  a  p  s  c  h  i  n  ,  Privatdozent  an  der  Universität  St.  Petersburg, 

Kirotchnaja  7. 
oreh.  Regierungsrat  Dr.  A.  Lasson,  Professor,  Friedenau-Berlin,  Handjery- 

strasse  49. 
Professor  Dr.  Rudolf  Lehmann,    an   der   Akademie   Posen  W.  3,  Derff- 

lingerstrasse  10. 


174  Kantgesellschaft. 

Vikar  Otto  Lempp,  Berlin  NW.  52,  Thomasiusstrasse  15. 

A.  Levy,  Hamburg,  Fruchtallee  69. 

Dr.  Heinrich  Levy,  Suhl  i.  Th.  (z.  Z.  Friedenau,  Wilhelmstrasse  12). 

Dr.  J.  A.  Levy,  Advokat,  Amsterdam. 

Dr.  Levy-Brühl,  Professor,  Paris,  Rue  Lincoln  7. 

Cand.  phil.  Albert  Lewkowitz,  Breslau  XHI,  Kronprinzenstrasse  2L 

Dr.  Arthur  Liebert,  Berlin  W.  15,  Fasanenstrasse  48  (Gartenhaus). 

Franz  v.  Liel,  Kgl.  Finanzassessor,  München,  Schönfeldstrasse  28. 

Dr.  Hans  Lindau,  Berlin-Charlottenburg,  Kantstrasse  123. 

Karl  Linnebach,  Militär-Intendanturassessor,  Posen  O,   Gartenstr.  10. 

Dr.  Edmund  v.  Lippmann,  Professor,  Halle  a.  S.,  Raffineriestrasse. 

D.  Dr.  Loof  s,  Professor  an  der  Universität  Halle  a.  S.,  Lafontainestrasse  6. 

Dr,  N.  Losskij,    Professor    an    der    Universität   St.  Peterburg,  Kabinets- 

kaja  20. 
Dr.  Victor  Lowinsky,  Charlottenburg,  Königin  Elisabethstrasse  51. 

Karl  Maisch,  Buchdruckereibesitzer,  Karlsruhe. 

Siegfried  Marck,  cand.  phil.,  Breslau,  Tauentzienstrasse  11. 

M.  P.  Mason,  Bryn  Mawr,  Pa.  Roberts  Road,  No.  1,  U.  S.  A. 

Professor  Masuch,  am  Gymnasium  in  Rogasen  (Prov.  Posen). 

Dr.  Fritz  Mauthner,  Freiburg  i.  Er.  Konradstrasse  4. 

Walter  Mechler,  cand.  phil.,  Bonn,  Am  Hof  1.  (Weimar,  Sedanstrasse  16  ^). 

Dr.  A.  V.  Meinong,  Professor  an  der  Universität  Graz. 

Dr.  Mengel,  Diakonus  a.  D.,  Leipzig-Volkmarsdorf,  Konradstrasse  58a. 

Dr.  Paul  Menzer,  Professor  an  der  Universität  Halle,  Richard  Wagner- 
strasse 27  A. 

Frau  Bertha  Meyer,  Dresden  A.,  Lennestrasse  2. 

Frau  Landgerichtsrat  Berta  Meyer-Liepmann,  Berlin,  Viktoriastrasse  31. 

Dr.  phil.  Martin  Meyer,  Berlin  W.,  Königin-Augustastrasse  21. 

Professor  E.  Meyerson,  Paris  VIII  e,  Boulevard  Malesherbes  78^. 

Stadtschulrat  Dr.  Carl  Michaelis,  Berlin  W.  35,  Derfflingerstrasse  17. 

Dimitri  Michal  tschew,  Oberlehreram  I.  Gymnasium  in  Sofia  (Bulgarien) 
Haus  „Rasslatiza". 

Robert  Min  los,  Schriftsteller,  St.  Petersburg  8  «>  Linie  37. 

Alexis  Minor,  cand.  phil.,  Freiburg  i.  Er.,  Nägeleseestrasse  43. 

Dr.  Georg  Misch,  Privatdozent,  Gr.-Lichterfelde,  Margaretenstr.  9. 

Frau  Emma  Mitterdorfer,  Amstetten,  Nieder-Österreich. 

Joan  Mongesco  (aus  Rumänien),  Bad  Meinberg  (Lippe). 

Dr.  Leo  Müffelmann,  Kaufmann,  Berlin-Halensee,  Johann-Sigismund- 
strasse  4/5. 

Privatgelehrter  Carl  Müller-Eraunschweig,  Braunschweig,  An  der 
Martinikirche  2. 

Professor  Conrad  Müller,  Charlottenburg,  Oranienstrasse  2. 

Referendar  Fritz  Münch,  Strassburg  i.  E.,  Judengasse  34. 

Dr.  med.  Robert  Nitzsche  (A.  Zosimus)  Dubuque  (Jowa)  U.  S.  A. 
Dr.  H.  N  o  h  1 ,  Privatdozent,  Jena,  Stoystrasse  3. 

Dr.  Konstantin  Oesterreich,  Berlin  W.  30,  Goltzstrasse  19. 

Dr.  phil.  John  M.  O'Sullivan,   Dublin  (.Irland),   Co.  Rathmines,   Belgrave 

Terrace  2. 
Otto  P  a  s  q  u  a  y ,  Königl.  Bezirksamtmann  a.  D.,  München,  Hermann  Schmid- 

strasse  8i. 
Dr.  Johannes  Pauls en,  Altona,  Gr.  Bergstrasse  125. 
Dr.  ph.  Stefan  Pawlicki,  Universitätsprofessor  in  Krakau. 
Dr.  Hans  Pichler,  Wien  IV,  Karlsgasse  5. 

Lehrer  am  Realgymnasium  F.  Pinski,  Berlin,  Kniprodestrasse  118b. 
Lic.  Dr.  Arno  Pommrich,  Dresden-A.,  Münchenerstrasse  24. 
Cand.  phil.  Hans  Prag  er,  Wien  XIX,  1,  Leidesdorfgasse  15. 


Kantgesellschaft.  175 

Dr.  Franz  Rademaker,  Bonn,  HolienzoUernstrasse  21. 

Direktor  Dr.  Alfred  Rausch,  Rektor  der  Latina,  Halle  a.  S.,  Königstr.  94. 

Professor  Dr.  Adolf o  Ravä,  Universität  Camerino  (Italien). 

Reichardt,  Stadtrat,  Magdeburg,  Beethovenstrasse  2. 

Dr.  Johannes  Reicke,  Oberbibliothekar,  Göttingen,  Friedländerweg  28. 

Dr.  phil.  W.  Reinecke,  Oberlehrer,  Bitterfeld,  Weststrasse  9. 

Dr.  R.  Reininger,  Privatdozent,  Wien  IX,  Giessergasse  6. 

Pastor  Reinstein  in  Crölhvitz  bei  Dürrenberg  (Prov.  Sachsen). 

Kgl.  Realschuldirektor  H.  Rieh  er  t,  Pleschen,  Prov.  Posen. 

Augenarzt  Dr.  med.  Richter,  Zeitz. 

Professor    Dr.    Heinrich    Rickert    an    der    Universität    Freiburg    i.   Br., 

Thurnseestrasse  66. 
Riedel,  Geh.  Komraerzienrat,  Halle  a.  S.,  Advokatenweg  36. 
Dr.  P.  H.  Ritter,  ord.  Professor  der  Philosophie  in  Utrecht. 
Dr.  jur.  Francisco  Rivera,  Madrid,  Museo  Pedagögico  Nacional,  Daoiz  7, 
Dr.  Maximilian  Runze,  Prediger  und  Dozent  an  der  Humboldt-Akademie, 

Berlin  XW.  21,  Alt-Moabit  106. 

Dr.  jur.  J.  Sacker,  St.  Petersburg,  Nadejdinskaja  34,  Gesellschaft  „Energie". 

Dr.  phil.  et  jur.  Max  Salomon,  Frankfurt  a.  M..  Guiollettstrasse  8. 

Professor  Leon  Sautreaux,  Agrege  de  Philosophie,  Lycee  de  Grenoble, 
Rue  Denfert-Rochereau  9. 

Frau  Anna  Schellenberg,  Mannheim,  O.  3.  5. 

Dr.  med.  C.  J.  M.  Schmidt,  Odessa,  Boulevard  6. 

Dr.  Karl  Schmitt,  Karlsruhe  i.  B.,  Eisenbahnstrasse   14. 

Dr.  Schmitz,   Direktor  des  Realgymnasiums  in  Langenberg  (Rheinland). 

Professor  Dr.  Otto  Schneider,   Küstrin-Xeustadt,  Landsbergerstrasse  107. 

Dr.  Ernst  Schrader,  Privatdozent  an  der  Technischen  Hochschule,  Darm- 
stadt, Mathildenstrasse  11. 

Franz  Schraube,  Hauptmann  a.D.,  Halberstadt,  Voigtei  48. 

Professor  Dr.  Julius  Schultz,  Berlin  XO.  43,  Friedenstrasse  111. 

f  A.  Schulze,  Direktor,  Halle  a.  S.,  Raffineriestrasse  28. 

Professor  Dr.  P.  S  c  h  w  a  r  t  z  k  o  p  f  f ,  am  Gymnasium  zu  Wernigerode  a.Harz. 

Dr.  Charles  Sentroul  (Agrege  ä  TEcole  St.  Thomas,  Louvain),  Morteiro 
de  Sao  Bento,  Sao  Paolo,  Brasilien. 

Geh.  Hofrat  Dr.  phil.  hon.  c.  Ernst  Sie  gl  in,  Fabrikbesitzer,  Stuttgart, 
Felgersburg. 

Dr.  Ed.  Simon,  Geheimer  Kommerzienrat,  Berlin,  Victoriastrasse  7. 

Dr.  Sit  zier,  Regierungsreferendar,  Brieg. 

Dr.  A.  J.  de  Sopper,  Velsen  (Holland). 

Dr.  H.  Spitta,  Professor  an  der  Universität  Tübingen, 

Dr.  H.  Staeps,  Pfarrer  in  Theningen  (Baden). 

Oberlandesgerichtsrat  Walter  Staffel,  Dresden-Blasewitz,  Kaiserallee  2. 

Gymnasialprofessor  a.D.  Dr.  Staudinger,  Darmstadt,  Inselstrasse  26. 

Dr.  Kurt  Sternberg,  Berlin  SO.  36,  Bouchestrasse  79. 

Dr.  jur.  Kurt  Steinitz,  Rechtsanwalt  beim  Oberlandesgericht,  Breslau  XHI, 
Kaiser  Wilhelmstrasse  57. 

Pfarrer  Strothmann,  Märten  bei  Dortmund. 

Professor  Dr.  Carl.Stumpf,    Geh.  Reg.-Rat,  BerUn  W.,    Augsburgerst.  45. 

Dr.  Anton  Thomsen,  Privatdozent,  Kopenhagen,  Skindergade  29. 
Cand.  jur.  Kuno  Tiemann,  Berlin,  Brückenallee  4. 
Charles  H.  Toll,  Amherst  (Mass.)  Lincoln  Avenue  18. 
Stadtrat  Tourbie,  Berlin  NW.,  Wikinger  Ufer  1. 

Oberlehrer  Dr.  Alois  Uhl,  Köln,  Volksgartenstrasse  19. 

Dr.  Hans  Vaihinger,  Professor  an  der  Universität  Halle  a.  S.,  Geh.-Reg.- 
Rat,  Reichardtstrasse  15. 


176  Kantgesellschaft. 

Dr.   Theodor   Valentin  er,   Oberlehrer   am    Alten   Gymnasium,  Bremen, 

Humboldtstrasse  72. 
Oberst  a.  D.  Vitztum  von  Eckstädt,  Berlin  W.  15,  Fasanenstr.  37. 
G.  Vocke,  Amtsrichter,  Günzburg  LB. 

Dr.  Volkelt,  Professor  an  der  Universität  Iieipzig,  Auenstrasse  3. 
Dr.  h.  c.  V oller t,  Verlagsbuchhändler,  Berlin  SW.,  Zimmerstrasse  94. 
Lic.  Dr.  E.  Vowinkel,  Realschuldirektor,  Mettmann,  Rheinprovinz. 

Gustav  Wagner,  Privatmann,  Achern  (Baden). 

Julius  Wagner,  TuUn  a.  d.  Donau  bei_  Wien,  Kirschbaumgasse  17. 

Dr.  J.  Waldapfel,  Professor  am  Übungsgynmasium  des  Kgl.  Unga- 
rischen Seminars  für  Kandidaten  des  höheren  Schulamts,  Buda- 
pest VIII,  Trefortstrasse  8. 

A.  Warda,  Amtsrichter  Königsberg  i.  Pr.,  Tragheim,  Pulverstrasse  21. 

Lecturer  C.  C.  J.  Webb,  M.  A.  Oxford,  Magdalen  College. 

Dr.  R.  Wedel,  Privatgelehrter,  München,  Prinzregentenstrasse  8. 

Dr.  Richard  Wegener,  Berlin-Halensee,  Georg  Wilhelmstrasse  20. 

Dr.  Alexander  Wer  nicke,  Professor  an  der  Technischen  Hochschule 
Braunschweig. 

Verlagsbuchhändler  H.  Wessel,  Wolfenbüttel. 

Dr.  R.  Wilbrandt,  Professor  an  der  Universität  Tübingen,  Garten- 
strasse 57. 

Landrat  Paul  Win  ekler,  Salsitz-Neuhaus  bei  Zeitz. 

Achim  V.  Winterfeld,  Steglitz  bei  Berlin,  Filandastrasse  1. 

Dr.  phil.  et  med.  K.  Wize,  Jezewo  bei  Borek  (Prov.  Posen). 

Professor  D.  Dr.  G.  Wobbermin,  Breslau  18,  Carmerstrasse  17. 

Justizrat  Dr.  Wolf,  Dresden,  Johann  Georgen-Allee  5. 

Dr.  Karl  Wollf,  Berlin-Friedenau,  Wilhelmshöherstrasse  17. 

Wladimir  Wrana,  Schulleiter  in  Laskes,  PostZlabings  (Süd-Mähren). 

Privatdozent  Dr.  M.  Wundt,  Strassburg  i.  E.,  Sternwartenstrasse  23. 

Dr.  Theobald  Z  i  e  g  1  e  r ,  Professor  an  der  Universität  Strassburg  i.  E., 
Fischartstr.  22. 

Kgl.  Universitätsbibliothek  in  Göttingen. 

Königliche    und    Universitätsbibliothek    in    Königsberg    i.  Pr. 

(Vermittlungsstelle  Beyersche  Buchhandlung  daselbst). 
Kais.  Russ.  Universität  Charkow. 
Stadtbibliothek    Frankfurt    a.  M.    (Direktor    Dr.  Ebrard,  Geh.  Kons.- 

Rat),  Schöne  Aussicht  2. 
Magistrat  der  Stadt  Hildes  heim  (Stadt-Bibliothek). 
Bibliothek    der    St.    Nicolai-Kirche    in    Berlin    (Prediger    Göhrke, 

Berlin  C  2,  Poststrasse  15). 
Bibliothek   des   Kgl.  Wilhelmsgymnasiums    in    Berlin    (Bibliothekar 

Prof.  Dr.  Draheim).     Vermittlungsstelle:    Webersche    Buchhandlung, 

Berlin  W.  8,  Charlottenstrasse  48. 
Bibliothek  des  Realgymnasiums  Coblenz  (Direktor  Dr.  Goossen). 
Philosophisches  Seminar  der  Universität  Heidelberg. 
Philosophisches      Seminar     der     Universität     Strassburg    i.     E. 

(Kollegiengebäude). 
Ein  ungenannt  bleibendes  Mitglied. 

Summa:  246  Jahresmitglieder. 


Kantgesellschaft.  177 


Bezngsbereclittg^te  Danernilfglieder. 

(Einmaliger   Beitrag   von    mindestens    400   Mark,) 

Geh.  Kommerzienrat  Ludwig  Bethcke,  Halle  a.  S.,  Burgstrasse. 

Konsul  B.  Brons  jr.,  Emden,  Grosse  Brückstrasse  30. 

Frau  Geh.  Kommerzienrat  Albert  Dehne,  Halle  a.  S.,  Schimmelstrasse  7. 

Verlagsbuchhändler  Dr.  Robert  Faber,  Magdeburg,  Westendstrasse  13. 

Kommerzienrat  Robert  Frank,  Ludwigsburg. 

Direktor    der    deutschen    Bank    Arthur    von  Gwinnner,    Berlin,    Rauch- 

Professor  Dr.  G.  H.  Howison,  Berkeley  (Calif.),  Bancroft-Way  273L 

Fabrikbesitzer  und  Baumeister  Friedrich  Kuhnt,  Halle  a.  S.,  Steinweg. 

Justizrat  Dr.  Lachmann,  Berlin  W.  10,  Bendlerstrasse  9. 

Geh.  Kommerzienrat  Heinrich  Lehmann,  Halle  a.  S.,  Burgstrasse  46. 

August  Ludowici,  Genf,  Route  de  Florissant  36. 

Prof.  Dr.  Götz  Martins,  an  der  Universität  Kiel,  Hohenbergstrasse. 

Verlagsbuchhändler  Rittergutsbesitzer  Rudolf  Mosse,  Berlin  SW.  19, 
Jerusalemerstrasse  46/9. 

Fabrikbesitzer  W.  v.  Siemens,  Berlin  W.,  Tiergartenstrasse  10. 

Stadtrat  a.D.  Professor  Dr.  Walter  Simon,  Königsberg  i.  Pr.,  Kopernikus- 
strasse,  Ehrenmitglied  der  Kantgesellschaft,  Ehrenbürger  der  Stadt 
Königsberg  i.  Pr. 

Professor  Dr.  August  Stadler,  Zürich  H,  Alpenstrasse  33. 

Generalarzt  Dr.  med.  Stechow,  Hannover,  Hohenzollernstrasse  44. 

Professor  Dr.  Strong,  Xew-York,  Columbia  L'niversitiy. 

Verlagsbuchhändler  Dr.  pliil.  hon.  c.  Ernst  VoUert,  Berlin  SW.  12,  Zimmer- 
strasse 94. 

Fabrikbesitzer  Ernst  Weise,  Halle  a.  S.,  Händelstrasse. 

Geh.  Kommerzienrat  Carl  Wessel,  Bernburg. 

The  Philosophical  Union  of  the  University  of  California, 
(President:  Professor  G.  H.  Howison),  Berkeley  (Calif.) 

Societv  of  Ethical  Culture  (President:  Professor  Dr.  Felix  Adler) 
New-York  123  E,  60'^  Street. 

Summa :  23  bezugsberechtigte  Dauermitglieder. 


Ausserdem  ca.  .300  Dauermitglieder  mit  einmaligen  Beiträgen  unter  400  M. 

L^.  A.:  Professor  Dr.  Adamkiewicz  in  Wien.  —  Stadtpfarrer  Dr, 
Auffarth,  Jena.  —  Privatdozent  Dr.  Bauch,  Halle  a.  S.  —  Professor 
D.  Dr.  Baumgarten,  Kiel.  —  Professor  Dr.  Boutroux,  Paris.  —  Pro- 
fessor Dr.  Creighton,  Ithaca.  —  Dr.  van  Delden,  Gronau  i.  W.  —  Dr. 
Detto,  Leipzig.  —  Geheimrat  Professor  Dr.  Dilthey,  Berlin.  —  Pro- 
fessor Dr.  Flournoy,  Genf.  —  Geheimrat  Bibliotheksdirektor  Dr.  Ger- 
hard, Halle  a.  S.  —  Realschuldirektor  a.  D.  Dr,  Gille,  Halle  a.  S.  — 
Hauptpastor  D.  Dr.  Grimm,  Hamburg.  —  Professor  Dr.  Groos,  Giessen. 
—  Professor  Dr.  Güttier,  München,  —  Dr.'Haff erberg,  Privatgelehrter, 
Riga.  —  Professor  Dr.  Harries,  Kiel.  —  W.  Harris,  President  of  the 
Bureau  of  Education,  Washington.  —  Dr.  Hauswaldt,  Magdeburg.  — 
'rofessor  Dr.  Kleinpeter,  Gmunden.  —  Geheimer  Kommerzienrat 
,  Kröner,  Stuttgart.  —  John  A.  Leber,  Berlin.  —  Geh.  Justizrat  CR. 
xjessing,  Berlin.  —  Advokat  Levy,  Amsterdam.  —  Geheimrat  Professor 
Dr.  Liebmann,    Jena.  —  Professor  Dr.  Martini,    Coblenz.  —  Geheimer 

12 


178  Kantgesellschaft. 

Ober-Reg.-Rat  Dr.  E.  von  Meier,  Universitätskurator  a.  D.,  Berlin.  — 
Generalkonsuln  Franz  und  Robert  von  Mendelssohn,  Berlin.  —  Geheimer 
Ober-Reg.-Rat  G.  Meyer,  Kurator  der  Universität  Halle- Wittenberg.  — 
Professor  Dr.  Münsterberg,  Harvard-University.  —  Geheimrat  Dr.  Muff, 
Rektor,  Pforta.  —  Dr.  Pfungst,  Frankfurt  a.  M.  —  Dr.  Prieger,  Bonn. 
—  Direktor  Dr.  Rathenau,  Berlin. — H.H.Reclam,  Verlagsbuchhändler, 
Leipzig.  —  Verlagsbuchhandlung  Reuther  &  Reich ard,  Berlin.  —  Pro- 
fessor Dr.  Raoul  Richter,  Leipzig.  —  Geheimrat  Professor  Dr.  Riehl, 
Berlin.  —  Generalkonsul  Baron  von  Rosenthal,  Amsterdam.  —  Ober- 
lehrer Dr.  Sa  enger,  Oels.  —  Privatdozent  Dr.  Sehe  1er,  München.  — 
Privatdozent  Dr.  F.  A.  Schmid,  Heidelberg.  —  Dr.  A.  v.  Schoeler, 
Leipzig.  —  Professor  Dr.  Schurman,  Ithaca.  —  Privatdozent  Dr.  Siegel, 
Wien.  —  Professor  Dr.  Simmel,  Berlin.  —  Professor  Dr.  Spitta,  Tü- 
bingen. —  Geheimrat  Professor  Dr.  Stammler,  Halle  a.  S.  —  Professor 
Dr.  Stieda,  Königsberg  i.  Pr.  —  Dr.  Sulzbach,  Frankfurt  a.  M.  — 
Professor  Dr.  Weber,  Strassburg  i.  E.  —  Privatdozent  Dr.  Weisbach, 
Berlin.  —  Professor  Dr.  Zschalig,  Dresden.  —  Philosophische  Gesellschaft 
in  Wien  (Vorsitzender;  Professor  Dr.  Jodl). 


Benachrichtigung. 

Diesem  Festheft  ist  ein  Portrait  Liebmanns  beigegeben,  eine  Ori- 
ginalsteinzeichnung des  Kunst-  und  Portraitmalers  S.  von  Sallwürk  in 
Halle  a.  S.  Separate  Abdrücke  dieses  Blattes  auf  besonderem  Kunstdruck- 
papier mit  breitem  Rand,  nebst  dem  Facsimile  Liebmanns,  sind  von  der 
Verlagsbuchhandlung  Reuther  &  Reichard  in  Berlin  W  35,  Genthiner- 
strasse  40,  zum  Preis  von  Mk.  1.25  zu  beziehen,  durch  Vermittlung  jeder 
Sortiraentsbuchhandlung. 


Hofbuohdruckerei  G.  A.  Kaemmerer  fc  Co..  Balle  a.  8. 


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C.  Cantoni 


f  Professor  an  der  Universität  Pavia. 


Kantstudien  XV. 


Carlo  Cantoni  zum  Gedächtnis  0 

(Mit  einem  Portrait  Caiitonis.) 
Von  H.  Dreyer. 


Der  Name  Carlo  Cantoni  hat  von  Anfang-  an  unter  den 
Mitherausgebern  der  Kantstudien  gestanden,  bis  zu  seinem  am 
11.  September  1906  erfolgten  Tode,  auf  de;i  in  Bd.  XI  S.  485 
hingewiesen  worden  ist.  Es  ist  für  die  Kantstudien  eine  selbst- 
verständliche und  gern  erfüllte  Pflicht,  noch  etwas  ausführlicher, 
als  es  damals  geschehen  konnte,  auf  diese  bedeutende  und 
charaktervolle  Persönlichkeit  zurückzukommen,  die  für  die  Ver- 
breitung Kantischer  Denkungsart  in  Italien  mehr  getan  hat,  als 
vielleicht  irgend  jemand  vor  ihm,  Mantovani,  Romagnosi,  Galluppi, 
Testa,  Colecchi  nicht  ausgenommen.  Äusseren  Anlass  dazu  bietet 
eine  Sammlung  kleinerer  Schriften  Cantonis,  ein  stattlicher  Quart- 
band mit  dem  Wiederabdruck  von  23  meist  in  Zeitschriften  ver- 
streuten Arbeiten,  deren  älteste  aus  dem  Jahre  1862  und  deren 
jüngste  aus  dem  Jahre  1904  stammt,  die  also  gewiss  den  Über- 
blick über  ein  gesamtes  Lebenswerk  gestatten.  Der  Kritiker  einer 
solchen  Sammlung,  die  aus  dem  persönlichen  Motiv  pietätvoller 
Erinnerung  hervorgegangen  ist  und  die  nur  „den  Verwandten, 
Freunden  und  Kollegen"  zu  pietätvoller  Erinnerung  dargereicht 
wird,  befindet  sich  in  einer  bevorzugten  Lage.  Er  braucht  sich 
nicht  damit  zu  beschäftigen,  ob  eine  solche  Publikation  reichlich 
mit  Druckfehlern  ausgestattet  ist,  oder  nicht.  Er  wird  auch  nicht 
über  die  Auswahl  des  Gebotenen  rechten.  In  dem  kurzen  Vor- 
wort, das  die  Lebensgefährtin  des  Verstorbenen  selbst  dem  Bande 
voranschickt  und  das  man  nicht  ohne  Bewegung  liest,  wird  aus- 
drücklich gesagt,  dass  die  Zusammenstellung  des  Materiales  zum 
Teil  unter  dem  Gesichtspunkt  erfolgt  ist,  dass  die  betreffenden 
Arbeiten  ihr  persönlich  irgendwie  besonders  lieb  und  teuer  ge- 
%      worden    sind.     Für  den,    der   sich   mit  solcher  Auswahl  nicht  zu- 


1)  In  memoria  di  Carlo  Cantoni.    Scritti   vari,    Pavia,  Bizzoni  1908. 
XXVIII,  710  S.  in  4°. 

Kautstudien  XY.  22 


180  H.  Dreyer, 

frieden  giebt,  enthält  übrigens  der  Band  eine  vollständige  Biblio- 
graphie der  Schriften  Cantouis,  die  84  Nummern  zählt. ^)  Als  Ein- 
leitung in  das  Werk  ist  die  offizielle  Gedächtnisrede  des  Professor 
G.  Vidari  abgedruckt,  die  dieser  im  Auftrag  der  philosophischen 
Fakultät  von  Pavia  am  2i.  März  1908  gehalten  hat. 

Man  wird  sagen  dürfen:  wenn  man  drei  Publikationen  zu- 
sammennimmt, erstens  Cantonis  dreibändiges  Kant- Werk,  zweitens 
sein  Kompendium  der  Philosophie,  das  es  bis  zur  13.  resp.  (Bd.  2) 
9.  Auflage  gebracht  hat  und  als  das  beste  italienische  Gymnasial- 
Schulbuch  philosophischer  Propädeutik  entschieden  seinen  Namen 
und  seine  Denkungsart  in  die  breitesten  Kreise  getragen  hat,  und 
nun  endlich  diesen  Band  kleiner  Schriften,  so  hat  man  das  Mate- 
rial, nach  dem  auch  in  später  Zukunft  ein  zutreffendes  Bild  Can- 
tonis gezeichnet  werden  kann. 

Es  soll  hier  nicht  eine  gleichmässige  Inhaltsangabe  des  um- 
fangreichen Bandes  versucht  werden,  dessen  bunte  Mannigfaltigkeit 
von  Themen  in  vier  Abschnitte  gruppiert  ist:  1.  Geschichtliches. 
2.  Politisches.  3.  Akademisches.  4.  Verschiedenes.  Gewiss  wäre 
es  ja  nicht  uninteressant,  davon  Kenntnis  zu  nehmen,  wie  Cantoni 
schon  in  seiner  Dissertation  von  1862  über  die  Grenzen  seines 
Heimatlandes  hinausgeht,  damals  nach  Frankreich,  wie  hernach 
nach  Deutschland,  und  die  Philosophie  Theod.  Jouffroys  kritisch 
analysiert,  dabei  in  liebenswürdiger  Freiheit  und  Unbefangenheit 
der  Diktion    französische    Eleganz    mit    italienischer  Klarheit   ver- 


1)  Es  seien  aus  dieser  Bibliographie  hier  diejenigen  Arbeiten  heraus- 
gehoben, die  schon  in  ihrem  Thema  auf  Kant  Bezug  nehmen: 
Appunti   sulla   filosofia   di   Kant.      Quattro   letture   in  „Rendiconti  dell' 

Istituto  lombardo"  1873. 
I  precursori   di  Kant   nella   filosofia   moderna,  in  „Filosofia  delle  scuole 

italiane"  1877  (=  1.  Kap.  des  nachbenannten  Werkes). 
Emanuele    Kant.     1.  Bd.    Milano   Brigola    1879.  —  2.  Bd.    ebda.  1883.  — 

3.  Bd.   Milano,    Hoepli    (con   ristanipa   dei   due    voll,  precedenti). 

1884. 
Kantiana  in  „Cultura"  Roma,  Vallardi.     1884. 

Über  Werner  „Kant  in  Italien"  in  „Filosofia  delle  scuole  italiane"    1884. 
Studii   Kantiani   in    „Rivista   filosofica"    Pavia.      1901   fasc.   5»   u.    1902 

fasc.  P  3". 
L'aprioritä   dello   spazio   nella  dottrina   critica  di  Kant  in  „Rivista  filo- 
sofica" 1904  (in  französ,  Übersetzung  in  Revue  de  metaphysique 

et  de  m orale.     Mai,  Juni  1904). 
Emanuele   Kant,    2.  Aufl.   des    1.  Bandes   (posthum).     Mit  Vorwort  von 

Luigi  Credaro.     Torino.     Bocca.     1907.     XIX,  346  p.  in  8. 


Carlo  Cantoni  zum  Gedächtnis.  181 

bindencl;  wie  er  im  Anschluss  an  Äusserung-en  über  Bellini  und 
Verdi  nmsikästhetische  und  „musikalisch-psycholog-ische"  Frag-eu 
aufwirft,  wie  er  auch  auf  rechtsphilosophischem  Boden  sich  sicher 
bewegt  (kritische  Inhaltsaugabe  eines  Buches  von  Eugen  Florian 
„la  nuova  psicologia  della  diffamazione",  Torino  1893);  oder 
wie  er  vor  Wählern,  die  ihn  aber  zu  seiner  Freude  dann  nicht 
gewählt  haben,  sein  politisches  Programm  entfaltet.  Indessen 
möchte  es  doch  geraten  sein,  hier  nur  auf  dasjenige  einzugehen, 
was  die  deutschen  Leser  an  der  Veröffentlichung  vorzugsweise 
interessiert.  Und  so  werden  wir  fragen,  was  wir  für  die  ge- 
schichtliche Beurteilung  italienischer  Philosophie  der  letzten  beiden 
Menschenalter  aus  diesem  Material  gewinnen  können,  ferner  welche 
Einblicke  wir  in  italienisches  Hochschulwesen  erhalten,  wobei  zu- 
gleich das  Urteil  des  Italieners  über  deutsches  Universitätsleben 
Interesse  bietet,  und  endlich,  um  auch  dem  speziellen  Charakter 
der  vorliegenden  Zeitschrift  Rechnung  zu  tragen,  inwiefern  Cantoni 
als  vornehmer  Vertreter  des  Kritizismus  in  Italien  zu  gelten  hat. 
Wegen  des  Allgemein-Biographischen  über  Cantoni  muss  auf 
die  dem  Werk  vorangestellte,  schon  erwähnte  Gedächtnisrede 
Vidaris  sowie  auf  die  in  Cantonis  Todesjahr  1906  in  seiner  eigenen 
Zeitschrift  Rivista  filosofica^)  über  ihn  veröffentlichten  Aufsätze 
hingewiesen  werden.  Nur  kurz  sei  der  Bequemlicjikeit  wegen, 
da  diese  Arbeiten  deutscheu  Lesern  nicht  ohne  weiteres  zugäng- 
lich sind,  zusammengefasst:  Cantoni  ist  1840  geboren  und  hat 
nach  vorübergehender  Tätigkeit  in  Turin  und  Mailand  28  Jahre 
lang  eine  philosophische  Professur  in  Pavia  bekleidet,  an  der  auf 
seine  eigene  Anregung  hin  durch  das  hochherzige  Legat  des  Medi- 
ziners Porta  wieder  ins  Leben  gerufenen  philosophischen  Fakultät, 
um  welche  die  Paveser  Universität  in  der  uapoleonischen  Zeit 
gekürzt  worden  war.     Entscheidend  für  seine  Arbeitsrichtung  war 

1}  Das  nach  seinem  Tode  ausgegebene  Heft  5  ist  fast  ganz  der  Er- 
innerung an  den  Gründer  und  Herausgeber  gewidmet.  Es  beginnt  mit 
der  Grabrede,  die  ihm  der  Präsident  des  R.  Istituto  Lombarde  di  Scienze 
e  Lettere,  der  Astronom  G.  Celoria,  gehalten  hat.  Celoria  hat  mit  Can- 
toni auf  derselben  Schulbank  gesessen  und  ist.  ihm  in  öOjähriger  Freund- 
schaft verbunden  geblieben.  Die  durch  feine  Knappheit  sich  auszeichnende 
Rede  enthält  daher  wertvolle  persönliche  Züge.  —  Alsdann  folgen  die 
Aufsätze :       B.  Varisco,  C.  Cantoni  e  la  teoria  della  conoscenza. 

A.  Faggi,  Cantoni  e  Vico. 

G.  Vidari,  La  morale  di  C.  Cantoni. 

A.  Piazzi,  Carlo  Cantoni  e  l'educazione  nazionale. 

12* 


1Ö2  H.  Dreyer, 

ein  Studienaufenthalt  in  Deutschland  (1865—66)  geworden,  wo  er 
in  Berlin  bei  Trendelenburg  und  besonders  in  Göttingen  bei  Lotze 
studierte,    durch    diesen  stark   und  bleibend  beeinflusst.     Von  hier 
rührt    wohl    auch    das   seine  Kantauffassung  begleitende  Missver- 
ständnis, dass  die  entsagungsvolle  Reinheit  gedanklicher  Abstraktion 
psychologisch    ergänzt,    vertieft   und    gestützt   werden  müsse.     In 
Italien    hatte  Cantoni  schon  vorher  drei  Lehrer  gehabt,    denen  er 
dankbares  Andenken  bewahrte,   Bertini,  Berti  und  Rayneri.     Über 
Gian  Battista  Rayneri,   der  in  der  Geschichte  des  piemontesischen 
Unterrichts  Wesens    durch    seine   pädagogischen  Reformen  der  50er 
Jahre    sich    einen    Namen  gemacht   hat,    äussert  Cantoni  sich  nur 
beiläufig,    während    wir   über  Bertini    und  über  Berti  in  zwei  be- 
sonderen Aufsätzen  unterrichtet  werden.     Gian  Maria  Bertini,  der 
still    zurückgezogene,    ängstliche  und    melancholische  Gelehrte  mit 
bleichem  schmalen  Angesicht,  philosophisch  wohl  der  bedeutendere, 
Domenico    Berti,    der    gew^andte  Forscher    mit  seiner  in  Italien  ja 
so  leicht  genährten  Leidenschaft,  alte  Dokumente  aufzufinden,  den 
seine  Studien  und  Vorlesungen  an  freimütiger  politischer  Betätigung 
nicht   hinderten,    die    ihn    zweimal   ins  ünterrichtsministeriLim  ge- 
führt  hat   und   schliesslich  zum  Sekretär  des  Mauritiusordens  em- 
porsteigen  liess.     An  Bertini  rühmt  Cantoni  die  grosse  Objektivi- 
tät   historischer  Darstellung,    die    nie  das  Bild  eines  Denkers  zu- 
gunsten eines  vorher  fertigen  System-Rahmens  beschneidet.     Über 
Bertinis  dogmatische  Grundauffassung,  dass  der  Geist  intuitiv  das 
Reale    an    sich    erfasst,  ist  Cantoni  durch  die  in  Deutschland  ihm 
nahetretenden    kritischen    Probleme    bald    hinausgeführt    worden. 
In    der   kirchlich-rehgiöseu  Frage,   die   in   Italien    eine   so  grosse 
Rolle    spielt    und    deren    Verantwortung    bei    dem  Mangel  theolo- 
gischer  Fakultäten     gerade    der   Philosoph    sich   nicht    entziehen 
kann,  ist  Bertini  selbst  vom  katholischen  Dogmatismus  (in  Filosofia 
della  vita  1850)  in  seinen  späteren  die  religiöse  Frage  behandeln- 
den Schriften,  in  seinen  vier  Briefen  über  das  katholische  System, 
in    seinem    letzten    Buch    II  Vaticano   e   lo  Stato,    zu    einer   frei- 
mütigen, unabhängigen,  ja  gegenüber  dem  Vatikan  recht  entschie- 
denen   Haltung    übergegangen,    mit    besonderem    Nachdruck    den 
Schwerpunkt    seiner   Bedenken    und  Vorschläge    auf   das    Kapitel 
der   religiösen   Erziehung   legend,    eine   Haltung,    in    der   Cantoni 
seinem  Lehrer  nur  anerkennend  folgen  konnte. 

Besondere  Anerkennung  literarischer  oder  sonstiger  Art  hat 
Bertini,    abgesehen  von  der  Dankbarkeit   seiner  Schüler,  nicht  ge- 


Carlo  Cantoni  zum  Gedächtnis.  183 

fluiden.  Darin  wenigstens  hat  ihn  der  Weltmann  und  Minister 
Domenico  Berti  reichlich  übertroffen.  Die  Gedächtnisrede,  die 
Cantoni  in  der  königlichen  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Turin 
diesem  seinem  zweiten  Lehrer  gewidmet  hat,  ist  kürzer  gefasst, 
als  die  ausführliche,  systematisch  geordnete  Arbeit  über  Bertini, 
doch  giebt  sie  uns  einen  fein  erwogenen  Überblick  über  die  öffent- 
liche Tätigkeit  des  Mannes  und  eine  knappe  Analyse  seiner 
Schriften.  Auch  Berti  bekämpft  die  gesamte  päpstliche  Politik, 
die  nachmals  mit  dem  Namen  Vaticanismus  bezeichnet  wurde, 
nicht  aus  Feindschaft  oder  Indifferenz  gegen  die  Religion,  sondern  in 
deren  eigenem  Interesse.  Der  religiöse  Glaube,  meint  er,  müsse  sich 
mit  der  Freiheit  verbinden.  Und  wirklich  scheint  ja  Berti  unbe- 
schadet seines  Katholizismus  und  seiner  Gläubigkeit  eine  sympa- 
thische Vorliebe  für  die  Häretiker  und  von  der  Kirche  Verfolgten 
gehabt  zu  haben.  Wenigstens  zeigen  das  seine  auf  eigenen  Quellen- 
studien beruhenden  Untersuchungen  über  Giordano  Bruno,  über  Cam- 
panella, über  Pomponatius,  über  Galilei.  Cantoni  hat  aufgrund 
einer  solchen  Publikation  über  Giordano  Bruno  ein  formvollendetes 
Lebens-  und  Charakterbild  dieses  unrastvollen  Feuergeistes  um- 
rissen,^) das  wohl  eine  Übertragung  ins  Deutsche  verdient  hätte. 
Ein  ins  neunzehnte  Jahrhundert  und  ins  Politische,  Sozial- 
politische übersetzter  Bruno,  der  allerdings  nicht  verbrannt  wurde, 
aber  als  ein  von  selbstbereitetem  Schicksal  hin  und  her  Geworfener, 
sich  schhesslich  am  eigenen  inneren  Feuer  schnell  verzehrt  hat, 
war  Giuseppe  Ferrari.  Es  verdient  besonders  hervorgehoben  zu 
werden,  dass  Cantoni  es  fertig  bringt,  durch  seine  eingehende  und 
dem  seltsamen  Lebensrhythmus  Ferraris  auch  formell  fein  auge- 
passte  Studie  uns  in  ein  näheres  und  zwar  freundliches  Verhält- 
nis zu  diesem  ihm  persönlich  gewiss  nicht  von  vornherein  sympa- 
tischen  Charakter  zu  bringen.  Die  impulsive  Art  Ferraris,  die 
das  Tendenziöse  und  Agitatorische  selbst  in  den  wissenschaftlichen, 
philosophischen  und  historischen  Arbeiten  selten  ganz  verleugnete, 
die  ihn  der  Überzeugung  leben  liess,  dass  es  in  der  Wissenschaft 
Skandal  geben  müsse,  war  gewiss  nicht  Cantouis  Sache.  Aber 
Cantoni  lässt  uns  das  dramatisch  bewegte  Leben  Ferraris  mit 
Spannung   und    Teilnahme    verfolgen.      Von  Frankreich  her  hatte 

')  Nicht  ohne  dabei  auf  die  einschlägigen  Arbeiten  Feiice  Toccos, 
seines  Nachfolgers  auf  dem  Titelblatt  der  Kantstudien,  hinzuweisen,  soweit 
sie  damals  erschienen  waren ;  in  der  Folge  sehen  wir  ja  Tocco  als  Heraus- 
geber der  grossen,  von  F.  Fiorentino  begonnenen,  Bruno-Ausgabe. 


184  H.  Dreyer, 

dieser  das  Heil  für  Italien  erhofft:  Qu' est  ce  donc  la  I'>ance  pour 
ritalie?    Elle  est  plus  qu'une  iiatiou:  c'est  uue  religiou;  j'ai  droit 
de  le  dire,  et  j'aurai  l'houneur  de  lui  rester  toujours  fidele.     Wir 
wundern  uns  deshalb  nicht,   dass  Ferrari  bei  solcher  Vorliebe  für 
das  Land  der  Revolution   und   der  Freiheit  sich  für  einen  grossen 
Teil  seines  Lebens  zum  Franzosen  gemacht  hat.     Aber  er  ist  von 
seiner  freiwilligen  Verbannung   nach  Frankreich,    dem  Elsass,    der 
Schweiz,  schliesslich  wieder  in  die  Heimat  zurückgekehrt,    der   er 
doch  auch  als  Abwesender   in    seinem    Herzen    und   auch  was  die 
Gegenstände  seines  schriftstellerischen  Interesses  betraf,   nie  ganz 
untreu    geworden     war.       Cantonis     liebevollen    Analysen    seiner 
nimmermüden   Publizistik   sind    uns    umso   wertvoller,    als    gewiss 
nicht   so   leicht   einer   dieses  umfassende  Material  aufs  neue  ganz 
durcharbeiten  wird.     Dafür  enthält  es  doch  wohl  zuviel  Paradoxes 
und   nur   für  jene   Zeit   Bedeutendes   neben    allem  Genialen    und 
Tiefen,    das   Ferrari    so    weit   über    den    Durchschnitt   emporhob. 
Das  Andenken    und    die   Nachwirkung    des    freimütigen  und  stets 
offenen  Charakters,  welcher  allzulebhaft  und  dabei  wohl  ungerecht, 
nie  aber  malitiös  und  ironisch  werden  konnte,   wird  auch  so  noch 
lange  lebendig  bleiben.    Von  den  rein  wissenschaftlichen  Leistungen 
Ferraris   giebt  Cantoni  seiner  vortrefflichen  A^ico- Ausgabe,    die  er 
als   26j ähriger   veranstaltete,    sowie    von    den    späteren    Arbeiten 
seiner  Filosofia   della   Rivoluzione    (1851.  ^1873)    das  meiste  Lob. 
An    seinem    philosophischen  System   hebt  er  hervor,    dass  Ferrari 
in    seiner  Theorie    des  Gefühls  jedenfalls  seiner  Zeit  voraus  war. 
Auch   ist  Ferraris    antiutilitaristische  Auffassung  der  Beziehungen 
des  Interesses  zur  Tugend  um  ihrer  klaren  Entschiedenheit  willen 
bedeutsam:  Tugend  ist  das,  wozu  uns  nicht  das  Interesse  treibt 
(Generosität,    Gastlichkeit,    Mut,    Redlichkeit,    Bewunderung,    Ge- 
meinsinn). 

Was  wir  sonst  beiläufig  über  die  Geschichte  italienischer 
Philosophie  des  neunzehnten  Jahrhunderts  aus  Cantonis  Arbeiten 
entnehmen  dürfen,  kann  hier  nur  angedeutet  werden.^)  Galluppi 
ist  ihm,  wenn  wir  von  der  vorausgegangenen  glänzenden  Er- 
scheinung des  doch  nur  auf  dem  Gebiet  der  Geschichtsphilosophie 
wirklich  selbständigen  Vico  absehen,  der  erste  originelle  Philosoph 
seit  der  Renaissance,    der  erste,    der   sich  von  dem  scholastischen 


1)  Es  sei  ganz  besonders  auf  den  Umriss  S.  247— 250  der  Scritti  vari 
hingewiesen, 


Carlo  Cantoni  zum  Gedächtnis.  185 

Schematismus  völlig-  frei  macht.  Dann  folgt  das  leuchtende  Drei- 
gestirn Rosmini,  Gioberti,  Maraiani.^)  Rosmini^)  ist  wohl  der  be- 
deutendste Denker  seiner  Zeit,  nur  leider  kirchlich  etwas  zu 
conciliant  und  hinterlässt  bei  dem  schwierigen  Bestreben,  seine 
Gedankenfreiheit  mit  dem  hl.  Thomas  in  Einklang-  zu  bring-en, 
nach  beiden  Seiten  hin  keinen  voll  befriedigenden  Eindruck.  Gio- 
berti,  der  italienische  Hegel,  schliesslich  doch  mehr  durch  seine 
politischen  Bestrebungen  und  Leistungen  als  durch  seine  rein 
wissenschaftlichen  Arbeiten  von  weitreichender  Wirkung-.  Und 
Mamiaui,  der,  von  kirchlichen  und  scholastischen  Rücksichten  frei, 
auf  der  Basis  des  dogmatischen  Rationalismus  ein  strenges  System 
zu  bauen  unternahm  gerade  in  einer  Zeit,  da  die  Abneigung  gegen 
die  Metaphysik  in  Italien  und  in  ganz  Europa  besonders  lebhaft 
war.  Keiner  von  den  dreien  hat  schliesslich  eine  nachhaltige 
Schulwirkung  gehabt.  Aber  für  ein  erneutes  und  vertieftes  Ein- 
gehen auf  die  Probleme  des  Kantischen  Kritizismus  haben  sie 
nicht  unwesentlich  positiv  und  negativ  vorgearbeitet. 

Zeigt  sich  in  den  vier  genannten  biographischen  Essays 
Cantoni  als  feinsinniger  und  formal  gewandter  Historiker,  so  ist 
ein  noch  grösserer  Teil  der  in  dem  jüngst  veröffentlichten  Bande 
vereinigten  kleineu  Schriften  geeignet,  seine  Bedeutung  für  das 
italienische  höhere  Unterrichtswesen  in  ein  helles  Licht  zu  stellen. 
Die  „akademische  Frage"  war  für  ihn  eine  Lebensfrage.  Er  war 
ein  Gegner  des  französischen  Systems  der  völlig  von  einander 
getrennten  Fakultäten.  Er  hat  diese  seine  Anschauung  philoso- 
phisch und  durch  den  Hinweis  auf  die  Grenzgebiete  begründet 
und  schöne  Worte  über  die  bleibende  Bedeutung  der  Philosophie 
als  Repräsentantin  einer  wirklichen  Universitas  litterarum  gegen- 
über der  nicht  unbedenklich  zunehmenden  Isolierung  der  einzelnen 
Wissenschaften  gesprochen.  Er  ist  auch  selbst  in  organisatorischer 
Arbeit  dafür  tätig  gewesen,  dass  der  Streit  der  Fakultäten  in  der 
höheren  Einheit  seine  Schlichtung  fände.  Es  wurde  oben  bei- 
läufig schon  bemerkt,  dass  wesentlich  mit  auf  seine  Anregung  hin 
die  Reintegration  der  Universität  erfolgt  ist,  welcher  er  dann 
dauernd  angehört  hat.    Die  Frage,  ob  Fachhochschule  oder  wissen- 


^)  Über  die  politische  Bedeutung  dieser  Männer  vgl.  Franz  Xaver 
Kraus  „Die  Erhebung  Italiens  im  19.  Jahrhundert,  Cavour",  Mainz  1902, 
wo  sich  auch  Porträts  der  Genannten  und  Literaturangaben  finden. 

2)  F.  X.  Kraus,  Essays  I,  87  f.,  Berlin  1896. 


186  H.  Dreyer, 

schaftliche  Hochschule,  hat  er  in  mehreren  Schriften  zugunsten 
der  letzteren  beantwortet, 

Cantoni  hat  wiederholt  bekannt,  dass  die  in  Deutschland 
empfangenen  Eindrücke  ihm  die  Überzeugung  von  der  Möglichkeit 
und  Notwendigkeit  einer  Hebung  italienischen  Universitätslebens 
eingeprägt  haben.  Es  schmerzt  ihn,  dass  die  doch  einst  nach 
italienischem  Vorbild  eingerichteten  deutschen  Hochschulen  einen 
solchen  Vorsprung  haben,  sie  scheinen  ihm  so  voll  frischen 
Lebens,  wie  man  das  von  den  Anstalten  des  eigenen  Landes  nicht 
sagen  kann.  Das  sagt  er,  obwohl  er  auch  in  Deutschland  Partei- 
geist, Pedanterie  und  Dogmatismus  gefunden  hat.  Aber  er  hat 
richtig  herausgefühlt,  dass  unter  dieser  Kruste  doch  wirkliches 
wissenschaftliches  Leben  pulsiert. 

Seine  Gedanken  und  Vorschläge  knüpft  Cantoni  an  eine  Be- 
sprechung des  bekannten,  für  die  Ausstellung  in  Chicago  1893 
veranstalteten  zweibändigen  Werkes:  „Die  deutschen  Universi- 
täten" (Unter  Mitwirkung  zahlreicher  Universitätslehrer  heraus- 
gegeben von  W.  Lexis)  an,  dabei  auch  die  in  der  Akademischen 
Revue,  Zeitschrift  für  das  internationale  Hochschulwesen  1895  bis 
1897^)  niedergelegten  Materialien  benutzend. 

Die  Meinung,  dass  die  deutschen  Studenten  im  allgemeinen 
fleissiger  und  disziplinierter  seien,  als  die  italienischen,  hält 
Cantoni  nur  teilweise  für  begründet.  Die  Art  des  Arbeitens  ist 
allerdings  eine  verschiedene.  In  Italien  giebt  es  mehr  Examina 
und  deshalb  weniger  Lernfreiheit,  auch  wird  wohl  mehr  um  des 
Zeugnisses  willen  als  um  des  Studiums  selber  willen  studiert.  Die 
Wahl  der  Universität  steht  dem  Studenten  nicht  frei,  was  er  zu- 
mal bei  dem  Vorhandensein  der  vielen  kleinen  Universitäten,  die 
nicht  über  bedeutende  Lehrkräfte  verfügen,  für  nachteilig  hält. 
Auf  den  deutschen  Universitäten  ist  Cantoni  die  grosse  Mannig- 
faltigkeit von  Vorlesungsthemen  erfreulich  aufgefallen,  während  in 
Italien  vielfach  nur  die  Haupt-  und  Pflicht- Collegien  in  regel- 
mässigem Turnus  gelesen  werden.  Privatdozenten  giebt  es  nur 
ausnahmsweise  und  gerade  diese  pflegen  ja  in  der  Tat  mancherlei 
Abwechslung  in  den  Lehrplan  zu  bringen.  Zusammenfassend  hebt 
Cantoni  an  den  deutschen  Universitäten  ein  Zweifaches  rühmend 
hervor.     Erstlich,   sie  dienten  der  Pflege  reiner  Wissenschaft  und 


1)  Es  ist  dies  die  Zeitschrift,  welche  sich  dann  in  die  bescheideneren 
Hochschulnachrichten  verwandelt  hat, 


Carlo  Cantoni  zum  Gedächtnis.  187 

doch  zugleich  der  praktischen  Vorbildung  für  mannigfaltige  Berufe 
auch  mittleren  Grades.  Zweitens,  die  Mittel  seien  reichlicher 
vorhanden,  als  in  Italien,  und  seien  vor  allem  gerechter  verteilt. 
Für  Cantoni  erschöpft  sich  das  pädagogische  Interesse  natür- 
lich nicht  mit  den  LTniversitätsfragen.  Den  Mittelschulen  hat  er 
ja  ein  so  wertvolles  Schulbuch  geschenkt.  Das  deutsche  Gym- 
nasium erscheint  ihm  übrigens  weniger  vorbildlich  und  wirkungs- 
voll als  die  deutsche  Universität.  Was  schliesslich  das  Yolks- 
schulwesen  betrifft,  so  würde  der  Italiener,  bei  dem  notorisch  so 
grossen  Prozentsatz  von  Analphabeten  in  seinem  Lande,  die  deut- 
schen Verhältnisse  eher  zu  rühmen  gehabt  haben.  Selbstbewusst, 
doch  nicht  ungerecht,  schätzt  er  aber  sein  Volk  ein:  „Mir  schien 
es  immer,  so  misslich  es  auch  ist,  über  solche  Dinge  ein  kurzes 
Urteil  zu  fällen,  dass  das  niedere  Volk  in  Deutschland  und  spe- 
ziell auf  dem  Lande,  obwohl  es  lesen  und  schreiben  kann,  tiefer 
steht  als  unsere  Analphabeten"  (S.  491).  Und  dann  meint  Can- 
toni, diejenigen,  die  lesen  lernen,  sollten  auch  etwas  Gutes  zu 
lesen  haben,  woraus  den  educati,  den  Gebildeten,  die  selbst 
schriftstellerisch  tätig  sein  können,  eine  besondere  Pflicht  er- 
wachse. 

Es  war  Cantoni  ein  besonderes  Lebensanliegen,  auf  dem 
Gebiet  der  Pädagogik,  dass  wir  so  sagen  dürfen,  der  pädago- 
gischen Politik,  anregend  zu  wirken.  Er  wünscht  direkt,  es 
möchten  sich  einige  pädagogische  Parteien  in  Italien  bilden,  der 
Kampf  sei  fruchtbar.  Und  der  Regierung  wünscht  er  etwas  mehr 
Stetigkeit.  Die  Unterrichts-Reglements  wechselten  jetzt  zu  leicht 
und  zu  schnell  in  Italien.  Im  allgemeinen  gebe  es  folgende  Ge- 
fahren für  die  Schule:  die  Staatstyrannei,  den  Asketismus  (kirch- 
lichen Dogmatismus),  den  Utilitarismus  und,  dass  man  der  Schul- 
bildung einen  lediglich  dekorativen  Zweck  zubillige.  Zweimal  im 
Laufe  der  Weltgeschichte  sei  Italien  kulturführend  gewesen. 
Wir  teilen  gewiss  Cantonis  Wunsch,  dass  es  jetzt  wenigstens  den 
Vorsprung  einholt,  den  andere  Nationen  gewonnen  haben. 

Eine  besonders  schwere  Hemmung  liegt  für  dieses  bevorzugte 
Land  mit  seiner  begabten  Bevölkerung  in  der  religiösen  Frage. 
Politisch  liberal,  wie  sich  das  für  den  fast  von  selbst  versteht, 
der  Cavours  grosse  Zeit  in  nächster  Nähe  mit  erlebte,  ist  Cantoni 
um  diese  heikle  Frage  nicht  herumgegangen,  sondern  hat  sie,  in 
getreuer  Nachfolge  seiner  Lehrer  Bertini  und  Berti,  herzhaft  auf- 
gegriffen.    Es   verschlug   ihm    nichts,    dass    es   für   viele  als  ein 


188  H.  Dreyer, 

Zeichen  schlechten  Geschmackes  gilt,  über  diese  Dinge  zu  reden. 
Er  hat  den  Stier  bei  den  Hörnern  gepackt  und  auch  öffentlich 
wiederholt  diese  Frage  behandelt.  In  Deutschland  kann  man  oft 
das  Urteil  hören,  dass  die  Italiener  eigentlich  für  Religiosität  nicht 
veranlagt  seien.  Es  fehle  ihnen  die  Innerlichkeit,  wie  ja  auch 
der  geringe  Anklang  beweise,  den  die  deutsche  Eeforaiation  jen- 
seits der  Alpen  gefunden  hat.  Im  besten  Falle  erscheine  bei 
diesen  Formkünstlern  das  religiöse  und  das  moralische  Gefühl  als 
Form  des  ästhetischen  Gefühles.  Cantoni  teilt  diese  Meinung, 
die  auch  in  Italien  viel  Anklang  findet,  nicht;  oder  nicht  unbe- 
dingt. Die  Italiener  mögen  ja  von  Haus  aus  Gegner  des  Mysti- 
zismus sein.  Das  wäre  indes  nur  eine  von  verschiedenen  mög- 
lichen Formen  der  Religion.  Und  wie  die  Philosophie  nach  Can- 
tonis  Meinung  in  gleicher  Weise  gegen  theologischen  Dogmatismus, 
gegen  Materialisoius,  gegen  religiöse  Indifferenz  zu  kämpfen  hat, 
so  ist  es  positiv  Pflicht  philosophischer  Erziehung,  Respekt  vor 
dem  religiösen  Gefühl  zu  wecken.  In  einer  besonders  feinen  ana- 
lytischen Arbeit,  einem  anatomischen  Präparat  vergleichbar,  legt 
Cantoni  die  verschiedenen  gesunden  und  ungesunden  Erscheinungs- 
formen der  in  der  italienischen  Gesellschaft  sich  zeigenden  Reli- 
giosität auseinander  (S.  349  ff.).  „Ich  bin  der  Meinung,  dass 
alle  wirklich  grossen  Völker  religiös  waren  und  religiös  sind. 
Aber  die  Religion,  wie  sie  in  unseren  Tagen  verstanden  werden 
muss,  ist  wesentlich  Reinheit  der  Sitten,  Tendenz  zum  Idealen, 
Sehnsucht  nach  dem  Unendlichen  (S.  446).  Die  wahre  Religion 
ist  ein  razionalismo  generöse  e  credente,  ein  Dienst  der  Wahr- 
heit, Menschenwürde;  Gottesglaube  und  Unsterblichkeit  die  einzigen 
Dogmen ;  noch  unausgemacht  ist,  wieviel  Anteil  an  dieser  Zukunfts- 
religion das  Christentum  hat.  Solcher  von  Cantoni  selbst  bekannten 
wahren  Religion  kommt  relativ  am  nächsten  das  liberale  Christen- 
tum, etwa  wie  es  von  Gioberti  vertreten  wurde,  ein  Christentum 
der  Moralität  und  Humanität.  Dagegen  finden  die  Versuche,  den 
orthodoxen  Katholizismus  mit  dem  Liberalismus  zu  vereinigen,  bei 
Cantoni  wenig  Anerkennung,  während  der  politische  Katholizismus 
in  allen  seinen  Formen  ebenso  wie  die  Indifferenz  und  der  Un- 
glaube ihm  als  die  eigentlichen  Gegner  wahrer  Religion  erscheinen. 
Die  negative  Kirchenpolitik  religiöser  Indifferenz,  welche  die  ita- 
lienische Regierung  vertrat  und  —  wenn  man  gerecht  sein  will, 
notgedrungen  —  noch  vertritt,  findet  daher  durchaus  nicht 
seine  Billigung:    „Man  kann  nicht  erziehen,   ohne  hohe  moralische 


Carlo  Cantoni  zum  Gedächtnis.  189 

Prinzipien.  Nun,  was  sind  denn  die  moralischen  Prinzipien, 
welche  in  seinen  Unterrichtsprogrammen  der  italienische  Staat  zu 
bekennen  vorgiebt?  Keine!  Von  dem  richtigen  Prinzip  aus,  dass 
der  Staat  gegenüber  den  verschiedenen  religiösen  Konfessionen 
indifferent  sein  müsse,  sind  wir  bei  dem  Prinzip  angelangt,  dass 
der  Staat  jeder  religiösen  Idee,  folglich  auch  jedem  höheren  Be- 
griff, jeder  Idealität  gegenüber  indifferent  sein  müsse;  denn  mag 
immer  die  Religion  nach  unserer  Meinung  der  Moral  untergeordnet 
sein,  so  kann  diese  in  einem  Volk  doch  nicht  bestehen,  ohne  jene. 
Bei  uns  dagegen  ist  auch  unter  Männern  von  nicht  geringer  Be- 
deutung die  seltsame  Idee  aufgetaucht,  unsere  Jugend  moralisch 
zu  erziehen  und  sie  so  auf  die  höchsten  und  schwersten  Kämpfe 
des  modernen  Lebens,  durch  die  lateinischen  und  griechischen 
Klassiker,  durch  die  Ausgrabungen  des  forum  romanum  vorzube- 
reiten" (S.  698  f.).  Cantoni  ist  also  von  Radikalismus  weit  ent- 
fernt. Vielleicht  waren  auch  die  ihm  in  Italien  entgegengetretenen 
Versuche  eines  nicht-religiösen  Moral-Unterrichtes  besonders  un- 
geschickt. 

Auch  über  seine  politischen  Anschauungen  kann  man  sich 
aus  dem  Bande  gesammelter  Schriften  genaue  Auskunft  erholen, 
da  er  das  im  Mai  1886  vor  einer  Wahlversammlung  entwickelte 
vollständige  Programm  und  ausserdem  genug  einzelne  Äusserungen 
politischer  Art  enthält.  Für  uns  darf  seine  Stellung  zur  Bünduis- 
frage  von  Interesse  sein,  die  er  in  einem  Artikel  der  Nuova  Anto- 
logia  1901  „Über  den  Dreibund"  sehr  ausführlich  dargelegt  hat. 
Gerade  heute,  da  in  Italien  mit  einer  Abneigung  gegen  öster- 
reichisches und  „folglich"  auch  gegen  deutsches  Wesen  eine  Über- 
schätzung des  Französischen  Hand  in  Hand  geht,  könnte  man  von 
Cantonis  feinen  und  besonnenen  Ausführungen  noch  viel  hier 
lernen.  Er  weist  au  der  Hand  einer  Fülle  von  Einzelzügen  über- 
zeugend nach,  dass  Stammesverwandtschaft  der  Völker,  sprach- 
liche Zusammengehörigkeit  und  ökonomische  Beziehungen,  wie  sie 
ohne  Zweifel  Frankreich  und  Italien  enger  verbinden,  nicht  unbe- 
dingt für  ein  Bündnis  sprechen.  Im  Gegenteil  pflegt  hierdurch 
die  Reibungsfläche  leicht  vergrössert  zu  werden,  wie  ja  auch  im 
privaten  Leben  zwischen  nahen  Verwandten  nicht  immer  die 
bessere  Freundschaft  besteht.  Ganz  abgesehen  davon,  dass  in 
Nordafrika  und  Corsika  auch  direkte  Konfliktsmöglichkeiten  latent 
sind.  Entscheidend  für  ein  Bündnis  ist  nach  Cantoni  vielmehr 
nur   die   allgemeine    europäische  Politik,    die    geographische  Lage 


190  H.  Dreyer, 

und  die  kulturelle  Position  der  betreffenden  Völker.  Und  in 
dieser  Hinsicht  ist  Deutschland  und  nicht  Frankreich  der  gewiesene 
Verbündete  für  Italien. 

Eine  erfreuliche  Frucht   der  deutschen  Studiensemester  Can- 
tonis    und    der   dadurch  ermöglichten  Kenntnis  deutscher  Eigenart 
werden    auch    diese    politischen  Überzeugungen    genannt    werden 
dürfen.     Noch  wichtiger  für  uns  ist  ein  anderes,    das   er  mit  über 
die    Alpen    zurückgenommen    hat:    seine    genaue  Vertrautheit   mit 
der   deutschen  Sprache.    Sie  ermöglichte  ihm,    die  deutsche  Philo- 
sophie   und    speziell   die  Kantische  Philosophie    nach  den  Quellen 
zu   studieren.     Schon    in    seiner  Dissertation   von  1862,    also    vor 
der  Reise    nach   Deutschland,    hatte    er    anerkennende  Worte  für 
die  deutsche  Philosophie  gefunden.    Und  dass  man  überhaupt  auch 
im    Ausland    nicht   Philosophie    studiereren  kann,    ohne    mit    dem 
Alten  vom  Königsberge  geistig  Fühlung  zu  nehmen,  versteht  sich 
ja   von    selbst.     Ein    anderes    aber   ist  es,    Kant  aus  zweiter  und 
dritter  Hand   zu  kennen,   ein  anderes,  ihn  so  nahe  an  den  Mittel- 
punkt seiner  wissenschaftlichen  Lebensaufgabe  heranzurücken,  wie 
das  Cantoni  getan  hat.     Disciplinae  Kautianae  interpres  subtilissi- 
mus    Existimator    integerrimus    Defensor    acerrimus    Amplificator 
iugeniosissimus :    so    hat   ihn    die  Königsberger  Fakultät  im  Jubi- 
läumsjahr  im    elogium    des    Ehrendoktordiploms    genannt.     Schon 
seine    erste    Arbeit,    die  er  nach    der   Rückkehr    aus  Deutschland 
veröffentlicht,    die    kritischen    und    vergleichenden    Studien    über 
G.  B.  Vico  (1867)    sind   als  Reaktion   gegen    die  Metaphysik    des 
Absoluten    zu    verstehen.      Kant    oder    wenigstens    das   kritische 
Problem  stand  dann  dauernd  mit  im  Vordergrund  seines  Interesses 
und  über  der  neuen  Ausgabe  seines  für  die  der  deutschen  Sprache 
nicht   kundigen   Italiener   grundlegenden  Kant-Werkes   ist   er   ge- 
storben.    Auch    der   von   der  Witwe    uns  jetzt   geschenkte  Band 
gesammelter  Schriften   enthält  wenigstens    ganz  am  Schluss  einen 
kleinen  Kant-Aufsatz,    in  welchem    Cantoni   für  seine  eigene  Zeit- 
schrift nach  knapper  Charakterisierung  von  Kants  Eigenart  einen 
Bericht    über    den    Verlauf    der     Köuigsberger    Jahrhundertfeier 
giebt,  an  der  er  selbst  nur  aus  gesundheitlichen  und  klimatischen 
Rücksichten  nicht  hat  teilnehmen  können,  und  schliesslich  von  der 
Gründung   der   Kant-Gesellschaft   seineu   italienischen  Lesern    er- 
zählt.    Um    hier   doch  wenigstens   eine  kleine  Probe  der  Art  und 
Weise  zu  geben,  wie  Cantoni  seine  Leser  mit  Kant  zu  befreunden 
verstand,    sei   aus    dem    genannten  Aufsatz  ein  Passus  zitiert,    in 


Carlo  Cantoni  zum  Gedächtnis.  191 

dem  die  angeblich  zwischen  der  reinen  und  der  praktischen  Ver- 
nunft bestehenden  Widersprüche  zurückgewiesen  werden:  „ —  als 
ob  es  ein  Widerspruch  wäre,  zu  sagen,  dass  einer,  der  gegen 
Nord  wandert,  an  den  Fuss  eines  völlig  unzugänglichen  Gebirges 
gelangt,  so  unzugänglich,  dass  er  nie  erfahren  wird,  was  jenseits 
desselben  sein  mag,  ja  nicht  einmal,  ob  da  noch  etwas  ist;  wohin- 
gegen er,  seine  Schritte  nach  Süden  wendend,  an  ein  offenes 
unendliches  Meer  kommt,  wo  ein  strahlender  Leuchtturm  sich  er- 
hebt, vor  dem  alles  andere  erbleicht.  Dieser  Leuchtturm  ist  das 
moralische  Gesetz,  dessen  Begriff  sich  als  ragende  Säule  erhebt 
und  bei  allem,  was  die  Kautische  Kritik  zerstören  und  negieren 
mag,  fest  steht  und  auch  künftig  so  stehen  bleiben  wird  als  das 
Einzige  in  der  Welt,  das  absoluten  Wert  hat"  (S.  707). 

Wie  Cantoni  des  Näheren  die  Philosophie  Kants  ins  Italie- 
nische übersetzt  hat,  würde  mau  aus  seinem  grossen  Kant-Werke^) 
zu  ermitteln  haben,  das,  wie  es  die  italienischen  Leser  nun  einmal 
gern  sehen  und  wie  das  übrigens  alter  italienischer  Tradition  ent- 
spricht, in  einzelnen  Abschnitten  in  Dialogform  geschrieben  ist, 
Vidari  vergleicht  ihn  hinsichtlich  einer  gewissen,  vielleicht  auf 
Lotze  zurückgehenden,  monadologischen  Tendenz  mit  Renouvier, 
der  ja  auch  von  Kant  ausging,  um  ihn  dann  fortzubilden.  Am- 
plificator  ingeniosissimus!  Von  den  kleineren  x^rbeiten  über  Kan- 
tische Philosophie  ist  in  der  jetzt  veranstalteten  Sammlung  von 
Schriften  keine  wieder  abgedruckt  worden,  vielleicht,  weil  man 
annahm,  dass  ihre  Hauptgedanken  in  dem  grossen  Kantbuch  ver- 
arbeitet und  schon  dadurch  der  Vergessenheit  entzogen  sind.  In- 
sofern darf  man  also  in  dieser  Sammlung  nicht  das  Wesentliche 
von  dem  zu  finden  hoffen,  was  Cantoni  wissenschaftlich  interes- 
sierte. Aber  es  kann  ja  nicht  anders  sein:  wer,  wie  er,  sich  in 
Kant  eingelebt  hat,  wer  sich  seine  Lehre,  oder,  wie  er  es  lieber 
ausgedrückt  haben  würde,  die  Tendenzen  des  Kritizismus  zu  eigen 
gemacht  hat,  der  kommt  auch  von  abgelegenen  Punkten  aus  leicht 
darauf  zurück.  Und  insofern  ist  der  über  700  Quartseiten 
starke  Band  gesammelter  Schriften,  obwohl  fast  nichts  Kantisches 
enthaltend,  doch  ein  Beweis,  dass  zwischen  Kant  und  Cantoni 
mehr  als  eine  Namen-Ähnlichkeit  bestand. 

Die  Accademia  dei  Lincei  hat  im  Jahre  1886  Carlo  Cantoni 
wegen  seines  Kant-Werkes  den  königlichen  Preis  für  Philosophie 

1)  A.  Faggi  in  Rivista  filos.  1906  S.  593  bezeichnet  dieses  Werk  ge- 
radezu als  ein  Glaubensbekenntnis  Cantonis. 


192  H.  Dreyei*, 

erteilt;  die  Kommission,  auf  welche  diese  Entscheidung  sich  zu- 
rückführt, setzte  sich  aus  Domenico  Berti,  Ruggero  Bonghi,  Fran- 
cesco Bonatelli,  Augusto  Conti  und  Luigi  Ferri  (Berichterstatter) 
zusammen.  Das  Urteil,  welches  von  diesen  erlauchten  itaUenischen 
Gelehrten  in  Gegenwart  der  königlichen  Majestäten  verlesen  wurde, 
hat  Credaro  in  seinem  Vorwort  zur  posthumen  zweiten  Auflage 
von  Cantonis  Kant-Werk  (Bd.  I)  zum  Abdruck  gebracht.  Da  es 
sich  jedenfalls  um  ein  formell  und  inhaltlich  interessantes  Doku- 
ment handelt,  mag  es  zum  Schluss  dieser  Cantonis  Gedächtnis 
gewidmeten  Zeilen  auch  in  den  Kantstudien  seine  Stelle  finden: 

„Die  3  Bände  Cantonis  umfassen  ausser  dem  Leben  und  der 
Zeit  Kants  die  Lehren,  welche  den  seinigen  vorausgegangen  sind, 
und  nachdem  sie  uns  die  Kantische  Philosophie  in  ihrem  ganzen 
Umfang  vorgeführt  haben,  fassen  sie  das  Behandelte  in  einem 
ausführlichen  Schluss  zusammen  und  ergänzen  es  durch  einen 
synthetischen  Blick  auf  die  nachfolgende  Gedankenentwicklung. 

Um  den  Forderungen  seines  Themas  zu  entsprechen,  musste 
Cantoni  eine  dreifache  Tätigkeit  auf  sich  nehmen.  Er  musste 
Historiker,  er  musste  Ausleger  und  er  musste  Kritiker  sein. 

Er  hat  die  erste  dieser  Aufgaben  mit  Sorgfalt  erfüllt.  Er 
hat  dabei  nichts  übergangen,  was  zum  Verständnis  der  Kantischen 
Philosophie  nötig  ist,  wenn  man  sie  aus  sich  selbst  heraus  ver- 
stehen will  und  ist  zugleich  bis  ins  Einzelne  allen  den  wissen- 
schaftlichen und  sozialen  Ursachen  nachgegangen,  welche  auf  ihr 
p]rscheinen  Eiufluss  gehabt  haben;  so  zwar,  dass  wir  zuerst  die 
doppelte,  idealistische  und  empirische  Bewegung  verfolgen,  die  im 
17.  Jahrhundert  mit  Descartes  und  Locke  einsetzt  und  dann  diese 
beiden  Richtungen  im  Geiste  der  deutscheu  Philosophie  sozusagen 
convergieren  sehen,  um  dann  den  vorbereitenden  Phasen  des 
neuen  Systems  nachzugehen,  bis  zu  dem  Moment,  in  welchem  der 
dogmatische  Schlummer  durch  den  Anstoss  der  Humeschen  Unter- 
suchungen gebrochen,  das  kritische  Problem  erfasst  ist  und  Kant 
die  berühmte  Dissertation  von  1770  veröffentlicht,  Vorläuferiu 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft,  mit  welcher  1781  die  grösste 
philosophische  Umwälzung  der  neueren  Zeit  anhebt. 

Cantoni  widmet  natürlich  diesem  Hauptwerk  den  grössten 
Teil  seines  ersten  Bandes,  der  unter  dem  theoretischen  Gesichts- 
punkt der  bedeutendste  ist,  aber  in  dem  auch  das  Leben  und  der 
Charakter  Kants  umrissen  werden  und  in  ihrer  Verbindung  mit 
der  sozialen  Umgebung,   mit  der  dieser  neuen  Philosophie  erwach- 


Carlo  Cantoni  zum  Gedächtnis.  193 

sendeu  Zustimmung  und  Opposition,  deren  Geschichte  illustrieren 
und  deren  Verständnis  erleichtern;  ein  Vorzug,  der  vielleicht  in 
noch  höherem  Äfasse  den  2.  und  3.  Band  auszeichnet,  worin  die 
moralischen  und  religiösen  Lehren  behandelt  werden,  für  deren 
Unabhängigkeit  der  deutsche  Philosoph  nicht  wenig  angesichts 
der  rückschrittlichen  Bestrebungen  der  Pietisten  zu  kämpfen  und 
zu  leiden  hatte.  Sowohl  die  Geschichte  der  Gedanken,  als  die 
Geschichte  der  Tatsachen  werden  in  diesen  zwei  Bänden  in  einer 
Weise  geboten,  dass  wir  uns  eine  vollständige  Vorstellung  von 
der  Bildung  und  der  Entwicklung  des  Kantischen  Systems  machen 
können. 

Was  die  Aufgabe  des  Auslegers  und  Kritikers  betrifft,  so 
muss  man  sagen,  dass  Cantoni  nicht  nur  direkt  aus  den  Büchern 
seines  Autors  und  der  ganzen  einschlägigen  philosophischen  Lite- 
ratur geschöpft  hat,  sondern  auch  wirklich  die  jenseits  der  Alpen 
erhobenen  Fragen  kennt  und  mit  Kompetenz  prüft,  sei  es  in  der 
Verschiedenheit  der  beiden  Auflagen  der  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft hinsichtlich  des  genauen  Charakters  des  Kantischen  Idealis- 
mus, sei  es  über  die  verschiedenen  und  subtilen  Auslegungen, 
die  sich  auf  einige  fundamentale  Punkte  des  Systems  beziehen. 

Gewiss  hat  ja  Cantoni,  als  er  an  seine  Arbeit  heranging, 
den  Weg  nicht  nur  offen,  sondern  auch  gebahnt  und  auf  manchen 
Strecken  von  einem  mehr  als  zahlreichen  Heer  von  Historikern, 
Kommentatoren  und  Kritikern  geebnet  gefunden.  Aber  wenn 
diese  Fülle  von  Studien  und  Untersuchungen  ein  reiches  Material 
für  das  vom  Autor  unternommene  Werk  bildete,  stellte  sie  ihn 
auf  der  anderen  Seite  auch  vor  die  nicht  leichte  Aufgabe,  sie 
nachzuprüfen  und  zu  beurteilen,  eine  Aufgabe,  die  er  mit  sichrem 
Urteil  durchgeführt  hat. 

Es  mag  noch  bemerkt  werden,  wenn  der  Scharfsinn  des 
Autors  schon  durch  die  Schwierigkeiten  der  einfachen  Auslegung 
auf  die  Probe  gestellt  wurde,  so  haben  ihn  in  noch  höherem 
Masse  die  spekulativen  Fragen,  an  sich  selbst  betrachtet,  in  An- 
spruch genommen.  Cantoni  stellt  nicht  nur  ihre  Lösung  in  das 
hellste  Licht,  sondern  er  diskutiert  sie  dann  noch  mit  intensivem 
und  freiem  Gedankengang  in  Dialogen,  die  den  Hauptabschnitten 
angefügt  sind. 

Er  ist  nicht  der  Meinung,  dass  die  Philosophie  bei  Kant 
halt  mache,  aber  er  beurteilt  auch  nicht  den  Kantianismus  unter 
dem   Gesichtspunkt   eines    der    idealistischen    oder    empiristischen 


194  H.  Dreyer,  Carlo  Cantoni  zum  Gedächtnis, 

Systeme,  die  aus  einer  der  einseitigen  Richtungen  des  philoso- 
phischen Geistes  hervorgegangen  sind.  Die  Schule,  der  er  sich 
anschliesst,  ist  die  neukantische,  d.  h.  diejenige,  welche  sich  be- 
müht, den  Kantianismus  zum  Realismus  hin  zu  wenden,  indem  sie 
ihn  mit  der  Bewegung  der  modernen  Wissenschaften  in  Einklang 
bringt.  Er  ist  der  Meinung,  dass  die  Philosophie  sich  in  dem 
der  Forschung  und  der  Wissenschaft  treuen  Geiste  des  Kritizismus 
erneuern  müsse,  dass  sie  vor  allem  tiefer  in  die  psychologischen 
Forschungen  eindringen  müsse,  die  geeignet  sind,  in  der  theore- 
tischen Philosophie  den  Realismus  zu  verstärken  und  die  reine 
und  hohe  Moral  Kants  von  den  Mängeln  eines  Formalismus  zu 
befreien,  der  sie  der  Gefahr  aussetzt,  unwirksam  zu  sein,  weil  sie 
übermässig  und  zu  Unrecht  von  den  sinnlichen  Bedingungen  der 
menschlichen  Natur  abstrahiert. 

Hinsichtlich  eines  fundamentalen  Punktes  sagt  sich  der 
Autor  entschieden,  und  nach  unserer  Ansicht  mit  Recht,  von  dem 
deutschen  Philosophen  los,  in  der  Lehre  des  Bewusstseins  und 
folglich  hinsichtlich  der  Existenz  der  Realität  an  sich,  welche  im 
Kantischen  Kritizismus  problematisch  geblieben  war,  ihm  dagegen 
durch  die  Theorie  der  Erfahrung  logisch  erfordert  zu  sein  scheint." 


« 


Kants  Antinomien  und  das  Wesen  des  Unendlichen. 

Von  Kurt  Geissler. 


Die  Schwierigkeiten  des  Uneudlichen  spielen  bei  Kant  eine 
grosse  Rolle.  Zeigen  sich  Schwierigkeiten  als  offenbare  Wider- 
sprüche, so  regen  sie  zu  genauer  Untersuchung  der  dabei  vor- 
kommenden Elemente  des  Denkens  und  der  Anschauung,  zu  kri- 
tischer Philosophie  an.  Vier  sich  widersprechende  Paare  von 
Sätzen,  die  beiden  mathematischen  und  die  beiden  dynamischen 
Antinomien,  sind  für  die  gesamte  „Kritik  der  reinen  Vernunft" 
von  grösster  Bedeutung.  Kant  will  das  Dasein  des  Dinges  an 
sich,  mit  dem  Raum  und  Zeit  nichts  zu  tun  habe,  ferner  die  über 
die  empirische  Welt  der  Sinnendinge  hinausgehende  Freiheit  nicht 
direkt  beweisen,  nicht  einmal  deren  Möglichkeit  (Elementarlehre 
II.  Teil,  II.  Abt.,  II.  Buch,  IL  Hauptst.,  9.  Abschn.,  Ausgabe  A 
vom  Jahre  1781,  S.  557,  558;  Ausgabe  B,  vom  Jahre  1787; 
Kehrbachs  Ausgabe,  Reclam,  1877,  S.  445),^)  auch  nicht  das  Da- 
sein eines  unbedingt  notwendigen  Wesens  ausserhalb  des  Feldes 
der  gesamten  Sinnlichkeit  (S.  451)  oder  auch  nur  die  Möglichkeit; 
denn  auch  das  könne  man  nicht.  Aber  die  kosmologischen  Ideen, 
welche  die  Antinomien  veranlassen  (S.  450),  fordern  uns  nach 
Kant  auf,  uns  nach  solchen  Erklärungen  umzusehen,  nach  der 
Unterscheidung  der  durch  Anschauungs-  und  Denkformen  (zufällig) 
gestalteten  räumlich-zeitlichen,  empirisch-bedingten  Welt  und  des 
Dinges  an  sich,  nach  „intelligibeln  Gegenständen",  einen  solchen 
Schritt  „zu  wagen".  Bei  den  Widersprüchen  der  Antinomien  und 
den  von  Kant  versuchten  Auflösungen  ist  immer  das  Unendliche 
(in  weiterem  Sinne,  mit  den  Begriffen  von  Begrenzungen,  Anfang 
und  Ende)  das  Wichtigste,  worauf  alles  hinausläuft.  Eine  genaue 
Untersuchung  des  Unendlichen  in  der  Kantischen  Darstellung  der 


1)  Ich   werde   der  Kürze  halber   im  folgenden  meist  nur  die  Seiten 

von  Kehrbachs  Ausgabe  anführen  oder,  unter  Zusatz  von  A,  die  Seite  der 
ersten  Ausgabe  1781. 

Kantstudiea    XV.  13 


196  K.  Geissler, 

Antinomien  wird  also  nützlich  sein  für  eine  richtige  Beurteilung- 
Kants  und  zur  Abwehr  vielfacher  Missverständnisse,  namentlich 
von  Seiten  der  Mathematiker.  Ferner  kann  die  Kritik  dieser 
Kantischen  Ausführungen  zur  Aufweisung  von  Lücken  oder  Fehlern 
in  derselben  beziehlich  des  Unendlichen  führen.  Andererseits  aber 
könnten  neue  Lehren  vom  Wesen  des  Unendlichen  mit  Kants  Dar- 
stellung verglichen  und  es  könnte  geprüft  werden,  ob  eine  solche 
Lehre  die  Kantischen  Lücken  ausfüllen,  seine  Lehre  verbessern 
und  eine  für  das  Wissen  der  Gegenwart  mögliche  und  hinreichende 
Wesenserklärung  zu  liefern  vermöchte. 

Der  Kantischen  Darstellung,  die  so  voll  ist  von  Wieder- 
holungen, der  Reihe  nach  zu  folgen,  halte  ich  nicht  für  zweck- 
mässig. Es  kommt  vor  allem  auf  den  Begriff  des  Seins  an.  Es 
ist  umständlich  von  der  Angabe  des  Daseins  als  einer  Kategorie 
auszugehen,  die  Besprechung  der  Antinomien  zu  beginnen  und 
dann  erst  wie  in  der  „Kritik"  diesen  Begriff  auf  verschiedene  Art 
zu  erörtern  und  das,  was  mit  ihm  zusammenhängt,  wie  „ist", 
„Wirklichkeit",  „objektive  Realität",  „Existenz",  „empirische  Rea- 
lität", „bestehen  aus",  „enthalten",  zu  unterscheiden.  Ich  werde 
vielmehr  angeben,  wieso  in  der  „Antinomie  der  reinen  Vernunft", 
dem  für  uns  hier  wichtigsten  Teile  der  „Transscendentalen  Dia- 
lektik" vom  Sein  in  verschiedenem  Sinne  die  Rede  ist.  Auch  die 
begriffliche  Bedeutung  anderer  Wörter  wie  „Welt",  „Unendlich", 
die  im  folgenden  gesperrt  gedruckt  werden,  habe  ich  anzugeben 
und  zu  erörtern. 

Die  Welt  ist  bei  ihm  das,  was  wir  als  Erscheinungen 
kennen  lernen,  die  empirische  oder  Sinnen-Welt;  aber  Kant 
versteht  darunter  nicht  etwa  bloss  die  sinnlichen  Empfindungen 
und  ihre  einfache  Zusammenfassung,  den  blossen  empirischen  In- 
halt von  sinnlich  empfundenen,  geschauten  Beobachtungen  und 
Experimenten  (nach  der  heute  so  beliebten  Auffassung),  sondern 
er  meint  alles,  was  räumlich  und  zeitlich  vorgestellt  und  mit 
Festhaltung  dieser  Vorstellungen  begriffen  und  logisch  beurteilt 
wird.  Er  nennt  die  Welt  den  „Inbegriff  aller  Erscheinungen" 
(S.  412;  A.  506)  oder  „die  ganze  Reihe  der  Erscheinungen" 
(S.  410),  verlangt  aber,  dass  man  dieses  „ganz",  „alle"  und  „In- 
begriff" nicht  leichtfertig  und  ohne  kritische  Untersuchung  hin- 
nimmt oder  auffasst.  Die  Welt  ist  niemals  ganz  gegeben,  ist 
kein  unbedingtes  Ganze  (S.  410);  es  sei  falsch,  von  einer  abso- 
luten Totalität  der  Grösse  in  der  Erscheinung  zu  reden.    Sprächen 


Kants  Antinomien  und  das  Wesen  des  Unendlichen.  197 

wir  von  einer  absoluten  Totalität,  bildeten  wir  solche  Idee,  so 
sprängen  wir  damit  heraus  aus  dem,  was  die  Welt  ist,  wir 
müssen  dann  auch  sofort  die  Bedeutung-  des  Wortes  „ist",  des 
„Seins"  aufgeben,  wie  wir  dies  Sein  den  Erscheinungen  beilegen, 
davon  redeten,  das  Empirische,  Räumlich-zeitlich  Vorgestellte  sei. 
Es  sei  falsch  (S.  412),  dass  die  Welt  (der  Inbegriff  aller  Er- 
scheinungen) ein  an  sich  existierendes  Ganzes  sei,  sondern  die 
Erscheinungen  seien  „ausser  unseren  Vorstellungen  nichts,  welches 
wir  eben  durch  die  transscendentale  Idealität  derselben 
sagen  wollen".  Die  Welt  „ist",  sie  hat  ein  Sein  in  unseren  Vor- 
stellungen, hat  empirische  Realität.  Wir  können  aber  auch 
an  eine  andere  Art  Existenz,  an  das  Sein  eines  Dinges  an  sich 
ausser  und  unabhängig  von  unseren  Vorstellungen  denken,  an  ein 
Sein  schlechthin  (S.  457;  A.  575,  6).  Wenn  man  behauptet  oder 
voraussetzt,  dass  die  Welt  ein  an  sich  existierendes  Ganzes  sei, 
so  sei  dies  ein  Begriff  der  Existenz,  der  nicht  auf  die  empirisch 
bekannte,  räumlich-zeitliche  Welt  passe;  vielmehr  gelte  (S.  411) 
die  Idee  der  absoluten  Totalität  nur  als  Bedingung  der  Dinge 
an  sich  selbst.  Will  man  die  Welt  als  die  ganze  Reihe  der  Er- 
scheinungen bezeichnen,  so  ist  dieses  Ganze  ja  nicht  als  ein  un- 
bedingtes, an  sich  existierendes  Ganzes  zu  fassen.  Die  Welt 
ist  nach  Kant  (S.  410)  jederzeit  bedingt,  niemals  ganz  gegeben, 
ist  kein  unbedingtes  Ganzes.  „Das  Weltganze  habe  ich  jederzeit 
nur  im  Begriffe,  keineswegs  aber  (als  Ganzes)  in  der  An- 
schauung" (S.  419).  Wenn  man  von  einer  Totalität  spricht, 
diesen  Begriff  anwenden  will  auf  das  Objekt  des  Denkens,  so  ist 
die  Totalität  niemals  im  Objekt  als  wirklich  zu  deuken  (S.  412), 
man  erreiche  auch  dabei  niemals  das  Unbedingte  oder  Schlecht- 
hin-unbedingte  (S.  414),  es  sei  kein  konstitutives,  soudern  nur  ein 
regulatives  Prinzip  für  den  Verstand,  ein  blosses  Problem, 
wie  man  es  anstellen  solle,  um  zum  vollständigen  Begriffe  des 
Objektes  zu  gelangen.  Wir  begeben  uns  aber  mit  diesem  regula- 
tiven Prinzipe,  ebenso  wie  mit  der  Idee  von  einem  All  der  Rea- 
lität, mit  dem  über  die  Idee  noch  hinausgehenden  Ideal  (S.  452; 
A.  568;  ein  einzelnes  durch  die  Idee  allein  bestimmbares  oder 
gar  bestimmtes  Ding)  schon  über  das  in  den  Antinomien  vorkom- 
mende Sein  hinaus.  Diese  Ideale  sind  freilich  nach  Kant  (S.453) 
„nicht  Hirngespinste,  ob  man  ihnen  gleich  nicht  objektive  Realität 
(Existenz)  zugestehen  möchte,  sondern  geben  ein  unentbehrliches 
Richtmass   der  Vernunft  u.  s.  w."      Das  Ideal    dürfte  nicht  etwa, 

13* 


198  K.  Geissler, 

wie  der  Weise  in  einem  Roman,  in  einem  Beispiele,  d.  h.  in  der 
Erscheinung  realisiert  werden.  Wir  sehen,  dass  selbst  solche 
Ideale  eine  Art  von  Sein  als  „Richtmass  der  Vernunft"  bei 
Kant  haben,  halten  uns  aber  zunächt  noch  an  den  Unterschied 
der  empirischen  Realität  und  eines  Seins,  das  fälschlich  voraus- 
gesetzt werde  in  dem  Urteile:  die  Welt  ist  ein  an  sich  existieren- 
des Ganzes.  Gebraucht  man  dieses  „ist"  als  ein  Ansichsein  in  den 
bekannten  Sätzen:  „Die  Welt  ist  der  Grösse  nach  unendlich"  und: 
„Die  Welt  ist  der  Grösse  nach  endlich",  so  habe  man  einen  kon- 
tradiktorischen Gegensatz,  also  einen  Widerspruch,  die  scheinbar 
unauflösliche  Schwierigkeit  des  Unendlichen  und  Endlichen.  Kant 
aber  lehrt:  Weil  die  Welt  gar  nicht  an  sich  existiert,  so  existiert 
sie  weder  als  ein  an  sich  unendliches,  noch  als  ein  an  sich  end- 
liches Ganzes.  Hier  ist  auch  das  zweite  Wort  „existiert"  als 
Ausdruck  für  bestimmte  Art  des  Seins  gebraucht  (Sein  an  sich); 
denn  die  Welt  existiert  wohl,  sie  existiert  (im  Sinne  empirischer 
Realität)  sowohl  als  endliche  wie  als  unendliche,  freilich  in  beiden 
Eigenschaften  nicht  als  vollendetes  Ganzes.  Endlichsein  und  Un- 
endlichsein sind  hier  nicht  kontradiktorisch,  sondern  konträr.  Das 
Unendliche  wird  von  Kant  gefasst  als  etwas,  was  nicht  endlich 
ist;  dieses  „ist"  oder  ,,Seiu"  des  Endlichen  und  Unendlichen  darf 
nach  ihm  (der  sonst  daraus  folgenden  Widersprüche  halber)  nicht 
gefasst  werden  wie  das  Sein  von  Eigenschaften  eines  unabhängig 
und  für  sich,  also  wie  ein  absolutes  Ganzes  existierenden  Dinges; 
denn  dann  soll  beides,  wie  er  nachzuweisen  glaubt,  einander 
widersprechen,  widersprechendes  Gegenteil  sein  (als:  Sein  an 
sich).  Fasst  man  die  räumlich-zeitliche  Welt  aber  als  Erscheinung 
und  schreibt  ihr  eine  derartige  empirische  Realität  zu,  wobei 
Raum  und  Zeit  nicht  an  sich  existieren  sollen,  sondern  nur  als 
Formen  unserer  Anschauung,  so  könne  die  Welt  als  Mannigfaltiges 
von  endlicher  räumlicher  Ausdehnung  erscheinen,  als  solches  eine 
endliche  Anzahl  von  endlichen  Teilen  enthalten  und  aus  der 
(endlichen)  Einheit  nach  einander  in  der  Vorstellung  (vermittels 
des  Denkens)  zusammengesetzt  werden  (successive  Synthesis).  Es 
könne  aber  auch,  zweitens,  die  Welt  als  ein  Mannigfaltiges  von 
unendlicher  räumlicher  Ausdehnung  vorgestellt  werden,  als  solches 
auch  zugleich  gegeben  sein  (S.  358;  A.  432  —  vgl.  auch  S.423; 
A.  523—525).  Diese  Vorstellung  einer  unendlichen  Welt  ist  offen- 
bar eine  andere  Vorstellung  als  die  einer  endlichen  Welt  und 
würde  ohne  Frage  dieser  widersprechen,  wenn  diese  beiden  Welt- 


Kants  Antinomien  und  das  Wesen  des  Unendlichen.  199 

bilder  etwas  an  sich  Existierendes,  vollendete  Ganze  für  sich 
wären.  Da  beide  aber  nur  Erscheinung^en  sind,  so  haben  sie 
nicht  den  Widerspruch  des  an  sich  Seienden,  sondern  nur  den 
Gegensatz  zweier  Erscheinungsformen;  so  ist  es  nach  meiner 
Meinung  aufzufassen,  wenn  hier  nicht  kontradiktorischer,  sondern 
konträrer  Gegensatz  vorliegen  soll.  Ein  Gegensatz  freilich  ist 
da  und  bleibt  da,  aber  nur  der  Gegensatz  zweier  Erscheinungs- 
formen, und  diese  sind  in  einem  vorstellenden  Wesen  als  Vor- 
stellungsarten möglich.  Freilich  bewegt  sich  dieser  Gegensatz  auf 
demselben  Gebiete,  nämlich  auf  dem  der  Raumvorstelluug  (bez. 
Zeitvorstellung)  der  Welt,  also  auf  einem  Gebiete  von  empirischer 
Realität.  Verlegen  wir  also  vorläufig  auch  mit  Kant  das  Endliche 
und  Unendliche  nur  hinein  in  diese  Art  der  Existenz,  so  müssen 
wir  doch  klar  darüber  werden,  worin  hier  der  Gegensatz  besteht, 
damit  er  keinen  unmöglichen  Widerspruch  liefert.  Kant  wird 
meinen,  dass  die  als  unendliches  Mannigfaltiges  vorgestellte  oder 
so  „gegebene"  Welt  eine  Totalität  von  Teilen  an  sich  (mit  der 
Existenz  des  Ansichseins)  zwar  nicht  besitze  und  eine  vollendete 
Synthesis  der  Teile  nicht  möglich  sei  (S.  358,  60;  A.  432,  434). 
Kant  meint  auch,  dass  bei  einer  empirisch-real  vorgestellten  un- 
endlichen Welt  eine  successive  Synthesis  „die  successive  Synthesis 
der  Einheit  in  Durchmessung  eines  Quantum"  (S.  358 ;  A.  403  und 
432)  niemals  vollendet  sein  kann".  Aber  dies  ist  für  ihn  kein 
Hindernis,  denn  darin  bestehe  gerade  der  Begriff  der  Unendlich- 
keit; das  Quantum  „enthalte  dadurch  (dass  die  Synthesis  niemals 
vollendet  sein  kann)  eine  Menge  von  gegebener  Einheit,  die 
grösser  ist  als  alle  Zahl,  welches  der  mathematische  Begriff 
des  Unendlichen  ist"  (ebenda).  Man  darf  nach  Kant  nicht 
mehr  fragen:  wer  hat  recht,  der  behauptet,  die  (an  sich  existie- 
rende) Welt  sei  endlich,  oder  der  behauptet,  sie  sei  unendlich; 
aber  kann  man  nicht  fragen,  einer  von  beiden  müsse  doch  recht 
haben,  entweder  der,  welcher  sagt,  die  Welt  sei  empririsch-real 
endlich,  oder  der,  welcher  sagt,  sie  sei  unendlich?  Wäre  bei 
Kant  die  Welt  (die  Reihe  der  empirisch-realen  Erscheinungen) 
das,  was  uns  (nach  heutiger  Vorstellung)  direkt  die  sinnlichen 
Empfindungen  liefern  (das  Sinulichwahrgenommene  oder  Sinnlich- 
wahrnehmbare), so  würde  man  nur  antworten,  die  Welt  sei  end- 
lich. Aber,  wie  schon  gesagt,  umfasst  die  Welt  nach  Kant  viel 
mehr,  nämlich  alles  das,  was  überhaupt  in  der  räumlich-zeitlichen 
Vorstellung   liegt;    und   in    dieser   Vorstellung   oder    Anschauung 


200  K.  Geissler, 

(nicht  wörtlich  vom  Auge  geuommeu)  liegt  auch  die  Vergrösserung 
und  die  Teilung  ohne  Ende.  Die  Behauptung,  beide  Meinungen 
seien  richtig,  erscheint  uns  insoforu  nicht  gut,  weil  wir  doch  bei 
der  Meinung,  die  Welt  sei  endlich,  eine  absichtUche  Lückenhaftig- 
keit, ein  Beschränken  auf  Sinulichwahrnehmbares  oder  diesem 
Ähnliches  finden.  In  der  Meinung  freilich,  die  Synthesis  nehme 
nie  ein  Ende,  könnte  man  wieder  Einseitigkeit  sehen,  als  ob  es 
bloss  eine  nie  endende  Synthesis  für  den  vorstellenden  Geist  gebe. 
Am  besten  würde  uns  dann  die  x\ntwort  erscheinen,  die  Synthesis 
brauche  kein  Ende  zu  nehmen,  weil  darin  beide  Vorstellungen 
ohne  kontradiktorischen  Gegensatz  stecken.  Wenn  also  der  Geist 
will,  so  kann  er  in  endlicher  Weise  aufhören;  und  wenn  er  nicht 
will,  so  kann  er  ohne  Ende  weiter  zusammensetzen  oder  zerlegen? 
Dadurch  erhielte  die  ganze  Weltvorstellung  etwas  schwankend 
Psychologisches,  von  dem  augenblicklichen  Willen  Abhängiges. 
Es  sollte  wirklich  diese  wichtigste  Eigenschaft  der  Welt,  ihre 
zeitliche  und  räumliche  Ausdehnung,  etwas  so  Schwankendes  sein? 
Das  Ding  an  sich,  das  bei  Kant  wenigstens  trotzdem  immer  noch 
existiert  und  mit  der  Erscheinungswelt  irgendetwas  zu  tun  hat 
(wenn  es  auch  nicht  das  Räumlich-zeitliche,  nicht  das  Endliche 
oder  Unendliche  liefert),  wird  in  dieser  Beziehung  fast  zur  Be- 
deutungslosigkeit erniedrigt  (vgl.  den  Nachkan tischen  Idealismus!); 
aber  auch  die  Raum-  und  Zeitanschauung,  die  doch  erkenntnis- 
theoretisch wichtig  ist,  scheint  zu  leiden.  Wir  müssen  erst 
noch  verfolgen,  wie  Kant  das  Endliche  bez.  Unendliche  in  der 
Welt  von  diesen  Vorstellungen  in  den  reinen  Anschauungen  Raum 
und  Zeit  unterscheidet. 

Nach  dem  ersten  Teile  der  Kritik  sind  Raum  und  Zeit  be- 
kanntlich Formen  unserer  Anschauung,  sind  als  solche  wirklich, 
nicht  etwa  absolut  real  (S.  65,  dann  wären  es  Undinge  und  be- 
deuteten gar  nichts  —  S.  55,  61),  sondern  von  einer  anderen 
Realität,  der  subjektiven  Realität  (S.  63),  von  der  Wirklichkeit 
der  äusseren  Erfahrung  (S.  32);  er  nennt  die  Vorstellung  des 
Raumes  auch  notwendigerweise  objektiv  in  Ansehung  der  Er- 
scheinungen (S.  55,  61)  und  spricht  von  Realität  oder  objektiver 
Gültigkeit  in  Ansehung  der  sinnlichen  Dinge  (S.  55,  56). 
Schwierig  ist  es,  bei  ihm  den  Begriff  oder  die  Vorstellung  des 
Unendlichen  bei  Raum  und  Zeit  zu  verstehen.  Der  Raum  wird 
nach  Kant  (in  beiden  Auflagen),  ebenso  wie  die  Zeit,  als  eine 
unendliche  gegebene  Grösse  vorgestellt;    nach    der  zweiten  Auf- 


Kants  Antinomien  und  das  Wesen  des  Unendlichen.  201 

läge  (ß.  39)  sind  alle  Teile  des  Raumes  ins  Unendliche  zugleich, 
der  Raum  wird  so  gedacht,  als  ob  er  eine  unendliche  Menge  von 
Vorstellungen  in  sich  enthielte;  nach  der  ersten  Auflage  (A.  25) 
führt  die  Grenzenlosigkeit  im  Fortgange  der  Anschauung  ein 
Priuzipium  der  Unendlichkeit  bei  sich,  ein  Begriff  von  Verhält- 
nissen ;  ein  allgemeiner  Begriff  von  Raum  (der  sowohl  einem  Fusse 
als  einer  Elle  gemein  ist)  könne  in  Ansehung  der  Grösse  nichts 
bestimmen.  Die  Teile  des  Raumes  werden  nach  Kant  nur  in  ihm 
gedacht,  können  nicht  vor  dem  einigen,  allumfassenden  Räume 
gleichsam  als  dessen  Bestandteile  (daraus  seine  Zusammensetzung 
möglich  sei)  vorhergehen  (S.  52;  A.  24,  25;  B.  39).  Er  führt 
dies  allerdings  hier  an,  um  zu  erläutern,  dass  der  Raum  kein  all- 
gemeiner Begriff  von  Verhältnissen  der  Dinge  überhaupt  sei, 
sondern  eine  reine  Anschauung.  Die  Aufnahme  der  Erscheinungen 
ins  Bewusstsein  (Apprehendieren)  geschieht  (nach  B.  202,  3)  durch 
Synthesis  des  Mannigfaltigen;  dadurch  werden  die  Vorstellungen 
eines  bestimmten  Raumes  erzeugt;  alle  Erscheinungen  ihrer 
Anschauung  nach  oder  (nach  B.)  alle  Anschauungen  sind  extensive 
Grössen. 

Trotz  des  angeführten  Gegebenseins  des  unendlichen  Raumes 
in  der  Vorstellung  scheint  es  doch  nach  den  Ausführungen  in  der 
Antinomienlehre,  als  ob  Kant  die  Vorstellung  einer  unendlichen 
Grösse  fehle,  zu  der  man  nicht  erst  durch  Zusammensetzung  von 
Endlichem  zu  kommen  brauche.  Er  spricht  von  einer  unendlichen 
bestimmten  (also  begrenzten)  Grösse  nicht,  er  scheint  gar  nicht 
auf  den  Gedanken  gekommen  zu  sein,  dass  zwei  unendliche 
Grössen  in  einem  bestimmten  Verhältnisse  zu  einander  stehen 
könnten,  ebenso  wie  zwei  endliche;  er  bezeichnet  auch  das  Un- 
endliche nicht  positiv  als  übersinnlich-vorstellbar  (wie  ich  es  in 
meiner  Lehre  von  den  Weitenbehaftungen  tue).  Aber  es  kommt 
doch  das  Unendliche,  nämlich  die  unendliche  Teilung  in  der 
zweiten  Antinomie  vor  bei  einer  begrenzten  Vorstellung,  bei  der 
Frage,  ob  ein  Ding  in  der  Welt,  eine  zusammengesetzte  Substanz 
aus  einfachen  Teilen  besteht  oder  ob  überall  nichts  Einfaches  in 
der  Welt  existiert.  Die  widersprechenden  Behauptungen  scheinen 
ihm  richtig  begründet,  falls  man  nichts  von  dem  Unterschiede  des 
empirischen  Seins  und  des  Seins  an  sich  weiss;  der  Widerspruch 
aber  gelöst  durch  seine  kritische  Unterscheidung.  Das  Ausge- 
dehnte der  Erscheinung  aber  beruht  auf  den  Anschauungsformen, 
die  Frage    der   unendlichen   Teilung   hat   mit  Raum    und  Zeit  zu 


202  K.  Geissler, 

tun.  Es  genügt  ihm  noch  nicht  die  Aufklärung  (S.  411;  A.  505): 
„Die  Menge  der  Teile  in  einer  gegebenen  Erscheinung  ist  an  sich 
weder  endlich  noch  unendlich,  weil  Erscheinung  nichts  an  sich 
selbst  Existierendes  ist",  sondern  er  setzt  hinzu:  „und  die  Teile 
allererst  durch  den  Regressus  der  decoraponierenden  Synthesis 
und  in  demselben  gegeben  werden,  welcher  Regressus  niemals 
schlechthin  ganz,  weder  als  endlich  noch  als  unendlich  gegeben 
ist".  Absolute  Totalität  giebt  es  also  bei  solchem  Regressus 
nicht.  Aber  es  fordert  ihn  doch  die  Vorstellung,  nämlich,  dass 
begrenzte  Substanzen  vorgestellt  werden,  zur  Unterscheidung 
zwischen  in  infinitum  und  in  indefinitum  auf.  Diese  Unter- 
scheidung erklärt  er  bei  einer  geraden  Linie,  die  ins  Unendliche 
verlängert  werden  könne,  für  leere  Subtilität  (S.  414,  A.  511). 
Seine  Begründung  zeigt  einen  so  schwierigen  Satzbau,  dass  man 
schwer  daraus  klug  wird;  ich  werde  sogleich  darauf  eingehen. 
Progressus  bez.  Regressus  in  indefinitum  bedeutet  bei  ihm: 
Fortgang  oder  Rückgang  in  unbestimmte  Weite  und  wäre  ganz 
richtig,  wenn  nur  vom  Können  die  Rede  sei.  Eine  Übersetzung 
von  progressus  und  regressus  in  infinitum,  welche  ich  bei  Kant 
hier  nicht  geradezu  finde,  wäre  wohl:  Fortgang  oder  Rückgang 
in  Gegeben-Unendliches  und  zwar  in  das  durch  eine  Begrenzung 
gegebene  Unendliche.  Kant  sagt  (S.  415;  A.  511),  in  infinitum 
bedeute:  ihr  sollt  niemals  aufhören  sie  (die  Gerade)  zu  verlängern 
(welches  bei  Verlängerung  der  Geraden  ins  Unendliche  eben  nicht 
die  Absicht  sei).  Bei  einer  zwischen  ihren  Grenzen  gegebenen 
Materie,  einem  Körper  (S.  415)  heisse  es  richtig:  Teilung  in  infi- 
nitum, also  wenn  das  Ganze  in  der  empirischen  Anschauung  ge- 
geben ist.  Er  meint  offenbar,  es  sei  hier  nicht  bloss  möglich  in 
unbestimmbare  Weite  fortzugehen  (wie  beim  in  indefinitum),  man 
gehe  nicht  etwa  bloss  von  einem  gegebenen  Teile  aus  und  könne 
nun  ins  Unendliche  weiter  gehen  (wie  beim  in  indefinitum), 
sondern  die  möglichen  Teile,  zu  denen  man  weiter  vor  oder  hier 
rückwärts  geht,  seien  in  der  empirischon  Anschauung  mitgegeben 
(ich  mache  wieder  darauf  aufmerksam,  dass  bei  Kant  das  Empi- 
rische nicht  etwa  das  im  Experiment  oder  in  der  Beobachtung 
sinnlich  Empfundene  allein  heisst,  sondern  dass  alles  Räumliche 
und  Zeitliche  nur  zur  empirischen  Welt  gehört,  nicht  weil  wir  es 
als  räumlich  junge  Menschenkinder  durch  die  Sinneswahrnehmungen 
kennen  lernten,  sondern  weil  es  wegen  der  Form  unserer  An- 
schauung und  unseres  Denkens  von  vorn  herein  nicht  anders  vor- 


Kants  Antinomien  und  das  Wesen  des  Unendliclien.  203 

stellbar  sei).  Die  möoflichen  Teile  seien  mitgegeben,  weil  das 
Bedingte  durch  die  Grenzen  des  Ganzen  mitgegeben  sei  (S.  416, 
423).  Jede  Bedingung  sei  immer  wieder  ein  Teil,  daruDi  seien 
die  Glieder  der  fortzusetzenden  Teilung  empirisch  gegeben,  d.  h. 
die  Teilung  gehe  ins  Unendliche.  Wenn  also  auch  alle  Teile  in 
dem  gegebenen  Ganzen  als  Aggregate  enthalten  seien,  so  doch 
nicht  die  ganze  Teilung.  Er  will  den  Ausdruck  „Enthaltensein" 
erlauben,  offenbar  weil  das  Ganze  empirisch  begrenzt  gegeben  sei; 
er  will  aber  nicht  erlauben  zu  sagen:  das  Ganze  bestehe  aus 
den  unendlich  vielen  Teilen,  oder  die  Handlung  des  Teilens  sei 
ganz  gegeben  oder  enthalten.  Das  Unendliche  (ob  in  indefinituoi 
oder  in  infinitum)  ist  ihm  hier  eine  Handlung,  etwas  Empirisches, 
was  freilich  auch  empirisch  nicht  vollendet  wird  (geschweige  denn, 
dass  es  transscendental  oder  absolut  oder  an  sich,  eine  Totalität 
sei).  Bei  der  räumlich-zeitlichen  Teilung  des  Begrenzten  seien 
immer  noch  mehr  Glieder  da  und  empirisch  gegeben,  als 
ich  durch  den  Regressus  erreiche;  beim  Rückgang  oder  Fortgang 
in  indefinitum  kann  ich  im  Regressus  immer  noch  weiter  gehen, 
weil  immer  noch  ein  höheres  Glied  möglich  ist  (S.  417).  Beim 
ersteren  sei  es  notwendig,  immer  noch  mehr  Glieder  der  Reihe 
anzutreffen,  beim  in  indefinitum  sei  die  Nachfrage  nach  höherem 
Gliede  als  notwendig  zugelassen,  es  sei  hier  notwendig  nach 
mehreren  zu  fragen,  weil  keine  Erfahrung  absolut  begrenze. 
Beim  in  infinitum  „ist  es  möglich,  ins  Unendliche  zurückzugehen", 
beim  in  indefinitum  „ist  es  ins  Unendliche  möglich  zu  noch 
höheren  Bedingungen  der  Reihe  fortzugehen"  (S.  416).  Man 
sieht  bei  dieser  mannigfaltigen  Ausdrucksweise,  dass  es  Kant  bei 
beidem  auf  eine  endlose  (empirische,  der  Welt  der  Erscheinungen 
und  den  Formen  der  Anschauung  zugehörige)  Handlung  ankommt, 
dass  aber  beim  in  infinitum  durch  die  Begrenzung  ein  Abschluss 
zwar  nicht  der  Handlung  des  Fortsetzens  oder  Teilens  statt- 
findet, aber  doch  das  Ganze  da  ist,  das  die  unendlich  vielen  Teile 
enthält.  Wir  haben  gehört,  dass  bei  ihm  der  Raum  (und  die 
Zeit)  überhaupt  nicht  aus  vorher  vorgestellten  Bestandteilen  zu- 
sammengesetzt und  dadurch  vorgestellt  werde,  sondern  als  etwas 
„Einiges,  Allumfassendes",  als  „eine  unendliche  gegebene  Grösse" 
vorgestellt  werde.  Wir  haben  hier  also  nach  Kant  in  der  Vor- 
stellung eine  unendliche  gegebene  Grösse,  freilich  ist  es  eine 
Form  unserer  Anschauung,  die  wir  uns  da  vorstellen,  nicht  eine 
begrenzte  Grösse. 


204  K.  Geissler, 

Wie  steht    es    nun  mit  der  unendlich  verlängerten  geraden 
Linie   bei   Kaut?     P>   stellt    sich    offenbar   zuerst  eine  endliche 
Gerade,  eine  Strecke  vor,   ohne  doch  dabei  eine  bestimmte  Länge 
(also  ein  bestimmtes  Verhältnis)  heranzuziehen.     Er  sagt  (S.  414; 
A.  5U):    „Von    einer   geraden  Linie   kann  man  mit  Recht  sagen, 
sie  könne    ins  Unendliche   verlängert  werden,    und  hier  würde  die 
Unterscheidung    des    Unendlichen    und    des    unbestimmbar    weiten 
Fortganges   (progressus  in  indefinitum)  eine  leere  Subtilität  sein. 
Denn  obgleich,  wenn  es  heisst:    ziehet  eine  Linie  fort,    es  freilich 
richtiger  lautet,  wenn  man  hinzusetzt,  in  indefinitum,  als  wenn  es 
heisst,    in   infinitum;    weil    das   erstere    nicht  mehr  bedeutet  als: 
verlängert  sie,  so  weit  ihr  wollet,  das  zweite  aber:  ihr  sollt  nie- 
mals   aufhören    sie    zu  verlängern  (welches  hierbei  eben  nicht  die 
Absicht   ist),    so    ist  doch,    wenn  nur  vom  Können  die  Rede  ist, 
der  erstere  Ausdruck  ganz  richtig;    denn  ihr  könnt  sie  ins  Un- 
endliche  immer   grösser   machen.      Und  so  verhält  es  sich  auch 
in  allen  Fällen,  wo  man  nur  vom  Progressus,  d.  i.  dem  Fortgange 
von  der  Bedingung  zum  Bedingten,  spricht;  dieser  mögliche  Fort- 
gang geht  in  der  Reihe  der  Erscheinungen  ins  Unendliche."     Man 
hat    darauf    zu    achten,    dass  Kant    den    deutlichen    Unterschied 
zwischen    „Beliebigweit"    und    „Unendlichweit"    nicht  macht,  viel- 
mehr  mit   dem    Beliebigweit    „könnt   ins    Unendliche",    „möglich" 
oder  „soweit   ihr   wollet"  die  Vorstellung  des  Nichtauf hörens  oder 
Unendlichen  sofort  verbindet,  auch  das  bei  indefinitum  gebrauchte 
Wort  „unbestimmt"  (in  unbestimmte  Weite)  nicht  von  einem  „Be- 
liebigweit" deutlich  unterscheidet.     Es  ist  aber  sehr  wohl  möglich, 
dass  man    (wie   ich  es  bei  der  Lehre  von  den  Weitenbehaftungen 
getan  habe)  die  Fähigkeit  in  einer  Reihe  und  überhaupt  bei  Ver- 
grösserung   beliebigweit    zu   gehen,    unterscheidet   von  „unend- 
lich"   oder   dann    (bei   dieser  feineren  Unterscheidung)  besser  von 
„übersinnlich- vorstellbar".     Eine  endliche  Strecke  von  irgend  einer 
Länge    (auf   deren    Grösse   im  Verhältnis   zu    anderen   man   auch 
durch    sinnliche   Wahrnehmung   geführt   werden   kann:    „sinnlich- 
wahrnehmbare  Länge",    oder    deren  Grösse   doch  zu  irgend  einer 
solchen  sinnlichwahrgenommenen  in  bestimmtem  endlichen  Zahlen- 
verhältnis    steht:     „kurz    sinnlichvorstellbare"     endliche    Länge) 
braucht  nicht  bestimmt  zu  sein,  sondern  kann  z.  B.  in  der  Länge 
1  m    oder   3  m   angenommen  sein.     Sie  kann  nun  „beliebig"  ver- 
vielfältigt oder  verlängert  werden  und  doch  dabei  immer  sinnlich- 
vorstellbar   werden,    immer   zu    anderen    endlichen  Längen   in  be- 


Kants  Antinomien  und  das  Wesen  des  Unendlichen.  205 

stimmtem  endlichen  Zahlenverhältuis  stehen.     Man  kann  sich  auch 
eine  begrenzte  unendlich-kleine  „untersinnlich-vorstellbare"  Strecke 
vorstellen    und    dieselbe   in  der  Vorstellung  „beliebig"  verlängern, 
aber  doch  so,   dass  die  Grösse  stets  untersinnlich  (unendlich-klein) 
bleibt,    in    demselben  „Weitengebiete"    bleibt  oder  diese  „Weiten- 
behaftung"    nicht   verlässt.      Dies  ist  dann  keine  unendliche  Ver- 
längerung   oder  Vervielfältigung,   sondern  eine  endliche,    aber  be- 
liebige,   bestimmte    oder   auch   im    übrigen    (abgesehen   vooi  Ver- 
bleiben  im    Untersinnlich-vorstellbareu)    unbestimmte.     Wenn  man 
sich  aber  z.  B.  eine  endliche  (sinnlich-vorstellbare)  Strecke  unend- 
lichmal vervielfältigt  vorstellt,  so  heisst  dies :  sie  erhält  in  unserer 
möglichen  Vorstellung   eine    Grösse,    die  nicht  in  einem  endlichen 
(durch   eine    endliche   Zahl    ausdrückbaren)   Verhältnisse    zur    ur- 
sprünglichen Strecke  steht;   man  geht  dann  nicht  von  Strecke  zu 
Strecke  weiter,  uqi  plötzlich  oder  allmählich  in  das  Unendliche  zu 
gelangen;    man    macht   nicht    etwa    einen  Sprung,    wie  es  die  im 
Endlichen  vorgestellten  Sprünge  sind,  man  gleitet  aber  auch  nicht 
an  irgend    einem  Abschlusspunkte    (nach    Art   der  Endpunkte  der 
endlichen    Einheitsstrecke)    in    das    Unendliche,    sondern  man  ver- 
wendet  im   Geiste    eine    zwar   räumliche  Vorstellungsweise,    aber 
doch   eine   neue,    ganz    besondere   Fähigkeit,    die   Fähigkeit    sich 
etwas    Übersinnlich-grosses    vorzustellen,    eine    andere    Weitenbe- 
haftung.     Es    liegt   auch   hier   die  Möglichkeit   vor,    ein  Können, 
eine  Handlung,    aber  eine  neuartige  Handlung,    mit  andersartigen 
Grössenvorstellungen.     Der  Gegensatz:  ich  verlängere  die  Gerade 
ins  Unendliche    entweder    durch    einen   Sprung    (nach  Art  der  im 
Sinnlichen  wahrgenommenen  oder  vorgestellten  Sprünge)  oder  durch 
einen  Nichtsprung,  d.  h.  das  Fehlen  des  Sprunges  dieser  Art,  also 
durch  Weitergleiten  ohne  Auslassen,  durch  plötzliches  Hineingehen 
ins  Unendliche    an   irgend  einem  Grenzpunkte  einer  recht  grossen 
endlichen  Strecke,  dieser  Gegensatz  ist  nicht  kontradiktorisch;  ich 
tue  weder  das  eine  noch  das  andere,  sondern  benutze  verschiedene 
Arten   von  W^eitenbehaftungen,   die  klar  zu  unterscheidende  Arten 
des  Seins   in   der  Vorstellung  haben    (genaue  Gesetze  sind  mathe- 
matisch angebbar  und  angegeben).     Kant  findet  die  Widersprüche 
des  Unendlichen  in  den  Antinomien  darin,  dass  man  die  empirische 
Eealität   nicht   von   dem    Sein   an  sich   unterschieden  habe;    das 
Endliche  und  Unendliche  in  Raum,  Zeit  und  Zahl  aber  rechnet  er 
überhaupt   dem   empirischen   Sein    zu.     Dass   die   Schwierigkeiten 
des   Unendlichen    auch    in     diesem     empirischen    Sein    auftreten, 


206  K.  Geissler, 

scheint    er    nicht   zu    merken,    oder    will   nicht   soweit  gehen,    er 
glaubt  zunächst    mit   seiner  kritischen  Unterscheidung  des  Dinges 
au    sich    und    der   Erscheinungen   auszukommen  (obgleich  er  doch 
hernach   noch  von    verschiedenen  Seinsunterscheidungen    sprechen 
muss  —  siehe  später!).      Er    fühlt     sich    zwar    veranlasst,    vom 
Unterschiede  des  in  infinitum  und  des  in  indefiuitum  zu  sprechen 
und  will  sich  hier  (S.  414)   nicht   „aufhalten  mit  der  Prüfung  der 
Bedenklichkeit",    die    den   Philosophen    eine   Unterscheidung   vom 
blossen    mathematischen    Begriffe    angeraten   habe.      „Die  Mathe- 
matiker sprechen  lediglich  von  einem  progressus  in  infinitum",   so 
meint    er,    natürlich    von    den  Mathematikern  seiner  Zeit  oder  bis 
zu    seiner    Zeit    (ob    mit  Recht,    mag    hier    nicht    ausgesprochen 
werden).      „Die   Forscher    der   Begriffe   (Philosophen)    wollen    an 
dessen  Statt  nur  den  Ausdruck  von  einem  progressus  in  indefinitum 
gelten   lassen."     Kant   will  diese  Begriffe  in  Beziehung  auf  seine 
Absicht  genau  zu  bestimmen  suchen.    Die  oben  angeführte,  in  der 
Kritik  nun  folgende  Stelle  über  die  gerade  Linie  macht  allerdings 
einen  nicht  ganz  entschiedenen  Eindruck,  es  scheint  vielmehr,  als 
wenn    er    doch    eine  gewisse  Lückenhaftigkeit  gefühlt  habe.     Ob- 
gleich er  von  leerer  Subtilität  jener  Unterscheidung  spricht,  wenn 
man   sagt,    sie   könne   ins  Unendliche   verlängert   werden,    so    ist 
nach  ihm  doch  „wenn  nur  vom  Können  die  Rede  ist,  der  erstere 
Ausdruck  (in  indefinitum)  ganz  richtig".    Es  laute  freilich  richtiger, 
zu:    „ziehet    eine   Linie  fort"  hinzuzusetzen:    „in  indefinitum,    als 
wenn    es    heisst   in   infinitum" ;    aber  er  meint  wohl,  es  sei  über- 
haupt  nicht  nötig  etwas  hinzuzusetzen;    denn  er  sagt,  das  zweite 
„ihr  sollt  niemals  aufhören  sie  zu  verlängern"    sei    „hierbei  eben 
nicht   die   Absicht".      Das:    „ihr  sollt"    hat  offenbar  bei  ihm  den 
Sinn,  dass  man  solle,   weil  in  der  Erscheinung  Grenzen  gegeben 
seien    (z.    B.    die    Begrenzung    eines    bis    in    infinitum    teilbaren 
Körpers)  und  harmoniert  mit  dem  anderen  Ausdrucke  (S.  416),  es 
sei   bei  Teilung   in    infinitum   „möglich  ins  Unendliche"  (das  hier 
gewissermassen    als    gegeben   verbürgt    ist   durch   die   gegebenen 
Grenzen)    „zurückzugehen" ;    bei   in   indefinitum    aber  ist  es  nach 
ihm    „ins  Unendliche    möglich"    fortzugehen.     Das  mögliche  Fort- 
gehen ist  bei  beiden  Arten  des  Regressus  (bez.  progressus)  irgend- 
wie zu  verbürgen,   so   werden  wir  es  von  Kant  verlangen  dürfen, 
der   die  Elemente    der  Anschauung   und   des  Denkens  geben  will. 
Kant  giebt   als    Grund  an  (S.  417;  A.  514—16),  dass  „keine  Er- 
fahrung absolut   begrenze".     Entweder  es  sei  keine  Grenze  durch 


Kants  Autinomien  und  das  "Wesen  des  Unendlichen.  207 

Wahrnehmimg-  da  oder  es  gebe  eine  solche  Wahrnehmung-,  dann 
sei  das,  was  begrenzt,  also  die  Grenze,  zu  unterscheiden  von 
dem,  was  dadurch  begrenzt  wird,  die  Grenze  könne  nicht  ein  Teil 
der  zurückgelegten  Reihe  sein.  Ob  letztere  Bemerkung  als  richtig 
zugegeben  werden  muss,  darüber  werde  ich  gleich  sprechen; 
jedenfalls  erscheint  es  mir,  als  ob  bei  Kant  der  Grund :  „weil 
keine  ..."  für  beide  Fälle,  den  des  in  infinitum  wie  den  des  in 
indefinitum  gelten  soll,  in  dem  Satze  (S.  417) :  „Dort  war  es  not- 
wendig, mehr  Glieder  der  Reihe  anzutreffen,  hier  aber  ist  es 
immer  notwendig,  nach  mehreren  zu  fragen,  weil  keine  F]rfahrung 
absolut  begrenzt."  Denn  nur  so  ist  das  folgende  „Entweder 
oder"  zu  verstehen  in:  „Denn  ihr  habt  entweder  keine  Wahr- 
nehmung, die  euren  euipirischen  Regressus  schlechthin  begrenzt, 
und  dann  müsst  ihr  euren  Regressus  nicht  für  vollendet  halten; 
oder  ihr  habt  eine  solche  eure  Reihe  begrenzende  Wahrnehmung, 
so  kann  diese  nicht  ein  Teil  eurer  zurückgelegten  Reihe  sein 
(weil  das,  was  begrenzt,  von  dem,  was  dadurch  begrenzt  wird, 
unterschieden  sein  muss)  und  ihr  müsst  also  euren  Regressus  auch 
zu  dieser  Bedingung  weiter  fortsetzen,  und  so  fortan."  Ist  aber 
der  negative  Grund,  dass  keine  Erfahrung  absolut  begrenze,  ein 
hinreichender  Grund  für  das  mögliche  Fortgehen  in  beiden  Fällen? 
Könnte  es  nicht  bei  einem  geistigen  Wesen  so  sein,  dass  dieses 
zwar  in  seiner  Erfahrung  keine  absolute  Grenze  findet,  sondern 
entweder  (wie  Kant  es  für  die  unendliche  Fortsetzung  der  Geraden 
annimmt)  gar  keine,  oder  (wie  Kant  es  für  den  materiellen  Körper 
annimmt)  eine  solche,  die  etwas  ganz  Anderes  ist  als  die  ausge- 
dehnten Teilchen,  in  die  man  ins  Unendliche  einteilt,  und  dass 
ein  solches  Wesen  trotzdem  nicht  fähig  wäre,  sich  ein  mögliches 
Fortgehen  vorzustellen,  einfach,  weil  es  die  Grundlage  für  ein 
solches  unendliches  Fortgehen  in  sich  gar  nicht  besitzt?  Man 
kann  hier  nicht  sich  einfach  auf  die  Kategorie  der  Möglichkeit 
berufen,  auch  nicht  auf  die  der  Wirklichkeit  oder  der  Notwendig- 
keit; denn  diese  Kategorien  sind  etwas  Logisches  und  sind  als 
solches  zwar  anwendbar  auf  andere  Gebiete  des  Geistigen,  z.  B. 
auf  die  Anschauung,  das  Räumlich-zeitliche.  Aber  die  Anwend- 
barkeit muss  durch  etwas  Vorhandenes  begründet  werden ;  in  der 
Anschauungsforra  und  in  den  hierdurch  geformten  Erfahrungen 
muss  etwas  tatsächlich  Vorhandenes  sein  (Sein  gefasst  als  Er- 
scheinungssein). Dieses  Tatsächliche  muss  als  Grund  für  An- 
wendbarkeit der  genannten  Kategorien  vorgestellt  werden  können. 


208  K.  Geissler, 

Ob  man  nun  sagt  (wie  Kant  beim  regressus  in  infinitum)  „mög- 
lieh ins  Unendliche"  oder,  wie  bei  Fortsetzung  der  Geraden  „ins 
Unendliche  möglich"  fortzugehen,  für  die  räumliche  Möglichkeit 
müssen  wir  räumlich  Tatsächliches  als  Grund  suchen.  Ob  es  nun 
auch  wie  beim  in  infinitum,  nach  Kant  notwendig  sei  mehr 
Glieder  der  Reihe  anzutreffen,  weil  das  begrenzte  Ganze  eben 
wegen  der  Begrenztheit  in  der  räumlichen  Empirie,  der  räumlichen 
Vorstellungswelt  enthalten  sei,  oder  ob  es  notwendig  sei,  immer 
nach  mehreren  in  indefinitum  zu  fragen,  wenn  eine  Bedingung 
gegeben  sei,  diese  Notwendigkeit  setzt  eine  spezielle  Tatsäch- 
lichkeit in  der  räumlichen  Anschauung  voraus,  die  Tatsächlichkeit, 
dass  es  überhaupt  etwas  Unendliches  giebt.  Dies  Unendliche 
muss  sowohl  im  unendlichen  Regressus  bei  der  Teilung  wie  im 
unendlichen  Progressus  bei  der  Verlängerung  der  Geraden  stecken; 
die  blossen  Kategorien  der  Modalität  liefern  es  nicht;  denn  sie 
sind  nicht  räumlich!  Auch  die  Bemerkungen  Kants,  dass  Not- 
wendigkeit eine  Existenz  durch  Möglichkeit  sei,  aber  doch  nicht 
etwa  dadurch  die  Kategorie  der  Notwendigkeit  überflüssig  oder 
schon  in  den  beiden  anderen  völlig  enthalten  sei,  können  hier 
nicht  entscheiden,  falls  man  sie  auch  für  ausreichend  hält.  Denn 
es  sind  solche  Bemerkungen  auch  nur  gemacht  für  die  Logik,  die 
Formen  des  Denkens,  nicht  für  das  Gebiet  der  Anschauung,  auf 
dem  sich  die  Logik  betätigen  darf,  auf  dem  sie  aber  nicht  etwa 
Raum  und  Zeit  mit  dem,  was  darin  liegt,  schaffen  soll.  Diese 
Meinung  würde  auch  Kant  entschieden  zurückweisen,  er  würde 
sich  sicher  nicht  einverstanden  erklären  mit  der  Meinung  gewisser 
neuerer  Mathematiker,  nach  der  man  durch  blosse  Definition 
sogar  räumliche  Vorstellungen  schaffen  kann.  Im  Gegenteile,  er 
würde  auch  auf  dem  Gebiete  der  blossen  formalen  Logik  eine 
Selbstschaffung  durch  die  logischen  Elemente  nicht  anerkennen, 
falls  diese  Selbstschaffung  irgend  etwas  dem  Wesen  nach  Neues 
geben  soll. 

Es  ist  als  eine  Lücke  bei  Kant  zu  bezeichnen,  dass  er 
die  Möglichkeit  des  unendlichen  Fortgehens  nicht  ausdrücklich 
durch  eine  ganz  besondere  Eigenschaft  der  Anschauungsformen, 
des  Raumes  und  der  Zeit,  auch  der  Zahl  begründet  hat.  Diese 
Lücke  ist  z.  T.  dadurch  begreiflich,  dass  er  sich  so  sehr  an  die 
Handlung  hält,  das  Zeitliche,  den  Fortgang  immer  wieder  hinein- 
bringt in  das  Räumliche,  das  Unendliche  im  Räume  nicht  scharf 
trennt   von    der   Handlung.      Es   erinnert  dies  an  einen  ähnlichen 


Kants  Antinomien  nnd  das  Wesen  des  Unendlichen.  209 

Fehler  bei  den  neueren  Mathematikern,  die  oft  die  Bewegung- 
nicht  zu  trennen  vermögen  oder  aus  praktischen  Gründen  glauben 
nicht  trennen  zu  sollen  von  der  blossen  räumlich  geometrischen 
Vorstellung.  Wenn  aber  Raum  und  Zeit  etwas  wesentlich  Ver- 
schiedenes sind,  wie  mau  nicht  zweifeln  wird,  so  w'ird  auch  das 
Unendliche  zwar  in  beidem  auftreten  können,  aber  doch  z.  B.  im 
Räume  betrachtet  werden  können  und  besser  sollen  ohne  sofortige 
Heranziehung  der  Zeit,  der  Handlung.  Mag  auch  z.  B.  beim  be- 
grenzt vorgestellten  sinnlichen  Körper  das  Ganze  auf  einmal 
überschaut  oder  besser  vorgestellt  werden  (weil  Grenzen  vorge- 
stellt werden),  so  ist  damit,  wie  auch  Kant  merkt,  nicht  sofort 
die  unendliche  Teilung  gegeben ;  von  dieser  spricht  mau  besonders, 
sie  muss  auf  einer  besonderen  Eigenschaft  beruhen  trotz  des  Ge- 
gebenseins der  Grenze;  ebenso  das  unendliche  Fortgehen  oder 
Vervielfachen  einer  endlichen  Strecke.  Warum  kann  man  denn 
die  Zeit,  die  Handlung  hier  beim  Räumlichen  verwenden?  Weil 
ein  Grund  für  die  Verwendbarkeit  vorliegen  muss.  Dieser  Grund 
muss  hier  mit  dem  Unendlichen  zusammenhängen,  das  tatsächlich 
sowohl  beim  Räumlichen  w^ie  beim  Zeitlichen  vorkommen  kann. 
Warum  also  sollte  es  nicht  gesondert  beim  blossen  Räumlichen 
vorkommen  und  dabei  untersucht  werden  können? 

Und  wenn  nun,  wie  auch  Kant  sagt,  die  räumliche  Grenze 
etwas  wesentlich  Anderes  ist  als  das  Begrenzte  (der  räumliche 
Inhalt  der  Figur  mit  deren  Teilen),  warum  untersuchen  wir  nicht 
näher  das  abweichende  Wesen  solcher  Grenze?  Die  Linie  als 
Grenze  eines  Flächenstückes,  die  Fläche  als  Grenze  eines  Körpers 
ist,  auch  beim  phj^sikalischen  oder  chemischen  Körper,  etwas 
Mathematisches;  auch  das  Atom,  das  Elektron  oder  wie  man 
sagen  mag,  bedarf  geometrisch-räumlicher  Vorstellung,  sei  es  nun 
ein  Körperchen  oder  ein  Punkt.  Der  Punkt  als  Grenze  würde 
gemäss  der  Kantischen  Ansicht  von  der  Begrenzung  etwas 
wesentlich  Anderes  sein  als  die  Teile  der  Linie,  die  er  begrenzen 
soll.  Wir  dürfen  hier  nicht  stehen  bleiben,  da,  wo  Kant  stehen 
geblieben  ist,  der  selbst  bei  seinen  Ausdrücken  „welches  hier 
eben  nicht  die  Absicht  ist"  und  „w^enn  nur  vom  Können  die  Rede 
ist",  also  bei  Unterscheidung  des  Unendlichen  trotz  seines  Aus- 
drucks: „leere  Subtilität"  eine  Lücke  zu  fühlen  scheint.  Die 
Verlängerung  der  geraden  Linie  ist  freilich  eine  Handlung  und 
hat  mit  der  Zeit  zu  tun,  die  Teilung  einer  Strecke  in  unendlich- 
viele  Teile  oder  immer  weiter  als  Handlung  auch;  der  tatsächliche 


210  K.  Geissler, 

Grund  für  das  Vorkommen,  für  die  Notwendigkeit  einer  solchen 
Handlung-  muss  aber  ein  räumlicher  sein,  sonst  könnte  auch  das 
Resultat,  die  Tatsache  der  Teilungshandlung  und  Fortsetzungs- 
handUmg  räumlich  gar  nicht  verbürgt  sein,  müsste  etwa,  bloss  als 
reine  formale  Äusserlichkeit  angesehen  werden.  Ist  er  nun  ein 
räumlicher,  so  hat  man  auch  die  Sonderbarkeit,  die  Eigentümlich- 
keit der  Begrenzung,  der  Dünne  der  Linie,  der  Fläche,  des 
Punktes,  räumlich  zu  untersuchen.  Selbst  der  Punkt,  der  als 
Raumpunkt  doch  sicher  in  das  Räumliche  gehört  und  tatsächlich 
im  Räumlichen  einen  Grund  für  seine  Vorstellbarkeit  besitzen 
muss,  ist  genau  zu  erklären. 

Eine  gewisse  Richtung  heutiger  Mathematiker,  welche 
es  liebt,  das  Unendliche  möglichst  nur  formal  zu  definieren,  eben- 
so das  Endliche  (was  Kant  sicher  abweisen  würde)  unterlässt  es, 
auch  die  sonderbare  Eigenschaft  der  Begrenzung  genauer  zu 
untersuchen  (die  Kant  wenigstens  merkt,  betont  und  anerkennt), 
und  begnügt  sich  auch  hier  mit  blossen  Worten.  Und  wenn  man 
die  Erklärung  des  Limesbegriffes  bei  ihnen  verfolgt,  so  findet 
man  vereinzelt  wohl  das  Bedürfnis,  diesen  Begriff  und  die  für 
das  Endliche  richtigen  Resultate  des  Limesüberganges  als  etwas 
Besonderes  zu  bezeichnen  (sogar  von  einer  hierfür  neu  aufzu- 
stellenden Kategorie  zu  sprechen),  meist  aber  glaubt  man  das 
Unendlichkleine  durch  einen  Grenzübergang  beseitigt  zu  haben. 
Die  Notwendigkeit  überhaupt  etwas  so  Eigentümliches  wie  den 
Limesbegriff,  der  viele  Schwierigkeiten  gemacht  hat  und  noch 
macht,  auszuarbeiten,  beweist  schon,  dass  irgend  etwas  existieren 
muss,  ausser  dem  gewöhnlichen  Endlichen,  Sinnlichwahrnehmbaren 
oder  sinnlich  Vorstellbaren.  Dieses  Eigentümliche  —  man  sage 
z.  B.  das  Unendlich-kleine  —  wird  auch  mit  der  Vorstellung  der 
Begrenzung,  der  Fläche,  Linie,  des  Punktes  zusammenhängen. 
Das  muss  auch  Kant  gemerkt  haben,  wenn  er  davon  spricht,  dass 
die  Begrenzung  nicht  dasselbe  sein  kann  wie  die  Teile  bei  der 
unendlichen  Teilung.  Hier  darf  man  nicht  aufhören  zu  denken, 
sich  vorzustellen  und  zu  erforschen.  Sonst  schafft  man  jene 
Lücken  nicht  fort,  die  man  deutlich  auch  in  Kants  Unterscheidung 
vom  Infiniten  und  Indefiniten  verspürt,  und  welche  man  fühlt, 
wenn  Mathematiker  die  Definition  des  Punktes  u,  s.  w.  lieber 
ganz  weglassen.  Sagen  Mathematiker  auch,  der  Punkt  habe  gar 
keine  Ausdehnung,  die  Linie  keine  Breite  u.  s.  w.,  unterscheiden 
sie  hier  auch  so,  dass  sie  gewissen  Gebilden  eine  oder  zwei  oder 


Kants  Antinomien  und  das  "Wesen  des  Unendlichen.  211 

gar  jede  Dimension  fortdefinieren,  so  entfernen  sie  doch  damit 
nicht  die  Schwierigkeit,  welche  man  schon  bei  Kant  verspürt. 
Sie  sind  oft  ungründlicher  als  Kant,  w^eil  sie  gar  über  die 
Schwierigkeit  ganz  hinweggehen  wollen,  wenn  sie  gar  dies 
Hinweggehen,  dies  einfache  Fortstreichen  von  Dimensionen  be- 
nutzen wollen,  um  beliebig  viele  Dimensionen,  andersbeschaffene 
Räume  durch  blosse  Definition  (rein  formal)  aufzustellen. 

Versucht  man  die  Zeit  bei  den  Kantischen  Betrachtungen 
fortzustreichen,  um  erst  einmal  das  Unendliche  nur  räumlich  zu 
untersuchen,  so  ist  auch  der  Kantische  Ausdruck  brauchbar,  der 
Körper  enthalte  unendlich  viele  Teile;  wir  brauchten  auch  das 
Wort  „bestehe  aus"  nicht  so  streng  auszuschliessen  (wenn  wir 
nur  nicht  darunter  ein  Sein  an  sich,  ohne' vorstellenden  Geist, 
verstehen  wollen  oder  eine  ganz  glatte  Vollendung  in  unver- 
änderter Vorstellungsart).  Freilich  erfordert  das  „Bestehen  aus" 
eine  weitere  Forschung  über  das  Unendliche,  aber  diese  Forschung 
bleibt  uns  auch  nicht  bei  dem  Worte  „Enthaltensein"  erspart. 
Denn  man  fragt:  wie  können  unendlichviele  Teile  in  einem  end- 
lichen begrenzten  Ganzen  enthalten  sein?  Dadurch,  dass  die 
Grenze  gegeben  ist,  ist  diese  Schwierigkeit  nicht  entfernt.  Auch 
ist  das  Gegebensein  der  Grenze  nicht  hinreichend  klar,  Sie  soll 
nicht  mathematisch  genau  etwa  durch  das  Auge  gesehen  werden, 
Kant  versteht  ja  auch  die  Empirie  in  weiterem  Sinne;  sie  soll  in 
der  Raumanschauung,  als  Vorstellung  gegeben  sein  (mag  dabei  das 
Ding  an  sich  auch  eine  erregende  Rolle  spielen);  und  da  müssen 
wir  fragen:  was  ist  diese  in  der  Vorstellung  gegebene  Grenze, 
die  doch  wesentlich  anders  sein  soll  als  ein  enthaltenes  Teilchen 
des  Ganzen?  Die  sinnlichen  Organe  geben  uns  keine  mathema- 
tische Grenze  (die  wesentlich  anders  sei  als  die  Teilchen),  die 
reine  Vorstellung  muss  sie  uns  geben;  warum  soll  nun  die  reine 
Vorstellung  uns  nicht  auch  eine  unendliche  begrenzte  Gerade 
liefern  können?  Zu  sehen  brauchen  wir  sie  ja  nicht!  Eine  un- 
endliche Zählung  oder  die  Forderung  zum  Nichtaufhören  ist  ja 
auch  bei  der  unendlichen  Teilung  des  begrenzten  Raumes  vor- 
handen, „antreffen"  tun  wir  die  immer  kleineren  Glieder  auch 
bei  dieser  Teilung  nur  in  der  Vorstellung,  nicht  mit  den  sinnlichen 
Organen.  Ein  Grund  dafür  „immer  nach  mehreren  zu  fragen" 
muss  räumlich  auch  bei  dem  Fortsetzen  in  indefinitum  vorhanden 
sein;  unendlich  viele  Teile  enthält  der  begrenzte  Körper  in  der 
Vorstellung  nach  Kant  auch  (oder  wenigstens  die  Teilung  enthält 

KantBtudieii    XV.  \A 


212  K.  Geisslei', 

(las  Unendliche).  Darum  könnte  auch  eine  unendlichlang-  vorge- 
stellte Linie  begrenzt  sein,  nur  muss  von  dem  ungenauen  nega- 
tiven Ausdrucke  unendlich  abgegangen  werden.  Der  tatsächliche 
positive  Grund  für  unendliche  Teilung  und  unendliche  Verlängerung 
erlaubt  und  verlangt  auch  ein  positives  Wort,  ebenso  der  Unterschied 
zwischen  „beliebig"  und  „unendlich" ;  die  Unsicherheit  des  Aus- 
drucks „immer  mehr"  verlangt  ebenfalls  eine  andere  Wortbildung. 
Wie  aber  bei  der  unendlichen  Teilung  etwas  Anderes,  Eigentüm- 
liches vor  sich  geht,  was  bei  der  endlichen  Teilung  nicht  vor- 
handen ist,  wie  auch  beim  „immer  weiter  gehenden  Verlängern" 
etwas  wesentlich  Neues  vorhanden  ist,  was  beim  endlichen,  sinn- 
lichen Vervielfachen  noch  nicht  da  ist,  so  muss  auch  das  positive 
Wort  einen  klaren  Unterschied  aufweisen  zum  Endlichen.  Das 
Endliche  ist  das  Sinnlichwahrnehmbare  oder  besser  das  direkt  aus 
dem  Wahrnehmbaren  heraus  nach  Art  des  Wahrnehmbaren  Vor- 
gestellte: wie  ich  sage:  das  Sinnlichvorstellbare.  Das  neue 
Wort  für  das  Unendliche  müsste  den  wesentlichen  Unterschied 
andeuten  und  tut  dies,  wenn  es  lautet:  das  Übersinnlich-  und 
das  Untersinnlich-vorstellbare  (verschiedener  Ordnungen). 

Suchen  wir  nun  die  offenbaren  Lücken  auszufüllen  oder  die 
Fehler  zu  beseitigen,  die  sich  dadurch  bei  Kant  zeigen,  so  werden  wir 
die  Begrenzung  des  Übersinnlich-vorstellbaren  (wie  der  sogenannten 
unendlichen  Geraden)  ebensowohl  annehmen  dürfen  wie  die  Be- 
grenzung der  sinnlich-vorstellbaren  Strecke.  Denn  das  „Bestehen" 
aus  unendlichvielen  Teilen  (sinnlich-vorstellbaren  oder  untersinn- 
lich-vorstelibaren),  das  „Enthaltensein"  kommt  bei  beiden  vor. 
Die,  wie  wir  sahen,  durchaus  herbeizuziehende  Begründung  des 
Vorkommens  von  endloser  Teilung  oder  Verlängerung  steckt  dann 
in  beiden!  auf  ganz  entsprechende  Art.  Freilich  wird  die  über- 
sinnliche Gerade  mit  ihren  Enden  oder  mit  Anfang  und  Ende 
nicht  durch  Wahrnehmungen  der  Sinnesorgane  gegeben,  aber  sie 
wird  doch  (auch  im  Kantischen  Sinne)  „gegeben".  Ein  glattes 
Übergehen  aus  der  unendlichen  Teilung  heraus  bis  zur  Begrenzung 
oder  bis  zur  endlichen  Länge  findet  auch  im  Gebiete  des  Sinn- 
lich-vorstellbaren nicht  statt  (man  bedarf  der  Kantischen  Unter- 
scheidung oder  der  besonderen  Bildung  des  Limesbegriffes);  so 
braucht  und  wird  auch  ein  glattes  Übergehen  von  irgend  einem 
so  und  so  vielten  (mit  endlicher  Zahl  angebbaren)  wieder  ange- 
setzten endlichen  Einheitsteile  zur  unendlichen  (übersinnlichen) 
Länge  der  verlängerten  Geraden  nicht  stattfinden.     Beides  ist  auf 


Kants  Antinomien  xmä  das  Wesen  des  Unendlichen.  213 

dieselbe  Art  erklärt,  weder  durch  einen  Nichtsprung  noch  durch 
einen  Sprung-,  sondern  —  wie  ich  schon  oben  erwähnte  —  durch 
Wechsel  der  Weitenbehaftuugen,  durch  Zusammenfügen  von  Vor- 
stelhingen,  die  verschiedenen  räumlichen  Seinsgebieten  angehören, 
zu  einer  gemischten,  aber  ganz  exakten,  gesetzraässigen  Vor- 
stellung. 

Freilich  ist  es  hierbei  nötig,  die  Begrenzung  aufzuklären, 
sowohl  die  Begrenzung  einer  sinnlich-räumlichen  Grösse  wie  einer 
übersinnlichen  (um  so  kurz  statt  „sinnlich-vorstellbar"  etc.  zu 
sagen).  Kant  hat  sicher  Recht,  wenn  er  wesentlich  zwischen  den 
Teilchen  und  der  Grenze  unterscheiden  will.  Aber  lückenhaft  ist 
es,  wenn  er  nun  von  der  weiteren  Untersuchung  des  Wesens  der 
Begrenzung,  die  doch  auch  „räumlich"  seiü  soll  und  muss,  ab- 
sieht. Den  Punkt  als  etwas  ganz  Raumloses  aufzufassen,  das 
will  selbst  dem  Kinde  nicht  in  den  Sinn.  Auch  der  Lehrer  bringt 
das  Kind  auf  den  Punkt  durch  den  Fleck,  der  aber  immer  zu 
gross  sei,  weil  er  noch  durch  die  Sinne  wahrgenommen  werde. 
Besser  hiesse  es:  weil  er  überhaupt  noch  die  sinnlich-vorgestellte 
Ausdehnung  habe.  Der  Punkt  muss  wesentlich  verschieden  sein 
von  der  begrenzten  Strecke,  dem  begrenzten  Elecke,  er  muss  un- 
vergleichlich viel  kleiner  sein.  Dann  würde  die  E]rklärung 
stimmen,  dass  er  unendlich  klein  oder  untersiunlich-vorstellbar  sei. 
Aber  damit  würde  wieder  der  scharfe  Begriff  einer  Grenze  nicht 
stimmen,  weil  diese  Grenze  selbst  ja  nicht  mehr  mit  Anfang  und 
Ende  vorzustellen  ist.  Aus  dieser  Verlegenheit  scheint  mir  meine 
Erklärung  zu  helfen,  dass  der  Punkt  als  Begrenzung  einer  end- 
lichen Strecke  zwar  untersinnlich-klein  vorgestellt  werde,  man 
aber  dabei  jede  Vorstellung  einer  Begrenzung  dieser  untersinn- 
lich-kleinen Grösse  aufgiebt.  Die  Vorstellung  einer  Begrenzung 
ist  etwas,  was  dem  Geiste  eigentümlich  ist.  Wie  geschieht  sie? 
Sicher  durch  etwas  wesentlich  Kleineres;  die  Begrenzung  der 
sinnlich-vorstellbaren  Strecke  also  durch  das  Untersinnlich-kleine, 
die  Begrenzung  einer  noch  bestimmt  ausgedehnten  untersinnlichen 
Strecke  durch  etwas  noch  viel  Kleineres  (das  Untersinnliche 
zweiter  Ordnung).  Stellt  man  sich  überhaupt  nur  etwas  Unter- 
sinnlich-kleiues  vor,  ohne  an  dessen  genaue  Begrenzung,  Anfang 
und  Ende  zugleich  zu  denken,  so  erfüllt  dies  für  das  Sinnlich- 
vorstellbare  beide  Eigenschaften  eines  Punktes.  Auch  das  Un- 
endlich-grosse,  der  unendlich-grosse  Raum  kann  vorgestellt  werden 
ohne  Grenze  (wie  Kant  sagt :  als  solcher  gegeben  sein).     Aber  wir 

14* 


214  K.  Geissler, 

könueu  uns  auch  eine  endliche  Strecke  so  verlängert  denken,  dass 
sie   gar   nicht   mehr    endlich   bestimmt  mit  der  sinnlichen  zu  ver- 
gleichen   ist.     Wir   können   dies  ebenso  gut,  wie  wir  uns  in  einer 
endlichen  Strecke  unendlich-viele  Teile  enthalten  vorstellen.     Was 
aber   muss    dann    die  Begrenzung   der  positiv  Unendlichen  (Über- 
sinnlich-vorstellbaren)   sein?     Wie    man  von  der  unendlich-kleinen 
vorgestellten    Grösse    die  Vorstellung  einer  Begrenzung  fortlassen 
kann,   also  z.  B.   irgend   eine  untersinnliche  Strecke  als  Endpunkt 
einer  endlichen  auffassen  kann  (hier  aber  nicht  unter  „irgendeiner"  zu 
verstehen  eine  ausgewählte,  sondern  jede  beliebiggrosse,  von  Anfang 
und  Ende  befreite  solche  Grösse),  so  kann  auch  jede  im  Endlichen 
vorgestellte  Grösse  z.  B.  eine  aufgezeichnete  Strecke,  als  Anfangs- 
punkt einer  daselbst  beginnenden  Unendlichen  (^Übersinnlich-langen) 
gelten.     Nur   muss    man  mit  der  ursprünglichen  Vorstellung  einer 
solchen    endlichen    Strecke    eine  gewisse  Veränderung  vornehmen, 
man    muss   sie  frei  machen  von  der  Vorstellung  einer  bestimmten 
Grenze,    einer   sinnlichen    bestimmten   Länge,  man  muss  die  Vor- 
stellung   bilden    einer    „grenzenlosen"    oder    „von  der  Begrenzung 
durch    Grössen    niederer  Ordnung    befreiten"    Strecke.     Diese  ist, 
wenn    sie    auch    in    die   Weitenbehaftung    des  Sinnlichen    gehören 
soll,  doch  unvergleichlich   klein  gegenüber  der  übersinnlich-langen 
Linie.      Ebenso    wird    diese   letztere    als    Endpunkt   in    der   Vor- 
stellung    haben     eine    grenzenlose    endliche    (sinnlich-vorstellbare) 
Grösse.       Hierdurch    wird    der    allbekannte,    so    oft    besprochene 
Widerspruch     völlig     entfernt,    wonach    eine     unendliche     Gerade 
„ebensogut"    beginnen    könnte  bei  einem  Punkte  A  wie  bei  einem 
um  Sinnliches    davon    entfernten   Punkte  B.      Verlängert   man   in 
der    Vorstellung    eine    sinnlich-vorgestellte    Strecke    AB    über    B 
hinaus    in    das  Unendliche    und  lässt  sie  als  Übersinnlich-vorstell- 
bare irgendwo  räumlich  endigen,    so    ist  es  für  ihre  übersinnliche 
(unendliche)  Länge  gleichgültig,   ob  sie  bei  A  oder  bei  B  beginnt; 
weil    eben    die    Strecke   AB   als  Anfangspunkt  der  Übersinnlichen 
von    der   Vorstellung    eigener   Begrenzung   befreit   werden    muss. 
Dennoch    kann   man   auch  die  Unterscheidung  des  Punktes  A  und 
B  und  ihrer  Entfernung  machen,   aber  nicht  für  die  Grössenunter- 
scheidung  der  übersinnlichen  Grössen,    sondern    nur   für   die  etwa 
gleichzeitig    oder    in    derselben    Untersuchung    vorgestellte  Unter- 
scheidung   sinnlicher   Grössen.     Man  hat  dann  Vorstellungen  ver- 
schiedener Weitenbehaftungen    verbunden,    eine    Vorstellung    ge- 
mischter Weitenbehaftung  gebildet  und  kann  das  mit  völliger 


Kants  Antinomien  und  das  Wesen  des  Unendlichen.  215 

Klarheit,  wenn  man  nur  immer  die  Gesetze  über  die  Grössen 
innerhalb  derselben  Weiteubehaftung  unterscheidet  von  den  Ge- 
setzen der  Beziehung  zwischen  den  verschiedenen  Weitenbehaftungen. 
Ist  A  ein  Punkt  für  das  Endliche  (Sinulich-vorstellbare),  also 
selbst  als  Begrenzung  des  Sinnlichen  von  untersinulicher  Aus- 
dehnung, so  kann  er  doch  auch  ein  Anfangspunkt  für  eine  über- 
sinnlich-grosse  Strecke  sein,  ebenso  wie  B.  Wir  hatten  aber  vor- 
her gesagt,  die  endliche  Strecke  AB  sollte  als  Anfangspunkt  für 
die  übersinnliche  gelten;  das  ist  auch  richtig,  wenn  es  nur  auf 
Unterscheidung  übersinnlicher  Grössen  untereinander,  auf  ihre 
Verhältnisse  ankommt.  Dann  bringt  ein  Hinzuziehen  einer  sinn- 
lichen Grösse  wie  AB  für  die  übersinnlichen.  Grössenverhältuisse 
allein  nichts  (Null  oder  Punkt),  aber  es  macht  diese  Unterscheidung 
von  A  und  B  wohl  etwas  aus,  wenn  wir  uns  Vorstellungen  ge- 
mischter Weitenbehaftungen  bilden,  wenn  wir  in  derselben  räum- 
lichen, mathematischen  Betrachtung  sowohl  übersinnliche  Grösse 
wie  auch  sinnlich-vorstellbare  haben.  Entsprechend  kann  ein 
Anfang  oder  ein  Ende  einer  sinnlichen  Strecke  oder  sonst  ein 
Punkt  auf  einer  sinnlichen  Strecke  vorgestellt  werden  als  eine 
grenzenfreie  Grösse  des  Untersinnlichen  und  zwar  des  Untersinu- 
lichen  der  nächst  darunter  liegenden  Ordnung,  aber  es  ist  auch 
möglich  und  oft  notwendig,  sich  neben  den  sinnlichen  Grössen  auch 
noch  untersinnliche  mit  bestimmten  Grenzen  vorzustellen,  z.  B. 
bei  den  Berührungen,  bei  Vorstellung  einer  Tangente,  der  Krüm- 
mung (Krümmungsradius  u.  s.  w.).  Dann  kann  die  Grenze  für 
eine  sinnlich-wahrnehmbare  Grösse  das  grenzenfreie  der  nächst- 
niedrigen Weitenbehaftung  sein,  aber  auch  das  Grenzenfreie 
einer  noch  niedrigeren  Weitenbehaftung,  des  Unendlich-kleinen 
zweiter  Ordnung  oder  des  Punktes  für  das  Untersinnliche  erster 
Ordnung.  Kurz,  es  ist  überhaupt  der  Punkt  und  entsprechend 
jede  Begrenzung  das  „Grenzenfrei-kleine  von  irgend  einer  nied- 
rigeren Weitenbehaftung".^)  So  kompliziert  dies  auch  zuerst 
erscheinen  mag,  so  verhältnismässig  einfach  gestaltet  sich  doch 
das  Unendliche  danach  sowohl  auf  dem  Gebiete  der  Geometrie 
wde  der  Zahlenlehre;  es  kommt  hier  nur  darauf  an,  ob  die  Wider- 
sprüche in  der  Erklärung  des  Unendlichen  dadurch  verschwinden. 

')  Das  Nähere  gehört  nicht  hierher,  ist  aber  von  mir  ausgeführt  in 
zahlreichen  Abhandlungen,  in  mehreren  Büchern,  z.  B.  auch  in :  „Moderne 
Verirrungen  auf  philosophisch-mathematischen  Gebieten",  1909,  Verlag 
Alpwacht,  Lonay  bei  Lausanne.    (Direkter  Bezug.) 


21H  K.  Geissler, 

Es  ist  durch  diese  Unterscheidung  der  Weiteubehaftungen  noch 
nicht  Stellung  genommen  zu  der  für  Kant  so  wichtigen  Unter- 
scheidung vom  Sein  an  sich  und  von  der  empirischen  Realität 
der  Erscheinungswelt;  es  ist  dadurch  nur  die  Ausfüllung  einer 
offenbaren  Lücke  und  Unklarheit  bei  Kaut  möglich  gemacht,  näm- 
lich der  Unklarheit,  die  sich  bei  der  Erörterung  des  Unendlichen 
für  die  Geometrie,  z.  B.  die  unendliche  Verlängerung  der  Geraden 
zeigt.  Wir  haben  durch  Weiteubehaftungen  eine  Art  Seinsunter- 
scheidung innerhalb  des  Räumlichen;  Kant  kommt  es  bei  den 
Antinomien  auf  die  Unterscheidung  des  Dinges  an  sich  von  der 
Erscheinungswelt  an,  dadurch  glaubt  er  die  Widersprüche  zu 
lösen.  Bei  Betrachtung  dieser  Lösung,  seiner  Ausführung  wird 
aber  das  Vorstehende  nützen. 

Die  Vorstellung  des  Endlichen  wie  des  Unendlichen  gehört 
bei  Kant  der  Erscheinungswelt  an,  Raum  und  Zeit  sind  überhaupt 
nur  in  der  Sinnenwelt  (S.  422).  Die  Erscheinungswelt  steht 
allerdings  in  einer  Beziehung  zur  Welt  au  sich,  aber  er  spricht 
(beim  Endlichen  und  Unendlichen)  nur  von  „einer  Regel,  nach 
welcher  Erfahrung  ihrem  Gegenstande  angemessen,  angestellt  und 
fortgesetzt  werden  soll"  (S.  420,  421).  Wenn  auch  nach  dem 
vorher  von  mir  Ausgeführten  der  Unterschied  von  in  indefinitum 
und  in  infinitum  nicht,  wie  bei  Kant,  bestehen  bleiben  kann,  man 
vielmehr  bei  beiden  auf  einen  Grund  schliessen  muss,  und  wenn 
dieser  Grund  ebenso  wie  der  Grund  für  das  Endliche  (Sinnlich- 
vorstellbare)  gefunden  werden  kann  durch  Erkennung  verschiedener 
Weiteubehaftungen,  so  ist  doch  ein  Vergleich  zwischen  den  Kan- 
tischen Ausführungen  und  der  angedeuteten  Weitenbehaftungslehre 
möglich;  er  wird,  hoffe  ich,  auch  zum  weiteren  Verständnis  der 
bei  Kant  in  den  Ausdrücken  scheinbar  vorkommenden  Wider- 
sprüche beitragen.  Wenn  man  eine  geometrische  Grösse  mit 
ihrer  Begrenzung  (z.  B.  Strecke  mit  Endpunkten)  mit  verschiedenen 
Weitenvorstellungen  behaften  kann,  so  soll  dies  bedeuten,  die 
Strecke  könne  als  sinnlich-endlich  vorgestellt  werden,  die  End- 
punkte aber  als  grenzenfrei  Kleines  des  Untersinulichen  erster 
Ordnung;  oder  aber  die  Strecke  als  übersinnhchgross  und  die 
Punkte  als  grenzenfreie  Grössen  von  sinnlicher  Länge  u.  s.  w. 
Ebenso  könne  man  sich  ein  gleichseitiges  Dreieck  vorstellen  mit 
endlichen  Seiten  und  Schnittpunkten,  angehörig  dem  Untersinn- 
lichen, oder  mit  Übersinnlichgrossen  Seiten  und  Eckpunkten  von 
niederer  Behaftung,  z.  B.  sinnhcher  Fleckgrösse;  und  doch  passen 


Kants  Antinomien  und  das  Wesen  des  Unendlichen.  217 

Dreieckssätze  sowohl  auf  das  Dreieck  in  erstgenannter  Behaftung 
wie  auf  das  der  letztgenannten  Weiteubehaftung.  Endlich  können 
bei  derselben  Figur  auch  Behaftungen  verschiedener  Ordnung  vor- 
kommen, z.  B.  bei  einem  gleichschenkhgen  Dreiecke  mit  unend- 
lichkleinen Winkeln  an  der  Basis  könnten  die  Seiten  unendlichklein 
vorgestellt  werden;  dann  ist  die  auf  der  Basis  senkrecht  stehende 
Höhe  uutersinulich-klein  von  zweiter  Ordnung  (dies  Dreieck  ist 
wichtig  für  die  Krümmung,  z.  B.  als  Dreieck  dreier  unendlich- 
naher Punkte  einer  Kurve).  Mit  diesen  Vorstellungen  ist  nicht 
unmittelbar  die  Frage  von  dem  Sein  an  sich  oder  dem  Vor- 
stellungsseiu  verknüpft;  es  stimmt  aber  insofern  diese  Lehre  mit 
Kant  überein,  als  man  hier  zunächst  das  Endliche  wie  das  Un- 
endliche betrachten  kann  als  angehörig  einer  Vorstellungswclt 
(einer  Erscheinungswelt);  ich  dürfte  auch  sagen:  der  Sinneuwelt, 
wenn  ich  darunter  die  empirische  Welt  im  weiteren,  Kantischeu 
Sinne  verstehe  und  mit  hineinfasse,  dass  auch  in  dieser  Welt  die 
Begrenzung  selbst  nach  Kant,  noch  etwas  ganz  Besonderes  ist  — 
freilich  versagt  Kant  bei  der  Begründung  für  letzteres  und  ge- 
langt deshalb  auch  nicht  dahin  innerhalb  des  Seins  der  Vor- 
stellungswelt eine  Seinsunterscheidung  zu  machen  zwischen 
Grössengebieten.i)  Nach  der  Lehre  von  den  Weitenbehaftungen 
findet  die  Vorstellung  von  Begrenzungen  räumlicher  Art  (im 
Räume)  durch  die  Fähigkeit  verschiedener  Weitenbehaftungen 
statt.  Erst  dadurch,  dass  man  sich  Uutersinnlichkleines  vor- 
stellen kann,  begrenzt  man  (durch  eine  Fläche,  als  untersinulich 
grenzenlos  dünn)  und  hat  die  Vorstellung  eines  Körpers  oder  be- 
grenzten Raumes ;  ebenso  wird  die  Linie  und  der  Punkt  erklärt 
(der  in  neueren  Versuchen  geometrischer  Grundlagen  einfach  gar 
nicht   mehr    erklärt    wird    in    offenbarer    Verzweiflung    an    der 


1)  Es  ist  an  mich  oft  die  Aufforderung  herangetreten,  meine  Aus- 
drücke: Weitenbehaftungen,  Weitengebiete  etc.  durch  lateinische,  franzö- 
sische oder  italienische  Wörter  auszudrücken,  doch  ist  mir  dies  schwer 
geworden,  weil  ja  auch  das  Wort  „Weiteubehaftung"  im  Deutschen  neu 
gebildet  wurde  und  gebildet  werden  musste.  Leichter  wäre  es  vielleicht, 
das  hier  gebrauchte  Wort  „Grössengebiete"  zu  übersetzen,  aber  es  darf 
freilich  nicht  missverstanden  werden,  nicht  etwa  als  eine  Zusammenfassung 
eines  Gebietes  von  räumlichem,  zeitlichem,  von  Zahlengrössen,  während 
es  in  Wahrheit  eine  Unterscheidung  von  Gebieten  ist,  die  sowohl  bei  der 
Zeit,  wie  bei  dem  Räume,  der  Zahl  u.  s.  w.  vorkommen,  von  Gebieten, 
die,  selbst  metaphysisch,  unterscheidbar  sind  und  doch  mathematisch  und 
philosophisch  gesetzmässig  in  Beziehungen  stehen. 


218  K.  Geissler, 

Lösung  dieser  Aufgabe).  Die  Dimeusionen  unterscheidet  man 
auch  erst  dadurch  klar,  dass  man  Linien  verschiedener  Richtung 
sich  vorstellt;  dazu  ist  also  wieder  die  niedere  Weitenbehaftung 
nötig,  welche  den  Begriff  der  unendlichen  Dünne  oder  der 
Ausdehnung  Null  in  einer  Richtung  möglich  macht  u.  s.  w.  Frei- 
lich müssen  im  Räume  Gründe  auch  für  die  nachher  so  vor- 
gestellte Dreidimeusionalität  vorhanden  sein;  aber  es  ist  falsch, 
wenn  man  anfängt  (ohne  Erklärung  der  Begrenzung,  der  Linie, 
des  Punktes),  erst  von  einer  räumlichen  Dimension,  dann  von 
zweien,  dreien  —  und  nun  ganz  kühn  ohne  eigentliche  räumliche 
Vorstellung  von  vier  Dimensionen  und  ihrer  räumlichen  Möglichkeit 
zu  reden. ^)  Sehr  ähnlich  klingt  es  bei  Kant,  wenn  er  sagt,  der 
Raum  werde  als  eine  unendliche  gegebene  Grösse  vorgestellt,  die 
Teile  des  Raumes  werden  nur  in  ihm  gedacht,  können  nicht  vor 
dem  einzigen,  allumfassenden  Räume  gleichsam  als  dessen  Be- 
standteile (daraus  seine  Zusammensetzung  möglich  sei)  vorher- 
gehen (S.  52);  die  Lückenhaftigkeit  aber  zeigt  wieder  an  das: 
„alle"  in:  alle  Teile  des  Raumes  ins  Unendliche  sind  zugleich", 
(S.  53;  2.  Ausgabe),  besser  ist  der  Ausdruck  „Bewusstsein",  wenn 
er  sagt,  die  Erscheinungen  könnten  nicht  anders  apprehendiert, 
d.  i.  ins  empirische  Bewusstsein  aufgenommen  werden  als  durch 
die  Synthesis  des  Mannigfaltigen,  wodurch  die  Vorstellungen  eines 
bestimmten  Raumes  oder  Zeit  erzeugt  werden  (S.  159,  auch  Zusatz 
der  2.  Ausgabe).  Man  wird  hiernach  auch  besser  den  Unterschied 
von  „enthalten"  und  „bestehen"  bei  Kant  verstehen.  Der  Raum, 
d.  h.  ein  in  seinen  Grenzen  angeschauter  Raum,  enthält  nach 
ihm  alle  uneudlich-vielen  Teile;  ebenso  enthält  der  Körper  alle 
Teile  (weil  sich  seine  Teilbarkeit  auf  die  Teilbarkeit  des  be- 
grenzten Raumes  gründe)  oder:  es  sind  alle  seine  Teile  in  der 
Anschauung  des  Ganzen  enthalten.  Aber  die  Handlung  der 
Teilung,  die  fortgehende  Decomposition,  kommt  niemals  zu 
ende;  man  könne  nicht  sagen,  dass  die  ganze  Teilung  (die 
Sperrung  rührt  von  mir  her ;  K.  G.)  in  dem  begrenzten  Räume 
oder  Körper  enthalten  sei.  Solche  Handlung  der  Teilung  könne 
niemals  alle  Zusammensetzung  fortschaffen,  weil  sonst  aller  Rauoi 
aufhören  würde  (S.  423,  424).  Es  ist  bei  der  Handlung  (ich  be- 
tone, um  Kant  so  verständlicher  zu  machen,    das  Wort  Handlung, 


1)  Vgl.  meinen  Aufsatz  :   Die  Dimensionen  des  Raumes  und  ihr  Zu- 
sammenhang, Archiv  f.  syst.  Philosophie  XIII,  H.  3,  1907. 


Kauts  Antinomien  und  das  Wesen  des  Unendlichen.  219 

K.  G.)  des  Teileus  in  der  Geometrie  „möglich  ins  Unendliche 
fortzugehen",  nicht  bloss,  wie  bei  in  iudefinitum :  „ins  Unendliche 
möglich  fortzugehen".  Es  liegt  also  bei  Kant  offenbar  die  An- 
nahme eines  Grundes  für  die  Handlung  vor,  eines  Grundes,  der 
gegeben  ist,  wie  der  unendliche  Raum  gegeben  ist.  Schade,  dass 
er  die  Tatsächlichkeit  dieses  Grundes  —  ohne  dabei  noch  von  der 
Handlung  zu  sprechen  —  nicht  näher  untersucht  hat;  er  wäre 
dann  auch  vielleicht  dahin  gekommen,  zweierlei  oder  mehrererlei 
Tatsächlichkeiten  anzuerkennen,  auf  die  sich  das  Endliche,  das 
Übersinnlichgrosse  und  das  Untersinnlichkleine  stützt,  und  die  nie 
zu  ende  kommenden  Handlungen,  welche  wir  beim  empirischen 
Teilen  und  Zusammensetzen  in  Angriff  nehmen,  welche  uns  aber 
nicht  hindern  dürften,  eine  bestimmte  unendliche  Anzahl  oder  be- 
liebig viele  derselben  und  ihre  Verhältnisse,  in  der  Vorstellung 
klar  zu  bilden,  ohne  jenes  sprunglose  Weiterzählen  oder  Zerlegen, 
auch  ohne  einen  endlichen  Sprung,  sondern  durch  einen  Wechsel 
unserer  Vorstellungsfähigkeiten. 

Lehrt  nun  auch  Kant,  dass  der  begrenzte  Raum  oder  Körper 
uneudlichviele  Teile  enthalte,  so  sagt  er  doch,  er  bestehe  nicht 
daraus;  er  denkt  bei  dem  Worte  „bestehen"  offenbar  an  ein  Zu- 
standekommen der  ganzen  unendlichen  Teilung  oder  der  ganzen 
Zusammensetzung  durch  unsere  ununterbrochene,  sprunglose  Kom- 
position; die  unendliche  Teilung  bezieht  sich  immer  nur  auf  Er- 
scheinung als  quantum  continuum.  Ein  solches  Bestehen  oder 
eine  Teilungshandlung  bez.  Zusammensetzungshandlung  bis  zum 
Bestehen,  bis  zum  auf  solche  Art  hergestellten  Sein  oder  Dastehen, 
erscheint  ihm  unmöglich.  Wenn  man  das  kontinuierliche  Weiter- 
gehen oder  Teilen  nur  innerhalb  eines  endlich-zeitlichen  Erlebens, 
einer  menschlich  ausführbaren  Tätigkeit  sucht  und  kennt,  dann 
kann  man  freilich  nie  zum  „Bestehen"  kommen,  obgleich  der 
Raum  als  unendliches  Ganzes  gegeben  und  der  Körper  die  Teile 
„enthalten"  soll.  Wenn  man  aber  die  Möglichkeit  einer  Hand- 
lung: „Teilen,  Zusammensetzen,  Zählen"  vom  Zeithchen  befreit 
und  überlegt,  was  ausser  dem  Zeitlichen  darin  steckt,  so  muss 
man  auf  einen  tatsächlichen  Grund  schliessen,  auf  eine  räumliche 
und  zahlenmässige  Tatsächlichkeit.  Und  diese  Tatsächlichkeit 
enthält  nicht  bloss  das  räumliche  Bestehen  aus  sinnlich-vorstell- 
baren Stücken,  die  immer  kleiner  sind  oder  das  Ganze  immer 
grösser  machen,  mit  endlicher  Kontinuität,  d.  h.  mit  sprunglosem 
oder   nicht    irgendwo    andersartigem  Zusammenstehen  (Zusammen- 


220  K.  Geissler, 

sitzen  oder  Zusammenhäng-en).  Denn  dieses  Zusammenhängen  aus 
bestimmten  Stücken  ist  uuverständlicli  ohne  Begrenzung-  jedes 
Stückes,  verlangt  also  die  Hinzuziehung  und  die  Aufklärung  des 
Wesens  der  „Begrenzung".  Zieht  man  aber  diese  „Begrenzung" 
hinzu,  indem  man  versucht,  sie  aufzuklären,  anstatt  sie  einfach 
als  etwas  Unverständliches  oder  gar  als  blosses  Wort  dabei  zu 
lassen,  so  hat  man  damit  ein  anderes  Gebiet  von  Grössenvorstel- 
luug,  die  Vorstellung  von  unvergleichlich  viel  kleinereu  Grössen 
(der  niederen  Weitenbehaftung).  Diese  Uuvergleichlichkeit  gilt 
nicht  mehr,  sobald  man  sich  diese  Grössen  eines  niederen  Ge- 
bietes begrenzt  und  unendlichoft  (übersiuulichmal)  zusammengesetzt 
vorstellt.  Dann  bilden,  in  der  Vorstellung,  übersinnlichviele  unter- 
sinnlichkleine  Grössen  eine  sinnlichvorstellbare  Grösse.  Man 
würde  auch  nach  heutigem  Sprachgebrauche  aus  dem  Worte  „Be- 
stehen" die  Vorstellung  der  Handlung,  der  zeitlich-menschlichen 
Tätigkeit  ausschliessen  und  dann  sagen  dürfen,  eine  übersinnliche 
(unendliche)  Grösse  enthalte  übersinnlichviele  sinnlich-vorstellbare 
Teile  oder  auch  „bestehe"  aus  ihnen. 

Wollen  wir  aber  nun  wieder  von  der  zeitlichen  Tätigkeit 
des  Zusammensetzens  oder  Teilens  (oder  eines  zeitlich  zu  ende 
kommenden  Kantischen  Bestehens)  sprechen,  so  müssten  auch  wir 
sagen,  durch  die  gewöhnliche,  bisher  nur  vorgestellte  sprunglose 
allmähliche  Aneinandersetzung  der  sinulich-vorstellbaren  Grössen 
oder  durch  derartige  Teilung  käme  man  nicht  zu  einem  sinnlichen 
Ende,  zu  einem  sinnlichen  Bestehen  —  aus ;  die  sinnliche  Kontinuität 
führe  dazu  nicht;  man  könne  auch  nicht  bei  irgend  einer  Stelle 
dieser  zeitlich-sinnlichen  Tätigkeit  aufhören,  einen  Sprung  (nach 
sinnlicher  Art  vorgestellt)  macheu  und  käme  so  nicht,  ohne  etwas 
Weiteres  zu  gebrauchen,  zu  der  Vorstellung  einer  übersinnlichen 
(bisher  unendlich  genannten)  Grösse.  Vielmehr  werden  wir  sagen, 
wir  geben  zwar  Kant  Recht,  wenn  er  ein  solches  Erreichen  oder 
Bestehen  leugnet,  aber  wir  gingen  über  Kant  hinaus  und  müssten 
über  ihn  hinausgehen  in  folgender  Art,  Wird  auch  die  zeitlich- 
sinnliche  Tätigkeit  bei  der  Composition  und  Decomposition  mit 
sinnlicher  Kontinuität  nie  zuende  geführt,  so  steht  uns  doch  ein 
Mittel  zur  Verfügung,  um  mit  Abbrechung  dieser  Tätigkeit  über- 
zugehen zu  einer  tatsächlichen  Vorstellung  eines  Untersinnlich- 
kleinen oder  eines  Übersinnlich-grossen.  Und  wir  besitzen  tat- 
sächlich nicht  bloss  die  Fähigkeit  der  Vorstellung  eines  („ge- 
gebenen")   unendlichen    Raumes,    einer   („gegebenen")  Begrenzung 


Kants  Antinomien  und  das  Wesen  des  Unendlichen.  221 

bei  endloser  Teiluüg,  sondern  sogar  die  Fähigkeit  der  Vorstellung 
von    klar    unterscheidbareu,    in    bestimmten  Verhältnissen    zu  ein- 
ander   stehenden  übersinnlichen  und  uutersinnlichen  Grössen,    und 
die  Fähigkeit  sowohl  durch  Weglassung  der  Vorstellung  bestimmter 
Begrenzung   einer  Grösse  niederen  Gebietes  gerade  diese  grenzen- 
los-kleine   Grösse    als  Begrenzung    (Punkt  u.  s,  w.)    einer    Grösse 
höheren  Gebietes    (z.  B.    sinulich-vorstellbarer  Strecke)  zu  fassen; 
endlich  auch  die  Fähigkeit  der  Vorstellung  einer  Zusammensetzung 
von   übersinnlichvielen    Grössen    eines    Gebietes    zu   einer    Grösse 
höheren    Gebietes.      Nur    muss    man    nicht   verlangen,    dass    eine 
sinnlich-endliche  Tätigkeit  der  Zusammensetzung  wirklich  im  zeit- 
lichen Leben    des    Menschen    ausgeführt    werde;    ein  solches  Ver- 
langen wäre  auch  geradezu  widerspruchsvoll;  denn  wie  sollte  man 
etwas  Nichtsiunliches  einzig  und  allein  durch  etwas  Sinnliches  zu 
Stande  bekommen?:  Dieses  jahrtausendelange  Rätsel  des  Zusammen- 
hanges ohne  Widerspruch  zwischen  dem  Sinnlich-vorstellbaren  und 
dem  Unendlichen  wäre  durch  Ausweisung  dieses  negativen  Wortes 
und    durch   Auffindung    widerspruchsloser  Gesetze    zwischen   ver- 
schiedeneu Seinsgebieten  gelöst.     Wir  dürfen  bei  Kant  die  völlige 
Lösung  noch  nicht  suchen,   wir  dürfen  es  aber  nicht  auslegen  als 
Konfusion,  wenn  wir  bei  Kant  noch  nicht  alles  erklärt  finden;  er 
hat   im  Gegenteil   trotz    des  Fehlens,    trotz    der   von   mir  oft  ge- 
nannten Lücken  das  Übrige,    was  ihm  und  seinen  Vorgängern  be- 
kannt war,  meist  sehr  scharf  behandelt.     Ihm  kommt  es  besonders 
darauf   an,    die   Antinomien    zu  lösen  durch  Unterscheidung  eines 
Seins  an  sich,  eines  „Dinges  an  sich",  bei  den  Begriffen  der  zeit- 
lichen   und    räumlichen    Welt,    der   Freiheit   und   Kausalität,    der 
Existenz  Gottes.     Er   sucht  das  Endliche  und  das  Unendliche  nur 
in   der   empirisch-realen  Welt    und  zwar  vermöge  unserer  Formen 
der  Anschauung   und    des   Denkens,    übersieht   aber   zu   sehr  die 
Möglichkeit,  dass  es  auch  in  dieser  Auschauungs-  und  Vorstellungs- 
welt verschiedene  Gebiete   geben  könne,    die  man  durchaus  scharf 
trennen  muss   in   ihrem  Vorstellungssein  und  zwischen  denen  man 
Gesetze  finden  kann,    welche  diese  Seinsarten  verbinden,    also  ein 
Sein   der  Beziehung   geben.     So    wie  wir  nun  hier  die  Seinsarten 
des  Sinnlichvorstellbaren  und  Über-  oder  Untersinnlich-vorstellbaren 
unterscheiden   und  doch  verbinden,   so  könnte  man  möglicherweise 
auch    das    gesamte,    umfassende    Sein    der   von   uns    vorgestellten 
Welt,    ähnlich    wie    bei    Kant,    trennen    von    einem    anderen    Sein 
(nach  Kant:  „an  sich"),  und  doch  über  Kant  hinausreichend  und 


222  K.  Geissler, 

ihn  in  seinem  schroffen  Gegensätze  verbessernd  metaphysische 
Beziehimg-sg-esetze  annehmen  und  dieselben,  wenn  sie  dem  Ver- 
stände und  der  Vernunft  nirgends  widersprechen  und  ausserdem 
sich  auf  eine  bis  dahin  nicht  genüg-end  beachtete  geistige  Tat- 
sächlichkeit stützen,  erkenutnistheoretisch  aussprechen  und  be- 
nutzen. Diese  Möglichkeit  müssen  wir  offen  lassen  und  an  sie 
denken,  wenn  wir  nun  die  vielangegriffene  Kantische  Darstellung 
seiner  Antinomien  überprüfen  wollen.  Auch  hierbei  wird  viel- 
leicht das  Wesen  des  Unendlichen  noch  weiter  zur  bewussten  Er- 
kenntnis kommen. 

Kant  glaubt,  jeder  der  beiden  einander  widersprechenden 
Beweise,  der  für  die  Thesis  und  der  für  die  Antithesis  jeder 
Antinomie,  sei  für  sich  richtig,  falls  man  seine  Unterscheidung 
der  Erscheinungswelt  und  des  Dinges  an  sich  nicht  machte.  Nach 
meinen  vorstehenden  Ausführungen  muss  man  hinzusetzen, 
es  sei  ein  weiterer  Fehler  vorhanden ;  es  sei  zwar  der  Unterschied 
zwischen  der  sinnlichen  und  unsinnlichen  Weitenvorstellung  geahnt, 
aber  doch  nicht  Rücksicht  genommen  auf  ihre  Unvereinbarkeit  in 
einem  einzigen,  nur  eine  Kontinuität  enthaltenden  Grössengebiete. 
Das  zeigt  sich  darin,  dass  erstens  der  Hauptbegriff  (wie  derjenige 
der  Welt),  selbst  wenn  man  in  ihm  nur  sieht  die  empirische  oder 
Erscheinungswelt  im  Kantischen  Sinne,  umfassend  Endliches  und 
Unendliches,  nicht  genau  definiert,  nicht  getrennt  ist  in 
einen  von  der  sinnlich-vorstellbaren  Welt  und  einen  solchen,  in 
dem  auch  das  Unsinnlich-Vorstellbare  eine  Rolle  als  Ausgedehntes 
spielt.  Zweitens  zeigt  es  sich  darin,  dass,  trotz  der  weiten 
Fassung  des  Hauptbegriffes,  innerhalb  der  Beweise  nur  ent- 
weder eine  sinnlich-endliche  Kontinuität  beweisend  be- 
nutzt wird  oder  nur  die  tatsächliche  Vorstellbarkeit  des 
Unendlichen.  Zur  Vermeidung  der  Widersprüche  des  Endlichen 
und  Unendlichen  muss  man  zwar  schliesslich  auch  Rücksicht 
nehmen  auf  den  Unterschied  eines  allgemeinen  Seins  (oder 
mehrerer  Stufen  eines  solchen  nebst  ihren  Beziehungen)  und  des 
die  Erscheiuuugswelt  umfassenden  Seins,  aber  auch  auf  den 
Unterschied  des  siunlich-vorstellbaren  und  unsinnlich-vorstellbaren 
Seins  innerhalb  dieser  Erscheinungswelt. 

Wenn  man,  wie  Kant,  den  Beweis  indirekt  führt  und  das 
Gegenteil  der  Behauptung  annimmt,  die  Unmöglichkeit  des  Gegen- 
teils zu  zeigen  sucht,  und  nun  auf  die  Richtigkeit  der  Behauptung 
schliesst,    so    wäre    beim   vollständigen    sonstigen  Gelingen   dieses 


Kants  Antinomien  und  das  Wesen  des  Unendlichen.  223 

Beweises  der  Fehler  nur  darin  zu  suchen,  dass  diese  beiden 
Gegenteile  Endlich  und  Unendlich  sich  in  Wahrheit  nicht  aus- 
schiiessen;  dass  sie  sich  nur  dann  ausschliessen,  wenn  die  gegen- 
teiligen Behauptungen  sich  auf  ein  von  der  Vorstellung  un- 
abhängiges Sein  (an  sich)  beziehen.  Eine  klare  Darstellung 
dafür,  dass  für  eine  Vorstelluugs-  und  Erscheinungswelt  diese 
Gegenteile  sich  nicht  ausschliessen,  gelang  Kant  nicht;  die 
Schwierigkeit  ist  nicht  entfernt  durch  den  Namen  des  „regula- 
tiven Prinzips",  die  Angabe  (S.  422),  dass  „die  Welt  niemals  ganz 
gegeben  werden  kann*',  „der  Begriff  der  Weltgrösse  nur  durch 
den  Regressus",  dass  ,,jeuer  immer  nur  im  Bestimmen  der 
Grösse"  bestehe  und  „also  keinen  bestimmten  Begriff"  gebe,  „also 
auch  keinen  Begriff  von  einer  Grösse,  die  in  'Ansehung  eines  be- 
stimmten Masses  unendlich  wäre",  „nur  in  unbestimmte  Weite 
gehe".  Wenn  sich  auch  das  Endliche  und  Unendliche  nicht  auf 
ein  Sein  au  sich  bezöge,  und  wenn  man  auch,  wie  Kant  lehrt 
(S.  420),  weder  sagen  kann:  die  Welt  ist  unendlich  (da  dies  „in 
Ansehung  der  Welt,  als  eines  Gegenstandes  der  Sinne,  schlechter- 
dings unmöglich"  sei),  noch  sagen  kann;  „sie  ist  endlich;  denn 
die  absolute  Grenze  ist  gleichfalls  empirisch  unmöglich",  so  reicht 
doch  der  Ausweg  nicht  hin  (S.  420):  „demnach  werde  ich  nichts 
von  dem  ganzen  Gegenstande  der  Erfahrung  (der  Sinnenwelt), 
sondern  nur  von  der  Regel,  nach  welcher  Erfahrung  ihrem  Gegen- 
stande angemessen,  angestellt  und  fortgesetzt  werden  soll,  sagen 
können".  Eine  solche  Regel,  ein  solches  regulatives  Prinzip  hat 
keinen  Inhalt,  wenn  nicht  dabei  eine  tatsächliche  Vorstellung  des 
Übersinnlichgrossen  und  des  Eudlichgrossen  benutzt,  erwähnt  wird, 
oder  irgendwie  vorkommt.  Man  kommt  nicht  damit  aus,  das  Un- 
endliche nur  als  etwas  Verneinendes  zu  fassen,  sondern  es  muss 
ein  konträrer  Gegensatz  zweier  tatsächlich  möglicher  Vorstellungen 
vorhanden  sein;  und  solche  Vorstellungen  sind  beide  etwas  Posi- 
tives, sie  „sind"  in  einem  gewissem  Sinne,  im  Sein  der  Vor- 
stellung überhaupt.  Und  dieses  Sein  kann  in  mehrere  Arten 
zerfallen.  Der  Drang  „fortzusetzen"  kann  dabei  wohl  bestehen, 
aber  nicht  bloss  dieser  leere  oder  halbleere  Drang  eines 
regulativen  Prinzips. 

Sehen  wir  die  Beweise  zu  den  einzelnen  Antinomien 
m!  Die  Welt  hat  einen  Anfang  in  der  Zeit,  wird  behauptet. 
Indirekt:  sie  habe  keinen  Anfang;  dann  müsse  bis  zu  jedem  ge- 
gebenen Zeitpunkte    eine   unendliche  Reihe    verflossen   sein.     Das 


224  K.  Geissler, 

soll  unmög-lich  sein.  Um  dies  letztere  zu  zeigen,  wird  gesagt,  die 
Unendlichkeit  bestehe  eben  darin,  dass  die  Reihe  durch  successive 
Synthesis  niemals  vollendet  sein  könne.  Es  wird  hier  also  (in- 
direkt) bewiesen  mit  Hilfe  der  Unendlichkeit.  Kant  hält  den  Be- 
weis nur  deshalb  für  falsch,  weil  „(S.  258)  eine  Ewigkeit  wirk- 
licher aufeinanderfolgender  Zustände  bis  zu  einem  gegebenen 
Zeltiiuukte  nicht  verflossen  sein  kann",  er  will  mit  dem  Unterschiede 
der  Erscheinungswelt  und  des  Dinges  an  sich  aufklären.  Aber 
Kant  streicht  dabei  die  Unendlichkeit  auch  nicht  heraus  aus 
der  Erscheinungswelt.  Die  Vorstellung  einer  unendlichen  Reihe 
ist  also  wohl  möglich,  sogar  in  einer  gewissen  Art  tatsäch- 
lich. Man  könnte  Kant  vorwerfen,  auch  in  der  Erscheinungswelt 
dürfe  das  Unendliche  nicht  vorkommen,  wenn  man  sich  in  dieser 
Erscheinnngswelt  nur  auf  die  successive  Synthesis  (in  endlicher 
Art  mit  endlicher  Kontinuität)  stützt  und  nur  dies  als  beweisend 
und  entscheidend  angiebt;  das  regulative  Prinzip  nütze  da  nichts, 
oder  man  müsse  aus  ihm  alles  Unendliche  herausstreichen,  und 
dann  hat  es  überhaupt  keinen  Zweck  mehr.  Also  man  müsse 
auch  für  die  Erscheinungswelt  oder  unsere  Vorstellung  (mit 
Anschauungs-  und  Denkformen)  anerkennen,  dass  der  Wider- 
spruch des  Endlichen  und  Unendlichen  bleibe.  Diesem  Einwurfe 
kann  man  nur  wieder  begegnen,  wenn  man  auch  in  der  Vor- 
stellungswelt eine  verschiedene  Art  von  Sein  oder  Seinsgebieten 
anerkennt,  die  konträr,  nicht  kontradiktorisch  sind,  die  beide  tat- 
sächlich sind  und  ohne  Widerspruch  durch  Beziehuugsgesetze 
vereint  werden  können.  Die  Vorstellung  der  unendlichen  Zeit- 
dauer bis  zur  Gegenwart  ist  wohl  möglich,  nur  darf  man  sie  sich 
nicht  verflossen  denken  durch  Aneinandersetzen  einer  endlichen 
Anzahl  endlicher  Zeitabschnitte,  sondern  man  muss  sie  sich  vor- 
stellen durch  ein  Bestehen  (dies  Wort  nicht  in  Kautischer  Art 
gebraucht,  nach  ihm  ein  Enthaltensein)  aus  übersinnlichvielen  von 
im  einzelnen  oder  in  endlicher  Anzahl,  also  sinnlich-erlebbaren 
Zeiten,  und  man  braucht  zu  dieser  Vorstellung  ein  Hinaufschwingen 
auf  einen  höheren  Seinsstandpunkt  über  das  Einzelsinnliche  hinaus, 
einen  Wechsel  der  Weitenbehaftung,  oder  eine  gemischte  Weiten- 
behaftung.  Zu  sagen:  jetzt  geht  es  immer  so  weiter,  wie  ich  es 
eben  sinnlich-geschichtlich  für  einige  Abschnitte  beschrieben  habe, 
und  dadurch  gelangen  wir  glatt  hinein  in  die  Ewigkeit,  ist  frei- 
lich falsch,  auch  falsch  für  eine  blosse  Erscheinungs-  oder  Vor- 
stellungs-Ewigkeit!    Derselbe    P'ehler   oder   dieselbe  Lücke  steckt 


Kants  Antinomien  und  das  Wesen  des  Unendlichen.  225 

in  dem  Beweise  für  die  Thesis:  die  Welt  ist  dem  Räume  nach 
in  Grenzen  eingeschlossen.  Auch  hier  macht  nicht  bloss  die  Be- 
rufung auf  „wirkliche"  Dinge  den  Beweis  fehlerhaft,  sondern  das 
einseitige  Hineinbringen  der  successiven  Sjmthesis  oder  der  all- 
mählichen Zusammensetzung  aus  endlich-sinnlichen  Teilen,  als 
beweisend.  Dinge  an  sich  oder  wirkliche  Dinge  in  diesem  Sinne, 
die  also  von  unserer  Vorstellung  ganz  unabhängig  wären,  werden 
freilich  durch  einen  blossen  Vorstellungsgegensatz  nicht  gegen- 
sätzlich oder  widersprechend  gemacht.  Wenn  sich  aber  das  End- 
liche und  Unendliche  als  konträre,  nicht  kontradiktorische,  Vor- 
stellungsart verträgt,  so  könnten  auch  bei  den  Dingen  an  sich 
verschiedene  Seinsstufen  tatsächlich  sein,  die  sich  konträr  ver- 
tragen (wie  Ton  und  Farbe  bei  den  Empfindungen),  und  es  wäre 
damit  die  Behauptung  Kants  hinfällig,  dass  Endliches  und  Unend- 
liches (nun  besser:  Unsinuliches  und  doch  Ausgedehntes)  nur  in 
der  Vorstellungswelt  vorkämen.  Beziehhch  der  Antithesis:  Die 
Welt  hat  keinen  Anfang  und  keine  Grenzen  im  Räume,  sondern 
ist  sowohl  in  Ansehung  der  Zeit  und  des  Raumes,  unendlich, 
wehrt  sich  Kant  dagegen,  hier  überhaupt  nur  von  einem  allge- 
meinen Begriffe  der  Welt,  dem  mundus  intelligibilis,  zu  sprechen, 
bei  dem  von  allen  Bedingungen  der  Anschauung  abstrahiert  sei. 
Darüber  sei  gar  kein  synthetischer  Satz  möglich,  wieder  bejahend 
noch  verneinend  (S.  361).  Man  rede  bei  den  Behauptungen  der 
Antinomien  von  einem  mundus  phaenomenon,  von  räumlich-zeit- 
licher Welt.  Wäre  diese  begrenzt,  so  heisst  es  in  dem  indirekten 
Beweise,  so  liege  sie  notwendig  in  dem  sonst  leeren  unendlichen 
Räume  und  beginne  an  einem  Zeitpunkte  einer  vorher  leeren  Zeit. 
Macht  man  nun  den  Fehler,  gegen  den  sich  Kants  Lehre  richtet, 
zu  behaupten,  diese  räumlich-zeitliche  Welt  existiere  an  sich,  so 
ist  nach  Kant  der  indirekte  Beweis  zur  Antithesis  sonst  richtig 
und  ergiebt  den  Widerspruch  zu  dem  sonst  richtigen  Beweise  der 
Thesis.  Die  unendliche  Leere  müsse  das  Dasein  wirklicher  Dinge 
ihrer  Grösse  nach  bestimmen.  Man  hätte  das  Verhältnis  einer 
(dann  auch  wirklich  an  sich  existierenden)  leeren  Zeit  und  eines 
leeren  Raumes  (natürlich  ist  gemeint  die  dem  Weltanfange  vorher- 
gehende Zeit  und  der  Raum  mit  Ausnahme  des  von  der  Welt 
erfüllten  Teiles)  zu  einer  zeitlich-räumlich-begrenzten  Welt;  und 
das  sei  das  Verhältnis  der  Welt  (eines  absoluten  Ganzen)  zu 
keinem  Gegenstande.  Er  meint  offenbar,  die  leere  Zeit  und  der 
leere  Raum  müssten  etwas  auch  an  sich  Existierendes  sein,  wenn 


226  K.  Geissler, 

sie  als  seiend  ein  seiendes  Verhältnis  zu  der  seienden  räumlich- 
zeitlichen  Welt  haben  sollten,  was  ihm  auch  nötig  erscheint.  Es 
soll  aber  nach  ihm  kein  Teil  einer  leeren  Zeit  (eines  leeren 
Raumes)  vor  einem  anderen  eine  unterscheidende  Bedingung  des 
Daseins  haben.  Kant  glaubt,  dass  durch  seine  Unterscheidung 
des  Dinges  an  sich  von  der  Erscheinuugswelt  (der  räumlich-zeit- 
lichen mit  dem  Endlichen  und  Unendlichen)  der  Widerspruch 
eines  Verhältnisses  vom  seienden  unendlichen  Leeren  zur  seienden 
begrenzten  Welt  fortfiele.  Er  meint  auch  nicht,  dass  etwa  die 
Erscheiuungswelt  räumlich  und  zeitlich  unendlich  oder  endlich 
sein  müsse,  sondern  hofft  von  diesem  „oder"  loszukommen  durch 
sein  regulatives  Prinzip  des  Weitergehens.  Nach  dem  früher 
Ausgeführten  müssen  wir  aber  sagen:  es  steckt  in  dem  Beweise 
nicht  etwa  bloss  ein  Fehler  wie  der  behauptete  vom  Verhältnisse 
der  seienden  Leere  zur  seienden  begrenzten  zeitlich-räumlichen 
Welt;  es  wird  nicht  alles  klar,  falls  man  die  Kantische  Unter- 
scheidung nlacht.  Sondern  es  fehlt  überhaupt  die  klare  Einsicht 
in  das  Wesen  der  zeitlichen  und  räumlichen  Grenze  (als  etwas 
Ausgedehnten),  die  Anerkennung  des  räumlichen  und  zeitlichen 
Über-  und  Untersinnlichen  als  tatsächlich  Vorgestellten,  auch  beim 
regulativen  Prinzipe  nicht  Weglassbaren.  Es  fehlt  die  Vor- 
stellung eines  widerspruchslosen  Ausgedehnten  sinnlichen  und  un- 
siunlichen  Seins  mit  widerspruchslosen  Beziehungsgesetzen.  Ohne 
diese  Lehre  bleibt  die  Schwierigkeit  auch  bestehen,  trotz  der 
Kautischen  Unterscheidung  des  Dinges  an  sich  und  der  Au- 
schauungs-  und  Denkformen,  sie  bleibt  bestehen  auch  für  die 
blosse  Lehre  vom  mathematischen  Räume  und  der  mathematischen 
Bewegung.  Bei  Anerkennung  der  verschiedenen  Weitenbehaftungeu 
als  geistiger  Vorstellungsarten  tritt  aber  auch  wieder  die  Möglich- 
keit auf,  dass  man  über  die  blosse  Vorstellung  hinausdenkend, 
also  im  Denken  in  ein  höheres  Seinsgebiet  tretend,  doch  noch  von 
Endlichkeit  oder  Unendlichkeit  einer  Welt  sprechen  könnte, .  die 
nicht  bloss  in  den  niederen  Seinsgebieten  des  Geistes  völlig  darin- 
steckte,  sondern  von  ihr  in  gewisser  Weise  unabhängig  W'äre. 
Nur  müsste  man  sich  hüten,  hier  einfach  das  Wort  „Welt  an 
sich"  oder  „absolut  seiende  Welt"  zu  gebrauchen,  so  wie  Kant 
vom  Ding  an  sich  redet.  Dass  es  eine  höhere  Art  von  Sein  gebe, 
die  absolut  abgeschnitten  und  ohne  jede  (!)  Beziehung  sei  zu  den 
beim  gewöhnlichen  menschlichgeistigen  Daseinskomplex  vorkommen- 
den Seinsarten  (z.  B.  dem  Sinnlichgrossen),    das  erscheint  mir  un- 


Kants  Antinomien  nnd  das  Wesen  des  Unendlichen.  227 

denkbar  oder  vielmehr  fehlerhaft  gedacht.  Es  hängt  dies  zu- 
sammen mit  der  4.  Antinomie,  worauf  ich  kurz  zurückkommen 
werde.  Auch  müsste  unser  Begriff  von  einer  solchen  in  gewisser 
Weise  unabhängigen  Welt  in  mehrere  Seinsbegriffe  mit  verschie- 
denen Weitengebieten  getrennt  werden,  bez.  als  Begriff  mit  ge- 
mischter  Ausdehnungsart   (und   Beziehungssein)   gefasst    werden.^) 

Beim  zweiten  Widerstreit  der  transscendentalen  Ideen  zeigen 
sich  dieselben  Lücken,  die  unendliche  Teilung  des  Begrenzten  ist 
im  Frühereu  ausreichend  besprochen  worden.  Kant  selbst  geht 
dabei  sowohl  auf  die  Monadenlehre  wie  die  Atomistik  ein.  Er 
wendet  sich  mit  Recht  gegen  die  auch  heute  bei  Mathematikern 
vorkommende  Lehre,  der  Raum  bestehe  aus  Punkten,  oder  die 
Lehre  mancher  Physiker,  der  Körper  bestehe  •  aus  einfachen  un- 
teilbaren Atomen,  natürlich  nur,  wenn  diese  Fachgelehrten  ihren 
Annahmen  philosophische  Bedeutung  beimessen  wollen.  Nicht  das 
regulative  Prinzip  unendlichen  Weitergehens  löst  nach  unseren 
Betrachtungen  die  Schwierigkeit  des  Unendlichen,  dieselbe  bleibt 
auch  in  der  blossen  Erscheinungswelt  mit  empirischer  Realität 
stecken,  totz  der  transscendentalen  Idealität.  Nimmt  man  unend- 
lichkleiue  Teilchen  an,  so  müssen  diese  entweder  Punkte  sein  — 
dann  füllen  sie  auch  in  unendlicher  Anzahl  nicht  eine  endliche 
Raumgrösse  -,  oder  unendlichklein  ausgedehnt  und  begrenzt  durch 
Grösse  noch  niedrigerer  Behaftung  —  dann  können  sie  nur  in 
unendlicher  Anzahl  einen  endlichen  Körper  füllen.  Jedenfalls  aber 
darf  man  nur  immer  von  einem  Ausfüllen  gewisser  Vorstellungs- 
art (mit  gewissen  Weitenbehaftungen)  sprechen,  nicht  von  einem 
absoluten  Ausfüllen  in  der  Vorstellung;  ebenso  nicht  von  einer 
absoluten  Monas  an  sich,  welche  überhaupt  nicht  mehr  in  gewisser 
Art  des  Seins  aus  Etwas  bestände  und  entsprechend  nicht  mehr 
als  teilbar  vorgestellt  werden  könnte. 

Der  dritte  Widerstreit,  zwischen  der  Freiheit  und 
Naturnotwendigkeit  beruht  ebenfalls  auf  dem  unendlichen 
Aneinanderreihen,  nämlich  von  Ursachen.  Der  Beweis  zur  Thesis 
(es  gäbe  ausser  Kausalität  nach  Naturgesetzen  noch  eine  Freiheit 
in  der  Erscheinuugswelt)  ist  wieder  indirekt  und  macht  die  An- 
nahme, alles  geschähe  nach  Naturgesetzen;  dann  gäbe  es  immer 
wieder  rückwärts    einen  vorigen  Zustand,    man    käme    niemals    zu 

1)  Vgl.  meinen  Aufsatz :  Ist  die  Annahme  von  Absolutem  in  der  An- 
schauung  und    dem    Denken   möglich,  Archiv  f.  syst.  Philosophie,  Bd.  XI. 
^  H.  4.  03. 

Eautatudien   XV.  15 


228  K.  Geissler, 

einem    ersten  Anfange,  zu   keiner  Vollständigkeit  der  Reihe.     Die 
Natur  verlange  aber  eine  Vollständigkeit  und  Bestimmtheit     Hier 
wird    wieder   durch    Kants  Unterschied  von  Erscheinungswelt  und 
Ding  an  sich  die  Schwierigkeit  nicht  völlig  gehoben.     Nicht  etwa 
bloss  die  Natur  an  sich  (unabhängig  von  unserer  Vorstellung)  ver- 
langt   eine    völlige    Bestimmtheit,    unsere   Vorstellung   muss    auch 
einen    tatsächlichen  Grund    dafür   enthalten,    dass   man    das   Ver- 
langen   spürt,    weiter  zu    reihen    und  nicht  bloss  inimer  wieder  in 
derselben     Art    weiter,     sondern     derartig    zum    Unendlichen    zu 
kommen,    dass    es  widersprechend    oder   besser  neuartig  erscheint 
(wie  ein    anderes  Vorstellungsgebiet).     Kann  man  solchen  tatsäch- 
lichen Grund  entdecken,  so  wird  man  gern  den  zweifelhaften  Not- 
behelf  eines   bloss  regulativen  Prinzipes  entbehren.     Im  Übersinn- 
lich-vorstellbaren,   nicht    etwa    bloss   in  einer  an  sich  bestehenden 
Natur,    wird    man    also  etw^as  Anderes  suchen  müssen  und  dürfen 
als  die  blosse  Naturgesetzlichkeit  sinnlicher  Art.     Im  Beweise  zur 
Antithesis    (es  giebt  keine  Freiheit,    sondern    alles  in  der  Welt 
geschieht    lediglich    nach  Naturgesetzen)    wäre    wieder  erstlich  zu 
unterscheiden  zwischen  einem  Weltbegriffe  nach  Art  der  sinnlichen 
Gesetze  (denen  obenein   die  Erklärung  der  Begrenzung  fehlt)    und 
einem  Weltbegriffe,    bei    dem    auch    das  Unsinnliche  erkannt  und 
die  Grenzen    für    das  Sinnliche    erklärt    sind.     Ferner  wird  ange- 
nommen,   es    gebe    eine  Freiheit  als  eine  besondere  Art  der  Kau- 
salität, nach  welcher  die  Begebenheiten  der  Welt  erfolgen  könnten ; 
solche  freiheitliche  Ursache   habe  aber   gar  keinen  Zusammenhang 
der  Kausalität    mit    der    vorhergehenden    naturgesetzmässigen  Ur- 
sache   und   folge  daraus  in  keiner  Weise,  widerspräche    also  dem 
Kausalgesetze.    Solche  Freiheit  befreie  vom  Leitfaden  aller  Regeln, 
die  F'reiheit  wäre  nicht  nach  Gesetzen  bestimmt,    sonst   wäre    sie 
nicht  Freiheit,    sondern    nichts  anderes  als  Natur  (S.  371).     Kant 
will    wieder    die    Freiheit   nach    seiner   bekannten  Unterscheidung 
retten;   er  ist  der  Meinung,  dass  die  Gesetzlichkeit  des  Endlichen 
zur   blossen    Erscheinungswelt   gehöre    wie    auch  das  Unendliche, 
Durch    Unterscheidung   verschiedener   Weitengebiete,    deren    eines 
mit  seiner  Gesetzlichkeit  die  Gesetzlichkeit  des  anderen  gar  nicht 
durchbricht,  wäre  er  zur  Möglichkeit  einer  Freiheit  auch  innerhalb 
der    Endliches     und    Unendliches    enthaltenden    Erscheinungswelt 
gi'konnnen    und    hätte    gar    nicht  nötig  gehabt,    das  Endliche  und 
Unendliche  vom  Dinge  an  sich  völlig  auszuschliessen.     Selbst  wenn 
man    anninniit,    dass    die    Mechanik    des  Gehirnes,    sow^eit  sie  den 


Kants  Antinomien  und  das  Wesen  des  Unendlichen.  229 

sinnlich-endlichen  Naturgesetzen  gehorcht,  parallel  ist  entsprechen- 
den seelischen  Vorgängen  (ich  gehe  hier  nicht  auf  den  Vergleich 
zwischen  Parallelismus,  Monismus  u.  s.  w.  ein^)  und  umgekehrt, 
so  könnten  doch  unter  den  seelischen  solche  vorkommen,  bei  denen 
wir  das  Gefühl  der  Willensschwaukung  haben,  und  entsprechende 
Gehirnvorgänge,  bei  denen  das  labile  Gleichgewicht^)  entstände. 
Die  bisher  bekannten  mechanischen  Naturgesetze  beziehen  sich 
alle  auf  sinnlich-vorstellbare  Raum-  und  Zeitgrössen  mit  bestimmten 
Grenzen  (z.  B.  Anfangs-  und  Endpunkt  einer  Strecke).  Die  un- 
endlichkleinen Grössen  kommen  vermehrend  oder  vermindernd 
nicht  vor,  wohl  aber  sind  ihre  Verhältnisse  unentbehrlich  (Diffe- 
rentialrechnung), auch  ist  Anfangs-  und  Endpunkt  nicht  ohne  sie 
erklärt.  Beim  labilen  Gleichgewichte  kann  dei-  Ausfall  nach  einer 
oder  einer  anderen  Seite  hin  ohne  jede  Störung  der  endlich-sinn- 
lichen Gesetze  vorgestellt  werden  als  bewirkt  durch  eine  kleine 
Grösse  niederer  Weitenbehaftung;  diese  Grösse  kann  sehr  wohl 
vorgestellt  werden  als  Ausdruck  einer  Ursache,  die  nicht  sinnlich- 
vorstellbar  gemessen  werden  kann,  die  einem  Gebiete  der  Freiheit 
angehört,  nämlich  einer  Unabhängigkeit  von  den  sinnlichen  Natur- 
gesetzen (freilich,  im  Sinne  eines  anderen  Seinsgebietes,  nicht  einer 
Beziehungslosigkeit  oder  vollständigen  Regellosigkeit).  Der  vierten 
Antinomie  misst  Kant  eine  besondere  Bedeutung  bei;  sie  veran- 
lasse uns  einen  „Schritt  zu  w^ageu.  Denn  das  in  sich  selbst  ganz 
und  gar  nicht  gegründete,  sondern  stets  bedingte  Dasein  der  Er- 
scheinungen fordert  uns  auf:  uns  nach  etwas  von  allen  Erschein- 
ungen Unterschiedenem,  mithin  einem  intelligibeln  Gegenstande 
umzusehen  (S.  450)".  Nur  so  könne  man  die  scheinbare  Antinomie 
heben ;  mit  der  durchgängigen  Zufälligkeit  aller  Naturerscheinungen 
und  ihrer  Bedingungen  vertrage  sich  ganz  wohl  die  willkürliche 
Voraussetzung  einer  notwendigen,  aber  intelligibelen,  also  einem 
ganz  anderen  Sein  angehörigen  Bedingung,  sodass  kein  wahrer 
Widerspruch    anzutreffen    sei    (S.  448,    9).     In  der  Thesis  sowohl 

^)  Vgl.  meine  Dissertation :  Ist  die  Einwirkung  eines  freien  Willens 
räumlich  möglich,  ohne  Widerspruch  gegen  die  Arbeitserhaltung?  Halle 
1898;  mein  Buch:  Eine  mögliche  Wesenserklärung  für  Raum,  Zeit,  das 
Unendliche  und  die  Kausalität  nebst  einem  Grundworte  zur  Metaphj'sik 
der  Möglichkeiten,  1900;  Die  Grundsätze  und  das  Wesen  des  Unendlichen, 
02;  Das  Willensproblem,  Vierteljahrssch.  f.  wiss.  Philos.  XXXI.  1.  07;  Zu- 
sammenhang der  Seeleneinheit  mit  dem  Problem  der  Fortpflanzung,  des 
Todes,  der  soziol.  Gemeinschaft  etc.,  Zeitschr.  f.  Philos.  u.  phil.  Kritik, 
Bd.  134,  H.  1.  09. 

15* 


ir> 


230  K.  Geissler, 

wie    in    der  Antithesis    werde  nur  ein  kosmologisches  Moment  ge- 
braucht, „aus  ebendemselben  Beweisgrunde,   woraus  in  der  Thesis 
das    Dasein    eines    Urwesens   geschlossen    wurde",    „wird   in  der 
Antithesis  das  Nichtsein  desselben  und  zwar  mit  derselben  Schärfe, 
geschlossen"    (S.  379).      Es    ist    ein  notwendiges  Wesen  (genauer 
Thesis:    Zu    der  Welt   gehört    etwas  das,    entweder   als  ihr  Teil, 
oder   ihre    Ursache,    ein    schlechthin    notwendig  Wesen    ist  („weil 
die  ganze  vergangene  Zeit  die  Reihe  aller  Bedingungen  und  hier- 
mit also  auch  das  Unbedingte  (Notwendige)  in  sich  fasst".     Jedes 
Bedingte  „setze,   in  Ansehung   seiner  Existenz,    eine   vollständige 
Reihe    von  Bedingungen    bis    zum  Schlechthin-unbedingten    voraus 
(S.  376)".     Man    sieht,    es   handelt   sich  hier  wieder  um  eine  un- 
endliche Reihe;    die  Kausalität   der  notwendigen  Ursache  der  Er- 
scheinungen   solle    danach    durchaus    mit  zur  Zeit  gehören.     Nach 
der    Lehre    von    den  Weitenbehaftungen    wird    nicht   in  derselben 
Art    (Weitenbehaftung)    ohne    Sprung   bis   in    das  Unendliche  ge- 
schlossen,   vielmehr   wird    das    „Beliebigweit"    durchaus   von  dem 
„Unendlichweit"  unterschieden  und  es  ist  falsch,  etwas  Unendliches 
in    derselben    Kontinuität    hereinzuziehen,    selbst   wenn   man  bloss 
innerhalb  der  Erscheinungen  bleibt,  vorausgesetzt,   dass   zu  diesen 
Erscheinungen    auch    das    Unendliche    mitgehört    (das    Über-    und 
Untersinnlich-vorstellbare    z.  B.    als    Grenze).      Selbst    wenn    man 
also    gar   nicht  Zeit  und  Raum  verlässt  und  nichts  Anderes,    vom 
Sein    des  Intelligibelen,    hinzuzieht,    ist  doch  eine  Lücke  im  Kau- 
tischen Beweise    zur  Thesis.     In  der  Antithesis  wird  geschlossen; 
„die   ganze    verflossene    Zeit   fasst   in    sich    die    Reihe    aller  Be- 
dingungen,   die    mithin    insgesamt   wiederum  bedingt  sind".     Also 
gebe  es  kein  notwendiges  Wesen  (weder  in  der  Welt,  noch  ausser 
der  Welt,    als    ihre    Ursache.      Auch    das   sei  richtig,    wenn   man 
überhaupt    bei    kosmologischer   Darstellung   bleibe  und  nicht  zum 
Sein    des    Intelligibelen    hinaufsteige.      Hier   hat  man  wieder  eine 
Reihe  vor  sich  und  bleibt  innerhalb  derselben  bei  gleichbleibender 
Kontinuität    stehen,    ohne    diesmal    überhaupt    einen    Sprung    zu 
wagen.      Auch   hier   könnte    mau    wieder  die  Lücke  finden,    dass 
selbst    zum   Begreifen    des    Ausgedehnten    das    Unsinnliche   nötig 
wäre  (sowohl   das  Untersinnlich-vorstellbare   wie  das  Übersinnlich- 
vorstellbare)    und    mau   also  hier  ebenfalls  durch  Wechsel  der  Be- 
haftungen   zum  Unendlichen  kommen  könne.     Dieser  Beweis  wäre 
also    darum    falsch,    weil  man  einfach  bloss  beim  Sinnlich-vorstell- 
baren   bleibt    und    die    übrigen   Behaftungeu  (Vorstellungsmöglich- 


ö 


Kants  Antinomien  und  das  Wesen  des  Unendlichen.  231 

keiten)  leugnet.  Beim  Beweise  zur  Thesis  zieht  man  die  „ab- 
solute Totalität"  mit  hinein,  bei  dem  zur  Antithesis  nur  „die  Zu- 
fälligkeit alles  dessen,  was  in  der  Zeitreihe  bestimmt  ist"  (S.  381). 
Es  sei  eine  verschiedene  Weite  des  Blickes  oder  des  Standpunktes, 
so  meint  offenbar  Kant,  der  ja  beides  auch  mit  den  Behauptungen 
vergleicht,  der  Mond  drehe  sich  nicht  um  sich  selbst  (nur  be- 
trachtet vom  Standpunkte  der  Erde  und  des  Mondes  (oder,  er 
drehe  sich  um  seine  Achse)  betrachtet  von  einem  weiteren  Staud- 
punkte der  Erde  und  des  Mondes  zusammen  als  einer  Gruppe  im 
Planetensysteme  überschaut).  Ich  kann  aber  nicht  damit  überein- 
stimmen, dass  der  Widerspruch  zwischen  den  beiden  Behauptungen 
über  das  notwendige  Wesen  nur  durch  Annahme  des  auf  höherem 
Sein  stehenden  intelligibelen  Wesens  gelöst  werden  könne,  sondern 
es  genügt  die  Vorstellung,  dass  zur  Welt  mit  gut  erklärten 
Grenzen  und  mit  Hereinziehung  des  Unendlich-grossen  verschiedene 
Weitenbehaftungen  des  Raumes  und  der  Zeit  herangezogen  werden. 
Dann  schon  schwindet  der  Widerspruch,  den  Kant  in  der  kosmo- 
logischen  Betrachtung  findet.  Natürlich  hätte  dann  auch  der 
Begriff  der  Welt,  je  nach  der  Behauptung  der  Thesis  oder  Anti- 
thesis, verschieden  gefasst  werden  müssen.  Es  ist  auch  ein  viel- 
angestrittener  Schritt  von  Kant,  wenn  er  erst  sich  „die  Erlaubnis 
nimmt,  ausser  dem  Felde  der  gesamten  Sinnhchkeit  eine  für  sich 
bestehende  Wirklichkeit  anzunehmen",  dann  „Erscheinungen  nur 
als  zufällige  Vorstellungsarten  intelligibeler  Gegenstände  von 
solchen  Wesen,  die  selbst  Intelligenzen  sind,  anzusehen"  (S.  451), 
wenn  er  dann  schliesst,  es  „bliebe  uns  nichts  anderes  übrig,  als 
die  Analogie,  nach  der  wir  die  Erfahrungsbegriffe  nutzen,  um  uns 
von  intelligibelen  Dingen,  von  denen  wir  an  sich  nicht  die  mindeste 
Kenntnis  haben,  doch  irgend  einigen  Begriff  zu  machen."  Er 
will  dann  vom  schechthinnotwendigen  Wesen  anfangen  „und  von 
den  Begriffen  desselben  die  Begriffe  von  allen  Dingen,  sofern  sie 
bloss  intelligibel  sind,  ableiten"  (im  zweiten  Buch  der  transscen- 
dentalen  Dialektik). 

Wenn  wir  uns  eine  Welt  nur  nach  denjenigen  Eigenschaften 
vorstellen,  welche  räumlich-zeitlich  sind,  so  sind  wir  schon  ge- 
nötigt zu  dem  empirisch  Beobachtbaren  (nach  heutiger  Bedeutung 
des  Wortes),  dem  Sinnlich-vorstellbaren  oder  Endlichen  die  Er- 
klärung der  Begrenzungen,  also  das  Untersiunlich-vorstellbare 
hinzuzufügen,  aber  auch  zum  Übersinnlich-vorstellbaren  zu  schreiten 
durch  einen  Wechsel   der  Weitenbehaftungen;    und    dann    braucht 


232     K.  Geissler,  Kants  Antinomien  und  das  Wesen  des  Unendlichen. 

durchaus  kein  Widerspruch  durch  die  Tatsachen  des  Unendlichen 
ausser  denen  des  Endlichen  aufzutauchen  bei  richtiger  Gestaltung 
der  Beziehungsgesetze;  selbst  der  freie  Wille  menschlicher  Wesen 
ist  im  obigen  Sinne  zu  verstehen.  Aber  es  ist  freilich  wohl  ein 
Hinaufschwingen  zum  Begreifen  eines  noch  höheren  Seins  mög- 
lich, das  noch  über  allen  Weitenbehaftungen  steht.  Und  damit 
nähern  wir  uns  wieder  Kant,  nur  nicht  mit  seiner  Begründung 
der  Widersprüche  und  des  Wesens  des  Unendlichen. 


II 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik 
unter  kritischer  Zugrundelegung  von  Kants  Kritik 

der  Urteilskraft. 

Von  Prof.  Dr.  Richard  v.  Schubert-Soldern. 


"[Forts.  U.  ScllllLSS.] 
§  7.     Idealismus  und  Realismus. 

Idealismus  und  Realismus  lassen  mancherlei  Auffassungen 
zu,  doch  gehen  alle  mehr  oder  weniger  darauf  hinaus:  der  Rea- 
lismus ahme  die  Natur  nach,  der  Idealismus  stelle  die  Idee 
dar.  Der  Idealismus  könne  freilich  seine  Darstellung  der  Idee 
auch  der  Natur  entnehmen,  aber  ihm  liege  nicht  soviel  daran, 
meint  man,  dass  er  naturgetreu  sei,  als  dass  er  die  Idee  wieder- 
gebe. Die  Naturtreue  ist  ihm  also  nur  Mittel  der  Darstellung, 
dem  Realismus  Zweck.  Aber  ebendeswegen  sind  Realismus  und 
Idealismus  gar  nicht  so  säuberlich  von  einander  zu  trennen,  ihr 
Gegensatz  ist  gar  nicht  so  gross  als  man  ihn  oft  dargestellt  hat. 
Ja  man  kann  sagen,  es  giebt  überhaupt  keinen  reinen  Idealismus 
und  Realismus,  weil  es  erstens  keine  objektive  Anschauung 
und  Auffassung  der  Natur  giebt  und  weil  es  zweitens 
keine  Darstellung  der  Idee  ohne  Berücksichtigung  der 
Natur  giebt. 

Ad  1.  Man  stelle  sich  vor,  zwei  Maler  würden  von  einem 
Punkte  aus  gleichzeitig  ein-  und  dieselbe  Landschaft  aufnehmen 
und  beide  würden  das  Bestreben  zeigen,  sie  ganz  realistisch  so 
wie  sie  ist,  darzustellen.  Werden  beide  Landschaften  gleich  aus- 
fallen? Gewiss  nicht  I  Jeder  Maler  wird  eine  andere  Auffassungs- 
weise der  gegebenen  Landschaft  haben.  D.  h.  er  kann  nicht  das 
ganze  Detail  der  wirklichen  Landschaft  geben,  er  muss  eine  Aus- 
■  ahl  treffen  und  diese  Auswahl  wird  individuell  verschieden  sein, 
albst  wenn  die  Technik  beider  gleicher  Art  ist.  Das  geht  aber 
offenbar  darauf  zurück,  dass  jeder  Maler  anders  sieht,  dass  er  in 
der  wirklichen  Landschaft   andere  Elemente  hervorhebt,   und  dass 


234  R.  V.  Schubert-Soldern, 

dadurch  auch  der  Totaleiudruck  der  dargestellten  Landschaft  ein 
anderer  wird.  Wie  der  Maler  sieht  und  was  er  hervorhebt,  das 
wird  von  seiner  Lebensbildung-,  wie  oben  auseinandergesetzt  wurde, 
abhängen,  dann  auch  von  seiner  Technik,  soweit  sie  von  anderen 
Malern  verschieden  ist;  endhch  auch  von  seiner  Kompositionsgabe, 
soweit  dieselbe  in  Anspruch  genommen  wird. 

Dabei  ist  aber  hier  eine  Voraussetzung  gemacht,  die  nicht 
einmal  zutrifft.  Beide  Maler  sehen  gar  nicht  dieselbe  Landschaft, 
stellen  nicht  dieselbe  Landschaft  dar.  Wo  soll  denn  die  Land- 
schaft sein,  die  beiden  gemeinsam  ist?  Nehmen  wir  selbst  an, 
da  draussen  (so  widersprechend  dieser  Begriff  ist)  sei  ein  Ding 
an  sich  Landschaft,  das  in  beiden  Malern  jene  Empfindungen 
hervorruft,  deren  räumlich-zeitliches  Zusammen  mau  die  wirkliche 
Landschaft  nennt,  so  ist  diese  „wirkliche"  Landschaft  eigentlich 
nur  eine  Wirkung  der  „wirklichen"  Landschaft,  nämlich  des  Dinges 
an  sich.  Dann  übt  das  Ding  an  sich  zwei  Wirkungen  in  zwei 
Malern  aus.  Dann  giebt  es  nicht  eine  Landschaft,  sondern  in 
jedem  Maler  ist  die  Wirkung,  wenn  auch  noch  so  ähnlich,  eine 
andere.  Beide  sehen  ja  eine  andere  Landschaft  und  diese  stellen 
sie  dar.  Das,  was  man  die  objektive  Landschaft  nennen  könnte, 
besteht  nirgends,  sie  ist  eine  blosse  Abstraktion  aus  den  vielen 
individuell  wahrgenommenen  Landschaften. 

