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Full text of "Kant-Studien; philosophische Zeitschrift"

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KANT- STUDIEN 


PHILOSOPHISCHE 
ZEITSCHRIFT       ( 

UNTER  MITWIRKUNG  VON 
E.  ADICKES      J.  E.  CREIGHTON      R.  EUCKEN 

'  UNTERSTÜTZUNG  DER  „KANT- GESELLSCHAFT" 


P.  MENZER     A.  RIEHL 


HERAUSGEGEBEN  VON 


Prof.  Dr.  HANS  VAIHINGER      Prof.  Dr.  MAX  FRISCHEISEN-KÖHLER 

IN  HALLE  IN  HALLE 

UND  f 

Prof.  Dr.  ARTHUR  LIEBERT  Q  \ 

IN  BERLIN  ^  ^  yS\  A  3 

SECHSUNDZWANZIGSTER  BAND 


BERLIN 

VERLAG   VON   REUTHER  &  REICHARD 

1921 


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Alle    Rechte   vorbehalten. 


Dieteriohsche  Universitäts-Riuhdrnckerei  (W.  Fr.  Kaestner)  in  Göttingen. 


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INHALT. 

Seite 

Knnts  „Programm"   der  Aufklärung  aus  dem  Jahre 
1784.    Von  Gisbert  Beyerhaus l 

Die    Methodik    des    pädagogischen    Denkens.     Von 
Theodor  Litt 17 

Politik  und  Idealismus.     Von  Hermann  Herrigel  52 

Zur  Psychologie  der  Weltanschauungen.    Von  Jonas 
Cohn 74 

Die  Lorentz- Kontraktion.    Von  M.  v.  Laue 91 

Kritizistische  oder  empiristische  Deutung  der  neuen 
Physik?    Von  Moritz  Schlick 96 

Philosophie  und  Leben.  Von  Max  Frischeisen-Köhler    112 

Benno  Erdmann  als  Historiker  der  Philosophie.   Von 
Else  Wentscher 139 

Zur  Erinnerung  an  Christopher  Jacob  Boström.    Von 
Reinhold  Gei jer .    .    .    .    .    151 

Kants  Opus  postumum  nach  Erich  Adickes.  Von 
HermannSchneider 165 

Die  „Materie"  in  Kants  Tugendlehre  und  der  Forma- 
lismus der  kritischen  Ethik.  Von  Georg  Anderson    289 

Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori 
bei  Kant.    Von  Constanze  Friedmann    .    .    .    .   312 

Genie  und  Tragik.    Von  Ottomar  Wichmann  .    .    .    351 

Wie  ist  Psychologie  als  Wissenschaft  möglich?  Von 

Anna  Tumarkin 390 

Die  Aufgaben  der  Aesthetik.    Von  Charlotte  Bühl  er   403 

Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  Von  Julius 
Stenzel 416 

Die  Verwechslungen  von  „Beschreibungsmittei"  und 
„Beschreibungsobjekt"  in  der  Einsteinschen  spe- 
ziellen und  allgemeinen  Relativitätstheorie.  Von 
Oskar  Kraus 454 


Seite 

Besprechungen: 

Erkenntnistheorie  und  Logik. 

Berg,  Ernst,  Das  Problem  der  Kausalität.   Von  WaltherRauschen- 

b  erger 174 

Bloch,  Werner,  Einführung  in  die  Relativitätstheorie.  Von  M.  Schlick    174 
Driesch,  Hans,  Logische  Studien  über  Entwicklung.  Von  Paul  Fl as- 

kämper 175 

Driesch,  Hans,  Wissen  und  Denken.    Von  Josef  Wintern itz    .    .    177 
Frost,  Walter,   Schopenhauer   als  Erbe  Kants  in  der  philosophischen 

Seelenanalyse.    Von  Emil  Kraus 180 

Oeyser,  Joseph,  Ueber  Wahrheit  und  Evidenz.  Von  WilhelmReimer    180 
Geyser,  Joseph,  Eidologie  oder  Philosophie  als  Formerkenntnis.  Von 

R.  Kynast 182 

Grau,  K.J.,  Grundriß  der  Logik.  Von  Artur  Buchenau  ....  183 
Hasse,  Heinrich,  Das  Problem  der  Gültigkeit  in  der  Philosophie  David 

Humes.    Von  Josef  Winternitz 184 

Höffding,  Harald,  Der  Totalitätsbegriff.  Von  Kurt  Sternberg  .  .  185 
Koppelmann,  Wilhelm,  Untersuchungen  zur   Logik   der  Gegenwart. 

II.  Teil:  Formale  Logik.    Von  Kurt  Sternberg 187 

Lewin,  Kurt,  Die  Verwandtschaftsbegriffe  in  Biologie  und  Physik  und 
die  Darstellung  vollständiger  Stammbäume.  Von  Walter  Blu- 
menfeld  191 

Moog,  W.,  Logik,  Psychologie  und  Psychologismus.  VonK. F. Endriß  193 
Moog,  W.,  Das  Verhältnis  der  Philosophie  zu  den  Einzelwissenschaften. 

Von  K.F.Endriß 194 

Phalen,  Adolf,   Das  Erkenntnisproblem   in   Hegels   Philosophie.    Von 

Franz  Kröner 195 

Rauschenberger,  Walther,  Der  kritische  Idealismus  und  seine  Wider- 
legung.   Von  Alma  von  Hartmann       196 

Schneider,  Ilse,  Das  Raum-Zeit-Problem  bei  Kant  und  Einstein.    Von 

Josef  Winternitz 198 

Stapel,  Wilhelm,  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft  ins  Gemeindeutsche 

übersetzt.   I.  Band.    Von  Hellmuth  Falkenfeld 199 

Thalheimer,  Alvin,  The  Meaning  of  the  Terms  ,Existence'  and  ,Reality\ 

Von  Josef  Winternitz  .    ". 199 

Wertheimer,  Max,  Ueber  Schlußprozesse  im  produktiven  Denken.   Von 

Walter  Blumenfeld  200 

von  Uexküll,  J.,  Theoretische  Biologie.  Von  HansDriesch.  .  .  201 
Whitehead,  A.  N.,  The  Concept  of  Nature.  Von  Hans  Driesch  .  204 
Weyl,  Hermann,  Raum,  Zeit,  Materie,  Vorlesungen  über  allgemeine 

Relativitätstheorie.    Von  M.  Schlick 205 

Wundt,  Wilhelm,  Logik.  1.  Band:  Allgemeine  Logik  und  Erkenntnis- 
theorie.   Von  Arthur  Liebert     . 207 

Ziehen,  Theodor,  Lehrbuch  der  Logik  auf  positivistischer  Grundlage 
mit  Berücksichtigung  der  Geschichte  der  Logik.  Von  Wilhelm 
Koppelmann 208 


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Einleitungen  in  die  Philosophie. 

Wundt,  Wilhelm,  System  der  Philosophie.    Von  Arthur  Liebe rt  .  487 
Jerusalem,  Wilhelm,    Einleitung    in    die   Philosophie.     Von   Josef 

Winternitz 488 

Rausch,  Alfred,  Elemente  der  Philosophie.    Von  Paleikat  .    .    .    .  490 

Alte  und  mittelalterliche  Philosophie. 
Ueberweg-Praechter,  Grundriß  der  Geschichte  der  Philosophie.  1.  Teil : 

Das  Altertum.    Von  Arthur  Liebert 490 

Wichmann.  Ottomar,  Piaton  und  Kant.    Von  Julius  Stenzel   .    .  494 

Apelt,  Otto,  Piatons  Briefe.    Von  Ernst  Hoffmann 495 

Aristoteles,  Kategorien  (des  Organon  erster  Teil)  (Rolf es) 

Perihermenias  oder  Lehre  vom  Satz   (des  Organon  zweiter  Teil) 

(Rolfes).    Von  Ottomar  Wichmann 496 

Wittmann,  Michael,  Die  Ethik  des  Aristoteles.    Von  B.  W.  Switalski  497 
Ehrle,    Franz,   Grundsätzliches    zur   Charakteristik   der  neueren  und 

neuesten  Scholastik.    Von  Friedrich  Kreis 498 

Wundt,  Max,  Plotin.    Von  Fritz  Heinemann .  499 

Selbstanzeigen  : 

Apel,  Max,  Einführung  in  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft     ....  221 

Birnbaum,  Karl,  Psychopathologische  Dokumente 212 

Feldkeller,  Paul,  Ethik  für  Deutsche .  213 

Fischer,  Ludwig,  1)  Wirklichkeit,  Wahrheit  und  Wissen.  2)  Das  Voll- 
wirkliche und  das  Als  Ob 213 

von  Lippa,  Lazar,  Der  Aufstieg  von  Kant  zu  Goethe 215 

Mezger,  Edmund,  Sein  und  Sollen  im  Recht 215 

Schlemmer,  Hans,  Die  religiöse  Persönlichkeit  in  der  Erziehung    .    .216 
Schneider,   Hermann,  Metaphysik  als  exakte  Wissenschaft.    Heft  3 : 

Die  Lehre  vom  Handeln 217 

Van  der  Vaart  Smit,  H.  W.,  Die  Evolutions-Theorie 218 

Benjamin,  Walter,  Der  Begriff  der  Kunstkritik  in  der  deutschen  Romantik  219 

Alvardes,  Friedrich,  Rassen-  und  Artbildung .  501 

Hofmann,  Paul,  Die  Antinomie  im  Problem  der  Gültigkeit    ....  501 

Hof  mann,  Paul,  Eigengesetz  oder  Pflichtgebot 502 

Ludowici,  August,  Die  Pflugschar 503 

Meurer,  Waldemar,  Ist  Wissenschaft  überhaupt  möglich  ?      .    .    .    .  504 

Wiesner,  Johann,  Die  Freiheit  des  menschlichen  Willens 504 

Wenzel,  Johannes,  Zum  „Untergang  des  Abendlandes" 505 

Mitteilungen: 

Richard  Falckenberg  f .    Von  Hermann  Leser 220 

Otto  Willmann  f.    Von  B.  W.  Switalski 224 

Rudolf  Euckens  Lebenserinnerungen.    Von  Georg  Frebold     .  226 

Philosophie  und  höhere  Schule.    Von  OttoFreitag 230 

Vorbereitender  oder  systematischer  Unterricht  in  der  Philosophie. 

Von  Felix  Behrend 251 

Aufruf,  Solger-Kollegnachrichten  betreffend 260 

Ein  Druckfehler  in  Kants  Kritik  der  Urteilskraft.  Von  Kulimann  506 

Preisaufgabe:  Kant  und  Litauen 506 


Kant-  Gesellschaft: 

An  die  Mitglieder  der  Kant-Oesellschafl  (Jahresbericht) 261 

An  die  Mitglieder  der  Kant-Gesellschaft  (Betrifft  Bezahlung  des  Beitrages 

für  1921) 269 

Zur  siebenten  (Jubiläums)-Preisaufgabe 269 

Ortsgruppe  Basel 270 

Ortsgruppe  Halle       271 

Ortsgruppe  Hannover 273 

Ortsgruppe  Karlsruhe  i.  Baden 274 

Dr.  Amrheins  „Kants  Lehre  vom  Bewußtsein  überhaupt" 278 

Zum  achten  Preisausschreiben  der  Kant-Gesellschaft 278 

Neuangemeldete  Jahres-Mitglieder  für  1921.     1.  Ergänzungsliste    .    .    .  279 

Ortsgruppe  Hannover 508 

Ortsgruppe  Meersburg  a.  Bodensee 510 

Ortsgruppe  Berlin 511 

Vergünstigungen  beim  Bezug  von  Büchern  (Adickes) 512 

XVII.  Jahresbericht  1920:  Einnahmen  und  Ausgaben    .......  513 

Neuangemeldete  Jahres-Mitglieder  für  1921  :  2.  Ergänzungsliste     .     .    .  517 

Neue  Dauermitglieder , 523 

Register: 

1.  Sachregister 525 

2.  Personenregister 529 

3.  Besprochene  Kantische  Schriften 531 

4.  Verzeichnis  der  Verfasser  besprochener  Neuerscheinungen  .    .  532 

5.  Verzeichnis  der  Mitarbeiter 532 


X 


Kants  »Programm*  der  Aufklärung  aus 
dem  Jahre  1784 '). 


Von  JDr.  Gisbert  Beyerhans, 

Privatdozent  an  der  Universität  Bonn. 


Angesichts  des  Unvermögens  der  Orthodoxie,  zn  einer  tendenz- 
freien Würdigung  ihrer  Todfeindin  zu  gelangen;  angesichts  der 
Zersplitterung  der  Aufklärungsstreiter  bei  Verkündigung  ihrer 
Kriegsziele  mitten  im  Gefecht,  war  es  eine  Tat,  als  Kant  am 
30.  September  1784  nun  auch  seinerseits  sich  entschloß,  die  Lebens- 
frage seiner  Generation:  Was  ist  Aufklärung?  zu  beantworten. 
Alles  vereint  sich  scheinbar,  um  diesem  Dokument  eine  überragende 
Bedeutung  zu  sichern :  die  Sprache  des  Khapsoden,  die  hohe  Warte 
des  dem  eigentlichen  Parteikampf  entrückten  Philosophen,  der 
sittliche  Wahrheitsmut  eines  von  geistiger  Freiheit  kündenden 
Propheten.  ,Auf klärung  ist  der  Ausgang  des  Menschen  aus  seiner 
selbstverschuldeten  Unmündigkeit  .  .  .  Sapere  aude!  Habe  Mut, 
dich  deines  eigenen  Verstandes  zu  bedienen!  ist  also  der  Wahl- 
spruch der  Aufklärung'.  Wer  kennt  sie  nicht,  jene  stolzen,  viel 
zitierten  Worte!  Sie  sind  uns  zur  klassischen  Formet  des  Allge- 
meinbegriffs geworden,  der  tausend  ungesehen  fließende  Fäden  zu 
einem  anschaulichen  Ganzen  zusammenwebt. 

Daß  Kants  Definition  uns  dazu  geworden  ist,  diesen  Prozeß 
wird  der  Historiker  zu  allererst  in  seiner  inneren  Notwendigkeit 
begreifen.  Aber  da  ihm  —  nach  dem  Wort  seines  Meisters  — 
jede  Mediatisierung  des  Früheren  zu  Gunsten  des  Späteren  von 
Natur  aus  widerstrebt,  darf  er  zunächst  einmal  verlangen,  daß 
Kants  ,Programm'  der  Aufklärung  nicht  nach  einzelnen  blendenden 
Zitaten,  sondern  nach  dem  Ganzen  seines  Aufsatzes  von  1784  ge- 
würdigt werde. 

Diese  Aufgabe  freilich  umfaßt  einen  Komplex  von  schwierigen 
Einzelfragen,    deren    Lösung   weder   die   zünftige   Kantforschung 


1)  Umgeformt  aus  einer  akademischen  Antrittsrede. 

Kantstudien.  XXVI. 


2  Gisbert  Beyerhaus, 

noch  die  Ideengeschichte  bisher  in  Angriff  genommen  hat.  So 
seltsam  es  klingt:  von  Kants  sämtlichen  Schriften  ist  die  , Beant- 
wortung der  Frage:  Was  ist  Aufklärung?',  soweit  ich  sehe,  viel- 
leicht am  stiefmütterlichsten  behandelt  worden1).  Lohnte  es  sich 
etwa  nicht?  Fast  scheint  es  so,  als  hätten  die  den  Anfang  be- 
herrschende, leicht  zitierbare  Definition  und  der  beinahe  unkantisch 
einfache  Stil  von  einem  eindringenderen  Studium  abgeschreckt. 
Und  doch  brauchen  wir  bloß  die  Frage  der  Entstehungsgeschichte 
aufzuwerfen,  um  vor  dem  sehr  ernsthaften  Problem  zu  stehen: 
welche  Gründe  Kant  gerade  damals  bewogen  haben  mögen,  das 
Thema  publizistisch  zu  erörtern.  War  es  ein  bloßes  Reaktions- 
bedürfnis^),  das  ihn  veranlaßte,  im  Jahrzehnt  der  drei  Kritiken 
aus  dem  Äther  reiner  Begriffe  herabzusteigen  und  bei  einer  ,  Tages- 
frage' zu  verweilen?  Dann  stünden  wir  bestenfalls  vor  dem  Zu- 
fallsprodukt einer  glücklichen  Mußestunde.  Oder  handelt  es  sich 
vielmehr  um  die  reife  Frucht  eines  Denkers,  der  sich  im  Sommer 
1798,  vor  seinen  Tischgästen,  in  fast  vermessenem  Überschwang 
zum  Bildungswert  der  Zeitgeschichte  bekannte:  ,Ich  finde  keine 
Geschichte  lehrreicher  als  diejenige,  die  ich  täglich  in  den  Zeitungen 
lese.  Hier  kann  ich  sehen,  wie  alles  kommt,  vorbereitet 
wird,  sich  entwickelt'.  Niemand  wird  in  diesem  Ausspruch 
und  den  Zusammenhängen,  denen  er  entstammt3),  den  Atem  poli- 
tischer Leidenschaft  verkennen,  der  seit  dem  Jahre  1789  durch  die 
Schriften  der  deutschen  Dichter  und  Denker  weht.  Und  nichts 
liegt  mir  ferner,  als  den  Einfluß  der  französischen  Revolution  zu 
unterschätzen,  nachdem  Karl  Vorländers  wertvolle  Arbeiten4) 
die  unauflösliche  Verflechtung  dieses  Erlebnisses  mit  Kants  poli- 
tischen Anschauungen  sicher  gestellt  haben.  Alle  späteren  Ver- 
suche, sich  der  Gewalt  der  Tatsachen  durch  naive  Verachtung 
historischer  Fragestellungen  zu  verschließen5),   haben  ja  nur  aufs 

1)  Die  bekannten  Darstellungen  von  Kants  Stellung  zur  Politik,  F.  W. 
Schubert  (1838)  und  L.  Friedländer  (1876),  behandeln  im  wesentlichen  die 
spätere  Zeit  und  begnügen  sich  hier  mit  mehr  oder  weniger  umfangreichen  Zitaten. 

2)  Vgl.  Menzer,  Paul:  Kants  Lehre  von  der  Entwicklung  in  Natur  und 
Geschichte.    (Berlin  1911)  280  f. 

3)  Vgl.  die  höchst  interessanten  Angaben  aus  dem  Tagebuch  des  badischen 
Pfarrers  und  späteren  Theologieprofessors  Johann  Friedrich  Abegg  bei  Vor- 
länder: Kant  als  Poliker  in  Zeitschrift  ,März<  1913,  Jg.  7  Heft  10,  S.  222. 

4)  Kant  und  Marx.  Tübingen  1911;  Kants  Stellung  zur  französischen  Re- 
volution in  Philosoph.  Abh.  zu  Cohens  70.  Geburtstag.    Berlin  1912. 

5)  Gegen  Weiß  fei  d,  M.:  Kants  Gesellschaftslehre.    Diss.  phil.  Bern  1907, 


Kants  ,Programm'  der  Aufklärung  aus  dem  Jahre  1784.  3 

neue  bewiesen,  daß  eine  selbstgenugsame  Hermeneutik  den  Denker 
in  Wahrheit  zum  jBegriffskrüppel*  macht. 

Aber  es  wäre  m.  E.  genau  so  verfehlt,  Kant  als  Politiker 
nun  schon  deshalb  aus  bloßem  Revolutionsenthusiasmus  zu  erklären. 
Einmal  ist  der  Zusammenhang  mit  ßousseaus  ideologischem  Uto- 
pismus  viel  älter  als  das  Erlebnis  von  1789.  Vor  allem  wächst 
bereits  in  den  ,Reflexionen  zur  Anthropologie',  die  den  siebziger 
Jahren  angehören,  aus  der  Greschichtsphilosophie  eine  ganze  Reihe 
von  konkreten  politischen  Forderungen  hervor1).  Eine  Tatsache, 
die  für  die  Entstehungszeit  der  drei  Kritiken  ganz  und  gar  nicht 
auf  politische  Indolenz  schließen  läßt.  Somit  gilt  es  methodisch, 
auch  für  die  vorrevolutionäre  Periode  auf  die  Erkenntnis  zurück- 
zugehen, daß  das  Produkt  des  Denkens  sich  nur  als  Produkt  des 
Lebens  begreifen  läßt.  Diese  Einsicht  eröffnet  dem  Verständnis 
unseres  Aufsatzes  neue  Ausblicke  und  Möglichkeiten,  sobald  wir 
uns  die  geistige  Situation  des  Jahres  1784  flüchtig  vergegen- 
wärtigen. 

Das  königliche  Grestirn  ist  im  Verbleichen  begriffen.  Schon 
, steigt  von  der  andern  Seite  des  Horizonts  die  Nacht*  mit  allen 
ihren  Grespenstern  wieder  empor'2).  Und  auch  der  inneren  Ent- 
wicklung nach  sind  die  Morgenstunden  der  deutschen  Aufklärung 
längst  vorüber.  Nicht  nur,  daß  das  Feuer  der  ersten  Liebe  er- 
kaltet, der  Glaube  an  die  Durchsetzungsmöglichkeit  des  Vernunft- 
reiches vom  Zweifel  erschüttert  ist.  Die  notdürftig  hergestellte 
Einheitsfront  des  deutschen  Rationalismus  zeigt  sich  um  die  Wende 
der  80er  Jahre  in  weitgehender  Zersetzung  begriffen3).  Während 
der  Fragmentenstreit  den  Kampf  um  die  Geltung  des  Christentums 
überhaupt  eröffnet  und  den  kirchentreuen  Modernismus  eines  Semler 
in  seinen  Grundfesten  bedroht,  suchen  die  Starken,  um  Bahrdts 
Glaubensbekenntnis  geschart,  das  Erbe  an  sich  zu  reißen.  Gleich- 
zeitig erklingt  aus  Lessings  ,Erziehung  des  Menschengeschlechts* 
die  Ahnung  einer  rein  geistigen  Zukunftsreligion,    die  hoch  über 

S.  2 ff.    Vgl.  dem  gegenüber  die  treffenden  Bemerkungen  von  H.  Zwingmann: 
Kants  Staatslehre  in  Hist.  Zeitschr.  112  (1914),  S.  547. 

1)  Vgl.  Menzer,  a.a.O.,  S.  268 f. 

2)  Für  das  Anwachsen  des  Mystizismus  und  des  Aberglaubens  während  der 
letzten  Regierungsjahre  Friedrichs  II.  vgl.  Frank,  G. :  Gesch.  d.  prot.  Theologie 
T.  III  (Leipz.  1875)  190  ff.  und  Plessings  Brief  an  Kant  (1784  März  15),  W.  W. 
Akad.  Ausg.  Bd.  10,  349  f. 

3)  Vgl.  das  wertvolle  Kapitel  VII  bei  Zscharnack,  Leop.:  Lessing  und 
Semler  (Gießen  1913),  316  ff. 

1* 


4  Gisbert  Beyer  haus, 

alles  Bekenntnismäßige,  selbst  das  Christentum  hinausweist.  Im 
Jahre  1781  wird  durch  die  Vernunftkritik,  ohne  daß  es  der  Theo- 
logie zunächst  zum  Bewußtsein  käme,  allen  dogmatischen  Gottes- 
beweisen der  Boden  entzogen.  Und  1783  wirft  die  Auseinander- 
setzung über  Lessings  Spinozismus  für  die  Eingeweihten  bereits 
ihren  ,romantisch-reaktionären'  Schatten  voraus  x). 

Unter  dieser  äußeren  und  inneren  Konstellation  ergreift  Kant 
in  der  ,Berlinischen  Monatsschrift',  dem  führenden  Organ  der  Gre- 
dicke  und  Biester2),    das  Wort   und   zwar   zur  Klarstellung  eines 
Problems,    das   noch  immer  ebenso  sehr  persönliche  Angelegenheit 
des  einzelnen   wie  Lebensinteresse   des  Staates  war.     Der  Privat- 
charakter   dieses  Pronunciamento   ist  .von   den  Zeitgenossen   wohl 
kaum  angezweifelt  worden.    Um  so  mehr  dürfen  wir  den  offiziösen 
Unterton  heraushören,  wenn  wir  die  Geistesfreiheit  des  preußischen 
Staates  geradezu  aus  dem  Wesen  des  Absolutismus  abgeleitet  sehen. 
In  welchem  Umfange  Kant  sich  zum  Sprachrohr  eines  Regierungs- 
standpunkts gemacht  hat,  wird  uns  noch  beschäftigen.    Aber  schon 
die  Tatsache,  daß  wir  damit  rechnen  müssen,  zwingt  dazu,  unsern 
Aufsatz  von  der  gleichzeitigen  ,Idee  zu  einer  allgemeinen  Geschichte 
in  weltbürgerlicher  Absicht'  (1784)  energisch  abzurücken.   Die  ge- 
schichtsphilosophische    Selbstbesinnung,     die    im    Schlußabschnitt 
hervorbricht,  die  Frage :  ,Leben  wir  jetzt  in  einem  aufgeklärten 
Zeitalter'  oder  ,in  einem  Zeitalter  der  Aufklärung?'     darf  also 
keineswegs   im  Sinne  Kuno  Fischers3)   mißbraucht  werden  und 
zur    Bestimmung     der    literarischen    Gattung    des    Aufsatzes    im 
Ganzen  dienen.     Nichts  kann  uns    sein  Verständnis   sicherer  ver- 
bauen   als    eine    vorschnelle    geschichtsphilosophische   Einstellung. 
Denn   es  handelt   sich   im  Grunde  —  das  ist  stark  zu  betonen  — 
um    eine   staatspolitische  Schrift.     Unser  Urteil   über   den   Gehalt 
haben  wir  also  nicht  an  den  universalgeschichtlichen  Perspektiven 
des  18.  Jahrhunderts,    sei   es  Rousseau  oder  Iselin,    sondern  nach 
rückwärts  an  den  politischen  Traktaten  Spinozas  und  Lockes,  nach 


1)  Vgl.  Mauthner,  Fritz:  Jacobis  Spinoza- Büchlein  in  Bibl.  d.  Philosophen 
Bd.  2  (München  1912)  X11I;  XVIII. 

2)  Vgl.  die  gute  Übersicht  bei  Hay,  Jos.:  Staat,  Volk  und  Weltbürgertum 
in  der  Berlinischen  Monatsschrift  .  .  .  (1783—96).  Berlin  1913,  dazu  Fromm, 
Emil:  Kant  und  die  preußische  Censur  (Hbg.  u.  Lpzg.  1894)  12 ff. 

3)  Geschichte  der  neueren  Philosophie  Bd.  V5  (Heidelberg  1910)  239  ff.  Mit 
Recht  wird  dagegen  die  ,BeantwortuDg'  von  dem  ,wichtigsten  geschichtsphilosophi- 
schen  Aufsatz'  scharf  abgegrenzt  von  Menzer  a.  a.  0.  S.  267  f. 


Kants  ,Programm'  der  Aufklärung  aus  dem  Jahre  1784.  5 

vorwärts  an  Wilhelm  von  Humboldts  ,Ideen'  von  1792  zu  orien- 
tieren. 

Nachdem  wir  uns  die  sog.  Einleitungsfragen  (die  Frage  nach 
der  äußeren  und  inneren  Veranlassung  sowie  der  literarischen 
Gattung)  wenigstens  als  Problem  vergegenwärtigt  haben,  gilt  es 
Struktur  und  Tendenz  unseres  Aufsatzes  auf  dem  Wege  einer  Ana- 
lyse zu  erschließen.  Anhebend  mit  den  volltönenden  Akkorden 
einer  sprachgewaltigen  Definition  weiß  Kant  den  Leser  gleich  mit 
den  ersten  Sätzen  auf  die  Hohe  zu  führen.  Mit  welchem  Triumph- 
gefühl blickten  nicht  die  vulgären  Aufklärer  vom  Schlage  Mendels- 
sohn, Creuz  und  Eberhard  auf  die  vorangegangenen  Jahrhunderte 
der  katholischen  und  protestantischen  Scholastik  herab!  Und  wie 
verstanden  es  die  Söhne  des  , erleuchteten'  Zeitalters,  gerade  sich 
als  die  wahren  , Selbstdenker'  herauszustreichen!  Das  Wort  selbst- 
verschuldet' zerreißt  unerbittlich  die  Schleier  dieses  Wahns. 
Gegenüber  jener  Intoleranz,  die  schon  in  ihrer  Selbstzufriedenheit 
die  Todfeindin  jeder  fortschreitenden  Erkenntnis  ist,  wird  die 
Schuldfrage  des  Obskurantismus  neu  gestellt  und  zu  einer  Ge- 
samtschuld des  Menschengeschlechts  vertieft.  Wie  Montesquieu 
die  Staatsform  des  Despotismus  psychologisch  zu  erklären  ver- 
sucht aus  der  Furcht,  genauer  dem  Mangel  an  Selbstachtung  derer, 
die  sich  das  Joch  gefallen  lassen  (Esprit  des  lois  III,  9),  so  findet 
Kant  auch  die  geistige  Knechtschaft  wurzelnd  in  der  Faulheit 
und  Feigheit  des  Menschen.  Sie  gehören  deshalb  in  erster  Lmie 
auf  die  Anklagebank :  nicht  die  alten  kirchlichen  Mächte  *),  nicht 
der  moderne  absolute  Staat,  wenn  sich  auch  beide  den  Hang  zur 
, süßen  Tyrannei'  Jahrhunderte  lang  zu  nutze  gemacht  haben! 

Wenn  die  Aufklärung  nach  Kant  auf  Selbstdenken  beruht,  so 
ist  im  Gegensatz  zu  Eberhard  und  Mendelssohn  von  vornherein 
klar,  daß  sie  niemals  bestehen  kann  in  einer  bloßen  Summe  von 
fertigen  Lehrbegriffen  —  mögen  diese  an  sich  noch  so  richtig  und 
freigeistig    sein.      Sie    läßt    sich    auch    nicht    einfach    durch    Ver- 

1)  Wie  sie  soeben  noch  durch  Karl  Leonhard  Rein  hold,  einen  ^ent- 
sprungenen Jesuitenzögling,  ganz  ausschließlich  für  die  Knebelung  des  mensch- 
lichen Geistes  verantwortlich  gemacht  worden  waren.  Vgl.  dessen  Abhandlung: 
Die  Wissenschaften  vor  und  nach  ihrer  Säkularisation,  Teutscher  Merkur  1784 
III,  dazu  Wahl,  Hans:  Geschichte  des  Teutschen  Merkur.  A.  u.  d.  T.  Palaestra 
Bd.  127  (Berlin  1914)  193  f.  Daß  Kants  Aufsatz  jede  antihierarchische  Spitze  ver- 
meidet, erklärt  sich  gewiß  einmal  aus  seiner  protestantischen  Grandstellung,  bildet 
jedoch  zugleich  eins  der  stärksten  Kriterien  für  seine  Neuorientierung  des  über- 
lieferten Begriffs  der  Aufklärung. 


6  Gisbert  Beyerhaus, 

tauschung  der  überlieferten  falschen  Meinungen  mit  neuen  besseren 
gewinnen.  Aufklärung  ist  überhaupt  nicht  dogmatisches  Wissen, 
sondern  eine  ethische  »Maxime',  in  ihrer  Vollendung  eine  ethische 
Qualität.  Über  ihren  Wert  entscheidet  rein  formal  das  Maß  von 
Autonomie,  das  die  Eroberung  einer  Erkenntnis  bestimmt.  Damit 
ist  einerseits  die  Seltenheit  und  Mühseligkeit  ,wahrer'  Aufklärung 
gegeben,  andrerseits  die  beschränkte  Möglichkeit  zu  positiver  Mit- 
arbeit des  Staates,  sobald  er  seinerseits  solche  Ideale  zu  realisieren 
strebt.  Jede  gewaltsame  Aufpfropfung  von  neuen  Begriffen,  und 
wenn  es  die  höchsten  wären,  ist  ethisch  wertlos  für  die  Beteiligten. 
Denn  das  hieße  ja  neue  Vorurteile  an  Stelle  der  alten  setzen! 
Nur  der  harte  und  steile  Weg  der  Erziehung,  dem  isolierten  In- 
dividuum fast  unerreichbar,  kann  eine  Gemeinschaft  befähigen, 
Satzungen  und  Formeln,  ,die  Fußschellen  einer  immerwährenden 
Unmündigkeit'  allmählich  von  sich  abzuschütteln.  Durch  lang- 
same, fortschreitende  Reform,  nicht  durch  den  Umsturz  der  staat- 
lichen Ordnung.  ,Durch  eine  Revolution  wird  vielleicht  wohl  ein 
Abfall  von  persönlichem  Despotismus  und  gewinnsüchtiger  oder 
herrschsüchtiger  Bedrückung,  aber  niemals  wahre  Reform  der 
Denkungsart  zustande  kommen;  sondern  neue  Vorurteile  werden, 
ebensowohl  als  die  alten,  zum  Leitbande  des  gedankenlosen  großen 
Haufens  dienen' ! 

Die  positive  Mitarbeit  des  Staates  bei  diesem  geistigen  ,Er- 
mannungsprozeß' *)  kann  nur  bestehen  in  der  Beförderung  des 
Selbstdenkens,  d.  h.  staatsrechtlich  gesprochen  in  der  Gewährung 
und  Sicherung  einer  ,staats freien  Sphäre'2).  Wie  aber  verträgt 
sich  diese  Freiheit  mit  der  staatlichen  Souveränität?  Ist  die 
geistige  Freiheit  abhängig  von  der  politischen  Verfassung?  Ist 
sie  überhaupt  denkbar  ohne  ein  ,wohldiszipliniertes',  starkes  ,Heer' 
als  des  Bürgen  der  öffentlichen  Ruhe?  Damit  tritt  eine  Front- 
verschiebung, man  darf  sagen,  ein  Frontwechsel  ein.  Und  wir 
stehen  vor  einem  zweiten,  wesentlich  nüchterneren  Thema,  [einem 
, Versuch,  die  Grenzen  der^, Wirksamkeit  des  Staates  zn  bestimmen.' 

Auf  drei  Schauplätzen  sieht  Kant  sein  Prinzip  der  individuellen 
Vernunftautonomie  mit  der  Staatsautorität  zusammenprallen:  im 
Militärwesen,  in  der  Finanzverwaltung  und  in  der  Kirche.  ,Von 
allen  Seiten  höre  ich  rufen:  „Räsonniert  nicht!"  Der  Offizier 
sagt:    Räsonniert  nicht,    sondern  exerziert!     Der  Finanzrat:    Rä- 

1)  S.  Kuno  Fischer  a.  a.  0.  S.  241. 

2)  Jellinek,  G.:  Das  Recht  des  modernen  Staates  Bd.  P  (1905)  320 ff. 


Kants  ^Programm'  der  Aufklärung  aus  dem  Jahre  1784.  7 

sonniert  nicht,  sondern  bezahlt !  Der  Geistliche :  Räsonniert  nicht, 
sondern  glaubt!  Nur  ein  einziger  Herr  in  der  Welt  sagt:  R,ä- 
sonniert,  so  viel  ihr  wollt  und  worüber  ihr  wollt,  aber  gehorcht!' 
Es  hätte  wahrlich  dieses  Hinweises  nicht  bedurft,  um  uns  die  ,tiefe 
innere  Beziehung' *)  dieser  Staatsanschauung  zu  dem  frideriziani- 
schen  Preußen  vor  Augen  zu  führen.  Und  es  ist  deshalb  müssig 
zu  untersuchen,  ob  sich  die  Einheit  des  preußischen  Staates  in  den 
genannten  drei  Funktionen  auch  wirklich  konzentriert.  Genug, 
daß  sie  in  Form  einer  Abbreviatur  die  Zwangsnatur  des  Staates 
an  typischen  Beispielen  veranschaulichen.  Wir  haben  deshalb 
lediglich  zu  fragen,  wie  Kant  die  Spannung  zwischen  den  unver- 
letzbaren Ordnungen  des  Staates  und  den  Forderungen  der  Ver- 
nunft überwindet.  Er  hilft  sich  bekanntlich  mit  einem  Kompromiß- 
verfahren, mit  der  Unterscheidung  zwischen  öffentlichem  und  Pri- 
vatgebrauch der  Vernunft.  Damit  strömt  unaufhaltsam  das  Wasser 
in  den  Feuer  wein.  Auf  seinem  bürgerlichen  Posten  nämlich  ist 
der  einzelne  durch  die  Gehorsamspflicht  verbunden,  die  sanktio- 
nierte Richtschnur  seines  Wirkens  (Kommandobefehle,  Gesetze, 
Symbole,  Katechismen)  unverbrüchlich  zu  halten.  Denn  so  lautet 
nach  Kant  sein  Anstellungsvertrag.  Wir  begreifen  daher  die  etwas 
kleinlaute  Versicherung:  jener  amtliche  Vernunftgebrauch  —  im 
Gegensatz  zum  gewöhnlichen  Sprachgefühl  als  ein  ,Privatgebrauch' 
bezeichnet  —  dürfe  also  ,Öfters  sehr  enge  eingeschränkt  sein'. 
Dem  steht  der  Vernunftgebrauch  des  Beamten  gegenüber,  sofern 
er  als  Forscher  und  Gelehrter  vor  das  Forum  der  Öffentlichkeit 
tritt.  Als  solcher  hat  er  volle  Freiheit,  ja  sogar  den  Beruf,  seine 
Meinung  zu  sagen  und  das  Publikum  durch  freimütige  Kritik  für 
Verbesserungen  reif  zu  machen.  In  seinem  publizistischen  Wirken 
steht  der  Beamte  gleichsam  in  eines  höheren  Herrn  Pflicht,  er 
gehört  der  , Weltbürgergesellschaft'  an. 

Bei  aller  theologischen  Unbefangenheit  ist  sich  Kant  von  vorn- 
herein darüber  klar,  daß  der  Konflikt  zwischen  dem  ,Eecht  der 
Aufklärung'  und  der  ,Erfüllung  der  Amtspflichten' 2)  den  prote- 
stantischen Geistlichen  mit  besonderer  Schärfe  trifft.  Nicht  als 
ob  der  Zwiespalt  zwischen  ,Person'  und  ,Amt',  das  böse  Erbe  der 
lutherischen   Ethik 3) ,    an   irgend    eine    Berufskategorie   gebunden 

1)  Vgl.  Bauch,  B.:  Vom  Begriff  der  Nation  in  Kantstudien  21  (1017)  150f. 

2)  Kuno  Fischer  a.  a.  0.  S.  243. 

3)  T  r  o  e  1 1  s  c  h ,  E. :  Die  Soziallehren  der  christlichen  Kirchen  und  Gruppen. 
A.  u.  d.  T.    Ges.  Schriften  I  (1912),  500  f. 


8  Gisbert  Beyerhaus, 

wäre.  Aber  für  keinen  Diener  der  öffentlichen  Ordnung  war  beides, 
Lehrautorität  und  Verfassungsnorm,  gleich  schwankend  geworden 
wie  für  den  sog.  geistlichen  , Vormund  des  Volkes'.  Und  während 
die  Juristen  gerade  jetzt  an  dem  , Allgemeinen  Preußischen  Land- 
recht' (Erster  Teil  1784)  einen  Führer  fanden,  welcher  eins  war 
mit  dem  Geist  der  Zeit,  sahen  sich  die  protestantischen  Kirchen- 
lehrer noch  immer  auf  die  ehrwürdigen  .Denkmäler  ihrer  Glaubens- 
freiheit' *)  vereidigt. 

Der  Vorstoß  der  Lüdke  und  Büsching  (1767  und  1770)  zur 
offiziellen  Abschaffung  der  symbolischen  Bücher  hatte  bekanntlich 
mit  einer  Niederlage  der  Radikalen  geendet2).  Aber  der  Kampf 
selbst  war  noch  längst  nicht  abgeblasen!  Eine  weitausgreifende 
Publizistik  verstand  es,  ihn  mit  geistigen  Waffen  weiterzuführen 
und  in  die  kirchlichen  Körperschaften,  ja  in  die  Gemeinden  zu 
tragen.  Am  Krefelder  Eeligionsprozeß  (1775 — 1777)  sehen  wir  nur 
allzu  klar,  wie  jede  Heterodoxie  kirchenpolitisch  unvermeid- 
lich fortschreiten  mußte  zum  Angriff  auf  dies  Schibboleth  des 
alten  Glaubens 3).  Wir  begreifen  aber  auch,  was  es  damals  be- 
deutete, wenn  der  ,Philosoph  des  Protestantismus'  das  amtliche 
Wirken  des  Pfarrers  von  der  vertraglichen  Verpflichtung  auf  die 
symbolischen  Bücher  abhängig  machte ;  wenn  er  den  Diener  am 
Wort  auf  die  bestimmte  theologische  Fassung  festnageln  wollte, 
welche  die  einzelnen  Glaubenslehren  in  der  mehr  oder  weniger 
zufälligen  Kodifizierung  des  territorialen  Kirchenregiments,  in  foro 
humano  gefunden  haben. 

Eine  eidliche  Verpflichtung  auf  die  Unveränderlichkeit  be- 
stimmter Glaubensstatuten  ist  darin  freilich  nicht  einbeschlossen. 
Im  Gegenteil !  Ein  solcher  Kontrakt  käme  dem  Verzicht  auf  jede 
weitere  Aufklärung  gleich.  Ein  Verbrechen  wider  die  mensch- 
liche Natur,  deren  ursprüngliche  Bestimmung  ja  gerade  im  Fort- 
schreiten besteht!  Ein  derartiger  Entschluß,  dessen  Ergebnis  so- 
fort null  und  nichtig  wäre,  kann  daher  weder  von  einer  Kirchen- 


1)  Vgl.  [Brück,  Engelbert  vom]:  Etwas  über  den  Werth  der  Symbolen 
zur  Beförderung  der  Toleranz  .  .  .  Deutschland  [=  Frankfurt  a.  M. :  Fleischer] 
1777,  8.  12. 

2)  Vgl.  Frank  a.  a.  0.  III,  123.  Eine  kritische  Verarbeitung  der  weit- 
schichtigen  Streitschriftenliteratur  wäre  dringend  wünschenswert. 

3)  Sie  hierüber  meine  in  Vorbereitung  befindliche  Publikation  ,Quellen  zur 
Geschichte  der  Aufklärung  am  Rhein  im  18.  Jahrhundert'.  Bd.  1 :  Die  weltlichen 
Territorien. 


Kants  ,Programm'  der  Aufklärung  aus  dem  Jahre  1784.  9 

Versammlung  geleistet,  noch  von  den  weltlichen  Machthabern  ge- 
fordert werden  —  selbst  in  der  Form  von  Reichstagen  und  feier- 
lichsten Friedensschlüssen  nicht! 

Dessen  ungeachtet  bleibt  die  formaljuristische  Bindung  auf  die 
symbolischen  Bücher  bestehen.  Oder  war  es  ein  Weg  ins  Freie, 
wenn  Kant  dem  einzelnen  Geistlichen  anheimstellte,  sich  mit  der 
kaum  verhüllten  reservatio  mentalis  zu  trösten :  im  Amt  wirke  er 
nun  einmal  als  .Geschäftsträger  der  Kirche',  der  nicht  seine  Über- 
zeugung, sondern  'nach  der  Vorschrift  und  im  Namen  eines  andern' 
lehre?  War  es  noch  vereinbar  mit  den  Pflichten  intellektueller 
Redlichkeit  —  sogar  im  Sinn  des  18.  Jahrhunderts  — ,  wenn  Kant 
den  Kompromiß  empfahl:  selbst  Glaubenssatz ungen,  die  er  ,nicht 
mit  voller  Überzeugung  unterschreiben  würde',  ließen  sich  amtlich 
sehr  wohl  vortragen,  'weil  es  doch  nicht  ganz  unmöglich'  wäre, 
,daß  darin  Wahrheit  verborgen  läge,  auf  alle  Fälle  aber  nichts 
der  inneren  Religion  Widersprechendes    darin   angetroffen  wird'  ? 

Den  Weisen  von  Königsberg,  den  Kritiker  und  Befreier,  auf 
einmal  als  Bundesgenossen  eines  J.  R.  A.  Piderit,  als  Wegbereiter 
eines  Wöllner  zu  sehen,  wirkt  peinlich  und  befremdend  zugleich. 
Letzteres  um  so  mehr,  als  die  ,Kr.  d.  pr.  V.'  (1788)  speziell  die 
Abhandlung  ,Über  den  Gemeinspruch'  (1793)  jede  Unterscheidung 
von  Theorie  und  Praxis  auf  ethischem  Gebiet  aus  den  Angeln 
heben  sollte.  Und  wenn  auch  Wöllner  sein  polizeistaatliches  Pro- 
gramm ganz  unabhängig  von  unserm  Aufsatze  entwickelt  haben 
mag1),  welche  seltsame  Paradoxie,  um  in  Kants  Sprache  zu  reden, 
daß  das  vornehmste  Opfer  der  Reaktion  den  Berliner  Glaubens- 
zuchtmeistern so  gefährliche  Waffen  und  Argumente  geliefert  hat ! 
Es  ist  also  keine  müssige  Parallelenjägerei,  wenn  wir  hier  einmal 
nach  den  Quellen  fragen  und  zu  den  tiefer  wurzelnden  Erfahrungen 
des  Lebens  hinabsteigen. 

Die  geistige  Entwicklung  Königsbergs  bis  zum  Jahre  1763  ist 
uns  von  Benno  Erdmann2)  ebenso  eindringend  wie  glänzend  ge- 
schildert worden.  Der  Einfluß  des  Pietismus  auf  Kants  Auffassung 
des    religiösen  Lebens  —  bis   in   den  Gegensatz   von  ,Kirchentum 


1)  Eine  Abhängigkeit  des  Wöllnerschen  Religionsediktes  §  8  von  Kants  ,Be- 
antwortung'  ist  m.  E.  nicTit  anzunehmen.  Ähnlichkeiten  der  Denkweise  liegen 
freilich  vor.  Aber  sie  lassen  sich  gerade  so  gut  daraus  erklären,  daß  gewisse 
Grundanschauungen  durch  die  Verteidiger  der  Symbole,  insbes.  die  Kirchenjuristen 
zur  Scheidemünze  geworden  waren. 

2)  Martin  Knutzen  und  seine  Zeit.    Leipz.  1876. 


10  Gisbert  Beyerhaus, 

und  Pfaffentum'  hinein  —  steht  hiernach  außer  Zweifel.  Ebenso 
wenig  darf  man  aber  die  Regungen  aufklärerischer  Art  übersehen, 
die  dem  Nährboden  der  preußischen  Hauptstadt  entstammen.  Das 
hohe  Lied  eines  pantheistischen  Rationalismus.  Chr.  Gabr.  Fischers 
,  Vernünftige  Gedanken  von  der  Natur  .  .  .'  (1743) J) ,  verhallten 
freilich  wie  die  Stimme  eines  Predigers  in  der  Wüste  in  der  noch 
immer  rein  pietistischen  Stadt.  Um  so  lebhafter  sollten  dafür 
zwei  Religionsprozesse,  dreißig  Jahre  später,  die  Macht  des  geist- 
lichen Despotismus  wie  die  Pflichten  der  Staatsaufklärung  Kant 
zum  Bewußtsein  bringen.  Der  erste,  1775,  ist  an  den  Namen 
seines  theologischen  Kollegen  Johann  August  Starck2)  geknüpft; 
der  zweite,  1783,  an  den  des  bekannten  Gielsdorfer  Pfarrers  Joh. 
Heinrich  Schulz 3),  dessen  'Versuch  einer  Anleitung  zur  Sittenlehre 
für  alle  Menschen  ohne  Unterschied  der  Religion'  von  Kant,  im 
,Räsonnirenden  Bücherverzeichnis'  gleichen  Jahres,  einer  zwar  kri- 
tischen, aber  höchst  wohlwollenden  Besprechung  gewürdigt  worden 
war.  Der  Gegenstand  der  Anklage  kann  hier  im  einzelnen  nicht 
geschildert  werden.  Es  genügt  festzustellen,  daß  beide  Male  re- 
ligionsgeschichtliche bezw.  theologisch- spekulative  Sätze  das  Konsi- 
storium zum  Einschreiten  veranlaßt  haben:  im  Eall  Starck  der 
Angriff  auf  den  religiösen  Monopolgedanken  des  Judentums  und 
das  Bekenntnis  zu  einem  religiös-universalen  Theismus;  im  Fall 
Schulz  die  Annahme  eines  fatalistischen  Determinismus.  Um  so 
wichtiger  sind  uns  dagegen  die  lapidaren  Reskripte,  mit  denen 
der  Freiherr  von  Zedlitz  der  Verfolgungssucht  der  Orthodoxie  die 
Spitze  brach.  Der  Chef  des  geistlichen  Departements,  Kants 
glühender  Verehrer,  war  offenbar  ganz  erfüllt  von  der  Gewalt  der 
Entdeckung,  die  einst  in  Semler  —  bei  jenem  denkwürdigen  Tisch- 
gespräch 4)  mit  dem  Kanzler  von  Wolf  und  Voltaire  —  aufgeblitzt 
war.  Denn  er  plante  nichts  Geringeres  als  jene  wissenschaftlich 
fließende  Abgrenzung  von  Religion  und  Theologie  zur  praktischen 
Norm  der  geistlichen  Amtsführung  zu  erheben.  Und  so  fällte  er 
beide  Male  ein  fast  gleich  lautendes  Urteil :  als  Beamter  habe  der 
Geistliche   zu  lehren,   was    ,zum  gemeinen   christlichen   Gebrauch 

1)  S.  ebend.  S.  41  ff. 

2)  Über  Starcks  Persönlichkeit   und   Schriften   vgl.    A.   D.   Biogr.    35,   465 
(Tschacker t)  u.  Meusel:  Das  gelehrte  Teutschland  Bd.  7,  617 f. 

3)  Über  Schulz  vgl.  Vorländer  in  Philos.  Bibl.  Bd.  471  (1913)  S.  XLVIff. 

4)  Vgl.  Dilthey,  W.:   Das  Erlebnis  und  die  Dichtung.    4.  Aufl.    (Leipzig 
1913)  104. 


Kants  ,Programm'  der  Aufklärung  aus  dem  Jahre  1784.  11 

gehört.'  In  Dingen  dagegen,  welche  die  Religion  nicht  ausmachen, 
sondern  das  gelehrte  theologische  Wissen  betreffen,  sei  er  frei  und 
habe  sich  allein  vor  der  Öffentlichkeit  zu  verantworten.  Die  Auf- 
sicht des  Konsistoriums  könne  sich  hiernach  nur  darauf  erstrecken, 
'ob  er  seine  Gemeinde  im  Guten  festhalte  und  nicht  wankend 
mache  .  .  . ;  auch  ob  sein  Wandel  diesem  Zweck  entspreche* *). 
Das  besagte:  theoretisch  ein  formales  Festhalten  an  der  lehramt- 
lichen Kontrolle  des  Staates  als  einer  Schutzwehr  gegen  geistlichen 
Fanatismus;  praktisch  weitherzige  Toleranz  im  Vertrauen  auf  die 
pädagogische  Reife  des  einzelnen  Pfarrers.  In  beidem  ein  getreues 
Spiegelbild  des  friderizianischen  aufgeklärten  Absolutismus  hat 
die  Entscheidung  des  Freiherrn  von  Zedlitz  die  Richtung  der 
preußischen  Kirchenpolitik  bis  zum  Wöllnerschen  Edikte  bestimmt. 
Sie  hat  auch  Kants  Abhandlung  vorangeleuchtet,  die  ,damit  ihren 
offiziösen  Charakter  erweist.  Nicht  als  ob  sie  geradezu  als  ,Staats- 
schrift'  zu  bezeichnen  wäre  wie  Spinozas  Politischer  Traktat! 
Schon  die  leichtgeschürzte  Form  des  Zeitungsartikels  und  die  Rück- 
sicht auf  ein  breiteres,  wenn  auch  gelehrtes  Publikum  verbieten 
es,  die  ,Beantwortung'  allzu  nahe  an  solche  Parallelen  heranzu- 
rücken. Ein  offiziöses  Gepräge  eignet  ihr  gleichwohl,  insofern  der 
Verfasser  die  Politik  des  ihm  eng  befreundeten  herrschenden 
Kultusministers  publizistisch  zu  rechtfertigen  unternimmt  oder 
wenigstens  zu  stützen  vermeint. 

Ich  darf  zum  Schlüsse  den  Blick  noch  einmal  auf  das  Ganze 
zurücklenken.  Zunächst  nach  der  negativen  Seite.  Als  Kant 
Ende  1784  seine  Beantwortung'  schrieb,  hat  er  der  weitverzweigten 
Aufklärungsbewegung  das  Programm  weder  liefern  wollen  noch 
liefern  können.  Schon  deshalb  nicht,  weil  die  Aufklärung  in 
Deutschland  —  nur    sie  kommt  überhaupt   in  Frage  —  bereits  in 


1)  S.  die  Beilagen.  Daß  die  dort  wiedergegebenen  Reskripte  Kant  wirklich 
vorgelegen  haben,  obwohl  eine  Verbreitung  durch  den  Druck  sich  auf  Grund  der 
bisherigen  Nachforschungen  erst  1792  nachweisen  läßt,  steht  wohl  außer  Zweifel. 
Im  Fall  Starck  ist  eine  Einweihung  in  den  Verlauf  des  Verfahrens  bei  dem  engen 
Zusammenhang  des  akademischen  Lehrkörpers  ohne  weiteres  wahrscheinlich.  Kants 
Interesse  an  der  Neubesetzung  der  ,vornehmsten  geistlichen  Stelle  im  Lande'  er- 
hellt aus  seinem  Briefe  an  Campe  (1777  Okt.  31),  W.  W.  Akad.  Ausg.  Bd.  10,  202. 
Im  Fall  Schulz  dagegen  dürfte  Joh.  Erich  Biester,  der  Sekretär  des  Freiherrn 
von  Zedlitz,  die  Orientierung  besorgt  haben.  Außerdem  wäre  an  eine  Übermitt- 
lung durch  Reisende  zu  denken,  die  wie  der  junge  Ettner  die  Beziehung  zwischen 
Berlin  und  Königsberg  hergestellt  haben. 


12  Giaberl   I»  eye  rhu  u  b  . 

ihr  ,allerssch waches  und  lebensfeindliches  Stadium' ')  getreten  war, 
ja  aus  mancher  Wunde  blutend  am  Boden  lag.  Auch  die  Ver- 
legenheitsformel, die  Karl  Vorländer2)  prägt,  ist  in  ihrer  Un- 
klarheit nur  geeignet,  den  Tatbestand  zu  verwirren.  Was  in  aller 
Welt  soll  es  heißen,  Kants  Beantwortung'  habe  ,dem  nach  ihr 
benannten  Zeitalter  gewissermaßen  nachträglich  das  Pro- 
gramm gemacht'?  Selbst  wenn  es  in  der  Jugend  der  Bewegung 
zu  einer  Formulierung  der  Kriegsziele  nicht  gekommen  wäre,  wie 
hätte  ein  posthumes  Programm  die  Geister  sammeln  und  führen 
können?  Sollen  wir  dagegen  aus  den  angeführten  Worten  ledig- 
lich die  Meinung  herauslesen,  das  Zeitalter  Friedrichs  habe  hier 
die  empirisch-historische  Abstraktion  seines  Wesens  erfahren,  so 
wäre  erst  recht  darauf  hinzuweisen,  daß  Kants  nachträgliche 
Wesensbestimmung  den  klassischen  Vertretern  der  deutschen  Auf- 
klärung niemals  als  Programm  gegolten  hat.  Es  ergibt  sich  also, 
daß  die  Aufklärung  wie  jedes  geschichtliche  Lebensprinzip  auf 
verschiedenem  Boden  verschiedene  Früchte  trägt.  Damit  wird 
auch  die  Richtung  gewiesen,  in  der  wir  die  bleibende  positive 
Bedeutung  der  Abhandlung  von  1784  zu  suchen  haben. 

Um  es  kurz  zu  formulieren :  wiewohl  in  ihrer  Tendenz  gegen 
die  Aufklärung  gerichtet,  bildet  sie  dennoch  eine  wertvolle,  vor 
allem  aber  höchst  individuelle  Ausstrahlung  der  späten  friderizia- 
nischen  Staats  auf klärung.  Indem  Kant  den  überkommenen  Betriff 
(Durchschnittstypus:  Eberhard  -  Mendelssohn)  durch  die  Grundge- 
danken seiner  noch  unveröffentlichten3)  Ethik  (Autonomie,  For- 
malismus) unterbaut,  wird  derselbe  in  seinem  Wesen  zerstört.  Die 
Ausgestaltung  zu  einer  ethischen  ,  Maxime*  bezeichnet  eine  voll- 
ständige Umdeutung:  gewiß,  einen  Schutz  des  einzelnen  vor  der 
Verflachung  der  Aufklärerei,  aber  vor  allem  auch  eine  Sicherung 
des  Staates  gegen  alle  ernsthaften  Folgerungen  des  Naturrechts. 
Der  Appell  an  die  heiligen  Rechte  der  Menschheit,  der  in  Rousseau- 
scher Deklamation  ertönt,  darf  nicht  darüber  täuschen,  daß  die 
, staatsfreie  Sphäre',  um  in  der  Sprache  Jellineks  zu  reden,  über- 
aus eng  bemessen  ist.  Kein  revolutionäres,  kein  ständisches  Wider- 
standsrecht !  Nur  eine  vorsichtig  verklausulierte  Preßfreiheit  sichert 
dem  innerpolitischen  Reformeifer  seinen  Schauplatz  der  Betätigung. 

1)  Vgl.  Kj eilen,  R.:  Die  Ideen  von  1914  (deutsch,  Leipz.  1915)  8. 

2)  Immanuel  Kants  Leben  (Leipzig  1911)  119. 

3)  Zur  Chronologie  der  Entstehung  der  ,Grundlegung  zur  Metaphysik  der 
Sitten*  vgl.  Menzer  a.  a.  0.  S.  424  Anm.  200. 


Kants  ,Programm'  der  Aufklärung  aus  dem  Jahre  1784.  13 

So  erfüllt  sich  an  Kants  ,Aufklärung'  im  Jahre  1784  das  Wort 
Lagardes  über  die  ,K,eligion' :  erst  nachdem  sie  ,gezähmt,  das  heißt, 
zum  Spielzeug  geworden  ist,  findet  sie  Duldung  in  der  Welt.' 

Einen  besonderen  Prüfstein  bieten  die  ,Religionssachen'.    Wie 
sie  schon  rein  äußerlich,    in  der  Ökonomie  der  Darstellung,    ein 
Drittel  des  Ganzen  in  Anspruch  nehmen,  so  werden  sie  auch  sach- 
lich zum  konstitutiven  Merkmal  der  Aufklärung  gesetzt:    die  Un- 
mündigkeit auf  religiösem  Gebiet  ist  ,die  schädlichste  .  .  .  und  .  .  . 
entehrendste  unter  allen' !     Hier  nimmt  Kant,   wie  wir  sahen,   die 
kirchenpolitischen   Grundsätze   des   Freiherrn  von  Zedlitz   in   sich 
auf,  um  darauf  das  ,einzige  Palladium  der  Volksrechte'  —  so  heißt 
es  1793  —  zu  gründen.    Erst  dadurch,  daß  Kant  in  seinem  Syste- 
matisierungsbedürfnis    die    Kategorien    des    preußischen    Kultus- 
ministers  mit   der  Rechtsgiltigkeit  der  evangelischen  Bekenntnis- 
schriften verquickt,  gewinnt  seine  Position  eine  neue,  fast  entgegen- 
gesetzte   Tragweite.      Eine   Abgrenzung,    die    ganz    offensichtlich 
dazu  dienen  sollte,    den  Pfarrer   als  Gelehrten  von  der  Vormund- 
schaft seines  Konsistoriums  zu  befreien,  wird  durch  Konstruktion 
eines  Anstellnugsvertrages  in  eine   so  starre  Bindung  verwandelt, 
daß    sich   sofort   das  Bedürfnis   geltend  macht,    sie  sophistisch  zu 
lockern.     Selbst   eine   synodale   bezw.   klassikale    Vertretung   der 
Kirche   ermangelt   des  Eechts   zu   einer   selbständigen  Umbildung 
des  Kirchen-   und  Religionswesens.     Sie   bringe   ihre  ,Vorschläge 
vor  den  Thron' !     Der  Monarch  wird  entscheiden.    Auch  auf  reli- 
giösem  Gebiet  gilt  also   der   Grundsatz   des  Absolutismus:    alles 
für  das  Volk,  nichts  durch  das  Volk !    Das  bedeutet  praktisch  den 
Bankrott  der  Aufklärung  als  kirchenpolitischen  Faktors  *).    Es  ist 


1)  Bezeichnend  hierfür  ist  zumal  die  Tatsache,  daß  Kants  Standpunkt  die 
sog.  Autonomie  der  Einzelgemeinde  schroff  verneint.  Wie  stark  jener  Gedanke 
z.  B.  im  niederrheinischen  Calvinismus  —  wahrscheinlich  unter  mennonitischem 
Einfluß  —  bereits  zur  kirchenpolitischen  Forderung  zugespitzt  war,  zeigt  wiederum 
der  mehrfach  erwähnte  Streit  um  die  Geltung  der  Symbole  in  den  70  er  Jahren. 
Auch  hier  läßt  Kuno  Fischer  (a.a.O.  S.  244)  jede  tiefere  Fragestellung  ver- 
missen, wenn  er  meint:  Kant  habe  den  Geistlichen  ,nach  protestantischer  Art 
nicht  als  Organ  einerWeltkirche,  sondern  alsLehrereinerGemeinde 
betrachtet'  (teilweise  von  mir  gesperrt).  Soll  das  heißen,  Kant  habe  in  dem  protest. 
Geistlichen  ein  , Organ'  der  Einzelgemeinde  gesehen?  Man  kann  kaum  daran 
denken,  daß  Kuno  Fischer  Kants  Auffassung  vom  Wesen  des  Geistlichen  und 
dessen  königlich  preußischem  Amtscharakter  so  völlig  verkannt  haben  sollte.  Bleibt 
also  nur  die  zweite  Auffassung  übrig,  wonach  ,Lehrer  einer  Gemeinde'  lediglich 
den  Schauplatz    des  geistlichen  Wirkens  bezeichnen   soll.    Dann   aber  ist   nicht 


14  Gisbert  Beyerhaus, 

nicht  Aufgabe  des  Historikers,  einen  solchen  Standpunkt  zu  kriti- 
sieren. Wir  haben  uns  einfach  abzufinden  mit  der  Tatsache,  daß 
Kant  1784  eine  ,Politik  des  konservativen  Fortschritts'  vertrat. 
Das  heißt:  er  fand  —  wie  später  Disraeli  —  einen  ,neuen  Aus- 
druck, der  den  Geist  der  Zeit  umfaßte,  aber  den  zerstörerischen 
Forderungen  des  Umsturzes  widersprach' *). 

Beilagen. 

1.  Ministerialerlaß  des  Geistlichen  Departements  an 
die   ostpreußische   Regierung.     Berlin  1776    April  11. 

Gedruckt  in:  Zur  Vertheidigung  des  Prediger  Herrn  Schulz 
zu  Gielsdorf  Wilkendorf  und  Hirschfelde  geschrieben  Von  dem 
Criminal-Rath  Amelang.  o.  0.  1792.  S.  49  f.  Das  von  mir  benutzte 
Exemplar  der  U.  B.  Bonn  [Sign.  Ab  1890]  umfaßt  XXXII  +  252  -f 
XXII +264  Seiten   8°. 

Fr.,  König  etc. 

Euer  allerunterthänigster  Bericht  vom  25ten  Martii  c.  ist  zu 
seiner  Zeit  hier  eingelaufen,  womit  ihr  die  Vorstellung  des  dortigen 
Consistorii  nebst  den  demselben  beigelegt  gewesenen  und  hierbei 
in  originali  zurückkommenden  Anmerkungen  wegen  einer  von  dem 
dortigen  Ober-Hofprediger  D.  Stark  unter  dem  Titel:  ,Hephä- 
stion'2)  durch  den  Druck  bekannt  gemachten  Schrift  zu  Unserer 
Entscheidung  eingesandt  habt.  Eine  Vorstellung,  die  so  wie  diese, 
mit  so  viel  persönlichen  Beleidigungen  angefüllt  ist,  verdienet 
schon  an  sich  keine  Bemerkung.  Wäre  aber  auch  die  ganze  An- 
klage anders  abgefaßt :  so  würde  sie  doch  nicht  von  der  Art  sein, 
daß  es  der  Verfügung  bedürfte,  die  das  Consistorium  sich  hat  ein- 
fallen lassen  in  Vorschlag  zu  bringen.  Sie  betrifft  theils  Meinungen, 
die  dem  ,Hephästion'  durch  Folgerungen  angedichtet  worden,  theils 
Widersprüche,  die  der  Verfasser  vor  dem  Publiko  verantworten 
mag,  theils  Urtheile  über  das  Maaß  der  Erkenntnisse  der  Israeliten, 


einzusehen,    warum   ein  Organ  der  Weltkirche  nicht    zugleich  Lehrer   einer  Ge- 
meinde sein  kann. 

1)  Vgl.  Schmitz,  Oskar  A.  H.:  Die  Kunst  der  Politik.  3.  Aufl.  (München 
1916)  158. 

2)  Hephästion.  Königsberg.  G.  L.  Härtung  1775.  2,  188  S.  8°.  Eine  ein- 
dringende Besprechung  der  behandelten  Probleme  sowie  der  dadurch  entfesselten 
Polemik  findet  sich  bei  G.  F.  Seiler  [Hrsg.]:  Gemeinnützige  Betrachtung  der 
neuesten  Schriften  .  .  .  Erlangen  1776.    Beylage.    St.  3.  S.  233—248. 


Kants  Programm'  der  Aufklärung  aus  dem  Jahre  1784.  15 

welche  mehr  für  das  gelehrte  theologische  "Wissen,  als  zum  ge- 
meinen christlichen  Gebrauch  gehören.  Es  wird  dem  Doktor  Stark 
zugetrauet,  daß  er  beides  in  seinen  öffentlichen  Religionsvorträgen 
werde  zu  unterscheiden  wissen,  und  so  thut  er  seinem  Amte  als 
Prediger  genüge.  Ihr  habt  hiernach  das  dortige  Consistorium  zu 
bescheiden  ... 

Berlin,  den  Uten  April  1776.  Ad  Mandatum 

v.  Zedlitz. 

2.  Ministerialerlaß  des  Geistlichen  Departements  an 

das  ostpreußische  Consistorium. 

Berlin  1776  April  11 

Gedruckt  a.  a.  0.  S.  50  f. 
Friedrich,  König  etc. 

Aus  Eurer  bei  Unserer  ostpreußischen  Regierung  eingereichten 
und  von  dieser  abschriftlich  anhero  eingesandten  Vorstellung  vom 
14.  Nov.  p.a)  haben  Wir  mit  Befremden  ersehen,  daß  ihr  darin 
euch  mit  so  vieler  Heftigkeit  gegen  den  dortigen  Ober-Hofprediger 
Doktor  Stark,  in  Ansehung  der  von  ihm  unter  dem  Titel:  He- 
phästion herausgegebenen  Schrift  ausgedrückt  habt,  ohne  zu  be- 
denken, daß  das  sich  durchaus  nicht  mit  eurem  vorgegebenen  Eifer 
für  die  Bewahrung  der  reinen  Lehre  reimet b).  Ihr  werdet  nun 
zwar  über  die  in  eurer  Vorstellung  enthaltenen  Sachen  selbst  von 
Unserer  obgedachten  Regierung  beschieden  werden.  Wir  können 
euch  aber  Unser  Misfallen  über  euer  geäußertes  Betragen  nicht 
verhalten,  und  wollen  euch  zu  künftiger  mehrerer  Mäßigkeit  und 
Behutsamkeit  hiermit  anweisen. 

Berlin,  den  Uten  April  76.  Ad  Mandatum     t 

v.  Zedlitz. 

3.  Ministerialerlaß  des  Geistlichen  Departements  an 

das  kurmärkische  Ober-Consistorium. 
Berlin  1783  Dezember  12. 

Gedruckt  Amelang  S.  227 f.  als  Beilage  B.  Ob  die  Sperrungen 
von  Amelang  als  Hrsg.  oder  von  Zedlitz  herrühren,  ließe  sich  erst 
nach  Prüfung  des  Originals  entscheiden. 

Friedrich,  König  etc.  Unsern  etc.  Es  hat  der  Prediger  Schulz 
zu  Grielsdorf  sein  neuerlich  herausgegebenes  Buch:   »Versuch  einer 

a)  Druck:  ,c'.  b)  Druck:  ,räumet'. 


16     Gisbert  Beyer  haus,   Kants  ,Programml  der  Aufklärung  etc. 

Anleitung  zur  Sittenlehre',  als  den  Gegenstand  eures  Uns  nebst 
seinen  acclusis  sub  dato  des  4ten  huj.  zugekommenen  Berichts, 
ohne  alle  Rücksicht  auf  irgend  eine  Religion,  wie  dessen  Inhalt 
und  schon  der  Titel  besaget,  geschrieben,  und  als  Schriftsteller 
die  wider  ihn  deshalb  angestellte  Rüge  nicht  verdienet,  welche 
Wir  euch  daher  gänzlich  niederzuschlagen  befehlen. 

Gegen  das  Publikum,  für  welches  das  Buch  seyn  soll,  mag 
der  Verfasser  die  darin  enthaltene  philosophisch- spekulativen  Sätze 
vertheidigen,  zu  deren  Prüfung  und  Beurtheilung  aber  Leute,  die 
seine  Gemeinde  ausmachen,  nicht  aufgelegt  sind,  auch  keinen  Beruf 
haben.  Diese  aber  im  Guten  festzuerhalten  und  nicht 
wankend  zu  machen,  auch  ob  des  Endes  ihr  Seelsorger, 
als  Lehrer  der  Religion,  seine  Gemeinde  zu  gutge- 
sinnten Menschen  zu  bilden,  ihren  Willen  aufs  Gute 
zu  lenken,  ihre  Neigungen  und  Empfindungen  zu  ver- 
edeln sich  angelegen  seyn  lasse,  und  ob  sein  Wandel 
diesem  Zweck  entspreche,  sind  die  eigentlichen 
Dinge,  worauf  Ihr  als  ein  den  Predigern  und  Ge- 
meinden vorgesetztes  geistliches  Collegium  zu  sehen 
habt. 

Es  würde  dagegen,  insofern  in  Ansehung  alles  dessen  dem 
.  .  .  Schulz  kein  Vorwurf  gemacht,  vielmehr  daß  er  es  an  anderm 
Keinem  ermangeln  lasse  allgemein  versichert  wird,  eine  jetzige 
Untersuchung  über  das  Wissen  in  Dingen,  welche  die  Re- 
ligion nicht  ausmachen,  das  Gute,  das  derselbe  bisher  in 
seinen  Gemeinden  gestiftet  hat  stören ,  und  findet  sich  überhaupt 
keine  Veranlassung,  hier  andere  Grundsätze  anzunehmen,  als  nach 
welchen  schon  ehemals,  bei  Gelegenheit  des  vom  Hofprediger 
Stark  zu  Königsberg  in  Anno  1775  herausgegebenen  ,  Hephästion', 
eine  gleichmäßige  Äußerung  Unseres  ostpreußischen  Consistorii  als 
Enre  jetzige  auf  eben  diese  Art  ex  concluso  Unseres  Ober- Consi- 
storii entschieden  worden.  Dem  Prediger  Schulz  lassen  Wir 
übrigens   seine  unschickliche  Schreibart  gegen  Euch  verweisen  .  .  . 

Berlin,  den  12ten  Dezember  1783.  A.S.L. 

Zedlitz. 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens. 

Von  Dr.  Theodor  Litt,  Professor  an  der  Universität  Leipzig. 


Obwohl  seit  einiger  Zeit  die  Einwände  gegen  die  Möglichkeit 
der  Pädagogik  als  einer  wissenschaftlich  auszubauenden  Theorie 
seltener  geworden  sind  und  die  wachsende,  an  vielen  Stellen  zweifel- 
los erfolgreiche  Betriebsamkeit  innerhalb  ihres  Problemkreises  die 
gegen  sie  erhobenen  Bedenken  am  wirksamsten  zu  entkräften  ge- 
eignet ist,  so  erscheint  doch  die  Lage  der  pädagogischen  Wissen- 
schaft, unter  einem  bestimmten  Gesichtspunkt  betrachtet,  auch 
heute  noch  als  sehr  zweifelhaft  und  bedroht.  Bis  zum  Augenblick 
ist  man  nämlich  fern  von  jeder  Übereinstimmung  darüber,  welcher 
Art  die  Methodik  des  Denkens  sei,  die  den  wissenschaftlichen  Cha- 
rakter der  Pädagogik  ausmache.  Sicherlich  sind  auch  im  Bereich 
anderer  Disziplinen,  deren  Wissenschaftlichkeit  über  jedem  Zweifel 
steht,  methodische  Differenzen  nichts  weniger  als  selten,  aber  hier 
bewegen  sich  doch  die  Auseinandersetzungen  immer  auf  dem  Boden 
gewisser  allseitig  anerkannter  Voraussetzungen:  hingegen  in  dem 
pädagogischen  Methodenstreit  geht  der  Riß  bis  in  die  letzten  Fun- 
damente hinein.  Die  Verfahrungsweisen,  die  gegenwärtig  in  An- 
wendung kommen,  wo  man  sich  um  wissenschaftliche  Klärung  pä- 
dagogischer Fragen  bemüht,  sind  vielfach  so  grundverschieden,  daß 
die  Vertreter  der  einen  Forschungsrichtung  denen  der  anderen 
geradezu  die  Wissenschaftlichkeit  glauben  abstreiten  zu  müssen. 
So  lange  aber  die  Dinge  so  liegen,  wird  die  Pädagogik  auf  der 
einen  Seite  den  Einbrüchen  eines  wilden  Dilettantismus,  auf  der 
anderen  Seite  den  Anfechtungen  ihrer  wissenschaftlichen  Legiti- 
mität immer  wieder  ausgesetzt  sein.  Die  folgenden  Ausführungen 
möchten  einer  Klärung  der  methodischen  Grundvoraussetzungen 
dienen1);    sie  werden  nur  dann  einer  Lösung  des  Problems  näher 

1)  Anregungen  verdankt  der  Verfasser  insbesondere  folgenden  Arbeiten: 
M.  Frischeisen-Köhler,  Pädagogik  und  Ethik  (Archiv  für  Pädagogik,  I,  1, 

KantstDdicn.  XXVI.  2 


18  Theodor  Litt, 

führen,  wenn  es  gelingt,  in  den  Eigentümlichkeiten  des  pädago- 
gischen Denkens  selbst  die  Gründe  aufzudecken,  die  es  bis  jetzt 
zur  Aufhellung  des  methodischen  Charakters  nicht  haben  kommen 
lassen:  ohne  diesen  Nachweis  würde  immer  wieder  der  Zweifel 
Nahrung  finden,  ob  denn  nicht  die  bis  heute  bestehende  Unklarheit 
den  Beweis  dafür  bilde,  daß  in  Wahrheit  eine  Durchbildung  des 
pädagogischen  Denkens  im  Sinne  echter  wissenschaftlicher  Me- 
thodik unmöglich  sei. 

Wir  gehen  aus  von  den  Grundtatsachen,  auf  die  immer  wieder 
hingewiesen  zu  werden  pflegt,  wenn  die  Möglichkeit  einer  päda- 
gogischen Wissenschaft  in  Frage  gestellt  wird.  Man  beruft  sich 
einmal  auf  die  Irrationalität  alles  in  vollem  Sinne  des  Wortes 
erzieherischen  Denkens  und  Wirkens,  auf  den  intuitiven  Cha- 
rakter des  Denkprozesses,  in  dem  der  Erzieher  sich  das  Wesen 
des  zu  Erziehenden  erschließe,  auf  das  persönliche  Moment, 
auf  dem  die  Echtheit  und  Tiefe  des  erzieherischen  Einflusses  be- 
ruhe; in  alledem  handle  es  sich  um  eine  Auswirkung  des  Lebens, 
die  in  ihrer  unberechenbaren  Einmaligkeit  der  wissenschaftlichen 
Methodik  unzugänglich  sei.  Erziehung  sei  nun  einmal,  so  heißt 
es  dann  mit  Vorliebe,  eine  Kunst,  und  diese  Kunst  sei  durch 
wissenschaftliche  Belehrung  nicht  zu  fördern,  geschweige  denn  zu 
ersetzen.  Auf  der  anderen  Seite  wird  betont,  daß  an  jeder  päda- 
gogischen Gedankenbildung  ihre  Abhängigkeit  von  der  besonderen 
kulturellen  Umwelt,  ihre  historische  Bedingtheit  unschwer 
nachzuweisen  sei,  und  dieser  Zusammenhang  müsse  den  Aufstel- 
lungen des  pädagogischen  Denkens  für  immer  den  Geltungswert 
der  Wissenschaft,  als  welche  einer  dem  Augenblick  überlegenen 
Wahrheit  zustrebe,  entziehen. 

Historische  und  persönliche  Erfahrung  machen  es  uns  zweifel- 
los unmöglich,  die  Sachverhalte,  die  den  beiden  Einwänden  zu 
Grunde  liegen,  zu  bestreiten.  Nach  einem  natürlichen  System' 
der  Pädagogik  zu  suchen  kommt  ein  Geschlecht,  das  durch  die 
Schule  des  historischen  Denkens  gegangen  ist,  nicht  mehr  in  Ver- 
suchung. Fraglich  bleibt  nur,  ob,  wer  diese  Sachverhalte  aner- 
kennt, sich  auch  der  Folgerung  anschließen  muß,  daß  mit  ihnen 
die  Möglichkeit  einer  pädagogischen  Theorie  aufgehoben  sei.  Vor- 
sichtiger ist  unfraglich  die  Folgerung,  daß  durch  jene  Feststel- 
* 

S.  21);  Über  die  Grenzen  der  Erziehung  (Zeitschr.  f.  pädag.  Psychologie -1912, 
S.  507);  Philosophie  und  Pädagogik  (Kantstudien  1917,  S.  27).  R.  Hönigs- 
wald,  Über  die  Grundlagen  der  Pädagogik,  München  1918. 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens.  19 

lungen  nicht  sowohl  jeder  Theorie,  als  vielmehr  nur  einer  solchen 
Theorie  der  Boden  entzogen  sei,  in  der  für  jene  Tatbestände  kein 
Baum  wäre.  Offen  bleibt  dagegen  die  Frage,  ob  nicht  eine  pä- 
dagogische Theorie  denkbar  ist,  die  den  Zusammenhang  der  päda- 
gogischen Gedankenbildung  mit  dem  irrationalen  Kern  der  Per- 
sönlichkeit und  der  kulturellen  Gesamtlage  als  wesentliches  Moment 
umfaßt  und  in  methodischer  Besonnenheit  in  das  Ganze  ihrer  Über- 
legungen einsetzt. 

Daß  solches  wenigstens  denkbar  ist,  lehrt  schon  ein  Blick  auf 
die  menschliche  Betätigungsform,  der  jene  beliebte  Aus  drucks  weise 
das  erzieherische  Wirken  ohne  weiteres  gleichsetzt:  die  Kunst. 
Das  philosophische,  psychologische,  historische  Denken  hat  sich 
durch  den  irrationalen  Charakter  des  künstlerischen  Schaffens 
nicht  abhalten  lassen,  sich  um  eine  Theorie  der  ästhetischen  Werte, 
des  ästhetischen  Verhaltens,  der  ästhetischen  Gesamtentwicklung 
zu  bemühen.  Die  Kulturerscheinung  Kunst  ist  seit  langem  Gegen- 
stand einer  denkenden  Bearbeitung,  der  die  Wissenschaftlichkeit 
abzustreiten  niemandem  in  den  Sinn  kommt.  Freilich  wird  gegen 
den  Versuch,  die  Zulässigkeit  einer  pädagogischen  Theorie  durch 
diese  Parallele  zu  erweisen,  sofort  eingewandt  werden,  daß  diese 
der  Kunst  zugeordneten  Disziplinen  zu  ihrem  Gegenstand  in  einem 
ganz  anderen  Verhältnis  ständen  als  die  Pädagogik  zu  dem  ihrigen : 
sie  seien  der  Kunst  als  einer  Tatsache,  einem  Phänomen  der 
Kultur  Wirklichkeit  zugewandt;  ihr  theoretischer  Charakter  liege 
darin  begründet,  daß  sie  lediglich  die  Kunst,  so  wie  sie  von  ihnen 
in  der  kulturellen  Erfahrung  vorgefunden  werde,  zu  deuten  und 
zu  verstehen  bestrebt  seien;  ferne  liege  ihnen  dagegen  das  Unter- 
fangen, die  Kunst  als  Praxis  auf  Grund  ihrer  Einsichten  zu 
normieren,  zu  leiten,  wie  denn  ja  auch  der  künstlerisch  Produzie- 
rende seinerseits  jede  Beeinflussung  durch  eine  ästhetische  Theorie 
gerade  im  Interesse  der  Unmittelbarkeit  seines  Schaffens  ablehnen 
müsse.  In  gleichem  Umfange ,  d.  h.  als  theoretische  Erforschung 
eines  tatsächlich  bestehenden  Kulturphänomens  sei 
auch  Pädagogik  unanfechtbar:  aber  in  Wahrheit  wolle  ja  die  Pä- 
dagogik als  Wissenschaft  nicht  nur  dies,  sie  wolle  viel  mehr  leisten, 
nämlich  auf  der  Grundlage  ihrer  Erkenntnisse  in  die  Praxis  der 
Erziehung  hineinwirken;  sie  wolle  der  Tätigkeit  des  Erziehers 
selbst  Lehren  erteilen,  Wege  weisen,  Ziele  setzen,  und  das  bedeute 
in  Wahrheit  dasselbe,  wie  wenn  die  Ästhetik  dem  Künstler  in 
seinem  Schaffen  Ratschläge  aufdrängen  wollte. 

2* 


20  Theodor  Litt, 

In  der  Tat  trifft  dieser  Einwand  den  Nerv  des  pädagogischen 
Denkens.  Zwar  hat  anch  die  Pädagogik  einen  bestimmten  Kreis 
von  vorgefundenen  Tatsachen  der  Wirklichkeit  zum  Gegenstand, 
eben  die  Wirklichkeit  derjenigen  Vorgänge  und  Leistungen,  die 
den  Inbegriff  der  Erziehung  ausmachen,  aber  sie  betrachtet  diese 
Erscheinungen  nicht  lediglich,  um  sie  so,  wie  sie  ihr  vorliegen, 
zu  verstehen  und  zu  deuten,  sondern  um  aus  ihrer  gedanklichen 
Verarbeitung  Nutzen  zu  ziehen  für  die  Praxis  der  Erziehung 
selbst.  Sie  will  und  soll  sein  die  Theorie  eines  Handelns. 
Diese  Seite  ihres  Verfahrens  wird  durch  den  Hinweis  auf  die  theo- 
retische Bearbeitung  der  Kunst  nicht  legitimiert.  Im  Gegenteil: 
ist  die  erzieherische  Praxis  eine  Kunst,  so  wird  der  Erzieher  mit 
demselben  Recht  sich  das  Hineinreden  einer  Theorie  verbitten,  mit 
dem  der  Künstler  die  Katschläge  der  Ästhetik  von  sich  weisen 
würde. 

Es  hängt  also  alles  weitere  ab  von  der  Frage,  ob  Erziehung 
im  Vollsinne  des  Wortes  eine  Kunst  „ist".  Nun  gehört  die  Pa- 
rallele von  künstlerischem  und  erzieherischem  Tun  zu  denjenigen, 
die  wertvolle  Aufschlüsse  für  die  verglichenen  Objekte  spenden, 
die  aber  immer  dann  in  die  Irre  führen  müssen,  wenn  der  Ver- 
gleich zur  Gleichsetzung  wird.  Wirkliche  Förderung  bringt 
ein  solcher  Vergleich  immer  nur  dann,  wenn  mit  voller  Klarheit 
die  Grenzen  bestimmt  werden,  bis  zu  denen  er  berechtigt  ist, 
jenseits  deren  er  ohne  unzulässige  Vermischung  der  verglichenen 
Dinge  nicht  durchgeführt  werden  kann.  Was  macht  das  Tun  des 
Erziehers  demjenigen  des  Künstlers  vergleichbar?  Beide  haben, 
allgemein  gesprochen,  einen  „Stoff"  vor  sich,  den  sie  „bearbeiten" 
mit  der  Absicht,  ihm  eine  gewisse  „Form"  zu  geben1).  Nun  setzt 
aber  das  formende  Tun  des  Erziehers  wie  das  des  Künstlers  ein 
bestimmtes  Wissen  um  die  Eigenart  des  zu  bearbeitenden  Stoffs 


1)  Es  sei  nicht  unerwähnt,  daß  dem  in  diesem  Zusammenhang  unentbehr- 
lichen Begriffspaar  „Stoff-Form"  wieder  ein  Vergleich  zu  Grunde  liegt,  dem  gegen- 
über die  gleiche  Vorsicht  am  Platz  ist,  wie  gegenüber  der  Parallele  Kunst -Er- 
ziehung. Der  Begriff  der  „Form"  ist  in  dieser  Verwendung  bestimmt,  die  innere 
Einheit  in  der  Mannigfaltigkeit  zum  Ausdruck  zu  bringen,  die  das 
„Werk"  des  Erziehers  wie  das  des  Künstlers  aufweisen  soll.  Es  wird  sich  weiter 
unten  zeigen,  daß  und  wie  sich  dieser  Begriff  im  Bereich  der  erzieherischen  Wirk- 
lichkeit modifiziert.  Hier  muß  er  einstweilen  vorausgesetzt  werden,  damit  es  über- 
haupt möglich  sei,  das  relative  Recht  der  Parallele  zwischen  Kunst  und  Erziehung 
zw  bestimmen. 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens.  21 

voraus.  Insofern  ist  zweifellos  ein  Erkenntnismäßiges,  ein  im 
weitesten  Sinne^  ,Theoretisches'  auch  auf  der  Seite  des  künstle- 
rischen Schaffens  im  Spiele.  Welehen  Umfang  und  welche  Bedeu- 
tung hat  aber  nun  dieses  "Wissen  beim  Künstler  einerseits,  beim 
Erzieher  andererseits?  Der  Künstler  bedarf  desjenigen  Wissens 
um  die  Beschaffenheit  seines  Stoffes,  das  ihm  die  technischen 
Möglichkeiten  der  Stoff bearbeitung  erschließt :  innerhalb  dieser  ge- 
wußten Möglichkeiten  aber  ist  sein  Formwille  frei  und  unbeschränkt. 
Der  Marmorblock,  die  Leinwand,  die  Farbe,  das  Sprachmaterial  u.  s.  f. 
—  alles  dieses  schließt  natürlich  bestimmte  unabänderliche  Bedin- 
gungen des  künstlerischen  Schaffens  in  sich,  mit  denen  der  Produ- 
zierende vertraut  sein  muß;  aber  es  enthält  in  seiner  gegebenen 
Beschaffenheit  keinen  Hinweis  auf  die  Form,  die  durch  die  künst- 
lerische Tat  an  und  in  ihm  sich  realisieren  wird.  Und  das  ist  ja 
auch  nicht  anders  möglich:  es  ist  ja  gar  nicht  der  Stoff  in  seiner 
vorgefundenen  Beschaffenheit,  als  Bestandteil  der  Wirklichkeit, 
dem  das  Bemühen  des  Künstlers  zugewandt  ist,  sondern  diesen 
Stoff  gilt  es  gerade  der  Wirklichkeitssphäre,  die  ihn  zunächst  ein- 
schließt, zu  entheben  und  durch  die  künstlerische  Form  zum  Bestand- 
teil einer  Welt  des  schönen  Scheins  zu  läutern;  diejenigen  Bestimmt- 
heiten, die  ihn  zum  Grlied  dieser  Welt  machen,  sind  gerade  nicht 
diejenigen,  die  ihm  als  einem  Bestandteil  der  realen  Welt  zukommen. 
Darum  sind  hier  Kenntnis  des  Stoffs  und  Bestimmung  der  Form 
im  wesentlichen  unabhängig  voneinander,  sie  liegen  in  zwei  ver- 
schiedenen Dimensionen  des  Denkens.  Wie  steht  es  aber  auf  der 
Seite  des  pädagogischen  Handelns?  Auch  hier  ist  eine  Kenntnis 
der  Beschaffenheit  des  „Stoffs"  im  Hinblick  auf  die  technischen 
Bedingungen  notwendig,  unter  denen  das  pädagogische  Handeln 
von  außen  her  ansetzt  —  aber  diese  Kenntnis  würde  nicht  im  ent- 
ferntesten ausreichen,  damit  es  überhaupt  zu  einem  erzieherischen 
Handeln  komme.  Denn  die  Form,  zu  der  das  pädagogische  Ob- 
jekt durch  das  erzieherische  Wirken  geführt  werden  soll,  wird 
nicht  unabhängig  von  dessen  realer  Beschaffenheit  rein  von  außen 
her  bestimmt,  sondern  sie  muß  in  ihm  selbst  zwar  nicht  gegeben, 
aber  doch  angelegt  sein;  die  Disposition  zu  ihr  gehört  zu  den- 
jenigen Bestimmtheiten,  die  dem  „Stoff*  schon  an  sich,  vor  dem 
Einsetzen  der  erzieherischen  Arbeit,  zukommen,  und  nur  durch 
Anknüpfen  an  diese  inneren  Bestimmtheiten  kann  das  erzieherische 
Handeln  die  erstrebte  Form  realisieren.  Verbleibt  doch  auch  hier 
der  Stoff,   ungleich  dem  vom  Künstler  gestalteten,    in  der  Wirk- 


22  Theodor  Litt, 

lichkeitssphäre,  der  er  von  Anbeginn  angehörte,  ja,  das  was  das 
pädagogische  Handeln  aus  ihm  macht,  das  ist  eben  seine  eigene 
höchste  Wirklichkeit.  Darin  ist  es  begründet,  daß  dasjenige 
Wissen  um  die  Beschaffenheit  des  „Stoffs",  dessen  das  erzieherische 
Tun  bedarf,  nicht  etwa  nur  auf  die  äußerlich  technischen  Möglich- 
keiten Bezug  hat,  sondern  vor  allem  auch  diejenigen  Bestimmt- 
heiten des  Stoffs  einschließt,  die  auf  die  Möglichkeit  der  Formung 
hindeuten,  Kenntnis  des  Stoffs  und  Bestimmung  der  Form  sind 
hier  ganz  und  gar  aneinander  gebunden,  sie  müssen  sich  recht 
eigentlich  durchdringen.  Also  hat  das  Wissen  um  die  Eigenart 
des  Stoffs  auf  der  Seite  des  Erziehers  einen  ganz  anderen  Um- 
fang und  eine  ganz  andere  Bedeutung  als  auf  der  Seite  des  Künst- 
lers. Soll  ihm  die  Formung  seines  Stoffs  gelingen,  so  muß  er 
mehr  von  der  qualitativen  Beschaffenheit  dieses  Stoffs  wissen,  muß 
er  sich  sorglicher  dieser  Beschaffenheit  anpassen,  als  dem  Künstler 
gegenüber  seinem  Stoff  zugemutet  wird.  Eben  deshalb  hat  auch 
die  Rede  von  „Stoff",  „Material",  „Objekt",  die  ganz  unanfechtbar 
ist,  wo  künstlerisches  Schaffen  in  Frage  steht,  etwas  Anstößiges, 
sobald  sie  auf  erzieherisches  Wirken  angewandt  wird:  sie  nimmt 
dem  Gegenstand  der  Erziehungsarbeit  das  Eigenrecht,  die  innere 
Bestimmung,  mit  dem  er  dem  erzieherischen  Bemühen  gegenüber- 
steht, und  gibt  dem  gestaltenden  Willen  des  erziehenden  Subjekts 
zu  viel. 

Die  damit  aufgewiesene  wesenhafte  Unterschiedenheit  des  er- 
zieherischen und  des  künstlerischen  Tuns  läßt  offenbar  werden, 
aus  welchem  Grunde  die  Funktion  der  Theorie  rim  Bereiche  der 
erzieherischen  Wirklichkeit  eine  andere  ist  und  sein  muß,  als  in 
der  Sphäre  des  künstlerischen  Schaffens.  Der  Erzieher  hat,  um 
wirken  zu  können,  mehr  „Theorie"  nötig  als  der  Künstler;  die  Er- 
kenntnis ist  für  ihn  nicht  die  nachträgliche  Durchleuchtung  eines 
Tuns,  das  ohne  sie  eben  so  gut,  ja  vielleicht  noch  besser  sein  Werk 
vollbrachte,  sondern  ein  unentbehrliches  Moment  in  seinem  Wirken 
selbst.  Und  wenn  die  Theorie  der  Erziehung  weit  über  solche 
Fragestellungen  hinausgeht,  die  denjenigen  der  ästhetischen  Theorie 
vergleichbar  wären,  so  gibt  sie  damit  nicht  einem  unberechtigten 
Ausdehnungsbedürfnis  Folge,  sondern  sie  gehorcht  den  immanenten 
Notwendigkeiten  der  Wirklichkeitssphäre,  die  ihren  Gegenstand 
bildet.  Pädagogik  muß  immer  wieder  darnach  streben,  Theorie 
eines  Handelns  zu  werden,  weil  das  Stück  Lebenspraxis,  dem  sie 
zugewandt  ist,    nach  einer  solchen  Theorie  verlangt  —  wie  umge- 


Die  Methode  des  pädagogischen  Denkens.  23 

kehrt  die  Theorie  der  Kunst  kaum  in  Versuchung  kommt,  von  sich 
aus  eine  entsprechende  Funktion  zu  usurpieren,  weil  das  von  ihr 
erforschte  Stück  Kulturwirklichkeit  nicht  eine  solche  Leistung  von 
ihr  erwartet. 


Wer  also,  um  das  Bemühen  um  eine  Theorie  der  Erziehung 
als  überflüssig,  wo  nicht  gar  dem  erzieherischen  Wirken  ab- 
träglich zu  erweisen,  sich  auf  das  theoriefreie  Schaffen  des  Künst- 
lers beruft,  der  will  zwei  Wirkensformen  identifizieren,  die  sich 
gerade  in  ihrem  Verhältnis  zur  Erkenntnis  wesentlich  von  ein- 
ander unterscheiden.  Aber  freilich  ist  damit,  daß  das  Bedürfnis 
nach  einer  theoretischen  Grundlegung  in  irgend  einem  Bezirk  des 
Lebens  sich  regt,  noch  nichts  darüber  ausgemacht,  ob  dieses  Be- 
dürfnis mit  wissenschaftlichen  Mitteln  zu  befriedigen  möglich  sei. 
Rückt  die  erzieherische  Praxis  im  Licht  unserer  Erwägungen  merk- 
lich von  der  künstlerischen  Wirkenssphäre  ab,  so  tritt  sie  damit 
nicht  notwendig  in  den  Herrschaftsbereich  des  wissenschaftlichen 
Denkens  ein.  Nicht  als  ob  sie  deshalb,  weil  sie  Theorie  eines  Han- 
delns ist,  notwendig  aus  dieser  Sphäre  ausgeschlossen  wäre !  Denn 
das  System  der  Wissenschaften  schließt  eine  Reihe  von  Disziplinen 
ein,  deren  methodische  Eigenart  eben  darin  begründet  ist,  daß  sie 
als  Theorie  einem  Handeln  zu  dienen  bestimmt  sind.  Es  sind  die 
angewandten  Wissenschaften.  Hat  es  sich  gezeigt,  daß 
das  erzieherische  Tun  nach  gewissen  Erkenntnisgrundlagen  verlangt, 
und  ist  das  Bedürfnis  rege  geworden,  diese  Grundlagen  im  Sinne 
wirklicher  Wissenschaft  durchzubilden,  so  ist  es  ein  naheliegender 
Gedanke,  daß  der  damit  erstrebten  Theorie  ein  Platz  inmitten  der 
„angewandten  Wissenschaften"  gebühre,  und  es  würde,  wenn  sie 
wirklich  in  ihren  Kreis  gehörte,  der  Zweifel  an  der  Wissenschaft- 
lichkeit dieser  Theorie  verstummen  müssen.  In  der  Tat  ist  denn 
auch  in  mannigfachen  Formulierungen  der  pädagogischen  Theorie 
dieser  methodische  Charakter  zugesprochen  worden,  hat  man  sie 
als  „angewandte  Psychologie",  „angewandte  Philosophie",  „ange- 
wandte Ethik"  u.  ä.  bezeichnet.  Es  erhellt,  daß,  falls  diese  Auf- 
fassung im  Rechte  wäre,  gerade  diejenigen  Momente  des  erziehe- 
rischen Wirkens,  auf  die  der  Vergleich  von  Kunst  und  Erziehung 
den  Nachdruck  legte,  als  nebensächlich  oder  gar  entbehrlich  in 
den  Hintergrund  treten  würden.  Es  sind  zwei  polar  entgegenge- 
setzte Deutungen  des  Erziehungs Vorgangs,  die  sich  hier  gegenüber- 


24  Theodor  Litt, 

stehen.  Wir  unsererseits  werden,  wie  wir  die  Gleichsetzung  von 
Erziehung  und  Kunst  nicht  unbesehen  hinnahmen,  auch  diese  me- 
thodische Festlegung  auf  ihren  Rechtsgrund  zu  prüfen  haben. 

Damit  dies  möglich  sei,  müssen  wir  die  Struktur  der  „ange- 
wandten Wissenschaft"  in  allgemeiner  Form  zu  bestimmen  suchen. 
An  welcher  Stelle  tritt  uns  diese  Struktur  am  deutlichsten  vor 
Augen?  Das  „Handeln"  des  Menschen,  dem  die  angewandten 
Wissenschaften  "dienen  sollen,  läßt  sich  nach  verschiedenen  Ge- 
sichtspunkten klassifizieren.  Da  wir  es  hier  mit  der  Erziehung 
zu  tun  haben,  mit  einem  Handeln,  das  seinem  Wesen  nach  ge- 
richtet ist  auf  den  Zusammenhang  der  menschlich-gesellschaftlich- 
geschichtlichen,  d.i.  der  geistigen  Welt,  so  sehen  wir  uns  durch 
den  sachlichen  Zusammenhang  hingewiesen  auf  diejenige  Einteilung, 
die  .dieser  kulturellen  Wirklichkeit  gegenüberstellt  die  „ natürliche u 
Welt  (wobei  das  erkenntnistheoretische  Recht  dieser  Scheidung 
für  uns  hier  nicht  in  Frage  steht).  So  dürfen  wir  auch  scheiden 
ein  menschliches  Handeln,  das  sich  auf  die  „Natur"  in  diesem 
bestimmten  Sinne,  und  ein  solches,  das  sich  auf  die  „menschliche" 
Welt  in  dem  entsprechenden  Sinne  richtet.  Und  wir  werden  die 
Frage,  ob  und  in  welchem  Umfange  das  letztere  auf  eine  „ange- 
wandte Wissenschaft"  begründet  werden  könne,  am  sichersten 
entscheiden  können,  wenn  wir  zunächst  im  Bereich  des  ersteren 
über  das  Verhältnis  zwischen  menschlichem  Handeln  und  wissen- 
schaftlicher Grundlegung  Klarheit  gewonnen  haben.  Denn  eben 
hier  prägt  sich  die  methodische  Struktur  dieses  Verhältnisses  in 
durchsichtigster  Klarheit  aus. 

Bekanntlich  bezeichnen  wir  das  menschliche  Handeln  im  Be- 
reich der  äußeren  Natur,  das  sich  auf  wissenschaftliche  Erkenntnis 
stützt,  als  Technik.  Jede  einzelne  Technik  hat  zur  Grundlage 
einen  Komplex  von  allgemeinen  Sätzen,  nach  denen  sich  das  prak- 
tische Vorgehen  richtet:  die  Technologie  des  fraglichen  Ge- 
biets. Diese  Sätze  sind  ihrerseits  gegründet  auf  wissenschaftliche 
Tatsachenforschung;  sie  fußen  auf  den  Ergebnissen  der  Natur- 
wissenschaft. Zu  jeder  Technologie  gehört  eine  rein  theore- 
tische „Grundwissenschaft",  wie  wir  sie  der  Kürze  halber  nennen 
wollen,  bzw.  eine  Mehrheit  solcher  Grundwissenschaften.  Es 
werden  also  in  der  Technologie  die  Ergebnisse  des  naturwissen- 
schaftlichen Forschens  „angewandt",  d.  h.  unter  dem  Gesichts- 
punkt des  durch  die  betreffende  Technik  zu  realisierenden  Zwecks 
aus  dem  Ganzen  wissenschaftlicher  Erkenntnis  ausgelesen  und  zu- 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens.  25 

sammengestellt.  So  steht  die  Leistung  jeder  Technologie  unter 
der  Herrschaft  des  Zweckbegriffs:  ihre  Aufgabe  ist  es,  zu  einem 
gegebenen  Zweck  die  Mittel  zu  bestimmen.  Wie  kommt  es 
nun,  daß  diese  Aufgabe  so  unmittelbar  durch  „Anwendung"  wissen- 
schaftlicher Forschungsergebnisse  gelöst  werden  kann?  Das  Ver-. 
hältnis  Mittel  -  Zweck ,  das  die  Struktur  jeder  Technologie  be- 
stimmt, ist  seinem  sachlichen  Gehalt  nach  kein  anderes  als  das 
Verhältnis  Ursache  -  Wirkung ,  das  allen  Aussagen  der  „Grund- 
wissenschaften" zu  Grunde  liegt.  Daß  a  ein  geeignetes  Mittel 
ist,  den  Zweck  b  zu  realisieren,  ergibt  sich  aus  der  Erfahrung, 
daß  die  Ursache  a  regelmäßig  die  Wirkung  b  nach  sich  zieht. 
Jede  Mittelbestimmung  fußt  auf  der  Feststellung  von  Kausalzu- 
sammenhängen in  Gesetzes  form.  Solche  Zusammenhänge  mit  der 
Sicherheit  zu  ermitteln,  deren  Ausdruck  eben  das  Gesetz  ist,  wird 
erst  da  möglich,  wo  der  Mensch  die  gegebene  komplexe  Natur- 
wirklichkeit in  eine  Mannigfaltigkeit  letzter  Elementarstoffe 
und  Elementar kräfte  auflöst.  Sache  der  Technologie  ist  es 
nur,  zu  untersuchen,  welche  unter  den  ermittelten  Zusammenhängen 
anzuwenden  sind  und  in  welcher-Weise  sie  anzuwenden  sind,  damit 
der  gewünschte  Effekt  herausspringe.  Daraus  ergibt  sich:  die 
technologische  Denkleistung  ist  stets  und  notwendig  beschränkt 
auf  vorgefundene  Stoffe,  Kräfte,  Eigenschaften,  Verhaltungs- 
weisen der  „Natur".  Niemals  kann  das  technische  Handeln  der 
Natur  Eigenschaften  und  Verhaltungsweisen  aufnötigen,  die  ihr 
nicht  an  sich  schon  zu  eigen  wären.  Eben  darum  ist  die  Fest- 
stellung dessen,  was  ist,  unerläßliche  Vorbedingung  für  jedes  tech- 
nische Vorgehen.  Technik  ist  Anpassung  an  die  Natur,  nicht,  wie 
so  oft  behauptet,  ihre  Überwindung;  Das  Überraschende  tech- 
nischer Erfindungen  und  Leistungen  darf  uns  nicht  darüber  hinweg- 
täuschen, daß  hier  immer  wieder  Vorgefundenes  kombiniert,  nicht 
etwa  Niedagewesenes  durch  einen  Schöpfungsakt  hervorgerufen 
ist.  Und  wiederum  ist  es  gerade  jene  Auflösung  der  komplexen 
Naturerscheinungen  in  letzte  Elemente,  auf  der  der  Reichtum  der 
dem  technischen  Denken  sich  bietenden  Kombinationsmöglichkeiten 
beruht. 

Aber  damit  ist  das  Wesen  der  Technologie  doch  nur  von 
einer  Seite  her  beleuchtet.  Der  Erkenntnisse,  die  die  Naturwissen- 
schaft der  „Anwendung"  zur  Verfügung  stellt,  sind  in  Wahrheit 
unzählige.  Zwischen  diesen  Erkenntnissen  gibt  es  für  die  reine 
Tatsachenforschung  keinen  W  e  r  t  unterschied :  für   sie  liegt  alles 


26  Theodor  Litt, 

das,  was  die  natürliche  Wirklichkeit  enthält,  ohne  jede  Wertbe- 
tonung gleichgültig  nebeneinander.  Die  Technologie  hingegen  tritt 
in  einer  ganz  anderen  Haltung  dem  Ganzen  der  natürlichen  Wirk- 
lichkeit gegenüber.  Für  sie  hat  aus  dem  Gesamtgehalt  dieser 
Wirklichkeit  nur  das  ein  Interesse,  was  zu  dem  durch  sie  zu  rea- 
lisierenden Zweck  in  Beziehung  steht:  nach  seiner  Maßgabe  wählt 
sie  aus  den  durch  die  Forschung  erarbeiteten  Erkenntnissen  aus. 
Wenn  die  rein  erkennende  Wissenschaft  nur  sagt,  daß  stets  und 
überall,  wenn  a  geschieht,  b  die  Wirkung  ist,  so  sagt  die  Techno- 
logie, daß,  wenn  b  erstrebt  wird,  a  sein  soll.  Wie  man  sieht, 
ist  diese  Accentuierung  unter  dem  Zweckgesichtspunkt  etwas,  was 
der  Natur  an  sich  völlig  fremd  ist;  deshalb  kann,  ja  muß  die  Er- 
forschung dieser  Natur  von  solchen  Zweckerwägungen  völlig  ab- 
sehen. In  Wahrheit  entstammt  ja  auch  der  Zweck,  der  für  die 
Sätze  der  Technologie  den  beherrschenden  Gesichtspunkt  bildet, 
einer  ganz  anderen  Sphäre:  er  entstammt  dem  Inneren  des 
Menschen ;  seine  lebendig  empfundenen  Bedürfnisse,  Wünsche,  Stre- 
bungen sind  es,  aus  denen  sich  alle  Zweckvorstellungen  heraus- 
klären. Diesen  Sinn  hatte  es,  wenn  wir  den  jeder  Technologie 
übergeordneten  Zweck  als  einen  ihr  „gegebenen"  bezeichneten:  sie 
hat  diesen  Zweck  weder  zu  bestimmen  noch  auch  zu  erörtern, 
denn  die  Wirklichkeitssphäre,  auf  die  sich  ihre  Sätze  beziehen,  ist 
eine  durchaus  äußerliche  gegenüber  der  Erlebniswelt,  der  alle 
Zwecksetzungen  angehören.  Alles  technische  Handeln  beruht  auf 
diesem  Gegenüber  eines  Inneren,  das  solche  Zweckvorstellungen 
erzeugt,  und  eines  Äußeren,  daß  das  Material  zur  Befriedigung 
dieser  Zwecke  zur  Verfügung  stellt1).  Und  eben  dieses  Gegen- 
über bedingt  und  ermöglicht  die  reinliche  Scheidung  einer  Denk- 
tätigkeit, die  unter  Absehen  von  allen  Zweckerwägungen  sich 
die  reine,  interesselose  Erforschung  der  äußeren  Wirklichkeit  zur 
Aufgabe  macht,  und  einer  von  Zweckvorstellungen  geleiteten  Be- 
arbeitung des  so  gewonnenen  Erkenntnismaterials.  Ja,  es  hat  sich 
gezeigt,  daß  jene  Ablösung  der  lediglich  feststellenden  Natur er- 
forschung  von  allen  Zweckvorstellungen  in  Wahrheit  den  mensch- 
lichen Zwecken    am    dienlichsten   ist:    denn   ein   großer  Teil   der 


1)  Auch  hier  steht  die  erkenntnistheoretische  Gültigkeit  dieses  Dualismus 
einer  äußeren  und  einer  inneren  Wirklichkeitssphäre  nicht  zur  Erörterung.  Wie 
auch  immer  dieses  Verhältnis  im  Lichte  einer  erkenntnistheoretischen  Kritik  sich 
abwandeln  mag,  hier  genügt  die  Feststellung,  daß  das  „technische"  Denken  und 
Handeln  diese  Scheidung  als  gegeben  voraussetzt. 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens.  27 

naturwissenschaftlichen  Erkenntnisse,  die  für  die  Technik  von  un- 
schätzbarstem Werte  waren,  ist  gefunden  worden  auf  dem  Weg 
einer  forschenden  Arbeit,  der  jeder  Gedanke  an  praktische  Ver- 
wertung ferne  lag,  und  wäre  vielleicht  nie  gefunden  worden,  wenn 
der  Gedanke  an  mögliche  Verwertung  für  die  Denkarbeit  leitend 
gewesen  wäre. 

Es  scheiden  sich  demnach  im  Gesamtbereich  der  von  uns  über- 
schauten Vorgänge  von  einander:  eine  feststellende  Betätigung 
des  Menschen,  d.  i.  die  rein  erkennende  Forschung,  eine  zweck- 
setzende Betätigung,  das  ist  die  gedankliche  Klärung  seiner 
lebendigen  Bedürfnisse,  und,  zwischen  beiden  in  der  Mitte  stehend, 
eine  mittelbestimmende  Betätigung,  d.i.  die  Anwendung  des 
dort  Festgestellten  im  Dienste  des  hier  Erstrebten.  Der  Begriff 
„angewandte  Wissenschaft"  erfüllt  sich  hier  durch  die  Tatsache, 
daß  die  Technologie  wissenschaftliche  Sätze,  die  unabhängig  von 
den  für  sie  leitenden  Zwecksetzungen  gewonnen  sind,  als  fertige 
Ergebnisse  übernimmt  und  kombinierend  verwertet1). 

Nachdem  wir  die  Struktur  der  „angewandten  Wissensschaft" 
an  dem  Beispiel  des  Handelns  gegenüber  der  Natur  geklärt  haben, 
fragen  wir  uns ,  ob  die  Wirklichkeitszusammenhänge ,  innerhalb 
deren  die  erziehende  Tätigkeit  sich  bewegt,  eine  Übertragung 
dieser  Struktur  gestatten.  Daß  dies  der  Fall  sei,  möchte  man 
unbedenklich  annehmen,  wenn  man  sieht,  .wie  häufig  sich  Rede- 
wendungen von  der  Art  finden,  daß  Pädagogik  die  „Technologie 
der  Erziehung  und  des  Unterrichts",  die  „Technik  der  Kultur", 
die  „zur  Ethik  gehörige  Technik"  sei.  Doch  muß  schon  ein  Um- 
stand Bedenken  erwecken.  Die  Gegenüberstellung  eines  „Innen" 
und  eines  „Außen",  auf  der  die  reinliche  Scheidung  der  verschie- 
denen gedanklichen  Operationen  beruhte,  wird  hier  schon  deshalb 
fraglich,  weil  zwar  die  „Zwecke"  der  Erziehung,  genau  so  wie 
die  für  das  technische  Vorgehen  maßgebenden,  der  inneren  Welt 
des  erlebenden  Menschen  entstammen,  das  Objekt  aber,  an  und  in 
dem  sie  zu  realisieren  sind,  keineswegs  ein  „draußen"  liegendes  Ma- 
terial darstellt,  vielmehr  als  Leibseelenwesen,  als  psychophysische 
Lebenseinheit,  ebensowohl  der  inneren  wie  der  äußeren  Welt 
angehört,  besser  gesagt,  durch  seine  Daseinsweise  diesen  Gegensatz 


1)  Es  kann  hier  nicht  im  Einzelnen  ausgeführt  werden,  daß  dieses  grund- 
sätzliche Verhältnis  sich  auch  dann  nicht  ändert,  wenn  derselbe  Mensch  es  ist, 
der  den  Zweck  setzt  und  durch  Naturerforschung  die  Mittel  feststellt. 


28  Theodor  Litt, 

übergreift,  wo  nicht  gar  in  sich  anfhebt.  Die  Dimension  der 
Wirklichkeit,  die  alle  Zwecksetzungen  aus  sich  erzeugt,  erstreckt 
sich  gleichsam  in  das  Objekt  hinein  und  bleibt  ihm  nicht  äußer- 
lich ;  oder  auch  umgekehrt :  die  Dimension  der  Wirklichkeit,  inner- 
halb deren  der  Zweck  realisiert  werden  soll,  erstreckt  sich  bis  in 
das  zwecksetzende  Subjekt  hinein.  Ja,  wenn  man  erwägt,  daß 
Erziehung,  obzwar  auf  das  leiblich  -  seelische  Ganze  gerichtet, 
doch  schließlich  die  Krönung  ihres  Werks  im  Inneren,  in  der  Aus- 
gestaltung der  Persönlichkeit  findet,  so  zeigt  sich,  daß  im  vollsten 
Gegensatz  zu  dem  Dualismus  der  Wirklichkeitssphären,  der  die  voll- 
kommenste Ausgestaltung  des  Typus  der  angewandten  Wissenschaft 
gestattet,  hier  umgekehrt  gerade  das  Zusammenfallen  der  die  Zwecke 
erzeugenden  und  der  im  Sinne  dieser  Zwecke  zu  „bearbeitenden" 
Wirklichkeitssphäre  *)  für  die  Wirkensform  entscheidend  ist. 

Dieser  zunächst  in  grundsätzlicher  Allgemeinheit  ausgespro- 
chene Satz  bewahrheitet  sich,  sobald  wir  ihn  mit  den  wesentlichen 
Momenten  des  erzieherischen  Wirkungszusammenhangs  zusammen- 
halten. Kann  angesichts  dieses  Wirkungszusammenhangs  einmal 
die  Vorstellung  sich  behaupten,  daß  der  Praktiker  der  Erziehung 
als  bloßer  Techniker,  der  Theoretiker  der  Erziehung  als  bloßer 
Technologe  den  für  sein  Denken  und  Handeln  maßgebenden  Zweck 
von  außen  her,  als  eine  für  ihn  über  jeder  Erörterung  stehende 
Aufgabe  empfange,  daß  er  desgleichen  das  für  ihn  notwendige 
Wissen  von  der  Beschaffenheit  seines  Objekts  als  zubereitete,  durch 
ihn  lediglich  „anzuwendende"  Ergebnisse  von  anderen  Wissens- 
kreisen übernehme?  Kann  ferner  angesichts  dieses  Wirkungszu- 
sammenhangs die  Meinung  Bestand  haben,  daß  der  Zögling  als 
bloßes  Material  im  Dienste  von  Zwecken,  die  auch  für  ihn  von 
außen  her  gesetzt  wären,  bearbeitet  werden  müsse?  Auf  die 
letzte  Frage  haben  frühere  Ausführungen  bereits  die  Antwort  ge- 
geben. Dieselben  inneren  Formkräfte,  die  gegen  die  Gleichsetzung 
von  Erziehung  und  Kunst  Einspruch  erhoben,  weil  der  künstle- 
rische Formwille  allzu  souverän  mit  seinem  Stoff  schaltet,  lehnen 
sich  auch  gegen  eine  Bearbeitung  im  Dienste  eines  von  außen  her- 
kommenden Zwecks  auf;  hier  wie  dort  würde  dem  Eigenrecht  des 
zu  Erziehenden  Gewalt  angetan  werden.  Auch  hier  macht  sich 
die  Tatsache  geltend,  daß  im  Objekt  selbst  bestimmte  Möglich- 
keiten angelegt  sind,    die  in  sich  den  Hinweis  auf  „ Zwecke"  ent- 


1)  Vgl.  u.  S.  49. 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens.  29 

halten;  und  die  für  die  Praxis  leitende  Zwecksetznng  kann  nur 
dann  als  eine  wahrhaft  erzieherische  gelten,  wenn  sie  diese  eigenen 
Zweckrichtnngen  im  Objekt  anerkennt  und  für  sich  zum  wenigsten 
mitbestimmend  sein  läßt.  Allein  dieser  Umstand  eröffnet  uns 
schon  den  Blick  in  Wirklichkeitszusammenhänge,  denen  die  gedank- 
lichen Operationen  der  Theorie  nicht  gerecht  werden  können,  es 
sei  denn,  daß  das  für  die  Struktur  der  „angewandten  Wissenschaft" 
maßgebende  Schema  durchbrochen  wird.  Denn  offenbar  müssen 
hier  zwecksetzende  und  feststellende  Betätigung  in  eine  innere 
Verbindung  treten,  die  dort  nicht  nur  unnötig,  sondern  geradezu 
unmöglich  war.  Sobald  der  Akt  der  Zwecksetzung  erfolgt  nicht 
etwa  lediglich  aus  den  im  Subjekt  selbst  empfundenen  Bedürf- 
nissen heraus,  sondern  im  Hinblick  auf  die  im  „Material"  selbst 
angelegten  Zweckrichtungen,  ist  er  auch  nicht  mehr  durchführbar 
in  völliger  Ablösung  vom  Akt  der  „Feststellung".  Denn  nur  eine 
solche  kann  Aufschluß  geben  über  das,  was  im  Material  selbst  an 
inneren  Gerichtetheiten  enthalten  ist. 

Aber  selbst  zugegeben,  daß  das  Verhältnis  zwischen  zweck- 
setzender und  feststellender  Betätigung  sich  hier  so  verschieben 
muß,  wäre  es  dann  nicht  immer  noch  möglich,  daß  auf  der  Grund- 
lage der  Ergebnisse,  zu  denen  das  geforderte  Zusammenwirken 
jener  beiden  führen  würde,  eine  Technologie  des  erziehenden  Han- 
delns sich  aufbaute,  deren  Regeln  dann  die  Praxis  leiten  könnten  ? 
Dieser  Gedanke  ist  nicht  nur  praktisch  undurchführbar,  er  erweist 
sich  auch,  richtig  durchdacht,  als  sinnwidrig.  Das  Ineinandergreifen 
der  in  dem  zuerst  betrachteten  Fall  wohlgeschiedenen  zwei  Betä- 
tigungen, der  zwecksetzenden  und  der  feststellenden,  muß  notwendig 
auch  die  dritte,  die  dort  vermittelnd  zwischen  ihnen  stand,  in  Mit- 
leidenschaft ziehen,  so  sehr  in  Mitleidenschaft  ziehen,  daß  sie  das, 
was  sie  war,  zu  sein  aufhört.  Es  kann  ja  auch  gar  nicht  anders 
sein,  weil  da,  wo  eine  innere  Verbindung  bereits  hergestellt  ist, 
eine  auf  Vermittlung  gerichtete  Funktion  nichts  mehr  zu  tun 
findet,  ja  in  Wahrheit  unmöglich  wird.  Eine  solche  hat  ihr  Wesen 
in  jener  uneingeschränkten  Freiheit  des  Wählens  und  Kombinierens 
unter  den  gegebenen  Elementen:  diese  aber  ist  wiederum  nur  da 
möglich,  wo  das  Material  an  sich  noch  nicht  auf  Zwecke  hin  ge- 
richtet, nicht  schon  selbst  unter  Zweckgesichtspunkten  zusammen- 
geschlossen ist.  Hier  aber  findet,  so  sahen  wir,  der  Zweckgedanke 
seine  Ansatzpunkte  in  dem  „Material"  selbst  schon  vor,  und  damit 
stellt  sich,  gleichsam  über  den  Kopf  jeder  denkbaren  vermittelnden 


30  Theodor  Litt, 

Theorie  hinweg,  eine  innere  Verbindung  her  zwischen  dem  Zweck- 
gedanken im  Subjekt  und  den  Zweckgerichtetheiten  im  Objekt,  eine 
Verbindung,  die  der  vermittelnden  Theorie  ihre  Bewegungsfreiheit 
völlig  unterbindet.  Es  ist  ein  leicht  zu  durchschauender  Wesens- 
zusammenhang, in  dem  es  begründet  liegt,  daß  das  Walten  des 
Zweckgedankens  auf  der  Seite  des  „Materials "  gleichbedeutend  ist 
mit  dem  Aasschluß  jeder  Technologie.  Sowohl  die  Theorie  der 
Erziehung  im  Allgemeinen  als  auch  die  Praxis  der  Erziehung  im 
Besondern  findet  ihr  Material  nicht  als  ein  Nebeneinander  heraus  - 
analysierter  letzter  Elemente  vor,  deren  Verbindung  ihre  Sache 
wäre,  sondern  ihr  Material  bietet  sich  selbst  schon  als  Kombi- 
nation, ja  als  äußere  komplexe  Gesamterscheinung  dar;  die  in  ihr 
gegebene  Zusammenordnung  der  „Elemente"  bildet  den  Ausgangs- 
punkt jedes  erzieherischen  Tuns.  Der  Mensch  überhaupt,  mit  dem 
es  eine  allgemeine  Theorie  der  Erziehung  zu  tun  hat,  der  einzelne 
Mensch,  dem  die  Praxis  der  Erziehung  gegenübersteht,  sie  sind  ja 
doch  Gebilde  von  denkbarster  Kompliziertheit  des  Gesamtauf  bans. 
Eben  weil  das  Objekt  der  Erziehung  in  solchem  Sinne  schon  Kom- 
bination, d.  h.  Zusammenordnung  eines  Mannigfaltigen  ist,  kann  es 
so,  wie  es  ist,  unter  den  Zweckgedanken  gestellt  werden;  ein- 
fachen und  letzten  Elementen  gegenüber  würde  dieser  fremd  und 
äußerlich  sein.  Und  der  gleiche  Komplexcharakter  des  pädago- 
gischen Objekts  ist  es  nun  auch,  der  jene  uneingeschränkte  Will- 
kür der  Kombination  ausschließt,  die  das  Wesen  des  technologischen 
Denkens  ausmacht. 

Schon  durch  diese  Erwägungen  erweist  sich  jede  Möglichkeit 
einer  frei  die  Mittel  bestimmenden  Technologie  als  aufgehoben  — 
und  dies,  obwohl  unsere  bisherige  Erörterung  sich  noch  begrifflicher 
Instrumente  bedient  hat,  die  sich  dem  Begriffsapparat  des  tech- 
nologischen Denkens  mehr  anpassen,  als  mit  der  Natur  des  Gegen- 
standes sich  verträgt.  Denn  irrig  ist  in  Wahrheit  die  „mecha- 
nistische" Auffassung,  die  in  dem  Menschen  überhaupt  bzw.  dem 
einzelnen  Menschen  eine  „Kombination",  ein  Aggregat  von  elemen- 
taren Stoffen  und  Kräften  sehen  will,  von  denen  ein  jeder  bzw. 
eine  jede  auch  in  einer  Unzahl  anderer  Verbindungen  sich  fände; 
abzulehnen  ist  die  mechanistische  Vergewaltigung  des  Lebens,  die 
in  dem  Individuum  nichts  anderes  findet  als  einen  „Schnittpunkt 
allgemeiner  Gesetze".  Dem  psychophysischen  Lebewesen  eignet 
eine  innere  Einheit,  Ganzheit,  Geschlossenheit,  die  sich  von  jeder 
Art  äußerlicher  Zusammenfügung  wesenhaft  unterscheidet   —  wie 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens.  31 

auch  immer  wir  diese  Einheit  bezeichnen  mögen.  Es  ist  in  allen 
Teilen  durchwaltet  von  einem  zentralen  Lebensprinzip,  welches 
wir  oben  anzudeuten  versuchten,  wenn  wir  von  der  „Form"  re- 
deten, die  im  Objekt  des  erzieherischen  Tuns  angelegt  sei.  Wenn 
aber  demnach  das  Ganze,*  mit  dem  Theorie  und  Praxis  der  Erzie- 
hung sich  beschäftigen,  mehr  ist,  etwas  ganz  anderes  ist  als  eine 
Kombination  von  Elementen,  von  denen  ein  jedes  herausanalysiert 
und  für  sich  erforscht  werden  könnte,  dann  muß  vollends  jeder 
Gedanke  an  eine  Technologie,  als  welche  doch  zum  mindesten  das 
Vorhandensein  solcher  Elemente  voraussetzt,  hinfällig  werden. 
Zusammen  mit  einer  selbständigen  zwecksetzenden  und  einer  selb- 
ständigen feststellenden  Funktion  schwindet  auch  eine  selbstän- 
dige mittelbestimmende  Betätigung.  Der  Wirklicheitszusammen- 
hang,  in  den  die  Praxis  der  Erziehung  hineingehört,  den  die  Theorie 
der  Erziehung  erforscht,  ist  so  strukturiert,  daß  er  die  dualistische 
Scheidung  der  Wirklichkeitssphären  und  die  mit  ihr  korrelative 
Scheidung  der  gedanklichen  Operationen,  diese  Scheidungen,  auf 
denen  die  methodische  Eigenart  der  Technologie  beruht,  in  sich 
aufhebt.  Sei  das  Verhältnis  der  gedanklichen  Operationen,  durch 
welche  eine  Theorie  der  Erziehung  zustande  kommt,  welches  es 
wolle,  keinesfalls  kann  es  sich  dem  Schema  einfügen,  in  dem  eine 
Technologie  ihren  Platz  hat. 

3. 
Die  Form  einer  Technologie  kann  also  die  Theorie  der  Erzie- 
hung unter  keinen  Umständen  annehmen.  Es  fragt  sich  aber,  ob 
sie  damit  zugleich  auch  dem  Charakter  einer  „angewandten  Wissen- 
schaft" entsagt.  Die  Technologie  ist  das  Korrelat  zu  der  Gruppe 
von  „feststellenden"  Naturwissenschaften,  deren  Leistungen  gipfeln 
in  der  exakten  Formulierung  von  Gesetzen  der  kausalen  Verknüp- 
fung elementarer  Vorgänge.  Ermäßigt  man  die  Ansprüche  von 
Exaktheit,  denen  die  letztern  genügen,  und  die  Ansprüche  von 
vorberechnender  Sicherheit  des  Handelns,  die  durch  die  erstere 
befriedigt  werden,  so  scheint  es  nicht  ausgeschlossen,  daß  eine  auf 
die  komplexen  Erscheinungen  gerichtete  und  eben  deshalb  minder 
exakte  Wissenschaft  von  theoretischem  Charakter  Erkenntnisse  zu 
Tage  förderte,  aus  denen  eine  auf  eben  diese  komplexen  Gebilde 
sich  richtende  Praxis  Nutzen  ziehen  könnte.  Damit  wäre  dann 
der  Ort  bezeichnet  für  eine  Theorie ,  die  in  methodischer  Gründ- 
lichkeit  die  Möglichkeiten   und  Regeln    dieser  Nutzung   zu  unter- 


32  Theodor  Litt, 

suchen  hätte  —  und  nichts  würde  dazu  berechtigen,  einer  solchen 
Theorie  den  Namen  einer  „ angewandten  Wissenschaft"  vorzuent- 
halten, wie  es  denn  ja  auch  unter  den  anerkannten  angewandten 
Wissenschaften  keineswegs  an  solchen  fehlt,  die  der  Exaktheit 
einer  Technologie  ziemlich  ferne  bleiben.  Angenommen,  eine  so 
geartete  Theorie  der  Erziehung  wäre  möglich,  welches  würde  der 
Gegenstand  der  Grundwissenschaft  sein,  deren  Ergebnisse  sie  an- 
zuwenden hätte? 

Es  scheint,  daß  unsere  bisherigen  Darlegungen  bereits  einen 
Ausblick  auf  die  Eigenart  dieser  Grundwissenschaft  eröffnen.  Ob 
es  die  formende  Freiheit  der  künstlerischen  Gestaltung  oder  die 
kombinierende  Freiheit  der  technischen  Konstruktion  von  dem  Ob- 
jekt der  Erziehung  fernzuhalten  galt,  jedesmal  hatten  wir  hinzu- 
weisen auf  die  in  diesem  selbst  eingeschlossenen  Formkräfte,  über 
welche  keine  äußere  Einwirkung  sich  hinwegsetzen  dürfe,  ohne 
auf  das  Prädikat  „Erziehung"  Verzicht  zu  leisten.  Diese  Form- 
kräfte aber  kommen  dem  Objekt  der  Erziehung  deshalb  zu,  weil 
es  ein  Lebendiges  ist.  Als  Grundlage  für  eine  Theorie  der 
Erziehung  scheint  brauchbar  nur  eine  solche  Wissenschaft,  deren 
Gegenstand  eben  dieses  Leben  ist;  nur  ihr,  so  scheint  es,  kann  die 
eigentümliche  innere  Einheit,  die  die  Mannigfaltigkeit  der  am  pä- 
dagogischen Objekt  vorgefundenen  Eigenschaften  und  Funktionen 
zur  „Form"  zusammenschließt,  nur  ihr  die  in  dieser  Form  zu  Tage 
tretende  Zweckgerichtetheit  sich  offenbaren;  nur  sie  scheint  die 
„Feststellungen"  zu  versprechen,  die  nicht  nur  über  die  Beschaffen- 
heit des  Objekts,  wie  es  ist,  sondern  auch  über  die  Möglichkeiten 
zweckvoller  Ausgestaltung  Aufschluß  geben.  Und  eine  solche  theo- 
retische Grundlegung  würde  sich  in  ihrer  Grundrichtung  zusammen- 
finden mit  einer  seit  Rousseau  geläufigen  und  gerade  dem  heutigen 
Zeitbewußtsein  besonders  naheliegenden  Auffassung  des  Erziehungs- 
werks :  die  jugendliche  Seele  ein  organisches  Lebewesen  mit  eigenen, 
angeborenen  Werdetrieben,  und  der  Erzieher  der  Pfleger,  der  Gärtner, 
der  Züchter,  der  berufen  ist,  der  in  diesem  Lebewesen  angelegten 
Form  durch  seine  sorgende,  schützende,  entwickelnde  Mühe  zu 
einer  möglichst  vollkommenen  Entfaltung  zu  verhelfen.  Es  ist 
eine  Auffassung,  die,  wie  offensichtlich,  jede  dem  innern  Lebens- 
trieb des  Objekts  widerstreitende  Einwirkung  von  vorne  herein 
abweist. 

Wollen  wir  über  Wesen  und  Methode  einer  solchen  Wissen- 
schaft  von   der  leiblich  -  seelischen  Lebensentfaltung  Klarheit   ge- 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens.  33 

winnen,  dann  wird  es  wiederum  unumgänglich  sein,  das  Recht 
jener  analogisierenden  Vorstellungen  zu  prüfen,  die  unausbleiblich 
in  jeden  Versuch,  solche  Klarheit  zu  gewinnen,  hineinspielen.  Auch 
hier  pflegt  der  Vergleich  oft  zur  Gleichsetzung  zu  werden.  Nun 
tun  wir  sicherlich  Recht  daran,  der  psychophysischen  Einheit  des 
Erziehungsobjekts  eine  innere  Angelegtheit  zuzuschreiben,  wie  sie 
der  biologischen  Einheit  des  Organismus  zukommt:  nur  müssen 
wir  uns  fragen,  wie  sich  auf  jener  und  auf  dieser  Seite  die  „An- 
lage" zu  dem  verhält,  was  sich  als  „lebendige  Form"  späterhin 
aus  ihr  heraus  entwickelt.  Im  Keimplasma  ist  die  künftige  Form 
des  Organismus  in  allem  Wesentlichen  eindeutig  vorgezeichnet; 
aus  dem  Samenkorn  etwa  wird,  wo  und  wann  auch  immer  es  zum 
Keimen  gebracht  werden  mag,  nur  ein  Exemplar  der  morpholo- 
gisch so  und  so  bestimmten  Gattung  hervorgehen.  Entsprechendes 
gilt  auch  für  die  leibliche  Seite  der  Leibseeleneinheit  Mensch  — 
gilt  es  auch  für  die  innere?  Ist  auch  die  Form  des  seelischen 
Seins  ähnlich  durch  die  Anlage  vorherbestimmt?  Man  denke  sich 
ein  und  dasselbe  Menschenwesen  mit  einer  so  und  so  gearteten 
„Anlage"  in  seiner  Entwicklung  hineingestellt  in  eine  Mannigfal- 
tigkeit von  menschlichen,  gesellschaftlichen,  kulturellen  Umwelten : 
es  würde  nie  und  nimmer  in  jedem  der  hier  angenommenen  Fälle 
zu  einer  und  derselben  Persönlichkeit  heranwachsen.  Denn  das, 
was  wir  im  weitesten  Sinne  „Umwelt"  nennen,  hat  keineswegs  für 
den  biologischen  und  für  den  seelisch-geistigen  Entwicklungsprozeß 
die  gleiche  Bedeutung.  Für  das  Werden  des  Organismus  liefert 
die  Umwelt,  abgesehen  von  rein  äußerlichen  Einwirkungen  physi- 
kalischer Art,  bloß  die  „Nahrung".  Nun  sind  zwar  Maß  und  Art 
dieser  Zufuhr  zweifellos  mitbestimmend  für  das  Maß,  die  Üppig- 
keit bzw.  Dürftigkeit  der  Entfaltung :  aber  auf  die  Formgestaltung 
selbst  sind  sie  ohne  jeden  Einfluß.  Denn  der  Organismus  arbeitet 
im  Stoffwechselprozeß  alles,  was  von  außen  her  in  seinen  Lebens- 
prozeß eintritt,  in  seine  eigene  Form  hinein,  es  ist  für  ihn  nicht 
mehr  als  Material.  Für  die  seelische  Entwicklung  hingegen  bietet 
die  Umwelt  eine  Reihe  von  „Stoffen",  die  gerade  nur  dann  dem 
Entwicklungsprozeß  dienen  können,  wenn  sie  als  das,  was  sie 
selbst  an  sich  sind  oder,  besser  gesagt,  bedeuten,  erhalten 
bleiben  und  wirken :  es  sind  sachliche  Gehalte,  ideelle  Gültigkeiten, 
s'eien  es  nun  solche  wissenschaftlicher,  künstlerischer,  sittlicher, 
religiöser  Art,  die  selbst  schon  ihre  Form  haben  und  nur  durch 
ihre  eigene  Geformtheit  für  den  Formungsprozeß  der  Seele  bedeut- 

Ktintstadion.  XXVI.  3 


34  Theodor  Litt, 

sam  werden.  Die  übliche  Rede  von  der  „geistigen  Nahrung"  ist 
irreführend,  weil  sie  auf  der  Seite  des  seelischen  Werdens  dieselbe 
einseitige  Assimilation  durch  den  Lebensprozeß  voraussetzt  wie  sie 
auf  der  Seite  des  organischen  Wachstums  zweifellos  vorliegt.  Die 
Unzulässigkeit  dieser  Parallele  erhellt  aus  dem  Umstand,  daß  auf 
dem  Boden  der  seelischen  Wirklichkeit  die  Begriffe  Stoff  und 
Form  unbedenklich  ihre  Stelle  vertauschen  können:  hier  darf  man 
ebensowohl  bildlich  sagen,  daß  die  Seele  die  in  sie  einströmenden 
Gehalte  forme,  d.  h.  nach  ihrem  eigenen  Wachstumsprinzip  neu- 
erzeuge, wie  auch  daß  sie  durch  diese  geformt  werde,  d.  h.  ihre 
an  sich  gestaltlosen  Werdetriebe  an  ihnen  und  durch  sie  kläre  und 
vergegenständliche.  Hier  wirkt  das,  was  im  Innern  angelegt  ist, 
und  das,  was  von  außen  her  an  das  Ich  herantritt,  in  einer  Weise 
ineinander,  für  die  es  außerhalb  dieser  Dimension  des  Seins  keinerlei 
Analogie  gibt.  In  der  Eigenart  dieses  doppelseitigen  Formungs- 
vorgangs liegt  es  begründet,  daß  jeder  Versuch,  sich  von  der  Art 
und  dem  Inhalt  der  für  die  seelische  Entwicklung  maßgebenden 
Disposition,  von  der  qualitativen  Besonderheit  der  in  ihr  beschlos- 
senen Tendenzen  eine  Vorstellungen  machen,  schlechthin  sinn- 
widrig ist *) ;  denn  zur  Form  kann  sich  diese  Disposition  erst  durch 
ihr  Zusammentreten  mit  den  ideellen  Gehalten  entwickeln,  die  die 
kulturelle  Umwelt  an  sie  heranbringt.  Diese  Umwelt  aber  ist 
eben  nicht  eine  bestimmte,  sondern  es  sind  ihrer  unzählige  denk- 
bar, von  denen  jede  ihre  besonderen  ideellen  Gehalte  dem  For- 
mungsprozeß zur  Verfügung  stellen  würde.  In  diesem  Sinne  ist 
also  jede  seelische  Gesamtdisposition  voll  „unbegrenzter  Möglich- 
keiten" ;  sie  weiß  nichts  von  jener  Eindeutigkeit  der  Determination, 
die  dem  biologischen  Keim  eignet.  Darum  ist  auch  die  Parallele, 
die  im  Gegensatz  zu  den  vorher  kritisierten  uns  einen  tieferen 
Einblick  in  das  Wesen  des  Erziehungsvorgangs  zu  versprechen 
schien,  die  Parallele  von  seelischem  und  organischem  Werden,  von 
erziehender  und  züchtender  Tätigkeit,  als  nur  halbwahre  Analogie 
abzulehnen.  Sie  führt  uns  ebenso  wenig  in  den  Kern  des  Problems 
hinein,  wie  der  Vergleich  mit  dem  Tun  des  Künstlers  und  des 
Technikers.  Und  zwar  ist  es  sehr  lehrreich,  daß  sie  aus  genau 
dem  entgegengesetzten  Grunde  abzuweisen  ist,  wie  die  beiden 
zuerst  behandelten.  Gegen  diese  mußten  wir  Einspruch  erheben, 
weil    sie    dem  Gegenstand    der  Erziehung    zu    wenig   Eigenrecht 


1)  W.  Stern,  Die  menschliche  Persönlichkeit.    Leipzig  1918.    S.  80. 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens.  35 

ließen:  jene  verbietet  sich  gerade  deshalb,  weil  sie  dem  Gegen- 
stand zu  viel  an  Eigenbestimmtheit  gibt  und  die  erziehende  Funk- 
tion allzusehr  auf  bloßes  Pflegen  und  Fördern  immanenter  Zweck- 
richtungen beschränkt.  Der  Erzieher  hat  weniger  Freiheit  der 
Gestaltung  als  der  Künstler,  weniger  Willkür  der  Zusammen- 
ordnung als  der  Techniker  —  aber  er  hat  mehr  Spielraum  der 
„  Bildung "  als  der  Züchter. 

4. 
Gibt  es  also  eine  theoretische  Wissenschaft  von  der  leiblich- 
seelischen  Lebens entfaltung,  wie  wir  sie  als  „Grundwissenschaft" 
für  eine  „  angewandte  Wissenschaft"  von  der  Erziehung  postu- 
lieren mußten,  so  wird  diese  von  vorne  herein  die  Irrungen  ver- 
meiden müssen,  denen  eine  biologisierende  Auffassung  dieses  Pro- 
zesses notwendig  verfällt.  Ja,  sie  wird  diese  Auffassung  gerade 
dann  am  entschiedensten  von  sich  weisen  müssen,  wenn  sie  als 
Grundlage  für  eine  Theorie  des  erzieherischen  Tuns  brauchbar 
sein  soll.  Denn  jener  von  uns  andeutungsweise  geschilderte  Vor- 
gang, in  dem  seelisches  Leben  und  sachliche  Gehalte  sich  durch- 
wirken, jener  Vorgang,  der  so  ganz  und  gar  jedes  Vergleiches 
mit  dem  biologischen  Prozeß  spottet,  er  ist  ja  gerade  der  für  das 
Kulturphänomen  Erziehung  fundamentale.  Jene  reinen  Sachgehalte 
nämlich,  an  und  in  denen  der  Formungsprozeß  der  Seele  sich  voll- 
zieht, sie  treten  ja  nicht  wie  selbsttätig  aus  ihrer  ideellen  Sphäre 
heraus  und  an  das  zu  entwickelnde  Subjekt  heran,  sondern  sie 
müssen  durch  einen  Prozeß  persönlicher  Übertragung  von  Mensch 
zu  Mensch  immer  von  neuem  aktualisiert  werden,  und  dieser  Prozeß 
der  Übertragung  heißt,  sobald  er  mit  einem  Mindestmaß  von  Be- 
wußtheit vollzogen  wird  —  Erziehung.  Für  den  Sinn,  ja  für  die 
Möglichkeit  der  Erziehung  ist  gerade  der  Sachverhalt  notwendige 
Bedingung,  den  die  Durchführung  des  biologischen  Vergleichs  un- 
kenntlich macht.  Nur  deshalb  gibt  es  Erziehung,  weil  die  Seele 
nicht  eindeutig  präformiert  ist,  sondern  erst  in  der  Auseinander- 
setzung mit  ideellen  Gehalten  sich  gestaltet,  und  nur  darum  gibt 
es  seelische  Entwicklung,  weil  es  Erziehung,  d.h.  persönliche 
Übertragung  ideeller  Gehalte  von  Mensch  zu  Mensch  gibt.  Die 
postulierte  Wissenschaft  von  dem  seelischen  Entfaltungsprozeß 
würde  demnach  ihren  Gegenstand  nur  dann  erschöpfen,  ja  sie 
würde  ihn  überhaupt  nur  dann  wirklich  erfassen,  wenn  sie  das 
seelische  Werden  nicht  als  einen  lediglich  im  geschlossenen  Kreis 

3* 


36  Theodor  Litt, 

der  Einzelseele  sich  vollendenden  Vorgang  —  vergleichbar  dem 
in  sich  zurücklaufenden  organischen  Wachstumsprozeß  —  zu  ver- 
stehen suchte,  vielmehr  dieses  Werden  erfaßte  in  seiner  Durch- 
dringung und  Verschränkung  mit  den  von  außen  her  erfolgenden 
Einwirkungen,  die  in  ihrer  höchsten  Form  „Erziehung"  heißen. 
Und  gerade  mit  dieser  durch  den  Gegenstand  erforderten  Weite 
der  Fragestellung  müßte  sie,  so  möchte  es  scheinen,  sich  besonders 
geeignet  machen,  einer  Theorie  des  erzieherischen  Tuns  als  Grund- 
lage zu  dienen. 

Wie  aber,  wenn  gerade  diese  von  uns  als  unerläßlich  ent- 
wickelte Problemstellung  der  „Grundwissenschaft"  sie  zu  der  ihr 
zugedachten  Funktion  untauglich  machen  sollte?  Erinnern  wir 
uns  doch,  welcher  Zusammenhang  uns  zu  dieser  Fixierung  der 
unserer  Grundwissenschaft  zukommenden  Fragestellungen  geführt 
hatte!  Wir  haben  eine  Praxis,  genannt  Erziehung.  Wir  suchen 
eine  Theorie,  geeignet,  dieser  Praxis  Richtlinien  zu  geben,  und 
glauben  dieser  Theorie  einen  wissenschaftlichen  Wert  nur  dann 
verbürgen  zu  können,  wenn  sie  den  methodischen  Charakter  einer 
„angewandten  Wissenschaft"  besitzt.  Wir  suchen  den  Problem- 
gehalt der  rein  theoretischen  „Grundwissenschaft",  auf  der  diese 
„angewandte  Wissenschaft"  zu  fußen  hätte,  zu  bestimmen  und 
finden  als  wesentlichen  Bestandteil  dieses  Gehalts  —  das  Phänomen 
Erziehung,  also  diejenige  Praxis  als  Tatsache,  die  als  Auf- 
gabe in  eben  dieser  Theorie  ihre  letzte  Grundlage  erhalten  sollte. 
Nun  fragen  wir  uns:  kann  und  darf  eine  Grundwissenschaft,  auf 
der  eine  angewandte  Wissenschaft  aufgebaut  werden  soll,  zum 
Gegenstand  der  Erforschung  haben  eben  diejenige  Praxis,  der  die 
Sätze  dieser  angewandten  Wissenschaft  Regeln  vorschreiben  sollen? 
Offenbar  würde  auf  diese  Weise  ein  heilloser  Zirkel  entstehen. 
Denn  die  rein  theoretische  Betrachtung  dürfte  bei  dem  Versuch, 
das  Wesen  der  Praxis  als  eines  gegebenen  Stücks  Wirklichkeit  zu 
verstehen,  die  in  der  angewandten  Wissenschaft  ausgesprochenen 
Regeln  des  Handelns,  die  doch  auch  einen  Teil  dieser  Wirklichkeit 
bilden,  nicht  aus  der  Betrachtung  ausschließen,  müßte  sie  vielmehr 
als  zu  dem  zu  untersuchenden  Tatbestand  gehörig,  d.  h.  als  für 
die  Betrachtung  „gegeben"  ansehen  —  während  dann  später  die 
„angewandte  Wissenschaft"  die  in  der  Grundwissenschaft  voraus- 
gesetzten Regeln  aus  dieser  selbst  abzuleiten  hätte!  Oder  aber: 
wenn  die  Grundwissenschaft  die  in  der  angewandten  Wissenschaft 
ausgesprochenen  Regeln   nicht   in    den  Kreis    der   zu    deutenden 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens.  37 

Tatbestände  aufnähme,  so  wäre  es  unerfindlich,  wie  eine  „Anwen- 
dung" der  in  der  Grundwissenschaft  gewonnenen  Erkenntnisse  auf 
diese  Regeln  führen  sollte.  Kurzum  —  wie  wir  es  auch  wenden 
mögen,  das  ganze  Verhältnis  „Grundwissenschaft  —  angewandte 
Wissenschaft  —  Praxis"  ist  mit  dem  Tatbestand  und  der  Aufgabe 
der  Erziehung  nicht  zusammenzubringen.  Sinnvoller  Weise  hat 
jede  Grundwissenschaft  an  dem  Objekt  der  Praxis  ihr  Problem, 
nicht  an  der  Praxis  selbst;  die  angewandte  Wissenschaft  leitet 
aus  der  Kenntnis  des  Objekts,  die  sie  der  Grundwissenschaft  ent- 
nimmt, die  Regeln  des  Handelns  ab,  und  die  Praxis  verfährt  diesen 
Regeln  gemäß.  Weil  dem  Gegenstand  der  postulierten  pädagogi- 
schen Grundwissenschaft  der  Tatbestand  der  Praxis  gleichsam  in- 
häriert,  und  zwar  nicht  als  äußere  Zutat,  sondern  als  wesentliches 
Moment  seiner  selbst,  darum  gibt  es  keine  rein  theoretische  Grund- 
wissenschaft der  Pädagogik,  deren  Ergebnisse  von  einer  ange- 
wandten Wissenschaft  übernommen  und  zu  Regeln  des  Handelns 
ausgemünzt  werden  könnten:  vielmehr  erstreckt  sich  das 
Problem  Erziehung  durch  alle  Schichten  der  hier  in 
Betracht  kommenden  Erwägungen  und  Untersuchungen 
derart  hindurch,  daß  die  theoretische  Auffassung  des  Tatbe- 
standes „Erziehung"  einerseits,  die  praktische  Stellungnahme  zu 
den  Aufgaben  der  Erziehung  andererseits  gleichsam  sekundäre  Aus- 
gestaltungen einer  Grundeinstellung  zum  Problem  „Erziehung* 
überhaupt  sind,  die  über  dem  Gegensatz  von  Theorie  und  Praxis, 
Tatsachenerforschung  und  Zielsetzung  steht.  Hier  baut  sich  nicht 
eines  als  Folgerung,  Anwendung  u.  dgl.  auf  dem  anderen  auf,  son- 
dern alles  entspringt  aus  demselben  Zentralpunkt  heraus.  So 
scheitert  der  Versuch,  die  Theorie  der  Erziehung  auf  einer 
Wissenschaft  von  den  komplexen  Erscheinungen  der  seelischen 
Entwicklung  aufzubauen,  an  derselben  allumfassenden  Einheit  der 
geistigen  Welt,  die  auch  jede  technologische  Behandlung  des  Er- 
ziehungsproblems ausschließt. 

Für  das  Ausgeführte  kann  es  keine  treffendere  und  gleich- 
zeitig naheliegendere  Illustration  geben  als  —  unsere  eigenen  Aus- 
führungen. Inwiefern  bilden  sie  eine  solche?  Der  Vorgänge,  die 
eine  menschliche  Seele  in  sich  schließt,  sind  unendlich  viele  und 
unendlich  mannigfaltige ;  desgleichen  sind  die  von  Mensch  zu  Mensch 
spielenden  Einwirkungen  an  Zahl  und  Gehalt  unerschöpflich.  Im 
Innern  des  Subjekts  bilden  jene  und  diese  zusammen  ein  Erlebnis- 
ganzes,   das   in  seiner  Geschlossenheit,    in  der  Kontinuität  seiner 


38  Theodor  Litt, 

Übergänge  jeder  Zerlegung  in  Teile,  Elemente  u.  dgl.  Widerstand 
leistet;  hier  wird  jedes,  auch  das  scheinbar  belangloseste  Einzel- 
erlebnis, als  Beitrag  zur  inneren  Formung  gleichsam  in  das  Ganze 
eingeschmolzen.  Wollte  eine  Wissenschaft  von  der  Erziehung 
ihren  Gegenstand  in  der  Gesamtheit  dieser  Vorgänge  suchen, 
sie  würde  im  Unendlichen  verfließen  und  jeder  sachlichen  und  me- 
thodischen Bestimmtheit  verlustig  gehen ;  sie  muß  ihr  Objekt  enger 
begrenzen,  um  überhaupt  Wissenschaft  sein  zu  können.  Nun  aber 
zeigt  sich  eben:  der  Inbegriff  von  Vorgängen,  dem  der  Name  Er- 
ziehung zukommen  könnte,  grenzt  sich  keineswegs  in  dem  Sinne 
innerhalb  jener  Kontinuität  der  Erlebniswelt  ab,  wie  etwa  die 
äußere  Welt  ihre  Stoffe  und  Kräfte  von  einander  scheidet.  Man 
kann  nicht  ein  Phänomen  „Erziehung"  als  wohlumschriebenen  Tat- 
bestand einfach  so  durch  bloße  Feststellung  aus  der  inneren  Wirk- 
lichkeit ablösen,  wie  man  das  Phänomen  „Magnetismus"  oder  „Elek- 
trizität" aus  der  natürlichen  Wirklichkeit  heraushebt.  Ja,  wie 
wir  sehen  werden,  steht  dieses  Phänomen  auch  hinter  den  anderen 
Forschungs Objekten  der  geistigen  Welt  an  gegenständlicher 
Bestimmtheit  um  ein  Beträchtliches  zurück.  Mehr  als  alle  Natur- 
wissenschaften, mehr  auch  als  die  anderen  Geisteswissenschaften 
muß  deshalb  eine  Theorie  der  Erziehung,  um  überhaupt  zu  einem 
faßbaren  Objekt  zu  gelangen,  auswählend,  scheidend,  abstufend  in 
das  Erlebnisganze  der  inneren  Welt  hineingreifen,  und  bei  diesem 
Vorgehen  muß  sie  Kriterien  anwenden,  die  gegenüber  jener  Kon- 
tinuität als  etwas  von  außen  Herangebrachtes  erscheinen,  deren 
Anwendung  immer  etwas  von  Gewaltsamkeit  an  sich  hat.  Diese 
Auswahl  und  Abgrenzung  setzt  aber  wiederum  voraus,  daß  der 
Betrachter  den  Vorgang  der  Erziehung  im  Sinne  einer  Aufgabe, 
im  Zeichen  einer  Idee  deutet  und  versteht.  M.  a.  W. :  was  Er- 
ziehung ist,  kann  nur  der  „feststellen",  der  schon  eine  gewisse 
Vorstellung  davon  hat,  was  Erziehung  soll.  So  haben  auch  wir, 
wenn  wir  in  der  Entwicklung  innerer  Form  auf  dem  Wege  der 
Durchdringung  mit  ideellen  Gehalten  das  wesentlichste  Moment 
jedes  Erziehungsvorgangs  fanden,  bereits  eine  bestimmte  Deutung 
des  Sinns  der  Erziehung,  eine  bestimmte  Auffassung  der  Erzie- 
hungsaufgabe zu  Grunde  gelegt,  die  weder  die  einzig  vertretene 
noch  die  einzig  mögliche  ist.  Wir  sehen  also:  die  praktischen 
Tendenzen,  die  eigentlich  erst  innerhalb  der  „angewandten  Wissen- 
schaft" zu  Worte  kommen  dürften,  sind  in  Wahrheit  unentbehr- 
lich,   damit  die  „Grundwissenschaft"   überhaupt  ihren  Gegenstand 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens.  39 

konstituieren  könne.  Das  Sein  der  Erziehung  kann  überhaupt 
erst  im  Ausblick  auf  ihr  Sollen  erfaßt  werden.  Das  will  nicht 
heißen,  daß  die  Möglichkeit,  Erziehung  als  Tatsache  zu  erfassen, 
gebunden  sei  an  das  Bekenntnis  zu  einem  bestimmten,  inhaltlich 
im  Einzelnen  ausgeführten  Ideal  des  erzieherischen  Tuns  —  es  be- 
sagt nur  dies,  daß  eine  gewisse  allgemeine  Grundauffassung  vom 
kulturellen  Beruf  der  Erziehung  überhaupt,  die  für  die  Konkreti- 
sierung im  Einzelnen  noch  weiten  Spielraum  läßt,  notwendige  Vor- 
aussetzung für  das  Erfassen  der  Erziehung  als  Tatsache  ist.  Und 
nun  umgekehrt:  so  wenig  es  möglich  ist,  das  Sein  der  Erziehung 
auch  nur  im  allgemeinsten  Sinne  unabhängig  von  einer  bestimmten 
Auffassung  ihres  Sollens  zu  ergreifen,  so  wenig  kann  ein  Vorgehen 
in  Frage  kommen,  das  über  das  Sollen  der  Erziehung  entscheiden 
wollte,  ohne  die  Wirklichkeitszusammenhänge  ins  Auge  zu  fassen, 
die  für  die  Realisierungsmöglichkeiten  jedes  erzieherischen  Ideals 
bestimmend  sind.  Es  wäre  widersinnig,  von  außen  her  Zielvor- 
stellungen an  eine  Wirklichkeit  heranzubringen,  deren  eigene  le- 
bendige Kräfte  doch  schließlich  allein  das  Ideal  in  die  Wirklich- 
keit überführen  können.  Es  muß  also  jede  Erwägung  des  Sollens 
in  engster  Verbindung  mit  der  Auffassung  des  Seins  voranschreiten. 
So  haben  auch  wir,  wenn  wir  in  der  Übertragung  ideeller  Gehalte 
von  Mensch  zu  Mensch  den  Beruf  des  erzieherischen  Tuns  erblickten, 
dem  eine  Auffassung  der  Kultur  Wirklichkeit  zu  Grunde  gelegt,  die 
in  eben  dieser  Übertragung  das  strukturelle  Grundmotiv  im  Aufbau 
der  Kulturwirklichkeit  erblickt.  Mithin  hat  sich  in  dem  von  uns 
entwickelten  Gedankengang  ganz  unmittelbar  das  Ergebnis  be- 
währt, in  das  er  einmündete :  daß,  wo  immer  der  menschliche  Geist 
es  mit  dem  Problem  der  Erziehung  zu  tun  hat,  niemals  eine  Auf- 
fassung dessen,  was  ist,  und  eine  Bestimmung  dessen,  was  sein  soll, 
von  außen  zusammentreten  und  in  den  vermittelnden  Sätzen  einer 
„angewandten  Wissenschaft"  ihre  Verbindung  suchen,  vielmehr 
Seinserfassung  und  Sollensbestimmung  ganz  unmittelbar  aus  einer 
Wurzel  derart  hervorwachsen,  daß  für  das  Vermittlungswerk  einer 
„angewandten  Wissenschaft"  weder  Bedürfnis  noch  Möglichkeit  vor- 
liegt. Sogar  die  Auffassung  und  Redeweise,  die  beide  in  „Wechsel- 
beziehung" stehen  läßt,  ist  noch  zu  äußerlich,  weil  sie  doch  immer 
noch  die  Annahme  einer  ursprünglichen,  gleichsam  substantiellen 
Scheidung  und  erst  nachträglich  eingetretenen  Verbindung  beider 
Seiten  in  sich  schließt. 


40  Theodor  Litt, 

5. 