Dazu  kommt  noch,  dass  das  Gesehene  einer  Menge  von 
Ergänzungen  bedarf,  um  als  bestimmter  Gegenstand  zu  erscheinen. 
Das  Gesehene  sind  in  einander  verschwindende  farbige  Flecke, 
verschiedenartige  Linien,  die  nebeneinander  laufen  und  sich  durch- 
kreuzen; das  Alles  muss  erst  gedeutet  werden,  dadurch  entsteht 
erst  eine  Landschaft.  Deuten  aber  kann  man  diese  Flecken  und 
Linien  nur  nach  vergangenen  Erfahrungen,  nach  Erinnerungen. 
Wenn  ich  in  der  Landschaft  z.  B.  einen  grossen,  glänzenden, 
bläulichen  oder  grünlichen  Fleck  sehe,  so  weiss  ich,  dass  das  ein 
See  ist.  Gegeben  ist  nur  dieser  Fleck  (resp.  Flecke),  weiter  nichts, 
aber  ich  weiss  aus  frühereu  Erfahrungen,  dass,  wenn  ich  mich 
diesem  Fleck  nähere,  er  sowohl  eine  andere  Gestalt  für  mein  Ge- 
sicht annimmt,  als  auch  Gegenstard  einer  bestimmten  Tast- 
empfindung wird,  die  eben  das  Wasser  kennzeichnet.  Erst  diese 
Beziehung  des  Fleckes  auf  vergangene  Erfahrungen  macht  den 
Fleck  für  mich  zu  Wasser.  Daraus  wird  klar,  dass  durch  das, 
was  beide  Maler  an  Verschiedenem  erlebt  haben,  sie  auch  das 
Gesehene    anders    auffassen    werden  —  im    Wesentlichen    gleich 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc.  235 

aber  im  Einzelnen  verschieden.  Es  werden  sich  aber  auch  ver- 
schiedene Gefühle  (je  nach  den  Erinnerungen)  an  das  Gesehene 
knüpfen,  es  wird  deswegen  von  beiden  Malern  Verschiedenes  in 
der  Landschaft  hervorgehoben  werden,  d.  h.  die  beiden  darge- 
stellten Landschaften  werden  verschiedene  Stimmungen  zeigen. 

Es  ist  daher  sehr  gedankenlos  und  oberflächlich,  von  einer 
getreuen  Nachahmung  der  Natur  zu  sprechen;  man  ahmt  nie  eine 
objektive  Natur  nach,  sondern  stets  eine  subjektive,  die  objektive 
ist  eine  wissenschaftliche  Konstruktion.  Naturtreue  im  objektiven 
Sinne  ist  nicht  nur  in  dem  Sinn  eine  Unmöglichkeit,  dass  die 
Kunst  die  Natur  nie  vollkommen  wiedergeben  kann,^)  sondern  auch 
in  dem,  dass  es  eine  anschauliche  objektive  Natur  überhaupt  gar 
nicht  giebt;  die  wissenschaftliche  Konstruktion  einer  objektiven 
Natur  ist  aber  nicht  anschaulich  und  die  Ansicht,  dass  der 
Künstler  gerade  sie  in  seinem  Bilde  anzudeuten  hätte,  m.  E. 
grundfalsch.-) 

Ad  2.  In  Bezug  auf  den  zweiten  Punkt  kann  ich  mich 
kürzer  fassen.  Der  Idealismus  soll  vor  allem  die  Idee,  das  Ideale 
darstellen.  Die  Idee  kann  nun  nichts  anders  sein  als  ein  Begriff, 
wenn  sie  vom  Konkreten  unterschieden  sein  soll,  denn  was  im 
Gebiete  des  Seins  nicht  das  eine  ist,  muss  das  andere  sein.  Doch 
nicht  jeder  Begriff  ist  Idee,  ist  ideal;  was  man  darunter  versteht, 
ist,  wie  mir  scheint,  teils  der  alte  Gattungsbegriff  Piatos  als 
jVIusterbegriff,  teils  sind  es  gewisse  abstrakte  besonders  geschätzte 
Eigenschaften,  die  in  concreto  dargestellt  werden  sollen.  Auf 
jeden  Fall  ist  es  aber  etwas  Begriffliches  und  dieses  besteht  nie 
an  und  für  sich,  sondern  stets  am  Konkreten,  sowie  das  allge- 
meine Dreieck  nur  am  konkreten,  bestimmten  denkbar  ist.  Die 
Idee  ist  daher  nur  am  Konkreten  oder  am  Anschaulichen  im  wei- 
testen Sinn  darstellbar,  für  sich  existiert  sie  nach  meiner  Ansicht 
überhaupt,  aber  doch  gewiss  wenigstens  für  die  Kunst  nicht. 
Will  ich  z.  B.  die  Idee  der  Freude  darstellen,  so  kann  ich  sie 
unmöglich  als  Abstraktum  darstellen;    ich   kann  sie  nur  darstellen 


1)  Vgl.  auch  Joh.  Volkelt  „Ästhetische  Zeitfragen",  München  1895, 
p.  45  ff.  Meine  Ansichten  stimmen  im  Resultat  vielfach  mit  jenen  Volkelts 
in  diesem  Punkt  überein,  nur  ist  die  Begründung  eine  andere,  weil 
Volkelt  eine  objektive  Natur  annimmt,  die  ich  weder  vom  erkenntnis- 
theoretischen noch  vom  ästhetischen  Standpunkt  annehmen  kann. 

2j  Darin  stimmt  mir  wohl  auch  Volkelt  1.  c.  zu. 


236  R.  V.  Schubert-Soldern, 

an  einem  Menschen,  der  sich  freut,  indem  ich  am  Menschen  jene 
begrifflichen  Elemente  hervorhebe,  die  eben  die  Freude  auszu- 
drücken imstande  sind;  ich  kann  nicht  bloss  jene  Züge  darstellen, 
welche  Freude  ausdrücken  und  alles  andere  auslassen,  weil  eben 
das  andere  mit  dem  ersten  zu  einer  unlöslichen  Einheit  verbunden 
ist.  Dabei  ist  davon  abgesehen,  dass  die  Freude  nur  durch  eine 
Beziehung  vieler  Züge  auf  einander  ausgedrückt  wird,  also  auch 
in  abstracto  schon  bis  zu  einem  gewissen  Grade  ein  Ganzes 
verlangt. 

Diese  Darstellung  einer  Idee  am  Konkreten  kann  nun  in 
doppelter  Weise  erfolgen.  1.  Ich  kann  die  Idee  darstellen  an 
einem  Gegenstande,  der  die  Idee  vertritt,  ohne  sie  selbst  unmittel- 
bar in  sich  zu  fassen:  das  ist  die  symbolische  Darstellung. 
So  kann  ich  den  Tod  durch  eine  Sense  darstellen  oder  durch 
einen  Totenkopf  oder  ein  Totengerippe.  Diese  Gegenstände 
fassen  die  Idee  des  Todes  nicht  unmittelbar  in  sich,  sie  erinnern 
nur  daran,  sie  versinnbildlichen  sie ;  sie  wirken  also  durch  Asso- 
ziation und  zwar  durch  eine  oft  sehr  vermittelte,  entfernte  Asso- 
ziation ;  deswegen  kann  auch  hier  das  Verfahren  wieder  ein 
doppeltes  sein,  je  nachdem  diese  Assoziation  eine  direkte  oder  in- 
direkte ist.  So  erinnert  die  Sense  nicht  direkt  an  den  Tod, 
sondern  nur  durch  ein  Gleichnis,  dass  der  Tod  die  Menschen  hin- 
wegmäht wie  die  Halmen  am  Felde;  dagegen  erinnert  der  Toten- 
kopf viel  unmittelbarer  an  den  Tod  und  man  braucht  hier  nicht 
erst  ein  Gleichnis  einzuschieben.  Streng  zu  trennen  sind  freilich 
diese  beiden  Arten  symbolischer  Darstellung  nicht,  denn  auch  der 
Totenkopf  ist  ein  Produkt  des  Todes  und  daher  erst  durch  Asso- 
ziation mit  ihm  verknüpft. 

Die  erste  Art  der  symbolischen  Darstellung  nähert  sich  dem 
blossen  Zeichen;  auch  das  Zeichen  bedeutet  einen  Begriff,  diese 
Verbindung  ist  aber  eine  ganz  unvermittelte,  wenn  sie  auch  ur- 
sprünglich keine  unvermittelte  war.  Das  blosse  Zeichen  kann  sich 
daher  aus  der  symbolischen  Darstellung  entwickeln,  wo  die  Ver- 
mittlung, z.  B.  das  Gleichnis,  vergessen  wurde,  dagegen  die  Ver- 
bindung des  Dargestellten  mit  dem  Begriff  aufrecht  erhalten 
blieb:  so  entsteht  aus  symbolischer  Schrift  die  Zeicbenschrift.  Es 
ist  aber  nur  natürlich,  dass  durch  das  Vergessen  der  ursprüng- 
lichen Bedeutung  das  Dargestellte  verändert,  weil  nicht  mehr  ver- 
standen wird;  das  Unverstandene  wird  dann  selbstverständlich 
immer   schematischer   und    an    sich    bedeutungsloser.      Die    Kunst 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc.  237 

kauü  nun  sj'mbolisch  sein,  aber  sie  kann  niemals  ein  blosses 
Zeichen  werden,  weil  das  Zeichen  keine  oder  nur  eine  sehr  ge- 
nüge Schönheit  an  sich  besitzen  kann,  die  Bedeutung  aber,  wenn 
es  bloss  Zeichen  sein  soll,  nicht  in  Frage  kommt.  Die  Poesie 
drückt  sich  allerdings  in  blossen  Zeichen  aus,  aber  hier  ist  nicht 
das  Zeichen  das  wesentliche,  sondern  die  Bedeutung,  die  Vor- 
stellungen, die  es  hervorruft,  die  Gefühle,  die  es  weckt.  Die 
Kunst  fordert  daher  immer  mehr  oder  weniger  Anschaulichkeit  der 
Idee  nicht  in  einem  Zeichen,  sondern  in  einem  Gegenstand,  der 
sogenannten  innern  oder  äusseren  Natur  (Vorstellung  oder  Wahr- 
nehmung), sei  es,  dass  sie  rein  symbolisch  verfährt  oder  die 
Natur  nachahmt,  d.  h.  die  Idee  in  dem  Gegenstand  darstellt,  in 
dem  sie  unmittelbar  zu  finden  ist;  das  letzte  z.  B.  wenn  sie  die 
Idee  des  Todes  an  einem  sterbenden  oder  toten  Menschen 
darstellt,  den  Trauernde  umgeben.  Hier  wird  die  Idee  des 
Todes  unmittelbar  an  einem  Vorgang  dargestellt,  der  sie  in  sich 
enthält. 

Es  ist  klar,  dass  nur  die  letzte  Darstellungsweise  einen 
selbständigen  Wert  in  der  Kunst  besitzen  kann.  Die  Sense,  der 
Totenkopf  treten  nie  als  selbständige  Darstellungen  des  Todes  in 
der  Kunst  auf,  sondern  entweder  zu  dekorativen  Zwecken  oder 
als  symbolische  Beigaben  bei  unmittelbarer  Darstellung  der  Idee. 
Als  symbolische  Beigaben  haben  sie  den  Zweck,  entweder  die 
W^irkung  der  unmittelbaren  Darstellung  des  Todes  zu  verstärken 
oder  bei  Darstellung  einer  andern  Idee  als  Kontrast  zu  wirken 
oder  ein  gewisses  Gefühl  zu  erzeugen.  So  wenn  ein  König  mit 
Krone  und  Szepter  in  Ausübung  seiner  vollen  Macht  erscheint, 
alle  vor  ihm  sich  beugend,  hinter  ihm  steht  aber  der  Tod  als 
Todengerippe,  um  die  Vergänglichkeit  aller  Macht  auf  Erden  an- 
zudeuten; gleichzeitig  erscheint  aber  auch  durch  diesen  Gegensatz 
die  Idee  der  Macht  und  des  Todes  gehoben. 

So  ist  also  in  der  Kunst  die  Idee  nicht  für  sich  allein  dar- 
stellbar, sondern  nur  an  einem  Gegenstand  der  äussern  oder 
innern  Natur.  Dem  Idealismus  dient  daher  die  Natur  als  Mittel 
seiner  Darstellung,  er  fordert  Nachahmung  der  Natur  und  zwar 
möglichst  naturtreue,   weil  sonst  der  Schein  der  Wirkhchkeit  ver- 

oren   geht   und   wo   dieser   fehlt,    die   dargestellte   Idee  nicht  in 

rollern  Masse  wirken  kann. 

In  der  Regel  wird  freilich  das  Wort  Idealismus  in  einem  be- 
schränkteren  Sinn   in    der   Kunst   gebraucht   als  Darstellung   der 


238  R.  V.  Schubert-Soldern, 

schönen  Idee,  d.  h.  einer  Idee,  die  allgemein  gefällt.  Doch 
auch  von  diesem  Idealismus  gilt  das  oben  Gesagte  und  ich  brauche 
daher  hier  nicht  näher  auf  ihn  einzugehen. 

Gehen  wir  nun  zur  Betrachtung  des  Realismus  über,  so 
ist  schon  darauf  hingewiesen  worden,  dass  auch  das  Konkrete 
nicht  ohne  begriffliche  Bestimmung  dargestellt  werden  kann. 
Dadurch,  dass  ich  den  Apfel  als  Apfel  darstelle,  bestimme  ich  ihn 
begrifflich  und  diese  begrifflichen  Momente  müssen  in  der  Dar- 
stellung zur  vollen  Geltung  gelangen,  sonst  ist  das  Dargestellte 
eben  kein  Apfel.  Deswegen  kann  umgekehrt  wieder  der  Realis- 
mus keinen  Gegenstand  darstellen,  ohne  eine  Idee,  einen  Begriff 
zu  Grunde  zu  legen.  Wenn  ich  einen  Sterbenden  darstelle,  so 
brauche  ich  nicht  dabei  die  Absicht  zu  haben,  die  Idee  des  Todes 
darzustellen,  oder  die  Macht  des  Todes;  aber  ob  ich  will  oder 
nicht,  die  Idee  des  Todes  und  seine  Macht  findet  sich  doch  darin. 
Dann  aber,  so  könnte  man  glauben,  giebt  es  überhaupt  keinen 
Unterschied  zwischen  Idealismus  und  Realismus  -  beide  sind 
dasselbe;  doch  auch  das  ist  nicht  der  Fall  und  die  vorhergehen- 
den Erörterungen  sollten  nur  dazu  dienen,  den  richtigen  Stand- 
punkt festzustellen,  von  dem  aus  der  Idealismus  und  Realismus 
beurteilt  werden  soll,  nicht  aber  dazu,  ihren  Unterschied  zu 
leugnen. 

Worin  besteht  nun  ihr  Unterschied?  Man  ersieht  das  am 
besten  daran,  wenn  man  untersucht,  worauf  die  sogenannte  Idea- 
lisierung eines  Gegenstandes  in  der  Kunst  beruht.  Sicher  ist  nuu 
damit  nicht  gemeint,  der  Gegenstand  müsse  dann  so  dargestellt 
werden,  wie  er  nur  in  der  Phantasie  des  Künstlers,  nicht  aber  in 
der  Natur  vorkommen  kann;  man  meint  aber  doch  darunter  die 
Darstellung  eines  Gegenstandes,  wie  er  in  der  Natur  zwar  tat- 
sächlich nicht  vorkommt,  oder  doch  nur  ausnahmsweise,  wie  er 
aber  doch  vorkommen  könnte.  Der  Gegenstand  wird  also  so  dar- 
gestellt, wie  er  nach  Ansicht  des  Künstlers  sein  konnte,  vielleicht 
sogar  sein  sollte.  Wo  die  Idealisierung  über  diese  Grenze  hinaus- 
geht, nähert  sie  sich  dem  Symbolischen  und  Stilistischen  im 
engern  Sinne,  d.  h.  sie  stellt  einen  Gegenstand  nach  irgendwelchen 
idealen  Gesichtspunkten  dar,  ohne  (mehr  oder  weniger)  auf  seine 
Wirklichkeit  Rücksicht  zu  nehmen.  Damit  ist  aber  gesagt,  dass 
vom  idealistischen  Standpunkt  der  Künstler  die  Natur  nicht,  so 
wie  sie  ihm  subjektiv  gegeben  ist,  darstellt,  sondern  dass  er  eine 
Auswahl   trifft.     Mit   andern  Worten,  die  idealistische  Darstellung 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc.  239 

sucht  jene  Momente  zu  vereinigen,  die  (nach  dem  Ermessen  des 
Künstlers)  schön  sind,  die  aber  in  der  Natur  nicht  an  einem 
Gegenstände,  sondern  an  verschiedenen  zerstreut  vorkommen.  So 
haben  die  Griechen  in  ihrer  Darstellung  der  Götter  ideale  Dar- 
stellungen der  menschlichen  Gestalt  gegeben,  indem  sie  Schön- 
heiten des  menschlichen  Körpers,  die  in  der  Wirklichkeit  zerstreut 
vorkommen,  in  der  Kunst  zu  vereinigen  suchten;  selbstverständlich 
mussten  sie  diese  Göttergestalten  ihrem  besocdern  göttlichen 
Charakter  gemäss  auch  zu  individualisieren  suchen,  doch  ging  das 
nie  über  das  notwendigste  Mass  hinaus,  ein  Christus  Uhdes  wäre 
für  sie  eine  Unmöglichkeit  gewesen. 

Um  das  in  der  Natur  zerstreut  vorgefundene  Schöne  in 
einem  Gegenstande  zu  vereinigen,  ist  ein  Massstab  des  Schönen 
notwendig  und  das  ist  eben  das  Ideal.  Dieses  Ideal  ist  nun,  wie 
mir  scheint,  im  Wesentlichen  der  Gattungscharakter  oder  besser 
noch  der  Durchschnittscharakter  der  Individuen  einer  Gattung,  die 
als  schön  gilt  individualisiert  durch  gewisse  ebenfalls  gefallende 
besondere  Charaktereigenschaften,  wie  oben  auseinandergesetzt 
wurde.  Deswegen  muss  aber  das  Schönheitsideal  verschieden  nach 
Zeitaltern,  Völkern,  Orten  und  Individuen  sein,  vveil  es  eben  von 
den  Erfahrungen  (Kunstdarstellungen  natürlich  mitgerechnet)  ab- 
hängt, die  von  diesen  Gruppen  von  Menschen  und  ihren  einzelnen 
Individuen  gemacht  worden  sind,  denn  es  hängt  von  diesen  Er- 
fahrungen ab,  was  durchschnittlich  als  schön  gilt.  Man  kann  da- 
her nur  insoweit  ein  allgemein  menschliches  Schönheitsideal  auf- 
stellen wollen,  als  man  voraussetzen  kann,  dass  alle  Menschen 
dieselben  Erfahrungen  machen,  sich  an  dasselbe  gewöhnen,  gegen 
dasselbe  sich  abstumpfen  und  Ekel  empfinden.  Wenn  man  aus 
allen  diesen  den  Menschen  gemeinsamen  Erfahrungen  das  Mittel 
zieht,  so  gelangt  man  zu  einem  allgemeinen  Schönheitsideal:  zur 
durchschnittlichen  Beschaffenheit  eines  Gegenstandes,  der  gefällt, 
zum  Gattuugsmuster,  Damit  ist  aber  nur  eine  sehr  ohngefähre 
Bestimmung  getroffen.  Zu  grosse  Beine,  zu  kurze  Hände,  eine 
zu  flache  Nase  ist  gewiss  nicht  schön;  aber  wie  lang  die  Beine, 
wie  kurz  die  Hände  und  wie  flach  die  Nase  sein  dürfen,  um  noch 
als  schön  zu  gelten,  das  hängt  von  dem  ab,  was  ein  jeder  (Gruppe 
''der  Individuum)  gesehen  und  erfahren  hat.  Denn  von  diesen 
"Irfahrungen  hängt  es  ab,  welche  Assoziationen  sich  an  einen 
gegenständ  knüpfen,  gegen  welche  Reize  man  sich  abstumpft,  an 
was    man    sich   gewöhnt.      So  sehr  nun  ganz  im  Allgemeinen  alle 


240  il.  V.  Schubert-Soldern, 

Menschen  in  ihren  Erfahrungen  übereinstimmen,  so  sehr  unter- 
scheiden sie  sich  darin  im  einzelnen;  deswegen  hat  jeder  mit 
vollem  Recht  seinen  eigenen  Geschmack  gegenüber  den  andern. 
Das  Ideal  beruht  daher  nicht  allein  auf  einer  Phantasievorstellung 
des  Künstlers,  sondern  auch  darauf,  was  ein  jeder  erfahren  und 
auf  der  Auswahl  des  Schönen,  die  er  unter  seinen  Erfahrungen 
getroffen  hat.  Deswegen  ist  das  Ideal  keine  absolut  geltende 
Vorstellung,  sondern  es  hängt  von  Ort,  Zeit  und  Individuum  resp. 
Individuen  ab.  Von  der  Zeit  hängt  das  Ideal  besonders  dann  ab, 
wenn  schon  eine  Kunst  vorhanden  ist;  dann  ist  der  Künstler  in 
seinem  Ideal  am  meisten  von  den  schon  gesehenen  (gehörten) 
Kunstwerken  abhängig.  Bei  einer  späten  Periode  der  Kunstent- 
wicklung wird  der  Künstler  sehr  oft  von  dem  vor  ihm  Geschaffenen 
erdrückt,  so  dass  er  kaum  mehr  einen  „eigenen"  Gedanken  zu 
fassen  imstande  ist.  Künstler  und  Publikum  sehnen  sich  dann 
nach  Originalität  um  jeden  Preis  (Sezession)  und  der  Ruf  nach 
Rückkehr  zur  Natur  wird  laut.  Doch  mit  der  alten  Technik 
und  den  alten  Kunstanschauungen  sieht  man  eben  in  der  Natur 
nur  das,  was  man  schon  früher  in  ihr  geschaut  hat.  Daher  oft 
das  gewaltsame  Losriugeu  der  neueren  Künstler  von  der  Technik 
und  den  Kunstanschauuugen  der  alten.  Dabei  bleibt  nur  fraglich, 
ob  eine  im  Wesentlichen  neue  Technik  und  neue  Kunstanschauuug 
überhaupt  noch  möglich  ist,  denn  beides  erscheint  mir  unmöglich 
ohne  neue  Erfahrungen. 

Vor  allen  ist  nun  zu  beachten,  wie  vergangene  Kunstepochen 
auf  die  Ideale  der  nachfolgenden  wirken.  Hier  spielt  besonders 
die  Abstumpfung  eine  grosse  Rolle:  viele  Schönheiten  der  ver- 
gangenen Kunstepochen  sind  gemein,  gewöhnlich  geworden,  so 
dass  man  einen  Ekel  gegen  sie  empfindet,  oder  dass  man  wenig- 
stens gleichgiltig  gegen  sie  geworden  ist.  Dadurch  entsteht  aber 
eine  Hinneigung  zu  dem  diesen  Schönheiten  Gegensätzlichen;  ent- 
gegengesetzte Eigenschaften  des  Dargestellten  finden  Beifall  und 
selbst  dann  vielleicht,  wenn  sie  in  der  Technik  recht  stümperhaft 
sind,  weil  sie  eben  etwas  Neues  bieten,  sich  durch  einen  neuen 
Reiz  auszeichnen.  Schliesslich  entsteht  aber  so  Abstumpfung  und 
selbst  Ekel  gegen  die  idealistische  Auffassungsweise  selbst;  nach- 
dem alle  möglichen  idealistischen  Auffassungsweisen  erschöpft 
worden  sind,  richten  sich  nun  die  Angriffe  gegen  die  idealistische 
Anschauungsweise  selbst  als  Vereinigung  alles  Schönen  der  Er- 
fahrung in  einem  Gegenstand.     Das  Ideal  erscheint  zu  „subjektiv", 


II 


i)ie  Grundfragen  der  Ästhetik  etc.  241 

„gekünstelt",  „unwahr",  „hat  in  der  Natur  keine  Berechtigung" 
oder  wie  immer  die  Angriffe  der  seichten  ]\reuge  lauten  mögen, 
die  sich  gegen  den  Idealismus  abgestumpft  hat.  Dann  erscheint 
oft  eine  Periode  der  Selbstvernichtung  des  Idealismus  in  Kunst 
und  Literatur  (Romantik):  Das  Ideal  wird  nur  geschaffen,  um  es 
zu  zerstören,  oft  wirkt  schon  beim  Schaffen  der  Gedanke,  es  in 
der  Darstellung  zerplatzen  zu  lassen  wie  eine  Seifenblase.  Dabei 
kann  diese  Selbstvernichtung  des  Idealen  mehr  in  das  Melancho- 
lische und  Pessimistische  oder  ins  Frivole  auslaufen,  sie  bedauert, 
dass  das  Ideal  nicht  Wirklichkeit  sei  oder  sie  lacht  das  Ideal  aus 

—  oft  vereinigt  sie  aber  auch  beides  abwechselnd  (Heine).  Natür- 
lich wird  dabei  übersehen,  dass  das  Ideal  gar  nicht  darin  seinen 
Wert  findet,  dass  es  „wirklich"  ist  oder  wird,'  sondern  als  Mass- 
stab der  Beurteilung  der  Wirklichkeit,  und  dass  in  diesem  Sinne 
sich  niemand  seiner  Idealität  entschlagen  kann,  nur  ist  sie  manch- 
mal auch  darnach. 

Oft  geht  aber  auch  der  Idealismus  eines  Zeitalters  allmählich 
aber  unmittelbar  (ohne  Selbstvernichtung)  in  den  Realismus  über, 
d.  h.  in  das  Bestreben,  den  Gegenstand  in  der  Natur  so  darzu- 
stellen, wie  er  „wirklich  existiert"'.  Es  erscheint  also  hier  wieder 
die  Fiktion  der  objektiv,  an  sich  existierenden  Natur.  Obgleich 
eine  solche  Natur  eine  blosse  Fiktion  ist,  so  wird  sie  doch  zu 
realisieren  gesucht;  will  man  daher  das  Prinzip  des  Realismus 
richtig  erkennen,  so  muss  man  diesen  Versuch  richtig  analysieren. 

Eine  Darstellung,  die  realistisch  sein  soll,  wird  jeden- 
falls nicht  in  einem  Gegenstand  das  zu  vereinigen  suchen,  was 
sich  an  vielen  Geger ständen  gleicher  Art  Schönes  vorfindet,  denn 
das  wäre  idealistisch  gedacht;  sie  kann  aber  auch  nicht  den 
Gegenstand  so  wiedergeben,  wie  er  an  sich  in  der  Natur  gegeben 
ist,  deun  einen  solchen  Gegenstand  giebt  es  nicht ;  sie  kann  daher 
nur  die  einzelne  subjektive  Auffassung  der  Natur  wiedergeben 
wollen,  also  nicht  den  Gegenstand,  wie  er  an  sich  unabhängig  von 
jeder  subjektiven  Auffassung  ist,  sondern  den  Gegenstand  in 
seiner  unmittelbaren  subjektiven  Auffassung  durch  das  Individuum 

—  also  nicht  als  Konstruktion  aus  vielen  Gegenständen  gleicher 
Art,  sondern  als  den  subjektiv  unmittelbar  gesehenen,  gehörten 
'^tc.  Gegenstand. 

Die  realistische  Darstellung  ist  daher  subjektiv,  in  gewissem 

_^.3inn  subjektiver   als    die  idealistische,  die  aus  vielen  Erfahrungen 

ein  geraeinsames  Muster  abstrahiert;   doch  auch  sie  hängt  ab  von 


242  U.  V.  Schubert-Soldern, 

den  Erfahrungen,  welche  der  Künstler  (Dichter  u,  s.  w.)  nach 
allen  Seiten  hin  gemacht  hat,  denn  von  diesen  Erfahrungen 
hängen  die  Assoziationen  ab,  die  sich  an  einen  Gegenstand 
knüpfen  und  durch  diese  sind  die  Gefühle  bestimmt,  die  er  hervor- 
ruft. Da  aber  die  Gefühle,  die  ein  Gegenstand  hervorruft,  nicht 
immer  am  ganzen  Gegenstand  hängen,  sondern  vielfach  an  seinen 
einzelnen  elementaren  und  begrifflichen  Teilen,  so  ist  auch  je 
nach  den  individuellen  Erfahrungen  verschieden,  was  bei  einem 
Gegenstand  in  der  Auffassung  hervor-  und  was  zurücktritt  und 
das  ist  dann  auch  entscheidend  für  seine  Darstellung.^)  Deswegen 
gestaltet  sich  auch  die  realistische  Darstellung  eines  und  desselben 
Gegenstandes  verschieden  je  nach  Zeit,  Ort  und  Individuum,  nur 
dass  hier  das  Bestreben  hervortritt,  den  Gegenstand  möglichst 
unmittelbar  zu  erfassen,  d.  h.  in  seiner  subjektiven  Individualität 
darzustellen.  Dabei  wird  sehr  oft  vergessen,  dass  Individualität 
nicht  etwas  unmittelbar  Gegebenes  ist,  sondern  auch  ein  Begriff, 
der  vieler  Erfahrungen  bedarf.  Ich  habe  schon  darauf  hinge- 
wiesen, dass  eben  deswegen  die  Photographie  künstlerischen 
Zwecken  nie  genügen  kann,  weil  sie  ein  Augenblicksbild  ist.  Die 
Individualität  will  ebenso  studiert  sein  wie  die  Idealität;  sie  be- 
darf der  Hervorhebung  des  Charakteristischen  sowohl  der  Gattung 
als  der  Art  des  Gegenstandes  bis  zu  seiner  untersten  Art,  dem 
Individuum.  Dieses  Charakteristische  zu  sehen,  dazu  bedarf  es 
vieler  Erfahrungen  und  jeder  wird  es  anders  sehen  je  nach  seinen 
Erfahrungen.  Dabei  muss  aber  noch  hervorgehoben  werden,  dass 
der  Realismus  nicht  etwa  in  der  Darstellung  einer  wirklichen  In- 
dividualität allein  besteht,  dann  wäre  er  auf  das  Porträt,  die  Bio- 
graphie u.  s.  w.  beschränkt,  sondern  dass  er  den  Gegenstand  dar- 
zustellen strebt  nicht  als  Muster,  sondern  individuell,  als  ob  er 
ein  Gegenbild  in  der  Wirklichkeit  hätte  und  sehr  oft  hat  er  es 
auch  bis  zu  einem  gewissen  Grade. 

Der  Realismus  hebt  also  bei  der  Darstellung  eines  Gegen- 
standes das  Zufällige,  Subjektive  hervor  (freilich  nicht  ohne  ge- 
treue Nachahmung  des  Gattungscharakters,  sonst  wird  er  unwahr), 
dieses  erscheint  als  eine  unmittelbare  Erfassung  des  Gegenstandes, 


1)  Auch  hier  hat  Volkelt  sehr  richtig  darauf  hingewiesen,  dass  die 
Kunst  die  Natur  nie  erschöpfend  wiedergeben  kann,  dass  sie  stets  eine 
Abbreviatur  der  Natur  ist;  ebendeswegen  muss  auch  ein  jeder  Künstler 
sie  anders  „abkürzen",  d.  h.  eine  andre  Auswahl  des  Darzustellenden 
treffen. 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc.  243 

obgleich  sie  es,  wie  ich  nachgewiesen  zu  haben  glaube,  nicht  ist. 
Darin  liegt  aber  die  Gefahr,  dass  der  Realismus  in  Naturalis- 
mus')  umschlägt.  Denn  der  Realismus  beruht  auf  der  Darstellung 
des  Charakteristischen,  dieses  neigt  aber,  wie  wir  gesehen  haben,  dem 
Hässlichen  zu,  kann  wenigstens  hässlich  sein.  Jedenfalls  weicht 
man  dem  Idealismus  am  meisten  aus,  wenn  man  das  geradezu 
Hässliche  darstellt.  Die  Flucht  vor  dem  Idealismus  führt  daher 
oft  zum  Naturalismus.  So  wie  der  Idealismus  das  Schöne  der 
Natur  in  einem  Gegenstand  zu  vereinigen  strebt,  so  der  Naturalis- 
mus das  Hässliche.  Der  Realismus  will  die  Natur  nicht  hässlicher 
machen  als  sie  individualiter  vorkommt,  der  Naturalismus  will  die 
Natur  noch  natürlicher  machen  als  sie  ist,  er  übertreibt  das  Cha- 
rakteristische bis  zu  einer  Vereinigung  des  Hässlichen  in  einem 
Gegenstände;  er  ist  eine  unbeabsichtigte  Karrikatur  der  Natur, 
die  er  freilich  nicht  immer  soweit  treibt,  dass  sie  die  beabsichtigte 
Karrikatur  erreicht.  Deswegen  tritt  auch  bei  ihm  wie  beim  Idea- 
lismus oft  die  Technik  dem  Inhalt  gegenüber  in  den  Hintergrund, 
das  „Was"  ist  ihm  wichtiger  als  das  „Wie"  der  Darstellung. 
Man  kann  beobachten,  dass  der  Naturalismus  oft  technisch  seinem 
Darstellungsgegenstand  gar  nicht  gewachsen  ist,  und  dass  er  seine 
Unfähigkeit  oft  durch  gesuchte  Originalität  des  Stoffes  oder  der 
Darstellungsweise  zu  decken  sucht. 

Der  Idealismus  sammelt  also  das  in  der  Natur  zerstreute 
Schöne  in  einem  Gegenstand,  wahrt  aber  dabei  mindestens  den 
Schein  der  Naturwahrheit;  wo  er  diesen  nicht  wahrt,  wird  er  zum 
H3^peridealismus.  Der  Realismus  stellt  den  Gegenstand  in 
seiner  Individualität  dar,  wie  sie  sich  der  subjektiven  Auffassung 
des  Einzelnen  bietet;  wo  das  individuell  Charakteristische  zum 
gesucht  Hässlichen  wird,  schlägt  der  Realismus  in  den  Natura- 
lismus um. 

Diese  drei  Kunstrichtungen  stehen  also  in  keinem  so  grossen 
Gegensatz,  dass  nicht  eine  in  die  andere  überginge.  Der  Idealis- 
mus kann  nach  realistischer  Darstellungsweise  streben  und  der 
Realismus   sich   idealistische    Stoffe    wählen,    so   dass   beide  Dar- 


1)  Realismus  und  Naturalismus   werden  vielfach  gleichbedeutend  ge- 
braucht und  gehen  auch  in  einander  über;  mein  Sprachgebrauch    ist    viel- 
leicht   nicht    der   gewöhnliche,    doch    ziehe    ich    ihn    vor,    um   nicht  einen 
euen  Terminus  schaffen  zu  müssen,  denn  nichts  erschwert  das  allgemeine 
erständnis  der  Philosophie  mehr  als  die  stete  Neuschaffung  von  Termini, 
^ivo  man  mit  den  alten,  bekannten  auskommen  könnte. 

Kantstudiea    XV.  Iß 


244  '  R.  V.  Schubert-Soldern, 

stellungsweisen  dann  aneinander  grenzen.  Der  Naturalismus  kann 
sogar  eine  Art  Idealismus  sein,  er  kann  sich  oft  gerade  daraus 
entwickeln,  dass  er  an  die  Natur  und  das  Leben  die  höchsten 
Anforderungen  stellt;  da  diese  nicht  erfüllbar  sind,  so  erscheint 
ihm  das  Tatsächliche  im  Lichte  dieses  Hyperidealismus  als  ärmlich, 
hässlich,  schmutzig  und  so  wie  er  die  Natur  sieht,  so  stellt  er 
sie  dar.  Freilich  giebt  es  auch  einen  Naturalismus,  den  es  freut, 
sich  im  Schmutze  zu  wälzen,  der  unmittelbar  am  Hässlichen  selbst 
Vergnügen  findet.  Ein  solcher  Geschmack  kann  die  Wirkung 
einer  Überreizung  durch  übermässigen  Genuss  sein.  Der  Be- 
treffende bedarf  dann  eben  des  Absonderlichen,  selbst  Hässlichen, 
weil  er  sich  gegen  das  Schöne  und  Gewöhnliche  abgestumpft  hat. 


§  8.     Die  architekionische  und  geistige  Schönheit. 

Schiller  hat  die  Begriffe  der  rein  äusseren,  architekto- 
nischen Schönheit  und  der  Schönheit  des  Ausdrucks  auf- 
gestellt. Die  architektonische  Schönheit  besteht  dann  nur  in  einer 
räumlichen  und  zeitlichen  Anordnung  der  Elemente  und  in  der 
Schönheit  der  einfachen  Elemente  selbst.  Ich  habe  oben  schon 
auf  diesen  Begriff  hingewiesen,  auch  darauf,  dass  Schiller  diesen 
Begriff  nicht  fest  genug  umgrenzt  hat;  hätte  er  es  getan,  so 
wäre  wohl  diese  Art  der  Schönheit  sehr  mager  geworden.  Da 
Schiller  nämlich  alle  Zwecke  von  dieser  Art  Schönheit  ausschliesst, 
so  bleibt  es  selbst  zweifelhaft,  ob  er  die  Unterordnung  unter  eine 
Regel  als  äussere  Schönheit  gelten  Hesse,  weil  sie  den  Zweck 
der  leichten  Zusammenfassung  und  Merkbarkeit  in  sich  trägt. 

Es  ist  nun  aber,  worauf  ich  ebenfalls  schon  hingewiesen 
habe,  die  Frage,  ob  überhaupt  viel  von  der  architektonischen 
Schönheit  übrig  bleibt,  wenn  man  näher  an  sie  herantritt.  Ich 
will  gleich  beim  architektonischen  Kunstwerk  selbst  anfangen. 
Ein  Gebäude  findet  seine  Schönheit  in  der  räumlichen  Anordnung 
seiner  Teile,  in  den  Linien,  überhaupt  in  den  räumlichen  Formen. 
Aber  schon  in  der  Architektur  spricht  man  vom  majestätischen 
Bau,  von  würdevoller  Auffassung,  leichtem  Emporstreben  der  Bau- 
glieder, vom  Ernst  und  von  der  Heiterkeit  des  Stüs.  Fraglich 
ist  es  schon,  ob  in  Schillers  Sinn  auch  die  Anpassung  eines  Ge- 
bäudes an  seinen  Zweck  in  ihrer  äusseren  Sichtbarkeit  noch  zur 
architektonischen  Schönheit  zu  rechnen  ist,  obgleich  diese  An- 
passung   unmittelbar    gefällt,    auch    wenn    die    Zwecke    gänzlich 


Die  Grundfrao-en  der  Ästhetik  etc.  245 


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fremde  sind:   und    doch    beruht    ein  g-rosser  Teil  der  Schönheit  in 
der  Architektur  auf  dieser  Zweckmässigkeit.!) 

Aber  auch  in  die  kunstlose  Natur  trägt  man  Auffassungen, 
Stimmungen  und  dadurch  wird  sie  erst  eigentlich  schön. 2)  Man 
nennt  die  Natur  gewaltig,  anmutig,  erhaben;  die  Natur  scheint  zu 
lachen  und  zu  weinen,  zu  grollen,  zu  zürnen,  zu  trauern  und  da- 
durch erscheint  sie  uns  erst  poetisch,  wenigstens  im  höheren 
Sinn.  Es  ist  ja  auch  ganz  natürlich,  dass  der  Mensch  sich  in 
der  Natur  wieder  sieht,  dass  er  sich  in  die  Natur  hineinversetzt, 
dass  er  die  Natur  vermenschlicht,  und  dass  erst  dadurch  ihm  jene 
Naturschönheit  ersteht,  welche  in  der  Beseelung  der  Natur  liegt; 
denn  je  weiter  man  in  des  Menschen  Denken  zurückgeht,  desto- 
mehr  war  er  bei  seinem  Urteil  über  die  Natur  auf  die  Analogie 
mit  sich  selbst  verwiesen.  Das  gilt  sogar  von  den  einfachen 
Linien:  eine  schön  geschwungene  Linie  erregt  ein  Gefühl  der 
Leichtigkeit  und  Heiterkeit,  während  die  gerade  Linie  mehr  Ernst 
und  Nüchternheit  zeigt.  Das  kommt  m.  E,  daher,  dass  man  die 
Linie  mit  den  Augen  zieht,  dadurch  selbst  in  einen  gewissen 
Schwung,  gleichsam  einen  Rhytmus  gerät,  der  heiter  oder  ernst 
ist,  je  nachdem  die  Linie  langgezogen  oder  öfters  ausbrechend  in 
Schnörkeln  oder  schwungvoll  ist.  So  liegt  auch  schon  in  den 
Linien  eine  gewisse  Stimmung. 

Sieht  man  daher  genauer  zu,  so  bleibt  für  die  architektonische 
Schönheit  wenig  übrig:  vielleicht  eine  gewisse  Ordnung  überhaupt, 
ob  Proportion  erscheint  schon  fraglich  und  endlich  die  einzelnen 
einfachen  Sinneselemeute  wie  Farben,  Töne  u.  s.  w.  Auch  die 
einfachen  Farben  und  Töne  erregen  zwar  schon  Stimmungen,  helle 
Farben,  hohe  Töne  im  allgemeinen  heitere,  tiefe  Tone  und  dunkle 
Farben  düstere,^)  doch  sind  sie  vielleicht  auch,  abgesehen  davon, 
schön.  Jedenfalls,  wenn  es  eine  architektonische  Schönheit  giebt, 
die  kein  Ausdruck  eines  Geistigen  ist,  so  ist  ihr  Umfang  ver- 
schwindend klein. 


!)  Vgl.  Zdenko  v.  Schubert-Soldern  „Ein  Beitrag:  zur  Charakteristik 

der  Stilgesetze".    Prag  1882,  p.  7  f. 

2)  Vgl.  Gottfried  Semper,  Der  Stil.    Frankfurt  a.  M.  1860.  I.  p.  XXI, 
'')  Gewiss    wirkt    dabei    auch   schon  Analogie    mit:    Dunkelheit    der 

■lacht,    Helle    des    Sonnenlichtes;    dann    senkt  man  aber  auch  die  Stimme 
nwillkürlich,  wenn  man  niedergeschlagen  ist,  man  hebt  sie  in  „gehobener" 

Stimmung. 

16* 


246  il.  V.  Schubert-Soldern, 

So  kann  man  also  wohl  sagen,  dass  die  Schönheit  im  höheren 
(d.  h.  ausg-ebildeterem  Sinn)  eine  geistige  ist.  Es  rauss  deswegen 
festgestellt  werden,  worin  dieses  Geistige  besteht.  Das  „Geistige" 
kann  nun  offenbar  nur  in  Vorgängen  der  Vorstellungs-,  Gefühls- 
und Begehrungswelt  bestehen,  denn  die  Aussenwelt  gilt  nicht  als 
geistig,  soweit  nicht  Vorstellungen,  Gefühle,  Begehrungen  berech- 
tigter oder  unberechtigter  Weise  aus  ihr  herausgedeutet  werden. 
Die  Natur  vergeistigen  heisst  daher,  ihren  äusseren  Vorgängen 
andere  zugrundezulegen,  die  nur  in  der  eben  namhaft  gemachten 
Innenwelt  liegen.  Ein  Teil  der  Naturvorgänge  fordert  dazu  her- 
aus, das  ist  der  in  der  Menschen-  und  Tierwelt  gelegene;  ein 
anderer  Teil  wird  nur  durch  eine  jetzt  als  unberechtigt  erkannte 
und  doch  als  schön  gefühlte  Analogie  mit  jenen  beiden  ersten 
Welten  vermenschlicht;  so  wenn  z.  B.  die  Töne  und  Geräusche 
des  Sturmes  als  Klage  oder  Wutgeheul  erscheinen,  wenn  man  der 
ihre  Zweige  hängen  lassenden  AVeide  Trauergefühle  zuschreibt, 
wenn  man  vom  Murmeln  der  Quelle  spricht  u.  s.  w.  Diese  Auf- 
fassung der  Natur  ist  aber  nicht  eine  erst  spät  entstandene  künst- 
liche, sondern  es  ist  die  ursprüngliche  Auffassung  der  ältesten 
Kulturepochen  und  deswegen  ist  auch  heute  noch  die  Spi'ache 
der  sogenannten  Naturvölker  poetisch  im  Ausdruck,  weil  sie  die 
Natur  noch  viel  mehr  vermenschlichen  als  wir.  Das  Meer,  Flüsse, 
Winde,  Jahreszeiten  werden  vermenschlicht,  die  Vorgänge  in 
ihnen  werden,  weil  sie  selbst  mächtiger  sind  als  die  Menschen, 
übermenschlichen  Wesen  zugeschrieben,  den  Göttern.  Wo  die 
äussere  Natur  entgöttert  und  entmenschlicht  wird,  da  erscheint 
sie  reizlos,  oder  „prosaisch".  Der  Mensch  muss  aber  ursprüng- 
liche alle  Vorgänge  in  der  äussern  Natur  vermenschlichen,  weil 
seine  Innern  Vorgänge  ihm  für  die  Erklärung  der  äussern  Natur 
das  Zunächstliegende  sind ;  er  muss  die  Natur  nach  sich  selbst 
beurteilen,  weil  er  ja  der  beständige  Mittelpunkt  ist  (eigentlich 
sein  Leib),  von  dem  alles  andere  in  seinem  Wechsel  abhängt. 
Diese  Auffassungsweise  der  Natur  ist  poetisch  und  schön  und  was 
früher  natürlich  sich  ergab,  wird  nun  künstlich  geschaffen.  Doch 
ist  es  nicht  notwendig,  stets  eine  antike  Götterwelt  in  der  Natur 
zu  sehen,  heute  ist  der  Dichter  und  Künstler  mehr  Theist  oder 
Pantheist,  die  Natur  erscheint  ihm  belebt,  als  ein  Ganzes,  selbst 
Göttliches  oder  vom  götthchen  Hauch  belebt.  Daneben  giebt  es 
aber  auch  noch  eine  andere  Belebung  der  äusseren  Natur, 
wenn    der    Künstler   sie   in    ihren    Verhältnissen    zum    Menschen 


Die  Grundlagen  clei"  Ästhetik  etc.  247 

darstellt,  seine  Bestrebungfen  iu  ihr  sieht  und  sie  in  ihr  mit- 
fühlen lässt. 

Das  „Geistige"  erscheint  aber  auch  im  Bilde  im  Gleichnis. 
Auch  das  Bild  ist  nicht  etwas  erst  später  zu  künstlerischen 
Zwecken  Geschaffenes,  es  ist  ebenso  ursprünglich  wie  die  Ver- 
menschlichung der  äusseren  Natur.  Der  Mensch  konnte  ursprüng- 
lich Abstraktes  nur  im  Bilde  ausdrücken;  er  dachte  zu  konkret, 
war  zu  sehr  mit  dem  unmittelbar  Gegebenen  verbunden,  um  in 
blossen  Wortbegriffen  zu  denken,^)  er  dachte  Abstraktes  in  Bildern 
und  Gleichnissen.  So  denken  heute  noch  vielfach  (wenn  auch 
nicht  mehr  ausschliesslich)  die  sogenannten  Naturvölker.  Wer 
kein  Wort  für  den  Begriff  „Mut"  hat,  kann  '  seinen  Inhalt  nur 
durch  ein  Gleichnis  ausdrücken  und  auch  wenn  ein  solches  Wort 
schon  besteht,  kann  das  Gleichnis  noch  der  verständlichere  und 
populärere  Ausdruck  sein  oder  zum  abstrakten  gleichsam  erläuternd 
hinzutreten;  daher  der  Bilderreichtum  der  ältesten  Dichter,  be- 
sonders Homers.  Ich  möchte  diese  Art  Schönheit  die  logische 
Schönheit  nennen. 

Die  höchste  Schönheit  liegt  daher  im  Menschlichen,  d.  h.  im 
Geistigen,  in  dem,  was  den  Menschen  zum  Menschen  macht  und 
das  ist  seine  am  höchsten  ausgebildete  Innenwelt  (Vorstellungs-, 
Gefühls-,  Begehrungswelt).  Diese  ist  daher  auch  entweder  das 
mittelbare  Ziel  der  ästhetischen  Darstellung  oder  ihr  unmittelbarer 
Gegenstand. 


§  9.     Die  Darstellung  des  Geisügen  in  der  Natur. 

Das  Geistige  kann  in  der  Natur  auf  zweierlei  Art  dargestellt 
werden. 

1.  Das  äusserlich  Dargestellte  steht  unmittelbar  in  keinem 
Zusammenhang  mit  Geistigem,  es  erregt  aber  eine  gewisse  Stim- 
mung und  diese  ist  schön.  So  können  das  Zwielicht,  der  Mond- 
schein, Sonnenschein  schön  sein  durch  die  entsprechende  Stimmung, 
die  sie  hervorbringen.  Hier  wird  nicht  dem  Zwielicht  unmittelbar 
eine  geistige  Bedeutung  untergelegt,  die  schön  ist,  sondern  die 
Wirkung,  die  es  auf  die  Innenwelt  ausübt,  ist  schön.  In  dem 
liese  Stimmung  nicht  hervorgebracht  wird,  dem  erscheint  das 
Zwielicht   weder   schön   noch   hässlich.     So    verhält  es  sich  auch 


0  Vgl.  meine  „Grundlagen  einer  Erkenntnistheorie",  p.  114  ff. 


248  R.  V.  Schubert-Soldern, 

mit  der  Musik.  Die  Musik  wirkt  durch  Töne,  aber  die  Töne  an 
sich  sind  nicht  schön,  sie  haben  wenigstens  keine  geistige  Schön- 
heit (nur  die  sogenannte  architektonische);  aber  Töne  erregen 
Stimmungen  und  Gefühle  und  einen  harmonischen  Wechsel  und 
Übergang  von  Gefühlen  und  das  ist  das  geistig  Schöne.  Aller- 
dings wird  der  Musiker  und  Musikkenner  auch  die  technische 
Ausführung  und  Durchbildung  einer  Idee  oder  eines  Satzes  in 
Tönen  bewundern;  darin  liegt  aber  wieder  eine  andere  Art  des 
Gefallens,  nämlich  an  der  Zweckmässigkeit  der  Anordnung  der 
Töne  zur  Darstellung  einer  Idee.  Auch  dieses  Gefallen  an  der 
Zweckmässigkeit  und  Übereinstimmung  der  Töne  ist  ein  geistiges 
Gefallen,  denn  die  Zweckmässigkeit  ist  nicht  denkbar  ohne  einen 
Geist,  der  sie  geschaffen  hat  und  dieser  Geist,  der  sich  in  der 
Zweckmässigkeit  kund  giebt,  gefällt.  Dasselbe  Gefallen  entsteht 
auch  bei  einem  architektonischen  Kunstwerk;  auch  hier  gefällt 
die  Angemessenheit  des  Gebäudes  in  allen  seineu  Teilen  zu  einem 
bestimmten  Zweckganzen.  Diese  Angemessenheit  und  Zweck- 
mässigkeit ist  nun  allerdings  keine  Stimmung,  sie  kann  aber  durch 
den  Zweck,  den  sie  hat,  Stimmung  erregen  (ein  Wohngebäude 
eine  heimliche,  eine  Kirche  eine  andachtsvolle).  Dasselbe  gilt 
vom  Tanz:  hier  ist  es  der  Ehythmus  der  Bewegungen,  der  die 
Stimmung  erregt,  was  ja  auch  bei  der  Musik  mitwirkt.  Derselbe 
Rhythmus  erscheint  auch  bei  Linien :  man  kann  sagen,  jedes  Ge- 
bäude, jede  Zeichnung,  das  Gebirge  in  seinen  Umrissen  hat  einen 
gewissen  Rhythmus,  der  gefällt  oder  missfällt  durch  die  Stimmung, 
die  er  erregt.  Natürlich  spielt  der  Rhythmus  auch  in  der  Poesie 
eine  grosse  Rolle,  denn  in  ihm  geben  sich  gewisse  Gefühle  und 
Stimmungen  kund,  die  in  Übereinstimmung  mit  dem  geschilderten 
Vorgang  oder  Gefühl  stehen  sollen;  die  Ursache  des  Rhythmus 
war  aber  wohl  die  alte  Verbindung  der  Poesie  mit  der  Musik 
(Gesang).  Weil  bei  dieser  Art  des  Schönen  überall  gewisse  Stim- 
mungen hervortreten,  die  das  Gefallen  oder  Missfallen  kennzeichnen, 
so  möchte  ich  es  das  Stimmungsschöne  nennen.  Bei  diesem 
spielen  nun  auch  die  Assoziationen  eine  grosse  Rolle.  Wenn  der 
Mondschein  magisch,  mystisch,  unheimlich  erscheint,  so  wirken 
dabei  nicht  nur  die  Undeutlichkeit  des  Gesehenen,  die  Bleichheit 
des  Lichtes  (die  auch  die  Gesichter  bleich  erscheinen  lässt), 
sondern  auch  die  Assoziationen  mit  dem  Gehörten  und  Geleseneu; 
wer  nie  von  Geistern  und  Gespenstern  gehört  hätte,  dem  würde 
Nacht   und  Mondlicht    wenig  Mystisches    bieten.     Es  ist  bekannt, 


1 


Die  Grundfraffen  der  Ästhetik  etc.  249 


"t? 


dass  besonders  Gerüche  durch  ihre  Assoziationskraft  leicht  Stim- 
nmugeu  hervorruf eu  können,  doch  ist  das  ästhetisch  nicht  verwert- 
bar, ein  Geruchskunstwerk  giebt  es  nicht,  weil  beim  Geruch  die 
Möglichkeit  kunstvoller  und  mannigfaltiger  Kombinationen  der 
Elemente  fehlt.  Geschmacks-,  Farben-  und  Tastempfindungen  sind 
weniger  geeignet,  für  sich  allein  Stimmungen  durch  Assoziationen 
hervorzurufen,  wohl  aber  z.  B.  Farben  in  Verbindung  mit  Raum- 
und  andern  Qualitäten  (Farben  in  der  Natur,  Farben  der  Wohn- 
räume). 

Darin  nun,  dass  gewisse  elementare  Sinnesqualitäten  und 
Beziehungen  durch  ihre  Assoziationen  Stimmungen  hervorzurufen 
vermögen,  liegt  etwas  sehr  zufälliges  und  willkiirliches.  Deswegen 
reflektiert  auch  die  Musik  in  ihren  Tönen  nicht  auf  jene  Assozia- 
tionen, ausser  wo  sie  Klänge  der  Natur  nachahmt;  wenn  sie  aber 
das  Eauschen  des  Meeres,  Kirchen-  oder  Kuhglockengetöne  musi- 
kalisch wiedergeben  will,  dann  muss  auch  sie  Rücksicht  auf  die 
Assoziationen  nehmen,  die  sich  an  jene  Töne  knüpfen.  Individuell 
freilich  wirken  auch  in  der  Musik  Assoziationen  und  ein  lustiges 
Lied  kann  zu  Thränen  rühren,  wenn  sich  daran  die  Erinnerung 
an  traurige  Ereignisse  knüpft. 

2.  Im  Gegensatz  zum  Stimmungsschönen,  das  nur  in  der 
Musik  einer  tiefen  und  weiten  Ausbildung  fähig  ist,  behandelt  das 
„Geistesschöne"  im  engereu  Sinn  einen  geistigen  Vorgang  oder 
eine  Idee.  Auch  mit  diesem  geistigen  Vorgang  oder  dieser  Idee 
sind  Stimmungen  und  Gefühle  verbunden,  aber  die  Darstellungs- 
mittel werden  nicht  unmittelbar  zur  Erzeugung  einer  Stimmung 
verwendet,  sondern  zur  Darstellung  einer  Idee  oder  eines  Vor- 
gangs, der  dann  Stimmungen,  Gefühle  hervorrufen  kann.  Der 
Musiker  ruft  unmittelbar  durch  seine  Darstellungsmittel  Stimmungen 
und  Gefühle  hervor,  der  Maler,  der  Bildhauer,  selbst  der  Dichter 
kann  es  nicht;  sie  müssen  zuerst  irgendwelche  Ideen  in  Gegen- 
ständen und  Vorgängen  der  Aussenwelt  verwirklichen  und  durch 
sie  erst  erzeugen  sie  Gefühle.  Das  gilt  sogar  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  für  den  lyrischen  Dichter:  nur  Gefühle,  ohne  dass 
er  auf  irgendwelche  äussere  Vorgänge  oder  Gegenstände  Bezug 
nähme,  kann  auch  er  nicht  schildern.  "Wo  er  auch  keinen  Gegen- 
stand und  äusseren  Vorgang  zum  Zweck  lyrischer  Gefühle  dar- 
tellt,  da  bedient  er  sich  wenigstens  des  Gleichnisses  in  der 
Aussenwelt.  Denn  nur  Ton  und  Rhythmus  können  Gefühle  un- 
mittelbar hervorrufen,    alle    anderen  Darstellungsmittel  nur  mittel- 


250  R.  V.  Schubert-Soldern, 

bar.    Eiu  Lyriker,  der  die  Gefühle  für  sich  allein  schildern  wollte, 
wäre  eher  Psychologe  als  Dichter. 

So  ist  die  eigentliche  Aufgabe  der  Kunst,  die  Innenwelt 
durch  die  Aussenwelt  darzustellen;  sie  kann  das  unmittelbar  tun, 
wie  in  der  Musik  und  im  Rhytmus  des  Tanzes,  sie  kann  es  mittel- 
bar tun,  indem  sie  durch  ihre  Mittel  (welche  stets  der  Aussenwelt 
angehören  müssen)  zuerst  die  Aussenwelt  darstellt  und  durch 
diese  erst  die  Innenwelt.  Auch  die  Landschaft  soll  Stimmung 
hervorrufen  und  ist  insofern  Mittel  zur  Darstellung  der  Innenwelt. 
Die  wichtigsten  Arten  nun  der  geistigen  Schönheit  im  weiteren 
Sinn  (das  Stimmungsschöne  inbegriffen)  sind  das  Erhabene  und 
Anmutige. 


§  10.     Das  Erhabene  und  das  Anmutige. 

Auch  hier  will  ich,  wie  bei  den  Hauptbegriffen  der  Ästhetik 
überhaupt,  unter  Benutzung  ihrer  Analyse  durch  Kant  und  auch 
Schiller  vorgehen,  dabei  aber  ihre  metaphysischen  Voraus- 
setzungen ausschliessen. 

Das  Erhabene,  worauf  E.  v.  Hartmann^)  ganz  richtig  hin- 
gewiesen hat,  ist  immer  ein  intensiv  Erhabenes,  das  extensiv  Er- 
habene ist  immer  nur  scheinbar  vorhanden,  indem  die  Extensität 
die  Idee  einer  dahinter  steckenden  gewaltigen  Kraft  hervorruft; 
oder  indem  man  sich  an  der  Extensität  der  Grösse  seiner  eigenen 
Auffassungskraft  bewusst  wird.  Es  giebt  daher  zweierlei  Arten 
des  Erhabenen:  1.  Jenes,  das  im  Bewusstsein  der  Grösse  der 
eigenen  Auffassungskraft  wurzelt ;  so  wenn  ich  z.  B.  den  Sternen- 
himmel betrachte  und  mir  vorzustellen  versuche,  dass  er  aus  un- 
endlich vielen  unermesslich  weit  entfernten  Welten  besteht. 
Dieser  Versuch  scheitert  zwar  an  der  Grösse  der  geforderten 
Vorstellung,  aber  dennoch  wird  in  diesem  Versuch  die  Vor- 
stellungskraft'-^) bis  zu  den  äussersten  Grenzen  angespannt  und 
dadurch  wird  man  sich  der  Macht  und  Grösse  seines  eigenen 
Geistes  bewusst.  Das  ist  jenes  Erhabene,  das  seinen  Gegenstand 
in  der  Natur  findet,  ohne  die  Natur  zu  vermenschlichen.  Aber 
nur  der  Gegenstand  ist  in  der  Natur  zu  finden,  das  Erhabene 
liegt  in  uns,  in  unserer  geistigen  Auffassung. 

1)  „Philosophie  des  Schönen"  II,  p.  262. 

2)  Eigentlich  die  Möglichkeit,  seinen  VorsteUiingskreis  zu  erweitern 
und  zugleich  zusammenzufassen. 


I 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc.  251 


•ö 


2.  Es  g^iebt  aber  auch  ein  Erhabenes,  das  auf  einer  g-e- 
waltigen  Macht,  einer  gewaltigen  geistigen  Kraft  beruht,  die  sich 
in  furchtbarer  Weise  in  der  Aussenwelt  kundgiebt.  So  erscheinen 
Elementarereignisse  in  der  Natur  in  diesem  Sinn  erhaben,  wo  wir 
sie  vermenschlichen;  so  wenn  wir  einen  Orkan,  ein  stürmisches 
Meer,  ein  Erdbeben  als  zornige  Äusserungen  eines  geistigen 
Wesens  erfassen.  Sie  sind  aber  auch  dadurch  erhaben,  dass  sie 
die  Vorstellungskraft  sich  bis  zu  den  äussersten  Grenzen  zu  er- 
weitern nötigen ;  sie  können  also  auch  zur  ersten  Art  des  Er- 
habenen gehören.  Wo  aber  weder  das  eine  noch  das  andere  der 
Fall  ist,  wo  z.  B.  die  Grösse  oder  Intensität  eines  Gegenstandes 
nur  durch  Zahlen  angegeben  ist,  da  stellt  sich  auch  nicht  das 
Gefühl  der  Erhabenheit  ein.  Das  beruht  also  darauf,  dass  das 
Erhabene  sich  immer  an  die  Betätigung  einer  gewaltigen  geistigen 
Macht  knüpft,  die  entweder  unmittelbar  unsere  eigene  Auffassungs- 
kraft ist  oder  eine  gewaltige  geistige  Kraft,  die  sich  in  der  Natur 
oder  im  Menschen  kund  giebt,  wodurch  im  letzten  Fall  das  ent- 
steht, was  Schiller  Würde  nennt.  In  den  beiden  letzten  Fällen 
muss  ich  aber  die  geistige  Macht  erschliessen  und  dadurch,  dass 
ich  sie  erschliesse,  eigne  ich  mir  sie  gleichsam  an:  indem  ich  die 
Älacht  und  Grösse  eines  fremden  Geistes  erschliesse,  fühle  ich  sie 
selbst.  Doch  die  Äusserung  dieser  gewaltigen  Macht  darf  mir 
nicht  mit  Schaden  und  Leid  drohen,  weil  ich  sonst  aus  der  blossen 
Betrachtung  zum  Handeln  herausgerissen  werde  (Abwehr),  wo- 
durch das  Gattuugsmerkmal  des  Ästhetischen  vernichtet  erscheint.^) 
Das  Angenehme  beim  Erhabenen  steckt  ioi  Machtbewusstsein,  das 
es  hervorruft,  entweder  des  eigenen  Geistes  oder  des  fremden,  in 
das  ich  mich  hineinlebe,  das  ich  nur  gleichsam  ausleihe. 

Den  Gegensatz  zum  Erhabenen  bildet  das  Anmutige.  War 
das  Erhabene  eine  gewaltige  geistige  Kraft,  deren  ich  mir  be- 
wusst  geworden  bin,  so  ist  das  Anmutige  ein  blosses  Spiel  der 
Kräfte.  Dem  Anmutigen  liegt  jede  gewaltsame  Anstrengung  fern, 
es  muss  sich  von  selbst  ergeben;  man  darf  die  Anstrengung,  die 
zur  Wirkung  notwendig  ist,  nie  sehen,  sonst  wird  die  Anmut  zer- 
stört. Das  Anmutige  ist  also,  wie  Schiller  so  richtig  hervor- 
gehoben hat,  die  unwillkürliche  Übereinstimmung  des  Innern 
Fühlens  und  des  äussern  Handelns ;  wobei  Handeln  im  weitesten 
Sinn  genommen  werden  muss,  auch  als  fest  gewordene  Bewegung 

1)  Deswegen  tritt  das  Gefühl  des  Erhabenen  (eines  Meeressturmes 
z.  B.)  erst  hervor,  wenn  die  Gefahr  (der  Sturm  also)  vorüber  ist. 


252  R.  V.  Schubert-Soldern, 

(Handeln)  im  Ausdruck.  Nur  glaube  ich,  dass  das  Ziel  des 
Handelns  dabei  gleichgiltig  ist,  das  Handeln  niuss  nicht  moralisch 
sein  und  das  halte  ich  für  einen  Fehler  der  Schillerschen  An- 
schauung, dass  die  Anmut  aus  moralischer  Gesinnung  hervorgehen 
soll.  Es  giebt  auch  eine  Anmut  des  Bösen  und  nicht  bloss  des 
Guten.  Die  Anmut  besteht  nicht  darin,  dass  eine  gute  Gesinnung 
in  schöner  Übereinstimmung  mit  der  äussern  Bewegung  steht, 
sondern  darin,  dass  Gefühle,  Gesinnungen  überhaupt  in  völliger 
Übereinstimmung  mit  dem  von  ihnen  äusserlich  Wahrnehmbaren 
stehen.  Gefühle  haben  ja  an  und  für  sich  nichts  mit  der  Moral 
zu  tun,  sie  werden  erst  moralisch  oder  unmoralisch  durch  ihre 
Beziehung  auf  die  Mitmenschen  und  gerade  diese  Beziehung  ist 
für  die  Anmut  gleichgiltig.  Was  für  Zwecke,  Handlungen  und 
Bewegungen  haben,  ist  für  den  Begriff  der  Anmut  gleichgiltig. 
Die  Anmut  liegt  nicht  im  Zweck,  sondern  in  der  Art  und  Weise, 
wie  das  Ziel  äusserlich  angestrebt  und  erreicht  wird.  Deswegen 
fällt  auch  die  Richtung  der  Bewegung,  wie  Schiller  auch  selbst 
bemerkt,  1)  nicht  unter  den  Begriff  der  Anmut,  sondern  nur  ihre 
Ausführung.  Das  Ziel  gehört  zum  willkürlichen  und  absichtlichen 
Entschluss,  das  Anmutige  ist  unwillkürlich  und  unabsichtlich:  es 
liegt  in  der  Art  und  Weise,  wie  das  Ziel  äusserlich  angestrebt 
und  erreicht  wird.  Das  Innere  (Gesinnung  im  weitesten  Sinn) 
und  Äussere  (Bewegung  im  weitesten  Sinn)  sollen  sich  in  der 
Anmut  das  Gleichgewicht  halten  und  einander  entsprechen.  Eine 
äussere  Bedingung  muss  aber  allerdings  die  Gesinnung  erfüllen: 
sie  muss  nicht  moralisch  sein,  aber  sie  muss  selbst  ein  Gleich- 
gewicht der  Gefühle  aufweisen,  nur  dann  wird  sie  auch  ein 
Gleichgewicht  und  Ebenmass  der  Bewegungen  zur  Folge  haben 
können.^)  Darin  liegt  auch  der  Gegensatz  der  Anmut  zum  Er- 
habenen. Das  Erhabene  ist  ein  Unmessbares,  das  Anmutige  ist 
ein    Ebenmässiges,    Gemessenes;    das    Erhabene   überschreitet  das 


^)  1.  c.  p,  20,  obgleich  mit  andern  Worten. 

2)  Das  Gleichgewicht  der  Gefühle  braucht  nicht  immer  ein  ent- 
sprechendes Ebenmass  der  Handlungen  und  Bewegungen  hervorzurufen, 
denn  das  Ebenmass  der  Bewegungen  beruht  auch  darauf,  dass  in  ihnen 
unwillkürlich  nicht  mehr  Kraft  angewendet  wird,  als  zur  Erreichung  des 
Zweckes  notwendig  ist  und  das  dieser  Zweck  ebenso  unwillkürlich  durch 
die  leichtesten  und  einfachsten  Bewegungen  erreicht  wird  und  das  kann 
durch  das  Ebenmass  der  Gefühle  allein  nicht  erreicht  werden,  dazu  gehört 
auch  willkürliche  Übung  oder  unwillkürliche  Nachahmung,  die  vorher- 
gehen muss. 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc.  253 

Mass,  das  Aumutige  hält  sich  im  Mass;  das  Anmutige  ist  ge- 
messene Selbstbeherrschung  seines  Äussern,  die  zur  zweiten  Natur 
geworden  ist,  das  Erhabene  ist  Anspannung  aller  Kräfte,  selbst 
bis  zum  Verlust  der  Selbstbeherrschung.  Das  Anmutige  wird  also 
charakterisiert  durch  die  Übereinstimmung  zwischen  dem  Innern 
und  Äussern,  aber  die  Art  und  Weise  dieser  Übereinstimmung 
muss  ein  gewisses  Ebenmass  und  relative  Ruhe  zeigen;  relativ 
muss  die  Ruhe  sein  im  Gegensatz  zum  Kontrast,  von  dem  sich 
das  Anmutige  abhebt:  auf  stürmischem  Hintergründe  wird  auch 
die  Anmut  eine  stürmischere  sein  können.  Vor  allem  aber  darf 
man  der  Anmut  nie  eine  Willkürlichkeit  und  Absichtlichkeit  an- 
merken, die  wahre  Anmut  wird  unwillkürlich'  sein  und  die  ge- 
machte muss  es  wenigstens  scheinen. 


§  11.     Das  Tragische  und  Komische. 

Das  Tragische  geht  aus  dem  Erhabenen  hervor.  Es  ist  der 
Konflikt  des  menschlich  Erhabenen,  sei  es  mit  der  Natur  oder  mit 
anderem  menschlich  Erhabenen;  in  diesem  Konflikt -geht  das  Er- 
habene unter.  Man  könnte  das  Tragische  daher  auch  als  den 
Untergang  des  Erhabenen  bezeichnen  w^ollen,  wenn  dieser  Begriff 
nicht  zu  weit  wäre,  denn  wo  das  Erhabene  ohne  gewaltigen  Kon- 
flikt zu  Grunde  geht,  gehört  es  nicht  dem  Tragischen  an;  dieser 
Konflikt  muss  ein  schwerer,  gewaltiger  sein,  also  ein  Konflikt 
wieder  mit  einem  Erhabenen  in  der  Natur  oder  in  der  Menschen- 
brust. Auf  der  Bühne  ist  aber  nur  darstellbar  das  menschlich 
Erhabene  (nicht  das  Erhabene  der  Natur),  das  gewaltigste  mensch- 
lich Erhabene  ist  aber  das  moralische,  daher  stellt  die  Tragödie 
den  moralischen  Konflikt  des  Erhabenen  dar  oder  eigentlich  den 
Untergang  des  Erhabenen  im  moralischen  Konflikt.^) 

Indem  die  Kunst  das  Tragische  darstellt  und  der  Beschauer 
(Hörende  oder  Sehende)  es  in  sich  aufnimmt,  es  nacherlebt,  fühlt 
er  sich  zur  Höhe  des  Erhabenen  emporgezogen;  dadurch  wird  er 
gereinigt  von  allen  kleinlichen  Leidenschaften,  banausischen  Zielen 


1)  Tatsächlich  muss  freilich  der  Untergang  des  Erhabenen  nicht  er- 
folgen (vgl.  Volkelt,  „Ästhetik  des  Tragischen-',  München  1897,  p.  47  ff.), 
\ber  die  Gefahr  muss  eine  wirkliche  und  nicht  bloss  scheinbare  sein  und 
das  Tragische  in  der  Darstellung  hört  in  dem  Augenblick  auf,  wo  die 
Gefahr  aufhört.  Der  Untergang  des  Erhabenen  muss  also  wenigstens  in 
der  Erwartung  erfolgen. 


254  R.  V.  Schubert-Soldern, 

und  Gedanken,  die  g-egenüber  dem  Erhabenen  ihren  Wert  verloren 
haben.  Das  ist  m.  E.  der  Sinn,  in  dem  allein  die  Katharsis  des 
Aristoteles  aufrecht  erhalten  werden  kann,  wenn  es  auch  nicht 
die  strikte  Ansicht  dieses  Philosophen  selbst  ist.  Deswegen  be- 
darf das  Tragische  keiner  Versöhnung,  denn  der  Zuschauer  soll 
sie  in  jeuer  Reinigung  finden.  Wo  sie  vorhanden  ist,  ist  sie  viel- 
leicht kein  Fehler,  wenn  sie  bloss  angedeutet  ist.  Wird  die  Ver- 
söhnung aber  zu  weit  durchgeführt,  dann  erscheint  das  Tragische 
verwischt;  der  Künstler  darf  nur  andeuten,  dass  mit  dem  be- 
stimmten Erhabenen  nicht  alles  Gute  und  Schöne  untergegangen 
ist,  dass  neues  Leben  aus  den  Ruinen  heraus  zu  erhoffen  ist; 
führt  er  aber  diesen  Gedanken  zu  sehr  im  Einzelnen  aus,  so  er- 
Avacht  im  Beschauer  das  Interesse  für  das  Neue  und  zerstört  das 
Interesse  für  das  Tragische. 

Den  Gegensatz  zum  Tragischen  bildet  das  Komische.  Auch 
im  Komischen  ist  ein  Konflikt,  aber  ein  Konflikt  von  Kräften,  die 
keine  Stärke,  sondern  Schwäche  zeigen.  Das,  was  im  Konflikt 
steht,  will  mehr  sein  als  es  ist  oder  auch  zugleich  ein  anderes 
sein;  im  Konflikt  aber  zeigt  es,  dass  es  viel  weniger  oder  fast 
nichts  ist  oder  etwas  ganz  anderes,  als  es  sein  will.  Dieser 
Unterschied  im  Sein,  Wollen  und  Wirklichsein  ist  das  Komische. 
Nicht  notwendig  ist  es  jedoch,  dass  im  Komischen  stets  ein  Er- 
habenes erscheint,  das  sich  dann  als  keines  erweist,  denn  das  ist 
nur  eine  Art  des  Komischen.  Notwendig  ist  nur,  dass  eines  im 
Gegensatz  zum  andern  steht,  oder  dass  beide  sich  zu  einander  im 
Gegensatz  befinden  der  Quantität  oder  Qualität  nach,  tatsächlich 
aber  fast  nichts  oder  etwas  ganz  anderes  sind.  Der  Gegensatz 
zum  Tragischen  liegt  also  darin,  dass  der  Konflikt  beim  Komischen 
ein  unbedeutender  ist,  und  dass  er  die  scheinbare  Bedeutsamkeit 
des  in  ihm  Befindlichen  zerstört,  während  beim  Tragischen  der 
Konflikt  das  in  ihm  Befindliche  zur  Erhabenheit  erhöht  und  in 
volles  Licht  setzt. 

Daraus  ergiebt  sich  der  Begriff  des  Tragikomischen, 
Dieser  besteht  darin,  dass  das  im  Konflikt  befindliche  halb  komisch, 
halb  tragisch  ist;  das  kann  wieder  dadurch  entstehen,  dass  ent- 
weder ein  Erhabenes  in  einem  unbedeutenden  (lächerlichen)  Kon- 
flikt zu  Grunde  geht  oder  dadurch,  dass  in  einem  bedeutenden 
Konflikt  ein  Unbedeutendes  zu  Grunde  geht. 

Das  Komische  selbst  kann  ein  subjektiv  oder  objektiv 
Komisches  sein.     Das   objektiv  Komische  ist  das  Lächerliche, 


J 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc.  255 

wo  das  Komische  am  Andern  hängt,  ohne  dass  er  es  sein  will; 
das  subjektiv  Komische  entsteht,  wo  der  Andere  komisch  sein 
will,  das  Komische  darstellt.  Zu  diesem  gehört  auch  der  Witz. 
Im  Witz  liegt  Absichtlichkeit,  ein  unabsichtlicher  Witz  ist  eigent- 
lich keiner.  Dann  gehört  aber  auch  dazu,  dass  der  Witz  etwas 
Einzelnes,  Augenblickliches  ist,  das  ist  die  Pointe  des  Witzes. 
Ein  Komisches,  das  sich  in  einer  ganzen  Erzählung  von  einiger- 
massen  bedeutender  Länge  entfaltet  ist,  ist  kein  Witz,  sie  kann 
höchstens  eine  Sammlung  von  Witzen  sein.  Der  Witz  ist  das 
isolierte  Moment  des  Komischen  und  eben  durch  diese  Isolierung 
wirkt  er  packend,  er  muss  den  Gegensatz  viel  schärfer  konzen- 
trieren, als  ein  ausgeführt  Komisches,  sonst  ist  er  schal. 


§  12.     Der  Humor. 

Der  Humor  steht  im  Gegensatz  zum  Witz  innerhalb  des 
Komischen :  sowie  der  Witz  das  isolierte  Moment  des  Komischen 
ist,  so  ist  der  Humor  eine  ganze  Lebensanschauung,  die  sich  im 
Komischen  entfaltet.  Vom  Standpunkt  des  Humors  aus  sind  alle 
Konflikte  des  Lebens  unbedeutend,  sie  laufen  auf  ein  Nichts  oder 
auf  ein  ganz  anderes  hinaus,  als  sie  scheinen.  Der  Kampf  des 
Lebens  erscheint  seiner  selbst  nicht  wert  und  dadurch  entsteht 
die  Komik,  dass  der  Kampf  des  Lebens  sich  selbst  in  seiner 
Uubedeuteudheit  aufdeckt:  das  Leben  erscheint  selbst  als  eine 
Komödie. 

Innerhalb  des  Humors  im  allgemeinen  sind  aber  zwei  Stand- 
punkte möglich:  ein  positiv  idealer  und  ein  negativ  nüch- 
terner: 1.  Vom  positiv-idealen  Standpunkt  kann  das  Leben  als 
eine  Komödie  erscheinen,  w'eil  der  es  Schildernde  einen  erhabenen 
Standpunkt  einnimmt,  einen  Standpunkt,  der  über  das  kleine  Ge- 
triebe des  Lebens  erhaben  ist:  er  betrachtet  die  Welt  gleichsam 
von  einem  hohen  Turme  aus  und  sie  schwindet  ihm  zu  einem 
Ameisenhaufen  zusammen.  So  erscheint  ihm  aller  Kampf  und 
Streit  als  lächerlich  oder  des  Mitleids  wert,  des  Mitleids,  weil  oft 
ein  das  Menschliche  zerstörender  Kampf  um  Nichts  geführt  wird. 
Dabei  kann  man  aber  auch  sich  selbst  von  diesem  Standpunkt 
aus  betrachten,  sich  in  ihn  einschliessen,  dann  verliert  der  Humor 
ine  Schärfe  und  Bitterkeit,  das  Mitleid  herrscht,  vor  allem  Weh- 
it  darüber,  dass  das  Unbedeutende  und  Nichtige  im  Leben  eine 
solche   Rolle    spielen   muss.     Diese  Art  des  Humors,    der  Humor 


256  R.  V.  Schubert-Soldern, 

im  engeren  Sinn  zerstört  die  Anschauungen  des  wirklichen 
Lebens,  um  an  ihre  Stelle  einen  idealen  Standpunkt  zu  setzen 
oder  wenigstens  anzudeuten. 

2.  Die  zweite  Art  des  Humors  ist  die  Satyre.  Auch  sie 
betrachtet  das  Leben  als  eine  Farce,  in  seiner  ganzen  lächerlichen 
Nichtigkeit  und  Hohlheit,  die  sich  als  Bedeutsamkeit  des  Geistes 
und  Gefühls  geben  will.  Doch  sie  ist  nur  negativ,  sie  spielt  nur 
einen  Gegensatz  gegen  den  andern  aus,  ohne  alles  von  einem 
höheren  Standpunkt  aus  zu  betrachten  und  es  vielleicht  in  ihm 
zu  versöhnen.  Die  Satyre  zeigt  die  Nichtigkeit  des  Einen  durch 
die  Nichtigkeit  des  Andern,  sie  zerstört  nur  ohne,  aufzubauen.  In 
der  satj'rischen  Lebensanschauung  erscheint  daher  die  eigene 
Person  meistens  von  der  Satyre  ausgeschlossen,  weil  sie  nicht  auf 
einem  idealen  Standpunkt  steht,  von  dem  aus  sie  alles,  auch  sich 
selbst,  umfasst.  Der  Satyriker  steht  mitten  im  Leben  darin,  be- 
kämpft eines  durch  das  andere,  stellt  aber  nichts  an  seine  Stelle. 
Beide  Standpunkte  können  sich  auch  mengen  (nicht  aber  organisch 
verbinden),  wenn  bald  die  Freude  am  blossen  Zerstören  der  auf- 
geblasenen Nichtigkeiten  des  Lebens  vorherrscht,  bald  ein  idealer 
mitleidsvoller  Standpunkt  im  Hintergrund  das  grelle  Licht  der 
Satyre  gemildert  erscheinen  lässt.  Hass  und  liiebe  kämpfen  in 
einer  solchen  Natur,  aber  weder  die  eine,  noch  die  andere  behält 
die  Oberhand. 

Damit  sind  die  hauptsächlichsten  Begriffe  der  Ästhetik  auf 
Kantischer  Grundlage  analysiert  und  mit  Ausschluss  aller  Meta- 
physik weiter  durchgeführt.  Das  Prinzip  oder  die  Prinzipien  der 
Einteilung  der  Künste  und  die  Durchführung  der  gewonnenen 
Begriffe  in  den  einzelnen  Künsten  würde  nicht  mehr  zu  den  all- 
gemeinen Grundbegriffen  der  Ästhetik  gehören. 


Anhang. 

Einige  Bemerkungen  zum  Begriff  des  Suis. 

Der  Begriff  des  Stils  wird  in  sehr  verschiedenen  Beziehungen  ge- 
braucht und  im  gewöhnlichen  Leben  oft  sogar  auch  gleichbedeutend  mit 
dem  Begriff  der  Manier.  Manier  und  Stil  unterscheiden  sich  aber  wesent- 
lich von  einander,  wenn  man  Manier  nicht  in  dem  allgemeinsten  Sinn  von 
Art  und  Weise  gebraucht,  sondern  in  dem  Sinn  von  Manieriertheit.  Manier 
ist  dann  der  gedankenlos  von  irgendwoher  übernommene  Stil,  also  ein 
Stil,  der  nicht  aus  der  eigenen  Tätigkeit  des  Künstlers  hervorgegangen 
ist,   der   einfach   nachgeahmt  ist.    Freilich  kann  auch  der  selbsterfundene 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc.  257 

Stil  eines  Künstlers  in  Manier  übergehen,  wo  dieser  die  Ziele,  die  seinen 
Stil  geschaffen,  ausser  Acht  lässt  und  ihn  gedankenlos  anwendet.  Damit 
soll  jedoch  nicht  gesagt  sein,  dass  der  Stil  ein  voll  bewusstes  Produkt 
der  Ziele  des  Künstlers  sein  rauss  oder  ist.  In  der  Regel  wird  sogar  der 
Künstler  ..nnbewusst"  seinen  Stil  seinen  Kunstzielen  anpassen  und  auch 
diese  selbst  brauchen  ihm  nicht  zum  vollen  Be^\'usstsein  zu  kommen. 
„Unbewusst"  heisst  aber  hier  nicht  eine  eigene  Art  psychischer  Tätigkeit, 
die  sich  von  der  bewussten  scharf  unterscheidet,  sondern  es  fehlt  nur  das 
die  einzelnen  Bewusstseinsmomente  in  der  Erinnerung  zusammenfassende 
Bewusstsein  und  damit  auch  die  Richtung,  welche  diese  Bewusstseins- 
momente einschlagen.  Der  Künstler  lässt  sich  vielmehr  vom  konkreten 
Augenblicksinhalt  bestimmen  wie  jeder  Praktiker  und  ist  sich  deswegen 
viel  weniger  jener  Begriffe  bewusst,  die  durch  die  Zusammenfassung  vieler 
konkreter  Augenblicke  entstehen  können ;  in  diesem  Sinn  arbeitet  er  „un- 
bewusst" und  viel  „Reflexion"  muss  seiner  Kunsttätigkeit  schaden.^) 
Unter  „gedankenlosem"  Arbeiten  verstehe  ich  aber '  einen  nahezu  gänz- 
lichen Mangel  an  eben  dieser  Reflexion  auf  seine  Ziele,  so  dass  nicht 
mehr  die  Reflexion  wirkt,  sondern  ihr  erstarrtes  Produkt,  eben  die  Manier. 
Zu  viel  Reflexion  bewirkt  einen  gezwungenen  Stil,  der  aber  immer  noch 
Stil  ist,  zu  wenig  wird  zur  Manier.  Stil  und  Manier  sind  also  Art  und 
Weisen  künstlerischer  Darstellung,  abhängig  von  den  Zielen  dieser  Dar- 
stellung; nur  wirken  im  Stil  diese  Ziele  noch  lebendig,  wenn  auch  nur 
halbbewusst  im  erörterten  Sinn,  in  der  Manier  ist  die  Art  und  Weise  er- 
starrt und  die  Wirkung  der  Ziele  beschränkt  sich  auf  ein  Minimum ;  es 
wird  also  in  der  Manier  der  durch  Ziele  geschaffene  Stil  bloss  nach- 
geahmt. 

Aber  auch  der  Stil  im  allgemeinen  lässt  viele  Abstufungen  zu.  Von 
Stil  im  eigentlichen  strengsten  Sinn  kann  man  m.  E.  nur  reden,  wo  der 
Zweck  (die  Ziele)  des  Kunstwerkes  alle  seine  Teile  bis  ins  Einzelne  sj'ste- 
matisch  bestimmt,  wie  in  der  Architektur.  In  Malerei,  Skulptur  und 
Poesie  und  in  beschränkterer  Weise  auch  in  der  Musik  lassen  sich  die- 
selben Ziele  in  der  verschiedensten  Weise  äusserlich  darstellen,  so  dass  der 
Zusammenhang  zwischen  Ziel  und  Darstellung  im  Einzelnen  sich  viel 
weniger  offenbart.  Strengen  Stil  giebt  es  nur  in  der  Architektur  und 
kann  (muss  aber  nicht)  es  in  der  Musik  geben,  was  man  in  den  andern 
Künsten  oft  Stil  nennt,  ist  vielmehr  Manier  oder  das,  was  ich  Stilismus 
nennen  möchte,  die  Unterordnung  der  Kunst  unter  ihr  fremde  Zwecke; 
so  wenn  die  Malerei  oder  Skulptur  sich  gänzlich  der  Dekoration  unter- 
ordnet oder  wenn  das  Symbolische  bis  ins  Einzelne  die  Oberhand  behält 
wie  bei  den  indischen  Skulpturen.  Gewiss  giebt  es  auch  in  Malerei, 
Skulptur  und  Poesie  Stil,  aber  er  ist  äusserlich  wenig  sichtbar,  nur  für 
den  Kenner  erfassbar  und  stets  viel  freier  in  seinen  Formen  und  seiner 
Handhabung.  Das  aber,  was  als  Stil  von  bestimmten  Kunstschulen  be. 
zeichnet  wird,  ist  leider  in  der  Regel  mehr  Manier  als  Stiel,  der  Meister 
kinterlässt   seinen  Schülern    die  Manier  und  nur  die  tüchtigsten  erwerben 

1)  über  das  Unbewusste  vgl.  meine  Abhandlung  „Über  das  Unbe- 
.fusste  im  Bewusstsein",  Vierteljahrsschr.  f.  wissensch.  Philos.  XXII.  4. 


256 


R-  T.  Sckttbert^Soldent, 


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Axbäi:  Was  ist  Stfl? 


Die  Grnndfrag'en  der  Ästhetik  etc.  259 

lieh  aucli  Zweck  und  Stoff  bestimmen  („spezielle  Stilgesetze",  man  kann 
wolil  besser  sa^en  historische  Stilgesetze).*)  Es  wäre  ein  Fehler,  zu 
glauben,  dass  sich  in  einem  Kunstwerk  Stoff,  Zweck  und  äussere  Umstünde 
in  iliren  Wirkungen  genau  trennen  Hessen;  die  Idee  beeinfhisst  ebenso  in 
jedem  Augenblick  der  Ausführung  den  Stoff  wie  der  Stoff  immerfort 
während  ihrer  Gestaltung  die  Idee  modifiziert ;  denn  Stoff  und  Idee  ver- 
halten sich  zu  einander  wie  Technik  und  Komposition.  Deswegen  wird 
man  m.  E.  im  Einzelnen  nie  bestimmen  können,  wie  viel  bei  einem 
Kunstwerk  auf  Reclmung  des  (materiellen  und  aucli  geistigen)  Stoffes  und 
wie  viel  auf  Rechnung  der  Idee  zu  stellen  kommt. 

Der  Stoff  bestimmt  die  Technik  im  materiellen  Sinn,  eine  Be- 
arbeitung des  Stoffes,  die  seiner  Natur  zuwider  ist,  wird  niemals  zu  einem 
bis  ins  Einzelne  durchgeführten  Kunstwerk  führen  können ;  soweit  sie 
aber  dem  Stoff  entgegen  doch  ein  Kunstwerk  schafft,  fühlt  sich  der 
Kenner  wenigstens,  dadurch,  dass  dem  Stoff  Gewalt  angetan  wird,  unan- 
genehm berührt,  so  z.  B.  wenn  der  Holzschnitt  auf  Steinskulptur  ange- 
wendet wird.2)  Doch  vor  allem  lassen  sich  gewisse  Arten  der  Technik 
überhaupt  nicht  auf  gewisse  Stoffe  anwenden,  so  kann  man  in  Marmor 
nicht  giessen,  in  Kohle  nicht  malilen  und  in  Ölfarbe  nicht  zeichnen.  Hier 
sind  also  ganz  verschiedene  Arten  der  Technik  durch  den  Stoff  erforder- 
lich und  sie  ergeben  mit  Notwendigkeit  einen  bestimmten  Stil,  der  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  auch  das  Detail  bestimmt.  Dieser  rein  vom 
Stoff  abhängige  Stil  ist  notwendig,  er  kann  vom  Künstler  mehr  oder 
weniger  frei  gehandhabt  werden,  aber  er  kann  nicht  ausser  Acht  gelassen 
werden,  selbst  wenn  der  Künstler  die  Absicht  hätte,  es  zu  tun.  Dagegen 
kann  der  Holzschnitzer  seine  Technik  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auf 
Marmor  übertragen,  der  Maler  in  Öl  seine  Teclmik  auf  Wasserfarben 
übertragen;  soweit  der  Künstler  so  etwas  überhaupt  tun  kann,  wird  er 
sich  nur  selbst  im  Licht  stehen,  aber  er  kann  es  wenigstens  tun  und  tat- 
sächlich Iiaben  solche  Übertragungen  der  Technik  von  einer  Kunst  auf 
die  andere  stattgefunden,  freilich  nicht  zum  Vorteil  der  Kunst.  Sie  waren 
sogar  historisch  notwendig,  wo  man  von  der  Bearbeitung  eines  bekannten 
Materials,  z.  B.  Holz,  zur  Bearbeitung  eines  kunsttechnisch  noch  unbe- 
kannten Materials,  z.  B.  Stein,  überging;  man  wandte  dann  eben,  so  gut 
es  ging,  die  Technik  des  einen  Stoffes  auf  die  anderen  an,  bis  der  Stoff 
mittels  der  Erfahrung  sich  seine  eigene  Technik  schuf.^)  Dann  giebt  es 
auch  einen  Teil  der  Technik,  der  vielen  Stoffen  gemeinsam  ist.  Holz-, 
Stein-,  Metallarbeiten  haben  z.  B.  (also  die  Plastik)  der  Malerei  gegen- 
über ihre  eigene  Technik  und  einen  darauf  beruhenden  Stil,  der  natürlich 
auch  wieder  bis  zu  einem  gewissen  Grad  übertragbar,   teilweise  aber  nur 


1)  In  der  zweiten  Abhandlung  p.  5.  Vgl.  auch  Gottfr.  Semper,  Der 
Stil.     Frankfurt  a.  M.  1860.     I.  p.  7  f. 

-)  Wie  sehr  das  Material  den  Stil  beeinflussen  kann,  sieht  man  an 
der  ägyptischen  Skulptur.    Vgl.  Semper  1.  c.  I.  p.  104  f. 

3)  Semper  1,  c.  U.  p.  209  f.  Übertragung  der  Holztechnik  auf  Porös 
und  von  da  auf  Marmor:  ..Der  Kalbträger'',  Museum  auf  der  Akropolis 
in  Athen. 

Kautstadien  XV,  17 


260  R.  V.  Schubert-Soldern, 

in  der  Malerei  oder  nur  in  der  Plastik  durchführbar  ist.  So  kann  man 
natürlich  auch  von  einem  musikalischen,  poetischen,  architektonischen  und 
einem  Stil  der  bildenden  Künste  überhaupt  reden,  der  rein  auf  ihrer 
Technik  beruht  und  notwendig  ist;  teilweise  kann  aber  die  Technik  auch 
hier  von  einer  Kunst  auf  die  andere  übertragen  werden  und  endlich  haben 
natürlich  alle  Künste  auch  eine  gemeinsame  Technik,  die  sich  freilich  auf 
wenige  gemeinsame  Züge  beschränken  muss,  denn  gemeinsam  ist  eigent- 
lich allen  Künsten  nur,  dass  ein  Stoff  durch  eine  Idee  gestaltet  und  die 
dabei     vorhandenen     stofflichen    Schwierigkeiten     überwunden     werden 

müssen. 

Dasjenige  aber,  was  den  Stoff  gestaltet,  ist  die  Idee,  die  Vorstellung 
im  Gegensatz   zur  Wahrnehmung.     Die  Vorstellung   hat   also   die   Wahr- 
nehmung zu  verändern;   sie  muss  es  auch  da  tun,  wo  sie  die  Natur  nach- 
ahmt,  denn   die  Auffassung   der  „Natur"   ist   eben  ihre  Wiederspiegelung 
in   der  Vorstellungswelt,  ja   die  nachgeahmte   Natur  ist  zum  grossen  Teil 
selbst  Vorstellung.    Die  Vorstellung   kann   aber  nicht  unmittelbar  auf  die 
Wahrnehmungswelt   einwirken,    sie   kann   es  nur  mittels  des  Leibes.    Die 
Teile  des  Leibes,  die  dabei  unmittelbar  tätig  sind,  sind  hauptsächlich  Auge, 
Ohr  und  Hände,  wobei  es  von  der  Kunst  abhängt,  in  welcher  Weise  Teile 
des  Leibes   und   ob    sie   überhaupt    angewendet    werden.^)    Ausser  diesen 
Teilen    sind    aber    immer    noch    (ausser    bei    Schauspielkunst    und    Tanz) 
vermittelnde   Instrumente   notwendig,    um   den   Stoff   zu   gestalten.     Die 
Handhabung   dieser   Instrumente  mittels  des  Leibes  ist  bedingt  durch  die 
Kunstfertigkeit.     In   der  Dichtkunst   ist   diese  Kunstfertigkeit  eine  reine 
Äusserlichkeit  (das  Schreiben),   während  sie  bei  Schauspielkunst  und  Tanz 
das  Kunstwerk  selbst  bildet.    Der  Stoff  der  Dichtkunst  ist  eben  kein  der 
Wahrnehmungswelt   angehörender,   sondern    die  menschliche  Vorstellnngs- 
welt  selbst,  Idee  und  Stoff  fallen  hier  zusammen;  bei  der  Schauspielkunst 
und  dem  Tanz  fehlt  das  Instrument  der  Bearbeitung,   weil  hier  der  mate- 
rielle Stoff  und  das  Kunstwerk  selbst  äusserlich  im  Leibe  zusammenfallen. 
Die  Schauspielkunst  stellt  aber  durch  den  Leib  die  Innenwelt  dar,  bei  der 
Tanzkunst  bleibt  das  Kunstwerk  mehr  ein  äusserliches,  obgleich  auch  hier 
die   Innenwelt   mitspricht   und  wo  die  Tanzkunst  zur  Mimik  wird,   bildet 
sie   den   Übergang   zur   Schauspielkunst   sowie   ihre  Verbindung   mit   der 
Musik  ihren  inneren  Gehalt  hervorhebt. 

Die  Instrumente  nun  wie  die  Kunstfertigkeit,  mit  der  sie  gehand- 
habt werden,  drücken  dem  Kunstwerk  ebenfalls  einen  bestimmten  Stil 
auf.  Aber  auch  hier  soll  der  Charakter  des  Instrumentes  bei  der  Archi- 
tektur und  bei  der  Musik  sich  in  stärkerem  Masse  kundgeben  als  bei  den 
andern  Künsten,  soweit  sie  Instrumente  anwenden;  am  allermeisten  ist 
das  bei  der  Musik  der  Fall,  während  bei  der  Malerei  z.  B.  der  Pinselstrich 
als  solcher,  das  Struktive  bei  ihr  nicht  hervortreten  darf,  so  interessant 
es  für  den  Kenner  und  Künstler  ist. 

Die  Instrumente  drücken  dem  Kunstwerk  ihren  eigenen  aber  einen 
allgemeinen  Stil  auf,  der  allen  Instrumenten  gleicher  Art  in  gleicherweise 

1)  Schauspielkunst,  Tanz  verwenden  freilich  den  ganzen  Leib  und 
zugleich  ist  der  Leib  der  materielle  Stoff  ihrer  Kunst. 


Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc.  261 

gemeinsam  ist.  Die  Art  und  Weise  der  Handhabung  dieser  Instrumente 
prägt  jedoch  dem  Kunstwerk  den  persönlichen  Stil  des  Künstlers  auf,  der 
eben  nur  diesem  Künstler  allein  eigen  ist,  wenn  er  überhaupt  Stil  hat. 
Er  hat  aber  Stil,  wo  er  sich  diese  Handhabung  selbst  erworben  und  nicht 
bloss  nachgeahmt  hat.  Ich  sage  bloss  nachgeahmt,  denn  ursprünglich  muss 
jeder  Kunstschüler  seinen  Meister  in  der  Kunstfertigkeit  nachahmen;  wo 
er  das  aber  nicht  bloss  äusserüch  tut,  sondern-  aus  allen  Zwecken,  Zielen 
und  Elementen  sich  diese  Kunstfertigkeit  des  Meisters  noch  einmal  auf- 
baut, da  hat  er  sie  dann  selbst  noch  einmal  erworben,  selbst  wenn  sie  der 
Kunstfertigkeit  des  Meisters  auf  ein  Haar  gleichen  sollte,  was  niemals  der 
Fall  sein  wird.  Sich  aber  derart  in  die  Kunstfertigkeit  des  Meisters 
hineindenken,  dazu  gehört  nicht  nur  Kunstanlage,  sondern  auch  Gründ- 
lichkeit und  Fleiss;  dann  wird  aber  auch  ein  solcher  Kunstschüler  über 
seinen  Meister  in  origineller  Weise  hinausgehen,  ob  er  es  ursprüng- 
lich beabsichtigt  hat  oder  nicht.  Heute  allerdings,  wie  es  scheint, 
will  der  Kunstschüler  oft  den  Meister  an  Originalität  übertreffen,  be- 
vor er  ihn  noch  gründlich  kennen  gelernt  hat,  weil  er  nicht  weiss, 
dass  er  ihn  überhaupt  nur  soweit  übertreffen  kann,  als  er  ihn  gründ- 
lich kennt. 

Zweck,  Ziel  und  geistiger  und  materieller  Stoff  des  Kunstwerks 
hängen  aber  selbst  wieder  von  Zeit,  Ort  und  Kultur  jener  Gemein- 
schaft ab,  in  der  sie  erzeugt  werden. 

Sowie  in  der  Wissenschaft  nicht  alle  Konsequenzen  einer  neu  auf- 
getauchten Tatsache  oder  einer  neuen  Gesetzmässigkeit  auf  einmal  ge- 
zogen werden,  sondern  erst  allmälig  und  wie  schliesslich  auch  in  der 
Wissenschaft  eine  neue  Idee  in  ihrer  Anwendung  übertrieben  wird,  bis  sie 
sich  selbst  ad  absurdum  führt,  so  ist  es  auch  in  der  Kunst.  Zwecke  und 
Ziele,  die  in  Verbindung  mit  einem  Stoff  einen  Stil  geschaffen  haben, 
rufen  immer  weitere  Konsequenzen  hervor  und  führen  diesen  Stil  bis  ins 
Einzelnste  durch;  dann  wird  er  übertrieben,  weil  das  Konsequente  und 
Massvolle  schliesslich  langweilig  wird,  man  sich  dagegen  abstumpft.  Man 
bevorzugt  dann  gewisse  Eigentümlichkeiten  des  Stils  oder  man  ändert 
seine  Regelmässigkeit  mehr  oder  weniger  willkürlich  ab,  um  etwas  Neues 
zu  schaffen.  Je  willkürlicher  aber  diese  Abänderungen  werden,  desto 
leichter  stumpft  man  sich  dagegen  ab,  so  dass  man  schliesslich  diesen 
Stil  ganz  verlässt,  sobald  von  irgendwoher  die  Prinzipien  eines  neuen 
Stiles  auftauchen.  Die  Zeit  entwickelt  also  einen  Stil  und  sie  stumpft 
gegen  ihn  ab.  Richtiger  freilich  ist  es,  zu  sagen,  nicht  die  Zeit  bewirkt 
dieses,  sondern  die  Individuen  in  der  Zeit  sowohl  die  Künstler,  Kunst- 
kenner, Kunstgönner  und  endlich  das  Publikum  überhaupt. 

Auch  der  Ort  wirkt  auf  den  Stil  ein:  erstens  durch  seine  Nachbar- 
schaft zu  andern  Orten  der  Kunst  auf  ihre  llotive  (Zwecke  und  Ziele); 
zweitens  durch  die  Stoffe,  die  sich  in  materieller  und  geistiger  Beziehung 
an  diesem  Orte  vorfinden  (Sagen  —  Marmor);  drittens  durch  seine  land- 
schaftliche Natur,  die  Nachahmung  und  Gegensätzlichkeit  bewirken  kann. 
Denn  der  Kontrast  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  ein  Gnmdgesetz  ästhe- 
tischer Darstellung,   es   muss   sich  daher  jedes  Kunstwerk  von  seiner  Um- 

17* 


262     R.  V.  Schubert-Soldern,  Die  Grundfragen  der  Ästhetik  etc. 

gebung   abheben,    es   kann    aber   doch  auch  wieder  gleichzeitig  ihr  ange- 
passt  werden.') 

Was  endlich  die  Kultur  anbelangt,  so  wirkt  hier  die  Vergangenheit 
einer  Gemeinschaft  durch  Auswahl  der  Zwecke  und  Ziele  der  Kunst  auf 
diese  ein.  Der  Künstler,  Kunstkenner,  Kunstgönner  und  das  Publikum 
sind  da  erstens  bestimmt  durch  das,  was  sie  gesehen  haben,  was  also  von 
vergangenen  Kunstwerken  noch  vorhanden  und  für  sie  erreichbar  ist. 
Ihm  wird  vielfach  die  Art  und  "Weise  der  Darstellung,  ihre  Zwecke  und 
Ziele,  oft  aber  auch  der  materielle  und  geistige  Stoff  entnommen.  Alle 
Individuen,  die  sich  mit  Kunst  beschäftigen,  sind  aber  zweitens  auch 
bestimmt  durch  ihre  Lebensweise,  die  wieder  durch  die  Wirtschaftsstufe 
und  die  Art  und  Weise  ihrer  Wirtschaft,  der  Produktion  und  Konsumtion 
von  Gütern  hervorgerufen  wird.  Denn  die  Kunstwerke  sind  ursprünglich 
nicht  für  Museen  bestimmt,  sondern  sie  wachsen  aus  der  zu  nicht-künst- 
lerischen Zwecken  bestimmten  Produktion  heraus,  indem  sie  ihre  Produkte 
in  ihren  Zwecken  auch  äusserlich  hervorheben  und  in  dieser  Absicht  auch 
schmücken  wollen.  Erst  allmählich  trennt  sich  das  Schöne  vom  Nützlichen, 
ohne  doch  das  letzte  als  notwendige  Unterlage  je  ganz  verlieren  zu 
können. 

Endlich  bestimmt  die  Kultur  die  Kunst  durch  die  Phantasiewelt, 
die  stets  mit  einer  bestimmten  Art  der  Kultur  und  ihrer  Kulturstufe  ver- 
bunden ist.  Hier  sind  es  vor  allen  die  religiösen  Anschauungen  und 
Sagen  der  Vergangenheit  und  der  durch  sie  bedingten  Gegenwart,  welche 
auf  die  Ziele  der  Kunst  einwirken.  Aber  auch  die  hervorragenden 
Persönlichkeiten,  die  Ständeeinteilung  mit  ihren  sozialen  Wertschätzungen, 
die  wissenschaftlichen  vor  allen  historischen  und  sozialen  Anschauungen 
(natürlich  fussend  auf  der  Vergangenheit)  bestimmen  die  Phantasie  der 
Individuen,  die  sich  mit  Kunst  beschäftigen  und  wirken  so  auch  auf  die 
Auswahl  der  Ziele  uud  Zwecke  der  Kunst  ein.  Es  giebt  überhaupt  kein 
Kulturmoment,  das  nicht  auf  die  Kunst  einwirken  könnte,  die  Kunst  ist 
ein  Spiegelbild  ihrer  Zeit,  das  aber  als  Spiegelbild  keinen  andern  Zweck 
hat,  als  an  sich  zu  gefallen  und  das  meistens,  wenn  auch  nicht  immer 
(Schauspielkunst,  Tanzkunst),  fixiert  erscheint.  Doch  spiegelt  die  Kunst 
nicht  bloss  die  äussere  Kulturwelt,  sondern  auch  die  innere  ab ;  die  innere 
aber  ist  entweder  durch  die  äussere  bestimmte  blosse  Phantasie  oder  die 
subjektive  Wiederspiegelung  der  äusseren  Kultur;  und  alles  das  seinen 
verschiedenen  Seiten  nach  ist  wieder  Objekt  des  Künstlers  und  der  ver- 
schiedenen Künste,  die  das  Objektive  wie  Subjektive  nun  selbst  wieder 
subjektiv  erfassen  und  objektiv  darstellen. 


1)  Zdenko  v.  Schubert-Soldern,  1.  c.  p.  41  f.  in  der  zweiten  Ab- 
handlung p.  32  f. 


Das  Wertsystem  Hegels  und  die  entwertete 

Persönlichkeit. 

Von  Dr.  phil,  M.  Rubinstein. 


Der  vom  dogmatischen  Mute  beflügelte  Mensch  wiederholte 
immer  aufs  neue  seine  Stürme  gegen  die  Festung  der  sogenannten 
Welträtsel,  versuchte  den  Strom  der  Weltereignisse  in  seiner  Er- 
kenntnis zum  Stehen  zu  bringen,  zu  fixieren,  die  unbeugsame 
Wirklichkeit  zu  erfassen  und  ihr  die  Ketten  eines  Systems  anzu- 
legen —  doch  jedes  Mal  entschlüpfte  sie  ihm  im  ununterbrochenen 
Flusse  des  Geschehens  und  Vergehens.  Dem  nach  Erkenntnis 
Lechzenden  blieb  nur  ein  Phantom  der  philosophischen  Phantasie 
zurück.  Neue  Angriffe  —  neue  Niederlagen;  die  Menschheit 
schien  Sisiphusarbeit  zu  verrichten,  bis  endlich  die  kritische  Philo- 
sophie in  das  mächtige  Ringen  zur  Erkenntnis  durch  ihre  Methode 
und  Erkenntnistheorie  das  Licht  hineintrug.  Sie  wies  den  einzigen, 
formalen  Weg  philosophischer  Wirklichkeitserkenntnis,  auf  welchem 
die  Philosophie  neue  Möglichkeiten  fruchtbarer,  wissenschaftlicher 
Arbeit  erwerben  konnte.  Der  anthropomorphistische  Standpunkt 
und  das  Bewusstsein  der,  Unmöglichkeit,  die  Wirklichkeit  ihrem 
Inhalte  nach  zu  umfassen,  mussten  der  neuen  Periode  als  Gebote 
der  Vergangenheit  gelten. 

Dennoch  kam  es  nach  Kant  zu  einem  neuen  Aufblühen  der 
Metaphysik.  Hegel  proklamierte  das  absolute  Wissen,  dessen 
Macht  keine  Schranken  kennen  sollte.  Das  Ergebnis  dieses 
grossartigen  Versuches  eines  neuen  Titanen  des  Gedankens:  ein 
neues  philosophisches  System  in  Trümmern,  eine  neue  Enttäuschung, 
von  der  noch  jetzt  die  Spuren  in  Gestalt  instinktiver  Abneigung 
gegen  jeden  metaphysischen  Gedankenaufbau  fühlbar  sind.  Hegel 
geriet  in  den  Antagonismus  zwischen  Hegel  —  Mensch  und 
Hegel,  der  das  absolute  Wissen  zu  besitzen  glaubte.  Das  Resultat 
aber  war,  dass  die  elementare  Grundlage  des  kulturellen  Lebens, 
die  freie,  autonome,  aus  dem  Bewusstsein  der  Pflicht  entspringende 


264  M,  Rubinstein, 

Persönlichkeit,  dieser  Grundwert  der  Geschichte  —  vernichtet 
wurde.  Dieser  Umstand  ist  umso  lehrreicher,  als  dieser  Wert 
gerade  in  einer  philosophischen  Lehre  keinen  Platz  fand,  die 
durch  und  durch  als  Wertsystem  betrachtet  werden  muss. 

Theorie  und  Praxis,  die  Welt  der  Ideale  und  die  Welt  der 
Tatsachen,  das,  was  ist,  und  das,  was  sein  soll,  dieser  Widerstreit 
lastete  nach  wie  vor  auf  dem  philosophischen  Denken.  Noch 
mehr:  Kant  und  Fichte  hatten  diesem  Antagonismus  prinzipiellen 
Charakter  verliehen.  Das  Sollen  war  der  unerreichbare  Stern, 
der  den  Menschen  im  Streben  zur  sittlichen  Vollkommenheit  leiten 
sollte.  Und  nun  machte  Hegel  durch  sein  System  den  Versuch, 
den  Zwiespalt  der  beiden  Welten  zu  vernichten.  Seine  Schluss- 
kette ist  ganz  einfach:  dieser  Zwiespalt,  meint  er,  erschien  als 
Endresultat  einer  ganz  falschen  Betrachtung  der  Wirklichkeit. 
Man  muss  nur  die  Wirklichkeit  vernünftig  ansehen,  um  zu  ent- 
decken, dass  gerade  das  ist,  was  sein  soll,  und  damit  den  Anta- 
gonismus zwischen  Tatsache  und  Ideal  aus  der  Welt  zu  schaffen. 
Hegel  setzte  zu  diesem  Zwecke  nur  in  seiner  eigenen  Art  den 
Kantischen  Gedanken  von  der  gesetzgeberischen  Tätigkeit  der 
Vernunft  in  Rücksicht  auf  die  Natur  weiter  fort  und  zog  am 
Ende  den  Schluss,  dass  der  wahre  Beweger  der  Welt  nichts 
anderes  sei,  als  der  logische  Begriff.  Somit  muss  alles,  was 
wirklich  ist,  an  sich  alle  Merkmale  seines  wahren  Schöpfers 
tragen.  Da  aber  der  Begriff  sich  nach  der  dialektischen  Methode 
entwickelt,  so  ist  eben  in  dieser  Methode  dasjenige  Kriterium  zu 
erblicken,  welches  die  Möglichkeit  giebt,  die  wahre  Wirklichkeit 
zu  finden.  Die  dialektische  Entwickelung  braucht  nun  keine  Welt 
der  Idee,  des  Sollens :  sie  geht  von  einem  entdeckten  Widerspruch 
aus,  schafft  aus  den  aus  sich  selbst  hervorgebrachten  Gegensätzen 
eine  neue,  aber  höhere  Einheit,  um  einen  neuen  Antagonismus 
und  wieder  neue,  noch  höhere  Einheit  zu  erringen,  in  der  alles 
Wertvolle  aus  der  vorherigen  Entwickelung  bewahrt,  „aufgehoben" 
bleibt  u,  s.  w.,  ins  Unendliche.  Auf  diese  Weise  gewinnt  die 
dialektische  Entwickelung  eine  immer  reicher  werdende  Wirk- 
lichkeit, die  eine  sich  unendlich  verwirklichende  Welt 
der  Werte  darstellt,  und  beide  Welten  sollten  in  dieser  Syn- 
these, in  der  dialektischen  vernünftigen  Wirklichkeit  ihren  Frieden 
schliesseu.  Eine  solche  Wirklichkeit  sich  unendlich  verwirklichen- 
der Werte  musste  durch  Hegels  System  abgebildet  werden,  das 
vom  Standpunkte  des  absoluten  Wissens  geschrieben  war. 


Das  Wertsystem  Hegels  und  die  entwertete  Persönlichkeit.        2G5 

Man  sollte  erwarten,  dass  in  einem  Wertsystem,  und  noch 
dazu  in  einem  solchen,  das  durch  und  durch  von  kulturhistorischem 
Charakter  durchdrungen  ist,  auch  der  Grundwert  des  kulturellen 
historischen  Lebens  die  freie  autonome  Persönlichkeit  Platz  finden 
niüsste,  da  ohne  diesen  Wert  das  Leben  jeden  Sinn  verlöre.  Aber 
der  Standpunkt  des  absoluten  Wissens  und  besonders  die  not- 
wendige Entstehung  der  Werte  in  der  Hegeischen  Weltent- 
wickelung vernichtete  vollständig  den  Wert  der  Persönlichkeit. 
Ich  versuchte  schon  in  meiner  Abhandlung  „die  logischen  Grund- 
lagen des  Hegeischen  Systems  und  das  Ende  der  Geschichte"^) 
zu  zeigen,  zu  welchen  Gewaltschlüssen  und  zu  welchen  Wider- 
sprüchen mit  sich  selbst  Hegel  durch  die  dialektische  Methode 
und  den  Staudpunkt  des  absoluten  Wissens  geführt  wurde.  Im 
vorliegenden  Aufsatz  möchte  ich  die  Stellung  der  Persönhchkeit 
in  Hegels  System  kurz  skizzieren  und  die  Gründe  aufzeigen,  durch 
welche  diese  Stellung  bedingt  war. 

Schon  in  den  Behauptungen,  die  Hegel  in  Bezug  auf  die 
menschliche  Erkenntniskraft  macht,  äusserte  sich  scharf  der 
Grundgedanke  von  der  Schwäche  des  menschlichen  Geistes.  Den 
stolzen  Worten  der  Berhner  Rede  gegenüber,  die  ziemlich  einsam 
dastehen,  tritt  eine  düstere  Reihe  späterer  Aussprüche,  welche 
—  und  vom  Standpunkte  der  logischen  Grundlagen  des  Hegel- 
schen  Systems  ganz  folgerichtig  —  die  volle  Machtlosigkeit  der 
menschlichen  Erkenntnis  feststellen.  Die  Philosophie  wurde  der 
Gewalt  der  Zeit,  und  zwar  ihrer  Zeit  unterworfen.  „Jede  Philo- 
sophie ist  Philosophie  ihrer  Zeit".  Noch  mehr:  Hegel  identifiziert 
die  Philosophie  mit  ihrer  Zeit.  Auf  diese  Weise  verlor  die  Per- 
sönlichkeit ihr  Heiligtum,  den  einzigen  Weg  zum  Siege  über  die 
alles  zermalmende  Zeit.  Es  blieb  dem  erkennenden  Menschen 
nichts  in  der  Erkenntnis  übrig,  denn  sie  musste  ja  sich  nach  der- 
selben dialektischen  Methode  entwickeln,  deren  Macht  alles  und 
besonders  die  Entwickelung  der  Begriffe  unterworfen  wurde. 
Das  Wesen  der  Begriffe  bestand  ja  in  der  Dialektik.  Die  dia- 
lektische Entwickelung  aber  bewegte  sich  durch  den  Widerspruch 
und  mit  unbeugsamer  Notwendigkeit.  So  musste  auch  das  theore- 
tische Schaffen  des  Menschen,  die  Schöpfung  der  Begriffe  not- 
wendig der  Machtsphäre  der  freien  autonomen  Persönlichkeit  ent- 
rissen und  dem  Wert  der  Persönlichkeit  durch  die  dialektische 
Methode  der  Todesstoss  versetzt  werden. 
~       1)  Kantstucüen  XI,  1,  S.  40—108. 


266  M.  Rubinstein, 

So  stand  es  um  den  Wert  der  Persönlichkeit  in  Rücksicht 
auf  Erkenntnis.  Auch  aus  der  Geschichte  musste  sie  verschwinden, 
insofern  wir  in  ihr  bewusste  von  bestimmten  Zielen  geleitete 
Tätigkeit  suchen.  Gerade  hier  in  der  Auffassung  des  geschicht- 
lichen Lebens,  in  dieser  eigentlichen  Sphäre  der  menschlichen 
Interessen  und  Handlungen  zeigte  es  sich  mit  voller  Klarheit, 
dass  es  im  Wertsystem  Hegels  für  den  Wert  der  Persönlichkeit 
keinen  Platz  geben  konnte.  Denn  dieser  Wert  der  Persönlichkeit 
hängt  direkt  von  der  Anerkennung  der  Zwecke,  der  noch  nicht 
verwirklichten  Werte,  des  Sollens  ab,  die  dialektische  Methode 
aber  mit  ihrer  Notwendigkeit  des  Fortschritts  und  der  Entwicke- 
lung  aus  dem  Widerspruche  schnitt  diesen  Lebensnerv  der  wert- 
vollen Persönlichkeit  durch  und  degradierte  sie  zum  Instrumente 
der  absoluten  Idee.  Schon  die  Beispiele,  die  Hegel  zur  Erläuterung 
der  Rolle  der  Persönlichkeit  in  der  Geschichte  anführt,  bezeugen 
beredt  genug  ihre  Nichtigkeit  in  seiner  Auffassung.  Man  erinnere 
sich  nur  an  das  Beispiel  des  Hausbaues,  dem  Eisen,  Holz,  Feuer 
und  Wasser  dienen,  um  am  Ende  „eine  Gewalt  gegen  sich  selbst" 
zu  erschaffen.  Die  Persönlichkeit  tritt  in  der  Hegelscheu  Ge- 
schichtsauffassung immer  nur  auf,  um  für  den  Weltgeist  sozu- 
sagen die  Kastanien  aus  dem  Feuer  zu  holen.  „Die  Idee  bezahlt 
den  Tribut  der  Vergangenheit  nicht  aus  sich,  sondern  aus  den 
Leidenschaften  der  Menschen."^)  Und  die  Rolle  der  Persönlichkeit 
konnte  keine  andere  sein,  weil  sie  durchaus  durch  die  dialektische 
Methode  bedingt  war.  In  der  Tat:  Die  historischen  Ereignisse 
entwickeln  sich  fortschreitend  mit  dialektischer  Notwendigkeit  und 
es  bleibt  der  Persönlichkeit  nichts  übrig,  als  sich  ihrem  Schicksale 
zu  beugen.  Denn  sie  ist  nicht  nur  im  Stande,  mit  ihrem  ziel- 
bewussten  Streben  von  dem  bestimmten  Pfade  der  dialektischen 
Entwickelung  selbständig  abzuweichen,  sie  kann  auch  nicht  zurück- 
bleiben. Ihre  Tätigkeit  schmilzt  zu  einer  Art  Illusion  zusammen, 
einem  Haschen  nach  Seifenblasen,  weil  das  wahre  Ergebnis  dieser 
Tätigkeit  in  keinem  Zusammenhange  mit  den  Bestrebungen  des 
Menschen  steht.  Seihe  Interessen  und  Handlungen  stellen  nur 
Material  dar.  Der  Mensch  hat  nichts,  um  dessen  willen  er 
handeln  könnte;  denn  das  wirklich  gute,  die  allgemeine  göttliche 
Vernunft  ist  auch  zugleich  die  Macht,  sich  selbst  in  die  Wirklich- 
keit  zu    übersetzen.^)      Was   sein  soll,  das  war,  ist  und  wird  zur 

1)  Philosophie  der  Geschichte,  2.  Aufl.,  S.  41  f. 

2)  Ibid.  S.  45. 


Das  Wertsystem  Hegels  und  die  entwertete  Persönlichkeit.        267 

entsprechenden  Zeit  sein.  Ob  die  Individuen  es  wollen  oder  nicht, 
ob  sie  es  als  Ziel  anstreben  oder  nicht,  das  bleibt  völlig  gleich- 
gültig. Und  wenn  Hegel  von  den  „welthistorischen  Individuen" 
spricht,  so  geschieht  das  im  schreienden  Widerspruche  zu  seinem 
ganzen  System.  Es  wäre  vergeblich,  den  Wert  der  Persönlichkeit 
durch  den  Hinweis  retten  zu  wollen,  dass  Hegels  Wertsystem  eine 
Werttotalität  ist  und  in  ihr  alle  Werte  in  ihrer  Individualität 
„aufgehoben"  sind;  dass  also  die  Persönlichkeit,  indem  sie  das 
Allgemeine  als  ihr  Ziel  betrachtet  und  anstrebt,  sich  auf  diese 
Weise  auch  Einwirkung  auf  den  Gang  der  Gesamtentwickelung 
sichert.  Das  wäre  vergeblich,  sagen  wir,  weil  in  Hegels  System 
Persönlichkeit  als  Selbstzweck  absolut  undenkbar  ist,  und  ausser- 
dem, ihr  fehlt  jede  Möglichkeit  einer  freien,  durch  das  Bewusst- 
sein  der  Pflicht  geleiteten  Tätigkeit,  weil  der  Begriff  dessen,  was 
sein  soll,  was  aber  noch  nicht  ist,  für  Hegel  rein  absurd  ist. 
Eine  Entwickelung  aus  dem  Sollen  giebt  es  für  ihn  gar  nicht, 
denn  „was  die  Welt  bewegt,  das  ist  der  Widerspruch".  Somit 
verliert  auch  hier,  in  ihrem  spezifischen  Gebiete  die  Persönlich- 
keit vollständig  ihren  Wert. 

Die  Philosophie  des  Eechtes  liefert  nur  ein  neues  Beispiel 
dieser  Vernichtung  des  Wertes  der  Persönlichkeit.  Auch  hier 
stellt  nicht  das  menschliche  Individuum,  sondern  der  Staat,  diese 
„konkretisierte  Sittlichkeit",  den  Zweck  dar.  Nicht  der  Staat  — 
für  die  Persönlichkeit,  sondern  die  Persönlichkeit  —  für  den 
Staat,  —  das  ist  der  Schluss  aus  seiner  Rechtsphilosophie.  Die 
Persönlichkeit  als  solche,  und  auch  als  Mitglied  der  Familie  er- 
scheint für  Hegel  als  unwirklicher  Schatten.  Die  absolute  Idee 
steigt  nicht  in  ihrer  Entwickelung  in  den  Rahmen  der  Nation  und 
des  Staates  bis  zum  Individuum  hinab.  Die  niedrigste  Stufe  ihrer 
Vertiefung  in  das  Leben  des  Volkes  stellt  eine  Klasse  dar,  oder 
in  politischer  Sprache:  —  der  objektive  Geist  steigt  nur  bis  zu 
Ständen  herab,  nicht  niedriger.^)  Deshalb  kommt  auch  hier  das 
Individuum  nicht  zu  seinem  Rechte.  Seine  Beteiligung  am  poli- 
tischen Leben  äussert  sich  mittelbar  in  der  Zugehörigkeit  zu 
einem  bestimmten  Stande.  Nur  Stände  haben  das  Recht,  sich  un- 
mittelbar an  dem  politischen  Leben  zu  beteiligen. 

Jedoch   vermochte  Hegel   nicht   auf  diesem  spezifischen  Ge- 
biete   der   menschlichen  Tätigkeit   seinen  Standpunkt  ganz  zu  be- 


1)  Vgl.  Phänomenologie  des  Geistes,  S.  336,  346,  351. 


268  M.  Rubinstein, 

haupten  und  sein  Staat-  nahm  allmählich  die  ihm  so  verhasste 
Form  des  unverwirklichten  Ideals  an.  Nun  treten  die  welthisto- 
rischen Individuen  auf;  den  Staatsmännern  wird  es  ausnahmsweise 
möglich,  in  die  Zukunft  hineinzublicken  und  dasjenige  anzustreben, 
was  sein  soll.  Die  absolute  Vernunft  wird  schon  nicht  selten  mit 
der  gewöhnlichen  menschlichen  verwechselt,  die  vernünftige  Wirk- 
lichkeit nähert  sich  bedenklich  der  spiessbürgerlichen,  und  schliess- 
lich bleibt  Hegel  in  seiner  Philosophie  der  Geschichte  vor  dem 
Dilemma  stehen:  entweder  zum  Begriffe  einer  freien  autonomen 
Persönlichkeit  zu  greifen,  ohne  die  das  geschichtliche  Leben 
keinen  Sinn  hätte,  dann  aber  die  dialektische  Grundlage  aufzu- 
opfern und  den  Begriff  des  SoUens  einzuführen :  oder  diese  Grund- 
lage beizubehalten  und  dann  die  Geschichte  mit  der  germanischen 
Periode  zu  beschliessen.  In  diesem  Falle  wären  aber  dem  dia- 
lektischen Gesetz  Ketten  angeschmiedet,  denn  dieses  Gesetz  ver- 
langt unendliche  Entwickelung.  Weil  Hegel  den  Begriff  des 
Sollens  und  der  noch  nicht  verwirklichten  Zwecke  ausschloss, 
vernichtete  er  im  Grunde  den  Wert  der  Persönlichkeit.  Und  das 
liegt  tief  in  den  Grundprinzipien  des  Systems  begründet. 

In  der  Tat,  die  absolute  Idee  nahm  mit  dem  Übergange  aus 
dem  formalen,  logischen  Gebiete  in  die  Natur-  und  Geistesphilo- 
sophie immer  mehr  metaphysischen  Charakter  an.  Dieser  aber 
verdrängte  den  Wert  der  Persönlichkeit,  da  sie  ihres  Selbstzwecks 
beraubt  war  und  nicht  bloss  in  eine  Werttotalität  eingehen  musste, 
die  alle  individuellen  Werte  in  einem  harmonischen  Ganzen  um- 
fasste,  sondern  auch  in  eine  metaphysische  Wesenheit.  Weiterhin 
—  die  unbeschränkte  Herrschaft  des  absoluten  Geistes  bekam 
auch  das  Gebiet  des  Wissens  unter  ihre  Gewalt  und  drängte 
Hegel  den  Standpunkt  des  absoluten  Wissens  auf.  Auf  diese 
Weise  verlor  die  Persönlichkeit  ihr  teuerstes  und  wertvollstes  Ge- 
biet. So  konnte  das  menschliche  Individuum  nur  als  Bestandteil 
des  Weltganzen,  nicht  als  Persönlichkeit  in  das  Hegeische  Wert- 
system aufgenommen  werden,  denn  ihre  wesentlichsten  Prädikate 
wurden  ihr  prinzipiell  abgesprochen.  Wegen  seiner  Grundprin- 
zipien, vermochte  Hegel,  wie  wir  sahen,  nicht  den  Wert  der  Per- 
sönlichkeit zu  behaupten.  Zahlreiche  Versuche,  ihr  einen  Platz 
in  seinem  System  zu  finden,  führten  ihn  nur  zu  direkten  Wider- 
sprüchen, die  um  so  grösser  wurden,  je  näher  er  an  das  Gebiet 
der  Philosophie  der  Geschichte  und  des  Rechtes  herantrat. 
Geniale  Schöpfungskraft    und    äussere  Harmonie  des  Systems  ver- 


Das  Wertsystem  Hegels  und  die  entwertete  Persönlichkeit.         261) 

mochten  nicht  die  Erbsünde  der  Hegeischen  Philosophie  zu 
sühnen:  1.  den  Staudpunkt  des  absoluten  Wissens,  das  dem 
Menschen  unzugänglich  ist,  und  2.  die  Notwendigkeit  der  pro- 
gressiven Entwickelung,  welche  durch  dialektische  Methode  hervor- 
gezaubert werden  musste.  So  kam  Hegel  zu  der  Vernichtung 
des  Wertes  der  Persönlichkeit,  womit  er  eigentlich  die  ganze 
Sphäre  des  kulturellen  geschichtlichen  Lebens  sinnlos  machte. 


Rezensionen. 


Windclbaiid,  Wilhelm.  Die  Philosophie  im  deutschen  Geistes- 
leben des  XIX.  Jahrhunderts,  Fünf  Vorlesungen.  Tübingen,  Verlag 
von  Mohr,  1909.     (120  S.) 

Die  Geistesgeschichte  des  neunzehnten  Jahrhunderts,  dieses  in  kul- 
tureller, besonders  in  intellektueller  Hinsicht  so  polyphonen  und  formen- 
reichen Jahrhunderts  zu  schreiben,  ist  keine  leichte  Aufgabe.  So  mannig- 
faltig verflechten  und  durchdringen  hier  die  verschiedenartigsten  Ein- 
flüsse einander,  dass  es  oft  sehr  schwierig  ist,  die  Fäden  zu  entwirren 
und  die  grosse,  gerade  Linie  der  Entwicklung  zu  gewinnen.  Und  ausser- 
dem gerät  eine  solche  Darstellung  leicht  in  Versuchung,  ungerecht  und 
misstrauisch  gegen  die  Gegenwart  zu  werden,  ihre  Ansprüche  zugunsten 
der  Vergangenheit  zu  verkürzen.  Denn  diese  Vergangenheit  erreichte  in 
den  Schöpfungen  der  klassischen  und  romantischen  Philosophie  eine  Höhe, 
von  der  das  spätere  Zeitalter  schroff  herabsank.  Allerdings  geht  es  seit 
ein  paar  Dezennien  wieder  aufwärts.  Aber  noch  ist  die  Höhenlage,  in  der 
sich  das  Denken  vor  einem  Jahrhundert  und  darüber  bewegte,  lange  nicht 
erreicht. 

Windelband  hat  es  unternommen,  im  Rahmen  eines  kleinen  Bänd- 
chens das  geistige  Ringen  dieses  Jahrhunderts  zu  schildern.  Und  man 
kann  sagen,  dass  er  all  die  eben  bezeichneten  Klippen  glücklich  gemieden 
hat.  Wohl  verhehlt  er  es  nicht,  dass  es  sich  um  keine  aufwärts  steigende 
Entwicklung  handelt:  aber  es  ist  dennoch  eine  Entwicklung,  das  heisst 
ein  Fortschreiten  zu  neuen  Gesichtspunkten.  Windelband  war  freilich 
berufen,  die  Geschichte  dieser  Zeit  zu  schreiben,  soweit  sie  in  philoso- 
phischen Gebilden  kristallisiert.  Ihm  danken  wir  wohl  die  glänzendste 
und  unmittelbarste  Darstellung  des  klassischen  und  romantischen  Idealis- 
mus, der  von  Kant  bis  Hegel  reicht  und  in  Feuerbach  abklingt.  Von 
solchen  Voraussetzungen  aus  Hess  sich  ein  souveräner  Blick  über  die  ver- 
schiedenen Richtungen  und  Strömungeri  gewinnen,  der  einerseits  einen 
zusammenfassenden  Aspekt  bot,  andrerseits  ihre  geheimen  Wurzeln  ent- 
blösste.  Und  so  muss  als  erster  und  entscheidender  Vorzug  des  Buches 
hervorgehoben  werden,  dass  es  seinen  Stoff  unter  wahrhaft  weite  und 
grosse  Perspektiven  rückt.  Es  geht  von  jenem  Phänomen  aus,  das  gleich- 
sam als  ein  Leitmotiv  die  kulturelle  Situation  der  Gegenwart  beherrscht: 
der  Rückkehr  zum  Idealismus,  der  Neuromantik.  Das  intensive  Interesse, 
das  wir  heute  dieser  Epoche  entgegenbringen,  treibt  uns  dazu,  ihr  Wesen 
möglichst  tief  festzuhalten.  Dem  Zwecke  seiner  Schritt  entsprechend, 
verliert  sich  Windelband  hier  nicht  in  Abstraktionen,  er  sucht  die  geistige 
Atmosphäre  zu  schildern,  in  der  diese  grossen  Schöpfungen  entsprangen. 
Als  ästhetisch-philosophisches  Bildungssystem,  als  eine  Kultur  der  reinen 
Innerlichkeit,  die  sich  mangels  einer  äusseren,  sozialen  und  politischen 
Entfaltung  lediglich  in  der  Tiefendimension  entwickelt,  wird  zunächst  die 
Kultur  des  romantischen  Idealismus  charakterisiert.  Den  grossen  Wende- 
punkt, zugleich  die  Quelle  der  neuen  Werte,  bezeichnet  die  Kantische 
Philosophie.  Durch  sie  waren  die  beiden  Hauptströmungen  des  achtzehnten 
Jahrhunderts,  des  Aufklärungszeitalters,  in  das  gemeinsame  Bett  des  Kri- 
tizismus  geleitet    worden:    die    rationalistische    Strömung,    die   sämtliche 


Rezensionen  (Becher).  271 

körperlichen  und  geistigen  Gebilde  restlos  mit  mathematischer  Strenge 
begreifen  wollte,  und  die  mystische  Strömung,  die  gerade  das  Recht  des 
Individuellen,  in  seiner  Eigenart  und  Einzigkeit  Unbegreiflichen  ver- 
teidigte. Die  Art,  in  der  Kant  beide  Motive  aufnahm,  war  alleidings 
gleichbedeutend  mit  ihrer  absoluten  Trennung ;  das  individuelle  Sein  als 
solches,  die  eigentliche  Wurzel  des  Dingansichbegriffes,  war  die  Grenze, 
vor  der  das  Erkennen  Halt  machen  musste.  Bei  dieser  schroffen  dua- 
listischen Scheidung  konnte  aber  die  neue  Generation  nicht  zur  Ruhe 
kommen.  Ihr  schwebte  ein  Ideal  vollendeter  Einheit  und  Synthese  vor, 
wie  es  in  seinem  Schaffen  und  Leben  Goethe  verwirklicht  zu  haben 
schien.  Dies  Ideal  war  die  Sehnsucht  der  Romantik  und  aus  ihm  lässt 
sich  auch  ihre  politische  und  religiöse  Haltung,  wo  allem  der  von  Hegel 
ausgebildete  Staatsgedanke  erklären.  Der  Hegelianismus  bezeichnet 
den  Gipfelpunkt,  zugleich  aber  auch  die  Überwindung  der  Romantik. 
Eben  der  Umstand,  dass  er  den  rationalistischen  Grundgedanken  ins 
Extrem  überspannt  hatte,  musste,  als  das  Vertrauen  in  die  Allmacht  der 
Vernunft  sich  getäuscht  sah,  zu  einer  Reaktion  führen.  Schon  Hegel 
hatte  der  individuellen  Mannigfaltigkeit  der  Natur  ein  Moment  der  Zu- 
fälligkeit zuerkannt,  das  der  Geist  nicht  zu  bewältigen  vermag.  In  diese 
Lücke  drang  mit  steigender  Intensität  der  Irrationalismus  ein,  der  einer- 
seits zu  materialistischen  Konstruktionen  führte,  andrerseits  den  Pessimis- 
mus vorbereitete.  Schopenhauers  Philosophie  konnte  erst  jetzt  zur  An- 
erkennung gelangen,  wo  der  Glaube  an  die  innere  Logizität  und  Zweck- 
mässigkeit alles  Seins  im  Erlöschen  war.  So  vereinigen  sich  auch  hier 
die  verschiedenen  geistigen  Strömungen,  es  ergiebt  sich  die  eine  als 
Konsequenz  der  anderen.  Mit  dem  Überhandnehmen  der  praktischen, 
politischen  und  nationalen  Interessen  vollzog  sich  eine  noch  radikalere 
Abwehr  von  der  idealistischen  Lehre,  die  sich  insbesondere  im  Herauf- 
kommen des  Positivismus  äusserte.  In  seinem  Gefolge  erschienen  Histo- 
rismus und  Psychologismus.  Diese  Tendenzen  bedeuten  den  Verzicht  auf 
eine  geschlossene  Weltanschauung  überhaupt,  sie  suchen  bloss  die  histo- 
rischen Bedingungen  zu  erklären,  aus  denen  eine  solche  hervorgeht,  oder 
sie  verlieren  sich  in  individualpsychologischen  Einzeluntersuchungen. 
Beide  Male  wird  der  objektive,  der  absolute  Gehalt  der  Weltanschauung 
preisgegeben,  sie  wird  bloss  als  vergänglicher  Ausdruck  bestimmter  anthro- 
pologischer Zuständlichkeiten  betrachtet.  Dadurch  sank  der  philosophische 
Betrieb  auf  sein  tiefstes  Niveau,  von  dem  er  sich  allmählig  wieder  erheben 
sollte.  Dies  geschah  durch  die  Rückkehr  zum  Idealismus,  die  ihrerseits 
in  der  voluntaristischen  Richtung  der  Zeit  trotz  der  anfänglichen  Gegen- 
sätzlichkeit wirksam  vorbereitet  wurde.  Die  universale  Bedeutung,  die 
der  Wille  erlangte,  forderte  als  Ziel  seiner  Wirksamkeit  ein  neues  Wert- 
system. Am  intensivsten  verkörpert  Nietzsche  dies  titanische  Ringen  nach 
neuen  Werten,  das  aber  in  eine  einseitige  Verurteilung  des  reinen  Er- 
kennens  zugunsten  des  Willens  aiisHef,  zugunsten  jener  praktischen 
Gestaltung,  der  das  neue  Deutschland  als  politische  Schöpfung  entsprach. 
Der  letzte  Aspekt,  in  den  das  Buch  mündet,  ist  sonach  die  Forderung, 
diese  Einseitigkeit  zu  überwinden,  freilich  ohne  Preisgabe  ihres  berech- 
tigten Momentes.  So  zeigt  Windelbands  neueste  Schrift  nicht  allein  eine 
souveräne  Beherrschung  des  ungeheuren  Stoffgebietes  in  Form  und  Inhalt 
und  eine  Fülle  glänzender  Gesichtspunkte,  sie  kann  uns  auch  zur  Weg- 
weiserin für  die  Zukunft  dienen. 

Wien.  Oscar  Ewald. 

Becher,  Erich.  Philosophische  Voraussetzungen  der 
exakten  Naturwissenschaften.  Verlag  von  Joh.  Ambrosius  Barth. 
Leipzig  1907.    (V  u.  243  S.) 

Dies  sehr  bemerkenswerte  Buch  hat  nicht  nur  viel  zu  sagen,  sondern 
hat  es  auch  in  einer  vortrefflichen  Form  zu  sagen.  Becher  hat  jenen 
Sinn  für  die  Architektonik  des  Gedankens,  den  man  in  den  meisten  er- 
kenntnistheoretischen    Schriften     zu     seiner    Unbequemlichkeit    vermisst. 


272  Rezensionen  (Becher). 

Einen  gewissen  Fehler  dieses  Vorzuges  hat  B.  auch.  Da  er  den  Sinn 
immer  auf  das  Wesentliche  richtet,  so  begegnet  es  ihm  manchmal,  dass  er 
Dinge,  die  nicht  direkt  in  den  Gedankenfortschritt  gehören,  über  die  aber 
dennoch  allerlei  gesagt  werden  müsste,  etwas  kurz  behandelt.  Diesem  ge- 
ringen Fehler  könnte  in  einer  sehr  zu  erwünschenden  zweiten  Auflage 
durch  längere,  an  den  Schluss  verwiesene  Anmerkungen  abgeholfen 
werden. 

Nach  einer,  über  die  Tendenz  des  Ganzen  orientierenden  Einleitung, 
giebt  Verf.  in  Abschnitt  II  eine  Betrachtung  über  den  Wert  der  Hypo- 
thesen. Becher  führt  hier  Gedanken  Comtes,  Mills,  Benno  Erdmanns 
mit  kritischem  Geschick  weiter  und  gründet  schliesslich  das  Werturteil 
über  die  Hypothesen  auf  den  mathematischen  Begriff  der  Wahrschein- 
lichkeit. Hypothesen  sind  von  Fiktionen  unterschieden,  die  nach  dem 
Gesiclitspunkt  der  Zweckmässigkeit  beurteilt  werden.  —  Da  man 
übrigens  bis  heute  keine  allgemein  anerkannte  Definition  der  Wahrschein- 
lichkeit hat,  so  erwartete  ich  eigentlich  eine  Schlussbemerkung  zu  II  über 
den  Wahrscheinlichkeitsbegriff.  —  Dieser  allgemeinen  Erörterung  des 
Wesens  der  Hypothese  überhaupt  folgt  in  Abschnitt  III  eine  Kritik  der 
Grundhypothese  aller  Einzelwissenschaften,  der  von  der  Realität  der 
Aussen  weit.  Mit  Recht  misst  der  Verfasser  hier  der  Frage  nach  der 
Realität  des  Ausdehnungsbegriffes  die  grösste  Bedeutung  bei,  denn 
die  Weltanschauung  der  Mechanik  kann  in  der  Phantasie  kühner  Forscher 
vielleicht  der  Begriffe  „Kraft  und  Masse"  entraten,  ja,  sie  kann  gar  in 
Begriffsgebilden,  die  genialen  Visionen  gleichen  (Zeno  —  Clifford  —  Min- 
kowski, und  denen  vielleicht  gar  die  Zukunft  gehört?)  das,  was  sonst 
durch  den  Begriff  „Bewegung"  bezeichnet  wurde,  durch  formale  statische 
Eigentümlichkeiten  ersetzen,  mit  denen  sie  die  Zeit  und  den  Raum  be- 
haftet, nimmer  aber  kann  sie  ohne  den  Ausdehnungsbegriff  auskommen. 
Immerhin  aber  bin  ich  nicht  ganz  einverstanden  damit,  dass  Becher  so 
leicht  über  Zenos  kühne  Zweifel  hinweggeht.  Becher  schreibt:  „Jene 
alten  Sophistereien  von  der  begrenzten  oder  unbegrenzten  Teilbarkeit 
eines  Ausgedehnten  können  auf  die  empiristische  Naturforschung  keinen 
Eindruck  machen.  Das  mathematisch  geschulte  Denken  merkt  leicht,  wo 
dabei  der  Fehler  steckt."  Wirklich?  Ist  diese  Leichtigkeit  nicht  vielleicht 
eine  schmerzliche  Tugend,  nämlich  eine  notwendige  Genügsamkeit  des 
quantitativen  Denkens?  Man  vergleiche:  Rüssel,  Principles  of  Mathe- 
matics,  S.  347  ff.  —  Die  Aporien,  die  III  aufgestellt  hat,  finden  in  IV 
ihre  Prüfung.  Diese  Prüfung  ist  ein  Meisterwerk  des  Aufbaus.  Becher 
geht  von  zwei  zuzugebenden  Gruppen  der  Gewissheit:  der  des  unmittel- 
bar dem  Bewusstsein  Gegenwärtigen  und  der  der  logischen  Axiome  aus 
und  sucht  von  da  aus  die  beiden  andern  Dimensionen  des  Erlebens  oder 
vielmehr  die  zwei  Richtungen  in  der  Zeitdiraension  des  Erlebens  zu  kon- 
struieren. Sein  Hilfsmittel  ist  dabei  die  Forderung  einer  möglichst  ge- 
ringen Lückenhaftigkeit  unserer  Erfahrung.  Er  kommt  so,  auf  Grund 
der  Erinnerungsdeutung  zur  Konstruktion  einer  Vergangenheit  des 
individuellen  Bewusstseins,  auf  Grund  der  Deutung  des  Wissens  zur 
Fortsetzung  des  Gegenwartspunktes  in  die  Zukunft.  Diese  Gruppen  der 
Gewissheit  können,  wie  die  geometrischen  Axiome,  nicht  auseinander  ab- 
geleitet werden;  dafür  aber  widersprechen  sie  auch  einander  nicht. 
Wir  haben  solchermassen  anerkannt  die  Möglichkeit  eines  Wissens  vom 
ganzen  individuellen  vergangenen,  gegenwärtigen  und  zukünftigen  Be- 
wusstsein. Aber  Becher  führt  uns  weiter  mit  seinem  Prinzip:  die  Lücken 
in  der  Regelmässigkeit  des  Geschehens  auszufüllen, i)  d.  i.  mit  dem  Kanti- 
schen Prinzip  der  Einheitlichkeit  der  Erfahrung  auch  dazu,  die  Existenz 
fremder  Bewusstseine   als   eine  höchst  wahrscheinliche  Hypothese  an- 

^)  Becher  sagt:  „Regelmässigkeitsvoraussetzung".  Die  Sache  ist 
klar  und  die  Bezeichnung  eindeutig;  trotzdem  meide  ich  sie,  denn  das 
Wort  gehört  zu  denen,  die  geschrieben  oder  gedruckt;  eine  Art  von  Per- 
spektive gewinnen. 


Rezensionen  (Becher).  273 

zunehmen.  Wir  haben  nun  schon  eine  ganze  Reihe  von  Punkten  der 
Linie  gefunden,  die  die  Kontinuität  unserer  Erfahrung  vorstellen  mag; 
dennoch  aber  fehlt  noch  eine  gewisse  Punktmenge.  Soll  daher  die  Linie 
perfekt  werden,  sind  aber  andeierseits  alle  Punkte,  die  auf  Rechnung  des 
Bewusstseins  kommen,  eingetragen,  so  bleibt  nichts,  als  den  Rest  der 
Punkte  ausserhalb  des  Bewusstseins  zu  suchen.  Wir  nennen  daher 
diese  neuen  Antecedenzien  unserer  Wahrnehmung  die  Aussen  weit.  Ein 
letzter  Schritt  endlich  geschieht  dadurch,  dass  die  Aussenwelt  als  Ursache 
unserer  Wahrnehmung  aufgefasst  wird.  Die  nächsten  beiden  Abschnitte 
befassen  sich  damit,  die  spezielle  Natur  der  als  wahrscheinliche  Hypo- 
these anerkannten  Aussenwelt  festzulegen.  Abschnitt  V  handelt  von  der 
allgemeinsten,  der  raunizeitlichen  Beschaffenheit  der  Aussenwelt.  Es  ist 
dem  Verfasser  wohl  nicht  entgangen,  dass  an  diese  Stelle  eigentlich  eine 
ganze  Philosophie  der  Mathematik  gehörte.  Jedoch  merkt  man  den 
Becherschen  Aufstellungen  an,  dass  ihnen  mehr  Überlegungen  zu  Grunde 
liegen,  als  er  hat  zu  Papiere  bringen  wollen.  Becher  entscheidet  sich 
folgendermassen :  ,.Wie  die  eindeutige  Bestimmtheit  der  Wahrnehmungen 
fordert,  dass  dem  Auseinandersein  der  Wahrnehmungselemente  in  den 
Sinnenräumen  ein  unterschied  in  der  Aussenwelt'  entspricht,  so  muss  auch 
dem  Auseinandersein  zweier  Wahrnehmungselemente  in  der  Zeit,  dem 
Nacheinander,  dem  zeitlichen  Unterschied  ein  Unterschied  in  der  etwaigen 
zeitlosen  Welt  korrespondieren  "  _  Ich  glaube,  diese  Becherschen  Gedanken- 
folgen würden  an  Klarheit  und  Überzeugungskraft  gewonnen  haben,  wenn 
Becher  nicht  eine  raumlose  und  in  gewissem  Sinne  auch  zeitlose  objektive 
Welt  unserer  Subjektswelt  hätte  entsprechen  lassen,  sondern  wenn  er  für 
Raum  und  Zeit  ihre  Ordnungstypen  eingeführt  hätte.  Für  den  Raum 
wären  hier  die  Einleitung  zur  Ausdehnungslehre  Hermann  Grassmanns 
(vom  Jahre  1844),  für  die  Zeit  der  Erörterungen  William  Rowan  Hamiltons 
in  dem  Essay  über  Algebra  als  Wissenschaft  der  reinen  Zeit  in  Frage 
gekommen.  Dann  würden  sich,  glaube  ich,  die  Becherschen  Aufstellung'en 
dahin  kennzeichnen  lassen :  es  ist  nicht  auszumachen,  ob  Raum  und  Zeit 
gewissermassen  in  ihrem  Rohzustande  ein  Gegenbild  in  der  Aussenwelt 
haben  müssen,  daliingegen  dies  unmittelbar  gewiss  ist  für  die  Ordnungs- 
typen, die  in  ihnen  Gestalt  gewinnen.  Die  Freunde  der  kritischen  Philo- 
sophie möchten  auch  hier  eine  Schlussanmerkung  w'ünschen,  da  das  Wort 
„aussen"  einer  Präzisierung  bedürftig  scheint,  denn  man  wird  fragen : 
„aussen"  —  secundum  quid,  nach  welcher  Kategorie?  Nach  Raum, 
Kausalität,  oder  wie?  —  Auf  den  raumzeitlichen  Schauplatz  alles  Natur- 
geschehens tritt  in  Abschnitt  VI  der  Körper.  Körper  ist  das  raumerfüllend 
in  der  Aussenwelt  Existierende.  Die  Mannigfaltigkeit  der  Qualitäten  des 
Körpers  steht  zu  der  Mannigfaltigkeit  der  Aussenwelt  genau  so,  wie  die 
Mannigfaltigkeiten  von  Raum  und  Zeit  zu  den  ihnen  entsprechenden 
Mannigfaltigkeiten  stehen.  Abschnitt  VlI:  Motive  zur  Bildung  mecha- 
nischer Hypothesen,  geht  von  der  Erfahrung  aus,  dass  das  Quantitative 
Knotenpunkte  hat,  an  denen  es  in  Qualitatives  übergeht  (unterscheidbare 
Einzelerschütterungen  des  Trommelfells  und  kontinuierlicher  Ton  B.). 
Hieraus  ergiebt  sich  dann,  durch  Verallgemeinerung,  die  Neigung,  allem 
Qualitativen  in  der  Aussenwelt  quantitative  Mannigfaltigkeiten  entsprechen 
zu  lassen.  Abschnitt  VHI  setzt  die  Gründe  auseinander,  aus  denen  man 
sich  diese  Mannigfaltigkeiten  diskontuierlich  denkt.  Dieser  Abschnitt 
bringt  eine  äusserst  interessante  Stelle,  die  passend  verallgemeinert  zeigt, 
dass  die  „Bilder"  der  Physik  nach  einem  ganz  bestimmten  Gesetz  der 
Vervollkommnung  durch  angemessenere  Bilder  ersetzt  werden.  Dies  Ge- 
setz ist  dasselbe,  das  nach  Boltzmann  das  materielle  Geschehen  beherrscht: 
wie  in  der  materiellen  Welt  ein  Zustand  dem  andern  folgt  um  dess  willen, 
weil  der  erste  Zustand  eine  Unwahrscheinlichkeit  enthielt,  die  im  zweiten 
behoben  ist,  so  folgt  in  der  Welt  der  ,,Bilder"  ein  Bild  dem  andern  um 
der  UnWahrscheinlichkeiten  willen,  die  das  relativ  frühere  enthält.  Üb- 
rigens,  diese  Unwahrscheinlichkeiten   scheinen   mir   immer   Anthropomor- 


274  Rezensionen  (Becher). 

phisnien   zu   sein,   und  so  würde  denn  der  Fortschritt  der  exakten  Natur- 
wissenschaft darin  bestehen,  dass  sie  immer  weniger  anthropomorph  wird. 
Ich   lasse    nun    Becher    selbst  reden.     „Viele  naturwissenschaftliche  Hypo- 
thesen  sind    dadurch   fehlerhaft   geworden,    dass    sie    zu  bestimmt  waren, 
d.  h.,    dass   sie   mehr   aussagten,    als    durch   die  Erfahrungstatsachen   und 
deren  Erklärung   gefordert   war.     Hätten  die  alten  Anhänger  der  Wellen- 
theorie   des   Lichtes    allein   die  Aussage  in  ihre  Hypothese  aufgenommen, 
das  Licht   bestände   in   einer  transversalen  Wellenbewegung,   so  wäre  die 
alte  Hypothese  in  die  neue  elektromagnetische  übergegangen,    ohne,   dass 
ein  Teil  ihrer  Annahmen  hätte  verworfen  werden  müssen.    Sie  wäre  voll- 
auf  zu   Recht   bestehen   geblieben;    die  Maxwellsche  Theorie  hätte  allein 
gezeigt,  dass  die  transversale  Schwingung  speziell  eine  elektromagnetische 
ist;  sie  hätte   nur   etwas  Positives  zur  alten  Auffassung  hinzugefügt.    Die 
alte   Undulationstheorie   ging   indessen  waiter;    sie   behauptete,    dass   die 
Lichtschwingungen   speziell  gewöhnliche  elastische  Schwingungen  wären ; 
sie  musste  infolgedessen   dem   sie  vermittelnden  Medium,  dem  Lichtäther, 
eine   Reihe   von   Eigenschaften   zuschreiben,   die   mit  Recht  zu  Bedenken 
Anlass    gaben.       Mit    dieser   weiteren,    zur   Erklärung    der    optischen    Er- 
scheinungen unnötigen  Annahme  hatte  sie  kein  Glück;   daher   wurde   der 
elektomagnetischen  Lichttheorie   neben    der   positiven   auch  eine  negative 
Aufgabe."      Sehr   wohl  —  nur   ist    die    Entwicklung    hier    keineswegs    zu 
Ende.    Seit   das   Bechersche   Buch  erschienen  ist,    haben  sich  die  gewich- 
tigsten  Stimmen   gegen   den   eigentlich  vitalen  Teil   der  Ätherhypothese 
gewendet;   gegen   die  Annahme   eines   substantiellen  Trägers  der  elektro- 
magnetischen  Wellen   überhaupt.     Da  mithin   an   dieser  Stelle  Becher  zu 
ergänzen  ist,  so   will   ich  eine  Stelle  aus  Plancks  „Acht  Vorlesungen  über 
theoretische  Physik"    für  diejenigen  Leser  der  Kantstudien  hinsetzen,    die 
die   Fortschritte    der   Physik    nicht    regelmässig    verfolgen.      „Damit   fällt 
also  der  Lichtäther  ganz  aus  der  Theorie  fort,  und  mit  ihm  auch  definitiv 
die    Möglichkeit,    die    elektrodynamischen   Vorgänge    mechanisch    zu    be- 
greifen, d.  h.  auf  Bewegungen  zurückzuführen.    Indessen  will  die  letztere 
Schwierigkeit   hier    nicht    allzuviel   bedeuten,    da    ohnehin    schon  bekannt 
war,    dass   keine   einzige  der  für  kontinuierliche  Ätherbewegungen  aufge- 
stellten mechanischen  Theorien  sich  ganz  durchführen  lässt.    An  die  Stelle 
des  sogenannten  freien  Äthers   tritt  nun  das  reine  oder  absolute  Vakuum, 
in  welchem    sich    die    elektomagnetische  Energie    ebenso  selbständig  fort- 
pflanzt,  wie   die   ponderablen   Atome.     Ich  meine,  es  ist  dann  nur  konse- 
quent,    dem     absoluten    Vakuum    überhaupt    keine    physikalischen    Eigen- 
schaften beizulegen."    Abschnitt  IV  ist  im  Wesentlichen  eine  Materialien- 
sammlung  und   betrifft   den   feineren   Ausbau,     den   neuere   und   neueste 
Theorien    (bis  1906))   unsern  Vorstellungen   über  die  Struktur  der  Materie 
über   das  Wesen   von  Trägheit   und   Kraft,    über  die  Notwendigkeit  einer 
Annahme   des   Äthers    etc.   gegeben   haben.      Vielerlei   scheint   mir   auch 
Eigenwert  zu  haben.     So  z.  B.   die  sehr  angebrachte  Bemerkung  über  die 
„scheinbare  Trägheit"    (und   Masse)  der  Elektronen.     „Man  darf  daher  die 
Behauptung  von  der  nur   scheinbaren  Trägheit  der  Elektronen  nicht  miss- 
verstehen.   Die  Elektronen  sind  tatsächlich  träge,  setzen  jeder  Änderung 
ihrer  Bewegung   einen   Widerstand   entgegen;   aber  diese  Trägheit  offen- 
bart sich,  und  das  ist  das  Neue  gegenüber  der  alten  Trägheit  der  Materie, 
als    subsumierbar   unter  den  Begriff  der  elektrischen  Induktion.     Trägheit 
und  Induktion   sind   ein  und  dieselbe  Sache,   gehorchen  den  gleichen  Ge- 
setzen;   es   handelt   sich   um    die    gleichen   Kräfte,  nur   manifestieren    sie 
sich  bei   der  Trägheit   als  Wirkung   eines  Elektrons   auf  sich  selbst  (nach 
der  Meinung   anno   1910   doch   wohl  als  Wirkungen  auf  den  —  problema- 
tischen —  Äther)  als  Induktion  bei  der  Wirkung  des  Elektrons  auf  andere. 
Die  Erkenntnis,   dass   sich  die  Trägheit  der  Elektronen  als  ein  Spezialfall 
der  Induktion,   als   Selbstinduktion    auffassen  lässt,   macht  die  Variabilität 
derselben  mit  der  Geschwindigkeit  erklärlich  ..."  —  Ein  wichtiger  Teil 
des  Kapitels   befasst   sich   mit  dem  Problem  der  Fernwirkung.    Hier  aber 


Rezensionen  (Becher).  275 

kann  ich  dem  Verfasser  darin  nicht  recht  geben,  dass  er  die  herrschende 
Feindschaft  gegen  die  Fernwirkung,  mit  der  schon  Huygens  sich  nicht 
befreunden  konnte,  da  sie  keine  rein  meclianische  Erklärung  sei,  lediglich 
auf  die  psychologische  Unbequemlichkeit  dieser  Vorstellung  schiebt.  Mir 
scheint  die  Sache  vielmehr  so  zu  liegen.  Unsere  beiden  allgemeinsten 
Naturgesetze,  die  beiden  Hauptsätze  der  Thermodjaiamik,  sind  nur  auf 
geschlossene  Systeme  anwendbar.  Dann  bestimmen  sie  alle  Ver- 
änderungen, die  an  oder  in  irgendeinem  materiellen  System  vor  sich 
gehen,  vollständig  durch  die  augenblicklichen  Vorgänge  im  System  oder 
an  seiner  Grenze.  Es  kann  darum  Energie  wie  Materie  nur  stetig  mit 
der  Zeit  ihren  Ort  ändern,  daher  denn,  ins  Grosse  gerechnet,  der  gesamte 
gegenwärtige  Zustand  des  Weltsystems  genau  die  Folge  des  genau  voran- 
gegangenen Zustandes  in  Raum  und  Zeit  ist.  Nach  der  Theorie  der 
Fernwirkung  dagegen  kann  Energie  plötzlich  von  einem  Körper  auf 
den  andern  übertragen  werden  als  womit  die  Möglichkeit  wegfällt,  für 
die  Ausbreitung  dieses  Vorganges  die  Differenzialgleichungen  aufzustellen. 
In  diesem  mathematischen  Motiv  vor  allem  scheint  mir  die  Abneigung 
gegen  die  Fern  Wirkung  ihren  Grund  zu  haben:  die  Energieveränderungen 
sollen  auch  im  Prinzip  differenzieli  fassbar  bleiben.  —  Indessen,  wer 
weiss?  Kühne  Mathematiker  sprechen  bereits  von  Funktionalgleichungen, 
die  die  Differenzialgleichungen  als  einen  besonderen  Fall  in  sich  schliessen, 
und  denen  nicht  mehr  die  infinitesimale  Betrachtungsweise  zu  Grunde 
liegt.  Solche  Gleichungen  würden  nicht  nur  das  Wirken  über  räumliche, 
sondern  auch  das  über  zeitliche  Zwischenräume  hinweg  ausdrücken  können 
unter  Überspringung  der  Nachbarelemente  —  eine  Möglichkeit,  die  den 
Philosophen  warnt,  seine  Theorie  der  Kausalität  zu  früh  für  abge- 
schlossen zu  halten.  — 

Das  Buch  Bechers  geht  nach  meiner  Ansicht  den  einen  der  Wege, 
die  sein  Problem  zu  gehen  verstattet;  den  analytischen.  Ist  auch  der 
synthetische  beschreitbar?  Ich  glaube:  ja,  und  hoffe,  nächstens  mit  einer 
solchen  Behandlung  hervortreten  zu  können.  Hier  möchte  ich  noch,  um 
den  Gegensatz  zu  dem  Becherschen  Verfahren  zu  gewinnen,  die  Grund- 
züge solcher  Behandlung  skizzierend  andeuten.  Becher  setzt  die  exakte 
Wissenschaft  als  gegeben  —  wäe  der  Geometer  die  Lösung  einer  Aufgabe 
und  steigt  dann  auf  zu  den  Bedingungen,  unter  denen  allein  diese  Ge- 
gebenheit stattfinden  kann.  Darf  man  aber  auch  umgekehrt  vom  Ein- 
fachen zum  Zusammengesetzten  fortschreiten,  und  zwar  nicht  den  Inhalt 
der  Wissenschaft,  wohl  aber  deren  Form  synthetisch  aus  reiner  Vernunft 
begreifen?  —  Ein  solches  Unternehmen  würde  in  derselben  Analogie  zur 
synthetischen  Geometrie  stehen,  in  der  das  Bechersche  zur  analytischen 
steht.  Die  synthetische  Geometrie  gewinnt,  um  ein  elementares  Beispiel 
zu  nehmen,  die  Eigenschaften  der  Kegelschnitte  nicht  dadurch,  dass  sie 
solche  Formen  wie  Kreis  und  Ellipse  als  konkrete  Gegebenheiten  auf- 
greift und  nun,  etwa  mit  Hülfe  der  analytischen  Methode  Descartes', 
deren  Eigenschaften  feststellt  und  vergleicht.  Sie  setzt  vielmehr  als  pri- 
märes Gebilde  einen  Kegel  voraus,  den  man  sich  als  Lichtkegel  denken 
mag.  Von  der  Spitze  dieses  Kegels  aus  gesehen  ist  die  Ellipse  nur  eine 
zentrale  Abschattung  des  Kreises  und  umgekehrt.  Dass  solche  Abschatt- 
ungen eintreten,  hängt  davon  ab,  ob  ein  geeigneter  Gegenstand,  z.  B.  ein 
kreisrunder  Teller  in  den  Lichtkegel  gebracht  wird,  oder  nicht,  wie  aber 
die  Abschattung  ausfällt,  das  ist  vollkommen  a  priori  bestimmt  durch  die 
Gestalt  des  Tellers  und  die  Art,  wie  er  gehalten  und  wie  seine  Ab- 
schattung aufgefangen  wird  auf  der  einen  und  durch  die  immanente  Ge- 
setzlichkeit des  Lichtkegels  auf  der  anderen  Seite.  Dies  Verhältnis  von 
Tatsächlichkeit  und  Notwendigkeit  scheint  mir  dasselbe  zu  sein,  wie  das 
in  der  Transscendentalphilosophie  obwaltende.  Dass  Gegenstände  der 
Erkenntnis  gegeben  werden,  ist  eine  Ta'tsächlichkeit ,  Tatsächlich- 
keiten sind  ferner  die  realen  Bestimmtheiten  der  Gegenstände  (ihre  ma- 
teriale   Ordnung),   notwendig   dagegen   sind   die  Eigenschaften,    die  sie 


Kantstudlea    XV. 


18 


276  Rezensionen  (Becher). 

dadurch  gewinnen,  dass  sie  Teile  einer,  von  einem  Punkte  ausstrahlenden 
Erfahrung  werden.  Der  Lichtkegel,  mitsamt  der  Formgruppe,  die  ihm 
durch  die  Eigenschaft,  zentral  zu  projizieren  eignet,  das  sind  die  allge- 
meinen „Vermögen"  des  Geistes,  d.  i.  die  formale  Beschaffenheit  unseres 
Verstandes,  unserer  Sinnlichkeit  und  deren  apperzeptiver  Einheit,  den 
Teller  vertritt  der  empirische  Sinneneindruck ;  die  Arten,  darinnen  er 
sich  abschattet,  sind  die  unterschiedlichen,  aber  in  einander  überführbaren 
Ausdrücke  der  Gesetzlichkeit,  durch  die  ihn  die  Einheitsfunktion  des  Be- 
wusstseins  ergreift.  Von  welcher  Art,  von  welcher  immanenten  Gesetz- 
lichkeit nun  diese  Möglichkeit,  Gegenstände  überhaupt  zu  projizieren,  sei, 
und  welche  formalen  Charaktere  daher  den  Projektionen,  d.  i.  den  Ge- 
setzen, anhaften  müssen,  —  das  ist  nach  meiner  Meinung  die  eigentliche 
Aufgabe,  die  einer  synthetischen  Behandlung  der  Naturphilosophie  ge- 
.stellt  ist.  Der  Ausgangspunkt  ist  die  transscendentale  Deduktion,  und 
zwar  die  der  zweiten  Auflage,  die  vom  Begriff  einer  Verbindung  über- 
haupt ausgeht.  Es  werden  zwei  Begriffe  herausgearbeitet:  der  Begriff 
der  synthetischen  Identität  in  der  Verbindung  und  der  Begriff  der  ein- 
deutigen Bestimmtheit  des  Ergebnisses  der  Verbindung.  Diese  beiden 
Begriffe  erweisen  sich  als  die  letzten  Formbestimmtheiten  der  Natur- 
gesetze, die  mithin  nach  dieser  Rücksicht  in  zwei  Formgruppen  zerfallen. 
In  die  erste  Formgruppe  gehören  die  Erhaltungsgesetze  (z.  B.  der  leben- 
digen Kraft,  der  Flächen,  des  Schwerpunktes,  der  Energie),  in  die  zweite 
gehören  die  Maxima-  und  Minimagesetze,  deren  Wesen  es  ist,  eine  ein- 
deutige Bestimmtheit  auszusagen  (z.  B.  das  d'Alembertsche  Prinzip,  der 
Satz  vom  kleinsten  Zwange,  der  zweite  Hauptsatz  der  Thermodynamik.) 
Dieser  Ableitung  parallel  läuft  eine  andere,  die  von  den  Hilfsmitteln  der 
Transscendentalphilosophie  keinen  Gebrauch  macht. 

Kants  transscendentale  Deduktion  ist  nämlich  methodisch  der  Ge- 
danke einer  Wissenschaft  von  Synthesis  überhaupt.  Diesen  Gedanken 
haben  Hermann  und  Robert  Grassmann  in  der  Gestalt  einer  allge- 
meinen Formenlehre  wieder  vorgenommen.  In  dieser  kommt  es  nur 
auf  die  einzelnen,  phänomenologisch  festzustellenden  Formen  an,  die  ein 
Akt  der  Synthesis  haben  mag,  ganz  abgesehen  von  jedem  Inhalt.  Solcher 
Formen  gaben  die  Grassmanns  zwei  an,  die  Fügung  (Addition)  und  die 
Webung  (Multiplikation).  Die  Webung  zeigt  zwei  charakteristische 
Arten,  die  das  Gesamtgebiet  des  Erkennens  in  zwei  Gebiete  zerlegen, 
die  innere  Webung  und  die  äussere  Webung.  Das  Gebiet  der 
inneren  Webung  ist  die  Logik,  das  der  äusseren  Webung  ist  die  Aus- 
dehnungslehre.  Die  Formen  der  Logik  sind  danach  der  exakte  Aus- 
druck der  Verfahrungsweisen  des  Verstandes,  die  Formen  der  Aus- 
dehnungslehre sind  der  exakte  Ausdruck  der  Formen  der  Sinnlichkeit. 
Da  nun  alles,  was  erscheint,  gemäss  den  Formen  von  Raum 
und  Zeit  erscheinen  muss,  so  muss  es  auch  erscheinen,  gemäss 
den  allgemeinen,  in  der  Ausdehnungslehre  beschriebenen 
Formen.  Die  Formen  der  Synthesis,  wie  sie  in  der  Ausdehnungslehre 
beschrieben  sind,  stellen  daher  die  apriorische  Charakterologie  der  exakten 
Wissenschaft  dar  und  es  ist  durch  sie  zwar  nicht  der  Inhalt,  wohl  aber 
die  Form  der  exakten  Wissenschaft  festgelegt.  Es  ist  nun  von  den  beiden 
Grassmannschen  Formen,  der  Addition  und  der  Multiplikation,  abermals 
die  Addition  durch  die  ganze  Ausdehuungslehre  hindurch  immer  nur 
eine.  Die  äussere  Multiplikation  dagegen  zeigt  zwei  Arten,  die  algebraische 
und  die  kombinatorische  Multiplikation.  Die  algebraische  Multiplikation 
ist  gekennzeichnet  durch  die  Formel  6^.6^=6^.6^,  die  kombinatorische 
Multiplikation  durch  die  Formel  e^.  e^^  e^^.  e^  oder  e^^.  e^,=  —  e^.  e^.  Die  Be- 
trachtung der  letzten  Form  legt  das  Unterscheidende  beider  Ausdrucks- 
weisen in  den  Umstand,  dass  bei  der  kombinatorischen  Multiplikation 
der  Begriff  der  Richtung  festgehalten  wird.  Hiermit  ist  der  eine 
Grundbegriff  festgestellt ;  als  der  andere  ergiebt  sich  der  der  gegenseitig 
eindeutigen  Zuordnung  oder  der  der  Mächtigkeit.    Diese  Charakterologie 


Rezensionen  (Becher).  277 

wird  verfolgt  fürs  erste  durch  die  reine  Wissenschaft  hindurch.  Es  wird 
gezeigt,  wie  im  Zahlbegriff  die  Kategorien  der  Richtung  und  Mächtigkeit 
wirksam  sind,  in  der  Geometrie  etc.  Der  Übergang  ins  Empirische  wird 
durch  den  Begriff  der  Dimension  genommen,  ferner  aber  tritt  die  Kau- 
salität als  ein  neuer  Faktor  hinzu.  Die  —  a  posteriori  gegebenen  — 
Elemente,  zwischen  denen  die  Kausalität  hält,  können  verschiedener  Natur 
sein,  sie  können  erstens  einfache  Punkte  sein.  Zwischen  solchen  Ele- 
menten, die  nur  in  der  Abstraktion  existieren,  ist  die  Kausalität  rever- 
sibel (umkehrbar).  Das  erste  Grundgebiet  der  exakten  Naturwissenscliaft 
ist  danach  das  der  umkehrbaren  (stets  idealen)  Prozesse.  Die  Elemente 
können  aber  zweitens  empirische  Prozesse  sein.  Es  wird  gezeigt, 
dass  diese  in  eine  Form,  darinnen  sie  mathematisch  fassbar  sind,  nur  durch 
die  Wahrscheinlichkeitsrechnung  gebracht  werden  können.  Ein  empi- 
rischer Prozess  erscheint  dann  aufgelöst  in  eine  Menge  von  Einzelprozessen, 
die  alle  für  sich  umkehrbar  sind.  Nun  ist  Gegenstand  weiterer  Be- 
traclitung  allein  der  Spielraum,  der  diese  Einzelprozesse  einschliesst. 
Die  Kausalität  hält  also  hier  nicht  zwischen  Punkten,  sondern  zwischen 
Spielräumen.  Aus  dem  begrifflichen  Wesen  des.  Spielraumes  (der  elemen- 
taren Unordnung)  folgt,  dass  eine  solche  Kausalität  irreversibel  (nicht  um- 
kehrbar) ist.  So  erscheint  als  zweites  Reich  das  der  nicht  umkehr- 
baren Prozesse.!)  Dann  wird  nachgewiesen,  dass  sowohl  die  Elemente 
als  die  Formen  beider  Arten  der  Prozesse  bestimmt  sind  durch  die  Natur 
der  Operatoren,  die  wirksam  sind  in  den  beiden  Arten  der  äusseren  Mul- 
tiplikation. Da  nämlich  alle  Ausdrücke,  die  vorkommen  können,  eindeutig 
bestimmt  sind  durch  die  Dimensionsgleichungen,  die  ihren  mathe- 
matischen Charakter  definieren,  da  gleichzeitig  das  Wesen  der  Dimen- 
sionen und  alle  Möglichkeiten  von  Verbindungen  der  Dimensionen  be- 
stimmt sind  durch  die  in  der  Ausdehnungslehre  entwickelte  Gesetzlichkeit, 
so  werden  diese  Dimensionsgleichungen  das  Mittelglied,  über  das  hinweg 
sich  die  Ausdehnungslehre  in  die  Empirie  fortsetzt;  die  exakten  Ausdrücke, 
in  denen  wir  das  physikalische  Geschehen  beschreiben,  sind  daher  ver- 
schieden nur  insofern,  als  sie  von  den  Darstellungsmitteln  der  Ausdehnungs- 
lehre einen  verschiedenen  Gebrauch  machen.  Die  grösstmögliche  Unter- 
schiedlichkeit zwischen  diesen  Ausdrücken  ist  durch  den  Umstand  gegeben, 
dass  gewisse  Ausdrücke  den  Begriff  der  Richtung  beibehalten,  andere 
ihn  fallen  lassen.  Es  teilen  sich  danach  alle  in  den  Rechnungen  auf- 
tretende Elemente  in  zwei  Arten :  Vektoren  (Richtgrössen)  und  Skalare 
(Zahlengrössen).  Es  wird  nachgewiesen,  dass  die  Fundamentalbegriffe  der 
Elemente  beider  Prozessarten,  Kraft,  Masse,  Energie  etc.  vollkommen 
eindeutig  bestimmt  sind  durch  ihre  Dimensionsformeln  und  die  durch 
diese  festgelegten  Beziehungen  zu  den  beiden  Arten  der  Multiplikation. 
Was  die  Formen  beider  Prozessarten  angeht,  so  wird  gezeigt,  dass  die 
Gesetze  der  Mechanik  wie  der  Physik  entweder  Richtungs-^)  oder  Mächtig- 
keitsgesetze sind,  indem  etwa  der  erste  Hauptsatz  der  Thermodynamik 
ein  Mächtigkeits-,  der  zweite  dagegen  ein  Richtungsgesetz  ist. 

Zu  beiden  Programmen,  dem  Becherschen  wie  dem  meinen,  wird 
man  vielleicht  sagen:  „Wie  bescheiden."  Ich  würde  antworten:  „Das  ist 
ein   Lob,    kein   Tadel."'      Ein    Stück    Erdenland   zuverlässig   vermessen  zu 

1)  Der  transscendentale  Grund  der  Reversibilität  ist  der,  dass  die 
Elemente,  zwischen  denen  die  kausale  Relation  hält,  hier  nicht  die  Er- 
scheinuugsseite  eines  Dinges  an  sich  vorstellen,  sondern  nur  als  Setzungen 
betrachtet  w^erden,  denen  kein  Dasein  ausserhalb  der  sie  setzenden  Phan- 
tasie zugemutet  wird.  Dahingegen  ist  die  Ordnung  in  allen  Beschreib- 
ungen wirklicher  Prozesse  irreversibel ;  natürlich,  denn  hier  ist  die  Be- 
schreibung ja  genötigt,  eine  materiale  Ordnung  wiederzugeben,  die  ihren 
Grund  in  Bestimmtheiten  der  Dinge  an  sich  hat,  die  unserer  Willkür 
entzogen  sind. 

''^)  Die  Richtung  ist  die  in  der  Anschauung  konstruierte  eindeutige 
Bestimmtheit. 

18* 


278  Rezensionen  (Drews), 

haben,  ist  Verdienst,  Spekulationen  über  die  Kontinente  des  Sirius  anzu- 
stellen, ist  geistige  Zuchtlosigkeit.  Methoden  der  exakten  Wissenschaft 
beschreiben  und  ihr  Dasein  aus  der  Beschaffenheit  unseres  Werkzeuges 
der  Erkenntnis  begreifen,  ist  Amt  der  Philosophen ;  Methoden  der  exakten 
Wissenschaft  vorschreiben  und  etwa  die  Planetenbewegungen  „aus  dem 
Begriff  der  Sache"   ableiten,   ist  Anmassung  des  schwärmenden  Idealisten. 

Ich  hoffe,  den  Leser  dieser  Anzeige  auf  die  eigentliche  Lektüre  des 
angezeigten  Buches  begierig  gemacht  zu  haben.  JDieser  Tendenz  diene 
schliesslich  noch  die  Bemerkung,  dass  Becher  auch  leicht  zu  lesen  ist. 
Er  schreibt  ausführlich  und  stellt  mit  vorzüglichem  Takt  die  psycho- 
logischen Voraussetzungen  zum  Verständnis  der  einzelnen  Theorien  an 
den  schicklichen  Ort.  Wir  Deutsche  sind  lange  arm  gewesen  und  haben 
aus  dieser  Zeit  noch  die  Gewohnheit  beibehalten,  unsere  Bücher  so  kon- 
densiert und  geklemmt  zu  schreiben,  dass  Dinge,  die  einen  pragmatischen 
Raum  von  10  Seiten  beanspruchen,  ein  asthmatisches  Dasein  auf  einer 
Seite  fristen  müssen.  Darunter  leiden  namentlich  unsere  mathematischen 
Werke.  Die  Engländer  sind  oft  in  das  entgegengesetzte  Laster  verfallen; 
immerhin  aber  sind  ihre  Bücher  im  Allgemeinen  deshalb  kürzer,  weil  sie 
länger  sind.  Bechers  Buch  scheint  mir  deutschen  wie  englischen  An- 
sprüchen zu  genügen,  indem  es  den  geschulten  Kopf  nie  langweilt  und 
für  den  Anfänger  nie  etwas  überspringt. 

Berlin.  Friedrich  Kuntze. 

Drews,  Arthur.  Eduard  von  Hartmanns  philosophisches 
System  im  Grundriss.  Mit  einer  biographischen  Einleitung  und  dem 
Bilde  E.  von  Hartmanns.  Heidelberg  1902.  Carl  Winters  Universitäts- 
buchhandlung. (XXII  u.  851  S.)  —  Zweite,  durch  einen  Nachtrag  ver- 
mehrte Ausgabe.     1906.     (937  S.) 

Das  philosophische  System,  welches  Hartmann  in  langen  Jahren 
ununterbrochener  wissenschaftlicher  Arbeit  geschaffen  hat,  gehört  ohne 
Zweifel  zu  den  umfassendsten  Systemen,  die  jemals  aufgestellt  worden 
sind.  Fast  sämtliche  philosophischen  Disziplinen  hat  der  unermüdliche 
Denker  in  mehr  oder  weniger  umfangreichen,  zum  Teil  sehr  ausführliclien 
Werken  behandelt,  ohne  deshalb  seine  schriftstellerische  Tätigkeit  auf  die 
rein  systematische  Produktion  zu  beschränken;  in  ganz  besonderem  Masse 
hat  er  es  sich  auch  angelegen  sein  lassen,  durch  die  kritische  Auseinander- 
setzung mit  anderen  Standpunkten  die  Richtigkeit  seiner  eigenen  Über- 
zeugungen und  das  Irrige  entgegengesetzter  Ansichten  darzutun;  eine 
ganze  Reihe  seiner  Schriften  und  Abhandlungen  verdanken  diesem  Be- 
mühen ihren  Ursprung.  Dazu  kommen  nun  drittens  noch  eine  Anzahl 
von  historischen  Darstellungen,  die  in  ihrer  Gesamtheit  einen  ziemlich  be- 
trächtlichen Raum  in  dem  Ganzen  der  Hartmannschen  Philosophie  ein- 
nehmen. Von  der  Menge  dessen,  was  Hartmann  sonst  noch  über  politische, 
soziale  und  andere  Gegenstände  von  allgemeinerem  Interesse  geschrieben 
hat,  sehen  wir  dabei  ganz  ab,  obwohl  es  auch  in  den  Abhandlungen,  die 
diesen  Fragen  gewidmet  sind,  keineswegs  an  philosophisch  interessanten 
und  bedeutsamen  Ausführungen  fehlt. 

Ist  hiernach  ein  genaues  Studium  der  Philosophie  Hartmanns  schon 
ihres  Umfangs  wegen  mit  nicht  geringen  Schwierigkeiten  verknüpft,  so 
erhöhen  sich  diese  Schwierigkeiten  noch  sehr  beträchtlich  durch  den  Um- 
stand, dass  die  einzelnen  Werke  zwar  nicht  überall,  aber  doch  sehr  viel- 
fach auch  durch  ihren  Inhalt  erhebliche  Anforderungen  an  das  Verständ- 
nis des  Lesers  stellen.  Trotzdem  es  sehr  leicht  ist,  sich  von  ihrer  Un- 
wahrheit zu  überzeugen,  ist  doch  auch  heute  noch  die  Meinung  nicht 
ganz  aufgegeben,  als  wäre  Hartmann  eigentlich  nur  ein  oberflächlicher 
Vielschreiber  gewesen,  der  wissenschaftlich  nicht  ernst  genommen  werden 
dürfe.  Diese  Anschauung  ist  in  Wirklichkeit  so  wenig  zutreffend,  dass 
sie  nicht  einmal  das  Recht  hat,  sich  auf  die  für  weitere  Kreise  bestimmten 
Veröffentlichungen  Hartmanns  zu  beziehen.  Denn  auch  in  diesen  handelt 
es  sich  fast  immer  um  gediegene,  sachliche,  anregende  und  gedankenreiche 


Rezensionen  (Drews).  279 

Untersucliiingen.  Was  aber  die  eigentlich  philosophischen  Schriften  Hart- 
nianns  anbelangt,  so  wird  niemand,  der  mit  ihnen  etwas  genauer  bekannt 
und  zu  einem  objektiven  Urteil  befähigt  ist,  mit  gutem  Gewissen  leugnen 
können,  dass  sich  darin  eine  ganz  ungewöhnliche  Schärfe,  Tiefe  und  syste- 
matische Kraft  des  Denkens  offenbart,  mit  der  sich  zugleich  eine  bewun- 
derungswürdige Universalität  des  Wissens  vereinigt.  Trotz  der  Fülle  von 
Gegenständen,  denen  sein  Interesse  zugewendet  war,  sucht  Hartmann  den 
Problemen  doch  fast  stets  irgendwelche  neuen  Seiten  abzugewinnen ;  er 
begnügt  sich  nicht  mit  jener  etwas  äusserlichen,  wenn  auch  geistreichen 
Behandlung  der  Dinge,  die  man  gerade  auf  philosophischem  Gebiete  nicht 
so  selten  findet ;  vielmehr  ist  er  mit  aller  Energie  bemüht,  in  das  Innerste 
der  Probleme  einzudringen  und  seine  Untersuchung  soweit  zu  führen,  bis 
ein  greifbares  und  bestimmtes  Ergebnis  gewonnen  ist.  Und  dies  Verfahren 
beobachtet  er  nicht  etwa  nur  bei  den  verhältnismässig  leichteren  und 
einfacheren,  sondern  gerade  auch  bei  den  letzten  und  tiefsten  Fragen  der 
Philosophie,  deren  Schwierigkeit  für  ihn  niemals  ein  Grund  war,  um  sie 
ganz  unbeantwortet  oder  doch  in  einem  gewissen  Dunkel  zu  lassen,  wie 
das  auch  hervorragende  Denker  gar  manchmal  gßtan  haben. 

Nach  alledem  ist  ein  sehr  eingehendes,  gründliches  und  zeitrauben- 
des Studium  erforderlich,  wenn  sich  jemand  mit  dem  Inhalt  der  Hart- 
mannschen  Philosophie  genauer  vertraut  machen  will.  Schon  aus  diesem 
Grande  lässt  es  sich  einigermassen  erklären,  dass  die  Zahl  der  wirklichen 
Kenner  des  Systems  noch  immer  ziemlich  gering  ist.  Denn  darüber  kann 
nach  unserem  Dafürhalten  nicht  der  mindeste  Zweifel  sein,  dass  die  phi- 
losophischen Schriften  Hartmanns  lange  nicht  in  dem  Masse  beachtet  und 
gelesen  werden,  wie  sie  es  bei  ihrer  grossen  Bedeutung  verdienen.  Nachdem 
Hartmann  mit  der  Philosophie  des  Unbewussten  einen  ganz  ungewöhn- 
lichen Erfolg  gehabt  und  seinen  Namen  in  die  weitesten  Kreise  getragen 
hatte,  wandte  man  der  grossen  Mehrzahl  seiner  späteren  Werke  auch 
nicht  im  entferntesten  die  gleiche  Aufmerksamkeit  zu.  Es  war  daher 
ein  sehr  dankenswerter  Entschluss,  den  Arthur  Drews  fasste,  als  er  sich 
seinerzeit  vornahm,  zu  dem  60.  Geburtstage  Hartmanns  eine  zusammen- 
hängende und  übersichtliche  Darstellung  von  dessen  System  zu  veröffent- 
lichen. Es  gab  wohl  niemanden,  der  zu  dieser  Aufgabe  in  so  hohem 
Masse  geeignet  gewesen  wäre  wie  gerade  Drews.  Denn  schon  in  seinen 
früheren  Schriften  hatte  er  sich  nicht  nur  als  genauen  Kenner,  sondern 
auch  als  treuen  Anhänger  und  begeisterten  Jünger  der  Philosophie  Hart- 
manns gezeigt.  Zugleich  ging  aus  diesen  Schriften  hervor,  mit  wie 
grosser  Sicherheit  und  Selbständigkeit  sich  Drews  in  den  Gedanken- 
gängen des  Hartraannschen  Systems  zu  bewegen  weiss.  Ohne  zu  grosse 
Uebertreibung  wird  man  sagen  dürfen,  dass  er  das  System  kaum  besser 
beherrschen  könnte,  wenn  er  selbst  der  Urheber  wäre. 

Die  Erwartungen,  die  man  hiernach  auf  eine  Darstellung  der  Philo- 
sophie Hartmanns  aus  der  Feder  von  Drews  setzen  durfte,  werden  durch 
das  vorliegende  Buch  in  vollem  Umfang  erfüllt.  Der  Leser  erhält  durch 
das  Werk  ein  übersichtliches,  lebendiges  und  eindrucksvolles  Bild  von 
dem  gewaltigen  System,  das  allmählich  vor  seinem  geistigen  Auge  ent- 
steht. Handelt  es  sich  für  den  Verfasser  auch  in  erster  Linie  darum, 
einen  Grundriss  des  von  Hartmann  aufgeführten  Gebäudes  zu  entwerfen, 
weil  es  im  Rahmen  der  so  schon  sehr  umfangreichen  Darstellung  nicht 
möglich  war,  eine  eingehende  Schilderung  der  einzelnen  Teile  zu  geben, 
so  ist  es  doch  nicht  bloss  das  äussere  Grundgerüst  als  solches,  mit  dem 
wir  bekannt  gemacht  werden.  Vielmehr  führt  uns  das  Buch  auch  in  das 
Innere  des  Systems  soweit  ein,  dass  wir  im  Stande  sind,  von  fast  allem, 
was  es  Bedeutendes  enthält,  eine  mehr  oder  weniger  bestimmte  Vor- 
stellung zu  gewinnen. 

Eine  gleichmässige  Ausführlichkeit  in  der  Berücksichtigung  der  ver- 
schiedenen Werke  hat  Drews  nicht  angestrebt ;  im  grossen  und  ganzen 
wird  allerdings   den  Hauptteilen   des  Systems  ungefähr  das  gleiche  Recht 


280  Rezensionen  (Drewc). 

gewährt ;  im  einzelnen  finden  sich  jedoch  in  dieser  Hinsicht  mancherlei 
Verschiedenheiten,  wie  das  bei  der  Darstellung  eines  so  umfassenden 
Systems  auch  kaum  anders  zu  erwarten  war.  So  sind  z.  B.  dem  geschicht- 
lichen Teile  der  Hartmannschen  Religionsphilosophie  fast  90,  der  Geschichte 
der  deutschen  Ästhetik  seit  Kant  nur  6  Seiten  gewidmet.  Dies  ist  eine 
Diskrepanz,  die  man  vielleicht  nicht  ganz  in  der  Ordnung  finden  wird. 
Im  übrigen  aber  geben  die  vorhandenen  Uugleiclunässigkeiten  kaum  An- 
lass  zu  besonderen  Bedenken,  da  es  sich  von  selbst  versteht,  dass  der 
Autor  in  dieser  Hinsicht  eine  gewisse  Freilieit  des  Verfahrens  für  sich  in 
Anspruch  nehmen  kann. 

Die  Darstellung  des  Systems,  der  als  Einleitung  eine  ansprechende 
Schilderung  von  Hartmanns  Leben  und  literarischer  Tätigkeit  vorausgeht, 
gliedert  sich  nun  folgendermassen.  Das  erste  Buch  entwickelt  die  Grund- 
lagen des  Systems  und  zwar  in  der  Weise,  dass  nach  einer  einleitenden 
Auseinandersetzung  über  die  Philosophie  des  Bewussten  und  das  Prinzip 
des  Unbewussten  die  Methodenlehre,  die  Erkenntnislehre  und  die  Meta- 
physik Hartmanns  behandelt  werden.  Das  zweite  Buch  macht  den  Leser 
mit  den  Grundgedanken  der  Hartmannschen  Naturphilosophie  bekannt, 
während  das  dritte  und  letzte  Buch,  das  bei  weitem  den  grössten  Umfang 
hat,  die  gesamte  Geistesphilosophie  zur  Darstellung  bringt.  Es  zerfällt 
demnach  wieder  in  eine  grosse  Reihe  einzelner  Abschnitte,  deren  Titel 
wir  anführen,  um  dem  Leser  wenigstens  zu  zeigen,  in  welcher  Weise 
Drews  den  umfangreichen  Stoff  geordnet  hat.  Den  Anfang  macht  die 
Psychologie  (S.  238—315),  der  dann  weiter  die  Axiologie  (bis.S.  357),  die 
Ethik  (bis  S.  442),  die  Religionsphilosophie  (S.  S.  599),  die  Ästhetik  (bis 
S.  672),  die  Philosophie  der  Geschichte  (bis  S.  706),  die  Sprachphilosophie 
(bis  S.  716),  die  Geschichte  der  Philosophie  (bis  S.  764)  und  die  Kate- 
gorienlehre (bis  S.  847)  folgen. 

Die  hier  beigefügten  Zahlen  sind  der  ersten  Auflage  entnommen, 
da  sich  für  die  zweite  Auflage  bestimmte  Zahlen  nicht  anführen  lassen. 
Es  handelt  sich  nämlich,  wie  zur  Orientierung  des  Lesers  bemerkt  werden 
muss,  bei  der  sogenannten  zweiten  Ausgabe  gar  nicht  um  eine  neue  Auf- 
lage im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes ;  vielmehr  hat  Drews  auf  Anregung 
des  Verlegers  nur  Ergänzungen  geschrieben,  die  dem  Texte  der  ersten 
noch  nicht  ausverkauften  Auflage  als  Nachtrag  angefügt  worden  sind 
(Vorw.  z.  2.  Ausg.)  und  so  den  Anlass  zur  Anwendung  des  Ausdrucks 
zweite  Ausgabe  geboten  haben.  Diese  Ergänzungen,  unter  denen  sich 
auch  Verbesserungen  und  Veränderungen  des  Textes  der  ersten  Auflage 
befinden,  betreffen  vor  allen  Dingen  die  Naturphilosophie,  die  Religions- 
philosophie und  die  Frage  nach  dem  Beginn  des  Weltprozesses,  die  in 
der  1904  erschienenen  11.  Auflage  der  Philosophie  des  Unbewussten  eine 
etwas  andere  Beantwortung  als  früher  erfahren  hat.  So  stellen  die  Er- 
gänzungen eine  wichtige  Bereicherung  des  Werkes  dar;  durch  sie  ist  es 
möglich  geworden,  die  Darstellung  so  zu  erweitern,  dass  nunmehr  so  gut 
wie  alles  hat  berücksichtigt  werden  können,  was  Hartmann  bei  Lebzeiten 
veröffentlicht  hat.  Von  dem  Ganzen  seiner  Philosophie  erhalten  wir 
freilich  auch  so  noch  kein  absolut  vollständiges  Bild,  da  ja  nach  dem  Tode 
Hartmanns  noch  sein  „System  der  Philosophie  im  Grundriss"  erschienen 
ist,  das  in  seinen  8  Bänden  seit  kurzem  abgesclilossen  vorliegt.  Doch  ist 
dieser  Umstand  für  das  Buch  von  Drews  von  keiner  wesentlichen  Be- 
deutung. Denn  Hartmann  beschränkt  sich  in  den  Grundriss  der  Haupt- 
sache noch  auf  eine  zusammenfassende  Darstellung  seiner  schon  früher 
ausgesprochenen  philosophischen  Überzeugungen,  ohne  zu  ihnen  neue  Ge- 
danken von  erheblicher  prinzipieller  Wichtigkeit  hinzuzufügen. 

Im  einzelnen  schliesst  sich  Drews  in  seiner  Darstellung  auf  das 
engste  an  Hartmann  selbst  an ;  wenn  auch  Einteilung  und  Auswahl  des 
Stoffes  sein  eigenes  Werk  sind,  so  hat  er  doch  deshalb  nicht  eine  ganz 
freie  Reproduktion  der  Gedanken  Hartmanns  geben  wollen ;  wie  ich  durch 
eine  ziemlich  grosse  Anzahl  von  Vergleichungen  festgestellt  habe,  bedient 


Rezensionen  (Drews).  281 

sich  der  Verfasser  in  sehr  weitem  Umfang  und  nicht  etwa  bloss  in  den 
als  Zitaten  kenntlich  gemachten  Sätzen  auch  der  eigenen  Worte  Hartmanns 
zu  seiner  Darstellung.  Er  geht  darin  so  weit,  dass  man  wohl  nur  wenig 
Partien  finden  wird,  in  denen  diese  äussere  Abhängigkeit  von  dem  Original 
sich  nicht  nachweisen  Hesse.  Es  würde  mir  nicht  richtig  zu  sein  scheinen, 
wenn  man  Drews  hieraus  einen  Vorwurf  machen  wollte.  Denn  offenbar 
ist  dieses  Verfahren  mit  vollem  Bewusstsein  und  in  der  Absicht  gewählt 
worden,  auch  im  Ausdruck  der  Gedanken  dem  Original  möglichst  nahe 
zu  kommen ;  ausserdem  mag  wohl  auch  die  Erwägung  mitgespielt  haben, 
dass  es  kaum  möglich  wäre,  von  Hartmanns  philosophischen  Anschauungen 
eine  noch  klarere  Formulierung  zu  geben,  als  sie  in  den  Schriften  des 
Autors  selbst  sich  findet.  Eine  gewisse  Gefahr,  die  hierbei  besteht,  ist 
allerdings  nicht  ganz  vermieden  worden;  denn  es  dürfte  wohl  eine  Folge 
des  geschilderten  Verfahrens  sein,  dass  der  Leser  öfters  nicht  weiss,  ob 
nun  im  einzelnen  Falle  Hartmann  selbst  oder  Drews  redet ;  ich  für  meine 
Person  bin  in  dieser  Hinsicht  wenigstens  nicht  ganz  selten  im  Zweifel 
gewesen  und  glaube,  dass  andere,  die  Hartmann  weniger  genau  kennen, 
noch  öfter  in  Zweifel  geraten  dürften.  Ausserdem  möchte  ich  hier  be- 
merken, dass  die  weitgehende  Benutzung  des  Wortlauts  der  Hartmann- 
schen  Schriften  doch  nicht  hat  verhindern  können,  dass  der  Leser  in  vielen 
Fällen  das  Bedürfnis  einer  noch  genaueren  Aufklärung  über  einzelne 
Lehren  und  namentlich  deren  Begründung  empfinden  wird.  Wer  wenig- 
stens mit  der  Philosophie  Hartmanns  nicht  schon  einigermassen  vertraut 
ist,  wird  nach  meinem  Dafürhalten  nicht  überall  imstande  sein,  den  Aus- 
einandersetzungen von  Drews  trotz  ihrer  Klarheit  und  Bestimmtheit  mit 
genügendem  Verständnis  folgen  zu  können.  Aber  freilich  ist  das  ein 
Mangel,  für  den  der  Verfasser  selbst  nicht  eigentlich  verantwortlich  ge- 
macht werden  kann.  Denn  es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  dass  bei  der 
Schwierigkeit  und  der  Fülle  der  zu  behandelnden  Gegenstände  selbst 
eine  so  umfangreiche  Darstellung  doch  noch  mancherlei  Lücken  in  sich 
enthalten  musste,  die  nur  durch  ein  Studium  der  Originalschriften  ausge- 
füllt werden  können.  Nur  wenn  er  seinem  Werke  noch  einen  erheblich 
grösseren  L^mfang  gegeben  hätte,  würde  Drews  imstande  gewesen  sein, 
diesen  Missstand  allenfalls  zu  vermeiden. 

Bei  dem  persönlichen  Standpunkt,  den  unser  Autor  zu  der  Philo- 
sophie Hartmanns  einnimmt,  ist  es  kein  Wunder,  dass  er  es  in  seinem 
Werke  an  einer  kritischen  Auseinandersetzung  mit  den  Hartmannschen 
Lehren  gänzlich  fehlen  lässt,  während  er  seine  Zustimmung  und  Aner- 
kennung um  so  deutlicher  ausspricht.  Ausdrücklich  lehnt  er  die  Kritik 
in  dem  Vorwort  zur  zweiten  Ausgabe  ab,  indem  er  behauptet,  dass  zur 
kritischen  Beurteilung  eines  philosophischen  Systems  nur  derjenige  berufen 
und  im  Stande  sei,  der  einen  höheren  Standpunkt  besitze,  von  dem  aus 
er  befälligt  wäre,  die  betreffende  Weltanschauung  als  Moment  in  jenen 
aufzuheben.  Das  aber  ist  eine  Erklärung,  die  man  gewiss  nicht  wird 
gelten  lassen  können;  denn  es  ist  gar  nicht  einzusehen,  warum  nicht  auch 
ohne  einen  in  diesem  Sinne  höheren  Standpunkt  eine  wertvolle  und 
fruchtbare  Kritik  eines  philosophischen  Systems  oder  wichtiger  Teile  des- 
selben möglich  sein  soll.  Der  eigentliche  Grund  seines  Verzichts  auf  jede 
kritische  Prüfung  der  dargestellten  Lehren  Liegt  für  Drews  gewiss  auch 
viel  weniger  in  der  eben  angeführten  Erwägung,  als  in  dem  Umstände, 
dass  er  von  der  Richtigkeit  des  Hartmannschen  Systems  in  fast  allen 
Punkten  fest  überzeugt  ist.  Demnach  stellt  er  auch  die  Lehre  Hartmanns 
nicht  nur  im  ganzen,  sondern  auch  in  allen  ihren  wichtigeren  Teilen  weit 
über  alle  anderen  Leistungen  der  modernen  Philosophie  und  stimmt  ihr 
auch  da  rückhaltlos  bei,  wo  sich  bei  schärferer  und  genauerer  Prüfung 
vielleicht  erhebliche  Bedenken  ergeben.  Mit  seiner  Begeisterung  für 
Hartmann  vereinigt  sich  auf  diese  Weise  eine  Beurteilung  der  übrigen 
zeitgenössischen  Philosophie,  die  oft  unnötig  scharf  und  absprechend  und, 
was  wichtiger,  in  rein  sachlicher  Hinsicht,  wie  ich  glaube,  keineswegs 
immer   richtig   ist.     Was   hat  es  z.  B.  für  einen  Sinn,  wenn  er  das  neuer- 


282  Rezensionen  (Drews). 

dings  so  vielfach  behandelte  Problem  des  psychophysischen  Parallelismus 
als  eine  „modische  Professorenstreitfrage"  bezeichnet  (1.  Aufl.  V),  und  die 
Sache  so  hinstellt,  als  hätten  bei  dieser  Angelegenheit  weder  die  An- 
hänger noch  die  Gegner  des  Parallelismus  irgend  etwas  von  Bedeutung 
geleistet  (862),  während  Hartmann  mit  seiner  Lehre  vom  Unbewussten 
die  Schwierigkeiten  im  Begriffe  der  Wechselwirkung  ZAvischen  Leib  und 
Seele  von  Grund  aus  gelöst  haben  soll  (251)?  Als'  ob  die  Frage  nach 
dem  tatsächlichen  Vorhandensein  einer  solchen  Wechselwirkung,  um  deren 
Beantwortung  es  sich  hierbei  im  wesentlichen  handelt,  durch  eine  Ver- 
legung der  Vermittelung  in  das  Gebiet  des  unbewussten  Seelenlebens 
irgendwie  entschieden  werden  könnte!  Dergleichen  Äusserungen  sind 
unhaltbare  Übertreibungen,  die  schwerlich  darzu  beitragen  werden,  der 
Philosophie  Hartmanns  neue  Freunde  zu  gewinnen. 

Auch  sonst  sieht  Drews  im  Begriff  des  Unbewussten,  wie  ihn  Hart- 
mann versteht,  das  geeignetste  Mittel,  um  alle  möglichen  Probleme  zu 
lösen.  Nach  seiner  Ansicht  hat  Hartmann,  indem  er  diesen  Begriff  in 
genialer  Intuition  erfasste  und  zur  Grundlage  seines  Systems  machte, 
eine  der  grössten  Umwälzungen  in  der  ganzen  Geschichte  der  Philosophie 
hervorgebracht.  Obwohl  der  Begriff  auch  schon  vorher  eine  grosse  Rolle 
in  der  philosophischen  Spekulation  gespielt  hat,  so  ist  doch  im  Prinzip 
alle  frühere  Philosophie  Bewusstseinsphilosophie  gewesen.  Sie  „identifi- 
zierte das  Bewusstsein  mit  dem  Sein"  (869),  wie  das  in  ganz  besonders 
charakteristischer  Weise  in  der  neueren  Philosophie  der  Fall  war,  als 
deren  Prinzip  das  kartesianische  Cogito  ergo  sum  angesehen  werden  muss. 
In  diesem  Satze  ist  die  Identität  von  Bewusstsein  und  Sein,  von  Ideellem 
und  Realem  unmittelbar  ausgesprochen  und  zugleich  als  das  metaphy- 
sische Wesen  der  Dinge  anerkannt  (74).  „Die  ganze  philosophische  Ge- 
dankenentwickelung seit  Descartes  ist"  aber  nichts  anderes  als  „die  fort- 
schreitende Auseinanderlegung  und  selbständige  Durcharbeitung  derjenigen 
begrifflichen  Möglichkeiten,  die  implicite  bereits  im  Cogito  ergo  sum  ent- 
halten waren"  (75).  Die  letzte  grosse  Leistung,  die  diese  Richtung  des 
Denkens  hervorgebracht  hat,  war  das  System  Hegels,  dessen  Zusammen- 
bruch nicht  nur  den  Untergang  einer  beliebigen  Philosophie,  sondern 
einer  ganzen  Weltanschauung  bedeutete,  die  zwei  Jahrhunderte  hindurch 
die  europäische  Menschheit  beherrscht  hatte  (76).  Ein  wirklicher  grosser 
Fortschritt  in  der  Philosophie  konnte  infolgedessen  nunmehr  nur  auf  die 
Weise  gemacht  werden,  dass  an  Stelle  der  bisherigen  Pliilosophie  des 
Bewussten  eine  Philosophie  des  Unbewussten  gesetzt  wurde,  wie  es  durch 
Hartmann  geschah.  Daher  bedeutet  sein  System  „den  völligen  Bruch  mit 
dem  Cogito  ergo  sum,  die  Losreisung  von  der  Vergangenheit,  die  Inau- 
gurierung einer  neuen  Epoche  des  philosophischen  Denkens"  (77). 

Gegen  diese  Auffassung  von  der  geschichtlichen  Entwickclung  der 
Philosophie  ist  nun  gewiss  sehr  viel  einzuwenden,  ohne  dass  man  deshalb 
der  Bedeutung  Hartmanns  irgendwie  zu  nahe  zu  treten  braucht.  Dass 
die  ganze  frühere  Philosophie  Sein  und  Bewusstsein  identifiziert  haben 
soll,  ist  eine  unhaltbare  Behauptung,  die  gar  keiner  Widerlegung  bedarf. 
Ebensowenig  kann  davon  die  Rede  sein,  dass  durch  das  Cogito  ergo  sum 
Sein  und  Bewusstsein  schlechthin  gleichgesetzt  würden,  wie  sich  zur 
Genüge  aus  der  cartesianischen  Philosophie  ergiebt;  hätte  der  Satz  aber 
auch  wirklich  diese  Bedeutung,  so  würde  daraus  doch  keineswegs  folgen, 
dass  auch  die  ganze  neuere  Philosophie  im  übrigen  Bewusstseinsphilosophie 
im  Sinne  von  Drews  wäre,  da  es  eine  undurchführbare  Geschichtskon- 
struktion ist,  wenn  man  die  Entwickelung  der  Spekulation  von  Descartes 
bis  Hegel  im  wesentlichen  nur  als  die  Ausgestaltung  und  konsequente 
Durchbildung  des  cartesianisclien  Grundprinzips  betrachten  will;i)  ist  doch 

')  Genauer  hat  Drews  diese  Ansicht  schon  in  seinem  1897  erschie- 
nenen Werke  über  „Das  Ich  als  Grundproblem  der  Metaphysik"  ausein- 
andergesetzt (S.  14—133),  ohne  freilich  n.  m.  M.  seine  Auffassung  irgend- 
wie wahrscheinlich  zu  machen, 


Rezensionen  (Lasswitz).  283 

auch  Cartesiiis  weit  davon  entfernt,  aus  dem  Cogito  ergo  sura  sein  ge- 
samtes System  ableiten  zu  wollen,  wie  verkehrter  Weise  freilich  häufig 
behauptet  wird.  Auf  der  anderen  Seite  erweist  sich  auch  die  Philosophie 
Hartmauns  insofern  als  Bewusstseinsphilosophie,  als  sie  ebenfalls  von  dem 
Bewusstsein  und  seinem  Inhalt  ausgehen  muss,  da  es  einen  andern  Aus- 
gangspunkt nicht  giebt  und  nicht  geben  kann.  Daran  vermag  auch  die 
Tatsache  nichts  zu  ändern,  dass  Hartmann  in  merkwürdiger  Überein- 
stimmung mit  Kant,  zu  dem  er  sich  sonst  meist  in  mehr  oder  weniger 
scharfem  Gegensatz  befindet,  das  Bewusstsein  und  die  bewussten  seelischen 
Vorgänge  für  Erscheinungen  im  erkenntnistheoretischen  Sinne  des  Wortes 
erklärt.  Denn  einmal  würde  diese  Ansicht,  wenn  sie  zutreffend  wäre,  in 
keiner  Weise  die  Notwendigkeit  aufheben,  die  uns  zwingt,  in  der  Philo- 
sophie mit  dem  gegebenen  Bewusstseinsinhalt  zu  beginnen ;  zweitens  aber 
ist  nach  meinem  Dafürhalten  durchaus  zu  bestreiten,  dass  das  Bewusstsein 
als  eine  blosse  Erscheinung  betrachtet  werden  kann,  da  sich  diese  An- 
schauung in  ganz  unlösbare  Schwierigkeiten  verwickelt  (vgl.  meine  Er- 
kenntnistheorie S.  425 — 433,  589—592).  Drews  freilich  stimmt  auch  in 
diesem  Punkte  Hartmann  unbedingt  zu  und  beruft  sich  dabei  (919)  auf 
sein  Werk  über  das  Ich,  in  dem  er  den  Gegenstand  ausführlich  behandelt 
hat ;  doch  vermag  ich  auch  in  seinen  eigenen  Darlegungen  durchaus 
keinen  Beweis  für  die  Richtigkeit  der  in  Frage  stehenden  Lehre  zu 
finden. 

Mit  alledem  will  ich  nun  hier  nicht  etwa  Hartmanns  Lehre  vom 
Unbewussten  überhaupt  und  im  Prinzip  zurückweisen,  wäe  der  Leser  viel- 
leicht glauben  könnte ;  vielmehr  bin  auch  ich  davon  überzeugt,  dass 
dieser  Lehre  eine  grosse  und  hervorragende  Bedeutung  zukommt,  deren 
Anerkennung  für  mich  jedoch  nicht  eine  Zustimmung  zu  der  Theorie  in 
ihrem  ganzen  L'mfange  bedeutet,  wie  es  bei  Drews  der  Fall  ist.  Dies 
genauer  auseinanderzusetzen,  würde  jedoch  viel  zu  weit  führen,  da  ich 
hier  ja  keine  Beurteilung  der  Hartmannschen  Philosophie  zu  schreiben 
habe.  Infolgedessen  verzichte  ich  auch  darauf,  noch  eine  Reihe  weiterer 
Punkte  speziell  zu  erwähnen,  bei  denen  ich  glaube.  Hartmann  durchaus 
widersprechen  zu  müssen.  Nur  soviel  möchte  ich  bemerken,  dass  ich  im 
besonderen  auf  erkenntnistheoretischeui,  psychologischem  und  etliischem 
Gebiete  gegen  seine  Anschauungen  ziemlich  viel  Ausstellungen  zu  machen 
habe,  die  sich  dann  natürlich  auch  gegen  die  Zustimmung  richten,  die 
diese  Anschauungen  bei  Drews  finden.  Doch  hält  mich  dieser  Gegensatz 
nicht  im  mindesten  ab,  der  Grösse  Hartmanns  gerecht  zu  werden,  in  dem 
auch  ich  einen  Denker  ersten  Ranges  sehe,  dessen  Werke  das  genaueste 
und  gründlicliste  Studium  verdienen.  Wer  aber  nicht  im  Stande  ist,  die 
für  ein  solches  Studium  nötige  Zeit  zu  erübrigen,  der  findet  eben  in  dem 
Werke  von  Drews  einen  Ersatz,  wie  er  sich  ihn  kaum  besser  wünschen 
kann.  Ohne  Zweifel  ist  das  Buch,  so  manches  ich  dagegen  auch  ein- 
wenden muss,  eine  gediegene  und  hervorragende  wissenschaftliche  Leistung, 
deren  Wert  auch  dadurch  nicht  vermindert  wird,  dass  in  den  letzten 
Jahren  einige  andere  Darstellungen  der  Philosophie  Hartmanns  erschienen 
sind;  denn  diese  Schriften  reichen,  schon  wegen  ihres  viel  kürzeren  Um- 
fangs,  durchaus  nicht  an  die  wissenschaftliche  Bedeutung  des  Drew^sschen 
Werkes  heran.  Dieses  bietet  daher  auch  jetzt  nocli  die  bei  weitem  beste 
und  gründlichste  Orientierung  über  des  System  Hartmanns  und  Avird 
schwerlich  in  absehbarer  Zeit  durch  eine  andere  Darstellung  erreicht  oder 
gar  übertroffen  werden. 

Rostock.  Franz  Erhardt. 

Lasswitz,  Kurd.  Seelen  und  Ziele.  Beiträge  zum  Weltverständ- 
nis.   Verlag  von  B.  Elischer  Nachfolger.    Leipzig.    (XI  u.  320  S.) 

Mit  der  dem  poetischen  Schriftsteller  eigenen  Anmut  bietet  uns  der 
pliilosophische  Denker  in  der  Form  einzelner  Essays  eine  ungemein  reiche 
Fülle  interessanter  Forschungsarbeit  dar.  Sein  Buch  über  „Seelen  und 
Ziele"    ist,    wie   er   selbst   sagt,    ,.in  gewissem  Sinne   eine  Ergänzung"  zu 


284  Rezensionen  (Lasswitz). 

seiner  Sclirift  über  „Wirklichkeiten",  ohne  dass  es  diese  zum  Verständnis 
voraussetzte.  Es  ist  bestrebt,  zu  zeig'en,  „wie  vom  Standpunkte  der  mo- 
dernen Erkenntnis  uns  jedes  Emporkommen  des  Lebendigen  in  seiner 
naturnotwendigen  Entwickelung  zugleich  die  Freiheit  bedeutet".  In 
diesem  Sinne  ist  sein  Titel  zu  verstehen. 

Um    seine    Aufgabe    zu    erfüllen,     muss    es    also    ausgehen   von    den 
Grundlagen  der  Naturnotwendigkeitserkenntnis.     Die  beiden  ersten  Kapitel 
behandeln    darum    die    Zeit-  und  Raum-Probleme.     Das  geschieht  in  jener 
edlen,  von  aller  Trivialität  freien  Popularität,  dass  selbst  der  Laie  auf  die 
einfachste  Weise  erkennen   kann,    um  welche  Fragen  und  Begriffe  es  sich 
hier  handelt.    Auch  wer  von  Hause  aus  etwa  den  metageometrischen  Speku- 
lationen fern  und  fremd  gegenübersteht,  erhält  davon  hier  eine  ungemein 
klare  und  fassliche  Darstellung.     Das    dritte  Kapitel,    das  als  „zwei   Welt- 
beseeler"  G.  Bruno  und  Fechner   in    ungemein  liebevoller   und   persönlich 
sympathischer,  aber   darum   doch  nicht  minder  objektiv  sachlicher  Art  be- 
liandelt,    lässt    sich    als    ungezwungener  Übergang    von   der  mathematisch- 
naturwissenschaftlichen Problemgrundlegung  zum  Problem  des  Lebens  an- 
sprechen.   Bei  aller  Zuneigung  zu  dem  Persönlichen  und  Poetischen  in  der 
Weltanschauung    beider   Männer   weiss    Lasswitz  sehr  wohl  die  kritischen 
Grenzen    zu    ziehen    zwischen    den    Fragen  eben  der  Weltanschauung  und 
denen  der  Wissenschaft,  zwischen  dem,   was  wir  „ahnen,  hoffen,  glauben" 
und  dem,  was  wir  wissen   und  erforschen  können.     Zur  Einführung  in  die 
eigentlich     biologischen    Probleme    verwertet    Lasswitz     die    Semonsche 
Theorie   der   Mneme,    die   er   in    einem   besonderen  Abschnitte  behandelt, 
um    im   nächsten    Kapitel,   wenigstens    in   aller   Kürze,    die    „allgemeinen 
Grundlagen   der  Biologie"    in  allgemeinverständlicher  Weise   darzustellen. 
Nun    muss    sich    unserem    Autor    die   Beseelungsfrage  unausweislich    auf- 
drängen.   Ausblicke   auf   die    „Pflanzenseele"    und  die  „Planetenseele"  er- 
öffnen  sich   hier   dem   Dichter  Lasswitz  ebenso  wie  dem  Denker.    Wenn 
dieser  von  der  „Pflanzenseele"  bekennt,    dass   wir  mit  ilir  „in  der  wissen- 
schaftlichen Betrachtung  nichts  anfangen  können",    so    glaubt  doch  jener: 
es    könne    „unser    allgemeines   Weltbild,    die   Auffassung   der   Natur   von 
Seiten  des  Gemütes   durch  die  Anerkennung  der  Pflanzenseele  vorteilhaft 
beeinflusst  werden".     Nicht  ganz  so  kritisch,  weil  nicht  ganz  so  streng  auf 
Grund  der  Unterscheidung  zwisclien  Weltbild  und  Wissenschaft  bestimmt, 
erscheint  uns  dagegen  Lasswitz'  Stellungnahme  zur  Planetenseele.    Dennoch 
muss  betont  werden:   Wer  seine  Stellung  zur  Frage  des  psychophysischen 
Parallelismus  und  der   psychophysischen  Wechselwirkung  kennt,    \yird  zu- 
geben müssen,  dass  Lasswitz  die  von  seinem  Standpunkte  aus  einzig  mög- 
liche Konsequenz   der   Planetenbeseelung  zieht.    Wer  mit  ihm  darüber  in 
eine  Diskussion  eintreten  wollte,   müsste'  unbedingt   die  Frage :  „Wechsel- 
wirkung oder  Parallelismus?"  selbst  eingehend  erörtern,  wozu  hier  freilich 
nicht   der   Ort   ist.    Im  weiteren  werden  die  Verhältnisse  von  „Spiel  und 
Instinkt",    von  „Instinkt    und  Leben"  erörtert,    wobei  es  etwas  befremden 
muss,    dass    ein   so    guter  Kenner  Kants,    wie  Lasswitz  es  ist,    gerade  der 
kritischen  Bedeutung   von  Weismanns  Vererbungstheorie   doch  nicht  ganz 
gerecht    wird.     Tier-    und   völkerpsychologische    Abhandlungen   schliessen 
sich   hier   an.    Mit   ihnen    erreicht   der  im  Thema  „Seelen"  liegende  Auf- 
gabeteil des  Werkes  sein  Ende. 

Zu  dem,  was  im  Thema  unter  dem  Namen  der  „Ziele"  als  Aufgabe 
gestellt  war,  leitet  eine  Abhandlung  über  „die  Zeichen  der  Kultur"  über. 
Auf  die  beiden  Reiche  der  Wirklichkeit,  die  Natur  und  die  Kultur,  werden 
hier  ungemein  helle  Lichter  geworfen,  durch  die  auch  die  Unterscheidung 
des  genetischen,  Avie  des  kritischen  Momentes,  um  Windelbands  Unter- 
scheidung in  diesem  Zusammenhange  nutzbar  zu  machen,  selbst  wieder 
in  sehr  einfacher  und  einleuchtender  Weise  auch  dem  „Nicht-Fachmann" 
deutlich  werden  kann,  obschon  immerhin  selbst  der  „Fachmann"  an  ihr 
leicht  strauchelt.  Um  nun  im  Weiteren  dem  allgemeineren  Verständnis 
insbesondere    gerade    das   Wesen    der   wissenschaftlichen   Kultur   zu   er- 


Rezensionen  (Rehmke).  285 

schliessen,  dient  die  Untersclieidung  von  „Fühlen  und  Forschen",  mit  der 
die  Einsicht  in  die  kritische  Denkart  erreicht  wird,  während  das  g:efühl- 
volle  „Schauen  des  Genies"  am  Beispiele  Goethes  verdeutlicht  wird.  Goethe 
und  Kant  illustrieren  aber  nicht  bloss  Geg^ensätze.  Sie  sind  freilich  Gegen- 
sätze in  der  Methode.  Aber  in  letzter  Linie  bilden  sie  doch  hinsichtlich 
des  Inhaltes  ihrer  Anschauung  eine  Ergänzung,  ja  in  gewissem  Sinne  sogar 
eine  Einheit,  nämlich  im  Sinne  einer  Synthese  von  Natur  und  Kultur,  von 
Natur  und  Freiheit.  Unter  diesem  Gesiclitspunkte  werden  beide  auf  an- 
sprechende Weise  in  einer  besonderen  Abhandlung  zusammengestellt. 
Gleichsam  selbst  als  Synthese,  als  eine  Synthese  historischer  Art,  wird 
ihnen  zum  Schluss  „Schiller  als  Befreier"  zur  Seite  gestellt.  Dieser  poe- 
tische Verkünder  und  Verklärer  des  kritischen  Idealismus  der  praktischen 
Vernunft  wird  als  solcher  ebenfalls  in  einem  eigenen  Kapitel  kurz  be- 
handelt. In  die  Idee  der  Freiheit  klingt  so  Lasswitz'  Werk  aus,  wie  es 
mit  dem  Begriff  der  Natur  begonnen. 

Von  der  Fülle  seines  gesamten  Inhaltes  konnten  wir,  trotzdem  wir  von 
vornherein  alle  bloss  kritischen  Bemerkungen  auf  ein  Minimum  von  Andeu- 
tungen reduzierten,  hier  keine  auch  nur  annähernd  erschöpfende  Vorstellung 
geben.  Immerhin  mögen,  hoffe  ich,  die  vorstehenden  Bemerkungen  geeignet 
sein,  wenigstens  anzudeuten,  dass  das  Buch  das,  was  es  tun  will,  auch  tun 
kann.  „Das  Buch  will  suchen  helfen,"  erklärt  sein  Autor.  In  der  Tat,  es 
hilft  suchen  und  noch  mehr :  es  hilft  finden.  Es  wird  jeder  mit  ihm  und 
in  ihm  etwas  finden.  Wenn  sein  Verfasser  bemerkt:  „Für  die  Form  der 
Darstellung  war  das  Streben  nach  Allgemeinverständlichkeit  massgebend," 
so  könnte  es  scheinen,  als  sei  das  Buch  nur  für  „Laien"  geschrieben. 
Allein  es  unterscheidet  sich  himmelweit  von  den  üblichen  philosophischen 
Laiendarstellungen.  Gewiss,  es  ist  so  geschrieben,  dass  es  alle,  ohne  besondere 
philosophische  Einzelkenntnisse  mitzubringen,  verstehen  können,  wenn  sie 
nur  überhaupt  die  Fähigkeit  des  Verstehens  haben,  und  darum  mag  es  in 
erster  Linie  für  sie  bestimmt  sein.  Trotz  dieser  Allgemeinverständlichkeit 
verzichtet  das  Buch  indes  nicht  auf  Wissenschaftlichkeit.  Da  es  nun  aber 
die  Weltanschauung  des  kritischen  Idealismus  vertritt,  und  da  man  ferner 
in  dem  Bestreben,  diese  verständlich  zu  machen  auch  wässensehaftlichen 
Kreisen  gegenüber,  wie  die  Tatsachen  tausendfältig  zeigen,  immer  noch 
nicht  zu  weit,  ja  kaum  weit  genug  gehen  kann,  so  kann  das  Buch  auch 
diesen  seine  guten  Dienste  leisten.  Möge  es  darum  —  das  ist  der  Wunsch, 
mit  dem  ich  von  ihm  Abschied  nehme  —  viel  gelesen  werden,  innerhalb 
wie  ausserhalb  der  blossen  „Fachgelehrsamkeit", 

Halle  a.  S.  Bruno  Bauch. 

Rehmke,  Johannes.  Philosophie  als  Grundwissenschaft, 
Frankfurt  a,  M,,  Kesselring,  1910.     (V  u.  706  S.) 

Der  Autor  hat  in  seiner  Selbstanzeige  für  diese  Zeitschrift  als  Ziel 
seiner  „Grundwissenschaft"  hingestellt,  die  Philosophie  „bodenständig"  zu 
machen,  d.  h.  sie  allein  aus  ihrem  Gegenstande  heraus  aufzubauen,  sie  in 
ihm  zu  „verankern".  Jede  Wissenschaft  —  so  führt  er  im  „grundlegenden 
Teil"  aus  —  hat  das  Ziel,  Gegebenes  (=  Bewusstes,  Bewuisstseinsbesitz) 
fraglos  zu  bestimmen.  Eine  Einteilung  der  Wissenschaften  wird  sich  an 
der  des  Gegebenen  orientieren  müssen.  Jenachdem  sie  Einziges  oder  All- 
gemeines bestimmen  will,  ist  sie  Geschichts-  oder  Allgemeinwissenschaft. 
Den  beiden  Gruppen  von  „Fachwissenschaften"  steht  nun  die  Grundwissen- 
schaft als  diejenige  gegenüber,  welche  das  Allgemeinste  behandelt.  Und 
sie  verdient  diesen  Namen  durch  die  eigenartige  Stellung,  welche  sie  zu 
ihrem  Gegenstande  einnimmt.  Jede  Wissenschaft  nämlich  muss  inbezug 
auf  das  Gebiet,  das  sie  untersucht,  voraussetzungslos  in  dem  Sinne  sein, 
dass  sie  über  ihren  Gegenstand  keine  Urteile  mitbringt,  „vorurteilslos" 
ist.  Aber  keine  Fachwissenschaft  ist  schlechthin  vorurteilslos.  Die 
Mechanik,  deren  besonderen  Gegrenstand  die  Bewegungen  der  Dinge  aus- 
machen, untersucht  nicht,  was  Bewegung  schlechtweg  und  Ding  schlecht- 
weg  ist,    entnimmt  vielmehr  diese  Bestimmungen  den  ihr  übergeordneten 


286  Rezensionen  (Rehmke). 

Wissenschaften.  So  nimmt  jede  Fachwissenschaft  in  ihren  Ansatz  Urteile 
auf,  die  sie  nicht  selbst  gefunden,  sondern  andern  Wissenschaften  entlelmt 
hat  und  nur  inbezug  auf  ihren  Gegenstand  selbst  ist  sie  ohne  Vorurteil. 
Dagegen  soll  die  Grundwissenschaft  schlechthin  vorurteilslos  sein. 
Vorurteils-,  nicht  voraussetzungslos !  Denn  sie  setzt  etwas  voraus :  näm- 
lich das  Gegebene  selbst,  obgleich  sie  keine  Bestimmung  des  Ge- 
gebenen voraussetzt. 