Wir  haben  die  eigentümlich  wurzelhafte  Verbindung  des  rein 
theoretischen  und  des  praktischen  Elements  hier  zunächst  aufge- 
wiesen im  Bereich  der  letzten  und  allgemeinsten  Betrachtungen, 
die  sich  im  Hinblick  auf  das  Problem  der  Erziehung  überhaupt 
entwickeln  lassen;  es  waren  Betrachtungen,  die,  eben  weil  sie  die 
prinzipielle  Struktur  der  für  das  erzieherische  Denken  maßgebenden 
Zusammenhänge  ergründen  wollten,  von  jeder  Rücksicht  auf  eine 
besondere,  historisch  begrenzte  Erziehungs Wirklichkeit  und  von 
jeder  konkreten  Ausgestaltung  des  erzieherischen  Ideals  grund- 
sätzlich absahen.  Wie  weit  wir  aber  auch  von  diesen  allgemein- 
sten Grundlagen  her  in  der  Richtung  auf  eine  immer  stärkere  Kon- 
kretisierung des  allgemeinen  Schemas  fortschreiten  mögen,  immer 
werden  wir  das  gleiche  Verhältnis  sich  wiederholen  sehen.  Wir 
tuen,  statt  der  stufenweisen  Erfüllung  des  allgemeinen  Schemas 
nachzugehen,  die  sich  mit  dem  Eintritt  in  einen  bestimmten  Kultur- 
kreis, eine  bestimmte  Epoche,  ein  bestimmtes  Volk  u.  s.  f.  ergibt, 
gleich  den  Schritt  bis  zu  der  vollständigen  Konkretisierung  der 
Erziehungsaufgabe,  wie  sie  überall  da  vorliegt,  wo  ein  bestimmter 
Erzieher  einem  bestimmten  Zögling  gegenübertritt.  Sehen  wir  hier 
den  oben  entwickelten  Zusammenhang  sich  abermals  bewähren,  so 
wird  die  Annahme  nicht  zu  kühn  sein,  daß  er  auch  für  die  in  der 
Mitte  liegenden  Stufen  Gültigkeit  habe.  Jeder  Erzieher  wird 
naturgemäß  vor  allem  einmal  sich  zu  vergewissern  streben,  was 
der  Zögling  ist,  und  wird  alle  erzieherischen  Pläne  und  Maß- 
nahmen zurückhalten,  bis  er  dieses  seines  Seins  kundig  geworden 
ist.  Also  auch  hier  zunächst  ein  Bemühen  um  eine  rein  „theore- 
tische" Auffassung  des  Erziehungsobjekts,  aus  deren  Ergebnis  dann 
—  möchte  man  meinen  —  die  Folgerungen  für  die  erzieherische 
Praxis  abzuleiten  wären.  Nun  ist  ersichtlich,  daß  dieses  Erkenntnis- 
bemühen des  Erziehers  sich  vor  allem  einmal  auf  die  in  dem  Zög- 
ling gegebenen  Anlagen,  das  Wort  in  umfassendstem  Sinne  ver- 
standen, richten  muß,  denn  an  diese  müssen  ja  die  erzieherischen 
Maßnahmen  ansetzen.  Nun  stößt  aber  die  „Feststellung"  vorhan- 
dener Dispositionen  überall  da,  wo  es  sich  um  seelisch  -  geistiges 
Sein  handelt,  auf  eine  eigentümliche  Schwierigkeit,  deren  Grund 
bereits  oben  angedeutet  wurde.  Der  Gärtner,  der  Züchter  kann 
an  der  Hand  von  dem,  was  sein  Objekt  ist,  an  der  Hand  seiner 
gegebenen  Beschaffenheit,  die  Anlage  eindeutig  „feststellen" :  er 
weiß,  daß  dieses  Samenkorn,  dieser  Schößling,    dieses  Ei  u.  s.  f.  in 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens.  41 

sich  die  Determinanten  vereinigt,  in  denen  der  so  und  so  be- 
stimmte Typus,  und  nur  er,  präformiert  ist.  Dem  Erzieher  gibt 
sein  Objekt  in  der  gegenwärtig  vorhandenen  Beschaffenheit  zu 
einer  entsprechenden  Feststellung  garnicht  die  Möglichkeit,  weil 
die  Anlage  als  Anlage  von  einer  grenzenlosen  Unbestimmtheit 
und  Vieldeutigkeit  ist:  sie  trägt  ja  nicht  in  sich  selbst  alle  Be- 
dingungen, von  denen  das  Formwerden  der  Lebenseinheit  abhängt, 
vielmehr  kann  sie  erst  im  Zusammenwirken  mit  den  in  Zukunft, 
von  außen  her  an  sie  herantretenden  ideellen  Gehalten  aus  sich 
eine  Form  hervorgehen  lassen;  welcher  Art  diese  Gehalte  sein 
werden,  darüber  sagt  die  Anlage  nichts  aus.  Die  Anlage  wird 
also  erst  dann  ein  Gegenstand  möglicher  Vorstellungen  und  Aus- 
sagen über  sie,  wenn  sie  —  aufhört,  bloße  Anlage  zu  sein,  und  so 
lange  sie  wirklich  bloße  Anlage  ist,  läßt  sich  rein  aus  dem  gegen- 
wärtigen Befunde  nicht  über  sie  „feststellen".  Dieser  Sachverhalt 
muß  den  Erzieher,  wenn  er  das,  was  sein  Zögling  hinsichtlich 
seiner  Anlage  ist,  feststellen  will,  in  eine  Schwierigkeit  bringen, 
die  unlösbar  wäre,  wenn  —  er  eben  nicht  Erzieher  wäre.  Denn 
als  solcher  ist  er  gar  nicht  genötigt  mit  einer  unbegrenzten  und 
deshalb  unvorstellbaren  Vielheit  möglicher  künftiger  Formungsein- 
einflüsse zu  rechnen:  vielmehr  ist  ja  gerade  er  es,  der,  so  weit 
Erzieherwille  reichen  kann,  darüber  entscheiden  soll,  welche  ideellen 
Gehalte  in  den  Formungsprozeß  eintreten  sollen.  Ein  eigentüm- 
licher Zusammenhang:  um  sich  die  Anlage  irgendwie  vorstellen  zu 
können,  muß  er,  über  den  gegenwärtigen  Augenblick  hinausgrei- 
fend, ihre  der  Zukunft  angehörige  Durchdringung  mit  ideellen  Ge- 
halten in  den  Bereich  seines  Blickes  hineinziehen  —  und  dieser 
Vorblick  ist  nur  deshalb  mehr  als  rein  willkürliche  Phantasie,  weil 
sein  Wollen  auf  die  Gestaltung  dieser  Zukunft  Einfluß  hat.  Die 
Anlage  kommt  für  den  Erzieher  nur  in  Betracht  als  Anlage  für 
etwas,  nämlich  für  die  Gesamtheit  von  kulturellen  Wertgehalten, 
die  überhaupt  im  Bereich  seines  erzieherischen  Denkens  liegen. 
Damit  tritt  aber  an  Stelle  der,  objektiv  betrachtet,  unendlichen 
Mannigfaltigkeit  möglicher  Anlagedeterminationen  eine  begrenzte 
Zahl  von  in  Betracht  zu  ziehenden  Formungen;  und  eben  diese 
Beschränkung  macht  es  dann  auch  möglich ,  daß  sich  klare 
Vorstellungen  über  die  Anlage  des  Zöglings  bilden.  Diese  Be- 
schränkung und  diese  Klarheit  ist,  wie  ersichtlich,  erreicht  nicht 
durch  ein  bloßes  Hinsehen  auf  das,  was  der  Zögling  ist,  sondern 
auf  das,    was  aus  ihm   werden  kann   oder    vielmehr  im  Sinn  der 


42  Theodor  Litt, 

Erziehung  aus  ihm  werden  soll.  Die  in  Betracht  gezogenen  Er- 
ziehungsziele geben  die  Ordnungsprinzipien  ab,  nach  denen  das 
Sein  des  Zöglings,  das  an  sich  grenzenloser  Fortentwicklung  fähige, 
aufgefaßt  wird:  die  Gesichtspunkte,  die  für  die  Erziehungs praxi s 
bestimmend  sind,  sind  auch  da  nicht  auszuscheiden,  wo  das  Objekt 
der  Erziehung  rein  als  das,  was  es  ist,  vermeintlich  unter  völ- 
ligem Absehen  von  allen  praktischen  Tendenzen  bestimmt  wer- 
den soll. 

Nun  aber  umgekehrt :  sind  die  Ideen  von  dem,  was  geschehen 
soll,  richtunggebend  in  der  Auffassung  dessen,  was  ist,  so  kann 
es  nicht  bei  diesem  einseitigen  Verhältnis  sein  Bewenden  haben. 
Denn  welchem  Erzieher  könnte  es  in  den  Sinn  kommen,  bei  der 
Herausklärung  der  Erziehungsziele  abzusehen  von  dem  vorliegenden 
Befund,  den  ihm  der  Zögling  vor  Augen  stellt.  Denn  einmal  kann 
eine  Verfolgung  sämtlicher  überhaupt  im  Gesichtskreis  des  Er- 
ziehers liegenden  Bildungsmöglichkeiten  nicht  in  Betracht  kommen, 
wenn  ein  konkreter  Mensch  zu  erziehen  ist;  es  bedarf  also  schon 
unter  rein  quantitativem  Gesichtspunkt  einer  Auswahl  unter 
den  dem  Erzieher  vertrauten  Bildungsrichtungen,  und  nichts  an- 
deres kann  für  diese  Auswahl  maßgebend  sein  als  der  Zögling, 
wie  er  ist,  d.  h.  als  was  er  sich  bei  einem  entweder  nur  gedachten 
oder  auch  probeweise  ausgeführten  Hineinstellen  in  die  verschie- 
denen Wertrichtungen  erweist.  Und  vor  allem  sieht  wirkliche 
Erziehung  es  nicht  darauf  ab,  in  dem  Zögling  nur  den  Träger 
einer  Vielheit  von  äußerlich  zusammengeordneten,  in  abstrakter 
Allgemeinheit  gedachten  Werttendenzen  herauszubilden,  vielmehr 
arbeitet  sie  hin  auf  ein  konkretes  Lebensganzes,  daß  alle  ein- 
zelnen Richtungen  des  Bildungsprozesses  durchdringt,  zum  Zentrum 
der  Persönlichkeit  in  Beziehung  setzt  und  so  statt  äußerer  Zusammen- 
ordnung wirklich  innere  Form  erwirkt.  Erst  wenn  die  auf  die 
zukünftige  seelische  Entfaltung  des  Zöglings  gerichteten  Einzel- 
vorstellungen sich  zusammenschließen  zum  Bilde  eines  teleologi- 
schen Ganzen,  erst  dann  bewährt  sich  jene  eigentümliche  erziehe- 
rische Phantasie,  die  alle  auf  Einzelfähigkeiten  und  Einzelfertig- 
keiten gerichtete  Geschäftigkeit  hinter  sich  läßt.  Und  gerade  die 
eigentümliche  Schöpferkraft  dieser  Phantasie,  die  ein  Ganzes  er- 
schaut, das  nicht  ist,  sondern  erst  werden  soll,  und  es  dabei  doch 
erschaut  in  dem,  was  ist,  gerade  sie  ist  es,  die  jenem  Vergleich 
des  erzieherischen  und  des  künstlerischen  Tuns  doch  schließlich 
ein  höheres  Recht  gibt,  als  es  dem  Vergleich  mit  dem  technischen 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens.  43 

Verfahren  zugesprochen  werden  kann.  Wie  aber  soll  nun  dieses 
konkrete  Leitbild,  das  dem  Grestaltungswillen  des  Erziehers 
vor  anleuchtet,  anders  sich  formen  als  eben  im  Hinblick  auf  das, 
was  der  Zögling  nun  einmal  ist,  auf  seine  „Individualität"  wie  sie 
in  anschaulicher  Lebendigkeit  vor  ihm  steht  —  so  daß,  wenn  dieses 
Sein  nur  im  Ausblick  auf  das  Sollen  vorstellig  werden  konnte,  so 
doch  umgekehrt  das  Sollen  nur  im  Anschluß  an  das  Sein  sich  zu 
konkreter  Bestimmtheit  herausklären  kann.  So  stehen  auch  hier 
Seinserfassung  und  Sollensbestimmung  in  „Wechselwirkung".  Und 
auch  hier  läßt  der  gewählte  Ausdruck  noch  allzuviel  des  Tren- 
nenden bestehen.  Nicht  so  ist  der  Zusammenhang  zu  denken,  daß 
hier  ein  Bild  dessen,  was  ist,  dort  ein  Bild  dessen,  was  werden 
soll,  sich  gegenüberständen  und  nun  im  Hin  und  Her,  bei  fort- 
dauernder Geschiedenheit,  die  Züge  sich  klärten  und  bereicherten. 
Vielmehr  ist  das,  was  wir  hier  um  der  Deutlichkeit  des  Gedankens 
willen  zu  zwei  geschiedenen  Bildern  mußten  auseinandertreten 
lassen,  zu  denken  als  ein  Strom  lebendigen  Werdens,  von  Einst 
zum  Jetzt  und  vom  Jetzt  zum  Dereinst  sich  weitertragend,  ein 
Strom,  durch  den  nun  das  Denken  gleichsam  zwei  Querschnitte 
legt,  bemüht,  des  Jetzt  mit  dem  in  ihm  eingeschlossenen  Einst 
und  des  Dereinst  mit  dem  in  ihm  fortwirkenden  Jetzt  je  für 
sich  habhaft  zu  werden,  dieses  Jetzt,  das  ja  in  Wahrheit  die- 
selbe über  das  Nacheinander  der  Zeitfolge  übergreifende  Lebens- 
ganzheit ist,  die  auch  in  dem  Dereinst  ihre  Überlegenheit  über 
jede  bloße  Succession  erweisen  wird.  Der  Erzieher  sieht  das,  was 
ist,  nicht  in  punktueller  Zusammengezogenheit,  sondern  als  Bewe- 
gung, hervorgehend  aus  dem,  was  war,  und  hinstrebend  zu  dem, 
was  da  werden  soll,  und  er  sieht  das,  was  werden  soll,  in  un- 
mittelbarem Hervorwachsen  aus  dem  was  ist.  Alle  sprachlich- 
begrifflichen Distinktionen  sind  unzulänglich,  dieses  so  ganz  und 
gar  unmechanische  Verhältnis  deckend  wiederzugeben1). 

Wir  verzichten,  wie  gesagt  darauf,  das  behandelte  Verhältnis 
durch  alle  Stufen  hindurch  zu  verfolgen,  die  zwischen  den  letzten 
und  allgemeinsten  Strukturverhältnissen  des  erzieherischen  Wir- 
kungszusammenhangs überhaupt  und  dem  Einzelfall  der  konkreten 
Erziehungswirklichkeit  liegen.     Wir  würden,    wenn  wir  es  täten, 

1)  Verwandte  Gedanken  schon  bei  W.  v.  Humboldt  (s.  E.  Spranger, 
W.v.Humboldt  und  die  Humanitätsidee,  Berlin  1909.  S.  205  ff.),  in  G.  Simmeis 
„Lebensphilosophie"  (Lebensanschauung,  München  1918),  bei  M.  Sehe ler  (Zur 
Phänomenologie  und  Theorie  der  Sympathiegefühle,  Halle  1913,  S.  53  ff.). 


44  Theodor  Litt, 

zu  zeigen  haben,  daß  das  Ganze  von  Kulturtendenzen,  welches  im 
Einzelfall  für  den  Erzieher  den  Umkreis  der  in  Betracht  zu  zie- 
henden Bildungsmöglichkeiten,  also  dem  Inbegriff  des  für  ihn  lei- 
tenden Sollens  bestimmt,  auch  seinerseits  nicht  etwa  als  System 
von  abstrakt  allgemeinen  Forderungen  aufzufassen  ist,  vielmehr 
ebenfalls  einen  durchaus  konkreten  Gehalt  aufweist,  und  daß  es 
diesen  Gehalt  einem  umfassenden  Prozeß  verdankt,  dessen  Verlauf 
in  allen  Teilen  eben  dieselbe  Wechselbezogenheit  von  Seinserfas- 
sung und  Sollensbestimmung  zum  Grundmotiv  hat  —  und  so  fort 
durch  alle  Stufen  fortschreitender  Allgemeinheit  hindurch  bis  zu 
dem  universalen  Strukturzusammenhang,  von  dessen  abstraktiver 
Herausstellung  wir  ausgingen *).  Im  Zusammenhang  dieser  Betrach- 
tung würde  auch  die  Rede  von  der  „historischen  Bedingtheit" 
jedes  Erziehungsgedankens  auf  ihren  richtigen  Sinn  und  ihr  rich- 
tiges Maß  zurückgeführt  werden. 

6. 
Auf  welcher  Stufe  der  Abstraktion  wir  also  auch  das  päda- 
gogische Denken  betrachten  mögen,  wie  sorgsam  wir  auch  die  ihm 
immanente  Methodik  herausstellen  mögen,  immer  wieder  erweist 
es  sich  als  durchaus  entgegengesetzt  dem  geistigen  Verfahren,  das 
den  Typus  der  „angewandten  Wissenschaft"  entstehen  läßt.  Für 
dieses  ist  Voraussetzung  die  reinliche  Scheidung  einer  lediglich 
betrachtenden  und  einer  auf  Ziele  gerichteten  Haltung  des  Geistes ; 
hier  ist  die  geläufige  Scheidung  von  Theorie  und  Praxis  Ausdruck 
des  wirklichen  Sachverhalts.  Im  erzieherischen  Denken  tritt  uns 
dagegen  ein  geistiges  Gesamtverhalten  entgegen,  das  mit  seinen 
tiefsten  Wurzeln  unter  diesen  Gegensatz  von  Theorie  und  Praxis 
hinabgreift  und  sich  erst  in  einer  höheren  Schicht  in  diese  zwei 
Verhaltensformen  zerlegt,  ohne  indessen  auch  innerhalb  von  ihr 
diese  wurzelhafte  Verbundenheit  ganz  in  Vergessenheit  bringen 
zu  können.  Weil  das  menschliche  Denken  und  Handeln  ganz 
vorzugsweise  ein  Außenweltdenken  und  Außenwelthandeln  ist, 
darum  ist  es  durchaus  begreiflich,  daß  diese  erst  sekundäre  Schei- 


1)  Gegenstand  einer  besonderen  Untersuchung  wird  die  Frage  sein,  in  wel- 
cher methodischen  Form  sich  die  der  Pädagogik  unentbehrlichen  Ergebnisse  ge- 
wisser wirklich  „feststellenden"  Disziplinen  (etwa  der  erklärenden  Psychologie, 
der  Soziologie)  diesem  so  ganz  andersartigen  Aufbau  einordnen.  Vgl.  zum  letzten 
überhaupt  meine  Skizze  „Pädagogik"  in:  „Die  Kultur  der  Gegenwart",  Bd.  Syste- 
matische Philosophie2. 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens.  45 

düng  vielfach  als  eine  ebenso  in  die  Tiefe  hinabgehende  galt  und 
gilt,  wie  sie  es  für  das  technische  Verhalten  tatsächlich  ist,  daß 
man  also  auch  hier  Theorie  und  Praxis,  feststellende  Betrachtung 
des  „Materials"  und  Aufstellung  der  auf  seine  Behandlung  bezüg- 
lichen Regeln,  säuberlich  auseinanderhalten  zu  können,  ja  zu  müssen 
meinte.  Die  Geschichte  des  pädagogischen  Denkens  ist  eine  fort- 
laufende Illustration  der  Schwierigkeiten,  in  die  man  sich  mit  dieser 
vermeintlich  selbstverständlichen  Voraussetzung  verwickelt.  Ob 
man  von  der  reinen  Betrachtung  der  Erziehungswirklichkeit  oder 
von  der  Aufstellung  rein  idealer  Ziele  ausging,  immer  wieder  wollte 
es  nicht  gelingen,  Idee  und  Wirklichkeit,  Sein  und  Sollen  ohne 
Vergewaltigung  der  einen  oder  der  anderen  Seite  zusammenzu- 
bringen; immer  wieder  sah  man  sich  genötigt,  da  ideell  zu  werten, 
wo  man  lediglich  die  Wirklichkeit  zu  betrachten  meinte,  da  An- 
leihen bei  der  Wirklichkeit  zu  machen,  wo  man  rein  ideell  zu 
konstruieren  gedachte.  Was  Wunder,  daß  man  sich  vergeblich 
mühte,  das  nachträglich  zu  vereinen,  was  man  anfangs,  dem  wahren 
Verhältnis  entgegen,  auseinandergerissen  hatte.  Dies  aussichtslose 
Ringen  wird  erst  dann  ein  Ende  nehmen,  wenn  die  pädagogische 
Theorie  sich  entschließt,  den  Sachverhalt,  den  sie  sich  selbst  zu- 
meist verhehlt,  nur  um  sich  einem  durchaus  einseitigen  Ideal  von 
Wissenschaftlichkeit  angleichen  zu  können,  nicht  nur  offen  einge- 
steht, sondern  auch  mit  Bewußtsein  recht  eigentlich  zur  Grundlage 
ihrer  Methodik  macht1).  Nur  damit  wird  sie  sich  gegen  dilettan- 
tischen Mißbrauch  und  erkenntniskritischen  Zweifel  schützen  können, 
denen  gerade  jene  Unklarheit  der  methodischen  Grundlagen  immer 
wieder  Einbruchsstellen  und  Angriffspunkte  verschafft. 

Eine  solche  Gewissensprüfung  aber  vermag  nun  einen  Nutzen 
zu  stiften,  der  nicht  der  pädagogischen  Wissenschaft  allein  zu 
gute  kommen  würde.  An  ihrem  Schicksal  haben  mehr  Disziplinen 
Anteil,  als  auf  den  ersten  Blick  scheinen  könnte.  Ist  erziehe- 
risches Denken  nur  möglich  auf  Grund  eines  ursprünglichen  Inein- 
ander von  theoretischem  Auffassen  und  praktischem  Stellungnehmen, 
so  besagt  dies  im  Grunde  nichts  anderes,  als  daß  jede,  auch  die 
mit  aller  methodischen  Überlegung  aufgebaute  pädagogische  Theorie, 
ein  Werk  von  durchaus  persönlichem  Charakter  sein  muß. 
Damit  haben  unsere  methodischen  Erwägungen  uns   auf  eben  die 

1)  Verwandte  Gedanken  in  E.  Troeltschs  kulturphilosophischen  For- 
schungen. S.  bes.:  Über  Maßstäbe  zur  Beurteilung  historischer  Dinge.  Histor. 
Zeitschrift.  116.  Bd.  S.  1  ff. 


46  Theodor  Litt, 

Grundtatsache  geführt,  die  den  Gegnern  einer  pädagogischen  Theorie 
als  ihr  stärkstes  Argument  galt,  auf  den  irrationalen  Kern 
des  pädagogischen  Denkens.  Nur  besagt  uns  dieses  „irrational" 
hier  nicht  die  Verneinung  jeder  auf  Auffassung  des  Objekts 
gerichteten  geistigen  Betätigung :  es  soll  nur  den  Grenzstrich 
ziehen  gegen  jede  „Feststellung",  deren  „theoretischer"  Charakter 
gleichbedeutend  ist  mit  dem  Ausschluß  jedes  persönlichen  Elements 
aus  dem  Ergebnis  der  Feststellung.  Wer  ein  auf  Seinserfassung 
gerichtetes  Verhalten  gleichsetzt  mit  einer  Feststellung  so  unper- 
sönlichen Charakters,  der  erhebt  ein  Erkenntnisideal  zu  alleiniger 
Gültigkeit,  dem  in  Wahrheit  nur  die  Naturwissenschaften  genügen 
können,  das  also  keineswegs  nur  der  pädagogischen  Wissenschaft 
unerreichbar  ist.  Eine  solche  Verabsolutierung  des  naturwissen- 
schaftlichen Erkenntnisideals  ist  nur  möglich  auf  Grund  einer  ge- 
wissen Zweideutigkeit,  die  dem  Begriff  „Feststellung"  gleich  man- 
chen ihm  sinnverwandten  anhaftet.  Ein  naives  Denken  ist  immer 
geneigt,  zu  meinen,  diejenige  Leistung,  der  diese  Bezeichnung  zu- 
kommt, bestehe  in  der  Wiedergabe  des  Ganzen  der  Wirklich- 
keit, so  wie  sie  an  sich,  unabhängig  von  jeder  Beziehung  auf 
ein  Subjekt,  zu  denken  ist.  Zu  Grunde  liegt  diesem  Glauben 
die  Vorstellung,  daß,  wenn  es  in  einem  Akt  des  Erkennens  die 
Subjektivität  der  erkennenden  Persönlichkeit  völlig  auszuschalten 
gelingt,  folgeweise  das  Ergebnis  „rein  objektiv"  im  Sinne  einer 
deckenden  Wiederholung  des  Seienden  sein  müsse.  Ein  Weniger 
an  Subjektivität  setzt  sich  nach  dieser  Auffassung  automatisch  um 
in  ein  Mehr  an  objektiver  Wirklichkeitserkenntnis;  ist  demnach 
der  Anteil  der  Subjektivität  auf  den  Nullpunkt  herabgedrückt,  so 
ist  für  das  Denkergebnis  jeder  Abzug  am  Vollgehalt  der  ob- 
jektiven Wirklichkeit  beseitigt.  Aber  so  liegt  die  Sache  eben 
ganz  und  gar  nicht.  Zu  der  „Ausschaltung"  auf  der  Seite  der 
auffassenden  Persönlichkeit  steht  in  Korrelation  nicht  ein  Zuwachs, 
sondern  ein  genau  entsprechender  Abzug  auf  der  Seite  des  aufzufas- 
senden Objekts.  Es  waltet  ein  Wechselverhältnis  zwischen  der  ledig- 
lich „feststellenden"  Funktion  des  Subjekts  und  der  Reduktion  der 
Wirklichkeit  auf  das  Feststellbare.  Konzentriert  sich  die 
Persönlichkeit  auf  die  rein  feststellende  Betätigung ,  was  gleich- 
bedeutend ist  mit  der  zeitweiligen  Suspension  aller  anderen  Betä- 
tigungsweisen des  Ichs,  so  wird  auf  der  Seite  des  Objekts  alles 
das  unsichtbar,  was  sich  seinem  Wesen  nach  gegen  eine  Feststel- 
lung solcher  Art  sträubt,  und  übrig  bleibt  nur  das  dieser  Auffas- 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens.  47 

sung  Angemessene,  dessen  "Wesen  am  deutlichsten  repräsentiert 
wird  durch  das  exakt  Berechenbare.  Auf  beiden  Seiten  also 
ein  Absehen  von  dem  Vollgehalt  der  Wirklichkeit  bzw.  des  Er- 
lebens. Und  zwar  kann  es  zur  Durchführung  dieser  Reduktion 
nicht  kommen  ohne  einen  Akt  des  Willens  im  Subjekt:  sein 
Werk  ist  die  Konzentration  des  Subjekts  auf  die  feststellende 
Funktion  und  das  korrelative  Sichherausheben  des  Feststellbaren 
am  Objekt.  Nun  führt  aber  ein  eigentümlicher  Zusammenhang 
dazu,  daß  diese  persönliche  Bedingtheit  der  unpersönlichen  Fest- 
stellungstätigkeit dem  Blick  nur  allzu  leicht  sich  entzieht.  Zu- 
nächst läßt  nämlich  die  auf  beiden  Seiten  erfolgende  Reduktion 
den  realen  Zusammenhang  unsichtbar  werden,  der  die  Persönlich- 
keit als  lebendiges  Ganzes  mit  dem  Ganzen  der  noch  nicht  künst- 
lich reduzierten  Gesamt  Wirklichkeit  verbindet:  weder  kann  dieser 
Zusammenhang  in  Erscheinung  treten  in  der  lediglich  feststellenden 
Funktion  des  Subjekts  als  solcher,  denn  diese  ist  ja  gerade  mit 
der  Auslöschung  des  lebendigen  Gesamtgehalts  der  psychophysischen 
Lebenseinheit  gleichbedeutend,  noch  auch  kann  er  sich  dem  Blick 
darbieten  in  dem  als  „feststellbar"  herausgeschälten  Teil  der  Ge- 
samtwirklichkeit, denn  in  diesem  ist  gerade  für  die  allverknüpfenden 
Lebensverbindungen  kein  Raum,  besser  gesagt :  die  Methoden  dieser 
Feststellung  sind  so  geartet,  daß  sie  diese  Zusammenhänge  zer- 
schneiden, folglich  unbemerklich  machen  müssen 1).  Schon  dieses 
wie  von  zwei  Seiten  her  gleichzeitig  erfolgende  Abbrechen  der 
Brücken,  die  Person  und  Welt  verbinden,  hat  die  Wirkung,  das 
die  funktionale  Zusammengehörigkeit  der  persönlichen  Einstellung 
im  Subjekt  und  der  sachlichen  Erscheinung  des  Objekts  zurück- 
tritt hinter  einem  scheinbaren  Gegenüber  von  zwei  völlig  ge- 
schiedenen, unabhängig  voneinander  bestehenden  Parteien.  Dieser 
Eindruck  wird  aber  verstärkt  und  scheinbar  bestätigt  durch  ein 
zweites.  Eine  Einsicht,  die  gerade  unter  gewollter  Auslöschung 
der  Gesamtpersönlichkeit  zustande  gekommen  ist,  gewinnt  dadurch 
einen  Charakter  von  überindividueller  Allgemeingültigkeit,  der  eben 
mit  den  Worten  „Feststellung",  „Objektivität"  u.  ä.  gekennzeichnet 
wird.    Ihr  Inhalt  scheint  dem  Subjekt  als  etwas  von  ihm  gänzlich 


1)  Die  Schwierigkeiten,  die  sich  den  Bemühungen  um  eine  sichere  Methodik 
von  Biologie  und  (erklärender)  Psychologie  entgegenstellen,  liegen  begründet 
in  der  an  dieser  Stelle  bemerklichen  Mittelstellung  zwischen  einer  exakt-gesetzlich 
„feststellenden"  Naturwissenschaft  einerseits  und  einer  auf  persönlichem  Ver- 
stehen beruhenden  Auffassung  der  geistigen  Welt  andererseits. 


48  Theodor  Litt, 

Unabhängiges,  lediglich  fertig  Vorgefundenes  gegenüberzustehen; 
Subjekt  und  Objekt  erscheinen  auch  im  Lichte  dieser  Betrachtung 
als  zwei  Parteien,  von  denen  jede  auch  ohne  das  Bestehen  der 
anderen  das  wäre,  was  sie  ist;  der  Akt  der  Feststellung  gilt  als 
bloße  Abspiegelung  dessen,  was  als  Objekt  vorgefunden  ist,  im 
Subjekt;  es  scheidet  sich  ein  „Inneres"  und  ein  „Äußeres".  Dieser 
Eindruck  verstärkt  sich  um  so  mehr,  als  die  Früchte,  die  das 
technische  Verfahren  aus  dieser  denkenden  Bearbeitung  des  Wirk- 
lichen zieht,  diese  aufs  glänzendste  bestätigen  und  rechtfertigen. 
So  kommt  es,  daß  überall  da,  wo  nicht  die  Reflexion  sich  auf  den 
Denkakt  als  solchen  richtet,  das  durch  die  Naturwissenschaften 
geübte  Verfahren  als  einzig  wissenschaftliche  „Feststellung"  gilt, 
und  zwar  im  Sinne  einer  deckenden  Wiedergabe  des  Wirklichen, 
wie  es  an  sich  ist.  In  Wahrheit  würde  der  menschliche  Geist, 
wenn  er  nur  Feststellungen  von  diesem  methodischen  Charakter 
als  Wissenschaft  anerkennen  wollte,  der  Wissenschaft  grundsätz- 
lich weite  Sphären  der  Wirklichkeit  verschließen,  er  würde  einer 
geregelten  Erkenntnis  der  nicht  in  solchem  Sinne  „feststellbaren" 
Wirklichkeitsinhalte  von  vorneherein  entsagen.  Wie  unhaltbar  eine 
solche  Position  ist,  davon  kann  ihr  Verteidiger  dann  am  wirksam- 
sten überführt  werden,  wenn  man  ihm  zeigt,  daß  er,  solange  er 
auf  seiner  Behauptung  besteht,  sich  selbst  die  Erkenntnis  des- 
jenigen Tatbestandes  verbietet,  durch  den  Feststellungen  der  von 
ihm  einzig  als  wissenschaftlich  anerkannten  Art  überhaupt  erst 
möglich  werden.  Denn  jene  innere  Einstellung  des  Subjekts,  welche 
Voraussetzung  aller  naturwissenschaftlichen  Feststellungen  ist,  jener 
Willensakt,  der  zu  der  korrelativen  Reduktion  auf  der  Subjekt- 
und  Objektseite  führt,  er  kann  seinerseits  natürlich  nicht  wieder 
Gegenstand  einer  eben  solchen  „Feststellung"  werden,  kann  nicht 
durch  die  Methodik  des  Denkens,  die  er  selbst  hervorbringt,  nach 
rückwärts  hin  erklärt  werden.  Selbst  wenn  für  das  menschliche 
Denken  von  allen  Betätigungen  des  Geistes  nur  diejenige  Interesse 
hätte,  die  naturwissenschaftliche  Erkenntnisse  hervorbringt,  selbst 
dann  müßte  es  sich  entschließen,  wenigstens  an  dieser  Stelle  eine 
Denkmethodik  von  nicht  naturwissenschaftlicher  Art  anzuwenden, 
mithin  als  wissenschaftlich  anzuerkennen.  Es  würde  sogar  noch 
einen  Schritt  weiter  gehen  und  sich  dazu  verstehen  müssen,  neben 
der  feststellenden  auch  die  technische  und  zu  ihrer  Erklärung 
weiterhin  auch  die  zwecksetzende  Betätigung  in  den  Kreis 
seiner  Betrachtung  zu  ziehen,    denn    es  würde  sich  erweisen,    daß 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens.  49 

die  Herausbildung  einer  feststellenden  Funktion  nicht  rein  aus 
sich,  sondern  unter  dem  Druck  der  lebendigen  Bedürfnisse  erfolgt 
ist,  die  sich  in  der  zwecksetzenden  Funktion  zur  Bewußtheit 
klären  und  in  der  technischen  Funktion  ihre  Befriedigung  suchen. 
Und  es  würde  sich  schließlich  bei  alledem  zeigen,  daß  jede  dieser 
Einzelbetätigungen  samt  den  sie  hervortreibenden  Motiven  schließ- 
lich doch  nur  aus  dem  Ganzen  der  Persönlichkeit  heraus  erfaßt, 
gedeutet,  verstanden  werden  kann.  Damit  wäre  dann  schließlich 
auch  einer  Denkmethodik,  die  sich  nicht  nur  auf  die  Person  in 
ihrer  feststellenden  Funktion,  sondern  in  der  Ganzheit  ihrer  Be- 
tätigungen, in  ihrer  vollentfalteten  Totalität  richtet,  das  Daseins- 
recht im  Reiche  der  Wissenschaft  erstritten,  gleichzeitig  aber  auch 
erwiesen,  daß  diese  Denkmethodik  sich  von  derjenigen,  die  sich 
die  Feststellung  von  Beschaffenheiten  und  Verhaltungsweisen  der 
„äußeren"  Natur  zum  Ziele  setzt,  grundsätzlich  unterscheiden  muß,, 
weil  ihr  Gegenstand  jenseits  der  Scheidungen  liegt,  die  das  Gegen- 
über von  Außen  und  Innen  und  damit  die  Möglichkeit  einer  Me- 
thodik des  Feststellens  bedingen.  Niemals  kann  die  Persönlichkeit 
erfaßt  werden,  wenn  man  sie  in  ein  bloßes  „Gegenüber"  gebannt, 
zu  einem  „Äußeren"  hat  werden  lassen;  kann  doch  jenes  Gegen- 
über nur  durch  ein  Verhalten  erzeugt  werden,  das  auf  der  Subjekt- 
seite die  Gesamtpersönlichkeit  hinter  einer  Einzelfunktion  zurück- 
treten läßt,  auf  der  Objektseite  jede  „Ganzheit"  durch  Reduktion 
auf  das  Berechenbare  zerstört,  eben  damit  aber  auch  jede  über 
den  Gegensatz  von  Subjekt  und  Objekt  übergreifende  Verbunden- 
heit austilgt.  In  alledem  liegen  die  Dinge  für  das  Denken,  das 
das  Ganze  der  Persönlichkeit  zu  erfassen  trachtet,  genau  entgegen- 
gesetzt: sein  Objekt  ist  nicht  ein  durch  Abstraktion  auf  das  Be- 
rechenbare Zusammengeschrumpftes,  sondern  lebendige  Ganzheit 
in  allen  ihren  Wirkensrichtungen  und  Selbstoffenbarungen ;  es  findet 
zu  ihr,  eben  als  zu  einem  Ganzen,  den  Zugang  nicht  die  Betätigung 
einer  isolierten  Einzelfunktion,  sondern  nur  die  Totalbetätigung 
der  Persönlichkeit,  die  im  „Verstehen"  alle  jene  Wirkungsrich- 
tungen in  sich  anklingen  läßt;  und  endlich  ist  solcher  seelischer 
Widerhall  nur  deshalb  möglich,  weil  und  insoweit  „Subjekt"  und 
„Objekt"  nicht  in  gewollter  Scheidung  einander  gegenüberstehen, 
vielmehr  als  Glieder  einem  und  demselben  Wirkungszusammenhang, 
derselben  übergreifenden  Kulturtotalität  eingeordnet,  in  Wahrheit 
also  garnicht  Subjekt  und  Objekt  in  dem  Sinne  sind,  wie  die  „fest- 
stellbare" Natur  und  ihr  Erforscher.     So  begreiflich  also  bei  der 

Kantstudien  XXVI.  4 


50  Theodor  Litt, 

Außenweltrichtung  unseres  Denkens  die  Neigung  sein  mag,  das 
Erkenntnisideal,  dem  die  Naturwissenschaften  nachstreben,  als  das 
einzig  gültige  zu  proklamieren,  sie  stellt  uns  in  Wahrheit  yor  die 
Alternative,  entweder  die  Welt  des  seelisch-geistigen  Lebens  für 
unzugänglich  jedem  wissenschaftlichen  Bemühen  zu  erklären,  damit 
aber  u.  a.  auch  die  auf  naturwissenschaftliche  Erkenntnis  gerichtete 
Betätigung  des  Geistes  zu  einem  unfaßlichen  Mysterium  werden 
zu  lassen,  oder  aber  diese  Welt  solchen  Methoden  zu  unterwerfen, 
die  sie  nicht  zu  bemeistern  tauglich  sind. 

Wie  wir  sehen,  erweist  sich  das  Problem  der  pädagogischen 
Methodik  als  ein  Spezialfall  der  geisteswissenschaftlichen  Methodik 
überhaupt.  Und  zwar  spitzt  sich  dieses  Problem  im  Bereich  der  päda- 
gogischen Fragestellung  in  einer  ebenso  eigentümlichen  wie  lehr- 
reichen Weise  zu,  seine  inneren  Schwierigkeiten  treten  hier  besonders 
eindrucksvoll  hervor.  Der  Grund  dieser  Erscheinung  ist,  wenn  ich 
recht  sehe,  dieser.  Die  Pädagogik  ist  unter  den  Geisteswissenschaften 
diejenige,  deren  Objekt  in  ausgesprochenstem  Sinne  der  „inneren" 
Sphäre  angehört.  Natürlich  sind  alle  Geisteswissenschaften  auf 
diese  Sphäre  gerichtet,  aber  ihre  Untersuchungen  nehmen  doch  ihren 
Ausgang,  finden  immer  einen  gegenständlichen  Halt  und  sachliche 
Umgrenzung  an  den  Taten,  Werken,  Objektivationen,  die  in  ihrer 
beharrenden  Gegebenheit  den  Sondergehalt  der  einzelnen  Geistes- 
wissenschaften deutlich,  bestimmen.  Durch  diese  relativ  „äußer- 
liche" Festgelegtheit  haben  sie  alle  in  gewissem  Maße  und  ge- 
wissem Sinne  etwas  an  sich  von  der  Art  von  Objektivität,  die 
den  Feststellungen  der  naturwissenschaftlichen  Forschung  eignet. 
Einzig  Pädagogik  entbehrt  jedes  sachlichen  Anhalts  solcher  Art, 
weil  ihr  „Werk"  ja  letzten  Grundes  in  jener  inneren  Welt  als 
solcher  liegt,  geformtes  Seelentum  ist.  Sicherlich  sind  auch  für 
sie  alle  jene  Objektivationen  des  Kulturprozesses  nichts  weniger 
als  gleichgültig,  aber  nicht  eine  bestimmte  Klasse  von  ihnen,  son- 
dern sie  alle  insgesamt,  und  sie  alle  nicht  etwa  an  sich,  um  ihres 
Sachgehalts  willen,  sondern  in  ihrer  Bezogenheit  auf  das  über 
alle  sachlichen  Scheidungen  hinweggreifende  Lebensganze  der  sich 
entfaltenden  Kultur,  dem  sie  dient.  Sie  zieht  von  allen  Sachge- 
bieten her  gleichsam  Strahlen  in  das  Zentrum  hinein,  innerhalb 
dessen  alle  sachlichen  Bestimmtheiten  sich  in  einen  universalen 
Werdeprozeß  hinein  verflüssigen.  Eben  dieses  Fehlen  fester  Grenz- 
linien war  auch  bestimmend  für  den  Gang,  den  unsere  Untersu- 
chung genommen  hat.    Statt  ganz  unmittelbar  auf  die  Bestimmung 


Die  Methodik  des  pädagogischen  Denkens.  51 

des  pädagogischen  Denkens  loszugehen,  hatten  wir  die  verschie- 
denen Bilder  zu  prüfen,  deren  Sprache  und  Denken  sich  bedienen, 
um  das  in  sich  Unfaßliche  in  den  Kreis  des  Vorstellbaren  hinein- 
zuziehen. Indem  wir  dann  von  allen  diesen  Vergleichen  dasjenige 
abstreiften,  was  das  Gesuchte  zu  verfälschen  geeignet  war,  näherten 
wir  uns  von  verschiedenen  Seiten  her  indirekt  dem,  was  rein  an 
sich  für  den  Begriff  nie  erreichbar  ist. 

So  erklärt  es  sich,  daß  Pädagogik  in  der  Tat  die  objektiv  am 
wenigsten  festgelegte,  die  unexakteste  unter  den  Greistes Wissen- 
schaften ist.  Deshalb  ist  aber  auch  gerade  sie  durch  den  Versuch, 
das  Ideal  naturwissenschaftlich-exakter  Feststellungsmethoden  den 
Geisteswissenschaften  aufzudrängen,  so  sehr  bedroht  wie  keine 
andere.  Ist  ihr  Bestand  und  ihre  Fortentwicklung  in  Frage  gestellt 
auf  der  einen  Seite  durch  das  Ansinnen,  sich  einer  Methodik  von 
naturwissenschaftlicher  Art  unterwerfen  zu  lassen  —  und  ihre  Be- 
handlung als  „angewandte  Wissenschaft"  kommt  auf  diese  For- 
derung hinaus  —  auf  der  anderen  Seite  durch  die  Lehre,  sie  sei 
überhaupt  keine  Wissenschaft,  so  ist  dies  nichts  anderes  als  die 
oben  formulierte  Alternative,  vor  die  man  die  Geisteswissenschaften 
überhaupt  zu  stellen  liebt,  hier  in  größter  Entschiedenheit  ausge- 
sprochen, weil  die  Pädagogik  die  methodische  Sonderart  der  Geistes- 
wissenschaften mit  schroffster  Einseitigkeit  ans  Licht  stellt.  Daß 
sie  dies  tut,  das  hat  seinen  tiefsten  Grund  darin,  daß  in  ihr  als 
der  Theorie  eines  Handelns  die  mehr  als  theoretischen  Inter- 
essen, die  auf  dieser  Seite  des  globus  intellectualis  in  Wahrheit 
die  herrschenden  sind,  sich  zu  größter  Klarheit  herausarbeiten. 
Genau  so,  wie  die  „Feststellungen"  des  naturwissenschaftlichen 
Denkens  nach  ihrer  Entstehungsweise  und  ihrem  Recht  uns  dann 
am  kenntlichsten  werden,  wenn  das  Licht  des  technologischen  Den- 
kens auf  sie  fällt,  so  werden  uns  die  tiefsten  Motive  des  „Schauens", 
das  höchste  Leistung  der  Geisteswissenschaften  ist,  erst  dann  offen- 
bar, wenn  wir  es  zu  dem  gestaltenden  Willen  der  Pädagogik 
in  Beziehung  setzen. 


4* 


Politik  und  Idealismus. 

Von  Hermann  Herrigel. 


Die  Fragestellung,  von  der  die  folgende  Abhandlung  ausgeht : 
„Ist  idealistische  Politik  möglich?"  ist  angeregt  durch  Natorps 
neues  Buch  „  Sozialidealismus  " .  Sozialidealismus  bedeutet  die  Frucht- 
barmachung des  Idealismus  für  das  soziale  Leben.  Der  Inhalt 
des  Buches  ist  zugleich  politisch,  pädagogisch  und  philosophisch, 
denn  es  erstrebt  eine  Erneuerung  der  ganzen  politischen  Gestal- 
tung des  Volkes  durch  soziale  Erziehung  und  gründet  die  soziale 
Erziehung  auf  einen  radikal  durchgeführten  Idealismus.  Natorp 
entwirft  das  Bild  einer  nicht  politisch,  d.  h.  von  oben  her,  son- 
dern genossenschaftlich,  d.  h.  von  unten  her  aufgebauten  sozialen 
Gemeinschaft,  deren  Bestand  allein  auf  der  freiwilligen  Leistung 
aller  Einzelnen  für  das  Ganze  beruht.  Die  Menschen  dazu  vor- 
zubereiten ist  die  Aufgabe  der  sozialen  Erziehung.  Erziehen  darf 
aber  nicht  heißen,  den  Menschen  zu  einem  bestimmten,  vorgesetzten 
Ziele  hinzuziehen,  ihm  bestimmte  Wahrheiten  und  Gesinnungen 
beizubringen,  sondern  ihn  gerade  umgekehrt  aus  aller  Bestimmt- 
heit durch  endliche  Dinge  (der  heutigen  Politik  und  Wirtschaft) 
zurückzuziehen,  ihn  zum  eigenen  Selbst,  zum  Ursprung,  der  vor 
aller  Bestimmtheit  liegt  und  aus  dem  erst  alle  Bestimmtheit  fließt, 
zu  führen.  Erziehung  soll  „nur  Hinweis  sein,  das  Gesuchte  bei 
sich  selber  zu  suchen,  es  aus  den  Tiefen  der  Selbstbesinnung  zu 
schöpfen".  Ihr  Ziel  ist,  die  Masse  aufzulösen  und  „das  Volk  von 
Genies"  zu  verwirklichen,  so  daß  die  Individualkräfte  sich  nicht 
mehr  gegenseitig  binden,  nicht  mehr  „ihren  Druck  auf  den  Punkt 
des  Aufeinanderpralls  richten",  sondern  zum  freien  Auswirken 
kommen  und  „einem  bleibenden  Friedenszustand  gemeinsam  be- 
wußt zustreben".  Diese  idealistische  Grundlegung  der  Erziehung 
ist  aber  von  Natorp  nicht  bloß  als  eine  rückwärtsschauende  Theorie 
gedacht,  die  sich  selber  genügt,  sondern  sie  soll  verwirklicht 
werden,    sie   soll    den   vorwärtsweisenden  Plan   abgeben   für   den 


Hermann  Herrigel,   Politik  und  Idealismus.  53 

neuen  politischen  „  Aufbau  der  Menschengemeinschaft  in  Wirtschaft, 
Staat  und  Erziehung".  Damit  erst  ist  der  Sinn  des  Sozialidea- 
lismus erfüllt.  Natorp  sagt  in  der  Einleitung  seines  Buches: 
„Ein  gesunder  Idealismus  darf  nicht  in  die  Weiten  lebensferner 
„„Ideen""  Jiinausschweifen,  er  muß  mitten  im  Leben,  im  härtesten 
Leben  der  ringenden  Menschheit  heimisch  werden.  Idealismus  .  .  . 
bedeutet  das  kühne  Wagnis  radikaler  Umkehr  und  Erneuerung 
aus  innerstem  Lebensquell".  Ist  aber  der  Idealismus  überhaupt 
einer  solchen  Anwendung  auf  die  Praxis  fähig?  Kann  das  Ideal- 
bild des  genossenschaftlichen  Staates,  wie  es  sich  aus  der  Durch- 
dringung des  Sozialismus  mit  dem  idealistischen  Grundsatz  der 
Autonomie  des  Geistes  ergibt,  verwirklicht  werden,  oder  schließt 
es  nicht  Voraussetzungen  ein,  die  seine  Verwirklichung  unmöglich 
machen?  Die  Erörterung  dieser  Fragen,  die  sich  auf  das  Ver- 
hältnis der  drei  Elemente  des  Buches  zueinander  beziehen,  ist  von 
um  so  größerer  Bedeutung,  weil  sie  selbstverständlich  Scheinendes 
in  Angriff  nehmen. 

Die  Besonderheit  des  Transzendental-Idealismus,  um  den  es 
sich  hier  nur  handelt,  liegt  darin,  daß  er  die  Einheit  nicht  mehr 
wie  das  Mittelalter  als  höchste,  über  der  Wirklichkeit  stehende 
und  sie  umfassende  Realität  denkt,  sondern  als  der  Wirklickkeit 
zugrunde  liegend,  und  daß  ihm  die  Einheit  nicht  mehr  gegeben, 
sondern  problematisch  geworden  und  ins  Unendliche  gerückt  ist. 
Dieser  Idealismus,  der  das  Denken  der  letzten  Jahrhunderte  be- 
herrscht, geht  hervor  aus  der  nominalistischen  Wendung  des  Uni- 
versalienstreites und  steckt  schon  in  der  Formel  „universalia  post 
rem".  Die  substanzielle  Einheit  der  mittelalterlichen  Welt  ist 
zerbrochen,  der  Mensch  entdeckt  zugleich  in  ganz  neuer  Weise 
die  Fülle  der  Diesseitigkeit,  der  Wirklichkeit:  damit  ist  schon 
das  neue  Problem  der  gesetzmäßigen  Einheit  der  Wirklichkeit 
gestellt.  Damit  aber,  daß  die  Einheit  überhaupt  problematisch 
wird,  ist  sie  ins  Unendliche  gerückt.  Sie  ist  nicht  mehr  die  uni- 
versale Hülle,  die  die  ganze  Welt  zusammenhält,  und  in  der  alle 
Einzelheiten,  auch  der  Mensch  selber  ihren  planmäßigen,  festen, 
in  der  göttlichen  Weltordnung  vorgesehenen  Ort  haben,  sondern 
sie  wird  nun  selber  immanent  und  im  Innern  des  Menschen  ge- 
sucht. Denn  der  Unendlichkeit  gegenüber  erwacht  im  Menschen 
das  mystische  Selbstbewußtsein  des  Individualismus,  das  seinen 
ersten  Ausdruck  bei  Eckehart  gefunden  hat.  Durch  dieses  Subjekt 
der    „intensiven  Unendlichkeit",    das    in    den    folgenden  Jahrhun- 


54  Hermann  Herrigel, 

derten  des  neuen  Idealismus  alle  philosophischen  Probleme  auf 
sich  gezogen  hat,  hängen  der  Idealismus  und  der  Individualismus 
innerlich  aufs  engste  zusammen.  Der  Individualismus  ist  die  Form, 
in  der  der  Idealismus  aktiv  und  praktisch  wird.  Zunächst  freilich 
ist  der  idealistische  Grundsatz,  daß  die  Wirklichkeit  nicht  ein 
regelloses  Chaos  sei,  sondern  daß  ihr  eine  Gesetzmäßigkeit  zu- 
grunde liege,  kein  praktischer,  sondern  ein  Postulat  des  Denkens, 
einer  reflektierenden  Einstellung  auf  die  Wirklichkeit.  Dieser 
reflektierende  Idealismus  ist  „Kritik",  das  heißt  „hinaus  über  das 
bloße  Verstehen  der  Sache,  das  Verstehen  dieses  Verstehens  selbst 
aus  seinen  eigenen  tiefsten  Gründen,  den  Gesetzen  des  Logos" ; 
da  er  dem  Gebiete  des  Verstehens,  nicht  des  Bildens  und  Handelns 
angehört,  geht  sein  Weg  vom  Verstandenen,  d.  h.  der  Wirklich- 
keit, zu  den  Vernunftgesetzen  des  Verstehens.  Diese  sind  ent- 
weder konstitutiv  wie  die  Kategorien,  oder  regulativ  wie  die 
Ideen,  aber  nicht  praktisch  im  Sinne  einer  zu  verwirklichenden 
Aufgabe.  Auch  die  „Kritik  der  praktischen  Vernunft"  hat  es 
weder  mit  der  Frage  praktischer  Ziele,  noch  auch  der  Verwirk- 
lichung eines  Idealzustandes  (der  „Glückseligkeit")  zu  tun,  sondern 
„lediglich  mit  der  Vernunftbedingung  (conditio  sine  qua  non)  der 
letzteren,  nicht  mit  einem  Erwerbmittel  derselben".  Von  diesem 
Idealismus  aus,  der  nur  eine  Erkenntnis  der  Vernunftbedingungen, 
d.  h.  der  transzendentalen  Prinzipien  ist,  bedarf  es  einer  völligen 
Umkehrung,  um  ihn  zum  Prinzip  praktischer  Aufgaben  zu  machen. 
Diese  Umkehrung  war  aber  unausbleiblich  und  notwendig,  wollte 
der  Idealismus  nicht  eine  weltflüchtige  Theorie  bleiben,  und  sie 
wurde  auch  tatsächlich  schon  von  der  Reformation  vollzogen.  Sie 
macht  die  transzendentalen  Vernunft bedingungen  zu  den  Prin- 
zipien der  ethischen  Haltung  des  Individuums  und  stellt  die 
Forderung  auf,  sie  psychisch  zu  verwirklichen.  Diese  Herein- 
ziehung der  transzendentalen  Prinzipien  in  das  psychologisch- 
empirische Subjekt  ist  aber  das  Hauptstück  der  individualistischen 
Subj  ektauif assung. 

Der  eigentliche  Sinn  des  Individualismus  ist  die  Einheit  des 
Transzendentalen  und  des  Psychologischen.  Sie  bedeutet,  daß  die 
Form,  d.  h.  das  Vernunftgemäße  im  weitesten  Sinne,  unmittelbare 
Funktion  des  Lebens  selber  ist,  so  daß  also  alle  Gesetzlichkeit 
schon  in  der  niedersten  Einheit  des  Lebens,  im  Augenblick,  liegt. 
Das  Gesetz  besitzt  kein  selbständiges  Eigendasein,  sondern  ist  nur 
in  dem  Augenblick   selber   da,   in  welchem  es  sich  auch  inhaltlich 


Politik  und  Idealismus.  55 

differenziert.  Damit  ist  zwischen  der  Materie  des  Gesetzes  und 
der  Form  der  Gesetzlichkeit  jeder  Unterschied  (der  die  kantische 
Ethik  völlig  beherrscht)  aufgehoben,  denn  das  Gesetz  ist  nichts 
mehr  außer  der  reinen  Funktion  des  Lebens.  Das  bedeutet  aber, 
daß  alle  Gesetzlichkeit  überhaupt  formaler  Natur  sein  muß,  und 
damit  ist  es  grundsätzlich  ausgeschlossen,  daß  dem  Individuum 
irgend  eine  inhaltbestimmte  Forderung  von  außen  her  gegenüber- 
tritt. Die  Inhaltsbestimmtheit  der  formalen  Gesetzlichkeit  fließt 
vielmehr  aus  dem  Leben  selber  und  kann  daher  niemals  im  Wider- 
spruch stehen  zum  Gewissen.  Der  Individualismus  leugnet  also 
keineswegs  eine  Gesetzlichkeit  überhaupt,  er  erhebt  nicht  den 
Anspruch  auf  Freiheit  im  Sinne  unbeschränkter  subjektiver  Will- 
kür, sondern  er  leugnet  nur  den  Gegensatz  zwischen  der  Gesetz- 
lichkeit und  der  Lebenstotalität,  zwischen  einem  allgemeinen 
Gesetz  und  dem  individuellen  Lebenslauf.  Die  individualistische 
Freiheit  verlangt  nur  Raum  für  die  ungehemmte  Entfaltung  der 
dem  Individuum  als  solchem  zugehörigen  und  sein  Wesen  aus- 
machenden Gesetzmäßigkeit,  des  „individuellen  Gesetzes".  Diese 
Forderung  ist  aber  nur  die  logische  Folgerung  aus  dem  formalen 
d.  h.  inhaltsleeren  Charakter  des  individuellen  Gesetzes.  Denn 
wenn  es  inhaltlich  irgendwie  vorbestimmt  wäre,  und  wenn  damit 
seine  unendliche  Auswirkungsmöglichkeit  an  irgend  einer  Stelle 
eine  grundsätzliche  Grenze  hätte,  so  würde  das  ein  allgemeines, 
jenseits  des  Individuums  bestehendes,  transzendentes  Gesetz  vor- 
aussetzen, so  daß  das  individuelle  Gesetz  in  Wahrheit  kein  Gesetz, 
sondern  nur  ein  Satz  des  transzendenten  Gesetzes  wäre.  Indivi- 
dualismus bedeutet  also,  daß  das  individuelle  Gesetz  das  einzige 
Gesetz  überhaupt  ist,  d.  h.  daß  alle  überhaupt  mögliche  Gesetz- 
mäßigkeit dem  Individuum  immanent,  somit  transzendental,  nicht 
transzendent  ist.  Nur  so  kann  die  Wirklichkeit  eine  freie 
Schöpfung  des  Individuums  sein.  Die  Umkehrung  des  eben  ge- 
nannten Satzes  besagt  ferner,  daß  das  Individuum  seinem  Wesen 
nach  reine  Gesetzmäßigkeit  ist,  d.  h.  alle  seine  Lebensäußerungen 
notwendige  Funktionen  des  individuellen  Gesetzes  sind.  Das  ist 
der  Ausdruck  der  vollen  Identität  des  transzendentalen  und  des 
psychologischen  Subjekts.  Auch  das  liegt  im  Begriff  des  indivi- 
duellen Gesetzes  selber  schon,  denn  wenn  keine  überindividuelle 
allgemeine  Gesetzmäßigkeit  vorhanden  ist,  ist  gar  kein  Kriterium 
denkbar,  nach  welchem  ein  Widerspruch  zwischen  dem  individuellen 
Gesetz  und   dem  individuellen  Lebensablauf  aufgefunden    und   er- 


56  Hermann  Herrigel, 

kannt  werden  könnte.  Diesem  Urteil  liegt  daher  immer  der  Fehler 
zugrunde,  daß  das  individuelle  Gesetz  zum  über  individuellen  ver- 
allgemeinert wird.  Es  sind  also  letzten  Endes  zwei  Sätze,  die 
das  Wesen  des  Individualismus,  der  Einheit  von  Individuum  und 
Gesetzlichkeit,  ausmachen:  Das  Individuum  ist  reine  Gesetzlich- 
keit, und:  Alle  Gesetzlichkeit  ist  individuell. 

Der  geschichtliche  Ursprung  dieser  Theorie  des  Individualismus 
ist  in  dem  Geniebegriff  Kants  zu  suchen.  „Genie  ist  die  angebo- 
rene Gemütsanlage  (ingenium),  durch  welche  die  Natur  der  Kunst 
die  Regel  gibt".  Die  Kunst  setzt  Regeln  voraus,  aber  da  es  kein 
Begriff,  keine  allgemeine  Regel  sein  kann,  „so  muß  die  Natur 
im  Subjekte  (und  durch  die  Stimmung  der  Vermögen  desselben) 
der  Kunst  die  Regel  geben,  d.  i.  die  schöne  Kunst  ist  nur  als 
Produkt  des  Genies  möglich".  Hier  kommt  also  zur  bestimmenden 
und  reflektierenden  Urteilskraft  ein  Drittes  hinzu,  das  überhaupt 
nicht  Urteilskraft,  sondern  schöpferische  Kraft  ist,  denn  die  Kunst 
ist  das  Gebiet,  in  dem  der  Gegensatz  zwischen  dem  Besonderen 
und  Allgemeinen,  der  Freiheit  und  Notwendigkeit  aufgehoben  ist. 
Das  Genie,  die  Einheit  des  transzendentalen  und  des  psychologi- 
schen Subjekts,  hat  aber  bei  Kant  nur  hier  seine  Stelle.  Er 
kennt  kein  wissenschaftliches  Genie  und  —  was  hier  vor  allem  in 
Betracht  kommt  —  er  ist  weit  entfernt,  dem  Menschen  für  das 
Gebiet  des  praktischen  Handelns,  der  Verwirklichung,  moralisches 
Genie  zuzuschreiben.  „Die  völlige  Angemessenheit  des  Willens 
zum  moralischen  Gesetze  ist  Heiligkeit,  eine  Vollkommenheit,  deren 
kein  vernünftiges  Wesen  der  Sinnen  weit,  in  keinem  Zeitpunkt 
seines  Daseins,  fähig  ist.  —  Die  sittliche  Stufe,  worauf  der  Mensch 
(aller  unserer  Einsicht  nach  auch  jedes  vernünftige  Geschöpf)  steht, 
ist  Achtung  fürs  moralische  Gesetz.  Ein  moralischer  Zustand, 
darin  er  jedesmal  sein  kann,  ist  Tugend,  d.  i.  moralische  Gesinnung 
im  Kampfe,  nicht  Heiligkeit  im  vermeinten  Besitze  einer  völligen 
Reinigkeit  der  Gesinnungen  des  Willens".  Da  die  Nachfolger 
Kants  diese  Einschränkung  des  Geniebegriffs  fallen  ließen,  ist, 
wie  Cassirer  sagt,  „Kants  Lehre  vom  Genie  der  historische  Aus- 
gangspunkt für  alle  jene  romantisch-spekulativen  Fortbildungen 
des  Geniebegriffs  geworden,  in  denen  der  produktiven  ästhetischen 
Einbildungskraft  eine  schlechthin  weit-  und  wirklichkeitserzeugende 
Bedeutung  zugeschrieben  wurde". 

Das  trifft  den  Kern  des  praktischen  Idealismus,  der  vom  In- 
dividuum aus  die  Verwirklichung  der  Autonomie  des  Geistes  und 


Politik  und  Idealismus.  57 

die  geistige  Durchdringung  des  praktischen  Lebens  erwartet. 
Dieser  individualistische  Geist  unserer  Zeit  findet  seinen  Ausdruck 
weniger  theoretisch  in  den  direkt  ausgesprochenen  Zielsetzungen 
und  Programmen,  als  methodisch  darin,  daß  er  dem  ganzen  Denken 
und  Wollen  zugrunde  liegt.  Denn  unser  ganzes  geistiges  Leben 
kennt  in  seiner  vollkommenen  Desorganisation  und  nach  dem  Ver- 
lust jeglicher  Autorität  als  den  einzigen  sicheren  Grund  nur  noch 
das  Erlebnis  und  es  weiß  keinen  andern  Ausweg  aus  seinen  Nöten 
als  die  „Unmittelbarkeit"  und  „Sachlichkeit"  des  Erlebens,  die  indi- 
viduelle Wahrhaftigkeit,  die  reine  Selbsttätigkeit,  die  volle  Be- 
freiung der  Kräfte  des  Individuums.  Die  Jugendbewegung  und 
alles  was  damit  zusammenhängt,  überhaupt  alle  jene  Reform-  und 
Erneuerungsbestrebungen,  die  vor  allem  auf  einen  neuen  Aufbau 
der  Gemeinschaft  gerichtet  sind,  sind  im  Grunde  individualistisch 
und,  so  verschieden  sie  übrigens  unter  sich  in  Weg  und  Ziel  sein 
mögen,  sie  sind  alle  darin  einig,  daß  nur  aus  dem  Individuum 
d.  h.  „aus  innerstem  Lebensquell"  eine  Erneuerung  des  Lebens 
und  der  Gemeinschaft  möglich  sei.  Sie  kommen  von  dem  indivi- 
dualistischen Postulat  nicht  los,  obwohl  ihr  Ziel  über  den  Indivi- 
dualismus hinausgesteckt  ist ;  denn  Gremeinschaft  bedeutet  Bindung 
des  Individuums.  Ihnen  schwebt  aber  eine  Gemeinschaft  vor,  die 
ganz  auf  „innerer  Wahrhaftigkeit"  beruhen,  also  nie  als  starre 
Form  in  Gegensatz  zum  flüssigen  Erlebnis  treten,  sondern  in 
jedem  Augenblick  vom  freien  Willen  des  Einzelnen  getragen  sein 
soll.  Daher  sind  sie  auch  nicht  über  die  Gründung  unzähliger 
sektenhafter  Bünde  hinausgekommen,  denn  die  Sekte  ist  die  eigent- 
liche Form  der  individualistischen  Gemeinschaft.  Dieser  Indivi- 
dualismus beherrscht  in  pazifistischen  und  revolutionären  Pro- 
grammen, in  den  proudhonistisch-anarchistischen  Genossenschafts - 
idealen,  im  Rätegedanken,  in  dem  Schlagwort  des  „Aufbaus  von 
unten"  selbst  die  Politik.  Ja  man  darf  wohl  allgemein  sagen, 
daß  soweit  die  Bürgerlichen  und  „Geistigen"  überhaupt  ein  posi- 
tives Verhältnis  zur  Revolution  gefunden  haben,  der  Grund  ihrer 
revolutionären  Gesinnung  in  einem  individualistisch  aufgefaßten 
Idealismus  zu  suchen  ist.  Wie  tief  unser  ganzes  Leben  in  allen 
Gebieten  methodisch  von  den  individualistischen  Grundgedanken 
durchdrungen  ist,  könnte  nur  ein  vollständiger  Überblick  zeigen. 
Es  sei  nur  noch  hingewiesen  auf  den  analytischen  Psychologismus, 
der  die  vorherrschende  Denkmethode,  nicht  nur  der  heutigen 
Philosophie,  sondern  auch  der  Geschichtschreibung  und  Biographie, 


58  Hermann  Herrigel, 

auch  in  der  Literatur  und  Kunst  ist  und  der  nur  darin  seinen 
Grund  und  Sinn  hat,  daß  er  auf  der  unausgesprochenen  Voraus- 
setzung beruht,  daß  die  Erlebnisse  nicht  bloß  empirisch-psycho- 
logische Tatsachen  sind,  sondern  daß  in  ihnen  die  Gesetzlichkeit 
des  Geistes  unmittelbar  sich  auswirkt  und  erkennbar  wird. 

Der  großen  Bedeutung  gegenüber,  die  der  Individualismus 
daher  heute  gerade  auch  für  die  praktischen  Fragen  besitzt,  ist 
es  notwendig,  einmal  grundsätzlich  die  Frage  aufzuwerfen  nach 
seiner  Leistungsfähigkeit  für  die  Verwirklichung  idealistischer 
Forderungen,  das  heißt  nach  seinen  Grenzen.  Unter  der  idealisti- 
schen Forderung  soll  hier  nicht  bloß  die  Verwirklichung  eines 
reinen  Idealzustandes  verstanden  werden,  sondern  jede  Zielsetzung, 
die  irgendwie  auf  eine,  wenn  auch  nur  teil-  und  schrittweise, 
„Verbesserung"  des  Bestehenden  ausgeht.  Verbesserung  bedeutet 
immer  die  Überwindung  einer  sachlichen  oder  persönlichen  Ge- 
gensätzlichkeit, die  Herstellung  eines  Friedenszustandes,  einer 
„Einheit",  ob  es  sich  um  den  Arbeitsfrieden  oder  um  Schulreform 
oder  um  den  Aufbau  der  Familie  handelt.  Wie  das  alles  sein 
müßte,  wissen  wir  sehr  genau;  an  Programmen  und  Theorien 
fehlt  es  uns  wahrlich  nicht.  Der  Individualismus  erwartet  die 
Erfüllung  dieser  Forderungen  immer  vom  freien  Willen  des  Ein- 
zelnen. Zu  den  politischen  Mitteln  der  Organisation  „von  oben 
her"  hat  er  (und  die  Erfahrung  gibt  ihm  darin  Recht)  alles  Zu- 
trauen verloren  und  so  hält  er  grundsätzlich  nur  das  für  gesichert, 
was  unmittelbar  lebendig  ist  und  auf  der  Einsicht  und  dem  Ver- 
antwortungsgefühl aller  Einzelnen  beruht.  Er  hält  eine  Ordnung 
des  ganzen  Lebens  nicht  nur  für  erstrebenswert,  sondern  auch  für 
möglich,  die  niemals  zur  Form  erstarrt,  sondern  in  der  Gesinnung 
dauernd  lebendig  bleibt,  und  glaubt,  daß  nur  auf  diese  Weise 
Forderungen  geistiger  Natur  sich  in  die  Wirklichkeit  umsetzen 
lassen.  Unsere  Frage  ist  nun  nicht  darauf  gerichtet,  aus  welchen 
er fahrungs mäßigen,  psychologischen  Gründen  diese  Forderungen 
in  der  Wirklichkeit  noch  nicht  erfüllt  worden  sind,  sondern  ob 
dieses  Zurückbleiben  nur  ein  empirisches,  durch  zufällige  geschicht- 
liche Gründe  bedingtes  ist  oder  ob  die  Erfüllung  der  idealistischen 
Forderung  aus  wesentlichen  Gründen  unmöglich  ist.  Wir  be- 
gnügen uns  nicht  mit  dem  Gemeinspruch:  „Das  mag  in  der 
Theorie  richtig  sein,  taugt  aber  nicht  für  die  Praxis" ;  wir  dürfen 
nicht  dem  Glauben  nur  einen  Unglauben  gegenüberstellen,  sondern 
es  handelt  sich  für  uns  darum,  aus  dem  Wesen  des  Individualismus 


Politik  und  Idealismus.  59 

die  grundsätzliche,  theoretische  Grenze  seines  möglichen  Bereiches 
in  der  Praxis  einzusehen.  Da  alle  idealistischen  Forderungen  als 
Einheitsforderungen  auf  die  Verwirklichung  der  Herrschaft  des 
Geistes  hinzielen,  wird  zu  fragen  sein,  ob  die  Autonomie  des 
Geistes  nur  durch  die  wirkliche,  psychologische  Autonomie  des 
Individuums  möglich  ist,  oder  ob  die  Verwirklichung  nicht  ge- 
rade umgekehrt  die  Überwindung  des  Individualismus  voraussetzt. 
Da  die  letzte  idealistische  Einheitsforderung  in  der  Praxis  der 
Aufbau  der  menschlichen  Gemeinschaft  ist,  so  fällt  unsere  Frage 
zusammen  mit  der  Frage  nach  dem  Verhältnis  zwischen  Indivi- 
duum und  Gemeinschaft.  Bedeutet  Autonomie  des  Geistes  im 
praktischen  Leben  den  Primat  des  Individuums  (wie  der  idealisti- 
sche Individualismus  will)  oder  den  Primat  der  Gemeinschaft? 

Mit  dieser  Problemstellung  kehren  wir  zum  Sozialidealismus 
Natorps  zurück.  Daraus  ergibt  sich  nun  die  anfangs  zurück- 
gestellte Frage  nach  dem  Verhältnis  des  philosophischen  Gehaltes 
des  Buches  zu  seinem  politisch-pädagogischen.  Der  innere  Zu- 
sammenhang zwischen  Idealismus  und  Individualismus  in  dem  ge- 
nossenschaftlichen Staat  ist  nach  den  letzten  Ausführungen  ganz 
klar,  denn  die  Voraussetzung  und  Forderung  der  Freiwilligkeit 
der  Individuen  im  Dienste  der  Gesamtheit  ist  die  unmittelbare 
Folgerung  aus  dem  idealistischen  Grundsatz,  daß  alles  Äußere  von 
innen  her  begründet  sein  muß.  Der  individualistische  Charakter 
dieses  Gemeinwesens  liegt  aber  nicht  allein  darin,  daß  es  sich 
organisch  von  den  Individuen  her  aufbaut,  sondern  die  innere 
Struktur  des  ganzen  Gemeinwesens  entspricht  vollkommen  den 
beiden  Sätzen,  die  die  Analyse  des  Individualismus  ergab:  Die 
absolute  Freiwilligkeit  besagt,  daß  die  einzelnen  Glieder  reine 
Gesetzlichkeit  sind,  und  das  Fehlen  einer  mit  Zwangsgewalt  aus- 
gestatteten selbständigen  politischen  Zentrale,  daß  alle  Gesetz- 
lichkeit bei  den  einzelnen  Gliedern  liegt.  In  sich  ist  das  Ideal- 
bild, das  Natorp  entwirft,  von  vollkommener  innerer  Folgerichtig- 
keit und  Geschlossenheit,  aber  was  vermag  ein  solches  Idealbild 
für  die  praktische  Politik  zu  bedeuten?  „Jede  ernsthafte  Theorie 
muß  heute  den  Weg  zur  Praxis  finden,  sonst  hat  sie  verspielt". 
Der  eigentliche  Sinn  dieses  Buches  ist  auch  die  Verwirklichung 
des  Ideales,  seine  Umsetzung  in  die  Praxis.  Wir  dürfen  daher 
nicht  innerhalb  des  ideellen  Kreises  stehen  bleiben,  sondern  müssen 
nach  der  Möglichkeit  seiner  Verwirklichung  fragen:  Ist  es  grund- 
sätzlich  möglich,    den   Friedenszustand    des    genossenschaftlichen 


60  Hermann  Herrigel, 

Staates  durch  rein  erzieherische  Mittel,  das  heißt  durch  „  Wollen 
machen",  durch  die  Befreiung  des  individuellen  Willens,  durch 
seine  „Rücklenkung  auf  den  reinen  Grund-willen",  herbeizuführen 
oder  nur  (wenn  auch  nicht  ausschließlich)  durch  politische  Zwangs- 
mittel? Diese  Frage  nach  dem  Verhältnis  von  Erziehung  und 
Politik  ist  die  Grundfrage  des  praktischen  Idealismus  einerseits 
und  der  Politik  andererseits. 

Die  ideelle  Möglichkeit  des  genossenschaftlichen  Staates  hat 
ihren  tiefsten  Grund  in  dem  Glauben  an  eine  absolute  Harmonie 
aller  Gegensätze.  In  dieser  Einheit,  die  hinter  jeder  Gegensätz- 
lichkeit steht,  findet  nicht  allein  der  Gegensatz  zwischen  einzelnen 
Individuen  und  Individuum  und  Gesamtheit,  sondern  auch  der 
zwischen  Theorie  und  Praxis  überhaupt  seine  Lösung,  so  daß 
durch  sie  die  praktische  Verwirklichung  nicht  bloß  möglich,  son- 
dern gefordert  wird.  Der  absoluten  Einheit  des  Geistes  ent- 
spricht auf  der  Subjektseite  die  reine  geistige  Aktivität  der 
Individuität.  Sie  ist  das  Subjekt  der  Freiwilligkeit,  die  die  Ge- 
nossenschaft zu  einem  Organismus  von  geistigen,  gleichgerichteten 
Kräften  macht  und  den  Kampf  von  aktiven  und  Trägheitskräften, 
von  Geist  und  Ungeist  ausschließt.  Allein  ihre  volle  Auflösung 
findet  die  Gegensätzlichkeit  erst  in  der  absoluten  Einheit  der 
dritten  Stufe  des  Dreischrittes,  in  welchem  der  Geist  von  der 
potentiellen  Unendlichkeit  der  Null  über  die  Gegensätzlichkeit 
aufsteigt  zur  erfüllten  und  absoluten  Unendlichkeit.  Die  Konti- 
nuität dieses  Weges  hat  aber  einen  Bruch,  denn  der  Übergang 
von  der  zweiten  Stufe  zur  dritten  muß  erkauft  werden  um  den 
Verlust  der  endlichen  Bestimmtheit  d.  h.  der  Inhaltlichkeit  des 
Gegensatzes.  Es  ist  schließlich  nicht  mehr  der  Gegensatz  zwischen 
konkreten  Gliedern  mit  seinem  besondern,  einmaligen  Inhalt,  der 
in  der  absoluten  Einheit  aufgehoben  ist,  sondern  die  letzte,  nur 
noch  formale  Gegensätzlichkeit  zwischen  (reist  und  Ungeist  über- 
haupt. Was  kann  also  diese  Lösung  in  der  Leerheit  des  Formalen 
für  die  konkreten  Gegensätze  des  praktischen  Lebens  anderes  be- 
deuten, als  nur  das  Postulat,  daß  alle  Gegensätzlichkeit  im  abso- 
luten Unendlichen  ein  Ende  finden  muß,  da  doch  beim  Übergang 
von  der  zweiten  zur  dritten  Stufe,  von  der  Gegensätzlichkeit 
zur  Einheit,  gerade  diejenigen^  Strukturelemente  der  zweiten 
Stufe,  die  die  Gegensätzlichkeit  ausmachen,  verschwinden!  Die 
absolute  Einheit  kann  also  jedenfalls  für  die  Praxis  nicht  die 
Bedeutung   einer  Regel   haben,   nach   der  im   einzelnen  Fall  ver- 


Politik  und  Idealismus.  61 

fahren  werden  kann.  Noch  deutlicher  wird  dieser  Sprung  zwischen 
den  Stufen  auf  der  Subjektseite.  Die  absolute  Einheit  der  Gegen- 
sätze liegt  jenseits  des  Endlichen,  das  Reich  des  Endlichen  aber 
ist  als  das  der  Gegensätzlichkeit  definiert.  Das  Subjekt  der  Ein- 
heit und  der  Gegensätzlichkeit  ist  .daher  nicht  identisch.  Das 
Subjekt  des  Stufengangs  ist,  wie  Natorp  ausdrücklich  sagt,  „nicht 
das  bloß  gedachte  universale  (Kants  „  „transzendentales" ")  Subjekt; 
dieses  hat  bloß  methodische,  nicht  reale  Bedeutung.  Der  ganze 
beschriebene  Stufengang  hätte  gar  keinen  Sinn  im  reinen  An-sich 
des  All-lebens;  aber  dieses  ist  ja,  für  das  wirkliche  Bewußtsein, 
nur  die  obere,  ideale  Grenze.  —  Also  gilt  der  Stufengang  nur 
im  Zwischenreich,  der  (das?  d.  V.)  allein  überhaupt  eine  Entwick- 
lung, wie  des  Gehalts,  so  der  Ichbeziehung  kennt.  —  Reales  Be- 
wußtsein ist  also  nur  zu  denken  als  Gegenverhältnis  wenigstens 
„eines  (nicht  bloß  idealen)  Ich  und  eines  (nicht  bloß  idealen)  Du". 
Damit  ist  der  Unterschied  zwischen  dem  transzendentalen  und 
dem  psychologischen  Subjekt  ganz  klar  gezogen  und  es  ist  damit 
zugestanden,  daß  die  Einheit  nicht  für  das  reale,  psychologische, 
sondern  nur  für  das  ideale  Subjekt  gilt.  Die  Individuität  ist  nur 
transzendentales  Subjekt  der  reinen  Einheit,  der  „Genossenschaft", 
allgemein  der  dritten  Stufe  und  darf  nicht  in  die  reale  Welt  der 
zweiten  Stufe  hereingezogen  werden,  wie  es  mit  dem  psychologi- 
schen Begriff  der  Freiwilligkeit  geschieht.  Das  psychologische 
empirische  Subjekt  ist  aus  dem  Bereich  der  absoluten  Einheit 
ebenso  ausgeschlossen  wie  aus  dem  Bezirk  der  „Heiligkeit".  Die 
Einheit  gehört  ihm  nur  als  seine  „obere,  ideale  Grenze"  zu,  als 
seine  unendliche  Aufgabe,  der  es  sich  wohl  nähern,  die  es  aber 
nie  verwirklichen  kann.  Da  der  Mensch  also  zwar  immer  Gegen- 
sätze überwinden,  aber  nicht  aus  der  Gegensätzlichkeit  überhaupt 
heraustreten  kann,  ist  dieses  „nie"  keine  empirische,  sondern  eine 
wesentliche  Grenzbestimmung.  Das  psychologische  Subjekt  ist 
nicht  reine  geistige  Aktivität  und  reine  Gesetzlichkeit,  wie  der 
Individualismus  fordert,  sondern  das  der  Einheit  in  ihm  Wider- 
strebende, das  seine  Mangelhaftigkeit,  seinen  „Fragmentcharakter" 
ausmacht,  gehört  mit  zu  seinem  unverlierbaren  Wesen. 

Der  Individualismus  macht  aber  den  Fehler,  daß  er  sich  über 
diesen  Gegensatz  zwischen  dem  transzendentalen  Subjekt  seiner 
idealen  Forderungen  und  dem  psychologischen  Subjekt  hinweg- 
setzt. Paul  Ernst  nennt  das  zutreffend  die  „idealistische  Gewalt- 
tat".   Der   Grund    dieses   Fehlers    liegt    schon   im   Ursprung   des 


62  Hermann  Herrigel, 

Individualismus  selber,  denn  das  Transzendentale  wird  schon  durch 
die  Rückwendung  auf  die  Praxis  umgedeutet  zur  psychologischen 
Aktivität,  d.  h.  zur  Freiwilligkeit  und  „Gesinnung".  Der  Indi- 
vidualismus ist  also  letzten  Endes  ein  umgekehrter  Psychologis- 
mus, denn  während  dieser  psychologische  Vorgänge  zu  transzen- 
dentalen Prinzipien  macht,  macht  jener  transzendentale  Prinzipien 
zu  psychologischen  Fähigkeiten.  Diese  Unklarheit  bleibt  ihm 
immer  anhaften;  sie  tritt  deutlich  zutage  im  Lebensbegriff  Sim- 
meis, der  zwischen  einem  metaphysischen  und  einem  vitalen  Sinne 
schwankt.  Einmal  sagt  er:  „Wie  es  einen  weitesten  Begriff  des 
Guten  gibt,  der  Gutes  und  Böses  in  deren  relativem  Sinne  ein- 
schließt, einen  weitesten  Begriff  des  Schönen,  der  den  Gegensatz 
von  Schönem  und  Häßlichem  in  sich  befaßt,  so  ist  das  Leben  in 
dem  absoluten  Sinne  etwas,  was  sich  selbst  im  relativen  Sinne 
und  seinen  Gegensatz,  zu  dem  es  und  der  zu  ihm  eben  relativ  ist, 
einschließt,  oder  sich  zu  ihnen  als  seinen  empirischen  Phänomenen 
auseinanderfaltet".  Und  an  anderer  Stelle:  „Darum  ist  jeder 
Lebensaugenblick,  jedes  Sich -Verhalten  und  Handeln  das  ganze 
Leben;  dieses  ist  nicht  eine  Totalität  für  sich,  der  das  einzelne 
Handeln  in  ideeller  Abgetrenntheit  gegenüberstünde ".  Dieser 
inneren  Schwierigkeit  des  Individualismus  ist  auch  Natorp  nicht 
entgangen,  wenn  er  die  Verwirklichung  seines  Planes  fordert  und 
doch  das  reale  Subjekt  als  das  wesentlich  gegensätzliche  bestimmt, 
oder  wenn  er  seinen  politisch  gedachten  Plan  an  anderer  Stelle 
nur  als  regulative  Idee  verstanden  wissen  will:  „Andererseits 
wäre  es  ein  glattes,  leicht  zu  berichtigendes  Verkennen  jedenfalls 
des  von  uns  vertretenen,  „„kritischen""  Rationalismus,  wenn  die 
von  ihm  angestrebte  Begründung  im  allgemeinen  Gesetze  der  Idee 
als  Konstruktion  aus  einem  allgemeinen  Ideal  der  Vernunft,  das 
heißt  konstitutiv  („„transzendent"")  und  nicht  lediglich  im  Sinne 
der  regulativen  Methodik  der  Idee  („„transzendental"")  gedeutet 
würde". 

Die  reine,  formale  und  inhaltleere  Idee,  die  im  Unendlichen 
liegt,  kann  für  den  Menschen,  seinem  „moralischen  Zustande" 
gemäß,  nicht  praktische  Aufgabe  der  Verwirklichung  sein,  sondern 
nur  der  transzendentale,  konstitutive  oder  regulative,  Grund  seiner 
Wirklichkeit.  Wird  die  praktisch- sittliche  Aufgabe  des  Menschen 
ins  Unendliche  gerückt,  so  wird  damit  ein  Subjekt  gefordert  und 
vorausgesetzt,  das  reine  Gesetzlichkeit  ist,  da  nur  die  reine  Ge- 
setzlichkeit  ins   Unendliche    vorzudringen   vermag.      Der   Mensch 


Politik  und  Idealismus.  63 

aber  vermag  nur  endliche  Aufgaben  zu  verwirklichen.  Damit  ist 
nicht  der  Idealismus,  sondern  nur  der  idealistische  Individualismus 
abgelehnt  und  das  Problem  des  Finitismus  gestellt.  Vielleicht 
hat  auch  Kant  dem  Menschen  noch  zu  viel  zugestanden,  wenn  er 
ihm  die  Achtung  vor  dem  formalen  Sittengesetz  als  seine  Tugend 
zuwies;  denn  damit  ist  die  inhaltliche  Bestimmung  des  formalen 
Sollens,  auf  die  alles  ankommt,  dem  individuellen  Gewissen  jedes 
Einzelnen  überlassen.  Um  das  Sollen  immer  richtig  zu  deuten, 
d.  h.  die  praktischen  Gegensätze  zur  Einheit  führen  zu  können, 
ist  von  ihm  nicht  allein  die  in  jedem  Augenblick  verwirklichte 
volle  Einheit  von  Sein  und  Sollen,  sondern  auch  eine  unausge- 
setzte, nie  ermüdende  Gewissenswachheit  verlangt.  Damit  ist 
dem  Menschen  eine  Verantwortung  für  das  Unendliche  aufgeladen, 
der  der  empirische  Mensch  nicht  gewachsen  ist. 

Das  letzte  Ergebnis  läßt  sich  auch  ganz  kurz  und  einfach  so 
ausdrücken,  daß  das  individualistische  Subjekt  wohl  Forderung, 
aber  nicht  Voraussetzung  sein  kann,  während  der  Idealismus  beides 
vertauscht  und  unbesehen  seine  transzendentale  Voraussetzung 
zur  Forderung,  seine  Forderung  zur  psychologischen  Voraussetzung 
macht ;  und  zwar  zur  Voraussetzung  der  Verwirklichung  von  Auf- 
gaben, die  außerhalb  des  individualistischen  Bereiches  liegen.  Der 
transzendentale  Idealismus  kann  ja  nur  vermittels  des  Individua- 
lismus sich  auf  die  Praxis  beziehen,  denn  die  methodische  Richtung 
des  idealistischen  Denkens:  „von  innen  nach  außen"  setzt  an  sich 
schon  ein  dynamisches,  schöpferisches  Individuum,  griechisch  Ato- 
mon,  an  den  Anfang.  Eine  rein  logische  Entwicklung  des  ato- 
mistischen  Gedankenganges,  auf  die  sich  auch  Natorp  zustimmend 
bezieht,  gibt  Arthur  Bonus  in  seinem  Gespräch  „Der  Physiker; 
Eine  Phantasie". 

Das  atomistische  Denken  hat  aber  in  sich  eine  Schranke,  da 
im  Atom  wohl  eine  ins  Unendliche  gehende  Energie  liegen  kann, 
aber  kein  Prinzip  der  Begrenzung  ihrer  Auswirkung,  d.  h.  der 
Zielsetzung.  Die  Atomtheorie  erfüllt  alle  Ansprüche  eines  Den- 
kens, das  nur  auf  die  Erkenntnis  von  Gesetzmäßigkeiten  gerichtet 
ist,  aber  sie  versagt,  wo  es  sich  um  das  Konkrete,  um  die  be- 
grenzte Gestalt  handelt.  Es  wäre  denkbar,  daß  sie  die  Gesetz- 
mäßigkeit der  chemisch-physiologischen  Vorgänge  im  lebendigen 
Organismus  vollkommen  erklären  könnte ;  sie  wird  aber  niemals 
etwas  darüber  aussagen  können,  warum  etwa  zwei  Pflanzen,  in 
denen    sich    dieselben    Gesetzmäßigkeiten   abspielen,    verschiedene 


64  Hermann  Herrigel, 

Gestalt  haben.  Und  das  gilt  nicht  bloß  für  die  organische  Ge- 
stalt, sondern  für  jede  Begrenzung  des  gesetzmäßigen  Ablaufes. 
Es  leuchtet  ohne  weiteres  ein,  daß  das  Atom  mit  der  bestimmten 
Gestalt  irgend  eines  Gegenstandes  nichts  zu  tun  hat,  daß  beide 
grundsätzlich  inkommensurabel  sind  und  daß  hier  neben  dem  un- 
endlichen Prinzip  der  Atomistik  ein  anderes  Prinzip  wirksam  ist, 
das  Prinzip  des  Konkreten.  Das  alles  ist  nichts  Neues,  aber  es 
mußte  hier  daran  erinnert  werden,  da  auch  in  der  Gemeinschaft 
das  Prinzip  des  Konkreten  steckt.  Die  Gemeinschaft  ist  nicht 
atomistisch-individualistisch  zu  verstehen ;  sie  ist  keine  Funktion 
der  individualistischen  Energien,  sondern  ihre  Begrenzung. 

Das  Prinzip  des  infinitesimalen  Denkens,  d.  h.  des  Denkens 
mit  atomistisCh-unendlichen  Größen  ist  die  Ersetzung  des  stati- 
schen endlichen  Substanzbegriffes  durch  den  dynamischen  Funk- 
tionsbegriff. Es  liegt  schon  im  Begriff  des  Unendlichen,  daß  die 
Funktionen  nur  Richtungsbestimmtheiten  sind  und  daß  sie  in  ihrer 
Richtung  beharren.  Das  gilt  auch  von  den  individualistischen 
Energien.  Ihre  Richtung  ist  gegeben  durch  die  idealistische  For- 
derung, die  Gegensätzlichkeit,  die  im  Wesen  des  empirischen 
Menschen  liegt,  in  einer  Einheit  aufzulösen.  Der  Charakter  dieser 
Forderung  ist  also  der  einer  unendlichen  Aufgabe.  Das  bedeutet, 
daß  die  beiden  Grund-Sätze  des  Individualismus,  die  wir  fanden, 
niemals  zur  psychologischen  Voraussetzung  werden  können,  weil 
die  in  ihnen  enthaltene  Forderung  unerfüllbar  ist.  Sie  müssen 
also,  wenn  sie  auf  das  psychologische  Subjekt  übertragen  werden, 
eingeschränkt  werden:  Der  Mensch  ist  nicht  reine  Gesetzlichkeit, 
das  heißt:  Sein  und  Sollen  sind  in  seinem  "Wesen  keine  gegebene 
Einheit,  sondern  Gesetzlichkeit  liegt  in  ihm  nur  als  grundsätz- 
liche Möglichkeit,  Dissonanzen  zu  überwinden.  Da  ferner  diese 
Möglichkeit  nie  ganz  erfüllt  ist,  ist  auch  nicht  alle  Gesetzlichkeit 
individuell,  sondern  es  muß  eine  Gesetzlichkeit  vorhanden  sein, 
deren  Bestand  unabhängig  vom  Individuum  und  überindividuell 
ist.  Wir  können  dasselbe  konkret  ausdrücken,  indem  wir  sagen: 
Der  Mensch  hat  die  Möglichkeit,  eine  teilweise  Harmonie  seiner 
inneren  Gegensätze  zu  finden.  Diese  Möglichkeit  ist  aber  erfüllt, 
wenn  ihm  das  auch  nur  ein  einziges  Mal  gelingt;  die  Aussage 
über  die  bloße  Möglichkeit  darf  nicht  übergehen  in  die  empirische 
oder  gar  apodiktische  Aussage,  daß  alle  Menschen  zu  einer  reinen 
Harmonie  gelangen  könnten  oder  müßten.  Es  ist  wohl  „ein  ganz 
gewisser  Schluß,    daß   aus   jedem  Individuum,    wäre   es  nur  erst 


Politik  und  Idealismus.  65 

bis  zum  Letzten,  Innersten  erschlossen,  die  eine  unendliche,  gött- 
liche Kraft  hervorleuchten  müßte",   aber   diese  Bedingung  ist  un- 
erfüllbar.   Die  grundsätzliche  Möglichkeit  ist  eine  transzendentale 
Aussage,    die  Voraussetzung  ihrer  Erfüllung  dagegen  gehört  dem 
Gebiet  des  Empirisch-Psychologischen  an.     Wenn  aber  das  indivi- 
dualistische Ideal  für  den  Menschen  nur  als  grundsätzliche  Möglich- 
keit vorhanden   ist,    so   ist  es   auch  nur   eine  Angelegenheit   des 
Einzelmenschen,  des  isolierten  Individuums,  das  sich  selbst  genügt 
und  soweit  es  sich  selbst  genügt.     Zu  einer  überindividuellen  An- 
gelegenheit  könnte   der  Individualismus   nur  dann  werden,    wenn 
alle  Menschen  die  ideale  Forderung  gleichmäßig  erfüllen  würden. 
Natorp  schreibt:    „Der  Rückgang  auf  den  Grund   der  Bildung  ist 
zugleich  auch  Rückgang  auf  den  Grund  der  Gemeinschaft".     Nur 
wenn   alle   Individuen   zum    „gemeinsamen   Grund",    d.  h.    zur  In- 
dividuität  gelangen  würden,  würden  sie  eine  Gemeinschaft  bilden. 
Dann  wäre  die  psychologische  Grundlage  vorhanden,   für  den 
genossenschaftlichen  Aufbau  der  Gemeinschaft,  in  der  alle  Gegen- 
sätzlichkeit durch   den   freiwilligen  Dienst  aller  am  Ganzen  über- 
wunden würde.     Alle  Kräfte,  die  jetzt  im  Endlichen,  d.  h.  in  der 
Gegensätzlichkeit  gebunden  sind,    werden  in  diesem  wirklich  ge- 
wordenen „Volk  von  Genies",  im  „Staate  der  Gleichen"  befreit 
sein  und  vor  der  absoluten  Einheit  werden  alle  einander  gleich 
sein.    Die  „Koinzidenz  von  Freiheit  und  Gleichheit"  aber  bedeutet, 
daß  jeder    „das  Seine"    treiben  wird.     Das,    lehrt  Plato,   ist   die 
Gerechtigkeit.     Sie  ist  der  reine  Zusammenklang  der  Willen,    der 
keiner  zwangsmäßigen  Mittel  bedarf,   sondern  sich  dauernd  selber 
erneuert.     Dann  wird,    wie  Natorp  sagt,    „Erziehung  nichts  mehr 
von  Zwang   bedeuten,    sie   wird   nicht  mehr  ein  Ziehen   sein   zu 
einem   draußen  gelegenen  Ziel;    ihre  Führung   wird   nichts   mehr 
von  seelischer  Vergewaltigung,  nichts  von  Suggestion  einschließen, 
kaum   von  Mentor schaft ;    es    wird    auch    nicht   der  Mahner   von 
draußen  nur  sein  Amt  übertragen  auf  den  Mahner  von  innen,  den 
er  Gewissen  nennt  und  sich  vorstellt  wie  einen  finsteren  Tyrannen, 
der  nur  zu  richten,    zu  strafen   und  in  Banden  zu  schlagen,    aber 
nicht  zu  befreien  weiß.    Sondern  Liebe  und  brüderliches  Verstehen 
wird   alle   Furcht    austreiben,    die    echte   Brüderlichkeit    vor   der 
gleichen  Not  wird  uns  befreien  zur  edlen  Gleichheit  wechselseitiger 
Hilfsbereitschaft,    und    in   solch   brüderlicher   Gleichheit,    gleicher 
Brüderlichkeit  wird  ein  jeder  sich  frei  wissen  von  sich  selbst  und 
vom  andern;   denn  jeder  wird   den   andern  so  frei  wissen  wollen, 

Kantstudien  XXVI  5 


66  Hermann  Herrigel, 

wie  er  selbst  ist,  er  ist  ja  sein  Bruder ;  er  wird  sich  selbst  befreit 
fühlen,  indem  er  dem  andern  zu  seiner  Freiheit  hilft,  denn  nichts 
befreit  so  wie  Befreien  des  andern".  Diese  Gemeinschaft  ist  aber 
die  der  Blumen  auf  dem  Felde.  Sie  ist  nicht  der  Friede  nach 
dem  Krieg;  sie  schließt  keine  überwundenen  Gegensätze  ein,  denn 
es  ist  in  ihr  nichts  mehr  zu  überwinden;  das  ist  gewissermaßen 
alles  schon  vorher  abgemacht,  so  daß  die  Gemeinschaft  selber 
gänzlich  konfliktlos  ist.  Gegensätzlichkeit  ist  Gegensätzlichkeit 
empirischer  Willenstendenzen ;  fallen  die  Gegensätze  weg,  so  fallen 
auch  die  WiUen  weg :  so  ist  sie  auch  gänzlich  willenlos.  Sie  ist 
ein  reines  Nebeneinander  gleichgerichteter  Individuen,  deren  Willen 
nicht  auf  Endliches  gerichtet  ist  und  sich  daher  erst  im  Unend- 
lichen schneidet. 

Kann  eine  solche  Gemeinschaft  überhaupt  als  Ziel  und  Auf- 
gabe der  Verwirklichung  aufgesteUt  werden?  Diese  Frage  be- 
zieht sich  jetzt  nicht  mehr  auf  die  Möglichkeit  der  Verwirklichung, 
sondern  darauf,  was  dieses  Ziel  für  die  praktischen,  täglichen  Auf- 
gaben bedeuten  kann.  Trifft  dieses  Ziel  ihren  Kern  oder  geht  es 
daran  vorbei  ?  Das  ist  die  Grundfrage  der  Politik :  Ist  eine  idea- 
listische Politik  möglich?  und  die  Grundfrage  des  Idealismus:  Ist 
ein  praktischer,  politischer  Idealismus  möglich?  Idealismus  und 
Politik  müssen  sich  gegenseitig  aneinander  bewähren.  Politik  ist 
die  Einfriedung  endlicher  Gegensätzlichkeiten  mit  endlichen  Mitteln. 
Der  eigentliche  Sinn  des  genossenschaftlichen  Staates  der  Gerech- 
tigkeit ist  aber  der,  die  Politik,  d.  h.  die  Anwendung  von  äußeren, 
ungeistigen  Zwangsmitteln,  auszuschalten,  weil  sie  der  Gerechtig- 
keit widerspricht,  und  den  poHtischen  Frieden  durch  den  Frieden 
der  Gesinnung,  der  Friedfertigkeit  zu  ersetzen.  Gerechtigkeit  ist 
die  Gleichheit  aller  vor  dem  Unendlichen.  Mit  politischen  end- 
lichen Mitteln  läßt  sich  also  der  Zustand  der  Gerechtigkeit  nicht 
verwirklichen. 

Allein  die  Gesinnungsgemeinschaft  kann  auch  nicht  als  un- 
endliche Aufgabe  die  Aufgabe  der  Erziehung,  d.  h.  der  Befreiung 
des  reinen  Willens  sein.  Denn  die  Befreiung  verlangt  die  Ab- 
schaffung aller  Mittel  zwangsmäßiger  Willensunterdrückung,  die 
zur  Sicherung  der  sozialen  Ordnung  notwendig  sind,  solange  das 
Ideal  der  Gerechtigkeit  noch  nicht  voll  verwirklicht  ist.  Da  aber 
dieses  Ideal  als  unendliche  Aufgabe  nie  verwirklicht  werden  kann, 
so  kann  auch  die  Politik  nie  vollständig  durch  Erziehung  ersetzt 
werden.    Menschliche  Gemeinschaft  ist  nur  entweder  durch  politi- 


Politik  und  Idealismus.  67 

sehe  Zwangsmittel  oder  durch  die  reine  ungetrübte  Freiwilligkeit 
aller  Glieder  möglich.  Es  ist  aber  nicht  möglich,  auf  politische 
Mittel  zu  verzichten,  solange  die  Gesinnungsgrundlage  psycholo- 
gisch nicht  verwirklicht  ist,  da  sonst  ein  Zwischenzustand  ent- 
steht; der  Staat,  der  allen  Zwang  beseitigen  und  sich  auf  die 
Erziehung  verlassen  wollte,  würde  rettungslos  in  völlige  Anarchie 
geraten.  Also  ist  menschliche  Gemeinschaft  nicht  möglich  ohne 
Politik.  Die  politische  Aufgabe  des  genossenschaftlichen  Staates 
ist  schon  als  Aufgabe  falsch  gestellt. 

Das  bis  jetzt  gewonnene  Ergebnis  ist  das,  daß  der  genossen- 
schaftliche Staat  des  Ideal-Sozialismus,  der  auf  politische  Zwangs- 
mittel verzichtet  und  sich  organisch  von  unten  her  auf  der  Gresin- 
nungsgrundlage der  Individuen  aufbaut,  nicht  bloß  ein  in  weiten 
Fernen  liegendes,  aber  doch  sinnvolles  und  mögliches  Ziel  ist,  son- 
dern daß  er  grundsätzlich  unmöglich  ist,  weil  er  als  reale  psycho- 
logische Grundlage  die  transzendentale  Idee  des  Individualismus 
voraussetzt.  Das  Persönlichkeitsideal  des  Individualismus  ist  eine 
grundsätzliche  Möglichkeit  und  daher  Aufgabe  nur  für  den  Ein- 
zelnen; da  es  aber  von  keinem  einzigen,  geschweige  von  allen 
Menschen  voll  verwirklicht  wird,  ist  es  keine  mögliche  Grundlage 
für  den  Aufbau  der  Gemeinschaft.  Alle  bisherigen  Umwege  des 
Gedankenganges  waren  nur  zu  dem  Zwecke  notwendig,  die  Un- 
möglichkeit der  individualistischen  Gemeinschaft  nicht  bloß  als 
Erfahrung  zu  behaupten,  sondern  theoretisch,  schon  in  der  Frage- 
stellung, zu  beweisen.  Etwas  beweisen  heißt  es  in  den  Zusammen- 
hang eines  Ganzen  einstellen.  Das  Ganze  ist  das  Verhältnis  des 
transzendentalen  und  des  psychologischen  Subjektes ;  der  sprin- 
gende Punkt  des  Beweises  ist  der  Nachweis,  daß  der  Individua- 
lismus nur  Sinn  hat  in  Bezug  auf  den  Einzelmenschen,  daß  er 
für  das  Uberindividuelle  nichts  bedeutet,  und  daß  nicht  alle  Ge- 
setzlichkeit individuelle  Gesetzlichkeit  ist.  Das  führte  dazu,  — 
gegenüber  dem  individualistischen  Sozialismus  unserer  Zeit  und 
gegenüber  allen  aus  dem  Individualismus  entspringenden,  pazifisti- 
schen Hoffnungen  auf  die  Möglichkeit  einer  „Welt  ohne  Politik"  — 
die  Notwendigkeit  der  Politik  zu  behaupten. 

Was  ist  nun  aber  das  Wesen  des  Politischen?  Das  Bereich 
der  Politik  ist  ganz  allgemein  das  des  Uberindividuellen.  Zur 
Politik  gehören  einmal  die  statischen  Elemente  der  staatlichen 
Ordnung  überhaupt,  die  unbewegliche,  die  Individuen  vergewalti- 
gende Form  des  Staates,    und  weiterhin  die  Mittel    der  Aufrecht- 


68  Hermann  Herrigel, 

erhaltung  dieser  Ordnung.  Es  ist  zu  beachten,  daß  beim  politi- 
schen Aufbau  die  statischen  Elemente  des  beharrenden  Zustandes 
und  die  dynamischen  der  Zwangsausübung  auseinandertreten,  wäh- 
rend der  genossenschaftliche  Aufbau  in  seiner  Dynamik  beides 
vereinigt  und  auf  die  überindividuelle  Statik  verzichtet.  Ebenso 
wie  theoretisch  ein  rein  dynamisches  Gemeinwesen  denkbar  ist, 
läßt  sich  auch  eine  in  sich  geschlossene  Theorie  einer  rein  stati- 
schen Gemeinschaft  aufstellen.  Der  grundsätzliche  Unterschied 
zwischen  beiden  besteht  darin,  daß  im  dynamischen  Gremeinwesen 
das  Primäre  die  individuellen  Kräfte  sind,  während  die  formale 
Struktur  in  sich  keinen  selbständigen  Bestand  hat,  sondern  sich 
in  jedem  Augenblick  verändert  und  nach  dem  jeweiligen  Verhältnis 
der  Kräfte  neu  gestaltet.  Dagegen  beruht  der  Bestand  des  stati- 
schen Systems  vollständig  auf  der  Eigengesetzlichkeit,  der  inneren 
Konstruktion  der  für  sich  bestehenden  Form,  durch  die  den  In- 
dividuen ihre  Stelle  im  Ganzen  angewiesen  und  der  Spielraum 
ihres  Willens  bestimmt  ist.  Die  dynamische  Gemeinschaft  ver- 
langt also  die  dauernde  Aktivität,  die  statische  die  Passivität  der 
Individuen.  In  jener  sind  die  lebendigen  Individualkräfte  die  Be- 
dingung der  Erhaltung,  in  dieser  zerstörende  Auflehnung  gegen 
die  überindividuelle  Form.  Form  ist  dem  Individuum  gegenüber 
dasjenige,  worin  das  Individuelle  aufgehoben  ist,  eine  übergeord- 
nete Einheit,  innerhalb  welcher  die  Individuen  nur  gleichartige 
Teile  sind.  Über  der  Gesamtheit  der  Individuen  steht  ein  abso- 
lutes d.  h.  von  den  Individuen  losgelöstes  Gesetz,  das  jedem  seine 
Funktion  im  Ganzen  vorschreibt,  ebenso  wie  der  Baumeister  die 
innere  Dynamik  von  tragenden  und  getragenen  Teilen  des  Bau- 
werkes ordnet.  Daher  ist  die  Bedingung  der  Möglichkeit  der 
dynamischen  Gemeinschaft  die  Freiheit  der  Glieder,  die  Bedingung 
der  statischen  Gemeinschaft  der  zwingende  .und  die  Individuen 
unterdrückende  Wille  des  Gesetzgebers.  Wenn  diese  Bedingung 
erfüllt  ist,  hat  das  statische  Gemeinwesen  in  sich  dieselbe  Sicher- 
heit wie  die  dynamische  Gemeinschaft  der  freien  Individualkräfte. 
Aber  diese  Bedingung  ist  empirisch  ebenso  unmöglich  wie  der 
Individualismus  und  die  Übertragung  dieser  Theorie  auf  die  Wirk- 
lichkeit macht  denselben  Fehler  des  Übertritts  aus  der  transzen- 
dentalen Sphäre  in  die  psychologische  wie  der  Sozialidealismus. 
Es  steht  mit  dem  gegensätzlichen  Wesen  des  Menschen  im  selben 
Widerspruch,  ihn  zur  reinen  Passivität  zu  unterdrücken  wie  reine 
Aktivität   von    ihm    zu   fordern.     Die   falsche  Voraussetzung   des 


Politik  und  Idealismus.  69 

Sozialidealismus  ist  nicht  nur  die,  daß  der  Mensch  gut,  sondern 
daß  er  nur  gut  ist,  die  des  Sozialmechanismus  dagegen,  daß  er 
nur  böse  ist.  Die  Theorie  des  Sozialmechanismus  sollte  indessen 
nur  die  politischen  Kräfte  in  ihrer  Reinheit  zeigen.  Im  genossen- 
schaftlichen Staat,  in  der  reinen  Demokratie,  die  auf  der  gleichen 
Aktivität  aller  Bürger  beruht,  ist  jeder  Bürger  in  gleicher  Weise 
politisches  Subjekt.  Damit  fällt  der  politische  Gegensatz  zwischen 
der  Zentralbehörde  als  der  Trägerin  der  Macht  und  den  Einzelnen, 
die  dem  Druck  der  Macht  ausgesetzt  sind,  weg;  die  Überwindung 
dieses  Gegensatzes  zwischen  Machtsubjekt  und  Machtobjekt  ist  das 
letzte  Ziel  der  pazifistischen  Bestrebungen  der  Abschaffung  der 
Politik.  Umgekehrt  ist  im  mechanischen  Staat,  der  auf  der  Passi- 
vität seiner  Glieder  beruht,  und  die  gesamte  politische  Aktivität 
in  einem  Gegenpunkt  vereinigt,  der  Gegensatz  zwischen  der  Obrig- 
keit und  den  Untertanen  aufs  schärfste  ausgebildet.  Das  innere 
Problem  der  Demokratie  ist  es,  den  stets  vorhandenen  Rest  von 
Passivität  durch  Erziehung  auszugleichen,  das  des  Obrigkeitstaates 
dagegen,  die  Aktivität  zu  bekämpfen.  Hier  kommen  daher  die 
spezifisch  politischen  Mittel  zu  ihrer  reinsten  Ausbildung.  Der 
Kampf  zweier  entgegengesetzter  Kräfte  ist  der  eigentliche  Ort 
der  Politik.  Politik  ist  daher  ihrem  Wesen  nach  Machtpolitik. 
Politik  ist  ungeistig,  sie  kennt  nur  physisch- vitale  Kräfte  und  nur 
mechanische  Mittel  ihrer  Führung  und  Bewältigung.  Erziehung 
dagegen  ist  Menschenführung  mit  geistigen  Mitteln. 

Es  ist  ausdrücklich  zu  bemerken,  (um  auch  etwa  nur  mögliche 
Mißverständnisse  von  vornherein  abzuwehren),  daß  es  sich  hier  nur 
um  grundsätzliche  Erkenntnisse  handelt  und  daß  damit  keineswegs 
ein  machtpolitisches  Ideal  vertreten  werden  soll.  Damit  würde 
derselbe  theoretische  Fehler  gemacht,  um  dessen  Widerlegung  diese 
Ausführungen  bemüht  sind.  Sie  sind  in  doppelter  Weise  gegen 
die  Verquickung  von  Politik  und  Idealismus  gerichtet,  sowohl 
gegen  die  Realpolitiker,  die  das  Recht  durch  die  Machtverhältnisse 
bestimmen  wollen,  als  auch  gegen  die  idealistischen  Politiker,  die 
sich  durch  ihre  Forderungen  den  Blick  für  die  realen  Voraus- 
setzungen trüben  lassen. 

Das  letzthin  Entscheidende  ist  vielmehr  das,  daß  weder  das 
genossenschaftlich-demokratisch-föderalistische,  noch  das  zentralisti- 
sche  Staatsideal  politisch  möglich  ist.  Dabei ,  handelt  es  sich  aber 
nicht  mehr  bloß  um  die  Unmöglichkeit  der  praktischen  Verwirk- 
lichung eines  Zieles,   das  seinem  Wesen  nach   unendliche  Aufgabe 


70  Hermann  Herrigel, 

ist,  sondern  nm  eine  falsche  Stellung  des  politischen  Grund- 
problems.  Politik  fassen  wir  hier  so  weit,  daß  ihre  eigentliche 
Aufgabe  ganz  allgemein  die  Verwirklichung  der  menschlichen 
Gemeinschaft  ist,  gleichviel  um  welche  Gemeinschaft  es  sich  dabei 
handelt,  um  die  Ehe,  um  den  Verein,  um  die  Kirche  oder  um  den 
Staat.  Verwirklichung  ist  ihrem  Wesen  nach  eine  endliche  Auf- 
gabe ;  unendliche  Möglichkeiten  reichen  aber  praktisch  nicht  aus 
für  eine  endliche  Aufgabe,  sie  erfordert  vielmehr  ein  eigenes 
Prinzip,  das  die  unendlichen,  d.  h.  ins  Unendliche  strebenden 
Kräfte  zusammenschließt  und  begrenzt.  Das  politische  Problem 
ist  daher  das  des  Finitismus.  Der  Idealismus  stellt  die  Frage 
nach  der  absoluten  Einheit  aller  Gegensätzlichkeit,  nach  der  Ein- 
heit „überhaupt".  Jede  Frage  nach  einem  Überhaupt  ist  aber  nur 
eine  methodische,  keine  des  Ziels.  Die  absolute  Einheit  ist  als 
unendliche  ein  problematisches  Postulat,  das  nur  im  Transzenden- 
talen „wirklich"  ist.  Sie  ist  selber  nicht  zu  verwirklichen,  son- 
dern ist  nur  die  transzendentale  Bedingung  aller  verwirklichten 
Einheiten  des  Endlichen.  Die  politische  Einheit  muß  aber  ver- 
wirklicht werden  und  sie  kann  nur  eine  begrenzte  und  begren- 
zende Einheit  endlicher  psychologischer  und  nicht  transzendentaler 
Subjekte,  d.  h.  reiner  Individuen  sein.  Als  solche  hat  sie  aber 
eine  andere  innere  Struktur  als  die  absolute  Einheit,  denn  sie 
hebt  die  Gegensätzlichkeit  nicht  völlig  auf,  sondern  vereinigt 
Gegensätze  in  sich,  die  als  solche  voll  erhalten  bleiben.  Damit 
ist  das  politische  Problem  der  G-emeinschaft  gegeben.  Der  Sozial- 
idealismus geht  daran  vorbei,  weil  er  es  schon  als  gelöst  voraus- 
setzt. Dieses  Problem  ist  kein  methodisches,  sondern  ein  inhalt- 
liches ;  keines  der  „Grund-richtung"  des  Willens,  sondern  der 
Willenseinschränkung  und  -bestimmung  durch  ein  vorher  gegebenes 
und  feststehendes  Ziel.  Es  muß  die  realen  Gegensätze  der  psy- 
chologischen "Willenstendenzen,  aktiver  und  passiver  Kräfte,  in 
ihrer  vollen  Schärfe  anerkennen,  um  sie  in  einer  friedlichen  Ein- 
heit zu  versöhnen,  nein  nur  zusammenzuhalten.  Reale  Gegensätze 
können  an  sich  nur  gegeneinander  kämpfen,  sie  vermögen  aber 
auf  keine  "Weise  ihre  Einheit  aus  sich  zu  erzeugen.  Die  politische 
Gemeinschaftsbildung  besteht  darin,  sie  auf  einen  konkreten  Punkt 
zu  vereinigen ;  nicht  aber  wie  der  Sozialidealismus  will,  sie  gleich- 
zurichten, so  daß  sie  in  vollkommener  Parallelität  jeden  Angriffs- 
punkt verlieren.  Menschliche  Gemeinschaft  ist  nur  möglich  in 
einer  endlichen,  unabhängig  vom  Willen  der  Individuen  bestehenden 


Politik  und  Idealismus.  71 

Gemeinschaftsform.  Das  ist  eine  unabweisliche  Folgerung  unserer 
Ausführungen,  durch  die  alle  individualistischen  Gemeinschafts- 
theorien endgültig  widerlegt  sein  sollten. 

Damit  ist  die  allgemeine  politische  Aufgabe  gewonnen,  aber 
es  bleibt  noch  die  Frage,  wie  die  Gemeinschaftsform  beschaffen 
sein  muß.  Auch  dafür  gilt,  daß  nicht  eine  absolute  Einheit  schon 
vorausgesetzt  und  auf  Grund  der  Voraussetzung  gefordert  werden 
darf,  sondern  daß  die  reale  innere  Struktur  der  Aufgabe  die  Lö- 
sung bestimmen  muß.  Unter  „Struktur"  ist  die  besondere  Art 
der  zu  bewältigenden  Gegensätzlichkeit  zu  verstehen,  doch  ohne 
ihren  jeweiligen  psychologischen  Inhalt.  Die  Gemeinschaftsform 
darf  weder  eine  allgemeine  Eiuheitsform  sein,  die  die  Struktur 
unberücksichtigt  läßt,  noch  darf  sie  die  bloße  Funktion  der  empi- 
rischen Willenstendenzen  sein.  Wie  der  Begriff  der  Struktur 
zwischen  dem  Transzendentalen  und  dem  Psychologischen,  zwischen 
der  reinen  Form  und  der  Lebensbewegtheit  des  Augenblicks  liegt, 
so  ist  die  konkrete  politische  Aufgabe,  das  rechte  Verhältnis  zu 
finden  für  die  Formelemente  und  die  empirischen  Kräfte.  Form 
allein  macht  keine  Gemeinschaft  aus,  weil  ihr  die  Füllung  fehlt; 
die  psychologischen  Kräfte  sind  aus  sich  unfähig,  eine  Gemein- 
schaft zu  bilden,  weil  sie  sich  nicht  begrenzen  können,  und  weil 
sie,  jede  für  sich,  nicht  die  gemeinsame  Form  finden  können.  Die 
Form  braucht  für  ihren  Bestand  den  Gemeinschaftswillen,  die 
Willenstendenzen  brauchen  für  ihre  Befriedung  die  Gemeinschafts- 
form. Die  Form  ist  das  passive,  der  Wille  das  aktive  Element 
der  Gemeinschaft.  Vor  der  Form  sind  alle  gleich,  in  ihrem  Willen 
sind  alle  frei:  die  Gemeinschaft  ist  nicht  die  Koinzidenz  von 
Freiheit  und  Gleichheit,  sondern  ihre  gegenseitige  Erfüllung  und 
Begrenzung.  Die  politische  Aufgabe  ist  daher  das  richtige  Ver- 
hältnis von  Freiheit  und  Gleichheit. 

Da  die  politische  Problemstellung  hier  grundsätzlich  von  der 
realen  Struktur  der  Aufgabe  abhängig  gemacht  worden  ist,  so 
könnte  es  scheinen,  daß  damit  die  Möglichkeit  der  Verwirklichung 
„idealistischer"  Ziele  in  der  Politik  überhaupt  bestritten  und  somit 
eine  rein  realistische  Politik  gefordert  sei.  Das  ist  aber  nicht 
der  Fall.  Realistisch  ist  eine  Politik  dann,  wenn  ihre  Zielsetzung 
ausschließlich  durch  die  psychologisch-empirischen  Inhalte  bestimmt 
ist,  während  hier  nur  gefordert  wurde,  daß  die  psychologischen 
Kräfte  als  solche,  ohne  ihren  Inhalt,  in  die  politische  Aufgaben- 
stellung eingesetzt   werden.     Andererseits  ist  der  Idealismus  nur 


72  Hermann  Herrigel, 

soweit  abgelehnt  worden,  als  transzendentale  Bedingungen  in 
psychologische  Forderungen  und  Voraussetzungen,  und  damit  psy- 
chologische Kräfte  in  idealistische  umgedeutet  wurden,  wie  es 
im  Sozial-Idealismus  geschieht.  Der  Individualismus  erwies  sich 
als  unfähig,  idealistische  Ziele  politisch  zu  verwirklichen,  weil  er 
seinem  Wesen  nach  nur  ein  persönliches  Vollkommenheitsideal 
darstellt,  und,  da  dieses  nicht-  von  allen  gleichmäßig  erreicht 
werden  kann,  ideale  Ziele  nicht  über  das  Individuum  hinaus 
zur  Geltung  zu  bringen  vermag.  Die  Möglichkeit  der  Verwirk- 
lichung idealistischer  Forderungen  im  politischen  System  liegt 
daher  nicht  im  Individuum,  sondern  in  der  Gemeinschaftsform. 
Erziehung  und  Politik  sind  an  sich  nur  Methoden  der  Menschen- 
führung, mit  denen  noch  kein  Ziel  gegeben  ist.  Die  individua- 
listische Erziehung  lehnt  ein  von  vornherein  feststehendes  Ziel 
überhaupt  ab  und  sieht  ihre  Aufgabe  darin,  das  psychologi- 
sche Subjekt  aus  seiner  Gegensätzlichkeit  zum  transzendentalen 
Quellpunkt  des  Geistes,  zur  Individuität  zurückzuführen,  da  alle 
geistigen  Ziele  potentiell  in  der  Individuität  angelegt  sind  und 
nur  erschlossen  werden  müssen.  Allein  selbst  wenn  das  psycho- 
logische Subjekt  zum  transzendentalen  sublimiert  werden  könnte, 
wäre  damit  noch  nicht  die  Möglichkeit  der  Verwirklichung  des 
Geistigen  gegeben,  da  Verwirklichung  Gestaltung,  d.  h.  Begren- 
zung, Verendlichung  bedeutet.  Das  ist  nur  möglich  in  einer  über- 
individuellen Gemeinschaftsform,  die  die  individuellen  Energien 
nicht  völlig  unterdrückt,  sondern  sie  nur  auf  ein  gemeinsames 
Ziel  vereinigt.  Die  Gemeinschaft  ist  indessen  an  sich  noch  kein 
geistiges  Ziel.  Denn  wenn  die  Gemeinschaftsform  Selbstzweck 
ist  wie  im  „weltlichen  Staat",  dann  ist  der  Staat  nur  eine  Or- 
ganisation seiner  vitalen  Einzelkräfte  zu  einem  einheitlichen 
Machtsubjekt  und  seine  Politik  ist  notwendigerweise  reine  Macht- 
politik. Daran  ändert  es  nichts,  wenn  der  Staat,  wie  Treitschke 
gegenüber  Macchiavelli  fordert,  seine  Macht  verwendet  „für  die 
höchsten  Güter  der  Menschheit",  denn  geistige  Politik  in  diesem 
Sinne  gibt  es  nicht ;  sie  ist  nach  innen  Mechanisierung,  nach  außen 
Individualismus.  Die  einzige  Möglichkeit  der  politischen  Verwirk- 
lichung idealer  Aufgaben  ist  vielmehr  die,  daß  die  Gemeinschafts- 
form selber  die  Idee  in  sich  aufnimmt,  so  daß  die  auf  die  Er- 
haltung der  Form  gerichteten  Kräfte  durch  sie  hindurch  und 
durch  ihre  Vermittlung  auf  die  ideale  Aufgabe  gerichtet  werden. 
Das    führt   nun    zum  Letzten:    Die  Gemeinschaftsform   muß,    um 


Politik  und  Idealismus.  73 

nicht  nur  ein  mechanisches  System  zu  sein,  einen  geistigen  Inhalt 
haben.  Das  heißt,  sie  muß  „Autorität"  sein.  Autorität  läßt  sich 
nicht  mit  Gewalt  einsetzen  und  mit  politischen  Mitteln  erhalten; 
Autorität  steht  aber  auch  ihrem  Wesen  nach  über  den  indivi- 
duellen psychologischen  Subjekten;  sie  ist  nicht  eine  Funktion 
ihres  Gemein  willens,  sondern  die  Einzel  willen  schließen  sich  zum 
Gemeinwillen  zusammen,  indem  sie  ihr  dienen.  Nur  die  Autorität 
ist  gemeinschaftbildend.  4 


Zur  Psychologie  der  Weltanschauungen1). 

Von  Jona»  Colin. 


Das  Werk  von  Jaspers  bietet  der  nachprüfenden  Betrachtung 
eine  Mehrheit  von  Ansichten.  Es  enthält  im  Kerne  ein  Haupt- 
stück verstehender  Psychologie,  eine  nachfühlende  Schilderung  der 
Weltanschauungen  als  des  Ausdrucks  und  der  Lebensformen  be- 
stimmter geistiger  Typen.  Aber  mit  dieser  mehr  deskriptiven 
Aufgabe  begnügt  sich  Jaspers  nicht;  er  geht  von  den  offen  lie- 
genden Weltanschauungen  zurück  auf  die  sich  in  ihnen  auswir- 
kenden Kräfte,  die  er  mit  bemerkenswerter  Fortbildung  kantischer 
Lehren  „Ideen"  nennt,  und  auf  das  unfaßbare  „Leben",  das  alles 
trägt  und  erzeugt.  Als  kritischer  Denker  erstrebt  er  dann  Ver- 
ständnis seines  eigenen  Tuns ;  daher  enthält  das  Buch  Beiträge  zu 
der  Analyse  des  Verstehens,  das  die  Methode  seines  Forschens 
bildet,  und  der  Dialektik,  mit  deren  Hilfe  seine  Darstellung  sich 
des  „Lebens"  zu  bemächtigen  sucht.  Dieses  Bemühen  um  Erkenntnis 
und  Einordnung  seiner  Arbeit  beschränkt  sich  aber,  wie  billig, 
nicht  auf  den  Weg,  sondern  wendet  sich  auch  den  Zielen  zu.  Er 
bemüht  sich,  seine  Aufgabe  als  wertfreie  Betrachtung  der  Welt- 
anschauungen abzugrenzen  gegen  die  „prophetische"  Philosophie, 
die  Weltanschauung  geben  will,  und  ihr  im  Ganzen  der  Psycho- 
logie und  zum  Granzen  der  Philosophie  ihre  Stelle  anzuweisen.  Je 
nach  der  Seite,  von  der  aus  man  das  Werk  ansieht,  verschiebt  sich 
die  relative  Wichtigkeit  der  Teile;  man  gerät  in  Gefahr,  Wesent- 
liches zu  übersehen  und  die  Bedeutung  des  Werkes  ungenügend 
zu  würdigen.  Daher  seien  im  Folgenden  die  vier  genannten  An- 
sichten nacheinander  vorgeführt. 

Die  leitende  Idee  des  Buches  ist  die  eines  geordneten  Systems, 

1)  Jaspers,  Karl,  Psychologie  der  Weltanschauungen.  Berlin,  Julius 
Springer,  1919,  XII  u.  428  S.  Die  Besprechung  wurde  geschrieben,  ehe  Hein- 
rich Rickert's  Abhandlung:  Psychologie  der  Weltanschauungen  und  Philosophie 
der  Werte  (Logos  IX,  1,  1920)  und  dessen  Buch:  Philosophie  des  Lebens,  Tü- 
bingen 1920  erschienen  war.  Es  war  daher  leider  nicht  möglich,  diese  Arbeiten 
zu  berücksichtigen. 


Jonas  Cohn,  Zur  Psychologie  der  Weltanschauungen.  75 

eines  „Kosmos  der  Weltanschauungen"  (22).  Eine  Aufgabe,  die 
sich  schon  Dilthey  stellte,  wird  in  umfassenderer  Art  zu  lösen  ge- 
sucht. Unter  „  Weltanschauung u  versteht  dabei  J.  kein  nur  contem- 
platives  Verhalten,  sie  ist  vielmehr  das  Ganze  aus  Wissen,  Wer- 
tungen, Impulsen,  in  dem  sich  „das  Letzte  und  das  Totale  des 
Menschen  sowohl  subjektiv  als  Erlebnis  und  Kraft  und  Gesinnung 
wie  objektiv  als  gegenständlich  gestaltete  Welt"  darstellt  (1). 
Eine  Weltanschauung  kann  nun  dem  Menschen  selbstverständlich 
gegeben  sein,  er  kann  schlicht  in  ihr  leben,  wie  das  in  gebundenen 
Zeiten  und  Kulturen  die  Regel  ist.  Von  diesem  Auftreten  der 
Weltanschauungen,  das  nur  sozialpsychologisch,  nicht  individual- 
psychologisch zu  begreifen  ist,  will  J.  nicht  reden.  Erst  wo  die 
überlieferten  Bindungen,  Beschränkungen,  Heimaten  (alles  was  J. 
„Gehäuse"  nennt)  sich  auflösen,  tritt  das  Leben  ein,  das  Gegen- 
stand einer  Weltanschauungspsychologie  des  Individuums  sein  kann 
(248).  Dabei  zeigt  sich  das  Leben,  die  „Idee"  der  Weltanschauung, 
nur  in  wenigen  Fällen  ganz  ursprünglich,  stark,  echt;  um  jede 
dieser  „substantiellen"  Weltanschauungen  als  Zentrum  gruppieren 
sich  verwandte  aber  verkümmerte  Gestalten  (27).  Zu  ihnen  ge- 
hören die  „unechten"  Formen.  Das  Unechte  ist  „nicht  Un Wirklich- 
keit aber  Wirkungslosigkeit,  nicht  Lüge  aber  gleichsam  organische 
Verlogenheit"  \32).  Schwindet  die  lebendige  Einheit  von  Form 
und  Gehalt,  so  entstehen  „formalisierte"  Gestalten,  in  der  Kunst 
z.  B.  die  Artistik.  Den  differenzierten  Formen  stehen  vorbereitend 
oder  begleitend  undifferenzierte  zur  Seite.  Endlich  kann  an  Stelle 
der  lebendigen  Weltanschauung  die  bloße  Formel  gesetzt  werden, 
der  Fanatiker  behauptet  starr  sein  Credo.  J.  geht  überall  von 
den  echten,  lebendigen,  differenzierten  Gestalten  aus,  sucht  dann 
von  ihnen  aus  die  Prozesse  der  Verkümmerung  zu  verstehen. 

Als  Leitfaden  in  der  Mannigfaltigkeit  der  Weltanschauungen 
und  als  Einteilungsprinzip  dient  das  Urphänomen  der  Subjekt-Ob- 
jekt-Spaltung (22).  Subjekt,  Objekt  und  die  Beziehung  zwischen 
ihnen  sind  aber  nicht  feste  Gebilde,  sondern  nehmen  sehr  verschie- 
dene Gestalten  und  Bedeutungen  an,  die  in  einander  übergehen 
oder  sich  gegen  einander  abgrenzen.  Von  der  Subjektseite  her 
gesehen  sind  die  Weltanschauungen  „Einstellungen",  von  der  Objekt- 
seite her  „Weltbilder".  Aber  das  sind  bloß  Elemente  —  in  das 
Zentrum  gelangt  man  erst  mit  der  Betrachtung  der  „Geistestypen" 
„die  umfassend  Weltbilder  und  Einstellungen  in  sich  schließen,  die 
nicht  unmittelbar  zu  vergegenwärtigen  sind,  wie  alle  jene  Elemente, 


76  Jonas  Cohn, 

sondern  vielmehr  nnr  als  Bewegnngsprozesse,  als  Totalitäten,  denen 
eine  treibende  Kraft  zu  Grunde  liegt"  (39).  Die  Darstellung 
dieser  Grundlagen,  das  allgemeine  Schema,  ist  der  Gegenstand 
dieses  Buches.  Eine  vollständige  Psychologie  der  Weltanschauungen 
würde  außerdem  noch  zwei  Teile  umfassen ;  der  zweite  Teil  müßte 
diese  Kategorien  in  die  einzelnen  Gebiete  verfolgen,  in  die  Werk- 
sphäre (z.  B. :  Wissenschaft,  Metaphysik,  Kunst,  Religion),  in  die 
Persönlichkeitssphäre  (z.B.:  das  Ethische,  der  Lebenstil,  die  Ge- 
schlechtsliebe), in  die  Sozialsphäre  (z.  B.:  das  Politische).  Der 
dritte  Teil  endlich,  der  konkreteste  würde  auf  Grund  der  in  den 
beiden  ersten  gewonnenen  Begriffe  die  einzelnen  Persönlichkeiten, 
Völker,  Zeitalter,  Zustände  analysieren.  Bier  hätte  Systematik 
keinen  Sinn,  Monographien  müßten  an  ihre  Stelle  treten  (40). 

Bei  der  Einteilung  der  Einstellungen  wie  der  Weltbilder  wird 
in  einer  an  Schelling'sche  Schemata  gemahnenden  Art  von  neuem 
der  Gegensatz  von  Subjekt  und  Objekt  verwendet.  Diesen  Gegen- 
satz vereinigt  dann  eine  dritte  Form  in  eigentümlicher  Weise.  So 
entstehen  gegenständliche,  selbstreflektierte  und  enthusiastische 
Einstellungen,  sinnlich-räumliche,  seelisch-kulturelle  und  metaphy- 
sische Weltbilder.  Die  dritte  Form  sucht  dabei  stets  die  zwei 
ersten  zu  vereinigen,  kann  das  aber  nicht  in  einermfestem  Gebilde, 
sondern  nur  in  lebendiger  Bewegung  leisten ;  dieseT>ynamik  führt 
notwendig  zu  den  Geistestypen  als  Ganzen,  in  denen  sich  die 
lebendigen  Kräfte  oder  „Ideen"  offenbaren. 

Der  begrenzte  Raum  dieser  Zeitschrift  zwingt  mich,  die 
Analyse  auf  die  Geistestypen  zu  beschränken.  Zu  ihrem  Ver- 
ständnis aber  ist  es  nötig,  sich  über  die  Wertungen  begrifflich 
zu  orientieren.  „In  den  Wertungen,  die  die  Kräfte  des  Lebens 
sind,  ist  etwas  Letztes  gegeben.  Warum  jemand  werten  solle,  ist 
auf  keine  Weise  etwa  objektiv  zu  begründen.  Der  Mensch  tut  es, 
sofern  er  lebt;  er  kann  sich  seine  Wertungen  klären,  sie  formu- 
lieren, objektivieren,  aber  erst  müssen  sie  da  sein  und  erfahren 
werden"  (190).  Am  Werte  unterscheidet  J.  (191)  den  „Wertträger" 
und  den  „Wertakzent".  Der  Wertakzent  hat  gegensätzlichen  Cha- 
rakter, tritt  als  Forderung  an  das  Subjekt  heran  und  gewinnt 
mannigfaltige  Gestalten  je  nach  dem  Organ,  an  das  er  sich  wendet, 
(Gefühl,  Urteil,  Wille)  sowie  nach  seinem  eigenen  qualitativen 
Charakter  (Lust,  gesund,  schön,  richtig  u.  s.  f.).  Infolge  dieser 
Verschiedenheit  der  Wertakzente  und  infolge  der  realen  Eigen- 
schaften der  Wertträger  entstehen  Kollisionen  der  Werte,   deren 


Zur  Psychologie  der  Weltanschauungen.  77 

Entscheidungen  sich  in  Rangordnungen  der  Werte  objektivieren  (192). 
In  den  Wert-Kollisionen,  aber  nicht  nur  in  ihnen,  erscheint  das 
Leben  ebenso  als  Wertvernichtung  wie  als  Wertschöpfung.  Diese 
Wertvernichtung  wird  in  unzähligen  Situationen  erfahren,  die  als 
einzelne  zufällig  sein  mögen,  doch  aber  ihrer  Gattung  nach  mit 
dem  Menschsein  notwendig  verknüpft  sind.  Sie  treten  an  den 
Grenzen  unseres  Daseins  auf,  darum  nennt  J.  sie  Grenz  Situa- 
tionen (202).  Ihnen  gegenüber  verzweifelt  der  Mensch,  falls  er 
nicht  —  wie  durchaus  die  Regel  ist  —  irgendwo  seinen  Halt  hat. 
Welches  dieser  Halt  ist,  das  ist  der  charakteristische  Ausdruck 
der  in  dem  Menschen  lebendigen  Kräfte.  Daß  die  Grenzsituationen, 
obzwar  im  einzelnen  Fall  vielleicht  überwindlich,  doch  notwendig 
wiederkehren,  darin  zeigt  sich  die  „  antinomische  Struktur" 
der  Welt  (203).  „Reale  Gegensätze  sind  Antinomien,  wenn  sie  als 
etwas  Letztes  aufgefaßt  werden,  das  vom  Standpunkt  des  Wertens 
aus  als  wesentlich  und  fragwürdig  erscheint,  und  wenn  die  Exi- 
stenz als  im  Letzten  in  Gegensätze  entzweit  gefaßt  wird,  so  daß 
alles  einzelne  Dasein  nur  dann  besteht,  wenn  diese  gegensätz- 
lichen Kräfte  oder  Erscheinungen  sich  zusammenfinden"  (205).  Diese 
Antinomien  sind  „völlig  evidente  Realitäten,  in  denen  wir  leib- 
haftig existieren".  Sie  setzen  das  Erkennen,  dessen  Grenze  sie 
bilden,  zugleich  in  Bewegung.  Dagegen  ist  es  der  Tod  des  Er- 
kennens,  wenn  man  fertig  formulierte  Antinomien  als  Erkenntnis 
ansieht.  Das  Erkennen  lebt  nur  in  konkretem  Fortschreiten  und 
erfährt  die  Antinomien  nur  in  diesem  Fortschreiten  (209).  Die 
Antinomien  können  den  Menschen  zerstören,  sie  können  von  ihm 
umgangen  werden  („er  drückt  sich  um  sie  herum")  oder  er  kann 
in  ihnen  Kraft  gewinnen,  sein  Einheitswille  kann  eine  Synthese 
erreichen.  Aber :  „Die  Synthese  der  Antinomien  existiert  nur  als 
lebendiger  Akt,  unendlich  und  rätselhaft  für  den  Lebendigen  und 
unendlich  auch  für  die  Analyse,  die  der  Betrachtende  daran  ver- 
sucht. Die  Synthese  ist  bloße  Spielerei,  wenn  sie  intellektuell  in 
Formeln  geschieht"  (213). 

Alle  Grenzsituationen  werden  als  Leiden  erlebt.  Der  Re- 
flexion bleibt  die  antinomische  Struktur,  somit  das  Leiden,  das 
Letzte,  während  das  Positive,  die  Lust,  dem  aktiven  Leben  zuge- 
hört, nur  durch  Appell  an  das  Leben  erreichbar  ist  (219).  Auf 
das  Leiden  reagiert  der  Mensch  im  einzelnen  entweder  so,  daß  er 
es  als  vermeidbar,  oder  so,  daß  er  es  als  endgültig  auffaßt.  Das 
erste  geschieht,   wenn   er   dem  Leiden   ausweicht   oder  sich  durch 


78  Jonas  Colin, 

endliches,  technisches  Tun  aus  dem  Leiden  hinausreißt  oder  es  be- 
kämpft in  der  (im  einzelnen  Falle  oft  berechtigten,  im  Ganzen  un- 
möglichen) Hoffnung  es  besiegen  zu  können,  oder  endlich  indem 
er  es  in  ein  Gutes  umformt,  sei  es  im  Ressentiment,  dem  die  eigene 
Unwertigkeit  als  das  Höhere  erscheint,  sei  es  in  der  Rechtferti- 
gung eigenen  Glückes,  wo  das  Leid  anderer  zur  Strafe  wird  (221  f.) 
Diesen  Formen  des  Optimismus  steht  nicht  nur  der  Pessimismus 
sondern  auch  eine  beide  ablehnende  Lebendigkeit  gegenüber  (219  f.). 

Die  Grenzsituationen  zeigen  die  Lage  des  Menschen  als  antino- 
misch,  und  dieser  Tatsache  entspricht  der  sich  immer  wiederholende 
Prozeß  seines  Lebens.  Er  sucht  gegenüber  dem  Zerstörenden 
einen  Halt,  der  zu  einem  festen  „Gehäuse"  wird.  In  ihm  lebt  er 
selbstverständlich,  bis  die  bewußte  Erfahrung  der  Grenzsituationen 
eine  grenzenlose  Dialektik  der  Reflexion  erzeugt.  Dadurch  wird 
das  Gehäuse  aufgelöst,  aber:  „daß  der  Mensch  lebt  und  nicht  zu 
Grunde  geht,  ist  daran  sichtbar,  daß  er  im  Auflösungsprozeß  des 
alten  Gehäuses  gleichzeitig  neue  Gehäuse   oder  Ansätze 

dazu  baut" »Der  Prozeß  dieses  Nachaußensetzens  ist 

das  Leben  selbst"  (249).  Wird  dies  gewußt,  so  kann  der  letzte 
Halt  im  unendlichen  Prozesse  des  Lebens  selbst  gesucht  werden. 
So  entstehen  drei  Grundstrebungen:  ein  Drang  „in  unendlicher 
Verantwortung,  lebendigem  Wachsen  und  Schaffen  zu  erfahren, 
was  das  Dasein  sßi,  und  es  darin  zugleich  selbst  mit  zu  gestalten", 
ein  Drang  ins  Nichts  und  ein  Drang  ins  Gehäuse.  Jede  dieser 
Strebungen  ergibt,  wenn  sie  herrscht,  eine  Reihe  von  Geistestypen, 
die  J.  schildert  unter  den  Titeln:  Skeptizismus  und  Nihilismus, 
der  Halt  im  Begrenzten,  der  Halt  im  Unendlichen.  Es  fällt  zu- 
nächst auf,  daß  die  negativen  Richtungen  vorangestellt  werden, 
während  sie  doch  von  der  Auflösung  der  Gehäuse  leben  —  aber 
die  Reihenfolge  rechtfertigt  sich  aus  der  Einschränkung  auf  indivi- 
duelle Weltanschauungen,  in  der  J.  sich  seine  Aufgabe  stellt.  Denn 
solche  entstehen  erst,  wenn  der  Auflösungsprozeß  sich  in  einer 
Gesellschaft  verallgemeinert. 

Vollständiger  Nihilismus  kann  im  Leben  nicht  existieren; 
so  lange  der  Mensch  lebt,  wird  immer  noch  irgend  etwas  als  positiv 
festgehalten,  etwa  das  nackte  Dasein  einer  sinnlosen  Realität  vom 
praktischen  Materialisten,  der  alle  Werte  negiert  (Wertnihilismus), 
der  Wert  und  Sinn  vom  Buddhisten,  der  die  Realität  als  wert- 
widrig verwirft  (Seinsnihilismus)  (252  f.).  Die  konkreten  Gestalten 
unterscheiden  sich  danach,  ob  der  Mensch  sich  gegen  den  Nihilismus 


Zur  Psychologie  der  Weltanschauungen.  79 

wehrt,  dessen  er  nicht  Herr  werden  kann,  oder  ob  er  mit  dem  Nihilismus 
eins  geworden,  in  ihm  als  in  seinem  Element  existiert  (257). 
Der  Halt  im  Gehäuse  kann  unmittelbar,  naiv  sein  oder  — 
als  Selbsterhaltung  gegen  den  drohenden  Nihilismus  —  willkürlich 
gewählt.  Auch  im  zweiten  Falle  kann  der  Mensch  wirklich  im 
Gehäuse  leben,  ohne  darüber  zu  reflektieren,  aber  er  behält  im  In- 
stinkt Angst  vor  der  Reflexion.  Die  gewachsenen  Gehäuse  des 
Naiven  bilden  sich  um,  sie  sind  lebendig,  die  gewählten  des  Flücht- 
lings sind  fertig,  mechanisch,  tot  (270).  Diese  zweite  Form,  die 
hier  ja  allein  betrachtet  wird,  ist  bei  aller  inhaltlichen  Verschieden- 
heit der  Gehäuse,  zusammengehalten  durch  den  Rationalismus. 
„Der  Rationalismus  ist  der  Geistes typus,  der  im  Begrenzten  und 
Begrenzbaren,  im  Fixierbaren  und  Endlichen  verharrt,  der  mit 
dem  Verstände  alles  faßt  und  darüber  nichts  mehr  sieht"  (271). 
Er  überwindet  sich  selbst,  nicht  durch  bequemen  Verzicht  auf  das 
Begreifen,  sondern  indem  er  sich  bis  zum  Äußersten  erweitert  und 
dabei  seine  Eigenschaften  und  Grenzen  erkennt  (272).  In  das 
echte  Leben  des  Geistes  gehen  Auflösungsprozesse  und  Gehäuse 
ein,  es  ist  aber  selbst  unbeschreiblich ;  denn  alles  Leben  ist  unend- 
lich. Das  gilt  vom  Leben  des  Leibes  gegenüber  jeder,  auch  der 
kompliziertesten  Maschine  und  ebenso  vom  Geiste  im  Gegensatze 
zur  bloßen  Endlosigkeit  chaotischen  Seelenlebens  und  zu  der  End- 
losigkeit oder  Begrenztheit  seiner  einzelnen  Produkte  und  Erschei- 
nungen (289).  Von  solchem  echten  geistigen  Leben  können  wir 
nur  reden,  wo  eine  Richtung  der  Bewegung  in  die  Unendlichkeit 
führt.  Auch  die  Freiheit  des  Geistes  ist  immer  nur  werdend, 
wachsend,  nie  vollendet  da;  sie  erscheint,  wo  ein  Sinn  nicht  als 
äußere  Pflicht  aufgenommen  wird,  sondern  aus  dem  konkreten  Ge- 
halt der  Seele  und  der  bestimmten  Lage  aufleuchtet.  „Frei  sein, 
heißt,  aus  der  Totalität  existieren;  die  Totalität  aber 
soll  erst  werden"  (292).  Der  Prozeß  des  Geistes  hat  irratio- 
nale Wendepunkte,  an  denen,  wenn  auch  nach  langer  Vorbereitung, 
Erwägung  ein  entscheidender  Entschluß  aus  Instinkt  oder  Ein- 
gebung heraus  gefaßt  wird  (294 f.).  Im  Gegensatze  zu*  der  im 
Letzten  immer  relativen  Erkenntnis  tritt  dabei  der  unbeweisbare 
Glauben  an  den  letzten  Sinn  in  irgend  einer  Form  auf.  Auch  der 
Glaube  in  dieser  tieferen  Bedeutung  des  "Wortes  gehört  erst  dem 
Geiste  an,  der  gegenüber  den  Gefahren  des  Negativismus  und  der 
Verengung  in  erstarrten  Gehäusen  seinen  Halt  im  Unendlichen 
sucht.     „Mit  dem  Glauben  ist  dialektischer  Fluß,  unendliche  Pro- 


80  Jonas  Cohn, 

blematik,  Verzweiflung  und  Angst  verbünden,  weil  allem  Leben 
des  Geistes  die  nihilistischen  Bewegungen  ein  Element  und  immer 
eine  Möglichkeit  sind.  Die  Ungeistigkeit  kann  sich  objektiv  sicher 
in  absoluten  Gehäusen  fühlen.  Der  Geist  kann  in  der  Angst  der 
Bewegung  nur  kraft  des  Glaubens  existieren"  (298).  Der  Geist 
„macht  fortwährend  die  Bewegung  zur  Klarheit  und  Durchsichtig- 
keit in  der  Subjekt- Objekt  Spaltung  —  dieser  Klarheitsdrang  ist 
seine  Feindschaft  gegen  alles  Dunkle,  Schwärmerische,  das  im 
Qualm  der  Undurchsichtigkeit  sich  wohl  fühlt  —  aber  er  hat  doch 
zum  Ausgangspunkt,  wie  zum  Ende  das  Mystische"  (305).  Der 
Geist  wird  nun  zuerst  betrachtet  als  auf  dem  schmalen  Grate 
zwischen  Gegensätzen  wandelnd.  Auf  diesem  Grate  erscheinen  als 
Synthesen  die  Gestalten  des  Geistes,  die  Ideen  sind,  der  Realist, 
Romantiker,  Heilige  (381  ff.)  —  von  einander  verschieden  durch  die 
Art  der  Realität,  in  der  sie  leben.  Unter  den  Gegensätzen  sind 
die  wichtigsten  der  zwischen  Chaos  und  Form  und  der  zwischen 
Vereinzelung  und  Allgemeinheit.  Zwischen  Chaos  und  verfestigter, 
erstarrter  Form  gibt  es  ein  Drittes.  Man  erkennt  dies  im  Denken, 
wenn  man  das  Problem  der  Konsequenz  stellt.  Der  Denker  soll 
konsequent  sein,  das  Kompromiß  ist  eine  Schwäche.  Gehäuse 
schafft  nur  der  konsequente  Denker.  Aber  wenn  die  Gehäuse  sich 
lösen,  dann  entstehen  irrationalistische,  fragende,  erregende  Philo- 
sophen. Das  Resultat  eines  solchen  Umschmelzungsprozesses  ist 
eine  antinomische  Synthese.  „Es  ist  keine  formallogische  Synthese, 
die  ein  Kompromiß  ist,  sondern  eine  psychologische,  die  einen 
neuen  Ausdruck  für  Prinzipien  findet,"  .  .  .  (312).  Frühere  Wider- 
sprüche werden  nun  nicht  mehr  erlebt,  dafür  aber  neue ;  denn  die 
Antinomien  bleiben  bestehen.  Es-  gibt  also  dreierlei:  das  Ver- 
fahren logischer  Konsequenz,  das  chaotische  Neben-  und  Nachein- 
ander der  Widersprüche  und  die  Umschmelzung  in  den  Prinzipien. 
Diesen  drei  Verhaltungsweisen  entsprechen  3  Menschentypen:  der 
chaotische,  der  konsequente  und  der  dämonische  Mensch.  Der  Be- 
griff des  „Dämonischen"  ist  dabei  so  erweitert,  daß  auch  Jesus 
unter  ihn  fällt.  Ich  habe  den  Eindruck,  daß  bei  der  sehr  fesselnden 
Schilderung  des  Dämonischen  zwei  Typen  nicht  genug  geschieden 
werden:  der  dämonisch  Getriebene,  dem  es  nirgends  Ruhe  läßt, 
der  sich  im  Fortbilden  aufzehrt,  den  seine  Kraft  beherrscht 
(Kleist,  Nietzsche)  und  der  in  tiefer  Klarheit  Schaffende,  der 
seinen  Dämon  beherrscht  und  im  Weiterschreiten  Qual  und  Glück 
findet,  (Lionardo,  Goethe,  Kant  —  und  wenn  man  ihn  hier  nennen 


Zur  Psychologie  der  Weltanschauungen.  81 

darf:  Jesus).  Im  ersten  ist  tlas  Errungene  nur  Richtung,  Apho- 
rismus, Ausdruck,  einzeln-fragmentarisches  Gebilde,  im  zweiten 
wird  es  zur  lebendigen  Gestalt.  Natürlich  gibt  es  Übergänge,  ja 
vielleicht  gehört  jedes  Genie  des  zweiten  Typs  teilweise  auch  dem 
ersten  an,  sei  es  in  den  Anfängen  (Goethe),  sei  es  gegen  Ende 
seines  Laufs  (Michelangelo),  wie  auch  die  Größten  der  ersten  Art 
mit  einzelnen  Gebilden  in  die  zweite  hinüberreichen.  Wohl  kann 
man  mit  Jaspers  auch  Kants  Werke  „riesenhafte  Fragmente"  (317) 
nennen,  aber  sie  sind  es  doch  in  anderem  Sinne  und  Stile  als  die 
Nietzsches.  Das  dämonische  Leben  soll  nun  in  großen  Philosophien 
als  Lehre  erfaßt  werden.  Hegels  System,  das  hier  das  entschei- 
dende Beispiel  bietet,  scheitert,  wo  es  mehr  als  Betrachtung  sein  will. 
Denn  um  das  Leben  zu  fassen,  muß  es  das  Leben  abgeschlossen  denken 
—  wird  Kontemplation,  verantwortungsloser  Quietismus  (328). 

Um  den  Konflikt  zwischen  dem  Individuum  (dem  Selbst)  und 
dem  Allgemeinen  zu  verstehen  und  die  Geistestypen,  die  in  Kampf 
und  Synthese  sich  ausdrücken,  zu  kennzeichnen,  werden  die  ver- 
schiedenen Arten  des  Allgemeinen  sorgsam  unterschieden.  Ich 
kann  hier  auf  diese  gehaltreichen  Ausführungen  nur  hinweisen. 
Das  Problem  des  Selbst  hat  Kierkegaard  am  tiefsten  erfaßt; 
seine  Sätze  stellt  J.  systematisch  zusammen  (370  ff.). 

Alles  Leben  des  Geistes  enthält  als  Leben  Irrationales,  dem 
von  der  Subjekt-Objekt-Spaltung  noch  ungeteilten  Erlebnisstrome 
Angehöriges.  Dies  Ungespaltene,  das  auch  ganz  banale  Erlebnisse 
umfaßt,  deckt  sich  mit  dem  Mystischen  im  weitesten  Sinne  dieses 
Wortes  (388).  In  unserem  Seelenleben  gibt  es  einen  Prozeß  von 
unklarer  Gemütserfüllung  zu  klarer  Vergegenständlichung  (389), 
alles  vollkommen  Vergegenständlichte  ist  uns  bequemer  Besitz,  damit 
aber  auch  tot  und  langweilig  (390).  Zu  mystischen  im  engeren, 
höheren  Sinne  werden  Erlebnisse  ohne  Subjekt -Objekt- Spaltung 
erst  dadurch,  daß  sie  der  Lebensgrund  sind,  auf  das  gesamte  Seelen- 
leben wirken  (393).  Diese  im  engeren  Sinne  mystischen  Erlebnisse 
können  nun  eine  dreifache  Rolle  spielen :  1.  Drang  zum  Mystischen, 
weil  es  als  solches  spezifische  Befriedigung  gibt,  Mystik  im  engeren 
Sinne ;  Gefahr  sich  im  Ausruhen  abzustumpfen,  in  asketische  Tech- 
niken zu  verlieren,  kulturlos  zu  werden.  2.  Drang  vom  Mystischen 
fort,  das  als*  Schwärmerei  abgelehnt  wird.  Endloses  Denken,  Han- 
deln, Schaffen  in  der  gegenständlichen  Welt.  Positivismus.  Gefahr, 
das  Mystische  ganz  zu  verlieren.  3.  Synthese  beider  Tendenzen: 
aus  dem  Mystischen   geht    der   Drang   zum  Gegenständlichen  und 

KantsUdien.  IXTI.  ö 


82  Jonas  Cohn, 

kehrt  immer  zu  neuem  Mystischen  zurück"  .  .  .  „Durch  die  Un- 
endlichkeit des  gegenständlichen  Tuns,  Denkens,  Schaffens  wird  in 
fortschreitender  Spirale  der  Kreis  immer  weiter,  das  Mystische 
immer  neu,  immer  tiefer,  als  Ausgang  weiterer  Gegenständlichkeit 
(Entfaltung  der  Idee)"  (394).  Die  Ausbildung  des  ersten  Typs  zur  Welt- 
anschauung läßt  sich  an  P 1  o  t  i  n ,  die  des  dritten  an  K  a  n  t  darstellen. 
Überblickt  man  den  Umkreis  der  in  dem  Buche  geschilderten 
Gestalten,  so  fällt  bei  allem  Reichtum,  die  große  Einengung  gegen- 
über Hegels  Phänomenologie  des  Geistes  auf.  Es  fehlen  ja  alle 
„naiven"  Weltanschauungen,  alle,  die  im  „wachsenden  Gehäuse" 
einfach  leben.  Eng  damit  zusammen  hängt  eine  zweite  Ein- 
schränkung der  Aufgabe :  J.  verzichtet  darauf,  die  Weltanschau- 
ungen als  wirkende  Mächte  in  den  Seelen  derer  zu  verfolgen,  die 
sie  nicht  original  hervorbringen.  Man  kann,  seiner  Ausdrucksweise 
nahe  bleibend  sagen:  die  Weltanschauungen  werden  von  ihm  nur 
soweit  betrachtet,  wie  sie  Ausdruck  der  Kräfte  und  Ideen  sind, 
nicht  soweit  sie  selbst  als  kraftbegabte  Wesen  fortwirken  und  sich 
in  ihrer  Wirksamkeit  wandeln.  Nun  ist  solche  Beschränkung  zu- 
nächst einfach  festzustellen ;  denn  jeder  Autor  hat  das  Recht 
sein  Thema  abzugrenzen.  Doch  fragt  sich,  ob  die  Abgrenzung 
nicht  trennt,  was  sich  nur  vereint  verstehen  läßt.  Jeder  der 
großen  Schöpfer  einer  Weltanschauung  steht  unter  dem  Einfluß 
älterer  Gestalten ;  ohne  den  Prozeß  der  Aufnahme  und  Umbildung 
des  Überkommenen  zu  verfolgen,  kann  man  das  Werden  der  Welt- 
anschauungen nicht  vollständig  begreifen.  Wenn  dabei  der  Schöpfe- 
rische überzeugt  ist,  in  einer  überlieferten  Weltanschauung  zu 
leben  (und  das  ist  z.  B.  jeder,  der  sich  als  Christ  fühlt),  dann 
bleibt  auch  der  höchst  Differenzierte  (Kierkegaard  z.  B.  oder  Pascal) 
noch  irgendwie  „naiv".  Es  ist  daher  unmöglich,  den  schöpferischen 
Menschen  ganz  zu  verstehen,  wenn  man  nicht  das  naive  Wachstum 
und,  was  davon  untrennbar  ist,  das  Weiterwirken  der  Weltan- 
schauungen verfolgt.  J.  ist  zu  geneigt,  Originalität  und  Echtheit 
gleich  zu  setzen,  an  anderen  Stellen  (343,  359)  Echtheit  mit  Weite 
und  Klarheit  des  Blickes  zu  verwechseln.  Aber  es  gibt  „echte" 
Jünger,  denen  „Treue  die  Person  wahrt",  ebenso  wie  es  echte 
Dürftigkeit  gibt,  die  gar  nicht  Fülle  sein  will,  und  Undifferenziert- 
heit, die  sich  im  Unklaren,  Verworrenen  echt  auslebt.  Wenn  es 
auch  eine  Psychologie  der  Weltanschauungen  nur  auf  dem  Stand- 
punkt des  modernen,  hochreflektierten  Bewußtseins  geben  kann,  so 
bedeutet  das  doch  nicht,  daß  dieses  Bewußtsein  der  einzige  Gegen- 


Zur  Psj»chologie  der  "Weltanschauungen.  83 

• 
stand  einer  solchen  Psychologie  ist.  Von  hier  aus  kann  man  füg- 
lich auch  in  der  überwiegenden  Benutzung  Nietzsches  und  bes. 
Kierkegaards  eine  gewisse  Einseitigkeit  sehen;  denn  so  groß 
Kierkegaard  als  Psychologe  ist,  sein  Gegenstand  ist  ausschließlich 
der  moderne  Mensch.  Im  übrigen  ist  es  keines  der  geringsten 
Verdienste  des  Werkes,  daß  Kierkegaards  psychologische  Einsichten 
aus  dem  religiösen  und  künstlerischen  Zusammenhange  gelöst  und 
in  ihrer  wissenschaftlichen  Bedeutung  erschlossen  werden. 

Über  die  verstehend-beschreibende  Psychologie  der  Weltan- 
schauungen geht  J.  in  seiner  Ideenlehre  zu  einer  verstehenden  Er- 
klärung fort.  Er  deutet  dafür  Kants  Gedanken  in  eigenartiger 
Weise  und  bildet  sie  weiter  (im  „Anhang").  Die  Idee  hat  ihr  Wesen 
in  der  Totalität  und  Unbedingtheit.  Von  dem  Ganzen  her  gewinnt 
J.  eine  neue  Ordnung  der  Ideen  (413);  denn  dieses  Ganze  kann 
entweder  ein  Ganzes  von  Erfahrungsrichtungen  oder  ein  Ganzes 
von  Erfahrungsinhalten  sein.  So  entstehen  zwei  Klassen  von  Ideen. 
Der  ersten,  den  Ganzheiten  von  Erfahrungsrichtungen  gehören  zu : 
Mechanismus,  Organismus  und  Seele.  Mit  der  dritten  dieser  Ideen 
hat  sich  Kant  nicht  genauer  beschäftigt.  J.  sieht  in  der  Idee 
der  Seele  eine  ganze  Reihe  von  Ideen,  neben  Mechanismus  und  Or- 
ganismus, die  auch  hier  auftreten,  zwei  neue  Formen:  „die  Idee 
des  Ganzen  der  erlebten  und  erlebbaren  Phänomene  oder  die  Idee 
des  Bewußtseins  und  vor  allem  die  Idee  des  Ganzen  der  ver- 
ständlichen Zusammenhänge,  oder  die  Idee  der  Persönlichkeit" 
(417).  Unter  den  Ideen  vom  Ganzen  des  Erfahrungsinhaltes  be- 
handelt J.  nur  die  des  Einzeldings  als  einer  Unendlichkeit  näher. 
Diese  Idee  läßt  sich  auch  auf  die  Persönlichkeit  anwenden,  so  daß 
neben  der  Idee  der  Persönlichkeit  als  Erfahrungsrichtung  eine 
zweite  Idee  der  einzelnen  konkreten  Persönlichkeit  erscheint  (419). 

Man  kann  Ideen  nur  dadurch  erfassen,  daß  man  in  ihnen  lebt, 
theoretische  also  nur  im  Leben  des  Verstandes.  „Der  Verstand 
steht  zwischen  zwei  Irrationalitäten,  ohne  die  er  leer  ist,  die  aber 
ohne  ihn  nichts  sind.  Er  ist  hingewandt  auf  die  Breite  der  An- 
schaulichkeit des  Materialen  und  bewegt  von  den  Kräften  der  Ideen. 
Das  Anschauliche  geht  als  Irrationales  über  den  Verstand  hinaus, 
aber  wird  von  seinen  Begriffen  umfaßt.  Die  Ideen  gehen  über 
den  Verstand  hinaus,  indem  sie  seine  Grenze,  ihn  selber  umfassen  ; 
seine  Begriffe  können  die  Ideen  nicht  einfangen,  sondern  nur  auf 
sie  hinzeigen"  (420).  Abweichend  vom  Kantischen  Sprachgebrauch 
faßt  J.  alles,   was  nicht  Verstand  ist,    als  Anschauung  zusammen 

6* 


84  Jonas  Colin,        . 

und  unterscheidet  dann  eine  materiale,  stoffgebende  Anschauung 
von  einer  ideenhaften,  Kraft  und  Bewegung  gebenden,  die  nur  er- 
lebt, nicht  erfaßt  werden  kann.  Die  Ideen  haben  drei,  von  Kant 
nicht  scharf  getrennte  Bedeutungen,  eine  methodologische,  eine 
psychologische,  eine  metaphysische.  Von  der  ersten  als  der  be- 
kanntesten, braucht  kaum  weiter  geredet  zu  werden.  Als  psy- 
chische Kräfte  geben  die  Ideen  der  Wissenschaft  Richtung  und 
Tiefe.  Sie  sind,  wie  Kant  ausführt,  oft  wirksam,  ohne  erkannt  zu 
sein.  J.  sagt  (422):  „Es  ist  merkwürdig,  daß  wir  in  der  Wissen- 
schaft volle  Durchsichtigkeit  und  Klarheit  wollen  und  daß  doch, 
wenn  diese  bis  zum  Letzten  vorhanden  ist,  unser  Interesse  er- 
lahmt. Wir  wollen  Klarheit,  aber  wir  wollen,  daß  sie  der  teil- 
weise Ausdruck  einer  Idee  sei.  Diese  Idee  ist  in  der  wissenschaft- 
lichen Leistung  als  das  Dunkel  vorhanden,  das  ebenso  sehr  ver- 
ständnislosen Angriffen  ausgesetzt  wie  Bedingung  ihrer  produktiven 
Wirkung  ist".  Die  objektive,  metaphysische  Bedeutung  der 
Ideen  wird  durch  den  negativen  Aufbau  der  transzendentalen 
Dialektik  verhüllt,  in  Nebensatz  und  Anhang  verwiesen.  Aber 
man  könnte  sich  ebensowohl  einen  positiven  Aufbau  der  Dialektik 
denken,  der  das  Negative  in  den  Anhang  bannte  (425).  Die  lo- 
gische richtunggebende  (regulative)  Bedeutung  der  Idee  ist  ihre 
Auswirkung,  nicht  ihr  Wesen.  Zu  den  Ideen  verhalten  sich  die 
Weltanschauungen  als  Äußerungen,  sie  sind  daher,  sobald  man  sie 
formuliert,  nichts  Letztes,  bleiben  relativ.  Die  Ideen  „als  das 
Letzte,  könnten  als  das  Absolute  bezeichnet  werden  (wenn  auch 
nur  für  den  Kreis  der  Betrachtung),  sie  sind  das  Leben  selbst,  das 
nie  ganz  und  gar  äußerlich,  objektiv  wird,  wenn  auch  immer  dahin 
drängt«  (25). 

Die  Beziehung  von  „Idee"  und  „Leben",  die  hier  angedeutet 
ist,  hat  J.  nirgends  genau  bestimmt.  Geht  man  in  Richtung  seiner 
Gedanken  weiter,  so  entdeckt  man  ein  verwickeltes  Netzwerk  von 
Beziehungen,  die  sich  in  zwei  Gruppen  ordnen:  Leben  selbst  ist 
für  das  theoretische  Bewußtsein  „Idee"  und  Idee  ist  Leben  des 
Geistes,  d.  h.  zum  Selbstbewußtsein  strebendes  Leben.  Nimmt 
man  den  letzten  Ausdruck  ernst,  dann  sieht  man  in  allem  Leben 
(mit  Schelling)  die  „Idee"  wirksam  —  die  Natur  wird  als  lebendige 
zur  „Odyssee  des  Geistes".  Von  Schelling  unterscheidet  sich  J. 
durch  seinen  bewußteren  Irrationalismus :  es  wird  anerkannt,  daß 
eine  streng  begriffliche  Darstellung  oder  gar  ein  logischer  Beweis 
hier  nicht  möglich  ist.     Aber  von  anderen  Irrationalisten  hebt  sich 

f 


Zur  Psychologie  der  Weltanschauungen.  85 

J.  dadurch  ab,  daß  er  die  Notwendigkeit  der  Ratio,  die  Pflicht,  so 
weit  möglich  Klarheit  ins  Dunkel  zu  bringen,  erkennt.  Bei  einer 
ganzen  Reibe  von  einander  unabhängiger  Denker  finden  sich  heute 
Ansätze  zu  einer  ihrer  selbst  nicht  ganz  sicheren  Metaphysik  des 
Lebens.  Sie  tritt  bei  Spengler  mit  der  Geste  der  Genialität 
auf,  bei  J.,  der  durch  Lask's  und  Husserl's  Schule  gegangen 
ist,  mit  kritischer  Scheu.  Gr.  Simmel,  der  einer  Erkenntnis  des 
Lebens  bisher  vielleicht  am  nächsten  gekommen  ist,  hat  in  seinem 
Vortrag  „Der  Konflikt  der  modernen  Kultur"  (München  und  Leipzig 
1918)  auch  die  geistesgeschichtliche  Erkenntnis  dieser  Strömung 
am  meisten  gefördert.  Man  wundert  sich,  daß  Simmel  in  J.'s  Buche 
nicht  genannt  wird. 

Da  J.'s  Haltung  bei  aller  Hinneigung  zur  Metaphysik  kritisch 
bleibt,  sucht  er  sich  über  die  Art  und  Tragweite  der  angewandten 
Erkenntnismittel  Rechenschaft  zu  geben  und  sich  innerhalb  der 
Grenzen  zu  halten,  die  sie  ihm  auszufüllen  erlauben,  nur  daß  die 
Grenzen  des  Erkennens  ihm  nicht  Grenzen  des  Lebens  bedeuten 
und  daß  das  Erkennen  selbst,  da  von  Ideen  geleitet,  einen  uner- 
kannten Lebensgrund  in  sich  trägt.  Mittel  des  Erkennens  von 
Weltanschauungen  ist  wesentlich  der  Prozeß,  den  man  „verstehen" 
nennt,  und  um  dessen  Aufhellung  seit  Dilthey  die  Denker  be- 
müht sind,  trotz  aller  feinen  Bemerkungen  noch  ohne  vollen  Er- 
folg. Verstehen  ist  nur  möglich  auf  Grund  eigener  Erfahrung. 
Unsere  weltanschauliche  Erfahrung  aber  ist  ein  Bewegungsprozeß. 
Nur  weil  wir  und  solange  wir  in  dieser  Bewegung  leben,  können 
wir  Psychologie  der  Weltanschauungen  treiben.  Ist  uns  alles  fest 
geworden,  dann  besteht  kein  Interesse  mehr  dafür,  es  sei  denn  als 
für  eine  Psychologie  der  Täuschungen  (7).  Da  verstehende  Er- 
kenntnis aus  eigenem  Erleben  stammt,  ist  sie  nur  nacherlebbar, 
nicht  beweisbar  (13).  Die  Grenzen  der  Geltung  dieses  Satzes  hätte 
J.  finden  müssen,  wenn  er  untersucht  hätte,  wie  sich  die  Einsicht 
in  sachliche  Zusammenhänge  zum  Verstehen  verhält.  Er  hätte 
Anlaß  dazu  gehabt,  da  er  von  dem,  was  Max  Weber  einmal 
„rationales  Verstehen"  genannt  hat,  vielfach  Gebrauch  macht,  z.  B. 
überall  da,  wo  er  die  Antinomik  der  menschlichen  Lage,  das  Un- 
genügende jedes  festen  Gehäuses  heranzieht. 

Häufiger  als  auf  die  Theorie  des  Verstehens  geht  J.  auf  die 
Dialektik  als  auf  ein  Mittel  der  Darstellung  des  Lebens  ein.  Die 
Dreiteilungen,  die  das  Werk  beherrschen,  sollen  nicht  etwa  Ent- 
wicklungsreihen   sein,   sodaß   es   mit   der  Thesis    anfinge,   mit   der 


86  .  Jonas  Colin, 

Synthesis  ende.  „Vielmehr  ist  es  ein  Herumgehen  um  ein  Ganzes, 
das  erst  in  Gegensätzen,  dann  selbst  ins  Auge  gefaßt  wird.  Man 
könnte  ebensogut  sagen,  das  Ganze  stehe  am  Anfang  und  der 
Gegensatz  der  beiden  ersten  Teile  entfalte  sich  daraus"....  „Das 
Greifbare  liegt  immer  im  ersten  und  zweiten  Teil,  hier  liegen  die 
faktischen,  sichtbaren  Mannigfaltigkeiten,  das  Dritte  ist  das  Dunkle" 
(26/7).  Die  dialektische  Folge  ist  eine  bloße  Ordnung  der  Begriffe, 
kein  System  des  Lebens  und  Daseins  selbst.  Die  Dialektik  gibt 
dem  Denken  vor  allem  die  „Bildung"  (69),  d.  h.  sie  ist  unfähig 
Erkenntnisse  zu  schaffen,  weiß  aber  die  Zusammenhänge  der  Be- 
griffe darzustellen  und  damit  die  Erkenntnisse  für  die  Person 
fruchtbar  zu  machen.  Aus  dieser  Umgrenzung  folgt  J.'s  Stellung- 
nahme zu  Hegel.  Er  gibt  zu,  Wesentliches  von  ihm  gelernt  zu 
haben;  aber  da  die  Synthese  dunkel  bleibt,  so  behält  die  einfach 
antinomische  Struktur,  wie  Kant  sie  dargelegt  hat,  neben  der  syn- 
thetischen Form  ihr  Eigenrecht.  Damit  hängt  dann  eng  zusammen 
die  Ablehnung  von  Hegels  These,  daß  Denken  und  Sein  eines  sei ; 
dialektisches  Denken  umkreist  nur  die  Anschaulichkeiten.  Indem 
Hegel  die  Idee  in  der  Dialektik  objektiviert,  tötet  er  sie  (326). 
Wo  Hegel  bloße  Betrachtung  gibt,  ist  er  ungemein  fruchtbar,  wo 
er  als  „prophetischer"  Philosoph  Weltanschauung  lehren  will,  ver- 
sagt er.  Seine  Lehre  ist  nicht  schöpferisch,  sondern  findet  sich 
rechtfertigend  mit  dem  ab,  was  durch  andere  Wirklichkeit  ge- 
worden ist,  wird  „kontemplativer,  verantwortungsloser  Quietismus". 
Darum  wurde  diese  Philosophie  vom  Leben  ausgestoßen. 

Zwei  Sätze,  die  sich  aus  J.'s  Stellungnahme  zur  Dialektik 
entwickeln  lassen,  sind  richtig  und  fruchtbar:  1.  das  dialektische 
Denken  allein  hat  die  Mittel,  den  Lebensprozeß  des  Geistes  dar- 
zustellen. 2.  Der  Formalismus  der  Dialektik  ist  ebenso  wenig 
wie  irgend  ein  anderer  Formalismus  fähig,  aus  sich  heraus  Ein- 
sichten zu  erzeugen.  Freilich,  dieser  zweite  Satz,  als  negativer, 
bedarf  der  positiven  Ergänzung:  es  ist  die  Bedeutung  sowohl  der 
immanenten  Dialektik  wie  der  Selbsterkenntnis  der  Dialektik  für 
das  Erkennen  zu  entwickeln.  Der  erste  Satz  enthält  dazu  nur 
die  Anweisung.  Wenn  J.  sagt,  daß  die  Dialektik  um  das  schaffende 
Leben  des  Geistes  nur  herumgeht,  so  ist  das  erstlich  ein  bloßes 
Bild,  dessen  Wahrheitsgehalt  zu  entwickeln  wäre,  und  zweitens 
erschöpft  es  die  Bedeutung  der  Dialektik  ganz  gewiß  nicht. 

J.  selbst  hat  an  manchen  Stellen  durchaus  nicht  dialektisch 
genug  gedacht,  so  nimmt  er  z.  B.  die  Auflösung  der  Gehäuse  viel 


Zur  Psychologie  der  Weltanschauungen.  87 

zu  wörtlich  —  als  blieben  etwa  nur  die  Materialien  übrig,  während 
in  Wahrheit  gerade  der  Bauplan  sich  in  umgebildeter  Form  erhält, 
solange  überhaupt  noch  Kontinuität  des  Einzellebens  oder  der 
Kultur  besteht.  Ja  Auflösung  befreit  zugleich  wesentlichen  Gehalt. 
Jeder  in  einer  Dialektik  vorkommende  Begriff  ist  dialektisch  zu 
behandeln.  Eine  Theorie  der  Dialektik  hätte  unter  anderem  das 
zu  erweisen  und  durchzuführen.  Sie  hätte  neben  der  Hegel' sehen 
auch  andere  Formen  der  Dialektik  zu  untersuchen.  Auch  ohne 
daß  eine  solche  Theorie  vorliegt,  könnte  z.  B.  von  Schleiermacher 
für  die  Psychologie  der  Weltanschauungen  vieles  gelernt  werden. 
Am  meisten  leidet  darunter,  daß  J.  die  Dialektik  nur  unter- 
geordnet verwendet,  die  Selbsterkenntnis  seines  eigenen  Tuns  und 
seiner  Stellung  in  der  Wissenschaft.  J.  behauptet  immer  wieder, 
daß  er  lediglich  wertungsfreie  Betrachtung  erstrebt.  Er  grenzt 
seine  Aufgabe,  Weltanschauungen  zu  verstehen,  bescheiden  ab 
gegen  das  Ausbilden  einer  Weltanschauung,  das  Sache  der  „prophe- 
tischen Philosophie"  ist,  und  er  verwahrt  sich  mit  dem  ganzen 
Stolze  strenger,  resignierter  Wissenschaftlichkeit  dagegen,  mit  den 
unechten  Surrogaten  einer  prophetischen  Philosophie  verwechselt 
zu  werden,  die  man  heute  überall  herumbietet.  Dem  gegenüber 
sind  der  Psychologie  (auch  der  verstehenden)  die  Werte  lediglich 
Gegenstand.  Natürlich  soll  das  nicht  bedeuten,  daß  der  Psycho- 
loge als  Mensch  sich  des  Wertens  enthält  —  so  wenig  etwa  der 
Botaniker  als  Gärtner  Unkraut  und  Gartenblume  gleich  behandelt. 
Aber  die  Fälle  des  Botanikers  und  des  Psychologen  liegen  nicht 
gleich :  dem  Botaniker  ist  die  Pfllanze  ein  gesonderter  Gegenstand, 
den  er  mit  einer  von  jedem  erlernbaren  Methodik  untersucht,  der 
verstehende  Psychologe  erkennt  mit  seinem  ganzen  Leben  —  der 
Reichtum  nachfühlenden  Verstehens  hängt  von  dem  Reichtum  des 
Eigenlebens  ab.  J.  übersieht  diesen  Einwand  nicht,  er  bemerkt  auch, 
daß  gewisse  Wertungen  sich  schwer  ausschalten  lassen  (z.  B.  S.  154). 
Daß  z.  B.  das  Leben  gegenüber  der  „Unlebendigkeit",  die  „echten" 
Gestalten  gegenüber  den  „unechten"  durch  einen  positiven  Wert 
hervorgehoben  sind,  weiß  J.  natürlich  (vgl.  bes.  280).  Aber  J.'s 
wertende  Stellungnahme  reicht  viel  weiter.  Ganz  deutlich  strebt 
er  einer  Weltanschauung  zu,  die  in  der  vollen,  gestaltenden  Lebendig- 
keit das  Wesentliche  sieht.  „Es  gibt  zwischem  dem  Nihilismus 
und  dem  Gehäuse,  zwischen  dem  Chaos  und  der  Form  ein  Leben 
aus  dem  Ganzen  und  Unendlichen,  das  nicht  kompromißlerisch, 
halb  und  wesenlos  ist"  (308).     Er  weiß,   daß   die  bloße   Bejahung 


88  Jonas  Cohn, 

des  Lebens,  des  Dämonischen  diese  Weltanschauung  noch  nicht 
gibt  (329)  —  aber  welchen  Sinn  hat  diese  Bejahung  als  den  des 
Willens  zu  einer  solchen  Weltanschauung?  Ja  an  mehreren  Stellen 
zeigt  J.  das  volle  Bewußtsein  der  Bedeutung,  die  die  Psychologie 
der  Weltanschauungen  für  die  Erringung  einer  Weltanschauung 
aus  wahrhafter  Anschauung  des  Lebendigen  besitzt.  So  heißt  es 
einmal  von  der  psychologischen  Betrachtung,  sie  sieht  in  der  Kraft 
des  Gehäusebaus  Kraft  des  Lebens  und  damit  das  Wesentliche. 
„Sie  weiß,  daß  sie  selbst  leicht  ein  Faktor  im  Auflösungsprozeß 
ist,  d.  h.  aber  ein  notwendiger  Faktor  im  Leben,  damit  es  immer 
wieder  zur  Entfaltung  komme,  und  d.  h.  eine  Kraft  der  Auflösung, 
der  schließlich  gerade  nur  die  unechten  Gehäusefabrikate  oder  die 
überlebten  Versteinerungen  und  die  kraftlosen,  lebenslosen  Menschen 
anheimfallen,  wie  die  Bakterien  sich  aller  Leichen  aber  nicht  der 
lebendigen  Leiber  bemächtigen.  Sie  darf  erkennen,  daß  sie  zwar 
ihrem  Wesen  nach  selbst  unschöpferisch  ist,  daß  sie  aber  im  Dienst 
des  wachsenden  Lebens  steht,  dem  ein  Schaden  durch  sie  zuzu- 
fügen unmöglich  ist"  (249  f.).  Aber  J.  will  nicht  sehen,  daß  seine 
Wertung  des  Lebens  keineswegs  nur  gelegentlich  mitschwingt, 
sondern  die  Gestalt  seines  Buches  bestimmt.  Ein  Mensch,  der 
überzeugt  ist,  daß  sei  es  eine  bestimmte  gegebene  Form  (z.  B.  die 
des  Katholizismus),  sei  es  das  Leben  in  fester  Form  überhaupt  das 
Rechte  und  Wahre  ist,  würde  nie  von  „Gehäusen"  reden,  die  auf- 
gelöst und  umgebildet  werden.  Wer  das  Leben  negiert,  wie 
Buddha  oder  Schopenhauer,  wird  alle  Erkenntnis  des  Lebens  nur 
als  Mittel  ansehen,  sich  vom  Leben  abzukehren.  Es  ist  auffallend, 
wie  gering  der  Raum  ist,  den  J.  den  negierenden  Geisteshaltungen 
widmet.  Die  strenge  Abkehr  Buddhas  wird  nur  gestreift,  die 
realistische  Verzweiflung  Bahnsens  gar  nicht  erwähnt.  Auch  die 
Ausschaltung  der  naiven  Formen  gewinnt  so  eine  andere  Bedeu- 
tung als  die  ihr  Jaspers  geben  will:  sie  stehen  noch  diesseits  des 
entscheidenden  Prozesses.  Es  könnte  scheinen,  dies  seien  nur 
Mängel  der  Durchführung  seines  Planes.  Aber  daran  wird  man 
irre,  wenn  man  J.  mit  Hegel  vergleicht.  Hegel  hat  in  seiner 
Phänomenologie  ausgesprochen  das  Ziel,  die  höchste  Stufe  des  Be- 
wußtseins zu  erreichen  auf  dem  Wege  des  Durchgangs  durch  die 
ganze  Entwicklung  des  Geistes.  Dabei  kommt  jedes  Entwicklung- 
stadium in  seiner  Eigenart  zu  Recht ;  es  ist  die  Aufgabe  des  Philo- 
sophen, sich  ganz  mit  dieser  Gestalt  zu  vereinigen,  um  sie  aus  sich 
selbst  heraus  zu  überwinden.     J.  will  jede  Gestalt  nur  betrachten 


Zur  Psychologie  der  Weltanschauungen.  89 

—  und  dabei  drängt  er  viele  Gestalten  ganz  in  den  Hintergrund 
zugunsten  weniger,  die  sich  als  Näherungen  an  ein  ihm  selbstver- 
ständliches Ziel  auffassen  lassen.  Es  zeigt  sich:  die  unterdrückte 
uneingestandene  Wertung  ist  viel  schädlicher  für  die  Reinheit  der 
Betrachtung  als  die  eingestandene.  Also,  könnte  man  folgern, 
handelt  es  sich  darum,  die  Wertungen,  die  uneingestanden  bei  J. 
zugrunde  liegen,  ans  Licht  zu  ziehen,  um  sie  unschädlich  zu  machen, 
dann  aber  die  wertungsfreie  Betrachtung  so  rein  wie  möglich  durch- 
zuführen. Man  muß  so  folgern,  wenn  man  J.'s  Auffassung  des 
Wertes  beibehält:  daß  der  Wert  nur  ein  Akzent  ist,  der  auf  die 
Sache  gesetzt  wird  (119),  daß  also  die  Sache  ohne  den  Wert  die 
gleiche  bleibt.  Gewiß  gibt  es  Fälle,  auf  die  diese  Beschreibung 
in  großer  Annäherung  zutrifft.  Ich  lege  keinen  Wert  auf  die 
Schönheit  der  Menschen,  obwohl  ich  diese  Schönheit  als  solche  sehe 

—  ich  lerne  es,  auf  den  Besitz  von  Geld  Wert  zu  legen,  obwohl 
mir  Greld  nach  wie  vor  Mittel  z.  B.  der  Unabhängigkeit  oder  der 
Macht  bleibt,  kein  Eigenwert  wird.  Aber  man  erkennt  an  solchen 
Beispielen,  daß  hinter  der  Schicht,  in  der  „Wertakzente"  äußerlich 
aufgesetzt  werden,  eine  andere  liegt,  in  der  die  einem  Verhalten, 
einer  Sache,  einer  Person  immanenten  Werte  gesehen  werden.  Der 
Begriff  „ Leben Ä,  mindestens  in  dem  Sinne,  in  dem  J.  ihn  braucht, 
ist  in  sich  selbst  werthaltig.  Wer  den  Wert  des  Lebens  negiert, 
der  weigert  nicht  einem  gleichgesehenen  Leben  einen  Wertakzent, 
sondern  er  hat  gar  nicht  den  Begriff  „Leben",  den  J.  voraussetzt. 
Wir  können  nur  aus  einem  Wertganzen  heraus  verstehen;  wir 
verstehen  um  so  besser  je  vollständiger  in  sich,  je  geklärter  dies 
Wertganze  ist.  Die  Ausschaltung  der  Wertungen  behält  ihr  Recht 
überall  da,  wo  eine  vereinzelte  Untersuchung  über  Tatbestände 
geführt  werden  soll.  Der  Einfluß  einer  Geistesrichtung,  die  Macht 
eines  Volkes,  der  Erfolg  einer  wirtschaftlichen  Bewegung  soll  fest- 
gestellt werden  ganz  unabhängig  davon,  wie  wir  uns  wertend  dazu 
stellen.  Solchen  Aufgaben  gegenüber  ist  als  unschädlich  zu  ver- 
nachlässigen, was  an  Werten  schon  in  der  Abgrenzung  der  Tat- 
bestände steckt  —  denn  diese  wird  nicht  untersucht  und  kann 
praktisch  als  zugestanden  betrachtet  werden.  In  der  verstehenden 
Psychologie  kann  zwar  nicht  jeder  Wert  ausgeschaltet  werden, 
wohl  aber  in  begrenzender  Betrachtung  jeder  über  die  gerade  zu 
verstehende  Gestalt  hinausweisende  Wert.  Aber  das  ist  dann  be- 
wußte Vereinzelung  —  und  es  ließe  sich  wohl  zeigen,  daß  diese 
immanente  Betrachtung,   indem  sie  das  ganze  innere  und  äußere 


90  Jonas  Cohn,  Zur  Psychologie  der  Weltanschauungen. 

Verhalten  der  Stufe  nachlebt  und  seine  Konsequenzen  zieht,  auf 
die  Grenzen,  die  übersehenen,  negierten  Werte  führen  müßte.  Die 
Trennung  der  Werte  von  den  Tatbeständen,  so  notwendig  sie  für 
bestimmte  Aufgaben  der  Praxis  und  der  sich  spezialisierenden  Er- 
kenntnis ist,  muß  doch,  wie  jede  Trennung,  vorläufig  bleiben  und 
durch  eine  vollständigere  Besinnung  auf  die  Verbundenheit  der 
Getrennten  überwunden  werden. 

An  einzelnen  Orten  seines  Werkes  nähert  sich  J.  der  echt 
philosophischen  Haltung,  so  überall  wo  er  an  Stelle  eines  ab- 
strakten Begriffes  des  Psychischen  einen  lebensvollen  setzen  will 
(z.  B.  307  Anm.).  Meist  aber  ist  eine  bestimmte  philosophische 
Anschauung  nur  als  unbewußt  treibende  Kraft,  als  latente  Idee, 
wenn  man  «das  Wort  in  seinem  Sinne  gebraucht,  wirksam.  Durch 
den  recht  schiefen  Ausdruck  „prophetische  Philosophie"  —  denn 
was  hat  Descartes,  Leibniz  oder  Kant  mit  „Prophetie"  in  irgend 
einem  Sinne  zu  tun?  —  verhüllt  er  sich  die  Zusammenhänge 
zwischen-  dem  was  er  Betrachtung  und  dem  was  er  Weltanschauung 
nennt.  Die  verschiedenen  Mängel  des  Werkes  hängen  eng  zu- 
sammen :  weil  J.  vor  der  Pforte  der  Philosophie  stehen  bleiben 
will,  während  Philosophie  in  ihm  lebt,  verengt  sich  ihm  durch  un- 
bewußte Wertung  am  falschen  Platze  das  Bereich  der  Betrachtung. 
Weil  er  das  Dogma  von  der  Unmöglichkeit  wissenschaftlicher  Ent- 
scheidung über  Werte  festhält,  statt  die  Dialektik  dieses  Verhält- 
nisses zu  wissen,  setzt  er  vorläufige  Trennungen  als  endgültig  und 
kann  zugleich  den  Wert  nur  als  „Wertakzent"  fassen,  sich  so  den 
Zugang  zur  echten  Wertlehre  verriegelnd.  Das  „Leben"  und  die 
„Dialektik"  bleiben  unverbunden  —  statt,  daß  die  Dialektik  als 
Leben  des  Denkens  und  das  geistige  Leben  als  denkendes  erfaßt 
wird  —  so  daß  als  die  Wahrheit  der  Einheit  von  Sein  und  Denken 
bei  Hegel  sich  die  Idee  einer  Einheit  beider  zeigen  kann. 

J.  hätte  sehr  leicht  ein  viel  einwandfreieres  Buch  schreiben 
können :  er  hätte  nur  unter  Verzicht  auf  die  Erörterung  der  metho- 
dischen Fragen,  der  wissenschaftstheoretischen  Prinzipien  und  der 
philosophischen  Grundlagen  einfach  seine  systematisch  gegliederten 
Schilderungen  zu  geben  brauchen.  Es  ist  zu  rühmen,  daß  er  das 
nicht  getan  hat.  Denn  erst  durch  die  anfechtbaren  Teile  wächst 
das  Werk  hinein  in  die  große  Geistesbewegung  der  Zeit,  nimmt 
es,  besser  gesagt,  Teil  an  der  Arbeit,  die  für  Gegenwart  und  Zu- 
kunft nötig  ist. 


Die  Lorentz-Kontraktion. 

Von  M.  v.  Lane. 


Bei  den  vielen,  sehr  zu  begrüßenden  Versuchen  der  Philo- 
sophen von  Fach,  zur  Relativitätstheorie  Einsteinscher  Prägung 
Stellung  zu  nehmen,  begegnet  man  fast  immer  einem  merkwürdigen 
Mißverständnis  hinsichtlich  der  Rolle  der  Lorentz-Kontraktion.  Es 
erklärt  sich  aus  der  Art,  wie  die  Theorie  zu  dem  Schluß  auf  diese 
Verkürzung  gelangt,  und  findet  seine  besondere  Stütze  in  dem 
Wortlaut  eines  berühmten  Vortrags  von  Minkowski;  denn  danach 
ist  die  Lorentz  -  Kontraktion  in  der  Relativitätstheorie  „  rein 
ein  Geschenk  von  oben".  Wir  hätten  daraufhin  eigentlich  eine 
weit  strengere  Beurteilung  der  Theorie  gerade  von  philosophischer 
Seite  erwartet,  ja  geradezu  ihre  Ablehnung  wegen  mangelnder 
Wissenschaftlichkeit.  Denn  „ein  Geschenk  von  oben",  was  ist  das 
anderes  als  ein  neuer  Ausdruck  für  „ein  Wunder"?  Zum  Glück 
ist  hier  nur  der  angeführte  Wortlaut,  nicht  die  Theorie  selbst  zu 
bemängeln.  Und  dies  möchten  wir  zur  Klärung  des  Sachverhalts 
auch  einmal  an  einer  dem  philosophischen  Leser  zugänglichen  Stelle 
näher  ausführen. 

Wir  haben  es  dabei  zunächst  nur  mit  der  beschränkten  Relativi- 
tätstheorie zu  tun,  der  zufolge  eine  Gruppe  von  Koordinaten- 
systemen für  die  Physik  gleichberechtigt  ist,  die  sich  aus  einander 
mittels  der  bekannten  Lorentz-Transformation  der  Raum-  und  Zeit- 
koordinaten ableiten  lassen.  Sind  K  und  K'  zwei  solche  Systeme, 
und  ruht  in  K'  ein  Körper,  an  dem  irgend  eine  zur  Bewegungs- 
richtung von  K'  gegen  K  parallele  Abmessung  (gegeben  durch  zwei 
Marken  an  dem  Körper)  die  Länge  1°  bezogen  auf  K'  hat,  so  hat 
dieselbe  Abmessung  bezogen  auf  K  eine  Länge  kleiner  als  1°.  Das 
ergibt  sich  durch  einen  einfachen  mathematischen  Schluß  aus  jenen 
Transformationsgleichungen.  Da  sich  nun  die  Zustände  des  Körpers 
gegenüber  K  und  K'   lediglich  durch  die  Geschwindigkeit   unter- 


92  M.  v.  Laue, 

scheiden,  welche  er  gegen  K,  nicht  aber  gegen  K'  besitzt,  so  heißt  das: 
Ein  Körper,  den  wir  von  der  Ruhe  aus  in  Bewegung  bringen, 
zieht  sich  dabei  in  der  Bewegungsrichtung  zusammen.  Sofern  das 
Relativitätsprinzip,  wie  es  sich  in  der  Lorentz-Transformation  aus- 
spricht, in  der  Wirklichkeit  gilt,  müssen  alle  Körper  dies  Ver- 
halten zeigen. 

Was  an  dieser  Schlußweise  Manchem  unbefriedigend  scheint, 
ist,  daß  sie  für  die  Verkürzung  nur  einen  Erkenntnisgrund  angibt, 
nicht  aber  eine  Ursache;  sie  folgt  nicht  dem  kausalen  Zusammen- 
hang der  Wirklichkeit.  Bevor  wir  diese  Lücke  auszufüllen  suchen, 
wollen  wir  aber  doch  betonen,  daß  ein  solches  Abweichen  des  Ge- 
dankenganges von  der  kausalen  Verkettung  nichts  ungewöhnliches 
in  der  Physik  ist.  Im  Gregenteil  beruht  gerade  bei  den  umfassendsten 
Naturgesetzen  ihr  Wert  für  die  Wissenschaft  darauf,  daß  sie  uns 
der  Mühe  entheben,  den  oftmals  wenig  übersichtlichen  Kausalreihen 
der  Natur  in  allen  Einzelheiten  nachzugehen.  Schließen  wir  z.  B. 
aus  dem  Energieprinzip,  daß  die  Vereinigung 

2#2+02  =  2£20 
dieselbe  Summe  aus  Wärme  und  Arbeit  liefert,  ob  sie  sich  unter 
Explosion  der  Grase  in  der  kalorimetrischen  Bombe  oder  im  galva- 
nischen Element  unter  Lieferung  elektrischen  Stroms  vollzieht, 
so  sagen  wir  dabei  auch  sehr  wenig  über  das  Spiel  der  Atome  aus, 
welches  beide  Male  zum  gleichen  energetischen  Endergebnis  führt. 
Und  derartige  Beispiele  lassen  sich  auch  beim  zweiten  Hauptsatz, 
beim  Satz  von  der  Erhaltung  der  Bewegungsgröße  usw.  leicht  in 
großer  Zahl  geben.  Wird  aber  der  kausale  Zusammenhang  auch 
nicht  aufgezeigt,  so  bleibt  doch  die  Forderung  selbstverständlich 
zu  Recht  bestehen,  daß  es  vielleicht  erst  bei  weiterem  Fortschritt 
der  Wissenschaft,  aber  doch  grundsätzlich  möglich  ist,  ihm  in  allen 
Einzelheiten  nachzugehen.  Und  diese  Forderung  müssen  wir  auch 
im  Falle  der  Lorentz-Kontraktion  durchaus  aufrecht  erhalten. 

Wir  können  sie  auch  leicht  erfüllen,  wenn  wir  uns  darüber 
klar  werden,  was  für  die  ältere  Physik  einschließlich  der  be- 
schränkten Relativitätstheorie  ein  Bezugssystem  darstellt.  Man 
knüpft  dabei  am  besten  wohl  an  die  Frage  an,  wie  denn  eins  der 
berechtigten  Systeme  dieser  Theorie  aufzufinden  ist.  (Haben  wir 
erst  eins,  so  verhilft  uns  die  Lorentz-Transformation  zu  den  an- 
deren.) Und  das  macht  wohl  am  klarsten  ein  Gedankenversuch, 
den  L.  Lange  beschrieben  hat.  Man  untersuche  die  Bewegung  von 
drei  freien  keinen  Kräften  unterworfenen  Körpern,  die  von  einem 


Die  Lorentz-Kontraktion.  93 

Punkt  ausgehen,  in  irgend  einem  beliebigen  Bezugssystem.  Sind 
ihre  Bahnen  in  diesem  System  gerade  Linien,  so  ist  das  System 
ein  berechtigtes,  ein  „Inertialsystem".  Dieses  System  ist  danach 
ein  durch  Beobachtung  festzustellender  physikalischer  Gegenstand, 
und  wenn  sich  jemand  noch  an  der  praktischen  Unausführbarkeit 
jenes  Gedankenversuches  stoßen  sollte,  so  verweisen  wir  einfach 
auf  das  Vorgehen  der  Astronomen,  welche  sich  für  die  Theorie 
der  Planetenbewegung  ein  passendes,  d.  h.  für  die  Anwendung  der 
mechanischen  und  Gravitationsgesetze  passendes  Koordinatensystem 
aus  der  Planetenbewegung  selbst  gesucht  und  nach  allgemeiner 
Überzeugung  mit  großer  Genauigkeit  gefunden  haben.  Und  genau 
so  gut  wie  irgend  ein  anderer  durch  Beobachtung  festzustellender, 
also  physikalisch  wirklicher  Gegenstand  vermag  dies  System  als. 
Ursache  physikalische  Wirkungen  auszuüben. 

Zu  dieser  Ansicht  mußte  sich  schon  die  Newtonsche  Dynamik 
bekennen.  Und  in  der  Tat  kommt  alles,  was  sie  über  die  Zentri- 
fugalkräfte (und  Ähnliches)  in  einem  rotierenden  System  zu  sagen 
wußte,  auf  diese  Anerkennung  hinaus.  Wir  wollen  hier  aber  lieber 
ein  Beispiel  aus  der  Elektrodynamik  heranziehen,  welche  sich  ob- 
wohl älter  als  die  beschränkte  Relativitätstheorie,  unverändert  in 
diese  hat  aufnehmen  lassen. 

Das  Beispiel  sei  so  einfach,  wie  möglich.  Zwei  elektrische 
Punktladungen  ruhen  zunächst  in  einem  berechtigten  System  und 
üben  dabei  die  bekannte  Coulombsche  Kraft  auf  einander  aus.  Wir 
bringen  sie  auf  eine  gemeinsame,  nach  Richtung  und  Größe  un- 
veränderliche Geschwindigkeit  gegen  dasselbe  System  bei  unver- 
ändertem Abstand  von  einander.  Aus  den  elektrodynamischen 
Gleichungen  läßt  sich  leicht  entnehmen,  daß  sich  die  Kraft  zwischen 
ihnen  verändert  hat. 

Was  ist  die  Ursache  der  Veränderung?  An  ihrer  Lage  und 
Bewegung  gegen  einander  hat  sich  nichts  geändert,  sondern  einzig 
allein  an  ihrem  Verhältnis  zu  dem  Bezugssystem.  Und  nur  dies 
Bezugssystem  kommt  somit  als  Ursache  für  die  Kraftänderung  in 
Betracht.  Das  ist  nach  dem  oben  gesagten  auch  nicht  weiter  ver- 
wunderlich. Und  wenn  man  vor  der  Relativitätstheorie  diesen  Schluß 
wohl  nicht  in  dieser  Form  gezogen  hätte,  so  lag  das  nur  daran, 
daß  man  früherdas  Bezugssystem  zum  „Äther"  materialisierte.  Mit 
der  Vorstellung  eines  körperhaften  Äthers  aber  hat  die  Relativitäts- 
theorie aufgeräumt. 

Nun  kehren  wir  zu   dem  Körper  zurück,   der  im  System  K 


94  M.  v.  Laue, 

zunächst  ruht,  dann  aber  eine  Bewegung  gegen  K  erhält.  Seine 
Gestalt  ist  das  Ergebnis  des  Gleichgewichts,  welches  sich  zwischen 
den  vom  Atom  zu  Atom  (dies  Wort  im  weitesten  Sinn  gebraucht, 
also  unter  Einschluß  von  Elektronen  und  Ahnlichem)  wirkenden 
Kräften  einstellt.  Setzen  wir  den  Körper  bei  unveränderter  Ge- 
stalt, also  bei  der  alten  Lage  der  Atome  gegen  einander  in  Bewe- 
gung, so  können  sich  diese  Kräfte  ebenso  gut  verändern,  wie  in 
dem  obigen  Beispiel  die  Kräfte  zwischen  den  Ladungen.  Sie  brauchten 
darum  noch  nicht  elektromagnetischer  Natur  zu  sein.  Die  Folge 
wird  sein,  daß  die  alte  Gestalt  des  Körpers  keinem  Gleichgewicht 
mehr  entspricht,  daß  wir  im  Gegenteil  zu  ihrer  Erhaltung  einen 
äußeren  Zwang  anwenden  müssen.  Fehlt  dieser  Zwang,  wie  man 
es  bei  der  Erörterung  über  die  Lorentz-Kontraktion  annimmt,  so 
muß  sich  die  Gestalt  ändern.  Wie,  das  läßt  die  jetzige  Überlegung 
erst  dann  angeben,  wenn  man  die  Veränderungen  der  Kräfte  kennt. 
Sind  sie  elektromagnetischer  Natur,  so  sagt  ein  von  H.  A.  Lorentz 
bewiesener  Satz,  daß  gerade  die  Lorentz-Kontraktion  herauskommt. 
Will  man  diese  Voraussetzung  nicht  einführen,  so  weiß  man  zu 
wenig  von  ihnen,  um  einen  solchen  Schluß  unabhängig  von  der 
Relativitätstheorie  durchzuführen.  Hier,  wo  beim  jetzigen  Stande 
unserer  Kenntnisse  die  Möglichkeit  fehlt,  die  Kausalreihe  unab- 
hängig vom  Relativitätsprinzip  zu  verfolgen,  greift  eben  das  Re- 
lativitätsprinzip helfend  ein ;  es  lehrt  uns,  daß  immer  dieselbe  Ver- 
kürzung auftreten  muß. 

Gewiß  kann  die  Dynamik,  welche  sich  aus  dem  Relativitäts- 
prinzip entwickelt  hat,  nun  auch  den  ursächlichen  Zusammenhang 
vollständig  erklären.  Doch  ist  damit  nichts  Neues  gewonnen.  Man 
holt  dabei  nur  aus  ihr  heraus,  was  man  vorher  implizite  in  sie 
hineingesteckt  hat.  Der  Unterschied  gegenüber  der  Elektrodynamik, 
welche  dasselbe  unabhängig  vom  Relativitätsprinzip  leistet,  ist 
aber  kein  grundsätzlicher,  sondern  liegt  allein  in  dem  jetzigen 
Stande  der  physikalischen  Forschung.  Wir  haben  eben  in  der 
Elektrizitätslehre  weit  vollständigere  und  genauere  Kenntnisse,  als 
in  der  Mechanik. 

Bisher  haben  wir  nur  von  der  beschränkten  Relativitätstheorie 
gesprochen.  Die  allgemeine  leugnet  das  Dasein  von  Koordinaten- 
systemen, welche  die  Vorzugsstellung  eines  Inertialsystems  von 
sich  aus  haben.  Der  Langesche  Versuch  müßte  ergebnislos  bleiben, 
könnte  man  alle  außer  den  Probekörpern  fortschaffen.  Nur  weil 
in  dem  astronomischen  Koordinatensystem  jene  großen  Massen  des 


Die  Lorentz-Kontraktion.  95 

Fixsternhimmels  im  Großen  und  Ganzen  ruhen,  hat  es  etwas  vor 
den  anderen  voraus.  Dennoch  verändert  das  die  oben  vertretene 
Auffassung  der  Lorentz-Kontraktion  nur  unwesentlich.  Denn  es 
gibt  jetzt  an  jeder  Stelle  des  Raumes  einen  anderen  im  Prinzip 
meßbaren,  also  physikalisch  wirklichen  Gegenstand,  nämlich  den 
Tensor  der  Maßbestimmung  mit  seinen  zehn  Komponenten»  Sind 
diese  im  Allgemeinen  auch  von  Ort  zu  Ort  und  von  Zeitpunkt  zu 
Zeitpunkt  veränderlich,  so  lassen  sie  sich  doch  in  Spielräumen, 
welche  für  einen  physikalischen  Versuch  nach  Raum  und  Zeit  voll- 
ständig ausreichen,  durch  geeignete  Wahl  der  Koordinaten  auf 
jene  besonders  einfachen  Werte  transformieren  (±  1  oder  0),  welche 
nach  der  beschränkten  Relativitätstheorie  überall  herrschen  sollten. 
So  erhalten  deren  berechtigte  Systeme  auch  hier,  freilich  mit  räum- 
lichen und  zeitlichen  Beschränkungen,  eine  allerdings  nicht  mehr 
ursprüngliche,  sondern  abgeleitete  Realität.  Aber  damit  wird 
die  oben  auseinandergesetzte  Auffassung  der  Lorentz-Kontraktion 
eigentlich  nicht  verändert,  sondern  nur  vertieft. 


Kritizistische  oder  empiristische  Deutung 
der  neuen  Physik? 

Bemerkungen  zn  Ernst  Cassirers  Buch  „Zur  Einst  einschen 
Relativitätstheorie  u . 

Von  Moritz  Schlick. 


Ein  unverwischbarer,  unveräußerlicher  Charakterzug  der  kriti- 
schen Philosophie  ist  ihre  Verwurzelung  in  der  exakten  Wissen- 
schaft. Wie  Kant  selbst  nach  wohlbegründeter  (besonders  von 
Cohen  verfochtener)  Meinung  mit  seiner  Erkenntniskritik  das  Ziel 
einer  philosophischen  Rechtfertigung  der  Newtonschen  Natur- 
prinzipien verfolgte,  so  streben  die  neukantischen  Schulen  danach, 
die  Wahrheit  der  kritischen  Grundgedanken  dadurch  zu  beweisen, 
daß  sie  ihre  Brauchbarkeit  und  Fruchtbarkeit  auch  für  die  Physik 
der  neuen  Zeit  darzutun  suchen.  Es  wurde  dem  Neukantianismus 
nicht  schwer,  mit  der  Entwicklung  der  Naturwissenschaft  Schritt 
zu  halten,  als  sie  von  der  mechanischen  zur  energetischen  und 
schließlich  zur  elektrodynamischen  Weltansicht  überging  —  ist 
aber  seine  Kraft  und  Elastizität  auch  groß  genug,  um  den  Sprung 
mitzumachen,  durch  den  die  Physik  sich  in  unsern  Tagen  auf  eine 
neue  Bahn  begab?  Ich  glaubte  diese  Frage  verneinen  zu  müssen 
zu  einer  Zeit,  als  nur  ganz  wenige  Versuche  vorlagen,  die  Spe- 
zielle Relativitätstheorie  dem  kritizistischen  Standpunkt  zu  assi- 
milieren, und  als  die  Allgemeine  Theorie  überhaupt  noch  nicht 
abgeschlossen  war.  Es  schien  mir,  daß  die  zu  einer  philosophischen 
Aufklärung  und  Rechtfertigung  jener  Theorie  nötigen  Prinzipien 
viel  eher  aus  der  empiristischen  als  aus  der  Kantschen  Erkenntnis- 
theorie entnommen  werden  können  *) ;  und  auch  bei  späteren  Ge- 
legenheiten  fand  ich  keine  Veranlassung,   diesen  Standpunkt   auf- 

1)  Die  philosophische  Bedeutung  des  Kelativitätsprinzips ,  Zeitschrift  für 
Philosophie  und  philosophische  Kritik,  Bd.  159. 


Moritz  Schlick,  Kritizist.  oder  empirist.  Deutung  d.  neuen  Physik?       97 

zugeben,  zumal  die  bald  darauf  glücklich  vollendete  Allgemeine 
Theorie  einem  Gedanken  zum  Siege  verhalf,  der  auf  extrem  em- 
piristischem Boden  (nämlich  im  Positivismus  Machs)  erwachsen  war. 
Aber  bei  der  Bedeutung  und  Schwierigkeit  der  Frage  ist  es 
Pflicht,  die  Sachlage  'bei  jedem  ernsten  Anlaß  erneut  zu  prüfen. 
Einen  solchen  Anlaß  stellt  das  Erscheinen  des  Buches  von  Ernst 
Cassirer  *)  dar,  und  so  folge  ich  gern  der  Aufforderung  der  Schrift- 
leitung der  Kantstudien,  dem  Problem  an  der  Hand  dieses  Buches 
eine  neue  Untersuchung  zu  widmen,  die  freilich  aus  äußeren  Gründen 
nur  in  ganz  kurzer  Fassung  gegeben  werden  kann. 

Cassirer  hat  sich  in  seiner  Schrift  den  Nachweis  zum  Ziel 
gesetzt,  daß  die  philosophischen  Grundlagen  der  Relativitätstheorie 
nur  im  Bereiche  des  Kritizismus  gefunden  werden  können,  genauer 
in  derjenigen  Form  der  kritischen  Ansicht,  die  er  gern  als  logi- 
schen Idealismus  bezeichnet.  Er  stellt  sich  die  Aufgabe,  durch 
erkenntnistheoretische  Analyse  zu  entscheiden,  „ob  die  Theorie  in 
ihrem  Ursprung  und  ihrer  Entwicklung  als  Beleg  und  Zeugnis 
für  den  kritischen  oder  als  Zeugnis  für  den  sensualis tischen 
Erfahrungsbegriff  zu  gelten  hat"  (S.  26). 

Angesichts  dieser  Formulierung  müssen  sich  aber  sogleich 
Bedenken  erheben :  Ist  das  Problem  wirklich  auf  diese  Alternative 
zurückführbar  ?  gilt  hier  ein  tertium  non  datur  ?  Sicherlich  gibt 
es  einen  Empirismus,  der  vom  Sensualismus  verschieden  ist  und 
sich  auf  ihn  nicht  reduzieren  läßt  —  das  ist  historisch  wie  sach- 
lich leicht  ersichtlich.  Wenn  also  gezeigt  wird  (und  das  ist  wohl 
nicht  schwer),  daß  die  Relativitätstheorie  aus  rein  sensualistischen 
Prämissen  nicht  zu  verstehen  ist,  so  wird  hierdurch  allein  weder 
die  Notwendigkeit  noch  auch  die  Zulässigkeit  der  kritizis tischen 
Interpretation  der  Theorie  bewiesen,  es  sei  denn,  man  faßte  den 
Begriff  des  logischen  Idealismus  so  weit,  daß  jene  Alternative 
eben  erlaubt  wird.  Dann  aber  schwebt  er  in  Gefahr,  seine  ent- 
schiedene Färbung  und  damit  seinen  philosophischen  Wert  zu  ver- 
lieren, die  heterogensten  Meinungen  würden  sich  in  ihm  vereinigen 
lassen.  An  einigen  Stellen  scheint  Cassirer  in  der  Tat  zu  so  all- 
gemeinen Formulierungen  zu  neigen,  daß  die  Abgrenzung  seines 
Kritizismus  undeutlich  zu  werden  droht.  Wir  müssen  den  Grenz- 
linien nachzugehen  suchen. 


1)  Ernst  Cassirer,   Zur  Einsteinschen  Relativitätstheorie,   Erkenntnistheore- 
tische Betrachtungen,  Berlin  1921. 

Kantstudien.  XXYL  7 


98  Moritz  Schlick. 

Um  eine  feste  Grundlage  für  die  folgenden  Betrachtungen 
herzustellen,  muß  ich  mit  wenigen  Worten  sagen,  welche  unent- 
behrlichen Merkmale  ich  mir  mit  dem  Begriff  des  Kritizismus 
verknüpft  denke.  Eine  solche  Festlegung  ist  durchaus  nötig  für 
jede  Diskussion  über  die  Verträglichkeit  der  Relativitätstheorie 
mit  der  kritischen  Erkenntnislehre,  denn  nur  auf  diese  Weise  wird 
das  störende  Hineinspielen  der  Fragen  der  Kant-Interpretation 
vermieden;  die  Diskussion  bleibt  solange  unergiebig,  als  jeder  sich 
des  nicht  ungewöhnlichen  Arguments  bedienen  kann,  der  andere 
lege  eben  die  Kantsche  Meinung  nicht  richtig  aus. 

Folgendes  also  sei  vorausgeschickt.  Alle  exakte  Wissenschaft, 
deren  philosophische  Rechtfertigung  unzweifelhaft  das  erste  Ziel 
der  von  Kant  begründeten  Erkenntnislehre  bildet,  beruht  auf 
Beobachtungen  und  Messungen.  Bloße  Empfindungen  und  Wahr- 
nehmungen sind  aber  noch  nicht  Beobachtungen  und  Messungen, 
sondern  sie  werden  es  erst  dadurch,  daß  sie  geordnet  und  inter- 
pretiert werden.  Die  Bildung  der  physikalischen  Gegenstands- 
begriffe setzt  also  fraglos  bestimmte  Prinzipien  der  Ordnung  und 
Interpretation  voraus.  Das  Wesentliche  des  kritischen  Gedankens 
sehe  ich  nun  in  der  Behauptung,  daß  jene  konstitutiven  Prinzipien 
synthetische  Urteile  a  priori  seien,  wobei  zum  Begriff  des 
Apriori  das  Merkmal  der  Apodiktizität.  (der  allgemeinen,  not- 
wendigen, unumgänglichen  Geltung)  unabtrennbar  gehört.  —  Ich 
bin  zwar  überzeugt,  mit  dieser  Erklärung  Kants  eigene  Meinung 
richtig  zu  treffen,  aber  selbst  wenn  weder  er  noch  seine  Anhänger 
dieser  Art  von  Kritizismus  je  gehuldigt  hätten,  bliebe  ja  die  sach- 
liche Richtigkeit  oder  Falschheit  der  folgenden  Aufstellungen 
davon  ganz  unberührt,  und  auf  diese  allein  kommt  es  bei  einer 
Untersuchung  an,  die  sich  auf  das  Systematische,  nicht  auf  das 
Historische  richtet. 

Die  wichtigste  Folgerung  aus  der  eben  entwickelten  Ansicht 
ist,  daß  ein  Denker,  der  die  Unentbehrlichkeit  konstitutiver  Prin- 
zipien zur  wissenschaftlichen  Erfahrung  überhaupt  einsieht,  des- 
wegen noch  nicht  als  Kritizist  bezeichnet  werden  darf.  Ein  Empi- 
rist kann  z.  B.  sehr  wohl  das  Vorhandensein  solcher  Prinzipien 
anerkennen ;  er  wird  nur  leugnen,  daß  sie  synthetisch  und  a  priori 
im  oben  bezeichneten  Sinne  sind. 

Cassirer  erkennt,  daß  „Empirismus  und  Idealismus  sich  in 
bestimmten  Voraussetzungen  begegnen.  Beide  gestehen  hier  der 
Erfahrung  die  entscheidende  Rolle  zu  —  und  beide  lehren  anderer- 


Kritizistische  oder  empiristiache  Deutung  der  neuen  Physik?  99 

seits,  daß  jede  exakte  Messung  allgemeine  empirische  Gesetze 
voraussetzt"  (S.  94  f.).  Aber  indem  er  sich  dann  der  dringenden 
Frage  zuwendet,  „wie  wir  zu  jenen  Gesetzen,  auf  denen  die  Mög- 
lichkeit aller  empirischen  Messung  beruht,  gelangen  und  welche 
Art  der  Geltung  .  .  .  wir  ihnen  zugestehen"  (S.  95),  stellt  er  dem 
Kritizismus  nur  die  sensualistische  Ansicht  unter  dem  Namen  des 
„strengen"  Positivismus  gegenüber.  Mit  vollem  Recht  verurteilt 
•er  den  von  Mach  gelegentlich  unternommenen  Versuch,  selbst 
analytisch  -  mathematische  Gesetze  gleich  Dingen  zu  behandeln, 
„deren  Eigenschaften  man  durch  unmittelbare  Wahrnehmung  ab- 
lesen kann"  (S.  95)  —  jedoch  damit  ist  nicht  der  logische  Idea- 
lismus bewiesen,  sondern  nur  der  Sensualismus  widerlegt.  Zwischen 
beiden  bleibt  die  empiristische  Ansicht  stehen,  nach  welcher  jene 
konstitutiven  Prinzipien  entweder  Hypothesen  oder  Konven- 
tionen sind;  im  ersten  Falle  sind  sie  nicht  a  priori  (denn  es 
mangelt  ihnen  die  Apodiktizität),  im  zweiten  sind  sie  nicht  syn- 
thetisch. Wie  steht  es  mit  dem  Nachweis,  daß  die  Grundsätze 
der  Einsteinschen  Physik  nicht  diesen  Charakter  tragen,  sondern 
als  synthetische  Sätze  a  priori  anzusprechen  seien? 

Kant  selbst  rechnete,  wie  gar  nicht  zu  bezweifeln  ist,  zu  den 
gegenstandskonstituierenden  synthetischen  Prinzipien  a  priori  die 
Axiome  der  euklidischen  Geometrie  und  der  Galileischen  Kine- 
matik. Und  die  Mehrzahl  der  Kantianer  hat  auch  nach  der 
mathematischen  Entdeckung  der  nichteuklidischen  Geometrien  an 
der'  euklidischen  Naturauffassung  als  der  einzig  möglichen  fest- 
gehalten, indem  sie  (sehr  deutlich  z.  B.  Kiehl  und  Hönigswald) 
erklärten,  der  euklidischen  Geometrie  komme  in  der  Tat  die  von 
Kant  ihr  zugeschriebene  anschauliche  Notwendigkeit  zu,  wäh- 
rend die  andern  Geometrien  nur  begriffliche  Denkbarkeit  besäßen, 
die  ja  der  Kantschen  Lehre  nicht  widerstreitet. 

Nun  ist  die  Spezielle  Eelativitätstheorie  mit  den  Sätzen  der 
Galileischen  Kinematik,  die  Allgemeine  außerdem  noch  mit  den 
Ratzen  Euklids  unvereinbar.  Wer  die  Einsteinsche  Theorie  an- 
nimmt, muß  die  Lehre  Kants  in  ihrer  ursprünglichen  Form  ab- 
lehnen ;  man  muß,  wie  auch  Cassirer  mehrfach  betont,  einen  Schritt 
über  Kant  hinaus  tun.  Aber  darauf  kommt  es  uns  hier  garnicht 
an.  Der  Kritizismus,  wie  er  oben  definiert  wurde,  könnte  dessen- 
ungeachtet der  neuen  Theorie  gegenüber  sich  behaupten  und  be- 
währen, ja  noch  größere  Triumphe  feiern;  dazu  wäre  nur  nötig, 
daß  die  letzten  Grundlagen  der  Theorie  sich  eben  als  synthetische 


100  Moritz  Schlick, 

Sätze   von    schlechthin   notwendiger   Geltung   für    alle  Erfahrung 
enthüllten.     Welches  sind  diese  Sätze? 

Denn  das  ist  wohl  zu  beachten:  wer  die  Behauptung  des 
Kritizismus  aufstellt,  der  muß,  sollen  wir  ihm  Glauben  schenken, 
die  Prinzipien  a  priori  auch  wirklich  angeben,  die  den  festen 
Grund  aller  exakten  Wissenschaft  bilden  müssen.  Für  die  Transzen- 
dentalphilosophie, sagt  Cassirer  mit  Recht  (S.  78),  sind  Raum  und 
Zeit  nicht  Dinge,  sondern  „Erkenntnisquellen".  Es  muß  also  eine 
Angabe  der  Erkenntnisse  gefordert  werden,  deren  Quelle  z.  B.  der 
Raum  ist.  Der  kritische  Idealist  muß  sie  mit  derselben  Bestimmt- 
heit und  Deutlichkeit  bezeichnen,  mit  der  Kant  auf  die  zu  seiner 
Zeit  einzig  bekannte  und  anerkannte  Geometrie  und  „allgemeine 
Bewegungslehre"  hinweisen  konnte.  Alle  die,  welche  die  Rela- 
tivitätstheorie vom  Kantschen  Standpunkt  aus  beurteilt  haben, 
wiesen  darauf  hin,  daß  es  sich  in  ihr  um  die  empirische  (d.  h. 
hier:  durch  physikalische  Methoden  gemessene  Zeit)  und  um  den 
empirischen  Raum  handelt,  und  sie  stellen  ihnen  die  Kantsche 
„reine  Anschauung"  von  Raum  und  Zeit  gegenüber  als  dasjenige, 
was  jene  empirischen  Konstruktionen  erst  möglich  macht  und  folg- 
lich von  jedem  Fortschritt  der  Physik,  der  immer  nur  das  Empiri- 
sche betreffen  kann,  schlechthin  unberührt  bleiben  muß.  Durch 
diese  Wendung  wird  die  Problemlage  nicht  geändert,  sondern  nur 
anders  ausgedrückt,  denn  die  reine  Anschauung  ist  eben  die  Er- 
kenntnisquelle jener  Grundsätze  a  priori,  deren  man  zur  Kon- 
struktion der  empirischen  Zeit  und  des  empirischen  Raums  bedarf, 
für  manche  ist  sie  einfach  ein  zusammenfassender  Terminus  für 
den  Inbegriff  jener  Grundsätze  selbst;  in  jedem  Falle  kann  die 
Existenz  eines  „reinen  Raumes"  und  einer  „reinen  Zeit"  überhaupt 
nur  dadurch  erwiesen  werden,  daß  man  das  System  der  dazu- 
gehörigen synthetisch-apriorischen  Grundsätze  tatsächlich  aufzeigt 
oder  wenigstens  eine  eindeutige  Anweisung  gibt,  wie  es  zu  finden 
ist.  Es  kann  nicht  genug  betont  werden,  daß  ein  Anhänger  der 
kritischen  Philosophie  sich  nur  durch  Vorweisung  eines  solchen  Ur- 
teilssystems legitimieren  kann.  Jeder  Versuch,  Einstein  mit  Kant 
zu  versöhnen,  muß  in  der  Relativitätslehre  synthetisch-apriorische 
Prinzipien  aufdecken;  sonst  ist  er  von  vornherein  als  gescheitert 
zu  betrachten,  weil  er  nicht  einmal  zu  der  richtigen  Problem- 
stellung vorgedrungen  ist. 

Cassirer  sieht  das  Problem  natürlich  in   seiner   richtigen  Be- 
deutung, und  an  zwei  Orten  seines  Buches   scheint  er  eine  nähere 


Kritizistische  oder  empiristische  Deutung  der  neuen  Physik?       101 

Bestimmung  des  Inhaltes  der  vom  logischen  Idealismus  behaup- 
teten reinen  Anschauung  zu  geben.  An  der  ersten  Stelle  (S.  84) 
erblickt  er  ihn  in  dem  Begriff  der  Koinzidenz  der  „ "Weltpunkte ", 
auf  welche  die  Allgemeine  Relativitätstheorie  bekanntlich  alle 
Naturgesetze  zurückführt.  Aber  ich  glaube,  daß  gerade  diese 
„Koinzidenz"  sich  garnicht  als  bloßer  Inbegriff  und  Knotenpunkt 
apriorischer  Sätze  auffassen  läßt,  sondern  zunächst  durchaus  Re- 
präsentant eines  psychologischen  Erlebnisses  des  Zusammen- 
fallens  ist,  so  wie  etwa  das  Wort  „gelb"  ein  einfaches  nicht  mehr 
definierbares  Farberlebnis  bezeichnet.  Nur  so  vermag  sie  die  von 
der  Theorie  ihr  zugewiesene  Vermittlerrolle  zwischen  Realität 
und  naturwissenschaftlich  -  begrifflicher  Konstruktion  zu  spielen. 
Mit  andern  Worten:  wir  haben  eine  empirische  Anschauung 
vor  uns1). 

Eine  zweite  Antwort  auf  die  Frage,  was  denn  an  synthetisch- 
apriorischen Sätzen  über  den  Raum  jetzt  noch  übrig  bleibe,  gibt 
Cassirer  S.  101,  wo  er  sagt:  „Denn  das  ,Apriori'  des  Raumes  .  .  . 
schließt  .  .  .  keine  Behauptung  über  eine  bestimmte  einzelne 
Struktur  des  Raumes  in  sich,  sondern  geht  nur  auf  jene  Funktion 
der  ,Räumlichkeit  überhaupt',  die  sich  'schon  in  dem  allgemeinen 
Begriff  des  Linienelements  als  solchen  —  ganz  abgesehen  von 
seiner  näheren  Bestimmung  —  ausdrückte".  Diese  Formulierung, 
die  aussagen  will,  daß  es  überhaupt  so  etwas  wie  ein  Linien- 
element in  der  Naturbeschreibung  geben  müsse,  kann  jedoch  kaum 
befriedigen.  Denn  welcher  Axiomenkomplex  ist  es,  der  in  jener 
Behauptung  beschlossen  sein  soll?  Die  Axiome  der  Stetigkeit 
können  es  nicht  sein,  denn  die  schon  von  Riemann  ins  Auge  ge- 
faßte Möglichkeit  diskontinuierlicher  Raumbestimmungen  ist  durch 
die  moderne  Quantentheorie  in  greifbare  Nähe  gerückt  worden. 
Und  welche  andern  Axiome  man  auch  wählen  möge :  es  ist  nicht 
einzusehen,  warum  gerade  sie  die  allein  notwendige  Raumstruktur 
konstituieren  sollen,  da  doch  andere  von  nicht  geringerer  „Evi- 
denz" dem  Fortschritt  der  Physik  zum  Opfer  fielen. 

Hier  erscheint  jede  inhaltliche  Behauptung,  so  allgemein  sie 
auch  sein  möge,  schon  zu  speziell,  und  es  ist  durchaus  konsequent, 
wenn  man  auf  die  Frage,  welches  denn  nun  die  letzten  syntheti- 
schen Grundsätze  a  priori  aller  Naturwissenschaft  sind,    die  Ant- 


1)  Dies  ist  auch  der   eigentliche  Sinn  meiner  Ausführungen  in  „Raum  und 
Zeit«,  3.  Aufl.   1920,  S.  83. 


102  Moritz  Schlick 


wort  erteilt  (die  ich  einer  freundlichen  brieflichen  Mitteilung 
Cassirers  entnehme):  „eigentlich  nur  der  Gedanke  der  ,Einheit 
der  Natur'  d.  h.  der  Gesetzlichkeit  der  Erfahrung  überhaupt,  oder 
vielleicht  kürzer  der  ,Eindeutigkeit  der  Zuordnung' u.  Damit 
scheint  mir  aber  die  Gefahr  unentfliehbar  hereingebrochen  zu  sein, 
die  ich  oben  als  unvermeidliche  Folge  einer  zu  großen  Umfangs- 
weitung  des  kritischen  Gedankens  bezeichnete.  Denn  nun  dürfte 
es  nicht  mehr  möglich  sein,  jemals  eine  physikalische  Theorie  als 
Bestätigung  der  kritizistischen  Philosophie  anzusprechen:  diese 
müßte  vielmehr  mit  jeder  Theorie,  sofern  sie  nur  die  Bedingungen 
der  Wissenschaftlichkeit  erfüllt,  in  gleicher  Weise  und  ohne  die 
Möglichkeit  einer  Selektion  vereinbar  sein.  Einheitliche  Natur- 
gesetzlichkeit ist  sicherlich  die  conditio  sine  qua  non  der  Wissen- 
schaft, weil,  wie  Cassirer  selbst  sagt  (S.  45),  „der  allgemeine  Ge- 
danke der  Invarianz  und  Eindeutigkeit  ...  in  irgend  einer  Form 
in  jeder  Theorie  der  Natur  wiederkehren  muß".  Auch  für  den 
Empiristen  sind,  wie  Cassirer  (S.  95)  anerkennt,  die  Gesetze  „das 
eigentlich  Bleibende  und  Substantielle",  auch  der  Empirist  glaubt 
an  die  Einheit  der  Natur,  an  die  Gesetzlichkeit  aller  Erfahrung, 
nur  meint  er,  daß  sich  ihre  Gültigkeit,  ihre  objektive  Notwendig- 
keit durch  keine  transzendentale  Deduktion  oder  sonstwie  erweisen 
lasse.  Hier  kann  sich  der  Kritizist  auf  keine  physikalische  Theorie 
berufen,  denn  jede  beweist  durch  ihre  Bewährung  in  der  Erfah- 
rung nur  die  tatsächliche,  nicht  die  notwendige  Geltung  des  Satzes 
von  der  Einheit  der  Natur. 

Wie  ein  roter  Faden  zieht  sich  durch  Cassirers  Buch  der  mit 
den  glänzendsten  Mitteln  überlegener  philosophisch -historischer 
Kultur  geführte  Nachweis,  daß  die  Eelativitätstheorie  dem  in  der 
Entwicklung  der  exakten  Wissenschaft  von  Piaton  bis  heute  immer 
richtungweisenden  Ideal  nicht  etwa  widerspricht,  sondern  im 
Gegenteil  seine  zur  Zeit  vollkommenste  Erfüllung  darstellt;  daß 
die  von  ihr  statuierte  Relativität  der  Maßbestimmungen  keineswegs 
einen  Verzicht  auf  streng  eindeutige  objektive  Gesetzmäßigkeit 
bedeutet,  sondern  im  Gegenteil  der  Weg  ist,  zu  allgemeinsten 
Gesetzen  zu  gelangen  und  letzte  Invarianten  aufzudecken.  Ein 
neuerer  Aufsatz  Cassirers  (im  Dezemberheft  der  Neuen  Rundschau) 
ist  im  wesentlichen  dem  gleichen  Nachweis  gewidmet.  So  not- 
wendig und  verdienstlich  es  war,  durch  solche  Ausführungen 
naheliegenden  laienhaften  Mißverständnissen  der  Einsteinschen 
Theorie   entgegenzutreten   und    sie    in   den   gebührenden  Abstand 


Kritizistische  oder  empiristische  Deutung  der  neuen  Physik?       103 

von  jedem  sophistischen  „Relativismus"  skeptischer  Färbung  zu 
rücken,  so  wird  damit  doch  nur  bestätigt,  daß  die  Relativitäts- 
lehre, weil  sie  eben  eine  wissenschaftliche  Theorie  ist,  natürlich 
eine  Auf  Stellung,  nicht  eine  Auf  hebung  allgemeinster,  objektiv 
gültiger  Gesetze  bedeutet.  Das  Einsteinsche  Weltbild  läßt  die 
Einheit  der  Natur  vollkommener  hervortreten  als  das  Newtonsche, 
aber  nicht,  weil  es  dem  kritischen  Gedanken  gemäßer  wäre,  son- 
dern weil  es,  schon  am  physikalischen  Erkenntnisbegriff  gemessen 
und  noch  unabhängig  von  der  letzten  philosophischen  Interpre- 
tation, eine  höhere  Erkenntnisstufe  darstellt. 

Die  Frage,  ob  dem  von  Cassirer  so  tief  durchdachten  logi- 
schen Idealismus  der  Nachweis  der  Richtigkeit  der  Behauptung 
gelungen  sei,  daß  nur  auf  dem  Boden  der  kritizistischen  Er- 
kenntnislehre die  Relativitätstheorie  sich  philosophisch  begründen 
und  rechtfertigen  lasse  —  diese  Frage  vermögen  wir  nach  dem 
Vorangehenden  gerade  in  bezug  auf  den  entscheidenden  Punkt 
nicht  zu  bejahen :  die  Lehre  von  den  synthetischen  Urteilen  a  priori 
als  den  konstruktiven  Prinzipien  der  exakten  Naturwissenschaft 
erfährt  durch  die  neue  Theorie  keine  unzweideutige  Bestätigung. 
Cassirers  Darlegungen  scheinen  mir  keine  überzeugende  Anweisung 
zu  geben,  wie  die  Wunde  geheilt  werden  kann,  die  der  ursprüng- 
lichen Kantschen  Ansicht  durch  den  Umsturz  der  Euklidischen 
Physik  geschlagen  ist.  Aber  damit  ist  noch  nicht  gesagt,  daß 
das  Verhältnis  zwischen  Transzendentalphilosophie  und  Relativitäts- 
theorie nun  überhaupt  als  ein  rein  negatives  erwiesen  wäre;  an 
andern  Punkten  könnten  bedeutsame  Berührungen  beider  Gedanken- 
kreise stattfinden,  wichtige  Gemeinsamkeiten  sich  offenbaren. 

Es  liegt  überaus  nahe,  in  der  kritischen  Lehre  von  der 
Idealität  des  Raumes  und  der  Zeit  eine  enge  natürliche  Ver- 
wandtschaft mit  den  Gedanken  der  Relativitätstheorie  zu  .suchen. 
Man  hat  in  der  Tat  die  Wesenlosigkeit,  die  den  Raum  der  Ein- 
steinschen  Naturlehre  vor  dem  starren  Raum  Newtons  (und  ebenso 
die  Zeit)  auszuzeichnen  scheint,  als  eine  willkommene  Bestätigung 
der  Kantschen  Philosophie  betrachtet.  Auch  Cassirer  vertritt 
diese  Auffassung.  Im  Anschluß  an  meine  Bemerkung,  daß  nach 
der  allgemeinen  Relativitätstheorie  nur  einer  unauflöslichen  Ein- 
heit von  Raum,  Zeit  und  Stoff  noch  das  Prädikat  der  Wirklichkeit 
zukomme  (Raum  und  Zeit  S.  67),  meint  er,  diese  Einsicht  gehöre 
„zu  den  Grundlehran  des  kritischen  Idealismus  selbst"  (S.  93);  und 
ferner:    „die  ideelle  Trennung  des  reinen  Raumes   und  der  reinen 


104  Moritz  Schlick, 

Zeit  von  den  Dingen  (genauer  von  den  empirischen  Erscheinungen) 
duldet  nicht  nur,  sondern  fordert  geradezu  ihre  empirische  ,TJnion'  " 
(S.  94).  Dies  letztere  ist  freilich  richtig,  denn  Raum  und  Zeit 
sind  als  Formen  der  Anschauung  von  dem  in  ihnen  geformten 
Stoff  ebenso  wenig  trennbar,  wie  umgekehrt  der  Stoff  ohne  eine 
Form  sein  kann.  Aber  die  von  der  Relativitätstheorie  behauptete 
,Union',  die  ich  durch  jene  Bemerkung  zu  treffen  suchte,  ist  eine 
viel  innigere  als  die  Einheit  von  Stoff  und  Form,  über  welche 
die  Transzendentalphilosophie  nirgends  hinausgegangen  ist.  Wenn 
daher  Cassirer  fortfährt:  „Diese  Union  hat  die  allgemeine  Rela- 
tivitätstheorie in  einem  neuen  Sinne  bewährt  und  erwiesen  .  .  .", 
so  ist  der  Ton  durchaus  auf  das  Wort  neu  zu  legen.  Dieses 
Neue  wird  gänzlich  verkannt  von  E.  Sellien1),  welcher  sagt: 
„Für  die  tatsächliche  Bestimmung  von  Raum  und  Zeit  in  der 
Erfahrung  gehören  Raum,  Zeit  und  Körper  zusammen.  Dieser 
Satz  ist  keine  Errungenschaft  der  Einsteinschen  Theorie,  wie 
Schlick  mit  so  viel  Emphase  behauptet,  er  ist  längst  bekannt, 
und  widerlegt  Kants  Lehre  von  der  reinen  Zeit  durchaus  nicht, 
weil  er  sie  garnicht  berührt".  Es  ist  jedoch  ein  schlechthin  fun- 
damentales Mißverständnis  der  Allgemeinen  Relativitätstheorie, 
wenn  man  glaubt,  meine  oben  erwähnte  Bemerkung  so  auffassen 
zu  dürfen,  als  solle  in  ihr  nur  negativ  die  Sonder existenz  von 
Zeit  und  Raum  gegenüber  der  Materie  (und  umgekehrt)  geleugnet 
werden  —  das  wäre  freilich  eine  längst  bekannte  Trivialität. 
Sondern  die  gegenseitige  Abhängigkeit  von  Raum,  Zeit  und  Materie 
geht  in  der  Einsteinschen  Theorie  viel  tiefer;  nach  ihr  ist  es 
z.  B.  unmöglich,  von  den  Abmessungen  einer  Raumgestalt  ohne 
Rücksicht  auf  die  Art  ihrer  materiellen  Erfüllung  zu  sprechen. 
Daß  die  Raumlehre  in  dieser  Weise  zum  Zweige  der  Physik 
wird,  verdient  allerdings  mit  großer  Emphase  hervorgehoben  zu 
werden.  Nur  Riemann  hat  diesen  G-edanken  mit  völliger  Klar- 
heit vorweggenommen;   dem  Kritizismus  lag  er  nicht  bloß  fern2), 

1)  Die  erkenntnistheoretische  Bedeutung  der  Relativitätstheorie,  Kieler  Dis- 
sertation, 1919,  S.  37;  auch  als  Ergänzungsheft  48  der  „Kantstudien"  erschienen. 

2)  Man  hat  zwar  auch  in  diesem  Punkte  Kant  zum  Vorläufer  Einsteins 
erklären  wollen.  Auf  Grund  einiger  Bemerkungen  in  Kants  erster  Schrift  „Ge- 
danken von  der  wahren  Schätzung  der  lebendigen  Kräfte"  sagt  Ilse  Schneider 
(Das  Raum-Zeitproblem  bei  Kant  und  Einstein,  Berlin  1921,  S.  70):  „Kant  weist 
also  als  erster  auf  den  Zusammenhang  von  Geometrie  und  Physik,  speziell  Gra- 
vitation, hin".  Aber  Kants  Versuch,  die  Dreidimensionalität  des  Raumes  mit  der 
Formel  des  Newtonschen  Gravitationsgesetzes  in  Beziehung  zu  bringen,   bedeutet 


Kritizistische  oder  empiristische  Deutung  der  neuen  Physik?       105 

sondern  er  scheint  ihm  zu  widersprechen,  weil  er  es  unmöglich 
macht,  Raum  und  Zeit  als  bloße  Formen  in  dem  bisherigen  Sinne 
aufzufassen,  deren  Gesetze  von  ihrem  Inhalt  unabhängig  zu  be- 
handeln sind.  Wenn  Einstein  von  der  Durchführung  der  allge- 
meinen Relativität  bemerkt  hat,  sie  nehme  dem  Raum  und  der 
Zeit  „den  letzten  Rest  physikalischer  Gegenständlichkeit",  so 
glaubt  Cassirer,  „daß  die  Theorie  hierin  nur  dem  Standpunkt  des 
kritischen  Idealismus  die  bestimmteste  Anwendung  und  jDurch- 
führung  innerhalb  der  empirischen  Wissenschaft  selbst  verschafft" 
(S.  79).  Legen  wir  aber  —  wie  es  Cassirer  (S.  13)  mit  Recht  als 
erste  Aufgabe  des  Erkenntnistheoretikers  fordert  —  den  Sinn  des 
Terminus  „physikalische  Gegenständlichkeit"  restlos  klar,  so  stoßen 
wir  wieder  auf  das  eben  geschilderte  Ergebnis,  dem  die  Lehre 
von  der  Idealität  von  Zeit  und  Raum  nur  nach  seiner  negativen 
Seite  hin  gerecht  zu  werden  vermag:  es  zeigt  sich  nämlich,  daß 
mit  der  „Gegenständlichkeit"  dem  Raum  und  der  Zeit  zwar  jede 
irgendwie  beschaffene  Unabhängigkeit  von  der  Materie  abgesprochen 
wird,  daß  aber  der  Rest,  der  dann  vom  physikalisch  Räumlichen 
und  Zeitlichen  übrig  bleibt,  im  Verein  mit  der  Materie  sich  auch 
derselben  Realität  erfreut  wie  diese.  Einstein  selbst  hat  gelegent- 
lich ausgesprochen,  daß  der  physikalische  Raum  auch  nach  der 
Allgemeinen  Relativitätstheorie  Realität  habe,  nur  keine  selbstän- 
dige. Das  Räumliche  und  Zeitliche  erhalten  also  einen  Sinn,  in 
dem  sie  nicht  mehr  bloß  als  ,Formen'  in  der  gewohnten  Bedeutung 
angesehen  werden  dürfen,  sondern  sie  gehören  jetzt  zu  den  phy- 
sikalischen Bestimmungsstücken  der  Körper ;  die  ,Metrikc  bedeutet 
nicht  etwa  bloß  eine  mathematische  Messung  des  physikalisch 
Realen,  sondern  drückt  selbst  dessen  Vorhandensein  aus.  Raum 
und  Materie  treten  eben,  wie  Cassirer  es  durchaus  treffend  aus- 
drückt, „nicht  mehr  als  verschiedene  Klassen  physikalischer  Ob- 
jektbegriffe auf"  (S.  61).  Wenn  man  also  der  Meinung  ist,  die 
Einsteinsche  Physik  weise  „in  dieser  Hinsicht  weniger  Wider- 
sprüche zur  kantischen  transzendentalen  Ästhetik  auf,  als  irgend 
eine  frühere  Physik"  *),  so  scheint  mir  darin  eine  Verkennung  der 

nichts  weniger  als  eine  Vorahnung  der  Vereinigung  von  Geometrie  und  Physik 
im  erkenntnistheoretischen  Sinne,  hat  vielmehr  gar  nichts  damit  zu  tun.  Mit 
ähnlichem  Rechte  könnte  man  hier  auf  die  Cartesianische  Identifizierung  von 
Substanz  und  Ausdehnung  hinweisen,  die  auch  Cassirer  erwähnt  (S.  60),  ohne  daß 
er  aber  ihre  wahre  Bedeutung  übertriebe. 
1)  Ilse  Schneider,  1.  c.  S.  65. 


106  Moritz  Schlick, 

positiven  Seite  der  Einsteinschen  Raum-  und  Zeitlehre  zu  liegen. 
Es  wäre  auch  verwunderlich,  wenn  die  Kantsche  Erkenntnistheorie 
in  so  deutlichem  Widerspruch  stehen  sollte  zur  Newtonschen 
Naturlehre,  deren  philosophische  Rechtfertigung  eines  ihrer  vor- 
nehmsten Ziele  war.  — 

Mag  aber  auch  die  rechte  Würdigung  der  allgemeinsten  Re- 
lativität (Kovarianz  gegenüber  beliebigen  Substitutionen  in  der 
Sprache  der  Theorie)  von  kritizistischen  Prinzipien  aus  schlecht 
gelingen :  vielleicht  könnten  sie  doch  insofern  einen  tragfähigen 
Unterbau  Einsteinscher  Lehren  liefern,  als  sie  wenigstens  zu  dem 
Grundsatz  der  Relativität  aller  Bewegungen  (Kovarianz  gegen- 
über einer  bestimmten  Gruppe  von  Substitutionen)  in  einem  günstigen 
Verhältnis  stehen.  Natürlich  ist  von  einem  philosophischen  System 
nicht  zu  verlangen,  daß  es  diesen  Grundsatz  als  Theorie  durch- 
führe, wohl  aber  kann  er  sich  aus  ihm  als  unentbehrliches  Postulat 
ergeben.  Ist  auch  dies  noch  zu  viel  gefordert,  so  darf  man  zum 
allermindesten  erwarten,  daß  jener  Grundsatz,  nachdem  er  von 
anderer  Seite  einmal  aufgestellt  war,  sofort  als  kongenial  erkannt 
und  von  dem  System  mit  größter  Energie  angeeignet  werde.  Tat- 
sächlich wäre  der  Kritizismus  hierzu  aus  seinen  Prämissen  heraus 
sehr  wohl  imstande  gewesen;  dennoch  hat  er  in  seinen  historischen 
Erscheinungsformen  von  den  eben  aufgestellten  Forderungen  keine 
erfüllt.  Es  war  vielmehr  der  Positivist  Mach,  der  das  allgemeine 
Relativitätsprinzip  zuerst  mit  Nachdruck  zu  einem  Postulat  der 
Naturbeschreibung  erhob.  Er  verlangte  —  und  zwar  wirklich 
aus  philosophischen  Gründen  —  eine  solche  Formulierung  der 
Naturgesetze,  daß  z.  B.  die  Rotation  der  Erde  gegen  die  Fixsterne 
mit  gleichem  Recht  als  eine  entgegengesetzte  Drehung  des  Stern- 
himmels um  die  Erde  aufgefaßt  werden  könnte.  Um  Kants  Stel- 
lung zu  diesem  Gedanken  kennen  zu  lernen  —  der  ja  zu  seiner 
Zeit  genau  so  möglich  war  —  lese  man  die  Metaphysischen  An- 
fangsgründe der  Naturwissenschaften,  wo  er  im  I.  Hauptstück  in 
der  Anmerkung  zum  Grundsatz  I,  und  im  IV.  Hauptstück  im 
Lehrsatz  2  und  der  Allgemeinen  Anmerkung  zur  Phänomenologie 
das  Problem  bespricht.  Er  fühlt  dort  (wie  Leibniz,  Huyghens 
und  andere)  durchaus  das  Bedürfnis,  die  Relativität  aller  Be- 
wegung aufrecht  zu  erhalten.  Während  aber  Newton  erkannte, 
daß  dies  mit  seiner  Mechanik  unvereinbar  sei  und  für  sie  folge- 
richtig (vermutlich  nicht  ganz  leichten  Herzens)  die  absolute  Be- 
wegung postulierte,  sucht  Kant  dadurch  nach  einem  Ausweg,  daß 


Kritizistische  oder  empiristische  Deutung  der  neuen  Physik?       107 

er  neben  den  Gegensatz  der  relativen  und  absoluten  denjenigen 
der  „wahren"  und  „scheinbaren"  Bewegung  setzte!1). 

Cassirer  hat  bereits  in  „Substanzbegriff  und  Funktionsbegriff" 
(1910)  die  Frage  der  Eelativität  der  Rotation  behandelt  (S.  230  ff.). 
Es  ist  höchst  bemerkenswert,  mit  welchem  Scharfsinn  er  schon 
damals  die  Konsequenzen  der  Machschen  Auffassung  überblickte. 
Er  sagt  nämlich  (1.  c.  246) :  „Die  positivistischen  Bedenken  gegen 
den  ,reinen'  Raum  und  die  ,reine'  Zeit  beweisen  daher  nichts, 
weil  sie  zu  viel  beweisen  würden:  sie  müßten,  konsequent  zu 
Ende  gedacht,  auch  jede  Darstellung  physisch  gegebener  Körper 
in  einem  geometrischen  System,  in  welchem  es  feste  Lagen  und 
Entfernungen  gibt,  verwehren".  Hier  und  in  den  der  zitierten 
Stelle  vorhergehenden  Entwicklungen  werden  also  vom  kritizisti- 
schen Gesichtspunkte  aus  im  wesentlichen  gerade  die  Konsequenzen 
verworfen,  zu  denen  sich  die  Naturwissenschaft  jetzt  gezwungen 
sieht. 

Gewiß  hat  Cassirer  Recht  mit  seiner  Meinung,  daß  die  Be- 
stätigung der  Machschen  Relativitätsbehauptung  für  sich  noch 
keinen  zwingenden  Beweis  für  die  Notwendigkeit  einer  empiristi- 
schen Interpretation  der  Einsteinschen  Theorie  liefere  (S.  97)  — 
aber  ein  höchst  bedeutsames  Indizium  bleibt  sie  doch.  Und  zwar, 
wie  ich  glaube,  kein  trügerisches.  Denn  das  erkenntnistheoretische 
Motiv,  das  Mach  und  Einstein  (sei  es  mit  Recht  pder  Unrecht) 
zu  dem  Postulat  der  Relativität  aller  Bewegungen  führte,  war 
der  Satz,  daß  Unterschiede  des  Wirklichen  nur  dort 
angenommen  werden  dürfen,  wo  Unterschiede  im 
prinzipiell  Erfahrbaren  vorliegen.  Diese  fundamentale 
Regel  ist  öfters  ausgesprochen  worden,  auch  von  Metaphysikern 
wie  Leibniz,  bei  dem  sie  gleich  in  zwei  Gestalten  erscheint,  näm- 
lich als  principium  identitatis  indiscernibilium  und  als  principe  de 
Tobservabilite  (in  letzterer  Form  führt  es  auch  Cassirer  S.  37  an) ; 
aber  von  der  Aufstellung  bis  zum  konsequenten  Festhalten  und 
Durchführen  der  Regel  ist  noch  ein  großer  Schritt.  Wird  der 
Grundsatz  jedoch  in  seiner  wahrhaft  fundamentalen  Bedeutung 
erkannt  und  gewürdigt,  so  läßt  er  sich,  wie  ich  glaube,  zum 
obersten   Prinzip    aller    empiristischen    Philosophie    erheben,    zur 

1)  Ilse  Schneider  (l.  c.  S.  14)  zitiert  die  entsprechende  Kantstelle  beifällig, 
■weil  sie  Kant  als  Gegner  der  absoluten  Bewegung  erscheinen  läßt,  aber  sie  yer- 
gißt,  daß  jene  Unterscheidungen  gerade  vom  Standpunkt  der  Relativitätstheorie 
eine  Ungeheuerlichkeit  darstellen. 


108  Moritz  Schlick, 

letzten  Richtschnur,  die  bei  der  Stellungnahme  zu  jeder  Einzel- 
frage maßgebend  sein  muß,  und  deren  unerbittliche  Anwendung 
auf  alle  Spezialprobleme  ein  Verfahren  von  höchster  Fruchtbarkeit 
darstellt.  Ist  diese  Auffassung  richtig,  so  wäre  damit  allerdings 
der  Zusammenhang  der  Relativitätslehre  mit  der  empiristischen 
Erkenntnistheorie  als  ein  innerlicher,  streng  sachlicher,  als  nicht 
bloß  äußerer  und  zufälliger  erkannt. 

Im  letzten  Kapitel  seines  Buches  betont  Cassirer  mit  Nach- 
druck, daß  der  Raum  und  die  Zeit  der  Relativitätstheorie  eben 
Raum  und  Zeit  der  Physik  sind,  nicht  der  Wirklichkeit  schlecht- 
hin, sodaß  ihnen  etwa  der  Raum  und  die  Zeit  der  Psychologie 
als  etwas  gänzlich  Heterogenes  gegenüberstehen.  Es  ist  in  der 
Tat  von  größter  Wichtigkeit,  sich  stets  darüber  klar  zu  sein,  daß 
man  von  Raum  und  Zeit  in  völlig  verschiedenen  Bedeutungen 
reden  kann  —  am  wichtigsten  gerade  auch  für  den,  dem  es 
schließlich  auf  die  Erkenntnis  des  Zusammenhanges  dieser  ver- 
schiedenen Bedeutungen  ankommt.  Wenn  ich  an  andern  Stellen1) 
den  psychologischen  Raum  (und  die  Zeit)  als  das  rein  Anschauliche 
dem  physikalischen  als  einer  rein  begrifflichen  Konstruktion  gegen- 
überstellte, so  war  ich  mir  wohl  bewußt,  daß  die  „Anschauung" 
bei  Kant  in  einer  ganz  andern  Weise  abgegrenzt  wird.  In  diesem 
Punkte  bin  ich  von  einer  Reihe  von  Kritikern  mißverstanden 
worden.  Cassirer  erklärt2)  Kants  reine  Anschauung  als  eine  be- 
stimmte „Methode  der  Objektivierung":  das  ist  sie  freilich  auch, 
aber  ihr  Wesen  erschöpft  sich  nicht  darin.  Gewiß  wollte  Kant 
alles  Psychologische  aus  ihr  entfernen  - —  aber  ich  werde  mich 
niemals  überzeugen  können,  daß  es  ihm  gelungen  ist.  Denn  es 
kann  eben  nicht  gelingen3)  ohne  die  Anwendung  der  einzigen 
Methode,  die  das  rein  Begriffliche  der  Geometrie  vom  Psycholo- 
gisch-Anschaulichen zu  trennen  ermöglicht :  das  ist  die  Methode 
der  impliziten  Definition,  die  erst  in  der  modernen  Mathematik 
ausgebildet  wurde4).  Ohne  sie  ist  es  nicht  einmal  möglich,  die 
Idee  eines  reinen  Begriffs  zu  fassen  und  in  seiner  Ablösung  von 
allen  psychologischen  Momenten  zu  verstehen.  Kants  reiner  An- 
schauungsraum enthält  also  notwendig  solche  Momente,  sie  geben 
dem  Raumbegriff  den  Inhalt,    ohne  den   er  für  Kant  „leer"  wäre. 

1)  „Raum  und  Zeit"  3,  S.  81,  „Allgemeine  Erkenntnislehre",  S.  301. 

2)  S.  123,  124,  Anmerkung. 

3)  Wie  sich  z.  B.  aus  den  Ausführungen  Selliens  (1.  c.  S.  40)  erkennen  läßt. 

4)  Vgl.  „Allgemeine  Erkenntnislehre",  S.  30  ff. 


Kritizistische  oder  empiristische  Deutung  der  neuen  Physik?       109 

Sein  Raum  ist  ihm  zwar  identisch  mit  dem  Raum  Newtons  (dies 
ist  auch  die  Meinung  Cassirers,  die  ich  stets  geteilt  habe ;  Sellien *) 
jedoch,  den  Cassirer  sonst  zustimmend  zitiert,  scheint  ihr  zu 
widersprechen),  aber  der  Newtonsche  Raum  ist  auch  bei  ihm  eben  ein 
anschaulicher,  noch  nicht  gereinigt  von  den  Elementen,  die  wir  noch 
als  psychologisch  bezeichnen  müssen.  So  ist  Kants  reine  An- 
schauung —  wie  es  auch  durchaus  der  verbreiteten  Meinung  von 
Raum  und  Zeit  entspricht  —  ein  Mittelding  zwischen  rein  Begriff- 
lichem und  psychologisch  Anschaulichem;  und  da  ich  es  für  eins 
der  wichtigsten  Ergebnisse  der  modernen  Theorie  der  exakten 
Wissenschaft  halte  (in  diesem  Punkte  hat  sich  Henri  Poincare 
besonders  große  philosophische  Verdienste  erworben),  daß  es  solch 
eine  Mischung,  solch  ein  Mittelding  eben  nicht  gibt,  so  mußte 
ich  einerseits  die  Existenz  einer  reinen  Anschauung  im  Sinne 
Kants  leugnen  (Allgem.  Erkenntnislehre,  S.  302)  und  durfte  von 
einer  Vermengung  des  physischen  Raumbegriffs  mit  seinen  sinn- 
lichen Repräsentanten  sprechen  (Raum  und  Zeit,  S.  83) ;  anderer- 
seits mußte  ich  erklären,  daß  in  der  Lehre  von  den  bloß  subjek- 
tiven Anschauungsformen  eben  insofern  ein  richtiger  Kern  zu 
finden  ist,  als  sie  noch  von  psychologischen  Momenten  nicht  ganz 
entblößt  sind.  Diese  Ansichten  vermag  ich  also  nicht  aufzugeben. 
Die  Verfolgung  des  Bedeutungswandels  der  Termini  Raum 
und  Zeit  durch  die  verschiedenen  Gebiete  des  Geisteslebens  gibt 
Cassirer  Gelegenheit,  seine  Betrachtung  der  Relativitätslehre  groß- 
zügig in  umfassendere  Zusammenhänge  einzuordnen  und  außer  dem 
Lichte  der  speziellen  Erkenntniskritik  auch  die  Strahlen  der  syste- 
matischen Philosophie  auf  sie  zu  richten.  So  schließt  das  Buch 
mit  einem  Umblick,  dessen  Weite  der  Höhe  des  eingenommenen 
Standpunktes  entspricht.  Wir  scheiden  mit  dem  Eindruck,  daß 
dieser  Standpunkt  über  die  Region  des  eigentlichen  Kritizismus  doch 
schon  hinausliegt,  und  daß  es  Cassirer  nur  hierdurch  gelang,  der 
Relativitätstheorie  philosophisch  in  dem  Maße  gerecht  zu  werden, 
wie    es  in  dem  geistvollen  und  gedankenreichen  Buche  geschieht. 


Gern  willfahre  ich  der  Aufforderung  der  Leitung  der  Kant- 
studien, bei  dieser  Gelegenheit  noch  über  zwei  andere  Bücher  zur 
Einsteinschen  Lehre  kurz    zu   berichten,   denn  es  handelt  sich  um 


1)  1.  c.  S.  16.    Dort  ist  von  der  Zeit  die  Rede;    Tom  Raum  aber  gelten  die 
Argumente  in  gleicher  Weise. 


110  Moritz  Schlick, 

Schriften,  von  denen  zu  sprechen  sich  lohnt.  Die  erste,  verfaßt 
von  Max  Born1),  gibt  eine  glänzende,  ausführliche  Darstellung 
der  Einsteinschen  Lehre  vom  Standpunkt  des  Physikers  aus.  Sie 
füllt  in  überaus  trefflicher  Weise  eine  sehr  fühlbare  Lücke  der 
Einstein -Literatur,  denn  während  die  bis  dahin  vorhandenen 
gemeinverständlichen  Einführungen  in  die  Theorie  bei  der  Be- 
sprechung ihrer  physikalischen  Grundbegriffe  sich  auf  das  not- 
wendigste beschränkten,  erscheint  die  Theorie  in  dem  Bornschen 
Buche  zum  ersten  Mal  nicht  von  ihrem  natürlichen  Hintergrunde 
abgelöst,  sondern  es  wird  gerade  auf  ihre  Einordnung  in  das 
System  der  Physik  großes  Gewicht  gelegt,  klar  treten  die  Zu- 
zuammenhänge  hervor,  aus  denen  sie  in  Wirklichkeit  erwachsen 
ist.  Für  den  Nichtphysiker  ist  es  von  höchstem  Werte,  in  diese 
Zusammenhänge  eingeweiht  zu  werden,  denn  durch  sie  führt  der 
naturgemäße  Weg  zum  Verständnis.  Born  ebnet  diesen  Weg  nicht 
nur  durch  Vermeidung  aller  höheren  Mathematik,  sondern  selbst 
Logarithmen  und  trigonometrische  Funktionen  kommen  nicht  vor. 
Die  Hauptsache  aber  ist:  das  Buch  ist  durch  und  durch  das  Werk 
eines  philosophischen  Kopfes.  Das  zeigt  sich  nicht  etwa  darin, 
daß  Born  den  Gang  seiner  Darstellung  durch  philosophische  Deu- 
tungen und  Abschweifungen  unterbräche,  sondern  in  der  Höhe  der 
Gesichtspunkte,  die  den  Aufbau  bestimmen,  und  in  der  tiefen 
Besinnung,  die  aus  der  Behandlung  des  Gegenstandes  überall  her- 
vorleuchtet. Es  zeigt  sich  ferner  vor  allem  in  der  kurzen  philo- 
sophischen Einleitung,  die  geradezu  klassisch  anmutet  in  der 
Wärme  und  der  Prägnanz,  mit  der  sie  den  Grundgedanken  vor- 
trägt: daß  das  Absolute  nur  im  Umkreis  des  Subjektiven  zu 
finden  ist,  und  daß  der  denkende  Geist  in  die  Sphäre  der  objek- 
tiven Geltung  nur  vordringen  kann,  indem  er  das  Absolute  opfert, 
um  Erkenntnis  des  Relativen  dafür  einzutauschen.  Fürwahr  eine 
fundamentale  Einsicht,  die  nicht  nur  in  der  theoretischen  Wissen- 
schaft offenbar  wird,  sondern  nach  meiner  Überzeugung  sich  auch 
in  der  praktischen  Philosophie  bewährt. 

Die  zweite  Schrift  ist  das  Büchlein  „Relativitätstheorie  und 
Erkenntnis  a  priori"  von  Hans  R eichen bach  (Berlin  1920).  Es 
stellt  zweifellos  einen  großen  Fortschritt  in  der  logischen  Deutung 
der  Einsteinschen  Lehre   dar.     Reichenbach   leuchtet   durch    eine 


1)  Die  Relativitätstheorie  Einsteins  und  ihre  physikalischen  Grundlagen  ge- 
meinverständlich dargestellt,  mit  129  Abbildungen  und  einem  Porträt.  Springer, 
Berlin  1920. 


Kritizistische  oder  empiristische  Deutung  der  neuen  Physik?       111 

Art  axiomatischer  Methode  in  sehr  scharfsinnigen  und  selbstän- 
digen Ausführungen  in  die  logischen  Grundlagen  der  Relativitäts- 
theorie  hinein  und  liefert  dabei  durch  Aufdeckung  gewisser  ver- 
steckterer Prinzipien  (er  spricht  z.  B.  von  einem  „Prinzip  des 
approximierbaren  Ideals ",  einem  „Prinzip  der  normalen  Induktion" 
usw.)  einen  wertvollen  Beitrag  zur  Logik  der  exakten  Wissen- 
schaft überhaupt.  Er  gelangt  zu  dem  Resultat,  daß  Einsteins 
Theorie  mit  der  ursprünglichen  Kantschen  Lehre  nicht  vereinbar 
sei,  und  er  nimmt  eine  solche  Umbildung  des  Aprioribegriffs  vor, 
daß  die  Relativitätstheorie  ihm  nicht  mehr  widerspricht  und,  wie 
er  meint,  der  wichtigste  Grundgedanke  der  Kantschen  Philosophie 
aufrecht  erhalten  bleibt.  Diesen  Grundgedanken  glaubt  er  nämlich 
in  der  Einsicht  zu  finden,  daß  jede  Erkenntnis  nur  durch  die  logi- 
sche Voraussetzung  gewisser  Prinzipien  möglich  wird,  die  ihren 
Gegenstand  überhaupt  erst  konstituieren.  Solche  Prinzipien  nennt 
er  a  priori,  läßt  aber  das  Merkmal  der  Apodiktizität  fallen;  sie 
sind  also  nicht  notwendig,  und  fortschreitende  Erfahrung  kann 
Anlaß  zu  ihrer  Modifikation  geben.  „Apriori  bedeutet:  vor  der 
Erkenntnis,  aber  nicht :  für  alle  Zeit,  und  nicht :  unabhängig  von 
der  Erfahrung"  (S.  100).  Nach  dem  oben  (S.  98)  Gesagten  scheint 
mir  der  Boden  des  Kritizismus  damit  vollständig  verlassen  zu 
sein;  und  Reichenbachs  Prinzipien  a  priori  würde  ich  als  Kon- 
ventionen im  Sinne  Poincares  bezeichnen.  Die  Terminologie  des 
Verfassers  kann  ich  also  nicht  gutheißen,  aber  sachlich  stimme 
ich  in  den  meisten  wesentlichen  Ergebnissen  durchaus  mit  ihm 
überein.  Selbst  in  den  Fragen,  in  bezug  auf  welche  er  in  der 
Schrift  gegen  mich  Stellung  nimmt,  bestejit  in  Wahrheit  keine 
tiefgehende  Verschiedenheit  der  Meinungen,  wie  eine  briefliche 
Erläuterung  beider  Standpunkte  nachträglich  ergeben  hat.  Aber 
auch  für  den,  der  diesen  Standpunkten  fern  steht,  ist  das  Büchlein 
wertvoll,  denn  eine  philosophische  Leistung,  die  sich  durch  Ori- 
ginalität, Klarheit  und  Schärfe  der  Gedankenführung  so  auszeichnet 
wie  die  vorliegende,  muß  dem  Leser  auch  dann  Genuß  und  Vorteil 
bieten,  wenn  sie  ihn  zum  Widerspruch  anregt. 


Philosophie  und  Leben. 

Bemerkungen   zu  Heinrich  Rickerts  Buch:    „Die  Philosophie   des 

Lebens". 

Von  Max  Frischeisen  -  Köhler. 


Seitdem  Dilthey  und  Eucken,  Nietzsche  und  Simmel 
dem  Begriff  des  Lebens,  den  die  zeitweise  Vorherrschaft  der  bio- 
logischen Denkweise  fast  ausschließlich  auf  die  organischen  Er- 
scheinungen eingeschränkt  hatte,  den  vollen  Sinn  wieder  zurück- 
gegeben haben,  den  er  bereits  bei  H e r d e r  undGroethe,  Fichte 
und  den  romantischen  Denkern  erreicht  hatte,  erheben  sich  allent- 
halben Ansätze  zu  einer  „Philosophie  des  Lebens",  die  trotz  der 
Vielfältigkeit  der  Tendenzen  gemeinsame  Grundzüge  erkennen 
lassen.  Schon  der  Wortgebrauch  und  die  nächsten  Formulierungen 
sind  kennzeichnend.  Das  „Leben"  und  das  „Erlebnis",  das  „Er- 
leben" und  das  „Ausleben"  erfreuen  sich  einer  außerordentlichen 
Beliebtheit.  Über  den  „Sinn  und  Wert  des  Lebens",  über  „Er- 
kennen und  Leben"  handeln  zwei  vielgelesene  Werke  von  Eucken. 
In  einer  „Lebensanschauung"  hat  Simmel  vier  Kapitel  einer 
„Metaphysik  des  Lebens"  gegeben.  Und  schon  wagen  sich  wieder 
„Beiträge  zu  einer  Philosophie  des  Lebens"  hervor,  wie  einst, 
da  Karl  Philipp  Moritz  solche  herausgab,  und  es  sind 
sogar  schon  Vorlesungen  über  Lebensphilosophie  gehalten  worden, 
deren  Ankündigung  unwillkürlich  die  Erinnerung  an  Friedrich 
Schlegels  „Vorlesungen  über  die  Philosophie  des  Lebens"  wach- 
ruft. Diese  Bewegung  findet  sich  keineswegs  nur  in  Deutschland. 
Auch  das  Ausland  bietet  bemerkenswerte  Parallelen,  von  denen 
bei  uns  der  französische  Philosoph  des  Lebens,  HenryBergson, 
neben  Gruyau  am  bekanntesten  ist. 

Die  streng  wissenschaftliche  Philosophie,  ob  sie  von  Kant 
oder  von  dem  exakten  Positivismus  ausgeht,  hat  sich  nun  ihr 
gegenüber   bisher  wesentlich   ablehnend  verhalten.     Insbesondere 


Philosophie  und  Leben.  113 

hat  der  Neukantianismus  in  seinen  verschiedenen  Fraktionen  eine 
schroff  abweisende  Haltung  eingenommen.  Aber  natürlich  genügt 
es  auf  die  Datier  nicht,  die  unter  dem  vieldeutigen  Namen  der 
Lebensphilosophie  sich  einigenden  Tendenzen  nur  durch  stolzes 
Schweigen  zu  ignorieren  oder  als  Dilettantismus  oder  als  „Psy- 
chologismus" zu  diskreditieren.  Es  ist  daher  zu  begrüßen,  daß 
der  Führer  der  südwestdeutschen  Philosophenschule,  Heinrich 
Rickert1),  sich  zu  einer  Auseinandersetzung  entschlossen  hat, 
welche  unter  Absehung  von  bloß  historischen  Schilderungen  eine 
grundsätzliche  „Darstellung  und  Kritik  der  philosophischen  Mode- 
strömungen  unserer  Zeit"  gibt.  Damit  ist  das  Problem  einer  Phi- 
losophie des  Lebens  prinzipiell  gestellt.  Wie  Ricke  rts  Buch  ur- 
sprünglich als  Teil  einer  „allgemeinen  Grundlegung  der  Philosophie" 
das  von  ihm  bereits  seit  längerem  erwartete  „  System  der  Philoso- 
phie" einleiten  sollte,  beschränkt  es  sich  nicht  auf  eine  Einzelkritik, 
sondern  entwickelt  mit  der  begrifflichen  Klarheit,  die  alle  Arbeiten 
dieses  Denkers  auszeichnet,  die  Grundfrage  in  solcher  Allgemein- 
heit, daß  seine  Ausführungen  fortan  den  Mittelpunkt  der  weiteren 
Diskussionen  bilden  werden. 

1. 

Ich  gebe  zunächst  eine  Übersicht  über  Rick  er  ts  Gedanken- 
gang im  engen  Anschluß  an  seine  Formulierungen. 

Das  erste,  was  eine  Kritik  der  Lebensphilosophie  festzustellen 
hat,  ist  nach  ihm,  daß  der  moderne  Lebensbegriff  in  der  Regel  zu 
unbestimmt  ist,  um  ohne  genauere  Determination  das  Fundament 
einer  wissenschaftlichen  Philosophie  zu  bilden.  Für  die  Wissen- 
schaft ist  vor  allem  die  Auseinandersetzung  von  zwei  prinzipiell 
verschiedenen  Begriffen  des  Lebens  wichtig,  von  denen  der  eine  eine 
sehr  umfassende  Bedeutung  hat,  der  andere  dagegen  sich  auf  einen 
engeren  Kreis  von  Lebenserscheinungen  beschränkt.  Jener  geht 
auf  das  Unmittelbare,  Anschauliche,  Intuitive  im  Gegensatz  zum 
Begriff,  dieser  auf  das  Organische,  das  Vitale,  das  Leben  im 
Gegensatz  zum  Toten.  Charakteristisch  für  unsere  Zeit  ist,  daß 
in  dem  vieldeutigen  Modeschlagwort  sich  intuitionistische  und  bio- 
logistische  Momente  mischen.  Aber  ihre  reinliche  Trennung  ist 
für  jede    prinzipielle    Auseinandersetzung   Bedingung.      Zunächst 


1)  Heinrich  Rickert:   Die  Philosophie  des  Lebens.     Darstellung  und 
Kritik  der  philosophischen  Modeströmungen  unserer  Zeit.    Tübingen  1920. 

Kantstudien  XXVI.  8 


114  Max  Fri8cheisen-Kö hier, 

freilich  reicht  auch  schon  der  unbestimmte  Lebensbegriff  aus,  um 
den  Charakter  der  L^ebensphilosophie  unserer  Zeit  nach  einigen 
allgemeinen  Zügen  angeben  zu  können.  Sie  wird  darauf  ausgehen, 
mit  dem  Begriff  des  Lebens  allein  die  gesamte  Welt-  und  Lebens- 
anschauung aufzubauen.  Sie  erklärt  das  Leben  für  das  eigent- 
liche Wesen  des  Weltalls  und  macht  es  zugleich  zum  Organon 
seiner  Erfassung.  Es  ist  der  Standpunkt  der  Lebensimmanenz, 
der  grundsätzlich  kein  Anderes  oder  kein  Jenseits  des  Lebens 
kennt,  sondern  das  Leben  nur  am  Leben  mißt.  Auf  ihm  soll  das 
Leben  selber  aus  dem  Leben  heraus  ohne  Hilfe  unserer  Begriffe 
philosophieren.  Damit  ist  nicht  nur  ein  Antiintellektualismus  oder 
ein  Irrationalismus,  sondern  vor  allem  die  Ablehnung  jeder  Form 
eines  Systems  gefordert.  Die  Welt  verstanden  als  Allleben  paßt 
in  kein  festes  System  hinein.  Das  lebendige  Denken  soll  die 
Statik  des  Systems  ablösen  und  uns  damit  von  jeder  starren  und 
tötenden  Systematik  erlösen. 

Aber  diese  summarische  Charakteristik  ist  reichlich  allgemein. 
Sobald  wir  uns  den  einzelnen  Vertretern  der  Lebensphilosophie 
zuwenden,  wird  deutlich,  daß  entweder  die  intuitionistische  Ten- 
denz (wie  etwa  bei  Dilthey,  Simmel  und  Scheler)  oder  die 
biologistische  Tendenz  (wie  etwa  bei  Nietzsche  und  Bergs on) 
vorherrscht.  Die  Kritik  wird  daher  zunächst  die  Tragweite  dieser 
beiden  Tendenzen,  sofern  sie  den  Rang  philosophischer  Prinzipien 
beanspruchen,  einzeln  prüfen. 

Was  heißt  „Erleben"  und  was  sind  „Erlebnisse",  aus  denen 
allein  eine  Philosophie  des  Lebens  sich  aufbauen  will?  Versteht 
man  erstens  unter  Erlebnis  alles  Wissen  und  Erfahren  von  Etwas, 
meint  man  also,  daß  alles  Denken  eines  Denkbaren  notwendig 
Erlebnis  sei,  dann  wird  der  Lebensbegriff  völlig  leer;  denn  ein 
Wort,  das  jedes  Denken  eines  jeden  denkbaren  Etwas  bezeichnen 
soll,  verliert  notwendig  die  prägnante  Bedeutung.  Eine  solche 
Terminologie,  die  nur  die  Neubenennung  eines  Sachverhaltes  ist, 
der  für  jede  Art  von  Denken  gilt,  reicht  daher  in  keiner  Weise 
hin,  überhaupt  irgend  einen  philosophischen  Standpunkt  abzu- 
grenzen. Schränkt  man  Erleben  in  etwas  engerer  Fassung  ein 
auf  „Gegeben"  oder  auch  „Bewußt  sein",  so  ergibt  sich  für  eine 
Philosophie,  die  bei  dem  Gregebenen  oder  Bewußten  stehen  bleibt, 
der  Standpunkt  der  Immanenz  oder  der  reinen  Erfahrung;  aber 
ein  Fundament  für  eine  Philosophie  des  Lebens  in  irgend  einer 
eigentümlichen  Bedeutung  gewährt  dasselbe  nicht. 


Philosophie  und  Leben.  115 

Identifiziert  man  zweitens  das  Erlebnis  mit  dem  Unmittel- 
baren, Ursprünglichen,  d.  h.  den  anschaulichen  Lebensinhalten,  in- 
dem man  dabei  von  jeder,  insbesondere  jeder  begrifflichen  Form 
absieht,  um  das  reine  ungetrübte,  unentstellte  Leben  in  purer 
Intuition  zu  erfassen,  so  erhält  man  zwar  einen  charakteristischen 
und  wohl  abgrenzbaren  Standpunkt  der  Betrachtung,  der  sich 
aber  zu  einer  Philosophie,  die  Wissenschaft  sein  will,  nicht  ent- 
wickeln läßt.  Denn  je  konsequenter  man  das  Leben  als  reinen 
Inhalt  der  Anschauung  im  Gegensatz  zu  jeder  Verstandesform  zu 
erfassen  sucht,  um  so  mehr  entfernt  man  sich  damit  vom  wissen- 
schaftlichen Denken  überhaupt.  So  richtig  es  ist,  daß  die  Philo- 
sophie Inhalte  braucht,  und  daß  alle  Inhalte,  die  wir  begrifflich 
formen  wollen,  auch  anschaulich  erlebt  sein  müssen,  so  richtig  ist 
auch,  daß  das  bloß  anschaulich  intuitive  Erleben  der  Inhalte  für 
sich  noch  keine  Philosophie  ist.  Irgend  welche  Verstandesformen 
bleiben  unentbehrlich.  Eine  Philosophie,  die  auf  sie  wirklich  ver- 
zichten würde,  könnte  überhaupt  nicht  in  sinnvollen  Sätzen  zum 
Ausdruck  gebracht  werden.  Absolute  Formlosigkeit  macht  die 
Wissenschaft  nicht  lebendig,  sondern  tötet  sie.  Und  auch  das  ist 
unmöglich,  die  Formen  des  Lebens,  die  nicht  entbehrt  werden 
können,  in  das  Leben  selbst  hinein  zu  ziehen.  Denn  Lebensformen, 
d.  h.  Formen,  die  nur  Leben  sind,  gibt  es  nicht.  Lebendig  ist 
allein  der  Lebensinhalt.  Erstreben  wir  eine  Wissenschaft  vom 
Leben,  so  brauchen  wir  feste  unlebendige  Lebensformen,  da  andern- 
falls von  einem  lebendigen,  sich  verändernden  Leben  überhaupt 
nicht  die  Rede  sein  könnte.  Weil  es  Veränderung  gibt,  sind  die 
Formen  p&&&.  Veränderung  unveränderlich.  Die  Welt  als  Ganzes 
ist  nicht  lebendig,  sondern  das  Leben  in  der  Welt  ist  lebendig. 
Es  gibt  Leben  im  All,  aber  das  All  selbst  ist  nicht  Leben. 

Nun  kann  aber  drittens  das  Erlebnis  noch  enger  und  be- 
stimmter als  das  Erlebte  verstanden  werden,  das  für  uns  beson- 
ders wesentlich,  bedeutungsvoll,  d.  h.  das  mit  einem  Wert  ver- 
knüpft ist.  Damit  werden  die  Erlebnisse  in  prägnanter  Bedeutung 
aus  der  unübersehbaren  Fülle  sonst  gleichgültiger  Erlebnis inhalte 
herausgehoben.  Aber  diese  Heraushebung  ist  rein  subjektiv  und 
individuell.  Eine  Philosophie,  welche  die  wertvollen  Erlebnisse 
zum  Ausgangspunkt  einer  wissenschaftlichen  Weltbetrachtung  er- 
heben will,  muß  in  allgemeiner,  überindividueller,  notwendiger  und 
mitteilbarer  Weise  die  geforderte  Scheidung  unter  den  Erlebnissen 
vollziehen.     Ohne  ein  solches   allgemeingültiges  Prinzip    der  Aus- 

8* 


116  Max  Frischeisen-Köhler, 

wähl  gibt  es  keine  Wissenschaft  und  daher  können  wir  mit  dem 
bloßen  Erleben,  auch  wenn  wir  es  anf  die  bedeutungsvollen  In- 
halte einschränken,  nicht  zum  Aufbau  einer  Philosophie  des  Lebens 
kommen.  Wie  immer  wir  also  auch  den  intuitionistischen  Lebens- 
begriff verstehen :  das  Ergebnis  ist  das  gleiche.  Eine  Philosophie, 
die  mit  ihm  allein  auszukommen  sucht,  entbehrt  der  festen  ord- 
nenden Form  gegenüber  der  verwirrenden  Fülle  der  Inhalte,  die 
allein  Wissenschaft  ermöglicht.  Ihr  Prinzip  ist  das  der  Prinzipien- 
losigkeit. Philosophie  als  ein  theoretisches  Nachdenken  über  die 
Welt  kann  das  Ziel,  sie  begrifflich  zu  beherrschen,  sie  zu  organi- 
sieren und  eindeutig  zu  bestimmen,  niemals  zu  Gunsten  einer  Hin- 
gabe an  den  Anschauungsgehalt  preisgeben,  wenn  sie  sich  nicht 
selber  aufgeben  will.  Das  bloße  Erleben  des  Lebens  ist  noch 
kein  Erkennen  desselben.  Der  Dualismus  von  Leben  und  Begriff 
ist  niemals  aufzuheben.  „Als  Forscher  haben  wir  das  Leben  be- 
grifflich zu  beherrschen  und  zu  befestigen  und  müssen  daher  aus 
der  bloß  lebendigen  Lebenszappelei  heraus  zur  systematischen 
Weltordnung". 

Gegenüber  der  intuitionistischen  Tendenz  besitzt  nun  die  b  i  o- 
logistische  von  vornherein  die  große  Überlegenheit,  daß  sie  ein 
klares,  in  der  Wissenschaft  von  den  Organismen  bereits  entwickeltes 
Formprinzip  besitzt.  Ob  es  für  die  Begründung  einer  Philosophie 
des  Lebens  ausreicht,  wird  davon  abhängen,  ob  man  von  den  or- 
ganischen Lebensformen  aus  Formen  und  Normen  für  alles  Leben 
und  schließlich  für  die  Welt  gewinnen  kann.  Es  ist  der  natura- 
listische Evolutionismus,  der  dies  bejaht.  Für  die  Gegenwart 
kommt  vor  allem  seine  neuere  antidarwinistische  Ausprägung  in 
Betracht,  die  die  aus  der  englischen  Nationalökonomie  stammenden 
Gesichtspunkte  der  Selektion  und  Anpassung,  die  mechanische  Ten- 
denz und  das  Ideal  der  Lebensökonomie  zurücktreten  läßt,  dafür 
vielmehr  das  Organische  dynamisch  als  schöpferische  Entwicklung 
auffaßt,  als  Wachstum  und  immer  neue  Kraftentfaltung,  als  Akti- 
vität und  Machtsteigerung,  die  keiner  Ruhelage  zustrebt,  sondern 
im  heroischen  Kampf  und  dem  Aufsteigen  der  Vitalität  selbst 
ihren  Sinn  hat.  Aber  wie  immer  die  biologischen  Begriffe  des 
näheren  bestimmt  sein  mögen:  eine  nur  mit  ihnen  arbeitende  Phi- 
losophie kann  nicht  den  Anspruch  einer  universalen  Erkenntnis 
der  realen  Welt  erheben.  Denn  die  Biologie  beschränkt  sich 
ihrem  Wesen  nach  auf  einen  Teil  des  Weltganzen  und  nur  dieser 
Beschränkung  verdankt   sie   ihr   festes   Formprinzip.     Der  Biolo- 


Philosophie  und  Leben.  117 

gismus  als  Philosophie  erhebt  dagegen  den  Teil  zum  Ganzen  und 
verwickelt  damit  sich  notwendigerweise  in  all  die  Schwierigkeiten, 
die  jedem  spezialistischen  Universalismus,  der  aus  einem  Teil  das 
Ganze  erklären  will,  unvermeidlich  sind.  Auch  kann  sich  der 
Biologismus  nicht  darauf  berufen,  daß  er,  zumal  wenn  er  die  me- 
chanisierende Lebensinterpretation  ablehnt,  wenigstens  in  der  Be- 
trachtung des  Organischen  das  Leben  in  seiner  unmittelbaren  Rea- 
lität erkenne  und  er  daher  wohl  die  biologischen  Kategorien  zu 
Weltallkategorien  erweitern  dürfe,  um  durch  diese  das  Wesen  der 
Wirklichkeit  in  der  ganzen  Welt  zu  erfassen.  Denn  mag  es  auch 
sein,  daß  die  moderne  Biologie  dem  Leben  näher  als  ein  abstrakter 
Mechanismus  steht,  so  ist  sie  als  eine  Wissenschaft  doch  immer 
auf  Begriffe  des  Verstandes  angewiesen.  Auch  die  Biologie  besitzt 
wie  jede  Naturwissenschaft  eine  Lebensferne,  um  überhaupt  als 
Wissenschaft  möglich  zu  sein.  Es  ist  ihr  daher  ebenso  wenig 
möglich,  den  Kern  der  Welt  in  seinem  begrifflich  noch  nicht  be- 
arbeiteten Ansichsein  zu  ergreifen,  wie  der  Physik  oder  der  Chemie. 
Nur  die  Ungeklärtheit  gewisser  Begriffe,  die  der  moderne  Biolo- 
gismus benutzt,  kann  den  Schein  vortäuschen,  daß  wir  es  in  ihnen 
nicht  auch  mit  Produkten  logischer  Theorienbildung  zu  tun  haben. 
Die  biologistische  Lebensphilosophie  besitzt  somit  nicht  ein 
besonderes  Realitätsprinzip,  das  sie  auch  nur  analogisch  zum 
Prinzip  einer  Welterklärung  erheben  könnte.  Sie  besitzt  aber 
auch  kein  Wertprinzip,  das  zur  wissenschaftlichen  Grundlegung 
einer  Lebensanschauung  dienen  könnte.  Denn  auch  ihr  fehlt  jedes 
Prinzip  der  Auswahl,  um  in  der  Fülle  des  Lebens  sinnvolles  und 
sinnloses  Leben  von  einander  zu  scheiden.  In  dem  Maße,  in  dem 
sie  als  objektive  Forschung  die  anthropomorphistischen  Schätzungen 
und  wertteleologischen  Begriffsbildungen  ausscheidet,  entschwindet 
ihr  die  Möglichkeit,  Normen  für  die  Lebensgestaltung  aufzustellen. 
Das  teleologische  Moment,  das  die  Biologie  in  der  Organismen  weit 
anerkennt,  ist  noch  kein  wertteleologisches  Moment.  Die  Begriffe 
von  Entwicklung  und  Entartung,  vom  aufsteigenden  und  vom 
niedergehenden  Leben,  von  Gesundheit  und  Krankheit,  bilden  vom 
biologischen  Standpunkt  aus  keinen  Wertgegensatz.  Auch  die 
bloße  Lebendigkeit  ist  für  sich  betrachtet  wertindifferent.  Und 
der  Satz,  daß  der  Sinn  des  Lebens  das  Leben  selber  sei,  ist  ein- 
fach sinnlos.  Die  biologischen  Begriffe  sind  mit  allen  Kultur- 
werten verträglich  und  daher  zur  Begründung  von  keinem  von 
ihnen  brauchbar.    Nur  insofern  Leben  Bedingung  aller  Kultur   ist, 


118  Max  Frischeisen-Köhler, 

kann  ihm  ein  Bedingungswert  zugesprochen  werden.  Auf  ihn  läßt 
sich  aber  kein  Biologismus  als  Weltanschauung  stützen.  Auch 
wenn  wir  Lebendigkeit  im  Sinn  von  Lebenssteigerung  und  Macht- 
entfaltung verstehen,  ist  die  bloße  Lebendigkeit  nicht  deswegen 
schon  erstrebenswert.  Und  ebenso  ist  das  Preisen  des  „Willens 
zur  Macht"  ohne  jedes  theoretische  Fundament;  es  ist  ein  reiner 
Akt  der  Willkür.  So  kommt  der  Biologismus,  wenn  er  nicht 
durch  eine  Erschleichung  Werte  ohne  Begründung  in  das  Leben 
hineinsieht,  über  ein  Wertchaos  nicht  hinaus  und  vermag  die  phi- 
losophische Aufgabe,  den  Wertkosmos  herauszuarbeiten,  prinzipiell 
nicht  zu  lösen. 

Am  allerwenigsten  kann  aber  vom  Biologismus  aus,  wie  das 
die  moderne  Lebensphilosophie  nur  zu  gern  tut,  das  System  und 
der  Wille  zum  System  abgelehnt  werden.  Von  einem  außer  wissen- 
schaftlichen Standpunkt  aus  ist  der  Kampf  gegen  das  System  ver- 
ständlich und  unwiderleglich.  Stützt  er  sich  aber  auf  theoretische 
Gründe,  so  verwickelt  er  sich  in  einen  unheilvollen  Selbstwider- 
spruch. Denn  die  Ablehnung  jedes  Systems  hebt  zugleich  jede 
Möglichkeit  einer  reinen  Theorie,  auch  einer  biologischen  Theorie, 
auf.  Es  hilft  auch  nichts,  dem  philosophischen  Denken  zwar  eine 
gewisse  Systematik  als  Ordnungsschemata  der  Auffassung  zuzu- 
gestehen, die  aber  als  beweglich  und  veränderlich  nicht  einmal 
die  Tendenz  haben  dürfen,  sich  zu  einem  starren  System  zu  ver- 
festigen. Der  Gegensatz  zwischen  Systematik  und  System  ist 
undurchführbar.  Es  genügt  für  die  reine  Betrachtung,  zumal  wenn 
sie  wie  in  der  Philosophie  universal  sein  soll,  nicht,  daß  ein  Ma- 
terial überhaupt  irgendwie  geordnet  wird.  Man  muß  vielmehr  als 
theoretischer  Mensch  die  eine  Ordnung  für  richtiger  als  die  andere 
halten  und  diese  Überzeugung  setzt  voraus,  daß  es  schließlich  eine 
und  nur  eine  Ordnung  gibt.  Sie  mag  uns  zwar  unbekannt  sein, 
aber  wir  müssen  sie  als  die  wahre  Ordnung  voraussetzen,  der  sich 
allmählich  anzunähern  das  Ziel  aller  wissenschaftlichen  Ordnungs- 
versuche bildet.  Das  System  ist  nicht  ein  „Gehäuse",  in  dem  der 
Philosoph  aus  Not  oder  Angst  einen  Halt  sucht,  das  aber  das 
fortschreitende  Leben  wieder  sprengt  und  abwirft,  sondern  die 
leitende  Idee  jeder  Weltanschauung,  die  Wissenschaft  sein  will. 
Daher  darf  der  theoretische  Mensch,  falls_  er  sich  selbst  versteht, 
nur  für  eine  Weltanschauung  Partei  ergreifen,  innerhalb  welcher 
die  reine  Theorie  einen  Sinn  hat. 

Aus  alledem  folgt,    daß  der  Lebensmonismus  in  jeder  Weise 


Philosophie  und  Leben.  119 

ein  unhaltbares  Unternehmen  ist.  Ob  wir  das  Leben  intuitiv  er- 
fassen oder  ob  wir  biologisch  vorgehen:  immer  müssen  wir  das 
Leben,  wenn  wir  philosophierend  es  erkennen  wollen,  zu  etwas 
Anderem,  das  nicht  Leben  ist,  in  Beziehung  setzen.  Nur  ein 
Denken,  das  das  Eine  wie  das  Andere  umspannt  und  in  dieser 
Dualität  das  Wesen  der  Welt  erfaßt,  kann  wahrhaft  universell 
werden.  Die  Philosophie  des  bloßen  Lebens  dagegen  kann  zwar 
Ausdruck  einer  Lebensstimmung  sein,  aber  zu  einem  positiven 
Aufbau  vermag  sie  nicht  zu  gelangen.  Ihre  Bedeutung  liegt  daher 
zu  allen  Zeiten,  wann  immer  sie  aufgetreten  ist,  vornehmlich  in 
einer  Reaktion  gegen  einen  einseitigen  .Rationalismus.  Insofern 
sie  die  Besinnung  auf  die  anschauliche  und  lebendige  Unmittelbar- 
keit des  Lebens  fordert,  bereitet  sie  eine  Einsicht  in  die  Grenzen 
des  bloßen  Verstandeswissens  vor.  Sie  lehrt  das  Unberechenbare, 
das  Irrationale  sehen,  das  es  doch  auch  gibt.  Sie  bringt  dem 
wissenschaftlichen  Menschen  neues  Material  zur  begrifflichen  Bear- 
beitung zum  Bewußtsein.  Und  indem  sie  besonders  das  Indivi- 
duelle, die  fortschreitende  Entwicklung,  den  Tatcharakter  des  leben- 
digen Lebens  betont,  bildet  sie  gegenüber  dem  konservativen 
Prinzip  der  Stabilität,  das  dem  mathematisch  orientierten  Denken 
nahe  liegt,  ein  heilsames  Gegengewicht.  Und  endlich  rückt  sie 
mit  dem  Begriff  des  Lebens  auch  den  des  Wertes  in  den  Vorder- 
grund des  Interesses.  Da  lebendiges  Leben  immer  zugleich  wer- 
tendes Leben  sein  wird,  führt  das  Lebensproblem  notwendig  zum 
Wertproblem.  Gestaltet  sich  aber  die  Lebensphilosophie  zur  Wert- 
lehre aus  und  versteht  sie  das  Wesen  der  zeitlosen  theoretischen 
Wertgeltung,  so  durchbricht  sie  das  Prinzip  der  reinen  Lebens- 
immanenz und  bereitet  damit  den  Weg  zu  einer  wahren  Philo- 
sophie des  Lebens  vor,  die  sich  nur  auf  Grund  eines  Systems  der 
Werte  erreichen  läßt. 

So  führt  die  Kritik  der  Lebensphilosophie,  indem  sie  ihre 
Grenzen  feststellt,  zu  dem  Ausblick  auf  eine  notwendige  Aufgabe, 
die  aus  ihr  erwächst.  Die  Auseinandersetzung  ist  nicht  nur  ne- 
gativ. Echte  Kritik  verneint  niemals  nur,  sondern  scheidet  ledig- 
lich das  Unhaltbare  von  dem  Richtigen.  Daher  kann  und  darf 
sie  der  Lebensphilosophie  unserer  Zeit  nicht  jede  positive  Bedeu- 
tung für  die  Wissenschaft  absprechen  wollen.  Sie  wird  vielmehr 
zu  erkennen  haben,  wo  in  der  Modeströmung  die  Ansatzpunkte 
liegen,  an  welche  die  Philosophie  anknüpfen  kann. 


120  Max  Frischeisen-Köhler, 

2. 

Rickerts  G-edankengang  ist  klar  und  geschlossen.  Der 
Hauptzweck,  dem  seine  Schrift  dienen  soll,  ist,  zu  zeigen,  daß 
man  beim  Philosophieren  über  das  Leben  mit  dem  Leben  allein 
nicht  auskommt.  Dieser  Nachweis  ist,  so  will  mir  scheinen, 
vollgültig  erbracht.  Gerade  weil  ich  in  manchen  Einzelheiten 
Ricke rt  nicht  zu  folgen  vermag  und  seine  Ausführungen  in  ver- 
schiedener Hinsicht  der  Ergänzung  für  bedürftig  und  fähig  halte, 
möchte  ich  zunächst  die  volle  Übereinstimmung  mit  der  wichtigsten 
These  seiner  Schrift  unterstreichen.  Und  wenn  aus  Gründen  der 
Sache  es  stets  Philosophie  schwerer  als  andere  Wissenschaften  haben 
wird,  ihren  Charakter  als  Wissenschaft  zu  behaupten,  wenn  gerade 
die  Intuition  jederzeit  eine  gefährliche  Einbruchsstelle  für  dunkle 
Erleuchtungen  aller  Art  und  der  nie  erlöschenden  mythenbildenden 
Triebe  bezeichnet,  so  dürfte  eine  so  scharfe  und  temperamentvolle 
Ermahnung  zu  logischer  Zucht  und  Verantwortlichkeit,  wie  sie  hier 
gegeben  ist,  immer  wieder,  zumal  auch  in  der  Gegenwart,  ganz 
besonders  angebracht  und  verdienstvoll  sein. 

Fraglich  erscheint  mir  dagegen,  ob  Rickerts  scharfsinnige 
Erörterungen  das  durch  die  Lebensphilosophie  gestellte  Problem 
in  seinem  gesamten  Umfange  umfassen  und  erschöpfen.  Freilich 
kommt  es  ihm  in  erster  Linie  auf  Überwindung  einer  „Modeströ- 
mung" an.  Aber  gerade  die  Energie,  mit  der  er  diese  Überwin- 
dung zu  einer  großzügigen  und  einheitlichen  philosophischen  Aus- 
einandersetzung von  grundsätzlicher  Bedeutung  erhebt,  fordert 
dazu  auf,  über  die  zweifellosen  Unzulänglichkeiten  der  fraglichen 
Lebensphilosophie  den  prinzipiellen  Sinn  ihres  Unternehmens  nach 
den  Intentionen  ihrer  wirklich  führenden  Vertreter  zu  bestimmen. 
Die  Auseinandersetzung  mit  ihr  wird  dann  am  fruchtbarsten  sein, 
wenn  sie  an  ihre  stärksten  Seiten  anknüpft. 

Und  da  scheint  mir  zunächst  die  allgemeine  Kennzeichnung, 
welche  Rickert  von  der  zeitgenössischen  Lebensphilosophie  gibt, 
nicht  allen  gedanklichen  Motiven,  welche  sich  in  ihr  verbinden, 
gerecht  zu  werden  oder  sie  doch  nicht  in  dem  Umfang,  den  gerade 
eine  systematische  Klärung  erheischt,  zu  würdigen.  Wollen  wirk- 
lich ihre  namhaftesten  Vertreter  beim  Philosophieren  über  das 
Leben  allein  mit  dem  Leben  auskommen?  Von  Nietzsche  mag 
hier  ganz  abgesehen  werden,  zumal  Rickert  ihn  zwar  für  einen 
geistreichen  Schriftsteller  erklärt,  aber  nicht  zu  den  großen  Phi- 
losophen zu  rechnen  vermag.   Aber  gilt  jene  Formel  auch  nur  für 


Philosophie  und  Leben.  121 

Bergson?     In  der  Schrift,    in   welcher  Bergson   am   ausführ- 
lichsten über  seine  Methode  Rechenschaft  ablegt,    in  der  „Einfüh- 
rung in  die  Metaphysik"    wird   zwar   die  Rekonstruktion   des  be- 
weglichen, allein  durch  einen  intuitiven  Akt  zu  erfassenden  Wirk- 
lichen  durch    feste  Begriffe    des   Verstandes    und   ihre   Kombina- 
tionen  abgelehnt,    aber   dafür   ausdrücklich    die  Bildung   von  Be- 
griffen gefordert,  die  verschieden  von  den  gewöhnlichen,  geschmei- 
dig, beweglich,    fast  flüssig   sind,    um   immer  bereit   zu   sein,    sich 
den  flüchtigen  Formen  der  Intuition  anzubilden.    Des  näheren  wird 
auf  das  Vorbild  des  Infinitesimalkalküls  verwiesen,  der  prinzipiell 
darauf  ausgeht,    dem   Fertigen    das   Werdende    zu    substituieren. 
Und  dementsprechend  wird  für  die  Metaphysik  gefordert,    „quali- 
tative Differenzierungen  und  Integrier  ungen"    auszuführen.     Man 
mag  über  dieses  Vorhaben  urteilen   wie  man  will,    aber  man  wird 
nicht  verkennen   können,    daß  mit   ihm   eine  theoretische  Aufgabe 
gestellt  wird,    die  besonderer  und   gründlicher  Prüfung  wert   ist. 
Ahnlich   verhält    es    sich   aber   auch    mit  Dilthey.      Selbst 
wenn  man  sich  nur  auf  die  bisher  veröffentlichten  Schriften  stützt 
(wesentliche   Ergänzungen   und  Fortführungen    aus    der    späteren 
Zeit  sind  noch  ungedruckt),    dürfte   die  Behauptung,    daß   er  auch 
als  Philosoph  Historiker   geblieben    sei  und   der  Geschichte    seine 
philosophischen  Prinzipien  entnehmen  wollte,  kaum  berechtigt  sein. 
Schon   seine   Abhängigkeit   von    dem   Positivismus ,    welche    seine 
Frühzeit  kennzeichnet,    und  die   ihm  später    eine  Fessel  geblieben 
ist,  läßt  dieses  Urteil  fraglich   erscheinen.     Gewiß,    seine   persön- 
lichste Anlage  führte  ihn  wieder  und  immer  wieder  zur  Geschichte, 
deren  grenzenlosen  Reichtum  mitfühlend   zu  verstehen  und  darzu- 
stellen das  Glück  seines  eigensten  Schaffens   war.     Aber  als  Phi- 
losoph hat  er,    wie   man   auch  über  seine   eigenen  philosophischen 
Leistungen  denken  mag,  nicht  vor  der  Geschichte  kapituliert.    Das 
vielverbreitete  Mißverständnis  hierüber  ist  zum  Teil  wohl  dadurch 
verschuldet,    daß   man   vielleicht   zu   ausschließlich    nur   an   seinen 
Versuch  zu  einer  allgemeinen  Weltanschauungslehre  denkt.     Dem- 
gegenüber ist  zu  betonen,  daß  Dilthey  (wie  er  es  z.  B.  in  seiner 
Abhandlung  über  das  Wesen    der  Philosophie   in  der  „Kultur  der 
Gegenwart"  ausgeführt  hat)   Logik   und  Erkenntnistheorie   als  die 
grundlegende   Arbeit    der   Philosophie    und    als   Ergänzung    dazu 
Philosophie  als  das  System  der  immanenten  Lebenswerte  und  das 
der  gegenständlichen  Wirkungswerte  als  selbständige  und  dauernde 
Aufgabe   anerkannt  hat.       „Die  Geschichte   der  Philosophie",    so 


122  Max  Frischeisen-Köhler, 

faßt  er  das  Verhältnis  von  Historie  nnd  System  zusammen,  „über- 
liefert der  systematischen  philosophischen  Arbeit  die  drei  Probleme 
der  Grundlegung,  der  Begründung  und  Zusammenfassung  der  Einzel- 
wissenschaften und  die  Aufgabe  der  Auseinandersetzung  mit  dem 
nie  zur  Ruhe  zu  bringenden  Bedürfnis  letzter  Besinnung  über  Sein, 
Grund,  Wert,  Zweck  und  deren  Zusammenhang  in  der  Weltan- 
schauung, gleichviel  in  welcher  Form  und  Richtung  diese  Ausein- 
andersetzung stattfindet".  Freilich,  die  Möglichkeit  eine  Weltan- 
schauung mit  den  Mitteln  der  Wissenschaft  als  ein  allgemeingül- 
tiges System  zu  entwickeln,  hat  er  immer  bestritten.  Hier  wurde 
ihm  die  geschichtliche  Einsicht  in  die  unvermeidliche  Relativität 
und  Vergänglichkeit  der  metaphysischen  Systeme  (und  nur  um 
diese,  nicht  um  das  System  im  Sinn  der  methodischen  Grundlegung 
der  Kultur  handelt  es  sich  dabei)  zum  wichtigsten  Instrument,  um 
die  von  der  Erkenntniskritik  des  18.  Jahrhunderts  von  Kant 
und  dem  Positivismus  vollzogene  Auflösung  der  Metaphysik  zu 
ihrer  endgültigen  Widerlegung  fortzuführen.  Daß  sich  hierbei  ein 
Widerspruch  zwischen  den  schaffenden  Geistern  und  dem  geschicht- 
lichen Bewußtsein  ergibt,  entging  ihm#so  wenig,  daß  er  geradezu 
diesen  Widerspruch  als  „das  eigenste  still  getragene  Leiden  der 
gegenwärtigen  Philosophie"  bezeichnete.  Und  wenn  er  nun  dazu 
fortschritt,  seine  historische  Phänomenologie  der  Metaphysik  zu 
einer  Typenlehre  der  Weltanschauungen  auszubilden,  so  wollte  er 
doch  nicht  nur,  einem  bloßen  Instinkt  folgend,  diese  friedlich  neben 
einander  stellen.  Indem  er  vielmehr  bemüht  war,  in  diesen  Typen 
eine  spezifische  Struktur  aufzudecken,  in  ihrer  Mannigfaltigkeit 
ein  durchgreifendes  Bildungsgesetz  nachzuweisen,  strebte  er,  auch 
wenn  er  dabei  über  psychologische  Einkleidungen  nicht  hinauskam, 
einer  Art  von  Kategorienlehre  des  metaphysischen  Bewußtseins 
zu,  die,  wenigstens  als  Aufgabe,  als  eine  nicht  unwesentliche  Vor- 
bereitung zu  einer  „Logik  der  Philosophie"  angesehen  werden 
kann.  Angenommen  selbst,  daß  seine  eigenen  Untersuchungen 
(vielleicht  gerade  weil  er  tiefer  als  die  meisten  auch  das  partielle 
und  unveräußerliche  Recht  der  nur  relativ  gültigen  großen  Welt- 
ansichten zu  würdigen  vermochte)  nicht  zum  systematischen  Ab- 
schluß gelangt  sind ;  angenommen  weiter,  daß  möglicherweise  seine 
systematische  Kraft  zur  Auflösung  dieser  Aufgabe  überhaupt  nicht 
ausreichte;  angenommen  endlich,  daß  die  psychologische  Formu- 
lierung den  auch  logischen  Sinn  seines  Unternehmens  überdeckte 
(obwohl   gerade  Dilthey   das    aus   polemischen  Gründen   nur  zu 


Philosophie  und  Leben.  123 

gern  zitierte  Schreckgespenst  einer  rein  naturwissenschaftlichen 
Psychologie,  die  lediglich  Kausalprozesse  ohne  Sinnbezug  statuieren 
soll,  immer  bekämpft  hat):  so  genügt  das  alles  doch  nicht,  um 
ihm  ohne  Einschränkung  die  „Weltanschauung  des  Historismus", 
die  vom  Prinzip  der  Prinzipienlosigkeit  beherrscht  sei  und  daher 
sowohl  antiphilosophisch  als  auch  lebensvernichtend  wirke,  zuzu- 
schreiben. Eben  darum  trifft  auch  der  von  Rick  er  t  mit  Zu- 
stimmung zitierte  Hinweis  Husserls  darauf,  daß  das  geschicht- 
liche Denken  über  die  Wahrheit  oder  die  Unwahrheit  eines  Ge- 
dankens nichts  entscheiden  könne  und  somit  in  der  Philosophie 
ebensowenig  maßgebend  sei  wie  in  der  Mathematik,  Dilthey  nicht. 
Philosophie  als  Weltanschauung  ist  eben  nicht  Mathematik,  son- 
dern das  ist  ja  gerade  die  These,  auf  welche  Diltheys  Überle- 
gungen abzielen,  daß  die  metaphysischen  Gedanken  über  das 
Verhältnis  von  Seele  und  Welt,  von  Wert  und  Sein  und  über  den 
letzten  Zusammenhang  des  Ganzen  im  Gegensatz  zu  den  Wahr- 
heiten der  Mathematik,  die  wie  die  Erkenntnisse  aller  Sonder- 
wissenschaften nur  auf  einen  Teilinhalt,  auf  ein  abstrakt  isoliertes 
Gegenstandsgebiet  gehen  und  eben  darum  zur  Allgemeingültigkeit 
gebracht  werden  können,  eine  Totalität  zum  Ausdruck  bringen 
wollen,  die  wir  wohl  durch  Denken  in  ihre  Elemente  zerlegen, 
deren  Einheit  wir  aber  aus  diesen  Elementen  nicht  durch  bloßes 
Denken  gewinnen  können.  Metaphysik  als  eine  dem  großen  Kunst- 
werk verwandte  synthetische  Schöpfung  enthält  daher  auch  immer 
etwas  von  Offenbarung  und  von  Erfahrungen,  die  nur  dem  metaphy- 
sisch veranlagten  Gemüt  zugänglich  sind,  und  ist  immer  auch  Er- 
gebnis einer  freien  verantwortlichen  Entscheidung,  einer  persönlichen 
Tat,  die  zugleich  über  alle  Theorie  hin  ausgreifende  Forderungen  der 
Lebens-  und  Zukunftsgestaltung  enthält.  Dieses  ewige  durch 
seine  Wissenschaftsform  allein  nicht  erfaßbare  metaphysische  Be- 
wußtsein der  Person,  das  sich  in  der  Behandlung  blos  intellek- 
tueller Probleme  nicht  erschöpft,  gewinnt  Gestalt  und  Form  aller- 
dings nur  in  der  Geschichte.  Zu  welchen  Leistungen  dieses  meta- 
physische Bewußtsein  sich  zu  erheben  vermag,  ist  daher  nach 
Dilthey  nur  ihr,  nicht  einer  vorgreifenden  abstrakten  Theorie, 
zu  entnehmen.  Und  indem  seine  Weltanschauungslehre  auf  die 
Mannigfaltigkeit  der  geschichtlich  hervorgetretenen  und  immer 
wiederkehrenden  Typen  der  weltanschaulichen  Bildungen  hinweist, 
möchte  sie,  und  das  ist  ihre  positive  Wendung,  uns  sowohl  hinter 
den  Systemen  die  Grundformen   der  nach   ihrem  Gehalt   erfaßten 


124  Max  Frischeisen-Köhler, 

Weltanschauungen,  wie  auch  die  Mehrseitigkeit  des  Weltganzen 
sehen  lassen,  das  bisher  noch  jedem  Versuch,  es  in  der  Einheit 
eines  widerspruchsfreien  Systems  darzustellen,  gespottet  hat: 
woraus  denn  erst  die  ganze  Verantwortlichkeit  einer  wahrhaft 
charaktervollen  metaphysischen  Neuschöpfung  unter  den  Bedin- 
gungen unseres  Wissens  erhellt. 

Nun  betont  zwar  Rick  er  t  immer  wieder,  daß  es  sich  ihm 
nur  um  weitverbreitete  Gedanken,  nicht  um  einzelne  Denkerper- 
sönlichkeiten und  deren  zureichende  Charakteristik  handele.  Seine 
Argumentation  gegen  den  Historismus  als  Weltanschauung  wird 
daher  davon  nicht  berührt,  ob  nun  gerade  Dilthey  mit  Recht 
als  Repräsentant  dieser  Denkweise  hingestellt  wird.  Aber  unab- 
hängig davon  scheint  mir  auch  die  Auswahl  der  getroffenen  Ge- 
danken, die  gewiß  bei  Ricke rt  nicht  prinzipienlos  ist,  nicht  so 
getroffen,  daß  alle  wichtigen  für  die  Lebensphilosophie  der  Gegen- 
wart kennzeichnenden  Gesichtspunkte  zu  hinreichender  Berücksich- 
tigung gelangen.  Wie  Rick  er  t  selbst  zugibt,  ist  bei  einer  Unter- 
suchung über  Recht  und  Bedeutung  der  Intuition  als  Erkenntnis- 
quelle in  erster  Linie  Husserls  Phänomenologie  zu  nennen.  Denn 
sie  fordert  mit  einem  Radikalismus  und  einer  logischen  Schärfe 
wie  keine  andere  Schule  der  Gegenwart  das  unmittelbare  Sehen, 
das  Sehen  überhaupt  als  originär  gebendes  Bewußtsein,  als  die 
letzte  Rechtsquelle  aller  vernünftigen  Behauptungen,  die  Wesens- 
schau des  vor  allem  theoretisierenden  Denken  selbst  Gegebenen 
oder  zur  Gegebenheit  zu  Bringenden  als  Grundlage  der  Philo- 
sophie, sofern  sie  strenge  Wissenschaft  sein  will.  Indem  von  ihr 
alle  indirekten  symbolisierenden  und  mathematisierenden  Methoden, 
der  ganze  Apparat  von  Schlüssen  und  Beweisen  zurückgestellt 
werden  und  die  wissenschaftliche  Arbeit  der  Philosophie  auf  eine 
Sphäre  direkter  Intuition  gewiesen  wird,  in  der  in  schauender 
Haltung  Gegebenes  erfaßt  und  zur  Explikation  gebracht  werden 
soll,  wäre  vorzüglich  an  dieser  Phänomenologie,  deren  methodische 
Eigenart  von  ihrem  Begründer  bereits  eingehend  entwickelt  und 
dargestellt  worden  ist,  Sinn  und  Grenzen  der  Intuition  überhaupt 
zu  prüfen.  Gerade  weil  Husserl  die  Behauptung,  daß  Philo- 
sophie überhaupt  noch  keine  Wissenschaft  sei,  ja  als  Wissenschaft 
nicht  einmal  einen  Anfang  genommen  habe,  mit  der  äußersten 
Schroffheit  und  Schärfe  vertritt,  da  nach  ihm  allein  die  Phäno- 
menologie das  Feld  der  echten  Vernunftkritik  eröffnet  und  die 
Methodik  kollektiver  Arbeitsleistung  im  Sinn   wahrer  auf  zeitlose 


Philosophie  und  Leben.  125 

Wahrheiten  gerichteten  Forschung  gewährt,  liegt  es  am  nächsten, 
von  der  phänomenologischen  Position  ans,  auch  wenn  sie  in  ur- 
sprünglicher Intention  nicht  der  Lebensphilosophie  dienen  sollte/ 
das  Problem  des  unmittelbar  schauenden  Verständnisses  und  der 
begrifflichen  Bearbeitung  des  Erschauten  aufzurollen.  Rick  er  t 
begnügt  sich  indessen  mit  der  Feststellung,  daß  durch  bloße  Wesens- 
schau vereinzelter  Phänomene  der  theoretische  Kosmos  nicht  ge- 
wonnen werden  kann  und  nach  den  bisherigen  Publikationen 
Husserls  die  systematischen  Gesichtspunkte  für  den  Aufbau  des 
Ganzen  noch  nicht  erkennbar  sind.  Im  übrigen  geht  er  aber  auf 
das  Problem  der  Phänomenologie  nicht  ein.  Dies  ist  deswegen  um 
so  mehr  zu  bedauern,  als  Husserl  dem  Begriff  der  Anschauung 
und  Intuition  eine  Ausweitung  gibt,  die  über  die  von  Rickert 
berücksichtigten  Begriffsbestimmungen  noch  hinausgreift.  Der  Be- 
griff der  Anschauung  verführt,  wie  er  zunächst  dem  optisch-sinn- 
lichen Gebiet  entnommen  worden  ist,  nur  zu  leicht  dazu,  ihn  auf 
den  Sinn  einer  unmittelbaren  Erfassung  von  Wirklichkeiten  zu 
beziehen.  Aber  in  Husserls  Begriff  der  Wesensschau  wird 
grundsätzlich  diese  Beziehung  aufgehoben  und  die  intuitive  Erfas- 
sung von  daseinsfreien  Gegebenheiten  gelehrt.  Durch  die  von 
Husserl  vorgeschlagene  scharfe  Scheidung  von  Tatsachen  Wissen- 
schaften und  eidetischen  Wissenschaften  könnte  aber  gerade  die 
Lebensphilosophie  eine  methodologische  Fortbildung  erhalten,  deren 
Bedeutung  nicht  davon  abhängt,  ob  etwa  die  Anwendung,  die 
Scheler  von  ihr  gemacht  hat,  und  gegen  den  sich  Rickert  mit 
besonderem  Nachdruck  wendet,  zureichend  ist  oder  nicht. 

Ebenso  ist  auffallend,  daß  Eucken  keine  besondere  Berück- 
sichtigung erfährt.  Rickert  rechnet  ihn  nicht  zu  den  Lebens- 
philosophen im  engeren  Sinn.  Er  meint,  daß  bei  ihm  die  engste 
Fühlung  mit  der  klassischen  deutschen  Philosophie  grundwesent- 
lich ist;  und  wollte  man  den  Lebensbegriff  so  umfassend  nehmen, 
daß  auch  Euckens  „Geistesleben"  darunter  fällt,  dann  würde 
das  Schlagwort  jede  greifbare  und  prägnante  Bedeutung  verlieren. 
Aber  diese  Bestimmung  und  Begrenzung  scheint  einigermaßen  will- 
kürlich. Es  ist  nicht  einzusehen,  warum  die  biologistische  Lebens- 
philosophie, die  durch  ihre  Bezugnahme  auf  einen  bestimmten  Teil- 
inhalt der  Welt  charakterisiert  ist,  einen  Vorrang  in  der  Be- 
handlung vor  jener  philosophischen  Richtung  haben  sollte,  welche 
von  einem  anderen  Teil  der  Welt,  nämlich  dem  geistesgeschicht- 
lichen  Leben   des    Menschen    ihren  Ausgang   und    ihre   Erfüllung 


126  Max  Frisch eiseD-Köhler, 

nimmt.  Systematisch  angesehen,  ist  diese  letztere  Richtung  zweifel- 
los viel  bedeutsamer  als  der  Biologismus  auch  in  seiner  neueren 
Ausprägung,  über  den  man  ebenso  wie  über  den  älteren  eigentlich 
getrost  die  Akten  schließen  könnte.  Denn  schon  der  Begriff  der 
Anschauung  erfährt  durch  Eucken  wiederum  nach  einer  anderen 
Richtung  hin  eine  entscheidende  Erweiterung.  Für  ihn  steht  (wie 
er  etwa  in  „Erkennen  und  Leben"  ausführt)  nicht  Anschauung 
eines  Tatbestandes,  sondern  Werdenlassen  eines  Lebens,  Miterleben 
der  Wirklichkeit  von  Grund  aus  in  Frage.  Was  gewöhnlich  An- 
schauung heißt,  erscheint  ihm  viel  zu  passiv.  Seine  Forderung 
einer  inneren  Bewältigung  und  vollen  Durchleuchtung  des  Auf- 
stiegs zu  wirklichkeitsbildendem  Schaffen,  die  uns  von  der  bloßen 
Abhängigkeit  von  den  Eindrücken  auf  den  Menschen  frei  macht, 
weist  ersichtlich  im  geschichtlichen  und  ideellen  Zusammenhang 
auf  den  Begriff  der  intellektuellen  Anschauung,  wie  ihn  Fichte 
entwickelt  hat,  zurück.  Es  ist  bezeichnend,  daß  Rackert,  wo 
er  die  intellektuelle  Anschauung  erwähnt,  sie  nur  im  Sinne  der 
Mystik  versteht  und  von  dieser  überdies  meint,  daß  sie  in  der 
Modephilosophie  keine  Rolle  spielt.  Die  intellektuelle  Anschauung 
dagegen,  welche  Fichte  als  „Faktum  des  Bewußtseins"  und  als 
den  „einzigen  festen  Standpunkt  für  alle  Philosophie"  ansah,  geht 
nach  seiner  ausdrücklichen  Erklärung  (z.  B.  Zweite  Einleitung  in 
die  Wissenschaftslehre)  gar  nicht  auf  ein  Sein,  sondern  auf  ein 
Handeln.  Sie  ist  ein  unmittelbares,  aber  kein  sinnliches  Bewußt- 
sein. Und  zwar  das  Bewußtsein  eines  produktiven  Tuns,  nämlich 
von  den  schöpferischen  Tathandlungen  des  Bewußtseins.  Wovon 
die  Wissenschaftslehre  ausgeht  (so  heißt  es  sodann  einmal-  in  der 
Abhandlung  „Über  den  Grund  unseres  Glaubens  an  eine  göttliche 
Weltregierung"),  läßt  sich  daher  nicht  begreifen  noch  durch  Begriffe 
mitteilen,  sondern  nur  unmittelbar  anschauen;  wer  diese  An- 
schauung nicht  hat,  für  den  bleibt  die  Wissenschaftslehre  notwendig 
grundlos  und  lediglich  formal  und  mit  ihm  kann  dieses  System 
schlechterdings  nichts  anfangen.  Indem  Eucken  diesen  aktivi- 
stischen Sinn  der  Anschauung  grundsätzlich  wieder  herstellt  und 
von  ihm  aus  entwickelt,  „was  den  wirklichen  Philosophen  von  dem 
mit  Philosophie  befaßten  Gelehrten  unterscheidet",  der  nur  über 
die  Dinge  von  außen  her  reflektiert,  und  indem  er  weiter  fordert, 
daß  das  Gesamtbild,  auf  das  unser  Streben  geht,  nicht  außerhalb 
sondern  innerhalb  des  Denkens  entstehe,  ja  es  erst  überhaupt  her- 
zustellen sei,    entwickelt   er   eine  innere  Verbindung   von  Denken 


Philosophie  und  Leben.  127 

und  Leben,  die  das  Logische  nicht  ausschaltet,  aber  streng  auf 
den  Lebenskomplex  bezieht,  der  im  Bereich  des  Menschen  als  eine 
eigene  Welt  erzeugt  wird  und  ihm  aus  den  Bewegungen  des  eigenen 
Lebens  zugeht.  Hier  ist,  so  scheint  mir,  der  Anspruch  einer  auf 
die  innere  Anschauung  des  Lebens  gestützten  Lebensmetaphysik 
erhoben,  deren  methodische  Möglichkeit  bei  einer  Prüfung  der 
Lebensphilosophie  nicht  umgangen  werden  kann. 

Aber  selbst,  wenn  man  deren  Ausprägung  in  der  Form,  die 
ihr  Eucken  gegeben  hat,  nicht  für  zureichend  hält,  erscheint  die 
Berücksichtigung  aller  Versuche,  vom  Begriff  des  Geistes  aus  den 
des  Lebens  zu  vertiefen,  in  besonderem  Maße  darum  erforderlich, 
weil  durch  den  Begriff  des  Geistes  das  Philosophieren  über  das 
Leben  vielleicht  gerade  die  Ergänzung  durch  das  „Andere",  das 
jedenfalls  der  Begriff  des  Lebens  in  seinem  biologischen  Sinn 
nicht  gewährt  und  dessen  Unentbehrlichkeit  für  die  Philosophie 
Rick  er t  nachgewiesen  hat,  erhalten  kann.  Dies  fortschreitend 
immer  deutlicher  erkannt  und  herausgearbeitet  zu  haben,  macht, 
wie  mir  scheint,  vor  allem  die  Bedeutung  Simmeis  aus.  Auch 
Ricke rt  schätzt  Simmel  von  allen  modernen  Philosophen  des 
Lebens  am  höchsten  und  wiederholt  geht  er  auf  seine  Darlegungen 
ein.  Aber  ich  weiß  nicht,  ob  seine  Auseinandersetzung  mit  Simmeis 
metaphysischem  Lebensbegriff  diesen  nach  seinem  ganzen  Gehalt 
erschöpft.  Rickert  spitzt  seine  Ausführung  auf  den  Nachweis 
zu,  daß  Simmeis  anscheinend  so  paradoxe  Lehre  von  der  „Im- 
manenz der  Transzendenz"  rein  wissenschaftlich  nicht  durchzu- 
führen ist,  weil  sie  uns  an  die  Grenzen  des  Logischen,  d.  h.  des 
widerspruchslos  Denkbaren  bringt.  Und  diese  Grenzen  können 
wir  nicht  überschreiten.  Aber  Rickert  berücksichtigt  dabei  vor- 
wiegend nur  die  Antinomie  von  Leben  und  Form,  von  Kontinuität 
und  Grenze,  von  unendlichem  Strömen  und  Individualität.  Wich- 
tiger aber  erscheint  mir  der  Versuch  Simmeis,  in  seinen  Begriff 
von  Leben  den  Bezug  auf  die  Idee,  die  Setzung  ideeller  Inhalte 
und  Welten  hineinzunehmen,  durch  welche  das  Leben,  sein  Wesen 
radikal  ändernd,  von  der  Stufe  der  Vitalexistenz  zu  der  des  Geistes 
sich  erhebt.  Es  sind  dies  Gedankengänge,  die  unmittelbar  an  die 
Setzung  des  Nichtichs  durch  das  Ich  im  Ich  erinnern  und  die 
jedenfalls  durch  den  Hinweis  auf  gewisse  formal-logische  Schwierig- 
keiten ihrer  Darstellung  nicht  zu  erledigen  sind.  Hier  berühren 
wir  letzte  Fragen.  Und  ob  es  nun  möglich  ist,  sie  theoretisch 
abschließend   zu   beantworten:    es   ist   doch   bezeichnend,    daß  von 


128  Max  Frischeisen-Köhler, 

einer  ursprünglich  biologistischen  Leben sphilosophie  ans  folgerecht 
der  Anschluß  an  die  große  deutsche  idealistische  Tradition  ge- 
wonnen werden  kann.  Eben  deshalb  darf  sine  Kritik  der  Lebens- 
philosophie sich  nicht  nur  auf  ihre  biologistische  Ausprägung  mit 
einigen  Ausblicken  auf  weitergreifende  Bemühungen  intuitionistischer 
Art  begnügen,  sondern  ist  doch  wohl  verpflichtet,  das  Problem  der 
Lebensphilosophie  so  allgemein  zu  fassen,  daß  es  das  der  Philo- 
sophie des  geistigen  Lebens  mit  umspannt. 

Daher  wäre  es  auch  von  besonderem  Interesse  gewesen,  nä- 
heres über  die  Stellungnahme  Rick  er  ts  zu  der  durch  Troeltsch 
angebahnten  Geschichtsphilosophie  zu  erfahren.  Bekanntlich  stand 
Troeltsch  zeitweilig  dem  Gedankenkreis  der  südwestdeutschen 
Philosophenschule  nahe.  Aber  ihre  Geltungslehre  genügte  seiner 
auch  von  Dilthey  beeinflußten  Auffassung  der  geistigen  Welt 
nicht.  So  streng  Troeltsch  an  den  methodischen  Forderungen 
echter  Wissenschaftlichkeit  festhält,  so  wenig  er  geneigt  ist,  dem 
bloßen  Erleben  sich  zu  überlassen,  so  entschieden  tritt  er  jedem 
das  Leben  und  die  Fülle  der  Geschichte  vergewaltigenden  Ratio- 
nalismus entgegen  und  für  das  Leben  im  Ganzen,  Beweglichen, 
Schöpferischen  und  zwar  im  Erkennen  wie  in  der  Verantwort- 
lichkeit persönlicher  Entscheidung  und  Tat  ein.  Deutlich  zeichnen 
sich  auch  schon  in  seinen  letzten  Arbeiten  die  Umrisse  einer 
Kategorienlehre  des  geistigen  Lebens  ab,  welche  der  Forderung 
Diltheys  nach  einer  „Kritik  der  historischen  Vernunft"  eine 
tiefere  Erfüllung  versprechen,  als  Dilthey  sie  zu  geben  ver- 
mocht hat,  und  die  über  die  formale  Logik  der  Geschichtswissen- 
schaften und  die  abstrakte  Wertlehre  der  südwestdeutschen  Schule 
unmittelbar  auf  Probleme  einer  Lebensphilosophie  gerichtet  ist. 

Nach  alledem  möchte  der  Kreis  dieser  doch  weiter  zu  ziehen 
sein,  als  ihn  Rick  er t,  indem  er  sie  nur  als  Modeströmung  wür- 
digt, beschreibt.  Wenn  man  das  aber  tut,  dann  gewinnt  die  Frage 
nach  der  positiven  Bedeutung,  die  der  Lebensphilosophie  für  den 
Aufbau  der  systematischen  Philosophie  zukommen  kann,  eine  Be- 
leuchtung, die,  wie  mir  scheint,  über  Rickerts  Entscheidung 
hinausführt.  Wie  hier  abzugrenzen  ist  und  die  Verteilung  der 
Gewichte  zu  erfolgen  hat,  das  hängt  vor  allem  davon  ab,  worin 
der  Charakter  der  systematischen  Philosophie,  genauer  worin  ihre 
spezifische  Aufgabe  erblickt  wird.  Rick  er t  kennzeichnet  nun 
das  Wesen  der  Philosophie  als  einer  Universalwissenschaft  im 
Unterschied    von   den  Spezial Wissenschaften    durch   vier  Momente. 