Ist  aber  die  Voraussetzung  „Es  giebt  Gegebenes"  nicht  schon  selbst 
ein  Urteil?  Man  sieht  leicht,  wieviel  bei  Entscheidung  dieser  Frage  da- 
rauf ankommt,  was  man  unter  Urteil  versteht.  Heisst  „urteilen",  wie  R. 
will,  „Gegebenes  bestimmen"  (S.  46),  ist  also  jedes  Urteil  eine  Prädi- 
kation, dann  ist  freilich  mit  den  Worten  „Es  giebt  Bewusstes"  kein  Urteil, 
nämlich  keine  Bestimmung  des  Bewussten  oder  Gegebenen  ausgedrückt. 
Was  ein  Urteil  ist  und  ob  die  Anerkennungen  nicht  schon  Urteilsakte 
sind  (Brentano),  dies  zu  untersuchen,  wäre  Sache  der  Psychologie  und 
Logik ;  und  so  zeigt  sich  gleich  im  Ansatz  der  „Grundwissenschaft" 
eine  gewisse  Abhängigkeit  von  jenen  Disziplinen.  Auch  das  wird  man 
dem  Autor  nicht  ohne  weiteres  zugeben,  dass  das  Widerspiel  des  Urteils, 
die  Frage,  immer  nur  auf  Bestimmungen  gehe.  Frage  ich:  „Giebt  es 
Marsbewohner?"  oder:  „Giebt  es  eine  Ähnlichkeit  zwischen  Affen  und 
Menschen?",  so  zielt  diese  Frage  nicht  auf  eine  Bestimmung,  sondern  auf 
ein  Sein.  (Nicht  auf  ein  Wirklich-sein,  wie  R.  es  darstellt,  s.  u.)  Und 
die  Beantwortung  dieser  Fragen  wäre  kein  Urteil  im  Sinne  unseres  Autors. 
Wie  wir  noch  sehen  werden,  findet  sich  überhaupt  für  den  Begriff  „Sein" 
kein  Platz  im  Systeme  Rehmkes. 

Das  Gegebensein  des  Gegebenen  ist  dies  Jöq  ^ol  nov  orw  der  Grund- 
wissenschaft. Wo  aber  soll  diese  ihre  Arbeit  beginnen?  Am  zweck- 
mässigsten,  meint  R.,  beim  Anschaulichen.  Was  „anschaulich"  heisst,  wird 
nicht  näher  untersucht,  wohl  weil  eine  solche  Untersuchung  in  die  Psy- 
chologie hineinführen  müsste;  vielmehr  wird  das  Anschauliche  sofort  dem 
Ding  gleichgesetzt.  Was  aber  ist  Ding?  Es  ist  in  jedem  Augenblick 
eine  Einheit,  d.  h.  es  bietet  sich  dem  zergliedernden  Denken  als  eine 
Mehrzahl  von  bestimmten  Gegebenen,  u.  zw.  als  Einheit  von  Grösse, 
Gestalt  und  Ort.  Welche  Methode  ermöglicht  die  Auffindung  dieser 
grundlegenden  Bestimmungen  ?  Stillschweigend  scheint  R.  das  unabhängig 
Veränderliche  als  das  grundlegende  anzusehen.  Denn  auf  einen  Einwand, 
der  bestreiten  möchte,  dass  der  Ort  eine  dem  Dinge  zugehörige  Be- 
stimmtheit sei,  erwidert  er,  Dinge  von  gleicher  Gestalt  und  Grösse  könnten 
noch  immer  inbezug  auf  ihren  Ort  sich  unterscheiden.  Diese  Betrachtungs- 
weise hat  sicher  ihre  Berechtigung.  Umso  auffälliger  ist  es,  dass  R.  sie  nicht 
auch  auf  Grösse  und  Gestalt  angewendet  hat.  Giebt  es  denn  Dinge,  die 
—  zugleich  oder  nacheinander  —  denselben  Ort  einnehmen,  aber  ver- 
schiedene Gestalt  und  Grösse  haben  könnten  ?  Ich  denke :  Nein !  Rehmkes 
Beispiel  für  das  Gegenteil,  das  sich  an  späterer  Stelle  (136  f.)  findet,  be- 
friedigt mich  nicht.  Verändert  ein  zusammengedrückter  Gummiball  nur 
die  Gestalt,  und  nicht  auch  den  Ort?  Niemand  wird  bestreiten  können, 
dass  —  R.s  zweites  Beispiel  —  eine  Seifenblase,  die  ich  weiter  aufblase, 
einen  grösseren,  d.h.  aber  einen  anderen  Raum  einnimmt.  Und  der  Raum 
ist  die  Summe  der  Orte.  Die  Zurückführbarkeit  von  Grösse  und  Gestalt 
auf  Ort  scheint  mir  unzweifelhaft;  die  Gestalt  ist  dabei  als  eine  besondere 
Beziehung  zwischen  den  Örtern  der  Begrenzung  zu  definieren.  Dagegen 
wird  wohl  jeder  in  Rehmkes  Analyse  des  Dinges  die  Qualität  vermissen. 
Hierauf  komme  ich  zurück. 

Wenn  R.  sagt,  dass  Grösse,  Gestalt  und  Ort  im  Dinge  eines  sind, 
so  soll  dies  nicht  heissen,  dass  sie  ihre  Einheit  einem  verknüpfenden  Orte 
verdanken  (110),  vielmehr,  dass  sich  das  Ding  mit  Erfolg  der  zergliedern- 
den Betrachtung  des  Denkens  unterziehen  lässt.  Die  durch  solche  Zer- 
gliederung lierausgestellten  besonderen  Bestimmtheiten,  besondere  Grösse, 
besondere  Gestalt  u.  s.  w.  lassen  sich  noch  zerlegen.    Denn  es  giebt  neben 


Rezensionen  (.Rehmke).  287 

dieser  besondei'en  Gestalt  noch  andere  „Gestalten".  Es  findet  sich  dem- 
nach eine  Gestalt  schlechtweg  in  jeder  besonderen  Gestalt,  die  also  selbst 
eine  Einheit  von  „Gestalt  schlechtweg"  nnd  ihrer  Besonderheit  bildet. 
Dasjenige,  was  keine  Einheit  ist,  sich  also  nicht  zergliedern  lässt,  ist 
Einfaches.  Das  schlechthin  Einfache  ist  als  solches  aus  sich  selber  un- 
bestimmbar, muss  vielmehr  durch  seine  Beziehungen  zu  anderen  bestimmt 
werden. 

Die  Analyse  des  Dinges  in  Grösse,  Gestalt  nnd  Ort  nimmt  nur  auf 
den  Ding  au  genblick  Rücksicht.  Ein  bestimmter  Z  eitp  unkt  kommt 
dem  Dingaugenblick  nicht  zu ;  das  Zugleichgegebensein  mehrerer  Dinge 
bedeutet  nicht  eine  besondere  Bestimmtheit  (106,  395).  Denn  dadurch, 
dass  von  Dingaugenblicken  das  Zugleichseiu  ausgesagt  wird,  ist  keiner  von 
ihnen  zeitlich  bestimmt.  Dies  folgt,  meint  R.,  schon  darai;s,  dass  die  Be- 
hauptung, alles  sei  zugleich,  geradezu  jeder  Zeitbestimmung  den  Boden 
entziehen  würde.  Zeitliche  Bestimmungen  kommen  also  nicht  dem  Ding- 
augenblick, sondern  dem  Ding  zu,  dass  als  eine  Einheit  von  Ding- 
augenblicken zu  begreifen  ist.  Erst  indem  man  das  Ding  in  seinem  Nach- 
einander betrachtet,  hat  man  ein  Einzelwesen  vor,  sich,  während  der  Ding- 
augenblick ein  Allgemeines  ist  (142).  Abstraktionen  aber  kommt  keine 
Zeitbestimmtheit  zu.  Diese  Unterscheidung  löst  alle  Rätsel,  welche  man 
in  die  Veränderung  hineingeheimnisst  hat,  Veränderung  ist  ein  Wechsel 
von  Bestimmtheitsbesonderheiten  im  Ding.  Der  Dingaugenblick  aber  ist 
als  Allgemeines  auch  nicht  veränderlich.  Wenn  man  Veränderung  deshalb 
für  widersprechend  erklärt  hat,  weil  ein  und  dasselbe  Ding  nicht  auch  ein 
anderes  Ding  sein  könne,  so  hat  man  Ding  und  Dingaugenblick  verwechselt. 
Denn :  „das  Ding  verändert  sich"  heisst :  „es  ist  eine  Einheit  verschiedener 
Dingaugenblicke";  die  Veränderung  ist  demnach  in  dem  Dinge.  Dieses 
aber  darf  nicht  mit  irgend  einem  seiner  Dingaugenblicke  gleichgesetzt 
werden. 

Alle  Veränderungen  sind  solche  der  Bestimmtheitsbesonderheit 
u.  zw.  ist  jede  Veränderung  zugleich  V^erlust  und  Gewinn  einer  Besonder- 
heit. Man  kann  demgegenüber  nicht  darauf  verweisen,  ein  bewegtes 
Ding,  das  zur  Ruhe  kommt,  verliere  eine  Besonderheit,  ohne  eine  neue  zu 
gewinnen.  Die  Ruhe  ist  nicht  weniger  eine  Bestimmung,  als  die  Be- 
wegung; beide  jedoch  kommen  nicht  dem  Dingaugenblick,  sondern  der 
Dingeinheit  zu. 

Diese  Dingeinheit  ist  w^iederum  nicht  synthetisch  gewonnen,  sondern 
dem  Augenblicke  gegenüber  früher  gegeben  (190;.  Dazu  wäre  freilich  zu 
bemerken,  dass  jenes  „Zeitding"  durchaus  nicht  so  selbstverständlich  ge- 
geben ist,  wie  R.  es  darstellt.  Dass  sich  ein  Dingaugenblick  vom  nächsten 
in  seinen  sämtlichen  Besonderheiten  unterscheiden  kann  —  R.  führt 
S.  138  als  Beispiel  einen  Schneeklumpen  an,  der  auf  schneebedecktem  Ab- 
hang hinabrollt  imd  dabei  Grösse,  Gestalt  und  Ort  ändert  —  so  ist  nicht 
recht  einzusehen,  woran  sich  die  „Grundwissenschaft"  halten  will,  wenn 
sie  ein  Nacheinander  von  Dingaugenblicken  als  Einheit,  als  Ding  an- 
sprechen soll.  J.  Colin  hat  (Voraussetzungen  und  Ziele  S.  43)  die  Frage 
der  Dingeinheit  untersucht,  hat  aber  dabei  die  zeitliche  Ausdehnung  nicht 
berücksichtigt.  Auch  R.  macht  nicht  klar,  was  im  Nacheinander  als 
ein  Ding  betrachtet  werden  soll,  wenn  man  weder  Zusammenhang  noch 
Stetigkeit  des  Wechsels  noch  etwas  in  der  Veränderung  Beharrendes  an- 
nimmt. 

Nach  der  Untersuchung  des  Dinges  wendet  sich  R.  der  des  Bewusst- 
seins  zu.  Seine  diesbezüglichen  Ansichten  hat  er  schon  vielfach  in  früheren 
Veröffentlichungen  dargelegt.  Er  fasst  die  Seele  als  ein  veränderliches 
Einzelwesen  auf.  Sie  ist  kein  blosses  Vielerlei  seelischer  Tätigkeiten,  kein 
„Bündel"  —  ich  nehme  wahr,  ich  fühle,  ich  denke  heisst  mehr  als 
Wahrnehmen,  Fühlen,  Denken  — ;  die  seelischen  Tätigkeiten  zeigen  sich 
alle  auf  gleiche  Weise  verknüpft  mit  einer  ihre  Einheit  begründenden 
Bestimmtheit.     Die  Sprache,   welche  jene  Einheit   als  „Ich"  bezeichnet, 


288  Rezensionen  (Rehmke). 

hat  für  die  einlieitsstiftende  Bestimmtheit  selbst  keinen  Namen  ansge- 
bildet.  R.  führt  hierfür  den  Terminus  „S  u  b j  e  k  t"  ein.  Während  die 
übrigen  Bestimmtheiten  des  Ich  Einheiten  einer  Besonderheit  und 
eines  Allgemeinen  sind  —  dieses  bestimmte  Denken  enthält  ein  Denken 
schlechtweg,  wie  dieser  Ort  einen  Ort  schlechthin  enthält  — ,  ist  die  Sub- 
jektsbestimmtheit durchaus  einfach.  Dies  zeigt  sich  insbesondere  darin, 
dass  ein  Wechsel  der  Subjektsbestimmtheit  sich  im  Gegebenen  nicht  findet. 
Sie  ist  als  einfache  dem  Ich  unverlierbar,  und  hierin  ist  auch  der  Grund 
dafür  zu  suchen,  dass  sie  nicht  für  sich  bemerkt  und  benannt  worden  ist 
(244).  Doch  nicht  nur  im  individuellen  Seelenleben  ändert  sich  das  „Sub- 
jekt" nicht,  es  ist  überhaupt  für  alle  Seelen  dasselbe.  Würde  es  von 
Seele  zu  Seele  ein  anderes  sein,  so  wäre  es  nicht  einfach,  vielmehr  aus 
dem  Allgemeinen  „Subjekt  überhaupt"  und  einer  von  Individuum  zu  Indi- 
viduum wechselnden  Bestimmtheit  zusammengesetzt  (312).  Referenten 
will  es  scheinen,  dass  sich  R.  durch  diese  Ausführungen  der  Möglichkeit 
beraubt,  das  Bewusstsein  als  Einzelwesen,  als  „Einziges"  zu  fassen.  Denn 
wenn  „Ich"  nichts  anderes  bedeutet  als  eine  durch  das  —  allen  Individuen 
gemeinsame  —  „Subjekt"  gestiftete  Einheit  von  Seelenbestimmtheiten,  so 
sind  zwei  Seelen  denkbar,  die  einander  vollständig  gleichen.  Wo 
bleibt  dann  das  principium  identitatis  indiscernibilium '?  R.  sah  wohl  diese 
Schwierigkeit  und  will  sie  S.  320  f.   damit  lösen,  dass  er  —  wie  Uphues 

—  die  Seele  durch  den  Leib  individualisiert  sein  lässt,  mit  dem  sie  sich 
in  Wirkenseinheit  findet.  AUein  wenn  die  Seele  für  sich  genommen 
etwas  Allgemeines  ist,  dann  ist  sie  unveränderlich  und  es  ist  nicht  zu 
verstehen,  wie  sie  vom  Leibe  Wirkungen  erfahren  kann  (vgl.  S.  392). 

Dies  führt  uns  zu  Rehmkes  Untersuchungen  über  die  Kausalität. 
Das  neue  an  diesen  Untersuchungen  ist  die  Auffassung  der  Wirkenseinheit 
als  einer  d  r  e  i  gliederigen.  Es  wird  nämlich  auf  Seite  der  Ursache  neben 
der  wirkenden  Bedingung  eine  „grundlegende"  unterschieden,  worunter 
jenes  Gegebene  zu  verstehen  ist,  auf  das  gewirkt  wird  und  aus  dem 
durch  Veränderung  die  Wirkung  hervorgeht.  Erfährt  die  wirkende  Be- 
dingung zugleich  von  der  grundlegenden  her  eine  Einwirkung,  so  sind 
beide  bezw.  grundlegend  und  wirkend:  Wechselwirkung.  Man  sieht,  dass 
R.  nur  die  Veränderung  als  Wirkung  in  Betracht  zieht  (wie  auch 
Kant  in  den  Analogien  der  Erfahrung).  Dagegen  Schöpfung  und  Ver- 
nichtung „ist  keine  Wirkung  in  unserem  Sinne"  (289).  Referent  will 
nicht  um  Worte  streiten.  Immerhin  soll  gesagt  sein,  dass  mit  der  defini- 
torischen  Feststellung  „Wirkung  =  notwendiges  Anderssein  (Veränder- 
ung)" noch  nichts  darüber  entschieden  ist,  ob  nicht  ein  Gegebenes  mit 
Notwendigkeit  zu  sein  beginnen  könnte  oder  ob  in  diesem  Begriff  der 
Schöpfung  ein  Widerspruch  liegt.  Diese  Untersuchung  würde  gar  wohl 
in  den  Rahmen  der  „Grundwissenschaft"  passen. 

Auf  die  Wirkenseinheit  stützt  nun  R.  die  bedeutsame  Unterscheidung 
des  Wirklichen  und  Nichtwirklichen  innerhalb  des  Gegebenen.  Was  zu 
einer  Wirkenseinheit  gehört,  ist  wirklich  (300).  Nun  hätte  man  er- 
wartet, dass  R.,  bevor  er  diese  Einteilung  des  Gegebenen  einführt,  die 
Gegenstände  unseres  Bewusstseins  (das  „Gegebene")  erst  einmal  daraufhin 
untersuchen  wird,  ob  sie  und  wenn  sie  sind  und  nicht  sind.  Merk- 
würdigerweise ignoriert  R.  das  Sein  vollständig.  Soll  das  Seiende  mit 
dem  Wirklichen,  das  Nichtseiende  mit  dem  Nichtwirklichen  zusammen- 
fallen ?  Marty  hat  (Untersuch,  z.  Grundleg.  der  allg.  Gramm,  u.  Sprach- 
philosophie S.  316—360)  ausführlich  einen  Versuch  besprochen,  diese  Iden- 
tifizierung durchzuführen,  und  das  s.  g.  Nichtreale  als  nichtseiend,  fiktiv 
hinzustellen.  Allein  es  stellte  sich  die  Aussichtslosigkeit  eines  solchen 
Versuches  heraus.    R.   setzt   sich  mit  Marty  nicht  auseinander.    Sicher  ist 

—  wie  immer  die  Entscheidung  dieser  Frage  sich  gestalten  mag  — ,  dass 
das  Wirkliche  vom  Seienden  wenigstens  begrifflich  geschieden  werden 
muss.  Es  heisst  etwas  anderes  zu  sein,  d.  h.  mit  Recht  bejaht  werden 
zu  können,  etwas  anderes   zu  wirken.     Die  Verkennung  dieser  Tatsache 


Rezensionen  (Rehmke).  289 

ist  dadurch  begründet,  dass,  wie  oben  schon  bemerkt,  das  einfache,  be- 
jahende Urteil  nicht  vom  bestimmenden  (Doppel-)Urteil  unterschieden 
wird.  Sie  rächt  sich  in  vielfacher  Weise.  Zunächst  darin,  dass  R.  die 
Frage  nach  der  Existenz  von  Wirklichem  für  massig  erklärt  (691).  Denn 
entweder  bedeutet  jene  Frage  (wenn  „existieren"  soviel  bedeutet  als  „ge- 
geben sein"):  Ist  uns  Wirkliches  bewusst?  Dann  erledigt  sie  sich  mit 
dem  Hinweis  darauf,  dass  wir  von  Wirklichem  sprechen.  Oder  soll 
..existieren"  soviel  heissen  wie  ,. wirklich  sein?"  Dann  hätte  jene  Frage 
den  Sinn :  „Ist  das  Wirkliche  wirklich  ?  —  ein  leerer  Fragesatz.  Das  aber 
neben  diesen  beiden  Fragen  die  sehr  sinnvolle  und  gar  nicht  apriori  zu 
beantwortende  Frage  auftaucht,  ob  Wirkliches  existiert  (d.  h.  ob  wir  ein 
solches  mit  Recht  bejahen  [und  nicht  bloss  vorstellen]  können),  das 
übersielit  R.  vollständig. 

Ebensowenig  weiss  R.  mit  der  Descartesschen  Grundlegung  der 
Erfahrung  „cogito,  ergo  sum"  etwas  anzufangen  (525).  Denn  „sum"  über- 
setzt er  mit  „ich  bin  wirklich"  und  nicht  hierin  —  da  er  „wirklich"  mit 
Recht  als  besondere  Bestimmung  ansieht  —  ein  prädikatives  Urteil,  das 
nicht  fraglos  hingenommen  werden  dürfe,  das  ja  jede  Bestimmung  eines 
Gegebenen  unter  Frage  gestellt  werden  muss.  Aber  „ich  bin"  heisst  zwar 
mehr  als  „ich  bin  Gegebenes",  aber  doch  nicht  „ich  bin  Wirkliches",  und 
ist,  wie  schon  Kant  gezeigt  hat,  kein  prädikatives  Urteil.  Gegeben  sein. 
Sein,  Wirkliches  sein  —  sind  drei  verschiedene  Begriffe. 

Auf  die  Untersuchung  der  Wirkenseinheiten  folgt  die  der  einfachen 
und  zusammengesetzten  Einzelwesen.  Die  Dinge  haben  die  merkwürdige 
Eigenschaft,  dass  durch  Wechselwirkung  zweier  unter  ihnen  ein  neues 
dinghaftes  Einzelwesen,  d.  h.  wiederum  etwas  auftritt,  dass  besondere 
Grösse,  Gestalt  und  Art  hat.  Daraus  soll  nun  die  besondere  Aufgabe  der 
Naturwissenschaft  resultieren,  die  zusammengesetzten  Dinge  zu  zergliedern 
und  zu  entscheiden,  ob  es  letzte  einfache  Dinge  giebt.  Diese  Aufgabe 
fällt  nicht  notwendig  mit  jener  zusammen,  die  Grenze  der  -wirklichen 
Teilbarkeit  der  Dinge  zu  bestimmen.  Denn  es  könnte  sein,  dass  die 
kleinsten  wirklichen  Dinge,  die  Atome,  sich  wohl  nicht  weiter  teilen,  aber 
zergliedern,  d.  h.  als  Wirkenseinheiten  einfacherer  Dinge  (z.  B.  Elektronen) 
nachweisen  lassen  (347). 

Also  nach  R.  lässt  sich  ein  Ding  aus  mehreren  nur  dann  zusammen- 
setzen, wenn  diese  mehrere  Dinge  in  eine  Wechselwirkenseinheit  eingehen. 
Danach  also  wäre  z.  B.  eine  aus  zwei  aufeinandergelegten  Halbkugeln 
bestehende  Messingkugel  kein  Ding,  denn  ilire  zwei  Hälften  stehen  nicht 
in  Wechselwirkenseinheit.  Und  trotzdem  ^\ärd  man  doch  nicht  behaupten 
wollen,  jene  Kugel  habe  nicht  einen  eigenen  Ort,  eigene  Gestalt  und 
Grösse.  Hat  sie  aber  diese  Bestimmtheiten,  so  ist  sie  nach  Rehmkes  erster 
Dingdefinition  ein  Ding.  Dass  R.  diesen  Widerspruch  nicht  aufklärt,  ist 
um  so  bedauerlicher,  als  er  aus  der  obigen  Behauptung  über  die  Zusammen- 
setzung der  Dinge  wichtige  Folgerungen  zieht.  Er  untersucht  nämlicn 
(351  ff.)  die  Frage,  ob  die  Gesamtheit  der  Dinge,  das  physische  Welt- 
ganze, Ort,  Grösse  und  Gestalt  habe.  Und  den  Schwierigkeiten  dieser 
Frage  glaubt  er  nun  dadurch  zu  entgehen,  dass  er  bestreitet,  dass  jene 
Gesamtheit  ein  Ding  ist.  Die  „Dingwelt"  ist  kein  „Weltding".  Denn 
wäre  sie  es,  so  müssten  nach  den  obigen  Ausführungen  ihre  sämtlichen 
Teile  in  Wechselwirkung  stehen.  Dies  aber  stellt  R.  in  Abrede,  u.  zw. 
mit  dem  triftigen  Grunde,  dass  es  in  der  Wechselwirkungseinheit  nur  un- 
mittelbare Wirkung  giebt,  während  die  Welt  auch  mittelbares  Wirken 
zeigt.  Sie  ist  eine  Verkettung  von  Wirkenseinheiten,  nicht  selbst  eine 
Wirkenseinheit  (360).  So  richtig  mir  diese  Bemerkung  zu  sein  scheint, 
so  wenig  kann  ich  Rehmkes  Ansicht  beitreten,  dass  man  auf  diesem 
Wege  den  das  Weltganze  betreffenden  Antinomien  entgehen  kann.  Und 
noch  weniger  kann  ich  einem  andern  Argumente  beistimmen,  das  R.  dafür 
vorbringt,  dass  dem  Weltganzen  keine  Dingbestimmtheiten  zukommen : 
denn  es  müssten  ihm,   "s^ie  jedem  anderen  Dinge,   besondere  Bestimmt- 


290  Rezensionen  (Rehmke). 

heiten  zukommen.  Jedem  Diug  muss  also,  meint  R.,  ein  anderes  als 
anderes  gegenübergestellt  werden  können;  eben  deshalb  kann  die  Ge- 
samtheit aller  Dinge  kein  Ding  sein  (354),  „Besonderer  Ort  ist  nur  ge- 
geben, wenn  er  von  einem  anderen  Orte  in  seiner  Besonderheit  unter- 
schieden ist,  und  dieser  setzt  natürlich  wiederum  ein  anderes  Ding  voraus, 
dessen  Bestimmtheit  er  sein  muss."  Mit  dieser  Beweisführung  stellt  aber 
R.  den  Ort  als  eine  relative  Bestimmung  hin;  dann  aber  war  es  von 
vornherein  verfehlt,   ihn   zu  den  absoluten  Dingbestimmtheiten  zu  zählen. 

Die  Auffassung  der  Welt  als  einer  Verkettung  der  Wirkenseinlieiten 
ist  nur  dadurch  möglich,  dass  die  Welt  ein  Nacheinander  ist.  In  diesem 
Nacheinander  unterscheidet  die  „Grundwissenschaft"  das  Frühere  und  das 
Spätere.  Dies  ist  der  einzige  im  Nacheinander  des  Gegebenen  begründete 
Gegensatz.  Es  ist  verfehlt,  diesen  Gegensatz  durch  die  Dreiteilung  in 
Gegenwart,  Vergangenheit  und  Zukunft  zu  ersetzen  (396).  Denn,  abge- 
sehen davon,  dass  es  nur  aus  praktischen  Rücksichten  geboten  sein  kann, 
in  dieser  Weise  auf  die  Zeit  des  Sprechenden  Rücksicht  zu  nehmen  — 
der  ja  doch  der  Grundwissenschaft  nur  Gegebenes  unter  Gegebenem  be- 
deutet —  ist  das  Gegenwärtige  als  solches  zeitlos.  Auf  der  Messer- 
schneide des  Zeitlosen  lässt  sich  nicht  einmal  vom  Unterschiede  des  Wirk- 
lichen und  Nichtwirklichen  Rechenschaft  geben,  denn  alles  Wirken  ge- 
schieht in  der  Zeit.  Das  gemeinhin  als  „gegenwärtig"  bezeichnete  ist 
blosse  Abstraktion.  (Diese  bedeutsame  Feststellung  ist,  nebenbei  gesagt, 
von  grosser  Wichtigkeit  für  die  Grundlegung  der  Erfahrung.  Einiges 
hierzu  siehe  in  meinen  „Untersuchungen  zum  Problem  der  Evidenz" 
(1908)  S.  87.) 

Das  Nacheinander  der  Welt  ist  nun  auch  Voraussetzung  für  den 
Unterschied  des  Vergänglichen,  d.  h.  desjenigen,  das  sich  nicht  in  jeder 
besonderen  Zeit  findet,  vom  Unvergänglichen.  Das  Vergehen  soll  mit  der 
Veränderung  nicht  verwechselt  werden.  Das  Einzelwesen  tauscht,  wenn 
es  sich  ändert,,,  eine  Bestimmtheitsbesonderlieit  gegen  eine  andere  ein. 
Wäre  nun  der  Übergang  von  Wirklichkeit  zu  Un Wirklichkeit  —  R.  hätte 
richtiger  sagen  sollen :  vom  Sein  zum  Nichtsein  —  eine  Veränderung,  .so 
wären  Wirklichsein  und  Nichtwirklichsein  zwei  Bestimmtheiten,  die  in 
einem  Allgemeinen  übereinstimmen  müssten.  Was  aber  soll  jenes  Allge- 
meine sein? 

Entstehen  und  vergehen  kann  nun  nach  R.  bloss  die  Wirkenseinheit. 
Das  Bewusstsein  und  das  einfache  Ding  sind  unvergänglich.  Wobei  ich 
freilich  bemerken  muss,  dass  hier  „Unvergänglichkeit"  nicht  im  gewöhn- 
lichen Sinne  der  Erhaltung  eines  Individuums  verstanden  werden  darf. 
Denn  nach  des  Autors  oben  auseinandergesetzter  Ansicht  ist  die  in  der 
Seelenveränderung  allein  sich  erhaltende  Bestimmtheit  „Subjekt"  nichts 
für  die  einzelne  Seele  charakteristisches.  Und  die  „Unvergänglichkeit" 
des  Dinges  verhindert  nicht,  dass  es  seine  sämtlichen  Bestimmts- 
besonderheiten  ändert,  sodass  das  Ding  in  einem  späteren  Augenblick 
seines  Daseins  nicht  den  geringsten  Anhaltspunkt  dafür  bietet,  es  gegen- 
über einem  früheren  als  „dasselbe"  wiederzuerkennen. 

Der  „grundlegende  Teil"  schliesst  mit  einer  Nutzanwendung  auf 
den  Menschen.  Er  ist  wohl  kein  Einzelwesen,  sondern  eine  Wirkensein- 
heit aus  Leib  und  Seele.  Aber  doch  jedenfalls  eine  Einheit  und  ein 
Einziges. 

An  diese  systematischen  Ausführungen  schliessen  sich  nun  metho- 
dische. R.  verteidigt  seine  „Grundwissenschaft"  gegen  die  Versuche,  die 
Erkenntnistheorie  an  ihre  Stelle  zu  setzen.  Er  unterscheidet  psycholo- 
gische, logische  und  psychologisch-logische  Erkenntnistheorien,  welche 
Unterscheidung  mit  der  von  Empirismus,  Rationalismus  und  Kritizismus 
gleichgesetzt  wird.  Gegenüber  so  mancher  Erkenntnistheorie  ist  nun  R. 
sicherlich  dadurch  im  Vorteil,  dass  er  die  Bildertheorie  des  Be- 
wusstsein s  bekämpft.  Die  Einschiebung  eines  Mittlers  zwischen 
Bewusstsein   und   Objekt  ist   in   den  letzten  Jahren  von  mehreren  Seiten 


Rezensionen  (Relimke).  291 

mit  Recht  bekämpft  worden.  In  der  Tat  ist  sie  die  Quelle  zahlreicher 
Scheinprobleme.  (Wie  kann  das  Bewusstsein  über  sich  hinausreicheu  ? 
u.  s.  w.  u.  s.  w.)  Wäre  es  richtig,  dass  das  Nicht-Ich,  die  Aussenwelt,  in 
keiner  Weise  Besitz  unseres  Bewusstseins  werden  könnte,  und  dass  wir 
ewig  im  Gespinnst  unserer  Subjektivität  verharren,  so  wäre  die  Rede  vom 
„Andern",  das  auf  unser  Bewusstsein  wirkt,  nichts  als  ein  W^ortemachen. 
Etwas  anderes  freilich  ist  die  Frage,  ob  die  Aussenwelt  so  ist,  wie  sie 
sich  unserer  Wahrnehmung  bietet.  Ist  die  äussere  Wahrnehmung 
trügerisch  ?  R.  bestreitet  das,  und  ich  halte  seine  Beweisfülirung  für  sehr 
beachtenswert,  auch  wenn  ich  ihr  Ergebnis  nicht  für  richtig  halte.  Zu- 
nächst zeigt  R.,  dass  die  üblichen  Beweise  für  jene  Trüglichkeit  auf  einer 
Verwechslung  des  Erkennenden  mit  seinem  Leibe  beruhen  (452).  Wenn 
dem  einen  sü.ss  ist,  was  dem  andern  bitter,  dem  einen  kalt,  was  dem 
andern  warm,  so  beruht  dies  auf  einer  Verschiedenheit  ihrer  leiblichen 
Beschaffenheit.  AVer  darum  behauptet,  es  müsse  von  den  beiden  Bestim- 
mungen „bitter"  und  ..süss"  eine  imd  n  u  r  eine  zutreffen,  die  andere 
nicht,  übersieht,  dass  das  äussere  Ding  nicht  unmittelbar,  sondern  durch 
Vermittlung  unseres  Körpers  auf  die  Seele  wirkt;  es  kann  also  trotz 
Gleichheit  des  auf  den  Körper  einwirkenden  äus'seren  Dinges  das  letzte, 
immittelbar  auf  die  Seele  wirkende  Körperliche  verschieden  sein, 
sodass  beide  Bestimmungen  zu  Recht  bestehen  könnten.  Allerdings  ist 
dies  eine  blosse  Möglichkeit. 

R,  zieht  nun  aus  der  richtigen  Erkenntnis,  dass  die  Sinnes-Quali- 
täten  uns  nur  durch  Vermittlung  unseres  Leibes  zum  Bewusstsein  kommen, 
den  falschen  Schluss,  dass  die  Dinge  überhaupt  eigenschaftslos  sind  und 
nur  die  „Bestimmungen"  (Grösse,  Gestalt,  Ort)  aufzuweisen  haben;  Eigen- 
schaften sollen  ihnen  nur  im  Wirkenszusammenhange  mit  anderen  Dingen, 
speziell  mit  unserem  Leibe  zukommen ;  in  diesem  Zusammenhange  sollen 
sie  ihnen  aber  wirklich  zukommen,  und  man  habe,  so  verstanden,  kein 
Recht,  den  Dingen  Farben,  Töne  u.  s,  w.  abzusprechen.  Dank  der  Ver- 
mittelung  des  Leibes  besitzt  also  das  Bewusstsein  das  Ding  selbst,  wie  es 
ist  ((3ö8).  Mir  scheint  diese  Beweisführung  niclit  zutreffend.  Abgesehen 
davon,  dass  es  nicht  zu  verstehen  ist,  wie  durch  Einwirkung  von  bloss 
Räumlichem  (Ding)  auf  Räumliches  (Leib)  jene  metabasis  eis  allo  genos 
stattfinden  soll,  die  aus  geometrischen  Bestimmtheiten  Eigenschaften  er- 
zeugen soll,  erbringt  R.  gar  keinen  Beweis  dafür,  dass  jene  Eigenschaften 
gerade  dem  äusseren  Dinge  zugesprochen  werden  müssen.  Warum  nicht 
ebensogut  dem  Leibe  oder  einem  Teil  von  ihm?  Wenn  ein  Ding  aj  auf 
den  Leib  wirkt  und  die  dadurch  in  diesem  vor  sich  gehenden  Änderungen 
bj — >h.,,  Ci — >-C2,  dl — >-d.2  . . .  schliesslich  im  Bewusstsein  eine  Veränderung 
Vi — >-v.2  hervorrufen,  infolge  deren  das  Bewusstsein  z.  B.  blau  sieht,  welches 
Recht  hat  man,  dieses  Blau  gerade  dem  ai  und  nicht  dem  bj,  Ci  .  .  . 
zuzusprechen?  Dies  ist  es,  was  uns  hindert,  die  äussere  Wahrnehmung 
für  richtig  zu  halten:  wir  haben  kein  Recht,  einen  solchen  Parallelismus 
der  L^rsache  und  ihrer  —  noch  dazu  mittelbaren  —  Wirkung  anzunehmen : 
behauptet  ihn  jemand,  so  fällt  ihm  die  Beweislast  zu. 

Nun  aber  wendet  R.  ein :  wenn  man  der  Aussenwelt  jene  Qualitäten 
nehme,  die  wir  kennen,  so  bleibe  nur  das  leere  Wort  „Aussenwelt  als 
einwirkendes  Anderes",  man  ende  beim  Solipsismus  (466).  Denn  „Ein- 
wirkendes Anderes"  sei  „ohne  die  Unterlage  eines  bestimmten  Gegebenen" 
sinnlos.  Hier  hat  nun  R.  im  Handumdrehen  das  Gegebene  mit  dem 
Wahrgenommenen  identifiziert  und  will  jetzt  dasjenige,  was  bloss  ge- 
dacht wird,  u.  zw.  als  Ursache  unserer  Empfindungen  gedacht  wird, 
nicht  mehr  als  Gegenstand  gelten  lassen.  Das  Wort  für  die  begrifflich 
gedachte  L'rsache  unserer  Empfindungen  soU  bedeutungslos  und  leer  sein, 
obzwar  doch  die  Worte  nur  dem  begrifflichen  Denken  ihre  Bedeutung 
verdanken  und  ohne  ein  solches  eine  Sprache  nicht  existieren  könnte. 
R.  übersieht  völlig,  dass  die  Dinge,  auch  wenn  die  Wahrnehmung  sie 
nicht   unmittelbar   „hat",    dennoch   in   der  wissenschaftlichen  Bearbeitung 

KttDtstudien    XV.  19 


^92  Rezensionen  (Uphues). 

unserer  Wahrnehmung  mehr  oder  weniger  unser  „Besitz"  werden  können. 
Freilich  hat  die  Erkenntnistheorie  schwer  gesündigt,  als  sie  zu  jedem 
Ding  ein  Bild  im  Bewusstsein  fingierte,  und  nun  glauben  machen  wollte, 
die  Seele  reiche,  von  diesen  Bildern  umgeben,  nicht  über  sie  zu  den 
Dingen  hinaus ;  allein  die  gegenteilige  Ansicht  würde  sich  selbst  den  Weg 
versperren,  würde  sie  nur  das  wahrnehmende  Anschauen  als  Weg  zum 
„Besitz"  der  Gegenstände  gelten  lassen.  Auch  begrifflich  denkend  be- 
sitzen wir  —  die  Richtigkeit  unserer  Denkakte  vorausgesetzt  —  die 
Gegenstände  selbst.  Ja,  einzig  durch  denkende  Bearbeitung  der  Erfahrung 
kommen  wir  über  die  Grenzen  des  Solipsismus  hinaus,  natülich  nur,  wenn 
wir  uns  mit  der  grösseren  oder  geringeren  Wahrscheinlichkeit  begnügen, 
welche  die  Naturwissenschaft  bieten  kann. 

Soviel  aber  wird  man  Rehmkes  Kritik  zugeben  müssen:  alle  „Er- 
kenntnisromane", die  ihren  Stoff  aus  der  Legende  schöpfen,  die  Welt  sei, 
weil  vorgestellt,  auch  schon  abhängig  vom  Bewusstsein  und  die  Gegen- 
stände für  sich  könnten  nicht  mit  den  Gegenständen  unseres  Bewusstseins 
identisch  sein  —  auf  falscher  Fährte  sind,  „die  Welt  ist  meine  Vorstellung", 
dies  ist  ein  Beziehungs-,  nicht  ein  einordnendes  Urteil.  „Vorgestellt"  ist 
hier  determinierendes,  nicht  modifizierendes  Prädikat,  hat  also  einen  ganz 
anderen  Sinn  als  in  der  Verbindung  „bloss  vorgestellt".  Damit  ist  eine 
ganze  Anzahl  von  Scheinproblemen  aus  der  Welt  geschafft.  Die  Tatsache 
des  Vorgestelltseins  allein  begründet  noch  nicht  die  Unwirklichkeit. 
Vielmehr  ist  die  Scheidung  der  Bewusstseinsobjekte  in  seiende  und  nicht- 
seiende  Aufgabe  der  Fachwissenschaften, 

Das  Buch  zeigt  die  Vorzüge  der  früheren  Veröffentlichungen  Rehmkes : 
Formell  ein  ausgezeichnetes,  kerniges  Deutsch,  inhaltlich  scharfe  und  klare 
Unterscheidungen  und  eine  Präzision  der  Begriffe,  die  in  unserer  philo- 
sophischen Literatur  nur  allzuselten  ist. 

Prag.  Hugo  Bergmann. 

Uphues,  Goswin.  Erkenntniskritische  Logik.  Leitfaden  für 
Vorlesungen.    Halle  a.  S.,  Niemeyer,  1909.    (VHI  u.  151  S.) 

Nach  der  „Erkenntniskritischen  Psychologie"  und  der  „Geschichte 
der  Philosophie  als  Erkenntniskritik"  hat  der  bekannte  Verfasser  nunmehr 
auch  eine  „Logik"  als  Leitfaden  für  Vorlesungen  erscheinen  lassen. 
„Gegenstand  der  Logik  ist  nur  das  Denken,  das  als  Mittel  zum  Zweck 
des  Erkennens  dient",  es  müssen  also  die  logischen  Untersuchungen  in 
erster  Linie  die  Eigentümlichkeiten  der  Erkenntnisgegenstände  berück- 
sichtigen. Aristoteles  hat  vom  Wollen  gesagt,  es  habe  mit  dem  zu  tun, 
was  so  ist  und  auch  anders  sein  kann,  vom  Erkennen  dagegen,  es  handle 
von  dem,  was  so  ist,  wie  es  ist.  In  diesem  Sinne  meint  U.  den  Gegen- 
stand des  Erkennens  als  das  Nichtandersseinkönnende  definieren  zu  sollen. 
Diese  Definition  legt  freilich  die  Deutung  nahe,  all  unser  Erkennen  sei 
apodiktischen  Charakters.  Doch  ist  dies  offenbar  nicht  die  Meinung  des 
Autors.  Denn  S.  24  ff.  betont  er,  bei  allen  Urteilen  der  Kenntnisnahme, 
des  blossen  Kennenlernens  und  weiters  bei  allen  im  Gebiete  des  Em- 
pfindens spielenden  Kenntnisvorgängen,  wie  sie  auch  das  Tier  hat,  sei 
von  einem  Bewusstsein  der  Notwendigkeit  keine  Rede.  Mit  dem  „Nicht- 
andersseinkönnen", das  den  Erkenntnisgegenstand  auszeichnet,  dürfte  also 
nichts  anderes  gemeint  sein  als  die  Allgemeingültigkeit  für  alle  Denkenden. 
Auf  sie  als  wichtigste  Charakteristik  des  Erkenntnisgegenstandes  legt  U. 
auch  das  grösste  Gewicht.  Wenn  er  bei  dieser  Stellungnahme  doch  öfters 
erklärt,  seine  Philosophie  sei  an  Kant  orientiert,  so  wird  hieraus  klar, 
dass  er  jede  subjektivistische  Interpretation  Kants  ablehnt.  Kant  ist  ihm 
neben  Piato  der  grösste  Philosoph  (S.  14)  und  das  Hauptverdienst  beider 
Forscher  sieht  U.  in  ihrer  Methode:  der  analytischen,  bezw.  transscenden- 
talen.  Wenn  es  sich  nämlich  darum  handelt  zu  entscheiden,  was  wahr 
ist,  dann  sei  es  unzureichend,  die  Evidenz  als  Kriterium  heranzuziehen. 
Denn  eine  individuelle,  subjektive  Tatsache  könne  nicht  Rechtfertigungs- 
grund des  Erkennens  sein  (S.  44  ff.).   Auch  scheint  nach  U.  die  Tatsache,  dass 


Rezensionen  (Uphues).  293 

es  eine  vermeintliche  Evidenz  neben  der  wirklichen  giebt,  eine  In- 
stanz ^egen  die  Proklamierung  der  letzteren  als  letzten  Kriteriums  der 
Erkenntnis  abzugeben. i)  Hier  soll  nun  die  transscendentale  Methode  an 
die  Stelle  der  Evidenz  treten:  Es  sind  die  Urteile  aufzusuchen,  ohne 
welche  eine  Erkenntnis  unmöglich  ist,  und  die  Wahrheit  dieser  Urteile 
ohne  Beweis  anzunehmen  (S.  14  ff.,  47  u.  s.  w.).  Leider  übergeht  U.  den 
gewichtigsten  Einwand,  den  man  gegen  die  analytische  Methode  als  die 
alleinherrschende  vorbringen  muss;  dass  sie  für  die  Richtigkeit  aposte- 
riorischer Urteile  nicht  aufzukommen  vermag. 

Alle  Urteile  nun,  welche  Beziehung  auf  Gegenstände  haben,  nennt 
U.  sj-nt befische.  Er  stützt  sich  hierbei  auf  eine  Äusserung  Kants  in 
den  von  B.  Erdmann  herausgegebenen  Reflexionen.  Die  Konsequenz 
dieser  Auffa.ssung  ist  aber,  dass  U.  alle  Urteile  für  synthetisch  erklären 
muss,  auch  die  analytischen.  Dies  geschieht  auch  ausdrücklich  S.  39,  wo 
denn  auch  z.  B.  das  Gesetz  des  Widerspruchs  als  synthetisches  Urteil 
angesprochen  wird.  Mag  nun  schon  diese  Änderung  der  üblichen  Termi- 
nologie der  gegenseitigen  Verständigung  nicht  gerade  zuträglich  sein,  so 
ist  es  auch  sachlich  zu  bedauern,  dass  der  Verfasser  die  Einteilung  der 
Urteile,  wie  sie  Kant  in  der  ..Kritik"  durch  die  Gegenüberstellung  von 
synthetisch-analytisch  zum  Ausdruck  brachte,  nicht  —  auch  nicht  in 
anderer  Terminologie  —  in  seine  Logik  übernommen  hat.  Denn  dadurch 
entsteht  die  Gefahr,  dass  der  Terminus  „synthetisch"  wieder  in  der  üb- 
lichen Bedeutung  gebraucht  wird.  In  der  tat  führt  z.B.  Uphues,  nachdem 
er  S.  39  den  ,,synthetischen"  Charakter  aller  Urteile  betont  hat,  S.  76  ff. 
noch  den  ausführlichen  Beweis,  dass  die  mathematischen  Urteile 
synthetisch  sind  —  nun  aber  im  Sinne  der  „Kritik  der  reinen  Vernunft". 

Im  übrigen  nimmt  U.  die  üblichen  Urteilsklassifikationen  an.  Nur 
der  qualitativen  Einteilung  gegenüber  wird  bemerkt,  dass  das  verneinende 
Urteil  dem  bejahenden  nicht  neben-,  sondern  untergeordnet  ist,  weil  es 
immer  den  Versuch  oder  Vollzug  des  entsprechenden  bejahenden  Urteils 
voraussetzt:  „A  ist  nicht"  heisst:  „Es  ist  falsch,  dass  A  ist".  Demnach 
würde,  wenn  ich  recht  verstehe,  die  Fällung  eines  negativen  Urteils  vor- 
aussetzen, dass  der  Urteilende  bereits  den  Begriff  des  Irrtums,  der  Falsch- 
heit eines  Urteils  anderswoher  gewonnen  hat.  Aber  woher?  Muss  man 
nicht,  um  zur  Erkenntnis  zu  kommen,  das  eigene  Urteil  sei  falsch  gewesen, 
erkannt  haben,  dass  die  Sache  sich  anders  verhält,  als  erwartet  wurde? 
Und  steckt  in  diesem  ..Anders"  nicht  schon  das  „Nein"  ?  Auf  alle  diese 
Einwände  kann  der  Autor  bei  der  Knappheit  seines  Buches  leider  nicht 
eingehen. 

Eine  Kritik  der  herkömmlichen  Schlusslehre  schliesst  sich  an  die 
das  Urteil  betreffenden  Partien.  Riehls  „Beiträge  zur  Logik"  werden 
mehrfach  berücksichtigt,  Brentano-Hillebrands  Schlusstheorie  referiert. 
Die  aristotelische  Auffassung,  nach  welcher  der  nervus  probandi  in  der 
Identität  des  Mittelbegriffes  liegt,  wird  ersetzt  durch  eine  Regel,  wonach 
die  Kraft  des  Schlusses  „in  der  Identität  des  Objektes,  das  durch  den 
Subji-ktsbegriff  bezeichnet  ward",  gelegen  ist.  Die  Einteilung  der  Schlüsse 
unterscheidet  1.  solche  aus  begrifflich  allgemeinen  Prämissen,  2.  aus  be- 
grifflich allgemeinen  Obersätzen  und  Tatsachenurteilen,  3.  aus  blossen 
Tatsachenurteilen. 

Die  spezielle  Logik  untersucht  die  einzelnen  Wissensgebiete. 
Wissenschaften  werden  als  berechtigt  nachgewiesen  dadui'ch,  „dass  wir  in 
ihnen  synthetische  Urteile  a  priori  ausfindig  machen,  die  sie  beherrschen 
und  gestalten".    Es  gilt  also  —  da  nach  U.  alle  Urteile  synthetisch  sind 

1)  Uphues  meint  irrtümlich,  dass  Marty  die  Tatsache  der  Evidenz- 
täuschungen bestreitet.  Ebenso  wird  —  um  dies  gleich  hier  anzufügen  — 
S.  60,  63  und  an  a.  O.  Marty  irrtümlich  die  Ansicht  zugeschrieben,  dass 
die  s.  g.  „allgemein  bejihenden",  in  Wahrheit  negativen  Urteile  wie 
„Alle  Menschen  sind  sterblich"  bloss  Geltung  haben,  wenn  entsprechende 
Einzelgegenstände  (hier  also:  Menschen)  existieren. 

19* 


294  Rezensionen  (del  Vecchio). 

—  die  apriorischen  Bestandteile  jeder  Wissenschaft  herauszuschälen.  U. 
beginnt  mit  der  Mathematik;  die  Erörterung  der  Geometrie  führt  zur 
Raum-  und  Zeitlehre.  U.  schliesst  sich  hier  an  Kant  an,  mit  dem  Zusatz, 
dass  der  anschauliche  Raum  und  die  anschauliche  Zeit,  die  Kant  zunächst 
im  Auge  hatte,  nur  Besonderungen  eines  allgemeinen  Raum-  und 
Zeitgesetzes  sind.  Dieses  Gesetz  ist  in  seiner  Allgemeinheit  nicht  formu- 
lierbar (und  es  bleibt  dem  Leser  auch  etwas  dunkel,  was  es  sein  soll). 
U.  bestimmt  es  näher  als  dasjenige,  was  das  Neben-  bezw.  Nacheinander 
ebenso  wie  alle  Gültigkeit  der  mathematischen  Sätze  erst  ermöglicht. 
Das  Raumgesetz  ist  das  Individuationsprinzip  und  zugleich  die  Möglicli- 
keitsbedingung  und  Grund  der  Materialität  (S.  87).  Materie  und  Substanz 
werden  identifiziert  und  dem  Ding  an  sich  gegenübergestellt. 

Nun  wendet  sich  U.  der  Logik  anderer  Wissenschaften  zu.  Es 
werden  die  empirischen  Elemente  der  Naturwissenschaft  den  apriorischen 
gegenüber  abgegrenzt,  dann  die  Berechtigung  einer  beschreibenden  Natur- 
wissenschaft untersucht.  Hier  erfährt  insbesondere  der  Begriff  des  Orga- 
nismus und  die  rätselhafte  Wechselwirkung  zwischen  dessen  Teilen  eine 
Erörterung,  worauf  dann  U.  sich  der  Geschichtswissenschaft  zuwendet.  Als 
ihre  beiden  Voraussetzungen  werden  die  Existenz  des  Ich  und  die  Freiheit 
des  Willens  angeführt.  Beide  vertritt  U.,  den  Indeterminismus  jedoch,  wie 
mir  scheint,  mehr  dem  wörtlichen  Ausdruck  als  der  Sache  nach.  Denn  es 
soll  die  Freiheit  des  Willens  darin  bestehen,  dass  wir  uns  nach  letzten 
Motiven  entscheiden  und  die  Entscheidung  nach  dem  letzten  Motiv  — 
unmotiviert  ist.  —  Die  Lamprechtsche  Auffassung  der  Geschichte  als  Ge- 
setzeswissenschaft wird  gegenüber  der  Rankes  verworfen.  Nach  einem 
Exkurs  über  die  Berechtigung  der  Theologie  wendet  sich  U.  in  einem 
letzten  Kapitel  gegen  den  Formalisnuis  in  der  Logik,  d.  h.  nach  seiner 
Terminologie  gegen  die  Auffassung  des  Dinges  an  sich  als  blossen  Grenz- 
begriffes. Das  Ding  an  sich  ist  unserm  Wissen  erreichbar,  so  z.  B.  indem 
wir  durch  das  Gesetz  der  beharrlichen  Dieselbheit  ein  unsern  Bewusst- 
seinsvorgängen  zugrundeliegendes  Ich  erschliessen.  Unser  Denken  führt 
uns  über  die  Erscheinungswelt  hinaus;  da  wir  aber  nach  U.  nur  denken 
können,  was  selbst  gedanklicher  Natur  ist,  so  ist  ihm  die  wahre  Wirklich- 
keit das  Denken  Gottes. 

Zusammenfassend  kann  ich  sagen :  es  ist  wohl  nicht  zu  leugnen, 
dass  auch  diese  Veröffentlichung  wie  die  beiden  hier  früher  besprochenen 
„Leitfaden  für  Vorlesungen"  infolge  ihrer  Kürze  vieles  an  Ausführlichkeit 
der  Begründimg,  hie  und  da  auch  etwas  an  Verständlichkeit  zu  wünschen 
übrig  lässt.  Überaus  sympathisch  aber  wirkt  wieder  der  Umstand,  dass  der 
Forscher  überall  —  auch  in  kleinen  Fragen  —  an  eine  grosse  Weltanschauung 
anknüpft,  sodass  seine  Philosophie  nicht  Bruchstücke  bietet,  sondern  im 
besten  Sinne  ein  Ganzes. 

Prag.  Dr.  Hugo  Bergmann. 

del  Vecchio,  Giorgio,  Prof.  in  Messina.  II  concetto  della 
natura  e  il  principio  del  diritto.    Turin  (Bocca)  1908.    (174  S.) 

Es  giebt  einen  empirischen  und  einen  transscendentalen  Naturbegriff. 
Der  empirische  Naturbegriff  ist  ein  mechanischer.  Er  orientiert  sich  am 
Kausalgesetz  (29  ff.).  Von  Wertungen  und  Beurteilungsmassstäben  ist  bei 
solcher  Betrachtungsweise  keine  Rede  (25).  Spinoza  vergass  dies,  als  er 
auf  seinen  mechanischen  Naturbegriff  eine  normative  Ethik  aufbaute  (27, 
140).  Dem  empirisch-kausalen  Naturbegriff  tritt  gegenüber  der  meta- 
physisch-teleologische  (37,  39,  56).  Kausale  und  teleologische  Naturauf- 
fassung unterscheiden  sich  nur  durch  den  Betrachtungsgesichtspunkt;  das 
Objekt  beider  ist  dasselbe  (45).  Beide  sind  unerlässlich  und  müssen  sich 
notwendig  ergänzen.  Hat  jemand  ein  Gemälde  ausreichend  erklärt,  Avenn 
er  dessen  Farben  chemisch  analysiert  hat?  (72). 

Diesem  Naturbegriff  ordnet  sich  auch  der  Mensch  unter;  dem  em- 
pirisch-kausalen jedoch  nur  insofern,  als  er  Objekt  in  der  Erscheinung, 
homo   phaenomenon  ist  (65,  72).    Als  denkendes  Subjekt,   Ich,   homo  nou- 


Rezensionen  (del  Veccliio).  295 

meuon  dagegen  steht  er  jenseits  der  empirischen  Natur,  jenseits  des 
Kausalgesetzes,  ist  er  absohit  autonom  (67,  72),  Diese  intelligible 
Natur  des  Menschen  ist  das  Reich  der  Freiheit.  Die  transscendentale 
Freiheit  legt  den  Grundstein  für  die  Ethik  (70),  d.  h.  den  Inbegriff  der 
Gesetze  des  Handelns.  Diese  Gesetze  sind  moralische,  wenn  vorwiegend 
subjektiv,  rechtliche,  wenn  vorwiegend  objektiv  orientiert  (79).  Das 
Prinzip  der  Moral  heisst:  handle  vorbildlich,  d.  h.  so,  dass  alle  anderen 
müssen  ebenso  handeln  können  wie  Du  (81  f.).  Das  Rechtsprinzip  dagegen 
stellt  mehr  auf  die  äusseren  Beziehungen  von  Mensch  zu  Mensch  ab  (84). 
Recht  ist  die  objektive  Ordnung  des  Nebeneinanderbestehens  der  inner- 
halb einer  Personenmehrheit  möglichen  Handlungen  nach  Massgabe  eines 
ethischen  Prinzips,  das  den  Handlungen  ihre  Grenzen  bestimmt  (deter- 
mina),  indem  es  deren  Hinderung  (Beeinträchtigung)  verbietet  (escluden- 
doue  rimpedimento.  Diese  Definition  entnimmt  Vf.  seinem  Buche  über 
il  concetto  del  diritto,  1906,  S.  150).  Dieser  Rechtsbegriff  ist  natürlich 
ein  transscendentaler  (86);  denn  er  fusst  ja  auf  der  intelligiblen  Natur 
des  Menschen.  II  fondamento  del  diritto  puö  essere  dato  soltanto  da  una 
concezione  trascendentale  della  natura  umana  —  da  una  concezione  che 
vada  oltre  la  fenomenologia  e  la  determinazione  empirica  delle  azioni,  e 
ne  ritrovi  il  principio  e  la  norma  neU'  essere  intelligibile  del  soggetto 
(138).  Dies  ist  das  wahre  Naturrecht:  das  ideale  Recht,  das  sich 
aus  der  transscendentalen  Natur  des  Menschen  ergiebt  (teleologischer 
Rechtsbegriff).  Ob  es  im  positiven  Rechte  „verwirklicht",  d.  h.  in  die 
Erscheinung  gebracht  ist,  darauf  kommt  nichts  an  (87).  Naturrecht  (in 
diesem  Sinne)  und  positives  Recht  verhalten  sich  zu  einander  wie  Ding 
an  sich  und  Erscheinung,  wie  a  priori  und  a  posteriori. 

Was  frühere  Jahrhunderte  als  Naturrecht  bezeichneten,  war  etwas 
anderes.  Statt  des  transscendentalen  nämlich  legte  man  den  empirischen 
Naturbegriff  zugrunde.  Bald  wurde  demgemäss  das  commune  ius  omnium 
gentium  (155),  bald  das  Recht  primitiver  Völkerschaften  oder  entlegenster 
Urzeiten  (95,  118)  als  Naturrecht  ausgepriesen,  bald  nahm  man  auf  die 
empirische  Psychologie  des  Menschen  bezug  und  gründete  das  Recht  je 
nachdem  auf  die  socialitas  (Grotius),  oder  auf  den  wölfischen  Egoismus 
(Hobbes)  des  Menschen  (119,  122  ff.).  Das  ngonov  ipev&os  dieser  grund- 
verkehrten Betrachtungsweise  bestand  darin,  dass  man  glaubte,  aus  dem 
faktisch  Gegebenen  könne  ein  Prinzip  für  normative  Gestaltung  ent- 
nommen werden  (130  ff.).  Seit  Kant  den  wahren,  d.h.  transscendentalen 
Naturbegriff  entdeckt  hat,  ist  diesem  falschen  Naturrecht  älterer  Zeiten 
der  Garaus  gemacht  (145,  152,  169).  Die  Angriffe,  welche  moderne  Posi- 
tivisten  (Vanni  u.  a.)  gegen  das  Naturrecht  richten,  treffen  nur  die  seit 
Kant  überwundenen  Formen  desselben,  nicht  das  Naturrrecht  schlecht- 
hin (153). 

Den  Lesern  der  Kantstudien  braucht  nicht  gesagt  zu  werden,  dass 
Vf.  sich  in  diesem  Buche  [wie  schon  in  früheren  Schriften]  als  ziemlich 
strenger  Kantianer  —  hier  und  da  mit  einem  Seitenblick  auf  Fichte  — 
zu  erkennen  giebt.  Man  vgl.  hierüber  vornehmlich  des  Vfs.  Buch:  pre- 
sxipposti  filosofici  della  nozione  del  diritto,  1905  (192  S.)  und  dazu  die 
Besprechung  des  Unterzeichneten  in  der  Krit.  Vierteljahrsschr.  f.  Gesetz- 
gebung und  Rechtswissenschaft,  3.  Folge  Bd.  11  (1908)  S.  *209— *224.  In 
der  Anlehnung  an  Kant  trifft  sich  del  Vecchio  mit  Stammler;  nicht  ein- 
verstanden aber  ist  er  mit  dessen  Beschränkung  auf  das  Formale. 
Stammler  irre,  sagt  er,  wenn  er  leugne,  che  deUa  natura  umana  .  .  .  posse 
dedursi  un  ideale  giuridico  con  un  contenuto  determinato  (132).  Dieser 
Punkt  ist  an  del  Vecchios  Buche  vielleicht  der  interessanteste.  Vf.  wagt 
es,  für  das  vielgeschmähte  und  völlig  tot  geglaubte  Naturrecht  wieder 
eine  Lanze  zu  brechen.  Er  steht  auf  dem  Standpunkte,  das  Naturrecht 
älterer  Observanz  sei  nur  um  deswillen  mit  Recht  zu  Grabe  getragen 
worden,  weil  es  einen  falschen  Naturbegriff  zugnmdegelegt  habe;  er  hegt 
daher   die  Überzeugung,   es   bedürfe   nur  einer  unter  Rückgang  auf  Kant 


296  Rezensionen  (del  Vecchio). 

erfolgenden  Läuterung  des  Naturbegriffes,  um  den  Gedanken  des  Natur- 
rechtes auch,  für  Gegenwart  und  Zukunft  lebendig  zu  erweisen.  Diesem 
Nachweise  ist  das  vorliegende  Buch  gewidmet,  das  sich  ernstlicher  und 
eingehender  Beachtung  von  selbst  empfiehlt.  Die  schwierige  Frage  frei- 
lich, ob  sich  aus  der  intelligiblen  Natur  des  Menschen  eine  inhaltliche 
Bestimmtheit  des  natürlichen  Rechtes  ergebe,  wird  vom  Vf.  zwar  mit  ja 
beantwortet:  nicht  eingetreten  wird  jedoch  in  eine  Begründung  dieser 
bejahenden  Antwort,  sowie  in  eine  Darlegung  darüber,  welches  die  Me- 
thode sei,  mittels  deren  aus  der  menschlichen  Natur  inhaltlich  bestimmte 
Aussagen  über  die  rechtliche  Regelung  konkreter  (d.  h.  historisch  bedingter) 
Lebensverhältnisse  zu  gewinnen  seien.  Diese  dornigste  Aufgabe  natur- 
rechtlicher Betrachtungsweise  sieht  ihrer  Erledigung  noch  entgegen.  Es 
bleibt  abzuwarten,  ob  und  mit  welchem  Erfolge  der  verdiente  und  gelehrte 
Verfasser  sich  ihr  unterziehen  wird. 

Jena.  Hans  Reichel. 

del  Vecchio,  Giorgio,  Prof.  in  Messina.  Su  la  teoria  del  con- 
tratto  sociale.    Bologna  1906.    (118  S.) 

Lange  Zeit  hindurch  nahm  man  unwidersprochen  an,  die  „Erklärung 
der  Menschen-  und  Bürgerrechte"  1789  führe  auf  Rousseauische  Ideen 
zurück.  Seit  1895  indessen  ist  dieser  Auffassung,  wenigstes  was  den 
Contrat  social  anlangt,  ein  bedeutsamer  Gegner  erstanden  in  Jellinek 
(Die  Erklärung  der  Menschen-  und  Bürgerrechte,  2.  Aufl.,  1904).  „Die 
Prinzipien  des  contrat  social",  sagt  Jellinek  S.  7,  „sind  einer  jeden  Er- 
klärung der  Rechte  feindlich.  Aus  ihnen  folgt  nicht  das  Recht  des  ein- 
zelnen, sondern  die  Allmacht  des  rechtlich  schrankenlosen  Gemeinwillens." 
Die  wahre  Wurzel  der  Declaration  erblickt  J.  vielmehr  in  den  Bills  of 
rights  der  nordamerikanischen  Unionsstaaten  (Jellinek  S.  9  ff.).  Diese 
Auffassung  hat  ebensoviel  Beifall  wie  Widerspruch  gefunden  (S.  9  des 
hier  besprochenen  Werkes;  vgl.  auch  die  Zusammenstellung  bei  Zweig 
in  Beil.  z.  Münchener  Allg.  Zeitg.  1905,  II.  Quartal.  S.  353  ff.)  Zu  den 
Gegnern  Jellineks  gehört  auch  der  Vf.  des  jetzt  vorliegenden  Werkes, 
Schon  in  seiner  Studie:  La  dichiarazione  dei  diritti  dell'  uomo  e  del 
cittadino  nella  rivoluzione  francese  (Genua  1903)  hat  er  daran  festgehalten, 
die  Quelle  der  Declaration  sei  der  Contrat  social.  Der  näheren  Aus- 
führung und  Verteidigung  dieses  Gedankens  ist  das  vorliegende  Buch  ge- 
widmet. In  sorgfältiger  historischer  Ausführung  wird  die  Geschichte  cler 
Vertragstheorien  von  Grotius  bis  auf  Rousseau  behandelt  (39  ff.).  Mit 
besonderem  Nachdruck  wird  bei  Hob b es  (67)  und  Locke  (71)  verweilt, 
Hobbes  allerdings  vertrat  die  schrankenlose  Allmacht  des  Staates;  allein 
schon  Locke  rationalisierte  den  Gesellschaftsvertrag  ein  wenig  und  limitierte 
die  Staatsgewalt  (73).  An  diese  freiheitlichen  Gedanken  Lockes  knüpfte 
Rousseau  an.  Rousseaus  Lehre  unterscheidet  sich  indes  von  der  Locke- 
schen insofern,  als  R,  den  Gesellschaftsvertrag  nicht  mehr  wie  jener  als 
historisch-empirisches  Faktura,  sondern  grundsätzlich  als  gedankliche  Kon- 
struktion, dienend  zur  Veranschaulichung  einer  natürlichen  Notwendigkeit 
(veritä  trascendentale)  begriff  (87;  vgl.  Li ep mann,  Rechtsphilosophie 
des  J.  J,  R,  1898,  S.  106)  —  insofern  ein  Vorläufer  von  Kant  (Metaphys. 
Anfangsgründe  d.  Rechtslehre  §  47)  und  Fichte  (Beitrag  u.  s.  w.  über 
die  franz.  Revolution  1793  I  1).  —  Rousseaus  Lehren  bilden  ein  Ganzes. 
Die  Darlegungen  des  C.  s.  können  nur  im  Zusammenhang  mit  den  Lehren 
des  discours  sur  l'inegalite  (1752)  gewürdigt  werden  (15).  Im  Discours 
werden  Gleichheit  und  Freiheit  als  natürliche  Menschenrechte  proklamiert 
(21).  Diesen  Grundgedanken  ist  R.  auch  im  C.  s.  treu  geblieben.  Auch 
der  C.  s.  fusst  auf  dem  unveräusserlichen  Menschenrechte  der  Freilieit. 
Renoncer  ä  sa  liberte,  c'est  renoncer  ä  sa  qualite  d'homme,  aux  droits 
de  l'humanite  .  .  .  Une  teile  renonciation  est  incompatible  avec  la  nature 
de  l'homme  (C.  s.  I  4).  Die  Staatsgewalt  kann  daher  von  vornherein  nur 
so  weit  reichen,  als  sie  mit  dem  Fortbestande  der  Freiheit  aller  verträg- 
lich  ist;   nur   nimmt   diese   Freiheit   eines  jeden   eine  entsprechend   ver- 


Rezensionen  (Kern).  297 

änderte  Form  an.  Hierin  liegt  (nach  Ansicht  des  Vfs.)  der  fundamente 
Unterschied  der  Rousseauschen  Staatslehre  gegenüber  derjenigen  aller 
seiner  Vorgänger.  Per  essi  (die  Vorgänger)  i  diritti  del  cittadino  nello 
Statu  erano  nna  conseguenza  dell'  atto  contrattuale;  per  il  R,  e  invice  la 
fonnula  del  contratto  una  conseguenza  di  quei  diritti  (86).  Für  jene  sind 
die  Bürgerrechte  (soweit  überhaupt  anerkannt)  ein  jederzeit  widerrufliches 
Gesclienk  von  Seiten  der  Staatsautorität ;  für  R.  dagegen  sind  sie  „Grund- 
lage und  wirkende  Ursache  (sostanza  attuale)  der  Staatsautorität  selbst" 
(97).  Grundverkehrt  ist  es  daher,  die  Staatslehre  des  C.  s.  unfreiheitlich 
oder  gar  absolutistiscli  zu  nennen:  die  Freiheit  ist  vielmehr  ilir  A  und  O, 
und  der  Rousseau  des  C.  s.  ist  und  bleibt  der  Vater  der  „Menschenreclite". 

Dies  in  Kürze  die  Ausführungen  des  Vf.  Eine  kritische  Auseinander- 
setzung mit  ihnen  würde  den  knappen  Rahmen  einer  Anzeige  über- 
schreiten. Nur  ein  Kardinalpunkt  des  Streites  sei  kurz  angedeutet.  Vf. 
geht  davon  aus,  der  Rousseau  des  C.  s,  sei  derselbe  wie  der  Rousseau  des 
Discours.  Diese  Unterstellung  erscheint  mir  bedenklich;  es  scheinen  mir 
vielmehr  die  beiden  Bücher  in  ihrer  Grundauffassung  so  grundverschieden 
zu  sein,  dass  man  anstehen  muss,  die  Lehren  des  C.  s.  aus  den  Ijehren  des 
Discours  zu  ergänzen.  (Ebenso  Berolz heimer,  Rechts-  und  Wirtschaf ts- 
philosophie,  Bd.  II,  1905,  S.  169,  173).  Sehe  ich  recht,  so  hat  zwar  der 
Rousseau  des  Discours  die  „Menschenrechte"  mit  gestalten  helfen;  im 
übrigen  aber  dürfte  es  wohl  auch  gegenüber  del  Vecchios  sorgfältigen  und 
interessanten  Darlegungen  bei  Jellineks  Auffassung  verbleiben,  wonach 
Rousseau,  nämlich  der  Rousseau  des  Contrat  social,  mit  der  Deklaration 
der  Menschenrechte  nichts  zu  tun  hat. 

Jena.  Hans  Reichel. 

Kern,  Berthold.  Das  Erkenntnisproblem  und  seine  kri- 
tische Lösung.    Berlin,  Hirschwald,  1910.    (195  S.) 

Seinem  „Problem  des  Lebens"  lässt  unser  Verfasser  eine  ausführ- 
liche Darstellung  der  erkenntnistheoretischen  Voraussetzungen  seiner 
Lehre  folgen.  Wiederum  ein  ernstes  und  scharfsinniges  Buch,  das  Gegnern 
und  Freunden  gleichmässig  zum  Studium  empfohlen  sei. 

Kern  findet  in  Kants  System  einen  vierfachen  Dualismus  an.stössig. 
Hier  Denken,  dort  Empfindimg;  hier  Form,  dort  Inhalt;  hier  Phänomenon, 
dort  Dingansich;  hier  Subjekt,  dort  Objekt.  Von  den  romantischen  Philo- 
sophen angeregt,  sucht  er  die  Gegensätze  aufzuheben. 

Denken  und  Empfindung !  Der  unmodern  gewordene  und  auch  von 
K.  verschmähte  (S.  101)  „Psychologismus"  kommt  hier  schnell  zur  Klar- 
heit; er  stellt  das  Denken  als  eine  besondersartige  Gruppierung  von  Em- 
pfindungen dar.  K.  macht  umgekehrt  den  Empfindungsakt  zu  einem  Ur- 
teil, die  fertige  Empfindung  mithin  zur  elementarsten  Form  des  Begriffes 
(S.  39  ff.,  89).  Auch  gut!  Unser  Philosoph  sucht  immer  wieder  die  rela- 
tive Berechtigung  —  und  relative  Beschränktheit  aller  „Standpunkte" 
darzutun  (vgl.  z.  B.  das  schöne  Kapitel:  ,Weltanschauungen',  S.  138  ff.). 
Ich  vermute,  er  wird  nichts  dagegen  haben,  wenn  der  Referent  ihn  er- 
gänzt: sofern  der  spätere,  komplizierte  Prozess  genetisch  aus  dem  früheren, 
einfacheren  heraus  verstanden  werden  soll,  konstruieren  wir  psycholo- 
gistisch  und  erklären  das  Denken  für  Empfinden;  sofern  dagegen  der 
minder  hell  bewusste  Vorgang  durch  die  Analogie  des  bewusstereu  zu 
illustrieren  ist,  sei  uns  das  Empfinden  gerne  ein  primitives  Denken. 

So  bleibt  der  zweite  Gegensatz,  der  von  Inhalt  und  Form.  Denn 
die  Erkenntnis  fasst  ja  eine  ..Wirküchkeit"  an  (S.  42  f.),  unser  Denken 
stösst  auf  etwas  Denkfremdes.  Dass  ich  Luftschwingungen  überhaupt  als 
Töne  „beurteile",  mag  ich  immer  meiner  Tätigkeit  zuschreiben,  dass  hin- 
gegen eben  jetzt,  eben  hier  der  Ton  ,cis'  erklingt  und  nicht  etwa  ,ges', 
das  hängt  vom  Denken  nicht  mehr  ab.  Ordnen  und  Gesetze  vorschreiben 
mag  mein  ., Verstand"  ;  das  einzelne  Quid  aber,  das  Quäle  und  das  Quantum, 
die  individuell  charakterisierte  Verteilung  der  Elemente  in  der  Welt:  das 
bleibt   ewig  irrational,   tatsächlich,   inhalthaft.     Und  dieses  Faktische  mit 


298  Rezensionen  (Kern). 

Hegel  aus  der  Vernunft  hervor  entwickeln  zu  wollen,  solcher  Versuch  ist 
von  vornherein  widerlegt.  Aber  auch  die  solipsistische  Aufhebung  des 
Dualismus  weist  K.  mit  Recht  zurück  (S.  172).  Doch  wie,  wenn  die  Lösung 
auf  umgekehrtem  Wege  gelänge  (S.  59)?  Kann  „Inhalt"  nie  zur  „Form" 
Averden,  so  ist  doch  „Form"  vielleicht  „Inhalt"?  Unser  Denken  hat  sich 
in  äonenlanger  Entwicklung  den  Gegenständen  angepasst  und  ist  darum 
dem  Wesen  dieser  Gegenstände  adäquat  (S.  57,  106);  es  tritt  also  nicht 
wie  eine  formende  Macht  seinem  Stoffe  fremd  gegenüber,  sondern  ist  mit 
diesem  Stoffe  wesenseins  —  als  „Erzeugnis  des  Objekts".  Dass  von  einem 
anderen  Gesichtspunkte  aus  das  Objekt  auch  Erzeugnis  des  Denkens  (im 
Sinne  Kants)  genannt  werden  könne,  leugnet  K.  nicht  (S.  59). 

Der  Phänomenalist  wird  hier  einen  Zweifel  nicht  unterdrücken. 
Ein  der  Umwelt  in  beständiger  Verfeinerung  adaptiertes  Denken  braucht 
doch  wohl  den  Dingen  deshalb  nicht  wesensgleich  zu  werden;  seine 
„Formen"  könnten  als  angezüchtete  Systeme  zweckmässiger  Signale 
gelten,  für  andere  Organisationen  wären  dann  wieder  andere  Systeme  brauch- 
bar. Die  Notwendigkeit,  so  oder  so  auf  einen  bestimmten  Vorgang  A  zu 
reagieren,  kündigt  sich  uns  meinetwegen  durch  das  bewegte  Bikl  eines 
gefärbten  Dinges  an;  einem  anders  als  wir  gebauten  Marsbewohner  viel- 
leicht als  ein  verwickelter  und  uns  unnachlebbarer  Komplex  von  Schmerz- 
empfindungen oder  was  weiss  ich?  Die  Züchtung  könnte  im  einen  Falle 
so  wirksam  wie  im  anderen  sein;  und  die  verschiedenen  Anschauungs-_ und 
Denkformen  dennoch  mit  den  Formen  der  „Wirklichkeit"  A  keine  Ähn- 
lichkeit besitzen. 

Und  daran  ändert  auch  die  „Aktualitäts-Theorie"  nichts,  mit 
der  K.  den  dritten  Gegensatz  und  damit  zugleich  den  Phänomenalismus 
selber  aus  der  Welt  schaffen  möchte  (S.  51,  59,  97,  167).  „Das  Urbild  der 
Wirklichkeit  ist  niclit  das  Sein,  sondern  das  Geschehen" ;  „alle  Substanzia- 
lität  ist  erst  ein  Erzeugnis  des  Denkens"  (S.  117).  Und  da  nun  auch  das 
Denken  selber  ein  Geschehen  ist,  „in  den  Relationen  das  Wesen  der  Er- 
kenntnis, aber  ebenso  auch  das  Wesen  der  Welt  liegt"  (S.  170):  so  ist 
unser  Bewusstsein  einfach  ein  Teil  der  absoluten  Wirklichkeit,  seine  Ge- 
setze sind  zugleich  Naturgesetze,  „Denken  und  Objekt  .  .  .  sind  eins" 
(S.  59,  104  ff.,  119,  173). 

Hier  indessen  scheint  ein  Fehler  zu  stecken.  Jenes  Objekt,  mit 
dem  mein  Denken  wirklich  „eins"  ist,  besteht  in  nervösen  Vorgängen 
(S.  70  u.  passim);  was  ich  aber  für  gewöhnlich  Objekt  meines  Denkens 
nenne,  sind  Vorgänge  ausserhalb  meines  Leibes.  Und  damit  ist  die  Zwei- 
heit  wieder  da,  die  den  Phänomenalismus  erzwang.  Hier  ein  Geschehen 
(oder  „Relationen"  —  oder  welchen  Ausdruck  der  Verf.  irgend  brauchen 
möchte)  in  der  „Aussen weit",  meinethalben  im  Äther;  dort  ein  anderes 
Geschehen  im  Gehirne;  und  dieses  dem  Erkennen  identisch,  doch  selber 
direkt  nicht  erkennbar;  jenes  dem  Erkennen  fremd,  doch  sein  „Gegen- 
stand". Auch  wenn  das  dem  Erkennen  wesensgleiche  Geschehen 
zwischen  dem  Körper  und  dem  Draussen  spielen  soll,  z.  B.  also  das 
Sehen  der  Umwandlung  von  Strahlungsenergie  in  chemische  der  Nerven- 
masse entsprechen  soll,  so  gilt  dennoch  meine  Behauptung  weiter:  eben 
diese  Umwandlung  sehen  wir  nicht;  sondern  unser  Sehen  weist  uns  zur 
Quelle  der  „äusseren"  Strahlenenergie  hinüber.  Der  „physiologische  Be- 
weis" für  den  Idealismus  bleibt  demnach  trotz  den  Bemerkungen  des 
Verf.  in  Kraft.  Und  damit  bleibt  die  Zweiheit  Subjekt-Objekt  so  bestehen, 
wie  Kant  sie  dachte.  Und  es  bleibt  jenes  grosse  Paradoxon :  dass  das 
Subjekt  für  den  Naturforscher  aus  dem  Objekte  hervorwächst;  und  den- 
noch soll  wieder  das  Subjekt,  im  erkenntnistheoretischen  Sinne,  das  Ob- 
jekt erst  möglich  machen !  —  Die  Lösung  des  Scheinwiderspruches  indessen 
läge  gerade  unserem  Verfasser  nahe  (vgl.  S.  59).  Wir  haben  —  wie  er 
selber  es  prinzipiell  stets  fordert  —  die  Standpunkte  reinlich  zu  sondern, 
statt  die  Gegenbegriffe  zu  verschweissen.  Wir  trennen  das  empirische 
Ich  vom  transscendentalen  Subjekt  der  Erkenntnis;  und  den  phänomenalen 


Rezensionen  (von  Annin).  299 

Kosmos  vom  immanenten  Datum.  Es  g'iebt  mehrere  „Welten"  für  die 
Erkenntnistbeorie;  und  die  Notwendigkeiten  des  Denkens  drängen  uns 
immer  aus  der  einen  in  die  andere,  aus  der  letzten  wieder  in  die  erste 
zurück.  Wer  sich  dieses  Zirkels  und  seiner  Unentrinnbarkeit  bewusst  ist, 
an  jedem  Punkte  der  Bahn  aber  die  eben  für  diesen  Punkt  erforderten 
Begriffe  deutlich  festhält:  der  allein  entgeht  allen  Widersprüchen. 
Berlin.  Julius  Schultz. 

von  Arnim,  Hans;  Baeumker,  Clemens;  Goldziher,  Ignaz:  Grnbe, 
Wilhelm:  Inouye,  Tetsujiro :  Oldenberg,  Hermann ;  Windelband,  Wilhelm; 
Wandt,  AVilhelm.  Allgemeine  Geschichte  der  Philosophie  (die  Kultur  der 
Gegenwart,  Teil  1,  Abt.  5).  Verlag  von  B.  G.  Teubner.  Berlin  und  Leipzig 
1909.     Lex.-Format.     (VlII  u.  572  S.) 

Das  Unternehmen  der  „Kultur  der  Gegenwart"  den  heutigen  Stand 
der  Fachwissenschaften  durch  Gruppen  von  Einzeldarstellungen  in  einem 
Gesamtbilde  vereinigt  vorzuführen,  ist  nunmehr  auch  auf  die  Geschichte 
der  Philosophie  ausgedehnt  worden.  Die  vielfachen  Bedenken,  die  gegen 
die  „Kultur  der  Gegenwart"  als  Sammelwerk  oft  genug  geltend  gemacht 
worden  sind,  sollen  hier  nicht  wiederholt  werden.  '  Sie  bestehen  zu  Recht. 
Nur  das  sei  betont,  dass  die  Uneinheitlichkeit  des  Ganzen  innerhalb  des 
Bandes  über  die  Geschichte  der  Philosophie  weniger  störend  wirkt  wie 
z,  B.  innerhalb  des  Bandes  über  die  „Systematische  Philosophie". 

Der  Wert  des  neuen  Bandes  der  „Kultur  der  Gegenwart"  geht  über 
den  einer  gewöhnlichen  Darstellung  des  heutigen  „Standes  der  Wissen- 
schaft" insofern  hinaus,  als  hier  zum  ersten  Male  ernstlich  mit  einem  alt 
überlieferten  Vorurteile  gebrochen  wird.  Diese  Geschichte  der  Philosophie 
ist  zum  ersten  Male  wirklich  eine  „allgemeine",  d.  h.  sie  behandelt  nicht 
nur  die  europäische  Philosophie  von  Thaies  bis  zur  Gegenwart,  sondern 
sie  behandelt  die  gesamte  Philosophie  der  Menschheit,  von  der  die  euro- 
päische Philosophie  nur  als  ein  wichtiger  Ausschnitt  erschien.  Damit 
verbreitet  sich  über  die  Entwickelung  des  europäischen  Philosophierens, 
namentlich  über  die  Anfangsstufen  desselben,  ein  durchaus  neues  Licht, 
So  wäre  denn  die  von  den  Anthropologen  und  Orientalisten  längst  ge- 
stellte Forderung  nach  einer  grösseren  Berücksichtigung  der  Philosophie 
anderer  Völker  endlich  durchgedrungen  und,  wie  mir  scheint,  glänzend 
bewährt. 

Zur  Durchführung  der  neuen  Erweiterung  eignet  sich  die  „Kultur 
der  Gegenwart"  als  Sammelwerk  umsomehr,  da  die  Philosophie  der  ausser- 
europäischen  Völker  vorläufig  erst  von  den  Fachvertretern  der  östlichen 
Sprachen  sachgemäss  dargestellt  werden  kann.  Das  ist  nun  hier  geschehen 
und  es  gereiclit  dem  Ganzen  in  mancher  Hinsicht  zum  Vorteil.  Aber  mit 
dem  Vorteil  verbindet  sich  ein  Nachteil.  Eine  einheitliche  Darstellung 
der  Geschichte  der  Philosophie  würde  vermutlich  die  in  der  Menschheit 
auftretenden  philosophischen  Denkgebilde  nach  zeitlichen  und  sachlichen 
Gesichtspunkten  zu  einer  Entwickelungsgeschichte  der  Philosophie  ver- 
einigen. In  einer  Sammlung  von  Einzeldarstellungen  ist  eine  solche  An- 
ordnung vorläufig  wenigstens  ausgeschlossen,  da  es  ihr  an  leitenden  Ge- 
sichtspunkten fehlt.  Und  so  erhalten  wir  in  dem  neuen  Bande  der  „Kultur 
der  Gegenwart"  das  verquere  Bild,  dass  die  neu  hinzugekommene  Dar- 
stellung der  Philosophie  des  Ostens  sich  nach  Ländern  und  Völkern 
gliedert,  während  die  Philosophie  des  Westens  getrost  den  alten  Weg  der 
zeitlichen  und  sachlichen  Anordnung  einschlägt.  Es  wäre  für  die  Einheit- 
lichkeit des  Sammelbandes  besser  und  wohl  auch  wissenschaftlich  recht 
wertvoll  gewesen,  wenn  entgegen  dem  üblichen  Verfahren  auch  für  die 
europäische  Philosophie  die  Gliedenmg  nach  Ländern  und  Völkern  vor- 
genommen wäre. 

Das  philosophische  Denken  gehört  in  unlöslichem  Vereine  mit  den 
religiösen  Vorstellungsweisen  zum  Urbesitz  der  Menschheit.  Es  ist  daher 
mit  grösstem  Danke  zu  begrüssen,  dass  in  der  neuen  „Allgemeinen  Ge- 
schichte der  Philosophie"  an  den  Anfang  eine  Darstellung  des  Vorstellungs- 


300  Rezensionen  (von  Armin). 

und  Gedankenskreises  der  Naturvölker  gestellt  ist.  Sie  ist  von  Wilhelm 
Wundt  verfasst  und  behandelt  in  vier  Abschnitten  die  primitive  Logik, 
Psychologie,  Naturphilosophie  und  Ethik.  Dabei  muss  freilich  betont 
werden,  dass  der  Abschnitt  über  die  „Logik"  lediglich  eine  Untersuchung 
von  Wundt  über  das  Denken  der  Urvölker  nicht  eine  den  Urvölkern  selbst 
angehörende  Denklehre  darstellt.  Dagegen  behandelt  der  Abschnitt  über 
die  „Psychologie"  wirklich  die  Seelenvorstellungen  der  Naturvölker,  nicht 
Untersuchungen  Wundts  über  ihr  Seelenleben.  Dasselbe  gilt  von  der 
Naturphilosophie  und  der  Ethik.  Der  Abschnitt  über  die  „Logik"  der 
Naturvölker  wäre  daher  in  der  nächsten  Auflage  den  anderen  Abschnitten 
nicht  beizuordnen,  sondern  etwa  als  eine  Einleitung  zu  ihnen  zu  behandeln, 
und  die  Überschrift  „Logik"  fortzulassen. 

Es  folgt  eine  Darstellung  der  indischen  Philosophie  von  Hermann 
Oldenberg,  welche  angesichts  des  Reichtums  im  Denken  der  Indier  und 
der  verhältnismässig  zahlreichen  Vorarbeiten  etwas  dürftiger  ausgefallen 
ist,  als  erwartet  werden  konnte.  Auch  spielt  Oldenberg  gleich  im  Anfang 
seiner  Darstellung  auf  eine  Reihe  von  Erörterungen  an,  welche  er  „oben" 
gegeben  haben  will,  ohne  dass  der  Leser  wüsste,  was  mit  jenem  „oben" 
gemeint  sein  könne.  So  hat  es  den  Anschein,  als  wäre  der  ganze  Ab- 
schnitt ursprünglich  Anhang  zu  einer  anderen  Arbeit  gewesen  und,  ohne 
umgearbeitet  zu  werden,  der  Kultur  der  Gegenwart  eingegliedert.  Man 
darf  wünschen,  dass  bei  einer  zweiten  Auflage  dieser  absonderliche  Miss- 
stand geändert  und  der  Abschnitt  im  Ganzen  bereichert  Avürde,  selbst  auf 
die  Gefahr  hin,  dass  sein  Umfang  um  einige  Seiten  wüchse.  Im  Hinblick 
auf  die  verhältnismässig  grosse  Bedeutung  der  indischen  Philosophie  dürfte 
dieser  derselbe  Raum  zugebilligt  werden,  wie  der  chinesischen  Philosophie 
(zwanzig  statt  zehn  Seiten). 

Die  Darstellung  der  chinesischen  Philosophie  von  Wilhelm  Grube 
ist  als  besonders  gelungen  zu  bezeichnen.  "Wir  sehen  einen  ungeahnt 
grossen  Reichtum  philosophischer  Gedankenbildungen  namentlich  zur 
Sittenlehre  in  knapper  aber  sehr  klarer  und  ansprechender  Schilderung  an 
uns  vorüberziehen.  Vielleicht  macht  sich  nirgends  so  stark  wie  in  der 
chinesischen  und  indischen  Philosophie  der  Eindruck  geltend,  dass  die 
Gedankenbildungen  der  griechischen  Philosophie  zu  begreifen  sind  als 
Abarten  und  Fortsetzungen  von  Gedanken,  die  uns  ganz  ähnlich  im  Osten 
begegnen.  Im  Einzelnen  möchte  ich  bemerken,  dass  die  64  Hexagramme 
des  Yi-King,  die  Grube  als  ursprüngliche  „Orakelsprüche"  anspricht,  ur- 
sprünglich keine  Orakelsprüche  waren,  sondern  die  Zeichen  eines  dya- 
lischen  Zahlensystems.  Schon  Leibniz  hat  hierauf  hingewiesen  (Werke 
Ausg.  von  Gerhardt,  Abt.  2  Bd.  3  S.  223  ff.,  228  ff.).  Wir  haben  also  im 
Yi-King  unter  Umständen  eine  ähnliche  Zahlenspekulation  vor  uns,  wie 
sie  in  der  griechischen  Philosophie  unter  dem  Namen  der  pythagoreischen 
Lehre  umgeht. 

Wer  von  der  Darstellung  der  Philosophie  des  Ostens  in  dem  neuen 
Bande  der  „Kultur  der  Gegenwart"  zu  der  von  Arnim  behandelten  grie- 
chischen Philosophie  übergeht,  wird  besonders  lebhaft  empfinden:  dass 
unsere  herkömmliche  Betrachtung  der  griechischen  Philosophie  dringend 
einer  Erweiterung  ihres  Gesichtskreises  bedarf.  Arnims  Darstellung  geht 
in  der  Tat  überall  von  der  Annahme  der  schlechthinigen  Einzigartigkeit 
des  griechischen  Philosophierens  als  von  einer  Selbstverständlichkeit  aus. 
Auch  weht  im  Ganzen  seiner  Darstellung  vielfach  ein  merkwürdig  un- 
geschichtlicher, vernünftelnder  Zug.  Da  „empfiehlt  es  sich"  den  Hylozoisten, 
ihren  Urstoff  so  zu  wählen,  dass  er,  abgesehen  von  seiner  Einfachheit, 
Beweglichkeit  und  Veränderlichkeit,  auch  für  das  organische  und  seelische 
Leben  als  Erklärungsprinzip  brauchbar  wäi'e.  Da  vermutet  Aristoteles 
„mit  Recht",  dass  Thaies  das  Wasser  zum  Urstoff  genommen  habe,  weil 
sich  Feuchtigkeit  im  allem  Lebendigen  und  im  Feuer  finde  u.  s.  w.  u.  s.  w. 
Man  sieht,  wo  immer  uns  die  Quellen  verlassen,  da  dichtet  Arnim  die  Er- 
gänzungen  aus   seinen   eigenen  Überlegungen  gläubig  hinzu,   und  so  be- 


Rezensionen  (Richter).  301 

schleicht  den  Leser  bisweilen  die  Furcht,  dass  die  griechischen  Philosophen 
doch  nicht  immer  nach  so  trefflichen  pragmatischen  Maximen  gedacht 
haben  mt')gen,  als  Arnim  sie  denken  lässt. 

Gegen  den  von  Arnim  behandelten  Teil  sticht  die  von  Clemens 
Baeumker  bearbeitete  Darstellung  der  Philosophie  des  Mittelalters  erfreu- 
lich ab.  Mit  ausserordentlicher  Klarheit,  Ruhe  und  Sachkenntnis  wird 
der  Leser  zunächst  in  den  Gesichtskreis  des  mittelalterlichen  Denkens,  in 
seine  Quellen,  seine  Bedingtheit  durch  den  Schulbetrieb  und  in  seine  all- 
gemeinen Wesenszüge  eingeführt,  um  dann  durch  die  Geschichte  der 
Scholastik  selbst  zu  gehen.  In  dieser  ist  als  der  typische  Vertreter  der 
iu  der  mittelalterlichen  Philosophie  immer  wiederkehrenden  Gedanken- 
kreise Thomas  von  Aquino  besonders  ausführlich  behandelt.  Bei  den  üb- 
rigen geschichtlichen  Erscheinungen  dagegen  sind  nur  diejenigen  Eigen- 
tümlichkeiten hervorgehoben  worden,  die  in  die  Entwicklung  bestimmend 
eingegriffen  haben  und  die  einzelnen  Richtungen  kennzeichnen.  Als 
dankenswerte  Ergänzung  der  Baeumkerschen  Darstellung  ist  die  Behand- 
lung der  islamischen  und  jüdischen  Philosophie  von  Ignaz  Goldziher  zu 
betrachten,  die  sich  ebenfalls  auf  das  Mittelalter  -beschränkt. 

Über  den  letzten  grossen  Schlussabschnitt  des  Buches,  die  von 
Windelband  behandelte  Geschichte  der  neueren  Philosophie,  bedarf 
es  nur  weniger  Worte.  Die  Art  der  Windelbaudschen  Geschichts- 
schreibung ist  den  Lesern  aus  seinen  grösseren  Werken  bekannt. 
Hier  erhalten  wir  eine  kurze  Zusammenfassung  der  Ergebnisse 
dieser  grösseren  Werke.  In  ihr  zeigt  sich  aufs  Neue  die  einzigartige 
Weite  und  Tiefe  des  geschichtlichen  Blickes,  die  Feinheit  der  wissen- 
schaftlichen Nachempfindung  und  die  meisterhafte  Kunst  treffsicherer 
Kennzeichnung,  die  Windelbands  Arbeiten  in  der  Tat  zu  einem  Eliren- 
zeichen  der  .,Kultur  der  Gegenwart"  stempeln.  Auch  derjenige,  der  im 
sachlichen  Urteil  häufig  von  Windelband  erheblich  abweicht,  wird  sich 
dieser  neuen  kurzen  Darstellung  als  einer  Zierde  des  ganzen  Buches  von 
Herzen  freuen. 

Greifswald.  Günther  Jacoby. 

Richter,  R.    Einführung   in   die  Philosophie.    Aus  Natur  und 
Geisteswelt.     155.  Bd.     B.  G.  Teubner,  Leipzig  1910.    (126  S.) 

An  Einleitungen  in  die  Philosophie  mangelt  es  nicht;  ^ylr  haben 
umfangreiche  und  kurzgefasste,  systematisch  vollständige  und  im  guten 
Sinne  einseitige,  an  die  historische  Entwickelung  sich  anlehnende  und  rein 
sachlich  vorgehende  Darstellungen.  R.  giebt  in  der  Form  von  sechs  Vor- 
trägen die  Skizze  einer  umfassenden  Weltanschauung;  er  verzichtet  dabei 
auf  historische  Exkurse.  Ein  solches  Unternehmen,  —  der  inbezug  auf 
systematische  Vollständigkeit  allerdings  noch  überlegenen  kurzen  Ein- 
führung Wentschers  vergleichbar  —  hat  sehr  erhebliche  Schwierigkeiten, 
und  Verf.  geht  ihnen  durchaus  nicht  aus  dem  Wege,  indem  er  etwa  alle 
tieferen  Probleme  bei  Seite  lässt.  Durch  klare  und  lebendige,  oft  geradezu 
drastische  Darstellung  sucht  er  den  Stoff  zu  bemeistern.  Freilich,  ein 
Anfänger  im  eigentlichsten  Wortsinne  wird  doch  kaum  Alles  verstehen 
können;  R.  bedient  sich  z.  B.  mancher  Fachausdrücke,  ohne  sie  zu  er- 
läutern. Doch  wie  viele  philosophische  Schriften  giebt  es  überhaupt,  die 
die  meisten  Leser  in  allen  Teilen  völlig  verstehen?  Und  es  ist  zu  be- 
zweifeln, dass  die  Durchschnittsleser  unserer  Einführungen  philosophisch 
ganz  ungeschulte  Köpfe  sind. 

Deuten  wir  kurz  den  Inhalt  an!  Im  Anschluss  an  die  vorliegenden 
einzelnen  Philosophien  und  an  den  Sprachgebrauch  bestimmt  R.  den  Be- 
griff: Philosophie  ist  das  Streben  nach  Erkenntnis  vom  Zusammenhang 
alles  Seienden.  Das  „Grenzgebiet  und  Nachbarreich"  der  Rehgion  wird 
als  Stellung  unseres  Fühlens  und  WoUens  zum  Zusammenhang  alles  Seien- 
den definiert  —  was  mehr  dem  Interesse  einer  reinlichen  Scheidung  als 
den  gesamtenTatsacheu  des  religiösen  Lebens  entsprechen  dürfte. 


302  (Rezensionen  (Richter). 

Ohne  Orientierung  über  die  Prinzipien  des  Erkennens  und  über 
seine  Grenzen  sind  haltbare  Ergebnisse  über  den  Daseinszusammenhang 
nicht  zu  gewinnen.  Die  Erkenntnistheorie  bildet  daher  das  zuerst  zu  be- 
handelnde Hauptofebiet.  Dann  folgt  die  „Seinslehre"  als  Wirklichkeits- 
philosophie und  Wertlehre  (Ethik  und  Religionsphilosophie). 

Die  Theorie  des  Erkennens  untersucht  diese  Funktion  vom  logischen 
Gesichtspunkte  aus,  d.  h.  mit  Bezug  auf  den  Wahrheitsbegriff.  „Wahrheit 
ist  die  Eigenschaft  eines  Urteils,  allgemein  mit  dem  Beurteilten,  näher 
mit  Erfahrung  und  Denken  sich  in  Übereinstimmung  zu  befinden,  und 
unter  der  Bedingung,  dass  wir  uns  dieser  Übereinstimmung  bewusst  sind, 
sicher  in  mir  und  vermutlich  in  allen  anderen  Subjekten  unter  den 
gleichen  Bedingungen  unausbleiblich  Evidenz  zu  erregen"  (S.  26). 

Es  giebt  nur  relative  Wahrheit,  Wahrheit  für  Subjekte.  „Der  Satz: 
,Was  einmal  wahr  gewesen,  bleibt  immer  wahr'  steht  auf  der  gleichen 
Gewissheitshöhe  wie  der  Satz:  ,Ein  freigelassener  Körper  .  .  .  fällt 
immer  zur  Erde'  "  (S.  30).  Aussermenschliche  Wahrheiten  sind  denkbar, 
wenn  auch  nicht  mehr  ganz  auszudenken. 

Augenblickserlebnisse  und  logisch-mathematische  Beziehungen  sind 
denknotwendig.  Der  Gewissheitsgrad  der  Urteile  über  Erfahrungsgesetze 
ist  ein  niedrigerer  (Wissen  zweiter  oder  Glauben  erster  Ordnung).  Ohne 
das  grundsätzlich  Unerfahrbare,  das  Metaphysische,  ist  nur  ein  hypothe- 
tisches Wissen  dritter,  ein  Glauben  zweiter  Ordnung  möglich.  Hier  „ist 
d  er  Erkenntnisgehalt  daran  zu  messen,  inwieweit  diese  Anschauungen  mit 
den  geringstenMitteln  oder  auf  die  einfachste  (ökonomischste) 
Weise  uns  die  gegebene,  d.  h.  erfahrbare  Wirklichkeit  als 
Ganzes  verständlich  machen"  (S.  47). 

R.  prüft  kurz  eine  Reihe  metaphysischer  Hypothesen,  die  Realismus- 
frage, den  Materialismus,  Spiritualismus,  Materio-Spiritualismus,  Neutralis- 
mus (d.  h,  die  Identitätslehre  in  der  Form  der  Zwei-Seitenhypothese), 
Solipsismus,  Polypsychismus  und  Panpsychismus.  Eine  restlose  Erklärung 
der  Wirklichkeit  giebt  keine  der  Hypothesen;  doch  verdienen  ein  ge- 
mässigter Idealismus  sowie  die  I^ehre  von  der  Allbeseeltheit  den  Vorzug. 
Das  Seelische  wird  am  besten  im  Sinne  des  aktualistischen  Voluntarismus 
gedacht. 

Der  5.  Vortrag  behandelt  das  Gottesproblem.  Gott  ist  „der  Urquell 
aller  Elemente  und  aller  Gesetze  der  Wirklichkeit,  und  wenn  diese  Ele- 
mente geistiger  Natur  sind,  so  wird  auch  Gott  zu  einem  geistigen  Wesen 
und  zwar  zum  allgeistigen,  das  sich  auswirkt  im  Vernünftigen  und  Un- 
vernünftigen, im  Guten  und  Bösen,  im  Schönen  und  Hässlichen,  in  der 
unendlichen  Fülle  alles  Seins  und  alles  Werdens"  (S.  101).  —  Der  Geist 
dieses  Vortrags  entspricht  dem  Satze,  der  ihn  beschliesst :  „Die  Philosophie 
nämlich  fängt  —  nach  dem  Ausspruch  eines  jüngst  verstorbenen  Denkers 
—  dort  an,  wo  der  Respekt  aufhört"  (S.  101). 

„Die  Worte  Wert  und  Unwert  bedeuten  uns  irgendein  Etwas, 
ganz  gleich  von  welcher  Art,  insofern  es  auf  ein  fühlendes  und  wollendes 
Wesen  die  Wirkung  ausübt,  von  ihm  als  Zweck  bewusst  begehrt  oder 
gemieden  zu  werden"  (S.  102).  Wert  und  gewolltes  Ziel  sind  vollkommen 
gleichbedeutend  (S.  104).  Unter  dem  Fehler  dieser  dem  üblichen  Wort- 
sinne gegenüber  offenbar  teils  zu  weiten  teils  zu  engen  Definition  leidet 
R.s  ganze  Ethik,  Natürlich  kann  von  dieser  Bestimmung  aus  kein  allge- 
meiner „Oberwert"  gefunden  werden.  —  „Den  extensiveren  oder  inten- 
siveren oder  den  zentraleren  Willen  durchzusetzen  gegen  die  konkurrieren- 
den Wollungen,  darin  besteht  die  Sittlichkeit"  (S.  112).  —  Ein  Teufel 
dürfte  demnach  wohl  beanspruchen,  von  R.  sittlich  genannt  zu  werden. 
Übrigens  ist  sich  der  Verf.  wohl  bewusst,  „eine  starke  Verschiebung  des 
Sinnes  von  Sittlichkeit"  vollzogen  zu  haben. 

Die  gefühls-  und  willensmässige  Stellungnahme  zum  Weltganzen,  die 
Religion  wird  zunächst  in  den  extremen  Formen  des  Optimismus  und 
Pessimismus   durch   klassische  Beispiele  illustriert.    R.  selbst  bekennt  sich 


Rezensionen  (Sidgwick).  303 

„weder  zu  der  einseitigen  Verwerfung,  noch  zu  der  einseitigen  Beförderug 
des  Daseins  in  seiner  Ganzheit,  weder  znm  schrankenlosen  Pessimismus, 
noch  zum  schrankenlosen  Optimismus.  Unser  religiöser  Wille  drängt  uns, 
das  führende  Entwickelungsgesetz  der  Welt,  die  Steigerung  zu  immer 
geordneteren  und  zugleich  umfassenderen,  zu  immer  geschlosseneren  und 
zugleich  in  den  Teilgliedern  selbständigeren  und  freieren  Formen  des  Da- 
seins zu  bejahen,  die  in  der  wissenschaftlichen,  künstlerischen 
und  sittlich-religiösen  Kultur  der  Menschheit  bisher  ihre 
Gipfel  erreichten  .  .  .  Doch  das  ist  persönliche  Willensentscheidung, 
die  niemanden  von  Ihnen  bindet"  (S.  124). 

Zur  Charakterisierung  des  ganzen  Büchleins  mögen  noch  einige 
Sätze  aus  dem  letzten  Abschnitt  dienen:  „Gestehen  wir  es  uns  doch:  wer 
hätte  nicht  den  stolzen  Bau  der  mit  einer  Unzahl  allgemeingültiger  Inhalte 
erfüllten  Moral  und  Religion  in  den  ernsten  Stunden  der  Selbstbesinnung 
in  allen  Fugen  krachen  hören  ?  Wem  es  noch  nicht  geschah,  der  höre 
auch  nicht  auf  meine  Worte  —  sie  werden  ohnehin  spurlos  an  ihm  vor- 
übergehen. Wem  es  aber  geschah,  der  wird  auf  die  Erschütterung  der 
Mauern  auch  noch  den  Sturz  dieses  Palastes  folgen  sehen.  Und  dann  wird 
er  sich  sehnen  nach  der  Errichtung  einer  Moral  und  Religion,  die  nicht 
steht  und  fällt  mit  Gesetzbüchern  und  kirchlichen  Dogmen.  Er  wird 
ganz  von  selbst  die  Wege  philosophischer  Betrachtung  einschlagen,  um 
die  Probleme  zunächst  sicher  zu  stellen,  nachdem  das  scheinbar  Ge- 
sichertste problematisch  geworden  _  war"  (S.  125).  So  schroff  der  Verf. 
auch  gegen  verbreitete  religiöse  Überzeugungen,  z.  B.  gegen  die  prak- 
tischen Postulate,  Stellung  nimmt,  das  religiöse  Problem  ist  offenbar 
wesentliche  Triebkraft  seines  Denkens.  Vielfach  zeigen  sich  die  Ergeb- 
nisse seiner  Skeptizismus-  und  Nietzsche-Forschungen  in  der  Einführung 
wirksam. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  bei  der  Fülle  der  angeschnittenen 
Probleme  der  Ref.  vielfach  zur  sachlichen  Kritik  Anlass  zu  haben  glaubt. 
Doch  ist  das  Eingehen  auf  alle  Differenzpunkte  einer  solchen  Skizze 
gegenüber  nicht  angebracht. 

Erich  Becher. 

Sidewick,  Henry.  Die  Methoden  der  Ethik.  Deutsch  von 
C.  Bauer.  Bd.  II.  Leipzig  1909.  Verlag  von  W.  Klinkhardt.  (XII 
u.  307  S.) 

Nachdem  im  Bd.  I  (der  vom  Ref.  in  den  Kantstudien  kürzlich  ange- 
zeigt wurde)  die  erste  der  drei  Haupt-„Methoden"  der  Ethik,  auf  die 
Sidgwick  alle  übrigen  zurückführt,  die  des  Egoismus  eingehend  geprüft 
worden  ist,  folgt  im  zweiten  und  abschliessenden  Bande  die  nicht  weniger 
sorgfältige  Untersuchung  der  .  intuitionistischen  und  der  utilitaristischen 
Methoden. 

Das  Vorhandensein  von  Beurteilungen  des  richtigen  Verhaltens,  die 
als  intuitive  imponieren,  muss  jedenfalls  anerkannt  werden.  Die  Wer- 
tungen von  Weisheit  und  Selbstbeherrschung,  Wohlwollen,  Gerechtigkeit, 
Wahrhaftigkeit,  Mut,  Bescheidenheit  und  anderen  Tugenden  und  Pflichten 
werden  als  ethische  Intuitionen  des  gemeinen  Menschenverstandes  von 
S.  analysiert.  Dabei  ergeben  sich  grosse  Schwierigkeiten  inbezug  auf 
Abgrenzung  und  Rangordnung  der  Tugenden  und  Pflichten,  Schwierig- 
keiten, die  der  gemeine  Menschenverstand  vielfach  durch  Berufung  auf 
utilitaristische  Massstäbe  zu  beseitigen  sucht.  Werden  Motive  als  die 
eigentlichen  Gegenstände  sittlicher  Urteile  betrachtet,  so  treffen  wir  auf 
entsprechende  Schwächen  dieser  Ausgestaltung  des  Intuitionismus. 

Der  philosophische  Intuitionismus  ist  daher  gezwungen,  allgemeinere 
Prinzipien  hinter  jenen  Beurteilungen  des  gemeinen  Menschenverstandes 
zu  suchen.  Dabei  hat  er  neben  vielen  tautologischen  Sätzen  einige  be- 
deutsame abstrakte  Moralintuitionen  aufgewiesen.  „Ich  weiss  durch  Nach- 
denken, dass  die  Sätze  »Ich  soll  die  Wahrheit  sagen«,  »Ich  soll  meine 
Versprechungen   halten«,   so   wahr  sie  auch  sein  mögen,   für  mich  selbst- 


304  Rezensionen  (Sidgwick). 

verständlicli  sind ;  sie  stellen  sich  als  Sätze  dar,  die  eine  vernünftige 
Rechtfertigung'  irgendwelcher  Art  erfordern.  Andererseits  stellen  sich  die 
Sätze  »Ich  soll  ein  kleineres  gegenwärtiges  Gute  nicht  einem  grösseren 
zukünftigen  vorziehen«  und  »Ich  soll  mein  eigenes  kleineres  Wohl  nicht 
dem  grösseren  eines  anderen  vorziehen«  mir  als  selbstverständlich  dar, 
geradeso,  wie  etwa  das  mathematische  Axiom"  (S.  175).  Indem  S.  die  ge- 
fundenen Intuitionen  verbindet,  gelangt  er  zum  ütilitarismus  oder  „uni- 
versalistischen Hedonismus";  bei  letzterer  Bezeichnung  ist  natürlich  nicht 
an  Lust  in  irgend  einem  speziellen  Sinne,_  sondern  an  die  Gesamtsumme  von 
Glücksgefühlen  zu  denken.  Zu  dieser  Überführung  des  Intuitionismus  in 
den  Ütilitarismus  ist  eine  Unternehmung  über  das  höchste  Gut,  eine 
werttheoretische  Betrachtung  erforderlich.  Das  im  letzten  Grunde  Gute 
kann  nur  in  einem  begehrenswerten  Bewusstseinszustande  bestehen,  nicht 
in  etwas  Un-  oder  Ausserbewusstem.  Der  gesunde  Menschenverstand 
scheint  es  zuletzt  ausschliesslich  in  Glückseligkeit  zu  suchen. 

Die  Untersuchung  des  Ütilitarismus  geht  von  der  Festlegung  der 
Wortbedeutung  aus;  wie  wichtig  diese  Aufgabe  ist,  geht  daraus  hervor, 
dass  ein  sehr  beträchtlicher  Teil  der  Einwände  gegen  diese  Methode  einer 
falschen  Auffassung  des  nicht  gerade  glücklichen  Ausdrucks  entspringt. 
Nocli  kürzlich  hat  etwa  bei  uns  Dürr  diesen  Terminus  in  einer  Weise 
verwandt,  die  zwar  dem  ursprünglichen  Wortsinne,  in  keiner  Weise  aber 
der  historischen  Fixierung  desselben  in  der  englischen  Ethik  angemessen 
erscheint. 

Der  Ütilitarismus  deckt  sich  in  weiten  Grenzen  mit  der  Ethik  des 
gemeinen  Menschenverstandes;  der  Moralsinn  ist,  nebst  seinen  Unter- 
schieden bei  verschiedenen  Völkern,  „unbewusst  utilitarisch".  Darum  hat 
der  Utilitarier  im  allgemeinen  die  Pflicht,  die  herrschende  Sittlichkeit  zu 
vertreten.  Doch  wird  es  Einzelfälle  geben,  in  denen  er  mit  ihr  in  Kon- 
flikt kommen  muss.  Derartige  Konsequenzen  hebt  S.  schroff  hervor,  wie 
er  denn  überhaupt  gegen  seine  eigene  Auffassung  durchaus  unparteiisch 
die  bemerkten  Schwierigkeiten  ins  Feld  führt.  Ein  Bedenken  —  und  es 
erscheint  dem  Ref.  als  theoretisch  recht  wesentlich,  wenn  auch  praktisch 
weniger  bedeutsam  —  wird  leider  nicht  berücksichtigt.  Es  entspringt  aus 
der  Frage  nach  der  Verteilung  der  letzten  Werte.  Denken  wir  uns  zwei 
Verteilungen  der  Glücksgefühle  als  möglich ;  bei  der  ersten  mögen  die 
Individuen  einigermassen  gleichmässig  bedacht  werden ;  die  zweite  Ver- 
teilnngsart  führe  im  ganzen  zu  einem  geringen  Glücksüberschuss  gegen- 
über der  ersten,  komme  aber  zu  diesem  Ergebnis  durch  eine  gänzlich  un- 
gleichmässige  Verteilung,  mache  zahlreiche  Menschen  tief  unglücklich,  um 
anderen  um  so  mehr  Glück  zu  verschaffen.  Der  Ütilitarismus  entscheidet 
.sich  für  die  letztere  Möglichkeit.  Mir  scheint  hier  eine  Schwierigkeit 
des  Systems  zu  liegen ;  kritische  Bemerkungen  Dürrs  gaben  mir  von 
Neuem  Anlass,  sie  immer  mehr  zu  empfinden.  Es  ist  eine  nicht  leicht  zu 
entscheidende  Frage,  ob  das,  was  Fechner  vorbringt,  in  der  Tat  zur  Be- 
seitigung des  Bedenkens  genügt.  Es  giebt  eben  versoliiedene  Formen 
des  altruistischen  universellen  Hedonismus  oder  Eudämonismus,  und  die 
Entscheidung  zwischen  diesen  Formen  erscheint  dem  Ref.  als  eine  der 
schwierigsten  Aufgaben  der  Ethik. 

S.  findet  die  tiefste  Schwierigkeit  für  sein  ethisches  Denken  an 
einer  anderen  Stelle.  Der  egoistische  Hedonismus  erscheint  ebensowoiil 
rational  als  der  universalistische.  Nur  die  religiöse  Sanktion  könnte  eine 
Lösung,  einen  Ausgleich  bringen.  Man  fühlt  durch  die  nüchterne  Dar- 
stellung hindurch,  wie  hier  um  ein  Lebensproblem  gerungen  wird,  wie 
innere  Wahrhaftigkeit  und  ethisch-religiöses  Empfinden  nach  harmonischer 
Verbindung  streben.  S.  deutet  an,  auf  welchem  Wege  er  den  Ausgleich 
sucht,  vermeidet  aber  angesichts  der  grossen  theoretischen  Schwierigkeiten 
des  Problems  jene  Entschiedenheit  der  Stellungnahme  zu  den  praktischen 
Postulaten,  die  er  bei  Kant  vorfand. 


Rezensionen  (Verworn).  305 

Ein  Anhang  untersucht  die  Zweideutigkeit  des  Wortes  Freiheit  bei 
Kant  und  die  tiefgreifenden  Konsequenzen,  die  sie  für  seine  Ethik  mit 
sich  bringt, 

Ref.  bekennt  sieh  gerne  als  Verehrer  S.s,  seiner  unparteiischen, 
nüchternen,  von  strengster  Selbstkritik  zeugenden  Forschung.  Wenn  die 
Gründliclikeit  der  Untersuchung  zuweilen  zu  einer  unnötigen  Breite  führt, 
so  wird    dieser  Fehler    der  Darstellung  durch  ihre  Klarheit  wohl  reichlich 


aufgehoben. 


Erich  Becher. 


Verworn,  M.  Die  Mechanik  des  Geisteslebens.  2.  Aufl. 
Aus  Natur  und  Geisteswelt.  200.  Bd.  B.  G.  Teubner,  Leipzig  1910. 
(114  S.) 

Das  Büchlein  enthält  fünf  gemeinverständliche  Vorträge:  Leib  und 
Seele,  die  Vorgänge  in  den  Elementen  des  Nervensystems,  die  Bewusst- 
seinsvorgänge,  Schlaf  und  Traum,  Suggestion  und  Hypnose.  Nur  der 
erste  Vortrag  beschäftigt  sich  mit  philosophisch-erkenntnistheoretischen 
Fragen;  die  übrigen  Ausführungen  betreffen  einzelwissenschaftliche,  phy- 
siologisch-psj'chologische  Gegenstände. 

Die  Neuauflage  bringt  einige  kleine  Erweiterungen  und  neue  Text- 
abbildungen, im  Ganzen  18  klare  Figuren. 

V.  geht  aus  von  einer  Kritik  der  Leib-Seele-Hypothesen,  des  Dua- 
lismus, des  Parallelismus,  des  Materialismus,  der  Ostwaldschen  Hypothese 
einer  psychischen  Energie.  Er  hält  die  ganze  Fragestellung  für  verfehlt, 
und  um  dies  zu  erweisen,  giebt  er  zunächst  eine  anschauliche  Schilderung 
der  Entstehung  dualistischer  Ansichten.  Doch  erkenntnistheoretische 
Überlegung  zeigt,  dass  keine  Dualität  besteht;  denn  auch  die  Körperwelt 
besteht  nur  aus  Empfindungen.  Immerhin  sollen  die  Körper  auch  ausser- 
halb des  „Ich"  existieren.  Aber  „wollte  ich  annehmen,  dass  die  Dinge 
etwas  anderes  sind,  wenn  ich  die  Augen  geschlossen  halte,  als  wenn  ich 
sie  offen  habe,  so  würde  ich  eine  reine  Hypothese  aufstellen"  (S.  15). 
Ref.  ist  auch  der  Meinung,  dass  es  sich  um  eine  Hypothese  handeln  muss ; 
aber  er  hält  diese  Hypothese  für  besser  begründet  als  die  des  Verfs.,  der 
einfach  die  Empfindungskomplexe  objektiviert.  Das  Ding  „für  sich",  wie 
V.  sagt,  kann  nicht  mit  dem  Empfindungskomplexe  des  wahrnehmenden 
„Ich"  gleich  oder  gar  identisch  sein;  denn  zu  gleicher  Zeit  haben  ver- 
schiedene „Ich"  verschiedene  Wahrnehmungskomplexe  desselben  Dinges. 
Darum  fasst  der  übliche  naturwissenschaftliche  Realismus  das  Ding  für 
sich  als  Ursache,  oder,  da  Verworn  nur  von  Bedingungen  sprechen  will, 
als  wichtigste  Bedingung  der  Empfindung.  Bedingung  und  Bedingtes, 
Ding  und  Empfindung  sind  aber  verschieden,  und  damit  ist  das  Leib- 
Seele-Pioblem  wieder  vorhanden.  Das  ist  so  unvermeidlich,  dass  auch  V. 
gelegentlich  dazu  gedrängt  wird,  die  Empfindung  als  „Resultat"  (S.  17) 
der  Beziehung  des  elektrischen  Stromes  zum  Sinnesorgan  aufzufassen.. 

Die  Aufgabe,  die  V.  auf  Grund  seiner  erkenntnistheoretischen  Über- 
legungen der  Wissenschaft  stellt,  besteht  in  der  Ermittelung  der  Bedin- 
gungen, unter  denen  die  Zustände  und  Vorgänge  des  Geisteslebens  Zu- 
standekommen. Eine  solche  Aufgabe  wird  jeder  Erkenntnistheoretiker 
anerkennen.  In  der  Tat  giebt  V.  im  Folgenden  eine  recht  anschauliche 
Darstellung  der  Hauptpunkte  dessen,  was  über  die  körperlichen  Grund- 
lagen des  Seelenlebens  bekannt  ist  bezw.  hypothetisch  angenommen  wird. 
Da  es  sich  um  Dinge  handelt,  die  nicht  direkt  in  das  Gebiet  der  wissen- 
schaftlichen Arbeit  dieser  Zeitschrift  fallen,  deuten  wir  nur  einige 
Punkte  an. 

Die  Neuronenlehre,  welche  die  Nervenfasern  als  Teile  der  Nerven- 
zellen auffasst,  ist  durch  die  Beobachtung  der  sich  entwickelnden  Zelle 
(Ramon  y  Cajul,  Harrison)  besser  fundiert  als  jemals.  Die  Physiologie  von 
Zelle  und  Faser  wird  auf  Grund  der  neuesten,  vielfach  in  V.s  Laboratorium 
durchgeführten  Forschung  skizziert. 


306  Rezensionen  (Busse). 

Der  3.  Vortrag  schildert  die  Haupttatsachen  der  Lehre  von  der 
Hirnlokalisation  der  Bewusstseinsinhalte,  ferner  die  —  recht  erheblichen 
Bedenken  ausgesetzte  —  Bahnungshypothese  der  Assoziation  und  des 
Denkens. 

Im  4.  Abschnitt  wird  zunächst  eine  interessante  Erklärung  der 
Hemmungserscheinungen  versucht.  Dann  folgt  eine  Kritik  der  be- 
kanntesten Schlaftheorien,  die  als  Grundlage  der  positiven  Aufstellungen 
über  diese  Erscheinung  dient:  „Der  Schlaf  ist  die  Resultante  folgender 
Bedingungen.  Während  der  Dauer  des  wachen  Zustandes  unterhalten  die 
Sinnesreize  fortwährend  starke  dissimilatorische  Erregungen  in  den 
Ganglienzellen  der  Grosshirnrinde  und  setzen  ihre  Erregbarkeit  durch 
Erschöpfung  und  Ermüdung  herab.  Wir  schlafen  dann  ein,  wenn  wir  die 
Reize,  die  von  den  Sinnesorganen  her  zum  Gehirn  gelangen,  ausschliessen. 
Infolgedessen  fallen  die  Bedingungen  für  die  Erregung  fort  und  die  dis.si- 
milatorische  Erregung  klingt  ab.  Auf  Grund  des  Gesetzes  von  der 
Selbststeuerung  des  Stoffwechsels  vollzieht  sich  alsdann  die  Restitution 
durch  Überwiegen  der  Assimilationsprozesse  und  Beseitigung  der  Er- 
müdungsstoffe von  selbst,  so  dass  die  Erregbarkeit  wieder  steigt.  Am 
Morgen  ist  die  Erholung  vollendet.  Die  Erregbarkeit  hat  ihr  physio- 
logisches Maximum  erreicht  und  die  schwächsten  Reize  wecken  uns  auf" 
(S.  93,  94). 

Allen  Träumen  liegen  Reizwirkungen  zu  Grunde,  die  Erregungen 
in  bestimmten  Gebieten  der  Grosshirnrinde  bedingen.  Der  Traum  ist  ein 
partieller  Wachzustand  des  Gehirns.  Die  Zustände  der  Somnambulie  sind 
„nahezu  Wachzustände,  wenn  auch  immerhin  nur  partielle.  Jedenfalls 
aber  sind  sie  wohl  von  allen  Traumzuständen  diejenigen,  die  durch  das 
Wachsein  der  motorischen  Sphäre  am  meisten  nach  der  Seite  des  Wach- 
lebens hinüberreichen"  (S.  103). 

Die  Hypnose  ist  durchaus  ein  Wachzustand.  Das  Wesen  der  hypno- 
tischen Erscheinungen  liegt  in  der  grossen  Suggestibilität.  Die  so  selt- 
samen hypnotischen  Phänomene  werden  durch  ähnliche,  minder  auffällige 
Suggestivwirkungen  im  Normalzustande  erläutert. 

„In  Wirklichkeit  kann  in  der  Hypnose  nichts  geleistet 
werden,  was  nicht  von  der  betreffenden  Person  im  gewöhn- 
lichen Zustande  auch  willkürlich  ausgeführt  werden  kann" 
(S.  111).  (?  Man  denke  an  die  doch  wohl  gut  verbürgten  lokalen  Reiz- 
erscheinungen auf  der  Haut,  die  bis  zur  Blasenbildung  führen.  Ref.)  — 
Die  Hypnose  ist  immerhin  kein  totaler  Wachzustand.  Die  Intensität  der 
suggestiv  hervorgerufenen  Vorstellungen  bedingt  auch  gesteigerte  Hem- 
mungswirkungen. Übrigens  haben  solche  Hemmungen  der  Kritik,  so  auf- 
fällig wirksam  eie  sind,  doch  ihre  Grenzen.  Deshalb  ist  es  nicht  möglich, 
einen  normalen  Menschen  in  der  Hypnose  zu  einem  Verbrechen  zu  ver- 
anlassen. 

Die  Schreibweise  V's.  ist  hier  wie  in  seinen  anderen  Schriften  klar 
und  lebendig,  und,  wenn  ich  richtig  urteile,  auch  einigermassen  populär. 

Erjch  Becher. 

Busse,  L.  Die  Weltanschauungen  der  grossen  Philosophen 
der  Neuzeit.  4.  Aufl.  Herausg.  von  R.  Falckenberg.  B.  G.  Teubner, 
Leipzig  1909.    (VIII  u.  156  S.) 

Ref.  möchte  das  Büchlein  durch  einige  Worte  aus  der  Vorrede  zur 
1.  Auflage  charakterisieren.  „Es  wendet  sich  .  .  .  mit  weiteren  Absichten 
an  weitere  Kreise.  Seinen  Inhalt  bilden  volkstümliche  Hochschul  vortrage 
.  .  .,  und  es  verfolgt  denselben  Zweck,  dem  diese  Vorträge  gelten :  weitere 
Kreise  in  allgemeinverständlicher  Form  mit  den  bedeutendsten  Er- 
scheinungen der  neueren  Philosophie  bekannt  zu  machen  und  dadurch 
in  ihnen  Interesse  und  Verständnis  für  die  Philosophie  überhaupt  und  ihre 
Probleme  zu  erwecken.  .  .  .  (Ich  habe  mich)  auf  die  Darstellung  der 
grossen  klassischen  Systeme  beschränken  müssen;  und  auch  von  diesen 
konnten   nur   die   metaphysischen,    erkenntnistheoretischen   und   ethischen 


Rezensionen  (Wittmann).  307 

Grundanschauuno;en  berücksichtigt  werden.  .  .  .  Ferner  habe  ich  beson- 
deres Gewicht  darauf  gelegt,  den  Zusammenhang  der  einzelnen  Systeme 
untereinander,  den  durch  sie  hindurch  sich  vollziehenden  Fortschritt  der 
philosophischen  Gesamtentwickelung  überall  erkennbar  zu  machen.  .  .  . 
In  der  Darstellungsweise  wurde  Allgemeinverständlichkeit  durchweg  an- 
gestrebt und  der  Klarheit  und  Deutlichkeit  des  Ausdrucks  der  Vorzug 
gegeben  vor  rhetorischem  Schmuck."  Ref.  wäre  wahrscheinlich  unbedenk- 
lich gewesen,  dem  Büclüein  die  angestrebte  Allgemeinverständlichkeit  zu- 
zusprechen, wenn  ihm  nicht  vor  wenigen  Tagen  zufällig  ein  Leser  von 
der  Schwierigkeit  dieser  Lektüre  gesprochen  hätte! 

F.  hat  den  Text  pietätvoll  beibehalten,  einige  Notizen  korrigiert, 
Anmerkungen  hinzugefügt  und  im  Vorwort  eine  kurze  Biographie  des 
Verf.  geliefert. 

Der  Inhalt  der  kleinen  Schrift  ist  wahrlich  ein  reicher.  Denkern 
allerersten  Ranges  wird  natürlich  verhältnismässig  viel  Raum  gewährt, 
und  die  Kantdarstellung,  die  24  Seiten  beansprucht,  geht  in  manchen 
Punkten  schon  bis  zu  Details.  Als  Historiker  nimmt  B.  entschieden 
Partei;  so  ist  die  Mill-Skizze  wohl  etwas  reichlich  mit  Kritik  belastet. 
Vielleicht  ist  es  auch  nicht  ganz  unparteiisch,  wenn  Fechner  unberück- 
sichtigt bleibt,  während  Lotze  nicht  fehlt. 

Doch  lassen  wir  alle  kritischen  Bemerkungen  beiseite.  Es  ist  über- 
aus erfreulich,  dass  der  deutsche  Leser  für  so  billiges  Geld  einen  ge- 
diegenen Abriss  der  Geschichte  der  neueren  Philosophie  erhalten  kann, 

Erich  Becher. 

Wittmann,  M.  Die  Grundfragen  der  Ethik.  Sammlung  Kösel. 
Kempten  und  München.     (179  S.) 

Der  Verf.,  Professor  am  bischöflichen  Lyzeum  in  Eichstädt,  giebt 
eine  in  mancher  Hinsicht  geschickte  Begründung  der  theologischen  Ethik. 
„In  erster  Linie  muss  .  .  .  daranliegen,  das  Sittliche  seinem  empirische  n 
Wesen  nach  auf  einen  zutreffenden  Begriff  zu  bringen"  (S.  7).  Da  werden 
zunächst  in  der  Erfahrung  bleibende  sittliche  Grundanschauungen  vorge- 
funden (Kritik  des  „Moralpositivismus",  S.  15  f.);  in  der  Wahl  seiner  Bei- 
spiele ist  W.  allerdings  mehrfach  nicht  glücklich,  z.  B.  wenn  er  meint, 
dass  Grausamkeit  immer  moralisch  verurteilt  worden  sei.  Die  sittliche 
Qualität  ist  nicht  —  wie  unter  anderen  Nominalisten  lehrten  —  äusserlich 
an  die  Handlungen  herangebracht;  der  Zusammenhang  ist  vielmehr  trotz 
aller  Wandelbarkeit  im  Einzelnen  ein  sachlicher  und  notwendiger.  Aus- 
fülirlich  wird  die  Wohlfahrtsmoral  besprochen  und  mit  den  üblichen,  nach 
der  Ansicht  des  Ref.  nicht  genügenden  Argumenten  bekämpft.  Auch  die 
Kultur  kann  nicht  als  höchstes  Ziel  sittlichen  Handelns  anerkannt  werden. 
Dies  liegt  in  der  Vollendung  der  Natur,  in  der  Realisierung  des  durch  sie 
gebotenen  Ideals  der  Persönlichkeit.  „Was  immer  die  materielle  Natur 
an  Fähigkeiten  enthält,  wird  zur  Entfaltung  eines  geistigen  Lebens  auf- 
geboten. Ein  vernünftig  freies  Wesen,  eine  Persönlichkeit  soll  sich  ent- 
wickeln und  vollenden.  .  .  .  Dies  ist  der  Sinn,  den  wir  aus  der  Menschen- 
natur herauslesen  müssen.  Im  Menschen  verfolgt  die  Naturordnung  ihren 
höchsten  Zweck"  (S.  68,  69).  —  Auch  wenn  wir  diese  metaphysische  Natur- 
auffassung anzuerkennen  bereit  wären,  bliebe  es  immer  noch  zweifelhaft, 
ob  wir  den  Naturzweck  zum  Inhalt  des  Sittengesetzes  machen  dürfen, 
wie  W.  dies  unbedenklich  tut. 

„Nimmehr  wendet  sich  die  Aufmerksamkeit  einer  anderen  Seite  des 
Sittlichen  zu,  nicht  dem,  was  vorgeschrieben  ist,  sondern  dem  Vorge- 
schriebensein selbst,  nicht  dem  inhaltlichen,  sondern  dem  formellen  Ele- 
ment" (S.  81).  Woher  hat  das  Sittengesetz  den  Pflichtcharakter,  die  Ge- 
setzesnatur? Verf.  kritisiert  mehrere  Richtungen  der  autonomen  Ethik 
(Kant,  Krueger,  Messer,  Wentscher,  Feuerbach,  Paulsen),  um  zu  zeigen, 
dass  diese  das  Pflichtgebot  nicht  erklären  könne;  leider  lässt  es  die  ein- 
gehende  psychologische   Analyse   des   Gewissens,   welche   in   den   letzten 

Kantstudien    XV.  20 


308  Rezensionen  (Apel). 

Jahrzehnten  vielfach  gefördert  worden  ist,  zu  sehr  ausser  Betracht.  Es 
wäre  zu  berücksichtigen,  dass  das  Gewissen  ein  Produkt  zahlreicher  Fak- 
toren sein  könnte,  und  dass  daher  in  den  kritisierten  Anschauungen  richtige 
Elemente  angedeutet  sind,  die,  in  ihrer  Isolation  ungenügend,  bei  ihrer 
Verbindung  dem  Problem  besser  gerecht  werden.  —  Verpflichtung  kann 
nur  von  einer  Autorität  ausgehen.  Das  höchste  sittliche  Gesetz  fordert 
einen  höchsten  sittlichen  Willen;  es  ist  nur  verständlich  als  göttliches 
Gebot.  Indessen  „der  Nachweis  hat  nicht  das  Dasein  eines  höchsten 
Wesens  zum  Gegenstand,  sondern  das  Dasein  der  religiösen  Denkweise. . . . 
Das  Ergebnis  ist,  dass  unser  sittliches  Denken  aus  dem  religiösen  Bewusst- 
sein  stammt  .  .  ."  (S.  129).  „Wo  keine  Religion,  da  auch  keine  Pflicht, 
ja  keine  Moral"  (S.  129).  (Hierbei  ist,  nach  der  Meinung  des  Ref.  mit 
Unrecht,  vorausgesetzt,  dass  das  Pflichtbewusstsein  allein  aus  dem  Gottes- 
glauben stamme.) 

Das  Sittliche  ist  Forderung  der  Natur,  Gebot  ihres  göttlichen  Ur- 
hebers, Gewährleistung  der  Glückseligkeit.  „Als  Prinzip  der  Sittlichkeit 
durchaus  unbrauchbar,  ist  der  Glückseligkeitsgedanke  als  untergeordneter 
Beweggrund  des  sittlichen  Handeln  nicht  abzuweisen"  (S.  164). 

Der  Schlussabschnitt  bekämpft  den  Determinismus.  Für  die  Kritik, 
wie  Verf.  sie  vielfach  übt,  ist  die  Behauptung  charakteristisch,  dass  nach 
der  Abschreckungstheorie  auf  ganz  geringe  Vergehen  exorbitante  Strafen 
zu  setzen  seien  (S.  175).  Mit  Konsequenzen  von  solcher  Bündigkeit  kann 
man  wohl  jede  ethische  Theorie  ad  absurdum  führen ! 

Erich  Becher. 

Ape!,  Max,  Dr.,  Kommentar  zu  Kants  Prolegomena.  Eine 
Einführung  in  die  kritische  Philosophie.  1.  die  Grundprobleme  der  Er- 
kenntnistheorie. 1908,  Buchverlag  der  „Hilfe"  Berlin-Schöneberg.  (X 
u.  224  S.) 

Der  Berichterstatter  über  populärwissenschaftliche  Arbeiten  unter- 
nimmt eine  Aufgabe,  die  ihn  in  eigenartige  Schwierigkeiten  bringt;  legt 
er  den  Masstab  der  Popularität  an,  wird  er  als  Rezensent  für  eine  wissen- 
schaftliche Zeitschrift  nicht  gar  viel  zu  sagen  wissen,  sucht  er  rigoros 
nach  Wissenschaftlichkeit,  wird  er  zu  schroffem  Aburteilen  meistens  all- 
zureiche Gelegenheit  finden.  Populärwissenschaftliche  Arbeiten  dürfen  die 
heissen,  die  in  klarer  Form  die  Resultate  der  Wissenschaft  darstellen;  es 
liegt  in  ihrem  Wesen,  dass  sie  sich  des  methodischen  Suchens  bewusst 
enthalten,  dass  sie  deshalb  auch  von  Kritiken,  abweisenden  wie  zu- 
stimmenden, absehen.  Apels  Kommentar  soll  eine  populäre  Einführung  in 
die  kritische  Philosophie  sein,  er  verzichtet  damit  auf  zweierlei:  1.  auf  die 
Voraussetzung,  dass  der  Leser  wesentliche  Kenntnisse  und  methodische 
Schulung  mitbringt,  2.  auf  die  Vollständigkeit  und  Ausführlichkeit,  die 
man  sonst  von  einem  Kommentar  mit  vollem  Rechte  erwartet.  Erst  dieser 
Verzicht  rechtfertigt  die  Mängel  eines  solchen  Kommentars  im  Verhältnis 
zu  einem  wissenschaftlichen  und  macht  sie  im  Rahmen  des  Bezweckten  zu 
Vorzügen.  In  dieser  Beschränkung  liegen  in  der  Tat  die  Vorzüge  unseres 
Kommentars,  seine  Schwächen  zumeist  in  dem  Überschreiten  des  selbst 
gezeichneten  Rahmens,  in  dem  Hinaustreten  in  eine  die  Anlage  des  Buches 
negierende  Wissenschaftlichkeit.  Nur  aus  der  Beschränkung  der  Aufgabe 
begreift  sich  ja  auch  der  Einfall,  die  Prolegomena  und  nicht  die  Kritik 
der  reinen  Vernunft  zu  Grunde  zu  legen.  Die  mannigfachen  Kommentare 
zu  Kants  Hauptwerk,  deren  ersten  Kant  selbst  sein  Interesse  entgegen- 
brachte, verfolgen  jeder  für  sich  einen  anderen  Zweck.  Apel  stellt  sich 
selbst  die  Aufgabe,  die  Mitte  zu  halten  zwischen  dem  grossangelegten 
Kommentar  Vaihingers  und  dem  sich  wesentlich  auf  eine  erläuternde,  nicht 
leicht  verständliche  Zusammenziehung  beschränkenden  Kommentar  Cohens. 
Soviel  sich  aus  einem  sorgfältigen  Vergleich  mit  dem  Text  ergiebt,  bringt 
er  folgendes:  1.  Kurze  Zusammenfassungen  und  Erläuterungen  zu  den 
einzelnen  Abschnitten.     2.  Kritiken   an  Kant.    3,  Hinweise   auf   die  Ent- 


Rezensionen  (Apel).  309 

stehung   der   Kantischen   Resultate,   ihre   Entwickhing   und  Veränderiin|. 

4.  Ergänzende  Ausführungen  aus  dem  Hauptwerk  und  aus  den  von  Erd- 
mann   herausgegebenen    ,.Reflexionen    Kants    zur    kritischen   Philosophie". 

5.  Hinweise  auf  die  Geschichte  der  Philosophie.  6.  Andeutungen  und 
Kritiken  über  die  von  Kant  abweichenden  Ansichten.  Der  vorliegende 
erste  Teil  des  Kommentars  umfasst  ausser  der  Vorrede  die  Paragraphen 
1_39^  d.  h.  er  beschäftigt  sich  im  wesentlichen  mit  der  „Allgemeinen 
Aufgabe-'  und  der  Grundlegung  der  Erkenntnistheorie.  Die  sechs  an- 
geführten Leistungsgebiete  sind  von  ungleichem  Wert.  1.  Wenn  Schulze 
und  Meilin  es  für  ratsam  hielten,  Absatz  für  Absatz  der  Vernunftkritik 
zusammenzufassen,  so  war  das  in  der  teilweisen  Dunkelheit  und  Schwer- 
fälligkeit des  Textes  begründet.  Die  Prolegomena  dagegen  bedürfen 
einer  derartigen  Klärung  keineswegs.  Im  Gegenteil  belasten  sie  einen 
Kommentar  nur  zu  seinem  Nachteil.  Darin  liegt  der  Grund,  dass  Apels 
Kommentar  für  seinen  Zweck  zu  umfangreich  wurde;  denn  in  den  224 
Seiten  sind  nach  der  Dürrschen  Ausgabe  nur  90  Seiten  bearbeitet.  Dagegen 
sind  die  Erläuterungen  zu  grundlegenden  Erörterungen,  so  trefflich  und 
von  Kenntnis  der  Kantischen  Philosophie  oftmals  zeugend,  an  anderen 
Stellen  karg  und  ärmlich  ausgefallen.  So  erwartet  man  wohl  mit  Recht 
einige  Ausführlichkeit  bei  der  Besprechung  von  Kants  Unterscheidung  der 
Urteile  in  analytische  und  synthetische,  zumal  diese  zu  den  mannigfachsten 
Einwendungen  und  Missdeutungen  Anlass  gegeben  hat  und  sie  vom  Ver- 
fasser des  Kommentars  selbst  „berühmt"  (nach  anderen  berüchtigt)  genannt 
wird.  In  dem  was  darüber  gesagt  ist,  wird  der  Kern  der  Sache  absolut 
nicht  getroffen.  Zu  den  Fragen,  die  ganz  ungenügend  behandelt  sind  — 
und  dies  natürlich  vom  Standpunkte  einer  ,Einführung'  aus  — ,  gehören 
noch  sehr  viele.  Die  Grundlegung  der  Kategorienlehre  (Prol.  §  18—22) 
ist  so  gut  wie  garnicht  beachtet;  über  das  Wesen  der  Kategorien,  ihre 
Begründung  und  Beziehung  zu  der  herrschenden  formalen  Logik  hätte 
doch  wohl  einiges  bemerkt  werden  müssen.  Gänzlich  ungenügend  sind 
die  Erläuterungen  zu  dem  schwierigsten  Teil  der  Kantischen  Erkenntnis- 
theorie (§  23—26).  Sehr  erläuterungsbedürftig  wären  auch  die  Ausführ- 
ungen Kants  gewesen  über  das  Verhältnis  der  subiektiven  Bedingungen 
des  Erkennens  zu  den  objektiven,  eines  Bewusstseins  zu  dem  Bewusst- 
sein  überhaupt.  Hier  liegt  doch  der  letzte  Grund,  an  dem  die  Trans- 
scendentalphilosophie  mit  der  Metaphysik  verankert  ist  und  der  eigent- 
liche Anknüpfungspunkt  der  nachkantischen  grossen  Systeme.  Eine  Frage 
von  ungleich  wichtiger  aber  immerhin  fundamentaler  Bedeutung  dürfte 
auch  die  nach  den  wesentlichen  Untersclieidungsmerkmalen  der  logischen 
Verknüpfung  im  Wahrnehmungsurteil  und  der  transscendentalen  im  Er- 
fahrungsurteil sein.  Dagegen  sind  manche  Ausführungen  des  Kommen- 
tators von  grosser  Klarheit,  beispielweise  die  über  euklidische  und  nicht- 
euklidische Mathematik  und  die  über  das  Kausalitätsproblem  bei  Hume. 
Mit  einigen  Auslegungen  der  Kantischen  Lehre  kann  ich  mich  jedoch  gar 
nicht  einverstanden  erklären,  sie  entstellen  m.  E.  viel  Wichtiges.  Ich 
würde  Gelegenheit  nehmen,  auch  darüber  zu  berichten,  doch  fehlt  es  hier 
an  Platz.  2.  Die  Kritiken  an  Kant  erscheinen  als  überflüssig,  weil  sie  im 
Rahmen  des  kurzen  Kommentars  ungenügend  belegt  sein  müssen.  8.  Die  Hin- 
weise auf  die  Entstehung  und  Entwicklung  der  Kantischen  Gedanken  sind 
keineswegs  vollständig,  trotzdem  aber  häufig  zu  weitläufig;  sie  tragen 
manchmal  fast  nichts  zum  systematischen  Verständnis  des  Textes  bei. 
4.  Die  ergänzenden  Stellen  aus  der  Kr.  d.  r  V.  und  den  Reflexionen  sind 
gut  gewählt.  5.  Die  Verweise  auf  die  Gescliiclite  der  Philosophie  sind 
ganz  populär,  doch  sind  sie  orientierend  und  zweckentsprechend.  6.  Die 
Kritiken  von  anderen  wissenschaftlichen  Ansichten  über  Kant  sowie  die 
literarischen  Nachweise  mussten  ganz  unvollständig  bleiben;  sie  sind  des- 
halb oft  irreführend.  Sehr  wünschenswert  wäre  ein  Hinweis  auf  die  zu- 
sammenfassenden Darstellungen  des  Lebens  und  der  Lehre  Kants  gewesen. 
—  Im  Ganzen   genommen,   darf    erwartet   werden,    dass   der   vorliegende 

20* 


310  Rezensionen  (Levy), 

Kommentar   trotz   vieler  Mängel  seinen  Zweck  erfüllen  wird.    Er  ist  von 
den  Kommentaren   zur   kritischen  Philosophie   der   am  wenigsten  schwer- 
fällige und  deshalb  geeignet,  Ungeübte  in  das  Werk  Kants  einzuführen. 
Heidelberg.  Arnold  Rüge. 

Levy ,  Heinrich ,  Dr.  Kants  Lehre  vom  Schematismus 
der  reinen  Ve  rs  ta  n  d  e  s  b  e  griff  e.  Ein  Erklärungsversuch.  Erster 
Teil.  Einleitung;  Untersuchungen  über  die  transscendentale  Ästhetik  und 
die  Analytik  der  Begriffe.  Besonders  über  die  transscendentale  Deduktion. 
Halle  a.  S.    Druck  und  Verlag  von  C.  A.  Kaemmerer  &  Co.     1907.   (165  S.) 

Wie  aus  dem  Untertitel  vorliegender  Abhandlung  hervorgeht,  bietet 
sie  Untersuchungen  über  die  dem  „Schematismus"  vorangehenden  Partieen 
der  Kr.  d.  r.  V.  in  der  systematischen  Absicht,  des  Verf.  Auffassung  von 
Kants  Lehre  vom  Schematismus  vorzubereiten  durch  eine  Darlegung  und 
Abschätzung  des  bis  zum  Einsetzen  des  „Schematismus"  in  der  Vernunft- 
kritik Geleisteten.  Für  die  Berechtigung  der  also  erfolgenden  Zweiteilung 
des  Kantischen  Werks  bringt  Verf.  Zeugnisse  aus  der  ungedruckten, 
sogenannten  v.  Korffschen  Nachschrift  der  Kantischen  Vorlesungen  über 
Metaphysik,  in  der  die  Einteilung  der  Analytik  in  Anal,  der  Begriffe  und 
Anal,  der  Grundsätze  damit  begründet  wird,  dass  erstere  den  analytischen, 
letztere  den  synthetischen  Teil  der  Analytik  enthalte,  d.  h.  „die  Grund- 
sätze betrachte,  die  aus  den  reinen  Begriffen  des  Verstandes  entspringen". 
Indem  Verf.  diese  Disposition  der  Kantischen  Vorlesungen  über  Metaphysik 
in  der  Vernunftkritik  wiederfindet,  zieht  er  auch  die  transscendentale 
Ästhetik  mit  in  den  analytischen  Teil  der  Vernunftkritik,  der  also  nun- 
mehr die  Ästhetik  und  Analytik  der  Begriffe  umfasst,  und  beruft  sich 
liierfür  auf  Kr.  d.  r.  V.  S.  683  (ed.  Kehrbach),  wo  Kant  in  ähnlicher  Weise 
den  Fortfall  der  Paragraphen-Einteilung  von  der  Anal,  der  Grundsätze  ab 
begründet.  Alsdann  aber  steht  die  Lehre  vom  Schematismus  am  Beginn 
des  synthetischen  Teils  der  Vernunftkritik  und  ist  eine  gesonderte  Ab- 
handlung des  ihr  vorangehenden  analytischen  Teils,  der  Gegenstand  vor- 
liegender als  erster  Teil  erscheinenden  Arbeit,  gerechtfertigt. 

Aus  dieser  Zweiteilung  des  Kantischen  Werks  ergiebt  sich  nun  für 
Verf.  eine  wichtige  Konsequenz :  eine  neue  Darstellung  der  Methode  der  Ver- 
nunftkritik.  Denn  da  Verf.  den  Grund  jener  Zweiteilung  in  der  Absicht  Kants 
sieht,  in  einem  analytischen,  oder  wie  Verf.  es  lieber  nennt,  einem  resolutiven 
Teil  die  a  priorischen  Elemente  der  Erkenntnis  zu  isolieren,  um  sie  als- 
dann im  synthetischen  oder  kompositiven  Teil  in  ihrem  einheitlichen  Ge- 
brauch verständlich  zu  machen,  ergiebt  sich  für  Verf.  die  Frage  nach  dem 
Ausgangspunkte  dieser  die  a  priorischen  Elemente  der  Erkenntnis  iso- 
lierenden Analyse.  Diesen  erkennt  Verf.  in  dem  Weltbild  des  naiven 
Bewusstseins.  Es  handelt  sich  als  nach  Verf.  für  Kant  darum  —  und  dies 
sei  seine  Methode  der  Entdeckung  und  Begründung  der  a  priorischen  Be- 
dingungen der  Erfahrung  — ,  aus  dem  Weltbild  der  alltäglichen  Erfahrung 
die  zufälligen,  variablen  Faktoren  von  den  notwendig  erforderlichen  zu 
sondern,  wobei  unter  notwendig  erforderlich  ihr  notwendiges  Vorgestellt- 
werden verstanden  wird  (S.  25),  diese  letzteren  in  solchem  Sinne  notwen- 
digen Faktoren  in  ihrer  psychologischen  Apriorität  als  Elemente  des  Be- 
wusstseins aufzuweisen,  also  die  Erfahrung  nach  Aufhebung  der  extramen- 
talen Welt  aus  ihren  letzten  Quellen  im  erfahrenden  Subjekt  abzuleiten 
(S.  13.  14). 

Als  solcher  a  priorischer  Quellen  des  naiven  Weltbildes  erkennt 
Kants  transscendalpsychologische  Analyse  zunächst  in  der  Ästhetik  die 
Sinnlichkeit,  die  als  reine  Anschauung  zur  a  priorischen  d.  h.  not- 
wendigen Form  des  Gemüts  wird  (S.  25).  Gegenüber  der  als  absoluten 
Rezeptivität  charakterisierten  reinen  Anschauung  stellt  die  Analytik 
der  Begriffe,  den  Ausgangspunkt  des  naiven  Weltbildes  verlassend,  an 
dem  Leitfaden  der  Logik  die  a  priorischen  Verstandesbegriffe  als  reine 
Produkte  der  Spontaneität  des  Verstandes  dar  (S.  41  ff.).  Die  also 
sich   auftuende  Kluft   zwischen   der   starren  Passivität   der  Anschauungs- 


Rezensionen  (Levj).  311 

formen  und  der  Spontaneität  des  Verstandes  treibt  nun  das  Problem  der 
Mögliclikeit  des  Zusammenwirkens  von  Sinnlichkeit  und  Verstand  hervor 
(S.  49),  welclies  die  transscendentale  Deduktion  durch  Aufgraben  der 
tiefsten  subjektiven  Quellen  der  Erfahrung  löst,  die  uns  „eine  Ahnung 
geben  von  dem  „Webermeisterwerk"  der  Erkenntniselemente",  „wo  ein 
Tritt  tausend  Fäden  regt-'  (S.  72).  Diese  letzten  Quellen  der  Erfahrung 
sind  der  1.  Deduktion  gemäss,  auf  die  Verf.  alles  Gewicht  legt,  Sinn, 
Einbildungskraft  und  Apperzeption.  Insbesondere  ist  es  die  transscenden- 
tale Einbildungskraft,  die  den  Gegensatz  von  Sinnlichkeit  und  Verstand 
überwindet  und  die  Lösung  obigen  Problem  giebt  (S.  92.  114).  Denn  in- 
dem die  transscendentale  Einbildungskraft  zur  Sinnlichkeit  in  Beziehung 
steht,  wird  sie  zugleich  durch  das  Ich  der  Apperzeption,  dem  sie  wie  die 
Sinnlichkeit  angehört,  regelhaft  gebunden  und  bringt  also  in  die  sinnliche 
Anschauung  Einheit  und  Konstanz  (S.  120).  Als  der  auch  die  transscen- 
dentale Einbildungskraft  beherrschende  Quell,  der  ihr  Identität  und 
Regelliaftigkeit  verleiht,  ergiebt  sich  das  synthetische  Ich  der  Apperzep- 
tion, denn  nur  die  Identität  des  apperzipierenden  Bewusstseins  bewirkt 
die  Konstanz  der  produzierenden  Einbildungskraft  und  ihrer  Produkte, 
der  Gegenstände  der  Erfahi-ung. 

Aus  dieser  subjektiven  Deduktion  der  Erfahrung  aus  ihren  aprio- 
rischen Quellen  folgt  aber  als  Konsequenz  ihre  objektive  Deduktion, 
oder  vielmehr  die  objektive  Deduktion  ist  in  der  subjektiven  ge- 
leistet. Denn  die  immer  tiefer  eindringende  Analyse  des  naiven 
Weltbildes  hat  den  dogmatischen  Schein  einer  an  sich  seienden  Welt 
zerstört  und  die  notwendigen  Bedingungen  des  Weltbildes  als  aprio- 
rische Vermögen  des  transscendentalen  Subjekts  nachgewiesen.  Die  Be- 
dingungen, auf  denen  die  subjektive  Erfahrung  ruht,  gelten  notwendig 
von  ihren  Produkten,  den  Gegenständen,  die  ja  nichts  als  die  durch  sie 
zu  Stande  gekommenen  Vorstellungen  des  Subjekts  sind.  „Sachlich  ist 
das,  was  methodisch  betrachtet  Mittel  ist,  die  Grundlage  des  Zwecks" 
(S.  85),  das  subjektive  a  priori  der  Erfahrung  darum  auch  ihre  objektive 
Bedingung  (S.  125),  „denn  wahrhaft  deduziert,  heisst  deduktiv  abgeleitet 
werden"  (S.  110). 

Dies  ein  Überblick  der  scharfsinnigen  und  durch  Gründlichkeit  aus- 
gezeichneten Arbeit.  Wir  bedauern,  dem  vielfach  feinsinnigen  Detail  in 
der  Aufhellung  des  psychologischen  Mechanismus  der  Funktion  der  Er- 
fahrung an  dieser  Stelle  keinen  Raum  gönnen  zu  können.  Um  so 
dringender  aber  erscheint  uns  erforderlich,  zu  des  Verfassers  Auffassung 
der  Methode  der  Vernunftkritik  Stellung  zu  nehmen. 

Da  müssen  wir  betonen,  dass  bei  des  Verfassers  Darstellung  der 
Methode  der  Vemunftkritik  Eins  schlechterdings  ausfällt  —  der  Kritizis- 
mus. Denn  wie  Kant  selbst  bereits  in  der  Vorrede  zur  1.  Ausgabe 
der  Vernunftkritik  S.  8  hervorhebt,  dass  es  ihm  durchaus  nicht  auf  eine 
Beantwortung  der  Frage  ankommt  „Wie  ist  das  Vermögen  zu  Denken 
möglich",  diese  vielmehr  in  den  Prolegomena  S.  84  ausdrücklich  der 
empirischen  Psychologie  zuweist,  liegt  das  Schwergewicht  der  Kantischen 
Leistung  in  der  Beantwortung  des  Problems  nach  dem  Rechtsgrunde  der 
Geltung  der  Erkenntnis  von  ihrem  Gegenstande.  Wir  sind  Verf.  dankbar, 
dass  er  von  seinem  oben  dargelegten  transscendentalpsychologischem 
Standpunkt  aus  mit  grossem  Scharfsinn  alle  Konsequenzen  gezogen  und 
die  psychologischen  Partieen  in  Kants  Vernunftkritik  gründlich  und  fein- 
sinnig analysiert  hat,  am  Kritizismus  in  der  Vernunftkritik,  d.  h.  an  der 
Lösung  obigen  Problems,  ist  er  vorbeigegangen. 

Denn  mag  die  Transscendentalpsychologie  durch  die  Hypothese 
einer  überindividuellen  Vernunft,  deren  Produkte,  nicht  aber  deren 
Produzieren  dem  individuellen,  empiiischen  Bewusstsein  bekannt  werden, 
die  Entstehung  des  naiven  Scheins  einer  an  sich  seienden  Welt  ver- 
ständlich machen,  die  Gegenständlichkeit  d.  h.  die  Objektivität  der 
uns    als   Gegenstände   entgegentretenden  Vorstellungen  vermag   sie  nicht 


312  Rezensionen  (Messer). 

zu  erweisen.  Wie  immer  und  auf  welchem  empirischen  oder  über- 
empirischem Wege  Vorstellungen  entstehen  mögen  — ,  sind  sie  Er- 
kenntnis, haben  sie  gegenständliche  Bedeutung,  objektive  Gültigkeit,  ist 
die  Frage  der  Vernunftkritik.  Und  diese  Frage  bleibt  bestehen  gerade 
nach  Vernichtung  des  naiven  Scheins  einer  extramentalen  Welt.  Denn 
nun  handelt  es  sich  darum,  ein  neues  Kriterium  der  Gegenständlichkeit  zu 
entdecken,  nachdem  das  alte  der  Abbildstheorie  zertrümmert  ist.  Die  Be- 
rufung auf  die  überindividuelle  Vernunft  nennt  uns,  selbst  wenn  sie  mit 
Recht  geschähe,  höchstens  den  Werkmeister  gewisser  Vorstellungen,  dass 
aber  in  seinem  Werk  Vernunft  ist,  muss  bewiesen  werden.  Sogar  erst 
wenn  letzteres  bewiesen,  werden  die  Transscendentalpsychologisten  auf 
jenen  als  Ursache  schliessen  können  und  auch  dann  mit  fraglichem  Recht. 
Es  ist  dasselbe  Verhältnis,  wie  es  sich  in  der  Ethik  zwischen  den  Begriffen 
Gott  und  Gut  wiederholt. 

Eines  von  Existenz  unabhängigen,  allgemein-gültigen  Kriteriums 
bedarf  es,  Erkenntnis  von  Irrtum  zu  scheiden.  Kant  entdeckt  es  in  der 
Logik,  die  nunmehr  Bedingung  der  Objektivität  nicht  nur  des  formalen 
Denkens  ist,  sondern  Bedingung  der  Geltung  auch  aller  inhaltlichen  Er- 
kenntnis, d.  h.  transscendentale  Logik  wird.  Die  faktischen  —  und  sei  es 
überindividueUen  psychologischen  —  Bedingungen  der  wissenschaftliclien 
Erfahrung  herauszustellen,  ist  der  Sinn  der  metaphysischen  Deduktion; 
diese  Bedingungen  als  logische  und  damit  objektive  zu  erweisen,  vermöge 
deren  die  Erfahrung  objektiv  und  allgemeingültig  ist,  der  Sinn  der  transs- 
cendentalen    Deduktion,    in    welcher    alle    Kantische    Denkarbeit    gipfelt. 

Von  diesem  prinzipiell  anders  gefassten  Ziel  der  Kantischen  Leistung 
ergibt  sich  aber  auch  eine  andere  Auffassung  der  hierfür  ins  Werk 
gesetzten  Mittel.  Ist  das  Ziel  der  Vernunftkritik  Beweis  der  apriorischen 
d.  h.  notwendigen  Geltung  der  Erfahrung  oder  Naturwissenschaft  durch 
Aufhellung  und  Nachweis  der  Logik  ihrer  Grundlagen,  so  stellen  die 
Ästhetik  und  Analytik  der  Begriffe  diese  Grundlagen  im  Einzelnen  heraus 
und  beweisen  sie  in  ihrer  Objektivität.  Die  transscendentale  Ästhetik  also 
leistet  die  Herausstellung  und  Rechtfertigung  der  Mathematik  als  aprio- 
rischer Wissenschaft  und  als  Gesetz  der  Erfahrung;  die  Analytik  der  Be- 
griffe die  Herausstellung  der  philosophischen  Prinzipien  der  Naturwissen- 
schaft :  Kausalität  und  Substantialität  und  die  Rechtfertigung  ihrer  Objek- 
tivität durch  den  Nachweis  ihrer  Identität  mit  den  logischen  Formen  des 
Urteils.  Gern  konzedieren  wir  alsdann  dem  Verf.,  dass  der  Zusammen- 
schluss,  allerdings  nicht  psychologischer  Vermögen,  sondern  von  Mathe- 
matik und  philosophischen  Prinzipien  der  Naturwissenschaft  zur  Einheit 
der  mathematischen  Naturwissenschaft  in  dem  synthetischen  Teil  erfolge, 
der  Analytik  der  Grundsätze.  Dem  Schematismus  kommt  bei  diesem 
Zusammenschluss  höchstens  psychologische  oder  methodologische,  aber 
keine  dem  Kritizismus  als  solchem  eigentümliche  erkenntnistheoretische 
Bedeutung  zu. 

Breslau.  Albert  Lewkowitz, 

Messer,  August.  Empfindung  und  Denken.  Leipzig,  Verlag 
von  QueUe  &  Meyer,  1908.    (199  S.) 

In  der  modernen  Psychologie  hat  sich  im  Laufe  der  letzten  Jahre 
ein  Prozess  vollzogen,  oder  besser  zu  vollziehen  begonnen,  dessen  Wichtig- 
keit den  Fernerstehenden  bisher  nicht  hinreichend  zum  Bewusstsein  ge- 
kommen ist.  Lange  Jahre  hindurch  hatte  man  sich  gewöhnt,  den  Bereich 
der  Psychologie  in  Empfindungen,  Vorstellungen,  Gefühl  und  Willen 
erschöpft  zu  sehen.  Das  bekannte  Lehrbuch  der  Psychologie  von  E  b  b  i  n  g- 
haus  spiegelt  diese  Sachlage  deutlich  wieder,  und  es  muss  daher  dahin- 
gestellt bleiben,  ob  der  zweite  Band,  zu  dessen  Abschluss  der  Verfasser 
nicht  mehr  gekommen  ist,  hier  die  nötige  Ergänzung  und  nicht  vielmehr 
eine  starke  Enttäuschung  gebracht  hätte^ 

Der  wichtige  Umschlag,  der  eingetreten  ist,  datiert  vor  allem  seit 
dem   Erscheinen    von  Husserls    grossem  Werk,    den    „Logischen    Unter- 


Rezensionen  (Messer).  313 

suchiingen",  die  bei  weitem  das  folgenreichste  und  wichtigste  philoso- 
phische Werk  des  laufenden  Jahrzehnts  gewesen  sind  und  deren  Einfluss 
auch  auf  die  experimentelle  Psychologie  ein  äusserst  bedeutender  gewesen 
ist  und  ein  noch  bedeutenderer  werden  wird.  Hat  Husserl  sich  allein 
auf  die  so  lange  Zeit  so  verpönt  gewesene  ,,iiitrospektive  Methode*'  ge- 
stützt, die  zuletzt  doch  das  alleinige  Fundament  aller  Psychologie  ist  und 
die  auch  durch  das  Experiment  keineswegs  ausgeschaltet,  sondern  vielmehr 
gezüchtet  und  nur  unter  bestimmte  Bedingungen  gesetzt  wird,  so  sind 
von  der  Experimentalpsychologie  her  besonders  Forscher,  die  aus  dem 
Kreise  Külpes  stammen,  der  Psychologie  des  Denkens  mit  Hilfe  des 
Experiments  nahegetreten.  Es  sind  hier  neben  Külpe  selbst  vor  allem 
der  Verfasser  des  oben  genannten  Werkes,  Bühler,  so%vie  auch  Ach  zu 
nennen.  Die  „unanschaulichen  Bewusstheiten"  Achs  stehen  in  engster 
Beziehung  zu  den  Bedeutungen  und  Urteilen. 

Durch  die  Untersuchungen  der  genannten  Forscher  ist  einmal  die 
ungesunde  Beschränkung  des  Experiments  auf  die  niederen  Seiten  des 
Seelenlebens  endgültig  durchbrochen  worden.  Und  zweitens  ist  eine 
höhere  Schätzung  der  Selbstbeobachtung  wieder  hervorgetreten,  die  am 
konsequentesten  vielleicht  von  Bühler  ausgesprochen  worden  ist.  Dieses 
prinzipielle  Moment  ist  ohne  Frage  noch  wichtiger  als  alle  die  neu  ge- 
wonnenen sachlichen  Einsichten  selbst,  denn  die  volle  Wiedereinsetzung 
der  Selbstwahrnehmung  in  ihre  Rechte  wird  ihre  Wirkung  weit  über  die 
Psychologie  des  Denkens  hinaus  erstrecken. 

Die  Ergebnisse  gehen  durchweg  darauf  zurück,  dass  neben  dem 
Empfinden,  Vorstellen  etc.  das  Denken  als  eine  weitere  spezifische,  nicht 
weiter  reduzierbare  psychische  Funktion  erkannt  und  anerkannt  worden 
ist.  Die  neuen  Termini:  „Bedeutung-',  „Bewusstheif,  „Gedanken",  sie 
sagen  alle  ein  und  dasselbe,  eben  dass  das  Denken  etwas  für  sich  ist. 
Im  Zusammenhang  mit  alledem  steht  weiter  die  schon  von  Brentano 
inaugurierte,  von  ihm  wieder  aus  der  Scholastik  entnommene  Unter- 
scheidung von  Funktion  (Akt)  und  Funktionsinhalt. 

Das  Verdienst  des  vorliegenden  Werkes  Messers  nun  ist  es,  die 
bisherigen  Resultate  und  die  sich  weiter  eröffnenden  Probleme  in  der 
Gestalt  einer  Einführung  in  dieses  Gebiet  dargelegt  zu  haben.  Seme 
einzelnen  Kapitel  sind:  1.  Einleitung.  2.  Empfindungselemente  der 
äusseren  Wahrnehmung.  3.  Denkelemente  der  äusseren  Wahrnehmung. 
4.  Die  innere  Wahrnehmung.  5.  Wort  und  Bedeutung.  6.  Aufmerksam- 
keit und  Abstraktion.  7.  Satz  und  Urteil.  8.  Gedankenverlauf  und  Er- 
kenntnis. 9.  Psychologische  und  logische  Betrachtung  des  Denkens.  10. 
Ausblicke  auf  die  Pädagogik.  Das  Buch  schlägt  die  Brücke  zwischen  spe- 
zifisch experimenteller  und  mono-introspektiver  Psychologie,  z\^ischen  der 
gesamten  experimentellen  Psychologie  des  Denkens  einerseits  also  und 
Husserl  anderseits,  dessen  grosser  Vorgänger  Bolzano  übrigens  auch 
gelegentliche  Berücksichtigung  findet.  Das  Buch  ist  eine  instruktive  Ein- 
leitung in  beide  Forschungssphären  gleichzeitig.  — 

Eine  volle  Übereinstimmung  bei  so  in  Fluss  befindlichen  Unter- 
suchungen ist  natürlich  nicht  möglich.  Der  prinzipiellste  Punkt,  der  mir 
auffiel,  ist  vielleicht  die  Ablehnung  der  Lippsschen  Ich-Auffassung,  wie 
denn  überhaupt  meines  Erachtens  Lipps'  grosse  Verdienste  um  die  Psy- 
chologie heute  bei  vielen  noch  nicht  die  liinreichende  Schätzung  finden : 
Lipps'  Leistungen  zum  mindesten  für  die  Analyse  der  Gefühlssphäre 
stehen  denen  Husserls  auf  dem  intellektuellen  Gebiet  kongenial  zur 
Seite.  —  Die  Ablehnung  des  Subjektbegriffs,  wie  sie  seitens  eines  erheb- 
lichen Teiles  der  Psychologie  noch  besteht,  scheint  mir  nicht  ein  Fortschritt, 
sondern  im  Gegenteil  heute  nur  noch  ein  letzter  Überrest  jener  sonst 
^^^eder  in  der  Überwindung  befindlichen  Bestrebungen  zu  sein,  die  die 
psychischen  Prozesse  in  eine  Linie  mit  denen  der  Physik  stellen  wollten. 
Auch  in  diesem  Punkte  müssen  wir  zu  Bolzanos  Standpunkt  zurück, 
wie  er  ihn   deutlicher  noch   als  in  der  „Wissenschaftslehre"  in  der  „Atha- 


314  Rezensionen  (Scholz). 

nasia"  auseinandergesetzt  hat.  An  seine  metaphysischen  Konsequenzen 
sind  wir  freilich  nicht  gebunden. 

"Wir  leiden  hier  noch  an  der  Nachwirkung  einer  tief  unphilo- 
sophischen Strömung,  die  an  die  Stelle  einer  analytischen  Psychologie 
einen  physikalischen  Dogmatismus  setzte.  An  anderem  Orte  wird  das 
ausführlicher  zu  entwickeln  sein. 

Berlin.  Dr.  phil.  K.  Oesterreich. 

Scholz,  Heinrich,  Lic.  theol.  Christentum  und  Wissenschaft 
in  Schleiermachers  Glaubenslehre.  Ein  Beitrag  zum  Verständnis 
der  Schleiermacherschen  Theologie.  Arthur  Glaue  Verlag  (vorm.  Alex. 
Duncker\  Berlin  1909.     8«.     (205  S.) 

Die  Wandlungen  in  der  Auffassung  und  Bewertung  der  Schleier- 
macherschen Glaubenslehre  sind  sehr  charakteristisch  für  den  Wechsel 
des  theologischen  Standpunktes  im  19.  Jahrhundert  überhaupt.  Bekannt- 
lich stellt  Schleiermacher  Spekulation  und  Frömmigkeit  als  selbständige 
Äusserungen  des  Geistes  gleichberechtigt  nebeneinander.  Während  die 
ältere  Generation,  voran  der  Hegelianer  David  Fr.  Strauss,  sich  berechtigt 
glaubte,  den  zweiten  Teil  dieses  Bekenntnisses  zu  überhören  und  die 
Fundamente  der  Schleiermacherschen  Dogmatik  ganz  in  der  Spekulation 
zu  suchen,  zeigt  sich  heute,  unter  dem  Einfluss  des  Ritschlschen  Agnosti- 
zismus, die  entgegengesetzte  Neigung,  und  man  wagt  zu  behaupten,  dass 
die  Philosophie  an  der  dogmatischen  Ausdeutung  der  Frömmigkeit  durch 
Schleiermacher  ganz  unbeteiligt  sei.  (So  z.  B.  Mulert,  Schleiermachers 
geschichtsphilosophische  Ansichten  in  ihrer  Bedeutung  für  seine  Theologie.) 
Beide  Auffassungen  mussten  eigentlich  apriori  unwahrscheinlich  sein. 
Denn  sie  setzen  voraus,  dass  dieser  Mann,  der  wie  kein  zweiter  zur 
inneren  Einheit  und  Harmonie  geschaffen  war  und  noch  auf  dem  Toten- 
bette dies  beglückende  Bewusstsein  der  Übereinstimmung  von  Spekulation 
und  Frömmigkeit  bekannte,  einen  unerträglichen  Dualismus  in  sich  ge- 
duldet habe.»)  Äusserte  er  doch  schon  1800  brieflich  zu  Brinckmann,  dass 
es  einen  Streit  zwischen  Philosophie  und  Mystik  nicht  geben  könnte 
(Briefwechsel  IV,  73,  vgl.  auch  I,  282). 

Diesem  inneren  Zusammenhang  und  seiner  begründeten  Notwendig- 
keit nun  will  der  Verf.  der  vorliegenden  Schrift  zum  ersten  Male  ernstlich 
nachgehen.  Wenn  wir  das  Bild,  in  dem  allein  er  leider  das  Grundproblem 
formuliert  (S.  7),  richtig  auflösen,  so  will  er  auseinanderlegen,  welchen 
Anteil  das  Christentum  und  welchen  Anteil  die  wissenschaftliche  Methode 
an  dem  System  der  Glaubenslehre  hat.  Er  tut  dies  mit  so  ersichtlich 
voller  Beherrschung  des  ganzen  Materials,  selbst  bis  in  die  peripherischen 
Fragen  hinein,  dass  sein  Buch  als  die  beste  Darstellung  der  Schleier- 
macherschen Prinzipien  betrachtet  werden  muss,  die  wir  besitzen.  Da  es 
dem  Verf.  gelingt,  seine  Ideen  überall  scharf  und  sicher  zu  formulieren, 
erfreut  er  überdies  durch  jene  wissenschaftliche  Kürze,  die  das  Kennzeichen 
der  ausgereiften  Arbeiten  ist. 

Es  ist  unverkennbar,  dass  der  Verf.  durch  die  Schule  Kants  hin- 
durchgegangen ist.2)  So  mag  es  zu  erklären  sein,  dass  er  auf  die  psycho- 
logische Erklärung  aus  Schleiermachers  Geistesart  verhältnismässig  geringen 
Wert  legt.  Deduktion  der  wissenschaftlichen  Grundsätze,  auf  denen 
Schleiermachers  Verfahren   beruht  —  so   könnte  man  seine  Methode  etwa 

1)  Nur  für  Schleiermachers  mittlere  Periode  kann  ein  Primat  der 
Spekulation  zugegeben  werden. 

2)  Vgl.  S.  32 :  „Wir  werden  jenes  grosse  Geschlecht  nicht  durch  die 
traditionell  gewordene  Verachtung  jener  Denkleistungen  überwinden. 
Aber  das  wird  jeder,  der  diese  Epoche  deutschen  Geisteslebens  für  pro- 
duktiv und  fruchtbar  hält,  empfinden,  dass  es  wie  eine  Befreiung  wirkt, 
nach  solchen  verworrenen  Experimenten  zur  herrlichen  Klarheit  der 
Kantischen  Fragestellungen  zurückzukehren."  Über  das  Verhältnis  von 
Schleiermacher  und  Kant  vgl.  besonders  S.  8.  29,  41. 


Rezensionen  (Scholz).  315 

bezeichnen.  Mir  scheint,  dass  er  in  dem  Bestreben,  knappe  Überschriften 
zu  finden,  nicht  immer  gUicklich  gewesen  ist:  diese  Stichworte  sind  zu 
unanschaulich  und  lassen  vielfach  nicht  ahnen,  wohin  sie  zielen.  Der  kri- 
tische Stil,  der  kombinatorische  Stil  —  das  sind  zunächst  unergründliche 
Rätselworte.  Die  meisten  Bedenken  aber  habe  ich  gegen  den  Titel  ,,^^"0" 
lutionistische  Methode",  weil  er  den  Gedanken  selbst  gefährdet,  obwohl 
ich  zugeben  muss,  dass  ich  einen  passenderen  auch  nicht  anzugeben 
wüsste.  Was  der  Verf.  meint,  ist  weniger  Methode,  als  Weltanschauung, 
nämlich  jener  alte  Gedanke  der  Harmonie  und  Stufenordnung,  den  wir 
von  Leibniz  und  Shaftesbury  her  kennen  (vgl.  S.  100).  Weil  Schleier- 
maclier  ihn  intuitiv  voiaussetzt,  kann  er  auch  methodisch  die  Gegensätze 
durch  eine  „planraässige  Organisation  der  Begriffsbildung"  in  einander 
übergehen  lassen  und  sie  von  diesem  Prinzip  aus,  das  Leibniz  bereits  in 
einem  Briefe  an  Bayle  entwickelte,  erörtern.  Dieses  differentiierende 
Verfahren  fällt  aber  mit  Evolution  keineswegs  zusammen,  und  wenn  der 
Verf.  (S.  118)  von  evolutionistischer  Geschichtsbetrachtung  redet,  so 
schädigt  er  damit  seine  besten  Resultate.^) 

Denn  das  Ziel  seiner  Untersuchung  besteht  .doch  in  dem  Nachweis, 
dass  Schleiermacher  auf  eine  spekulative  Begründung  der  Absolut heit 
des  Christentums  verzichten  konnte,  weil  diese  Begründung  in  seiner 
Christologie  bereits  mitgegeben  war  (S.  191).  Wenn  nämlich  in 
Christus  das  Urbild  (d.  h.  die  Idee)  der  Frömmigkeit  in  die  Erscheinung 
tritt,  wenn  sich  in  seiner  Person  der  „allgemeine  Lebensquell"  gleichsam 
restlos  in  die  empirische  Wirklichkeit  ergiesst,  so  liegt  darin  der  gerade 
Gegensatz  zum  historischen  Evolutionismus  (vgl.  S.  196).  Wir  haben 
darin  vielmehr  die  auch  bei  Ranke  und  Humboldt  wiederkehrende  Ideen- 
lehre, für  die  das  gegebene  Leben  eine  mehr  oder  minder  adäquate  Dar- 
stellung eines  intelligiblen  Grundes  bedeutet,  aufwallende  metaphysische 
Kräfte,  die  weit  durch  die  Jahrhunderte  hin  mit  elementarer  Macht  fort- 
wirken. Diese  Ideenlehre,  die  1802  bei  Schelling  zuerst  auftritt,  von  der 
der  Verf.  mit  Recht  bemerkt,  dass  sie  aus  Kant  nicht  abgeleitet  werden 
könne,  und  die  dann  das  Denken  von  Fichte  und  Hegel  gleichfalls  er- 
greift, ist  der  spekulative  Hintergrund  der  Schleiermacherschen  Christo- 
logie und  die  einzige  spekulative  Garantie  für  die  Absolutheit  des 
Christentums  bei  ihm.  Der  Verf.  liat  diesen  Zusammenhang  mit  feinem 
Sinn  erkannt;  aber  er  ist  bei  ihm  (S.  194)  zu  sehr  in  die  Anmerkung  ge- 
raten, und  die  Abschnitte  „Freiheit  und  Naturnotwendigkeit",  „Natürlich 
und  Übernatürlich"  sind  m.  E,  nicht  tief  genug  mit  dieser  Einsicht  in 
Verbindung  gesetzt.  Der  Verf.  hebt  mit  Recht  den  Johanneischen  Accent 
dieses  Christentums  hervor:  es  ist  aber  gewiss,  dass  die  Grundstelle 
Job.  I,  14  (ebenso  wie  Ritschls  Job.  7,  17)  philosophisch  nicht  anders 
umschrieben  werden  kann,  als  durch  das  Medium  der  platonischen  Idee 
oder  des  neuplatonischen  Logos  (vgl.  B.  Becker,  Schleiermacher  und  die 
Brüdergemeine,  Monatshefte  der  ComeniusgeseUschaft  1894). 

Auch  in  andern  Punkten  enveist  sich  der  Verf.  als  philosophisch 
wohl  orientiert.  So  bemerkt  er  (S.  145)  Ausgezeichnetes  über  Spinoza. 
Er  trifft  den  Kern,  wenn  er  behauptet:  „Schleiermacher  ist  in  keiner 
Epoche  seines  Lebens  reiner  Spinozist  gewesen."  Ob  aber  Spinoza  „kein 
Naturalist"  war,  ist  terminologisch  sehr  schwer  zu  entscheiden;  genug, 
dass  er  kein  Supranatnralist  war.  Über  diese  Frage  hätte  der  Verf.  in 
Diltheys  „Hegel"  nähere  Aufschlüsse  gefunden,  da  dort  die  trausscenden- 
tale  Umbildung  Spinozas  durch  Schelling,  den  der  Verf.  übrigens  genau 
kennt  (vgl.  S.  22,  51),  dargestellt  ist.  Was  den  Pantheismus  Sch.s  betrifft, 
so  wird  die  pantheistische  Stimmung  scharf  von  dem  eigentlichen  Pan- 
theismus geschieden,  den  der  Verf.  in  der  „Glaubenslehre"  nicht  zu  finden 


1)  Gegen  die  S.  102  gestreifte  Leibnizauffassung  aber  habe  ich 
ebenso  erhebliche  Bedenken  wie  gegen  die  Behauptung  S.  108,  dass 
Schleiermacher  Monadist  gewesen  sei. 


316  Rezensionen  (Meumann). 

bekennt,    M.  E.    aber   ist   dieser  Gottesbegriff   doch   mehr   spekulativ  als 
christlich. 

Werfen  wir  zum  Schluss  einen  Blick  auf  das  prinzipielle  Resultat. 
Mit  Freude  stimmen  wir  dem  Endsatz  des  Verf.s  bei:  „Die  Leistung  als 
Ganzes  ist  so  gross,  dass  sie  nur  durch  eine  entsprechende  Gegenleistung, 
nicht  durch  spitze  Einzelkritik  in  ihrem  Bestände  bedroht  werden  kann." 
Dabei  ist  freilich  zu  berücksichtigen,  dass  wir  über  Schleiermacliers 
Grundsatz :  das  fromme  Gefühl  erhalte  seine  höchstmögliche  Bewährung 
durch  die  blosse  Deskription  (S.  58,  175),  heute,  nachdem  Ritschis  Theorie 
der  Werturteile  sich  durchgesetzt  hat,  in  wesentlichen  Punkten  schon 
herausgekommen  sind.  Bei  Schleiermacher  haben  wir  den  Eindruck  einer 
vermittelnden  Neigung,  wie  es  ja  auch  seiner  ganzen  Natur  entsprach 
(vgl.  S.  9,  33  f.,  44,  123,  136).  Er  giebt  dem  Wissen,  was  des  Wissens  ist 
(wobei  denn,  wie  der  Verf.  zeigt,  sein  ganz  eigenartiger,  historisch  be- 
stimmter Wissenschaftsbegriff  überall  in  Rechnung  zu  ziehen  ist),  und 
findet  doch  noch  freien  Raum  für  die  Frömmigkeit,  die  zwar  nach  ihm 
immer  nur  in  der  wissenschaftlichen  Weltsprache  der  Gegenwart  ausge- 
sprochen werden  kann,  die  jedoch  ihrem  letzten  Gehalt  nach  alle  Philo- 
sophie überbietet  (vgl.  S.  44,  85.  200).  Bei  diesem  Vermitteln  aber  ent- 
steht doch  leicht  die  Frage :  Wer  giebt  nach  —  Wissenschaft  oder 
Christentum?,  und  Ritschis  Theologie  beweist,  wie  sich  dieses  Prinzip  im 
Zeitalter  des  Positivismus  bereits  umbildete.  Jene  Gegenleistung  also, 
von  der  der  Verf.  spricht,  müsste  das  Recht  der  religiös  christlichen 
Werturteile  auf  dem  Wege,  den  Schleiermachers  Glaubensmut  gewiesen 
hat,  durch  eine  neue  Synthese  von  Christentum  und  heutiger  Wissenschaft 
ableiten,  in  der  die  seltsame  Tatsache  wissenschaftlich  frei  und  kräftig  be- 
gründet würde,  weshalb  unter  den  Mächten  des  Lebens  das  Christentum  die 
stabile,  die  Wissenschaft  aber  die  fluktuierende  Macht  bedeutet.  Die  alte 
Frage  nach  dem  „Wesen  des  Christentums"  tut  sich  hier  auf,  und  damit 
die  ganze  Reihe  der  Probleme,  die  uns  Schleiermachers  geniale  apolo- 
getische Entdeckung  eröffnet  hat.  Denn  es  scheint,  dass  es  notwendig 
zum  Zeitalter  der  Bildungsreligion  gehört,  Religionsphilosophie  nur  unter 
dem  Titel  der  Apologetik  zu  kennen, 

Charlottenburg,  Eduard  Spranger. 

Menmann,  Ernst.  Intelligenz  und  Wille.  Leipzig,  Quelle  & 
Meyer,  1908.     (VIII  u,  293  S.) 

Die  grosse  Bedeutung  Meumanns  für  die  Gegenwart  ist,  wenn 
ich  recht  sehe,  der  Hauptsache  nach  eine  dreifache.  Sie  beruht  erstens 
auf  der  grossen  Zahl  experimenteller  Eiuzeluntersuchungen  mannigfachster 
Natur,  zweitens  auf  der  Schöpfung  der  experimentellen  Pädagogik,  der 
Inverbindung-Setzung  der  Pädagogik  mit  der  modernen  Psychologie  und 
drittens  endlich  ist  es  die  grosse  allgemeine  Weitsicht  in  der  Auffassung 
der  Gesamtaufgabe  der  Psychologie,  die  ihm  seinen  wohlgegründeten  Ruf 
verschafft  hat.  In  dieser  Fähigkeit  zur  Synthese  und  dem  offenen  Blick 
für  die  grossen  Aspekte,  wie  sie  sich  auch  in  seiner  Hochschätzung  eines 
Denkers  wie  Eucken  kundgiebt,  hat  sich  Meumann  der  Schule 
Wundts  würdig  erwiesen.  Ist  es  doch  ein  hervortretender  Charakterzug 
in  Wundts  wissenschaftlicher  Persönlichkeit,  dass  ihm  niemals  die  Psy- 
chologie in  ein  Aggregat  untereinander  zusammenhangsloser  Detailspezial- 
forschungen auseinandergefallen,  sondern  dass  sie  ihm  immer  ein  grösseres 
Ganze  geblieben  ist,  in  dem  Spezialprobleme  engstbegrenzter  Natur  sich 
niemals  soweit  in  den  Vordergrund  des  Gesichtskreises  geschoben  haben, 
dass  sie  den  Schein,  das  Ganze  zu  sein,  zu  erwecken  vermochten.  Gewiss 
bleiben  unter  solchen  Umständen  manche  Einzelheiten  vor  der  Hand  un- 
erledigt, aber  die  Geschichte  der  Wissenschaft  zeigt,  dass  Lücken  im 
Einzelnen  nachgeholt  werden  können,  während  umgekehrt  das  Aufgehen 
im  Einzelnen  einen  unausgleichbaren  Verlust  an  Grösse  der  Gesichtspunkte 
mit  sich  bringt,  der  selbst  in  speziellsten  Untersuchungen  sich  schliess- 
lich rächt. 


Rezensionen  (Meumann).  317 

Diese  Weite  des  Gesichtskreises  finden  wir  also  auch  bei  Meu- 
mann und  bei  ihm  in  vorzüglichem  Masse.  Bei  aller  notwendigen  und 
höchst  persönlichen  Hingabe  an  das  experimentelle  Detail  hat  er  es  stets 
versucht  und  je  weiter  seine  Arbeiten  f ortschritten,  desto  mehr,  von 
den  gewonnenen  Ergebnissen  aus  in  den  Gesamtzusammenhang  des 
höheren  Seelenlebens  einzudringen.  Auch  an  dem  vorliegenden  Werke 
tritt  das  wieder  sehr  deutlich  zu  Tage. 

Auf  Grund  der  Feststellungen  des  Experiments,  wie  sie  heute  nun 
bereits  für  eine  Anzahl  seelischer  Grundfunktionen  in  grösserer  Voll- 
ständigkeit vorliegen,  unternimmt  Meumann  eine  Durchwanderung  der 
grossen  Gebiete,  die  die  Worte  Intelligenz  und  Wille  bezeichnen. 

Die  erste  Hälfte  des  Werkes  behandelt  die  Intelligenz.  Sie  wird 
nach  allen  ihren  Seiten  behandelt,  von  der  Aufmerksamkeit  und  der  Be- 
obachtung an  geht  der  Weg  über  das  Gedächtnis  hin  zum  schaffenden 
Denken  und  zur  produktiven  Phantasie.  Vielerlei  bedeutungsvolle  Neben- 
erscheinungen :  Übung,  Ermüdung,  Erholung  u.  dgl.  finden  eine  gründ- 
liche Erörterung.  Die  mannigfachsten  Arten  der  Intelligenz  gelangen  zu 
ihrem  Recht.  Bei  jeder  wird  abgewogen,  worin  'ihre  Stärke  und  worin 
ihre  Schwäche  liegt.  Diese  Untersuchungen  geben  gleichzeitig  den  Anlass, 
allgemeine  Typen  des  Menschen  herauszuarbeiten.  Auch  die  Begriffe  von 
Talent  und  Genie  erfahren  eine  nach  mehreren  Seiten  sich  erstreckende 
Aufhellung. 

Der  zweite  Teil  des  Bandes  behandelt  den  Willen  und  sein  Verhält- 
nis zur  Intelligenz :  Ohne  in  einen  einseitigen  Voluntarismus  hineinzuge- 
raten, wird  der  Wille  als  das  eigentümliche  Aktivitätserlebnis  des  Ich  in 
seiner  ungeheuren  Bedeutung  für  das  gesamte  geistige  Leben  einschliess- 
lich der  genialen  Produktivität  charakterisiert.  Auch  hier  beginnt  die 
Erörterung  bei  den  elementaren  Formen  und  schreitet  fort  zu  den  höheren 
Willensgebilden.  In  besonderen  Gegensatz  stellt  sich  Meumann  zur 
Gefühlstheorie  des  Willens.  Es  scheint  mir  jedoch,  dass  er  den  Gegensatz 
schärfer  darstellt,  als  er  eigentlich  ist  oder  doch  zu  sein  braucht.  Die 
jüngste  Gestalt  wenigstens,  in  der  die  Gefühlstheorie  heute  auftritt,  be- 
hauptet nichts,  als  dass  der  Wille  ein  eigenartiger  Aktivitätszustand  des 
Ich  sei  und  im  Grunde,  meine  ich,  ist  das  genau  dasselbe,  was  Meumann 
behauptet.  Eine  Differenz  besteht  nur  noch  im  Ausdruck,  insofern  als  die 
Bezeichnung  , Gefühl'  auf  diese  Aktivität  mit  ausgedehnt  wird,  eine  Aus- 
dehnung, die  freilich  ihre  Bedenken  hat,  da  der  Vorgang  des  Tätigseins, 
des  Selbst-Wirkens,  kurz  des  Handelns  des  Ich,  das  Meumann  mit 
Recht  in  den  Vordergrund  stellt,  etwas  ganz  Spezifisches  ist.  Aber  auf 
der  anderen  Seite  bilden  doch  die  Vorgänge  des  Wünschens,  des  passiven 
Strebeus,  des  .Triebes'  —  der  wohl  mit  Achs  determinierenden  Tendenzen 
beinahe  identisch  ist  —  eine  Art  Übergang  von  den  Gefühlen  her.  Das 
passive  Streben  ist  mehr  als  die  gewöhnlichen  Gefühle,  es  liegt  bereits  ein 
Moment  des  Wirksamseins  darin,  aber  es  fehlt  das  für  den  Willen,  wie 
auch  mir  scheint,  entscheidende  Moment  der  Aktivität,  das  demnach  mit 
dem  Determinieren  noch  nicht  völlig  identisch  ist,  es  ist  vielmehr  wohl 
nur  eine  besondere  Weise  desselben.  Die  weitere  Untersuchung  führt 
dann  zur  Aufstellung  eines  höchst  interessanten  Systems  der  Tempera- 
mente. Es  wird  der  energische  Versuch  gemacht,  das  Wesen  des  Cha- 
rakters und  seine  Typen  mit  den  Begriffen  der  modernen  Psychologie  zu 
erfassen.  Die  Betonung  der  Bedeutung  des  Willens  verführt  die  weitere 
Darstellung  jedoch  nicht  dazu,  die  Bedeutung  des  Faktors  der  reinen  In- 
telligenz in  den  Hintergrund  zu  stellen.  Ihr  gegenseitiges  Verhältnis  ist 
mit  sichtlicher  Bemühung  um  volle  Objektivität  dargestellt. 

Zusammenfassend  ist  zu  sagen :  Das  Werk  ist  eins  der  besten  Er- 
zeugnisse der  modernen  Bestrebungen,  die  die  Erforschung  der  höheren 
Gebiete  des  Seelenlebens  ernsthaft  in  Angriff  nehmen.  Seine  Kenntnis- 
nahme ist  dem  Psychologen  von  Fach  ebensosehr  zu  empfehlen,  wie  sie 
für  jeden  anderen  wertvoll  sein  wird. 


318  Rezensionen  (Weissfeld). 

Einen  einzigen  Punkt  würde  ich  gerne  näher  erörtert  gesehen  haben, 
es  ist  das  Verhältnis  der  Gefühle  zur  Intelligenz,  zur  geistigen  Produktion 
überhaupt.  Meumann  ist  in  dieser  Beziehung  wohl  doch  etwas  zu  zu- 
rückhaltend. Aber  freilich  handelt  es  sich  hier  um  ein  Problem,  das  erst 
noch  umfassender  Vorarbeiten  bedarf. 

Berlin.  Dr.  K.  Oesterreich. 

• 

Weissfeld,  M.  Kants  Gesellschaftslehre.  Berner  Studien  zur 
Philosophie  und  ihrer  Geschichte.    Bd.  LH.    Bern  1907.     (136  S.) 

Die   Beziehungen    Kants   zu   den    Gesellschaftswissenschaften    ge- 
hören  zu   denen,    die    relativ   am    seltensten   zum   Gegenstande   näherer 
Untersuchungen  gemacht  worden  sind.     Und  wenn  es  geschah,  so  geschah 
es  meist   unter    ethischen    und  rechtsphilosophischen  Gesichtspunkten.     Es 
hiingt  das  offensichtlich  damit  zusammen,  dass  Kants  Verhältnis  zu  diesen 
geisteswissenschaftlichen  Disziplinen    am    wenigsten  original  ist.     Er  steht 
hier   ganz    unter    dem    Einfluss  der  rationalistischen  Aufklärung,     So  emi- 
nente Verdienste  dieselbe   zum  Teil   gerade   auf   Grund   ihres   einseitigen 
Radikalismus  um  die  faktische  Kulturentwicklung  besitzt,  und  so  sehr  wir 
alle   für   die   relative   Freiheit   des    Geisteslebens   ihre  Schuldner  sind,   so 
wenig  Befriedigendes  hat  sie  auf  dem  Gebiete  der  positiven  Gesellschafts- 
forschung geleistet.    Es   fehlt   ihr   eben  an  der  historischen  Grundlegung 
und  dieser  Mangel  liegt  auch  bei  Kant  vor.    Aller  seiner  unzweifelhaften 
Belesenheit   ungeachtet,   sind  die  historischen  Kenntnisse  in  ihm  nicht  zu 
innerer   Substanz    geworden.     Sie  bleiben  auch  bei  ihm  ein  rein  intellek- 
tuelles Gedächtniswissen.     Vielleicht   mehr   noch  als   mit   moralisierenden 
Tendenzen    hängt    dieser   Umstand    wohl   damit   zusammen,    dass   grosse 
wissenschaftliche   Leistungen   in   den   geschichtsphilosophischen   Regionen 
niemals   auf   rein   intellektuellem  Wege   zu  stände  kommen,  sondern  eine 
Mitwirkung  der  emotionalen   und  voluntaren   Seite   des  Ich  voraussetzen. 
Alle  Erkenntnis    von  Menschen   und   ihren  Wechselbeziehungen   ist,  wenn 
sie   in   die  Tiefe  gehen   soU,  eben  an  die  emotionale  Phantasie,  das  Nach- 
erleben,  die   Einfühlung   gebunden.     Das   aber   ist  gerade  der  Punkt,    in 
dem   die   Aufklärung   versagt   und   in   dem   auch  Kant   uns  so  arna  vor- 
kommt.   Erst  die  neue  Dichtung  hat  hier  den  Wandel  gebracht.    Wie  die 
Kunst   der  Renaissance   für   die  Erforschung  der  Natur  von   der  grössten 
Wichtigkeit  würde,  indem  sie  den  Blick  auf  die  Aussenwelt  hinzog  — -  bei 
Ijeonardo   da  Vinci   ist  diese   innere  Verwandtschaft   der    ästhetischen 
und  der  erforschenden  Naturbetrachtung   noch  ganz  deutlich  — ,  so  lenkte 
die   neue  Dichtung   den    Blick    auf  die  inneren  Seelenvorgänge  und  schuf 
dem  modernen  Menschen  die  Fähigkeit  des  Nacherlebens,  dessen  Steigerung 
wohl   ohne   Zweifel   auch   eine   der   Ursachen   der   damals   so   rasch  fort- 
schreitenden allgemeinen  Humanisierung  des  Lebens  gewesen  ist.    Wie  in 
der  Renaissance  die  Naturwissenschaft  entstand,  entstehen  im  Klassizismus 
die  Geisteswissenschaften.    Wo  eigene  schöpferische,  Menschen  schaffende 
Phantasie  nicht  da  ist,  wie  bei  W.  v.  Humboldt,  F.  A.  Wolf,  Niebuhr 
u.  a.,    entsteht   an    Stelle    von   Dichtung  nun   die  geisteswissenschaftliche 
Erkenntnis.     Der    ungeheure    Prozess    beginnt,    in    dem    die    Geschichts- 
forschung der  Neuzeit  hervortritt  und  in  dessen  Verlauf  dann  die  Phäno- 
mene Hegel,., Ranke   und   Jakob   Burckhardt  auftreten.    Der  Ratio- 
nalismus, das  Überwiegen   des  Denkens   wirkt  aber  auch  jetzt  noch  nach : 
die  Historiker   der   Neuzeit   schreiben  die  Geschichte   der  Vergangenheit. 
Die  Historiker  Athens  im  fünften  Jahrhundert,  Her odot  undThukydides, 
hatten  vornehmlich  zeitgenössische  Geschichte  geschrieben. 

Von  diesem  ganzen  grossen  Prozess,  dessen  Anfänge  mit  Win  ekel - 
mann  und  Herder  bis  ins  achtzehnte  Jahrhundert  zurückreichen,  ist 
Kant  unberührt  geblieben.  Seine  Kenntnis  der  Menschen  hat  den  intel- 
lektuellen Grundzug  niemals  abgestreift,  wie  er  denn  auch  an  Herders 
Ideen  zur  Geschichte  der  Menschheit  das  Grosse  durchaus  nicht  ge- 
sehen hat. 


Rezensionen  (Engel).  319 

Jede  Beschäftigung  mit  der  Kantischen  Gesellschaftsphilosophie 
hat  deshalb  auf  die  Dauer  etwas  stark  Unbefriedigendes  an  sich,  so  richtig 
und  gut  zahlreiche  seiner  Einzelbemerkungen  sind.  Gleichwohl  musste 
die  Bearbeitung  von  Kants  „Gesellschaftslehre"  einmal  stattfinden.  Der 
Verfasser  der  vorliegenden  Arbeit  hat  sogleich  fast  das  ganze  Gebiet  be- 
liandelt.  Die  Darstellung  zerfällt  in  folgende  Abschnitte:  Die  sozialen 
Wissenschaften  und  ihr  Gegenstand.  —  Bestimmungen  des  Gesellschaft- 
lichen. —  Die  Familie.  —  Die  Völker  und  die  Nationen.  —  Der  Staat.  — 
Der  Völkerbund  und  der  Staat.  —  Die  Menschengattung. 

Die  bis  ins  Einzelne  gehende  Untersuchung  ist  ohne  Frage  sorgfältig 
durchgeführt  und  die  zerstreuten  Äusserungen  sind  aus  den  verschiedenen 
in  Betracht  kommenden  Schriften  und  dem  Nachlass  für  die  einzelnen 
Punkte  Wühl  vollzählig  zusammengesucht.  Die  Arbeit,  die,  nach  verschie- 
denen Symptomen  zu  urteilen,  eine  Anfängerarbeit  ist,  hätte  aber  ausser- 
ordentlich gewonnen,  wenn  der  Verfasser  in  die  Darstellung  einen  etwas 
grösseren  Zug  hineingebracht  hätte.  Dadurch,  dass  dem  Leser  auch  nicht 
die  geringste  Gedankentätigkeit  überlassen  bleibt,  sondern  ihm  mit  pein- 
liclier  Genauigkeit  die  auf  der  Hand  liegendsten  Differenzen  der  einzelnen 
angezogenen  Aeusserungen  bis  ins  einzelnste  mitgeteilt  werden,  wirkt  die 
Lektüre,  besonders  der  ersten  Kapitel,  teilweise  peinvoll  ermüdend.  —  Da 
der  Verfasser  Ausländer  zu  sein  scheint  (ich  hoffe  es  wenigstens),  hätte 
sich  die  Vorlegung  der  Revisionsbogen  an  einen  Inländer  empfohlen.  Es 
wären  eine  Reihe  störender  sprachlicher  Fehler  vermieden  worden. 

Berlin.  Dr.  K.  Oesterreich. 

Engel,  Bernhard  Carl,  Schiller  als  Denker.  Prolegomena  zu 
Schillers  philosophischen  Schriften.  Berlin,  Weidmannsche  Buchhandlung, 
1908. 

Seit  einer  Reihe  von  Jahren  macht  die  philosophische  Arbeit  der 
Gegenwart  den  Eindruck,  als  sei  sie  damit  beschäftigt,  die  Bewegung  des 
Gedankens  zu  wiederholen,  die  sich  dereinst  in  der  Zeit  des  deutsclien 
Idealismus  von  Kant  bis  Hegel  vollzogen  hat.  Natürlich  kann  es  sich 
nicht  um  eine  blosse  Wiederholung  handeln  ;  schon  der  geschichtliche  Ab- 
stand, in  dem  wir  uns  jener  Zeit  gegenüber  befinden,  und  die  Bereicherung, 
die  das  Wissen  während  der  letzten  hundert  Jahre  erfahren  hat,  bringt 
für  uns  die  innere  Freiheit  mit  sich  gegenüber  dem  zeitgeschichtlichen 
Kostüm,  in  das  sich  die  damalige  Philosophie  gekleidet  hatte,  und  giebt 
der  zeitgenössischen  Philosophie  ein  anderes  Kostüm,  dessen  eigentümliche 
Bedingtheit  vermutlich  auch  erst  spätere  Zeiten  wieder  unbefangen  werden 
beurteilen  können.  Indessen  bleiben  doch  durch  alle  Zeiten  hindurch  die 
grossen  Probleme  des  Denkens  und  die  Versuche  ihrer  Lösung  trotz  aller 
Modifikationen  wesentlich  die  gleichen;  und  der  Weg,  den  die  Entwicke- 
lung  der  Gedanken  in  früheren  Epochen  fruchtbarer  philosophischer  Ar- 
beit genommen  hat,  bildet  ein  lehrreiches  Muster  für  die  Richtung,  in  der 
das  Denken  späterer  Geschlechter  vorwärts  schreitet.  So  erklärt  es  sich, 
dass  gegenwärtig  das  Interesse  an  der  philosophischen  Vergangenheit,  das 
jahrzehntelang  um  Kant  nahezu  ausschliesslich  sich  konzentriert  hatte, 
sich  auf  die  Männer  zu  erstrecken  anfängt,  die  Kants  Philosophie  nach 
der  einen  oder  nach  der  anderen  Richtung  fortzubilden  unternommen 
haben.  Am  stärksten  treten  dabei  naturgemäss  die  Denker  in  den  Vorder- 
grund, die  ihrer  Zeit  die  kräftigsten  Antriebe  zur  geistigen  Durchbildung 
geboten  haben ;  und  dass  in  dieser  Rücksicht  niemand  den  Trägern  und 
Wortführern  des  deutschen  Idealismus  sich  vergleichen  lässt,  der  meiir 
als  einer  Generation  seinen  Stempel  aufgedrückt  und  die  gesamte  Mensch- 
heitskultur um  eine  Stufe  aufwärts  gehoben  hat,  wird  sich  nicht  bestreiten 
lassen.  Die  Männer,  die  den  Weg  von  Kant  bis  Hegel  bezeichnen,  be- 
ginnen jetzt  wieder  unmittelbaren  Einfluss  auf  die  philosophische  Arbeit 
der  Gegenwart  zu  üben. 

Auf  diesem  Wege  nimmt  nun  Schiller  eine  Stellung  von  höchst 
selbständiger   Bedeutsamkeit   ein.     Dass   diese   Stellung   recht  gewürdigt 


320  Rezensionen  (Engel). 

worden  wäre,  daran  hat  es  bisher  noch  in  mancher  Beziehung  gemangelt. 
Nicht  bloss  die  dichterische  Grösse  Schillers,  nicht  bloss  die  unleugbaren 
Unvollkommenheiten  seiner  philosophischen  Vorbildung  haben  der  Aner- 
kennung seiner  philosophischen  Leistung  im  Wege  gestanden ;  es  war  vor 
allem  die  überragende  Grösse  der  philosophischen  Schulhäupter,  Kant  an 
der  Spitze,  in  deren  Schatten  er  mit  seinen  wenigen,  gleichsam  nur  ge- 
legentlich entstandenen  Schriften  weit  zurücktrat.  Dennoch  ist  die  philo- 
sophische Entwickelung  jener  Zeit  ohne  diese  Schriften  Schillers  gar  nicht 
zu  denken ;  sie  haben  auf  die  grössten  Geister  der  Epoche  unmittelbar 
befruchtend  eingewirkt  und  haben  gerade  dadurch,  dass  sie  der  idealisti- 
schen Philosophie,  ausserhalb  des  schulmässigen  Betriebes,  den  Weg  in 
das  allgemein  gebildete  Bewusstsein  bahnten  und  sie  von  gewissen  ab- 
strakten Härten  des  ursprünglichen  Kantianismus  befreiten,  den  Siegeszug 
des  deutschen  Idealismus  entscheidend  gefördert.  Darum  gehört  Schiller 
durchaus  zu  den  Grossen  auch  in  der  Philosophie,  und  seine  Gedankenwelt 
verdient  eine  Betrachtung,  die  von  den  höchsten  Gesichtspunkten  des 
spekulativen  Gedankens  ausgeht. 

Es  ist  der  besondere  Vorzug  der  Schrift  Carl  Engels,  dass  sie 
„Schiller  als  Denker"  in  dieser  Weise  zu  betrachten  unternimmt.  Für 
Engel  handelt  es  sich  darum,  den  Kern,  die  „ideelle  Einheit"  der 
Schillerschen  Philosophie  herauszuarbeiten,  wodurch  ihr  in  der  Geschichte 
der  Philosophie  der  Wert  einer  typischen  Gestalt  zukommt.  Er  will 
Schillers  Anschauung  in  ihrer  produktiven  Kraft  und  als  die  systematische 
Ausbreitung  einer  universalen  Idee  entwickeln.  Selbstverständlich  stellt 
er  Schiller  in  die  nächste  Verbindung  mit  Kant;  aber  zugleich  legt  er 
überzeugend  dar,  wie  ihn  eine  innere  Notwendigkeit  nach  rückwärts  mit 
den  Meistern  der  philosophischen  Spekulation,  vor  allem  mit  Aiistoteles, 
verbindet,  und  wie  er  zugleich  nach  vorwärts,  in  erster  Linie  auf  Hegel, 
vorausweist.  Er  bemerkt,  dass  die  „edle  Geisterschaft",  die  durch  das 
Wahre  verbunden  ist,  fast  nur  auf  den  Höhenpunkten  der  philosophischen 
Gedankenbildung  anzutreffen  sei,  und  dass  man  daher  am  besten  tue,  wo 
es  auf  das  letzte  Geheimnis  des  Gedankens  ankommt,  sich  an  die  wahrhaft 
Grossen  in  der  Geschichte  der  Philosophie  zu  halten  (S.  8).  Zu  diesen 
wahrhaft  Grossen  zählt  er  Schiller  mit  Recht,  weil  dieser  den  spekulativen 
Gedanken  in  eigentümlicher  Form  und  in  fruchtbar  neuer  Auffassung  aus- 
gesprochen hat.  „Die  spekulative  Gestaltung  der  Idee  einer  ästhetischen 
Kultur  ist  das  Neue,  was  Schiller  der  Welt  bringt"  (S.  13). 

Was  Schiller  dadurch  geleistet  hat,  wird  man  nicht  leicht  hoch  ge- 
nug anschlagen  können.  Zunächst  wird  man  sagen  dürfen,  dass  er  der 
Erste  gewesen  ist,  dem  es  gelungen  ist,  den  im  Kantischen  System  noch 
vorliegenden  Dualismus  tatsächlich  zu  überwinden.  Und  zwar  hat  er  das 
vollbracht  durch  seinen  Begriff  der  Objektivität,  durch  den  er  sowohl 
Fichte  wie  Schelling  vorausgeeilt  ist  und  für  Hegel  das  Stichwort  ge- 
geben hat.  Die  Objektivität  ist  für  Schiller  nicht  das  indifferente  Nicht- 
ich, das  dem  Ich  nichts  weiter  als  einen  Anstoss  zur  eigenen  Tätigkeit 
giebt,  sie  ist  für  ihn  nicht  die  Natur,  die  mit  der  Intelligenz  erst  in  dem 
indifferenten  Absoluten  eins  wird.  Er  versteht  die  Objektivität  als  die 
Welt  der  Geschichte,  als  den  geistigen  Prozess  der  Kultur,  durch  den  die 
Menschheit  aus  der  Natur  zur  Freiheit  sich  erhebt.  So  erscheint  die  Natur 
miteinbegriffen  unter  die  Wirklichkeit  des  Geistes ;  das  Objekt  ist  wie 
das  Subjekt  der  Geist,  lenes  das  allgemeine,  dieses  das  einzelne  Selbst, 
das  in  der  Besonderheit  seiner  geschichtlichen  Situation  seine  Allgemeinheit 
verwirklicht  erfasst.  Engel  hebt  mit  Nachdruck  hervor,  wie  sich  bei 
Schiller  „die  Ahnung  von  der  Realität  und  Gegenwart  des  objektiven 
Geistes"  in  der  Bemerkung  ausspricht,  der  Mensch  sei,  ehe  er  anfängt  zu 
philosophieren,  der  Wahrheit  näher  als  der  Philosoph,  der  seine  Unter- 
suchung noch  nicht  geendet  hat;  und  man  könne  deswegen  ohne  alle 
weitere  Prüfung  ein  Philosophieren  für  irrig  erklären,  sobald  dasselbe, 
dem  Resultat  nach,  die  gemeine  Empfindung  gegen  sich  habe  (S.  69). 
Ganz  entsprechend  hat  sich  Fichte  z.B.  in  der  „Bestimmung  des  Menschen" 


Rezensionen  (Engel).  321 

geäussert,  wie  denn  Engel  über  Ficlites  Beeinflussung  durch  Schiller  sehr 
zutreffende  Nachweise  giebt  (S.  66  f.).  Mit  seiner  Intuition  einer  wirk- 
lichen Identität  von  Subjekt  und  Objekt  in  dem  geschichtlichen  Dasein 
des  Geistes  ist  aber  Schiller,  wie  gesagt,  der  unmittelbare  Vorgänger 
Hegels  geworden,  dessen  Phänomenologie  eben  diese  Intuition  methodisch 
zum  Begriffe  entwickelt.  Gewiss  liegt  hier  die  Aristotelische  Auffassung 
von  der  Immanenz  des  Geistigen  im  Sinnlichen  zu  Grunde,  wie  sich 
Schiller  ausdrücklich  dagegen  wehrt,  dass  man  sich  das  Materielle  bloss 
als  Hindernis  und  die  Sinnlichkeit  in  einem  notwendigen  Widerspruch 
mit  der  Vernunft  vorstelle  (S.  56).  Eben  darum  hat  auch  wie  bei  Aristo- 
teles der  unbewegte  Beweger,  so  bei  Schiller  die  „höchste  Intelligenz" 
ihren  Platz,  ,,die  der  Grund  unseres  Empfindens,  Denkens  und  WoUens 
ist  und  die  aus  .sich  selbst  alle  Realität  schöpft"  (S.  57);  nur  wird  man 
diese  so  charakterisierte  Intelligenz  weder  „rein"  transscendent,  noch 
„ausser  dem  Ich  befindlich"  nennen  dürfen.  Sie  kommt  inhaltlich  mit 
„dem  Begriff  des  absoluten  Subjektes"  überein,  von  dem  Engel  merk- 
würdigerweise meint,  dass  er  Schiller  gefehlt  habe  (S.  160);  und  nicht 
zufällig,  sondern  in  dem  Gefühle  dankbarer  Zustimmung  hat  Hegel  seine 
Phänomenologie,  wo  er  im  absoluten  Wissen  des  absoluten  Geistes  sein 
Ziel  erreicht  hat,  mit  den,  nach  seiner  Weise  modifizierten,  Schillerschen 
Versen  geschlossen :  Aus  dem  Kelch  des  ganzen  Seelenreiches  schäumt 
ihm  —  dem  absoluten  Geiste  —  die  Unendlichkeit. 

Der  Gesichtspunkt  nun,  der  es  Schiller  möglich  macht,  den  Grund 
zu  einer  solchen  Geschichts-  und  Kulturphilosophie  zu  legen,  ist  die  ästhe- 
tische Betrachtung  der  gesamten  Wirklichkeit.  Der  Ansatz  dazu  war 
ebenso  wie  der  zur  Ausbildung  einer  spekulativen  Geschichtsphilosophie 
überhaupt  bei  Kant  vorhanden.  Die  „Kritik  der  Urteilskraft",  dasjenige 
der  Kantischen  Werke,  dem  Goethe  nicht  minder  als  Schiller  den  wärmsten 
Anteil  widmete,  hatte  dazu  die  Bahn  gebrochen  und  den  Dualismus  der 
Kantischen  Denkweise  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zu  heilen  versucht. 
Engel  bezeichnet  kurz  und  treffend  die  Leistung  Kants  mit  den  Worten: 
„Kant  hat  das  unvergängliche  Verdienst,  die  Absolutheit  der  autonomen 
Vernunft,  der  Freiheit,  zur  Grundlage  der  Intelligenz  und  des  Willens  ge- 
macht zu  haben;  die  Gebiete  der  Natur  und  des  sittlichen  Lebens  erwies 
er  als  den  Gesetzen  der  theoretischen,  bezw.  der  praktischen  Vernunft 
Untertan"  (S.  18).  Nun  liegt  ja  in  dieser  Trennung  der  theoretischen  und 
der  praktischen  Vernunft,  in  diesem  Dualismus  von  Natur  und  sittlichem 
Leben,  noch  ein  Problem,  das  nach  seiner  Lösung  verlangt.  Wie  Kant  es 
zu  lösen  oder  die  Einheit  von  Natur  und  Freiheit,  von  Gegenständlichkeit 
und  Vernunft  zu  erreichen  suchte,  giebt  Engel  mit  folgenden  Worten  an: 
„Er  entdeckt  eine  doppelte  Art  des  zweckmässigen  Zusammenpassens  von 
Gegenstand  und  Vernunft,  eine  reale,  wo  der  Gegenstand  mit  seinem 
Wesen  übereinstimmt,  und  eine  formale,  wo  der  Gegenstand  der  Natur 
unseres  Erkenntnisvermögens  angemessen  ist.  Die  formale  veranlasst  uns, 
den  Gegenstand  schön  zu  finden"  (S.  18  f.).  Im  Grunde  bleibt  aber  hier 
noch  alles  unbestimmt,  weil  ja  für  Kant  der  Gegenstand  seinem  Wesen 
nach  selber  ausschliesslich  durch  unser  Erkenntnisvermögen  geformt  ist; 
wenn  der  Gegenstand  selbst  in  seiner  realen  Übereinstimmung  mit  seinem 
Wesen,  also  die  Wahrheit  des  Gegenstandes,  so  durchaus  das  Erzeugnis  unserer 
vernünftigen  Subjektivität  ist,  so  bleibt  für  .die  Einbildungskraft,  die  ihm 
nach  seiner  Erscheinung  in  seiner  formalen  Übereinstimmung  mit  unserem 
Erkenntnisvermögen,  also  als  schön,  empfindet,  keine  weitere  Bestimmung, 
als  dass  sie  unkritisch  oder  ohne  Begriffe  eben  dies  notwendige  Verhältnis 
der  Abhängigkeit  des  Gegenstandes  von  unserer  Subjektivität  wahrnimmt. 
Es  erhellt  aber,  dass  wenn  durch  die  Anerkennung  einer  solchen  anschauenden 
Wahrnehmung  des  Gegenstandes  die  Sinnlichkeit  als  „vernunftähnlich", 
der  Gegenstand  als  in  „Analogie  mit  der  Vernunft"  erscheinend  gefasst 
wird,  die  Objektivität  als  Erscheinung  selbst  zu  einer  Organisation  der 
Vernunft  und  der  ästhetische  Gesichtspunkt  zu  einem  massgebenden  Faktor 


322  Rezensionen  (Engel). 

des  geistigen  Lebens  wird,  der  ergänzend  und  vollendend  zu  dem  theore- 
tischen und  praktischen  hinzutritt. 

Hier  setzt  die  originale  Leistung  Schillers  ein.  Kant  hatte  gemeint, 
die  Urteilskraft  könne  „im  Notfalle  gelegentlich"  der  theoretischen  oder 
der  praktischen  Vernunft  angeschlossen  werden.  „Schiller,"  so  sagt  Engel, 
„macht  den  Notfall  zum  Normalfall  und  einigt  die  Gebiete  des  Natur-  und 
Freiheitsbegriffs,  die  theoretisch  hoffnungslos  getrennt  sind,  im  Prak- 
tischen" (S,  25).  Der  Einheitsgrund,  ..den  auch  Kant  angedeutet  hat,  für 
das  der  Natur  zu  Grunde  liegende  Übersinnliche  und  für  das,  was  der 
Freiheitsbegriff  praktisch  enthält,  wird  von  Schiller  näher  bestimmt  als 
der  Begriff  der  Freiheit  in  der  Erscheinung  (S.  27).  Da  nun  Freiheit 
recht  eigentlich  das  Wesen  des  Geistes  selber  ausmacht,  so  kommt  diese 
Bestimmung  des  erscheinenden  Gegenstandes  auf  die  .einfache  Wahrheit 
hinaus,  dass  in  der  Tat  das  Sinnliche  das  Geistige  ist  (S.  144),  eine  Wahr- 
heit, die  Engel  als  „das  Gesetz  der  Konkretheit"  bezeichnet.  Zugleich 
wird  durch  diese  Bestimmung  das  ästhetische  Verhältnis  aus  einem  blossen 
Accidenz  oder  psychologischen  Phänomen  zu  einem  ideellen  Momente  des 
Geistes  selbst,  das  die  beiden  andern  Momente  des  Geistes,  das  theore- 
tische und  das  praktische,  ebenso  in  sich  begreift,  wie  es  von  ihnen  mitinbe- 
griffen  wird.  Hier  liegt  ein  Punkt  vor,  in  dem  Schiller  vielfach,  besonders 
von  theologischer  Seite,  völlig  missverstanden  wird.  Weil  er  die  Kultur 
der  Menschheit  wie  des  Einzelnen  als  ästhetische  Kultur  versteht,  so  wirft 
man  ihm  vor,  dass  er  an  Stelle  der  Sittlichkeit  die  ästhetische  Bildung 
gesetzt,  dass  er  die  Vollendung  des  Menschen  „bloss"  im  Ästhetischen 
gesucht  habe.  Die  Darstellung  Engels  widerlegt  dieses  Missverständnis 
von  Anfang  an.  Das  Ästhetische  ist  von  dem  Praktischen  und  Theore- 
tischen schlechterdings  nicht  zu  trennen.  Dass  Schiller  die  Idee  der 
Selbstbestimmung  auf  die  Welt  der  Erscheinungen  angewandt  hat,  der  Ge- 
danke dieser  Ungeheuern  Vermenschlichung  der  Erscheinung  (S.  29),  bereitet 
eine  Änderung  der  ganzen  Auffassung  des  Verhältnisses  von  Subjekt  und 
Objekt,  von  Geist  und  Natur,  Begriff  und  Gegenstand  vor  (S.  82):  also 
die  praktische  wie  die  theoretische  Vernunft  nehmen  an  dem  Fortschritte 
des  ästhetischen  Bewusstseins  teil. 

Der  Geist  ist  eben  nicht  in  gesonderte  Fächer  abgeteilt;  er  selbst 
in  seiner  Totalität  ist  es,  der  sich  zu  dem  Gegenstande  dies  dreifache 
Verhältnis  giebt,  ihn  denkend  zu  begreifen,  ihn  wirkend  zu  beherrschen, 
ihn  mitempfindend  anzuschauen.  Jedes  dieser  Verhältnisse  trägt  die  ganze 
Wahrheit  des  Geistes  in  sich  und  führt,  begrifflich  entwickelt,  dazu,  die 
beiden  andern  Verhältnisse  als  in  ihm  mitbegriffen  erkennen  zu  lassen. 
Schiller  war  durch  seine  geschichtliche  Stellung  darauf  hingewiesen,  das 
ästhetische  Moment  im  Leben  des  Geistes  hervorzuheben  und  es  als  den 
Schluss  zu  entwickeln,  in  dem  sich  das  theoretische  und  praktische  zur 
Totalität  vereinen.  Diese  beiden  andern  Momente  hatte  Kant  in  ihrer 
vollen  Reinheit  herausgearbeitet.  Schiller  bemühte  sich,  das  ästhetische 
Moment  zuerst  ebenso  in  seiner  Reinheit  für  sich  zu  erfassen,  und  ent- 
wickelte so  den  objektiven  Begriff  der  Schönheit.  Aber  kaum  war  er 
mit  dieser  Entwickelung  notdürftig  zu  Ende,  als  ihn  die  innere  Not- 
wendigkeit des  Gedankens  zwang,  jeden  Schein  von  Isoliertheit  dieses 
Momentes  aufzuheben  und  es  als  die  belebende  Mitte,  als  das  um- 
schliessende  Einheitsband  der  beiden  anderen  aufzuzeigen.  Je  länger,  je 
mehr  aber  weitete  sich  seine  spekulative  Anschauung  dahin,  dass  er 
wechselseitig  jedes  der  drei  Momente  als  solchen  Ausdruck  der  Totalität 
des  Geistes  begriff.  Es  dürfte  nicht  schwer  fallen,  Gedankengänge  bei 
ihm  nachzuweisen,  in  denen  das  Praktische  als  der  Schluss  über  dem 
Tlieoretischen  und  Ästhetischen,  und  solche,  in  denen  aus  dem  Ästhe- 
tischen und  Praktischen  das  Theoretische  als  die  umfassende  Einheit 
sich  erhebt. 

Freilich  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  Schiller  mannigfach  in  der 
Intention  stecken  geblieben  ist  und  nur  die  Richtung  hat  angeben  können, 
in   der   sich   der   Gedanke   fortbewegen   sollte.     Er  war   eben  kein  fach- 


Rezensionen  (Engel).  323 

männischer  Philosoph.  So  g^ross  seine  spekulative  Begabung  auch  war, 
sein  dichterischer  Gestaltungstrieb  war  stärker  in  ihm  und  rief  ihn,  kaum 
dass  er  sich  über  seine  philosophischen  Grundanschauungen  klar  geworden 
war,  aus  dem  Felde  des  reinen  Denkens  wieder  zum  künstlerischen 
Schaffen  ab.  Wiewohl  er  die  sein  Denken  bestimmenden  Ideale  schon 
früli  in  sich  ausgebildet  hatte,  sind  es  nur  wenige  Jahre  seiner  männlichen 
Reife,  die  er  mit  entscheidender  Wirkung  dem  pliilosophischen  Schrift- 
stellern gewidmet  hat.  Die  Veranlassung  dazu  hat  ihm  Kant  gegeben, 
und  mit  vollem  Bewusstsein  und  warmer  Anerkennung  ist  er  auf  den 
Boden  getreten,  den  Kant  methodisch  für  alles  Philosophieren  gelegt  hat. 
Aber  die  Fähigkeit,  das,  was  „bei  Kant  keimartig  verborgen  lag",  auszu- 
führen (S.  31),  verdankt  er  doch  der  Ausrüstung  mit  Ideen,  die  ihn  er- 
füllten, längst  ehe  er  Kant  kennen  lernte.  Unstreitig  ist  die  Auffassung 
der  Geschichte,  die  bei  Schiller  zum  klaren  Ausdruck  kommt,  ebenso  wie 
die  Stellung  des  Ästhetischen  im  Leben  des  Geistes  schon  bei  Kant 
präformiert.  Aber  Schiller  hat  diese  Ideen  nicht  von  Kant  übernommen, 
sondern  sie  vor  seiner  Bekanntschaft  mit  diesem  bereits  zu  leitenden  Ge- 
sicht.spunkten  für  sich  durchgearbeitet.  Sein  „angeborenes  Lebensideal" 
(S.  16),  das  die  Harmonie  von  Sinnlichkeit  und  Sittlichkeit  erstrebte,  ist 
wohl  in  erster  Linie  dem  Einfluss  der  religiösen  Jugenderziehung  im 
Geiste  des  schwäbischen  Pietismus  zu  verdanken,  wie  ja  auch  für  Kant 
der  ostpreussische  Pietismus  seines  Vaterhauses  den  Boden  bezeichnet,  in 
dem  die  Prinzipien  seiner  Weltanschauung  wurzeln.  Die  weitere  Reife 
seiner  Gedanken  hat  sich  in  Schiller  unter  dem  Einflüsse  von  Leibniz, 
Shaftesbury  und  Herder  vollzogen  (S.  14  ff.);  das  merkwürdigste  Beispiel 
für  die  innere  Wesensgemsinschaft  aller  konkret  idealistischen  Richtungen 
bildet  doch  die  von  Engel  liebevoll  aufgezeigte  Übereinstimmung  Schillers 
mit  Aristoteles,  den  er  schwerlich  vor  1797  überhaupt,  und  auch  dann  nur 
in  einer  deutschen  Übersetzung  der  Poetik  kennen  gelernt  hat.  Eine 
wissenschaftliche  Ausbildung  in  der  Philosophie  hatte  er  nicht  empfangen, 
ehe  er  durch  Kant  zu  einem  völlig  neuen  methodischen  Ausgangspunkte 
für  alles  wissenschaftliche  Denken  geführt  wurde.  Es  ist  kein  Wunder, 
dass  sich  nun  in  seiner  Terminologie  und  in  der  Form  seiner  Darstellung 
die  Elemente  seiner  verschiedenen  Bildungsperioden  seltsam  mischen  und 
die  Originalität  des  Gedankens  nicht  immer  das  angemessene  Kleid  des 
sprachlichen  Ausdrucks  findet.  Treffend  weist  Engel  auf  einen  Fall  hin, 
wo  Schiller  einfach  eine  fehlerhafte  Terminologie  hat :  er  sagt  vom  Kunst- 
werk, bei  ihm  sei  die  Form  alles,  derlnlialt  nichts;  und  er  meint  schlechter- 
dings nicht  den  Inhalt,  sondern  den  Stoff  (S.  111).  Auch  das  hat  Engel 
richtig  hervorgehoben,  dass  Schillers  Denken  zwar  durchaus  dialektisch 
angelegt  war,  dass  es  ihm  aber  nicht  immer  gelungen  ist,  es  bis  zu  einem 
restlos  befriedigenden  Gesamtergebnis  durchzuführen  (S.  70).  Schiller  war 
ein  streng  methodisch  fortschreitender  Denker  jedem  einzelnen  Problem 
gegenüber,  das  er  aufgriff;  er  behandelte  seinen  Gegenstand  systematisch 
und  dialektisch.  Aber  er  ist  nicht  darauf  aus  gewesen,  ein  System  in 
allen  Teilen  gleichmässig  auszubilden,  sondern  greift  von  Fall  zu  Fall  die 
Probleme  auf,  die  sich  ihm  in  den  Weg  stellen.  Er  denkt  systematisch, 
aber  er  entwirft  kein  System.  Er  bleibt  mit  seinem  Denken  in  der  Be- 
wegung des  Entdeckers  und  nuanciert  mit  jeder  neuen  Arbeit  Gesichts- 
punkt und  Ausdruck.  Daher  liegt  in  der  Tat  die  Versuchung  nahe,  den 
Denker  Schiller  in  erster  Linie  psychologisch  und  entwickelungsgeschicht- 
lich  verständlich  zu  machen  und  darüber  die  einheitliche  Grundkonzeption 
seiner  Philosophie  zu  übersehen.  Auch  die  Gefahr,  ihn  in  vielen  Einzel- 
heiten misszuverstehen,  wird  durch  die  Form  seiner  Arbeiten  hervor- 
gerufen. 