Philosophie  und  Leben.  129 

Die  Philosophie  ist  die  Wissenschaft,  die  das  Ganze  der  Welt  zu 
ihrem  Gegenstand  macht  und  also  Begriffe  für  das  Weltall  zu 
entwickeln  hat,  so  daß  sich  dieses  in  ihnen  als  eine  Einheit  dar- 
stellt. Aber  zur  Wissenschaft  vom  Weltall  wird  sie  nur,  wenn 
sie  auch  den  ganzen  Menschen  und  sein  Verhältnis  zur  Welt  mit- 
umfaßt und  den  Sinn  des  Menschenlebens  deutet,  der  nur  durch 
eine  Kenntnis  der  Werte  gewonnen  werden  kann,  die  ihm  Sinn 
verleihen.  Um  das  Weltganze  ferner  zu  denken,  müssen  wir  es 
so  denken,  daß  es  alle  zeitlichen  Weltteile  und  damit  zugleich  die 
Zeit  selber  umfaßt.  Das  Weltganze  kann  nicht  in  der  Zeit  sein, 
sondern  umgekehrt:  die  Zeit  ist  im  Weltganzen.  Infolgedessen 
wird  für  die  Universalwissenschaft  auch  das  Verhältnis  zum  Zeit- 
losen oder  Ewigen  ein  Problem.  Soll  endlich  die  Philosophie  Wissen- 
schaft vom  All  sein,  so  muß  sie  einen  streng  systematischen  Cha- 
rakter tragen,  d.  h.  all  ihre  verschiedenen  Begriffe  und  Urteile 
zu  Gliedern  eines  einheitlich  geordneten  Gedanken  -  Ganzen  zu- 
sammenschließen. Wie  die  Wirklichkeit  uns  zuerst  gegenübertritt, 
bevor  wir  sie  systematisch  begreifen,  ist  sie  überhaupt  noch  keine 
Welt,  sondern  eine  Anhäufung  von  Bruchstücken  oder  ein  Chaos. 
Die  Philosophie  aber  hat  die  Welt  in  ihrer  Totalität  als  Kosmos 
zu  erfassen  und  nur  durch  das  System  kommt  sie  vom  theore- 
tischen Chaos  zum  theoretisch  begriffenen  Kosmos.  Denn  Begriffe, 
die  nicht  Glieder  eines  Systems  sind,  beziehen  sich  nur  auf  Teile, 
und  so  lange  es  kein  System  gibt,  fällt  daher  die  Welt  für  uns 
in  ihre  Teile  auseinander.  Zusammengefaßt:  „Die  Philosophie 
sucht  in  Form  eines  Systems  nach  einer  Weltanschauung,  die  so- 
wohl die  Zeitanschauung  als  auch  die  Lebensanschauung  umfaßt 
und  so  das  zeitliche  Leben  im  Zusammenhang  mit  dem  über- 
zeitlichen Wesen  des  Weltalls  verstehen  lehrt.  Mehr  kann  sie 
nicht  wollen  und  auf  weniger  darf  sie  als  universale  Betrachtung 
sich  wenigstens  der  Absicht  nach  nicht  beschränken". 

Es  ist  nun  aber  charakteristisch,  daß  diese  Aufgabenbestim- 
mung in  den  abschließenden  positiven  Andeutungen  eine  wesent- 
liche, ja  grundlegende  Einschränkung  erfährt.  Indem  darauf  hin- 
gewiesen wird,  daß  die  Wirklichkeit  heute  in  allen  ihren  Teilen 
von  den  Einzelwissenschaften  als  Material  der  Forschung  beansprucht 
wird,  daher  die  Erkenntnis  der  Wirklichkeitstotalität  eine  Auf- 
gabe ist,  an  der  die  Einzelwissenschaften  in  ihrer  Gesamtheit 
dauernd  zu  arbeiten  haben,  also  ein  Unternehmen,  das  sie  mit 
einem  Schlage    zu   Ende   führen  wollte,    von   vornherein    sinnlos 

Kantstudien.    XXVI.  9 


130  Max  Frischeisen-Köhler, 

ist,  ergibt  sich,  daß  Philosophie  universale  Wirklichkeitserkenntnis 
nur  noch  in  dem  Sinn  erstreben  kann,  daß  sie  über  die  letzten 
Ziele  alles  Wirklichkeitserkennens  Klarheit  zu  schaffen  sucht.  So 
verwandeln  sich  ihr  die  universalen  Wissenschaftsprobleme  in  theo- 
retische Wertfragen,  der  Begriff  des  Wirklichkeitsganzen  in  eine 
Erkenntnisaufgabe,  ihre  Universalität  in  die  Forderung,  die  von 
der  Gesamtheit  der  Einzeldisziplinen  zu  erarbeitenden  Erkenntnisse 
in  ihrem  theoretischen  Sinn  und  in  ihren  letzten  umfassenden 
Zielen  als  ein  einheitliches  Ganzes  zu  deuten.  Damit  wandelt  sich 
aber  zugleich  auch  der  Standpunkt  der  Kritik.  Während  zunächst 
Philosophie  als  eine  Universalwissenschaft  vorausgesetzt  wurde, 
welche  das  G-anze  der  Welt  zu  ihrem  Gegenstand  macht,  wird 
jetzt  der  Anspruch  dahin  ermäßigt,  daß  sie  das  Wirklichkeits- 
ganze  nicht  unmittelbar,  sondern  mittelbar,  so  weit  die  Wissen- 
schaft es  als  Ganzes  überhaupt  zu  erfassen  vermag,  zu  begreifen 
hat.  Wäre  sogleich  dieser  engere,  der  kritische  Begriff  der 
Philosophie  zu  Grunde  gelegt  worden,  dann  hätte  sich  ersichtlich 
die  Auseinandersetzung  mit  der  Lebensphilosophie,  sofern  sie  un- 
mittelbar das  Wirkliche  zu  erfassen  oder  das  Ganze  nach  einem 
ausgezeichneten  Teilinhalt  zu  deuten  versucht,  offenbar  wesentlich 
vereinfachen  lassen,  da  alsdann  jeder  Versuch,  die  Totalität  des 
Seins  direkt  zu  erkennen,  ob  er  sich  nun  der  Intuition  oder  bio- 
logischer Analogien  bedient  oder  nicht,  von  vorn  herein  gerichtet 
erscheint.  Hält  man  dagegen  den  Begriff  der  Philosophie  als 
universaler  Wissenschaft  vom  Weltganzen  überhaupt  für  disku- 
tabel, dann  reicht  die  gegebene  Kritik  nicht  aus,  um  den  Anspruch 
einer  Lebensphilosophie,  welche  nicht  sowohl  vom  Organischen  als 
vom  Geistesleben  etwa  im  Sinn  von  Eucken  und  Simmel  aus- 
geht, prinzipiell  abzuweisen.  Die  große  Bedeutung,  welche  dieser 
Wechsel  des  Standpunktes  für  die  Beurteilung  der  Lebensphilosophie 
besitzt,  zeigt  sich  darin,  daß,  wenn  wir  die  kopernikanische  Drehung 
in  ihrer  ganzen  Tragweite  vollziehen  und  dementsprechend  Philo- 
sophie nur  als  Kulturkritik  im  Sinn  einer  erweiterten  Erkenntnis- 
kritik gelten  lassen,  der  Beitrag,  den  die  Lebensphilosophie  für 
den  positiven  Aufbau  zu  leisten  vermag,  von  Rick  er  t  offenbar 
zu  hoch  eingeschätzt  wird;  suchen  wir  dagegen  von  der  koperni- 
kanischen  Drehung  wieder  zu  einer  Philosophie  der  Welt  zurück- 
zukehren oder  wenigstens  jene  durch  eine  solche,  d.  h.  durch  eine 
Weltanschauung  zu  ergänzen,  dann  scheint  ihr  möglicher  Beitrag 
wiederum  zu  gering  bemessen. 


Philosophie  und  Leben.  131 

Wenn  Rickert  für  die  geschichtliche  Entwicklung  der  Phi- 
losophie eine  Art  Rhythmus  festzustellen  sucht,  wonach  (natürlich 
lediglich  für  die  Durchschnittserscheinungen  und  im  allgemeinen) 
das  Schema  einer  Abfolge  von  Scholastik,  Verstandesaufklärung 
und  naturalistischer  Reaktion  die  den  großen  schöpferischen  System- 
bildungen folgende  geistige  Bewegung  kennzeichnet  und  wenn  er 
hierbei  die  modernen  Geistesströmungen  der  letzten  Phase  dieses 
Schemas  unterordnet,  nur  daß,  was  im  18.  Jahrhundert  „Natur" 
hieß,  jetzt  mit  Vorliebe  „Leben"  genannt  wird:  so  mag  dies  mit 
gewissem  Vorbehalt  zutreffend  sein.  Aber  es  ist  nicht  ersichtlich, 
welche  positive  Bereicherung  eine  rein  kritische  Philosophie,  die 
ihrer  Aufgabe  und  ihrer  Grenzen  sich  bewußt  bleibt,  von  einer 
solchen  Reaktion  zu  erwarten  hat.  In  den  Einzelgebieten  der 
Kultur,  in  deren  geschichtlicher  Entwicklung  ein  analoger  Rhyth- 
mus zu  erkennen  ist,  verhält  es  sich  freilich  anders.  Besonders 
deutlich  ist  das  in  Religion  und  Kunst.  Wenn  die  ersten  Gene- 
rationen einer  religiös  oder  künstlerisch  schöpferischen  Epoche 
dahingegangen  sind,  wenn  neben  die  von  ursprünglichem  Enthu- 
siasmus ergriffenen  Träger  einer  neuen  Bewegung  die  zahlreichen 
Jünger  und  Nachfolger  treten,  die  das  Erworbene  lehrhaft  über- 
nehmen, weiter  bilden  und  weiter  geben,  tritt  allemal  eine  Erstar- 
rung und  Verarmung  ein.  Die  unmittelbar  aus  dem  erregten  Ge- 
mütsgrunde fließende  Religiosität  macht  einer  Religion  der  Tra- 
dition, der  Sitten,  des  Gesetzes,  der  Dogmenbildung  Platz,  die 
Wirklichkeitsauffassung  und  -darstellung  der  genialen  Phantasie 
weicht  einer  festen  Formensprache,  Konvention  und  ästhetischer 
Regelgebung.  An  die  Stelle  der  Schöpfungen  primärer  Ordnung, 
die  aus  unmittelbaren  Quellen  des  Lebens  fließen,  treten  Produkte 
einer  sekundären  Ordnung,  die  reflexiv  und  reflektierend  auf  jene 
bezogen  sind  und  ihren  Gehalt  durch  deren  Faktum,  wie  es  sich 
vor  allem  in  ihren  äußeren  Erscheinungsformen  erfassen  und  über- 
mitteln läßt,  empfangen.  Es  ist  das  Schicksal  des  doppelten  Evan- 
geliums, das  in  vielfacher  Abwandlung  im  einzelnen  mit  einer  er- 
staunlichen Regelmäßigkeit  überall  wiederzukehren  scheint.  Die 
Folge  ist,  daß  ebenso  regelmäßig  über  kurz  oder  lang  eine  Reaktion 
einsetzt,  ein  Protest  gegen  die  Scholastik  und  die  Konvention  und 
«in  Ruf  zur  Rückkehr  zur  Ursprünglichkeit  und  zur  Natur.  Und 
das  will  allerdings  hier  eine  neue  Wegbereitung,  eine  wahrhafte 
Erweiterung,  bisweilen  eine  vollkommen  umgestaltende  Bewegung 
besagen.    Etwas  ähnliches  gilt  aber  auch  für  die  positive  Wissen- 

9* 


132  Max  Fri  seh  eisen-K  öhler, 

Schaft.  Freilich  läßt  gerade  die  enge  Beziehung,  die  zwischen 
Theorie  und  Erfahrung  zumal  in  Physik  und  Chemie  erreicht  ist, 
die  unauflösliche  Verbindung,  in  welcher  hier  Forschung  und  Spe- 
kulation sich  gefunden  haben,  diese  Schwankungen  in  der  Ent- 
wicklung einigermaßen  zurücktreten.  Aber  ganz  verschwunden 
sind  sie  auch  hier  nicht,  nur  daß  sie  sich  hier  mehr  als  eine  Gegen- 
sätzlichkeit der  Richtungen,  die  unter  Umständen  gleichzeitig 
nebeneinander  bestehen  können,  denn  als  ein  Rhythmus  in  der 
Aufeinanderfolge  geltend  machen.  Deutlicher  erkennbar  ist  ein 
solcher  in  den  biologischen  und  vor  allem  in  den  historischen 
Wissenschaften,  wo  Gesamtauffassungen  geschichtlicher  Epochen, 
etwa  des  Hellenentums,  der  jüdisch- christlichen  Religionsentwick- 
lung, des  Mittelalters,  die  zeitweise  dogmatische  Geltung  erlangt 
haben,  durch  ein  neu  einsetzendes  und  erweitertes  Quellenstudium 
fast  stoßartig  erschüttert  werden.  Es  handelt  sich  hierbei  nicht 
nur  um  die  unvermeidliche  Revision  und  Fortbildung  von  Hypo- 
thesen auf  Grund  der  fortschreitenden  Erfahrung,  sondern,  wenn 
auch  in  abgeschwächtem  Maße,  um  einen  ähnlichen  Wechsel  in  der 
Einstellung,  um  eine  Reaktion  gegen  eine  zur  Dogmatik  erstar- 
rende Theorie  durch  eine  entschiedene  Hingabe  an  die  Quellen 
selbst  und  eine  neu  aus  ihnen  schöpfende  Anschauung. 

So  ist  für  Religion,  Kunst  und  positive  Wissenschaft  ohne 
weiteres  ersichtlich,  welch  eine  gewaltige  Bedeutung  die  „natu- 
ralistische Reaktion"  für  die  Erweiterung  des  geistigen  Horizontes, 
für  die  Erschließung  neuer  Seiten  und  Zusammenhänge,  welche 
bisher  verborgen  oder  durch  ein  autoritativ  gewordenes  System 
von  Formen  verdeckt  waren,  für  den  Durchbruch  zu  neuen  Wegen 
des  gestaltenden  und  schaffenden  Geistes  besitzt.  Hier  wird  wirk- 
lich neues  Material  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  zu  Tage  ge- 
fördert, das  die  Enge  einer  geltenden  Dogmatik  sprengt  und  uns 
die  Wirklichkeit  umfassender  und  reicher  sehen  läßt.  Aber  die 
kritische  Philosophie,  die  ihrerseits  auf  jede  Art  von  Wirklichkeits- 
erkenntnis verzichtet  und  sich  lediglich  auf  die  Besinnung  und 
Bestimmung  nur  der  allgemeinsten  Erkenntnisziele  beschränkt, 
kann  davon  unmittelbar  keine  Förderung  erwarten.  Und"  auch 
mittelbar  scheint  ein  Gewinn  nur  in  Frage  kommen  zu  können, 
falls  sie  sich,  was  ja  zweifelsohne  Tatsache  gewesen  ist,  allzu  ein- 
seitig auf  eine  spezielle,  vielleicht  gar  eine  zeitgeschichtlich  be- 
dingte Form  der  Wirklichkeitserkenntnis,  wie  etwa  die  Newtonsche 
Naturwissenschaft,    bezog  und   darüber   andere  Erkenntnisweisen, 


Philosophie  und  Leben.  133 

wie  etwa  die  biologische  oder  die  historische  allzu  sehr  in  den 
Hintergrand  treten  ließ.  Hat  aber  die  kritische  Philosophie  ihre 
Fragestellung  auf  alle  Gebiete  der  Kultur  ausgedehnt,  dann  kann 
grundsätzlich  eine  periodische  Erweiterung  des  jeweiligen  Mate- 
riales  für  ihre  Probleme  und  die  Rechtfertigung  der  konstitutiven 
Bedingungen,  welche  Erkenntnis  (im  erfahrungswissenschaftlichen 
Sinn  des  Wortes)  und  ihre  Gegenstände  überhaupt  ermöglichen, 
nicht  mehr  beeinträchtigen  oder  sachlich  weiter  bringen.  Der  ver- 
änderliche Faktor  der  Kulturentwicklung  wird  für  sie  nur  so  weit 
in  Betracht  kommen,  als  sie  in  der  Veränderung  die  von  aller 
Veränderung  unabhängigen,  aber  sie  in  gesetzmäßiger  Richtung 
beherrschenden  Prinzipien  wieder  und  wieder  aufweist.  Die  Phi- 
losophie als  Erkenntnis-  und  Kulturkritik  bringt  ihrerseits  das 
Neue,  das  eine  Rückkehr  zur  Natur  oder  zum  Leben  aufdeckt, 
nicht  selber  unter  Begriffe,  da  sie  dies  ein  für  allemal  den  Einzel- 
wissenschaften überlassen  hat.  Und  daß  und  wie  unter  Begriffe 
zu  bringen  ist,  das  hat  sie,  sofern  ihr  überhaupt  die  Auflösung 
ihrer  Aufgabe  gelungen  ist,  bereits  geleistet.  So  bliebe  allenfalls 
nur  noch  die  Erinnerung,  daß  die  Welt  unendlich  viel  mehr  ist 
als  das,  was  restlos  in  die  Begriffe  des  Verstandes  eingeht,  die 
Warnung  vor  einem  Panlogismus,  der  das  Logische  für  die  Sub- 
stanz der  Welt  selber  und  nicht  nur  für  das  hält,  womit  man  die 
Welt  denkt.  Aber  eine  wahrhaft  kritische  Philosophie  bedarf 
hierzu  des  Hinweises  auf  das  lebendige  Leben,  das  stets  irrational 
ist,  nicht.  Und  im  übrigen  läßt  sich  mit  diesem  Hinweis  schlechter- 
dings nichts  anfangen,  da  er  nur  zu  schweigender  Mystik,  aber 
nicht  zu  irgend  welchen  Aussagen  über  dieses  irrationale  Leben, 
die  ja  sofort  eine  erkennt  aismäßige ,  den  Einzelwissenschaften  an- 
heimfallende begriffliche  Bearbeitung  bedeuten  würden,  führt. 

Freilich,  wenn  wir  die  kopernikanische  Drehung  nicht  mit- 
machen oder  wenigstens  zur  Gewinnung  einer  Weltanschauung 
(wodurch  die  Arbeit  der  Erkenntnistheorie  keineswegs  aufgehoben 
wird)  wieder  rückgängig  zu  machen  suchen,  wenn  wir  Philosophie 
nicht  nur  als  Erkenntniskritik,  sondern  zugleich  auch  in  dem  vor- 
kritischen Sinn  als  Universal  Wissenschaft  von  der  Welt  anerkennen, 
dann  ändert  sich  die  ganze  Sachlage.  Dann  kann,  auch  wenn  die 
Philosophie  an  der  Herrschaft  des  Logischen  über  die  Welt  fest- 
hält, eine  durch  Rückkehr  zur  Unmittelbarkeit  der  Natur  oder 
des  Lebens  für  sie  von  einer  ebenso  fundamentalen  Wichtigkeit 
wie  für   die   einzelnen  Kulturgebiete    werden,    sofern    durch  diese 


134  Max  Frischeisen-Köhler, 

Rückkehr   zumal   im  engsten  Bund  mit   der   forschenden  Wissen- 
schaft uns  eine  Seite  an  dem  Wirklichen  aufgeschlossen  wird,  die 
bisher  noch  nicht  gesehen  und   gewürdigt   war.      Ja,    in   diesem 
Zusammenhang    gewinnt    gerade    gegenwärtig   die  Lebensphiloso- 
phie,   mag   sie  nun  überdies   eine  Modeströmung   sein  oder  nicht, 
eine   ganz   einzigartige  Bedeutung.     Denn   von   allem   abgesehen, 
was    ihre    verschiedenen  Richtungen    im   einzelnen   an   neuen  Er- 
kenntnissen   und  Aufschlüssen    darbieten   wollen:    darin   stimmen 
sie,    wie  weit   sie  sonst  auch   differieren  mögen,   überein,    daß  sie 
wiederum  der  Welt  sich  unmittelbar,  dem  Objekt  aller  Erkenntnis 
und  nicht  nur  der  Erkenntnis  des  Objektes,   zuwenden.     In  dieser 
Hinsicht  ist  ihre  gemeinsame  Frontstellung  in  der  Ablehnung  einer 
bloß  kritisch  verfahrenden  Philosophie  klar  und  unverkennbar.    Ihr 
geht  es  in  erster  Linie  um  Durchbrechung   der  auf  Erkennen  des 
Erkennens    eingeschränkten   kritischen  Haltung.     Sie   will  an  die 
Sachen  selbst  heran.     Ein  ungeheurer  Hunger  nach  Wirklichkeit 
treibt  sie  vorwärts.     Und  sie  ist  allerdings  von  der  Überzeugung 
geleitet,   daß  das  unmittelbar  Gegebene  kein  bloßes  „Erlebnisge- 
wühl", kein  bloßes  „ Chaos u  ist,  das  allein  durch  die  Begriffe  des 
darüber  reflektierenden  Verstandes  zur  Bestimmtheit  gebracht  und 
zum  Kosmos  erhoben  werden  kann.    Behauptungen  dieser  Art  er- 
scheinen ihr  vielmehr  von  vornherein  eine  dogmatische  und  über- 
dies unbeweisbare  und  unhaltbare  Prämisse  zu  sein.     Gewiß  kämpft 
sie  dabei  einen  Kampf  nach  zwei  Fronten.     Indem  sie  gegen  den 
Kritizismus  wie  einst  Schelling  „den  Durchbruch  aus  dem  Netz 
des    subjektiven  Bewußtseins   in   das   offene   Feld   der   objektiven 
Wirklichkeit"    unternimmt,    wendet   sie   sich   zugleich   gegen  jede 
Art  von  offener  oder  verkappter  materialistischer  Metaphysik  und 
gegen  eine  einseitige  mechanische  Weltvorstellung,    die  etwa  den 
Anspruch   auf   die   allein   zureichende  Wirklichkeitserkenntnis  er- 
hebt.    Aber  systematisch  angesehen   ist  diese  Auseinandersetzung 
mit  einem  Feind,  der  für  die  kritische  Philosophie  als  ernsthafter 
Gegner  schon  längst  nicht  mehr  in  Betracht  kommt,  sehr  viel  we- 
niger wichtig  als  die  Auseinandersetzung   mit   eben  dem  Kritizis- 
mus und  allem  „formalen"  Idealismus.    Dieser  Anspruch  begründet 
eine  Bedeutung    der  Lebensphilosophie,    deren  prinzipielle   Trag- 
weite aus  Rickerts  Darlegungen   nicht  erhellt.     Wie  unzuläng- 
lich  und   unfertig  noch   alles   in    dieser  Bewegung   sein  mag,    sie 
selber   beginnt   doch   allenthalben,    die   bisher   feste   Position   des 
Kritizismus    zu  erschüttern.     Es   ist   die   ernsteste  philosophische 


Philosophie  und  Leben.  135 

Frage  der  Gegenwart,  wie  weit  derselbe  sie  zu  halten  und  zu 
sichern  vermag.  Denn  zugleich  ist  unverkennbar,  daß  der  Kriti- 
zismus selber  in  ein  kritisches  Stadium  eingetreten  ist.  Erwägt 
man,  um  nur  einige  Beispiele  herauszugreifen,  die  Entwicklung 
etwa  von  Troeltsch  oder  betrachtet  man  die  immer  deutlicher 
hervortretende  Wendung  des  Marburger  Neukantianismus  zu  einer 
Metaphysik  in  Annäherung  an  Hegel,  für  welche  auch  die  letzte 
überraschende  und  noch  nicht  abgeschlossene  Entwicklung  Natorps 
als  ein  bedeutungsvolles  Symptom  angezogen  werden  darf,  so  ist 
offenbar,  daß  wenigstens  in  den  führenden  Eichtungen  des  mo- 
dernen Kritizismus  eine  Krisis  bevorsteht,  wenn  sie  nicht  schon 
offen  ausgebrochen  ist.  Alles  spricht  dafür,  daß  wir  uns  in  einer 
ähnlichen  geschichtlichen  Lage  wie  zu  jener  Zeit  befinden,  da  das 
kantische  System,  das  jeder  Art  von  Dogmatismus  ein  Ende  be- 
reiten wollte,  selber  der  Ausgangspunkt  für  die  größte  Entwick- 
lung der  Metaphysik,  welche  die  neuere  Zeit  kennt,  geworden  ist. 
Und  nun  begegnet  sich  mit  dieser  immanenten  durch  die  Verschär- 
fung und  Vertiefung  der  eigenen  Voraussetzungen  des  Kritizismus 
eingeleiteten  Bewegung  die  Lebensphilosophie,  die  mit  leidenschaft- 
lichem Pathos  eine  neue  Axendrehung  der  gesamten  philosophischen 
Einstellung  fordert.  Auch  hierin  tritt  eine  eigentümliche  Ähn- 
lichkeit mit  jener  Epoche  hervor.  Denn  es  ist  kaum  zweifelhaft, 
daß  es,  wie  schon  die  historische  Abhängigkeit  der  modernen 
Lebensphilosophen  von  dem  deutschen  spekulativen  Idealismus  er- 
weist, verwandte  Mächte  sind,  die  heut  wie  einst  den  Kritizismus 
bedrohen  und  einer  Philosophie  der  Welt,  die  aus  wirklicher  An- 
schauung der  Welt  entspringt  und  die  Fesseln  des  formalen  Idea- 
lismus wie  einer  mechanisch-naturalistischen  Weltinterpretation  zu 
sprengen  sucht,  sich  zuwenden.  Hier  liegt,  wie  mir  scheint,  das 
eigentliche  Problem,  das  die  Lebensphilosophie  unserer  Tage  uns 
stellt,  und  hierin,  in  der  Neuforderung  einer  Revision  der  Frage- 
stellung wie  der  Prinzipien  des  Kritizismus,  ihre  wichtige  Bedeu- 
tung. Die  Lebensphilosophie  mag  eine  Modeströmung  sein;  aber 
sie  ist  doch  zugleich  ein  Anzeichen  für  ein  tiefes  Sehnen  unserer 
Zeit  nach  einer  inhaltlichen,  sachlichen  Auffassung  des  Wirk- 
lichen, dem  weder  die  positivistische  noch  die  kritizistische  Zu- 
rückhaltung, bei  aller  Anerkennung  des  sittlichen  Idealismus, 
der  namentlich  auch  in  letzterer  sich  bekundet,  Genüge  gewährt. 
Mag  sie  noch  so  sehr  irren,  wenn  sie  zu  ungeduldig  auf  bloße 
Intuitionen  sich  stützt  und  zu   vorschnell   in    einigen  nichtmecha- 


136  Max  Frischeisen-Köhler 


nischen  Analogien  die  zureichenden  Symbole  für  das,  was  unser 
Herz  wiederum  aus  den  Dingen  herauszuhören  beginnt,  zu  finden 
glaubt.  Aber  sie  ist  doch  ein  Versuch  und  ein  erstes  Wagnis 
zu  neuer  Fahrt  auf  dem  unendlichen  Meer,  das  die  kleine  Insel 
der  selbstgenügsamen  sicheren,  allgemeingültigen,  logisch-formalen 
Erkenntnisse  umbrandet.  Wird  der  Kritizismus  stark  genug 
sein,  diesem  stürmischen  Begehren  nach  neuer  Welterfahrung  und 
Welt  Vertiefung  gegenüber  die  von  ihm  als  unverrückbar  behaup- 
teten Erkenntnisgrenzen  aufrecht  zu  halten?  Oder  wird  er  elastisch 
genug  sein,  um  auch  diese  Wendung  in  sich  aufzunehmen,  ja  viel- 
leicht mit  dem  so  außerordentlich  verfeinerten  Rüstzeug  seiner 
Methodik  zu  leiten  und  gegen  den  Überschwang  und  die  unver- 
kennbaren Gefahren  des  Dilettantismus  zu  schützen?  Hier  ent- 
springen Aufgaben  und  Verantwortlichkeiten,  die  jedem,  dem  Phi- 
losophie mehr  als  eine  bloß  scharfsinnige  Gedankenleistung,  näm- 
lich eine  Herzenssache  ist,  die  Seele  erfüllen. 

Ist  doch  auch  noch  gar  nicht  abzusehen,  ob  nicht  eben  da- 
durch der  Begriff  von  System,  der  als  das  formale  Merkmal 
der  Philosophie  in  diesen  Überlegungen  eine  so  entscheidende  Rolle 
spielt,  eine  wesentliche  Änderung  und  Umgestaltung  erfährt.  Nur 
andeutungsweise  mag  dieser  Punkt  zum  Schluß  noch  gestreift 
werden.  Indem  Ricke rt  die  Unentbehrlichkeit  der  Form  des 
Systems  für  die  wissenschaftliche  Philosophie  betont,  hebt  er  zu- 
gleich hervor,  daß  jeder  Philosophie  des  Lebens  notwendig  die 
Form  des  Systems  fehlen  muß.  Aber  was  heißt  System?  Die 
Angabe,  daß  es  ein  geordnetes  Ganzes  von  Begriffen  sei,  ist  nicht 
gerade  sehr  aufklärend  und  jedenfalls  nicht  zureichend.  Es  ist 
sehr  merkwürdig,  daß  wir,  wo  in  der  Gegenwart  so  viel  über  die 
Bedeutung  des  Systemgedankens  geredet  wird,  eine  einigermaßen 
erschöpfende  Untersuchung  auch  nur  der  in  der  Geschichte  bisher 
vorliegenden  Systemformen  noch  nicht  besitzen.  Eine  solche  Unter- 
suchung ,  die  ebenfalls  eine  wichtige  Aufgabe  einer  künftigen 
„Logik  der  Philosophie"  ist,  wird  eine  ganze  Mannigfaltigkeit  von 
Systemformen  zu  scheiden  haben.  Sie  wird  zunächst  die  äußer- 
liche systematische  Darstellung,  die  stets  ein  Produkt  des  nach- 
träglich reflektierenden  Verstandes  und  daher  vorzüglichstes  Ge- 
schäft des  schulmäßigen  Betriebes  ist,  von  dem  inneren  systema- 
tischen Geist  zu  trennen  haben,  der  das  Gefüge  einer  Weltansicht 
mit  zwingender  Konsequenz  auch  dann  durchdringen  und  gestalten 
kann,    wenn   diese   bisher  noch   niemals   in   formal  korrekter  und 


Philosophie  und  Leben.  137 

logisch  befriedigender  Weise  zur  Darstellung  gebracht  worden  ist. 
Es  könnte  sein,  daß  in  sehr  speziellen,  gar  nicht  auf  ein  System 
abzielenden  Untersuchungen,  wie  etwa  in  denen  von  Galilei, 
mehr  von  systematischem  Geist  als  in  einem  ausgeführten  System 
der  Philosophie  auch  von  Rang,  wie  es  etwa  das  von  Hobbes 
ist,  lebt.  Und  weiter  genügt  ein  Blick  auf  Piaton  und  Plotin, 
Descartes  und  Leibniz,  Hegel  und  Spencer,  um  zu  sehen, 
daß  die  Idee  des  Systems  so  wenig  wie  der  Begriff  irgend  einer 
Form  unabhängig  von  der  Materie,  die  es  gestalten  und  darstellen 
soll,  bestimmt  werden  kann.  Endlich  greift  fast  unvermeidlich  ein 
Werturteil  über  das,  was  man  für  den  Charakter  des  „wahren" 
oder  „echten"  Systems  hält,  ein.  Aber  man  wird  sich  hüten 
müssen,  die  besondere  Systemform,  die  man  selber  für  die  allein 
richtige  hält,  als  Kriterium  für  den  Systemwert  philosophischer 
Lehren  überhaupt  zu  fordern.  So  lange  alle  diese  Dinge  nicht 
hinreichend  geklärt  sind,  kann  die  allgemeine  Behauptung,  daß 
jeder  Philosophie  des  Lebens  notwendig  die  Form  des  Systems 
fehlen  muß,  nicht  ohne  weiteres  als  zu  Recht  bestehend  angesehen 
werden. 

Immerhin  mag,  um  wenigstens  die  hier  auftretenden  Schwie- 
rigkeiten anzudeuten,  auf  das  Beispiel  von  Hegel  hingewiesen 
werden.  Niemand  hat  schärfer  als  Hegel  in  der  berühmten  Vor- 
rede zu  der  Phänomenologie  des  Geistes  betont,  daß  „die  wahre 
Gestalt,  in  welcher  die  Wahrheit  existiert,  allein  das  wissenschaft- 
liche System  derselben  sein  kann".  Und  indem  er  sich  vorgesetzt 
hat,  daran  mitzuarbeiten,  daß  die  Philosophie  der  Form  der 
Wissenschaft  näher  komme,  indem  er  fordert,  die  Anstrengung 
des  Begriffs  auf  sich  zu  nehmen,  lehnt  er,  wie  man  weiß,  jedes 
unmittelbare  Wissen  des  Absoluten,  die  Ekstase,  das  bloße  Ahnen, 
das  prophetische  Reden,  die  Begeisterung,  die  wie  aus  der  Pistole 
mit  dem  absoluten  Wissen  unmittelbar  anfängt,  schroff  ab.  Und 
doch  kann  man,  wie  Rick  er  t  ausdrücklich  gelegentlich  zugibt, 
den  jungen  Hegel  zu  den  Lebensphilosophen  rechnen  und  eben 
von  der  Phänomenologie  erklärt  er,  daß  sie  Gemeinsames  mit  den 
Modetendenzen  zeigt.  Es  will  ja  auch  in  der  Tat  dieses  System 
das  Sein  als  lebendige  Substanz,  als  sich  entwickelnden  Geist,  als 
Entfaltung  zum  organischen  Ganzen  und  in  seiner  Totalität,  als  in- 
neres Leben  und  Selbstbewegung  des  Daseins,  als  Ich  oder  das 
Werden  überhaupt,  d.  h.  die  Substanz  wesentlich  als  Subjekt  er- 
fassen.   Freilich  bedarf  es  zu  seiner  Durchführung  als  Wissenschaft 


138  Max  Frischeisen-Köhler,  Philosophie  und  Leben. 

einer  Logik,  welche  weder  die  formale  Logik,  noch  die  Logik  der 
Einzelwissenschaften,  noch  die  transzendentale  Logik  ist.  Die  Idee 
des  Systems  realisiert  sich  für  Hegel  in  der  dialektischen  Selbst- 
bewegung der  Begriffe.  Man  mag  nun  alle  Einwände,  die  gegen 
Hegels  dialektische  Methode  und  namentlich  gegen  ihre  Ausar- 
tungen in  seiner  Schule  erhoben  worden  sind,  von  vornherein  zu- 
geben. Daß  durch  sie  zum  mindesten  ein  Problem  ersten  Ranges 
gestellt  ist,  das  noch  keineswegs  als  erledigt  und  abgetan  betrachtet 
werden  kann,  dürfte  kaum  einem  Zweifel  unterliegen.  Wiederum 
ist  bezeichnend,  daß  die  moderne  Lebensphilosophie  von  den  ver- 
schiedensten Seiten  aus  wie  unwillkürlich  sich  zu  den  Aufgaben 
einer  dialektischen  Logik  fortgeführt  sieht. 

Das  heißt  nicht,  daß  wir,  wie  Rickert  es  als  möglich  er- 
klärt, heute  erst  durch  den  Hegelianismus  hindurchmüssen,  ehe 
wir  uns  wieder  zum  selbständigen  Philosophieren  entschließen. 
Mit  Recht  betont  Ricker  t,  daß  ein  Aufnehmen  der  Heg  eischen 
Ideen  für  sich  allein  ebenso  wenig  befriedigen  könnte,  wie  die 
Wiedererweckung  irgend  eines  andern  Denkers  der  Vergangenheit. 
Aber  wenn  er  hervorhebt,  daß  auf  jeden  Fall  für  die  zeitlosen 
Probleme  aus  Hegel  mehr  zu  lernen  sei  als  aus  Zarathustra,  so 
gilt  das  nicht  nur  im  Gegensatz,  sondern  auch  im  Sinn  einer  posi- 
tiven Fortführung  der  Lebensphilosophie.  Denn  Hegel  war  zu- 
gleich ein  Philosoph  des  Lebens,  nämlich  des  geistig -geschicht- 
lichen Lebens  und  ein  systematischer  Denker  und  allein  schon 
sein  Beispiel  beweist,  daß  die  Lebensphilosophie,  als  „das  in  Ge- 
danken gefaßte  Bewußtsein  ihrer  Zeit"  begriffen,  nicht  wesensnot- 
wendig antisystematisch  sein  müsse.  — 

Alle  diese  Bemerkungen  schmälern  natürlich  das  große  Ver- 
dienst, das  Rickerts  Kampfesschrift  sich  erworben  hat,  nicht 
im  geringsten.  Sie  möchten  nur  dazu  anregen,  die  weitere  Dis- 
kussion auf  eine  etwas  breitere  Basis  zu  stellen  und  damit  die 
Probleme,  um  die  es  sich  handelt,  in  ihrem  vollen  Umfang  her- 
vortreten zu  lassen. 


Benno  Erdmann  als  Historiker  der 
Philosophie. 

Von  Else  Wentscher  (Bonn  a./Rh.). 


Am  7.  Januar  ist  Benno  Erdmann,  mitten  her  ans  ans  um- 
fassender Tätigkeit,  von  uns  gegangen.  Wir  Schüler  hatten  gehofft, 
ihm  zu  seinem  70.  Geburtstag  am  30.  Mai  die  Blätter  zu  überreichen, 
in  denen  wir  eine  "Würdigung  seiner  Lehre  versuchen  wollten;  jetzt 
bleibt  uns  nur,  sie  trauernd  seinem  Gedächtnis  zu  weihen.  Die 
Fülle  der  Arbeiten,  die  wir  Benno  Erdmann  verdanken,  gehört 
den  Gebieten  der  Psychologie,  der  Logik  und  der  Geschichte  der 
Philosophie  an;  Prof.  E.  Becher  wird  im  'Archiv  für  die  gesamte 
Psychologie'  über  das  erste  Gebiet  berichten;  für  die  Logik  darf 
ich  auf  einen  demnächst  in  den  Kant-St.  erscheinenden  Artikel  von 
Dr.  Rieffert  verweisen;  mir  sei  gestattet,  auf  Erdmanns  Arbeiten  aus 
dem  Gebiet  der  Geschichte  der  Philosophie  einzugehen.  Der  vor 
allem  charakteristische  Zug  dieser  seiner  Forschung  ist  wohl  die  abso- 
lute Objektivität,  die  kein  Zurechtrücken  der  Probleme,  keine  vor- 
gefaßte Meinung  kennt,  die  mit  äußerster,  auch  die  kleinsten  Züge 
erwägender  Gründlichkeit  dem  Gegenstand  gerecht  zu  werden 
sucht.  Damit  aber  verbindet  er  den  genialen  Blick,  der  —  ge- 
stützt auf  umfassendste  Geschichtskenntnis  —  die  historischen  Ab- 
hängigkeitsbeziehungen durchschaut  und  die  Persönlichkeiten  der 
Philosophen  hineinstellt  in  die  großen  Gedanken-  und  Kulturzu- 
sammenhänge, denen  sie  entstammen.  Erdmann  hat  von  dieser 
seiner  Methode  der  Geschichtsforschung  mehrfach  Rechenschaft 
gegeben1):  weil  Philosophie  die  wissenschaftliche  Gesamt- Auffassung 
des  Wirklichen  ist,  so  spiegelt  sich  in  jeder  ihrer  Perioden  der 
gesamte  Wissensbestand,    ebenso   wie   das   sittliche   und   religiöse 

1)  Vgl.  Archiv  f.  Gesch.  d.  Phil.  Bd.  VII  p.  342  ff.  Ferner  das  Vorwort  zu 
Erdmanns  Ausgabe  von  Kants  'Prolegomena'  und  die  Einleitung  in  das  von  Erd- 
aoann  herausgegebene  Tagebuch  Berkeleys  (Abh.  der  preuß.  Akademie  1919). 


140  Else  WeDtscher, 

Bewußtsein  der  Zeit.  Darum  muß  der  Forscher  in  dem  Lehr- 
bestand eines  philosophischen  Systems  verschiedene  Problemlagen 
unterscheiden:  1)  eine  Reihe  von  Voraussetzungen,  die  unbesehen 
aufgenommen  und  fest  gehalten  werden;  durch  sie  ist  das  System 
in  die  breite  Schicht  der  allgemeinen  Überlieferung  ein- 
gebettet. —  Dazu  kommt  2)  eine  Problem-Schicht,  die  der  Philo- 
soph auf  Grund  kritischer  Prüfung  akzeptiert,  sie  entstammt  der 
zeitgenössischen  philosophischen  und  ein zel wissenschaftlichen  Er- 
kenntnis und  schließlich  der  gesamten  Kultur  der  Zeit.  Die 
3.  Problemlage  bilden  diejenigen  Fragen,  die  der  Philosoph  selb- 
ständig weiter  führt;  diese  geben  dem  System  die  Höhenlage  im 
Verhältnis  zu  den  andern  Systemen.  Ist  es  Sache  des  historischen 
Taktes,  diese  Probleme  im  Einzelnen  zu  scheiden,  so  muß  der 
Forscher  aber  noch  andere  Gesichtspunkte  bei  der  Unters achung 
der  philosophischen  Systeme  anlegen:  er  muß  sie  ansehen  als  sich 
entwickelnde  Ganze,  und  er  hat  diese  Entwicklung  festzu- 
stellen; wird  doch  'ein  Philosoph,  wie  jedes  andere  Objekt  der 
Geschichte  historisch  nicht  charakterisiert  durch  die  reifste  Aus- 
bildung, die  er  seinen  Gedanken  hat  geben  können,  sondern  durch 
die  Entwicklungsgeschichte,  die  ihn  zu  derselben  geführt  hat'. 
Wir  werden  sehen,  wie  Erdmann  diese  methodologischen  Forde- 
rungen in  seiner  eignen  Geschichtsforschung  in  vollem  Maß  erfüllt. 
Aber  er  leistet  mehr,  als  ihm  selbst  bewußt  wird;  er  vergißt  über 
der  Auffindung  der  Entwicklungsbedingungen  und  der  großen 
historischen  Zusammenhänge,  die  wir  bei  einem  Denker  feststellen 
müssen,  das  Beste  nicht :  er  sucht  die  Persönlichkeiten  in  ihrem 
eigensten  Wesen  intuitiv  zu  erfassen,  und  es  ist  ihm  wie  we- 
nigen gegeben,  eines  Menschen  innerste  Seele  zu  fühlen  und,  was 
er  erforscht  oder  innerlich  erschaut,  in  glänzender,  lebensvoller 
Darstellung  in  Wort  oder  Schrift  zu  formulieren.  —  In  dieser 
Vereinigung  von  Objektivität,  umfassendem  historischem  Erkennen, 
tief  dringendem  Forschen  und  intuitivem  Blick  beruhte  der  eigen- 
artige Genuß,  den  seine  historischen  Vorlesungen  und  Seminar- 
stunden boten.  —  Aber  der  Gesichtspunkte,  die  wir  für  Erdmanns 
historische  Forschung  maßgebend  finden,  sind  noch  mehr:  er 
sieht  die  Aufgabe  der  Philosophie  -  Geschichte  darin ,  'die  kausale 
Entwicklung  der  philosophischen  Probleme  und  ihrer  Lösungsver-: 
suche  zu  reproduzieren',  und  in  dem  Wechsel  der  philosophischen 
Systeme  den  Fortgang  zu  Höherem  zu  erkennen.  Darum  fordert 
er   als   notwendige  Vorarbeit  für   die   allgemeine   Geschichte    der 


Benno  Erdmann  als  Historiker  der  Philosophie.  141 

Philosophie  Monographieen  über  die  Entwicklungsgeschichte  der 
einzelnen  Probleme;  darum  hat  er  in  seinen  Vorlesungen  stets 
eine  solche  Problem-Entwicklung  erkennen  lassen,  ebenso  gibt  er 
in  seinen  Schriften  vielfach  sehr  wertvolle  Andeutungen  in  dieser 
Richtung,  so  z.  B.  Arch.  f.  Gesch.  d.  Phil.  VII  p.  527  ff.  die  leitende 
Idee  für  die  Entwicklung  des  Kausalproblems  von  der  Scholastik 
bis  zu  Hume  und  Kant.  Aus  dem  Allen  ergibt  sich  ferner,  daß 
Benno  Erdmann  Geschichte  niemals  nur  mit  rückwärts  gerich- 
tetem Interesse  betreibt,  sondern  in  lebendigster  Fühlung  mit  den 
philosophischen  Problemen  und  ihrer  Bedeutung  für  Leben  und 
Wissenschaft.  Auch  der  Historiker  läßt  stets  den  selbst  von  den 
Problemen  lebhaft  ergriffenen  Philosophen  deutlich  erkennen.  — 
Aus  dieser  ganzen  Einstellung  ergibt  sich  ihm  ferner  als  einzig 
berechtigter  Standpunkt  der  Kritik  innerhalb  der  Philosophie- 
Geschichte  derjenige  der  immanenten  Kritik;  es  gilt  nicht,  so 
zeigt  er  oft,  Widersprüche  so  schroff  wie  möglich  darzustellen, 
oder  sie  gar  von  unsrer  eignen  Zeit  aus  hinein  zu  sehen,  sondern 
begreiflich  zu  machen,  wie  dieselben  innerhalb  jener  zeitlichen 
Bedingungen  zu  Denknotwendigkeiten  werden  mußten. 

Im  Mittelpunkt  der  historischen  Untersuchungen  Erdmanns 
steht  Kant,  dem  er  weit  mehr  als  ein  Menschenalter  hindurch 
die  hingehendste  Arbeit  gewidmet  hat.  So  erforscht  bereits  die 
Dissertation  des  22  jährigen  'die  Stellung  des  Dinges  an  sich  in 
Kants  Ästhetik  und  Analytik',  und  seine  erste  größere  Schrift 
'Martin  Knutzen  und  seine  Zeit'  (Lpz.  1876)  gibt  neben  einem 
Beitrag  zur  Geschichte  der  Wolffschen  Schule  einen  solchen  zur 
Entwicklungsgeschichte  Kants.  Das  Buch  schildert  das 
geistige  Milieu,  aus  dem  Kant  hervorgegangen,  den  Pietismus  und 
die  ebenso  schwer  wiegende  Macht  der  Leibniz- Wolffschen  Schule, 
deren  hervorragendes  Glied  Kants  Lehrer  Knutzen  war.  Es  läßt 
uns  —  eine  glänzende  Erfüllung  der  von  seinem  Vf.  erhobenen 
methodischen  Forderungen  —  die  Problemlage  unterscheiden,  die 
Kant  vorfand  und  die  Antriebe,  die  ihm  ihre  Überwindung  not- 
dig  machten,  und  es  legt  den  Grundstein  zur  Entwicklungsge- 
schichte Kants,  die  Erdmann  dann  in  den  Einleitungen  zu  seiner 
Ausgabe  der  'Prolegomena',  sowie  zu  den  aus  Kants  Nachlaß  von 
ihm  erschlossenen  zwei  Bänden  'Reflexionen'  eingehend  fortsetzt. 
Diese  Studien  stellen  auf  Grund  tief  dringender  Interpretation, 
unter  Heranziehung  der  Briefe  und  Reflexionen,  den  Werdegang 
des  Kritizismus  fest:   steht  das  Denken  Kants  bis  zum  Jahre  1760 


142  Else  Wentscher, 

fast  völlig  unter  dem  Einfluß  des  Leibniz-Wolffschen  Dogmatismus, 
so  bewirken  von  da  ab  seine  eignen  Untersuchungen  über  die 
Prinzipien  unseres  Erkennens,  ferner  Crusius'  Polemik  gegen  Wolff, 
Newtons  Grundlegung  der  mechanischen  Naturauffassung  und  die 
englisch-französische  Aufklärung  eine  Änderung  seiner  Gedanken, 
in  der  Richtung  eines  'kritischen  Empirismus'.  Im  Jahre  69  aber 
erlebt  er,  nach  seinem  eignen  Urteil,  eine  neue  'Umkippung';  den 
inneren  Anlaß  dazu  erblickt  Erdmann  in  dem  damals  in  Kant  auf- 
tauchenden Antinomieen -Problem,  das  ihn  schließlich  zum 
transzendentalen  Idealismus  führt.  Eingehend  wird  auch 
das  Verhältnis  von  Hume  und  Kant  von  Erdmann  erwogen  !)  und 
festgestellt,  daß  die  Kritik  des  Kausal-  und  des  Existenzbegriffes, 
die  wir  in  Kants  vorkritischen  Schriften  finden,  völlig  unabhängig 
von  Hume  ist,  daß  dessen  Schriften  vielmehr  erst  für  ihn  wirksam 
werden,  nachdem  er  selbst  die  Grundgedanken  des  transzenden- 
talen Idealismus  gewonnen  hat,  nachdem  also  in  seinem  eignen 
selbständigen  Geist  die  Problemlage  geschaffen  war,  in  der  ein 
solcher  Einfluß  für  ihn  fruchtbar  werden  konnte.  Dann  aber  hat 
dieser  Einfluß  Humes  auch  Kants  Übergang  zum  Kritizismus 
bewirkt,  indem  er  ihn  sicher  machte,  daß  die  Kategorieen  keinen 
andern  Gebrauch  zur  Erkenntnis  haben  als  ihre  Anwendung  auf 
Erfahrung.  —  Im  Jahr  1878  gab  Erdmann  zum  ersten  Mal  die 
'Kritik  der  reinen  Vernunft'  heraus.  Diese  seine  Herausgabe  der 
"Werke 2)  und  der  Reflexionen  bieten  wiederum  ein  charakteristisches 
Bild  von  der  vielseitigen  Leistung  des  Gelehrten:  ist  die  Er- 
schließung des  Textes  das  Resultat  äußerster  philologischer  Sorg- 
falt, so  spiegelt  sich  in  den  ausführlichen  Einleitungen,  ebenso 
wie  in  seinem  Buch  'Kants  Kritizismus  in  der  1.  und  2.  Auflage 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft'  (Lpz.  1878)  der  geniale,  alle  Zu- 
sammenhänge überschauende  Historiker,  der  alle  die  Forderungen, 
die  er  an  die  Methode  erhebt,  glänzend  erfüllt.  Wir  verstehen 
aus  dem  vo^  ihm  entworfenen  Zeitbild,  wie  die  Kritik  ihren 
ersten  Lesern  als  ein  'vollkommen  inkommensurables  Buch'  er- 
scheinen mußte;  wir  erleben,  wie  —  infolge  der  Kontroverse 
über  Lessings  Spinozismus  —  Spinoza  erst  damals  in  Deutschland 
bekannt  wird,    und  wie  darum    die  Wirksamkeit  der  Philosophie 

1)  s.  auch  E.s  Artikel  'Hume  und  Kant  um  1762'.    Arch.  f.  Gesch.  d.  Phil. 
Bd.  1.     1888. 

2)  Im  Jahre  1884   hat  er  auch  die  'Kritik  der  Urteüskraft'   herausgegeben 
und  eingeleitet. 


Benno  Erdmann  als  Historiker  der  Philosophie.  143 

Kants  vielfach  vermischt  ist  mit  den  aus  Spinoza  stammenden  An- 
trieben (Schelling),  und  wir  überzeugen  uns,  wie  in  den  'Prolego- 
mena'  eine  zweifache  Redaktion  vorliegt ,  die  beide  entstanden 
sind  auf  Grund  der  Aufnahme  und  der  ersten  Rezension,  die 
Kants  Hauptwerk  gefunden  hatte1).  In  Rücksicht  auf  die  zeit- 
geschichtliche Problemlage  gibt  Erdmann  eine  eingehende  Analyse 
der  Kritik  der  reinen  Vernunft;  sie  zeigt,  unterstützt  durch  Briefe 
und  Aufzeichnungen,  daß  der  kritische  Gedanke,  die  Grenzbe- 
stimmung unseres  Erkennens  durch  das  Gebiet  möglicher  Erfah- 
rung, für  den  Philosophen  selbst  den  Schwerpunkt  seines  Systems 
bildet  (vergl.  auch  die  Einleitung  des  Herausgebers  zur  Krit.  d. 
Urteilskraft).  —  In  der  Akademie- Ausgabe  der  Werke  Kants  hat 
Benno  Erdmann  die  2.  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft, 
die  erste,  sofern  sie  von  jener  abweicht,  und  die  'Prolegomena' 
herausgegeben.  — 

Mit  zwei  tief  durchdachten  Kant  gewidmeten  Untersuchungen 
hat  er  uns  noch  in  den  letzten  Jahren  beschenkt :  die  eine  bietet 
eine  'Kritik  der  Problemlage  in  Kants  transzendentaler  Deduktion 
der  Kategorieen' 2),  die  andere  sucht,  'die  Idee  von  Kants  Kritik 
der  reinen  Vernunft'  herauszuschälen.  Das  Problem  der  transzen- 
dentalen Deduktion,  so  zeigt  Erdmann,  hängt  an  den  Kate- 
gorieen. Noch  in  der  Dissertation  von  1770  hatte  Kant  ange- 
nommen, daß  unsere  Verstandesbegriffe  die  Dinge  erfassen,  wie 
sie  an  sich  sind.  Im  Brief  an  M.  Hertz  vom  Februar  72  aber  wirft 
er  die  Frage  auf:  wodurch  werden  uns  denn  jene  Dinge  gegeben, 
wenn  nicht  durch  die  Art,  wie  sie  uns  affizieren?  Und  wenn 
unsere  intellektualen  Vorstellungen  auf  unserer  inneren  Tätigkeit 
beruhen,  woher  kommt  dann  ihre  Übereinstimmung  mit  Gegen- 
ständen, die  doch  dadurch  nicht  etwa  hervorgebracht  werden? 
Hier  haben  wir  also  das  Kategorieen  -  Problem  in  statu  nascendi. 
Seine  Lösung  aber  ist  in  den  verschiedenen  Redaktionen,  in  denen 
sie  vorliegt,  stets  dieselbe:  die  Dinge  an  sich  werden  durch  die 
Kategorieen  zwar  als  Gegenstände  gedacht,  aber  nicht  er- 
kannt, weil  unser  Erkennen  auf  das  gegebene  Mannigfaltige  der 
Sinne  angewiesen  und  somit  an  die  Grenzen  der  Erfahrung  ge- 
bunden ist.    —   Wiederum  macht  Erdmann  diesen  Gedankengang 

1)  Vergl.  auch  B.  Erdmann,  'Historische  Untersuchungen  über  Kants  Pro- 
legomena'.    Halle  1904. 

2)  Sitzungsberichte  der  Preußischen  Akademie  1915. 

3)  Abhandlungen  der  Preußischen  Akademie  1917. 


144  Else  Wentschet, 

des  Philosophen  verständlich,  indem  er  die  historischen  Vor- 
aussetzungen aufsucht,  die  sich  darin  bekunden:  es  ist  zunächst 
die  Überzeugung,  daß  das  Mannigfaltige  der  Sinnlichkeit  unab- 
hängig von  der  Synthesis  des  Verstandes  gegeben  sei,  daß  uns 
somit  Gegenstände  erscheinen  können,  ohne  sich  notwendig 
auf  Verstandesfunktionen  zu  beziehen.  Da  die  transzendentale 
Ästhetik  aber  erwiesen  hatte,  daß  unsere  Anschauungen  nichts  als 
Vorstellungen  von  Erscheinungen  sind,  so  ist  dieses  Ergebnis, 
also  der  transzendentale  Idealismus,  die  erste  Voraus- 
setzung der  Deduktion.  Daraus  aber  ergibt  sich  sofort  als  zweite 
eine  realistische  Voraussetzung:  aus  dem  Begriff  einer  Er- 
scheinung folgt,  daß  ihr  etwas  entsprechen  müsse,  was  erscheint, 
es  folgt  somit  das  Vorhandensein  von  für  uns  freilich  unerkenn- 
baren Dingen  an  sich.  Ja  es  bleibt  für  Kant  Voraussetzung, 
daß  die  Beziehung  der  Erscheinungen  zu  den  Dingen  an  sich  als 
kausale  zu  deuten  sei.  —  Eine  dritte  Voraussetzung  der  transzen- 
dentalen Deduktion  ist  die  tief  in  Kants  Denken  wurzelnde  ra- 
tional-metaphysische Überzeugung,  daß  unsrer  ratio  apriorische 
Bedingungen  eigen  seien,  die  das  Seiende  als  solches  erfassen- 
Stammt  dieser  Gedanke  aus  der  Leibniz  -  "Wölfischen  Metaphysik, 
so  wird  die  Überlieferung  doch  bei  Kant  dahin  modifiziert,  daß 
wir  nur  im  reinen  Denken  die  Dinge  an  sich  erfassen ,  wäh- 
rend unser  Erkennen  durch  die  Anschauung  und  Erfahrung  be- 
grenzt ist.  Durch  diese  Scheidung  von  Erkennen  und  Denken 
überwindet  Kant  den  Rationalismus  also  nur  für  das  erstere  und 
somit  nicht  völlig;  vielmehr  liegt  seinem  Kritizismus  des  Erken- 
nens  ein  Dogmatismus  des  reinen  Denkens  zu  Grunde, 
der  ihn  nicht  zweifeln  läßt  an  der  Existenz  einer  intelligiblen 
Welt  von  Substanzen.  Eine  vierte  sachliche  Voraussetzung  der 
transzendentalen  Deduktion  ist  die  metaphysische  Deduktion, 
die  gegründet  ist  auf  den  Gedanken,  daß  der  Verstand  durch  eben 
die  Handlung,  in  der  er  verschiedenen  Vorstellungen  in  einem  Urteil 
Einheit  gibt,  auch  die  allen  Urteilen  vorausgehende  einheitliche 
Synthesis  unsrer  Vorstellungen  zu  Gegenständen  überhaupt 
erst  möglich  macht.  —  Die  letzte  Voraussetzung  aber  ist  eine 
methodologische:  seine  transzendentale  Methode,  die 
beeinflußt  ist  vom  Logismus  der  Leibniz-Wolffschen  Schule,  und 
die  im  Gegensatz  steht  zum  Psychologismus  der  Engländer.  — 
Alle  diese  Voraussetzungen  der  transzendentalen  Deduktion  zeigen, 
daß    in    ihr   die   uralten  philosophischen  Gegensätze    des  Eationa- 


Benno  Erdmann  als  Historiker  der  Philosophie.  145 

lismus  und  Empirismus  vereint  sind.  Aber  Kant  bietet  nicht, 
wie  etwa  die  Aufklärung,  eine  eklektische  Verbindung  beider 
Gedankengänge,  sondern  eine  originale  Synthese,  in  der  die 
philosophischen  Systeme  Glied  für  Glied  in  der  Tiefe  aufgewühlt 
und  zu  einem  einheitlichen  Ganzen  verbunden  werden.  Auf  diesem 
Wege  hat  Kant  die  Aufklärung  überwunden.  — 

In  einer  im  Jahr  1917  erschienenen  Akademie-Abhandlung  sucht 
Erdmann  'die  Idee  von  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft',  in  tief 
eindringender  Analyse  heraus  zu  schälen.    Er  folgt  dabei  dem  Wink, 
den  Kant  uns  in  der  'Architektonik  der  reinen  Vernunft'  gegeben 
hat,    die  gestaltende  Idee   eines  Systems   aus  seinem  Aufbau,    aus 
der   als  Einheit   gedachten  Form   des  Ganzen   zu   suchen.     Aus 
dieser  Auffassung  der  'Idee'  eines  Werkes  ergibt  sich,  daß  sie  nur 
in  einem  solchen  Gedanken   gesucht   werden  kann,    der  das  Lehr- 
gebäude  durchgängig   gestaltet,    und   der   für  alle  seine  Teile 
maßgebend  ist.     An  diesem  Maßstab  gemessen,,  scheiden  drei  Auf- 
fassungen aus,  die  wiederholt  als  Idee  der  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft in  Anspruch  genommen  worden  sind:  1)  die  Frage  'wie  sind 
synthetische  Urteile   a   priori   möglich?'      Denn   sie  ist  im  Ver- 
hältnis zum  Ganzen  der  Vernunftkritik   untergeordnet.     Darum 
fällt  aber  auch  2)  der  häufig  dafür  in  Anspruch   genommene  Ver- 
gleich,   in  dem  Kant   seine  Revolution  des  Denkens  der  Tat  des 
Kopernikus  gleichstellt,   als  solche   durchgehende  Idee  weg;    denn 
er  hat   —  trotz   alles  Treffenden  des  Bildes  —   für  den  Aufbau 
des  Ganzen   zu   wenig  Bedeutung.      Diese    kommt   dagegen    dem 
Grundgedanken  der  transzendentalen  Logik  zu,    er  ist 
bestimmt  lediglich   von   der   reinen  Vernunft  selbst,    denn  er 
sucht  nur  die  apriorischen  Prinzipien  auf.    Zur  Seele  des  gesamten 
Schematismus  aber  wird  in  allen  drei  Kritiken  die  Kategorieen- 
Tafel,   die  für  den  Aufbau  der  Analytik  wie  der  Dialektik  maß- 
gebend wird.     Und   hinzukommt   die  ethische  Bestimmung   der 
reinen  Vernunft,    wonach   die  Ethik   der  letzte  Zweck  der  Meta- 
physik,   und  der  Kritizismus  somit  die  Grundlage  für  den  Ausbau 
der  Ethik   ist.     Dieser  Aufbau   des   Ganzen  zeigt  also,    daß  die 
'reine  Vernunf '  mit  nichts  als   mit  sich  selbst  beschäftigt   ist' ;    er 
erweist,    daß  die  transzendentale  Dialektik  das   eingehend  spezia- 
lisierte, kritisch  gegen  die  dogmatische  Metaphysik  gerichtete  Er- 
gebnis der  Analytik  ist;  aber  er  zeigt  sie  außerdem  ergänzt, 
und  zwar  spekulativ  durch  die  Vernunft-Ideen  und  praktisch  durch 
den  Hinweis  auf  den  letzten  ethischenZweck  aller  Metaphysik. 

KantstudieD.   XXVI.  10 


146  Else  Wentscher. 

—  Haben  wir  so  das  Schema  der  transzendentalen  Logik  gewonnen, 
so  müssen  wir,  um  dasjenige  des  Gesamt  Werkes  zu  finden,  auch 
das  Schema  der  transzendentalen  Ästhetik  berücksichtigen.  Auch 
dieses  zeigt  die  reine  Vernunft  als  mit  sich  selbst  beschäftigt; 
denn  auch  die  Ästhetik  sucht  die  apriorischen  Bestandteile  unseres 
Erkennens  auf,  und  ihr  Ergebnis,  der  transzendentale  Idealismus, 
bildet  den  allein  möglichen  Boden  für  die  transzendentale  Logik, 
nämlich  für  die  Deduktion  der  Kategorieen,  die  'der  syste- 
matisch und  entwicklungsgeschichtlich  bedeutsamste  Teil'  des  Kri- 
tizismus ist.  Ihr  Prinzip,  daß  die  Kategorieen  'als  Bedingung  der 
Möglichkeit  der  Erfahrung  erkannt  werden  müssen',  macht  die 
in  ihr  liegende  Theorie  der  Erfahrung  zum  Grundgedanken 
der  Vernunfterkenntnis  a  priori.  —  Das  Gesamtschema 
der  Kritik  bestätigt  somit  die  Erklärung  Kants,  daß  sie  der  'Idee 
der  systematischen  Einheit  der  reinen  Vernunft  in  synthetischer 
Konstruktion  entnommen  ist  und  auf  die  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft abzielt.  Lediglich  in  einer  genaueren  Bestimmung 
dieser  Kritik,  ihres  Objekts  und  ihrer  Methode  haben  wir 
demnach  die  Idee  des  Werks  zu  suchen'  (p.  56).  Und  wir 
dürfen  —  nach  Allem  —  sagen,  daß  diese  Idee  in  dem  auf  der 
Grundlage  des  transzendentalen  Idealismus  geführten  Beweis  liegt, 
'daß  der  spekulative  Erkenntnisgebrauch  der  Vernunft,  der  sich 
in  der  Idee  der  Metaphysik  realisiert,  niemals  weiter  als 
bis  zu  den  Grenzen  möglicher  Erfahrung  reicht'.  — 
Erdmann  beleuchtet  auch  hier  wieder  das  Neue  der  Leistungen 
Kants,  indem  er  es  einstellt  in  den  großen  historischen  Zusammen- 
hang :  die  Scheidung  der  beiden  Stämme  unsres  Erkennens  in  Spon- 
taneität und  Rezeptivität  geht  zurück  bis  in  die  Anfänge  der  abend- 
ländischen Philosophie;  eigentümlich  für  Kant  aber  ist  innerhalb 
dieser  Scheidung,  daß  auch  die  Rezeptivität,  die  Sinnlichkeit, 
aprioristische  Momente  enthält.  Kants  intelligibles  Apriori, 
also  dasjenige  der  Spontaneität,  ist  ein  Glied  der  Lehre  von  den 
angeborenen  Ideen,  die  bis  auf  Piatos  avd[ivr]öig  zurückgeht.  Inso- 
fern gehört  Kants  Kritizismus  in  die  Richtung  eines  'genetischen 
Rationalismus'  hinein.  Von  dem  überlieferten  Rationalismus  aber 
scheidet  ihn  die  metaphysische  Zurückhaltung;  sie  verbietet  ihm, 
irgendwelche  angeborenen  Erkenntnis -Inhalte  anzunehmen;  nur 
angeborene  Formen  des  Anschauens  und  Denkens  kennt  er.  — 
Wenn  wir  Benno  Erdmanns  Kant-Forschung  überschauen,  so 
finden  wir   sie  durch  alle  die  Züge  ausgezeichnet,   die  wir  ihren 


Benno  Erdmann  als  Historiker  der  Philosophie.  147 

Urheber  selbst  von  einer  fruchtbaren  Behandlung  der  Philosophie- 
Geschichte  fordern  sahen;  sein  Name  wird  in  der  deutschen  For- 
schung mit  dem  Kants  dauernd  verbunden  bleiben.  Aber  Erd- 
manns historische  Studien  gelten  auch  noch  andern  Geöieten,  wie 
wir  leider  nur  noch  andeutend  erwähnen  dürfen.  In  dem  von  ihm 
mitbegründeten  'Archiv  für  Geschichte  der  Phil.'  hat  er  längere 
Zeit  den  Jahresbericht  über  die  historische  Literatur  geschrieben; 
diese  Arbeiten,  die  vielfach  mehr  den  Charakter  von  selbständigen 
Artikeln  als  von  Referaten  bewahren,  haben  bleibenden  wissen- 
schaftlichen Wert1);  denn  Erdmann  hat  niemals  nur  kritisiert, 
sondern  er  hat  auch  da,  wo  er  (zuweilen  scharf!)  absprach,  immer 
zugleich  gezeigt,  wie  die  verfehlte  Aufgabe  gelöst  werden  müßte. 
In  diesem  Zusammenhang  hat  er  besonders  dem  englischen  Empi- 
rismus oft  sein  Interesse  gewidmet,  so  hat  er  (Archiv  II)  gezeigt, 
daß  Locke  zwar  auf  Descartes  beständig  polemisch  Rücksicht 
nimmt,  daß  im  übrigen  aber  seine  Gedanken  mehr  den  positiven 
Einflüssen  entstammen,  die  von  Baco  und  Hobbes,  sowie  von 
Galilei  und  Newton  auf  ihn  übergegangen  sind.  Dem  Empiristen, 
der  Erdmann  vor  allem  kongenial  war,  Berkeley,  hat  er  noch  in 
den  letzten  Jahren  hingebende  Arbeit  gewidmet,  indem  er  sein 
Tagebuch  aufs  neue  erschlossen,  herausgegeben  und  eindringlich 
erläutert  hat 2).  Auch  diese  Darstellung  von  Berkeleys  Philosophie 
im  Lichte  seines  wissenschaftlichen  Tagebuchs  zeigt  uns  Erdmanns 
Forschergaben  noch  einmal  deutlich:  die  ins  Einzelste  gehende 
philologische  Sorgfalt  —  den  historischen  Weitblick,  der  den  Denker 
und  die  Probleme  im  Zusammenhang  der  objektiven  Entwicklung 
darstellt  und  das  tief  eindringende  Verständnis,  das  uns  die  Seele 
dieses  feinsinnigsten  Engländers  erschließt  und  uns  für  ihn  ge- 
winnt. Erdmann  zeigt,  daß  die  leitenden  Ideen  des  wissenschaft- 
lichen Tagebuchs  von  Berkeley  wurzeln  in  einer  religiös  moti- 
vierten Umdeutung  der  empiristischen  Lehren  Lockes ;  er  läßt  uns 
in  diesen  Gedanken  die  Reaktion  gegen  den  Rationalismus  der  Spät- 
Scholastik  innerhalb  der  neueren  Philosophie  erkennen,  die  das 
ganze  17.  Jahrhundert  durchzieht,  und  er  weist  vordeutend  auf  die 
Gedankenkette  hin,  die  Berkeleys  kritische  Reflexionen  zum  Kausal- 
problem,   zum  Substanz-    und  Existenzbegriff  verknüpft   mit    der 


1)  Dringend  erwünscht  wäre  eine  Herausgabe  von  Benno  Erdmanns  'kleinen 
Schriften !'. 

2)  Abhandlungen  der  Preußischen  Akademie  der  Wissenschaften  1919. 

10* 


148  Else  Wentscher, 

Kritik  von  Hume.  Als  innersten  Anteil  seines  Denkens  aber  er- 
weist auch  das  Tagebuch:  das  christlich  -  religiöse  Bewußtsein; 
darum  erinnert  Berkeley  auch  in  diesem  Licht  an  Denker  wie 
Pascal  unä  Malebranche.  —  Auch  zu  Descartes,  Leibniz  und  Spi- 
noza hat  Erdmann,  im  Archiv  wie  in  Einzel-UntersuchuDgen,  wert- 
volle Aufschlüsse  gegeben1).  Immer  wieder  zeigt  er  die  Bezie- 
hungen auf,  die  die  neuere  Philosophie  verbindet  mit  dem  Funda- 
ment, aus  dem  sie  hervorgegangen,  der  Scholastik,  und  anderer- 
seits mit  den  seit  Ende  des  16.  Jahrhunderts  aufblühenden  Me- 
thoden exakter  Forschung.  — 

Aber  nicht  nur  auf  die  Beziehungen  zur  Vergangenheit  weist 
Erdmann  hin;  in  lebendiger  Darstellung  zeigt  er  auch  die  Wege, 
die  von  den  großen  philosophischen  Systemen  zu  unserer  Gegen- 
wart führen.  So  stellt  er  in  den  mitten  im  Krieg  in  der  Akademie 
gesprochenen  'Gedächtnisworten  auf  Leibniz'  uns  das  Versöhnliche 
dieses  Genius  vor  Augen,  der  in  allen  Wirrnissen  und  Enttäuschungen 
seines  Lebens  den  Glauben  an  das  Gute  in  der  Menschheit  hochgehalten 
hat,  und  dem  es  innerste  Überzeugung  war,  daß  nicht  Streit  und 
Haß,  sondern  Versöhnung  der  unvermeidlichen  Gegensätze  der 
Vater  aller  Dinge  ist.  Und  eingehend  erörtert  er  wiederum  vor 
allem  (in  der  'Kritik  der  Problemlage  in  Kants  transzendentaler 
Deduktion')  die  kritische  Stellung,  die  wir  auf  Grund  modernen 
Erkennens  zu  Kant  einnehmen.  Was  uns  vor  allem  von  ihm  trennt, 
ist  die  Tatsache,  daß  Kant  dem  uns  heut  beherrschenden  Entwick- 
lungsgedanken  noch  völlig  fernsteht.  Denn  unannehmbar  wird 
aus  diesem  Grunde  für  uns  die  Voraussetzung,  daß  es  ein  sinnen- 
freies Denken,  eine  'reine  Spontaneität',  eine  nicht  letzlich  aus  Er- 
fahrung abzuleitende  apriorische  Bedingung  der  Erfahrung  über- 
haupt geben  könne.  Und  damit  fällt  die  weitere  Voraussetzung 
Kants  dahin,  daß  unser  Erkennen  sich  aus  zwei  nicht  auf  ein- 
ander zurückführbaren  Stammen  aufbaue,  und  mit  dieser  zugleich 
die  Scheidung  in  eine  sinnliche  und  eine  intelligible  Welt. 
Unannehmbar  ist  von  Kants  Gedanken  für  uns  ferner  die  Voraus- 
setzung, daß  wir  im  reinen  Denken  das  Seiende  an  sich  erfassen ; 
wir  haben  darin  eine  aus  der  Überlieferung  stammende  'metaphy- 
sische  Resterscheinung'    zu   erblicken.      Trennend   steht    zwischen 


1)  Vergl.  auch :  B.  Erdmann,  'Betrachtungen  über  die  Deutung  und  Wertung 
der  Lehre  Spinozas'.    (Genethliakon  Berlin  1910.) 

Ders.:  'Gedächtnisworte  auf  Leibniz'.  Sitzg.-Berichte  der  Preuß.  Akademie  1916. 


Benno  Erdrnann  als  Historiker  der  Philosophie.  149 

Kant  und  uns  auch  das  Moment,  daß  er  die  Mitwirkung  der 
Außenwelt  an  der  Bildung  unseres  Intellekts  nicht  genügend 
anerkennt;  er  betrachtet  sie  zwar  als  'Gelegenheitsursache'  für 
das  Eintreten  der  Funktionen  der  Synthesis,  aber  auf  die  Frage: 
1  woher  stammt  der  spezielle  Inhalt  unserer  Empfindungen?'  weiß 
er  nur  die  Antwort:  aus  der  intelligiblen  Kausalität  der  Dinge 
an  sich,  die  doch  andrerseits  unerkennbar  sein  sollen.  So  versagt 
Kants  Kritizismus  bei  dem  Versuch,  die  objektiven  Bedingungen 
begreiflich  zu  machen,  die  die  allgemeinen  subjektiven  Bedingt- 
heiten unsres  Erkennens  zu  dem  Bestand  unsrer  Erfahrung  formen. 
—  Und  welche  Stellung  haben  wir,  vom  Gesichtspunkt  modernen 
Erkennens  aus,  zu  Kants  Ethik  einzunehmen ?  Benno  Erdmann 
gibt  darüber  Rechenschaft  in  dem  Akademie- Vortrag :  'Kants  Ethik 
und  der  moderne  PflichtbegrifF *) :  Kants  Erhebung  des  sittlichen 
Bewußtseins  in  ein  'Reich  des  Absoluten'  dürfen  wir  nur  als  den 
gedankentiefen  Versuch  auffassen,  das  Idealbild  einer  vollkom- 
menen Sittlichkeit  'in  die  Realität  einer  absoluten  Wirklichkeit' 
zu  verwandeln.  Aber  wir  müssen  uns  bewußt  bleiben,  daß  das 
Sittengesetz  nicht  aus  der  intelligiblen  Eigenart  der  Vernunft 
überhaupt  stammt,  sondern  aus  der  psychologischen  Natur  des 
Menschen,  aus  unserm  Gemeinschaftsbewußtsein.  Demgemäß  haben 
wir  den  guten  Willen,  den  wir  mit  Kant  als  Verkörperung  der 
Sittlichkeit  ansehen,  inhaltlich  zu  bestimmen;  und  wir  müssen 
ihn  fassen  als  einen  Willen,  der  zu  jedem  möglichen  sittlichen 
Zweck  angemessen  ist.  Als  solchen  aber  können  wir  wiederum 
nur  einen  Zweck  ansehen,  der  der  sozialen  Gemeinschaft  dient, 
der  sie  stärkt  und  sittlich  hebt.  So  müssen  wir  an  die  Stelle 
der  von  Kant  gemeinten  und  nicht  erreichbaren  absoluten  Ver- 
bindlichkeit des  Pflichtbegriffes,  die  erfahrungsmäßig  bedingte 
setzen,  die  in  der  Einschränkung  auf  unsre  empirische  Natur  und 
die  soziale  Gemeinschaft  gegeben  ist.  Und  wir  müssen  ferner, 
wie  schon  Schleiermacher  gezeigt  hat,  dem  zu  allgemein  gefaßten 
Pflichtbegriff  Kants  ein  individualistisches  Moment  einfügen; 
denn  die  Pflicht  bindet  jeden  nach  Maßgabe  seiner  Eigenart.  — 
Unser  modernes  Erkennen  ist  aber  endlich  von  Kant  geschieden 
durch  die  Gewißheit,  daß  Neigung  und  Pflicht  nicht  in  so  schroffem 
Gegensatz   stehen,    wie   er  gemeint;    denn   unsre  sozialen  Gefühle 


1)  Deutsche  Rundschau  1917.  August-Heft.  —  Vergl.  auch  die  Rede  bei  der 
Säkular-Feier :  'Immanuel  Kant'.    Bonn  1904. 


150     ElseWentscher,  Benno  Erdmann  als  Historiker  der  Philosophie. 

sind  nicht  die  geschworenen  Gegner,  sondern  wenn  sie  richtig  ge- 
leitet sind,  die  natürliche  Basis  des  sittlichen  Bewußtseins.  Mit 
diesen  Modifikationen  gewinnen  wir  die  dem  Wissen  nnd  Fühlen  der 
Gegenwart  entsprechende  Fassung  für  Kants  Idee  der  Sittlichkeit, 
den  Pflichtbegriff.  —  Hat  Benno  Erdmanns  historische  Forschung 
uns  ein  allseitig  fundiertes  lebensvolles  Bild  von  Kants  Philosophie 
und  seiner  überragenden  Persönlichkeit  gezeichnet,  so  hat  er,  am 
Schluß  dieser  Lebensarbeit  —  gleichsam  als  Vermächtnis  —  uns 
auch  die  Wege  gewiesen,  die  uns  heut,  trotz  alles  Trennenden, 
doch  wieder  zu  Kant  hinführen. 


Zur  Erinnerung 
an  Christopher  Jacob  Boström1). 

Von  Beinhold  Geijer  (üppsala). 


Am  22.  März  1866  starb  als  emeritierter  Professor  der  bei 
weitem  berühmteste  und  einzige  schulbildende  Philosoph  Schwedens. 
Zahlreiche  pietätvolle  Schüler  haben  die  philosophische  Welt-  und 
Lebensanschauung  ihres  Lehrers  vom  akademischen  Katheder  oder 
auch  sonst  in  Wort  und  Schrift  vertreten  und  weiter  verbreitet. 
Auch  haben  sie  BostrÖmsche  Gesichtspunkte,  Gredanken  und  An- 
deutungen mehr  oder  weniger  frei  und  selbständig,  daher  bis- 
weilen voneinander  etwas  abweichend,  weiter  entwickelt  und  sie 
auf  so  verschiedene  und  anscheinend  peripherische  Gebiete  wie 
die  kirchlich  -  dogmatische  Theologie,  die  positive  Rechtswissen- 
schaft und  die  praktische  Politik  angewandt.  Ja,  sogar  Dichter 
vom  Range  eines  Viktor  Rydberg  und  C.  D.  af  Wirsen  haben 
sich  von  dem  hohen  Flug  und  dem  weiten  Horizont  der  Boström- 
schen  Gedankenwelt  ergreifen  und  beeinflussen  lassen.  Der  Bo- 
strömianismus  (im  weitesten  Sinne)  hat  schon  über  zwei  Menschen- 
alter hindurch  einen  mitwirkenden,  ja  auf  seine  Art  bestimmenden 
Faktor  im  schwedischen  Kulturleben  gebildet.  Oder  wenigstens, 
um  nicht  zu  viel  zu  sagen,  einen  starken  Einschlag  in  der  höheren 


1)  Der  Aufsatz  ist  1916  ursprünglich  für  die  schwedische  Zeitschrift  „Ord 
och  Bild"  geschrieben  worden,  wo  auch  1897  zur  Hundertjahrfeier  des  Geburts- 
tages des  Philosophen,  1.  Januar  1797,  ein  ähnlicher  Nachruf  von  Allen  Vanne'rus 
erschienen  war.  Diese  gekürzte  Übertragung  ist  1917  von  H.  Trau,  Bremen, 
sprachlich  und  von  D.  Mahnke,  Stade,  sachlich  bearbeitet  worden.  Das  schwe- 
dische Original  enthält  mehrere  interessante  Abbildungen  von  Boström,  seinem 
Geburtshaus  in  Pitea,  seinen  Wohnungen  und  seinem  Grabmal  in  Uppsala,  die 
hier  leider  nicht  wiedergegeben  werden  können. 


152  Rcinhold  Geijt  r. 

geistigen  Bildung  des  schwedischen  Volkes.  Und  ich  will  hinzu- 
fügen, dieser  Einschlag  besteht  noch  jetzt  und  dürfte  erst  nach 
langer  Zeit,  wenn  überhaupt  je,  seine  Aktualität  und  Bedeutung 
verlieren,  obschon  er  natürlich  nicht  mehr  dieselbe  dominierende 
Rolle  spielen  kann  wie  in  der  Glanzperiode  der  „Boströmschen 
Schule"  kurz  nach  des  Meisters  Tod. 

Von  seinem  philosophischen  System  hat  Boström  uns  keine 
vollständige  und  im  einzelnen  ausgeführte  Gesamtdarstellung 
schriftlich  hinterlassen.  Von  ihm  selbst  im  Druck  herausgegeben 
ist  nur  folgendes:  1)  Ein  später  auch  selbständig  erschienener 
Lexikonartikel  „C.  J.  Boström  och  hans  filosofi" ;  2)  eine  Reihe 
lateinischer  Dissertationen,  von  denen  die  ungleich  wichtigste  seine 
Professorarbeit  vom  Jahre  1841  ist:  „De  notionibus  religionis 
sapientiae  ac  virtutis  earumque  inter  se  nexu",  sowie  einige  ur- 
sprünglich ebenfalls  zu  Disputationsthemen  für  philosophische 
Kandidaten  bestimmte  „Satser  om  lag  och  lagstiftning"  (Sätze 
über  Gesetz  und  Gesetzgebung);  3)  schematische  „Grundlinier  tili 
den  philosophiska  statslärans  propaedeutik",  „Gr.  tili  den  philo- 
sophiska  statsläran",  „Gr.  tili  den  phil.  civilrätten"  (Grundlinien 
zum  phil.  Zivilrecht),  bestimmt  für  den  Gebrauch  seiner  Hörer; 
4)  Rezensionen  und  kleinere  Aufsätze  in  Zeitschriften  über  reli- 
giöse und  politische  Fragen,  sowie  zwei  stark  polemische,  aufsehen- 
erregende Broschüren  über  ähnliche  Themen:  „Anmärkningar  om 
helvetesläran"  (Anmerkungen  zur  Lehre  von  der  Hölle,  „unsern 
Theologen  und  Pastoren  ernsthaft  vorzuhalten",  1864)  und  „Aro 
Rikets  Ständer  berättigade  att  för  Svenska  Folket  besluta  och 
fastställa  det  nu  hvilande  sä  kallade  representations  förslaget?" 
(Sind  die  Reichsstände  berechtigt,  für  das  schwedische  Volk  den 
jetzt  vorliegenden  sogenannten  Repräsentations Vorschlag  zu  be- 
schließen und  festzustellen  ?  —  1865.) 

In  die  von  H.  Edfeldt  und  G.  J.  Keijser  in  drei  umfangreichen 
Bänden  herausgegebenen  „Skrifter  af  Christopher  Jacob  Boström" 
sind  aus  seinem  literarischen  Nachlaß  außer  den  erwähnten  auch 
„Grundlinier  tili  philosophiens  propaedeutik,  tili  philosophiska 
reügionsläran"  und  „tili  philosophiska  criminalrätten"  sowie  ein 
„Schema  av  philosophiens  historia"  mit  aufgenommen.  Und  später 
sind  ältere  und  jüngere  Nachschriften  von  Boströms  Vorlesungen 
über  Religionsphilosophie  und  Ethik  besonders  herausgegeben 
worden1). 

1)  1916  hat  Gustaf  Klingberg  in  den  Schriften  des  „K.  humanistiska  veten- 


Zur  Erinnerung  an  Christopher  Jacob  Boström.  153 

So  zersplittert  und  schematisch  formuliert,  wie  Boströms 
Philosophie  zunächst  vorliegt,  könnte  es  scheinen,  als  ob  man 
hier  nicht  von  einem  philosophischen  „System"  reden  dürfte, 
sondern  höchstens  von  Entwürfen  zu  einem  solchen.  Und  doch 
zeigt  sich  bald  bei  einem  nicht  gar  zu  oberflächlichen  Studium 
von  Boströms  Schriften,  daß  diese  sämtlich  von  denselben  Ge- 
sichtspunkten, letzten  Voraussetzungen  und  höchsten  Intentionen 
beherrscht  werden  und  stets  die  gleichen  Grundgedanken,  nur  von 
verschiedenen  Seiten,  beleuchten.  Und  wenn  wir  freilich  kein 
gleichmäßig  durchgearbeitetes,  abgeschlossenes  Ganzes  bekommen 
haben  (wo  finden  wir  überhaupt  ein  solches?  Stückwerk  ist 
jeder  philosophische  Gedankenbau  wie  alle  andern  menschlichen 
Schöpfungen),  so  können  wir  doch  ohne  Übertreibung  sagen,  daß 
wir  hier  dem  in  einfachem,  großem  Stil  entworfenen  Grundriß 
einer  wie  aus  einem  Guß  geformten  Welt-  und  Lebensanschauung 
gegenüberstehen. 

IL 

Die  allgemeine  Art  von  Boströms  Philosophie  pflegt  man  nach 
seinem  eigenen  Vorgange  als  Idealismus  zu  bezeichnen.  Und  ihren 
eigentümlichen  Charakter,  ihre  „difFerentia  specifica"  im  Unter- 
schied von  anderen  geschichtlich  gegebenen  Formen  des  Idealismus, 
hat  er  selbst  durch  die  Benennung  als  rationalistischen  oder  kürzer 
„rationellen  Idealismus"  angegeben.  Allein  beide  Worte  sind 
schon  längst  abgenutzt,  daher  zu  schwebend  und  nichtssagend, 
um  allein  für  sich  genommen  noch  als  wissenschaftliche  Termini 
brauchbar  zu  sein. 

Im  gewöhnlichen  Leben  verwendet  man  das  Wort  Idealismus 
meist  in  praktischer  oder,  allgemeiner,  axiologischer  Bedeutung. 
In  der  Philosophie  dagegen  gebraucht  man  es  rein  theoretisch 
zur  Bezeichnung  einer  ontologischen  Grundanschauung  über  „das 
wirklich  und  wesentlich  Seiende",  über  das  „An  sich"  im  Gegen- 
satz zur  „sinnlichen  Erscheinungswelt".  Im  weitesten  Sinne  ver- 
steht man  unter  ontologischem  Idealismus  jeden  Immaterialismus, 
der  die  raumerfüllende  Körperlichkeit  als  Phänomen  einer  un- 
körperlichen Wirklichkeit  betrachtet.  Diese  Negation  kann  nun 
auf  zwei  Weisen  mit  positivem  Inhalt  erfüllt  werden.  Der 
objektive  Idealismus  wird  typisch  dargestellt  durch  Piatons 


ßkaps  förbund"  die  letzten  „föreläsningar  i  etik"  nach  seinen  (Klingbergs)  eigenen, 
sehr  vollständigen  Aufzeichnungen  herausgegeben. 


154  Reinhold  Geijer, 

Ideenlehre,  wie  diese  gewöhnlich  aufgefaßt  wird.  Danach  ist  das 
wahrhaft  nnd  wesentlich  Seiende  eine  Welt  zeitloser  Gedanken- 
dinge, ein  „hypostasiertes"  System  nnsinnlicher  Begriffsinhalte, 
während  die  räumlich-zeitlichen  Sinnendinge  für  bloße  „Schatten- 
bilder" der  ewigen  Ideen  erklärt  werden.  Auch  Hegels  „Pan- 
logismus",  nach  dem  der  letzte  Grund  und  das  innerste  Wesen 
des  Weltgeschehens  ein  sich  mit  dialektischer  Notwendigkeit  ent- 
wickelnder Gedankenprozeß  ist,  gehört  hierher.  Der  subjektive 
Idealismus  dagegen,  der  erst  in  der  neueren  Philosophie  un- 
zweideutig hervorgetreten  ist,  könnte  auch  Panpsychismus  oder 
Spiritualismus,  noch  besser  Mentalismus  oder  Personalismus  ge- 
nannt werden.  Er  geht  aus  von  unserm  Selbstbewußtsein,  dem 
Ich  als  dem  einheitlichen  Subjekt  aller  seiner  Wahrnehmungen 
und  Gedanken,  Gefühle  und  Willensäußerungen,  und  mündet  in  die 
Überzeugung  aus,  daß  es  re  Vera  nichts  geben  kann  als  eine  An- 
zahl ähnlicher  Subjekte  und  Geister,  die  zu  einander  in  rein  inner- 
lichen oder  geistigen  Beziehungen  stehen,  daß  also  alles  Körperliche 
und  Leblose  als  solches  nur  Erscheinung  dieser  Geisteswelt  in  und 
für  unsern  endlichen  Geist,  nur  unsere  „Idee"  (in  erweitertem 
Sinne,  d.  h.  unser  Vorstellungsinhalt)  sein  kann.  Der  Mentalismus 
hat  seine  klassische  Formung  in  Leibnizens  „Monadenlehre"  er- 
halten. Er  begegnet  uns  weniger  allseitig,  aber  in  einer  be- 
stimmten Hinsicht  weiter  ausgeführt  wieder  in  Berkeleys  Polemik 
gegen  jeden  Ganz-  oder  Halbmaterialismus.  Und  eine  Art  des 
Mentalismus,  nämlich  radikaler  Phänomenalismus,  ist  auch  Kants 
sog.  kritischer  oder  transzendentaler  Idealismus,  dessen  eigentlicher 
Kern  die  Lehre  von  Zeit  und  Raum  als  apriorischen  Formen 
unserer  sinnlichen  Anschauung  ohne  jede  transzendente  (oder  trans- 
subjektive) Anwendbarkeit  ist. 

Hiermit  sind  nun  auch  Boströms  nächste  Gesinnungsgenossen, 
besonders  in  Deutschland,  erwähnt,  zugleich  die  einzigen  Philo- 
sophen (außer  Piaton  sowie  seinen  schwedischen  Lehrern  Biberg 
und  Grubbe),  auf  die  er  sich  nach  Überwindung  seiner  schellin- 
gisierenden  Jugendperiode  noch  beruft  und  mit  denen  er  sich 
kritisch  auseinandersetzt.  Seine  unverkennbare  Verwandtschaft 
mit  Leibniz  hat  er  öfters  betont.  Auf  Kants  Lehre  von  der 
„transzendentalen  Idealität"  oder  bloß  phänomenalen  Bedeutung 
und  Gültigkeit  des'  Baumes  und  der  Zeit  verweist  er  wiederholt. 
Und  den  bei  weitem  wichtigsten  seiner  vielen  „Beweise  für  die 
absolute   Notwendigkeit  und  Wahrheit   des   Idealismus"    baut   er 


Zur  Erinnerung  an  Christopher  Jacob  Boström.  155 

auf  den  Berkeleyschen  Satz :  esse  est  percipi,  nur  seinerseits  hin- 
zufügend: et  vice  versa. 

„Att  vara  är  att  förnimmas  och  att  förnimmas  är  att  vara; 
bügge  uttrycken  hava  samma  betydelse  och  omfattning"  —  d.  h. 
Sein  ist  Vorgestellt- werden  (im  allerweitesten  Sinne  dieses  Wortes) 
und  umgekehrt;  beide  Ausdrücke  haben  dieselbe  Bedeutung  und 
denselben  Umfang  —  so  lautet  schon  §  4  in  Boströms  Grundlinien 
zur  Propädeutik  der  philosophischen  Staatslehre.  Sein  und  Vor- 
gestellt-werden,  will  er  sagen,  sind  äquipollente  Begriffe,  wenn 
man  beide  in  voller  Allgemeinheit  nimmt.  Dies  ist  ihm  ganz 
selbstverständlich,  denn  alles  Seiende  muß  für  jemanden  sein, 
wenn  nicht  für  sich  selbst,  so  wenigstens  für  einen  andern; 
„Für -jemanden -Sein"  aber  ist  dasselbe  wie  Von -jemandem -Vor- 
gestellt-werden  ;  und  auch  umgekehrt,  alles  irgendwie,  klarer  oder 
dunkler,  Vorgestellte  (perceptum)  ist  eo  ipso  auch  gleichermaßen 
für  den  Vorstellenden  (percipientem),  sei  es  nun  für  seine  Sinne, 
seine  Erinnerung,  seine  Phantasie  oder  seinen  Verstand,  und  wäre 
es  auch  nur  als  eine  abstrakte  Denkmöglichkeit  oder,  in  Herbarts 
Terminologie,  als  „unter  die  Schwelle  des  Bewußtseins  Gesunkenes". 
Denn  alles  das  sind  ja  nur  verschiedene,  höhere  oder  niedere 
Formen  dessen,  was  man  im  Schwedischen  unter  der  gemeinsamen, 
zugleich  aktivischen  und  passivischen  Benennung  „förnimmande", 
lateinisch  percipere  oder  percipi,  deutsch  „Vorstellung  im  weitesten 
Sinne"  zusammenfaßt.  Bei  Boström  hat  also  das  Wort  percipi 
einen  viel  größeren  Umfang  als  bei  Berkeley,  der  nur  nach  dem 
esse  körperlicher  Dinge  fragte  und  dieses  für  eine  Mannigfaltigkeit 
von  Sinneswahrnehmungen  oder  Sensationskomplexen  erklärte. 

In  Boströms  Axiom  über  die  Identität  von  Sein  und  Vor- 
gestellt-werden  (das  Vannerus  offenbar  mit  dem  „archimedischen 
Punkte"  des  Systems  meint)  liegt  implicite  die  Voraussetzung 
eines  vorstellenden  Subjekts.  Jede  (konkret  und  individuell  be- 
stimmte) Wirklichkeit  besteht  aus  vorstellenden  (perzipierenden) 
Wesen  und  ihrem  Vorstellungsinhalt,  oder  schlechtweg  aus  „Gei- 
stern und  ihren  Vorstellungen".  (In  der  lateinischen  Disser- 
tation „De  notionibus  religionis  etc."  verteidigt  Boström  ausführ- 
lich die  Lehre  de  unitate  perceptionis  et  percepti ;  z.  B.  in  Buch  2, 
Kap.  2:  „etenim  hoc  nos  urgemus  et  contendimus,  nihil  quidquam 
esse  et  percipi  praeter  mentem  et  perceptionem,  vel  potius  nihil 
esse  et  percipi,    quod  non   sit   perceptio;    nam   et   mens   ipsa  sibi 


156  Rein  hold  GMjex, 

perceptio  est".) *).  Wieder  an  andern  Stellen  läßt  Boström  die 
wahre  Wirklichkeit  aus  einer  unendlichen  Mannigfaltigkeit  von 
mehr  oder  minder  vollkommnen  „Formen  des  Lebens  und  Selbst- 
bewußtseins" bestehen  —  auch  zwei  äquipollenten  Begriffen, 
die  sich  nach  Boström  „nicht  mehr  von  einander  unterscheiden 
als  z.  B.  das  Licht  vom  Leuchten  oder  die  Kraft  von  der  Wir- 
kung". Er  nimmt  nämlich  einerseits  das  Wort  „Selbstbewußtsein" 
oder  „conscientia"  in  so  weitem  Sinne,  daß  es  nicht  nur  das 
aktuelle  Bewußtsein  von  sich  selbst  (conscientia  sibi  sui),  sondern 
das  gemeinsame  Prinzip  oder  erste  und  einfachste  Ingredienz  alles, 
auch  des  unbewußten  oder  „unterbewußten"  Vorstellungs-,  und 
somit  alles  psychischen  Lebens  überhaupt 2)  umfaßt.  Und  anderer- 
seits erkennt  er  kein  anderes  Leben  an  als  das  innere,  geistige 
oder  psychische  Leben.  Denn,  so  argumentiert  er,  zwar 
äußert  sich  das  Leben  in  der  Erscheinungswelt  immer  als  spon- 
tane Bewegung  oder  überhaupt  Tätigkeit,  aber  dabei  ist  das 
Wesentliche-  nicht  die  Bewegung  oder  Veränderlichkeit,  sondern 
die  Spontaneität  oder  Selbständigkeit  der  Veränderung;  jede 
Selbständigkeit  aber  setzt  notwendig  ein  „Selbst"  oder  ein  „Ich" 
voraus.  Ausdrücklich  definiert  er  den  Idealismus  als  „die  Form 
der  Philosophie,  die  das  Absolute  als  Idee,  d.  h.  geistig,  und  in 
seiner  höchsten  Form  als  Geist,  faßt  und  die  körperlichen 
Dinge  als  Erscheinungen  des  Geistigen  ansieht".  Damit  dürfte 
klar  genug  bezeugt  sein,  daß  Boströms  ontologische  Grund- 
anschauung als  Spiritualismus  oder  Mentalismus  bezeichnet 
werden  muß. 


1)  Wenn  Boström  wirklich  —  was  ich  bezweifle  —  den  subjektiven  Per- 
zeptions-  (resp.  Wahrnehmungs-  oder  Denk-) Akt  und  dessen  objektive  Inhalts- 
bestimmtheit hätte  vorbehaltlos  identifizieren  und  beides  für  synonym  erklären 
wollen,  so  wäre  das  recht  übereilt  und  logisch  unhaltbar  gewesen.  Zumindest 
könnte  es  durch  Operation  mit  einer  latenten  „quaternio  terminorum"  zu  irre- 
führenden Schlußfolgerungen  verwandt  werden.  Vgl.  meine  Schrift  „Filosofiens 
historiska  huvudformer.    I.  Skiida  världsförklaringar",  Uppsala  1916,  S.  136—144. 

2)  Wenn  Boström  dieses  psychische  Leben  gewöhnlich  nur  aus  Vorstellungen 
oder  Perzeptionen  bestehen  läßt,  so  mag  dies  zwar  von  einer  intellektuellen  Ein- 
seitigkeit zeugen,  tatsächlich  sind  darin  aber  Gefühle  und  Willensäußerungen  ein- 
begriffen. Die  ersteren  werden  von  B.  (in  einer  psychologisch  freilich  recht 
unbefriedigenden  Weise)  als  „dunkle  Vorstellungen"  definiert.  Und  schon  in  der 
eben  erwähnten  lateinischen  Dissertation  wird  an  der  betreffenden  Stelle  (Buch  1, 
Kap.  3)  beiläufig  angedeutet,  unsere  „perceptiones"  könnten  auch  „praeterea 
determinatae"  sein,  u.  a.  als  „volitiones  et  cupiditates  et  actiones". 


Zur  Erinnerung  an  Christopher  Jacob  Boström.  157 

Hiergegen  bedeutet  es  wenig,  wenn  er  bestimmt  allen  „sog. 
subjektiven  Idealismus"  abgelehnt  hat.  Denn  in  diesen  Terminus 
legte  er  wie  Kant  den  Sinn  hinein,  daß  „alles,  was  wir  wahr- 
nehmen, nur  als  eigene  Fiktion  des  Geistes  anzusehen  sei",  und 
bezog  sich  dabei  wie  Kant  in  erster  Linie  auf  Berkeley,  dessen 
einseitigen  Idealismus  sie  beide  mit  oder  ohne  Grund  als  einen 
zum  theoretischen  Egoismus  oder  Solipsismus  neigenden  Illusio- 
nismus deuteten.  Aber  auch  Kants  eigenen  „kritischen  Idealismus" 
findet  Boström  unausgereift,  insofern  dieser  mit  seiner  Rede  von 
dem  (theoretisch)  unerkennbaren  „Ding  an  sich"  bei  einem  meta- 
physischen Agnostizismus  landet.  Boström  dagegen  will  gel- 
tend machen,  daß  alles,  was  von  uns  wahrgenommen  oder  gedacht, 
kurz,  was  überhaupt  vorgestellt  wird  und  insofern  „in  unserm 
Geiste  ist",  nicht  bloß  „an  sich",  sondern  „an  und  für  sich"  sein, 
demnach  von  sich  selbst  wahrgenommen  oder  gedacht  werden  und 
ein  höheres  oder  niederes  Maß  eigenen,  von  unserm  endlichen 
Bewußtsein  unabhängigen  „Lebens  oder  Selbstbewußtseins"  haben 
muß.  Er  faßt  also  Kants  „Welt  der  Dinge  an  sich"  positiv 
als  eine  in  sich  zusammenhängende,  dem  endlichen  Menschengeist 
zugleich  transzendente  und  immanente  Geisterwelt.  Dieser 
sein  Standpunkt  ist  über  jede  einseitig  subjektive  oder  agnostisch 
negative  Form  des  Idealismus  prinzipiell  ebenso  erhaben  wie  über 
den  ausschließlich  objektiven  Gedankengang,  der  mit  oder  ohne 
Grund  in  Piatons  Ideenlehre *)  hineingelegt  wird.  Und  als  eine 
solche  höhere  Synthese  dieser  geschichtlich  gegebenen  Einseitig- 
keiten dürfte  Boström  mit  einem  gewissen  Rechte  seine  eigene 
Philosophie  „den  absoluten  Idealismus"  nennen.  Auf  sein  Ver- 
hältnis zu  Piaton  werden  wir  noch  einmal  zurückkommen.  Ehe 
ich  aber  weitergehe,  kann  ich  nicht  unterlassen,  daran  zu  erinnern, 
daß  Boström  in  seiner  Leugnung  auch  der  bloßen  Denkbarkeit 
einer  absolut  tr  ans  subjektiven  Wirklichkeit  einen  ebenso  energi- 
schen Vorgänger  in  dem  schwedischen  Philosophen  Prof.  Benjamin 
Höijer  gehabt  hat,  der  darüber  folgende  denkwürdigen  Worte 
geäußert  hat:    „Was  ist  eine  Realität,    die   es   nicht  für  eine  In- 


1)  Eine  solche  rein  objektive  Deutung  von  Piatons  Philosophie  deckt  aber 
„nicht  den  ganzen,  reichen  Inhalt  des  Gedankenlebens  dieses  weitumfassenden 
Geistes,  das  sich  in  seiner  ununterbrochen  fortschreitenden  Entwicklung  auch  in 
andern  als  den  zuerst  eingeschlagenen  Bahnen  bewegt".  Vgl.  meine  Schrift 
„Piaton,  Biberg  och  Boström",  (Schriften  des  Boströmbundes,  Nr.  42,  auch  ge- 
druckt in  meinem  erwähnten  Buche  „Skiida  världsförklaringar",  S.  21—31). 


158  Reinhold  Geijer, 

telligenz,  für  mich  oder  für  irgend  ein  Ich,  ist?  Vergebens  würde 
ich  mit  dem  feinsten  Abstraktionsvermögen  mein  Möglichstes  tnn, 
um  eine  solche  Wirklichkeit  zu  denken.  Wenn  ich  glaubte,  diesen 
widersinnigen  Begriff  gefaßt  und  alle  Gedanken  von  mir  selbst 
oder  sonst  einem  perzipierenden  (förnimmande)  Wesen  abgesondert 
zu  haben,  wenn  ich  alle  Dinge  ihrer  Prädikate  oder  Eigenschaften 
entkleidete,  die  ihr  Verhältnis  zu  mir  als  Perzipierendem  be- 
zeichnen, so  könnte  ich  die  Wirklichkeit  doch  nicht  anders  denken 
denn  als  eine  Möglichkeit,  angeschaut  zu  werden,  sobald  eine 
Intelligenz  hinzukäme.  Ist  nun  aber  diese  Möglichkeit  selbst  eine 
Perzeption  und  kann  nicht  ohne  eine  Intelligenz  gedacht  werden, 
so  ist  klar,  daß  ich  niemals  von  dem  Ich  loskommen  kann  j  ich 
nehme  mein  Ich  fort  und  will  doch  als  Zuschauer  sehen,  wie  es 
dann  aussehen  wird!" 

Nachdem  ich  bisher  die  allgemeine  Art  des  idealistischen 
Grundzuges  in  Boströms  Philosophie  auseinandergesetzt  und  zu- 
gleich in  historische  Beleuchtung  gestellt  habe,  will  ich  jetzt 
erklären,  warum  er  seine  Philosophie  insbesondere  als  „ratio- 
nellen Idealismus"  charakterisiert  hat.  Meinerseits  möchte  ich 
dafür  lieber  sagen  „äternistischen  Idealismus".  Rationalismus 
(nicht  in  erkenntnistheoretischer,  sondern  in  ontologischer  und 
metaphysischer  Bedeutung)  nennt  man  nämlich  in  Schweden  jede 
Philosophie,  die  das  wirklich  Seiende  nicht  nur  als  unkörperlich 
—  als  Idee,  Geist  oder  Geisterwelt  —  auffaßt,  sondern  auch  sub 
specie  aeternitatis,  d.  h.  als  erhaben  über  Zeit  und  Zeitbestimmt- 
heit, und  insofern  als  rein  vernünftig,  d.  h.  von  aller  sinn- 
lichen Existenz  artverschieden.  Und  bei  Boström  hat  nun  dieser 
Rationalismus  (oder  Aternismus)  seinen  prägnantesten  Ausdruck 
bekommen,  wenn  er  in  seiner  „rationellen  Theologie"  lehrt,  daß 
die  endlichen  Geister  in  letzter  Instanz  realiter  identisch  mit  den 
ewigen  Ideen  des  persönlichen  Gottes  sind.  „Ursprünglich  und 
in  des  Wortes  eigentlicher  Bedeutung",  heißt  es  im  §  41  seiner 
Grundlinien  zur  Propädeutik  der  philos.  Staatslehre,  „gibt  es 
nichts  anderes  als  die  unendliche  Vernunft  und  ihren  Inhalt,  d.  h. 
nichts  als  Gott  und  seine  ewigen  Ideen,  die  alle  auch  ein  Sein 
besitzen  als  selbst  lebende  und  selbstbewußte,  somit  als  (im  wei- 
testen Sinne)  vorstellende  oder  vernünftige  Wesen".  Gottes  in 
zeitloser  Aktualität  ruhende  (subjektive)  modi  cogitandi,  seine 
ewigen  Gedanken  oder  Ideen,  die  ebenso  absolut  klar  und  deutlich 
sind,  wie  intuitiv,  dem  Inhalt  nach  konkret  und  individuell  bestimmt, 


Zur  Erinnerung  an  Christopher  Jacob  Boström.  159 

sind  eben  Gedanken  oder  Ideen  von  Subjekten  oder  Geistern, 
die  vollkommnere  oder  unvollkommnere  (zeitliche)  Vorstellungen 
besitzen  und  also  relativ  selbständig  sind.  In  dieser  Weise  möchte 
ich  am  liebsten  die  knapp  formulierte  Lehre,  daß  die  Ideen  Gottes 
„selbst  vorstellende  Wesen"  sind,  umdeuten.  Denn  nur  so,  indem 
die  anfängliche,  wenigstens  formal-logische  Distinktion,  welche  B. 
selbst  nicht  immer  beachtet,  vielmehr  (in  seinen  lateinischen 
Dissertationen)  zu  verwischen  gesucht  hat,  festgehalten  und 
klar  durchgeführt  wird,  lassen  sich  einerseits  alle  Ideen  Gottes 
als  solche  absolut  vollkommen  nennen  und  andererseits  die  vielen 
relativen  und  endlichen  Geister,  der  ursprügliche  Inhalt  dieser 
göttlichen  Gedanken,  als  ewiges  Erkenntnisobjekt  des  allwis- 
senden Gottes  denken,  —  um  somit  den  sonst  unversöhnlichen 
Streit  zwischen  Edfeldt  und  Nyblaeus  über  „die  Ideenlehre" 
ihres  gemeinsamen  Meisters  zu  schlichten1).  Dabei  versteht  sich 
von  selbst,  daß  diese  endlichen  Geister,  sobald  sie  „in  und  von 
Gott  gedacht  werden",  alle  volle  und  wahre  Wirklichkeit  besitzen, 
die  man  überhaupt  einem  Wesen  zuschreiben  kann ,  das  nicht 
Gott  oder  das  ens  realissimum  selbst  ist.  Hierdurch  wird  die 
schon  aus  andern  Gründen  verwerfliche  Annahme  einer  zeitlichen 
Schöpfung  überflüssig.  Der  Gegensatz  zwischen  essentia  und  exi- 
stentia  ist  überwunden,  und  damit  fällt  die  Forderung  eines  „com- 
plementum  possibilitatis"  fort,  die  wegen  dieses,  vermeintlichen 
Gegensatzes  von  der  Leibniz-Wolffschen  Schule  gestellt  worden  ist. 
Boström  betont  sodann  den  Gedanken,  daß  „die  unendliche 
Vernunft  und  deren  Inhalt"  ein  in  sich  geschlossenes  und  voll- 
ständiges „System"  —  nach  dem  allgemeinen  Schema:  „alles  in 
allem"  —  ist,  und  sucht  diesen  Gedanken  durchzuführen,  indem 
er  das  Zahlensystem  als  Bild  benutzt.  Es  ist  also  im  großen  und 
ganzen  das  platonische  Ideensystem,  dem  er  expressis  verbis 
sozusagen  in  dem  Selbstbewußtsein  des  persönlichen  Gottes  seinen 
„metaphysischen  Platz"  anweist.  Eben  dadurch  wird  diese  Ideen- 
welt ausdrücklich  in  eine  organisch  in  sich  zusammenhängende 
Geistes-    oder  Geisterwelt    oder    besser    gesagt   in   ein  Reich   der 


1)  Vgl.  Skiida  världsförklaringar,  S.  138  ff.  Hier  habe  ich  auch  einige  andre 
dunkle  und  strittige  Punkte  in  Boströms  Philosophie  beleuchtet,  z.  B.  die  Frage 
nach  der  Möglichkeit,  eine  zeitliche  Wirklichkeit  zeitlos  aufzufassen,  ferner 
Boströms  Stellung  zu  der  Frage,  inwiefern  und  in  welchem  Sinne  der  unendliche 
Gott  „sub  specie  aeternitatis"  als  ein  nicht  nur  vorstellendes,  sondern  auch  füh- 
lendes und  wollendes  Wesen  gedacht  werden  kann. 


160  Reinhold  Geijer, 

Persönlichkeit  verwandelt.  Deshalb  hat  Boström  nicht  nötig,  mit 
Leibniz  von  einer  „prästabilierten  Harmonie"  oder  sonst  einer 
Erklärung  der  Wechselwirkung  und  Übereinstimmung  der  „end- 
lichen Substanzen"  „mediante  Deo"  zu  sprechen. 

Über  die  Art,  wie  Boström  aus  seiner  Ideenlehre  die  meta- 
physische Erklärung  der  tatsächlichen  Sinnenwelt  ableitet,  will 
ich  nur  einige  Hauptpunkte  hervorheben.  Alle  Ideen  des  unend- 
lichen Gottes  sind  als  solche  gleich  absolut  vollkommen.  Als 
selbst  lebende  und  vorstellende  Wesen  jedoch  sind  sie  endlich  und 
müssen  deshalb  sich  selbst  und  die  Ideenwelt  in  verschiedenem 
Grade  inadäquat  oder  unrichtig  auffassen.  Diese  Auffassung  ist 
Phänomen,  freilich  im  Unterschied  von  bloß  zufälligem  Schein 
ein  „phaenomenon  bene  fundatum",  insofern  es  einerseits  in  dem 
wesentlich  Seienden  und  andrerseits  in  der  ursprünglichen  und 
unvermeidlichen  Unvollkommenheit  des  Auffassenden  ausreichend 
begründet  ist.  Eigentlich  hat  jedes  endliche  Subjekt  seine  beson- 
dere Erscheinungswelt,  jedoch  haben  mehrere,  die  zu  einer  Gruppe 
mit  gleichem  Grundtypus  gehören,  auch  eine  gemeinsame  Erschei- 
nungswelt. Unsere  jetzige  Erscheinungswelt  wenigstens  hat  da- 
durch ein  eigentümliches  Gepräge,  daß  sie  an  Raum  und  Zeit 
gebunden  ist,  die  Boström  mit  Kant  als  apriorische  Anschauungs- 
formen der  menschlichen  Gattung  auffaßt.  Aber  wenn  auch  der 
Mensch  in  einer  räumlich-zeitlichen  Welt  lebt,  so  besitzt  er  doch 
daneben  ein  unauslöschliches  Bewußtsein  von  einer  andern,  höheren 
Welt,  die  von  jeder  Zeit-  und  Raumbestimmtheit  unabhängig  ist. 
Und  nur  durch  diesen  unsinnlichen  oder  vernünftigen  Lebensinhalt, 
der  sich  zunächst  als  dunkle  Ahnung,  als  Gefühl  oder  Instinkt 
bemerkbar  macht,  ist  der  Mensch  realiter  ein  vernünftiges 
Wesen,  eine  Persönlichkeit  in  höherem  und  eigentlicherem 
Sinne,  wenn  auch  nicht  in  demselben  höchsten  Sinne  wie  die  ab- 
solute Gottheitsperson. 

Ich  will  jetzt  dem  theoretischen  Teile  nur  noch  einige  kurze 
Schlußbemerkungen  über  Boströms  innerste  Intentionen  oder  seine 
eigentlichen  und  tiefsten  Überzeugungen  hinzufügen,  um  diese  dann 
durch  seine  praktische  Philosophie  erst  in  das  rechte  Licht  zu 
stellen.  Das  ganze  philosophische  System  Boströms  beruht 
wesentlich  auf  dem  Persönlichkeitsbegriff  in  dieses  Wortes 
eben  angedeuteter  höherer  und  höchster  Bedeutung;  dieser  Begriff 
ist  das  dem  Systeme  eigentümliche  und  es  einheitlich  zusammen- 
haltende Realprinzip.     Heißt  es  doch  im  §  13   seiner  mehrfach 


Zur  Erinnerung  an  Christopher  Jacob  Boström.  161 

erwähnten  Grundl.  zur  Prop.  der  phil.  Staatslehre:  Streng  ge- 
nommen „hat  die  wahre  Philosophie  mir  vernünftige  Wesen"  oder 
Personen  „zum  Gegenstand  und  kann  von  den  sinnlichen  oder 
materiellen,  den  natürlichen  Dingen  nur  insofern  handeln,  als  sie 
bloße  Phänomene  für  endliche  vernünftige  Wesen  sin#a.  Damit 
hängt  eng  zusammen,  daß  seine  philosophische  Welterklärung  — 
im  Gegensatz  zu  dem  „Universalismus"  und  abstrakten  Pantheismus 
der  großen  deutschen  idealistischen  Systeme  (Fichtes,  Schellings 
und  Hegels)  —  ausgeprägt  individualistisch  und  infolgedessen 
theis tisch  ist,  d.  h.  die  aktuell  selbstbewußte  Persönlichkeit 
des  einheitlichen,  letzten  Weltgrundes  verteidigt.  Noch  genauer 
müßte  man  seine  Anschauung  Panentheismus  nennen;  denn 
einerseits  wird  Gott  als  überall  mit-  und  gegenwärtigseiend  ge- 
dacht, vor  allem  im  eigenen  innersten  Innern  des  Menschengeistes, 
andrerseits  wird  betont,  daß  im  allerinnersten  wir  selbst  und  alle 
andern  endlichen  Lebewesen  „in  ihm  leben,  weben  und  sind" 1). 

In  seiner  „rationellen  Anthropologie"  sucht  Boström 
den  oben  definierten  Unterschied  zwischen  einem  sinnlichen  und 
vernünftigen  Lebensinhalt  im  praktischen  und  ethischen  Gebiete 
ebenso  durchzuführen  wie  im  theoretischen.  Indes  darf  man  diesen 
Gegensatz  zwischen  Sinnlichkeit  und  Vernunft  nicht  rein  dualistisch 
auffassen,  denn  er  existiert  nach  B.  nur  für  das  endliche  Be- 
wußtsein. Alle  Sinnlichkeit  ist  ja  Erscheinung  einer  unsinnlichen 
Wirklichkeit,  die  einzig  und  allein  die  wahre  ist.  Dies  zu  be- 
achten ist  besonders  wichtig  innerhalb  der  Ethik,  denn  nur  so 
wird  es  uns  möglich  verständlich  zu  machen,  wie  das  Sittengesetz 
nicht  die  Unterdrückung  und  Vernichtung  der  Sinnlichkeit,  son- 
dern ihre  Umgestaltung  und  Veredlung  fordert,  damit  sie  als 
Organ  und  Mittel  eines  vernünftigen  Lebens  dienen  kann.  So 
bekommt  Boströms  Sittenlehre  einen  konkreten  und  individualisti- 
schen Charakter,  im  wesentlichen  Gegensatz  zu  dem  abstrakt  for- 
malistischen und  negativ  rigoristischen  Zug  der  Kantischen,  an 
die  sie  sich  sonst  in  mehrfacher  Hinsicht  anschließt.  Besonders 
aber  wird  der  individuelle  Charakter  der  Sittlichkeit  dadurch 
hervorgehoben,  daß  sie  in  so  innige  Verbindung  mit  der  Reli- 
giosität gebracht  und  als  ein  Leben  in  rein  persönlichem  Ver- 

1)  Eine  nähere  Auseinandersetzung  über  den  Begriff  des  Panentheismus  und 
seine  Anwendung  auf  Boström  s.  „Skiida  världsförklaringar",  S.  89—95,  102—4 
und  111  ff.  Vgl.  auch  J.  Ljunghoff;  Chr.  J.  Boström,  Sverges  Piaton;  Uppsala 
1916,  eine  besonders  in  religiöser  Hinsicht  verdienstvolle  Monographie. 

Kantstudien.    XXVI.  11 


162  Reinbold  Geijer, 

hältnis  zu  anderen  Personen  aufgefaßt  wird.  Wie  Kant  leitet 
auch  Boström  die  verpflichtende  Kraft  des  Sittengesetzes  aus  dem 
eigenen  unsinnlichen  Wesen  des  Menschen  her ;  aber  jeder  Mensch 
ist  ja  im  Grunde  eine  individuell  bestimmte  Gottesidee  und  hat 
folglich  sein  „wahres  Leben"  in  Gott  und  in  der  Verbindung  mit 
dessen  übrigen  lebendigen  Ideen.  Darum  muß  jeder  einzelne 
Mensch  danach  streben,  auch  für  sich  selbst  das  zu  werden  und 
zu  bleiben,  was  er  von  Ewigkeit  her  in  oder  für  Gott  ist,  oder 
m.  a.  W.  seine  ewige  Idee  (die  sein  „kategorischer  Imperativ"  ist) 
zu  verwirklichen,  so  weit  es  schon  hier  in  der  Zeit  möglich  ist. 
Und  nur  so  kann  er  das  höchste  Gut,  die  ewige  Seligkeit,  ge- 
winnen. Für  die  Menschheit  als  Ganzes  wird  als  das  höchste 
und  letzte  Ziel  die  Arbeit  am  Reiche  Gottes  aufgestellt,  das  voll- 
ständig erst  dann  verwirklicht  ist,  wenn  jeder  endliche  Geist  in 
seiner  Entwicklung  zu  dem  Grade  der  Vollendung  gelangt,  der 
ihm  durch  sein  „ewiges  Maß"  bestimmt  ist. 

Es  bleibt  noch  übrig,  etwas  über  Boströms  philosophische 
Gesellschaftslehre  zu  sagen.  Diese  ist  wohl  der  originellste 
Teil  des  Systems,  wenn  sie  auch  in  ihrer  allgemeinen  Tendenz 
mit  der  Krause-Ahrensschen  verwandt  ist  und  wie  diese  manche 
Berührungspunkte  mit  Hegels  „Philosophie  des  objektiven  Geistes" 
und  mit  der  ganzen  „historischen  Schule"  in  der  politischen 
und  juristischen  Literatur  des  19.  Jahrh.  besitzt.  Eine  Gesell- 
schaft muß  nach  Boström  streng  unterschieden  werden  von  einer 
willkürlichen  Vereinigung.  Erstere  ist  nicht  nur  ein  lebendiger 
Organismus,  dessen  Organe  die  Menschen  sind,  sie  ist,  so  meint 
er,  gerade  so  wie  jeder  einzelne  Mensch  in  seiner  Wahrheit,  eine 
göttliche,  selbst  persönliche  Idee.  Als  solche  muß  sie  auch  ihre 
eigentümliche  Erscheinungswelt  haben,  von  deren  Beschaffenheit 
wir  indes  nichts  Bestimmtes  wissen  können.  Doch  ist  diese  Idee 
für  uns  faßbar  und  hat  für  uns  Bedeutung  als  Norm  und  Ziel 
unserer  eigenen,  freien,  praktischen  Tätigkeit.  In  dieser  Weise 
macht  sie  sich  in  unserem  Gewissen  geltend  und  wirkt  äußerlich 
durch  ihren  Repräsentanten  in  unserer  Erscheinungswelt.  Als 
eine  solche  „praktische  Idee"  ist  jede  Gesellschaft  der  Grand  be- 
sonderer Pflichten  und  Rechte,  die  wir  sonst  nicht  haben  würden. 
Die  Gesellschaft  muß  deshalb  im  Grunde  selbst  persönlich  sein; 
denn  nur  ein  übergeordneter  vernünftiger  Wille  kann  einem  freien 
Willen  Pflichten  und  Rechte  geben.  Die  so  aufgefaßten  Gesell- 
schaften nennt  B.  „moralische  Personen"   und  teilt  sie  ein  in  pri- 


Zur  Erinnerung  an  Christopher  Jacob  Boström.     *  163 

vate  und  öffentliche.  Die  ersteren  (deren  unterste  die  Familie 
und  deren  höchste  das  Volk  ist)  wirken  für  Ziele,  die  mit  dem 
eigenen  unmittelbaren  Ziele  des  Individuums  gleichartig  sind.  Sie 
wirken  alle  für  sittliche  Kultur,  nur  in  verschiedenen  Richtungen 
und  auf  immer  höherer  Stufe.  Dieser  Wirksamkeit  aber  der 
menschlichen  Individuen  und  der  privaten  Gesellschaften  soll  die 
öffentliche  Gesellschaft,  d.  h.  in  erster  Linie  der  einzelne  Staat, 
(sodann  aber  indirekt  auch  ein  umfassenderes  Staatssystem  und 
/  ein  leider  noch  in  allzu  nebelhafter  Ferne  schwebendes,  die  ganze 
Menschheit  umfassendes  „System  der  Staatssysteme")  eine  ver- 
nünftige Form  geben.  Diese  vernünftige  Form  ist  das  objektive 
Recht,  das  zwei  Momente  in  sich  birgt,  nämlich  die  Selbständig- 
keit und  die  systematische  Ordnung;  deshalb  hat  der  Staat  nicht 
nur  die  Rechtsgrenzen  zu  bestimmen  und  aufrecht  zu  erhalten, 
sondern  eine  ebenso  wesentliche  Aufgabe  ist  die  Organisation  der 
Kulturarbeit.  —  Um  den  beschränkten  Raum  dieser  Zeitschrift 
nicht  übermäßig  in  Anspruch  zu  nehmen,  breche  ich  hier  ab  und 
bemerke  nur  noch,  daß  einer  der  kritischsten  Punkte  in  ßoströms 
Staatslehre  (außer  der  seiner  Liebe  zur  schwedischen  Vergangen- 
heit entsprungenen  Verteidigung  der  alten  Vierständerepräsentation 
als  „der  einzig  vernünftigen"  Form  der  Volksvertretung)  die  eben 
gestreifte  Dualität  zwischen  Volk  und  Staat  als  toto  genere  ver- 
schiedenen Gesellschaften  ist. 

Zuletzt  nur  noch  einige  Worte  über  Boströms  historische 
Stellung  und  Bedeutung.  Vannerus  hat  in  „Ord  och  bild"  1897 
darauf  hingewiesen,  daß  Boströms  System  einen  integrierenden 
Teil  in  der  Weiterentwicklung  der  spekulativen  Philosophie  bilde, 
die  von  Kant  ausgegangen  sei  und  in  den  großen  idealistischen 
Systemen  Fichtes,  Schellings  und  Hegels  ihren  ersten  Niederschlag 
gefunden  habe;  sie  bringe  zugleich  den  spekulativen  Idealismus, 
der  sich  seit  den  Tagen  Piatons  wie  ein  roter  Faden  durch  die 
Kulturentwicklung  hindurchgezogen  habe,  zu  einem  prinzipiellen  Ab- 
schluß. Es  darf  daneben  aber  nicht  vergessen  werden,  daß  Boström 
auch  in  engem  Zusammenhang  mit  seinen  persönlichen  Lehrern 
Biberg  und  Grubbe  und  indirekt  wenigstens  mit  deren  älteren 
schwedischen  Zeitgenossen  und  Lehrern  Boethius  und  Höijer  stand 1). 

1)  Ob  und  wieweit  B.  von  E.  G.  Geijer  beeinflußt  worden  ist,  bleibt  eine 
oftene  Frage.  Nyblaeus  ist  geneigt  sie  zu  verneinen.  Indes  begann  G.  seine  be- 
rühmten Vorlesungen  über  „die  Geschichte  des  Menschen"  in  demselben  Jahre, 
in  dem  B.  seine  Professorarbeit  „De  notionibus  religionis  etc."  schrieb. 

11* 


164     Reinhold  Geijer,   Zur  Erinnerung  an  Christopher  Jacob  Boström. 

In  den  Schriften  dieser  in  ihrer  Art  bedeutenden  schwedi- 
schen Philosophen  finden  sich  schon  fast  alle  leitenden  Gesichts- 
punkte und  Grundgedanken  von  Boströms  Philosophie  ausgesprochen, 
nur  zerstreuter  und  weniger  scharf  fixiert  als  bei  ihrem  Schüler, 
der  ihnen  in  der  Fähigkeit  zu  weitumfassenden  Synthesen  und 
genialer  Systematik  überlegen  ist.  Bei  seiner  philosophischen 
Gedankenarbeit  hat  Boström  also  schon  eine  ganz  bestimmte 
und  ausgebildete  einheimische  Tradition  weiterführen  können. 
Sein  philosophisches  System  bildet  eine  prägnante  Kodifizie- 
rung, wenn  ich  mich  so  ausdrücken  darf,  und  Vervollständigung 
dieser  nationalen  Tradition,  das  ausgereifte  Resultat  der  Arbeit 
nicht  nur  des  Meisters  selbst,  sondern  auch  seiner  in  derselben 
Richtung  kontinuierlich  fortschreitenden  Vorgänger1).  Und  darin 
liegt,  wie  mir  scheint,  in  geschichtlicher  und  vaterländischer 
Hinsicht  zwar  nicht  seine  einzige,  aber  doch  seine  hauptsächliche 
Bedeutung.  Boströms  Weltanschauung  wird  aus  diesem  Grunde 
auch  im  Nationalbewußtsein  seines  Volkes  immer  fortleben,  zwar 
nicht  als  selbstgenügsames,  orthodoxes  Dogma,  aber  doch  als 
lebenskräftiges  Ferment  des  ganzen  schwedischen  Geisteslebens. 


1)  In  Svensk  filesofi,  historik  von  E.  Geijer  (Schriften  des  Boströmbundes, 
Nr.  36)  sind  die  Urteile,  die  hier  in  größter  Allgemeinheit  gefällt  werden,  mit 
einem  meines  Erachtens  ausreichenden  Material  historischer  Einzelangaben  belegt 
und  erhärtet. 


Kants  Opus  postumum 

nach 

Erich  Adickes.    Kants  Opus  postumum,  dargestellt  und  beurteilt. 

Kantstudien,  Ergänzungsheft  50.    Reuther  &  Reichard,  Berlin  1920. 

XX  und  855  Seiten.     Mk.  50.— 

von  Hermann  Schneider,  Professor  an  der  Universität  Leipzig. 


Bei  der  Ausarbeitung  einer  Schrift  über  „Kant  als  Natur- 
wissenschaftler" trat  der  Verfasser  auch  an  Kants  „nachgelassenes 
Werk"  heran,  in  der  Hoffnung,  „binnen  kurzem  auf  etwa  dreißig 
Seiten  seinen  wesentlichen  Inhalt",  so  weit  er  naturwissenschaftlich 
war,  „zusammenfassen  zu  können".  Aus  der  beabsichtigten  kurzen 
Beschäftigung  mit  dem  Werk  ist  eine  jahrelange,  mühevolle  Ar- 
beit geworden,  deren  erste  reife  Frucht  in  einer  „Darstellung 
und  Beurteilung  des  Werkes"  im  Umfang  von  über  fünfzig  Druck- 
bogen vorliegt ;  der  Verfasser  fordert,  als  „unerläßliche  Pflicht  der 
Pietät"  gegen  Kant,  eine  „baldige,  unverkürzte,  streng  wissen- 
schaftliche Gesamtausgabe"  des  „nachgelassenen  Werkes". 

Man  kann  die  Frage  aufwerfen,  ob  es  gerechtfertigt  sei,  eine 
Darstellung  und  Beurteilung  in  diesem  Umfang  der  geforderten 
Ausgabe  voranzuschicken ;  ich  glaube,  daß  dies  in  diesem  Fall  das 
einzig  richtige  Verfahren  war.  Kants  „nachgelassenes  Werk"  ist 
ein  formloser  Haufen  von  Entwürfen  und  Bemerkungen  aus  den 
letzten  Lebensjahren  des  großen  Denkers;  Kant  selbst  schwankte, 
ob  er  anordnen  sollte,  die  Stücke  zu  veröffentlichen  oder  sie 
zu  verbrennen;  die  Nachlaßordner  fanden  sie  „der  Redaktion  nicht 
fähig".  Später  entspann  sich  ein  Kampf  um  den  Wert  des  Werkes; 
trotz  begeisterter  Verkünder  seines  einzigartigen  Wertes,  wie 
A.  Krause,  und  ausgedehnten  Veröffentlichungen  daraus  (R.  Reicke), 
trotz  der  immer  steigenden  Flut  der  Arbeiten  über  Kant,  schreckten 
die  Formlosigkeit  und  der  Gegenstand  des  Werkes,  der  eher  der 
Physik,  als  der  Philosophie  anzugehören  schien,  dazu  die  unver- 
kennbaren Zeichen   der   Altersschwäche   in   einigen  Blättern,    die 


166  Hermann  Schne/ider, 

gerade  philosophischen  Inhalts  waren,  die  Fachkreise  zurück.  Es 
galt,  die  gestaltlose  Masse  zu  formen,  erst  durch  eine  äußere,  zeit- 
liche Ordnung  der  Teile,  nach  philologischen  Merkmalen,  dann 
innerlich  durch  den  Nachweis,  daß  hier  wertvolle  Gedanken  zu 
Kants  kritischer  und  naturwissenschaftlicher  Arbeit  versteckt 
lagen,  die  sich  im  Anschluß  an  frühere  Werke  gebildet  hatten 
und  in  den  Entwürfen  weiter  entwickelten.  Das  Werk  mußte 
aufgeschlossen  werden,  so  daß  es  zu  weiterer  Beschäftigung  lockte 
—  das  war  nur  durch  eine  zusammenhängende  Darstellung,  nicht 
durch  eine  Herausgabe  mit  wissenschaftlichem  Apparat  möglich. 
Und  wer  die  einzigartige  Verbindung  von  philosophischer,  natur- 
wissenschaftlicher und  philologischer  Veranlagung  besaß,  die  zur 
Gewinnung  des  nachgelassenen  Werkes  für  die  Wissenschaft  er- 
forderlich war,  wer  die  Kenntnisse  aus  vielerlei  Arbeitsgebieten 
erworben  hatte  und  sie  in  den  Dienst  dieser  Aufgabe  stellte,  dem 
verlieh  die  Größe  und  Eigenart  der  schöpferischen  Formarbeit,  die 
weit  über  die  gewöhnliche  Herausgebertätigkeit  hinausragt,  ein 
volles  Recht,  selbständig  aufzutreten. 

Unsere  „Darstellung  und  Beurteilung"  von  Kants  nachge- 
lassenem Werk  ist  in  vier,  sehr  ungleich  lange  Teile  geteilt. 

Der  erste  Teil,  eine  geschichtliche  Einleitung,  stellt 
die  bisherigen  Schicksale  des  Werkes  kurz  und  kritisch  dar,  eine 
Tragikomödie  der  Wertung  einer  Handschrift,  bei  der  scharfe 
Schlaglichter  auf  allerlei  Menschlichkeiten  spekulativer  Litteraten 
und  fachbeflissener  Gelehrten  fallen;  A.  Krauses  Verdienste  um 
das  Werk  werden  gebührend  hervorgehoben. 

Der  zweite  Teil  bringt  die  philologische  Einleitung, 
in  der  die  äußere  zeitliche  Ordnung  der  Stücke  des  Manuskripts, 
in  meisterhafter  Kleinarbeit  durchgeführt,  ihre  Begründung  findet. 
Von  entscheidender  Bedeutung  für  die  Forderung  einer  Herausgabe 
des  Werkes  ist  hier  der  Nachweis,  daß  ein  zusammenhängender 
Entwurf  (der  sogenannte  „  Oktav  entwürfe )  des  Werkes,  in  dem 
bereits  alle  Hauptfragen  erörtert  werden,  mit  Sicherheit  1796 
entstanden  ist,  in  einer  Zeit,  zu  der  Kant  noch  durchaus  rüstig, 
jedenfalls  nicht  altersschwach  war.  Daran  schließen  sich  13  Ent- 
würfe auf  Foliobogen,  die  sich  über  die  Jahre  1797 — 1803  an- 
näherungsweise verteilen  lassen. 

Die  eigentliche  Darstellung  und  Beurteilung  des  nachgelassenen 
Werkes  enthalten  Teil  III  und  IV,  die  5/e  des  Buches  einnehmen. 
Der    „vorwiegend   naturwissenschaftliche   und   naturphilosophische 


Kants  Opus  postumum.  167 

Teil  der  Op.  p."  ist  im  3.  Teil  behandelt;  Kant  hat  an  ihm  von 
1796  bis  zum  Beginn  des  Jahres  1800  gearbeitet;  so  geht  er  mit 
Recht  in  der  Darstellung  dem  „metaphysisch- erkenntnistheoretischen 
Teil  des  Op.  p."  voran,  der  1800 — 1803  entstanden  ist  und  im 
2.  Teil  behandelt  wird. 

Die  Wissenschaft  „vom  Übergänge  von  den  metaphysischen 
Anfangsgründen  der  Naturwissenschaft  zur  Physik"  (so  sollte  das 
nachgelassene  Werk  ursprünglich  heißen)  war  bestimmt  eine  Lücke 
zu  füllen,  die  der  Systematiker  Kant  in  der  Transszendentalphilo- 
sophie  beim  Ausbau  entdeckt  zu  haben  glaubte :  sie  sollte  den 
Schlußstein  des  Systems  bilden  und  die  metaphysische  Begründung 
der  Physik  als  strenge,  systematische  Wissenschaft  vollenden. 
Nicht  nur  den  allgemeinen  Begriff  einer  Materie  überhaupt,  sondern 
auch  sämtliche  mögliche  Arten  der  bewegenden  Kräfte  meinte  er 
der  bloßen  Form  nach,  a  priori,  bestimmen  und  erschöpfend  dar- 
stellen zu  können.  So  sehen  wir  ihn  in  den  »Entwürfen  zunächst 
durch  systematische  Betrachtung  des  Begriffs  der  Bewegung  eine 
Reihe  zweigliedriger  Entgegensetzungen  von  Kräften  empirisch 
aufstellen,  dann  diese  zu  seinem  bewährten  Mittel  zur  Auffindung 
apriorischer  Elemente,  dem  Kategorienschema,  in  Beziehung  setzen, 
bis  er  zu  einem  „Elementar System  der  bewegenden  Kräfte",  erklärt 
durch  eine  umfassende  Ätherthecrie,  gesichert  durch  die  Kategorien- 
tafel, gelangt. 

Die  „Metaphysik  der  körperlichen  Natur",  die  er  1786  ab- 
geschlossen hatte,  sollte  dadurch  zunächst  nicht  als  unabgeschlossen 
erklärt  werden ;  nur  ein  Brückenschlag  zwischen  Metaphysik  und 
Physik  sollte  vorgenommen  werden;  eine  „Architektonik  der 
Naturforschung",  ein  Fachwerk  der  Begriffe,  noch  besser  der 
„G-emeinörter  der  Naturforschung",  eine  Klassifikation  vom  „For- 
malen der  Verknüpfung"  und  der  „Totalität  der  Wissenschaft" 
aus  sollte  die  Aufgabe  der  neuen  Wissenschaft  sein.  In  der  Tat 
war  aber  der  Rahmen  der  „Metaphysik  der  körperlichen  Natur" 
durch  das  neue  Unternehmen  gesprengt;  die  bewegenden  Kräfte 
sollten  der  Bewußtseinssystematik  unterworfen,  aus  der  Kategorien- 
tafel vollständig  abgeleitet  werden;  neue  apriorische  Erkenntnisse 
sollten  eingeführt  und  als  unentbehrlich  erwiesen  werden,  nachdem 
die  alten  feierlich  als  nicht  erweiterungsfähig  und  durchaus  voll- 
ständig erklärt  waren. 

Das  war  nur  möglich,  wenn  der  Grund  des  kritischen  Gebäudes 
erweitert,    die    transscendentale    Deduktion    der    Möglichkeit   der 


168  Hermann  Schneider. 

Erfahrung  nachgeprüft  und  den  neuen  Bedürfnissen  angepaßt  wurde. 
August  1799— April  1800  hat  Kant  „in  vielfach  wiederholten, 
schwer  verständlichen  Gedankengängen"  daran  gearbeitet.  „Sie 
laufen,  kurz  zusammengefaßt,  darauf  hinaus,  daß  einerseits  eine 
apriorische  und  darum  erschöpfende  Übersicht  über  die  allgemeinsten 
Eigenschaften  und  Arten  der  unsere  Sinne  affizierenden  bewegenden 
Kräfte  der  Materie  und  der  von  ihnen  ausgehenden  Bewegungen 
deshalb  möglich  ist,  weil  die  letzteren  uns  nur  dadurch  wahrnehm- 
bar werden,  daß  sie  in  uns  gewisse  körperliche  Gegenwirkungen 
(Bewegungen)  auslösen,  die  ebenso  wie  die  Wahrnehmungen  selbst 
der  Systematik  unseres  Bewußtseins,  d.  h.  den  Kategorialfunktionen 
unterliegen.  Man  braucht  also  nur  diese  Wahrnehmungen  und 
Gegenbewegungen  in  ein  apriorisches  System  zu  bringen,  und  trifft 
damit  zugleich  auch  die  bewegenden  Kräfte  der  Materie  überhaupt. 
Andererseits  läßt  sich  auch  ein  apriorisches  System  der  allge- 
meinsten materiellen  Eigenschaften  gewinnen :  eine  jede  von  ihnen 
ist  Wirkung  eines  bekannten  durch  je  eine  der  synthetischen  Funk- 
tionen des  Ich  an  sich  hervorgebrachten  Kombination  bewegender 
Kräfte ;  eine  jede  solche  Kombination  ruft  in  unserem  empirischen 
Ich  (unserem  Ich  als  Erscheinung)  eine  gewisse  Summe  von  Emp- 
findungen hervor,  an  denen  wieder  dieselbe  (jedesmal  verschiedene) 
Art  der  synthetischen  Funktionen  sich  betätigen  muß,  um  sie  in 
bestimmter  Weise  zu  objektivieren  und  uns  auf  Grund  davon  am 
betreffenden  Erfahrungsgegenstand  die  entsprechende  allgemeinste 
materielle  Eigenschaft  erleben  zu  lassen ;  die  letzteren  unterliegen 
also  ebenso  wie  die  synthetischen  Funktionen,  denen  sie  ihr  Dasein 
verdanken,  der  Bewußtseinssystematik  unseres  Ich  und  lassen  sich 
deshalb  gemäß  dem  Kategorienschema  vollzählig  und  mit  absoluter 
Sicherheit  bestimmen." 

„Es  tritt  hier  eine  bedeutsame  Weiterentwicklung  der  Lehre 
von  der  Synthesis  zutage:  Kant  behauptet  nunmehr,  daß  unsere 
synthetischen  Bewußtseinsfunktionen  als  transscendentale  Bedin- 
gungen nicht  nur  das  Objekt-Sein  überhaupt,  d.  h.  die  Vereinigung 
der  Kräfte  zu  Kräftekomplexen  bezw.  die  Vergegenständlichung 
der  Empfindungen  bestimmen,  sondern  auch  das  So-Dasein  der 
Kräftekomplexe  bezw.  Erfahrungsgegenstände,  d.  h.  ihre  Ausstat- 
tung mit  gewissen  allgemeinsten  materiellen  Eigenschaften." 

„Der  ganzen  neuen  transscendentalen  Deduktion  liegt  die  im 
Op.  p.  auch  sonst  konsequent  durchgeführte  Auffassung  zugrunde, 
daß   dasjenige,    was   unsere    Sinne   affiziert   und    worauf   wir  mit 


Kants  Opus  postumum.  169 

unseren  Empfindungen- Wahrnehmungen  reagieren,  nicht  in  etwas 
Bewußtseins-Transscendentem  (Dingen  an  sich)  zu  suchen  ist,  son- 
dern vielmehr  in  den  empirischen  "materiellen  Objekten  und  ihren 
bewegenden  Kräften.  Diese  empirischen  Objekte  müssen  natürlich 
als  ihrer  sekundären  Sinnesqualitäten,  die  ja  nichts  anderes  als 
unsere  räumlich  geordneten  und  vergegenständlichten  Wahrneh- 
mungen sind,  entkleidet  gedacht  werden.  Was  übrig  bleibt,  ist 
gemäß  Kants  dynamischer  Theorie  der  Materie  als  eine  Summe 
von  Kraftzentren  zu  denken,  die,  mit  solchen  und  solchen  Kräften 
ausgerüstet,  in  bestimmter  Weise  im  Raum  verteilt  und  vermöge 
der  apriorischen  synthetischen  Funktionen  der  transscendentalen 
Apperzeption  unseres  Ich  an  sich  zu  körperlichen  Einheiten  (Kräfte- 
komplexen) verbunden  sind.  Sie  stellen  die  Art  dar,  wie  auf 
Grund  einer  Affektion  des  Ich  an  sich  durch  die  Dinge  an  sich 
diese  und  ihre  räum-  und  zeitlosen,  rein  innerlichen  Verhältnisse 
jenem  erscheinen.  Die  empirischen  Objekte  sind  meinem  empirischen 
Ich  gleichgeordnet  und  stehen  mit  ihm  in  Wechselwirkung,  beide 
sind  Teile  der  Erscheinungswelt  des  Ich  an  sich." 

„Unser  Ich  wird  also  in  doppelter  Weise  affiziert:  durch  Dinge 
an  sich  und  durch  Erscheinungen.  Und  die  synthetischen  Funk- 
tionen betätigen  sich  gleichfalls  in  doppelter  Weise:  erstens  an 
dem  durch  Affektion  seitens  der  Dinge  an  sich  dem  Ich  an  sich 
gegebenen  Inhalt,  der  sich  unter  ihrer  Einwirkung  zu  Kräfte- 
komplexen ordnet,  zweitens  an  den  durch  Affektion  seitens  der 
letzteren  im  empirischen  Ich  hervorgerufenen  Empfindungen,  die 
unter  ihrer  Einwirkung  zu  Erfahrungsgegenständen  verbunden 
werden."     (Adickes.  S.  237— 239.) 

Ich  glaube,  diese  Ausführungen  über  die  neue  transscendentale 
Deduktion  wörtlich  anführen  zu  sollen,  nicht  nur  weil  sie  wohl  den 
Kern  des  nachgelassenen  Werkes  in  philosophischer  Hinsicht  ent- 
halten, in  der  knappsten  und  doch  inhaltreichsten  Fassung,  die 
nur  durch  eine  langjährige  Beschäftigung  mit  dem  Werk  zu  ge- 
winnen war,  sondern  auch  deshalb,  weil  der  Verfasser  in  der  Lehre 
von  der  doppelten  Affektion  unseres  Ich,  wie  er  sie  hier  kurz 
darstellt,  den  Schlüssel  zu  Kants  Erkenntnistheorie  gefunden  zu 
haben  glaubt ;  eine  demnächst  erscheinende  Schrift  soll  das  Problem 
ausführlich  behandeln. 

Für  die  weitere  Entwicklung  des  „nachgelassenen  Werkes" 
kommt  die  Affektion  des  Ich  besonders  als  Selbstaffektion  in  Be- 
tracht;  „nicht  darin,   daß  das  Subjekt  vom  Objekt  (per  receptivi- 


170  Hermann  Schneider, 

tatem)  affiziert  wird,  sondern  daß  es  sich  selbst  (per  spontaneitatem) 
affiziert,  besteht  die  Möglichkeit  des  Überganges  von  den  M.  A. 
d.  N.  zur  Physik" ;  und  allgemeiner:  „der  Akt,  durch  welchen  das 
Subjekt  sich  selbst  in  der  Wahrnehmung  affiziert,  enthält  das 
Prinzip  der  Möglichkeit  der  Erfahrung." 

Die  Selbstaffektion  des  Ich  ist  eine  Affektion  des  empirischen 
Ich  durch  das  Ich  an  sich,  die  wieder  doppelt  ist;  einmal  „setzt" 
das  Ich  an  sich  dem  empirischen  Ich  die  einzelnen  Vorstellungen, 
d.  h.  es  führt  seinen  an  sich  zeitlosen  Inhalt  in  die  Form  der  Zeit 
über;  zweitens  werden  die  so  „gegebenen"  Vorstellungen  unter 
eine  Apperzeption  gebracht,  geordnet  und  zur  Bewußtseinseinheit 
verschmolzen.  Die  Lehre  von  der  ersten  Art  der  Selbstaffektion, 
von  der  Abhängigkeit  der  Wahrnehmungen  und  Gegenbewegungen 
von  der  Bewußtseins  Systematik,  ist  verhältnismäßig  weit  ausge- 
führt ;  drei  Typen  dieser  Art  lassen  sich  in  den  Entwürfen  unter- 
scheiden; und  die  Möglichkeit,  apriorische  Systeme  der  Wahr- 
nehmungsarten und  bewegenden  Kräfte  aufzustellen,  wird  stark 
betont.  Weniger  entwickelt  erscheint  im  Vergleich  die  Lehre  von 
der  zweiten  Art  der  Selbstaffektion,  damit  die  Möglichkeit  eines 
apriorischen  Systems  der  Haupteigenschaften  der  Materie  und 
materiellen  Gegenstände. 

Die  neue  transscendentale  Deduktion  gab  einesteils  der  Wissen- 
schaft vom  Übergänge  die  feste  Grundlage,  andernteils  führte  sie 
zu  einer  Durchsicht  der  früher  gewonnenen  Anschauungen  von  den 
Grundlagen  der  Erfahrung  unter  dem  Gesichtswinkel  dieser  Wissen- 
schaft. Der  Schlußstein  des  großen  Baus  sollte  gelegt  werden;  es 
war  natürlich,  dabei  das  Ganze  nochmals  zu  überblicken:  dabei 
bot  sich  eine  Möglichkeit,  allerlei  Einwürfen  von  Schülern,  die  zu 
neuen  Formeln  geführt  hatten,  zu  begegnen,  ihre  teilweise  Be- 
rechtigung anzuerkennen  und  allerlei  Gefahren  für  die  Transscen- 
dentalphilosophie,  die  von  dieser  Seite  her  drohten,  zu  bannen; 
sehr  fein  weist  der  Verfasser  darauf  hin,  daß  vielleicht  für  den 
alten  Denker  auch  die  Jahrhundertwende  bei  der  Absicht,  sein 
System  abzuschließen  und  seine  Schule  geeinigt  zurückzulassen, 
eine  Rolle  spielte. 

Kant  war  weit  entfernt  von  dem  Wunsche,  sein  Lebenswerk 
in  den  Grundlagen  zu  ändern;  alles  Grundlegende  sollte  unver- 
ändert gelten;  da  ihm  aber  die  Einstellung  auf  die  Wissenschaft 
„vom  Übergange"  eine  Stelle  bot,  von  der  aus  er  manche  Formeln, 
besonders  Fichtes,  als  berechtigt  gelten  lassen  konnte,  nahm  er  die 


Kants  Opus  postumum.  171 

Gelegenheit  wahr ;  die  Teile  seiner  Lebensarbeit,  an  die  die  Jungen 
angeknüpft  hatten,  waren  ja  sein  Werk,  wie  die,  die  sie  bekämpften; 
ihre  inneren  Notwendigkeiten  fühlte  er,  wie  die  Schüler ;  hatte  er 
früher  der  Logik  der  eigenen  theoretischen  Ergebnisse  an  be- 
stimmten Stellen  Halt  geboten,  weil  sein  Tatsachensinn  oder  die 
Rücksicht  auf  die  Gottes-  und  Sittenlehre  vorherrschten,  so  fiel 
jetzt  durch  die  fertigen  früheren  Werke,  die  zur  Wirkung  ge- 
kommen waren,  durch  die  besondere  Einstellung  der  „Übergangs- 
wissenschaft" und  durch  sein  Alter  manche  Hemmung  weg;  er 
durfte  in  der  Darstellung  nur  Logiker,  Systematiker  sein,  besonders 
in  seinen  Entwürfen,  die  nur  der  Klärung  vor  sich  selbst  dienen 
sollten. 

So  überschaut  er  seine  Lehre  von  Raum  und  Zeit,  findet  aber 
keinen  Grund,  an  ihr  etwas  zu  ändern.  In  der  Lehre  vom  Ding 
an  sich  kann  er  zugeben,  daß  Dinge  an  sich  nur  zur  lückenlosen, 
streng  logischen  Einteilung  der  Erfahrung  und  zur  Erklärung  der 
Möglichkeit  synthetischer  Urteile  a  priori  unentbehrlich  gehören, 
daß  sie  zwar  gedacht  werden  müssen,  aber  ganz  leer,  nur  „ Ge- 
dankendinge" seien,  daß  über  ihr  Dasein  und  die  Affektion  durch 
sie  nichts  ausgesagt  werden  kann  —  theoretisch  wenigstens;  jeder- 
mann wußte  ja,  daß  er  von  ihrem  Dasein  und  ihrer  Erkennbarkeit 
wissenschaftlich  fest  überzeugt  sein  durfte,  daß  die  Kritik  der 
praktischen  Vernunft  ohne  sie  unmöglich  war ;  aber  hier-  kam  ja 
nur  die  systematische  Geschlossenheit  der  Theorie,  die  Spontaneität 
des  Ich,  nicht  die  Praxis,  die  Gottes-  und  Sittenlehre  in  Frage. 
In  der  Lehre  von  der  Selbstaffektion  des  Ich  kann  er  beinahe  mit 
Fichte  sagen:  „Das  Ich  setzt  sich  selbst";  er  kann  die  „Selbst- 
setzung" als  Tatsache  ausführlich  erörtern,  eine  ganze  Reihe  von 
Bedeutungen  in  scharfsinnigen  Unterscheidungen  berühren;  das  Ich 
„setzt  sich",  indem  es  sich  selbst  zu  seinem  Gegenstand  macht, 
nach  seinen  formalen  Erkenntnisbedingungen  oder  nach  seinem 
Bewußtseinsinhalt,  als  Empfindungen  und  Wahrnehmungen  und 
als  ganze  Erfahrungswelt;  es. „macht  sich  selbst",  als  Gestalter 
seiner  Erfahrung  und  seiner  wirklichen  Persönlichkeit ;  wir  können 
ja  nur  das  verstehen,  was  wir  selbst  machen  können.  Indem  er 
so  die  „Selbstsetzung"  zugibt,  ihre  Bedeutung  und  ihren  Tatsachen- 
gehalt logisch  vielseitiger  herausarbeitet,  als  seine  Schüler,  kann 
er  deren  dogmatischen  Idealismus,  wie  ihre  Skepsis  umso  schärfer 
ablehnen. 

In  den  letzten  Jahren  (Dezember  1800 — April  1803),  die  Kant, 


172  Hermann  Schneider, 

immer  stärker  behindert  durch  Altersbeschwerden,  an  dem  nach- 
gelassenen Werk  arbeitet,  wird  die  Wissenschaft  „vom  Übergange" 
ein  bloßer  Teil  eines  „Systems  der  Transscendentalphilosophie". 
Für  dies  ist  Kant  bemüht,  einen  allgemeinverständlichen,  möglichst 
deutschen  Titel  zu  finden;  in  Dutzenden  von  Fassungsversuchen 
treten  bald  „Gott,  Welt  und  Mensch",  bald  „die  reine  Philosophie" 
(gelegentlich  auch  als  „Wissenschaftslehre")  stärker  hervor.  Dann 
beschäftigt  ihn  die  Bestimmung  des  Wesens  der  Trans  scendental- 
philosophie,  besonders  im  Verhältnis  zur  Metaphysik,  zuletzt  mit 
dem  Ergebnis,  daß  im  höchsten  Begriff  beide  eins  sein  müssen. 
Die  Lehre  von  der  Selbstsetzung  wird  auf  die  Entwicklung  der 
Ideen  aus  der  reinen  Vernunft  und  auf  die  freie,  sittliche  Per- 
sönlichkeit ausgedehnt.  Endlich  wird  der  Gottesbegriff  die  Haupt- 
sorge des  alten  Denkers ;  er  der  sein  Lebenswerk  immer  als  einen 
Gottesdienst  angesehen  hatte,  beendet  es  in  Gottesanschauung; 
ein  ganz  reiner  Gottesbegriff,  nur  auf  den  kategorischen  Imperativ 
gestellt,  ist  die  letzte  Frucht  seiner  wissenschaftlichen  Arbeit; 
von  Gottes  Dasein  ist  dabei  nicht  die  Rede;  das  steht  ihm  un- 
erschütterlich fest. 

Ich  habe  versucht,  die  Darstellung  von  Kants  nachgelassenem 
Werk  (möglichst  mit  den  Worten  des  Darstellers)  kurz  zusammen- 
zufassen; auf  die  Beurteilung  einzugehen,  verbietet  leider  der 
Raummangel;  schon  die  Darstellung  der  Darstellung  mußte  bei 
einem  Werk  dieser  Art  in  dieser  Kürze  unzulänglich  bleiben.  Ich 
bin  zufrieden,  wenn  es  mir  gelungen  ist,  einige  Umrisse  des  philo- 
sophischen Gehaltes  sichtbar  zu  machen  und  ein  Gefühl  für  den 
reichen  Inhalt  und  die  Bedeutung  des  Werkes,  wie  für  die  Größe 
der  Leistung  des  Darstellers  zu  wecken.  Kants  nachgelassenes 
Werk  wird  die  Wissenschaft  lange  beschäftigen;  die  Philosophie 
wird  seinen  Erkenntnisgehalt  zu  untersuchen  haben,  an  sich  und 
im  Zusammenhang  mit  Kants  Lebensarbeit  und  den  Fortbildungen 
derselben  durch  seine  Schüler;  die  Individualpsychologie  findet  in 
ihm  Stoff  zur  Lehre  von  der  Arbeitsweise  des  Genies  als  Denker, 
von  seinem  Kampf  mit  dem  Alter  und  seinem  Verfall ;  die  Physik 
wird  sich  heute,  wo  die  Lehre  vom  Äther  wieder  in  vollen  Fluß 
gekommen  ist,  vielleicht  mit  Kants  Athertheorie  fruchtbringend 
auseinandersetzen ;  wie  Kants  ganze  kritische  Philosophie  (besonders 
als  Erkenntnistheorie)  als  eine  Reihe  von  neuen  metaphysischen 
und  einzel wissenschaftlichen,  psychologischen  und  entwicklungs- 
wissenschaftlichen, Keimen  gefaßt  werden  kann,   die  er  formal  in 


Kants  Opus  postumum.  173 

eine  Einheit  zwingt,  so  kann  man  im  nachgelassenen  "Werk  Keime 
zur  Psychophysik  und  Hirnphysiologie  (Gegenbewegungen),  sowie 
zu  einer  Wissenschaftslehre  zwischen  Metaphysik  und  Einzel- 
wissenschaften finden.  „Kants  Vermächtnis  an  Mit-  und  Nachwelt u 
„baldmöglichst  in  würdiger  Gestalt  erscheinen  zu  lassen"  ist,  auch 
in  unserer  Zeit  des  Elendes,  eine  „unerläßliche  Pfjicht" ;  möchte 
sich  der  Verfasser  unserer  „Darstellung  und  Beurteilung",  der 
uns  diese  Pflicht  bewiesen  hat,  bereit  finden  lassen,  die  immer 
noch  sehr  schwierige  Herausgabe  des  Werkes  zu  übernehmen,  die 
er  allein  in  vollkommener  Weise  zustande  bringen  kann. 


Besprechungen. 

Erkenntnistheorie  und  Logik. 

Berg,  Ernst.  Das  Problem  der  Kausalität.  Berlin:  Simion  1920. 
101  S.     gr.  8°.     (Bibliothek  für  Philosophie,  hrsg.  von  L.  Stein,  Bd.  19.) 

Verfasser  will  an  Stelle  von  getrennten  Dingen,  die  auf  unbegreifliche 
Weise  auf  einander  einwirken  (Kausalität),  eine  Welt-Einheit  setzen,  die 
gesetzmäßigen  Veränderungen  unterliegt.  Verfasser  ist  also  strenger  Deter- 
minist. Sein  Kampf  gegen  das  Kausalitätsgesetz  erscheint  deshalb  nicht  recht 
verständlich.  Kausalität  und  Gesetzmäßigkeit  wurden  bisher  stets  als  gleichbe- 
deutend angesehen.  Will  Verfasser  dies  nicht  anerkennen,  so  hat  er  die  Pflicht, 
eine  neue  Definition  der  Gesetzmäßigkeit  zu  geben. 

Betrachtet  man  alles  Einzelne  als  Ausfluß  der  metaphysischen  Substanz, 
so  erscheint  die  Einwirkung  eines  Dinges  auf  das  andere  auch  nicht  so  unbe- 
greifbar, wie  dem  Verfasser.  Die  Kausalität  regelt  dann  die  an  der  Substanz 
vor  sich  gehenden  Veränderungen.  Sie  ist  das  Band,  das  alle  Einzelerscheinungen 
umschließt. 

Die  völlige  Leugnung  der  Selbständigkeit  der  Individuen,  ihre  Gleichsetzung 
mit  einem  Teil  der  Welt- Einheit ,  erregt  auch  Bedenken  in  ethischer  Hinsicht. 
Tatsächlich  wird  das  Individuum  nicht  als  Teil  der  Welt  betrachtet,  sondern  als 
Entelechie,  die  für  ihr  Handeln  verantwortlich  ist.  Daraus,  daß  etwas  notwendig 
geschieht,  folgt  noch  nicht,  daß  es  ethisch  berechtigt  ist,  wie  Verfasser  S.  93 
seiner  Schrift  ausführt.  Verfasser  erkennt  als  Vorgänger  in  seiner  Weltansicht 
nur  Nietzsche  an.  Ihm  schwebt  anscheinend  folgende  Stelle1)  vor:  „Ursache  und 
Wirkung:  eine  solche  Zweiheit  gibt  es  wahrscheinlich  nie  —  in  Wahrheit  steht 
ein  Continuum  vor  uns.  .  .  .  Ein  Intellekt,  der  Ursache  und  Wirkung  als  Con- 
tinuum  .  .  .  der  den  Fluß  des  Geschehens  sähe  —  würde  den  Begriff  Ursache  und 
Wirkung  verwerfen  und  alle  Bedingtheit  leugnen".  Man  wird  aber  darauf  er- 
widern müssen,  daß  ein  Kampf  gegen  das  Kausalitätsgesetz  so  lange  verfehlt  ist, 
als  wir  tatsächlich  gezwungen  sind,  nach  dieser  Kategorie  zu  denken.  Auch  der 
Begriff  des  Gesetzes,  den  Verfasser  an  Stelle  der  Kausalität  setzen  will,  fordert, 
daß  das  Naturgeschehen  in  diskrete  Akte  zerlegt  wird,  ohne  die  ein  Begreifen 
der  Natur  nicht  möglich  ist.  Trotz  dieser  prinzipiellen  Bedenken  spricht  aus  der 
Schrift  ein  origineller  Denker,  und  diese  ist  wert,  gelesen  zu  werden. 

Frankfurt  a.  M.  Walther  Rauschenberger. 

Bloch,  Werner,  Einführung  in  die  Relativitätstheorie.  Aus 
Natur-  und  Geisteswelt  Bd.  618.    B.  G.  Teubner,  Lpzg.  u.  Berlin,  1918.    100  Seiten. 

Von  den  leicht  verständlichen  Darstellungen  der  Relativitätstheorie  ist  das 
Büchlein  von  Bloch  eine  der  besten.  Inhaltlich  sind  seine  Ausführungen  bis 
in  jede  Einzelheit  vollkommen  korrekt,  der  Leser  hat  an  der  Schrift  also  einen 
absolut  zuverlässigen  Führer ;  formal  zeichnet  sie  sich  in  Stil  und  Gedankenaufbau 
durch  große  Klarheit  aus,  sie  ist  daher  auch  ein  angenehmer  Führer, 
der  die  bequemsten  Wege  zum  Ziel  zu  finden  weiß.  Bloch  trifft  durchaus  den 
richtigen  Grad   und  Ton   der  Popularität,   er  hat  keine  Scheu  vor  einfachen  ma- 


1)  Fröhliche  Wissenschaft  (Taschen-Ausgabe),  S.  180. 


Besprechungen  (Berg — Driesch).  175 

thematischen  Formeln  und  umgeht  leichte  Rechnungen  nicht,  die  aber  jedem  ver- 
ständlich sein  müssen,  der  die  Prima  einer  höheren  Lehranstalt  besucht  hat. 
Die  systematische  Darstellung  des  Büchleins  beschränkt  sich  auf  die  „Spezielle" 
Relativitätstheorie,  nur  die  letzten  zehn  Seiten  handeln  von  der  „Allgemeinen" 
Theorie  und  geben  nur  die  charakteristischsten  Züge  davon  wieder.  Diese  Selbst- 
beschränkung des  Verfassers  möchte  man  bedauern  wegen  der  außerordentlichen 
physikalischen  und  philosophischen  Wichtigkeit  der  Sache,  zumal  eine  eingehen- 
dere Schilderung  auch  in  gemeinverständlicher  Form  ganz  wohl  möglich  ist,  wie 
Einsteins  eigene  populäre  Darstellung  des  Gegenstandes  beweist  und  wie  auch  der 
Referent  in  seiner  Schrift  über  Raum  und  Zeit  in  der  gegenwärtigen  Physik  ge- 
zeigt zu  haben  hofft.  Der  Verfasser  geht  auf  die  philosophische  Bedeutung  der 
speziellen  Theorie  in  einem  kurzen  Absatz  besonders  ein  und  weist  dabei  sehr 
richtig  auf  die  doppelte  Bedeutung  des  Wortes  „Zeit"  hin.  Man  dürfe  den  Zeit- 
begriff des  Physikers  und  des  Philosophen  nicht  miteinander  verwechseln,  da  sie 
ganz  verschiedene  Dinge  seien.  Nur  würde  man  hier,  glaube  ich,  statt  Philosoph 
wohl  genauer  Psychologe  sagen;  dem  Philosophen  fällt  vielmehr  die  Aufgabe  zu, 
den  psychologischen  und  den  physikalischen  Zeitbegriff  mit  gleicher  Vorurteils- 
losigkeit zu  untersuchen  und  beide  miteinander  in  Einklang  zu  bringen.  Diese 
Aufgabe  scheint  mir  freilich  durch  den  Satz  des  Verfassers:  „Die  Philosophie 
sucht  ....  nach  Merkmalen  der  Zeit  a  priori"  (S.  84)  nicht  erschöpfend 
zum  Ausdruck  gebracht  zu  sein. 

Noch  einmal  sei  das  kleine  Buch  als  eine  wirklich  leicht  verständliche  und 
nach  Form  und  Inhalt  vortreffliche  Einführung  in  die  Spezielle  Relativitätstheorie 
empfohlen. 

Rostock.  M.  Schlick. 

Driesch,  Hans,  LogischeStudien  über  Entwicklung.  (Sitzungsber. 
d.  Heidelberger  Akad.  d.  Wiss.,  Heidelberg  1918,  Verlag  von  Carl  Winter.)    70  S. 

In  dieser  neuen  Arbeit  D.'s  wird  ein  besonderer  Ausschnitt  aus  der  „Natur- 
ordnungslehre" dargestellt,  der  manches  in  der  „Ordnungslehre"  (Jena  1912),  „Wirk- 
lichkeitslehre" (Leipzig  1917)  und  anderswo  Gesagte  in  äußerst  fruchtbarer  Weise 
ergänzt  und  neu  formuliert.  Die  für  die  Arbeiten  dieses  Autors  so  charakteri- 
stische begriffliche  Schärfe  und  vorsichtige  Art  des  Denkens,  die  streng  scheidet 
zwischen  sicher  Wißbarem  und  nur  Vermutbarem,  bei  letzterem  aber  alle  in  be- 
tracht  kommenden  Möglichkeiten  sorgfältig  erwägt,  zeichnet  auch  diese  Arbeit 
aus  und  macht  sie  zu  einem  hervorragenden  intellektuellen  Genuß. 

Im  ersten  Teil  der  Arbeit  erörtert  der  Verf.  die  rein  logische  („naturlogische") 
Seite  des  Entwicklungsbegriffs.  Unter  Entwicklung  im  weitesten  Sinne  (für 
den  allein  er  das  deutsche  Wort  gebraucht)  versteht  er  „die  Reihe  der  Verände- 
rungen eines  als  dasselbe  ganze  geltenden  Dinges  oder  Dingkomplexes,  durch 
welche  es  oder  er  aus  einem  weniger  mannigfaltigen  in  einen  mannigfaltigeren 
Zustand  überführt  wird".  Es  kann  nun  dreierlei  Arten  von  Entwicklung  geben. 
Zunächst  Kumulation  ( regellose  Mannigfaltigkeitserhöhung ,  bei  der  jeder 
Mannigfaltigkeitszuwachs  des  sich  entwickelnden  Ganzen  zurückführbar  ist  auf 
einzelne  äußere  Vorgänge;  sie  bewirkt  „äußerlich  Ganzes"),  dann  Evolution 
{regelhafte  Mannigfaltigkeitserhöhung;  sie  bewirkt  „Wesensganzes").  Evolution 
kann  wieder  sein  maschinell,  wenn  eine  „Maschine",  d.h.  ein  räumliches  System 
materieller  Kräfte  ihr  zugrunde  liegt,  oder  nichtmaschinell,  wenn  letzteres 
nicht  zutrifft. 

Bei  der  nichtmaschinellen  Evolution,  der  philosophisch  interessantesten  Ent- 
wicklungsform muß  die  Logik  die  Annahme  eines  nichtmateriellen  Faktors,  einer 
Entelechie  fordern.  Streng  genommen  kann  nun  hierbei  nicht  von  einer  Entwick- 
lung des  materiellen  Systems  (denn  nur  an  ihm  entwickelt  sich  etwas),  aber  auch 
nicht  von  einer  Entwicklung  der  Entelechie  (denn  die  bleibt  ihrem  Wesen  nach 
dieselbe),  gesprochen  werden.  „Nur  mit  Rücksicht  auf  ihr  Wirken  auf  die  Ma- 
terie" entwickelt  sie  sich:  die  Entelechie  entwickelt  sich  nicht  ihrer  essentia, 
sondern  ihrem  actu  nach.  Metaphysik  oder  „Wirklichkeitslehre",  wie  D.  sagt, 
könnte  vielleicht  anderes  behaupten,    sie  könnte  ein  „se  faire"  des  Immateriellen 


176  Besprechungen  (Driesch). 

annehmen  (Bergson);  aber  das  ist  unentscheidbar.  Echte  Epigenesis  gibt  es 
also  für  die  Logik  nicht,  sondern  nur  Evolution,  wenn  auch  nicht  notwendig  raum- 
haft vorgebildete,  maschinelle  Evolution;  denn  echte  Epigenesis  wäre  Mannigfal- 
tigkeitserhöhung eines  Systems  ohne  Gründe. 

Nachdem  nun  noch  einige  bedeutsame  Probleme,  die  sich  an  die  nichtma- 
schinelle Evolution  anschließen  (der  Organismus  und  die  Zeit,  Kausalität  und  Ent- 
wicklung u.  a.)  erörtert  sind,  geht  D.  im  zweiten  Teil  seiner  Arbeit  zu  der  Frage 
der  „empirischen  Erfüllung"  über,  d.  h.  er  fragt,  ob  und  wo  die  verschiedenen 
Formen  der  Entwicklung  in  der  Natur  verwirklicht  sind  und  vor  allem,  an  welchen 
Kriterien  wir  erkennen,  ob  es  sich  um  Kumulation,  maschinelle  oder  nichtmaschi- 
nelle Entwicklung  haudelt.  Und  gerade  die  Erörterung  dieser  Kriterien  ist  vom 
Verf.  mit  bewunderungswürdiger  gedanklicher  Schärfe  herausgearbeitet.  Die  wich- 
tigsten Ergebnisse  sind  die  folgenden. 

Kumulation  ist  leicht  zu  erkennen.  Sie  ist  überall  dort  vorhanden,  „wo 
sich  bei  einer  Entwicklung  einzelne  Zuwüchse  an  Mannigfaltigkeit  auf  ein- 
zelne Geschehnisse,  welche  das  sich  als  dasselbe  entwickelnde  Ding  oder 
Dinggefüge  von  außen  her  trafen,  zurückführen  lassen.  Wo  das  nicht  der  Fall 
ist,  besteht  Evolution".  Außer  diesem  negativen  Kennzeichen  für  Evolution 
(maschinelle  und  nichtmaschinelle)  bestehen  nun  aber  noch  zwei  positive :  1)  Vor- 
handensein des  betreffenden  Entwicklungssystems  in  vielen  Exemplaren  und  2)  Re- 
gulation. (Das  erste  Kennzeichen  erlaubt  in  seiner  Allgemeinheit  allerdings  erst 
die  Wahrscheinlichkeitsannahme  der  Evolution,  während  das  zweite  ein  sicheres 
Kennzeichen  dafür  ist.) 

Zwischen  den  beiden  Formen  der  Evolution  (maschineller  und  nichtmaschi- 
neller) zu  entscheiden,  ist  schwerer,  wenn  nicht  eine  „Maschine"  als  zugrunde- 
liegend direkt  nachgewiesen  werden  kann,  was  praktisch  in  der  Naturwissenschaft 
wohl  nie  zu  erreichen  ist.  Auf  das  Gegebensein  eines  nichtmaschinellen  Evolutions- 
systems kann  dann  erst,  aber  muß  dann  auch  geschlossen  werden  auf  grund  des 
Nachweises,  daß  gewisse  Verhaltungs weisen  des  sich  entwickelnden  Dinges  den 
gesetzmäßigen  Folgen  irgendeiner  Maschine  überhaupt,  d.  h.  all  dem,  was  aus  dem 
Vorhandensein  irgendeiner  Maschine  „geometrisch-kinetisch"  ableitbar  ist,  wider- 
sprechen. Was  maschinell  erklärbar  sein  soll,  muß  materiell  vorgesehen  gedacht 
werden  können,  muß  „grundsätzlich  Resultante  materieller  Konstellationen  sein 
können". 

Es  sind  nun  zweifellos  Regulationen  überhaupt  an  einer  Maschine  denkbar. 
Immer  aber  muß  es  sich  um  bestimmte  Regulationen  auf  bestimmte  Stö- 
rungen des  Betriebes  oder  des  Baus  (Wegnahme  von  Teilen)  handeln ;  undenk- 
bar sind  jedenfalls  Regulationen  auf  beliebige  Störungen  hin  (Wiederbildung 
beliebig  großer  und  beliebig  gestalteter  weggenommener  Teile  oder  gar  harmo- 
nische Umbildung  des  nach  beliebiger  Verstümmelung  zurückbleibenden  Restes  zu 
einem  verkleinerten  Ganzen  u.  a.). 

Weitere  Kriterien  ergeben  sich  nun  bei  der  Untersuchung  der  Herkunft  der 
Systeme.  D.  kommt  dabei  zu  dem  Schluß,  daß  es  maschinell  undenkbar  ist,  „daß 
ein  System ,  selbst  aus  einem  „Keim"  erstanden ,  erst  einen  ~  Urkeim"  und  dann 
durch  Teilung  desselben  Keime  produziert,  welche  zur  Bildung  von  Systemen, 
welche  dem  ursprünglichen  System  gleich  gebaut  sind,  fähig  sind". 

Nachdem  in  einer  überaus  durchsichtigen  und  gut  gegliederten  „tabella- 
rischen Uebersicht"  noch  einmal  die  an  einem  System  überhaupt,  die  an  einer 
Maschine  denkbaren  und  die  an  einer  Maschine  nicht  denkbaren  Fälle  von  Regu- 
lation zusammengefaßt  worden  sind,  wird  zum  Schluß  die  Frage  nach  der  „Er- 
füllung", nach  der  Verwirklichung  der  nichtmaschinellen  Evolutionsform  in  der 
Natur  beantwortet. 

Daß  das  Naturganze  nicht  als  Evolution  betrachtet  werden  kann,  daß  „der 
höchste  Wunsch  der  Logik:  das  ordnungsmonistische  Ideal"  nicht  erfüllbar  ist, 
wird  festgestellt.  Auch  für  das  Anorganische  gilt  das  Gleiche.  Nur  Kumulationen 
sind  festzustellen  (Flüsse,  Gebirge  u.  s.  w.).  Die  interessante  Frage,  ob  es  nicht 
wenigstens  gewisse  Ganzheitszüge  im  Unbelebten  gebe,  wird  gestreift. 

Im  Reiche   des  Organischen   ist   nun   aber   der   sichere  Nachweis   erbracht 


Besprechungen  (Driesch).  177 

(durch  die  bekannten  Forschungen  D.'s  selbst),  daß  es  hier  nichtmaschinelle  Evo- 
lution gibt,  wenigstens  beim  organischen  Einzelwesen :  die  hier  festgestellten  Fälle 
von  Regulationen  zeigen  die  Kriterien,  die  eine  maschinelle  Erklärung  unmöglich 
machen. 

Schwieriger  ist  die  Frage  bei  der  Gesamtheit  der  Lebewesen :  Ist  Phylogenie 
Kumulation  oder  Evolution  ?  Eine  sichere  Entscheidung  ist  deshalb  ausgeschlossen, 
weil  die  beiden  Kriterien  der  Evolution  (Vorhandensein  vieler  Fälle  und  Regu- 
lation) hier  nicht  angewendet  werden  können,  das  erste  nicht,  weil  es  Phylogenie 
nur  einmal  gibt,  das  zweite  nicht,  weil  eine  Regulation  bei  der  Unbekanntheit 
des  Entwicklungszieles  nicht  erkannt  werden  kann.  Was  sich  aber  hier  wenig- 
stens vermutungshaft  beibringen  läßt,  ist  vom  Verfasser  zusammengestellt  worden. 
Fortpflanzung,  fremddienstliche  Zweckmäßigkeit  (Becher),  gewisse  morphologisch- 
systematische Züge  werden  als  Anzeichen  für  den  ganzheitlichen  Charakter 
der  Gesamtheit  der  Lebewesen  betrachtet,  die  Unmöglichkeit,  die  Phylogenese  mit 
Zufall  (darwinistisch  oder  lamarckistisch)  zu  erklären  als  Anzeichen  für  den  evo- 
lutiven  (also  nicht  kumulativen)  Charakter  derselben. 

Noch  schwieriger  liegen  die  Dinge  bei  der  Menschheitsgeschichte.  Auch 
hier  können  wir  uns  aus  ähnlichen  Gründen  nur  in  Vermutungen  bewegen.  Das 
sittliche  Bewußtsein,  die  Heterogonie  der  Zwecke  u.  a.  sprechen  für  den  ganzheit- 
lichen Charakter  der  menschlichen  Gemeinschaft.  Jedenfalls  kann  nach  D.  Ge- 
schichte nur  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Entwicklung  logisch  bearbeitet  werden. 
Die  von  Windelband  und  Rickert  vertretene  Beziehung  der  historischen  Tatsachen 
auf  Werte  hat  „nur  die  Methodik  und  Struktur  der  Geschichtsschreibung, 
aber  nicht  die  letzte  logische  und  metaphysische  Verarbeitung  des  eigentlichen 
geschichtlichen  Gegenstandes  im  Auge". 

Wichtige  Erörterungen  über  den  Begriff  der  Möglichkeit,  des  Verhältnisses 
von  Person  und  Ueberperson  (ein  mit  Phylogenie  und  Geschichte  auftretendes, 
sehr  wichtiges  Problem)  u.  a.  beschließen  die  gedankenreiche  Arbeit. 

München.  Dr.  Paul  Fla  s  kam  per. 

.Driesch,  Hans,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  in  Köln,  Wissen  und 
Denken.  Ein  Prolegomenon  zu  aller  Philosophie.  Verlag  von  Emmanuel  Reinicke. 
Leipzig  1919.     148  S. 

In  dieser  kleinen  Schrift  behandelt  Driesch  in  systematischem  Zusammen- 
hange und  als  Selbstzweck,  was  er  schon  in  seinen  größeren  philosophischen 
Werken  (so  in  der  -Ordnungslehre"  unter  dem  Titel  einer  „Selbstbestimmungs- 
lehre") zur  Grundlegung  seines  Systems  entwickelt  hat.  Der  Gedanke,  daß  in 
der  Weise,  wie  ich  um  etwas  weiß,  nichts  von  Aktivität,  von  einem  Tun  des  Ich 
steckt,  wird  konsequent  durchgeführt  und  von  diesem  Ausgang  der  Ansatzpunkt 
für  alle  weitergehenden  Denk  -  Setzungen  aufgewiesen.  Der  „Urtatbestand",  das 
Cartesische  cogito,  wird  so  formuliert:  „Ich  habe  bewußt  und  zugleich  meines 
Habens  bewußt  eine  geordnete  Fülle  des  Etwas"  (S.  8).  Dabei  wird  betont,  daß 
das  „dreieinige"  „Urgeheimnis"  nichts  von  Ding  und  Eigenschaft,  von  vielen  „Ich", 
von  Allgemeingültigkeit,  von  „Bewußtsein  überhaupt",  von  Spontaneität  und  Rezep- 
tivität  enthält.  Diese  Begriffe  sind  erst  an  späterer  Stelle,  auf  dein  Boden  be- 
sonderer Wissenschaften  (Psychologie  und  Metaphysik)  im  Rahmen  des  Ich-Gehabten 
aufzuweisen.  Der  Ausdruck  „ich  habe"  für  die  Bewußtseinsbeziehung,  der  den 
Gegensatz  zur  Tätigkeit  markieren  soll,  ist  von  Rehmke  entlehnt,  im  „metho- 
dischen Solipsismus"  als  Ausgang  weiß  sich  der  Verf.  mit  Volkelt  einig.  Daß 
das  Gehabte  unmittelbar  „mit  Ordnungszeichen  durchsetzt"  gehabt  wird  (nicht 
etwa  erst  Ordnung  durch  Ich-Tätigkeit  in  ein  „Chaos  der  Empfindungen"  hinein- 
gebracht wird),  gibt  die  Grundlage  für  die  „Ordnungslehre"  als  „Lehre  von  dem 
Ordnungszeichen  am  Etwas  als  unmittelbar  gehabtem  Etwas".  Eine  Lehre  von 
Ordnungszeichen,  von  Gegenständen,  sofern  sie  in  Ordnung  gesetzt  werden,  ent- 
steht deshalb,  weil  der  „Vorwunsch"  des  Ich,  das  Etwas  restlos  als  „in  Ord- 
nung" zu  schauen  derart,  „daß  es  trotz  seiner  vielleicht  bestehenden  Mannigfal- 
tigkeit ein  Ganzes  ist,  und  zwar  in  jeder  Beziehung",  (das  „ordnungsmonistische 

Kautstudien  XXVI.  12 


178  Besprechungen  (Dricsch). 

Ideal")  unerfüllbar  ist.  Für  die  „Sonder-Ordnungszeichen"  d.  h.  die  Ordnung  be- 
dingenden unzerlegbaren  Bedeutungen  (Beispiele:  dieses,  solches,  bezogen,  Zahl, 
neben,  die  Grade,  die  Parallele,  grün,  Lust  —  die  Unzerlegbarkeit  wird  man  hier 
wohl  zumindest  bei  den  Parallelen  bezweifeln  dürfen)  ist  der  Unterschied  von 
Anschaulich  und  Unanschaulich  unwesentlich,  da  beides  in  der  gleichen  Weise 
schlicht  „gehabt"  ist,  nicht  das  eine  gelitten,  das  andere  getan.  Das  Urteil  wird 
als  „besondere,  in  ihrer  Besonderheit  festgehaltene  und  gesetzte  Beziehung",  der 
Schluß  als  eine,  ausdrücklich  als  eine  gesetzte,  Beziehung  zwischen  Beziehungen 
gefaßt.  Da  aber  alles  „Gehabte"  zugleich  ein  Gesetztes  sein  soll,  so  glaubt  Dr. 
damit  den  Unterschied  zwischen  Vorstellung  und  Urteil  zu  Gunsten  des  Urteils 
aufgehoben.  Die  Redeweise  von  einem  „Sein"  der  gehabten  Gegenstände  wird 
als  irreführend  abgelehnt,  im  Rahmen  der  Ordnungslehre,  spezialisiere  sie  sich 
nun  als  Logik  oder  Mathematik,  handelt  es  sich  nur  um  ich-gehabte  Gegenstände, 
ohne  daß  diese  Ich  -  Bezogenheit  ausdrücklich  hervorgehoben  wird.  Was  das 
selbständige  „Sein"  der  Gegenstände,  der  Mathematik  z.  B.,  vortäuscht,  das  sind 
die  Ordnungszeichen  des  „Erledigt-seins"  und  der  „Identität".  Das  Charakte- 
ristische der  philosophischen  Einstellung  ist,  daß  sie  das  „ich  habe"  immer  im 
Auge  behält. 

Vom  zeitlosen  „ich  habe"  führt  die  Zeit  zu  Natur  und  Seele.  Unter  dem 
Gehabten  findet  sich  Solches  mit  „Damals-Zeichen"  (Erinnertes),  nach  früher  und 
später  in  eine  eindimensionale  Reihe  geordnet.  Zu  sagen  „ich  hatte",  wäre  un- 
genau; denn  Ich  in  der  Vergangenheits-Form  ist  als  „mein  Selbst"  ein  nur  Ge- 
habtes, niemals  wie  das  Ich  im  „Ich  habe"  erlebt.  Aus  der  Punkt-Reihe  der 
Damalszeichen  wird  durch  Uebertragung  des  mathematischen  Stetigkeits-Begriffes 
die  stetige  Zeitlinie.  „Beharrlich"  oder  „dauernd"  ist,  was,  selbst  stetig,  in  der 
stetigen  Zeit  steht.  „Werden"  ist  „ein  Anderssein  an  einem  Beharrlichen  in  Zu- 
ordnung zur  stetigen  Zeitreihe".  Natur  entsteht,  wenn  ich  mir  die  Aufgabe 
stelle,  die  zunächst  zusammenhanglosen  „Etwas -Inhalte",  das  „gehabte  Es"  in 
sich  zu  verknüpfen  derart,  „daß  es  in  gewisser  Hinsicht  als  das  mit  sich  sel- 
bige verharrt  oder  in  der  Zeit  dauert  und  in  anderer  Hinsicht  sich  verändert 
oder  wird".  So  wird  Natur  definiert  als  „die  Gesamtheit  aller  derjenigen  durch 
unmittelbar  gehabte  Inhalte  gemeinten  mittelbaren  Gegenstände,  welche  in  sich 
Geschlossenheit  des  Seins  und  Werdens  besitzt  und  sich  verhält,  als  ob  sie 
selbständig  für  sioh  bestünde"  (S.  42).  Im  Begriff  der  „Seele",  von  dem  sich 
kaum  etwas  Positives  aussagen  läßt  —  sie  steht  dauernd  in  der  Zeit,  erschöpft 
sich  nicht  im  Haben  und  Gehabt-haben,  sondern  enthält  auch  „Unbewußtes",  aber 
nicht  Naturhaftes  —  sieht  Dr.  einen  für  die  Psychologie  unentbehrlichen  Ord- 
nungsbegriff. Hier  erst  gewinnen  die  Begriffe  Bedeutung,  die  vom  Ich  verbannt 
sind:  Seelenvermögen,  Tätigkeit,  Leiden,  Wissen  als  potentieller  Besitz  u.  s.  w. 
Die  Tatsache  des  Wissenserwerbes  und  Irrtums  wird  vom  Standpunkt  des  schlichten 
Habens  ohne  Ich-Tätigkeit  so  erklärt :  Wenn  ich  ein  zuerst  für  A  Gehaltenes  her- 
nach als  B  erkenne,  so  ist  nicht  mehr  gegeben  als  zwei  Setzungen,  von  denen  die 
zweite  einen  gewissen  Ton  der  „Erledigung"  trägt,  ein  gewisses  unanschauliches 
Zeichen,  welches  bedeutet,  daß  „mein  Selbst"  vordem  A  geschaut  hatte,  das  an- 
gesichts der  Setzung  B  aber  nicht  alles  „in  Ordnung"  ist.  (Im  Beispiele  vom 
Mann  und  Baumstamm  S.  62  scheint  eine  sinnstörende  Verwechslung  unterlaufen 
zu  sein.)  „Irren"  ist  also  kein  tätig  erlebter  Inhalt,  sondern  ein  Wissen  um  ein 
Kennzeichen  an  einem  früher  von  meinem  Selbst  gehabten  Inhalt,  nämlich  um  die 
Nicht-Endgültigkeit  des  für  endgültig  Gehaltenen. 

Die  durchaus  unverbesserbaren  „Urordnungszeichen"  sind  die  Kategorien 
(wie:  dieses,  solches,  verschieden,  so  viel).  Dagegen  sind  die  „Naturordnungs- 
begriffe" (wie:  Ding-Eigenschaft,  Ursache- Wirkung),  wenn  auch  praktisch  unver- 
besserlich, doch  nicht  letzte  Kategorien  wegen  ihrer  Zusammengesetztheit.  Sie 
gelten  „praktisch  apriori"  „sobald  die  Bedeutungen  von  ihnen  selbst  und  von  Natur 
überhaupt  ...  erfaßt  worden  sind  und  sobald  »geglaubt«  wird,  daß  Natur 
nicht  plötzlich  chaotisch  werde"  (S.  75).  (Das  scheint  mir  eine  Inkon- 
sequenz; wenn  Natur  eben  das  ist,  was  unter  dem  Gesichtspunkt  des  geordneten 
Zusammenhanges  mit  gewissen  der  gehabten  Inhalte  gemeint  wird,  kann  sie  ihrem 


Besprechungen  (Driesch).  179 

Begriffe  nach  gar  nicht  chaotisch  werden.)  Sie  sind  auch  nicht  Voraussetzungen 
der  Möglichkeit  der  Erfahrung,  sofern  das  „ordnungs-monistische  Ideal"  denkbar 
bleibt,  sondern  sie  sind  nur  „für  unsere  Erfahrung,  angesichts  unseres  Gege- 
benen" unerläßlich.  Von  den  Natur-Kategorien  unterscheiden  sich  die  empirischen 
Naturbegriffe  durch  ihre  ausdrücklich  zugegebene  Verbesserbarkeit,  die  sich  aus 
der  Forderung  ergibt,  daß  Natur  ein  Zusammenhang  und,  was  über  sie  ausgesagt 
wird,  zu  einander  passend  und  so  „setzungs-sparsam"  wie  möglich  sein  soll. 
Denn  es  ist  sparsamer  zu  sagen:  „Ich  habe  mich  geirrt"  als  „Das  Naturwirk- 
liche hat  sich  in  seinem  Sosein  geändert"  (S.  79). 

Um  mehr  an  Endgültigkeit  mit  Rücksicht  auf  Ordnung  zu  erzielen,  darf 
man  „die  gleichsam"  für  sich  bestehenden  Natur-  und  Seelenbestandteile  ein 
wirklich  für  sich  Bestehendes  anzeigen"  lassen.  Diese  „Wirklichkeits-Tönung" 
ist  das  Charakteristische  der  Metaphysik.  Doch  bleibt  alle  Metaphysik  ich-gehabt 
und  muß  alle  Erfahrungs-Inhalte  als  ich-gehabte  benutzen.  Während  den  ord- 
nungshaften  Bedeutungsbegriffen  oder  Bedeutungskomplexen  „schlichte  Endgültig- 
keit" jenseits  aller  Kriterien  zukommt  und  „Richtigkeit"  bei  Natur-  und  Seelen- 
wirklichem an  die  Kriterien  der  Widerspruchslosigkeit  und  größt-möglichen  Ein- 
fachheit gebunden  ist,  glaubt  Dr.  „echte  Wahrheit"  nur  mit  Beziehung  auf  das 
Wirkliche  der  Metaphysik  definieren  zu  können:  „Wahr  ist  ein  einen  wirk- 
lichen Gegenstand  meinender  bewußtgehabter  Inhalt,  wenn  und  insofern  seine 
Bestandteile  den  Kennzeichen  des  Gemeinten  entsprechen"  (115).  Dafür  aber  gibt 
es  kein  Kriterium! 

Eine  eingehende  Würdigung  dieser  Gedanken  wäre  nur  im  Zusammenhange 
mit  den  systematischen  Werken  des  Verf.,  vor  allem  der  Ordnungs-  und  Wirk- 
lichkeitslehre, möglich,  da  man  den  Wert  einer  Grundlegung  am  besten  daran 
erkennt,  was  auf  diesem  Grunde  errichtet  wird.  Hier  seien  nur  einige  grund- 
sätzliche Bemerkungen  gestattet.  Wenn  die  Lehre  vom  „Bewußtsein  überhaupt" 
als  metaphysisch  zu  Gunsten  des  „kritischen  vorläufigen  Solipsismus"  so  scharf 
abgelehnt  wird,  so  wäre  es  doch  nötig  genauer  anzugeben,  wodurch  sich  das 
Ich  vom  „Bewußtsein  überhaupt"  unterscheidet,  als  es  durch  die  Erklärung :  „Ich 
ist  —  nun  eben  »Ich«  ;  wer  nicht  weiß,  was  das  heißt,  dem  ist  nicht  zu  helfen" 
(S.  9)  geschieht.  Wenn  ausdrücklich  gesagt  wird,  daß  „Ich"  in  keinem  Gegensatz 
zum  „Du"  zu  nehmen  ist,  und  wenn  es  so  scharf  von  „mein  Selbst"  geschieden 
wird,  so  ist  damit  doch  der  Boden  des  Sol  i  p  s  ismus  verlassen.  Ob  man  übrigens 
das  erkenntnistheoretische  Subjekt  lieber  „Ich"  oder  „Bewußtsein"  nennt,  ist  wohl 
nicht  mehr  als  ein  Wortstreit.  Wesentlich  dagegen  ist  die  Frage,  ob  zur  Bedeu- 
tung „Natur"  die  bloß  „gleichsam  selbständige",  die  „alsob"-Existenz  gehört. 
Wenn  wir,  wie  doch  bei  solchen  phänomenologischen  Analysen  zu  verlangen  ist, 
das  Gegebene  schlechthin  hinnehmen,  dann  werden  wir  in  der  Annahme  von  be- 
wegten und  wirkenden  Körpern  im  Räume  kaum  etwas  von  „als  ob"  und  „gleich- 
sam" finden,  sondern  die  Natur  wird  schlechthin  als  „wirklich"  gedacht.  Das 
feststellen  heißt  nicht  die  Metaphysik  des  naiven  Realismus  für  endgültig  er- 
klären, sondern  in  der  empirischen  Wirklichkeit  trotz  ihrer  Ich-Bezogenheit,  trotz- 
dem sie  nur  „Zusammenhang  mit  der  Wahrnehmung  nach  Gesetzen  der  Erfah- 
rung" bedeutet,  die  einzige  Wirklichkeit  sehen,  von  der  wir  über  die  Bewußtseins- 
wirklichkeit hinaus  sinnvoll  sprechen  können.  Das  heißt  die  Idee  einer  noch 
wirklicheren  Wirklichkeit,  die  Kennzeichen,  besitzt,  „welche  nicht  im  eigentlichen 
Sinne  ich-gehabt  werden  können,  obwohl  sie  vielleicht  auch,  aber  in  mir  unzu- 
gänglicher Form,  gehabt  d.  h.  gewußt  werden"  (S.  135)  als  eine  prinzipiell  nicht 
zu  bestätigende  transzendierende  Hypothese  ablehnen.  Schließlich  sei  noch  bemerkt, 
daß  der  Unterschied  zwischen  bloßer  Vorstellung  und  setzendem  Urteil  nicht  da- 
durch aufgehoben  wird,  daß  sich  mit  der  Vorstellung  die  Setzung  des  Bewußt- 
seinsaktes, nicht  ihres  Gegenstandes  verbunden,  findet.  Bedeutsam  erscheint,  was 
.zum  Schluß  noch  einmal  hervorgehoben  werden  soll,  die  Lehre  Dr.,  daß  die 
Bewußtseinsbeziehung  keine  Tätigkeit  ist,  sondern  ein  schlichtes  „Haben  und 
daß  Ordnung  im  „Gehabten"  vorgefunden,  nicht  erst  an  einen  formlosen  Stoff 
herangebracht  wird. 

Charlottenburg.  Dr.  Josef  Winternitz. 

12* 


180  Besprechungen  (Frost — Geyser). 

Frost,  Walter,  Universitätsprofessor  in  Bonn,  Schopenhauer  als  Erbe 
Kants  in  der  philosophischen  Seelenanalyse.  Nachweis  einer  empi- 
rischen Anwendbarkeit  der  transzendentalen  Methode.  Bonn  1918,  Univ.-Druckerei 
und  Verlag  Carl  Georgi. 

Der  Verf.  glaubt  einige  Umdeutungen  an  Kants  Begriff  des  Transzenden- 
talen vornehmen  zu  müssen.  Er  meint,  man  würde  großen  Philosophen  nicht 
gerecht,  wenn  man  sich  nur  an  die  Hauptbaulinien  ihres  Systems  halte.  Man 
müsse  von  den  Künstlern  eine  freiere  Art  erlernen,  philosophische  Systeme  zu 
deuten.  Als  Beispiele  werden  Wagner  und  Goethe  herangezogen.  Um  die  Wissen- 
schaftlichkeit der  Philosophie  bemühte  Denker  werden  Frost  hierin  wohl  kaum 
zustimmen.  Es  handelt  sich  für  den  Verfasser  um  gewisse  feinere  psychologische 
Reflexionen  Kants  und  ihre  Deutung  im  Zusammenhang  des  apriorischen  Geistes- 
lebens. Als  Beispiel  dient  zunächst  die  Kritik  der  ästhetischen  Urteilskraft.  Hier 
begnügt  sich  Kant  nicht  damit,  als  das  beherrschende  Einheitsprinzip  des  Aesthe- 
tischen  die  apriorische  Urteilskraft  aufzuzeigen,  sondern  sein  Interesse  geht  auch 
noch  dahin,  zu  „untersuchen,  in  welchem  Verhältnis  das  ästhetische  Fühlen  zu 
allen  anderen  Seelenkräften  steht"  (S.  13  u.  14).  Und  zwar  nicht  nur  um  die 
systematische  Ordnung  handelt  es  sich,  sondern  um  das  organische  Lebensver- 
hältnis dieser  Beziehungen.  An  anderer  Stelle  formuliert  der  Verfasser:  „Es 
handelt  sich  um  das  Verhältnis  des  Ich  zu  seinen  apriorischen  Prinzipien,  um 
das  transzendentale  Leben  der  Seele  in  ihren  verschiedenen  Funktionen"  (S.  19/20). 
In  derselben  Problemrichtung  liegt  bei  Kant  der  Begriff  des  Erhabenen,  das  aprio- 
rische Gefühl  der  Achtung  sowie  die  Postulate  der  praktischen  Vernunft.  Weiter 
werden  einige  entsprechenden  Analysen  Schopenhauers  angeführt,  seine  Reflexionen 
über  das  Weinen  und  seine  Theorie  der  Willensverneinung.  Aber  bei  Kant  und 
Schopenhauer  fehlt  eine  hinreichende  Legitimation  und  systematische  Einstellung 
dieser  Art  von  Seelenanalysen.  Der  Verfasser  hält  diese  Methode  für  ein  Mitt- 
leres zwischen  der  rational-transzendentalen  Methode  und  der  empirisch-psycho- 
logischen Methode.  —  Es  fehlt  der  Arbeit  eine  tiefere  und  wissenschaftlich-exakte 
Fassung  des  Transzendentalbegriffs.  Die  transzendentale  Methode,  wie  sie  z.  B. 
von  Cohen  in  überzeugender  Klarheit  herausgearbeitet  worden  ist,  schließt  die 
Bezogenheit  des  Apriori  auf  die  Erfahrung  eo  ipso  in  sich,  auf  alle  Erfahrung, 
auch  auf  die  des  Seelenlebens.  Der  Verf.  müht  sich  in  seinen  etwas  losen  Gedanken- 
gängen vor  allem  um  zwei  Problemgruppen,  die  von  der  wissenschaftlichen  Kant- 
philosophie bereits  seit  einiger  Zeit  scharf  und  klar  herausgearbeitet  worden  sind; 
einmal  das  Problem  der  Transzendentalpsychologie,  einer  die  apriorischen  Funk- 
tionen der  Psyche  eruierenden  und  systematisierenden  Subjektslogik  (vgl.  dazu 
Natorps  „Allgemeine  Psychologie");  und  dann  das  Problem  der  Realisierung  des 
Apriori  im  zeitbestimmten  psychologischen  Individualleben  (vgl.  dazu  Münch  „Er- 
lebnis und  Geltung").  Diesen  methodisch  tief  bohrenden  Arbeiten  gegenüber  bringt 
das  vorliegende  Heftchen  nichts  wesentlich  Neues,  jedoch  sind  die  diesbezüglichen 
Hinweise  auf  transzendentalpsychologische  Ansätze  bei  Kant  dankenswert. 

Heidelberg.  Dr.  Emil  Kraus. 

Geyser,  Joseph,  Dr.,  o.  ö.  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  Frei- 
burg i.  B.,  Ueber  Wahrheit  und  Evidenz.  8°.  (VIII  u.  98  S.)  Freiburg 
1918,  Herdersche  Verlagshandlung.    Mk.  3.20. 

Das  Wort  Evidenz  gehört  zu  denjenigen,  die  von  manchen  Philosophen  gern 
durch  Anführungsstriche  ausgezeichnet  werden.  Man  empfindet  allgemein,  daß  er 
zu  den  wichtigsten,  aber  auch  zugleich  fragwürdigsten  Begriffen  der  theoretischen 
Philosophie  gehört,  ohne  doch  meist  die  Folgerung  daraus  zu  ziehen,  seine  grund- 
legende Stellung  im  System  der  Erkenntnistheorie  allererst  zu  untersuchen.  Nir- 
gend begegnet  man  so  vielen  Vorurteilen  als  diesem  Begriffe  gegenüber.  Nur  in 
einem  verhältnismäßig  kleinen  Kreise,  nämlich  bei  Brentano  und  seinen  Schülern, 
bei  Marty,  Meinong,  Kastil  u.  a.,  besonders  aber  Husserl  ist  man  ihm  näher  nach- 
gegangen. —  Geyser  nun,  der  schon  in  seiner  Psychologie  und  in  seiner  Logik, 
sowie  den  „Alten  und  neuen  Wegen"  sich  mehrfach  mit  dem  Problem  auseinander- 


Besprechungen  (Geyser).  181 

gesetzt  hat,  sucht  in  diesem  Schriftchen  die  fundamentale  Bedeutung  der  Evidenz 
tür  die  Erkenntnistheorie  zu  zeigen.  Er  steht,  um  es  vorwegzunehmen,  dem 
Standpunkt  der  Phänomenologie  sehr  nahe  und  kommt  auch  nicht  wesentlich 
darüber  hinaus.  Er  sieht  die  Ursache  der  herrschenden  Irrtümer  und  Mißdeu- 
tungen vor  allem,  —  mit  Recht  —  in  der  Verkennuug  und  Vermischung  ihres 
doppelten,  logischen  und  psychologischen  Charakters.  Es  steht  fest,  daß  die  Evi- 
denz, obzwar  sie  auf  die  Subjektsbeziehungen  des  Denkens  geht,  dennoch  ein 
echter  Begriff  der  Logik  ist  und  der  eigentlich  logischen  Behandlung  unterliegt. 
Bekanntlich  haben  ihm  neuere  Autoren  (Rüssel,  Kynast)  das  Daseinsrecht  in  der 
Logik  abgesprochen.  Dennoch  besteht  er  dort  zu  Recht.  Dies  hat  seinen  Grund 
darin,  daß  diese  Subjektsbeziehungen  der  Denkformen  nicht  einfach  und  tatsächlich 
neben  ihrer  logisch-gegenständlichen  Beziehung  herlaufen,  sondern  eine  notwendige 
Folge  derselben  sind,  also  mit  ihm  in  einem  sachlichen  Zusammenhang  stehen 
und  daher  aus  ihm  a  priori  erkannt  werden  können.  So  ist  z.  B.  die  Wahrheit 
an  sich  eine  gegenständliche  Bestimmtheit  des  Urteilssinnes.  Das  Subjekt  nun 
nimmt  zu  dieser  Gegenständlichkeit  Stellung  in  dem  Akte  des  Fürwahrhaltens. 
Während  die  Wahrheit  oder  Falschheit  eines  Urteilsinhaltes  unabhängig  von  diesem 
Fürwahrhalten  ist,  müssen  zu  dem  Akte  des  Fürwahrhaltens  Akte  des  Begründens 
hinzutreten.  Diese  finden  sich  in  der  „Evidenz".  Die  logische  Evidenz  ist  nicht 
identisch  mit  dem  Akte  des  Fürwahrhaltens,  mit  dem  er  so  oft  in  dem  Begriff 
der  Gewißheit  vermengt  wird,  sondern  mit  dem  Grunde,  der  diesen  Akt  logisch 
rechtfertigt.  In  der  Tat  erweist  sich  auch  in  der  geschichtlich-literarischen  Ent- 
wicklung —  auf  die  übrigens  G.,  gemäß  dem  Charakter  seiner  Schrift  nirgend 
Bezug  nimmt,  der  Evidenzbegriff  zumeist  äquivalent  mit  dem  der  sachlichen  Be- 
gründung. Für  den  Logiker  aber  kommen  nur  diese,  inneren  und  wesensmäßigen 
Zusammenhänge  der  Begründung  in  Betracht,  die  Lehren  darüber  bilden  eine 
deduktiv- apriorische  Disziplin  und  sind  „alles  andere  als  Psychologie".  Im  be- 
sondern findet  nun  G.  die  Bestimmung  der  Evidenz  naturgemäß  aus  derjenigen 
der  Wahrheit.  Diese  lautet:  „Die  Wahrheit  eines  Urteils  ist  darin  gelegen,  daß 
es  dem  Gegenstande  einen  Sachverhalt  zuschreibt,  den  es  an  diesem  tatsächlich 
gibt".  Das  Evidenz  wirkende  Moment  liegt  in  der  „Tatsächlichkeit".  „Die  Evi- 
denz besteht  darin,  daß  der  vom  Urteilsakt  intendierte  gegenständliche  Sachverhalt 
in  seinem  eigenen  Selbst  diesem  Akte  gegenwärtig  ist.  Hier  haben  wir  die  Grund- 
these des  phänomenologischen  Intuitionismus  und  Objektivismus  aller  Richtungen, 
nämlich  die  Berufung  auf  „Gegebenheit",  durch  welche  sie  überall  psychologische 
Elemente  in  sich  aufzunehmen  scheinen.  In  der  Evidenz  sehen  alle  diese  Denker 
ein  „Schauen",  „Erfassen"  usw.  von  Sachverhalten  in  Gegenständen.  Dieses 
beruht  darauf,  daß  der  dem  Sachverhalt  gegenwärtige  (immanente)  Sachverhalt 
mit  dem  intendierten  gegenständlichen  Sachverhalt  eins  und  identisch  sein  d.  h. 
daß  er  in  diesem  bestehen  soll.  Die  „Leibhaftigkeit"  des  Sachverhaltes  ist  das 
entscheidende  Kriterium.  —  Leider  bleibt  nun  Geyser,  so  weit  er  auch  den  Begriff 
sonst  verfolgt,  bei  diesem  Ergebnis  stehen,  ohne  die  logischen  und  erkenntnis- 
theoretischen Bedingungen  und  Voraussetzungen  dieser  Zusammenhänge  näher  zu 
zergliedern,  und  hierin  besteht  für  mich  der  Mangel  der  Schrift.  Bekanntlich 
liegen  in  diesem  Begriff  der  „Gegebenheit"  eine  Fülle  von  Schwierigkeiten,  an  die 
der  logizistische  Gegner  des  Intuitionisraus  sich  zu  halten  pflegt.  Andrerseits 
führt  die  Anerkennung  der  Gegebenheitsvoraussetzung  der  Evidenz  zu  Folgerungen, 
die  von  allergrößtem  Einfluß  sind  auf  die  erkenntnistheoretische  Gesamtanschauung 
überhaupt.  Wenige  kurze  Hinweise  mögen  genügen.  Alle  Berufung  auf  Gegeben- 
heit in  der  Evidenz  ist  hinfällig,  sofern  nicht  zugleich  für  das  Soseinsurteil  die 
Bestimmtheit  der  Gegebenheit  mit  vorausgesetzt  wird!  Dieser  Annahme  wider- 
spricht z.  B.  der  objektive  Idealismus  in  der  Form  des  Marburger  Methodenabso- 
lutismus, welcher  ja  die  „Bestimmtheit"  des  Gegenstandes  verwandelt  in  eine  Auf- 
gabe der  bloßen  Denkbestimmung  der  Gegenstände.  Wirklich  ist  in  diesem  System 
weder  sachlich  noch  historisch  ein  Platz  für  die  Evidenz  zu  zeigen.  Nur  an 
einem  Punkte  weist  auch  die  Evidenztheorie  hin  auf  den  unendlichen  Prozeß - 
Charakter  der  Wahrheit,  nämlich  insofern  die  Gegenstände  hier  als  Correlate 
schöpferischer  Intentionen  gedacht  sind  und  als  solche  in  funktioneller  Beziehung 


182  x  Besprechungen  (Gey&er). 

zu  Akten  stehen,  deren  Vollzug  niemals  gänzlich  vollziehbar  erscheint.  Nun  besteht 
die  Gegebenheit  „bloßer  Begriffe"  in  der  völlig  eindeutigen  Einordnung  in  dieses 
System  der  begrifflichen  Intentionen,  das  seinerseits  nicht  realisierbar,  eine  Fiktion, 
besser  ein  Ideal  ist.  Muß  die  Evidenz,  um  eine  objektive,  absolute  und  endgül- 
tige zu  sein,  verankert  werden  in  dieser  idealen  allumfassenden  Systematik,  so 
wird  sie  selber,  um  mit  Schmidkunz  zu  reden,  „nur  im  Unendlichen  vollziehbar", 
sie  ist  selber  ein  „Ideal".  Damit  ist  dem  wilden  Intuitionismus,  der  der  Methode 
spottet,  der  Boden  entzogen !  Die  Systematik  nun  beruhte  auf  der  formalen  Iden- 
tität der  durch  gleiche  Akte  gleich  bestimmten  Urteilssinne.  In  dieser  formale» 
Identität  kann  sich  die  auf  letzte  Gegebenheiten  stützende  Begründung  der  Evi- 
denz nicht  erschöpfen,  sondern  muß  zu  einer  synthetischen  ihre  Zuflucht  nehmen, 
die  die  Möglichkeit  einer  Uebereinstimmung  und  Identität  zwischen  Intention  und 
Gegebenheit  überhaupt  und  prinzipiell  erklärt.  Diese  letzte  Voraussetzung  liegt 
in  der  postulierten  Identität  des  Bewußtseins,  dem  Akt  und  Gegebenheit  als  Rea- 
litäten angehören:  die  Identität  zwischen  Akt  und  Sinn  ist  dadurch  bedingt,  daß 
sie  beide  „Stücke"  eines  identischen  Bewußtseins  sind.  —  Wie  schwerwiegend  und 
folgenreich  also  die  Stellung  zum  Evidenzproblem  ist,  wird  man  schon  aus  diesem 
Wenigen  ersehen.  Wahrhaft  ist  sie  das  Schiboleth  in  dem  erkenntnistheoretischen 
Parteienkampf.  Von  dieser  Tragweite  gibt  auch  das  Werk  von  Geyser  eine  Vor- 
stellung und  so  kann  es  für  so  manche  ein  kräftiger  und  wirksamer  Stachel  er- 
kenntnisphilosophischer Erregung  sein.  Es  bietet  im  einzelnen  eine  Fundgrube 
reicher  Belehrung,  die  sich  besonders  bezieht  auf  das  Verhältnis  der  Evidenz  zu 
dem  psychologischen  Begriff  des  Erlebnisses,  der  Gewißheit,  dem  Problem  der 
Grade  der  Evidenz,  der  Subjektivität  oder  Objektivität  der  Evidenz  der  Wahr- 
nehmung und  der  Grundsätze  u.  a.  In  der  Reinlichkeit  der  Trennung  psycholo- 
gischer und  logisch-erkenntnistheoretiscber  Methoden  und  Gesichtspunkte  liegt  ein 
Hauptvorzug  der  Schrift. 

Berlin.  Wilhelm  Reimer. 

Geyser,  Joseph,  Dr.,  o.  ö.  Professor  a.  d.  Universität  Freiburg  i.  B.,  Eido- 
logie  oder  Philosophie  als  Formerkenntnis.  Verlag  Herder  &  Co. 
Freiburg  i.  B.,  1921,  51  S. 

Das  erkenntnistheoretisch  prinzipielle  und  darum  schon  am  Anfang  in  der 
Philosophiegeschichte  heimische  Begriffspaar  Form-Materie  wird  in  diesem  „phi- 
losophischen Programm"  zum  beherrschenden  Gesichtspunkt  für  die  Bestimmung 
des  Umkreises  philosophischer  Probleme  überhaupt  gemacht.  Diese  Bestimmung 
des  Gegenstandes  der  Philosophie  geht  von  der  „Urtatsache"  der  „Bewußtseins- 
bezogenheit  des  Subjekts  auf  Objekte"  aus,  dem  Cartesischen  Prinzip  dabei  eine 
Wendung  auf  die  Mannigfaltigkeit  der  bewußten  Objekte  gebend ;  die  im  Rahmen 
der  aristotelischen  Unterscheidung  zwischen  tätiger  und  leidender  Vernunft  ge- 
führte Analyse  dringt  zu  einer  näheren  Fixierung  dieser  Bewußtseinsbezogenheit 
vor,  indem  der  Einheit  des  Bewußtseins  nicht  nur  die  Mannigfaltigkeit  der  Ob- 
jekte, sondern  auch  eine  Mannigfaltigkeit  des  Bewußtseins  von  den  Objekten 
gegenübergestellt  wird.  Eine  Entwicklung  paralleler  Gedanken  aus  dem  Carte- 
sischen Prinzip  findet  sich  übrigens  schon  bei  Leibniz,  Philos.  Schriften,  ed.  Ger- 
hardt, IV,  S.  357.  Da  der  Begriff  des  bloßen  Etwas  beiden  Mannigfaltigkeits- 
reihen gemeinsam  und  von  ihnen  vorauszusetzen  ist,  sowie  bestimmten  Formprin- 
zipien genügen  muß,  um  giltiger  Begriff  zu  sein,  wird  die  F  o  r  m  kraft  ihrer  Ver- 
flechtung logischer  und  phänomenologischer  Gesetzlichkeit  zum  Prinzip  aller  Er- 
kenntnis erhoben.  Dieser  Formbegriff  umfaßt  daher  nicht  nur  die  logischen  Vor- 
aussetzungen jedes  Begriffs,  das  bloß  Begriffliche  an  ihm,  sondern  auch  die 
Gesamtheit  aller  vermöge  der  Beziehung  aufs  Bewußtsein  bestimmten  Inhalts- 
momente. Infolgedessen  muß  der  Verf.  seinem  Formbegriff  als  Materie  ein 
Unbestimmtes,  erst  zu  Bestimmendes  im  „vollkommen  nackten  Etwas"  entsprechen 
lassen.  Schon  der  Ausdruck  weist  hier  in  die  sachliche  Nähe  des  Urmaterials 
und  der  formgebenden  Kategorie  E.  Lasks,  der  die  Logik  phänomenologisch  be- 
handelt hat. 


Besprechungen  (Geyser — Grau).  183 

Geformte  Materie,  also  Erkanntes,  kann  nun  wiederum  Materie  für  eine 
weitere,  hinzutretende  Formung  werden,  sodaß  sich  in  einem  erkannten  Gegen- 
stande ein  ganzes  System  von  Forderungen  entdecken  läßt;  und  damit  entfaltet 
sich  das  Problem  der  „Struktur"  des  Gegenstandes.  Die  Bestimmung  dieser 
Struktur,  als  gesetzmäßiges  Verhältnis  der  allgemeinen  Formen  des  Bewußtseins 
zueinander  in  der  Gegenstandserkenntnis,  ist  die  Aufgabe  der  Eidologie,  die  daher 
mit  der  Gegenstandslogik  zusammenfiele,  wenn  es  erlaubt  wäre,  diesen  phänome- 
nologisch gefärbten  Formbegriff  mit  dem  logischen  gleichzusetzen.  Die  logisch 
primären  dieser  Formen  sind  die  Urformen  des  Seins,  des  Wahren,  des  Guten 
u.  s.  w. ;  aus  ihnen  entstehen  durch  „Funktionsbesonderung"  die  Kategorien,  die 
also  nicht  auf  den  Erfahrungsgegenstand  eingeschränkt  bleiben,  weil  diesem, 
logisch  koordiniert,    die  Gegenstände  der  anderen  Urformen  an  die  Seite  treten. 

Die  Arbeit,  die  dem  phänomenologischen  Ideenkreise  Husserls  und  seiner 
Schüler  nahesteht,  spiegelt  die  bisher  ungeklärte  Stellung  der  phänomenologischen 
Grundbegriffe  zum  Geltungsbegriff  als  dem  Grundbegriff  der  Logik  wieder.  Daher 
könnte  m.  E.  eine  genauere  Durchführung  des  obigen  Programms  nicht  auf  eine 
scharfe  Sonderung  des  Geltungsproblems,  in  seiner  ganzen  Weite  als  Problem  der 
Geltungsformen  der  gesamten  Bedeutungsmannigfaltigkeit  gefaßt,  von  der  Bezogen- 
heit  der  Bedeutungsmannigfaltigkeit  auf  ein  sie  erfassendes  Bewußtsein  verzichten. 
Erwähnt  sei  noch,  daß  die  Herbartsche  Eidolologie  von  ganz  anderen  Voraus- 
setzungen ausgeht  und  in  der  Analyse  des  Ichbegriffs  auch  zu  einem  völlig  ver- 
schiedenen Ziele,  einer  metaphysischen  Fundierung  der  Psychologie,  zu  gelangen 
sucht. 

Breslau.  R.  Kynast. 

Grau,  K.,  J.,  Grundriß  der  Logik  (Aus  Natur  und  Geisteswelt  637.  Bdch.). 
Teubner.    Leipzig  1918.     140  S.     1.50  Mk. 

Dieser  „Grundriß"  verfolgt  wesentlich  pädagogische  Zwecke.  Es  handelte 
sich  darum,  den  Schülern  und  Studenten,  sowie  dem  philosophisch  Interessierten 
überhaupt  einen  kurzen,  brauchbaren  Leitfaden  in  die  Hand  zu  geben,  der  ihn 
über  die  Hauptfragen  der  Logik  orientiert.  Vollständigkeit  war  nicht  beabsich- 
tigt, auch  bei  dem  geringen  Umfang  nicht  zu  erreichen.  Es  kommt  dem  Verfasser 
weniger  darauf  an  zu  untersuchen  als  darzustellen,  weniger  darauf,  Probleme  zu 
lösen  als  zu  zeigen,  wie  aus  gegebenen  Lösungsversuchen  neue  Probleme  ent- 
stehen. Der  Verfasser  lehnt  sich  stark  an  die  Untersuchungen  von  Benno  Erd- 
mann an,  dessen  Standpunkt  er  selbst  wohl  am  nächsten  steht,  ist  aber  mit  Erfolg 
bemüht,  die  verschiedenen  z.  Zt.  mit  einander  streitenden  Richtungen  der  Logik 
(die  formale,  die  metaphysische  nnd  erkenntnistheoretische,  psych ologisierende, 
mathematische,  Inhalts-  und  Umfangs-Logik,  induktive  und  deduktive  Logik)  zu 
Worte  kommen  zu  lassen.  Die  Einleitung  beschäftigt  sich  mit  der  Stellung  der 
Logik  im  System  der  Philosophie,  mit  Begriff  und  Aufgabe  der  Logik  und  mit 
den  geschichtlichen  Voraussetzungen  der  neueren  Logik.  Die  Darstellung  selbst 
zerfällt  in  zwei  Teile  (I.  Logische  Elementarlehre,  II.  Logische  Methodenlehre). 
Teil  I  behandelt  in  der  üblichen  Weise  die  Lehre  vom  Begriff,  vom  Urteil  und 
vom  Schlußverfahren,  Teil  II  stellt  zunächst  das  wissenschaftliche  Untersuchungs- 
verfahren, dann  das  wissenschaftliche  Beweisverfahren  dar.  Auf  Einzelnes  einzu- 
gehen hat  keinen  Zweck,  da  eine  solche  Auseinandersetzung  zu  sehr  durch  den 
eigenen  Standpunkt  beeinflußt  ist.  Als  Beispiel  sei  erwähnt  das  Verhältnis  von 
Frage  und  Urteil  (S.  68  f.),  wo  man  auch  umgekehrt  wie  der  Verfasser  behaupten 
kann,  daß  das  Urteil  die  Frage  voraussetzt.  Jedes  Urteil  ist  eine  fertige  Aus- 
sage, die  als  solche  das  Problem  (=  die  Frage)  voraussetzt.  Natürlich  ließen 
sich  auch  manche  der  gebrachten  Beispiele  kritisieren,  aber  man  tut  gut,  nach 
dem  Ganzen  zu  urteilen  und  dieses  ist  als  wohlgelungen  anzusehen.  Es  ist  eine 
solide  Arbeit,  die  hier  vorliegt,  die  den  Zwecken  der  bekannten  Sammlung  wohl 
entspricht.  Bei  den  Literaturangaben  ist  zu  bemängeln,  daß  alle  möglichen  Ar- 
beiten zweiten  Ranges  genau  angeführt  werden,  während  es  unter  der  Ueberschrift 
„Zum  System  der  Logik"  heißt:  „Paul  Natorp  in  mehreren  Schriften".    Das  Werk 


184  Besprechungen  (Grau — Hasse). 

Natorps    „Die   logischen  Grundlagen   der  exakten  Wissenschaften   Leipzig  1910* 
hätte  augeführt  werden  müssen. 

Berlin.  Artur  Buchenau. 

Hasse ,  Heinrich ,  Privatdozent  an  der  Universität  Frankfurt  a.  M. ,  Das 
Problem  der  Gültigkeit  in  der  Philosophie  David  Ilumes.  Ein 
kritischer  Beitrag  zur  Geschichte  der  Erkenntnistheorie.  München  1919,  Verlag: 
Ernst  Reinhardt.     192  S.     12,90  Mk. 

Eine  historisch-kritische  Untersuchung,  die  der  Behandlung  eines  einzelnen 
Problems  im  Rahmen  eines  bestimmten  Systems  nachgeht,  hat,  wie  Verf.  ein- 
leitend bemerkt,  nur  dort  eine  Berechtigung,  wo  dem  Problem  gemäß  den  Grund- 
sätzen dieser  Philosophie  eine  gewisse  Selbständigkeit  und  feste  Bedeutung  zu- 
kommt. Daß  das  für  das  Gültigkeitsproblem  im  Rahmen  des  Humeschen  Denkens 
gilt,  scheint  mir  noch  nicht  erwiesen,  wenn  gezeigt  wird,  daß  sich  innerhalb  der 
durchaus  deskriptiv  -  psychologisch  gemeinten  Aufstellungen  Humes  allenthalben 
nicht  nur  Urteile  über  Gültigkeit  und  Ungültigkeit  finden  —  das  ist  ja  bei  dem 
skeptischesten  Denker  unvermeidlich,  wenn  er  nicht  die  Konsequenz  völliger  &rogif 
zieht  — ,  sondern  auch  Aufstellungen  von  Kriterien  der  Berechtigung.  Denn  trotz- 
dem fehlt  bei  Hume,  wie  Verf.  selbst  betont  (S.  17),  völlig  die  Erkenntnis  der 
eigenartigen,  von  allen  Tatsachenfragen  unabhängigen  Bedeutung  der  Gültigkeits- 
frage. Daraus  folgt  aber,  daß  weder  für  die  Behandlung  dieses  Problems  die 
Humesche  Philosophie,  noch  für  das  Verständnis  dieser  Philosophie  die  Behand- 
lung dieses  Problems  der  richtige  Ausgangspunkt  ist.  Dagegen  treten  bei  einer 
solchen  Hervorhebung  der  positiven  Aufstellungen  Humes  die  Schwächen  und 
Mängel  seiner  Leistung,  deren  Bedeutung  ja  in  der  Anregung,  nicht  in  der  Beant- 
wortung von  Fragen  in  erster  Reihe  gelegen  ist,  deutlich  hervor.  So  liefert  die 
gründliche  Arbeit  Hasses  trotz  der  Vorbehalte,  die  ich  machen  zu  müssen  glaubte, 
einen  wertvollen  Beitrag  zur  Kritik  des  Humeschen  Skeptizismus. 

Hasse  gibt  eine  kurze  Darstellung  aller  erkenntnistheoretischen  Lehren 
des  Treatise  und  des  Essay  und  prüft  die  in  ihnen  enthaltenen  Kriterien  unter 
einem  an  R.  Richter  und  H.  Cornelius  orientierten  Gesichtspunkt.  Hier  sei  nur 
das  Wesentlichste  hervorgehoben. 

Wenn  Hume  zunächst  die  Berechtigung  der  Ideen  untersucht,  so  ist  damit 
verkannt,  was  schon  Aristoteles  wußte,  daß  von  Richtigkeit  und  Unrichtigkeit 
erst  beim  Urteil  die  Rede  sein  kann.  Aus  dem  „Fundamentalsatz",  daß  alle  Vor- 
stellungen aus  unmittelbaren  Eindrücken  (impressions)  stammen,  wird  die  lo- 
gische Regel  abgeleitet,  alle  Vorstellungen  dadurch  zu  prüfen,  daß  wir  nach  den 
Eindrücken  fragen,  aus  denen  sie  stammen,  und  diejenigen  als  fiktiv  auszuschalten, 
bei  denen  wir  solche  legitimierende  Eindrücke  nicht  finden  können.  Hasse  zeigt, 
daß  hier  unvermerkt  anstelle  des  genetischen  Zusammenhanges,  der  doch,  wenn 
der  Fundamentalsatz  richtig  ist,  ausnahmslos  für  jede  Vorstellung,  und  sei  sie 
noch  so  verworren  und  fiktiv,  gegeben  sein  müßte,  die  repräsentative  Beziehung 
tritt.  Die  Vorstellungen  vertreten  Eindrücke  und  sind  bedeutungslos,  wo  sich 
dieser  bedeutungshafte  Zusammenhang  mit  den  Eindrücken  nicht  aufweisen  läßt. 
Das  ist  der  eigentliche  erkenntnistheoretische  Sinn  des  Humeschen  Gedankens, 
der  aber  von  ihm  nicht  zur  Klarheit  gebracht  wird,  weil  er  ihn  eben  nicht  von 
dem  psychologisch-genetischen  Grundsatz  sondert. 

Die  unbedingte  Geltung  der  apriorischen  Sätze  (relations  of  ideas)  soll  auf 
der  Unvorstellbarkeit  des  Gegenteils  beruhen.  Was  bedeutet  diese  Unmöglichkeit 
des  Vorstellens,  wenn  Notwendigkeit  nichts  weiter  ist  als  ein  gewohnheitsmäßiger 
Zusammenhang?  Darauf  bleibt  uns  Hume  ebenso  die  Antwort  schuldig  wie  auf 
die  Frage  nach  der  Gültigkeit  der  Erfahrungserkenntnis,  die  doch  das  Haupt- 
thema des  Essay  bildet.  Wir  finden  hier  nur  die  Theorie  der  Entstehung  der 
Kausalurteile  durch  Gewohnheit.  Die  logischen  Bedenken  dagegen  werden  damit 
beschwichtigt,  daß  der  Instinkt  sicherer  führe  als  die  Vernunft.  Freilich  ist 
dieser  absolut  alogische  Standpunkt  schon  verlassen,  wenn  daneben  von  der  Prü- 
fung der  Berechtigung  von  Erwartungen  durch  vernünftige  Wahrscheinlichkeits- 
erwägungen gesprochen  wird. 


Besprechungen  (Hasse — Höffding).  185 

Die  Ansichten  Humes  über  die  Urteile,  die  das  Erfahrbare  überschreiten, 
sind  auch  nicht  eindeutig  und  widerspruchsfrei.  Sie  werden  zwar  im  allgemeinen 
als  völlig  außer  dem  Bereich  unserer  Erkenntnis  liegend  abgelehnt,  andere  Stellen 
hinwieder  geben  die  Analogie  zur  Erfahrung  als  Kriterium  der  Berechtigung 
solcher  metaphysischer  Hypothesen  an. 

Nach  all  dem  kann  die  Lektüre  von  Hasses  Buch  insbesondere  den  zeitge- 
nössischen Denkern  empfohlen  werden,  die*  in  der  philosophischen  Entwicklung 
von  Hume  über  Kant  einen  Rückschritt  sehen  und  eine  positivistische  Erkenntnis- 
lehre mit  dem  Motto:  „Zurück  zu  Hume!"  begründen  wollen. 

Charlottenburg.  Dr.  Josef  Winternitz. 

Höffding,  Harald,  DerTotalitäts  begriff.  Eine  erkenntnistheoretische 
Untersuchung^Leipzig  1917,  Verlag  von  0.  R.  Reisland).     126  S.    3,20  Mk. 

„Die  Wurzel  des  Erkenntnisproblems  liegt  in  dem  Umstände,  daß  die  Wahr- 
heit ....  ein  Ganzes  sein  muß".  Dieser  Gedanke  ist  sowohl  die  Grundlage  wie 
auch  die  Quintessenz  der  Studie  Höffdings.  Der  „gemeinsame  Typus  alles  Ge- 
dankenlebens ....  kann  allgemein  als  eine  Totalitätsbildung  bezeichnet  werden*1. 
Ebendas  zeigt  Höffding  an  der  Hand  von  den  verschiedenen  Kategoriengruppen 
und  damit  auch  von  den  diversen  Wissenschaftsgebieten. 

„Schon  die  fundamentalen  Kategorien",  so  führt  der  Autor  aus,  „fordern 
von  allem,  das  erkannt  werden  soll,  daß  es  mit  einem  anderen  zusammengefaßt 
und  diesem  gegenüber  als  kontinuierlich  oder  diskontinuierlich  und  als  ähnlich 
oder  verschieden  aufgefaßt  werden  könne".  Das  Nachdenken,  „das  mit  Analyse 
anfängt",  hat  zur  Voraussetzung  „ein  unmittelbar  Gegebenes",  bei  dem  bereits 
„das  Gesetz  der  Synthese  in  Geltung"  ist,  also  eine  Totalität,  deren  Analyse  zu 
neuen  Totalitätsbildungen  führt. 

Bei  dieser  Analyse  treten  nächst  den  fundamentalen  die  formalen  Kategorien 
in  Aktion.  Sie  stehen  also  gleichfalls  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Totalität  und 
damit  auch  die  Wissenschaftgebiete  der  Logik  und  Mathematik.  „Begriff,  Urteil 
und  Schluß  bezeichnen  verschiedene  Formen  und  Grade  logischer  Totalität". 
Gerade  auch  der  Gesetzesbegriff,  der  in  der  modernen  Forschung  an  die  Stelle 
des  Klassenbegriffs  getreten  ist,  zeigt  seinen  Totalitätscharakter  ganz  unverkennbar. 
Er  ist  insofern  ein  typischer  Individualb egriff,  als  er  das  Gesetz  der  zu  ihm  ge- 
hörigen konkreten  Individualbegriffe  enthält,  und  er  ist  folglich  dadurch  charak- 
terisiert, daß  er  „sich  zu  den  entsprechenden  konkreten  Individualb egriffen  nicht 
wie  eine  Art  zu  ihren  Individuen,  sondern  wie  ein  Ganzes  zu  seinen  Teilen  ver- 
hält". Auch  Raum  und  Zeit  sind  „keine  bloßen  Allgemeinbegriffe",  sondern 
typische  Individualbegriffe.  Das  Wahrheitskriterium  dieses  formalen  Denkens  in 
der  reinen  Logik  und  Mathematik  ist  —  negativ  gefaßt  —  der  Widerspruch ;  von 
ihm  kann  aber  nur  die  Rede  sein,  wenn  „die  einander  widersprechenden  Glieder 
zu  einer  versuchten  Totalitätsbildung  zusammengehalten  werdend  Wird  das  Kri- 
terium positiv  als  Identität  verstanden,  so  offenbart  sich  nicht  minder  die  Tota- 
litätsnatur des  Gedanklichen ;  denn  die  Identitätsfunktion  des  Denkens  liegt  gerade 
darin,  daß  durch  Substitution  und  Elimination  neue  Totalitäten  geschaffen  werden, 
etwa  durch  den  Uebergang  vom  Grund  zur  Folge.  „Grund  und  Folgen  (z.  B.  eine 
Reihenbildung  und  die  neuen,  aus  ihr  folgenden  Verhältnisse)  machen  eine  logische 
Totalität  aus". 

Werden  nun  „qualitative  und  sukzessive  Verschiedenheiten  auf  dem  Wege 
der  Analogie  unter  logische  und  mathematische  Gesichtspunkte  gestellt"  und  nach 
dem  Verhältnis  von  Grund  und  Folge  aufgefaßt,  so  liegt  Kausalität  vor.  Wir 
kommen  damit  zu  den  realen  Kategorien.  Ursache  und  Wirkung  sind  „Glieder 
einer  realen  Gedankentotalität".  Vor  allem  zeigt  sich  das  Totalitätswesen  der 
Kausalbestimmung  darin,  daß  das  einzelne  Kausalverhältnis  nur  durch  Einglie- 
derung in  einen  übergeordneten  Kausalzusammenhang  verstanden  werden  kann. 
Es  kommt  darauf  an,  einerseits  „das  Verhältnis  zwischen  den  Gliedern  einer  und 
derselben  Kausalreihe  zu  finden"  und  sodann  „das  Verhältnis  zwischen  den  ver- 
schiedenen Kausalreihen,  die  zusammen  das  Resultat  bestimmen,   zu  analysieren". 


186  Besprechungen  (Höffding). 

Noch  mehr  als  in  der  mathematischen  Naturwissenschaft,  an  die  man  bei  diesen 
Ausführungen  über  das  Kausalproblem  in  erster  Linie  denken  könnte,  erweist  der 
Totalitätsbegriff  seine  Fruchtbarkeit  in  der  biologischen  Naturwissenschaft  sowie 
in  der  Psychologie  und  Soziologie;  hier  konkretisiert  sich  die  allgemeine  Tota- 
litätstendenz des  Denkens  zu  einer  speziellen  Kategorie  der  Totalität.  Nur  als 
Totalitäten  können  der  Organismus,  die  Persönlichkeit  und  die  Gemeinschaft  be- 
griffen werden.  Es  stehen  sich  hier*der  Mechanismus  und  der  Vitalismus  in  der 
Biologie,  der  Assoziationismus  und  der  Spiritualismus  in  der  Psychologie,  der 
Individualismus  und  der  Sozialismus  in  der  Soziologie  gegenüber,  nämlich  je 
nachdem  man  die  Totalität  aus  ihren  Elementen  oder  die  Elemente  aus  der  Tota- 
lität erklären  will.  Einzig  „ist  es  die  Gesetzeserkenntnis,  soweit  eine  solche 
möglich  ist,  die  über  die  streitenden  Auffassungen  hinausführen  kann" ;  denn  „auf 
dem  sozialen  wie  auf  dem  psychologischen  und  dem  biologischen  Gebiete  gilt  es, 
das  Gesetz,  oder  richtiger  die  Gesetze,  mittels  welcher  ein  Totalzusammenhang 
als  solcher  hervortritt,  zu  finden". 

Wenn  nun  gefragt  wird,  ob  die  Voraussetzungen  für  die  Entstehung  und 
Erhaltung  einer  Totalität  vorhanden,  ob  die  vorliegenden  Umstände  hierfür  günstig 
oder  ungünstig  sind,  so  stellt  sich  der  Wertgesichtspunkt  ein.  Der  Totalitäts- 
begriff kommt  damit  in  engste  Berührung  auch  mit  der  Kategorie  des  Wertes 
und  folglich  mit  der  Ethik,  Geschichtsphilosophie  u.  s.  w.  In  allen  diesen  Diszi- 
plinen, ja,  überhaupt  kann  von  Werten  einzig  gesprochen  werden  im  Hinblick  auf 
eine  Totalität  und  ihre  Bedingungen. 

Es  gibt  „für  jede  Totalität  einen  Gegensatz  zwischen  Wert  und  Wirklich- 
keit, indem  die  inneren  Elemente  und  die  äußeren  Umstände  ihr  Bestehen  ent- 
weder stützen  oder  hemmen  können",  sowie  einen  solchen  „zwischen  Einheit  und 
Mannigfaltigkeit",  und  die  Bestimmung  dieser  Gegensätze  stellt  „die  positive  Seite 
der  Untersuchung  einer  Totalität"  dar;  die  negative  liegt  darin,  daß  jedwede 
Totalität  nur  „durch  ihr  Verhältnis  zu  einem  von  ihr  selbst  Verschiedenen"  fest- 
gelegt zu  werden  vermag.  Der  letztere  Umstand  bewirkt  es,  daß  eine  absolute 
Totalität  nicht  aufgefunden  werden  kann,  und  der  Totalitätsbegriff  ist,  von  hier 
aus  gesehen,  ein  Grenzbegriff.  „Ein  absoluter  Abschluß  würde  den  eigenen  Ge- 
setzen des  Gedankens  widersprechen" ;  jede  Kategorie  ist  „eine  ,Idee*  in  kan- 
tischer Bedeutung  des  Wortes,  d.  h.  ein  Gedanke,  der  stets  neue  Aufgaben  stellt 
und  in  keiner  Anschauung  und  in  keinem  abgeschlossenen  Begriffe  dargestellt 
werden  kann,  ....  ein  Arbeitsgedanke,  der  nur  insoweit  vorliegende  Aufgaben 
löst,  daß  er  zugleich  auf  neue  Aufgaben  hinweist". 

Mit  dieser  Auffassung  der  Erkenntnis  als  einer  unendlichen  Aufgabe  steht 
Höffding  offensichtlich  auf  neukantischem  Boden.  Ueberhaupt  ist  sein  Verhältnis 
zum  Kritizismus  modernster  Prägung  ein  recht  nahes.  In  diesem  hat  der  System- 
begriff mehr  und  mehr  eine  entscheidende  Bedeutung  gewonnen,  so  zum  Beispiel 
ganz  besonders  in  Arthur  Lieberts  Werken.  Höffdings  Totalitätsbegriff  zielt  aber 
letzten  Endes  auf  gar  nichts  anderes  ab  als  auf  den  Systembegriff;  die  totalitäts- 
bildende Tendenz  des  Denkens  ist  in  der  Sprache  der  kritischen  Erkenntnistheorie 
die  systematisierende  Funktion  der  Vernunft. 

Freilich  ist  der  Unterschied  im  tiefsten  Grunde  wohl  doch  mehr  als  ein 
bloß  terminologischer.  In  der  Erkenntnislehre  des  Kritizismus  bezeichnet  das 
System  den  Gegensatz  zum  Ganzen;  es  handelt  sich  um  den  Gegensatz  zwischen 
logischer  Apriorität  und  psychologischer  Aposteriorität.  Die  logische  Einheit  der 
Erkenntnis  ist  eine  apriorische;  sie  beruht  auf  der  grundlegenden  Einheit  des 
die  Elemente  korrelativ  und  damit  als  Systemglieder  verknüpfenden  Prinzips.  Die 
psychologische  Einheit  der  Erkenntnis  ist  hingegen  eine  aposteriorische;  sie 
liegt  in  der  nachträglichen  Verbindung  der  den  psychischen  Totalprozeß  des 
Denkens  zusammensetzenden  elementaren  Partialprozesse.  Wie  stark  nun  auch 
die  logisch-erkenntnistheoretischen  Impulse  bei  Höffding  fraglos  sind,  so  will  es 
dennoch  scheinen,  als  ob  es  sich  für  ihn  weniger  um  die  logische  Erkenntnis- 
funktion als  um  den  psychischen  Denkprozeß  handele,  und  von  hier  aus  wird  es 
denn  auch  verständlich,  warum  bei  ihm  an  die  Stelle  des  Systembegriffs  der  der 
Totalität  tritt. 


Besprechungen  (Höffding — Koppelmann).  187 

In  dieser  Hinsicht  sind  seine  Ausführungen  über  das  Verhältnis  von  Psycho- 
logie und  Erkenntnistheorie  sehr  interessant.  Zwar  sagt  er,  man  könne  „aus  der 
Psychologie  keine  Erkenntnistheorie  deduzieren",  es  „entwickele  sich  der  erkenntnis- 
theoretische Gesichtspunkt  allmählich  zur  Selbständigkeit"  ;  aber  er  hält  an  einem 
„Anfangspunkte"  fest,  der  „psychologisch"  ist  „oder  .  . .  auf  einem  der  Psycho- 
logie und  der  Erkenntnistheorie  gemeinsamen  Gebiete"  liegt.  Er  lehrt  den  Zu- 
sammenhang von  Psychologie  und  Erkenntnistheorie  im  Hinblick  darauf,  daß  „das 
wissenschaftliche  Denken"  nur  „eine  durch  bestimmte  Aufgaben  bedingte  besondere 
Ausformung"  des  „gewöhnlichen  menschlichen  Bewußtseinslebens"  ist.  Darum 
erklärt  er  auch :  „Die  Frage  nach  dem  ersten  Anfang  der  Wissenschaft  fällt  weg", 
und  er  behauptet:  „Es  kann  schwierig  sein,  zwischen  Anschauen  und  Urteil  eine 
scharfe  Grenze  zu  ziehen".  Psychologisch  ist  das  ganz  gewiß  richtig;  aber  in 
logischer  Hinsicht  kann  und  muß  „zwischen  Anschauen  und  Urteil  eine  scharfe 
Grenze"  gezogen  und  damit  auch  der  „erste  Anfang  der  Wissenschaft"  bezeichnet 
werden. 

Aus  dem  psychologistischen  Einschlag  erklärt  sich  auch  Höffdings  Unter- 
scheidung zwischen  formaler  und  realer  Wahrheit  sowie  die  Auffassung,  daß  die 
letztere  eine  bloße  Analogie  zu  jener  sei. 

Endlich  hängt  damit  auch  noch  eine  Schwierigkeit  zusammen,  die  sich  an 
den  Begriff  des  „unmittelbar  Gegebenen"  bei  flöffding  knüpft.  Dieser  meint,  daß 
man  „schon  im  unmittelbar  Gegebenen  ....  die  Gesetze  und  Formen,  die  der 
Arbeit  des  Nachdenkens  zugrunde  liegen,  spüren"  könne.  Ja,  er  sagt  sogar,  „auf 
dem  organischen,  dem  psychischen  und  dem  sozialen  Gebiete"  finde  man  „unmittelbar 
gegebene  Totalitäten",  sei  die  Totalität  „ein  vorliegendes  Erlebnis",  handele  es 
sich  um  Erlebnisse,    „die   von  Anfang  an,   aller   denkenden  Bearbeitung   voraus, 

mit  dem  Gepräge  der  Totalität  hervorträten und  nicht  nötig  hätten",  ihr 

„Gesetz  von  dem  Gedanken  zu  borgen".  —  So  zeigt  sich  auch  hier  die  Verwandt- 
schaft zwischen  psychologistischen  Tendenzen  und  einer  ontologistischen  Meta- 
physik ! 

Allein  neben  den  großen  positiven  Werten,  die  Höffdings  Studie  eigen  sind 
und  zum  Teil  durch  ihre  vorangegangene  Analyse  ins  Licht  getreten  sein  dürften, 
sind  es  nicht  zum  mindesten  auch  gerade  solche  Schwierigkeiten,  die  ungemein 
anregend  wirken ;  denn  diese  Schwierigkeiten  sind  keine  anderen  als  die ,  mit 
denen  die  Philosophie  von  jeher  kämpft  und  um  deren  Ueberwindung  sich  die 
gesamte  philosophische  Forschung  unserer  Tage  müht.  Mit  dieser  steht  Höffding 
in  engster  Berührung;  seine  Auseinandersetzungen  mit  Cohen,  Heinrich  Maier, 
Rickert,  Driesch,  Bergson  u.  s.  w.  machen  die  Schrift  höchst  interessant  und  for- 
dern zu  intensivster  Mitarbeit  auf. 

Berlin- Wilmersdorf.  Kurt  Sternberg. 

Koppelmann,  Wilhelm,  Professor  an  der  Westfälischen  Wilhelms  -  Univer- 
sität in  Münster  i.  W.  Untersuchungen  zur  Logik  der  Gegenwart. 
II.  Teil :  Formale  Logik.    (Berlin  1918,  Verlag  von  Reuther  &  Reichard).    4dl  S. 

Nachdem  in  den  „Kantstudien"  Bd.  XXIII,  Heft  1,  S.  128/135  der  erste 
Teil  von  K.'s  groß  angelegtem  Werk  zur  Anzeige  gelangt  war,  liegt  nunmehr 
auch  der  zweite  zur  Besprechung  vor.  Mehr  noch  als  in  jenem  anderen  Bande, 
der  erkenntnistheoretischer  Natur  ist  und  die  allgemeinen  Prinzipien  der  Er- 
kenntnis entwickelt,  treten  naturgemäß  die  Vorzüge  und  auch  die  Schwächen  der 
K.'schen  Untersuchungen  in  diesem  Band  hervor,  der  die  Lehre  von  der  An- 
wendung jener  allgemeinen  Prinzipien  in  den  einzelnen  Wissenschaften  als  for- 
male Logik  bringt. 

Diese  bestimmt  K.  in  der  ausführlichen  Einleitung  zu  seinen  Betrach- 
tungen „als  die  Lehre  von  den  formalen  Gesetzen  und  Mitteln  resp.  Bedingungen 
des  Gedankenaustausches".  Um  den  gedanklichen  Verkehr  soll  es  sich  also 
handeln,  um  die  „Formen  der  richtigen,  klaren  und  einfachen  Mitteilung  des  Ge- 
dachten". Man  weiß,  wie  große  Zweifel  an  dem  Charakter,  ja,  an  der  Existenz- 
berechtigung  der   formalen  Logik,   die  Kant  noch    ohne  Bedenken    als  selbstrer- 


188  Besprechungen  (Koppelmann). 

standlich  hinnahm,  sich  bei  der  modernen  Fortbildung  des  Kantischen  Kritizismus 
ergeben  haben ;  man  sieht  nun  aber  auch,  auf  welche  Weise  K.  die  formale  Logik 
zu  retten  strebt.  Sie  ist  ihm  nicht  die  Wissenschaft  vom  Gedachten,  von  der 
Erkenntnis;  denn  dann  würde  sie  unweigerlich  mit  der  Erkenntnistheorie  zu- 
sammenfallen, wie  es  sich  denn  ja  in  Wirklichkeit  wohl  auch  verhalt.  Mit  der 
Uebermittlung  der  Erkenntnisse  soll  sie  sich  nach  K.  befassen.  Dadurch  wird 
zwar  ihre  Bedeutung  als  eine  besondere,  wenn  auch  methodisch  von  der  Er- 
kenntnislehre abhängige  Disziplin  sichergestellt;  zugleich  will  es  aber  scheinen, 
als  ginge  sie  damit  ihres  reinen  theoretischen  und  folglich  auch  ihres  spezifisch 
philosophischen  Charakters  verlustig.  Schon  im  ersten  Band  des  K.'schen  Werkes 
ist  ein  starker  pragmatistischer  Einschlag  ganz  unverkennbar;  er  zeigt  sich  inso- 
fern, als  die  Erkenntnis  unter  dem  Gesichtspunkt  betrachtet  wird,  daß  sie  die 
Wirklichkeit  berechenbar  machen  und  auf  diese  Weise  die  Orientierung  in  ihr 
ermöglichen  solle.  Hieraus  erklärt  es  sich,  und  es  ist  nur  konsequent,  daß  nun 
auch  im  zweiten  Bande  das  Problem  aus  dem  Bereich  des  Theoretisch-Methodi- 
schen in  den  des  Praktisch-Normativen  verpflanzt  wird,  daß  an  die  Stelle  des 
Problems  der  reinen  Erkenntnis  das  der  Mitteilung  von  Erkenntnissen  tritt. 

Diese  geschieht  vor  allem  durch  die  Sprache,  und  so  nimmt  K.  die  Sprache 
als  hauptsächliches  Werkzeug  des  wissenschaftlichen  Verkehrs  in  seine  Definition 
der  formalen  Logik  auf:  „Die  formale  Logik  in  dem  soeben  entwickelten  Sinne 
hat  es  mit  den  Gesetzen  oder,  wenn  wir  uns  noch  unzweideutiger  ausdrücken 
wollen,  mit  den  Normen  des  durch  die  Sprache  vermittelten  Gedankenaustausches 

zu  tun".     Diese  Definition   darf  aber   nicht  zu  eng  gefaßt  werden ;   außer 

dem  sprachlichen  berücksichtigt  K.  auch  den  ideographischen  Ausdruck  der  Ge- 
danken. Es  finden  sich  bei  ihm  ebenso  interessante  wie  lehrreiche  Meditationen 
über  Evolution  und  Bedeutung  von  Ideographie  und  Sprache,  besonders  in  ihrem 
Verhältnis  zur  Logik.  Allein  man  darf  trotz  K.'s  Versuches  einer  scharfen  Grenz- 
absteckung zwischen  Logik  und  Sprachwissenschaft  Zweifel  darein  setzen,  ob  es 
ihm  gelungen  ist,  beide  hinreichend  auseinanderzuhalten.  Zwar  wirft  er  aus- 
drücklich den  Logikern  vor,  daß  sie  „von  des  Aristoteles  Zeiten  an  bis  in  die 
Gegenwart  hinein  mit  wenigen  Ausnahmen  viel  zu  sehr  an  der  Sprachform  geklebt 
haben",  und  sein  Bestreben,  diesen  Fehler  zu  vermeiden,  ist  unverkennbar  und 
im  einzelnen  gewiß  auch  oft  von  Erfolg  gekrönt;  allein  er  sollte  einmal  in  Er- 
wägung ziehen,  ob  nicht  im  Prinzip  er,  der  „unter  Urteil  die  sprachliche  oder 
ideographische  Formulierung  eines  Gedankens  resp.  einer  Erkenntnis"  versteht, 
der  „das  Urteil  .  .  .  aus  Wörtern  oder  ideographischen  Zeichen  zusammengesetzt" 
sein  läßt,  der  Gefahr  einer  Verquickung  von  Logik  und  Grammatik  mehr  erlegen 
ist  als  beispielsweise  Kant,  in  bezug  auf  den  er  die  ebenso  seltsame  wie  unbe- 
rechtigte Behauptung  aufstellt,  daß  er  „die  sprachliche  Form  der  Urteile  zur 
Ableitung  seiner  Kategorientafel,  die  sprachliche  Form  der  Schlüsse  zur  Ableitung 
seines  Systems  der  transzendentalen  Ideen  in  Beziehung  brachte". 

Indem  K.,  wie  soeben  dargelegt,  im  Urteil  eine  Zusammensetzung  von  Wörtern 
sieht,  muß  er  die  Lehre  vom  Begriff  der  vom  Urteil  voranstellen ;  denn  die  Wörter 
können  und  dürfen  natürlich  erst  zusammengesetzt  werden,  nachdem  über  ihre 
Bedeutungen,  über  die  durch  sie  ausgedrückten  Begriffe,  Klarheit  geschaffen  ist. 
Es  ist  bekannt,  daß  sich  neuerdings  —  sofern  nicht  die  völlige  Gleichwertigkeit 
von  Begriff  und  Urteil  proklamiert  wird  —  in  steigendem  Rtaße  die  Tendenz 
durchgesetzt  hat,  das  Schwergewicht  auf  die  Urteilslehre  zu  legen,  und  zwar  so- 
wohl von  Seiten  der  kritischen  wie  auch  von  Seiten  der  psycho  logistischen  Logik. 
K.  will  davon  nichts  wissen.  Was  er  in  dieser  Absicht  vorbringt,  ist  gegenüber 
den  Motiven,  welche  die  psychologistische  Logik  veranlassen,  die  Urteilslehre  in 
den  Mittelpunkt  zu  stellen,  durchaus  überzeugend ;  aber  die  Gründe,  aus  denen  die 
Logik  des  Kritizismus  sich  entschlossen  hat,  das  Urteil  dem  Begriff  gleich-  resp. 
überzuordnen,  werden  dadurch  keineswegs  entkräftet,  auch  nicht  durch  die  dies- 
bezüglichen Ausführungen  an  einer  späteren  Stelle. 

Bevor  K.  aber  noch  an  die  Lehre  vom  Begriff  herantritt,  entwickelt  er  zu- 
nächst einmal  in  seinem  ersten  Kapitel  „die  obersten  Gesetze  des  Gedanken- 
verkehrs."    Es    handelt   sich   um   die   bekannten  „Denkgesetze",    die  jedoch  von 


Besprechungen  (Koppelmann).  189 

ihm  nicht  als  Formen  der  Erkenntnis,  sondern  der  Erkenntnisübermittlung  ver- 
standen werden.  So  lautet  bei  ihm  das  Identitätsprinzip:  „Beim  Gedanken- 
austausch müssen  die  BedeutuDgen,  welche  die  Beteiligten  mit  den  Wörtern  oder 
ideographischen  Zeichen  bez.  mit  den  gebräuchlichen  sprachlichen  oder  ideo- 
graphischen Formulierungen  verbinden,  identisch  sein  und  bleiben".  Auf  das 
„Bleiben"  legt  K.  einen  ganz  besonderen  Wert :  „Durch  den  Zusatz  „und  bleiben" 
soll  angedeutet  werden,  daß  die  Wortbedeutungen  resp.  Begriffe  nicht  allein  nicht 
verändert,  sondern  auch  nicht  erweitert  werden  dürfen."  Es  ist  gewiß  richtig, 
daß  jede  Erweiterung  des  Begriffsinhalts  „durch  den  individuell  völlig  verschie- 
denen Fortschritt  der  Erkenntnis  ausgeschlossen"  ist  und  sein  muß ;  es  gibt  aber 
nicht  nur  einen  subjektiven,  sondern  auch  einen  objektiven  Fortschritt  der  Er- 
kenntnis. Wäre  sich  K.  des  in  objektivem  Sinne  verstandenen  unendlichen  Pro- 
gressus,  der  dem  Wesen  der  Erkenntnis  eignet,  ihres  Prozeßcharakters  hinreichend 
bewußt  geworden,  so  würde  er  gesehen  haben,  daß  die  objektbestimmende  Identität 
sich  mit  einer  objektiven  Erweiterung  des  bestimmenden  Begriffs  sehr  wohl  ver- 
trägt, daß  sie  überhaupt  nicht  eine  bloße  Form  der  Erkenntnisübertragung,  son- 
dern ein  Grundgesetz  der  Erkenntnis  selbst  ist. 

Wie  dem  Prinzip  der  Identität,  so  dürfte  K.  auch  dem  des  Widerspruchs 
nicht  ganz  gerecht  werden.  Um  „Widersprüche  in  unseren  Aussagen",  nicht  um 
solche  in  der  Erkenntnis  selbst  handelt  es  sich  hier  für  K.  Sie  brauchen 
„durchaus  nicht  immer  in  unlogischem  Denken  ihren  Grund  zu  haben,  sie  können 
auch  aus  nachlässiger  oder  ungeschickter  Handhabung  der  Ausdrucksmittel,  die 
uns  zur  Verfügung  stehen,  entspringen.  Die  Widersprüche,  welche  auch  bei  be- 
deutenden Denkern  gar  nicht  so  selten  sind,  müssen  gewiß  zum  großen  Teil  gerade 
hierauf  zurückgeführt  werden."  Die  Widersprüche,  die  sich  bei  großen  Geistern 
—  z.  B.  bei  Kant,  auf  den  sich  K.  in  diesem  Zusammenhang  bezieht  —  aus  der 
eigentümlichen  Struktur  der  Probleme,  aus  der  immanenten  Problematik  des  Gegen- 
ständlichen ergeben,  die  treibende  Kraft  des  Widerspruchs  beim  Aufbau  des 
Gegenständlichen  selbst  läßt  K.  unberührt. 

Auch  die  Sätze  vom  ausgeschlossenen  Dritten  und  vom  zureichenden  Grunde 
werden  von  ihm  nicht  als  Fundamentalgesetze  der  Erkenntnis  resp.  Objektivität, 
sondern  als  bloße  Normen  des  geistigen  Verkehrs  betrachtet.  Immerhin  wird 
man  seine  in  Verbindung  mit  dem  letzten  Satz  auftretenden  Ausführungen  gegen 
die  psychologistische  Evidenzlehre  nur  voll  und  ganz  unterschreiben  können. 

Nach  der  Erörterung  der  genannten  vier  Gesetze  wird  im  zweiten  Kapitel 
das  Augenmerk  auf  „die  Hauptklassen  der  Wortbedeutungen"  gerichtet.  Es 
werden  zuerst  die  „Wörter  für  Kategorien"  behandelt.  Kategorien  sind  —  immer 
nach  K.  —  dadurch  kenntlich,  daß  sie  niemals  als  echte  Prädikate  gebraucht 
werden  können;  denn  sie  geben  keine  Antworten,  dienen  vielmehr  der  Stellung 
von  Fragen  und  Problemen.  Es  werden  Sinnes-  und  Verstandeskategorien  von- 
einander unterschieden.  Die  ersteren  (Farbe,  Geruch  usw.)  beziehen  sich  auf  die 
sinnlichen  Wahrnehmungen  und  bleiben  in  der  Sphäre  der  Subjektivität;  die 
letzteren  (Lage,  Dauer,  Ursache  usw.)  dienen  dem  Aufbau  der  objektiven  Wirk- 
lichkeit aus  den  gegebenen  sinnlichen  Wahrnehmungen  resp.  Wahrnehmungs- 
ordnungen. Die  Lösung  der  von  den  Sinneskategorien  bezeichneten  Aufgaben 
wird  durch  die  „Wörter  für  sinnlich  Wahrgenommenes"  (für  die  einzelnen  Farben, 
Gerüche  usw.)  versucht,  welche  keine  eigentliche  Erkenntnis  enthalten  und  ver- 
mitteln; die  Lösung  der  von  den  Verstandeskategorien  bezeichneten  Aufgaben 
wird  durch  die  „Begriffe"  (zur  Bestimmung  der  Lage,  Dauer,  Ursache  usw.)  ge- 
leistet, welche  allein  wahre  Erkenntnis  liefern  und  mitteilen. 

.Diese  K.'s  gesamte  Untersuchungen  beherrschende  Unterscheidung  erscheint 
aber  als  nicht  unbedenklich.  Der  Festlegung  von  sinnlichen  Wahrnehmungen 
dient  alles  logisch- wissenschaftliche  Verhalten;  selbst  die  abstraktesten  Begriffe, 
wie  wenig  sie  auch  aus  der  sinnlichen  Wahrnehmung  stammen,  stehen  doch  in 
einem  Verhältnis  zu  ihr,  soll  ihnen  überhaupt  Bedeutung  zukommen.  Andererseits 
geht  es  nicht  an,  den  wissenschaftlichen  Konstituierungen  der  Farben,  Gerüche 
usw.  die  begriffliche  Dignität  abzusprechen.  Gewiß  sind  auf  diesem  Boden  viel- 
fach noch  nicht  Begriffe  von  befriedigender  wissenschaftlicher  Exaktheit  erreicht 


190  Besprechungen  (Koppelmann). 

worden;  allein  man  ist  immerhin  auf  dem  Wege  dazu  oder  strebt  doch  zum 
mindesten  dahin.  K.  dürfte  dem  Wissenschaftscharakter  der  modernen  Psychologie 
nicht  ganz  gerecht  werden. 

Das  Gleiche  gilt  hinsichtlich  des  Wissenschaftscharakters  ven  Zoologie  und 
Botanik  in  Anbetracht  dessen,  was  K.  über  „gemischte  Wortbedeutungen"  oder 
„Halbbegriffe"  ausführt.  Als  solche  Gebilde  sieht  er  an  „auf  dem  Gebiete  der 
Zoologie  und  Botanik  zahlreiche  Wortbedeutungen,  bei  denen  freilich  auch  ein 
Begriff,  etwa  Vogel  oder  Säugetier,  zugrunde  liegt,  der  dann  aber  durch  die  Ver- 
wendung von  bloßen  Sinnesqualitäten  spezialisiert  worden  ist."  Es  mag  richtig 
sein,  „daß  Buche  und  Eiche,  Fichte  und  Kiefer,  Pferd  und  Esel,  Ziege  und  Anti- 
lope von  den  meisten  Menschen  durch  die  sinnlich  wahrgenommenen  Formen 
voneinander  unterschieden  werden";  das  bezieht  sich  aber  nur  auf  die  psychische 
Entstehung  der  betreffenden  Vorstellungen.  Diese  scheint  K.,  der  an  anderer 
Stelle  Psychologie  und  Logik  scharf  zu  sondern  strebt,  hier  nicht  genügend  von 
der  logischen  Bedeutung  der  betreffenden  Begriffe  fau  trennen.  Pferd  und  Esel 
im  Sinne  der  Wissenschaft  sind  als  gesetzliche  Zusammenhänge  gewisser  Merk- 
male doch  echte  Begriffe!  Im  Uebrigen  liegt  die  Sache  ja  wohl  so,  daß  etwas 
entweder  ein  Begriff  ist  oder  nicht,  und  die  K.'schen  „Halbbegriffe"  dürften  gegen 
den  —  richtig  aufgefaßten  —  Satz  vom  ausgeschlossenen  Dritten  verstoßen. 

Als  letzte  Klasse  der  Wortbedeutungen  werden  die  „Bezeichnungen  für 
Einzelobjekte  (Eigennamen  und  Stoffnamen)"  genannt,  wobei  sich  u.  a.  eine  an- 
regende Auseinandersetzung  mit  Rickerts  Theorie  der  individualisierenden  Be- 
griffsbildung auf  historischem  Gebiete  findet.  Auch  zu  diesen  Ausführungen  über 
die  Eigen-  und  Stoffnamen  ließen  sich  allerlei  Anmerkungen  machen,  die  aber  mit 
Rücksicht  auf  den  zur  Verfügung  stehenden  Raum  —  leider  —  unterdrückt 
werden  müssen. 

Statt  dessen  mag  sich  die  Betrachtung  dem  dritten  und  vierten  Ka- 
pitel zuwenden,  deren  Thema  „die  Begriffsbildung"  ist.  Zunächst  werden  die 
„Begriffe  zur  Unterscheidung  und  Vergleichung"  erörtert,  nämlich  die  Zahl-,  die 
Maß-  und  —  interessanter  Weise  auch  —  die  Münzbegriffe,  sodann  die  „Begriffe 
zum  räumlichen  Aufbau  der  Wirklichkeit",  d.  h.  die  der  Lage,  Gestalt  und  Größe 
resp.  der  Lage-,  Gestalts-  und  Größenverhältnisse.  Von  der  Begriffsbildung  in 
der  Mathematik  (Arithmetik  und  Geometrie)  richtet  sich  die  Untersuchung  zu 
der  in  der  mathematischen  Naturwissenschaft  (Chemie  und  Physik);  es  handelt 
sich  um  die  „Begriffe  zum  zeitlichen  Aufbau  der  Wirklichkeit",  um  die  zur  Be- 
stimmung von  Zeitlage,  Zeitgestalt  und  Zeitgröße.  Schließlich  folgen  die  „Be- 
griffe zum  teleologischen  Aufbau  der  Wirklichkeit",  Begriffe  der  Biologie,  Medizin, 
Psychologie,  Rechtswissenschaft,  Ethik,  Theologie,  aus  der  „Welt  der  Technik 
und  überhaupt  dessen,  was  die  Menschen  planmäßig  und  willkürlich  schaffen" 
(Uhr,  Luftschiff)  sowie  von  „menschlichen  Einrichtungen  und  Veranstaltungen" 
(Aktiengesellschaft,  vor  allem  Staat).  Durchweg  wird  höchst  verdienstlich  die 
„Selbständigkeit  oder  Autonomie  der  Begriffsbildung"  stark  betont;  durchweg 
wird  aber  auch  leider  nicht  minder  stark  das  Ziel  der  Begriffsbildung  aus- 
schließlich als  ein  „denkökonomisches"  angesprochen,  ihre  Aufgabe  einzig  darein 
gesetzt,  die  Wirklichkeit  zwecks  Ermöglichuug  praktischer  Orientierung  in  ihr 
„berechenbar"  zu  machen.  Ob  man  bei  einer  solchen  biologistisch-pragmatistischen 
Einstellung  überhaupt  von  „Selbständigkeit  oder  Autonomie  der  Begriffsbildung" 
sprechen  kann  und  darf,  mag  dahingestellt  bleiben. 

Immerhin:  die  Spontaneität  der  Begriffsbildung  wird  in  entschiedener  Weise 
verfochten,  und  im  fünften  Kapitel,  das  eine  „Auseinandersetzung  mit  anderen 
Thoorien  der  Begriffsbildung"  bringt,  findet  sich  eine  prachtvolle  Abrechnung  mit 
den  empiristischen  Abstraktionslehren.  Sie  stellt  das  Glanzstück  des  K.'schen 
Buches  dar.  Wesentlich  schwächer  und  nur  wenig  überzeugend  sind  aber  K.'s 
Einwände  gegen  die  Marburger  und  Badener  Schule,  welche  sich  auf  die  Stellung 
dieser  Schulen  zu  dem  Problem  des  Verhältnisses  von  Begriff  und  Urteil  einer- 
seits und  zu  dem  Problem  einer  möglichen  Begriffserweiterung  andererseits  be- 
ziehen.   Es  ist  davon  im  vorigen  bereits  gesprochen  worden. 

An  die  Untersuchung  der  Begriffe  schließt  sich  im  sechsten  Kapitel  die 


Besprechungen   (Koppelmann — Lewin).  191 

von  „Frage  und  Urteil"  an.  Diese  Zusammenstellung  hat  ihren  Grund  darin, 
daß  nach  K.  „das  Urteil  als  Ausdruck  einer  Erkenntnis  stets  als  Antwort  auf 
eine  Frage  aufgefaßt  werden  kann," 

Als  erste  von  drei  Hauptgruppen  der  Urteile  stellt  K.  die  analytischen  Ur- 
teile heraus.  Seine  Auffassung  dieser  muß  Bedenken  erregen.  Wenn  er  sagt: 
„Die  Fragen,  nach  denen  die  echten  analytischen  Urteile  orientiert  sind,  laufen 
sämtlich  darauf  hinaus,  welche  Bedeutung  in  der  Psyche  des  Urteilenden  mit 
einem  Ausdruck  verbunden  sei",  wenn  er  meint,  daß  es  sich  bei  den  analytischen 
Urteilen  „um  die  Angabe  der  Bedeutung  handelt,  welche  von  dem  urteilenden 
Subjekt  selbst  mit  dem  betreffenden  Worte  verbunden  wird",  so  wird  das  logisch- 
objektive Problem  offensichtlich  ins  Psychologisch-Subjektive  hinübergespielt. 

Auch  die  K.'schen  „Wahrnehmungsurteile"  bergen  Schwierigkeiten  in  sich, 
nämlich  alle  die  Schwierigkeiten,  die  von  Kants  Gegenüberstellung  der  Wahr- 
nehmungs-  und  Erfahrungsurteile  her  bekannt  sind.  Der  Zweifel,  der  im  vorigen 
in  bezug  auf  K.'s  Unterscheidumg  zwischen  Sinnes-  und  Verstandeskategorien  resp. 
zwischen  Wörtern  für  sinnlich  Wahrgenommenes  und  Begriffen  geäußert  wurde, 
bezieht  sich  naturgemäß  auch  auf  die  Unterscheidung  zwischen  Wahrnehmungs- 
und Erkenntnisurteilen. 

Diese  bilden  nach  K.  die  dritte  Urteilsklasse.  Bei  ihnen  müssen  die  apriori- 
schen (die  mathematischen  usw.)  und  die  aposteriorischen  (die  empirischen  Einzel- 
urteile nebst  ihren  Zusammensetzungen  und  die  empirischen  Allgemeinurteile) 
voneinander  gesondert  werden. 

Im  Anschluß  an  die  soeben  geschilderte  Urteilseinteilung  werden  im  sie- 
benten Kapitel  „Begründung  und  Beweis"  der  Urteile  behandelt.  Hierbei  ver- 
dient volle  Zustimmung  der  Standpunkt  K.'s,  daß  alle  Urteile,  selbst  „die  Axiome 
der  Euklidischen  Geometrie",  begründet  werden  können  und  müssen;  auch  wird 
es  vielen  aus  dem  Herzen  gesprochen  sein,  wenn  er  den  syllogistischen  Figuren- 
kram wie  noch  „so  manches  andere  in  der  traditionellen  Logik"  als  bloße 
„Spielerei"  bezeichnet. 

So  fehlt  es  in  dem  auf  jeden  Fall  beachtenswerten  K.'schen  Werke  trotz 
manchem,  woran  Ausstellungen  vom  Standpunkt  wahrhaft  kritischer  Logik  aus 
unvermeidlich  sind,  nicht  an  solchem,  das  man  freudig  begrüßen  kann.  Zu  den 
bereits  genannten  Vorzügen  im  einzelnen  gesellen  *  sich  andere,  die  durch  das 
Ganze  gehen.  Die  schon  bei  der  Anzeige  des  ersten  Bandes  rühmend  anerkannte 
Weite  des  von  K.  beherrschten  Gesichtsfeldes  tritt  in  diesem  zweiten  Bande 
beinahe  noch  mehr  hervor;  selbst  die  Geschichtswissenschaft,  deren  Ignorierung 
in  der  Besprechung  des  ersten  Teils  mit  Bedauern  konstatiert  wurde,  ist  jetzt 
doch  wenigstens  in  der  vorher  erwähnten  Auseinandersetzung  mit  Rickert  berück- 
sichtigt worden.  —  Die  durchgängige  Klarheit  und  Anschaulichkeit  der  mit  vielen 
einfacheren  Beispielen  ausgestatteten  Darlegungen  ist  ein  weiterer  Vorzug  des 
Buches.  Seine  Brauchbarkeit  für  den,  der  Fühlung  mit  der  modernen  Logik  zu 
gewinnen  strebt,  wird  noch  dadurch  erhöht,  daß  bei  der  Erörterung  verschiedener 
Fragen  die  gegensätzlichen  Antworten,  die  man  auf  sie  gegeben  hat,  einander 
gegenübergestellt  werden.  Überhaupt  ist  daran  festzuhalten,  daß  der  Wert  des 
Werkes  mehr  in  der  instruktiven  Aufrollung  und  Entwicklung  der  Probleme  liegt 
als  in  dem  Weg,  den  K.  zu  ihrer  Lösung  einschlägt,  oder  gar  als  in  den  von 
ihm  beigebrachten  Lösungen. 

Berlin- Wilmersdorf.  Kurt  Sternberg. 

Lewin,  Knrt,  Privatdozent  an  der  Universität  Berlin.  Die  Verwandt- 
schaftsbegriffe in  Biologie  und  Physik  und  die  Darstellung 
vollständiger  Stammbäume.  Abhandlungen  zur  theoretischen  Biologie, 
herausgegeben  von  Dr.  Julius  Schaxel.  Heft  5.  Berlin ,  Verlag  Gebr.  Bornträger. 
1920.    34  S. 

Das  Heftchen  ist  ein  Teil  einer  noch  zu  veröffentlichenden  größeren  „wissen- 
schaftstheoretisch vergleichenden"  Arbeit.  Was  ihm  eine  mit  dem  geringen  Um- 
fang kontrastierende  und,   wie  wir  glauben,  erhebliche  Bedeutung  für  die  Logik, 


192  Besprechungen  (Lewin). 

besonders  die  Kategorienlehre,  verleiht,  ist  nicht  nur  die  Forderung  einer  ver- 
gleichenden Wissenschaftstheorie ;  dieser  Gedanke  ist  auch  anderweitig  schon 
ausgesprochen  worden  und  liegt  heute  gewissermaßen  „in  der  Luft".  Das  wesent- 
liche Moment  erblicken  wir  in  der  nachdrücklich  vertretenen  methodischen  For- 
derung, daß  nicht  ohne  weiteres  gleichlautende  Begriffe  verschiedener  Wissen- 
schaften wegen  ihrer  äußeren  Aehnlichkeit  als  „wissenschaftstheoretisch 
äquivalent"  angesehen  werden  dürfen,  sondern  daß  der  Grundsatz  der  ver- 
gleichenden Morphologie  entsprechende  Anwendung  finden  muß,  nach  dem  nur 
„homologe"  Objekte  in  Parallele  gezogen  werden  dürfen.  Diese  Homologie, 
diese  Aequivalenz  ist  in  jedem  Falle  durch  sorgfältige  Untersuchung  nachzu- 
weisen. Wie  diese  Forderung  zu  verstehen  ist,  wird  nun  in  sehr  scharfsinniger 
Weise  an  einer  Untersuchung  der  Verwandtschaftsbegriffe  in  Physik  und  Biologie 
dargelegt,  wobei  in  die  Physik  auch  die  Chemie  einbegriffen  wird.  Nur  die 
Grundgedanken  seien  kurz  hervorgehoben: 

In  der  Chemie  wird  als  Verwandtschaft  einmal  die  Affinität  oder  „Fähigkeit 
zur  Vereinigung",  zweitens  die  Aehnlichkeit  des  Verhaltens  unter  verschiedenen 
Bedingungen,  die  „Eigenschaftsähnlichkeit",  bezeichnet.  Ein  Beispiel  der  1.  Art 
bilden  etwa  Chlor  und  Wasserstoff,  eines  der  2.  Art  Chlor  und  Brom.  Beide 
Begriffe  fallen  keineswegs  zusammen :  Stark  affine  Stoffe  sind  sogar  in  der  Regel 
eigenschaftsunähnlich. 

In  der  Biologie  gibt  es  dagegen  vier  verschiedene  Verwandtschaftsbegriffe,  von 
denen  nur  zwei  wissenschaftstheoretisch  den  beiden  chemischen  äquivalent  sind; 
diese  beiden  stellen  Ausprägungen  der  „Eigenschaftsbeziehung"  dar.  Organismen 
gelten  als  verwandt,  1)  „wenn  sie  selbst  oder  ihre  Geschlechtsprodukte  sich  zur 
Bildung  neuer  Organismen  real  vereinigen"  können  (Vereinigungsfähigkeit),  und 
2)  wenn  sie  gleiche  oder  ähnliche  Eigenschaften  haben,  einem  gleichen  oder  ähn- 
lichen „Typus"  angehören.  In  einer  interessanten,  den  Kernpunkt  der  gegen- 
wärtigen Diskussion  über  den  Darwinismus  berührenden  Untersuchung  wird  ge- 
zeigt, daß  in  enger  Uebereinstimmung  mit  der  Chemie  biologisch  eine  „Typen- 
verwandtschaft" anzusetzen  ist,  die  unabhängig  von  der  tatsächlichen,  geschicht- 
lichen Entwicklung  ist  und  systematischen  Charakter  hat.  Bei  einem  so 
zu  fordernden  „ideellen  Stammbaum",  der  „nicht  nur  die  zufällig  entstandenen, 
sondern  die  überhaupt  möglichen  Organismen  umfassen"  müßte,  handelt  es  sich 
also  nicht  darum,  daß  die  geschichtliche  Entwicklung  gerade  diesen  bestimmten 
Verlauf  genommen  hat,  sondern  in  „Aequivalenz"  zur  „Ableitbarkeit"  von  Ver- 
bindungen oder  Elementen  in  der  Chemie  darum,  daß  eine  ideelle  begriffliche 
Ableitung  möglich  ist.  Es  ergibt  sich  also  ein  „natürliches  System",  das  mit 
dem  phylogenetischen  nicht  identisch  ist  oder  wenigstens  zu  sein  braucht.  Ueber 
seine  Durchführbarkeit  wird  der  Fortgang  der  Biologie  entscheiden  müssen. 

Außer  diesen  beiden  Begriffen  finden  sich  in  der  Biologie  noch  andere,  in 
denen  Verwandtschaft  als  „Existentialbeziehung"  gefaßt  wird.  Für  diese  sind 
die  bei  den  vorgenannten  Begriffen  wesentlichen  Gleichheiten  oder  Unähnlich- 
keiten  des  Verhaltens  oder  der  Entwicklung  gleichgültig.  Solche  Beziehung  kann 
zwischen  Gebilden  bestehen,  die  entweder  aus  einander  hervorgegangen  sind  oder 
aber  gemeinsame  Vorfahren  oder  Nachkommen  besitzen.  Im  letzteren  Falle  ist 
weiter  zu  unterscheiden  zwischen  „Gattenschaft"  (Connubialverwandtschaft)  und 
„Blutsverwandtschaft"  (consanguinitas).  Diesem  entspricht  in  Physik  und  Chemie 
keine  äquivalente  Beziehung.  Unter  einander  sind  sie  durch  verschiedene  Arten 
von  Existentialreihen  gekennzeichnet,  an  denen  die  grundlegende  Verschiedenheit 
von  Biologie  und  Geschichte  zu  Tage  tritt.  Aus  der  Verkennung  dieser  Tatsache 
ergibt  sich  die  Erklärung  für  die  Unvollkommenheit  aller  bisherigen  Stammtafeln 
und  der  Vorschlag  einer  „chronologischen  Stammtafel",  über  deren  Wert  und 
wissenschaftliche  Zweckmäßigkeit  aber  nicht  die  Philosophie,  sondern  die  Biologie 
zu  entscheiden  haben  wird. 

Dresden.  Privatdozent  Dr.  Walter  Blumenfeld. 


Besprechungen  (Moog).  193 

Moog,  W.,  Privatdozent  an  der  Univ.  Greifswald,  „Logik,  Psychologie 
und  Psychologismus".    Halle  a.  S.,  (Max  Niemeyer)  1920.    VIII +  306  S. 

Der  I.  Teil  dieses  Werks  ist  stellenweise  anders  und  noch  unerweitert  im 
Archiv  f.  d.  ges.  Psychologie  Bd.  37  (1918),  Heft  4  erschienen,  der  andere  Teil 
ist  dreimal  so  stark.  Beide  Teile  gehören  wie  kritische  mit  positiven  Aufstellungen 
zusammen  (2).  Wie  M.  schon  in  einem  Aufsatz  der  Kant-Studien  (23.  Jahrg.  1918, 
Einheit  und  Zahl,  S.  302  f.)  als  sein  Hauptaugenmerk  „das  System  als  das  pri- 
märe, apriorische  Einheitsprinzip"  (136)  heraustreten  läßt,  so  ist  auch  das  vor- 
liegende Werk  „wissenschaftssystematisch"  gerichtet. 

Der  I.  Teil  zeigt,  wie  die  moderne  Philosophie  bei  der  Auseinandersetzung 
mit  zentralen  Fragen  zu  einer  Zweiteilung  versucht  ist :  die  derjenigen  entspricht, 
welche  alle  philosophischen  Strömungen  den  zwei  Gruppen:  Idealismus  (Kritizis- 
mus) und  Realismus  (Positivismus)  zuordnen  läßt  (1)  und  sich  im  Besonderen  — 
namentlich  seit  Aufschwung  des  Kantianismus  einer-  und  der  Naturwissenschaft 
anderseits  —  in  der  Gegenüberstellung  von  Logik  und  Psychologie  bekundet  (2): 
so  spricht  Kant  von  psychologiefreier  Logik  und  einer  angewandten  mit  psycho- 
logischen Prinzipien  (4);  so  sieht  sich  M.  insbesondere  angesichts  der  Unter- 
scheidung philosophischer  von  empirischer  Psychologie  bei  Lipps  und  Natorp  zur 
wissenschaftssystematischen  Frage  veranlaßt:  was  die  Glieder  solcher  Unter- 
scheidung mehr  als  den  Namen  gemein  hätten  (45,  58,  245),  und  ob  nicht  das 
philosophische  Glied  nicht  nur  keine  eigentliche  Psychologie  mehr,  sondern 
geradezu  Logik  oder  doch  durch  diese  ersetzbar  sei  und  zwar  zu  Gunsten  um- 
fassenderer Einheit  (46,  59),  ebenso  fragt  M.,  ob  Cohen  nicht  aus  unzulänglicher 
begrifflicher  Darstellung  doppelt  Abschluß  suche  (55),  und  betont  z.  B.  gegen 
Natorp,  daß  die  Logik  auch  als  Abschluß  gelten  kann  (58),  mit  Aufstellung 
einer  „allgemeinen  Psychologie"  indes  das  Philosophische  das  Psychologische 
verdränge  (60),  wie  Lipps  seine  „Psychologie  als  Grundwissenschaft"  zu  trans- 
zendentaler Logik  mache  (46).  Umgekehrt  verleite  der  Name  Psychologie,  auf 
Umfassenderes  übertragen,  zu  Psychologismus  (45).  Als  ein  Verdienst  Cohens 
wird  erwähnt,  daß  sich  von  der  transzendentalen  Methode  aus  der  Psychologismus 
zu  einem  System  der  Erkenntnis  außerstande  zeige  (53).  Als  Fortschritt  Natorps 
über  Lipps  hinaus  wird  hingestellt,  daß  bei  Lipps  die  Psychologie  „grundlegend" 
auftrete,  nicht  mehr  aber  bei  Natorp  (58).  Metaphysizierender  Psychologismus 
wird  u.  a.  bei  Husserl  (34),  Lipps  (43,  48)  und  Natorp  (59)  konstatiert.  Indem 
Psychologismus  mit  Rehmke  als  metaphysisch  verhüllter  Dualismus  gefaßt  wird 
(73),  erscheint  Rickert  schon  im  Ansatz  einer  Transzendenz  als  in  psycholo- 
gistischer  Selbstverwicklung  befangen  (63)  ...  ja  selbst  Kants  Lehre  von  „Syn- 
thesis"  und  Unterscheidung  von  „analytischen  und  synthetischen  Urteilen",  da 
„Synthesis"  doch  irgendwie  eine  „innere  Tätigkeit  des  Bewußtseins"  voraus- 
setze (74).  Auch  Wundts  Heranziehung  von  Genetischem  wird  als  solche  für 
Psychologismus  erkannt  (71).  Immerhin  läßt  der  I.  Teil  annehmen,  daß  sich  die 
moderne  Logik  zur  Anerkennung  der  Durchschlagskraft  des  Psychologismus- 
Vorwurfs  durchgerungen  hat  (36). 

Der  II.  Teil  verwirft  materiale  wie  formale  Einteilungsgründe  für  Wissen- 
schaften und  gliedert  diese  teleologisch  -  systematisch  (137,  142).  „Die  Wissen- 
schaften ordnen  sich  .  .  .  nach  logischen  Bestimmtheitsstufen"  (143).  „Wenn  man 
die  Gegenstände"  der  obersten,  philosophischen  „Wissenschaftssphäre  >  ideale  < 
nennt,  so"  ist  doch  „ihr  . .  Sein  . .  nichts  Existentiales,  sondern  .  .  der  systematische 
Geltungszusammenhang,  in  den  sie  eingeordnet  sind"  (144).  Die  Verbindung 
/.wischen  ihr  und  den  „Einzelwissenschaften  .  .  stellt  die  Mathematik  her"  (148), 
material  -  systematisch :  die  Psychologie  (236,  275).  Die  „Geisteswissenschaften" 
erscheinen  als  „Subjekt - petal"  (161),  die  „Naturwissenschaften":  als  „subjekt- 
fugal"  (162).  —  „Es  bestehen  keine  primären  konstitutiven  Beziehungen  von  der 
Psychologie  zur  Logik"  (274,  154);  doch  kann  „bei  der  Eruierung  des  einzelnen 
Praktischen  und  Normativen  die  psychologische  Beziehung  von  Nutzen  sein"  (277), 
und  damit  mittelbar  auch  die  Logik  in  ihrem  faktischen  Aufbau  gefördert  werden, 
.  .  selbst   experimentelle   .  .   Denkpsychologie   darf  nicht   als   unnütz   bezeichnet 

Kant stndien.  XXVI.  13 


194  Besprechungen  (Moog — Moog). 

werden  (allerdings  wird  man  über  den  engen  Bezirk  wie  ihn  z.  B.  die  Külpe'sche 
Schule  bearbeitet,  hinauszukommen  suchen  müssen)". 

Bei  allem  Logismus  wird  doch  Logizismus  zurückgewiesen  (27,  34,  43,  52, 
78,  135,  216),  .  .  ja  der  Psychologismus  von  mancher  Kritik  zunächst  entlastet, 
um  hinterher  triftiger  widerlegt  zu  werden.  So  zeigt  sich,  daß  es  ein  zweifel- 
hafter Diens't  an  der  Logik  ist,  ihr  mit  Husserl  alle  Logizität  zuzuweisen  und 
so  in  der  Psychologie  etwa  nur  Relativität,  Anthropologismus  anzutreffen;  viel- 
mehr wird  dadurch  die  Verwandtschaft  zwischen  Logischem  und  Realem  verkannt 
(15,  53,  54).  „Die  Natur  wäre  nicht  Natur,  noch  die  Gesetzmäßigkeit  der  Natur 
Gesetzmäßigkeit,  wenn  sie  nicht  als  solche  logisch  wären"  (203).  „Nicht  einmal 
das  Empirische  könnte  als  Empirisches  bestimmt  werden,  wenn  es  nur  Empirisches 
und  nicht  auch  Logisches  wäre"  (260).  So  steht  die  Logik  auch  über  den  Gegen- 
sätzen zwischen  Subjekt  und  Objekt  (144),  Materie  und  Form  (208),  richtig  und 
unrichtig  (226),  empirisch  und  ideal;  theoretisch  und  praktisch;  allgemein,  beson- 
ders und  Abstraktionstheorie  (233),  reflektiert  und  unreflektiert  (266).  Die  Er- 
kenntnistheorie wird  mit  Fug  der  Logik  eingeordnet  (65,  231):  beachtenswert 
sind  hierüber  insbesondere  die  Bemerkungen  zur  Abbildtheorie  (81,  286).  Die 
logische  Grundlegung  ist  autonom,  insbesondere  gegenüber  den  psychischen  Akten 
(59),  da  sie  darin,  mit  Kant  zu  reden,  nicht  „entspringt",  obzwar  „anhebt"  (258). 
Zu  wünschen  wäre  eine  Untersuchung  dieser  Autonomie  z.  B.  mit  Rücksicht  auf 
Rehmkes  „Grundwissenschaft"  und  Ziehens  „Gignomenologie".  —  Rezensent  er- 
blickt unter  wenigen  Vorbehalten  in  dem  Werke  einen  unübergehbaren  Markstein 
des  Psychologismusstreits,  und  hofft,  daß  Forschungs-  wie  Darstellungsarbeit  durch 
denktechnische  Vervollkommnung  mathematisch -logischer  Hilfsmittel  immer  ex- 
akter, einstimmiger  in  der  Richtung  führt,  wie  sie  die  Worte  bezeichnen:  „im 
Denken  des  Erlebbaren  liegt  das  Ziel  der  Philosophie,  nicht  im  Denken  des 
Erlebbaren"  (59). 

Stuttgart.  Dr.  K.  F.  Endriß. 

Moog,  W.,  Privatdozent  an  der  Univ.  Greifswald.  Das  Verhältnis  der 
Philosophie  zu  den  Einzeiwissenschaf  ten.  Halle  a.  S.,  (Max Niemeyer) 
1919.    24  S. 

Im  Gegensatz  z.  B.  zu  Külpe  und  Ostwald  ist  die  Philosophie  für  M.  keine 
vorbereitende  und  von  Einzelwissenschaften  eng  abhängige  Zusammenfassung  (12, 
11,  15),  oder  Wissenschaft  als  ihr  Objekt  voraussetzende  Riehl'sche  „Wissen- 
schaftslehre" (16),  noch  >  kritische  Ergänzung  <  im  empiristischen  Sinne  Machs 
(12),  harmonisierende  Induktion  wie  bei  Wundt  und  Külpe  (13,  14),  oder  metho- 
disch veränderte  Fortführung  von  Wirklichkeitsproblemen  wie  bei  Rickert  (17); 
sondern  —  abgesehen  von  vorstufenmäßiger  Weltanschauung  —  Wissenschaft 
(23,  24).  „Wissenschaft  wird  in  ihrem  Wesen  nicht  durch  das  empirische  Ma- 
terial bestimmt",  sondern  vom  System  aus  (14).  Diesen  Wesenszug  hat  die  Philo- 
sophie sonach  nicht  voraus ;  auch  besteht  ebendeswegen  kein  methodischer  Unter- 
schied, wie  ihn  Rickert  auf  Wert-  und  Sinnprobleme  stützt,  denn  metaphysische 
Probleme  „sind  in  gleicher  Weise  Erkenntnisprobleme"  (17).  Obwohl  M.,  Rickert 
und  Boutroux  z.  B.  in  Vergleich  ziehend,  bei  Husserl  Philosophie  >  als  strenge 
Wissenschaft <  unterstrichen  sieht;  bezweifelter  doch  auch  die  „Hinlänglichkeit" 
phänomenologischer  Methode  (24).  —  „Philosophie  braucht  die  Beziehung  zum 
Leben  nicht  zu  lockern"  (24).  Die  geschichtliche  Entfaltung  der  Philosophie 
kommt  übersichtlich  und  lebendig  zur  Darstellung  (6 — 20),  was  die  Schrift  — 
zumal  mannigfache  Beziehungen  zu  Einzelberufen  betont  werden  —  für  Seminar- 
zwecke empfehlen  dürfte.  „Noch  weiß  z.  B.  der  Jurist  vielfach  nicht,  wie  sehr 
seine  Wissenschaft  nicht  nur  auf  philosophischen  Grundlagen  ruht,  sondern  auch 
.  .  philosophischer  Erkenntnis  bedarf":  „bei  der  Gesetzesauslegung  und  Urteils- 
formulierung ist  .  .  oft  spezielle  logisch- wissenschaftliche  Erkenntnis  nötig"  (21). 
Mit  Fug  wird  hervorgehoben,  daß  die  Philosophie  .  .  insbesondere  die  Mathe- 
matische Logik  nicht  auf  mathematischen  Voraussetzungen  beruhen  kann,  sondern 
die   Mathematik  philosophische   Grundlagen   benötigt   (19).      „Die   Einzelwissen- 


Besprechungen  (Moog — Phalen).  195 

■Schäften  können  aus  inneren,  objektiven  Gründen  nicht  für  sich  dastehen"  (15).  — 
„Einzelnes  und  Allgemeines  sind  relativ,  die  Philosophie  aber  geht  auf  das  letzte 
Allgemeine"  (16),  und  „diese  Beziehung  ist  in  ihrer  reinsten  Form  die  logisch 
ableitende  der  allgemeinen  Logik"  (17).  „Eine  Begründung  .  .  kann  das  Einzelne 
nur  durch  Allgemeines  empfangen",  durch  die  „Idee  der  Erkenntnis",  „das  logische 
Prius  vor  den  Einzelwissenschaften"  (15).  „Eine  solche  allgemeine  Wissenschafts- 
lehre muß  Logik  und  Methodologie  der  Wissenschaftlichkeit  überhaupt  sein, 
.  .  die  Prinzipien  aller  Erkenntnis  enthalten  .  ."  und  zwar  nicht  bloß  formal,  wie 
z.  B.  Zeller  die  Methodologie  von  inhaltlichen  Voraussetzungen  trennen  will  (16). 
—  Bequeme  Lesbarkeit  macht  die  Schrift  zu  einem  geeigneten  Uebergang  auf 
M.'s  schwierigeres  Werk  „Logik,  Psychologie  und  Psychologismus." 

Stuttgart.  Dr.  K.  F.  Endriß. 

Phalen,  Adolf,  Professor  an  der  Universität  Uppsala,  Das  Erkenntnis- 
problem in  Hegels  Philosophie,  Inaugural-Dissertation.  Uppsala  1912. 
Akad.  Buchdruckerei.    458  S.    Preis  zur  Zeit  8,25  schwed.  Kronen. 

Wenn  der  Weg  von  Kant  über  Fichte  zu  Hegel  der  Ausdruck  einer  mit 
immanenter  logischer  Notwendigkeit  fortschreitenden  Entwicklung  der  Kantischen 
Lehre  ist  (siehe :  Liebert,  Wie  ist  krit.  Philosophie  überhaupt  möglich  ?  S.  33), 
dann  könnte  es  sein,  daß  auch  die  heutige  deutsche  Philosophie,  fünfzig  Jahre 
nach  dem  „Zurück  zu  Kant",  wieder  nahe  bei  Hegel  steht.  Darum  muß  die  Ab- 
sicht zeitgemäß  sein,  den  Nerv  dieses  Fortgangs  von  Kant  zu  Hegel  herauszu- 
präparieren,  zumal  wenn  sie  sich  mit  dem  Gedanken  verbindet,  diesen  ganzen 
Prozeß  zwar  als  in  sich  konsequent,  seine  Voraussetzungen  aber  als  verfehlt 
nachzuweisen.  Diesen  Versuch  hat  der  schwedische  Forscher  in  vorliegendem 
geistvollen  Werk  gemacht,  welches  in  der  Hegelforschung  u.  E.  einen  Höhepunkt 
darstellt 1). 

Phalen  erbringt  zuerst  einen  Beweis  (S.  15 — 136)  für  seine  Grundannahme, 
daß  das  Hauptproblem  Hegels  das  erkenntnistheoretische  ist,  daß  alle  wichtigeren 
Begriffe  bei  Hegel  erkenntnistheoretisch  charakterisiert  sind  und  daß  sein  Ge- 
dankengang nur  die  konsequente  Entwicklung  der  Voraussetzungen  ist,  die  von 
vornherein  im  Erkenntnisproblem,  wie  dieses  schon  Kant  gestellt  hat,  liegen. 
Dieses  Problem  wird  (S.  7)  als  „die  Frage  nach  der  Möglichkeit  für  das  Subjekt, 
seine  Uebereinstimmung  mit  etwas  von  ihm  unabhängigem  Objektiven  zu  wissen" 
formuliert,  und  es  werden  sowohl  die  Kantische  (Wie  kann  Erkenntnis  objektive 
Gültigkeit  haben?)  als  auch  die  Hegel'sche  (Wie  ist  Erkenntnis  des  „Dinges  an 
sich"  möglich?)  Fassung  desselben  auf  obigen  allgemeinen  Ausdruck  reduziert. 
Phale'n  ermittelt  aus  den  Bedingungen  des  Problems,  daß  von  diesem  bei  Hegel 
verschiedene  Auffassungen  vorliegen  müssen :  eine,  die  das  Problem  nur  als  „pro- 
pädeutisch", eine  andere,  die  es  als  „der  Wissenschaft  angehörig"  faßt.  Zugleich 
wird  klar,  daß  die  ganze  Methode  Hegels  —  als  eine  solche  der  „Subjekt- Objek- 
tivität" —  eben  eine  Methode  nur  zur  Lösung  dss  Erkenntnisproblems  sein  kann, 
wie  auch,  daß  für  Hegel  selbst  sein  Hauptproblem  notgedrungen  sowohl  das  er- 
kenntnistheoretische ist  als  auch  nicht  ist.  Da  es  nun  Phale'n  auch  gelingt,  den 
Erkenntnisgegensatz  als  in  den  wichtigsten  Trilogien  der  Hegel'schen  Logik 
hervortretend  nachzuweisen  (S.  184—227),  so  kann  er  nun  von  seiner  Grund- 
annahme aus  eine  wirkliche  Erklärung  des  ganzen  Systems  versuchen  (S.  293—389), 
welche  die  Hegel'sche  Philosophie  nicht  einfach  als  Nest  von  Widersprüchen  und 
Hegel  selbst  als  „logisch  Schwachsinnigen"  behandelt,  sondern  die  inneren  Motive 
bloßlegt,  welche  genau  zu  der  dialektischen  Entwicklung  führen  mußten,  die  Hegel 
nur  furchtlos  und  folgerichtig  durchgeführt  hat.  Alle  die  ständig  wiederkehrenden 
Doppelgedanken  und  Zweideutigkeiten,  welche  die  Verzweiflung  aller  Kommen- 
tatoren bilden  und  denen  gegenüber  die  Kritik  sich  bisher  darauf  beschränkt  hat, 
sie  einfach  zu  konstatieren,   enthüllen  sich  in  Phalön's  Interpretation  als   voll- 


1)  Insbesondere  seien  die  Bearbeiter  der  Hegelpreisaufgabe   auf  das  Buch 
hingewiesen. 


13* 


196  Besprechungen  (Phaldn — Rauschenberger). 

kommen  konsequent,  indem  nämlich  gezeigt  wird,  wie  man  mit  Hegel' s  Voraus- 
setzungen nicht,  ohne  sich  zu  widersprechen,  seine  Entwicklungen  leugnen  kann 
(S.  241).  Als  die  letzte  Quelle  des  Irrtums  in  diesem  ganzen  Fortgang  erscheint 
der  Subjektivismus  in  Form  einer  letzten  Annahme,  „daß  das  Subjekt  nur  sich 
selbst  auflassen  kann"  (S.  335).  Das  Erkenntnisproblem  aber  hat  eben  von  vorn- 
herein eine  solche  Struktur  —  basierend  auf  dieser  letzten  Annahme  — ,  daß  ein 
jeder,  der  es  sich  stellt  und  in  seiner  Behandlung  desselben  nicht  von  allem  An- 
fang an.  zur  Einsicht  in  die  Unmöglichkeit  der  Voraussetzungen  gelangt,  aus 
denen  überhaupt  das  Problem  hervorgeht,  den  ganzen  Gedankengang,  welcher 
schließlich  zur  Dialektik  führt,  annehmen  muß  und  ihn  nicht,  ohne  mit  sich  in 
Widerspruch  zu  geraten,  leugnen  kann.  Wje  man  sieht,  ist  Phalen's  Behauptung 
ziemlich  weitgehend  und  sehr  geeignet,  dem  gegenwärtigen  Gang  der  Philosophie 
zu  Hegel  hin  Schwierigkeiten  zu  machen;  erscheint  doch  der  ganze  Kantische 
Standpunkt  mitbetroffen  (S.  250—262).  Von  hier  aus  zeigt  sich  auch  erst  der 
Untertitel,  den  Phalen  seinem  Buche  gibt :  „Die  Erkenntniskritik  als  Metaphysik" 
im  richtigen  Licht.  Sowohl  in  der  Kantischen  Fassung  des  Erkenntnisproblems 
in  der  Analytik  (Wie  können  subjektive  Bedingungen  des  Denkens  objektive 
Gültigkeit  haben?),  wie  auch  in  den  verschiedenen  Fassungen  der  Neukantianer 
soll  nach  Phalen  implicit  ausgesprochen  sein,  daß  die  Einheit  des  Bewußtseins 
schließlich  eins  sein  soll  mit  der  des  Objekts  und  umgekehrt,  soll  eine  Erklärung 
liegen,  wie  etwas  von  dem  Bewußtsein  Unabhängiges  möglich  ist  oder  bewußt 
werden  kann.  Daraus  ergibt  sich:  „Soll  das  Objekt  aus  dem  Subjekt  erklärt 
werden,  so  setzt  man  voraus,  daß  es  ein  Problem  ist,  wie  es  überhaupt  etwas 
von  dem  Bewußtsein  Unabhängiges  geben  kann.  Dies  ist  aber  nur  dann  ein 
Problem,  wenn  man  meint,  daß  das,  was  aufgefaßt  wird,  eben  von  dem  Bewußt- 
sein abhängig  ist".  Das  Problem,  das  Kant  durch  seine  Analyse  lösen  will,  läuft 
dann,  wie  Phale'n  meint,  auf  die,  nur  vom  Standpunkt  des  Subjektivismus  aus 
sinnvolle  Frage  hinaus,  wie  die  Auffassung  des  vom  Subjekt  Unabhängigen  möglich 
ist,  mit  anderen  Worten:  auf  die  Forderung,  mit  Hilfe  einer  konstruierenden 
Methode  (S.  393)  aus  dem  Subjekt  das  Objekt  und  damit  den  ganzen  Inhalt  der 
Erkenntnis  herzuleiten  (S.  349).  Kant  freilich  hat  diese  extremen  Folgerungen 
niemals  gezogen.  Hegel  aber  führten  sie  zu  seiner  Methode  der  „Subjekt-Objek- 
tivität" mit  allen  dialektischen  Konsequenzen.  Es  liegt  also  schon  auf  dem 
transzendentalphilosophischen  Standpunkt,  insofern  dieser  vom  Subjekt  als  dem 
einzig  Unmittelbar  gegebenen,  dem  Einzigen,  das  unabhängig  von  anderen  (S.  292) 
aufgefaßt  werden  kann,  ausgeht,  die  innere  Notwendigkeit  vor,  daß  das  erkenntnis- 
theoretische Problem  Kant's  in  das  metaphysisch-kosmologische  Fichte's,  Schelling's 
und  Hegel's  umschlägt. 

Es  ist  unmöglich,  von  dem  reichen  philosophischen  Inhalt  dieses  Buches, 
welches  in  den  letzten  Kapiteln  auch  den  persönlichen  Entwicklungsgang  Hegels 
und  ebenso  die  ganze  Hegelliteratur  in  die  Betrachtung  einbezieht,  in  kurzen 
Worten  einen  Begriff  zu  geben.  Der  Verfasser  hofft,  binnen  kurzem  auf  die 
Philosophie  Phalen's  näher  eingehen  zu  können.  Jedenfalls  wäre  es  sehr  zu 
wünschen,  daß  dieses,  an  deutscher  Philosophie  genährte  Werk  des  ausländischen 
Verfassers  auch  in  Deutschland  die  gebührende  Beachtung  fände. 

Innermanzing,  Niederösterreich.  Franz  Kröner. 

Rauschenberger,  Walter,  Dr.  jur.,  Der  kritische  Idealismus  und 
seine  Widerlegung.     Quelle  und  Meyer,  Leipzig,  1918.     108  Seiten. 

Der  kritische  oder  transzendentale  Idealismus  erfährt  eine  immer  stärker 
werdende  Opposition.  Das  Buch  von  Dr.  Walter  Rauschenberger  „Der  kritische 
Idealismus  und  seine  Widerlegung"  steht  fast  ganz  auf  dem  Boden  des  transzen- 
dentalen Realismus,  diesem  bis  vor  kurzem  noch  so  wenig  beachteten  Standpunkt 
E.  v.  Hartmann's«,  und  versucht,  von  dieser  Ebene  aus  Sturm  zu  laufen  gegen  das 
starke  Bollwerk  des  Kant'schen  Standpunktes,  der  bis  jetzt  vielen  noch  als  un- 
bezwinglich  galt. 

Zunächst  sucht  der  Verf.   die  von  Kant  festgehaltene  Idealität  der  Zeit  als 


Besprechungen  (Rauschenberger).  197 

aus  einseitiger  Beweisführung  herrührend  nachzuweisen.  Auch  ihm  ist  eine 
unzeitliche  Tätigkeit  ein  Widerspruch  in  sich.  Kant  hat  sich  aber  schon  damals 
dem  Urteil  „einsehender  Männer",  die  im  Wechsel  unserer  eigenen  Vorstellungen, 
also  in  der  Veränderung  etwas  wirkliches  erblickten,  verschlossen  und  ist  bei 
seiner  Behauptung,  daß  das  Bewußtsein  die  Zeit  aus  sich  erzeuge,  geblieben. 
Danach  könnte  es  keine  Zeiträume  geben,  in  denen  keine  Subjekte  des  Erkennens 
vorhanden  sind.  Unsere  Auffassung  vergangener  Zeiten  gehöre  bereits  zur  phä- 
nomenalen Betrachtungsweise.  Aber  wenn  man  diesen  Phänomenalismus  weiter 
denkt,  so  kommt  man  zu  dem  Ergebnis,  daß  subjektlose  Zeiten  niemals  existiert 
haben  können.  Die  ganze  mathematische  Naturwissenschaft  würde  zusammen- 
stürzen, wenn  man  diese  Konsequenz  ernst  nimmt. 

Rauschenberger  gibt  selbstverständlich  zu,  daß  unser  Bewußtsein  das  einzige 
absolut  gewisse  sei  und  bleibe,  daß  wir  uns  aber  das  Tor  zu  den  feinsten  Er- 
kenntnissen verschließen  würden,  wenn  wir  auf  dieser  engen  Erfahrungsbasis 
•stehen  blieben,  „wenn  das  positivistische  Erkenntnisprinzip  der  Weisheit  letzter 
Schluß  wäre".  Um  nicht  vollständig  in  Skeptizismus  zu  versinken,  bedarf  es  der 
Anerkennung  der  Wahrscheinlichkeit  neben  der  Gewißheit,  und  die  „Ethik  der 
Erkenntnis"  legt  uns  die  Verpflichtung  auf,  den  Umfang  unserer  Erkenntnis  nach 
allen  Seiten  zu  erweitern,  um  zu  positiven,  aufbauenden  Resultaten  zu  gelangen, 
selbst  auf  die  Gefahr  hin,  daß  diese  nicht  den  Anspruch  auf  apodiktische  Ge- 
wisheit  erheben  können.  Eine  Wahrscheinlichkeit,  die  der  Gewißheit  nahe  kommt, 
ist  von  ebenso  großem  Werte  wie  die  Gewißheit  selbst,  die  ja  nur  in  den  aller- 
seltensten  Fällen,  wenn  überhaupt,  gewährleistet  wird:  wir  handeln  und  leben 
nur  auf  Wahrscheinlichkeiten  hin,  die  wir  aber  vorläufig  als .  Gewißheiten  be- 
handeln wie  z.  B.  die  Meinung,  daß  wir  am  nächsten  Tage  noch  am  Leben  sein 
werden.  Hartmann  war  wohl  der  erste  Denker,  der  den  Anspruch  der  Geltung  der 
Wahrscheinlichkeit  auf  philosophischem  Gebiet  erhob,  damit  allen  Anfeindungen 
der  Positivisten  und  Idealisten,  die  nur  in  der  apodiktischen  Gewißheit  die  Ehre 
der  Wissenschaft  gewahrt  sehen,  einen  festen  Schild  entgegenstreckend.  Ich  be- 
grüße es  mit  Freuden,  daß  jetzt  von  allen  Seiten  sich  die  Stimmen  mehren,  die 
auch  hier  auf  seine  Seite  treten. 

Wir  können,  so  meint  Rauschenberger,  uns  vielleicht  noch  die  ganze  ma- 
terielle Welt  als  unser  eigenes  Vorstellungserzeugnis  vorstellen,  nicht  aber  die 
Bewußtseinsvorgänge  anderer  Subjekte,  die  nur  als  etwas  durchaus  von  uns  ver- 
schiedenes, in  das  wir  keine  Einsicht  haben,  erscheinen,  worüber  uns  auch  das 
Prinzip  der  Phänomenalität  nicht  hinweghilft.  Die  Kategorien  Kants  haben  alle 
eine  Beziehung  zur  Zeit,  sind  also  auch  nicht  ideal,  da  die  Zeit  nicht  ideal  ist. 
Alle  Bestimmungen  der  Dinge  an  sich  sind  nicht  nur  an  das  Subjekt  geknüpft, 
sondern  haben  auch  transzendentale  Gültigkeit.  Wäre  es  anders,  wäre  das  Sein 
der  Dinge  raumlos  und  zeitlos,  gäbe  es  dort  weder  Einheit  noch  Vielheit,  weder 
Kausalität  noch  Substanz,  so  hätte  es  allerdings  nichts  mehr  mit  uns  gemein. 

R.  ist  aber  garnicht  der  Ansicht,  daß  Kant  das  Ding  an  sich  als  eine  bloße 
Idee  betrachtet  habe ;  Kant  hat  im  Streit  gegen  Fichte  diese  Auffassung  mit 
vollem  Bewußtsein  zurückgewiesen  und  sagt  in  der  Kritik  d.  r.  Vernunft,  daß  es 
ungereimt  sei,  von  Erscheinung  zu  reden,  ohne  die  Existenz  eines  Dinges  anzu- 
nehmen, das  da  erscheint.  Auch  Hartmann  rechnet  Kant  zu  den  Vorgängern 
seines  transzendentalen  Realismus;  von  Kant  stammt  sogar  diese  Bezeichnung. 
Kant  nimmt  für  die  körperlichen  Dinge  an  sich,  die  er  allerdings  nur  dem  Daß 
nach  für  erkennbar  hält,  während  bei  den  Geistern  auch  das  Was  erkennbar  sei, 
transzendente  Kausalität  an ,  damit  ist  aber  schon  der  reine  Idealismus  auf- 
gegeben. 

Den  reinen  Logikern  gegenüber  betont  R.  das  von  der  Marburger  Schule 
so  streng  verpönte  psychologische  Moment  bei  Kant.  Das  Subjekt  ist  eine  psy- 
chische Realität,  die  Behauptung  Kants,  daß  Raum  und  Zeit  Anschauungsformen 
des  Subjekts  seien,  ist  ein  psychologischer  Gesichtspunkt;  die  Vermischung  der 
psychischen  und  logischen  Betrachtungsweise  ist  Psychologismus,  ebenso  die  Ab- 
rückung des  Dinges  au  sich  von  allen  humanen  Denkformen,  die  damit  also  rein 
auf  das  psychische  Gebiet  verwiesen  werden. 


198  Besprechungen  (Rauschenberger — Schneider). 

Es  wird  sich  jetzt  nur  noch  ein  Streit  zwischen  Unterarten  des  transzen- 
dentalen Realismus  abspielen  können,  aber  die  Existenz  der  Dinge  an  sich  und 
ihre  realen  Beziehungen  zum  Bewußtsein  werden  nicht  mehr  geleugnet  werden 
können.  Damit  "aber  ist  der  kritische  oder  transzendale  Idealismus  in  der  Wurzel 
gebrochen. 

Berlin.  Alma  von  Hartmann. 

Schneider,  Ilse,  Dr.,  Das  Raum-Zeit-Problem  bei  Kant  und 
Einstein.    Berlin,  Julius  Springer   1921.     75  S.     12  Mk. 

Von  den  nun  schon  ziemlich  zahlreichen  Untersuchungen  über  das  Verhältnis 
der  Kant'schen  Philosophie  zur  Relativitätstheorie  unterscheidet  sich  die  kleine 
mit  großer  Klarheit  und  Sachkenntnis  geschriebene  Schrift  dadurch,  daß  sie  den 
historischen  Kant  mit  dem  lebendigen  Einstein  vergleicht  und  nicht  dem  einen 
zu  Liebe  aus  dem  andern  einen  Popanz  macht.  Nach  einer  kurzen  Wiedergabe 
der  Raum-Zeit-Lehre  Newtons  werden  Kants  Anschauungen  über  Raum,  Zeit  und 
Bewegung  dargestellt,  und  zwar  nicht  nur,  wie  es  gewöhnlich  geschieht,  nach  der 
„Kr.  d.  r.  V.",  sondern  auch  nach  den  vorkantischen  Schriften  und  vor  allem 
nach  den  „metaphysischen  Anfangsgründen".  In  der  sehr  prägnanten  Darstellung 
der  Einstein'schen  Theorie  ist  ein  Punkt  gebührend  hervorgehoben,  der  meist 
beim  Uebergang  von  der  speziellen  zur  verallgemeinerten  Theorie  nicht  genügend 
klargestellt  wird,  nämlich,  daß  die  Eigenzeitdifferenz  in  benachbarten  Weltpunkten 
nach  der  allgemeinen  Theorie  genau  in  derselben  Weise  mit  Maßstäben  und 
Uhren  meßbar  ist  wie.  in  der  speziellen  Theorie  (S.  46  f.). 

Für  den  Vergleich  der  Kant'schen  und  der  Einstein'schen  Raum-Zeit-Lehre 
sind  zwei  Probleme  von  entscheidender  Bedeutung;  1)  Das  der  absoluten  Be- 
wegung und  des  absoluten  Raumes,  2)  das  der  Geltung  der  euklidischen  Geo- 
metrie. Die  Verf.  legt  allen  Nachdruck  darauf,  daß  Kant's  „absoluter  Raum4* 
von  dem  Newton'schen  wesentlich  verschieden  ist  und  nur  dieser,  nicht  jener 
durch  die  Relativitätstheorie  eliminiert  wird.  Das  trifft  gewiß  zu,  wenn  wir  uns 
an  die  Erklärung  der  „Phänomenologie"  halten:  „Der  absolute  Raum  ist  also  an 
sich  nichts  und  gar  kein  Objekt,  sondern  bedeutet  nur  einen  jeden  anderen  rela- 
tiven Raum,  den  ich  mir  außer  dem  gegebenen  jederzeit  denken  kann."  Wenn 
aber  Kant  trotz  der  Leugnung  des  absoluten  Raumes  als  einer  empirisch  auf- 
weisbaren oder  an  irgend  welchen  Wirkungen  erkennbaren  Realität  die  durch 
Zentrifugalkräfte  ausgezeichnete  Kreisbewegung  zwar  nicht  als  „absolute"  von 
der  „relativen",  aber  doch  als  „wirkliche"  von  der  „scheinbaren"  Bewegung 
unterscheidet,  so  scheint  es  mir  doch  etwas  zu  viel  gesagt,  daß  er  sich  „über 
diesen  Punkt  vollkommen  klar  gewesen"  ist  (S.  13).  Es  ist  doch  gewiß  nicht 
bedeutungslos,  daß  Kant  an  einer  Stelle,  die  die  Verf.  als  entschiedene  Ablehnung 
der  absoluten  Bewegung  anführt,  wo  der  absolute  Raum  „kein  Gegenstand  der 
Erfahrung  und  überall  nichts"  genannt  wird,  nicht  die  Bewegung  überhaupt, 
sondern  „die  geradlinigte  Bewegung  ohne  Beziehung  auf  irgend  etwas  Em- 
pirisches, das  ist  absolute  Bewegung"  für  „schlechterdings  unmöglich"  erklärt. 
Das  Paradoxe  in  Newton's  Deutung  der  Trägheitskräfte  sah  Kant  freilich,  und 
wäre  gewiß  nicht  damit  einverstanden  gewesen,  wenn  man  nun,  nachdem  die 
Auflösung  dieses  Paradoxons  der  Physik  gelungen  ist,  philosophische  Einwendungen 
zu  Gunsten  der  „absoluten"  Bewegung  mit  seiner  Autorität  decken  will. 

So  bemerkenswert  die  Stellen  aus  den  vorkritischen  Schriften  sind  (S.  69  f.), 
in  denen  Kant  von  der  Möglichkeit  spricht,  daß  die  geometrischen  Gesetze, 
speziell  die  Dimensionenzahl,  von  physikalischen  Gesetzmäßigkeiten  abhängen 
könnten,  so  ist  doch  die  Annahme  der  apriorischen  Geltung  der  geometrischen 
Axiome  für  die  empirische  Welt,  die  der  transzendentalen  Aesthetik  zu  Grunde 
liegt  und  durch  sie  erklärt  werden  soll,  grundsätzlich  verschieden  von  Einstein's 
Auffassung,  wonach  die  Geometrie  nur  so  weit  a  priori  gewiß  ist,  als  sie  nicht 
von  wirklichen  Körpern  handelt,  und,  soweit  sie  von  wirklichen  Körpern  handelt, 
nur  die  Wahrscheinlichkeit  aller  Erfahrungserkenntnis  beanspruchen  kann.  Doch 
betont  die  Verf.  (S.  67/68)  mit  Recht,  daß  die  unbedingte  Geltung  der  euklidischen 


Besprechungen  (Schneider — Stapel — Thalheimer).  199 

Axiome  als  synthetischer  Sätze  a  priori  nicht  das  Fundament  ist,  auf  dem  das 
ganze  System  ruht  und  mit  dem  es  steht  und  fällt  (wie  es  nach  der  Darstellung 
der  „Prolegomena"  scheinen  könnte).  Freilich  bricht  noch  ein  zweiter  Pfeiler 
zusammen,  wenn  die  Schwierigkeit  der  1.  Autonomie,  die  durch  den  kritischen 
Idealismus  überwunden  werden  sollte,  in  Einstein's  kosmologischer  Hypothese,  die 
in  zwei  Schlußabschnitten  einleuchtend  auseinandergesetzt  wird,  ihre  Lösung 
findet.  Das  Endergebnis  der  Untersuchung  stimmt  mit  dem  Cassirer's  überein, 
(dessen  Buch  über  die  Kelativitätstheorie  erst  nach  Abschluß  der  Arbeit  er- 
schienen ist) :  Es  gibt  keinen  unlösbaren  Widerspruch  zwischen  Kantischer  Philo- 
sophie und  Relativitätstheorie.  Wie  immer  man  sich  zu  dieser  Frage  stellen 
möge,  man  wird  in  der  gründlichen  und  klaren  Schrift  einen  wertvollen  Beitrag 
zu  ihrer  Lösung  sehen  müssen. 

Charlottenburg.  Dr.  Josef  Winternitz. 

Stapel,  Wilhelm,  Dr.,  Eants  Kritik  der  reinen  Vernunft  ins 
Gemeindeutsche  übersetzt,  1.  Band  (Die  Vorreden  von  1781  und  1787 
und  die  Lehre  von  Raum  und  Zeit  [transzendentale  Aesthetik]).  Verlag  des 
Deutschen  Volkstums.    Hamburg  1919.     190  S.    geh.  7  Mk.,  geb.  9  Mk. 

Diese  „Uebersetzung"  Kants  bekennt  selbst,  daß  sie  nicht  der  Wissenschaft, 
sondern  Kant  und  unseren  Gebildeten  dienen  will.  In  ihr  steckt  eine  tiefe  Liebe 
zu  Kant  und  ein  energischer  Wille,  ihn  denen  nahezubringen,  die  zwar  nicht 
seinen  Stil,  wohl  aber  seine  Gedanken  zu  verstehen  imstande  sind.  Immerhin 
hat  eine  solche  „Uebersetzung"  ihre  Gefahren.  Kant  ist  nämlich  gar  kein  un- 
deutlicher Schriftsteller,  seine  Gedanken  sind  deutlich  in  seinen  Sätzen  nieder- 
gelegt; wenn  man  sich  die  Mühe  gibt,  ihn  zu  verstehen,  gibt  es  im  ganzen  Kant 
kaum  einen  Satz,  der  nicht  einen  eindeutigen  Gedanken  enthielte.  Unklar  ist 
höchstens  die  Form  der  Sätze,  ihre  Gliederung  in  sich.  Eine  „Uebersetzung" 
(wenn  man  überhaupt  dies  verwegene  Wort  gelten  lassen  will)  dürfte  sich  also 
höchstens  an  die  Form  und  Gliederung  der  Sätze  wagen,  um  ihr  allzuverstricktes 
Ineinander  für  den  ungeschulten  Blick  übersehbar  auszubreiten.  Stapel  aber 
ändert  nicht  bloß  die  Form  der  Sätze,  sondern  kommentiert  auch  die  Ge- 
danken, indem  er  neue  eigene  Sätze  einschiebt,  die  notwendigerweise  nicht  mehr 
als  Uebersetzung  Kants,  sondern  nur  als  subjektive  Erläuterung  seiner  Gedanken 
gelten  können.  So  ist  der  S.  15 — 17  der  Stapeischen  Schrift  reichende  Absatz 
nichts  als  eine  populäre  und  die  feinsten  Kantischen  Gedanken  durchaus  ver- 
einseitigende und  verflachende  Darstellung,  die  zwar  einen  Teil  dessen  ungefähr 
richtig  wiedergibt,  was  Kant  gemeint  hat,  aber  gerade  dem  Differenzierten  und 
dem  Logik  und  Psychologie  hier  noch  ungetrennt  umfassenden  Stand- 
punkte des  Denkers  nicht  gerecht  wird.  Es  heißt  aber  nicht,  Kant  übersetzen, 
wenn  man  all  die  Schwierigkeiten  und  logischen  Tiefen,  die  doch  keine  logischen 
Undeutlichkeiten  sind,  verneint  zu  Gunsten  einer  zwar  sehr  leicht  verständlichen 
aber  einseitigen  Betrachtung. 

Charlottenburg.  HellmuthFalkenfeld. 

Thalheimer,  Alvin,  The  Meaning  of  the  Terms  'Existence'  and 
'Reality'.  A  Dissertation  submitted  to  the  Board  of  University  Studies  of  the 
John  Hopkins  University.     Baltimore  1918.     116  S. 

Der  Verfasser  begründet  die  Notwendigkeit  einer  Definition  des  Begriffes 
„Existenz"  (der  Ausdruck  „Realität"  wird  synonym  gebraucht)  damit,  daß  dieses 
Wort  im  Laufe  der  philosophischen  Entwicklung  in  den  verschiedensten  Bedeu- 
tungen gebraucht  worden  sei.  Im  Anschluß  an  F.  Brentano  erklärt  er  die 
meisten  Urteile  als  Aussagen  von  Existenz,  die  sonach  gar  keinen  bestimmten 
Sinn  hätten,  solange  wir  diesen  Begriff  nicht  präzisierten.  Der  Bedeutungswandel 
soll  durch  einen  historischen  Ueberblick  nachgewiesen  werden,  der  zeigt,  wie  bald 
das  Dauernde,  bald  das  sinnlich  Wahrnehmbare,  bald  das,  was  in  Beziehungen 
steht,  einem  geordneten  Zusammenhang  angehört,   als  das  allein  Existierende  an- 


200  Besprechungen  (Thalheimer — Wertheimer). 

gesehen  wurde.  Mir  scheint  aber  dadurch  nicht  erwiesen,  daß  man  das  Verschiedene, 
das  man  für  wirklich  hält,  auch  in  verschiedenem  Sinne  für  wirklich  halten 
müsse.  Thalheimers  Kritik  beschränkt  sich  darauf,  die  Unbestimmtheit  des  Exi- 
stenz-Begriffes in  allen  diesen  Anwendungen  hervorzuheben.  Die  eigentliche 
Schwierigkeit  aber  sieht  er  in  dem  Problem  des  ontologischen  Beweises.  Er 
meint,  man  dürfe  Existenz  nicht  durch  irgendwelche  Qualitäten  A,  ß,  C  definieren, 
weil  wir  sonst  irgend  einen  Begriff  mit  diesen  Merkmalen  ausgestattet  denken 
und  so  das  Reich  des  Existierenden  beliebig  vermehren  könnten.  Bestände  diese 
Schwierigkeit,  so  ließe  sie  sich  durch  keine  Definition  von  Existenz  wegschaffen 
—  können  wir  doch  den  Begriff'  eines  „existierenden  Zentauren"  bilden,  wie  immer 
Existenz  definiert  sein  möge  — ,  sie  besteht  aber  gar  nicht,  wie  wir  seit  Kant's 
Kritik  wissen.  Daß  ein  existierender  Zentaur  existiert,  d.  h.  daß  ein  Zentaur 
existiert,  wenn  er  existiert,  ist  eine  analytische  Wahrheit,  aber  ob  ein  solcher 
existierender  Zentaur  existiert,  darüber  läßt  sich  aus  dem  Begriff  des  „exi- 
stierenden Zentauren"  so  wenig  entnehmen  wie  aus  dem  Begriff  des  Zentauren 
selbst,  von  dem  er  gar  nicht  verschieden  ist.  Th.  aber  glaubt,  daß  hier  nur  die 
Bezugnahme  auf  das  Moment  des  Glaubens  hilft,  und  gelangt  so  zu  folgender 
sonderbaren  Definition.  Zur  Existenz  gehört  1)  eine  bestimmte  Stelle  in  Zeit 
und  Raum;  2)  unter  den  Subjekten,  welche  das  Ding  zum  Gegenstand  des  Be- 
wußtseins haben,  muß  es  mehr  geben,  welche  daran  glauben,  als  welche  nicht 
daran  glauben.  Damit  glaubt  er  aber  noch  nicht  die  Schwierigkeit  des  „wirk- 
lichen Zentauren"  vermieden  und  fügt  hinzu  3)  i  c  h  muß  daran  glauben !  Durch 
die  Bestimmug  2)  soll  der  Protagoräische  Subjektivismus  vermieden  werden.  Zum 
Schluß  wird  betont,  daß  es  von  unserem  Belieben  abhängt,  wie  wir  Existenz  ^de- 
finieren, daß  wir  also  in  diesem  Sinne  die  Wirklichkeit  nach  unserem  Belieben 
bevölkern  können  und  daß  die  Entscheidung  der  Hauptfragen  der  Philosophie 
Realismus  oder  Idealismus,  Existenz  des  Dings  an  sich  usw.  von  dieser  willkürlich 
zu  wählenden  Definition  abhängt.  Es  wird  sich  also  empfehlen,  die  Definition 
des  Verf.  anzunehmen,  da  sich  dann  die  größten  Welträtsel  durch  einen  einfachen 
Glaubensakt  und  ein  Referendum  mit  absoluter  Majorität  entscheiden  lassen. 
Charlottenburg.  Dr.  Josef  Winternitz. 