Engel  ist  dieser  Gefahr  durch  seine  tiefeindringende  Analyse  der 
Schillerschen  Gedankenwelt  siegreich  entgangen.  Es  gelingt  ihm  meister- 
lich, den  Sinn  mancher  oft  missverstandenen  Schillerschen  Deduktion 
klarzulegen,  und  vielfach  überrascht   er  den  Leser  in  erfreulichster  Weise 

KaDtatudieo    XV.  21 


324  Rezensionen  (Engel), 

durch  die  neue  Beleuchtung,  in  die  er  die  Gedanken  Schillers  dadurch 
rückt,  dass  er  sie  mit  der  Gedankenarbeit  früherer  und  späterer  grosser 
Denker  verknüpft,  ßntwickelungen,  wie  Engel  sie  giebt,  lassen  sich  durch 
ein  epitomierendes  Referat  nicht  wiedergeben.  Ihr  Verdienst  liegt  min- 
destens ebensosehr  in  der  methodischen  Sorgfalt  des  dialektischen  Ge- 
dankenfortscliritts  wie  in  dem  schliesslichen  Resultate.  Darum  müssen 
wir  unsere  Leser  darauf  verweisen,  das  Buch  selbst  zur  Hand  zu  nehmen 
und  sich  schrittweise  durch  Engel  von  einem  Momente  der  Schillerschen 
Anschauung  zu  dem  anderen  leiten  zu  lassen.  Er  stellt  in  einer  Reihen- 
folge, die  der  Begriff  selbst  an  die  Hand  giebt,  zuerst  die  Idee  der  ästhe- 
tischen Kultur  nach  Schiller  dar,  und  zwar  geht  er  von  der  Aufstellung 
des  objektiven  Begriffes  der  Schönheit  aus,  um  sein  subjektives  Korrelat 
in  dem  Spieltriebe  des  Menschen  und  dann  seine  Verwirklichung  in  dem 
Zustande  der  ästhetischen  Kultur  zu  behandeln.  Daran  schliesst  sich  ein 
Abschnitt,  der  die  ästhetische  Kultur  als  System  der  Künste,  also  die  Be- 
sonderung  des  Ästhetischen  für  sich  selbst  darstellt,  und  darauf  folgen  die 
beiden  Abschnitte,  die  der  Synthese  der  Momente  des  praktischen  und 
theoretischen  Geistes  im  Ästhetischen  gewidmet  sind  und  von  der  ästhe- 
tischen Kultur  und  der  Geschichte  sowie  von  der  ästhetischen  Religion 
handeln.  Überall  ist  es  Engel  gelungen,  der  Eigentümlichkeit  des 
Schillerschen  Gedankens  gerecht  zu  werden;  nur  in  einem,  freilich  sehr 
wichtigen  Punkte  muss  doch  gegen  sein  Urteil  Widerspruch  erhoben 
werden. 

Engel  hält  Schillers  Kritik  von  Kants  moralischem  Rigorismus  für 
verfehlt  und  raubt  Schiller  damit  den  Ruhm,  der  ihm  vor  allem  gebührt,  das 
sittliche  Bewusstsein  philosophisch  auf  eine  höhere  Stufe  der  inneren  Freiheit 
gehoben  zu  haben.  Zugegeben,  dass  auf  dem  Standpunkte  der  Moralität, 
wo  die  Frage  nach  der  Richtschnur  für  die  menschlichen  Handlungen  ge- 
stellt wird,  die  Kantische  Moral  die  reinste  und  erhabenste  Antwort  giebt, 
und  dass  Schiller,  wenn  er  innerhalb  dieses  Standpunktes  sich  halten 
wollte,  duich  Widerspruch  gegen  Kant  notwendig  hinter  ihm  hätte  zurück- 
bleiben müssen,  so  ist  doch  das  Verdienst  Schillers  eben  dies  gewesen, 
dass  er  den  Standpunkt  der  Moralität  gänzlich  verlassen,  ihn  als  einen 
untergeordneten  betrachtet  und  an  Stelle  des  Dualismus  zwischen  einer 
abstrakten  Vernunftregel  und  einem  singulären  Tun  die  Idee  des  in  sich 
einheitlichen  und  versöhnten  Lebens  im  Geiste  gesetzt  hat.  Schiller  fragt 
gar  nicht:  wie  soll  der  Mensch  sittlich  handeln?  sondern:  wie  kann  der 
Mensch  sittlich  sein?  und  sieht  vor  und  über  der  empirischen  Tatsache 
der  Unvollkonimenheit  des  Individuums  als  den  belebenden  Geist  aller 
moralischen  Anstrengung  die  allgemeine  und  ideelle  Wirklichkeit  des 
Sittlichen  in  der  Menschheit  wie  in  dem  Einzelnen.  Die  Sittlichkeit  ist 
nicht  bloss  ein  Ideal,  zu  dem  man  in  unendlichem  Prozess  hinstreben 
muss,  sie  ist  eine  Idee,  die  sich  im  sittlichen  Leben,  in  dem  Bewusstsein 
der  persönlichen  Freiheit  und  in  der  Hingabe  an  den  Gott,  den  heiligen 
Willen,  dessen  Wohnung  die  Brust  des  Menschen  ist,  beständig  verwirk- 
licht. Diese  Auffassung  des  Sittlichen  tritt  in  Schillers  philosophischen 
Schriften  ebenso  wie  in  seinen  Dichtwerken  überall  klar  ans  Licht,  wenn 
man  auch  zugeben  muss,  dass  er  sich  zu  ihrer  Formulierung  oft  solcher 
Termini  bedient,  die  aus  dem  von  ihm  überwundenen  Standpunkte  her- 
stammen und  zu  seiner  Anschauung  nicht  mehr  passen.  Wenn  er  sagt, 
Tugend  sei  nichts  anderes  als  Neigung  zur  Pflicht,  so  ist  weder  das  Wort 
Tugend,  noch  das  Wort  Neigung,  noch  das  Wort  Pflicht  wirklich  dazu 
geeignet,  seinen  Gedanken  auszudrücken.  Das  trifft  auch  auf  den  be- 
rühmten Ausspruch  zu,  das  Christentum  habe  an  Stelle  des  kategorischen 
Imperativs  die  „freie  Neigung"  gesetzt;  dass  aber  Schiller  unter  freier 
Neigung  hier  eben  das  versteht,  was  der  religiöse  Sprachgebrauch  mit 
dem  Worte  „Glauben"  bezeichnet,  und  dass  er  den  höheren  Imperativ ; 
„du  musst  glauben"  oder  „nehmt  die  Gottheit  auf  in  euren  Willen"  an 
Stelle   des   die    Handlungen  des  moralischen  Menschen  regulierenden  Ver- 


Rezensionen  (Engel),  325 

nunftgebotes  gesetzt  bat,  geht  aus  seinen  Worten  überall  hervor.  Man 
wird  ihn  nicht  tadeln  dürfen,  dass  er  in  der  wissenschaftlichen  Erörterung 
den  melirdeutigen  Terminus  „Glauben"'  nicht  benutzt  hat:  Fichte  hat  ihn 
schwerlich  zum  Vorteil  für  die  Verständlichkeit  angewendet.  Wenn  aber 
Schiller  in  dem  erwähnten  Ausspruch  als  den  Inhalt  des  Christentums  die 
„Menschwerdung  des  Heiligen"  bezeichnet,  so  hat  er  für  sein  sittliches 
Ideal  tatsächlich  den  treffenden  Ausdruck  gefunden;  man  wird  übrigens 
auch  den  gewaltigen  Fortschritt  der  ethischen  und  geschichtlichen  Einsicht 
nicht  genug  bewundern  können,  den  Schiller  zweifellos  unter  dem  Ein- 
flüsse Kants  gemacht  hat,  wenn  an  derselben  Stelle  der  Mann,  der  vor 
kurzem  die  „Götter  Griechenlands"  gedichtet  hatte,  jetzt  das  Christentum 
für  die  „einzige  ästhetische  Religion"  erklärt. 

Davon  also,  dass,  wie  Engel  meint,  bei  Schiller  der  Gegensatz  der 
„beiden  grössten  ethischen  Systeme,  der  Nikomachischen  und  der  Kantischen 
Ethik,  der  Hexis  und  der  reinen  praktischen  Vernunft"  ungelöst  bestehen 
bleibe  (S.  85),  kann  nicht  wohl  die  Rede  sein.  Auch  das  Schwanken  in 
der  Wertung  des  Ästhetischen,  das  er  bei  Schiller  bemerkt,  liegt  mehr 
im  Ausdruck  als  in  einer  Unsicherheit  des  Gedankens;  man  muss  nur,  was 
wir  oben  hervorgehoben  haben,  im  Auge  behalten,  dass  in  Schillers  An- 
schauung das  Ästhetische  als  Moment  des  Geistes  einesteils  seine  Be- 
sonderheit hat,  andernteils  eine  Form  der  Totalität  alles  geistigen  Lebens 
ist,  also  das  theoretische  und  praktische  Moment  in  sich  enthält.  Gewiss 
ist  „Neigung  zur  Pflicht"  ein  „unglücklicher  Ausdruck"  (S.  46).  Aber  was 
Engel  dagegen  einwendet,  trifft  unter  seinen  eigenen  Voraussetzungen 
nicht  zu.  Er  sagt:  „das  Sinnliche  kann  sich  nicht  vergeistigen",  was  es 
nach  Engel  selber  auch  gar  nicht  nötig  hat;  denn  er  bekennt  sich  freudig 
zu  dem  Satze:  das  Sinnliche  ist  das  Geistige.  Er  meint:  der  Geist  aber 
kann  sich  versinnlichen,  was  wieder  seiner  sonstigen  Überzeugung  gar 
nicht  gerecht  wird;  denn  diese  ist  doch  nicht,  dass  der  Geist  sich  ver- 
.sinnlichcn  kann,  sondern  dass  er  vielmehr  dies  ist,  sich  stetig  zu  ver- 
sinnlichen. Darum  gilt  auf  dem  ethischen  Gebiete  eben  auch  das  „Gesetz 
der  Konkretheit",  und  dies  Gesetz  wird  durch  den  Kantischen  Dualismus 
zwischen  dem  kategorischen  Imperativ  als  abstrakter  Regel  und  der  indi- 
viduellen Situation  als  indifferenten  Materials  für  das  jeweilige  Wollen 
verleugnet.  Das  Sittliche  ist  nicht  als  einzelne  Handlung  noch  als  einzelne 
Intention,  ebensowenig  aber  als  ein  bloss  formales  Sollen  zu  begreifen, 
sondern  als  dauernde  Selbstbestimmung  des  Geistes,  die  im  Einzelnen  den 
allgemeingiltigen  Gehalt  erfasst  und  also  die  Einzelheit  zum  Abbilde  des 
Allgemeinen  verklärt.  Das  meint  Schiller,  wenn  er  von  einem  „ästhe- 
tischen Übertreffen  der  Pflicht"  redet,  das  darin  besteht,  dass  „die  Natur 
sich  geheiligt  habe". 

Hier  führt  die  ästhetische  Kultur  im  Sinne  Schillers  direkt  auf  das 
religiöse  Gebiet  hinüber.  Engel  hebt  als  für  Schiller  bezeichnend  hervor, 
dass  weder  das  Dogma  noch  die  Kirche,  die  beiden  unerlässlichen  objek- 
tiven Grundlagen  für  jede  wirkliche  Religion,  jemals  ernstlich  in  Schillers 
Gesichtskreis  getreten  sind  (S.  166).  Das  ist  aber  doch  mehr  für  die  Zeit 
bezeichnend,  in  der  Schiller  lebte,  als  für  ihn  persönlich.  Gewiss  liegt 
der  Kirche  die  Aufgabe  ob,  den  Glauben  als  ein  Wissen  in  begrifflicher 
Bestimmtheit  durch  das  Dogma  zu  formulieren  und  zu  konservieren ;  aber 
in  dem  Individuum  lebt  das  Dogma  doch  nur  in  den  seltensten  Fällen  als 
entwickelter  Begriff,  vielmehr  der  Regel  nach  als  Anschauung,  die  von 
der  „freien  Neigung"  angeeignet  und  festgehalten  wird.  In  diesem  Sinne 
ist  Schiller  recht  eigentlich  der  Dichter  des  „Glaubens"  und  des  neuen 
Lebens,  das  als  ein  Geschenk  der  Gnade  von  oben  dem  kindlich  vertrauen-  ^ 
den  Gemüte,  der  sinnigen  Einfalt  zuteil  wird.  Dass  er  diese  Gedanken  * 
dichterisch  in  Bildern  aus  der  hellenischen  Mythologie,  philosophisch  in 
abstrakten,  freilich  nicht  ausreichenden  Formeln  ausgesprochen  hat  und 
nicht  in  den  Ausdrücken  des  religiösen  Sprachgebrauchs,  ist  gewiss  nicht 
zu   beklagen.     Denn   seine   Gedichte   sollten  ja    keine  Kirchenlieder  und 

21* 


326  Rezensionen  (Michaltschew). 

seine  Abhandlungen  keine  erbaulichen  Traktate  sein.  So  aber,  wie  sie 
da  sind,  bilden  sie  die  beglückendsten  Zeugnisse  dafür,  dass  hier  der 
grosse  Gedanke  der  Reformation,  der  Begriff  der  evangelischan  Freiheit 
in  Gott  aus  dem  Bezirke  der  religiösen  Anschauung  in  die  gesamte  Welt- 
lichkeit eingedrungen  ist  und  dem  gebildeten  Selbstbewusstsein  zu  einer 
neuen  Stellung  inmitten  seiner  Welt  verholfen  hat. 

Engel  macht  der  Schillerschen  Auffassung  des  sittlichen  Lebens  den 
Vorwurf,  dass  durch  sie  „der  ideale  Zustand,  nach  dem  die  Entwickelung 
gerichtet  ist,  leicht  vorweggenommen  werde".  Vielleicht  könnte  dieser 
Vorwurf  gegenüber  der  Aristotelischen  Ethik  für  nicht  ganz  unzutreffend 
gelten,  der  die  Zuspitzung  und  Versöhnung  des  sittlichen  Problems,  wie 
sie  im  Christentum  zu  stände  gekommen  ist,  noch  unbekannt  war.  Schiller 
gegenüber  bedeutet  er  mutatis  mutandis  etwa  dasselbe,  wie  der  Vorwurf, 
den  die  römische  Kirche  gegen  Luther  erhebt,  dass  er  mit  seiner  Recht- 
fertigungslehre den  Ernst  der  sittlichen  Anstrengung  und  der  tugendhaften 
Leistung  abschwäche.  Den  sittlichen  Kampf,  das  Ringen  der  zwei  Seelen  im 
Individuum,  das  Schuldbewusstsein  gerade  des  heiligen  Menschen,  den  grausen 
Abgrund,  der  zwischen  dem  Ideal  und  dem  empirischen  Dasein  klafft, 
hat  doch  Schiller  wahrlich  erschütternd  genug  dichterisch  wie  philoso- 
phisch dargestellt.  Dass  er  „den  Weg  nach  Golgatha  nicht  mitmache" 
und  „keinen  spekulativen  Charfreitag  erlebe",  widerspricht  dem  tragischen 
Ernste  durchaus,  der  den  Hintergrund  ebenso  seines  persönlichen  Lebens 
wie  seiner  Gedankenwelt  gebildet  hat.  Aber  wie  der  Charfreitag  in  dem 
Prozess  der  Versöhnung  nur  ein  Moment,  ihre  Totalität  aber,  und  zwar 
der  als  Resultat  hervorgetretene  Grund  des  ganzen  Prozesses,  das  neue 
Leben  der  Auferstehung  ist,  so  ist  es  nur  freudig  zu  begrüssen,  dass 
Schiller  nicht  bei  dem  unüberwundenen  Zwiespalt  stehen  gebliel)en, 
sondern  zu  der  daseienden  Versöhnung  vorgedrungen  ist  und  nicht  darin, 
dass  der  Einzelne  mit  seiner  Individualität  nicht  fertig  wird,  sondern 
darin,  dass  er  seine  Individualität  durch  den  Geist  verklären  lässt,  die 
Verwirklichung  der  praktischen  Vernunft  erkennt. 

Berlin,  NO  43.  Georg  Lasson. 

Älichaltschew,  Diniitri.  Philosophische  Studien.  Beiträge  zur 
Kritik  des  modernen  Psychologismus.  Mit  einem  Vorwort  von  Prof.  Dr. 
Johannes  Rehmke.     Leipzig,  W.  Engelmann,  1909.     (560  S.) 

Das  Buch  stellt  eine  sehr  scharfe  Polemik  gegen  die  Hauptrichtungen 
der  modernen  theoretischen  Philosophie  dar.  Obwohl  das  Namenregister 
über  100  Namen  zählt,  sind  hauptsächlich  4  Schulen  gemeint  und  in  Bezug 
auf  ihren  Psychologismus  kritisiert:  der  „teleologische  Kritizismus" 
(Windelband,  Rickert),  die  Schule  der  „reinen  Logik"  (Bolzano,  Husserl), 
die  immanente  Schule  (Schuppe)  und  der  Empiriokritizismus  (Avenarius, 
Mach).  Vor  allem  sind  es  aber  die  beiden  ersten  Schulen,  gegen  welche 
der  Verfasser  die  Pfeile  seiner  Polemik  richtet,  und  dabei  ist  es  haupt- 
sächlich Rickert,  dessen  Lehre  mehr  als  die  Hälfte  des  dicken  Buches 
gewidmet  ist.  —  Der  Verfasser  selber  ist  Schüler  Rehmkes,  dessen 
noch  nicht  veröffentlichtes,  nur  vom  Katheder  gelehrtes  System  der 
theoretischen  Philosophie  er  in  jeder  Hinsicht  vertritt.  In  seinem 
kurzen  Vorwort  nennt  Rehmke  das  Buch  seines  Schülers  und  ,jungen 
Freundes",  „filius  ante  patrem".  Er  freut  sich  dabei,  „mit  welcher 
Sicherheit  er  (Michaltschew)  unsere  Anschauungen  vertritt  und  als  schneidige 
Waffe  gebraucht." 

Trotz  mancher  grundlegender  Unterschiede  in  ihrer  Erkenntnis- 
theorie haben  nach  M.  die  beiden  hauptsächlich  von  ihm  bekämpften 
Schulen  das  gemeinsam,  dass  sie  von  einer  „dualistischen"  Voraussetzung 
ausgehen:  Der  teleologische  Kritizismus  von  dem  Gegensatze  „Seiendes— 
Sollendes"  oder  „Gegebenes— Aufgegebenes",  die  reine  Logik,  die  vom 
Sollen  in  der  theoretischen  Philosophie  nichts  wissen  will,  von  dem  Gegen- 
satze „Reales — Ideales",  der  jedoch  prinzipiell  sich  von  dem  ersteren  nicht 
unterscheidet.    Beide  bekämpfen   bekanntlich  den  offenen  Psychologismus 


Rezensioueu  (Michaltschew).  327 

in  allen  seinen  Verzweigungen,  und  trotzdem  verfehlen  sie  doch  alle  ihr 
Ziel,  denn  die  Grundvoraussetzungen  jedes  Psychologismus  (den  dua- 
listischen Ausgangspunkt)  teilen  sie.  Ja,  sie  stellen  den  letzten  ver- 
zweifelten Versuch  dar,  den  Psychologismus  in  einer  höchst  verfeinerten, 
fast  nicht  mehr  erkenntjaren  Form  zu  retten.  Dieser  Dualismus  entspringt 
aus  dem  platonischen  Dualismus  zwischen  Gegebenem  und  Seiendem,  seine 
Wurzel  „liegt  in  dem  Satz,  dass  dem  Bewusstsein  nicht  etwas  gegeben 
und  zugleich  in  seinem  Bestehen  von  ihm  unabhängig  sein  kann"  (S.  30f.). 
Dieser  Satz  beruht  auf  der  Verwechselung  zweier  grundverschiedener 
Bedeutungen  des  Wortes  ,,Haben"':  nämlich  1.  Haben  als  Besitzen  und  2. 
Haben  als  Zugehörigkeit.  Jede  psychologistische  Erkenntnistheorie  meint, 
dass  das,  was  die  Seele  besitzt,  auch  notwendig  zu  ihr  gehört.  Das  Ge- 
gebensein verwechselt  sie  mit  dem  Zugehörigsein.  Im  ersten  Sinne  des 
„Habens"  besitzt  die  Seele  (oder  ihr  ist  gegeben)  sowohl  das  Psychische 
als  auch  das  Ph3'sische,  die  nicht  aufeinander  zurückführbar  sind.  Im 
zweiten  Sinne  bedeutet  das  Zugehörige  die  Bestimmtheit  des  Einzelwesens 
„Seele",  und  insofern  ist  es,  ebenso  wie  diese  selbst,  nur  psychisch  und 
freilich  von  der  Seele  abhängig.  Das  Gegebene  aber  (das,  was  die  Seele 
besitzt)  braucht  nicht  von  der  Seele  abhängig  zu  sein,  ja,  es  ist  von  ihr 
unabhängig,  und  nur  die  dogmatische  Erkenntnistheorie  lehrt  die  Ab- 
hängigkeit des  Gegebenen  von  der  Seele,  indem  sie  die  beiden  Be- 
deutungen des  „Haben"  verwechselt.  Sie  will  dem  Solipzismus,  zu  dem 
diese  Verwechselung  notwendig  führt,  entgehen.  Daraus  folgen  alle  Spitz- 
findigkeiten und  Subtilitäten  der  modernen  Erkenntnistheorie.  Sie  nimmt 
aber  das  solipsistische  Dogma  an,  das  ihren  Ausgangspunkt  bildet.  Dem 
Versuch,  dem  Solipsismus  zu  entgehen,  entspricht  auch  die  von  Schuppe 
begonnene  Reform  des  Bewusstseins  und  das  Hauptproblem  der  modernen 
Erkenntnistheorie  „das  Bewusstsein  überhaupt".  Mit  grossem  Nanien- 
apparat  verfolgt  M.  eingehend  die  Entwickelung  dieses  Problems,  um  die 
ganze  wütende  Kraft  seiner  Polemik  gegen  den  Rickertschen  Begriff  des 
..erkenutnistheoretischen  Bewusstseins"  auszuspielen.  Er  will  nachweisen, 
da^s  das  Bewusstsein  überhaupt  entweder  ein  psychologisches  Bewusstsein 
bedeutet,  was  zu  einem  maskierten  Solipsismus  führt,  oder  ein  „leeres 
Wort"  ist.  —  Das  Wichtige  dieser  Ausführungen  M.s  besteht  in  der  Be- 
tonung des  psychologistischen  Ursprunges  des  Problems  des  „Be- 
wusstseins überhaupt".  Dieser  Begriff  will  eben  das  Problem  der  Trans- 
scendenz  lösen,  und  wenn  der  transscendentale  Idealismus  in  der  Lösung 
des  Problems  der  Transscendenz  zu  einer  Fassung  des  „Bewusstseins 
überhaupt"  kommt,  welche  dem  Namen  der  Begriffe  nicht  mehr  entspricht, 
so  zeigt  eben  diese  Paradoxie  der  Bezeichnung  das  Falsche  des  gegne- 
rischen Ausgangspunkts.  Deswegen  irrt  auch  M,,  wenn  er  durch  die 
Kritik  des  Bewusstseins  überhaupt  die  positive  Theorie  Rickerts  getroffen 
zu  haben  meint.  Er  vergisst,  dass  dieser  Begriff  eine  rein  negative  kri- 
tische Bedeutung  hat  (gegen  die  Vertreter  der  transscendenten  Wirklich- 
keit), und  wenn  diese  Kritik  eine  solche  Auffassung  des  Bewusstseins 
fordert,  welche  mit  dem  gewöhnlichen  Begriff  des  Bewusstseins  nichts 
mehr  gemeinsam  hat,  so  ist  das  eben  der  beste  Beweis  für  ihre  Richtig- 
keit. Vor  allem  aber  übersieht  M.,  dass  seine  eigene  Kritik  des  Psycho- 
logismus, die  wir  oben  angedeutet  haben,  eigentlich  nur  eine  Paraphrase 
der  von  M.  so  scharf  bekämpften  Rickertschen  Unterscheidung  zwischen 
dem  psychologischen  und  erkenntnistheoretischen  Subjekte  ist.  Denn  das 
„Haben"  im  Sinne  der  Zugehörigkeit,  wobei  wir  mit  Bestimmtheiten  der 
Seele  zu  tun  haben  und  in  der  rein  psychischen  Sphäre  uns  bewegen,  ist 
eigentlich  nichts  anderes  als  das  Rickertscbe  Verhältnis  des  psycholo- 
gischen Subjekts  zur  entsprechenden  Objektssphäre.  Die  Inhalte  dieser 
Objektssphäre  (das  Vorstellen,  das  Fühlen,  Wollen  u.  s.  w.)  gehören,  wie 
R.  selber  sagt,  zum  psychologischen  Subjekt.  Das  dagegen,  was  die  Seele 
besitzt,  oder  „das  Gegebene"  (nach  der  Terminologie  M.s)  ist  nichts 
anderes   als    „der    Inbegriff   aller  immanenten  Objekte",  d.  h.  die  Objekts- 


328  Rezensionen  (Michaltschew). 

Sphäre  des  erkenntnistheoretischen  Gegensatzes,  welche  das  Korrelat  zum 
Begriff  des  erkenntnistheoretischen  Subjektes  bildet.  Dass  auch  sein  Be- 
griff des  Gegebenen  (wem  Gegebenen?)  einen  solchen  Korrelatbegriff 
fordert,  giebt  M.  am  Ende  des  Buches  selber  zu,  „Hoffentlich  ist  demnach 
genügend  klar  geworden,  sagt  M.,  wie  wir  die  Wirklichkeit  als  etwas 
von  uns  Unabhängiges  begründen.  Was  ihren  Charakter  einer  Bewusst- 
seinswelt  betrifft,  so  schliessen  wir  weiter,  dass  ein  Bewusstsein  bestehen 
muss,  das  die  Wirklichkeit  besitzt.  Das  Wirkliche  ist  Bewusstseiendes, 
doch  es  ist  nicht  deswegen,  weil  wir,  Menschen,  Tiere  oder  Engel,  es 
haben.  Der  „Grund"  für  die  Welt  als  Inbegriff  aller  Wirkenseinheiten 
liegt  in  einem  Bewusstsein,  dass  man  meinetwegen  „göttliches"  nennen 
könnte"  (S.  555).  Warum  diese  Umsetzung  der  „alten"  Terminologie  — 
„erkenntnistheoretisches  und  psychologisches"  Subjekt  u.  s.  w.  —  in  die 
„neue",  wo  wir  es  mit  der  „Seele",  „Einzelwesen",  „Bestimmtheiten"  und 
einem  „göttlichen  Bewusstsein"  zu  tun  haben,  keine  „Wortspielerei"  ist, 
—  die  Versuche  aber  mit  den  „alten"  vom  Kritizismus  herrührenden  Ter- 
minis  dieselbe  Sache  klarzulegen  eine  solche  sind,  —  das  können  wir  nicht 
verstehen. 

Damit  wollen  wir  natürlich  nicht  behaupten,  dass  dieser  ganze 
Streit  sich  nur  um  die  Terminologie  dreht.  Das  Motiv  der  Kritik  M.s, 
das  ihn  dazu  führt,  im  Kritizismus  nur  einen  maskierten  Solipsismus  zu 
sehen,  ist  ganz  klar  und  ist  nicht  für  M.  allein  charakteristisch.  Er  teilt 
es  z.  B.  mit  Lossky  (Die  Begründung  des  Intuitivismus  1908),  der  ebenso 
den  Subjekt — Objekt-Gegensatz  für  das  Hauptmoment  des  Kritizismus  hält 
und  in  der  Gegebenheit  den  einzig  möglichen  Ausgangspunkt  der  Erkennt- 
nistheorie sieht.  Es  ist  die  Leugnung  jedes  „Sollen"  oder  jedes  „Idealen", 
überhaupt  jedes  Etwas,  das  nicht  Sein  ist,  das  Streben  also,  alles  auf  das 
Sein  zu  begründen.  Dass  dieses  Streben  ohne  metaphysische  Annahme 
undurchführbar  ist,  giebt  Lossky,  der  eine  „nicht  sinnliche  Wahrnehmung" 
annimmt,  selber  zu.  Dass  auch  M.  zu  solchen  Annahmen  gezwungen  ist, 
haben  wir  gesehen.  Allerdings  behauptet  er  die  „Gegebenheit"  auch 
seines  „göttlichen  Bewusstseins".  Jedenfalls  ist  hier  das  Wort  „Gegeben" 
in  einem  sehr  weiten  Sinne  gebraucht,  der  uns  unverständlich  macht,  wa- 
rum das  erkenntnistheoretische  Subjekt  einerseits  oder  irgend  welcher 
Unsinn  andererseits  weniger  „gegeben"  ist  als  M.s  „göttliches"  Be- 
wusstsein. 

Dasselbe  Motiv  treibt  M.,  das  Problem  der  Wahrheit  mit  dem  der 
Wirklichkeit  zu  identifizieren.  Wirklichkeit  und  Wahrheit  sind  zwei 
gleichbedeutende  Termini.  Ja,  er  meint  sogar,  dass  die  Losreissung  des 
Wahrheits-  von  dem  Wirklichkeitsbegriff  eines  der  hauptsächlichsten  Ge- 
brechen der  beiden  Schulen  (des  teleologischen  Kritizismus  und  „der 
reinen  Logik")  ist.  In  dieser  Trennung  besteht  eben  das  Interessante  und 
Charakteristische  der  zweiten  Schule,  welche  die  beiden  für  die  dua- 
listische Erkenntnistheorie  allein  möglichen  Wege  (Solipsismus  oder  Re- 
form des  Bewusstseins)  vermeiden  wollte.  In  seiner  Kritik  aber  vergisst 
M.,  dass  die  beiden  Schulen,  vor  allem  aber  der  transscendentale  Idealis- 
mus, die  beiden  Probleme  nicht  trennen,  sondern  insofern  verknüpfen,  als 
das  Wirklichkeitsproblem  für  sie  einen  Fall  des  allgemeineren  Wahr- 
heitsproblems überhaupt  bedeutet.  Um  seine  Identifizierung  beider  Pro- 
bleme durchzuführen,  ist  M.  gezwungen,  in  der  Mathematik  keine  Wahr- 
heit, sondern  nur  ein  „i'ichtiges  Rechnen"  zu  erblicken.  Als  ob  diese 
Namensänderung  das  schwierige  Problem  des  Verhältnisses  der  mathema- 
tischen Wahrheit  zur  empirischen  irgendwie  lösen  könnte!  Neben  dieser 
terminologischen  Willkür,  die  die  unbequemen  Probleme  wegscliaffen  soll, 
ist  auch  für  die  „grundwissenschaftliche"  Betrachtung  Rehmkes-Michaltschews 
eine  Auffrischung  alter  Theorien  charakteristisch.  Wirklich,  d.  h.  von 
dem  Bewusstsein  unabhängig  ist  nur  die  mechanische  Welt,  welche  durch 
die  Bestimmtheiten  charakterisiert  wird :  Grösse,  Gestalt,  Örtlichkeit, 
Zeitlichkeit,   d.  h.   solche,    „über   die   man   sich  immer  durch  Messen  ver- 


Rezensionen  (Michaltschew).  329 

ständigen  kann."  Alle  anderen  Eigenschaften  des  Wirklichen  sind  eigent- 
lich keine  Wirklichkeit,  sie  sind  subjektiv  und  aus  der  Einwirkung  der 
äusseren  Wirklichkeit  auf  unseren  Leib  zu  erklären.  Wie  diese  Lockesche 
Trennung  der  primären  und  sekundären  Qualitäten  die  Wahrheit  der 
biologischen  und  psychologischen  Wissenschaften  begründen  kann,  bleibt 
unerklärt.  Warum  kann  man  über  die  Grösse  sich  „verständigen",  über 
die  Farbe  nicht?  Warum  steht  die  Farbe  in  keinem  Wirkungszusammen- 
hang, wohl  aber  die  Grösse  ? 

Mit  dieser  Auffassung  des  Wahrheits-  bezw.  Wirklichkeitsbegriffs 
geht  auch  ein  gewisser  Begriffsrealismus  zusammen,  der  ebenfalls  M.  mit 
Lossky  zusammenbringt.  Das  Allgemeine  existiert  ebenso  wie  das 
Besondere,  in  Rücksicht  auf  die  Realität  unterscheiden  sie  sich  nicht  von 
einander.  In  einem  Nachtrage  zu  seinem  Werke  polemisiert  M.  ausführ- 
lich gegen  Rickertsche  Untersuchungen  im  Gebiete  des  Allgemeinen  (s.  g. 
verschiedene  „Arten"  des  Allgemeinen).  Diese  Polemik  bezieht  sich  nicht 
nur  auf  die  gedruckten  Werke  Rickerts,  sondern  auch  auf  Ansichten,  die 
teils  aus  seinem  Kolleg,  teils  aus  den  Arbeiten  seiner  Schüler  zu  entnehmen 
waren.  Hier  finden  wir  Stellen  wie  die  folgende :  „Ist  „die  italienische 
Renaissance"'  ein  Begriff?  Für  Windelband  und  Ricke rt:  ja.  „Der 
Begriff  eines  historischen  Ganzen"',  so  spricht  der  letztere  von  ihr. 
Ebenso:  romantische  Schule  und  Novalis!  Ich  meine  jedoch,  wir  haben 
gar  kein  Recht,  von  einem  „Begriff  der  italienischen  Renaissance"  zu 
reden.  Der  Begriff,  das  kann  niemand  leugnen,  ist  doch  vor  allem  etwas 
.allgemeines,  etwas  Mehreren  Gemeinsames"  (S.  454).  „Das  kann  niemand 
leugnen"  —  das  ist  der  ganze  Beweis,  wo  es  sich  gerade  um  die  Frage 
handelt,  ob  individuelle  Begriffe  vorhanden  sind  oder  nicht.  Eine  solche 
petitio  principii  findet  man  öfter  in  M.s  Buche.  Nicht  viel  zwingender 
ist  auch  die  Art,  wie  M.  die  transscendentale  Allgemeinheit  einer  philo- 
sophischen Form  leugnet.  Die  Unterscheidung  zwischen  Form  und  Inhalt 
hält  M.  überhaupt  für  eine  „Wortspielerei".  Form  ist  kein  „Gegebenes", 
es  ist  also  ein  leeres  Wort!  Und  trotzdem  „giebt"  M.  selber  „zu"  (S.  473), 
dass  die  transscendentale  Allgemeinheit,  welche  eine  philosophische  Vor- 
aussetzung auszeichnet,  und  welche  ein  „Forderungsverhältnis"'  ausdrückt, 
etwas  ganz  anderes  ist,  als  die  empirische  (vor  allem  die  gattungsmässige) 
Allgemeinheit.  Ja,  er  sagt  sogar,  dass  „dieses  Verhältnis  sachlich  mit 
dem  Allgemeinen,  bei  dem  das  „Rote"  die  „Farbe"  voraussetzt 
(d.  h.  „gattungsmässig")  absolut  nichts  zu  tun"  hat.  Das  ist  aber  das, 
was  eben  Rickert  behauptet.  Er  meint  nur,  dass  in  der  früheren  Ent- 
wickelung  der  Philosophie  das  „Forderungsverhältnis"  immer  mit  der 
gattungsmässigen  Allgemeinheit  verknüpft  war,  und  dass  deswegen  seine 
Bezeichnung  als  einer  besonderen  Art  der  Allgemeinheit  nur  zur  Klärung 
des  ganzen  Problems  beitragen  kann,  indem  sie  die  Geschichte  dieses  Pro- 
blems gleichsam  konzentriert.  Schliesslich  erkennt  auch  M.  dieses  (philo- 
sophische) Allgemeine  (oder  die  Form)  als  ein  „etwas"  an,  obwohl  er 
früher  in  ihm  nur  ein  leeres  Wort  sah.  Es  ist,  sagt  er  (S.  474),  die  Be- 
ziehung, welche  „für  das  zergliedernde  Denken  etwas  Sinnvolles,  Ge- 
gebenes ist,  nur  soweit  sich  ihm  ein  .  .  .  Bezogenes  bietet".  Diese  Be- 
ziehung ist  nach  M.  das  bestimmte  Allgemeine  und  ist  Gegenstand  der 
Philosophie,  als  Grundwissenschaft.  Ist  aber  dieses  Allgemeine  dasselbe, 
wie  „Farbe",  „rot"  u.  s.w.?  Wenn  ja,  wie  ist  das  Gebiet  der  Philosophie 
gegen  die  generalisierenden  Naturwissenschaften,  welche  auch  mit  „be- 
stimmtem Allgemeinen"  zu  tun  haben,  abzugrenzen?  Auch  die  Natur- 
wissenschaften fragen  nicht  nach  jenem  oder  diesem  besonderen  Allge- 
meinen, sondern  reden  immer  von  „Säuren  überhaupt",  vom  „Fall  der 
Körper  überhaupt"  u.  s.  w.  Warum  ist  denn  die  Frage  nach  der  „Wirk- 
lichkeit überhaupt"'  („grund\^^ssenschaftliche•'  Frage)  prinzipiell  eine  andere, 
als  die  nach  der  „Gravitation  überhaupt"?  Weil  die  Allgemeinheit  „der 
Beziehung"  prinzipiell  eine  andere  ist,  als  die  Allgemeinheit  der  natur- 
wissenschaftlichen Begriffe.    M.  wendet  ein,  dass  seine  „Beziehung"  immer 


330  Rezensionen  (Michaltschew). 

mit  dem  „Bezogenen"  verknüpft  bleibt  und  nur  soweit  Sinn  hat,  als  dieses 
sich  ihr  bietet.  Dasselbe  behauptet  auch  Rickert  von  seinen  Formen, 
welche  nur  mit  Rücksicht  auf  einen  Inhalt  Sinn  haben.  Das  war  doch 
auch  der  Sinn  der  Kantischen  Kritik,  welche  ebenfalls  die  Begriffe  ohne 
Inhalt  „leer"  nennt!  Insofern  finden  wir  bei  Rehrake-Michaltschew  nur 
eine  willkürliche  Terminologie,  welche  von  eigenartigen  aber  falschen 
Motiven  geleitet,  dieselben  Ergebnisse  anders  einkleidet.  Dass  die  „Grund- 
wissenschaft" nur  die  „Beziehungen"  untersucht,  dass  sie  vom  „Bezogenen" 
abstrahiert,  wird  auch  M.  zugeben.  Warum  ist  es  Rickert  dann  nicht  ge- 
stattet, in  der  Erkenntnistheorie  nur  die  reinen  Formen  zu  untersuchen? 
M.  vergisst  eben,  dass  der  Gegensatz  zwischen  Form  und  Inhalt  die  Vor- 
aussetzung der  Erkenntnistheorie  bildet:  er  ist  eigentlich  nichts  anderes, 
als  der  Gegensatz  zwischen  der  erkenntnistheoretischen  (wertwissenschaft- 
lichen) und  empirischen  (seinswissenschaftlichen)  Betrachtung.  Diesen  Dualis- 
mus (zwischen  Philosophie  und  empirischer  Wissenschaft)  muss  auch  M. 
anerkennen.  Ja,  ihn  muss  jeder  anerkennen,  der  „antipsychologistisch" 
denkt  und  jedes  metaphysische  Sein  leugnet.  In  diesem  Punkte,  wo  es 
sich  um  die  Abgrenzung  der  Philosophie  gegen  empirische  Wissenschaft 
handelt,  vermag  keine  Terminologie  den  Umstand  zu  verhüllen,  dass  wenn 
die  empirischen  Wissenschaften  mit  dem  einzig  möglichen  Sein  sich  be- 
schäftigen, die  Philosophie  etwas  ganz  anderes  als  ein  Sein  (ein  „Nicht- 
sein") zu  untersuchen  hat,  d,  h.  eine  Wertwissenschaft  ist.  — 

Es  fehlt  uns  der  Raum,  die  Ansichten  Rehmkes-Michaltschews  weiter 
zu  verfolgen.     Wir    finden    hier    einige    interessante  Motive,  die  wir  oben 
hervorgehoben  haben,  und  die,  wie   gesagt,  nicht  nur  für  Rehmke  cliarak- 
teristisch  sind.    Ausserdem   finden   wir  eine  neue  aber  höchst  willkürliche 
Terminologie,  welche  teilweise  alte  Lehren  auffrischt,   teilweise   aber   die 
Probleme    verhüllt    oder    dasselbe    sagt,    was   sie  bekämpft.     Die  sehr  ein- 
gehende   Polemik    M.s    ist   insofern    von  Nutzen,    als  sie  manche  termino- 
logische Schwierigkeit   ganz  glücklich  hervorhebt,  was  besonders   für  den 
„teleologischen  Kritizismus",    der    noch    in  der  Entwickelung  begriffen  ist 
und  insofern  keine  feste  Terminologie  besitzt,  wichtig  ist.    Wir  vermissen 
aber  in  diesem  Werke  und  in  der  ganzen  Richtung,  die  es  vertritt,  jenes 
Verständnis  für  die  Kontinuität  der  Geschichte,  welches  die  Fruchtbarkeit 
in    der    Zukunft    verbürgt.     Diesen  Mangel  kann  auch  nicht  die  eifervolle 
Pietät  M.s  vor   seinem  Lehrer  ersetzen,   die  ihn  dazu  treibt,  Rehmke  eine 
exceptionelle,   revolutionäre  Rolle  in   der  Geschichte    der  Philosophie  zu- 
zuschreiben, so    dass  nach  M.  Rehmke  erst  die  Philosophie,    die    bis  jetzt 
in  den  Bahnen  des  Piatonismus  sich  bewegte,  auf  eine  neue  gesunde  Basis 
gestellt    hat.     Daraus    entspringt  auch  eine  in  wissenschaftlichem  Verkehr 
ganz  ungewöhnliche  Art  der  Polemik.    Stellen,  wie  „hier  verliert  auch  der 
beste  Christ  seine  Geduld"  (S.  441),  „das  Beispiel,  mit  dem  Rickert  seinen 
Leser  verblüffen   will"  (S.  411),    „die  dilettantische  und  oberflächliche  Be- 
handlung   der    spychologischen    Fragen"    —    in    Werken    Ricker ts    und 
Windelbands  (S.  208),  „Spiel  mit  Phrasen",  „barer  Unsinn"  (S.384  u.  a.) 
u.  a.,    die    geschmacklosen    Beispiele,    wie    „die  Tante  Anna    ist   schwarz" 
(S.  350),  die  Vergleiche,  wie  der  Vergleich  des  Begriffs  der  Begriffsbildung 
mit  einem  Kompagniegeschäft,i)   die   vielen  Wiederholungen    machen   das 
Buch   höchst   ungeniessbar.      Sie   verdecken   leider   manches   Interessante 
und  Nützliche,  was  der  aufmerksame  Leser  im  Buche  finden  könnte.     Die 
vielen  Zitate  und  Namen,   die  meistens  nur  für  polemische  Zwecke  heran- 
gezogen sind,    ermüden  auch  den  Leser.    Möge  das  zweite  Buch,   dass  M. 


1)  S.  517 :  „Ich  warf  dem  Kritizismus  vor,  er  fasse  das  Erkennen  als 
ein  Kompagniegeschäft,  als  eine  Fabrikation  auf  und  suche  die  Verant- 
wortlichkeiten für  diese  Tat  festzustellen:  wieviel  fällt  auf  das  Konto  des 
Inhalts,  und  wieviel  auf  das  der  Form  ?  Rickert  hat  z.  B.  entdeckt,  dass 
das  Formmässige  tatsächlich  doch  mit  mehr  Aktien  in  dem  Geschäft  be- 
teiligt ist,  als  es  Kant  meinte"  .  .  .  und  in  dieser  Art  weiter. 


Rezensionen  (Hönigswald).  331 

bald  herauszugeben   verspricht,   weniger  Polemik   und  viel  mehr  positives 
Material  bringen  ! 

St.  Petersburg.  Dr.  S.  Hessen. 

Hönigswald,  Richard,  Dr.  Über  die  Lehre  Humes  von  der 
Realität  der  Aussendinge.  Eine  erkenntnistheoretische  Untersuchung. 
Berlin,  C.  A.  Schwetschke  &  Sohn,  1904.     (VIII,  88  S.  8".) 

H.  ist  in  der  vorliegenden  Schrift  weniger  historisch  als  systematisch 
interessiert.  Doch  leitet  ihn  die  systematische  Prüfung  der  Lehre  Humes 
von  der  Realität  und  Substanzialität  zu  systemgeschichtlichen  Erörterungen 
hin:  besonders  das  Verhältnis  Humes  zu  Berkeley  einerseits,  zu  Kant 
und  den  Theorien  Machs  andererseits  wird  beleuchtet. 

Jene  Seite  der  Philosophie  Humes  war  bisher  von  der  erkenntnis- 
theoretischen Ft)rschung  wenig  beachtet:  die  „Hume-Studien"  Meinongs 
(1877,  1882)  und  Zimmermanns  „Über  Humes  Stellung  zu  Berkeley  und 
Kant"  (1883)  sind  vorwiegend  psychologisch  interessiert.  Nur  kurz  hatte 
PaulXatorp  auf  den  „wertvollen  kritischen  Ansatz"  in  der  Substan- 
zialitätslehre  Humes  (Hönigswald,  S.  58)  hingewiesen  (Einleitung  in  die 
Psychologie  nach  kritischer  Methode  (1888)  S.  58f.').  Humes  geschichtlich 
wirksamere  Kausalitätslehre  hat  von  jeher  das  Interesse  vorwiegend  an  sich 
gezogen;  die  nur  in  dem  Jugendwerk,  dem  Treatise  entwickelte  und  also 
Kant  unbekannt  gebliebene  Realitätslehre  trat  dagegen  zurück. i)  Fehlte 
ihr  so  ausser  genügender  erkenntnistheoretischer  Würdigung  die  unmittel- 
bare geschichtliche  Wirkung,  so  fehlt  ihr  keineswegs  eigene  systemati- 
sche Bedeutung;  diesen  ihren  Wert  zu  erkennen  und  mit  anderen  Systemen 
„aussergeschichtlich"  zu  messen  ist  lehrreich.  H.  kommt  das  Verdienst  zu, 
diese  Arbeit  geleistet  zu  haben. 

Seit  dem  Erscheinen  seiner  Hume-Studie  sind  nun  schon  etliche 
Jahre  vergangen.  Sie  ist  besprochen  worden  von  Mally  in  der  Deutschen 
Literaturzeitung,  von  Th.  Seh.  in  der  Revue  critique,  39«  annee  (Nr.  14, 
8  avril  1905)  p.  278,  in  der  Wiener  Abendpost,  von  Karl  Vorländer 
im  Literaturblatt  der  Frankfurter  Zeitung  vom  26.  November  1905,  Sp.  3 
und  4;  von  Karl  Jentsch  in  der  Wiener  Zeit,  April  1906,  von  W.  Ost- 
wald in  den  Annalen  der  Naturphilosophie,  Bd.  5  (1906),  S.  512,  sowie 
von  mir  im  Literarischen  Zentralblatt  1905,  Nr.  47  (18.  November), 
Sp.  1573—74.  Die  Anzeigen  von  Mally  und  von  Th.  Seh.  sind  bloss  knappe 
Referate;  das  letztere  ist  zudem  unzuverlässig;  Ostwald  hat  gar  nicht 
verstanden,  worum  es  sich  handelt;  Jentschs  „Besprechung"  ist  keine, 
sondern  besteht  bloss  aus  einigen  philosophisch  klingenden  Sätzen.  Nur 
die  Anzeige  der  Wiener  Abendpost  und  besonders  die  von  Vorländer 
bemühen  sich,  von  dem  Inhalt  des  Buches  einen  genauen  Begriff  zu  geben, 
bieten  indes  auch  nur  einen  gewissenhaften  Überblick:  einzelne  Bedenken 
hat  Vorländer  nicht  weiter  begründet.  Da  auch  in  meinem  Referate  hierzu 
kein  Raum  war,  und  ich  nur  wenige  Hauptpunkte  hervorheben  konnte, 
halte  ich  einen  zweiten  ausführlichen  Bericht  nicht  für  überflüssig.  — 

Wenn  H.  im  Vorwort  (S.  V.)  feststellt,  dass  Humes  „Realitätslehre, 
d.  h.  die  Erörterung  der  Natur  unserer  Gewissheit  von  der  realen  Existenz 
beharrender  Aussendinge,  in  keinerlei  systematischem  Zusammenhange"  mit 
dem  Kausalproblem  stehe,  so  ist  zu  betonen:  „in  keinerlei  systematischem 
Zusammenhange".     Denn  da  Hume  überhaupt  die  Teile  seiner  Philosophie 

1)  Vgl.  den  ersten  Abschnitt  meines  Aufsatzes  „Zu  Theodor  Lipps' 
Neuausgabe  seiner  deutschen  Bearbeitung  von  Humes  Treatise  of  human 
mture"  (KSt.  Bd.  XIV,  S.  249 ff.);  über  das  Verhältnis  der  beiden  philo- 
sophischen Hauptschriften  Humes  Elkin,  W.  B.  „Hume:  The  relation 
of  the  Treatise  of  human  nature ,  (book  1)  to  the  Inquiry  concerning 
human  understanding,"  New-York  1904,  S.  315—330.  Enthält  zugleich  die 
vollständigste  Hume-BibHographie,  die  auch  im  Verzeichnis  der  deutschen 
Publikationen  nur  wenige  Lücken  aufweist.  Vgl.  meine  Anzeige  im  Literar. 
Zentralblatt  1905,  Nr.  52,  Sp.  1773ff. 


332  Rezensionen  (Hönigswald). 

nicht  einheitlich  bindet,  sondern  selbst  Gegensätze  gleichberechtigt  neben- 
einander stellt,  so  kann  auch  zwischen  den  beiden  Gipfelpunkten  seiner 
Erkenntnistheorie  eine  notwendige  Verbindung  nicht  aufgezeigt  werden. 
Dagegen  entspringen  die  Lösungen  beider  Probleme  der  gemeinsamen 
Wurzel  der  Problemstellungsweise  und  der  experimentellen  Methode  Humes, 
und  laufen  genau  parallel,  i)  Niclit  zu  vergessen  ist  auch  die  Verknüpfung 
zwischen  den  beiden  Problemen,  die  dadurch  entsteht,  dass  Hume  (Trea- 
tise  Book  I,  Part  IV,  Sect.  II  [ed  Green  &  Grose  I  (1898),  499  f.])  die 
Erkennbarkeit  des  Aussendinges  u.  a.  auch  durch  die  Erwägung  abweist, 
dass  von  der  uns  allein  gegebenen  j)erce})tion  als  solcher  nicht  auf  ein 
Objekt  als  Ursache  der  perception  geschlossen  werden  dürfe:  „ice  may 
observe  a  conjxmction  or  a  relation  of  cause  and  effect  between  äifferent  per- 
ceptions,  biit  can  nevcr  observe  it  betiveen  peicejMons  and  objects''^  Das  Er- 
gebnis der  Kausalitätslehre  wird  hier  praktisch  in  den  Dienst  der  Rea- 
litätsbetrachtung gestellt,  ohne  mit  ihm  streng  sachlich  verbunden  zu 
werden.  Neben  diesem  nur  losen  Zusammenhange,  trotz  des  Mangels  einer 
systematischen  Verknüpfung  beider  Probleme  bestehen ,  wie  erwähnt, 
wichtige  Übereinstimmungen  in  der  Methode  der  Lösungsversuche  wie 
in  dem  Abschluss. 

Hier  wie  dort  ist  die  einzelne  Erfahrungstatsache  {experiment),  die 
in  einer  'Impression'  begründet  ist,  der  Ausgangspunkt  und  die  Recht- 
fertigung einer  jeden  Erkenntnis.  Dort  ist  es  der  dogmatische  und  der 
formal  logische  Ursachbegriff,  wie  die  sensualistische  Krafttheorie,  die  in 
ein  Nebeneinander  ohne  necessory  eonncxion  aufgelöst  werden  —  hier  wird 
der  dogmatische  Substanzbegriff  als  eine  Art  „Ökonomieprinzip",  das  einer 
tatsächlichen  Grundlage  entbehrt,  die  Erkennbarkeit  der  Realität  eines 
Dinges,  des  Dinges  an  sich,  als  unmöglich  erwiesen.  In  beiden  Fragen 
also  kritische  Zergliederung  dogmatisch -logischer  Tradition  auf  Grund 
gradliniger  Durchführung  empiristischer  Prinzipien  ohne  theoretischen 
Abschluss  der  Kritik  durch  eine  einheitliche  Lösung.  In  beiden  Fällen 
wird  vielmehr  nur  ein  praktischer  Ausweg  aus  der  negativen  Atmos- 
phäre des  theoretischen  Lösungsversuches  für  das  philosophierende  Indi- 
viduum gegeben:  dort  wird  die  „Unentbehrlichkeit"  des  belief  an  das 
tatsächliche  „Vorhandensein"  der  Kausalrelation  dargetan  —  hier  wird 
nach  Auflösung  des  Dingbegriffes  das  „system  of  double  existence",^  d.  h.  die 
niere  perceptions  einer  —  der  real  objects  andererseits  als  das  einzige  Mittel 
bezeichnet  to  set  ourselves  at  ease  as  mnch  as  possible,  d.  h.  in  beiden  Fällen 
wird  die  logisch  unvermeidliche  Konsequenz  der  Theorie  durch  eine 
Flucht  ins  Praktische  abgebrochen  und  so  die  ausgesprochene  Skepsis 
umgangen  (Treatise,  a.  a.  O.  500—505). 

Den  die  Humesche  Art  überhaupt  charakterisierenden  Dualismus 
in  der  Lösung  des  Realitäts-  und  Substanzialitätsproblems  hat  H.  (S.  1— 11, 
56)  klar  hervorgehoben,  wie  er  auch  (S.  33,  541,  58.  67.  70)  zeigt,  dass  bei 
Hume  die  Grenzen  zwischen  Realitätsproblem,  d.  h.  Problem  des  Ding 
an  sich,  und  Beharrlichkeitsproblem  stets  ineinanderlaufen,  was  nicht 
nur  in  dem  von  Hume  beliebten  miscellaneous  ivay  of  7-easoning  seinen  Grund 
hat,  sondern  vielmehr  seiner  Unklarheit  in  der  Unterscheidung  der  Problem- 
gebiete entspringt,  die  ihrerseits  wieder  seinem  dogmatischen  Empirismus 
entfloss. 

Warum  nun  Hume  die  erkenntniskritische  Lösung  des  Ding-  und 
Substanzproblems  nicht  finden  konnte,  wird  S.  39  ff.  entwickelt.  Denn  er 
analysiert  den  „Prozess  der  Erkenntnis",  weil  er  „ein  empirisches  Ver- 
mögen .  .  .  für  die  Bedingung  der  Erfahrung,  beziehungsweise  des  Gegen- 
standes der  Erfahrujig"  hält.  „Humes  Anschauung  enthält  die  irrige  Ant- 
wort auf  eine  richtige  Frage"  (S.  41).    Die  rechte  Antwort  hat  erst  Kant 


1)  Ich  treffe  in  dieser  Auffassung  zusammen  mit  E.  Cassirer,  Das 
Erkenntnisproblem  in  der  Philosophie  und  Wissenschaft  der  neueren  Zeit  II 
(1907)  S.  273. 


Rezensionen  (Hönigswald),  333 

gregeben,    „denn   er   hat    logisch    vereinigt,   was  Hiime   biologisch  ver- 
knüpft liatte"  (S.  42  f.,  58  f.,  63). 

Hume  bestreitet  die  Erkennbarkeit  der  Realität,  nimmt  aber  doch 
die  Existenz  von  Aussendin<ien   an    als   einzigen  Ausweg  aus  der  sicli  auf- 
drängenden Skepsis.     An  diesem  Punkte  muss  H.  zweifellos  recht  belialten 
gegenüber  der  Behauptung  Cassirers,  dass  Hume  „die  metapliysisciie 
Frage    nach    der  absoluten  Existenz   völlig  dahingestellt  sein"  lasse,  „weil 
sie    für   ihn    aus  dem  Gebiet   der  rechtmässigen  Problemstellungen  völlig" 
herausfalle   (Das  Erkenntnisproblem  a.  a.  O.,    S.  676,    vgl.  S.  274,   vgl.   dazu 
die    verwandte    Auffassung    B.    Bauchs,     Neuere    Philosophie    bis    Kant 
(Göschen)  1908,  S.  145).     Für  Cassirer   ist    die  Möglichkeit   aller  und  jeder 
Erkenntnis    so    fest    in    dem    wissenschaftliehen,   theoretischen  Ergebnis 
gegründet,    dass    er   die    gleiche    systematische  Einheitlichkeit   und  Folge- 
richtigkeit auch  bei  Hume    glaubt    annehmen  zu  müssen.     Er  lässt  hierbei 
indes    den    von    H.  richtig    betonten    dualistischen    —   ich    möchte    sagen 
proteusartigen  —  Charakter  der  Philosophie  Humes  aus  dem  Auge:    wenn 
Hume    die    Unmöglichkeit    der   Erkenntnis    des    Aussendinges    dargetan 
hat,    indem    er  jede  Wahrnehmung  eines  „objed^''  in  „mere  perception"  auf- 
löst und  in    diesem    einen  Ergebnis    tatsächlich    mit  Berkeley  Hand    in 
Hand    geht,    so    ist    für   ihn  damit  noch  nicht  die  Existenz  des  Aussen- 
dinges  abgetan.    Wir  als  Schüler  Kants  können   es  schwer  verstehen,  wie 
ein  Denker   den    scheinbar    unweigerlichen    Forderungen    seiner   Theorie 
sich    entziehen   könnte.     Wir   vergessen,    dass  Hume,    trotzdem   oder  eben 
weil    er    die  letzte  Selbstzersetzung  des  Empirismus  bedeutet,  im  tiefsten 
Grunde  seines  Denkens  Empirist  und  also  Dogmatiker  ist  und   demgemäss 
eine    praktische  Wissenschaft    seiner   theoretischen    als  gleichbereclitigt 
gegenüberstellt,  sowie  das  Recht  beansprucht,   einen  dinglichen  Halt  zu 
suchen,  wo  er  einen    theoretischen   nicht   findet.     Leugnet   er  auch  die 
Beziehung  zwischen  dem  Objekt  der  Erfahrung  und  dem  Objekt  an  sich, 
d.h.    die    Erkenntnismöglichkeit    des    letzteren,    so    bleibt   letzteres    doch 
stehen.     „Der  metaphysische  Gedanke  einer   doppelten  Wirkliclikeit  der 
Dinge:    eines  Seins,    das    sie    in    unserem  Bewusstsein    und  eines  anderen, 
das  sie  ausserhalb  jeglicher  Beziehung  zu  ihm  besitzen"    (Cassirer  a.  a.  O., 
S.  274)    wird  wohl   in    der  Theorie  verworfen;    dagegen  hat  Cassirer  nur 
in    gewissem    Sinne    recht,    wenn    er    fortfährt:     „Berkeleys    idealistischer 
Hauptsatz    bildet  .  .  .   fortan i)    die   selbstverständliche   Grundlage  jeder 
Analyse  des  Erkenntnisprozesses".    Denn  Hume  geht  wohl  von  Berkeley 
aus,    verdeckt    aber    weiterhin    die  Konsequenz    seiner  Analyse  durch  die 
Annahme  des    System  of  double  existence  als  einer  Forderung   praktischer 
Wissenschaft,  die  zwar  nicht   mehr  „Analyse  des  Erkenntnisprozesses"  ge- 
nannt werden  kann,  immerhin  aber  unserem  Wissen  davon  einen  Abschluss 
geben    will.     Dass  Hume    hierbei    die  Annahme    unerkennbarer    Gegen- 
stände ausser  uns  einschliesst,  scheint  mir  aus    Treatise  I,  Part  IV,  Sect.  H 
hervorzugehen. 

Tb.  Lipps,  welcher  das  Denken  des  transscendenten  Gegenstandes 
als  das  Wesen  des  Denkens  bezeichnet,  bestreitet,  dass  Hume  mit  jener 
Annahme  den  „Begriff  des  dem  Inhalte  transscendenten  Gegenstandes"  ge- 
funden habe.  2)  Hönigswald  indes  bewertet  diesen  Abschluss  Humes  höher, 
wenn  er  auch  die  Ausstattung  des  Humeschen  Aussendinges  mit  formalen 
Bestimmungen  der  Erfahrung,  d.  i.  der  Substanzialität  abweist,  und  sieht 
grade  in  der  mehr  oder  minder  deutlich  ausgesprochenen  Anerkennung 
jener  Realität  der  Aussendinge  bei  aller  Unerkennbarkeit  einen  Unterschied 
von  Berkeley,  der  zugleich  einen  Fortschritt  über  diesen  hinaus  bedeute 
(S.  18  f.  bes.  19  ff.).  Lipps  wie  H.  sehen,  wenn  auch  in  verschiedener  Weise, 
im  Aussending  das  letzte  Regulativ  des  Denkens.  So  ist  def  Unterschied 
in    ihrer  Auffassung    des  Humeschen  Auswegs    nur   ein    gradueller:    Lipps 

1)  Von  mir  gesperrt. 

2)  David  Humes  Traktat  über  die  menschliche  Natur  .  .  I,  Teil, 
2.  Aufl.  (1904),  Anm.  282.     Vgl.  Wüst,  KSt.  a.  a.  0.,  S.  262,  266. 


334  (Rezensionen  (Hönigswald). 

behauptet,  Hume  sei  der  echten  Realität,  dem  Gegenstand  als  Ergebnis 
des  Denkens  nahe  gekommen,  habe  sie  aber  durch  seine  Entgleisung  in 
die  biologisch  begründete  belief-Theorie  verfehlt;  H.  sieht  sie  als  kon- 
stitutive Voraussetzung  der  Gegenstände  der  Erfahrung  von  Hume  wenig:- 
stens  geahnt  und  geachtet.  Wälirend  Lipps  seine  Kritik  sowohl  auf  die 
Kumesche  Erfahrung  wie  auf  ihren  jenseitigen  Abschluss  erstreckt,  zieht 
H.  nur  die  erstere  in  den  Bereich  der  seinen,  und  er  erblickt  in  Humes 
Aussending  zwar  einzelne  dogmatische  Elemente  (S.  70),  im  wesentlichen 
aber  eine  Überwindung  der  Skepsis.  Der  Grund  liegt  in  H.s  erkenntnis- 
theoretischer Einschätzung  des  Aussendinges. 

Ich  kann  die  bei  Lipps  und  H.  (vgl.  S.  65  ff.)  ähnliche  Grundauf- 
fassung des  Aussendinges  als  eines  Regulatives  der  Erkenntnis  nicht  teilen. 
Denn  nur  als  denkbarer  Zielbegriff  wie  Kant  es  fordert,  nicht  aber 
als  „Gegenstand"  an  sich  scheint  es  mir  zulässig.  Letzterer  wäre  eine 
nicht  zu  rechtfertigende  Subreption.  Gegenstände  sind  lediglich  Gegen- 
stände der  Erfahrung,  welche  nur  in  der  Einheit  des  Bewusstseins  und 
nicht  im  Aussending  ihre  Wurzel  haben  können,  weil  es  gar  nicht  zu 
ersehen  ist,  wie  ein  ausserhalb  der  Erfahrung  liegender  Gegenstand  über- 
haupt Realität  haben,  d.  h.  Erfahrung  erzeugen  bezw.  ihr  Objektivität 
geben  könnte.  Es  bestände  zwischen  dem  Aussending  und  der  Erfahrung 
ein  Riss,  der  nicht  zu  überbrücken  wäre. 

Humes  Lehre  von  der  Realität  des  Aussendinges  lässt  die  Unver- 
einbarkeit der  beiden  Gebiete  nur  um  so  schärfer  hervortreten.  So  ist 
seine  schliessliche  Anerkennung  jener  Realität  nur  ein  Notbehelf,  ein  Aus- 
weichen vor  dem  Ergebnis  der  Theorie,  keine  Überbrückung  und  Funda- 
mentierung  —  eine  praktische  „Lösung",  keine  systematische  Konsequenz 
der  Theorie.  Diese  Kluft  in  der  Philosophie  Humes,  das  völlige  Ausser- 
achtlassen  der  vornehmsten  Forderung  strenger  Methode :  der  systematischen 
Einheitlichkeit  zwingt  uns  die  Frage  auf:  Besteht  das  systematische  Ver- 
dienst Humes  nur  in  seiner  Auflösung  des  dogmatischen  Dingbegriffes 
zu  einer  mere  relation  oder  auch  in  der  Beseitigung  der  für  ihn  von 
rechtswegen  daraus  fliessenden  Skepsis  durch  nachträgliche  Anerkennung 
einer  äusseren  Realität  ?  Die  Antwort  kann  für  den  nicht  zweifelhaft  sein, 
welche  der  Theorie  der  äusseren  Realität  die  Möglichkeit  der  Beseitigung 
jener  Skepsis  nicht  zugesteht,  weil  ihr  eines  fehlt:  die  einheitliche 
systematische  Verknüpfung  mit  der  Theorie  der  Erfahrung.  Humes 
Theorie  ist  uns  eben  wegen  der  uns  auf  die  richtige  Spur  leitenden  An- 
sätze zur  Lösung  und  trotz  des  negativen  Ergebnisses  wertvoll  —  in 
demselben  Sinne  ist  seine  Behandlung  des  Kausalproblems  für  Kant  wert- 
voll und  bedeutsam  geworden:  als  Anregung,  nicht  als  positives  Resultat. 
Was  Hume  als  solches  aufstellt,  hat  nur  geschichtlichen  Wert  und  vermag 
die  ursprüngliche  Gewalt  seiner  aus  der  Analyse  fliessenden  Skepsis 
nicht  zu  entkräften. 

H.  macht  S.  15  ff.  eben  dies  „positive"  Ergebnis  Humes:  die  Über- 
zeugung von  der  Gewissheit  der  Aussendinge  trotz  ihrer  Unerkennbar- 
keit  als  Beweismoment  geltend  gegen  die  Ansicht,  dass  Humes  Lehre  als 
skeptisch  bezeichnet  werden  müsse.  Jenes  Resultat  stehe  „in  schroffstem 
Gegensatze  zu  jeglicher  Skepsis,  im  Sinne  eines  Zweifels  an  der  realen 
Existenz  der  Dinge"  (S.  17).  Ich  gebe  zu,  dass  das  „Ergebnis"  der  Hume- 
schen Theorie  nicht  als  skeptisch  bezeichnet  werden  kann,  sobald  dieser 
Begriff  der  Skepsis  zu  Grunde  gelegt  wird,  welcher  sich  mit  der  Eigen- 
art der  antiken  Skepsis  als  einer  Lehre,  die  irgend  eine  These  in  keiner 
Weise  evident  zu  machen  vermag,  deckt.  Von  dieser  unterscheidet  sich 
Hume  allerdings  durch  sein  Ergebnis  in  bezeichnender  Weise,  wie  H. 
neuerdings  scharfsinnig  in  einer  Abhandlung  „Zum  Problem  der  philoso- 
phischen Skepsis"  1)  dargetan  hat.  Aber  besteht  auch  ein  Wesensunter- 
schied der  Prinzipien?     H.  stellt  abermals  die  Eigenart  der  Humeschen 

^)  Vierteljahrsschrift  f.  wissenschaftliche  Philosophie  u.  Soziologie 
1908,  S.  62  ff.    Vgl.  bes.  S.  63-67. 


Rezensionen  (Hünigswald).  335 

Theorie  als  einer  nur  bedingungsweise  geltenden  Skepsis  in  der  genannten 
Schrift  abermals  dar  und  findet  sich  in  dieser  Auffassung  zusammen  mit 
O.  Söhring,  „David  Humes  ,.Skeptizismus"  ein  Weg  zur  Philosophie", 
der  aber  so  weit  geht,  die  Humesche  Skepsis  bloss  als  methodischen  An- 
satz etwa  im  Sinne  des  methodischen  Zweifels  des  Descartes  gelten  zu 
lassen, M  einen  Ansatz,  auf  den  dann  die  Lösung  in  Gestalt  des  Hinweises 
auf  die  Philosophie  des  „gesunden  Menschenverstandes"  gefolgt  sei.  Von 
dieser  Verkennung  des  wahren  systematischen  Verdienstes  Harnes  hält 
sich  H.  durchaus  fern.  Er  bewertet  die  Lösung  Kants  höher  als  den  An- 
satz und  die  praktische  ,.Lösung"  Humes  (vgl.  S.  63,  sowie  Z.  Probl.  d. 
phil.  Skeps.  a.  a.  0.  S.  67).  Aber  doch  gesteht  er  der  physiologischen 
Begründung  der  Gewissheit  ein  Eigenrecht  zu  gegenüber  der  systema- 
tischen Lösung,  für  die  es  eine  tJberordnung  des  Begriffes  der  Gewissheit 
über  den  der  Erkenntnis,  wie  sie  H.  a.  a.  O.  66  ff.  richtig  bei  Hume  fest- 
stellt, nicht  giebt;  weil  sie  nämlich  eine  Gewissheit,  die  nicht  Wissen- 
schaft wäre,  nicht  anzuerkennen  vermag;  denn  Wissenschaft  ohne  Er- 
kenntnis ist  ihr  nicht  möglich.  So  wenig  die  antike  Skepsis  den  echten 
Begriff  der  Erkenntnis  gefasst  hatte:  darin  hat  sie  das  Wesen  sj^stema- 
tischer  Wissenschaft  wenigstens  gealint,  dass  sie  von  der  Tendenz  be- 
herrscht war,  „den  Begriff  der  Gewisslaeit  dem  der  Erkenntnis  unterzu- 
ordnen" (H.  a.  a.  O,  S.  66),  und  wenn  sie  nach  Prüfung  des  aristotelischen 
Erkenntnisideals,  das  auch  für  sie  als  solches  galt,  zu  einem  non  liquet  in 
Beziehung  auf  Gewissheit  überhaupt  gelangte,  so  wahrte  sie  die  Ivonse- 
quenz,  die  Einheit  und  Reinheit  der  Theorie,  ohne  die  jedes  Philosophieren 
zur  Temperamentfrage  wird.  Sie  kennt  nicht  den  Kompromiss,  in  den 
Humes  Theorie  ausklingt.  Jener  allerdings,  aber  nicht  das  Wesen  seiner 
Theorie,  sein  theoretisches  Ergebnis,  unterscheidet  ihn  von  der  alten 
Skepsis  Es  darf  darum  die  Charakterisierung  Humes  durch  Kant  in  vollem 
Umfange  bestehen  bleiben,  denn  die  Prinzipien  und  die  daraus  abzu- 
leitenden denknotwendigen  Folgerungen  bestimmen  das  Wesen  einer 
Philosophie,  nicht  die  tatsächlich  gezogenen  Folgerungen,  mögen  diese 
nun,  wie  bei  Hume,  aus  praktischen  Rücksichten  bejahender  oder,  wie 
bei  den  alten  Skeptikern,  verneinender  Art  sein.  Ausschlaggebend  ist, 
dass  die  theoretische  Konsequenz  bei  beiden  negativ  sein  muss  in 
gradliniger  Entwickelung  der  Anfangssätze,  die  empirisch  sind.  Wie 
Humes  Empirismus  folgerichtig  zur  Skepsis  führt  und  sie  nur  äusserlich 
umgeht,  hat  auch  R.  Hedvall  Schritt  um  Schritt  entwickelt.^)  Ich  glaube 
indes,  dass  die  Frage,  ob  Hume  Skeptiker  zu  nennen  sei  oder  nicht,  zurück- 
treten muss,  wenn  es  sich  um  die  Feststellung  der  fruchtbaren  Anregungen 
handelt,  die  durch  seine  kritische  Zerfaserung  der  dogmatischen  Begriffe 
gegeben  sind.^)  Denn  sein  geschichtliches  Verdienst  ruht  hier :  er  schürft 
mit  grossem  Scharfsinn  Probleme,  um  sie  dann  als  etwas  Unfassliches  zu 
besehen  —  er  ist  nicht  der  Mann,  sie  zu  lösen.  Denn  was  er  giebt,  ist 
nicht  nur  keine  Lösung,  was  auch  H.  zugiebt,*)  sondern  auch  nicht  einmal 
der  Ansatz  dazu.  Verlieren  wir  den  von  Kant  in  der  Kr.  d.  r.  V.  wie  in 
den  Prol.  unübertrefflich  geschilderten  negativen  Charakter  von  Humes 
Verdienst  aus  dem  Auge,  so  steht  zu  befürchten,   dass   uns   der  Blick   für 

1)  Wissenschaftl.  Beilage  zum  Jahresbericht  der  Hohenzollernschule 
in  Schöne berg,  Ostern  1907  (auch  Philos  Wochenschrift  Bd.  7  (1907),  31G  ff., 
878  ff.,  Bd.  8  (1907),  18  ff.,  60  ff.,  79  ff.).  Meine  „Beiträge  zur  Hume- 
Interpretation"  zugleich  Rezension  von  Söhring)  hat  der  Herausgeber  der 
inzwischen  eingegangenen  Philos.  Wochenschr.  verschleppt. 

2)  R.  Hedvall,  Humes  Erkenntnistheorie  kritisch  dargestellt.  Eine 
Untersuchung  über  empiristische  Prinzipien  I  (L'ppsala  Universitets  Ars- 
skrift  1906.  Filosofi,  Sprakvetenskap  och  Historiska  vetenskaper  1);  vgl. 
meine  Anzeige  im  Lit.  Zentralbl.  1908,  Sp.  156  f. 

')  Ähnlich  auch  Uphues,  Kant  und  seine  Vorgänger  (1906)  S.  62. 
■*)  Vgl.   auch   E.  Marcus,    Das  Erkenntnisproblem  u.  s.  w.  S.  57,    dazu 
meine  Anzeige  KSt,  XIH  (1908  S.  148. 


336  Rezensionen  (Hönigswald). 

das  eigentlich  Fruchtbare  seiner  geschichtlichen  Wirkung  verloren  gelit. 
Denn  jene  schliessliche  Anerkennung  des  Aussendinges  war  nicht  etwa 
aus  der  Einsicht  heraus  geflossen,  dass  hier  ein  noch  nicht  gelöstes  Pro- 
blem ruhe,  dessen  Lösung  jedenfalls  zu  dieser  Anerkennung  führen  müsse; 
sie  bedeutete  nicht  einen  Hinweis  auf  künftige  Aufgaben  der  Erkenntnis- 
kritik, sondern  sie  war  ein  Abbrechen  der  Spekulation,  deren  Arbeit 
Hiune  soweit  überhaupt  möglich  getan  glaubte.  Mit  der  Einführung  der 
physiologischen  Gewissheit  als  eines  der  Erkenntnis  übergeordneten  und 
dieser  unzulänglichen  Weisheit  letzten  Schluss  bildenden  Prinzips  wird, 
um  einen  treffenden  Ausdruck  von  Ernst  Marcus  zu  gebrauchen,  das  zu 
Anfang  aufgedeckte  Problem  getötet.  Und  nur  darin,  dass  Hume  geschürft 
hat  und  dabei  das  Problem  aufdeckte,  besteht  das  Unvergängliche  seiner 
philosophischen  Leistung. 

Ist  er  beim  Aufdecken  des  Problems  selbst  bereits  an  dem  und 
jenem  Punkte  der  Kantischen  Lösung  nahegekommen  ?  H.  glaubt  die 
Frage  in  gewisser  Hinsicht  bejahen  zu  müssen.  Nicht  mehr  und  nicht 
weniger  als  das  Prinzip  der  Aktivität  des  Intellektes  habe  Hume 
bereits  begründet,  indem  er  „den  Aktivitätsgedanken  des  empiristischen 
Nominalismus  der  kritischen  Erkenntnistheorie  dienstbar"  mache;  „auch 
er  erkennt  die  Dinge  der  Erfahrung  als  eine  von  unserem  Intellekte  durch 
Einbildungskraft  selbstgeschaffene  Verknüpfung  von  Wahrnehmungen, 
welche  uns  von  unerkennbaren  Gegenständen  geliefert  werden,  d.  h.  als 
durch  die  Aktivität  des  Intellektes  gebildete  Vorstellungssyrabole  für 
Dinge"  (S.  29  f.).  Wie  hoch  H.  die  Humesche  Behandlung  des  Substanz- 
und  des  Kausalitätsproblems  wertet,  hat  er  auch  an  anderer  Stelle  (KSt. 
XI  (1906)  S.  273)  ausgesprochen,  indem  er  sagt,  Hume  habe  „die  Kausal- 
relation als  ein  Produkt  der  Aktivität  des  Intellektes,  als  eine  an  dem 
Wahrnehmungsmaterial  der  Erfahrung  sich  betätigende  formale  Funktion 
des  Geistes  bestimmt.  Das  sichert  dem  Philosophen  seine  Stellung  inner- 
halb des  Kritizismus".  Ähnliche  Wendungen  finden  sich  S.  35  ff.,  41  f., 
48.  Die  „Einbildungskraft"  Humes  fasst  H.  durchaus  als  „synthetisches 
Prinzip".  Trotzdem  H.  die  subjektiv  beschränkte  Geltung  der  imagination 
hervorhebt  (S.  34  f..  43),  ihren  Unterschied  von  dem  „ihren  Produkten 
gegenständliche  Gültigkeit"  verleihenden  „Prinzip  der  Synthesis"  des 
Denkens  und  damit  seinen  „Abstand  von  dem  , logischen'  Kritizismus 
Kants"  hervorhebt  (S.  37  f.,  41  f.,  51,  58),  erscheint  die  oben  gegebene 
Bewertung  der  „Einbildungskraft"  geeignet,  die  Grenzen  zwischen  vor- 
kritischem und  kritischem  Denken  nach  einer  Richtung  zu  verschieben, 
die  das  Eigenartige  der  Leistung  Kants  nicht  völlig  zu  Genüge  hervor- 
treten lässt. 

Denn  die  systematische  Ftirderung  des  synthetischen  Prinzipes 
als  einer  Bedingung  der  Möglichkeit  aller  und  jeder  Erfahrung,  wie  sie 
von  Kant  aufgestellt  und  lückenlos  begründet  wurde,  kann  nicht  als  die 
gradlinige  Fortbildung  einer  Theorie  betrachtet  werden,  welche  sich  wie 
die  Humes  von  der  Tätigkeit  der  imagination  als  ein  blosses  Nicht  ver- 
leugnen können  irgend  einer  necessary  connexion  kennzeichnet.  Diese 
Hilflosigkeit  Humes  gegenüber  dem  Ergebnis  seiner  imjn-essmi-Theorie, 
welch  letztere  den  formal-logischen  wie  dem  empirischen  Dogmatismus  zu 
einem  non  liquet  durchführte,  ist  von  einer  Ahnung  des  Problemes,  das  sich 
nun  auftat :  nämlich  wie  trotz  allem  die  Geschlossenheit  in  das  tatsächlich 
vorhandene  Erfahrungsfaktum  hineinkomme,    weit  entfernt. i)     Dass  ein 

1)  Ich  kann  nicht  finden,  dass  die  Notwendigkeit,  die  apriorische 
Gesetzmässigkeit  des  Geistes  einzugestehen,  nur  „einen  Schritt  weiter"  in 
der  von  Hume  mit  seiner  custom-  und  imagination-Theorie  eingeschlagenen 
Richtung  liege,  wie  Lipps  a.  a.  O.  meint.  Für  uns,  ja.  Aber  für  Hume? 
Lipps  bemerkt  nachher  selbst,  dass  jenes  Eingeständnis  ein  Umdenken 
seines  ganzen  Treatise  bedeutet  hätte:  „Er  hätte  das  von  jedem  blossen 
Percipieren  .  .  .   toto   coelo   verschiedene  Wesen   des  Denkens  .  .  .  finden 


Rezensionen  (Hönigswald).  337 

Problem  vorlag,  hat  er  uns  gezeigt,  aber  selbst  nicht  anerkannt ;  welches 
es  sei,  hat  er  nicht  geahnt.  Sein  Nachweis,  dass  die  imagination,  die  er 
auch  des  öfteren  faiicy  nennt,  jene  Geschlossenheit  hervorbringe,  ist  ein 
Notbehelf,  7a\  dem  er  widerwillig  greift,  gebeugt  durch  die  Maclit  der 
seiner  eigentliclien  Theorie  sich  entgegenstemmenden  „Tatsachen",  und 
ist  einer  positiven  Deutung  dieser  ,.Tatsachen"  nicht  gewachsen.  An 
Stelle  der  Kantischen  Rastlosigkeit,  welche  aus  eben  diesem  Zwiespalt  die 
Notwendigkeit  zu  weiterer  Arbeit  herleitete,  zu  einer  Arbeit  bis  zu 
dauerndem  Verzicht  oder  zu  einheitlicher  Theorie,  finden  wir  bei 
Hume  den  Schluss:  ,,'lhe  mind  ninnt  he  iineasy  in  that  sihiation  .  .  .  Since 
the  nnea^ness  anses  from  the  Opposition  of  two  conirary  j/i-inciples,  it  must 
look  for  relief  by  sacrificing  the  one  to  the  other"  und  „Carelessness  and  in- 
attention  nlone  can  afford  ns  any  remedy"  {Treatise  I,  P.  IV,  Sect.  11; 
Green- Grose  a.  a.  O.,  S.  494,  505).  Man'  sieht,  dass  die  Grenzen  zwischen 
einem  bequemen  Anerkennen  der  Geschlossenheit  des  Erfahrungsganzen, 
die  uns  „nur"  infolge  der  Tätigkeit  der  Einbildungskraft  als  Geschlossen- 
heit erscheint,  einerseits,  und  der  kritischen  Theorie  andererseits,  welche 
die  „psychophj^sische  Nötigung-'  beiseite  schiebt  und  das  darunter  liegende 
Problem  der  logischen  Bedingung  der  Erfahrung  aufdeckt  und  löst,  sehr 
scharf  zu  ziehen  sind,  und  zwar  so,  dass  Hume  nicht  innerhalb,  sondern 
ausserhalb  der  kritischen  Grenze  zu  stehen  kommt. 

Anders  wäre  es,  wenn  Hume  selbst  in  seiner  imaginatioii- „Theorie^ 
eine  Lösung  erblickt  hätte,  wenn  er  unzweideutig  der  sich  darin  be- 
tätigenden Aktivität  (bei  Hume  nicht  des  Intellektes  sondern  eben  der 
eine  smooth  passage  vollziehenden  imagination;  a.a.O.,  S.  494)  eine  sachliche 
Berechtigung  und  einen  problematischen  Charakter  zuerkannt  hätte.  Das 
ist  aber  nicht  der  Fall.  Die  imagination,  gewissermassen  einem  metaphy- 
sichen, unabweisbaren  Zwange  gehorchend,  —  wir  sehen  hier  wieder  den 
ungelösten  Knoten,  der  überall  bei  Hume  hervortritt  —  verbindet  vielmehr 
ohne  Rechtfertigung  das,  was  als  ein  blosses  Neben-  und  Nacheinander 
without  any  necessary  connexion  durch  die  Vernunft  (reason)  dargetan  war. 
H.s  Worte,  „In  dem  'vereinigenden  Prinzipe'  sieht  der  kritische  Scharfsinn 
des  Denkers  die  'Hauptsache'  der  Substanz  —  oder,  was  dasselbe  bedeutet, 
der  Dingvorstellung"  (S.  33)  dürfen  also  nur  in  wesentlich  eingeschränktem 
Sinne  Geltung  behalten.  Hume  spricht  klar  seine  theoretische  Verwerfung 
des  produktiven  Prinzips  der  Einbildungskraft  aus:  „  .  .  .  tve  proceed  to 
imagine^)  so  corred  a  Standard  of  that  relation  .  .  .  The  same  'principle 
makes  tis  easily  entertain  this  opinion"^)  of  the  continiied  existence  of  hody 
.  .  .  we  suppor^)  the  objects  to  have  a  continud  existence''''  {Treatise  a  a.  0., 
S.  487f.)  „  .  .  .  ive  disguise^)  .  .  .  the  interruption'"  (a.  a.  O.,  S.  488)  „Nothing 
is  more  apt  to  make  ns  mistake^)  one  idea  for  another,  than  any  relation 
betwixt  the.m,  ichich  associates  them  together  in  the  itnagination^)  (a.  a.  O., 
S.  491)  „The  passage  betwixt  related  ideas  .  .  .  seems^)  like  the  continuation  of 
the  same  actioti^^  .  .  .  „'tis  for  this  reason  we  attribute^)  sameness  to  every 
succession  of  related  objects'''  (a.  a.  O.,  S.  494).  Und  immer  wieder  heisst  es 
mit  Bezug  auf  die  Frage  der  identical  objects:  „the  thought  .  .  .  coyifoimds'' , 
we  „asa-ibe"  „mistake"  (a.  a.  O.,  S.  493)  —  all  dies  ist  das  Werk  der  imagi- 
nation, welche  also  ,,the  fiction^)  of  a  contimi'd  existence'''  erzeugt  (a.  a.  O., 
S.  494,  497).  „.  .  .  tce  not  only  feign  tut  believe  this  .  .  ."  (a.  a.  O.,  S.  496) 
„.  .  .  we  feign^)  the  continu'd  existeiice'',  „that  fiction  .  .  .  is  really  false",^) 
„'tis  a  false  opinion  .  .  .  and  consequently  the  opinion  .  .  .  can  never 
arrise  from  reason,  biet  must  arise  from  the  imagination"^)  (a.  a.  O., 
S.  497).  Huiue  ist  also  weit  entfernt,  diese  als  „konstitutives  Prinzip" 
aufzustellen  oder  ein  solches  darin  nur  zu  ahnen.  Er  lässt  fancy  als  Ur- 
sache der  Annahme  der  Aussendinge  schliesslich  praktisch  zu  (a.  a.  O., 
S.  502  f.),    spricht    aber    dann    wieder  von    „trivial  qualities    of  the   fancy", 


1)  Von  mir  gesperrt. 


B38  Rezensionen  (Hönigswald). 

und  von  einer  ^Q't'o^s  illusion'-'A)  Nicht  einmal  unbewusst  hat  er  das 
Prinzip  der  Aktivität  des  Intellektes  entdeckt,  und  seine  iniaginaiion  darf 
auch  nicht  als  eine  unvollkommene,  bedingte  Form  dieser  Aktivität  ange- 
sprochen werden. 2)  Erst  die  kritische  Arbeit  kann  das  synthetische 
Prinzip  erschliessen,  das,  wie  jede  Erfahrungshandlung,  so  auch  den 
Funktionen  zu  Grunde  liegt,  die  Hume  als  Tätigkeit  der  imngination  be- 
zeichnet. Wer  sich  zu  irgend  einem  kausalen  oder  substanzialen  Schluss 
des  Prinzipes  der  Kausalität  u.  s.  w.  bedient  und  die  Notwendigkeit  dieser 
„Schlussarten"  für  den  praktischen  Gebrauch  anerkennt,  ist  darum  nicht 
der  Entdecker  des  Gesetzes  oder  des  Problemes  davon.  Nicht  in  dieser 
praktischen  Anerkennung  besteht  Humes  Verdienst,  sondern  in  seinem 
negativen  Arbeiten  an  der  Erklärung,  wodurch  er  überhaupt  erst  aufmerk- 
sam machte  auf  ein  zu  lösendes  Problem.  Alles  ist  bei  ihm  nur  Anfang, 
Ansatz,  negatives  Verdienst.  Hume  dürfen  nicht  „die  Konklusionen  zugute 
gerechnet  werden,  die  (aus  seiner  Lehre)  in  höherer  erkenntnistheoretischer 
Richtung  gezogen  werden  müssten"  (Hedvall  a.  a.  0.,  S.  47,  Anm.  1),  und 
durch  Kant  und  uns,  die  wir  ihm  folgen,  gezogen  wurden.  Dass  Hume 
mit  dem  Suchen  an  der  richtigen  Stelle  den  Aiifang  machte,  bleibt  sein 
unumstrittenes  Verdienst.  Aber  darüber  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  den 
Schatz  im  Acker  zu  finden  nur  ein  Grösserer  vermochte.  — 

Während  H.s  Bewertung  dessen,  was  man  als  Ansätze  Humes  zu 
einer  eigenen,  positiven  Lösung  der  angeregten  Probleme  bezeichnen  mag, 
hier  und  da  zu  hoch  gegriffen  scheint,  behält  er  andererseits  für  die  Begrenzt- 
heit von  Humes  Leistung  in  der  theoretischen  Zergliederung  der  Probleme 
die  richtige  Schärfe  des  Blickes.  Können  wir  H.s  Auffassung  des  Hume- 
schen Aussendinges  als  einer  Ahnung  des  „denknotwendigen  Grundes  der 
Erscheinung"  (wie  H  mit  A,  Riehl  nicht  das  Kantische  Objekt,  sondern 
das  Ding  an  sich  bezeichnet  (S.  54  f.))  nicht  zustimmen,  so  erfahren  wir 
wesentliche  Förderung  durch  die  Darlegung,  warum  Hume  mit  seiner 
physiologischen  Begründung  der  Annahme  eines  Beharrenden  eine  be- 
friedigende Theorie  der  Konstanz  der  Wahrnehmungen  nicht  geben  konnte: 
diese  kann  durch  ein  subjektives  Prinzip  überhaupt  nicht  gewährleistet 
werden  (vgl.  S.  337),  sondern  allein  durch  ein  Gesetz  des  Denkens,  das 
schon  in  den  Wahrnehmungen  selbst  wirkt.  Dies  aber  „war  dem  scharf- 
sinnigen Analytiker  der  Erfahrung  noch  unbekannt"  (S.  56,  vgl,  S.  63  f.). 
Worin  dieses  Gesetz  des  Denkens,  das  vereinigende  Prinzip,  zu  sehen  ist, 
wird  S.  57  ff.  gezeigt.  Es  ist  die  synthetisclie  Einheit  der  Apperzeption, 
wofür  H.  bei  Hume  eine  freilich  negative  Andeutung  finden  will  in  seiner 
Auflösung  der  Identität  des  Ich  mit  dem  Eingeständnis,  dass  er  ausser 
Stande  sei,  ein  vereinigendes  Prinzip  des  Bewusstseins  theoretisch  festzu- 
stellen (S.  59).  Mit  Recht  sieht  H.  in  der  Einheit  des  Selbtsbewusstseins, 
wie  Kant  sie  begründet  hat,  die  Basis  jeder  Erkenntnis,  die  Überwindung 

Humes. 

Zur  letzten  Rechtfertigung  der  Objektivität,  der  Allgememgültig- 
keit  der  Erkenntnis  bedarf  es  indes  keiner  anderen  Objektivität,  als  der 
durch  die  Einheit  der  Gesetzlichkeit,  d.  i.  durch  die  Einheit  des  Bewusst- 
seins selbst  gewährleisteten.  Wie  ich  schon  S.  334  andeutete,  scheint  H. 
mit  seiner  Forderung  des  jenseitigen  Objektes  als  eines  „denknotwendigen 

1)  Vgl.  auch  Hedvall  a.  a.  O.,  S.  75,  Anm.  1,  118;  0.  Quast,  Der  Be- 
griff des  belief  bei  David  Hume  (Abhdlg.  z.  Philos.  u.  ihrer  Gesch.,  herausg. 
V.  B.  Erdmann  XVH)  (1903)  S.  43 f.;  (vgl.  meine  Anzeige  im  Lit.  Zentral- 
blatt 1906,  No    49,  Sp.  16631).  . 

2)  Belege  für  den  „passiven"  Charakter  des  nmting  i)rinciple  bringt 
Quast  a.  a.  O.,  S.  54,  71  u.  Anm.  2,  4,  dazu  Schluss  der  Anm.  4  (zu  S.  68), 
74  u.  Anm.  3,  87  u.  Anm.  2.  Dieser  mechanische  Charakter  der  imagmahon 
schliesst  natürlich  ihre  produktive  Rolle  beim  Zustandekommen  der  Er- 
kenntnis nicht  aus  (Quast,  S.  88 ff.);  doch  darf  die  Anerkennung  dieser 
Produktivität  durch  Hume  nicht  als  Vorstufe  der  Erkenntnis  des  syntheti- 
schen Prinzips  der  „Aktivität  des  Intellektes"  gewertet  werden. 


Rezensionen  (Hönigswald).  ^«>J 

Grundes  der  Erscheinung"  (S.  68-71,  82  f.),  als  einer  konstitutiven  Vor- 
aussetzunir  i^S.  27)  für  die  Objektivität  der  Erkenntnis  den  Rahmen  der 
Erfahrung^  zu  überschreiten.  Indes  ist  H.  von  einer  dogmatischen  Auf- 
fassung des  Dinges,  wenn  er  auch  von  ,,Be\vusstseinssymbolen  für  Dinge" 
redet,  weit  entfernt,  da  ihm  das  Denken  als  die  aktive  Repräsentation 
der  ,!Dinge"  gilt  (S.  15,  66  f.,  87  f.).  Indes  muss  der  wichtige  Schritt 
von  der  repräsentativ-symbolischen  Auffassung  der  Erkenntnisfunktion  zur 
konstitutiven  gemacht  werden.  Denn  ,,Dinge"  sind  nicht  ausser  der  Er- 
kenntnis und  nicht  anders  als  durch  die  Erkenntnis  möglich,  und  deren 
Einheitlichkeit  allein,  nicht  die  Rücksicht  auf  einen  äusseren  Gegen- 
stand konstituiert  Objektivitität.  Aus  H.s  neuester  Schrift  (Z.  Pr.  d. 
philos.  Skppsis  S.  89,  94)  glaube  ich  entnehmen  zu  können,  dass  er  un- 
mittelbar vor  jenem  Schritte  steht,  dass  seine  „kritische  Metaphysik"  im 
Grunde  auch  jeder  dinglichen  Orientierung  entraten  kann  und  das  Aussen- 
ding  in  der  Erkenntnis  bei  ihm  nur  noch  die  Rolle  des  Zielbegnffes 
spielen  wird.  Dann  erst  wird  „das  Prinzip  der  synthetischen  Einheit  als 
das  höchste  Gesetz  von  Natur  und  Wissenschaft"  (S.  59)  in  seiner  ganzen 
Reinheit  wirksam  werden  können. 

Die  Kritik  einiger  aktueller  philosophischer  Bestrebungen,  mit 
welchen  H.  in  fruchtbarer  systematischer  Verwertung  der  historischen 
Betrachtung  Humes  seine  Arbeit  beschliesst,  liegen  bereits  durchaus  in 
der  Richtung  des  transscendentalen  Idealismus.  So  wird  die  Behauptung 
einer  psychophysischen  Wechselwirkung  als  metaphysisch  gekennzeichnet 
und  auf  ihr  kritisch  bestimmtes  Mass,  „die^  eindeutige  Zuordnung  des 
Physischen  zum  Psychischen"  zurückgeführt  (S.  72—87). 

Von  aktuellem  Interesse  sind  ferner  die  gegen  E,  Mach  gerichteten 
Ausführungen.  Indem  Hume  dem  „Zusammen  von  Wahrnehmungen" 
wesentlich  „ökonomischen"  Wert  beimisst,  ist  er  mit  Mach  verwandt. 
Dieser  verfehlt  die  Bestimmung  des  Begriffes  der  Erkenntnis  in  der 
gleichen  Weise  wie  Hume  (vgl.  S.  44  ff.,  60  f-,  63  f.).  Das  Subjekt  löst 
sich  beiden  auf  in  ,,ein  nur  relativ  beständiges  Gebilde";  phy.siologischer 
Zwang  erscheint  ihnen  als  (natürlich  bloss  zufällige)  Bedingung  der 
Erfahrung  (S.  61),  und  sie  vermögen  weder  das  Subjekt  in  seiner  tieferen 
Bedeutung  als  Bedingung  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  zu  begreifen 
noch  zu  "den  notwendigen  Bedingungen  der  Erkenntnis  vorzudringen. 
In  diesem  Zusammenhang  sei  auf  H.s  frühere  Schrift  „Zur  Kritik  der 
Machschen  Philosophie"  (1903)  bes.  S.  7  hingewiesen.  Darin,  dass  Hume, 
weniger  konsequent  als  Mach,  der  logischen  Erkenntnis  eine  besondere 
Sicherheit  zugesteht,  freilich  ohne  das  dahinterliegende  Problem  zu  ahnen, 
darin,  dass  er  ferner  die  „metaphysische  Voraussetzung"  unerkennbarer 
Realitäten  macht,  unterscheidet  er  sich  von  Machs  radikalem  Psychologis- 
mus (S.  40  f.,  27).  Dass  dies  Verdienst  Humes  indes  durch  Inkonsequenz 
gegen  sein  Grundprinzip  erkauft  ist,  hat  Hedvall  a.  a.  O.  S.  9,  108  f. 
gezeigt.  Auch  ist  es  lediglich  ein  rationalistischer  Rest,  der  in  der 
sensualistischen  Grundlage  nicht  aufgegangen  ist,  wenn  Humes  schärfere 
Fassung  des  Begriffs  als  Einzelvorstellung  sich  von  der  streng  „empi- 
ristischen Gemeinbildstheorie"  Machs  und  Ostwalds  unterscheidet 
(S.  47  f  ).  Doch  fällt  die  Tatsache,  dass  ihm  praktisch  Logik  nicht 
restlos  in  Psychologie  aufgeht,  wenig  ins  Gewicht  gegenüber  der  anderen, 
dass  er  in  der  theoretischen  Begründung  der  Erkenntnis  in  der  Em- 
pfindung überhaupt,  in  der  Überordnung  der  Einzeltatsache  gegenüber 
dem  Begriff  (S.  49),  prinzipiell  mit  den  genannten  Vertretern  des 
extremsten  Empirismus  Hand  in  Hand  geht.  Wie  wenig  er  an  der  von 
seinem  Standpunkte  aus  eigentlich  auch  nicht  zu  rechtfertigenden  logischen 
Auffassung  der  idea  als  einer  „scharf  umschriebenen  Einzelvorstellung" 
(S.  47)  festhält,  zeigt  sich  auch  darin,  dass  der  empiristische  Grundzug 
seiner  Lehre  wieder  durchbricht  in  der  Theorie  vom  Allgeraeinbegriff  als 
eines  bloss  „sprachlichen  Symbols-',  das  durch  die  Einzelvorstellung  ge- 
liefert wird,  damit  diese  sich  mit  anderen  Einzelvorstellungen  verknüpfen 

Kantstudien    XV.  22 


340  Rezensionen  (Hönigswald). 

könne  (S.  48).  Das  kommt  im  wesentlichen  auf  die  Machsche  Gemeinbilds- 
theorie hinaus.  — 

Man  sieht,  dieselben  philosophischen  Probleme  tauchen  immer  wieder 
auf,  und  ebenso  dieselben  Arten  der  „Lösung".  Es  scheint,  als  ob  ein 
nicht  geringer  Teil  der  philosophischen  Arbeit  unserer  Zeit  die  Orientierung 
an  der  Geschichte  der  Philosophie  verschmähe,  als  ob  hier  keiner  erben 
und  weiterbilden,  sondern  jeder  Neuland  in  Angriff  nehmen  wolle,  wobei 
selten  bemerkt  wird,  dass  schon  fast  überall  ein  Pflug  gegangen  ist.  So 
sehr  die  stetige  Entwickelung  des  systematischen  Denkens  durch  dies 
Verfahren  gehemmt  werden  mag,  so  liegt  letzteres  doch  zu  tief  begründet 
im  Wesen  der  Philosophie  als  der  Wissenschaft,  in  welcher  der  geschicht- 
lich erarbeitete  Besitz  nicht  einfach  ererbt  werden  kann,  sondern  von 
jedem  neu  erworben  werden  muss,  als  dass  man  in  dem  sich  immer  wieder- 
holenden Auftauchen  geschichtlich  überwundener  Theorien  ein  Stillstehen 
der  Philosophie  überhaupt  sehen  dürfte.  Ein  solches  Stets-von-vorn-an- 
fangen  steht  hoch  über  jedem  Elektizismus.  Aber  die  Vertreter  dieser 
kontinuitätslosen  Forschungsweise  berauben  sich  der  Möglichkeit  eines 
fruchtbaren  Weiterbaues  des  Selbsterschaffenen  gewöhnlich  durch  kurz- 
sichtige Unterschätzung  des  geschichtlich  Geleisteten.  Alois  Höfler  hat 
diese  Erscheinung  gelegentlich  witzig  gekennzeichnet :  „Wenn  einige 
Naturforscher  von  heute  philosophieren  wie  die  neugeborenen  Kinder,  so 
können  füglich  das  doch  nur  sie  selbst  mit  einer  Neugeburt  der  Philoso- 
phie selber  verwechseln."^) 

Eine  solche  Verwechselung  lässt  sich  neuerdings  W.  Ostwald  zu- 
schulden kommen,  wenn  er  in  seiner  Anzeige  der  vorliegenden  Arbeit  ge- 
wissermassen  sich  darüber  wundert,  dass  Kant  sich  mit  der  „geheimnis- 
vollen synthetischen  Einheit  der  Apperzeption"  geplagt  habe,  wo  es  sich 
doch  lediglich  um  das  Problem  der  —  Erinnerungsfunktion  handle,  die 
übrigens  „nicht  so  hoffnungslos  weit  entfernt"  aussehe,  „nicht  nur  von 
psychologischer,  sondern  von  physiologischer  und  sogar  physikochemischer 
Deutung,  wie  die  , Einheit  der  Apperzeption'." 

Nur  eine  von  systematischer  Absicht  geleitete  wirkliche  Er- 
forschung der  Geschichte  der  Philosophie,  bestehend  in  einer  Ver- 
gleichung  und  Abwägung  der  Lösungsversuche,  kann  über  die  Begrenzt- 
heit solchen  „Philosophierens"  hinwegführen  zu  einem  Erfassen  oder 
Ahnen  dessen,  was  Kant  auszeichnet,  was  Philosophie  ist. 

Ich  bezweifle,  dass  W.  Ostwald  jemals  diese  Arbeit  versucht  hat 
oder  hat  versuchen  können.  Das  geht  nicht  nur  aus  seiner  völligen  Hilf- 
losigkeit Kant  gegenüber  hervor,  sondern  auch  daraus,  dass  er  die  in  H.s 
Schrift  behandelten  Probleme  nicht  sieht.  Es  braucht  H.  daher  auch 
wenig  anzufechten,  wenn  Ostwald  ihm  erklärt,  er  habe  nicht  erkennen 
können,  „dass  dies  vielfach  gewendete  Heu  durch  die  vorliegende  Wendung 
nahrhafter  oder  weniger  trocken  würde  als  es  vorher  war."  Lasse  er  ihn 
diese  „nicht  nur  in  psychologischer,  sondern  auch  in  physiologischer  und 
sogar  physikochemischer"  Hinsicht  höchst  bedeutsame  Entdeckung,  dass 
man  das  Heu  wendet,  um  es  weniger  trocken  zu  machen,  logisch  weiter 
ausbauen.  Ostwald  steht  es  ja  übrigens  natürlich  frei,  „zwischen  zwei 
Gebündein  Heu  nachsinnlich  grübelnd,  welch's  von  beiden  denn  wohl  das 
beste  Futter  sei",  sich  für  das  auf  naturphilosophischem  Boden  gewachsene 
zu  entscheiden,  wofern  er  es  nicht  vorzieht,  auf  noch  durchaus  unabge- 
grasten  dornen-  und  distelreichen  Pfaden  sich  noch  schmackhaftere 
Nahrung  zu  suchen. 

Eine  Kritik  wie  die  Ostwalds,  welche  ausspricht,  in  H.s  Schrift 
handele  „es  sich  anscheinend  weniger  darum,  die  Anschauungen  Humes 
geschichtlich  zu  untersuchen  und  klarzustellen,  als  vielmehr  darum,  aus 
Anlass  der  sich  an  Humes  Ansichten  knüpfenden  Erörterungen  die  eigenen 
Anschauungen  des  Verfassers  erneut  darzulegen",  verfehlt  völlig  das  Ver- 
dienst, welches  in  der  Verbindung  der  systematischen  mit  der  historischen 

»)  KSt.  XI,  258. 


Rezensionen  (Lorentz).  341 

Betrachtungsweise  liegt,  eine  Methode,  die  H.  mit  Erfolg  auf  Humes  Rea- 
litätslehre angewandt  hat. 

Ich  fasse  das  Ergebnis  zum  Schluss  kurz  zusammen :  Indem  Hume 
diejenige  Einheit,  welche  der  Erkenntnis  erst  Halt  giebt,  vergebens 
sucht,  lässt  er  in  seiner  Erkenntnistheorie  „eine  klaffende  Lücke"  (S.  59). 
Jener  Halt  wird  erst  gefunden  durch  Kants  Prinzip  der  synthetischen 
Einheit  der  Apperzeption.  H.s  Schlussworte:  „Die  Frage  nach  dem  Er- 
kenntniswert, die  Entdeckung  des  logischen  Problems  der  Erfahrung  und 
der  gescheiterte  Versuch  einer  Lösung  dieses  Problems  auf  dem  Wege 
psychologischer  Analyse  bestimmen  die  historische  Stellung  der  Humeschen 
Erfahrungstheorie''  (S.  88),  bedürfen  für  mich  einer  Berichtigung  nur  da- 
hin, dass  ich  die  eigentliche  „Entdeckung  des  logischen  Problems  der  Er- 
fahrung" als  positive  Leistung  Humes  nicht  anerkennen  kann;  seine 
negative  Arbeit  daran  hingegen  hat  Kant  auf  seinem  Wege  weiter 
gewiesen  bis  zur  Entdeckung.  Xach  H.  hat  Hume  die  rechte  Antwort 
verfehlt  nicht  durch  Einführung  der  Aussendinge  —  das  wird  Hume  viel- 
mehr als  Verdienst  angerechnet  —  sondern  weil  er  die  „Bewusstseins- 
symbole"  dieser  „Gegenstände"  anstatt  auf  sj-nthetisches  Denken  auf  den 
beVief  gründete.  H.s  Bewertung  hat  also  zur  Voraussetzung  einen  Begriff 
des  Gegenstandes  der  Erfahrung,  den  wir  mit  dem  Kantischen  Erfahrungs- 
prinzip nicht  vereinigen  konnten.  Er  deckt  sich  hierin  mit  A.  Riehl, 
aus  dessen  Schule  die  Schrift  hervorgegangen  und  dem  sie  gewidmet  ist.^) 
Wohl  gilt  dem  Gegenstand  der  Erfahrung  als  Produkt  der  „Aktivität  des 
Intellektes-',  doch  wird  ihm  ein  metaphysischer  Rückhalt  gegeben  in  einem 
„Ding",  das  zwar  unerkennbar  ist  und  jeder  Bestimmung  durch  formale 
Erfahrungsbegriffe  sich  entzieht  —  dass  Hume  ihm  Substanzialität  zu- 
schreibt, wird  daher  verworfen  —  das  aber  als  denknotwendiger  Grund 
der  Erscheinungen  doch  der  Erfahrung  erst  Objektwert  geben  soU. 

H.  hat  die  Diskussion  wesentlich  gefördert  und  angeregt,  wenn 
auch  einzelne  seiner  Ergebnisse  angefochten  werden  mussten. 

Düsseldorf.  Paul  Wüst. 

Lorentz,  Paul.  Lessings  Philosophie.  Denkmäler  aus  der  Zeit 
des  Kampfes  zwischen  Aufklärung  und  Humanität  in  der  deutschen  Geistes- 
bildung. Leipzig,  Verlag  der  Dürrschen  Buchhandlung,  1909,  Philosophische 
Bibliothek,  Band  119.     (LXXXVI  u.  396  S.) 

Das  Buch  will  ein  Hilfsmittel  der  Anregung  sein,  philosophieren 
zu  lernen,  für  Gebildete  und  insbesondere  für  Lernende  der  höheren 
Bildungsanstalten,  und  die  alle  Gebiete  des  Lessingschen  Denkens 
berücksichtigende  Auswahl  von  Lesestücken  ist  diesem  Zwecke  sehr  an- 
gemessen. 

Der  Verfasser  sieht  die  wesentliche  Bedeutung  Lessings  für  unsere 
Zeit  darin,  dass  auch  wir,  ähnlich  wie  Lessing  gegen  die  Aufklärung, 
einen  Kampf  gegen  eine  religionsfeindliche  Naturforschung  und  Verstandes- 
kultur für  die  Selbständigkeit  von  Wissenschaft  und  Religion 
zu  kämpfen  haben.  Abgesehen  von  der  Frage,  ob  diese  Charakteristik  auf 
unsere  Zeit  noch  passt,  ist  damit  Lessings  Stellung  selbst  nicht  richtig 
angedeutet.  Dieser  hat  ja,  wie  sein  grosses  Vorbild  Leibniz,  die  Einheit 
von  Wissen  und  Glauben  gesucht,  nicht  die  durch  Kant  wieder  das  Ideal 
der  neueren  Zeit  gewordene  Trennung  verschiedener  Wahrheitsgebiete. 
Man  kann  Übergriffe  einer  gewissen  Denkart  dadurch  zurückweisen,  dass 
man  diese  auf  ein  begrenztes  Gebiet  verweist,  ausserhalb  desselben  ver- 
leugnet; dann  hat  man  eben  nicht  bloss  zwei  Gebiete,  sondern  auch  zweier- 
lei Begriff  der  Wahrheit  geschaffen,  was  stets  dazu  führen  muss,  die  eine, 
als  „theoretisch"  anerkannte  Wahrheit  schliesslich  auf  Kosten  der  andern,  die 


^)  Leider  habe  ich  die  kürzlich  erschienene  2.  Aufl.  des  I.  Bandes 
von  Riehls  „Der  philosophische  Kritizismus",  welcher  das  bekannte  ge- 
diegene Humekapitel  enthält,  nicht  mehr  für  diese  Arbeit  einsehen  können. 
[Das  Manuskript  wurde  im  November  1908  abgesclüossen.] 

22* 


342  Rezensionen  (Lorentz). 

dadurch  zu  einer  subjektiven,  blossen  Gefühlsbedürfnissen  dienenden  Illusion 
herabo:edrückt  wird,  zur  alleinherrschenden  zu  machen.  Oder  man  kann, 
und  dies  ist  etwas  ganz  anderes,  die  Begriffe  selbst  zu  korrigieren  ver- 
suchen. Wenn  dabei  auf  einer  Vorstufe  dieser  Begriffsarbeit  eine  gewisse 
Skepsis  unterläuft,  welche  mithilft,  starrgewordene  Gedankensysteme 
wieder  für  die  Entwicklung  bildsamflüssig  zu  machen,  so  widerspricht  das 
nicht  dem  Hauptgedanken,  dass  alle  Wahrheit  in  ihrem  Grunde  nur  Eine 
sein  kann.  Daher  weist  auch  Lessing,  wo  er  das  Gefühl  zum  Zeugen  der 
Wahrheit  anruft,  nicht  auf  ein  eigenes,  von  der  Verstandeswahrheit  ge- 
trenntes Wahrheitsgebiet  hin,  sondern  sieht  die  Aufgabe  der  Philosophie 
eben  darin,  das  im  Enthusiasmus  Geschaute  „in  deutliche  Ideen  aufzu- 
klären". Dadurch  unterscheidet  er  sich  im  Prinzipe  sowohl  von  Rousseau, 
der  auf  diese  Aufklärung  verzichtet,  wie  von  Kant,  der  die  Verstandesein- 
sicht von  der  Gefühlseinsicht  trennt. 

Bei  Lorentz'  Darstellung  fehlt  die  genaue  Rechenschaft  über  diese 
kritische  Vorfrage,  der  Begriff  der  religiösen  Mystik  und  der  Begriff  der 
mechanischen  Weltanschauung  stehen  in  ihr  unvermittelt  einander  gegen- 
über, bald  die  eine,  bald  die  andere  erscheinen  als  Blüte  und  Frucht 
deutscher  Geistesbildung,  ohne  wirkliche  Trennung  oder  Vereinigung. 
Spinozas  Wirkung  soll  einerseits  in  der  Mystik  Hamanns,  andererseits 
in  dem  modernen  mechanistischen  Monismus  zutagegetreten  sein,  und  Jacobi, 
Spinozas  bester  Kenner  und  eifrigster  Gegner,  dennoch  auf  ihm  fussen. 
Schliesslich  verschlingt  auch  bei  Lorentz  die  mathematisch-mechanische 
Denkweise  jede  andere,  wie  man  an  seiner  Tendenz  sieht,  diese  als  die 
übergreifende  bei  Lessing  auch  dort  darzustellen,  wo  er  offenbar  auf  dem 
Wege  zu  einem  Begriffe  jener  höheren  Einheit  war,  die  er  im  Gespräche 
mit  Jacobi  suchte.  Das  geschieht  von  Lorentz,  indem  selbst  dort,  wo 
Lessing,  ähnlich  wie  Diderot  und  vorbildlich  für  gleiche  Tendenzen  in 
Kants  „Urteilskraft",  durch  seinen  Kunstbe  griff  hinausgeführt  wird  über 
die  Schranken  der  mathematischen  Denkweise  zu  dem  Wesensbegriff,  auf 
welchem  die  philosophischen  Anschauungen  Herders  und  Goethes  beruhen, 
indem  selbst  dort  Lorentz  in  der  „inneren  Notwendigkeit  der  Handlung", 
die  Lessing  vom  Dichter  fordert,  in  dem  „Ineinandergegründetsein" 
(Dramaturgie  30.  Stück),  nichts  als  den  Begriff  der  mechanischen  Ver- 
kettung und  der  allgemein  vorbestimmten  Notwendigkeit  der  mathe- 
malischen Denkweise  sieht.  Auf  jenen  höheren  Begriff  Lessings  könnte 
hingewiesen  werden,  wo  dieser  sagt:  die  Fakta  seien  etwas  Zufälliges,  die 
Charaktere  etwas  Wesentliches  (Dramat.  33.  St.),  oder:  die  Einheit  des 
Ganzen  beruhe  auf  der  Übereinstimmung  aller  Teile  zu  einem  Endzwecke 
(1.  Abhdl.  üb.  d.  Fabel).  Gerade  da,  wo  Lessing  über  die  Alles  deter- 
minierende Notwendigkeit  in  der  mathematischen  Denkart  hinausweist  in 
ein  Reich  der  Freiheit,  sieht  Lorentz  einen  Sieg  des  „Monismus",  des  ein- 
heitlichen „physikalisch-kosmischen  Weltbildes,  das  Kopernikus,  Kepler  und 
Newton  schufen".  Auch  an  Stelle  der  Lessingschen  Zweifel  an  der 
Willensfreiheit  sieht  L.  ein  Sichdurchringen  zum  absoluten  Determinismus, 
und  die  Freiheit,  wo  Lessing  von  ihr  spricht,  wird  von  L.  im  Sinne 
Spinozas  und  ähnlich  der  modernen  Physiologie  als  durch  Unkenntnis  der 
vollständigen  Ursachen  bewirkte  subjektive  Illusion  wegerklärt.  „Deter- 
minismus" Lessings  sieht  L.  schon  in  dessen  Äusserung  („Erz.  d.  M.", 
§  3.Ö):  das  jüdische  Volk  habe  seinen  Gottesbegriff  erweitert  und  veredelt, 
dadurch  dass  es  in  der  Gefangenschaft  die  religiösen  Begriffe  der  Perser 
kennen  lernte  (S.  LXXXI). 

Neben  dieser  Auffassung  steht  unvermittelt  des  Verfassers  Würdigung 
der  Mystik,  die,  da  sie  nicht  das  Ganze  durchdringen  darf,  auf  einige 
kümmerliche  Ideen  beschränkt  bleibt.  Für  die  mystische  Religionsauf- 
fassung Lessings  bringt  L.  einige  nicht  stichhaltige  Beweise,  mit  denen 
er  durch  seine  eigene,  ganz  im  Sinne  der  Verstandesaufklärung  sich  be- 
wegende Deutung  der  „Erziehung  des  Menschengeschlechts"  in  Wider- 
spruch gerät. 


Rezensionen  (Keyserling).  343 

Weil  der  Verfasser  mit  sich  selbst  nicht  einig  ist,  misslingt  ihm 
auch  die  Unterbringung  der  Widersprüche  unter  die  Rubriken  „exoteri- 
scher''  und  „esoterischer"  Lehre,  die  ja  sonst  sehr  dazu  geeignet  ist,  das 
der  eignen  Meinung  nicht  Zusagende  als  „exoterisch"  wegzudeuten  und 
als  „esoterisch"  die  eigenen  dogmatischen  Voraussetzungen  sich  ein- 
schleichen zu  lassen.  So  ist  bei  Leibniz  die  „Theodicee"  exoterisch,  weil 
die  Monade  hier  Seele  heisst,  Spinozas  „Deus"'  ist  exoterisch,  esoterisch 
dagegen  und  atheistisch  ist  „natura".  Die  monistische  Form  der  Leibniz- 
schen  prästabilierten  Harmonie  dürfte  L.  für  esoterisch,  die  dualistische 
für  exoterisch  halten,  obwohl  Lessing  die  letztere  seiner  Unterscheidung 
von  Leibnizens  und  Spinozas  Lehre  zugrundelegt  und  L.  ihm  hierin  nicht 
widerspricht.  Lessings  Begriff  der  göttlichen  Führung  in  dem  Er- 
ziehungswerke des  Menschengeschlechts  erklärt  L.  einmal  für  exoterisch, 
Lessing  habe  esoterisch  eine  Selbstentwicklung  im  Sinne  der  Monadenlehre 
gemeint;  ein  andermal  erklärt  er  das  Fehlen  des  Gedankens  der  Selbst- 
entwicklung bei  Lessing  für  die  Schranke  des  Jahrhunderts,  an  der 
auch  Lessing  litt,  der  über  das  Schwanken  zwischen  Theismus  und  Pan- 
theismus nicht  hinausgekommen  sei.  Darnach  wäre  also  Lessings  ausge- 
sprochene Ansicht  nicht  exoterisch,  sondern  bloss  beschränkt,  und  „Pantheis- 
mus" scheint  dem  Verfasser  bloss  Atheismus  zu  bedeuten.  Damit  erscheinen 
aber  die  eingangs  verheissenen  Waffen  zum  Kampfe  für  die  Selbständigkeit 
der  Religion  in  einem  unerwarteten  Lichte. 

Auch  die  Lessings  Philosophie  vom  Verfasser  zugeschriebene  histori- 
sche Bedeutung  kann  ich  nicht  gelten  lassen.  Lessings  Philosophie  blieb 
leider  nur  bruchstückhaft,  und  dieses  Unfertigsein  selbst  als  Zeugnis  für 
eine  tiefe  Erfassung  des  Werdensbegriffs  durch  Lessing  anzusehen  (S.  XLI), 
ist  wohl  verkehrt. 

Im  Anhange  des  Buches  findet  sich  ein  „Begriffs-  und  Sachenver- 
zeichnis", bei  dem  die  Auswahl  der  Schlagwörter  manchmal  etwas  sonder- 
bar ist,  und  „Erläuterungen"  zu  dem  Texte,  die  durchaus  sehr  brauchbar 
und  zweckdienlich  sind. 

Mahrenberg  (Steiermark).  Dr.  Josef  Kremer. 

Keyserling,  Hermann,  Graf.  Unsterblichkeit.  Eine  Kritik 
der  Beziehungen  zwischen  Naturgeschehen  und  menschlicher  Vorstellungs- 
welt.   München,  J.  F.  Lehmanns  Verlag,  1907.    (349  S.) 

Ein  umfangreiches  Werk  über  die  Unsterblichkeit,  das  uns  darum 
von  vornhei'ein  interessieren  muss,  weil  der  Verfasser  gleich  zu  Beginn 
verspricht,  den  Unsterblichkeitsglauben  der  erkenntnistheoretischen  Kritik 
zu  unterwerfen.  Und  zwar  stellt  er  sich  auf  den  Boden  der  Kantischen 
Erkenntniskritik. 

Jedenfalls  ist  das  sein  bewusster  Wille,  wenn  er  in  der  Einführung 
sagt:  „Man  argwöhne  ja  nicht,  ich  wolle  die  Unsterblichkeit  der  Seele 
beweisen;  ich  will  keine  Religion  stiften,  stützen  oder  stürzen,  sondern 
nur  die  Erkenntnis  bereichern  und  schärfen.  Die  Fortdauer  nach  dem 
Tode  ist  aber  kein  möglicher  Erkenntnisinhalt.  Ich  gedenke,  soweit  dies 
in  meiner  Macht  steht,  die  folgende  Frage  zu  beantworten:  Was  ist  der 
Sinn  des  Unsterblichkeitsgedankens?  Wie  ist  ein  solcher  möglich?  — 
Die  Frage  ist  genau  auf  die  gleiche  Weise  gestellt,  wie  die :  wie  ist  Natur 
möglich  ?  Im  gleichen  Sinne  werden  wir  nicht  fragen,  wie  und  warum 
und  woraus  der  Unsterblichkeitsgedanke  entstanden  sein  könnte;  wir 
fragen  nach  seinem  innersten  Gehalte.  Es  handelt  sich  um  Kritik  im 
Kantischen  Sinne.  Folglich  nicht  um  Psychologie"  (S.  14).  Und  wenn 
nun  der  Verf.  darum  psychologische  Betrachtungen  nur  nebenbei  anstellt, 
nur  „um  die  Bahn  freizumachen"  —  das  eigentliche  Problem  können  sie 
nicht  berühren  — ,  so  mag  man  ihm  gerne  darin  recht  geben.  Ohne  sie 
freilich  ist  eine  kritische  Arbeit  auch  nicht  möglich,  weil  sie  doch  gleich- 
sam das  Arbeitsfeld  abgiebt,  auf  dem  dann  der  Kritiker  seine  sichtende 
Arbeit  vollzieht.  Nur  die  Psychologie  kann  den  Glauben  darstellen,  den 
die  Erkenntnistheorie  kritisch  zu  begreifen  hat.    Der  Erkenntniskritiker  hat 


344  Rezensionen  (Keyserling). 

aber  das  Recht,  die  Religionspsycliologie  vorauszusetzen.  Dagegen  hat  den 
Rezensenten  gewundert,  dass  gleich  nach  dieser  klaren  Auffassung  der  eigenen 
Aufgabe  im  Kantischen  Sinne  nun  die  Bemerkung  sich  anschliesst,  dass 
der  Verf.  bei  seiner  kritischen  Arbeit  „selbstverständlich"  nicht  „werten" 
wolle.  „Wir  betrachten  den  Glauben  als  Naturerscheinung  —  und  kein 
vernünftiger  Mensch  wird  sich  die  Frage  stellen,  ob  der  Polarstern  wert- 
voller sei  als  der  Sirius.  Sie  sind  beide  da,  das  genügt."  Der  Glaube, 
die  einzelne  Glaubensvorstellung  ist  doch  nur  mit  den  astronomischen 
Theorien  über  die  Gestirne,  oder  über  die  Vorstellungen  von  ihnen  auf 
gleiche  Linie  zu  setzen.  Und  der  Erkenntniskritiker  hat  ein  sehr  gutes 
Recht  zwischen  diesen  psychologischen  Tatbeständen  zu  sichten,  zu  werten, 
was  wahr  und  was  falsch  und  irrtümlich  ist.  Gewiss  wollen  wir  die  Vor- 
stellungen in  ihrer  bunten  Mannigfaltigkeit  nicht  ausrotten,  „sie  tragen 
zur  Farbenpracht  des  Lebens  bei",  aber  sie  beweisen  durch  ihre  blosse 
Existenz  noch  lange  nicht,  wie  K.  sagt,  „ihre  Berechtigung,  ihre  Not- 
wendigkeit". Das  heisst  psychologische  und  erkenntniskritische  Notwendig- 
keit verwechseln.  Die  Letztere,  und  um  sie  allein  kann  es  sich  hier  handeln, 
ist  erst  konstatiert,  wenn  jene  an  dem  hinter  den  Vorstellungen  waltenden 
Apriori  geprüft  und  als  wahr  erfunden  wurde. 

Woher  diese  Abneigung  gegen  das  Werten?  Sie  ist  begreiflich 
gegenüber  einer  veralteten  engherzigen  Religionspsychologie  und  unzu- 
länglichen Religionsgeschichte,  gegenüber  einem  dürren  Rationalismus, 
der  das  Apriori  für  die  Wirklichkeit  nimmt  und  ein  paar  apriorische 
Glaubenssätze  an  Stelle  der  bunten  Mannigfaltigkeit  der  religiösen,  psy- 
chologischen Wirklichkeiten  setzen  will,  die  das  Apriori  hervorgetrieben 
hat ;  schliesslich  einem  Dogmatismus  gegenüber,  der  den  religiös-psycholo- 
gischen Tatsächlichkeiten  der  asiatischen  Religionen  nicht  gerecht  zu 
werden  vermag  und  eine  enge  Theorie  von  der  Absolutheit  des  Christen- 
tums aufstellt.  Darum  sagt  K.:  „ich  persönlich  zweifle  überhaupt  an  der 
Zulänglichkeit  der  Werteskala,  mit  welcher  die  Europäer  an  die  übrige 
Menschheit  heranzutreten  gewohnt  ist."  Dieser  Vorwurf  trifft  aber  weder 
die  moderne  Religionspsychologie  noch  die  moderne  Religionsgeschichte. 
Er  ist  nur  noch  besonders  begründet  durch  das  liebevolle  Sich-Versenken 
des  Verf.  in  die  orientalischen,  besser  ostasiatischen  Religionssysteme. 
Wie  oft  erinnert  er  uns  an  Lafkadio  Hearn,  den  feinsinnigen  Japanophilen! 

Doch  —  vielleicht  bleibt  K.  im  Übrigen  trotzdem  auf  dem  Boden 
der  Kantischen  Erkenntniskritik?  Eine  kurze  Darlegung  des  Gedanken- 
gangs mag  auf  diese  Frage  die  Antwort  geben. 

Im  1.  Kapitel  redet  K.  „vom  Unsterblichkeitsglauben  überhaupt". 
„Überall  herrschen  andere  Vorstellungen.  Die  meisten  sind  mit  einander 
unvergleichbar.  So  ist  das  Zeugnis  des  Menschengeschlechts  für  die  Un- 
sterblichkeit der  Seele  nicht  eindeutig."  Aber  wenn  auch  die  Glaubens- 
vorstellungen verschieden  sind,  die  „Glaubensrichtung"  kann  dennoch  die 
gleiche  sein.  Und  dies  letztere  bejaht  nun  K.  Dieses  ist  sie:  Das  Be- 
wusstsein,  dass  das  im  Menschen  wirksame  Lebenspiinzip  sich  in  der 
räumlich-zeitUchen  begrenzten  Individualexistenz  nicht  erschöpft.  „Dieses 
Bewusstsein  ist  schlechthin  allgemein ;  es  fehlt  bloss  dem,  dessen  para- 
sitärer Verstand  alles  ursprüngliche  Leben  überwuchert  und  ertötet  hat. 
Die  Nichtidentität  des  Lebensprinzips  mit  seiner  jeweiligen  Erscheinung, 
eines  Transscendenten  als  Urgrundes  des  Empirischen"  ist  also  nach  K. 
das  Apriori  des  Unsterblichkeitsglaubens.  Das  Überindividuelle  ist  eine 
„übermenschliche",  eine  „kosmische  Realität".  Die  Europäer  haben  aller- 
dings nur.stets  im  Individuum  das  erste  und  das  letzte  erblicken  können 
und  im  Überindividuellen,  in  der  Entelechie  bloss  eine  menschliche  Ab- 
straktion, anstatt  einer  übermenschlichen,  weil  kosmischen  Realität.  „An 
diesem  Missverständnisse  ist  die  Kantische  Philosophie,  vor  allem  diejenige 
seiner  mehr  gläubigen  als  einsichtigen  Jünger  nicht  ganz  unschuldig."  Das 
Individuum  ist  Erscheinung.  Das  Wesen  überindividuell.  Das  ist  der 
naturgemässe  Standpunkt. 


Rezensionen  (Keylerling).  345 

Zum  gleichen  Resultat  kommt  der  Verf.  auch  im  2.  Kapitel,  das 
„die  Todesgedanken''  kritisch  beleuchtet  und  die  kosmische  Bedeutung 
des  Sterbens  herausstellt.  Das  dunkle  Ahnen  unserer  Seele  —  das  Apriori 
—  weist  unaufhaltsam  über  uns  hinaus.  Auch  alles  geistige  Erleben  be- 
steht darin,  das  Objekt  zu  überwinden,  den  Menschen  die  eigenste  Indi- 
vidualität zu  nehmen,  d.  h.  sie  töten?  Erst  wessen  eigenes  Sein  wir  ge- 
tötet, erwacht  für  uns  zu  echtem  Sein.  „Was  kümmert  mich  der  Goethe, 
welcher  „an  und  für  sich",  ich  „verehre  meinen  Goethe". 

Kej'serling  sucht  nun  in  einem  dritten  Kapitel  durch  eine  Kritik 
und  Untersuchung  über  die  Glaubensfuuktion  überhaupt,  wie  sie  ja  auch 
im  Unsterblichkeitsglauben  wirkt,  den  innersten  Kern  jenes  Apriori 
herauszustellen. 

K.  meint,  dass  wir  wohl  eine  Psychologie  des  Glaubens  besitzen, 
aber  nicht  eine  Kritik  des  Glaubens  (im  Kantischen  Sinne).  „Keinem  der 
grossen  Philosophen  scheint  der  innerste  Gehalt  des  Problems  aufgegangen 
zu  sein,  weder  Kant  noch  Fichte  noch  Hegel."  „Kant  konnte  seiner 
Xatur  nacli  zum  Glauben  kein  richtiges  Verhältnis  gewinnen."  Für  ihn 
war  er:  Nicht-wissen  und  gehörte  darum  nicht  in  sein  Forschungsgebiet. 
Glaube  ist  aber  die  oberste,  letzte  Voraussetzutig  alles  Wissens,  die 
Glaubensfunktion  ist  die  zentrale,  keiner  Vermittelung  überhaupt  fähige 
Lebensform  des  „Menschengeistes".  Es  ist  eine  Geistesfunktion  rein  for- 
malen Charakters.  (Das  hätten  nur  die  Psychologen  und  David  Hnme 
eingesehen.)  Glauben  und  Wissen  sind  nicht  durch  die  starre  Kantische 
Grenzlinie  zu  trennen.  Denn  stets  bedarf  das  Wissen  letzter  Prämissen, 
auf  welche  es  sich  stützen  kann.  Prämissen,  die  einfach  geglaubt  \yerden 
müssen  (vgl.  die  obersten  Axiome  der  Mathematik).  „In  dieser  Hinsicht 
sind  die  (freilich  anders  formulierten)  Ergebnisse  des  Rickertschen  Denkens 
durchaus  zutreffend."  Was  wir  voraussetzen,  dem  erkennen  wir  nun  aber 
implicite  Existenz  zu.  So  bezieht  sich  der  Glaube  unmittelbar  auf  das 
Sein.  Dass  etwas  da  ist,  kann  ich  nur  glauben.  Den  Inhalt  freilich 
liefert  die  Aussen-  und  Innenwelt.  So  ist  auch  im  Unsterblichkeitsglauben 
der  Glaube  auf  ein  Sein  gerichtet,  und  zwar  auf  das  Sein  meines  Ich. 
Aber  dieses  Sein  hat  einen  eigentümlichen  Charakter,  es  ist  dies  Mal  eine 
Funktion,  eine  Kraft,  ein  Fortwirkendes.  Es  ist  „eine  Dynamis,  kein  sta- 
tisches Sein".  So  empfinden  wir  es.  Das  ist  ja  auch  biologisch  begreif- 
lich. Das  Ich  ist  das  Gesetz  des  Menschen,  sein  formendes  Prinzip.  Und 
zum  Wesen  aller  Kraft  gehört  es,  ins  Grenzenlose  zu  wirken.  Der 
Glaubensinstinkt  sagt  darum:  Mein  Ich  ist  unsterblich.  „Es  ist  eine 
naturwissenschaftliche  Tatsache,  wenn  ich  fühle,  dass  ein  fortwirkendes 
Prinzip  mich  beherrscht."  Das  ist  der  innerste  Kern  des  Apriori  des  Un- 
sterblichkeitsglauben: das  SelbstbewTisstsein.  Kann  ich  dieses  nicht  auf- 
heben, so  kann  ich  auch  jenes  nicht  aufheben. 

Aber  worin  besteht  nun  das  beharrliche  Sein?  warum  fühlen  wir 
uns  trotz  aller  Wandlungen  mit  uns  selbst  identisch?  fragt  nun  K.  im 
4.  Kapitel:  Dauer  und  Ewigkeit.  Die  Antinomie  von  Sein  und  Werden 
ist  hier  schroffer  denn  je.  Aufzulösen  ist  sie  nur  dadurch,  dass  wir  er- 
kennen: Das  Bewusstsein  unseres  beharrenden  Seins  ist  ein  Unpersönliches; 
alles  Persönliche  gehört  dem  wechselvollen  Werden  der  Phänomene  an. 
Eine  unpersönliche,  zeitlos  beharrende  Entelechie  beherrscht  den  zeitlichen 
Wandel  persönlich  bewusster  Phänomene.  Diese  Grenzenlosigkeit  des 
überpersönlichen  Prinzips  gilt  zeitlich  und  räumlich.  Persönliche  Unsterb- 
lichkeit ist  eine  allzumenschliche  Fiktion  an  Stelle  der  erhabenen  Natur- 
wahrheit. Das  ist  ein  Faktum,  keine  Theorie.  Meine  Person  reicht  bis 
zum  Grund  der  Seele  nicht  hinab.  Über  dem  ephemeren  Ich  steht  das 
überpersönliche  Ich.  Und  das  ist  eine  Idee.  Natürlich  darf  dann  auch 
das  Bewusstsein  kein  notwendiges  Attribut  des  Lebens  sein.  Schlaf-  und 
Ohnmachtszustände  beweisen  dies.  (5.  Kapitel :  Das  Bewusstsein.)  Nietzsche 
allein  hat  diese  Ansicht  „konsequent  vertreten".  Bewusstsein  ist  bloss 
eines   der  Mittel,  um  Leben   zu   erzeugen.    Mit  dem  Bewusstsein  fällt  die 


346  Rezensionen  (Keyserling). 

Person.  Veränderte  sich  im  Tiefschlaf  meine  Individualität,  würde  aus 
dem  Menschen  ein  Tier,  so  könnte  ich  es  nicht  spüren,  und  doch  hätte 
die  Ichfunktion  ständig  fortgewirkt.  Nur  auf  den  unpersönlich-ideellen 
Charakter  des  Ich  bezieht  sich  der  Selbsterhaltungstrieb. 

Das  in  der  Sukzession  erwiesene  Verhältnis,  dass  das  tiefste  Selbst- 
bewusstsein  einem  Unpersönlichen,  Überpersönlichen  gilt,  lässt  sicli  auch 
in  der  Sphäre  des  Gleichzeitigen  nachweisen,  (6.  Kapitel:  Mensch  und 
Menschheit)  —  im  Sittlichen.  Wer  Pflichten  anerkennt,  kann  nicht  ex- 
tremer Individualist  sein.  Er  unterwirft  seine  Person  einem  Höheren, 
dem  Sollen.  Das  verdanken  wir  Kant,  dass  er  hinwies  auf  ein  elemen- 
tares unzurückführbares  Bewusstseinsphänomen,  das  wir  „Menschen  mit 
Sollen"  bezeichnen.  Der  überindividuelle  Zusammenhang  ist  die  tiefste 
und  letzte  Voraussetzung  des  ethischen  Selbstbewusstseins.  „Wir  sind  im 
tiefsten  Grund  mit  unserer  Person  nicht  identisch." 

Wenn  das  Individuum  die  letzte  Tatsache  vor  der  Natur  be- 
deutete, dann  Hesse  sich  auf  keine  natürliche  Weise  verstehen,  wieso  der 
Mensch  ursprünglich  von  überindividuellen  Zusammenhängen  in  seinem 
Wollen  und  Werten  ausgehen  kann;  man  müsste  zu  einer  andern,  ausser- 
oder  übernatürlichen  Sphäre  seine  Zuflucht  nehmen.  Und  die  Voraus- 
setzung eines  Weltjenseits  der  Wirklichkeit  ist  im  Ernste  nicht  zu  halten. 
Postulieren  wir  aber  einen  natürlichen  Zusammenhang  oberhalb  des  Indi- 
viduums, dann  lassen  sich  alle  Tatsachen  restlos  und  einheitlich  begreifen. 
Ein  sinnfälliges  Phänomen  ist  dies  nun  freilich  nicht.  Es  muss  eine  weitere 
Kategorie  des  Wirklichen  geben.  Unsere  Ideen  und  Allgemeinbegriffe, 
wie  Menschheit,  Art,  Gesamtheit  entsprechen  Realitäten  vor  der  Natur, 
sind  nicht  nur  Abstraktionen.  Gegen  „allzu  feurige  Kantianer"  wagt  K. 
das  zu  beweisen.  Unsere  Erfahrung  geht  tatsächlich  nicht  vom  Einzelnen 
aus  und  abstrahiert  daraus  das  Allgemeine,  sondern  das  Allgemeine  wirkt 
schon  als  solches  unmittelbar.  Gerade  an  der  „Einheit  des  Lebens"  lässt 
sich  das  beweisen.  Der  Zusammenhang  der  Organismen  im  R,aume  ist 
gewiss  nichts  Materielles,  er  lässt  sich  schlechterdings  nicht  greifen,  aber 
er  ist  da.  Die  letzten  Realitäten  sind  wohl  ideale  Einheiten.  Aber  der 
objektive  Zusammenhang  des  Lebens  ist  doch  Tatbestand.  Das  Überindi- 
viduelle, das  den  Grund  der  Individualität  bildet,  ist  auch  ein  solcher 
objektiver  Tatbestand,  bald  eine  unpersönliche  Sache,  bald  Familie,  bald 
Volkseinheit.  Im  höchsten  Falle  Menschheit,  im  allerhöchsten  der  Zu- 
sammenhang des  Lebens.  Lebe  ich  andern,  bin  ich  mehr  als  ich ;  schaffe 
ich  ewige  Werte,  so  schaffe  ich  über  mich  hinaus;  zeuge  ich  Kinder,  so 
setze  ich  mein  Dasein  über  meine  Leiche  fort.  Das  Individuum  ist  eben 
nicht  das  Letzte. 

Im  7.  Kapitel:  „Individuum  und  Leben"  weist  der  Verf.  diesen  Tat- 
bestand nochmals  nach  in  einer  wetten  biologischen  und  zoologischen 
Untersuchung.  In  der  Natur  giebt  es  überhaupt  keine  Dauer  des  Indivi- 
duums, sondern  nur  eine  Dauer  des  Lebens.  Die  innersten  Instinkte  des 
Individuums  stimmen  mit  dem  objektiven  Weltgeschehen  überein.  Anstatt 
uns  an  den  Augenblick,  das  einzig  Reale,  zu  klammem,  suchen  wir  ihm 
zu  entrinnen.    Das  Leben,   das  ewige  Sein,   durchschreitet  die  Individuen. 

Um  nun  das  Ineinander  von  Idee  und  Wirklichkeit  noch  zum 
Schlüsse  zu  erklären,  schliesst  K.  sein  Werk  mit  dem  8.  Kapitel :  „Die 
Ideenwelt".  Der  Verf.  stellt  sich  hier  auf  Kantischen  Boden.  Die  Ideen, 
die  Denkprinzipien  sind  Grundsätze  der  Erfahrung,  keine  metaphysischen 
Entitäten,  aber  auch  keine  subjektiven  Geistesprodukte ;  zwischen  Denken 
und  Sein  statuierte  Kant  einen  notwendigen  Zusammenhang.  Aber  nun 
fragt  K.:  Besteht  dieser  Zusammenhang  bloss  vom  Menschen  her  oder 
gehört  dieser  vielmehr  in  den  Zusammenhang  hinein?  Und  gegen  Kant 
bejaht  er  das  Zweite.  Auch  das  Denken  unterliegt  der  Naturgesetzlich- 
keit. Darum  muss  eine  reale  Synthese  ein  überindividueller,  kosmischer 
Zusammenhang  oberhalb  des  denkenden  Subjekts  angenommen  und  aner- 
kannt werden.    Es  giebt  Wahrheiten,   die  gelten,  ohne  dass  sie  Einer  an- 


Rezensionen  (Keyserling).  347 

erkennt.  Die  Denkprinzipien  sind  nicht  nur  Bedingungen  der  Erfahrung, 
sondern  Ausdruck  einer  Naturnotwendigkeit.  Es  ist  möglich,  die  Gesetzes- 
einheit der  Natur  nachzuweisen,  zu  zeigen,  wie  das  Denken  selbst  in  das 
Gefiige  der  Welt  gehört.  Der  Mensch  schreibt  der  Natur  nicht  willkür- 
lich Gesetze  vor,  sondern  es  gehört  zur  natürlichen  Beschaffenheit  des 
Menschen,  die  wirkliche  Welt  nur  im  Rahmen  von  Ideen  zu  begreifen, 
gerade  wie  das  Auge  nicht  umhin  kann,  gewisse  Ätherschwingungen  als 
Farben  zu  empfinden.  Und  ebendarum  reiht  sich  die  Natur,  wie  sie  ob- 
jektiv ist,    notwendig    in  jene  Schemen  ein,  sobald  über  sie  gedacht  wird. 

Es  giebt  also  wohl  nicht  „wirklich"  Ideen,  Arten ,  ein  überin- 
dividuelles Ich,  denn  sie  alle  sind  nichts  als  Gedankendinge.  Wirklich 
existieren  kann  bloss  die  jeweilige  konkrete  Gegenwart.  Aber  wenn  es 
zu  verstehen  gilt,  dann  müssen  wir  das  Wirkliche  in  die  Rahmen  ein- 
spannen, an  welche  das  Verständnis,  seinem  Wesen  nach,  geknüpft  ist. 
Die  Ideen  spiegeln  den  letzten  Grund  der  Wirklichkeit,  soweit  wir  ihn 
zu  fassen  fähig  sind;  hinter  sie  können  wir  nicht  blicken.  Wichtig  ist 
nun  aber,  dass  diese  abstrakte  Wahrheit  sich  dem  Gehalte  nach 
mit  dem  religösen  Ergebnis  deckt.  Jede  Religion  erhebt  einen 
Zusammenhang,  der  empirisch  nicht  nachzuweisen  ist,  zur  Realität.  Die 
Mystik  präzisiert  ihn  am  Besten:  In  der  Seele  des  Eiilzelnen  ruht  die 
Ganze  Synthese,  seine  Seele  umschliesst  das  Universum.  Der  Mensch  ist 
mehr  als  er  scheint.  Sein  eigen  Wesen  ist  ein  Strahl  der  Gottheit,  eine 
ewige  Kraft,  die  Individualität  ist  nicht  das  Letzte,  das  Tiefste  —  darum 
sind  überindividuelle  Synthesen  die  höchte  Wirklichkeit.  Ich  bin  unsterb- 
lich, ewig  —  doch  nicht  als  Person,  die  nachweislich  vergeht,  sondern  als 
göttliche  Kraft,  weil  mein  Selbst  ein  Überindividuelles  ist,  mit  dem  Welt- 
all identisch.  Ich  bin  unzerstörbar  als  überpersönliche,  attributlose  Ente- 
lechie.  Ich  und  Weltall  sind  Eins:  Eins  im  Wesen  sagt  der  Mystiker; 
Eins  nach  dem  Gesetze  der  Philosoph,  Religion  und  begriffliche  Erkennt- 
nis unterscheiden  sich  darum  dem  Gehalte  nach  nicht  spezifisch,  sondern 
nur  der  Richtung  nach.  Jene  antizipiert  in  der  Voraussetzung  alle  nur 
möglichen  Konsequenzen,  diese  steigt  von  den  Folgerungen  rückläufig  zu 
den  Prämissen.  Religion  und  Philosophie ,  Religion  und  Mathematik, 
reügiöses  Gefühl  und  Natur  sind  darum  wohl  im  innersten  Wesen  nicht 
durch  eine  unüberbrückbare  Kluft  geschieden.  Vor  dem  Letzten,  zu  dem 
sie  gelangen,  vor  dem  ewigen  Leben,  bleiben  sie  schliesslich  alle  stehen, 
in  der  Ehrfurcht  vor  dem  Geheimnisse". 

Die  Inhaltsangabe  weist  wohl  nach,  dass  hier  ein  geistvoller  und 
gelehrter  Denker  ehrlich  ringt  mit  dem  Probleme.  Gewiss  ist  gegen  die 
Ausführung  oft  einzuwenden,  dass  sie  zu  breit  ist,  mir  scheinen  der  Ab- 
schweifungen für  ein  philosophisches  Werk  zu  viele  zu  sein,  so  unterhalt- 
sam sie  oft  sind.  Der  Stil  Chamberleins  ist  nicht  das  Ideal  des  philosophi- 
schen Stils.  Auch  die  Wiederholungen  wirken  ermüdend.  Man  hält 
manchmal  den  Faden  mit  Mühe  in  der  Hand.  Viele  Bemerkungen  können 
trotz  ihrer  geistreichen  Form  dem  Vorwurf  nicht  ausweichen,  dass  sie 
übertrieben  und  einseitig  sind.  Und  andre  sind  so  oft  schon  niederge- 
schrieben worden,  dass  wir  sie  nicht  noch  einmal  in  jedem  Buche  lesen 
wollen.  Der  Rezensent  mochte  das  nicht  verschweigen,  weil  er  aus  andern 
Gründen  lebhaft  wünschen  möchte,  dass  der  Verfasser  weiter  sich  aus- 
spricht über  sein  Ringen  mit  den  philosophischen  Problemen,  die  ernsthaft 
philosophische  Darstellung  leidet  aber  sehr  unter  dem  Geranke  und 
Beiwerk. 

Bei  der  Lösung  des  eigentlichen  Problems  nun  ist  Keyserling  von 
vornherein  ehrlich  und  feinsinnig  genug,  um  zu  gestehen,  dass  er  dies 
ewige  Problem  nicht  aus  der  Welt  schaffen,  dies  Welträtsel  lösen  wolle. 
Nur  Richtungen  will  er  weisen,  ein  „anhebender"  Mensch  sein.  .,Ich  habe 
versucht,  möglichst  viele  und  hochragende  Gesichtspunkte  aufzuzeigen, 
möglichst  wenige  Grenzen  zu  stecken.  Vielleicht  weisen  einige  ins  Un- 
endliche hinaus?" 


348  Rezensionen  (Keyserling). 

Das  darf  man  als  Erstes  dem  Verfasser  wohl  zugestehen,  dass  er 
das  getan  hat.  Das  Buch  ist  reich  an  tiefsinnigen  Gedanken,  an  guten 
Wegweisungen  und  ist  arm  an  dogmatischen  Begrenzungen.  Der  Verf. 
hat  die  tiefsten  Gedanken  der  Kantischen  Philosophie  in  sich  aufgenommen 
und  verarbeitet  imd  das  besonders  in  der  Anwendung  der  erkenntnis- 
kritischen Methode.  Wieweit  das  gilt,  geht  aus  der  Inhaltsangabe  von 
selbst  hervor. 

Ein  zweites  geht  aber  wohl  ebenso  klar  aus  ihr  hervor,  dass  K. 
manchmal  mit  einer  gewissen  Naivität  glaubt,  energische  Schritte  über 
Kant  hinausgegangen  zu  sein ,  tiefer  als  Kant  gedrungen  zu  sein  in 
Problemaufstellungen  und  Problembeantwortungen,  wo  der  Kantianer  und 
Schüler  der  grossen  „Kantjünger"  unsrer  Tage  nichts  Neues  und  Tieferes 
erfuhr  von  K.,  als  er  schon  in  seinem  Kant  gelesen  oder  über  seinem  Kant 
gedacht  hatte. 

Und  schliesslich  geht  wohl  als  ein  drittes  aus  der  Inhaltsangabe 
hervor,  dass  der  Verf.  unbemerkt  fast  und  man  meint  manchmal  wider 
seinen  Willen,  wider  sein  besseres  an  Kant  geschultes  Gewissen,  eine 
Metaphysik  einführt,  in  der  er  allerdings  den  Boden  des  Kantischen 
Apriorismus  verlassen  hat.  Ist  es  keine  metaphysische  Annahme,  das 
überindividuelle  Selbst,  das  überpersönliche  Ich  in  seiner  Kosmischen 
Realität  gleichsam  hinter  und  über  das  Persönliche  zu  stellen,  als  das 
wahre  Sein,  das  durch  das  Werden  schreitet?  Ist  es  weiter  keine  meta- 
physische Annahme,  in  der  religiös-sittlichen  Frage  der  Unsterblichkeit 
die  n  a  t  u  r  gemässe  Basis,  und  auch  den  n  a  t  u  r  geuiässen  Kern  finden  zu 
wollen  und  darum  die  notwendige  Beziehung  des  religiösen  Gefühls  zum 
objektiven  Sein  der  Natur  und  umgekehrt  schlagend  beweisen  zu  wollen? 
Und  über  der  Metaphysik  ist  das  Wesen  der  Persönlichkeit,  des  Bewusst- 
seins,  des  Konkreten  einfach  verkannt  und  durch  lauter  Abstraktionen 
glücklich  weggewischt. 

Es  liegt  im  Unsterblichkeitsglauben  verborgen  ein  Apriori.  Das  ist 
aber  nie  eine  kosmische  Realität,  es  ist  keine  n  a  t  u  r  gemässe  Basis  und 
kein  n  a  t  u  r  gemässer  Kern,  sondern  dies  Apriori,  das  „der  empirischen 
Innenwelt  zu  Grunde  liegt,  ist  im  tiefsten  Grund  ein  metakosmisches", 
wie  Liebmanns  treffende  Bezeichnung  für  Kants  Apriori  lautet.  Um  dieser 
Metakosmik  zu  entgehen,  scheint  mir  nun  der  Verf.  als  Naturforscher  beim 
Kosmos  bleiben  zu  wollen,  aber  er  stellt  dafür  einen  metaphysischen  Satz 
auf,  der  mehr  erfahrungstransscendent  ist  als  alles  Kantische  Apriori.  Das 
transscendentale  „Ich",  das  als  Bewusstseinssubjekt  über  dem  Flusse  der 
Zeit,  über  dem  Werden  steht,  wird  zum  transscendenten  Ich,  dem  freilich 
nun  eine  kosmisclie  Realität  zugeschrieben  wird.  Der  Verfasser  nimmt  oft 
eine  so  berückend  nahe  Stellung  zu  Kant  ein,  dass  man  versucht  ist,  den 
reinen  Apriorismus  in  seinem  Werke  zu  entdecken,  nach  dem  doch  auch 
Jenes  Ich  unentbehrliche:  Voraussetzung  des  Weltdaseins  ist,  „an  dem 
der  empirisclie  Mensch  bei  seinem  Welterkennen  gleichsam  teilnimmt". 
Aber  der  Versuch  wird  zu  energisch  gemacht,  dies  Ich  zu  einem  Absoluten 
zu  machen  imd  es  zusammenzuwerfen  mit  jenem  geheimnisvollen  Träger 
des  Selbstbewusstseins,  jenem  „intelligiblen  Charakter"  Kants,  über  das 
Kant  freilich  auch  wieder  nicht  wagte  zu  reflektieren.  Er  wusste,  dass 
dies  überpersönliche  Ich  aus  seiner  Tiefe  nicht  herauszuzerren,  und  in 
seiner  kosmischen  Realität  aufzuzeigen  sei. 

Wir  wollen  freilich  nicht  eine  metaphysikfreie  Philosophie,  das 
metaphysische  Bedürfnis  ist  ein  unabweisbares  im  Menschen.  Und  gerade 
K.  ringt  aus  diesem  heraus  mit  den  gewaltigsten  Problemen:  Sein  und 
Werden,  mit  dem  Ich,  mit  Erscheinung  und  Idee.  Darin  spürt  man  deut- 
lich die  Einflüsse  auch  der  modernen  Naturphilosophie.  Nur  muss  die 
Metaphysik  sich  hüten,  da  und  dort  aus  einer  kritischen  eine  dogmatische 
zu  werden. 

Doch  mag  hier  manche  Undeutlichkeit  oder  Unsicherheit  im  Aus- 
druck diesen  Eindruck  mit  hervorgerufen  haben.    Jedenfalls  haben  wir  in 


Rezensionen  (Moeller  van  den  Brück).  349 

diesem  Werke   ein    ernstes  Ringen   um   die   tiefsten  Probleme,   an   denen 
immer  wieder  die  Arbeit  einsetzen  wird. 

Eines  bleibt  gewiss  Es  handelt  sich,  so  lange  wir  einer  dogmati- 
schen Metaphysik  aus  dem  Wege  gehen,  bei  allem  Unsterblichkeitsglauben 
in  kritischem  Betracht  um  ein  unvermeidlich  Apriori,  dass  das  geistige 
und  sittliclie  Leben  das  leibliche  Leben  überragt;  das  ist  das  normative 
Werturteil,  das  mehr  ist  als  ein  blosser  Unsterblichkeitsinstinkt.  So  löst 
sich  vom  Seelengrunde  alles  Mensclienlebens  ein  Ewigkeitswille,  ein 
Ewigkeitsgedanke  los.  Weil  Unvergängliches  in  uns  liegt,  darum  wollen 
und  glauben  wir  die  Unvergänglichkeit.  Allein  solcher  aus  einem  sittlich- 
religiösen  Werturteil  als  Apriori  geborener  Unsterblichkeitsglaube  ist  ver- 
einbar mit  der  religiösen  Autonomie.  Über  persönliche  und  bewusste  Un- 
vergänglichkeit kann  eine  wissenschaftliche  oder  dogmatische  Metaphysik 
nichts  aussagen,  nicht  Ja,  nicht  Nein!  Darum  fällt  auch  m.  E.  der  Ein- 
wurf gegen  Rickert  in  sich  zusammen.  Im  Unsterblichkeitsglauben  steckt 
eben  doch  im  Tiefsten  ein  Urteil  auf  der  einen  Seite,  ein  Sollen  auf  der 
andern  Seite.  Dieses  Sollen  allein  ist  Gegenstand  der  Erkenntnis,  und 
kein  Sein.  Darum  ist  auch  der  Übereifer  gegen  den  persönlichen  Uusterb- 
lichkeitsglauben  nicht  am  Platze.  Es  handelt  sich  eben  darin  um  die 
Persönlichkeit,  um  „den  intelligiblen  Charakter",  nicht  um  die  Person.  Und 
diese  höchst  wichtige,  Kantische  Unterscheidung  sehe  ich  nirgends  mit 
Ernst  angefasst.     Nur  einmal  vorübergehend  S.  2.S6  u.  292. 

Zum  Schlüsse  muss  aber  dem  energischen  Ringen  um  die  Grenz- 
bestimmung von  Glauben  und  Wissen  und  um  das  religiöse  Apriori 
besonders  Anerkennung  zugewiesen  werden.  Wir  stehen  hier  eben  immer 
noch  nicht  am  Ende  des  Sinnens  über  diese  wichtigsten  religionsphilosoplii- 
schen  Probleme.  Wer  hier  mitarbeitet,  fördert  alle  Religionsphilosophie, 
auch  die  Kantische. 

Laufen  (Baden).  Hermann  Maas. 

Moeller  van  den  Brück.  Die  Deutschen.  Vierter  Band:  Ent- 
scheidende Deutsche.  Vom  Kritischen.  —  Friedrich  der  Grosse.  —  Winkel- 
mann. —  Lessing.  —  Herder.  —  Kant.  —  Fichte.  —  Moltke.  J.  C.  C.  Bruns 
Verlag.     Minden  i.  W.     (262  S.) 

Moellers  Gesamtwerk  soll  für  unsere  deutsche  Jugend,  der  er  es 
widmet,  wohl  eine  Art  deutsches  Heldenbuch  sein.  Gut,  dass  Kant  und 
Fichte  auch  unter  diese  Helden  aufgenommen  sind.  Schade  nur,  dass  es 
so  kurz  geschieht.  Es  müsste  am  Ende  doch  noch  eindringlicher  unserer 
von  monistischen  Phrasen  erfüllten  Jugend  gesagt  werden,  dass  „einem 
neuen  Idealismus  erst,  der  von  Deutschland  ausging,  die  Welt  gehörte" 
und  nicht  dem  Utilitarismus  oder  Skeptizismus,  und  dass  dieser  Idealismus 
immer  wieder  durchbrechen  muss,  „wo  ein  Deutscher  nur  deutsch  denken 
will".  Hier  sei  nur  darauf  hingewiesen,  dass  es  dem  Verf.  gelingt,  einen 
Eindruck  wenigstens  vom  bleibenden  Werte  der  Kantischen  Lehre  der 
Jugend  zu  geben,  dass  sie  die  Wege  zu  ihr  suchen  lerne.  Treffend  stellt 
er  die  Erkenntnistheorie  in  den  Vordergrund  und  bezeichnet  diese  Kan- 
tische Gesetzgebung  als  grund-  und  grosszügig  und  preist  ihren  Schöpfer 
als  den,  der  uns  unser  Köstliches,  unseren  Menschengeist  wieder  zurück- 
gegeben hat  und  uns  selbst  mit  ihm,  als  seine  Herren  von  Neuem  fest 
auf  unsere  Erde  stelle.  Stark  ist  der  Eindruck,  den  der  Verf.  vom  Ethiker 
Kant  geben  will,  in  dem  er  geradeso  einen  Wendepunkt  sieht,  wie  in 
dem  Erkenntniskritiker.  Die  scharfe  Form  des  kategorischen  Imperativ 
war  das  Grosse  und  Entscheidende:  „Die  Deutschen  bedurften  dieses  ge- 
waltigen Stosses."  Auch  hier  wird  auf  die  lebendigere  Auffassung  hin- 
gewiesen, die  der  Grundforderung  Kants  noch  unterlegt  werden  wird  in 
der  Zukunft.  Aber  er  sielit  doch  in  dem  „neuen  gewaltigen  Dogma:  das 
moralische  Gesetz  ist  der  alleinige  Bestimmungsgrund  des  reinen  Willens", 
ein  ,,Dogma  so  reich  und  weit",  wie  die  Natur  ist  und  wie  es  Menschen 
giebt.  „Wenn  Kant  nach  Jenen  sah,  dann  weiteten  sich  ihm  die  vier 
Wände,   in   denen   er   lebte,   zur  Welt."    Erfreulich  ist  der  Nachweis  der 


350  Rezensionen  (Moeller  van  den  Brück). 

Verbindungsfäden,  die  von  Kant  zu  Luther  und  auch  zur  echten  deutschen 
Mystik  führen.  Luthers  Lehre  von  der  Freiheit  eines  Christenmenschen  ist 
doch  keine  andere,  als  die  spätere  Kants  vom  „moralischen  Gesetz 
in  mir." 

Schliesslich  weist  er  auch  auf  die  Stelle  hin,  wo  das  „über  Kant 
hinaus"  liegt,  wenn  er  mit  den  Mitteln  des  Kritizismus  das  Wesen  der 
Welt  und  die  Bestimmung  des  Menschen  ergründet  wissen  will,  damit 
wir  eine  kritische  Weltanschauung  besitzen.  Er  will,  dass  dies  Werk 
nicht  ohne  Kant  geschähe  und  sieht  in  Kants  kritischer  Teleologie,  die  er 
Kants  „fruchtbarste  Tat"  nennt,  die  wichtigste  Vorarbeit  dazu.  Die 
Grenzen  Kants  sind  richtig  gezeigt,  namentlich  auch  die  seiner  Religions- 
philosophie und  Ästhetik,  ebenso  aber  auch  die  bleibende  Bedeutung  des 
Richters  über  „Wahr  und  Falsch"  auf  allen  diesen  Gebieten. 

Nicht  ganz  klar  wird  des  Verfassers  Begriff  „Natur",  der  bei  ihm 
eine  durchaus  metaphysische  Grösse  ist  und  besonders  an  Einer  Stelle  als 
Weltnotwendigkeit  bezeichnet  wird,  deren  Eine  Form  und  zwar  die  höchste, 
gesteigertste  und  bewussteste  die  Freiheit  im  Willen  ist.  Hier  ist  der 
philosophierenden  Jugend  ein  klarer,  deutlicherer  Begriff  von  Notwendig- 
keit und  Gesetz,  wie  Windelband  und  seine  Schüler  ihn  in  so  mancher 
eingehenden  Untersuchung  uns  geboten  haben,  gewiss  viel  heilsamer  und 
fördernder. 

Zum  Schluss  noch  Eine  Frage:  Sollte  wirklich  die  Persönlichkeit 
Kants  so  wenig  für  unsere  Jugend  bedeuten?  Ist  sie  denn  wirklich  „ohne 
jede  grosse  Begeisterung",  die  den  ganzen  Menschen  getragen  hätte?  Ich 
meine,  es  ist  genug  und  übergenug  vom  Pedanten  Kant  geredet  worden. 
Es  ist  Zeit,  dass  was  die  grossen  Kantforscher  für  sich  und  ihr  Leben 
schon  an  edelstem  Gehalt  auch  aus  Kants  Persönlichkeit  geschöpft  haben, 
auch  dem  weiten  deutschen  Volke  bekannt  werde.  Im  tiefsten  Innern 
Kant  verstehen,  heisst,  in  ihm  trotz  Allem  eine  gewaltige,  hinreissende, 
begeisterte  und  begeisternde  Persönlichkeit  finden.  Hinreissend  ist  jede 
Persönlichkeit,  die  ihr  Leben  opfert  für  ihre  Idee ;  und  den  Enthusiasmus, 
ohne  den  nach  Kants  Ausspruch  in  der  Welt  nichts  Grosses  geschehen  kann, 
hat  er  selber  besessen.  Es  ist  freilich  ein  moralischer  und  kein  phan- 
tastischer Enthusiasmus,  aber  ein  Enthusiasmus,  der  zu  jedem  grossen 
Aufschwung  fähig  ist  und  jeden  grossen  Aufschwung  freudig  begrüsst. 
Darum  mag  Moeller  in  einer  zweiten  Auflage  seines  Buches  die  Stellen 
streichen,  in  denen  er  Kant  von  Anfang  an  „greisenhaft"  sein  lässt  und 
sein  Leben  „leidlos,  untragisch,  unprometheisch"  nennt.  Das  heisst  deutsche 
Jugend  von  Kant  abschrecken,  statt  zu  ihm  hinführen,  was  doch  der  Ver- 
fasser möchte. 

Und  der  Verfasser  kann  das,  denn  er  hat  Sinn  für  das  Grosse  der 
Persönlichkeit.  Das  zeigen  sehr  schön  die  andern  Kapitel  des  vorliegenden 
Buches,  das  wir  einer  klugen,  selbständigen  Jugend  empfehlen,  dass  sie 
begeistert  zu  unseren  deutschen  Geisteshelden  wandern  und  an  der  Talmi- 
grössentüre  vorübergehe. 

Laufen  (Baden).  Hermann  Maas. 

Moeller  van  den  Brück.  Die  Deutschen.  Unsere  Menschen- 
geschichte. Sechster  Band :  Goethe.  J.  C.  C.  Bruns  Verlag,  Minden  i.  W. 
(200  S.) 

Der  Verfasser  ist  ein  sehr  feiner  Goethekenner,  der  in  manchen 
Teilen  seines  Werkes  dem  allein  richtigen  Grundsatze  folgt,  Goethes 
Leben  und  Schaffen  als  Äusserung  des  Genies  zu  fassen,  das  einem  ge- 
waltigen „Sollen"  folgt.  In  Goethes  Leben  hat  doch  schliesslich  Kants 
Begriff  des  Genialem,  wenn  auch  nicht  seinen  korrektesten,  so  doch  seinen 
lebendigsten  Ausdruck  empfangen.  Dieses  günstige  Urteil  über  des  Verf. 
Arbeitsweise  verschiebt  sich  nur  etwas  durch  das  Kapitel:  „Der  Ver- 
schwärmte", in  dem  die  italienische  Reise  und  Goethes  Erleben  und 
Schaffen  daselbst  wohl  die  schärfste  Aburteilung  erfährt,  nicht  aber  die 
gerechteste,   die   bei   aller   kritischen  Zurückhaltung   so  fein  und  treffend 


Rezensionen  (Arndt).  351 

Bielschowsky  uns  geschenkt  hat:  Sehr  viel  schaden  kann  ja  aller- 
dings diese  Kritik  der  deutschen  Jugend,  der  das  Buch  gewidmet  ist, 
nicht,  wenn  sie  von  anderer  Seite  her  tiefer  die  positiven  Kräfte  der 
Renaissance  gewiesen  bekommt,  die  auch  der  Verf.  wohl  kennt  und  auf 
die  er  hindeutet,  und  wenn  sie  die  im  vorliegenden  Buche  zu  sehr  unter- 
schätzte Iphigenie  und  Tasso  ohne  des  Verf.  Vorurteile  liest.  An  den 
wesentlichsten  Punkten  von  Goethes  Entwickelung  weist  Moeller  auf 
Kant  hin.  Er  sieht  in  Goethe  als  Erkennendem  den  vollendeten  Gegen- 
pol von  Kant,  besonders  was  seine  persönliche  innere  Fülle  und  Lebens- 
mächtigkeit anlangt.  „Dem  Erkenntniskritiker  musste  der  Naturforscher 
an  die  Seite  treten,  damit  Deutschland  nicht  einseitig  Kantianisch  werde, 
d.  h.  Deutschlands  Denken  sich  nicht  einseitig  in  Kritik,  Erkenntniskritik 
auflöse."  Sehr  ruhig  sieht  Moeller  Goethes  Gegensatz  zu  Kant  in  seiner 
Art,  seine  Erkenntnisse  und  Ergebnisse  intuitiv  herauszusagen.  „Goethes 
Denken  kam  aus  jenem  anderen  Stamme  menschlicher  Erkenntnis,  den 
Kant  selbst  schon  angegeben  hatte,  als  er  sagte :  „„Es  giebt  zwei  Stämme 
der  menschlichen  Erkenntnis,  die  vielleicht  aus  einer  gemeinschaftlichen, 
aber  uns  unbekannten  Wurzel  entspringen,  nämlich  Sinnlichkeit  und  Ver- 
stand."" Ja  er  glaubt,  dass  Kant  in  Goethe  einen  Menschen  erkannt 
hätte,  der  aus  der  Urwurzel  heraus  erkannte,  wenn  er  aus  der  Sinnlichkeit 
herauserkannte,  und  dass  Urwurzel  und  Sinnlichkeit  hier  in  einem  Genie, 
das  dem  Weltwesen  näher  stand,  als  andere  Menschen  sonst,  tatsäclilich 
gleich  waren.  Ob  Kant  wirklich  so  weit  in  seiner  Mystik  gegangen  wäre ! 
Ich  möchte  es  stark  bezweifeln.  Wir  wollen  den  Gegensatz  des  sinnen- 
frohen Dichters  gegen  den  unerbittlichen,  kritischen  Philosophen  des 
Apriori  ruhig  hinnehmen.  Wir  brauchen  sie  beide.  Und  für  die  Leser 
des  Buches  freuen  wir  uns,  dass  Kant  in  der  Gegenüberstellung  nicht  zu 
kurz  kommt,  wie  das  in  ungezählten  Goetheschriften  zu  geschehen  pflegt. 
Denn  ebenso  ausführlich  wird  Goethes  Verhältnis  zur  Kritik  der  Urteils- 
kraft dargelegt,  das  nun  freilich  ein  viel  mehr  zustimmendes  als  gegen- 
sätzliches zu  nennen  ist.  Gerade  die  grosse  Schätzung  des  teleologischen 
Teiles  des  Buches  durch  Goethe  ist  so  auffallend  und  erfreulich  und  eine 
Tat,  die  für  uns  heute  noch  wertvoll  ist.  Denn  das  „grenzenlose  Verdienst" 
Kants,  der  Natur  wieder  das  Recht  zugestanden  zu  haben,  „aus  grossen 
Prinzipien  zu  handeln",  ist  wohl  auch  heute  noch  nicht  genügend  erkannt. 
Schliesslich  weist  Moeller  auf  den  Kantgeist  in  Goethes  Wilhelm  Meister 
und  nicht  zuletzt  im  Faust  mit  treffenden  Worten  hin. 

Darum  wünschen  wir  dem  Buche  viel  ernste  Leser.  Freilich  wird 
der  deutschen  Jugend  ein  tüchtiges  Quantum  Denkenergie  zugemutet. 
Doch  das  schadet  nichts.  Wir  wünschen  auch,  dass  für  Viele  Moellers 
Buch  eine  Brücke  zu  Goethe  selber  werde,  wie  es  ja  in  noch  höherem 
Masse  der  herrliche  Bielschowsky  schon  geworden  ist. 

Laufen  (Baden).  Hermann  Maas. 

Arndt,  E.  Das  Verhältnis  der  Verstandeserkenntnis 
zur  sinnlichen  in  der  vorsokratischen  Philosophie.  Ab- 
handlungen zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte,  herausgeg.  von  Benno 
Erdmann,  31.  Heft.     Halle,  Niemeyer,  1908. 

Das  gesteigerte  Interesse  für  die  vorsokratische  Philosophie  kommt 
neuerdings  in  erfreulicher  Weise  auch  der  Erkenntnistheorie  dieser  ältesten 
Philosophen  zu  gute.  Die  alte  Anschauung,  als  habe  es  vor  Sokrates  nur 
extreme  Dogmatiker  gegeben,  die  sich  über  die  Bedingungen  und  Schranken 
der  Erkenntnis  den  Kopf  nicht  weiter  zerbrochen  hätten,  wird  heute  wohl 
nirgends  mehr  festgehalten.  Ist  es  doch  kaum  zuviel  behauptet,  wenn 
man  ihre  erkenntnistheoretischen  und  logischen  Errungenschaften  für  min- 
destens ebenso  bedeutungsvoll  für  die  Entwicklung  des  philosophischen 
Denkens  erklärt,  als  ihre  naturphilosophischen  Einsichten.  Überall  knüpft 
ja  die  Erörterung  dieser  Probleme  in  den  sokratischen  Schulen  an  die 
Leistungen  zumals  Heraküts  und  der  Eleaten  an.  Dass  dies  früher  nicht 
genügend   anerkannt   wurde,   lag   nicht  zuletzt  an  unserer  Überlieferung: 


352  Rezensionen  (Arndt). 

unsere  Hauptquelle,  das  erste  Buch  von  Aristoteles'  Metaphysik,  berück- 
sichtigt ganz  einseitig  die  kosmologischeii  Prinzipien.  So  hat  auch  nach 
dieser  Seite  die  Sammlung  der  Vorsokratiker  von  Diels,  die  zum  ersten 
Male  das  gesamte  Material  bequem  zugänglich  machte,  eine  ungemein 
fruchtbare  Wirkung  ausgeübt. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  natürlich,  dass  zunächst  die  ein- 
gehende Bearbeitung  des  vorhandenen  Materials,  die  Frage  nach  den 
positiv  uns  überlieferten  Lehren  der  Philosophen  im  Vordergrunde  steht. 
Nach  dieser  Richtung  scheint  mir  die  Hauptbedeutung  und  das  Hauptver- 
dienst der  vorliegenden  Arbeit  zu  liegen.  Sie  selbst  will  vor  allem  Einzel- 
untersuchung geben  und  die  Einzelerklärung  der  Probleme  fördern.  So 
werden  die  Fragmente,  soweit  sie  sich  auf  das  im  Titel  angegebene 
Thema  beziehen,  von  Heraklit  bis  auf  Demokrit  besprochen  imd  die  sich 
daran  knüpfenden  Streitfragen  in  besonnener  Weise  erörtert.  Gewiss  ist 
gegen  eine  solche  Fassung  der  Aufgabe  im  allgemeinen  nichts  einzu- 
wenden und  sie  ist  in  jedem  Falle  weit  förderlicher  als  die  kühnen  Flüge 
ins  Reich  der  Phantasie,  die  wir  gerade  während  der  letzten  Jahre  bei 
der  Darstellung  der  vorsokratischen  Philosophie  gelegentlicli  erlebt  haben. 
Und  doch  trägt  auch  eine  solche  Betrachtungsweise,  die  um  sich  nur 
streng  an  das  Überlieferte  zu  halten,  den  Bück  nicht  von  dem  einzelnen 
Datum  der  Überlieferung  zum  allgemeinen  Zusammenhang  zu  erheben 
wagt,  ihre  Gefahren  in  sich.  Auch  für  die  Philosophiegeschichte  muss 
der  oberste  Grundsatz  aller  historischen  Kritik  gelten,  dass  die  einzelnen 
Steine  der  Überlieferung  sich  zu  einem  einheitlichen,  in  sich  verständ- 
lichen Bau  zusammenschliessen  müssen.  Ganz  besonders  in  der  Philo- 
sophie empfängt  jeder  Satz  erst  seinen  Sinn  aus  dem  geistigen  Zusammen- 
hang, innerhalb  dessen  er  konzipiert  ist.  So  erfordert  die  Einzelinterpre- 
tation geradezu  die  Berücksichtigung  des  ganzen  Systems  und  darüber 
hinaus  der  gesamten  Gedankenentwicklung  dieser  ältesten  Philosophie. 
Wo  sie  unterbleibt  oder  wie  hier  doch  mehr  als  billig  zurückgedrängt 
wird,  da  zerfällt  zunächst  die  Entwicklung  in  eine  Reihe  unverbunden 
neben  und  nach  einander  auftretender  Meinungen.  Und  das  ist  gerade 
bei  der  vorsokratischen  Philosophie  eine  sehr  bedeutende  Beeinträchtigung, 
weil  die  Einheit  dieser  Gedankenentwicklung  bei  der  völligen  Ver- 
schiedenheit ihrer  dogmatischen  Inhalte  gerade  in  den  erkenntnistheore- 
tischen Voraussetzungen  ruht.  Aber  auch  die  Interpretation  des  Einzelnen 
muss  notwendig  durch  eine  solche  Beschränkung  Schaden  leiden.  Dafür 
zwei  Beispiele. 

Bei  der  Besprechung  des  Parmenides  wird  ein  grosses  Gewicht 
darauf  gelegt,  dass  nach  unserer  Überlieferung,  worauf  übrigens  schon 
Diels  hingewiesen  hatte,  der  Eleate  nicht,  wie  meist  angenommen,  zwei, 
sondern  drei  Wege  der  Forschung  unterscheide :  neben  dem  wahren,  nach 
dem  das  Sein  ist  und  das  Nichts  nicht  ist,  ein  ganz  unmöglicher,  der  dem 
Nichtseienden  ein  Sein  zuschreibt,  und  ein  bedenklicher,  nach  dem  Sein 
und  Nichtsein  identisch  sind  (Fragment  4 — 7  Diels),  In  der  Tat  scheint 
die  Überlieferung  diese  Dreiteilung  an  die  Hand  zu  geben.  Aber  es  muss 
schon  stutzig  machen,  dass  für  die  zweite  Behauptung  gar  kein  Vertreter 
angeführt  werden  kann,  so  dass  Parmenides  seine  heftigsten  Schläge 
gegen  Windmühlen  zu  führen  scheint.  Halten  wir  aber  als  allgemein- 
giltige  Methode  den  Grundsatz  aufrecht,  dass  oberstes  Kriterium  für  den 
Text  nur  der  Sinn  sein  darf,  nicht  umgekehrt,  so  springt  ohne  weiteres 
in  die  Augen,  dass  inhaltlich  die  zweite  und  dritte  Behauptung  vollkommen 
das  nämliche  sagen.  Wer  dem  Nichtsein  Sein  zuschreibt,  der  behauptet 
eben  damit  ihre  Identität.  Diesen  selbstverständlichen  Gedanken  werden 
wir  uns  nicht  durch  eine  allzu  peinliche  Scheu  vor  der  Überlieferung  ver- 
gewaltigen lassen,  zumal  diese  hier  deutliche  Spuren  der  Verdorbenheit 
zeigt.  Wenn  in  den  zwei  ersten  Versen  von  Fragment  6  Parmenides 
seine  eigene  Ijehre  aufstellt  und  dann  fortfährt:  das  ist  der  erste  Weg, 
vor  dem  ich  dich  warne,   so  ist  da  offenbar  dazwischen  eine  Lücke  anzu 


Rezensionen  (Finckh).  353 

nehmen.  Das  scheinbare  philosophische  Problem  löst  sich  in  ein  rein 
philologisclies  auf.  Mag  das  letztere  nun  auch  nicht  auf  eine. glatte  Rech- 
nung zu  bringen  sein,  wir  sehen  doch  soviel,  dass  diese  Überlieferung 
allzu  ungenügend  ist,  als  dass  sie  uns  zwingen  könnte,  die  einfachsten 
Sätze  dieser  klaren  Dialektik  in  unverständliche  Widersprüche  zu  ver- 
wickeln. 

Noch  weniger  kann  ich  mich  mit  der  Behandlung  Demokrits  ein- 
verstanden erklären.  Im  Mittelpunkte  der  Erörterung  steht  hier  natürlich 
das  berülimte  Fragment,  das  die  Sinnesqualitäten  als  nur  vöf^M  vorhanden 
erklärt,  als  Wirklichkeit  nur  die  Atome  und  das  Leere  anerkennt.  Der 
Verf.  polemisiert  gegen  die  rationalistische  Deutung  Natorps.  Aber  wenn 
er  dabei  den  Nomos  als  die  gesetzmässige  Struktur  der  Sinnesorgane 
fassen  will,  so  ist  das  eine  völlige  Verkennung  der  Bedeutung,  welche 
dies  Wort  in  der  gesamten  Reflexion  jener  Zeit  besitzt.  Wo  da  der 
Nomos  irgend  einem  Begriff  wie  Natur,  Wirklichkeit  gegenübergestellt 
wird,  bedeutet  er  stets  das  subjektiv  Erschaffene  und  demnach  Willkür- 
liche im  Gegensatz  zum  objektiv  Gegebenen.  Dagegen  beweist  nichts, 
dass  in  den  Schriften  Galens  dies  Fragment  als  ein  Gespräch  zwischen 
den  Siunen  und  dem  Verstände  zitiert  wird  und  dabei  den  Sinnen  das 
letzte  Wort  bleibt  (Fragment  125  Diels).  Unser  Gewährsmann  zitiert  eben 
nur  soviel  als  ihm  in  seinen  Kram  passt ;  dadurch  wird  die  Glaubwürdig- 
keit der  bei  Sextus  überlieferten  Fassung  nicht  erschüttert.  Nur  so  wird 
der  Gegensatz  zwischen  der  unechten  und  echten  Erkenntnis  (Fragment  11) 
verständlich.  Ich  glaube  in  der  Tat,  dass  hier  Natorp  vollkommen  das 
Richtige  gesehen  hat.  Wiederum  schadet  dem  Verf.  seine  allzu  ängstliche 
Haltung  gegenüber  dem  positiv  Überlieferten.  Was  die  echte  Erkenntnis 
im  Gegensatz  zur  unechten  der  Sinne  sei,  wird  uns  in  der  Tat  ausdrück- 
lich in  den  gut  überlieferten  Stellen  nicht  gesagt.  Aber  sind  deshalb 
wirklich  ..Vermutungen  vielleicht  zu  gewagt"  ?  Welche  Erkenntnisart 
kann  denn  überhaupt  nur  der  sinnlichen  so  antithetisch  entgegengestellt 
werden  ?  Ist  nicht  fast  die  gesamte  griechische  Philosophie  beherrscht 
von  dem  Gegensatz  Wahrnehmung-Denken,  Sinne-Verstand  ?  Und  nun 
sollen  wir  den  Begriff  der  Verstandeserkenntnis  für  Demokrit  „gar  nicht 
in  Anspruch  nehmen?"  „Die  yvr^aii]  yvüi^r,,  die  man  so  gern  so  taufen 
möchte,  war  das  kaum".     Ja,  was  soll  sie  denn  sonst  gewesen  sein?! 

Diese  Einwände  sollen  übrigens  das  Verdienst  solcher  Untersuchungen 
nicht  herabsetzen,  sondern  nur  das  lebhafte  Interesse,  das  sie  für  sich 
fordeni  dürfen,  und  den  Wunsch,  etwas  zur  Förderung  der  Probleme  bei- 
zutragen, bekunden,  Sind  die  Wege  verschieden,  auf  denen  der  Einzelne 
die  Fragen  zu  lösen  versucht,  der  Sache  kann  eine  Betrachtung  unter 
verschiedenen  Aspekten  nur  förderlich  sein. 

Strassburg  i.  Eis.  M.  Wundt. 

Finckh,  Theodor,  Professor  an  der  Oberrealschule  in  Reutlingen. 
Lehrbuch  der  Philosophischen  Propädeutik.  Heidelberg 
1909.     80.     (132  S.). 

Der  Verfasser  hat  ein  Lehrbuch  der  philosophischen  Propädeutik 
vorgelegt,  das  für  alle  Gattungen  der  höheren  Schulen  bestimmt  ist.  Er 
vertritt  die  Meinung,  dass  philosophischer  Unterricht  unerlässlich  sei:  „die 
in  verschiedenen  Fächern  gewonnenen  Erkenntnisse  der  Schüler  müssen 
durch  ein  geistiges  Band  zusammengeschlossen  werden."  Diese  Ansicht 
darf  auf  allgemeine  Zustimmung  rechnen;  denn  das  Bedürfnis  nach  philo- 
sophischer Unterweisung  wird  auf  höheren  Schulen  von  Lehrern  und 
Schülern  lebhaft  empfunden.  Der  Verfasser  kennt  die  Bedürfnisse  des 
Unterrichts  und  er  hat  sich  mit  der  philosophischen  Literatur  der  Gegen- 
wart vertraut  gemacht.  Philosophische  Gegenstände  in  elementarer  Weise 
darzustellen,  ist  keineswegs  leicht,  vielleicht  ist  es  noch  schwerer,  als  die 
Philosophie  vor  Fortgeschrittenen  vorzutragen.  Mehr  als  auf  einzelwissen- 
schaftlichen Gebieten  muss  hier  der  Lehrer  oftmals  mit  dem  Stoff  geradezu 
ringen.    Ausführlich  hat  sich  hierüber  Rudolf  Lehmann  geäussert,  ein  Ge- 


354  Rezensionen  (Finckh). 

lehrter,  der  zugleich  auch  ein  ausgezeichneter  Kenner  des  höheren  Schul- 
wesens ist  (vgl.  Rud.  Lehmann,  Wege  und  Ziele  der  philosophischen  Pro- 
pädeutik, Berlin  1905.)  Auch  habe  ich  selbst  bei  der  Arbeit  für  mein  fast 
gleichzeitig  mit  Finckhs  Werk  erschienenes  Lehrbuch  mir  von  der  Schwierig- 
keit der  Aufgabe  ein  Urteil  bilden  können.  Ich  begrüsse  die  Mitarbeit 
des  süddeutschen  Kollegen  und  bringe  ihm  volle  Sympathie  entgegen. 

In  dem  „Handbuch  für  Lehrer  höherer  Schulen",  Leipzig  1905,  hat 
Ref.  in  dem  Abschnitt  über  philosophische  Propädeutik  S.  215—242  die 
Arten  des  philosophischen  Unterrichts  zu  klassifizieren  gesucht.  Es  sind 
drei  Grundformen  zu  unterscheiden:  1.  der  philosophisch  gerichtete  Fach- 
unterricht, der  bei  Gelegenheit  philosopiiische  Belehrungen  einschaltet. 
2.  Der  logisch-psychologische  Unterricht,  der  in  besonderen  Stunden  einen 
Abriss  der  Logik  und  Psychologie  bietet.  3.  Der  eigentliche  philosophische 
Unterricht,  der  in  besonderen  Stunden  einen  Kursus  der  Philosophie  ver- 
anstaltet ohne  Beschränkung  auf  Logik  und  Psychologie.  Finckh's  Lehr- 
buch ist  der  zweiten  Klasse  beizuzählen,  welche  besonders  in  den  öster- 
reichischen Mittelschulen  vertreten  ist;  und  zwar  hat  er  sich,  was  Inhalt 
und  Form  seines  Buches  anlangt,  besonders  an  Alois  Höflers  treffliche 
Lehrbücher  angeschlossen. 

Der  propädeutische  Unterricht,  der  sich  auf  Psychologie  und  Logik 
beschränkt,  kann  aber  gegenwärtig  nicht  mehr  auf  allgemeine  Zustimmung 
rechnen;  denn  dem  Verlangen  des  jungen  Mannes  nach  philosophischer 
Orientierung  genügt  er  nicht.  Er  ist  die  Form  der  philosophischen  Be- 
lehrung, welche  die  Pensenschule  oder  Leruschule  sich  geschaffen  hatte, 
weil  auf  diese  Weise  eine  gute  Portion  Kenntnisse  eingeprägt  und  die 
heiklen  Fragen  der  Weltanschauung  umgangen  werden  können.  Darum 
verlangt  die  Erziehungsschule,  welche  auf  die  Bedürfnisse  angehender 
Studenten  wirklich  eingehen  will,  eine  nach  Inhalt  und  Form  andere  Art 
der  philosophischen  Propädeutik.  Diese  Auffassung  wird  auch  durch 
Finckhs  Lehrbuch  bestätigt;  denn  eigentlich  will  er  auch  nur  Psychologie 
und  Logik  in  angemessener  Verkürzung  bieten.  Aber  es  werden  allent- 
halben Stücke  eingeflickt  aus  der  Erkenntnislehre,  der  Metaphysik  und 
Ästhetik.  Auf  diese  Weise  wird  der  Rahmen  des  Werkes  an  vielen  Stellen 
gesprengt,  die  Darstellung  lässt  den  Zusammenhang  vermissen,  der  Schüler 
wird  unvermittelt  von  einem  Gegenstande  zum  andern  geführt  und  doch 
ist  das,  was  geboten  wird,  oft  nicht  ausreichend  und  nicht  aufbauend. 

Um  das  zu  beweisen,  brauche  ich  nur  einiges  hervorzuheben.  Die 
Entwickelungslehre  wird  absichtlich  niclit  berührt.  Ja,  was  nützt  denn 
einem  jungen  Manne  gegenwärtig  der  philosophische  Unterricht,  wenn 
sein  Lehrer  diese  wichtige  Frage  umgeht?  Die  Lehre  vom  Schluss  ist  in 
herkömmlicher  Weise  behandelt,  aber  in  so  zusammengedrängter  Form, 
dass  niemand  daran  Freude  haben  kann.  Hier  giebt  es  nur  zwei  Wege: 
entweder  werden  mit  breiter  Vollständigkeit  alle  Formen  entwickelt,  oder 
man  verzichtet  auf  alles  das,  was  Kant  gelegentlich  den  alten  Plunder 
der  syllogistischen  Figuren  genannt  hat,  und  beschränkt  sich  auf  die  Grund- 
form, um  es  dem  gesunden  Menschenverstände  zu  überlassen,  dass  er  sich 
im  einzelnen  Falle  mit  den  Modifikationen  abfinde.  Wissenschaftlich 
unhaltbar  ist  die  Definition  der  Empfindung  S.  15,  auch  die  Unterscheidung 
von  drei  Arten  der  psychischen  Elemente.  Die  Darstellung  will  kurz  sein 
und  begnügt  sich  deshalb  oft  mit  blossen  Stichworten.  Mit  Recht  ver- 
langt man  aber  jetzt  von  einem  geschichtlichen  oder  naturwissenschaft- 
lichen Lehrbuche  eine  zusammenhängende,  gut  lesbare  Darstellung;  ein 
philosophisches  Buch  für  Anfänger  muss  dieser  Forderung  erst  recht 
entsprechen,  sonst  wirkt  seine  Lektüre  unerfreulich  und  abschreckend. 

Trotz  dieser  Anmerkungen  verlangt  die  Gerechtigkeit  anzuerkennen, 
dass  in  dem  Buche  ein  redliches  und  löbliches  Bemühen  hervortritt.  Ich 
habe  mich  beim  Studium  des  Buches  oft  gefreut,  mit  dem  Verfasser  in 
Einzelheiten  zusammenzutreffen,  freilich  nur  in  Einzelheiten.  Im  ganzen 
habe   ich,   was  Inhalt   und   was  Form   anlangt,  in  meinem  Lehrbuche  Ele- 


Rezensionen  (Hoffmann).  355 

mente  der  Philosophie,  Halle  1909,  einen  anderen  Weg  eingeschlagen;  und 
das  vorliegende  Buch  hat  mich  in  der  Überzeugung  bestärkt,  dass  das 
Problem  der  philosophischen  Belehrung,  welches  den  höheren  Schulen  ge- 
stellt ist,  auf  dem  Wege  eines  lediglich  logisch-psychologischen  Unterrichtes 
nicht  gelöst  wird. 

Halle  a.  S.  Alfred  Rausch. 

Holfmann,  K.  Die  Umbildung  der  Kantischen  Lehre  vom 
Genie  in  Schellings  Sj'stem  des  transscen  dentalen  Idealismus. 
Berner  Studien  zur  Philosophie  und  ihrer  Geschichte,  herausgeg.  von  Dr. 
L.  Stein.     Bd.  LHI.     Bern,  Scheitlin,  1907. 

Das  Schriftchen  weist  nach,  was  es  zu  beweisen  unternimmt,  dass 
nämlich  Schellings  Gedanken  über  das  Genie  und  das  ästhetische  Schaffen 
in  ihren  wesentlichen  Grundzügen  aus  Kants  Kritik  der  Urteilskraft  über- 
nommen, nur  soweit  umgebildet  sind,  als  es  sein  System  verlangt.  Es  ist 
das  eine  sehr  einschneidende  Tatsache,  weil  diese  Gedanken  sowohl  im 
System  des  transscendentalen  Idealismus  als  in  dem  späteren  Ausbau  der 
Gedanken  Schellings  einen  entscheidenden  Platz  ,  behaupten,  geradezu 
grundlegend  sind. 

Trotzdem  scheint  mir  Schellings  Bedeutung  und  Originalität  in  der 
Beurteilung  des  Verfassers  etwas  zu  kurz  zu  kommen.  Im  gesamten 
deutschen  Idealismus  herrscht  eine  weitgehende  Gemeinschaftlichkeit  des 
Denkens  und  Abhängigkeit  von  Kant,  sodass  man  bei  jedem  einzelnen 
Denker  an  verschiedenen  Punkten  die  Originalität  bestreiten  könnte. 

Gerade  aber  in  seinen  Ausführungen  über  das  Ästhetische  hat  Kant 
—  wie  überall,  wo  er  Vorgänge  des  menschlichen  Geisteslebens  schildert  — 
eine  solche  Schärfe  der  Beobachtung  entwickelt,  dass  es  uns  bei  der  Lek- 
türe zu  Mute  ist,  als  ziehe  er  nur  den  Vorhang  weg  vom  menschlichen 
Innern  und  lege  uns  die  innere  Struktur  dieser  Vorgänge  klar  vor  Augen. 
Noch  viel  gewaltiger  musste  dieser  Eindruck  auf  Zeitgenossen  sein.  Wenn 
wir  nun  von  der  damals  geschaffenen  Basis  weiter  in  die  Tiefe  graben, 
so  stehen  wir  doch  noch  völlig  unter  Kants  Einfluss,  wie  viel  mehr  die 
Denker  jener  Zeit.  Es  ist  eben  Schelling  das  Wesen  des  genialen  Schaffens 
und  des  ästhetischen  Wertens  durch  die  Lektüre  der  Kritik  der  Urteils- 
kraft klar  geworden  und  diese  Erkenntnisse  verwertet  er  nun. 

Gerade  dies  beweist,  wie  wenig  auf  jene  Denker  der  so  häufig 
törichterweise  gemachte  Vorwurf  wirklichkeitsferner  Spekulation  zutrifft. 
Sie  fühlten  sich  gebunden  an  die  im  menschlichen  Geistesleben  tatsächlich 
beobachteten  Vorgänge,  ob  sie  nun  selbst  oder  andere  in  psychologischer 
Beobachtung  oder  erkenntnistheoretischem  Forschen  sie  aufgezeigt  hatten. 
Diese  innere  Gebundenheit  ist  ihre  geraeinsame  Basis,  ihr  Verständigungs- 
punkt. Als  man  unter  ihren  Nachtreten!  und  noch  mehr  in  der  folgenden 
Zeit  der  empirischen  naturwissenschaftlichen  Forschung  dieses  Beobachten 
innerer  Vorgänge  nicht  mehr  hatte,  hatte  man  auch  kein  zwingendes  Tat- 
sachenmaterial mehr,  das  als  Grundlage  solcher  Spekulation  gelten  konnte, 
und  sie  verlor  ihre  zwingende  Macht  über  die  Menschen.  Schelling  be- 
deutet ein  Einbilden  dieses  Kantischen  Tatsachenmaterials  in  eine  andere 
Weltanschauung,  aber  sicherlich  kein  Dogmatisieren  desselben,  wie  der 
Verfasser  annimmt. 

Mit  diesem  Einbilden  in  eine  neue  Weltanschauung  suchte  Schelling 
vielmehr  an  einem  Punkte  über  die  Kantische  Weltanschauung  hinaus- 
zukommen, an  dem  sie  selbst  über  sich  hinausdrängt. 

Kant  muss  annehmen,  dass  die  subjektive  Zweckmässigkeit,  die  die 
ästhetische  Lust  erregt,  die  gesamte  Teleologie,  eigentlich  von  uns  in  die 
Natur  eingetragen  wird.  Genau  besehen  ist  diese  Annahme  aber  eine  so 
gewaltige  Behauptung,  dass  wir  hier  immer  wieder  nach  allen  zwingenden 
Beweisführungen  am  Kritizismus  irre  werden. 

Hier  versucht  Schelling  den  Nachweis,  dass  wir  hier  nicht  eintragen, 
sondern  etwas  von  dem  Schaffenden  in  uns  und  um  uns  erleben,  aus 
dessen   Tiefe   die   Welt   emporgestiegen   ist.     Er  hat  den  Nachweis  nicht 

Kaotatudlea    XV.  23 


356  Rezensionen  (Kinkel). 

führen  können,  wie  man  etwas  von  diesem  Schaffenden  erleben  könne, 
ohne  dass  die  zwingenden  kritischen  Gedankengänge  Kants  bei  Seite  ge- 
schoben werden,  was  wir  eben  nicht  mehr  können.  Aber  der  Versuch 
musste  gemacht  werden  und  irgendwie  muss  an  diesem  Punkte  Kant  ein- 
mal zu  Ende  gedacht  werden.  Dass  Schelling  diesen  Punkt  traf,  spricht 
nicht  für  seine  Abhängigkeit,  sondern  für  seine  Originalität. 

Rüsselsheim.  E.  Fuchs. 

Kinkel,  Walter.  Der  Humanitätsgedanke.  Betrachtungen 
zur  Beförderung  der  Humanität.    Leipzig,  Eckardt,  1908.     (192  S.). 

Der  Verfasser  vereinigt  unter  dem  genannten  Titel  neun  Abhand- 
lungen, welche  den  Begriff  der  Humanität  zu  ihrem  Mittelpunkt  haben.  — 
Es  wird  der  Versuch  gemacht,  Erscheinungen  des  geschichtlichen  Lebens 
in  Politik  und  Kunst  auf  ihre  ethische  Bedeutung  hin  zu  prüfen  und  damit 
auf  ihre  philosophische  Wurzel  zurückzuführen.  Diese  Aufgabe  setzt  für 
ihre  Lösung  zwei  Bedingungen  als  unerlässlich  voraus:  Einerseits  muss  der 
ethische  Begriff,  an  dem  die  Erscheinungen  des  Lebens  gemessen  werden 
sollen,  sicher  begründet  und  in  aller  Ausführlichkeit  entwickelt  werden, 
andererseits  ist  darauf  zu  achten,  dass  die  Anwendung  dieser  Idee  auf  die 
Probleme  des  geschichtlichen  Lebens  darin  besteht,  in  einzelnen  Momenten 
einer  Entwicklung  das  Problematische  auf  die  Idee  zurückzuführen.  Diese 
Ableitung  und  Erklärung  der  Erscheinung  durch  den  Begriff  ist  es, 
die  den  philosophischen  Leser  fesseln  kann. 

Der  ersten  dieser  beiden  Forderungen  sucht  der  Verfasser  dadurch 
gerecht  zu  werden,  dass  er  am  Anfang  des  Buches  zwei  „kritisch  gehaltene" 
Kapitel  bringt,  die  zur  Einführung  in  das  Folgende  dienen  sollen.  —  In 
dem  ersten  dieser  beiden  Abschnitte  handelt  der  Verfasser  vom  „Werden 
des  Humanitätsgedankens";  der  zweite  ist  überschrieben:  „Fortsetzung; 
Humanität  wider  Rassen-  und  Klassenhass.  Frauenfrage,  Rechtspflege 
u.  s.  w."  —  Wie  der  Titel  schon  andeutet,  kann  für  die  Frage  einer  Grund- 
legung des  Humanitätsbegriffs  nur  die  erste  Abhandlung  in  Betracht 
kommen  —  Aber  auch  hier  lenkt  der  Verfasser  vom  Begrifflichen  sogleich 
in  das  Historische  über.  Er  giebt  uns  nicht  eine  begriffliche  Analyse  der 
Humanitätsidee,  sondern  eine  Erzählung  der  mutmasslichen  Geschichte 
dieser  Idee,  eine  Aufzählung  der  Motive  und  Anlässe,  welche  den  Humani- 
tätsgedanken zur  Entstehung  und  Entwicklung  gebracht  haben  können.  — 
Hierdurch  wird  allerdings  der  Huraanitätsbgriff  zu  allgemeineren  Kultur- 
erscheinungen in  Beziehung  gesetzt;  dennoch  aber  fordert  die  geschicht- 
liche Entwicklung  gerade  zuerst  die  genaue  begriffliche  Analyse.  Für  eine 
philosophische  Schrift  über  den  Humanitätsgedanken  kann  es  nicht  ge- 
nügen, den  Begriff,  der  im  Mittelpunkt  aller  Erörterungen  steht,  bis  auf 
den  Ausdruck  formuliert,  anderen  Quellen  zu  entnehmen  (wenngleich  diese 
genannt  sind)  und,  —  wo  auch  immer  die  sittliche  Betrachtung  einsetzt, 
das  ethische  Urteil  nur  schlechthin  auszusprechen  und  als  gültig  bloss  zu 
behaupten. 

So  fehlt  dem  Buche  von  Kinkel  der  Reiz  einer  begrifflichen  Dialek- 
tik; dafür  sucht  der  Verfasser  durch  die  Fülle  seiner  Beispiele  und  An- 
wendungen zu  entschädigen.  Wir  gelangen  auf  wenigen  Seiten  von  einer 
Polemik  gegen  die  brutale  Unsittlichkeit  der  Sklaverei  zu  einer  Be- 
sprechung der  gedanklichen  Entgleisungen  eines  Schriftstellers,  wie 
Treitschke;  von  dort  über  das  Universitätsstudium  der  Volksschullehrer 
zur  Rassentheorie,  von  der  Rassentheorie  zur  Frauenfrage,  von  der  Frauen- 
frage zur  Rechtspflege  u.  s.  w.  Das  „und  so  weiter"  hat  der  Verfasser 
selbst  wiederholt  in  den  Titel  einzelner  Abhandlungen  aufgenommen  und 
es  ist  in  der  Tat  eine  bezeichnende  Überschrift.  Denn  diese  Beispiele  von 
Erscheinungen  des  geschichtlichen  Lebens,  welche  dem  sittlichen  Ideal 
nicht  entsprechen,  lassen  sich  beliebig  vermehren.  Ihre  Anführung  wivd 
aber  willkürlich  und  planlos,  wenn  die  Einheit  der  Betrachtungsweise, 
nämlich  die  sittliche  Idee  selbst,  sich  als  Leitgedanke  nicht  durchsetzt  und 
in  der  genauen  Zurückführung  auf  diese  Idee  alle  Beispiele  als  solche  sich 


Rezensionen  (Richter).  357 

dem  Begriff  unterordnen.  Gerade  diese  begriffliche  Disposition  muss  man 
in  dem  Kinkelschen  Buche  vermissen;  der  Humanitätsgedanke  ist  nur 
äusserlich  eine  Einheit.  In  Wirklichkeit  bringt  der  Verlasser  alle  mög- 
lichen Betrachtungen  über  Natur,  Kunst  und  Politik,  —  die  moralische 
Betrachtung  kommt  hinterdrein  und  sie  wirkt  in  den  meisten  Fällen,  da 
sie  nur  die  einfache  Gegenbehauptung  enthält,  leer,  oft  überflüssig  und 
trivial   — 

Es  mag  sein,  dass  in  diesem  Buche  einzelne  ansprechende  Gedanken 
und  Wendungen  zu  finden  sind;  als  Ganzes  kann  man  diese  Art  von  Be- 
trachtungen nicht  besonders  hoch  bewerten.  —  Auch  eine  Eigenart  der 
Form  vermöchte  das  Werk  nicht  zu  höherem  Werte  zu  erheben;  —  nichts 
anderes  als  der  Inhalt  prägt  diese  Form.  So  ist  der  Stil  häufig  hart  und 
brüchig;  der  Verfasser  reiht  die  Sätze  nur  nebeneinander;  Übergänge,  die 
mit  einem  „und"  oder  „aber"  die  heterogensten  Dinge  verbinden  sollen, 
können  den  Eindruck  geschlossener  Form  nicht  hervorrufen.  —  Bisweilen 
gelingt  es  dem  Verfasser  einer  seltenen  gedanklichen  Stimmung  Ausdruck 
zu  verleihen  —  im  ganzen  herrscht  eine  gewisse  Formlosigkeit  vor,  die 
um  so  mehr  verstimmt,  als  man  gerade  in  den  Vorzügen  der  Form  den 
Wert  gemeinverständlicher  Betrachtungen  zu  suchen  pflegt. 

Hamburg.  Johannes  Paulsen. 

Richter,  R.  Friedrich  Nietzsche,  sein  Leben  und  sein 
Werk.  16  Vorlesungen,  gehalten  an  der  Universität  Leipzig.  2.,  umge- 
arbeitete und  vermehrte  Auflage.  Dürrsche  Buchhandlung,  Leipzig  1909. 
(VII  u.  356  S.) 

Da  es  sich  um  die  2.  Auflage  eines  bereits  ziemlich  allgemein  an- 
erkannten Buches  handelt,  möge  ein  kurzer  Hinweis  genügen.  Das  Ver- 
dienst Richters  ist  es,  die  psychologische  Erklärung  der  Lehren  Nietzsches 
ausgeschieden  und  so  gewissermassen  den  Menschen  von  seinem  Werk 
getrennt  zu  haben.  Dadurch  wird  die  philosophische  Bedeutung  von 
Nietzsches  Lehren  klar  herausgearbeitet  und  die  Grundlinien  seiner  An- 
schauungen sondern  sich  von  dem  reichen  Beiwerk,  das  sonst  die  Beur- 
teilung so  erschwert.  Die  Ausschaltung  aller  kritischen  Zwischenbemerk- 
ungen gestattet  eine  zusammenhängende,  eindrucksvolle  Entwicklung  der 
Lehrmeinungen,  die  durch  die  drei  Perioden  der  Geistesentwicklung  des 
Denkers  hindurch  genau  verfolgt  werden.  Dass  Richter  als  Grundzug  des 
Nietzscheschen  Denkens  den  Idealismus  aufstellt,  halte  ich  für  besonders 
wichtig.  Die  Triebfeder  alles  Strebens  ist  bei  dem  Zarathustra-Dichter 
die  Sehnsucht  nach  einem  übermenschlichen  Ziele  und  der  Wille  zum 
Schaffen  dieses  Zieles  —  das  eben  ist  Idealismiis. 

Die  Darstellung  des  Lebens  ist  in  ihrer  Knappheit  eine  wohlge- 
lungene, schriftstellerische  Leistung.  Die  Behandlung  des  Verhältnisses 
zu  R.  Wagner,  wie  die  vornehme  Stellungnahme  zur  Krankheitsfrage  be- 
rühren besonders  sympathisch. 

In  der  neuen  Auflage  sind  Abschnitte  über  Nietzsches  Stellung  zur 
Entwickelungslehre  und  seine  verschiedenen  Fassungen  des  Übermensch- 
Begriffes  hinzugekommen,  die  Metaphysik  und  Erkenntnislehre  sind  ein- 
gehender dargestellt.  All  das  sind  sehr  erwünschte  Zusätze,  da  sie  Gegen- 
stände betreffen,  die  sonst  in  der  Nietzsche-Literatur  wenig  berücksichtigt 
werden.  Namentlich  die  feinsinnige  Untersuchung  des  Übermensch-Be- 
griffes ist  eine  bewundernswerte  Leistung. 

Die  Kritik  am  Schluss  ist  erfüllt  von  Achtung  für  den  grossen 
Gegenstand,  sie  ist  massvoll  und  rein  sachlich.  Zustimmen  kann  ich  ihr 
nicht,  da  meine  eigene  philosophische  Position  eine  andere  ist  als  die  des 
Verfassers.  Im  übrigen  halte  ich  das  Buch  für  einen  sehr  wichtigen  Bei- 
trag zur  Geschichte  der  modernen  Philosophie  und  damit  auch  der  Kultur. 
Es  hebt  sich  weit  heraus  über  die  meisten  Erscheinungen  der  Nietzsche- 
Literatur. 

Hamburg.  Dr.  O.  Braun. 

23* 


358  Rezensionen  (Wagner). 

Wagner,    Gustav   Friedrich.     Encyklopädisches   Register   zu 
Schopenhauers  Werken.    Karlsruhe,  G.  Braunsche  Hofbuchhandlung  1909. 
Unübertrefflich   an  Zuverlässigkeit   und  Umfang,   fordert  dies  Werk 
vieljährigen  Fleisses   als   das  Schopenhauer-Register   xai    i^oxrjf   strengste 
Kritik.    Je  dankbarer   man   für  das  Gebotene   ist,   um  so  mehr  muss  man 
einen   schweren  Fehler   in  der  Anlage  bedauern:    die  Belege  sind  aus  der 
Frauenstädtschen    Gesamtausgabe   gegeben,   vom   Nachlass   ist   nur 
der   von   demselben  veröffentlichte  Band  benutzt  worden,    aber  weder  die 
früheren  Veröffentlichungen  von  Lindner,  Gwinner  etc.  noch  die  neueren 
von    Grisebach   noch    endlich   die   Briefe.     Diese   Unvollständigkeit   muss 
einem  Werk,  das  in  seiner  Breite  überhaupt  nur  den  Interessen  historisch- 
philologischer Kleinarbeit   dienen   kann,   das  Beste   seines  Wertes  rauben. 
Denn  gerade   das  Abgelegene   muss   man  doch  in  solchem  Werke  suchen, 
die  Hauptstellen  findet  man  von  selbst  oder  mit  Hülfe  des  guten  Registers 
von  Hertslet,   das   übrigens   trotz   seines  weit  geringeren  Umfangs   immer 
noch   unentbehrlich    bleibt,    da   es   nicht  nur  die  Frauenstädtsche  Gesamt- 
Ausgabe,  sondern  auch  die  sonstigen  damals  erschienenen  Quellenschriften 
heranzieht.     Nun    erschien    doch   gerade  1891,    als  W.  sich   in  seinen  Vor- 
arbeiten  zunächst   durch   Hertslet   überholt   sah,   die   neue,    textlich   viel 
bessere    und   bald   allgemein    benutzte  Reclam-Ausgabe   von  E.  Grisebach, 
die   durch   den  Naclilass   und   einen  Briefband  ergänzt  wurde,   sodass   das 
bis   dahin   in    teueren  Einzelschriften    verstreute  Material   fast  vollständig 
und   bequem    vereinigt   war.    Hätte  W.   seine   Belege   für   diese  Ausgabe 
umgearbeitet   oder   ergänzt,  —  die   daraus  erwachsene  Mehrarbeit  war  im 
Verhältnis   zu   dem  Gewinn   und  zu  dem  an  noch  viel  mühsamerer  Arbeit 
erprobten   Fleiss   des   Autors   nicht   zu   gross   — ,   so   wäre   nicht  nur  der 
praktische  Wert  des  Buchs  neben  Hertslet  weit  grösser  geworden,  sondern 
es  hätten  sich  auch  Mängel  in  der  Anordnung  des  Stoffes  vermeiden  lassen, 
die  gerade  in  den  wichtigsten  Artikeln  hervortreten. 

Welch  oberflächliches  Gemengsei  z.  B.  unter  dem  Stichwort  „Schopen- 
hauer, Über  sich  selbst!"  Mehr  über  seinen  Hund  und  seine  Tabaksdose 
als  über  sein  Wesen ;  das  Bild  wäre  von  selbst  anders  geworden,  wenn  die 
wichtigen  brieflichen  Selbstzeugnisse  benutzt  wären.  Oder  wie  ungeordnet 
die  Belege  zu  Fichte,  Spinoza  oder  Schelling!  Geboten  war  hier  eine 
gewisse  chronologische  Ordnung,  denn  gerade  dabei  macht  es  einen  grossen 
Unterschied,  was  der  junge,  was  der  alte  Seh.  sagt.  Aber  dazu  mussten 
die  später  gestrichenen  Erwähnungen  der  Werke  von  1813  und  1819  und 
zahlreiche  Stellen  aus  dem  Nachlass  gegeben  werden.  Die  Beschränkung 
auf  das  vollendete  Gesamtwerk  des  Philosophen  macht  es  auch  unmöglich, 
irgendwie  die  Entwicklung  Sch.s  erkennen  zu  lassen.  Wenn  W.  die 
Abweichungen  der  Erstausgaben  von  1813  und  1819  für  wichtig  genug 
hält,  um  sie  im  Anhang  abzudrucken,  warum  ignoriert  er  sie  dann  im 
Register?  Es  ist  vielleicht  zuviel  gesagt,  dass  in  der  Dissertation  „bereits 
die  Grundzüge  der  Willenslehre  erkennbar  sind";  aber  es  giebt  darin  doch 
einige,  später  gestrichene  Stellen,  die  höchst  charakteristisch  auf  die  Kon- 
zeption des  Hauptwerks  hindeuten  (S.  35,  105  über  den  Willen,  S.  143  über 
das  Wesen  des  Künstlers  und  Heiligen):  im  Register  fehlen  sie.  —  Dass 
die  Gliederung  des  Stoffes  unter  so  schwierigen  Schlagworten  wie  „Wille", 
„Idee"  philosophisch  unzulänglich  erscheint,  ist  wohl  unvermeidlich. 

Eine  höchst  erfreuliche  Zugabe  des  Werks  bildet  ein  buchstäblich 
getreuer  Abdruck  (ich  habe  nur  einige  leicht  zu  verbessernde  Druckfehler 
gefunden)  des  „Satzes  vom  Grunde"  von  1813.  Seh.  fehlte  der  Respekt, 
wie  vor  der  Geschichte  überhaupt,  so  auch  vor  seiner  eigenen  Entwicklung, 
Er  betrachtete  sein  ganzes  Oeuvre  als  eine  Einheit,  in  der  Jugend-  und 
Altersschriften  durch  zahlreiche  Hin-  und  Her-Verweisungen  ineinander 
gefugt  wurden.  Wir  wollen  uns  das  Recht  auf  die  Erstausgabe,  das  sich 
Seh.  selbst  bei  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  mit  so  böser  Begründung 
nahm,  auch  wahren.  Wenn  uns  die  erste  Fassung  der  Dissertation  wesent- 
lich als  Entwicklungsdokument  wertvoll  ist,  so  möchte  ich  bei  der  „Welt 


Rezensionen  (Wagner).  359 

als  Wille  und  Vorstellung"  der  Erstauf  läge  von  1819  als  schrift- 
stellerischem Ganzen  den  Vorzug  geben.  Die  späteren  Änderungen  sind 
nur  selten  Verbesserungen  des  Ausdrucks  und  sacliliche  Klärungen,  sondern 
meistens  Zusätze  von  Belegen  und  Zitaten,  auch  Zornesergüsse,  alles  jeden- 
falls zu  dem  gehörig,  was  Seh.  einmal  als  den  Zement  in  dem  steinernen 
Bau  eines  philosophischen  Werks  bezeichnet.  W.  druckt  im  Anhang 
die  wichtigeren  der  später  gestrichenen  Stellen  ab ;  sehr  dankenswert, 
aber  die  Liste  ist  zu  unvollständig,  um  den  Forscher  des  Rückgangs  auf 
das  Original  zu  entheben,  geschweige  denn  einen  Neudruck  zu  ersetzen. 
Einige  von  W.  nicht  gebrachte  Abweichungen  mögen  das  dartun :  i) 
S.  V.    Statt  „Vorrede  zur  ersten  Auflage". 

A':  „Vorrede  statt  der  Einleitung". 
S.  25,  Z.  17.     Statt  „R.  Hookes  Entdeckung  des  Gravitationsgesetzes". 

A^:  „Newtons   Entd.  d.  Gr."    [dafür   fehlt   „wie   sodann   Neutons 
Berechnungen  solche  bewährten"]. 
S.  38,  Z.  5.     Statt  „die  Scheinphilosophie  des  J.  G.  Fichte". 

AI;  „die  Philosophie  des  J.  G.  Fichte". 
S.  170,  Z.  9—11.     Statt  „Mit  Recht  sagt  daher  Kant  .  .  .  d.  h.  auf". 

A^:  „Wir   werden   daher   auch   nicht  mit  Kant  vom  Newton  des 
Grashalms  reden,  d.  h.  von  [demjenigen  ..." 
S.  170,  Z.  34;  S.  171,  Z.  2.    Statt  „dieser  ist  .  .  sogar  darin". 

A*:  „welcher  das  leitende  Prinzip  der  vortrefflichen,  in  unsern 
Tagen  von  den  Franzosen  ausgegangenen,  zoologischen  Systeme 
ist,  welcher  am  vollständigsten  in  der  vergleichenden  Anatomie 
nachgewiesen  wird,  und  welchen  aufzufinden  auch  ein  Haupt- 
geschäft, oder  doch  gewiss  die  löblichste  Bestrebung  derjenigen 
Schriftsteller  ist,  die  sich  in  Teutschland  heutzutage  Naturphilo- 
sophen nennen,  und  die  darin  [manches  Verdienst  .  .  ." 
S.  259,  Z.  2  V.  u.;  S.  260,  Z.  2.  Statt  „und  Mahavakya  ...  Tat  twam  asi". 
AI:  „dazugebrauchen  können:  „Tatoumes",  wie  sie  der  Persische, 
oder  „Tutwa",  wie  sie  der  Englische  Übersetzer  schreibt". 
S.  324,  Z.  2  V.  u.    Statt  „Schiwa,  zugleich". 

A^:  „Schiwa,  Rudra,  Mahadäh". 
S.  421,  Z.  17.    Statt  „Nirvana". 

AI:  „Nieban"- 
S.  487,  Z.  16.  Statt  „das  Brahm  oder  Nirwana". 
A^:  „den  Urgeist  oder  Nieban". 
Zum  Schluss  muss  noch  auf  die  Vorwürfe  eingegangen  werden,  die 
W.  gegen  die  bis  jetzt  für  mustergültig  gehaltene  Grisebachsche  Aus- 
gabe erhebt  und  die  ihn  zur  Bevorzugung  der  älteren  Gesamtausgabe 
veranlassen.  W.  hat  sich  nämlich  die  ungeheuere  Mühe  gemacht,  diese 
beiden  wie  auch  alle  von  Schopenhauer  selbst  besorgten  Ausgaben  Buch- 
stabe für  Buchstabe  zu  vergleichen;  er  hat  freilich  die  Hauptarbeit 
„editorum  in  usum"  getan,  wie  ein  boshafter  Engländer  auf  den  Titel  seiner 
Plautus-Ausgabe  schrieb.  Das  gilt  vor  allem  von  dem  „Verzeichnis  der 
Druckfehler  der  Ausgaben  letzter  Hand".  Dann  folgt  auf  37  Spalten  zu 
60  Zeilen  das  „Verzeichnis  der  wichtigeren  Druckfehler  der  Frauen- 
städtschen  Gesamtausgabe".  Das  überrascht  nicht,  denn  Grisebach  hatte 
schon  vorgerechnet,  dass  diese  Ausgabe  1619  „korrumpierte  Stellen"  habe. 
Aber  merkwürdiger  Weise  steht  vor  sehr  vielen  Fehlem  ein  Kreuz,  und 
dies  Kreuz  bedeutet,  dass  der  gleiche  Fehler  sich  bei  Grisebach  wieder- 
findet. 

Das  passt  in  der  Tat  recht  schlecht  zu  dessen  Versicherung,  er  habe 
„seinem  Texte  ausschliesslich  die  Ausgaben  letzter  Hand  zum  Grunde  ge- 
legt und  dieselben  mit  diplomatischer  Treue,  die  sich  selbstredend  auf 
Orthographie  und  Interpunktion  erstreckt,  reproduziert". 

^)  Ich  zitiere  die  bei  Grisebach  in  Klammern  beigefügten  Seiten- 
zahlen der  Ausgabe  letzter  Hand,  die  mit  denen  der  Frauenstädtschen 
Ausgabe  übereinstimmen. 


360  Rezensionen  (Wagner). 

Man  braucht  es  Gr.  nicht  zum  Vorwurf  zu  machen,  dass  er  dem  Setzer 
die  Frauenstädt'schen  Drucke  in  die  Hand  gab;  aber  dass  seine  Korrektur 
soviele  Fehler  übersehen  konnte,  ist  schlimm.  Die  Liste  der  „wichtigeren" 
Fehler  umfasst  allerdings  schon  sehr  grosse  Kleinigkeiten,  und  da  gibt  es 
etwa  500  Kreuze;  wenn  W.  Grisebach  1800  aus  Frauenstädt  übernommene 
Errata  vorhält  und  diese  Zahl  gar  mit  den  1619  diesem  von  jenem  ange- 
kreideten „Korruptionen"  vergleicht,  so  heisst  das  doch  nicht  nur  mit 
zweierlei  Mass  messen,  sijndern  auch  den  Ton  kleinlicher  Mäkelei,  den  auch 
wir  nie  als  eine  Zierde  des  Griesebach'schen  Anhangs  zu  seiner  Ausgabe 
(Bd.  VI)  empfunden  haben,  gegen  den  darob  Gescholtenen  mit  doppelter 
Ungerechtigkeit  anwenden !  Die  mechanische  Buchung  jeder  Abweichung, 
einerlei  ob  es  eine  Entstellung  oder  mögliche  Emendation  ist,  lässt  die 
Sache  überhaupt  schlimmer  erscheinen  als  sie  ist.  Von  den  48  Kreuzen, 
die  auf  den  1.  Bd.  der  „Welt  als  Wille  und  Vorstellung"  kommen,  kann 
ich  nur  4  als  wirklich  sinnstörende  Druckfehler  anerkennen,  die  meisten 
sind  Kleinigkeiten  der  Interpunktion. 

Immerhin  bleibt  das  Ergebnis,  dass  Grisebach  von  den  zahlreichen, 
wenn  auch  nicht  1800  sinnstörenden  Druckfehlern  der  Frauenstädt'schen 
Ausgabe  etwa  ein  Viertel,  und  nicht  das  schlimmste,  beibehalten  hat.  Seine 
Ausgabe  ist  also  mindestens  um  so  viel  besser.  t)azu  kommt  aber,  dass 
die  schweren  Fehler  und  vor  allem  Auslassungen,  die  Grisebach  seinem 
Vorgänger  in  den  handschriftlichen  Zusätzen  nachweist,  bei  W.s 
Vergleichung  nicht  in  Betracht  gezogen  sind.  Da  Grisebach  „den  Vorzug 
gehabt"  —  man  kann  auch  sagen:  sich  die  Mühe  gemacht  hat  —  Sch.s 
Manuscriptbücher  gründlich  zu  benutzen,  so  dürfen  wir  ihm  bis  zum  Be- 
weise des  Gegenteils  wohl  zutrauen,  dass  sein  Text  an  diesen  Stellen  wirk- 
lich der  bessere  ist. 

Aber  W.  behauptet,  dass  dafür  Grisebachs  Ausgabe  wieder  eigne 
Druckfehler  hat.  Die  Vermutung  spricht  ja  dafür,  und  wir  wären  W.  sehr 
dankbar,  wenn  er  seinen  Fleiss  auch  auf  ein  Verzeichnis  dieser  Fehler  der 
Gr.schen  Ausgabe  erstreckt  hätte.  Statt  dessen  spricht  er  nur  ganz  all- 
gemein von  der  „  Unzahl  der  schwersten  Druckfehler  im  Gr.schen  Text  von 
1891",  um  gleich  danach  zuzugeben,  dass  in  der  seit  93  erschienenen  2.  Aus- 

fabe,  auf  die  es  uns  eigentlich  allein  ankommt,  „die  meisten  eigenen  Fehler 
erichtigt  worden  sind".  (Auffallend  ist  aber,  dass  von  den  aus  Frauen- 
städt abgedruckten  Fehlern  kein  einziger  berichtigt  ist:  daraus  ist  zu 
schliessen,  dass  die  zweite  Ausgabe  nicht  auf  einen  völlig  neuen  Satz  be- 
ruht und  nur  durchgesehen,  nicht  abermals  kollationiert  ist,  was  Gr.  freilich 
auch  nicht  behauptet.)  W.  macht  nun  eine  kleine  Zahl  von  Fehlern  der 
zweiten  Ausgabe  namhaft,  aber  sie  sind  so  harmlos,  dass  man  sich  erstaunt 
fragt,  ob  wirklich  keine  stärkeren  Beispiele  von  „Korruption"  zu  finden 
waren;  übrigens  ist  es  W.  entgangen,  dass  von  Bd.  III.  eine  dritte  Aus- 
gabe vorliegt,  welche  seine  Monita  (auf  S.  531  und  536)  z.  gr.  T.  erledigt. 
Alles  in  allem  muss  nach  W.s  gründlicher  Nachprüfung  der  Grisebach'schen 
Ausgabe  das  traditionelle  Lob  derselben  eingeschränkt  werden,  aber  dass 
sie  immer  noch  weitaus  besser  als  die  Frauenstädt'sche  Ausgabe,  frei  von 
willkürlichen  Änderungen  und  darum  auch  weiterhin  durchaus  zu  empfehlen 
ist,  dieses  Urteil  muss  ich  trotz  W.  aufrecht  erhalten. 

Dass  natürlich  die  Reclam-Ausgabe  keine  editio  definitiva  sein  konnte 
noch  wollte,  hat  doch  Grisebach  selbst  anerkannt.  Das  verhinderte  schon 
das  eigentümliche  Schicksal  der  Handexemplare,  die  Frauenstädt,  der 
Erbe  des  handschriftlichen  Nachlasses  Seh. 's,  für  seine  Ausgabe  benutzte. 
Durch  ein  böses  Missgeschick  kamen  sie  in  den  Besitz  eines  Herrn  Fried- 
rich Bremer,  der  sich  daraufhin  in  Kürschners  Literaturkalender  von  1893 
als  „Herausgeber  der  ersten  kritischen  Gesamtausgabe  von  A.  Seh. 's  sämt- 
lichen Werken"  bezeichnen  liess.  An  dieser  Stelle  und  in  der  Phantasie 
des  Herrn  fristete  die  Ausgabe  ihr  Dasein  weiter,  bis  er  1902  starb  (s. 
Jhrgg.  1903,  1.  Abt.,  Sp.  43).  Grisebach  versäumte  den  Moment,  und  die 
Handexemplare  verschwanden  abermals.    Erst  nach  seinem  Tode  ermittelte 


Rezensionen  (Nelson).  361 

Herr  Hans  von  Müller,  dessen  Freundlichkeit  ich  diese  Mitteilungen  ver- 
danke, den  jetzigen  Besitzer;  es  ist  wieder  ein  Liebhaber,  der  den  Ehrgeiz 
hat,  auf  Grund  dieses  Schatzes  eine  „grosse"  „kritische"  „Gesamtausgabe" 
zu  machen  — ,  so  dass  eine  solche  abermals  bis  auf  weiteres  nicht  zu  er- 
hoffen ist  — . 

Grisebach  war  bei  seiner  Ausgabe  in  Bezug  auf  die  Zusätze  der 
Handexemplare  zwar  nicht  gänzlich,  wie  W.  meint,  aber  doch  wesentlich 
auf  Frauenstädt  angewiesen;  er  hat  sich  nur  die  Verweisungen  auf  die 
Ms.-ßücher  notieren  können  (welchen  Raub  ihm  Herr  Bremer  zeitlebens 
nicht  verzielien  hat).  Eine  abschliessende  Ausgabe  wird  nur  möglich  sein, 
wenn  diese  Exemplare  genau  verglichen  werden  können  und  auch  die 
Manuskriptbücher  in  weiterem  Umfang  verwertet  bezw.  veröffentlicht 
werden,  als  es  in  der  Reclam-Ausgabe  angängig  war.  Möge  W.'s  kritische 
Vorarbeit  Veranlassung  geben,  das  Bedürfnis  nach  einer  solchen  Ausgabe 
bei  den  Freunden  Sch.'s  reger  zu  machen. 

Bonn  a.  Rh.  Fritz  Ohmann. 

Nelson,  Leonard.  Über  das  sogenannte  Erkenntnisproblem. 
Abhandlungen  der  Friesschen  Schule  Bd.  II,  Heft  4,  Si  415 — 818.  Göttingen, 
Vandenhoeck  &  Ruprecht,  1908. 

Kant  hat  die  Frage  nach  der  Beziehung  der  Erkenntnis  auf  den 
Gegenstand  in  den  Mittelpunkt  der  Diskussion  gerückt.  Wenn,  wie  vor- 
ausgesetzt wird,  alles  Erkennen  Urteilen  ist,  so  muss  nach  einem  Beweise 
der  in  jedem  Urteile  mitbehaupteten  „objektiven  Geltung"  des  Gegen- 
standes gesucht  werden,  das  Problem  der  „Erkenntnistheorie".  Dies  Pro- 
blem ist  notwendig  unlösbar,  es  ist  überhaupt,  weil  auf  falschen  Voraus- 
setzungen beruhend,  ein  Scheinproblem.  Denn  alles  Beweisen  ist  nur  ein 
Zurückführen  von  reflektiv,  durch  Schlüsse  gewonnenen  Erkenntnissen  auf 
letzte,  unmittelbar  gegebene  und  nicht  mehr  beweisbare  Elemente.  Eine 
solche  letzte  Tatsache  ist  nun  in  jedem  Erkennen  die  Beziehung  auf  den 
„Gegenstand";  „alle  Versuche,  diese  unmittelbare  Erkenntnis  des  Irrtums 
zu  verdächtigen  oder  ihre  objektive  Gültigkeit  zu  begründen,  sind  daher 
gleich  unmöglich."  Denn  beides  ist  „nur  auf  Grund  der  unmittelbaren 
Erkenntnis  möglich.  Das  Faktum  des  Selbstvertrauens  der  Vernunft  ist 
die  entscheidende  Instanz  gegen  allen  Skeptizismus"  (S.  525). 

Auf  dieser  Grundlage  beruht  nicht  nur  die  Gültigkeit  der  empirischen 
Erkenntnis,  in  der  sich  das  unmittelbare  Erkennen  als  Anschauung  dar- 
stellt, sondern  auch  der  unmittelbaren,  nicht-anschaulichen  Erkenntnis, 
welche  in  den  metaphysischen  Urteilen  vorliegt.  In  dieser  Bestimmung 
der  Metaphysik  verbindet  sich  auf  eigentümliche  Weise  der  Kantische 
Rationalismus  mit  einem  psychologischen  Empirismus  und  zwar  vermöge 
einer  scharfen  Scheidung  von  Gegenstand  und  Inhalt  (ich  würde  „Akt" 
vorziehen)  der  Erkenntnis:  „Die  metaphysische  Erkenntnis  ist  eine  Er- 
kenntnis allgemeiner  Gesetze,  und  allgemeine  Gesetze  werden  apriori 
erkannt.  Die  Erkenntnis  der  allgemeinen  Gesetze  ist  aber  ein  indi- 
viduelles Faktum.  Individuelle  Fakta  aber  werden  a  posteriori  erkannt. 
Also  wird  auch  das  Faktum  der  unmittelbaren  metaphysischen  Erkenntnis 
nicht  a  priori,  sondern  a  posteriori,  und  zwar...  durch  innere  Erfahrung 
erkannt"  (S.  532).  Da  wir  aber  keine  intellektuelle  Anschauung  besitzen, 
so  werden  wir  uns  dieser  unmittelbaren  Erkenntnis  bewusst  nur  durch 
Reflexion.  Damit  ist  der  „Kritik  der  Vernunft",  welche  methodisch  in 
strengem  Gegensatz  zum  „System  der  Vernunft",  der  Metaphysik,  steht, 
die  Aufgabe  der  „Deduktion"  gestellt:  sie  muss  die  metaphysischen 
Grundsätze  —  nicht  beweisen,  sondern  aufweisen,  und  zwar  „nach  einer 
Regel,  die  für  die  logische  Unabhängigkeit  und  Vollständigkeit  ihres 
Systems  die  Gewähr  enthalten  muss"  (S.  727).  Diese  Regel  kann  uns  nur 
die  Psychologie  geben.  Die  „Kritik"  steht  so  in  einem  Doppelverhältnis 
zur  Philosophie  und  zur  Psychologie:  „Ihr  Gegenstand  sind  Erkenntnisse 
a  priori,  ihr  Inhalt  aber  meist  empirische  Erkenntnisse"  (S.  729).  Das 
Kausalgesetz   z.  B.   in   seiner   objektiven  Gültigkeit    (oder   als  Bedingung 


362  Rezensionen  (Nelson). 

möglicher  Erfahrung  überhaupt)  beweisen  zu  wollen,  bedeutet  immer  einen 
Zirkelschluss.  Dagegen  können  wir  aus  dem  psychologischen  Faktum  der 
kausalen  Erwartung  dartun,  dass  in  unserem  Geist  die  Möglichkeit  der 
Vorstellung  einer  notwendigen  Verknüpfung,  der  Anspruch  auf  ob- 
jektive Geltung  dieser  Synthesis  liegt,  und  mit  dieser  subjektiven  Deduk- 
tion ist  das  Kausalprinzip  als  eine  nicht  aus  Sinnlichkeit  und  Reflexion 
erklärbare,  mithin  der  unmittelbaren  metaphysischen  Erkenntnis  ange- 
hörende Tatsache  aufgewiesen;  damit  ist  zugleich  die  Möglichkeit  der 
Metaphysik  überhaupt  deduziert  (S.  759). 

So  etwa  lässt  sich  der  Standpunkt  andeuten,  den  Nelson  im  engsten 
Anschluss  an  J.  Fr.  Fries  (Neue  oder  anthropologische  Kritik  der  Vernunft 
1807)  entwickelt.  Orthodoxe  Vertreter  der  transscendentalen  Methode 
werden  diese  Lehre  weiterhin  als  ein  plumpes  Missverständnis  des  Kan- 
tischen Grundgedankens  verwerfen,  überzeugte  Positivisten  werden  eben- 
sowenig damit  anfangen  können.  Aber  alle,  die  ein  Gefühl  dafür  haben, 
dass  die  Erkenntnistheorie  heute  in  einer  Krisis  steht,  und  die  auf  neuen 
Wegen  nach  Gewissheit  suchen,  werden  aus  dieser  bei  aller  Abhängigkeit 
mit  originalem  Scharfsinn  durchgeführten  Erneuerung  des  Friesianismus 
lernen.  Ich  sehe  darin  zwar  nicht  „die"  Überwindung  der  Erkenntnis- 
theorie, wie  der  Jünger  mit  übertreibendem  Lobe  verkündet,  aber  einen 
neben  anderer  Betrachtungsweise  durchaus  möglichen  und  diskutablen 
erkenntnistheoretischen  Standpunkt. 

Leider  hat  N.  die  Darstellung  dieser  positiven  Grundgedanken  nicht 
zur  Hauptsache  gemacht ;  der  Leser  erfährt  nur  allmählich,  vom  9.  Kapitel 
an,  und  so  recht  erst  im  letzten  Kapitel,  was  N.  eigentlich  will.  Der 
flüchtige  Hinweis  auf  frühere  Schriften  ')  kann  zumal  bei  solcher  Breite 
den  Mangel  au  Geschlossenheit  nicht  entschuldigen.  Der  erste  Teil  („Die 
Unmöglichkeit  der  Erkenntnistheorie")  ist  eine  lockere  Folge  von  rein 
polemischen  Aufsätzen  gegen  Natorp,  Marcus,  Meinong,  Simmel,  Rickert, 
Lipps:  mit  viel  Scharfsinn  sind  überall  Schwächen  und  falsche  Voraus- 
setzungen aufgedeckt,  aber  dass  N.  seinen  Gegnern  nicht  völlig  gerecht 
wird,  sie  nie  aus  dem  Mittelpunkt  ihrer  Auffassung  heraus  interpretiert, 
diesen  Eindruck  wird  der  eine  bei  diesem,  der  andere  bei  jenem  Kapitel 
stärker  haben.  N.  hält  es  selbst  für  nöti^,  die  häufigen  Wiederholungen 
desselben  Arguments  (Aufweisung  eines  Zirkelschlussel,  eines  in  den  Vor- 
aussetzungen liegenden  unendlichen  Regresses)  mit  der  polemischen  Ab- 
sicht zu  entschuldigen.  Aber  gerade  dadurch  tritt  das  Outrierte  in  der 
Methode  der  Beweisführung  deutlicher  hervor,  und  es  ist  Schuld  der  Dar- 
stellung, wenn  man  sich  oft  peinlich  an  den  Arzt  der  Satire  von  Shaw 
erinnert  findet,  der  bei  jedem  Kranken  Blutvergiftung  konstatiert.  Durch- 
gängig ist  N.  eine  gewisse  Dürre  des  logischen  Schematismus  eigen,  eine 
Überschätzung  der  Deduktion  gegenüber  der  psychologisch  unmittelbaren 
Beschreibung. 

Der  zweite  Teil  entwickelt  „das  Problem  der  Vernunftkritik"  in 
positiver  Form.  Doch  scheint  mir  eine  nicht  ungefährliche  Bequemlichkeit 
in  der  engen  Anlehnung  an  Kants  Terminologie  und  den  systematischen 
Aufbau  der  Kritik  der  reinen  Vernunft"  zu  liegen.  Wer  nicht  nur  den 
formalen  Idealismus,  sondern  auch  die  transscendentale  Deduktion  so  völlig 
verwirft  und  z.  T.  so  ungerecht  beurteilt,  wer  die  Begriffe  „Anschauung", 
„Vernunft"  etc.  in  so  unkantischem  Sinne  gebraucht,  der  soll  seine  Meinung 
aus  eigenen  Mitteln  entwickeln.  Die  eigentliche  Schwierigkeit  der  N.schen 
Auffassung,  von  dem  empiristischen  Boden  der  psychologischen  Fakta  zur 
Aufweisung  metaphysischer  Erkenntnisse  zu  gelangen,  wird  durch  die  Be- 
rufung auf  Kant  („Metaphysik  ist  das  System  der  synthetischen  Urteile 
a  priori  aus  reinen  Begriffen")  nur  verdeckt:  Auf  eine  psychologische 
Darstellung   der   behaupteten  „unmittelbaren  nicht-anschaulichen  Erkennt- 

^)  Vor  allem :  „Die  kritische  Methode  und  das  Verhältnis  der  Psycho- 
logie zur  Philosophie"  und  „J.  F.  Fries  und  seine  jüngsten  Kritiker", 
Heft  1  und  2  des  1.  Bandes  derselben  Abhandlungen. 


Rezensionen  (Weichelt).  363 

nis"  (für  die  in  gewissen  Theorien  von  Husserl  und  der  Külpe-Schule  mo- 
derne Stützen  zu  finden  wären)  warten  wir  vergebens,  dafür  folgt  eine 
Entscheidung  des  gegenwärtigen  Streites  um  die  psychologische  oder 
transscendentale  Methode  mit  interessanter  Polemik  besonders  gegen 
Husserl  und  Lipps. 

Den  dritten  Teil  wird  N.  selbst  nicht  im  Ernst  für  eine  „Geschichte 
der  Erkenntnistheorie"  halten.  Denn  abgesehen  davon,  dass  der  Neu- 
kantianismus mit  ein  paar  Injurien  abgefertigt  wird,  Namen  wie  Schopen- 
hauer, Hegel  oder  Mill  überhaupt  nicht  genannt  sind,  würde  eine  solche 
Darstellung  doch  wohl  noch  andere  Aufgaben  haben  als  die  Aufweisung 
von  Beobachtungsfehlern,  quaternio  terminorum,  Verwechselungen  von 
Inhalt  und  Gegenstand,  Grund  und  Begründung  etc.  Im  einzelnen  wird 
viel  Interessantes  beigebracht  für  die  Problementwickelung,  die  von  Kant 
über  Jacobi,  Reinhold  und  Maimon  zur  „Systematisierung  des  transscen- 
dentalen  Vorurteils  bei  Fichte"  und  des  „psychologistischen  Vorurteils  bei 
Beneke"  führt.  Den  Schluss  bildet  eine  auf  reichliche  Zitate  gestützte 
DarsteUung  der  Lehren  von  Fries.  Nicht  alle  Bedenken  und  Zweifel 
freilich  sind  damit  gelöst.  Eins  sei  erwähnt,  wenn  ich  auch  im  übrigen 
auf  jede  sachliche  Diskussion  verzichten  muss :  wo  bleibt  die  Regel, 
welche  die  Vollständigkeit  der  psychologisch  abzuleitenden  metaphysischen 
Sätze  verbürgt  ?  Hier  scheint  mir  das  tiqwtov  ipevdos  zu  liegen,  aus 
welchem  der  Unfehlbarkeitsanspruch  aach  dieser  Lehre  resultiert.  Sollte 
nicht  diese  Deduktion,  wie  jedes  empirische  Verfahren,  verschiedenen 
Lösungen  Raum  geben?  Es  ist  meine  Überzeugung,  dass  der  Neubau  der 
Erkenntnistheorie  nur  gelingen  wird,  wenn  die  Maxime  der  Toleranz  in 
jede  Auffassung  hineingenommen  wird.  Wenn  das  Relativismus  ist 
(unter  dieser  Kategorie  statt  unter  dem  „biologischen  Kriterium"  hätte 
N.  Simmel  behandeln  sollen,  es  wäre  schwieriger  und  lehrreicher  gewesen), 
—  nun,  so  bekenne  ich,  dass  ich  aus  N.s  Darlegungen  nichts  stärker  be- 
griffen habe,  als  „die  Unmöglichkeit  jeder  absolut  geltenden  Erkenntnis- 
theorie". 

Bonn  a.  Rh.  Fritz  Ohmann. 

Weichelt,  Hans.  Friedrich  Nietzsche,  „Also  sprach  Zarathustra" 
erklärt  und  gewürdigt.     Leipzig,  Dürrsche  Buchhandlung,  1910.     (S.  — .) 

Für  einen,  der  sich  in  Nietzsche  hineingelesen  und  hineingedacht 
hat,  ist  es  nicht  leicht  sich  den  Nutzen  einer  Zarathustra-Erklärung  vor- 
zustellen, die  auf  194  Oktavseiten  die  nicht  sehr  viel  längere  Dichtung 
in  sehr  gemeinverständliche  Prosa  überträgt.  Man  kann  Iiohe  Gedanken 
recht  gut  auch  einmal  in  einer  Übersetzung  lesen:  das  Altvertraute  über- 
rascht uns  wohl  im  fremden  Gewände  durch  neue  Züge  und  einen  unge- 
wohnten Ausdruck  (man  lese  nur  einmal  die  italienische  Übersetzung  von 
Zarathustra).  Aber  alle  Reize  des  Gedankens  und  der  Form  in  einem 
besseren  (keineswegs  schlechten !)  Aufsatzstil  untergehen  zu  sehen  —  davon 
zu  reden  schafft  Verlegenheit.  Immerhin  mag  es  Leute  geben,  die  eine 
solche  Einführung  in  die  Lektüre  den  Schriften  über  den  ganzen  Nietzsche 
vorziehen,  und  da  ist  es  denn  ein  Trost,  dass  die  Interpretation  wenigstens 
gewissenhaft,  meist  verständig  und  von  groben  Entstellungen  frei  ist. 
Ein  paar  Beispiele.  Zarathustra  redet  von  den  „Hinterweltlern".  Das  sind 
die  Metaphysiker,  belehrt  W.  des  längeren.  Unbestreitbar.  Oder  Nietzsche 
redet  von  den  seeUsch  Unkeuschen:  „Schlamm  ist  auf  dem  Grund  ihrer 
Seele;  und  wehe,  wenn  ihr  Schlamm  gar  noch  Geist  hat!"  Daraus  W.: 
„Doppelt  widerlich  ist  nun  gar  die  Halbwelt  (!),  wenn  sie  noch  geistreichelt." 
Oder  das  Lied  der  Schwermut,  das  trunkene  Lied:  wie  kann  eine  Para- 
phrase da  etwas  anderes  als  ein  Vorbei-Reden  sein?  Eine  Interlinearversion 
ist  doch  noch  keine  Übersetzung  eines  Dichtwerks. 

Ein  zweiter  Teil  bringt  eine  „Würdigung".  In  dem  Bericht  über 
Vor-  und  Nachgeschichte  spricht  sich  ein  massvolles  und  meist  gerechtes 
Urteil  aus.  Nur  die  Universitätsdozenten  kommen  wieder  zu  schlecht  weg: 
nicht  nur  R.  Richters,  sondern  auch  Riehls,  Vaihingers,  Deussens,  Simmeis 


364  Rezensionen  (Rausch). 

Schriften  tun  doch  wohl  heute  das  Beste  zum  Verständnis  Nietzsches,  und 
wenn  Verf.  von  den  Kollers  über  Nietzsche  spricht,  so  hätten  nicht  zwei, 
sondern  wohl  zwanzig  Namen  genannt  werden  können.  Was  W.  zu 
Nietzsche  hinzieht,  ist  nicht  seine  philosophische  Lehre,  die  er  völlig  ab- 
lehnt, sondern  der  künstlerische  Wert  seiner  Dichtungen.  Man  mag  das 
erste  zugeben  und  sich  bei  dem  zweiten  mancher  feinfühligen  ästhetischen 
Bemerkung  freuen,  aber  dass  das  sachliche  Verständnis  der  Grundgedanken 
so  dürftig,  die  Polemik  so  seicht  ist,  bleibt  unverzeihlich. 

Das  Wertvollste  an  dem  Buch  sind  die  Materialien  zu  einer  literar- 
historischen Analyse,  die  in  den  Abschnitten  über  Kunstform  und  Quellen 
nach  einer  freilich  sehr  äusserlichen  Methode  gegeben  sind  (aber  dass  der 
rythmische  Charakter  dieser  Prosa  so  ganz  verkannt  wird,  verrät  doch 
eine  arge  Befangenheit  in  der  Silbenzählerei  einer  veralteten  Poetik). 
Das  Musikalische  bei  N.  ist  noch  weit  stärker  zu  betonen;  es  fehlt  ihm 
nicht  nur,  wie  W.  gut  bemerkt,  ein  inneres  Verhältnis  zur  bildenden  Kunst, 
sondern  die  visuellen  Assoziationen  treten  überhaupt  in  seinem  Vorstellungs- 
verlauf vor  den  akustischen  auffallend  zurück:  hierauf  beruht  die  Kraft 
vieler  seiner  geistvollsten  Wortspiele. 

In  der  Frage  der  Vorbilder  lehnt  W.  die  Abhängigkeit  von  Zoroaster 
wie  von  Jordan,  Spitteler  u.  a.  ab,  um  uns  dafür  ein  paar  neue  verfehlte 
Parallelen  zu  bescheren:  Plato,  Erasmus  und  Augustin.  Das  Verhältnis 
zur  Antike  kann  nur  auf  breitester  Grundlage,  nicht  mit  ein  paar  Ver- 
gleichspunkten erkannt  werden,  und  um  das  Satirische,  melir  noch  das 
Autobiographische  im  „Zarathustra"  zu  erfassen,  muss  man  doch  tiefer 
graben!  Recht  gut  ist  das  Verhältnis  zur  Bibel  gewürdigt  und  mit  wert- 
vollen Parallelen  belegt.  Durch  die  paar  Zitate,  die  W.  dafür  beibringt, 
sind  wir  in  der  Beurteilung  des  so  wichtigen  Einflusses  Hölderlins  leider 
noch  nicht  weiter  gekommen.  Eine  Stilvergleichung  steht  hier  noch  ganz 
aus,  und  im  übrigen  ist  es  weniger  der  Inhalt  als  die  Kunstform  des 
„Hyperion",  die  bei  Nietzsches  philosophischem  Roman  nachwirkt;  dass 
für  die  Konzeption  des  Zarathustra  der  „Empedokles"  ebenso  sehr  in 
Betracht  kommt,  sieht  W.  nicht. 

Im  Ganzen  ist  es  ja  für  den  popularisierenden  Zweck  des  Buches 
schon  ein  vergleichsweise  hohes  Lob,  dass  es  kaum  Schaden  anrichten  und 
manches  Gute  wirken  kann.  Der  zweite  Teil  bietet  auch  dem  Fachmann 
einzelnes  Neue,  wenn  auch  hier  vieles  „Anlass  zu  Ausstellungen  gibt"' 
(diese  Geschmacklosigkeit  läuft  dem  Verf.  bei  der  Würdigung  von  Nietzsches 
Stil  unter).  Das  Register  ist  sehr  sorgfältig;  Nietzsches  Briefe  sind  fleissi^, 
die  übrigen  Schriften  gar  nicht  herangezogen,  so  dass  das  Buch  nicht  mit 
Naumanns  Kommentar  rivalisiert. 

Bonn  a.  Rh.  Fritz  Ohmann, 

Ransch,  Alfred.  Elemente  der  Philosophie.  Ein  Lehrbuch  auf 
Grund  der  Schulwissenschaften.  Halle  a.  S.,  Buchhandlung  des  Waisen- 
hauses, 1909.     (376  S.) 

Man  beschränkte  bisher  den  propädeutischen  Unterricht  an  den  höheren 
Schulen  im  wesentlichen  auf  die  Grundzüge  der  Logik  und  Psychologie. 
Und  doch  bedarf  der  Primaner  gerade  der  Grundlegung  einer  Welt-  und 
Lebensanschauung.  Umsomehr,  als  keine  Bürgschaft  besteht,  dass  sich  die 
Mehrzahl  der  Studenten,  zumal  derer,  die  auf  der  Schule  solche  Einführung 
entbehrt  haben,  überhaupt  um  Philosophie  kümmert.  Und  gar  die  Nicht- 
studierenden. 

Eine  derartige  Grundlage  wird  nun  hier  in  einer  Weise  geboten, 
der  man  es  anmerkt,  dass  sie  aus  der  Praxis  erwachsen  ist.  So  ist  sie 
auch  auf  die  besonderen  Bedürfnisse  der  Schule  zugeschnitten,  indem  sie 
deren  Stoff  in  weitem  Umfange  konzentriert,  ordnet  und  in  eine  höhere 
Einheit  zusammenfasst.  Und  zwar  gilt  dies  von  den  naturwissenschaft- 
lichen, wie  von  den  geisteswissenschaftlichen  Fächern. 

Man  soll  allerdings  den  didaktischen  Materialismus,  vor  allem  in  der 
Propädeutik,  endgültig  fahren  lassen  und  einsehen,  dass  es  sich  hier  mehr 


Rezensionen  (Marcus).  365 

um  Anleituns:  zum  Denken  und  denkendes  Erfassen  der  "Wirklichkeit,  als 
um  Einprägung  von  Gedächtnisstoffen  handelt.  Dennoch  ist  auch  für  diesen 
Unterricht  ein  Arbeitsplan  und  eine  geordnete  Stoffverteilung  sowohl  dem 
Lehrer  als  dem  Schüler  unentbehrlich.  Was  unser  Buch  hierin  darbietet, 
ist  in  der  Hauptsache  vollständig  und  gründlich. 

Die  Richtung  des  Verf.s  wird  teilweise  durch  Kant,  vor  allem  aber 
durch  Wundt  bestimmt.  Das  Ganze  läuft  in  christlicher  Sittlichkeit  aus. 
Eine  Stärke  der  Schrift  liegt  in  der  klaren  und  scharfen  Logik  der  Aus- 
führung. Die  Einteilung  des  Stoffes  und  die  Definition  der  in  Frage 
kommenden  wichtigsten  Begriffe  sind  meist  vortrefflich.  Das  Buch  zerfällt 
in  die  Hauptteile:  „Stellung  des  Menschen  zur  Welt",  „Natur",  „Kultur", 
„Bildung".  Infolge  dieser  Einteilung:  wird  allerdings  die  Lehre  vom  Begriff 
als  L  Hauptstück  des  2.  Teiles  unter  „Naturgegenstände",  die  Lehre  vom 
Urteil  und  Schluss  als  4.  Abschnitt  des  3.  Teils  „Wissenschaft"  unter  den 
„Formen  des  wissenschaftlichen  Denkens"  behandelt  und  so  die  „Logik" 
auseinander  gerissen.  Immerhin  wird  ein  für  diesen  Unterricht  überhaupt 
geeigneter  Lehrer  die  sachlichen  Lücken  durch  rückblickende  Wiederholung 
auszufüllen  wissen.  Ähnliches  gilt  von  dem  1.  Hauptstück  des  1.  Teiles 
„Der  Mensch",  dessen  leibliche  Seite  zunächst  vermisst,  indessen  im  wesent- 
lichen im  2.  Teile,  2.  Hauptstück  2.  Abschnitt  II  „Das  Leben"  nach  ge- 
bracht wird. 

Die  Methode  des  Buches  ist  mit  Recht  induktiv  gehalten.  Der  Ge- 
dankengang schreitet  stetig  fort  und  fesselt  das  Interesse.  Der  Ausdruck 
ist  schlicht  und  meist  anschaulich  und  für  den  Primaner  verständlich.  Das 
Buch  steht  auf  der  Höhe  der  Wissenschaft.  So  könnte  es  auch  für  manchen 
angehenden  Studenten  ein  erwünschtes  Mittel  sein,  sich  in  die  Philosophie 
einführen  zu  lassen. 

Eine  gewisse  Unsicherheit  herrscht  allerdings  in  den  erkenntuis- 
theoretischen  und  metaphysischen  Anschauungen  des  eklektischen  Verfassers. 
Und  zwar  entsteht  sie  m.  E.  aus  dem  Konflikte  seines  gesunden  Menschen- 
verstandes mit  gewissen  nicht  mehr  haltbaren  Kantischen  Gedankengängen. 
Dies  tritt  besonders  in  Bezug  auf  die  Auffassung  von  Raum  und  Zeit  und 
den  Kategorien  hervor  (S.  97  f.,  101  f.,  333).  Doch  ist  dieser  fast  einzige 
Mangel  des  in  der  Hauptsache  vortrefflichen  Buches  weniger  die  Schuld 
des  Verfassers,  als  unserer  Zeit  überhaupt.  Jenes  wird  gewiss  dazu  bei- 
tragen, dem  Abschluss  der  höheren  Schulen  grössere  Klarheit  und  Ein- 
heitlichkeit zu  geben  und  die  Grundlage  einer  gesunden  Welt-  und 
Lebensanschauung  zu  legen. 

Wernigerode.  Paul  Schwartzkopff. 

Marcus,  Ernst.  Die  Elementarlehre  zur  allgemeinen  Logik 
und  die  Grundzüge  der  Transscendentalen  Logik.  Herford, 
Menckhoff,  1906.    (XVI  und  220  S.). 

Ausgehend  von  der  Kennzeichnung  der  Kantischen  Lehre  als 
Zentrifugaltheorie  [die  Elemente  mit  dem  Charakter  a  priorischer 
Gewissheit  gelangen  von  dem  Centrum  (dem  denkenden  ,.Ich")  in  die 
Peripherie  (Sinnlichkeit)],  werden  im  1.  Teil  des  Werks  die  Grundlagen 
und  die  Aufgaben  der  Logik  angegeben.  Die  Aufgabe  —  das  Problem 
Kants  —  besteht  darin,  sämtliche,  die  apriorische  Induktion  der  An- 
schauungsformen  (Raum  und  Zeit)  ermöglichenden,  Zentralfunktionen  auf- 
zufinden. (Ausgang:  mit  der  ungeheuren,  vor  uns  liegenden  Leere  — 
dem  Räume  —  werden  zugleich  die  Begriffe  der  Teilbarkeit  und  der 
Grösse  induziert.) 

Die  Lösung  der  Aufgabe  setzt  Klarheit  über  einige  Begriffe  voraus, 
die  nicht  eigentlich  zur  Logik  gehören,  aber  zur  völligen  Einsicht  unent- 
behrlich sind.  Diese  Begriffe  sind:  Form  und  Materie,  Begriff  und  Sinnes- 
vorstellung. Es  wird  u.  A.  bewiesen:  1.  dass  die  logische  Form  nicht  nur 
die  Bedingung  einer  intellektuellen  Ordnung,  sondern  Bedingung  der  Intelli- 
genz selbst  ist;  2.  dass  die  sinnliche  Kopula  (eine  Verbindung)  zu  unter- 
scheiden  ist   von   der   logischen  Kopula,   die  ausschliesslich  als  Beziehung 


366  Rezensionen  (Marcus). 

oder  Verhältnisform  wirkt ;  3.  dass  eine  Verbindung  nicht  gedacht  werden 
kann  ohne  Beihülfe  logischer  Formen  (Subordination  oder  Koordination) ; 
4.  dass  die  Materialstücke  eines  Urteils  (Begriffs)  zwar  aus  der  Sinnenwelt 
entspringen,  aber  trotzdem  keine  sinnlichen  Vorstellungen  sind;  5.  dass 
Begriffe  notwendige  Elemente  jeder  Regelbildung  sind. 

Auf  Grund  dieser  Klarstellungen  lässt  sich  Ziel  und  Verfahren  der 
allgemeinen  Logik  genau  bezeichnen.  Als  Regeln,  die  uns  die  Grenzen 
der  rein  logischen  Sphäre  zeigen,  werden  angegeben:  1.  dass  die  logische 
Beziehung  zwar  in  jeder  Verbindung  steckt,  nicht  aber  diese  in  jener; 
2.  dass  es  in  der  rein  logischen  Sphäre  keine  ],ndividualvorstellungen  giebt. 
Das  führt  zu  der  Verhaltungsmassregel :  sobald  ich  jedes  Urteil  nur  als 
klassifizierend  ansehe,  bleibe  ich  mit  Sicherheit  in  den  Grenzen  der 
reinen  Logik. 

Damit  ist  die  Basis  für  die  Aufdeckung  der  Formen,  von  denen 
der  dritte  Teil  handelt,  geschaffen.  Um  die  Gewissheit  zu  erlangen,  dass 
man  sämtliche  Formen  der  logischen  Ordnung  auffindet,  wird  ein  ein- 
heitliches Einteilungsprinzip  aufgestellt.  In  der  nun  folgenden  Aufdeckung 
der  Quantitativformen  werden  prinzipielle  Dinge  zur  Klärung  gebracht, 
so  die  Feststellung,  dass  die  Begriffe  nicht  unmittelbare  Axiome  der 
Logik,  sondern  Ableitungen  aus  der  Bedeutung  der  Urteilsformen  sind, 
eine  Präzisionsfeststellung,  gegen  welche  nicht  nur  die  meisten  Lehrbücher 
der  Logik,  sondern  auch  Kant  verstösst.  Das  Singularurteil  bildet  den 
Übergang  zu  der  überaus  wichtigen,  von  Kant  selbst  nicht  genügend 
herausgehobenen  Tafel  der  logischen  Momente  (das  was  Kant  als  Ur- 
teilstafel giebt,  ist  ein  Zwischending  zwischen  einer  Tafel  der  logischen 
Momente  und  einer  Urteilstafel.  Die  Bestimmung  des  Charakters  des 
Moments  im  Unterschiede  von  der  Urteilsform  fehlt),  die  zwischen  den 
Urteilsformen  und  Kategorien  vermitteln.  (Das  Individualurteil  enthält 
nämlich  zwar  keine  neue  Beziehungsform  und  gehört  infolgedessen  nicht 
in  die  allgemeine  Logik,  aber  es  enthält  eine  neue  Qualitätsform  des  Sub- 
jekts (eine  Begriffsform),  wodurch  es  unmittelbar  als  Allgemeinheit 
zur  Kategorie  der  Allheit  hinüberleitet.)  Um  Naturbegriffe  (Kategorien) 
zu  bilden,  muss  der  Materie  der  Natur  die  Form  der  logischen  Momente 
gegeben  werden  und  zwar  wirken  bei  dieser  Formengebung  als  allge- 
meines Material  die  reinen  Anschauungsformen  des  Raumes  und  der  Zeit. 
Die  logischen  Momente  sind  es  also,  welche  die  apriorische  Induktion 
der  Anschauungsformen  ermöglichen. 

Ich  kann  hier  nicht  auf  die  Aufdeckung  sämtlicher  Urteilsformen 
sowie  auf  die  Ableitung  der  entsprechenden  logischen  Momente  und  Kate- 
gorien eingehen.  Nur  an  einem  Beispiel  will  ich  noch  zeigen,  wie  der 
Verf.  sich  einer  logischen  Form  bemächtigt  und  in  welcher  Weise  er  sie 
zergliedert  und  durchdenkt,  um  das  charakteristische  Moment  herauszu- 
holen. Ich  wähle  die  disjunktive  Urteilsform.  M.  stellt  sich  und  löst 
folgende  Probleme: 

Problem  I:  Warum  ist  es  dem  Urteil  „Rosen  sind  entweder  rot  oder 
weiss  (nicht-rot")  wesentlich,  dass  das  Subjekt  in  den  beiden  Urteilen, 
die  seine  Glieder  bilden,  dasselbe  ist?  Problem  II:  Warum  müssen  in 
diesem  Urteil  beide  Gliedurteile  im  problematischen  Modus  stehen  ?  (Rosen 
können  rot  sein).  Problem  III:  Warum  enthält  das  Urteil  daneben  ein 
kategorisches  Moment,  nämlich  insofern,  als  es  doch  behauptet,  dass  von 
beiden  Gliedern  eins  im  Modus  ponens  und  das  andere  im  Modus  tollens 
steht?  Problem  IV:  Sind  die  Verneinung  und  Bejahung  in  diesem  Urteil 
modal  oder  qualitativ?  Problem  V:  Warum  sind  hier  Verneinung  und  Be- 
jahung gegeneinander  ausgespielt?  Ist  die  hier  vorliegende  Relation  an 
die  Form  dieser  Opposition  gebunden?  (Im  hypothetischen  Urteil  lassen 
sich  doch  beide  Glieder  bejahen  oder  verneinen.) 

Um  diese  Probleme  aufzulösen ,  entwickelt  M.  dann  zuerst  den 
Charakter  des  disjunktiven  Urteils.  Ich  will  in  Kürze  angeben,  wie  er 
das  macht. 


Rezensionen  (Marcus).  367 

I.  Um  das  neue,  wesentliche  Moment  des  disjunktiven  Urteils  zu 
finden,  werden  sämtliche  schon  bekannten  Elemente  (problematischer  und 
assertorischer  Modus,  partiell  kategorische  Form,  Opposition  in  Bejahung 
und  Verneinung)  weggedacht.  II.  Als  Restmoment  bleibt  die  Kopula:  ent- 
weder —  oder.  III.  Durch  Verstandesschluss  werden  aus  dieser  Kopula 
vier  hypothetische  Momente  herausanalysiert:  a)  Wenn  Rosen  rot  sind, 
dann  sind  sie  nicht  weiss,  b)  Wenn  Rosen  weiss  sind,  dann  sind  sie  nicht 
rot.  c)  Wenn  Rosen  nicht  weiss  sind,  dann  sind  sie  rot.  d)  Wenn  Rosen 
nicht  rot  sind,  dann  sind  sie  weiss.  IV.  Als  Folgerungen  aus  (a)  und  (b) 
(Konversionen  gemäss  der  Sonderart  der  hypothetischen  Kopula)  können 
(b)  und  (d)  eliminiert  werden,  sodass  bleiben:  a)  Wenn  Rosen  rot  sind, 
dann  sind  sie  nicht  weiss,  c)  Wenn  Rosen  nicht  weiss  sind,  dann  sind  sie 
rot.  V.  Resultat:  Die  Eigenart  der  disjunktiven  Urteilsform  besteht  also 
darin,  dass  seine  Glieder  sich  ("im  Gegensatz  zur  hypothetischen  Urteils- 
form, (die  bekanntlich  nur  im  Modus  ponens  konvertierbar  ist)  ohne  Ver- 
änderung des  Modus  konvertieren  lassen.  Das  gesuchte  neue  Moment  ist 
also  das  der  gegenseitigen  oder  wechselseitigen  Bedingtheit. 

Aus  der  Stofffülle  des  dritten  Teils  hebe  ich  dann  noch  ganz  kurz 
den  Exkurs  über  die  mathematische  Anwendung  der  Momente  (Konstruktion 
der  Begriffe)  hervor,  sowie  die  Deduktion  des  Gesetzes  von  der  Erhaltung 
des  mathematischen  Charakters  (Intensität  und  Extensität  bleiben  erhalten), 
das  eine  Ergänzung  des  von  M.  in  seinem  „Revolutionsprinzip"  begründeten 
Gesetzes  von  der  Erhaltung  des  dynamischen  Charakters  bildet,  und  von 
M.  dazu  verwendet  wird,  das  Energieprinzip  a  priori  zu  deduzieren.  Ich 
möchte  besonders  die  Mathematiker   auf  diese  Kapitel  hinge\\äesen  haben. 

Einen  ganz  neuen,  aber  notwendigen  Ausbau  der  Kantischen  Lehre 
versucht  der  vierte  und  letzte  Teil  des  Werkes,  indem  er  sowohl  die 
Vollständigkeit  des  Systems  der  Kategorien  wie  auch  die  Vollständigkeit 
der  Urteilsformen  nachzuweisen  sucht.  Dieser  Beweis  ist  so  neu  und  über- 
raschend, dass  ich  den  Leser  wenigstens  mit  einer  Skizze  bekannt 
machen  will.  I.  Damit  ein  Gedanke  als  unterscheidbar  von  einem  andern 
gedacht  werden  kann,  ist  notwendig,  dass  er  in  mindestens  zwei  materiale 
Elemente  (Ms,  Mp)  auflösbar  ist.  Ausser  diesen  materialen  Elementen 
(Begriffen)  ist  mindestens  ein  formales  Element  (X)  erforderlich,  das  die 
Inbeziehungsetzung  (Isolierung  bezw.  Vereinigung)  dieser  Elemente  besorgt. 
Die  materialen  Elemente  mögen  Materialstücke,  das  formale  Element  die 
Grundkopula  heissen.  II.  Die  Materialstücke  Ms  und  Mp  (Subjekt-  und 
Prädikatmaterie)  sind  aufeinander  beziehbar;  a)  einigend  (mittels  der  Positiv- 
subordination); b)  entgegensetzend  (mittels  der  Negativsubordination)  und 
diese  einigende  und  entgegensetzende  Funktion  ist  entweder :  a)  eine  voll- 
ständige (totale);  b)  eine  unvollständige  (partielle).  Ausser  diesen  Be- 
ziehungen ist  ein  Verhältnis  von  Materialstück  zu  Materialstück  ebenso 
undenkbar,  wie  es  undenkbar  ist,  dass  zwischen  zwei  entsprechenden  Seiten 
kongruenter  Figuren  hinsichtlich  ihrer  Lage  im  Raum  noch  mehr  Be- 
ziehungen bestehen  als  1.  vollkommene  Berührung  (Deckung),  2.  teilweise 
Berührung,  3.  keine  Berührung.  III.  Da  Materialstück  auf  Materialstück 
in  keiner  neuen  Art  aufeinander  bezogen  werden  kann,  können  weitere 
Formen  nur  dadurch  zustande  kommen,  dass  man  es  mit  einer  anderen 
Art  von  Beziehung,  nämlich  der  von  Materie  zur  Form  selbst,  versucht. 
In  welcher  Weise  und  auf  wieviel  Arten  also  kann  die  Form  (Kopula)  auf 
die  Begriffsmaterie  (Subjekt-  und  Prädikatmaterie)  bezogen  werden?  Da 
eine  Mehrheit  von  Kopulae  existiert,  die  ich  zwischen  Ms  und  Mp  ein- 
schieben kann,  so  gewinnt  diese  Frage  den  Sinn,  festzustellen,  welche  von 
diesen  Kopulae  (Positiv-  oder  Negativkopula)  an  die  Materie  herangebracht 
r  werden  sollen. 

Da  giebt  es  nun  drei,  aber  nur  drei  Fälle:  a)  Sowohl  die  eine 
Kopula  (positiv)  wie  die  andere  (negativ)  ist  mit  der  Materie  verbindbar 
(problematischer  Modus);  b)  Eine  von  mehreren  Kopulae  soll  mit  der 
Materie  verbunden  werden  (assertorischer  Modus);  c)  die  Verbindung  einer 


S68  Rezensionen  (Marcus). 

bestimraten  Kopula  mit  der  Materie  ist  formallogisch  gesetzlich  vorge- 
schrieben (apodiktischer  Modus).  IV.  Wir  hatten  bis  jetzt  1.  Materie  auf 
Materie,  2.  Materie  auf  Form  bezogen.  Es  bleibt  also  noch  als  einzigste 
Möglichkeit  neuer  Beziehungen  (Urteilsforraen)  die  Beziehung  von  3.  Form 
auf  Form.  Damit  der  Leser  es  nicht  übersieht,  will  ich  unterstreichen, 
dass  der  Hebel  zum  ganzen  Beweise  (die  eigentliche  Entdeckung)  in  dieser 
Dreiteilung  der  Beziehungsmöglichkeiten  liegt.  Erst  als  dieser  Hebel  auf- 
gefunden war,  konnte  mit  mathematischer  Sicherheit  die  Möglichkeit  jeder 
weiteren  elementaren,  nicht  in  der  Tafel  enthaltenen  Urteilsform  bestritten 
werden. 

Es  bleibt  jetzt  nur  noch  aufzudecken,  auf  wieviel  Weisen  sich  Form 
auf  Form  beziehen  kann.  Nun,  entweder  kann  man:  a)  die  Grundkopula 
der  Grundkopula  subordinieren  (hypothetische  Form  =  kopula  subordinativa); 
oder  b)  die  Verneinung  und  Bejahung  in  Bezug  auf  dieselbe  Materie  pro- 
blematisch koordinieren  (disjunktive  Form  =•  kopula  coordinativa).  Aus 
I — IV  ergäbe  sich  dann  das  (von  M.  nicht  ausgeführte)  Bild  der  Urteils- 
tafel: Beziehungsformen  zwischen  Begriffsmaterie  und  Be- 
griff smaterie.  I.  Grundkopula  (kategorische),  Sonderformen  der  Grund- 
kopula, n.  Qualitätsformen,  1.  bejahende  (positive),  2.  verneinende 
(negative).  IH.  Qualitätsformen,  1.  allgemeine  (universale),  2.  be- 
sondere (partikulare).  Beziehungsformen  zwischen  Begriffsmaterie 
und  Urteilsform.  IV.  Modalitätsformen,  1.  fragliche  (problematische), 
2.  gültige  (assertorische),  3.  notwendige  (apodiktische).  Bezieh ungs- 
formen  zwischen  Urteilsform  und  Urteilsform.  V.  Relations- 
formen, 1.  bedingte  (hypothetische),  2.  wechselseitig  abhängige  (dis- 
junktive). 

Es  schliessen  sich  Kapitel  über  das  Wesen  der  logischen  und  der 
ewigen  Wahrheiten,  sowie  über  die  Spontaneität  des  Intellekts  an,  die  ich 
nicht  nur  deshalb  warm  empfehlen  möchte,  weil  sie  ganz  neu  sind,  sondern 
vor  allem,  weil  sie  m.  E.  endgültige  Klarheit  schaffen  können  über  die 
schwerwiegenden  Fragen  der  Tragweite  und  des  Wertes  logischer  Beweis- 
gänge überhaupt. 

Insbesondere  gegenüber  dem  immer  mit  den  gleichen  unerlaubten 
Argumenten  arbeitenden  logischen  Skeptizismus  (der  eine  reale  Möglich- 
keit nicht  von  einer  logischen  unterscheiden  kann)  sind  die  M.schen  Be- 
weisgänge durchschlagend.  Fein  ist  z.  B.  die  Abfuhr,  wenn  M.  die  Frage 
der  logischen  Relativisten,  woher  wir  denn  wissen,  dass  die  Logik  abso- 
lute Wahrheit  hat,  da  sie  sich  doch  vom  Standpunkt  eines  höher  organi- 
sierten Wesens  als  Unwahrheit  darstellen  könne,  vergleicht  mit  der  Frage 
des  die  Geschichte  des  Schachspiels  schreibenden  historischen  Gelehrten: 
Ist  es  auch  absolut  richtig,  wenn  wir  dem  Turm  nur  gerade  Züge  ver- 
statten, müssten  ihm  nicht  eigentlich  die  Züge  des  Springers  zugebilligt 
werden,  und  welches  von  beiden  ist  nun  absolute  Schachwahrheit  ?  In 
dem  Abschnitt  über  die  transscendentale  organische  Einheit,  der  folgt, 
wird  gezeigt,  dass  das  „Ich"  zwar  „im  mathematischen  Sinne  gänzlich 
leer  und  blosse  Form,  dagegen  im  dynamischen  Sinne  ein  vor  allen  Kate- 
gorien und  realisierten  Denkfunktionen  eben  zugleich  mit  der  Denkfunk- 
tion selbst  gegebenes  Objectum  logicum  datum,  d.  h.  ein  dem  Denken 
gegebenes  und  nicht  bloss  erdachtes  Objekt  ist,  auf  das  die  Funk- 
tionen des  Denkens  (Kategorien)  reflexiv  und  analytisch  anwendbar  sind, 
wodurch  es  in  Ansehung  seiner  Realität  dieselbe  Bedeutung  erhält,  wie 
alles  wirklich  Erkannte".  Im  Anhang  wird  dann  noch  das  logische  Mo- 
ment der  Vernunft  und  die  transscendentale  Idee  behandelt. 

Fassen  wir  zusammen,  was  das  M.sche  Werk  uns  Neues  bringt: 
1.  Es  versucht  zum  ersten  Male  mit  einer  der  mathematischen  gleich- 
kommenden Strenge  der  Gedankenfolge  für  ein  bestimmt  formuliertes 
Problem  eine  einwandfreie,  auf  Präzisionsbeweis  gestützte  Lösung  zu 
geben.  2.  Es  beweist,  falls  sich  sein  Inhalt  rechtfertigen  sollte,  a)  dass 
sich   aus   der   allgemeinen   Logik,   deren   Gegenstand   und  Grenze  vorher 


Selbstanzeigen  (Wentscher).  369 

genau  bestimmt  ist,  Begriffsformen  oder  logische  Momente  ableiten  lassen ; 
b)  dass  diese  logischen  Momente  die  apriorische  Induktion  der  periphe- 
rischen Formen  (Raum  und  Zeit)  ermögliclien,  und  dass  durch  Synthesis 
beider  die  allgemeinsten  mathematischen  Begriffe  entstehen ;  c)  dass  durch 
Entgegensetzung  dieser  mathematischen  Begriffe  zu  der  Materie  des  Em- 
pfindens unter  Vermittlung  der  assimilierten  logischen  Momente  die 
Kategorien  der  Qualität  und  Modalität  und  d)  durch  Anwendung  auf  die 
Materie  des  Empfindens  die  Kategorien  der  Quantität  und  Relation  ent- 
stehen ;  e)  dass  die  Tafel  der  Urteilsfunktionen  sowie  die  der  Kategorien 
Vollständigkeit  aufweist.  3.  Damit  wäre :  a)  die  allgemeine  Logik  (unter 
Kants  Führung)  aus  ihrem  isolierten  Zustande  zu  der  Bedeutung  einer 
unerlässlichen  Bedingung  der  transscendentalen  Logik  heraufgerückt  (vgl. 
damit  z.  B.  den  Standpunkt  H.  Cohens,  der  die  Kategorieen  aus  den 
synthetischen  Grundsätzen  deduzieren  will.  Darnach  wäre  also  das  Kate- 
g'orieenproblem  ganz  unabhängig  von  der  Frage  der  Urteilsformen,  d.  h. 
dem  Zentralinhalt  der  allgemeinen  Logik  lösbar) ;  b)  zum  kritischen  Organon 
der  Philosophie  geworden ;  c)  die  gesarate  Philosophie  auf  eine  der  mathe- 
matischen vergleichbare,  feststehende  Grundlage  gestellt  und  also  von  dem 
Zustande  des  Umhertappens  in  den  Gang  der  sicheren  Wissenschaft 
gebracht. 

Ob  das  geleistet  ist,  muss  jeder  Leser  durch  eigenes  Studium  selbst 
entscheiden.  Der  Ref.  hat  keine  ins  Gewicht  fallende  Fehler  in  der  Be- 
weisführung entdecken  können,  wohl  aber  sind  ihm  an  vielen  Stellen 
Präzisionslücken  und  Inkorrektheiten  aufgestossen,  die  er  des  Raum- 
mangels wegen  aber  hier  nicht  anfügen  kann,  die  aber  an  anderer  Stelle 
zur  Sprache  kommen  sollen. 

Die  Handhabung  der  äusseren  Form  ist  durchaus  nicht  nach  dem 
Geschmacke  des  Ref.,  auch  von  einigen  literarischen  Gepflogenheiten  des 
Verfassers,  z.  B.  von  der  Art  der  Polemik  kann  er  sich  keine  Fruchtbar- 
keit versprechen. 

Das  Buch  sei  allen  denen  warm  empfohlen,  die  ernsthaft  nach 
Wahrheit  streben. 

Essen  a.  R.  A.  Jacobs. 


Selbstanzeigeii. 


Wentscher,  Else.    Der  Wille.     Leipzig  1910.    Teubner. 

Ein  guter  Wille  ist  bekanntlich  das  Einzige  in  der  Welt,  dem  Kant  das 
Prädikat  des  Guten  zuspricht.  Die  Frage  aber,  durch  welche  psychologischen 
Faktoren  ein  solcher  Wille,  das  Wollen  überhaupt,  zustande  kommt,  fällt  nicht 
in  den  Rahmen  seiner  Untersuchungen.  Nach  einer  Richtung  der  modernen 
Psychologie  —  Spencer,  Ebbinghaus,  Münsterberg  —  aber  ist  das  Wollen  nichts 
als  ein  vorausschauender  Trieb.  Wie  vermag  ein  solcher,  sich  selbst  Gesetze 
zu  geben,  das  Handeln  der  Vernunfterkenntnis  unterzuordnen?  Das  vorliegende 
Buch  nimmt  —  auf  Grund  psychologischer  Analyse  der  Willensmotive,  der  ver- 
schiedenen Formen  der  Willenshandlung,  des  zielbewussten  Denkens,  der  sitt- 
lichen Konflikte,  der  Willensenergie,  des  Charakters  —  zu  jenen  Theorien  kritisch 
Stellung.  Es  versucht  zu  zeigen,  wie  die  Forderung  kraftvollen,  zielbewussten 
Wollens,  die  Notwendigkeit  sittlicher  Verantwortlichkeit  sinnvoll  bleibt,  auch 
wenn  wir  mit  der  modernen  Psychologie  anerkennen,  dass  das  Wollen  zwar  eine 
eigenartige  Komplikation  unseres  Fühlens  und  Vorstellens,  aber  kein  neues  Ele- 
ment unseres  Seelenlebens  darstellt.  Das  Buch  versucht  ferner,  die  Ergebnisse 
der  Willenspsychologie  für  die  Pädagogik  fruchtbar  zu  machen,  und   es  erörtert 


370  Selbstanzeigen  (Bauch). 

schliesslich  die  Frage,  ob  und  in  welchem  Sinne  dieses  unser  Wollen  frei  ist. 
Lässt  sich  diese  Frage  mit  den  Mitteln  zwingender  Beweisführung  im  letzten 
Grunde  nicht  entscheiden,  so  scheint  es  doch,  dass  —  entgegen  der  Ansicht 
der  Indeterministen  —  nur  der  Ausschluss  der  Spontaneität  die  Möglichkeit 
einer  Verantwortung  für  unser  Handeln  garantiert.  Sind  wir  somit  gezwungen, 
das  Wollen  und  Handeln  eines  Menschen  unter  dem  Gesichtspunkt  der  inneren 
Bedingtheit  zu  betrachten,  so  haben  wir  dieser  Erkenntnis  im  menschlichen 
Gemeinschaftsleben  Rechnung  zu  tragen.  So  weist  die  Psychologie  auf  eine 
Gestaltung  des  Gemeinschaftslebens  hin,  wie  sie  —  in  bestimmter  Anwendung  — 
moderne  Kriminalisten,  vor  allem  unter  Führung  Franz  von  Liszt's  —  anstreben. 
Bonn  a.  Rh.  "  Else  Wentscher. 

Banch,  Bruno,  Privatdozent,  Dr.  Das  Substanzproblem  in  der 
griechischen  Philosophie  bis  zur  Blütezeit.  (Seine  geschichtliche  Ent- 
wickelung  in  systematischer  Bedeutung.)  Heidelberg.  1910.  Karl  Winter's  Ver- 
lagsbuchhandlung.    (XI  u.  265  S.) 

Es  ist,  wie  Windelband  betont  hat,  „das  Grundproblem  der  griechischen 
Philosophie,  wie  hinter  der  wechselnden  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  ein 
einheitliches  und  bleibendes  Sein  zu  denken  sei".  Ich  konnte  daher  selbst 
meine  Aufgabe  dahin  formulieren:  „Das  Substanzproblem  innerhalb  der  grie- 
chischen Philosophie  verfolgen  heisst  darum  nichts  Anderes,  als  die  theoretische 
Philosophie  der  Griechen  unter  dem  Gesichtspunkte  des  Substanzproblems  be- 
trachten." Insofern  nun  die  problemgeschichtliche  Methodik  im  Probleme  selbst 
mit  analytischer  Notwendigkeit  den  systematischen  Gesichtspunkt  involviert, 
fordert  meine  Untersuchung  die  Rücksicht  auf  die  systematische  Bedeutung. 
Das  soll,  wie  ich  im  Vorwort  und  in  der  Einleitung  entwickele,  nicht  bedeuten, 
dass  wir  von  einem  vorgefassten  systematischen  Standpunkte  an  die  historischen 
Erscheinungen  heranzutreten  haben.  So  wird  freilich  die  problemgeschichtliche 
Methode  leicht  missverstanden.  Was  in  dem  systematischen  Moment  der 
problemhistorischen  Untersuchung  allein  liegen  kann,  das  ist  die  Ermittelung 
des  Anteils,  den  die  Entwickelung  der  historischen  Erscheinungen  an  der  Be- 
arbeitung eines  Problems  hat,  nicht  aber  etwa  Beziehungen  auf  ein  bestimmtes 
philosophisches  System. 

Gerade  indem  die  historischen  Erscheinungen  unter  Wahrung  ihrer  ge- 
schichtlichen Eigenbedeutungen  auf  ein  bestimmtes  Problem  bezogen  werden, 
kann  der  bleibende  Ertrag  ihrer  Arbeit  an  diesem  Problem  deutlich  werden. 
Insofern  ich  nun  das  theoretische  Grundproblem  der  griechischen  Philosophie 
in  seiner  geschichtlichen  Entwickelung  zum  Gegenstande  meiner  Untersuchung 
mache,  liegt  darin  zugleich  der  Versuch  vor,  den  bleibenden  Ertrag  des  griechi- 
schen Denkens  in  theoretischer  Hinsicht  überhaupt  zu  ermitteln.  Damit  erreichte  ich 
den  Vorteil  möglichster  Abgrenzung  der  rein  wissenschaftlichen  Faktoren  gegen 
die  mythologischen,  und,  soweit  das  tunlich  ist,  und  soweit  die  theoretischen 
mit  den  praktischen  Momenten  nicht  in  den  konkreten  Erscheinungen  des 
griechischen  Geisteslebens  selbst  zur  Einheit  verschmolzen  sind,  soweit  sie  sich 
also  überhaupt  trennen  lassen,  was  freilich  keineswegs  für  die  unbefangene  und 
objektive  Untersuchung  restlos  möglich  ist,  einerseits  eine  Abgrenzung  der 
theoretischen  und  der  praktischen  Momente  selbst,  und  soweit  beide  Momente 
in  der  lebendigen  geschichtlichen  Entwickelung  unabtrennbar  einheitlich  ver- 
schmolzen sind,  andererseits  ihre  deutliche  Beziehung  auf  einander. 

Unter  diesen  Gesichtspunkten  gliedert  sich  mir  die  Untersuchung  des 
Substanzproblems  in  folgende  Kapitel:  1.  Die  Anfänge  der  Naturphilosophie  bei 
den  Joniern.  2.  Die  eleatische  Schule.  3)  Die  Anfänge  der  naturwissenschaft- 
lichen Begriffsbildung  innerhalb  der  Naturphilosophie.  4.  Die  Anfänge  der 
mathematischen  Begriffsbildung.  5.  Die  Negation  der  wissenschaftlichen  Er- 
kenntnis. 6.  Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  7.  Der 
Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems. 

Halle  a.  S.  Bruno  Bauch. 


Selbstanzeigen  (Gürland— Werner).  371 

Görland,  A.,  Dr.  Mein  Weg  zur  Religion.  Leipzig  und  Berlin,  Ver- 
lagsbuchhandlung Julius  Klinkhardt.     (35  S.) 

Auch  im  Gebiete  der  Religion  steht  unsere  Zeit  in  gewaltiger  Umarbeit. 
Da  ist  es  wichtigste  Forderung  der  Gegenwart,  dass  der  Staat  nicht  mit  Ge- 
setzen und  den  hinter  ihnen  stehenden  Machtmitteln  sich  zum  Diener  starrer 
Institutionen,  starrer  Formen,  zum  Diener  der  Kirchen  mache,  also  die  Neu- 
Besinnung  des  religiösen  Bewusstseins  nicht  beirre  noch  fessele;  das  Religiöse 
muss  allem  staatlichen  Interesse  enthoben  sein.  Diese  Forderung  wird  gestellt 
aus  der  Einsicht  in  die  gesteigerte  Notdurft  unserer  Zeit  nach  religiöser  Ver- 
tiefung; denn  gerade  das  unvergleichliche  Wogen  der  Gegenwartsprobleme  lässt 
die  Sehnsucht  mächtig  werden  nach  einer  Sicherheit  der  Hoffnung  auf  Frieden 
in  aller  unserer  Mühsal. 

Unsterblichkeit  und  Gott  sind  die  Ideen,  in  denen  nach  wie  vor 
dieses  Sehnen  sich  zu  Worte  bringen  muss;  aber  diese  Worte  und  also  der 
Sinn  jener  Ideen  werden  durch  den  Weltbegriff  bestimmt,  zu  dem  die 
Zeiten  sich  zusammenraffen  können.  Also  wird  auch  in  vorliegender  Schrift 
aller  Gedanke  sein  Blut  und  sein  Feuer  aus  der  Kraft  des  Blicks  erhalten,  mit 
dem  die  Probleme  der  Welt  müssen  umspannt  werden.' 

Hamburg.  A.  Görland. 

Werner,  Charles,  professeur  ä  l'Universite  de  Geneve.  Aristote  et 
I'idealisme  platonicien.     Paris,  librairie  F.  Alcan,  1910. 

Um  die  Metaphysik  des  Aristoteles  zu  verstehen,  muss  man  in  ihr  zwei 
Lehren  unterscheiden:  1.  die  Lehre  von  der  Form  und  vom  Stoff;  2.  die  Lehre 
vom  Wesen. 

Die  Lehre  von  der  Form  und  dem  Stoff  steht  im  Gegensatz  zu  der 
platonischen  Ideenlehre.  Aristoteles  lehnt  es  ab,  die  wahre  Wirklichkeit  von 
der  sinnlich  wahrnehmbaren  zu  trennen  und  führt  die  Bedingungen  des  Seins 
auf  die  Bedingungen  des  „Seins  im  Werden'  zurück:  Form  und  Stoff,  als  actus 
und  potentia  begriffen. 

In  der  Theorie  des  Wesens  dagegen  folgt  er  Piaton.  Wie  dieser  macht 
Aristoteles  einen  Unterschied  zwischen  dem  Gegenstand  der  Wahrnehmung,  der 
mannigfaltig  und  veränderlich  ist,  und  dem  Gegenstand  der  Wissenschaft,  der 
in  dem  Allgemeinbegriff  gegeben  ist.  Wie  für  Piaton  ist  auch  für  ihn  der 
Gegenstand  der  Wissenschaft  eine  Realität:  die  Realität  ist  das  Wesen,  d.  h.  der 
Allgemeinbegriff.  Aber  nach  wie  vor  lehnt  er  es  ab,  die  wahre  Wirklichkeit 
von  der  sinnlich  wahrnehmbaren  zu  trennen.  Er  verlegt  das  Wesen  in  das 
Sinnending.  So  kommt  er  dazu,  das  Wesen  mit  der  Form  zu  verwechseln. 
Auf  die  Form,  das  Prinzip  des  „Seins  im  Werden",  überträgt  er  die  Merkmale 
des  Wesens,  das  ein  dem  „Sein  im  Werden"  entgegengesetztes  Prinzip  ist.  Auf 
diese  Weise  verwickelt  er  sich  in  unheilbare  Widersprüche:  Aristoteles  hat 
Piaton  verbessern  wollen  und  ist  dennoch  Platoniker  geblieben. 

An  die  Lehre  von  der  Form  und  vom  Stoff,  welche  so  mit  der  Lehre 
vom  Wesen  kombiniert  ist,  schliesst  sich  die  Lehre  von  der  Natur  und  vom 
Zufall,  welche  im  3.  Kapitel  des  Buches  untersucht  wird. 

Dies  also  ist  der  Idealismus  des  Aristoteles,  verglichen  mit  dem  des 
Piaton.  Aber  wenn  der  Idealismus  die  ganze  Philosophie  Piatons  ist,  so  ist  er 
keineswegs  die  ganze  Philosophie  des  Aristoteles.  Die  Lehren,  durch  die 
Aristoteles  den  platonischen  Idealismus  erweitert,  sind  von  einer  so  glücklichen 
Originalität,  dass  sie  in  gewissem  Sinn  die  Grundlagen  ablegen  für  die  Philo- 
sophie des  Geistes  und  des  Wertes. 

Den  Beweis  dafür  erbringen  der  2.  und  3.  Teil  des  Buches.  Wie  ent- 
wickle ich  die  Philosophie  des  Geistes?  In  einer  Untersuchung  der  aristotelischen 
Lehre  von  der  Form,  welche  der  Seele  gleichgesetzt  und  als  das  Band  zwischen 
jeist  und  Stoff  angesehen  wird.  Zunächst  wird  es  festgestellt,  in  welchem 
vlasse  Aristoteles,  nachdem  er  das  Bewusstsein  bewundernswert  definiert  hat, 
ien  Geist  als  Tätigkeit  betrachtet.  Und  wie  gewinne  ich  die  Lehre  vom  Wert? 
Ich  stelle  die  Lehre  von  der  Lust  in  Gegensatz  zu  der  Lehre  von  der  Tugend. 
Diese    ist    rein    intellektualistisch,    während   jene    ein  Element    der  Freiheit   zur 

KautBtudlen  XV.  24 


3?2  Selbstanzeigen  (Sadee  -Lewkowitz). 

ersten  Voraussetzung  des  Wertes  macht.  So  erscheint  uns  Aristoteles  als  ein 
Vorgänger  Kants. 

Nach  Untersuchung  der  aristotelischen  Lehre  von  der  Wirklichkeit,  dem 
Geiste  und  dem  Werte,  musste  noch  geprüft  werden,  ob  meine  Schlussfolgerungen 
sich  mit  der  Lehre  vom  höchsten  Wesen  vertrugen,  welches  Aristoteles  aner- 
kennt. Es  ergab  sich  die  Übereinstimmung  beider.  Ich  habe  besonders  den 
Nachweis  zu  erbringen  versucht,  das  der  Gott  des  Aristoteles,  wie  er  der  plato- 
nischen Ideenwelt  entspricht,  gleichzeitig  auch  am  Stoff  verwirklichte  Form  ist: 
er  ist  Weltseele. 

Genf.  '  Charles  Werner. 

Sadöe,  L.  Schiller  als  Realist.  Eine  literarisch -psychologische 
Studie.    Leipzig,  Verlag    %^on   Camillo  Schneider,  Asch  i.  Deutschböhmen,  1909. 

Der  Titel  „Schiller  als  Realist"  scheint  nach  dem  jgewöhnlichen  Urteil 
einen  inneren  Widerspruch  zu  enthalten.  Das  beruht  auf  einer  einseitigen  Auf- 
fassung des  ästhetischen  Realismus.  In  der  vorliegenden  Studie  wird  der 
Versuch  gemacht,  diese  Einseitigkeit  zu  berichtigen.  Wir  müssen  eben  die 
volle  typische  Differenzierung  des  ästhetischen  Realismus  psychologisch  er- 
gründen. Dann  tritt  erst  der  Reichtum  der  fundamentalen  Kategorie  zu  Tage. 
Der  Verfasser  glaubt,  3  aufgestufte  Formen  des  ästhetischen  Realismus  unter- 
scheiden zu  können.  Diese  Formen  lassen  sich  nun  bei  Schiller  in  grösstem 
Umfange  empirisch  nachweisen,  wie  ausführlich  gezeigt  wird,  und  sie  rechtfertigen 
somit  den  paradoxen  Titel  des  Buches.  Ich  habe  den  Eindruck  gewonnen,  dass 
der  neue  ästhetische  Kategorienapparat  ein  fruchtbares  heuristisches  Prinzip  ist, 
welches  uns  auf  zahlreiche  verborgene  Feinheiten  des  Dichters  aufmerksam 
macht  und  ausserdem  noch  mannigfache  weitere  Anwendungen  in  der  Kunst- 
analyse gestattet. 

Königsberg  i.  Pr.  L.  Sadee. 

Lewkowitz,  A.  Hegels  Aesthetik  im  Verhältnis  zu  Schiller. 
Verlag  der  Dürr'schen  Buchhandlung  in  Leipzig,  1910. 

Auf  der  Grundlage  des  philosophischen  Kritizismus  will  vorliegende  Arbeit 
den  systematischen  Gehalt  der  Hegeischen  Aesthetik  zu  bestimmen  suchen. 
Diese  systematische  Stellungnahme  wird  vermittelt  durch  den  Nachweis  der 
grundlegenden  Bedeutung  der  Philosophie  des  Kantianers  Schiller  für  die 
Hegeische  Spekulation. 

Nachdem  daher  unter  Berücksichtigung  moderner  erkenntnistheoretischer 
Diskussionen  Begriff  und  Methode  des  Kritizismus  dargelegt  worden,  wird  als 
historische  Einleitung  in  Hegels  Aesthetik  ein  Abriss  der  Kantischen  und 
Schillerscheii  Aesthetik  gegeben  mit  besonderer  Hervorhebung  der  zu  Hegel 
hinführenden  Begriffe. 

In  einem  besonderen  Kap.  .Schiller  und  das  System  des  absoluten  Idea- 
lismus" überschrieben,  wird  der  Nachweis  zu  erbringen  gesucht,  dass  Hegel 
das  Rechte  getroffen,  wenn  er  Schellings  und  sein  Verhältnis  zu  Schiller  dahin 
präzisiert:  Schillers  Idee  des  Schönen  sei  „als  Idee  selbst  zum  Prinzip  der 
Erkenntnis  und  des  Daseins  gemacht  und  die  Idee  als  das  allein  Wahrhafte  und 
Wirkliche  erkannt  worden". 

Hierauf  werden  die  Grundbegriffe  der  Hegeischen  Aesthetik  entwickelt 
und  die  in  diesen  Begriffen  arbeitenden  Motive  des  Hegeischen  Philosophierens 
zu  bestimmen  gesucht.  Es  folgen  also  Abhandlungen  über  den  Begriff  des 
absoluten  Geistes,  die  Idee  des  Schönen,  die  Funktion  des  Schönen  in  der 
Entwicklung  des  Weltgeistes,  das  Verhältnis  von  Kunst  und  Metaphysik  und 
von  Kunst  und  Religion. 

Eine  sich  anschliessende  Darstellung  von  Hegels  Theorie  der  einzelnen 
Künste  hat  die  Absicht,  die  feinsinnige,  geistige  Regsamkeit  dieser  ernsten  und 
tiefen  Persönlichkeit  zu  beleuchten  und  gipfelt  in  dem  Nachweis  der  innigen 
seelischen  Verwandtschaft  der  beiden  grossen  idealistischen  Denker  Schiller 
und  Hegel. 

Breslau.  Albert  Lewkowitz. 


Selbstanzeigen  (Domer).  373 

Dorner,  A.  Enzyklopädie  der  Philosophie.  Leipzig,  Dürrsche 
Buchhandlung,  1910     (VII  u.  334  S.) 

In  dem  vorliegenden  Werke  war  es  mir  darum  zu  tun,  die  Aufgabe  der 
Philosophie  zu  bestimmen.  Das  ist  eine  doppelt  schwierige  Frage  in  einer  Zeit, 
die  weit  mehr  durch  praktische  als  theoretische  Interessen  bewegt  wird,  der  es 
um  methodisches  Denken  wenig  zu  tun  ist,  die  sich  zuerst  von  der  Verneinung, 
dann  von  dionysischer  Bejahung  des  Willens  zum  Leben  berücken  Hess,  wo 
selbst  die  Erkenntnistheorie,  die  bisher  als  das  unumstrittene  Gebiet  der  Philo- 
sophie galt,  nach  praktischen  Gesichtspunkten  behandelt  wird  und  man  mehrfach 
den  Satz  verteidigt,  dass  es  nicht  auf  die  Wahrheit,  sondern  nur  auf  die  Nütz- 
lichkeit der  vermeintlichen  Erkenntnisse  ankomme.  Mir  war  es  deshalb  darum 
zu  tun,  den  selbständigen  Wert  der  Erkenntnis  gegenüber  einem  einseitigen 
Voluntarismus,  der  durchaus  nicht  ethisch  zu  sein  braucht,  zu  wahren  und  darauf 
hinzuweisen,  dass  es  im  Zweifelsfalle  unser  Denken  ist,  das  eine  Erkenntnis 
ermöghcht,  dass  der  Masstab,  an  dem  wir  die  Wahrheit  messen,  der  logische 
ist,  dass  die  Rolle  des  Willens  bei  dem  Erkennen  gerade  auf  den  Wahrheits- 
willen, das  Erktnnenwollen  und  das  sich  unterordnen  unter  die  Gesetze  des 
Denkens  beschränkt  ist  und  dass  die  Nützlichkeit  einer  Erkenntnis  keineswegs 
der  Massstab  ist,  der  für  die  Erkenntnis  in  Betracht  kommt,  wenn  auch  in  Folge 
der  Einheitlichkeit  der  Fundamente  des  Geisteslebens  und  der  Welt  eine  Er- 
kenntnis in  der  Regel  auch  praktisch  wertvolle  Folgen  haben  wird. 

Diese  Selbständigkeit  des  Erkennens  tritt  in  um  so  helleres  Licht,  je 
mehr  sich  herausstellt,  dass  die  Erkenntnis  sich  keineswegs  mit  der  bloss 
phänomenalen  Welt  begnügt,  sondern  auch  auf  das  Sein  gerichtet  ist,  dass 
schon  die  empirischen  Wissenschaften  metaphysische  Voraussetzungen  machen, 
dass  die  Kategorien  des  Denkens  uns  nötigen,  das  transsubjektive  Gebiet  zu 
beschreiten. 

Ich  habe  deshalb,  um  diese  Sätze  zu  erhärten,  sowohl  die  empirischen 
Wissenschaften  auf  ihre  erkenntnistheoretischen  Voraussetzungen  hin  geprüft  als 
auch  die  Kategorien  einer  nach  einigen  Seiten  noch  eingehenderen  Betrachtung 
unterzogen,  als  es  in  meinem  »menschlichen  Erkennen"  geschehen  war.  Bei 
diesen  Untersuchungen  habe  ich  mich  auch  mit  der  bedeutendsten  neueren  Katego- 
rienlehre von  Hartmann  an  wichtigen  Punkten,  in  Bezug  auf  die  Auffassung 
der  Kausalität  und  Idealität,  sowie  der  Substanz  auseinandergesetzt.^)  Von 
besonderer  Wichtigkeit  scheint  mir  die  Anerkennung  zu  sein,  dass  die  Kategorie 
des  Zwecks  durchaus  nicht  nur  auf  das  Werturteil  gegründet  werden  kann,  da 
hier  vielmehr  eine  Idee  zur  Ursache  wird,  es  sich  also  nicht  bloss  um  ein  Urteil 
handelt,  sondern  um  die  Verwirklichung  der  Idee  und  diese  Idee  nicht  etwa 
erst  durch  den  Willen  zum  Zwecke  gemacht  wird,  sondern  vielmehr  als  eine 
notwendige  Idee  die  Kausalität  in  Bewegung  setzt.  Der  Zweck  ist  die  Kategorie, 
welche  das  Erkennen  wie  das  Handeln  gleichmässig  umfasst,  indem  das  einemal 
die  Idee  des  Erkennens  das  Erkennenwollen  in  Bewegung  setzt,  das  anderemal 
eine  Zweckidee  die  Ursache  ihrer  Verwirklichung  in  der  Welt  wird.  Die  Vor- 
aussetzung für  Beides  ist  die,  dass  Sein  und  Denken  zu  gegenseitiger  Ver- 
bindung bestimmt  sind 

Als  Resultat  der  Untersuchung  der  Kategorien  ergiebt  sich,  dass  dieselben 
keineswegs  nur  formalen  Charakter  tragen,  sondern  auch  inhaltliche  Bestimmt- 
heiten enthalten  und,  dass  man  keinen  Grund  hat,  an  metaphysischen  Realitäten 
zu  zweifeln,  wenn  man  genötigt  ist,  solche  zu  denken,  weil  etwa  die  Anschauung 
fehlt,  denn  wenn  sie  auch  vorhanden  wäre,  würde  sie  ja  gerade  nach  Kant 
doch  keine  Garantie  für  reale  Existenz  geben,  weil  sie  nur  phänomenal  wäre. 
Dazu  kommt,  dass  der  Begriff  des  Absoluten  durch  irgendwelche  sinnliche 
Anschauung  versinnlicht  würde.  Vielmehr  gilt  es  gerade  von  dem  Metaphysischen, 
dass  wenn  es  überhaupt  ist,  es  das  der  Sinnenerfahrung  zu  Grunde 
liegende  oder  sie  gänzlich  Übersteigende  sei. 

Hiernach  ergiebt  sich  mir  das  Resultat,  dass  metaphysische  Erkenntnis 
möglich    ist    und    dass    die  Philosophie    die  Aufgabe    hat,  nicht  nur  Erkenntnis- 

1)  Ich  habe  eine  eingehende  Besprechung  von  Hartmanns  Kategorienlehre 
in  den  protestantischen  Monatsheften  veröffentlicht.    II.  J.,  2—6. 

24* 


374  Selbstanzeigen  (Üorner). 

theorie  zu  sein,  sondern  auch  die  objektiven  Grundlagen  der  Welt  zu  unter- 
suchen und  in  diesem  Sinne  Fundamentalwissenschaft  zu  sein. 

Am  meisten  Anstoss  wird  es  wohl  bei  der  noch  immer  überwiegend 
empiristisch  gerichteten  Zeitströmung  erregen,  dass  ich  dabei  bleibe,  das  onto- 
logische  Argument  zum  Fundament  der  Metaphysik  des  Absoluten  zu  machen. 
Indes  bin  ich  gerade  hier  durch  Kant  einigermassen  gerechtfertigt,  der  mit 
vollem  Rechte  bemerkt,  dass  aus  der  endlichen  Welt  der  Schluss  auf  ein  ab- 
solutes Wesen  immer  einen  Sprung  darstelle.  Will  man  also  nicht  in  Abrede 
stellen,  dass  der  Einheitstrieb  unseres  Denkens  uns  zwingt,  eine  letzte  Einheit 
anzunehmen,   die    dann   eo   ipso   auch  Einheit  von  Denken  und  Sein  sein  muss 

—  sonst  wäre  sie  nicht  die  letzte  Einheit  — ,  so  wird  man  sich  hier  auf  das 
Denken  verlassen  müssen.  Wenn  man  immer  noch  vielfach  geneigt  ist,  dem 
moralischen,  praktischen  Gottesbeweis  den  Vorzug  zu  geben,  so  übersieht  man, 
dass  hier  gerade  von  solchen,  die  das  theoretische  Moment  gänzlich  zurück- 
stellen, die  praktische  Notwendigkeit  der  Annahme  Gottes  völlig  in  Abrede 
gestellt   wird.    Man    wird   überhaupt   zugeben  müssen,  dass  diese  Erkenntnisse 

—  wie  alle  Erkenntnisse  von  dem  in  Abrede  gestellt  oder  bezweifelt  werden 
können,  der  nicht  erkennen  will.  Es  gehört  zu  der  Unendlichkeit  des  Menschen- 
geistes, dass  er  über  jeden  Standpunkt  wieder  zweifelnd  hinausgehen  kann. 
Allein  diese  subjektive  Freiheit  schliesst  nicht  aus,  dass  es  objektiv  notwendige 
Wahrheiten  giebt,  die  in  der  Natur  des  Denkens  begründet  sind  und  in  ihrer 
Notwendigkeit  erkannt  werden  können.  So  gewiss  aber  die  Logik  ihre  Not- 
wendigkeit behauptet,  so  gewiss  wird  auch  das  logisch  Notwendig  zu  Denkende 
nicht  in  seiner  Wahrheit  bezweifelt  werden  können.  Man  darf  die  empirische 
Allgemeinheit  eines  Urteils  und  seine  notwendige  Allgemeingültigkeit  nicht 
verwechseln.  Die  letztere  ist  keineswegs  immer  von  Allen  empirisch  angenommen 
und  doch  ist  sie  allein  der  letzte  Prüfstein  auch  dafür,  ob  eine  empirisch  von 
den  Meisten  angenommene  Ansicht  wahr  sei.  Man  kommt  hier  doch  immer 
zuletzt  auf  die  Denknotwendigkeit  zurück. 

In  Bezug  auf  die  Metaphysik  der  Welt,  die  in  Metaphysik  der  Natur  und 
Metaphysik  des  Geistes  zerfällt,  kam  es  mir  bei  der  letzteren  ganz  besonders 
darauf  an,  bei  Anerkennung  des  psychophysischen  Mechanismus  doch  zugleich 
auf  die  Notwendigkeit  einer  Metaphysik  des  Geistes  hinzuweisen,  ohne  die 
seine  Tätigkeit  überhaupt  nicht  zu  verstehen  wäre.  Es  wird  eine  der  wichtigsten 
Aufgaben  sein,  jene  empirische  Psychologie,  die  Physik  der  Seele  ist,  mit  der 
Metaphysik  des  Geistes  in  Einklang  zu  setzen.  Auch  da  kommt  die  Kategorie 
des  Zwecks  in  Betracht,  der  eben  causa  finalis  ist,  und  den  Kausalzusammen- 
hang des  psychophysischen  Mechanismus  in  seine  Dienste  nehmen  kann.  Auch 
hier  kann  man  nicht  sagen,  dass  erst  durch  den  Willen  der  Zweck  werde. 
Vielmehr  giebt  es  ein  Ideal,  das  durch  die  Kausalität  des  Willens  realisiert 
werden  soll,  das  aber  seine  vernunftnotwendige  Geltung  an  sich  hat  und 
sie  dadurch  nicht  verliert,  dass  es  in  einzelnen  Fällen  nicht  realisiert  ist,  sie 
aber  auch  nicht  erst  durch  die  Anerkennung  des  Willens  gewinnt. 

Dasselbe  Problem  der  Vereinigung  beider  Formen  der  Kausalität  ist  auch 
in  der  Philosophie  der  Geschichte  gegeben.  Hier  handelt  es  sich  darum,  einmal 
das  Verhältnis  der  einzelnen  Persönlichkeiten  zu  den  grossen  Gemeinschaften 
zu  verstehen,  dem  individuellen  persönlichen  wie  dem  sozialen  Faktor  gerecht 
zu  werden,  sodann  aber  auch  einzusehen,  wie  die  Geschichte  von  Ideen  ge- 
leitet wird,  deren  Vertreter  die  hervorragenden  Persönlichkeiten  sind,  wie  diese 
Ideen  mittels  des  Kausalzusammenhanges  sich  durchsetzen  und  so  den  teleo- 
logischen Charakter  tragen. 

Schliesslich  sei  noch  erwähnt,  dass  es  mir  nicht  bloss  darauf  ankam,  den 
Zusammenhang  der  empirischen  und  metaphysischen  Erkenntnisse,  der  empirischen 
Wissenschaften  und  der  Spekulation  zu  betonen,  sondern  auch  den  Zusammen- 
hang dei  theoretischen  und  praktischen  Tätigkeit,  die  aufeinander  angewiesen 
sind  und  bei  einem  Zwiespalt  beide  notleiden  und  verkümmen  würden.  So 
ist  weder  die  Theorie  allein  das  höchste  Gut,  noch  die  praktische  Betätigung 
allein,  so  ist  aber  auch  keine  von  Beiden  nur  Mittel  für  die  Andere, 
sondern  sie  sind  beide  gleich  notwendig  und  gleich  berechtigt;  im  Grunde  sind 


Selbstanzeigeu  (Graue).  37r» 

beide  Betätigungen  der  Vernunft  und  des  Wollens,  denn  ein  vernünftiges  Er- 
kennen ist  geradesogut  eine  freie  Betätigung  des  Geistes,  wie  das  Realisieren 
der  vernünftigen  Zweckbegriffe  durch  den  Willen.  Auch  psychologisch  wird  es 
schwerlich  gelingen,  das  Wollen  aus  dem  Erkennen  oder  das  Erkennen  aus  dem 
Wollen  abzuleiten.  Beide  Funktionen  sind  Funktionen  des  Einen  Geistes,  der 
bald  nach  der  Einen  bald  nach  der  anderen  Seite  überwiegend  sich  betätigt, 
dessen  sittliche  Aufgabe  es  eben  ist,  stets  beide  Funktionen  in  Harmonie  zu 
halten,  dass  in  der  intellektuellen  Funktion  stets  das  Erkennen,  nicht  das 
blosse  hin  und  her  Räsonieren  gewollt  und  stets  das  Wollen  vernünftig  be- 
stimmt sei. 

Königsberg  i.  Pr.  A.  Dorner. 


Grane,  G.  Wegweiser  zur  Selbstgewissheit  der  sittlichen 
Persönlichkeit.     M.  Heinsius'  Nachfolger,  Leipzig.     1910. 

Dass  die  Tendenz  dieser  Schrift  hauptsächlich  gegen  den  modernen  Skep- 
tizismus gerichtet  ist,  zeigt  schon  der  erste  Teil  derselben,  der  das  Verhältnis 
von  intellektueller  und  Glaubens- Gewissheit  behandelt,  die  Tatsache 
anzuerkennen  hat,  dass  die  intellektuelle  Forschung  mehr  oder  minder  des 
„Glaubens",  im  wissenschaftlichen  Sinne  des  Worts,  bedarf,  aber  die  mit  innerer 
Notwendigkeit  sich  bekundende  Ailgemeingültigkeit  der  menschlichen  Anschau- 
ungsformen und  Denkgesetze,  auch  der  Euklidischen  Geometrie,  gegen  die 
Angriffe  der  Skepsis  verteidigt,  die  blosse  Phänomenalität  des  Raumes  und  die 
völlige  Unerkennbarkeit  des  Kantischen  „Ding  an  sich"  bestreitet  und  die  Ein- 
heitlichkeit des  nicht  bloss  von  mechanischem  und  zwangsweise  wirkenden, 
sondern  auch  von  dynamischen  Kausalitäten  bewegten  und  getriebenen  Makro- 
kosmus mit  seinem  zentralen  Einheitsgrunde,  i)  ebenso  die  Einheitlichkeit  des 
menschlichen  Mikrokosmus  mit  seinem  Ich-Zentrum  verficht  und  vertritt.  Der 
zweite  Teil,  der  die  Selbstgewissheit  der  sittlichen  Persönlichkeit  und  ihre 
Grundlagen  erörtert,  behauptet  und  begründet  die  Apriorität  des  sittllichen  Be- 
wusstseins,  hält  sie  auch  gegen  den  modernen  „Pragmatismus",  allerdings  nicht 
streng  Kantianisch,  sondern  mit  Zugeständnissen  an  den  Empirismus,  aufrecht 
und  zeigt  zugleich,  wie  wir  gerade  durch  willige  Einfügung  in  den  Dienst  der 
sittlichen  Weltordnung  und  rückhaltlose  Hingebung  an  die  sie  tragende  göttliche 
Macht  zu  immer  grösserer  Selbständigkeit  gegenüber  den  Einwirkungen  der 
Aussenwelt  und  zu  immer  festerer  Selbstgewissheit  gelangen.  In  den  beiden 
letzten  Teilen,  welche  die  aus  dem  sittlichen  Bewusstsein  stammenden  Er- 
schütterungen dieser  Gewissheit  untersuchen  und  besprechen  und  die  Wege  zu 
ihrer  Überwindung  weisen,  werden  die  hauptsächlichsten  über  den  Ursprung 
des  Bösen  aufgestellten  Hypothesen  kritisiert,  die  Irrwege,  auf  denen  man  die 
durch  Sünden-  und  Schuldbewusstsein  hervorgerufenen  Gemütserregungen  bald 
künstlich  abzuschwächen,  bald  zu  krankhaften  Steigerungen  zu  bringen  versucht 
hat,  gekennzeichnet  und  dabei  namentlich  gegen  alle  die  polemisiert,  die  kirch- 
lichen Interessen  und  Ansprüchen  zu  Liebe  weder  den  wissenschaftlichen  noch 
den  religiös  sittlichen  Bedürfnissen  und  Forderungen  gebührende  Berücksichtigung 
und  wirkliche  Befriedigung  gewähren  und  hierdurch  nicht  allein  der  neuzeitlichen 
Zweifelsucht  in  die  Hände  arbeiten,  sondern  auch  das  schädigen,  was  kürzlich 
Windelband  mit  vollem  Recht  als  „das  Höchste,  was  eigentlich  erst  Kultur  und 
Geschichte  .  .  .  ausgemacht  hat",  bezeichnete:  das  Persönlichkeitsleben. 

Nordhausen  a.  H.  Q.  Graue. 


»)  Der  Verfasser  hat  bereits  1904  in  „Selbstbewusstsein  und  Willensfreiheit' 
"nd    1906   .zur  Gestaltung  eines  einheitlichen  Weltbildes-  den  seines  Erachtens 
(rossenteils   durch  Übertragung   der   mathematischen  Betrachtungsweise   auf 
iie   gesamte  Weltanschauung   entstandenen   Irrtum   gekennzeichnet,    den   zu- 
eichenden   Grund    ohne   Weiteres    immer    und    überall    als    zwingenden 
aufzufassen  und  darzustellen. 


376  Selbstanzeigen  (Leclfere— Stern). 

Ledere,  Albert,  Privat-Docent  ä  l'Universite  de  Berne.  Pragmatisme, 
Modernisme,  Protestantisme.    Paris,  Bloud,  1909.     (294  S.) 

L'auteur  de  ce  livre  s'est  propose  de  degager  le  fonds  de  la  philosophie 
du  Modernisme  catholique,  dont  il  montre  les  affinites  etroites  avec  le  Protes- 
tantisme liberal,  qu'il  nomme  le  »Modernisme  Protestant«.  11  rattache  ces  deux 
Modernismes  au  Pragmatisme  oü  il  lui  semble  voir,  lorsqu'il  affecte  une  forme 
idealiste,  comme  la  volonte  de  maintenir  des  croyances  que  l'intelligence  deses- 
pere  de  pouvoir  prouver;  le  Pragmatisme  invoque,  faute  de  mieux,  pour  fonder 
ces  croyances,  une  sorte  d'experience  Interieure  qui  n'est,  au  fond,  que  le  senti- 
ment;  fruit  d'un  scepticisme  intellectuel  plus  ou  moins  conscient  et  declare,  le 
Pragmatisme  pourrait  etre  appele  »Modernisme  philosophique«,  puisqu'il  minimise 
et  dcsintellectualise  la  philosophie  comme  les  Modernismes  proprement  dits  mi- 
nimisent  et  desintellectualisent  des  religions.  Le  doute  philosophique  et  religieux 
est  la  vraie  cause  de  tout  Pragmatisme;  la  crise  de  lldealisme,  dont  le  succes 
multiforme  du  Pragmatisme  est  le  Symptome,  n'est  pas  nouvelle;  l'auteur  l'etudie 
chez  Gvyau,  Secretan,  Renouvier  et  M.  Bergson.  11  fait  voir  dans  OIle-Laprune, 
le  cardinal  Dechamp  et  le  cardinal  Newman  les  principaux  initiateurs  du  mou- 
vement  moderniste  catholique,  qu'il  etudie  ensuite  chez  M.  Blondel,  le  P.  Laber- 
thonniere,  M.  Le  Roy,  M.  Tyrrel  et  M.  Loisy,  dont  chacun  represente  une  etape 
de  l'evolution  logique  du  Catholicisme  vers  sa  propre  negation  dans  la  voie 
moderniste.  D'apres  l'auteur  de  ce  livre  le  »nouveau  Positivisme«  dont  les 
Modernistes  se  felicitent  d'avoir  introdvit  la  notion,  est  en  contradiction  absolue 
avec  la  notion  d'experience  scientifique,  et  si  l'on  peut  trouver  chez  A.  Comte 
une  trace  de  pragmatisme,  ce  n'est  pas  lä  ce  qui  faisait  la  vraie  valeur  du 
Comtisme.  En  revanche,  bien  que  Kant  soit  absolument  oppose  ä  toute  croyance 
surnaturaliste,  et  qu'il  n'y  ait  rien,  chez  lui,  de  favorable  ä  r»experience  religieuse« 
des  nouveaux  apologistes,  ceux-ci  ne  fönt  que  reprendre,  ä  leur  maniere,  la 
distinction  kantienne  des  deux  raisons;  ils  nomment  autrement  la  raison  pratique, 
mais  peu  importe,  et  ils  accordent  le  primat  au  succedane  qu'ils  donnent  ä 
celle-ci.  Du  Kant  altere  avec  du  Schleiermacher,  voi  lä  le  fond  de  leur  philo- 
sophie qu'ils  amalgament  avec  un  certain  relativisme  scientifique  plus  ou  moins 
emprunte  ä  M.  Bergson  ou  ä  M.  Poincare  pour  l'adopter  ä  leur  Apologetique. 
Mais  ni  la  science,  ni  l'orthodoxie  ne  peuvent  se  satisfaire  de  l'emploi  d'une 
teile  methode;  bref,  de  toute  fa^on  le  Modernisme,  en  depit  d'excellentes  in- 
tentions,  est  une  tentative  manquee.  Un  Appendice  assez  long,  Joint  ä  ce  livre, 
est  consacre  ä  l'etude  historico-critique  et  comparee  de  toutes  les  theses  communes 
au  Pragmatisme  et  au  Modernisme. 

Berne.  Albert  Ledere. 

Stern,  Norbert,  Dr.  phil.  Das  Denken  und  sein  Gegenstand. 
München.    G.  C.  Stelnicke.     1909.    (208  S.) 

Der  Verfasser  untersucht  im  ersten  Kapitel  seiner  Arbeit  den  Einfluss 
der  Sprache  auf  das  Denken  und  gelangt  zu  dem  Satze:  Natur-  und  Denkgesetze 
geben  sich  in,  den  Sprachgesetzen  die  Hand.  Das  individuelle  Denken  findet 
schon  eine  fertige  Logik  vor,  die  Denkweise,  Denkart  der  Allgemeinheit  vor 
und  neben  ihm.  Einerseits  muss  sich  das  Denken  nach  den  Forderungen  der 
Logik  richten,  andererseits  aber  vifird  es  stets  auch  den  Bedürfnissen  des  Ich 
Rechnung  tragen.  Das  Denken  ist  also  die  lebendige  Synthese  der  subjektiv- 
psychologischen und  der  objektiv-logischen  Welt.  Es  vereinigt  Werden  und 
Sein,  tätige  Bildung  mit  festem  Begriff,  Momentan-Flüchtiges  und  Monumental- 
Feststehendes. 

Eine  Ur-Doppeltätigkeit  beherrscht  —  so  zeigen  die  folgenden  Kapitel  — 
das  Denken:  der  Trieb  der  Vermenschlichung  der  Aussenwelt  und  der 
Drang  zur  Verdinglichung  der  Innenwelt.  Das  heisst:  der  Mensch  sucht 
alles  ihm  Begegnende  sich  menschlich  ver-ständlich  und  zugleich  dinglich 
gegen-ständlich  zu  machen.  Das  lebendige  Gestaltungs-  und  das  leblose  Ord- 
nungsprinzip sind  die  Grundtatsachen  alles  Denkens.  Jenes  macht  alles  per- 
sönlich und  dynamisch,  dieses  alles  unpersönlich,  sachlich  und  statisch,  feststehend. 
Das  schaffende  Denken  kann  nicht  Vermenschlichung  oder  Verdinglichung  sein, 
es  ist  beides. 


Selbstanzeigen  (EilersV  377 

Die  im  Menschen  tätige  Natur  sucht  der  Verfasser  sich  l<!ar  zu  machen, 
wie  sie,  im  Lichte  des  Denkens  betrachtet,  durch  Körper,  Gefühl,  Verstand, 
Teperament,  Geschlecht,  Alter,  Klima,  Sprache,  Recht,  Religion,  Kunst,  Wissen- 
schaft sich  offenbart.  Ferner:  wie  das  vernunftbegal)te  Denken  die  Nah-Natur 
in  concreto  zu  einer  Fern-Natur  in  abstracto  der  Logik,  Mathematik,  Geometrie 
umschafft.  Die  logischen  Elemente,  die  Begriffe,  sind  die  Fernzeichen  alles 
Greifbar-Nahen,  die  Zahlen  die  alles  rhythmisch  Wiederkehrenden,  Kreis  imd 
Punkt  die  aller  sichtbaren  Objekte.  (In  den  Gestirnen  sehen  wir  Welten  zu 
Punkten  und  Kreisscheiben  geworden.)  Das  Denken  stellt  sich  uns  als  Fern- 
tätigkeit des  Sinnens  dar.  Alles  ist  nach  Begriffen,  Zahlen  und  Punkten  ge- 
ordnet. Der  Mensch  ist  tatsächlich  der  Gesetzgeber  der  Natur,  um  mit  Kant 
zu  reden.  Die  Gesetzmässigkeit  aber,  die  er  den  Dingen  vorschreibt,  ist  Regel- 
mässigkeit, die  er  zuerst  nachschreiben  musste.  Grundsätze  sind  stets  ein 
Extrakt  aus  einer  Summe  von  Folgesätzen.  Natur-  und  Denkgesetze  sind 
erkannte  Natur-  und  Denkgewohnheiten. 

Für  das  Denken  kann  es  nur  Denkformen  geben,  Fernwerte  alles  Seins 
und  Wirkens.  Jede  Zuständlichkeit  wird  im  Denken  zur  Gegenständlichkeit, 
wird  Objektivität.  Auch  das  Ich,  mit  dem  sich  das  Denken  befasst,  ist  eine 
blosse  Denkkategorie.  Die  subjektive  Ichheit  entspricht  der  objektiven  Einheit. 
Beide  sind  in  allem,  als  Produkte  der  Personifizierung  und  der  Versachlichung, 
der  Einfühlung  und  der  Einordnung. 

Das  vorliegende  Buch  ist  eine  Dissertation.  Man  merkt  es  ihm  wahr- 
scheinlich an,  dass  der  Verfasser  es  in  seinem  dritten  philosophischen  Semester 
fertiggestellt  hat.  Er  kam  vom  Ingenieurfache,  von  der  Welt  harter  Tatsachen 
her,  und  so  darf  es  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  dies  amorphe  empirische 
Material  die  kristallinische  Ordnung  der  logischen  Struktur  hie  und  da  stört. 
Das  Zuviel  war  auch  hier  m.anchmal  der  Feind  des  Guten. 

München.  Norbert  Stern. 

Eilers,  Konrad.  Das  Bedürfnis  des  Gebildeten  nach  einer 
Weltanschauung.    Zwei   Vorträge.    Rostock,   Hermann   Kochs  Verlag,    1909. 

Als  Ausgangspunkt  gilt  die  Bildungsaufgabe  der  Gegenwart,  welche  mit 
dem  Wachsen  der  wissenschaftlichen  Einzelarbeit  immer  schwieriger  geworden 
ist.  Aber  das  Bedürfnis  nach  einem  möglichst  vielseitigen,  allgemeinen  Wissen 
und  nach  einer  Aneignung  aller  geistigen,  künstlerischen  und  sittlichen  Bildungs- 
werte ist  da  und  macht  sich  gerade  in  der  Gegenwart  besonders  lebhaft  geltend. 
Dies  wird  an  Beispielen  aus  der  neueren  Literatur,  welche  auf  Weltanschauungs- 
fragen Bezug  hat,  und  an  dem  Kultus  grosser  Persönlichkeiten,  die  als  Bau- 
meister einer  modernen  Weltanschauung  gelten  können,  nachgewiesen.  Ebenso 
drängen  die  sozialen  Verhältnisse  der  Gegenwart  jedem  Gebildeten  die  Welt- 
anschauungsprobleme auf.  Die  Weltanschauung  ist  nicht  nur  eine  Sache  des 
Denkens,  sondern  vor  allem  auch  des  Gefühls  und  Willens.  Darum  hat  sie 
eine  individuelle  Seite.  Trotzdem  gibt  es  vorherrschende  Grundrichtungen. 
Dem  Idealismus  gehört  die  Zukunft.  Jeder  moderne,  wissenschaftlich  begründete 
Idealismus  muss  an  Kant  anknüpfen,  den  Kopernikus  des  wissenschaftlichen 
Denkens. 

Alles  Erkennen  ist  durch  die  Eigenart  des  menschlichen  Geistes  bedingt. 
Die  Subjektivität  der  Erkenntnis  im  Sinne  Kants  wird  durch  das  Bild  des  Spiegels 
und  der  Maschine  erläutert.  Verfasser  hielt  die  erkenntniskritische  Position  Kants 
für  grundlegend  und  versucht  „von  Kant  aus  vorwärts"  zu  führen.  Materialis- 
mus und  Spiritualismus  werden  abgelehnt.  Der  kritische  Idealismus  Kants  wird 
mit  dem  kritischen  Realismus  verbunden.  Verfasser  erörtert  nun  einige  Grund- 
fragen der  Weltanschauung,  indem  er  von  der  unmittelbaren  Gewissheit  des 
Selbstbewusstseins  ausgeht.  Von  hier  auch  geht  er  weiter  zur  erfahrbaren 
Wirklichkeit  der  Erscheinungswelt,  betont  die  „praktische  Vernunft"  neben  der 
„theoretischen",  berücksichtigt  ihre  Zusammengehörigkeit  und  Wechselbeziehung 
und  sucht  durch  Hervorhebung  der  Vollständigkeit  des  ästhetischen  Empfindens 
und  vor  allem  des  religiösen  Bewusstseins  die  Gedanken  Kants  weiterzuführen. 
Neben  der  Natur  wird  die  Kunst,  das  sittliche  Gemeinschaftsleben  und  die 
Religion   in   den  Kreis  der  Weltanschauung  einbegriffen,  indem  der  menschliche 


378  Selbstanzeigen  (Müller— Cyon). 

Geist  in  seiner  Gesamtheit  als  verstandesmässiges  Erkennen,  sittliches  Wollen, 
ästhetisches  und  religiöses  Empfinden  zum  Ausgangspunkt  genommen  wird. 
Darauf  wird  gezeigt,  wie  Naturerkenntnis  zustande  kommt,  und  wie  weit  sie 
führen  kann.  Der  Begriff  Naturgesetz  wird  erörtert  und  begrenzt,  das  Problem 
des  organischen  Lebens  und  der  Entwicklungsgedanke  wird  besprochen,  wirk- 
liches Wissen  von  der  Hypothese  scharf  geschieden  (Entstehung  und  Entwicklung 
des  Menschen,  Mensch  und  Tier)  und  die  Eigenart  des  menschlichen  Geistes 
aufgezeigt  unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Kunst,  der  Sittlichkeit  und 
der  Religion.  Hierbei  werden  wieder  Kants  grundlegende  Erörterungen  über 
das  sittliche  Gesetz  und  den  kategorischen  Imperativ  nachdrücklich  gewertet. 
Zum  Schluss  wird  die  Selbständigkeit  des  religiösen  Bewusstseins  als  eines 
notwendigen  Bestandteils  des  menschlichen  Gesamtgeistes  vertreten.  Die  Selbst- 
ständigkeit der  Religion  wird  psychologisch  und  empirisch-historisch  an  Beispielen 
(Tolstoy,  Nietzsche,  Goethe  und  Augustinus)  nachgewiesen.  Der  einzelne  wird 
auf  den  Weg  der  Erfahrung,  des  persönlichen  Erlebens  verwiesen,  wobei  ver- 
schiedene Anknüpfungen  als  möglich  bezeichnet  werden.  Einmal  die  Anknüpfung 
an  die  Natur,  wobei  der  Begriff  des  religiösen  Wunders  als  innerhalb  der  Ge- 
setzmässigkeit des  Naturgeschehens  liegend  bezeichnet  wird.  Als  zweite  noch 
weiterführende  Anknüpfung  für  die  Religion  muss  der  menschliche  Geist,  die 
menschliche  Persönlichkeit  als  höchstes  Produkt  der  Wirklichkeit  gelten.  In 
diesem  Zusammenhang  wird  die  Einzigartigkeit  der  geschichtlichen  Persönlichkeit 
Christi  geschildert  und  die  Wahrheit  der  Religion  auf  ein  Werturteil  zurück- 
geführt. „Wir  erleben  diese  Wirklichkeiten,  indem  wir  ihren  Wert  für  unser 
inneres  Leben  erfahren."  Mit  dem  Hinweis  darauf,  dass  die  Weltanschauung 
des  Gebildeten  möglichst  vielseitig,  aber  in  sich  geschlossen  und  einheitlich 
sein  muss,  schliesst  die  Erörterung  ab. 

Rostock.  Konrad  Eilers. 

Müller,  P.  J.,  Professor.  Kraft  und  Stoff  im  Lichte  der  neueren 
experimentellen  Forschung.     Leipzig.    Barth,  1909.    (63  S.) 

Wenn  Kant  der  Metaphysik  das  Vermögen  abspricht,  das  Dasein  Gottes 
beweisen  zu  können,  so  hat  er  gewiss  durchausrecht.  Für  den  blossen  speku- 
lativen Gebrauch  der  Vernunft  bleibt  eben  das  höchste  Wesen  ein  blosses 
Ideal,  ein  Begriff,  der  die  ganze  menschliche  Erkenntnis  schliesst  und  krönt, 
dessen  objektive  Realität  jedoch  nicht  apodiktisch  bewiesen,  freilich  auch 
nicht  widerlegt  werden  kann. 

Verfasser  von  Kraft  und  Stoff  sucht  nun  nach  einer  kritischen  Beleuchtung 
des  Monismus  und  Dualismus  auf  experimentellem,  ja  selbst  rechnerischem 
Wege  mit  Einbeziehung  der  neuesten  bahnbrechenden  Forschungen  auf  dem 
chemisch-physikalischem  Gebiete,  das  zu  Kants  Zeiten  fast  noch  Terra  incognita 
war,  einen  Indizienbeweis  zu  führen,  der  den  üblichen  Gottesbeweisen  ent- 
schieden überlegen  ist.  Das  Du  Bois-Reymondsche  Welträtsel  von  der  Ursache 
der  Bewegung  wird  dabei  in  ein  ganz  neues  Licht  gerückt,  und  dem  physikalisch- 
chemischen Weltbilde  der  Monisten,  in  dem  sich  für  Ethik  und  Ästhetik  kein 
Platz  findet,  ein  psychisch-theistisches  zur  Seite  gestellt,  wie  es  Gemüt  und 
praktische  Vernunft  gebieterisch  verlangen. 

Zwickau.  P.  J.  Müller. 

Cyon,  Elie  de.  Dieu  et  Science.  Essais  de  Psychologie  des  Sciences. 
1  vol.  in-80,  avec  deux  planches  hors  texte  et  le  portrait  de  l'auteur.  Paris. 
F^lix  Alcan,  Editeur.     1910.     (445  P.) 

Cet  ouvrage  est  consacrc  ä  l'examen  scientifique  des  problemes  les  plus 
elev^s  de  la  pensee  humaine,  qui  de  tout  temps  ont  preoccupe  le  monde  civilise. 
Les  deux  premiers  chapitres  exposent  les  conclusions  philosophiques  des  recher- 
ches  experimentales  sur  l'origine  de  nos  connaissances  de  l'espace  et  du  temps, 
poursuivies  par  l'auteur  pendant  pres  de  quarante  ans,  et  qui  ont  abouti  ä  la 
decouverte  de  deux  organes  des  sens  mathematiques,  situes  dans  le  labyrinthe 
de  I'oreille.  Le  3®  chapitre  „Corps,  äme  et  esprit"  est  un  essai  de  differen- 
ciation  des  fonctions  psychique  conforme  aux  progres  faits  par  la  physiologie 
pendant  le  siecle  dernier,  depuis  Flourens  jusqu'ä  nos  jours. 


Selbstanzeigen  (Pfordten).  379 

Apres  avoir  eclaire  les  rapports  entre  le  Corps,  l'ame  et  I'csprit  et  etabli 
une  nouvelle  th^orie  de  nos  sensations  et  perceptions,  rautciir  demontre  I'inde- 
pendiincc  de  I'csprit  liiimain  des  pures  fonctions  de  l'änie,  et  formule,  en  ces 
termes  son  röle  dans  la  vie  intellectuelle:  Le  Createur  regne  et  son  esprit 
gouverne.  Dans  les  deux  cliapitres  suivants,  consacres  ä  l'Evolution  et  au 
Transformisine,  l'auteur  analyse  les  causes  profondes  de  la  dccadence  definitive 
du  Darwinisme,  fournit  les  prcuves  de  rccroulement  de  l'hypothcse  de  la  des- 
cendance  simienne  de  riioinrnc  et  demontre  la  parfaite  inanite  de  riiaeckelisme. 

Dieu  et  l'Honimc,  la  derniere  partie  de  l'ouvrage,  examine  le  probleme 
angoissant  des  rapports  entre  la  Science  et  la  Religion.  Apres  une  enquete 
minutieuse,  tres  documentee  sur  les  conceptions  religieuses  et  philosophiques 
des  plus  illustres  createurs  des  sciences  physiques  et  biologiques  modernes, 
depuis  Priestley,  Lavoisier  et  Cuvier  jusqu'ä  Claude  Bernard,  Pasteur  et  Hertz, 
en  passant  par  Ampere,  Berzelius,  Faraday,  Robert  Mayer  et  bien  d'autres, 
l'auteur  montre  qu'ils  etaient  des  croyants  sinceres,  des  chretiens,  convaincus  de 
Timmortalite  de  l'äme,  ou  des  deistes-spiritualistes,  tres  respectueux  de  la  religion, 
meme  quand  ils  ne  la  pratiquaient  pas.  La  conclusion  generale  de  l'auteur  est 
qu'il  n'existe  ni  antagonisme,  ni  incompatibilite  entre  les  sciences  naturelles  et 
la  religion  revelee;  elles  ont  la  meme  origine  et  rempirssent  des  missions  ana- 
logues.  La  science  decouvre  les  verites,  instruit  les  masses  et  ameliore  les 
conditions  de  leur  vie  materielle,  la  religion  enseigne  les  verites  eternelles  et 
devient  ainsi  l'educatrice  morale  des  peuples. 

Les  deux  derniers  paragraphes  sont  consacres  ä  une  etude  approfondic 
de  la  morale  la'fque  et  de  la  guerre  faite  ä  la  religion,  et  terminent  en  constatant 
la  faillite  de  la  philosophie  dite  positiviste. 

Paris.  E.  de  Cyon. 

Pfordten,  Otto  von  der,  Dr.  Privatdozent.  Konformismus.  Eine 
Philosophie  der  normativen  Werte.  L  Teil.  Theoretische  Grundlegung.  Heidel- 
berg, Winter,  1910.     (156  S.) 

Dieses  Buch  will  eine  neue  Erkenntnislehre  geben,  die  auch  die  Gebiete 
des  Ethischen  und  Ästhetischen  umfasst,  wie  dies  oft  verlangt  aber  nicht  versucht 
worden  ist.  Sie  fusst  auf  den  nicht  apriorischen,  nicht  mathematischen  oder 
exakten  Wissenschaften,  und  will  die  in  diesen  gewonnenen  normativen  Werte 
zur  Grundlage  machen.  Die  Hauptsache  ist,  ein  Kriterium  zu  finden,  wodurch 
sich  richtigere  bez.  der  Wahrheit  näher  liegende  Begriffe  von  anderen  unter- 
scheiden. Dieses  wird  in  dem  Gedanken  des  Wirkens  auf  ein  Werden  bez. 
des  Regeins  einer  Entwicklung  gefunden;  kann  ein  lebendig  wirksamer  Begriff 
dazu  dienen,  so  ist  er  eine  Konformität. 

Dieser  Konformismus  ist  eine  Erweiterung  der  in  den  KSt.  XIII,  500 
als  „Vorfragen  der  Naturphilosophie"  angezeigten  naturwissenschaftlichen  Er- 
kenntnistheorie auf  das  ganze  Gebiet  der  Wissenschaft,  was  nur  durch  die 
Zugrundelegung  des  Begriffs  normativer  Werte  möglich  war.  Wie  sich  in  den 
Geisteswissenschaften  der  Gedanke  des  Wirkens  auf  ein  Werden  durchführen 
lässt  (Abschnitt  IV),  kann  hier  nicht  kurz  wiedergegeben  werden,  ohne  zu  Miss- 
deutungen Anlass  zu  geben,  die  schon  der  ausführlichen  Darlegung  nicht  fehlen 
werden. 

Mit  Kant  beschäftigt  sich  dieser  erste,  grundlegende  Teil  sehr  viel;  der 
Konformismus  stellt  sich  neben  oder  gegen  den  Kritizismus  —  je  nachdem 
man  diesen  auffasst.  Ist  dieser  nur  an  der  Mathematik  bez.  dem  apriorischen 
Erkennen  orientiert,  wie  dies  neuerdings  häufiger  (Külpe,  Messer  u.  a.)  zugegeben 
wird,  dann  gilt  er  auch  nur  für  diese  formalen,  exakten  Wissenschaften  und 
nicht  für  das  ganze  Denken.  Allerdings,  und  das  wird  häufig  vergessen,  ist 
dann  die  Idealität  von  Raum  und  Zeit  nicht  mehr  fundiert  und  Kants  Phänomena- 
lismus gilt  auch  nur  für  die  apriorischen  Wissenschaften. 

Dass  aber  der  Apriorismus  und  die  Sicherung  der  mathematischen  Physik 
Kants  Grundgedanke  war,  der  dann  erst  die  phänomenalistische  Konstruktion 
nach  sich  zog,  wird  in  einem  eigenen,  dem  7.  Abschnitt  über  Kants  Prole- 
gomena  zu  zeigen  unternommen.  Nur  wenn  man  Kants  Kritik  als  eine  Theorie 
unseres   ganzen   Wissens,   als   eine   Kritik    aller   Vernunft   —   nicht   nur   der 


380  Selbstanzeigen  (Schmitt— Ecker tz). 

„reinen"  —  auffasst,  ist  der  Grundgedanke  des  Konformismus  gegen  Kant  ge- 
richtet. Erkennen  ist  nur  da,  wo  ein  Seinsbegriff  vorliegt,  also  niemals  im 
formal-apriorischen  allein.  Mit  der  Auseinandersetzung  dieser  Gegensätze  be- 
schäftigt sich  der  2.  Abschnitt:  „Zur  Erkenntnislehre "  und  der  6.  über  das 
Weltbild. 

Im  5.  Abschnitt:  „Kausalität,  Wechselwirkung"  versuche  ich  dieser  meist 
verschmähten  Kantischen  Kategorie  einen  neuen  Inhalt  zu  geben,  der  mit  dem 
Begriff  einer  Dauerursache  zusammenhängt. 

Im  letzten  Abschnitt  grenze  ich  den  Konformismus  gegen  den  Prag- 
matismus ab,  mit  dem  er  äusserliche  Ähnlichkeit,  im  Wesen  aber  durchaus 
keine  Übereinstimmung  zeigt. 

Strassburg  i.  E.  '  O.  v.  d.  Pfordten. 

Schmitt,  Elisabeth,  Dr.  Die  unendlichen  Modi  bei  Spinoza.  Heidel- 
berger Diss.  1910.    Verlag  G.  A.  Barth.     Leipzig.     (135  S.) 

Was  diese  Arbeit  auf  Grund  einer  entwicklungsgeschichtlichen  Unter- 
suchung des  Problems  —  entgegen  der  herrschenden  Auffassung  zum  grossen 
Teil  —  zu  zeigen  sucht,  ist  in  den  Grundzügen  Folgendes: 

Die  unendlichen  Modi  sollen  im  Spinozistischen  System  die  vollen 
spezifischen  Prinzipien  der  natura  naturata  bedeuten  —  (nach  Essenz 
und  Existenz)  —  die  ihrer  Einheit  sowohl  als  auch  ihrer  Mannigfaltigkeit. 
Metaphysisch:  vor  allem  —  als  unendliche  ewige  intensiv  gesetzliche 
Potenzen  von  verschiedener  Form  —  die  principia  individuationis,  und  zwar  die 
unendlichen  Modi  1.  Grades  die  Prinzipien  des  einfachen  Einzelmodus  und 
damit  der  Zeit,  der  Zahl,  des  Masses  und  der  existentiellen  Veränderung,  die 
Modi  infiniti  2.  Grades  die  Prinzipien  des  Einzelindividuums  und  damit  auch 
der  Vergänghchkeit  und  Zufälligkeit.  Erkenntnistheoretisch:  die  funda- 
menta  rationis,  die  höchsten  Prinzipien  aller  menschlichen  Erkenntnis,  der  Philo- 
sophie überhaupt. 

Diese  Lehre  entwickelt  sich  vom  kurzen  Traktat  an  kontinuierlich  über 
den  Tract.  de  int.  em.  und  Ep.  XXXII  hin  bis  zur  Ethik,  dem  Tract.  theol.  pol. 
und  einigen  Briefen  aus  den  letzten  Jahren  Spinozas.  Allerdings  zeigt  sie  — 
namentlich  auf  dem  Gebiet  der  Cogitatio  —  beträchtliche  Lücken  und  Unaus- 
geglichenheiten und  eine  auffallende  Dürftigkeit  der  Darstellung.  Indessen  lässt 
sich  die  so  vorhandene  Inkongruenz  zwischen  Durchführung  und  Bedeutung 
der  Theorie  vollständig  aus  der  eigenartigen  (z.  T.  schriftstellerischen)  Entwicklung 
des  Systems  und  seinen  verschiedenartigen  Prinzipien  und  Voraussetzungen 
erklären. 

Heidelberg.  E.  Schmitt. 

Eckertz,  Erich,  Dr.  Nietzsche  als  Künstler.  C.  H.  Becksche  Ver- 
lagsbuchhandlung.   München  1910.     (236  S.) 

Nietzsche,  dessen  denkerischer  Bestand  auf  dem  äussersten  Flügelposten 
der  Reihe  Kant,  Fichte,  Schopenhauer  vielfach  abgewertet  worden  ist  (besonders 
durch  die  Bücher  von  Riehl,  Vaihinger,  Richter,  Simmel,  Ewald),  wird  hier  ganz 
auf  das  Nachbargebiet  der  Kunst  verwiesen.  Das  starke  Obwalten  des  Künst- 
lerischen haben  zwar  schon  Riehl  und  Simmel  besonders  hervorgehoben.  Hier 
jedoch  wird  N.'s  ganzes  Schaffen  unter  dem  Gesichtswinkel  der  Kunst  und  des 
Spieles  betrachtet,  von  einer  Warte  aus,  die  N.  selbst  im  Ecce  homo  erstiegen 
hat,  wenn  er  sagt:  „Ich  kenne  keine  andere  Art  mit  grossen  Aufgaben  zu  ver- 
kehren als  das  Spiel"  oder  ein  andermal:  „Wir  Wagehälse  des  Geistes,  die  wir 
die  höchste  und  gefährlichste  Spitze  des  gegenwärtigen  Gedankens  erklettert 
haben,  sind  wir  nicht  eben  darin  Anbeter  der  Formen,  der  Töne,  der  Worte? 
Eben  darum  Künstler?"  Indem  N.  aber  mit  der  spielerischen  Vergewaltigung 
der  Dinge  allem  Stoffe  und  aller  Erfahrung  entsagt,  erweist  er  sich  als  Fichtes 
artistisctier  Superlativ,  als  Kants  äusserstes  Gegenspiel. 

Auf  dieser  Grundlage  erhebt  sich  eine  dreigeteilte  Darstellung  des  Künstlers 
Nietzsche;  nämlich  die  seiner  Bildlichkeit,  die  bei  aller  Fülle  und  Feinheit  der 
impressionistischen  Anschauung  und  Sprachkraft  eine  dingliche  Gesamtheit,  ein 
geschaffenes  Wesen   vermissen   lässt;   ferner  sein  Scherz,   seine  Possenlust,  die 


Selbstanzeigen  (Eber).  381 

ihn  als  den  spielenden  Vernichtcr  offenbart,  der,  mehr  witzig  als  wissend, 
Kant  als  den  Chinesen  von  Königsberg  bezeichnet,  und  doch  der  tragische 
Spieler  ist,  mehr  Hamlet  als  Sokratcs;  endlich  seine  Musik,  die  in  der  Sprache 
erklingt  wie  in  der  Klaviatur  seines  Denkens,  auf  weicher  sich  Umwertung  als 
Modulationslust,  Ewige  Wiederkunft  als  Freude  am  Refrain  offenbart,  auf  welcher 
Gleichklängc  wie  „Besser  und  Böse"  zu  einer  Genealogie  der  Moral  komponiert 
werden. 

Ein  weiterer  Schwerpunkt  des  Buches  ruht  in  der  stammlichen  Funda- 
mentierung,  die  hier  zum  ersten  Mal  unternommen  wird  und  die  beispielsweise 
den  starken  Predigerton,  das  stark  Ethische  bei  N.  in  der  Herkunft  findet,  in 
ihr  aber  auch  die  ästhetische  Freude  am  Vornehmen;  die  ferner  das  Lehrhafte, 
das  ästhetische  Experimentieren  mit  der  stark  didaktischen  und  gelehrtenhaften 
thüringischen  Geistesart  in  Fühlung  bringt,  die  Nüancenfreiheit  mit  Schumann 
und  Wagner  und  endlich  auf  diesem  Anfangsweg  zur  Heimatsart  auch  einen 
neuen  Anschluss  findet  an  den  transcendentalen  Idealismus  Fichtes  und  den 
magischen  des  Novalis. 

EXlsseldorf.  Erich  Eckertz. 

Eber,  Heinrich.  Hegels  Ethik  in  ihrer  Entwickelung  bis  zur 
Phänomenologie.     Dissertation.    Strassburg.     1909.     (180  S.) 

Dass  die  philosophische  Forschung  Hegel  gegenüber  eine  zu  Unrecht 
versäumte  Ehrenpflicht  wissenschaftlicher  Behandlung  nachzuholen  und  zu  er- 
füllen hat,  wird  heute  wohl  von  niemand  mehr  in  Frage  gestellt.  Einen  kleinen 
Teil  von  dieser  grossen  Schuld  abzutragen,  ist  diese  Studie  bemüht. 

Der  Hauptzweck  der  Untersuchung  wurde  darin  erblickt,  in  Hegels  Ge- 
dankenwelt das  langsame  Heranwachsen  bestimmter  ethischer  Prinzipien  zu 
einem  einheitlichen  Systenibaue  in  der  Phänomenologie  zu  erfassen  und  ihre 
genetische  Ursächlichkeit  zu  begreifen. 

Wir  beobachten  mit  steigendem  Interesse  die  ersten  selbständigen  Flügel- 
schläge dieses  Geistes,  der,  befreit  von  den  beengenden  Fesseln  der  theologischen 
Wissenschaft,  den  kühnen  Flug  wagt  hinüber  in  das  freiere  Reich  der  reinen 
Metaphysik.  Diese  Wandlung  hat  zur  Folge,  dass  sich  das  ursprünglich  religiöse 
Ideal  verweltlicht  zu  einem  rein  philosophischen.  Indem  dieser  Loslösungs- 
prozess,  der  zugleich  eine  immer  bewusstere  Hinwendung  zum  eigenen  System 
bedeutet,  ferner  sich  vollzieht  unter  dem  bestimmenden  Einflüsse  aktuell  poli- 
tischer Studien,  bildet  sich  allmählich  in  Hegels  Ideenwelt  ein  bestimmter 
ethischer  Grundbegriff  heraus,  der  bald  die  herrschende  Stellung  in  seiner 
Moraltheorie  einnimmt.  Die  Allgemeinheit,  das  Volk,  der  Staat  ist  der  Gott, 
dem  allein  unser  sittliches  Streben  gilt,  denn  in  ihm  hat  sich  die  „selbstbewusste 
Vernunft",  die  geistige  Weltsubstanz  als  solche  realisiert  Nicht  „Egoität",  wie 
die  Zeitphilosophen  meinen,  sondern  Universalismus,  metaphysisch  und 
ethisch,  das  ist  des  jungen  Denkers  zentrale  Forderung. 

Dieser  originell  gewonnene,  in  heisser  Selbst-  und  Fremdkritik  geläuterte 
und  erprobte  Grundgedanke  ist  der  Konzentrationspunkt  aller  Reflexionen  Hegels 
in  dieser  Frühzeit  seiner  philosophischen  Arbeit,  sodass  wir  mit  gutem  Rechte 
sagen  können:  Hegels  Weltanschauung  bis  zum  Abschlüsse  der  Phänomenologie 
ist  durchaus  ethisch  fundiert  und  koloriert.  Diese  Erkenntnis  vermag  vielleicht 
dem  Gesamtbilde  seiner  geistigen  Persönlichkeit,  das  wir  bis  jetzt  wohl  mehr 
nach  der  panlogistischen  Pointe  gekannt  haben,  einen  neuen,  charakteristischen 
Zug  zu  verleihen. 

Indem  so  die  verschiedenen  Fäden  ethischer  Entwickelung,  die  in  der 
Phänomenologie  zu  einem  fertigen  Systemgewebe  umfassender  Art  sich  zu- 
sammenfinden, klar  und  sichtbar  freigelegt  werden,  fällt  zugleich  ein  helles 
Licht  auch  auf  eine  andere,  nicht  minder  wichtige  Frage:  es  ist  die  Frage  nach 
dem  Verhältnisse  Hegels  in  dieser  Frühzeit  seines  philosophischen  Denkens  zu 
Kants  praktischer  Vernunft.  Dieses  Problem  interessiert  uns  so  lebhaft  wie 
das  vorhergehende;  es  ist  mit  ihm  aufs  innigste  verknüpft  und  kann  während 
dieser  ganzen  Periode  nie  von  ihm  getrennt  werden.  An  Kant  und  seiner 
praktischen  Vernunft  bildet  sich  der  junge  Hegel  zum  absoluten  Idealisten. 
Kant   ist   der   wichtigste  Baustein   in   seiner  geistigen  Entwickelung.    Zunächst 


382  Selbstanzeigen  (Gross). 

positiv:  indem  der  philosophisch  interessierte  Theologe  die  Meisterwerke  des 
Königsbergers  mit  schwäbisch-zäher  Kraft  in  sich  aufnimmt  und  verarbeitet; 
dann  aber  vor  allem  negativ:  indem  er  in  leidenschaftlichem  Gegensatze  zu 
Kant  und  den  „Reflexionsphilosophen"  überhaupt  —  zunächst  unter  Schellingscher 
Flagge  segelnd,  dann  auch  diese  preisgebend  —  sein  wahres  Selbst  gewinnt 
und  den  Boden  sich  erkämpft,  da  er  neue  und  tiefere  Quellen  der  Erkenntnis 
und  Wissenschaft  zu  graben  meint. 

Es  ist  vielleicht  noch  heute  von  einigem  Wert,  diese  frühe,  ernsthafte 
und  scharfe  Kritik  eines  genialen  Schülers  an  seinem  genialen  Meister  in  Bezug 
auf  Methode  und  Ergebnisse  genauer  kennen  zu  lernen. 

Zabern  i.  Eis.  H.  Eber. 


Gross,  Felix,  Dr.  Kant-Laien-Brevier.  Berlin.  1909.  Verlag  von 
Reichl  &  Co.  (216  S.)  Das  kleine  Büchlein  ist,  wie  schon  sein  Titel  es  anzeigt, 
nicht  für  die  Fachgenossen,  sondern  für  den  Laien  bestimmt.  Als  Ziel  schwebte 
mir  vor,  ein  Buch  zu  liefern,  das,  ohne  bei  seinem  Leser  philosophische  Gelehrt- 
heit und  Geistesdressur  voraussetzen  zu  müssen,  ein  wahres  und  inniges  Ver- 
ständnis nicht  nur  einzelner  sogenannter  „Lichtstrahlen",  sondern  des  organischen 
Ganzen  der  Kantischen  Weltanschauung  vermitteln  könnte.  Sollte  dieses  Ziel 
erreicht  werden,  so  waren  zwei  Bedingungen  zu  erfüllen:  1.  mussten  als  Stoff 
nur  allerlebendigste,  rein-menschlich  interessante  Stellen  und  diese  aus  allen 
Gebieten  des  Kantischen  Denkens  und  überall  in  genügender  Anzahl  und  Voll- 
ständigkeit sich  auswählen  lassen;  2.  musste  als  Form  dasselbe  sinnvolle  Gesetz 
organischen  Zusammenhanges,  das  dem  System  sein  Leben  sichert,  auch  sein 
verjüngtes  Abbild  wiederbeleben  können.  Beide  Bedingungen  waren  leichter 
und  vollständiger  zu  erfüllen,  als  man  es  von  Anfang  an  gedacht  hätte.  Was 
die  erste  betrifft,  konnte  ich  z.  B.  selbst  aus  dem  dem  Laien  scheinbar  so  gänzlich 
unzugänglichen  Gebiete  der  Metaphysik  und  transscendentalen  Kritik  nicht 
weniger  als  14  Seiten  der  köstlichsten  Stellen  bringen,  von  welchen  ich  glauben 
möchte,  dass  kein  wirklich  heller  Kopf  und  kein  wirklich  sicher  treffendes  Gefühl 
sie  lesen  kann  ohne  eine  absolut  wahrhafte  und  lebendigste  Vorstellung  dieser 
Seite  der  Kantischen  Weltanschauung  zu  gewinnen  und  so  überall.  Was  die 
zweite  Bedingung  der  Form  betrifft,  so  möge  das  hier  folgende  Inhaltsverzeichnis 
ein  selbständiges  Urteil  darüber  ermöglichen.  In  einem  „Schlusswort"  von 
10  Seiten  versuchte  ich  die  reich-anschauliche  Vorstellung  des  Kantischen  Ge- 
dankenbaues, die  der  Leser  eben  aus  der  Lektüre  der  Originalstellen  gewonnen, 
nun  auch  noch  zu  einer  systematisch  strafferen  und  abstrakt  klaren  Gesamtidee 
seiner  Bedeutung  für  unsere  ganze  Kultur  zu  verdichten. 

Inhaltsverzeichnis: 

Ein  Vorwort.  —  Herder  über  Kant. 

Wissen  (Philosophie  —  Wissenschaft  —  Gelehrte). 

Die  alte  Metaphysik.  —  Metaphysik  wie  sie  sein  soll,  Philosophie,  Kritik. 
—  Naturalismus,  gesunder  Menschenverstand.  —  Wissenschaft  und  wissenschaft- 
liche Methode.  —  Wissenschaft  und  Leben,  Gelehrte,  Akademie. 

Schauen  (Kunst  —  Genie). 

Das  Schöne  und  die  Kunst.  —  Genie  und  Schule  in  der  Kunst.  —  Zu 
einzelnen  Künsten. 

Glauben  (Religion  —  Kirche). 

Religion,  Afterreligion.  —  Kirche,  Schrift.  —  Afterkirche,  Pfaffentum.  — 
Historische  Religion,  Judentum  und  Christentum. 

Wirken  (Moral  —  Recht). 

Grundlage   der  Moral.   —  Moralisches.   —  Staat   (Staatsrecht).  —  Recht. 

Leben  (Menschen  und  Welt;. 

Lebensweisheit.  —  Zur  Menschenkenntnis.  —  Mann  und  Frau,  Ehe.  — 
Erziehung.  —  Rasse,  Nationen.  —  Wirtschaft,  Politik,  Politiker.  -  Gesellschaft.  — 
Denken,  Lesen,  Schriftstellerei,  Stil.  —  Hypochondrie,  Hygienisches. 

Schlusswort  —  Redaktioneller  Anhang. 

Paris.  Felix  Gross. 


Selbstanzeigen  (Gross).  383 

Gross,  Felix,  Dr.  „Form"  und  „Materie"  des  Erkennens  in  der 
transscendentalen  Ästhetik.  Eine  erkenntnistheoretische  Untersuchung. 
Leipzig,  Verlag  von  Johann  Ambrosius  Barth.     1910.     (V,   100  S.) 

Den  Stoff  der  Erkenntnistheorie  —  die  Gesamtheit  unserer  Bewusstseins- 
vorgänge  —  gliedert  in  der  „Kritik  der  reinen  Vernunft"  eine  doppelte  Zwei- 
teilung: die  Teilung  der  Quellen,  aus  welchen  unsere  Erkenntnis  entspringt, 
in  Sinnlichkeit  und  Verstand,  und  die  Scheidung  der  Elemente,  aus 
welchen  alle  Erkenntnis  besteht  in  „Form"  und  ,,Materie".  Wie  verhalten 
sich  diese  beiden  Unterscheidungen  zu  einander?  Im  ersten  Satze,  der  sie 
einführt  („Einleitung"  1),  scheinen  sie  sich  zunächst  zu  decken.  „Das  Erkenntnis- 
vermögen'-, heisst  es  dort,  „wird  zur  Ausübung  erweckt  durch  Gegenstände, 
die  unsere  Sinne  rühren,  und  teils  von  selbst  Vorstellungen  bewirken,  teils 
unsere  Verstandestätigkeit  in  Bewegung  bringen,  diese  zu  vergleichen,  sie  zu 
verknüpfen  oder  zu  trennen,  und  so  den  rohen  Stoff  sinnlicher  Eindrücke  zu 
einer  Erkenntnis  der  Gegenstände  zu  verarbeiten,  die  Erfahrung  heisst."  Hier 
sind  „die  Gegenstände,  die  unsere  Sinne  rühren  und  von  selbst  Vorstellungen 
bewirken",  sowie  „der  rohe  Stoff  sinnlicher  Eindrücke"  (d.  h.  beides  die 
Empfindungen)  die  Materie,  die  „Verstandestätigkeit"',  die  „vergleicht,  verknüpft 
oder  trennt",  die  Form  des  Erkennens  und  der  Unterschied  „Form"  und  „Materie" 
scheint  einfach  daher  zu  stammen,  dass  die  erste  (die  Empfindungen)  eben  aus 
der  Sinnlichkeit,  die  zweite  (die  Verstandestätigkeit )  aus  dem  Verstände  entspringt. 
Dieses  einfache  Verhältnis  wird  aber  im  weiteren  Verlaufe  der 
Untersuchung  kompliziert.  In  der  „transscendentalen  Ästhetik"  schiebt 
sich  zwischen  die  „Form"  der  ordnenden  und  formenden  Tätigkeit  und  die 
„Materie"  der  zu  ordnenden  Empfindungen  als  ein  drittes,  neues  Element  die 
.Form  der  Anschauung"  ein,  die  zwar  weder  geordnet  wird,  noch  selber  ordnet, 
aber  „macht,  dass  geordnet  werden  kann".  Diese  „Form  der  Anschauung" 
nimmt  sich  das  Büchlein  nun  zunächst  als  „mittleres  Problem"  der  zu  be- 
handelnden Frage  und  führt  nun  die  Untersuchung  folgendermassen  durch: 

1.  Die  Kantische  Ableitung  der  Anschauungsformen  Raum  und  Zeit  in 
der  „Kritik"  und  den  „Prolegomenis"  wird  Schritt  für  Schritt  geprüft,  als  ihr 
immer  wiederkehrender  Grundfehler  eine  zwar  historisch  begreifliche  aber  sachlich 
ungerechtfertigte  Identifizierung  der  „Sinnesempfindungen"  (Empfindungen  in 
Raum  und  Zeit)  mit  den  Empfindungen  überhaupt  („Vitalempfindungen"  Kants, 
wozu  auch  Empfindungen  des  Raumes  und  der  Zeit  selber,  Raum-  und  Zeit- 
empfindungen, gehören  würden,  obwohl  sie  nicht  Sinnesempfindungen,  d.h.  in 
Raum  und  Zeit  sind)  festgestellt  und  gezeigt,  dass  als  tatsächliches  Resultat  der 
Argumentation  Kants  nur  eine  wichtige,  noch  näher  zu  untersuchende  Sonder- 
stellung von  Raum  und  Zeit  als  allen  Wahrnehmungen  und  Empfindungen  von 
Gegenständen  und  Vorgängen  im  Räume  und  der  Zeit  „zu  Grunde  liegende" 
und  notwendig  vorausgehende  Vorstellungen,  nicht  aber  ihr  spezifischer  Charakter 
einer  „reinen  (empfindungsfreien)  Form"  hervorgeht. 

2.  Der  Begriff  der  „reinen  Anschauung"  ist  nach  1.  unbewiesen,  er  ist 
aber  auch  unhaltbar,  weil  er  einer  ganzen  Reihe  psychologischer  Tatsachen,  so 
der  Existenz  charakteristischer  Raum-  und  Zeitempfindungen,  den  Tatsachen  der 
Raum-  und  Zeitschätzung  und  ihrer  Täuschungen,  der  Existenz  eigentümlicher 
Richtungsempfindungen  und  der  Tatsache  der  Dimensionen,  widerspricht. 

3.  Die  „Anschauungsformen"  Raum  und  Zeit  lassen  sich  mit  Hilfe  einer 
neuen  Raum-  und  Zeittheorie  auflösen  in  ein  aposteriorisches  oder  Empfindungs- 
element der  Raum-  und  Zeitempfindungen  und  ein  apriorisches  oder  Verstandes- 
element der  transscendentalen  Apperzeption,  die  diese  Empfindungen  zur  An- 
schauung (dem  eigentlichen  Raum  und  der  eigentlichen  Zeit)  verbindet.  Der 
merkwürdig  „formale"  Charakter  schon  der  Raum-  und  Zeitempfindungen,  der 
iie  zu  einer  solchen  Verbindung  zu  „formaler  Anschauung"  geeignet  macht, 
stellt  sich  dabei  als  dadurch  bedingt  heraus,  dass  sie  nichts  anderes  sind  als 
die  Empfindung  der  Apperzeptionstätigkeit  selber  und  zwar  die  Zeitempfindungen 
die  Empfindung  der  reinen,  die  Raumempfindungen  die  Empfindung  der  mit 
Muskelbewegungen    (beim    „Durchlaufen"    der  Sinnesempfindungen   z.  B.   beim 


384  Selbstanzeigen  (Enriques — Reinhold). 

Bewegen   des  Auges)   verbundenen  Apperzeption.    Aus    dieser   Lösung   werden 
die  Hauptfragen  des  Raum-  und  Zeitproblemes  beantwortet. 

4.  Nach  Feststellung  des  tatsächlichen  Charakters  der  „Anschauungs- 
fonnen"  Raum  und  Zeit  wird  der  Kantische  Begriff  der  „Form  der  Anschauung" 
endgültig  in  seiner  systematischen  Rolle,  seiner  inneren  und  äusseren  Unhalt- 
barkeit,  aber  auch  seiner  grossen  historischen  Bedeutung  festgestellt. 

5.  Die  nun  sowohl  sachlich  als  systematisch  klargestellte  Auflösung  der 
„reinen  Anschauungsform"  in  ein  stoffliches  (Empfindungs-)  und  ein  Form- 
(Verstandes-)  Element  führt  schliesslich  die  ursprüngliche  und  einfache  Gleichung 
Materie-Sinnlichkeit,  Form-Verstand  als  einzig  gerechtfertigte  und  überall  gültige 
Grundunterscheidung  zur  Gliederung  des  erkenntnistheoretischen  Untersuchungs- 
materiales  in  ihre  Rechte  zurück.  Ein  letzter  Überblick  zeigt  unsere  Unter- 
suchung als  ersten  Teil  einer  vollständigen  Theorie  des  Erkennens,  deren  zweiten 
Teil,  „Form  und  Materie  des  Erkennens  in  der  transscendentalen  Analytik",  der 
Verfasser  in  nicht  allzulanger  Zeit  zu  liefern  hofft. 

Paris.  Felix  Gross. 

Enriqnes,  Fed.,  Professor  in  Bologna.  Probleme  der  Wissenschaft 
übersetzt  von  K.  Grelling.  I.  Teil:  Wirklichkeit  und  Logik  (S.  1-258).  IL  Teil: 
Die  Grundbegriffe  der  Wissenschaft  (S.  259—580).   Teubner,  Leipzig-Berlin.   1910. 

Cet  ouvrage  est  con^u  dans  l'esprit  de  la  philosophie  kantienne  inter- 
pretee  d'apres  un  point  de  vue  psychologique  et  positif.  L'  A.  voit  chez  Kant 
moins  une  theorie  de  la  connaissance,  que  l'on  doive  reproduire  suivant  des 
formules  arretees,  qu'un  programme  de  travail,  une  position  de  problemes 
qu'il  y  a  lieu  de  developper  d'une  fa^on  nouvelles  par  une  analyse  plus  pro- 
fonde  des  principes  et  des  concepts  scientifiques. 

Par  cette  analyse  il  s'attache  d'abord  ä  critiquer  l'a  priori  kantien,  ä 
eliminer  de  la  science  toute  idee  d'absolu,  et  ä  definir  le  role  de  l'esprit  par 
rapport  ä  la  construction  scientifique.  11  en  est  amene  ä  considerer  la  logique 
comme  un  Systeme  d'operations  psychologiques  qui  suivant  certaines  lois  tenant 
ä  la  structure  de  l'esprit,  et  ä  ramener  ä  cet  element  ä  priori,  ä  l'exclusion  de 
tout  autre,  la  forme  des  axiomes  de  la  Geometrie  et  de  la  Mecanique,  dont  il 
fait  ressortir  d'autre  part  le  contenu  reel  qu'ils  renferment. 

La  critique  de  l'A.  ne  saurait  s'arreter  ä  la  formule  de  Kant  que  la  possi- 
bilite  de  l'experience  confere  une  realite  objective  aux  conditions  ä  priori  de  la 
pensee.  En  effet  cette  formule  suppose  une  experience  typique  rigoureuse  qui  ne 
se  trouve  nulle  part  dans  la  Science.  Par  consequent  il  y  a  lieu  de  mettre  en 
question  meme  la  realite  objective  de  la  logique.  L'A.  n'a  pas  difficulte  d'adopter 
une  Vision  heracliteenne  du  monde,  et  —  puis  qu'il  ne  saurait  suivre  Hegel 
dans  son  renversement  de  la  logique  ordinaire  -  il  en  est  amene  ä  considerer 
le  Probleme  critique  de  la  connaissance  sous  une  lumiere  nouvelle:  il  trouve 
dans  la  logique  quelque  chose  qui  a  une  realite  approximative.  De  ce  fait  il 
en  deduit  des  consequences  metodologiques  quant  ä  l'emploi  de  la  deduction 
dans  les  differentes  branches  de  la  Science. 

On  ne  saurait  rendre  par  un  court  resume  les  idees  de  l'A.,  qu'il  fache 
d'expliquer  par  de  nombreux  exemples  empruntes  aux  sciences  mathematiques, 
physiques,  chymiques,  biologiques  etc. 

Les  quelques  mots  qui  precedent  suffisent  cependant  ä  faire  ressortir  le 
but  general  de  la  recherche  qui  est  essentiellement  un  essai  nouveau  pour 
constituer  une  gnoseologie  expliquant  la  formation  et  la  valeur  de  la  connaissance 
scientifique. 

Bologna.  Federigo  Enriques. 

Reinhold,  C.  Ferd.,  Dr.  Machs  Erkenntnistheorie.  Darstellung 
und  Kritik.    Verlag  Dr.  Werner  Klinkhardt.     Leipzig.     1908.     (215  S.) 

Der  erste  Teil  versucht  eine  möglichst  authentische  aber  zusammenhängende 
und  systematische  Darstellung  der  in  Machs  Schriften  gelegentlich  und  zerstreut 
auftretenden  Philosophie  mit  besonderer  Rücksicht  auf  das  erkenntnistheoretische 
Problem. 


Selbstanzeigen  (Falkenheim).  385 

Die  lediglich  immanente  Kritik  des  zweiten  Teils  sucht  zu  zeigen,  dass 
der  Empfindungsmonismus  (^Phänomenaiismus)  auch  in  der  Ausgestaltung,  die 
Mach  ihm  giebt  als  Grundlage  einer  Gesamtweltanschauung,  nicht  haltbar  ist, 
da  es  unmöglich  ist,  die  von  Mach  ausserdem  behaupteten  funktionalen  Be- 
ziehungen der  Empfindungen  von  jenem  ersten  Ansatz  „es  giebt  nichts  als 
Empfindungen*  aus  verständlich  oder  begreiflich  zu  machen.  Dieser  Nachweis 
wird  durch  logische  und  psychologische  Überlegungen  zu  führen  gesucht.  Die 
übrigen  Anschauungen  Machs  werden  gleichfalls  einer  kurzen  kritischen  Prüfung 
unterzogen. 

München.  C.  F.  Reinhold. 

Falkenheim,  Hugo;  Knno  Fischer.  System  der  Logik  und  Meta- 
physik oder  Wissenschaftslehre.  3.  Auflage.  Heidelberg.  1909.  Heraus- 
gegeben von  Hugo  Falkenheim. 

Die  vorliegende  Logik  Kuno  Fischers  ist  die  Neuauflage  eines  Werkes, 
dessen  erstes  Erscheinen  noch  dem  Jahre  1852  angehört  und  das  in  erweiterter 
Bearbeitung  1865  veröffentlicht  worden  ist.  Sein  prinzipieller  Standpunkt,  der 
in  beiden  Auflagen  der  gleiche  blieb,  ist  der  des  Hegeischen  Systems,  wie 
schon  der  Titel  bezeugt;  als  wirksamste  Vertretung  der  methodischen  Grund- 
gedanken Hegels  auf  logischem  Gebiet  hat  es  seinerzeit  seinen  Platz  errungen, 
und  nicht  zuletzt  das  zunehmende  Bedürfnis  der  Gegenwart  nach  erneutem  ein- 
dringendem Verständnis  dieser  Gedankenwelt,  inmitten  des  Vorherrschens  ganz 
anders  gearteter  philosophischer  Interessen,  reifte  in  dem  Verfasser  vor  seinem 
Tode  der  Entschluss  zur  Wiederherausgabe.  Innerhalb  dieser  Gesamtriclitung 
aber  weist  seine  Stellungnahme  einige  für  seine  besondere  Auffassung  charak- 
teristische Züge  auf.  Vor  Allem  fällt  —  nicht  nur  vom  Gesichtspunkt  der 
„Kantstudien"  aus,  sondern  nach  der  ausgesprochenen  Intention  Kuno  Fischers  — 
die  nachdrückliche  Anknüpfung  an  Kant  ins  Gewicht.  Gegenüber  einer  Inter- 
pretation Hegels,  die  den  transscendentalen  Ausgangspunkt  gänzlich  beiseite  Hess 
und  durch  ihre  einseitig  ontologische  Fassung  der  Kategorienlehre  den  Vorwurf 
des  Dogmatismus  hervorrief,  formuliert  er  seine  systematische  Grundanschauung 
als  „kritische  Identitätsphilosophie".  Er  stellt  die  Kantische  Erkenntnis  von  den 
Kategorien  als  den  erzeugenden  Bedingungen  aller  Erfahrung  an  die  Spitze  und 
entwickelt  von  hier  aus  lichtvoll  die  Gedankengänge,  die  über  Fichte  zu  Hegels 
absolutem  Idealismus  als  folgerichtigem  Abschluss  führen.  Sein  Bestreben  geht 
recht  eigentlich  auf  eine  Durchführung  der  Logik,  die  sowohl  der  transscenden- 
talen als  der  metaphysischen  Geltung  der  Kategorien  gerecht  wird,  sie  einheitlich 
als  Funktionen  des  Denkens  und  als  Grundbestimmungen  des  Weltprozesses 
erfasst. 

Damit  verbindet  sich  ein  weiterer  Kerngedanke,  der  Fischers  methodische 
Erörterungen  —  auch  in  ihren  polemischen  Teilen  —  beherrscht:  seine  pro- 
grammatische Hervorhebung  der  entscheidenden  Bedeutung  des  Entwicklungs- 
begriffs. Wie  er  ihn  versteht,  ist  er  ihm  zunächst  erwachsen  aus  der  Einsicht 
in  den  notwendigen  inneren  Zusammenhang  der  Kategorien,  deren  dialektische 
Gliederung  als  „fortgesetzte  Selbstbewegung  des  reinen  Denkens"  verstanden 
werden  will,  aus  dem  Gegensatze  der  „Begriffsentwicklung"  zur  „Begriffs- 
einteilung". Aber  das  Problem,  das  sich  ihm  ergiebt,  ist  ein  umfassenderes, 
er  fordert  eine  universale  „philosophische"  Fassung  des  Entwicklungsbegriffs, 
die  übergreifend  das  Verhältnis  der  dialektischen  Methode  der  Logik  zur  gene- 
tischen Methode  der  empirischen  Forschung  bestimmen  soll  und  erst  in  dieser 
Gestalt  ein  erschöpfendes  Prinzip  des  wissenschaftlichen  Denkens  werden  kann. 
Seine  Logik  giebt,  wie  der  Schlusssatz  betont,  „das  System  des  Begriffs  der 
Entwicklung  und  das  Organon,  um  sie  in  der  Natur  der  Dinge  zu  erkennen*. 
Die  Prüfung  der  Philosophie  Hegels  nach  ihrem  positiven  Einflüsse  auf  die 
^  geistige  Arbeit  des  Jahrhunderts  einerseits  und  ihren  Schranken  andererseits 
p  ivar  es,  die  Fischer  hier  zu  einer  Weiterbildung  ihrer  theoretischen  Ergebnisse 
geführt  hat;  insbesondere  ist  auch  die  Erfahrung  an  seiner  eigenen  philosophischen 
Lebensarbeit  für  diese  Ausprägung  seiner  Überzeugungen  mitbestimmend  gewesen. 

Mein  Vorwort  giebt  über  Entstehung  und  Tendenz  des  Buches  eine  kurze 
Darlegung,  wie  sie  der  Billigung  des  verewigten  Verfassers  gewiss  sein  durfte. 


3Ö6  Selbstanzeigen  (Mühlethaler— Frost). 

Wenigstens  in  letzterem  Sinne  tragen  auch  die  vorstehenden  Zeilen  den  Charakter 
einer  „Selbstanzeige". 

München.  Hugo  Falkenheim. 

Mühlethaler,  Jacob,  Dr.  Die  Mystik  bei  Schopenhauer.  Alexander 
Duncker  Verlag,  Berlin  1910.     (259  S.) 

Der  erste  Teil  der  Arbeit  stellt  auf  Grund  einer  genauen  Quellenkritik 
und  unter  umfassender  Berücksichtigung  der  Schopenhauerschen  Original-Manu- 
skripte fest,  wie  weit  sich  Schopenhauers  Lektüre  der  mystischen  Literatur  des 
Abendlandes  erstreckte.  In  einem  folgenden  Kapitel  ist  dann  in  ein  paar  skizzen- 
haften Gedankengängen  des  Verfassers  Auffassung  vom  Wesen  der  Mystik  ge- 
zeichnet. Ein  weiteres  Kapitel  behandelt  das  Selbsterkenntnisproblem,  da  ja 
bekanntlich  sozusagen  alle  mystischen  Denker  die  Selbsterkenntnis  als  Grundlage 
für  eine  weitere  Welterkenntnis  angesehen  haben.  Die  dabei  gestreiften  seltsamen 
Phänomene  in  der  seelisch-geistigen  Entwicklung  einer  Persönlichkeit,  wie  z.  B. 
das  Ich-Ereignis,  bilden  durchaus  noch  psychologisches  Neuland.  Möchten  doch 
durch  jene  Hinweisungen  weitere  Kreise  zur  exakten  Beobachtung  und  zum 
Nachdenken  über  solche  Dinge  angeregt  werden. 

Schopenhauers  persönliche  Stellung  zur  Mystik  ist  durch  direkte  Aus- 
sprüche dieses  Philosophen,  die  zum  grössten  Teil  bisher  noch  ungedruckt 
waren  und  unmittelbar  den  Original-Manuskripten  entstammen,  belegt  worden. 
Auch  die  Mystiker  liess  der  Verfasser  möglichst  selber  zu  Worte  kommen,  weil 
er  sich  sagt:  In  der  Mystik  spielt  wie  in  der  lyrischen  Poesie  die  Wortgetreuheit 
eine  Hauptrolle.  Gedanklicher  Inhalt  und  sprachlicher  Ausdruck  sind  in  ihrer 
Zusammengehörigkeit  die  wesentlichsten  Kennzeichen  zum  tiefern  Verständnis 
des  geistigen  Erlebens  der  einzelnen  Mystiker. 

Im  letzten  Kapitel,  das  an  Umfang  jedes  andere  weit  übertrifft,  werden 
die  grossen  Probleme  der  Weltanschauung,  die  Erkenntnistheorie,  Metaphysik 
und  Ethik  betreffend,  formuliert  und  die  Schopenhauerschen  Lösungsversuche 
denen  der  Mystik  gegenübergestellt.  Dabei  hat  der  Verfasser,  wo  immer  es 
tunlich  war,  durchblicken  lassen,  aus  welcher  Richtung  er  eine  mögliche  Lösung 
glaubt  erhoffen  zu  können. 

Nebst  einem  bescheidenen  Beitrag  zur  Weltanschauungsfrage  überhaupt, 
glauben  wir  in  erster  Linie  ein  paar  neue  Gesichtspunkte,  die  bisher  zu  wenig 
gewürdigt  worden  sind,  geliefert  zu  haben,  sodass  das  Verständnis  jener  vor 
genau  fünfzig  Jahren  dahingeschiedenen  einzigartigen  Persönlichkeit  dadurch 
wesentlich  gefördert  werden  kann. 

Dass  in  unserer  Schrift  auch  öfters  auf  Kant  bezug  genommen  werden 
musste,  versteht  sich  ohne  weiteres,  ist  doch  Schopenhauer  ohne  Kant  kaum 
zu  denken. 

Basel.  Jacob  Mühlethaler. 

Frost,  Walter,  Dr.,  Privatdozent.  Naturphilosophie  I.  Bd.  Verlag 
von  Barth  in  Leipzig.     1910.     (306  S.) 

Wie  ist  Naturphilosophie  möglich?  Es  kann  eine  empirische  Bearbeitung 
gewisser  Begriffe  geben  (z.  B.  des  Begriffs  der  Kausalität),  an  denen  die  heutige 
Naturwissenschaft  vorübergeht.  Sie  geht  an  ihnen  vorüber,  weil  sie  ihnen  nicht 
mit  Massbestimmungen  beikommen  kann  oder  weil  sie  noch  nicht  in  allen 
Richtungen  zur  Beschreibung  der  Natur  die  notwendigen  Anstösse  empfangen 
hat.  Ich  habe  versucht,  vom  Begriffe  der  Ursache  den  des  Anlasses  und  den 
der  Wechselwirkung  zu  unterscheiden,  indem  ich  diejenigen  Tatsachen  aufmerk- 
sam betrachtete,  auf  die  diese  Begriffe  angewandt  werden.  Es  zeigte  sich  mir, 
dass  der  Begriff  der  Ursache  hauptsächlich  auf  Fälle  angewandt  wird,  in  denen 
die  Erscheinungen  der  Natur  bereits  einen  hohen  Entwicklungsgrad  haben. 
Hier  gewinnt  er  seine  Lebenskraft.  Besitzt  man  ihn  alsdann,  so  wird  er  in  die 
elementarsten  Erscheinungen  der  Natur,  nicht  immer  mit  Glück,  hineingeschoben. 
Hier  verliert  er  seinen  konkreten  Sinn  und  hier  mussten  die  Schwierigkeiten 
entstehen,  die  die  Machianer  veranlassten,  ihn  ganz  zu  verwerfen.  Es  wird 
also  notwendig,  den  Begriff  der  Ursache  von  dem  des  Gesamtzusammenhanges 
der  Natur  zu  trennen.    Das  propter  hoc  ist  dann  empirisch  vom  post  hoc  unter- 


Selbstanzeigen  (Pötschel).  B87 

scheidbar.  —  Auf  ähnliche  Art  habe  ich  eine  empirisch -naturphilosophische 
Betrachtung  an  die  Kategorien  von  Täter  und  Tun  und  von  Form  und  Stoff 
angeknüpft. 

Daneben  enthält  mein  Buch  viele  Untersuchungen  über  logische  Probleme. 
Ich  glaube  auf  meine  Theorie  des  Verhältnisses  von  Grund  und  Folge  besonders 
hinweisen  zu  dürfen.  Was  meinen  erkenntnistheoretischen  Grundstandpunkt  an- 
betrifft, so  täte  ich  vielleicht  am  richtigsten,  mich  einen  Positivisten  zu  nennen. 

Am  meisten  einer  freundlichen  Beachtung  empfehlen  aber  möchte  ich 
folgendes.  Ich  bin  überzeugt,  dass  man  mit  der  Zeit  wird  dahin  gelangen 
müssen,  das  menschliche  Geistesleben,  so  gut  es  gehen  will,  auch  nach  bio- 
logischen Gesichtspunkten  zu  betrachten.  Es  handelt  sich  dabei  nicht  um  eine 
dogmatisch-materialistische  Weltanschauung,  sondern  um  ein  methodisches  Prinzip. 
Ich  suche  nun  eine  Synthese  herzustellen  zwischen  diesem  Prinzip  der  biolo- 
gischen Betrachtungsweise  und  den  überlieferten  starren  Begriffen  und  Systemen 
der  Logik.     S.  204—207;  256-261. 

Gegen  den  heutigen  Zustand  und  Begriff  der  Erkenntnistheorie  polemisiere 
ich.  Ich  halte  alle  Erkenntnistheorie  für  eine,  vielleicht  unvermeidliche  Philo- 
sophie des  Anscheins,  für  uneigentliclie  Erkenntnis.  Das  heisst:  gewisse  Begriffe 
und  Worte  treten  dem  Menschen  zusammen  vor  Augen,  und  der  Mensch  kann 
nicht  umhin,  irgend  eine  Art  von  vorläufiger  Ordnung  unter  ihnen  herzustellen. 
Dies  Zusammen  von  Begriffen  hat  aber  keine  innere  Wahrheit  in  sich.  (Kap.  V 
Abschn.  5—7.) 

In  meinem  Buch  ist  viel  von  Kant  die  Rede.  Es  war  dort  aber  nicht 
der  Ort,  seine  Tiefe,  die  ich  bewundere,  und  seine  Bedeutung  zu  würdigen; 
ich  polemisiere  gegen  seine  erkenntnistheoretischen  Gedankengänge.  Einiges 
suche  ich  auf  meine  Art  zu  verstehen  und  mir  zurecht  zu  legen,  z.  B.  seine 
Lehre  von  Schema  und  Begriff. 

Bonn.  Walter  Frost. 

Pötschel,  Walter.  Jakob  Sigesmund  Beck  und  Kant.  Diss..  Bres- 
lauer Genossenschafts-Buchdruckerei,  Breslau   1910.     (50  S.) 

Vier  Hauptpunkte  sind  es,  zu  denen  sich  nach  Ansicht  des  Verfassers 
der  angezeigten  Arbeit  die  Schwierigkeiten  der  Kantischen  theoretischen  Philo- 
sophie verdichten :  das  Verhältnis  von  formaler  zu  transscendentaler  Logik,  die 
Lehre  von  der  Anschauung,  die  Lehre  vom  Ding  an  sich  und  schliesslich  der 
spezifische  Begriff  der  Wahrheit  bei  Kant.  Wenn  auch  die  drei  ersten  Fragen 
nur  verschiedene  Seiten  desselben  zentralen  Problems,  des  Wahrheitsbegriffs  bei 
Kant,  darstellen,  so  sind  sie  es,  in  welchen  sich  das  zentrale  Problem  am  An- 
gemessensten (systematisch  und  historisch)  für  uns  in  die  Einzelheiten  verfolgen 
lässt,  ohne  dass  die  Kernfrage  in  ihrer  Einheit  gefährdet  würde.  In  diesen  an- 
gegebenen Schwierigkeiten,  welche  eben  die  Antriebe  zur  Weiterentwicklung 
der  Kantischen  Philosophie  in  sich  enthalten,  bildet  Jakob  Sigesmund  Beck  ein 
wichtiges  Zwischenglied  zwischen  Kant  auf  der  einen  und  Fichte  und  Schelling 
auf  der  andern  Seite.  Das  Hervorgehen  Fichtes  aus  Kant  scheint  so  schwierig 
zu  fassen,  dass  es  notwendig  ist,  die  Brücken  aufzusuchen,  die  über  den  Abgrund 
zwischen  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  und  der  Wissenschaftslehre  hinüber- 
führen. Reinhold,  Maimon  und  Beck  sind  diese  wichtigsten  Brücken.  Beck 
selbst  stellt  zwar  seine  intime  Beziehung  zu  Kant  in  den  Vordergrund  und 
bemüht  sich  seine  eigene  „Standpunktslehre"  nur  als  selbständige  Formulierung 
streng  Kantischer  Gedanken  auszugeben,  aber  schon  ist  seine  Standpunktslehre 
in  den  Hauptpunkten  so  nahe  an  der  Wissenschaftslehre,  dass  Beck  von  Fichte 
selbst  zur  Einführung  in  die  Wissenschaftslehre  empfohlen  wird. 

Hinsichtlich  der  zuerst  angeführten  Frage,  des  Verhältnisses  von  formaler 

zu  transscendentaler  Logik,  steht  Beck  im  Gegensatz  zu  Kant.    Die  reine  formale 

l  ogik  untersteht   wie   die  Mathematik    und    die  Naturwissenschaft   in    gleichem 

inne  der  transscendentalen  Frage.     Dementsprechend    wird    die    formale   Logik 

d  einer  sekundären,   abstrahierten  Disziplin.     Damit  beteiligt   sich  Beck  an  der 

Jegradierung  der  formalen  Logik,  die  bei  dem  späteren  Fichte  und  bei  Schelling 

schliesslich  nur  noch  als  Annex  der  empirischen  Psychologie  geführt  wird. 

Kantstudleu    XV,  25 


388  Selbstanzeigen  (Alberti). 

Ein  bedeutender  Schritt  Becks  in  der  Vereinheitlichung  und  zugleich 
idealistischen  Weiterbildung  der  Kantischen  Philosophie  bildet  die  Kategoriesierung 
der  Anschauung.  An  die  Stelle  der  Anschauung  als  Form  des  Gegebenen  tritt 
eine  ursprüngliche  Synthesis,  die  in  demselben  Sinne  wie  die  Kantischen  Kate- 
gorien sich  an  der  Erzeugung  des  Objektes  beteiligt.  Damit  beginnt  sogar  die 
Anschauung  in  ihrem  produktiven,  konstruktiven  Charakter  in  das  Zentrum  der 
idealistischen  Objektserzeugung  zu  treten.  Diese  Rolle  der  Anschauung  erreicht 
bei  Schelling  ihren  Höhepunkt,  und  erst  bei  Hegel  wird  sie  zurückgedrängt, 
übrigens  aus  denselben  Motiven  wie  in  der  Gegenwart  in  Hermann  Cohens 
.Logik  der  reinen  Erkenntnis".  Bei  beiden  Philosophen  führt  nämlich  die  Ana- 
lyse des  geometrischen  Beweises  zur  Trennung  der  begrifflichen  und  anschau- 
lichen Elemente.  Dabei  wird  im  Gegensatz  zum  Begrifflichen  dem  Anschaulichen 
der  Charakter  der  Notwendigkeit,  die  Beweiskraft,  abgesprochen,  und  die  An- 
schauung (Konstruktion)  als  selbständige  objektserzeugende  Methode  fallen 
gelassen. 

In  der  Lehre  vom  Ding  an  sich  wendet  sich  Beck  ebenfalls  gegen  jede 
Gegebenheitsvorstellung,  ohne  aber  sein  Postulat  der  ursprünglichen  Synthesis 
zu  einer  befriedigenden  Deduktion  des  Stoffes  zu  verwenden.  Die  Erfüllung  des 
idealistischen  Programms,  „das  ganze  Ding  vor  den  Augen  des  Denkers  ent- 
stehen zu  lassen".  (Fichte,  Erste  Einleitung  in  die  Wissenschaftslehre)  überlässt 
Beck  auch  hier  Fichte. 

Kant  will  in  seinem  Erkenntnisbegriff  die  Forderungen  der  Gewissheit 
und  der  Wirklichkeit  befriedigen.  Im  Begriffe  der  Möglichkeit  der  Erfahrung 
findet  dieses  doppelte  Bestreben  seinen  Ausdruck.  Der  ontologischen  Möglichkeit 
wird  die  mathematisch-naturwissenschaftliche  entgegengestellt.  Beck  steht  hier 
mit  seiner  gleichen  Behandlung  von  Mathematik  und  Naturwissenschaft  ganz  auf 
Kants  Seiten.  Neben  der  Einschränkung  der  kategorialen  Synthesen  auf  die 
Erfahrung  steht  nun  aber  das  Interesse  an  der  Ursprünglichkeit  und  Reinheit 
dieser  Synthesen  als  Tathandlungen  des  Bewusstseins.  Das  idealistische  Interesse 
beginnt  den  Erkenntnisbegriff  im  ontologischen  Sinne  zu  erweitern.  Aber  erst 
bei  Fichte  treten  an  die  Stelle  der  Bedingungen  der  Möglichkeit  der  Erfahrung 
die  Bedingungen  des  Selbstbewusstseins. 

Die  Beziehungen  Becks  zu  den  ersten  Weiterbildnern  der  Kantischen 
Philosophie  sowie  wichtige  Analogien  zur  Entwicklung  des  Neukantianismus 
konnten  wegen  ihrer  weitreichenden  Verzweigung  nur  gestreift  werden,  und  es 
war  nötig,  zunächst  das  Thema  „Jakob  Sigismund  Beck  und  Kanf  gesondert  zu 
behandeln. 

Breslau.  W.  Pötschel. 

Alberti,  Herbert,  Dr.  Die  Grundlagen  des  Systems  Spinozas 
im  Lichte  der  Kritischen  Philosophie  und  der  modernen  Mathe- 
matik.   Borna-Leipzig,  Robert  Noske,  1910.  (81  S.). 

Die  Arbeit  sucht  einen  Beitrag  zur  adäquaten  Beurteilung  Spinozas  zu 
liefern.  Angeregt  durch  eine  Prüfungsarbeit  über  die  Methode  Spinozas,  deren 
Thema  der  ehem.  Leipziger  Professor  Dr.  Heinze  gestellt  hatte,  forschte  der 
Verfasser  nach  einer  tieferen  Einsicht,  welche  nur  durch  eine  Grundbeziehung  zu 
Kant  geliefert  werden  konnte.  Es  ergab  sich,  dass  die  Transscendentalphilosophie 
den  Weg  zum  richtigen  Verständnis  Spinozas  weisen  muss. 

Da  nun  in  der  geometrischen  Methode  das  Wesen  des  Spinozismus  er- 
kannt werden  soll,  wird  zunächst  über  den  Begriff  der  „Freien  Mathematik" 
referiert,  als  einer  reinen  Vernunftwissenschaft  „der  geordneten  schöpferischen 
Verknüpfung  und  Trennung".  Jedes  systematische  Wissen  bedarf  ihrer  zur 
Grundlegung,  also  auch  die  Erfahrung.  Aber  Kant  und  in  modifizierter  Weise 
die  moderne  Transscendentalphilosophie  halten  die  Euklidische  Geometrie  für 
grundstiftend.  Demgegenüber  wird  hier  die  transscendentale  Gleichwertigkeit 
aller  möglichen  Geometrien  erwiesen,  nicht  auf  Grund  eines  ,Ding-an-sich-Dog- 
matismus',  sondern  unter  Aufdeckung  jenes  unendlich  vielfachen  Zwiespaltes  in 
unserer  Erfahrung,   welcher  sich  nur  im  „Endlichen"  asymptotisch  der  Möglich- 


Selbstanzeigen  (Lowtzky)  389 

keit  einer  eindeutigen  Natur  nähert,  wie  sie  Kant  und  die  ihm  sich  anschliessen- 
den neueren  Philosophen  als  Erfahrung  der  .Euklidischen  Wesen"  gelehrt  haben. 

Spinozas  System  liegt  eine  Erkenntnistheorie  zu  gründe,  welche  diese 
Theorie  über  das  Wesen  der  Mathematik  und  Erfahrung  implicite  vorausnimmt. 
Wie  die  Geometrie  die  Mathematik  der  gegenständlichen  Erfahrung  ist,  so  tritt 
Spinozas  System  mit  den  Ansprüche  auf,  die  Mathematik  der  wahren  Erfahrung 
zu  sein.  Mit  Hülfe  dieser  These  werden  im  Weiteren  die  Grundlagen  (Definitionen) 
und  der  Grundbau  des  Systems  einer  Revision  unterzogen  und  dabei  besonders 
der  Attributbegriff,  sowie  der  scheinbare  Zwiespalt  zwischen  den  Modi  infiniti 
und  finiti  behandelt. 

Eine  besondere  Färbung  erhält  die  Arbeit  durch  ihre  Einkleidung  in  eine 
ausführlichere  Stellungnahme  zu  dem  Werke  Erhardts  .Die  Philosophie  Spinozas 
im  Lichte  der  Kritik",  Leipzig  1908. 

Zwickau.  H.  Alberti. 

Lowtzky,  Fanny.  Dr.  .Studien  zur  Erkenntnistheorie"  (Rickerts  Lehre 
über  die  logische  Struktur  der  Naturwissenschaft  und  Geschichte).  Borna-Leipzig 
1910.     (156  S.i 

Als  Ausgangspunkt  der  Erkenntnistheorie,  welcher  Rickerts  Anschauungen 
iiber  die  Natur-  und  Geschichtswissenschaften  bestimmt,  dient  für  Rickert  die 
Überzeugung,  dass  die  Wirklichkeit  absolut  irrationell  ist.  Wir  können  die 
Wirklichkeit  unmittelbar  erleben,  aber  wissen  können  wir  nichts  von  ihr.  Alles, 
was  Wissen  genannt  wird,  kann  auf  vollständig  autonome  Urteile  in  Bezug  auf 
die  Wirklichkeit  zurückgeführt  werden,  diese  Urteile  aber  sagen  von  der  Wirk- 
lichkeit selbst  nichts  aus.  Dementsprechend  geben  uns  die  zwei  Hauptzweige 
der  Wissenschaft,  die  Natur-  und  die  Geschichtswissenschaften,  gar  kein  Wissen 
von  der  Wirklichkeit:  die  Wirklichkeit  existiert  an  und  für  sich,  so  wie  auch 
die  Wissenschaften  an  und  für  sich  existieren.  Der  Begriff  der  Wahrheit  ist  aus 
demselben  Grund  vollständig  autonom  und  beruht  nicht  auf  dem  Begriff  des 
Wirklichen.  Im  Gegenteil:  begrifflich  geht  der  erstere  Begriff  dem  letzteren 
voraus.  Die  Wahrheit  ist  ein  selbständiger  menschlicher  Wert,  wie  das  Gute 
oder  das  Schöne.  Wer  nach  diesem  Wert  strebt,  kann  in  seinen  Besitz  gelangen, 
wenn  er  sich  gewissen  Normen  unterwirft.  Man  würde  aber  in  einem  grossen 
Irrtum  befangen  sein,  wenn  man  glauben  wollte,  es  gelänge  durch  die  Annahme 
dieser  Normen  tiefer  in  die  Wirklichkeit  einzudringen.  Das  Einzige,  was  man 
erzielen  kann,  ist  das  Recht  zu  der  Behauptung,  dass  man  seine  höchste  sittliche 
Pflicht  erfüllt  hat.  Rickert  zeigt  einen  Weg  in  die  Wirklichkeit  einzudringen: 
man  soll  möglichst  viel  von  ihr  erleben.  Zwar  wird  man  dabei  in  der  Wirklich- 
keit keine  strenge  Ordnung  und  Gesetzmässigkeit  finden,  im  Gegenteil:  man 
wird  immer  mehr  und  mehr  über  die  Ungesetzmässigkeit  und  Unordnung  er- 
staunen müssen. 

Das  sind  Rickerts  Grundideen,  kurz  zusammengefasst.  Für  uns  steht  es 
ausser  Zweifel,  dass  diese  Ideen  mit  dem  Namen  Skeptizismus  zu  bezeichnen 
sind.  Man  kann  nicht  zugeben,  dass  unsere  Urteile  vollständig  autonom  sind. 
Wenn  die  Wirklichkeit  nur  auf  dem  Wege  der  unmittelbaren  Erlebnisse  erkannt 
werden  könnte,  die  heutzutage  existierende  Wissenschaft  dagegen  uns  blosse 
Schemen  gäbe,  so  müsste  ein  Philosoph,  der  vor  die  Alternative  gestellt  würde, 
diesen  oder  jenen  Weg  zu  wählen,  dem  ersteren  den  Vorzug  geben. 

Rickerts  Berufung  auf  Kant  ist  unberechtigt.  Kants  Satz,  dass  der  Ver- 
stand der  Natur  die  Gesetze  vorschreibt,  berechtigt  nicht  zu  einem  teleologischen 
Standpunkt. 

Coppet.  F.  Lowtzky. 


2i 


* 


390  Mitteilungen. 


Mitteilungen. 


Eine  neue  Ausgabe  der  Kr.  d.  r.  V.  ^) 

Der  Insel-Verlag  zu  Leipzig  bereitet  für  das  Jahr  1911  eine  von  Dr. 
F.  Ohmann  in  Bonn  zu  besorgende  Neuausgabe  der  „Kritik  der  reinen  Vernunft' 
vor.  Es  wird  ein  diplomatischer  Abdruck  der  ersten  Auflage,  unter  Ausmerzung 
der  offenkundigen  Druckfehler,  gegeben  werden,  in  einem  Ergänzungsband  die 
Abweichungen  der  zweiten  Auflage  und  textkritische  Anmerkungen.  Die  Aus- 
gabe, deren  Auflage  beschränkt  sein  wird,  soll  auch  in  der  äusseren  Ausstattung 
ein  möglichst  getreues  Bild  des  Originals  bieten. 

1)  Auf  Wunsch  des  Inselverlags  bringen  wir  vorstehende  Voranzeige,  der 
s.  Z.  eine  ausführlichere  Selbstanzeige  des  Herrn  Herausgebers  folgen  wird. 

D.  Red. 


Erklärung. 

Dass  ich  Sprangers  Aufsatz  ,W.  von  Humboldt  und  Kant"  nicht  benutzt 
habe  (vgl.  seine  Besprechung  meiner  Schrift  über  W.  von  H.s  Sprachphilosophie 
hier  XIV,  286  f.),  erklärt  sich  einmal  daraus,  dass  ich,  als  das  betreffende  Heft 
der  Kantstudien  (XIII,  1)  ausgegeben  wurde  (25.3.08),  mich  nach  Neuerscheinungen 
nicht  mehr  umsah:  meine  Arbeit  ist  am  6.  6.  08  an  den  Herausgeber  des  Arch. 
f.  d.  ges.  Psych,  abgegangen.  Sp.s  Abhandlung  Hist.  Zschr.  100  wird  nicht 
vor  seiner  eben  genannten  erschienen  sein.  Gedruckt  ist  mein  Heft  Ende 
Sept.  08,  von  Spr.s  Buche  erfuhr  ich  nicht  vor  Ende  Okt. 

Überhaupt  aber  hat  mir  eine  historische  Aufarbeitung  vollkommen  fern- 
gelegen. Ich  habe  hauptsächlich  für  die  geschrieben,  die  zu  wissen  begehren, 
wie  H.  die  sprachlichen  Tatsachen  angefasst,  und  wie  weit  er  auf 
ihrer  Grundlage  seine  Theorien  entwickelt  hat.  (Für  sie  ist  auch  der 
Sonderabdruck  gemacht  worden,  da  ihnen  das  Archiv  vielfach  nicht  zur  Hand 
ist.)  Mein  erster  Satz  heisst:  „Wilhelm  von  Humboldts  Sprachphilosophie 
beruht  in  weiterem  Umfange  auf  der  Beurteilung  von  Tatsachen,  als  man  gemein- 
hin anzunehmen  pflegt".  Weiterhin  habe  ich  die  tatsächlichen  Grundlagen  nicht 
bloss  nach  Möglichkeit  hervorgezogen,  sondern  hier  und  da  als  solche  bezeichnet 
(z.  B.  S.  14  =  Archiv  13,  154  u.  S.  23  =  163),  und  ich  bin  bei  Besprechung 
der  Methode  (S.  45  =  185  ff)  noch  einmal  nachdrücklich  auf  die  klarbewusste 
Induktion  bei  H.  zurückgekommen.  Also,  es  war  mein  Bestreben,  H.s  Studien 
in  einer  konzentrierten  und  übersichtlichen  Darstellung  —  auch  mit  geflissent- 
licher, wenn  gleich  nicht  ausgesprochener  Betonung  des  für  die  heutige  Arbeit 
Wesentlichen  —  dem  modernen  Tatsachenforscher  vorzuführen,  damit  er  eine 
Orientierung  finde,  sei  es  für  sein  Urteil,  dem  ich  absichtlich  nicht  vorgreife,  sei 
es  für  weiteres  Fragen  an  H.s  Werke  selbst.  Von  diesem  Standpunkte  aus  hat 
sich  mir  auch  notwendig  meine  Disposition  ergeben.  Schliesslich  habe  ich  am 
Ende  meiner  Arbeit  in  aller  Kürze  einige  Dinge  zusammengestellt,  die  —  teils 
heute  weitgehend  aufgeklärt,  teils  vielseitigster  Bearbeitung  noch  harrend  —  als 
Tatsachen  die  Gegenwart  interessieren.  Hier  hat  meine  Arbeit  ihren 
Lebensnerv.  Das  „rein  Philosophische"  dagegen  habe  ich  nur  kurz  und  prägnant 
behandelt,  soweit  es  zur  Aufklärung  von  H.s  Theorien  für  den  heutigen  Sprach- 
forscher dienen  kann  und  soweit  es  mich  nicht  zu  sehr  von  meinem  Wege 
entfernte;  ich  verwende  dazu  den  7.  Teil  meiner  Arbeit,  etwa  7  Seiten  —  genau 
soviel  wie  zur  Erörterung  der  Methode,  i) 


^)  Selbstverständlich  werde  ich  aber  jederzeit  eine  Ergänzung  dazu,  nament- 
lich wenn  sie  zu  dem  bemerkten  Zwecke  nützt,  dankbar  aufnehmen. 


Mitteilungen.  391 

Ich  kann  übrigens  jederzeit  nachweisen,  dass  ich  dem,  der  über  sprach- 
liche Probleme  heute  irgend  nachdenken  will,  manches  biete,  was  er  bei  Haym 
(den  ich  keineswegs  geringschätze)  nicht  findet  (so  u.  a.  über  Agglutination, 
Einverieibung,  Sprachcharakter,  Sprachidcal). 

Leipzig,  16.  Okt.  09.  Moritz  Scheinert. 

Entgegnung. 

Es  ist  mir  angenehm,  über  die  eigentliche  Absicht  der  Publikation  des 
Herrn  Scheinert  hier  etwas  Näheres  zu  hören.  Historische  Zwecke  also 
verfolgt  der  Verfasser  nicht;  dann  wundert  es  mich,  dass  er  über  Humboldt 
schreibt.  Er  wendet  sich  doch  an  die,  die  zu  wissen  begehren,  wie  Humboldt 
die  sprachlichen  Tatsachen  angefasst  hat.  Dass  der  Verfasser  in  Wahrheit  auf 
seinen  55  Seiten  nicht  auf  die  Tatsachen  einzugehen  vermag,  auf  denen 
Humboldts  Sprachphilosophie  beruht,  habe  ich  ihm  verständigerweise  nicht  übel 
genommen.  Er  behandelt  durchaus  die  Sprachphilosophie  (vgl.  Titel);  diese 
aber  in  den  wichtigen  Punkten  unzulänglich.  Ich  weiss'  sehr  wohl,  dass  Herr 
Scheinert  meine  Untersuchungen  noch  nicht  benutzen  konnte;  aber  ich  habe  auf 
sie  verwiesen,  um  zu  belegen,  dass  mein  Urteil  auf  eigner  Sachkenntnis  beruht. 

Charlottenburg.  Eduard  Spranger. 

IV.  Internationaler  Kongress  für  Philosophie. 

Unter  dem  hohen  Patronate  S.  M.  des  Königs  von  Italien. 
Bologna,  März-April  1911. 

Nach  dem  Heidelberger  Beschluss  vom  September  1908  wird  sich  der 
IV.,  unter  dem  hohen  Patronate  S.  M.  des  Königs  von  Italien  stehende.  Inter- 
nationale Kongress  für  Philosophie  während  der  Osterfeiertage  1911  in  Bologna 
versammeln.  Der  Unterzeichnete,  welcher  mit  der  Vorbereitung  dieses  Kon- 
gresses beauftragt  wurde,  richtet  die  Einladung  zur  Teilnahme  an  alle,  die  sich 
für  die  philosophischen  Probleme  interessieren,  so  dass  die  verschiedensten  Ge- 
dankenrichtungen sich  dort  vertreten  werden  und  einer  freien  und  fruchtbaren 
Diskussion  nichts  im  Wege  steht.  Die  Tätigkeit  des  Kongresses  wird  sich  in 
allgemeinen  Sitzungen  entwickeln,  denen  man,  durch  Einladung  einiger  hervor- 
ragenden Vertreter  der  Wissenschaft,  mehr  Ausdehnung  wie  vorher  geben  will, 
und  in  Sektionssitzungen.  Die  allgemeinen  Sitzungen  werden  zu  Vorträgen  und 
Diskussionen  verwendet,  deren  vorläufiges  Programm  hier  angedeutet  ist:  Vor- 
träge von  S.  Arrhenius,  G.  Barzellotti,  E.  Boutroux,  R.  Eucken,  P.  Langevin, 
W.  Ostwald,  H.  Poincare,  A.  Riehl,  F.  C.  S.  Schiller,  H.  v.  Seeliger,  G.  F.  Stout, 
F.  Tocco,  W.  Windelband.  Diskussion  über  „La  täche  actuelle  de  la  Philosophie 
generale"  von  H.  Bergson.  Erwiderung  von  A.  Chiappelli.  Diskussion  über 
„Les  jugements  de  valeur  et  les  jugements  de  realite"  von  E.  Durkheim.  Die 
Sektionen  werden  die  folgenden  sein:  1.  Allgemeine  Philosophie  und  Metaphysik. 
2.  Geschichte  der  Philosophie.  3.  Logik  und  Wissenschaftstheorie.  4.  Moral. 
5.  Religionsphilosophie.  6.  Rechtsphilosophie.  7.  Ästhetik  und  Kritikmethodik. 
8.  Psychologie.  Die  Mitteilungen  für  den  Kongress  müssen  vor  dem  1.  Januar 
1911  an  das  Sekretariat  (Bologna,  Piazza  Calderini  2)  gesandt  werden,  damit 
die  Einführenden  der  Sektionen  deren  Zulassung  beurteilen  und  für  den  Druck 
und  die  voriäufige  Verteilung  an  die  Mitglieder  des  Kongresses  sorgen,  so  dass 
die  Diskussionen  rascher  und  vorteilhafter  von  Statten  gehen  können.  Mit- 
teilungen, so  wie  Diskussionen  erfolgen  in  den  vier  Sprachen:  Deutsch,  Englisch, 
Französisch,  Italienisch.    Die  Einschreibegebühr  beträgt  25  Franken. 

Bologna.  F.  Enriques. 

Wir  bringen  die   vorstehende  Einladung   gerne   zum  Abdruck.    Auf  dem 

ongresse,  an  dem  jeder  philosophisch  Interessierte  teilnehmen  kann,  wird  vor- 

jssichtlich  auch   die  Kant-Gesellschaft  vertreten  sein.    Mitglieder  und  Freunde 

nserer  Gesellschaft   dürften   sich    also   aller  Voraussicht   nach    leicht  auch  auf 

diesem  nächsten  Kongresse  zusammenfinden  hönnen.  Die  Red. 


392  Mitteilungen. 

Karl  Gebert  f- 

Ende  Mai  laufenden  Jahres  setzte  der  Tod  einem  einsamen  Philosophen- 
leben ein  Ziel,  dem  des  Münchener  Privatgelehrten  Dr.  phil.  Karl  Gebert  aus 
Löffingen  in  Baden,  der  in  Meran,  im  50.  Lebensjahre  stehend,  einem  Herz- 
leiden erlag. 

Gebert  hatte  bei  Windelband  in  Strassburg  mit  einer  Schrift  über  die  Theorie 
vom  Existenzialsatze;  später  wandte  er  sich  der  Kantischen  Philosophie  zu  und 
zählte  zu  den  altern  Mitgliedern  der  Kantgesellschaft;  den  Lesern  dieser  Blätter 
dürfte  eine  Abhandlung  Bruno  Bauchs,^)  welche  sich  eingehend  auch  mit  der 
Broschüre  Geberts  ,Der  Katholizismus  und  die  Entwicklung  des  Geisteslebens" 
(Lampart,  Augsburg  1905)  beschäftigte,  erinnerlich  sein.  Von  schwächlicher 
Konstitution,  brachte  Gebert  das  Opfer  seiner  Gesundheit  dem  heissen  Bemühen 
um  die  Synthese  der  ihm  von  Jugend  an  teuren  katholischen  Religion  und  Welt- 
anschauung mit  dem  Kantianismus,  für  dessen  ethisches  Ideal  er  glühende  Be- 
geisterung hegte.  Selbst  mit  grosser  kritischer  Schärfe  begabt,  führte  er  mittels 
zahlreicher  Abhandlungen  in  wissenschaftlichen  Zeitschriften  (XX.  Jahrhundert, 
Beilage  zur  Münchener  Allgemeinen  Zeitung  und  Beilage  der  Münch.  Neuest. 
Nachrichten,  Deutscher  Merkur,  Zeitschr.  f.  Religion  und  Geisteskultur  u.  a.) 
unentwegt  den  Kampf  nach  verschiedenen  Fronten,  gegen  Monismus,  Rationalismus 
und  überspannten  Nietzscheanismus  einerseits  und  gegen  den  ihm  unchristlich, 
unsittlich  und  kulturfeindlich  erscheinenden  Ultramontanismus  andererseits. 

Die  Religion  ist  ihm  ein  durch  die  mystische  Grundanlage  des  Menschen 
ermöglichtes  inneres  Erlebnis;  die  kirchliche  Ausdeutung  desselben  durch 
Dogmen  erschien  ihm  lediglich  als  ein  Derivat,  als  ein  Sekundäres.  (Hierin 
berührte  sich  seine  Auffassung  mit  der  der  Neukantischen  Schule  in  Frankreich, 
mit  der  eines  Blondel,  Le  Roy  u.  a.)  Die  kirchliche  Autorität  ist  ihm  eine, 
„zum  religiösen  Leben  und  Denken  lediglich  anregende,  der  Innern  geistigen 
Verarbeitung  aber  völlige  Freiheit  belastende,  die  das  Handeln  aus  religiöser 
Gesinnung  heraus  möglich  sein  lässt."  Die  Kirche  ist  lediglich  ein  Institut,  das 
sich  „die  Pflege  religiös-sittlichen  Lebens  und  die  Anleitung  anderer  hierzu  zur 
Aufgabe  macht",  also  nicht  eine  Anstalt,  von  welcher  irgend  welcher  geistige 
Zwang  auszugehen  hat,  sondern  eine  Anstalt  im  Reiche  dienender  Liebe,  wo 
der  Höchste  der  Diener  aller  ist.  In  dem  mystisch  veranlagten  Innern  nun 
liegen  die  unzerstörbaren  Wurzeln  der  Religion;  im  Gefühl  erlebt  der  Mensch 
die  Einheit  mit  dem  unendlichen  All,  mit  der  Gottheit;  doch  muss  es,  soll  es 
nicht  lediglich  wertlose  quietistische  Schwärmerei  und  Beschauung  zeitigen, 
sondern  vielmehr  auf  den  Höhen  der  Kultur  sich  rechtfertigen,  im  sittlich 
religiösen  Bewusstsein  verankert  werden.  Dadurch  erst  wird  die  wahre  An- 
näherung an  jenes  Ideal  der  mit  voller  innern  Freiheit  ausgestatteten  Persönlichkeit 
erreicht,  das  der  Stifter  der  christlichen  Religion  den  Menschen  vorgelebt, 
Immanuel  Kant  aber  durch  seine  Begründung  der  ethischen  Autonomie  ihnen 
zurückerobert  hat. 

V.  Liel,  Mitglied  der  Kantgesellschaft. 

1)  Kant  in  neuer  ultramontan-  und  liberal-katholischen  Beleuchtung  (Bd.  XIII, 
S.  32  ff.). 


Kantgesellschaft. 

A.    \eneingetreteue  JahresmlttjUeder  für  das  Jahr  1910. 

Lic.  Dr.  Boelcke,  Dresden-Blasewitz,  Deutsche  Kaiserallee  39. 

Nicolai  Boldyreff,  St.  Petersburja:,  Krestowski  ostrow,  Morskoi  prospekt  1. 

Stud.  litt,  class.  D.  E.  Bosselaar  jr.,  lUrecht,  Bleyenburgkade  41. 

Professor  Dr.  Jonas  Cohn,  Freiburg  i.  ß.,  Talstrasse  62. 

Dr.  Hans  Ehren berg,  Heidelberg,  Anlage  49. 

Oberlehrer  Arthur  Ely,  Stettin,  Wilhelmstrasse  23. 

Dr.  Enno  Enkelstroth,  Ammendorf  bei  Halle  a.  S.,  Schachtstrasse  3. 

Dr.  Hugo  Falkenheim,  München,  Franz  Josefstrasse  15. 

Dr.  phil.  Feyer,  am  Realgymnasium  in  Chemnitz. 

A.  Gerhardt,  Pfarrer  in  Altsorge  bei  Driesen. 

Fräulein  M.  Hellin,  Wisch  (Vogesen). 

Privatdozent  Dr.  Günther  Jacoby,  Greifswald;  vom  15.  Sept.  an:  Research- 

Fellow  in  philosophy  at  Harvard-Uni versity,  Cambridge  (Mass.)U.  S.  A. 
Bernhard  Ihringer,  Karlsruhe  i.  B.,  Kriegsstrasse  137. 
Major  a.  D.  L.  Kade,  Coburg,  Brückenallee. 
Dr.  phil.  Hans  Keller,  Chemnitz— Altendorf,  Weststrasse  110. 
Dr.  Gerhai'dt  Kip,  Neuenhaus  in  Hannover. 
Prof.  Dr.  Leers,  Eisleben. 

Privatdozent  Dr.  Paul  Linke,  Jena,  Westendstrasse  2a. 
Oberstabsarzt  Dr.  Lippelt,  Braunschweig,  Theaterwall  18. 
Professor  Dr.   Anton   Marty,    an    der   Deutschen  Universität   in    Prag  II, 

Mariengasse  35. 
Cand.ling. Orient. Emil  Mauring,  St. Petersburg, BolschajaPuschkarskaja 58a, 
Dr.  Alfred  Menzel,  Kiel,  Beselerallee  68. 

Privatgelehrter  Dr.  phil.  Wilhelm  Metzger,  Freiburg  i.  B.,  Sedanstrasse  12. 
Dr.  med.  et  phil.  Georg  Moskiewicz,  Breslau,  Charlottenstrasse  12. 
Dr.  phil.  Berta  Mugdan,  Breslau,  Kaiser  Wilhelmstrasse  39. 
Realgymnasialdirektor  Prof.  Dr.  Nath,  Pankow  bei  Berlin. 
Dr.  Fr.  Ohm  an n,  Bonn,  Kurfürstenstrasse  55. 
Bankdirektor  Freiherr  v.  Pechmann,   München,   Bayrische  Handelsbank, 

•    Maffeistrasse. 
Professor  Dr.  Igino  Petrone,  Neapel,  R.  Universitä. 
Professor  Dr.  H.  Planer,  Arnstadt  i.  Thür.,  Gehrenerstrasse  IIa. 
Dr.  Swetomir  Ristitsch,  Belgrad,  Popa  Luka  Strasse  25. 
Dr.  M.  Rubinstein,  Moskau,  Powarskaja,  Trubnikowsky  36,   Wohnung  4. 
Dr.  Arnold  Rüge,  Heidelberg,  Obere  Neckarstrasse  13. 
Hauptmann  a.  D.  Dr.  jur.  Schnell,   Berlin  NW  52,  Rathenowerstrasse  2. 
Sanitätsrat  Dr.  Seiffart,  Nordhausen  a.  Harz. 

Dr.  Fritz  Taubert,  Oberarzt  an  der  Prov.  Heilanstalt  Lauenburg,  Pommern. 
Prof.  Dr.  Karl  Vorländer,  Solingen. 

Professor  Dr.  K.  Weidel,  am  Kloster  U.  L.  Fr.  zu  Magdeburg. 
Dr.  Heinrich  Wiegershausen,  Bendorf  a.  Rh.,  Hauptstrasse  76. 
Stadtbibliothek  Aachen. 
Lyceum  Hoseanum,  Braunsberg  i.  Ostpr. 
Bibliothek  des  Philosophischen  Seminars  der  Universität  Breslau.  (Adresse: 

Kgl.  Seminaraufseher  Wolter). 
Bibliothek  des  Evangelisch-theologischen  Seminars  (Stift)  in  Tübingen. 

t       Dr.  Hugo  Bergmann,  Beamter  der  k.  k.  Universitätsbibliothek,  Prag  VII, 
Baumgarten  102. 
Dr.  W.  Bieganski,  Primärarzt  am  allgemeinen  Krankenhaus,  Czenstochau 
(Russ.  Polen),  Teatralnaja  32. 


394  Kantgesellschaft. 

Privatdozent  Dr.  Max  Brahn,  Leipzig,  Waldstrasse  56. 

Professor  ßenedetto  Croce,  Senatore  del  Regno,  Neapel,  Via  Atri  23. 

Professor  Dr.  Franz  Erhard t,  Universität  Rostock,  Lloydstrasse  9. 

August  J.  Giss,  Boulder,  Colorado  U.  S.  A. 

Rechtsanwalt  Willi  Goldberg,  Charlottenburg  4,  Waitzstrasse  32 

Privatdozent  Dr.  Heinrich  Gomperz,  Wien  XII,  Grünbergstrasse  .25. 

Rechtsanwalt  Dr,  Richard  Grasshoff,  Berlin  W.  57,  Bülowstrasse  21. 

Dr.  P.  Haeberlin,  Privatdozent  a.  d.  Universität  Basel,  Binningen  b.  Basel 

(Schweiz). 
Privatdozent  Dr.  phil.  u.  jur.  Emil  Ha  mm  acher,  Bonn,  Koenigstrasse  34. 
Frau  Eduard  von  Hartmann,    Berlin  W.,  Würzburgerstrasse  12. 
Privatdozent  Dr.  Nicolai  Hart  mann,  Marburg  a.Lahn,  Ockershäuser  Allee  13. 
Dr.  Heinz  Heimsoeth,  Marburg  a.  L.,  Lutherstrasse  6. 
Direktor  Siegfried  Hirschberg,  München,  Herzogspitalstrasse  14. 
Rechtsanwalt  Dr.  G.  Hollander,  Berlin,  Monbijouplatz  4. 
Geheimer  Schulrat  Hermann  Jaeger,  Offenbach  a.  M. 
Justizrat  Siegfried  K  a  t  z ,  Rechtsanwalt  u.Notar,  Charlottenburg,  Leibnizstr.60. 
Direktor  Max  Kern,  in  Fa.  Gebr.  Hüff er,  Lodz  (Russland),  Wölczanska243. 
Oberlehrer  Kurt  Kesseler,  Thorn. 

Hermann  Graf  von  Keyserling,  Rayküll  bei  Rappel  (Estland). 
Kgl.  Provinzialschulrat  Professor  L  a  m  b  e  c  k ,  Berlin  W.  30,  Eisenacherstr.  2L 
Schriftsteller  Samuel  Lublinski,  Weimar,  Amalienstr.  29. 
Dr.  J.  G.  Meyer,  Finkenau  bei  Coburg. 
Privatier  Josef  Müller,  Lodz,  Ziegelstr.  87. 
Dr.  med.  Robert  Müller  heim,  Berlin  W.,  Burggraf  enstrasse  6. 
Fabrikdirektor  Richard  Pinthus,   i.  Fa.  Albert  Fabian,   Berlin   W.,   Kur- 

fürstenstrasse  110. 
Kaufmann  Alfred  Pippel,  Lodz,  Nawrot  No.  2. 

Geheimer  Regierungsrat  Prof.  Dr.  Johannes  R  e  h  m  k  e ,  Universität  Greifs  wald. 
Stadt-  u.  Kreisschulinspektor  Dr.  Arnold  Reimann,  Berlin  W.  57,  Winter- 
feldstrasse 25. 
Dr.  Karl   von   Roretz,    Assistent   der   k.    k.   Hofbibliothek,    Wien  111/2, 

Marxergasse  17. 
Pfarrer  O.  Säur  hier,  Hohenebra  bei  Sondershausen. 
Dr.  Ferdinand  Jakob  Schmidt,  Direktor  der  Margaretenschule,  Berlin  0. 27, 

Ifflandstrasse  11. 
Professor  Dr.  Richard  von  Schubert-Soldern,  Görz,  Corso  F.  G.  89. 
Professor  Dr.  Gerhard  von  Schulze  Gaevernitz,  Freiburg  i.  B.,  Schwaig- 

hofstrasse  9. 
Dr.  Wilhelm  Sesemann,  Marburg  a.  L.,  Am  Roten  Berge  26. 
Dr.  Wladyslaw  Tatarkiew icz,  Warschau,  Wiejska  17. 
Professor  Frank  Thilly,  Ithaka,  New-York,  Comell  University. 
Schulrat  Robert  W  a  e  b  e  r ,  Schmargendorf  b.  Berlin,  Marienbaderstrasse  1 — 2 
Loge  Victoria  in  Berlin  (Vertreter:  Sanitätsrat  Dr.  Paul  Rosenberg,  Berlin 

Kurfürstendamm  219). 


B.    Nenangemeldete  Mitglieder  fttr  das  Jabr  1911. 


Dr.  A.  Brotherus,  Helsingfors,  Fabrikstrasse. 

Dr.  Rudolf  Eis  1er,  Wien  IT,  Schütteis trasse  19a. 

Kgl.  Universitätsbibliothek  Erlangen  (Oberbibliothekar  Dr.  Zucker). 

Biblioteca  Filosofica,  Florenz,  Piazza  Donatello  5  (Direttore:  E.  Amendola). 

Professor  Dr.  Karl  Joel,  Universität  Basel. 

Dr.  M.  Kronenberg,  Berlin  W.,  Margaretenstrasse  13. 

Professor  Dr.  Hugo  Spitzer,  Graz,  Richard  Wagner-Gasse  27. 

Oberlehrer  Dr.  Paul  Wüst,   Düsseldorf -Grafenberg,   Burgmüllerstrasse  23. 


Fünftes  Preisausschreiben  der  „Kantgeselisciiaft". 

Durch  die  verständnisvolle  Munifizenz  mehrerer  Freunde  der 
„Kantgesellschaft"  ist  diese  in  den  Stand  gesetzt,  wiederum  ein 
neues  Preisausschreiben  zu  erlassen,  zu  welchem  Herr  Geheimer 
Regierungsrat  Professor  Dr.  J.  Imelmann  in  Berlin  den  ersten 
Preis  von  1500  M.  gestiftet  hat.  Zur  Gewährung  eines  zweiten 
Preises  von  1000  M.,  sowie  zur  Deckung  der  Kosten  haben  ausser- 
dem folgende  Mitglieder  der  Kantgesellschaft  beigesteuert:  Herr 
Stadtrat  a.  D.  Professor  Dr.  Walter  Simon  in  Königsberg  i.  Pr., 
Ehrenbürger  letzterer  Stadt  und  Ehrenmitglied  der  Kantgesellschaft, 
Herr  Arthur  von  Gwinner,  Direktor  der  Deutschen  Bank  in 
Berlin,  Herr  Dr.  Ludwig  Jaffe  in  Berlin,  Herr  Dr.  jur.  Robert 
Faber,  Verlagsbuchhändler  in  Magdeburg,  Herr  Direktor  Professor 
Dr.  Edmund  von  Lippmann  in  Halle  a.  S.,  Herr  Hans  Prager 
in  Wien. 

Das  Thema  dieses  fünften  Preisausschreibens  lautet: 

Kantft  Betriff  der  Wahrheit  und  seine  Bedeutiin^j 
für  die  erkeuntnistheoretischen  Fritgen  der  Gegenwart, 

Das  Prohlem  dm'  Wahrheit,  die  Frage  nach  dem  hihalt 
und  Wert  des  Wahrheitshegriffes,  sowie  ev.  nach  seinen  ver- 
schiedenen Arten  ist  in  den  letzten  Jahren  stark  in  den 
Vordergrund  des  philosophischen  Interesses  getreten,  sowohl 
in  Deutschland  als  im  Ausland.  Es  ist  daher  an  der  Zeit, 
Kants  Begriff  der  Wahrheit  neu  zu  iintersiiche^i  oder  viel- 
mehr übei'haupt  erst  zu  untei'suchen ;  de7in  dieser  Begriff 
ist   weder  in   den  grösseren   Werken   über  Ka?it  eingehend 


396  Kantgesellschaft. 

genug  erörtert  worden,  noch  gibt  es  bis  jetzt  über  ihn  eine 
eigene  Monographie.  Es  bedarf  daher  einer.,  aus  den  ersten 
Quellen  geschöpften,  gründlichen  und  umfassenden  Unter- 
suchung darüber,  welche  Rolle  dieser  Begriff  in  Kants 
Philosophie  spiele.  Eine  notwendige  Vorarbeit  hierzu  ist 
eine  möglichst  vollständige  Sammlung,  Sichtung,  und  Fe?'- 
gleichung  aller  Stellen,  in  ivelchen  Kant  den  Begriff  der 
Wahrheit  (und  verwafidte  Begriffe)  verwendet.  Doch  würde 
eine  solche  äusserliche  Aufzählung  allein  nicht  zum  Ziele 
führen',  es  erhebt  sich  vielmehr  die  wichtige  Frage,  ob  niclit 
Kant  durch  die  innere  Konsequenz  seines  Kritizismus  zu 
einem  neuen  Wahrheitsbegriff  getrieben  worden  sei,  ohne  zu 
dessen  ausdrücklicher  Formulierung  zu  gelangen.  Es  muss 
auch  untersucht  werden,  ob  Kants  Wahrheitsbegriff,  wie  er 
in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  enthalten  ist,  überhaupt  ein 
einheitlicher  ist,  ferner  ob  er  in  den  späteren  Schriften  fest- 
gehalten oder  ettua  erweitert  wird.  Indem  Kants  Wahrheits- 
begriff mit  den  Hauptbegriffen  seiner  Lehre  in  organische  Ver- 
bindung gebracht  iverden  soll,  ist  die  ganze  Kantische  Erkennt- 
nistheorie an  diesem  Begriff,  so  zu  sagen,  neu  aufzureihen. 

Diese  historische  Untersuchung  soll  die  Grundlage  bilden 
für  die  kritische  Prüfung  des  Kantischen  Wahrheitsbegriffes, 
und  diese  kritische  Untersuchung  seines  Wertes  für  uns 
Heutige  wird  von  selbst  dazu  führen,  den  Wahrheitsbegriff 
in  den  modernen  erkenntnistheoretischen  Richtungen  zu  ver- 
folgen und  mit  demjenigen  Kants  kritisch  zu  vergleichen. 
Die  bedeutenderen  erkemitnistheoretischen  Strömungen 
Deutschkmds  und  des  Auslandes  sollen  in  Bezug  auf  ihre?i 
Walivheitsbegriff  geprüft  werden.  Es  sollen  dabei  sowohl  die- 
jenigeyi  neueren  Untersuchungen  des  Begriffes  der  Wahrheit 
berücksichtigt  werden,  ivelche  sich  auf  das  natunvissen- 
schaftliche  und  das  historische  Erkennen  beziehen,  als  die- 
jenigen, welche  die  metaphysischen  Begriffe  und  die  religiösen 
Vorstellungen    betreffen.      Dabei   wird    die   Erörterung    der 


Kantgesellschaft.  397 

Frage,  welche  Bedeutung  die  Kantische  Philosophie  und  ihr 
Wahrheitshegriff  für  unsere  heutige  Prohlemlage  auf  diesen 
Gebieten  haben  kann,  den  natürlichen  Ähschluss  der  ganzen 
Untersuchung  bilden,  deren  Hauptresidtate  zuletzt  in  kurzen 
These7i  zusammengefasst  we^'den  sollen.  Auch  wenn  ein 
Bearbeiter  zu  dem  Rcsidtat  gelangen  sollte,  dass  Kants 
Wahrheiisbcgriß  heute  nicht  mehr  genügt,  sondern  umzubilden 
oder  durch  einen  anderen  zu  ersetzen  sei,  soll  dies  kein 
Hinderniss  dei'  Prämiierung  bilden,  da  nur  der  rein 
wissejischaftliche  Wert  der  Arbeit  entscheidend  sein  wird. 

Für     die     Bewerbung     an     diesem     Preisausschreiben 
gelten  folgende  Bestimmungen: 

1.  Die  BeAverbiingsschriften  sind  an  das  „Kuratorium  der  Univer- 
sität Halle  a.  S."  einzusenden. 

2.  Die  Ablieferungsfrift  läuft  bis  zum  22.  April  1913. 

3.  Jede  Arbeit  ist  mit  einem  Motto  zu  versehen.  Name  und 
Adresse  des  Verfassers  dürfen  nur  in  geschlossenem  Kouvert 
beigefügt  werden,  das  mit  dem  gleichen  Motto  zu  über- 
schreiben ist. 

4.  Nur  deutlich  hergestellte  Manuskripte  werden 
berücksichtigt.  Jeder  Arbeit  ist  ein  Verzeichnis  der 
benutzten  Litteratur,  sowie  eine  Inhaltsangabe  beizufügen. 

5.  Die  Blätter  des  Manuskripts  müssen  paginiert  und  mit  Rand 
versehen  sein.  Nur  die  Vorderseite  der  Blätter  sollte  be- 
schrieben werden.  Das  Manuskript  kann  aus  losen  Blättern 
in  einer  mit  Bändern  versehenen  Mappe  bestehen. 

6.  Die  Arbeiten  müssen  in  deutscher  Sprache  abgefasst  sein. 

7.  Preisrichter  sind: 

Geheimer  Hof  rat  Professor  Dr.  Otto  Liebmann  in  Jena, 
Professor  Dr.  Richard  Falckenberg  in  Erlangen, 
Professor  Dr.  Paul  Menzer  in  Halle  a.  S. 


398  Kantgesellschaft. 

8.  Der  erste  Preis  beträgt  1500  Mk.,  der  zweite  1000  Mk. 
Sind  mehrere  Arbeiten  des  ersten  Preises  würdig,  so  erlialten 
sie  die  Gesamtsumme  von  2500  Mk.  zu  gleichen  Teilen.  Ist 
keine  des  ersten  Preises  würdige  Arbeit  eingelaufen,  sind  eventuell 
aber  mehrere  des  zweiten  Preises  würdig,  so  können  zwei 
Arbeiten  je  1000  Mk.  erhalten  und  eine  dritte  eventuell  noch 
500  Mk.  Ist  keine  der  eingelaufenen  Arbeiten  eines  Preises 
würdig,  so  erfolgt  neue  Ausschreibung. 

0.  Zurückziehung  einer  eingelieferten  Bewerbungsschrift  ist 
nicht  gestattet. 

10.  Die  Verkündigung  der  Preiserteilung  findet  spätestens 
22.  April  1914  statt  und  wird  in  den  „Kantstudien"  ver- 
öffentlicht. 

11.  Die  Redaktion  der  „Kantstudien"  ist  berechtigt,  aber  nicht 
verpflichtet,  preisgekrönte  Arbeiten  in  ihrer  Zeitschrift  (oder 
in  den  zugehörigen  „Ergänzungsheften")  abzudrucken.  Macht 
die  Redaktion  der  „Kantstudien"  von  diesem  Recht  keinen 
Gebrauch,  so  bleiben  die  preisgekrönten  Arbeiten  Eigentum 
ihrer  Verfasser. 

12.  Nichtgekrönte  Arbeiten  werden  durch  den  Geschäftsführer 
der  Kantgesellschaft  dem  zurückgegeben,  der  sich  als  Ver- 
fasser nach  dem  Urteil  des  genannten  Geschäftsführers  ge- 
nügend legitimiert.  Nicht  zurückgeforderte  Arbeiten  werden 
nach  Verlauf  eines  Jahres,  am  22.  April  1915,  samt  dem 
zugehörigen  uneröffneten  Kouvert  vernichtet. 

Halle  a.  S.,  im  Juli  1910. 
(Reichardtstr.  15.) 

Der  Geschäftsführer  der  „Kantgesellschaft**. 

Professor  Dr.  H.  Vaihinger. 

Exemplare  dieses  Preissausschreibens  versendet  auf  Wunsch 
im  Auftrag  der  Kantgesellscliaft  gratis  und  franko  Herr  Dr. 
Arthur  lAebert,  Berlin  W.  15,  Fasanenstrasse  48. 


Die  ersten  sechs  Jahre  der  Kantgesellschaft.') 


1.  Allgemeines. 

Die  Kantgesellschaft  ist  gelegentlich  der  hundertsten  Wiederkehr  des 
Todestages  Kants  (12.  Februar  1904)  von  Freunden  der  Kantischen  Philosophie 
gegründet  worden  mit  dem  Zweck,  „das  Studium  der  Kantischen  Philosophie 
zu  fördern  und  zu  verbreiten".  Die  konstituierende  Versammlung  fand  statt 
am  22.  April  1904  (Kants  Geburtstag),  in  welcher  die  Statuten  beschlossen 
worden  sind.  Die  Gesellschaft  ist  in  das  Vereinsregister  eingetragen  worden. 
Nach  den  Statuten  ist  dauernder  Vorstand  der  jeweilige  Kurator  der  Universität 
Halle,  z.  Z.  Geheimer  Ober-Regierungsrat  Meyer.  Dem  Verwaltungsausschuss, 
dem  früher  auch  der  dann  nach  Berlin  berufene  Geh. -Rat  Prof.  Dr.  Riehl,  sowie 
die  unterdessen  verstorbenen  Proff.  Busse  und  Ebbinghaus  angehört  haben,  be- 
steht z.Z.  ausProf.  Dr. Meumann,  Prof.  Dr.  Menzer,  Geh.RatProf, Dr.  Stammler, 
Geh.  Rat  Direktor  der  Univ.-Bibl.  Dr.  Gerhard,  Geh.  Rat  Dr.  Lehmann,  sowie 
aus  dem  Unterzeichneten,  der  seit  6  Jahren  das  Amt  des  Geschäftsführers 
bekleidet  hat.  Die  Kantgesellschaft  wird  im  Personalverzeichnis  der  Universität 
Halle-Wittenberg  geführt.  Die  Gesellschaft  hat  teils  Dauermitglieder,  welche 
einen  einmaligen  Beitrag  bezahlen,  der  zur  Kantstiftung  verwendet  wird,  teils 
Jahresmitglieder,  welche  einen  jährlichen  Beitrag  von  20  M.  entrichten. 


2.  Kanistiftung. 

Dieser  aus  den  Beiträgen  von  ca.  350  Dauermitgliedern  errichtete  Fond 
betrug  am  12.  Februar  1904  bei  der  hundertjährigen  Kantfeier  10000  M.  Bis  zum 
22.  April  1904,  zum  Tage  der  konstituierenden  Versammlung,  war  der  Fond 
auf  15000  M.  gestiegen.  Ein  Jahr  darauf,  am  22.  April  1905,  hatte  sich  der 
Fond  wiederum  um  10000  Mark  vermehrt  und  war  auf  25000  M.  gestiegen. 
Der  Fond  beträgt  jetzt  32530  M.  Der  Fond  ist  der  Universität  Halle  als 
Eigentum  überwiesen  worden  und  wird  von  derselben  verwaltet.  Die  Zinsen 
werden  der  Kantgesellschaft  zu  deren  Zwecken  eingehändigt  und  betrugen  im 
vergangenem  Jahre  1112  M. 


')   Kurzer  Bericht,   erstattet   auf  Veranlassung  des  Vorstandes  der  Kant- 
esellschaft  Herrn  Geh.  Ober.-Reg.-Rat  Meyer,    Kurator  der  Universität  Halle, 
«in  das  Königl.  Preuss.  Kultusministerium. 


.  M. 

2040 

.  M. 

2360 

.  M. 

3080 

.  M. 

3820 

.  M. 

4920 

400  Kantgesellschaft. 

3.  Jahresmitglieder. 

Die  Zahl  der  Jahresmitglieder  betrug  in  den  Jahren: 

Summe  der  Jahresbeiträge 

1904:      79    ....    M.     1580 

1905:     102    .    . 

1906:     118    .    . 

1907:     154    .    . 

1908:     191     .     . 

1909:    246    .    . 

In  diesem  laufenden  Jahr  1910  ist  die  Zahl  der  Jahresmitglieder  bis  jetzt 
auf  300  gestiegen,  sodass  die  Jahresbeiträge  nunmehr  6000  M.  betragen.  In 
Anbetracht  der  Höhe  des  Jahresbeitrags  (20  M.)  ist  diese  Zahl  sehr  beträchtlich, 
denn  andere  Gesellschaften  nehmen  erheblich  weniger  Jahresbeitrag,  so  z.  B. 
die  Goethegesellschaft  10  M.,  bieten  dafür  freilich  auch  viel  weniger  als  die 
Kantgesellschaft.  Denn  deren  Jahresmitglieder  erhalten  gratis  und  franko 
zugesandt  nicht  nur  die  , .Kantstudien"  (jährlich  vier  Hefte  im  Umfang  von  ca. 
30  Bogen,  welche  im  Buchhandel  12  M.  kosten),  sondern  auch  die  dazu  ge- 
hörigen Ergänzungshefte  (jährlich  etwa  vier  im  Umfang  von  ca.  25  bis  33  Bogen, 
welche  im  Buchhandel  ca.  10  bis  15  M.  kosten)  und  ausserdem  noch  von  jetzt 
ab  auch  die  „Neudrucke  seltener  philosophischer  Werke  des  18.  u.  19.  Jahr- 
hunderts", wovon  voraussichtlich  jährlich  ein  Band  im  Wert  von  4  bis  6  M. 
geliefert  werden  wird. 

4.  „Kantstudien"  nebst  Ergänzungsheften. 

Als  hauptsächliches  Mittel,  um  ihren  Zweck  zu  erreichen,  „das  Studium 
der  Kantischen  Philosophie  zu  fördern  und  zu  verbreiten",  betrachtet  die  Kant- 
gesellschaft in  erster  Linie  die  Unterstützung  der  Zeitschrift  ,, Kantstudien", 
welche  jetzt  von  dem  Universitäts-Professor  Dr.  Bauch  in  Halle,  unter  Mit- 
wirkung des  Unterzeichneten,  herausgegeben  werden.  Um  den  „Kantstudien" 
ein  grösseres  Schwergewicht  zu  geben,  sind  noch  seit  dem  Jahre  1906  Ergänzungs- 
hefte zu  denselben  eingerichtet  worden.  Jedes  Ergänzungsheft  enthält  eine 
grössere  abgeschlossene  Abhandlung  für  sich.  Eine  Übersicht  über  die  Tätigkeit 
der  Kantgesellschaft  nach  dieser  Seite  hin  gibt  folgende  Tabelle: 

1904:  Kantstudien  Bd.  IX  (578  S.),  darin  das  grosse  Festheft  zu  Kants 
Todestag  12.  Februar  1904  (350  Seiten  nebst  vier  Abbildungen).  Sonderdruck 
des  Festhefts  als  Festschrift  u.  d.  T.  „Zu  Kants  Gedächtnis". 

1905:  Kantstudien  Bd.  X  (600  S.),  darin  ein  eigenes  Festheft  zu  Schillers 
hundertstem  Todestag,  das  ebenfalls  als  eigene  Festschrift  erschienen  ist  u.  d.  T. 
„Schiller  als  Philosoph  und  seine  Beziehungen  zu  Kant".  (166  S.  und  3  Abbildungen.) 

1906:  Kantstudien  Bd.  XI  (495  S.)  und  dazu  Ergänzungsheft  1  bis  3 
(296  S.)  (von  Guttmann,  Oesterreich  und  Döring). 

1907:  Kantstudien  Bd.  XII  (474  S.)  und  dazu  Ergänzungsheft  4  bis  7 
(492  S.)  (von  Kertz,  Fischer,  Aicher  und  Dreyer). 

1908:  Kantstudien  Bd.  XIII  (518  S.)  und  dazu  Ergänzungsheft  8  bis  11 
(477  S.)  (von  O'Sullivan,  Rademaker,  Amrhein  und  Müller-Braunschweig). 

1909:  Kantstudien  Bd.  XIV  (578  S.)  und  dazu  Ergänzungsheft  12  bis  15 
(486  S.)  (von  Bache,  Kremer,  Ernst,  Hessen). 


Kantgesellschaft.  401 

An  Honoraren  für  die  Mitarbeiter  an  den  Kantstudien,  deren  Her- 
stellungskoston die  Firma  Rcuther  &  Reichard  in  Berlin  trägt,  haben  wir 
folgende  Summen  gezahlt; 

1904:         791  M. 

1905:        1170  M. 

1906:        1062  M. 

1907:  966  M. 

1908:  917  M. 

1909:        1225  M. 
Für   die  Herstellung   und  Herausgabe   der  obenerwähnten  Ergänzungs- 
hefte,   deren    Herstellungskosten   die  Kantgesellschaft   selbst   trägt,   haben   wir 
ausgegeben: 


1906: 

1339  M. 

1907: 

2308  M. 

1908: 

2068  M. 

1909: 

2279  M. 

In  den  Bänden  der  „Kantstudien"  Nr.  IX  bis  XIV,  die  wir  auf  diese 
Weise  unterstützt  haben,  haben  wir  ausserdem  noch  15  Porträts  von  Kant  und 
Kantianern  u.  s.  w.  veröffentlicht,  für  die  wir  im  Ganzen  ausgegeben  haben: 
441  M. 

5.  Neudrucke. 

Auf  Anregung  von  Prof.  Menzer-Halle  veranstaltet  die  Kantgesellschaft 
„Neudrucke  seltener  philosophischer  Werke  des  18.  und  19.  Jahrhunderts",  welche 
zum  Verständnis  der  Kantischen  Philosophie  und  ihrer  Geschichte  dienen.  Es 
handelt  sich  dabei  um  wichtige  Dokumente  der  Geschichte  der  Philosophie, 
welche  aus  dem  Buchhandel  verschwunden  sind,  deren  Studium  aber  doch 
unentbehrlich  ist.  1.  Band:  Aenesidemus  von  G.  Ernst  Schulze  (1792). 
Erscheint  Ende  1909. 

6.  Sonstige  Veranstaltungen. 

Von  sonstigen  Veranstaltungen,  welche  die  Kantgesellschaft  getroffen  hat, 
seien  folgende  erwähnt: 

1.  Beisteuer  zum  Druck  der  Dissertation  im  Jahre  1905:  254  M. 

2.  Verteilung  der  „Kantstudien"  an  Institute  und  Bibliotheken:  in  Heidel- 
berg, Halle,  Graz,  Jena,  Tübingen,  Rostock,  Marburg.    Auslagen  hierfür:  509  M. 

3.  Delegation  des  Redakteurs  der  Kantstudien,  Universitätsprofessor  Dr. 
Bauch,  nach  Heidelberg  zum  Internationalen  philosophischen  Kongress:  150  M. 

4.  Ernennung  des  Stadtrat  a.  D.  Professor  Dr.  Walter  Simon  in 
Königsberg  i.  Pr.,  Ehrenbürger  dieser  Stadt,  zum  Ehrenmitglied,  welcher  der 
Kantgesellschaft  und  den  „Kantstudien"  im  Ganzen  die  Summe  von  7200  M. 
gewidmet  hat. 

5.  Schaffung  eines  Dispositionsfonds:  Bis  jetzt  2600  M. 

6.  Ehrengabe  an  den  verantwortlichen  Herausgeber  der  Kantstudien, 
Prof.  Dr.  Bauch,  nach  erfolgreicher  fünfjähriger  Schriftleitung:  500  M. 

7.  Veranstaltung  einer  Stammler-Ehrung  zum  22.  April  1909  und 
Beitrag  zu  einer  von  demselben  zu  stellenden  Preisaufgabe:  242  M. 


402  Kantgesellschaft. 

7.  Ausschreibung  von  Preisaufgaben. 

Durch  öffentliche  Ausschreibung  geeigneter  Preisaufgaben  glaubt  die 
Kantgesellschaft  ganz  besonders  die  Wissenschaft  im  Allgemeinen  und  ihre 
Zwecke  im  Besonderen  fördern  zu  können.  Es  sind  bis  jetzt  folgende  Preis- 
aufgaben ausgeschrieben  worden: 

1.  Kant- Aristoteles-Preisaufgabe:  „Kants  Begriff  der  Erkenntnis  ver- 
glichen mit  dem  des  Aristoteles".  I.  Preis:  600  M.,  II.  Preis:  400  M.  (gestiftet 
von  der  Kantgesellschaft  selbst).  Themasteller:  Prof.  Dr.  Riehl.  Preisrichter: 
die  Proff.  Riehl,  Heinze,  Vaihinger.    Preisträger:  Dr.  Sentroul,  Dr.  Aicher. 

2.  Walter  Simon-Preisaufgabe:  „Das  Problem  der  Theodicee  in  der 
Philosophie  und  Literatur  des  XVIII.  Jahrhunderts  mit  besonderer  Rücksicht 
auf  Kant  und  Schiller".  I.  Preis:  1000  M.,  II.  Preis:  in  Form  eines  Accessit- 
preises  ebenfalls  1000  M.,  III.  Preis:  300  M.  (gestiftet  von  Professor  Dr.  Walter 
Simon  in  Königsberg  i.  Pr.).  Themasteller:  Prof.  Dr.  Walter  Simon.  Preis- 
richter: die  Proff.  Natorp,  Ziegler,  Menzer.  Preisträger:  Dr.  Kremer,  Dr.  Lempp, 
Dr.  Wegener. 

3.  Karl  Güttler-Preisaufgabe:  „Welches  sind  die  wirklichen  Fortschritte, 
die  die  Metaphysik  seit  Hegels  und  Herbarts  Zeiten  in  Deutschland  gemacht 
hat?"  I.  Preis:  1000  M.,  II.  Preis:  600  M.  (gestiftet  von  Professor  Dr.  Karl 
Güttier  in  München).  Themasteller:  Prof.  Dr.  Güttier.  Preisrichter:  Die  Proff. 
Riehl,  Stumpf,  Külpe. 

4.  Rudolf  Stammler-Preisaufgabe:  „Das  Rechtsgefühl  erkenntniskritisch 
und  psychologisch  untersucht,  in  der  Geschichte  der  Rechtsphilosophie  bis  zum 
ersten  Auftreten  verfolgt  und  in  seiner  Bedeutung  für  die  Theorie  und  Praxis 
des  heutigen  Rechts  dargelegt".  I.  Preis:  1500  M.,  II.  Preis:  800  M.  (gestiftet 
von  Schülern,  Freunden  und  Verehrern  Stammlers  im  Verein  mit  der  Kant- 
gesellschaft). Themasteller:  Prof.  Dr.  Stammler.  Preisrichter:  die  Proff. 
Stammler,  Huber,  Natorp. 

5.  Fünfte  Preisaufgabe:  „Kants  Begriff  der  Wahrheit  und  seine  Be- 
deutung für  die  erkenntnistheoretischen  Fragen  der  Gegenwart.  I.  Preis:  1500  M., 
II.  Preis:  1000  M.  (gestiftet  von  Geh.-Rat  Prof.  Dr.  Imelmann,  Stadtrat  a.  D. 
Prof.  Dr.  Walter  Simon,  Ehrenmitglied  der  Kantgesellschaft,  Direktor  Dr.  von 
Gwinner,  Dr.  Jaffe,  Dr.  jur.  Faber,  Prof.  Dr.  v.  Lippmann,  H.  Prager).  Thema- 
steller: Prof.  Dr.  Vaihinger.  Preisrichter:  Die  Proff.  Liebmann,  Falckenberg, 
Menzer. 


Eine  kurze  Geschichte  der  Kantgesellschaft  befindet  sich  in  dem  Buche 
von  Dr.  Franz  Jünemann,  Gymnasialoberlehrer  in  Neisse:  „Kantiana.  Vier 
Aufsätze  zur  Kantforschung  und  Kantkritik  nebst  einem  Anhange".  Leipzig, 
E.  Demme,  1909,  S.  91-97. 

Halle  a.  S.,  im  Juni  1910. 


Der  Geschäftsführer  der  Kantgesellschaft. 

H.  Vaihinger, 


Kantstudien  XV,  1910. 


<-/ut> 


August  Stadler 

geb.  am  24.  August  1850;  gest.  am  16.  Mai  1910. 


Ein  Nachruf 

von 
Hermann  Cohen. 


Der  Nachruf  auf  einen  Gelehrten  muss  vor  Allem 
dem  Menschen  gelten,  zumal  wenn  der  Gelehrte  von 
Jugend  auf  afle  Seiten  des  Menschtums  in  sich  aus- 
zubilden bestrebt  war.  Nur  der  Freund,  der  ein 
Menschenalter  mit  ihm  verbunden  war,  kann  daher 
einigermassen  mit  gerechtem  Urteil  über  ihn  berichten. 
Deshalb  konnte  ich,  durfte  ich  der  Aufforderung  mich 
nicht  versagen,  in  dieser  Zeitschrift,  die  er  selbst  ge- 
fördert hat,  den  Dank  der  Fachgenossen  ihm  auszu- 
sprechen, wie  ich  denn  auch  schon  zu  seinem  Leichen- 
begängnis gefahren  war,  um  in  der  Hausandacht  den 
Seinigen  in  Familie  und  Freundschaft  den  Dank  der 
Wissenschaft  darzubringen. 

Aber  ich  rede  hier  nicht  allein  als  Fachgenosse, 
noch  auch  nur  als  Freund,  sondern  zugleich  als  der- 
jenige, der  die  ersten  literarischen  Schritte  des  Heim- 
gegangenen begleitet  und  geleitet  hat.  Wenn  ich  nun 
auch  der  Ältere  bin,  der  den  Verlust  des  jüngeren  Ge- 
nossen zu  beklagen  hat,  so  ist  doch  die  Komplikation 
mit  meinem  eigenen  Leben  und  Streben,  in  dessen 
literarischen  Beginn  die  Anknüpfung  meiner  Verbindung 
mit  ihm  fällt,  schwer  zu  vermeiden;  schwer  zu  ver- 
meiden daher  auch  die  Berührung  meines  eigenen  Schick- 
sals in  meiner  literarischen  und  in  dem  Umkreis  meiner 
Lehrtätigkeit.  Indessen  dürfte  mir  doch  wohl  auch  in 
dieser  weiteren  Beziehung  das  Benefiz  des  Alters  zu- 
zubilligen sein:  wo  ich  urteilen  muss,  auch  ermahnen 
za  dürfen,  damit  der  Nachruf  auf  einen  Toten  zugleich 
ein  Weckruf  werde  für  die  Lebenden  und  vollends  für 
die  Jünger  unserer  Wissenschaft. 