Wertheimer,  Max,  Privatdozent  a.  d.  Universität  Berlin,  Ueber  Schluß- 
prozesse im  produktiven  Denken.  Vereinigung  wissenschaftlicher  Ver- 
leger, Berlin  u.  Leipzig  1920.    22  S.     Preis  3,60  Mk. 

Als  Anmerkungen  zum  modus  barbara  bezeichnet  W.  seine  Abhandlung,  die 
als  Festgabe  zu  Stumpfs  70.  Geburtstag  gedacht  ist.  Er  zeigt,  daß  die  Schlüsse 
dieses  modus,  die  die  Schullogik  mit  dem  unsterblichen  Beispiel  vom  sterblichen 
Cajus  in  den  Ruf  großer  Banalität  gebracht  hat,  im  praktischen  und  wissenschaft- 
lichen Denken  häufig  einen  erheblichen  Fortschritt  der  Erkenntnis  in  sich  bergen, 
und  untersucht  die  Bedingungen,  unter  denen  dieser  Fall  eintritt,  wo  also  eine 
petitio  principii  garnicht  bewußt  wird  oder  werden  kann.  Besonders  einfach  ist 
die  Sachlage,  wenn  im  Obersatz  keine  „Erkenntnis"  sondern  eine  (mehr  oder  we- 
niger willkürliche)  „Bestimmung"  (Gesetz,  Verordnung,  Nominaldefinition)  auftritt. 
Der  Obersatz  gilt  allgemein,  ohne  daß  die  conclusio  konstatiert  ist.  Insofern 
bedeutet  ihr  Vollzug  einen  Fortschritt  im  Denken.  In  der  Rechtswissenschaft, 
besonders  in  der  Urteilsfindung,  tritt  diese  Form  normal  auf.  Etwas  anders  liegt 
der  Fall  häufig  im  geschichtlichen  Denken.  Es  komme  etwa  den  Mitgliedern 
einer  bestimmten  Gruppe  ein  bestimmtes  Merkmal  o.  dgl.  zu.  Auf  Grund  einer 
bis  dahin  unbekannten  Quelle  erweist  sich  plötzlich  S  als  zu  dieser  Gruppe  gehörig. 
Demzufolge  rückt  seine  Handlungsweise,  sein  Charakter  urplötzlich  in  völlig  andere 
Beleuchtung,  es  entsteht  eine  „Umzentrierung"  des  geschichtlichen  Bildes.  Gerade 
diese  Umzentrierung,  dies  „Einschnappen"  ist  offenbar  psychologisch  sehr  inter- 
essant und  häufig  scharf  zu  beobachten.  W.  zeigt  es  an  einer  ganzen  Reihe  auch 
mathematischer  Beispiele,  die  sehr  geschickt  ausgewählt  sind.  Geometrische  Fi- 
guren, algebraische  Ausdrücke  werden  durch  einen  „Kunstgriff"  in  einer  von  der 
Norm  abweichenden  Weise  aufgefaßt :  der  Kreis  als  Polygon  mit  unendlich  vielen 


Besprechungen  (Wertheimer — Uexküll).  201 

Seiten,  eine  unendliche  Reihe  als  Summe  oder  Differenz  zweier  bekannter  Reihen, 
auf  die  dann  bekannte  Obersätze  Anwendung  finden.  Die  so  erfolgende  Umzen- 
trierung  ist  aber  offenbar  nicht  beliebig,  sondern  steht  bereits  unter  ganz  be- 
stimmten Gesichtspunkten,  durch  die  der  Gegenstand  in  seiner  Struktur  ver- 
ändert erscheint,  u.  zw.  derart,  daß  sich  nun  wissenschaftlich  fruchtbare  Aufschlüsse 
über  diese  Struktur  gewinnen  lassen.  In  der  Herstellung  solcher  „sinnvoll  gefor- 
derter Brücken"  liegt  der  Wert  des  Mittelbegriffs  für  das  produktive  Denken; 
sie  sind  oft  bereits  durch  die  richtige  Fragestellung  bezeichnet,  die  damit 
ihre  theoretische  Würdigung  erfährt. 

Die  Abhandlung  ist  in  einem  von  der  üblichen  trockenen  Darstellung  solcher 
Probleme  auffallend  abweichenden,  fast  feuilletonistischen  Stil  geschrieben,  der 
«die  Lektüre  sehr  anziehend  und  anregend  macht.  Wer  nicht  nur  auf  die  „Geltungs- 
logik" eingeschworen  ist,  die  der  Verf.  witzig  als  eine  „Logik  für  den  lieben 
Gott"  bezeichnet,  wird  an  dem  geistvollen  Schriftchen  seine  Freude  haben. 

Dresden.  Privatdozent  Dr.  Walter  Blumenfeld. 

Uexküll,  J.  von,  Theoretische  Biologie.  Berlin,  Gebr.  Paetel,  1920, 
260  Seiten,  Preis  geh.  20  Mk.,  geb.  27  Mk. 

Ein  neues  Buch  Uexkülls  erinnert  mich  jedesmal  an  das  Wort  des  alten 
Schieiden,  daß  die  Botanik  die  Lehre  von  den  Pflanzen  und  nicht  die  Lehre 
von  den  Büchern  über  die  Pflanzen  sei.  Uexküll  ist  „originell",  und  zwar  im 
wahrsten  Sinne  des  Wortes  und  nicht  nur  so  obenhin  und  unbestimmt  gemeint: 
er  geht  stets  von  der  origo,  vom  Ursprung  alles  Naturwissens  aus,  nämlich  vom 
Gegenstand,  dem  er  sich  schlicht  schauend  hingibt;  nicht  gibt  es  für  ihn 
Schulen,  Lehrmeinungen,  Dogmen.  Daher  hat  er  uns  immer  etwas  Bedeutsames 
zu  sagen  und  wirkt  befruchtend  auch  da,  wo  man  ihm  vielleicht  nicht  folgen  kann. 

Sein  neues  Werk  ist  wieder  so  recht  eines  „ab  origine".  Versuchen  wir, 
seinen  wesentlichen  Inhalt,  mit  einigen  kritischen  Bemerkungen  untermischt,  kurz 
darzustellen. 

Uexküll  will  auf  Kantischem  Boden  stehen.  Er  faßt  Kant  aber  durch- 
aus psychologisch  und  streng  subjektivistisch,  was  er  unseres  Erachtens  für  seine 
biologischen  Zwecke  allerdings  darf,  denn  man  kann  Kant  auch  so  fassen.  In 
den  drei  ersten  Abschnitten  wird  von  Raum,  Zeit  und  Inhaltsqualitäten 
gehandelt.  Raumesdata  sind  uns  die  durch  Haut  und  Auge  vermittelten  Lokal- 
zeichen und  die  durch  Muskelempfindungen  (besser:  Gelenkempfindungen?) 
vermittelten  Richtungszeichen,  von  denen  stets  zwei  einem  Lokalzeichen 
zugeordnet  sind,  welche  aber  auch  ohne  Beziehung  auf  diese  gegeben  sein  können. 
Es  ergibt  sich  weiter  die  Richtungsebene  und  der  Raum  als  Gesetz. 
Das  Atom  ist  Lokalzeichen  und  Sinnesqualität;  er  nennt  es  materialen  Punkt. 
Die  Möglichkeit  anderer  subjektiver  Räume  für  Tiere  wird  zugegeben;  vielleicht 
haben  sie  weniger  als  drei  Richtungsebenen.  Den  Raumeszeichen  schließen  sich 
die  Momentzeichen  an;  alle  diese  Zeichen  zusammen  geben  die  Ordnungs- 
qualitäten. Der  Reichtum  eines  Weltbildes,  hängt  ab  von  der  Zahl  der  inhalt- 
lich bewußt  erlebten  „Zeichen"  aller  Art.  Bedeutsam  für  alles  folgende  ist  der 
Begriff  der  Melodie  im  weitesten  Sinne  als  der  gesetzlichen  Reihe  der  Richtungs- 
zeichen ,  und  derjenigen  der  Symphonie  als  ihrer  gesetzlichen  Gemeinsam- 
keit. 

Für  die  Biologie  gibt  es  so  viele  Welten  wie  es  Subjekte  gibt. 

Merkzeichen  ist  eine  eben  als  solche  unterscheidbare  Inhaltsqualität, 
am  Dinge  entspricht  ihr  das  Merkmal.  Jede  fremde  Umwelt  baut  sich  für  uns 
aus  unseren  Merkzeichen  auf,  da  andere  Merkzeichen  uns  ja  nicht  zugänglich 
sind.  Merk  weit  ist  die  Summe  alier  einem  Tiere  zugänglichen  Merkzeichen 
des  Beobachters,  Wirkungswelt  die  Summe  der  Merkmale  (des  Beobachters), 
auf  die  es  wirken  kann.  Nicht  alles,  was  für  uns  Merkmalsträger  ist,  ist  das  für 
das  Tier. 

Ich  kann  also  nur  von  einer  Umwelt,  aber  nicht  von  einer  „Erscheinungs- 
welt"  des  Tieres  reden,    da  ich  seine  Qualitäten  nicht  kenne;    denn,    wie  gesagt, 


202  Besprechungen  (Uexküll). 

ich  kenne  ja  nicht  des  Tieres  Merkzeichen,  sondern  kann  nur  wissen,  welche  von 
meinen  Merkmalen  in  seiner  Umwelt  eine  Rolle  spielen. 

Abschnitt  4  handelt  von  „Gegenstand  und  Lebewesen".  Der  qualitätslose 
Atomismus  wird  abgelehnt  (vgl.  oben  die  Definition  des  Atoms),  „sekundäre"  und 
„primäre"  Qualitäten  sind  von  gleichem  Range.  Große  Bedeutung  wird  Kants 
Lehre  vom  „Schematismus",  in  psychologischer  Formung,  beigelegt;  es  gibt  nach 
U.  auch  Raumschemata.  Das  antizipierte  Schema  ist  Voraussetzung  der  "Wahr- 
nehmung un-d  der  Handlung.  Falsche  Schemata,  welche  falsche  „Melodien"  zur 
Folge  haben,  spielen  oft,  z.  B.  in  der  Dämmerung  eine  Rolle.  (Hier  sehr  viel 
gutes  Einzelne.) 

Gegenstände  sollen  solche  „Objekte"  heißen,  deren  Bauart  durch  bloße 
Kausalität  nicht  verständlich  wird,  also  z.  B.  „Gebrauchsgegenstände".  Die 
Leistungen  der  letzteren  nun  sind  bloße  „Gegenleistungen",  kennen  wir  doch  ihre 
Hauptfunktion  und  können  sie  auf  Grund  dieser  einteilen.  Anders  bei  den  Lebe- 
wesen als  „Gegenständen".  Hier  kann  nicht  nach  der  Funktion,  sondern  muß 
auf  Grund  der  Morphologie  eingeteilt  werden;  diese  aber  ist  rätselhaft  und 
nicht  aus  der  Analogie  zu  technischen  Gegenständen  herzuleiten.  Funktional 
ist  im  Lebendigen  alles  gleich  vollkommen,  aber  der  Mannigfaltigkeit  nach 
gibt  es  doch  „höhere"  und  „niedere"  Formen.  Die  Funktionen  müssen  analysiert 
werden;  aber  darum  ist  nicht  ein  Tier  ein  Reflexbündel;  übermaschinelle 
Fähigkeiten  kommen  dazu.  Das  Protoplasma  setzt  hier  ein ;  es  macht  maschi- 
nelle Apparate  und  löst  sie  auf  (Pseudopodien  der  Amoebe,  Verdauungsapparat, 
der  Infusorien).    Alles  ist  Epigenese. 

Der  Physiologe  untersucht  die  Zwangsläufigkeit,  der  Biologe  die 
Planmäßigkeit  der  Lebewesen. 

Die  Welt  der  Lebewesen  (Kap.  V):  Merkwelt  eines  Tieres  ist  die 
Summe  seiner  Merkmale;  bei  Ausübung  der  Steuerung  bildet  es  seine  Innen- 
welt, die  Summe  seiner  Wirkungen  ist  seine  Wirkungswelt.  Merkwelt  und 
Wirkungswelt  sind  die  Umwelt. 

Das  Funktionsleben  gliedert  sich  in  Kreise  (Heimat,  Nahrung,  Feind,  Ge- 
schlecht); die  einzelnen  Kreise  sind  besonderen  oder  mehreren  Sinnesorganen 
zugleich  zugeordnet.  Für  Schwämme  ist  z.  B.  Chemisches  und  Mechanisches  „das- 
selbe" Merkmal,  nämlich  „schädlich".  „Merkmal"  ist  nicht  gleich  Reiz,  sondern 
wird  erst  aus  den  Antworten  des  Tieres  erschlossen.  Die  Nervenerregung  ist 
überall  gleich,  die  Person  des  Nerven  bestimmt  den  Reiz  —  [hier  können  wir 
Bedenken  nicht  unterdrücken].  Oft  wirken  Formumrisse  als  besondere  Reize  z.  B. 
bei  Feinden;  in  solchem  Falle  ist  im  Zentralorgan  ein  „anatomisches  Schema" 
anzunehmen,  das  mehrere  sensible  Nerven  zu  höherer  Einheit  zusammenfaßt.  Eine 
räumliche  Merkwelt  kommt  so  zu  Stande.  Aber  das  Gefüge  des  Zentralsystems 
ist  nicht  fest,  sondern  wird  vom  Protoplasma  reguliert,  wenigstens  bei  der  echten 
Handlung.  Hier  greift  eine  „objektiv  wirkende  Regel" ,  nämlich  eben  die  Hand- 
lungsregel, ein.  Man  mag  sie  mit  dem  Ref.  „Psychoid"  nennen,  ohne  aber  ent- 
scheiden zu  können,  ob  sich  eine  fremde  Apperzeption  hier  als  „Naturfaktor" 
äußert.  Wichtig  ist  der  Begriff  der  Vernichtung  des  Merkmals  z.B.  im  Ge- 
schlechtskreis, wie  denn  z.  B.  die  Gottesanbeterin  das  Männchen  nach  der  Kopu- 
lation auffrißt:  der  Geschlechtskreis  macht  dem  Nahrungskreis  Platz. 

Vollkommenheit  ist  nicht  Allmacht,  sondern  hur  lückenlose  Ausnützung  der 
Mittel.  Man  sollte  nicht  von  „Zweckmäßigkeit,  sondern  von  Weisheit  oder 
Harmonie  reden. 

Abschnitt  VI  behandelt  die  E ntstehung  der  Lebewesen.  Ein  schon  be- 
stehendes Gefüge  ist  nach  der  Funktionsregel  mechanisch  tätig.  Aber  die 
Entstehungsregel  tritt  dazu  ;  durch  die  Experimente  des  Ref.  sei  ihr  selbstän- 
diges Dasein  erwiesen:  im  Keim  ist  kein  „Gefüge",  sondern  die  Regel. 
Wichtig  ist  die  Lehre  von  den  „Zeichen"  für  Entstehung  und  für  Leistung. 
So  ist  z.  B.  eine  Fuge  ein  Zeichen  für  die  Entstehungsregel  an  Werken  der 
Technik,  Faserdehnung  ein  Leistungszeichen  an  einem  Bogen;  organisch  sind  die 
sieben  Halswirbel  bei  allen  Säugern  Entstehungs-,  die  Knochenstruktur  aber 
Leistungszeichen. 


Besprechungen  (Uexküll).  203 

Die  Mosaik-  und  die  chemische  Theorie  der  Formbildung  werden  alle  beide 
abgelehnt.  Mendel  habe  den  Nichtmechanismus  des  Organischen  schon  be- 
gründet. Das  „Gen"  gilt  als  „durch  Impulse  aktiviertes  Ferment",  Impuls  aber 
ist  der  „unräumliche  Veranlasser  räumlicher  Vorgänge".  Bei  Entstehung  des 
Organismus  ist  „eine  Einheit  vorhanden,  die  nach  einer  autonomen  Regel  das 
Geschehen  beherrscht".  Das  Dasein  des  Gefüges  hemmt  dann  die  Gefügs- 
bildung.  Vom  ,kritischen  Punkt'  an  folgt  das  Wachsen  statt  der  Entstehungs- 
der  Funktionsregel. 

Alle  Planmäßigkeit  entsteht  durch  „Subjekte":  der  Keim  ist  ein  Subjekt, 
die  Entwicklungsstadien  bestehen  aus  Subjekten  aber  sind  keine,  das  Ende  ist 
wieder  Subjekt. 

Aus  dem  sehr  bedeutsamen  7  ten,  von  der  Art  handelnden  Abschnitt  greifen 
wir  nur  das  Wesentlichste  heraus.  Phaeno-  und  Genotypus  werden  nach  Johannsen 
unterschieden.  Sodann  wird  das  Wort  ,Entwicklung'  sehr  eingehend  erörtert: 
Es  darf  nur  „Auswickeln"  bedeuten;  dann  gilt  es  aber  höchstens  von  der  Bildung 
von  Kassen  aus  Arten,  aber  nicht  von  der  Ontogenie,  welche  ja  Epigenese  ist  und 
bei  der  die  Faltenbildung  zunimmt,  während  sie  bei  einer  „Ent"-wicklung  abnehmen 
müßte;  die  Ontogenie  möchte  eher  „Ver-"wicklung  heißen.  Bei  Betrachtung  der 
Phylogenie  gilt  es  sich  vor  allem  klar  zu  werden,  daß  es  keine  unfertigen  Arten 
gibt  (es  gibt  nur  unfertige  Individuen).  Steigerung  der  Mannigfaltigkeit 
ist  das  Hauptkennzeichen  der  Stammesgeschichte.  Vielleicht  entstehen  in  ihr 
keine  neuen  Gene,  sondern  es  wechselt  nur  die  „Melodie  der  Impulsfolge"  derart, 
daß  anfangs  nicht  alle  Gene  benutzt  wurden;  vielleicht  verliert  auch  allmählich 
das  Klavier  Tasten.  Nur  material  stammen  also  die  Säuger  von  Fischen  ab. 
Warum  ändert  sich  die  Melodie?  Wir  wissen  das  nicht.  Der  Verf.  meint,  der 
Lamarekismus  denke  sich  den  phylogenetischen  Prozeß  wohl  ähnlich  wie  er,  doch 
sei  dieser  zu  anthropomorph. 

Endlich  Teil  VIII:  Die  Planmäßigkeit.  Lediglich  bei  den  Reflexen  be- 
steht nur  eine  Betriebsregel,  bei  allen  anderen  organischen  Bewegungen  kommt 
Gefüge bildung  dazu.  Die  eingehende  Erörterung  von  Reflex,  Instinkt,  plastischer 
und  Erfahrungs-handlung  ist  im  Buche  selbst  nachzulesen.  Wo  greifen  die 
Handlungs-impulse  ein,  die  formativen  taten  das  ja  bei  den  Genen?  Die  Ant- 
wort ist :  im  Protoplasma  des  Zentralorgans.  Das  Nervenprotoplasma  verhält  sich 
wie  eine  Amoebe.  Ist  doch  übrigens  schon  die  Zellteilung  nicht  mechanisch  er- 
klärbar; sie  kann  nicht  auf  einem  „Gefüge"  beruhen,  da  sich  dieses  ja  selbst 
teilen  müßte;  auch  würde  eine  Maschine  sich  abnutzen. 

Die  Baufolge  ist  nie  im  Material  gegeben.  Der  innere  Rhythmus  kennt  die 
Gesetzlichkeit  der  Welt,  welche  das  Tier  psychologisch  nicht  kennt  —  das  eben 
ist  „Weisheit".  Man  sollte  nicht  von  Anpassung,  sondern  von  Einpassung 
reden;  sie  entsteht  nach  innerem  Plan,  nicht  von  außen  aufgezwungen  und  nicht 
allmählich.  Der  Gesichtspunkt  von  „Versuch  und  Irrtum"  paßt  nie  und  nimmer 
auf  Formentstehung. 

Endlich  trägt  Uexküll  auch  noch  kurz  seine  Staatstheorie'vor,  die  wir 
aus  anderen  Schriften  von  ihm  kennen.  Von  den  Produktions-,  Tausch-,  Steuerungs-, 
Sinnes-  und  Handlungs„organen"  des  Staates  wird  geredet.  Volk  (Freiheit,  Gleich- 
heit, Brüderlichkeit)  und  Staat  (Zwang,  Ungleichheit,  Unterordnung)  werden  scharf 
geschieden. 

Warum,  so  fragt  unser  Autor  endlich,. hat  Kant  keine  „Kritik  der  Willens- 
kraft" geschrieben?  Weil  wir  von  dieser  nichts  wissen,  denn  von  Willensim- 
pulsen erfahren  wir  nichts.  — 

Eine  Kritik  im  Ganzen  kann  es  nicht  geben,  wo  der  Berichterstatter  in 
allem  Wesentlichen  mit  dem  Verfasser  geht.  Höften  wir,  daß  Uexkülls  schönes 
Werk  eine  recht  weite  Verbreitung  bei  Biologen  und  bei  Philosophen  findet; 
beide  können  es  brauchen,  auch  diese,  denn  auch  bei  ihnen  ist,  in  neukantischem 
Gewände,  der  dogmatische  Mechanismus  immer  noch  weit  verbreitet  und  hemmt 
jede  einheitliche  "Weltauffassung.  Und  auch  Belehrung  über  das  Lebendige  über- 
haupt können  viele  Philosophen  gut  gebrauchen;  so  ein  Wissen  obenhin  genügt 
eben  zur  philosophischen  Bewältigung  der  Lebensprobleme  nicht ;  was  dabei  heraus- 


204  Besprechungen  (Uexküll — Whitehead). 

kommt  oder  vielmehr  nicht  herauskommt,    sehen  wir  ungefähr  jedes  Jahr  einmal 
wieder. 

Was  das  Aeußere  des  Buches  angeht,  so  dürfte  für  eine  zweite  Auflage  ein 
die  wesentlichsten  Begriffe  berücksichtigendes  Register  und  ein  breiter  angelegtes 
Inhaltsverzeichnis  erwünscht  sein. 

Hans  Driesch  (Cöln). 

Whitehead,  A.  N.,  The  Concept  of  Nature,  Tarner.  Lectures  delivered  in 
Trinity  College,  November  1919.  Cambridge,  University  Press,  1920.  X  u.  202  Seiten, 
Preis  14  Sh. 

Dieses  Werk  bietet  eine  durch  Einstein  angeregte,  aber  von  seinen  Aus- 
führungen unabhängige  allgemeine  Relativitätstheorie.  Die  Geschwin- 
digkeit des  Lichts  als  solche  spielt  keine  ausgezeichnete  Rolle  in  ihr,  obwohl  die 
bekannte  Invariante  c  eine  wichtige  Rolle  in  ihr  spielt  als  Beziehung  zwischen 
Raumeinheit  und  Zeiteinheit,  und  der  Raum  wird  euklidisch  gefaßt. 

Das  Buch  ist  voll  von  eigenem  Denken  und,  schon  allein  wegen  der  Menge 
der  neu  definierten  Begriffe,  nicht  leicht  kurz  darzustellen.  Man  liest  am  besten 
die  zusammenfassenden  Abschnitte  VIII  und  IX,  welche  selbständige  Vorträge 
neben  den  Tarner  Lectures  wiedergeben,  zuerst. 

Natur  wird,  unseres  Erachtens  gar  zu  einfach,  definiert  als  das,  was  wir 
„bei  der  Wahrnehmung  durch  unsere  Sinne  beobachten" ;  freilich  wird  sie  dann 
für  sich  behandelt,  ohne  Beziehung  auf  ihr  Wahrgenommensein.  Weil  das  der 
Fall  sein  soll,  wird  der  Unterschied  zwischen  „subjektiven"  sekundären  und  „ob- 
jektiven" primären  Qualitäten  abgelehnt  als  falsche  „bifurcation  of  nature";  als 
falsche  „theory  of  psychic  addition".  Alle  Qualitäten  sind  objektiv;  wo  rot  ist, 
da  ist  auch  ein  bestimmtes  rein  raumzeitliches  Ereignis,  so  müsse  es  heißen 
(unseres  Erachtens  mit  Recht). 

Von  Aristoteles,  der  überhaupt  nach  Ansicht  des  Verfassers,  die  wir 
zwar  nicht  teilen,  dem  Plato  durch  die  geringere  Flüssigkeit  seiner  Begriffe 
nachsteht,  stamme  letzthin  das  übliche  Streben  nach  Auffindung  einer  Substanz, 
d.  h.  einer  Materie  in  Zeit  und  Raum,  ^iese  Lehre  von  den  „bits  of  matter"  in 
Raum  und  Zeit  sei  zu  ersetzen  durch  eine  Relationstheorie  dieser  beiden.  Die 
wahren  Relata  seien  Geschehnisse  (events),  Raum  und  Zeit  seien  Abstrak- 
tionen davon.    Vom  event  ist  der  Ausgang  zu  nehmen. 

Der  Begriff  Raum  erwächst  aus  den  wechselseitigen  Beziehungen  der  Ge- 
schehnisse in  dem  einen  Geschehnis:  ,die  Gesamtheit  der  gegenwärtigen  Natur*. 
Gleiches  gilt  von  der  Zeit.  Die  events  nämlich  haben  passage  und  duration;  es 
gibt  verschiedene  f amilies  of  duration  und  daher  verschiedeneZeitsysteme. 
Ein  moment  (im  Gegensatz  zur  duration)  ist  „all  nature  in  an  instant" ;  zwei  Mo- 
mente begrenzen  eine  duration.  Zeit  ist  in  der  Natur,  nicht  Natur  in  der  Zeit. 
Von  großer  Bedeutung  wird  der  Begriff  des  instantanen  Raumes  und  der  Succession 
solcher  Räume. 

Also  nicht,  wie  die  alte  Lehre  will,  das  Momentan-präsente  ist  die  Urausgangs- 
tatsache,  sondern  dieses :  „something  is  going  on  than-there"  —  (das  ist  gleichsam 
des  Referenten  Formel  Jetzt-Hier-So  ins  Bergs  on  sehe  übersetzt;  übrigens 
betont  der  Verfasser  diese  Verwandtschaft  mit  Bergs  on).  Ein  objeet  sei  eigent- 
lich „out  of  time". 

Das  wichtige  und  schwierige  Kapitel  IV  muß  man  selbst  lesen.  Hier  ersteht 
der  Begriff  der  Parallele,  und  zwar  zunächst  für  die  Zeit,  dann,  und  zwar  in 
euklidischem  Sinne,  für  den  Raum,  wie  denn  überhaupt  alle  Raumesordnung  von 
Zeitordnung  herstammt. 

Räume  also  sind  abstrahiert  aus  den  facts  der  Natur,  den  events.  Nun  kann 
freilich  Bewegung  kein  fact  sein,  wenn  nicht  auch  Ruhe  es  ist ;  so  gibt  es  denn 
also  auch  absolute  position,  aber  jeweils  einem  bestimmten  Zeitsystem  zugeordnet. 
Kongruenz  ergibt  sich  in  euklidischer  Form.  Immer  wieder  wird  die  Ausgangs- 
frage betont ;  „Was  ist  es,  dessen  wir  bei  unserer  Sinneswahrnehmung  von  Natur 
gewahr  werden  (that  we  are  aware  of)"  ?.    Was  dem  einen  ein  Punkt  ist,  ist  dem 


Besprechungen  (Whitehead — Weyl).  205 

anderen  eine  Linie.    Ein  physisches  öbject  ist  die  Tiabitual  occurrence  of  a  cerlain 
set  of  sense  objects  in  one  Situation. 

Zeit  und  Raum  sind  also  nur  Ausdrucksmittel  für  die  Beziehungen  zwischen 
den  Geschehnissen.  Die  Welt  läßt  sich  zwar  in  event  particles  zerlegen,  ist  aber 
nicht  aus  diesen  aufgebaut.  Event  particles  sind  points  of  instantaneous  space. 
Es  gibt  unbestimmt  viele  {indefinite)  diskordante  Zeitordnungen.  Eine  wesentliche 
Abweichung  von  Einstein  bedeutet  die  Einführung  des  Begriffs  eines  zwischen 
den  event  particles  bestehenden  impetus. 

Das  eigentlich  Präsente  ist  also  die  duration.  Die  Größe  c  besagt,  daß 
Zeit  und  Raum  really  comparable  sind;  sie  bestimmt,  wie  schon  gesagt,  die  Be- 
ziehung zwischen  den  Zeit-  und  Raum-einheiten.  Aber  das  Licht  spielt  keine 
andere  Rolle  dabei  als  etwa  der  Ton. 

Man  darf  Whiteheads  interessantes  Werk  eine  phänomenologisch  (oder 
gar  psychologisch)  gegründete  Physik  nennen.  Am  bedenklichsten  erscheint  uns 
die  allzu  rasche  Definition  des  Begriffs  Natur ,  von  der  wir  im  Eingange  redeten. 
Auch  können  wir  die  duration,  wenn  das  Wort  „Verlauf"  bedeuten  soll,  durchaus 
nicht  als  Urgegebenes  ansehen;  ich  habe  bewußt  eine  ungeheure  Mannigfaltigkeit 
des  In-  und  An -einander  der  Inhalte,  aber  keine  Mannigfaltigkeit  des  Nach- 
einander. Das  Nach-einander,  also  auch  die  duration,  ist,  wie  uns  scheint,  eine 
sehr  zusammengesetzte  Konstruktion.  Diese  Einwände  nehmen  aber  dem  scharf- 
sinnigen Buche  Whiteheads  nichts  von  seiner  großen  Anregung  für  Physiker 
und  Philosophen. 

Hans  Driesch  (Cöln). 

Weyl,  Hermann,  Raum,  Zeit,  Materie,  Vorlesungen  über  allgemeine 
Relativitätstheorie.  Berlin,  1918.  Verlag  von  Julius  Springer.  VIII  u.  234  S. 
14  Mark. 

Weyl  hat  recht,  wenn  er  das  Vorwort  seines  Buches  mit  den  Worten  be- 
ginnt: „Mit  der  Einsteinschen  Relativitätstheorie  hat  das  menschliche  Denken 
über  den  Kosmos  eine  neue  Stufe  erklommen."  Die  Theorie  ist  in  der  Tat  von 
so  großer  philosophischer  Tragweite,  daß  ein  Erkenntnistheoretiker,  und  vollends 
ein  Naturphilosph,  der  ihren  Sinn  nicht  restlos  erfaßt  hätte,  als  für  seine  Auf- 
gabe ganz  unzulänglich  ausgerüstet  anzusehen  wäre.  Deshalb  muß  jedes  Mittel, 
das  in  die  Tiefe  jener  großartigen  Theorie  hineinführt,  den  Fachgenossen  mit 
aller  Dringlichkeit  empfohlen  werden.  Weyl's  Buch  ist  ein  solches  Mittel,  und 
wer  es  zu  lesen  versteht,  wird  diesem  Führer  mit  dem  größten  Genuß  und  Nutzen 
folgen.  Der  Verfasser  steht  durchaus  über  seiner  Materie;  sein  Werk  ist  das 
erste  zusammenfassende  Lehrbuch  über  den  Gegenstand.  Es  behandelt  ihn 
in  erster  Linie  vom  Standpunkt  des  Mathematikers  und  bringt  dadurch  die  for- 
male Schönheit  und  die  Systematik  des  Aufbaus  der  Theorie  am  besten  zur 
Geltung.  Aber  auch  in  physikalischer  Hinsicht  überschaut  der  Leser  überall  die 
weitesten  Horizonte. 

Uns  aber  ist  das  wesentlichste:  die  ganze  Darstellung  ist  von  echt  philo- 
sophischem Geiste  getragen.  An  den  Anfang  und  ans  Ende  des  Buches  stellt 
der  Autor  sogar  einige  spezifisch  philosophische  Ausführungen;  freilich  möchte 
er  mir  in  ihnen,  wo  er  frei  schwebend  den  exakt-wissenschaftlichen  Boden  ver- 
läßt, weniger  glücklich  erscheinen.  In  der  Einleitung  gibt  er  einige  erkenntnis- 
theoretische Erörterungen  in  lebendigem  Stil  und  in  Husserl'scher  Terminologie, 
woraus  aber  nicht  zu  schließen  ist,  daß  Husserl's  Philosophie  in  irgend  einem  be- 
sonders innigen  Verhältnis  zur  Relativitätstheorie  stände.  Weyl  kommt  auch  in 
der  Folge  nicht  darauf  zurück.  —  In  den  Schlußbemerkungen  stellt  er  als  ein 
wichtiges  Resultat  der  Untersuchungen  hin:  „Die  Physik  handelt  garnicht  von 
dem  Materiellen,  Inhaltlichen  der  Wirklichkeit,  sondern,  was  sie  erkennt,  ist 
lediglich  deren  formale  Verfassung".  Diesem  Satze  wird  man  insofern 
zustimmen  können,  als  jede  echte  Erkenntnis  es  in  bestimmtem  Sinne  nur  mit 
Formalem  zu  tun  hat,  indem  sie  Beziehungen  zwischen  Wirklichkeitselementen 
aufdeckt,  nicht  aber  Wirkliches  unmittelbar  kennen  lehrt,   wie  das  Erleben,   die 


206  Besprechungen  (Weyl). 

Anschauung  es  tut.  Man  wird  aber  jenem  Satze  widersprechen  müssen,  wenn 
der  Begriff  des  Formalen  so  ausgelegt  wird,  wie  Weyl  es  gleich  darauf  zu  tun 
scheint,  indem  er  die  Physik  mit  der  formalen  Logik  vergleicht  und  meint, 
daß  jene  sich  zum  Reich  der  Wirklichkeit  verhalte  wie  diese  zum  Reich  der 
Wahrheit :  „Ihre  Gesetze  werden  ebenso  wenig  in  der  Wirklichkeit  jemals  verletzt, 
wie  es  Wahrheiten  gibt,  die  mit  der  Logik  nicht  im  Einklang  sind:  aber  über 
das  Inhaltlich -Wesentliche  dieser  Wirklichkeit  machen  sie  nichts  aus.  .  . ."  Wie 
läßt  sich  das  vereinen  mit  der  Tatsache,  daß  die  Physik  nicht  reine  Mathematik, 
sondern  eine  empirische  Wissenschaft  ist,  daß  also  jeder  ihrer  Sätze  —  und 
natürlich  auch  die  Relativitätstheorie  —  durch  die  Erfahrung  bestätigt  werden 
muß  und  durch  sie  widerlegt  werden  kann?  Ich  möchte  glauben,  daß  Weyl  nicht 
das  hat  sagen  wollen,  was  man  aus  diesem  Schlüsse  seines  Buches  bei  wörtlicher 
Interpretation  herauslesen  müßte,  sondern  daß  ihm  nur  die  Wahrheit  vorschwebte, 
daß  die  Physik  lediglich  Relationen  zum  Gegenstande  hat,  nicht  absolute  Gegeben- 
heiten wie  das  anschauliche  Erlebnis.  Das  ist  aber  nicht  ein  Mangel  der  phy- 
sikalischen Methode,  sondern  es  gilt  m.  E.  letzten  Endes  von  jedem  Erkennen, 
weil  es  so  im  Begriff  und  Wesen  der  Erkenntnis  überhaupt  liegt. 

Diese  wenigen  Bedenken  bezüglich  der  Formulierung  sind  aber  auch  das 
Einzige,  was  ich  gegen  Weyl's  Darstellung  zu  erinnern  hätte:  der  wichtigste 
philosophische  Gehalt  steckt  doch  in  seiner  Behandlung  des  eigentlichen  Themas, 
aus  der  uns  die  allgemeinsten  Prinzipien  der  Mathematik  und  Physik  klar  und 
groß  als  erkenntnistheoretische  Wahrheiten  entgegentreten  —  denn  allgemeinste 
Physik,  wie  überhaupt  allgemeinste  Wissenschaft,  ist  schon  Erkenntnis- 
theorie. 

Einzelne  wohl  gesicherte  Ergebnisse  der  Philosophie  der  Mathematik  finden 
bei  Weyl  eine  überaus  treffliche  Darstellung.  So  vor  allem  die  Wahrheit,  daß 
die  Geometrie  in  keiner  Weise  das  anschauliche  Wesen  des  Raumes  zu  erfassen 
und  zu  erschöpfen  vermag.  Der  Raum  der  Geometrie  ist  eine  begriffliche  Kon- 
struktion (ein  dreidimensionales  Größengebiet),  die  zur  exakten  Beschreibung  un- 
zählig vieler  erdenkbarer  Gebilde  dienen  kann  —  Weyl  greift  als  solche  u.  a. 
heraus:  „Lösungssysteme  linearer  Gleichungen",  „Gasgemische"  usf.,  und  der  „an- 
schauliche Raum"  ist  nur  eins  von  diesen  Beispielen,  die  Geometrie  stellt  nur 
eine  ihnen  allen  gemeinsame  Ordnung  dar:  „von  dem,  was  den  Raum  der  An- 
schauung zu  dem  macht,  was  er  ist  in  seiner  ganzen  Besonderheit  und  was  er 
nicht  teilt  mit  .  .  .  „Gasgemischen"  und  „Lösungssystemen  linearer  Gleichungen", 
enthält  die  Geometrie  nichts"  (S.  23).  Da  also  der  Raum  der  Geometrie  schlechthin 
unanschaulich  ist,  so  kann  niemals  irgend  eine  Geometrie,  sei  sie  euklidisch 
oder  nichteuklidisch,  Anspruch  auf  absolut  einzige  Geltung  für  den  Raum  unserer 
Anschauung  machen. 

Um  der  Sache  willen  sei  die  Bemerkung  gestattet,  daß  eben  hierdurch  der 
öfters  gehörte,  auch  von  V.  Henry  in  den  Kantstudien  (XXIII,  S.  351  ff.,  Be- 
sprechung meiner  Schrift  über  „Raum  und  Zeit  in  der  gegenwärtigen  Physik") 
gegen  die  Relativität  der  Raumbestimmungen  erhobene  Einwand  seine  Erledigung 
findet.  Nach  diesem  Einwand  soll  die  Anschauung  uns  doch  eine  bestimmte 
Geometrie  als  die  allein  richtige  aufzwingen  müssen,  obwohl  die  Erfahrung 
dies  nicht  tue.  —  Darüber  muß  man  sich  auf  jeden  Fall  klar  sein:  wer  an  eine 
(durch  die  Anschauung  zwangsläufig  bestimmte)  Geometrie  glaubt,  muß  die  All- 
gemeine Relativitätstheorie  verwerfen,  weil  die  letztere  die  Verwendung  ver- 
schiedener geometrischer  Maßbestimmungen  in  der  Natur  schlechthin  fordert, 
und  er  muß  die  Konsequenzen  tragen.  Es  geht  nicht  an,  zu  sagen,  man  stehe 
als  Physiker  auf  dem  Boden  der  Allgemeinen  Relativitätstheorie,  lehne  aber  als 
Philosoph  oder  als  Mathematiker  die  geometrische  Relativität  des  Raumes  ab, 
denn  sie  ist  integrierender  Bestandteil  der  Einstein'schen  Theorie,  und  die  ist 
entweder  wahr  oder  falsch.  Das  Erkennen  ist  nur  eines.  Jede  echte  Erkenntnis 
ist  als  solche  allgemeingültig,  aus  welcher  Einzelwissenschaft  sie  auch  stamme, 
und  wenn  die  Physik  eine  Wahrheit  über  Raum  und  Zeit  findet,  so  gilt  sie  auch 
für  den  Geisteswissenschaftler.  Verbindet  letzterer  mit  den  Worten  Raum  und 
Zeit  (nicht  mit   den  Begriffen,   wie  Henry  a.a.O.  S.  354  sagt)  einen  andern 


Besprechungen  (Weyl — Wundt).  207 

Sinn,  etwa  den  des  Anschaulichen,  so  kann  das  wohl  Anlaß  zu  Mißverständnissen 
geben,  aber  sachlich  nichts  ändern.  Weil  die  Geometrie  im  modernen  Sinne  über 
das  anschaulich  Räumliche  überhaupt  nichts  aussagt,  haben  Psychologie  und 
Geisteswissenschaften  hier  völlig  freie  Hand;  deshalb  kann  aber  auch  die  An- 
schauung (nicht  bloß  die  Erfahrung)  dem  geometrischen  Raum,  welchen  die 
Physik  benutzt,  keinerlei  Gesetze  aufzwingen.  Ich  hatte  diesen  Schluß  im  letzten 
Kapitel  der  oben  erwähnten  Schrift  (S.  55  der  ersten,  S.  81  der  dritten  Auflage) 
gezogen;  Henry  hat  seine  Kritik  nur  an  die  Ausführungen  der  ersten  Kapitel 
angeschlossen. 

Wir  wollen  aus  dieser  Abschweifung  die  Lehre  ziehen,  den  philosophischen 
Gehalt  der  relativitätstheoretischen  Sätze  nicht  deshalb  zu  unterschätzen,  weil  sie 
den  Einzelwissenschaften  der  Mathematik  und  Physik  entstammen,  sondern  sie 
im  Gegenteil  recht  zu  studieren,  damit  ihre  Weltanschauung  bildende  Kraft  sich 
voll  auswirken  kann.  Sie, werden  von  Weyl  in  wahrhaft  souveräner  Weise  vor- 
geführt und  begründet.  Seine  Darstellung,  wie  schon  der  Titel  seines  Werks, 
läßt  trefflich  hervortreten,  daß  die  moderne  exakte  Wissenschaft  nicht  bloß  die 
Begriffe  von  Raum  und  Zeit  gänzlich  modifiziert,  sondern  auch,  was  weniger  be- 
kannt ist,  nicht  minder  den  Begriff  der  Materie.  In  Zukunft  wird  keine  Natur- 
philosophie ihrer  Aufgabe  gerecht  werden  können,  die  nicht  auch  diese  Seite  der 
neuen  Ergebnisse  voll  berücksichtigt  und  Rechenschaft  zu  geben  sucht  von  jenen 
noch  dunkelen  Verhältnissen,  die  Weyl  sehr  schön  auseinandersetzt  in  seinen 
Darlegungen  über  die  Beziehung  zwischen  „Materie"  und  „Feld",  über  den  Gegen- 
satz von  „Substanzphysik"  und  „Feldphysik".  Um  zu  feigen,  mit  welcher  Kühn- 
heit auch  exaktes  Denken  sich  in  der  Relativitätstheorie  zu  Höhen  erhebt,  die 
den  mutigsten  Metaphysiker  schwindeln  machen  könnten,  will  ich  noch  einige 
Sätze  aus  dem  letzten  Kapitel  zitieren  (S.  220):  „.  .  .  es  kann  also  prinzipiell 
geschehen,  daß  ich  jetzt  künftige  Ereignisse  miterlebe,  die  zum  Teil  erst  eine 
Wirkung  meiner  künftigen  Entschlüsse  und  Handlungen  sind.  Auch  ist  es  nicht 
ausgeschlossen,  daß  ...  die  Weltlinie  meines  Leibes  in  die  Nähe  eines  Welt- 
punktes zurückkehrt,  den  sie  schon  einmal  passierte.  Daraus  würde  dann  ein 
radikaleres  Doppelgängertum  resultieren,  als  je  ein  E.  T.  A.  Hoffmann  aus- 
gedacht hat." 

Weyl's  Buch  stellt  hohe  Anforderungen  an  den  Leser.  An  mathematischen 
Kenntnissen  setzt  es  zwar  nicht  viel  voraus,  nur  das  gewöhnliche  Handwerkszeug 
der  höheren  Analysis,  denn  ein  großer  Vorzug  des  Werkes  besteht  gerade  darin, 
daß  die  zur  Beherrschung  der  Theorie  nötigen  komplizierteren  mathematischen 
Hilfsmittel  alle  erst  im  Buche  selbst  abgeleitet  werden;  jedoch  in  hohem  Maße 
wird  vom  Leser  die  Fähigkeit  verlangt,  mathematischen  Gedankengängen  ab- 
straktester Natur  zu  folgen.  Wer  sie  mitbringt,  wird  unter  allen  Umständen  aus 
dem  Buche  sehr  vieles  lernen   und  hohen  philosophischen  Gewinn  davontragen1). 

Rostock.  M.  Schlick. 

Wundt,  Wilhelm,  Logik.  Eine  Untersuchung  der  Prinzipien  der 
Erkenntnis  und  der  Methoden  wissenschaftlicher  Forschung. 
3  Bände.  1.  Band:  Allgemeine  Logik  und  Erkenntnistheorie.  4.  neubearbeitete 
Auflage.  Stuttgart  1919,  Verlag  von  Ferdinand  Enke.  654  Seiten,  br.  30  Mk.; 
geb.  36  Mk.  (+  10  %  Sortiments-Aufschlag). 

Fast  überwältigt  steht  man  vor  dem  Umfang  des  Lebenswerkes,  das  sich  an 
Wundts  Namen  knüpft.  Wohl  wahr,  daß  seinen  Büchern  eine  letzte,  aufwühlende 
Tiefe  fehlt,  daß  der  Pulsschlag  aufbohrenden  Grübelns  in  ihnen  nicht  spürbar  ist, 
daß  sie  dem  Auge  nicht  neue  Welten  von  ungeahnter  Weite  eröffnen:  trotzdem 
bleibt  noch  genug,  um  unsere  volle  Bewunderung  für  sie  wachzurufen.  Nicht 
nur  die  Zahl  der  von  Wundt  bemeisterten  Gebiete  und  demgemäß  auch  die  Zahl 


1)  Anmerkung  bei  der  Korrektur.  Seit  dies  Referat  (vor  mehr  als  zwei 
Jahren)  geschrieben  wurde,  hat  Weyls  Buch  seine  Anziehungskraft  auf  die  Leser 
schon  in  drei  neuen  Auflagen  bewährt. 


208  Besprechungen  (Wundt — Ziehen).? 

seiner  Bücher,  von  denen  fast  jedes  viele  Hunderte  von  Seiten  umfaßt,  sondern 
auch  die  Kraft  und  Klarheit,  die  logische  Disziplin  und  Umsicht,  die  Sicherheit 
und  technische  Reinheit  seiner  Untersuchungen  nötigen  gleichermaßen  zur  Be- 
wunderung. Wie  muß  ein  Geist  organisiert  sein,  über  welche  Arbeitsökonomie 
muß  er  verfügen,  um  derartige  Leistungen  hervorzubringen. 

Nun  hat  uns  seine  bis  in  das  Greisenalter  unverwelkliche  Arbeitsfrische 
eine  Neubearbeitung  des  1.  Bandes  seiner  Logik  geschenkt.  Das  Vorwort  trägt 
das  Datum:  Januar  1919.  Gestorben  ist  Wundt  Anfang  September  1920.  Kein 
Zeichen  schwächer  werdender  Kraft  des  beinahe  achtzigjährigen  Gelehrten  macht 
sich  in  dem  umfangreichen  Buche  geltend.  Da  es  sich  um  ein  in  der  philo- 
sophischen Welt  längst  eingebürgertes  Grundwerk  handelt,  seien  hier  nur  seine 
Leitgedanken  ganz  knapp  wiedergegeben.  Aufgebaut  sind  die  Untersuchungen 
nicht  im  Anschluß  an  die  logische  Tradition,  die  nur  hin  und  wieder  heran- 
gezogen und  benutzt  worden  ist,  sondern  ihre  Grundlagen  liefern  „das  lebendige 
Zeugnis  des  Denkens  in  der  Sprache  sowie  die  gesicherten  und  erfolgreichen  Me- 
thoden des  Erkennens  in  der  wissenschaftlichen  Forschung"  (S.  V).  „Neben  der 
Aufzeigung  der  tatsächlich  von  dem  wissenschaftlichen  Denken  geübten  Gesetze 
des  Erkennes  bat  sich  das  vorliegende  Werk  die  Aufgabe  gestellt,  jene  von  den 
positiven,  insonderheit  den  exakten  Wissenschaften  stillschweigend  angenommene 
Erkenntnistheorie  in  ihrer  logischen  Eigentümlichkeit  zu  entwickeln  und  zu  be- 
gründen" (S.  VII).  Von  zwei  einflußreichen  Richtungen  in  der  neueren  Logik 
unterscheidet  es  sich  besonders  deutlich :  Von  John  Stuart  Mills  empiristisch- 
psychologistischer  Logik,  die  auf  einer  „ziemlich  oberflächlichen  Assoziationspsycho- 
logie" beruht,  und  von  Franz  Brentanos  und  seiner  Schule  (Husserl)  tho- 
mistisch  gefärbter,  also  eine  Erneuerung  des  scholastischen  Schematismus  be- 
fördernder Logik  als  reiner  Begriffswissenschaft.  Gegenüber  der  empiristisch- 
psychologistischen  Logik  vertritt  Wundt  den  Standpunkt,  daß  „während  die  Psy- 
chologie uns  lehrt,  wie  sich  der  Verlauf  unserer  Gedanken  wirklich  vollzieht", 
die  Logik  festzustellen  habe,  „wie  er  sich  vollziehen  soll,  damit  er  zu  wissen- 
schaftlichen Erkenntnissen  führe"  (S.  1).  Hiernach  ist  ihm  die  Logik  eine  nor- 
mative Wissenschaft,  ähnlich  der  Ethik.  Gegenüber  der  formalistischen  Rich- 
tung Bolzanos  betont  er,  daß  es  unerläßlich  sei,  die  in  dem  Betrieb  der  Wissen- 
schaften in  Anwendung  befindlichen  allgemeinen  Erkenntnisprinzipien  und  die  in 
der  wissenschaftlichen  Forschung  tatsächlich  befolgten  Verfahrungs weisen  genau 
zu  berücksichtigen.  Aus  diesem  Grunde  müssen  auch  die  Gesetze  des  logischen 
Denkens,  sollen  sie  nicht  als  gegebene,  unerklärbare  Tatsachen  gelten,  bei  ihrem 
Ursprung  in  der  inneren  Erfahrung  aufgesucht  werden.  So  hat  die  wissenschaft- 
liche Logik  nach  Wundts  Ueberzeugung  folgende  Teile:  1)  Darstellung  der 
logischen  Normen;  2)  eine  psychologische  Entwicklungsgeschichte  des  Denkens; 
3)  eine  Untersuchung  der  Grundlagen  und  Bedingungen  der  Erkenntnis;  4)  eine 
Analyse  der  logischen  Methoden  wissenschaftlicher  Forschung.  Die  durch  diese 
Angaben  bezeichneten  theoretischen  Grundforderungen  finden  nun  in  dem  Werke 
eine  bis  aufs  Einzelne  gehende,  weitausgespannte,  von  unerschütterlicher 
wissenschaftlicher  Ruhe  und  Bestimmtheit  getragene  Erfüllung.  Es  beruht  auf 
einer  verblüffenden  Beherrschung  des  ganzen  Kreises  der  wissenschaftlichen  Er- 
kenntnis, deren  Grundlagen  und  Methoden  in  seltener  Vollständigkeit  aufgedeckt 
und  in  ihrer  logischen  Bedeutung  und  praktischen  Geltung  zu  klarer  Entwicklung 
gebracht  werden. 

Berlin.  Arthur  Lieber t. 

Ziehen,  Th.,  Dr.,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Halle,  Lehrbuch  der 
Logik  auf  positivistischer  Grundlage  mit  Berücksichtigung 
der  Geschichte  der  Logik.  Bonn  1920,  A.Marcus  und  E.Webers  Verlag. 
VIII  u.  866  S.     br.  47,50  Mk.,  geb.  in  Ganzleinen  55,50  Mk.,  in  Halbfranz.  59,50  Mk. 

Im  1.  Teil  seines  umfangreichen  Werkes  bietet  Ziehen  nach  einleitenden 
Bemerkungen  über  die  Aufgabe  der  Logik  eine  „allgemeine  Geschichte"  derselben 
(S.  17—240),  welche,  wenn  auch  nicht  ganz  lückenlos,  so  doch  in  weitestem  Um- 


Besprechungen  (Ziehen).  209 

fange  die  neueste  Literatur  berücksichtigt.  Im  2.  Teil  folgt  dann  eine  „Er- 
kenntnistheoretische, psychologische,  sprachliche  und  mathematische  Grundlegung 
der  Logik".  Was  zunächst  die  erkenntnistheoretische  Grundlegung  betrifft,  so 
hat  die  Erkenntnislehre  oder  „Gignomenologie",  wie  Z.  sie  nennt,  die  Aufgabe, 
„das  Gegebene  und  seine  Veränderungen"  (wozu  auch  die  Denkvorgänge  gehören) 
„nach  Aehnlichkeiten  zu  ordnen  und  dadurch  zu  den  allgemeinen  Klassen  und 
Gesetzen  des  Gegebenen  zu  gelangen.  Die  Logik  hat  an  den  Ergebnissen  dieser 
gignomenologischen  Untersuchungen  insoweit  ein  wesentliches  Interesse,  als  die 
Abgrenzung  ihres  eigenen  Gegenstandes,  des  Denkens,  zu  diesen  Ergebnissen 
gehören  muß,  wofern  das  Denken  überhaupt  ein  besonderer,  abgegrenzter  Gegen- 
stand ist".  Freilich  sind  diese  Ergebnisse  fast  in  jeder  Beziehung  strittig  und 
„nicht  einmal  über  die  Formulierung  der  Grundfrage  besteht  irgendwelche  Einig- 
keit". Trotzdem  hat  die  Logik  die  Pflicht  und  das  Recht,  eine  erkenntnis- 
theoretische Grundlegung  ihres  Gegenstandes  zu  „versuchen".  Diese  kann  freilich 
nur  in  dem  Sinn  eine  Grundlegung  sein,  „daß  sie  für  die  Gesetze  der  Logik  er- 
kenntnistheoretische Gesichtspunkte  aufstellt,  welche  für  die  Deutung  der 
logischen  Gesetze  grundlegend  sein  können",  nicht  in  dem,  daß  sie  die  Gesetze 
der  Logik  von  erkenntnistheoretischen  Sätzen  abhängig  macht. 

Ziehen  will  nun  so  verfahren,  daß  er  „aus  der  Geschichte  der  Philosophie 
die  wichtigsten  bisher  aufgestellten  erkenntnistheoretischen  Abgrenzungen  des 
Denkens  kritisch  zusammenstellt  und  dann  unter  allen  Vorbehalten  und 
ohne  Bindung  einer  bestimmten  den  Vorzug  gibt". 

Die  wichtigsten  erkenntnistheoretischen  Standpunkte  sind  nach  ihm  der 
psychophysische  Dualismus,  der  „Egotismus",  der  Idealismus,  der  Phänomenalismus, 
der  Logizismus  und  endlich  sein  eigener,  der  „Binomismus".  Dieser  bestreitet, 
daß  die  Gegenüberstellung  „psychisch-materiell"  berechtigt  sei,  leugnet  im  Gegen- 
satz zum  „Egotismus",  daß  ein  universales  Ich  oder  individuelle  Ichs  als  be- 
sondere Wirklichkeiten  irgendwie  existieren,  behauptet  dem  Phänomenalismus 
gegenüber,  daß  die  Zerlegung  des  Gegebenen  in  unerkennbare  Dinge  an  sich  und 
apriorische  Anschauungs-  und  Denkformen  nicht  zulässig  sei,  will  vielmehr  nur 
zwei  Hauptarten  gesetzlicher  Beziehungen  im  Gegebenen  anerkennen,  die  Kausal- 
gesetze und  die  „Parallelgesetze",  welche  letzteren  sich  im  einfachsten  Falle  z.  B. 
auf  „die  Zuordnung  einer  bestimmten  Sinnes qualität  zu  einer  bestimmten  Hirn- 
rindenerregung" beziehen.  Unter  die  Parallelgesetze  fällt  aber  nicht  nur  das 
Empfinden,  sondern  auch  das  gesamte  Denken,  denn  auch  bei  diesem  handle  es 
sich  „um  Rückwirkungen  von  Rindenelementen". 

Auf  Ziehens  Kritik  der  gegnerischen  Standpunkte  oder  auf  seine  eigene 
extrem  empiristische  Erkenntnislehre  (vgl.  z.  B.  S.  257  die  sonderbare  Wider- 
legung des  Kantischen  a  priori)  im  einzelnen  einzugehen  ist  um  so  weniger  nötig, 
als  er  S.  261  nochmals  „nachdrücklich"  betont,  „daß  die  Lehren  der  formalen 
Logik  auch  unabhängig  von  diesem  oder  jenem  erkenntnistheoretischen  Standpunkt 
als  solche  zu  recht  bestehen,  und  daß  die  erkenntnistheoretische  Grundlegung 
im  wesentlichen  nur  die  Stellung  der  logischen  Lehren  im  Gesamtsystem  der  Philo- 
sophie betrifft". 

Die  „Psychologische  Grundlegung"  wird  eingeleitet  durch  die  Bemerkung, 
daß  die  Psychologie  für  die  Logik  unentbehrlich  sei,  weil  alle  Untersuchungen 
der  letzteren  „von  den  tatsächlich  gegebenen  Denkvorgängen  des  einzelnen  Indi- 
viduums, also  psychologischen  Vorgängen,  ausgehen".  Die  psychologische  Grund- 
legung verfolge  daher  den  Zweck,  „die  sichergestellten  Untersuchungsergebnisse 
der  Psychologie  bezüglich  der  Denkvorgänge  zusammenzustellen,  soweit  sie  für  die 
Logik  in  Betracht  kommen".  Stark  eingeschränkt  wird  die  Bedeutung  der  dann 
folgenden  Ausführungen  durch  die  Feststellung,  „daß  keineswegs  Uebereinstimmung 
besteht  über  dasjenige,  was  als  sichergestelltes  Untersuchungsergebnis  der  Psycho- 
logie betrachtet  werden  kann.  Je  weiter  wir  uns  von  der  Psychologie  der 
Empfindungen  entfernen  und  der  Psychologie  der  Vorstellungen  und  Denkvor- 
gänge nähern,  um  so  größer  wird  der  Zwiespalt  der  Meinungen". 

Ziehen  will  selbstverständlich  allenthalben  seine  eigene  Ansicht  zugrunde 
legen,   aber   doch  auch  die  abweichenden  Auffassungen  anderer  Forscher  berück- 

Kautsmdion  XXVI.  14 


210  Besprechungen  (Ziehen). 

sichtigen.  Ich  hebe  zunächst  hervor,  was  er  über  „Generalisation",  d.  i.  Bildung 
von  Allgemeinvorstellungen  sagt.  Sie  besteht  darin,  „daß  mehr  oder  weniger 
zahlreiche  individuelle  Erinnerungsbilder  auf  Grund  von  Aehnlichkeit  in  einer 
ganz  besonderen  Weise  zu  einer  Einheit  zusammengefaßt  werden.  So  bilde  ich 
z.  B.  aus  den  Erinnerungsbildern  vieler  einzelner  Fahrräder  die  Allgemeinvor- 
stellung (Generalvorstellung)  Fahrrad".  Im  Verfolg  der  Erörterung  spricht  Z. 
dann  auch  von  einer  „Allgemeinvorstellung  Wasserstoffatom",  wobei  unklar  bleibt, 
inwieweit  dieselbe  auf  „Erinnerungsbilder"  zurückgehen  soll.  Meines  Erachtens 
besitzen  solche  Allgemeinvorstellungen,  auch  wenn  sie  —  was  nicht  unbestritten 
ist  —  wirklich  vorhanden  sind,  nicht  die  „grundlegende  Bedeutung  für  einen 
großen  Teil  der  Logik",  die  ihnen  von  Ziehen  und  anderen  zugeschrieben  wird. 
Denn  mit  der  Bildung  der  Begriffe,  welche  hier  in  erster  Linie  in  Betracht 
kommen  würden,  haben  diese  Allgemeinvorstellungen  jedenfalls  wenig  zu  tun. 
Angenommen,  das  Kind  hätte  durch  irgendwie  geartete  Zusammenfassung  von 
hundert  Erinnerungsbildern  verschiedener  Uhren  eine  Allgemeinvorstellung  ge- 
bildet, so  hätte  es  für  den  Begriff  Uhr  (Instrument  zum  Messen  der  Zeit) 
noch  nicht  die  mindeste  Grundlage.  Wenn  es  dagegen  auch  nur  bei  einer  ein- 
zigen Uhr  den  Zweck  „begriffen"  hat,  so  besitzt  es  mit  einem  Schlage  den  Begriff 
Uhr  und  ist  imstande,  ihn  auf  die  dem  Aussehen  nach  verschiedenartigsten  Uhren, 
Taschenuhren,  Wanduhren,  Turmuhren,  ja  selbst  auf  Sonnen-  und  Sanduhren  anzu- 
wenden, obwohl  nicht  einzusehen  ist,  wie  von  diesen  allen  eine  auf  Erinnerungs- 
bildern  beruhende   zusammenfassende  „Allgemeinvorstellung"   möglich  sein  sollte. 

Auch  für  die  logischen  Urteile  gibt  es,  wie  Ziehen  in  Uebereinstimmung 
mit  anderen  Forschern  meint,  eine  psychologische  Grundlage,  nämlich  die  „Ideen- 
assoziation". Er  unterscheidet  zwei  Formen  derselben,  die  „disparate  Ideen- 
assoziation" und  die  „Urteilsassoziation".  „Wenn  jemand  in  mir  z.  B.  durch 
Zuruf  die  Vorstellung  Kose  weckt  und  mir  fällt  Frühling  ein,  so  handelt  es  sich 
um  eine  disparate  Assoziation.  Wenn  ich  auf  denselben  Zuruf  hin  denke:  die 
Rose  blüht  im  Frühling,  so  liegt  eine  Urteilsassoziation  vor".  Zwischen  beiden 
finden  sich  zwar  in  der  Praxis  mannigfache  Uebergänge,  aber  prinzipiell  sind  sie 
doch  leicht  zu  unterscheiden.  „Bei  der  disparaten  Vorstellungsfolge  >  Rose  .  .  . 
rot  <  verknüpft  keine  der  drei  Differenzierungsfunktionen  die  Vorstellungen  Rose 
und  rot,  und  insbesondere  steht  es  mir  frei,  die  Rose  als  an  einem  Orte  und  zu 
einer  Zeit  und  das  Rot  als  an  einem  anderen  Orte  und  zu  einer  anderen  Zeit 
befindlich  zu  denken ;  bei  dem  Urteil  >  die  Rose  ist  rot  <  werden  die  Vorstellungen 
Rose  und  rot  durch  die  Differenzierungsfunktionen  mit  einander  verbunden,  indem 
das  rot  auf  Rose  irgendwie  bezogen  wird,  und  insbesondere  werden  Rose  und 
rot  als  an  demselben  Ort  und  zu  derselben  Zeit  befindlich  gedacht".  Die  „Diffe- 
renzierungsfunktionen", von  denen  hier  die  Rede  ist,  sind  nach  S.  344  die  ana- 
lytische, die  synthetische  und  die  vergleichende. 

Diese  Neigung,  der  logischen  Urteilslehre  eine  psychologische  Grundlegung 
zu  geben,  oder,  worauf  es  im  Grunde  hinausläuft,  auch  das  logische  Urteil  in 
Abhängigkeit  von  psychomechanischen  Prozessen  zu  bringen,  führt  m.  E.  schon 
darum  zu  Schwierigkeiten,  weil  die  logischen  Urteile,  mit  denen  die  Wissenschaften 
operieren,  Begriffe  voraussetzen  und  die  in  den  Wissenschaften  verwendeten  Be- 
griffe, wie  oben  schon  angedeutet  wurde,  nicht  auf  psychomechanischem  Wege 
entstehen  können.  Den  näheren  Nachweis  habe  ich  im  3.,  4.  und  5.  Kapitel  des 
2.  Bandes  meiner  Untersuchungen  zur  Logik  geliefert,  wo  die  Begriffssysteme 
der  wichtigsten  Wissenschaften  im  einzelnen  untersucht  worden  sind.  Wir  werden 
nach  meiner  Ueberzeugung  in  den  wichtigsten  Fragen  der  Logik  niemals  zu- 
sammenkommen, solange  die  Logiker  ihre  Deduktionen  nicht  auf  die  Praxis  der 
Wissenschaften  beziehen.  Aehnliche  Bedenken  habe  ich  gegen  den  Versuch 
Ziehens,  der  Lehre  vom  Schluß  einen  psychologischen  Unterbau  zu  geben.  Die 
Einmischung  psychologischer  Gesichtspunkte  wirkt  verwirrend. 

In  den  beiden  folgenden  Kapiteln,  der  „sprachlichen"  und  der  „mathe- 
matischen" Grundlegung  der  Logik  (S.  402—416)  behandelt  Z.  kurz  die  Be- 
ziehungen zwischen  Sprechen  und  Denken,  das  Problem  einer  logischen  Ideal- 
sprache und  den  Grundgedanken  der  mathematischen  (algebraischen)  Logik. 


Besprechungen  (Ziehen).  211 

Nach  diesen  vorbereitenden  Untersuchungen  kommt  Z.  im  3.  Teil  zur  Sache 
selbst  und  zwar  mit  einer  „autochthonen  Grundlegung  der  Logik".  Es  handelt 
sich  dabei  darum,  „auf  dem  Boden  der  erkenntnistheoretischen  und  psycholo- 
gischen Grundlegung  eine  dem  speziellen  Ziel  der  Logik  angepaßte  allgemeine 
Grundlage  für  die  spezifisch  logischen  Untersuchungen  zu  gewinnen".  Diese 
haben  es  mit  der  formalen  Richtigkeit  der  Denkakte  zu  tun.  Als  Kriterium 
für  dieselbe  genügt  nicht  die  innere  Widerspruchslosigkeit.  Die  Quelle  des 
formal  unrichtigen  Denkens  erblickt  Z.  in  der  durch  die  Veränderlichkeit  der 
Vorstellungen  ermöglichten  Vorstellungs Verwechslung  oder  „Alienation".  „Die 
sog.  Quaternio  terminorum,  ein  logischer  Fehler,  der  in  der  Verwendung  eines 
Terminus  in  doppelter  Bedeutung  besteht,  kann  daher  geradezu  als  ein- 
fachstes Paradigma  für  alle  Unrichtigkeiten  der  Denkakte 
überhaupt  gelten". 

Dieser  Gefahr  der  „Alienation"  zu  begegnen  hilft  der  Logik  das  „logische 
Identitätsprinzip".  Es  gibt  nach  Z.  auch  ein  „gignomenologisches  Identitäts- 
gesetz",  welches  darin  besteht,  daß  es  unmöglich  ist,  zu  denken  und  zugleich 
nicht  zu  denken.  Insoweit  kann  man  von  einer  „Eindeutigkeit  des  psychischen 
Geschehens,  speziell  des  Denkens"  sprechen. 

Ueber  dieses  psychologische  Gesetz  geht  die  Logik,  um  sich  vor  der  Gefahr 
der  „Alienation"  zu  schützen,  hinaus,  indem  sie  „zu  der  tatsächlichen  momen- 
tanen Eindeutigkeit  die  ideale  Annahme  einer  dauernden  Eindeutigkeit,  d.h. 
Unveränderlichkeit"  hinzufügt,  d.  i.  „den  veränderlichen  tatsächlichen  Ding- 
vorstellungen unveränderlich  gedachte  logische  Vorstellungen"  gegenüberstellt. 
„Jedem  Gegenstand  ordnen  wir  auf  Grund  des  neuen  Prinzips  ein  oder ,  wenn 
entsprechende  materiale  Grundlagen  vorhanden  sind,  mehrere  unveränderliche 
A.'s  (Gesamtvorstellungen,  desgl.  Merkmal-,  Gattungsvorstellungen)  zu".  Diese 
eindeutigen  „Idealvorstellungen"  nennt  Z.  dann  „Normalvorstellungen"  oder  auch 
Begriffe. 

Im  1.  Kapitel  des  4.  Teils  wendet  sich  Z.  sodann  einer  näheren  Ausführung 
der  Begriffslehre  zu.  Sie  enthält  im  einzelnen  treffende  Bemerkungen,  ohne  daß 
man  im  Ganzen  viel  Neues  erfährt.  Dasselbe  gilt  von  der  Lehre  vom  Urteil, 
welches  er  zusammenfassend  definiert  als  „ein  wenigstens  zwei  Begriffe  (Normal- 
vorstellungen) enthaltendes  psychisches  Gebilde,  dessen  Begriffe  durch  Differen- 
zierungsfunktionen konstant  verknüpft  und  speziell  bezüglich  ihrer  Individual- 
koeffizienten  in  konstanter  Weise  als  vollständig  oder  partiell  sich  deckend  ge- 
dacht werden,  und  das  sowohl  als  ein  sukzessiver  Prozeß  wie  als  ein  fertiges 
Ergebnis  aufgesetzt  werden  kann". 

Zusammenfassend  möchte  ich  Ziehens  Werk  als  ein  bemerkenswertes 
Beispiel  einer  psychologistisch  gerichteten  Behandlung  der  Logik  bezeichnen. 
Der  wissenschaftliche  Wert  des  Buches  beruht  m.  E.  hauptsächlich  auf  den 
sorgfältigen  historischen  Nachweisen,  die  sich  keineswegs  auf  die  im  1.  Teil 
gebotene,  die  älteren  geschichtlichen  Darstellungen  in  dankenswerter  Weise 
ergänzende  „allgemeine  Geschichte  der  Logik"  beschränken,  sondern  auch  den 
einzelnen  Kapiteln  angefügt  sind.  Wenn  man  über  literarische  Fragen  Belehrung 
sucht,  wird  man  sie,  durch  die  ausführlichen  Register  unterstützt,  in  den  meisten 
Fällen  in  dem  Ziehen'schen  Werke  finden. 

Münster.  Wilhelm  Koppel  mann. 


14* 


Selbstanzeigen. 


Apel,  Max,  Dr.,  Einführung  in  Kants  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft. 72  Seiten.  4  Mk.  u.  Sortimentszuschlag.  Volksschulbuch  -  Verlag  Char- 
lottenburg. — 

Das  Büchlein  enthält  Stellen  aus  der  Vorrede  zur  1.  u.  2.  Auflage,  der  Einlei- 
tung, der  transzendentalen  Aesthetik  und  der  transzendentalen  Deduktion  nebst 
ausführlicher  Erläuterung.  Das  Heft  will  so  eine  Einführung  in  das  Studium  der 
kritischen  Philosophie  geben  und  kann  als  Ersatz  meines  vergriffenen  Kommentars 
zu  Kants  Prolegomenen  dienen.  Dr.  Max  Apel. 

Birnbaum,  Karl,  Psychopathologische  Dokumente.  Selbstbekenntnisse 
und  Fremdzeugnisse  aus  dem  seelischen  Grenzlande.   Berlin,  Verlag  J.  Springer  1920. 

Die  vielgestaltigen  Beziehungen  des  Pathologischen  —  pathologisch  nicht 
nur  in  dem  engen  Alltagssinne  der  Geisteskrankheit  —  zu  den  Erscheinungen  des 
geistigen  und  kulturellen  Lebens  haben  zwar  von  jeher  aufs  stärkste  das  Interesse 
gefesselt,  sind  aber  wirklich  gründlich  bisher  nur  insoweit  gewürdigt  worden,  als 
sie  sich  auf  die  Minder  werte,  die  Verfallserscheinungen:  Selbstmord,  Vagabun- 
dage, Prostitution,  Verbrechen  usw.  erstrecken.  Ihr  Gegenpol:  die  menschlich 
reizvolleren  und  kulturell  bedeutsameren  Zusammenhänge  mit  den  seelischen  II  o  c  h- 
werten  wurden  teils  glatt  vernachlässigt,  teils  wie  in  dem  Lombrososchen  Schlag- 
wort von  „Genie  und  Irrsinn"  viel  zu  grobschlächtig  erfaßt  und  bearbeitet,  als 
daß  die  gerade  hier  vorliegende  Kompliziertheit  des  Zusammenspiels,  die  Fülle 
beziehungsreicher  Nüanzen  und  die  Subtilität  der  daran  geknüpften  Problemstel- 
lungen voll  zur  Geltung  kommen  konnte.   . 

Die  Psychopathologischen  Dokumente  versuchen  hier  ein  neues  Fundament 
zu  schaffen,  dessen  weiterer  Ausbau  vielleicht  einmal  wird  übersehen  lassen,  mit 
welchem  Formenreichtum  das  Pathologische  in  alle  geistigen  Lebens-  und  Kultur- 
sphären —  künstlerische,  religiöse,  weltanschauliche  usw.  —  ausstrahlt,  und  mit 
welcher  Vielgestaltigkeit  es  sie  beeinflußt.  Sie  bieten  zunächst  ein  einwandfreies 
Material  dar,  indem  sie,  stets  auf  die  Quellen  zurückgreifend,  aus  Lebensurkunden 
aller  Art :  aus  Tagbüchern,  Briefen,  Memoiren  u.  dgl.  allenthalben  aus  dem  in- 
neren und  äußeren  Leben  überragender  Menschen  herausholen,  was  irgend  welche 
Beziehungen  zum  Abnormen  aufweist.  Sie  ordnen  dann  weiter  die  so  gewonnenen 
psychopathologischen  Erscheinungen  derart,  daß  ihre  fließenden  Uebergänge,  ihre 
äußeren  Analogien  und  inneren  Zugehörigkeiten  zu  jenen  Hochwerten  von  selbst 
sich  herausheben  und  herausschälen.  Was  sich  gegen  die  hierbei  geübte  Auffas- 
sung und  Verwertung  des  heiklen  Begriffs  des  Pathologischen  prinzipiell  ein- 
wenden läßt,  darauf  einzugehen,  ist  hier  nicht  der  Ort.  Nur  das  eine  sei  aus- 
drücklich gesagt:  die  von  Laien  dem  Irrenarzte  so  oft  vorgeworfene  Neigung  zur 
Identifizierung  von  überragender  Persönlichkeit  und  Leistung  mit  Geisteskrankheit 
liegt  der  Arbeit  sowohl  der  Tendenz  wie  dem  Ergebnis  nach  völlig  fern.  Aufgabe 
und  Ziel,  wenn  auch  nur  andeutungsweise  erreicht,  geht  vielmehr  dahin,  durch  die 
vom  Pathologischen  gegebenen  Sondergesichtspunkte  gewisse  bisher  ungenügend 
beachtete  und  berücksichtigte  bedeutsame  Wesensseiten  im  geistigen  Wertbereiche 
charakteristisch  herauszuheben.  In  diesem  Sinne  fallen  beispielsweise  bezeich- 
nende Schlaglichter  auf  die  Psychologie  des  schauspielerischen,  des  dichterischen 
Schaffens,  der  schöpferischen  Leistung  überhaupt,  auf  Inspiration,  religiöse  Kon- 
version, Prophetie  usw.,  ebenso  wie  Persönlichkeitstypen  von  kulturellem  Wert 
und  Eigenprägung :  der  Abenteurer,  der  Fanatiker,  der  Erotiker,  der  Heilige,  der 
moderne  Dekadent  von  hier  aus  in  psychologisch  neuartiger  Beleuchtung  er- 
scheinen. Indem  so  nach  E.  Th.  Hoffmanns  Worten  „die  Natur  grade  beim  Ab- 
normen Blicke  vergönnt  in  ihre  schauerlichste  Tiefe",  läßt  sie  zugleich  erkennen, 
daß  jene  allgemein  vertretene  Anschauung,  die  Jodl  in  die  Worte  gefaßt  hat: 
„Vom  Pathologischen  aus  gelangt  man  nie  zum  Großen,  sondern  immer  nur  zum 
Kleinen,  nie  zum  Unsterblichen,  sondern  immer  nur  zum  Vergänglichen",  in  mehr 
als  einer  Hinsicht  revisionsbedürftig  ist.  K.  Birnbaum. 


Selbstanzeigen  (Birnbaum — Fischer).  213 

Feldkeller,  Paul,  Dr.,  Ethik  für  Deutsche.    Gotha  1921,  Friedrich  Andreas 

Perthes.     61  S. 

Verfasser  ist  überzeugt,  daß  Eckehart  und  Kant,  Fichte  und  Nietzsche  die- 
selbe Ethik  verkünden  und  nur  verschiedene  Begriffssysteme,  verschiedene  Koor- 
dinatengitter an  ein  und  dieselbe  Sache  anlegen.  An  die  Stelle  der  positiven 
Gebotsethik  setzt  er  darum  die  „negative  Ethik",  den  Monotheismus  der  Einen, 
namenlosen,  durch  keinen  Begriff  faßbaren  Tugend,  an  Stelle  der  üblichen  Integral- 
ethik (der  Ethik  der  „letzten  Schritte")  eine  Kants  und  Fichtes  „rigoristische" 
Intentionen  weiterbildende  Differentialethik,  an  die  Stelle  der  modernen  zweideutig 
schillernden  Sozialethik  eine  Führerethik.  Durch  dialektische  Weiterbildung  des 
Autonomiegedankens  und  des  radikalen  Formalismus  gelangt  diese  Ethik  (ebenso 
wie  der  konsequent  durchgeführte  Freirechtsgedanke,  siehe  England)  zu  einer  der 
jesuitischen  in  allem  entgegengesetzten  Kasuistik  —  womit  sich  dann  der  schrauben- 
förmig rotierende  globus  intellectualis  wiederum  einmal  um  volle  360°  gedreht  hätte. 

Schönwalde  (Mark).  Paul  Feldkeller. 

Fischer,  Ludwig:,  Dr.  phil.,  1)  Wirklichkeit,  Wahrheit  und  Wissen. 
Berlin  1919,  E.  S.  Mittler  &  Sohn.    VIII  u.  199  S.     15  Mk. 

2)  Das  Vollwirkliche  und  das  Alsob.  Berlin  1921,  E.  S.  Mittler  & 
Sohn.     VIII  u.  102  S.     15  Mk. 

Die  Aufgabe  der  Philosophie  als  Wissenschaft  der  reinen  Vernunft  ist  nach 
Kant  zweifach:  1)  ein  System  aller  Begriffe  und  Grundsätze  zu  geben,  die  sich 
auf  Gegenstände  überhaupt  beziehen ;  2j  ein  begriffliches  System  alles  Gege- 
benen zu  entwickeln.  —  Das  erste  System  wäre  eine  Ordnung  der  Allgemein- 
begriffe, die  auf  einer  vollständigen  „Zergliederung  aller  Begriffe  mit  allem  was 
daraus  gefolgert  werden  kann"  beruht.  Diese  Ordnung  müßte  die  volle  Bedeutung 
jener  Begriffe  und  alle  ihre  wechselseitigen  Beziehungen  nach  einheitlichem  Leit- 
gedanken aufdecken.  —  Das  zweite  dagegen,  das  System  alles  Gegebenen,  wäre 
eine  „Physiologie  der  reinen  Vernunft",    d.  i.   eine   „rationale  Naturbetrachtung". 

Kant  hat  diese  Doppelaufgabe  selbst  nicht  mehr  gelöst,  wenngleich  er  viel 
nach  der  Lösung  getastet  hat  bis  zu  seinem  Ende.  Die  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft sollte  nur  eine  „Vorbereitung"  sein  zum  ersten  Teil  der  Aufgabe,  und 
sollte  anstelle  der  vollständigen  Zergliederung  und  Klarstellung  nur  eine  „Her- 
zählung aller  Stammbegriffe"  geben.  Kant  bediente  sich  dabei  einer  etwas  ver- 
wickelten psychologischen  Grundanschauung,  die  er  ungeprüft  übernehmen  durfte, 
da  sie  ihm  nur  zum  Auffinden  der  Begriffe  dienen  sollte.  Er  wies  aber  selbst 
schon  darauf  hin,  daß  den  verschiedenen  von  ihm  vorausgesetzten  Vermögen  der 
Erkenntnis  eine  gemeinsame  Wurzel  wohl  zukommen  werde,  die  aufzusuchen  aber 
zur  Lösung  seiner  beschränkteren  Aufgabe  nicht  nötig  war.  Eine  vollständige 
Aufdeckung  und  Zergliederung  aller  Stammbegriffe  unseres  Denkens  muß  sich  von 
der  Kantschen  Systematik  der  Aufzählung  offenbar  frei  machen  und  muß  zu  einer 
höheren  Einheit  zu  führen  suchen. 

Mein  Buch  „Wirklichkeit,  Wahrheit  und  Wissen"  will  nun  eine  Lösung  des 
oben  angeführten  ersten  Teils  der  Kantschen  Aufgabe  liefern.  Das  andere  Buch 
„Das  Vollwirkliche  und  das  Alsob"  dagegen  gibt  die  Grundlage  und  einen  kurzen 
Umriß  für  die  Lösung  des  zweiten  Teils. 

Das  Ergebnis  des  ersten  Buchs  kann  ich  hier  nur  bildlich  andeuten  als  die 
Aufdeckung  eines  weiten  allgemein-begrifflichen  Felds,  das  von  einem  Netz  von 
Beziehungsfäden  durchzogen  ist,  das  die  vielfältigsten  Verbindungen  zwischen  den 
einzelnen  Knotenpunkten  herstellt.  Damit  sind  die  wechselseitigen  Beziehungen 
der  Stammbegriffe  nach  allen  Richtungen  hin  klargestellt  und  alle  denkbaren  Um- 
formungen und  alle  Folgerungen,  die  man  daraus  ziehen  könnte,  werden  unmittelbar 
an  die  Hand  gegeben.  Das  ist  also  eine  allgemeine  begriffliche  Ordnung 
unseres  Denkens,  oder,  da  dieses  sich  immer  nur  auf  „Erfahrung"  beziehen 
kann:  allgemeine  begriffliche  Ordnung  unserer  Erfahrung. 

Jenes  Begriffsnetz  kann  man  nun  von  den  verschiedensten  Ausgangspunkten 
durchwandern  und  bekommt  dann  ganz  verschiedene  Ansichten  und  Ordnungsweisen, 
die  je  nach  Wahl  des  Ausgangspunkts  mehr  oder  weniger  einfach  und  übersichtlich 


214  Selbstanzeigen  (Fischer). 

sein  können.  Als  günstigster  Ausgangspunkt,  als  eine  Art  „Ordnungspol",  in 
dem  alle  Fäden  zusammen  laufen,  von  dem  aus  sich  daher  alle  Beziehungen  am 
klarsten  und  einfachsten  überblicken  lassen,  ergibt  sich  ein  ganz  allgemeiner  Ur- 
begriff,  dessen  Form  sich  in  allen  Knotenpunkten  des  Netzes  wiederspiegelt.  Das 
von  diesem  Punkt  aus  gesehene  Gesamtbild  nenne  ich  die  natürliche  begriff- 
liche Ordnung  unserer  Erfahrung. 

In  dieses  umfassende  Gesamtbild  nun  gehen  die  Ergebnisse  der  Kantschen 
Kritik  restlos  und  ungezwungen  ein,  abgesehen  natürlich  von  der  besonderen  Fär- 
bung, die  sie  bei  Kant  durch  sein  heuristisches  psychologisches  Leitgebilde  be- 
kommen, dessen  tieferer  Sinn  sich  nun  ebenfalls  offenbart.  Im  Schlußkapitel 
gebe  ich  einen  schematischen  Ueberblick  über  das  ganze  Netz,  und  es  zeigt  sich 
dabei  (wenn  wir  im  Bilde  bleiben  wollen),  daß  die  Kategorien  Kants  nicht  selbst 
Knotenpunkte  des  Netzes,  sondern  vom  Ordnungspol  auslaufende  Hauptblickrich- 
tungen oder  Beziehungsfäden  sind,   die  das  ganze  Begriffsfeld  in  Gruppen  teilen. 

Es  zeigt  sich  aber  weiterhin,  daß  die  verschiedenen  Ordnungen,  die*  man 
bekommt,  je  nachdem  man  das  Netz  vom  einen  oder  andern  Ausgangspunkt 
durchwandert,  und  die  man  als  verschiedene  Transformationen  derselben 
Grundordnung  auffassen  kann,  ganz  verschiedenen  Weltanschauungen  entsprechen. 
Ich  habe  das  im  ersten  Buch  nur  andeutungsweise,  im  zweiten  aber  zum  Schluß 
etwas  ausführlicher  gezeigt.  Man  hat  in  den  philosophischen  „Systemen"  oft 
einen  irrationalen  Anteil  zu  erkennen  geglaubt,  um  dessen  willen  sie  von  der 
Philosophie  als  strenger  Wissenschaft  auszuschließen  und  dem  Gebiet  der  Ge- 
schichte und  der  Psychologie  zu  überweisen  seien.  Dieser  Anteil  läßt  sich  nun- 
mehr zum  weitaus  größten  Teil  als  rational  nachweisen  und  man  kann  es  unter 
gewissen  Vorbehalten  als  eine  lösbare  Aufgabe  der  Philosophie  als  Wissenschaft 
ansehen,  jedem  philosophischen  System  seine  genaue  Stellung  im  Gesamtbild  der 
natürlichen  Ordnung  anzuweisen.  Viele  Hauptzüge  verschiedener  Systeme,  die 
sonst  sich  zu  widersprechen  oder  unvergleichbar  zu  sein  scheinen,  kommen  dabei 
fast  restlos  zur  Deckung  miteinander. 

In  meinem  zweiten  Buch  gebe  ich  nun  ein  ausführlicheres  Beispiel  einer 
solchen  Betrachtung  der  natürlichen  begrifflichen  Ordnung  von  einem  vom  Ord- 
nungspol verschiedenen  Ausgangspunkt;  und  zwar  wähle  ich  einen  grade  ent- 
gegengesetzt liegenden  Standpunkt,  —  den  „Gegenpol"  könnte  man  ihn  nennen; 
und  das  neue  Bild  der  Zusammenhänge  nenne  ich  ein  Kehrbild.  Es  entspricht 
dem  Sinne  nach  dem,  was  Kant  als  zweiten  Teil  aufstellt:  seiner  rationalen  Natur- 
betrachtung. 

Grundbegriff  des  Kehrbilds  ist  das  „Vollwirkliche".  Ich  entwickle  zunächst 
diesen  Begriff  ausführlich  und  zeige  sein  Verhältnis  zum  Ordnungspol.  Das  Voll- 
wirkliche ist  verwandt  dem  Kantschen  Ding  an  sich.  Es  ist  ein  Randbegriff,  den 
wir  seiner  allgemeinen  Form  nach  noch  erfassen,  aber  nicht  mehr  mit  Erfahrungs- 
stoff erfüllen  können.  Wir  können  ohne  ihn  zwar  nicht  auskommen ;  aber  jeder 
Versuch,  ihn  anschaulich  zu  erfüllen,  führt  zu  einer  unvollendbaren  Stufenleiter 
bedingter  Formen:  Als  ob- Formen.  Vollwirklichkeit  und  Alsob  bilden  ein  Paar 
sich  wechselseitig  bedingender  und  ergänzender  Begriffe,  die  erst  durch  ihre 
Gegenüberstellung  ihre  wahre  Bedeutung  vollständig  offenbaren. 

Der  Vollwirklichkeitsbegriff  wurzelt  in  dem  Netz  der  Allgemeinbegriffe,  das 
ich  im  ersten  Buch  entwickelte.  Andrerseits  aber  ist  er  auch  unlösbar  verwachsen 
mit  den  Grundbegriffen  der  Naturwissenschaft.  Er  erscheint  dort  als  das,  was 
die  Naturwissenschaft  durch  eine  fortschreitende  nie  vollendbare  Kette  von  Bildern 
als  das  hinter  allen  Erscheinungen  Stehende  herauszustellen  und  als  letztes  mög- 
liches Erkenntnisziel  zji  erringen  sucht.  Die  Klarstellung  dieses  Begriffs  nach 
seiner  allgemeinen  Bedeutung  und  das  sich  dann  auf  ihm  als  Ausgangsbegriff 
aufbauende  Weltbild  führt  zu  einer  Ordnung  der  Grundbegriffe  der  Naturwissen- 
schaft. 

Ludwig  Fischer. 


Selbstanzeigen  (von  Lippa — Mezger).  215 

Ton  Lippa,  Lazar,  Geheimer  Regierungsrat,  Der  Aufstieg  von  Kant 
zu  Goethe.  Die  Philosophie  und  Naturbegründung  des  geistigen  Weltbildes. 
Berlin,  E.  S.  Mittler  &  Sohn.    1921. 

Das  Buch  ist  die  Frucht  zehnjähriger  Arbeit.  Ich  wollte  eine  Widerlegung 
der  Sozialdemokratie  schreiben,  überzeugte  mich  aber,  daß  sie  ganz  dem  wissen- 
schaftlichen Weltbilde  entspricht,  sich  aus  ihm  in  sorgfältiger  und  gewissenhafter 
Begründung  folgerichtig  entwickelt  hat.  Das  wissenschaftliche  Weltbild  wird  von 
der  herrschenden  Philosophie  getragen.  Um  mit  der  Wurzel  zu  beginnen,  ent- 
schloß ich  mich  zu  einem  Neuaufbau  der  Philosophie.  Für  die  Grundlegung  bot 
sich  mir  das  Geschehen.  Es  ist  frühere  und  gegenwärtige  Tätigkeit,  und  alle 
Tätigkeit  ist  gedacht  und  Denken.  Das  Körperliche  ist  dabei  die  Form,  zu  und 
in  der  sich  Denken  und  Tätigkeit  bestimmen.  Alles  Tun  hat  einen  Täter.  Andrer- 
seits ist  das  Geschehen  eine  offensichtliche  Ordnung  und  Einheit.  Also  eine  Phi- 
losophie der  Uebereinstimmung  nach  den  Gesetzen  der  Tätigkeit  und  mit  dem 
Denken  als  Wegweiser  zum  geistigen  Weltbild. 

Der  Haupttitel  rechtfertigt  sich:  1.  Los  von  Kant,  weg  von  seinem  bildne- 
rischen zu  Goethes  gegenständlichem  Denken,  von  der  Gebundenheit  an  die  Be- 
wußtseinsbildung, wie  sie  für  die  Wissenschaft,  die  Lehre  der  Sachlichkeit  zu- 
treffend ist,  zur  Goetheschen  Augenwahrheit,  seinem  Naturschauen,  das  von  solcher 
Beschränkung  auf  das  Erscheinungsgemäße  frei,  zur  vollen  Bewertung  des  Geistigen 
gelangt,  der  Festlegung  des  Seins  auf  das  körperliche  Dasein  entgeht  und  der 
Philosophie  die  nötige  Weite  gibt.  2.  Auf  den  Schultern  Kants  von  der  aufs 
Verstandesgebiet  beschränkten  Wissenschaftsstufe  des  Denkens  empor  zu  seiner 
Goetheschen  Stufe,  zur  Allzügigkeit  Goethes,  zur  Erfassung  aller,  auch  der  geistigen 
Werte.  Kants  Postulate  weisen  den  Weg.  Das  Leben  fordert  den  Fortschritt 
von  der  Verstandeskühle  Kants  zur  Begeisterung  und  Herzenswärme  Goethes, 
dessen  große  philosophische  Bedeutung  mehr  herausgestellt  wird,  als  es  bisher 
geschehen  ist. 

Meinen  Zweck  glaube  ich  erreicht,  das  wissenschaftliche  Weltbild  nebst 
Abstammungs-  oder  Entwicklungslehre  und  Lyells  Erdentwicklung  —  alles  schöne 
Gedanken,  aber  ihre  Durchführung  durchdenken,  heißt  sie  fallen  lassen  —  zerstört 
zu  haben.  Das  geistige  Weltbild  kann  nur  Voraussetzungen  und  Umrisse  geben. 
Wenn  ich  auch  die  Gottesbeweise  durch  einen  neuen,  den  autologischen  oder  Selb- 
ständigkeitsbeweis verstärkt  habe,  es  bleibt  ohne  eigentliche  Inhaltgebung.  Das 
Bedürfnis  danach  weist  auf  die  religiösen  Geltungen  hin.  Die  Philosophie  steht 
als  Ursprungsforschung  und  Quellenschätzung  zwischen  der  Vordergrundschau  der 
Wissenschaft  und  der  Offenbarungsgeltung  der  Theologie.  Meine  Philosophie  ist 
nicht  die  des  Christentums  und  kann  es  grundsätzlich  nicht  sein,  aber  sie  ist  die 
Philosophie  zum  Christentum.  Und  das  ist  uns  bitter  nötig,  darum  rechtfertigt 
sich  die  Widmung  auf  dem  Titelblatt:  Dem  deutschen  Volke  zu  seiner  Wieder- 
aufrichtung. Lazar  von  Lippa. 

Mezger,  Edmund,  Dr.  jur.,  Staatsanwalt  und  Privatdozent,  Sein  und 
Sollen  im  Recht.   Tübingen,  bei  J.  C.B.Mohr  (Paul Siebeck),  1920.   (106  Seiten.) 

Untersucht  wird  die  Frage,  ob  und  inwieweit  aus  dem  „Sein"  das  „Sollen" 
des  Rechts  folgt. 

Der  Erste  Abschnitt  behandelt  den  subjektiven  Ausgangspunkt 
des  rechtlichen  Sollen s.  Der  „einfache Subjektivismus"  (I),  der  im  „Rechts- 
gefühl" den  letzten  Maßstab  des  „richtigen  Rechts"  erblickt  oder  mit  Radbruch 
und  Kantor owicz  im  „rechtsphilosophischen  Relativismus"  endigt,  wird  abge- 
lehnt. Eingehende  Besprechung  erfährt  der  „kritische  Subjektivismus"  (II),  wie 
er  auf  neukantischer  Grundlage  von  Rudolf  Stammler  in  umfassender 
Lebensarbeit  als  ein  Gebäude  von  imposanter  Großartigkeit  errichtet  worden  ist. 
Stammler  hat  nach  Ansicht  des  Verfassers  die  Notwendigkeit  einer  „kritischen" 
Grundlegung  der  Rechtslehre  abschließend  und  überzeugend  dargetan.  Dies  gilt 
zunächst  von  Stammlers  „Rechtsbegriff"  als  dem  obersten  Bestimmungsgrund  des 
„seienden"  Rechts.   Seine  „Rechtsidee"  dagegen,  der  Leitstern  des  „Seinsollenden", 


216  Selbstanzeigen  (Mezger— Schlemmer). 

des  „richtigen"  Rechts,  leidet  an  einer  ungerechtfertigten  Uebertragung  der  Er- 
kenntnispostulate  auf  das  Wollen  (25—28)  und  führt  damit  zu  einer  unhaltbaren 
„Logisierung  der  Werte"  (30—32). 

Der  Zweite  Abschnitt  bespricht  den  objektiven  Ausgangspunkt 
des  rechtlichen  Sollen s.  Verf.  unterscheidet  drei  Formen  des  Objektivismus. 
Der  „kulturelle  Objektivismus"  (I)  sucht  im  Anschluß  an  Hegel  die  Ableitung 
des  rechtlichen  Sollens  aus  objektiv  gegebenen  Kulturwerten.  Er  ist  der  Stand- 
punkt der  historischen  Rechtsschule.  In  seinem  Mangel  an  erkenntniskritischer 
Schärfe  führt  er  zur  Preisgabe  der  sittlichen  Autonomie  (37)  und  damit  —  auch 
in  der  Form,  die  ihm  V.  Liszt  gegeben  hat  —  zu  einer  „Philosophie  der  inneren 
Haltlosigkeit"  (4C).  Der  „materialistische  Objektivismus"  (II),  der  nur  die  „ma- 
teriellen" Faktoren  oder  mit  Karl  Marx  nur  das  „materielle"  Streben  des  Menschen 
als  maßgebend  anerkennen  will,  ist  ebenfalls  ganz  „unkritisch":  er  ist  sehr  „wäh- 
lerisch" in  seinen  Motiven,  verschleiert  aber  eben  diese  grundlegende  Tatsache 
der  Wahl,  der  „Zwecksetzung"  (56).  Konsequenter  ist  deshalb  der  „naturalistische 
Objektivismus"  (III),  etwa  derjenige  von  Herbert  Spencer.  Er  bemüht  sich  — 
hierin  umfassender  als  die  beiden  anderen  Formen  des  Objektivismus  — ,  die  G  e- 
samtheit  der  gegebenen  Natur  seinen  Betrachtungen  zu  Grunde  zu  legen  und 
gelangt  damit  nahe  an  die  Wahrheit.  Aber  auch  er  übersieht,  daß  in  der  Ge- 
samtheit des  Geschehens  einer  Tatsache  die  logische  Priorität  vor  allen  andern 
Tatsachen  zukommt:  der  menschlichen  Zwecksetzung  (64). 

Der  Dritte  Abschnitt  versucht  den  eigenen  Aufbau  des  recht- 
lichen Sollens.  Der  „Ausgangspunkt"  (I)  des  Verf.  ist  ein  subjektiv- 
kritischer. Für  das  „Erkennen"  gilt  ihm  als  „relatives  Apriori"  die  Notwen- 
digkeit durchgängiger  Kausalbetrachtuug,  für  das  „Wollen"  der  Primat  teleolo- 
gischer Zwecksetzung.  Der  „Endzweck  des  Rechts"  (II)  ist  trotz  der  hohen  Be- 
deutung, die  das  Rechtsgefühl  für  das  praktische  Rechtsleben  besitzt,  ein  ratio- 
naler. Verf.  findet  ihn  in  Annäherung  an  v.  Jhering  in  der  „sozialen  Lebens- 
erhaltung und  Lebens ent wicklung"  als  dem  obersten  Zweck  alles  Rechts 
(79).  Die  „Verwirklichung  dieses  Endzwecks"  (llt)  geschieht  im  erkennenden 
Erfassen  der  „sozialen  Gesetze",  deren  Bestehen  Vesf.  gegen  die  wider  sie  gerich- 
teten Angriffe  nachzuweisen  sucht  (81  ff).  Das  „Wesen  des  Sozialen"  (IV)  wird 
in  der  „Wechselwirkung",  in  der  „Verbindung"  der  Individuen  unter  Ableitung 
dieser  Denkform  aus  der  Kategorie  der  Kausalität  gefunden.  „Individualismus 
und  Sozialismus"  (V)  stellen  keine  grundsätzlichen,  unerreichbaren  Gegensätze 
dar:  im  Individuum  liegt  alles  Leben  der  „Gesellschaft"  beschlossen,  aber  in  der 
„Anpassung"  an  das  soziale  Ganze,  in  der  „Vereinigung"  der  Einzelnen  zur 
Rechtsgemeinschaft  vollzieht  sich  erst  die  Vollendung.  Die  „Praxis  des  richtigen 
Rechts"  (VI)  lehrt  in  Anklängen  an  die  Theorie  des  Naturrechts  die  Schöpfung 
neuen  Rechts  aus  der  Erforschung  des  psychisch-sozialen  Wesens  des  Menschen. 
Wie  die  Neuschöpfung  des  Rechts  ist  aber  auch  die  „Auslegung"  geltender  Rechts- 
normen, also  die  Jurisprudenz  im  eigentlichen  Sinne,  da  sie  niemals  lediglich  Be- 
stehendes wiedergeben  kann,  verwiesen  auf  die  „Lehre  vom  richtigen  Recht". 

Tübingen.  E.  Mezger. 

-, 

Schlemmer,  Hans,  Studienrat,  Die  religiöse  Persönlichkeit  in  der 
Erziehung.  (Eine  religionsphilosophisch-pädagogische  Untersuchung.)  Band  III 
der  Philosophisch-pädagogischen  Bibliothek.  Verlegt  bei  der  Mundus-Verlagsanstalt 
G.  m.  b.  H.,  Charlottenburg.    1919.     68  S. 

Soll  die  Bedeutung  der  religiösen  Persönlichkeit  in  der  Erziehung  klargelegt 
werden,  so  handelt  es  sich  zunächst  darum,  festzustellen,  welche  systematisch- 
prinzipielle Bedeutung  der  Religion  in  der  Struktur  des  menschlichen  Geistes 
zukommt.  Diese  religionsphilosophische  Untersuchung  macht  den  ersten  Teil 
meiner  Schrift  aus,  worauf  dann  in  einem  zweiten  Kapitel  die  konstitutiven  Züge 
der  religiösen  Persönlichkeit  aufgezeigt  werden.  Nunmehr  entfaltet  sich  das 
Problem  nach  zwei  Seiten  hin.  Wie  wird  eine  religiöse  Persönlichkeit  gebildet? 
und:   Welche  Rolle  spielt  eine  religiöse  Persönlichkeit  bei  der  Bildung  anderer? 


Selbstanzeigen  (Schlemmer — Schneider).  217 

Die  Lösung  beider  Fragen  fußt  natürlich  ganz  auf  der  im  Eingang  gegebenen 
Wesensbestimmung  der  Religion  und  des  homo  religiosus,  führt  dann  aber  weiter 
auch  in  die  praktischen  Fragen  der  Möglichkeiten,  Wege  und  Faktoren  religiöser 
Erziehung,  des  religiösen  Einschlags  der  Jugendbewegung  u.  s.  w.  Alles  natürlich 
in  gedrängtester  Kürze,  aber  so,  daß  überall  die  grundlegenden  prinzipiellen  Ge- 
sichtspunkte möglichst  heraustreten. 

Charlottenburg.  Hans  Schlemmer. 

Schneider,  Hermann,  a.o.  Professor  an  der  Universität  Leipzig,  Metaphysik 
alsexakteWissenschaft.  Heft  3 :  Die  Lehre  vom  Handeln.  Leipzig,  Felix 
Meiner  (in  dessen  Verlag  auch  Heft  1  und  2  übergegangen  sind)  1921.    164  Seiten. 

Zur  „Lehre  von  der  Gegebenheit"  (angezeigt:  Heft  1  K.-St.  XXIV,  4,  Seite  412  *) ; 
Heft  2  K.-St.  XXV,  2/3,  Seite  291)  tritt  als  zweiter  Hauptteil  der  Metaphysik  die 
„Lehre  vom  Handeln". 

Auch  sie  besteht  aus  vier  Erfahrungstatsachen  (No.  5—8)  und  den  Folgen 
daraus  für's  richtige  Handeln  und  Bearbeiten  allgemein.  Die  Tatsachen  sind,  daß 
der  Mensch  Zwecke  setzt  (5),  daß  er  Befriedigung,  eigene  und  die  anderer  Men- 
schen erstrebt  (6),  daß  er  frei  ist  (7)  und  daß  er  ausdenkt  und  ausführt  (8);  aus 
ihnen  folgen  für's  richtige  Handeln  allgemein  die  Merkmale  der  Richtigkeit  all- 
gemein, Zweckgemäßheit  und  Befriedigendheit,  die  Freiheit,  richtig  oder  unrichtig 
zu  handeln,  so  wie  die  Stücke  des  richtigen  Handelns,  richtig  Ausdenken  und 
richtig  Ausführen,  und  deren  Verhältnis ;  für's  richtige  Bearbeiten  allgemein  ergibt 
sich,  daß  es  „richtiges  Ausdenken"  und  frei  ist,  daß  es  in  einer  Auswahl  wesent- 
licher Züge  aus  dem  Gegenstand  vom  Zweck  aus  besteht  und  auf  Befriedigung 
der  Menschen  abzielt. 

•  Wie  die  „Gegebenheitslehre"  im  Inhalt  Kants  „Kritik  der  reinen  Vernunft" 
entspricht,  so  behandelt  die  „Lehre  vom  Handeln"  die  Fragen  der  „Kritik  der 
praktischen  Vernunft",  also  namentlich  die  der  Willensfreiheit  (Tatsache  7)  und 
des  Sittlichen  (Tatsache  8).  Ich  glaube,  nachgewiesen  zu  haben,  daß  die  Freiheit 
des  Menschen  eine  einfache  Tatsache  unserer  inneren  Erfahrung  ist,  so  daß  die 
Annahme  einer  besonderen  Art  von  „Forderungstatsachen"  (Postulaten  der  prak- 
tischen Vernunft)  für  sie  unnötig  wird;  der  Zwang  des  deterministischen  Dogmas 
hält  einer  genauen  Bestimmung  des  Tatbestands  der  Freiheit  und  einer  strengen 
Kritik  seiner  Beweise  nicht  Stand.  Kants  Sittenlehre  erfährt  eine  neue  Beleuch- 
tung, bei  der  besonders  die  scharfe  Scheidung  von  Güter-  und  Sittenlehre  als 
entscheidende  Großtat  hervortritt;  wie  sich  aber  seine  Begründung  der  exakten 
Einzelwissenschaften  (Mathematik  und  Physik)  aus  metaphysischen  Tatsachen  nicht 
aufrechterhalten  ließ,  sondern  in  der  „Gegebenheitslehre"  eine  Sonderung  der 
metaphysischen  und  einzelwissenschaftlichen  Grundbegriffe  vorgenommen  werden 
mußte,  so  läßt  sich  Sittenlehre  nicht  aus  metaphysischen  Tatsachen  ableiten ;  'Ethik 
und  Mstaphysik  haben  nichts  miteinander  gemein.  Wenn  die  Trennung  streng 
und  richtig  durchgeführt  ist,  lassen  sich  metaphysische  Tatsachen,  die  durch  die 
Beimischung  der  Ethik  unterdrückt  waren,  wie  die  des  Zwecks,  voll  und  rein 
herausarbeiten ;  auch  die  Lehre  von  Theorie  und  Praxis  und  vom  Vorrang  (Primat) 
der  einen  oder  anderen,  bei  Kant  nur  berührt,  kommt  zur  Entwicklung;  das 
„theoretische  Verhalten"  zerlegt  sich  in  zwei  Inhalte,  die  verschiedenen  metaphy- 
sischen Tatsachen,  der  1.  und  5.  (zwecklose  Hingabe  an  den  Gegenstand)  und  der 
8.  (richtiges  Ausdenken,  bestimmt  richtiges  Ausführen),  zugehören. 

Mit  diesem  3.  Heft  ist  mein  Werk  über  Metaphysik  (es  ist  500  Seiten  stark 
geworden)  vollendet;  eine  Zusammenfassung  seines  Inhalts,  der  Folgen  aus  allen 
acht  Tatsachen  der  Metaphysik,  beschließt  den  Band. 

„So  lang  es  Menschen  gibt,  sind  sie  bemüht  gewesen  und  werden  sie  bemüht 
sein,  „richtig  allgemein  zu  handeln",  d.  h.  ihre  Zwecke  zu  erreichen  und  sich  und 

1)  Ich  benutze  die  Gelegenheit,  einen  sinnstörenden  Druckfehler  in  Zeile  25 
dieser  Anzeige  von  Heft  1  zu  verbessern:  in  Tatsache  1  muß  „anschaulich- 
bestimmt" stehen,  nicht  „ausdrücklich-bestimmt". 


218  .Selbstanzeigen  (Schneider — Van  der  Vaart  Smit). 

andere  Menschen  zu  befriedigen,  und  „richtig  allgemein  zu  bearbeiten",  d.  h.  den 
Gegenstand  der  menschlichen  Erfahrung  kennen  zu  lernen,  um  ihn  zu  nützen. 
Das  ist  dem  Menschen,  schon  als  kleines  Kind  und  als  Tiermensch,  so  selbstver- 
ständlich, daß  er  das  „richtige  Handeln  und  Bearbeiten  allgemein"  übt,  ohne  zu 
bemerken,  daß  hier  etwas  zu  lernen  oder  zu  lehren  ist.  Seine  ganze  Aufmerk- 
samkeit gilt  dem  „besonderen  richtigen  Handeln  und  Bearbeiten",  den  einzelnen 
Zwecken  und  Befriedigungen,  den  Einzelwissenschaften  und  Künsten.  Diese  bilden 
sich  aus  und  werden  als  wertvoller  Besitz  bewußt;  eine  Wissenschaft  „vom  rich- 
tigen Handeln  und  Bearbeiten  allgemein"  gibt  es  nicht,  nur  Wissenschaften  von 
Gott,  Natur  und  Seele,  vom  güterlichen  und  vom  sittlichen  richtigen  Handeln. 
Ganz  langsam  erst  wird  durch  den  Kampf  um  Glauben  und  Wissen,  durch  das 
Versagen  der  Einzelwissenschaften  in  bestimmten  Fragen,  die  sie  behandeln,  ob- 
gleich sie  sie  nichts  angehen,  und  bei  Versuchen,  zur  Gesamtübersicht  der  Er- 
fahrung (System)  zu  kommen,  klar,  daß  hier  ein  Arbeitsgebiet  für  eine  eigene 
und  strenge  Wissenschaft  abzugrenzen  und  zu  bestellen  ist. 

Die  Uebung  des  richtigen  Handelns  und  Bearbeitens  allgemein  ist  das  älteste 
und  wichtigste  menschliche  Tun,  die  Grundlage  für  alle  Erfolge,  ja  für  das  bloße 
Leben  des  Menschen;  die  Wissenschaft  davon  ist  die  jüngste  (letztfertige)  und 
strengste  (weil  meist-erprobte)  von  allen  Wissenschaften,  die  oberste  im  System, 
als  die  vom  Allgemeinsten  des  menschlichen  Handelns,  die  die  Gesamtübersicht 
unserer  Erfahrung  (formal)  krönt  und  abschließt. 

Ich  denke,  daß  es  mir  gelungen  ist,  in  zwanzigjähriger  Arbeit,  die  wissen- 
schaftliche Metaphysik,  die  strenge  Erfahrungswissenschaft  vom  richtigen  Handeln 
und  Bearbeiten  allgemein,  erstmals  ganz  und  in  sich  geschlossen  hinzustellen  und 
dadurch  ihre  Selbständigkeit  und  Daseinsberechtigung  wissenschaftlich  vollends 
zu  erweisen. 

Leipzig.  Hermann  Schneider. 

Van  der  Vaart  Smit,  H.  W.,  Dr.  theol.  an  der  Freien  Universität  zu  Amster- 
dam-Holland, „Die  Evolutions-Theorie".     1921.    60  Seiten. 

Diese  Kritik  der  Evolutionstheorie  nimmt  ihren  Ausgang  von  der  Philosophie 
Hermann  Lotzes  und  sucht  eine  wirkliche  „Lebens-Philosophie"  zu  geben 
gegenüber  der  dürren  Rationalistik  der  Evolutions- Theoretiker. 

Die  Schrift  teilt  sich  in  drei  Teile  je  nach  dem  Gebiet  der  Evolutionstheorie 
a)  Natur,  b)  Geschichte,  c)  Religion.  Diese  Dreiteilung  erinnert  an  die 
Einteilung  Lotzes  im  Mikrokosmus  und  zielt  hin  auf  den  Anschluß  an  die 
kalvinistische  Theologie  Hollands. 

Der  Verfasser  will  insbesondere  den  Gedanken  der  „Praeformation"  (teil- 
weise, soweit  er  das  Logische  betrhTt,  in  Anschluß  an  Hans  Driesch),  geltend 
machen  gegenüber  den  „Diesseitigkeitsbestrebungen"  der  IJvolutionisten  und  sucht 
mit  diesem  Gedanken  fortzuschreiten  zu  einer  „Transcendental-Ideologie". 

Die  Schrift  ist  verfaßt  in  holländischer  Sprache.  Ihr  Verfasser  ist  in  Hol- 
land der  Vertreter  der  Lotzeschen  Philosophie  und  schrieb  im  Jahre  1917  eine 
Doktor-Arbeit  über:  „Die  Naturphilosophie  und  der  Theismus"  (171  Seiten),  in 
welcher  er  zum  ersten  Mal  seine  „Ideologie"  zu  entwickeln  suchte.  Diese  „Ideo- 
logie" teilte  sich  in  a)  Ontologie,  b)  Aetiologie,  c)  Teleologie  und  hat  in  breiten 
Kreisen  Interesse  erweckt.  In  den  Kriegsjahren  hat  0.  Loewe  (Wesel)  das  Buch 
ins  Deutsche  übersetzt  (bis  jetzt  aber  noch  nicht  verlegt).  Seitdem  hat  der  Ver- 
fasser fortwährend  diese  Transcendental-Ideologie  vertreten  in  Polemiken  mit 
mehreren  neo -  Kantianistischen  Gelehrten  in  Holland;  er  behauptet,  daß  die  Ge- 
dankenlinie Augustinus-Leibniz-Lotze  die  richtige  Protestantische  Linie 
gibt  gegenüber  der  aristotelisch  -  thomistisch  -  römischen  Philosophie.  Jedoch  man 
bleibe  nicht  bei  Lotze  stehen.  Lotze  gibt  reiche  Anregungen,  aber  kein  end- 
gültiges System,  dessen  Ausbau  zur  Transcendental-Ideologie  eine  aussichtsreiche 
Aufgabe  bildet. 

Das  oben  erwähnte  Büchlein  über  „Evolutions- Theorie"  deutet  einige  dieser 
Perspektiven  an. 


Selbstanzeigen  (Van  der  Vaart  Smit — Benjamin).  219 

In  Süd -Afrika  hatten  —  ganz  unerwartet  —  diese  Gedanken  bereits  Auf- 
nahme und  Verständnis  gefunden.  Die  „Evolutions-Theorie"  wird  schon  jetzt  — 
einen  Monat  nach  Erscheinung  —  ins  Afrikanische  übersetzt. 

Zu  bedauern  ist,  daß  obwohl  die  holländische  Philosophie  von  der  deutschen 
Philosophie  gründlich  Kenntnis  nimmt,  die  Beziehungen  der  deutschen  Philosophie 
zur  holländischen  nur  sehr  oberflächlich  sind.  Auch  die  Kant-Gesellschaft,  welche 
in  den  letzten  Jahren  viele  Mitglieder  in  Holland  gewonnen  hat,  hat  diese  Bezie- 
hungen bis  jetzt  noch  nicht  vertiefen  können.  Hoffentlich  ändern  sich  durch  den 
bevorstehenden  Besuch  von  Prof.  Dr.  Liebert  in  Holland  diese  Verhältnisse,  zum 
mindesten  soweit  die  Kant-Gesellschaft  in  Frage  kommt,  hoffentlich  auch  anderweitig. 

's  Graveland-Holland.  Dr.  H.  W.  van  der  Vaart  Smit. 

Walter  Benjamin,  Der  Begriff  der  Kunstkritik  in  der  deut- 
schen Romantik.  Neue  Berner  Abhandlungen  zur  Philosophie  und  ihrer 
Geschichte,  herausgegeben  von  Richard  Herbertz.  Bd.  5.  Bern  1920,  Verlag  von 
A.  Francke. 

Der  Gegenstand  der  Arbeit  ist  der  romantische  Begriff  der  Kunstkritik,  dar- 
gestellt im  Lichte  eines  metahistorischen  d.  h.  absolut  gestellten  Problems.  Dieses 
Problem  lautet:  welchen  Erkenntniswert  besitzt  für  die  Theorie  der  Kunst  der 
Begriff  ihrer  Idee  einerseits,  der  ihres  Ideals  andrerseits?  Unter  Idee  wird  in 
diesem  Zusammenhang  das  a  priori  einer  Methode  verstanden,  ihr  entspricht 
dann  das  Ideal  als  das  a  priori  des  zugeordneten  Gehalts".  Das  genante  Problem 
selbst  kann  in  der  vorliegenden  Arbeit  nicht  eigentlich  erörtert  werden,  es  taucht 
vielmehr  erst  im  Schlußkapitel  auf.  In  einer  Vergleichung  des  Goethe'schen 
Begriffs  des  Ideals  (oder  Urphänomens)  mit  dem  romantischen  der  Idee  sucht 
dieses  die  reinste  Sinnbeziehung  des  philosophie-geschichtlichen  Verlaufs  auf  jenes 
metahistorich  gestellte  Problem  klarzulegen.  Es  heißt  da:  „Die  Frage  des  Ver- 
hältnisses der  Goethe'schen  und  der  romantischen  Kunsttheorie  fällt  zusammen 
mit  der  Frage  des  Verhältnisses  des  reinen  Inhalts  zur  reinen  Form.  In  diese 
Sphäre  ist  die  angesichts  des  Einzelwerkes  oft  irreführend  gestellte  und  dort 
niemals  genau  zu  lösende  Frage  nach  dem  Verhältnis  von  Form  und  Inhalt  zu 
erheben.  Denn  diese  sind  nicht  Substrate  am  empirischen  Gebilde,  sondern 
relative  Unterscheidungen  an  ihm,  auf  Grund  notwendiger  reiner  Unter- 
scheidungen der  Kunstphilosophie  getroffen.  Die  Idee  der  Kunst  ist  die  Idee 
ihrer  Form,  wie  ihr  Ideal  das  Ideal  ihres  Inhalts  ist.  Die  systematische  Grund- 
frage der  Kunstphilosophie  läßt  sich  also  auch  als  die  Frage  nach  dem  Ver- 
hältnis von  Idee  und  Ideal  der  Kunst  formulieren". 

Natur  und  Kunst  sind  Kontinuen  der  Reflexion,  Reflexionsmedien.  Daher 
ist  „die  romantische  Theorie  des  Kunstwerks  die  Theorie  seiner  Form.  Denn 
die  begrenzende  Natur  der  Form  haben  die  Romantiker  mit  der  Begrenztheit 
jeder  endlichen  Reflexion  identifiziert  und  durch  diese  einzige  Erwägung  den 
Begriff  des  Kunstwerks  innerhalb  ihrer  Anschauungswelt  determiniert".  Von 
dieser  Erkenntnis  aus  wird  die  Exposition  ihrer  wichtigsten  kunsttheoretischen 
Begriffe,  der  Ironie,  des  Werks,  der  Kritik  unternommen.  Für  die  letztere  ergibt 
sich  als  Aufgabe  die  Auslösung  und  Darstellung  der  Reflexion  über  das  Werk 
in  diesem  selbst.  Unter  der  Voraussetzung  nämlich,  daß  das  Kunstwerk  ein 
gleich  lebendiges  Zentrum  der  Reflexion  ist,  erscheint  eine  Potenzierung  dieser 
Reflexion,  welche  die  Romantiker  zugleich  als  die  gesteigerte  Selbsterkenntnis 
des  Reflektierenden  auffassen,  als  möglich.  Dieser  Sachverhalt  begründet  ihre 
Theorie  der  Kritik,  welche  sich  demnach  von  der  heutigen  depravierten  und 
richtungslosen  Praxis  der  Kunstkritik  nicht  nur  durch  ein  hohes  Niveau,  sondern 
zugleich  durch  methodische  Besinnung  unterscheidet.  Diese  erlaubt,  wie  im  Ver- 
lauf der  Darstellung  sich  zeigt,  durchaus  eindeutige  Merkmale  für  die  echte 
Kritik  aufzustellen.  Eine  Analyse  der  romantischen  Theorie  der  Prosa  stellt 
den  Zusammenhang  her,  in  welchem  die  Schätzung  des  Romans  als  des  Gipfels 
der  Poesie  mit  der  hohen  Ausbildung  der  Kritik,  zugleich  mit  bedeutungsvollen 
Tendenzen  der  gegenwärtigen  Literatur  steht  und  führt  durch  die  Darstellung 
der  Prosa  als  der  „Idee  der  Poesie"  zu  dem  Schlußkapitel  „die  frühromantische 
Kunstkritik  und  Goethe"  über.  Walter  Benjamin. 


Mitteilungen. 

Richard  Falckenberg  -f. 

Von  Hermann  Leser-Erlangen. 

In  der  Stille  der  letzten  Herbstferien  ist  der  geschätzte  Lehrer  an  der 
Erlanger  Universität  und  bekannte  Verfasser  der  vielbenutzten,  im  In-  und 
Auslaud  gelesenen  „Geschichte  der  neueren  Philosophie"  Richard  Falcken- 
berg plötzlich  heimgegangen.  In  seinem  geliebten  Jena,  das  der  Geist 
unserer  Klassiker  umschwebt,  ist  er  am  28.  September  vorigen  Jahres  im 
fast  vollendeten  69.  Lebensjahre  gestorben;  und  dort  haben  wir  ihn  auf 
dem  hochgelegenen  Friedhofe  zur  letzten  Ruhestätte  begleitet. 

Die  erhebende  Trauerfeier,  zu  der  sich  ein  auserlesener  Kreis  von 
Freunden  und  Verehrern  des  Verstorbenen  eingefunden  hatte,  konnte  bei 
aller  Wehmut  des  Scheidens  kein  herbes  Gefühl  aufkommen  lassen.  Sie 
war  seinem  Wunsche  und  seiner  Angabe  gemäß  vom  Zauber  der  Töne,  die 
er  selbst  in  Theorie  und  in  großem  pianistischen  Können  beherrscht  hatte, 
umsponnen  und  so  in  das  verklärende  Licht  der  Schönheit  gerückt  wie  die 
Berge  ringsum,  auf  denen  das  milde  durchsichtige  Licht  der  scheidenden 
Herbstsonne  lag. 

Die  Feier  war  das  Symbol  seines  Lebens  und  Sterbens.  Beides  zum 
Kunstwerk  zu  gestalten,  entsprang  einem  unmittelbaren  Drange  seines  Wesens, 
und  das  Ideal  der  Euthanasie  schwebte  ihm  ausgesprochenermaßen  noch  in 
seiner  Todesstunde  vor.  Zwei  Genien  hatten  ihn  durchs  Leben  geleitet. 
Beiden  war  er  so  ergeben,  daß  sie  zeitweilig  mit  einander  streiten  konnten, 
als  es  sich  um  die  Berufswahl  handelte.  Er  entschied  sich  für  die  philo- 
sophische Laufbahn,  ohne  dem  künstlerischen  Genius  untreu  zu  werden. 
Nur  um  so  reiner  konnte  er  ihm  huldigen;  und  dankbar  blickte  er  in 
seiner  Todesstunde  auf  beide  zurück. 

Von  Jena  war  er  ausgegangen,  und  gern  kehrte  er  in  den  Ferien 
dahin  zurück,  mit  dem  dortigen  Idealismus  und  mit  seinem  Lehrer  Eucken 
in  Freundschaft  verbunden.  Geboren  am  23.  Dezember  1851  in  Magde- 
burg, kam  er  nach  Absolvierung  des  Gymnasiums  in  Dessau  1872  als 
Studiosus  nach  Jena,  wo  er  von  dem  im  gleichen  Jahre  nach  Heidelberg 
gehenden  Kuno  Fischer  für  die  Philosophie  und  für  ihre  geschichtliche  Ge- 
stalt gewonnen  wurde  und  Fortlage  hörte  und  außerordentlich  schätzen 
lernte.  Nachdem  er  seine  philosophischen  Studien  in  Leipzig,  Halle,  Er- 
langen und  Göttingen  fortgesetzt  und  an  der  letztgenannten  Universität 
starke  Eindrücke  von  Lotze  erhalten  hatte,  kehrte  er  nach  Jena  zurück, 
promovierte  hier  1877  und  habilitierte  sich  drei  Jahre  später  mit  seiner  Ar- 
beit über  Nikolaus  Cusanus  (erschienen  1880).  Seit  1886  Herausgeber  der 
Zeitschrift    für  Philosophie  und  philosophische  Kritik,  wurde    er    nach  Er- 


Mitteilungen.  221 

scheinen  seines  Geschichtswerkes  zum  a.  o.  Professor  ernannt  und  erhielt 
zwei  Jahre  später  gleichzeitig  einen  Ruf  nach  Erlangen  und  Dorpat.  Er 
nahm  den  ersteren  an  und  begann  seine  fruchtbare  Lehrtätigkeit  mit  der 
1890  erschienenen  Antrittsrede  „Ueber  die  gegenwärtige  Lage  der  Philo- 
sophie". 

Er  war  in  erster  Linie  Lehrer  und  alles,  auch  die  schriftstellerische 
Produktion,  ordnete  sich  seinem  philosophischen  Lehrberufe  unter.  Ich 
erinnere  noch  an  seine  Herausgabe  von  „Frommanns  Klassiker  der  Philo- 
sophie" (seit  1896),  an  seinen  Aufsatz  über  „Euckens  Kampf  gegen  den 
Naturalismus"  (aus  der  Luitpold-Festschrift  von  1901)  und  vor  allem  an 
sein  „Hilfsbuch  zur  Geschichte  der  (deutschen)  Philosophie  seit  Kant" 
(2.  Aufl.  1907).  Ein  philosophischer  Führer  der  akademischen  Jugend 
wollte  er  sein  und  ist  er  vielen  geworden.  Es  gibt  verschiedene  Wege 
der  philosophischen  Führung,  und  es  ist  schon  viel  über  den  besten  de- 
battiert worden.  Falckenberg  beschreitet  den  Weg  der  Geschichte, 
gangbar  gerade  bei  der  Philosophie.  Und  gerade  auf  diesem  Wege  konnte 
ihm  der  künstlerische  Genius  die  Hand  reichen,  und  er  verhalf  ihm  zu 
jener  Klarheit  und  Abrundung,  die  seine  Schriften  wie  seinen  Vortrag  aus- 
zeichneten. Wie  im  klassischen  Griechentum  war  es  bei  ihm  das  ästhe- 
tische Element,  das  alles  erleuchtete  und  verklärte,  die  Schwere  des  Stoffes 
milderte,  ihn  darstellungs-  und  aneignungsfähig  machte,  ihm  das  Grelle 
und  Herbe  nahm. 

Aber  ohne  ihn  zu  verwaschen !  Die  künstlerische  Abklärung  war  vor 
allem  das  Zeichen  eigener  persönlicher  Verarbeitung,  die  aber  der  wissen- 
schaftlichen Exaktheit  und  Akribie  durchaus  nicht  im  Wege  stand.  Sein 
Hauptwerk  zeigt  es  deutlich.  Und  dabei  hatte  er  einen  feinen  Instinkt 
für  das  spezifisch  Philosophische  an  der  Philosophie,  das  zu  allem  Wissen- 
schaftlichen und  Wissenschaftsmethodologischen  hinzukommen  muß,  soll 
dieses  bei  all  seiner  sonstigen  Bedeutsamkeit  dem  Vorwurf  philosophischer 
Unerheblichkeit  entgehen.  Auf  dieses  spezifisch  Philosophische  zielte  er  in 
seiner  Weise,  wenn  er  sagte,  daß  die  großen  philosophischen  Systeme 
„ihre  letzte  Wurzel  im  Affekt  haben",  daß  sie  „in  höchster  Instanz  Sache 
des  Glaubens,  des  Gefühls,  des  Entschlusses  sind".  Mag  in  dieser  Würdi- 
gung zugleich  etwas  von  der  kühlen  skeptischen  Reserve  stecken,  die  einen 
echten  Zug  des  Historikers  ausmacht,  der  nicht  handelt,  sondern  betrachtet 
und  sich  der  Relativität  aller  menschlichen  Gebilde  bewußt  ist;  es  lag 
darin  doch  auch  der  Sinn  für  den  eigentlich  philosophischen  Geist. 
Falckenberg  fühlte  die  Ebbe,  die  bei  aller  Regsamkeit  seit  der  Hochflut 
des  deutsch-klassischen  Idealismus  eingetreten,  und  blickte  als  Historiker 
nach  den  wenigen  nach-hegelschen  „weit  in  die  Lande  schauenden  Türmen" 
aus.  (Aus  der  1904  gehaltenen  Gedächtnisrede  „Kant  und  das  Jahrhundert".) 
Noch  bezeichnender  spricht  er  von  „wenigen  Berggipfeln,  vom  Abendrot 
des  deutschen  Idealismus  verschönt,  und  zugleich  Boten  und  Bürgen  einer 
neuen  Aera  mit  bescheideneren  Zielen  aber  solideren  Methoden".  Und 
daß  er  in  Lotze  den  größten  dieser  Berggipfel  sah  und  ein  Werk  über  ihn 
begonnen  hat  (nur  im  ersten  biographischen  Teil  erschienen  1901),  ist 
nur  historische  Gerechtigkeit  und  rückt  seine  eigene  Auffassung  über  die 
Aufgaben  der  Philosophie  in  gutes  Licht. 


222  Mitteilungen. 

Er  hatte  gewiß  auch  einen  Blick  für  das  Dionysische,  wie  es  etwa 
in  Fichte  atmete.  Er  selber  aber  war  keine  impulsive,  sondern  eine 
ausgesprochen  ästhetisch-kontemplative  Natur.  In  ihm  ist  nichts  von  den 
Gespanntheiten,  wie  sie  in  jenem  Denker  auftreten  und  den  deutsch- 
klassischen Genius  etwa  W.  von  Humboldts  ablösen.  Vielmehr  wie  dieser 
eine  rein  betrachtende,  ästhethisch  verarbeitende  und  dadurch  sich  selbst 
gestaltende  Natur.  Der  vom  platonischen  Eros  verklärte  Blick  auf  die 
Fülle  der  historischen  Gestalten  war  sein  Erbteil. 

In  seinem  Verhältnis  zur  Berufsarbeit  kommt  dieses  Apollinische  seiner 
Natur  rein  zum  Ausdruck.  Ich  habe  keinen  philosophischen  Lehrer  kennen 
gelernt,  der  mit  solch  innerster  Freude  und  begeisterter  Anteilnahme  an 
seinem  Dozentenberufe  hing,  aber  wie  ein  ausübender  Künstler  erst  in  den 
Saal  trat,  nachdem  er  den  Stoff  nicht  nur  dem  Inhalt,  sondern  auch  der 
Form  nach  bis  ins  Einzelnste  durchgearbeitet  und  vollkommen  gemeistert 
hatte.  Am  Ringen  mit  den  Problemen  ließ  er  darum  den  Hörer  weniger 
teilnehmen.  lieber  die  Art  des  philosophischen  Lehrens  läßt  sich  wiederum 
vieles  hin  und  wider  sagen,  und  die  Falckenbergsche  paßt  nicht  für  jeden. 
Aber  er  hat  vielen  das  Tor  der  Philosophie  geöffnet. 

Seine  Lehrart  hängt  also  mit  dem  in  ihm  verkörperten  klassisch-har- 
monischen Persönlichkeitsideal  zusammen.  Der  Schriftsteller,  sagte  ich, 
dient  dem  Lehrer.  Und  der  Lehrer  vollendet  sich  im  Ganzen  der  Persön- 
lichkeit, ist  nichts  für  sich,  sondern  soll  ein  natürlich-ungezwungener  Aus- 
druck von  dieser  sein.  Falckenberg  wirkte  schließlich  und  eigentlich  durch 
das,  was  er  war.  Wenn  er  nie  vor  dem  Hörer  erschien,  bevor  er  seinen» 
Stoffe  die  abgeklärteste  Form  verliehen  hatte,  so  war  eben  für  ihn  die 
künstlerische  Abklärung  der  Philosopheme  ein  Zeichen  wenn  nicht  ihrer 
Wahrheit,  so  zum  mindesten  der  eigenen  persönlichen  Besitzergreifung,  die 
Garantie  des  eigenen  Sieges  im  wissenschaftlichen  —  und  sittlichen  — 
Kampf  mit  dem  Stoffe.  Von  diesem  Kampfe  läßt  er,  wie  gesagt,  so  gut 
wie  gar  nichts  merken.  Aber  was  dadurch  vielleicht  an  Anregungen  und 
Impulsen  für  den  philosophischen  Schüler  verloren  geht,  wird  ersetzt  durch 
jenes  Fluidum,  das  von  einer  ganzen  Persönlichkeit  ausgeht,  alle  ihre 
Aeußerungen  verklärt  und  ihnen  den  Stempel  schlichtester  Wahrhaftigkeit 
und  Sachlichkeit  aufdrückt.  In  gespannteren  Zeiten  als  es  die  sogenannten 
klassischen  sind,  oder  gar  in  solch  verworrenen  wie  der  heutigen,  wo  man 
aus  dem  Gröbsten  erst  wieder  aufbauen  muß  und  wo  es  so  viel  nach  außen 
zu  tun  gibt,  da  mag  es  besonders  nahe  liegen,  zuerst  darauf  zu  sehen, 
was  einer  leistet,  für  objektive  Zwecke  und  Güter  schafft.  Zur  Würdi- 
gung von  Persönlichkeiten  wie  derjenigen  Falkenbergs  muß  die  erste  Frage 
sein,  was  er  selber  war.  Denn  dadurch  vor  allem,  durch  sein  abgeklärtes 
persönliches  Sein  wollte  und  konnte  er  recht  eigentlich  wirken. 

Gerade  darum  scheint  er  die  Musik  nicht  zum  Beruf  erwählt  zu  haben. 
Um  ihr,  wie  schon  von  anderer  Seite  bemerkt  worden  ist,  die  Treue  ganz 
rein  bewahren  zu  können.  Konnte  er  sie  doch  so  vor  allen  empirischen 
Nöten  und  Nötigungen,  vor  jeder  Forciertheit  und  jedem  äußeren  Muß 
bewahren. 

Der  entsprechenden  Gefahr  des  philosophischen  Berufes  konnte 
er  nur  entgehen  durch  die  Bildung  der  eigenen  philosophischen  Persönlich- 


Mitteilungen.  223 

keit  und  innerhalb  der  Berufsausübung  durch  Fernhaltung  alles  Nichtge- 
mäßen. Und  eben  darin  war  er  groß.  Durch  das  persönliche  Sein  zu 
wirken,  das  ist  zweifellos  der  idealste  Weg  des  Wirkens.  Er  verhindert, 
falsche  Pfade  im  Berufe  einzuschlagen.  Falckenberg  gehört  zu  den  feinen 
Geistern,  die  sich  nicht  erst  auf  ihre  Schranken  besinnen  müssen,  weil  sie 
eben  jenem  stillen  Wirken  huldigen,  das  aus  dem  harmonisch  gesättigten 
Sein  quillt. 

So  ist  er  durchaus  fern  geblieben  jener  Sphäre  des  bloßen  Scheins, 
den  Rousseau  in  seiner  grotesken  Gestalt  gezeichnet  hat,  fern  von  allem 
Glänzenden  und  Schimmernden,  allem  Künstlichen  und  Gezwungenen.  In 
der -Erinnerung  steht  er  vor  uns  in  der  Schönheit  seiner  edlen  Natur,  deren 
stilles  Wirken  keine  eigenmächtige  Willkür  unterbrach.  Auf  dieses  stille 
Wirken  muß  man  achten,  will  man  ihn  voll  würdigen. 

Das  mag  darum  nur  einem  möglich  sein,  dem  es,  wie  mir,  vergönnt 
gewesen  ist,  ihm  persönlich  näher  zu  treten  und  vor  allem  im  Hause 
Falckenberg  lange  Jahre  ein-  und  auszugehen  und  auch  an  dessen  Freuden 
und  Sorgen  persönlicher  teilzunehmen.  Denn  der  Blick  gerade  in  seine 
Familie  rundet  sein  Bild,  vor  allem  hinsichtlich  des  rein  Menschlichen  seiner 
Persönlichkeit,  in  schönster  Weise  ab.  Gerade  bei  ihm  kam  erst  hier 
neben  der  stillen  feinen  Gelehrtenpersönlichkeit  und  dem  feinsinnigen 
Künstler  der  Mensch,  durch  jene  Seiten  verklärt,  zur  vollen  Erscheinung. 
Gerade  hier  konnte  man  sehen,  wie  wirklich  über  seinem  Leben  neben 
dem  Genius  der  Philosophie  der  reine  bezaubernde  Hauch  der  Kunst  und 
vor  allem  der  Musik  schwebte  und  es  verschönte.  Gerade  in  der  wunder- 
baren Lebenseinheit  seiner  Familie  zeigte  sich  dieser  Geist  des  Haus- 
herrn in  bestem  Lichte.  Von  allen  Gliedern  strahlte  die  künstlerische 
Abgeklärtheit  seines  Wesens  eigentümlich,  aber  immer  harmonisch  wieder; 
alles  aber  auf  dem  Grunde  tiefer,  weiter,  frommer  Herzlichkeit.  Wer 
davon  kosten  durfte,  wie  ich  zum  letztenmale  noch  kurz  vor  seiner  Ab- 
reise nach  Jena,  wo  ihn  bald  der  Tod  ereilen  sollte,  der  wird  herzlich 
bedauern,  dass  ihm  diese  reine  Gestalt  nicht  mehr  begegnen  wird. 

Aber  er  wird  ihn  selber  glücklich  preisen.  Das  Leben  ist  ihm  nichts 
Wesentliches  schuldig  geblieben.  Sonnig  verlief  sein  Berufsleben  in  Schrift- 
steller- und  in  Lehrtätigkeit.  Sonnig  bis  zuletzt  war  sein  Familienleben. 
Wohl  zogen  zeitweilig  drohende  Wolken  hinter  seinem  Hause  auf.  Aber 
alle  wichen  schließlich  wieder  strahlendem  Sonnenschein,  und  seine  drei 
Söhne  kehrten  gesund  und  ehrengeschmückt  aus  dem  Felde  zurück. 

Aber  gerade  in  solchen  kritischen  Zeiten,  wie  sie  wiederholt  über  seinem 
Hause  lagen,  habe  ich  ihn  vorbildlich  groß  gesehen.  Vor  allem  in  der 
freien  Beherzigung  des  Wortes:  Seid  dankbar  in  allen  Dingen!  Wie  er 
einst  in  besonders  schwerer  Stunde  zu  mir  sagte:  was  ihm  an  Erfüllung 
seiner  nächsten  dringendsten  Wünsche  noch  beschert  werden  möchte,  werde 
er  von  jetzt  ab  als  ein  Gnadengeschenk  empfangen,  —  so  betrachtete  er 
schließlich  alles  Gute,  das  ihm  in  seinem  Leben  zu  teil  geworden,  als 
Geschenk.  Und  eben  darum  ist  ihm  das  Leben  nichts  schuldig  ge- 
blieben. Eben  deshalb,  weil  er  ihm  das  Größte  zu  entnehmen  gelernt 
hatte,    das  überhaupt   aus    ihm  zu  holen  ist:    jene  idealen  Lebenswerte  — 


224  Mitteilungen. 

nnd  zugleich  jene  innere  Freiheit  und  Selbstbescheidung  gegenüber  dem 
Leben,  bei  aller  dankbaren  Hingabe^  an  dasselbe. 

Und  schließlich:  still  und  groß  ist  er  gegangen,  mit  jener  heiteren 
Ruhe  des  Weisen,  der  die  Lebensgüter  dankbar  genießt  und  auf  die  ge- 
nossenen und  auch  auf  das,  was  ihm  selbst  zu  wirken  vergönnt  gewesen, 
dankbar  zurückblickt,  weil  er  das  alles  irgendwie  in  seinen  dauernden 
höheren  Besitz  verwandelt  hat;  der  aber  über  dem  allen  auch  gelernt  hat, 
den  Fuß  nur  leicht  aufzusetzen,  und  darum  bereit  und  fähig  ist,  auch  die 
letzte  Seite  seines  Lebensbuches  still  und  dankbar  umzuschlagen. 

Eine  klassisch-apollinische  Natur  in  der  Tat  bis  in  seine  letzten  Atem- 
züge hinein.  Und  es  scheint,  als  ob  ein  besonderer  Sinn  und  eine  innere 
Gerechtigkeit  darin  liege,  daß  es  ihm  vergönnt  gewesen  ist,  in  seinem 
letzten  Semester  noch  einmal  mit  ungetrübter  Freude  gerade  über  die  Ge- 
schichte der  griechischen  Philosophie  zu  lesen:  als  ob  er  sich  hier 
doch  am  meisten  heimisch  gefühlt  habe,  in  diesen  klaren  Linien  reinen 
Menschentums,  wie  wir  sie  nur  bei  solcher  historischen  Entfernung  zeichnen 
können.  Das  klassische  Griechentum,  nimmt  es  sich  nicht  still  und  bleich 
aus  gegen  den  mächtigen  Pulsschlag  der  Gegenwart?  Jedenfalls  aber  zeigt 
es  sich  für  unseren  durch  die  Distanz  frei  gewordenen  Blick  gereinigt  von 
allen  Schlacken  und  Verworrenheiten  des  Tages  und  zeigt  uns  die  ideale 
geistige  Menschlichkeit  in  ihren  lapidaren  Zügen.  Sie  heißen  Sachlichkeit, 
Objektivität,  die  ihrerseits  von  ideellen  Notwendigkeiten  zehren,  vom  reinen 
Hauche  des  Unbedingten  berührt  sind.  Was  ist  in  dieser  verzerrten  Gegen- 
wart, in  dieser  Zeit  spekulativer  Ermattung  und  empirischer  Zerfahrenheit 
nötiger,  als  uns  zurückzufinden  und  vor  allem  unsere  akademische  Jugend 
immer  wieder  zurückzuführen  zu  den  Quellen,  aus  denen  schon  unser 
klassisch- deutscher  Genius  den  Mut  des  reinen  —  und  schließlich  auch 
willensstarken  Lebens  getrunken  hat! 


Otto  Willmann  -f. 

Am  1.  Juli  v.  J.  ist  der  katholische  Philosoph  und  Pädagoge  Otto 
Willmann  in  Leitmeritz  gestorben.  Mit  ihm  ist  einer  der  markantesten 
Persönlichkeiten  innerhalb  der  katholischen  Geisteswelt  aus  dem  Leben  ge- 
schieden, ein  Mann,  dessen  hohe  Bedeutung  als  führender  Pädagoge  weit 
über  den  Kreis  seiner  Schüler  und  Glaubensgenossen  hinaus  anerkannt  wird. 

Am  24.  April  1839  in  Lissa  i.  Posen  geboren  und  ebendort  auf  dem 
Comenius- Gymnasium  vorgebildet  hat  er  seine  Studien  auf  den  Universi- 
täten Breslau  (1857 — 59)  und  Berlin  (1859 — 1863,  hier  besonders  von 
Trendelenburg  beeinflußt)  vollendet.  W.  hat  lange  gerungen,  ehe  es  ihm 
gelang,  eine  gefestigte  Welt-  und  Lebensauffassung  sich  zu  erwerben. 
Ernstes  geistiges  Streben  und  ein  geradezu  erstaunlicher  Betätigungseifer 
zeichnen  ihn  von  Jugend  an  aus.  Vorübergehend  sucht  er  sich  am  kanti- 
schen Kritizismus  zu  orientieren.  Entscheidend  wird  er  aber  erst  von 
Herbarts  Pädagogik  beeinflußt. 

Seine  erste  öffentliche  Wirksamkeit  zeigt  ihn  uns  bei  der  praktischen 
Ausübung    des  Erzieherberufs  am   Zillerschen  Seminar   und    an   Barths  Er- 


Mitteilungen.  225 

Ziehungsinstitut  (1863 — 68).  Im  Jahre  1868  wird  er  an  das  neugegründete 
Wiener  Pädagogium  berufen,  wo  er  fast  5  Jahre  neben  Dittes  wirkte.  Im 
Jahre  1872  erhält  er  die  Professur  für  Pädagogik  an  der  Prager  Univer- 
sität. Hier  gründete  er  im  Jahre  1876  das  von  ihm  musterhaft  geleitete 
pädagogische  Universitätsseminar.  Seit  1910  lebte  er,  zurückgezogen,  aber 
keineswegs  wissenschaftlich  untätig,  in  Leitmeritz  im  Ruhestand. 

"W.  ist,  wie  erwähnt,  Herbartschüler,  aber  er  ist  mehr  als  das,  er  ge- 
hörte zu  den  geistvollsten  Fortbildnern  der  Herbartschen  Pädagogik,  denen 
es  zu  verdanken  ist,  daß  die  fruchtbaren  Anregungen  des  Begründers  einer 
wissenschaftlichen  Pädagogik,  von  ihren  Mängeln  und  Einseitigkeiten  be- 
freit, heute  noch  unter  uns  lebendig  sind.  Er  gibt  sich  dabei  als  durchaus 
selbständiger  Denker  zu  erkennen.  Mit  einem  ausgeprägten  Sinn  für  ge- 
schichtliche und  soziologische  Beziehungen  begabt  fühlt  er  sich  bald  von. 
der  philosophischen  Grundlegung  der  Herbartschen  Pädagogik  unbefriedigt. 
In  der  ersten  Zeit  seiner  Prager  Lehrtätigkeit  bereitet  sich  dann  jene  für 
sein  Leben  so  bedeutsame  Wandlung  vor,  die  ihn  über  Leibniz  in  der 
aristotelisch-thomistischen  Philosophie  die  lange  vergeblich  gesuchte 
geschlossene  Weltauffassung  finden  ließ.  Seitdem  trat  er  immer  entschie- 
dener als  begeisterter  Vertreter  einer  von  christlichem  Geiste  beseelten 
Philosophie  auf.  Viel  Aufsehen  erregte  in  dieser  Beziehung  die  z.  T.  recht 
temperamentvoll  geschriebene  dreibändige  „Geschichte  des  Idealismus" 
(1894/97;  neue  Aufl.  1907),  die  als  kühner  Versuch  einer  großzügigen 
Synthese  bleibenden  Wert  behält,  so  wenig  an  manchen  Stellen  die  Be- 
handlung der  Einzelheiten  befriedigen  mag. 

Sein  Meisterwerk  ist  die  (erstlich  1882  erschienene)  „Didaktik  als 
Bildungslehre  nach  ihren  Beziehungen  zur  Sozialforschung  und  zur  Ge- 
schichte der  Pädagogik"  (4.  Aufl.  1909).  Was  Gediegenheit  des  Inhalts, 
Reife  und  Abgeklärtheit  des  Urteils  und  Geschlossenheit  der  Form  anbe- 
trifft, hält  dieses  Werk  jeden  Vergleich  aus.  Noch  heute  wird  es  jeder 
pädagogisch  Interessierte  mit  reichem  Nutzen  studieren.  Frei  von  jeder 
störenden  Polemik  wird  hier  das  Bildungsproblem  historisch  und  systematisch 
so  erschöpfend  dargestellt,  daß  es  für  viele  unter  den  neueren  Pädagogen 
eine  dankbar  benutzte  Fundgrube  pädagogischen  Wissens  geworden  ist,  — 
auch  für  solche,  die  es  unterlassen,  sich  ausdrücklich  auf  ihre  Quelle  zu 
berufen ! 

Von  der  Fülle  seiner  übrigen  Veröffentlichungen,  in  denen  er  seine 
reiche  Lebenserfahrung  weiteren  Kreisen  in  anziehender  Form  bis  in  die 
letzten  Lebensjahre  hinein  darbot,  seien  hier  nur  noch  die  Schrift  „Ari- 
stoteles als  Pädagog  und  Didaktiker"  (1909,  in  der  von  Lehmann  heraus- 
gegebenen Sammlung  „Die  großen  Erzieher")  und  die  Neuherausgabe  von 
Herbarts  Pädagogischen  Schriften  (3.  Aufl.   1913  f.)  erwähnt. 

Der  hohe  Rang,  den  er  als  Pädagoge,  besonders  in  katholischen  Kreisen, 
sich  errang,  gibt  sich  auch  darin  kund,  daß  bei  der  Herausgabe  des  „Lexikon 
der  Pädagogik"  durch  Koloff  es  einfach  selbstverständlich  war,  dieses  kühn 
unternommene  und  inzwischen  durchaus  geglückte  Unternehmen  mit  Will- 
manns Namen  zu  decken. 

Nun  ist  dieser  Altmeister  wissenschaftlicher  Pädagogik  heimgegangen. 
Sein  geistiger  Einfluß    wird    aber    hoffentlich    jetzt    erst,    da    viele    seiner 

Kantetudien  XXVI.  15  « 


226  Mitteilungen. 

Schüler  selbst  zu  Ansehen  gelangt  sind,  voll  zur  Geltung  kommen.  Den 
z.  T.  recht  überstürzten  Reformversuchen  moderner  Pädagogik  wäre  jeden- 
falls eine  starke  Dosis  Willmannscher  Besonnenheit  und  Gründlichkeit  sehr 
heilsam ! 

Braunsberg,  Ostpr.  B.  W.  Switalski. 


Rudolf  Euckens  Lebenserinnerungen *). 

Von  Dr.  Georg  Frebold  in  Hannover. 

Zu  den  vielen  Lebenserinnerungen,  die  uns  die  jüngste  Zeit  von  Feld- 
herrn und  Diplomaten  bescheerte,  gesellen  sich  nun  auch  die  Erinnerungen 
zweier  der  bedeutendsten  Philosophen  der  Gegenwart.  Wilhelm  Wundt 
vollendete  kurz  vor  seinem  Tode  das  Bild  seines  Lebens  in  „Erlebtes  und 
Erkanntes",  Rudolf  Eucken  faßt  soeben  die  Erinnerungen  seines  Lebens 
zu  einem  Stück  deutschen  Lebens  zusammen.  Daß  gerade  jetzt,  wo  das 
Streben  unseres  Volkes  so  arg  gelähmt  scheint,  die  Mitarbeiter  an  des 
einstigen  Reiches  Herrlichkeit  ihre  Erinnerungen  uns  schenken,  scheint  uns 
mehr  als  ein  bloßes  Vergnügen  am  Erzählen  vom  eignen  Werden  und 
Kämpfen,  vom  eignen  Wirken  und  Schaffen.  Eucken  kennzeichnet  treffend 
sein  neuestes  Werk  als  ein  Stück  deutschen  Lebens.  Diese  Bezeichnung 
gebührt  allen  Lebenserinnerungen  der  letzten  Zeit,  denn  sie  führt  uns  in 
der  Tat  in  den  tiefsten  Sinn  dieser  Selbstbiographien.  Ihr  tiefster  Sinn 
aber  liegt  in  der  Bedeutung,  die  sie  für  unsere  gegenwärtige  Jugend  haben. 
Sie,  deren  Streben  vorwiegend  noch  Pietät  vor  der  geschichtlichen  Größe 
der  Vergangenheit  besitzt,  mag  sich  das  Lebensschaffen  dieser  Großen 
ständig  vor  Augen  halten,  um  mit  kraftvollem  Idealismus  und  aufrichtigem 
Wollen  an  der  Wiedererstarkung  unseres  Volkes  mitzuarbeiten.  „Dem 
Alter  zur  Ehre,  der  Jugend  zur  Lehre".  Darin  liegt  die  doppelte  Be- 
deutung aller  dieser  Lebenserinnerungen. 

Das  Schaffen  und  Wirken  eines  Philosophen  ist  anderer  Art  wie  das 
der  Feldherrn  und  Diplomaten.  Es  äußert  sich  nicht  in  handgreiflichen 
Taten  heroischer  Art,  es  ist  weit  mehr  ein  kraftvolles  und  einheitliches 
Wirken  in  der  Sphäre  geistigen  Lebens  als  der  Grundlage  unseres  Denkens 
und  Handelns.  Am  eigentümlichsten  offenbart  sich  das  in  Euckens  ge- 
samten Bestrebungen.  Viele  können  kein  sonderliches  Verhältnis  zu  seiner 
Leistung  gewinnen,  können  ihn  nicht  verstehen,  da  sein  philosophisches 
Schaffen  so  sehr  von  aller  schulmäßigen  Philosophie  sich  abhebt.  Jede 
Philosophie  hat  ihr  eigenes  Grundproblem,  von  dem  sie  ausgeht  und  von 
dem  aus  sie  alles  Weitere  in  mehr  oder  weniger  energischer  Besinnung 
entwickelt.  In  einem  Falle  spielt  die  verstandesmäßige  Durchdringung  der 
Wirklichkeit  die  Hauptrolle,  ein  anderer  sieht  im  religiösen  Licht  die 
Lösung  der  Daseinsrätsel  und  einem  dritten  gar  erscheint  der  gesamte 
Lebensprozeß,  nicht  diese  oder  jene  besondere  Seite  an  ihm,  als  sicherster 
Ausgangspunkt.     Die    letztere  Art    der  Philosophie    aber    gewinnt    dadurch 

1)  Rudolf  Eucken,  Lebenserinnerungen.  Ein  Stück  deutschen 
Lebens.    Verlag  K.  F.  Koehler,  Leipzig  1920.     V,  127  Seiten. 


Mitteilungen.  227 

einen  umfassenden  Charakter,  daß  der  Lebensprozeß  als  schöpferische  Tätig- 
keit, als  Selbsttätigkeit  erscheint,  die  alle  Gebiete  des  menschlichen  Lebens 
durchdringt.  Das  Verhältnis  von  Mensch  und  Welt  erhält  nun  nicht  mehr 
seinen  Sinn  von  der  alleinigen  überragenden  Fähigkeit  des  Denkens  her, 
die  Welt  entwickelt  sich  nicht  lediglich  im  Denken,  sondern  vor  allem 
aus  der  Selbsttätigkeit  des  Menschen.  Alle  Selbsttätigkeit  aber  ist  per- 
sönlicher Art,  sie  ist  durchgängig  ethisch  orientiert;  damit  aber  steht  die 
Welt  nicht  als  beziehungsloses  Objekt  uns  gegenüber,  sondern  alles  erhält 
erst  durch  unser  Schaffen  einen  Sinn  und  Wert.  Das  hat  zunächst  den 
Anschein  eines  Subjektivismus;  in  Wahrheit  aber  liegt  die  Sache  so,  daß 
das  Subjekt  nur  eine  Stufe  eines  umfassenderen  Lebens,  des  Geisteslebens, 
darstellt;  der  Mensch  ist  die  Stufe,  auf  der  dieses  in  eigentümlicher  Tätig- 
keit auf  das  Ganze  der  Welt  wirkt.  Gewiß  erscheint  in  solcher  Stellung 
des  Menschen  eine  Bevorzugung,  aber  eine  solche,  die  ihre  Berechtigung 
vom  Ganzen  des  Geisteslebens  her  erweisen  kann,  die  Bevorzugung  ist  un- 
verdiente Gnade.  Das  ist  in  kurzen  Worten  der  Ausgangspunkt  der  Philo- 
sophie Euckens. 

Nun  würden  an  sich  solche  Ueberzeugungen  noch  nicht  wesentlich 
weiterführen,  gewännen  sie  nicht  eine  besondere  Bedeutung  gerade  im 
Ganzen  der  jüngsten  Vergangenheit  und  Gegenwart.  Als  tief  innerlich 
veranlagter  Philosoph  tritt  Eucken  an  alle  Leistungen  unserer  Kultur  heran, 
sie  prüfend  und  wägend  nach  ihrem  Gehalt  für  das  persönliche  Leben  der 
Menschen.  Der  Anfang  seiner  Tätigkeit  und  auch  ein  großer  Teil  seines 
späteren  Schaffens  fällt  in  jene  Zeit  materialistischer  und  positivistischer 
Bestrebungen,  die  der  Epoche  zwischen  1860  und  1890  ein  so  eigentüm- 
liches Diesseitsgepräge  geben.  In  solcher  Lage  entwickeln  sich  Eucken 
schwere  Probleme.  Eine  reichhaltige  Vergangenheit,  die  dem  Menschen 
eine  gewisse  Sonderstellung  zuerkannte,  wirkt  in  diese  Kultur  bloßer  äußer- 
licher Leistung  hinein.  Mit  solcher  Vergangenheit  grundsätzlich  brechen, 
wäre  pietätlos,  wenn  nicht  überhaupt  eine  unmögliche  Forderung;  anderer- 
seits enthalten  die  neuen  Kulturleistungen  viel  Bedeutsames,  das  sich 
schlechterdings  nicht  bei  Seite  schieben  läßt.  Der  hierin  liegende  Wider- 
spruch verdichtet  sich  für  Eucken  zu  dem  einen  Hauptproblem :  Wie  können 
wir  ganz  moderne  Menschen,  Menschen  der  Gegenwart  sein,  ohne  ein  tief- 
inneres Verhältnis  zu  allem  Großen  der  Vergangenheit  aufzugeben?  Es 
ist  letztlich  der  Gegensatz  von  Natur  und  Geschichte,  der  dieser  Frage 
zu  Grunde  liegt,  der  aber  einen  besonderen  Sinn  im  Lichte  einer  vornehm- 
lich ethisch  orientierten  Lebens anschauung  erhält.  Die  Frage  aber  wird 
gestellt  von  einem,  dem  die  Geschichte  die  eigentliche  Sphäre  menschlichen 
Wirkens  ist. 

Jedoch  fordert  solche  Frage  zunächst  eine  energische  Besinnung  über 
das,  was  die  Leistungen  der  Gegenwart  an  grundlegenden  Elementen  auf- 
zuweisen haben.  Sie  fordert  eine  kritische  historisch-systematische  Erörte- 
rung der  philosophischen  Grundbegriffe.  So  entstehen  als  Euckens  erste 
größere  Schriften  die  „Geschichte  und  Kritik  der  Grundbegriffe  der  Gegen- 
wart" (1878)  (später  unter  dem  Titel  „Geistige  Strömungen  der  Gegen- 
wart") und  die  „Geschichte  der  philosophischen  Terminologie"  (1879).  In 
der  Erörterung  solcher  Einzelprobleme  wird  der  eigene  Standpunkt  geklärt 

15* 


228  Mitteilungen. 

und  befestigt  und  schon  1885  wird  in  den  „Prolegomena  zu  Forschungen 
über  die  Einheit  des  Geisteslebens"  ein  methodologischer  Vorläufer  zu  einer 
umfassenden  systematischen  größeren  Arbeit  geschaffen.  1888  erscheint 
dann  das  systematische  Hauptwerk  in  der  Gestalt  der  „Einheit  des  Geistes- 
lebens in  Bewußtsein  und  Tat  der  Menschheit".  Aber  wie  sehr  auch  das 
hier  behanflelte  Hauptproblem  von  großer  Bedeutung  für  eine  weitere 
Oeffentlichkeit  ist,  es  ist  doch  seiner  strengen  Fassung  nach  zunächst  für 
den  engeren  Kreis  der  Philosophen  bestimmt.  Aber  selbst  hier  findet  es 
infolge  des  Vorwiegens  antimetaphysischer  Strömungen  nicht  die  gebührende 
Beachtung.  Nur  Paul  Natorp  und  Rudolf  Seydel  erkennen  die  hohe  Be- 
deutung des  Euckenschen  Strebens.  Mehr  Erfolg  schien  eine  historische 
Darstellung  des  Lebensproblems  zu  versprechen,  1890  erscheinen  „Die 
Lebensanschauungen  der  großen  Denker",  die  sich  rasch  einen  großen 
Freundeskreis  im  In-  und  Auslande  gewinnen;  gegenwärtig  liegt  die  15. 
und  16.  Auflage  vor.  Die  Zeiten  wandten  sich  und  so  konnte  auch  eine 
neue  Grundlegung  der  Lebensanschauung  in  zugänglicherer  Sprache  die 
Beachtung  weiterer  Kreise  erhoffen:  „Der  Kampf  um  einen  geistigen  Lebens- 
inhalt" (1896).  Es.  hat  diese  Schrift  zunächst  auch  nur  Beachtung  in 
einem  kleineren  Kreise  gefunden,  aber  bald  ist  sie  weiter  vorgedrungen 
und  hat  Euckens  Philosqphie  in  der  Schätzung  weiterer  Kreise  zu  be- 
gründen geholfen. 