KantgtndUn    XT.  26 


404  H.  Cohen, 

Es  war  im  April  1872,  als  August  Stadler  nach  Berliu  zu 
mir  kam,  mit  einem  Briefe  seines  Züricher  Lehrers  Albert  Lange, 
der  ihn  zu  weiterer  philosophischer  Unterweisung  an  mich  diri- 
gierte. „Kants  Theorie  der  Erfahrung"  war  ein  halbes  Jahr  vor- 
her erschienen,  und  im  Unterschied  und  Gegensatz  zu  fast  allen 
damaligen  Fachgenossen  in  Amt  und  Würden,  hatte  dieser  Mann 
mit  seiner  Freiheit  von  unwürdigen  Vorurteilen,  welche  alsbald 
ebensosehr  das  deutsche  Geistesleben,  wie  die  deutsche  Gesittung 
gefährden  sollten,  dieses  Buches  und  seines  Autors  sich  angelegent- 
lich angenommen,  und  seiner  Wärme  und  Energie,  seiner  Klarheit 
und  Wahrhaftigkeit  habe  ich  es  neben  dem  Wohlwollen  der  da- 
maligen Kollegen  zu  danken,  dass  ich  zu  einer  Lehrtätigkeit  auf 
einem  deutschen  Katheder  gekommen  bin.  Zunächst  aber  musste 
Lange  den  jungen  Stadler  mir  zu  privater  Unterweisung  empfehlen, 
die  jedoch  durch  eine  zufällige  Fügung  sogleich  eine  Erweiterung 
erfahren  konnte. 

Zu  derselben  Zeit  nämlich  war  nach  Berlin  ein  junger  Ame- 
rikaner an  die  soeben  gegründete  „Lehranstalt  für  die  Wissen- 
schaft des  Judentums"  herübergekommen,  Felix  Adler,  der 
spätere  Gründer  der  „Gesellschaft  für  ethische  Kultur".  Er 
mochte  wohl  auch  das  Bedürfnis  empfinden,  den  philosophischen 
Unterricht,  den  er  damals  nach  Trendelenburgs  Tode  an  der 
Berliner  Universität  geniessen  konnte,  privatim  zu  ergänzen,  und 
so  wandte  er  sich  an  Steinthal,  ob  dieser  ihm  zu  einem  philo- 
sophischen Unterricht  verhelfen  könnte.  Steinthal,  der  mein  Lehrer 
in  Sprachpsychologie  und  vergleichender  Mythologie  war,  hatte  sich 
auch  für  die  ersten  Schicksale  meiner  akademischen  Bewerbungen  in 
eifriger  Teilnahme  interessiert,  und  so  kam  ihm  diese  Bitte  sehr  will- 
kommen, um  mir  wenigstens  privatim  einen  philosophischen  Lehrkurs 
einzurichten ;  denn  mit  Adler  traten  alsbald  mehrere  Studierende  aus 
dieser  Lehranstalt  diesem  Zirkel  bei,  in  den  ich  nunmehr  Stadler 
aufnehmen  konnte.  Auch  junge  Ärzte  hörten  von  dieser  privaten 
Einrichtung,  in  welcher  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  emsig  ge- 
lesen und  in  einem  zwanglosen  Konversatorium  möglichst  gründ- 
lich durchgesprochen  wurde.  Auch  der  später  in  Marburg  do- 
zierende Mathematiker  Benno  Klein  war  ihm  beigetreten.  Zuerst 
waren  es  zweimal  je  vier  Stunden,  später  sogar  je  sechs,  in  welchen 
dieser  auf  nahezu  zehn  Personen  angewachsene  Kreis  sich  wöchent- 
lich versammelte;  und  diese  Vereinbarung  erhielt  sich  drei  Semester 
hindurch,  bis  ich  endlich  nach  Marburg  gehen  durfte. 


August  Stadler  f.  405 

Frau  Stadtpräsident  Pestalozzi,  die  Schwester  Stadlers, 
hat  die  Güte  gehabt,  aus  seinen  damaligen  Briefen  an  seine 
Eltern  eine  Stelle  auszuschreiben,  die  ich  für  sein  eigenes  Urteil 
charakteristisch  halte.  Er  schreibt  im  November  1872  an  den 
Vater:  „Der  Zufall  sucht  uns  nicht  auf,  bleiben  wir  an  den  Ort 
gebannt,  wie  die  Blumen,  so  fällt  mancher  Regentropfen,  der  uns 
erfrischen  könnte,  an  uns  vorüber.  Um  ihn  zu  erhaschen,  müssen 
wir  uns  dreheu  und  bewegen.  Mich  hat  nun  endlich  einer  recht 
schön  auf  die  Lippen  getroffen  und  ich  habe  nicht  gesäumt,  ihn 
zu  verschlucken.  Es  hat  sich  nämlich  gezeigt,  dass  der  Privat- 
gelehrte, Dr.  Cohen,  an  welchen  mich  Lange  empfohlen  hatte,  ge- 
rade der  Mann  war,  dessen  ich  auf  jenem  Standpunkt  bedurfte 
und  wie  ich  ihn  besser  gar  nicht  wünschen  könnte."  Er  schreibt 
nun  weiter,  wie  er  sich  dem  Studium  Kants  mit  Eifer  hingiebt 
und  wie  er  dadurch  seine  Lebensarbeit  zu  begründen  hofft. 

Hier  muss  ich  nun  erst  über  den  Menschen  berichten.  Poe- 
tisch, wie  er  in  solchem  Bilde  über  das  damalige  Privatissimum 
berichtet,  so  war  überhaupt  seine  ganze  Erscheinung,  von  jugend- 
licher Bescheidenheit  und  doch  in  einem  reifen  Erblühen.  Freilich 
hatte  er  sich  schon  bei  diesem  ersten  Eintritt  in  die  Welt  sein 
soziales  Milieu  mit  einer  imponierenden  Sicherheit  eingerichtet. 
Er  war  der  Sohn,  der  einzige  Sohn  angesehener  Eltern,  einer 
alten  Züricher  Familie,  deren  Lebensführung  bei  aller  Schlichtheit 
durchaus  nicht  eng  war.  Ich  selbst  habe  Jahrzehnte  hindurch 
ihre  Gastfreundschaft  genossen,  und  an  dem  biederen,  in  jeder 
Hinsicht  tüchtigen  und  gediegenen,  gütigen  und  lauteren  Vater, 
wie  an  der  feinsinnigen,  ebenso  für  alles  Schöne,  wie  für  alles 
frei  Protestantische  tief  interessierten,  liebenswürdigen  Mutter  bei 
jedem  Beginn  der  Ferienreise  in  die  Schweiz  mich  erfreuen  dürfen. 
Den  Lebensberuf  des  Vaters,  das  Baufach,  hatte  auch  der  Sohn 
zunächst  erstrebt,  und  es  war  Gottfried  Semper,  bei  dem  er 
zwei  Jahre  hindurch  am  Züricher  Polytechnikum  studiert  hatte. 
Die  Vorlesungen  Langes  an  der  Universität  hatten  ihn  dann  für 
die  Philosophie  gewonnen;  aber  die  polytechnischen  Studien  und 
insbesondere  der  Vorblick  auf  das  praktische  Baufach  hatten  sein 
jugendliches  Milieu  über  das  eines  Studierenden  hinaus  erweitert, 
und  so  kam  mir  damals,  wenn  ich  mit  freudigem  Stolze  auf  diesen 
Schüler  blickte,  der  Gedanke,  ob  er  bei  aller  seiner  pünktlichsten 
Gründlichkeit,  seinem  strengen  Fleisse  und  rein  wissenschaftlichen 
Eifer  nicht   dennoch    mehr  zum  Weltmann,  und  zwar  zum  Staats- 

26* 


406  H.  Cohen, 

mann  im  tiefsten  Sinne  des  Wortes  wahrhaft  berufen  sei  als  zum 
Kathedergelehrten. 

Zunächst  aber  galt  es,  das  Doktorat  vorzubereiten,  und  so 
konnte  ich  ihm  mein  erstes  Thema  zu  einer  Doktorarbeit  geben. 
Es  spricht  gewiss  schon  dies  für  ihn,  dass  ich  es  wagen  konnte, 
das  damals  eben  aufgekommene  Problem  zur  Bearbeitung  ihm  an- 
zuraten, welches  den  grossen  Namen  Darwins  trug. 

Nur  seiner  ausgebreiteten  naturwissenschaftlichen  Bildung 
und  seinen  vielseitigen  klaren  und  sicheren  Kenntnissen  konnte 
es  möglich  werden,  dieses  schon  damals  grosse  Material  in  kurzer 
Zeit  sich  anzueignen  und  in  logischer  Überschau  zu  beherrschen. 
So  erkannte  und  durchdrang  er  den  Zusammenhang  in  den  Pro- 
blemen des  Organismus  und  des  Stoffwechsels  für  die 
Einheit  des  Individuums,  für  den  Begriff  des  Lebens.  Und 
zugleich  erkannte  er  den  methodischen  Zusammenhang  und  den 
Unterschied  in  dem  Begriffe  des  Lebens  mit  und  von  dem  Be- 
griffe der  mechanischen  Bewegung  und  der  Einheit  des  mate- 
riellen Punktes  im  System  der  Bewegung. 

Für  die  Kantische  Terminologie  kam  hier  zunächst  das  Pro- 
blem des  Grenzbegriffs  zu  seiner  Fruchtbarkeit.  Und  mit 
dem  Grenzbegriff  kam  der  Begriff  der  transscendentalen 
Idee  zur  Deckung.  Aber  hinzu  trat  der  Nachweis,  dass  die  Idee 
die  allgemeine  Bedeutung  des  Zwecks  zu  vertreten  hat,  und 
dass  somit  die  Lehre  von  den  transscendentalen  Ideen,  welche  die 
Kritik  der  reinen  Vernunft  enthält,  ergänzt  wird  durch  die  Kritik 
der  Urteilskraft  in  ihrer  Lehre  von  der  objektiven  formalen 
Zweckmässigkeit. 

Mit  grosser  Deutlichkeit  und  Bestimmtheit  zeigt  Stadler  hier, 
wie  sehr  die  methodische  Grundtendenz  Darwins  genauer,  als 
dieser  selbst  es  vermochte,  durch  Kant  vertreten  und  bestimmt 
wird.  Übrigens  hat  er  nicht  unterlassen,  auf  Mängel  im  Ausdruck 
und  in  der  Durchführung  des  Gedankens  hinzuweisen,  welche  bei 
Kant  noch  vorhanden  waren. 

Diese  Schrift  war  in  der  Vorrede  vom  November  1873 
datiert,  und  sie  erschien  in  demselben  Verlage,  der  auch  „Kants 
Theorie  der  Erfahrung"  auf  Empfehlung  Steinthals  übernommen 
hatte.  Aber  schon  im  Spätsommer  hatte  er  sie  mir  vorgelegt, 
indem  er  mich  dazu  in  meiner  Anhaltischen  Vaterstadt  Coswig 
besuchte.  Mit  welchem  erstaunlichen  Fleisse  und  mit  welcher  die 
höchsten  Erfolge  versprechenden  Reife  wai'  diese  Schrift,  die  einen 


August  Stadler  f.  407 

dauernden  Wert  behält,  zu  Stande  g-ekommen.  Etwa  ein  Jahr  vorher 
hatten  seine  tieferen  Studien  über  Kant  erst  begonnen,  und  jetzt  zeigte 
sich  schon  eine  uneingeschränkte  sichere  Beherrschung  des  ge- 
samten einschlägigen  Quellenmaterials,  verbunden  mit  einer  weiten 
Überschau  über  diese  schwierigen  sachlichen  Probleme,  Wäre  er 
damals  in  der  Enge  und  Strenge  dieser  Studien  verblieben,  wie 
anders  würde  sich  dann  sein  Leben  entwickelt  haben. 

Aber  gegen  eine  solche  Beschränkung  seines  Horizontes  und 
seines  Arbeitsgebietes  widersetzte  sich  die  Vielseitigkeit  seines 
gelehrten  Wesens  und  vollends  die  weltmännische  Art  seiner  Per- 
sönlichkeit. So  kam  es,  dass  er  zunächst  zwar  noch  in  Berlin 
verblieb,  um  zuvörderst  seine  mathematischen,  physikalischen  und 
naturwissenschaftlichen  Studien  überhaupt  zu  erweitern  —  so 
hörte  er  bei  DuBois-Reymond  beide  Teile  der  Physiologie, 
und  bei  H  e  1  m  h  o  1 1  z  mathematische  Physik  und  Akustik  — ,  zu- 
gleich aber  auch  gewann  er  Zutritt  zu  den  Vorlesungen  von  Ge- 
heirarat  Engel,  in  dessen  statistischem  Seminar,  um  in  der 
politischen  Ökonomie  Orientierung  zu  erlangen. 

Nachdem  sein  Buch  über  „Kants  Teleologie  und  ihre 
erkenntnistheoretische  Bedeutung"  von  der  philoso- 
phischen Fakultät  der  Universität  Zürich  1874  als  Dissertation 
zur  Erlangung  des  philosophischen  Doktors  angenommen  worden 
war,  entwickelt  er  in  einem  Briefe  an  den  Vater  seine  weiteren 
Pläne:  „1.  Nicht  vor  26  Jahren  dozieren;  dann  Privatdozent  .  .  . 
womöglich  in  Zürich.  Die  konstruktive  Zweckmässigkeit  dieses 
Luftschlosses  brauche  ich  nicht  zu  begründen,  ebensowenig  die 
selbstverständliche  Folgerung,  die  nächsten  zwei  Jahre  wieder  im 
Auslande  zuzubringen.  Die  Frage  ist  nur,  wie  und  wo."  Schon 
in  diesem  Briefe  stellt  er  London  in  nähere  Erwägung.  „London 
und  England  überhaupt  ist  für  Philosophie  ein  äusserst  frucht- 
bares Gebiet.  Namentlich  stehen  dort  Logik  und  Naturphilosophie 
in  höchster  Blüte."  In  der  Tat  war  ja  soeben  das  Lehrbuch  der 
theoretischen  Physik  von  Thomson  und  Tait  in  deutscher 
Übersetzung  durch  Helmholt z  erschienen.  Es  war  daher  keines- 
wegs allein  oder  vorwiegend  etwa  die  Rücksicht  auf  Mill,  welche 
die  englische  Logik  im  Vorteil  erscheinen  Hess.  Aber  es  war 
zugleich  wohl  sein  alter  polytechnischer  Sinn,  der  ihn  nach  Eng- 
land hinzog,  wo  er  zwei  Jahre  verblieb,  bis  er  im  Januar  1877 
heimkehrte,  um  sich  am  Eidgenössischen  Polytechnikum  als  Privat- 
dozent für  Philosophie  und  Pädagogik  zu  habilitieren. 


408  H.  Cohen, 

Schon  hierin  und  hierbei  ist  ein  wichtig-er  Schritt  in  seinem 
Lebensgange  zu  bemerken.  Sicherlich  war  es  die  eigenartige, 
gleichsam  zunftgenossenschaftliche  Pietät  seines  altbürgerlichen 
Wesens,  die  ihn  mitbewogen  haben  mag,  an  das  Polytechnikum  zu 
gehen,  dem  er  seine  eigene  Ausbildung  in  der  Grundlage  verdankte; 
und  nicht  minder  auch  die  Absicht,  bei  den  Technikern  Lust  und 
Freude  an  gediegener  allgemeiner,  daher  philosophischer  Bildung 
zu  erwecken,  und  durch  die  eigene  Tätigkeit  ihnen  diese  Möglich- 
keit zu  verschaffen.  Aber  es  spielen  doch  noch  andere  Motive  mit, 
deren  Andeutung  eine  allgemeinere  Bedeutung  haben  dürfte. 

Man  kannte  in  seiner  Vaterstadt  bereits  sowohl  die  fach- 
männische Tüchtigkeit,  wie  die  ungewöhnliche  allgemeine  Bildung 
dieses  jungen  Mitbürgers;  und  man  kannte  nicht  minder  seinen 
altererbten  patriotischen  Sinn  und  Eifer,  wie  nicht  minder  aber  auch 
seinen  Stolz  und  seine  vornehme  Zurückhaltung  für  eine  Bewerbung 
in  seiner  Vaterstadt:  man  versäumte  aber,  bei  den  mancherlei 
Vakanzen,  die  auf  dem  philosophischen  Lehrstuhl  an  der  Uni- 
versität eintraten,  ihn  heranzuziehen,  während  die  Besetzungen 
bisweilen  mit  Kräften  erfolgten,  die  nicht  mehr,  die  weniger  auf- 
zuweisen hatten,  als  von  ihm  bereits  vorlag,  und  zumal  im  Aus- 
tausch der  gelehrten  Unterhaltungen  unverkennbar  zu  Tage  trat. 
Denn  es  war  nachgerade  stadtbekannt,  wie  durchaus  bewandert 
und  ergiebig  sich  Stadler  ebenso  in  der  Unterhaltung  mit  dem 
Chemiker  und  dem  Physiker,  wie  mit  dem  Physiologen  und  dem  Gehirn - 
anatomen,  wie  andererseits  auch  mit  dem  Nationalökonomen  und 
dem  historischen  Politiker  tagtäglich  erwies.  Und  es  war  nicht 
minder  bekannt,  einer  wie  grossen  Schätzung  und  tiefen  Anerkennung 
er  bei  Gottfried  Keller  und  bei  Arnold  Böcklin  genoss,  die 
beide  ebensosehr  die  gelehrte  Kenntnis,  wie  die  ästhetische  Bildung 
des  frühreifen  Mannes  mit  dem  besonnenen,  scharfen  und  klaren  Urteil 
zu  schätzen  verstanden,  und  für  ihren  täglichen  Umgang  genossen. 
Es  war  weithin  bekannt  geworden,  wie  sehr  dieser  ganze  Kreis 
hervorragender  Naturforscher  und  humanistischer  Gelehrter  durch 
die  philosophische  Belehrung  gefördert  wurde,  welche  Stadler  in 
gesellschaftlicher  Freigiebigkeit  bei  diesen  abendlichen  Zusammen- 
künften über  alle  methodischen  Fragen  der  Forschung  und  des 
Wissens  in  anspruchsloser  Offenheit  und  Gründlichkeit  zu  spenden 
vermochte.  —  Im  Jahre  1892  ist  er  zum  Professor  für  Philosophie 
und  Pädagogik  am  Polytechnikum  ernannt  worden. 


A.ugu8t  Stadler  f.  409 

Eine  entscheidende  Tat  haben  wir  jedoch  noch  gar  nicht  ver- 
zeichnet, welche  vor  seiner  Übersiedelung  nach  London  vollbracht 
wurde.  Die  Vorrede  zu  den  „Grundsätzen  der  reinen  Er- 
kenntnistheorie in  der  Kantischen  Philosophie,  Kritische 
Darstellung,"  ist  vom  Oktober  1875  datiert.  Diese  Arbeit  bildet 
ihrer  Aufgabe  gemäss  den  Höhepunkt  in  seinen  der  Wiederher- 
stellung der  Kantischen  Philosophie  gewiduieten  Schriften.  Wenn 
schon  „Kants  Teleologie  und  ihre  erkenntnistheoretische  Bedeutung" 
durch  die  Genauigkeit  der  Untersuchung,  wie  durch  die  sachliche 
methodische  Beleuchtung  eine  erstaunliche  Reife  zeigte,  so  trat  in 
dieser  neuen  Schrift,  die  nur  zwei  Jahre  später  erschien,  eine 
kritische  Selbständigkeit  gegenüber  der  Kantischen  Methodik  zu 
den  früheren  Vorzügen  hinzu.  Die  Vorrede  spricht  es  aus,  dass 
die  Schrift  von  der  Unterscheidung  ausgeht,  welche  in  „Kants 
Theorie  der  Erfahrung"  zwischen  dem  a  priori  in  „metaphysischer" 
und  in  „transscendentaler"  Bedeutung  gemacht  worden  war.  Auf 
dieser  Unterscheidung  beruht  das  ganze  Reformwerk,  welches  ich 
selbst,  wie  alle  meine  Mitarbeiter,  der  Wiederentdeckung  der  systema- 
tischen Grundgedanken  Kants  gewidmet  haben.  Und  damit  ist 
für  die  gesamte  Methodik  Kants  der  Schwerpunkt  in  die  synthe- 
tischen Grundsätze  gelegt.  So  hat  auch  Stadler  in  dieser  Schrift, 
wie  es  schon  der  Titel  besagt,  den  Grundsätzen  die  eigentliche 
Bedeutung  und  Geltung  des  a  priori  zuerkannt,  und  Schwankungen 
gegenüber,  die  er  noch  bei  mir  fand,  mit  deutlicher  Bestimmtheit 
geltend  gemacht. 

Indessen  sind  es  einerseits  noch  Ansichten  über  die  formale 
Logik,  welche  das  Durchgreifen  der  Urteile  vermittelst  der  Kate- 
gorien auf  die  Grundsätze  hemmen,  teils  sind  es  besonders  die 
Reste  des  metaphysischen  a  priori,  welche  hier  noch  in  der  trans- 
scendentalen  Apperception  hängen  geblieben  sind,  die  eine  radikalere 
Umgestaltung  der  gesamten  systematischen  Methodik  verhindert 
haben.  Die  transscendentale  Apperception  gilt  hier  noch 
nicht  vorzüglich  als  die  Einheit  der  synthetischen  Grund- 
sätze, sondern  vielmehr  als  die  „Einheitsfunktion"  des  Bewusst- 
seins.  Und  so  bleibt  es  bei  der  Bedeutung  der  transscendentalen 
Apperception  als  der  Einheit  des  Bewusstseins.  Damit  aber 
bleibt  der  Ertrag  beeinträchtigt,  den  die  Unterscheidung  zwischen 
dem  transscendentalen  und  dem  metaphysischen  a  priori  als  die 
eigentliche  Kernfrucht  erzielte. 


410  H.  Cohen, 

Es  hängt  damit  zusammen,  dass  diese  Schrift  bei  aller  Freiheit 
der  Rekonstruktion,  welche  ihre  Disposition  darlegte,  dennoch  in 
der  Hauptsache  bei  den  Kantischen  Grundlagen  stehen  blieb.  Man 
erkennt  dies  mit  aller  Deutlichkeit  an  dem  vierten  Grundsatze,  der 
eine  ebenso  interessante,  als  instruktive  Formulierung  enthält  in 
dem  „Prinzip  der  materiellen  Verknüpfung"  (ib.  S.  64). 
Der  Grundsatz  geht  von  den  Empfindungen  aus,  von  ihren 
Qualitäten;  das  Bewusstsein  aber  fordert,  dem  erkenntnistheore- 
tischen Prinzip  zufolge,  „eine  kontinuierliche  Synthesis  von  Em- 
pfindungs-Qualitäten" (ib.S.67).  Nach  diesem  Prinzip  der  materiellen 
Verknüpfung  folgen  das  Prinzip  der  räumlichen  Verknüpfung  und 
das  Prinzip  der  zeitlichen  Verknüpfung. 

Trotz  diesem  Stehenbleiben  bei  den  Kantischen  Grundlagen 
zeigt  sich  hier  doch  schon  die  Schärfe  seiner  Kritik  darin,  dass  er 
den  Begriff  des  Grades,  der  intensiven  Grösse  mit  Ent- 
schiedenheit ablehnt.  „Der  Grad  gehört  nicht  in  einen  allgemeinen 
erkenntnistheoretischen  Grundsatz"  (ib.  S.  71).  Freilich  heisst  es 
weiter:  „noch  weniger  aber  irgend  eine  Eigenschaft  desselben,  z.  B. 
die  Kontinuität."  Es  wird  mithin  erkannt,  dass  die  Verbindung 
der  intensiven  Grösse  mit  der  Empfindung  für  den  Begriff  des 
Gegenstands  nicht  von  entscheidendem  Belang  sein  kann;  aber  es 
wird  nicht  erkannt,  dass  für  den  Begriff  des  Gegenstands  eine 
andere  Begründung  der  Kontinuität  notwendig,  geschweige 
dass  sie  möglich  ist,  und  durch  die  wissenschaftliche,  mathematische 
Fassung  dieses  Grundprinzips  geboten  und  dargeboten  wird.  Man 
durfte  damals  jedoch  eine  solche  Kritik  diesem  Buche  gegenüber 
nicht  geltend  machen;  sie  war  damals  noch  nicht  an  der  Zeit; 
vielmehr  war  es  schon  ein  Verdienst,  das  erste  leiseste  Bedenken 
gegen  die  Bedeutung  des  Grades  und  seinen  echten  Zusammenhang 
mit  dem  Prinzip  der  Kontinuität  aufkommen  zu  lassen. 

Inzwischen  hatte  sich  Stadler  mit  dem  Problem  des  zweiten 
Kantischen  Grundsatzes  immer  weiter  beschäftigt,  und  eine  Folge 
davon  war  die  Abhandlung  in  den  „Philosophischen  Monatsheften", 
welche  vom  Februar  1878  datiert  ist:  „Über  die  Ableitung 
des  psychophysischen  Gesetzes".  Er  hat  darin  Fechners 
Fundamentalformel  bestritten;  er  findet  einen  Widerspruch  darin 
zu  dem  Web  er  sehen  Gesetze  der  Schwelle.  Fechner  übersetzt 
die  Schwelle  in  das  Ebenmerkliche.  Aber  Stadler  hält  dieses 
für  ein  „psychisches  Atom", ^)  oder  aber  für  eine  „unendlich  kleine 

1)  Ph.  Mh.  Bd.  XIV.  S.  222. 


August  Stadler  f.  411 

Grösse",  und  in  beiden  Bedeutungen  lasse  es  sich  nicht  als 
„Wachstumselemeut  der  Empfindung"  betrachten.  „Es  lässt  sich 
nicht  zur  Integration  verwerten".  So  ist  hier  der  wunde  Punkt 
in  dem  ganzen  Problem  der  Psychophysik  aufgedeckt;  und  ich  bin 
mir  bewusst,  durch  diese  Kritik  zur  ferneren  grundsätzlichen  Be- 
streitung dieses  Problems  angeregt  worden  zu  sein. 

So  weit  also  gehen  unsere  Wege  zusammen.  Von  da  ab 
aber  trennten  sie  sich :  und  es  war  zunächst  keineswegs  die  Schuld 
des  Jüngers,  dass  eine  Differenz  eintrat.  Nachdem  ich  nämlich 
von  der  Theorie  der  Erfahrung  vorab  zu  Kants  Ethik  weiter- 
geschritten war,  und  diese  neu  zu  begründen  suchte,  war  es  mein 
nächstes  Bestreben,  den  historischen  Zusammenhang  zwischen  der 
Methodik  Kants  und  den  wichtigsten  Etappen  in  der  Geschichte 
der  Philosophie  klarzustellen:  in  diesem  weltgeschichtlichen  Sinne, 
nach  Leibniz  der  perennis  phüosophia,  glaubte  ich  die  geschicht- 
liche Aufgabe  für  die  Erscheinungsformen  der  Philosophie  fassen 
zu  müssen.  Danach  aber  und  daraus  selbst  wuchs  die  fernere 
Aufgabe,  in  der  Kantischen  Methodik,  in  welcher  der  eigentliche 
Grundwert  des  Kantischen  Systems  immer  deutlicher  erkennbar 
wurde,  die  Disposition  der  Grundlagen  zu  verbessern.  Und  gerade  der 
zweite  synthetische  Grundsatz  deckte  den  Grundfehler  des  Systems 
auf.  Auch  das  psychophysische  Problem  Hess  iu  seinem  eigenen 
Fehler  diesen  Grundfehler  Kants  nur  schärfer  erkennen.  Der  Ge- 
danke wurde  hier  unabwendbar,  dass  es  nicht  zum  Ziele  führen 
kann,  dass  es  nicht  der  rechte  Ausgang  sein  kann,  mit  der  Em- 
pfindung -anzufangen:  dass  man  der  transscendentalen  Weisung 
zufolge  von  dem  wissenschaftlichen  Problem  des  Gegen- 
standes,  nicht  von   seiner  subjektiven  Fassung  ausgehen  müsse. 

Damit  aber  war  eine  fernere,  noch  tiefer  gehende  Änderung 
geboten.  Kant  war  ja  eigentlich  gar  nicht  schlechthin  von  der 
Empfindung  ausgegangen,  sondern  von  Raum  und  Zeit,  also  von 
Formen  der  reinen  geometrischen  und  mechanischen  Anschauung! 
Indessen  in  dem  Problem  der  Mechanik  selbst  lag  der  tiefere  me- 
thodische Anstoss.  Die  Mechanik  ist,  modern  gesprochen,  nicht 
Kinematik,  sondern  Kinetik.  Daher  genügt  es  nicht,  von  der 
Geometrie  auszugehen,  so  wenig  man  bei  der  Statik  des  Archi- 
medes  stehen  geblieben  ist.  Galilei  hat  die  neuere  Mechanik 
als  Dynamik  begründet,  dadurch  und  damit  aber  zugleich  den 
entscheidenden  Grundbegriff  der  gesamten  neueren  Mathematik 
antizipiert:    die    nicht   mehr  in  Raum  und  Zeit  ihren  eigentlichen 


412  H.  Cohen, 

Grund  hat,  sondern  in  der  Kontinuität,  welche  neue  Elemente, 
die  der  Zeit  und  dem  Räume  zunächst  entlegen  zu  sein  scheinen, 
aus  sich  heraus  zu  erzeugen  vermag. 

Von  diesen  Erwägungen  aus  kam  ich  zu  meinem  „Prinzip 
der  Infinitesimal-Methode"  und  allen  den  anderen  Arbeiten,  die 
mir  seither  beschieden  waren.  Im  Sommer  des  Jahres  1883  war 
Stadler,  wie  schon  manchmal  vorher  und  nachher,  eine  längere 
Zeit  bei  mir  in  Marburg,  und  es  liefen  damals  gerade  die  letzten 
Korrekturen  zu  seiner  „Kants  Theorie  der  Materie"  bei  ihm  ein, 
die  vom  März  1883  datiert  war.  Zu  derselben  Zeit  aber  ging 
der  Druck  von  meinem  „Prinzip  der  Infinitesimal-Methode"  zu 
Ende.  Zwar  hatte  er  auch  die  Korrektur  dieses  meines  Buches 
mitgelesen,  wie  wir  stets  von  unseren  Arbeiten  gemeinsam  die 
Korrektur  besorgten  —  und  nach  der  expektorativen  Art  unserer 
ausgedehnten  Unterredungen  habe  ich  ihm  gewiss  keine  Ruhe 
gelassen,  mit  dem  Fortgang  meiner  Gedanken  über  das  infinitesi- 
male Prinzip  ihn  auf  dem  Laufenden  zu  halten;  dennoch  aber 
bleibt  die  Tatsache  bestehen,  dass  die  „Theorie  der  Materie"  von 
ihm  bearbeitet  wurde,  bevor  ich  über  das  neue  Prinzip  zu  voller 
Klarheit  und  zur  abschliessenden  Darlegung  gekommen  war. 

Es  genügt,  auf  einen  Satz  hinzuweisen,  um  die  Differenz  in 
ihrer  ganzen  Schärfe  erkennen  zu  machen :  „Übrigens  verwechselt, 
wer  die  intensive  Grösse  als  solche  dem  Differential  entsprechen 
lässt,  die  Form  mit  dem  Inhalt"  (ib.  S.  40).  Und  man  weiss 
andrerseits,  dass  Kants  „Metaphysische  Anfangsgründe  der  Natur- 
wissenschaft", deren  Interpretation  jenes  Buch  übernimmt,  durch- 
aus in  der  Phoronomie  ihr  Fundament  haben,  welches  auch  in 
der  Dynamik  durchwirkt.  Die  Vorzüge,  welche  Stadler  in  den 
früheren  Büchern  bewährt  hat,  sind  reichlich  auch  hier  behauptet. 
Die  Genauigkeit  der  Interpretation,  die  Gründlichkeit  der  metho- 
dischen Erwägungen,  die  Klarheit  des  Urteils  sind  allgemein  an- 
erkannt worden,  wo  inzwischen  das  Kantische  Werk  zur  Heraus- 
gabe gekommen  ist.  Auch  darf  sicherlich  von  Stadlers  Darstellung 
gerühmt  werden,  dass  sie  alles  Material  herbeizieht,  das  nur  immer, 
sei  es  zur  Interpretation,  sei  es  zur  Beleuchtung  und  Beurteilung 
in  Frage  kommen  konnte.  Aber  man  muss  hier  doch  des  Wortes 
gedenken,  welches  Helmholtz  über  den  Wert  dieses  Kantischen 
Buches  gefällt  hat.  Und  man  muss  auch  die  veränderte  Lage  be- 
rücksichtigen, welche  seit  dem  Anfang  der  80er  Jahre  des  vorigen 


August  Stadler  f.  413 

Jahrhunderts  die  allgemeine  Diskussion  der  naturphilosophischen 
Probleme  erfahren  hat. 

Es  ist  mir  immer  als  ein  Verhängnis  in  dem  Lebensgang 
meines  Freundes  erschienen,  dass  er  in  diesem  seinem  letzten 
grösseren  Buche  nicht  nur  mit  dem  Neubeginn  meiner  eigenen 
Entwickelung  zusammenstiess,  sondern  nicht  minder  auch  mit  einer 
ganz  veränderten  Situation  in  der  modernen  Physik.  Er  hätte 
Kants  Theorie  der  Materie  als  ein  Werk  lediglich  dei-  Interpre- 
tation betrachten  und  hinter  sich  liegen  lassen  müssen,  um  für 
die  eigene  Arbeit  einen  neuen  Anfang  zu  suchen,  oder  aber,  wie 
es  unsere  wissenschaftliche  Verbindung  und  Arbeitsgemeinschaft 
erfordert  hätte,  in  meinen  eigenen  neuen  Anfang  auch  seinerseits 
einzutreten,  sei  es  ihn  zu  bestätigen  und  fortzubilden,  sei  es  ihn 
zu  beurteilen,  selbst  ihn  als  fehlerhaft  nachzuweisen. 

Hier  aber  hat  der  Nekrolog  sich  zu  bescheiden.  Wir  haben 
für  die  Leistungen  zu  danken,  welche  dieses  Leben  hervorgebracht 
hat.  Und  wenngleich  beinahe  ein  Vierteljahrhundert  zwischen 
dieser  Publikation  und  seinem  Hingang  liegt,  so  haben  wir  die 
kleineren  Früchte  mit  sorgsamer  Anerkennung  zu  beachten,  welche 
dieser  Zeitraum  gebracht  hat;  und  wir  dürfen  nicht,  auch  nicht 
im  Anspruch  der  Freundschaft,  welche  grosse  Erwartungen  hegte, 
von  diesen  idealen  Forderungen  aus  das  fernere  Leben  beurteilen. 
Wir  haben  hier  die  Krankheit  zu  verzeichnen,  welche  am  Ende  der 
80er  Jahre  über  ihn  kam,  und  mehrere  Monate  ihn  von  aller 
geistigen  Arbeit  fernhielt.  Es  ist  zu  vermuten,  dass  sie  schon 
die  Jahre  vorher  die  Arbeitskraft  geschwächt  haben  mag,  wie  sie 
tatsächlich  im  letzten  Jahrzehnt  seines  Lebens,  so  beglückend  es 
für  ihn  durch  seine  späte,  von  Kindern  gesegnete  Heirat  geworden 
ist,  dennoch  bewirkt  hat,  dass  er  zwar  von  Plänen  zu  grösseren 
Arbeiten  immerfort  getragen  blieb,  von  der  Publikation  derselben 
jedoch  zurückgehalten  wurde. 

Meine  Auffassung  von  dem  Lebensgang  dieses  Mannes  von 
sicherlich  seltener  Begabung,  die  ich  akademischen  Freunden  gegen- 
über seit  langen  Jahren  wiederholentlich  und  nachdrücklich  aus- 
gesprochen habe,  glaube  ich  in  diesem  Nachruf  ebenso  der  Gerechtig- 
keit wegen,  wie  besonders  auch  als  Mahnung  nicht  unterdrücken 
zu  dürfen.  Wäre  August  Stadler  von  einer  deutschen  Universität 
auf  den  philosophischen  Lehrstuhl  berufen  worden,  so  würde  sich 
auch  seine  literarische  Wirksamkeit  siegreicher  gestaltet  haben; 
und  er  wäre  alsdann  von  der  Verbitterung  befreit  geblieben,   die 


414  H.  Cohen, 

schon  manchem  Gelehrten  die  Gesundheit  geschädigt  und  getrübt 
hat.  Keine  Spur  eines  auf  irgend  einem  bösen  Vorurteil  beruhenden 
Vorwands  lag  gegen  diesen  Mann  vor:  es  sei  denn,  dass  er  der 
grundlegenden  Richtung  sich  angeschlossen  hatte,  über  deren  Be- 
deutung, allen  Unklarheiten  und  aller  Misgunst  gegenüber,  nunmehr 
wohl  ziemlich  allgemein  der  Geschichte  der  Philosophie  das  Urteil 
zugestanden  wird. 

Alle  seine  Arbeiten  sind  ebenso  gründlich  in  der  Unter- 
suchung der  Quellen,  wie  in  der  systematischen  Beleuchtung. 
Wenig  Arbeiten  dürfen,  als  Arbeiten,  ihnen  gleichgestellt  werden. 
So  lange  man  die  Werke  Kants  studieren  und  auf  ihren  Wortlaut 
untersuchen  wird,  um  ihren  historisch  ewigen  Sinn  zu  erforschen, 
so  lange  wird  man  auch  die  drei  Kantbücher  August  Stadlers 
studieren  und  würdigen.  Und  wie  wenige  unter  den  Fachgenossen 
konnten  sich  mit  ihm  messen  an  Gründlichkeit  und  Vielseitigkeit  der 
allgemeinen  naturwissenschaftlichen  Bildung  und  der  genauen  paraten 
Kenntnisse,  die  sich  ebenso  auf  die  Anatomie  und  die  Physiologie, 
wie  auf  die  Mathematik  und  die  Physik  erstreckten.  Und  wie  er  in 
Büdingers  Seminar  Geschichte  studiert  hatte,  wie  bei  Gottfried 
Sem  per  die  Architektur,  so  war  auch  das  gesamte  humanistische 
Gebiet  der  Ästhetik  sein  unmittelbarer  Lebensgrund,  den  er  in  dem 
längjährigen  vertrauten  Umgang  mit  Gottfried  Keller,  wie  auch 
mit  Arnold  Böcklin,  zu  fester  und  klarer  Lebensanschauung 
ausgestaltete. 

Und  welchen  Reiz  endlich  hatte  immerfort  seine  Persönlichkeit 
selbst,  seine  vornehme  Gestalt,  sein  unabhängiger,  ehrenfester  Sinn, 
seine  humorvolle,  würdige,  geistsprühende  Unterhaltung.  Welche 
Zierde  und  welche  wertvolle  Kraft  würde  dieser  selbständige 
Charakter  in  der  Majoritätenschaukel  unserer  Fakultäten  geworden 
sein.  Und  welchen  Einfluss  würde  sein  Lehrvortrag  an  einer 
Universität  gewonnen  haben,  bei  der  ungewöhnlich  gründlichen 
Vorbereitung,  von  welcher  die  Hefte  seines  Nachlasses  Zeugniss 
ablegen,  für  seine  Vorlesungen,  die  ebenso  reiches  sachliches,  wie 
emsig  gesammeltes  geschichtliches  Material  für  die  Logik  und  die 
Psychologie,  wie  für  die  Pädagogik  enthalten. 

Gerade  in  letzterer  Hinsicht  hat  eine  vom  Februar  1887 
datierte  Schrift  „Über  die  Aufgabe  der  Mittelschule"  eine 
zentrale  Bedeutung.  Ich  erinnere  mich  genau,  wie  Gottfried 
Keller  sie  mir  als  eine  bedeutende  Schrift  bezeichnete.  Und  so 
darf  ich  mich  auch  auf  Max  Simon  berufen,  der  seine  Literatur- 


August  Stadler  f.  41 5 

urteile  nach  eigener  Wertung  zu  bemessen  pflegt:  „Hier  wäre  die 
Stelle,  auf  den  Begriff  der  Bildung  ausführlich  einzugehen,  aber 
dies  hat  weit  besser,  als  ich  es  je  vermocht  hätte,  August  Stadler 
in  Zürich  ebenso  kurz  als  treffend  erledigt.  Seine  Schrift:  Über 
die  Aufgabe  der  Mittelschule  (1887)  mit  ihren  38  Seiten  die  weitaus 
bedeutendste,  die  ich  in  der  ganzen  „Reformfrage"  kenne,  ist  z.  B. 
spurlos  an  der  Mittelschule  vorbeigegangen;  eine  herbe  Anklage 
nicht  sowohl  gegen  die  Lehrer  als  gegen  die  leitenden  Stellen. 
Es  fehlt  an  einer  wissenschaftlichen  Zentrale,  welche  uns  viel- 
beschäftigte Lehrer  auf  solche  Schriften  hinweist  und  sie  uns 
zugänglich  macht.  Stadler  setzt  den  Zweck  der  Schule  ganz 
allgemein  in  die  Aufklärung,  d.  i.  in  die  Befreiung  der  Massen 
vom  Vorurteil,  d.  i.  von  Urteilen,  die  ohne  Überlegung  als  wahr 
angenommen  werden,  und  die  so  unendliches  Unheil  angerichtet 
haben."  ^) 

Es  kommt  nicht  darauf  an,  wie  man  über  den  praktischen 
Wert  der  hier  gemachten  und  begründeten  Vorschläge  denken  mag; 
auch  mit  Bezug  auf  die  ethische  Begründung,  die  nach  dem  Eudä- 
monismus  hin  ausweicht,  konnte  und  kann  ich  nicht  ganz  einver- 
standen sein.  Aber  die  kleine  Schrift  ist  das  Zeugnis  eines  ganzen 
Mannes,  das  Erzeugnis  eines  reichen  Lebens  und  tiefen  Denkens 
und  das  gewiss  seltene  Zeugnis  eines  Gelehrten,  der  nichts  vor- 
schlägt, was  er  nicht  selbst  in  seiner  eigenen  Ausbildung  angestrebt, 
versucht  und  erworben  hat.  So  ist  diese  Schrift  der  persönlichste 
Abdruck  seines  Wesens,  und  daher,  der  Gediegenheit  und  Ehrlich- 
keit dieses  Wesens  gemäss,  von  bleibendem  Werte  für  pädagogische 
Erwägungen. 

Auch  ist  darin  sein  Prinzip  der  typischen  Auswahl  in  den 
Lehrgegenständen  sicherlich  von  echter,  praktischer  Bedeutung 
(s.  S.  36).  Und  wie  viele  Bemerkungen  sind  über  das  Wissen,  wie 
über  das  Können  in  diesem  Büchlein  enthalten;  nur  eine  sei  hier 
angeführt.  Bei  der  Pflege  des  Volksliedes  heisst  es:  „Dazu  ist 
ferner  das  reinliche  Memorieren  des  Textes  erforderUch,  das 
bei  den  Sängern  nicht  eben  beliebt  ist.  So  mancher  Patriotismus 
reicht  nicht  dazu  hin,  dass  ein  Vaterlandslied  ordentlich  auswendig 
gelernt  würde;  so  manche  Festbegeisterung  muss  sich  von  der 
zweiten  Strophe   an   in   ein  Lied   ohne  Worte   ergiessen,   und  die 


»)  Die  Didaktik    uud  Methodik   des  Rechnens   und  der  Mathematik 
II.  Auflage  1908,  S.  33. 


416  H.  Cohen, 

Burschenherrlichkeit,  die  Wanderlust,  die  Liebe  —  wie  oft  erblasst 
und  erkaltet  ihr  Lob  im  Nebel  textlicher  Unwissenheit"  (s.  S.  54). 
Von  solchen  ernst  heiteren  Anspielungen  waren  seine  Gespräche, 
wie  seine  Briefe  gewürzt.  Aber  er  hätte  diese  Bemerkung  nicht 
gemacht,  wenn  nicht  das  Textgedächtnis  seines  Liederschatzes  von 
felsenfester  Sicherheit  gewesen  wäre. 

Bevor  wir  die  kleineu  Schriften  aus  dem  letzten  Jahrzehnt 
kurz  betrachten,  sei  ein  Vortrag  erwähnt  in  der  Sektion  Uto  des 
S.  A.  C.  vom  November  1879  „Erinnerungen  an  Zermatt". ^) 
Er  beschreibt  darin  eine  Besteigung  des  Matterhorn,  die  er  mit 
Güssfeldt  unternommen  hatte.  Auch  diese  Beschreibung  ist 
charakteristisch  für  seine  Denkart,  wie  für  seinen  Stil.  Auch 
spiegelt  sich  in  den  Andeutungen  über  das  Verhältnis  zwischen 
dem  Touristen  und  seinem  Führer  ein  Grundzug  seines  Wesens, 
nämlich  seine  nicht  sowohl  theoretische  als  praktische,  durch  und 
durch  gefühlte  und  -geführte  Lebensansicht  über  das  Verhältnis 
des  sogenannten  vornehmen  Herrn  zu  den  dienenden  Geistern 
unseres  Lebens.  „Der  Führer  ist  das  Organ,  durch  welches  der 
Geist  einer  Gegend  zu  uns  spricht.  Wenn  wir  es  verstehen,  dieser 
Stimme  zu  lauschen,  so  wird  uns  die  Landschaft,  die  wir  durch- 
wandern, zu  einem  Schauplatz  menschlichen  Daseins.  Würde  solchen 
Erfahrungen  eine  ebenso  allgemeine  Aufmerksamkeit  geschenkt, 
wie  etwa  dem  Pfeifen  der  Murmeltiere  oder  dem  Springen  der 
Gletscherflöhe,  so  würde  die  Einsicht  verbreiteter  sein,  dass  in  dem 
Stillleben  der  Alp  dieselben  geistigen  Kräfte  wirksam  sind,  die 
unsere  eigene  grössere  Welt  störend  und  fördernd  bewegen" 
(ib.  S.  30).  Übrigens  enthält  dieser  Vortrag  auch  besonders  in 
der  Beschreibung  eines  gefahrvollen  Momentes  interessante  Be- 
obachtungen zur  experimentellen  Psychologie  (vgl.  ib.  S.  16). 

Der  Psychologie  sind  zwei  Vorträge  gewidmet,  der  eine 
„Über  die  Aufmerksamkeit".^)  Gerade  ihm  musste  die  experimen- 
telle Psychologie,  seiner  Gewohnheit  zu  lernen  und  zu  beobachten, 
persönlich  durchaus  nützlich  und  förderlich  scheinen,  und  sein  Be- 
dürfnis, wie  sein  Verlangen  nach  anschaulicher  Kenntnis  aller 
Einzelvorgänge  des  Wissens  und  des  Könnens  musste  ihm  jene 
moderne  Forschungsweise  sogar  sympathisch  machen.  So  sehen 
wir   auch   in    diesem    Vortrage    genaue    Bezugnahme    auf   neuere 


1)  Separatabdruck  aus  dem  Jahrbuch  des  S.  A.  C.  Bd.  XV. 

*)  Separatabdruck  aus  der  Schweiz.  Pädagog.  Zeitschrift  Heft  1,  1894. 


Augrust  Stadler  f-  417 

Arbeiten  aus  diesem  Gebiete,  zugleich  aber  auch  die  tiefere  philo- 
sophische Fähigkeit  einer  genauen  Analyse  psychischer  Assoziationen, 
und  daher  die  kritische  Überlegenheit  jenen  Aufgaben  gegenüber. 
Der  Vortrag  schliesst  mit  einem  Zitat  aus  Grillparzers  Hero 
und  Leander:  „Die  Sammlung  hats  getan  und  hats  erkannt, 
und  die  Zerstreuung  nur  verkennts  und  spottet."  Die  Sammlung 
wird  dem  modernen  Leben  hier  als  das  wichtigste  Heilmittel 
empfohlen. 

Der  andere  dieser  Vorträge  behandelt  die  „Übung".^)  Der 
Vortrag  beginnt  mit  dem  Hinweis  auf  einen  Vortrag  über  dasselbe 
Thema  von  Emil  Du  Bois-Reyraond,  so  wie  auf  ein  Buch  von 
Dr.  Lagrange  „Physiologie  des  Exercises  du  corps".  Ferner 
aber  ist  es  eine  Arbeit  Rosenbachs  über  '„die  Seekrankheit 
als  Typus  der  Kinetosen",  aus  der  er  seine  Betrachtungen  und 
Schlüsse  herleitet. 

Andere  kleine  Arbeiten  betreffen  mehr  systematische  Fragen; 
so  zuvörderst  diejenige  „Zur  Klassifikation  der  Wissen- 
schaften", ein  Problem,  das  ihn  schon  in  der  „Mittelschule" 
beschäftigt  hatte.  ^)  Er  geht  hier  auf  die  bekannte  Kirchhoff  sehe 
Definition  der  Beschreibung  ein.  Es  ist  der  Gesichtspunkt  der 
Klassifikation,  der  uusern  Freund  dazu  verleitet  hatte,  die  Be- 
schreibung in  den  Vordergrund  der  philosophischen  Methodik  zu 
rücken,  und  darüber  die  alten  Waffen  und  Schutzmittel  der  Reinheit 
und  der  Erzeugung  wie  zu  vergessen.  Es  bleibt  mir  ein  Rätsel, 
wie  er  mein  Befremden  gar  nicht  verstehen  wollte,  das  ich  ihm 
über  diesen  plötzlichen  Wandel  seiner  methodischen  Denkweise 
unumwunden  brieflich  äusserte,  nachdem  ihn  Freund  Natorp  bereits 
als  Redakteur  darauf  aufmerksam  gemacht  hatte. 

Ein  Rathausvortrag  vom  Dezember  1906  behandelt  „Herbert 
Spencer".  Es  ist,  als  ob  die  alte  Liebe  zu  England  hier  wieder 
erwachte.  Die  Vielseitigkeit  dieses  englischen  Philosophen,  der 
von  der  Psychologie  zur  Soziologie  übergegangen  ist,  und  der 
neben  Darwin  die  Evolution  zu  seinem  Grundgedanken  gemacht 
hat,  sie  musste  für  Stadler  in  gewisser  Weise  nicht  bloss  reizend, 
sondern  beinahe  auch  imponierend  bleiben.  Hatte  er  selbst  doch 
mit  Darwin  begonnen,    und   für  seine  Welterfahrung  mit  dem  ge- 


f 


1)  Separatabdruck  aus  der  Schweiz.  Pädagogisch.  Zeitschrift  Heft  1, 
Jahrgang  1900. 

«)  Archiv  für  systematische  Philosophie,  Band  2,  Heft  1. 


418  H.  Cohen, 

nauen  Studium  des  englischen  Volkslebens.  Dennoch  aber  wird 
man  keine  Überschätzung-  des  englischen  Polyhistors  hier  finden, 
sondern  deutlich  genug  die  feine  Ironie,  welche  bei  aller  Aner- 
kennung des  grossen  Wissens  dennoch  den  Mangel  im  Gebrauch 
des  eigentlichen  philosophischen  Handwerks  nicht  ungerügt  lässt, 
freilich  nicht  in  der  scharfen  und  musterhaften  Energie,  mit 
welcher  der  grosse  englische  Physiker,  der  natural  philosopher, 
William  Thomson,  dem  Denkmal  für  Spencer  in  der  West- 
minster  Abtei  aus  der  methodischen  Schätzung  der  echten  Philo- 
sophie heraus  sich  widersetzt  hat. 

In  ähnlicher  Würdigung,  nur  mit  deutlicherer  Tendenz  der 
Ablehnung  hat  ein  Vortrag  im  Wintersemester  1908/09  als  „Er- 
öffnungsvorlesung" den  „Pragmatismus"  behandelt.^)  Er  ge- 
denkt hier  seines  alten  Lehrers  Friedrich  Albert  Lange  in 
Bezug  auf  dessen  Charakteristik  der  deutschen  Aufklärung.  Der 
Pragmatismus  sei  moderne  Aufklärung.  „Wenn  Sie  das  Buch 
von  W.  James  lesen,  werden  Sie  bemerken,  dass  der  Verfasser 
mit  einer  gewissen  Nervosität  bemüht  ist,  sich  mit  den  traditio- 
nellen Standpunkten  auseinanderzusetzen,  bezw.  sie  zu  diskredi- 
tieren" (ib.  S.  12).  Dieser  Diskreditierung  muss  die  „Schul- 
philosophie" entgegenarbeiten,  und  somit  geht  er  zum  Studium 
Kants  über. 

Zwei  kleine  Aufsätze  bringen  die  „Kantstudien".  Den  einen 
über  den  „§  1  der  transscendentalen  Ästhetik.  Erster  Aufsatz. 
Aus  einem  Konversatorium  für  Anfänger".^)  Es  handelt  sich  da 
um  die  allgemeinsten  Voraussetzungen  für  das  Beginnen  der 
Lesung  Kants.  Und  eine  andere  Abhandlung  ist  überschrieben: 
„die  Frage  als  Prinzip  des  Erkennens  und  die  Einleitung 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft".'')  Auch  hier  handelt  es 
sich  um  die  allgemeinsten  Vorbedingungen  für  das  Verständnis 
von  Kants  Stil  und  Denkweise.  Es  wird  hier  auch  auf  das  Ver- 
hältnis Kants  zu  Hume  eingegangen,  und  mit  jugendkräftiger 
Energie  wird  der  Standpunkt  des  apriorischen  Idealismus 
wieder  vertreten.  „Der  Materialismus  sucht  in  den  Welten  nach 
dem  Thron,  auf  dem  er  die  Gottheit  fände  —  der  Idealismus 
nimmt   sie    auf   in   seinen    Willen,    d.  h.    er   schafft   sie,   um  sie 


1)  Separatabdruck    aus    der   Schweiz.    Pädagog.    Zeitschrift,    Jahr- 
gang 1908. 

2)  Kantstudien  Bd.  I  S.  100  ff. 

8)  Kantstudien  Bd.  XIII  S.  238  ff. 


August  Stadler  f.  419 

ewig  ZU  besitzen"  (ib.  S.  248).  Es  klingt  wie  ein  Vermächtnis, 
dieses  letzte  gedruckte  Wort:  der  ewige  Besitz  der  Gottheit 
bildet  den  Schöpfungswert  des  Idealismus. 

Eines  anon3'meu  Aufsatzes  müssen  wir  zum  Schluss  noch  ge- 
denken, der  als  eine  Opfergabe  seines  Zürcherischen  Patriotismus 
entstanden.  „Johann  Heinrich  Füssli  als  Privatmann, 
Schriftsteller  und  Gelehrter.  Freier  Auszug  aus  dem 
Manuskripte  seines  Biographen  Wilhelm  Füssli".^)  Es 
handelt  sich  hier  um  keine  selbständige  Arbeit,  sondern  um  einen 
,.Auszug*'.  Wir  haben  daher  über  diese  Arbeit  nicht  zu  berichten, 
so  interessant  für  die  Literaturgeschichte  ihr  Inhalt  ist.  Indessen 
zeigt  sich  in  dieser  patriotischen  Arbeit  der  Zug  seiner  selbstlosen 
Hingabe  an  Stoffe,  welche  seine  Lern-  und  Wissbegierde,  wie  sein 
Gemütsleben  anzogen. 

Und  bei  der  wenngleich  nur  flüchtigen  Durchsicht  seines 
Nachlasses  ist  mir  zu  wirklicher  Bewunderung  die  Durchführung 
dieser  selbstlosen  Hingabe  entgegengetreten.  Wer,  wie  ich,  die 
geistvolle  Art  dieses  Mannes  kannte,  und  zudem  noch  die  bis  zu 
den  Sportübungen  hin  erstreckte  Virtuosität  seiner  weltmännischen 
Lebensweise,  der  muss  mit  wahrhafter  Bewunderung  erfüllt  werden, 
wenn  er  die  Hefte  durchblättert,  in  denen  dieser  geistvolle  Denker 
ganze  Bücher  excerpiert,  um  insbesondere  für  die  Vorlesungen  mit 
dem  emsigsten  Fleisse  reichen  Anschauungsstoff  zu  sammeln.  Es  ist 
dies  ja  vielleicht  nicht  nur  ein  Vorzug;  aber  bei  der  vorwiegenden 
Selbständigkeit  dieses  Mannes  und  bei  seiner  methodischen  Denk- 
kräftigkeit  ist  es  eben  ein  Zeichen  seiner  selbstlosen  pädagogischen 
Hingabe  an  die  Lehrtätigkeit,  dass  er  sich  nicht  damit  Genüge 
tun  wollte,  seine  Zuhörer  mit  seiner  Gedankenwelt  zu  erfüllen, 
sondern  dass  er  sich  verpflichtet  fühlte,  seine  emsigen  Lesefrüchte 
ihnen  mitzuteilen,  und  überhaupt  durch  Beispiele  und  allgemeines 
lehrreiches  Material  seine  Gedanken  zu  beleben,  um  auch  dadurch 
ihnen  bei  dem  Schüler  zu  fernerer  Fruchtbarkeit  zu  verhelfen.  In 
dieser  Methode  liegt  ein  grosses  Stück  der  Selbstlosigkeit,  zu 
welcher  der  akademische  Lehrer  sich  zu  erziehen  hat. 

Es  wäre  geschmacklos,  einen  schulgerechten  Philosophen  mit 
einem  Künstler   zu  vergleichen,    und   gar   mit  einem  Wundermann 


1)  Neujahrsblatt   herausgegeben   von   der  Stadtbibliothek   in  Zürich 
auf  das  Jahr  1900. 

Kantstudien    XV.  27 


420  H.  Cohen,  August  Stadler  f. 

der  schöpferischen  Zauberkraft.  Aber  indem  ich  auf  das  Lebens- 
bild des  Freundes  binblicke,  kommen  mir  die  Worte  nicht  aus  dem 
Sinn,  welche  Grillparzer  dem  geliebten  Schubert  auf  den  (Grab- 
stein geschrieben  hat;  und  bei  aller  ehrerbietigen  Distanz  kann 
ich  mich  nicht  enthalten,  sie  auf  dieses  Schlusswort  zu  übertragen: 
Die  Philosophie  begrub  hier  einen  reichen  Besitz, 
aber  noch  viel  schönere  Hoffnungen. 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.^^ 

Von  Privatdozent  Dr.  Oscar  Ewald -Wien. 


Der  Gesamtaspekt,  den  die  deutsche  Philosopie  des  Jahres 
1909  gewährt,  schliesst  bei  aller  Differenzierung  und  Mannigfaltig- 
keit der  wirksamen  Faktoren,  der  einander  zum  Teil  wider- 
sprechenden Elemente  gleichwohl  eine  bestimmte  Einheitlichkeit 
in  der  Grundrichtung  nicht  aus.  Hier  setzen  sich  naturgemäss 
die  Bestrebungen  fort,  die  wir  in  den  früheren  Jahresberichten 
feststellen  konnten  und  die  sich  mit  zunehmender  Deutlichkeit  auf 
ein  gemeinschaftliches  Ziel  zu  vereinigen  scheinen.  Noch  immer 
ist  es  der  erk-enntnistheoretische  Charakter,  welcher  einem  grossen 
Teil  der  philosophischen  Produktion  das  Gepräge  verleiht;  noch 
immer  ist  es  die  Orientierung  an  Kant,  die  hier  den  zentralen 
Punkt  bildet;  noch  immer  erneuern  sich  die  Versuche,  über  Kant 
hinauszugehen,  die  historische  Entwickelungslinie  —  wenn  auch 
in  neuen  Formen,  auf  neuer  Grundlage  —  zu  wiederholen,  die 
vom  Begründer  des  Kritizismus  zu  Fichte,  Schelling  und  Hegel 
führt.  Der  Zug  zur  Neuromantik  —  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  — 
hat  wenig  an  Intensität  eingebüsst.  Teils  im  Zusammenhang  mit 
diesen  Tendenzen,  teils  von  ihnen  unabhängig  hat  sich  aber  eine 
Wendung  vollzogen,  die,  wenngleich  schon  in  den  vergangenen 
Jahren  vorbereitet,  gerade  in  der  letzteren  Zeit  mit  einer  be- 
merkenswerten Rapidität  und  Entschiedenheit  einsetzte:  die 
Wendung  von  der  reinen  Erkenntnistheorie  zur  Metaphysik. 
So  nachdrücklich  tritt  sie  in  den  Vordergrund,  dass  die  Stellung- 
nahme zu  ihr  voraussichtlich  bald  die  Diskussion  beherrschen 
wird.  Eingeleitet  wurde  sie  gerade  durch  jene  Richtung,  welcho 
sie  in  ihrem  offiziellen  Programm  vielfach  verleugnet  hat:  den 
Neukantianismus.  Wenn  nämlich  die  Bedeutung  Kants  hauptsäch- 
lich in  der  Begründung  der  transscendentalen  Logik  besteht,  der 
Logik,  die  sich  zum  Unterschiede  von  der  alten,  formalen  mit  den 
Gesetzen   des  Seienden,   des  Realen  beschäftigt,  nicht  mit  denen 

1)  Wir  verweisen  auf  unsere  dem  ersten  Jahresbericht  (Bd.  XII) 
beigefügte  Bemerkung.  Die  Redaktion. 

27* 


422  O.  Ewald, 

des  Denkens  im  Allgemeinen,  wenn  in  ihr  besonders  das  Problem 
der  Aussenwelt,  der  mathematischen  Physik  entfaltet  wird,  so  ist 
es  klar,  dass  diese  auf  das  Seiende  als  solches  gerichtete  Be- 
trachtungsart sich  bloss  künstlich  von  der  Metaphysik  isolieren 
lässt.  Immer  gebieterischer  muss  sich  hier  die  Frage  aufdrängen, 
ob  die  Kategorien,  die  wir  an  die  Dinge  herantragen,  diesen  auch 
entsprechen,  ob  sich  in  ihnen  das  wirkliche  Sein  und  Werden 
spiegelt  oder  nicht.  Wenn  Windelband,  einer  der  stärksten  Neu- 
kantianer, auf  dem  Heidelberger  Kongresse  erklärte,  man  könne 
nicht  über  das  Denken  und  Erkennen  Untersuchungen  anstellen, 
ohne  zugleich  ihr  Verhältnis  zum  Seienden  in  Rechnung  zu  ziehen, 
die  Erkenntnistheorie  zeige  sich  daher  aufs  innigste  mit  der  Meta- 
physik verknüpft,  so  klingt  das  wie  die  Formulierung  eines  Pro- 
grammes,  das  die  nächste  Zukunft  erfüllen  muss;  und  es  ist  sehr 
bezeichnend,  dass  es  wiederum  Windelband  war,  der  sich  um  die 
Einführung  eines  strengen  Metaphysikers  wie  Bergson  in 
Deutschland  bemüht  hat. 

So  kann  das  Interesse  an  den  Problemen  der  Metaphysik,  das 
ja  stets  im  eigentlichen  Mittelpunkt  des  Philosophierens  stand,  auf 
die  Dauer  nicht  zum  Schweigen  gebracht  werden:  nicht  durch  die 
antimetaphysischen  und  ametaphysischen  Gedankengänge  extremer 
Positivisten  und  Phänomenalisten  —  man  denke  in  erster  Reihe 
an  Avenarius  und  Mach  —  und  noch  weniger  durch  die  Indifferenz, 
den  Versuch,  an  den  metaphysischen  Fragen  überhaupt  vorbei- 
zugehen, sie  weder  zu  bejahen  noch  zu  verneinen,  der  von 
manchen  Kantianern  unternommen  wurde.  Wir  werden  sehen,  dass 
gerade  im  vergangenen  Jahre  die  Beschäftigung  mit  der  Meta- 
physik innerhalb  der  wissenschaftlichen  Philosophie  eine  intensivere 
geworden  ist. 

Dass  aber  alle  derartigen  Versuche,  sofern  sie  auf  solider 
Grundlage  gebaut  sind,  ihre  hauptsächliche  Orientierung  am  Kri- 
tizismus gewinnen  oder  wenigstens  eine  unmittelbare  innere  Be- 
ziehung zu  Kant  besitzen,  ist  für  den,  der  die  Entwickelungs- 
geschichte  der  deutschen  Philosophie  kennt,  beinahe  eine  Selbst- 
verständlichkeit. Wir  können  daher  unsere  Darstellung  wieder 
mit  dem  Neukantianismus  beginnen  und  die  Eigenart  der  einzelnen 
Leistungen  an  ihrer  grösseren  oder  geringeren  Distanz  von  diesem 
Ausgangspunkte  bestimmen. 

Hier  möchte  ich  abermals  Windelband  nennen;  so  wenig 
er,  der  ja  schon  in  seineu  „Präludien"   die  Annäherung  an  Fichte 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.  423 

vorbereitete,  zu  den  dogmatischen  Neukantianern  gehört,  hat 
er  dennoch  stets  allem  gegenüber,  was  Empirismus,  Psychologis- 
mus und  Relativismus  heisst,  die  Grundsätze  des  Transscendenta- 
lismus  vertreten.  Er  ist  es,  dem  wir  die  genaue  Unterscheidung 
der  kritischen  und  der  genetischen  Methode  verdanken,  die  von 
den  Empiristen  meistenteils  zusammengeworfen  wurden. 

In  seiner  Eektoratsrede  „Der  Wille  zur  Wahrheit"  (Winter, 
Heidelberg)  hat  er  nun  gegen  die  relativistische  und  psycholo- 
gistische  Form  des  Pragmatismus  das  Wort  ergriffen.  Dieser  ge- 
mäss sind  theoretische  Wahrheit  und  praktische  Nutzbarkeit 
Wechselbegriffe,  wobei  die  letztere  allerdings  auch  in  einem 
höheren  Sinne  genommen  wird.  Gegen  eine  solche  Identifizierung 
richtet  Windelband  die  Spitze  seiner  Polemik.  Die  Beziehung, 
die  hier  zwischen  Theorie  und  Praxis  gestiftet  wird,  ist  übrigens 
ein  in  der  Geschichte  der  Philosophie  häufig  wiederkehrendes 
Motiv.  Es  reicht  bis  auf  die  antiken  Sophisten  zurück,  denen 
Sokrates,  Plato,  Aristoteles  die  Lehre  von  der  absoluten  Wahrheit 
entgegenhielten.  In  der  modernen  und  modernsten  Philosophie  ist 
es  noch  häufiger  aufgetreten.  Ja,  man  darf  wohl  sagen,  dass  die 
ganze  psychologistische  und  erapiristische  Erkenntnistheorie  der 
Neuzeit  unter  diesem  Zeichen  steht.  So  ist  Humes  Erklärung  der 
Kausalität  aus  der  organischen  Übung  und  Gewöhnung,  aus  dem 
hierin  wurzelnden  Instinkte  der  Erwartung,  ein  deutlicher  Versuch, 
abstrakte  Verstandesprinzipien  auf  den  Vorgang  der  Anpassung 
an  die  Verhältnisse  der  Umgebung,  mithin  auf  ein  biologisches 
Faktum  zurückzuführen.  Im  neunzehnten  .Jahrhundert  sind  unter 
dem  wachsenden  Einflüsse  der  Naturforschung,  zumal  durch  das 
Emporkommen  der  evolutionistischen  und  Darwinistischen  Theorien 
die  gleichen  Gedankengänge  noch  viel  mehr  in  den  Vordergrund 
getreten.  Zumal  Herbert  Spencer  unternahm  es,  in  seinem  System 
das  Logische  im  extremen  Gegensatz  zum  Rationalismus  dem  Bio- 
logischen unterzuordnen.  Auch  deutsche  Philosophen,  wie  Mach 
und  Avenarius,  haben  die  gleiche  Tendenz  verfolgt.  Denn  die 
Prinzipien,  die  von  ihnen  als  Grundgesetz  des  Geistigen  hinge- 
stellt werden,  das  der  Ökonomie  und  das  des  kleinsten  Kraft- 
masses,  sind  ausschliesslich  biologischen  Ursprungs.  Der  Pragma- 
tismus in  seiner  extremen  Form  zieht  gleichsam  die  Summe  dieser 
Bestrebungen.  Er  wurde  auch  durch  die  Wendung  vom  Intellek- 
tualismus zum  Voluntarismus,  die  in  der  neuesten  Philosophie  zum 
Ausdrucke  gelangt,  vorbereitet.    Allerdings  heisst  es,  hier  besondere 


424  O.  Ewald, 

Vorsicht  üben  und  nicUt  die  äussere  Ähnlichkeit  verschiedener 
Standpunkte  überschätzen.  Weder  Kant,  der  den  Primat  der 
praktischen  Vernunft  lehrte,  noch  Schopenhauer,  der  im  Willen 
die  Wurzel  alles  Bewusstseins  erblickt,  hat  eine  nähere  Beziehung 
zur  prag-matistischen  Doktrin,  was  schon  aus  dem  unzweideutigen 
Faktum  erhellt,  dass  beide  strenge  Aprioristen  waren.  Man  niuss 
hier  die  immanente  und  die  metaphysische  Betrachtungsweise  aus- 
einanderhalten. Das  System  der  Erkenntnisbegriffe  ist  für  den 
Aprioristen  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Immanenz  ein  geschlos- 
senes, es  umschliesst  keinerlei  variable  Inhalte.  Aber  unter  dem 
transscendeuten,  metaphysischen  Gesichtspunkte  ist  es  immerhin 
möglich,  ihnen  ein  höheres  Sein,  zum  Beispiele  einem  Urwillen 
überzuordnen,  dessen  Erscheinungsform  sie  darstellen.  Die  letztere 
ist  dann  relativ  selbständig,  ungeachtet  ihrer  ontologischen  Ab- 
hängigkeit. 

Windelband  hebt  den  Sachverhalt  sehr  deutlich  heraus  und 
umgrenzt  ihn  logisch  aufs  Sorgfältigste.  Er  giebt  ohne  weiteres 
zu,  dass  der  Wille  zur  Wahrheit  kein  ursprünglicher  ist,  dass  auch 
alles  Erkennen  anfangs  Mittel  zur  Erreichung  praktischer  Zwecke 
war,  dass  aber,  wie  es  im  Psychischen  so  oft  sich  erweist, 
das  Mittel  im  Laufe  der  Entwickelung  selbst  zum  Zwecke  wurde. 
Dieser  Prozess  der  Übertragung  sagt  aber  gar  nichts  über  das 
Wesen  des  Übertragenen,  der  W^ahrheit,  aus.  Denn  er  kann  zu 
sehr  wertvollen,  aber  auch  zu  sehr  verwerflichen  Ergebnissen 
führen.  So  ist  zum  Beispiele  der  Geiz  daraus  entstanden,  dass 
das  Geld  aus  einem  blossen  Mittel  zur  Erwerbung  wirklicher 
Güter  zu  einem  imaginären  Selbstzwecke  gerinnt.  Es  entstehen 
mithin  auf  ganz  dieselbe  Weise  so  völlig  verschiedene  Phänomene 
wie  die  Habgier  und  der  Wahrheitstrieb,  und  daraus  folgt,  dass 
der  psychologische  Mechanismus  seiner  Entstehung  gar  nichts  über 
den  Wert  eines  Phänomens  aussagt.  Windelband  erblickt  in  dieser 
Theorie  ein  erkenntnistheoretisches  Analogon  zu  dem  schranken- 
losen moralischen  Individualismus  und  dem  ästhetischen  Impressio- 
nismus, sofern  alle  diese  Theorien  einen  Standpunkt  jenseits  der 
Werte  einnehmen  wollen.  Sodann  trägt  Windelband  auch  den 
feineren  Schattierungen  des  Pragmatismus  Rücksicht,  die  in  der 
Lehre  hervortreten,  dass  alles  Erkennen  Urteilen  ist  und  dass  das 
Urteil  einen  Willensakt  voraussetzt.  Sicherlich  die  Urteilsfunktion 
ist  als  ein  Anerkennen  oder  Verwerfen  eine  Willensform,  aber  die 
Geltung    des    Inhalts    ist    unabhängig    von   jedem    Wollen.     Die 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.  425 

Wahrheit  stammt  nicht  aus  ihm,  sondern  aus  den  „Sachen" 
selbst. 

Diese  Auffassung-  kommt  allerdings  dem  Versuch  ziemlich 
nahe,  den  Josiah  Royce  auf  dem  Heidelberger  Kongresse  unter- 
nahm, den  Pragmatismus  mit  dem  Rationalismus  zu  vereinigen, 
ein  Versuch,  über  den  ich  bereits  im  letzten  Jahresberichte  ge- 
sprochen habe :  Der  Glaube  an  eine  absolute  Wahrheit  soll  mit  der 
Überzeugung  in  Verbindung  gebracht  werden,  dass  dieser  Glaube 
sich  in  voluntaristischer  Form  realisiert;  ein  Versuch,  dessen 
nahe  Verwandtschaft  mit  dem  Neufichteanismus  ich  damals  dar- 
legte, i) 

Die  Rede  Windelbands  zeigt  aufs  Neue,  dass  der  kritische 
Wahrheitsbegriff,  der  auf  Kant  zurückreicht,  durch  solche  Angriffe 
nicht  erschüttert  werden  kann.  Gleichwohl  ist  sein  inneres  Ge- 
füge noch  keineswegs  ein  geschlossenes  und  lückenloses.  So  deut- 
lich er  sich  gegen  die  beiden  anderen  Wahrheitsbegriffe,  den 
metaphysischen  und  den  psychologischen  abgrenzt  —  und  in  dieser 
Abgrenzung  liegt  seine  Originalität,  seine  grundlegende  Bedeutung 
—  es  umgeben  ihn  noch  viele  Dunkelheiten,  die  der  Klärung  be- 
dürfen. Vor  allem  ist  es,  wie  ich  schon  angedeutet,  sein  Verhält- 
nis zur  Metaphysik,  das  in  sich  noch  ungelöste  Probleme  verbirgt. 
Die  getreuesten  Interpreten  der  Kantischen  Lehre  finden  wir  im 
Kreise  jener  Denker,  die  sich  in  den  „Kantstudien"  zu  einer  mög- 
lichst einheitlichen  und  widerspruchsfreien  Auslegung  und  Weiter- 
führung der  transscendentalen  Grundmotive  vereinigen.  Auch  im 
vergangenen  Jahre  boten  sie  eine  Reihe  von  Beiträgen,  (ieren  Be- 
deutung nicht  auf  das  Historische  beschränkt  bleibt.  Über  „das 
Verhältnis  des  Pragmatismus  zu  Kant"  schreibt  Lorenz-Ightham 
(Kent),  der  sich  bestrebt  zeigt,  die  pragmatistischen  Ansätze  in 
der  kritischen  Philosophie  hervorzuheben.  So  die  Postulate  der 
praktischen  Vernunft,  ihren  Primat  über  die  theoretische,  die  Ak- 
tivität des  Verstandes,  die  Bedeutung  des  Glaubensprinzips.  Aber 
gerade  an  diesen  Analogien  wird  auch  der  Abstand  zwischen 
beiden  Theorien  sichtbar.  Wie  Lorenz  nämlich  mit  Recht  betont, 
ist  der  Pragmatismus  mit  einer  streng  aprioristischen  Theorie 
unverträglich.  Er  erkennt  keine  geistigen  Werte  an,  die  in  sich 
selbst  unbedingte  und  ewige  Bedeutung  haben,  denn  der  Geist  ist 
ihm    eine    blosse  Funktion    des  Willens  und  dementsprechend  eine 


1)  Kantstudien,  Bd.  XIV,  Heft  4,  S.  357. 


426  O.  Ewald, 

variable,  abhängige,  da  der  Wille  ja  selbst  veränderlich  ist,  seine 
Ziele  und  Richtungen  wechseln  kann.  Die  Beziehung  zu  Schopen- 
hauer wird  ausdrücklich  hervorgehoben,  freilich  mit  dem  bezeich- 
nenden Vorbehalt,  dass  die  aprioristischen  und  metaphysischen 
Momente  auszuschalten  sind.  Die  einzige  wesentliche  Konzession, 
die  dem  Rationalismus  gemacht  wird,  ist  die,  dass  die  Aussenwelt 
nicht  fix  und  fertig  vom  Bewusstsein  vorgefunden,  sondern  mit 
dessen  eigenen  Mitteln  bearbeitet  wird.  Wie  man  sieht,  ist  da- 
mit kaum  das  Minimum  der  transscendentalen  Philosophie  ge- 
geben. 

Von  den  anderen  Beiträgen  erwähne  ich  den  unterhaltenden 
Aufsatz  „Das  erste  Auftauchen  der  Kantischen  Philosophie  in 
Amerika"  von  Professor  Mattoon  Monroe  Curtis,  der  von  dem  bei- 
spiellosen Unverständnis  zeugt,  mit  dem  Kants  Lehre  zunächst 
aufgenommen  wurde,  ferner  Bruno  Bauch  „Zwei  Gedenkschriften 
zu  D.  Fr.  Strauss'  hundertstem  Geburtstage"'.  Die  beiden  Schriften, 
mit  denen  sich  Bauch  beschäftigt,  sind  Kuno  Fischer  „Über  David 
Friedrich  Strauss",  gesammelte  Aufsätze,  die  ungefähr  vor  einem 
halben  Jahrhundert  entstanden  und  erst  nach  Fischers  Tode  her- 
ausgegeben wurden,  und  Theobald  Ziegler  „David  Friedrich 
Strauss".  Bauch  sucht  im  Anschluss  an  beiden  Arbeiten  die 
schweren  Vorwürfe  einigermassen  zu  entkräften,  die  heute  zum 
Teile  unter  Nietzsches  Einfluss  gegen  den  Verfasser  des  „alten 
und  neuen  Glaubens"  erhoben  werden.  Nachdrücklicher  noch  als 
Ziegler  weist  er  auf  den  schwachen  Punkt  in  Straussens  Ge- 
dankenentwickelung hin,  die  Vernachlässigung  der  Kantischen 
Philosophie,  welche  es  offenbar  mit  sich  brachte,  dass  Strauss 
von  dem  einen  Extrem,  dem  Hegelianismus,  zum  anderen,  dem 
materialistischen  schwankte. 

Über  den  dritten  internationalen  Kongress  für  Philosophie 
berichtet  Bubnoff  in  einem  kurzen  Referate. 

Daneben  erschien  eine  grosse  Anzahl  von  Ergänzungsheften, 
die  sich  durchwegs  mit  interessanten  Problemen  befassen:  „Kants 
Prinzip  der  Autonomie"  von  Kurt  Bache,  „Das  Problem  der 
Theodicee  in  der  Philosophie  und  Literatur  des  18.  Jahrhundert" 
eine  gekrönte  Preisschrift  von  Josef  Kremer,  „Der  Zweckbegriff 
bei  Kant  und  sein  Verhältnis  zu  den  Kategorien"  von  Wilhelm 
Ernst,  „Individuelle  Kausalität"  von  Sergius  Hessen,  „Kants  Lehre 
vom  Bewusstsein  überhaupt"  von  Hans  Amrhein.  Insbesondere 
die    letztgenannte  Schrift    ist    von    aktueller  Bedeutung.     Der  Be- 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahi-e  1909.  427 

griff  des  „Bewusstseins  überhaupt"  nimmt  ja  iu  der  g-egenwärtigen 
Erkenntnistheorie  eine  zentrale  Stelhing  ein :  er  bezeichnet  den 
Punkt,  an  dem  sich  der  >^eukantische  Transscendentalismus  gleich- 
massig  gegen  den  Psychologismus  und  gegen  die  Metaph}-sik  ab- 
grenzt, in  dem  er  sozusagen  verankert  ist.  Einerseits  nämlich 
repräsentiert  er,  als  Begriff  des  Normalbewusstseins,  das  gemein- 
same Mass,  die  allgemeine  Richtschnur  für  die  verschiedeneu  in- 
dividuellen Bewusstseinsformeu,  wodurch  die  subjektive  Willkür 
und  Relativität  überwunden  werden  soll,  andererseits  wird  er  als 
eine  blosse  Abstraktion,  als  logischer  Begriff,  nicht  als  metaphy- 
sische Realität  betrachtet.  Das  unterscheidet  ihn  streng  vom  ab- 
soluten, transscendeutalen  Ich  der  romantischen  Identitätsphilo- 
sophen. 

In  dieser  Anwendung  des  Begriffes  kommen  Schuppe,  Cohen, 
Windelband,  Rickert  wenigstens  dem  Prinzip  nach  übereiu ;  kleine 
Nuancen  des  Unterschiedes  verschwinden  hinter  der  prinzipiellen 
Gemeinschaft.  Mit  Recht  bemerkt  Yaihinger  in  seinem  Geleits- 
worte zu  Amrheins  Schrift,  dass  es  die  Stellungnahme  zum  Begriff 
des  Bewusstseins  überhaupt  ist,  die  es  bedingt,  dass  einer  Kriti- 
zist  oder  Dogmatist  genannt  werden  muss.  Hier  weist  Yaihinger 
in  einigen  kurzen  und  gehaltvollen  Sätzen  auf  die  bemerkenswerte 
Wandlung  hin,  die  sich  an  dem  genannten  Begriff  gegenwärtig 
vollzogen  hat  und  der  Wandlung  entspricht,  die  den  Übergang  von 
Kant  zur  Identitätsphilosophie  bezeichnet.  ,,Bei  seinen  letzten 
Verwendern  sprang  aus  diesem  kritischen  Grenzbegriff  Kants,  aus 
dieser  rein  methodischen  Hilfsvorstellung  ein  Gebilde  heraus,  das 
dem  ehemaligen  „Absoluten"'  seligen  Angedenkens  zum  Verwechseln 
ähnlich  sieht."  Vom  „Bewusstsein  überhaupt"  zum  intelligiblen 
Subjekt  und  von  hier  zum  Absoluten  ist  freilich  bloss  ein  Schritt: 
indessen  dieser  Schritt  bedeutet  eben  einen  völligen  Wechsel  der 
Perspektive,  das  Vertauschen  des  transscendeutalen  Standpunktes 
mit  dem  transscendenten.  Die  Abhandlung  Amrheins  gliedert  sich 
in  zwei  Teile,  deren  erster  Kants  Bewusstseinstheorie  enthält,  deren 
zweiter  die  Lehre  vom  „Bewusstsein  überhaupt"  in  der  nachkanti- 
schen  Philosophie  behandelt.  Hier  wird  die  Untersuchung  bis  zur 
jüngsten  Gegenwart,  bis  Lipps  und  Münsterberg  geführt  und  auch 
die  Einwände,  die  neuerdings  gegen  diesen  Begriff  von  Drews, 
Hartmann,  Rehmke,  Michaltschew,  Uphues,  Nelson  erhoben  wurden, 
finden  Berücksichtigung.  Im  allgemeinen  richten  sich  diese  Ein- 
wände gegen  den  Versuch,    mit  Hilfe  einer  logischen  Abstraktion, 


428  0.  Ewald, 

wie  es  das  „Bewiisstsein  überhaupt"  ist,  Probleme  der  Meta- 
phj^sik,  mithin  Probleme  realen  Seins  zur  Entscheidung  zu  bring-en. 
Und  das  ist  insofern  richtig,  als  Realitäten  und  logische  Begriffe 
inkommensurabel  sind  und  demnach  Probleme,  wie  zum  Beispiele 
das  der  Aussen  weit  nicht  allein  durch  die  Beziehung  auf  jenen  Hilfs- 
begriff gelöst  werden  können.  —  Besondere  Erwähnung  verdient 
Rickerts  prinzipielle  Untersuchung  „Zwei  Wege  der  Erkenntnis- 
theorie'', deren  Untertitel  „Transscendentalpsychologie  und  Trans- 
scendentallogik"  die  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  vollauf  be- 
zeichnet. Auch  hier  nimmt  Rickert  im  Allgemeinen  den  Stand- 
punkt seiner  früheren  Werke  ein,  aber  er  sucht  denselben  in  be- 
merkenswerter Weise  zu  ergänzen.  Der  Gegenstand  der  Erkennt- 
nis ist  insofern  ein  transscendentaler,  als  er  ihr  die  Norm  und 
Richtung  vorzeichnet,  mithin  von  ihr  unabhängig  ist,  nicht  aber 
sofern  er  eine  zweite  metaphysische  Realität  darstellt.  Den  Ten- 
denzen, zu  einer  solchen  metaphysischen  Realität  aufzusteigen, 
hält  er  das  Argument  entgegen,  dass  die  Annahme  derselben  sich 
wieder  in  Form  eines  Urteils  kleiden  müsste  und  demgemäss 
von  der  Wahrheit  der  Urteilsform  abhängig  bliebe;  weiter  als  zur 
Festsetzung  der  letzteren  könne  deswegen  die  Erkenntnistheorie 
nicht  gelangen.  Und  ihr  eigentliches  Problem  ist  es  zu  erklären, 
was  in  dieser  Wahrheit  enthalten  ist.  Dass  alles  Erkennen  ein 
Urteilen  ist,  wird  auch  hier  von  Rickert  vorausgesetzt.  In  den 
weiteren,  ungemein  scharfsinnigen  Analysen  charakterisiert  er  die 
zwei  Wege,  die  zur  Ergründung  des  Erkenntnisaktes  führen.  Der 
transscendentalpsychologische  fasst  ihn  als  einen  psychischen 
Vorgang  und  dringt  durch  dessen  genaue  Zergliederung  allmählig 
zum  Gegenstande  der  Erkenntnis  vor,  der  andere,  der  transscenden- 
tallogische,  geht  vom  Gegenstande  der  Erkenntnis  unmittelbar  aus. 
Wir  können  auch  sagen,  der  erstere  ist  in  seinem  Ausgangspunkte 
phänomenologisch,  er  betrachtet  das  Erkennen  von  der  Seite  des 
Seins,  als  ein  psychisches  Phänomen,  der  letztere  ist  rein  logisch, 
er  betrachtet  das  Erkennen  nicht  als  reales  Faktum,  sondern  aus- 
schliesslich als  ideale  Bedeutung.  Beide  Betrachtungsarten  be- 
sitzen ihre  Vorzüge  und  Mängel,  eben  deshalb  ergänzen  sie  ein- 
ander. Zunächst  charakterisiert  Rickert  das  transscendentalpsy- 
chologische Verfahren.  Selbstverständlich  ist  auch  dieses,  wie 
bereits  sein  Namen  zeigt,  nicht  mit  dem  Psychologismus  zu  ver- 
wechseln, denn  es  erkennt  die  transscendentalen  Werte  ja  an,  es 
will  bloss  die  Art  ihres  inneren  Gegebenseins  erforschen,  ohne  sie 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.  429 

deswegen    in    empirische  Zusammenhänge    des  Seelenlebens  aufzu- 
lösen.    Der  Gegenstand    des  Erkennens   weist  über  die  Erfahrung 
hinaus,    sofern    er   jede,    auch    die    einfachste  Erfahrung,  erst  er- 
möglicht,   er  drückt   sich  in  der  Notwendigkeit  aus,    ein  Urteil  zu 
vollziehen,    seine    logische    Form    zu  bejahen,   er  tritt  an  das  Be- 
wusstsein  demnach    als    ein  Sollen,    eine    Forderung    heran.     Dies 
überaus    schwierige    Verhältnis    zwischen    logischer    Idealität   und 
psychischer   Realisierung,     das    in    seinen    Tiefen   überhaupt    ein 
Grenzproblem  des  menschlichen  Geistes  bezeichnet,  skizziert  Rickert 
in    einigen    ausdrucksvollen    Sätzen.      „Wird  nun  aber  der  Gegen- 
stand   in    einem    transscendenten  Sollen  gefunden,  so  entsteht  die 
Frage,    wie    das  Denken    diesen    von  ihm  unabhängigen  Gegen- 
stand erfasst,  oder   wie   das  Transscendente  immanent  wird.     Wir 
sahen,    dass  die  Forderung,    auch  wenn  sie  nicht  von  einem  Sein 
gestellt  wird,    also   auch  wenn  sie  eine  unbedingte  und  transscen- 
dente   Forderung    ist,    doch    stets  im  wirklichen  Erkennen  als  an 
eine  Wirklichkeit  geknüpft  auftritt.     An  dieser  Wirklichkeit  rauss 
also    etwas   haften,    das    darauf   hindeutet,    dass  sie  mehr  als  ein 
bloss  psychischer  Vorgang  ist.     Es  muss  sich  mit  anderen  Werten 
in   unseren   Denkprozessen    ein   Etwas   finden,    das  immanent  ist 
und  zugleich  über  sich  ins  Transscendente  hinausweist,  ein  W^ahr- 
heitskriterium,    das    einerseits    der  Bestandteil    eines  individuellen 
Seelenlebens    ist    und    andererseits    eine    schlechthin   notwendige, 
überindividuelle  Forderung  verbürgt.     W^orin  besteht  dieses  Etwas? 
Wir    haben    willkürliche    und    notwendige  Forderungen  und  deren 
Anerkennung  von  einander  unterschieden.    Auf  Urteile  angewendet, 
heisst   dies,    dass    es    evidente    und    nicht  evidente   Urteile  giebt. 
Betrachten    wir   das  Erkennen    als  einen  psychischen  Prozess,    so 
ist    also    die  Evidenz    das    psj'chische  Sein,  das  uns  die  Wahrheit 
des  Urteils  verbürgt."    Genauer  ausgedrückt,  ist  ein  Evidenzgefühl 
der    psychische  Repräsentant    dieses    transscendenten  Sollens.     So 
weit  reicht   die  psychische  Betrachtung,  von  der  Rickert  nunmehr 
zu  zeigen  versucht,  dass  sie  schon  insgeheim  ein  Anlehen   bei  der 
transscendental-logischen    nehmen    muss.      Denn   ein  Gefühl,  über- 
haupt   ein   seelischer  Vorgang   als   solcher   weist   nicht  über  sich 
hinaus,  sondern  erst  seine  Deutung.     ,.Dem  Relativismus  sind  wir 
bloss  dadurch  entgangen,  dass  wir  nicht  ein  psychisches  Sein  ana- 
lysierten,   sondern,    wie    wir    sagen    können,     seinen    Sinn    kon- 
struierten'' —  somit   durch    ein    logisches  Verfahren.     Der  zweite 
Weg,    der   transscendental-logische,   richtet   sich   dementsprechend 


430  0,  Ewald, 

überhaupt  nicht  mehr  auf  den  Akt  des  Denkens,  sondern  auch 
dasjenige,  was  in  ihm  zum  Ausdruck  kommt,  auf  seinen  idealen 
Gehalt.  Er  geht  nicht  auf  die  innere  Vergegenwärtigung  des 
Gedankens,  die  immer  in  zeitlichen  Grenzen  eingeschlossen  ist, 
sondern  auf  die  zeitlose,  ewige  Bedeutung  des  Satzes.  Jene  ist 
ein  Stück  der  empirischen  Wirklichkeit,  diese  ist  überhaupt  nichts 
Reales,  Im  Sinne  dieser  zweiten  Methode  unternimmt  es  Rickert 
nun,  das  Wesen  des  Satzes,  seine  Bedeutung,  seinen  Wahrheits- 
wert zu  definieren  und  gelangt  hier  zu  sehr  interessanten  Be- 
stimmungen. Die  Bedeutung  eines  Satzes,  die  auf  Wahrheit  An- 
spruch macht,  nennt  er  zum  Unterschiede  von  der  blossen  Wort- 
bedeutung seinen  Sinn.  Der  Sinn  deckt  sich  auch  nicht  mit  dem 
idealen  Sein,  das  zum  Beispiele  den  Gebilden  der  Mathematik 
eignet,  wiewohl  er  mit  ihm  manches  gemeinsam  hat.  Diese 
Unterscheidung,  die  man  im  Kantischen  Sprachgebrauche  auch  als 
eine  Unterscheidung  zwischen  Apodiktizität  und  Idealität  be- 
zeichnen kann,  ist  so  wichtig,  dass  ich  die  nähere  Begründung 
derselben  wörtlich  aus  dem  Texte  anführe.  „Ich  bilde,"  so 
schreibt  Rickert,  „einen  wahren  Satz  über  und  von  einem  idealen 
Sein,  aber  der  Sinn  dieses  Satzes  fällt  ebensowenig  mit  dem 
idealen  Sein  selbst  zusammen,  wie  der  Sinn  eines  Satzes  über 
reales  Sein  mit  diesem  identisch  ist.  Der  Winkel  im  Halbkreis 
ist  nicht  wahr,  also  kein  logischer  Sinn,  wie  wir  dies  Wort  hier 
verstehen  wollen.  Wahr  ist  erst  der  Sinn  des  Satzes  über  die 
Grösse  dieses  Winkels."  Der  logische  Sinn  deckt  sich  weder  mit 
einem  empirischen,  noch  mit  einem  idealen,  noch  auch  mit 
einem  metaphysischen  Sein,  er  ist  überhaupt  nichts  Seiendes,  des- 
wegen aber  nicht  mit  dem  Nichts  identisch,  sondern  ein  Wert. 
Für  den  Wert  bleibt  es  charakteristisch,  dass  er  nicht  ist, 
sondern  gilt.  So  muss  man  die  Erkenntnistheorie  die  Lehre  von 
den  Werten  nennen,  eine  Lehre,  welche  allen  Wissenschaften,  die 
sich  mit  dem  Seienden  beschäftigen,  notwendig  vorausgeht.  Der 
Wert  darf  aber  auch  nicht,  wie  es  häufig  geschehen  ist,  mit  der 
Norm  verwechselt  werden.  Erst  indem  er  in  die  Sphäre  des 
Tatsächlichen,  des  Realen  gezogen  wird,  indem  er  einem  Subjekt 
gegenübertritt,  erheischt  er  dessen  Anerkennung,  wird  er  zur  For- 
derung, zum  Sollen,  zur  Norm.  Schon  Husserl  hatte  darauf  hin- 
gewiesen, dass  normative  Disziplinen  eines  rein  theoretischen  Fun- 
daments bedürfen.  Nach  Rickerts  treffender  Charakteristik  ist 
die  Norm  der  psychologische  Ausdruck  des  absoluten  Wertes:  für 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.  431 

einen  streng  logischen  Gesichtspunkt  kommt  er  daher  kaum  in 
Anbetracht.  Im  letzten  Abschnitt  seiner  Abhandlung  sucht 
Rickert  zu  zeigen,  dass  die  beiden  genannten  Methoden  nicht  für 
sich  allein  bestehen  können,  sondern  einander  zu  ergänzen  be- 
stimmt sind.  Oder,  wie  es  Rickert  sehr  prägnant  zum  Ausdrucke 
bringt:  man  kann  nicht  über  den  Gegenstand  der  Erkenntnis  Be- 
trachtungen anstellen,  ohne  zugleich  die  Erkenntnis  des  Gegen- 
standes mit  in  Rechnung  zu  ziehen.  Weit  entfernt,  der  psycho- 
logischen Vorbereitung  gänzlich  entraten  zu  können,  muss  jede 
rein  logische  und  gegenstaudstheoretische  Untersuchung,  um  sich 
ihres  Objekts  zu  versichern,  Phänomenologie  und  Psychologie 
treiben.  Denn  die  logischen  Werte  sind  in  psychische  Erlebnisse 
eingebettet,  aus  denen  sie  sozusagen  erst  herausgelöst  werden 
müssen.  So  wenig  man  beide  Methoden  durcheinanderwerfen  darf, 
sie  schliessen  einander  gerade  dann  harmonisch  zusammen,  wenn 
man  sich  ihrer  Verschiedenheit  bewusst  geworden  ist.  Die 
Transscendentalpsj^chologie  führt  vom  ersten  Ansatz  bis  zum  er- 
regenden Moment,  um  dann  für  die  werttheoretischen  Betracht- 
ungen der  transscendentalen  Logik  das  Feld  zu  räumen. 

Es  sind  sehr  bedeutungsvolle  Probleme,  an  die  Rickert  in 
seiner  neuen  Schrift  rührt.  Im  Allgemeinen  gewinnt  man  den 
Eindruck,  dass  sich  darin  eine  leise  Verschiebung  des  Schwer- 
punktes vom  Neufichteauismus  zu  jeuer  Richtung  des  absoluten 
Logismus  kundgiebt,  die  in  Husserl  und  Meinong,  den  Begründern 
der  Gegenstaudstheorie,  ihre  Vertreter  hat.  Dabei  kann  von 
keiner  Preisgabe,  nicht  einmal  von  einer  wesentlichen  Veränderung 
der  Position  die  Rede  sein,  die  Rickert  früher  einnahm.  Im 
Gegenteile,  sie  erscheint  mit  all  ihren  charakteristischen  Merk- 
malen, ihrer  merkwürdigen  Verbindung  eines  reinen  Phänomenalis- 
raus,  eines  richtig  verstandenen  Positivismus  mit  einem  strengen 
Trausscendentalismus,  hier  noch  deutlicher  herausgehoben.  Was 
aber  gleichwohl  den  Abstand  zwischen  Rickert  und  jenen  Denkern 
mindert,  ist  die  stärkere  Betonung  des  Abstandes  von  Norm  und 
Wert,  die  Darstellung  des  Wertes  als  einer  in  sich  ruhenden  und 
vollendeten  Essenz,  der  Hinweis  auf  das  Objektive,  Gegenständ- 
liche in  ihm.  Wir  gewinnen  dadurch  einen  Einblick  in  den 
inneren  Zusammenhang  der  verschiedeneu  Denkrichtungen,  die 
wohl  weniger  im  Ziele  als  in  den  Mitteln  und  Wegen  voneinander 
abweichen.  Diese  Ausführungen  sollen  zur  Grundlage  einer 
neuen    Bearbeitung    der    Hauptprobleme    der    Logik    dienen,    die 


432  0.  Ewald. 

Rickert  in  Aussicht  stellt  und  der  man  mit  Spannung  entgegen- 
sehen darf. 

Das  Verhältnis  zwischen  Tatsache  und  Wert,  an  dem  sich 
diese  ganze  Betrachtungsweise  orientiert,  bezeichnet  ein  philoso- 
phisches Grenzproblem,  das,  wie  Rickert  richtig  bemerkt,  zwar 
eine  unmittelbare  Erlebniseinheit  repräsentiert,  sowie  es  aber  in 
denkender  Reflexion  erfasst  wird,  in  beide  Seiten  auseinanderfällt. 
Es  giebt  keine  Tatsache,  die,  um  als  solche  fixiert  zu  werden, 
nicht  schon  unter  einem  logischen  Werte  stünde;  und  andererseits 
keinen  Wert,  der  im  Erleben  nicht  selbst  wiederum  als  Tatsäch- 
lichkeit gesetzt  wäre. 

Es  geht  gerade  aus  dieser  Studie  wieder  hervor,  dass  Rickert 
bloss  mit  grossen  Einschränkungen  als  Urheber  und  Vertreter  des 
Neufichteanismus  bezeichnet  werden  darf,  dass  er  viel  tiefer  in 
der  Kantischen  Weltauffassuug  selbst  wurzelt.  Was  ihn  nämlich 
zum  Kritizisten  stempelt  und  von  allen  Nachkantianern,  Identitäts- 
philosophen und  Romantikern  trennt,  ist  sein  phänomenalistisches 
Bekenntnis,  seine  Stellungaahme  gegen  die  Metaphysik,  seine 
strenge  Auseinanderhaltung  des  Theoretischen,  Logischen  und  des 
Ontologischen,  Metaphysischen.  Deswegen  lehnt  er  auch  Fichtes 
Lehre  vom  Weltwillen  als  dem  Urgründe  alles  Seins  und  Denkens, 
als  dem  Erzeuger  der  Kategorien  ab.  Denn  diese  Annahme 
würde,  um  auf  Wahrheit  Anspruch  zu  erheben,  wieder  die  Giltig- 
keit  der  obersten  logischen  Axiome  voraussetzen:  sodass  mithin 
die  rein  theoretischen  Werte,  die  überhaupt  keiner  Realität  an- 
gehören, das  Letzte  und  Tiefste  sind,  gleichsam  den  Endpunkt  der 
Analyse  bezeichnen. 

Zwischen  diesem  streng  immanenten  Logismus  und  der  An- 
schauung eines  Fichte,  Schelling,  Hegel  öffnet  sich  eine  weite 
Kluft.  Denn  das  Wesentliche  der  Identitätsphilosophen  ist  — 
was  übrigens  schon  in  ihrem  Namen  gelegen  —  eben  dies,  dass 
sie  die  Distanz  zwischen  Denken  und  Sein  überwinden  wollen,  sie 
geradezu  negieren,  dass  ihnen  die  logischen  Formen  zugleich  die 
Formen  der  Reahtät  darstellen.  Und  zwar  erreicht  diese  Tendenz 
in  Hegel  ihren  Höhepunkt.  Fichte  und  Schelling  nämlich  gehen, 
wohl  im  Anschluss  an  Kants  Moralphilosophie,  immer  noch  hinter 
das  Theoretische  auf  irgend  ein  metaphysisches  Prinzip,  den 
Willen,  das  Absolute,  zurück,  um  aus  ihm  das  Theoretische  zu 
deduzieren.  Hegel  dagegen  ist  reiner  Logiker:  und  damit  scheint 
er  erst  die  transscendentale  Methode  zur  vollen  Verwirklichung  zu 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.  433 

bringen,    zu    der  Kant    den    entscheidenden  Anstoss  gegeben.  ,  Es 
muss  den  Hegelianern,  auch  den  Neuhegelianern  eingeräumt  werden, 
dass    der  Standpunkt   ihres  Meisters    wirklich    in  einer  Beziehung 
der   konsequentere  war.     Bei  Kant  zeigt  sich  die  transscendentale 
Methode    noch     mit    einer    unleugbaren    Zweideutigkeit    behaftet. 
Einerseits  ist  es  in   ihrem  Wesen  gelegen,  uns  ewige,  notwendige, 
absolute  Wahrheiten   zu  vermitteln,   zum  Beispiele  die  Wahrheiten 
der    Mathematik,    uns    über    die    Zufälligkeiten    des    Euipirischen, 
Tatsächlichen    zu    erheben,    andrerseits    bindet  Kant   diese  Wahr- 
heiten dennoch    wieder  an  etwas  Tatsächliches,    sofern  er  sie  aus 
dem  Subjekt,  als  dessen  innerste  Formen,  hervorgehen  lässt.     Das 
Subjekt  ist  aber  selbst  ein  Stück  Realität  wie  das  Objekt,  mithin 
eine    blosse    Tatsache,    an    der    keine    unmittelbare    logische   Not- 
wendigkeit   hängt.      So   ist   Kant   über    den    Subjektivismus,   und 
damit  über  den  Psychologismus,  die  Tatsachenbetrachtung  niemals 
völlig  hinausgekommen.     Das  Logische    war   bei  ihm  immer  noch 
in    eine    konstante  Beziehung  zum  Ich  gesetzt,    es    war  gleichsam 
eine  Funktion  des  Ich,  und  erst  Hegel  befreite  es  von  dieser  Ab- 
hängigkeit,   nachdem  Fichte    und  Schelling  seine  autonome  Selbst- 
ständigkeit vorbereitet  hatten.    Hegels  Idee  hat  ihren  Schwerpunkt 
in  sich  selbst,    sie   ist   eine   absolute,  logische  Notwendigkeit,    die 
souverän  das  Reale  meistert  und  demzufolge  nicht  wiederum  E'unk- 
tion  einer  Realität  ist,  sei  dieselbe  nun  objektiver  oder  subjektiver 
Art.     Denn  wenn  die  Kategorien  auch  nach  der  Darstellung  Kants 
Formen  oder  Produkte   des  Subjekts  sind,  so  ist  eben  diese  Zuge- 
hörigkeit, diese  Abhängigkeit  vom  Subjekt  wiederum  eine  Tatsache, 
über  die  daher  nach  logischen  Kriterien  entschieden  werden  muss. 
Wenn  zum  Beispiele  die  Kategorien  aus  der  Aktivität  des  Subjekts 
hervorgehend    gedacht    werden,    sich    mithin    zu  diesem  verhalten 
wie    die  Wirkung    zur    Ursache,    so    setzt    ein    solches  Verhältnis 
schon    die    Kategorie    der  Kausalität   voraus.      Das   Logische    ist 
mithin  immer  das  Prius,   das  aus  dem  Faktischen  nicht  abgeleitet 
werden    kann.      Hier   sieht  man  am  deutlichsten  die  verbindenden 
Fäden,    die    vom    Transscendentalismus  zum  Panlogismus  hinüber- 
laufen.     Andererseits    finden    wir    auch    hier   den  Zusammenhang 
zwischen    dem  Standpunkte  Hegels    und  dem  modernen  Logismus, 
der   durch    Windelband,    Rickert,    Husserl,    schon    durch    Schuppe 
vertreten    wird.      Jene    Priorität    des  Logischen   vor   dem  Realen 
ist  ja    auch   das   Argument,    auf   das   Rickert,    wie    wir   soeben 
gesehen,     seine    erkenntuistheoretische    Position    gründete.      Der 


434  O.  Ewald, 

grosse  Unterschied  zwischen  dem  modernen  Logismus  und  dem 
Hegels  besteht  vor  allem  darin,  dass  jener  Idealität  und  Realität 
auseinanderreisst,  von  den  Tatsachen  abstrahiert,  während  dieser 
beide  einander  durchdringen  lässt.  Hegels  Logik  ist  nicht  der 
Inbegriff  und  das  System  idealer  Gesetze,  die  sich  jenseits  der 
Ebene  des  Wirklichen  entwickeln,  sondern  die  Lehre  von  der 
Wirklichkeit  und  ihren  Gesetzen  selbst,  sie  ist  zugleich  Metaphysik. 
Dagegen  ist  der  moderne  Logismus  ein  blosser  Formalismus,  der 
höchstens  den  Rahmen  der  Dinge  zieht,  nicht  aber  ihren  konkreten 
Inhalt  berührt.  Dieser  fundamentale  Unterschied  geht  wohl  auch 
daraus  hervor,  dass  die  Rationalisten  und  Antipsychologisten  der 
Gegenwart  hauptsächlich  an  der  formalen  Logik  orientiert  sind, 
wogegen  Hegel  als  Nachfolger  Kants  von  der  neu  begründeten 
transscendentalen  Logik  ausging,  die  nicht  die  allgemeinen  Grund- 
sätze des  Denkens,  sondern  den  Zusammenhang  von  Denken  und 
Sein,  wie  er  sich  im  Erkennen  offenbart,  betrachtet. 

Wir  können  all  diese  Zusammenhänge  und  Übergänge 
nicht  allein  den  gegenwärtigen  Nachbildungen  und  Kopien,  sondern 
in  erster  Reihe  den  grossen  Originalen  selbst  entnehmen,  die  uns 
in  neuen,  übersichtlichen  Ausgaben,  mit  ausführlichen  Einleitungen 
versehen,  vorliegen.  Ein  entschiedenes  Verdienst  um  die  Förder- 
ung des  Interesses  an  der  grossen  Geistesbewegung  von  Fichte 
bis  Hegel,  vor  allem  um  die  Verbreitung  der  philosophischen 
Meisterwerke  jener  Zeit,  hat  sich  der  Verlag  Eckardt  in  Leipzig 
durch  die  von  ihm  veranstaltete  Ausgabe  derselben  erworben. 
Nachdem  schon  vor  längerer  Zeit  eine  Auswahl  von  Schellings 
Werken  erschienen  war,  wurde  eine  solche  von  Fichtes  Schriften 
in  sechs  Bänden  und  eine  auf  zwölf  Bände  berechnete  Gesamt- 
ausgabe Hegels  vorbereitet.  Von  Fichte  liegen  der  zweite  Band, 
enthaltend  die  „Grundlage  des  Naturrechtes"  und  das  „System 
der  Sittenlehre''  und  der  vierte  vor,  der  die  „Darstellung  der 
Wissenschaftslehre"  aus  dem  Jahre  1801  enthält;  die  Herausgabe 
besorgt  Medicus,  der  Verfasser  der  bekannten  Monographie  über 
Fichte.  Von  Hegel  liegt  der  zweite  Band  vor,  „Phänomenologie 
des  Geistes"  mit  einer  ausführlichen  Einleitung  des  Herausgebers 
Otto  Weiss.  Dies  ist,  innerhalb  der  letzten  Jahre,  die  dritte  Neu- 
ausgabe der  „Phänomenologie",  die  der  von  Holland  und  Georg 
Lasson  auf  dem  Fusse  folgt.  Es  ist  sehr  bezeichnend,  dass  dies 
Werk,  welches  vor  mehr  als  hundert  Jahren  den  ersten  Vorstoss 
der  grossen  Bewegung  bezeichnete,  um   einer  späteren  Generation 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.  435 

beinahe  in  Vergessenheit  zu  geraten,  nunmehr  eine  glanzvolle 
Wiederauferstehung  feiert.  In  der  Einleitung  versucht  Weiss  eine 
Skizze  des  Aufbaues  der  Phänomenologie  vom  elementaren  sinn- 
lichen Empfinden  durch  die  Stufen  der  Wahrnehmung  und  des 
Verstandes  bis  zum  Selbstbewustsein  der  Vernunft.  Es  handelt 
sich  hier  aber,  wie  neuerlichen  Tendenzen,  den  Unterschied 
zwischen  Hegel  und  Darwin  zu  nivellieren,  gegenüber  nicht  stark 
genug  hervorgehoben  werden  kann,  keineswegs  um  eine  genetische, 
sondern  um  eine  transscendentale,  wesenhafte  Entwickelung,  um 
ein  Prius  nicht  der  Zeit,  sondern  dem  Werte  nach.  Die  histo- 
rische Stellung  der  „Phänomenologie"  charakterisiert  Weiss  fol- 
gendermassen.  „Mit  einem  Fusse  noch  ganz  in  der  Romantik 
stehend,  ja  gleichsam  die  letzte  Entfaltung  der  besten  Elemente 
derselben  darstellend,  ragt  sie  bereits  in  eine  neue  Ära  der  Aus- 
breitung der  elementaren  Macht  und  des  Aufbaues  einer  neuen 
Welt.  Diesem  doppelten  Grundzuge  verdankt  die  Hegeische  Phi- 
losophie vielleicht  gerade  ihre  überragende  Bedeutung.  Auf  der 
einen  Seite  der  romantische  Drang  nach  Einheit  der  Erkenntnis 
und  des  Lebens,  und  doch  andererseits  das  unstillbare  Verlangen 
nach  Universalität  und  Ausbreitung,  das  Bestreben,  die  ganze 
Mannigfaltigkeit  und  Wirklichkeit  in  diese  Einheit  aufzunehmen." 
So  grossartig  dies  Gedankengebäude  vor  uns  steht,  es  wäre  den- 
noch ein  Verhängnis,  wollten  wir  von  ihm  mehr  als  den  allge- 
meinen Grundriss  und  vor  allem  den  architektonischen  Plan 
übernehmen.  Dies  bestätigt  auch  eine  andere  Hegelschrift,  der 
wir  uns  nunmehr  zuwenden. 

Ungefähr  zur  selben  Zeit  nämlich  erschien  eine  deutsche 
Übersetzung  von  Benedetto  Croces  geistvollem  Buche  „Lebendiges 
und  Totes  in  Hegels  Philosophie",  eine  Übersetzung,  die  Büchler 
im  Verlag  von  Winter  veranstaltet  [Heidelberg,  1909,  XV  u.  228]. 
Das  Buch  ist  in  zweifacher  Hinsicht  schätzenswert  und  interessant. 
Fürs  erste  als  Interpretation  des  Hegeischen  Systems  und  seiner 
Methode,  zweitens  als  Zeugnis  des  Einflusses,  den  dies  System 
in  Italien  zu  gewinnen  beginnt.  Croce  ist,  worauf  bereits  der 
Titel  seines  Buches  hinweist,  kein  unbedingter  Anhänger  Hegels. 
Er  feiert  ihn  vor  allem  als  Entdecker  der  wahren  philosophischen 
Methode,  zum  Unterschiede  von  den  Methoden  der  einzelnen 
Wissenschaften,  der  Mathematik,  der  Naturforschung,  der  Ge- 
schichte. Der  logische  Begriff,  wie  ihn  Hegel  versteht,  ist  zu- 
gleich universell  und  konkret.     Das  heisst,   er  geht  nicht  wie  die 

Kantatudlea    XV.  28 


436  0.  Ewald, 

Allgemeinvorstellung  aus  einer  Abstraktion  hervor,  er  spiegelt 
vielmehr  die  Realität  in  ihrer  ganzen  Fülle  und  Lebendigkeit 
wieder.  Dies  leistet  das  dialektische  Prinzip  der  Überwindung 
und  Synthese  der  Gegensätze.  Während  die  gewöhnliche,  formale 
Logik  des  abstrakten  Verstandes  die  Gegensätze  isoliert,  sie  als 
unvereinbar  einander  gegenüberstellt,  lehrt  Hegel,  dass  die  Gegen- 
sätze gerade  damit,  dass  sie  auf  einander  bezogen  werden  müssen, 
nach  ihrer  Vereinigung  in  einem  höheren  Begriffe  drängen,  in  dem 
sie  als  dessen  Momente  aufgehoben  sind.  In  dieser  Bewegung 
prägt  sich  deutlich  der  Rhytmus  des  Weltprozesses,  das  ewige 
Werden,  aus:  Das  Denken  erscheint  hier  wirklich  in  Einklang 
mit  dem  Sein  gebracht,  mit  ihm  zu  einer  Art  Identität  erhoben. 
In  diesem  Sinne  ist  die  Methode  Hegels  wenigstens  eine  glänzende 
Interpretation  des  natürlichen  Geschehens,  eine  vollendete  Natur- 
symbolik. Aber  auch  den  fundamentalen  Fehler  in  ihrer  An- 
wendung, der  die  Hegeische  Philosophie  schliesslich  in  Misskredit 
bringen  musste,  bemüht  sich  Croce  zu  entdecken.  Er  besteht 
darin,  dass  sie  die  Synthese  der  blossen  Unterschiede  ebenso  be- 
handelt wie  die  Synthese  der  Gegensätze,  dass  sie,  in  der  kon- 
ventionellen Sprache  der  Schullogik,  nicht  zwischen  disparaten 
und  kontradiktorischen  Begriffen  unterscheidet.  Was  in  Hegel 
tot  und  veraltet  ist,  das  ist  der  Versuch  einer  spekulativen  Kon- 
struktion des  Individuellen,  Empirischen  in  Natur  und  Geschichte, 
was  in  ihm  lebendig  und  entwickelungsfähig  bleibt,  ist  die 
Konzeption  des  universalen,  konkreten  Begriffes,  der  durch  die 
Widersprüche  und  Antithesen  zu  ihrer  Überwindung  und  höheren 
Vereinigung  fortschreitet;  an  diese  Seite  seines  Denkens  muss  die 
Philosophie  der  Gegenwart  von  Neuem  anknüpfen. 

Einen  solchen  Anknüpfungspunkt  findet  Croce  in  Henri 
Bergsons  intuitiver  Philosophie  und  ihrer  Forderung,  sich  in  den 
Rhytmus  der  Dinge  selbst  hineinzuversetzen,  an  ihrer  Bewegung 
im  Geiste  unmittelbar  teilzunehmen.  Aber  es  ist  gleichwohl  ein 
wesentlicher  Unterschied,  den  auch  Croce  hervorhebt.  Bergson, 
dessen  Lehre  bereits  nach  Deutschland  gedrungen  ist  und  hier 
an  Ausbreitung  gewinnt,  wohl  auch  wegen  ihrer  grösseren  Ver- 
wandtschaft mit  dem  deutschen  als  mit  dem  französischen  Geiste, 
lässt  sich  als  eine  Art  indirekter,  negativer  Ergänzung  zum  Neu- 
hegelianismus ansehen.  Der  Verlag  Diederichs  veranstaltet  eine 
Übersetzung  seiner  Werke,  die  ihre  Aufnahme  und  Wirkung  noch 
fördern  wird.    Aus  diesem  Grunde  kommen  sie  für  uns  hier  schon 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.  437 

äusserlich  in  Anbetracht,  und  zwar  hauptsächlich  „Materie  und 
Gedächtnis"  und  „Einführung  in  die  Metaphysik".  In  „Materie 
und  Gedächtnis",  einer  Schrift,  der  Windelband  eine  wirkungsvolle 
Einleitung  vorausschickt,  rührt  er  an  das  alte  Problem  der  Be- 
ziehung zwischen  Körper  und  Seele.  Er  ergreift  es  indessen  an 
einem  höchst  prinzipiellen  Punkte,  an  dem  des  Gedächtnisses.  Das 
Gedächtnis,  die  Bewahrung  der  Vergangenheit,  ist  das  auszeich- 
nende Merkmal  der  Seele  dem  Körper,  überhaupt  der  Aussenwelt 
gegenüber.  In  einer  sehr  gediegenen  Analyse  weist  er  die  Un- 
möglichkeit nach,  dies  Phänomen  aus  körperlichen  Vorgängen, 
aus  Gehirnschwingungen  zu  erklären. 

Es  muss  ein  grosses  Verdienst  Bergsons  genannt  werden 
—  woraus  sich  wohl  auch  die  erstaunliche  Anziehungskraft 
seiner  Schriften  erklärt  —  dass  er  von  einem  konkreten  Problem, 
dem  der  Beziehung  zwischen  Innenwelt  und  Aussenwelt,  ausgeht, 
dass  er  sich  vom  Denken  wieder  zum  Sein  wendet,  mit  einem 
Worte,  dass  er  wieder  Metaphysik  treibt.  Und  zwar  scheint  es 
mir  ein  bedeutungsvoller  Schritt,  dass  diese  Metaphysik,  ohne 
deswegen  im  Psychologismus  zu  landen,  an  der  Psychologie  orien- 
tiert ist.  Die  ausschliessliche  Orientierung  des  Weltbildes  am 
Problem  der  Aussenwelt,  des  Objektes,  die  seit  der  Renaissance 
besteht,  hat,  wenn  wir  den  imposanten  Aufbau  der  mathematischen 
Physik  und  der  philosophischen  Systeme  ins  Auge  fassen,  der  sich 
von  Descartes  und  Galilei  bis  Leibniz  und  Kant  vollzog,  zweifel- 
los grossartige  Gebilde  hervorgerufen,  aber  zuletzt  zu  einer  un- 
haltbaren Einseitigkeit  geführt.  Schon  bei  Kant  beginnt  die 
Wendung  zum  Problem  der  Innenwelt,  dem  hier  durch  die  Über- 
windung der  alten,  rationalen  Psychologie  zunächst  kritisch  der 
Weg  geebnet  wird.  Und  das  neunzehnte  Jahrhundert  sehen  wir 
in  seinen  philosophischen  Bestrebungen  zwischen  beiden  Seiten 
geteilt,  zwischen  der  Grundlegung  der  mathematischen  Physik  und 
der  Psychologie.  Das  Gedächtnisproblem  bedeutet  aber  ohne 
Zweifel  die  Einfahrt  zu  den  Problemen  des  Seelenlebens,  wie  dies 
schon  Augustinus  erkannt  hat.  Hier  ist  der  tiefste  Punkt  der 
Unterscheidung  zwischen  Materie  und  Geist  erreicht.  Allerdings 
darf  der  Gegensatz  nicht  ins  Extreme  gesteigert  werden.  Auch 
die  Materie  ist  nicht  reine  Gegenwart,  sondern,  was  sich  im  Phä- 
nomen der  Bewegung,  überhaupt  jeglicher  Veränderung  kundgiebt, 
ein  fortwährender  Übergang  von  der  Vergangenheit  zur  Gegen- 
wart.    Die  Realität   ist   kein    Seiendes,    sondern    ein    Werdendes. 

28* 


438  0.  Ewald, 

und  der  Rhytmus  des  Werdens  ist  der  der  Kontinuität.  Damit 
gewinnt  Bergson  das  Leitmotiv  seiner  Weltansicht,  das  die  „Ein- 
führung in  die  Metaphysik"  weiter  ausspinnt. 

Man  kann  es  zunächst  als  eine  Kritik  der  abstrakten  Be- 
griffe, noch  mehr,  als  eine  Kritik  des  abstrahierenden  Intellektes 
bezeichnen.  Dieser  führt  uns  irre,  er  entfremdet  uns  dem  tieferen 
Verständnis  der  Wirklichkeit,  indem  er  sie  in  getrennte  Atome 
zerlegt,  zwischen  denen  die  unmittelbare  Verbindung  und  Wechsel- 
wirkung sich  nicht  mehr  herstellen  lässt.  Er  atomisiert  auch  das 
Werden  und  trachtet  sodann,  selbstverständlich  vergebens,  es  aus 
einzelnen,  punktuellen  Stadien  des  Seins  wiederaufzubauen,  sowie 
er  die  Bewegung  aus  einer  Anzahl  ruhender  Lagen  rekonstruieren 
will.  Wie  man  sieht,  wird  hier,  strenge  genommen,  am  Stand- 
punkte der  Eleaten  Kritik  geübt,  und  derjenige  Heraklits  erneuert, 
der  ja  auch  in  Hegel  wiederkehrt.  Was  Bergson  über  die  Ab- 
straktion sagt,  dass  sie  das  Konkrete,  Reale  willkürlich  ausein- 
anderreisst  und  so  isolierte  Gegensätze  hervorbringt,  die  in  Wahr- 
heit immer  verbunden  sind,  erinnert  durchaus  an  Hegel.  Aber  es 
ist,  im  positiven  Teil  der  Lehre,  ein  eminenter  Unterschied. 
Bergson  erklärt  die  abstrakte  Begriffsbildung,  hierin  vom  Dar- 
winismus und  Pagmatismus  abhängig,  aus  dem  Bedürfnis  zu 
handeln,  das  sozusagen  fester  Ansatzstellen  bedarf  und  deshalb 
den  Fluss  des  natürlichen  Geschehens  im  Denken  an  einzelnen 
Punkten  künstlich  zum  Stillstande  bringen  muss.  Der  erkennende, 
theoretische  Mensch  hingegen  kann  der  Wirklichkeit  bloss  dadurch 
gerecht  werden,  dass  er,  auf  alles  begriffliche  Denken  Verzicht 
leistend,  sich  intuitiv  in  den  kontinuierlichen  Strom,  in  das  Weben 
und  Werden  der  Dinge  zu  versenken  strebt.  Für  Hegel  dagegen 
ist  der  abstrakte  Begriff  nicht  die  höchste  Instanz,  sondern  bloss 
ein  Moment  des  Logischen,  das  nicht  verselbständigt  werden  darf: 
das  richtige  Verstehen  der  Wirklichkeit  erfliesst  allerdings  nicht 
aus  ihm,  aber  es  setzt  nicht  die  Preisgabe  des  Begrifflichen 
in  der  Rückkehr  zur  Intuition,  sondern  seine  Reform  durch  das 
dialektische  Prinzip  voraus. 

Durch  alle  Verschiedenheiten  zwischen  dieser  Richtung  des 
intuitiven  Philosophierens  und  dem  Hegelianismus  leuchtet  immer- 
hin das  gemeinsame  Band  auf:  die  Überzeugung,  dass  das  Werden 
die  Grundform  des  Realen  repräsentiert  und  dass  die  wahre  Er- 
kenntnis eine  Art  ist,  sich  diesem  ewigen  Werden  irgendwie  geistig 
zu  assimilieren.     Im   extremen  Gegensatz  dazu  steht  die  Weltauf- 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.  439 

fassung  eines  noch  nicht  zur  Genüge  gewürdigten  Denkers,  African 
Spirs,  dessen  gesammelte  Werke  uns  in  neuer  Auflage  und  Aus- 
gabe vorliegen.  Frau  Helene  Claparede-Spir,  die  Tochter  des 
Philosophen,  hat  im  Verlag  von  Ambrosius  Barth  diese  Ausgabe 
veranstaltet  und  durch  ein  pietätvolles  Vorwort,  das  uns  in 
dankenswerter  Weise  über  die  wichtigsten  biographischen  Daten 
unterrichtet,  eingeleitet.  Der  erste  Band  [XXX  u.  547  S.]  ent- 
hält das  Hauptwerk  „Denken  und  Wirklichkeit",  der  zweite  Band 
[390  S.]  zwei  grössere  Schriften  „Moralität  und  Religion",  „Recht 
und  Unrecht",  sowie  eine  Reihe  kürzerer  Aufsätze  vermischten 
Inhalts. 

Das  Hauptwerk  Spirs  erscheint  auf  einer  sehr  einfachen 
Voraussetzung  aufgebaut:  dem  Satz  der  Identität.  Es  gewinnt 
seine  Bedeutung  und  seine  Eigenart  dadurch,  dass  dieser  Satz 
als  ein  Unbedingtes  festgehalten  und  in  alle  seine  Konsequenzen 
verfolgt  wird.  Und  was  das  Wichtigste,  es  ist  die  Definition  und 
Auffassung  des  Satzes,  die  dem  ganzen  Gedankengang  seinen 
Schwerpunkt  und  sein  Gepräge  giebt.  Der  Satz  der  Identität  ist 
für  Spir  nämlich  kein  blosses  Gesetz  des  Denkens,  sondern,  da  er 
dem  Denken  objektive  und  ontologische  Bedeutung  zuspricht,  auch 
ein  Gesetz  des  Seins.  Er  ist  für  ihn  kein  identischer  und  kein 
anal}tischer,  sondern  ein  synthetischer,  ein  Existenzialsatz.  Das 
heisst:  in  der  wahren  Natur  der  Dinge  ist  es  gelegen,  dass  sie 
im  strengsten  Sinne  mit  sich  identisch  sind,  dass  es  in  ihnen 
weder  Verschiedenheit  noch  Veränderung  giebt.  Wo  wir  der- 
gleichen finden,  haben  wir  es  nicht  mit  dem  absoluten  Wesen  der 
Welt,  sondern  bloss  mit  der  Erscheinung  zu  tun,  die  aus  dem 
Absoluten  in  keiner  Weise  sich  ableiten  und  erklären  lässt.  Man 
sieht,  Spir  behandelt  Identität  und  Substanz  als  einen  und  den- 
selben Grundbegriff.  Unsere  sinnliche  Auffassung  der  Dinge  be- 
ruht auf  einer  von  der  Natur  eingerichteten  Täuschung,  der  zu- 
folge wir  die  sinnlichen  Phänomene  für  wirkliche  Substanzen 
halten.  Das  wahre  Sein,  das  Unbedingte,  können  wir  bloss  im 
Denken  erfassen,  und  insofern  haben  wir  Anteil  daran:  ihm  ent- 
spricht aber  weder  die  Aussenwelt  noch  unsere  eigene  Existenz, 
weder  Subjekt  noch  Objekt.  Das  Imposante  dieser  Weltanschauung, 
die  den  Eleatischen  Standpunkt  wieder  aufnimmt,  liegt  in  der 
Einfachheit  des  Grundgedankens  und  in  seiner  konsequenten,  ein- 
heitlichen Durchführung.  Interessant  ist  sie  vor  allem  auch  durch 
das  zähe  Verharren  in  der  Abstraktion,  durch  die  schroffe  Gegen- 


440  O.  Ewald, 

sätzlichkeit  zu  Hegel.  Es  erneuert  sich  auch  hier  der  uralte, 
niemals  zu  schlichtende  Widerstreit  zwischen  Parraenides  und 
Heraklit.  Wer  am  Seienden  festhält,  vermag  das  Werden  nicht  zu 
begreifen,  und  umgekehrt,  wer  das  Werdende  mit  dem  Wirklichen 
identifiziert,  steht  dem  Sein  ratlos  gegenüber.  Für  Spir  kehrt 
sich  das  erkenntnistheoretische  Verhältnis  in  seltsamer  Weise  um: 
Das  einzig  Erkennbare,  die  empirische  Welt  ist  ihm  wegen  ihres 
unablässigen  Wechsels  das  schlechthin  Unbegreifliche  und  das 
einzig  Begreifliche  ist  das  Unerkennbare,  das  Unbedingte  und  Ab- 
solute. Die  Schrift  zerfällt  in  zwei  Teile,  deren  erster  in  der 
Norm  des  Denkens  die  allgemeine  Grundlegung  enthält,  während 
der  zweite  sich  der  Welt  der  Erfahrung  zuwendet.  Hier  werden 
die  Vorstellungen  der  Zeit  und  des  Raumes  ausführlich  analysiert. 
Spir  nimmt  gegen  Kant  Stellung,  der  beide  Vorstellungen  dem- 
selben Betrachtungsschema  unterwirft.  Bloss  der  Raum  ist  eine 
Vorstellung  a  priori,  die  Zeit  ist  eine  Abstraktion  aus  der  Er- 
fahrung. Eingehend  wird  ferner  der  Begriff  des  Ich  behandelt, 
den  Spir  nicht  als  den  einer  Substanz,  sondern  als  den  eines 
Komplexes,  eines  Prozesses  betrachtet.  Die  abschliessenden 
Kapitel  widmen  sich  dem  Urteil,  dem  Syllogismus  und  der  Induk- 
tion. Nirgends  verläugnet  sich  die  analytische  Kraft  des  Denkers, 
wogegen  die  Synthese  entschieden  zu  kurz  gekommen  ist. 

Wie  wir  sehen,  weitet  sich  der  Gedankenkreis  des  Hegelianis- 
mus in  überraschender  Weise,  sofern  er  nicht  allein  in  metho- 
dologischer Hinsicht  grosse  Probleme  aufrollt,  sondern  auch  die 
Metaphysik  erneuert,  die  ihm  mit  der  Logik  zusammenfliesst.  Wir 
waren  mit  Rücksicht  auf  diese  doppelte  Bedeutung  in  der  Lage, 
genau  die  Punkte  zu  bezeichnen,  an  denen  der  moderne  Logismus 
mit  Hegel  zusammenhängt,  an  denen  er  sich  ihm  entfremdet.  Wie 
ich  schon  in  früheren  Berichten  bemerkte,  könnte  man  auch 
Rudolf  Eucken,  den  im  vergangenen  Jahre  mit  dem  Nobelpreise 
gekrönten  Denker,  dem  Hegelianismus  im  engeren,  metaphysischen, 
nicht  methodologischen  Sinne  zuordnen.  Denn  Eucken  vertritt  in 
seinen  zahlreichen  Schriften  die  Ansicht,  dass  das  wahre,  absolute 
Wesen  der  Wirklichkeit  sich  weder  in  den  Phänomenen  der  Aussen- 
welt  noch  in  denen  der  Innenwelt,  weder  in  der  Physik  noch  in 
der  Psychologie  erschliesst,  sondern  in  einem  Geistesleben,  einem 
Zusammenhang  ewiger  Werte  und  Notwendigkeiten,  die  sich  zwar 
in  der  Tiefe  persönlichen  Empfindens  offenbaren,  ohne  aber  jemals 
mit  dem  Persönlichen  zur  Deckung  zu  gelangen.    Auch  eine  seiner 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.  441 

neuesten  Arbeiten  „Hauptproblem  der  Religionsphilosophie  der 
Gegenwart",  deren  dritte  Auflage,  bereichert  um  ein  wichtiges 
Kapitel  „Der  Kampf  der  Gegenwart  um  das  Christentum",  im 
vergangenen  Jahr  erschien,  gewährt  uns  einen  tieferen  Einblick 
in  diese  Betrachtungsweise. 

Von  einer  anderen  Seite  nähert  sich  den  romantischen  Philo- 
sophen, Hegel  und  noch  mehr  Schelling,  das  System  Eduard  von  Hart- 
manns, das  uns  nicht  bloss  in  seiner  ursprünglichen  Gestalt,  sondern 
auch  in  dem  als  Nachlass  erschienenen  „Grundriss"  vorliegt. 
Von  diesem  Grundriss,  auf  den  ich  im  nächsten  Jahresberichte 
ausführlicher  zurückgreifen  will,  erschienen  im  Jahr  1909  drei 
Bände,  der  sechste,  siebente  und  achte,  enthaltend:  „Grundriss 
der  ethischen  Prinzipienlehre",  „Grundriss  der  Religionsphilo- 
sophie", „Grundriss  der  Ästhetik".  Alle  schliessen  sich  zu  dem 
einheitlichen  Gedankenbau  einer  Philosophie  des  Unbewussten  zu- 
sammen, welche  darin  die  Tradition  der  Romantik  wahrt,  dass 
sie  das  Wesen  der  Welt  in  etwas  sucht,  das  weder  auf  Seite  des 
Subjektes  noch  auf  Seite  des  Objektes  gelegen  ist,  das  also  weder 
rein  physisch  noch  rein  psychisch  ist,  sondern  die  gemeinsame 
Wurzel  von  beiden,  dem  Materiellen  und  dem  Seelischen,  Geistigen. 
Diese  findet  Hartmann  ähnlich  wie  Schelling  im  Unbewussten, 
gleichsam  dem  Identitätspunkte  beider  Reihen.  Hierin  unter- 
scheidet er  sich  sowohl  vom  Materialismus  als  auch  vom  modernen 
Panpsychismus,  der  das  Absolute  dem  beseelten  Stoffe  gleichsetzt 
und  damit  individualisiert,  in  eine  Unsumme  von  Einzelseelen 
auflöst. 

Solchen  metaphysischen  Tendenzen  gegenüber  finden  wir 
den  reinen  Logismus,  wie  er  in  verschiedenem  Sinne,  aber  auf 
gleicher  Grundlage  von  Rickert,  Husserl,  Meinong  gelehrt  wird, 
höchstens  in  allgemein  methodologischer  Hinsicht  der  Identitäts- 
philosophie, besonders  dem  Hegelianismus  verwandt.  Der  letzt- 
genannten Gruppe  können  wir  wohl  auch  die  von  Leonard  Nelson 
geführte  Friesschule  in  Göttingen  einreihen.  All  diesen  Richtungen 
ist  geraeinsam,  dass  sie  im  Gegensatze  zum  Fichteanismus  und 
Hegelianismus  keine  objektive,  aprioristische  Begründung,  sondern 
vor  allem  eine  subjektive,  psychologische  Feststellung  der  spezi- 
fisch logischen  Sachverhalte  erstreben.  Darin  stimmen  Husserls 
phänomenologischer,  Meinongs  gegenstandstheoretischer,  Nelsons 
anthropologischer  Standpunkt  überein.  Die  von  Nelson  und  Hessen- 
berg  herausgegebenen   Abhandlungen    der   Friesschen   Schule,    in 


442  O.  Ewald, 

denen  eine  heftige  Polemik  gegen  die  Vertreter  des  Neukantianis- 
mus geführt  wurde,  brachten  im  vergangenen  Jahr  Aufsätze  über 
„Darwinismus  und  ReUgion",  sowie  über  die  „Entwickelungs- 
geschichte  der  Kantischen  Erkenntnistheorie",  ersteren  von  Rudolf 
Otto,  letzteren  von  Nelson.  Von  der  unanfechtbaren  These  aus- 
gehend, dass  eine  bestimmte  philosophische  Auffassung  auch  auf 
die  Geschichte  der  Philosophie  stets  in  dem  Sinne  Einfluss  übt, 
dass  der  Historiker  dementsprechend  die  Leistungen  der  Ver- 
gangenheit wertet,  auswählt  und  schliesslich  auch  darstellt,  ver- 
sucht Nelson,  von  seinem  Standpunkte  aus  die  Entwickelungslinie 
des  Kantischen  Denkens  zu  skizzieren.  Er  weicht  in  folgenden 
Punkten  von  den  bisherigen  Darstellungen  ab,  die  sich  auf  Kants 
Verhältnis  zu  Hume,  auf  Kants  kritische  Methode  und  auf  die 
Unterscheidung  der  analytischen  und  synthetischen  Urteile  be- 
ziehen. „1.  Das  in  den  sogenannten  vorkritischen  Schriften  Kants 
behandelte  Problem:  Wie  ist  Kausalität  möglich?  ist  ein  anderes 
Problem  als  das  Humesche:  Wie  sind  Kausalurteile  möglich? 
2.  Die  von  Kant  1766  vertretene  Auffassung,  Kausalurteile  Hessen 
sich  auf  Erfahrung  gründen,  wird  von  Hume  nicht  geteilt,  sondern 
bestritten.  3.  Kants  analytische,  von  Erfahrungsgrundsätzen  aus- 
gehende Methode  in  der  Preisschrift  über  die  Deutlichkeit  der 
Grundsätze  der  natürlichen  Theologie  und  der  Moral  ist  nicht  eine 
Art  der  Induktion.  4.  Die  Unterscheidung  der  Kantischen  Preis- 
schrift zwischen  analytischer  und  synthetischer  Methode  hat  nichts 
zu  tun  mit  der  späteren  Unterscheidung  analytischer  und  synthe- 
tischer Urteile.  Alle  wesentlichen  Abweichungen  in  den  Ergeb- 
nissen der  Untersuchung  sind  blosse  Folge  des  in  diesen  Sätzen 
Enthaltenen." 

Der  Wahrheitswert  dieser  historischen  Ausführungen  ist  mit- 
hin von  der  Berechtigung  abhängig,  die  Nelsons  anthropologischer 
Deutung  des  Kritizismus  eignet. 

Zur  Phänomenologie  und  Psychologie  des  Denkens  im 
engeren  Sinne  gehört  Meumanns  Schrift  „Intelligenz  und  Wille" 
[Quelle  &  Meyer,  Leipzig,  293  S.),  die  es  sich  zur  Aufgabe 
macht,  den  Anteil  beider  Faktoren  am  individuellen  Geistesleben 
zu  bemessen.  Zunächst  werden  die  formalen  Voraussetzungen  der 
Intelligenz,  Aufmerksamkeit  und  Übung,  untersucht,  sodann  die 
materialen,  Beobachtung,  Gedächtnis  und  Phantasie.  Die  Ana- 
lysen der  beiden  letzteren  sind  besonders  sorgfältig  und  instruktiv, 
insbesondere,    was    über   ihre  Verteilung   bei  jeder  Art   geistiger 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.  443 

Produktion  gesagt  wird.  Hier  verdient  Erwähnung,  dass  die  Dar- 
stellung nicht  abstrakt  gehalten  ist,  sondern  zahlreiche  Beziehungen 
zum  Leben  sucht.  Auch  an  Hinweisen  auf  lehrreiche  historische 
Beispiele  fehlt  es  nicht.  Die  Unterscheidung  der  analytischen 
Begabung  von  der  synthetischen  ist  fein  ins  Detail  gearbeitet, 
ebenso  die  Unterscheidung  des  Scharfsinns  vom  Tiefsinn,  die  der 
ersteren  gleichgesetzt  wird.  Für  den  analytischen  Scharfsinn  ist 
es  charakteristisch,  dass  er  mehr  mit  Distinktionen,  Verschieden- 
heiten arbeitet,  für  den  synthetischen  Tiefsinn,  dass  er  Ähnlich- 
keiten und  Analogien  sucht.  Es  folgt  die  Charakteristik  des 
Willens  in  seinen  Beziehungen  zum  Denken.  Die  Untersuchung 
des  Verhältnisses  von  Intelligenz  und  Wille  bildet  den  Abschliiss. 
Der  Wille  wird  nicht  als  primäres  Phänomen  betrachtet,  sondern 
als  ein  sekundäres,  das  den  Intellekt  bereits  voraussetzt,  er  ist 
der  Umsatz  der  Vorstellungen  zur  Handlung.  Man  sieht,  diese 
Untersuchungen  führen  schon  von  der  Phänomenologie  zur  empi- 
rischen Psychologie  hinüber;  aber  indirekt  sind  sie  auch  für  die 
erkenntnistheoretische  Betrachtung  des  Denkens  von  Nutzen. 

Ausschliesslich  der  letzteren  dient  Pichlers  Schrift  „Über  die 
Erkennbarkeit  der  Gegenstände"  [Wien  und  Leipzig,  Braumüller, 
1909,  105  S.].  Der  Verfasser  ist  sich  der  Verwandtschaft  mit 
Meinong  bewusst,  was  bereits  im  Titel  der  Arbeit  zum  Ausdrucke 
gelangt.  Interessant  ist  der  Hinweis  auf  Christian  Wolff,  der  als 
eigentlicher  Begründer  der  gegenstandstheoretischen  Untersuchung 
hingestellt  wird,  eine  Beziehung,  die  schon  Heinrich  Gomperz  in 
seiner  Noologie,  freilich  in  polemischer  Absicht,  hervorgehoben 
hatte.  Pichler  giebt  sogar  der  Wolffschen  Methode  vor  der  Kants 
den  Vorzug,  indem  er  in  der  letzteren  allerdings  einseitig  die 
psychologistische,  subjektive  Nuance  in  den  Vordergrund  rückt. 
Darin  vor  allem,  dass  Wolff  den  Erkenntnisgrund  dem  Seinsgrunde 
unterordnet,  erblickt  er  eine  entschiedene  Wendung  zur  objekti- 
vistischen Auffassungsart,  die  durch  Kants  Kategorienlehre  wieder 
verfehlt  worden  sei.  So  ist  denn  auch  der  längst  totgesagte 
Wolffianismus  wieder  auferstanden,  neben  den  zahlreichen  Auf- 
erstehungen, die  grosse  Sj^steme  der  Vergangenheit  in  den  letzten 
Jahren  gefeiert  haben.  Pichlers  Schrift  ist  nicht  allein  um  dieser 
historischen  Rückbeziehung,  sondern  auch  um  ihres  Scharfsinnes 
willen  lesenswert.  Man  vermisst  in  den  interessanten  Ausführungen 
über  die  ratio  essendi  und  cognoscendi  eine  entschiedene  Skizzierung 
des  Verhältnisses    der  Logik   zur  Metaphysik,    sowie    andererseits 


444  0.  Ewald. 

die  Polemik  gegen  Kants  Transscendentalpsycholog'ie  die  siibjekti- 
vistischen  Züge  der  Lehre  einseitig  und  allzu  schroff  akzentuiert 
hervorhebt  und  damit  Kant  den  vorkritischen  Denkern  gegenüber 
ins  Unrecht  setzt. 

Eine  eigentümliche  Stellung  nimmt  Stefan  Malicevic  in  seiner 
überaus  anregenden  Schrift  „Zur  Grundlegung  der  Logik"  [Wien 
und  Leipzig,  Brauraüller,  192  S.]  ein.  Er  erklärt  sich  gegen  den 
Psychologismus,  ohne  den  Standpunkt  der  reinen  Logik  einzu- 
nehmen. So  polemisiert  er  heftig  gegen  den  modernen  Vertreter 
derselben,  gegen  Husserl,  dem  er  eine  unerlaubte  Verraengung 
Bolzanos  und  Leibnizens  vorwirft.  Bolzanos  Auseinanderhaltung 
des  psychischen  Urteilsaktes  und  des  logischen  Urteilsinhaltes,  des 
„Satzes  an  sich",  durch  die  der  psychologische  Subjektivismus  im 
Prinzip  überwunden  wird,  habe  nichts  mit  der  rationalistischen 
Unterscheidung  der  Tatsachenwahrheiten  von  den  Vernunftwahr- 
heiten, der  verites  de  fait  von  den  verites  de  raison  zu  tun,  so- 
fern es  Sätze  giebt,  die  eben  bloss  tatsächliche  Beziehungen  zum 
Ausdrucke  bringen;  dies  ist  der  Hauptgedanke  der  gegen  Husserl 
gerichteten  Polemik. 

Die  positive  Seite  der  Schrift  ist  der  Versuch,  die  Grund- 
sätze der  formalen  Logik  nicht  als  analytische,  sondern  als  syn- 
thetische aufzufassen,  als  solche,  die  nicht  aus  dem  blossen  Denken, 
noch  aus  dem  Wesen  des  Subjekts,  sondern  aus  der  empiristischen 
Betrachtung  der  Objekte  geschöpft  sind.^)  Es  ergiebt  sich  hier 
von  selbst  der  Übergang  zu  einer  andern  Schrift,  die  wie  die  so- 
eben genannte  einen  gleicher  Massen  jenseits  vom  Psychologismus 
und  Logismus  gelegenen  Standpunkt  einnehmen  will.  Bisher  ist 
nämlich  gegen  den  Logismus  bloss  von  aussen  Sturm  gelaufen 
worden:  von  den  Empiristen  und  Psychologisten,  sowie  von  ex- 
tremen Metaphysikern,  die  vielfach  auch  auf  psychologischer 
Grundlage  bauen.  Denn  im  fundamentalen  Prinzip,  in  der  Auf- 
fassung des  Wahrheitsbegriffes,  in  der  Anerkennung  des  Logischen 
als  eines  absoluten,  überzeitlichen,  in  sich  gegründeten  Wertes, 
dessen  Giltigkeit  von  seiner  Realisierung,  seiner  psychischen  Er- 
scheinungsform, unabhängig  ist,  sind  die  verschiedenen  Richtungen 
—  sie  mögen  einander  im  Einzelnen,  in  der  Begründung  des 
Prinzips,    in    der  Methodenlehre,    noch  so  entgegengesetzt  sein  — 


1)  In    der   objektivistischen  Tendenz    dieser  Logik  ergiebt  sich  eine 
Beziehung  zu  Spir,  von  dem  ihre  empiristische  Richtung  abweicht. 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.  445 

sind  Neukantianer,  Neufichteaner,  Neuhegelianer,  Neufrieseaner, 
Phänoraenologen  und  Gegenstandstheoretiker  einig.  Umso  auf- 
fallender muss  es  erscheinen,  dass  neuerdings  ein  Versuch  gemacht 
wurde,  die  Anwälte  des  Logismus  mit  ihren  eigenen  Waffen  und 
Werkzeugen  zu  überwinden  und  sie  eben  auf  Grund  jenes  oben 
hervorgehobenen  Prinzips  zu  —  Psychologist en  zu  stempeln. 
Dieser  Versuch  rührt  von  Dimitri  Michaltschew  her  und  betitelt 
sich:  „Philosophische  Studien",  Beiträge  zur  Kritik  des  modernen 
Psychologismus  [Leipzig,  Engelmann,  573  S.]. 

Der  Verfasser  ist  ein  Anhänger  Rehmkes,  aber  seine  Polemik 
gegen    den   Logismus    erscheint    nicht    gänzlich    durch    diese    An- 
hängerschaft bedingt.     Die  Schrift  ist  schon  wegen  ihrer  Tendenz 
lesenswert  und   zeigt   ausserdem  Scharfsinn   und  Begabung.     Aber 
die   Argumente    sind    nicht   stichhaltig.      Michaltschew    wirft  den 
Logisten    vor,    dass  sie   die  Aufgabe  der  Philosophie  nicht  erfasst 
haben    und    schon    ihren  Ausgangspunkt  mit  dem  der  Psychologie 
verwechseln.     Die  Voraussetzung  der  Psychologie  ist  nämlich  eine 
vom   menschlichen  Bewusstsein   unabhängige  Realität,  von  der  das 
Bewusstsein  irgendwie  Besitz  ergreift.     Sie  fragt  sich,  wie  in  dem 
Menschen    die  Vorstellung   von    diesem    Objekt    sich    bilde.      Die 
Philosophie    ist    ursprünglich    von    derselben  Voraussetzung    ab- 
hängig,   und    so    formuliert   sie  das  Erkenntnisproblem  in  der  un- 
lösbaren,  sogar  widersinnigen  Frage,  wie  die  transscendente,  vom 
Bewusstsein    unabhängige    Wirklichkeit    ins    Bewusstsein    treten, 
immanent    werden    könne.       Diese     psychologische    Grundvoraus- 
setzung, so    meint  Michaltschew,   erscheint  aber  auch  bei  den  mo- 
dernen  Logisten,  freilich  in  verfeinerter  Form:    auch  sie  nehmen 
ein   vom  Bewusstsein    Unabhängiges    an,   von    dem   sie  dann  ver- 
langen,   dass    es   gleichwohl   bewusst   werde;   bloss  ist  dies  nicht 
eine    transscendente  Existenz,    sondern   eine  transscendente  Norm. 
Der  wahre  Ausgangspunkt  der  Philosophie  ist  aber  das  Gegebene 
und    nicht    die    Annahme    einer    vom    erkennenden    Subjekt    unab- 
hängigen Sphäre,    die    hier    psychologistisch  genannt  wird,    sofern 
sie  aus  dem  Betrieb  der  Psychologie  abstrahiert  sein  soll.     In  der 
Charakteristik  des  Gegebenen   nun  lehnt  sich  Michaltschew  durch- 
aus   an    Rehmke    an.      Er    glaubt,    den   Relativismus   damit   am 
sichersten  überwinden    zu    können,    denn  die  Bestimmung  des  Ge- 
gebenen ist  eine  absolut  eindeutige.     Die  Aufgabe  des  Philosophen 
ist   es,    diese    Bestimmung    vorzunehmen.     Eine  P]rkenntnistheorie 
dagegen  giebt  es  überhaupt  nicht,  weil  das  Objekt  nicht  erst  vom 


446  0.  Ewald, 

Subjekt  aufgenommen,  noch  von  ihm  erzeugt,  noch  mit  dessen 
Mitteln  bearbeitet  wird,  sondern  ihm  von  Anbeginn  —  gegeben 
ist.  Und  zwar  nicht  in  approximativer  und  symbolischer  Form, 
nicht  als  unendliche  Annäherung  an  ein  ideales  Ziel,  sondern  in 
unmittelbarer,  greifbarer  Gegenständlichkeit.  So  ist  uns  die  Sache 
als  ein  Einzelwesen,  die  Aussenwelt  als  Einheit  von  Dingen,  Be- 
stimmtheiten und  Besonderheiten  gegeben,  wie  wir  dies  alles 
noch  deutlicher  aus  Rehmkes  sogleich  zu  besprechendem  Buche 
entnehmen  können. 

Dagegen  ist  zu  bemerken,  dass  der  Parallelismus  ihres  Wahr- 
heitsbegriffes mit  dem  metaphysischen,  psychologistischen,  den 
Michaltschew  unermüdlich  hervorhebt,  den  Transscendentalisten 
und  Logisten  keineswegs  entgangen  ist.  Besonders  doutUch  hat 
Rickert  diesen  Übergang  von  der  transscendenten  Realität  zum 
transscendenten  Werte  charakterisiert  und  auf  die  Entwickelung 
hingewiesen,  die  von  der  Deutung  des  Erkenntnisbegriffes  als 
einer  Übereinstimmung  des  Denkens  mit  dem  übersinnlichen  Sein 
zu  seiner  Deutung  als  einer  Anerkennung  des  übersinnlichen 
Wertes  führt.  Dies  ArguQient  wird  die  Anwälte  des  Logismus 
weder  verblüffen,  noch  aus  dem  Sattel  heben.  Wenn  Michaltschew 
aber  meint,  ihr  Psychologismus  verrate  sich  darin,  dass  sie  den 
Gegenstand  der  Erkenntnis  als  etwas  betrachten,  das  über  den 
Rahmen  des  ßewusstseins  hinausgreift,  das  bloss  in  mittelbarer, 
symbolischer  Form  bewusst  wird,  das  —  um  es  noch  präziser  zu 
bezeichnen  —  uns  als  eine  Aufgabe,  nicht  als  ein  schlechtweg 
Gegebenes  entgegentritt,  so  ist  dies  eine  willkürliche  Definition, 
die  mit  den  Tatsachen  nicht  in  Einklang  zu  bringen  ist.  Selbst- 
verständlich müssen  auch  ideale  Werte  irgendwie  „gegeben"  sein, 
damit  wir  von  ihnen  Kenntnis  erlangen,  damit  wir  überhaupt  von 
ihnen  sprechen  können.  Und  die  Erforschung  dieses  Gegebenseins, 
dieser  Bewusstseinsart  ist  ja,  wie  ich  in  meinen  Jahresberichten 
stets  hervorgehoben  habe,  das  grosse  Verdienst  jeuer  Gruppe  von 
Denkern,  die  zum  Unterschiede  von  den  Neukantianern,  Neu- 
fichteanern,  Neuhegelianern  nicht  nach  der  objektiven  Begründung, 
sondern  nach  der  subjektiven  Erfassung  der  Kategorien  fragen: 
der  Phänomenologen  und  Gegenstandstheoretiker.  Sie  beschäftigen 
sich  ja  mit  dem  schwierigen  Problem,  das  ein  philosophisches 
Grenzproblem  darstellt,  wie  etwas  Übersinnliches,  ohne  von  seinem 
Cliarakter  einzubüssen,  gleichwohl  eine  sinnliche  Ausdrucksform 
erhalten    könne.     Michaltschew    bezeichnet   dies    als  einen  Wider- 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.  447 

sinn:   entweder    etwas    ist   gegeben    oder    es   ist   nicht   gegeben. 
Dass    darin    eine    Antinomie  gelegen  ist,    soll    auch  ohne  weiteres 
eingeräumt    werden;    aber    eine    solche   aus  dem  Weltbegriff  aus- 
schalten wollen,  ist  auch  purster  Dogmatismus.     Michaltschew  be- 
hauptet,   auch    das  Allgemeine,    der  Begriff  sei  gegeben.     Wie  es 
sich  damit  indessen  auch  verhalte,  sicher  ist  es,  dass  es  Begriffe 
giebt,  die  als  solche  nicht  gegeben  sind,  in  deren  Wesen  es  liegt, 
dass  sie  nicht  adäquat  und  unmittelbar  gegeben  sein  können.     So 
der  Begriff  der  Unendlichkeit,  der  ja  gerade  durch  das  Inkommen- 
surable seines  Inhalts  bezeichnet  erscheint.    Ebensowenig  sind  uns 
Vergangenheit    und    Zukunft    direkt    gegeben,     sondern    lediglich 
in    der   symbolischen    Form    der  Erinnerung    und    der  Erwartung. 
Die  Erinnerung    ist    weder    die  Vergangenheit    selbst,    noch   zeigt 
sie  uns  dieselbe,  sondern  sie  bedeutet    in    einer    nicht  näher  zu 
erklärenden  Weise  die  Vergangenheit,   die  sich  ja  selber  nicht  er- 
neuern   kann.     Wenn    daher    schon    innerhalb    des    sinnlichen  Be- 
wusstseins  jene  Antinomie  zwischen  dem  Gegenstande  der  Erkennt- 
nis und  dem  Erkennen  des  Gegenstandes,  jene  symbolische  Funk- 
tion   des    Erfassens    und    Ergreifens    stattfindet,    so    kann  es  uns 
nicht  Wunder  nehmen,    dass    sie    eine    noch  grössere  Rolle  in  der 
psychischen    Darstellung    des    Übersinnlichen    spielt.     So  vermisst 
man  bei  Michaltschew    überhaupt    eine  nähere  Auseinandersetzung 
darüber,  wie  die  logischen  und  mathematischen  Grundbegriffe  und 
Kategorien,  die    zum  Unterschiede    von  den  empirischen  Begriffen 
sich  in  keinerlei  Wahrnehmung  adäquat  darstellen,   gegeben   sind : 
in  Anbetracht  des  psychischen  Zwanges,  alles  Gegebene  irgendwie 
zu  versinnlichen,  phänomenologisch  zu  umkleiden. 

Die  Schrift  Michaltschews  hätte  im  Übrigen  durch  eine  Mil- 
derung des  Akzentes  ihrer  Polemik,  die  sich  besonders  gegen 
Rickert,  Husserl,  Ewald  wendet,  nicht  gelitten.  Im  Übrigen  em- 
pfiehlt sie  sich,  abgesehen  von  den  bedeutsamen  Fragen,  die  in  ihr 
aufgerollt  werden,  auch  als  Einführung  in  das  System  Rehmkes. 
Dieses  tritt  uns  als  ein  geschlossenes  Ganzes  in  dem  kürzlich  er- 
schienenen Buche  „Philosophie  als  Grundwissenschaft"  entgegen 
[Kesselringsche  Hofbuchhandlung,  Frankfurt  a.  M.,  V  u.  706  S.]. 
Vorbereitet  wurde  es  nicht  so  sehr  durch  des  Verfassers  bekannte 
Schrift  „Die  Welt  als  Wahrnehmung  und  Begriff",  wie  durch  sein 
„Lehrbuch  der  allgemeinen  Psychologie"  und  durch  seine  Mono- 
graphie „Leib  und  Seele". 


448  0.  Ewald, 

Die  übliche  Einreibung-  Rebrakes  unter  die  extremen  Phäno- 
menalisten  ist  nicht  berechtig-t,  zumal  wenn  mit  dieser  Richtung 
ein  relativistisches  Bekenntnis  verbunden  wird.  Im  Vorworte 
schreibt  er:  „Eine  Wissenschaft,  d.  i,  ein  auf  fraglose  Klarheit 
seines  Gegenstandes  abzielendes  Unternehmen  ist  aber  boden- 
ständig, wenn  der  Gegenstand  aus  sich  selbst  seine  Erklärung 
findet.  Die  phänomenalistische  Philosophie  ihrerseits  sucht  da- 
gegen die  Welt  schlechtweg  aus  Anderem,  das  dieser  zugrunde 
liege,  zu  erklären."  Die  Definition  der  Philosophie  als  der  Grund- 
wissenschaft, die  das  Allgemeinste  des  Gegebenen,  seine  Grund- 
lagen prüft,  nicht  aber  eine  bloss  enzyklopädische  Zusammenfassung 
der  einzelnen  Disziplinen  darstellt,  wird  man  unbedingt  billigen 
müssen.  Im  Prinzip  ist  es  ja,  soweit  die  Ergebnisse  sonst  aus- 
einandergehen mögen,  eine  der  kritischen,  Kantischen  ähnliche 
Auffassung  vom  Wesen  der  Philosophie.  Es  wird  hier  die  philo- 
sophische Analyse  an  den  Anfang  der  Dinge  verlegt  und  nicht 
an  deren  Ende,  wie  es  dort  der  Fall  ist,  wo  man  von  ihr  bloss 
eine  widerspruchslose  Vereinigung  der  aus  den  einzelnen  Forschungs- 
gebieten hervorgegangenen  Resultate  fordert.  Es  ist  klar,  dass 
ihr  hiermit  jede  Autonomie  genommen  wird.  Sie  ist  dann  einfach 
von  dem  Betrieb  der  verschiedenen  Wissenschaften  abhängig, 
deren  Daten  sie  in  formaler  Weise  zur  Verknüpfung  bringt.  Aus 
sich  selbst  heraus  produziert  sie  nicht  die  geringsten  positiven 
Werte.  Allerdings  widerspricht  diese  Auffassung,  die  in  der 
neuesten  Zeit  wohl  infolge  des  antimetaphysischen,  positivistischen 
Zuges  eine  ziemliche  Verbreitung  gewann,  allem,  was  in  der 
philosophischen  Entwickelungsgeschichte  bisher  an  grossen  Er- 
rungenschaften zu  verzeichnen  ist.  Dieselben  bestehen  letzten 
Endes  nicht  in  der  Synthese  des  von  anderer  Seite  Erarbeiteten, 
sondern  in  der  Kritik  der  Grundbegriffe,  ohne  die  jene  Arbeit 
noch  gar  nicht  von  statten  gehen  konnte.  So  beschäftigt  sich  die 
Physik  mit  einzelnen  physischen  Kräften  und  Substanzen,  die 
Psychologie  mit  einzelnen  psychischen  Phänomenen  und  deren  Zu- 
sammenhängen, aber  nach  dem  Wesen  einer  Substanz,  einer  Kraft 
überhaupt,  nach  dem  Wesen  des  Physischen  überhaupt  zum 
Unterschiede  vom  Psychischen  zu  fragen,  ist  Aufgabe  der  Philo- 
sophie, der  deswegen  der  Titel  einer  Grundwissenschaft  völlig  ge- 
bührt. 

Für  Rehmkes  Behandlung  der  philosophischen  Probleme  ist 
ferner   eine   merkwürdige  Realistik  im  Denkstile   charakteristisch: 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.  449 

Die  Tendenz,  alles  irgendwie  als  ein  Seiendes,  als  eindeutig 
Bestimmtes  zu  fixieren.  Es  ist  hier  unmöglich,  alle  Einzelheiten 
seiner  Lehre  wiederzugeben  und  dazu  Stellung  zu  nehmen:  ledig- 
lich die  Grundlinien  können  nachgezogen  werden. 

Zunächst  unterscheidet  er  zwischen  dem  Gegebenen  überhaupt 
und  dem  Wirklichen,  sofern  es  im  Gegebenen  auch  Nichtwirk- 
liches giebt,  Mathematik,  Logik,  Philosophie  fragen  nach  dem  Ge- 
gebenen, ohne  Rücksicht  darauf,  ob  es  wirklich  ist  oder  nicht, 
während  die  anderen  Wissenschaften  lediglich  auf  das  Wirkliche 
gerichtet  sind.  Der  Philosophie  ersteht  ausserdem  die  Aufgabe, 
die  genaue  Bestimmung  desjenigen,  was  zum  Wirklichen  und  zum 
Nichtwirklichen  gehört,  zu  leisten.  Rehmke  beginnt  mit  der 
Aussenwelt,  dem  Objekt,  oder,  wie  er  es  nennt,  dem  Ding- 
gegebenen. Denn  das  Gegebene  der  Aussenwelt  ist  nicht  als  ein 
vager  Komplex  von  Phänomenen,  sondern  als  Dingeinheit  gegeben. 
Und  zwar  greift  Rehmke  in  abstrahierender  Betrachtung  jenen 
zeitlichen  Querschnitt  der  Dingeinheit  heraus,  den  er  als  Ding- 
augenblick bezeichnet,  um  ihn  einer  genauen  Bestimmung  zu 
unterwerfen.  Der  Dingaugenblick  ist  eine  Einheit  von  Grösse, 
Gestalt  und  Ort;  dies  sind  seine  allgemeinen  Bestimmtheiten,  unter 
denen  der  Ort  wieder  als  die  einheitsstiftende  Bestimmtheit  aus- 
gezeichnet wird.  Jedes  Ding  hat  aber  eine  besondere  Grösse, 
einen  besonderen  Ort,  eine  besondere  Gestalt.  Dies  ist  für  das 
Phänomen  der  Veränderung,  das  sonst  unerklärbar  bliebe,  von 
grosser  Wichtigkeit.  Daran  schliesst  sich  die  Erörterung  des 
Problems,  ob  die  Bewegung  zum  Wirklichen  gehört.  Die  Eleaten 
gingen  mit  ihrer  radikalen  Leugnung  darin  fehl,  dass  sie  in  der 
Bewegung  einen  Widerspruch  aufzudecken  glaubten,  was  aber  eine 
unhaltbare  These  ist,  sofern  der  Satz  des  Widerspruches  als  ein  all- 
gemein logisches  Grundgesetz  sich  nicht  allein  auf  das  Wirkliche, 
sondern  auf  das  Gegebene  überhaupt  bezieht:  da  das  Phänomen 
der  Bewegung  aber,  man  denke  über  seinen  Wirklichkeitswert  wie 
immer,  doch  zweifellos  zum  Gegebenen  gehört,  so  darf  es  mit 
keinem  Widerspruch  behaftet  sein.  Den  Widerspruch  aber  kon- 
struierten die  Eleaten  durch  die  falsche  Annahme,  dass  das  Ding 
sich  selbst  verändert,  dass  es  mithin  zugleich  ein  von  sich  Unter- 
schiedenes werde  und  mit  sich  identisch  bleibe.  Der  Satz  der 
Veränderung,  der  dem  Schein  dieses  Widerspruches  vorbeugen 
soll,  lautet  aber  nach  Rehmke:  Veränderung  ist  ein  Wechsel  von 
Bestimmtheitsbesonderheiten   im   Dinge.      Wenn  zum   Beispiel    ein 


450  0.  Ewald, 

Ding,  das  früher  rund  war,  jetzt  viereckig  wird,  so  hat  nicht  das 
Ding  gewechselt,  noch  auch  die  allgemeine  Bestimmtheit  Gestalt 
—  ein  gestaltloses  Ding  giebt  es  ja  nicht  —  sondern  die  Be- 
sonderheit der  Gestalt,  die  durch  eine  andere  Besonderheit  abge- 
löst worden;  jede  Veränderung  bedeutet  dementsprechend  einen 
Verlust  und  einen  Gewinn  zugleich.  Wer  hierin  noch  einen 
Widerspruch  sieht,  verwechselt  eben  das  Ding  mit  jenem  ab- 
strakten zeitlichen  Querschnitt,  der  Diugaugenblick  heisst.  Er 
versteht  nicht,  dass  das  Ding  Zeit  in  sich  fasst,  mithin  auch 
Veränderungen  erleiden  kann. 

Sodann  wendet  sich  Rehmke  der  anderen  Sphäre  des  Wirk- 
lichen, der  Innenwelt  zu.  Hier  wird  die  analoge  Betrachtungsart 
durchgeführt.  Wie  der  Dingaugenblick,  so  ist  auch  der  Seelen- 
augenblick eine  Einheit  von  mehreren  Bestimmtheiten,  des  Wahr- 
nehmens, Fühlens,  Denkens  und  der  eiuheitsstiftenden  Bestimmt- 
heit, des  Subjektes.  „Jede  Augenblickeinheit  einer  Seele  aber 
weist  viererlei  einfache  Bestimmtheiten,  also  viererlei  Allgemeinstes 
in  sich  auf:  gegenständliche,  zuständliche,  denkende  und  Subjekt- 
Bestimmtheit,  von  denen  eine  jede  der  ersten  drei  sich  mit  der 
vierten  als  der  einheitsstiftenden  gleicherweise  besonders  verknüpft 
zeigt."  Das  Seelische  lässt  sich  demnach  nicht  restlos  in  Wahr- 
nehmungen, Gefühle,  Gedanken  auflösen,  es  bedarf  noch  einer  un- 
verlierbaren schlechthin  einfachen  verknüpfenden  Einheit.  Sehr 
präzis  ist  die  Unterscheidung  der  Innenwelt  von  der  Aussenwelt, 
der  Seele  von  dem  Ding.  Beide  sind  besondere  Einzelwesen.  Die 
Seele  unterscheidet  sich  indessen  dadurch  vom  Ding,  dass  sie 
nicht  wie  dieses  in  allen  ihren  Augenblicksbestimmtheiten,  näm- 
lich nicht  in  der  einheitsstiftenden  Bestimmtheit,  veränderlich  ist, 
ferner  aber  dadurch,  dass  das  Ding  zwar  in  allen  seinen  Be- 
stimmtheiten veränderlich  ist,  jedoch  keineswegs  in  jeder  Ver- 
änderung sich  in  allen  seinen  Bestimmtheiten  verändert,  vielmehr 
einmal  bloss  im  Ort,  nicht  auch  in  Grösse  und  Gestalt,  dann 
wieder  in  der  Grösse,  nicht  auch  in  Ort  und  Gestalt,  die  Seele 
dagegen  in  jeder  ihrer  Veränderungen  auch  immer  in  jeder  von 
den  Bestimmtheiten,  in  denen  sie  überhaupt  veränderlich  ist,  also 
in  gegenständlicher,  zuständlicher  und  denkender  Bestimmtheit 
sich  verändert.  „Der  Ort,  diese  einheitsstiftende  Dingbestimmtheit, 
bedeutet  also  für  alle  zugleich  gegebenen  Dinge  die  unübersteig- 
liche  Schranke  für  ihr  völhges  Gleichsein;  das  Subjekt,  die  ein- 
heitsstiftende Bewusstseinsbestimmtheit,  bedeutet  für  alle  Bewusst- 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.  451 

Seinswesen  die  unübersteigliche  Schranke  für  ihr  völliges  Ver- 
schiedensein. In  ihrem  Orte  sind  alle  zugleichgegebenen  Dinge 
verschieden,  in  ihrem  Subjekte  sind  alle  Bewusstseiuswesen 
gleich."  Der  Mensch  ist  Leib  und  Seele,  Ding  und  Bewusstsein 
zugleich,  eine  Einheit  zweier  Einzelwesen.  Diese  Einheit  von 
Einzelwesen,  die  er  repräsentiert,  ist  als  eine  Wirkenseinheit  zu 
betrachten. 

Aus  dieser  kurzen  Darstellung  ergiebt  sich  schon  das 
Wesentliche  der  Rehmkeschen  Betrachtungsart.  Wir  können  sie 
als  eine  eigenartige  und  fruchtbare  Durchdringung  des  Konkreten 
und  Abstrakten,  des  sensualistischen  und  des  rationalistischen 
Prinzips  bezeichnen.  Das  Abstrakte  wird  •  keineswegs  geleugnet, 
aber  es  wird  sozusagen  in  die  Ebene  des  Konkreten  selber  ver- 
setzt. Für  den  Rationalismus  ist  der  Dingbegriff  ein  Gebilde  des 
Denkens,  streng  isoliert  von  Wahrnehmung  und  Anschauung. 
Ebenso  sind  Ort,  Grösse,  Gestalt,  wenn  ihnen  jede  weitere  Spezi- 
fizierung fehlt,  für  ihn  blosse  Abstraktionen  des  Verstandes,  die 
mit  dem  unmittelbaren  Erlebnis  der  Aussenwelt  nichts  zu  schaffen 
haben.  Eine  solche  Auffassung  kommt  auch  in  der  Kategorien- 
lehre Kants  zum  Ausdruck:  die  Erkenntnisbegriffe  werden  zur 
Wahrnehmung  hinzugedacht,  das  Allgemeine  steht  jenseits  von 
allem  Besonderen,  Individuellen,  nicht  aber  wird  es  als  ein  im 
Individuellen  selbst  Gegebenes  vorgestellt.  Rehmkes  Verdienst 
besteht  darin,  den  Rahmen  des  Gegebenen  gebührend  erweitert 
und,  wenn  ich  so  sagen  darf,  den  kategorialen,  begrifflichen 
Charakter  der  Sinnenw^elt  erkannt  zu  haben.  Wenn  man  histo- 
rische Rückschau  hält,  korrespondiert  diese  Auffassung  im  Grunde 
genommen  jenem  Standpunkte  der  Scholastik,  der  die  Universalität 
nicht  ante  res  noch  post  res,  sondern  in  rebus  suchte.  Und  in 
der  neueren  Philosophie  kommen  ihr  Avenarius'  und  Bergsons 
Lehren  vom  unmittelbaren  Gegebensein  des  Allgemeinen,  von  der 
begrifflichen  Färbung  der  Phänomene  nahe.  Auf  Grund  derselben 
Betrachtung  gelangt  Rehmke  zur  Unsterblichkeit  der  Seele  und 
zu  einem  göttlichen  Weltbewusstsein. 

So  isoliert  Rehmke  mit  seiner  Philosophie  des  Gegebenen 
steht,  so  weit  der  Abstand  zwischen  ihm  und  sämtlichen  Schat- 
tierungen des  Neuhegelianismus  sein  mag,  es  ist  dennoch  manches 
Gemeinsame  in  der  Grundrichtung  dieser  und  der  logistischen 
Weltauffassung.  Vor  allem  der  objektivistische  Zug,  die 
schroffe    Scheidung   zwischen   psychologischer  und  philosophischer 

Kantitndien  XV.  29 


452  0.  Ewald, 

Forschung,  die  Ablehnung  der  Erkenntnistheorie  als  einer  Dis- 
ziplin, die  im  Erkennen  eine  allmähliche  Besitzergreifung  des  Ob- 
jekts durch  das  Subjekt  erblickt.  Auch  Rehmke  will  den  Bann 
des  Subjektivismus  überwinden  und  eine  absolute,  in  sich  selbst 
ruhende  Erkenntnis  der  Welt  gewinnen:  das  heisst,  auch  ihm 
weitet  sich  die  Erkeuntnislehre  zur  Metaphysik.  Und  so  finden 
wir  die  namhaftesten  Denker  trotz  allen  Differenzen  in  dieser 
Grundtendenz  geeinigt,  die  wir  demnach  als  das  charakteristische 
Merkmal  der  modernen  Philosophie  bezeichnen  können. 

*  * 

* 

Es  ist  beinahe  selbstverständlich,  dass  die  Tendenzen,  welche 
die  systematische,  erkenntnistheoretische  Philosophie  beherrschen, 
noch  greifbarer  in  der  Breite  der  philosophischen  Literatur  hervor- 
treten, deren  Erzeugnisse  sich  an  den  Grenzen  des  gesellschaft- 
lichen, ästhetischen  und  religiösen  Lebens  entwickeln.  Die  Sehn- 
sucht nach  einer  einheitlichen  Kultur,  die  mit  der  Weite  sozialer 
Perspektiven  die  Innigkeit  des  individuellen  Empfindens  verbindet, 
ist  die  treibende  Kraft  dieser  Gestaltungen.  Und  aus  demselben 
Motiv  geht  die  grosse  Bewegung  der  Neuromantik  hervor,  von 
der  ich  hier  wiederholt  gesprochen  habe.  Denn  die  Idee  der 
organischen,  harmonischen  Kultur  als  einer  alle  Sphären  der  Be- 
tätigung durchdringenden  Lebensmacht  ist  zuerst  der  Romantik 
aufgegangen.  Sehr  schön  zeigt  dies  Windelband  in  seinen  Vor- 
lesungen „Die  Philosophie  iui  deutschen  Geistesleben  des  XIX. 
Jahrhunderts"  [Tübingen,  Mohr,  120  S.],  eine  Schrift,  deren  Lek- 
türe keiner  unterlassen  soll,  der  sich  für  die  Entwickelungs- 
geschichte  der  modernen  Probleme  interessiert.  Windelband 
zeigt  in  feiner  Analyse  die  Fäden,  die  vom  romantischen  Zeitalter 
zur  Gegenwart  laufen:  die  mannigfachsten  Strömungen,  die  teil- 
weise noch  in  unsere  Zeit  hineinragen,  Irrationalismus,  Materialis- 
mus, Pessimismus,  Positivismus,  Psychologismus  und  Neoidealismus 
werden  in  die  richtige  Perspektive  gerückt.  Der  architektonische 
Stil  des  Aufbaues  korrespondiert  der  Inhaltsfülle  dieser  vortreff- 
lichen Schrift. 

Ich  habe  schon  im  vergangenen  Jahresberichte  erwähnt,  dass 
sich  das  gesteigerte  Interesse  an  der  Philosophie  in  den  zahl- 
reichen neuen  Klassikerausgaben  kundgiebt,  und  dass  der  Verlag 
der  Dürrschen    Buchhandlung    in  Leipzig  vor   allem  das  Verdienst 


Die  deutsche  Philusophie  im  Jahre  1909,  453 

für  sich  in  Anspruch  nehmen  darf,  solche  durch  seine  „Philoso- 
phische Bibliothek"  den  weitesten  Kreisen  zugänglich  gemacht  zu 
haben.  Die  neuesten  Bände  beschäftigen  sich  mit  Lessing; 
Band  119  „Lessiugs  Philosophie'',  herausg.  von  Paul  Lorenz, 
Band  121  „Lessiugs  Briefwechsel  mit  Mendelsohn  und  Nicolai 
über  das  Trauerspiel",  herausg.  von  Prof.  Dr.  Robert  Petsch. 

An  einer  systematischen  Darstellung  der  Lessingschen  Welt- 
anschauung fehlt  es  wohl  noch.^)  Umsomehr  ist  der  Versuch  zu 
begrüssen,  die  verschiedenen  verstreuten  philosophischen  Beiträge 
Lessiugs  unter  einheitlichen  Gesichtspunkten  zu  ordnen.  Nach 
einer  ausführlichen  Einleitung  über  die  Stellung  Lessiugs  in  der 
Geschichte  der  deutschen  Philosophie  und  die  Entwicklung  seiner 
philosophischen  Anschauungen  finden  wir  folgende  Hauptgruppen: 
I.  Abhandlungen  zur  Philosophie  im  eugeren  Sinne,  IL  Religions- 
philosophie, III.  Geschichtsphilosophie,  IV.  Kunstphilosophie  und 
einen  Anhang,  der  die  gelegentlichen  philosophischen  Äusserungen 
enthält.  Die  massgebenden  Einflüsse  werden  in  Wolff,  Spinoza 
und  Leibniz  gesucht  und  zwar  so,  dass  durch  diese  Reihenfolge 
auch  die  zeitlichen  Entwickeluugsstadien  bezeichnet  werden.  Zum 
Höhepunkte  seiner  Entwickelung  soll  Lessing  das  Studium  der 
erst  1765  erschienenen  „Noveaux  Essais"  verholfen  haben.  In 
diesen  Abhandlungen  zeigt  sich  der  Reichtum  und  die  staunens- 
werte Vielseitigkeit  des  Lessingschen  Denkens.  Das  Interesse  an 
ethischen  und  ästhetischen  Fragen  überwiegt  darin  entschieden 
das  erkenntnistheoretische  Interesse.  Das  letztere  ist  enger  um- 
grenzt und  historisch  durch  den  Anschluss  an  die  Systeme 
Spinozas  und  Leibuizens  bftdingt. 

Der  Verlag  Diederichs,  der  sich  der  Neuroraantik  mit  be- 
sonderem Eifer  gewidmet  hatte,  bemüht  sich  jetzt  auch  um  Aus- 
gaben der  klassischen  Antike.  Von  seinen  interessanten  Publi- 
kationen hebe  ich  hervor:  Monrads  „Sören  Kierkegaard"  (151  S.), 
eine  Monographie  über  den  genialen  dänischen  Philosophen,  dessen 
Denken  so  manche  Beziehungen  zur  Romantik  verrät,  den  zweiten 
Band  von  Meister  Eckehardts  „Schriften  und  Predigten",  diesem 
lebendigen  Born  aller  Mystik,  übersetzt  und  herausgegeben  von 
Büttner  (232  S.)  Übersetzungen  von  Piatons  „Staat"  (Preisendanz, 
445  S.),  „Timaios",   „Kritias",   „Gesetze"  (Kiefer,  229  S.),  Aristo- 


1)  Auszunehmen  ist  Schrempfs  Monographie  in  Fromanns  Klassikern 
der  Philosophie. 

29* 


454  O.  Ewald, 

teles'  „Nikomachische  Ethik"  (Adolf  Lasson,  254  S.),  den  sechsten 
Band  von  Giordano  Brunos  sämtlichen  Werken,  enthaltend 
„Kabbala",  „Kyllenischer  Esel",  „Reden",  „Inquisitionsakten", 
übersetzt  und  herausgegeben  von  Kuhlenbeck,  294  S.),  „Epikurs 
Lehre",  eingeleitet  und  zusammengestellt  von  Alexander  von 
Gleichen-Russwurm  (165  S.). 

Hierher  gehören  auch  die  „Ekstatischen  Konfessionen",  ge- 
sammelt von  Martin  Buber  (239  S.).  Es  sind  Dokumente  des 
mystischen  Grunderlebnisses,  der  Vereinigung  der  Menschenseele 
mit  dem  Kosmos,  mit  der  Gottheit.  Dies  Erlebnis  als  solches  hat 
Realität,  wie  Buber  mit  Recht  in  der  Einleitung  hervorhebt,  und 
schon  deshalb  verlohnt  es  sich,  ihm  vom  Standpunkte  der  Psycho- 
logie aus  bis  in  seine  tiefsten  Tiefen  nachzugehen.  Die  verschie- 
densten Kulturen  kommen  hier  zu  Wort:  indische,  persische,  ara- 
bische, jüdische  und  christliche  Mystik.  Und  ebenso  die  verschie- 
densten Zeiten  vom  Altertum  bis  zum  achtzehnten  Jahrhundert. 
Der  Gesarateindruck,  den  wir  von  diesen  Bekenntnissen  gewinnen, 
ist  ein  merkwürdig  gemischter,  der  Zweischneidigkeit  aller  Mystik 
entsprechend.  Es  ist  schwer,  die  Grenze  zwischen  dem,  was  rein 
subjektiver  Natur  ist  und  bloss  eine  abnorme  —  wenn  auch  nicht 
unbedingt  pathologische  —  Zuständlichkeit  spiegelt,  und  der 
objektiven  Seite  des  Phänomens  zu  ziehen,  in  der  ein  Stück 
des  wahren  Seins  sich  kundgiebt.  Auch  eine  charakteristische 
Armut  und  Monotonie  trotz  der  individuellen  Nuancen  fällt  pein- 
lich auf:  bloss  die  grössten  Mystiker  treten  uns  als  ausgeprägte 
Persönlichkeiten  entgegen.  Und  das  ist  begreiflich:  denn  das 
Prinzip  des  Persönlichen  ist  das  Prinzip  der  klaren  Umgrenzung 
und  Gestaltung,  und  letzteres  mangelt  der  Mystik. 

Von  rein  ethischen  Tendenzen  ist  Professor  Walter  Kinkels 
„Humanitätsgedanke"  [Eckart,  Leipzig,  192  S.]  erfüllt.  „Be- 
trachtungen zur  Beförderung  der  Humanität"  nennt  der  Verfasser 
die  Schrift  und  diesem  Untertitel  entspricht  der  Grundgedanke, 
der  zum  Humanitätsideal  des  achtzehnten  Jahrhunderts  in  seiner 
Reinheit  zurückkehrt  und  sämtliche  Konsequenzen  zieht.  Schroff 
nimmt  Kinkel  gegen  die  modernen  Umdeuter  oder  Gegner  dieses 
Gedankens  Stellung,  die  ihn  durch  Einmischung  nationaler  und 
Rassenfragen  zu  trüben  oder  durch  aristokratische  Kastenprin- 
zipien umzustossen  beabsichtigen.  Er  setzt  sich  aufs  Entschie- 
denste für  den  Demokratismus  ein,  der  den  Anteil  aller  an  den 
Kulturgütern    garantiert,    und   fordert   die    absolute  Emanzipation 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.  455 

und  Gleichstellung-  der  Frauen.  Auch  in  geschichtsphilosophischen 
Erläuterungen  ergeht  sich  das  Buch.  Die  Bemerkungen  über  In- 
dividualismus und  Ästhetizismus,  welche  nicht  wie  die  wahre 
Kunst  die  innere  Einheit  und  Gesetzlichkeit  des  Weltganzen, 
sondern  die  Problematik  des  besonderen,  persönlichen  Daseins 
ergreifen,  sind  sehr  lesenswert.  Humanität  ist  schliesslich  nichts 
anderes  als  das  Göttliche  im  Menschen,  als  die  Idee  des  Guten 
und  Wahren,  die  ewig  ist,  während  alle  Wirklichkeit  als  bloss 
relativ  und  vergänglich  erscheint.  Es  ist  die  Kantische  Ansicht 
vom  Wesen  des  Idealen  und  Realen,  und  so  auch  vom  Endziele 
der  Kultur,  die  hier  vertreten  wird. 

Ich  möchte  hier  auch  auf  meine  bei  Ernst  Hofmann  &  Co. 
erschienene  zweibändige  Schrift  „Gründe  und  Abgründe"  hinweisen, 
die  den  Versuch  unternimmt,  in  der  Zergliederung  und  Deutung 
höherer  seelischer  Erlebnisse  den  Unterbau  für  eine  Philosophie 
des  Lebens  zu  legen.  Den  Mittelpunkt  bildet  die  Gegenüber- 
stellung des  Willens  zur  Macht  und  des  Willens  zum  Werte,  die 
in  all  ihren  psychischen  Erscheinungsformen  geprüft  werden,  zu- 
mal im  erotischen,  künstlerischen  und  religiösen  Empfinden.  Der 
Wille  zur  Macht  wird  hierbei,  entgegen  einer  heute  weit  ver- 
breiteten Strömung,  als  ein  Prinzip  dargestellt,  das  in  seinen 
letzten  Konsequenzen  entblöst,  nicht  die  Selbstbejahung  und  in 
ihr  die  Bejahung  des  Seins  enthält,  sondern  umgekehrt  zur  nihi- 
listischen Aufhebung  und  Verneinung  der  eigenen  Individualität 
und  der  Welt  führt.  Hingegen  ist  die  Idee  des  Wertes  dasjenige, 
das,  indem  es  die  unbedingte  Hingabe  der  Einzelseele  an  das 
Universum  gebietet,  dennoch  wieder  vermöge  der  Liebesidee  auch 
ihre  Erhaltung  gewährleistet  und  so  vom  Universalismus  die 
einzige  Brücke  zum  Individualismus  bildet. 

Auch  die  Literatur  über  Nietzsche  hat  manche  Bereicherung 
erfahren.  Ich  mache  hier  auf  die  zweite  vermehrte  Auflage  von 
Raoul  Richters  „Friedrich  Nietzsche"  (Verlag  der  Dürrschen 
Buchhandlung,  Leipzig)  aufmerksam.  Richter  bemüht  sich  vor 
allem  um  die  Entwickelungsgeschichte  der  Nietzscheschen  Welt- 
anschauung, deren  Stadien  er  in  sorgfältiger  Betrachtung  verfolgt. 
Die  Überschätzung  des  Einflusses,  den  Darwinismus  und  Evolutio- 
nismus auf  sie  gewonnen,  macht  sich  auch  hier  bemerkbar  und  es 
scheint  mir,  dass  Richter  dadurch  den  innersten  Intentionen  des 
Denkers  nicht  gerecht  wurde.  Zumal  die  Idee  der  ewigen 
Wiederkunft  lässt  sich  mit  solch  einer  Auffassung  schwer  in  Ein- 


456  O.  Ewald, 

klang  bringen.  Überhaupt  sehe  ich  nicht  ein,  wie  die  beiden 
Leitmotive  der  Nietzscheschen  Weltansicht,  das  Apollinische  und 
Dionysische,  in  irgend  eine  engere  Beziehung  zum  Evolutionismus 
gesetzt  werden  sollen.  In  der  neueren  Nietzscheliteratur  ist  auch 
die  Annahme  eines  solchen  Zusammenhanges,  die  ehedem  den 
Schlüssel  zum  tieferen  historischen  und  sachlichen  Verständnis 
des  Denkers  zu  liefern  schien,  entschieden  zurückgetreten.  Ich 
weise  hier  auf  meine  Schrift  „Nietzsches  Lehre  in  ihren  Grund- 
begriffen", sowie  auf  Simmeis  Arbeiten  über  Nietzsche  hin.  Die 
Veröffentlichung  des  Nachlasses  bot  eine  glänzende  Bestätigung 
dieser  Auffassung:  hier  zeigte  es  sich,  dass  für  Nietzsche  selbst 
die  Idee  des  Übermenschen  sich  mehr  und  mehr  von  allem  Darwi- 
nismus ablöste  und  eine  ideale,  symbolische  Bedeutung  gewann. 
Wenn  Richter  demgegenüber  an  seinem  Standpunkte  prinzipiell 
festhält  und  die  Rechte  des  Evolutionismus  verteidigt,  so  gelingt 
ihm  höchstens  der  Nachweis  der  formalen  Verträglichkeit  dieser 
Lehre  mit  der  vom  Übermenschen,  nicht  aber  der  Nachweis  einer 
engeren  inhaltlichen  Verknüpfung  und  Abhängigkeit. 

Richter  setzt  sich  noch  an  anderer  Stelle  mit  Nietzsches 
Weltansicht  auseinander:  im  zweiten  Bande  seines  Werkes  „Der 
Skeptizismus  in  der  Philosophie  und  seine  Überwindung"  [Leipzig, 
Verlag  der  Dürrschen  Buchhandlung,  1.  Bd.  364  S.,  IL  Bd.  584  S.], 
das  ein  wertvoller  Beitrag  zur  Entwickelungsgeschichte  der  philo- 
sophischen Probleme  genannt  werden  muss.  Die  Behandlung  der 
Skepsis  reicht  von  der  Antike  bis  zur  Schwelle  der  Gegenwart. 
Nach  den  Zweifelsgebieten  wird  der  totale  vom  partiellen,  nach 
dem  Zweifelsgrade  der  radikale  vom  gemässigten  Skeptizismus 
unterschieden.  Es  werden  selbstverständlich  nicht  bloss  die  Denker 
herangezogen,  die  wie  Montaigne  und  Hume  erklärte  Skeptiker 
waren,  sondern  die  skeptischen  Motive  und  Möglichkeiten  der 
hervorragenden  Philosophen  aller  Richtungen  einer  sorgsamen 
Analyse  unterworfen.  Während  das  erste  Buch,  der  totale  Skepti- 
zismus, dermassen  zum  Abschlüsse  gediehen  ist,  hat  der  Verfasser 
vom  zweiten,  dem  partiellen  Skeptizismus,  bloss  einen  allgemeinen 
Ansatz,  ein  Programm  entworfen.  Richters  Tendenz  ist  schon  im 
Titel  des  Werkes  enthalten.  Er  ist  kein  Skeptiker,  wiewohl  er 
allen  Motiven  dieser  Denkrichtung  gerecht  zu  werden  strebt, 
sondern  er  meint,  dass  gerade  das  Eindringen  in  ihre  letzten 
Voraussetzungen  und  Konsequenzen  zu  ihrer  Überwindung  führen 
muss.     Besonders    ausführlich    und    wichtig    ist    die    Behandlung 


Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909.  457 

Humes,  in  dessen  Skepsis  sich  ja  der  moderne  Positivismus  und 
Empirismus  vorbereitet.  Hier  muss  zumal  der  Nachweis  Interesse 
erregen,  dass,  der  Behauptung  Kants  entgegen,  die  sich  in  der 
Geschichte  der  Philosophie  zähe  festgesetzt  hat,  Hume  in  den 
mathematischen  Sätzen  nicht  analytische,  sondern  synthetische 
Urteile  erblickt.  In  dem  Streite  zwischen  Transscendentalismus 
und  Psych ologisraus  tritt  Richter,  hierin  im  Einklänge  mit  den 
neuesten  Bestrebungen,  für  die  berechtigten  Forderungen  einer 
Erkenntuispsychologie  ein,  die  nicht  bloss  die  psychische  Struktur 
der  Urteile  überhaupt,  sondern  gerade  die  der  wahren  Urteile 
zum  Unterschiede  von  den  falschen  erforschen  soll,  ohne  dass 
dadurch  der  transscendentale  Wahrheitswert  eingeschränkt  oder 
nivelliert  wird.  „Aber  nicht  bloss  die  Erforschung  der  Prinzipien, 
denen  auch  die  Erkenntnis  untersteht,  und  die  wahre  wie  falsche 
Urteile  gleichmässig  betreffen,  lehnt  die  Erkenntnistheorie  ab, 
sondern  ebenfalls  die  Untersuchung  von  Prinzipien,  welche  zwar 
den  wahren  und  wahrscheinlichen  Urteilen,  also  bloss  der  Erkennt- 
nis eigentümlich,  ihr  aber  lediglich  als  besonderem  geistigen  Akt, 
als  besonderem  Lebensvorgang,  als  besonderem  Glied  des  Welt- 
ganzen eigentümlich  sind.  Nicht  mehr  die  allgemeine  Psychologie, 
Biologie  und  Metaphysik,  wohl  aber  die  Erkenntnis-Psychologie, 
Erkenntnis-Biologie  und  Erkenntnis-Metaphysik  bearbeiten  diese 
Aufgaben.  Die  oft  gehörte  Behauptung,  dass  die  übrigen  Dis- 
ziplinen die  Erkenntnis  ohne  Rücksicht  auf  deren  Wahrheit  oder 
Falschheit  zu  behandeln  hätten,  ist  sehr  cum  grano  salis  zu  ver- 
stehen und,  wörtlich  genommen,  eine  zu  einfache  Lösung  des 
Knotens.  Wahre  Urteile  nehmen  vielleicht  einen  anderen  Verlauf 
im  Bewusstsein  als  falsche  oder  ungewisse;  ihr  Lebenswert  könnte 
ein  höherer  oder  tieferer  sein  als  bei  jenen;  mit  ihnen  mag  das 
Weltwesen  eine  ganz  besondere  Absicht  gehabt  haben."  Der 
philosophischen  Erkenntnistheorie  wird  lediglich  die  Aufgabe  zu- 
teil, die  Giltigkeit  der  Erkenntnis  zu  untersuchen. 

Den  Abschluss  des  ersten  Buches  bildet  der  biologische 
Skeptizismus.  Als  ein  Vertreter  desselben  wird  Friedrich  Nietzsche 
betrachtet.  Ob  die  biologische  Skepsis,  die  wiederum  zum  Dar- 
winismus hinüberweist,  als  tiefster  Ausdruck  von  Nietzsches 
Zweifelslehre  betrachtet  werden  kann,  ob  hier  nicht  ein  noch 
viel  subtilerer  Gesichtspunkt,  der  sich  wohl  am  besten  als  Per- 
spektivisraus    bezeichnen    lässt,     hineinspielt,    mag    dahingestellt 


458  O.  Ewald,  Die  deutsche  Philosophie  im  Jahre  1909. 

bleiben.  Immerhin  empfiehlt  sich  dieser  Teil  auch  der  genauesten 
Beachtung. 

Einen  Einblick  in  das  intime  Leben  Nietzsches,  in  das  er- 
schütternde Schicksal  seiner  Vereinsamung  gewähren  uns  seine 
im  Inselverlag  in  zwei  Bänden  erschienenen  „Briefe  an  Mutter 
und  Schwester",  deren  Herausgabe  Frau  Elisabeth  Förster- 
Nietzsche  besorgt  hat.  Sie  bieten  ein  ungemein  fesselndes,  weil 
persönliches  Bild  seines  allmähligen  Wachsens  und  Werdens,  seiner 
fortschreitenden  inneren  Befestigung  in  den  Ideen,  die  schliesslich 
zu  den  Grundpfeilern  seiner  Weltanschauung  erwuchsen.  Das 
unablässige  Ringen  mit  den  düsteren  Mächten  des  Schicksals,  die 
zuletzt  die  Oberhand  gewannen,  verleiht  diesem  Seelengemälde 
seine  einzigartige,  tragische  E'ärbung. 

Wir  lernen  dadurch  vielleicht  besser  noch  als  durch  sein 
Werk  verstehen,  dass  er  in  vieler  Hinsicht  zum  Repräsentanten 
unseres  Zeitalters  wurde.  Von  der  Romantik  ausgehend,  strebt  er 
danach,  die  Romantik  zu  überwinden.  Durch  und  durch  Psycho- 
loge, sucht  er  gleichwohl,  sich  vom  Psychologismus  und  Subjekti- 
vismus zu  befreien.  Entschiedener  Individualist,  trachtet  er 
nichtsdestoweniger  nach  einer  höchsten  Perspektive  über  allen 
Dingen,  einer  Versenkung  in  den  Mittelpunkt  des  Universums. 
Diese  Synthese  von  Individualismus  und  Universalismus  ist  aber 
die  grosse  Aufgabe  der  Gegenwart.  Was  die  moderne  Welt- 
anschauung ersehnt,  ist,  ohne  phantastische  Willkür  die  Gleichung 
von  Denken  und  Sein  zu  finden,  vom  Standpunkte  des  persön- 
lichen Bewusstseins  aus  den  unendlichen  Rhythmus  des  Welt- 
geschehens zu  ergreifen  und  festzuhalten. 


Zur  Methode  der  Philosophiegeschichte. 

Von   Nicolai  Hartmann. 


Die  Geschichte  von  heute,  so  wie  uns  das  letztvergangene 
Jahrhundert  ihren  Begriff  und  ihre  Aufgabe  hinterlassen  hat,  — 
erhebt  einen  Anspruch,  den  zu  erfüllen  die,  heutige  Wissenschaft 
noch  keineswegs  die  Mittel  besitzt.  Es  ist  der  Anspruch  der 
Einheit  der  Geschichte. 

Was  Einheit  der  Geschichte  bedeute,  lässt  sich  am  ein- 
fachsten am  Gegensatz  zeigen.  Wir  treiben  Geschichte  der 
Staaten,  Geschichte  des  Rechts,  Geschichte  der  Religion,  Kunst 
und  Sprache,  Geschichte  aller  Einzelwissenschaften,  ja  Geschichte 
der  Technik.  Das  alles  ist  aber  noch  nicht  die  Geschichte  als 
solche,  nicht  die  Einheit  der  Geschichte.  Einheit  wäre  erst  alles 
dieses  ^n  Eins  gedacht  und  als  eine  Menschheitsgeschichte  ver- 
standen. Auf  dieses  Ziel  strebt  im  Grunde  alle  Geschichts- 
forschung hin.  Denn  die  grossen  Zusammenhänge  können  nirgends 
ignoriert  werden.  Jeder  besondere  Geschichtszweig  tendiert  auf 
die  anderen  Geschichtszweige  hin  und  weist  dadurch  auf  die  Ein- 
heit der  Geschichte  als  auf  die  ideale  Voraussetzung  aller  Spezial- 
forschung  zurück. 

Für  die  Geschichte  ist  es  also  von  vornherein  wesentlich, 
dass  sie  nicht  aus  einem  einheitlichen  Interesse  hervorwächst, 
sondern  erst  in  ihrer  Gesamtrichtung  auf  die  Einheit  eines  Inter- 
esses hinaustendiert.  Dieses  ist  ihr  wissenschaftliches  Ziel,  ihr 
Endzweck.  In  ihren  Anfängen  aber  bezieht  sie  ihr  Interesse 
durchaus  von  verschiedenen  Seiten  her,  —  aus  welchen  Einzel- 
tendenzen sich  jene  Einheit  erst  im  Laufe  der  Forschung  sum- 
mieren kann.  So  wenigstens  stellt  sich  der  Gang  aller  Geschichts- 
forschung dar. 

Wenn  wir  uns  nun  die  Frage  stellen,  wie  denn  inmitten 
dieses  Komplexes  von  Geschichtszweigen  und  ihrer  angestrebten 
Einheit  die  Geschichte  der  Philosophie  zu  stehen  kommt,  so 
zeigt  sich  uns  ihre  Stellung  zunächst  von  einer  ungünstigen  Seite. 


460  N.  Hartmann, 

Je  zusammengesetzter  sachlich  ein  Forschungsgebiet  ist,  desto 
vielseitiger  bedingt  wird  auch  seine  Geschichte  sein.  Denn  auf 
jeder  Entwickeluugsstufe  wollen  die  einschlägigen  Faktoren  alle 
mitberücksichtigt  sein.  Nun  sind  die  Fragen  der  systematischen 
Philosophie  zugestandeuermassen  die  kompliziertesten  ihrem  Inhalt 
nach.  Denn  sie  sind  allemal  schon  bestimmt  durch  irgend  ein 
anderes  Gebiet.  —  sei  dieses  nun  eine  der  positiven  Wissenschaften 
oder  der  anderen  Kulturschöpfungen,  wie  Kunst,  Religion  oder  Mythos. 
Aus  allen  Gebieten  bezieht  die  Philosophie  ihren  Inhalt,  ihre 
Probleme,  und  hat  sie  von  jeher  aus  ihnen  bezogen.  Darum  setzt 
ein  wirkliches  Eindringen  in  den  Entwickelungsgang  des  philoso- 
phischen Denkens  unbedingt  schon  ein  Eindringen  in  den  Ent- 
wickelungsgang aller  dieser  Gebiete  voraus  —  besonders  aber  in 
den  der  Wissenschaften,  weil  diese  innerhalb  des  philosophischen 
Problemmaterials  die  zentrale  Stellung  einnehmen. 

Daraus  ergiebt  sich  nun  der  Schluss,  dass  die  Philosophie- 
geschichte als  der  am  weitgehendsten  bedingte,  d.  h.  als  der  un- 
selbständigste Zweig  der  Gesamtgeschichte  dasteht.  Und  wenn 
es  hierbei  sein  Bewenden  hätte,  so  wäre  es  bei  dem  heutigen 
Stande  der  Dinge  beinahe  ein  aussichtsloses  Unternehmen,  Philo- 
sophiegeschichte treiben  zu  wollen.  Auf  allen  anderen  Gebieten 
lässt  sich  dort,  wo  die  grossen  Zusammenhänge  noch  fehlen,  allen- 
falls der  vorläufige  Weg  deskriptiver  Wiedergabe  einschlagen. 
Die  Geschichte  der  Staaten  kann  in  ihren  Anfangsstadien  auf 
reine  Quellenstudien,  die  Kunstgeschichte  auf  reine  Beschreibung 
und  Vergleich ung  reduziert  werden.  Aber  die  Geschichte  des 
Denkens  verlangt  mehr;  sie  kann  erst  beginnen,  wo  alles  Vor- 
läufige dieser  Art  schon  aufgehört  hat.  Sie  kann  nicht  das  über- 
lieferte Material  erst  zu  Problemen  ausgestalten  wollen,  denn 
sie  muss  sich  von  vornherein  in  Problemen  bewegen.  Jedenfalls 
würde  sie  erst  dort  anfangen  Philosophiegeschichte  zu  sein,  wo 
Probleme  bereits  vorliegen.  Zu  diesen  Problemen  hat  sie  dann 
eben  die  Vorstufen,  die  Vorgeschichte  zu  erbringen. 

Nach  dieser  Überlegung  könnte  es  scheinen,  als  befinde  sich 
die  Geschichte  der  Philosophie  in  einer  verzweifelten  Lage.  In 
der  Tat,  wie  soll  sich  in  ihr  der  Zusammenschluss  zur  Einheit, 
der  Zusammenhang  einer  Entwickelungslinie  ergeben,  wo  doch  das 
ganze  ihr  vorliegende  Material  bereits  anderen  spezielleren  Ent- 
wickelungslinien  angehört,  von  denen  es  durchaus  fraglich  bleibt, 
ob  und  wie  weit  sie  sich  überhaupt  vereinigen  lassen? 


Zur  Methode  der  Philosophiegeschichte.  -161 

Hier  sehen  wir  uns  nun  vor  die  Frage  gestellt,  ob  denn  die 
methodischen  Mittel  der  Philosophiegeschichte  sich  überhaupt 
in  diesem  ihrem  Verhältnis  zu  den  anderen  Geschichtszweigen  er- 
fassen, oder  gar  erschöpfen  lassen,  und  ob  die  Art  des  Zusammen- 
hanges, die  sie  jenen  zugleich  mit  ihrem  Material  entnimmt,  wirk- 
lich die  einzige  ist,  um  die  es  sich  in  ihr  handeln  kann.  Es 
fragt  sich,  ob  sie  nicht  Mittel  und  Wege  besitzt,  aus  sich  selbst 
heraus  eine  neue,  eigentümliche  Art  des  Zusammenhanges,  eine 
eigentümliche  Art  historischer  Kontinuität  zu  erzeugen, 
welche  den  Ansprüchen  ihrer  besonderen  Interessen  entspräche? 
Eine  solche  Hesse  sich  wenigstens  prinzipiell  sehr  wohl  denken, 
—  nämlich  wenn  es  gelänge,  sie  aus  dem  inneren  systematischen 
Wesen  der  Philosophie  heraus  zu  gewinnen,  aus  dem  sachlichen 
Gehalt  ihrer  Probleme.  Nur  würde  das  freilich  zur  Folge  haben, 
dass  der  ganze  Begriff  der  Philosophiegeschichte  verschoben 
würde  und  sich  in  dieser  Verschiebung  präzisierte  zum  Begriff 
einer  Geschichte  der  Probleme. 

Die  objektive  Natur  der  Probleme  ist  es,  die  in  der  Tat  eine 
historische  Einheit  eigenster  Art  herzustellen  die  Kraft  besitzt. 
Der  inhaltliche  Bestand  einer  Fragestellung  ist  etwas  Eigentüm- 
liches und  Unveräusserliches,  etwas,  dem  die  historischen  Wand- 
lungen keinen  Abbruch  tun.  Unser  systematisches  Denken  bewegt 
sich  durchweg  in  Problemen.  Wenn  nun  aber  diese  unsere  Pro- 
bleme sich  im  Denken  früherer  Zeitalter  in  anderer  und  anderer 
Gestalt  wiederfinden  lassen,  und  wenn  gar  jene  wiedergefundenen 
Problemansätze  sich  als  fruchtbar  erweisen  weit  über  ihre  histo- 
rische Tatsächlichkeit  hinaus  —  womöglich  gar  für  unser  eigenes, 
gegenwärtiges,  systematisches  Denken,  —  dann  ist  es  klar,  dass 
die  Natur  des  Problems  selbst  bereits  eine  Einheit  ist,  die 
über  den  Abstand  der  Zeit  und  die  Differenz  der  zufälligen  An- 
lässe hinweg  uns  mit  jenen  frühen  Problemansätzen  verbindet  und 
so  die  Möglichkeit  giebt,  eine  Kontinuität  sachlicher,  methodischer 
Art  herzustellen,  deren  Denknotwendigkeit  uns  die  Möglichkeit 
einer  geschichtlichen  Kontinuität  verbürgt. 

Wie  diese  Kontinuität  beschaffen  sein,  wie  sie  sich  für  die 
Geschichtsforschung  als  Grundlegung  erweisen  soll,  das  ist  nun 
die  fernere  Frage,  die  es  zu  betrachten  gilt.  Sollte  sie  sich  aber 
als  durchführbar  erweisen,  so  ist  es  leicht  vorauszusehen,  wie  sehr 
sie  der  Philosophiegeschichte  zu  Gute  käme:  jene  selbe  Eigentüm- 
lichkeit,   die   uns    vorhin    die    Philosophiegeschichte    als   den    un- 


462  N.  Hartmann', 

selbständigsten  Zweig  der  Geschichte  fassen  liess,  dürfte  sie  uns 
dann  auf  Grund  ihrer  neuen  methodischen  Kompetenz  als  die 
selbständigste  und  am  sichersten  in  sich  selbst  beruhende  histo- 
rische Kontinuität  verstehen  lassen. 

Dieser  methodische  Vorzug  der  Philosophiegeschichte  beruht 
aber  auf  keinem  andern  Grunde,  als  ihrer  engen  Verwachsenheit 
mit  der  systematischen  Philosophie.  Wir  können  an  diesem  Punkt 
das  gegenseitige  Verhältnis  beider  in  folgender  Weise  charakteri- 
sieren. Der  Begriff  des  Problems  ist  es,  der  die  Philosophie 
mit  ihrer  Geschichte  aufs  engste  verbindet  —  enger,  als  irgend 
ein  Kulturgebiet  mit  seiner  Geschichte  verbunden  ist.  Die  Ge- 
schichte der  Philosophie  und  die  Philosophie  selbst  schliessen  ein- 
ander nicht  aus,  sondern  ein.  Beide  setzen  einander  voraus  und 
laufen  doch  wiederum  aufeinander  hinaus;  nur  beide  zusammen 
ergeben  überhaupt  eine  geschlossene  philosophische  Ansicht.  Denn 
Philosophie  muss  ihre  Probleme  allseitig  stellen:  so  muss  sie  sich 
auch  das  Problem  ihrer  eigenen  Entwickelung  stellen;  dieses 
Problem  ist  ein  notwendiges  Glied  in  der  Kette  jener  Probleme, 
deren  Entwickelung  es  betrifft.  Es  setzt  diese  Kette  voraus  und 
schliesst  sie  ab,  es  ist  ihr  Endglied.  Also  muss  die  systematische 
Philosophie  auf  ihre  eigene  Geschichte  als  auf  ihr  Endglied  hinaus- 
führen. Der  Problembegriff  ist  —  wenn  man  ein  geometrisches 
Bild  herbeiziehen  darf  —  die  mittlere  Proportionale  zwischen 
beiden,  welche  die  inkommensurablen  Forderungen  beider  ver- 
gleichbar und  vereinbar  macht. 

Aus  dem  bisher  Gesagten  ist  soviel  klar,  dass  es  für  die 
Methode  der  Philosophiegeschichte  in  erster  Linie  erforderlich  sein 
wird,  den  Begriff  der  Problemgeschichte  genauer  zu  präzisieren, 
die  Mittel  und  Wege,  die  er  an  die  Hand  giebt,  sowie  die  Trag- 
weite seiner  Kompetenz  zu  untersuchen.  Natürlich  können  wir 
dabei  nicht  auf  alle  auftauchenden  Spezialfragen  eingehen,  sondern 
müssen  uns  auf  die  wichtigsten  Punkte  beschränken.  Als  erste 
Aufgabe  erwächst  uns  hieraus  der  Nachweis,  was  der  Begriff  der 
Problemgeschichte  für  die  Geschichte  der  Philosophie  leiste  und 
wie  weit  er  ihren  Anforderungen  gerecht  wird.  Als  zweite  Auf- 
gabe aber  hätten  wir  zu  untersuchen,  wie  die  methodischen  Mittel, 
die  er  an  die  Hand  giebt,  systematisch  zu  formulieren  und  zu 
begründen  sind. 


Zur  Methode  der  Philosophiegeschichte.  463 

Wir  wenden  uns  der  ersten  Aufgabe  zu.  Vor  allem  muss 
hier  ein  Missverständnis  abgelehnt  werden.  Der  Begriff  der 
Problemgeschichte  muss  auf  harten  Widerstand  derer  stossen,  die 
von  der  Philosophiegeschichte  mehr  verlangen  als  die  rein  objek- 
tive historische  Entfaltung  gedanklicher  Inhalte.  Man  rechnet  zur 
„Philosophie"  auch  das  denkende  Bewusstsein,  in  welchem  sie 
entsteht.  Nun  ist  es  ohne  Zweifel  ein  Anderes,  das  Denken  eines 
Philosophen  in  seiner  subjektiven  Eigentümlichkeit  zu  ermitteln, 
ein  Anderes  aber,  es  in  seinem  bleibenden  Gehalt,  seinem  Be- 
griffs- oder  Problemwert  zu  fixieren.  Diejenige  Wissenschaft,  die 
wir  gemeinhin  unter  der  „Geschichte  der  Philosophie"  verstehen, 
sieht  es  als  ihre  allgemeinzugestaudene  -Aufgabe  an,  beiden  ge- 
recht zu  werden,  beides  in  einer  Darstellung  zu  vereinigen  und 
so  gleichsam  eine  Antwort  auf  zwei  Fragen  zu  geben.  Es 
dürfte  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  bei  solchem  Verfahren  statt 
der  zwei  Antworten,  die  man  erwartet,  keine  einzige  zustande 
käme.  Gleichwohl  muss  diese  Ansicht  einen  begreifbaren  Grund 
haben.  Und  dieser  ist  leicht  genug  zu  finden:  er  liegt  in  der 
Eigenart  des  historischen  Materials.  Es  scheint  nämlich  in  der 
Tat,  als  liesse  der  Stoff,  mit  dem  es  die  Philosophiegeschichte  zu 
tun  hat,  eine  Trennung  jener  beiden  Seiten  nicht  zu.  So  weit 
uns  historische  Quellen  für  die  Gedankenwelt  eines  Denkers  vor- 
liegen, sind  sie  ausnahmslos  beides  in  einem:  Zeugnisse  der  Per- 
sönlichkeit und  Zeugnisse  wissenschaftlich  objektiver  Probleme. 
So  liegt  es  in  der  Natur  der  Sache;  denn  kein  Denker  schreibt 
anders  als  in  persönlicher  Eigenart,  aber  auch  keiner  denkt  anders 
als  in  dem  Geleise  der  durch  ihn  hindurch  und  über  ihn  hinaus 
sich  entwickelnden  Kulturprobleme. 

Dagegen  ist  nun  zu  fragen:  warum  sollte  sich  aber  dieser 
einheitliche  Stoff  nicht  unter  zweierlei  verschiedener  Frage- 
stellung betrachten  lassen?  Wird  etwa  seine  Einheitlichkeit 
dadurch  zerstört,  dass  er  verschiedene  historische  Gesichtspunkte 
zulässt?  Dann  stünde  es  schlimm  um  die  Geschichtsforschung 
überhaupt,  die  doch  in  allen  komplizierteren  Fragen  sich  zu  aller- 
erst die  Gesichtspunkte  absteckt,  nach  denen  sie  ihr  Material  ge- 
sondert, von  verschiedenen  Seiten  zu  fassen  sucht;  und  das  tut 
sie  doch,  ohne  auf  die  Einheit  Verzicht  zu  leisten,  ja  sogar  in  der 
bestimmten  methodischen  Überlegung,  dass  sie  erst  auf  diesem 
Umwege  zur  Erfassung  der  Einheit  gelangen  kann.  Um  dieses 
Bedenken  also  können  wir  beruhigt  sein:  die  Zweiheit  der  Frage- 


464  N.  Hartmann, 

punkte  wird  die  Einheit  der  Philosophiegeschichte  nicht  auseinander- 
reissen. 

Dageg-en  fällt  eine  andere  Frage  ernstlicher  ins  Gewicht: 
vorausgesetzt  also,  wir  hätten  es  mit  einer  Geschichte  der  Denker 
einerseits  und  mit  einer  Geschichte  der  Probleme  andererseits  zu 
tun,  —  welcher  dieser  beiden  Geschichtszweige  beansprucht  dann 
das  erste  und  wichtigste  Interesse,  welcher  ist  voranzustellen? 

Es  soll  hiermit  nicht  gefragt  sein,  in  welcher  der  beiden 
Richtungen  die  grössere  Aufgabe  der  Philosophiegeschichte  zu 
suchen  sei,  oder  gar  in  welcher  die  ernstere  wissenschaftliche 
Rechenschaft  abzulegen  wäre.  Das  hiesse,  aus  der  JB>age  der 
geschichtlichen  Disposition  eine  Wertfrage  der  beiderseitigen 
Interessen  machen.  Selbst  wenn  sich  solch  eine  Wertfrage  mit 
Bestimmtheit  zu  Gunsten  einer  Richtung  entscheiden  liesse,  so 
wäre  damit  dem  Geschichtsproblem  nicht  geholfen;  denn  es  würde 
sich  dann  erst  fragen,  ob  die  Voranstellung  der  bevorzugten 
Fragestellung  auch  methodisch  durchführbar  ist.  Und  das  lässt 
sich  zum  Voraus  nicht  ersehen.  Vielmehr  muss  von  vornherein 
die  Gleichwertigkeit  beider  Richtungen  vorausgesetzt  werden; 
durch  jede  Vorwegnahme  würde  man  sich  das  Problem  nur  er- 
schweren. Für  den  Ausgangspunkt  muss  es  genügen,  dass  beide 
vorliegen,  als  Probleme  dastehen,  und  dass  unser  historisches 
Bewusstsein  imstande  ist,  sie  sowohl  zu  unterscheiden  als  auch  in 
ihrer  Einheit  zu  begreifen.  Und  das  kann  ja  wohl  schwerlich  be- 
zweifelt werden,  dass  die  Geistesgeschichte  der  Menschheit  an 
beiden  ihr  wohlberechtigtes  Interesse  hat.  Ist  doch  allemal  der 
Genius  der  Wissenschaft  ebensosehr  bedingt  durch  die  geniale 
Persönlichkeit,  als  diese  durch  die  geschichtliche  Kontinuität 
ihrer  Probleme.  In  dieser  wie  in  jener  Richtung  ist  daher  das 
Interesse  auf  wirkliche  Kulturwerte,  auf  sachliche  Fragen  ge- 
richtet. Sofern  wenigstens  der  Denker  und  sein  Problem  in 
tieferem  als  bloss  zufälligem  Sinne  eine  innerlich  untrennbare 
Einheit  bilden,  so  hat  naturgemäss  die  Persönlichkeit  mehr  als 
bloss  biographisches  Interesse  —  weil  sie  der  Schneidepunkt 
historischer  Problemlinien  ist  — ,  das  Problem  aber  mehr  als  aus- 
schliesslich philosophisches  Interesse,  weil  es  als  durchgehende 
Linie  zugleich  der  logische,  oder  vielmehr  „historische"  Ort  ist 
für  solche  Schneidepunkte,  d.  h.  für  neue  und  neue  individuelle 
Denkereigentümlichkeit. 


Zur  Methode  der  Philosophiegeschichte.  465 

Es  kann  sich  also  nicht  um  Ausschliessung  der  einen  oder 
anderen  Frage  handeln,  sondern  nur  um  die  Vorausteilung  einer 
von  beiden.  Und  für  diese  Frage  kommt  es  einzig  darauf  an, 
welches  von  beiden  Problemen  das  selbständigere  ist,  welches  sich 
am  ehesten  gesondert  betrachten  und  womöglich  für  das  andere 
bereits  zugrunde  legen  Hesse.  Die  Philosophiehistoriker  sind  in 
der  Tat  immer  entweder  mehr  auf  das  eine  oder  mehr  auf  das 
andere  Problem  ausgegangen.  Denn  es  ist  bei  der  Grösse  der 
geschichtlichen  Schwierigkeiten  unmöglich,  beide  zugleich  und  im 
gleichen  Masse  zu  betreiben,  —  so  sehr  es  immer  wahr  bleibt, 
dass  ein  Schritt  vorwärts  auf  dem  einen  Gebiet  auch  einen  Schritt 
vorwärts  auf  dem  anderen  bedeutet.  Zur  'Orientierung  verhelfen 
kann  man  sich  hier  nur  durch  eine  wenigstens  vorläufige  Iso- 
lierung beider. 

Hier  ist  es  nun,  wo  Stellung  genommen  werden  muss.  Aber 
nicht  mit  jeder  Art  von  Stellungnahme  ist  dem  Problem  gedient. 
Es  giebt  auch  eine  dogmatische  Stellung  zu  unserer  Frage;  und 
zwar  begegnen  wir  ihr  auf  beiden  Seiten,  sowohl  bei  denen,  die 
mit  dem  Denker  beginnen,  als  bei  denen,  die  das  Problem  voran- 
stellen. Solcher  Stellungnahme  gilt  es  nicht  nur  zu  entgehen, 
sondern  auch  sachlich  entgegenzutreten.  Der  Forscher  der  all- 
gemeinen Kulturgeschichte,  dessen  Interesse  ja  auch  mit  unab- 
weislichem  Recht  an  dem  historischen  Phänomen  der  Philosophie 
haftet,  wird  immer  geneigt  sein,  den  Denker  vor  dem  Gedanken 
ins  Auge  zu  fassen,  ja  unter  Umständen  ganz  bei  ihm  stehen  zu 
bleiben  und  die  Philosopheme,  die  ihn  charakterisieren  sollten,  über 
ihm  zu  vernachlässigen.  Das  beweist  dann  aber  nur,  dass  es  an 
dem  historischen  Phänomen  einer  Denkerpersönlichkeit  noch 
anderes  als  philosophiegeschichtliches  Interesse  giebt.  Jedenfalls 
ist  der  Methodenfrage  der  Philosophiegeschichte  mit  solchem  Ent- 
scheid nicht  geholfen. 

Aber  auch  auf  der  anderen  Seite  gilt  es,  sich  standpunkt- 
licher Voreingenommenheit  zu  entschlagen.  Es  könnte  nämlich 
scheinen,  als  hätte  der  Spezialforscher  der  Philosophiegeschichte 
hier  bloss  einer  sehr  einfachen  Überlegung  nachzugehen:  die  Ge- 
schichte der  Philosophie  will  es  zugestandenermassen  mit  keinem 
anderen  Material  zu  tun  haben,  als  mit  der  Philosophie  selbst. 
Die  Philosophie  selbst  aber  als  solche  besteht  nicht  in  philoso- 
phierenden Persönlichkeiten,  sondern  einzig  in  Philosophemen  oder 
Problemen.    Also  hat  ihre  Geschichte  nichts  anderes  als  Geschichte 


466  N.  Hartmann, 

der  Probleme  zu  sein.  —  Das  ist  ein  Standpunkt,  der  manches 
für  sich  hat.  Ihn  hat  am  deutlichsten  Teichmüller  vertreten; 
denn  was  er  „Geschichte  der  Begriffe"  nennt, ^)  ist  sichtlich  nichts 
anderes  als  reine  Problemgeschichte.  Ist  doch  der  „Begriff"  im 
strengen  Sinne  der  auf  seine  definitorischen  Grundmomente  redu- 
zierte Bestand  eines  systematischen  Problems,  also  gleichsam 
dessen  Abbreviatur.  Gleichwohl  bringt  uns  dieser  Standpunkt 
einer  Lösung  der  prinzipiellen  Frage  in  unserem  Geschichtsproblem 
nicht  näher.  Denn  auch  er  ist  dogmatisch,  auch  hier  ist  die 
Frage  der  geschichtlichen  B'orschungsmittel  in  eine  Wertfrage  des 
geschichtlichen  Inhaltes  umgewendet.  Statt  zu  fragen:  welche 
Erkenntniskompetenz  steht  uns  dem  Historisch-Faktischen  gegen- 
über zu,  wird  hier  gefragt:  was  gilt  es  überhaupt  an  dem  Histo- 
risch-Faktischen zu  erkennen?  Das  war  gerade  die  Frage,  die 
für  unser  Problem  zurückgestellt  werden  musste.  Wir  müssen 
vielmehr  auf  der  Gleichwertigkeit  aller  historischen  Interessen 
fussen  und  unsere  Voranstellung  der  einen  oder  der  anderen 
Forschungsrichtung  lediglich  danach  bemessen,  welche  von  beiden 
zuerst  —  d.  h.  unabhängig  von  der  anderen  —  einsetzen  kann 
und  so  auf  Grund  eigener,  gesicherter  Methodik  den  ersten  Schritt 
zu  machen  die  Kraft  hat. 

An  diesem  Punkte  nun  müssen  wir  jene  Komplizierung  des 
gesamten  Geschichtsgebietes,  auf  die  wir  bereits  zu  Anfang  auf- 
merksam wurden,  zum  Massstabe  der  methodischen  Kompetenz 
heranziehen.  Es  giebt  historische  Erscheinungen,  die  sich  auf 
keine  Weise  in  ein  einziges  Gebiet  restlos  einordnen  lassen.  Ein 
politisches  Ereignis  findet  leicht  gleichzeitig  seinen  Platz  in  der 
Kulturgeschichte  oder  Religionsgeschichte,  ein  litterarisches  leicht 
in  der  Sittengeschichte.  Je  konkreter  und  individueller  das  histo- 
rische Faktum  ist,  um  so  vielseitiger  ist  es  und  in  umsomehr 
Spezialgebiete  der  Geschichte  gehört  es  gleichzeitig  hinein.  Es 
historisch  in  seiner  Ganzheit  wiedergeben,  heisst  dann  die  Einheit 
aller  jener  Teilgebiete  an  ihm  herstellen. 

Es  lässt  sich  nun  leicht  begreifen,  inwiefern  die  Denker- 
eigentümlichkeit und  das  Problem  für  die  Geschichtsforschung 
Gegenpole  bilden.  Die  Individualität  des  Einzelmenschen  ist  das 
komplizierteste,  vielseitigste  aller  historischen  Phänomene.  Es 
giebt  keinen  Geschichtszweig,    in  den  sie  nicht  mit  hineingehörte. 


^)  Studien  zur  Geschichte  der  Begriffe,  Berlin  1874,  Vorrede  III. 


Zur  Methode  der  Philosoplaiegeschichte.  467 

Daher  ist  sie  ein  höchstes  und  äusserstes  unter  den  Geschichts- 
problemen, eine  Aufgabe,  zu  deren  Erfüllung  es  einer  unberechen- 
bar weit  ausholenden  Vorarbeit  bedarf.  Die  historische  Persön- 
lichkeit in  ihrer  vollen  Eigenart  rekonstruieren,  bedeutet:  die 
Einheit  der  Geschichte  in  ihr  herstellen.  Ob  diese  sich  aber 
gegebenen  Falles  herstellen  lässt,  ist  immer  eine  Frage  mannig- 
facher und  durchaus  zufälliger  Bedingungen.  Das  Material,  das 
der  Forscher  hier  übersehen,  sichten  und  zur  Darstellung  bringen 
muss,  setzt  seine  Orientiertheit  auf  sämtlichen  Teilgebieten,  in 
die  es  hineinspielt,  voraus.  So  trägt  die  historische  Aufgabe  dieser 
Art  unvermeidlich  den  Charakter  des  Grenz-  und  Endproblems. 
Die  Philosophiegeschichte  mit  ihr  beginnen,-  hiesse  die  schwerste 
und  komplizierteste  Frage  zum  Ausgangspunkt  nehmen,  das  Ende 
zum  Anfang  machen. 

Den  umgekehrten  methodischen  Charakter  zeigt  in  jeder 
Hinsicht  das  Problem  als  Gegenstand  der  Geschichtsforschung. 
Denn  das  Problem,  sofern  es  philosophisches  oder  Fundamental- 
problem ist,  bedarf  keiner  Umwege  und  Vorbereitungen,  um  in 
deutlicher  Prägnanz  historisch  fassbar  zu  werden.  Es  ist  etwas 
in  sich  Einfaches,  auf  sich  selbst  Beruhendes,  in  nichts  anderem 
als  in  der  Vernunft  Gegründetes.  Vorbedingung  für  das  histo- 
rische Verständnis  des  Problems  ist  neben  der  Kenntnis  des  vor- 
liegenden Quellenmaterials  einzig  und  allein  das  systematische 
Verständnis  des  Problems.  D.  h.  der  Geschichtsforscher  muss 
das  Problem  als  solches  bereits  kennen,  in  sich  tragen,  denn  er 
muss  das  ihm  vorliegende  Material  auf  dasselbe  hin  sondern  und 
disponieren  können;  er  muss  die  leisesten  Spuren  gleicher  oder 
ähnlicher  Problemstellung  wiederzuerkennen  und  auch  die  ver- 
schwommenen, nur  halb  überlieferten  Lösungsversuche  als  solche 
herauszuheben  und  zu  würdigen  im  Stande  sein.  Freilich  kommt 
er  auf  diesem  Wege  nicht  unmittelbar  dazu,  die  besonderen  Privat- 
meinungen des  betreffenden  Denkers  auch  als  solche  zu  erfassen, 
wohl  aber  dazu,  den  objektiven  Problemwert  in  seinem  Denken 
und  Schaffen  festzulegen;  d.  h.  er  zeigt  die  problemgeschichtliche 
Bedeutung  seiner  Leistung  auf. 