Was  aber  im  Rahmen  seiner  Ueberzeugungen  besonderes  Interesse 
beanspruchte,  war  die  Religion.  Auch  sie  war  in  den  Strudel  naturalisti- 
scher und  positivistischer  StrömuDgen  hineingezogen  und  ihres  inneren  Ge- 
haltes für  viele  Menschen  beraubt.  Worauf  ihr  Anspruch  auf  Wahrheit 
beruhe  und  wie  er  zu  begründen  sei,  das  erforderte  eine  größere  Unter- 
suchung im  „Wahrheitsgehalt  der  Religion"  (1901);  sie  und  Hermann 
Siebecks  „Lehrbuch  der  Religionsphilosophie"  sind  neben  den  Arbeiten  von 
Troeltsch  wohl  die  bedeutendsten  religionsphilosophischen  LeistuDgen  der 
letzten  50  Jahre.  Der  Wahrheitsgehalt  der  Religion  wird  zu  einer  Apo- 
logie aller  Religion,  zu  einer  Apologie  des  Christentums.  Daß  aber  alle 
Anerkennung  des  Christentums  nicht  auch  schwere  Schädigungen  in  seiner 
historischen  Gestaltung  übersieht,  dafür  zeugt  diese  sowie  die  spätere 
kleinere  Schrift  „Können  wir  noch  Christen  sein?"  (1911).  Seine  Stellung 
zum  Christentum  faßt  Eucken  in  die  Worte  zusammen:  „Unsere  Frage 
war,  ob  wir  heute  noch  Christen  sein  können?  Unsere  Antwort  ist,  daß 
wir  es  nicht  nur  können,  sondern  sein  müssen.  Aber  wir  können  es  nur, 
wenn  das  Christentum  als  eine  mitten  im  Fluß  befindliche  weltgeschicht- 
liche Bewegung  anerkannt,  wenn  es  aus  der  kirchlichen  Erstarrung  aufge- 
rüttelt und  auf  eine  breitere  Grundlage  gestellt  wird.  Hier  also  liegt  die 
Aufgabe  der  Zeit  und  die  Hoffnung  der  Zukunft". 

Euckens  Streben  wurde  bekannter,  namentlich  im  Auslande,  weniger 
in  Deutschland.  Vor  allem  in  Amerika,  den  nordischen  Ländern,  Frank- 
reich, weiterhin  dann  in  Indien,  China  und  Japan  fand  es  lebhaften  Wider- 
hall. Solche  größere  Anerkennung  im  Auslande  ist  wohl  der  Grund  für 
den  Vorwurf,  daß  Eucken  mehr  mit  dem  Auslande  als  mit  seinem  eigenen 
Volke  sympathisiere.  Aber  die  Anerkennung  des  Auslandes  hat  ihn  auch 
uns  schätzen  gelehrt  und  solcher  Umweg    über    das  Ausland  erweckt  dann 


Mitteilungen.  229 

leicht  den  Eindruck,  als  sei  Euckens  Streben  mehr  auf  das  Ausland  als 
auf  das  eigene  Volk  gerichtet.  Nur  Oberflächlichkeit  vermag  so  zu  ur- 
teilen. Als  eine  für  weitere  Kreise  berechnete  systematische  Darstellung 
folgten  dann  die  „Grundlinien  einer  neuen  Lebensanschauung"  (1907)  und 
das  kürzere  „Der  Sinn  und  Wert  des  Lebens"  (1908).  Namentlich  das 
Letztere  ist  in  weite  Kreise  gedrungen.  Philosophische  Hauptprobleme 
erfahren  eine  leichtverständliche  Erörterung  1908  in  der  „Einführung  in 
eine  Philosophie  des  Geisteslebens"  (jetzt  unter  dem  Titel  „Einführung  in 
die  Hauptfragen  der  Philosophie"   1920). 

Schon  bald,  nachdem  auch  die  eigentlichen  Vertreter  der  Philosophie 
sich  ernsthaft  mit  Euckens  Bestrebungen  beschäftigt  hatten,  wurde  bei  aller 
Schätzung  seiner  Leistung  der  Wunsch  nach  einer,  näheren  erkenntnistheo- 
retischen Grundlegung .  seiner  Philosophie  laut.  Zu  solcher  Forderung 
drängte  namentlich  das  Vordringen  des  Pragmatismus,  sodaß  sich  alle 
einzelnen  Probleme  um  die  Hauptfrage  nach  dem  Verhältnis  von  Leben 
und  Erkennen  verdichteten.  Kurz  vor  seiner  Amerikareise  1912  erschienen 
die  Voruntersuchungen  hierzu  in  der  kleineren  Schrift  „Erkennen  und 
Leben".  Wesentlich  vertieft  und  auf  weit  größerer  Grundlage  unternommen 
wurden  dann  die  Untersuchungen  in  dem  1918  erschienenen  Werk  „Mensch 
und  Welt.  Eine  Philosophie  des  Lebens".  Bei  aller  Verwandtschaft  mit 
dem  Pragmatismus  zeigen  Euckens  Ueberzeugungen  doch  so  gewaltige 
Unterschiede  im  Vergleich  zu  diesen,  daß  eine  Einreihung  Euckens  in  den 
Pragmatismus  grundsätzlich  nicht  gerechtfertigt  ist.  Der  Pragmatismus 
erweist  die  Wahrheit  des  Denkens  von  seiner  rationellen  Anwendung  im 
täglichen  Leben  her;  was'  sich  nützlich  und  förderlich  zeigt,  das  kann  erst 
volle  AVahrheit  beanspruchen.  Bei  Eucken  gibt  es  wohl  eine  Wahrheit 
des  Denkens,  aber  sie  erhält  erst  vom  Ganzen  des  Geisteslebens  her  eine 
ausschlaggebende  Bedeutung.  Nicht  das  ist  wahr,  was  sich  nützlich  er- 
weist, sondern  nur  das,  was  das  Wirken  eines  höheren  Lebens  offenbart. 
Das  ist  zwar  keine  Absage  an  jegliches  Erkennen,  aber  es  ist  eine  Ver- 
schiebung des  Hauptproblems  der  Philosophie  von  ihm  in  den  Bereich  ur- 
sprünglichen Lebens.  Es  ist  kein  Kampf  gegen  den  Intellektualismus  über- 
haupt, sondern  ein  Kampf  gegen  seinen  Anspruch,  alles,  auch  das  Irra- 
tionale von  sich  aus  völlig  begreifen  zu  können,  ohne  Rücksicht  auf  die 
lebendige  Persönlichkeit  zu  nehmen. 

Das  aber  ist  in  der  Tat  Euckens  größte  Bedeutung,  daß  er  mit  allem 
Nachdruck  eine  ethische  Orientierung  unserer  Lebensanschauung  fordert. 
Das  macht  ihn  zum  Fichte  unserer  Zeit  (vgl.  sein  „Zur  Sammlung  der 
Geister"  1913)  und  zum  Erneuerer  eines  hoffnungsfreudigen  Idealismus 
des  Lebens.  Alles  das  aber  hindert  nicht,  ihn  als  treuen  Hüter  von 
Idealen  einer  großen  Vergangenheit  zu  schätzen,  ja,  auf  seine  Hauptfrage 
die  Antwort  zu  geben,  daß  ein  moderner  Mensch  daran  kenntlich  ist,  daß 
er    im  Ganzen  seines  Lebens    in  Geschichte    und  Gegenwart    steht. 

Lebenserinnerungen  kann  man  nicht  kritisieren,  sie  können  nur  ein 
Erlebnis  für  den  Leser  werden.  Ob  dabei  solch  Erlebnis  nachhaltig  wirkt, 
ob  es  zu  einer  Offenbarung  wird,  das  bemißt  sich  ganz  nach  dem  inneren 
-Gehalt  der  wirkenden  Persönlichkeit.  Und  da  meinen  wir  allerdings,  daß 
in  diesen  Lebenserinnerungen  eine  volle  und  ganze  Persönlichkeit  sich  gibt, 


230  Mitteilungen. 

energisch  in  der  Konzentration  der  Arbeit  wie  in  der  Einheitlichkeit  der 
Ueberzeugung.  Kein  Wort  aber  vermöchte  besser  den  Sinn  dieses  Schaffens 
und  Lebens  wiederzugeben  als  das  des  psalmistischen  Sängers :  „Und  wenn's 
köstlich  gewesen  ist,  so  ist  es  Mühe  und  Arbeit  gewesen". 


,     Philosophie  und  Schule. 

(Zum  Problem  der  philosophischen  Propädeutik.) 

Auf  Grund  vielfacher  Anregungen  aus  dem  Kreise  unserer  Mitglieder, 
besonders  aus  demjenigen  des  höheren  Lehrerstandes,  veranstaltete  die  Geschäfts- 
führung der  Kant- Gesellschaft  am  Sonnabend,  den  15.  Januar  1921,  einen 
Diskussionsabend  in  den  Räumen  der  Berliner  Universität,  der  von  etwa  500 
Teilnehmern  besucht  war.  Referate  hatten  die  Herren  Studienräte  Dr.  Otto 
Freitag  und  Dr.  Felix  Behrend,  sowie  Herr  Universitätsprofessor  Dr.  Eduard 
Spranger  freundlichst  übernommen.  Von  diesen  Berichten,  an  die  sich  eine 
sehr  lebhafte  Aussprache  anschloß,  veröffentlichen  wir  in  Folgendem  die 
Darlegungen  von  Herrn  Dr.  Freitag  und  Herrn  Dr.  Behrend. 

Philosophie  und  höhere  Schule. 

Von  Studienrat  Dr.  Otto  Freitag. 


Ich  habe  den  Auftrag,  über  das  Verhältnis  von  Philosophie  und 
höherer  Schule  den  einleitenden  Bericht  zu  geben,  der  bei  der  Kürze  der 
gestellten  Frist  nur  in  ganz  allgemeinen  Linien  gehalten  sein  kann.  Es 
kommt  mir  daher  weniger  darauf  an,  Neues  zu  diesem  Gegenstande  zu 
sagen ;  das  ist  fast  kaum  möglich  bei  der  Fülle  der  Literatur,  sondern  ich 
möchte  möglichst  viele  Seiten  des  weitschichtigen  Themas  als  Grundlage 
für  die  Aussprache  berühren. 

Für  die  Neugestaltung  des  Lehrplanes  der  höheren  Schulen  ist  die 
Frage  des  philosophischen  Unterrichts  zweifellos  eine  der  wichtigsten  und 
brennendsten.  Gleichzeitig  ist  sie  sicherlich  die  verwickeltste  und  schwie- 
rigste. Je  mehr  man  sich  in  dieses  Problem  vertieft,  um  so  schwieriger 
erscheint  es,  und  fast  möchte  man  an  einer  befriedigenden  Lösung  ver- 
zweifeln. Wenn  es  heißt,  welche  Philosophie  man  habe,  hänge  davon  ab, 
was  für  ein  Mensch  man  sei,  so  gilt  das  Wort  wohl  auch  für  die  Stellung 
des  einzelnen  zu  der  Frage  der  philosophischen  Propädeutik.  Welche  Form 
des  Philosophieunterrichts  an  höheren  Schulen  man  für  richtig  hält,  hängt 
auch  wohl  davon  ab,  was  für  ein  Mensch  man  ist. 

Wie  ist  der  gegenwärtige  Stand  des  philosophischen  Unterrichts  auf 
den  allgemeinbildenden  höheren  Schulen?  Ausgangspunkt  unserer  Betrach- 
tung müssen  die  zur  Zeit  geltenden  Lehrpläne  in  Preußen  sein.  Seit  den 
Lehrplänen  von  1891  ist  Philosophie  als  Pflichtfach  aus  dem  Lehrplan 
verschwunden.  In  den  jetzt  geltenden  Lehrplänen  von  1901  wird  sie  in 
Verbindung  mit  dem  deutschen  Unterricht  dem  Ermessen  der  einzelnen 
Anstalten  anheim  gestellt.     Bei  den  Lehraufgaben    für  den  deutschen  Unter- 


Mitteilungen.  231 

rieht  heißt  der  letzte  Absatz:  „Wünschenswert  erscheint  eine  in  engen 
Grenzen  zu  haltende  Behandlung  der  Hauptpunkte  der  Logik  und  der 
empirischen  Psychologie."  In  den  methodischen  Bemerkungen  für  das 
Deutsche:  „Die  Prosalektüre  soll  zumal  auf  der  Oberstufe  den  Stoff  für  die 
Erörterung  wichtiger  allgemeiner  Begriffe  bieten.  Durch  zweckmäßig  ge- 
leitetes Lesen  dieser  Art  wird  die  philosophische  Propädeutik,  deren  Auf- 
nahme in  den  Lehrplan  der  Prima  an  sich  wünschenswert  ist,  wirksam 
unterstützt,  da  aber,  wo  die  Verhältnisse  ihre  Aufnahme  nicht  ermöglichen, 
wenigstens  einigermaßen  ersetzt  werden  können.  Aufgabe  solcher  Unter- 
weisung ist  es,  die  Befähigung  für  die  logische  und  spekulative  Auffassung 
der  Dinge  zu  stärken  und  dem  Bedürfnisse  der  Zeit,  die  Ergebnisse  der 
verschiedensten  Wissenszweige  zu  einer  Gesamtanschauung  zu  verbinden, 
in  einer  der  Fassungskraft  der  Schüler  entsprechenden  Form  entgegenzu- 
kommen. Zu  wünschen  ist,  daß  zur  Förderung  dieser  Aufgabe  auch  die 
Vertreter  der  übrigen  wissenschaftlichen  Lehrfächer  beitragen."  Einen  wesent- 
lichen Schritt  weiter  gehen  die  Lehrpläne  -  für  das  höhere  Mädchenschul- 
wesen von  1908.  Sie  schreiben  für  die  Studienanstalt  im  Rahmen  des 
deutschen  Unterrichts  philosophische  Propädeutik  vor,  mit  besonderen 
Stunden  für  Logik,  psychologische  Betrachtungsweise  und  eine  hierauf  sich 
gründende  Beurteilung  ethischer  Probleme  an  der  Hand  ausgewählter  Lek- 
türe. Als  Ziel  wird  bezeichnet:  „das  sehr  lebhafte  Interesse  an  den  Vor- 
gängen des  Innenlebens  zu  befriedigen,  die  intellektuellen  Bedürfnisse  an- 
zuregen, Mittel  zur  intelellektuellen  Selbstzucht  zu  geben,  Verständnis  für 
philosophische  Fragen  und  Aufgaben  anzubahnen." 

Durch  die  letzten  Knabenschullehrpläne  ist  also  der  philosophische 
Unterricht  freigestellt.  Eine  Stichprobe  durch  Ueberprüfung  der  Pro- 
gramme von  etwa  50  preußischen  und  hessischen  Vollanstalten  aus  dem 
Jahre  1914  ergab,  daß  Philosophie  in  keinem  erwähnt  war.  In  Sachsen 
und  Baden  lagen  die  Verhältnisse  etwas  günstiger,  in  Sachsen  war  Philo- 
sophie in  etwa  einem  Viertel  der  Programme  vertreten,  meist  in  Verbindung 
mit  dem  deutschen  Unterricht,  vereinzelt  als  Sonderfach  mit  einer  Wochen- 
stunde entweder  in  beiden  oder  einer  Prima.  Der  Unterricht  beschränkte 
sich  meist  auf  Logik  und  Psychologie,  war  bisweilen  auch  anderen  philo- 
sophischen Fragen  erkenntnistheoretischer,  metaphysischer  und  ethischer 
Natur  gewidmet. 

Fragt  man,  ob  die  gegenwärtig  geltende  Lehrverfassung  demnach  das 
Verhältnis  von  Philosophie  und  höherer  Schule  befriedigend  regelt,  so  muß 
mit  einem  klaren  Nein  geantwortet  werden.  Diese  Erkenntnis  kommt  auch 
in  der  starken  Gegenbewegung  zum  Ausdruck,  die  sofort  nach  dem  Aus- 
scheiden der  Philosophie  aus  dem  höheren  Schulunterricht  einsetzt  und  auf 
ihre  Wiedereinführung  hinarbeitet.  Diese  Bewegung  hat  in  den  letzten 
Jahren  immer  stärkere  Formen  angenommen.  Die  letzten  Jahrzehnte  bringen 
eine  außerordentlich  reiche  Literatur  zur  Propädeutik  -  Frage.  Mehrfach 
haben  die  Direktoren-Konferenzen,  Philologenversammlungen,  die  Tagung 
der  Naturforscher  und  Aerzte  sich  mit  der  Frage  beschäftigt,  Männer,  die 
in  der  Wissenschaft  und  der  Welt  der  Schule  gleich  gute  Namen  haben, 
wie  Ziegler  und  Paulsen  haben  ihre  warnende  Stimme  erhoben  und  dringend 
die  Wiedereinführung    der   Philosophie    verlangt,    ferner  Rehmke,    Eucken, 


Mitteilungen, 

Otto  Braun,  von  Schulmännern  besonders  Alfred  Rausch,  Otto  Weißenfela, 
Alfred  Biese,  Friedrich  Neubauer.  Rudolf  Lehmann  hat  dem  Gegenstande 
seine  besondere  Liebe  gewidmet.  Ich  möchte  es  hier  nicht  unterlassen, 
den  Dank  an  den  Mann  abzustatten,  der  in  mühevoller  Arbeit  einen  großen 
Abschnitt  dieser  weitverzweigten  Literatur  gesammelt  und  kritisch  gesichtet 
hat,  und  der  damit  für  alle,  die  an  diesem  Gegenstande  arbeiten,  außer- 
ordentlich wertvolle  Vorarbeit  geleistet  hat  —  Hans  Schmidkunz. 

Die  letzte  bedeutungsvolle  Stellungnahme  des  gesamten  höheren  Lehrer- 
standes liegt  vor  in  den  Ergebnissen  der  Kasseler  Tagung  des  Vereins- 
verbandes akademischer  Lehrer  Deutschlands  vom  1.  Dezember  1919.  In 
den  Leitsätzen  zur  Neugestaltung  des  Schulwesens  hieß  es:  „Es  ist  dafür 
Sorge  zu  tragen,  daß  in  keiner  Schule  auf  der  Oberstufe  Einführung  in 
die  philosophische  Denkweise  fehlt.  Spätestens  in  der  Oberprima  ist  in 
2  Stunden  philosophische  Propädeutik  zu  lehren."  In  der  endgültig  ange- 
nommenen Fassung  heißt  es  dagegen  nur:  „In  keiner  höheren  Schule  darf 
auf  der  Oberstufe  Einführung  in  die  philosophische  Denkweise  fehlen. " 
Die  besonderen  Propädeutik-Stunden  sind  als  Forderung  also  fallen  ge- 
lassen. 

Dagegen  fordert  der  Verbandstag  des  Vereins  für  4eu*sche  Bildung 
in  seiner  letzten  Tagung  von  1920  für  die  deutsche  Oberschule  (deutsches 
Gymnasium)  2  Stunden  für  Philosophie  in  den  beiden  Oberklassen. 

Für  unser  Thema  wird  also  zunächst  zu  fragen  sein:  Aus  welchen 
Gründen  muß  philosophischer  Unterricht  überhaupt  auf  höheren  Schulen 
wieder  eingeführt  werden?  Daran  wird  sich  die  2.  Frage  schließen:  Wie 
soll  der  philosophische  Unterricht  gestaltet  werden,  welches  sollen  seine 
Ziele  und  sein  Umfang  sein,  welches  seine  Stoffe  und  Methoden? 

Eine  klare  Stellungnahme  zu  diesen  Fragen  ist  m.  E.  ganz  unab- 
trennbar von  der  Frage  nach  den  wechselvollen  Schicksalen,  die  der  Pro- 
pädeutik-Unterricht  im  Verlauf  der  Geschichte  des  höheren  Unterrichts 
bisher  gehabt  hat.  Im  18.  Jahrhundert  teilt  sich  die  Schule  und  die  philo- 
sophische Fakultät  der  Universität  in  die  Vermittlung  der  allgemeinen  Bil- 
dung, die  als  Unterbau  für  das  Fachstudium  dienen  soll.  Sie  ist  neben 
mathematischer,  naturwissenschaftlicher  und  sprachlich-historischer  Richtung 
auch  wesentlich  philosophischer  Natur.  Im  Schulunterricht  der  Oberstufe 
kommen  vor:  Metaphysik,  Ontologie,  natürliche  Theologie,  Logik,  Psy- 
chologie, Ethik,  Naturrecht,  Politik,  Rhetorik.  Am  Anfang  des  19.  Jahr- 
hunderts wird  durch  die  Schaffung  des  neuhumanistischen  Gymnasiums  die 
allgemeine  Bildung  von  der  Universität  so  ziemlich  ganz  auf  die  Schule 
verlegt,  sodaß  auf  der  Universität  regelmäßig  gleich  das  Fachstudium  beginnt. 
In  dem  Lehrplanentwurf  des  neuhumanistischen  Gymnasiums  von  1816  durch 
Süvern  ist  der  philosophische  Unterricht  gänzlich  fallen  gelassen  und 
damit  die  Philosophie  aus  der  Allgemeinbildung  ausgeschaltet.  Unter  dem 
Einflüsse  Hegels  wird  1825  der  Propädeutik- Unterricht  in  der  Philosophie 
und  zwar  in  Logik  und  Psychologie  allerdings  nicht  zur  Pflicht  gemacht,  aber 
doch  als  im  Grunde  unerläßliche  Aufgabe  bezeichnet.  Nach  einer  Be- 
stimmung des  Jahres  1835  ist  der  Unterricht  vom  Mathematiklehrer  zu 
geben.  Der  Wiesesche  Lehrplan  von  1856  rät,  philosophische  Propädeutik 
nicht  als  selbständiges  Fach  anzusetzen,    sondern  die  Logik  mit  dem  deut- 


Mitteilungen.  233 

sehen  Unterricht  zu  verbinden.  1862  wird  durch  Verfügung  vor  ungebühr- 
licher Vernachlässigung  gewarnt,  die  Aufnahme  eines  Vermerkes  im  Abi- 
turientenzeugnis über  die  Aneignung  der  Elemente  der  Logik  und  Psycho- 
logie angeordnet.  Der  Lehrplan  von  1882  betont  zwar  die  Notwendigkeit, 
zugleich  aber  auch  die  Schwierigkeit  des  Unterrichts  und  die  Seltenheit 
seines  Gelingens.  Es  wird  den  einzelnen  Anstalten  anheimgegeben,  ob  das 
Fach  weitergelehrt  werden  solle.  Der  Lehrplan  von  1891  läßt  die  philo- 
sophische Propädeutik  als  „oft  recht  unfruchtbar  betriebene  Lehraufgabe" 
gänzlich  fallen.  Damit  ist  der  völlige  Niedergang  in  Preußen  erreicht. 
Mit  dem  Lehrplan  von  1901  beginnt  bereits  wieder  der  Aufstieg.  Das 
Bild  während  der  letzten  hundert  Jahre  ist  also  folgendes:  Hatte  man  die 
philosophische  Propädeutik  eingeführt,  so  schob  man  sie  bei  Seite.  Hatte 
man  sie  bei  Seite  geschoben,  so  fühlte  man  wieder  ihre  Unentbehrlichkeit. 
.Wir  sehen,  sie  ist  das  Schmerzenskind  des  höheren  Unterrichts.  Daher 
stammt  auch  die  skeptische  Stimmung  ihr  gegenüber.  Soll  man  es  auf 
Grund  der  trüben  Erfahrungen  in  den  letzten  hundert  Jahren  nicht  ein- 
fach bei  dem  gegenwärtigen  Verfahren  belassen?  Aber  diese  wechselvollen 
Schicksale  des  philosophischen  Unterrichts  sind  letzten  Endes  bedingt  durch 
den  Wandel  und  Wechsel  der  geistigen  Strömungen  und  die  veränderte 
Stellung  der  Philosophie  im  Geistesleben  der  Nation  überhaupt.  Erst  diese 
geschichtlichen  Tatsachen  bieten  den  Schlüssel  für  das  Verständnis  der 
Schicksale,  die  der  Philosophie-Unterricht  gehabt  hat,  und  erst  von  ihnen 
aus  gewinnen  wir  auch  gleichzeitig  Maßstäbe  und  Richtungspunkte  für  die 
gegenwärtige  Propädeutik-Frage. 

Das  16.  und  17.  Jahrhundert  hatte  eine  Schul  -  Philosophie  in  der 
aristotelischen,  das*  18.  in  der  Wolffischen.  Kant  bedeutet  den  Wendepunkt 
in  der  Geschichte  der  philosophischen  Propädeutik.  Seit  Kants  Revolution 
gab  '  es  kein  anerkanntes  Schulsystem  mehr.  Damit  hat  die  Philosophie 
ihre  schulmäßige  Lehr-  und  Lernbarkeit  verloren.  Der  Neuhumanismus 
glaubt  in  seinem  Bildungsideal  einen  vollgültigen  Ersatz  für  die  Philo- 
sophie bieten  zu  können.  Daß  die  großen  spekulativen  Systeme  im  ersten 
Drittel  des  19.  Jahrhunderts  nicht  für  den  Schulunterricht  geeignet  seien, 
hielten  auch  ihre  eigenen  Urheber  für  ausgemacht,  z.  B.  Hegel  und  Herbart. 
Wohl  aber  glaubte  man,  daß  Logik  und  Psychologie  zwei  geeignete  Schul- 
disziplinen seien,  um  den  Schüler  für  das  systematische  Studium,  womit 
der  Universitäts Unterricht  beginne,  reif  zu  machen.  Man  glaubte  so  den 
Weg  gefunden  zu  haben,  auf  der  Schule  die  Abgründe  der  neuen  Philo- 
sophie vermieden  zu  haben  und  doch  ein  gut  Stück  Philosophie  geben  zu 
können,  von  wo  aus  der  Schüler  nun  auf  der  Universität  in  das  Studium 
der  großen  spekulativen  Systeme  einlaufen  könne.  In  den  dreißiger  Jahren 
erfolgte  der  große  Zusammenbruch  der  Spekulation,  es  beginnt  die  Periode 
des  Niederganges  der  deutschen  Philosophie,  die  etwa  das  zweite  Drittel 
des  Jahrhunderts  erfüllt.  Die  Universitäts-Philosophie  verzichtet  auf  un- 
mittelbare Erfassung  des  J^ebens  und  seiner  Probleme  und  ist  meist  histo- 
risch-kritische Wissenschaft.  Hand  in  Hand  damit  geht  der  glänzende1 
Aufschwung  der  Wissenschaften,  insbesondere  der  Naturwissenschaften.  Das 
allgemeine  Interesse  der  Gebildeten  wendet  sich  diesen  zu.  Die  Philosophie 
verfällt  in  Verachtung.    Im  Volke  greift  eine  materialistische  Weltanschauung 


234  Mitteilungen. 

und  völlige  Gleichgültigkeit  gegenüber  den  philosophischen  Fragen  Platz. 
In  dieser  Zeit  fristete  nun  der  Propädeutik-Unterricht  in  Logik  und  Psy- 
chologie ein  kümmerliches  Dasein.  Woher  sollte  auch  den  Lehrern,  die 
unter  diesen  Verhältnissen  ihre  Ausbildung  genossen  hatten  und  meistens 
Fachphilologen  waren,  das  lebendige  Interesse  kommen?  Der  Propädeutik- 
Unterricht  war  mit  dem  deutschen  Unterricht  verbunden  und  wurde  meist 
auf  die  Logik  beschränkt.  Die  lateinischen  Elementa  logices  Aristoteleae 
Trendelenburgs,  1836  erschienen  und  oft  wieder  aufgelegt,  bildeten  im  all- 
gemeinen die  Grundlage  des  Propädeutik-Unterrichtes.  Dieser  beschränkte 
sich  vielfach  ganz  im  philologischen  Sinne  auf  Uebersetzen  und  Inter- 
pretation der  Trendelenburgs chen  Elementa. 

Daß  diese  Art  des  Philosophie-Betriebes  völlig  unzulänglich  war  und 
in  keiner  Weise  geeignet,  tieferes  nachhaltigeres  Interesse  zu  erwecken, 
daß  er  wohl  meist  die  Form  grauenvoller  Oede  angenommen  hat,  ist  ohne 
weiteres  klar.  Die  Erinnerung  an  diese  Form  des  Philosophie-Unterrichts 
ist  es  nun  wohl,  durch  die  sich  die  Abneigung  gegen  einen  besonderen 
philosophischen  Unterricht  erklärt. 

Wie  hat  sich  nun  aber  seitdem  die  allgemeine  Lage  der  Philosophie 
überhaupt  gestaltet?  Mit  dem  letzten  Drittel  des  Jahrhunderts  beginnt 
sie  sich  von  ihrem  Niedergang  zu  erholen,  und  es  folgt  der  stetig  wach- 
sende Anstieg  der  philosophischen  Bewegung  bis  in  unsere  Tage. 

Eine  außerordentlich  rege  literarische  Produktion  hat  sich  entfaltet, 
auf  allen  Teilgebieten  herrscht  reichstes  Leben,  philosophische  Werke 
werden  wieder  gelesen,  die  Hörsäle  haben  sich  gefüllt,  die  philosophischen 
Vorträge  finden  das  lebhafte  Interesse  in  allen  Kreisen,  und  die  philo- 
sophischen Gesellschaften  wachsen  beständig  an  Teilnehmerzahl. 

In  der  Volkshochschulbewegung  bahnt  sich  die  Philosophie  mutig  ihren 
Weg.  Kurz,  ein  völliger  Umschwung  in  der  Schätzung  der  Philosophie 
hat  sich  vollzogen.  Es  geht  ein  tiefes  Suchen  und  Sehnen  nach  Philo- 
sophie durch  unsere  Zeit,  so  daß  es  wohl  den  Anschein  hat,  als  ständen 
wir  am  Beginn  eines  philosophischen  Zeitalters. 

Welches  ist  nun  die  wesentliche  Gesamtrichtung  dieser  philosophischen 
Bewegung  der  Gegenwart?  Mit  einem  Wort,  die  Philosophie  will  wieder 
Wissenschaft  vom  Ganzen,  will  Weltanschauung  sein.  Ueberall  regt  sich 
der  Drang,  über  die  „positivistischen  Grenzpfähle"  hinauszuschauen,  das 
Streben  nach  einer  Deutung  des  physischen  Weltbildes  durch  einen  ver- 
ständlichen Sinn  ist  erwacht.  Es  ist  der  tief  im  Wesen  der  menschlichen 
Seele  selbst  gesetzte,  unausrottbare  metaphysische  Trieb,  der  so  alt  ist  wie 
die  Menschheit,  der  sich  gegenwärtig  wieder  mit  aller  Stärke  regt.  „Der 
Einheitstrieb  der  menschlichen  Vernunft",  sagt  Wundt,  „ist  es,  der  sich 
nicht  genügen  lassen  will,  das  Einzelne  zu  erkennen  und  innerhalb  der 
beschränkten  Sphäre,  der  es  zunächst  angehört,  mit  anderem  einzelnen  in 
Beziehung  zu  setzen,  sondern  der  zu  einer  Weltanschauung  gelangen  möchte, 
in  der  die  getrennten  oder  nur  lose  verbundenen  Bruchstücke  unseres 
Wissens  zu  einem  Ganzen  geeint  sind.  Ferner  ist  für  die  moderne  philo- 
sophische Bewegung  charakteristisch  der  Zug  zu  den  Werten. 

In  seiner  eigenen  Brust  findet  der  Mensch  eine  zweite  Welt,  eine 
Welt  der  Zwecke  und  Ziele,    Ideale  und  Werte.     Er    will    wieder   wissen, 


Mitteilungen.  235 

was  die  Welt  für  ihn  bedeutet,  was  das  Leben  für  einen  Wert  hat  und 
was  er  tun  soll,  um  es  wertvoll  zu  machen.  In  diesem  Sinne  wird  Welt- 
anschauung zu  einem  gegliederten  System  geltender  Lebenswerte. 

Die  neue  philosophische  Bewegung  ist  z.  T.  aus  den  Einzelwissen- 
schaften selbst  hervorgewachsen,  aus  Physik  und  Mathematik,  Physiologie 
und  Biologie,(  Geschichte  und  Sprachwissenschaft.  Ueberall  macht  sich  das 
steigende  Bedürfnis  der  Spezialwissenschaften  nach  philosophischer  Klärung 
ihrer  Grundbegriffe  und  Voraussetzungen,  sowie  das  Verlangen  nach  einer 
Synthese  und  Ausdeutung  der  Ergebnisse  geltend. 

Freilich  eins  steht  dabei  fest :  die  Zeit  schrankenloser  Spekulation  is.t 
für  die  die  wissenschaftliche  Philosophie  für  immer  vorbei.  Der  Zusammen- 
bruch der  deutschen  Naturphilosophie  im  19.  Jahrhundert  hat  für  immer 
den  Beweis  erbracht,  daß  es  hoffnungslos  ist,  abseits  von  dem,  was  die 
moderne  Wissenschaft  mit  ihren  exakten  Methoden  von  der  Natur  erkannt 
hat,  irgend  etwas  über  das  Wesen  der  Welt  zu  ergründen.  Ausgangspunkt 
aller  wissenschaftlichen  Philosophie  liegt  fortan  in  den  Ergebnissen  der 
Einzelwissenschaften,  und  auf  ihnen  haben  alle  Versuche  eines  Weltverständ- 
nisses aufzubauen.  Will  man  die  Hauptrichtung  der  modernen  philosophi- 
schen Bewegung  unter  gewisse  einigende  Formeln  fassen,  so  könrite  man 
sagen,  sie  ist  einerseits  Prüfung  der  Voraussetzungen  und  Methoden  der 
Einzelwissenschaften,  also  Wissenschaftslehre.  Andererseits  sieht  sie  ihre 
Aufgabe  in  der  Zusammenfassung  unserer  Einzelerkenntnisse  zu  einer  die 
Forderungen  des  Verstandes  und  die  Bedürfnisse  des  Gemütes  befriedigenden 
Welt-  und  Lebensanschauung,  ist  also  Weltweisheit  im  ursprünglichen  Sinne. 
Diese  Aufgabe,  die  Welt  und  das  Leben  in  seiner  Ganzheit  zu  erfassen, 
wie  es  im  wirklichen  Erleben  gegeben  ist,  kann  keine  Einzelwissenschaft 
leisten,  denn  deren  Arbeitsweise  zerlegt  die  Gesamtheit  des  Wirklichen 
künstlich  in  seine  einzelnen  Teile,  sie  erfaßt  nur  einen  bestimmten  Aus- 
schnitt des  Wirklichen  und  kann  nicht  zu  einer  Gesamtanschauung  ge- 
langen. Die  begriffliche  Ueberschau  über  das  Ganze  leistet  nur  die  Philo- 
sophie. Die  Untersuchung  über  den  Geltungsanspruch  von  Idealen  und 
Lebenswerten  ist  ebenfalls  eine  lediglich  philosophische  Aufgabe. 

Diese  philosophische  Bewegung  ist  ja  nicht  auf  die  zunftmäßige  Wissen- 
schaft beschränkt,  sondern  eine  bis  in  die  tiefsten  Tiefen  der  gesamten 
Volksseele  sich  hinabzweigende  Erscheinung,  sie  steigt  aus  den  letzten 
Gründen  der  Gesamtkultur  unserer  Zeit  empor. 

Wo  liegen  ihre  Ursachen?  Auf  den  ersten  Rausch  über  die  Errungen- 
schaften in  Wissenschaft,  Technik  und  Wirtschaft  ist  der  große  Rück- 
schlag erfolgt.  Die  objektive  Kultur  hat  in  immer  rastloserer  Arbeit  der 
Einzeldisziplinen,  in  immer  sich  potenzierender  Verzweigung  und  Speziali- 
sierung Formen  angenommen,  die  den  Einzelmenschen  zu  erdrücken  drohen. 
Angstvoll  steht  er  vor  diesem  Uebermaß  aufgehäufter  Empirie,  die  er 
geistig  nicht  mehr  zu  bewältigen  vermag.  Eine  Ueberfülle  sich  wider- 
streitender Gedankenmassen  strömt  auf  den  Einzelnen  ein.  Der  Einzel- 
mensch sieht  Welt  und  Kultur  nur  in  einem  bestimmten  Ausschnitt,  in 
besonderer  Einstellung,  wie  sie  durch  seinen  Beruf,  seinen  Lebenskreis,  seine 
Wissenschaft  bedingt  sind.  So  liegt  es  im  Wesen  dieser  modernen  arbeits- 
teiligen Kultur,    daß  sie  den  Einzelmenschen  und  die  soziale  Gemeinschaft 


236  Mitteilungen. 

Braseinanderreißt,  Di«'  einzelnen  Gruppen  der  geistig  auseinanderfaltenden 
Volksgemeinschaft  verstehen  sich  kaum  noch.  Die  Hinwendung  zur  Philo- 
sophie ist  die  Reaktion  der  Persönlichkeit  gegen  das  Ueherflutetwerden  mit 
geistigen  Stoffmassen.  Die  Angst  vor  dem  Unverbundenen ,  Chaotischen 
treibt  zur  Vereinheitlichung,  zur  begrifflichen  Durchdringung  und  Zurück - 
führung  auf  letzte  einfache  Linien  und  Prinzipien.  Diese  Arbeit  zu  leisten, 
ist  wesentlich  Aufgabe  der  Philosophie. 

In  diese  Luge  hat  der  Weltkrieg  und  die  ungeheure  soziale  Erschütte- 
rung zweifellos  eine  ganz  außerordentliche  Verschärfung  gebracht.  Die 
Not  der  Seele  hat  sich  vielfach  zur  Unerträglichkeit  gesteigert.  Scheinbar 
unzerstörbare  Lebensüberzeugungen  sind  entwurzelt,  die  tragenden  Pfeiler 
so  mancher  "Weltanschauung  zerbrochen.  Ebenso  wie  der  staatliche  und 
wirtschaftliche  wankt  auch  der  geistige  Grund,  auf  dem  wir  standen.  Das 
Gefüge  der  Einzelseele  lockert  sich  wie  das  der  sozialen  Gemeinschaft. 
Unter  allgemeiner  Erschütterung  und  brausendem  Beifall  bezeichnete  Adolt 
von  Harnack  auf  der  Reichsschul-Konferenz  als  die  eine  von  den  zwei 
Aufgaben,  die  sich  jeder  in  diesen  schweren  Tagen  stellen  sollte:  Wie 
komme  ich  zu  einer  einheitlichen  Weltanschauung?  und  als  zweite:  Die 
Liebe,  die  so  umfassend  ist  wie  das  menschliche  Leben  und  so  tief,  wie 
die  menschliche  Not. 

So  ergibt  sich  also  als  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  unseres  Geistes- 
lebens für  die  Zukunft  die  Forderung  nach  Zusammenfassung  und  geistiger 
Durchdringung  der  objektiven  Kultur,  nach  Vereinheitlichung  und  Verinner- 
lichung,  Schaffung  von  Normen  und  Lebensüberzeugungen,  Erziehung  zur 
Persönlichkeit  mit  wissenschaftlich  begründeter  Lebens-  und  Weltanschauung. 
Die  Funktion,  die  diese  Arbeit  leistet,  ist  das  philosophische  Denken.  Da- 
mit ist  die  Sonderaufgabe  der  Philosophie,  ihre  Notwendigkeit  und  Be- 
rechtigung gegenüber  den  Einzelwissenschaften  bestimmt  und  der  Philo- 
sophie' wieder  ihr  bevorzugter  Platz    unter    den  Wissenschaften  zugewiesen. 

Ziehen  wir  nunmehr  die  Verbindungslinien  von  diesen  Gedankenreihen 
zu  unserem  Thema  Philosophie  und  Schule.  Lamprecht  äußert  sich  einmal 
über  das  Verhältnis  von  Schule  und  Gesamtkultur:  „Die  Schulgeschichte 
ist  nur  zu  verstehen  an  der  Hand  der  Bildungsideale.  Dabei  folgt  die 
Schule  im  allgemeinen  diesen  Idealen,  sobald  sie  aus  unbewußten  Tiefen 
her  in  der  Gesamtkultur  zum  Ausdruck  zu  gelangen  beginnen,  doch  trägt 
im  weiteren  Verlaufe  sie  dazu  bei,  diese  Ideale  zu  erfassen,  zu  gestalten, 
und  wird  damit  auch  selbst  im  eigentlichen  Sinne  ein  Moment  des  Fort- 
schritts und  der  Kultur." 

Es  ergeben  sich  aus  dem  Bisherigen  mehrere  Folgerungen:  1.  Der 
gesamte  Aufstieg  der  philosophischen  Bewegung  verlangt,  daß  ihm  die 
Schule  in  ihrem  Betriebe  Rechnung  trägt  und  philosophische  Bildung  in 
ihre  Organisation  aufnimmt.  Es  geht  nicht  mehr  an,  daß  diese  wesentliche 
Seite  der  objektiven  Kultur  in  den  Bilduugsfächern  der  Schule  überhaupt 
nicht  zum  Ausdruck  kommt.  2.  Der  Charakter"  dieser  Bewegung  ist  gänz- 
lich veränderter  Natur  gegenüber  der  Struktur  jener  Zeit,  in  denen  Logik 
und  Psychologie  den  Charakter  der  herkömmlichen  philosophischen  Pro- 
pädeutik auf  der  Schule  annahmen  und  der  philosophische  Schul-Unterrichf 
in  Mißkredit  kam.     Die  Voraussetzungen    von    damals    treffen    heute  nicht 


Mitteilungen.  .  \  237 

mehr  zu.  Das  Mißtrauen  gegenüber  der  Philosophie  ist  nicht  mehr  be- 
rechtigt. 3.  Der  Gesamtcharakter  der  gegenwärtigen  philosophischen  Bewegung 
selbst  muß  die  Wege  zeigen,  die  ein  philosophischer  Schulunterricht  zu 
gehen  hat.  Er  muß  die  Richtung  auf  die  Weltanschauungsfragen  haben  und 
aus  den  wissenschaftlichen  Schulfächern  hervorwachsen. 

Die  höhere  Schule  von  heute  ist  im  allgemeinen  ein  getreues  Abbild 
der  Verworrenheit  und  Zerrissenheit,  wie  sie  die  gesamte  Kultur  bietet. 
Ein  vielerlei  von  Lehrfächern  und  Stoffen  beherrscht  den  Lehrplan.  Vor- 
wiegend ist  das  stoffliche  und  enzyklopädische  Interesse,  der  Gesichtspunkt 
der  Fachdisziplin.  Jedes  einzelne  Wissensgebiet  arbeitet  auf  der  Schule 
nur  auf  die  Sonderziele  und  mit  den  Sondermethoden  seines  Faches,  sodaß 
im  Kopfe  des  Schülers  ein  Wirrwar  von  verschiedenen  Wissensfragmenten 
entsteht.  Die  Vertiefung  und  Durchdringung,  die  Verknüpfung  des  Ge- 
samtwissens bleibt  die  Schule  im  allgemeinen  schuldig. 

Auf  die  schweren  Schäden,  die  sich  daraus  für  den  gesamten  'Bildungs- 
stand ergeben,  hat  Friedrich  Paulsen  oft  und  beredt  hingewiesen.  Auf 
der  Hochschule  wenden  sich  die  meisten  sogleich  dem  Fachstudium  zu.  Nur 
einen  Bruchteil  führt  die  Universität  in  das  philosophische  Denken  ein. 
Sollen  alle  die  andern  ohne  jede  Berührung  mit  der  Philosophie  bleiben  ? 
Die  Folge  der  jetzigen  Schulverfassung  ist  doch,  daß  der  großen  Mehrzahl 
all  unserer  Gebildeten  ein  ungemein  wichtiges  Stück  deutschen  Geisteslebens 
für  immer  verschlossen  bleibt.  Der  Mangel  an  Orientierung  über  die  letzten 
Fragen  der  Wirklichkeit  und  des  Lebens  ist  ganz  erstaunlich  für  den,  der 
einmal  den  Blick  auf  diese  Dinge  lenkt.  Obwohl  der  größte  Teil  unserer 
Gebildeten  dem  Inhalt  der  geltenden  religiösen  Weltanschauung  innerlich 
entfremdet  ist,  machen  doch  die  allerwenigsten  den  Versuch,  etwas  gedank- 
lich Begründetes  an  die  Stelle  zu  setzen,  und  so  entsteht  jene  Zusammen- 
han gslosigkeit  des  Denkens  über  die  letzten  Ziele  des  menschlichen  Lebens, 
wie  sie  charakteristisch  für  unsere  Zeit  ist.  Bloße  Gedankenlosigkeit,  sich 
vornehm  gebärdender  Skeptizismus,  oberflächlicher  Materialismus  oder  Her- 
einfallen auf  krauseste  Theosophie  und  verschwommene  Metaphysik  sind 
teilweise  die  Folgen  der  Hilflosigkeit,  in  der  die  Schule  den  Schüler  läßt. 
Hat  die  Schule  hier  nicht  die  heilige  Verpflichtung,  helfend  einzugreifen, 
zu  klären  und  dahin  zu  führen,  was  man  verständigerweise  überhaupt 
fragen  darf? 

Die  Forderung  nach  Wiedereinführung  der  Philosophie  läßt  sich  auch 
noch  durch  eine  psychologische  Erwägung  stützen.  Wie  steht  im  allge- 
meinen der  Schüler  der  Oberklassen  zu  Fragen  philosophischer  Natur?  Es 
ist  eine  unbestrittene  Tatsache,  daß  diesem  Lebensalter  ein  besonderes 
intellektuelles  Verlangen  und  ein  starker  metaphysischer  Drang  innewohnt, 
der  sich  stürmisch  auf  die  letzten  Fragen  des  Daseins  richtet.  Der  jugend- 
liche Geist  wird  in  diesen  Jahren  von  quälenden  Fragen  und  Zweifeln  hin 
und  her  geworfen.  Es  beginnt  die  persönliche  Auseinandersetzung  mit  den 
bisher  autoritativ  hingenommenen  geistigen  Mächten:  Familie,  Gesellschaft, 
Staat,  Religion.  Das  Erkenntnisstreben  dieser  Lebensjahre  hat  etwas  Reines 
und  ist  noch  unberührt  von  den  niederziehenden  Tendenzen  praktischer 
Natur,  die  im  späteren  Leben  diesen  Drang  oft  zum  Ersticken  bringen. 
Dieser  Weltanschauungstrieb  findet  in  den  offiziellen  Schulfächern  mit  Aus- 


238  Mitteilungen. 

nähme  des  Religionsunterrichtes  zweifellos  nicht  die  genügende  Befriedigung, 
sondern  diese  erfolgt  größtenteils  außerhalb  des  Rahmens  der  Schule  und 
wird  zum  Teil  aus  trüben  Quellen  genährt.  Schon  Paulsen  hat  behauptet, 
daß  der  „Haeckelismus"  unserer  Primaner  die  natürliche  Folge  unserer 
Lehrverfassung  sei. 

So  kommt  das  natürliche  Bedürfnis  dieses  Lebensalters  der  Philosophie 
entgegen  wie  kaum  einem  andern  Fach.  Es  gilt  daher  nur,  in  der  rich- 
tigen "Weise  anzuknüpfen. 

Zwei  Richtungen  treten  in  der  Propädeutikliteratur  der  letzten  Jahr- 
zehnte hervor.  Die  eine  glaubt,  von  besonderen  Lehrplanstunden  absehen 
zu  können.  Sie  will  philosophische  Durchdringung  und  philosophischen 
Geist  in  allen  Unterrichtsfächern.  Es  ist  die  Forderung  nach  Philosophie 
im  Unterricht,  die  „immanente"  Propädeutik,  die  in  jedem  einzelnen  Unter- 
richtsfach die  in  ihm  liegenden  philosophischen  Elemente  aufzeigt  und 
fruchtbar  macht,  sodaß  also  der  ganze  höhere  Unterricht  in  philosophischem 
Geiste  erteilt  werden  soll  und  die  philosophischen  Belehrungen  in  den  einzelnen 
Unterrichtsfächern  stattfinden  sollen.  Das  „occasionalistische  Prinzip"  hat  es 
Vaihinger  genannt.  Die  andere  Richtung  verlangt  daneben  noch  einen  be- 
sonderen Unterricht  in  der  Philosophie  mit  eigenen  Lehrplanstunden.  Fast 
übereinstimmend  ,  treten  zwei  Wochenstunden  in  den  beiden  Primen  als 
Forderung  auf.  Diese  Richtung  tritt  in  der  letzten  Zeit  immer  stärker  in 
den  Vordergrund. 

Fragen  wir  uns,  welche  praktischen  Folgen  die  erste  Forderung, 
die  sich  auf  Philosophie  im  Unterricht  beschränkt,  in  Wirklichkeit  haben 
dürfte.  Natürlich  ist  die  Verwirklichung  dieser  Forderung  auf  das 
Innigste  zu  wünschen.  Erst  auf  der  Philosophie  im  Unterricht  kann 
ein  besonderer  Unterricht  in  der  Philosophie  wirksam  aufbauen.  Diese 
Forderung  richtet  sich  aber  an  die  Gesamtheit  aller  Lehrer,  ihren  Unter- 
richt in  philosophischem  Sinne  zu  geben.  Die  Propädeutik  -  Frage  wird 
damit  zur  Frage  der  Lehrervorbildung.  Nun  wird  aber  doch  wohl  niemand 
glauben,  daß  die  Mehrzahl  der  älteren  Lehrergeneration  auf  Grund  ihrer 
philosophischen  Vorbildung,  wie  sie  aus  den  bisherigen  Prüfungsanforde- 
rungen sich  ergab,  imstande  sei,  einen  derartigen  philosophisch  gerichteten 
Fachunterricht  zu  erteilen.  Die  neue  Prüfungsordnung  von  1916  bedeutet 
darin  allerdings  schon  einen  bedeutenden  Schritt  nach  vorwärts,  insofern 
sie  den  Schwerpunkt  der  philosophischen  Universitätsbildung  in  die  Rich- 
tung auf  die  philosophischen  Grundlagen  der  einzelnen  Fachdisziplinen 
legt.  Diese  neue  Prüfungsordnung  ist  bereits  ein  Ergebnis  des  Geistes 
der  Zeit,  der  Hinwendung  von  bloßer  Stoffaneignung  zur  Prüfung  der  Vor- 
aussetzungen unserer  Einzelkenntnisse,  dem  Versuch,  diese  zu  systemati- 
sieren, d.  h.  zur  Bildung  der  Weltanschauung. 

Einstweilen  wird  man  aber  bei  nüchterner  Wirklichkeitsbetrachtung 
auf  die  Frage:  Welche  Aenderung  des  jetzt  bestehenden  Zustandes  würde 
die  Beschränkung  auf  das  Prinzip  der  Philosophie  im  Unterricht  herbei- 
führen ?  einfach  antworten  können :  So  gut  wie  gar  keine.  Der  philosophisch 
interessierte  Lehrer  macht  schon  von  selber  alle  philosophischen  Elemente 
seines  Faches  fruchtbar,  für  den  nicht  philosophisch  interessierten  Lehrer 
—  und    das    ist    einstweilen    doch    wohl    noch    die    Mehrzahl    —    werden 


Mitteilungen.  239 

alle  dahingehenden  Mahnungen  ziemlich  ergebnislos  bleiben.  Er  wird  sein 
Fach  so  weitertreiben,  wie  er  es  bisher  getan  hat.  Man  kann  nicht  plötz- 
lich durch  Verordnungen  der  Gesamtheit  der  Lehrer  philosophisches  Inter- 
esse einpflanzen. 

Ferner  entzieht  es  sich  so  ziemlich  jeder  Kontrolle,  wie  weit  die  philo- 
sophische Durchdringung  des  Einzelfaches  in  der  Tat  geschieht.  Somit 
wird  es  bei  der  Beschränkung  auf  die  Philosophie  im  Unterricht  im  großen 
und  ganzen  bei  dem  bisherigen  Zustande  verbleiben. 

Zu  streifen  ist  noch  eine  dritte  Möglichkeit,  die  Einfügung  der  philo- 
sophischen Propädeutik  in  den  Rahmen  des  deutschen  Unterrichts.  Diese 
Personalunion  hat  sich  nicht  bewährt.  Die  Stundenzahl  für  den  deutschen 
Unterricht  ist  an  sich  schon  viel  zu  knapp  bemessen.  Werden  diesem, 
wie  es  jetzt  an  den  Mädchenstudienanstalten  der  Fall  ist,  jährlich  ein  paar 
Wochen  genommen,  um  während  dieser  Zeit  lehrplangemäß  die  Logik  und 
Psychologie  abzufertigen,  so  geht  das  einerseits  auf  Kosten  der  ganz  anders- 
artigen Ziele  des  deutschen  Unteirichts,  anderseits  kann  es  dem  Ansehen 
der  Logik  und  Psychologie  nur  schaden.  Der  innere  Grund  dieser  Ver- 
bindung ist  nicht  einzusehen.  Organischer  wäre  dann  die  Verbindung  der 
Logik  und  Psychologie  wegen  der  viel  stärkeren  Anknüpfungsmöglichkeiten 
mit  dem  mathematisch-naturwissenschaftlichen  Unterricht.  Also  die  Ver- 
bindung eines  besonderen  Propädeutikunterrichts  mit  dem  deutschen  Unter- 
richt ist  als  echter  Notbehelf  abzulehnen. 

Sollen  vielmehr  in  absehbarer  Zeit  irgend  welche  greifbaren  Ergebnisse 
in  Erscheinung  treten,  so  scheint  ein  besonderer  philosophischer  Unterricht 
unumgänglich  nötig,  und  zwar  sind  2  Wochenstunden  in  den  beiden  obersten 
Klassen  die  angemessene  Forderung,  da  bekanntlich  ein  Fach  mit  nur  einer 
Wochenstunde  wirkungslos  bleibt1). 

Diese  Forderung  wird  nun  wahrscheinlich  auf  einem  Teilgebiet  des 
höheren  Schulwesens  demnächst  zur  Wirklichkeit  werden.  Bekanntlich  hat 
die  Reichsschulkonferenz  der  Schaffung  einer  vierten  Form  der  höheren 
Schule  zugestimmt  —  es  ist  die  deutsche  Oberschule,  das  „deutsche  Gym- 
nasium" sagte  man  auch  wohl,  —  die  vorwiegend  auf  das  Bildungsgüt  der 
deutschen  Kultur  gestellt  werden  soll.  An  dieser  Schulgattung  wird  aller 
Voraussicht  nach  Philosophie  mit  eigenen  Stunden,  etwa  1 — 2  Wochen- 
stunden in  den  beiden  Oberklassen,  vertreten  sein;  daneben  werden  noch 
wahlfreie  philosophische  Arbeitsgemeinschaften  bestehen. 

Damit  werden  unsere  heutigen  Beratungen  in  den  Bereich  größter 
Wirklichkeitsnähe  gerückt.  Wir  können  heute  wertvolle  praktische  Vorarbeit 
für  die  Lehrplangestaltung  leisten,  und  t  die  zweckmäßigste  Einstellung  für 
die  Aussprache  ist  wohl  die:  Wie  können  wir  den  philosophischen  Unter- 
richt in  der  richtigen  Weise  ausgestalten,  wenn  ihm  etwa  1 — 2  Stunden 
in  den  beiden  Oberklassen  zur  Verfügung  stehen? 


1)  Es  haben  von  außerdeutschen  Ländern  besonderen  philosophischen  Unter- 
richt : 

Oesterreich  2  Wochenstunden  in  den  beiden  obersten  Klassen,  Ungarn  3 
Stunden  in  der  letzten  Klasse,  Rußland  desgleichen  1  Stunde,  Italien  3  Stunden, 
Frankreich  6  Stunden  im  letzten  Schuljahr.  Die  Angaben  beruhen  auf  Baumeisters 
Handbuch  des  Erziehungs-  und  Unterrichtswesens. 


240  Mitteilungen. 

Wir  betreten  damit  Neuland.  In  der  Literatur  des  Gegenstandes 
herrscht  über  die  Frage  nach  dem  Inhalt  des  philosophischen  Unterrichts 
der  lebhafteste  Streit  der  Meinungen.  Es  gibt  wohl  kaum  einen  Vorschlag, 
der  nicht  ebenso  warm  empfohlen  wie  lebhaft  bekämpft;  worden  wäre. 

Nun  wird  zwar  bei  dem  philosophischen  Unterricht  weniger  der  Stoff 
ausschlaggebend  sein,  sondern  der  Erfolg  des  Unterrichts  wird,  wie  im 
Keligions-  und  deutschen  Unterricht,  fast  ganz  von  der  Persönlichkeit  des 
Lehrers  abhängen.  Jeder  philosophische  Unterricht  wird  von  vornherein 
unfruchtbar  bleiben,  wenn  er  nicht  von  einer  für  die  Sache  besonders  be- 
geisterten Persönlichkeit  erteilt  wird.  Andrerseits:  jeder  philosophische 
Unterricht,  und  sei  es  die  Syllogistik  der  Elementarlogik,  wird  seine  Früchte 
tragen  unter  den  Händen  eines  begeisterten  Lehrers. 

Aus  Mangel  an  geeigneten  Lehrern  ging  in  den  80  er  Jahren  der 
philosophische  Unterricht  ein.  Jetzt  liegen  die  Verhältnisse  ganz  wesent- 
lich günstiger.  Derartige  Lehrer  sind  jetzt  zweifellos  genug  vorhanden. 
Selbst  eine  Doppelanstalt  würde  für  ihre  höchstenfalls  8  Pflichtstunden  und 
vielleicht  noch  6  wahlfreien  Stunden  doch  nur  einen  geeigneten  Philosophie- 
lehrer auf  etwa  25  Lehrer  der  Anstalt  benötigen.  Dieser  wird  sich  immer 
finden  lassen.  Also  suche  man  das  Stoffgebiet  nicht  allzu  ängstlich  zu 
umgrenzen.  Man  habe  hier  einmal  etwas  Vertrauen  zu  der  Lehrerpersön- 
lichkeit und-  lasse  ihm  möglichste  Freiheit. 

Ferner  ist  zu  bedenken,  daß  die  gegenwärtige  philosophische  Lage 
kein  geklärtes  Bild  bietet.  Die  Auffassungen  über  den  Begriff  der  Philo- 
sophie sind  nicht  einheitlich.  Daher  erscheint  es  für  den  Schulunterricht 
ratsam,  ihm  einstweilen  keine*  zu  festen  Bindungen  zu  geben  und  ihm  zu- 
nächst möglichste  Freiheit  zu  lassen,  seine  Wege  und  Formen  erst  zu 
suchen.  Er  wird  sich  am  lebensvollsten  entfalten,  wenn  er  der  allgemeinen 
Entwicklungsrichtung  der  philosophischen  Zeitbewegung  folgt.  — 

Es  liegt  ferner  im  Charakter  der  Philosophie,  daß  sie  der  Einordnung 
in  das  feste  Schema  eines  ins  einzelne  gehenden  Lehrplans  widerstrebt. 
Bei  der  Weite  ihres  Gebietes,  dem  losen  Zusammenhang  ihrer  Sonderfächer 
scheint  es  nicht  angängig,  allzu  bindende  Anordnungen  über  die  Auswahl 
der  zu  behandelnden  Fragen  zu  treffen. 

Es  ist  natürlich  für  den  Lehrer  eine  unmögliche  Forderung,  daß  er 
in  allen  Gebieten  der  Philosophie  in  gleicherweise  auf  der  Höhe  der 
Forschung  stehe.  Das  können  wir  bei  der  Vielheit  unserer  Lehrfächer 
und  der  Fülle  der  Stoffmassen,  die  wir  zu  bewältigen  haben,  einfach  nicht. 
Aber  es  wird  auch  dem  Charakter  gerade  des  philosophischen  Unterrichts 
kaum  schädlich  sein,  wenn  der  Lehrer  selbst  nicht  als  ein  vollkommen 
Fertiger  sondern  mehr  als  ehrlich  Mitstrebender  erscheint. 

Immerhin  werden  wir  versuchen  müssen,  uns  über  die  allgemeine  Rich- 
tung klar  zu  werden,  die  der  philosophische  Schulunterricht  einzuschlagen 
hat.     Welche  Wege  sind  möglich? 

Vielleicht  dient  eine  kurze  Besinnung  über  den  Charakter  der  höheren 
Schule  zu  einer  klareren  Stellungnahme. 

Die  höhere  Schule  hat  ein  mehrfaches  Gesicht.  Sie  ist  1.  gelehrte 
Schule.  Als  solche  will  sie  für  den  Unterricht  der  Hochschule  reif  machen, 
d.  h.    sie    will    ein    gewisses    Maß    von    Kenntnissen    als  Vorbereitung    für 


Mitteilungen.  241 

einzelne  Hochsclmlfächer  vermitteln  und  gleichzeitig  in  die  wissenschaft- 
liche Arbeitsweise  einführen  durch  selbständige  Erarbeitung  von  Erkennt- 
nissen. 

Sie  will  zweitens  ihre  Zöglinge  unmittelbar  zum  Verständnis  der  sie 
umgebenden  objektiven  Kultur  führen  und  sie  zur  verständnisvollen  Mit- 
arbeit an  ihr  befähigen.  Man  könnte  dies  Ziel  vielleicht  als  ein  soziolo- 
gisches bezeichnen. 

Ein  drittes  Ziel  ist  mehr  psychologischer  Art:  Heranbildung  zur  Per- 
sönlichkeit, in  der  alle  Kräfte  des  Geistes,  Gemüts  und  Willens  zur  Ent- 
faltung gebracht  werden  sollen. 

Das  zweite  und  dritte  Ziel  sind  durchaus  Eigenziele  der  Schule  und 
unabhängig  von  der  Blickeinstellung  auf  die  Universität. 

Ob  man  seinen  Blick  mehr  auf  das  erste  oder  auf  die  beiden  zweiten 
Ziele  richtet,  das  scheint  von  wesentlichem  Einfluß  auf  die  Stellung  zu 
sein,  die  man  zu  dem  philosophischen  Schulunterricht  einnimmt. 

Zwei  verschiedene  Blickeinstellungen  sind  hier  möglich.  Die  eine 
sieht  die  Frage  des  philosophischen  Schulunterrichts  mehr  von  der  Uni- 
versität her,  mit  den  Augen  des  Fachphilosophen,  mit  dem  Blick  auf  das 
System  der  philosophischen  Universitätsfächer  und  die  Philosophie  als 
Wissenschaft.  So  wird  man  den  philosophischen  Schulunterricht  in  erster 
Linie  als  Vorbereitung  für  die  Universitätsphilosophie  betrachten.  Dann 
ist  sie  eben  Propädeutik  *). 

Legt  man  aber  das  Schwergewicht  auf  die  beiden  letzten  Eigenziele 
der  höheren  Schule,  so  erscheint  damit  die  Frage  des  philosophischen  Schul- 
unterrichts in  einem  andern  Licht.  Dieser  ist  dann  vorwiegend:  1.  Hin- 
führung zu  der  objektiven  Gegebenheit  der  Philosophie  als  bedeutsamer 
Seite  der  Gesamtkultur,  2.  Mittel  zur  Bildung  der  Persönlichkeit. 

Für  die  erstere  Einstellung  liegt  es  nahe,  das  Schema  der  Universtäts- 
philosophie  mit  ihren  durch  die  Arbeitsteilung  bedingten  Sonderdisziplinen 
allzu  formalistisch  zu  übernehmen  und  der  Schule  sozusagen  ein  verkleinertes 
Schema  der  Universitätsphilosophie  von  oben  her  aufzusetzen. 

Aus  dieser  Blickrichtung  stammt  der  Weg  der  herkömmlichen  Propä- 
deutik, die  ihre  Aufgabe  darin  sah,  in  zwei  Sonderfächern,  Logik  und  em- 
pirischer Psychologie,  eine  bestimmte  Anzahl  fester  Ergebnisse  und  ein 
gewisses  Maß  positiven  Wissens  zu  übermitteln.  Dazu  scheinen  allerdings 
diese  mehr  als  Vorhöfe  und  Außenwerke  der  Philosophie  zu  bezeichnenden 
Disziplinen  am  ehesten  geeignet.  Auf  diese  Weise  schneidet  man  aus  dem 
Verband  der  philosophischen  Sonderfächer  der  Hochschule  zwei  heraus  und 
verlegt  sie  auf  die  Schule.  Dort  wären  sie  zwei  neue  systematische  Fächer 
zu    den    schon    allzuvielen,    mit   neuen-  Lern-    und  Stoffanforderungen.     Sie 


1)  Ich  möchte  mich  gegen  dies  unschöne  Wort  wenden.  Es  ist  üblich  ge- 
worden, dasselbe  für  jede  Art  philosophischen  Unterrichts  auf  der  Schule  zu  ge- 
brauchen. Wir  treiben  doch  auf  der  Schule  Geschichte,  Deutsch,  Religion,  be- 
handeln damit  die  gleichen  Gegenstände  wie  die  Universität.  Aber  wir  nennen 
doch  die  Lektüre  des  Faust  auf  der  Schule  nicht  germanistische  Propädeutik,  die 
Behandlung  des  Johannesevangeliums  nicht  theologische  Propädeutik.  Also  sagen 
wir  doch  lieber  philosophischer  Schulunterricht  oder  Unterricht  in  der  Philosophie. 

Kantstudien.  XXVI.  16 


242  Mitteilungen. 

standen     dort  als  etwas  Unverbundenes  mit   den  übrigen  Fächern    und    als 
etwas  Unverbundenes  unter  sich. 

Es  gibt  auch  heute  noch  gewichtige  Stimmen,  die  sich  für  den  philo- 
sophischen Schulunterricht  in  ähnlichem  Sinne  einsetzen;  diese  betonen  vor 
allem  das  Schulmäßige  und  Erlernbare,  das,  wo  von  man  sich  nachher  über- 
zeugen kann,  ob  es  auch  gehörig  „sitzt". 

Es  liegt  natürlich  nahe,  hier  den  Blick  auf  die  österreichischen  Ver- 
hältnisse zu  richten,  auf  dessen  Gymnasien  seit  1849  ein  auf  Herbart 
zurückzuführender  Propädeutik-Unterricht  besteht,  mit  2  Wochenstunden  in 
den  beiden  obersten  Klassen,  in  denen  Logik  und  Psychologie  als  besondere 
Unterrichtsfächer  betrieben  werden.  Fragen  der  Weltanschauung  sollen 
nicht  behandelt  werden. 

Über  die  Erfolge  des  österreichischen  Weges  sind  die  Meinungen  geteilt ; 
es  läßt  sich  kein  klares  Bild  darüber  gewinnen.  R.  Lehmann  rühmt  ihn. 
Vaihinger  steht  auf  Grund  mündlicher  Information  ihm  sehr  skeptisch  ge- 
genüber. Höfler  antwortete  auf  dem  85.  Naturforscher-  und  Arztetag  auf 
die  Frage  nach  dem  Erfolg,  daß  neben  ausgezeichneten  Ergebnissen  auch  völlige 
Mißerfolge  ständen.  Was  Meinong  in  seinem  Buch  „Philosophische  Wissen- 
schaft und  ihre  Propädeutik"  berichtet  —  es  stammt  allerdings  schon  aus 
dem  Jahre  1885   —  klingt  äußerst  trübe. 

In  der  neueren  reichsdeutschen  Propädeutikbewegung  ist  eine  über- 
wiegende Abneigung  gegen  das  Beschreiten  des  österreichischen  Weges  und 
gegen  die  Wiederaufnahme  des  früheren  herkömmlichen  auf  Logik  und 
Psychologie  eingeschränkten  philosophischen  Unterrichtes  festzustellen. 

Diese  Aufgabestellung  muß  nach  den  vorausgehenden  allgemeinen  Er- 
wägungen als  zu  eng  und  einseitig  bezeichnet  werden. 

Bei  der  Beschränkung  auf  Logik  und  Psychologie  würde  der  Schüler 
das  Gefühl  der  Enttäuschung  haben.  Der  philosophische  Kurs  würde  grade 
dann  zu  Ende  sein,  wenn  er  das  Wesentlichste  erst  erwartet.  Beide  Dis- 
ziplinen geben  auf  Fragen  der  Weltanschauung  keine  Antwort.  Die  Logik 
liegt  an  sich  nicht  im  Bereich  der  geistigen  Bedürfnisse  des  Schülers.  Die 
Psychologie  begegnet  zweifellos  seinem  Interesse,  aber  die  moderne  empirische 
Psychologie  ist  doch  als  Naturbeschreibung  der  seelischen  Phänomene  nicht 
mehr  eine  eigentlich  philosophische  Disziplin.  Sie  wird  im  allgemeinen 
bereits  als  selbständige  Wissenschaft  betrachtet,  die  sich  aus  dem  Verbände 
der  Philosophie  gelöst  hat  und  sich  gewöhnt  hat,  in  ihrer  Arbeitsweise  die 
eigentlich  philosophischen  Probleme  im  ganzen  zu  ignorieren.  Sie  trägt 
in  ihrer  physiologisch-experimentellen  Sichtung  mehr  den  Charakter  einer 
naturwissenschaftlichen  Einzel disziplin.  Alles  ist  in  ihr  noch  im  Fluß  und 
Werden.  Die  Problemstellungen  verschieben  sich  von  Jahrzehnt  zu  Jahrzehnt. 
Die  verschiedenen  Richtungen  stehen  sich  bekämpfend  einander  gegenüber. 
Somit  scheint  eine  allzu  weitgehende  Beschäftigung  mit  der  Psychologie 
nicht  besonders  geeignet'  für  die  Einführung  in  das  speziell  philosophische 
Denken. 

Das  Klarheitsbedürfnis  des  Schülers  ist  vielmehr  zunächst  auf  die 
Fragen  der  Weltanschauung  gerichtet,  auf  die  Fragen  nach  dem  Sinn  und 
Wert  des  Lebens,  dem  Wesen  der  Welt,  nach  Gott,  Freiheit,  Unsterblich- 
keit,   dem  Wesen  der  Seele,    der  Frage  nach    Gut  und  Böse.     Es  sind  in 


Mitteilungen.  243 

der  Hauptsache  metaphysische  und  ethische  Fragen  im  weitesten  Sinne,  die 
ihn  bewegen.  Dag  philosophische  Ziel  der  Schule  muß  daher  die  Bichtung 
haben,  in  diesen  Fragen  dem  Schüler  zur  wissenschaftlichen  Klärung  zu 
verhelfen,  sodaß  er  dahin  gelangt,  wissenschaftliche  Gedankengänge  von  un- 
wissenschaftlichen zu  unterscheiden,  zu  erkennen,  was  überhaupt  Gegenstand 
wissenschaftlicher  Fragestellung  sein  kann  und  was  sich  einer  solchen  entzieht, 
und  ihn  dahin  zu  führen,  in  den  verschiedenen  weltanschaulichen  Strömungen 
der  Zeit  sich  einigermaßen  zurecht  zu  finden  und  selbständig  Stellung  zunehmen . 

Der  wesentliche  Unterschied  zwischen  dem  Inhalt  des  herkömmlichen 
Propädeutik-Unterrichts  und  den  neuen  Wegen,  die  einzuschlagen  sind, 
wird  also  sein,  daß  wir  das,  was  früher  den  alleinigen  Gegenstand  aus- 
machte, Logik  und  Psychologie,  zwar  nicht  ganz  fallen  lassen,  ihm  aber 
eine  untergeordnete  Stellung  anweisen. 

Es  müssen  vielmehr  die  Teile  der  Philosophie  in  erster  Linie  berück- 
sichtigt werden,  auf  die  sich  das  natürliche  Erkenntnisstreben  richtet.  Die 
Philosophie  muß  mit  ihrem  ganzen  Gebiete  im  Unterrichtsplan  vertreten 
sein.  Es  kann  sich  dabei  naturgemäß  nur  um  Grundfragen  handeln,  und 
jedes  verwirrende  Vielerlei  muß  vermieden  werden.  Ihrem  Erziehungsziel 
entsprechend  wird  die  Schule  das  Schwergewicht  auf  die  Fragen  der  Le- 
bensführung legen  können.  Die  Vorbedingung  für  die  wissenschaftliche 
Behandlung  der  Weltanschauungsfragen  bilden  erkenntnis-theoretische  Be- 
sinnungen. 

In  dieser  Auffassung  wird  das  philosophische  Ziel  der  Schule  mehr 
von  unten  her  gesehen,  aus  dem  Organismus  der  Schule  und  den  geistigen 
Bedürfnissen  des  Schülers  heraus,  mit  der  Blickeinstellung  auf  das  oben 
gekennzeichnete  zweite  und  dritte  Ziel  der  höheren  Schule.  Der  philo- 
sophische Unterricht  ist  in  diesem  Falle  weniger  Propädeutik,  sondern 
Abschluss  und  Krönung  des  gesamten  Schulunterrichts. 

Bei  dieser  Auffassung  des  philosophischen  Unterrichts  können  alle 
Schulfächer  zur  Anbahnung  der  philosophischen  Fragestellung  und  Betrach- 
tungsweise wirksamste  Vorarbeit  leisten.  Wie  in  der  großen  Welt  der 
Wissenschaften  die  Einzelwissenschaften  überall  in  philosophische  Frage- 
stellungen ausmünden,  so  zahlreich  wachsen  auch  in  den  einzelnen  Schul- 
fächern die  philosophischen  Fragestellungen  hervor.  Es  ist  in  der  Literatur 
bereits  eine  Fülle  vortrefflicher  Arbeit  geleistet  worden,  die  philosophischen 
Elemente  der  einzelnen  Schulfächer  herauszuarbeiten. 

Der  mathematisch-naturwissenschaftliche  Unterricht  führt  vielfach  zu 
den  Fragen  der  Erkenntnistheorie,  Methodenlehre,  Naturphilosophie  und 
Metaphysik.  Um  nur  einiges  anzuführen,  was  auf  eine  philosophische 
Klärung  hindeutet:  Kraft,  Bewegung,  Substanz  und  Materie,  Naturgesetz, 
Kausalität,  Axiom,  Hypothese,  Fiktion,  Erkennbarkeit  der  Außenwelt,  Ver- 
hältnis von  Glauben  und  Wissen  u. s.w. 

Aus  der  Biologie  erwachsen  die  Fragen  nach  dem  Begriff  des  Lebens 
dem  Wesen  des  Bewußtseins,  dem  Verhältnis  von  Leib  und  Seele,  Kausa- 
lität und  Zweckmäßigkeit,  Vitalismus  und  Mechanismus. 

Die  Lektüre  im  deutschen  Unterricht  führt  allenthalben  zu  Fragen 
ethischer,    ästhetischer,    metaphysischer    Natur.      Die  Fragen    nach  Freiheit 

16* 


244  Mitteilungen. 

und  Schicksal,  Gut  und  Böse,  das  ganze  Wertproblem  erwächst  aus  dem 
Unterricht. 

Der  Geschichtsunterricht  führt  auf  Schritt  und  Tritt  zu  letzten  philo- 
sophischen Fragen,  wie  nach  Zufall  und  Notwendigkeit,  dem  Sinn  des 
Lebens  und  weltgeschichtlichen  Geschehens  überhaupt,  dem  Begriff  des 
historischen  Gesetzes,  dem  Verhältnis  von  Individuum  und  Masse,  dem 
Wesen  des  Staates,  des  Rechtes  u.  s.  w. 

Wenn  so  der  einzelne  Fachunterricht  die  in  ihm  liegenden  philoso- 
phischen Elemente  richtig  auswertet,  führen  auf  diesem  Wege  alle  Schul- 
fächer an  die  tiefsten  philosophischen  Rätselfragen  heran,  und  es  wird 
offenbar,  das  keine  Einzelwissenschaft  ausreichend  ist,  eine  wahre  Geistes- 
bildung zu  begründen,  sondern  daß  philosophische  Betrachtungsweise  er- 
gänzend hinzutreten  muß,  die  das  Gegengewicht  gegen  das  Stoffwissen  der 
Einzelfächer  bildet  und  zur  Durchdringung  und  Vereinheitlichung  desselben  führt. 

Nicht  ein  besonderes  Fach  unter  Fächern  soll  also  der  philosophische 
Unterricht  werden;  sein  Ziel  ist  nicht  in  erster  Linie,  ein  Gebiet  neuen 
Stoffwissens  und  abfragbarer  Kenntnisse  zu  schaffen.  Auf  diesem  Wege 
würde  kein  inneres  Leben  erzielt  werden,  und  dem  Unterricht  würde  die 
Gefahr  der  Verflachung  drohen.  Jede  Verstiegenheit  der  Zielsetzung  in 
dieser  Hinsicht  kann  nur  schädlich  sein. 

Was  erzielt  werden  soll,  ist  vielmehr  eine  gewisse  Stellungnahme  zu 
den  Tatsachen,  eine  Gesamtrichtung  des  Denkens,  die  Getrenntes  vereinigt, 
Wesentliches  von  Unwesentlichem  scheidet,  das  Allgemeine  im  Einzelnen 
sucht,  zu  überschauendem  und  umfassendem  Denken  anleitet  und  das  Tat- 
sächliche auf  seinen  Wertgehalt  untersucht. 

Der  philosophische  Unterricht  soll  innerhalb  der  Vielgestaltigkeit  des 
Lehrplans  das  einheitschaffende  Gebiet  sein,  indem  er  einerseits  auf  allen 
Wissensgebieten  dieselben  Gesetze  des  Bewußtseins  als  geltend  aufzeigt, 
anderseits  das  Streben  erweckt,  die  Ergebnisse  der  verschiedenen  Wissens- 
zweige zu  einheitlichen  Anschauungen  zu  verknüpfen.  Er  soll  unter  voller 
Achtung  vor  den  Tatsachen  die  inneren  Zusammenhänge  aller  Wissen- 
schaften und  Kulturtätigkeiten  aufdecken  und  den  Zögling  die  Verflochten- 
heit seines  eignen  Daseins  in  diese  Zusammenhänge  wirkungsvoll  erleben 
lassen.  Er  soll  zur  Einsicht  führen,  daß  Erkennen  in  Problemen  endet, 
künstlerisches  Genießen  in  ruhevollem  Schauen,  Religion  in  Glaubensge- 
wißheit, aber  alle  drei  Wege  dem  gleichen  Streben  nach  Ganzheit 
entspringen.  Er  darf  bei  diesem  theoretisch-intellektuellen  Ziel  nicht  stehen 
bleiben,  sondern  soll  über  bloße  Wirklichkeitserklärung  hinaus  Rieht-  und 
Zielpunkte  für  Wollen  und  Handeln  schaffen  und  zu  grundlegenden  Lebens- 
werten führen. 

Eine  Weltanschauung  zu  geben,  wie  es  auch  wohl  bisweilen  von  dem 
philosophischen  Unterricht  gefordert  wird,  ist  nicht  Sache  des  Schulunterrichts. 
Was  bedeutet  überhaupt  Weltanschauung?  Sie  ist  doch  kein  fertiges 
Schema,  das  sich  mühelos  und  systematisch  überliefern  läßt.  Sondern 
Weltanschauung  bedeutet  für  den  Einzelnen  eine  unendliche  Aufgabe. 
Sie  steht  nicht  am  Ende  der  Schule,  sondern  am  Ende  des  Lebens,  ist 
nichts  Fertiges,  sondern  ein  stetig  Werdendes,  eine  innere  Bewegung.  Eine 
Weltanschauung  hat  der  einfache  Mann  aus  dem  Volke  so  gut  wie  der  Philo- 


Mitteilungen.  245 

sopli,  dem  es  gelingt,  sie  zum  geschlossenen  System  auszubauen.  Der 
Unterschied  der  Weltanschauungen  besteht  nur  in  der  Folgerichtigkeit  und 
Weite  der  Begründungszusammenhänge,  in  der  Ausgleichung  der  Wider- 
sprüche, in  der  Wissenschaftlichkeit  des  Denkens.  Je  mehr  die  Zahl  der 
letzten  unbewußten  Voraussetzungen  und  Wertungen,  auf  denen  jede  Welt- 
anschauung aufbaut,  in  das  helle  Licht  begrifflicher  Klarheit  gerückt  wird, 
das  heißt,  je  philosophischer  wir  denken,  umso  mehr  wird  die  Weltan- 
schauung an  Weite  und  Tiefe  gewinnen,  umso  mehr  wird  sie  sich  dem 
Ideal  wissenschaftlicher  Geschlossenheit  nähern.  Der  Begriff  der  rein  lo- 
gischen Wahrheit  ist  auf  den  Begriff  der  Weltanschauung  überhaupt  nicht 
anwendbar,  da  die  Lebensanschauung  kein  rein  intellektuelles  Gebilde  ist, 
sondern  durchsetzt  mit  einer  Reihe  von  irrationalen  Elementen,  die  sich 
aus  der  Verschlungenheit  der  lebendigen  Natur  des  Menschen  ergeben. 

Das  also  wird  das  bescheidene  Ziel  der  Schule  sein,  dem  Zögling  das 
Bewußtsein  von  der  Größe  der  Aufgabe  zu  wecken,  die  im  Begriff  Welt- 
anschauung liegt,  die  Richtung  dahin  anzubahnen  und  das  geistige  Rüstzeug 
dafür  etwas  zu  verstärken.  Was  erreicht  werden  soll,  ist  die  "Erweckung 
des  Eros,  eine  gewisse  intellektuelle  Haltung  des  Geistes,  der  Typus  des 
suchenden,  fragenden  Menschen,  der  grade  im  Alltäglichen  die  tiefen  Rätsel 
sieht.  Es  sollen  dem  Zögling  die  Wege  gewiesen  werden,  wie  er  von  den 
gröberen  Gestaltungen  seines  Weltbildes  zu  verfeinerten  Bildungen  auf- 
steigen kann,  er  soll  neue  Wertgebiete  erleben  und  eine  Ahnung  erhalten 
von  der   „Seligkeit  des  Erkennenden". 

Selbst  bei  mehrjährigem  Unterricht  kann  es  sich  nur  um  Berührung 
mit  der  philosophischen  Gedankenwelt  handeln.  Der  Unterricht  wird  seine 
Aufgabe  am  besten  erfüllt  haben,  wenn  er  den  Zögling  mit  dem  lebhaften 
Verlangen  nach  tieferem  Eindringen  entläßt. 

Wie  soll  nun  für  den  besonderen  philosophischen  Unterricht  die  Aus- 
wahl aus  der  unendlichen  Fülle  des  Stoffes  getroffen  werden  ?  Soll  ver- 
sucht werden,  mehr  einen  möglichst  großen  Umkreis  von  Problemen  in 
einer  gewissen  Systematik  zu  durchmessen,  oder  soll  auf  derartige  Voll- 
ständigkeit von  vornherein  verzichtet  werden  und  der  Schwerpunkt  auf  die 
Behandlung  einzelner  Probleme  und  die  Besonderheit  philosophischer  Denk- 
weise gelegt  werden? 

In  der  neueren  Propädeutik-Literatur  sind  zwei  der  bedeutendsten 
Lösungsversuche  typisch  für  diese  beiden  Einstellungen. 

Alfred  Rausch  macht  in  seinem  soeben  in  vierter  Auflage  erschienenen 
Lehrbuch  „Elemente  der  Philosophie"  (Halle  a.  d.  Saale,  Waisenhans  1920) 
den  großzügigen  Versuch,  eine  wirkliche  Schulphilosophie  zu  begründen, 
die  lediglich  auf  dem  Wissenstoff  der  Schule  aufbaut  und  von  hier  aus  das 
gesamte  Kulturleben  nach  philosophischen  Gesichtspunkten  zu  einer  Ge- 
samtanschauung zusammenschließt.  Er  sagt  im  Vorwort:  „Wie  konnte  man 
nur  in  unserer  Zeit  die  große  Bedeutung  einer  Gesamtanschauung  für  die 
geistige  und  sittliche  Bildung  so  ganz  übersehen !  Wenn  alle  die  Erkennt- 
nisse und  Erfahrungen  des  Jugendlichen  über  Weltgeschehen  und  Welt- 
werte als  unausgeglichene  Bruchstücke  in  seiner  Seele  verbleiben,  so  muß 
daraus  Unklarheit  und  Hilflosigkeit  entstehen.  Wer  dem  Lehrling  die 
Gesamtanschauung    vorenthält,    der    treibt    ihn    mit    schwerem  Gepäck    den 


246  Mitteilungen. 

Bergpfad  hinan,  versagt  ihm  aber  den  lohnenden  Ausblick  von  der  Höhe 
auf  das  weite  Land".  Rausch  gliedert  sein  Werk  in  drei  Teile:  Natur, 
Kultur  und  Bildung,  und  in  ganz  freier  Verarbeitung  werden  die  Haupt- 
fragen, die  wir  sonst  in  den  philosophischen  Einzelgebieten  anzutreffen  ge- 
wohnt sind,  zu  einem  lebensvollen  Ganzen  verbunden,  in  klarer,  ruhig  flie- 
ßender Darstellung,  mit  einer  Fülle  anschaulicher  Beispiele. 

Den  zweiten  Weg  geht  das  vor  Jahresfrist  erschienene  Buch  von 
Lambeck  „Philosophische  Propädeutik".  (Verlag  B.  G.  Teubner  Leipzig 
und  Berlin  1919).  Es  verzichtet  auf  systematische  Vollständigkeit.  Der 
Versuch  einer  systematischen  Unterweisung  erscheint  dem  Herausgeber  auf 
Grund  seiner  Erfahrungen  unfruchtbar.  Das  Buch  ist  die  Durchführung 
des  okkasionalistischen  Prinzips.  Von  bewährten  Fachmännern  werden  im 
Anschluß  an  einzelne  Unterrichtsfächer  philosophische  Einzelprobleme  be- 
handelt. Der  Zweck  des  Buches  ist  in  erster  Linie,  zum  philosophischen 
Denken  selbst    zu  erziehen. 

Aber  beide  Wege  können  wohl  nicht  als  die  volle  Lösung  der  Frage 
für  einen  besonderen  Unterricht,  der  sich  über  mehrere  Jahre  erstercken 
würde,  angesehen  werden.  Der  eine  Weg  hat  zu  sehr  nur  die  systematische 
Geschlossenheit  im  Auge,  dem  andern  fehlt  doch  wohl  wieder  der  genügende 
systematische  Zusammenhang. 

Erst  die  Verbindung  beider  Prinzipien  erscheint  als  der  gangbare  Weg. 

„Die  Philosophie  läßt  sich  nicht  erlernen,  sondern  nur  das  Philo- 
sophieren", sagt  Kant.  Das  auf  Breite  und  Vollständigkeit  angelegte  Ver- 
fahren wird  zwar  eine  gewisse  Übersicht  über  Umfang  und  Inhalt  der 
Philosophie  vermitteln,  aber  nicht  eigentlich  philosophieren  lehren. 

Die  Methode  des  philosophischen  Denkens  selbst  kann  nur  erzeugt 
werden,  indem  mit  voller  Kraft  des  Nachdenkens  einem  Einzelproblem  in 
tief  eindringender  Behandlung  bis  in  seine  letzten  Verzweigungen  nachge- 
gangen wird.  Auf  dieser  Seite  muß  das  Schwergewicht  des  Unterrichts 
liegen.  Dabei  wird  nur  ein  verhältnismäßig  kleiner  Kreis  philosophischer 
Fragen  zur  Behandlung  gelangen  hönnen. 

Daneben  aber  wird  das  auf  Klarheit  und  Ordnung  gerichtete  Streben 
des  Geistes  eine  gewisse  Überschau  verlangen,  die  zwischen  den  behandelten 
Einzelproblemen  größere  Zusammenhänge  historischer  und  systematischer 
Art  herstellt,  philosophische  Grundbegriffe  sammelt,  über  Umfang  und  In- 
halt der  philosophischen  Gebiete,  ihre  Hauptfragen  und  deren  Lösungen  mehr 
im  Sinne  einer  Orientierung  in  großen  Zügen  Aufschlus  gibt.  Dieses  Ord- 
nungsschema, an  sich  ein  unabweisbares  Bedürfnis,  darf  aber  nicht  zum 
alleinigen  Gegenstand  des  Unterrichts  werden,  da  dieser  dadurch  leicht 
Gefahr  laufen  würde,  zum  bloßen  Leitfadenwissen  zu  verflachen.  Für  dieses 
Ordnungsschema  scheint  am  ehesten  die  Form  geeignet,  die  wir  als  Ein- 
führung oder  Einleitung  in  die  Philosophie  zu  bezeichnen  gewohnt  sind. 
Sie  kommt  doch  am  ersten  den  Bedürfnissen  des  gebildeten  Laien  ent- 
gegen. Davon  zeugt  die  erfreulich  große  Zahl  der  vorhandenen  guten 
wissenschaftlichen  Einleitungen  in  die  Philosophie,  die  wir  besitzen. 

Ein  recht  überzeugendes  Schema  für  die  Auswahl  der  Fragen  aus 
dem  philosophischen  Gesamtstoff,  über  die  wir  dem  Schüler  zu  einer  klareren 
Auffassung  zu  verhelfen  verpflichtet  sind,  hat  Friedrich  Neubauer  gegeben. 


Mitteilungen.  247 

Er  will  behandelt  wissen:  1)  Das  Rätsel  unserer  Seele:  Worin  besteht  ihre 
Tätigkeit,  wie  verhält  sie  sich  zu  der  des  Leibes.  2)  Das  Eätsel  des  Er- 
kennens:  Wie  vollzieht  es  sich,  und  wo  liegen  seine  Grenzen?  3)  Das 
Eätsel  dieser  Welt  im  ganzen:  Wie  ist  sie  aufzufassen,  welches  ist  der 
letzte  Sinn  des  Seins  ?  4)  Das  Rätsel  unserer  Pflicht :  Was  sollen  wir  tun, 
was  ist  Gut,  was  ist  Böse?  —  Nach  diesem  Schema  wäre  also  etwa  ele- 
mentare Psychologie,  das  Wichtigste  aus  der  Logik,  Fragen  der  Erkennt- 
nistheorie und  Metaphysik,  sowie  Grundfragen  der  Ethik  zu  erörtern. 

Die  4.  Frage  engt  jedoch  das  Gebiet  der  philosophischen  Fächer  zu 
sehr  ein.  Es  wäre  vielleicht  besser  zu  fragen:  Wie  verhält  sich  der  Mensch 
sinnvoll  in  dem  Ganzen  der  Welt?  Damit  würden  auch  Fragen  aus 
weiteren  philosophischen  Fächern,  z.  B.  der  Geschichtsphilosophie,  deren  An- 
knüpfungsmöglichkeiten im  Schulunterricht  besonders  groß  sind,  ferner  der 
Soziologie,  der  Rechts-  und  Staatsphilosophie  u.  s.  w.  in  den  Umkreis  der 
möglichen  Behandlungsgegenstände  miteinbezogen  sein. 

Der  Schulunterricht  in  der  Logik  ist  oft  als  völlig  überflüssig  be- 
zeichnet und  verspottet  worden.  Man  darf  dem  wohl  nicht  zustimmen. 
Erinnern  wir  uns  der  Zielsetzung  der  höheren  Schule  als  gelehrte  Schule 
mit  der  Einführung  in  wissenschaftliche  Arbeitsweise.  Fast  der  ganze 
Schulunterricht,  richtig  gehandhabt,  ist  in  den  meisten  Fächern  angewandte 
Logik.  Eine  Schule,  die  zur  Erkenntnis  anleiten  soll,  hat  auch  die  Pflicht, 
die  Wege  der  Erkenntnisgewinnung  nicht  nur  einzuschlagen,  sondern  diese 
Wege  selbst  aufzuzeigen  und  bewußt  zu  machen.  Das  ergibt  die  Not- 
wendigkeit, gewisse  Punkte  der  Logik  und  Methodenlehre  zu  behandeln, 
wobei  wohl  der  Schwerpunkt  auf  die  Methodenlehre  zu  legen  ist.  Diese 
Belehrungen  werden  sich  ohne  großen  Zeitaufwand  meist  im  Rahmen  der 
Einzelfächer  anbringen  lassen,  da  es  sich  vielfach  nur  darum  handelt,  den 
Schüler  zu  einer  Umstellung  des  Blickes  zu  veranlassen,  zu  einer  bewußten 
Reflektion  auf  längst  Geübtes,  wie  z.  B.  das  Verhältnis  von  Inhalt  und 
Umfang  der  Begriffe,  Induktion  und  Deduktion  und  ähnliches. 

Eine  ausgezeichnete  Lösung,  die  Methodenlehre  aus  den  Schulfächern 
hervorwachsen  zu  lassen,  hat  Schulte-Tigges  gegeben  in  seinem  Buch: 
„Philosophische  Propädeutik  auf  naturwissenschaftlicher  Grundlage". 

Die  Belehrungen  aus  dem  Gebiet  der  empirischen  Psychologie  werden 
sich  entsprechend  dem  noch  unfertigen  Stande  der  Wissenschaft  auf  mög- 
lichst Feststehendes  zu  beschränken  haben.  Das  wesentlichste  Ziel  wird 
sein,  daß  der  Blick  auf  das  eigne  Innere  gerichtet  und  der  Zögling  ange- 
leitet wird,  die  eignen  innern  Erscheinungen  verständnisvoll  zu  beobachten, 
zu  beschreiben,  zu  analysieren,  sie  in  Gruppen  zu  bringen  und  gewisse 
Gemeinsamkeiten  aufzufinden.  Er  soll  neben  dem  sinnlich  Wahrnehmbaren 
der  äußeren  Erfahrung  auch  den  Bereich  der  inneren  Erfahrung  als  ein 
Gefüge  und  eine  Ordnung  erkennen  lernen. 

Während  die  wissenschaftliche  Psychologie  bisher  in  der  Erforschung 
der  einfacheren  seelischen  Tatsachen  ihre  stärkste  Durcharbeitung  erfahren 
hat,  wird  der  Schulunterricht,  mit  den  vorhandenen  Bedürfnissen  des  Schülers 
rechnend,  mehr  den  bedeutungsvolleren  höheren  und  zusammengesetzten 
Erscheinungen  des  Seelenlebens  zugewandt  sein  müssen. 

Hier  bietet  sich  ein  fruchtbares  Feld  zur  Klärung  der  psychologischen 


248  Mitteilungen. 

Begriffe,  die  auch  im  Leben  des  Schülers  von  besonderer  Bedeutung  sind, 
wie  Wille,  Motiv,  Handlung,  Gewöhnung,  Charakter,  Gedächtnis,  Aufmerk- 
samkeit und  ähnliches  mehr. 

Diese  psychologischen  Belehrungen  erscheinen  wohl  geeignet,  dem 
Dilettantismus  mit  psychologischen  Begriffen  zu  steuern  und  ferner  auch 
wirksame  Antriebe  für  das  eigene  vernunftgemäße  Handeln  und  die  Aus- 
gestaltung der  Lebensführung  erwachsen  zu  lassen. 

Es  wäre  natürlich  auch  möglich,  statt  der  systematischen  Übersicht 
einen  Gang  durch  die  Geschichte  der  Philosophie  dem  Schulunterricht  zu- 
grunde zu  legen,  indem  man  besonders  bedeutsame  Systeme  in  ihren  Grund- 
gedanken in  geschichtlicher  Abfolge  darstellt.  Auch  dieser  Weg  hat  warme 
Fürsprecher  gefunden,  z.  B  Vaihinger  und  Rehmke.  Überwiegend  wird  er 
jedoch  mit  guten  Gründen  abgelehnt.  Es  erscheint  wohl  zweckmäßig, 
philosophiegeschichtliche  Betrachtungen  nicht  an  den  Anfang  zu  stellen. 
Sie  werden  vielmehr  den  notwendigen  zusammenfassenden  Abschluß  des 
philosophischen  Schulunterrichts  bilden  müssen,  als  Ergänzung  zu  dem  Bilde 
der  allgemeinen  Kultur-  und  Geistesgeschichte,  das  die  sprachlich-geschicht- 
lichen Fächer  ergeben. 

Von  besonderer  Bedeutung  ist  die  Erziehung  zur  philosophischen 
Fragestellung.  Das  von  dieser  wesentlich  der  Fortschritt  der  wissenschaft- 
lichen Erkenntnis  abhängt,  muß.  der  Schüler  sehen  lernen.  Auf  Klarheit 
und  bestimmte  Fragestellung  muß  daher  stets  größtes  Gewicht  gelegt  werden. 

Jeder  philosophische  Gedankengang,  dessen  Problem  nicht  im  Ge- 
dankenkreise des  Schülers  liegt,  wird  im  allgemeinen  wirkungslos  an  seinem 
Denken  vorübergleiten.  Aus  dem  Erfahrungskreise  des  Zöglings  und  seinen 
geistigen  Bedürfnissen  heraus  muß  daher  der  Unterrichtsstoff  entwickelt 
werden  und  zunächst  das  zu  behandelnde  Problem  in  voller  Stärke  lebendig 
gemacht  werden. 

Als  Unterrichtsform  ist  daher  die  Übermittlung  von  fertigen  Ergeb- 
nissen in  zusammenhängendem  Vortrag  ungeeignet.  Vielmehr  ist  das  Lehr- 
gespräch mit  induktivem  Verfahren,  bei  dem  der  Schüler  das  Entstehen 
des  Problems  selber  miterlebt,  die  natürlich  gegebene  Unterrichtsweise. 
Haupterfordernis  jedes  philosophischen  Unterrichts  muß  es  sein,  daß  der  be- 
handelte Stoff  zur  vollen  gedanklichen  Erfassung  und  inneren  Aneignung 
gebracht  wird.  Hält  man  an  diesem  Grundsatz  fest,  so  wird  dabei  am 
besten  den  Gefahren  der  Verwirrung,  Verstiegenheit  und  Unbescheidenheit 
vorgebeugt. 

Ob  der  Unterricht  hauptsächlich  in  der  freien  Behandlung  philoso- 
phischer Fragen  sich  bewegen,  oder  ob  in  der  Kegel  die  Lektüre  philo- 
sophischer Schriftsteller  Grundlage  und  Ausgangspunkt  bilden  soll,  wird 
sich  nicht  bindend  festlegen  lassen,  da  diese  Frage  zu  sehr  von  der  be- 
sonderen Veranlagung  des  Lehrers  abhängen  wird.  Zweckmäßig  wird  die 
Verbindung  beider  Verfahren  sein,  indem  zunächst  in  freier  Behandlung  das 
Problem  lebendig  gemacht  wird  und  vorläufige  Lösungsmöglichkeiten  ge- 
funden werden.  Daran  kann  sich  dann  die  Lektüre  einer  klassischen  Dar- 
stellung des  betreffenden  Problems  anschließen. 

Gewichtige  Gründe  sprechen  dafür,  die  Lektüre  philosophischer  Quellen 
zu  einem  wesentlichen  Bestandteil  des   Unterrichts  zu  machen: 


Mitteilungen.  249 

Selber  denken  lernt  der  Anfänger  zunächst  am  besten  an  einem  Stoffe, 
der  vollendeter  Gedanke  ist.  Durch  das  unmittelbare  Eindringen  in  die 
Gedankenarbeit  der  großen  Denkerpersönlichkeit  selbst  entzündet  sich  am 
ehesten  die  Freude  an  der  Erkenntnis  und  die  eigne  philosophische  Geistes- 
haltung. Die  Schärfe  der  Begriffsbildung,  Tiefe  und  Klarheit  der  Gedanken, 
die  Durchsichtigkeit  und  Weite  der  Begründungszusammenhänge,  die 
zwingende  Kraft  der  Beweisführung,  die  Architektonik  des  Aufbaus  —  alles 
das  entfaltet  sich  am  besten  an  der  Lektüre  einer  wertvollen  philosophischen 
Schrift. 

Ferner:  Nur  derjenige  Gedankenstoff  wird  im  Zögling  haften,  den  er 
sich  durch  Selbsttätigkeit  erworben  hat.  Verwickeitere  Gedankengänge 
wird  er  sich  nur  durch  mühsames  und  wiederholtes  Erarbeiten  des  Inhaltes 
einer  philosophischen  Quelle  zu  eigen  machen  können.  Durch  die  Be- 
zwingung der  Schwierigkeiten  wird  er  die  echte  Freude  geistiger  Arbeits- 
leistung und  eignen  Könnens  empfinden.  Hier  verknüpft  sich  der  Gedanke 
der  Lektüre  mit  dem  des  Arbeitsunterrichts.  Durch  Abstufung  der  Schwie- 
rigkeiten in  der  Auswahl  der  Lektüre  können  die  Anforderungen  an  Denk- 
und  Willensenergie  zu  höchsten  Graden  gesteigert  werden. 

Diesem  Unterrichtsziel  vermag  ein  lediglich  freies  Unterrichtsverfahren 
nicht  in  gleicher  Weise  gerecht  zu  werden.  Hier  liegt  leicht  die  Gefahr 
vor,  schweifender  Verallgemeinerung  zu  verfallen  und  in  gröberen  Umriss- 
linien stecken  zu  bleiben. 

Man  kann  also  besonders  wertvolle,  nicht  allzu  schwierige  Schriften 
ganz  oder  teilweise  lesen.  Oder  es  kann  als  Grundlage  für  die  Lektüre 
wohl  auch  ein  Lesebuch  dienen.  Wir  haben  deren  mehrere,  die  gut  ge- 
eignet sind.  Bekannt  ist  das  historisch  geordnete  von  Dessoir-Menzer,  das 
Proben  aus  17  Philosophen  gibt,  von  Plato  bis  Lotze.  Es  wäre  ferner 
zu  nennen:  Gille,  der  Lesestücke  zu  den  einzelnen  philosophischen  Dis- 
ziplinen, hauptsächlich  moderner  Autoren  bietet.  Recht  gut  ist  ferner 
Bastian  Schmid,  dessen  Stoffauswahl  vor  allem  nach  den  im  Schulunterricht 
auftauchenden  Problemen  getroffen  ist.  Er  bringt  auch  neuere  Autoren, 
z.  B.  Riehl,  Wundt,  Liebmann,  Sigwart,  Du-Bois-Reymond.  Gut  beurteilt 
wird  G.  Budde,  der  mehr  historisch  vorgeht  und  eine  sorgfältige  Auswahl 
aus  der  neueren  Philosophie  bietet.  Soeben  sind  in  den  volkstümlich-wissen- 
schaftlichen Lehr-  und  Lernbüchern  der  Humboldt-Hochschule  von  Max 
Apel  drei  Bändchen  philosophischer  Lesebücher  erschienen,  deren  Auswahl 
für  den  Anfangsunterricht  gut  geeignet  ist  und  die  sich  durch  ihren  billigen 
Preis  empfehlen.  Es  möge  auch  noch  hingewiesen  werden  auf  die  im 
Entstehen  begriffene  Sammlung  „Wege  zur  Philosophie"  (Vandenhoeck  & 
Ruprecht,  Göttingen),  die  in  Einzeldarstellungen  bestimmte  philosophische 
Grundfragen  behandelt,  z.  B.  A.  Messer:  die  Willensfreiheit;  König:  die 
Materie;  W.  Kinkel,  Idealismus  und  Realismus:  R.  EilJler:  Leib  und  Seele. 
Diese  Bändchen  haben  den  ausgesprochenen  Zweck,  nicht  fertige  Resultate 
zu  bieten,  sondern  den  Laien  in  das  philosophische  Denken  einzuführen. 
Einige  von  ihnen  werden  eine  geeignete  Grundlage  für  den  philosophischen 
Anfangsunterricht  sein  können.  Ich  habe  mit  ihnen  praktische  Versuche 
gemacht  und  glaube,  sie  für  diesen  Zweck  empfehlen  zu  können. 

Noch    von    einer    ganz    anderen  Seite  her  erhebt    sich    die  Forderung 


250  Mitteilungen. 

nach  philosophischer  Lektüre.  Der  Glaube  an  den  alleinigen  Wert  mancher 
Bildungsgüter  unserer  höheren  Schulen  ist  nicht  mehr  so  allgemein  wie  im 
vergangenen  Jahrhundert.  Wenn  wir  uns  die  Frage  stellen,  wie  wir  unser 
Volk  in  diesen  schweren  Zeiten  zur  Verinnerlichung  und  vertiefter  Bildung, 
fuhren  sollen,  so  ist  die  Antwort  eine  Forderung:  Wie  bringen  wir  mög- 
lichst alle  die  Quellen  zum  Fließen,  die  in  den  großen  Gedankenschöpfungen 
mnserer  Denker  noch  verborgen  sind.  Noch  liegt  hier  ein  Stoff  von  un- 
endlichem Reichtum  fast  ungenützt  bereit.  An  dieser  Stelle  besteht  ein 
schwerer  Mangel  unseres  bisherigen  Schulwesens.  Kaum  ein  deutscher 
Philosoph  kommt  auf  der  Schule  zu  Wort.  In  dem  von  der  Schule  ver- 
mittelten Bilde  der  geisteswissenschaftlichen  Entwicklung  bleibt  die  Aus- 
prägung in  der  Philosophie  trotz  ihrer  außerordentlichen  Bedeutung  für 
die  Gesamtkultur  fast  völlig  fehlen. 

Wir  müssen  in  viel  erhöhterem  Maße  die  Geisteskräfte  deutschen 
Wesens  lebendig  machen  und  aus  der  Gedankenwelt  unserer  Denker  das 
für  die  Schule  Geeignete  aussichten.  Wenn  wir  unsere  Schüler  in  die 
Tiefe  deutschen  Wesens  und  Fühlens  hineinführen  wollen,  so  können  wir 
an  den  Schöpfungen  unserer  Philosophen  nicht  mehr  vorbeigehen.  Kant, 
Fichte,  Schleiermacher,  Schopenhauer,  Fechner,  Lotze  u.  s.  w.  dürfen  den 
Gebildeten  nicht  nur  inhaltlose  Namen  bleiben.  So  werden  wir  den  Zögling 
auch  von  dieser  Seite  her  das  besondere  Wesen  des  deutschen  Geistes  er- 
fassen lehren  als  den  Geist  wahrheitsucheri sehen,  faustischen  Ringens. 

Wer  es  erprobt  hat,  welches  Erlebnis  die  Lektüre  von  dem  radikalen 
Zweifel  des  Descartes  bei  den  Schülern  hervorzurufen  imstande  ist,  welche 
reine  Freude  die  messerscharfe  Subtilität  Humescher  Gedankengänge,  welche 
Ehrfurcht  vor  der  Macht  des  Gedankens  ein  Stück  aus  Kant  erzeugen 
kann,  der  wird  das  tiefe,  schöpferische  Leben  dieses  Unterrichts,  seine 
Bedeutung  für  die  Erhöhung  und  Befestigung  der  geistigen  Persönlichkeit 
voll  würdigen  können. 

Fragt  man  zusammenfassend,  was  der  philosophische  Unterricht  im 
Rahmen  der  übrigen  Schulfächer  zu  leisten  vermag,  so  kann  man  ihn 
wohl  als  eine  Art  Krönung  derselben  bezeichnen. 

Die  Philosophie  ist  besonders  geeignet,  entsprechend  dem  gelehrten 
Ziele  der  Schule,  ein  echt  wissenschaftliches  Verhalten  zu  erzeugen:  Sehn- 
sucht nach  theoretischer  Erfassung  der  Welt. 

Sie  führt  am  tiefsten  in  die  Zusammenhänge  der  objektiven  Kultur, 
in  das  Reich  des  Sinnes,  der  Bedeutungen  und  Werte. 

Sie  vermag  endlich  durch  ihre  gesinnungbildende  Kraft  in  besonderer 
Weise  dem  Ziel  der  Persönlichkeitsbildung  zu  dienen.  Denn  in  ihr  ver- 
einigen sich  höchste  Ausprägung  des  theoretischen  Verhaltens  mit  den 
tiefsten  Bedürfnissen  des  Gemütes  und  starken  Antrieben  für  den  Willen 
im  Sinne  innerer  Formung  und  erhöhter  Lebensführung. 

Benutzte  Literatur. 

H.  Schmidkunz,  Philos.  Propädeutik  in    neuester  Literatur.     (Bibliographie 

der  gesamten  Propädeutikliteratur  von  1912 — 1916). 
R.  Eucken,  "Was    sollte   zur   Hebung    philosophischer   Bildung    geschehen? 


Mitteillungen.  251 

Gesammelte  Aufsätze  zur  Philosophie  und  Lehensanschauung.    Leipzig 

1903  S.  217  ff. 
Otto  Braun,  Zum  Bildungsproblem.    Leipzig  1911. 
H.  Vaihinger,  Philosophie  in  der  Staatsprüfung.    1905. 
A.  Rausch,  Elemente  der  Philosophie.    4.  Aufl.  Halle  a.  S.  1920. 
A.  v.  Meinong,  Über   philosophische    Wissenschaft    und    ihre   Propädeutik. 

Wien   1885. 

A.  Rausch,   Philos.    Propädeutik.    In   „Ziehen    und    Weißenfels,    Handbuch 

für  Lehrer  höherer  Schulen".  Leipzig,  Teubner  1905. 
W.  Moog,  Der    philosophisch    vertiefte    Unterricht.    Jahrbuch    des    Vereins 

für  wissenschaftliche  Pädagogik,  Bd.  45.   1913. 
R.  Lehmann,  Wege   und  Ziele    der   philos.  Propädeutik.    Sammlungen   und 

Abhandlungen  aus  dem  Gebiet  der  pädagogischen  Psychologie,  8.  Bd. 

I.  Heft.    Berlin  1911. 
R.  Lehmann,  Die  Philosophie    als    Gipfel    des    Unterrichts,    in  „Erziehung 

und  Unterricht"   2.  Aufl.  Berlin  1912. 
C.  Siegel,  Methodik  des  Unterrichts  in  der  philos.  Propädeutik.  Wien   1913. 
Instruktionen  für  den  Unterricht    an  Gymnasien  in  Österreich.  Wien  1900. 
Fr.  Paulsen  in   Reins    Encyklopädischem    Handbuch  Bd.   6    unter    „Philos. 

Propädeutik". 
Verhandlungen     der    preußischen    Direktorenversammlungen    von    Sachsen, 

Pommern  und  der  Rheinprovinz  1903.  Bd.   64.   65.   66. 

B.  Schmid,  Philos.  Lesebuch.  Leipzig,  Verlag  Teubner  1906. 
Frischeisen-Köhler,  Moderne  Philosophie.    Ein  Lesebuch  zur  Einführung  in 

ihre  Standpunkte  und  Probleme.    Stuttgart  1907. 

C.  Zimmermann,  Über    den    Unterricht    in    philos.    Propädeutik.     Jahrbuch 

des  Vereins  für  wissenschaftliche  Pädagogik.  Bd.  46.    1914. 

W.  Wundt,  Metaphysik.  In  „Hinneberg,  die  Kultur  der  Gegenwart  I.  6. 
Systematische  Philosophie". 

Ziertmann,  Philosophische  Propädeutik.  In  „W.  Rein,  Deutsche  Schuler- 
ziehung" Bd.  I  S.  115  ff.  München  1907. 

P.  Lorentz,  Grenzboten  1913.  S.  365  ff. 

Lambeck,  Lehrbuch  der  philos.  Propädeutik.  Leipzig  und  Berlin,  Verlag 
Teubner,   1919. 

O.  Weißenfels,  Kernfragen  des  höheren  Unterrichts.    Neue  Folge  1901 — 03. 

Fr.  Neubauer,  Die  Erziehungsaufgabe  des  philosophischen  Unterrichts.  Zeit- 
schrift für  den  deutschen  Unterricht.  33.  Jahrgang.  Heft  1/2. 

Fr.  Gagelmann  und  P.  Hoffmann :  Entwurf  eines  Lehrplanes  für  die  deutsche 
Oberschule.  Deutsche  Erziehung,  Heft  15.  Union  Deutsche  Verlags- 
gesellschaft 1920. 


Vorbereitender  oder  systematischer  Unterricht  in  der 

Philosophie. 

Von  Dr.  Felix  B ehrend- Charlottenburg. 

Für    den  Unterricht  in    der  Philosophie    an    den  höheren  Schulen    er- 
scheint   mir    die  Frage  sekundär,    ob    besondere  Unterrichtsstunden    in  der 


252  Mitteilungen. 

Philosophie  das  Richtige  sind,  oder  philosophische  Vertiefung  des  Unter- 
richte. Auch  die  Anhänger  eines  besonderen  Unterrichts  werden  zugeben 
müssen,  daß  die  wenigen  Stunden,  die  zur  Verfügung  stehen  können,  ver- 
einzelt dastehen  würden,  wenn  sie  nicht  durch  den  übrigen  Unterricht  ge- 
stützt werden,  und  die  Anhänger  der  philosophischen  Vertiefung  des  einzel- 
wissenschaftlichen Unterrichts  werden  nichts  besonderes  dagegen  einwenden, 
wenn  einige  Stunden  ganz  philosophischer  Arbeit  gewidmet  werden,  wenn 
sie  nur  die  Gewähr  haben,  daß  dies  in  zweckmäßiger  Weise  geschieht. 
Übrigens  sind  bisher  auch  andere  Wege  beschritten,  nämlich  freie  Be- 
sprechungen außerhalb  des  Unterrichts,  besondere  wahlfreie  Kurse,  Unter- 
haltungen auf  Spaziergängen  u.s.w.  und  gerade  diese  Wege  erweisen  sich 
nach  meinen  Erfahrungen  als  besonders  fruchtbar,  weil  sie  geeignet  sind, 
sich  den  besonderen  Bedürfnissen  des  einzelnen  Schülers  anzupassen. 

Viel  wichtiger  ist  die  Frage  nach  dem  Ziel  des  philosophischen  Unter- 
richts, die  ich  so  formuliert  habe:  Vorbereitender  oder  systematischer  Unter- 
richt? Propädeutik  heißt  doch  Vorschulung,  sei  es  nun  theoretische  oder 
praktische  und  diese  Tendenz  hat  bisher  den  Unterricht  in  der  Philosophie 
auch  in  den  Schulen,  in  denen  er  als  Pflichtfach  eingeführt  ist,  beherrscht. 
Wenn  neuerdings  sich  Bestrebungen  nach  systematischem  Unterricht  in  den 
Vordergrund  drängen,  so  entspricht  das  der  typischen  Erscheinung,  die  wir 
bei  Gestaltung  des  Lehrgangs  der  höheren  Schulen  finden,  daß  jedes  Fach 
die  innere  Neigung  hat  sich  zum  Selbstzweck  zu  machen.  So  wird  jetzt 
unter  anderem  auch  Unterricht  in  der  Staatsbürgerkunde,  der  Kunstgeschichte, 
der  Hygiene,  der  Geologie,  u.s.w.  gefordert  und  diese  Bestrebungen  drohen 
überhaupt  den  Rahmen  der  höheren  Schule  zu  zersprengen;  ein  anderes 
aber  ist  das  Eindringen  eines  neuen  Stoffgebiets,  ein  anderes  die  wohlberechtigte 
Forderung,-  vorhandene  Lehrgebiete  unter  neuen  methodischen  Gesichts- 
punkten zu  betrachten. 

Die  Anhänger  des  systematischen  Unterrichts  sehen  als  Hauptziel  die 
Erziehung  des  Menschen  zu  einer  geschlossenen  Weltanschauung  an.  Das 
geht  also  weit  hinaus  über  die  Aufgabe,  einen  stärkeren  Zusammenhang 
zwischen  den  einzelnen  Unterrichtsgegenständen  der  höheren  Schule  zu 
schaffen.  Mit  der  unbestrittenen  Tatsache,  daß  die  Schüler  vom  14.  bis 
zum  18.  Lebensjahre  in  ihrer  Mehrzahl  großes  Interesse  an  allen  Welt- 
anschauungsfragen haben,  sich  in  innerem  Ringen  mit  sich  selbst,  mit  ihrer 
Bestimmung,  mit  ihren  Lebensaufgaben,  mit  dem  Sinn  des  Lebens  befinden, 
und  daß  es  eine  spezifische  Eigentümlichkeit  dieser  jugendlichen  Epoche 
ist,  mit  diesen  Problemen  zu  ringen,  wird  in  Zusammenhang  gebracht,  daß 
dies  Streben  der  Jugend  der  Sehnsucht  unserer  ganzen  Zeit  nach  Philo- 
sophie und  Metaphysik  entspricht.  Es  wird  auf  die  Zerrissenheit  unserer 
Zeit,  auf  die  Problematik  die  gerade  uns  umgibt,  hingewiesen  und  daraus 
geschlossen,  daß  besonders  die  wissenschaftlich  gerichtete  Schule  die  Aufgabe 
hat,  auf  eine  wissenschaftlich  vertiefte  Weltanschauung  hinzuwirken,  damit 
die  jungen  Menschen  nicht  jeder  Modeströmung  und  dem  Zauber  origineller 
Persönlichkeiten  unterliegen,  denen  es  mehr  auf  geistreiche  als  richtige 
Ideen  ankommt.  Es  wird  ferner  betont,  welcher  Gegensatz  zwischen  der 
kirchlich  geformten  Religiosität  und  den  Ergebnissen  der  Wissenschaft 
bestehe    und    daß    das    höchste    Ziel    jeder    wissenschaftlichen    Schule    sein 


Mitteilungen.  253 

müsse,  dem  Menschen  einen  klaren  Lebensweg,  seinem  Handeln  Festigkeit 
und  Stetigkeit  zu  verleihen.  Dies  Ziel  sei  aber  nur  durch  eine  wissen- 
schaftliche Einführung  in  die  großen  Weltanschauungsfragen  und  Probleme 
erreichbar,  nicht  durch  gelegentliche  Einwirkungen  und  gelegentliche  Be- 
sprechungen (Freitag,  die  deutsche  Oberschule). 

Dieser  Auffassung  liegt  eine  Reihe  von  Behauptungen  zu  Grunde,  die 
dringend  der  Klärung  bedürfen.  Der  Trieb  der  Schüler  nach  innerer 
Klarheit  ist  ihrem  Lebensalter  eigentümlich.  Mit  der  Pubertät  beginnt  die 
kritische  Zeit  der  Selbstbesinnung  ;  aber  man  darf  diese  Tatsache  nicht  so 
ausdeuten,  daß  es  auch  auf  dieser  Altersstufe  möglich  wäre,  Klarheit  und 
Geschlossenheit  der  Anschauungen  zu  erreichen  und  daß  diese  Entwicklung 
mit  dem  18.  Lebensjahre  sich  auch  nur  vorläufig  abschließen  ließe.  Beruf, 
Berufsleben,  Stellung  im  sozialen  Leben,  Freundschaft  und  Liebe  bringen 
ständig  neue  Anstöße  zum  Wechsel  der  Lebensauffassung.  Es  kann  sein, 
daß  ein  Schüler,  der  in  vollständig  geschlossener  religiöser  Weltanschauung 
groß  geworden  ist,  skeptischen  Tendenzen  erliegt  und  umgekehrt.  Jedes 
große  Erlebnis  kann  die  Weltanschauung  umstoßen.  Man  denke  an  welt- 
geschichtliche bekannte  Vorgänge,  wie  wir  sie  aus  dem  Leben  Luthers  kennen, 
oder  an  die  Lebensweisheit  der  katholischen  Kirche,  die  sehr  wohl  weiß, 
weshalb  sie  ihre  künftigen  Geistlichen  in  Seminaren  erzieht.  Die  reife  und 
abgeschlossene  Weltanschauung  bildet  sich  besonders  bei  den  wissenschaft- 
lich gebildeten  Schichten  später,  und  dieser  Prozeß  läßt  sich  nicht  künstlich 
in  eine  frühere  Zeit  verlegen.  Im  übrigen  bleibt  selbstverständlich  der 
Bildungsprozeß  stets  offen  und  ist  unendliche  Aufgabe. 

Eine  weitere  Frage  ist  die,  ob  das  systematische  philosophische  Denken 
allen  Schülern  zugänglich  ist.  Hier  spielt  bei  der  Beurteilung  schon  der 
systematische  Standpunkt  eine  Rolle.  Verläßt  man  die  etwas  vage  Defini- 
tion der  Aufgabe  der  Philosophie,  daß  das  einzelwissenschaftliche  Wissen 
zu  einer  Gesamt  an  schauung  zusammengeschmolzen  werden  soll,  und  be- 
trachtet man  z.  B.  nach  der  Auffassung  der  Marburger  oder  der  Bade- 
ner neukantischen  Schule  die  Philosophie  als  Theorie  der  Theorie,  so 
ergibt  sich,  daß  sie  einen  besonderen  Grad  der  Abstraktion  voraussetzt, 
der  nicht  jedem  gegeben  ist.  Nehmen  wir  doch  alle  die  spezifisch  mathe- 
matische oder  sprachliche  Begabung  an,  die  nicht  bei  allen  Schülern  in 
gleichem  Maß  vorhanden  ist,  und  ob  gerade  die  philosophische  Begabung 
weit  verbreitet  und  allgemein  ist,  darf  auf  Grund  der  Tatsache,  daß  von 
den  Akademikern  so  viele  sich  gar  nicht  an  solche  Dinge  heranwagen, 
füglich  bezweifelt  werden. 

Schließlich  muß  darauf  eingegangen  werden,  welche  Folgen  sich  für 
unsere  Betrachtung  aus  der  Tatsache  ergeben,  daß  das  deutsche  Volk  eine 
einheitliche  Weltanschauung  nicht  besitzt.  Die  Weltanschauung,  die  Herr 
Freitag  uns  vorgetragen  hat,  ist  in  allen  Einzelheiten  die  einer  bestimmten 
Gruppe  und  so  selbstverständlich  es  ist,  daß  er  sie  für  die  einzig  richtige 
ansehen  muß,  so  wenig  kann  man  verkennen,  daß  diese  Ansicht  von  weiten 
Kreisen  nicht  geteilt  wird.  '  Wenn  man  sich  aber  darauf  beschränkt,  ge- 
wissermaßen die  Grundstimmung  des  Unterrichts  festzulegen  und  die  indi- 
viduelle Färbung  dem  einzelnen  Lehrer  zu  überlassen,  so  fragt  sich  immer 
noch,    ob    dies    bei    der  Zerrissenheit    des    deutschen  Volkes    möglich    ist. 


254  Mitteilungen. 

Richert  hat  in  besonders  feiner  und  eindringender  "Weise  die  Bildungsein- 
heit des  deutschen  Volkes  im  deutschen  Idealismus,  insbesondere  in  der 
Philosophie  Kants  verankern  wollen.  (Richert,  die  deutsche  Bildungseinheit 
und  die  höhere  Schule.  Mohr,  Tübingen  1920.)  Doch  wenn  man  auch  zugeben  kann, 
daß  der  deutsche  Katholizismus  stark  durch  die  deutsche  Bildungsgeschichte 
und  die  deutsche  Philosophie  beeinflußt  ist,  und  eine  gewisse  Überordnung 
des  Toleranzgedankens  auch  bei  ihm  zu  spüren  ist,  so  wäre  es  ein  Irrtum, 
wenn  man  annehmen  wollte,  daß  die  führenden  katholischen  Pädagogen 
auf  philosophische  Propädeutik  im  Geiste  Willmanns  verzichten  wollten. 
Übrigens  lehnt  ja  auch  Fr.  W.  Förster  in  unglaublich  schroffer  Form  die 
Kantische  Philosophie  ab.  Wie  nun,  wenn  in  protestantischen  Schulen  die 
Philosophie  Kants,  in  katholischen  das  System  des  Neuthomismus  vorge- 
tragen und  eingeprägt  würde?  Mit  solcher  Festlegung  würde  der  Unter- 
richt sich  so  dogmatisch  verengern,  daß  er  seinen  Zweck  verfehlen  würde, 
eine  selbständige  Meinungsbildung  zu  unterstützen  und  die  Schüler  würden 
auch  diesen  dogmatischen  Charakter  bald  erkennen  und  die  vorgetragene 
Anschauung  als  eine  neue  mit  den  vielen  andern  bei  Seite  stellen.  Will 
man  aber  bei  Ausgestaltung  des  Lehrplans  für  einen  systematischen  philo- 
sophischen Unterricht  an  den  höheren  Schulen  dieser  Szylla  entgehen,  ver- 
fällt man  leicht  der  Charybdis  des  Eklektizismus  und  damit  der  Verwässe- 
rung.  Je  verschwommener  der  Begriff  Weltanschauung  genommen  wird, 
desto  mehr  besteht  diese  Gefahr.  Riehl  hat  in  einem  Vortrag  über  wissen- 
schaftliche und  nichtwissenschaftliche  Philosophie  sehr  treffend  hervorge- 
hoben, daß  die  Weltanschauung  auch  durch  große  einzelwissenschaftliche 
Entdeckungen,  wie  etwa  die  des  Kopernikus  oder  die  Darwins  wesentlich 
beeinflußt  werden  kann,  und  es  entsteht  leicht  im  philosophischen  Unterricht 
eine  Vermischung  von  Elementen  der  verschiedenen  Wissenschaften  und  der 
verschiedenen  philosophischen  Systeme,  die  einem  exakten  philosophischen 
Denken  durchaus  nicht  förderlich  ist.  Wenn  ich  dies  behaupte,  so  muß 
ich  mein  Urteil  auf  Grund  der  mir  bekannten  Ansätze  zum  philosophischen 
Unterricht  fällen  und  da  erscheint  mir  besonders  charakteristisch  das  Buch 
von  Rausch  „Elemente  der  Philosophie".  Was  sollen  wir  davon  erwarten, 
wenn  der  Verfasser  im  größten  Teil  des  Buches  Dinge  behandelt,  die 
weit  ausführlicher  in  den  anderen  Lehrstunden  bereits  besprochen  sind  und 
der  Schüler  nicht  mehr  weiß,  was  Philosophie,  was  Wissenschaft  ist.  Da 
wäre  es  doch  fruchtbarer,  einige  Kapitel  aus  den  klassischen  Werken  mit 
den  Schülern  zu  besprechen,  an  deren  Tendenz  der  Verfasser  anschließt  aus 
Herder  oder  aus  Lotzes  „Mikrokosmos".  Nun  nehme  man  noch  hinzu,  daß 
fast  auf  jeder  Seite,  die  sich  mit  wirklichen  philosophischen  Problemen 
beschäftigt,  Anschauungen  vorgetragen  werden,  die  nicht  wissenschaftliches 
Allgemeingut  sind.  Gewiß  kann  man  sich  auf  Aristoteles  und  andere  be- 
rufen, wenn  man  von  letzten  unbeweisbaren  Axiomen  spricht,  gewiß  kann 
man  auch  viel  zu  Gunsten  der  Abstraktionstheorie  der  Begriffsbildung 
sagen,  aber  wie  muß  es  wirken,  wenn  diese  Lehren  in  einem  gedruckten 
Buch  in  die  Hand  des  Schülers  gegeben  werden,  der  gewohnt  ist,  in  seinen 
Lehrbüchern  allgemein  Anerkanntes  zu  finden?  Und  wenn  gar,  wie  dies 
im  Vorwort  einer  älteren  Auflage  des  Rausch'schen  Buches  steht,  der 
Schüler  Kapitel  dieses  Buches  studieren  soll,    die  dann  in  der  Unterrichts- 


Mitteilungen.  255 

stunde  besprochen  werden,  wird  er  sich  da  noch  selbstständig  entwickeln, 
wenn  wir  doch  schon  sehen,  daß  auch  im  Hochschulunterricht  der  in  Mar- 
burg Studierende  Neukantianer,  in  Greifs wald  Rehmkeschtiler,  in  Leipzig 
Wundtschüler  wurde? 

Ebenso  fragwürdig  erscheint  eine  systematische  Einführung  in  die 
Geschichte  der  Philosophie.  Wenn  man  bedenkt,  daß  zum  Studium  Kants 
für  Begabte  mindestens  eine  4  stündige  Vorlesung  und  ein  bis  zwei  Uebungen 
notwendig  erscheinen,  wie  soll  es  wirken,  wenn  ein  kurzer  Abriß  in  wenigen 
Stunden  von  Piaton  bis  Eucken  führt  (Budde,  die  großen  Denker  der 
Menschheit,  Schriften  des  Schillerbundes,  Bd.  4.  Ziemsen,  Berlin)  oder  eine 
Uebersicht  über  Logik,  Psychologie,  Ethik  und  Aesthetik  oder  gar  beides, 
wie  wir  es  in  Lehrplänen  für  die  neue  deutsche  Oberschule  lesen  können? 
Sagt  Schmidkunz  nicht  mit  Recht  daß  sich  darin  weniger  die  Auffassung 
einer  fachgerechten  Beherrschung  der  Philosophie  ausspricht,  sondern  mehr 
eine  Sammlung  von  Ansichten  „statt  von  Einsichten"?  „Ein  Bedürfnis 
mühelos  reich  zu  werden"  mit  einer  Erholung  von  dem  „ mühsamen  Schritt 
für  Schritt  gehen"  ? 

Diese  encyklopädische  Behandlung  der  Philosophie  widerspricht  dem 
wissenschaftlichen  Charakter  der  höheren  Schule  und  erzeugt  nur  den  Schein 
einer  einheitlichen  Weltanschauung,  während  im  Geiste  des  Schülers  die 
Bausteine  unbehauen  neben  dem  schönen  Bild  des  Einheitsbaus  liegen 
bleiben,  das  der  Lehrer  ihm  vor  Augen  stellt. 

Dieser  Auffassung  steht  eine  engumrissene  andere  gegenüber,  die  in 
sicherer  Selbstbeschränkung  einen  Elementarunterricht  in  der  Philosophie 
vorsieht,  wobei  unter  Elementen  der  Philosophie  etwas  Aehnliches  zu  ver- 
stehen ist  wie  unter  dem  Begriff  der  Elementarmathematik.  Als  solche 
Elemente  galten  bisher:  Logik  und  Psychologie.  Für  sie  sprechen  nach 
Schmidkunz  1)  daß  sie  am  besten  lehr-  und  lernbar  sinö^  möglichst  un- 
abhängig von  subjektiven  Schwankungen  und  von  fast  ebenso  festem  Ge- 
füge, wie  die  übrigen  Lehrfächer,  übersichtlich  leicht  faßlich;  2)  daß  sie 
nicht  andere  Teile  der  Philosophie  voraussetzen,  sondern  ein  wirklicher 
Unterbau,  ein  Werkzeug  des  philosophischen  Studiums  sind. 

Diese  exaktere  Fassung  des  Ziels  des  philosophischen  Unterrichts  hat 
zweifellos  viel  für  sich,  und  einer  zu  engen  Auffassung  könnte  nach 
Schmidkunz  dadurch  Rechnung  getragen  werden,  daß  weitere  Probleme  aus 
der  Erkenntnislehre,  Ethik  und  Aesthetik  diesem  Unterricht  angegliedert  werden 
könnten.  Was  Schmidkunz  für  Logik  und  Psychologie  geltend  macht, 
ist  in  gewissem  Grade  richtig.  Lehrbücher,  wie  die  Logik  von  Höfler  oder 
die  kleine  Psychologie  von  Buchenau  sind  wesentlich  exakter  als  allgemeine 
Sammelwerke  für  die  Schule,  insbesondere,  wenn  man  nicht  allzuweit  über 
die  Lehre  von  den  Sinnesempfindungen  und  die  Beschreibung  der  elementaren 
seelischen  Erscheinungen,  andererseits  über  die  formale  Logik  hinausgeht. 
Sobald  man  tiefer  geht,  sind  allerdings  auch  hier  die  philosophischen  Ge- 
gensätze sehr  groß,  insbesondere  wird  erörtert  werden  müssen,  ob  das 
analytische  Denken,  um  in  Kantischer  Schulsprache  zu  reden,  das  heißt 
eine  Darstellung  des  Denkens,  das  bereits  gefundene  Erkenntnisse  in  syste- 
matisch   durchsichtiger  Form  gibt,    so    stark  betont    werden  darf,    vor  dem 


256  Mitteilungen. 

synthetischen  Denken,  das  dem  methodischen  Forschen  zu  Grunde  liegt 
und  daher  in  der  Schule  im  Vordergrund  steht. 

Mag  ein  solcher  Unterricht  in  der  Hand  geeigneter  Lehrer  an  sich 
wertvoll  sein  und  sich  auf  gute  Unterrichtserfolge  berufen  können,  so  kann 
dies  nicht  ausschlaggebend  sein,  da  scließlich  jeder  wissenschaftliche  Unterricht 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  fruchtbar  sein  wird. 

Gegen  ihn  spricht,  daß  er  die  Vorbereitung  zum  philosophischen 
Denken  zu  eng  faßt,  daß  er  die  Bedürfnisse  des  Schülers  und  die  aus  dem 
Unterricht  in  den  Einzelfächern,  Religion,  Deutsch,  Geschichte,  Mathematik 
und  Naturkunde  herauswachsenden  Probleme  nicht  ausreichend  und  nicht 
im  geeigneten  Moment  berücksichtigt,  ferner  daß  die  systematische  Zu- 
sammenstellung, wenn  die  einzelnen  Gesichtspunkte  nicht  schon  im  anderen 
Unterricht  besprochen  sind,  eine  neue  Stoffbelastung  bilden,  und  daß  oben- 
drein ein  großer  Teil  des  Stoffes,  wie  die  Darstellung  der  Begriffe  durch 
Kreise  und  der  Lehre  von  den  Schlüssen  veraltet  anmutet. 

Entscheidend  scheint  mir  aber,  daß  ein  zusammenhängendes,  sich  über 
ein  Jahr  erstreckendes  Verbleiben  im  Abstrakten  trotz  aller  belebenden 
Beispiele  trocken  und  eintönig  wird  und  doch  niemals  so  tief  in  die  Sache 
geht,  als  wenn  diese  oder  jene  logische  und  psychologische  Frage  in  voller 
Breite    zur  Vertiefung    eines    konkreten  sachlichen  Problems    erörtert  wird. 

Ich  erlaube  mir  daher  die  folgende  Formulierung  für  das  Ziel  eines 
vorbereitenden  philosophischen  Unterrichts:  Schulung  in  begrifflich  scharfer 
Fassung  von  Problemen,  Erziehung  zu  einer  exakten  Auffassung  und  Be- 
handlung derselben,  Hinführung  auf  den  Unterschied  fachmännischer  und 
populärwissenschaftlicher  Philosophie,  Hinweis  auf  die  Schwierigkeiten  und 
die  mühsame  begriffliche  Arbeit.  Und  zu  diesem  formalen  methodischen 
Ziel  kommt  die  Erweckung  lebendigen  Interesses,  Verständnis  für  die  welt- 
geschichtliche Bedeutung  großer  philosophischer  Gedanken,  Achtung  vor 
der  Geistesleistung  großer  Genies.  Diese  vorsichtige  Heranführung  wird  die 
beste  Vorbereitung  für  eine  spätere  intensive,  nicht  oberflächliche  Beschäf- 
tigung mit  Philosophie  bilden.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  auch  bei 
dieser  Auffassung  ein  gewisser  Grad  von  Dogmatismus  unvermeidlich  ist. 
Denn  jeder  philosophische  Unterricht,  der  Sinn  haben  soll,  muß  die  Mög- 
lichkeit und  den  Wert  philosophischer  Einsicht  voraussetzen  und  ebenso 
daran  festhalten,  daß  die  Kulturgebiete,  die  die  Schule  dem  Schüler  nahe- 
bringt, Religion,  Wissenschaft,  Kunst  u.s.w.  Wertgebiete  sind,  die  eine  er- 
kennbare Gesetzmäßigkeit  haben. 

Die  Erfüllung  dieses  Ziels  verlangt,  daß  spätestens  von  den  mittleren 
Klassen  an,  an  die  Probleme  angeknüpft  wird,  die  sich  aus  dem  wissenschaft- 
lichen Unterricht  ergeben  und  zwar  da,  wo  die  Ein  sieht  in  die  sach- 
lichen Probleme  durch  die  philosophische  Betrachtung  ver- 
tieft wird.  Ein  paar  Beispiele  aus  dem  mathematischen  und  physi- 
kalischen Unterricht  mögen  erläutern,  wie  der  philosophisch  gesinnte  Lehrer 
geradezu  innerlich  genötigt  wird,  die  behandelten  Stoffe  durch  logische  oder 
psychologische  Betrachtungen  durchsichtiger  und  damit  verständlicher  zu 
machen,  sodaß  die  philosophische  Erörterung  kein  Anhängsel  ist,  sondern 
als  mit  zur  Sache  gehörig  betrachtet  wird. 

Beginnen  wir  zum  Beispiel  mit  dem  mathematischen  Unterricht  in  der 


Mitteilungen.  257 

Quarta.  Spätestens  bei  der  Durchnahme  der  Kongruenzsätze  wird  man 
genötigt  den  Unterschied  von  Definition  und  Lehrsatz  durchzusprechen, 
weil  der  Schüler  sonst  den  eigentlichen  Sinn  dafür  nicht  einsieht,  weshalb 
man  die  Kongruenzsätze  beweisen  muß.  Nach  dieser  logischen  Scheidung 
kann  man  den  Sachverhalt  in  folgende  einfache  Form  kleiden:  Kongruenz 
bedeutet,  daß  Dreiecke  in  allen  sechs  Stücken  übereinstimmen,  die  Kon- 
gruenzsätze bedeuten,  daß,  wenn  Dreiecke  in  bestimmten  drei  Stücken  über- 
einstimmen, sich  beweisen  läßt,  daß  sie  auch  in  den  übrigen  3  Stücken 
übereinstimmen  müssen.  Oder  es  soll  bei  Besprechung  von  harmonischen 
Punkten  der  Begriff  der  äußeren  Teilung  klar  gemacht  werden.  Man 
spricht  hier  in  der  Mathematik  gewöhnlich  von  Begriffser Weiterung  und  der 
gleiche  logische  Prozeß  kommt  sehr  häufig  vor,  so  bei  Erweiterung  des 
Zahlbegriffs  und  bei  der  allmählichen  Herausarbeitung  des  Begriffes  der 
trigonometrischen  Funktionen,  die  von  der  anschaulichen  Definition  am 
rechtwinkligen  Dreieck  ausgeht  und  bis  zur  allgemeinsten  algebraischen 
durch  unendliche  Reihen  führt.  Man  erklärt  zunächst  den  Sinn  des  Ge- 
brauchs von  "Worten  in  übertragener  Bedeutung  (Einsicht  u.s.w.)  und  führt 
dann  aus,  wenn  ich  ein  Brot  teilen  will,  sodaß  Stullen  entstehen  sollen,  so 
muß  ich  mit  dem  Messer  das  Brot  durchschneiden;  führe  ich  das  Messer 
außen  vorbei,  so  entstehen  keine  Teile,  wenn  ich  aber  auf  einer  Strecke 
innen  und  außen  einen  Punkt  annehme,  so  stimmt  das  Ergebnis  insofern 
überein,  als  Teilstrecken  entstehen,  die  einen  Endpunkt  in  dem  Teilpunkt 
haben,  und  deren  anderen  Endpunkt  einer  der  Endpunkte  der  ursprüng- 
lichen Strecke  bildet.  Wir  können  beides  unter  diesem  gemeinsamen  Ge- 
sichtspunkt zusammenfassen  und  dem  neuen  Oberbegriff  in  übertragenem 
Sinn  auch  den  Namen  Teilung  geben.  Der  gleiche  logische  Prozeß  ist 
von  Höfler  in  seiner  Physik  in  einer  ganzen  Reihe  von  Abschnitten  durch- 
geführt, um  den  Sinn  des  Begriffs  Energie  klar  zu  machen. 

Bei  Einführung  in  die  ersten  Formeln  der  Algebra  ist  man  häufig 
genötigt,  auf  die  Anschauung  zu  verweisen.  Damit  der  Schüler  dies  ver- 
steht, ist  der  Unterschied  von  Anschauen  und  Denken  zu  erläutern.  Nehmen 
wir  z.  B.  die  Ableitung  von  um.  an  =  am+n,  so  verweisen  wir  zunächst  auf 
bestimmte  Zahlen,  und  die  einzelnen  Faktoren  werden  dann  entweder  durch 
die  Schriftzeichen  oder  andere  Symbole  räumlich  veranschaulicht. 

Andere  Beispiele  wird  jeder,  der  den  Unterricht  kennt,  in  großer  Zahl 
geben,  ich  erinnere  noch  an  einen  hübschen  Aufsatz  von  Laßwitz  „Gerade 
und  krumm"  wo  der  Prozeß  der  Zusammenfassung  von  Einzelgestalten  zu 
einem  Oberbegriff  mittels  des  Prinzips  der  Kontinuität  dargestellt  wird,  ein 
Prozeß,  der  die  gemeinsame  Definition  der  Kegelschnitte  mittelst  des  Durch- 
gangs durch  das  unendliche  Große  durchsichtig  macht  und  auch  für  die 
Durchnahme  des  Differentials  oder  der  Zenonischen  Sophismen,  die  gele- 
gentlich der  unendlichen  geometrischen  Reihen  besprochen  zu  werden  pflegen, 
seine  Bedeutung  hat. 

Mit  der  gleichen  inneren  Notwendigkeit  treten  im  mathematischen, 
wie  physikalischen  Unterricht  psychologische  Betrachtungen  auf,  mit  denen 
man  nicht  auf  einen  besonderen  philosophischen  Unterricht  warten  kann. 
Ich  meine  nicht  die  physiologische  und  psychologische  Betrachtung  der  Sinnes- 
organe, die  sich  allerdings  leicht  als  besonderer  Abschnitt  in  Biologie  oder 

Kantstndien  XXVT.  17 


258  Mitteilungen. 

Physik  anschließen  kann,  sondern  nehme  als  Beispiel  die  Einführung  in  die 
Wärmelehre.  Da  muß  folgendes  herausgearbeitet  werden.  Bis  vor  wenigen 
Jahrhunderten  war  man  auf  die  unbestimmten  Aussagen  der  Sinnesempfindungen 
angewiesen  mit  ihren  Unvollkommenheiten,  der  Relativität,  der  stufenförmigen 
Skala  mit  den  wenigen  Angaben  von  sehr  heiß  über  lauwarm  bis  sehr  kalt, 
und  der  Grenzen,  an  denen  die  Empfindungen  in  Schmerz  übergehen, 
während  durch  das  Gesetz  der  Ausdehnung  der  Körper  sich  eine  stetige 
Reihe  von  meßbaren  Temperaturen  ergibt.  (Besonders  schön  dargestellt  bei 
Maxwell,  Theorie  der  Wärme,  vergl.  auch  Höfler,  Physik  S.  251).  Dazu 
kommen  Sinnestäuschungen  im  mathematischen  Unterricht  u.s.f. 

Diese  Beispiele  würden  sich  leicht  vermehren  lassen.  Der  philosophisch 
gesinnte  Lehrer  wird  es  sich  nicht  nehmen  lassen,  den  mathematischen 
Unterricht  an  vielen  Stellen  durch  philosophische  Erörterungen  zu  vertiefen 
und  hat  dazu  viel  mehr  Zeit  zur  Verfügung,  als  ein  besonderer  Unterricht 
bieten  kann.  Klassifikationen  z.  B.  der  Vierecke,  Urteile,  Schlüsse  z.  B. 
der  hypothetische  Schluß,  der  bei  der  Formulierung  „wenn  —  so"  eine 
treffliche  Übung  für  Quartaner  ist,  um  Voraussetzung  und  Behauptung 
zu  trennen,  die  logische  Bedeutung  der  Axiome  und  der  Aufbau  der  Mathe- 
matik nötigen  fast  dazu.  Der  Unterschied  zwischen  mathematischer  und 
physikalischer  Gesetzmäßigkeit  muß  in  dem  Augenblick  erörtert  werden, 
wo  physikalische  Ausarbeitungen  geschrieben  werden,  weil  man  sonst  vom 
Beweise  des  Ohm'schen  Gesetzes  oder  von  der  Berechnung  spezifischen  Wärme 
lesen  muß.  Ich  verzichte  darauf  Beispiele  aus  den  übrigen  Unterrichtsfächern 
zu  bringen,  die  ich  nicht  so  gut  kenne  und  ebenso  auf  die  Problemstellungen, 
die  sich  aus  dem  Verhältnis  der  Einzel  Wissenschaften  zueinander  und  zur 
Philosophie  ergeben,  da  das  Material  in  der  philosophischen  Propädeutik, 
die  von  Lambeck  herausgegeben  ist,  in  vorzüglicher  Weise  zusammengestellt 
ist,  und  auch  die  methodische  Seite  von  Lambeck  im  Vorwort  und  der  Ein- 
leitung hinreichend  beleuchtet  ist.  Ich  habe  eben  gerade  die  Seite  betont, 
von  deren  gewissenhafter  Durchführung  schließlich  der  Enderfolg  jeden 
philosophischen  Unterrichts  mir  abhängig  zu  sein  scheint. 

Ganz  besonders  geeignet"  ist  ferner  zur  Erreichung  des  oben  gegebenen 
Zwecks  des  philosophischen  Unterrichts  die  Lektüre  von  Original  werken. 
Die  Bindung  an  ein  philosophisches  Lesebuch  möchte  ich  ablehnen;  der 
Zwang,  eine  bestimmte  Anzahl  Stücke  zu  lesen  und  damit  eine  gewisse 
historische  Übersicht  zu  geben,  sodaß  womöglich  auch  hier  jedes  Jahr  das- 
selbe gelesen  wird,  die  Schüler  sich  Notizen  machen,  Handbücher  zur  Inter- 
pretation entstehen,  der  Inhalt  abgefragt  wird  und  ähnliches  würde  dem 
gewünschten  Zweck  nicht  entsprechen.  Der  Lehrer  muß  die  Lesestücke 
aussuchen,  die  gerade  den  Eindruck  auf  den  Schüler  machen,  den  er 
wünscht,  z.  B.  Stellen,  die  geeignet  sind,  sittliche  Wärme  und  Begeisterung 
hervorzurufen  oder-  Nachdenken  darüber,  daß  es  sittliche  Gesetzmäßigkeit 
gibt.  Hierher  gehören  etwa  die  berühmten  Stellen  im  Spinoza  „Ich  werde 
die  menschlichen  Handlungen  und  Triebe  ebenso  betrachten,  als  wenn  es 
die  Untersuchung  mit  Linien,  Flächen  und  Körpern  zu  tun  hätte"  oder  im 
Platonischen  Kriton  und  die  bekannte  Stelle  aus  dem  Staat,  wo  Trasymachus 
die  Gerechtigkeit  als  das  dem  Stärkeren  zuträgliche  erklärt.  Zur  Erkennt- 
nislehre nenne   ich  nur   die  Stelle    aus  dem  Menon  oder  etwa  bei    Leibniz 


Mitteilungen.  259 

die  schöne  Auseinandersetzung  über  seine  Auffassung  von  Idee  im  Gegen- 
satz zu  der  Lockes,  die  an  der  Idee  des  Tausendecks  auseinandergesetzt  wird. 

Es  wäre  schon  viel  gewonnen,  wenn  nur  ein  einziges  Buch  einmal 
gründlich  behandelt  würde.  Etwa  sehr  zeitgemäß  sind  Fichte's  Reden  an 
die  deutsche  Nation;  Der  Grad  der  Abstraktheit,  die  weltgeschichtliche 
Tragweite  und  die  sittliche  Wirkung,  die  sich  durch  diese  Lektüre  erzielen 
lassen,  lassen  es  besonders  geeignet  erscheinen.  Oder  wenn  an  die  von 
den  Schülern  gelesenen  Bücher,  etwa  Häckels  Welträtsel  angeknüpft  würde, 
um  unbarmherzig  die  Schwächen  desselben  zu  zeigen;  oder  an  Nietzsche, 
um  die  Schüler  zum  Bekenntnis  zu  nötigen,  daß  sie  ihn  doch  nicht  voll- 
ständig verstehen,  wenn  sie  ihn  allein  lesen;  die  unzeitgemäßen  Betrach- 
tungen sind  übrigens  gerade  wieder  sehr  zeitgemäß. 

Mir  erscheint  hier  als  das  Wesentliche,  daß  die  Schüler  gezwungen 
werden,  die  gelesenen  Stellen  Wort  für  Wort  zu  verstehen.  Es  wird 
hoffentlich  bald  als  Allgemeingut  gelten,  daß  diese  Form  der  Erziehung 
zur  Exaktheit  weit  wertvoller  ist,  als  jede  abgeleitete  Übersicht  über  die 
Geschichte  der  Philosophie. 

Es  kann  natürlich  noch  mehr  erreicht  werden,  wenn  der  deutsche 
Unterricht  mit  Stellen  aus  Schiller,  Herder  etc.  und  der  fremdsprachliche 
mit  Piaton,  Rousseau  und  Humelektüre  die  Sache  unterstützte. 

Mit  diesen  Andeutungen  mag  es  genug  sein.  Nur  zwei  Gesichtspunkte 
möchte  ich  zum  Schluß  noch  hervorheben,  die  wir  nicht  aus  den  Augen 
verlieren  dürfen,  wenn  wir  dem  philosophischem  Denken  Heimatrecht  in 
der  Schule  geben  wollen.  Erstens:  Die  Stärke  des  Schülers  ist  die,  daß 
er  sich  noch  unbefangen  und  nicht  zu  stark  mit  historischem  Ballast  ver- 
sehen unmittelbar  mit  den  Problemen  beschäftigt;  sobald  er  das  erste  Kolleg 
über  Geschichte  der  Philosophie  gehört  hat,  tritt  leicht  an  die  Stelle  des 
lebendigen  Interesses  an  der  Sache  selbst  der  Sport  am  Lösen  von  Buch- 
problemen, etwa  an  der  Aufgabe,  wer  Recht  hat,  Kant  oder  Hume  und 
diese  Buchprobleme  werden  gar  nicht  mit  den  wirklichen  den  Menschen 
interessierenden  Problemen  in  Beziehung  gebracht.  Es  geht  dann  ähnlich 
wie  es  mir  im  mathematischen  Unterricht  manchmal  geht,  wenn  ich  von 
Meridianen  und  dem  Äquator  rede  und  der  Schüler  erstaunt  aufhorcht,  daß 
das  Kreise  sind  und  daher  in  180  Grad  eingeteilt  werden.  In  einer  Zeit, 
wo  der  Schüler  noch  nicht  gezwungen  ist,  eine  Übersicht  über  die  ganze 
Philosophie  zu  haben,  kann  man  abwarten,  bis  die  Probleme  selbst  in 
seinem  Gesichtskreis  auftauchen.  Ich  erinnere  mich  noch  ganz  genau, 
wie  ich  als  Student  das  erste  Mal  auf  das  Problem  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft  stieß,  bevor  ich  von  Kants  Lehre  das  geringste  wußte,  nämlich 
als  im  Kolleg  über  Mechanik  gelehrt  wurde,  daß  der  erste  Differential- 
quotient des  Weges  nach  der  Zeit  die  Geschwindigkeit,  der  zweite  die  Be- 
schleunigung ist,  dachte  ich  staunend  das  erste  Mal  darüber  nach,  wie  es 
möglich  ist,  daß  diese  komplizierten  Begriffe  fn  der  wirklichen  Natur  vor- 
kommen. Und  erst  da  war  denn  auch  der  Augenblick  für  ein  Studium 
Kants  gekommen. 

Und  zweitens:  Lassen  wir  dem  Lehrer  in  diesem  Unterricht  Freiheit; 
nötigen  wir  ihm  nicht  einen  Lehrplan  auf,  der  ihn  hindert,  das  was  er  für 
richtig  hält,    zu  bringen,    sondern    ihn  nötigt    dogmatisch  vorzutragen,    wo- 

17* 


260  Mitteilungen. 

möglich  nach  dem  Lesebuch  in  Unterprima  Stück  1  bis  20  und  in  der 
Oberprima  Stück  21  bis  40  durchzunehmen  und  dann,  da  es  ein  besonderes 
Unterrichtsfach  ist,  auswendig  lernen  zu  lassen,  und  abzufragen  und  danach 
zu  zensieren.     Dann  würden  wir  dem  Unterricht  das  Beste  nehmen. 


Aufruf 
Solger-Kollegnachschriften  betreffend. 

"Wer  im  Besitze  solcher  Nachschriften  sein  sollte,  wird  höflichst  gebeten, 
mir  dieses  gütigst  mitzuteilen. 

Hellmuth  Burgert 
Freiburg  i.  Br.,  Immentalstr.  7. 


Januar  1921, 


An  die  Mitglieder 
der  Kant-Gesellschaft. 


Vorbemerkungen. 

1)  Sofortige  Einsendung  des  Jahresbeitrages  dringend 
erwünscht. 

2)  Möglichst  grosse  Erhöhung  des  Jahresbeitrages  drin- 
gend erbeten. 

3)  Angabe  des  Absenders  in  recht  deutlicher  Hand- 
schrift unerlässlich. 

1. 

Auch  über  die  Entwicklung  des  vergangenen  Jahres  1920  — 
es  ist  das  17.  Jahr  des  Bestehens  der  Kant-Gesellschaft  —  kann 
ein  sehr  günstiger  Bericht  erstattet  werden.  Der  Mitgliederkreis 
hat  sich  in  außerordentlichem  Umfang  vergrößert.  Traten  der 
Gesellschaft  im  Jahre  1918  bereits  324  neue  Jahresmitglieder  bei, 
stieg  diese  Zahl  im  Jahre  1919  auf  578,  so  beträgt  die  Zahl  der 
im  Jahre  1920  neu  eingetretenen  Jahresmitglieder  (Mindestbeitrag 
Mk.  20, — )  nicht  weniger  als  792.  Auch  die  Zahl  der  Dauer-Mit- 
glieder (Mindestbeitrag  Mk.  400,—)  hat  sich  wesentlich  erhöht; 
sie  beträgt  gegenwärtig  83.  Die  Gesamtzahl  der  Jahres-  und  Dauer- 
mitglieder belief  sich  am  Schluß  des  Jahres  1920  auf  2427  Mit- 
glieder. Somit  hat  sich  die  Gesellschaft  zu  der  größten  philo- 
sophischen Organisation  der  Erde  entwickelt. 

Die  Gründe  für  diesen  Aufschwung  liegen  wohl  zunächst  in 
der  intensiven,  für  das  geistige  Leben  der  Gegenwart  bezeich- 
nenden Erneuerung  und  Erstarkung  der  philosophischen  Interessen 
überhaupt ;  ferner  in  dem  Umstand,  daß  wir  trotz  aller  aus  den  Zeit- 
verhältnissen sich  ergebenden  Schwierigkeiten  unsere  Bestrebungen 
und  Leistungen  nicht  nur  in  der  gleichen  Höhe  zu  halten,  sondern 
auch  zu  steigern  und  in  unparteilicher  Weise  in  den  Dienst  aller 
ernsthaften  philosophischen  Richtungen  zu  stellen  unausgesetzt 
bedacht  waren ;  endlich  aber  und  nicht  zuletzt  in  der  tatkräftigen 
und  erfolgreichen  Mitarbeit  einer  grossen  Zahl  unserer 


262  Kant-Gesellsci.aft. 

Mitglieder  und  Freunde.  Diese  überaus  wichtige  und  dankens- 
werte Mitarbeit  bestand  außer  mannigfachen  Anregungen  und  Vor- 
schlägen zur  Erweiterung  unserer  Arbeiten  vor  allem  in  der  Ge- 
winnung zahlreicher  neuer  Mitglieder.  Jene  Persönlichkeiten,  die 
uns  auf  diese  Weise  zur  Seite  standen,  haben  sich  damit  nicht  nur 
um  die  Kant  -  Gesellschaft ,  sondern  auch  um  die  Förderung  des 
philosophischen  Lebens  überhaupt  ein  Verdienst  erworben. 


a.  Wir  konnten  unseren  Mitgliedern  die  üblichen  vier  Hefte 
der  Kant-Studien  (Band  XXV)  zustellen  und  zwar  in  dem  an- 
sehnlichen Umfange  von  31  Druckbogen,  d.  h.  etwa  500  Seiten. 

b.  Ferner  erhielten  unsere  Mitglieder  im  vergangenen  Jahr 
wieder  drei  Ergänzungshefte,  u.  z.  Nr.  49 :  „Moses  Mendelssohn 
im  Urteil  seiner  Zeitgenossen"  (92  Seiten)  von  Dr.  Beate  Berwin*)j 
Nr.  50:  „Kants  Opus  postumum"  dargestellt  und  beurteilt  (855  Seiten) 
von  Professor  Dr.  Erich  Adickes**);  Nr.  51:  „Das  Möglichkeits- 
problem der  Kritik  der  reinen  Vernunft,  der  modernen  Phaenomeno- 
logie  und  der  Gegenstandstheorie"  (64  Seiten)  von  Dr.  Baumgardt. 

c.  Sowohl  in  Berlin  als  auch  in  den  anderen  Ortsgruppen 
fanden  regelmäßige  und  außerordentlich  gut  besuchte  Vortrags- 
veranstaltungen   statt.     Vgl.  Berichte  Kant-Studien,  Bd.  XXV. 

d.  Die  Organisation  von  Ortsgruppen  hat  eine  wesentliche 
Ergänzung  erfahren.  Neue  Ortsgruppen :  Dresden,  Leipzig,  Königs- 
berg i.  Pr.,  Stuttgart;  vgl.  Berichte  Kant-Studien,  Band  XXV. 

Die  weitere  GründuDg  von  Ortsgruppen  ist  ins  Auge  gefaßt 
bzw.  bereits  eingeleitet.  Über  alle  diese  Veranstaltungen  wird 
regelmäßig  in  den  Kant-Studien  berichtet.  Es  werden  dort  auch  die 
Namen  und  Adressen  der  Ortsleiter  angegeben,  damit  sich  die  be- 
treffenden Interessenten   mit  ihnen  in  Verbindung  setzen  können, 

e.  Unseren  Mitgliedern  wurden  folgende  zwei  Vorträge  zu- 
gestellt: Nr.  24:  „Religionsphilosophie  der  Kultur";  zwei  Entwürfe 
von  Professor  Dr.  Gustav  Radbruch  und  Privatdozent  Dr.  Paul 
Tillich  (52  Seiten)*);  Nr.  25:  „Zur  kritischen  Grundlegung  der 
Psychologie"  von  Privatdozent  Dr.  Walter  Blumenfeld  (72  S.). 


*)  Vgl.  die  Anmerkung  *)  S.  263.  **)  Die  Zustellung  dieses  umfangreichen 
und  bedeutsamen  Werkes  konnte  zu  einem  wesentlich  ermäßigten  Preise  nur  an  die- 
jenigen Mitglieder,  die  auf  Grund  eines  Kundschreibens  auf  den  Bezug  des  Werkes 
ausdrücklich  subskribiert  hatten,  erfolgen.  Wegen  der  neuen  Zustellungsbedin- 
gungen vgl.  S.  264  der  vorliegenden  Mitteilungen. 


Kant-Gesellschaft.  263 

Der  buchhändlerische  Wert  der  genannten  Zustellungen  übersteigt  beträchtlich 
die  Höhe  des  Jahresbeitrages: 

Kantstudien  1920,  Band  XXV =  12.—  Mk. 

3  Ergänzungshefte  (Nr.  49,  50,  51) =  61.—    „ 

2  Vorträge  (Nr.  24,  25) ='    6.80    „ 

79.80  Mk. 
Voraussichtlich   sind  alle  diese  Sendungen  in  den  Besitz  unserer  Mitglieder 
gelangt.    Anderenfalls  bitten  wir  an  den  stellvertretenden  Geschäftsführer  Liebert 
eine  entsprechende  Mitteilung  zu  richten*).  — 

f.  Im  vergangenen  Jahre  konnte  endlich  —  nach  einer  Pause 
von  sechs  Jahren  —  wieder  eine  allgemeine  Mitgliederversamm- 
lung (Generalversammlung)  abgehalten  werden  (am  29.  und 
30.  Mai  1920).  Über  die  wissenschaftlichen  und  künstlerischen  Dar- 
bietungen und  den  Besuch  derselben  ist  in  Kant- Studien,  Band  XXV, 
Heft  4  ein  eingehender  Bericht  erstattet  worden. 

3. 