Sicherlich  hat  auch  solch  eine  Aufgabe  ihre  Schwierigkeiten. 
Aber  diese  sind  hier  von  anderer  Art.  Sie  liegen  nicht  im  Ex- 
tensiven, nicht  in  der  Komplizierung.  Denn  für  den  Zweck  der 
Problemgeschichte  braucht  das  ihr  zugrundegelegte  philosophische 
Problem    durch    nichts    ergänzt   zu  werden,    was   nicht   wiederum 

£&nUtadisQ  XV.  30 


468  N.  Hartmann, 

selbst  philosophisches  Problem  wäre.  Das  Problem  kann  freilich 
selbst,  auch  bloss  systematisch  genommen,  schwer  und  verwickelt 
sein,  und  deswegen  mag  es  dann  unter  Umständen  auch  schwer 
im  Historischen  wiederzuerkennen  sein.  Aber  dann  ist  diese 
Schwierigkeit  vielmehr  schon  eine  systematische  und  keine  eigent- 
lich historische  mehr.  Die  eigentlich  historische  Aufgabe  des 
Wiederfindens  ist  dagegen,  unter  Voraussetzung  systematischer 
Klarheit  über  das  Problem,  durchaus  einfach  und  beschränkt. 
Eine  solche  Aufgabe  ist  in  den  Grenzen  eines  übersehbaren  Mate- 
rials immer  erfüllbar.  Das  Material  selbst  aber  ist  hier  eben  des- 
wegen in  der  Regel  übersehbar,  weil  es  durchweg  homogen,  durch- 
weg Problem material  ist. 

Das  ist  der  erste  rein  methodische  Grund  für  die  Voran- 
stellung der  Problemgeschichte  innerhalb  der  methodischen  Kom- 
petenz der  Philosophiegeschichte.  An  ihn  schliesst  sich  unmittel- 
bar ein  zweiter,  ebenso  rein  methodischer  Grund  an.  Er  liegt  in 
jener  Eigentümlichkeit  alles  historischen  Denkens,  auf  die  wir 
bereits  einleitenderweise  hingewiesen  haben,  in  seinem  Entwicke- 
lungs-  oder  Kontinuitätscharakter.  Geschichte  will  und  muss 
immer  Zusammenhang  sein;  die  Isolierung  des  Einzelnen,  des 
Stadiums  im  Prozess,  ist  allemal  eine  Unterbindung  des  eigentlich 
historischen  Verständnisses.  Erst  die  Einheit  der  Stadien  ist  Ge- 
schichte. Um  aber  solche  historische  Kontinuität  herzustellen, 
gilt  es,  die  einheitliche  historische  Linie,  oder  das  Geleise,  fest- 
zulegen, innerhalb  dessen  die  Stadien  einander  ablösen. 

Ein  solches  einheitliches  Geleise  ist  für  die  historische 
Forschung  das  systematisch-philosophische  Problem.  Denn  der 
einzelne  Denker  und  seine  Gedankenwelt  wurzelt  allemal  in  dem 
Problem,  oder  in  dem  Komplex  von  Problemen,  innerhalb  dessen 
sich  seine  systematische  Forschung  bewegt.  Nicht  aber  umge- 
kehrt wurzelt  auch  das  Problem  in  ihm  als  Individualität,  sondern 
es  wurzelt  in  dem  objektiven  Denkgehalt  der  Wissenschaften  und 
letzterdings  in  der  Natur  der  Vernunft  selbst.  Diese  Ver- 
nunft aber  ist  eine  in  aller  Mannigfaltigkeit  der  historischen 
Stadien  ihrer  Selbstentfaltung,  —  ebenso  wie  ja  auch  die  Mathe- 
matik oder  der  Gesetzescharakter  der  Natur  immer  und  überall 
nur  einer  ist,  während  die  geschichtliche  Herausentwickelung  solch 
einer  Vernunfteinheit  immer  nur  ihre  fortschreitende  Besinnung 
auf  sich  selbst,  oder  ihre  Rechenschaft  über  sich  selbst  bedeutet. 
Das  Problem    ist   garnichts    anderes   als   die  Besonderung   der  in 


Zur  Methode  der  Philosophiegeschichte.  469 

sich  einheitlichen  Vernunft  auf  eines  ihrer  Teilgebilde.  Darum 
ist  für  die  geschichtliche  Forschung  das  Problem  unmittelbar  das 
Identische,  und  folglich  auch  das  Vereinigende,  innerhalb  des 
Wechsels  der  einander  ablösenden  gedanklichen  Stadien. 

Von  hier  aus  gesehen,  erweist  sich  die  Geschichte  der  Pro- 
bleme als  die  Betrachtung  solcher  Vernunfteinheiten  in 
ihrer  zeitlichen  Selbstentfaltung.  Die  gesuchte  histo- 
rische Kontinuität  ist  allemal  eine  solche  Selbstentfaltung. 
Diese  ist  in  der  Einheit  des  Problems  zugrundegelegt. 
Ihre  Stufen  aber  sind  in  ihr  nicht  mit  gegeben,  sondern  wollen 
erst  an  ihrer  Hand  aus  dem  jedesmal  vorliegenden  Quellenmaterial 
aufgelesen  und  als  solche  wiedererkannt  sein.  Die  Eichtung  der 
Einordnung  ist  zugrundegelegt;  und  durch  sie  ist  neben  den  Be- 
stimmtheiten der  unmittelbar  vorliegenden  Tatsachen  bereits  die 
w^egweisende  und  regulierende  (wohl  auch  gar  kontrollierende) 
Gegeninstanz  einer  anderen  Art  von  Bestimmtheit  an  die  Hand 
gegeben,  die  ihrerseits  nicht  weniger  schwer  ins  Gewicht  fällt  als 
die  Tatsachen.  — 

Wie  steht  es  dieser  historischen  Kontinuität  gegenüber  nun 
mit  der  Geschichte  der  Denker,  der  Persönlichkeiten?  Die  Per- 
sönlichkeit ist  vor  allem  Subjektivität,  psychische  Innerlichkeit, 
und  schon  als  solche  das  Schwerst-Erforschbare,  das  sich  denken 
lässt.  Wo  bleibt  da  jene  „unmittelbare  Gegebenheit",  als  welche 
man  sie  greifen  zu  können  meint,  so  lange  einem  die  Vieldeutig- 
keit ihrer  Äusserungen  nicht  zum  Bewusstsein  kommt!  Selbst  die 
Tatsachen,  die  litterarischen  Zeugnisse,  zeugen  nicht  unmittelbar 
von  der  Subjektivität.  Aller  sprachliche  Ausdruck  ist  in  erster 
Linie  Ausdruck  für  Objekte  und  objektive  Relationen;  und  diese 
wären  beim  philosophischen  Schriftsteller  wiederum  die  sachlichen 
Gegenstände,  die  er  behandelt,  die  Probleme.  Das  Persönliche 
aber,  das  individuell-Eigentümliche,  das  sich  in  ihrer  Darstellungs- 
weise wiederspiegelt,  ist  durchaus  etwas  Indirektes,  erst  durch 
psychologisches  E'eingefühl  zu  Erschliessendes;  es  setzt  beim  Ge- 
schichtsforscher immer  schon  ein  weitgehendes  Interpretations- 
moment voraus.  Und  dieses  ist  immer  eine  Frage  zufälliger 
Gleichgestimmtheit  und  Kongenialität.  Es  in  solcher  Fragestellung 
zu  einer  gesicherten  Methode  zu  bringen,  liegt  wenigstens  vom 
heutigen  Stande  der  Forschung  noch  weit  ab.  Und  selbst  wenn 
es  erreicht  wäre,  wenn  wir  mit  allem  Scharfblick  in  die  Subjekti- 
vität  des    einmal    dagewesenen  Bewusstseins    eindringen  könnten, 

30* 


470  N.  Hartmann, 

—  wie  weit  würde  selbst  dann  das  eigentlich  Geschichtliche  an 
dieser  Forschung  reichen?  Zu  einer  historischen  Kontinuität  im 
grossen  Stil  könnte  es  trotzdem  niemals  kommen,  weil  Anfang 
und  Ende  einer  jeden  Entwickelungslinie  doch  immer  innerhalb 
der  zeitlichen  und  inhaltlichen  Grenzen  einer  Persönlichkeit  liegen 
müssten,  und  bereits  die  nächste  Denkerpersönlichkeit  statt  einer 
Fortsetzung  der  alten  vielmehr  den  Beginn  einer  neuen,  von 
Grund  aus  anderen  und  anders  bedingten  Linie  bezeichnen  würde. 
Über  den  Massstab  der  Biographie  würden  wir  also  auch  dann 
nicht  hinauskommen.  Und  die  ganze  Geschichte  der  Philosophie 
bekäme  den  Charakter  des  Diskontinuierlichen,  Vereinzelten. 

So  müsste  denn  selbst  für  den  Zweck  der  monographischen 
Geschichte  eines  Denkers  letztlich  immer  von  der  Seite  der 
Probleme  ausgegangen  werden.  Zwischen  der  Individualität  des 
Denkers  und  dem  philosophischen  Problem  ist  immer  dieses  Ver- 
hältnis :  der  Denker  kann  das  Problem  nicht  ändern.  Es  ist  nicht 
durch  ihn  geworden  und  nicht  von  ihm  zu  vernichten.  Das  Pro- 
blem seinerseits  dagegen,  sofern  es  von  ihm  aufgegriffen  und  be- 
handelt, womöglich  gar  gefördert  wird,  kann  sehr  wohl  die  Indi- 
vidualität mit  bestimmen;  es  ist  Ingrediens  ihrer  Selbstentwicke- 
lung. Das  Problem  selbst  als  solches  steht  fest;  es  hat  nur 
seinen  systematischen  Grund  zur  eigenen  Bestimmung,  und 
alle  historische  Variabilität  an  ihm  betrifft  nicht  es  selbst,  sondern 
nur  die  Grade  oder  Stufen  seines  Hindurchdringens  zum  Selbst- 
bewusstsein.  Der  einzelne  Denker  kann  nichts  Anderes,  Hetero- 
genes hineintragen.  Er  kann  sich  freilich  ablenken  lassen,  er 
kann  das  Problem  verfehlen,  oder  doch  nur  halb  und  unrein  er- 
kennen. Aber  mit  alledem  ändert  er  nicht  das  Problem,  sondern 
nur  seine  Stellung  zu  ihm.  Die  Philosophiegeschichte  muss  sich 
daher  vor  allen  Dingen  au  den  systematischen  Grundwert  der 
Probleme  halten ;  an  ihnen  erst  kann  sie  die  gedankliche  Leistung 
eines  Denkers  zu  messen  hoffen. 

Aus  diesem  Grunde  ist  das  Problem  immer  das  historisch 
Fasslichere  und  das  für  alles  andere  Orientierende.  Am  Problem 
haben  wir  immer  unmittelbar  den  systematischen  Anknüpfungspunkt, 
und  daher  auch  den  historischen  Anknüpfungspunkt.  Das  zeigt 
sich  an  den  Punkten,  wo  uns  die  historischen  Zeugnisse  verlassen 
und  wo  wir  also  darauf  augewiesen  sind,  Rückschlüsse  aus  dem 
späteren  Denkstadium  auf  ein  früheres  zu  machen.  Wo  wir  in 
bestimmten  Punkten   nicht    wissen,    wie    ein  Denker  gedacht  hat, 


Zur  Methode  der  Philosophiegeschichte.  471 

da  können  wir  unter  Umständen  noch  sehr  wohl  wissen,  wie  im 
Wesentlichen  er  gedacht  haben  muss,  sofern  einerseits  er  sich  von 
dem  Rechenschaft  gab,  was  ihm  an  Fragestellung  bereits  vorlag, 
und  andererseits  sofern  es  begreiflich  werden  soll,  dass  der  nächst- 
folgende Denker,  aus  ihm  hervorwachsend,  zu  den  und  den  be- 
stimmten Konsequenzen  gelangen  konnte.  Die  Gewähr  hierfür 
leistet  uns  eben  jener  systematische  Grundcharakter,  indem  das 
an  sich  unbeschränkte  Feld  der  Möglichkeiten  durch  ihn  auf  die 
Enge  eines  bestimmten  Problemgeleises  eingeschränkt  wird.  Denn 
durch  ihn  ist  nicht  nur  das  Problem  selbst,  sondern  auch  die  Ge- 
samtrichtung seines  Ganges  durch  die  Geschichte  bestimmt.  Dieser 
Gang  ist  eben  selbst  ein  stetiger,  oder  systematischer  Gang.  Er 
ist  von  innen  heraus  notwendig  aus  der  Natur  des  Problems  selbst, 
und  jedes  seiner  historischen  Stadien  ist  notwendig  aus  der  Stetig- 
keit dieses  Ganges  heraus;  d.  h.  es  hat  seinen  inneren  Charakter 
vielmehr  daran,  dass  es  systematisches  Stadium  ist.  Seine 
Gesamtgeschichte  aber  ist  nichts  anderes  als  die  Entfaltung  dieses 
inneren  Charakters  in  seiner  Ganzheit.  Wenn  man  daher  auf  den 
historischen  Gang  als  Ganzes  hinblickt,  so  muss  aus  ihm  auch  das 
Einzelstadium  bestimmbar  werden. 

Es  kann  hier  leicht  das  Missverständnis  entstehen,  als  sollte 
zugleich  mit  der  Gesamtrichtung  des  historischen  Ganges  auch  der 
Inhalt  der  einzelnen  Stadien  a  priori  vorwegnehmbar  gemacht 
werden.  Das  wäre  freilich  der  Fall,  wenn  über  die  genauere  Ge- 
staltung dieses  Ganges  etwas  mit  ausgesagt  würde,  etwa  seine 
Gradlinigkeit  und  unabweichliche  Fortschrittlichkeit,  oder  etwa 
sein  antithetischer  Charakter,  wie  Hegel  ihn  beanspruchte. 
Dieser  meinte  die  Dialektik  der  Begriffsbestimmungen  der  logischen 
Idee  unmittelbar  in  der  geschichtlichen  Aufeinanderfolge  der  phi- 
losophischen Systeme  wiederzufinden.^)  Ein  derartiger  Anspruch 
ist  immer  eine  Überschreitung  der  historischen  Kompetenz  und 
eine  Ignorierung  des  Eigentümlichen  der  Fakten.  In  Hegels  Ge- 
danken war  soviel  Richtiges  und  Verdienstliches,  als  durch  ihn 
zuallererst  erkannt  wurde,  dass  überhaupt  ein  systematischer 
Kontinuitätscharakter  der  zeitlichen  Aufeinanderfolge  der  Problem- 
stadien zugrunde  liege.  Aber  statt  nun  auf  Grund  dieser  Vor- 
aussetzung vorurteilslos  an  die  Fakten  heranzutreten  und  sich  von 
ihnen   über    den    Spezialcharakter  der  einzelnen  Stadien  belehren 


1)  Hegel,  Werke  XIH,  Gesch.  d.  Philos.,  Einleitung,  S.  43. 


472  N.  Hartmann, 

ZU  lassen,  unternahm  er  es,  auch  diese  Stadien  selbst  aus  dem 
systematischen  Gehalt  der  Grundprobleme  heraus  a  priori  zu 
konstruieren. 

Dieser  Fehler  Hegels  ist  oft  genug  gerügt  worden  und  dürfte 
dem  Historiker  von  heute  schwerlich  mehr  zur  ernstlichen  Gefahr 
werden.  Ebensowenig  aber  kann  die  systematische  Problemeinheit 
der  historischen  Stadien  es  rechtfertigen,  wenn  kontinuierlich  von 
Stadium  zu  Stadium  ein  gradliniger  Fortschritt  postuliert  wird. 
Im  Gegenteil,  diejenige  Fortschrittlichkeit,  die  sich  wirklich  eben- 
sowohl postulieren  als  an  den  Fakten  verfolgen  lässt,  ist  immer 
bereits  bedingt  durch  die  Vereinigung  und  Kreuzung  verschiedener 
Problemlinien,  oder  auch  durch  ihre  Spaltung  und  Differenzierung. 
Beides  aber  ist  vom  Gesichtspunkt  des  einzelnen  Problems  aus 
ein  Umweg,  der  sicherlich  niemals  a  priori  aus  seinem  systema- 
tischen Charakter  erschlossen  werden  kann.  Hier  brauchen  die 
historischen  Stadien  einer  Problementfaltung  in  ihrer  Abfolge 
keineswegs  mit  den  systematischen  Stadien  der  begrifflichen  Be- 
stimmungen eines  Problems  zusammenzufallen.  Das  einzige,  was 
sich  behaupten  lässt  und  was  für  die  Methodik  der  Geschichts- 
forschung auch  durchaus  hinreicht,  ist  der  Satz,  dass  jedes  histo- 
rische Stadium  überhaupt  den  Charakter  eines  systema- 
tischen Stadiums  bereits  in  sich  enthält,  und  dass  sich  an 
ihm  daher  dem  Geschichtsforscher  jederzeit  die  Möglichkeit  dar- 
bietet, die  vernunftgemässe  Problemeinheit  in  ihm  wieder- 
zuerkennen und  es  dadurch  der  Einheit  einer  historischen  Konti- 
nuität überhaupt  zuzuordnen.  An  welchen  Punkt  dieser  Konti- 
nuität es  zu  setzen  sei,  und  zwischen  welche  Nachbarstadien  es 
fallen  wird,  das  ist  nicht  mehr  Sache  der  systematischen  Rekog- 
nition,  sondern  —  ebenso  wie  die  besonderen  Ausdrucksformen 
und  Begleiterscheinungen  —  Sache  der  Fakten  und  der  sie  dis- 
ponierenden Chronologie.  Das  Problem  als  solches  braucht  weder 
gradlinig  noch  antithetisch,  noch  etwa  sonst  irgendeinem  anti- 
zipierbarem Schema  gemäss,  durch  die  Geschichte  zu  gehen;  es 
kommt  einzig  darauf  an,  dass  es  überhaupt  ein  Geleise  für  die 
einander  ablösenden  Formulierungen  giebt.  Die  Art  des  Ganges 
innerhalb  dieses  Geleises  ist  durch  dasselbe  nicht  mit  gegeben. 
Das  Geleise  ist  weit  genug,  um  immer  eine  gewisse  Bewegungs- 
freiheit, eine  Mannigfaltigkeit  der  Möglichkeiten  offen  zu  lassen. 
Es  bedeutet  den  einzelnen  geschichtlichen  Bestimmtheiten  gegen- 
über nur  die  Frage-  oder  Forschungsrichtung,  innerhalb  derer  sie 


Zur  Methode  der  Philosophiegeschichte.  473 

ZU  suchen  sind.  Ihnen  greift  die  Fragestellung  nicht  vor.  Sie 
weist  vielmehr  zu  allererst  auf  die  Fakten  hin.  Denn  die  Fakten 
wollen  ja  nicht  einfach  aufgereiht  sein,  sofern  sie  geschichtliche 
Bestimmtheiten  ergeben  sollen;  es  muss  eben  in  bestimmter  Frage- 
stellung auf  sie  abgezielt  werden,  um  aus  ihnen  bestimmte  Ant- 
worten zu  gewinnen. 

Darum  ist  nun  aber  die  Geschichte  der  Wissenschaft  durch- 
weg auf  die  wissenschaftliche  Systematik  hingewiesen;  sie  hat  an 
ihr  das  Leitprinzip  ihrer  eigenen,  historischen  Tendenzen.  Und 
nur  so  ist  historische  Kontinuität  durchzuführen.  Denn  die  Über- 
lieferung schweigt  von  vielem,  was  für  diese  Kontinuität  wesent- 
lich ist,  überspringt  manche  Stadien,  unbekümmert  darum,  ob  das 
Ganze  der  Philosophiegeschichte  durch  dieses  Überspringen  leidet 
oder  nicht.  Und  wo  es  kein  direktes  Überspringen  ist,  da  sind 
doch  vielfach  die  Zeugnisse  unzureichend  und  lückenhaft.  Man 
denke  dabei  etwa  jener  tiefsinnigen  frühesten  Denker,  deren 
Schriften  fast  spurlos  verloren  sind,  deren  dürftige  Fragmente 
uns  aber  gleichwohl  schliessen  lassen,  wie  tiefgreifende  wissen- 
schaftliche Grundlegungen  sie  vollzogen  haben  müssen.  Aber 
dieses  Schliessen  ist  eben  keineswegs  auf  die  Fragmente  allein 
angewiesen:  sofern  wir  nur  fähig  sind,  etwas  von  dem  Problem- 
charakter aus  ihnen  zu  erkennen,  so  rückt  dieses  Wenige  mit 
einem  Schlage  an  einem  sehr  bestimmten  logischen  Ort,  nämlich 
an  einen  bestimmten  Punkt  der  systematischen,  und  folglich  auch 
der  historischen  Kontinuität.  Das  aber  ergiebt  einen  Gesichts- 
punkt, von  dem  aus  die  durchgehenden  Fäden  der  Problem- 
geschichte sich  für  das  Einzelstadium  als  fruchtbar  erweisen. 
Denn  wie  ein  Denker  gedacht  haben  muss,  wenn  er  durch  seine 
Denkarbeit  Schlussfolgerungen  bestimmter  Art  bei  seinem  nächsten 
Nachfolger  möglich  machte,  ist  eine  Frage,  die  in  gewissen 
Grenzen  immer  beantwortet  werden  kann.  Und  solche  Frage- 
punkte sind  dann  die  rechtmässigen  Ansatzpunkte  für  die  Methode 
des  Rückschlusses.  Diese  Methode  ist  das  kraftvollste  Mittel, 
das  wir  in  der  historischen  Forschung  als  Ergänzung  fehlenden 
Faktenmaterials  besitzen;  aber  nicht  auf  jedem  Geschichtsfelde  ist 
sie  so  fruchtbar  wie  auf  dem  der  Philosophiegeschichte.  Denn 
die  reine  Problemgeschichte  hat  die  strengste  Stetigkeit  des 
Ganges,  die  genaueste  historische  Kontinuität,  —  weil  diese  im 
Grunde   ja    schon    vielmehr    systematische    Kontinuität    ist.      An 


474  N.  Hartmann, 

dieser    aber    hängt    ganz    und    gar    die    Methode    des    Rück- 
schlusses. ^) 


Soviel  möge  genügen,  die  Leistung  des  Begriffs  der  Problem- 
geschichte für  das  Problem  der  Philosophiegeschichte  zu  charak- 
terisieren. Wir  kommen  nun  zu  unserer  zweiten  Frage,  welche 
die  systematische  Begründung  dieser  Leistung  betreffen  sollte.  — 
Die  eigentliche  Methodenforschung  nämlich  hat  mit  dem  bisherigen 
Resultat  nicht  sowohl  ihr  Ende  als  vielmehr  erst  ihren  Anfang 
gefunden.  Denn  Methodenforschung  hat  ja  nicht  bloss  die  Frucht- 
barkeit und  Leistungsfähigkeit  einer  bestehenden  Methode  zu  be- 
leuchten und  so  gleichsam  nachträgliche  Propaganda  für  sie  zu 
machen.  Sie  hat  vielmehr  dort,  wo  sie  zum  Begriff  einer  leistungs- 
fähigen Methode  gelangt  ist,  erst  die  eigentlich  philosophische 
Frage  nach  ihr  zu  stellen,  die  Frage  nach  den  Bedingungen 
der  Möglichkeit  in  ihr,  d.  h.  nach  den  Voraussetzungen,  unter 
denen  es  zu  ihr  kommen  kann.  Solange  es  über  diese  keine 
Klarheit  giebt,  kann  es  auch  keine  Rechenschaft  über  die  Berech- 
tigung einer  Methode  geben  und  keine  inneren  Gründe  für  ihre 
Haltbarkeit  und  Entwickelungsfähigkeit.  An  der  letzteren  aber 
liegt  alles.  Denn  es  ist  einer  Wissenschaft  nicht  gedient  mit  der 
Aufstellung  „einer  unter  vielen  Methoden",  die  dann  bei  zuneh- 
mender Vervollkommnung  sehr  wohl  wieder  wird  preisgegeben 
werden  können.  Es  handelt  sich  vielmehr  um  das  noch  zu  er- 
schaffende Ideal  der  Methode,  die  in  ihrer  Einzigkeit  die  not- 
wendige Voraussetzung  aller  ferneren  Vervollkommnung  und  Ver- 
einheitlichung möglicher  Methodik  werden  muss. 

Die  Frage,  die  uns  vorliegt,  ist  nunmehr  diese:  wie  ist 
reine  Problemgeschichte  möglich? 

Wenn  man  die  Entwickelung  von  etwas  erforschen  will,  so 
muss  man  zuvor  das  fertig  entwickelte  Etwas  kennen.  Der 
tierische  Organismus  will  als  Vollendeter  verstanden  sein,  bevor 
man  seine  Keimgeschichte  begreifen  lernt.  So  muss  auch  Philo- 
sophie   (systematisch)    bereits   vorliegen    und   geistiger  Besitz  ge- 


^)  Diese  methodische  Überlegung  war  es,  die  ich  bereits  bei  meiner 
Darstellung  der  Vorsokratiker  in  der  historischen  Einleitung  zu  „Platos 
Logik  des  Seins"  (Giessen  1909)  im  Auge  hatte,  die  aber  freilich  dort 
(S.  7  Anm.)  nur  ganz  allgemein  angedeutet,  nicht  näher  begründet  werden 
konnte. 


Zur  Methode  der  Philosophiegeschichte.  475 

worden  sein,  wo  man  Geschichte  der  Philosophie  treiben  will; 
oder,  wie  wir  nun  sagen  müssen:  Wir  müssen  die  Probleme 
bereits  haben,  um  Problemgeschichte  treiben  zu  können.  Wir 
müssen  im  Besitz  einer  Philosophie  sein,  die  imstande  ist,  Pro- 
bleme prägnant  zu  machen  und  in  den  für  sie  zu  machenden 
Grundlegungen  zu  bestimmen.  —  Ks  giebt  eine  Ansicht  von  Philo- 
sophiegeschichte, die  dem  aufs  heftigste  widersprechen  zu  müssen 
meint.  Diese  meint,  sich  einfach  an  Fakten  halten  zu  müssen; 
und  diese  Fakten,  chronologisch  angeordnet,  ergäben  dann  bereits 
eine  geschichtliche  Kontinuität.  Aber  solche  Faktengeschichte 
kann  einem  allerwesentlichsten  Anspruch  nicht  gerecht  werden, 
dem  Anspruch  des  durchgehenden  Zusammenhanges.  Sie  hat 
nichts,  womit  sie  die  Lücken  der  Überlieferung  überbrücken  könnte. 
Aber  auch  abgesehen  davon:  selbst  wenn  uns  die  Motive  des 
historischen  Denkens  bis  in  alle  Feinheiten  hinein  vorlägen,  dürfte 
man  wohl  selbst  dann  sagen,  dass  ihre  einfache  Totalität  bereits 
eine  Geschichte  der  Probleme  wäre?  Würden  wir  nicht  vielmehr 
von  dem  ungeheuren  undifferenzierten  Ballast  des  Wichtigen  und 
Unwichtigen  erdrückt  und  über  alle  Tragkraft  des  Geistes  hinaus 
belastet  sein?  Müsste  nicht  vielmehr  erst  hier  die  wissenschaft- 
liche Arbeit  einsetzen,  die  Arbeit  des  Sichtens,  Heraushebens  und 
Weglassens?  Und  wie  sollte  diese  Arbeit  wohl  anders  geleistet 
werden  als  durch  Gesichtspunkte  der  Heraushebung,  die  man 
erst  in  das  Faktenmaterial  hineintragen  müsste!  Was  aber  so 
von  der  idealen  Totalität  der  Fakten  gilt,  das  gilt  garnicht 
weniger  von  jenen  Bruchteilen,  die  gegebenen  Falles  dem  Forscher 
immer  vorliegen.  Nicht  ihre  Quantität  oder  Vollständigkeit  ver- 
ändert ihren  Charakter;  es  handelt  sich  um  das  durchgehende 
Quäle  alles  bloss  quellenmässig  vorliegenden  Faktischen.  Wieviel 
oder  wie  wenig  es  immer  sein  mag,  es  ist  weder  im  Einzelnen 
noch  als  Entwickelungsreihe  verständlich,  solange  es  der  Gesichts- 
punkte entbehrt,  um  die  es  sich  gruppieren  muss,  und  unter  denen 
es  sich  erst  zu  geschichtlichen  Linien  der  Selbstent Wickelung 
zusammenschliesst. 

So  bedarf  alles  Faktische  erst  der  Gesichtspunkte.  Und  wo- 
rin sollten  nun  diese  Gesichtspunkte  wohl  anders  liegen  als  in  den 
Problemen,  die  das  systematische  Denken  uns  stellen  lässt  und 
in  denen  sich  alle  unsere  philosophische  Arbeit  bewegt?  Ja, 
unter  welchen  anderen  Gesichtspunkten  könnte  das  Faktenmaterial, 


476  N.  Hartmann, 

zur  Geschichte  gereinigt,  eine  „Geschichte  der  Probleme"  er- 
geben?^) 

Hiermit  haben  wir  nun  die  Bedeutung  und  die  metho- 
dische Leistung  der  systematischen  Probleme  für  die 
Philosophiegeschichte:  sie  werden  für  sie  zu  leitenden  Ge- 
sichtspunkten, unter  denen  eine  Geschichte  des  reinen  Denkens 
erst  möglich  wird.  Sie  werden  zu  Grundlegungen,  zu  trans- 
scendentalen  Bedingungen  der  Möglichkett  der  Ge- 
schichte. Denn  das  heisst  „Problerageschichte"  im  Unterschied 
von  aller  anders  verstandenen  Philosophiegeschichte:  dass  die 
historisch  forschende  Methodik  erst  ihre  „Probleme"  an  die 
Geschichte  stellen  muss,  auf  die  diese  dann  aus  dem  Schatz 
ihrer  Quellen  hervor  Antwort  schaffen  soll.  Geschichte  will  kein 
indifferentes  Etwas,  keine  Summe  unendlicher  Möglichkeiten  sein; 
sie  will  Aufgaben  verfolgen,  Probleme  lösen.  Deswegen  kommt 
es  zu  ihr  überhaupt  erst  dort,  wo  man  Probleme  an  sie  stellt, 
die  sich  in  den  Stufen  des  geschichtlichen  Ganges  wieder  und 
wieder  erkennen  lassen.  Die  Einheit  dieser  Probleme  ist  die 
Einheit  der  historischen  Kontinuität  —  jener  Kontinuität,  in  der 
aller  innere  Zusammenhang  des  zeitlich  Getrennten  beruht.  Denn 
hinter  ihr  steht  die  Einheit  der  Vernunft  in  aller  Zeit, 
welche  uns  unsere  Probleme  wiedereikennen  lässt  in  der  histo- 
rischen Ferne.  Darin  liegt  die  Bedingung  der  Möglichkeit  aller 
Philosophiegeschichte. 

Das  Problem  ist  aber  gleichwohl  nicht  nur  Bedingung  der 
Möglichkeit  der  Philosophiegeschichte,  sondern  auch  zugleich  Be- 
dingung ihrer  Wirklichkeit.  Es  giebt  nicht  nur  das  methodische 
Fundamentalmittel   ihrer   Forschung   her,    sondern   von  ihm  rührt 


1)  Es  ist  erfreulich,  zu  sehen,  wie  gleichzeitig  mit  den  hier  ge- 
zogenen Konsequenzen,  und  unabhängig  von  ihnen,  ganz  ähnliche  auch 
von  anderer  Seite  gezogen  worden  sind.  So  am  deutlichsten  wohl  bei 
Br.  Bauch,  Das  Substanzproplem  in  der  griech.  Philosophie  bis  zur 
Blütezeit,  wo  es  in  der  Einleitung  S.  2  heisst:  „der  Historiker  muss  zu- 
nächst wissen,  was  denn  das  ist,  was  er  in  seiner  geschichtlichen  Ent- 
stehung und  Entwickelung  verstehen  will."  Das  dürfte  genau  unseren  Be- 
griff des  „Problems"  als  einer  Vorbedingung  der  Geschichtsforschung 
treffen.  Ebenso  deckt  sich  der  daselbst  im  Vorwort  S.  VHI  ausgeführte 
Gedanke  von  der  „überhistorischen"  oder  „systematischen  Bedeutung" 
der  historischen  Erscheinungen  mit  der  hier  (S.  471  f.)  geltend  gemachten 
Bedingtheit  des  historischen  Problemstadiums  durch  den  ihm  immanenten 
Charakter  des  systematischen  Stadiums. 


Zur  Methode  der  Philosophiegeschichte.  477 

auch  der  eigentliche  Anstoss  zu  ihr,  ja  überhaupt  das  Faktum 
des  historischeu  Interesses  an  der  Philosophie  her.  Wir  würden 
nie  zum  Interesse  an  der  Vorgeschichte  der  menschlichen  Speku- 
lation kommen,  wenn  nicht  dieselben  Probleme,  die  uns  beschäftigen 
und  bestimmen,  in  dieser  Vorgeschichte  bereits  enthalten  wären 
und  jedes  in  ihr  seine  eigentümliche  Vorgeschichte  hätte.  Unsere 
Probleme  tendieren  allseitig  aus  sich  heraus;  sie  zwingen  uns  un- 
abweislich,  in  die  Zukunft  zu  schauen,  nach  Lösungen  auszublicken, 
die  ihrer  noch  harren;  und  ehendadurch  nötigen  sie  uns  ebenso 
unvermeidlich,  rückwärts  in  die  Vergangenheit  zu  schauen  und 
die  Abfolge  der  bereits  durchlaufenen  Forriiulierungsstadien  zu 
rekonstruieren.  Denn  ist  der  Geist  einmal 'auf  die  zeitliche  Ent- 
wickelung  eines  seiner  Probleme  als  auf  eine  zusammenhängende 
Kette  systematischer  Bestimmungen  aufmerksam  geworden,  so  ist 
die  Kontinuität  vorwärts  wie  rückwärts  angebahnt,  und  giebt  es 
kein  Einhalten  mehr  für  die  weiter  und  weiter  ausschauende 
Frage  nach  früheren  Entwickelungsphasen.  Das  ist  der  ürsprungs- 
punkt  des  historischen  Interesses  an  den  Problemen :  er  liegt 
sichtlich  in  dem  systematischen  Probleminteresse  selbst.  Das 
Problem  ist  von  Hause  aus  das  vereinigende  Glied  zwischen  Phi- 
losophie und  Geschichte  —  innerhalb  des  Begriffs  der  Philosophie- 
geschichte. Und  darum  kann  es  nun  aus  doppeltem  Grunde  Phi- 
losophiegeschichte nur  dort  geben,  wo  es  systematische  Philosophie 
giebt.  Denn  nur  das  systematisch  lebendige  Problem  ist 
imstande,  sowohl  den  Geist  der  Forschung  auf  seine  Geschichte 
zuallererst  hinzuwenden,  als  auch  ihm  das  einzig  adäquate  Mittel 
für  sie  an  die  Hand  zu  geben:  den  leitenden  Gesichtspunkt,  oder 
die  Einheit  einer  geschichtlichen  Kontinuität.  — 

Von  hier  aus  gälte  es  nun,  das  Problem  in  seine  verschie- 
denen Zweige  hinein  zu  verfolgen.  Es  würde  sich  dabei  eine 
ganze  Reihe  speziellerer  Methodenfragen  auftun,  in  denen  sich 
die  Forschungsfrage  tiefer  in  die  besonderen  Inhalte  hinein  ver- 
lieren würde.  Von  solcher  Durchführung  müssen  wir  hier  natür- 
lich absehen.  —  Was  dagegen  als  ein  letzter  Punkt  von  zentraler 
Wichtigkeit  noch  zur  Sprache  kommen  muss,  das  ist  die  Rela- 
tivierung der  ganzen  Philosophiegeschichte,  wie  sie 
bei  der  beanspruchten  Abhängigkeit  von  der  systematischen  Phi- 
losophie nicht  zu  umgehen  ist.  Es  ist  dieses  zugleich  derjenige 
Punkt,  der,  wenn  er  einseitig  betont  wird,  unfehlbar  zu  Missver- 
ständnissen  führt   und    den    Begriff    einer    gesicherten    Problem- 


478  N.  Hartmann, 

geschichte  wieder  aufhebt.  Wir  stossen  hier  auf  folgenden  Ein- 
wand: systematische  Philosophie  ist  ja  nicht  eine  und  die  gleiche 
bei  allen  Philosophierenden,  sondern  immer  wieder  etwas  Anderes, 
von  Bewusstsein  zu  Bewusstsein  Wechselndes.  Wie  sollte  da  die 
Philosophiegeschichte  eine  feste  Einheit  bilden,  wenn  sie  doch  erst 
in  der  Rückwendung  der  systematischen  Probleme  auf  das  quellen- 
raässig  Vorliegende  entstehen  soll?  Muss  sie  nicht  notwendig 
ebenso  verschieden  ausfallen  wie  die  Systeme  selbst,  welche  für 
sie  die  Fragestellung  hergeben? 

Dieser  Einwand  beachtet  freilich  nicht,  dass  die  Probleme 
keineswegs  ebenso  veränderlich  sind  wie  jene  sogenannten  Systeme. 
Denn  diese  sind  Lösungsversuche  und  keineswegs  bloss  Frage- 
stellungen. Ein  und  dasselbe  Problem  durchläuft  eine  ganze 
Reihe  von  „Systemen"  der  verschiedensten  Art.  Es  selbst  wird 
aber  dabei  nur  langsam  verschoben,  nur  unwesentlich  aus  seiner 
Linie  gebracht.  Die  grossen,  fundamentalen  Problemverschiebungen 
finden  vielmehr  nur  dort  statt,  wo  sich  ganze  Promblemlinien 
vereinigen  und  in  dieser  Vereinigung  neue,  bisher  unerkannte 
Problemeinheiten  ergeben,  oder  auch  umgekehrt,  wo  bisher 
ununterschiedene  Probleme  sich  differenzieren.  Beides  aber 
sind  keine  Aufhebungen,  in  beiden  Fällen  gehen  die  grossen 
Problemlinien  kontinuierlich  durch.  Im  Einzelnen  sind  aber  alle 
Verschiebungen  unmerklich  und  gleichsam  infinitesimal. 

Was  dagegen  wirklich  die  grosse,  oft  diametrale  Ver- 
schiedenheit philosophischer  Systeme  veranlasst  und  sie  für  den 
in  ihr  stehenden  Forscher  unüberbrückbar  macht,  das  ist  nicht 
die  Änderung  innerhalb  einer  Fragestellung,  sondern  vielmehr  die 
von  Grund  aus  anders  gewälte  Fragestellung  selbst.  Die  Philo- 
sophie als  Ganzes  genommen  wälzt  einen  ungeheuren  Schatz  von 
Problemen  mit  sich.  Dieser  Schatz  ist  in  seiner  Gesamtheit  unüber- 
sehbar für  den  einzelnen  Philosophierenden;  und  selbst  die 
Geistesarbeit  eines  ganzen  Zeitalters  bringt  es  nur  selten  zur  an- 
nähernden Synthese  eines  umfassenden  systematischen  Aufbaues. 
Will  der  einzelne  Philosoph  sich  nicht  an  diese  Menge  verlieren, 
will  er  in  seiner  Fortarbeit  fruchtbar  werden,  so  muss  er  sich  das 
Arbeitsfeld  einschränken,  sich  seine  Probleme  abgrenzen  und  auf 
den  weiten  Zusammenhang  mit  dem  Ganzen  des  weltgeschicht- 
lichen Denkens  nur  als  auf  die  unendliche  Aufgabe  der  Philo- 
sophie hinblicken,  an  welcher  freilich  —  wie  immer  indirekt  — 
auch    er   seinen    Teil   hat.     Aber  das  kann  er  nicht  hindern,  und 


Zur  Methode  der  Philosophiegeschichte.  479 

braucht  es  auch  nicht  zu  scheuen,  dass  er  einen  bestimmten  Pro- 
blemkomplex hervorheben  und  anderen  Formen  der  Fragestellung 
voranstellen  muss,  in  welchem  dann  sein  Denken  erst  fruchtbar 
werden  kann.  So  ist  es  nur  konsequent  gedacht,  wenn  es  diese 
selben  und  keine  anderen  Probleme  sind,  die  er  an  die  Ge- 
schichte stellt,  und  in  deren  zeitlicher  Entfaltung  somit  für 
ihn  die  Geschichte  der  Philosophie  besteht.  Gerade  der  historische 
Gesichtspunkt  muss  dieses  sein  Verfahren  rechtfertigen.  Freilich 
rechtfertigt  er  ebensogut  das  analoge  Verfahren  bei  seinem  syste- 
matischen Gegner,  der  von  grundverschiedenen,  aber  gleichfalls 
historisch  bedingten  Problemen  ausgehend  eine  von  der  seinen 
verschiedene  Geschichte  der  Philosophie  entwirft.  So  wahr  es 
ist,  dass  in  solchem  Falle  die  Geschichtsansicht  beider  Parteien 
einseitig  ist,  so  sehr  verdient  es  betont  zu  werden,  dass  eben 
deswegen  doch  das  eigentlich  Historische  in  ihrem  Denken 
sehr  wohl  einwandfrei  und  durchweg  objektiv  sein  kann,  — 
während  der  Fehler,  oder  vielmehr  die  Einseitigkeit  in  den  Pro- 
blemen liegt,  die  hier  wie  dort  „an  die  Geschichte"  gestellt  sind, 
d.  h.  dass  sie  letzterdings  nicht  historische,  sondern  systematische 
Einseitigkeit  ist. 

Und  damit  stehen  wir  nun  vor  dem  ferneren,  eigentlich 
philosophischen  Problem  der  Problemgeschichte:  in 
welchem  Sinne  lässt  sich  von  einheitlicher  Philosophie- 
geschichte sprechen,  während  doch  jede  irgendwie  systematische 
Problemstellung  ihre  besondere  Philosophiegeschichte  macht  und 
zu  machen  berechtigt  ist?  Wo  ist  der  höhere  Vereinigungs- 
punkt, der  auch  diese  notwendige  Divergenz  der  Forschungs- 
richtuugen  wieder  zur  Einheit  zusammenzuschliessen  imstande  ist? 
Oder  sollte  es  etwa  geboten  sein,  hier  skeptisch  zu  resignieren 
und  auf  die  Einheit  der  Geschichte  Verzicht  zu  leisten? 

Das  kann  der  systematische  Standpunkt  der  Philosophie 
nicht  zugeben.  Denn  dieser  verzichtet  nicht  auf  seine  eigene 
Einheit,  wie  fern  er  immer  von  seinem  Endziel  seil  sollte.  So 
kann  er  denn  auch  die  Einheit  seiner  Geschichte  nicht  preis- 
geben, denn  er  muss  das  Problem  seiner  eigenen  Einheit  auch  an 
seine  Geschichte  stellen;  damit  stellt  er  die  Geschichte  vor  die 
unendliche  Aufgabe  ihrer  Selbstvereinheitlichung. 

Dass  eine  solche  Aufgabe  unendlich  ist  —  wie  letztlich  alle 
Aufgaben  der  Forschung  — ,  bedarf  keines  Wortes  weiter.  Aber 
dass   sie   überhaupt  Aufgabe  ist,    vielmehr  Aufgabe  werden  kann, 


480  N.  Hartmann, 

lässt  sich  ebensogut  fragen  als  beantworten.  Sie  kann  Aufgabe 
sein,  weil  jede  standpunktliche  Einseitigkeit  wieder  auf  hebbar  ist, 
weil  jede  Beschränkung  auf  einen  bestimmten  Komplex  von  Pro- 
blemen den  Charakter  des  Vorläufigen  trägt  und  also  die  Erwei- 
terungsfähigkeit bereits  in  sich  einschliesst.  Wo  aber  Er- 
weiterungsmöglichkeit ist,  da  ist  auch  Erweiterungsnotwendigkeit: 
die  Forschung  kann  vor  keiner  sich  auftuenden  Möglichkeit  un- 
tätig stehen  bleiben,  sie  tendiert  immer  über  sich  selbst  hinaus. 
AVo  daher  die  systematische  Philosophie  ihre  Probleme  erweitert, 
da  stellt  notwendig  auch  das  historische  Bewusstsein  erweiterte 
Fragen  an  die  Geschichte  und  bekommt  in  ihrer  Verfolgung  die 
höhere  Einheit  geschichtlicher  Kontinuität  zu  fassen.  So  geht 
die  ewige  Aufgabe  der  Philosophiegeschichte  parallel  der  der 
systematischen  Philosophie  selbst,  indem  sie  in  der  Unendlichkeit 
mit  ihr  coincidiert. 

Es  ist  bei  den  Neueren  die  Ansicht  geltend  gemacht  worden, 
es  genüge  für  den  Historiker,  sich  seiner  standpunktlichen  Be- 
schränktheit bewusst  zu  sein,  um  über  ihr  zu  stehen  und  alle 
Einseitigkeit  zu  vermeiden.  Aber  so  plausibel  das  klingt,  es 
genügt  dem  Problem  keineswegs.  Vor  allem  würde  es  vom 
Historiker  bereits  zu  viel  verlangen.  Man  kann  sich  seiner  Be- 
schränkung, und  folglich  auch  der  Erweiterungsmöglichkeit,  immer 
nur  abstraktiv  bewusst  sein.  Denn  wenn  man  den  Weg  zu  ihr 
sähe,  so  würde  man  ihn  ja  bereits  einschlagen  und  nicht  lange 
zögern,  sich  seiner  zu  versichern.  Über  seinem  eigenen  Staud- 
punkt kann  niemand  stehen.  Andererseits  aber  bedarf  es  dessen 
auch  garnicht.  Man  darf  nur  nicht  den  falschen  Anspruch  auf 
absolute  Geschiebte  erheben.  Die  kann  es  erbrachterweise  niemals 
geben,  die  bleibt  in  ewiger  Unerreichtheit.  Die  Geschichtsprobleme 
sind  ebenso  unendlich  wie  die  der  Philosophie  selbst.  Und  an 
dieser  Unendlichkeit  bedeutet  die  Vorläufigkeit  bestimmter  Problem- 
beschränkung keineswegs  eine  willkürliche  Verendlichung,  sondern 
vielmehr  die  einzige  Möglichkeit,  überhaupt  zu  Bestimmungen  zu 
gelangen  —  und  sei  es  auch  noch  so  sehr  vorläufigen  — ,  über- 
haupt eine  nur  annähernde  Lösung  des  ganzen  Geschichtsproblems 
anzubahnen. 

Die  Konsequenz  aber,  die  sich  nun  hieraus  ergiebt,  trägt 
einen  eminent  methodischen  Charakter.  Die  Methode  der  Philo- 
sophiegeschichte hat  sich  der  Methode  der  exakten  Forschungs- 
gebiete, und  namentlich  der  der  Philosophie  selbst,  in  einem  wich- 


Zur  Methode  der  Philosophiegescbichte.  481 

tigen  Punkt  genähert.  Denn  wir  halten  jetzt  den  Punkt  in 
Händen,  in  welchem  sie  mit  der  Urform  der  transscendentalen 
Methode,  der  Methode  der  vnoi^saic  arbeitet.  Der  Unterschied 
von  der  gleichen  Methode  auf  anderen  Gebieten  ist  nur  der,  dass 
hier  nicht  Prinzipien  für  Probleme  zugrundegelegt  werden,  sondern 
die  Problemstellungen  selbst.  Oder  genauer  gesprochen: 
die  systematischen  Problemstellungen  sind  die  Grund- 
legungen für  die  historischen  Probleme.  Denn  sie  sind 
die  prinzipiellen  Einheiten,  unter  denen  sich  das  Mannigfaltige 
der  historischen  Stufen  als  kontinuierliche  Abfolge  begreifen  lässt. 
Darin  liegt  die  Rechtfertigung  jener  Vorläufigkeit,  die  jeder  ge- 
schichtlichen Rekonstruktion  anhaften  bleibt,  weil  sie  in  den  Pro- 
blemen wurzelt,  die  wir  an  die  Geschichte  stellen.  Denn  diese 
Probleme  spielen  eben  hier  die  Rolle  von  Voraussetzungen,  die 
einstweilen  gemacht  werden,  um  sie  hernach  an  ihren  Konse- 
quenzen zu  prüfen  und  nötigenfalls  zu  modifizieren.  Und  von 
hier  aus  dürfte  es  freilich  durchsichtig  genug  sein,  dass  diese  Art 
Vorläufigkeit  und  Verrückbarkeit  kein  methodischer  Mangel, 
sondern  gerade  der  grösste  Vorzug  ist.  Denn  sie  allein  ist  im- 
stande, die  Gewissheit  des  sachlichen  Fortschreitens  zu 
gewährleisten,  weil  sie  ihrem  Begriff  nach  die  Möglichkeit  me- 
thodischen Fortscheitens  bedeutet.  So  ist  auch  hier  —  ge- 
nau wie  auf  systematischem  Gebiet  —  der  Inhalt  durch  die  Me- 
thode ermöglicht. 

Damit  wird  auch  das  Wechselverhältnis  zwischen  Philosophie 
und  Philosophiegeschichte  klar.  Die  Einheit  der  Grundmethode 
bindet  ihren  beiderseitigen  Fortgang  fester  aneinander,  als  irgend 
eine  noch  so  weitgehende  inhaltliche  Übereinstimmung  sie  ver- 
binden könnte.  Es  ist  eine  Wechselwirkung  oder  Wechsel- 
bedingung  zwischen  beiden.  Ein  systematisches  Moment  ist 
Ingrediens  der  Geschichtsforschung,  ihre  erste,  fundamentalste 
Grundlegung:  das  Problem,  das  an  sich  systematische  Einheit  ist, 
wird  zugleich  zur  Einheit  der  historischen  Mannigfaltigkeit;  und 
ein  historisches  Moment  wird  Ingrediens  der  systematischen  Philo- 
sophie: die  Probleme  weisen  rückwärts  und  vorwärts  über  sich 
hinaus;  sie  enthalten  es  in  ihrem  Problemcharakter,  dass  sie 
Stufenglieder  einer  Entfaltungslinie  sind,  deren  stetiger  Gang 
wiederum  als  Aufgabe  der  Forschung  sein  besonderes  kritisches 
Licht  auf  die  systematischen  Grundlagen  zurückwirft. 


482  N.  Hartmann, 

Systematik  legt  die  Probleme  zugrunde  für  die  Geschichte, 
und  Geschichte  erwirbt  der  Sj^stematik  mit  diesen  Grundlegungen 
neue  und  neue  Problemweite.  Denn  Philosophie  als  System 
will  umfassend  sein  und  darf  kein  stellbares  Problem  ignorieren. 
Deswegen  übt  die  Historie  auf  sie  die  Rückwirkung  aus,  dass  sie 
durch  neue  Hinführung  ihre  Probleme  erweitert. 

So  bewährt  sich  der  Gedanke  der  Problemgeschichte  aus 
sich  selbst  heraus,  und  wird  wiederum  bewährt  durch  seine 
Leistung  für  die  systematische  Grundwissenschaft,  aus  deren 
mütterlichem  Schoosse  er  hervorwächst. 


Sicherlich  befinden  wir  uns  mit  diesem  Begriff  der  Problem- 
geschichte im  Gegensatz  zu  der  heute  noch  vorherrschenden  Ge- 
schichtsschreibung der  Philosophie.  Dennoch  lässt  sich  nicht 
sagen,  dass  wir  mit  ihr  durchaus  neue,  unbeschrittene  Bahnen 
einschlagen.  Wir  verfolgen  vielmehr  eine  Tendenz,  die  das  rück- 
wärtsschauende Interesse  der  Philosophie  an  sich  selbst  überall 
dort,  wo  sich  ein  systematischer  Denker  ihm  zuwandte,  notwendig 
einschlagen  musste,  und  die  es  auch  in  seinen  ersten  Anfängen 
bereits  in  naiver  Zielsicherheit  eingeschlagen  hatte.  Denn  so- 
lange dieses  historische  Interesse  der  Philosophie  an  sich  selber 
ebenso  rein  dastand  wie  ihr  systematisches  Grundinteresse,  reines 
Sach-  und  Problemiuteresse  war,  konnten  die  Anfänge  der  Philo- 
sophiegeschichte auch  garnichts  anderes  als  Problemgeschichte  sein. 

Das  lehrt  uns  die  Problemforschung  des  Aristoteles.  Dieser 
an  seiner  eigenen  Systembildung  noch  unentwegt  bauende  Denker 
kam  zur  historischeu  Würdigung  der  reinen  Problemwerte  auf 
Grund  der  fast  allseitigen  Polemik,  die  er  gegen  seine  Vorgänger 
führte.  Denn  alles  polemische  Interesse  ist  —  sofern  es  nur 
sachlich  bleibt  —  reines  Probleminteresse.  Aristoteles  pflegte 
dort,  wo  er  einer  Grundfrage  zustrebte,  zuvor  die  Reihe  der  Vor- 
gänger in  dieser  Frage  kritisch  durchzugehen  und  dabei  eine 
kurze  Darlegung  ihrer  einschlägigen  Grundlehren  zu  geben.  Am 
vollständigsten  ist  wohl  jene  kurze  Geschichte  des  Seinsproblems, 
die  er  der  Metaphysik  vorausschickt.  Freilich  ist  es  noch  eine 
sehr  primitive  Darstellung.  Die  Frage  ist  hier  eben  noch  sehr 
unvollkommen  und  einseitig  an  die  Geschichte  gestellt.  Und  den- 
noch ist  es  in  aller  Unzulänglichkeit  reine  Problemgeschichte,  und 


Zur  Methode  der  Philosophiegeschichte.  483 

will  auch  sichtlich  nichts  anderes  sein.  So  erklärt  sich  das 
eigentümlich  Orientierende,  dass  dieser  kleine  historische  Versuch 
für  uns  hat.  Denn  er  ist  orientierend  nicht  nur  für  den  sehr 
engen  Stoff,  den  er  behandelt,  sondern  auch  für  die  Philosophie- 
geschichte überhaupt,  für  ihre  Methode.  Denn  dort  ist  deutlich, 
und  zwar  in  aller  Naivität,  das  Problem  zugrundegelegt,  mit  dem 
nun  die  einzelnen  Philosophen  gleichsam  befragt  und  genötigt 
werden,  ihre  Meinung  darüber  abzugeben.  Es  ist  dieses  das 
älteste  Zeugnis  der  Selbstbesinnung  eines  Problembewusstseins 
auf  seine  eigene  Geschichte. 

Wiewohl  nun  dieses  Beispiel  des  Aristoteles  den  Doxographen 
des  Altertums  noch  Jahrhunderte  lang  vorschwebte,  so  ist  es  doch 
in  seiner  methodischen  Einfachheit  und  Strenge  nicht  wieder  er- 
reicht worden.  Und  wenn  es  daher  trotz  mannigfacher  Bestreb- 
ungen zu  einer  in  diesem  Sinne  durchgeführten  geschichtlichen 
Würdigung  der  ganzen  damaligen  Philosophie  nicht  kam,  so  ist 
das  wohl  einzig  dem  Umstände  zuzuschreiben,  dass  Aristoteles 
selbst  schon  an  der  Spätgrenze  des  philosophisch  schöpferischen 
Zeitalters  stand,  und  dass  aus  diesem  Grunde  viele  systematisch 
wertvolle  Initiativen  seiner  Philosophie  —  nicht  anders  als  ja  auch 
die  der  Platonischen  —  fast  unverarbeitet  liegen  blieben,  wo  er 
sie  liegen  gelassen  hatte,  und  bestenfalls  Nachahmung,  nicht  aber 
methodische  Fortbildung  erfuhren.  Eine  weitere  Vertiefung  der 
philosophiegeschichtlichen  Methodik  hätte  aber  gerade  im  emi- 
nenten Sinne  systematischer  Schaffenskraft  bedurft. 

Und  ein  rein  systematisches  Interesse  kehrte  im  Altertum 
auch  nicht  wieder.  Selbst  der  Neuplatonismus  reichte  nicht  hin, 
das  Problerabewusstsein  bis  zu  einer  Höhe  zu  bringen,  von  der 
aus  die  rückwärtsschauende  Selbstbetrachtung  der  Philosophie  eine 
Problemgeschichte  hätte  hervortreiben  können.  Im  spätesten  Alter- 
tum verflachte  dann  schliesslich  auch  die  Doxographie  selbst  ganz 
und  ging  in  ein  Surrogat  der  Geschichtsschreibung  über,  eine 
populäre,  antiquarisch-sporadische  Samaiellitteratur,  die  von  dem 
Erbteil  der  grossen  Denker  alles  zusammenraffte,  was  sie  er- 
wischen konnte.  Dieses  Zeitalter,  das  selbst  keine  grossen  Ge- 
danken mehr  hervorbrachte,  besass  vielfach  auch  nicht  mehr  den 
Sinn  für  die  grossen  Leistungen  früherer  Zeiten.  Da  es  sich  aber 
gleichwohl  von  deui  Ruhme  der  Vorzeit  nährte,  so  suchte  es  aus 
ihr  dasjenige  hervor,  was  den  populär-verständlichsten  Wert  hatte. 
So  kommt  es,  dass  im  Bestände  dieser  späten  Geschichtslitteratur 

KantstudieD    XV.  qi 


484  N.  Hartmann, 

von  allem,  was  sie  an  Geistesgeschichte  enthält,  das  Biographische 
noch  das  am  meisten  in  die  Augen  springende  war,  —  derjenige 
Typus  von  Philosophiegeschichte,  der  am  wenigsten  imstande  ist 
Probleme  zu  fassen  —  geschweige  denn  zu  verfolgen. 

Es  ist  begreiflich,  dass  die  ersten  philosophiegeschichtlichen 
Versuche  der  Neueren  von  den  Traditionen  dieser  teils  biogra- 
phischen, teils  wahllos  kompilatorischen  Litteratur  nicht  unbeein- 
flusst  bleiben  konnte  (die  Jahrhunderte  lange  Überschätzung  des 
Diogenes  Laertius  ist  bekannt).  Eine  Rückkehr  zur  naiven  Pro- 
blemgeschichte war  auf  dieser  Stufe  nicht  mehr  möglich.  Dazu 
hatten  sich  die  Probleme  selbst  zu  sehr  kompliziert.  Nicht  anders 
als  durch  das  klare  Bewusstsein  der  Methode  hätte  man  zu  ihr 
gelangen  können.  Ein  solches  aber  kann  sich  selbst  nur  langsam 
an  beständig  neuen  Versuchen  herausbilden.  Vor  allem  aber 
musste  es  hierzu  systematische  Klarheit  über  die  Grundprobleme 
selbst  geben ;  denn  diese  sind  es,  um  deren  historischen  Gang  es 
sich  nur  handeln  kann.  So  ist  es  zu  verstehen,  dass  es  zu  einer 
Fixierung  problemgeschichtlicher  Methodik  nicht  früher  kommen 
konnte,  als  bis  eine  kraftvolle,  zusammenfassende  Systembildung 
vorlag.  Für  das  wissenschaftliche  Problembewusstsein  unserer 
Zeit  giebt  es  eine  solche  erst  recht  eigentlich  seit  Kant.  So 
finden  wir  denn  den  ersten  bedeutsamen  Versuch  einer  Formu- 
lierung der  philosophiegeschichtlichen  Methodik  bei  einem  der 
frühen  Nachkantianer.  Welches  Verdienst  und  welche  Fehler  den 
Versuch  Hegels  bedeutsam  und  verhängnisvoll  zugleich  machten, 
haben  wir  bereits  gesehen.  Nur  ist  da  freilich  noch  ein  Unter- 
schied zwischen  dem,  was  sein  philosophiegeschichtlicher  Gedanke 
für  uns  bedeutet,  und  dem,  was  er  für  die  nächsten  Nachfolger 
bedeutete.  Während  wir  heute  in  ruhiger  Kritik  ablehnen  und 
anerkennen  können,  sahen  die  nächstfolgenden  Methodiker  der 
Philosophiegeschichte  nur  das  Fehlerhafte  in  ihm,  und  glaubten 
am  besten  zu  tun,  allen  Zusammenhang  mit  der  systematischen 
Philosophie  aus  dem  Spiel  zu  lassen  und  sich  an  die  nackten 
Tatsachen  zu  halten.  Ja  man  ist  soweit  gegangen,  vom  Histo- 
riker die  Preisgabe  alles  standpunktlich  bedingten  Probleminter- 
esses zu  verlangen  und  ihm  so  gleichsam  einen  standpunktlosen 
Standpunkt  als  ideale  Vorbedingung  anzuempfehlen.  Der  eigent- 
liche Sinn  dieser  Forderung  war  freilich  ein  wohlbegründeter:  er 
betraf  das  Genau-Nehmen  des  Tatsachenmaterials;  und  allerdings 
bedurfte  die  Forschung  von  damals  einer  solchen  Mahnung.    Wenn 


Zur  Methode  der  Philosophiegeschichte.  485 

aber  die  Nachwirkungen  dieser  weit  über  das  Ziel  hinausschiessen- 
den  Reaktion  gegen  Hegel  sich  bis  in  unsere  Tage  hinein  lebendig 
erhalten  konnten,  so  scheint  das  freilich  ein  Anzeichen  zu  sein, 
dass  irgend  etwas  in  dem  alten  Gegner  immer  noch  nicht  recht 
überwunden  und  tot  ist.  Oder  ist  es  bereits  ein  neuer  Schössling, 
der  aus  dem  alten  Stamme  des  Problembewusstseins  aufspriesst 
und  nachgerade  beginnt,  sich  als  lebensfähig  zu  erweisen? 

Es  sprechen  manche  Anzeichen  dafür,  dass  wir  mit  der 
Philosophiegeschichte  von  heute  im  Aufkeimen  des  problematischen 
Standpunktes  und  der  problemgeschichtlichen  Methode  stehen. 
Deutlich  dürfte  dafür  das  Erscheinen  einer  ganzen  Reihe  von 
Untersuchungen  (besonders  im  letzten  Jahrzehnt)  sprechen,  in 
denen  weder  die  ganze  Philosophie  eines  Zeitalters  entwickelt, 
noch  auch  etwa  bloss  monographisch  ein  einzelner  Denker  be- 
handelt wird,  sondern  in  denen  ein  besonderes  Problem,  oder  ein 
Begriff,  innerhalb  eines  mehr  oder  weniger  geschlossenen  Zeit- 
abschnittes verfolgt  wird.  Dieser  neuen  Art  von  Arbeitsteilung 
auf  philosophiegeschichtlichem  Gebiet  liegt  sicherlich  ein  problem- 
geschichtlicher Kerngedanke  zugrunde,  so  sehr  es  immer  der  Fall 
sein  mag,  dass  derselbe  nicht  jedesmal  bis  zum  klaren  metho- 
dischen Bewusstsein  des  Forschers  gelangt.  Denn  dieses  metho- 
dische Bewusstsein  als  solches  herauszuarbeiten,  ist  eben  letzter- 
dings  nicht  mehr  Sache  der  historischen,  sondern  Sache  der 
systematischen  Forschung.  Die  historische  Methode  ist  nicht 
historisches  Faktum.  Fakten  muss  die  Geschichte,  Methoden  die 
Systematik  begründen. 


31* 


Kant  und  Fries.^^ 

Von  W,  Reinecke. 


Gerade  jetzt,  da  die  Friessche  Philosophie  infolge  der  Bemühungen 
einer  neuen  Friesschen  Schule  die  Aufmerksamkeit  wieder  auf  sich  lenkt, 
ist  ein  Werk  wie  das  von  Elsenhans  doppelt  willkommen,  erstens  als  An- 
sicht eines  von  jener  Schule  Unabhängigen,  zweitens  als  erwünschte  Ge- 
samtdarstellung Friesscher  Gedanken. 

E.  hat  sich  eine  dreifache  Aufgabe  gestellt:  eine  eingehende  Dar- 
stellung der  Fries  ganzem  System  zugrunde  liegenden  Erkenntnistheorie 
zu  geben,  den  bleibenden  Wert  der  Friesschen  Bearbeitung  Kantischcr 
Aufgaben  zu  untersuchen  und  die  Erkenntnistheorie  von  Kant  und  Fries 
aus  weiterzuführen.  Aus  solchen  Absichten  E.s  erklärt  sich  auch  der 
versöhnliche  Charakter  des  Buches :  überall  tritt  das  Bestreben  hervor  zu 
vermitteln  und  die  in  der  Form  oft  schroffen  Gegensätze  zwischen  Kant 
und  Pries  als  in  ihrem  Wesen  unbedeutende  aufzuweisen.  Das  ist  be- 
sonders an  der  Darstellung  der  „unmittelbaren  Erkenntnis"  bemerkbar. 
Nicht  immer  wird  allerdings  E.s  Friedfertigkeit  Beifall  finden  können,  an 
manchen  Stellen  scheint  eine  schärfere  Ausprägung  der  Meinungsver- 
schiedenheiten wünschenswert. 

Das  Inhaltsverzeichnis  des  Werkes  hat  E.  ausserordentlich  reich  und 
übersichtlich  gegliedert,  so  dass  das  Nachschlagen  angenehm  erleichtert  ist. 

I.  Band.  Historischer  Teil.  Im  I.  Kapitel  kennzeichnet  E.  die 
Friessche  Auffassung  der  Kritik  als  philosophische  Anthropologie.  Gegen- 
über manchen  Annahmen  sei  hervorgehoben,  dass  Fries  in  der  Logik  von 
empirischer  Psychologie  nichts  wissen  wollte. 

Das  II.  Kapitel  handelt  von  den  psychologischen  Grundbegriffen 
der  Friesschen  Philosophie.  Fries  gelangt  zu  drei  geistigen  Grundver- 
mögen :  Erkenntnis,  Gemüt  und  Tatkraft.  Durch  Kombination  derselben 
erreicht  der  Geist  verschiedene  Bildungsstufen  :  Sinn,  Gewohnheit,  Verstand, 
die  Ideen  des  Wahren,  Schönen  und  Guten. 

1)  II.  Dr.  Th.  Elsenhans,  Fries  und  Kant.  Ein  Beitrag  zur 
Geschichte  und  zur  sy.stematischen  Grundlegung  der  Erkenntnistheorie. 
I.  Historischer  Teil.  Jakob  Friedrich  Fries  als  Erkenntnihkritiker  und  sein 
Verhältnis  zu  Kant.  (XXVIII  u.  347  S.)  II.  Kritisch-Systematischer  Teil. 
Grundlegung  der  Erkenntnistheorie  als  Ergebnis  einer  Auseinandersetzung 
mit  Kant  vom  Standpunkte  der  Friesischen  Problemstellung.  (XV  u. 
223  S.)  Alfred  Töpelmann,  Giessen  1906.  —  Vgl.  auch  Kantstudien  XII, 
S.  417  ff. 


Kant  und  Fries.  487 

Bei  jedem  der  drei  Vermögen  sind  Spontaneität  und  Receptivität 
zu  unterscheiden.  Im  äusseren  Sinn  ist  die  Spontaneität  reine  Sinnlichkeit 
und  produktive  Einbildungskraft,  im  inneren  Sinn  ist  sie  reine  Appercep- 
tion,  in  deren  Auffassung  Fries  von  Kant  abweicht. 

Zwischen  Sinnlichkeit  und  Verstand  steht  das  Gebiet  der  produk- 
tiven und  reproduktiven  Einbildungskraft.  In  jener  hat  nach  E.  Fries 
den  Grund  zu  der  ihm  eigentümlichen  von  Kant  abweichenden  Kritik  ge- 
legt. Fries  macht  die  produktive  Einbildungskraft  zum  Objekt  psycholo- 
gischer Behandlung,  ihr  wird  auch  die  anschauliche  synthetische  Einheit 
der  Dinge  in  Raum  und  Zeit  zugeschrieben. 

E.  zeigt,  wie  Fries  von  vornherein  auf  seine  Lehre  von  der  un- 
mittelbaren Erkenntnis  zusteuert,  z.  B.  mit  der  Behauptung,  dass  in  der 
produktiven  Einbildungskraft  dunkel,  aber  irrtumlos  und  vollständig 
mathematische  Erkenntnis  enthalten  sei.  Fries  schliesst  sogar  die  ange- 
wandte Mathematik  mit  ein. 

Es  folgt  nunmehr  der  Hauptteil  des  Friesischen  Lehrgebäudes,  und 
zwar  in  Kap.  V  die  Reflexion,  der  obere  Gedankenlauf,  der  die  Gewöhnung 
beherrscht  und  als  willkürliche  Selbsterkenntnis  den  Menschen  zum  Meister 
seiner  selbst  macht.  Das  Verhältnis  der  inneren  Anschauung  zur  Reflexion 
wird  von  E.  näher  untersucht.  Die  Reflexion  erweitert  die  innere  Wahr- 
nehmung des  inneren  Sinnes  zur  inneren  Erfahrung.  Dennoch  ist  sie 
nicht  mit  dem  Verstand  als  Bildungsstufe  identisch,  sondern  bedeutet  nur 
das  verständige  Denken.  Zum  Verstände  selbst  gehört  mehr:  Geschmack 
und  Gewissen  und  der  Charakter  der  Willkür.  Die  Reflexion  bringt 
femer  nichts  Neues  hervor,  sondern  beobachtet  nur  den  Besitz  der  Ver- 
nunft an  unmittelbaren  Erkenntnissen.  Darin,  sagt  E.,  „liegt  nach  Fries 
das  ganze  Geheimnis  der  Philosophie  verborgen".  Fries  glaubte  dadurch 
auch  den  Zwiespalt  zwischen  der  Ohnmacht  der  spekulativen  Verunft  und 
der  Macht  der  praktischen  Vernunft  bei  Kant  erklärt  zu  haben;  jene  ist 
eben  nur  Reflexion  und  diese  daher  dunkel. 

Die  eigentlichen  Hilfsmittel  der  Reflexion  sind  Vergleichung  und 
Abstraktion.  Dadurch  vermag  sich  die  Reflexion  vom  augenblicklichen 
Inhalte  loszureissen  „und  die  Selbstbeobachtung  zu  einem  Bewusstsein 
überhaupt  zu  erheben",  welches  bei  Fries  die  Vollendung  der  Reflexion 
ist,  also  nur  „die  Spitze  der  subjektiven  Bedingungen  des  Wiederbewusst- 
seins  der  unmittelbaren  Erkenntnis,  für  Kant  die  letzte  Einheit  der  sub- 
jektiven Bedingungen  des  Erkennens,  die  aber  zugleich  objektive  Giltig- 
keit  mit  einschliesst"  (112).  Durch  Reflexion  mit  Hilfe  der  Abstraktion 
will  Fries  den  Ursprung  der  Erkenntnisse  a  priori  erklärt  wissen.  Er 
bezeichnet  als  „subjektiv  allgemeingiltig  oder  apodiktisch"  das,  was  für 
jeden  einzelnen  immer  die  gleiche  Giltigkeit  hat,  was  man  also  bei  jedem 
Menschen,  wenn  auch  nur  als  dunkle  Vorstellung,  voraussetzen  kann. 
Das  Lernen  der  apodiktischen  Erkenntnis  ist  nur  ein  Erinnern  an  das, 
was  im  Innern  der  Vernunft  Hegt.  Dahin  gehören  die  mathematischen 
und  philosophischen  Erkenntnisse. 

Diese  Lehre  der  unmittelbaren  Erkenntnis  beruht  also  auf  anthro- 
pologischer  Grundlage.     Fries   weist  jedoch   die   Annahme   eingeborener 


488  W.  Reinecke, 

Ideen  ab.  Die  unmittelbare  Erkenntnis  ist  nur  die  „ursprüngliche  apodik- 
tische Form"  jeder  wirklichen,  sinnlich  angeregten  Erkenntnis. 

Ein  charakteristischer  Unterschied  der  Reflexion  und  der  unmittel- 
baren Erkenntnis  ist  folgender:  jene  geht  vom  Zusammengesetzten  zum 
Einfachen  durch  Abstraktion,  eine  Synthesis  ist  nur  nach  der  Analysis 
möglich;  diese  enthält  eine  unmittelbare  Synthesis,  welche  E.  der  Kan- 
tischen produktiven  Synthesis  der  Einbildungskraft  vergleicht. 

Bei  dieser  Gelegenheit  beschäftigt  sich  E.  auch  mehrfach  mit  den 
Begründern  der  neuen  Friesischen  Schule  und  weist  nach,  dass  die  Be- 
hauptung L.  Nelsons,  „Fries  sei  ein  entschiedener  Gegner  der  praktisch- 
psychologischen Methode",  falsch  ist.  Fries  wollte  ja  die  „philosophische 
Logik"  ob  ihrer  Armut  von  einer  anthropologischen  Logik  abhängig 
machen.  Die  entscheidende  Stelle  aus  Fries'  Logik  hat  L.  Nelson  nach  E. 
nicht  angeführt. 

Der  von  Fries  gegen  Kant  gerichtete  Vorwurf,  er  habe  Deduktion 
und  Beweis  verwechselt,  wird  von  E.  berichtigt.  Kant  sehe  zwar  in  der 
Deduktion  einen  „Beweis",  aber  eine  eigentümliche  Art  Beweis.  Nelsons 
Einteilung  in  empirische  und  transscendentale  Deduktion  sei  durch  die 
Erklärung  Kants  abgetan,  dass  empirische  Deduktion  auch  auf  Grund 
physiologischer  Ableitung  ein  eitler  Versuch  bleibe.  Auch  die  metaphy- 
sische Deduktion  Kants,  die  nach  E.  „das  a  priori  als  tatsächlich  vorhanden 
aufweist",  also  der  metaphysischen  Erörterung  des  Raumes  und  der  Zeit 
ähnelt,  sei  doch  von  dem  Friesischen  Deduktionsbegriff  völlig  verschieden. 
Hingegen  erkennt  E.  in  dem  regressiven  Verfahren  der  Spekulation  bei 
Fries  eine  Zusammenfassung  der  metaphysischen  Erörterung  und  Deduktion 
wieder.  Die  engste  Beziehung  zum  Friesischen  Deduktionsbegriff  hat 
„diejenige  Seite  des  Kantischen  Deduktionsbegriffs,  welche  dann  von 
Fries  zur  alleinherrschenden  gemacht  und  mit  dem  Prädikat  der  vollen 
Allgemeingiltigkeit  ausgestattet  wurde",  das  ist  die  subjektive  Deduktion, 
welche  Kant  in  der  Vorrede  zur  1.  Auflage  der  Kr.  d.  r.  V.  erwähnt  und 
die  nach  B.  Erdmann  im  2.  Abschnitt  der  Deduktion  vorzugsweise  zu 
suchen  ist.  Eine  „eigentümliche  Ergänzung"  findet  dieselbe  nach  E.  durch 
die  Deduktion  der  Ideen  als  „regulativer  Prinzipien".  Durch  diese  „Be- 
friedigung eines  unabweisbaren  Vernunftbedürfnisses"  wird  die  Deduktion 
„in  gewissem  Sinne"  transscendentale  Deduktion. 

Durch  Zusammenwirken  der  erwähnten  Begründungsarten  ergiebt 
sich  als  „logisches  Ideal"  die  Theorie.  Hier  vereinigen  sich  die  Erkennt- 
nisarten und  zugleich  die  verschiedenen  wissenschaftlichen  Methoden.  Die 
historische  Erkenntnis  oder  die  Erkenntnis  der  Tatsachen  gelangt  zur 
wirklichen  Erklärung  nur  durch  Mathematik.  Das  erinnert  an  einen  Aus- 
spruch Kants  in  den  „Metaphysischen  Anfangsgründen  der  Naturwissen- 
schaft". E.  findet  jedoch,  dass  erst  Fries  mit  der  Folgerung :  „Qualitäten 
sind  daher  unerklärbar",  die  Kantische  Darstellung  „zur  vollen  Deutlichkeit 
herausgearbeitet"  habe. 

„Der  Fortschritt  der  Refleiionserkenntnis",  wie  E.  den  letzten  Teil 
dieses  wichtigen  Kapitels  überschreibt,  führt  uns  nun  mit  seinen  beiden 
regressiven  Methoden,  der  Spekulation  und  Induktion,  ein  in  die  „un- 
mittelbare  Erkenntnis".     Denn    durch    Spekulation   werden    die    philoso- 


Kant  und  Fries.  489 

phischen  Prinzipien  aufgefunden,  danach  durch  Deduktion  gerechtfertigt. 
Weniger  wichtig  ist  bei  Fries  die  Induktion,  welche  in  ihren  Prinzipien 
von  der  Spekulation  abhängt.  Sie  wirkt  mit  an  der  inneren  Erfahrung 
und  lässt  die  der  Spekulation  nicht  erreichbaren  leitenden  Maximen  der 
einzelnen  Erfahrungswissenschaften  bewusst  werden,  „erraten".  Diese 
Stellung  der  Induktion  betont  E.  ganz  besonders  in  Anbetracht  vieler 
falscher  Auffassungen. 

In  dem  nun  folgenden  letzten  und  wichtigsten  Kapitel  des  ersten 
Bandes  „Die  unmittelbare  Erkenntnis  der  Vernunft"  hebt  E.  gleich  das 
Charakteristische  der  ganzen  Friesischen  Philosophie  hervor:  dass  nämlich 
die  Untersuchung  des  psychischen  Ursprungs  der  Grundsätze  zugleich 
auch  ihre  Giltigkeit  entscheiden  soll,  dass  sich  ferner  die  unmittelbare 
Erkenntnis  durch  ein  ,, Wahrheitsgefühl"  dem  „gemeinen  Menschenver- 
stände" ankündigt.  Dieser  Ausdruck  erinnert  an  .E.  Cassirers  Bezeichnung 
der  Friesischen  Philosophie  als  einer  Erneuerung  der  Philosophie  des  ge- 
sunden Menschenverstandes. 

Auch  E.  kommt  auf  diesen  Punkt  zu  sprechen.  Fries  selbst  habe 
sich  in  seiner  Metaphysik  mit  Reid  auseinandergesetzt  und  mit  besonderer 
Schärfe  die  Begründung  seines  „Wahrheitsgefühls"  durch  die  empirische 
Psychologie  der  Engländer  abgelehnt. 

Von  dem  „herkömmlichen  Begriff  des  Gefühls"  unterscheidet  sich 
nach  E.  das  Friesische  „Wahrheitsgefühl"  dadurch,  dass  es  nicht  durch 
Lust  und  Unlust  bestimmt  wird,  sondern  den  unmittelbaren  willkürlichen 
„Akt  der  Denkkraft"  (Fries)  bedeutet.  „Der  Zögling  der  Brüdergemeinde 
in  ihm  erhebt  die  Gefühle  zur  Quelle  der  wahren  Erkenntnis,  der  Schüler 
Kants  macht  aus  dem  Gefühl  die  „unmittelbare  Selbsttätigkeit  der  Urteils- 
kraft" und  fordert  eine  Rechtfertigung  des  Gefühlten  durch  Deduktion" 
(231).  Schleiermacher  steht  nach  E.  hierin  Fries  am  nächsten,  hat  aber 
eine  Vorliebe  für  mystische  Elemente. 

Es  folgt  eine  „systematische  Übersicht  der  in  der  unmittelbaren 
Erkenntnis  der  Vernunft  vorhandenen  Formen".  Für  beachtenswert  hält 
E.  Fries'  Versuch  die  Anlehnung  des  Kategoriensystems  an  die  Tafel  der 
Urteile  dadurch  zu  rechtfertigen,  dass  die  logischen  Formen  das  Bewusst- 
sein  der  in  der  unmittelbaren  Erkenntnis  vorhandenen  metaphysischen 
Formen  vermitteln  sollen. 

Die  Kritik  der  Kantischen  transscendentalen  Apperception  bei  Fries 
wird  teilweise  hinfällig,  da  Kant  nicht,  wie  Fries  meint,  die  Reflexion 
mit  der  unmittelbaren  Erkenntnis  verwechselt,  sondern  die  synthetische 
Einheit,  die  auch  der  Reflexion  zu  Grunde  liegt,  aus  der  produktiven 
Einbildungskraft  ableitet,  „die  damit  gewissermassen  das  ersetzt,  was  bei 
Fries  die  unmittelbare  Erkenntnis  leistete". 

Zu  dem  Verhältnis  der  Vernunfterkenntnis  nach  der  „subjektiven 
Seite,  wie  E.  die  Lehre  von  der  Synthesis  nennt,  tritt  andererseits  die 
Bestimmung  des  Gegenstandes,  die  „objektive  Seite".  Dass  gerade  hier 
„eine  der  Hauptdifferenzen"  zwischen  Kant  und  Fries  liegt,  ist  natürlich 
bei  der  Bedeutung  dieser  Frage  für  Kants  Kritik  besonderer  Aufmerksam- 
keit würdig,  zumal  da  Fries  es  sich  mit  der  Lösung  ausserordentlich  be- 
quem gemacht  hat:  „Für  die  mittelbare^rkenntnis  liegt  die  Wahrheit  in 


490  W.  Reinecke. 

ihrer  Übereinstimmung  mit  der  unmittelbaren  Erkenntnis."  Bei  der  un- 
mittelbaren Erkenntnis  „beruht  die  Wahrheit  auf  dem  blossen  Dasein  der 
Erkenntnis  im  Geiste",  Doch  urteilt  E.  über  den  Gegensatz,  dass  er  in 
Wirklichkeit  nicht  so  gross  sei  wie  er  scheine.  In  Anbetracht  der  Stel- 
lung der  Synthesis  der  reinen  Einbildungskraft  und  der  synthetischen 
Einheit  der  Apperception  glaubt  E.  sagen  zu  können,  dass  auch  bei  Kant 
die  objektive  Giltigkeit  nicht  „in  der  Übereinstimmung  der  Vorstellung 
mit  einem  davon  unabhängigen  Objekt"  besteht,  „sondern  in  einer  Einheit 
schaffenden  Funktion  des  Erkenntnisvermögens".  Fries  entzieht  überhaupt 
die  objektive  Giltigkeit  der  unmittelbaren  Erkenntnis  „aller  wissenschaft- 
lichen Beweisführung  und  ebendamit  auch  der  Abhängigkeit  von  der 
Psychologie".  Als  Unterschied  bleibt  also  nach  E.  bestehen,  dass  Fries 
das  Bewusstwerden  dieser  synthetischen  Funktion  als  Reflexion  von  der 
Funktion  selbst  als  unmittelbarer  Erkenntnis  trennt  und  die  Deduktion 
anthropologisch  fasst,  während  Kant  die  Deduktion  der  transscendentalen 
Logik  zuweist.  Im  Friesischen  Deduktionsbegriff  liegt  nach  E.  eine  Ab- 
leitung der  apriorischen  Funktionen  aus  subjektiven  Verhältnissen  der 
Vernunftorganisation,  „ein  dem  ethischen  und  ästhetischen  Gebiet  mit 
dem  theoretischen  gemeinsames  Verfahren". 

Für  die  Deduktion  der  „wirklich  in  uns  vorhandenen  Erkenntnis- 
formen" ist  das  „oberste  Verhältnis  in  der  Erkenntnis,  das  der  ursprüng- 
lichen formalen,  materialen  und  transscendentalen  Apperception  mass- 
gebend". Daraus  ergeben  sich  die  „vier  spekulativen  Momente  der  Er- 
kenntnis", Die  Einheit  der  Welt  des  äusseren  und  inneren  Sinnes  wird 
auf  die  ursprüngliche,  notwendige,  vernünftige  Einheit  des  ganzen  Er- 
kenntnisgehaltes des  Geistes  gegründet.  Alle  Bestandteile  unserer  Er- 
kenntnis sind  nur  Modifikationen  der  transscendentalen  Apperception, 
wenn  sie  objektiv  giltig  sein  sollen.  E.  glaubt,  dass  Fries  sich  gerade  in 
diesem  Punkte  als  der  echte  Schüler  Kants  erweist,  insofern  er  die  De- 
duktion aller  synthetischen  Formen  aus  einem  Prinzip  darstellt.  Natürlich 
bleibt  auch  in  der  Deduktion  der  Kategorien  der  alte  Unterschied  be- 
stehen, der  sich  aus  Fries'  subjektiv  anthropologischer  Methode  ergiebt. 
„Zweitens  aber  ist  für  Fries  charakteristisch  jene  Ausdehnung  des  Deduk- 
tionsverfahrens auf  die  Gesamtheit  der  Erkenntnisformen,  sogar  mit  Ein- 
schluss  der  Ideen."  Der  Grund  liegt  in  dem  Friesischen  Begriffe  der 
transscendentalen  Apperception  als  dem  Ganzen  der  unmittelbaren  Er- 
kenntnis. Als  drittes  Unterscheidungsmerkmal  führt  E.  die  „eingehendere 
deduktive  Begründung  der  einzelnen  Glieder  des  Kategoriensystems"  bei 
Fries  an,  viertens  tritt  bei  Fries  die  Kategorie  der  Relation,  das  Moment 
der  Synthesis  über  die  anderen  heraus.  Damit  hat  Fries  nach  E.  „eine 
der  wichtigsten  Erkenntnisse  der  neueren  Logik,  wie  sie  besonders  durch 
Sigwart  begründet  wurde,  vorweggenommen".  Für  die  Anwendung  der 
Kategorien  ergeben  sich  zwei  Systeme.  Bei  Ausgang  von  der  gegebenen 
Anschauung:  „die  metaphysischen  Prinzipien  unserer  Naturerkenntnis", 
bei  Ausgang  von  der  Einheit  und  Notwendigkeit:  „die  ideale  Ansicht 
der  Dinge". 

Als   eine  Erweiterung   der   Kantischen  Grundsätze   des  reinen  Ver- 
standes  kann   nach   E,   Fries'  „Metaphysik  der  inneren  Natur"  angesehen 


Kant  und  Fries.  491 

werden,  besonders  in  Hinsicht  auf  die  Mathematik:  „Wie  für  Kant,  so  ist 
auch  für  Fries  die  Anwendung  der  Mathematik  im  Gebiete  der  inneren 
Erfahrung  auf  das  Gesetz  der  Stetigkeit  beschränkt." 

Ganz  abweichend  von  Kant  hat  Fries  die  Lehre  von  den  Ideen 
dargestellt,  denn  sie  ist  ihm  nicht  transscendentale  Dialektik,  sondern 
gleichberechtigt  den  Prinzipien  der  Naturlehre.  Kant  sei  von  der  falschen 
Annahme  ausgegangen,  meint  Fries,  dass  jede  philosophische  Wahrheit 
eines  Beweises  bedürfe.  Dabei  müssten  wir  doch  höchste  Wahrheiten 
haben,  um  aus  ihnen  Beweise  führen  zu  können.  Fries'  eigene  Lehre  von 
der  Realität  des  Seins  gründet  sich  natürlich  auf  die  unmittelbare  Er- 
kenntnis. So  bildet  sich  im  Gegensatz  zum  praktischen  Glauben  Kants 
ein  spekulativer.  Das  ,,oberste  Gesetz  der  Einheit"  als  ein  „Gesetz  der 
Vollständigkeit"'  führt  durch  Verneinung  aller  Beschränkungen,  die  am 
Empirischen  kleben,  zur  „Idee  des  Absoluten"  und  begründet  eine  Welt 
der  Ideen,  die  vom  Wissen  zu  Glaube  und  „Ahndung"  hinüberleitet.  Da- 
rin stimmt  Fries  also  wieder  mit  Kant  überein,  dass  wir  hier  vor  einer 
anderen  Art  der  Überzeugung  stehen. 

n.  Band.  Kritisch-Systematischer  Teil.  In  drei  Kapiteln 
stellt  E.  die  Voraussetzungen,  die  Methode  der  Erkenntnistheorie  und  das 
Problem  der  Grenzen  der  Erkenntnis  dar.  Er  verzichtet  wieder  von  An- 
fang an  auf  eine  Untersuchung  des  ErkenntnisDegriffes  für  sich,  sondern 
hält  sich  an  den  klassischen  Vertreter  der  Erkenntnistheorie,  an  Kant, 
gegen  den  Fries  zunächst  ein  wenig  zurücktreten  muss,  doch  eigentlich 
nur,  um  bald  als  ferner  Zielpunkt  der  Untersuchung  Richtung  zu  geben, 
bald  wenigstens  als  Gegenpol  die  Anziehungskraft  Kantischer  Gedanken- 
kreise abzuschwächen. 

E.  unterscheidet  psychologische,  logische  und  erkenntnistheoretische 
Voraussetzungen  der  Vernunftkritik. 

Zu   den   psychologischen  Voraussetzungen   Kants  zählt  E.  folgende: 

1.  die  „psychologischen  Begriffe  wie  Empfindung  .  .  .", 

2.  die  „psychologische  Unterscheidung  der  beiden  Hauptstämme  der 
Erkenntnis",  der  Sinnlichkeit  und  des  Verstandes,  die  ein  „Hauptelement 
der  Beweisführung"  bleibt, 

3.  die  Auffindung  des  Prinzips  der  Reduktion  durch  psychologische 
Erwägungen  —  wenigstens  in  der  1.  Auflage. 

Mit  Rücksicht  auf  Punkt  1.  und  2.  hält  E.  psychologische  Voraus- 
setzungen für  unentbehrlich  und  auch  für  unbedenklich,  wenn  die  nötige 
wissenschaftliche  Vorsicht  waltet.  Solche  Voraussetzungen  werden  nicht 
nur  Kant,  sondern  überhaupt  den  Erkenntnistheoretikern,  welche  ihre 
Unabhängigkeit  von  der  Psychologie  behaupten,  gern  von  Freunden  psy- 
chologischer Vorherrschaft  in  der  Philosophie  nachgesagt  Aus  gleichen 
Gründen  bezeichnet  z.  B.  AI.  Höfler^)  die  Psychologie  als  die  Grund- 
wissenschaft der  Philosophie,  ohne  die  Logik  und  Erkenntnistheorie  nicht 
auskommen  können.  Das  freilich  ist  klar,  dass  die  Erkenntnistheorie 
ohne  Voraussetzung   psychischer  Vorgänge   nicht   auskommen  kann;   aber 


1)  Vgl.    z.    B.    AI.    Höfler,     Zur    gegenwärtigen    Naturphilosophie. 
Berlin  1904. 


492  W.  Reinecke, 

ebenso  klar  ist,  dass  auch  die  Psychologie  mit  denselben  Erfahrungen  — 
oder  besser  Erlebnissen  „anheben"  muss.  Die  Psychologie  schafft  sie 
nicht,  sie  werden  überhaupt  von  keiner  Wissenschaft  geschaffen,  sondern 
sie  bilden  einen  unvermeidlichen  Ausgangspunkt,  ein  Gemeingut  aller 
Wissenschaften.  Wer  diese  Begriffe  für  psychologische  erklärt,  über- 
schätzt die  Leistungsfähigkeit  der  Psychologie  und  verwechselt  das  Psycho- 
logische mit  dem  nur  Psychischen.  Husserl  nennt  solche  Vorgänge  psy- 
chische Phänomene  und  die  Feststellung  und  Beschreibung  derselben  Pliä- 
nomenologie  oder  deskriptive  Psychologie  zum  Unterschied  von  der 
genetischen  Psychologie.  E.  hätte  in  dem  Namen  aber  nicht  ein  Zuge- 
ständnis an  die  Psychologie  erblicken,  sondern  folgende  Bemerkung 
Husserls  beachten  sollen  -A)  „die  reine  Phänomenologie  stellt  ein  Gebiet 
neutraler  Forschungen  dar,  in  welchem  verschiedene  Wissenschaften 
ihre  Wurzeln  haben.  Einerseits  dient  sie  zur  Vorbereitung  der  Psy- 
chologie als  empirischer  Wissenschaft  .  .  .  Andererseits  erschliesst  sie 
die  „Quellen",  aus  denen  die  Grundbegriffe  und  die  idealen  Gesetze  der 
reinen  Logik  „entspringen"  .  .  ." 

Dazu  noch  ein  weiterer  beachtenswerter  Punkt:  Ist  „Empfindung" 
für  den  Erkenntnistheoretiker  dasselbe  wie  für  den  Psychologen  ?  —  Nein, 
denn  diesen  kümmert  das  Erleben  als  solches,  jenen  der  Erkenntniswert 
des  erlebten  Inhalts,  obwohl  beide  von  derselben  Tatsache  ausgehen.  Sie 
meinen  demnach  mit  dem  Worte  Empfindung  ganz  verschiedenes.  Th. 
Lipps  hat  einmal  über  den  Standpunkt  des  Logikers  und  den  des  Psycho- 
logen geäussert: 2)  „Die  logischen  Sätze  verhalten  sich  zu  Bewusstseins- 
erlebnissen  lediglich  ausdrückend,"  „Die  Gesetze  der  empirischen  Psycho- 
logie dagegen  sind  Berichte."  Wenn  damit  auch  nach  unserer  Meinung 
das  Verhältnis  nicht  ganz  richtig  bestimmt  ist,  so  wird  doch  auch  von 
Lipps  ein  nicht  geringer  Unterschied  festgestellt.  Somit  kommen  wir  zu 
dem  Ergebnis,  dass  die  von  E.  behaupteten  psychologischen  Voraussetz- 
ungen Kants  im  Allgemeinen  nicht  vorhanden  sind,  dass  sie  jedenfalls 
nicht  der  Kantischen  Methode  angehören. 

Die  logische  Voraussetzung  der  Erkenntnistheorie,  der  Urteilsbegriff, 
ist  nach  E.  darum  nicht  wichtig,  weil  die  Logik  einer  allgemeinen  Er- 
kenntnislehre eingegliedert  werden  kann. 

Es  sind  also  noch  jene  Voraussetzungen  zu  betrachten,  die  E.  ab- 
sichtlich „erkenntnistheoretische  Voraussetzungen  der  Erkenntnistheorie" 
genannt  hat.  Den  ersten  Teil  der  erkenntnistheoretischen  Voraussetzungen 
müssen  wir  uns  näher  ansehen.  Er  ist  überschrieben:  „Die  erkenntnis- 
theoretischen Voraussetzungen  hinsichtlich  des  Ausgangspunktes  der  Unter- 
suchung" (24).  Man  achte  auf  den  Unterschied  zwischen  „Voraussetzung" 
und  „Ausgangspunkt".  Ein  Ausgangspunkt  braucht  noch  nicht  grund- 
legende Voraussetzung  einer  Untersuchung  zu  sein.  Es  sind  z.  B.  ganz 
verschiedene  Fragen,  ob  die  objektive  Giltigkeit  der  Mathematik  Aus- 
gangspunkt   oder   ob   sie  Voraussetzung,  Grundlage   der   Erkenntniskritik 

^)  Husserl,  logische  Untersuchungen  II,  4. 

■■')  Th.  Lipps,  Inhalt  und  Gegenstand;  Psychologie  und  Logik.  S.  540. 
K.  B.  Akademie  der  W.    München  1905. 


Kant  und  Fries.  493 

ist.  Der  Ausgangspunkt  kann,  wie  in  dem  Beispiel,  eine  Hypothese  oder 
ein  Anspruch  sein,  dessen  Berechtigung  die  Kritik  untersucht,  er  be- 
gründet dann  aber  nicht  das  kritische  Verfahren  selbst.  Das  hat  auch  E. 
vielleicht  trennen  wollen,  da  er  dem  ersten  Teil  einen  zweiten  „die  er- 
kenntnistheoretischen Voraussetzungen  hinsichtlich  der  Untersuchung 
selbst"  anschliesst.    Ob  es  ihm  gelungen  ist? 

Nach    Fries    ist    die    Vorbedingung    erkenntnistheoretischer    Unter- 
suchung  das  Vorhandensein    objektiv   giltigen   Erkennens,    Kant  verlangt 
nur  Anerkennung  einer  Erfahrung,   und  zwar   nach  E.  der  „gemeinen  Er- 
fahrung".    E.  vollzieht  aber  im  Verlauf   der  Erörterung   einen  bemerkens- 
werten Übergang  von  der  blossen  Anerkennung  zur  „Notwendigkeit"  der 
Anerkennung   der   Erfahrung:    „nur   dann,   wenn  Erfahrung   möglich  sein 
muss",  sind  auch  die  kategorialen  Begriffe  notwendig.    Hier  treten  noch 
zwei   Ausdrücke   auf,    welche   wir   beachten  müssen :   Notwendigkeit   und 
Möglichkeit,  denn  es  kommt  darauf  an,  den  Sinn  festzustellen,  in  dem  die 
„Notwendigkeit"    der  Kategorien   an    die  „Notwendigkeit"  der  Erfahrung 
geknüpft    wird.      Bedeutet    diese    Notwendigkeit    Bedingung    objektiver 
Giltigkeit,   so   ist   damit  aus  der  Erfahrung  als  „Ausgangspunkt"  eine  be- 
gründende „Voraussetzung"  geworden.    Es   währt    nicht   lange,   so  finden 
wir   eine  Überschrift    „der   Sinn   des   Kantischen   Erfahrungsbegriffes   als 
der   Grundvoraussetzung   seiner   Erkenntnistheorie"    (30).     Der   Sinn 
ist    „gemeine   Erfahrung"    und    die   Folge.     „Alle   synthetischen   Formen, 
welche   diese   gemeine   Erfahrung,  welche  allgemein  anerkannte  Tatsache 
ist,   erst   möglich   machen,   sind   aber  damit  als  objektiv  giltig  bewiesen" 
(32).    Es   ist   wohl   deutlich   zu  sehen,  wie  sich  allmählich  der  „Ausgangs- 
punkt" in  Wichtigeres  verwandelt  hat.    Ferner  ist  objektive  Giltigkeit  auf 
allgemeine   Anerkennung   gestützt  worden,   Notwendigkeit  ist  also  bei  E. 
nichts  als  subjektiver  Zwang.     Damit  werden  wir  uns  noch  später  in  der 
Lehre   von   der  Evidenz  zu  beschäftigen  haben.    Die  Existenz  der  Mathe- 
matik, für  Kant   nur   der  Beweis  ihrer  Möglichkeit,  bedeutet  nun  nach  E. 
ihre   objektive  Giltigkeit.     „Dass   es   eine  objektiv  giltige  Erfahrung  und 
objektiv  giltige    Sätze   der   Mathematik  und  Naturwissenschaft  überhaupt 
giebt,   nimmt   Kant   von   vornherein   an ;    welche  apriorischen  Funktionen 
ihnen  aber  zugrunde  liegen,  und  dass  gerade  diese  in  ihrer  Vollständigkeit 
aufgefundenen   Formen   objektiv   giltig   sind,   und   worin    diese  objektive 
Giltigkeit   besteht,   bedarf   des   kritischen  Nachweises"  (36).    Daraus  geht 
hervor,  dass  E.  ganz  nach  Fries  der  gemeinen  Erfahrung  objektive  Giltig- 
keit zuschreibt     anstatt  mit  der  Frage  anzufangen,    worin  überhaupt  „ob- 
jektive Giltigkeit    besteht".     Das   heisst    aber  nichts  anderes  als  sich  über 
das  Grundproblem  der  Erkenntnistheorie  hinwegsetzen.    Bleibt  bei  solchem 
Verfahren   noch   irgend   ein  Unterschied  bestehen  zwischen  gemeiner  und 
wissenschaftlicher     Erfahrung?     Hätte    es    Zweck,    nach    Kategorien    zu 
suchen,    wenn    sie  keinen  Wert  für  den  objektiven  Zusammenhang  haben, 
sondern   nur    als  Bestandteile  jeder,  auch  der  gemeinen  Erfahrung  gleich- 
sam  nach  Voraussetzung    objektiv  ^iltig  sind?     Gemeine  Erfahrung   kann 
nur   subjektiv   sein,   z.  B.    die  Beobachtung,    auf  A  folgt  B.    Wird  daraus 
eine  kausale  Verknüpfung:   weil   A  ist,   so  folgt  B,   so   befinden   wir  uns 
nicht  mehr  auf  dem  Boden  der  gemeinen  Erfahrung;  sondern  haben  einen 


494  W.  Reinecke 


objektiven  Zusammenhang  konstruiert,  dessen  Giltigkeit  durch  neue  Be- 
obachtungen zu  prüfen  ist.  So  wird  wohl  objektive  Giltigkeit  aus  sub- 
jektiven Beobachtungen  erschlossen,  aber  nicht  syllogistisch  abgeleitet. 
Geraeine  Erfahrung  ist  ein  „Ausgangspunkt",  nicht  aber  eine  „Grundvor- 
aussetzung" für  objektive  Erkenntnis.  Die  allmähliche  Verwandlung  des 
„Ausgangspunktes"  vollendet  sich  bei  E.  in  der  Frage:  „Werden  durch 
diese  empirische  Begründung  nicht  die  Prinzipien  der  Erkenntnis  ihres 
allgemeinen  und  notwendigen  Charakters  entkleidet?"  (40).  Es  ist  schade, 
dass  die  ungemeine  Sorgfalt  E.s  in  vielen  Dingen  gerade  an  diesem  wich- 
tigen Punkte  versagte. 

Die  eben  genannte  Frage  führt  zum  Kantischen  Begriff  des  Fak- 
tums und  der  Erfahrung,  für  die  nach  E.  Kants  Begriff  der  „vernünftigen 
Wesen"  und  seine  erkenntnistheoretische  Bedeutung  eine  Rolle  spielt. 
Zur  Bildung  dieses  Begriffes  soll  Kant  sich  veranlasst  gesehen  haben,  um 
die  nicht-anthropologische  Begründung  des  Moralgesetzes  und  AUgemein- 
giltigkeit  auf  praktischem  und  theoretischem  Gebiete  zu  wahren.  Doch 
erweitert  sich  in  Wirklichkeit  nach  E.  nur  die  empirische  Bedingtheit 
nicht  ohne  „praktischen  Vernunftglauben"  zu  einer  „Gattungsorganisation 
vernünftiger  Wesen"  als  Grundlage  des  Kritizismus.  Ein  „Bewusstsein 
überhaupt"  hält  E.  für  ein  der  Kantischen  Anschauung  „fremdes  mystisches 
Element".  Wir  sehen  also,  dass  E.  sich  immer  mehr  einer  subjektiv-psy- 
chologischen Gestaltung  der  Erkenntnistheorie  zuwendet.  Ein  objektiv 
giltiger  Satz  würde  doch  zu  der  Gattungsorganisation  gar  keine  Be- 
ziehung haben. 

„Hinsichtlich  der  Untersuchung  selbst"  befindet  sich  der  Philosoph 
in  dem  Zirkel,  dass  er  erkennend  Prinzipien  des  Erkennens  voraussetzen 
muss,  eine  Schwierigkeit,  welche  nach  E.  allein  die  Friesische  Unter- 
scheidung von  Deduktion  und  Beweis  beseitigt.  Der  Beweis  objektiver 
Giltigkeit  wird  ja  überflüssig. 

Noch  eine  dritte  Art  erkenntnistheoretischer  Voraussetzungen  zählt 
E.  „hinsichtlich  der  Mitteilbarkeit  der  Untersuchung"  auf,  nämlich  Gleich- 
artigkeit der  Organisation,  übereinstimmende  Wortbedeutungen,  An- 
erkennung und  Begründung.  Aus  dieser  Aufzählung  lässt  sich  wieder 
schliessen,  dass  E.  die  „durchaus  subjektive  Wendung"  der  Friesischen 
Vernunftkritik  als  die  richtige  anerkennt. 

Wir  kommen  zum  II.  Kapitel,  „Die  Methode  der  Erkenntnistheorie". 
Wenn  E.  dazu  bemerkt:  „durch  die  Gesamtheit  dieser  Voraussetzungen 
ist  nun  die  Methode  der  Erkenntnistheorie  wesentlich  bedingt"  (9.S),  so 
kann  man  ihm  nur  zustimmen.  Bisher  führte  die  Entwickelung  darauf 
hin,  dass  „die  objektive  Giltigkeit  der  Erkenntnisprinzipien  von  der  Er- 
kenntnistheorie bereits  vorausgesetzt  werden  muss".  Es  soll  aber  noch 
ein  Kriterium  der  objektiven  Giltigkeit  geben. 

Wir  haben  bereits  darauf  hingewiesen,  wie  aus  den  „Ausgangs- 
punkten" Grundvoraussetzungen  von  objektiver  Giltigkeit  geworden  sind, 
d.  h.  aber  nach  E.s  Auffassung  nichts  weiter  als  Tatsachen,  welche  allge- 
mein anerkannt  werden  müssen.  Diese  Allgemeinheit  und  Notwendigkeit 
und  damit  die  objektive  Giltigkeit  wird  nunmehr  auf  das  Evidenzgefühl, 
das  Friesische  „Wahrheitsgefühl"  gegründet.    Hier  ist  die  Quelle  der  Mei- 


Kant  und  Fries.  495 

nungsverschiedenheit.  Denn  von  hier  aus  wird  die  Erkenntnistheorie 
psycho! ogisiert,  indem  das  individuelle  Eriebnis  der  Evidenz  der  Psycho- 
logie zugewiesen  wird.  Zunächst  kann  man  einwerfen,  ob  eine  psycho- 
logische Analyse  dieses  Gefühls  für  die  Erkenntnistheorie  notwendig  ist. 
Nach  unserer  Meinung  könnte  man  sich  mit  der  Tatsache  begnügen  und 
stände  damit  ausserhalb  der  Psychologie.  Der  Hauptstreit  jedoch  geht 
um  die  richtige  Würdigung  der  Evidenz  und  wird  von  E.  mit  Husserl 
geführt. 

Husserl  betont :  „Wahrheit  ist  eine  Idee,  deren  Einzelfall  im  evi- 
denten Urteil  aktuelles  Erlebnis  ist".i)  Wahrheit  ist  in  der  Evidenz  er- 
fasst,  beide  verhalten  sich  wie  „das  Sein  eines  Individuellen  zu  seiner 
adäquaten  Wahrnehmung.  Nach  E.  wird  „unmittelbare  Gewissheit"  nur 
durch  Evidenz  „geschaffen".  Das  Abhängigkeitsverhältnis  ist  bei  E.  um- 
gekehrt gedacht  wie  bei  Husserl.  Der  Unterschied  tritt  noch  deutlicher 
hervor,  wenn  wir  ergänzen :  nach  Husserl  giebt  es  Wahrheit  ohne  Evi- 
denz,2)  nach  Elsenhans  giebt  es  ohne  Evidenz  keine  Wahrheit.  Husserl 
hebt  nach  unserer  Meinung  mit  Recht  die  Bedeutung  des  „Sachverhaltes" 
gegenüber  dem  Evidenzgefühl  hervor,  z,  B.:  „dieses  Blatt  ist  grün"  be- 
hauptet einen  bestimmten  Sachverhalt,  der  als  solcher  für  mich  evident 
ist.  Ein  Farbenblinder  bestreitet  den  Satz,  dann  hilft  ihm  gegenüber  alle 
meine  Evidenz  nichts,  er  hat  einen  anderen  Sachverhalt  vor  sich,  und 
dieser  ist  für  ihn  auch  evident.  Beruht  also  die  Erkenntnis  von  der  Sub- 
jektivität der  Farbempfindungen  nur  auf  Evidenz?  Iin  Gegenteil,  wir 
müssen  über  die  blosse  Evidenz  hinausgehen  und  jenseits  Objektivität 
suchen.  Wenn  alles  Evidente  für  objektiv  genommen  würde,  kämen  wir 
nie  über  die  Sinnenwelt  hinaus  zur  Welt  der  physikalischen  Begriffe.  Da 
es  immer  gut  ist,  sich  bei  erkenntnistheoretischen  Erörterungen  an  die 
Mathematik  zu  halten,  sei  noch  aus  dieser  ein  Beispiel  angeführt.  Beruht 
das  Urteil  2.3  =  6  auf  Evidenz  und  —  um  gleich  noch  auf  einen  andern 
von  E.  angeführten  Punkt  einzugehen  —  wird  dabei  eine  allgemeine 
Gattungsorganisation  vorausgesetzt  ?  Wenn  wir  diese  Frage  verneinen  — 
und  wir  tun  es  — ,  so  kann  die  objektive  Giltigkeit  nicht  von  der  AUge- 
meingiltigkeit  im  Sinne  E.s  abhängen,  dann  ist  umgekehrt  Allgemein- 
giltigkeit  eine  Folge  objektiver  Giltigkeit  und  somit  auch  eine  Notwendig- 
keit nachgewiesen,  die  im  Objekt  sich  gründet.  Wir  müssen  freilich 
wieder  darauf  hinweisen,  dass  E.s  Ausdruck  „objektive  Giltigkeit"  nicht 
mit  dem  gleichnamigen  Begriff  Kants  oder  gar  Husserls  sich  deckt,  dazu 
mangelt  ihm  die  Schärfe,  die  ihm  nur  eine  Untersuchung  des  Begriffs  der 
Erkenntnis  verleihen  könnte. 

Wie  hilft  sich  E.  über  diese  Subjektivität  hinweg,  wo  nach  seinen 
Worten  unter  Umständen  „Urteil  gegen  Urteil",  also  „Gefühl  gegen  Ge- 
fühl" steht  ?  Er  meint,  dass  erst  in  dem  Augenblick  der  Widerspruch 
einsetze,    in    dem    das    andere    Urteil   —    etwa    durch    Beweisführung  — 


1)  Husserl,  logische  Untersuchungen  I,  190. 

2)  Husserl  I,  189:  „dass  selbst  der  Rekurs  auf  das  Normale  den  Um- 
fang der  evidenten  Urteüe  mit  dem  der  wahrheitsgemässen  nicht  zur 
Deckung  bringe". 


496  W.  Reinecke, 

evident  zu  werden  beginne.  Es  muss  also  vom  Gegner  ein  stärkeres 
Evidenzgefühl  aufgeboten  werden  zur  Überwindung  des  Gegensatzes. 
„Wir  könnten  uns  demnach  Evidenzgefühle  höherer  und  niederer  Ordnung 
denken,  von  denen  die  ersteren  die  letzteren  in  sich  aufnehmen  oder 
annullieren  würden  und  von  denen  die  höchsten  mit  den  Erkenntnis- 
prinzipien selbst  verbunden  wären.  Von  einer  solchen  Hierarchie  der 
Gefühle  aus  ist  dann  eine  Korrektur  des  Einzelgefühls  nicht  mehr  un- 
denkbar" (102). 

E.s  Auffassung  lässt  sich  leicht  aus  einem  Missverständnis  der  Auf- 
gaben der  Erkenntnistheorie  erklären,  in  dem  ihn  vermutlich  Fries  be- 
stärkt hat.  E.  und  ebenso  Fries  lösen  in  Wirklichkeit  mit  ihrer  Evidenz- 
theorie nur  die  Frage:  Wie  lernen  wir  Menschen  Erkenntnis,  wie  kommen 
wir  zum  Verständnis  von  Wahrheiten?  Denn  die  Evidenz  bezieht  sich 
nur  auf  den  psychischen  Akt,  auf  das  Verstehen,  haftet  nicht  an  einem 
Satze  für  sich.  Die  angeführten  „Voraussetzungen"  sind  nicht  solche  der 
Erkenntnis  selbst,  sondern  nur  solche  für  eine  Betätigung  in  der  Er- 
kenntnis, für  das  Lernen  und  Verstehen.  Sonst  hätte  auch  E.  nicht  an 
dritter  Stelle  unter  den  Voraussetzungen  der  Erkenntnistheorie  die  „hin- 
sichtlich der  Mitteilbarkeit"  aufführen  können.  Die  Aufgabe,  die  E.  und 
auch  Fries  zu  lösen  versuchen,  ist  demnach  gar  nicht  die  erkenntnis- 
theoretische, sondern  die  allgemeinste  psychologisch-pädagogische.  Den 
Weg  zu  der  wirklich  erkenntnistheoretischen  Frage  nach  den  Bedingungen 
der  objektiven  Giltigkeit,  z.  B.  der  Möglichkeit  einer  angewandten  Mathe- 
matik haben  sich  die  Philosophen  Friesischer  Richtung  durch  die  allzu 
bequeme  Annahme  „unmittelbarer  Erkenntnis"  vollkommen  verbaut. 
Schon  dieser  Ausdruck  „unmittelbare  Erkenntnis"  weist  darauf  hin, 
dass  sie  sich  nur  mit  den  Mitteln  zum  Aneignen  der  Erkenntnis  befassen, 
nicht  aber  mit  der  Erkenntnis  selbst.  Darum  können  ihre  Untersuchungen 
nur  für  Psychologie  und  Pädagogik  Wert  haben. 

Besonders  gespannt  wird  man  nun  darauf  sein,  wie  E.  sich  gegen- 
über der  „Methode  der  Untersuchung  der  Erkenntnisprinzipien"  selbst 
verhält.  Hier  liegt  ja  der  Gegensatz  zwischen  Kant  und  Fries  am  klarsten 
vor  und  kommt  in  dem  Vorwurf  Fries'  zum  Ausdruck,  dass  Kant  die  em- 
pirisch-psychologische Natur  seiner  transscendentalen  Untersuchung  ver- 
kannt habe.  Es  ist  wieder  ein  schöner  Beweis  für  E.s  Gründlichkeit,  dass 
er  folgende  beiden  Fragen  scheidet:  1.  „ob  Kant  selbst  seine  Vernunft- 
kritik als  eine  im  wesentlichen  psychologische  Untersuchung  betrachtet 
wissen  wollte",  2.  „ob  er  bei  grundsätzlicher  Ablehnung  der  psycho- 
logischen Methode  tatsächlich  doch  psychologisch  verfuhr"  (108).  Aus 
der  2.  Frage  geht  schon  hervor,  dass  die  erste  zu  verneinen  ist,  die  zweite 
selbst  aber  kein  blosses  ja  oder  nein  zulässt,  weil  nämlich  der  Begriff  des 
Tansscendentalen  bei  Kant  mehrdeutig  ist.  Gerade  dieser  aber  beweist 
nach  E.,  „dass  Kant  die  von  Fries  eingeführte  Problemstellung  im  Grunde 
genommen  fern  lag"  (119). 

Das  Kantische  Verfahren  zur  Aufsuchung  der  reinen  Verstandes- 
begriffe ist  nach  E.  1.  emprisch,  denn  es  werden  „bereits  vorhandene 
Begriffe"  aufgesucht  (121)  und  durch  den  transscendentalen  Leitfaden 
wird  nur  die  Vollständigkeit  festgestellt.     2.  ist  das  Verfahren  Kants  aber 


Kant  und  Fries.  497 

von  einem  bloss  psychologischen  dadurch  zu  unterscheiden,  „dass  bei  ihr 
die  Beziehung  auf  Gegenstände,  die  als  transscendent  betrachtet  werden, 
den  Ausgangspunkt  bildet"  (130).  Damit  lässt  aber  E.  immer  noch  die 
Möglichkeit  frei,  dass  sich  die  Aufgabe,  wenn  auch  nicht  restlos,  auf  Psy- 
chologie gründet  (125).  Freilich  sei  Aufsuchung  und  Begründung  der  ein- 
zelnen Erkenntnisprinzipien  weder  bei  Fries  noch  bei  Kant  befriedigend 
dargelegt,  müsse  vielmehr  anders  angefasst  werden.  Nachdem  man  vom 
„gemeinsten  Verstandesgebrauche"  ausgehend  der  subjektiven  Sphäre  die 
Form  der  Erkenntnis,  der  objektiven  Sphäre  den  Stoff  der  Erkenntnis  zu- 
gewiesen habe,  gelte  es,  „von  der  Erforschung  des  eigenen  Erkennens  aus 
unter  steter  Vergleichung  der  Grundzüge  menschlichen  Erkennens,  wie 
sie  in  Geschichte  und  Gegenwart  die  Wissenschaft  uns  darbietet,  die  ein- 
zelnen Erkenntnisprinzipien  aufzusuchen  und  zu  begründen"'  (137).  Beides 
gehe  Hand  in  Hand.  Allgemeinheit  und  Notwendigkeit  aber  werde  zu 
Beginn  der  Untersuchung  „vorausgesetzt,  und  zwar  für  alle  diejenigen 
Formen,  mit  deren  Anwendung  jenes  Evidenzgefühl  höchster  Ordnung 
sich  verbindet"  (137). 

Es  giebt  also  nach  E.  keine  besondere  erkenntnistheoretische  Methode. 

Welche  Bedeutung  hat  nun  die  Psychologie  nach  E.  für  die  Er- 
kenntnistheorie? 

Als  „Psychologie  des  Erkennens"  hat  sie  der  Erkenntnistheorie  vor- 
zuarbeiten,  sie  geht  dabei  nicht  über  den  Standpunkt  des  naiven  Realis- 
mus hinaus.  Mit  der  Beziehung  „auf  den  für  transscendent  gehaltenen 
Gegenstand"  beginnt  die  eigentliche  Erkenntnistheorie,  die  sich  mit  der 
Frage  beschäftigt,  „mit  welchem  Rechte  wir  von  einem  „Ding  an  sich" 
reden"  (153). 

Um  die  Anwendbarkeit  der  vertretenen  Methode  zur  Aufsuchung 
der  Erkenntnisprinzipien  zu  zeigen,  stellt  E.  sich  die  Frage:  „Was  tun 
wir,  indem  wir  Gegenstände  erkennen?''  (157).  Der  Erkenntnisprozess  ist 
ihm  „Mathematisierung,  Klassifikation  und  Kausalerklärung  des  Ge- 
gebenen". Die  entsprechenden  Grundprinzipien  sind:  Raum  und  Zeit, 
Substanz,  das  Gesetz  der  Kausalität.  Bemerkenswert  ist  E.s  Untersuchung 
über  die  Frage:  „Ist  es  richtig,  nur  von  einem  Substanzbegriff  und  von 
einem  Kausalgesetz  zu  reden?"  (164).  Er  weist  „die  Form  des  Begriffes 
und  des  Gesetzes  je  einem  der  beiden  Grundprinzipien  zu,  während  die 
Anschauungsformen  als  Gruppe  für  sich  bestehen  bleiben". 

Hier  nähert  sich  E.  wieder  der  Kantischen  Lehre,  nur  dass  er  nach 
unserer  Meinung  die  Aufgabe  der  Erkenntnistheorie,  indem  er  sie  auf  die 
transscendenten  Dinge  an  sich  beschränkt,  zu  eng  fasst  und  zu  viel  der 
Psychologie  zuweist. 

An  Stelle  der  Psychologie  wäre  das  zu  setzen,  was  Husserl  Phäno- 
menologie nennt. 

Es  bleibt  noch  als  HI.  Kapitel  „das  Problem  der  Grenzen  der  Er- 
kenntnis". Es  beginnt  mit  der  Lehre  von  der  Unerklärlichkeit  der  Quali- 
täten, deren  berechtigter  Kern  in  der  Unmöglichkeit  einer  vollständigen 
Erklärung  und  Bezeichnung  des  Gegebenen  liegt.  Auch  die  Geschichte 
sagt  nach  E.  nichts  dawider,  dass  die  Grenzen  der  Erklärung  mit  den 
Grenzen     der    Erkenntnis    zusammenfallen.       „Wir    haben    als    Ziel    der 


498  W.  Rein  ecke,  Kant  und  Fries. 

Wissenschaft,  auch  der  Naturwissenschaft,  nicht  die  Bildung  allgemeiner 
Begriffe,  sondern  die  Erklärung  der  Wirklichkeit  selbst  zu  betrachten" 
(179).  Jede  Erklärung  aber  macht  aus  dem  „unübersehbaren"  Individuellen 
„Merkmalskomplexe  und  Gesetzeskomplexe",  so  dass  die  Wissenschaft  un- 
vollendbar  bleibt.  Da  das  sowohl  für  Naturwissenschaft  wie  für  Geschichte 
gilt,  so  liegt  der  Unterschied  nur  im  Grade  der  Komplikation.  Wertungen 
nach  Brauchbarkeit  für  die  Erklärung  leiten  in  beiden  Fällen  die  Aus- 
wahl des  Verfahrens,  nicht  aber  bestimmt  das  Prinzip  der  Auswahl  das 
Verfahren. 

Nach  diesen  allgemeinen  Bemerkungen  stellt  E.  Kants  und  Fries' 
Auffassung  dar,  wobei  wieder  der  Friesische  Grundsatz  des  Selbstvertrauens 
der  Vernunft  und  die  Giltigkeit  der  spekulativen  Ideen  von  Bedeutung 
wird.  Aus  Kants  Erörterungen  über  das  Transscendente  zieht  E.  in  der 
Erwägung,  „dass  die  Vorstellung  eines  Gegenstandes  .  .  .  um  so  mehr  an 
Realität  gewinnt,  je  mehr  sie  dazu  dient,  die  Wirklichkeit  zu  erklären, 
die  Folgerung:  „nach  den  Grundsätzen  des  wissenschaftlichen  Verfahrens 
ist  es  völlig  unvermeidlich,  dass  regulative  Prinzipien,  eben  weil  sie  Sub- 
strate der  von  der  Wissenschaft  anzustrebenden  grösstmöglichen  Einheit 
der  Erfahrungskenntnis  liefern,  zu  Hypothesen  werden"  (200).  So  sei  z.  B. 
in  der  Deszendenztheorie  aus  dem  regulativen  Prinzip  „von  der  konti- 
nuierlichen Stufenleiter  der  Geschöpfe"  eine  Hypothese  geworden,  welche 
in  die  organische  Welt  „systematische  Einheit"  brachte.  Ja,  die  Natur- 
wissenschaft selbst  geht  mit  ihren  letzten  Hypothesen  des  Atoms  und  des 
Äthers  über  Anschauung  und  Erfahrung  hinaus,  so  dass  man  diese  Hypo- 
thesen mit  Külpe  als  „induktive  Metaphysik"  bezeichnen  könnte.  Solche 
transscendenten  Hypothesen  sind  an  die  Bedingungen  der  Einheitlichkeit 
und  des  Bedürfnisses  gebunden.  Daher,  schliesst  E.  weiter,  können  auch 
„Annahmen,  welche  praktischen  Bedürfnissen  entsprungen  sind,  zugleich 
dem  Verständnis  dieser  Wirklichkeit  dienstbar  gemacht  werden  und  theo- 
retisch betrachtet  als  Hypothesen  Verwendung  finden"  (216).  Die  empi- 
rische Basis  könne  hier  die  Gesamtheit  der  Tatsachen  des  sittlichen 
Lebens  besonders  des  eigenen  Gewissens  bilden.  Mag  E.  behaupten,  dass 
diese  Basis  fest  genug  ist  ?  Das  „praktische  Bedürfnis"  ist  wohl  ein  zu 
vager  Begriff,  hier  wäre  erst  noch  einige  Arbeit  zu  leisten,  bevor  man 
über  die  Fruchtbarkeit  der  von  E.  entworfenen  Gedanken  entscheiden  kann. 

Damit  sind  wir  am  Ende  des  Werkes.  Obwohl  wir  E.s  Ansicht  über 
die  Erkenntnistheorie  nicht  teilen  können,  sei  betont,  dass  das  Werk  sehr 
schöne  Gedanken  über  Psychologie,  Philosophiegeschichte  und  Ethik  ent- 
hält, namentlich  aber  zur  Belehrung  über  Fries  wegen  seiner  Gründlich- 
keit und  Klarheit  in  der  Darstellung  dringend  zu  empfehlen  ist. 


Rezensionen. 


Fischer,  Kuno.  Immanuel  Kant  und  seine  Lehre.  5.  Aufl. 
Heidelberg  1909  und  1910.  Carl  Winters  Universitätsbuchhandlung.  (Zwei 
Bände  :  XX  u.  686  und  XVIII  u.  645  S.) 

Es  ist  gerade  ein  halbes  Jahrhundert  vergangen,  seit  das  Werk  zum 
ersten  Male  vor  die  Öffentlichkeit  trat.  Dass  im  Laufe  dieses  halben 
Jahrhunderts  das  historische  Interesse  an  Kant  mannigfach  andere  Formen 
annehmen  musste,  als  es  sich  für  Kuno  Fischer  gestaltet  hatte,  liegt  in 
der  sj'stematischen  Entwickelung  begründet,  die  die  Philosophie  selbst  in 
diesem  geschichtlichen  Zeiträume  erfahren  hat.  Und  dass  damit  auch  im 
Speziellen  der  Kantforschung  andere  Aufgaben  gestellt  und  andere  Wege 
gewiesen  werden  mussten,  als  sie  ihr  vor  fünfzig  Jahren,  da  Kuno  Fischer 
seine  Mission  antrat,  bestimmt  waren,  liegt  auf  der  Hand.  Am  klarsten 
und  offenbarsten  mag  einem  das,  von  allem  anderen  abgesehen,  an  der 
Tatsache  entgegentreten,  dass  wir  heute  vor  allen  Dingen  an  den  trans- 
scendentalkritischen  Momenten  der  Kantischen  Lehre  systematisch  interessiert 
sind  und  dieses  Interesse  auch  in  unserer  historischen  Untersuchung  über 
Kant  mehr  zur  Geltung  bringen,  während  Kuno  Fischer  mit  ebensoviel 
Interesse  auch  den  transscendentalpsychologischen  Faktoren  im  Systeme 
Kants  nachgeht.  Aber  darin  liegt  vielleicht  gerade  das  Grossartige  der 
Fischerschen  Darstellung,  das  sie  für  uns  heutige  ebenso  wert  macht,  wie 
sie  es  bei  ihrem  ersten  Erscheinen  der  Zeit  vor  fünfzig  Jahren  war,  dass 
sie  eben  auch  für  unser  heutiges  Interesse  mitbestimmend  war  und  es  in 
entscheidender  Weise  wenigstens  mittelbar  selbst  beeinflusst  hat.  Und  das 
wieder  hat  seinen  tiefsten  und  letzten  Grund  in  der  Art  und  Weise,  in 
der  Klarheit  und  Tiefe,  mit  der  Kuno  Fischer  die  Aufgabe  des  Philosophie- 
historikers überhaupt  erfasst.  Soweit  dieser  eine  konkrete  Erscheinung 
in  ihrer  bestimmten  Bedeutung  verstehen  will,  darf  er  nicht  nach  einem 
persönlichen  Interesse  bloss  diese  oder  jene  Seite  seines  Gegenstandes, 
sofern  er  eben  nicht  etwa  ausschliesslich  die  Probleme  als  solche  verfolgt, 
allein  herausstellen,  er  muss  sie  zunächst  mit  objektiver  Unbefangen- 
heit in  ihrer  ganzen  historischen  Bestimmtheit  zu  verstehen  suchen. 
Und  zu  dieser  historischen  Bestimmtheit  gehört  bei  Kant,  um  auf  unser 
Beispiel  zurückzukommen,  das  transscendentalpsychologische  Moment  eben- 
sogut, wie  das  transscendentalkritische.  Die  Fort-  und  Weiterbildung  der 
Kannschen  Lehre  mag  auf  das  eine  oder  das  andere  mehr  Nachdruck 
legen.  Aber  wer  da  behaupten  wollte,  bei  Kant  selbst  sei  nur  das  eine 
oder  das  andere  angelegt,  der  würde  die  historisch  nun  einmal  vorliegende 
Erscheinung  in  ihrem  Wesen  entweder  verkennen  oder  entstellen.  Der 
systematische  Fortbildner  ist  da  frei,  wo  der  Historiker  durch  die  ge- 
schichtliche Tatsächlichkeit  zunächst  gebunden  ist.  So  musste  denn  zu- 
nächst auch  Kuno  Fischer  nicht  bloss  sowohl  den  transscendentalpsycholo- 
gischen, wie  den  transscendentalkritischen  Kant,  sondern  nach  Möglichkeit 
den  „ganzen  Kant"  geschichtlich  zu  verstehen  suchen,  ohne  sich  freilich 
auch  auf  den  „ganzen  Kant"  hinsichtlich  der  Wertbedeutung  und  Wert- 
betonung festzulegen.  Dass  Kuno  Fischer  nun  die  vollständige  Einheit 
und  Totalität  der  Kantischen  Philosophie  mit  einer  in  der  unübersehbaren 
Fülle   der   Kant-Litteratur   nie   wieder   erreichten   Meisterschaft   und  Ge- 

Eaatitadltn  XY.  99 


500  Rezensionen  (Fischer). 

schlossenheit  zur  Darstellung  zu  bringen  vermocht  hat,  das  würde  seinem 
Werke  über  Kant  einen  dauernden  Platz  in  der  Geschichte  der  Kant- 
forschung selber  auch  dann  sichern,  wenn  diese  sich  noch  so  sehr  von  ihm 
im  Einzelnen  entfernt  haben  würde.  Was  Vaihinger  vor  fast  vierzehn 
Jahren  über  Kuno  Fischers  Werk  geschrieben,  gilt  aber  mit  unumstöss- 
licher  Gewissheit  heute  noch:  „Hand  aufs  Herz!  Hat  die  ganze  Kant- 
Litteratur  seitdem  ein  Werk  hervorgebracht,  das  sich  rühmen  kann,  ein 
so  ausführliches  und  doch  so  geschlossenes  Totalbild  des  Königsberger 
Denkers  zu  geben,  wie  es  das  Werk  Kuno  Fischers  ist?"i)  Aber  mit 
dieser  einheitlichen  und  ausführlichen  Durchführung,  mit  dieser  Totalität 
und  Geschlossenheit  des  Bildes  ist  keineswegs  der  ganze  Wert  des  Werkes 
von  Kuno  Fischer  erschöpft.  Alle  diese  Momente  sind  nur  Hebel  des 
historischen  Gesamtverständnisses,  das  Kants  Philosophie  als  jenen  Höhe- 
punkt der  geschichtlichen  Entwickelung  zu  begreifen  sucht,  in  dem  sich 
alle  Tendenzen  der  philosophiegeschichtlichen  Entwickelung  vor  Kant  ver- 
einigen, und  in  dieser  entwickelungsgeschichtlichen  Betrachtung  liegt  der 
tiefste  Gehalt  und  Wert  der  Fischerschen  Darstellungsweise.  Denn  sie 
macht  auch  verständlich,  welche  neuen  Tendenzen  von  Kant  selber  wieder 
ausgehen  konnten.  Ebendarum  aber  braucht  sich  der  Historiker,  wie  ich 
schon  sagte,  hinsichtlich  der  Wertbetonung  und  Wertbedeutung  nicht  auf 
den  „ganzen  Kant"  festzulegen,  wenn  er  gleich  diesen  historisch  zu  ver- 
stehen suchen  musste.  Aber  ebendarum  kann  ihm  die  universelle  Fülle 
des  Einzelnen  selbst  dazu  dienen,  im  historischen  Material  die  über- 
historische Bedeutung  und  den  überhistorischen  Wert  der  geschichtlichen 
Erscheinung  zu  ermitteln  und  von  diesem  aus  selbst  die  systematische 
Weiterentwickelung  und  Fortbildung  zu  verstehen.  Hat  sich  heute  also 
auch  unser  Interesse  an  Kant  in  bestimmter  Weise  präzisiert,  sind  wir 
vor  allem  mit  Recht  mehr  darum  bemüht,  die  eigentlich  kritischen, 
transscendentalkritischen  Motive  historisch  zur  Geltung  zu  bringen 
und  systematisch  fruchtbar  zu  machen,  so  dürfen  wir  nicht  ver- 
gessen, dass  hierin  Kuno  Fischer  mittelbar  auch  für  uns  selber  richtung- 
gebend geworden  und  geblieben  ist,  dass  er  selbst  das  historische 
Interesse  an  Kant  mitbestimmt  hat,  in  manchem  von  seiner  eigenen 
Auffassung  abzugehen.  Windelband  bemerkt  in  seiner  erwähnten  Fest- 
schrift*) darum  mit  einem  von  allen  geschichtlichen  Tatsachen  in  dieser 
Richtung  nur  immer  aufs  neue  bestätigten  Rechte :  „So  viele  seitdem,  sei 
es  am  Ganzen,  sei  es  am  Einzelnen  des  grossen  Königsbaues,  weiter- 
gearbeitet und  so  andersartig  und  eigenartig  sie  ihren  Teil  der  Arbeit 
geleistet  haben  mögen,  —  sie  alle  stehen  auf  seinen  Schultern,  und  jeg- 
licher Versuch,  zu  Kants  Lehre  eine  neue  Stellung  zu  nehmen,  muss  sich 
zunächst  mit  Kuno  Fischer  auseinandersetzen."  In  der  Tat  giebt  es  ja 
wohl  kein  einziges  Werk  über  Kant,  das  auf  wissenschaftlichen  Wert  und 
wissenschaftliche  Bedeutung  Anspruch  erheben  dürfte,  und  in  dem  unter 
der  Fülle  der  Kant-Litteratur  nicht  in  erster  Linie  auf  Kuno  Fischers 
Darstellung  Bezug  genommen  wäre.  Wo  besitzen  wir  wohl  eine  treuere 
und  verständnisvollere  Würdigung  des  erkenntnistheoretischen  Teils  der 
Kantischen  Philosophie,  als  sie  uns  Riehl  im  ersten  Bande  seines  Kritizis- 
mus gegeben  hat?  Und  wodurch  gelangt  die  Bedeutung  des  Fischer- 
schen Werkes  besser  zu  unmittelbarem  Ausdruck,  als  gerade  durch  die 
eingehende,  hier  gegebene  Auseinandersetzung,  trotz  mancher  Differenzen 
und  sachlich  begründeter  Berichtigungen,  die  Riehl  hier  anzubringen  ge- 
wusst  hat?!  — 

Auf  Einzelheiten  hier  noch  weiter  einzugehen,  erübrigt  sich 
gerade  in  den  „Kant-Studien",  wo  Windelband  längst  dargelegt  hat, 
was    uns     „Kuno    Fischer    und    sein    Kant"    sein    kann.      Anstatt   hier 


1)  Im  Vorwort  zur  Festschrift  der  „Kant-Studien"  zum  50.  Doktor- 
jubiläum  Kuno  Fischers :  „Kuno  Fischer  und  sein  Kant".  Von  Wilhelm 
Windelband.     S.  4. 

2)  Kant-Studien  Bd.  H,  S.  8. 


Rezensionen  (Störring).  501 

Einzelheiten  der  Fischerschen  Darstellung  ausführlicher  zu  behandeln, 
möchte  ich  vielmehr  dem  eigentümlichen  Charakter  der  von  Arnold  Rüge 
besorgten  Neuauflage  noch  einige  Worte  widmen.  Wie  es  überhaupt  der 
Plan  des  Verlags  mit  Recht  ist,  „das  Werk  Kuno  Fischers  als  künstlerisches 
Ganzes  zu  erhalten",  so  ist  auch  an  dem  Grundplan  von  Kuno  Fischers 
„Kant-  nichts  geändert.  Sachlich  notwendige  Änderungen  und  begründete 
Ergänzungen  im  Einzelnen  sind  freilich  angebracht.  Ein  wertvolles  Re- 
gister für  beide  Bände  ist  dem  zweiten  Bande  beigefügt.  Was  aber 
dieser  Neuauflage  zu  einem  ganz  besonderen  Vorzug  gereicht,  das  ist  eine 
eingehendere  Berücksichtigung  der  Litteratur,  auch  der  neuesten.  Dadurch 
charakterisiert  sich  das  Werk  in  der  Tat  als  Neuauflage  und  stellt  keinen 
blossen  Abdruck  der  vorhergehenden  dar.  Ich  freue  mich  um  so  mehr, 
als  ich  der  Ausgabe  des  Schopenhauer-Bandes  hinsichtlich  der  Litteratur- 
Auswahl  und  -Beurteilung  keineswegs  restlos  zustimmen  konnte,  hier  fast 
in  allen  Stücken  der  nicht  leichten  Herausgeberarbeit  Arnold  Ruges  meine 
Anerkennung  aussprechen  zu  können.  Dass  für  die  Neuauflage  die  Aka- 
demie-Ausgabe mitherangezogen  und  dass  besonders  Zitate  aus  der  Kr.  d. 
r.  V.  sowohl  nach  dieser,  wie  nach  der  Originalausgabe  belegt  werden, 
das  wird  gewiss  allen  Lesern  willkommen  sein. 

Kuno  Fischers  Werk  hat,  -wie  Vaihinger  treffend  hervorgehoben 
hat,i)  „Tausenden  den  Eingang  zur  Kantischen  Philosophie  geöffnet". 
Und  die  schriftstellerische  Meisterschaft  und  Künstlerschaft  seines  Ver- 
fassers macht  es  ja  gerade  zu  der  Aufgabe,  die  Kantische  Philosophie  dem 
Verständnis  zu  erschliessen,  wie  bisher  kaum  ein  zweites,  geeignet.  So 
möge  es  denn  auch  nach  dem  Tode  seines  Urhebers  die  Wirkung  fort- 
setzen, die  es  vor  einem  halben  Jahrhundert  begonnen  und  in  diesem 
halben  Jahrhundert  aufs  glücklichste  entfaltet  hat.  Möge  es  abermals 
Tausenden  ein  Führer  sein  zu  den  ewigen  Geistesschätzen,  die  das 
System  Kants  in  seiner  Gesamtheit  umschliesst,  und  möge  es,  wie  bisher, 
auch  fürder  neues  Verständnis  wecken  für  Immanuel  Kant  und  seine 
Lehre,  neue  Werbekraft  entfalten  für  seinen  Gegenstand  und  Inhalt  kraft 
seiner  künstlerischen  Form,  die  in  der  Kant-Litteratur  ihresgleichen  nicht 
gefunden  hat  bis  auf  den  heutigen  Tag. 

Halle  a.  S.  BrunoBauch. 

Störring,  G.  Einführung  in  die  Erkenntnistheorie.  Eine 
Auseinandersetzung  mit  dem  Positivismus  und  dem  erkeuntnistheoretischen 
Idealismus.     Leipzig,  W.  Engelmann,  1909.     (V  u.  330  S.) 

Die  Einleitung  untersucht  die  Stellung  der  Erkenntnistheorie  in  der 
Philosophie,  insbesondere  das  Verhältnis  zur  Logik.  Die  Erkenntnis- 
theorie hat  die  Voraussetzungen  der  Einzelwissenschaften  begrifflich 
zu  fixieren  und  die  Frage  nach  der  Gültigkeit  zu  bearbeiten.  „Da  die 
Logik  Urteile  behandelt,  wie  die:  Ein  Ding  hat  die  und  die  Eigenschaft, 
...  ein  Vorgang  ist  abhängig  von  einem  anderen  Vorgange  u.  dgl.,  so 
hat  es  die  Logik  offenbar  auch  mit  kategorialen  Bestimmungen  zu  tun. 
Es  fragt  sich  nun,  ob  man  der  Logik  oder  der  Erkenntnis- 
theorie die  begriffliche  Fixierung  dieser  Vorstellungsweisen 
zuweisen  soll.  Darauf  möchte  ich  antworten:  Die  Logik  kann  sich  mit 
einer  eindeutigen  Angabe  der  bei  dem  richtigen  Denken  der  Einzel- 
wissenschaften gemachten  Voraussetzungen  begnügen,  während  die  Er- 
kenntnistheorie eine  möglichst  weitgehende  begriffliche  Fixierung  dieser 
Voraussetzungen  zu  geben  hat"  (S.  16).  Indem  der  Logiker  sich  solche 
Voraussetzungen  zum  Bewusstsein  bringt,  bestimmt  er  der  Erkenntnis- 
theorie ihre  Aufgaben. 

Die  Lösung  erkenntnistheoretischer  Probleme  setzt  die  Verwertung 
skeptischer  Betrachtungsweisen  voraus.  Die  Skepsis  ist  geeignet,  die  Be- 
deutung erkenntnistheoretischer  Bestrebungen  ins  rechte  Licht  zu  setzen. 
St.   hebt   aus   der   antiken   und    modernen   Skepsis   charakteristische   Ge- 

1)  a.  a.  O.  ebenda. 

32* 


502  Rezensionen  (Störring), 

dankengänge  heraus  (Sextus  Empiricus,  Kritik  der  Kausalitäts-,  der  Sub- 
stanz- und  der  Aussenweltsauffassung  durch  Hume,  St.  Mills  Lehre  vom 
Syllogismus).  Ref.  geht  auf  diesen  vorbereitenden  I.  Teil  des  Werkes 
nicht  ein  und  wendet  sich  sofort  dem  II.  systematischen  Hauptteile  zu. 

Auf  Grund  seiner  wichtigen  experimentellen  Untersuchungen  charak- 
terisiert St.  ein  Urteil  im  psychologischen  Sinne  als  ein  Erlebnis,  „das 
sich  mit  dem  Bewusstsein  der  Giltigkeit  verbindet  oder 
mit  dem  ein  Etwas  gegeben  ist,  das,  ohne  ein  Bewusstsein 
der  Gültigkeit  zu  sein,  so  beschaffen  ist,  dass  auf  Grund 
der  Frage  nach  der  Gültigkeit  im  Hinblick  auf  jenes  Er- 
lebnis infolge  dieses  Etwas  Bejahung  eintritt"  (S.  61). 

„Unter  richtigem  Denken  verstehen  wir  aber  psychische  Vorgänge, 
die   sich   mit   dem  Be  w  usstsein   absoluter,   nicht  mehr  stei- 

ferungsfähiger  Sicherheit  verbinden  oder  die,  ohne  mit 
em  Bewusstsein  dieser  Sicherheit  verbunden  zu  sein,  so  be- 
schaffen sind,  dass  auf  Fragestellung  nach  der  Richtig- 
keit Bejahung  mit  dem  Bewusstsein  absoluter  ni  cht  m  ehr 
steigerungsfähiger  Sicherheit  erfolgt,  und  zwar  bei  Zer- 
legung komplexer  Operationen  in  elementare  bei  jedem 
Schritt"  (S.  62).  St.  bemüht  sich,  die  naheliegenden  Einwände  gegen 
diese  Bestimmung  des  Richtigen,  wissenschaftlich  Allgemeingültigen  zu 
entkräften,  indem  er  zeigt,  dass  man    „ohne    die   Inanspruchnahme 

rewisser  psychischer  Akte  als  allgem  eingültig  ohne  Veri- 
ikation"  nicht  auskommt  (S.  64).  „Bei  Tatsachenwahrheiten  ist  denknot- 
wendig die  Beziehungen  zwischen  dem  unter  bestimmtem  Gesichtspunkt 
betrachteten,  unmittelbar  gegebenen  Tatbestand  und  der  Behauptung  einer 
bestimmten  Beziehung,  aber  nicht  die  behaupteten  Beziehungen"  (S.  68). 
Ref.  kann  sich  mit  den  Bestimmungen  des  Verf.  über  Richtigkeit,  Denk- 
notwendigkeit und  Allgemeingültigkeit  nicht  überall  einverstanden  er- 
klären. 

Der  „Satz  vom  unmittelbaren  Bewusstsein"  wird  vom  Verf.  mit 
Rücksicht  auf  die  Fehler  der  Selbstbeobachtung  (cf.  Külpe,  Ref.)  im  Sinne 
seines  Richtigkeitskriteriums  modifiziert:  „Wir  setzen  deshalb  die  in 
Erlebnissen  mit  dem  Charakter  absoluter,  nicht  mehr  stei- 
gerungsfähiger Sicherheit  als  gedacht  erscheinenden  Gegen- 
stände als  wirklich  gedacht  und  zwar  mit  diesem  Charakter 
der  Sicherheit." 

Sehr  bedeutungsvoll  erscheint  das  folgende.  St.  entwickelt  einen 
„kritischen  Rationalismus  bezüglich  der  formalen  Wissenschaften  ohne 
psychologischen  Apriorismus".    Nehmen  wir  den  Schluss: 

p  ist  grösser  als  k 
k  ist  grösser  als  f 

also  ist  p  grösser  als  f. 
Der  Schlusssatz  ist  eine  synthetische  Behauptung  gegenüber  den  ein- 
zelnen Prämissen;  er  ist  analytisch  freilich  in  Relation  zu  dem  durch  die 
Synthese  der  Prämissen  gewonnenen  Gesamttatbestande.  Auch  ausserhalb 
des  Gebietes  der  Arithmetik  vermag  das  schliessende  Denken  synthetische 
und  apriorische  Bestimmungen  zu  machen. 

Auf  die  erkenntnispsychologischen  Untersuchungen  über  das  Denken, 
die  Verf.  —  von  psychopathologischen  Tatbeständen  ausgehend  —  einfügt, 
gehe  ich  nicht  ein.  Die  Denkgesetze  (Identitätsprinzip  u.  s.  w.)  werden 
aus  der  „Einstellung  zum  Denken"  psychologisch  abgeleitet,  unter  Voraus- 
setzung der  Gültigkeit  des  Kausalgesetzes  für  das  psychologische  Leben. 
Natürlich  lässt  sich  die  Richtigkeit  der  Denkgesetze  nicht  auf  eine 
kausale  Betrachtung  des  Denkgeschehens  —  die  jene  ja  voraussetzt  — 
gründen. 

Da  die  Denkgesetze  zu  der  Denkmaterie  nichts  Neues  hinzutragen, 
"braucht  man  sich  nicht  zu  wundern,  dass  die  Denkgesetze  auch  für  etwaige 
unabhängig  vom  Denken  existierende  Objekte  gelten. 


Rezensionen  (Stöning).  503 

Das  Problem  der  Existenz  einer  transscendenten  Aussen  weit  wird 
im  Anschluss  an  eine  Kritik  des  erkenntnistbeoretischen  Positivismus  und 
Idealismus  behandelt.  Gegen  das  Argument:  das  Denken  einer  Aussen- 
welt  sei  das  Denken  eines  seinem  Wesen  nach  Nicht-Gedanke-Seienden, 
also  sei  es  widerspruchsvoll,  wird  mit  Recht  eingewandt:  „Wenn  ich 
behaupte,  dass  ich  Dinge  der  Aussenwelt,  ungedachtes  Sein, 
denke,  so  meine  ich  damit  nicht  ein  Sein,  welches  in  diesem 
Denkakt  nicht  gedacht  wird;  es  ist  gemeint  ein  Sein,  welches 
sehr  wohl  in  diesem  Denkakt  gedacht  wird,  welches  aber  nicht 
durch  mein  Denken  ist,  nicht  bloss  gedacht  wird"  (S.  130).  Der 
Begriff  des  ungedachten  Seins  wird  also  in  doppeltem  Sinne  gebraucht. 

Vom  positivistischen  Standpunkte  hat  St.  Mill  in  seiner  Theorie 
der  permanenten  Möglichkeiten  der  Empfindung  die  beste  Ant- 
wort auf  die  Frage  gegeben,  welches  der  Gegenstand  der  Naturwissen- 
schaft sei.  Laas  hat  diese  Theorie  weitergeführt,  indem  er  „den  Inbegriff 
aller  angemessen  zu  innerer  Übereinstimmung  reduzierter  Wahrnehmbar- 
keiten" als  ReaHtät  bezeichnet.  Indessen  sind  die  Wahrnehmungsmöglich- 
keiten keine  realen  Grössen  und  können  deshalb  nicht  in  der  Kausalkette 
eingefügt  werden.  Die  phänomenale  Welt  wird  nicht  vom  Kausalgesetz 
beherrscht;  gilt  dieses,  so  muss  es  transscendente  Grössen  geben. 

Über  Ergänzungen  des  direkt  Wahrgenommenen  im  Sinne  des  Kau- 
salzusammenhanges meint  Rickert  kritisch:  „Sie  werden  nur  dann  ihren 
Zweck  erfüllen,  wenn  sie  räumlicher  oder  jedenfalls  zeitlicher  Natur  sind 
und  dadurch  ihren  immanenten  Charakter  dokumentieren.  Ein  transscen- 
dentes  Sein  würde  sich  zur  Ausfüllung  dieser  Lücken  sehr  schlecht  eignen." 
„Darauf  ist  zu  antworten:  die  Lücken  in  der  Wahrnehmung  veranlassen 
mich  nicht  dazu,  diese  Lücken  mit  Gliedern  einer  transscendenten  Welt 
in  solcher  Weise  auszufüllen,  dass  in  der  Kausalkette  friedlich  neben 
Gliedern  der  immanenten  Welt  die  eingefügten  Glieder  der  transscendenten 
Welt  zu  stehen  kommen.  Diese  Lücken  veranlassen  uns  vielmehr,  um  die 
Änderungen  der  Wahrnehmungsinhalte  kausal  zu  begreifen,  einen  Kausal- 
konnex zwischen  transscendenten  Grössen  anzusetzen,  dem- 
gegenüber unsere  Wahrnehmungsinhalte  in  einer  Nebenleitung 
entstehen  .  .  ."  (S.  150). 

Der  erkenntnistheoretische  Realismus  ist  durch  die  Gültigkeit  des 
Kausalgesetzes  gefordert.  Letztere  aber  lässt  sich  nicht  beweisen;  be- 
weisen lässt  sich  bezüglich  der  Kausalbeziehung  erkenntnistheoretisch, 
dass  sich  ohne  Annahme  derselben  keine  Wissenschaft  treiben  lässt. 

„Ich  beantworte  .  .  .die  Frage  der  Gültigkeit  ...  so,  dass  ich 
nachzuweisen  suche,  in  welcher  Verkettung  diese  Voraussetzungen  stehen, 
welches  dasSystem  derselben  ist,  und  dass  ich  die  erkennt- 
nistheoretische Dignität  der  einzelnen  Glieder  dieses 
Systems  zu  bestimmen  suche"  (S.  153).  Die  eingehende  Behand- 
lung solcher  Dignitätsfragen  ist  für  St.  besonders  charakteristisch.  Be- 
züglich der  Gültigkeitsfrage  darf  man  von  der  Erkenntnistheorie  nicht 
Unmögliches  verlangen.  — 

Der  Positivismus  überschreitet  das  Gegebene,  indem  er  fremde  Ich« 
anerkennt. 

„Erkenntnistheoretisch  spreche  ich  vom  Ich  im 
Sinne  der  Gesamtheit  der  Erlebnisse  des  denkenden 
etc.  Individuums"  (S.  167).  „In  dem  „gegenwärtigen  Ich"  sind  .  .  . 
zu  unterscheiden  die  etwa  jetzt  gedachten  Gegenstände  von  Ur- 
teilsprozessen, die  dadurch  als  existierend  anzusetzen  sind,  und 
solche  Erlebnisse,  die  jetzt  sich  abspielen,  ohne  jetzt  Gegenstand  des 
Denkens  zu  sein,  .  .  .  die  also  erst  in  einem  späteren  Moment  zum  Gegen- 
stand unseres  Denkens  gemacht  werden  können  und  damit  in  diesem 
früheren  Moment  gewesen  seiend  hypothetisch  .  .  .  angesetzt  werden 
können.  So  könnnte  man  von  einer  Transscendenz  eines  Teils 
des    gegenwärtigen    Ichs    im    Gegensatz    zu    einem    an- 


504  Rezensionen  (Störring). 

deren  Teil  desselben  sprechen.  —  Die  vergangenen  Ichphasen  sind 
in  gleichem  Sinne  transscendent"  (S.  169). 

Es  folgt  eine  eingehende  Polemik  gegen  den  erkenntnistheoretischen 
Idealismus  Windelbands  und  Rickerts.  „W.  und  R.  betonen  ausser- 
ordentlich den  Gegensatz  zwischen  Psychologie  einer- 
seits und  Logik  und  Erkenntnistheorie  andererseits. 
Sie  haben  aber  das  eigentümliche  Missgeschick  ge- 
habt, dass  sie  als  G  r  u  n  d  1  a  ge  n  ihr  e  r  1  o  gis  c  h- er  k  e  n  n  t- 
nistheoretischen  Bestimmungen  eine  psychologische 
Feststellung  verwerten.  Auf;  dieser  Bestimmung,  dass  es  sich 
beim  Urteilen  um  ein  Billigen  oder  Missbilligen  handelt,  ruht  aber  ihre 
ganze  Erkenntnistheorie.  Dazu  kommt  noch,  dass  diese  psychologischen 
Bestimmungen  falsch  sind"  (S.  179),  was  St.  aus  seinen  experimentellen 
Untersuchungen  ersieht.  Auch  erlebt  man  den  Denkzwang  im  Urteil  nicht 
als  ein  Sollen  (Rickert). 

Nunmehr  setzt  sich  St.  mit  verwandten  Standpunkten  auseinander 
(Helmholtz,  Wundt,  Riehl,  Volkelt,  Külpe). 

Gegenüber  den  Annahmen  von  mehrdimensionalen  Räumen  sagt  St.: 
„W  as  wir  denken,  ist  nicht  der  Raum  von  n  Dimensionen, 
wir  denken  vielmehr  die  bezeichnete  Grössenfnnktlon,  d  i  e 
betreffenden  analytischen  Beziehungen"  (S.  219).  „Der 
Raum  ist  eine  s  t  e  ti  ge  Gr  öss  e  ,  i  n  d  e  r  d  as  u  nz  e  r  1  e  g  b  a  r  e 
Einzelne  durch  drei  unabhängige  Variable  eindeutig 
bestimmt  ist,  deren  Dimensionen  vertauschbar  sind, 
und  welche  als  unendlich  gedacht  wird"  (S.  220).  Durch 
diese  eindeutige  begriffliche  Charakterisierung  (Grössenbegriff  vom  Raum) 
könnte  indessen  niemand,  der  keinen  Raum  angeschaut  hat,  eine  volle 
Orientierung  darüber  gewinnen,  was  wir  unter  Raum  verstehen, 

Durch  Kants  Argumente  ist  nicht  bewiesen,  dass  unser  Raum  nicht 
transscendent  real  ist.  Bei  Änderungen  des  Raumfaktors  treten  im  kau- 
salen Geschehen  Änderungen  der  Wahmehmungsinhalte  auf.  „Deshalb 
muss  dem  Raumfaktor  mindestens  etwas  Reales  trans- 
scendent entsprechen"  (S.  232).  Nicht  der  Raum,  wie  er  sich  der 
Anschauung  darbietet,  wohl  aber  ein  Analogon  dazu,  das  dem  Grössen- 
begriff vom  Raum  entspricht,  muss  transscendente  Geltung  haben. 

Die  psychologische  Entwickelung  der  Zeitvorstellung  ist  noch  nicht 
genügend  geklärt.  „Von  entscheidender  Bedeutung  ist... 
in  der  Frage  der  transscendenten  Realität  der  Zeit  .  .  . 
die  Tatsache,  dass  die  Real  Wissenschaften  mit  dem 
Zeitfaktor  operieren  müssen,  um  eine  Kausal-Ver- 
knüpfung  der  Tatbestände  zustande  zu  bringen"  (S.  250) 
Kommen  wir  nun  mit  einem  transscendenten  Analogon  der  Zeit  (ent- 
sprechend dem  Grössenbegriff  des  Raumes)  aus?  St.  beruft  sich  auf  einen 
Gedankengang  Lotzes,  der  dazu  führt,  die  Zeit  selbst  als  transscendent 
real  zu  setzen. 

Beim  Kausalproblem  wird  zunächst  wieder  die  Psychogenese  unter- 
sucht. Die  begriffliche  Formulierung  des  Kausalproblems  lautet:  „Alles 
Geschehen  steht  als  real  Bedingtes  in  einer  kon- 
stanten Beziehung  zu  einem  realen  B  edin  gun  gs  k  o  m - 
plex,  welcher  die  notwendigen  und  hinreichenden 
realen  Bedingungen  desselben  darstellt"  (S.  264).  Die 
Versuche,  das  Kausalprinzip  auf  die  Annahme  zu  reduzieren,  dass  ein 
wirkliches  Entstehen  und  Vergehen  unmöglich  sei,  werden  zurückge- 
wiesen. 

„Das  Auftreten  des  Zeitfaktorsbeim  kausalen  Ge- 
schehen ist  also  auch  bei  Gleichzeitigkeit  von  Ur- 
sache undWirkung  durch  das  Tr  ägh  ei  tsge  s  e  tz  garan- 
tiert.   Man  hat  also  kein  Recht,   aufGund   der  Tatsache 


Rezensionen  (Störring).  505 

des  zeitlichenVerlaufs  zwischen  Ursache  undWirkung 
ein  Zeitdifferential  einzuschieben"  (S.  271). 

Der  alte  Satz:  cessante  causa  cessat  effectus  ist  jedenfalls  im  Ge- 
biete des  mechanischen  Geschehens  durch  Galileis  Trägrheitsprinzip  ge- 
stürzt (was  freilich  noch  sehr  von  der  Auffassung  der  Wirkung  abhängt; 
die  Mechanik  fasst  diese  zunächst  als  Beschleunigung,  und  letztere  hört 
mit  der  Ursache  auf.    Ref.) 

Über  die  Frage  nach  der  räumlichen  Beziehung  von  Ursache  und 
Wirkung  müssen  die  Tatsachen  in  Zukunft  entscheiden. 

Die  alte  Annahme  einer  Identität  von  Ursache  und  Wirkung  kann 
durch  Berufung  auf  das  Energieprinzip  nicht  gesichert  werden.  Ref.  will 
die  folgende  sehr  berechtigte  Bemerkung  des  Verf.s  nicht  unterdrücken; 
„Sodann  ist  hervorzuheben,  dass  man  in  letzter  Zeit  die  Bedeutung  des 
Energieprinzips  für  das  Naturgescbehen  überschätzt  hat,  man  muss 
im  Auge  behalten,  dass  der  Energiesatz  das  Geschehen  in  der  Natur 
nicht  in  eindeutiger  Weise  bestimmt"  (S.  274). 

Das  Kausalprinzip  ist  eine  unbeweisbare,  axiomatische  Voraussetzung 
der  Einzelwissenschaften,  welche  in  der  Erfahrung  die  vorzüglichste  Veri- 

Kants  Resultat,  dass  die  arithmetischen  Urteile  synthetisch  und 
apriorisch  seien,  wird  von  St.  anerkannt.  Er  kann  sich  hier  auf  seine 
kritisch-rationalistische  Auffassung  zurückbeziehen.  Anders  liegen  die 
Dinge  in  der  Geometrie.  „Ein  Axiom  wie  das  Parallelenaxiom  bedarf  der 
Verifikation  gerade  so  gut  wie  die  Newton  sehen  leges.  Und  es 
erhält  sie  in  ähnlicher  Weise.  Die  Grundlagen  der  Geometrie  sind  also 
jedenfalls  z.  T.  hypothetischer  Natur"  (S.  319). 

„Der  synthetische  Charakter  der  geometrischen  Lehrsätze  steht  .  .  . 
nicht  in  Gegensatz  zu  ihrer  deduktiven  Gewinnung  ...In  der  räum- 
lichen Anschauung  ist...  eine  Synthesis  der  behaup- 
teten Beziehungen  gegeben  und  deshalb  ist  sie  ein 
wesentlich   produktiver   Faktor"  (S.  327,  328). 

Ref.  führt  noch  einige  Sätze  aus  dem  Schlusswort  des  Verf.  über 
die  Beziehungen  von  Psychologie  und  Erkenntnistheorie  an.  „Nach 
unseren  Entwickelungen  scheint  es  vielleicht  so,  dass  die  Bedeutung  der 
Psychologie  für  die  Erkenntnistheorie  eine  sehr  geringe  ist.  Man  unter- 
schätze aber  nicht  die  heuristische  Bedeutung  psychologischer  Be- 
trachtungen für  die  Erkenntnistheorie.  Heuristische  Bedeutung  haben 
psychogenetische  Entwickelungen  für  die  begriffliche  Charakterisierung 
der  erkenntnistheoretisch  zu  behandelnden  Voraussetzungen,  . . .  aber  auch 
sodann  für  die  Behandlung  der  Frage  nach  der  Gültigkeit  der  Voraus- 
setzungen. Femer  haben  psychologische  Entwickelungen  eine  pädago- 
gische Bedeutung  bei  der  Darstellung  der  Erkenntnistheorie.  .  .  .  Zu- 
letzt kommt  die  Psychologie  als  eins  der  Gebiete  in  Betracht,  auf  denen 
erkenntnistheoretisch  zu  behandelnde  Voraussetzungen  eine  Verifikation 
erfahren  .  .  ."  (S.  330).  ^ 

Wir  haben  eine  gründliche  und  sorgfältige  Arbeit  vor  uns.  Hervor- 
ragend in  ihrer  knappen  Klarheit  ist  zumeist  die  Kritik,  die  der  Verf. 
mit  Vorliebe  als  Basis  positiver  Aufstellungen  benutzt.  Es  kann  freilich 
nicht  ausbleiben,  dass  die  Kritik  gelegentlich  fehlgeht,  wie  mir  scheint 
z.  B.  bei  Behandlung  der  Helmholtzschen  Grundlegung  der  arithmetischen 
Operationen,  deren  Tendenz  St.  wohl  verkennt.  Ref.  freut  sich  in  vielen 
Fragen  mit  dem  Verf.  sich  in  weitgehender  Übereinstimmung  zu  wissen, 
so  z.  B.  inbezug  auf  das  Aussenwelt-,  das  Raum-,  z.  T.  auch  das  Zeit- 
problem, über  die  ich  mich  in  den  „Philosophischen  Voraussetzungen  der 
exakten  Naturwissenschaften"  (Leipzig  2907)  ausgesprochen  habe.  Aber 
auch  an  den  Stellen  des  vorliegenden  Werkes,  bei  denen  ich  widersprechen 
würde,  glaube  ich  doch  vielfach  Wertvolles  zu  finden. 

Als  Einführung  im  pädagogischen  Sinne  erscheint  das  Buch  vielleicht 
zu  schwierig.    Leider  sind  zahlreiche   und  z.  T.  recht  sinnstörende  Druck- 


506  Rezensionen  (Volkmann), 

fehler  stehen  geblieben,  sodass  man  eine  Beseitigung  dieses  Fehlers  eines 
wertvollen  Werkes  durch  ein  nachzulieferndes  Druckfehlerverzeichnis  an- 
regen möchte. 

Münster  i.  W.  ErichBecher. 

Yolkmann,  Paul.  Erkenntnistheoretische  Grundzüge 
der  Naturwissenschaften  und  ihre  Beziehungen  zum 
Geistesleben  der  Gegenwart.  AUgemeinwissenschaftUche  Vor- 
träge. 2.  vollständig  umgearbeitete  und  erweiterte  Auflage.  (Wissen- 
schaft und  Hypothese,  Bd.  IX.)  B.  G.  Teubner,  Leipzig  und  Berlin,  1910. 
(XXIII  u.  454  S ) 

Verf.  reiht  in  seltsamer  Weise  erkenntnistheoretische,  methodo- 
logische, erkenntnispsychologische,  allgemein-philosophische,  staatswissen- 
schaftliche, pädagogische  u,  a.  Betrachtungen  aneinander,  um  die  physika- 
lische Methodenlehre  für  das  allgemeine  Geistesleben  der  Gegenwart 
fruchtbar  zu  machen.  In  bewusstem  Gegensatze  zu  den  Versuchen  des 
Materialismus  und  des  naturwissenschaftlichen  Monismus  sieht  V.  die 
Kulturaufgabe  der  Physik  wesentlich  darin,  dass  sie  als  Vorbild  dienen 
kann,  „in  der  Methode  verwickelten  Stoffes  Meister  und  Herr  zu  werden" 
(S.  X). 

Nach  V.  ist  die  Erkenntnistheorie  eine  Erfahrungswissenschaft,  wie 
jede  Wissenschaft.  Sie  entnimmt  ihren  Stoff  im  wesentlichen  der  Ent- 
wickelungsgeschichte  des  wissenschaftlichen  Erkennens.  Demnach  beginnt 
der  Verf.  mit  einem  Rückblick  auf  die  Entwickeln  ng  der  Physik  seit 
Newton. 

Als  Grundtatsache  haben  wir  anzuerkennen,  „dass  die  Er- 
forschung eines  Objektes  gar  nicht  losgelöst  werden 
kann  von  dem  Subjekt,  welches  forscht,  so  sehr  der 
eigentliche  Gegenstand  der  Forschung  ein  Objekt  ist" 
(S.  26).  Unser  Geist  ist  nicht  „ein  a  priori  gegebenes  Starres"  (S.  37), 
sondern  ein  Anpassungsfähiges  (Mach).  V.  illustriert  den  Prozess  der 
Wechselwirkung  zwischen  Subjekt  und  Objekt  bei  der  naturwissenschaft- 
lichen Begriffsbildung,  indem  er  „das  Bild  des  oszillierenden  Denk- 
prozesses" (S.  34)  einführt. 

Die  richtige  Antwort  auf  die  Frage,  „ob  wir  der  Natur  oder  ob  die 
Natur  uns  die  Begriffe  vorschreibt",  liegt  in  einer  Verbindung  beider  Ge- 
sichtspunkte. Immerhin  hat  die  Logik  in  uns  ihren  Ursprung  in  dem  ge- 
setzmässigen  Geschehen  der  Dinge  ausser  uns.  „Unter  der  beständigen 
Einwirkung  eines  äusseren  Notwendigen  entwickelte  sich  —  naturwissen- 
schaftlich betrachtet  —  oder  musste  sich  entwickeln  eine  innere  Not- 
wendigkeit des  Denkens,  welches  nichts  anderes  als  ein  Abbild  der 
äusseren  Notwendigkeit  war"  (S.  40).  Darin  liegt  die  fundamentale  Be- 
deutung der  Naturvnssenschaft  für  Logik  und  Erkenntnistheorie  be- 
gründet. 

Für  die  Naturwissenschaft  bedeutet  Kausalität  nur  Gesetzlichkeit 
der  Erscheinungen.  Übrigens  darf  die  Notwendigkeit  des  Naturgeschehens 
nicht  zu  einer  Notwendigkeit  alles  Geschehens  erweitert  werden;  die 
Freiheit  des  menschlichen  Willens  ist  nicht  auszuschliessen.  „Innerhalb 
des  notwendigen  Ablaufs  alles  Naturgeschehens  hat  der  Begriff  Ursache 
überhaupt  keine  Stelle;  ihm  kann  eine  Stelle  nur  für  die  Auslösungsvor- 
gänge angewiesen  werden,  welche  jenen  notwendigen  Ablauf  des  Natur- 
geschehens einleiteten"  (S.  47).  Bei  Auslösungen  wird  sowohl  die  aus- 
gelöste Energie,  als  auch  die  auslösende  Energie  als  Ursache  bezeichnet. 

V.  geht  dann  zur  Besprechung  von  Induktion  und  Deduktion  über. 
Wir  werden  nicht  erstaunt  sein,  wenn  er  als  Physiker  die  Induktion  vor 
Allem  zu  würdigen  weiss.  Für  seine  Auffassung  ist  es  charakteristisch, 
dass  er  die  induktive  Logik  mit  der  Erkenntnistheorie  identifiziert.  Er 
schildert  die  historisch  bedeutsamen  Induktionen,  welche  zum  Gravitations- 
gesetz, zum  Energieprinzip  und  zur  elektromagnetischen  Lichttheorie 
führten. 


Rezensionen  (Volkmann).  507 

Von  den  gewonnenen  Gesichtspunkten  aus  werden  Newtons  Axiome 
und  Postulate  betrachtet.  Es  besteht  ein  Gegensatz  zwischen  der  Unbe- 
stimmtheit und  Unsicherheit  der  deduktiven  Einführung  der  Grundbegriffe 
und  Grundsätze  Newtons  und  der  Bestimmtheit  und  Sicherheit  ihrer  de- 
duktiven Anwendung  und  Verwertung.  Die  Anwendungsfähigkeit  bildet 
aber  für  ein  physikalisches  Begriffssystem  den  ausschlaggebenden  Ge- 
sichtspunkt. Immer  ist  das  System  als  Ganzes  zu  betrachten  und  zu  be- 
werten. „Das  physikalische  Begriffssystem  ist  nicht 
etwa  aufzufassen  als  ein  System,  welches  nach  Art 
eines  Gebäudes  von  unten  aufgeführt  wird,  sondern 
als  ein  durch  und  durch  gegenseitiges  Bezugssystem, 
welches  nach  Art  eines  Gewölbes  oder  eines  Brücken- 
bogens aufgeführt  wird.  Ein  solches  Bezugssystem 
fordert,  dass  ...  die  mannigfaltigsten  Bezugnahmen 
auf  künftige  Resultate  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
von  vornherein  vorweg  genommen  werden  müssen  .  .  . 
Die  Physik  ist  kurz  ein  Begriffssystem  mit  rück- 
wirkender Verfestigung"  (S.  113,  114). 

Die  Newtonschen  Grundbegriffe  sind  Raum,  Zeit  und  Masse.  Die 
Unterscheidung  des  absoluten  und  relativen  Raumes,  der  absoluten  und 
relativen  Zeit  hat  innere  physikalische  Gründe,  ist  nicht  als  metaphysisch 
abzulehnen.  Neben  den  drei  Grundbegriffen  oder  -postulaten  stehen  die 
Verknüpfungspostulate,  die  Prinzipien  der  Trägheit,  der  Actio  und  der 
Reactio.  Die  Kritik  der  Newtonschen  Grundlagen  erscheint  V.  wenig 
treffend,  soweit  sie  nicht  durch  die  neueren  Auffassungen  über  die  Aus- 
breitung der  Kräfte  u.  s.  w.  bedingt  ist.  Das  Reaktionsprinzip  wird 
zweifelhaft  und  unbestimmt,  wenn  Actio  und  Reactio  nicht  gleichzeitig 
auftreten.  Die  neuesten  Auffassungen,  die  von  H.  A.  Lorentz,  Wiehert, 
Einstein,  Planck  und  Minkowsky  herrühren,  werden  kurz  erwähnt. 

„Ich  verstehe  unter  Isolation  den  induktiven  Ver- 
such, innerhalb  eines  zusammengesetzten  Erschein- 
ungsgebietes ("Wirkungsgebietes)  die  Elemente  aufzuspüren, 
welche  ihre  Teilerscheinung  (Wirkung)  für  sich  unab- 
hängig von  anderen  gleichzeitig  bestehenden  Er- 
scheinungselementen (Wirkungselementen)  bewahren,  und 
unter  Superposition  den  deduktiven  Versuch,  aus  den 
so  aufgefundenen  E r s chein u n gs e 1 e m e n t en  rückwärts 
wieder  das  zusammengesetzte  Er  s  ch  ei  n  un  gs  ge  b  i  e  t , 
d.  h.  d  i  e  W  i  r  k  1  i  c  h  k  e  i  t  z  u  erhalten"  (S.  156).  Als  Beispiele  für 
die  Anwendung  dieses  überaus  wichtigen  Denkmittel  dienen  das  Studium 
der  Endtemperatur  in  der  Nähe  der  Erdoberfläche  und  der  Satz  vom 
Kräfteparallelogramm. 

Ref.  muss  wichtige  Kapitel  des  Buches  übergehen,  um  die  von  V. 
hervorgehobenen  Beziehungen  der  naturwissenschaftlichen  Erkenntnis- 
theorie zum  Geistesleben  der  Gegenwart  zu  erwähnen.  „Keine  „unfertige" 
Weltanschauung  —  Methoden-  und  Erkenntnislehre,  das  geeignete  und 
angemessene  Mittel  natui-wissenschaftlicher  Betätigung  an  philosophischer 
Mitarbeit  und  damit  als  Förderung  des  Geisteslebens  der  Gegenwart!" 
(S.  244).  V.  billigt  in  weitem  Umfange  das  Bestreben  Mills  und  Buckles, 
naturwissenschaftliche  Methodik  für  die  sozialen  bezw.  historischen  Dis- 
ziplinen fruchtbar  zu  machen.  Buckles  Anwendung  der  Methode  der 
Isolation  und  Superposition  wird  der  Kritik  von  Lexis  gegenüber  verteidigt. 
Allenthalben,  in  Wissenschaft  und  Kunst,  in  Staat  und  Kirche,  im  Bildungs- 
wesen sieht  V.  in  Isolation  und  Superposition  die  Mittel  zur  Orientierung 
und  zum  Begreifen. 

Auf  die  Reflexionen  des  Verf.  über  die  grossen  pädagogischen 
Etagen,  welche  auf  dem  Gebiete  des  höheren  und  Hochschulwesens  gegen- 
wärtig diskutiert  werden,  kann  Ref.  nicht  eingehen.  Verf.  bespricht  (um 
mich  seines  gegen  Ladenburgs  Kasseler  Vortrag  gerichteten  Ausdrucks  zu 


508  Rezensionen  (Wundt). 

bedienen)  Alles  und  noch  Einiges  mehr.  Er  fügt  Darlegungen  von  Wend- 
land-Göttingen ein,  die  über  die  Aufgabe  der  klassischen  Philologie  der 
Gegenwart  und  über  die  Geschichte  der  Bildungsideale  im  Altertum,  in 
der  Renaissance  und  im  Humanismus  handeln. 

Als  Anhang  werden  „Weitere  Beiträge  zur  erkenntnistheoretischen 
Würdigung  des  Systems  der  Newtonschen  Mechanik"  geboten.  Die 
Hertzsche  Kritik  der  Newtonschen  Grundlagen  wird  in  eingehender  Anti- 
kritik zurückgewiesen. 

Münster  i.  W.  ErichBecher. 

Wandt,  W.  Einleitung  in  die  Philosophie.  5.  Aufl. 
Leipzig,  Engelmann,  1909.     (XVIII  u.  471  S.) 

Ref.  würde  wohl  Eulen  nach  Athen  tragen,  wenn  er  eingehend  über 
eine  Neuauflage  der  vorliegenden  Einleitung  in  den  Kantstudien  berichten 
wollte ;  er  beschränkt  sich  darauf,  ganz  kurz  den  Inhalt  auszudeuten.  — 

Wundt  wählt  den  Weg  der  geschichtlichen  Orientierung.  Er  will 
zeigen,  wie  die  Philosophie  und  ihre  wichtigsten  Einzelprobleme  ent- 
standen sind.  Die  Schrift  „will  nur  bis  zur  Schwelle  der  Philosophie 
führen,  verzichtet  aber  darauf,  über  diese  Schwelle  zu  treten,  insoweit 
nicht  die  Folgerungen,  die  aus  dem  bisher  Erreichten  und  Erstrebten  auf 
die  Zukunft  gezogen  werden  können,  da  und  dort  einen  vorausschauenden 
Blick  gestatten"  (IV,  V);  insbesondere  will  das  Buch  zu  jener  Behand- 
lung der  Philosophie  vorbereiten,  die  auf  den  Zusammenhang  mit  den 
positiven  Wissenschaften  das  Hauptgewicht  legt. 

Zweck  der  Philosophie  ist  die  Gewinnung  einer  allgemeinen  Welt- 
und  Lebensanschauung,  welche  die  Forderungen  des  Verstandes  und  die 
Bedürfnisse  des  Gemütes  befriedigen  soll.  Sie  hat  die  durch  die  Einzel- 
wissenschaften vermittelten  Erkenntnisse  zu  einem  widerspruchslosen 
System  zu  vereinigen  und  die  von  der  Wissenschaft  benutzten  allgemeinen 
Methoden  und  Voraussetzungen  auf  letzte  Prinzipien  zurückzuführen. 
Demnach  kann  die  Philosophie  als  Ganzes  natürlich  nicht  allein  Güter- 
oder Wertlehre  sein. 

Das  zweite  Kapitel  bespricht  historisch  und  sachlich  die  Klassifika- 
tion der  Einzelwissenschaften  und  der  Philosophischen  Disziplinen.  Die 
neueren  Versuche,  die  Einteilung  der  realen  Wissenschaften  in  Natur- 
und  Geisteswissenschaften  umzuändei'n  bezw.  zu  ersetzen,  werden  in  recht 
beachtenswerter  Weise  kritisiert.  Die  Psychologie  gehört  als  Basis  zu 
den  historisch-soziologischen  Disziplinen.  Sie  kann  für  diese  wohl  schon 
gegenwärtig  mehr  leisten,  als  manche  Kritiker  zugeben  wollen.  Jeden- 
falls aber  erscheint  es  unberechtigt,  aus  der  Überzeugung,  dass  die  heutige, 
in  den  Anfängen  stehende  Psychologie  für  jene  Wissenschaften  nichts 
Wesentliches  leisten  könne,  den  Schluss  zu  ziehen,  dass  dies  immer  so 
bleiben  müsse,  dass  demnach  die  Psychologie  garnicht  die  grundlegende 
Geisteswissenschaft,  sondern  eine  Naturwissenschaft  sei. 

Es  folgt  der  Abriss  einer  allgemeinen  Philosophiegeschichte  und 
schliesslich  die  Darstellung  der  historischen  Entwickelung  der  Haupt- 
probleme (Erkenntnistheorie,  Metaphysik,  Ethik).  Über  diese  Hauptab- 
schnitte des  Buches  kurz  zu  berichten  ist  nicht  wohl  möglich;  wir  dürfen 
nur  andeuten,  dass  W.  die  historischen  Tatsachen  vielfach  in  recht  origi- 
neller Auffassung  und  Beleuchtung  zeigt.  Der  Natur  der  Sache  ent- 
sprechend kann  es  sich  überall  nur  um  stark  vereinfachende  Skizzen 
handeln;  dieser  umstand  bringt  es  fernerhin  mit  sich,  dass  der  Leser  an 
mancher  Stelle  die  vereinfachenden  Linien  in  anderer  Weise  ziehen 
möchte. 

Ein  Anhang  giebt  tabellarische  Übersichten  zur  Geschichte  der 
Philosophie  und  zu  ihren  Hauptrichtungen. 

Münster  i.  W.  ErichBecher. 


Rezensiouen  (Ach— Förster).  509 

Ach,  Narciss.  Über  den  Willensakt  und  das  Temperament. 
Eine  experimentelle  Untersuchung.    Leipzig,  Quelle  &  Meyer,  1910.   (32-1  S.) 

Schon  1905  hat  Ach  eine  überaus  gründliche  Arbeit  ,,Über  die 
Willenstätigkeit  und  das  Denken"  veröffentlicht.  Aus  seinen  jahrelang 
fortgesetzten  experimentellen  Untersuchungen  ist  nun  das  vorliegende 
Werk  hervorgegangen,  welches  das  frühere  an  Bedeutung  wohl  noch  über- 
trifft. Über  die  ßewusstseinstatsachen  beim  Wollen  berichtet  der  „phä- 
nomenologische" Teil.  Die  Bewusstseinselemente,  welche  die  Analyse 
feststellt,  sind  teils  anschaulicher  Art:  Empfindungen  (besonders  Spannungs- 
empfindungen) und  deren  Reproduktionen,  teils  Lust-  und  Unlustgefühle, 
teils  unanschauliche,  die  Ach  mit  den  von  ihm  geprägten  Ausdruck  „Be- 
wusstheiten"  bezeichnet,  teils  endlich  nicht  näher  zu  charakterisierende 
„Bewusstseinslagen"  (im  Sinne  Marbes).  Die  Empfindungen  und  ihre  Re- 
produktionen machen  sich  zwar  am  meisten  bemerkbar,  und  so  ist  es  be- 
greiflich, dass  die  sensualistische  Richtung  in  der  Psychologie  auch  den 
Bewusstseinsbestand  des  Wollens  ganz  auf  diese  sozusagen  greifbaren 
Elemente  zurückführen  will.  Aber  die  eindringendere  Analyse  zeigt,  dass 
sie  nicht  eigentlich  das  Charakteristische  und  Wesentliche  des  Willens- 
aktes ausmachen;  auch  die  Gefühle  erscheinen  als  lange  nicht  so  bedeut- 
sam, wie  man  gemeinhin  annimmt.  Als  eigentlicher  Kern  des  Willens- 
erlebnisses stellt  sich  heraus  eine  „aktuelle  Betätigung",  das  nicht  weiter 
analysierbare  Erlebnis  einer  unmittelbaren  Aktivität  des  Ich,  das  von 
der  Bewusstheit  „Ich  will"  oder  „Ich  wiU  wirklich"  begleitet  ist.  Damit 
ist  also  das  Vorhandensein  einer  besonderen,  nicht  etwa  auf  Empfindungen 
und  Gefühle  reduzierbaren,  elementaren  Willensqualität  anerkannt.  Ich 
kann  diesem  Ergebnis  auf  Grund  eigener  Beobachtungen  nur  lebhaft  zu- 
stimmen. Natürlich  liegt  diesen  Analysen  das  ausgeprägte  Erlebnis  des 
energischen  Entschlusses  zu  Grunde.  Es  ist  ein  weiteres  wertvolles  Er- 
gebnis der  Untersuchungen  Achs,  dass  er  an  der  Hand  der  Angaben  seiner 
Versuchspersonen  gezeigt  hat,  wie  ausserordentlich  verschiedenartig  der 
Bewusstseinsbestand  beim  Wollen  ist.  Beim  „abgekürzten",  beim  „schwachen" 
und  beim  „geübten"  Wollen  tritt  eine  solche  Verflachung  der  Tatbestände 
des  eigentlichen  Wollens  gelegentlich  ein,  dass  von  einem  wirklichen 
Wollen  kaum  noch  die  Rede  ist.  Man  wird  die  Bedeutungen  dieser  müh- 
samen und  oft  scheinbar  in  Kleinigkeiten  sich  verlierenden  Untersuchungen 
besser  würdigen,  wenn  man  z.  B.  bedenkt,  wie  vielfach  bei  der  Diskussion 
des  Freiheitsproljlems  die  Erörterung  fruchtlos  bleibt,  weil  die  Streitenden 
von  verschiedenen  Tatbeständen  der  inneren  Erfahrung  ausgehen,  die  sehr 
wohl  neben  einander  gelten  können. 

Neben  der  „phänomenologischen"  wird  auch  die  „dynamische" 
Seite  des  Wollens  einer  eingehenden  Untersuchung  unterzogen.  Ach  hat 
in  geistreicher  Weise  eine  Methode  erdacht,  die  ihm  ermöglichte,  die 
Wirkungen  des  Willensaktes  gewissermassen  zu  messen.  Diese  Feststel- 
lungen zeigen  auch  deutlich,  wie  der  Bewusstseinsbestand  ergänzt  werden 
muss  durch  die  Annahme  eines  unbewusst  Psychischen. 

Auch  seine  ganze  Versuchsanordnung  und  die  Versuchsergebnisse 
bei  den  einzelnen  Versuchspersonen  hat  Ach  ausführlich  dargestellt,  so 
dass  eine  Nachprüfung  seiner  Resultate  im  einzelnen  möglich  ist.  Ein 
kurzes  Schlusskapitel  berichtet  über  Nebenergebnisse  der  Untersuchungen 
hinsichtlich  der  Gefühle  und  des  Temperaments. 

Das  überaus  gediegene  Werk  sei  allen,  die  das  Verfahren  der  ex- 
perimentellen Psychologie  an  einem  trefflichen  Beispiel  kennen  lernen 
wollen,  insbesondere  aber  auch  dem  Ethiker,  Pädagogen  und  Juristen 
empfohlen. 

Giessen.  A.  Messer. 

Förster,  Fr.  W,  Autorität  und  Freiheit.  Betrachtungen  zum 
Kulturproblem  der  Kirche.     Kempten  und  München  1910.     (XVI  u.  191  S.) 

Fr.  W.  Försters  Buch  „Autorität  und  Freiheit"  ist  nicht  nur  durch 
den  Titel   ein  Buch   der   Gegensätze   und  Extreme.     Zwar  heisst  es:    Ex- 


510  Rezensionen  (Förster). 

trerae  berühren  sich,  und  im  „Berühren",  d.  h.  Annähern  und  Versöhnen 
liegt  wohl  auch  der  Zweck  dieses  Buches,  Ob  es  aber  dem  Züricher  Pä- 
dagogen gelungen  ist,  den  uralten  Brüderzwist  zwischen  Autorität  und 
Freiheit.  Glauben  und  Wissen  zu  schlichten  oder  auch  nur  sich  objektiv 
zu  verhalten  und  beiden  Parteien  gerecht  zu  werden  ?  Die  Tendenz : 
Zurück  zu  Rom !,  die  das  ganze  Werk  durchzieht,  dürfte  kaum  auch  die 
Vertreter  der  Freiheit  und  Wissenschaft  befriedigen.  Eben  so  wenig  die 
eigentümlich  geringschätzige,  ja  verächtliche  Art,  mit  welcher  er  von 
„Anmassung  und  Geschwätz  des  Verstandes",  „dünkelhafter  Autonomie", 
„modernem  Aberglauben  an  die  individuelle  Vernunft"  spricht. 

Vor  allem  gilt  es  festzustellen,  dass  es  den  Vertretern  der  Autorität 
wie  der  Freiheit  um  Erkenntnis  des  Wahren  und  Guten  zu  tun  ist.  Er- 
kenntnis ist  aber  das  Geschäft  der  Vernunft,  sollte  es  wenigstens  sein. 
Förster  jedoch  will  in  Dingen  der  Religion  und  Ethik  keine  Sache  der 
menschlichen  Vernunft  sehen,  sondern  ein  Gebiet,  auf  dem  individuelles 
Gewissen  und  individuelle  Erfahrung  zu  schweigen  habe.  Wer  aber  soll 
dann  reden  ?  Nach  seinen  Worten  nur  „Seher",  „auserwählte  Persönlich- 
keiten". —  Also  doch  Menschen!  Und  , selbst  diese  „bedurften  der  Er- 
leuchtung, die  nur  von  der  erhabensten  Übersicht  über  das  Leben  kommt". 
—  Also  doch  von  persönlicher  Lebenserfahrung  und  Selbstbeobachtung! 
Was  abar  will  die  ethische  Wissenschaft  anderes?  Ein  Vordringen  des 
Verstandes  ohne  Lebenserfahrung  und  Selbsterkenntnis,  was  Förster  der 
wissenschaftlichen  Methode  nachsagt,  wird  von  echter  Wissenschaft  am 
wenigsten  anerkannt.  Auch  handelt  es  sich  nicht  darum,  ob  die  Be- 
gründung und  Selbständigmachung  der  Moral  auf  wissenschaftlichem  Wege 
bereits  gelungen,  sondern  ob  das  Prinzip  verwerflich  oder  die  Erreichung 
des  Zieles  auf  anderem  Weg  wahrscheinlicher  sei. 

Der  andere  Weg,  das  andere  Extrem  ist  die  Autorität,  die  Kirche. 
Wieder  einmal  sehen  wir  das  glänzende  Bild  sich  er  trollen,  das  der  sich 
malt,  der  vom  Vielerlei,  vom  Ünsichern  der  Moderne  niedergeschlagen, 
staunend  zu  ihrer  Einheit  aufblickt.  Man  vergisst  in  der  Ermüdung  zu 
leicht,  dass  dem  Menschen,  der  das  „Stirb  und  Werde"  des  Denkens 
durchlebt,  solch  eine  Einheit,  die  im  Grunde  Einförmigkeit  ist,  auf  die 
Dauer  keine  Lösung  des  Problems  mehr  bedeuten  kann.  Man  vergisst, 
dass  diese  „Einheit"  langsam  beginnt,  von  der  Stelle  eines  höchsten  Ideals 
zu  rücken.  Einheit  und  Gleichheit  für  Alle!  Aber  doch  nur  für  Gleiche  ? 
Sind  wir  denn  gleich?  Wieder,  wie  bei  seinen  Bemerkungen  über  Un- 
entbehrlichkeit  der  Empirie,  müssen  wir  Försters  Aufstellungen  für  die 
Seite  der  Freiheit  in  Anspruch  nehmen,  für  die  sie  nicht  gemünzt  waren: 
„Eine  faustische  Natur  hat  eine  unvergleichlich  innigere,  persönlichere 
Berührung  mit  den  Realitäten  des  Leoens  ...  als  etwa  der  Famulus 
Wagner."  Und  doch  für  Beide  gleiche  Wege,  gleiche  Autorität?! 
Wäre  es  da  nicht  ehrlicher,  mit  Nietzsche  zu  sagen:  „den  Weg  —  den 
giebt  es  nicht?"  Gerade  der  Pädagoge  muss  sich  immer  wieder  bewusst 
werden,  dass  es  so  viel  Wege  giebt,  als  Seelen  nach  dem  Wahren  und 
Guten  suchen.  Dass  sie  aber  alle  nach  dem  Richtigen  suchen,  dass  sie 
alle  ein  Ziel  haben,  sollte  dies  nicht  genügend  Einheit  geben,  genügend 
Schutz  vor  „Auflösung  der  Moral?" 

Allerdings  nicht  immer  Schutz  vor  Auflösung  solcher  Begriffe,  die 
bis  dahin  für  moralisch  gegolten  haben,  vergeistigterer  Auffassung  aber 
nicht  mehr  genügen.  Freilich,  wo  Kirche  und  Christentum,  moralisch 
und  katholisch  wahllos  für  einander  gesetzt  wird,  wie  in  Försters  Buch, 
da  besteht  die  Gefahr,  beides  auch  wahllos  mit  einander  zu  verwerfen. 
Gewiss  ist  es  schwer,  bei  Läuterung  der  Moral  nicht  auf  Irrwege  zu 
kommen,  aber  war  die  Autorität  immer  auf  dem  geraden  Wege?  Hören 
wir  Försters  eigene  Entscheidung:  es  ist  eine  „einfache  Tatsache,  dass 
Lebenswahrheiten  nur  durch  Lebenserfahrungen  entdeckt  werden  können". 
Aber  ist  das  nicht  der  Weg  der  Autonomie? 


Rezensionen  (Leclfere).  511 

Erst  am  Schluss  des  Buches,  im  dritten  Kapitel,  erfahren  wir,  dass 
die  Sonne  der  kirchlichen  Autorität  auch  Flecken  aufzuweisen  hat.  Bis 
dahin  hat  Förster  auf  der  Seite  der  Autorität  nur  das  Ideal,  auf  der  Seite 
der  Freiheit  nur  die  unvollkommene  Wirklichkeit  gezeichnet.  In  diesem 
letzten  Kapitel  geht  er  mit  weitem  Blick  und  grosser  Mässigung  auf 
Schäden  ein,  die  Intoleranz,  Verleumdungssucht  und  zu  straff  gespannte 
Autorität  in  der  Kirche  hervorgebracht.  Hier,  in  einem  mehr  praktischen 
Gebiet,  tritt  die  Menschenkenntnis,  die  reiche  innere  und  äussere  Beob- 
achtungsgabe des  Pädagogen  und  Seelenführers  glänzend  zu  Tage.  Und 
dass  er  die  brüderliche  und  verstehende  Liebe  wieder  mehr  im  kirchlichen 
Mittelpunkt  zu  sehen  wünscht,  wer  möchte  dies  nicht  angesichts  der 
jüngsten  Ereignisse  ebenso  freudig  bejahen  ? 

Ob  es  Förster  durch  sein  Buch  gelungen  ist,  auch  nur  einen  Ver- 
treter der  Wissenschaft  und  Freiheit  zur  Autorität  zu  bekehren?  Wohl 
zur  erneuten  Überzeugung,  dass  es  nicht  gilt,  an  Geheimnissen  vorüber 
zu  gehen  und  an  Gassenwahrheiten  stehen  zu  bleiben.  Nein,  nicht  stehen 
bleiben  !  Nicht  Andere  für  uns  suchen  lassen !  Mögen  alle  Wissenschaften 
und  Berufe  sich  spezialisieren :  wo  es  sich  um  das  Allgemeinste,  Wichtigste 
des  Menschenwesens  und  der  Menschenwürde  handelt,  da  muss  jeder  Ein- 
zelne versuchen,  der  Wahrheit  tief  und  ehrfürchtig  ins  Auge  zu  sehen. 
Und  darin  soll  uns  Kant  ein  Vorbild  bleiben  trotz  Försters  „Kritik  der 
individuellen  Vernunft." 

Giessen.  P.  Messer-Platz. 

Ledere,  Albert.  L'Education  morale  rationelle.  Ouvrage 
prdc^de  d'une  Preface  de  M.  Luigi  Luzzatti.  Paris.  Hachette.  19ü9. 
(XII  u.  291  S.) 

Nicht  der  uninteressanteste  Teil  des  wertvollen  Buches  des  Berner 
Professors  Leclfere  ist  das  kurze  Vorwort  des  dem  Verfasser  augenschein- 
lich befreundeten  italienischen  Ministerpräsidenten  Luzzatti.  Mit  Recht 
bemerkt  dieser  von  dem  vorliegenden  Werke,  dass  es  ein  wertvoller  Bei- 
trag zum  Studium  einer  Wissenschaft  von  allererster  Wichtigkeit  sei,  der 
Wissenschaft,  die  die  Mittel  und  Werkzeuge  darlegt,  um  die  Menschen 
insgesamt  zu  einem  innerlicheren,  vertiefteren,  geistigen  Leben  zu  führen. 
—  Den  moralisch  gesunden  Individuen  —  so  führt  der  Verfasser  aus  — 
kommt  es  zu,  die  moralische  Gesundheit  der  Mitmenschen  aufrecht  zu 
erhalten,  zu  vermehren  und  wieder  herzustellen,  und  so  ist  die  erste  Be- 
dingung für  das  allgemeine  Wohl  die  Festsetzung  einer  guten  Moral- 
Pädagogik  der  normalen  Menschen.  Eine  solche  aber  besteht  darin,  die 
beste  erkannte  Ethik  auf  eine  mehr  und  mehr  auf  streng  wissenschaft- 
liche Grundfragen  zu  fundierende  Art  und  Weise  zu  realisieren.  So 
kommt  denn  den  philosophisch  geschulten  Erziehern  eine  gewaltige  Rolle 
in  der  Arbeit  am  Volkswohle  zu.  Ihre  Aufgabe  ist  es,  sich  darauf  vor- 
zubereiten und  die  Reformen  aus  all  ihren  Kräften  zu  betreiben,  die  zur 
Vollendung  dieses  grossen  Werkes  erforderlich  sind.  Zu  diesem  Zwecke 
müssen  sie  selber  eine  Elite  in  der  Gesellschaft  bilden  und  eine  ebensolche 
Elite  vorbereiten  und  deshalb  unermüdlich  die  freie  Genossenschaft  ver- 
künden, die  hier  mehr  zu  leisten  vermag,  als  der  Staat,  der  die  Keime 
menschlicher  Grösse,  anstatt  sie  zur  Entwicklung  zu  bringen,  häufig  eher 
erstickt  und  erstarren  lässt.  Die  moderne  Familie  ebenso  wie  der  moderne 
Staat  bedürfen  solcher  freidenkender,  ganz  von  dem  Prinzip  der  Ver- 
gesellschaftung erfüllten  Pädagogen ;  in  der  Schule  verfügen  sie  über  alle 
Mittel,  die  geeignet  sind,  Jünglinge  heranzubilden,  die  dem  Lebenskampfe 
gegenüber  gewappnet  sind,  wobei  es  freilich  gilt,  mit  Stanley  Hall  die 
Notwendigkeit  einer  vertieften  Seelenkunde  des  Jünglings  einzusehen. 
Auch  in  der  Armee  können  sie  wahrhafte,  brauchbare  Bürger  heranbilden, 
indem  sie  ihre  Gedanken  in  die  Kasernen  hineintragen  und  so  den  Sol- 
daten von  den  rohen  Vergnügungen  ablenken.  Vor  allem  aber  müssen  sie 
die  Selbsterziehung  anregen,  den  zu  Erziehenden  lehren,  sich  selbst  nach 
seinen  Fähigkeiten  zu  erforschen    und  den  Platz  zu  erkennen,    der  ihm  in 


512  Rezensionen  (Stöhr). 

der  „cit6  de  Dieu"  zukommt,  wo  nicht  ein  jeder  durch  die  Totalität  der- 
jenigen Eigenschaften  sich  hervortun  kann,  die  den  Menschen  ausmachen, 
wo  aber  auch  der  weniger  Begabte  sich  nach  seinen  Talenten  nützlich 
erweisen  kann.  Die  Pädagogen  sind  demnach  die  Lehrer  im  Ideal,  das 
mehr  oder  weniger  verborgen,  eingeengt,  gefälscht  vielleicht,  dennoch  in 
der  Seele  eines  jeden  heranwachsenden  Menschen  schlummert.  So  ist 
nach  Leclfere  der  vollkommene  Pädagoge  der  vollkommene  Ethiker,  — 
sonst  ist  er  eben  noch  kein  vollkommener  Pädagoge.  Vor  allem  aber 
ist  es  notwendig,  wie  der  Verfasser  zum  Schluss  seines  Werkes  sehr  mit 
Recht  betont,  dass  die  Beiträge  zu  der  Wissenschaft  von  der  Erziehung 
in  Zukunft  weit  systematischer  als  bisher  gesammelt  und  verwertet 
werden.  Ein  permanenter  Kongress  würde  allein  hier  vollen  Nutzen 
schaffen  können,  denn  ohne  einen  solchen  wird  es  der  Pädagogik  niemals 
gelingen,  sich  in  der  rechten  Weise  zu  organisieren  und  dadurch  in  dem 
Masse  fruchtbar  zu  werden,  wie  es  das  Wohl  der  Menschheit  erheischt.  — 
Das  Buch  Leclferes  bedarf  keiner  weiteren  Empfehlung,  jeder  denkende 
Pädagoge  wird  es  mit  Nutzen  und  innerem  Gewinne  lesen. 

Charlottenburg,  Artur  Buchenau. 

Stöhr,  Adolf,  Professor  an  der  Universität  Wien.  Der  Begriff 
des  Lebens.  (Band  2  der  Synthesis,  Sammlung  historischer  Monogra- 
phien philosophischer  Begriffe.)  Heidelberg,  Karl  Winters  Universitäts- 
buchhandlung, 1910.     (356 'S.) 

Der  Verfasser  legt  seinem  Werke  den  naturwissenschaftlichen 
Begriff  des  Lebens  zu  Grunde  und  versucht,  die  Entwickelung  dieses  Be- 
griffes und  seiner  Merkmale  darzulegen.  Er  behandelt  sein  Thema  als 
Grenzgebiet  der  Naturwissenschaft  und  der  Philosophie  und  verfolgt  den 
berechtigten  und  durchaus  zeitgemässen  Gedanken  einer  Annäherung  der 
Philosophen  und  der  Naturforscher.  Bei  der  Behandlung  des  allgemeinen 
Begriffs  des  Lebens  tritt  die  philosophische  und  geschichtliche  Seite,  bei 
der  Behandlung  seiner  einzelnen  Merkmale,  deren  Sonderung  ja  erst  der 
neuesten  Zeit  angehört,  notwendigerweise  die  naturwissenschaftliche  und 
systematische  Seite  mehr  in  den  \ordergrund.  Der  Verfasser  rechtfertigt 
dies  selbst  sehr  treffend  mit  den  Worten:  „Es  giebt  kein  Altertum,  kein 
Mittelalter  und  keine  Neuzeit  in  der  Geschichte  dieses  Begriffs,  sondern 
die  antiken  Begriffe  stagnieren  in  die  Neuzeit  hinein,  um  dann  gänzlich 
neuen  Begriffsbildungen  Platz  zu  machen"  (S.  41).  Unter  den  Merkmalen 
des  Begriffs  behandelt  der  Verfasser  in  getrennten  Abschnitten  die  Be- 
deutung des  Bewusstseins  im  Lebensbegriff,  die  Urzeugung,  die  Assimi- 
lation (mit  Wachstum,  Selbstteilung  und  Vererbung),  das  Geformtwerden 
und  die  Selbstformung,  den  Chemismus,  die  Anpassung,  die  Selbstbeweg- 
lichkeit und  Selbstregulierung,  die  Symbiose,  die  Zweckwnässigkeit  und 
die  Vitalismusfragen. 

Bei  alledem  steht  er  auf  dem  korrekten  Standpunkt  des  Natur- 
forschers, der  den  Erfolg  in  der  stets  weiter  dringenden  Analyse  der 
Lebenserscheinungen  suclit  und  von  vorzeitigen  Schlussfolgerungen  sich 
fern  hält.  Der  Verfasser  selbst  geht  weit  in  der  naturwissenschaftlichen 
Analyse  der  einzelnen  Lebenserscheinungen  und  verfolgt  sie  bis  in  die 
äussersten  Elemente  unter  Ausnutzung  der  neuesten  Forschungsergebnisse. 
Er  gelangt  dadurch  mit  Recht  zu  einer  streng  mechanistischen  Auffassung 
der  Lebensvorgänge  und  zur  Ablehnung  der  vitalistischen  Bestrebungen. 
Oft  geht  er  sehr  weit  in  die  elementarsten  Bedingungen  ein  und  widmet 
ihnen  in  systematischen  Darlegungen  einen  grossen  Teil  seiner  Ausführ- 
ungen. Das  scheint  dem  historischen  Charakter  der  in  jener  „Sammlung" 
beabsichtigten  Monographien  zwar  zu  widersprechen,  aber  der  Verfasser 
bedarf  jener  systematischen  Ausführungen  und  benutzt  sie,  um  die  Be- 
griffe durch  und  durch  klar  zu  .stellen,  und  ermangelt  nicht,  von  den  ge- 
wonnenen Gesichtspunkten  aus  die  Geschichte  der  Begriffe  überall  ein- 
gehend und  mit  grosser  Schärfe  zu  beleuchten  und  darüber  hinaus  auch 
zu  zeigen,  warum  die  geschichtliche  Entwickelung  kaum  eine  andere  sein 


Rezensionen  (Pichler),  513 

konnte,  als  sie  gewesen  ist.  Besonders  in  die  aristotelischen  Vorstellungen 
bringt  er  auf  diese  Weise  ein  helles  Licht,  welches  den  grossen  Philo- 
sophen auch  bei  seinen  naturwissenschaftlichen  Fehlwegen  in  grosszügiger 
Weise  rechtfertigt.  Das  ganze  Werk  ist  durchdrungen  von  eingehender 
und  scharfer  Begriffskritik  und  stellt  in  seiner  Gesamtheit  eine  er- 
frischende Erscheinung  niodernen  uaturphilosophischen  Denkens  vor. 
Berlin.  Berthold  Kern. 

Pichler,  Han<^.  Über  die  Erkennbarkeit  der  Gegenstände. 
Wien  und  Leipzig,  Wilhelm  Braumüller,  1909.    (105  S.) 

Derselbe.  Über  Christian  Wolffs  Ontologie,  Leipzig,  Dürr- 
sche  Buchhandlung,  1910.     (91  S.) 

Mehr  und  mehr  kommen  auch  die  überzeugtesten  Anhänger  und 
Verfechter  des  Kritizismus  zu  der  Erkenntnis,  dass  es  neben  dem  Grossen 
und  Bleibenden,  das  Kants  Lehre  gezeitigt  hat,  in  dieser  auch  manche 
wichtige  Kapitel  giebt,  wo  die  Kantsche  Auffassung  eine  Berichtigung 
und  Um-  oder  Fortbildung  braucht,  um  auf  die  Rätselfragen  einer  ewigen 
Sphinx,  wie  man  die  Sehnsucht  nach  der  Wahrheit  wohl  nennen  darf,  eine 
befriedigende  Antwort  bieten  zu  können.  Zu  solcher  Einsicht  ist  auch 
Hans  Pichler  gelangt,  der  sich  in  den  beiden  hier  angezeigten  Schriften 
namentlich  mit  Kants  Logik,  unstreitig  dem  schwächsten  Teile  der  „Kritik", 
auseinandersetzt,  wobei  häufig  auch  andere  grundlegende  Gedankengänge 
der  kritizistischen  Erkenntnistheorie  scharfsinnig  auf  iliren  Ursprung  und 
ihren  Goldgehalt  untersucht  werden. 

In  der  Schrift  „Über  die  Erkennbarkeit  der  Gegenstände"  inter- 
pretiert Pichler  Kants  Forderung,  dass  die  Erkenntnis  mit  ihrem  Gegen- 
stande übereinstimmen  müsse,  in  der  Weise,  dass  er  den  Ton  auf  „ihrem" 
legt.  „Es  handelt  sich  darum,"  führt  der  Verfasser  aus,  indem  er  Kant 
selbst  sprechen  lässt,  „bestimmen  zu  können,  ob  eine  Erkenntnis  gerade 
mit  demjenigen  Objekte,  worauf  es  bezogen  wird,  und  nicht  mit  irgend 
einem  Objekte  überhaupt  —  womit  eigentlich  gar  nichts  gesagt  wäre  — 
übereinstimme"  (S.  49).  Mit  Trendelenburg  und  Ueberweg  ist  Pichler 
der  Meinung,  die  Erkenntnis  der  Dinge  sei  von  einer  Seite  aus  auch 
durch  den  Gegenstand  bedingt,  einen  Standpunkt,  den  er  unter  sou- 
veräner Beherrschung  der  Materie  mit  Glück  verteidigt,  um  dann  die 
Haltlosigkeit  der  sogenannten  „formalen  Logik"  zu  beleuchten.  Indem  er 
Itelsons  (Gregorius  Itelson,  „Reform  der  Logik",  Vortrag  für  den  Kon- 
gress  für  Philosophie  in  Genf)  Definition  der  Logik  als  „Lehre  von  den 
Gegenständen  überhaupt"  acceptiert,  geht  er  auf  Aristoteles  zurück  und 
nähert  sich  Christian  Wolff,  dessen  „Ontologie"  Pichler  der  unver- 
dienten Vergessenheit  zu  entreissen  sucht.  Pichler  erinnert  daran,  dass 
Aristoteles  mit  tiefem  Verständnis  in  der  ovai«  das  Wesen  (die  Gattung) 
der  Erkenntnisobjekte  erblickt,  dass  nach  der  Theorie  des  grossen  grie- 
chischen Philosophen  Seinsgrund  und  Erkenntnisgrund,  wo  irgend  möglich, 
zusammenfallen  sollen;  von  hier  aus  gewinnt  Pichler  die  Einsicht,  dass 
den  logischen  Gesetzen  eine  anschauliche  Notwendigkeit  innewohnt, 
um  im  kunstvollen  geschlossenen  Aufbau  zu  dem  Ergebnis  zu  gelangen, 
dass  die  konstitutiven  Bedingungen  für  die  Erkennbarkeit  der  Gegenstände 
in  der  Formulierung  dessen  Liegen,  was  wir  Systeme  nennen.  Unter 
einem  System  versteht  Pichler  eine  universitas  ordinata,  die  „als  Mannig- 
faltigkeit von  Gegenständen  nach  ihrem  Sosein  durch  individualisierende 
Gesetze  der  Nachbarschaft  im  Sosein  bestimmt  ist"  (S.  67).  Da  es,  um 
ein  System  von  Gegenständen  erkennend  zu  beherrschen,  nur  des  Wissens 
des  dem  System  zu  Grunde  liegenden  Bildungsprinzips  bedarf,  so  muss 
man  dem  Verfasser  darin  beipflichten,  dass  im  System  hinsichtlich  eines 
vollkommenen  Erkennens  erkenntnistheoretisch  der  günstigste  Fall  ge- 
geben ist.  „Systeme  lassen  bei  einem  Minimum  von  vorgegebener  Kennt- 
nis über  sie  ein  Maximum  möglicher  Erkenntnis  zu",  resümiert  Pichler 
(S.  76),  woraus  er  schliesst :  „In  der  Eignung  von  Systemen,  in  der  Mannig- 
faltigkeit ihrer   Elemente   eigentümliche  gesetzliche   Gebilde  erfassen  zu 


514  Rezensionen  (Pichler). 

lassen,   dürfte   die   wesentliche  Bedingung  zu  einer  ihnen  eigentümlichen 
gegenstandstheoretischen  Wissenschaft   genereller  Gesetze   liegen"  (S.  78). 

Dass  es  in  der  Tat  die  Anschauung  ist,  auf  der  die  logischen  Sätze 
im  letzten  Grunde  beruhen,  darüber  hofft  der  Referent  sich  in  einer 
eigenen  Arbeit  über  die  Logik  zu  verbreiten;  hier  genügt  es  umsomehr, 
auf  die  Bedeutung  der  gehaltvollen  Pichlerschen  Arbeit  kurz  hinge- 
w^iesen  zu  haben,  als  der  Referent  bereits  in  einer  Besprechung  der 
Schrift  für  die  „Vierteljahrsschrift  für  wissenschaftliche  Philo- 
sophie" eine  Analyse  der  wesentlichen  Bestandteile  von  Pichlers 
Theorie  gegeben  hat. 

„Über  Christian  Wolffs  Ontologie",  die  zweite  der  hier 
angezeigten  Novitäten,  unternimmt  es,  die  für  die  heutige  Erkenntnis- 
theorie noch  wertvollen  Einsichten  Wolffs  herauszuheben  und  kritisch  zu 
beleuchten.  Der  Verfasser  zeigt,  auf  gründliche  Quellenstudien  gestützt, 
dass  es  die  Ontologie  missverstehen  heisst,  wenn  man  sie,  wie  es  gewöhn- 
lich geschieht,  als  „Wissenschaft  vom  Seienden"  definiert;  Ontologie  ist 
Pichler  die  „W  issenschaft  von  den  Gegenständen  über- 
haupt" und  ihr  Wert  liegt  ihm  vor  allem  darin,  dass  „sie  es  offenbar 
macht,  dass  das  Dasein  nicht  zu  den  wesentlichen  Eigenschaften  der 
Gegenstände  gehört"  (S.  5).  Da  Wolffs  Darstellung  der  Pichlerschen 
Denkart  eng  verwandt  ist,  war  gerade  Pichler  vorzüglich  geeignet,  in 
zahlreiche  dunkle  Stellen  der  Ontologie  Licht  zu  bringen.  Er  versucht 
dies  mit  Glück  in  Bezug  auf  die  Wolff sehe  ratio  sufficiens,  die  Schopen- 
hauer für  den  „Erkenntnisgrund"  gehalten  hat,  ein  Irrtum,  der  insofern 
folgenschwer  wurde,  als  sich  seitdem  die  Ansicht  gebildet  und  erhalten 
hat,  Wolff  stellte  ratio  und  causa  einander  als  Gegensätze  gegenüber, 
jene  als  Erkenntnisgrund,  diese  als  Seinsgrund,  wohingegen  Wolff  unter 
causa  das  Ding  versteht,  das  eine  ratio,  d.  h.  den  Grund  überhaupt, 
enthält.  Wir  haben  es  hier  also  mit  einer  ähnlichen  Auffassung  zu  tun, 
wie  wir  sie  bei  Spinoza  antreffen ;  auch  er  gründet,  zum  Teil  von  Ein- 
flüssen der  Scholastik  beeinflusst,  die  Kausalität  auf  die  essentia  und 
existentia  der  Modi,  woraus  sich  ihm  die  causa  immenens  und  die  causa 
efficiens  ergiebt.  Die  Wolff  sehen  Sätze  über  die  ratio  und  causa 
zeugen  von  einem  nicht  genug  gewürdigten  Tiefblick,  und  man  wird, 
wenn  man  zum  Vergleiche  Kants  Behandlung  derselben  Materie  heran- 
zieht, nicht  umhin  können,  Pichler  in  dem  Urteil  beizupflichten,  „dass  die 
Entwicklung  des  Substanz-  und  Kausalitätsbegriffs  bei  Kant  äusserst 
dürftig  ist,  dass  die  beiden  Kategorien  beziehungslos  neben  einander 
stehen  und  die  in  ihnen  gegenüber  H  u  m  e  behauptete  „„notwendige"" 
Verknüpfung  keinen  Inhalt  erhält"  (S.  75). 

Von  grosser  Bedeutung  ist  Wolffs  Lehre  von  der  „Möglichkeit", 
und  es  ist  ein  Verdienst  seines  Interpreten,  diesen  Abschnitt  der  Ontologie 
durchleuchtet  zu  haben.  Wolff  fasst  den  Satz  des  Widerspruchs  so  weit, 
dass  Widerspruch  die  Unverträglichkeit  überhaupt  bezeichnet ; 
Möglichkeit  ist  ihm  dann  Widerspruchslosigkeit,  womit  Wolff  demnach 
nur  sagen  will,  dass  Existenz  und  Gegenständlichkeit  zwei  miteinander 
verträgliche  Attribute  sind.  Kants  Polemik  gegen  Wolff  sowie  das  in 
der  „Kritik"  als  Beweis  für  das  Ungenügende  aes  Widerspruchskriteriums 
gegebene  berühmte  Beispiel  von  der  Figur,  die  nicht  in  zwei  Graden  ein- 
geschlossen sein  kann,  treffen  daher  nicht  das,  was  Wolff  unter  Wider- 
spruch (=  Unverträglichkeit)  verstanden  wissen  will.  Denn  nach  Wolff 
liegt  nur  im  Wesen  der  Gegenstände  „die  ratio  possibilitatis  der 
Existenz",  d.  h.  die  Möglichkeit. 

In  dem  Schlusskapitel  „Ontologie  und  transscendentale  Logik"  zieht 
Pichler  eine  Parallele  zwischen  den  Hauptsätzen  der  Kant  ischen  und 
Wolffschen  Erkenntnistheorie.  Dass  vielfach  das  Urteil  zu  Ungunsten 
Kants  ausfällt,  ist  ohne  Zweifel  nicht  zum  geringeren  Teile  der  Schwäche 
der  Kantischen  Position  zuzuschreiben  (Kategorienlehre,  Subjektivität  des 
kritizistischen  Standpunktes.  Kritik  der  Metaphysik  u.  s.  w.);  zum  andern 


Rezensionen  (Eucken— Horneffer).  515 

Teil  ist  Pichler  aber  geneigt,  auch  das  Neue  und  Wertvolle,  das  sich 
an  den  Namea  Kants  knüpft,  in  die  Ontologie  hineinzulegen  und  dadurch 
die  Originalität  der  „Kritik"  herabzudrücken.  Vor  allem  vermisst  man 
die  Anerkennung  dessen,  was  wohl  den  Hauptreiz  und  die  bleibende  Er- 
rungenschaft der  „Kritik"  ausmacht,  nämlich  des  Kant  ureigenen  Ge- 
dankens von  dem  Zwingenden,  das  der  Anschauung  innewohnt. 
Diese  als  konstitutives  Element  der  Erfahrung  aufgezeigt  zu  haben, 
bleibt  ein  unsterbliches  Verdienst  Kants,  auch  wenn  man  das  Apriori  an 
einen  anderen  Schnittpunkt  verlegt,  als  es  der  Königsberger  Philosoph 
getan  hat.  Die  Wolffsche  veritas  transscendentalis  sowenig  wie  die 
Wolffsche  Supponierung  der  „Gegenstände  überhaupt"  machen  die  An- 
schauung zum  notwendigen,  begleitenden  Prinzip  aller  Erkenntnis ; 
dass  Pichler  das  Gegenteil  glaubt,  beweist  nur,  wie  tief  dieser  Teil 
der  Kantischen  Lehre  in  seine  und  unsere  Ideenwelt  eingedrungen  ist: 
■«är  operieren  oft  mit  ihr,  ohne  uns  dessen  bewusst  zu  sein;  wie  wir  auf 
Erden  wandeln  und  dabei  wohl  der  Schwerkraft  vergessen,  die  uns  doch 
aufrecht  hält. 

Hamburg.  A.  Levy. 

Eucken,  Rudolf.  Der  Sinn  und  Wert  des  Lebens. 
2.,  völlig  umgearbeitete  Aufl.    Leipzig,  Quelle  &  Meyer,  1916.    (155  S.) 

Eucken  hat  das  Buch,  das  sehr  rasch  ins  grössere  Publikum  ge- 
drungen ist,  der  Form  nach  vollständig  umgestaltet  —  natürlich  ist  der 
Inhalt  derselbe  geblieben.  Die  Form  aber  hat  wesentlich  gewonnen  :  alles 
ist  frischer,  bewegter,  flüssiger  geworden,  so  dass  man  oft  ein  ganz  an- 
deres Werk  vorzuhaben  glaubt.  So  ist  denn  kein  Zweifel,  dass  die  neuen 
3000  bald  den  Weg  der  ersten  4000  gehen  werden,  und  dass  bald  eine 
.3.  Auflage  folgen  wird.  Zu  besonderer  Zierde  dient  dem  Buche  das  ge- 
lungene Bild  des  Philosophen. 

Über  den  Inhalt  können  wir  uns  bei  der  Neuauflage  wohl  kurz 
fassen.  Nach  einer  Diskussion  der  „Antworten  der  Zeit"  auf  die  Frage 
nach  dem  Sinn  des  Lebens  wendet  sich  Eucken  zum  eigenen  Aufbau,  wo- 
bei er  von  dem  Erscheinen  eines  neuen  Lebens  im  Menschen  gegenüber 
dem  Naturmechanismus  ausgeht.  Dabei  wird  eine  teleologische  Welt- 
anschauung entwickelt:  die  Welt  hat  Sinn  und  Ziel,  das  nur  in  dem  voll- 
endeten Durchbrechen  des  Geistigen  durch  die  Natur  zu  sehen  ist,  dem- 
nach hat  auch  das  Menschenleben  Wert,  indem  eben  der  Mensch  den 
Durchbruchspunkt  jener  neuen  Welt  des  Geistes  darstellt.  Wie  sehr  diese 
Grundanschauung  zu  der  allgemeineren  Zeittendenz  stimmt,  weiss  jeder 
Einsichtige  —  die  Frage  nach  den  Werten  und  Zielen  wird  ja  von  ge- 
wisser Seite  als  das  Grundproblem  und  Spezialgebiet  der  Philosophie  an- 
gesehen. Die  logischen  Begründungen  der  Euckenschen  Wertlehre  finden 
sich  schon  in  seinen  grossen  Werken  aus  den  80er  Jahren  über  die  „Ein- 
heit des  Geisteslebens". 

Otto   Braun. 


Theophrastos,  Charakterbilder,  Piaton,  Verteidigung  des  Sokrates 
und  Kriton.  Deutsch  von  A.  und  E.  Horneffer.  (Antike  Kultur  II  u.  IV). 
W.  Klinkhardt,  Leipzig  1909. 

Die  Brüder  Horneffer,  die  sich  schon  seit  Jahren  um  die  Einführung 
der  klassischen  Kultur  in  weitere  Kreise  bemühen,  haben  in  den  zwei 
kleinen  Bändchen  geschickte  Übersetzungen  geliefert,  die  sich  würdig  an 
den  zuerst  erschienenen  „Staat"  Piatons  anschliessen.  Kurze  Vorworte 
und  Anmerkungen  orientieren  den  Unkundigen,  die  Übertragung  hält  sich 
frei  von  den  heute  so  grassierenden,  stilwidrigen  Modernisierungen.  So 
seien  denn  diese  Hefte  bestens  empfohlen. 

Otto   Braun. 

KaDtstndiea    XV.  33 


516  Rezensionen  (Krieck). 

Krieck,  Ernst.  Persönlichkeit  und  Kultur.  Kritische 
Grundlegung  der  Kultui'philosophie.  Carl  Winters  Universitätsbuchhand- 
lung, Heidelberg  1910.    (XVI  u.  512  S.) 

„Der  Zweck  des  vorliegenden  Buches  ist,  mitzuarbeiten  an  der 
grossen  kulturellen  Aufgabe  der  Gegenwart,  an  der  Umgestaltung  der 
nationalen  Kultur  im  Sinne  einer  Vertiefung  und  einer  Neubelebung  des 
Idealismus."  Damit  ist  die  Grundrichtung  des  Werkes  bezeichnet,  das 
sich  uns  als  eine  gründliche,  meist  kritisch-negative  Arbeit  im  Dienste 
einer  idealistischen  Philosophie  darstellt,  die  an  Hegel  vornehmlich  an- 
knüpft, doch  aber  wesentlich  modern  ist.  Die  Form  der  Ausführungen 
ist  manchmal  reichlich  schwerfällig,  manche  Partien  geben  alte,  ziemlich 
einfache  Erkenntnisse  in  fachtechnischer  Sprache  wieder  und  geben  ihnen 
dadurch  ein  originelles  Ansehen.  Ein  Beispiel :  „Der  Rhythmus  ist  das 
Verhältnis  der  Bewegung  zum  Selbst,  nämlich  die  Einbildung  des  Selbst 
in  jene,  wodurch  sie  zerlegt,  angeeignet,  begriffen  wird"  (S.  450).  Doch 
kann  man  gern  die  vom  Verf.  erbetene  Nachsicht  mit  der  Form  ihm  ge- 
währen, da  der  Inhalt  seiner  Arbeit  wirklich  Anspruch  auf  volle  Beachtung 
machen  kann.  Da  die  positiven  Anschauungen  aus  Kritik  erwachsen,  die 
sich  durch  alle  Teile  des  Buches  hindurchzieht,  ist  es  nicht  möglich,  in 
einem  Referat  diese  eigenen  Ansichten  des  Verfassers  vollständig  zu  ent- 
wickeln. Krieck  sucht  auch  nicht  vornehmlich  Erkenntnis  absoluter 
Wahrheiten  zu  erreichen;  er  will  „die  eingerosteten  Grundformen  und 
Prinzipe  in  Fluss  bringen".  Er  will  mit  seiner  Philosophie  dem  Leben 
dienen,  wie  es  unsere  grossen  deutschen  Denker  stets  gewollt,  ich  er- 
innere nur  an  Herder.  Die  „Setzung  von  Lebenszwecken  und  Kultui*- 
zielen"  ist  die  wichtigste  Aufgabe  für  Krieck.  Die  Philosophie  wächst 
heraus  aus  den  Grundlagen  des  Lebens ;  „ihr  Zweck  ist  das  zukünftige 
Leben  der  Gemeinschaft,  vor  allem  der  Nation  und  ihrer  Krone,  der  freien 
Persönlichkeit". 

Als  „Lebenskeim  der  Kultur"  erscheint  die  lebendige,  freie  Persön- 
lichkeit. So  wird  diese  denn  im  ersten  Teil  des  Werkes  behandelt,  die 
Kultur  im  zweiten.  „Persönlichkeit  ist  die  Wirklichkeit  schlechthin,  welche 
allem  anderen  seine  Wirklichkeit  erst  ermöglicht,  welche  Wirklichkeit 
eben  nur  Beziehung  auf  anderes  ist ;  sie  ist  die  metaphysische  Wurzel  des 
gesamten  Daseins.  Persönlichkeit  ist  über  das  relative  Sein  hinaus  zu- 
gleich Ansichsein  und  Substanz"  (S.  78  f.).  Dabei  ist  sich  Krieck  voll 
bewusst,  dass  das  höchste  philosophische  Prinzip  Ausdruck  einer  Lebens- 
wertung ist  (S.  80). 

Die  Persönlichkeit  schafft  alle  geistige  Wirklichkeit,  ihre  Aufgabe 
ist  es,  das  Dasein  in  den  Geist  aufzunehmen.  Von  dieser  Grundanschauung 
ausgehend,  behandelt  Krieck  im  zweiten  Teil  „Das  Allemeine  als  Begriff: 
Wissenschaftslehre,"  „Das  Allgemeine  als  Motiv :  Ethik"  und  schliesslich 
„Das  Ideal",  seine  Bildung  in  der  Religion  und  seine  Verwirklichung  in 
der  Kunst.  Damit,  dass  diese  den  Gipfel  der  Pyramide  bildet,  nähert  sich 
Krieck  dem  Systeme  Schellings. 

Als  kritische  Einzelbemerkung  füge  ich  noch  an,  dass  Verf.  für  das 
Wesen  R  Wagners  kein  Verständnis  zeigt,  wenn  er  ihn  in  ein  Verstandes- 
genie und  in  einen  Musiker  zertrennt  (S.  461).  Wagners  Dichtung  als  ein 
„Gemisch  aus  allen  möglichen  Reflexionen  von  höchst  gewaltsamer  Form 
und  Sprache"  zu  bezeichnen,  scheint  mir  ganz  verfehlt. 

Als  Ganzes  ist  das  Werk  ein  wissenschaftlich  gediegener  Versuch, 
Grundlagen  für  eine  Kulturphilosophie  auf  dem  Wege  der  dialektisch-kri- 
tischen Reflexion  zu  schaffen.  Leider  hat  sich  die  Kulturphilosophie  heute 
schon  wieder  durch  dilettantische  Versuche  diskreditiert.  Trotzdem  müssen 
wir  hoffen,  dass  diese  Disziplin  weiter  ausgebaut  wird.  Allerdings  glaube 
ich,  dass  das  ohne  weitschichtige  historische  Begründung  nicht  möglich 
sein  wird. 

Dr.   Otto   Braun. 


Rezensionen  (Kühnemann— Janssen).  51« 

Schillers  p  hilo  s  o  p  his  ch  e  S  chrif  t  en  undGedichte 
(Auswahl).  Zur  Einführung  in  seine  Weltanschauung.  Mit  ausführlicher 
Einleitung  herausgegeben  von  Eugen  Kühnemann.  2.  verm.  Aufl.  Leip- 
zig, Verlag  der  Dürrschen  Buchhandlung.  1910.    (Philosophische  Bibliothek, 

Band  103.)     (438  S.) 

Die  1.  Auflage  dieses  Büchleins  (1902)  ist  mir  nicht  zu  Gesicht  ge- 
kommen. Sie  hatte,  wie  ich  aus  der  Vorrede  ersehe,  einen  noch  be- 
schränkteren, ausschliesslich  den.. Schulbedürfnissen  angepassten  Rahmen 
und  enthielt  nicht  einmal  die  Ästhetischen  Briefe  vollständig.  In  der 
vorliegenden  Form  wendet  sich  das  Buch  ganz  besonders  an  den  Lehrer, 
der  vor  die  Aufgabe  gestellt  wird,  seine  Schüler  in  die  philosophischen 
Arbeiten  Sch.s  hineinzuführen,  dann  aber  auch  an  den  Schüler,  der  sich 
die  angeregten  Fragen  noch  einmal  im  Zusammenhang  vergegenwärtigen 
will.  Zu  dem  Zwecke  wird  zunächst  in  einer  „Einleitung"  von  90  Seiten 
die  Kantische  und  Schillersche  Philosophie  in  ihren  Grundzügen  und  Zu- 
sammenhängen erläutert  und  die  Bedeutung  der  einzelnen  Schillerschen 
Abhandlungen  festgestellt.  Der  Vortrag  zeigt  •  einen  dem  Gegenstande 
wohlangemessenen  warmen  Gefühlston  und  sucht  Begeisterung  zu  wecken 
für  eine  Philosophie,  die  aus  dem  Leben  für  das  Leben  erwachsen  ist  und 
ihre  Jünger  zu  ganzen  Menschen  erziehen  will.  Verf.  zeigt  überall  den 
unersetzlichen  Wert  der  Sch.schen  Gedanken  auch  für  unsere  Zeit.  Und 
dass  auch  in  dieser,  und  zwar  selbst  in  Lehrerkreisen  das  Verständnis  für 
Seh.  noch  sehr  gering  ist,  beweist  u.  a.  ein  Schelling-Enthusiast,  der  die 
„ästhetische  Kultur"  ablehnt,  ohne  auch  nur  eine  Ahnung  von  ihrem 
Wesen  zu  haben. 

Die  Kant-  und  Schiller- Auffassung  des  Verf.  ist  aus  seinem  grösseren 
Werk  „Kants  und  Schillers  Begründung  der  Ästhetik"  von  1895  schon 
bekannt.  Ich  brauche  daher  nicht  darauf  zurückzukommen,  umsoweniger, 
als  ich  meine  eigene  abweichende  Auffassung  in  meiner  Schrift  „Schiller 
als  Denker"  von  1908  niedergelegt  habe. 

Was  die  Auswahl  der  Sch.schen  Schriften  anlangt,  so  bin  ich  mit 
der  Weglassung  der  beiden  tragischen  Abhandlungen  einverstanden,  möchte 
aber  empfehlen,  die  (auch  nach  des  Verls  Ansicht)  bahnbrechenden 
„Kallias"-Briefe  in  der  nächsten  Auflage  mit  abdrucken  zu  lassen,  damit 
sie  endlich  einmal  auch  äusserlich  die  ihnen  gebührende  gewichtige  Stel- 
lung erhalten.  Welcher  Jünger  Sch.s  würde  nicht  mit  hingerissen  werden 
von  der  Entdeckerfreude  des  Meisters,  seinem  Enthusiasmus  für  die 
Wissenschaft,  seinem  packenden,  anschaulichen,  lebenswarmen  Stil!  Die 
übrigen  Abhandlungen  würde  ich  dann  noch  gern  vervollständigt  sehen 
duich  die  im  8.  Bande  der  Bellermannschen  Ausgabe  enthaltenen,  die  hier 
fehlen.  Dagegen  wirken  die  beiden  einzigen  poetischen  Gaben,  nämlich 
„das  Ideal  und  das  Leben",  eingeklemmt  zwischen  der  Abhandlung  über 
das  Erhabene  und  der  .,Von  den  notwendigen  Grenzen"  etc.,  und  die 
„Tabulae  votivae"  am  Schluss  stilwidrig.  Da  hätten  auch  vor  allem  „Die 
Künstler"  mitgegeben  werden  müssen,  und  so  manches  andere,  das  wir 
ungern  vermissen.  Schon  wegen  der  mir  wohlbekannten  Bedenken  gegen 
„Die  Künstler"  würde  ich  raten,  künftighin  die  einzigschöne  Sch.sche 
Prosa  für  sich  selber  sprechen  zu  lassen. 

Ein  Namen-  und  Sachregister  erleichtert  den  Gebrauch  des  Werks, 
dem  ich  gern  noch  öfter,  am  liebsten  in  der  angedeuteten,  noch  mehr 
wissenschaftlichen  Gestalt,  begegnen  möchte. 

Zehlendorf  (Wannseebahn).  Bernhard  Carl  Engel. 

Janssen,  Otto.  Das  Wesen  der  Gesetzesbildung.  Eine 
kritische  Untersuchung.    Halle  a.  S.,  Niemeyer,  1910.    (IV  u.  278  S.) 

Das  Wesen  der  Gesetzesbildung  zu  ermitteln,  ist  das  Ziel  dieses 
Buches.  Mit  einer  Betrachtung  über  Wesen  und  Werden  der  Gesetze  be- 
ginnt der  Verfasser  seine  Untersuchung.  Das  Gesetz  erst  ermöglicht  Er- 
fahrung in  jenem  Sinne,  der  seit  Kant  üblich  geworden  ist.  Wäre  die 
Natur   derart,   dass   niemals   ein  Augenblick  den  folgenden  entschiede,   so 

33* 


5l8  Rezensionen  (Janssen). 

gäbe  es  nur  ein  Chaos  von  Eindrücken.  Das  Gesetz  nun  weist  auf  eine 
Gleichförmigkeit  der  ihm  zugrunde  liegenden  Vorgänge  hin,  es  geht  also 
stets  auf  eine  Vielheit  von  Erscheinungen,  die  es  unter  sich  begreift,  und 
aus  der  es  durch  isolierende  Abstraktion  gewonnen  wird.  Und  zwar  muss 
das  Gesetz,  soll  es  nicht  zu  eng  sein,  bis  an  die  Grenze  der  Abstraktion 
gehen  und  darf  nur  so  viele  Merkmale  der  von  ihm  umfassten  Gegen- 
stände aufnehmen,  als  erforderlich  und  hinreichend  sind. 

Die  Frage  nach  dem  Werden  der  Gesetze  führt  den  Verfasser  zur 
Untersuchung  des  Wertes  der  Induktion  und  Deduktion  für  die 
Gesetzesbildung.  Die  Induktion  wird  als  solche  des  Umfangs  und  des 
Inhaltes  unterschieden.  Die  letztere  schliesst  aus  dem  Vorhandensein  ge- 
wisser Merkmale  an  einem  Gegenstand  darauf,  dass  er  auch  gewisse 
andere  besitzt;  die  Umfangsinduktion  schliesst  von  dem  Vorhandensein 
gewisser  Eigenschaften  bei  einigen  Gegenständen  einer  Klasse  auf  das 
Vorhandensein  dieser  Eigenschaften  bei  allen  Gegenständen  der  Klasse. 
Sie  konstituiert  also  die  allgemeingülti^je  Form  des  Gesetzes.  Die  De- 
duktion übernimmt  es  dann,  das  Gesetz  als  Spezialfall  einer  höheren  Ge- 
setzlichkeit abzuleiten.  Wie  weit  wir  uns  aber  auch  durch  die  Ver- 
einigung von  Induktion  und  Deduktion  von  der  Wirklichkeit  der  Anschau- 
ung entfernen,  der  empirische  Ursprung  der  Gesetze  zeigt  sich  immer 
darin,  dass  ,sie  nicht  Sicherheit,  sondern  blosse  Wahrscheinlichkeit 
geben :  ihre  Änderung  schliesst  keinen  Widersinn  ein. 

Das  zweite  Kapitel  behandelt  die  Prinzipien  der  Gesetzesbildung. 
Zuerst  wird  dem  Kausalsatz  eine  eindringende  Erörterung  gewidmet.  Es 
liegt  dem  Verfasser  daran,  aus  der  Ursachbeziehung  jede  Spur  von 
Anthropomorphismus  zu  entfernen;  was  übrig  bleibt,  ist:  Kausalität  ist 
nichts  anderes  als  Regel  der  Sukzession.  Allerdings  erhebt  sich  gegen  die 
Gleichung :  Kausalität  =  regelmässige  Folge  —  der  Reidsche  Einwand,  dass  es 
regelmässige  Sukzessionen  giebt,  die  nicht  als  kausal  zusammenhängend 
betrachtet  werden.  So  die  Folge  von  Tag  und  Nacht.  Ich  glaube,  dass  sich 
dieses  Argument  mit  dem  Hinweise  erledigen  lässt,  dass  nach  den  Lehren  der 
Astronomie  diese  Folge  nicht  ausnahmslos  zu  nennen  ist.  Nehmen  wir  z.  B. 
einen  allgemeinen  Wärmetod  als  erwiesen  an,  so  tritt  mit  diesem  eine  Nacht 
ein,  der  kein  Tag  mehr  folgt  u.  dgl.  (Vgl.  J.  St  Mills  Logik  III.  5.)  Dagegen  ist 
eine  Ursache  im  wahren  Sinne  nicht  möglich,  ohne  dass  ihr  die  Wirkung 
nachfolgt.  Janssen  löst  die  Schwierigkeit  nicht  in  dieser  Weise.  Er 
giebt  vielmehr  regelhafte  Sukzessionen  zu,  die  nicht  Repräsentanten  eines 
Kausalgesetzes  sind.  Der  Wissenschaft  bleibe  es  unbenommen,  Erschein- 
ungen, die  im  übrigen  alle  Voraussetzungen  der  Kausalform  aufweisen, 
nicht  als  kausal  verknüpft  gelten  zu  lassen,  wenn  dies  ihre  Begreifflichkeit 
fordert  (77).  Damit  scheint  mir  J.  den  eigenen  Standpunkt  aufzugeben. 
Denn  wenn  die  obige  Gleichung,  Kausalität  =  regelhafte  Folge,  gilt, 
dann  kann  die  Wissenschaft  nur  solchen  Sukzessionen  den  kausalen  Cha- 
rakter absprechen,  von  denen  sie  nachweist,  dass  ihre  Aufeinanderfolge 
gesetzlich  durchbrochen  werden  kann,  d.  h.  in  sich  genommen  zu- 
fällig ist. 

Immerhin  hält  J.  späterhin  an  der  genannten  Gleichsetzung  fest. 
Aus  ihr  folgt  die  wichtige  Tatsache,  dass,  logisch  genommen.  Kausalität 
und  Koexistenz  für  die  Erklärung  eines  Faktums  von  gleicher,  näm- 
lich von  —  keiner  Bedeutung  sind.  „Es  sind  Ordnungsformen,  Schemata, 
nach  denen  wir  das  Beisammensein  gewisser  Erscheinungen  bestimmen, 
die  aber  selber  noch  kein  Verstehen  im  logischen  Sinne  vermitteln  können." 
Der  Wert  solcher  Feststellungen  liegt  vielmehr  darin,  dass  man  die  sie 
aussprechenden  Urteile  selbst  rein  logisch  mit  einander  verknüpfen  kann 
und  auf  diese  Weise  gedankliche  Zusammenhänge  schafft,  welche 
die  blossen  Feststellungen  erst  fruchtbar  machen.  (Vgl.  hierzu  Münster- 
berg, Philos.  d  Werte,  S.  134  ff.)  Und  es  ist  eben  der  Wert  der 
Funktionsbeziehung  darin  gelegen,  dass  sie  die  Koexistenz 
und  die  Aufeinanderfolge  als  gleichberechtigte  Formen  des  Zusammenseins 


Rezensionen  (Janssen).  «  519 

offenbart  und  so  vor  anthropomorphistischen  Deutungen  behütet.  Dass 
sich  aber  Funktionsbeziehungen  zwischen  den  Dingen  feststellen  lassen, 
ist  in  diesen  selbst  begründet  und  nicht  ein  von  uns  den  Dingen  gegen- 
über ausgeübter,  ihnen  selbst  fremder  Zwang. 

Ein  drittes  Kapitel  ist  „Die  Gesetze  im  Lichte  der  Erkenntnis" 
überschrieben.  Auf  seinen  ersten  Abschnitt  „Vorstellung  und  Vorgestelltes" 
will  ich  nicht  näher  eingehen,  weil  mir  der  Raum  zur  Auseinandersetzung 
in  dieser  wichtigen  Frage  fehlt.  Leider  scheinen  J.  die  für  das  Verständ- 
nis der  auf  das  intentionale  Wesen  der  psychischen  Tatsachen  bezüglichen 
Probleme  grundlegenden  Forschungen  M  a  rtys  unbekannt  geblieben  zu 
sein  (Untersuch,  z.  Grundlegung  d.  allgeni.  Grammatik  L).  Im  zweiten 
Abschnitt  ,.Grenzen  der  erkenutnistheoretischen  Grundsätze"  unternimmt 
J.  eine  Auseinandersetzung  mit  Kant.  „Ich  glaube  —  hiess  es  schon  an 
einer  früheren  Stelle  (97)  — ,  dass  die  Lehre  von  der  Kausalität  zunächst 
eine  Forderung  erfüllen  muss,  nämlich  sich  von  den  Fesseln  des  Kantischen 
Denkens  befreien."  Hier  wird  nun  gegenüber  der  Auffassung  Kants,  dass 
die  Kausalität  der  Leitfaden  ist,  mittels  dessen  wir  die  Aufeinanderfolge 
im  Subjekte  und  im  Objekte  unterscheiden  können,  eingewendet,  jede 
Sukzession,  die  wir  wahrnehmen,  sei  objektiv  (163).  Sofern  hier  objektiv 
soviel  heissen  soll  wie  tatsächlich,  hätte  Kant  dies  kaum  bestritten.  Aber 
nicht  jede  tatsächliche  Aufeinanderfolge  ist  objektiv  in  d  e  m  Sinne,  dass 
sie  im  Objekt  vor  sich  geht  und  nicht  auf  Rechnung  der  subjektiven  Ima- 
gination zu  setzen  ist.  Hier  die  Unterscheidung  zu  treffen,  ist  schliess- 
lich doch  nur  unter  Voraussetzung  einer  Gesetzlichkeit  in  der  Natur  mög- 
lich; dies  giebt  J.  selbst  zu  (162).  Die  Frage  aber,  ob  sich  vielleicht 
irgend  welche  Gesetze  der  Objekte  aus  der  Natur  unseres  Denkens  ab- 
leiten lassen,  verneint  er  (164  f.). 

Einen  tief  in  logische  Fragen  (Theorie  des  Urteilst  hineinführenden 
dritten  Abschnitt  übergehe  ich  und  wende  mich  dem  „Problem  des  letzten 
Gesetzes"  zu.  Giebt  es  ein  solches  letztes  Prinzip  des  Weltzusammen- 
hanges? Wir  wissen  es  nicht,  antwortet  der  Verf.,  wir  können  aber 
sagen,  dass  über  die  conditio  sine  qua  non  eines  solchen  Gesetzes  —  das 
völlige  Ausgeschlossensein  des  Zufalles  aus  der  Welt  —  die  Empirie 
entscheiden  wird.  Dieser  Zufall  brauchte  durchaus  nicht  ein  solcher  im 
indeterministischen  Sinne  zu  sein.  Es  würde  genügen,  dass  ein  Wirkens- 
zusammenshang  nur  einmal  vorkommt,  um  uns  an  der  Aufstellung  eines 
ihn  begreiflich  machenden  Gesetzes  zu  hindern.  (Es  hätte  hier  nahe 
gelegen,  an  einige  Spekulationen  Simmeis  zu  erinnern.)  Ob  ireilich 
ein  solcher  singülärer  Wirkenszusammenhang  unserer  Erfahrung  bisher 
begegnet  ist,  möchte  ich  freilich  bezweifeln.  Historiker  sind  hier  mit  dem 
Argument  zur  Hand,  es  gebe  nur  einen  Napoleon  oder  dgl.  Damit  ist 
natürlich  nichts  bewiesen,  solange  nicht  gezeigt  wird,  dass  sich  das  Seelen- 
leben Napoleons  nicht  als  ein  Gebilde  begreifen  lässt,  dessen  Elemente 
sich  auch  anderswo  finden. 

„Gesetze  des  seelischen  Lebens  und  Gesetze  des  Zweckes"  nennt 
sich  das  vierte  und  letzte  Kapitel  von  Janssens  Schrift.  Das  zuletzt 
angeschlagene  Thema  wird  vorerst  weiter  ausgesponnen,  indem  Fragen 
der  historischen  Methodologie  behandelt  werden.  Es  geschieht  dies  im 
engsten  Anschluss  an  Rickert.  Während  noch  S.  115  bemerkt  worden 
war,  dass  .,eine  Komplikation  immer  zahlreicher[er]  Gesetzesbegnffe  den 
Umfang  des  Gemeingültigen  bis  zu  dem  äussersten  Falle  eines  Einzel- 
prozesses zu  restringieren  vermag",  wird  hier  —  im  Gegensatz  zu  des 
Ref.  eben  ausgesprochener  Ansicht  gesagt:  „Nie  würden  wir  auch  durch 
stetigste  Determination  der  Gesetzesbegriffe  zu  den  Individuen  gelangen, 
wie  sie  uns  mal  gegenwärtig  sind."  Nun  ist  es  ja  zweifellos,  dass  die 
begriffliche  Determination  die  ,.reale  Gegenwart"  des  Gegenstandes  m  der 
Anschauung  nicht  zu  ersetzen'  vermag.  Aber  giebt  etwa  eine  noch  so 
lebhaft  geschriebene  historische  Darstellung  eine  Anschauung  und  ist 


520  Rezensionen  (Switalski). 

nicht  auch  sie  ein  durch  Kombination  von  Begriffen  dürftig  hergestelltes 
Surrogat  ? 

Im  übrigen  finden  sich  hier  gute  Bemerkungen  zur  Frage  der  psy- 
chologischen Gesetze.  Die  Forderung,  jedes  Gesetz,  und  insbesondere 
jedes  Kausalgesetz,  müsse  quantitativ  ausdrückbar  sein,  lehnt  der  Autor 
ab  (229).  Die  Einwirkung  des  Psj'chischen  auf  Physisches  enthält  —  auch 
wenn  sie  nicht  quantitativ  ausdrückbar  ist  —  keinerlei  erkenntuistheore- 
tische  Schwierigkeiten  (234).  Das  Problem  der  psychophysischen  Wechsel- 
wirkung wird  im  folgenden  Abschnitt  („Die  erkenntnistheoretische  Posi- 
tion des  Willens")  mit  besonderer  Rücksichtnahme  auf  den  Willen  als  ur- 
sächlichen Faktor  untersucht.  J.  erörtert  besonders  die  Stellung  des 
Problems  in  einer  Theorie,  welche  die  Geschlossenheit  der  physischen 
Kausalgesetzlichkeit  behauptet  und  die  psychischen  Elemente  nur  als 
„Nebeneffekt''  gelten  lässt.  Für  eine  solche  Auffassung  muss  natürlich  die 
Kausalität  des  Willens  eine  scheinbare  werden  und  J.  versucht  in 
diesem  Sinne  S.  240  eine  ziemlich  komplizierte  (und  unwahrscheinliche) 
Hypothese.  Es  genüge  der  Hinweis  auf  diese  sehr  subtilen  Erörterungen, 
die  in  die  Freiheitsfrage  hineinführen.  Den  Schluss  des  Buches  bildet 
eine  Auseinandersetzung  mit  Stam  mlers  Auffassung  der  sozialen  Ge- 
setze und  ihrer  teleologischen  Struktur. 

Prag.  Hugo   Bergmann. 

Switalski,  W.,  Prof.  Dr.  Der  Wahrheitsbegriff  des 
Pragmatismus  nach  William  James.  Eine  erkenntniskritische 
Studie.  Braunsberg  (Ostpreussen),  Benders  Buchhandlung,  Hans  Grimme, 
1910.    (58  S.) 

Wie  engumgrenzt  ist  im  letzten  Grunde  doch  die  Gruppe  von  Pro- 
blemen, die  innerhalb  der  Jahrtausende  umfassenden  philosophischen  Dis- 
kussion hervorgetreten  sind  und  immer  wieder  hervortreten.  Um  sie 
herzuzählen,  genügen  beinahe  die  Finger  Einer  Hand.  Und  weder  die 
Widersprüche,  die  gegen  jegliche  ihrer  Lösungsangebote  laut  geworden  sind, 
noch  die  Eroberung  neuer  Wissensgebiete,  noch  der  Wechsel  und  die 
Entwickelung  der  intellektuellen  Interessen  haben  zu  einer  Abschwächung 
und  Minderung  in  dem  Bemühen  um  jene  Grundfragen  geführt. 

Aus  ihrer  Mitte  erhebt  sich,  als  ihr  Mittelpunkt,  das  Urproblem  der 
Wahrheit.  Wie  oft  hat  schon  die  philosophische  Forschung  in  das  un- 
ergründliche Antlitz  dieser  Sphinx  geblickt  und  trotz  aller  Misserfolge 
und  aller  Ratlosigkeit  Hoffnung  und  Glauben  nicht  verloren,  doch  noch 
eines  Tages  die  geheimnisvollen  Züge  entziffern  zu  können.  Alle  Richt- 
ungen menschlicher  Geistesarbeit  treten  mit  Antworten  vor  uns  hin,  von 
der  Mystik  und  naiver  Frömmigkeit  an,  für  die  im  Mythos  und  Symbol 
die  Lösung  des  grossen  Rätsels  anklingt,  bis  zu  dem  strengen  Rationalis- 
mus der  „reinen"  Logik  und  dem  plattesten  Utilitarismus,  der  in  dem 
Streben  nach  Wahrheit  nur  einen  Ausdruck  des  rein  mechanisch  sich  be- 
tätigenden, in  nüchtern  vitalen  Interessen  aufgehenden  Instinktes  und 
Triebwillens  erblickt.  Und  gerade  die  Gegenwart,  die  ja  überhaupt  ein 
so  starkes  Anwachsen  der  philosophischen  Arbeit  zeigt,  hat  eine  ganze 
Reihe  von  Versuchen  zu  einer  neuen  erkenntnistheoretischen  Grundlegung 
erstehen  sehen,  und  auf  die  Frage,  was  Wahrheit  sei,  und  auf  welchem 
Wege  ihre  methodische  Bestimmung  erreichbar  wäre,  melden  sich  Ver- 
treter der  verschiedensten  Standpunkte  zu  Worte. 

Als  Führer  einer  jüngsten  Bewegung  entwickelt  Henry  Bergson  in 
ausserordentlich  feinsinnigen  und  von  hohem  künstlerischen  Empfinden 
geleiteten  Analysen  das  Erlebnis  der  Intuition  als  Begründungsmoment 
des  Wissens.  Hat  diese  Auffassung  eben  erst  den  Kampf  aufgenommen, 
um  sich  Existenzrecht  und  Anerkennung  zu  erobern,  und  begegnet  man 
in  der  Literatur  vorerst  nur  einzelnen  und  einsamen  Worten  des  Für  und 
Wider,  so  steht  der  Pragmatismus  oder  Instrumentalismus, 
der  in  England  und  Amerika  seine  Heimat  hat,  im  Mittelpunkte  eines 
lebhaft   geführten   Meinungsaustausches.     Zahlreich   sind  seine  Anhänger, 


Rezensionen  (Switalski).  521 

nicht  minder  zahlreich  seine  Gegner:  er  kann  sich  nicht  beklagen,  dass 
man  sich  mit  ihm  nicht  beschäftige.  Der  Philosophen-Kongress  in  Heidel- 
berg 1908  stand  vielfach  unter  dem  Zeichen  des  Pragmatismus. 

Was  man  auch  immer  gegen  ihn  vorbringen  mag,  so  muss  man  das  Eine 
doch  anerkennen,  dass  er  in  die  erkenntnistheoretischen  Untersuchungen 
neue  Gesichtspunkte  und  also  neue  Anregungen  hineinzutragen  versucht. 
Dadurch  aber  zwingt  er  die  Kreise,  die  ihn  ablehnen,  zu  einer  schärferen 
und  gediegeneren  Begründung  ihrer  eigenen  Stellung.  Jener  neue  Ge- 
sichtspunkt brsteht  in  der  Anwendung  der  entwickelungsgeschichtlich- 
voluntaristischen  Biologie  auf  das  Problem  der  Erkenntnis.  Und  der 
ganze  Streit  spitzt  sich  am  letzten  Ende  zu  der  Frage  zu,  ob  die  Ent- 
wickelungslehre  in  sich  die  Kriterien  biete,  um  jenes  Problem  zu  ent- 
scheiden, oder  ob  nicht  die  Erkenntnis  ihre  Grundlegung  in  einer  ihr 
ganz  eigentümlichen  Theorie  besitze. 

Das  hier  angezeigte  Schriftchen  will  nun  die  Erkenntnistheorie  des 
Pragmatismus  nicht  in  ihrer  ganzen  Breite  entwickeln  und  prüfen.  Mit 
treffendem  Griff  wird  vielmehr  das  Grund-  und  Kardinalproblem  der 
theoretischen  Philosophie,  die  Frage  nach  dem  Begriff  der  Wahrheit,  ans 
Licht  gestellt.  Denn  hält  die  in  diesem  Einen  Punkte  dargebotene  Ent- 
scheidung der  Kritik  Stand,  dann  ist  die  ganze  Theorie  gerettet  und  ge- 
rechtfertigt, mögen  in  einzelnen  Punkten  auch  Bedenken  auftreten. 
Leistet  die  biologische  Methode  —  und  in  der  Geltung  und  Berechtigung 
der  Methode  liegt  immer  des  Pudels  Kern  —  was  der  Pragmatismus  von 
ihr  verspricht,  dann  muss  man  diesem  unumwunden  den  Ruhm  zuschreiben, 
endlich,  endlich  die  Hilfsmittel  entdeckt  zu  haben,  um  der  alten  Vexier- 
frage nach  dem  Wesen  der  Wahrheit  erfolgreich  entgegentreten  zu 
können. 

Switalskis  Arbeit  baut  sich  in  drei  Teilen  auf.  Zuerst  eine  knapp 
und  rein  äusserlich  gehaltene  geschichtliche  Einführung  mit  wertvollem 
Literarischem  Apparat,  der  sowohl  die  Schriften  der  Anhänger  als  der 
Gegner  verzeichnet  (S.  5 — 12).  Ihm  hätte  vielleicht  noch  Windelbands 
hervorragende,  kritisch  ablehnende  Rede:  „Der  Wille  zur  Wahrheit"  (19' 9) 
zugefügt  werden  können.  Dann  folgt  als  zweiter  Teil  eine  vornehmlich 
an  James  als  dem  erfolgreichsten  und  auch  gewandtesten  Verfechter  des 
Pragmatismus  sich  anschliessende  Darstellung  und  Beleuchtung  des  Gegen- 
standes (S.  13—36).  Den  Schluss  bildet  die  Kritik  und  Ablehnung  der 
neuen  Wissenschaftslehre  (S.  36—58). 

Der  Hauptwert  der  Broschüre  liegt  in  dem  zweiten  Abschnitt.  So- 
wohl die  Entwickelung  nnd  Aufrollung  der  Frage,  als  auch  deren  kri- 
tische Interpretation  sind  von  mustergiltiger  Klarheit  und  Bestimmtheit. 
Darum  wirkt  dieser  Abschnitt  auch  ausserordentlich  instruktiv.  Wie 
häufig  bekommt  man  doch  sonst  verschwommene  und  viel  zu  sehr  in  all- 
gemeinen Redensarten  verbleibende  Berichte  zu  lesen.  Unser  Verfasser 
dagegen  entwickelt  die  Frage,  ferner  die  Ansatzpunkte,  Voraussetzungen 
und  Gesichtspunkte  zu  ihrer  Behandlung  und  die  Eigenart  der  Lösung 
in  scharfen  Formulierungen.  So  gewinnt  jeder  Satz  bei  ihm  volle  Deut- 
lichkeit und  didaktischen  Wert.  Die  aus  James  beigebrachten  Zitate  sind 
treffend  und  aufklärend.  Indem  aber  im  Wesentlichen  nur  die  amerika- 
nische Form  des  Pragmatismus  behandelt  wird,  bleiben  die  allgemeinen 
philosophischen  Grundlagen,  aus  denen  die  ganze  Theorie  erwächst,  sowohl 
was  ihre  methodischen  Prinzipien  als  auch  was  die  Technik  des  Aufbaues 
anlangt,  etwas  im  Dunkel.  Sonst  hätten  wir  wohl  einen  Hinweis  auf 
Herbert  Spencer  erhalten.  Denn  dessen  biologisch-soziologische  Be- 
gründung des  Erkennens  bedeutet  den  umfassendsten  Versuch,  den  Darwi- 
nismus für  die  Förderung  unserer  Einsicht  in  das  Wesen  des  Erkennens 
fruchtbar  zu  machen.  Nebenher  sei  hier  noch  angemerkt,  dass  auch 
Nietzsche  auf  bestimmten  Stufen  seiner  Entwickelung  den  Wahrheitswert 
der  Axiome  und  Begriffe  von  dem  Nutzen  und  der  Kulturförderung,  die 
sie  ermöglichen  und  zu  der  sie  beisteuern,  abhängig  machte.    „Das  Wohl 


522  Rezensionen  (Switalski). 

der  Menschheit   muss   der   Grenzgesichtspunkt   im  Bereich  der  Forschung 
nach  Wahrheit  sein"  (vgl.  R.  Richter,  Nietzsche  S.  163). 

In  rein  theoretischer  Hinsicht  stellt  der  Pragmatismus,  wie  der 
Verfasser  mit  vollem  Recht  bemerkt,  eine  Absage  an  den  extremen  Ra- 
tionalismus und  Intellektualismus  im  Hegeischen  Sinne  dar,  wie  er  noch 
heutzutage  auf  den  alten  englischen  Universitäten  herrscht.  Die  Fremd- 
heit und  Kälte  dieses  Standpunktes  dem  Leben  gegenüber,  das  er  durch 
seine  apriorischen  Konstruktionen  zu  gängeln  und  zu  vergewaltigen  sucht, 
sein  Unvermögen,  die  grenzenlose  Fülle  und  Variabilität  der  wirklichen 
Beziehungen  und  der  wirkenden  Bewegungen  des  Lebens  durch  die  ab- 
strakten Formeln  und  allzuweiten  Netze  seiner  Dialektik  zu  fassen  und 
zu  fangen,  das  sind  die  Punkte,  die  der  Pragmatismus  der  Begriffsphilo- 
sophie in  erster  Linie  zum  Vorwurf  macht.  Er  dagegen  stellt  sich  mitten 
hinein  in  die  Flut  des  Lebens,  um  so  das  Leben  zu  begreifen.  Und  da 
nun  die  Wissenschaft  selbst  ein  Erzeugnis  des  Lebens  ist  und  in  dessen 
Dienst  steht,  so  sind  auch  die  Gesichtspunkte  für  die  Erkenntnis  der 
Wissenschaft  aus  den  praktisch-zweckmässigen  Wollungen  und  aus  den 
biologischen  Gesetzen,  die  das  Leben  beherrschen,  zu  entnehmen.  So 
erscheinen  alle  Begriffe  und  Urteile  als  biologische  Anpassungserschein- 
ungen, alle  Theorien  als  „Werkzeuge",  deren  Beibehaltung  und  Anerkennung 
auf  ihrer  Tauglichkeit  beruht,  „alte  Tatsachen  zusammenzufassen  und 
zu  neuen  hinzuführen",  wie  James  sagt  (nach  Switalski  S.  18).  So  gilt 
es,  bei  aller  Erkenntnis  zunächst  zu  fragen :  „Zu  welchen  praktischen 
Folgen  führt  sie?  Welches  ist  ihr  tatsächlicher  Wert  für  die  persönliche 
Lebensgestaltung?"  (nach  Switalski  S.  17).  Da  es  sich  aber  an  dieser 
Stelle  nicht  um  eine  Besprechung  des  Pragmatismus  handelt,  so  mögen 
diese  Andeutungen  über  sein  Wesen  genügen.  Besonders  interessant  sind 
auch  Switalskis  Angaben  über  die  evolutionistische  Ableitung  der  Kate- 
gorien (S.  29  ff.). 

Gegen  die  pragmatische  Theorie  wird  nun  in  dem  3.  Teil  eine  zwie- 
fache Kritik  vorgebracht,  eine  vortreffliche  logische  und  eine  von  einem 
metaphysischen  Standpunkt  aus  erfolgende.  Erstens  wird  ihr  mit  gutem 
Grunde  entgegengehalten,  dass  sie  nicht  zwischen  dem  Urteils  erlebnis 
und  dem  Sinn  oder  der  Bedeutung  des  Urteils,  d.  h.  seinem  wissen- 
schaftlichen Geltungswert  unterscheide.  Als  Erlebnis  ist  das  Urteil  aller- 
dings in  den  zeitlichen  Fluss  unseres  Seelenlebens  dynamisch  verflochten 
(S.  39).  Es  nimmt  Teil  an  dem  Schicksal  und  an  den  Veränderungen, 
denen  alles  Psychische  unterliegt.  Und  es  gehört  unleugbar  zum  Haus- 
halt des  Lebens  und  der  Natur  als  ein  diesen  dienstbares  Glied.  Insofern 
kann  man  dem  Pragmatismus  nicht  widersprechen.  „Es  lässt  sich  nicht 
leugnen",  dass  die  Behauptung,  nur  die  Urteile  seien  wertvoll,  die  uns 
zu  einem  zweckmässigen  Handeln  verhelfen,  „eine  bedeutsame  Wahrheit 
enthält".  „Bereits  Aristoteles  weist  darauf  hin,  dass  die  Ausbildung  der 
Fertigkeit,  im  praktischen  Leben  sich  zurechtzufinden,  im  Menschheits- 
leben das  Erste  gewesen  ist"  (S.  37  f.).  Aber,  und  das  eben  unterliegt 
nachdrücklichem  Bedenken,  „ob  der  Nutzen,  die  Rücksicht  auf  das  Handeln 
und  Leben  im  weitesten  Sinne  die  ganze  Bedeutung  der  Erkenntnis  aus- 
macht" (S.  39)?  „Der  Nutzen  ist  ein  unzureichend  bestimmtes  und  darum 
unzulängliches  Kriterium  der  Wahrheit"  (S.  54).  Der  Pragmatismus  drückt, 
so  wird  man  auch  sagen  können,  den  Begriff  der  Wahrheit,  unkundig 
ihrer  ideell-normativen  Geltung,  zu  einer  Sanitätsvorschrift  herab.  Was 
Switalski  von  diesem  Gesichtspunkt  aus,  oft  unter  Berufung  auf 
Husserls  grundlegende  und  bahnbrechende  ,Logische  Untersuchungen', 
am  Pragmatismus  bemängelt,  trifft  m.  E.  durchaus  den  Kern  der  Sache. 
Es  handelt  sich  bei  der  Erkenntnis  der  Urteilsorganisation  „überhaupt  nicht 
um  eine  psychologische,  sondern  um  eine  logische  Frage,  nicht 
um  den  Ursprung,  sondern  um  den  Geltungsgrund  der  Urteile.  Aber 
darum  eben  muss  betont  werden,  dass  die  psychogenetische  Er- 
klärung  unter   keinen  Umständen   den   logischen  Wert  der  Kategorien 


Rezensionen  (Switalski).  523 

uns   verständlich   machen    kann.    Entstehen   und   vererbt   werden  —  falls 
eine   seelische  Vererbung   überhaupt   nachweisbar   ist    —    kann   wohl   das 
Wissen  um  die  Kategorien,  —  ihre  Geltung   ist   aber   auch   dort  vor- 
ausgesetzt,   wo   man  einen  Denkakt  vollzieht,   ohne  sich  seiner  Tragweite 
ijewusst   zu   sein"    (S.  53).     Es   ist  ja  der  alte,  alte  Grundfehler  der  eng- 
lischen   Logik,    inhaltliche   und    genetisch   begründete   Elemente   des   Be- 
wusstseins,  die  im  Laufe  der  Entwickelung  kommen,   sich  unter  dem  Ein- 
fluss    individueller    Erfahrungen    und  Umstände    umbilden    und    sich    mit 
anderen    ebenso    individuell    bestimmten  Elementen   zu   höchst   variablen 
Ketten  verschlingen,  zu  Kriterien  der  Geltung  machen  zu  wollen.    Seitdem 
dieser  Relativismus  zuerst   von  der  antiken  Sophistik  proklamiert  worden  ist, 
sind  die  Bemühungen,  an  seine  Stelle  eine  „reine"  Logik  zu  setzen,  deren 
Bestimmungen    „absolute"    und   ideelle   Bedeutung   tragen,    nicht   einge- 
schlafen.   Der   bedeutendste   systematische  Versuch   der  Gegenwart,   eine 
solche   Logik   zu   entwickeln,   liegt,   wie  Switalski  richtig  hervorhebt,   in 
Husserls  Werk  vor.    Aber  dabei  bleibt  er  nun  nicht  stehen.   Er  unternimmt 
es   vielmehr,   für   diese   transscendentallogische   Grundlegung  —  und  dass 
es   sich   bei    Husserl   um   eine   solche   handelt,   hat  Natorp   bei   einer  Be- 
sprechung jenes  Werkes   vortrefflich   gezeigt  —  noch  ein  tieferes  Funda- 
ment  aufzugraben.     Und   dies   ist   der  Punkt,  an  dem  ich  mich  von  dem 
verehrten  Verfasser  und  seiner  schönen  Arbeit  scheide.    Es  erscheint  mir 
nämlich  unmöglich,   die  Theorie   des  Wissens  in  der  aristotelisch-scholasti- 
sclien  Metaphysik  und  Ontologie  zu  verankern,  um  von  hier  aus  eine  end- 
giltige  Widerlegung  jeder  relativistisch-evolutionistischen  Logik  ins  Werk 
setzen   zu   können.     „Unter   ,absoluter'  Wahrheit,"    sagt   Switalski,    „ver- 
stehen  wir   das  Reich  idealer  Verhältnisse,   das  als  Grundschema   für  alle 
Wirklichkeit   fungiert,    es   ist  die   Ideenwelt   Piatos   als   Konzeption   des 
götthchen  Geistes  gedacht"  (S.  44).     „Die   scholastische   ,adafcquatio  intel- 
lectus   cum   re'    bedeutet   nicht   eine   Angleichung   an    ein  unerreichbares 
Ding,  sondern  die  immer  genauere  Angleichung  der  Erkenntnis  an  all  die 
Daten,  die  von  uns  in  den  unmittelbaren  Erlebnissen  vorgefundeu  werden" 
(S.  45  f.).     Von   diesen   unmittelbaren  Erlebnissen   aus   will  der  Verfasser 
allmählich   zu   den    „Gegenständen   der   extramentalen  Wirklichkeit"  auf- 
steigen (S.  46)   und   so    den  „Koinzidenzpunkt   von  Denken  und  Sein"  er- 
fassen (S.  57).     Aber   all   dieses   Erfassen  extramentaler  Gegenstände  und 
alle  Vergegenständlichung  und  Prüfung  des  „Seins"  wird  ja  doch  von  dem 
erkennenden  Bewusstsein  vollzogen,  das  auf  keine  Weise  zu  einem  Extra- 
mentalen  hinausgelangen   kann.     Was   das  Bewusstsein    erkennt,   ist  und 
bleibt  ein  Mentales.    Die  Durchfahrt,  wie  Fechner  gern  sagt  und  die  auch 
er   durchführen   zu   können   meinte,  die  Durchfahrt  zum  „Wirklichen"  ist 
an   die   einschränkenden   Bestimmungen   gebunden,   wie   sie  der  kritische 
Phänomenalismus  Kants  entwickelt.     Wie  es  um  die  Dinge  der  transscen- 
denten   Welt  bestellt   sein   mag,    kündet   uns   keine    Wissenschaft.     Jene 
Metaphysik  kann  nicht  die  letzte  Instanz  für  die  Kritik,  in  unserem  Falle: 
für   die   gegen    den   Piagmatismus   gerichtete,   bilden.      Bedarf   sie   doch 
selbst    der   kritischen   Rechtfertigung   und    Begründung.     Und  Gang  und 
Ausgang    des    richterlichen    Verfahrens   gegen    sie    sind  für  alle  Zeiten  in 
den  Blättern  der  Vernunftkritik  gebucht.    Nicht  das  System  der  scholasti- 
schen Metaphysik   mit   seinen  Konstruktionen  einer  transscendenten  Welt, 
sondern    die  Gesichtspunkte    der   transscendentalen,    an    dem    Begriff   des 
Systems    der    Wissenschaft    orientierten    Logik,    welche    die    idealen   und, 
wenn    man  so  will,  immanenten  Beziehungen  in  jenem  System  und    deren 
konstruktive    Gegenseitigkeit    entdeckt,    mit    einem   Worte :    der    Begriff 
des  transscendentalen   Apriori,   wie  ihn   gerade  die  Marburger  Schule  mit 
ihrer   grossartigen   Entdeckung    ans   Licht   zu   stellen    und   mit   vollstem 
Recht   zur   Anerkennung   zu   bringen   sucht,  bietet  das  Kriterium  für  die 
Bestimmung   von  Wesen   und  Wert   des   Pragmatismus.     Trotz   der   neu- 
anhebenden Verteidigung  und  apologetischen  Behandlung,   die   der  aristo- 
telisch-scholastischen  Erkenntnislehre   zu   Teil   werden,  trotz  ihres  neuer- 


524  Rezensionen  (Montgomery). 

liehen  Ausgespieltwerdens  gegen  Kant  ruhen  doch  im  Kritizismus  allein 
die  Grundlagen  jeder  wissenschaftlichen  Philosophie  und  die  Momente  für 
die  Prüfung  entgegenstehender  Theorien.  So  wenig  als  der  Pragmatismus, 
so  wenig  vermag  auch  Aristoteles  das  Problem  der  Wahrheit  zu  lösen. 
Dort  zerflattert  der  methodische  Begriff  der  Wahrheit  in  den  logisch 
garnicht  eindeutig  fassbaren,  unendlich  fliessenden  Gedanken  des  prak- 
tischen Nutzens.  Und  um  von  diesem  Gedanken  überhaupt  reden  und  auf 
ihn  eine  Theorie  stützen  zu  können,  muss  ja  schon  die  Geltung  der 
logischen  Grundgesetze  vorausgesetzt  werden.  Hier,  bei  Aristoteles,  ent- 
flattert jener  Begriff  in  das  Reich  des  Unfassbaren. 

Berlin.  Arthur  Liebert. 

Montgomery,  Edmund.  Philosophical  Problems  in  the 
light  of  vital  Organisation.  G.  P.  Putnams  Sons,  New- York  and 
London  (W.  C,  24  Bedford  Street,  Strand)  1907.    (446  S.) 

Der  Autor  hat  in  Deutschland  (wo  er  unter  Helmholtz  studiert  hat) 
mit  einer  Schrift  debütiert,  die  in  ihrem  Untertitel  schon  die  Richtung 
auf  eine  „physiologische  Naturauffassung"  andeutete:  „Die  Kantische  Er- 
kenntnislehre widerlegt  vom  Standpunkt  der  Empirie"  (München  1871), 
und  seitdem  hat  er  eine  lange  Reihe  mehr  oder  minder  philosophischer 
oder  biologischer  Aufsätze  zumeist  in  amerikanischen  Zeitschriften  ver- 
öffentlicht. Nun  giebt  er  eine  einheitliche  und  wohlgerundete  Zusammen- 
fassung seiner  Gedanken,  da  eine  vierzigjährige  Forschertätigkeit  ihn  in 
seinen  Grundanschauungen  nur  bestärkt  hat.  Mit  gutem  Recht  weist  er 
darauf  hin,  dass  die  antimechanische  Auffassung  der  Lebenssvorgänge,  mit 
der  er  lange  allein  gestanden  habe,  nun  im  Neovitalisraus  immer  stärkere 
Anerkennung  finde.  Dagegen  darf  er  für  die  Philosophie,  die  er  auf  dieser 
biologischen  Grundlage  entwickelt,  kaum  den  Ruhm  wirklicher  Originali- 
tät in  Anspruch  nehmen.  Seit  Spencer  (den  M.  mit  Unrecht  fast  ignoriert) 
sind  Versuche,  in  der  Betrachtung  des  Bewusstseins  als  Lebensprozess  das 
grundlegende  Prinzip  der  Realität  zu  finden,  mehrfach  gemacht  worden. 
Die  Schwierigkeiten  der  idealistischen  wie  der  materialistischen  Weltan- 
schauung lösen  sich  ihm  in  folgender  Grundanschauung:  „Es  giebt  in 
Wirklichkeit  nur  einen  einheitlichen  Kosmos,  der  aus  zusammenhängenden, 
kraftbegabten,  ausserbewussten  Wesenheiten  (entities)  besteht.  Von  diesem 
Kosmos  bildet  das  ausserbewusste  Organisch-Individuelle  einen  hochent- 
wickelten itegrierenden  Bestandteil,  und  sein  alles  erfassender  bewusster 
Inhalt  ist  hier  auf  Erden  das  höchste  Produkt  vitaler  Wechselwirkung  mit 
der  Aussenwelt"  (S.  135). 

Der  zuerst  zu  bekämpfende  Gegner  ist  demnach  der  Phänomenalis- 
mus; um  zu  zeigen,  dass  er  notwendig  zum  Nihilismus  und  Solipsismus 
führe,  lässt  M.  sich  kaum  an  dem  mephistophelischen:  „Du  musst  es  drei- 
mal sagen I"  genügen.  Verworfen  wird  auch  jede  spiritualistische  Meta- 
physik wie  der  Dualismus  Descartesscher  Prägung:  das  Geistige  ist  eine 
Funktion  der  organischen  Substanz,  die  eben  darum  nicht  als  ein  bloss 
mechanisches  Aggregat,  sondern  als  vitale,  teleologische  Einheit  aufgefasst 
werden  muss.  Der  Kampf  gegen  die  mechanische  Weltauffassung  ist  des- 
halb die  Hauptaufgabe  des  zweiten  Teiles.  Im  einzelnen  sei  erwähnt  die 
Polemik  gegen  das  Gesetz  der  Erhaltung  der  Energie  (bei  der  Ablehnung 
spricht  etwas  die  Opposition  gegen  R.  Mayers  „Mechanismus"  mit;  der 
entscheidende  Punkt  scheint  mir  nicht  getroffen,  dazu  müsste  man  auch 
statt  der  populären  Darstellung  eine  etwas  mathematisch-strengere  Dis- 
kussion fordern);  die  Ablehnung  des  kausalen  Determinismus;  der  James- 
Langeschen  Gefühlstheorie  (S.  316  ff.);  des  psychophysischen  Parallelismus 
(S.  324  ff.);  endlich  die  Betonung  der  „ektodermischen"  vor  der  „ento- 
dermischen"  Betrachtungsweise  (S.  314  und  424  ff.) :  die  organischen  Be- 
dürfnisse und  Triebe  sind  dienstbar  der  Erhaltung  des  Lebens  des  Indi- 
viduums in  seinen  Beziehungen  zur  Umwelt,  wie  sie  sich  organisch  in  der 
„ektodermen"   sensori-motorischen   Struktur  darstellen,   und   es  ist  falsch, 


Rezensionen  (v.  Schulze-Gävernitz— Goldschmidt).  525 

die  letzteren  Funktionen  der  Befriedigung  der  Triebe  etc.  unterzuordnen 
(wie  es  der  Biologe  Bichat  und  der  ethische  Hedonist  Schopenhauer  tun). 

Der  Darstellung  merkt  man  die  Herkunft  aus  einzelnen  Stücken 
noch  an;  um  diese  in  Amerika  beliebte  Publikationsweise  als  Vorzug  er- 
scheinen zu  lassen,  muss  man  schon  ein  W.  James  sein.  Zumal  die  philo- 
sophiegeschichtlichen Orientierungen  über  die  einzelnen  Probleme  sind 
nicht  eben  aufschlussreich.  Man  kann  das  Historische  zum  Würzen  und 
zum  Wässern  benutzen ;  hier  ist  die  Suppe  ziemlich  breit  geraten.  Um 
den  Phänomenalismus  und  Rationalismus  erfolgreich  zu  bekämpfen,  bedarf 
es  heute  schärferer  Waffen,  als  sie  der  Biologismus  sans  phrase  zu  bieten 
hat.    Dies  Buch  ist  mehr  eine  Truppenschau  als  eine  Feldschlacht. 

Bonn  a.  Rh.  Fritz  Ohmann. 

V.  Schulze-Gävernitz.  G.  Marx  oder  Kant?  Rede,  gehalten  bei 
der  öffentlichen  Feier  der  Übergabe  des  Prorektorats.  2.  unveränderte 
Auflage.    Freiburg  i.  Br.  und  Leipzig,  Speyer  &  Kärner,  1909.    (63  S.) 

Die  Frage  des  Titels  ist  programmatisch.  •  Der  für  den  modernen 
Sozialismus  charakteristischen  Losung:  „Zurück  zu  Kant!"  reiht  sich  der 
Ruf  des  Verfassers  an :  „Für  die  im  Sozialismus  wirkenden  Ideen  und 
gegen  ihre  jetzigen  falsch  orientierten  Ausprägungen ;  nicht  Marx,  sondern 
Kant." 

Um  Marx  zu  widerlegen,  werden  die  Grundpfeiler  seiner  Lehre  ge- 
prüft, als  welche  sozialrevolutionärer  Wertnihilismus,  materialistische 
Geschichtsauffassung,  Mebrwertlehre  und  politischer  Sozialismus  erkannt 
werden.  Das  Ergebnis  der  Kritik  ist :  in  der  philosophischen  Grundlegung 
fehlt  die  Kategorie  des  Wertes  und  damit  auch  der  Idee  im  kritischen 
Sinne  als  der  ewigen  Aufgabe;  daher  der  Monismus,  die  zur  Untätigkeit 
verdammende  Geschichtsauffassung  und  die  ohne  wissenschaftliche  Ethik 
gegründete  Politik.  Die  Waffen  zur  Widerlegung  von  Marx  liefert  vor- 
nehmlich Rickert  mit  seinem  Wertbegriff  und  Windelbands  Scheidung 
der  nomothetischen  Naturwissenschaft  und  der  idiographischen  Geschichts- 
wissenschaften. In  seiner  klaren  Beweisführung  bietet  Verfasser  viel  be- 
merkenswerte Argumente  und  vor  allem  auch  eine  erquickende  Leiden- 
schaftlichkeit, namentlich  bei  seinen  Ausführungen  über  die  Idee. 

Deshalb  muss  man  bedauern,  dass  gerade  der  Angelpunkt,  der  Be- 
griff des  Wertes,  den  Angriff  herausfordert.  Das  Sollen  über  dem  Sein, 
den  Wert  über  der  Natur  anzuerkennen,  so  wird  ausgeführt,  sei  Sache 
nicht  des  Beweises,  sondern  des  Entschlusses,  nicht  Sache  des  Wissens, 
sondern  des  Gewissens.  Damit  jedoch  wird  unter  Verkennung  von  Kants 
Lehre  das  Sollen  entweder  wieder  dem  deskriptiven  Sein  gleichgesetzt, 
oder  dem  Masstab  eines  subjektiven  Gutdünkens  überliefert.  Die  Ethik, 
die  begründet  werden  soll,  wird  also  in  Wahrheit  preisgegeben.  Und  ge- 
rade Kants  Begründung  der  Ethik  ist  es,  die  eine  wissenschaftliche  Ver- 
tiefung des  Sozialismus  anbahnen  lässt;  seine  Staats-  und  geschichtsphilo- 
sophischen  Anschauungen,  die  sonst  vorwiegend  berücksichtigt  werden, 
kommen  erst  in  zweiter  Linie  in  Betracht. 

Marburg.  M.   Salomon. 

Goldschmidt,  Lndwig,  Prof.  Dr.  Zur  Wiedererweckung 
Kantischer  Lehre.  Kritische  Aufsätze.  Gotha  1910.  Verlag  von 
F.  A.  Perthes,    (289  S.) 

Der  Verfasser  hat  unter  dem  genannten  Titel  eine  grössere  Reihe 
meist  früher  veröffentlichter  Aufsätze  gesammelt  und  herausgegeben.  Die 
Arbeiten  sind  verschiedenartigen  Inhalts,  wie  einige  Überschriften  an- 
deuten mögen:  „Kant  und  unsere  Zeit".  „Georg  Samuel  Albert  Mellin". 
„Wie  die  Mathematik  im  19.  Jahrhundert  die  Metaphysik  entdeckte". 
„Der  Raum".  „Monismus  und  Naturgesetz  von  Ernst  Haeckel".  „Die 
causa  sui  bei  Spinoza".  „Der  junge  Goethe  über  die  Freiheit"  u.  a.  m. 
Dennoch   sind   diese   Aufsätze   durch   die   Einheit  ihres  Zwecks   und   die 


526  Rezensionen  (Goldschmidt). 

philosophische  Gesinnung,  die  sich  in  ihnen  ausspricht,  innerlichst  ver- 
bunden und  zusammengehalten.  —  Ihr  Zweck  ist  in  dem  Titelbegriffe 
enthalten  und  ausgedrückt;  die  philosophische  Gesinnung,  der  diese  Ar- 
beiten entsprungen  sind,  ist  das  klare  und  begründete  Bekenntnis  zu  Kant 
und  seiner  Lehre. 

„Wider  vielfache  an  meinen  Schriften  geübte  Scheinkritik  behaupte 
ich  auf  Grund  strenger  Prüfung,  dass  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  eine 
vollkommen  wahre,  von  jedem  vernunftbegabten,  zu  solch  abstrakten 
Untersuchungen  angt^leiteten  Menschen  ohne  Beeinflussung  durch  Autorität 
einzusehende  Lehre  enthält,  die  weder  bisher  widerlegt,  noch  jemals  durch 
Widerlegung  umzustossen  ist"  —  das  ist  die  gedankliche  Stimmung,  in 
der  Goldschmidt  überall  seine  Aufgabe  anfasst.  —  Man  wird  die  Schärfe 
des  Ausdruckes  nicht  länger  besonderlich  finden,  wenn  man  erkannt  hat, 
wie  der  Autor  Kant  interpretiert. 

Er  bezeichnet  mit  Sicherheit  den  Stützpunkt  der  Kantischen  Kritik 
und  ihr  nächstes  Ziel:  „Was  ist  ihm  doch  der  Beweisgrund  für  alle  aprio- 
rischen Grundsätze  synthetischer  Natur?  Die  Möglichkeit  der  Erfahrung 
und  das  heisst  nichts  anderes,  als  die  Möglichkeit  einer  gesetzmässigen 
Physik.  Wer  aber  hierin  einen  Beweisgrund  sieht,  der  will  nicht  die 
Physik  beweisen,  sondern  durch  ihre  Existenz  andere,  dem  Zweifel  unter- 
liegende Erkenntnisse  schützen  und  werten." 

Das  sind  allerdings  Leitgedanken  Kantischer  Philosophie  und  Me- 
thode und  ebendeshalb,  weil  sie  eine  Methode  der  Philosophie  bezeichnen, 
sind  sie  „vollkommen  wahr,  weder  bisher  widerlegt,  noch  jemals  durch 
Widerlegung  umzustossen".  An  dieser  Einsicht  muss  sich  auch  heute 
systematische  Philosophie  orientieren:  „Wer  die  Tatsache  der  Mathematik 
und  die  Existenz  einer  im  beständigen  Fortschritt  sich  entwickelnden 
und  nicht  wie  die  frühere  Metaphysik  in  einer  Kreisdrehung  verharrenden 
Naturwissenschaft  nicht  zugeben  kann,  der  mag  auf  Kant  und  alle  Philo- 
sophie verzichten."  — 

Das  entschlossene  Eintreten  für  die  Lehre  Kants  muss  unberechtigte 
Kritik  dieser  Lehre  mit  Nachdruck  abweisen.  So  wird  die  Arbeit  Gold- 
schmidts zum  grossen  Teil  Polemik.  In  den  Aufsätzen  „Kants  Voraus- 
setzungen und  Prof  Dr.  Fr.  Paulsen",  „Kant-Orthodoxie  und  kritische 
Freidenker",  „die  „Wurzel"  der  „vierfachen  Wurzel"  des  Satzes  vom 
Grunde",  „Wie  Schopenhauer  Kant  zitiert"  —  u.  a.  m.  hält  Goldschmidt 
mit  alten  und  neuen  Gegnern  der  Kr.  d.  r.  V.  Abrechnung.  Man  kann 
seinen  Korrekturen  ihre  sachliche  Berechtigung  nicht  absprechen;  die 
Unzulänglichkeit  Schopenhauers,  wie  unter  den  Neueren  Paulsens,  gegen- 
über den  Problemen  der  Vernunftkritik  wird  wohl  heute  allgemein  zu- 
gestanden. — 

Auch  in  den  anderen  Schriften  zeigt  sich  Goldschmidt  von  streit- 
barer Natur.  Nicht  immer  zum  Nutzen  einer  möglichen  Diskussion  und 
Verständigung,  da  der  polemische  Stil  dazu  verleitet,  aus  Einzelheiten 
einer  abweichenden  Meinung  oder  Lehre  ein  absprechendes  Allgemein- 
nrteil  zu  folgern,  das  den  Verfasser  sofort  ins  Unrecht  setzt.  Trotzdem 
wird  man  diese  Schriften  mit  Nutzen  lesen,  da  der  Verf.  dort,  wo  die 
Sache  selbst  zu  Worte  kommt,  die  Polemik  durch  die  lehrhafte  Darstellung 
zu  stützen  und  zu  ergänzen  weiss. 

Ausser  den  Aufsätzen,  welche  sich  direkt  auf  Kant  beziehen,  finden 
sich  in  dieser  Sammlung  einige  kleinere  Arbeiten  über  die  Beziehungen 
Schillers  und  Goethes  zu  Kantischer  Philosophie.  Diese  Aufsätze  zeigen 
ein  intimes  Verständnis  der  Zusammenhänge  zwischen  unserer  klassischen 
Litteratur  und  Philosophie.  An  einzelnen  Beispielen  wird  die  Durch- 
dringung der  dichterischen  Werke  mit  den  philosophischen  Gedanken- 
gängen aufgezeigt  — ,  ein  Zusammenhang,  in  dem  das  vertiefte  Kultur- 
bewusstsein  unserer  beiden  grossen  Dichter  seinen  Quell  und  Ur- 
sprung hatte. 

Hamburg.  Dr.  Johannes  Paulsen. 


Rezensionen  (Braun).  527 

Brann,  Otto,  Dr.  pliil.  Schellings  geistige  Wandlungen 
in  den  Jahren  1800-1810.     Quelle  &  Meyer,  Leipzig  1906. 

Ce  sont,  peut-etre,  les  limites  meraes  que  M.  Braun  a  su  donner  k 
son  6tude  qui  en  fönt  le  principal  int^ret.  Ne  se  proposaut,  en  effet,  que 
de  mettre  en  ^vidence  la  suite  des  idöes  par  lesquelles  son  auteur  a  passe, 
il  n'a  pas  eu,  comme  l'historien,  qui  veut  donner  de  l'ecrivain  qu'il  Studie 
une  image  complfete,  ä  tenir  compte  de  la  masse  respective  des  niatöriaux. 
Or,  pour  Schellmg,  c'est,  de  beaucoup,  la  p6riode  de  jeunesse  qui  a  6t6  \a 
plus  feconde :  par  suite,  dans  une  exposition  trop  scrupuleuse,  la  quantite 
des  documents  et  des  id^es  de  detail,  qui  se  rapportent  aux  premieres 
fonnes  de  sa  pensäe,  masque  Timportance  des  id^es  ultärieures  On  est 
alors  port6  ä  ne  voir  dans  Schelling  que  le  philosophe  de  l'ideutittS,  le 
präeurseur  et  le  maitre  de  Hegel,  avec  l'enseignement  duquel  sa  philosophie 
ne  parait  plus  que  faire  double  emploi.  On  sait  bien  que  cette  preraiere 
Philosophie,  ä  laquelle  son  second  prophfete  a  donne  pendant  longtemps 
en  Allemagne  une  si  grande  autoritö,  Schelling  l'avait,  pour  scn  propre 
compte,  depassee  et  meme  formellement  combattue,  dans  la  derniere 
Periode  de  son  activite  philosophique.  Mais  si  les  documents  de  cette 
toute  derniere  philosophie  ont  une  iniportance  materielle  assez  considerable, 
la  periode  interm^diaire,  par  laquelle  se  fait  I'ävolution,  ne  präsente  qu'un 
nombre  d'äcrits  relativement  restreints  en  quantitä  et  en  dimensions;  et, 
forcement,  dans,  une  etude  complfete  de  l'auteur,  par  un  effet  d'optique 
naturel,  cette  periode  intermädiaire.  oü  Schelling  commence  ä  räpudier  le 
panlogisrae  et  prepare  ces  hardiesses  de  la  periode  dermiere,  qui  surprirent 
le  public  berlinois  de  1841,  perd,  par  l'effet  de  la  disproportion  rnatärielle 
des  döveloppements  donnäs,  une  grande  partie  de  sa  signification.  Le 
plan  adoptä  par  M.  Braun,  par  lequel  il  s'allege,  non  seulement  des  ouv- 
rages  des  premiers  däbuts,  oü  Schelling  n'est  que  le  disciple  de  Fichte, 
mais  encore  de  tout  le  bagage,  interessant,  pourtant,  pour  les  specialistes, 
de  la  Philosophie  de  la  nature  et  des  considerations  finales  de  la  periode 
de  la  theosophie,  lui  permet  de  donner  leur  väritable  valeur  aux  diverses 
ätapes  de  la  pensee  de  l'auteur  ätudid,  abstraction  faite  de  toute  considä- 
ration  de  l'abondance  plus  on  moins  grande,  suivant  les  circonstances,  de 
la  production  materielle,  qui  signale  ces  äpoques  successives. 

Aprfes  une  courte  Introduction,  dans  laquelle  l'auteur  räclame  pour 
l'histoire  et  surtout  pour  l'histoire  de  la  philosophie,  le  droit  de  ne  pas 
s'en  tenir  ä  une  reconstruction  objective  et  achromatique  da  passe  mort 
(ce  qui,  comme  l'indique  Nietsche,  ne  ferail  qu'erabarrasser  le  moment 
präsent  et  vivant)  mais  de  dägager  de  l'individuel  „sur  lequel  l'histoire 
ecrit,,  ce  qui  est  „plus  que  temporel,,  ce  qui  est  un  document  sur  l'homme 
äternel  —  il  en  arrive  k  l'ätude  proprtment  dite  qui  comportera  quatre 
grandes  divisions:  P)  L'äpoque  de  l'idäalisme  esthätique;  2°)  Leneo-spino- 
zisme ;  3°;  Le  passage  de  la  conception  esthätique  du  monde  k  la  conception 
äthique;  4°j  La  conception  ethique  du  monde  dans  la  doctrine  de  la 
libertä : 

Et  voici  la  th^se  gänärale,  k  notre  avis,  tres  juste,  qui  va  circuler  k 
travers  ces  quatre  grandes  divissions. 

La  päriode  du  däveloppement  personnel  de  Schelling,  qui  s'ouvre 
avec  ridealisme  transcendental,  est  une  räaction  contre  Fichte  par  la 
Substitution  ä  la  these  de  l'effort  morai  indäfini  —  que  räclamait  la  phi- 
losophie de  ce  thäoricien  de  Tirreductibilite  du  monde  thäorique  au  monde 
pratique  —  de  la  thhse  opposäe  de  la  räconciliation  de  ces  deux-mondes 
dans  la  production  artistique  et  de  l'apaisement  moral  que  cette  räcon- 
ciliation  autorise.     Et  non-seulement   la  production  artistique  humaine  est 

fage  de  la  possibilite  d'une  teile  reconciliation,  mais  (comme  cette  pro- 
uction  artistique  humaine  n'est  que  la  forme  la  plus  haute  de  la  produc- 
tion dans  la  nature)  eile  est  revälatrice  de  ce  fait  que  cette  räconciliation 
possible  est  (pour  qui  sait  voir  la  nature  d'un  cell  impartial)  la  loi  gänärale 
de  l'univers  —  que  la  beautä.  eipression  de  la  bont6  est  le  fait  gän^ral  — 


528  Rezensionen  (Braun). 

que  le  monde  est,  au  fond  beau  et  bon,  —  sans  que  l'homme  ait  ä  colla- 
borer  ä,  son  oeuvre  autrement  que  pour  la  savourer,  en  prenant  conscience 
de  ses  tendances  essentielles  dans  des  cr^ations,  qui  ne  sont  que  le  pro- 
longement  de  sa  spontan^it^  et  la  r^velation  ä  l'esprit,  en  tant  que  formes 
ultiraes  de  cette  spontanöitö,  de  sa  veritable  nature.  —  En  d'autres  termes, 
la  premifere  pöriode  du  d^veloppement  personnel  de  Schelling  est  un  cri 
d'optimisme  et  de  confiance  en  la  vie  et  le  monde;  et  cet  optimisrae 
trouve  son  expression  dans  la  conception  fouciferement  esth^tique  de  l'uni- 
vers  et  de  toute  r(5alit6. 

Le  neo-spinozisme  ne  fait  qu'elargir  ce  point  de  vue.  C'est  la 
raison  irapersonnelle  qui  apparalt  comme  l'universel  artiste  dont  il  n'y  a 
lieu  que  de  comprendre  l'oeuve  pour  Fadrairer;  tout  est  bien  pour  qui  sait 
coniprendre ;  le  mal  n'est  qu'une  apparence  qui  tient  ä  la  limitation  du 
champ  de  vision ;  la  vertu  elle-meme  ne  doit  pas  comporter  la  lutte 
(thöorie  de  la  belle  äme) ;  eile  n'est  chez  l'etre  intelligent  que  la  conscience 
de  l'harmonie  fondamentale  et  de  son  harmonie  propre  avec  le  reste  de 
l'univeis. 

Mais  voici  que,  en  1803,  des  doutes  prösent^s  par  un  disciple,  Eschen- 
mayer, et  la  publication  par  celui-ci  de  l'ouvrage  intitul6  „La  Philosophie 
dans  son  passage  k  la  Non-Philosophie"  ^branlent  cette  belle  confiance. 
Depuis  lors,  un  courant  d'idöes,  contraire  au  preraier,  prend  naissance 
dans  la  pensee  du  philosophe.  il  s'y  etablit,  d'abord,  sourdenient  et  laisse, 
pendant  un  certain  temps  encore,  pr^dominer  k  la  surface  une  circulation 
de  notions  conformes  ä  l'orientation  primitive.  Mais  l'impulsion  donn^e 
fait  son  CBuvre:  pendant  le  troisieme  piriode,  malgre  les  lösistances  natu- 
relles d'habitudes  intellectuelles  qui  ne  cädent  point  sans  lutte,  une  direc- 
tion  de  pens^es,  absolument  difförente  de  la  premifere,  se  constitue  peu 
ä  peu ;  —  et,  dans  la  quatri^me  periode.  an  point  de  vue  optimiste,  qui 
ne  demandait  que  la  compröhension  joyeuse  de  l'univers,  succede  une 
conception  nettement  pessiiniste,  röclamant  un  effort  conscient  et  continu 
de  la  volonte  humaine  contre  l'invasion  perpetuelle  du  mal,  une  coUabo- 
ration  dnergique  du  bon  vouloir  au  maintien  d'un  ordre  moral  perpetu- 
ellement  en  p^ril,  une  lutte  de  l'individu  de  bonne  volonte  contre  lui 
m§me  et  contre  les  choses. 

Jamals,  pour  qui  sait  comprendre  l'histoire  d'une  äme,  ne  s'est 
operöe  transformation  plus  radicale  que  celle  dont  la  pensee  philosophique 
de  Schelling  nous  offre  le  spectacle,  en  nous  faisant  passer  de  la  periode 
confiante,  et  par  lä  meme,  si  heureusement  productive  de  la  preraifere 
jeunesse,  ä'la  periode  anxieuse  de  la  maturitö.  Mais  (c'est  l'avis  de  l'auteur 
et  c'est  aussi  le  notrej,  de  quelque  ddsenchantement  qu'elle  s'accompagne, 
la  transformation  est  salubre.  L'optimisme  naif  6tait  creux  et  fade. 
L'oeuvre  de  la  vie,  dans  la  conception  finale,  prend  une  signification  plus 
interessante  et  manifestement,  plus  vraie.  Le  grand  phüosophe  a  öprouvö, 
avec  une  energie  peu  commune,  les  deux  etats  extremes  de  l'absolue  con- 
fiance en  la  bontö  du  monde  donn6  et  de  l'absolue  d^fiance  ä  l'ögard  de 
ce  meme  monde,  de  cette  meme  nature  premifere,  dont  il  avait  c616bre, 
dans  sa  premiere  jeunesse,  la  fonciere  harmonie.  Le  monde  n'est  par  bon 
en  soi;  il  n'est  bon  que  si  nous  le  faisous  tel,  en  nous  et  par  nous. 
Schelling  est,  k  notre  avis,  bien  plus  complet  que  H^gel.  Mieux  que 
Hegel,  dont  la  mort  relativement  prematuree  a,  d'ailleurs,  peut-dtre 
empech^  l'(5volution  complete,  il  a  port^  dans  son  äme  l'äme  du  sifecle  oü 
il  a  vecu,  de  celui  qui,  en  Allemagne  surtout,  a  döbut^  par  une  sorte  de 
retour  ä  la  confiance  hellenique  en  la  boutö  naturelle  de  la  cr6ation  pour 
se  terminer  par  le  pessimisme  de  Schopenhauer  et  de  Hartmann  et  par 
une  protestation  de  la  conscience  Interieure  (dont  le  sens  est  pour  M.  B. 
la  caracteristique  de  l'esprit  germanique)  contre  le  jeu  naturel  de  la 
röalite  brutale. 

Cette  conscience  de  la  n^cessitö  de  r^agir  contre  les  Clements  de 
d^sharmonie   morale  et  de  souffrance,    que  contient  le  monde  r^el,   ne   va 


Rezensionen  (Braun).  529 

pas  Sans  celle  de  la  n^cessitö  de  se  concentrer  pour  agir,  pour  faire  une 
OBUvre  effective  et  pröcise  et  dviter  de  se  perdre  dans  les  nuages;  —  et 
c'est  pourquoi  le  sentiment  pessimiste  de  ce  qui  est,  l'acceptation  d'un 
devoir  de  reforme  et  d'amelioration  s'accompagne  naturellement  d'une 
glorification  de  cette  personnalitö  que  le  pur  rationalisme  optimiste  tend 
au  contraire,  ä  laisser  dans  l'ombre.  M.  B.  montre  nettement  comment 
le  sentiment  de  progrfes  ä  r^aliser,  ou  naeme  d'un  ordre,  par  essence  fragile, 
ä  maintenir,  comment,  par  suite,  un  certain  pessimisme,  ä  l'ögard  de  ce 
qui  est,  est  la  conditionde  la  pleine  notion  du  devoir  moral,  et  comment 
de  cette  pleine  notion  du  devoir  individuel  resulte  naturellement  une  mise 
au  premier  plan  de  la  notion  d'effort  volontaire  et,  par  voie  de  consd- 
quence,  de  la  bonne  volonte  individuelle,  de  la  personnalite.  Voilä  pour- 
quoi aussi  nous  voyons,  chez  le  grand  philosophe  Studio  et  dans  le  siecle 
qu'il  incarne,  l'^volution  de  la  notion  de  ce  röle  de  la  personnalite,  qui 
envisagee,  d'abord,  sous  son  aspect  n^gatif,  comme  un  obstacle  ä  la  fusion 
de  toutes  les  raisons  les  unes  dans  les  autres  et  dans  une  raison  univer- 
selle —  finit  par  apparaitre  comme  l'instrument  n6cessaire  du  maintien  et 
de  la  propagation  du  regne  de  cette  raison,  comme  le  v^hicule  indispensable 
de  cette  rationalitd,  ä  laquelle  d'abord  eile  semblait  contraire,  mais  qui, 
depourvue  de  realitö  par  elle-meme  et  n'ayant  proprement  que  la  valeur 
d'un  ideal,  ne  peut  se  maintenir  et  progresser  que  par  le  continuel  effort 
de  la  bonne  volonte,  expression  de  la  personnalite,  qui,  seule,  peut  la 
faire  durer  et  prospörer  dans  le  domaine  du  temps. 

Cette  pensde  g6r\6ra\e  de  l'ouvrage  de  M.  B.  etant  une  fois  mise  en 
lumiere,  il  y  aurait  intär^t  ä  suivre  dans  la  detail  la  s6vie  dee  indicatious 
fermes  et  nettes  par  lesquelles  il  caract^rise,  d'abord,  l'^volution  par  la- 
quelle la  pensee  allemande,  dans  les  derni^res  annöes  du  IS"  sifecle,  pense 
se  ddrober  au  relativisme  de  Kant  en  se  debarrassent  de  la  „chose  en  soi" 
„conception  sans  laquelle  on  ne  peut  entrer  dans  la  doctrine  de  Kant  et 
avec  laquelle  on  ne  s'y  peut  maintenir"  et  en  dtablissant  l'autonoraie 
d'esprits  paralleles  destineesäse  röconcilier  dans  un  esprit  des  esprits,  — 
puis  l'opposition  de  Schelling  ä  Fichte  qui,  comme  on  le  sait,  commence  k 
se  dessiner,  sans  etre  pleinement  avouee,  dans  la  p^riode  de  l'idealisme 
esthetique :  car,  le  moralisme  du  maitre  ne  laissant  k  la  nature  qu'un  rOle 
de  moyen  et  la  röduisant  k  un  sch^matisme  ä6co\oT6,  une  röaction  toute 
naturelle  amfene  le  disciple  ä  vouloir  complöter  la  doctrine  antörieurement 
expos^e  par  une  philosophie  propre  de  la  nature  et  par  une  considöration 
esthetique  de  l'univers.  L'opposition  des  deux  philosophies  preud  nette- 
ment conscience  d'elle-meme  dans  la  p^riode  du  neo-spinozisme  .  .  .  Mais 
cette  analyse  du  detail  d'un  ouvrage  qui  ne  contient  pourtant  qu'un  petit 
nombre  de  pages  nous  entralnerait  bien  vite  au-delä,  des  bornes  d'une 
modeste  r^cension.!) 

i)  Table  des  matiferes:  Indroduction. 

I)  L'dpoque  de  l'idealisme  esthetique. 

l")  La  speculation  post-Kantienne.   Schelling  se  söpare  de  Fichte. 

2^*)  Importance  de  l'art  chez  Schelling. 

30)  Traits  genäraux  de  la  conception  du  monde. 

4°)  Les  problfemes  ethiques  particuliers  (.11  s'y  trouve  une  analyse 
vraiment  ferme  des  diverses  conceptions  de  la  liberte  dans 
cette  premifere  pöriode  du  d^veloppement  de  Schelling). 

II)  Le  neo-spinozisme. 
1°)  Le  changement  de  la  conception  du  monde. 
2°)  Les  probl^mes  ethiques  particuliers. 

a)  La  belle  äme. 

b)  Moralite  et  intellect  (II  est  heureusement  tird  parti  dans 
ce  paragraphe  des  cel^bres  „Le^ons  sur  la  Methode  dans 
les  Etudes  Academiques"  dont  M.  ß.  a,  d'ailleurs,  donne 
recemment  un  edition  particulifere.  Leipzig  Automne  1906). 


530  Kezensionen  (Braun). 

Nous  nous  contenterons  de  revenir,  en  terminant,  sur  l'indication 
par  laquelle  nous  avous  döbute;  le  principal  merite  de  ce  travail  est 
d'avoir  r^legu^  ä  sa  vraie  place  dans  l'oeuvre  de  Schelline:  et  cela,  en 
depit  de  la  masse  bien  plus  consid^rable  de  documents  qui  la  distingue, 
la  premifere  philosophie  de  notre  auteur,  ce  panlogisme,  dont  les  d^tails 
out  bien  leur  interet,  mais  dont  l'esprit  general  ne  saurait  suffire  k  con- 
tenter toutes  les  aspirations  de  l'äme  humaine,  par  suite  ne  saurait  suffire 
ä  fonder  une  philosophie  definitive,  et  dont,  d'ailleurs,  Hegel  a,  depius 
longtemps,  tirl,  pour  TAlleniagne  et  la  pensee  philosophique  en  g^n^ral, 
les  principaux  fruits.  —  Par  lä  il  a  pu  mieux  mettre  en  sa  vraie  Turniere 
la  seconde  philosophie  de  notre  auteur,  et  montrer  comment  cette  philo- 
sophie est  encore  toute  d'actualitö,  comment  eile  correspond  encoie  aux 
instincts  de  l'äme  moderne,  comment,  en  definitive,  eile  a  peu  vieilli.  — 
Schopenhauer,  Hartmann  ont  successivement  avoue  qu'il  y  avait  encore 
d'importants  emprunts  ä  faire  ä  cette  seconde  philosophie  de  Schelling. 
Le  philosophe  de  Munich  a.  en  quelque  sorte,  porte,  de  son  vivant,  la 
peine  de  la  richesse  de  son  temperament  philosophique.  Aprfes  s'etre 
assimiie  la  splendide  abondance  des  d^tails  de  la  premifere  philosophie.  le 
lecteur  avait  peine  ä  croire  que  l'esprit  qui  avait  mis  au  jour  cette  riebe 
moisson  d'id^es,  eut  encore  ete  capable  d'une  autre  serie  de  productions 
aussi  importantes  et  radicalement  difförentes.  Maintenant  que  l'^volution 
des  temps  a  rejete  au  rang  des  philosophies  qui  appartiennent  ä  l'histoire 
ce  panlogisme  qui  fut  une  ^tape  utile  de  la  pensee  humaine,  mais  qui,  de 
prime  abord,  masque  la  philosophie  definitive  de  notre  auteur,  ce  ne  serait 
peut-etre  pas,  autant  qu'on  pourrait  le  croire,  un  anachronisme  que  de 
revenir  sur  cette  seconde  philosophie  que,  meme  en  AUemagne,  l'orien- 
tation  contraire  de  la  pensee  publique  a  empeche  de  pleinement  com- 
prendre  et  de  veritablement  mettre  k  profit.  —  M.  B.  par  cette  esquisse, 
dans  laquelle  il  n'a  pas  accuse  les  traits  d'apres  le  bagage  matöriel  laissö, 
mais  d'apres  la  valeur  v^ritable  que  ces  traits  doivent  prendre  dans  une 
image  exacte  du  philosophe  etudie,  aura  peut-etre  contribue  k  faire  saisir 
l'importance  de  cette  seconde  philosophie  assez  nögligee,  de  Schelling  et 
le  parti  que  les  temps  modernes  peuvent  tirer  de  conceptions  qui,  com- 
plfetement  opposöes  k  celles  du  panlogisme,  en  sont  par  lä  meme  k  notre 
avis  le  contrepoids  et  le  nöcessaire  compiement. 

Grenoble.  Leon   Sautreaux, 

Agrdgd  de  l'universitö  de  France. 


c)  Personnalite. 

d)  Vues    particuliferes    sur   l'art.      L'intuition    intellectuelle 
L'histoire. 

III)  Le  passage  de  la  conception  esthetique  k  la  conception  ethique  du  monde. 
10)  Generalites. 
2^)  La  conception  de  la  question  ethique  dans  le  detail. 

.    IV)  La  conception  ethique  du  monde  dans  la  doctrine  de  la  liberte. 
r^J  Le  changement  fondamental  dans  la  conception  du  monde. 
2")  Les  problfemes  particuliers. 

Conclusion:   Indication  du  devaloppement  ulterieur. 


Selbstanzeigen  (Häberlin — Wernicke).  531 

Selbstanzeigen. 


Häberlin,  Paul,  Dr.,  Privatdozent.  Wissenschaft  und  Philosophie. 
Ihr  Wesen  und  ihr  Verhältnis.  I.  Bd.  Wissenschaft.  Basel  1910,  Kober,  C.  F. 
Spittlers  Nachfolger.    (360  S.) 

Das  Buch  behandelt  ein  Problem,  das  zwar  in  erster  Linie  ein  persön- 
liches Problem  des  Verfassers  gewesen  ist,  das  aber  doch  wohl  auch  Anderen 
zu  schaffen  macht.  Sehnsucht  nach  umfassender  und  harmonischer  Weltan- 
schauung und  Verehrung  für  die  grossen  Meister  der  Philosophie  einerseits  — 
und  andererseits  Offenheit  für  die  Kritik,  mit  der  Psychologie  und  Erkenntnis- 
wissenschaft, Naturwissenschaft  und  Geschichte  jene  Sehnsucht  und  Verehrung 
zu  ersticken  drohen :  daraus  entsteht  das  Problem.  Es  verdichtet  sich  wohl  zu 
der  Frage:  Welchen  Sinn  und  welche  Bedeutung  kann  Philosophie  heute  noch 
haben ;  —  hat  sie  überhaupt  noch  Sinn  und  Bedeutung? 

Viele  der  Heutigen  bestreiten  ihr  Existenzrecht.  Sie  tun  es  im  Namen 
der  Wissenschaft,  und  sie  sind  der  Meinung,  dass  jede  irgendwie  sinnvolle 
Aufgabe  der  sogenannten  Philosophie  heute  von  der  Wissenschaft  übernommen 
und  durch  sie  allein  erfüllbar  sei.  Wer  aber  Philosophie  noch  gelten  lässt,  tut 
es  ebenfalls  im  Namen  der  Wissenschaft,  —  so  zwar,  dass  er  Philosophie  selber 
als  Wissenschaft  erklärt  und  ihr  eine  Sonderstellung  neben  oder  über  den  an- 
erkannten Einzelwissenschaften  zuspricht.  Aus  diesen  Gründen  verfangt  die 
Lösung  unseres  Problems  in  erster  Linie  die  Beantwortung  der  Frage  nach  dem 
Verhältnis  von  Wissenschaft  und  Philosophie,  und  diese  Beantwortung  ist 
wiederum  nicht  möglich  ohne  Untersuchung  des  ,. Wesens"  beider,  d.  h.  ihrer 
Stellung  innerhalb  des  Erfebens.  —  Diese  Fragen,  aus  deren  Lösung  sich  die 
Lösung  des  Hauptproblems  leicht  ergiebt,  bilden  den  Gegenstand  des  Buches. 

Der  I.  Band  beschäftigt  sich  nach  einer  das  Problem  entwickelnden  Ein- 
leitung ausschliesslich  mit  der  Wissenschaft.  Der  1.  Abschnitt  schildert  in  den 
wesentlichen  Punkten  das  Zustandekommen  wissenschaftlichen  Erkennens  und 
seine  Stellung  innerhalb  des  übrigen  Erlebens.  Er  ist  grundlegend  für  das 
Folgende.  —  Der  2.  Abschnitt  sucht  in  Kürze  die  Beziehungen  der  Einzel- 
wissenschaften untereinander  und  zur  Wissenschaft  als  ganzer  klarzustellen. 
Von  besonderer  Bedeutung  scheint  mir  die  Einsicht  in  das  Verhältnis  zwischen 
Naturwissenschaft  und  Psychologie  zu  sein.  —  Der  3.  Abschnitt  enthält  eine  in 
sich  zusammenhängende  Untersuchung  über  wissenschaftliche  Gesetze,  Be- 
dingung und  Folge,  Kausalität  und  Teleologie,  Erklärung  und  einige  andere 
Grundbegriffe  der  Wissenschaft, 

Ich  habe  mich  jeder  Auseinandersetzung  mit  der  Literatur  enthalten,  um 
das  Buch,  das  von  allen  Gebildeten  verstanden  werden  möchte,  nicht  zu  be- 
schweren. Die  Fachleute  werden  meine  Ausführungen  mit  denjenigen  Anderer, 
auch  mit  Kants  grundlegenden  Ideen,  schon  von  sich  aus  kritisch  ver- 
gleichen. — 

Der  II.  Band,  der  1911  erscheinen  soll,  wird  mit  der  Untersuchung  über 
das  Wesen  der  Philosophie  die  Lösung  der  gestellten  Fragen  bringen. 

Basel.  Paul  Häberlin. 

Wernicke,  Alexander.  Die  Begründung  des  deutschen  Idea- 
lismus durch  Immanuel  Kant.  Ein  Beitrag  zum  Verständnisse  des  gemein- 
samen Wirkens  von  Goethe  und  Schiller.    Braunschweig  1910.     (XII  u.  77  S.) 

Der  Verfasser  versucht  hier  seine  Arbeiten  über  Kant  in  gemeinverständ- 
licher Form  zusammenzufassen,  um  dabei  erneut  darauf  hinzuweisen,  dass  Kant, 
Goethe  und  Schiller  seit  den  Briefen  „Über  die  ästhetische  Erziehung  des 
Menschen"  wirklich  in  gemeinsamer  Kulturarbeit  für  ihr  deutsches  Volk  zu- 
sammenstehen. Die  Arbeit  gliedert  sich  folgendermassen  :  1.  Die  Weltanschauung 
des  deutschen  Idealismus.  2.  Leibniz  und  Kant.  3.  Die  Zwei,  Welten  "Lehre 
Kants.  4.  Die  Geometrie  als  Lehrmeisterin  und  die  allgemeine  Wissenschaft 
von  der  Sinnenwelt  (Theorie    des  Gegenständlichen).    5.  Die  Tatsache  der  Frei- 

KaotitudiSB  XY.  34 


532  Selbstanzeigen  (Katzer — Keyserling). 

heit  und  die  religiös-ethische  Weltanschauung.  6.  Der  Abschluss  des  Kantischen 
Systems  und  seine  Bedeutung. 

Das  Werkchen  ist  dem  Lehrkörper  des  Herzogl.  Wilhelm-Gymnasiums  zu 
Braunschweig  gewidmet,  dem  der  Verfasser  vormals  angehörte,  und  zwar  ge- 
legentlich des  25jährigen  Bestehens  der  Anstalt. 

Braunschweig.  Alex.  Wernicke. 

Katzer,  Ernst,  Dr.  theol.  und  phil.,  Kirchenrat.  Luther  und  Kant. 
Ein  Beitrag  zur  inneren  Entwickelungsgeschichte  des  deutschen  Protestantismus. 
Giessen,  Verlag  von  Alfred  Töpelmann.     (126  S.) 

Allgemeines  Ringen  nach  einer  klaren,  in  sich  zusammenstimmenden 
Weltanschauung  ist  ein  unverkennbares  Zeichen  der  Zeit.  Es  bewegt  alle 
Schichten  der  Gesellschaft.  Das  Verlangen  danach  kann  gestillt  werden  durch 
zwei  Männer  verwandten  Geistes,  die  dem  deutschen  Volke  vor  Jahrhunderten 
bereits  geschenkt  worden  sind.  Sie  heissen  Luther  und  Kant.  Ihre  Grund- 
gedanken zu  vergleichen  und  verstehen  zu  lehren,  ist  der  Zweck  des  obenge- 
nannten Buches,  das  allen  Gebildeten  einen  Dienst  leisten  möchte.  Es  will 
dartun,  dass  allein  der  moralisch-religiöse  Determinismus  im  Stande  ist,  zu 
einer  befriedigenden  Lebensanschauung  zu  führen.  Luther  und  Kant  haben  ihn, 
jeder  nach  seiner  Art,  vertreten.  Luther  lehrt  ihn  hauptsächlich  in  seiner 
Schrift  „vom  unfreien  Willen",  Kant  in  seinem  ganzen  System.  Die  Lehre  von 
der  menschlichen  Freiheit  bildet  demgemäss  den  Mittelpunkt  in  dem  Denken 
beider  Männer.  Sie  betrifft  die  tiefste  Frage  des  menschlichen  Daseins,  das 
Hauptproblem  des  gesamten  Denkens  und  Handelns.  Alle  anderen  Fragen 
empfangen  von  ihr  aus  das  rechte  Licht.  Um  hiervon  zu  überzeugen,  war  es 
notwendig,  neben  Luthers  Weltbetrachtungsweise  Kants  philosophisches  System 
so  kurz  und  verständlich  als  möglich  darzustellen  und  den  Versuch  zu  machen, 
die  Klagen  über  die  Schwierigkeit  in  Kants  Gedankengange  einzugehen,  nach 
Kräften  zu  beseitigen.  Luther  und  Kant,  beide  reformatorische  Geister,  können 
dem  „Suchen  der  Zeit"  den  sichersten  Weg  zum  Finden  zeigen.  Ihr  gemein- 
sames Werk  ist  unsterblich.  Auf  ihm  ruht  der  deutsche  Protestantismus  und 
mit  ihm  eine  gesunde  religiöse  Weltanschauung  überhaupt.  Das  denke  ich 
durch  die  vorliegende  Schrift  begründet  zu  haben. 

Oberlössnitz-Dresden.  D.  Katzer. 

Keyserling,  Hermann,  Graf.  Prolegomena  zur  Naturphiloso- 
phie.   München  1910,  J.  F.  Lehmanns  Verlag. 

Inhalt:  Vorrede.  —  Der  kritische  Gesichtspunkt.  —  Vernunft  und  Welt- 
ordnung. —  Die  Erkenntniskritik  als  Zweig  der  Biologie.  —  Naturgesetze  und 
Naturerscheinungen.  —  Das  Leben.  —  Vom  Ideal  des  philosophischen  Denkens. 

In  diesem  Werke,  das  aus  Vorlesungen  entstanden  ist,  die  ich  im  Herbste 
1907  an  der  Freien  Hochschule  zu  Hamburg  abhielt,  wird  der  Versuch  unter- 
nommen, zu  einem  abschliessenden  Begriffe  der  Natur  zu  gelangen,  festzustellen, 
ob  alles  Wirkliche  in  diesem  aufgeht  und,  falls  solches  nicht  der  Fall  sein 
sollte,  den  Charakter  der  für  die  Naturwissenschaft  transscendenten  Wirklichkeit 
genau  zu  bestimmen.  Es  erweist  sich  die  methodische  Möglichkeit,  über  den 
Kantischen  Naturbegriff,  der  an  sich  selbst  jeder  Kritik  standhält,  insofern  hinaus- 
zugehen, als  das  System  der  Erkenntnisformen,  welches  für  Kant  die  letzte  In- 
stanz bedeutet,  seinerseits  im  Gesamtzusammenhange  des  Wirklichen  betrachtet 
werden  kann,  und  diese  Möglichkeit  lässt  die  positive  Beantwortung  einer  Reihe 
von  Fragen  zu,  über  welche  Kant  von  seinem  Standpunkte  aus  nicht  hat  ent- 
scheiden können.  So  die  Fragen  des  Sinnes  der  Erkenntnis,  dass  uns  nur 
Erscheinungen  gegeben  sind,  von  den  Erkenntnisformen  bedingt  und  gestaltet, 
des  Verhältnisses  der  Denknormen  zur  objektiven  Ordnung  der  Dinge,  der  ab- 
soluten Bedeutung  dessen,  dass  wir  die  Natur  nur  nach  Gesetzen  begreifen 
können,  die  unbedingt  zu  gelten  scheinen  und  doch  der  Selbsttätigkeit  des 
Subjektes  ihr  Dasein  verdanken.  Ja  es  erweist  sich  zuletzt  die  Möglichkeit, 
die  idealistische  Weltansicht  als  solche  —  bisher  die  letzte  Instanz  jeder  kri- 
tischen Philosophie  —  dem  Sinne  nach  zu  begreifen  und  darzutun,  dass  diese 
nicht   die    ganze  Wirklichkeit,    sondern    nur   den  Ausschnitt   derselben  umfasst, 


Selbstanzeigen  (Neumark),  533 

welche  für  den  Menschen  als  seine  Umwelt  (im  biologischen  Sinne)  in  Betracht 
kommt.  Ist  nun  ein  „Ausschnitt"  als  solcher  bestimmt,  so  ist  es  offenbar  mög- 
lich, über  das  .Negativ"  desselben  gleichfalls  Bestimmtes  auszusagen.  Durch 
eindringliche  Untersuchungen  wird  festgestellt,  welche  transscendenten  Probleme 
wir  als  gegenständlich  gelten  lassen  müssen,  und  welche  für  die  Wissenschaft 
fortfallen.  Es  fallen  alle  fort  bis  auf  eines :  das  Leben.  Das  Leben  als  auto- 
nomes Prinzip,  als  schöpferische  Spontaneität,  liegt  jenseits  des  Rahmens  mög- 
licher Naturwissenschaft,  es  ist  zugleich  das,  was  alle  Wissenschaft  nicht  umhin 
kann,  vorauszusetzen,  und  endlich  das,  was  alle  Metaphysiker,  von  Heraklit 
über  Hegel  bis  Bergson,  recht  eigentlich  gemeint  haben,  gleichviel  mit 
welchen  Begriffen  sie  ihre  unmittelbaren  Einsichten  verknüpften.  So  gelange 
ich  zum  Schluss  zu  einem  Begriff  der  Metaphysik,  der  manches  deutlich  machen 
dürfte,  was  bisher  nur  undeutlich  gefühlt  wurde.  Am  Ende  des  Werkes  habe 
ich  eine  methodische  Untersuchung  darüber  angestellt,  wie  philosophiert  werden 
muss,  wenn  das  Ergebnis  des  Denkens  echte  Erkenntnis  bedeuten  soll. 
Rayküll  (Estland).  Hermann  Graf  Keyserling. 

Nenmark,  David,  Dr.,  Professor  der  Philosophie  am  Hebrew  Union 
College  in  Cincinnati,  Ohio.  Geschichte  der  jüdischen  Philosophie  des 
Mittelalters.    Band  II,  1,  Georg  Reimer  1910. 

Dieser  Halbband  enthält  die  erste  Hälfte  des  dritten,  die  Attributen- 
lehre behandelnden  Buches  (das  ganze  Werk  ist  auf  5  Bände  in  9  Büchern 
berechnet)  und  ist  ausschliesslich  der  biblischen  und  griechisch-jüdischen 
Literatur  als  Quellen  der  jüdischen  Philosophie  des  Mittelalters  gewidmet. 
Nach  einem  kurzen  einleitenden  Kapitel  (S.  1—9)  wird  im  zweiten  Kapitel 
(S.  10—240)  nachgewiesen,  dass  die  gesamte  biblische  Literatur  im  Zeichen  des 
Attributenmotivs  steht,  dass  die  Verschiedenheit  der  Pentateuchquellen 
auf  verschiedenen  Konzeptionen  der  Attributenlehre  beruht,  und  dass  auch  die 
damit  zusammenhängende  verschiedene  Konzeption  der  Gottesnamen  darauf 
zurückzuführen  ist,  dass  der  Gottesname  stets  eine  der  mit  einander  rivalisierenden 
Attributenformeln  deckt  und  für  jede  Schule  das  Ideogramm  der  ihr  eigenen 
Konzeption  der  jüdischen  Lehre  ist.  In  der  Schlussanmerkung  werden  Hoff- 
manns „Gegeninstanzen"  geprüft  und  zurückgewiesen  und  im  Anschluss  daran 
die  Anfänge  der  Halacha  auf  bibelkritischer  Grundlage  im  Sinne  Abraham 
Geigers  diskutiert.  Das  dritte  Kapitel  (S.  240-293)  liefert  eine  Darstellung 
der  Philosophie  Piatos  aus  dem  Attributengesichtspunkt  und  legt  be- 
sonders jene  Punkte  frei,  an  welche  die  jüdische  Spekulation  der  griechischen 
Periode  angeknüpft  hat.  Das  vierte  Kapitel  (S.  294—473)  führt  den  Nachweis, 
dass  die  gesamte  literarische  Produktion  der  griechischen  Periode  im  Zeichen 
des  biblisch-platonischen  Attributenmotivs  steht,  und  dass  dieses  Motiv 
den  Brennpunkt  der  Vereinigung  von  Judentum  und  Piatonismus  gebildet  hat. 
Die  gesamte  jüdisch-griechische  Literatur  wird  in  zwei  Gruppen  eingeteilt: 
1.  die  geschichtliche  mit  Josephus,  2.  die  philosophische,  mit  Philo 
als  dem  zusammenfassenden  Repräsentanten.  Die  erstere  treibt  vorwiegend 
Staats-  und  Geschichtsphilosophie.  Die  letztere  vorwiegend  Philo- 
sophie im  engeren  Sinne.  Dieser  Halbband  schliesst  mit  einer  umfang- 
reichen Darstellung  der  Philosophie  Philos  (S.  391-473).  In  dieser  wird  das 
System  Philos  auf  dessen  Motive  hin  so  analysiert,  dass  es  klar  wird,  dass 
Philo,  bei  aller  Neuheit  der  Kombination,  nichts  als  der  zusammenfassende 
Repräsentant  jener  Motive  und  Spekulation  ist,  welche  in  der  ihm  vorangehenden 
jüdischen  Literatur  dieser  Periode  vorliegen.  An  geeigneten  Stellen  werden  die 
Fäden  biosgelegt,  die  von  der  Spekulation  des  jüdischen  Altertums  zur  Philo- 
sophie des  Mittelalters  führen.  — 

Die  Beziehung  dieses  Werkes  zu  Kant  ist  in  dem  schon  früher  erschie- 
nenen ersten  Bande,  Buch  I,  Kap.  3:  „Orientierung  und  Disposition"  dahin 
formuliert,  dass  der  Zweck  der  Forschung  in  der  Geschichte  der  jüdischen  Philo- 
sophie für  den  Verfasser  darin  besteht,  von  der  geschichtlichen  Entwickelung 
aus  zu  einer  systematischen  Anschauung  auf  transscendentalphilosophischer 
Gnmdlage  zu  gelangen. 

Cincinnati  (Ohio).  David  Neumark. 

31* 


534  Selbstanzeigen  (Janssen— Lorentz—Haering). 

Janssen,  Otto.  Das  Wesen  der  Gesetzesbildung.  Halle,  Max  Nie- 
meyer, 1910  (280  S). 

Die  vorliegende  Arbeit  will  nicht  die  Art  der  Gesetzesbildung,  wie  sie  in 
den  verschiedenen  Wissenschaften  vor  sich  geht,  durchleuchten,  sondern  sie 
sucht  die  ihnen  allen  gemeinsame  Form  im  logischen,  erkenntniskritischen  und 
teilweise  psychologischen  Sinne  darzulegen.  Zunächst  wird  gefragt,  wie  wir  zu 
Gesetzen  gelangen,  wie  isolierendes  und  abstrahierendes  Denken  an  ihrer  Bildung 
beteiligt  sind,  wie  weit  wir  induktiv  oder  deduktiv  tätig  sind,  ob  einzelne  oder 
viele  Fälle  der  Betrachtung  zu  Grunde  liegen  müssen,  schliesslich,  wie  weit  die 
Erfahrung  mitspricht  und  ob  es  im  echten  Sinne  apriorische  Gesetze  giebt.  Das 
Gesetz  der  Natur  macht  zunächst  ein  Eingehen  auf  die  Form  der  natürlichen 
Beziehungsweise  notwendig.  Es  gilt  zu  ermitteln,  wie  in  diesem  Umkreise  Er- 
kenntnisse gewonnen  werden,  was  Kausalität  und  Coexistenz  bedeuten,  und  wo 
ihr  innerster  Sinn  verborgen  liegt.  Dabei  werden  Anschauungen  vertreten,  die 
denen  David  Humes  nahe  kommen,  und  zugleich  eine  Weiterführung  und  Ver- 
tiefung seiner  Gedanken  erstrebt.  Des  Weiteren  wird  gezeigt,  wie  wir  im  Ge- 
biete der  Erkenntnistheorie  und  Logik  zu  Gesetzen  gelangen  und  an  einigen 
Beispielen,  zumal  logischer  Natur,  deren  Bildungsweise  und  Wirksamkeit  auf- 
gedeckt. Der  umstrittene  Begriff  eines  letzten  Gesetzes  .  .  .  soll  ebenfalls 
seine  Erledigung  finden.  Im  Gebiete  der  Psychologie  werden  die  Schwierig- 
keiten aller  gesetzlichen  Erkenntnis  diskutiert  und  von  ihnen  aus  die  Probleme 
des  Wollens  beleuchtet.  Hier  wird  versucht  eine  neue  Einstellung  der  Willens- 
frage zu  geben.    Den  Schluss  bilden  Erörterungen  über  Gesetze  der  Geschichte. 

Düsseldorf.  Otto  Janssen. 

Lorentz,  Paul,  Dr.,  Gymnasialdirektor.  Lessings  Philosophie. 
Denkmäler  a.  d.  Zeit  des  Kampfes  zwischen  Aufklärung  und  Humanität  in  der 
deutschen  Geistesbildung.  Dürrs  Philos.  Bibliothek.  Bd.  119.  Leipzig  1909. 
(LXXXVI  u.  396  S.). 

Die  Auswahl  ist  so  gestaltet,  dass  neben  kleineren,  im  engeren  Sinne 
philosophischen  Abhandlungen  vor  allem  die  beiden  Hauptgebiete  der  Religions- 
philosophie und  der  Geschichtsphilosophie  berücksichtigt  wurden,  das  der  Kunst- 
wissenschaft nur  soweit,  als  es  zu  allgemein  philosophischen  Ergebnissen  führt. 
Im  Anhange  wird  das  Bild  des  Philosophen  Lessing  durch  eine  Reihe  syste- 
matisch geordneter  Einzelbemerkungen  aus  den  verschiedensten  Schriften  des 
stets  tief  schürfenden  Denkers  ergänzt  und  durch  eine  Auswahl  von  Briefen 
die  Möglichkeit  gegeben,  an  Lessings  allerpersönlichsten  Ausführungen  seine 
philosophische  Entvvickelung  zu  beobachten.  Die  Einleitung  behandelt  Lessing 
Stellung  in  der  Entwicklung  der  deutschen  Philosophie  und  die  Entwicklung 
seiner  philosophischen  Anschauungen:  Lessing  bedeutet  die  Hauptvermittlung 
zwischen  der  Aufklärung  und  der  durch  Kant  begründeten  deutschen  idealistischen 
Philosophie,  und  er  weist  durch  seine  Anknüpfung  an  Spinoza  und  den  Leibniz, 
wie  er  der  Aufklärung  unbekannt  geblieben  war,  bereits  auf  die  an  Kant  sich 
anschliessende  idealistische  Philosophie  voraus,  namentlich  durch  die  letzte  Stufe 
der  Entwickelung  seines  Religionsbegriffs  und  des  Begriffs  der  geschichtlichen 
Entwickelung.  Im  Einzelnen  wird  die  Auffassung  in  den  Erläuterungen  näher 
ausgeführt,  die  sonst  das  sachlich  und  persönlich  zum  Verständnis  Notwendige 
beibringen. 

Friedeberg  (Neumark).  P.  Lorentz. 

Haering,  Theodor,  Dr.,  Repetent  am  Seminar  Schöntal.  DerDuisburg- 
sche  Nachlass  und  Kants  Kritizismus  um  1775.  Tübingen.  J.  C.  B.  Mohr 
(Dr.  P.  Siebeck).  1910.  (160  Seiten  und  4  Faksimilereproduktionen  von  Blättern 
des  Nachlasses.) 

In  der  Entwicklungsgeschichte  des  Kantischen  Denkens  sind  die  Jahre 
zwischen  der  Dissertation  (1770)  und  der  ersten  Kritikauflage  (1781)  die  dunkelsten 
wegen  Mangel  an  Druckschriften  aus  dieser  Zeit  und  wegen  der  bisherigen 
Unmöglichkeit,  die  von  Erdmann  und  Reicke  publizierten  Nachlassstücke,  die 
teilweise  sicher  auch  diese  Jahre  betreffen,  zeitlich  zu  fixieren. 


Selbstanzeigen  (Ledere).  535 

Verf.  geht  nun  von  der  Tatsache  aus,  dass  ein  Blatt  des  nach  seinem 
früheren  Besitzer  sogenannten  Duisburgschen  Kantnachlasses  (Reicke,  „Lose 
Blätter"  I,  No.  1 — 18)  ein  Datum  trägt,  nämlich  Blatt  8  desselben,  welches  aus 
einem  mit  Kantischen  Notizen  versehenen  Brief  an  Kant  vom  20.  Mai  1775 
besteht.  Die  Gewohnheit  Kants,  solche  (unwichtige)  Briefe  kurze  Zeit  nach 
ihrem  Eintreffen  als  Notizblätter  zu  verwenden,  macht  es  sehr  wahrscheinlich, 
dass  auch  die  betreffenden  Notizen  1775  anzusetzen  sind.  Die  Handschrift  von 
No.  8  zeigen  aber  auch  die  meisten  andern  Blätter  des  genannten  Nachlasses, 
und  auch  inhaltlich  lässt  sich  leicht  ihre  Zusammengehörigkeit  erweisen. 

Wir  besitzen  somit  in  diesen  Blättern  ein  Dokument  genau  aus  der  Mitte 
des  oben  genannten  dunkeln  Zeitraums. 

In  einem  sehr  ausführlichen  Kommentar  werden  die  Blätter  zunächst 
vom  Verf.  einzeln  besprochen.  Schon  der  Text  ergiebt  eine  grössere  Zahl  von 
Abweichungen  gegenüber  Reickes  Abdruck,  sowohl  in  einzelnen  Worten  als  in 
der  Umstellung  ganzer  Abschnitte.  Durch  den  Kommentar  selbst  aber  soll  der 
schwierige,  bisher  fast  ganz  vernachlässigte  Gedankeninhalt  für  die  künftige 
Kantforschung  verwertbar  gemacht  werden. 

Auf  den  Kommentar  folgt  eine,  auf  den  Einzelinterpretationen  aufgebaute 
Darstellung  der  Hauptprobleme,   mit   denen   die  Blätter  sich  beschäftigen. 

Zum  Schluss  wird,  soweit  es  das  verarbeitete  Material  zulässt,  Kants 
kritische  Stellung  im  Jahr  1775  im  Unterschied  zu  der  von  1770,  1772  (Brief 
an  Herz)  und  1781  dargelegt. 

Beigegeben  ist  ein  Register  der  Hauptbegriffe  der  besprochenen  Blätter 
und  ihrer  Fundorte  und  eine  Tabelle  zur  Vergleichung  der  Numerierung  des 
Kommentars  mit  Reickes  Seitenzahl. 

Reproduktionen  einzelner  Blätter  veranschaulichen  das  Ganze. 

Verf.  glaubt,  mit  dieser  Arbeit  der  Kantforschung  ein  neues,  sehr  wichtiges 
Material  zur  Erforschung  des  Kantischen  Entwicklungsganges  zugänglich  und 
verwertbar  gemacht  zu  haben.  Auf  Grundprobleme  der  „Kritik"  und  ihre 
Lösungen  fallen  überall  interessante  Streiflichter  aus  diesem  Stück  des  Kantischen 
Nachlasses. 

Schöntal  (Württemberg).  Theodor  Haering. 

Ledere,  Albeii;,  professeur  agrege  ä  l'Universite  de  Berne.  La  Vanite 
de  l'Experience  religieuse.    Geneve,  librairie  Kündig,  1910. 

Le  but  de  ce  travail  est  de  faire  la  critique  du  concept  d'  >experience 
religieuse^.  L'auteur  demontre  que  si  la  religion  n'est  pas  chose  illusoire,  eile 
ne  saurait  avoir  qu'une  justification  d'ordre  metaphysique;  comparant  l'experience 
religieuse  avec  l'experience  scientifique,  il  fait  voir  que  tous  les  caracteres  con- 
stitutifs  de  la  seconde  et  tout  ce  qui  fait  sa  valeur  probante  manque  ä  la  pre- 
miere,  et  cela  ä  tel  point  que,  si  la  verite  religieuse  etait  affaire  d'experiencc, 
il  faudrait  dire  que  l'experience  serait  plutöt  hostile  ä  cette  verite.  La  vraic 
religion,  s'il  en  est  une,  doit  avoir  quelque  chose  d'irremediablement  etonnant 
et  heurter  en  un  sens  toute  la  nature  humaine,  sans  d'ailleurs  etre  fondec  pour 
cela  ä  se  mettre  en  Opposition  avec  la  science  et  avec  la  critique.  Un'y  aurait 
d'experience  religieuse  conclvante  que  .  .  .  si  le  spiritisme  n'etait  pas  illusoire. 
c'est  par  suite  d'un  scepticisme  latent,  que  tant  de  croyants  actuels  versent  dans 
l'experimentalisme  religieux:  ou  bien  ils  alleguent  une  experience  intime  qui  ne 
prouve  rien,  qui  ne  se  distingue  en  rien  de  la  fausse  perception,  de  la  fantaisie, 
de  ce  qu'on  nomme  en  science  »une  chose  ä  demontrers  ou  bien  ils  subtilisent 
pour  trouver  des  analogies  entre  deux  experiences  qui  n'ont  de  commun  que  le 
nom  (equivoquant  sur  les  deux  sens  du  mot  experience:  >verification«:  et  »satis- 
faction«),  ou  bien  encore  ils  imaginent  une  sorte  d'  >experience  sui  generis« 
qui  n'est  meme  pas  clairement  definissable.  En  fin  de  compte,  ils  alterent  et 
le  concept  de  science  et  celui  de  religion.  L'experimentalisme  religieux  apparait 
dans  l'histoire  chaque  fois  que,  la  foi  tendant  ä  diminuer,  l'homme  se  travaille 
pour  »croire  quand  mßme«;  il  cherche  alors  Dieu  en  lui-meme,  dans  une  sorte 
de  perception  du  coeur,  en  dehors  et  ä  l'abri  des  considerations  scientifiques  et 
dialectiques  dont  il  craint  les  conclusions  negatives:  ainsi  s'explique  l'apparition 
du  Protestantisme  au  XVI  siecle,  une  grande  partie  de  la  Philosophie  religieuse 


536  Selbstanzeigeii  (Gräter— Mun~Krieck). 

protestantc  allemande  au  XIX  siede,  et  le  Modernisme  catholique.  Ce  sont  lä, 
en  somme,  des  Pragmatismes ;  et  le  Pragmatisme  proprement  dit  n'est  qu'un 
Modernisme  philosophique,  issu  de  la  volonte  de  »croire  quand  meme«  ä  des 
theses  metaphysiques  que  le  coeur  aime  encore  mais  auxquelles  l'intelligence, 
au  fond,  ne  donne  guere  plus  son  assentiment. 

Albert  Ledere. 

Gräter,  A.  S.,  Dr.  Neu -Christen  tum.  1.  Die  Unhaltbarkeit  der  kirch- 
lichen Glaubenslehre  (130  S).  II.  Wahrheit  und  Irrtum  bei  Jesus  von  Nazareth 
(157  S.).    Stuttgart,  Fr.  Frommanns  Verlag  (E.  Hauff),  1910. 

Der  erste  Teil  zeigt,  dass  die  kirchliche  Glaubenslehre  sich  mit  einem 
fremdartigen  Ballaste  beschwert  hat,  welcher  mit  dem  modernen  Denken  und 
Wissen  unvereinbar  ist,  und  findet  den  Grund  dieser  Tatsache  in  einer  falschen 
Auffassung  der  Stellung  des  Nazareners  und  seines  Lebenszieles. 

Im  zweiten  Teil  folgt  zunächst  eine  von  hoher  Verehrung  getragene  Dar- 
stellung von  Lehre,  Wirken  und  Streben  des  Jesus  von  Nazareth,  welcher,  wie 
es  für  eine  wissenschaftliche  Darlegung  unumgänglich  ist,  als  reiner  Mensch 
aufgefasst  wird.  Weiterhin  wird  aber  auch  nachgewiesen,  dass  der  Mensch  Jesus 
Irrtümern  unterworfen  war,  welche  im  letzten  Grunde  auf  das  damalige  Weltbild 
zurückgehen,  welches  für  uns  vergangen  ist.  Dies  führt  zu  einer  kritischen 
Untersuchung  des  Problems  vom  Wesen,  Wirken  und  Walten  Gottes,  womit  das 
Buch  vom  religiösen  auf  das  philosophische  Gebiet  übergeht. 

Das  Bestreben  des  Buches  geht  durchweg  dahin,  dem  modernen  Denken 
in  religiösen  Fragen  zu  seinem  Rechte  zu  verhelfen,  zugleich  aber  das  Bleibende 
und  Wesentliche  des  Christentums  festzuhalten.  So  erfährt  das  Christentum 
nach  den  Wurzeln  seines  Ursprungs  in  der  Vergangenheit,  nach  den  Anforderungen 
für  die  Gegenwart  und  nach  den  Ausblicken  in  die  Zukunft  eine  eingehende 
Wertung,  die  dem  Buche  seinen  Gehalt  verleiht. 

Stuttgart.  Dr.  A.  S.  Grat  er. 

Mun,  Thomas.  Englands  Schutz  durch  den  Aussenhandel. 
Nach  dem  Original  (1664)  übersetzt  und  eingeleitet  von  Dr.  Rudolf  Biach. 
Wien-Leipzig,  F.  Tempsky,  1911.     (LXLVIII  u.  113  S.) 

Erkenntnistheoretische  Betrachtungen  über  die  Entwickelung  der 
nationalökonomischen  Theorie  sind  in  der  volkswirtschaftlichen  Fachlitera- 
tur vereinzelte  Erscheinungen. 

Thomas  Mun,  ein  Zeitgenosse  Descartes',  war  ein  einfacher  Kaufmann, 
doch  ein  kluger  und  scharfer  Beobachter,  der  als  leitender  Direktor  der  eng- 
lischen Ostindienkompagnie  erkannt  hat,  welche  Bedeutung  einer  systematischen 
Wirtschaftspolitik  für  das  Wohl  eines  Landes  beizumessen  sei. 

Sein  Programm  gründet  sich  auf  eine  Handelsbilanz,  welche  alljährlich 
statistisch  erweisen  soll,  dass  die  wirtschaftlichen  Kräfte  des  Landes  in  richtiger 
Weise  ausgenützt  worden  sind.  —  Die  Handelsbilanz  stellt  somit  einen  Versuch 
dar,  Kräfte  numerisch  auszudrücken  und  der  Verfasser  hat  es  unternommen, 
an  der  Hand  der  Untersuchungen  von  Bergson,  Duhem  und  Mach  die  Methode 
dieser  politischen  Verwertung  der  Mathematik  in  einer  Einleitung,  welche  der 
deutschen  Übersetzung  dieses  eigentümlichen  philosophisch  nicht  uninteressanten 
Buches  vorangeschickt  ist,  erkenntnistheoretisch  zu  prüfen  und  hat  beachtens- 
werte Zusammenhänge  dieses  dogmatisch  ungeschulten  Schriftstellers  mit  den 
Lehren  des  hl.  Thomas  v.  Aquin   und    der  Philosoohie  des  Descartes  gefunden. 

Florenz.  *Dr.  Rudolf   Biach. 

Krieck,  Ernst.  Persönlichkeit  und  Kultur.  Kritische  Grundlegung 
der  Kulturphilosophie.    Heidelberg,  Winter,  1910.     (XVI  u.  512  S.) 

Dass  man  in  seinem  Selbstbewusstsein  etwas  unmittelbar  Gegebenes  und 
Gewisses  und  darum  den  Ausgangspunkt  der  Philosophie  habe,  ist  der  Grund- 
gedanke des  neueren  Idealismus.  Über  das  Wesen  des  Selbstbewusstseins  aber 
und  sein  Verhältnis  zum  All  hat  man  keine  Einigung  erzielt  und  wird  man 
niemals  eine  erzielen  können,  weil  jede  Weltanschauung  und  Weltbewertung 
zuletzt   auf   der   Grundlage    autonomen  Lebens  und  WoUens  ruht,  dessen  Viel- 


Selbstanzeigen  (Krieck).  537 

gestaltigkeit  und  Gegensätzlichkeit  berechtigt  und  notwendig  ist.  Doch  hat  das 
Prinzip  einer  Philosophie  nicht  nur  subjektive  Wahrheit ;  es  ist  nicht  nur  Symbol 
eines  Einzellebens ;  sondern  die  synthetische  Kraft,  mit  der  es  die  divergieren- 
den Einzelstrebungen  zusammenfasst  zu  einem  Gemeinschaftsleben,  zur  Kultur, 
also  die  kulturelle  Wohltätigkeit,  ist  das  Mass  der  Wahrheit  und  des  Wertes 
für  das  Prinzip.  Kulturphilosophie  ist  demnach  die  Philosophie  des  Gemein- 
schaftslebens und  seines  Verhältnisses  zum  Einzelleben.  Und  in  dieser  Be- 
deutung umfasst  sie  alle  philosophischen  Probleme  schlechthin,  indem  sie  den- 
selben die  Wendung  aus  ihrem  abstrakten  Dasein  ins  Ethische  giebt. 

Welche  Bedeutung  hat  das  Ich  für  die  Welt?  Das  vorliegende  Buch 
giebt  zur  Antwort :  es  ist  nicht  nur  formales  Subjekt,  sondern  durch  seine  spon- 
tane Kraft  das  schöpferische  Prinzip  derselben,  der  Zugang  und  zwar  der  einzige 
Zugang  zum  Intelligiblen.  Das  Ich  ist  als  persönliches  Selbst  Transscendental- 
prinzip.  Die  Konsequenz  dieses  Prinzips  leitet  aber  nicht  zum  Solipsismus, 
noch  auch  muss  zu  dessen  Vermeidung  ein  höheres,  absolutes  oder  Welt-Ich 
angenommen  werden,  dessen  Annahme  metaphysische  Dichtung  wäre  und  dessen 
Verhältnis  zum  persönlichen  Ich  die  Achillesferse'  dieser  Art  Philosophie  seit 
Fichte  war.  Vielmehr  ist  die  Daseinsform  des  persönlichen  Ich,  sein  Bewusst- 
sein,  nichts  absolutes,  sondern  schon  gegründet  auf  das  tatsächliche  Gemein- 
schaftsleben, welches  nicht  als  absolutes  Ich  in  transscendenten  Regionen  hypo- 
stasiert  zu  werden  braucht.  Die  Gemeinschaft  ist  als  Tatsache  gegeben  mit 
der  Existenz  des  Du,  also  anderer  autonomer  Ich,  und  deren  Wechselwirkung 
aufeinander.  Das  Bewusstsein  entwickelt  und  verändert  sich  nicht  bloss  unter 
dieser  Einwirkung,  sondern  der  vorliegende  Versuch  sucht  zu  zeigen,  dass  sie 
Voraussetzung  zur  Bildung  des  Bewusstseins,  dessen  elementarste  Tatsache  ist. 
So  ist  das  Bewusstsein  also  von  vornherein  ethisch,  gewissermassen  historisch 
begründet.  Damit  ist  das  Grundproblem  der  Philosophie  über  den  verhängnis- 
vollen toten  Punkt,  nämlich  über  das  eindeutige  erkenntnistheoretische  Verhält- 
nis von  eindeutigem  Subjekt  zu  eindeutigem  Objekt  hinaus,  weil  das  primärste 
Objekt  (das  Du)  autononomes  Selbst,  also  ebenfalls  Subjekt,  somit  Subjekt- 
Objekt  ist,  wodurch  das  Ich  gleichfalls  zu  einem  solchen  wird.  Das  erkennt- 
nistheoretische Problem  des  reinen  Objekts  ist  aus  diesem  umfassenderen  Pro- 
blem alsdann  abzuleiten. 

Homo  homini  deus ;  der  Mensch  ist  in  seinem  Grunddasein  dem  Realis- 
mus, der  Naturwissenschaft  entrückt;  mit  seiner  transscendentalen  Wurzel,  seiner 
Freiheit,  ist  er  dem  Mitmenschen  die  erhabenste,  die  grundlegende  Wirklichkeit. 
Das  Selbst  hat  nämlich  zur  Grundeigenschaft  den  unendlichen,  freien  Trieb,  die 
Spontaneität.  Diese  Spontaneität  beschränkt  sich  nicht,  wie  Fichtes  Ich,  durch 
einen  freiwilligen  Akt,  sondern  sie  wird  beschränkt  und  bestimmt  durch  anderes 
autonomes,  spontanes  Dasein.  Die  Möglichkeit  der  Beschränkung  meiner  Spon- 
taneität durch  fremde  Spontaneität,  also  die  Passivität  des  Ich,  ist  seine  zweite 
Eigenschaft,  die  hier  Vernunft  genannt  wird  als  die  Form  des  bewusstseins- 
bildenden  Verkehrs  der  substantiellen  Selbste.  Das  reine  Objekt  gehört  erst 
dem  so  gebildeten  Bewusstsein,  d.  h.  der  Reflexion  des  Ich  gegen  das  Du  an. 
Die  Sinnlichkeit  des  Gesichts  und  Getasts  hat  nämlich  ebenfalls  zunächst  als 
Akt  der  Spontaneität  zu  gelten.  Erst  durch  die  vernünftige  Einwirkung  wird 
sie  normiert,  erhält  sie  allgemeine,  objektive  Bedeutung,  wird  sie  als  Bewusst- 
seinsinhalt  dem  Selbstbewusstsein  entgegengestellt  und  gestaltet  durch  Über- 
tragung der  reflektierten  Selbstheit  auf  sie:  der  Anthropomorphismus  ist  das 
dingbildende  Prinzip.  Vernunft  ist  demnach  die  Grundlage  des  Bewusstseins 
wie  seines  objektiven  Inhalts.  Durch  sie  entsteht  die  Gemeinschaft  des  Objekts, 
die  Verständigung,  ein  gemeinsames  Feld  des  Daseins  und  Wirkens,  die  Kultur. 
Ihre  Ergebnisse  müssen  wiederum  in  jedes  beteiligte  Bewusstsein  aufgenommen 
werden,  wenn  der  Einzelne  ein  normales  Glied  der  Gemeinschaft  werden  und 
sich  in  ihr  betätigen  soll. 

Die  Spontaneität  und  die  Passivität  der  Vernunft  sind  somit  die  Grund- 
komponenten für  die  Wirklichkeit.  Der  ganze  vorliegende  Versuch  läuft  schliess- 
lich auf  eine  Kritik  des  Begriffes  der  Wirklichkeit  hinaus,  welcher  auf  die 
ethische   Grundlage    des   Ich    und    Du    zurückgeführt  und  (als  Wertproblem  im 


538  Selbstanzeigen  (Forsyth). 

weitesten  Sinne)  dynamisch  erbaut  wird.  Die  Wirklichkeit  hat  gemäss  ihren 
zwei  Komponenten  zwei  Dimensionen.  Sie  ist  1.  die  Stellung  eines  Objekts 
(Wert  und  Wichtigkeit)  im  persönlichen  Bewusstsein,  welche  durch  die  Sponta- 
neität bestimmt  ist ;  2.  die  Verbreitung  einer  solchen  Wirklichkeit  durch  die 
Gemeinschaft,  d.  h.  die  Grösse  der  Gemeinschaft,  welcher  das  Objekt  auf  ent- 
sprechende Weise  Wirklichkeit,  Motiv  ist.  Diese  extensive  Dimension  der 
Wirklichkeit  beruht  auf  der  Vernunft  und  entwickelt  sich  aus  jener,  dadurch, 
dass  die  Persönlichkeit  im  Masse  ihrer  Kraft  ihre  subjektive  Wirklichkeit,  was 
also  für  sie  Ideal,  Motiv  ist,  zu  einer  allgemeinen  Wirklichkeit  macht  durch  ihr 
Werk,  ihre  vernünftige  Einwirkung  auf  ihre  Mitwelt.  Zieht  man  aber  von 
irgendwelcher  Wirklichkeit  ihre  ethische  Bedeutung  als  Motiv,  als  Mittel  zu 
persönlichen  oder  allgemeinen  Zwecken,  also  ihre  immerhin  subjektiv  bedingte, 
kulturelle  Seite  ab,  so  bleibt  rein  nichts  übrig  als  ein  leeres  Postulat  der  Ob- 
jektivität, des  Ansichseins.  Wissenschaftslehre  und  Ethik  befassen  sich  mit  der 
allgemeinen  oder  extensiven  Dimension  der  Wirklichkeit;  Religion  und  Kunst 
dagegen  mit  deren  Wurzel,  dem  Ideal.  So  werden  von  dieser  idealistischen 
Wirklichkeitskritik  aus  die  Grundlinien  einer  Weltanschauung  gezogen. 

Mannheim.  Ernst  Krieck. 

Forsyth,  Thomas  M.,  Dr.  English  Philosophy.  London,  A.  &  C. 
Black,  1910.    (231  S.) 

Der  vollständige  Titel  dieses  Buches  deutet  den  Charakter  desselben  an: 
English  Philosophy;  a  Study  of  its  Method  and  General  Develop- 
ment. Es  ist  nicht  eine  Geschichte  der  englischen  Philosophie  vom  literarischen 
oder  biographischen  Standpunkte  aus  betrachtet,  sondern  eine  Untersuchung  des 
Charakters  und  der  Entwicklung  dieser  Philosophie,  wie  diese  in  den  Werken 
der  grossen  englischen  Denker  —  von  Francis  Bacon  bis  zu  Shadworth  Hodg- 
son  und  William  James  —  zu  Tage  treten.  Das  Buch  strebt  danach,  den 
wesentlichen  Charakter  der  englischen  Philosophie  anzudeuten  und  uns 
einen  genauen  Begriff  von  ihrer  Entwicklung  zu  geben. 

Indem  er  findet,  dass  der  Charakter  der  Entwickelung  in  einer  progres- 
siven Anwendung  der  traditionellen  englischen  Methode  besteht,  —  welche  all- 
gemein als  die  „Methode  der  Erfahrung'  bezeichnet  wird  —  bestrebt  sich  der 
Autor,  zu  beweisen,  wie  Fortschritte  in  Methode  und  in  Resultaten  einander  be- 
gleitet und  bedingt  haben.  Der  Entwicklungsprozess  zeigt  sich  in  Modifikationen 
der  Auffassung  der  philosophischen  Methode,  verbunden  mit  abweichenden  Er- 
gebnissen, welche  die  Folge  dieser  Verschiedenheiten  der  Methode  sind.  Das 
Endresultat  der  ganzen  Entwicklung  könnte  man  als  „Erfahrungslehre"  (ex- 
perientalism)  bezeichnen,  sowohl  was  die  Methode,  als  auch  was  die  doctrinäre 
Richtung  anbetrifft.  (.Experience  is  at  once  the  starting-point,  the  pathway, 
and  the  goal  in  the  search  for  reality.") 

Die  Stellungnahme  des  Verfassers  ist,  dass  die  Entwicklung  der  Philo- 
sophie in  dem  allmählichen  Eliminieren  von  Voraussetzungen  besteht,  die 
den  ins  Auge  gefassten  Standpunkt  ungebührend  einengen  und  infolge  dessen 
das  Verfahren  verdunkeln  und  die  Schlüsse,  zu  denen  man  gelangt,  beeinträch- 
tigen. Solche  Voraussetzungen  sind  in  der  englischen  Entwicklung  wesentlich 
vorgefasste  Meinungen  betreffs  des  wahren  Charakters  der 
Erfahrung  gewesen;  und  die  Entwicklung  ist  immer  auf  eine  mehr  kon- 
krete Auffassung  ihres  Charakters  gerichtet  gewesen. 

Diese  Auffassung  hat  eine  zweifache  Bedeutung.  (1)  Die  Methode  der 
Philosophie  ist  wesentlich  dieselbe  als  die  der  anderen  Wissenschaften.  Der 
Unterschied  zwischen  beiden  ist  der,  dass  während  jede  der  speziellen  Wissen- 
schaften auf  einer  besonderen  Voraussetzung  beruht,  von  der  wir  als  ausge- 
macht annehmen,  dass  sie  eine  Seite  der  Erfahrung  definitiv  ausdrückt,  die 
Aufgabe  der  Philosophie  die  ist,  —  durch  das  Bestreben  den  innersten  Cha- 
rakter der  Erfahrung  darzustellen,  und  die  Bedeutung  ihrer  verschiedenen  Er- 
scheinungen als  Aspekte  unseres  Lebens  oder  unserer  Erfahrung  als  Ganzes 
aufzufassen  —  solche  Voraussetzungen  zu  vermeiden  und  alle  Unterschiede  und 
Beziehungen  im  Laufe  der  Interpretation  der  Erfahrung  ans  Licht  zu  bringen. 
Die  Philosophie   folgt   daher  nicht  nur  den  Wissenschaften,  sondern  geht  ihnen 


Entgegnung  (Kinkel).  539 

logischerweise  voran.  (2)  Dieser  Versuch  ist  die  einzige  Methode,  durch  welche 
es  möglich  wird,  die  verschiedenen  Abstraktionen  zu  überwinden  —  wie  z.  B. 
Wissen  und  Sein,  Geist  und  Materie,  Intellekt  und  Wille  — ,  welche  sich  im 
Laufe  der  Untersuchung  zeigen,  und  welche  wir  in  Beziehung  zu  und  Überein- 
stimmung mit  einander  bringen  müssen,  um  einen  angemessenen  Ausdruck  des 
Charakters  und  der  Bedeutung  unserer  Erfahrung  zu  erlangen.  Der  Verfasser 
versucht  es,  diese  verschiedenen  Aspekte  der  Erfahrung  in  dem  Begriffe  zu 
vereinigen,  dass  Erfahrung  Würdigung  (appreciation)  heisst,  und  dass  alle 
endliche  Erfahrung  als  fortschreitende  Würdigung  ein  Teilnehmen  an  der  Reali- 
tät der  unendlichen  Erfahrung  ist. 

St.  Andrews,  Scotland.  Thomas  M.  Forsyth. 


Entgegnung.^) 

Herr  Joh.  Paulsen  hat  im  letzten  Heft  dieser  Zeitschrift  eine  Kritik  meines 
Buches  über  den  »Humanitätsgedanken"  gegeben,  die  geeignet  ist,  völlig  falsche 
Vorstellungen  vom  Inhalt  und  der  Tendenz  dieses  Werkes  zu  erwecken.  Dies 
erklärt  sich  aus  dem  auffallend  geringen  Verständnis,  welches  Herr  P.  dem 
Hauptgedanken  meines  Schriftchens  entgegenbringt.  Ich  kann  seine  Kritik 
nicht  ohne  einige  Worte  der  Entgegnung  lassen. 

Herr  P.  vermisst  z.  B.  die  ausführlichere  begriffliche  Analyse  des  Begriffes 
der  Humanität;  und  in  der  Tat,  er  hätte  ein  Recht  dazu,  wenn  ich  geglaubt 
hätte,  dieser  Analyse  durch  das  Zitat  fremder  Aussprüche  über  diesen  Begriff 
enthoben  zu  sein.  Aber  Herr  P.  hätte  doch  leicht  merken  können,  dass  das 
ganze  Buch  dieser  Analyse  dient.  Wozu  denkt  Herr  Paulsen  z.  B.,  dass  die 
Ausführungen  über  die  Rezeptivität  und  Spontaneität  der  menschlichen  Seele 
dienen  sollten?  Wozu  die  Untersuchungen  über  Erhaltung  und  Veränderung 
im  geistigen  Geschehen?  Für  Herrn  Paulsen  hat  dies  alles  offenbar  keine  Be- 
ziehung zum  Begriffe  reiner  Menschlichkeit;  es  dient  nicht  dazu,  diesen  Begriff 
zu  klären.  Vielleicht  rechnet  er  alle  diese  Untersuchungen  zu  den  „einzelnen 
ansprechenden  Gedanken  und  Wendungen,  die  —  es  mag  sein  —  in  dem  Buche 
zu  finden  sind".  Ich  aber  hatte  erwartet,  dass  ein  ernsthafter  Kritiker  wenigstens 
soviel  Einsicht  bewiese,  in  diesen  Ausführungen  den  Kernpunkt  des  Werkchens 
zu  erkennen. 

Es  ist  aber  überhaupt  mit  der  von  Paulsen  beliebten  Methode  der  Kritik 
eine  eigene  Sache.  Mir  wirft  er  vor,  ich  hätte  statt  der  Beweise  und  der  be- 
grifflichen Analysen  nur  Behauptungen  gegeben;  er  selbst  aber  stellt  an  die 
Spitze  seiner  Kritik  eine  dogmatische,  sehr  anfechtbare,  durchaus  nicht  be- 
wiesene Behauptung,  wie  ein  solches  Buch,  wie  das  meinige,  be- 
schaffen sein  sollte;  und  da  ich  nun  das  Unglück  habe,  diesem  Vorurteil 
nicht  gerecht  zu  werden,  so  muss  sein  Urteil  natüriich  sehr  ablehnend  ausfallen. 

Ich  wenigstens  war  bis  jetzt  der  Überzeugung,  dass  das  Humane  nicht 
das  Ethische  allein,  sondern  auch  das  Ästhetische  umfassen  müsste,  sowie 
auch  das  Logische  —  kurz,  alle  Seiten  der  Kultur.  Herr  Paulsen  aber,  der  nun 
einmal  ein  Kompendium  der  Ethik  von  mir  erwartet  hatte,  hat  hierfür  keinen  Sinn. 

Seine,  Herrn  Paulsens  Kritik,  zeigt  überhaupt  alle  Fehler,  die  einer  Kritik 
nur  anhaften  können.  Kein  Leser  seiner  Kritik  wird  auch  nur  entfernt  eine 
Ahnung  davon  bekommen,  was  denn  nun  eigentlich  in  meinem  Buche  steht 
(und  das  ist,  scheint  mir,  doch  das  wenigste,  was  man  von  einer  Kritik  ver- 
langen kann:  dass  sie  nämlich  den  Leser  voriäufig  über  den  Inhalt  des  zu  be- 
sprechenden Buches  orientiert).  Oder  soll  vielleicht  dieser  Forderung  durch 
jene   oberflächliche  Aufzählung   der  Stichworte   eines  Abschnittes,   wie  sie  von 

1)  Anm.  d.  Red.  Wir  müssen  im  Folgenden  leider  wieder  einmal  zwei 
Kontroversen  bringen.  Nachdem  nun  in  jedem  der  beiden  Streitfälle  jede  der 
beiden  Parteien  zu  Worte  gekommen  ist,  schliessen  wir  hiermit  zugleich  die 
Debatte.  "=       ^ 


540  Duplik  (Paulsen)— Erklärung  (Wagner). 

Paulsen  S.  356  unten  gegeben  wird,  genügt  sein?  Den  Dogmatismus  seines 
kritischen  Ausgangspunktes  habe  ich  schon  erwähnt;  so  dogmatisch  sind  denn 
auch  seine  kritischen  Ausführungen  im  einzelnen. 

Ich  kann  demgegenüber  nur  hoffen  und  wünschen,  dass  die  Leser  dieser 
Zeitschrift  mein  Buch  selbst  zur  Hand  nehmen.  Eine  objektive  Kritik  scheue 
ich  nicht,  sondern  sie  ist  mir  erwünscht.  Auf  diesen  Titel  einer  objektiven 
Kritik  aber  kann  das  Produkt  der  kritischen  Tätigkeit  des  Herrn  Paulsen  keinen 
Anspruch  erheben.  Walter  Kinkel. 

Duplik. 

Ich  kann  nur  dem  Autor  darin  beipfUchten:  man  möge  seine  Schrift  lesen, 
falls  man  sich  für  die  Sache  interessiert.  Darnach  empfehle  ich  meine  Kritik 
der  Aufmerksamkeit  des  Lesers.  Das  richtige  Urteil  wird  sich  dann  einstellen, 
—  sowohl  über  die  Arbeit  Kinkels,  wie  über  meine  Recension,  als  endlich  auch 
über  die  „Entgegnung"  des  Verfassers. 

Hamburg.  Johannes  Paulsen. 

Erklärung. 

Im  letzten  Hefte  der  .Kantstudien"  (Bd.  XV)  findet  sich  auf  S.  358  eine 
Rezension  meines  Registers  zu  Schopenhauers  Werken^von  Dr.  Ohmann. 
Die  einleitenden  anerkennenden  Worte,  die  es  als  „unübertrefflich  an  Zuverlässig- 
keit und  Umfang"  bezeichnen,  stehen  in  auffallendem  Gegensatz  zu  den  vielen 
folgenden  Bemängelungen  über  „Unvollständigkeit",  .Fehler  in  der  Anlage", 
„philologische  Kleinarbeit",  „oberflächliches  Gemengsei"  u.  dgl.  m.  Die  über- 
raschende Animosität  der  Rezension  kann  ich  mir  nur  aus  einer  Verstimmung 
über  meine  Kritik  der  Grisebachschen  Ausgabe  und  die  Benutzung  der  Frauen- 
städtischen erklären.  Dies  veranlasst  mich  zu  einigen  Bemerkungen  und  Be- 
richtigungen: 

1.  Ich  hatte  gute  und  wohlerwogene  Gründe,  das  Register  auf  die  Werke 
zu  beschränken:  es  sollte  den  dereinstigen  Schülern  das  Studium  er- 
leichtern. Dieses  Studium  ist  viel  schwieriger,  als  man  gemeiniglich  ahnt, 
und  darf  nicht  durch  Nebensächliches  gestört  werden.  Nachlass  und  Briefe 
bieten  philosophisch  nichts  Neues,  sind  stilistisch  oftmals  unvollkommen,  und 
mehr  eine  Unterhaltungslektüre,  z.  T.  allerdings  belehrender  Art.  Ein  Register 
zu  diesen  sollte  stets  getrennt  von  jenem  gegeben  werden.  —  Wenn  die  Zeit 
ernstlichen  Studiums  des  Philosophen  gekommen  sein  wird,  dürfte  die  Reclam- 
Ausgabe  längst  einer  andern,  wissenschaftlichen,  den  Platz  geräumt  haben,  und 
eine  solche  wird  jedenfalls  die  Frauenstädtischen  Seitenzahlen  mitgeben. 

2.  Ich  habe  keine  Enzyklopädie  schreiben  wollen,  sondern  ein  möglichst 
ausführliches  Register  in  geniessbarer  Form. 

3.  Unter  dem  „Abdruck"  einer  namentlich  genannten  Ausgabe  versteht  man 
nicht  den  Abdruck  einer  andern  Ausgabe,  am  wenigsten  derjenigen,  die  man 
vorher  für  wissenschaftlich  unbrauchbar  erklärt  hat.  Man  sagt,  wenn  man  dies 
dennoch  tut:  „korrigiert  nach  der  und  der  genannten  Ausgabe".  Der  Rezensent 
glaubt  mit  allerlei  Ablenkungen  über  diesen  Punkt  hinwegkommen  zu  können. 
So  tritt  z.  B.  das  Wörtchen  „sinnstörend"  auf,  wodurch  Alles  ein  unschuldigeres 
Ansehen  gewinnt:  es  handelt  sich  aber  um.  den  Abdruck!  —  Ein  Herausgeber, 
der  die  öffentliche  Meinung  in  dieser  Weise  irre  führt,  darf  sich  nicht  wundern, 
wenn  er  bei  Vielen  das  Vertrauen,  auch  für  die  unkontrollierbaren  Zusätze, 
verliert.  Über  den  zweifelhaften  Wert  des  wörtlichen  Abdruckes  der  Posthuma 
habe  ich  mich  genügend  geäussert  (S.  529). 

4.  Den  Vorwurf  einer  gegen  Grisebach  begangenen  „doppelten  Un- 
gerechtigkeit" muss  ich  zurückweisen.  Das  grosse  Ansehen  der  Reclam-Aus- 
gabe  gründet  sich  doch  ausschliesslich  auf  die  dem  Rezensenten  nunmehr  auch 
unsympathisch  gewordene  „kleinliche  Mäkelei"  des  neuen  Herausgebers.  Früher 
nannte  man  sie  erstaunliche  Akribie.  Der  Herr  Rezensent  wird,  wenn  er  noch- 
mals Alles  durchliest,  dies  einsehen  und  dann  auch  nicht  mehr  von  einer  Ver- 
gleichung  meiner  angeführten  Errata  mit  Grisebachs  .angekreideten  Korruptionen" 


Erwiderung  (,01amann).  541 

reden,  sondern  beide  als  gleichwertig  erkennen.  (Siehe  S.  530  u.  vgl.  das 
Druckfehlerverzeichnis  der  Ethik,  wo  die  ,102  korrumpierten  Stellen"  (VI,  388) 
nachgeprüft  werden  können). 

5.  Ebenso  wird  er  aus  einer  nochmaligen  Lektüre  der  Seite  531  ersehen, 
dass  die  .harmlosen  Druckfehler*  bloss  die  Quantität  der  Fehler  kennzeichnen 
sollen,  die  vermissten  Korruptionen  aber  reichlich  daneben  stehen.  —  Ein  voll- 
ständig korrigiertes  Exemplar  der  Reclam-Ausgabe  besitze  ich  nicht:  ich  habe 
bloss  Stichproben  gemacht,  allerdings  zahlreiche. 

6.  Die  Fehler  der  Ausgabe  von  1891  konnten  nur  durch  Kollationierung 
gefunden  werden:  musste  aber  kollationiert  werden,  so  waren  dazu,  der  An- 
kündigung gemäss,  die  Ausgaben  letzter  Hand  zu  benutzen. 

7.  Die  S.Auflage  des  III.  Bandes  besitze  ich  seit  Jahren;  ich  habe  keines 
der  erwähnten  Monita  darin  berichtigt  finden  können.  Nicht  einmal  der  ver- 
druckte Satz  (S.  191  Anm.)  wurde  korrigiert. 

8.  In  der  Vorbemerkung  G  habe  ich  gesagt,  dass  ich  in  dem  Verzeichnis 
bloss  die  später  gänzlich  gestrichenen  Stellen  der  Welt  a.  W.  u.  V.  v.  1819 
gebe,  nicht  aber  die  Abänderungen  des  Textes."  Der  Rezensent  bringt  ein 
längeres  Verzeichnis  der  letzteren  und  bemerkt,  dass  das  meinige  unvollständig 
sei  und  einen  Neudruck  nicht  ersetzen  könne.  Was  soll  diese,  wie  ein  Vorwurf 
hingestellte  Bemerkung  eigentlich  hier  besagen?! 

9.  Der  Ausspruch  „editorum  in  usum"  ist  im  Munde  des  ..boshaften  Eng- 
länders" humoristisch,  in  dem  des  Rezensenten  ändert  er  aber  seinen  Charakter 
in  wenig  schöner  Weise.  Den  Freunden  des  Philosophen  dürfte  mit  der  Ver- 
öffentlichung der  Fehler  der  Ausgaben  letzter  Hand  wohl  mehr  gedient  sein, 
als  späteren  Editoren. 

10.  Die  Geschichte  der  Handexemplare  wird  ja  dereinst  auch  noch  ge- 
schrieben werden.  Es  wird  sich  dann  zeigen,  ob  die  Bekanntmachung  des 
„Raubes"  im  Interesse  Grisebachs  gelegen  war.  Jedenfalls  vermochte  dieser 
aus  dem  Raub  keinen  wissenschaftlichen  Nutzen  zu  ziehen.  Für  ihn  konnte  er 
nur  den  Wert  haben,  die  Stellen  in  den  Manuskriptenbüchern  aufzufinden,  was 
ihm  sonst  nur  unter  großem  Zeitveriust  und  vielleicht  überhaupt  nicht  möglich 
gewesen  wäre.  Auf  der  Beriiner  Bibliothek  konnte  er  all  die  in  Dresden  heimlich 
und  in  der  Eile  notierten  Verweisungen  nur  an  der  Hand  der  Frauenstädtschen 
Ausgabe  verwerten.  Auf  diese  war  er  durchgängig  angewiesen:  daher  ist  eben 
Frauenstädt  der  eigentliche  Herausgeber  der  posthumen  Ausgabe. 

11.  Meine  Bemerkung,  in  der  Dissertation  von  1813  seien  bereits  die 
Grundzüge  der  Willenslehre  deutlich  erkennbar,  hat  sowohl  beim  Rezensenten, 
als  bei  Dr.  R.  Lehmann  (Deutsche  Literaturzeitung,  12.  Febr.  1910)  Widerspruch 
gefunden.  Aber  man  lese  nur  den  §  46,  namentlich  S.  119,  so  wird  man  in 
dem  „ausserzeitlichen  Willensäkt"  das  Ding  an  sich  erkennen.  Das  philoso- 
phische System  Schopenhauers  war  eben  in  seinem  Grundgedanken  schon  1813 
im  Kopfe  des  Philosophen  fertig;  daher  darf  man  nicht  von  einem  „jungen" 
und  einem  „alten-'  Schopenhauer  reden,  und  auch  von  keiner  andern  Entwicklung, 
als  derjenigen,  welche  naturgemäss  jeder  Mensch  im  Laufe  seines  Lebens  durch- 
macht. Die  Dissertation  des  jungen  Philosophen,  als  ein  Entwickelungsdokument, 
mit  des  alten  Kants  „Kritik  von  1781"  in  Parallele  zu  stellen,  geht  nicht  an. 

Baden-Baden,  im  Oktober  1910.  Gustav  Friedrich  Wagner. 


Erwiderung. 

Nur  auf  Punkt  7  der  obigen  Erklärung  glaube  ich  dem  Leser  eine 
Antwort  schuldig  zu  sein,  da  ich  hier  einen  Irrtum  meinerseits  zu  berichtigen 
habe.  Die  3.  Auflage  des  3.  Bandes  der  Grisebachschen  Ausgabe  enthält  nicht 
die  von  mir  behaupteten  Korrekturen.  (Bei  S.  536  bezog  ich  mich  auf  einen 
Druckfehler  Wagners,  den  ich  freilich  als  solchen  hätte  erkennen  müssen, 
wenn  ich  Frauenstädts  Text  selbst  auch  für  diese  Stellen  verglichen  hätte,  anstatt 
mich  auf  W.  zu  verlassen;  bei  S.  531  ist  mir  offenbar  eine  Verwechselung  der 
Spalten  passiert.)  Im  übrigen  bitte  ich  den  unbefangenen  Leser,  sich  die  »Ani- 
mositäten*   meiner  Besprechung   nochmals   anzusehen   und   zu  prüfen,  ob  man 


542  Mitteilungen. 

meine  Behauptungen  nicht  anders  verstehen  und  aus  anderen  Motiven  erklären 
kann,  als  Herr  W.  es  tut.  Ich  hatte  mit  Büchern,  aber  nicht  mit  Interessen  zu 
tun,  am  wenigsten  denen  Grisebachs.  Mag  man  über  dessen  persönliches 
Verdienst  denken,  wie  man  will;  dass  seine  Ausgabe  —  meinetwegen  schlecht  — 
doch  immer  noch  besser  als  die  Frauenstädtsche  ist,  diese  entscheidende  Auf- 
steilung scheint  mir  nicht  widerlegt. 

Bonn  a.  Rh,  Fritz  Ohmann. 


Mitteilungen. 

Untersuchung  von  Kants  Schädel 
gemäss  Galls  Lehre  durch  Dr.  W.  G.  Kelch. 

(Eingesandt,  und  mit  einer  kurzen  Einleitung  versehen, 
von  Edmund  O.  von  Lippmann.) 

Zu  den  denkwürdigsten  der  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  aufgestellten 
medizinischen  Theorien  gehört  die  Galische  Schädellehre.*)  Ihr  Urheber, 
J.  F.  Gall  (1758—1828),  der  sich  bei  seinen  Forschungen  der  Mithilfe  des 
trefflichen  Anatomen  Spurzheim  (1776-1836)  erfreute,  hatte  in  zutreffender 
Weise  erkannt,  dass  im  Allgemeinen  ein  enger  Zusammenhang  zwischen  dem 
Bau  des  Gehirnes  und  den  sog.  Seelen-Tätigkeiten  bestehe,  und  dass  im  Be- 
sonderen Einzelne  dieser  Tätigkeiten  an  ganz  bestimmte,  lokal  begrenzte  Gebiete 
des  Gehirnes  gebunden  seien,  z.  B.  die  „rein  psychischen"  an  die  Gehirnrinde, 
die  mit  der  Sprache  Zusammenhängenden  an  die  Stirnlappen,  u.  s.  f.  Die  Vor- 
lesungen, die  Gall  über  seine  neuen  Entdeckungen  an  der  Wiener  Universität 
hielt,  waren  nach  dem  Tode  Kaiser  Josephs  II.  als  .gefährlich"  verboten 
worden,  und  dieser  Umstand  mag  dazu  beigetrageri  haben,  den  von  der  Richtig- 
keit und  Wichtigkeit  seiner  Anschauungen  fest  Überzeugten  vom  mühsamen 
Wege  empirischer  Forschung  abzudrängen  und  zu  übereilten  Schlussfolgerungen, 
sowie  zu  einer  oft  wenig  wissenschaftlichen  Propaganda  für  diese  zu  verleiten. 
In  vorschneller  Verallgemeinerung  seiner  Lokalisations-Theorie  behauptete  Gall 
nämlich,  er  habe  für  alle  menschlichen  Triebe  und  Anlagen,  Sinne  und  Fähig- 
keiten, die  festen  Sitze  an  (zunächst  27)  bestimmten  Stellen  des  Gehirnes,  den 
„Gehirn-Organen",  ermittelt,  und  zugleich  gefunden,  dass  sich  diese  auch  schon 
an  der  äusseren  Schädelfläche,  in  Form  gewisser  Wölbungen  und  Hervorragungen, 
zu  erkennen  gäben.  Obwohl  Aufstellung,  Verteilung,  und  Nachweisung  dieser 
„Seelen-Vermögen"  vielerlei  Willkürlichkeiten  einschlössen,  machte  dennoch  das 
„System  der  Phrenologie"  das  denkbar  grösste  Aufsehen,  gewann  zahlreiche 
Anhänger,  und  verbreitete  sich  rasch  über  ganz  Europa. 

Galls  eigene  ausführliche  Schriften  über  das  Gehirn,  die  durch  ihre 
Methodik,  ihre  anatomischen  Ergebnisse  (Bau  der  Medullar-Substanz),  und  ihre 
ausgezeichneten  Abbildungen  von  dauernder  Bedeutung  für  die  Wissenschaft 
wurden,  erschienen  erst  in  späterer  Zeit;  aber  bereits  vor  und  um  1800  wurden, 
von  Zuhörern,  Schülern,  und  Nacheiferern  seine  phrenologischen  Lehren  in 
Buchform  herausgegeben.  So  erschienen  u.  a.  1801  in  Weimar  Dr.  Froriep's 
.Theorie    der   Physiognomik   des    Dr.    Gall    in   Wien",    und    1803   in   Leipzig 


^)  s.  Haeser,  „Lehrbuch  der  Geschichte  der  Medizin"  (Jena  1881;  Bd.  2, 
S.  874),  und  Puschmann,  „Handbuch  der  Geschichte  der  Medizin"  (Jena  1903ff.; 
Bd.  2,  S.  718;  Bd.  3,  S.  618). 


Mitteilungeu.  543 

Dr.  Marten's  .leichtfassliche  Darstellung  der  Theorie  ...  des  Dr.  Gall  in 
Wien',  und  unter  ausdrücklicher  Berufung  auf  diese  veröffentliche  Dr.  W.  G.  Kelch 
in  Königsberg  1804  eine  Schrift  .Über  den  Schädel  Kants,  Ein  Beitrag  zu 
Galls  Hirn-  und  Schädel-Lehre".  Ein  Auszug  aus  diesem  Buche  erschien  1805 
in  G.  C.  B.  Busch s  .Almanach  der  Fortschritte,  neuesten  Erfindungen  und 
Entdeckungen  .  .  ."  (Erfurt  1805;  Bd.  9,  S.  229),  und  dieser  sei,  der  grossen 
Seltenheit  des  Originalwerkes  wie  des  Almanaches  halber,  im  Nachstehenden 
zum  Abdrucke  gebracht: 


Kelch  liefert,  mit  Kants  Schädel,  einen  Beytrag  zu  Galls  Hirn-  und 

Schädellehre. 

Kants  Schädel  erhält  (nach  Hr.  K.)  durch  die  regelmässige  Bildung  seiner 
einzelnen  Theile  und  durch  die  Menge  der  an  ihm'  stark  ausgezeichneten  Er- 
habenheiten, eine  merkwürdige  Form.  Die  hohe,  breite  und  eckige  Stirn,  die 
bis  zur  Kronnaht  stark  ausgezeichneten  Spurlinien,  die  gerade  Richtung  des 
Oberdachs  des  Schädels,  die  zu  beyden  Seiten  stark  hervorragenden  Erhöhungen 
der  Seitenwandbeine,  die  allmählig  sich  nach  hinten  wölbenden  Schlafflächen, 
und  auf  ihnen  befindlichen  Erhabenheiten,  der  Eindruck  und  die  Abplattung  am 
Hinterhaupte,  und  das  stark  nach  hinten  sich  wölbende  Hinterhauptsbein,  gaben 
dem  Schädel  Eigenheiten,  die  sich  in  diesen  Zusammentreffen  schwerlich  an 
einem  anderen  wieder  finden  werden.  Die  an  ihm  befindlichen  Erhabenheiten 
vermehrten  durch  ihre  übereinstimmende  Höhe  und  Umfang  die  Regelmässigkeit 
seines  Baues.  —  Auch  hatte  das  Nutritionsgeschäfte  in  den  Schädelknochen, 
welches  sonst  im  hohen  Alter  die  Fläche  des  Schädels  abebnet  und  die  Nähte 
verschmilzt,  noch  keinen  oder  nur  geringen  Einfluss  auf  die  Verschwindung 
jener  Erhabenheiten  und  einiger  Nähte  geäussert.  So  war  von  den  letzteren, 
der  obere  Theil  der  Stirnnaht,  der  links  gelegene  der  Kronnaht,  und  der  hintere 
der  Peilnaht,  noch  deutlich  zu  fühlen.  Die  Stirn  enthielt  unter  den  übrigen 
Theilen  des  Schädels  die  meisten  Erhabenheiten,  wenigere  hatten  die  Seitenwand- 
beine, noch  wenigere  die  Schlafbeine,  und  fast  keine,  sich  über  die  Schädelfläche 
erhebende,  zeigten  sich  am  gleichförmig  gerundeten  Hinterhauptsbeine. 

Der  Durchmesser  des  Schädels  betrug  von  der  Protuberanz  des  Hinter- 
hauptbeins bis  an  die  Nasenwurzel  sieben  dreyviertel,  und  der  von  dem  über 
dem  Gehörgange  gelegenen  mittlem  Theil  der  Schlaffläche  bis  zu  derselben  Stelle 
der  anderen  Seite,  sechs  und  einen  halben  Zoll.  Den  senkrechten  Durchmesser 
konnte  Hr.  K.  nicht  mit  Genauigkeit  bestimmen,  weil  er  diesen  merkwürdigen 
Schädel  nicht  zu  zerlegen,  sondern  nur  durch  den  Augenschein  und  durchs 
Gefühl  zu  untersuchen  hatte.  —  An  dem  Kantischen  Schädel  wölbt  sich  die 
Stirn  allmählig  von  vorne  nach  hinten  und  zu  den  Seiten,  wo  sie  durch  den  . 
vordem  Theil  der  halbzirkelförmigen  Linien  zur  Anlage  der  Schlafmuskeln  von 
den  Seitenwänden  des  Schädels  getrennt  wird.  Ihr  unterer  auf  dem  Gesichte 
ruhender  Theil  ist  schmal  und  eckig  von  den  hervorragenden  Stimbeinfortsätzen, 
und  ihr  oberer  Theil,  welchen  die  Kranznaht  mit  den  Seitenwandbeinen  ver- 
bindet, ist  im  Verhältnis  mit  jenem  sehr  breit.  Sie  erhebt  sich  nämlich 
von  dem  Gesichte  mit  einer  Breite  von  viertehalb  Zollen,  erhält  schon  in 
der  Gegend  des  Stimhügels  eine  Breite  von  fünf  Zollen,  und  schliesst  sich 
der  Kronnaht  bis  zu  den  Anfängen  der  Seitenwände  des  Schädels  mit  einer 
Breite  von  siebentehalb  Zollen  an.  Ihre  Höhe  von  der  Nasenwurzel  bis  zum 
Scheitel  beträgt  fünf  Zolle,  und  ihre  deutlichste  Wölbung  nach  hinten  fängt 
zwei  dreyviertel  Zolle  von  der  Nasenwurzel  an.  —  Von  dem  Scheitel  nimmt 
der  Schädel  nach  hinten  und  zu  beyden  Seiten  eine  gerade  Richtung  an. 
Nach  hinten  erhält  sich  diese  Richtung  beinahe  drey  Zoll  lang  bis  zum  Anfange 
einer  länglichen  Vertiefung  in  der  Pfeilnaht,  womit  der  Schädel  sich  in  ziemlich 
schräger  Richtung  zum  Hinterhaupte  überwölbt.  Seitwärts  und  zwar  vorn  erhält 
sich  jene  Richtung  bis  zu  den  Gränzen  der  Schlafflächen,  und  hinten  bis  zu  dem 
Anfange  der  zu  beyden  Seiten  stark  hervorragenden  Hügel  der  Seitenwandbeine. 


544  Mitteilungen. 

Diese  geben  dem  Schädel  oberwärts  die  grosseste  Breite,  nämlich  von  acht  und 
ein  halb  Viertel-Zöllen,  und  von  oben  ein  eckiges  Ansehen.  Bis  zu  diesen  Er- 
höhungen erreicht  der  Schädel  seine  grösste  Breite,  und  hinter  denselben  wird 
er  schmäler  und  geht  zum  Hinterhaupt  über.  —  Das  Hinterhaupt  fängt  mit 
jenem  von  oben  schräg  nach  hinten  und  unten  gehenden  Eindruck  an,  zu  dessen 
beiden  Seiten  es  sich  gleichförmig  bis  zu  den  Schlafflächen  wölbt.  Diesem 
Eindrucke  folgt  eine  drittehalb  Zoll  breite  Abplattung  des  Schädels,  welche 
sich  längs  der  Pfeilnaht  bis  zur  Spitze  des  Hinterhauptbeines  erhält,  und  zu 
beiden  Seiten  in  die  Wölbung  des  Hinterhaupts  übergeht.  Der  Theil  des  Schädels, 
welchen  das  Hinterhauptsbein  bis  kurz  vor  seiner  stark  hervorragenden  Protu- 
beranz  und  vor  denen  von  dieser  seitwärts  ausgehenden  Linien  bildet,  tritt 
merklich  in  gleichförmiger  Wölbung  über  den  Schädelgrund  und  jene  Abplattung 
hervor.  Über  der  Protuberanz  ist  eine  quere  fingerbreite  Furche,  und  zu  beiden 
Seiten  derselben  ist  der  Schädel  ununterbrochen  abgerundet.  Die  halbzirkel- 
förmigen  Linien  des  Hinterhauptes  sind  die  hinteren  Gränzen  des  Schädelgrundes. 
Nämlich  der  Schädelgrund  geht  hier  fast  in  horizontaler  Richtung  ab,  und  seine 
Breite  beträgt,  so  weit  diese  durch  den  Abstand  der  ziemlich  starken  herunter- 
steigenden Spitzen  der  warzenförmigen  Fortsätze  der  Schlafknochen  beurteilt 
werden  kann,  vier  dreyviertel  Zolle.  Seine  Fläche  zur  Insertion  des  sehr  schmalen 
Nackens  lässt  zu  beiden  Seiten  keine  deutliche  Aufwölbungen  fühlen.  —  Die 
Seitenwände  des  Schädels,  die  Schläfe,  sind  vorn  einen  Querfinger  breit  über 
die  Jochbogen,  und  zwey  Querfinger  breit  hinter  den  Rändern  der  Backenknochen 
und  der  Stirnfortsätze  vertieft.  Sie  erheben  sich  hierauf  allmählig  nach  oben 
und  hinten,  und  werden  vorn  von  denen  am  vordem  Theil  zu  beyden  Seiten  der 
Stirn  deutlich  zu  fühlenden  Spurlinien  der  Schlafmuskeln,  und  von  dem  Über- 
gange derselben  in  die  Stirnecken,  von  der  Stirne  getrennt.  Ihre  allmählige 
Aufwölbung  nach  oben  zum  Scheitel  geschieht  ununterbrochen,  und  hinten  werden 
sie  oben  von  den  Hervorragungen  an  den  Seitenwandbeinen  und  unten  von  den 
Erhabenheiten  über  den  Ohren,  welche  dem  Scheitel  unten  eine  grössere  Breite 
geben  als  jene,  begränzt.  Zwischen  und  hinter  diesen  Schädelerhöhungen  nimmt 
die  Aufwölbung  der  Seitenwände  wieder  ab,  und  tritt  in  die  Seitenwölbung  des 
Hinterhaupts  über. 

Zu  Folge  dieser  Erklärung,  bemerkte  Hr.  K.  an  Kants  Schädel  mehrere 
von  den  in  des  Dr.  Martens  Schrift  aufgezeichneten  Organen,  z.B.  die  Organe 
des  Ortsgedächtnisses ;  die  Organe  des  Zahlengedächtnisses  bis  auf  wenige  Ab- 
weichungen; die  Organe  des  Sachgedächtnisses;  die  Organe  der  Freygebigkeit; 
die  Organe  des  Witzes ;  die  Organe  des  vergleichenden  Scharfsinnes,  des  meta- 
physischen Scharfsinns  oder  der  philosophischen  Speculation,  der  Gutmüthigkeit, 
die  der  Religion  oder  der  Theosophie;  auch  schliesst  Hr.  K.  auf  die  Gegenwart 
der  Organe  der  Darstellung  an  Kants  Schädel,  etc. 


Mitteilungen.  545 


IV.  Internationaler  Kongress  für  Philosophie. 

Unter   dem    hohen   Patronate   S.  M.    des    Königs   von    Italien. 
Bologna  6.-11.  April  1911. 

Der  vierte  internationale  philosophische  Kongress,  der  bereits  in  einem 
ersten  Rundschreiben  vom  Mai  d.  J.  angesagt  wurde,  soll  in  Bologna  in  der 
Zeit  vom  6.  bis  11.  April  1911  abgehalten  werden.  Die  schon  empfangenen 
Beitrittserklärungen  lassen  keinen  Zweifel  darüber,  dass  alle  spekulativen  Richt- 
ungen, alle  philosophischen  Standpunkte  und  Anschauungen  in  Bezug  auf 
Wissenschaft,  Kunst,  Geschichte  und  Religion  vertreten  sein  werden  und  in 
reichstem  Masse  zur  Geltung  gelangen  können. 

Die  Tätigkeit  des  Kongresses  wird  teils  in  allgemeinen,  teils  in  Ab- 
teilungs-Sitzungen ihren  Ausdruck  finden. 

Die  allgemeinen  Sitzungen  sollen  zu  Vorträgen  und  Besprechungen 
dienen,  deren  Programm  hier  folgt: 

Vorträge: 

S.  Arrhenius:  Über  den  Ursprung  des  Gestirnkultus.  —  G.  Barzel- 
lotti:  Filosofia  e  Storia  della  Filosofia.  —  E.  Boutroux:  Du  rapport  de  la 
Philosophie  aux  Sciences.  —  R.  Eucken:  Die  Aufgaben  der  Philosophie  im 
Kulturleben  der  Gegenwart.  —  P.  Langevin:  L'evolution  du  mecanisme.  — 
W.  Ostwald:  Elementare  Begriffe  und  die  Gesetze  ihrer  Verbindung.  — 
H.  Poincare:  La  definition.  —  A.  Riehl:  Fortbildung  Kantischer  Gedanken 
in  der  Philosophie  der  Gegenwart.  —  F. CS.  Schiller:  Error.  —  C.  F.  Siout: 
The  interrelation  of  Objects  and  Ejects.  —  F.  Tocco:  La  questione  platonica. — 
VV.  Windelband:  Die  Metaphysik  der  Zeit. 

Besprechungen : 

La  täche  actuelle  de  la  Philosophie  contemporaine,   angeregt  von  H.  Bergson. 

Antwort  von  A.  Chiappelli. 
Les  jugements  de  valeur  et  les  jugements  de  realite,  angeregt  von  E.  Durkheim, 

Die  Zahl  der  Abteilungen  beträgt  acht: 

1.  Allgemeine  Philosophie  und  Metaphysik.  —  2.  Geschichte  der  Philo- 
sophie. —  3.  Logik  und  Theorie  der  Wissenschaft.  —  4.  Moral.  —  5.  Philo- 
sophie der  Religion.  —  6.  Philosophie  des  Rechtes.  —  7.  Ästhetik  und  Me- 
thodik der  Kritik.  —  8.  Psychologie. 

In  diesen  Abteilungen  sollen  freie  Mitteilungen  stattfinden,  sowie  von 
den  leitenden  Ausschüssen  vorher  bestimmte  Besprechungen,  die  durch  be^ 
sondere  Berichte  eingeleitet  werden. 

Das  Arbeitsprogramm    der  Abteilungen   wird  kurz  vor  der  Eröffnung  des 
Kongresses  durch  ein  neues  Rundschreiben  bekannt  gemacht  werden. 
Vorschriften  und  andere  Nachrichten. 

Mitteilungen. 

Jeder  Teilnehmer  darf  in  der  Regel  nur  eine  Mitteilung  in  einer  Abteilung 
des  Kongresses  machen. 

Die  Verfasser  von  Mitteilungen  werden  gebeten,  diese  vordem  I.Januar  1911, 
auf  nur  je  eine  Seite  des  Blattes  mit  der  Maschine  geschrieben,  einzusenden, 
damit  die  Mitteilungen  zum  Zwecke  der  Zeitersparnis  und  der  grösseren  Be- 
quemlichkeit gedruckt  und  unter  die  Teilnehmer  verteilt  werden  können. 


546  Mitteilungen. 

Mitteilungen  für  die  Abteilungen  sollen  in  der  Regel  6  Druckseiten  in 
8.°  nicht  überschreiten.  Auf  Wunsch  der  leitenden  Ausschüsse  abgefasste 
Berichte,  welche  die  Besprechung  bestimmter  Gegenstände  anregen  sollen,  dürfen 
doppelt  so  lang  sein,  also  12  8.^  Seiten  füllen. 

Sollten  einzelne  Mitteilungen  oder  Berichte  sich  nicht  innerhalb  dieser 
Grenzen  halten,  so  sind  die  bezüglichen  Druckkosten  von  den  Verfassern  zu 
tragen. 

Wissenschaftliche  und  akademische  Vereine,  Ministerien  usw. 

Gemäss  dem  Beschluss  des  beständigen  internationalen  Ausschusses 
(Heidelberg  1908)  werden  wissenschaftliche  und  akademische  Vereine,  Ministerien 
usw.  ausdrücklich  gebeten,  an  den  Arbeiten  des  Kongresses  teilzunehmen,  indem 
sie  sich  durch  besondere  Abgesandte  vertreten  lassen. 

Ermässigte  Fahrpreise. 

Die  Kongressleitung  glaubt  schon  jetzt  versichern  zu  können,  dass, 
wenigstens  auf  den  italienischen  Eisenbahnen,  die  Teilnehmer  auf  besondere 
Preisermässigungen  rechnen  dürfen,  da  die  bezüglichen  Verhandlungen  mit  der 
Staatsverwaltung  schon  eingeleitet  sind. 

Festlichkeiten,  Ausflüge,  Wohnungen  usw. 

Die  Kongressleitung  und  die  Stadtbehörden  bereiten  Festlichkeiten, 
Ausflüge  usw.  vor,  deren  Programm,  sobald  es  endgültig  festgestellt  ist,  ver- 
öffentlicht wird.  Wer  zum  Kongress  angemeldet  ist,  empfängt  auch  alle  Nach- 
weise über  Gasthöfe  und  Pensionen  in  Bologna. 

Beitrag. 

Der  Beitrag  beträgt  25  Lire  für  alle  Teilnehmer,  auch  für  Abgesandte 
oder  Vertreter.  Dafür  erhalten  sie  die  Abhandlungen  und  geniessen  alle  Vorteile, 
die  der  Ausschuss  für  sie  zu  erlangen  hofft. 

Damen,  welche  Teilnehmer  begleiten,  entrichten  einen  Beitrag  von  10  Lire. 

Alle  Beiträge  sind  an  den  Schriftführer  und  Schatzmeister  Grafen  Filippo 
Cavazza,  Bologna,  Via  Farini,  5  (Amministrazione  Cavazza)  einzusenden,  der 
sofort  den  Empfang  bescheinigen  und  den  Teilnehmern  gegen  Rückgabe  der 
Quittung  in  Bologna  Erkennungskarte,  Abzeichen,  Drucksachen  usw.  über- 
geben wird. 

Alle,  die  dem  Kongresse  zustimmen,  werden  gebeten,  sich  bei  dem 
Schriftführeramt  (Segreteria)  in  Bologna,  Piazza  Calderini,  2.-,  behufs  weiterer 
Mitteilungen  anzumelden, 

Enriques,  Ferrari, 

Präsident  Generalsekretär, 


Wie  schon  im  vorigen  Heft  S.  391  bemerkt  worden  ist,  wird  voraussichtlich 
auch  die  Kantgesellschaft  auf  dem  Kongress  offiziell  vertreten  sein.  Mitglieder 
und  Freunde  unserer  Gesellschaft  fordern  wir  auf,  sich  recht  zahlreich  in  Bologna 
einzufinden,    .Jeder  philosophisch  Interessierte  kann   ohne  Weiteres  teilnehmen. 

Geh.  Reg.-Rat  Prof,  Dr.  Vaihinger, 

Mitgl.  des  ständigen  internat.  Ausschusses  für  den  Philos.  Kongress. 


Drittes  Preisausschreilien  der  Jantgesellschaft^^ 


Carl  Güttlcr-PrcisaufgabG. 

Welches  sind  die  wirklichen  Fortschritte^ 

die  die  Metaphysik  seit  Hegels  und,  Herhdrts  Zeiten 

in  Deutschland  gemacht  hat? 

Dieses  Thema  ist  der  von  der  Berliner  Akademie  der  Wissenschaften  für 
1791  gestellten  und  bis  1795  verlängerten  Aufgabe  nachgebildet,  zu  deren  Be- 
antwortung Kant  selbst  einen  Entwurf  hinterlassen  hat:  „Welches  sind  die 
wirklichen  Fortschritte,  die  die  Metaphysik  seit  Leibniz  und  Wolffs  Zeiten  in 
Deutschland  gemacht  hat?"  In  der  zugehörigen  Erläuterung  des  Themas  wurde 
ausgeführt,  dass  „Metaphysik",  wie  in  der  Berliner  Preisaufgabe  und  wie  bei 
Kant  selbst,  im  weiteren  Sinne  zu  nehmen  sei,  so  dass  auch  erkenntnistheore- 
tische und  naturphilosophische  Probleme  darunter  fallen.  Es  sollte  also  eine 
Art  kritischer  Revision  der  deutschen  Philosophie  seit  etwa  60  Jahren  gegeben 
und  es  sollte  untersucht  werden,  ob  aus  den  philosophischen  Systemen  und 
Richtungen  der  letzten  Jahrzehnte  ein  positiver,  dauernder  Gewinn  zu  ziehen 
sei.  Die  beste  Bearbeitung  dieses  Themas  sollte  einen  Preis  von  1000  Mk.  er- 
halten, die  zweitbeste  einen  solchen  von  600  Mk.  Als  Preisrichter  fun- 
gierten die  Herren  Geh.  Räte  Proff.  Riehl  und  Stumpf  in  Berlin,  sowie  Herr 
Prof.  Dr.  O.  Külpe,  damals  in  Würzburg,  jetzt  in  Bonn.  Das  Ausschreiben  er- 
folgte im  März  1908  in  Heft  1  u.  2  des  Bandes  XIII  der  „Kantstudien",  und 
wurde  durch  viele  wissenschaftliche  Zeitschriften,  sowie  auch  durch  viele  poli- 
tische Zeitungen  den  weitesten  Kreisen  bekannt  gegeben.  Ablieferungstermin 
war  der  22.  April  (Kants  Geburtstag)  1910. 

Während  bei  unseren  beiden  ersten  Preisausschreiben  —  Kant-Aristoteles- 
Thema,  und  Walter  Simon-Preisaufgabe  über  das  Problem  der  Theodicee  im 
XVIII.  Jahrh.  —  je  7  Bearbeitungen  eingelaufen  sind,  von  denen  dort  2,  hier  3 
preisgekrönt  werden  konnten,  sind  diesmal  nur  3  Bewerbungsschriften  einge- 
sendet worden,  davon  keine  einen  Preis  davongetragen  hat. 

Urteil  des  Preisrichterkollegiums. 

Zur  Preisaufgabe  Carl  Güttiers :  „Welches  sind  die  wirklichen  Fortschritte, 
die  die  Metaphysik  seit  Hegels  und  Herbarts  Zeiten  in  Deutschland  gemacht 
hat?"  sind  drei  Bearbeitungen  eingegangen,  von  denen  indess  keine  zur  Er- 
teilung des  Preises  in  Frage  kommen  kann. 

Wir  vermissen  in  diesen  Arbeiten  zunächst  jeden  Versuch,  den  Begriff 
der  Metaphysik  genauer  zu  bestimmen  und  namentlich  auf  das  grundlegende 
Problem  ihrer  Methode  einzugehen;  obschon  für  die  Metaphysik  des  19.  Jahr- 
hunderts  gerade   dies    charakteristisch   ist,    dass  nach  einem  Verfahren  gesucht 

Kantstudien   XV.  35 


548  Kantgesellschaft. 

wird,  welches  erlaubt  und  berechtigt,  über  die  einzelwissenschaftlichen  Ergeb- 
nisse zu  einer  Weltanschauung  vorzudringen.  Auch  sind  die  Verfasser  der  ein- 
gereichten Schriften  sämtlich  wie  auf  Verabredung  dem  eigentlichen  Thema 
mehr  oder  weniger  weit  aus  dem  Wege  gegangen. 


Die  Arbeit,  die  das  Motto  trägt: 

„«0«  multa  set  miiltum  colligatnus  et  proferamus" 

(158  S.  in  Quart)  verrät  wohl  einiges  philosophisches  Verständnis ;  doch  dringt 
der  Verfasser  nirgends  tiefer  in  die  Probleme  ein,  auf  deren  genetische  Dar- 
stellung er  fast  gänzHch  verzichtet.  Daher  ist  ihm  schon  die  Einleitung  seiner 
Schrift  missglücitt;  aber  auch  deren  weitere  Teile  sind  ohne  rechte  Ordnung 
und  entbehren  des  wissenschaftlichen  Charakters.  In  seiner  Auffassung  Kants 
schliesst  er  sich  ohne  Selbständigkeit  hauptsächlich  an  Hartmann  an  und  auch 
von  Lotze  vermochte  er  ein  gründlicheres  Verständnis  nicht  zu  gewinnen.  Was 
er  gelegentlich  und  noch  dazu  am  unrechten  Orte  über  Lokalzeichen  bemerkt, 
ist  ganz  unverständig.  Die  neuen  Arbeiten  auf  den  Gebieten  der  Naturphilo- 
sophie und  der  Psychologie  sind  ihm  zu  wenig  bekannt,  um  seinem  Urteile 
über  sie  sachlichen  Wert  zu  verleihen.  Sein  eigentlicher,  im  Grunde  einziger 
Gewährsmann  ist  Bertling,  dessen  Unterscheidung  einer  dreifachen  Kausalität  er 
masslos  überschätzt,  sowohl  hinsichtlich  ihrer  Neuheit  wie  ihrer  Bedeutung. 
Augenscheinlich  erblickt  er  in  ihr  den  wesentlichen  Fortschritt  der  Metaphysik; 
seine  Schrift  ist  dadurch  zu  einem  Kommentar  einer  nur  wenig  erheblichen 
Lehre  geworden. 


Die  zweite  Bewerbungsschrift  trägt  das  Kennwort : 

Nie  verlässt  uns  der  Irrtum,  doch  zieht  ein  höher  Bedürfnis 
Immer  den  strebenden  Geist  leise  zur  Wahrheit  hinan. 

Schiller  in  den   Yotiv-Tafeln. 

Diese  Arbeit  (289  S.  in  Quart)  fällt  noch  weiter  aus  dem  Rahmen  der  Aufgabe 
heraus.  Der  Verfasser  will  mit  ihr  den  „Idealismus"  vertreten,  den  er  ohne 
weiteres  mit  der  Metaphysik  identifiziert  und  so  allgemein  und  unbestimmt  ver- 
steht, dass  er  es  wirklich  fertig  brachte,  auch  Herbarts  und  Czolbes  Lehren 
darunter  zu  subsumieren,  sowie  die  Einrichtungen  von  Verkehrsmitteln,  ja  selbst 
die  Gehaltsregulierungen  damit  in  Zusammenhang  zu  bringen.  Und  so  handelt 
er  weit  mehr  von  Hegel  und  Herbart,  als  von  Lotse  (!),  Düring  (!),  Rechner, 
Wundt,  die  er  nur  aus  Überweg-Heinzes  Grundriss  zu  kennen  scheint.  Herbarts 
Realen  bilden,  nach  der  Meinung  des  Verfassers,  eine  Vorstufe  für  die  heutige 
Molekulartheorie  und  von  Hegel  heisst  es:  er  unterscheide  sich  in  manchen 
Bezieil  ungen  von  der  philosophischen  Richtung  Herbarts,  Benekes  und  deren 
Genossen.  Auf  untergeordnete  Erscheinungen  wie  Vatke,  Biedermann  und 
selbst  V.  Hellenbach  wird  grosses  Gewicht  gelegt ;  die  Behandlung  der  einzelnen 
Philosophen  in  den  betreffenden  Abschnitten  ist  eine  ganz  willkürliche,  der 
Gliederung  wie  der  Begründung  entbehrende;  besonders  aber  die  Beurteilung 
des  Materialismus  zeigt  Mangel  an  Sachkenntnis  und  Schärfe  des  Denkens. 


Kantgesellschaft.  549 

Nur  aus  Versehen  scheint  endlich  die  Arbeit  mit  dem  Motto: 

„Ob  nicht  Natur  zuletzt  sich  doch  ergründe?''^ 

(122  S.  Foho)  unter  die  Bewerbungsschriften  um  den  C.  Güttler'schen  Preis  ge- 
raten zu  sein.  Der  Verfasser  stellt  darin  seine  eigene  Philosophie  dar,  nach 
der  gar  nicht  gefragt  wurde.  Dabei  geht  ihm  selbst  die  gewöhnliche  Schul- 
bildung ab;  er  schreibt  habytus,  kulturieU,  cum  granum  salis. 
Metaphysik  bedeutet  für  ihn  die  Hypothesen  über  das,  was  an  der  Grenze  des 
Sichtbaren  im  Räume  und  jenseits  davon  liegt  und  seine  Offenbarungen  über 
dieses  räumlich  Jenseitige  sollen  auch  noch  das  letzte,  von  Haeckel  übrig  ge- 
lassene Welträtsel  lösen..  Nur  mit  Einem  wird  es  seine  Richtigkeit  haben:  der 
Verfasser  selbst  kennzeichnet  seine  Weltanschauung  als  „die  Philosophie  der 
absurden  discordance".  Mit  diesem  Masstab  geht  er  an  eine  Revision  der 
neuesten  Philosophie,  die  er  aber  unmöglich  aus*  den  Originalschriften  kennen 
gelernt  haben  kann,  so  phrasenhaft,  oberflächlich,  nichtig  ist  alles,  was  er  da- 
rüber vorzubringen  weiss.  Den  Schluss  bilden  80  Thesen,  die  teils  an  Triviali- 
tät, teils  nn  Sinnlosigkeit  ihres  Gleichen  suchen;  das  Ganze  —  ein  Machwerk 
schlimmsten  Dilettantismus  mit  der  für  Produkte  dieser  Art  obligaten  Begleitung 
von  Anmassung  und  Überhebung. 

Berlin  und  Bonn,  im  August  1910. 

Riehl.      Stumpf.    Külpe. 


Nach  Massgabe  dieses  Urteils,  dem  sich  auch  der  geistige  Urheber  der 
Preisaufgabe,  Herr  Professor  Dr.  Carl  Güttier  in  München  anschliesst,  ist  dieses 
Mal  eine  Preisverteilung  ausgeschlossen,  doch  wird  die  Preisaufgabe  voraus- 
sichtlich erneuert  werden,  worüber  in  dem  nächsten  Heft  der  „Kantstudien'-  das 
Nötige  mitgeteilt  werden  wird. 

Die  Verfasser  der  nichtgekrönten  Arbeiten  erhalten  ihre  Manuskripte  auf 
Verlangen  zurück,  wenn  sie  sich  dem  unterzeichneten  Geschäftsführer  gegenüber 
hinreichend  als  Absender  ligitimieren.  Werden  die  Manuskripte  nicht  bis  zum 
31.  Dezember  1911  zurückverlangt,  so  werden  sie,  zusammen  mit  den  zuge- 
hörigen uneröffneten,  die  Verfassernamen  enthaltenden  Kuverts  verbrannt 
werden. 

Halle  a.  S.,  im  November  1910. 


Der  Geschäftsführer  der  „Kantgesellschaft". 

Vaihinffer. 


(Zweite  Liste.) 

Kantgeselischaft. 


A.    IVeneln getretene  Mitglieder  fttr  das  Jabr  1910. 

Eliza  Mercedes  Brandes  (aus  Buenos-Aires),  z.  Z.  Brüssel,  Rue  Zinuer  4. 
Dr.  Rudolf  Biach,  Florenz,  Lungarno  Torrigiani  1. 
Dr.  A.  Brotlierus,  Universität  Helsingfors,  Fabrikstrasse. 
Mc.  Horace  Finalj^,  Paris,  Avenue  Hoche  31. 

Cand.  phil.  Fritz  Frankfurther,  Göttingen,  Weender  Chaussee  34. 
Dr.  med.  et  phil.  Gent,  Osnabrück,  Eisenbahnstrasse  8. 
Adolf  Läpp,  München,  Friedrichstrasse  30. 

Rod.  Mondolfo,  Professor  an  der  Universität  Turin,  Corso  Vinzaglio  35. 
L.  N  o  e  1 ,  Professor  an  der  Universität  Löwen  (Belgien),  Rue  Marie  Therese  20. 
Oberlehrer  Traebert,  Delmenhorst,  Bahnhofstrasse  28. 
Dr.  Max  von  Zynda,  Coblenz,  Rheinstrasse  19. 

Bibliothek  Madame  Jenny  Finaly,  Florenz,  Villa  Landau  alla  Pietra,  Via 
Bolognese  56. 

Dr.  phil.  Otto  Closs,  Jena,  Jenergasse  18. 
Dr.  phil.  Jan  van  Delden,  Fabrikant,  Gronau  i.  W. 
Professor  Dr.  E.  Dürr,  an  der  Universität  Bern,  Bern,  Seftigenstr.  53. 
Dipl.-Ing.    Georg    Erdmann,    Assistent   der    Kgl.   Bergakademie,   Frei- 
berg i.  Sa.,  Nonnengasse  9. 
Lic.  Emil  Fuchs,  Pfarrer,  Rüsselsheim  a.  M. 
Privatdozent  Dr.  Moritz  Geiger,  München,  Ainmillerstrasse  131. 
Dr.  Kurt  Geissler,  Lonay,  Kanton  Vaud  (Schweiz),  Chäteau  Roman. 
Dr.  Gerhardt  Gotthardt,  Charlottenburg,  Grolmanstrasse  59a. 
Dr.  Georg  Groddeck,  Baden-Baden,  Ybergstrasse  15. 

Geheimer  Hofrat  Professor  Dr.  Adolf  Hansen,  Dir.  d.  bot.  Gart.  Giessen, 
Löberstrasse  21. 

Frau  Dr.  Fanny  Lowtzky,  Coppet  (Schweiz),  Villa  „Les  Saules". 
G.  Mannhardt,  Prediger  der  Mennoniten-Gemeinde  in  Danzig. 
Dr.  phil.  Stanley    Alfred    Mellor,    Minister    of    Church    of    Our    Father, 
Rotherham,  England,  14  Oakwood  Grove. 

Geheimer  Hofrat  H.  G.  Opitz,  Vicepräsident  der  2.  Sächsischen  Kammer, 
Treuen  i.  V. 

Dr.  Walter  Poetsc  hei,  Breslau,  Paulstrasse  12. 

Universitätsprofessor   Dr.   J.   S  t  i  1 1  i  n  g  -  Strassburg  i.  E.,   Klingenthal   bei 
Ottrott  i.  E. 

Pastor  em.  Dr.  Emil  Sülze,  Dresden-Altstadt,  Reinickstrasse  11. 

Dr.  B.  W.    Switalski,    Kgl.    Universitätspi'ofessor,    Braunsberg   i.    Ostpr., 
Langgasse  10. 


Kantgesellscheft.  551 

Universitätsprofessor  Dr.  Richard  Wähle,  Czernowitz,  Neue  Weltgasse  20. 

Seminarkandidat  Georg  Wendel,  Berlin  W.  50,  Tauentzienstrasse  19b. 

Dr.  Hans  Wendland,  Berlin  W.,  Königgrätzerstrasse  50. 

Stadtbibliothek  Bremen.    Direktor:  Professor  Dr.  H.  Seedorf. 

Philosophisches  Seminar  der  Universität  Jena.    Bibliothekar  :  Dr.  Dannen- 
berg,  Jena,  Beethovenstrasse. 

St.  Johannis-Loge    Germania   zur   Einigkeit.     Vertreter:   Justizrat    Albert 
Bereut,  Berlin  C,  Alexanderstr.  49. 


B.    Xenangemeldete  Mltglteder  für  das  Jalir  1911. 

Dr.  Erich  Eckertz,  Düsseldorf,  Uhlandstrasse  47. 

Dr.  Albert  Görland,  Hamburg  5,  Kreuzweg  12. 

Dr.  Eberhard  Grisebach,  Jena,  Kaiser  Wilhelmstrasse  34. 

Lic.  Gerh.  Heinzelmann,  Privatdozent,  Göttingen,  Am  Feuerschanzen- 
graben 11 II. 

Marie  Joachimi-Dege,  Dr.  phil.,  Frankfurt  a.  0.,  Bahnhofstrasse  16. 

Professor  Dr.  A.  Le eifere,  Privatdozent  an  der  Universität  Bern,  Fri- 
bourg  e/S.,  Avenue  de  Perolles  292. 

Friedrich  Meyerholz,  Präparandenanstaltsvorsteher,  Diepholz  (Hannover). 

Professor  Dr.  David  Neumark,  Cincinnati  (Ohio),  2854  Winsh)w  Ave. 

Dr.  Rudolf  Odebrecht,  Charlottenburg,  Neue  Kantstrasse  27  II. 

Freiherr  Albin  von  Reitzenstein  ,  Major  z.  D.,  Berlin  W.  50,  Augs- 
burgerstrasse 38. 

Dr.  Sänge,  Schöneberg-Berlin,  Ebersstrasse  16. 

Direktor  Dr.  Ferdinand  Jakob  Schmidt,  Direktor  der  Margaretenschule, 
Berlin  O.  27,  Ifflandstrasse  11. 

Oberzollkontrolleur  John  Schult,  Hamburg,  Kippingstrasse  8. 

Geh   Justizrat  Prof.  Dr.  jur.  et  phil.  (b.c.)  Rudolf  Stammler,  Halle  a.  S. 

Professor  Dr.  Oskar  Walzel,  Professor  an  der  Technischen  Hochschule 
und  an  der  Kunstakademie,  Dresden-A.,  Marschnerstrasse  27. 

Geheimer  Reg.-Rat  Prof.  Dr.  Max  B.  Weinstein,  Stellvertr.  Direktor 
der  Normal-Aichungskommission,  Privatdozent  an  der  Universität 
Charlottenburg,  Kantstrasse  148. 

Professor  Charles  Werner,  Professor  an  der  Universität  Genf,  Route  de 
Florissant  4. 

Philosophisches   Seminar   der  Universität   Belgrad. 


Halle  a.  S. 
Berlin 


im  Dezember  1910. 


Die  Geschäftsführung: 

Vaihinger.    Liebert. 


Kantgcscllschaft. 

J/iiiieilung. 

Eine  schwere  Augenerkrankung,  grauer  Staar  an  beiden 
Augen,  erschwert  mir  seit  längerer  Zeit  die  Geschäftsführung  der 
Kantgesellschaft  so  sehr,  dass  ich  dringend  einer  Unterstützung 
darin  bedarf.  Zwar  ist  Aussicht  vorhanden,  dass  in  absehbarer 
Zeit,  wenn  die  Augen  zur  Operation  reif  geworden  sind,  durch 
einen  solchen  Eingriff  Besserung  eintritt,  aber  bis  dahin  muss  ich 
mich  fremder  Hilfe  bedienen.  Die  Kantgesellschaft  hat  in  ihrer 
Generalversammlung  vom  22.  April  d.  J.  mich  daher  ermächtigt, 
die  zu  diesem  Zweck  nötigen  Massregeln  zu  ergreifen  und  so  habe 
ich  in  Herrn  Dr.  Arthur  Liebert  in  Berlin  (W.  15,  Fasanen- 
strasse  48)  einen  Mitarbeiter  für  die  Geschäftsführung  gewonnen. 
Herr  Dr.  Liebert,  ein  Schüler  von  Dilthey,  Riehl,  Paulsen  und 
Menzer,  und  Mitarbeiter  an  der  Redaktion  der  2.  Auflage  der 
Kantausgabe  der  Berliner  Akademie,  hat  sich  schon  durch  ver- 
schiedene Arbeiten  zur  Geschichte  der  Philosophie  und  zur  Er- 
kenntnistheorie bekannt  gemacht.  Ich  bitte  ihm  dasselbe  ehrende 
Vertrauen  entgegenzubringen,  das  mir  die  Gründung  und  Leitung 
der  Kantgesellschaft  ermöglicht  hat.  Ausdrücklich  ermächtige  ich 
Herrn  Dr.  Liebert,  in  meiner  Vertretung  Zahlungen  für  die  Kant- 
gesellschaft entgegenzunehmen  und  rechtsgültig  zu  quittieren. 

Insbesondere  bitte  ich  die  Mitglieder  der  Kantgesellschaft,  ihre 
Jahresbeiträge  pro  191 1  gütigst  direkt  an  den  Genannten  einsenden 
zu  wollen,  der  mich  schon  seit  Mai  vertritt  und  auch  seitdem  schon 
eine  grosse  Anzahl  neuer  Mitglieder  geworben  hat. 

Halle  a.  S.,  im  Dezember  1910. 

Der  Geschäftsführer 


Kantgesellschaft.  553 


Ein  von  Kant  an  Jacobi  geschenktes  Porträt. 

Friedrich  Heinrich  Jacobis  Polemik  gegen  Kant,  und  auch  seine 
positiven  Gedanken  sind,  wenn  auch  fragwürdig,  doch  noch  immer  lebendig. 
Noch  kürzlich  erschien  auf  meine  Veranlassung  hin  eine  Schrift  eines  Schülers 
von  mir,  Dr.  Arthur  Frank,  F.  H.  Jacobis  Lehre  vom  Glauben.  Eine  Dar- 
stellung ihrer  Entstehung,  Wandlung  und  Vollendung  (Verlag  von  C.  A.  Kaem- 
merer  &  Co.  in  Halle  a.  S.,  1910,  143  S.).  Mit  diesem  seinem  Gegner  unter- 
hielt Kant  gute  Beziehungen,  ähnlich  wie  mit  Hamann,  von  dem  ja  auch  Jacobi 
beeinflusst  war.  Im  II.  Band  des  von  R.  Reicke  edierten  Briefwechsels  (S.  72 
bis  75)  ist  ein  sehr  urbaner  Brief  Kants  an  Jacobi  abgedruckt,  ebendaselbst 
S.  99—103  die  Antwort  Jacobis,  sowie  S.  109^110  eine  Art  Ehrenerklärung 
Kants  für  Jacobi.  Und  so  liegt  es  denn  durchaus  in  der  Linie  dieser  freund- 
schaftlichen Beziehungen,  dass  Kant  dem  Pempelforter  sein  Porträt  geschenkt 
haben  kann.  In  der  Jacobischen  Familie  ist  diese  Tradition  lebendig,  zumal 
das  betreffende  Porträt  in  derselben  noch  erhalten  ist.  Es  ist  ein  Stich  von 
J.  F.  Bolt  (Berlin  1794)  nach  dem  bekannten  Vernetschen  Original.  Das  Blatt 
(19X27  cm),  gut  erhalten,  ist  von  der  gegenwärtigen  Besitzerin  dem  Unter- 
zeichneten vorübergehend  anvertraut  worden.  Es  ist  verkäuflich,  jedoch  zum 
Mindestpreis  von  Mk.  20.  Angebote  werden  durch  den  Unterzeichneten  an- 
genommen. 

Halle  a.  S.  (Reichardtstr.  15).  Vaihinger. 


Vom  Autographenmarkt. 

Kantautographen  sind  in  den  letzten  Jahren  enorm  im  Preis  gestiegen. 
Die  Preise  haben  sich  geradezu  verzehnfacht !  So  bietet  die  bekannte  Auto- 
graphenfirma J.  A.  Stargard,  Berlin  W  35,  Lützowstrasse  47,  in  ihrem 
neuesten  Katalog  No.  CCXXVIII  unter  No.  308  einen  Kantbrief  für  —  400  Mark 
aus.  Es  ist  der  Brief  Kants  an  F.  W.  Regge  vom  22.  März  1777,  betreffend 
das  Erziehungsinstitut  (Philanthropin)  in  Dessau.  Der  Brief  ist  in  der  Reicke- 
schen  Sammlung  abgedruckt  (Akademie-Ausgabe,  Bd.  X,  S.  187—189). 


Sach-Register. 


Abbildtheorie  290.  312. 

Absolute,  das  190.820. 373f.427.439ff  .491. 

Abstraktion  487  f. 

Addition  276. 

Ästhetik  233.  372. 

Äther  498. 

Agnostizismus  314. 

Ahnung  491. 

Aktualitätstheorie  298. 

Algebra  273. 

AllgemeiEgrültigkeit  26.39.337f .  494. 562. 

Analysis  488. 

AnalvtL<!ches  Urteil  309, 

Anmutige,  das  2.50  f. 

Anschauung  24.  31.  80  ff.  127.  206.  309. 

383.  487.  498.  514. 
Anthropologie  486. 
Antinomie  195.  201. 
Apodiktizität  34.  4.30. 
Apperzeption  311.  338  ff.  409.  487. 
Apriorität  8.  18.  75.  310.  344. 
Architektur  245.  258.  260. 
Atom  65  f.  68.  127.  209.  227.  289. 
Aufklärung  270.  341.  415. 
Aufmerksamkeit  317.  416. 
Ausdehnung  68.  272.  277. 
Auslösung  506. 
Aussenwelt   272  f.    291.  422.  426.  439. 

449.  451.  503. 
Autononaie  349.  510. 
Autoplastik  93. 
Autoteile  93. 
Axiom  24.  29  f.  32.  .34.  40  f.  79. 

Bedeutung  428.  430. 

Begriff  124.  127.  235.  366.  436.  438.  447. 

Beschleunigung  126.  129. 

Beschreibung  417. 

Bewegung  16.  69.  126.  209.  272.  438. 

Beweis  361.  488. 

Bewu&stsein  120  f.  218.  282.  426. 


Bewusstsein    überhaupt    17.   105.  309. 

327.  426  ff.  487. 
Beziehung  329. 
Biologie  70.  86.  132.  134. 

Charakter  317. 

Charakteristische,  das  (ästh.)  243. 

Chemismus  70. 

Christentum  188.  314.  326.  510. 

Chronometrie  78. 

Correlation  93. 

Darwinismus  71.  861 135.  423.  455.  457. 
Deduktion  488  ff.  506.  518  f. 
Denken  200.  298.  312  ff.  376.  436.  502. 
Deszendenztheorie  71.  135.  498. 
Dialektik  264  f.  353.  436.  471. 
Dichtkunst  260. 
Dimension  218.  277. 
Ding  286  f.  499  ff. 
Ding   an   sich  116,  197.  200.  206.  210. 

226.  228.  271.  387  f.  497. 
Dingaugenblick  287.  449. 
Dogmatik  314. 
Dogmatismus  158. 
Dualismus  94. 
Dynamismus  68.  128. 

Egoismus  302. 

Einbildungskraft  311.  336  ft  487.  490. 

Einheit  125. 

Elektron  209.  274.  289. 

Emanationssystem  94. 

Empfindung  291.  312  ff.  492.  503.  509. 

Empiriokritizismus  326.  457. 

Empirismus   53.    64  f.    126.    152.    154. 

159.  333.  423. 
Energie  67.  126.  129.  275.  505  f. 
Entelecbie  70.  90.  93. 
Entwickelung  135  f. 


Reeister. 


ooo 


^rbümaig  2.  31.  4€.  49. 57. 96. 118. 121 
157.  207.  311.  333.  429.  440.  493  f. 

Eiiahnuigsaxteil  309. 

Ertahran^swisBenschaft  119. 

Erhabene,  das  250  fl 

Erkenntmstheorie  2.  76.  97.  306.  361  f. 
.S73.  3^  f.  421  ff.  428  ff.  452.  4^  t 
491.  494.  496  f.  501  ft 

Erscheinan^  206.  216.  22&  228.  322. 

Ethik  303.  307.  381.  510.  525. 

Eudämonismus  .304.  415. 

Evidenz  2^2  f.  4-29.  495  f. 

Evolutiocismas  315.  4-55  1 

Existenz  197.  199.  208.  289. 

Fachwissenschaft  286. 

Familie  511. 

Fernwirknng  68.  275. 

Fiktion  272. 

Fläche  -209. 

Fortpflanzung  135. 

Frage  286. 

Freüieit  12.  144.  221.  227.  286.  295.  320. 

€iedächtnis  437. 

Gefallen  (ästh,    248- 

Gefühlstheorie  317. 

Gegebenheit  288.  327.  428.  446  f. 

Gegenständlichkeit  312. 410  f.  4281 431. 

Gehimphvsiologie  lOO. 

Geist  245.  322.  437. 

Gemeinschaft  516. 

Genetisch  423. 

Genie  61.  355. 

Geometrie  26.   31.   33.    78.   82  f.  215. 

218.  275.  294. 
Geschehen  125. 

Geschichte  122.  266  fl  286.  294. 320.459. 
Gesetz  65.  120.  122.  517  1  534. 
Gestalt  2^. 
Glauben  4.  314  1  491. 
Glückseligkeit  304. 
Grad  410. 

Gravitation  65.  119.  506. 
Grenze  207.  209.  211. 
Grösse  286. 
Grundwissenschaft  2851  290.  389.448. 


Hisslichc,  das  243. 
Heu'^nisnins  304. 
HLstonsmns  271. 
Honoanitlt  454  1 
Humor  25ö  1 
Hylozoismus  129. 
Hvpnose  306. 
Hypothese  272. 

Ich  10  fl  60. 288.  338.  427.  4.33.  440.  503. 

Ideal  240.  -2^4. 

IdeaUsmns  66.  152.  154.  2.33.  270.  327. 

371.  418  1  5CÖ. 
Idee  2.35.  238.  ÄS  1  267.  406. 
Identität  46.  58.  276.  439. 
Identitätsphilosophie  386.  427.  441. 
Immanenz  32»).  424. 
Immaterialismns  7. 
Impressionismas  424, 
Indefinite,  das  210. 
Indeterminismus  204. 
Individualität  242.  294. 
Induktion  40.  488.  506.  518. 
Infinite,  das  210. 
Infinitesimalmethode  75  1  412. 
Innenwelt  4.50. 
In..— —   -•  ■•^''"?  520. 
Int  -  423. 

Intelligenz  61.  317. 
Intelligibel  229  1 
Interpolationsmaiimen  46. 
Introjektioa  96. 
Intuitiomsmns  303.  328. 
Isolation  507. 
Judentum  533. 

Kant  als  Persönlichkeit  3öO. 

—  und  der  Pietismus  323. 

—  s  Schädel  542  fl 

Kategorien    309.    366  1  373.  385-  422. 

432"  f.  490  ff.  522  ff. 
Kateg.  Imperativ  324  1  349. 
Katharsis  254- 
Katholizisnaus  188. 
Kausalität   46.   58.   64.    124.   130.  221. 

227.     273.   275.    277.    288.    2^    309. 

361.  433-  442.  497.  502.  506. 
Klassifikation  417. 


556 


Register. 


Konkrete,  das  451. 
Körper  68.  209.  273.  437. 
Konformismus  379  f. 
Kontinuität  (bist.)  461.  468  f.  4721476. 
—  (log.-math.)    46.    58.    156.   219  ff. 
224.  273.  410.  412.  438. 
Kraft  67.  128  f.  244.  276.  378.  423. 
Kritizismus  9. 115. 270.  311. 326.355.423. 
Kugelgeometrie  82. 
Kultur   262.  284  f.   307.  320.  432.  536. 
Kunst  235.  242.  323. 

Ijächerliche,  das  254. 

Leben  284.  512.  533. 

Lebenskraft  90  f.  134. 

Lernen  496. 

Liebtäther  274. 

Limes  210.  212, 

Linie  209. 

Logik  61.  113.  276.286.  291.  310.  365  ff. 

434.  490  f. 
Logos  152.  315.  501. 
Lokalisationsgesetz  80. 

Mächtigkeit  276  f. 

Malerei  259  f. 

Manier  256  f. 

Mascbinentheorie  89. 

Masse  126  f.  272. 

Materialismus  86.  94.  440.  606. 

Materie  91,  274  f.  437. 

Mathematik   74.    125  f.    156.  208.  273. 

309.  430.  433.  487  f.  496. 
Mechanik  66.  68.  81. 134.277.285.411.505. 
Mech.  Naturerklärung  127. 
Mechanismus  55.  60.  70.  72.  88.  133. 
Metageometrie  22  f.  25.  76.  79.  82. 
Metaphysik   4.    12.  72  f.   94.  114.  117. 

125.127.263.339.361.  421ff.432ff.  452. 
Metbodenforschung  474. 
Mneme  284. 
Modalität  208. 
Möglichkeit  207  f. 
Monadenlehre  227. 
Monismus  94.  506. 
Moral  295. 
Multiplikation  276. 
Musik  248.  258.  260. 


Mystik  118.    314. 
Mystizismus  64.  118. 


188. 


Nachahmung  235. 

Natur  66.  119.  121.  228.  284  f.  320. 
Naturalismus  243.  258. 
Naturerkenntnis  119. 
Naturphilosophie  116.  386  f.  532  f. 
Naturrecht  295. 

Naturwissenschaft  117. 121f.  127.271.606. 
Naturzweckmässigkeit  131. 
Neovitalismus  524. 
Neukantianismus  118. 
Neuplatonismus  483. 
Neuromantik  270.  421  ff.  452. 
Neuronenlehre  305. 
Nominalismus  56.  63.  336. 
Norm  110.  113.  430. 
Normalbewusstsein  427. 
Normalgesetz  60.  123. 
Notwendigkeit   24.  26.  77.  120.  207  f. 

227.  275. 
Nützlichkeitsteleologie  135. 

Objekt  8.  66.  298.  439. 

Ökonomie  423. 

Okkasionalismus  94.  130  f. 

Ontologie  302.  614. 

Optik  119. 

Optimismus  302. 

Organismus  86.  89.  131.  134.  294. 

Ornamentik  258. 

Ort  286. 

Pädagogik  185.  187.  353.  496.  511. 

Panlogismus  433. 

Panpsychismus  441. 

Pantheismus  315. 

Parallelenaxiom  32.  79  ff.  84. 

Parallelismus  62.  94.  97. 

Patriotismus  144. 

Persönlichkeit  140  f.  160.  263  ff.  307. 

468.  611.  536  f. 
Pessimismus  271.  302. 
Phänomenalismus  524. 
Phänomenologie  431. 435.  442.  492. 497. 
Phantasie  61. 
Philosophiegeschichte  469  ff. 


Register. 


557 


Phoronomie  26.  78. 

Physik  134.  277.  606  f. 

Physikotheologie  135. 

Physiologie  305. 

Plastik  259  f. 

Poesie  237.  248. 

Positivismus  62.  271.  316.  431.  457.  503. 

Postulat  425. 

Pragmatismus  118. 375  f.  423ff .  438. 520ff . 

Primat  d.  prakt.  Vernunft  424  ff. 

Problemgeschichte  370.  462  ff.  473.  476. 

Problemmaterial  468. 

Proportion  245. 

Psychologie    59.   76.  97.  120.  152.  286. 

312  f.  431.  442.  486.  490  f.  497.  505. 
Psychologismus  2.  54.  271.  297.  326  ff. 

423.  427  f.  433.  437. 
Psychomechanismus  107. 
Psychophys.  Parallelismus  92.  284. 
Punkt  213  f. 

Qualität  127.  488.  497. 
Quantität  126. 

Rationalismus    318.    361.    423.    425  f. 

451.  502. 
Raum  16.  18  f.  24.  26.  32.  41.  68.  79  ff. 

126  f.  198.  200.  205.  208.  211.  216  f. 

229  f.    273.    276.    284.  286.  294.  383. 

440.  487  f.  497.  504. 
Realismus  223.  238.  242  f.  258.  497. 
Realität  198.  205.  216.  272.  331  f.  371. 

445.  503. 
Receptivität  487. 
Rechtsprinzip  295. 
Rechtsphilosophie  267. 
Reflexion  487  f. 
Reformation  326. 
Regelmässigkeit  123. 
Regulativ  223. 
Relation  490. 
Relativismus  423.  429. 
ReUgion  157.  161  f.  188.  302.  325.  344  f. 

371.  510. 
Religiosität  156. 
Reversibilität  277. 
Richtigkeit  502. 
Richtung  276  f. 


Romantik  241.  271.  435.  441. 
Rückschluss  473  f. 
Rythmus  248. 

Satyre  256. 

Satz  430. 

Scharfsinn  443. 

Schauspielkunst  260. 

Scheingeometrie  81. 

Schematismus  310  ff. 

Schlaf  306. 

Schluss  293. 

Schönheit  236.  239.  244.  249.  324. 

Schöpfung  288. 

Scholastik  451.  514. 

Seele  287.  437.  450. 

Sein  196.  198.  205.  216.  282.  288.  328. 

428  f.  436.  438.  491. 
Selbstbeobachtung  313.  487. 
Sensualismus  31.  61.  76. 
Sicherheit  502. 
Sinn  430. 

Sinnesqualität  19.  291. 
Sinnlichkeit  276.  311. 
Sittlichkeit  302.  307. 
Skepsis  332  ff.  368.  456  f.  501. 
Solipsismus  13.  327  f. 
Sollen  268.  328.  429  f.  525. 
Spekulation  288  f. 
Spielraum  277. 
Spieltrieb  324. 
Spontaneität  310.  487. 
Staat  267.  511. 
Stand  267.  296. 
Stil  238.  244.  256  f.  260  f. 
Stimmung  245.  248.  525. 
Stoff  259.  378. 

Subjekt  7.  66.  152. 154. 167.  288.  433.439. 
Subjektivismus  433.  452. 
Substantialität  93.  312.  331.  370. 
Substanz  439.  497. 
Superposition  507. 
Symbol  236.  238. 

Synthesis  276.  293.  336.  410.  488  f. 
Synthetisches  Urteil  309. 
Systematik  473.  482. 


558 


Register. 


Tatsache  119  ff.  265.  275.  432. 
Technik  241.  259. 
Teleologie  89.  132  f.  156.  355. 
Temperament  317.  509. 
Thermodynamik  275.  277. 
Tiefsinn  443. 
Trägheit  274.  504. 
Tragikomische,  das  254. 
Tragische,  das  253. 
Transscendent  2.  117.   429.  498. 
Transscendental  117. 120.  2751  423.  496. 
Transscendentale  Methode  75.  481. 
Transscendentalismus  431.  433. 
Transscendentalpsychologie  311. 
Transscendenz  327.  503. 
Traum  306. 

Übertragung  424. 
Unbedingte,  das  439  f. 
Unbewusste,  das  283.  441, 
Unendliche,  das  156.  195  f.  1981  201. 

222.  228. 
Unendlichkeit  199. 
Unendlichkleine,  das  76.  128. 
Unsterblichkeit  343  ff.  357. 
Unvergänglichkeit  290. 
Urteil   60.   286.   292  1    366.   423.  490. 

495.  502. 
Urzeugung  131. 
Utilitarismus  304. 

Tariabilität  135  f. 
Veränderung  287  1  449. 
Verantwortlichkeit  369  1 
Verbindung  276. 
Vererbung  137. 
Vernichtung  288. 
Vernunft  64.  266. 
Verstand  276.  311.  487. 
Verstehen  496. 


Vitalismus  70.  88.  90.  92.  134  1 
Voluntarismus  317.  423. 
Vornehmheit  141. 

Wahrheit  423  f.  495.  528  ff. 
Wahrheitsgefühl  489. 
"Wahrnehmung   46.    81.   273.  291.  333. 

451.  505. 
Wahrnehmungsurteil  309. 
Wahrscheinlichkeit  272. 
Wechselwirkung  61.  282.  288.294.339. 
Weitenbehaftung  204  1  213  fl 
Welt  196.  198.  290. 
Weltanschauung  271. 
Welteinheit  65. 
Weltlogik  124. 
Werden  438. 

Wert  139.  263  f.  302.  424  1  430.  446.  525. 
Widerspruch  293.  449.  514. 
Wille  316  fl  369  1  424.  432.  442. 
Willensakt  509. 
Wirklichkeit  147.  207.  449. 
Wirklichkeitsanalysis  127. 
Wirkung  288. 
Wissen  4. 

Wissenschaftslehre  115. 
Witz  255. 

Wohlfahrtsmoral  307. 
Würde  251. 

Zahl  205.  208. 

Zahlenlehre  214. 

Zeit  18.  26.  45.  80.  126.  156.  198.  200. 

205.    208.    211.    216.  229  1  273.  276. 

284.    290.    294.    383.  440.  481  1  505. 
Zufall  25. 

Zweck  67.  266.  373.  400. 
Zweckbegriff  135. 
Zweckmässigkeit  70.  89.  248. 
Zweckursache  71. 


Register. 


559 


Personen-Register. 


Ach  313.  317. 
Adler  404. 
Amrhein  426  f. 
Archimedes  411. 
Aristoteles  5.  72.  254.  292. 

300.    320  ff.    323.    326. 

352.   371   f.   423.    482  f. 

513.  522.  524. 
V.  Arnim  299  f. 
Augustin  364.  378.  437. 
Avenarius  422  f.  451. 

Bache  426. 

Bacon  638. 

Baeumker  299  f. 

Baltzer  83. 

Bauch  122.  333.  426.  486. 

Bayle  315. 

Beck  387  f. 

Becker  315. 

Beneke  363. 

Bergson  422.  436  ff.  451. 

520.  533. 
Berkeley  7.  76.  331.  333. 
Berolzheimer  297. 
Berti  182.  187.  192. 
Bertini  182.  187. 
Bichat  525. 
Bielschowsky  351. 
Böcklin  408.  414. 
Böhme  118. 
Bölsche  133. 
Bolland  439. 
Boltzmann  273. 
Bolzauo  313.  326.  444. 
BonatelU  192. 
Boughi  192. 
Bonola  84. 
Bremer  360  f. 
Brentano  286.  293.  313. 
Brinckmann  314. 
Bruno,   G.  118.   129.   183. 

284. 
Buber  454. 
V.  Bubnoff  426. 


Buckle  507. 
Büdinger  414. 
Bühler  313. 
Burckhardt  318. 
Busse  96. 

Campanella  183. 

Cantoni  179  ff. 

Cardanus  129. 

Cassirer  75  f.  332  f.  489. 

Celoria  181. 

CJifford  272. 

Cohen  76.   369.   388.  405. 

427, 
Cohn  286. 
Coni  192. 
Comte  272. 
Credaro  192. 
Croce  435  f. 
Curtis  426. 

Darwin  136.  406.  417.  435. 
Demokrit  63.  352  f. 
Descartes   74  f.  192.  275. 

282.  3.35.  437. 
Deussen  363. 
Diels  352. 
Dilthey  315. 
Diogenes  Laert.  482. 
Drews  427. 
Dubois-Reymond  378. 407. 

417. 
Dürr  304. 

Ebbinghaus  312.  369. 

Einstein  506. 

Elsenhans  486  ff. 

Engel  84. 

Epikur  63. 

Erasmus  364. 

j  Erdmann,  B.  272.  309.  488. 
!      534. 
j  Erhardt  389. 

Ernst  426. 
;  Eucken  316.  440. 


Euklid  79.  82. 
Ewald  447.  455  f. 

Faggi  191. 

Falter  77. 

Fechner    12  f.    284.    304. 

410.  523. 
Ferrari  183. 
Ferri  192. 

Feuerbach  270.  307. 
Fichte  115.  264.  295  f.  314. 

320  f.  325.  345.  349.  358. 

363.  387.  420.  432  f.  534. 
Fischer,  K.  426.  531  f. 
Förster-Nietzsche  458. 
Frauenstädt  358  ff. 
Fries  362  f.  486  ff. 
Füssli  419. 

Galen  353. 

Galilei  74.  411.  437.  505. 

Galluppi  184. 

Gauss  73. 

Gioberti  185.  188. 

Goethe  122.  133.  271.  285. 

321.  ,342.  350  f.  378.  526. 

531. 
Goldziher  299  f. 
Gomperz  443. 
Grassmann  273.  276. 
Grisebach  358  ff. 
Grotius  296. 
Grillparzer  417.  420. 
Grube  299  f. 
Güssfeld  416. 
Gwinner  358. 

Hamann  342. 
Hamilton  273. 
V,  Hartmann  86.  250. 270  ff. 

373.  427.  441. 
Hedvall  335.  338  f. 
Hegel   263  ff.  270  f.  315. 

318  f.  321.  345.  .363.  372. 

381.  388.  420.  4321  435  f. 


560 


Register. 


438.   440  f.    471  f.    484. 

516.  522.  526.  533. 
V.  Helmholtz  23.  32.  407. 

412.  504  f.  524. 
Heine  241. 
Heraklit  .351  ff.  438.  440. 

533. 
Herder  318.  323.  342.  516. 
Herodot  318. 
Hertslet  358. 
Hertz  505. 
Hessen  426. 
Hessenberg  441, 
Hubert  81. 
Hobbes  63.  296. 
Höfler  340. 
Hölderlin  364. 
Hoffmann  533. 
Homer  247. 
Humboldt  315.  318. 
Hume    8,    77.    192.    309. 

331    ff.    345.    418.    425. 

456  f.  500.  514.  534. 
Husserl  76.  312  f.  326.  363. 

430   ff.    433.    441.    447. 

492.  495  f.  522  f. 
Huygens  275. 

Jacobi  342.  363.  553. 
James   418.  520  f.   524  f. 

538. 
Jellinek  296. 
Jentsch  331. 
Jnouye  299. 
Jordan  364. 
Josephus  533. 
Jouffroy  180. 
Jtelson  513. 

Keller  408.  414. 
Kepler  342. 
Kiesewetter  4. 
Kinkel  454. 
Klein  404. 
Kirchhoff  417. 
Kopernikus  34. 
Kraus  185. 
Kremer  426. 


Krueger  307. 
Krug  4. 

Külpe  313.  363.  379.  498. 
504. 

Laas  503. 

Ladenburg  507. 

Lagrauge  417. 

Lambert  84. 

Lamprecht  294. 

Lange,  F.  A.  22.  404.  418. 

Lassen  484. 

Legendre  84. 

Lehmann  353. 

Leibniz  6.  74  f.  315.  323. 

341   ff.    411.    437.    444. 

453.  534. 
Lessing  341  ff.  453.  534. 
Lexis  507. 
Liebmann  1 — 162. 
Liepmann  296. 
Lindner  358. 
Lionardo  d.  V.  318. 
Lipps  313.  333  f.  362.  427. 

492. 
Lisst  370. 

Locke  5.  192.  297.  329. 
Lorenz  425. 
Lossky  328  f. 
Lotze  134.  182.  191.  504. 
Luther  326.  356.  532. 
Luzzati  511. 

Mach  3.39  f.  384.  422  f. 

Mally  331. 

Maimon  363.  387. 

Mamiani  185. 

Marbe  508. 

Marcus  335  f.  362. 

Marty  288.  293.  519. 

Marx  525. 

Maticevic  444. 

Maxwell  274. 

Mayer  524. 

Medicus  434. 

Meinong  333.  362.  431. 

Mellin  309. 

Messer  307.  313.  379. 


Meunaann  442. 

Mill  274.  363.  407.  502  f. 

518. 
Minkowski  272.  507. 
Michaltschew  427.  445  ff. 
Montaigne  456. 
Müller,  Job.  119. 
V.  Müller  361. 
Münsterberg  369.  427. 
Mulert  317. 

Uagel  119. 

Natorp  331.  353,  362.  417. 

523. 
Nelson  427.  441  f.  488. 
Newton  126.  129.  136.  342. 

505  ff. 
Nicolaus  V.  Cues  74. 
Niebuhr  318. 
Nietzsche   271.   345.   357. 

378.    380.    426.    455  ff. 

BIO. 

Oldenberg  299. 
Ostwald  331.  339  ff. 
Otto  442. 

Parmenides  352.  440. 
Pasch  83  f. 
Paulsen  307.  526. 
Pestalozzi  405. 
Petsch  453. 
Philon  533. 
Pichler  443. 
Planck  274.  507. 
Piaton  5.  12.  20.  74  f.  235. 
364.   371.  423.  484.  515. 
Plotin  20. 

Quast  336. 

Ranke  315.  318. 

Rayneri  182. 

Rehmke  285  ff.  326.  339. 

427.  445.  447  ff. 
Reicke  17.  534  f. 
Reid  489. 
Reinhold  387. 


Register. 


561 


Reinke  132. 
Renouvier  191. 
Richter  363.  455  ff. 
Rickert     103.     105.     112. 

326   ff.    345.    349.    362. 

417  ff.  441.  446  f.  503  f. 

569.  525. 
Riehl  293.  338.  341.  363. 

500.  504. 
Ritschi  314  f. 
Rosenbach  417. 
Rosmini  185. 
Rousseau  297.  342. 
Royce  425. 
Rugs  501. 
Rüssel  272. 

Sacchieri  84. 

Schelling  315.  320.  355  f. 

358.  372.  3«2.  387  f.  421. 

432  f.  441. 
Schiller  244.  250  ff.  319  ff. 

372  f.  517.  526.  531. 
Schleiermacher  314  ff.  419. 
Schopenhauer  20. 115. 130. 

271.  358.  363.  386.  424. 

614.  525  f. 
Schubert  420. 
V,   Schubert-Soldern   245. 

258. 
Schulze  309. 
Schuppe  12  f.  327  f.  427. 

433. 


Semper  245.  405.  414. 
Sextus,  Emp.  353.  502. 
Shaftesbury  315.  323. 
Sigwart  102.  106  f.  490. 
Simmel  362  f.  456.  519. 
Simon  414. 
Söhring  335. 
Sokrates  351.  423. 
Spencer  86.  370.  417.  423. 

524. 
Spinoza  5.  12.  20.  29.  295. 

315.  342  f.  358.  388.  453. 

514.  534. 
Spir  439. 
Spitteler  364. 
Stadler  403  ff. 
Stäckel  84. 
Stammler  295. 
Steinthal  404  ff. 
Strauss  314.  426. 


Tait  407. 
Teichmüller  466. 
Thaies  360. 
Thomas  v.  Aqu.  185. 
Thomson  407.  418. 
Tocco  183. 
Thukydides  318. 
Tolstoy  378. 
Treitschke  336. 
Trendelenburg    182.    404. 
513. 


Überweg  20.  119.  513. 
Uphues  288.  335.  427. 


Vaihinger  363.  427.  500  f. 
Vico  184. 
Vidari  180.  191. 
Volkelt  51.  235.  242.  253. 

258.  504. 
Vorländer  331. 


Wagner  357. 
Weber  410. 
Weinel  156. 
Weismann  132  f. 
Weiss  434. 
Wellstein  81  f. 
Wendland  508. 
Wentscher  307. 
Wiehert  507. 
Winkelmann  318. 
Windelband  1.-6. 284.2991 

326.  329.  350.  370.  422. 

424  f.  427.  433.  437.  452. 

500.  504.  521.  525. 
Wolff  443.  453.  513  f. 
Wundt  299.  316.  604. 

Zenon  272. 
Ziegler  426. 
Zweig  296. 


Besprochene  Kantische  Schriften. 

(Chronologisch.) 


Kritik  der  reinen  Vernunft  11.19.116. 
123  f.  195  ff.  293.  309  ff.  335.  358. 
361.    387.    404.    406.  418.  514  f.  526. 

Prolegomena  308  f.  311.  335.  383. 

Metaphysische  Anfangsgründe  der  Na- 
turwissenschaft 412. 


Kritik   der   Urteilskraft   89.   91.    132. 
233  ff.  240  ff.  250  ff.   321.  355.  406. 
Metaphysik  der  Sitten  296. 
Vorlesungen  über  Metaphysik  310. 
Opus  postumum  17. 
Reflexionen  309. 


562 


Register. 


Verfasser  besprochener  Novitäten. 


Ach  509. 
Alberti  388. 
Apel  308. 
Arndt  351. 
V.  Arnim  299. 

Baeumker  299. 
Bauch  370. 
Becher  271. 
Biach  536. 
Braun  527. 
Busse  306. 

Cj^on  376. 

öorner  373. 
Drews  278. 

Eber  381. 
Eckertz  380. 
Eilers  377. 
Engel  319. 
Enriques  384. 

Finckh  353. 
Fischer  385.  499. 
Forsyth  538. 
Frost  386. 

Görland  371. 
Goldschmidt  525. 
Goldziher  299. 
Gräter  536. 
Graue  375. 
Gross  382. 
Grube  299. 


Häberlin  531. 
Haering  534. 
Hönigswald  331. 
Hoffmann  355. 
Horneffer  515. 


Janssen  517. 
Inouye  299. 


534. 


Katzer  532. 
Kern  297. 
V.  Keyserling  343. 
Kinkel  356. 
Krieck  516.  536. 
Kühnemann  517. 

liasswitz  283. 
Ledere  376.  511. 
Levy  310. 
Lewkowitz  372. 
Lorentz  341.  534 
Lowtzky  369. 

Ifarcus  365. 
Meumann  316. 
Messer  312. 
Michaltschew  326. 
Moeller  v.  d.  Brück 
Montgomery  524. 
Müller  378. 
Mühlethaler  386. 

Nelson  361. 
Neumark  533. 

Oldenberg  299. 


532. 


349  f. 


V.  d.  Pfordten  379. 
Pichler  513. 
Pötschel  387. 

Rausch  364. 
Rehmke  285. 
Reinhold  384. 
Richter  301.  357. 

Sadee  372. 

Schmitt  388. 

Scholz  314. 

V.  Schulze-Gävernitz  521. 

Sidgwick  303. 

Stöhr  512. 

Störring  501. 

Storm  376. 

Switalski  520. 

Tetsujiro  299. 

Uphues  292. 

del  Vecchio  294.  296. 
Verworn  305. 
Volkmann  .506. 

Wagner  358. 
Weichelt  363. 
Weissfeld  318. 
Wentscher  369. 
Werner  371. 
Wernicke  531. 
Windelband  270.  299. 
Wittmann  307. 
Wundt  299.  508. 


Register. 


563 


Verzeichnis  der  Mitarbeiter. 


Adickes  1—52. 

Häberlin  531. 

Oesterreich  312—314.316 

Alberti  388    389. 

Haering  534—535 

—319. 

Hartmann  459 — 485. 

Ohniann  358—364. 

Bauch  115-138. 283- 

-285. 

Hessen  346—331. 

370.  499—501. 

Hönigswald  94—114. 

Paulsen    ,356-357.   525— 

Becher  301-  308.501- 

-508. 

526. 

Bergmann    285—294. 

517 

Jacobs  365—369. 

V.  d.  Pfordten  379-380. 

— 521. 
Biach  536. 

Jacoby  299—301. 

Pötschel  387. 

Braun  357.  515—516 

Janssen  534. 

• 

Uausch  353— .355. 

Buchenau  511—513. 

Katzer  532. 

Reichel  294-297. 
Reinecke  486—498. 

Cohen  403—420. 

V.  Keyserling  532 

—533. 

Reinhold  384—385. 

Cyon  378—379. 

Kinkel  I-II.  74- 
Kremer  341—343. 

-85. 

Rubinstein  263—269. 
Rüge  308-310. 

»orner  373—375. 

Krieck  536—538. 

Dreyer  179-194. 
Driesch  86—93. 

Kuntze  271—278. 

Sadee  372. 
Salomon  525. 

Eber  381—382. 

tasson  319-326. 

Sautreaux  527—530. 

Eckertz  380    381. 

Leclfere  376.  535- 

536. 

Schmitt  380. 

Eilers  377-378. 

Levy  513—515. 

V.  Schubert-Soldern  233— 

Engel  517. 
Enriques  384. 
Erhardt  278—283. 

Lewkowitz  310-312.372. 

262. 

Liebert  520—524. 

Schultz  297—299. 

V.  Liel  392. 

Schvvartzkopft    364—365. 

Ewald  270-271.  421- 

-458. 

V.  Lippmann  542- 
Lorenz  534. 

-544. 

Spranger  314—316. 
Stern  376-377. 

Falkenheim    53—73. 

385 

Lowtzky  389. 

—386. 

Vaihinger   163-178.    393 

Forsyth  538—539. 

Maas  343—351. 

-402.  544—552. 

Frost  386-387. 

Medicus  139—151. 

Fuchs  355—356. 

Messer,  A.  509. 

Weidenbach  152-162. 

Messer-Platz  509- 

-511. 

Wentscher  369—370. 

CJeissler  195—232. 

Mühlethaler  386. 

Werner  371—372. 

Görland  371. 

Müller  378. 

Wernicke  531—532. 

Gräter  536. 

Windelband  HI— X. 

Graue  375. 

Wüst  331—343. 

Gross  382—384. 

Nenmark  533. 

Wundt  351—353. 

V4h 


Druck  von  C.  A.  Kaenamerer  &  Co,  Halle  a.  S. 


B 
2750 

Bd.  15 


Kant-Studien 


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