Unsere  Mitglieder  genießen  folgende  Vergünstigungen: 
a)  „Kants  Opus  postumum,  dargestellt  und  beur- 
teilt" von  Professor  Dr.  Erich  A  dick  es**).  Im  Frühjahr  1920 
ist  dieses  Werk  unseres  Mitgliedes  Professor  Dr.  Erich  A  dick  es 
von  der  Universität  Tübingen:  „Kants  Opus  postumum,  dargestellt 
und  beurteilt"  als  Ergänzungsheft  50  erschienen**).  Adickes  hat 
in  mehr  als  47s  jähriger  Arbeit  das  ganze  nachgelassene  Manuskript 
(auch  den  bisher  ungedruckten  Teil)  durchforscht.  Es  ist  ihm  dabei 
gelungen,  14  verschiedene  Entwürfe  festzustellen  und  genau  zu  da- 
tieren. Der  älteste  stammt  aus  der  Zeit  um  1796,  also  aus  einer 
Zeit,  in  der  Kant  noch  ganz  frei  von  Senilitätserscheinungen  war. 
Am  jüngsten  Entwurf,  der  das  ursprünglich  geplante  rein  natur- 
philosophische Werk  (Übergang  von  den  Metaph.  Anfangsgr.  der 
Naturwissenschaft  zur  Physik)  zu  einem  System  der  Transcendental- 
philosophie  erweitern  wollte,  hat  Kant  bis  zuletzt  gearbeitet.    Erst 


*)  Zu  unserem  Bedauern  konnte  sowohl  das  Ergänzungsheft  Nr.  49  von  Dr. 
B.  Berwin,  als  auch  das  Vortragsheft  Nr.  24  von  Prof.  Dr.  Radbruch  und  Dr. 
P.  Tillich  einer  Zahl  derjenigen  Mitglieder,  die  ihren  Jahresbeitrag  erst  in  der 
2.  Hälfte  des  Jahres  eingeschickt  haben,  oder  die  der  Kant-Gesellschaft  überhaupt 
erst  in  den  letzten  Monaten  beigetreten  sind,  nicht  mehr  zugestellt  werden.  Diese 
beiden  Veröffentlichungen  waren  bereits  zu  Beginn  des  Jahres  1920  hergestellt  worden, 
als  sich  noch  nicht  übersehen  ließ,  daß  unser  Mitgliederbestand  einen  so  außer- 
ordentlichen Zuwachs  erfahren  würde.  Ein  Teil  der  neuen  Mitglieder  ist  durch 
die  Zustellung  anderer  —  älterer  —  Veröffentlichungen  entschädigt  worden. 
**)  Vgl.  Anmerkung  **)  auf  Seite  262  dieser  Mitteilungen. 


264  Kant-Gesellschaft. 

durch  diesen  Nachweis  der  Zusammengehörigkeit  der  einzelnen 
Entwürfe  und  ihre  feste  Datierung  ist  die  Grundlage  für  eine 
wirklich  wissenschaftliche  Darstellung  und  Beurteilung  des  Opus 
pustumuni  geschaffen. 

Fertigstellung  und  Veröffentlichung  des  Werkes  sind  dadurch 
möglich  geworden,  daß  Freunde  der  Wissenschaft  und  der  Kant- 
Gesellschaft  einmalig  größere  Summen  gestiftet  und  außerdem  etwa 
850  Mitglieder  der  Kant  -  Gesellschaft  auf  das  Werk  subskribiert 
haben.  Es  kostet  bei  einem  Umfang  von  855  Seiten  im  Buchhandel 
50  Mark.  Mitgliedern  der  Kant- Gesellschaft  wird  es  zu  dem  er- 
mäßigten Preis  von  25  Mark  ausschließlich  der  Verpackungs-  und 
Portospesen  geliefert  werden.  Die  Versendung  des  Werkes  an  die 
inländischen  Mitglieder  erfolgt  der  Einfachheit  halber  unter  Nach- 
nahme. Für  ausländische  Mitglieder,  die  das  Werk  zu  erhalten 
wünschen,  kommt  wegen  des  ungünstigen  Standes  der  Mark  ein 
Verpackungs-  und  Portoaufschlag  von  25  Mk.  hinzu.  Interessenten 
mögen,  am  einfachsten  bei  Zahlung  des  Jahresbeitrages  durch  eine 
Angabe  auf  dem  Abschnitt  der  Zahlkarte,  einen  diesbezüglichen 
Wunsch  dem  stellv.  Geschäftsführer  Liebert  übermitteln. 

b)  Der  Verlag  von  Felix  Meiner  in  Leipzig  teilt  mit,  daß  das 
soeben  erschienene  Heft  4  des  zweiten  Bandes  der  „Annalen 
der  Philosophie"  auf  Wunsch  von  den  Mitgliedern  der  Kant- 
Gesellschaft  zu  dem  Vorzugspreise  von  5  Mk.  (statt  eines  Laden- 
preises von  8  Mk.)  bezogen  werden  kann.  Das  Heft  wurde  von 
den  Herausgebern  der  „Annalen"  (Hans  Vaihinger  und  Raymund 
Schmidt)  ausdrücklich  der  Kant-Gesellschaft  „zum  Dank 
für  die  den  Freunden  der  Philosophie  des  Als-Ob  am  29.  Mai  1920 
zu  Halle  gebotene  Gastfreundschaft"  gewidmet.  Es  ist  insofern 
für  die  Mitglieder  der  Kant  -  Gesellschaft  von  besonderem  Wert, 
als  es  ausführliche  Berichte  über  die  Vortragsveranstaltungen  bei 
Gelegenheit  der  letzten  Generalversammlung  der  Kant- 
Gesellschaft  enthält.  Außerdem  bringt  es  den  Vortrag  von 
Prof.  Julius  Schultz:  „Die  Fiktion  vom  Universum  als 
Maschine  und  die  Korrelation  des  Geschehens",  eine 
Arbeit  von  Geh.-Rat  Vaihinger:  „Ist  die  Philosophie  des 
Als-Ob  Skeptizismus?"  und  die  Bedingungen  zweier  Preis- 
aufgaben zum  Abdruck: 

1)  „Die  Rolle  der  Fiktionen  in  der  Erkenntnistheorie  von 
Friedrich  Nietzsche"  (Preis  3000  Mk.). 

2)  „Das  Verhältnis    der  Einsteinschen  Relativitätslehre   zur 


Kant-Gesellschaft.  265 

Philosophie  der  Gegenwart  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Philo- 
sophie des  Als-Ob".    (Preis  5000  Mk.). 

Die  Mitglieder  der  Kant  -  Gesellschaf  t  können  das  Heft  zum 
Vorzugspreise  durch  jede  Buchhandlung  (die  dann  den  Namen  des 
betreffenden  Mitgliedes  dem  Verlag  mitzuteilen  hat)  oder  auch 
direkt  vom  Verlag  der  „Annalen",  Felix  Meiner,  Leipzig,  Kürze- 
ste. 8,  Postscheck  Leipzig  Nr.  9886,  beziehen. 

4. 

a)  Die  „Kant-Studien"  werden  auch  in  dem  neuen  Jahrgang 
eine  Reihe  wertvoller  systematischer  und  historischer  Aufsätze  aus 
der  Feder  bekannter  Vertreter  der  verschiedensten  philosophischen 
Standpunkte  und  Richtungen  veröffentlichen. 

b)  Auch  für  die  Fortsetzung  der  Reihe  der  „Ergänzungs- 
hefte" ist  bereits  Sorge  getragen.  Folgende  interessante  Arbeiten 
werden  unsern  Mitgliedern  zugestellt  we*rden: 

1)  Nr.  52:   Dr.  Konrad  Wiederhold:  „Wertbegriff  und  Wert- 

philosophie" (86  Seiten;  bereits  fertiggestellt). 

2)  Nr.  53:  Privatdozent  Dr.  Oskar  Ewald:  „Welche  wirklichen 

Fortschritte  hat  die  Metaphysik  seit  Hegels  und  Herbarts 
Zeiten  in  Deutschland  gemacht?"  Gekrönte  Preisschrift  der 
ersten  Carl  Güttier  -  Preisaufgabe  der  Kant  -  Gesellschaft  (68 
Seiten;  bereits  fertiggestellt). 

3)  Nr.  54:  Professor  Dr.  Albert  Goedeckemeyer,    o.  ö.  Pro- 

fessor an  der  Universität  Königsberg :  „Kants  Lebensanschau- 
ung" (etwa  100  Seiten;  befindet  sich  im  Druck). 
Um  Mißverständnisse  zu  verhindern  und  entbehrliche  Inanspruchnahmen  nach 
Möglichkeit  auszuschließen,  machen  wir  wiederum  darauf  aufmerksam,  daß  aus- 
schließlich Professor  Dr.  Max  Frischeisen-Köhler  (Halle,  Mozartstr.  24) 
die  Entscheidung  über  die  Annahme  von  Aufsätzen  und  Abhandlungen  für  die 
Kant-Studien  und  für  die  Ergänzungshefte  hat,  während  Prof.  Dr.  Liebert  über 
dasjenige  entscheidet,  was  sich  auf  die  Abteilung:  „Besprechungen  neuer  Bücher 
sowie  allgemeine  wissenschaftliche  Mitteilungen"  bezieht.  Wir  bitten  diejenigen 
unter  den  Mitgliedern  der  Kant-Gesellschaft,  die  zu  den  Mitarbeitern 
der  Kant-Studien  gehören,  von  dieser  Anordnung  Kenntnis  nehmen  und 
ihre  Anfragen  bezw.  Einsendungen  dementsprechend  einrichten  zu  wollen. 
Bei  Zuschriften  an  Prof.  Dr.  Liebert  sind  die  letztgenannten  redaktionellen 
Angelegenheiten  streng  zu  scheiden  von  den  Angelegenheiten  der  Geschäftsführung. 
Diese  beidefi  Gebiete  sind  völlig  getrennt  voneinander,  sie  sind  nur  durch  eine 
zufällige  Personalunion  bis  auf  weiteres  miteinander  verknüpft.  Und  sie  sind  ohne 
jeden  Einfluß  aufeinander. 

Professor  Vaihinger,  der  wie  bisher  der  Schriftleitung  der  Kant-Studien  an- 
gehört, hat  sich  in  dieser  nur  eine  beratende  Stimme  vorbehalten.  An  ihn  sind 
daher  Zusendungen  in  Angelegenheiten  der  Redaktion  in  keinem  Falle  zu  richten. 


266  Kant-Gesellschaft. 

c)  An  neuen  Vortragsheften  werden  den  Mitgliedern  geliefert : 

1)  Nr.  26:   Professor  Dr.  Heinrich  Scholz,    o.  ö.  Professor  an 

der  Universität  Kiel:  „Die  Bedeutung  der  Hegeischen  Philo- 
sophie" (64  Seiten;  bereits  fertiggestellt),  versendet  mit  Kant- 
Studien  XXV,  Heft  4. 

2)  Nr.  27:  Professor  Dr.  Alfred  Vierkandt,  Professor  an  der 

Universität  Berlin:  „Der  Dualismus  in  der  modernen  Welt- 
anschauung" (in  Vorbereitung). 

d.  In  allen  unseren  Ortsgruppen  werden  im  Jahre  1921  von 
führenden  Gelehrten  Vorträge  über  die  verschiedensten  wissen- 
schaftlichen Themen  gehalten  werden.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle 
wird  sich  eine  allgemeine  Aussprache  anschließen.  Soweit  in  unseren 
Ortsgruppen  Arbeitsgemeinschaften  und  seminaristische  Übungen 
eingerichtet  sind,  wird  diese  Einrichtung  beibehalten  und  sinngemäß 
ausgebaut  werden.  Den  Mitgliedern  geht  seitens  der  Leitung  der 
Ortsgruppen  regelmäßig  eine  Ankündigung  zu.  Mitglieder,  die  in 
der  Nähe  von  Ortsgruppen  wohnen,  wollen,  falls  sie  von  den  be- 
treffenden Veranstaltungen  Kenntnis  zu  erhalten  wünschen,  einen 
diesbezüglichen  Wunsch  an  die  Leitung  der  nächsten  Ortsgruppe 
richten.  Die  Namen  und  Adressen  der  Ortsgruppenleiter  werden 
regelmäßig  in  den  „Kant-Studien"  angegeben. 

e.  Der  Ablieferungstermin  für  die  noch  laufende  siebente, 
die  sogen.  Jubiläums -Preisaufgabe  ist,  wie  auch  in  der  Prease 
bekannt  gemacht  wurde,  auf  den  22.  April  1921  festgesetzt  worden. 
Das  Thema  lautet:  „Der  Einfluß  Kants  und  der  von  ihm  ausgehenden 
deutschen  idealistischen  Philosophie  auf  die  Männer  der  Reform- 
und  Erhebungszeit".  Die  Preise  sind  1500  Mk.,  bzw.  1000  Mk.,  bzw. 
500  Mk.  (vorbehaltlich  einer  Erhöhung) ;  Preisrichter  sind  die  Herren 
Professoren:  Max  Lenz-Hamburg,  Friedrich  Meinecke-Berlin,  Eduard 
Spranger-Berlin. 

Ferner  teilen  wir  auch  hier  nochmals  mit,  was  gleichfalls 
durch  die  Tageszeitungen  u.  s.  w.  bekannt  gemacht  wurde,  daß  der 
Ablieferungstermin  für  das  achte  Preisausschreiben  (2.  Carl  Güttler- 
Preisaufgabe)  unter  Zustimmung  des  Herrn  Preisstifters  und  der 
drei  Preisrichter  (der  Professoren  Ernst  von  Aster,  Erich  Adickes, 
Max  Frischeisen-Köhler)  auf  den  22.  April  1921  festgesetzt  wurde. 
Das  Thema  lautet:  „Kritische  Geschichte  des  Neu  -  Kantianismus 
von  seiner  Entstehung  bis  zur  Gegenwart".  Der  erste  Preis  be- 
trägt 1500  Mk.,  der  zweite  1000  Mk. 

f.  Die  allgemeine  Mitgliederversammlung  (Generalver- 
sammlung) des  Jahres  1921  wird  voraussichtlich  in  der  Pfingst- 


Kant-Gesellschaft.  267 

woche  dieses  Jahres  —  17. — 21.  Mai  —  abgehalten  werden.  Wir 
planen  für  diese  Veranstaltung  wiederum  einen  wesentlichen  Aus- 
bau. Vortragende:  Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr.  Ernst  Troeltsch- 
Berlin:  „Die  Logik  des  Begriffes  der  historischen  Entwicklung"; 
Geh.  Reg.-Kat  Prof.-  Dr.  Theodor  Ziehen -Halle:  „Zum  Begriff 
und  zur  Methodik  der  Geschichtsphilosophie".  Mit  anschließender 
Aussprache.  Ferner  ist  auch  die  Aufführung  eines  platoni- 
schen Dialoges  durch  Berufsschauspieler  unter  Hinzuziehung 
von  Studenten  der  Universität  Halle  ins  Auge  gefaßt.  Allen  unseren 
Mitgliedern  wird  zur  Zeit  eine  genaue  Einladung  zugehen.  Wir 
hoffen,  im  Laufe  der  Zeit  die  Generalversammlungen  der  Kant- 
Gesellschaft  zu  einem  allgemeinen  philosophischen  Kon- 
greß auszubauen,  auf  dem  Anhänger  aller  philosophischen  Rich- 
tungen vertreten  sind.  (Generalversammlung  laut  Beschluss 
des  Verwaltungsausschusses  auf  1922  verschoben). 

5. 

Unser  Mitgliederstand  hat  sich,  wie  schon  eingangs  erwähnt, 
dem  Vorjahre  gegenüber  in  bedeutendem  Maße  gehoben.  Diesen 
erfreulichen  Aufschwung  verdanken  wir  außer  unseren  literarischen 
Darbietungen  sowie  unseren  Vortragsveranstaltungen  wesentlich  der 
Mitarbeit  und  der  Werbetätigkeit  der  Mitglieder 
selbst,  die  so  liebenswürdig  waren,  uns  neue  Mitglieder  zu- 
zuführen bzw.  den  Geschäftsführern  Adressen  von 
Interessenten  anzugeben.  Daher  liegt  auch  dieser  Sendung 
wieder  ein  entsprechendes  Formular  bei,  um  dessen  ausgiebige 
Benutzung  dringend  gebeten  wird.  Wir  erstreben  die  Erweite- 
rung unseres  Mitgliederkreises  in  erster  Linie,  um  das  Maß  unserer 
Leistungen  zu  vergrößern,  manchen,  schon  lange  gehegten  wissen- 
schaftlichen Plan  auch  ausführen  und  die  Kant-Gesellschaft  immer 
mehr  zu  einer  umfassenden  Organisation  und  zu  einem  Sammel- 
punkt des  ganzen  philosophischen  Lebens  ausgestalten  zu  können. 

Für  sämtliche  Jahres-Mitglieder  liegt  die  neue  Mitgliedskarte 
bei,  sowie  eine  Postscheck  -  Zahlkarte.  Diese  Zahlkarte  dient  für 
die  Einzahlung  des  Beitrages  (mindestens  Mk.  20. — )  an  die  Bank; 
Adresse :  Deutsche  Bank,  Depositenkasse  W,  Berlin  W.  15,  Uhland- 
straße  57,  Conto  Liebert  (Kantgesellschaft)  unter  Postscheckkonto 
1023.    Um  recht  baldige  Zahlung  der  Beiträge  wird  sehr  gebeten. 

Wegen  der  außerordentlichen  Erhöhung  aller  Kosten  für  die 
Herstellung  und  Versendung  unserer  Veröffentlichungen  und  für 
die  Durchführung  unserer  Bestrebungen  wiederholen  wir  unsere 
dringliche  Bitte  um  eine  freiwillige  Heraufsetzung  des  Jahres- 


268  Kant-Gesellschaft. 

beitrages.  Eine  größere  Reihe  von  Mitgliedern  hat  ihren  Jahres- 
beitrag erfreulicherweise  in  recht  erheblichem  Maße  erhöht  (nicht 
wenige  auf  50.—,  100.—  und  200.—  Mk.).  Wir  bitten  auch  die- 
jenigen Mitglieder,  die  ihren  Jahresbeitrag  bereits  eingesendet 
haben,  eine  solche  Erhöhung  vorzunehmen.  Denn  nur  bei 
einer  ansehnlichen  Vermehrung  unserer  Einnahmen  sind  wir  an- 
gesichts der  schwierigen  Zeitverhältnisse  imstande,  den  Umfang 
unserer  Bestrebungen  und  Arbeiten  aufrechtzuhalten  und  ihn  wo- 
möglich in  der  erforderlichen  Weise  zu  erweitern. 

Dem  gebotenen  Zweck  der  Vermehrung  unserer  Einnahmen 
dient  auch  die  Schaffung  eines  besonderen  „Förderer -Fonds". 
In  diesen  Fonds  kommen  auch  einmalige  größere  Spenden,  die  zu 
diesem  Zweck  gegeben  werden.  Solche  Mäzene ,  die  zu  diesem 
Fonds  mindestens  400  Mk.  beitragen,  werden  lebenslängliche  Mit- 
glieder der  Kant  -  Gesellschaft  mit  dauernden  Bezugsrechten  auf 
alle  unsere  Veröffentlichungen.  Wir  gebrauchen  ihn  dringend  zur 
Verwirklichung  wichtiger  wissenschaftlicher  Pläne.  Aus  diesem 
Grunde  bitten  wir  unsere  Freunde  und  die  Gönner  der  Gesellschaft, 
uns  bei  der  weiteren  Erhöhung  des  Fonds  tatkräftig  zu  unter- 
stützen und  wirtschaftlich  günstig  gestellte  und  für  die  Philo- 
sophie sich  interessierende  Persönlichkeiten  aus  ihrem  Bekannten- 
kreise zu  Beiträgen  zu  diesem  Fonds  zu  veranlassen. 


Um  Verzögerungen,  doppelte  Kosten,  mühsame  und  zeitrau- 
bende Nachforschungen  bei  der  Zustellung  unserer  Veröffentlichungen 
oder  Verluste  derselben  zu  verhüten,  bitten  wir  unsere  Mitglieder 
dringlichst,  jede  Adressenänderung,  und  sei  es  die  gering- 
fügigste, anf  dem  Abschnitt  der  Zahlkarte,  der  von  der  Bank  der 
Geschäftsführung  zugestellt  wird,  deutlich  zu  vermerken  und  sie 
auch  zu  anderer  Zeit  sofort  dem  stellvertr.  Geschäftsführer 
Lieb  er t  mitzuteilen. 
Halle  und  Berlin, 

Januar  1921.  Dte  Geschäftsführung: 

Geh.  Eeg.-Rat  Prof.  Dr.  H.  Vaihinger. 

Prof.  Dr.  Arthur  Lieb  er  t,  Berlin  W.15,  Fasanenstr.  48. 

N.B.  Wir  bitten  unsere  Mitglieder  dringend,  etwaige  Be- 
stellungen auf  Veröffentlichungen  der  Kant  -  Gesellschaft  nicht 
an  den  stellv.  Geschäftsführer  zu  richten,  um  dessen  Belastung 
mit  Arbeiten  nicht  noch  mehr  zu  erhöhen,  sondern  direkt  an 
unsere  Verlagsbuchhandlung  ßeuther  &  Reichard ,  Berlin  W  35, 
Derfflingerstr,   19a,  jedoch  unter  Hinweis  auf  ihre  Mitgliedschaft. 


Kant-Gesellschaft.  269 


Kant-Gesellschaft. 


An  die  Mitglieder  der  Kant-Gesellschaft 

(Betrifft  Bezahlung  des  Beitrages  für  1921). 

Im  Namen  der  Geschäftsführung  richtet  der  Unter- 
zeichnete an  diejenigen  Mitglieder,  die  den  Jahresbeitrag 
für  1921  noch  nicht  eingezahlt  haben,  folgende  dringliche 
Bitte: 

1.  diesen  Jahresbeitrag  möglichst  umgehend  einzusenden ; 

2.  eine  möglichst  grosse  Erhöhung  des  Jahresbeitrages 
vorzunehmen ; 

3.  den  Namen  recht  deutlich  zu  schreiben,  auch  die  ge- 
nauere Adresse  hinzuzufügen.  Es  kommt  oft  vor,  dass 
der  Name  ganz  unleserlich  geschrieben  wird,  bisweilen 
auch  völlig  fortbleibt,  sodass  der  Geschäftsführung  da- 
raus ebenso  grosse  als  unnötige  Umstände  erwachsen. 

Sämtlichen  Mitgliedern  ist  vor  mehreren  Wochen  eine 
Zahlkarte  zugestellt  worden,  durch  die  die  Einzahlung  er- 
folgen kann.  Denjenigen  Mitgliedern,  die  diese  Zahlkarte 
nicht  zur  Hand  haben  sollten,  teilen  wir  mit,  dass  die  Ein- 
zahlung erfolgen  kann  an: 

Deutsche  Bank,  Depositenkasse  W,  Berlin  W.  15, 
Uhlandstr.  57,  Zahlkartenkonto  Nr.  1023. 
Es  ist  aber  unerlässlich,  recht  deutlich  anzugeben,  dass 
die  Einzahlung  für  das  „Konto  der  Kant-Gesellschaft"  be- 
stimmt ist,  damit  kostspielige  und  zeitraubende  Rückfragen 
vermieden  werden. 

Die  Geschäftsführung: 
i.A.:  Lieb  er  t. 

Zur  siebenten  (Jubiläums)-Preisaufgabe. 

Im  Oktober  1913  schrieb  die  Kant-Gesellschaft  ihre  siebente  (Jubi- 
Iäum8)-Preisaufgabe  aus  über  das  Thema: 

„Der  Einfluß  Kants  und  der  von  ihm  ausgehenden  deutschen  idealistischen 
Philosophie  auf  die  Männer  der  Beform-  und  Erhebungszeit", 
bei    einer  Dotierung  von  1500Mk.  für    die   beste,    von  1000  Mk.  für   die 


270  Kant-Gesellschaft. 

zweitbeste  und  von  500  Mk.  für  die  drittbeste  Bearbeitung.  Die  dazu 
nötigen  Summen  sind  uns  damals  von  den  verschiedensten  Seiten  gestiftet 
worden. 

Nach  mehrfacher,  durch  die .  kriegerischen  Verhältnisse  bedingten  Ver- 
schiebung des  Ablieferungstermins  teilten  wir  dann  mit  (Kantstudien  Band 
XXII,  Heft  1—3,  Seite  204),  daß  das  endgültige  Datum  erst  später  be- 
kannt gegeben  würde. 

Im  Einverständnis  mit  den  3  Preisrichtern,  den  Herren  Professoren 
Max  Lenz,  Hamburg,  Friedrich  Meinecke,  Berlin,  Eduard  Spranger,  Berlin, 
gaben  wir  in  Band  XXIV,  Heft  3,  Seite  360  bekannt,  daß  das  Datum 
für  die  Ablieferung  der  Arbeiten  für  jene  Preisaufgabe  auf  den  22.  April 
1921  angesetzt  worden  ist. 

Es  sind  nun  3  Bewerbungsschriften  eingeliefert  worden; 

1.  Motto:  »Das  Zeitalter    kann   nur   durch    den  Geist   geheilt    und    gekräftigt 
werden11.     E.  M.  Arndt.     120  Seiten,  Folio  Handschrift. 

2.  Motto:    »Kant   ist   kein    Licht    der   Welt,    sondern    ein    ganzes    strahlendes 
Sonnensystem  auf  einmal.u     Jean  Paul.     179  Seiten.     Quart  Handschrift. 

3.  Motto:  »Zur  Form.'1     91  Seiten.  Folio  Maschinenschrift. 

Diese  Bewerbungsschriften  sind  nunmehr  der  Preisrichtern  übergeben 
worden.     Als  Preisrichter  sind  folgende  Gelehrte  gestellt: 

Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr.  Lenz,  Hamburg, 

Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr.  Meinecke  in  Berlin, 

Prof.  Dr.  Spranger,  Berlin. 

Das  Ergebnis  der  Konkurrenz  wird  spätestens  bei  der  nächsten  Gene- 
ralversammlung der  Kant-Gesellschaft  Pfingsten  1922  mitgeteilt  werden, 
und  wird  sowohl  durch  die  „Kantstudien",  als  durch  die  gelesensten  Tages- 
zeitungen bekannt  gemacht  werden. 

Anfang  Mai  1921. 

Die  Geschäftsführung  der  Kantgesellschaft 
Vaihinger.  Liebert. 


Ortsgruppe  der  Kantgesellschaft  Basel. 
Bericht  über  das  Vereinsjahr  1919/20. 

In  den  Jahren  1916 — 18  hatten  sich  in  Basel  etwa  ein  Dutzend 
Mitglieder  der  K.-G.  angeschlossen.  Allmählich  kam  der  Gedanke  auf, 
man  wolle  sich  zu  einer  Ortsgruppe  zusammenschließen.  Diese  Absicht, 
die  durch  mehrmahlige  persönliche  Anwesenheit  Prof.  Lieberts  kräftig  unter- 
stützt und  gefördert  wurde,  verwirklichte  sich  im  Herbste  1919.  Mitte 
Oktober  fand  die  konstituierende  Sitzung  statt.  Her  Prof.  Joel  übernahm 
den  Vorsitz ;  ihm  wurde  ein  geschäftsführender  Ausschuß  beigegeben,  damit 
er  selbst  nicht  mit  den  Verwaltungsgeschäften  belastet  sei. 

Der  ungünstigen  Zeitumstände  halber  verzichteten  wir  zunächst  auf 
eine  öffentliche  Veranstaltung  und  versandten  im  Dezember  1919  ca.  100 
Cirkulare,  die  zum  Beitritt  einluden  und  die  Ziele  der  K.-G.  sowie  der 
Ortsgruppe  darlegten.  Der  Erfolg  war  erfreulich;  im  Laufe  des  ersten 
Vereinsjahres    konnten   wir  ca.   70  Mitglieder    gewinnen.     Wir    hielten    im' 


Kant-Gesellschaft.  271 

Jahre  1920  sieben  Sitzungen  mit  Vorträgen  ab:  am  10.  II.  1920  spraclt 
Herr  Prof.  Heinzelmann  über  die  „Religionsphilosophische  Arbeit  der 
Windelband'schen  Schule",  und  am  12.  März  Herr  Priv.-Dozent  Dr.  v.  Ols- 
hausen  über  die  Frage:  „Ist  Spinoza  Mystiker?"  Den  ersten  Vortrag  im 
S.-S.  1920  hielt  Herr  Dr.  P.  Ph.  Hoffmann  (Dresden)  über  „Die  Weltan- 
schauung Indiens".  Auch  für  die  nächsten  Sitzungen  ließen  sich  auswärtige 
Gelehrte  gewinnen:  am  10.  VI.  sprach  Herr  Prof.  Medicus  (Zürich)  über 
„Gewissen  und  Gemeinschaft  in  der  kantischen  und  nachkantischen  Philo- 
sophie" (gedruckt  in  den  Nummern  1259,  1265,  1272  und  1278  der  Neuen 
Zürcher  Zeitung  1920),  am  25.  VI.  Herr  Prof.  F.  Brie  (Freiburg  i.  Br.) 
„Ueber  aesthe tische  Weltanschauung"  und  am  11.  X.  Herr  Prof.  Liebert 
(Berlin)  über  „Das  Problem  der  Wahrheit".  Endlich  hielt  Herr  Prof. 
Matthies  (Basel)  ein  ausführliches  Referat  über  die  „Relativitätstheorie". 

Der  Besuch  der  Vorträge,  an  die  sich  stets  Diskussionen  anschlössen, 
kann  mit  30 — 100  Teilnehmern  als  relativ  gut  bezeichnet  werden,  wenn 
man  bedenkt,  daß  wir,  um  z.  Zt.  noch  Mißdeutungen  einer  Propaganda  in 
den  Zeitungen  zu  vermeiden,    stets    nur   persönlich    durch  Karten  einluden. 

Zur  Deckung  der  Unkosten  (Portoauslagen,  Drucklegung  des  Zirkulars 
und  der  Einladungskarten,  Honorare  an  auswärtige  Referenten  etc.)  hat  ein 
hochherziger  Spender,  der  unbekannt  bleiben  will,  eine  ansehnliche  Summe 
gestiftet.  Außerdem  haben  wir  im  1.  Vereins  jähr  von  den  Mitgliedern  der 
Ortsgruppe,  die  nicht  der  Berliner  Hauptgesellschaft  angehören,  einen  Bei- 
trag von  3  Fr.  erhoben  j  von  jetzt  an  soll  er  bei  allen  Mitgliedern  einge- 
zogen werden. 

Ich  glaube,  die  Basler  Ortsgruppe  hat  sich  trotz  mancher  ungünstigen 
Verhältnisse  konsolidiert.  Es  gilt  nun  noch  weitere  Kreise  zu  gewinnen, 
damit  wir  wirklich,  wie  es  im  Zirkular  heißt,  ein  „Sammelpunkt  für  die 
vielerlei  philosophischen  Interessen  Basels"  werden. 

Für  den  geschäftsführenden  Ausschuß  des  Vereinsjahres  1919/20: 
Peter  Thurneysen, 
z.Zt.  in  Sahen  (Kt.  Graubünden). 

Ortsgruppe  Halle. 

Bei  dem  mächtig  aufblühenden  Interesse  für  Weltanschauungsfragen 
und  den  damit  zusammentagenden  mannigfaltigen  philosophischen  Bestre- 
bungen unserer  Zeit  besteht  die  Absicht,  wie  in  Berlin,  Hamburg,  Kiel, 
München,  Basel,  Breslau,  Dresden,  Leipzig  u.  a.  auch  in  Halle  einen 
Sammelpunkt  aller  dieser  Richtungen  durch  Begründung  einer  Ortsgruppe 
der  Kantgesellschaft  zu  schaffen.  Der  Name  Kant  bedeutet  dabei 
die  Aufforderung  zu  vertiefter  philosophischer  Arbeit  jeglicher  Art.  Ver- 
treter der  verschiedensten  philosophischen  Anschauungen  sollen  zu  Worte 
kommen  und  in  Vorträgen  und  Diskussionsabenden  sich  zu  gemeinsamer 
Arbeit  vereinigen. 

Zu  diesem  Zwecke  gedenkt  die  Leitung  der  Ortsgruppe  die  ver- 
schiedenen Gebiete  der  Wissenschaft,  der  Lebens-  und 
Kulturfragen  in  philosophischen  Vorträgen  mit  anschließen- 
der Diskussion    behandeln    zu    lassen.     Falls  das  Bedürfnis  vor- 


272  Kant-Gesellschaft. 

banden  ist,  wird  Herr  Dr.  Wich  mann  in  Abständen  von  je  14  Tagen 
einfachere  philosophische  Aussprachen  und  Uebungen  über  verabredete  Texte 
(abends  8^2  Uhr)  abhalten.  Wer  an  diesen  Uebungen  teilzunehmen  wünscht, 
wird  gebeten,  sich  schriftlich  oder  am  ersten  Vortragsabende  bei  Herrn 
Dr.  Wichmann  persönlich  zu  melden. 

Die  Vorträge  werden  im  allgemeinen  in  den  akademischen  Monaten 
(Mai — Juli  und  November — Februar)  gehalten  werden.  Der  Eintrittspreis 
in  den  Einzel  vortragen  beträgt  2. —  Mk.  (Am  Eröffnungsabend  ist  der 
Eintritt  frei).  Mitglieder  der  Kantgesellsch  af  t  und  Mitglieder 
der  Hallenser  Ortsgruppe  haben  zu  allen  Vorträgen  freien 
Zutritt. 

Anmeldungen  zur  Ortsgruppe  sind  unter  Entrichtung  von 
8. —  Mk.  Jahresbeitrag  (für  Studierende  5.  —  Mk.)  zu  richten  an  den  Vor- 
sitzenden Privatdozent  Dr.  Ottomar  Wichmann,  Halle,  Herderstraße  10. 
Dieser  ist  auch  gern  erbötig,  den  Beitritt  zur  Kantgesellschaft  zu 
vermitteln.  Für  den  letzteren  Zweck  kann  man  sich  auch  direkt  an  Prof. 
Dr.  A.  Liebert,  Berlin  W.  15,  Fasanenstr.  48  wenden.  (Beitrag  20. —  Mk., 
dafür:  die  „Kantstudien",  wissenschaftliche  Zeitschrift  von  jährlich  4  Heften 
und  die  Ergänzungshefte  zu  den  Kantstudien,  sowie  Vorträge  und  Neu- 
drucke). 

Alle  Freunde  der  Philosophie  sind  gebeten,  durch  ihren  Beitritt,  sei 
es  zur  Ortsgruppe,  sei  es  zur  Kantgesellschaft  ihr  Interesse  an  unseren 
Bestrebungen  zu  bekunden  und  durch  Verbreitung  unserer  Gedanken  und 
Absichten  mitzuarbeiten  an  dem  Ziel  einer  wechselseitigen  Befruchtung  und 
Förderung  aller  geistigen  Richtungen  und  Weltanschauungen. 
Geh.  Reg. -Rat  Prof.  Dr.  Wilhelm  Fries,  Prof.  Dr.  P.  Menzer,  z.  Zt. 
Rektor  d.  Univ.,  Prof.  Dr.  Max  Frischeisen-Köhler,  Geh.  Ober- 
Reg.-Rat  Dr.  Meyer,  Kurator  d.  Univ.,  Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr.  Ger- 
hard, Generaldirektor  Dr.  W.  Scheithauer,  Geh.  Kommerzienrat  Dr. 
phil.  Dr  med.  H.  Lehmann,  Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr.  H.  Vai  hinger, 
Paul  Lehmann,  Verlagsbuchhändler,  Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr. Th.  Ziehen, 
Privatdozent  Dr.   Ottomar  Wichmann    (Vorsitzender    der  Ortsgruppe). 

Erster  Abend. 

Im  Auditorium  IX,  Universitäts-Hauptgebäude. 
Freitag,  den  4.  Februar  1921,  8  Uhr. 

1.  Eröffnungsvortrag    Sr.    Magn.    Prof.  Dr.  P.  Menzer;    Die   Persön- 
lichkeit Immanuel  Kants. 

2.  Dr.    Ottomar   Wichmann:    Das    philosophische    Bedürfnis 
der  Gegenwart. 

3.  Diskussion. 

Zweiter  Abend. 

Im  Auditorium  maximum. 
Donnerstag,  den  24.  Februar  1921,  8  Uhr. 

1.  Vortrag    des    Herrn    Prof.    Dr.    Max    Frischeisen-Köhler:    Das 
Problem  des  Irrationalen. 

2.  Diskussion. 


Kant-Gesellschaft.  273 

Als  weitere  Veranstaltungen  sind  in  Aussicht  genommen : 
Vortrag  des  Herrn  Geh.    Reg. -Rat    Prof.    Dr.    Mie:    Das    Wesen    der 
Materie. 
„  „         „       Geh.  Med.-Rat  Prof.  Dr.    Th.  Ziehen:    Grundpro- 

bleme der  Erkenntnistheorie. 
„  „         „       Dr.  Raymund  Schmidt-Leipzig:  Der  Wahrheits- 

begriff in  der  Philosophie  des  Als-Ob. 
„         „       Prof.  Dr.  Hellmuth  Wolff:    Die  Fiktionen    in 
der  St aats Wissenschaft. 
„    '      „         „      Privatdozent    Dr.    Wolf  gang  Liepe:    Hölderlins 
Stellung  zum  Kritizismus  im  Spiegel  seiner 
Dichtungen. 
„  „         „       Studienrat    Haas:     Oswald    Spengler     und     die 

Grundfragen  der  Geschichtsphilosophie. 
„  „         „      Privatdozent  Dr.  Ottomar  Wichmann:  Hellenen- 

tum  und  Piatonismus. 
„  ,,  „       Privatdozent  Dr.  Thurnwald:    Grundfragen    der 

Völkerpsychologie. 
Es  ist  ferner  eine  Diskussion   über    die   verschiedenen  höheren  Schul- 
gattungen   geplant,    im    Anschluß    an    drei    Vorträge,    die    den   Weltan- 
schauungsgehalt der  einzelnen  Schularten  behandeln. 

1.  Die  Oberrealschule.     Studienrat  R.  Walckling. 

2.  Das  Gymnasium.     Privatdozent  Dr.   0.  Wichmann. 

3.  Das  Realgymnasium.     (Es    sind   noch  Verhandlungen    mit    einem    aus- 
wärtigen Pädagogen  im  Gange). 

Ueber  religionsphilosophische  Themen  zu  sprechen  haben  zugesagt 
Geh.  Konsistorialrat  Prof.  Dr.  Lütgert.  —  Ueber  ein  kulturphilosophisch- 
pädagogisches  Thema  Prof.  Dr.  Litt -Leipzig.  —  Ueber  andere  noch  nicht 
bestimmte  Themen  Geh.  Reg. -Rat  Prof.  Joh.  Volkelt- Leipzig  und  Prof. 
Dr.  Bergmann -Leipzig. 

Alle  Anfragen,  Angebote  und  Hinweise  sind  zu  richten  an  Privatdozent 
Dr.  Wichmann,  Halle,  Herderstr.   10. 


Ortsgruppe  Hannover. 

Gründung. 

Am  8.  März  d.  J.  ist  auch  in  Hannover  eine  Ortsgruppe  gegründet 
worden.  Deren  Arbeit  beginnt  im  Herbst.  Die  Sitzungen  und  Vorträge 
sollen  alljährlich  in  die  Monate  September  bis  April  gelegt  werden. 

Die  bei  der  Gründungssitzung  anwesenden  Mitglieder  der  Hauptge- 
sellschaft stimmten  den  vom  unterzeichneten  Einberufer  skizzierten  Ziel- 
gedanken zu.  Diese  decken  sich  im  Wesentlichen  mit  denen  der  bereits 
bestehenden  Ortsgruppen,  die  auch  das  Vorbild  für  den  äußeren  Rahmen 
der  Verwirklichung  dieser  Pläne  lieferten  (Diskussionsabende  und  öffentl. 
Vorträge).  Danach  sollen  sich  die  Ziele  abgrenzen  gegen  die  der  Volks- 
hochschulen und  des  am  Ort  befindlichen  Euckenbundes.     Natürlich  ist  ein 

Kantatudien  XXVI.  18 


274  Kant-Gesellschaft. 

reibungsloses  Nebeneinanderarbeiten  mit  diesen  Bestrebungen  erwünscht. 
Während  aber  diese  in  erster  Linie  auf  die  Erziehung  breiter  Massen  und 
eine  sittliche  und  intellektuelle  Lebensumgestaltung  abzielen,  will  die  Orts- 
gruppe eine  durchaus  wissenschaftliche  Gesellschaft  sein,  deren  Pfleg'e 
der  Theorie  gilt. 

Als  Arbeitsgegenstände  kommen  sämtliche  Wissens-  und  Lebens- 
gebiete in  Frage,  soweit  sie  philosophischer  Art  sind.  Darin  liegt  schon, 
daß  nicht  nur  an  strenge  Fachphilosophie  gedacht  sein  kann,  sondern  an 
alle  Grenzgebiete,  ja  schließlich  an  alle  wissenschaftlichen  Gegenstandsge- 
biete nach  ihrer  grundbegrifflichen  Seite  hin.  Dabei  soll  versucht  werden, 
immer  mehrere  hintereinanderliegende  Veranstaltungen  um  einen  Ideen- 
komplex zu  gruppieren,  z.  B.  um  Spenglers  Buch  (etwa :  Spenglers  Auf- 
fassung von  der  Physik,  desgl.  von  der  Mathematik,  von  der  Kunst,  von 
der  Musik,  von  der  Kultur,  vom  Bewußtsein,  von  der  Seele,  von  der  Ge- 
schichte, von  der  Keligion,  speziell  vom  Christentum,  vom  Staat  usw.)  oder 
um  Husserls  Phänomenologie  oder  um  die  Frage  der  Durchdringung  der 
Schulfächer  mit  philosophischem  Geiste  u.  a. 

Geplant  sind  Kurse  zur  Einführung  in  die  philosophische  Proble- 
matik, die  sich  über  mehrere  Semester  in  systematischem  Aufbau  erstrecken 
sollen  mit  dem  Endziel,  vorzubereiten  auf  eine  verständnisvolle  Teilnahme 
an  den  Diskussionsabenden. 

Die  Durchführung  der  Pläne  erfordert  Geld.  Wir  bitten,  kapital- 
kräftige Kreise  für  unsere  Bestrebungen  zu  erwärmen.  Erfreulich  ist,  daß 
die  Mitgliederwerbung  unter  der  Hand  Erfolge  hatte.  Von  17  Mitgliedern 
aus  Stadt  Hannover  bei  der  Gründung  stieg  die  Zahl  sofort  damals  auf 
mehr  als  30,  ohne  daß  eine  größere  Veranstaltung  bislang  stattgefunden 
hat.  Der  Jahresbeitrag  für  die,  die  nur  Mitglieder  der  O.-G.  sind,  ist  auf 
12  Mk.,  für  Studenten  auf  8  Mk.  festgesetzt. 

Die  Zusammenkünfte  zu  Diskussionsabenden  sollen  möglichst 
jeden  ersten  Dienstag  der  Monate  September  bis  April  sein.  Das  Nähere 
besagt  eine  besondere  Einladung.  Auskunft  erteilt:  Studienrat  Grimme. 
Anschrift:  Hannover  -  Laatzen,  Lindenplatz  10.  Telefonisch  zu  erreichen 
während  der  Schulzeit  unter  No.  7320  (Oberrealschule  am  Clevertor). 


Ortsgruppe  Karlsruhe  i.  Baden. 

Aus  kleinen  Anfängen  ist  unsere  Ortsgruppe,  über  deren  Gründung, 
erste  Sitzungen  und  Vorträge  im  Jahre  1919  in  Bd.  25  der  „Kantstudien" 
(S.  75  f.)  berichtet  wurde,  zu  einer  stattlichen  Vereinigung  herangewachsen, 
die  hoffen  darf,  ihr  Ziel  zu  erreichen :  zum  Sammelpunkt  der  philosophischen 
Bestrebungen  unserer  Stadt  zu  werden.  Sie  sucht  die  Aufgabe  zu  ver- 
wirklichen, einerseits  durch  öffentliche  Vorträge,  anderseits  durch  die  Ver- 
anstaltung wissenschaftlicher  Abende,  bei  denen  eine  gemeinsame  Lektüre 
von  Klassikern  der  Philosophie  vorgenommen  wird  oder  Referate  mit  an- 
schließender Diskussion  über  bestimmte  Probleme  gehalten  werden,  um  nun 
im  Einzelnen  in  die  eigentliche  philosophische  Arbeit  einzufuhren,  aber 
auch  im  Anschluß  an  Vorträge  einen  Gedankenaustausch  über  Fragen 
gegenwärtiger  Forschung  unter  Fachgenossen  herbeizuführen. 


Kant-Gesellschaft.  275 

Die  im  Jahre  1919  mit  einem  einführenden  Vortrag  von  Dr.  E.  Un- 
gerer  begonnenen  Uebungen  über  Kants  „Prolegomena"  wurden  1920  fort- 
gesetzt; am  14.  I.  behandelte  Prof.  Dr.  H.  Leininger-Karlsruhe  die  Frage: 
„Wie  ist  reine  Mathematik  möglich?",  am  10.  III,  sprach  K.  Herrmann- 
Karlsruhe  über:  „Wie  ist  reine  Naturwissenschaft  möglich?",  am  14.  IV. 
Dr.  E.  Kraus-Heidelberg  über:  „Wie  ist  Metaphysik  möglich?".  Am 
28.  I.  20  hielt  Dr.  Kraus  eine  öffentlichen  Vortrag  über  den  „System- 
gedanken in  der  Philosophie". 

Am  12.  Mai  1920  fand  die  erste  Jahresversammlung  statt,  wo  der 
Unterzeichnete  zum  1.  Vorsitzenden  und  Geschäftsleiter,  Dr.  Kraus-Heidel- 
berg als  auswärtiges  Mitglied  des  Vorstandes  gewählt  wurde.  Der  Jahres- 
beitrag für  Mitglieder  der  Hauptgesellschaft  wurde  auf  3  Mk.,  für  andere 
Ortsgruppenmitglieder  auf   1 0  Mk.  festgesetzt. 

Im  Sommer  1920  fanden  zwei  weitere  wissenschaftliche  Sitzungen  im 
Anschluß  an  Kants  „Idee  zu  einer  allgemeinen  Geschichte  in  weltbürger- 
licher Absicht"  statt,  bei  denen  am  22.  VI.  Prof.  A.  Kreuzer-Karlsruhe 
über  „Mensch  und  Gesellschaft.  Eine  Einführung  in  Kants  Geschichts- 
philosophie" und  Dr.  E.  Ungerer  über  „Kants  Teleologie"  sprachen,  am 
14.  VH.  Prof.  Dr.  H.  Kinkel-Karlsruhe  über  den  „Völkerbund"  als  Ziel 
der  Geschichte". 

Im  Winterhalbjahr  fanden  im  Großen  Rathaussaal  (mit  einer  Aus- 
nahme) die  folgenden  öffentlichen  Vorträge  statt,  die  durchweg  gut  (etwa 
200  Zuhörer),  die  an  zweiter  Stelle  genannten  sogar  glänzend  (etwa  500 
Zuhörer)  besucht  waren: 

Prof.  Dr.  A.  Liebert-Berlin :  „August  Strindberg,  seine  Weltanschauung, 
seine  Kunst"   am  16.  X.  20. 

Prof.  Dr.  C.  Boehm-Karlsruhe :  „Einführung  in  die  Theorie  der  Re- 
lativität. I.  Die  erkenntnistheoretischen  Grundlagen  der  Einsteinschen 
Theorie"  am  7.  XII.  20. 

II.  „Die  mathematischen  Grundlagen  der  Theorie  in  elementarer  Be- 
handlung" am  14.  XII.  20  (dieser  zweite  Vortrag  im  Großen  Maschinen- 
bauhörsaal der  Techn.  Hochschule). 

Prof.  Dr.  A.  Drews  -  Karlsruhe :  „Der  Monismus  E.  v.  Hartmanns" 
am  14.  I.  21. 

Ernst  Krieck-Mannheim :   „Erziehung"   am  27.  IV.   21. 

Die  drei  ersten  wissenschaftlichen  Abende  galten  der  Besprechung  der 
„neueren  Entwicklung  der  Theorie  der  Materie"  :  am  27.  X.  20  sprach 
Prof.  Dr.  A.  Reis -Karlsruhe  über  den  „Aufbau  der  Materie  (Atome  Mo- 
lekeln, Kristalle)",  am  3.  XI.  über  den  „Mechanismus  physikalischer  und 
chemischer  Vorgänge  (eine  Einführung  in  die  Quantentheorie)" ;  am  14.  XI. 
behandelte  Prof.  Dr.  A.  v.  Antropoff-Karlsruhe  die  Frage  :  „Ist  die  Exi- 
stenz der  Atome  bewiesen?" 

An  den  drei  folgenden  wissenschaftlichen  Abenden  wurden  im  An- 
schluß an  Descartes'  „Discours  de  la  methode"  Referate  und  Besprechungen 
abgehalten,  wobei  am  22.  XII.  19  Dr.  E.  Kraus-Heidelberg  über  das  „er- 
kenntnistheoretische Grundproblem  bei  Descartes",  am  4.  II.  20  Prof. 
A.  Kreuzer-Karlsruhe  über  das  „metaphysische  Grundproblem  bei  Descartes", 
am  9.  II.  Prof.  Dr.  H.  Leininger-Karlsruhe  über  „die  Naturphilosophie  und 

18* 


276  Kant-Gesellschaft. 

Psychologie  Descartes'"  und  Prof.  Dr.  E.  TJngerer  über  „das  System  der 
Descartes'schen  Philosophie"  sprachen. 

Zwei  weitere  Abende  galten  Oswald  Spenglers  „Untergang  des  Abend- 
lands", wobei  am  23.  II.  Prof.  Dr.  A.  Fr.  Raif -Karlsruhe  in  „die  Grundge- 
danken des  Spenglerschen  Werks"  einführte,  während  am  2.  III.  Prof.  Dr. 
K.  Schück-Karlsruhe  eine  „Kritik  der  Spenglerschen  Geschichtsphilosophie" 
gab.  Am  13.  IV.  sprach  Prof.  Dr.  E.  TJngerer  über  „Teleologie  und 
Vitalismus  in  der  Biologie  der  Gegenwart",  am  11.  V.  Dr.  E.  Kraus- 
Heidelberg  über  „Husserls  Phänomenologie". 

Seit  Gründung  der  Ortsgruppe  am  18.  Oktober  1919  haben  also 
acht  öffentliche  Vorträge  und  sechzehn  wissenschaftliche  Abende  statt- 
gefunden, mit  welch  letzteren  stets  eine  meist  sehr  rege  Diskussion  ver- 
bunden war.  Die  wissenschaftlichen  Abende  fanden  bis  Juli  1920  im 
mineralogisch -geologischen  Hörsaal  der  Technischen  Hochschule,  von  da  ab 
im  Hörsaal  II  des  Chemischen  Instituts  der  Technischen  Hochschule  statt, 
wofür  wir  den  Direktoren,  Prof.  Dr.  Paulcke,  Prof.  Dr.  Bredig  und  Prof. 
Dr.  Pfeifer  herzlichen  Dank  schulden. 

In  erfreulichster  Weise  stieg  unsere  Mitgliederzahl.  Gab  es  zur  Zeit 
der  Gründung  der  Karlsruher  Ortsgruppe  in  Karlsruhe  und  den  Nachbar- 
städten 8  Mitglieder,  so  zählt  unsere  Ortsgruppe  jetzt  insgesamt  152  Mit- 
glieder. Den  Hauptaufschwung  brachte  die  Ankündigung  der  Veran- 
staltungen für  das  Winterhalbjahr  1920/21. 

Ebenso  günslig  entwickelten  sich  die  finanziellen  Verhältnisse  der 
Ortsgruppe. 


I.  Vom  Juli  1919—12.  Mai  1920. 

Ausgaben :  Einnahmen : 

Zeitungsanzeigen     .     .  533,40  Mk.     Beiträge   der  Hauptge- 

Saalmiete 162,50  „             Seilschaft    ....     781,26  Mk. 

Kundschreiben     .     .     .  81,50  „        Mitgliederbeiträge    .     .     145, —  „ 

Schreibpapier,  Um-  Eintrittsgeld    bei   Vor- 
schläge, Porto      .     .  65,70   „             trägen 136, —  „ 

Rednerauslagen  ...  28, —  „                                                  1062,26  Mk. 

Hausmeister  und  Saal- 
diener     31, —  „ 

Schreibhilfe    ,     .     .     .  20,—  „ 

Sonstiges 1, —  „ 

923,19  Mk. 


Es  blieb  wohl  ein  Ueberschuß  von  139,07  Mk.;  aber  von  den  1062,26  Mk. 
Einnahmen  hatte  die  an  Mitgliederzahl  noch  geringe  Ortsgruppe  nur 
281  Mk.  selbst  aufgebracht.  Die  schon  erwähnte  Erhöhung  der  Beiträge 
und  das  Winterprogramm  schufen  gründliche  Besserung.  Die  diesmalige 
Jahresabrechnung  gestaltet  sich  folgendermaßen: 


Kant-Gesellschaft. 


277 


II.  Vom  12.  V.  1920—25.  V.   1921. 

Ausgaben  Einnahmen 

Zeitungsanzeigen      .     .  696,55  Mk.     Mitgliederbeiträge  1920   1131, —  Mk. 

Saalmiete 598, —   „  Mitgliederbeiträge  1921        55, —   ,, 

Rundschreiben    .     .     .  112,60   „  Eintrittsgeld    bei    Vor- 
Schreibpapier, Um-  trägen 1824, —   „ 

schlage,  Porto      .     .  125, —  „  Eigene  Einnahmen  der 

Rednerauslagen   .     .     .  24,—   „  Ortsgruppe      .     .     .  3010,  — Mk. 

Hausmeister   und  Saal-  Zuschuß    der    Hauptge- 

diener 164,—   „  Seilschaft    ....     300,—   „ 

Schreibhilfe    und    Vor-  3310 jtt" 

tragskasse.  60,-   „  Uebert         vom    letzten 

Kosten     des     Scheck-  Geschäftsjahr.     .     .     139,07,, 

kontos 22,42   „  J  „,      '       " 

Mitgliedskarten  .     .     .       34,-  „  3449>07  Mk- 

Sonstiges 45,30   „ 

1881,87  Mk. 

Es  bleibt  also  ein  Uebertrag  von  1567,20  Mk.  ins  neue  Geschäftsjahr, 
wovon  1377,03  Mk.  auf  dem  Scheckkonto  (26373  Karlsruhe)  stehen,  sodaß 
die  Ortsgruppe  einigermaßen  beruhigt  den  allerdings  dauernd  sich  stei- 
gernden Ausgaben  für  ihre  Vorträge  und  wissenschaftlichen  Abende  im 
kommenden  Jahr  entgegensehen  kann. 

Am  25.  V.  21  fand  die  2.  Jahresversammlung  statt,  wo  nach  einem 
Arbeits-  und  Kassenbericht  des  Vorsitzenden  ihm  nach  dem  Antrag  von 
Prof.  A.  Kistner,  der  die  Rechnungsführung  geprüft  und  in  Ordnung  ge- 
funden hatte,  hierfür  Entlastung  erteilt  wurde.  Weiterhin  genehmigte  die 
Versammlung  das  vom  Vorsitzenden  vorgeschlagene  Arbeits-  und  Vortrags- 
programm für  den  kommenden  Winter.  Zu  öffentlichen  Vorträgen  sind 
gewonnen:  Prof.  Dr.  C.  Boehm-Karlsruhe,  Prof.  Dr.  H.  Driesch-Cöln,  Prof. 
Dr.  W.  Hellpach-Karlsruhe,  Prof.  Dr.  K.  Joel-Basel,  Graf  H.  Keyserling- 
Darmstadt,  Prof.  Dr.  A.  Liebert-Berlin.  Weiter  wird  an  drei  Abenden 
Heunes  „Untersuchung  über  den  menschlichen  Verstand"  besprochen  werden ; 
ferner  sind  vier  geschichtsphilosophische  Abende,  Vorträge  über  Kants  Kos- 
mogonie,  Machs  Positivismus,  über  Wertphilosophie,  über  die  Geschichte 
der  pädagogischen  Ideen  und  über  die  Rolle  der  Geschichte  in  der  Biologie 
vorgesehen,  alle  Redner,  auch  für  diese  wissenschaftlichen  Sitzungen,  sind 
bereits  gewonnen. 

Das  Geschäftsjahr  wird  künftig  mit  dem  Kalenderjahr  zusammenfallen, 
die  Beiträge  für  1921  Anfang  Juli,  für  1922  im  Januar  erhoben  werden, 
wo  auch  die  nächste  Jahresversammlung  stattfinden  soll.  Der  jährliche 
Ortsgruppenbeitrag  für  Mitglieder  der  Hauptgesellschaft  beträgt  5  Mk., 
Beikarten  für  je  ein  Familienmitglied  3  Mk.,  der  Jahresbeitrag  der  übrigen 
Ortsgruppenmitglieder  10  Mk.,  Beikarten  5  Mk„  Jahreskarten  für  Studenten. 
Primaner  und  Seminaristen  der  beiden  obersten  Kurse  8  Mk.  Der  Eintritt 
zu  allen  Veranstaltungen  ist  für  Mitglieder  frei;  doch  können  einmal  im 
Jahr  bei  einem  besonders  kostspieligen  Vortrag  halbe  Eintrittspreise  er- 
hoben werden. 


278  Kant-Gesellschaft. 

Es  wurde  ein  dreigliedriger  geschäftsführendar  Ausschuß  eingesetzt 
und  die  Aufgaben  seiner  Mitglieder  festgelegt.  Die  einstimmige  Wahl 
ergab  als  Vorsitzenden  Prof.  Dr.  E.  Ungerer-Karlsruhe,  Maxaustr.  29, 
als  Schriführer  Prof.  Dr.  K.  Schück-Karlsruhe,  Klauprechtstr.  32,  als 
Rechner  Prof.  A.  Kistner-Karlsruhe,  Stefanienstr.  8  (Postscheckkonto 
26373  Karlsruhe).  Geschäftsstelle  ist  die  Metzlersche  Buchhandlung  ("W. 
Hoffmann),  Karlstr.   13. 

Karlsruhe.  Dr.  E.  Ungerer. 

Dr.  Amrheins  „Kants  Lehre  vom  Bewußtsein  überhaupt". 

Von  dem  vor  Jahresfrist  frühverstorbenen  Seminardirektor  Dr.  Hans 
Amrhein  erschien  1908  als  Ergänzungsheft  Nr.  10  zu  den  „Kantstudien" 
folgende  Schrift  „Kants  Lehre  vom  Bewußtsein  überhaupt  und  ihre  Weiter- 
bildung bis  auf  die  Gegenwart"  (VIII  und  210  S.).  Diese  Schrift  ist  eine 
Dissersation,  die  aus  einer  von  mir  gestellten  Preisaufgabe  der  philosophi- 
schen Fakultät  der  Universität  Halle  hervorgegangen  war.  Dieses  Buch 
ist  vergriffen.  Da  ich  durch  ein  Versehen  mein  eigenes  einziges  Exemplar 
gelegentlich  verschenkt  habe,  so  suche  ich  auf  diesem  Wege  ein  Exemplar 
zu  erwerben,  und  bitte  Mitglieder  der  Kantgesellschaft  oder  andere  Besitzer 
des  Buches,  die  seiner  nicht  mehr  bedürfen,  mir  ihr  Exemplar  preiswert 
abzutreten.     Ich  bitte  um  Mitteilungen  nach  Halle,  Reichardtstr.  15. 

Halle,  den  1.  Februar  1921.  Prof.  Dr.  H.  Vaihinger. 

Zum  achten  Preisausschreiben  der  Kant-Gesellschaft 

Zweite  Karl  Güttler-Preisaufgabe. 

Am  22.  April  1921  lief  die  Frist  ab,  welche  zur  Bearbeitung  der 
zweiten  Karl  Güttler-Preisaufgabe  gestellt  war. 

Da  bis  zu  diesem  Zeitpunkt  keine  Arbeit  eingelaufen  war,  so  wird 
auf  Grund  der  Zustimmung  des  Herrn  Preisstifters,  des  Herrn  Professor 
Dr.  Karl  Gut tler- München,  und  der  drei  Preisrichter  der  Ablieferungs- 
termin auf  den 

22.  April  1923 
festgesetzt. 

Das  Thema  lautet:  „Kritische  Geschichte  des  Neu-Kantianismus  von  seiner 
Entstehung  bis  zur  Gegenwart". 

Es  sind  zwei  Preise  ausgesetzt:  Der  erste  Preis  beträgt  1500  Mk.r 
der  zweite  1000  Mk. 

Das  Preisrichterkollegium  besteht  aus  den  Herren 
Professor  Dr.  Erich  A dickes  in  Tübingen, 
Professor  Dr.  Max  Frischeisen-Köhler  in  Halle, 
Professor  Dr.  Ernst  von  Aster  in  Gießen. 
Alle  näheren,    für   die  Bearbeitung  und  Ablieferung  maßgebenden  Be- 
stimmungen   sind    unentgeltlich    erhältlich    von    dem  stellv.  Geschäftsführer 
Professor  Dr.  Arthur  Liebert,  Berlin  W.   15,  Fasanenstr.  48. 

Die  Geschäftsführung  der  Kant-Gesellschaft 
Vaihinger.  Liebert. 


Kant-Gesellschaft.  279 


Kant-Gesellschaft. 


Neuangemeldete  Mitglieder  für  1921. 
Ergänzungsliste  1:  Januar— Mai  1921. 

A. 

cand.  jur.  Karl  Abenheimer,  Heidelberg,  Moltkestr.  11. 

Dr.  Achelis,  Leipzig,  Fockestr.  51. 

Josef  Adler,  i.  Fa.  Strauß'sche  Buchhandlung,  Frankfurt  a.  M.,  Zeil  104. 

stud.  phil.  Hans  Aengeneyndt,  Halle  a.  d.  Saale,  Kaiserstr.  21. 

Hildegard  Albrinus,  Halle  a.  Saale ,  Ziethenstr.  18. 

Professor  Dr.  Angersbach,  Weilburg  a.  d.  Lahn,  Bismarckstraße. 

stud.  jur.  Friedrich  Anhalt,  Berlin-Niederschönweide,  Berlinerstr.  59. 

Geh.  Medizinalrat  Professor  Dr.  G.  Anton,  Halle  a.  d.  Saale,  Julius  Kühnstr.  6a. 

Graf  Ar co,  Berlin-Tempelhof,  Albrechtstr.  49—50. 

Freiherr  Oskar  von  Arnim,  Schloß  Wiepersdorf ,  Post  Reinsdorf  i.  d.  Mark. 

Verlagsbuchhändler  Heinrich  Auerbach,  München,  Maximilian str.  33. 

B. 

Studienrat  G.  Bader,  Denkendorf,  Württemberg. 

Dr.  M.  H.  Baege,  Unterstaatssekretär  z.  D.,  Berlin-Rahnsdorf-Mühle,  Seestr.  16. 

stud.  phil.  Siegfried  Baer,  Heidelberg,  Schiffergasse  6. 

Dr.  Marga  Baganz,  Berlin  S  59,  Müllenhoffstr.  13. 

Bahnert,  Dresden,  Wartburgstr.  20. 

Geh.  Reg.-Rat  Friedrich  von  Balz,  Stuttgart,  Dillmannstr. 

stud.  phü.  Fritz  Bamberger,  Berlin  N.  4,  Wöhlertstr.  1. 

Toni  Barda,  Berlin-Oberschönweide,  Edisonstr.  29. 

Lehrer  Alfons  Bartelt,  Schömberg  i.  Schles. 

Professor  Baus  er,  Nagold,  Württemberg. 

Studienrat  Erwin  Becker,  Oranienburg,  Königsallee  22. 

Lehrer  Becherer,  Werbelin  bei  Zschorkau,  Bezirk  Halle  a.  d.  Saale. 

Lehrer  Becke,  Halle  a.  d.  Saale,  Yorkstr.  70. 

Toska  Becker,  Halle  a.  d.  Saale,  Zwingerstr.  5. 

Ruth  Behrens,  Buchholz-Friedewald  bei  Dresden,  Hermannstr.  63 d. 

Dr.  Walter  Benjamin,  Berlin-Grunewald,  Delbrückstr.  23. 

Felicitas  Benisch,    Dresden-A.  Tierärztliche  Hochschule,  Physiologisches  In- 

stitut. 
Professor  Dr.  Berkenbusch,  Hannover-Kleefeld,  Kaulbachstr.  15. 
stud.  phil.  Erna  Berlowitz,  Berlin-Halensee,  Joachim-Friedrichstr.  34. 
Dr.  Betzendörfer,  Tübingen,  Klosterberg  2. 
Oberarzt  Dr.  Birnbaum,  Berlin  NW.,  Lessingstr.  10. 
WillyBlankenfeldt,  Halle  a.  d.  Saale,  Viktoriaplatz  5. 
stud.  phil.  Konstantin  Blaßtzück,  Halle  a.  d.  Saale,  Marienstr.  28. 
Dr.  Edmund  Blau,  Wien  II,  Große  Schiffgasse  30. 
Tierarzt  Boeck,  Neuteich,  Freistaat  Danzig. 


280  Kant-Gesellschaft 

Sekundarlehrer  Eugen  Böckli,  Bülach,  Schweiz. 

Dr.  H.  Bohlen,  München,  Karlsplatz  17a. 

Seminarlehrer  Böhme,  Petershagen  a.  d.  Weser,  Westfalen. 

Dr.  W.  Böhme,  Dresden,  Müller- Bersetstr.  38. 

Max  Bohmig,  Dresden- A.,  Blasewitzerstr.  21. 

Reg.-Baumeister  Walter  Bolz,    Berlin-Charlottenburg,  Dernburgstr.  4. 

Justizrat  Dr.  Julius  Bondi,  Dresden-A.,  Gellertstr.  3. 

Frau  Hildegard  von  Borries,  Berlin-Lichtenberg,  Magdalenenstr. 2,  b.  Belitz 

F.  Bornkessel,  Berlin- Wilmersdorf,  Nassauischestr.  35. 

Professor  Dr.  Boruttau,    Professor  a.  d.  Universität  Berlin,  Berlin-Grunewald, 

Trabenestr.  19. 
Dr.  E.  L.  Boss,  Nürnberg,  Glockenhofstr.  32. 
Dr.  phil.  Paul  Bössneck,  Leipzig,  Schwägeichenstr.  1. 
Lehrerin  Christine  Bourbeck,  Dornum,  Kreis  Norden,  Ostfriesland. 
Dr.  Karl  Brauch,  Mannheim,  0.  7.  1. 

Professor  Dr.  N.  Braunshausen,  Luxemburg,  Victor  Hugo  Avenue  31. 
W.  von  Bredow,  Charlottenburg,  Niebuhrstr.  67. 
Dr.  Carlo  Blavet  de  Briga,  Turin,  Italien,  Via  Maia  Vittoria  52. 
Lehrer  Otto  Brinkmann,  Köpenik  bei  Berlin,  Spreestr.  2. 
Justizrat  Dr.  Julius  Brodnitz,  Berlin  W  62,  Schillstr.  9. 
Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr.  Robert  Brück,  Dresden-A.,  Schnorrstr.  88. 
Apotheker  Alexander  Buchner,  Stettin,  Kurfürstenstr.  3. 
Frau  Bück  er,  DresdenA.,  Mosenstr.  15. 

G.  Buckwitz,  München,  Karlstr.  5. 

cand.  theol.  Otto  Bückmann,   Elberfeld,  Augustastr.  34. 

Frau   Dr.   Charlotte  Bühler,    Privatdozentin  der   Philosophie,   Dresden-A., 

Zelleschestr.  20. 
Dr.  Friedrich  Bülow,  Leipzig,  Dösenerweg  12. 
Dr.  Friedrich  Bulthaupt,  Bremen-Schwachhausen,  Albersstr.  16. 
Dr.  Siegfried  Burgstaller,  Berlin-Schöneberg,  Bozenerstr.  4. 
stud.  rer.  pol.  W.  Büttner,  Kiel,  Samwerstr.  29. 


Dr.  Alfred  Caroli,  Mannheim,  Max  Josephstr.  5. 

Studienrat  Max  Carstenn,  Göttingen,  Wilhelm  Weberstr.  14. 

Professor  Dr.  Carsun  Chang,  Peking,  China,  z.  Z.  Jena,  Erfurterstr.  74. 

Otto  Christmann,  Berlin  W  30,  Nollendorfstr.  17. 

stud.  phil.  Walter  Clauss,  Halle  a.d.  Saale,  Bugenhagenstr.  12. 

Marcus  Cohn,  Hamburg,  Johnsallee  36. 

Martin  Cohn,  Berlin-Schlachtensee,  Albrechtstr.  6. 

Professor  Dr.  Confucio  Cotti,  Torino,  Italien,  Via  Baretti  36. 

Fabrikbesitzer  Eugen  Czarka,  Berlin  NW  23,  Altonaerstr.  37. 

D. 

Dipl.-Ing.  Karl  Daimler,  Halle  a.  d.  Saale,  Marienstr.  22. 

Professor  Dr.  Daur,  Baden-Baden. 

Dr.  Hugo  Debrunner,  Berlin-Groß-Lichterfelde-West,  Weddigenweg  30. 

Dr.  Max  Deri,  Berlin  W  50,  Spichernstr.  19. 

Rudolf  Dimpfel,  Leipzig,  Talstr.  17. 

Frau  Dr.  med.  Dorothea  Dietrich,  Dresden-A.,  Albrechtstr.  5. 

Dr.  Dietrich,  Bitterfeld,  Werk  Neustaßfurt. 

Zahnarzt  Hans  Dietsch,  Dresden-N.,  Hauptstr.  34. 

Frau  Dr.  Dirks en,  Breyning  per  Borkop,  Dänemark,  Aandsvageanstalten. 

Provinzialschulrat  Geh.  Reg.-Rat  Ernst  Doblin,    Berlin-Steglitz,   Martinstr.  7. 

Buchhändler  Bernhard  Do  mm  es,   Dresden-Blasewitz,  Friedrich- Auguststr.  33. 

Dr.  Franz  Dornseiff,  Lörrach  i.  Baden. 

Paul  Drees,  Petershagen  a. d.  Weser. 


Kant-Gesellschaft.  281 

cand.  med.  E.  Dubrowitsch,  Gießen  a.  d.  Lahn,  Bleichstr.  8. 
Prof.  Dr.  Karl  Durand,  Mannheim,  Waldparkstr.  27. 
Fräulein  stud.  phil.  Durst,  Dresden-A.,  Fürstenstr.  18. 

Dr.  J.  J.  L.  Duyvendall,    Lektor  a.  d.  Universität  Leiden,    Leiden,    Holland, 
Wasstraat  33. 

E. 

S.  Ehrlich,  Halle  a.  d.  Saale,  Gr.  Märkerstr.  3. 

Hauptlehrer  A.  Eichler,  Halle  a.  d.  Saale,  Bollbergerweg  71. 

Oberstabsarzt  a.D.  Dr.  Einecke r,   Dresden-A.,  Hübnerstr.  26. 

stud.  phil.  Walter  Eisen,  Gießen,  Steinstr.  90  bei  Prof,  Hüter. 

Frau  Dr.  Elkisch,  Berlin  W  15,  Sächsischestr.  2. 

cand.  rer.  pol.  Georg  Elsasser,  Würzburg,  Sieboldstr.  21/22. 

Marianne  Elsässer,  Stuttgart,  Gymnasiumstr.  28. 

Dr.  Emmerich,  Kiel,  Wilhelminenstr.  26. 

Dr.  V.  Engelhardt,  Berlin- Friedenau,  Taunusstr.  13. 

Prof.  Dr.  Max  Epstein,   Berlin  W  15,  Kurfürstendamm  26a. 

Professor  Dr.  K.  0.  Erdmann,  Dresden-A.,  Reichenbachstr.  61. 

Dr.  Es s wein,  München,  Keplerstr.  1/0. 


Studienrat  Dr.  Max  Faerber,  Berlin-Charlottenburg,  Danckelmannstr.  35. 

Professor  Dr.  Otto  Fanta,  Prag  I,  starom.  nam  21. 

Dr.  Leo  Feuchtwange r,  München,  Liebigstr.  37. 

Studienrat  Fritz  Feurig,  Dresden-A.,  Moltkeplatz  1. 

Ingenieur  Franz  Feix,  Reichenbach  .i.  Böhmen,  Siebenhäuserstr.  204. 

cand.  phil.  Ewald  Fiedler,   Berlin- Wilmersdorf,  Lauenburgerstr.  15. 

Friedrich  Fiedler,  Halle  a.  d. Saale,  Dieskauerstr.  16. 

stud.  phil.  Gerhard  Fiedler,  Halle  a.  d.  Saale,  Moritz  Zwingerstr.  10. 

Lehrer  Walter  Reinhardt  Finken,  Rheydt,  Rhlnd.,  Schloßstr.  66. 

Walter  Findeisen,  Dresden-N.,  Kronenstr.  19. 

Alfred  Fischer,  Hannover-Linden,  Jacobstr.  10. 

Hugo  Fischer,  Dresden-N.,  Jägerstr.  35. 

Dr.  Flechsig,  Zschopau  bei  Dresden,  Königstr. 

Martin  Flesch,  Heidelberg,  Rohrbacherstr.  9. 

Amtsgerichtsrat  Dr.  Gerhard  Förster,  Dresden-Blasewitz,  Sommerstr.  18. 

Frau  Dr.  Else  Franc ke,  Leipzig,  Humboldstr.  9. 

Otto  Freitag,  Niedersedlitz  bei  Dresden,  Gartenstr.  20. 

Landgerichtsrat  Alfred  Frey,  Rohrbach  b.  Heidelberg,  Panoramastr. 

Fräulein  Dr.  Marie  Luise  Fritze,  Altenburg,  S.-A.,  Am  Anger  4. 

Professor  Ludwig  Fröbel,  Villingen  i.  Baden,  Klosterring  6. 

Lehrer  Friedrich  Fröde,  Dresden-A.,  Schlüterstr.  46. 

Dr.  Fröhlich,  Hirschberg  i.  Schlesien,  Kaiser  Friedrichstr.  4. 

Seminarlehrer  Hans  Fuchs,  Waldau  in  Ostpreußen. 

G. 

stud.  Friedrich  Gabel,  Fischhausen,  Bahnhofsstraße. 

Dr.  Richard  Gätschenberger,  Lohr  a.  Main. 

Oberstudiendirektor  Professor  Dr.  Gehmlich,  Zwickau  i.  Sa.,  Lehrerseminar. 

Professor  Dr.  Hans  Gehrig,  Dresden-A.,  Liebigstr.  18. 

Dr.  Ing.  A.  Gellhorn,  Halle  a.  d.  Saale ,  Heinrichstr.  4. 

Hedwig  Gerhard,  Mannheim,  Rosengartenstr.  7. 

Rechtsanwalt  Dr.  Gillis,  Breslau  3,  Freiburgerstr.  34. 

cand.  med.  Walter  Glose,  Halle  a.  d.  Saale,  Lauren tiusstr.  1. 

stud.  phil.  Willi  Göber,  Halle  a.  d.  Saale,  Krukenbergstr.  10. 


282  Kant-Gesellschaf;. 

Bankier  Erich  Goldschmidt,  Berlin-Grunewald,  Königs- Allee  64. 
Dr.  Edler  von  Goutta,  Halle  a.  d.  Saale,  Wettinerstr.  13. 
Rabbiner  Dr.  Grabowski,  Barmen,  Augustastr.  9. 

Dr.  Walter  Graetzer,  Rechtsanwalt  und  Notar,  Hirschberg  i.  Schlesien. 
Dr.  med.  Grauhorn,  Kiel,  Chirurgische  Klinik. 
Paul  A.  G  rem  ml  er,  Hannover,  Collinstr.  3. 
Dr.  R.  Grimm,  Hamburg,  Kielartallee  16,  bei  Dräger. 

Fräulein  Dr.  Margarete  Gfollmus,  Heiligengrabe  bei  Techow  i.  d.  Priegnitz. 
Heinz  Grunewald,  Weißenfels  a.  d.  Saale,  Langendorferstr.  49. 
Privatdozent  Dr.  Georg  Gurwitsch,  a.  d.  Universität  Petersburg,  Berlin-Char- 
lottenburg, Fritschestr.  56. 
Dr.  med.  M.  J.  Gutmann,  München ,  Maximilianstr.  33. 

H. 

Studienrat  Haas,  Halle  a.  d.  Saale.  Germarstr.  6. 

Margarete  Haase,  Berlin-Zehlendorf,  Potsdamerstr.  47. 

Luise  Habricht,  München,  Maximilianstr.  3. 

Paul  Hahmann,  Halle  a.  d.  Saale,  Pfännerhöhe  35. 

Dr.  Julius  Hanauer,  Berlin,  Neue  Grünstr.  40. 

Staatsanwaltschaftsrat  Härtel,  Dresden-N.,  Radebergerstr.  34. 

Regierungsamtmann  Dr.  Carl  Hast,  Dresden-N.,  Albrechtstr.  1. 

Fräulein  Charlotte  Haun,  bei  Frau  Ehrlich,  Berlin  NO  18,  Bardelebenstr.  5. 

Dr.  Hausheer,  Berlin-Großlichterfelde-West,  Weddigenweg  30. 

stud.  jur.  Lothar  Hecht,  Breslau,  Gartenstr.  31  bei  Frau  Fuchs. 

cand.  phil.  Oskar  Hein,  Berlin  NW  87,  Jagowstr.  30. 

stud.  phil.  Karl  Heinrich,  Braunsberg  i.  Ostpr.,  Priesterseminar. 

Dr.  Ernst  Heller,  München,  Trogerstr.  17a. 

Dr.  Heller,  Kiel,  Forstweg  42. 

Dr.  Marie  Hendel,  Eberswalde,  Schicklerstr.  6. 

stud.  phil.  H.  Hermann,  Leipzig,  Thomasiusstr.  26. 

Privatdozent  Lic.  Rudolf  Hermann,  Breslau,  Sternstr.  38. 

Oberlehrer  Friedrich  Wilhelm  Herrmann,  Dresden,  Bischofsweg  112. 

Mathilde  Hess,  Halle  a.  d.  Saale,  Hermannstr.  33. 

stud.  phil.  Herbert  Hirschberg,  Heidelberg,  Klingentor  16. 

Professor  Dr.  Hoff  mann,  Kiel,  Reventlowallee  12. 

Oberlehrer  Dr.  E.  Hollweg,  Oldenburg,  Kastanienallee  51* 

Studienrat  Dr.  Höltorf,  Bremerhaven,  Bogenstr.  13. 

Dr.  Hormuth,  Kiel,  Kirchenstr.  7a. 

Dr.  August  Horneffer,  München-Solln,  Dittlerstr.  5. 

Studienrat  Anna  Horwicz,  Gelsenkirchen,  Ueckendorferstr.  163. 

Dr.  Georg  Hübner,  Dresden-N.,  Schillerstr.  25. 

Fritz  Hunger,  Dresden-A.,  Bellingrathstr.  4. 

Fräulein  Margarete  Hunger,  Dresden-A.,  Lennästr.  2. 

Reichsbankinspektor  Theodor  Hütter,  Berlin  S  14,  Stallschreiberstr.  3. 


Dr.  Wilhelm  Israel,  Berlin- W.,  Lützow-Ufer  1. 
Professor  Dr.  K.  Ito,  Berlin-Charlottenburg,  ßerlinerstr.  103. 
Hans  Iwant,  Halle  a.  d.  Saale,  Wilhelmstr.  10. 


Anne  Jacob,  Frankfurt  a.  M.,  Passavantstr.  8. 
stud.  phil.  W.  Jahnke,  Halle  a.  d.  Saale,  Neue  Promenade  1  a. 
Dr.  med.  Hans  Janke,  Berlin  SW  11,  Anhaltstr.  8. 
Rechtsanwalt  Dr.  Curt  Jansen,  Berlin  SO  36,  Plesserstr.  36. 


Kant-Gesellschaft.  283 

Professor  Dr.  Karl  Jaspers,  o.  ö.  Professor  in  Heidelberg,  Handschuhsheimer- 

landstr.  38. 
Geh.  Medizinalrat  Professor  Dr.  P.  Jensen,  Göttingen,  Wilhelm  Weberstr.  39. 

K. 

stud.  mus.  Erich  Kahn,  Königstein  i.  Taunus,  Pinglerstr.  1. 

Studienreferendar  Alexander  Kakuschke,  Breslau  16,  Sternstr.  79. 

Walter  Kammerichs,  Rheydt  i.  Rhlnd.,  Friedhofstr.  43. 

Dr.  Erwin  Kamptner,  Wien  IV,  Schönburgstr.  11. 

cand.  rer.  pol.  Ernst  Kaufmann,  Mannheim,  B.  6.  1. 

Annie  F.  Kern  per,  Hamburg,  Sophienterrasse  9. 

Justizrat  Dr.  Kemperich,  Dortmund. 

Studienrat  Dr.  Kerll,  Hannover-Linden,  Deisterstr.  6. 

Margarete  Kessner,  Berlin  SO  36,  Lausitzerstr.  47. 

Dr.  R.  Kiba,  Berlin- Wilmersdorf,  Mainzerstr.  12. 

Arno  Kirchner,  Leipzig-Schleusnig,  Könneritzstr.  41. 

Gerichtsreferendar  Otto  Kleinrath,   Hannover,  Podbielskistr.  16. 

stud.  phil.  Wilhelm  Klemm,  Halle  a.  d.  Saale,  Reilstr.  89a. 

Oberstleutnant  a.D.  stud.  phil.  Paul  Klette,    Breslau,   Kaiser  Wilhelmstr.  158. 

Eduard  Klopfleisch,  Dresden-N.,  Strehlauerstr.  52. 

Dr.  Conrad  Knobloch,  Breslau,  Lothringerstr.  7. 

H.  Knüpf  er,  Halle  a.  d.  Saale,  Blumentalstr.  29. 

Oberregierungsbaurat  Koch,  Dresden-N.,  König  Albrechtstr.  18. 

stud.  med.  Annemarie  Köhler,  Leipzig,  Eichendorffstr.  31. 

Rechtsanwalt  Hans  Kohlmann,  Dresden-A.,  Seestr.  19. 

Dr.  Marie  von  Kohoutek,  Berlin-Grunewald,  Charlottenbrunnerstr.  6. 

Z.  J.  Kook,  Jerusalem,  Palästina. 

Dr.  R.  J.  Kortmulder,  Rotterdam,  Holland,  Crooswyksche  Singel  23a. 

Lieschen  Kötteritzsch,  Merseburg  a.  d.  Saale,  Gotthardtstr.  21. 

Lehrerin  Th.  Kramm,  Berlin-Neukölln,  Reinholdstr.  8. 

Rechtsanwalt  Dr.  Georg  Krapf,  Dresden-A.,  Marschallstr.  39. 

Professor  Dr.  Oskar  Kraus,    o.  ö.  Professor  a.  d.  Universität  Prag,  Havlicek- 

platz  8. 
Otto  Kroger,  Haale  i.  Holstein,  Post  Todenbüttel. 

Dipl.-Ing.  W.  Kropp,  Dozent  a.  Polytechnikum,  Cöthen  i.  Anhalt,  Aribertstr.  15. 
Horst  Kretschmann-Winckelmann,    Berlin  W  15,  Kurfürstendamm  126. 
Professor  Dr.  Josef  Krug,  Wien  18,  Peter  Jordanstr.  96. 
Professor  Dr.  Fritz  Kühner,  Eisenach,  Wernickstr.  15. 
stud.  ehem.  Albrecht  Kümmel,  Halle  a.  d.  Saale,  Uhlandstr.  18. 
Johannes  Kupfer,  Geithain. 


A.  Lange,  Berlin  W.,  Schaperstr.  4. 

Oberlehrer  Dr.  Johannes  Lange,  Bremen,  Osterdeich  107a. 

Lehrer  W.  Lange,  Potsdam,  Waisenstr.  36. 

Rabbiner  Dr.  Ch.  Lauer,  Biel,  Schweiz. 

Lektor  Dr.  Lavoipiere,  Halle  a.  d.  Saale,  Wielandstr.  12. 

Franz  Leclercq,  Leipzig,  Robert  Schumannstr.  12. 

Walter  Lebenstein,  Issum,  bei  Geldern. 

Fritz  Levinger,  Berlin  W,  Pragerstr.  29. 

cand.  jur.  Victor  Leysieffer,  Leipzig,  Hardenbergstr.  49. 

Milda  Lieberwirth,  Borsdorf  bei  Leipzig,  König  Albertstr.  10. 

stud.  phil.  Adalbert  Liebster,   Leipzig-Co.,  Windscheidstr.  34. 

cand.  med.  Erich  Lindemann,  Gießen,  Loebershof  6. 

Referendar  Kurt  Lindemann,  Berlin-Dahlem,  Parkstr.  6. 

Lehrer  F.  Lindhorst,  Hannover,  Friedastr.  151. 

Dr.  Alexander  Loehl,  Leipzig,  Mozartstr.  2. 


284  Kant-Gesellschaft. 

Dr.  A.  Lörcher,  Studienrat,  Halle  a.  d.  Saale,  Friedrichstr.  16. 
Dr.  Erich  Loewenthal,  Berlin-Halensee,  Johann  Georgstr.  11. 
cand.  phil.  Margarete  Lubowski,  Berlin  W  62,  Kleiststr.  29. 
Privatdozent  Dr.  Paul  Luchtenberg,  Lennep,  Rheinland,  Schillerstr.  22. 

m.  , 

Rechtsanwalt  Dr.  Diedrich  Maase,  Düsseldorf,  Steinstr.  3. 

stud.  phil.  Paul  Maennchen,   Zwickau  i.  Sa.,  Ludwig  Richterstr.  13. 

Lehrer  Alwin  Mai,  Dresden-A.,  Hindenburgstr.  7. 

cand.  med.  Fritz  Mainzer,  Frankfurt  a.  M.,  Arndtstr.  1. 

Rechtsanwalt  Dr.  Fritz  Mangold,  Hamburg,  Maria  Luisenstr.  94. 

Postsekretär  Johannas  Märker,  Dresden-Strehlen ,  Robert  Kochstr.  1. 

cand.  phil.  J.  Marschak,  Heidelberg,  Blumenthalstr.  24. 

Studienrat  Dr.  Martini,  Dresden-Blasewitz,  Seidnitzerstr.  9. 

Dr.  Johannes  Marx,  Budapest  5,  Rudolfter.  6. 

Heinrich  Mehlich,  Dölau,  Bez.  Halle. 

Dr.  Friedrich  Meier,  Dresden,  Leipzigerstr.  136. 

Postsekretär  Bruno  Mende,  Dresden-N.,  Großenhainerstr.  129. 

Geh.  Schulrat  Menke-Glückert,  Dresden-A.,  Holbeinstr.  16. 

stud.  phil.  Gustav  Mensching,  Hannover,  Hainhölzerstr.  24. 

stud.  theol.  Paul  Meusers,  Viersen  i.  Rheinland. 

Dipl.-Ing.  Hugo  Meyer,  Altona,  Eimsbüttelerstr.  60. 

Landrichter  Dr.  Edmund  M.ezger,  Privatdozent,  Tübingen,  Hölderlinstr.  52. 

Hildegard  Michaelis,  Berlin-Charlottenburg,  Soorstr.  37a. 

Distriktsarzt  Dr.  Max  Mielck,  Dresden-A.,  Kesselsdorf erstr.  81. 

Dr.  phil.  Julius  Miesler,  Wien  III,  Weißgärberlände  40. 

Seminaroberlehrer  Dr.  Albert  Milkner,  Dresden-A.,  Bienertstr.  36. 

Anna  Antonie  Möderl,   Krailling-Planegg  bei  München,  Margaretenstr.  37b. 

stud.  phil.  Karl  Möller,  München,  Neureutherstr.  29. 

A.  Morgenroth,  Hamburg,  Beneckestr.  22. 

Professor  Dr.  Erich  Mosch,  Berlin  W  30,  Eisenacherstr.  96. 

Hana  Mühring,  Lehrerin,  Geestemünde,  Schleusenstr.  3. 

Studienrat  Gerhard  Müller,  Berlin  S  61,  Baerwaldstr.  8. 

Rektor  Paul  Müller,  Berlin,  Schönhauser  Allee  166. 

Präsident  Müller,  Kiel,  Forstweg  26. 

Direktor  F.  Münch,  Theologisches  Studienstift,  Straßburg  i.  E.,  Thomasstaden  Ib. 

N. 
Hildegard  Naumann,  Halle  a.  d.  Saale,  Seebenerstr.  9. 
Professor  Dr.  Curt  Needon,  Dresden-A.,  Friedrich  Wilhelmstr.  84. 
Dr.  Neukirch,  Celle,  Brückenstr.  10. 
stud.  phil.  Otto  Neuling,  Hannover,  Lörchenstr.  17. 
Studiendirektor  Dr.  Robert  Neumann,  Berlin  NW.,  Bochumerstr.  i. 
Nevermann,  Kiel,  Hospitalstr.  25. 
Pfarrer  Niewerth,  Halle  a.  d.  Saale,  Am  Kirchtor  20. 
stud.  phil.  Hermann  Noack,  Hamburg,  Tesdorpfstr.  9. 
cand.  theol.  Georg  Noth,  Loben  bei  Holzdorf,  Bezirk  Halle. 

0. 

cand.  phil.  Ludwig  Oppenheimer,  Berlin-Lichterfelde,  Weddigenweg  44c. 

stud.  jur.  Hans  J.  von  Oertzen,  Halle  a.  d.  Saale,  Magdeburgerstr.  31. 

Pfarrer  Hans  Ording,  Asak  per  Tistedalen,  Norwegen. 

M.  Osinga,  Leiden,  Holland,  Rapenburg  60. 

Fräulein  Mathilde  Otersen,  Leipzig,  Gottschedstr.  2. 

Doris  Otto,  Dresden-Blasewitz,  Marschall- Allee  10. 

Lehrer  Fritz  Otto,  Berlin-Neukölln,  Herfurtstr.  33. 


Kant-Gesellschaft.  285 


Heinrich  Pabst,  Hannover,  Haltenhoffstr.  3. 

Privatdozent  Dr.  Palyi,  München,  Mandlstr.  10a. 

Professor  Dr.  Pankow,  Düsseldorf,  Königsallee  19. 

Dr.  phil.  Käthe  Pariser,  Berlin  W.,  Kurfürstenstr.  59. 

Rechtsanwalt  C.  Paul,  Dresden-A.,  George-Bährstr.  4. 

Professor  Dr.  R.  Pauli,  a.  o.  Prof.  a.  d.  Univ.  München,  Kufsteiner  Platz  4. 

Studienrat  F.  Pehe,  Berlin- Charlottenburg,  Fredericiastr.  14. 

Professor  Dr.  Petersen,  a.o.  Professor  Heidelberg,  Zähringerstr.  51. 

cand.  med.  Ernst  Petzold,  Leipzig,  Talstr.  27. 

Professor  Dr.  Josef  Petzold,  Berlin-Spandau,  Wröhmänneratr.  6. 

stud.  phil.  Reinhold  Pfeil,  Marburg  a.  d.  Lahn,  Wettergasse  1. 

Studienrat  Martin  Philipp,  Pirna,  Elbe,  Bahnhofstr.  6. 

Dr.  Leo  Polak,   Privatdozent  a.  d.  Universität  Amsterdam,   Holland,    Keizers- 

gracht  687. 
H.  W.  Potonie,  Berlin-Lichterfelde-West,  Potsdamerstr.  37. 
Dr.  Robert  Potonie*,  Berlin  W  30,  Nollendorfstr.  31—32. 
stud.  theol.  Herbert  Propp,  Rostock,  Kröpelinerstr.  11. 
Lehrer  Walter  Przioda,  Dresden-Grimma,  Hepkestr.  18. 


Ingenieur  Dr.  Martin  Radt,  Hermsdorf  i.  Sa.-Altenburg. 

Ernst  Ranft,  Dresden-A.,  Katharinenstr.  21. 

Ingenieur  Gustav  Rauch,  Hamburg,  Stadthausstr.  3. 

Oberbahnhofsvorsteher  Arthur  Raue,  Dresden-A.,  Prinzeß-Luisenstr.  8. 

Lehrer  Recke,  Halle  a. d.  Saale,  Yorkstr.  70. 

Dr.  Fr.  Reichert,  Heidelberg,  Ziegelhäuser  Landstr.  45. 

cand.  jur.  Hans  Reif,  Leipzig,  Kaiserin  Augustastr.  57. 

Lehramtsassessor  Georg  Reimheer,  Lollar,  Kreis  Gießen. 

cand.  ehem.  H.  Reinhold,  Halle  a.  d.  Saale,  Ludwig  Wuchererstr.  56. 

stud.  phil.  Albert  Reps,  Leipzig,  Dufourstr.  11. 

Dr.  W.  Rettich,  Lauterberg  i.  Harz. 

Pfarrer  Ribstein,  Oos,  bei  Baden-Baden. 

Lehrerin  Else  Riedel,  Frankfurt  a. M.-Eschersheim,  Landgraf -Philippstr.  3. 

cand.  phil.  S.  Ries  er,  Laupheim,  Württemberg,  Kapellenstr.  23. 

Freiherr  von  Ripperda,  Fischhausen  i.  Ostpreußen. 

Studienrat  C.  Roebling,  Berlin-Steglitz,  Schloßstr.  17. 

Landgerichtsrat  Rogge,  Memel,  Sandkrug. 

Studieninspektor  Rohkohl,  Naumburg  a.  Queis,  Evang.  Predigerseminar. 

stud.  phil.  Ernst  Rose,  Leipzig,  Fockestr.  11. 

stud.  phil.  Edgar  Rosenau,  Frankfurt  a.  M.,  Wolfsgangstr.  90. 

Fräulein  Studienrat  Roseno,  Berlin-Charlottenburg,  Mommsenstr.  20. 

Dr.  med.  Curt  Rößler,  Dresden-A.,  Pragerstr.  27. 

Fräulein  Wera  Rostocil,  Berlin-Lichterfelde-West,  Knesebeckstr.  9. 

S.  Rutmann,  Berlin  NW  52,  Alt-Moabit  109. 

S. 

cand.  jur.  Max  Sachs,  Berlin  W,  Nürnbergerplatz  4." 
Paul  Sachse,  Weißenfels  a.  d.  Saale,  Langendorferstr.  49. 
Orchan  Sadeddin,  Gießen,  Neuenbaue  22. 
Lotte  Salomon,  Berlin  NW  52,  Werftstr.  8. 
Dr.  Salzberg,  Hamburg,  Hansastr.  47. 
cand.  jur.  Rudolf  Samson,  München,  Leopoldstr.  64. 
Dr.  med.  Max  Seber,  Dresden-A.,  Teutoburgstr.  3. 
Professor  Dr.  Erich  Seeberg,  Königsberg  i.  Pr.,  Krugstr.  1. 
Professor  Dr.  Anton  Seibt,  Wien  18,  Dittesgasse  2. 


286  Kant-Gesellschaft. 

Rechtsanwalt  Dr.  Julius  Seligsohn,  Berlin  W  15,  Kurfürstendamm  23. 

Frau  Berta  Seiinge r,  Leipzig,  Keilstr.  3. 

Dr.  E.  Senn,  Alzey,  Weinruf str.  57. 

Generalagent  Paul  Serauky,  Halle  a.  d.  Saale,  Schmerstr.  4. 

Hofprediger  Konsistorialrat  Liz.  theol.  Dr.phil.  Siedel,  Dresden-N.,  Hospitalstr.  2B. 

Dr.  Magnus  Sieras,  Hamburg,  Hammersteindamm  52. 

Erna  Silbermann,  Frankfurt  a.  M.,  Vesenstr.  7. 

Professor  Freiherr  Hans  von  Soden,  Breslau,  Hedwigstr.  38. 

Bernhard  Graf  zu  Solms-Laubach,  Laubach  i.  Oberhessen. 

Gotthard  Sonnenfeld,  Berlin  W,  Potsdamerstr.  39— 39a. 

Dr.  med.  Oskar  Sprinz,  Berlin-Schöneberg,  Bayerischer  Platz  9. 

Frau  Dr.  med.  Johanna  Suppes,  Dresden- A.,  Pragerstr.  40. 

Sch. 

Lehrer  Schallenberg,  Eisenach,  Petersberg  36. 
stud.  phil.  Herbert  Schaller,  Leipzig,  Dösenerweg  16. 
Wilhelm  Schaunhorst,  Bremen,  Martinistr.  2. 
Studienassessor  Schecker,  Sondershausen,  Kyffhäuserstr.  18. 
Gustav  Scheibe,  Spandau,  Neuendorf erstr.  94. 
Dipl.-Ing.  Elias  Schein,  Erfurt,  Gustav  Adolf  str.  17. 
Generaldirektor  Dr.  Scheithauer,  Halle  a.  d.  Saale,  Königstr.  9. 
stud.  theol.  Erich  Schick,  Tübingen,  Nauklerstr.  41. 
Privatdozent  Dr.  Otto  Schilling,  Dresden-Strehlen,  Residenzstr    9. 
Oberbaurat  Kurt  Schindler,  Dresden-A.,  Berlinerstr.  65. 
cand.  jur.  Karl  Schlemmer,  Greifs wald,  Domstr.  23. 
Albin  Schmidt,  Dresden-Hellerau,  Breiteweg  50. 

Geh.  Reg.-Rat  Eduard  Schmidt,  Berlin- Friedenau,  Wilhelhmshöherstr.  3. 
stud.  phil.  Hermann  Schmidt,  Leipzig,  Gohliserstr.  16. 
Studienrat  Jacques  Schmidt,  Schriftsteller,  Datteln  i.  Westf. 
Oskar  Schmorl,  i.  Fa.  Schmorl  &  von  Seefeld  Nachf.,  Hannover,  Bahnhof  str.  14. 
Privatdozent  Dr.  Paul  Schnabel,  Halle  a.  d.  Saale,  Friedrichstr.  70. 
stud.  germ.  Gerhard  Schneider,  Dresden,  Schumannstr.  66. 
Postsekretär  Schneider,  Dresden-A.,  Pohlandstr.  23. 
Dr.  med.  Rudolf  Schneider,  Meißen  a.  d.  Elbe, 
cand.  theol.  Hermann  Schneller,  Tübingen,  Wunzgasse  6. 
Dr.  Schole,  Kiel,  Fährstr.  8. 
Dr.  I.  Schöner,  Dresden-A.,  Hindenburgstr.  13. 
Studienreferendar  Kurt  Schoppe,  Paderborn,  Benhauserstr.  1. 
stud.  theol.  D.  Schott,   Berlin-Charlottenburg,  Königsweg  25. 
Dr.  Arthur  Schroers,  Hamburg,  Schanzenstr.  6. 
Pastor  Lic.  Schultz,  Hamdorf  Kr.  Rendsburg. 

Studienassessor  Fr.  Schulze,  Leipzig-Co.,  Elisenstr.  150,   Lehrerseminar. 
Fräulein  Margarete  Schumann,  Dresden-N.,  Katharinenstr.  21. 
Fräulein  Emilie  Schüssler,  Leipzig,  Kaistr.  1. 
Dr.  Schuster,  Kiel,  Jaegersberg  26. 

Referendar  a.  D.  Schwartz,  Halle  a.  d.  Saale,  Ludwig  Wuchererstr.  73a. 
Friedrich  Schwickerath,  Cöln-Bickendorf,  Herbigstr.  13. 
Dr.  Schwinkowski,  Kustos  am  Staatl.  Münz-Kabinett,  Dresden-A.,  Stephanien- 
straße 37. 

St. 

stud.  theol.  J.  A.  Steenbakkeer,  Morilyan-Loysen,  Utrecht,  Holland,  Schweden 

van  der  Kolkstraat  19bis. 
cand.  rer.  pol.  Fritz  Stein,  Schweinfurt,  Schultestr.  42. 
Lehrer  0.  Steinert,  Schadewalde  bei  Marklissa,  Schlesien. 
Studienrat  Steinhoff,  Hannover-Linden,  Davenstedterstr.  24. 
Lehrer  Otto  Stelzer,  Dresden-A.,  Töplerstr.  6. 


Kant-Gesellschaft.  287 

Lehrerin  Gertrud  Stern,  Chemnitz,  Königstr.  26. 

Frau  Maria  Stern,  Rheydt,  Bezirk  Düsseldorf,  Friedrich  Wilhelmstr.  156. 

stud.  jur.  et  cam.  Kurt  Stern,  Karlsruhe  i.  Baden,  Erbprinzenstr.  11. 

cand.  jur.  Rudolf  Stocks,  Halle  a.  d.  Saale,  Friedrichstr.  41. 

Dr.  Clara  Strack,  Berlin- Wilmersdorf,  Güntzelstr.  32. 

Regierungsrat  von  Strauß  und  Torney,  Stade,  Hannover,  Bahnhofstr.  1. 

Karl  Streit,  Dresden- A.,  Striesenerstr.  21. 

Dr.  med.  Walter  Stromeyer,  München,  Prinz  Ludwigstr.  7. 

T. 

Dr.  Johannes  Teichmann,  Breslau,  Klosterstr.  58. 

Univ.-Professor  Dr.  Otto  Tesar,  Königsberg  i.  Pr.,  Tragheimer  Gartenstr.  6. 

Dr.  Alvin  Thalheime r,  Baltimore  U.S.A.  2400  Entaw  Place. 

Studienrat  Adalbert  Theel,  Spandau  b.  Berlin,  Augustaufer  15. 

Wilhelm  Thies,  Karlsruhe  i.  B.,  Kriegsstr.  93. 

Margarete  Thomas,  Hannover,  Lehrenstr.  la. 

Dr.  med.  A.  T  h  ü  m  e  r,  Berlin-Karlshorst,  Gundelfingerstr.  43. 

Kurt  Tikotin,  Berlin  SW  47,  Möckernstr.  92. 

Studienrat  Eckehard  Tilsner,  Berlin- Weißensee,  Elsasserstr.  58. 

cand.  theo!.  D.  Tromp,  Utrecht,  Holland,  38  Kromme  Nieuwe  Gracht. 

ü. 

Dr.  Otto  Uebel,  Mannheim,  B.  6.  20. 

Rechtsanwalt  Dr.  Rudolf  Uni  ig,  Dresden- A.,  Johannisstr.  17. 

Ingenieur  Johann  Ueltzen,  Bremen,  Bülowstr.  15a. 

V. 

Pastor  Dr.  Vahldieck,  Halle  a.  d.  Saale,  Neue  Promenade  3. 
Postdirektor  Vietze,  Naumburg  a.  d.  Saale,  Lepsiusstr.  25. 
Ingenieur  Georg  Villwock,  Berlin-Charlottenburg,  Knesebeckstr.  5. 
Fräulein  Gertrud  Vogel,  Halle  a.  d.  Saale,  Krukenbergstr.  5. 
Dr.  Vogel  er,  Kiel,  Holtenauerstr.  8. 

Professor  D.  Dr.  H.  G.  Voigt,  Halle  a.  d.  Saale,  Viktoriastr.  1. 
cand.  theol.  H.  de  Vos,  Leiden,  Holland,  Hovigracht  94. 

w. 

Studienrat  Dr.  phil.  Dora  Wagner,  Dresden  18,  Löscherstr.  18. 
stud.  phil.  Hans  Georg  Freiherr  von  Wangenheim-Winterstein,  Heidel- 
berg, Neue  Schloßstr.  26. 
Direktor  Wann  er,  Hannover,  Zentralstr.  22. 
Pfarrer  Dr.  Warmuth,  Dresden-Strehlem ,  Wasastr.  16. 
stud.  phil.  Erich  Wege,  Halle  a.  d.  Saale,  Große  Steinstr.  35. 
stud.  theol.  Walter  Weigel,  Breslau,  Michaelisstr.  52. 

Generalarzt  Oberregierungs-Medizinalrat  Dr.  Wilhelm  Weigert,    Dresden-N., 
•  Jaegerstr.  17. 

stud.  phil.  Gerhard  Weiler,  Berlin- Charlottenburg,  Nußbaumallee  34. 
Studienrat  Otto  Weißler,  Eilenberg,  Nordring  24. 
Hans  Wendt,  Halle  a.  d.  Saale,  Franckesche  Stiftungen,  Eingang  6. 
stud.  phil.  Hans  Wenke,  Berlin-Pankow,  Mühlenstr.  15. 
Ingenieur  Jakob  Werner,  Berlin-Charlottenburg,  Helmholtzstr.  31. 
Professor  Richard  Werner,  Potsdam,  Wilhelmplatz  3. 
Dr.  Wernich,  Kiel,  Düvelsbeckerweg  7. 
cand.  jur.  Eva  Wernick,  Staaken  bei  Berlin,  Königstr.  93. 
Rudolf  Wertheim,  Hamburg,  Halleschestr.  6. 
Professor  Dr.  Richard  Wickert,  Dresden,  Trinitatisstr.  35. 


288  Kant-Gesellschaft. 

stud.  phil.  A.  Wilentschuk,  Berlin-Charlottenburg,  Wielandstr.  4. 

Mittelschullehrer  W.  Wilke,  Weißwasser  in  d.  Oberlausitz,  Karlstr.  1. 

Lotte  Willner,  Berlin,  Nürnbergerstr.  3. 

cand.  phil.  Klara  Willrich,  Heidelberg,  Bahnhofstr.  43. 

M.  Windmüller,  Rheda,  Bez.  Minden. 

cand.  jur.  Emanuel  Winternitz,  Wien,  Böcklinstr.  49. 

stud.  phil.  Erich  Wohlfahrt,  Leipzig,  Sebastian  Bachstr.  29. 

Postsekretär  Walter  Wohlfarth,  Dresden- A.,  Marschallstr.  46. 

Frau  Pauline  Wohlgemuth,  Berlin  W  15,  Meinekestr.  2. 

Clara  Woitschack,  Berlin-Lankwitz,  Viktoriastr.  6. 

stud.  theol.  Friedrich  Wolffhardt,  Hof  a.  d.  Saale,  Wilhelmstr.  48. 

Dr.  Heinrich  F.  Wolf,  New-York,  U.S.A.  161  West  86th  street. 

Studienrat  Dr.  Georg  Wolff,  Hannover,  Siemensstr.  4. 

Justizrat  Dr.  Otto  Wolff,  Altona,  Große  Bergstr.  266. 

Dr.  Woltemas,  Solingen,  Körnerstr.  52. 

Y. 

Chou  Yüan-ping,  Schanghai,  China,  Burkill  Road  24,  Paulin  Hospital. 

z. 

Lehrer  Robert  Zander,  Schönberg  i.  Schles.,  Kreis  Landeshut. 
Hauptmann  a.  D.  E.  Zimmermann,  Berlin  W  30,  Rosenheimerst.  27. 
Dr.  Reginald  Zimmermann,  Berlin  W  30,  Nollendorfstr.  28. 
Paul  Zombeck,  Dortmund,  Wenkerstr.  14. 

Institute. 

Berlin:  Volkshochschule  Groß-Berlin,  Berlin  NW.,  Georgenstr.  34 — 36. 
Mailand:  Societa  di  studi  filosofici  e  religiosi,  Mailand,  Italien,  Via Borgonuova26. 


/* 


1* 


Die  „Materie"  in  Kants  Tugendlehre  und 
der  Formalismus  der  kritischen  Ethik.1) 

Von  Dr.  phil.  Georg  Anderson. 


Es  ist  wohl  allgemein  anerkannt,  daß  Kant  in  Grdlg.  und 
Kr.  d.  pr.  V.  die  kritische  Ethik  in  ihren  Grundzügen  endgültig 
niedergelegt  habe;  und  dementsprechend  pflegt  man  im  Anschluß 
an  diese  beiden  Werke  die  Kantische  als  die  formale  Gfesinnungs- 
ethik  darzustellen,  aus  deren  Prinzip  aller  „Zweck"  als  „Materie" 
verbannt  werden  müsse.  Der  Formalismus  gilt  geradezu  als  der 
entscheidende  Punkt,  in  dem  man  Kants  Ethik  angreift  und  ver- 
teidigt. 

Nun  ist  es  aber  seltsam  und  sollte  doch  zu  denken  geben, 
daß  der  Alte  Kant,  im  Begriffe  das  doktrinale  Geschäft  auszu- 
führen, keineswegs  auf  jene  ehemals  gelegten  Fundamente  mühelos 
das  ethische  System  aufsetzt,  sondern  in  seiner  M.  d.  S.  von  neuem 
zu  einer  ethischen  Prinzipienlehre  ausholt.  Man  sollte  vielleicht 
erwarten,  er  werde  an  seine  Lehre  von  der  Tugend  als  „oberstem 
Gut"  (V,  110)  anknüpfend  die  einzelnen  Gebote  anzugeben  suchen, 
die  sich  aus  dem  „einigen"  Sittengesetz  entwickeln  lassen  und  mit 
deren  Verwirklichung  wir  uns  auf  das  „höchste  Gut"  als  das,  ob- 
zwar  in  dieser  Welt  nicht  erreichbare,  Ziel  hinbewegen.  Statt 
dessen  zeigt  Kant  sich  bemüht,  eine  Tugendlehre  im  Unterschied 
gegen  die  Rechtslehre  mit  Hilfe  des  völlig  neuen  und  überraschenden 
Lehrbegriffs  vom  objektiven  Zweck  durchzuführen.  Die  Ethik  als 
reine  Tugendlehre  soll  objektive  Zwecklehre  sein. 


1)  Kant  wird  zitiert  nach  dem  Wortlaut  der  Vorländerschen  Ausgabe  (Phi- 
los.  Bibl.),  dazu  in  Klammern  die  Band-  und  Seitenzahlen  der  Akadem.  Ausgabe. 

Abkürzungen  im  Text :  Kr.  d.  r.  V.  =  Kritik  der  reinen  Vernunft.  Kr.  d.  pr. 
V.  =  Kritik  der  praktischen  Vernunft.  Grdlg.  =  Grundlegung  zur  Metaphysik 
der  Sitten.    M.  d.  S.  =  Metaphysik  der  Sitten. 

Kantstudien.  XXYL  19 


290  Georg  Anderson, 

Man  hat  diesem  höchst  auffallenden  Tatbestand  bisher  keines- 
wegs genügend  Rechnung  getragen.  Mag  immer  der  Eindruck 
des  Alterswerkes  vielfach  befremdlich  sein  und  nicht  wenig  Ver- 
legenheiten bereiten,  so  geht  es  weder  an,  nur  das  anscheinend 
Unverfängliche,  was  mühelos  zu  den  beiden  früheren  ethischen 
Haupts chriften  passen  will,  herauszugreifen  noch  die  Ausführungen 
des  Alten  Kant  mißbilligend  für  geringwertig  und  nebensächlich 
zu  erklären.  Wir  halten  die  Sache  vielmehr  für  wichtig  genug, 
einmal  genauer  den  Gedankengehalt  der  M.  d.  S.  und  sein  Ver- 
hältnis zu  der  formalistischen  „kritischen"  Ethik  zu  untersuchen, 
wie  sie  uns  durch  Grdlg.  und  Kr.  d.  pr.  V.  repräsentiert  wird. 

Überblicken  wir  zunächst  den  Gedankenfortschritt  in  den  für 
unsere  Frage  entscheidenden  Abschnitten  I — XI  der  Einleitung 
zu  den  metaphysischen  Anfangsgründen  der  Tugendlehre. 

Abschnitt  I  zeigt,  warum  eine  Ethik  ohne  den  Begriff  des 
Zwecks  nicht  auskommen  kann,  sondern  zu  dem  Begriff  eines 
Zweckes,  der  an  sich  selbst  Pflicht  ist,  gedrängt  wird.  Er  weist 
nach,  daß  dieser  Begriff  keinen  Widerspruch  enthält  und  wirft 
schließlich  die  Frage  auf,  wie  ein  solcher  Zweck  möglich  sei. 

II  liefert  noch  nicht  den  Nachweis  der  objektiven  Realität 
dieses  neu  eingeführten  Begriffes;  sondern  erörtert,  welches  der 
beiden  denkbaren  Arten  des  Verhältnisses  von  Zweck  und  Pflicht 
das  für  die  Ethik  allein  mögliche  sei,  und  begründet  die  Benennung 
der  Zwecke,  die  zugleich  Pflichten  sind,  als  Tugendpflichten. 

Erst  III  gibt  den  Grund  an,  sich  einen  solchen  Zweck  zu 
„denken".  Es  muß  solche  Zwecke  „geben",  weil  der  Akt  der 
Zwecksetzung,  als  praktisches  Prinzip  genommen,  bereits  das 
Pflichtprinzip  in  sich  schließt,  und  weil  die  freien  Handlungen, 
die  ebenso  wie  alle  andern  Handlungen  nicht  zwecklos  gedacht 
werden  können,  nur  Zwecke  dieser  besonderen  Art  haben  können. 

IV  endlich  teilt  inhaltlich  die  Zwecke  mit,  die  zu  haben  Pflicht 
ist:  „Sie  sind:  Eigene  Vollkommenheit  —  fremde  Glückseligkeit". 

V  ist  eine  Erläuterung  des  Inhaltes  dieser  Begriffe. 

VI  bringt  einen  bedeutenden  Fortschritt  der  Erkenntnis:  die 
grundsätzliche  Leistung  des  Zweckbegriffs  für  das  Verhältnis  der 
Ethik  zur  Rechtslehre  innerhalb  der  allgemeinen  Sittenlehre.  Der 
bloß  formale  Pflichtbegriff  der  allgemeinen  Sittenlehre  nämlich 
läßt  die  Maximen  inhaltlich  ganz  unbestimmt  und  enthält  nur  die 
negativ-einschränkende  Bedingung  ihrer  Qualifikation  zum  Gesetz, 


Die  „Materie"  in  Kants  Tugendlehre  u.  d.  Formalismus  d.  krit.  Ethik.     291 

welcher  Bedingung  ebenso  die  Rechtspflichten  entsprechen  müssen. 
Erst  der  Begriff  des  Zwecks,  der  zugleich  Pflicht  ist,  konstituiert 
die  Ethik  als  Gesetzgebung  an  die  Maximen  der  Handlungen, 
welches  allein  aus  dem  formalen  Pflichtgedanken  heraus  nicht  zu 
bewerkstelligen  wäre. 

VII  zieht  aus  dieser  Einsicht  eine  wichtige  Konsequenz:  Die 
Ethik  gibt  Gesetze  nicht  wie  das  Recht  für  die  Handlungen,  son- 
dern für  die  Maximen  der  Handlungen.  Ihre  Pflichten  sind  daher 
von  weiter,  die  Rechtspflichten  von  enger  Verbindlichkeit.  „Es 
wird  aber  unter  einer  weiten  Pflicht  nicht  eine  Erlaubnis  zu  Aus- 
nahmen von  der  Maxime  der  Handlungen,  sondern  nur  die  der 
Einschränkung  einer  Pflichtmaxime  durch  die  andere  ....  ver- 
standen, wodurch  in  der  Tat  das  Feld  für  die  Tugendpraxis  er- 
weitert wird".  „Unvollkommen"  also  ist  hier  die  Verbindlichkeit 
zur  Handlung,  nicht  etwa  zur  Maxime  der  Handlung. 

VIII  charakterisiert  dann  die  in  IV  genannten  Tugendpflichten, 
eigne  Vollkommenheit  und  fremde  Glückseligkeit,  als  weite  Pflichten 
d.  h.  als  Gesetze  für  die  Maxime  der  Handlungen. 

IX  bringt  zunächst  "Wiederholungen.  Die  Tugendpflicht  wird 
nochmals  definiert  als  die  Verbindlichkeit  zu  der  Maxime  „des 
Zwecks  der  Handlungen,  der  zugleich  Pflicht  ist,  d.  i.  desjenigen 
(des  Materiale),  was  man  sich  zum  Zwecke  machen  soll". 

Sodann  nennt  er  das  oberste  Prinzip  der  Tugendlehre:  „Handle 
nach  einer  Maxime  der  Zwecke,  die  zu  haben  für  jedermann  ein 
allgemeines  Gesetz  sein  kann",  erläutert  dessen  Inhalt:  „den 
Menschen  überhaupt  sich  zum  Zwecke  zu  machen"  und  gibt  für 
diesen  Grundsatz  eine  Deduktion  aus  der  reinen  praktischen  Ver- 
nunft. 

X  vergleicht  die  apriorische  Synthese  von  Pflicht  und  Zweck 
in  dem  eben  deduzierten  Prinzip  der  Tugendpflicht  mit  dem  ana- 
lytischen Prinzip  der  Rechtslehre  und  nennt  als  höchsten  unbe- 
dingten Zweck  der  reinen  praktischen  Vernunft  die  Tugend  als 
ihren  eigenen  Zweck  und  Lohn,  d.  h.  die  „innere  moralisch-prakti- 
sche Vollkommenheit"  (VI,  387).    ' 

Mit  einem  Schema  der  Tugendpflichten,  das  sie  ihrer  materialen 
und  formalen  Beschaffenheit  nach  und  als  innere  und  äußere  unter- 
scheidet, beschließt  XI  diesen  Gedankengang. 

Hinzuweisen  ist  nur  noch  auf  den  engeren  inneren  Zusammen- 
hang zwischen  den  Abschnitten  III  und  IX.  Jener  entdeckt  zu- 
erst  die   apriorische  Begriffsverknüpfung  von  Zweck  und  Pflicht 

19* 


292  Georg  Anderson, 

und  entwickelt  so  den  Begriff  des  kategorischen  Imperativs,  dessen 
Realität  durch  die  Deduktion  von  IX  gerechtfertigt  wird.  Inso- 
fern kann  man  jene  als  die  metaphysische,  diese  aber  als  die 
transcendentale  Deduktion  des  Prinzips  der  Tugendpflicht  ansehen. 

Wir  können  nunmehr  versuchen,  die  über  diese  Abschnitte 
verstreute  Lehre  vom  objektiven  Zweck  in  systematischer  Zusam- 
menfassung darzustellen. 

Ausgegangen  sei  von  der  Verknüpfung  der  Begriffe  Handlung 
und  Zweck.  Handlungen  müssen  „jederzeit  einen  Zweck  enthalten" 
(VI,  397),  es  kann  „keine  Handlung  zwecklos  sein"  (VI,  385).  Nun 
gibt  es  aber  subjektive  und  objektive  Zwecke.  Die  ersteren,  die  „jeder- 
mann bat",  sind  solche,  „die  der  Mensch  sich  nach  sinnlichen  An- 
trieben seiner  Natur  macht"  (VI,  385,  389).  Die  objektiven  sind  die 
Zwecke,  die  „sich  jedermann  dazu  machen  soll"  oder  „Gegenstände 
der  freien  Willkür  unter  ihren  Gesetzen  .  .  .  .,  welche  er  [der 
Mensch]  sich  zum  Zweck  machen  soll".  Die  reine  Ethik  aber 
setzt  den  subjektiven  Zwecken,  die  auf  Neigungen  beruhen  und 
der  Pflicht  zuwider  sein  können,  als  Gegengewicht  die  objektiven 
entgegen  und  kann  die  Sittlichkeit  nur  verwirklichen  dadurch,  daß 
sie  jene  diesen  unterordnet.  So  wird  der  objektive  zum  morali- 
schen Zweck,  der  a  priori  gegeben  sein  muß;  oder  —  was  das- 
selbe besagt  —  in  ihm  erhalten  die  Begriffe  Zweck  und  Pflicht 
eine  feste  Verbindung  a  priori.  Diese  ist  folgendermaßen  vorzu- 
stellen : 

Der  Pflichtbegriff  ist  an  sich  schon  der  Begriff  von  einer  Nö- 
tigung und  zwar  von  einem  Selbstzwang  der  freien  Willkür  durchs 
Gesetz  (VI,  379).  Der  Zweck  aber  bedeutet  einen  „Gegenstand 
der  freien  Willkür,  dessen  Vorstellung  diese  zu  einer  Handlung 
bestimmt,  wodurch  jener  hervorgebracht  wird"  (VI,  384).  Daß 
man  ihn  hat,  ist  nicht  etwa  Wirkung  der  Natur,  sondern  davon, 
daß  man  sich  den  Gegenstand  der  Willkür  selbst  zum  Zweck  ge- 
macht hat.  Jede  Zwecksetzung  ist  ein  Akt  der  Freiheit  des  han- 
delnden Subjekts  und  „ein  praktisches  Prinzip,  welches  nicht  die 
Mittel  (mithin  nicht  bedingt),  sondern  den  Zweck  selbst  (folglich 
unbedingt)  gebietet",  sonach  „ein  kategorischer  Imperativ  der 
reinen  praktischen  Vernunft,  mithin  ein  solcher,  der  einen  Pflicht- 
begriff mit  dem  eines  Zweckes  überhaupt  verbindet"  (VI,  385). 

Man  verdeutliche  sich  diese  reichlich  abstrakten  Sätze  vor- 
läufig an  folgendem  Beispiel: 

Wer    sich    die   Wahrhaftigkeit    aus   kluger   Berechnung    zum 


Die  „Materie"  in  Kants  Tugendlehre  u.  d.  Formalismus  d.  krit.  Ethik.     293 

Vorsatz  macht,  der  macht  sie  nicht  zum  Zweck,  sondern  zum  Mittel, 
mit  dessen  Hilfe  er  irgendeinen  anderen  Zweck  zu  erreichen  hofft. 
Die  Wahrhaftigkeit  kann  sich  zum  Zweck  machen  nur,  wer  sich 
unbedingt  an  sie  bindet,  oder  wer  sich  ihr  verpflichtet  weiß.  Der 
Akt  dieser  Zwecksetzung  also  verbindet  mit  dem  Begriffe  des 
Zweckes  den  der  Pflicht.  Die  reine  praktische  Vernunft  aber, 
die  a  priori  diese  beiden  Begriffe  miteinander  verknüpft,  ist  da- 
durch zugleich  als  das  Vermögen  der  Zwecke  überhaupt  erkannt. 
Der  nächste  Schritt,  der  jetzt  zu  tun  ist,  besteht  in  dem 
Nachweis,  daß  es  auch  „einen  solchen  Zweck  und  einen  ihm  kor- 
respondierenden kategorischen  Imperativ  geben"  muß.  Er  gründet 
sich  auf  das  Faktum,  daß  es  freie  Handlungen  gibt,  und  auf  die 
Erkenntnis,  daß  auch  zu  diesen  wie  zu  allen  Handlungen  notwendig 
Objekte  oder  Zwecke  gehören  müssen.  Gäbe  es  nun  nur  Zwecke 
die  immer  nur  wieder  als  Mittel  zu  andern  Zwecken  in  Betracht 
kämen,  so  hätte  die  praktische  Vernunft  garnichts  kategorisch  zu 
gebieten.  Wenn  es  also  überhaupt  eine  Sittenlehre  geben  soll,  so 
muß  es  auch  Zwecke  für  freie  Handlungen  geben,  die  kategorisch 
geboten  werden  können.  Sonach  müssen  einige  Zwecke  „zugleich 
(d.  i.  ihrem  Begriffe  nach)  Pflichten"  sein.  Dieses  aber  sind  die 
Zwecke  der  reinen  praktischen  Vernunft;  und  die  Ethik  ist  das 
System  derselben.  Der  Begriff  der  Tugendpflicht  ist  damit  auf- 
gestellt, sein  Sinn  erläutert,  objektive  Realität  ihm  gesichert.  Es 
bleibt  noch  das  oberste  Prinzip  der  Ethik  oder  Tugendlehre  in 
Form  eines  kategorischen  Imperativs  auszusprechen.  Der  Grund- 
satz der  allgemeinen  Sittenlehre  „Handle  so,  daß  die  Maxime  deiner 
Handlung  ein  allgemeines  Gesetz  werden  könne",  enthält  nur  eine 
conditio  sine  qua  non,  der  sich  alle  Maximen  unterwerfen  müssen, 
aber  kein  wirkliches  Gresetz  für  den  Inhalt  der  Maximen.  Auch 
die  dem  Zweck  der  Handlung  gegenüber  völlig  indifferenten  Rechts- 
pflichten  müssen  dem  formalen  Prinzip,  der  Tauglichkeit  der  Maxime 
zum  allgemeinen  Gesetz,  genügen.  Das  Prinzip  der  Tugendpflichten 
hingegen  muß  außerdem  und  außer  dem  Begriff  des  Selbstzwanges 
einen  Zweck  angeben,  welchen  wir  haben  sollen.  Dieser  erst  ordnet 
sich  die  subjektiven  Zwecke  unter,  setzt  sich  als  Materie  aus  Ver- 
nunft der  Materie  aus  sinnlichen  Antrieben  entgegen  und  gibt  da- 
durch für  die  Maxime  ein  positives  Gesetz.  Er  kann  es  also  erst 
zum  positiven  Gesetz  machen,  eine  zum  allgemeinen  Gesetz  taug- 
liche Maxime  zu  haben.  Demnach  lautet  das  oberste  Prinzip  der 
Tugendlehre:     „Handle   nach  einer   Maxime   der  Zwecke,    die  zu 


294  Georg  Anderson, 

haben  für  jedermann  ein  allgemeines  Gesetz  sein  kann".  In  ihm 
ist  der  formale  Pflichtgedanke  mit  dem  materialen  Zweckgedanken 
verbunden. 

Für  diesen  Grundsatz  der  Ethik,  von  dem  wir  bisher  erst 
wissen,  wie  er  beschaffen  sein  muß ,  bedarf  es  endlich  noch  einer 
transcendentalen  Deduktion  aus  der  reinen  praktischen  Vernunft 
als  dem  Vermögen  der  Zwecke  überhaupt,  da  er  in  seiner  Eigen- 
schaft als  ein  kategorischer  Imperativ  keinen  Beweis  verstattet. 

"Wird  die  reine  praktische  Vernuft  als  Bedingung  der  mög- 
lichen Zwecke  überhaupt  gefaßt,  so  kann  „im  Verhältnis  des  Men- 
schen zu  sich  selbst  und  anderen  Zweck  sein"  lediglich  das,  was 
vor  ihr  Zweck  ist.  Ihrem  Begriffe  zufolge  kann  sie  dann  also 
keinem  möglichen  Zwecke  gegenüber  gleichgiltig  und  unbeteiligt 
bleiben,  sondern  sie  muß  vermittelst  dieser  Zwecke  auch  wirklich 
die  Maximen  zu  Handlungen  bestimmen,  oder  sie  ist  nicht  „prak- 
tische Vernunft".  „Die  reine  Vernunft  aber  kann  a  priori  keine 
Zwecke  gebieten,  als  nur  sofern  sie  solche  zugleich  als  Pflicht  an- 
kündigt, welche  Pflicht  alsdann  Tugendpflicht  heißt a.  Das  Prinzip 
der  Tugendpflicht  ist  damit  deduziert.  Es  richtet  die  Maxime  des 
handelnden  Subjekts  auf  bestimmte  Inhalte  d.  h.  auf  objektive 
Zwecke,  die,  weil  sie  von  der  reinen  praktischen  Vernunft  gesetzt 
sind,  auch  in  der  ebenfalls  aus  dieser  entspringenden  rationalen 
Form  d.  i.  der  gesetzgebenden  Form  der  Maxime  gewollt  werden 
müssen,  die  der  kategorische  Imperativ  beschreibt  und  fordert. 
Es  ist  demnach  ein  Gesetz  nur  für  die  Maximen,  nicht  für  die 
Handlungen,  und  läßt  es  unbestimmt,  „wie  und  wieviel  durch  die 
Handlung  zu  dem  Zweck,  der  zugleich  Pflicht  ist,  gewirkt  werden 
solle",  es  gebietet  „weite"  Pflichten. 

Indessen  'nun  erhebt  sich  die  Frage,  wie  wir  von  dem  allge- 
meinen obersten  Prinzip  der  Tugendlehre  zu  den  einzelnen  inhalt- 
lich bestimmten  Tugendpflichten  gelangen?  Kant  gibt  dafür  einen 
Fingerzeig,  indem  er  nach  Formulierung  des  Tugendpflichtprinzips 
erklärt  (VI,  395):  „Nach  diesem  Prinzip  ist  der  Mensch  sowohl 
sich  selbst  als  anderen  Zweck,  und  es  ist  nicht  genug,  daß  er 
weder  sich  selbst  noch  andere  bloß  als  Mittel  zu  brauchen  befugt 
ist  (dabei  er  doch,  gegen  sie  auch  indifferent  sein  kann),  sondern 
den  Menschen  überhaupt  sich  zum  Zwecke  zu  machen,  ist  an  sich 
selbst  des  Menschen  Pflicht".  Der  Begriff  des  Menschen  also  ist 
es,  deutlicher  die  rationale  Idee  der  Menschheit  zum  Unterschiede 
von  der  Tierheit  (cf.  VI,  392),   woraus  sich  die  einzelnen  Zwecke 


Die  „Materie"  in  Kants  Tugendlehre  u.  d.  Formalismus  d.  krit.  Ethik.     295 

ergeben  müssen,  die  als  Pflichten  geboten  werden  können.  Indem 
aber  der  Mensch  sowohl  sich  selbst  als  auch  jeden  anderen  Men- 
schen sich  als  seinen  Zweck  zu  denken  verbunden  ist,  ergeben  sich 
als  Hauptarten  die  Pflichten  der  Selbstliebe  und  der  Nächstenliebe 
oder  mit  anderen  Worten  die  Pflichten,  sich  die  eigne  Vollkom- 
menheit und  die  fremde  Glückseligkeit  zum  Zweck  zu  machen. 

Allein  so  neu  auch  diese  „Lehre  vom  objektiven  Zweck"  inner- 
halb der  Kantischen  Ethik  erscheint,  und  so  unzweifelhaft  sie  erst 
aus  der  Notwendigkeit  entstanden  und  verständlich  ist,  die  Tu- 
gendlehre gegen  die  Rechtslehre  im  Ganzen  der  allgemeinen  Moral 
klar  abzugrenzen;  ganz  ohne  Vorgang  in  der  Grdlg.  ist  sie  nicht. 
Auch  hier  ist  ein  Begriff  des  objektiven  Zweckes  aufgestellt. 

Unter  „Zweck"  zunächst  versteht  Kant  in  der  Grdlg.  „das, 
was  dem  Willen  zum  objektiven  Grunde  seiner  Selbstbestimmung 
dient"  (IV,  427);  „und  dieser,  wenn  er  durch  bloße  Vernunft  ge- 
geben wird,  muß  für  alle  vernünftigen  Wesen  gleich  gelten".  Die 
objektiven  Zwecke  also  beruhen  auf  „objektiven  Gründen  des 
Wollens"  oder  „Bewegungsgründen",  welche  für  jedes  vernünftige 
Wesen  gelten.  Im  Gegensatz  zu  ihnen  gibt  es  auch  „subjektive 
Zwecke".  Diese  beruhen  auf  subjektiven  Gründen  des  Begehrens 
oder  „Triebfedern" ;  es  sind  die  Zwecke  oder  Objekte,  die  die 
Vielheit  der  Materie  des  Willens  ausmachen  oder  die  Inhalte,  die 
willkürlich  und  beliebig  die  Maximen  haben;  die  materialen  und 
relativen  Zwecke,  die  lediglich  für  uns  als  Wirkungen  unserer 
Handlungen  Wert  haben.  Sie  können  demnach  bloß  hypothetische 
Imperativen  begründen. 

Die  objektiven  Zwecke  dagegen  müssen  absoluten  Wert  haben 
und  sind  vorzustellen  als  Dinge,  „deren  Dasein  an  sich  selbst 
Zweck  ist".  Was  aber  Zweck  an  sich  selbst  ist,  das  muß  not- 
wendig auch  Zweck  für  jedermann  sein,  kann  also  ein  objektives 
Prinzip  des  Willens  ausmachen  oder  zum  allgemeinen  praktischen 
Gesetze  dienen.  An  die  Stelle  solch  eines  objektiven  Zweckes 
kann  kein  anderer  Zweck  gesetzt  werden ;  er  kann  nie  zum  bloßen 
Mittel  werden.  Dann  aber  liegt  „in  ihm  und  nur  in  ihm  allein 
der  Grund  eines  möglichen  kategorischen  Imperativs". 

Damit  wäre  der  Begriff  des  objektiven  Zwecks  entwickelt; 
sein  Schwerpunkt  liegt  darauf,  daß  er  Grund  des  kategorischen 
Imperativs  sein  soll.  Es  bleibt  nun  seine  objektive  Realität  zu 
sichern.  Das  geschieht  durch  den  Hinweis  (IV,  428):  „der  Mensch 
und   überhaupt  jedes   vernünftige  Wesen   existiert  als   Zweck   an 


296  Georg  Anderson, 

sich  selbst,  nicht  bloß  als  Mittel  zum  beliebigen  Gebrauche  für 
diesen  oder  jenen  Willen,  sondern  muß  in  allen  seinen  sowohl  auf 
sich  selbst  als  auch  auf  andere  vernünftige  Wesen  gerichteten 
Handlungen  jederzeit  zugleich  als  Zweck  betrachtet  werden".  Oder 
an  andrer  Stelle  (IV,  429):  „die  vernünftige  Natur  existiert  als 
Zweck  an  sich  selbst". 

Und  nun  ist  es  möglich,  den  kategorischen  Imperativ  zu  for- 
mulieren, den  dieses  objektive  Prinzip  —  der  objektive  Zweck  — 
begründet,  „woraus  als  einem  obersten  praktischen  Grunde  alle 
Gesetze  des  Willens  müssen  abgeleitet  werden  können".  Er  lautet: 
„Handle  so,    daß  du  die  Menschen  sowohl  in  deiner  Person  als  in 

77  ' 

der  Person  eines  jeden  anderen,  jederzeit  zugleich  als  Zweck,  nie- 
mals bloß  als  Mittel  brauchst".  Wir  erblicken  den  objektiven 
Zweck,  der  diesem  kategorischen  Imperativ  zugrunde  liegt,  die 
Menschheit  als  Zweck  an  sich  selbst,  nicht  etwa  de  facto  bei  allen 
Menschen  wirksam,  kennen  ihn  nicht  aus  Erfahrung  und  entlehnen 
ihn  nicht  daher.  Er  muß  vielmehr  „aus  reiner  Vernunft  ent- 
springen", und  es  gehört  zu  seinem  Wesen,  daß  ihn  alle  vernünf- 
tigen Wesen  haben  sollen,  und  zwar  als  Gesetz,  das  die  „oberste 
einschränkende  Bedingung  aller  subjektiven  Zwecke"  ausmacht. 
Dieser  von  der  vernünftigen  Natur  sich  selbst  gesetzte  Zweck 
kann  als  die  „Materie"  des  guten  Willens  bezeichnet  werden  d.  h. 
des  Willens,  dessen  Maxime  sich  selbst  nicht  widerstreiten  darf 
und  von  der  Erreichung  dieses  oder  jenes  Zweckes  abstrahieren 
muß.  Er  ist  also  kein  vom  Subjekt  „zu  bewirkender",  sondern 
ein  „selbständiger  Zweck",  nur  negativ  zu  denken,  und  dahin  an- 
zugeben, daß  ihm  niemals  zuwidergehandelt  werden  darf.  Das 
Subjekt  aller  möglichen  Zwecke,  das  vernünftige  Wesen  selbst,  ist 
demnach  die  einzige  und  allgemeinste  Bedingung  der  Freiheit  der 
Handlungen  ihrer  Materie  nach,  insofern  es  „jederzeit  zugleich 
als  Zweck  in  jedem  Wollen  geschätzt  werden  muß". 

Schließlich  umfaßt  das  „Reich  der  Zwecke"  alle  diese  Subjekte 
als  Zwecke  an  sich  selbst  und  die  eignen  Zwecke,  die  ein  jedes 
sich  selbst  setzen  mag  —  „ein  Ganzes  aller  Zwecke  in  systemati- 
scher Verknüpfung" ;  wobei  von  dem  persönlichen  Unterschiede 
der  vernünftigen  Wesen  und  dem  Inhalt  ihrer  Privatzwecke  ab- 
gesehen wird.  In  dieser  „Ordnung  der  Zwecke",  der  wir  als 
Glieder  angehören  müssen,  können  wir  uns  durch  gemeinschaftliche 
objektive  Gesetze  verbunden  d.  h.  unter  sittlichen  Gesetzen  denken. 


Die  „Materie"  in  Kants  Tugendlehre  u.  d.  Formalismus  d.  krit.  Ethik.     297 

Insoweit  kann  man  von  einer  „Lehre  vom  objektiven  Zweck" 
bereits  in  der  Grdlg.  sprechen. 

Wir  können  nunmehr  zu  einem  Vergleich  übergehen,  um  darauf 
das  Verhältnis  von  M.  d.  S.  und  Grdlg.  zu  bestimmen. 

Die  Anklänge  bieten  sich  offen  genug  dar.  In  beiden  Werken 
liegt  die  grundsätzliche  Unterscheidung  vor  zwischen  subjektiven 
und  objektiven  Zwecken ;  in  beiden  werden  die  Begriffe  objektiver 
Zweck  und  praktisches  Gesetz  als  a  priori  zusammengehörig  vor- 
gestellt, die  in  irgendeinem  Sinne  einander  „korrespondieren"  d.  h. 
sich  gegenseitig  fordern.  In  beiden  ist  von  einem  alle  objektiven 
Zwecke  zusammenfassenden  „Reich"  oder  „System"  die  Rede,  das 
die  reine  Vernunft  hervorbringen  muß.  In  der  Grdlg.  wie  in  der 
M.  d.  S.  endlich  ist  es  die  Menschheit  ihrer  Idee  nach  d.  h.  als  ver- 
nünftige Natur,  die  dem  Willen  zur  Vorschrift  dient. 

Aber  freilich:  so  nahe  sich  mitunter  die  beiden  Werke  zu 
kommen  scheinen,  und  so  stark  sie  auf  einanderhin  tendieren  mögen, 
sie  kommen  nicht  recht  zur  Deckung.  Die  gleichen  Begriffe  werden 
wohl  gebraucht,  aber  nicht  in  genau  demselben  Sinn.  Und  gerade 
an  der  entscheidenden  Stelle  hat  Kant  Differenzen  gelassen,  ohne 
selbst  auf  irgend  welche  Ausgleichungsmöglichkeiten  hinzuweisen. 

Da  muß  zunächst  eine  Merkwürdigkeit  der  Terminologie  her- 
vorgehoben werden,  die  zu  Mißverständnissen  Anlaß  geben  kann. 
Der  Begriff  des  subjektiven  Zweckes  ist  nirgends  eindeutig  und 
einwandfrei  bestimmt.  Den  Angaben  der  Grdlg.  zufolge  müssen 
unter  subjektiven  Zwecken  die  nicht  durch  die  bloße  Vernunft 
gegebenen  Zwecke  verstanden  werden,  die  nicht  für  alle,  sondern 
bloß  für  das  einzelne  Subjekt  gelten,  seine  „Privatzwecke".  Sie 
„sind"  nicht  etwa,  sondern  sie  „beruhen"  auf  Triebfedern,  d.h. 
subjektiven  Gründen  des  Begehrens.  Wie  aber  können  sie  dann 
noch  ihrem  Zweckcharakter  streng  definitionsgemäß  entsprechen 
und  dem  Willen,  der  als  Gesetzesvermögen  charakterisiert  wurde, 
„zum  objektiven  Grunde  seiner  Selbstbestimmung"  dienen?  Ent- 
weder wir  müssen  uns  das  Paradoxon  gefallen  lassen,  daß  sich 
der  Wille  durch  letztlich  aus  der  Sinnlichkeit  hergenommene 
Zwecke  selbst,  aber  heteronom  zum  Handeln  bestimmt,  und  zwischen 
Selbstbestimmung  und  Selbstgesetzgebung  einen  Unterschied  an- 
nehmen, den  Kant  selbst  nie  gemacht  hat;  oder  feststellen,  daß 
Kant  einen  Artbegriff  einführt,  der  zu  seinem  Gattungsbegriff 
nicht  paßt  bezw.  nicht  streng  als  solcher  gemeint  ist.     Dann  aber 


298  Georg  Anderson, 

bleibt  als  eigentlicher  „Zweck"  einzig  der  objektive  übrig,  der  als 
Zweck  an  sich  selbst,    weil  als  Subjekt  aller  Zwecke,  existiert. 

Nicht  besser  verhält  es  sich  in  der  M.  d.  S.  Hier  erscheint 
der  subjektive  Zweck  entweder  als  etwas,  was  jeder  schlechtweg 
„hat",  als  der  sinnlich  bedingte  Inhalt  jeder  empirischen  Handlung 
—  oder  andrerseits  als  das,  was  der  Mensch  sich  nach  sinnlichen 
Antrieben  seiner  Natur  erst  selbst  zum  Zweck  macht,  wenn  auch 
die  Neigungen  ihn  dazu  verleiten.  Bald  sieht  es  aus,  als  reduziere 
er  sich  auf  den  sinnlichen  Antrieb,  bald  wieder  als  müsse  er  aus 
einem  Vermögen  der  Wahl  entspringen.  In  seiner  Eigenschaft 
als  Zweck  müßte  er  selbstgesetzt  sein  vermöge  eines  Aktes  der 
Freiheit  (cf.  VI,  381).  Dann  wäre  jedoch  schon  jede  beliebige 
Zwecksetzung  eine  sittliche  Handlung,  weil  sie  einen  „kategori- 
schen Imperativ"  in  sich  schlösse  (cf.  VI,  385).  Dann  müßte  auch 
die  freie  Willkür  als  das  Vermögen,  sich  für  oder  gegen  das  Ver- 
nunftgesetz zu  entscheiden,  aufgefaßt  werden  (cf.  VI,  226).  Davon 
aber  will  Kant  nichts  wissen.  Er  bestimmt  zwar  die  menschliche 
als  freie  Willkür,  insofern  sie  von  der  Sinnlichkeit  her  „afficiert", 
dabei  aber  durch  Vernunft  bestimmbar  ist  (cf.  VI,  213/214).  Er 
definiert  jedoch  ausdrücklich  die  Freiheit  der  Willkür  negativ  als 
„jene  Unabhängigkeit  ihrer  Bestimmung  durch  sinnliche  Antriebe", 
positiv  als  „das  Vermögen  der  reinen  Vernunft,  für  sich  selbst 
praktisch  zu  sein".  Wiederum  also  befindet  sich  der  Artbegriff 
nicht  in  Übereinstimmung  mit  dem  Gattungsbegriff ;  und  es  ist 
mit  dem  „Zweck  überhaupt"  —  sogar  in  so  wichtigen  Abschnitten 
wie  III  und  IX  der  Einleitung  zur  Tugendlehre  —  doch  nur  der 
„objektive  Zweck"  gemeint,  wie  sehr  auch  der  Wortlaut  z.B.  in 
dem  Satze  (VI,  385)  „.  .  .  so  ist  es  .  .  .  .  nicht  eine  Wirkung  der 
Natur,  irgendeinen  Zweck  der  Handlungen  zu  haben"  sich  auf  den 
allgemeinen  Zweckbegriff  zu  beziehen  scheint. 

Abgesehen  von  dieser  Unklarheit  im  Zweckbegriff  jedoch  meinen 
Grdlg.  und  M.  d.  S.  unter  dem  „objektiven  Zweck"  keineswegs  das 
gleiche.  Die  Grdlg.  kennt  ihn  lediglich  als  Bestimmungsgrund  des 
Willens.  Sie  benutzt  das  Subjekt,  weil  es  als  Selbstzweck  exi- 
stiert, erklärtermaßen  nur  als  negativ- einschränkende  Bedingung, 
als  Grund,  nicht  als  Gegenstand  eines  Gesetzes ;  als  etwas,  dem 
nicht  zuwidergehandelt  werden  darf,  aber  nicht  als  etwas,  das 
oder  dessen  Idee  durch  die  Handlungen  verwirklicht  werden  sollte. 
Nur  schüchtern  deutet  sich  eine  Erweiterung  des  objektiven  Zweck- 
begriffs an  da,    wo  unter  Ausschluß  aller  subjektiven  die  von  den 


Die   „Materie"   in  Kants  Tugendlehre  u.  d.  Formalismus  d.  krit.  Ethik.     299 

vernünftigen  Wesen  als  solchen  sich  selbst  gesetzten  eignen  Zwecke 
in  das  „Reich  der  Zwecke"  anfgenommen  werden.  Im  übrigen 
aber  sieht  die  Grdlg.  sogar  die  von  der  Vernunft  gegebenen  Zwecke, 
insofern  sie  als  mögliche  Wirkung  gedacht  sind,  für  heteronom  an 
und  will  alle  Objekte,  die  dem  Willen  zum  Grunde  gelegt  werden, 
um  ihr  die  Regel  vorzuschreiben,  von  der  sittlichen  Willensbestim- 
mung ausschließen  (cf.  IV,  444).  Sie  sucht  den  Begriff  des  objek- 
tiven Zweckes  bloß  formal  zu  verwenden,  bleibt  bei  dem  „jeder- 
zeit" und  „zugleich"  und  „niemals  bloß  als  Mittel"  stehen  und 
vermeidet  es,  die  „Materie"  des  Willens  anders  denn  negativ  zu 
bestimmen. 

Nicht  so  die  M.  d.  S.  Sie  unterscheidet  klar  den  Willen  als 
G-esetzesvermögen  oder  die  praktische  Vernunft,  die  es  mit  den 
Handlungen  gar  nicht  zu  tun  hat,  von  der  Willkür,  dem  Vermögen 
zu  Maximen.  Und  ihre  objektiven  Zwecke  sind  „Gegenstände" 
für  die  Willkür  oder  genauer  für  die  freie  Willkür,  Materie  der 
von  dieser  gewollten  freien  Handlungen,  zu  denen  das  Subjekt 
kraft  eines  Aktes  der  Freiheit  oder  aus  reiner  praktischer  Ver- 
nunft kommt.  Auf  ihre  Verwirklichung  ist  es  gerade  abgesehen. 
„Wenn  von  der  dem  Menschen  überhaupt  (eigentlich  der  Mensch- 
heit) zugehörigen  Vollkommenheit  gesagt  wird:  daß  sie  sich  zum 
Zweck  zu  machen  an  sich  selbst  Pflicht  sei,  so  muß  sie  in  dem- 
jenigen gesetzt  werden,  was  Wirkung  von  seiner  Tat  sein  kann, 
nicht  was  bloß  Geschenk  ist,  das  er  der  Natur  verdanken  muß ; 
denn  sonst  wäre  sie  nicht  Pflicht.  Sie  kann  also  nichts  anderes 
sein  als  Kultur  seines  Vermögens  (oder  der  Naturanlage),  in  wel- 
chem der  Verstand,  als  Vermögen  der  Begriffe,  mithin  auch  deren, 
die  auf  Pflicht  gehen,  das  oberste  ist,  zugleich  aber  auch  seines 
Willens  (sittlicher  Denkungsart) ,  aller  Pflicht  überhaupt  ein  Ge- 
nüge zu  tun"  (VI,  386/87). 

So  treten  sich  denn  Grdlg.  und  M.  d.  S.  als  Repräsentanten 
zweier  entgegengesetzter  Richtungen  gegenüber :  der  formale  Aprio- 
rismus  der  Grdlg.  ist  am  prägnantesten  ausgesprochen  in  dem 
Satze  (IV,  444) :  „Es  mag  nun  das  Objekt  vermittelst  der  Neigung, 
wie  beim  Prinzip  der  eigenen  Glückseligkeit,  oder  vermittelst  der 
auf  Gegenstände  unseres  möglichen  Wollens  überhaupt  gerichteten 
Vernunft  im  Prinzip  der  Vollkommenheit  den  Willen  bestimmen, 
so  bestimmt  sich  der  Wille  niemals  unmittelbar  selbst  durch  die 
Vorstellung  der  Handlung,  sondern  nur  durch  die  Triebfeder, 
welche  die  vorausgesehene  Wirkung  der  Handlung  auf  den  Willen 


300  Georg  Anderson, 

hat:  ich  soll  etwas  tun,  darum  weil  ich  etwas  anderes  will  ..." 
Der  materiale  Apriorismus  der  M.  d.  S.  aber  wird  dem  gegenüber 
proklamiert  in  Worten  wie  (VI,  380):  „Die  Ethik  gibt  noch  eine 
Materie  (einen  Gegenstand  der  freien  Willkür)  einen  Zweck  der 
reinen  Vernunft,  der  zugleich  als  objektiv-notwendiger  Zweck  d.  i. 
für  den  Menschen  als  Pflicht  vorgestellt  wird,  an  die  Hand". 

Die  Frage  nach  dem  Verhältnis  der  M.  d.  S.  zur  Grdlg.  er- 
weitert sich  damit  ganz  von  selbst  zu  der  grundsätzlichen  nach 
Sinn,  Recht  und  Grenzen  des  Formalismus  in  Kants  Ethik. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  vorerst  nochmals,  welch  eigentüm- 
lich verwirrenden  Eindruck  der  Wechsel  von  formaler  und  mate- 
rialer Betrachtung  hervorruft.  Die  Ethik  tritt  auf  als  „materiale" 
Disziplin,  die  im  Gegensatz  zur  Logik  „es  mit  bestimmten  Gegen- 
ständen und  den  Gesetzen  zu  tun  hat,  denen  sie  unterworfen  sind" 
(IV,  387).  Aber  schon  wird  alle  „Materie"  als  dem  Wesen  der 
Sittlichkeit  zuwider  aus  ihr  entfernt. 

Kaum  ist  nun  mit  Hilfe  des  Prinzips  der  Autonomie  eine  rein 
formale  Gesinnungsethik  aufgerichtet,  da  wird  die  Ethik  neuer- 
dings im  Sinne  einer  Tugendlehre  als  objektive  Zwecklehre  auf- 
gestellt unter  Berufung  darauf,  daß  nur  in  solcher  Gestalt  innere 
Gesetzgebung  verbürgt  werden  könne  (cf.  VI,  239).  Sie  steht  nun 
also  wieder  als  „materiale"  Wissenschaft,  diesmal  an  der  Seite 
der  formalen  Rechtslehre,  erscheint  jedoch  neben  dieser  eigentlich 
vielmehr  als  formal,  insofern  sie  mit  ihren  „weiten"  Pflichten  nur 
die  Maxime  der  Zwecke  gebietet,  während  die  engen  Pflichten  des 
Rechts  auf  die  bestimmten  Handlungen  selbst  gehen.  Ferner:  un- 
terscheidet Kant  in  der  M.  d.  S.  zwar  ausdrücklich  die  ethische 
Pflicht  einerseits,  die  „bloß  das  Förmliche  der  sittlichen  Willens- 
bestimmung" betrifft  „z.  B.  daß  die  pflichtmäßige  Handlung  auch 
aus  Pflicht  geschehen  müsse",  und  andrerseits  die  Tugendpflicht, 
die  sich  auf  „einen  gewissen  Zweck  (Materie,  Objekt  der  Willkür)" 
bezieht  (cf.  VI,  383) ;  verkündet  dann  aber  (cf.  VI,  396)  als  höchsten 
unbedingten  Zweck  der  reinen  praktischen  Vernunft  („der  aber 
immer  noch  Pflicht  ist"),  mithin  als  Tugendpflicht,  die  Forderung, 
„daß  die  Tugend  ihr  eigner  Zweck  und  bei  dem  Verdienst,  das 
sie  um  den  Menschen  hat,  auch  ihr  eigner  Lohn  sei"  und  zählt 
dann  auch  unter  den  Tugendpflichten  die  der  „ Lauterkeit  der 
Pflichtgesinnung"  auf,  „da  das  Gesetz  für  sich  allein  Triebfeder 
ist  und  die  Handlungen  nicht  bloß  pflichtmäßig,  sondern  auch  aus 
Pflicht  geschehen"  (cf.  VI,  387  und  446). 


Die  „Materie"  in  Kants  Tugendlehre  u.  d.  Formalismus  d.  krit.  Ethik.     301 

Nach  alledem  kann  die  M.  d.  S.  nicht  etwa  mit  der  Feststel- 
lung abgetan  werden,  daß  sie  den  früher  vertretenen  Formalismus 
leider  aufgibt ;  sondern  es  muß  vielmehr  gefragt  werden,  inwieweit 
der  Gegensatz  von  Form  und  Materie  geeignet  ist,  als  Gesichts- 
punkt auf  das  eigentümliche  Gebiet  der  Ethik  angewendet  zu 
werden  und  wieweit  Kant  sich  mit  Erfolg  seiner  bedient  hat. 
Danach  erst  ließe  sich  ein  Urteil  über  die  Stellung  der  M.  d.  S.  in 
Kants  Ethik  rechtfertigen. 

Der  konsequente  Formalismus  verlegt  den  sittlichen  Wert  in 
das  Wie  des  Handelns,  in  die  Gesinnung,  die  sich  in  der  gesetz- 
gebenden Form  des  Wollens  kundgibt.  Darum  muß  er  auf  spezi- 
fisch sittliche  Inhalte  verzichten.  Für  ihn  bleibt  es  unbeantwort- 
bar,  wie  es  kommt,  daß  diese  Form  des  Willens  materiale  Inhalte 
findet,  mit  welchen  sie  sich  und  zwar  vorzugsweise  verbinden  kann. 
Ihn  kümmert  nur,  wie  das  Gesetz,  das  weiter  nichts  als  diese 
reine  Form  gebietet,  auf  das  handelnde  Subjekt  Einfluß  gewinnen, 
wie  der  objektive  zum  subjektiven  Bestimmungsgrunde  werden 
mag.  Und  dies  Problem  hat  Kant  auch  ganz  folgerichtig  dadurch 
zu  lösen  versucht,  daß  er  die  Achtung  als  ein  „ durch  einen  Ver- 
nunftbegriff  selbstgewirktes  Gefühl"  konstruiert  und  durch  sie  das 
Sittengesetz  zur  Tiebfeder  im  Subjekt  werden  läßt  (IV,  401).  Sie 
ist  nicht  das  Gefühlsmedium,  vermittelst  dessen  das  Gesetz  Ein- 
gang in  den  Willen  bekommt  —  dann  bestimmte  ja  das  Gesetz 
den  Willen  nicht  mehr  unmittelbar  — ,  „sondern  sie  ist  die  Sitt- 
lichkeit selbst,  subjektiv  als  Triebfeder  betrachtet,  indem  die  reine 
praktische  Vernunft,  dadurch  daß  sie  der  Selbstliebe  im  Gegen- 
satze mit  ihr  alle  Ansprüche  abschlägt,  dem  Gesetze,  das  jetzt 
allein  Einfluß  hat,  Ansehen  verschafft"  (V,  76).  Das  ist  aber  auch 
das  Äußerste,  was  ein  strenger  Formalismus  zu  erreichen  vermag. 
Mag  er  damit  nun  alle  Anforderungen  einer  Ethik  erfüllen  können 
oder  nicht,  für  ihn  als  Formalismus  genügt  in  der  Tat  der  „ein- 
zige" kategorische  Imperativ,  den  ich  mir  bloß  zu  denken  brauche 
um  sofort  zu  wissen,  was  er  enthalte:  nämlich  die  Allgemeinheit 
eines  Gesetzes  überhaupt  und  die  Gemäßheit  der  Maxime  der  Hand- 
lung dazu  (cf.  IV,  421) ;  m.  a.  W.  sein  formaler  Charakter  ist  sein 
ganzer  Inhalt,  oder  es  ist  kein  rein  formales  Gesetz  mehr. 

Zweifellos  hat  Kant  diesen  Standpunkt  intendiert,  ebenso 
zweifellos  aber  ist  es  ihm  nicht  geglückt,  denselben  strikte  durch- 
zuführen, weil  er  eben  unmöglich  die  Materie  als  das  positiv  nicht 
zu  Bestimmende  ein  für  alle  Mal  auf  sich   beruhen  lassen  konnte. 


302  Georg  Anderson, 

Er  versucht  in  der  Grdlg.  einerseits,  dem  „Zweck"  einen  formalen 
Sinn  abzugewinnen,  andrerseits  aus  der  Form  heraus  doch  wieder 
zur  Materie  zu  gelangen.  Indem  er  dem  Terminus  „Zweck"  will- 
kürlich den  Sinn  eines  Bestimmungsgrundes  für  eine  formale  Ge- 
setzgebung des  Willens  beilegt,  indem  er  ein  formales  Gesetz  will- 
kürlich „ Zweck"  nennt,  geraten  alle  seine  Darlegungen ,  die  mit 
Sem  Zweckvorzug  des  vernünftigen  Wesens  in  Zusammenhang 
stehen,  unvermeidlich  in  zweideutiges  Schwanken.  Er  bringt  es 
geradezu  fertig  zu  definieren  (IV,  427):  „Praktische  Prinzipien 
sind  formal,  wenn  sie  von  allen  subjektiven  Zwecken  abstrahieren; 
sie  sind  aber  material,  wenn  sie  diese  mithin  gewisse  Triebfedern 
zu  Grunde  legen".  Als  wenn  sich  „objektive  Zwecke"  ohne  Auf- 
hebung ihres  Zweckcharakters  zu  etwas  Formalem  verflüchtigen 
ließen  und  dann  doch  wieder  mit  ihrer  Hilfe  materiale  Inhalte  zu 
gewinnen  wären.  Als  eine  glatte  Durchbrechung  des  Formalismus 
ist  zu  bezeichnen  die  Art,  wie  beim  dritten  und  vierten  Beispiel 
zur  II.  Formel  des  Sittengesetzes  trotz  des  vorher  eigens  negativ- 
formal interpretierten  Prinzips  der  Menschheit  als  Zwecks  an  sich 
selbst  ganz  unvermittelt  die  positiv-materialen  Pflichten  zur  eignen 
Vollkommenheit  und  fremden  Glückseligkeit  namhaft  gemacht 
werden.  Wozu  erst  soviel  Aufhebens  von  dem  Formalismus,  wenn 
nachher  die  ihn  begründenden  begrifflichen  Unterschiede  doch  wieder 
durcheinander  geworfen  werden  dürfen,  wenn  es  gestattet  sein 
soll,  das  Subjekt,  das  nur  als  Zweck  an  sich  selbst  existiert, 
mit  dem  Subjekt  zu  vertauschen,  das  zum  Gegenstand  des  Willens 
gemacht  wird;  und  wenn  jene  rein  negative  Begrenzung  beliebiger 
Materie,  unversehens  oder  bestenfalls  durch  die  leere  Ausflucht 
eines  gewissermaßen  kontinuierlichen  Übergangs,  in  die  positive 
Setzung  eines  bestimmten  Gegenstandes  als  Zwecks  verwandelt 
werden  soll.  Nur  „was  die  Art  der  Verbindlichkeit  (nicht  das  Ob- 
jekt ihrer  Handlung)  betrifft"  (IV,  424)  dürfen  die  Imperativen 
der  Pflicht  aus  ihrem  „einigen"  Prinzip  abgeleitet  werden;  kurz 
aus  der  bloßen  Form  des  Gesetzes  lassen  sich  inhaltlich  speziali- 
sierte Imperative  als  solche  nicht  entwickeln,  sofern  sie  nicht  etwa 
vorher  stillschweigend  und  unzulässigerweise  schon  hineingedacht 
waren.  Das  hier  vorliegende  sachliche  Problem  konnte  Kant  gar- 
nicht  einwandfrei  bewältigen,  solange  er  den  Unterschied  zwischen 
empirischer  und  rationaler  Materie  nicht  entdeckt  hatte  und  daher 
die  Eeinheit  der  Sittlichkeit  für  allein  in  der  Form  garantiert, 
von  der  Materie  als  solcher  her  aber  für  bedroht  ansehen  mußte. 


Die  „Materie"  in  Kants  Tugendlehre  u.  d.  Formalismus  d.  krit.  Ethik.     303 

In  der  M.  d.  S.  gewahren  wir  denn  auch  nichts  mehr  von  dieser 
Unsicherheit  in  der  Auffassung  des  Zweckbegriffs.  Hier  hält  Kant 
einerseits  an  dem  sachlich  berechtigten  Motiv,  das  in  den  einsei- 
tigen Formalismus  hineingedrängt  hatte,  durchaus  fest  (VI,  376/77) : 
„.  .  .  kein  moralisches  Prinzip  gründet  sich  in  der  Tat  .  .  .  auf 
irgend  ein  Gefühl,  sondern  ist  wirklich  nichts  anderes  als  dunkel- 
gedachte Metaphysik,  die  jedem  Menschen  in  seiner  Vernunftanlage 
beiwohnt  .  .  .  geht  man  von  diesem  Grundsätze  ab  und  fängt  vom 
pathologischen  oder  dem  rein- ästhetischen  oder  auch  von  dem  mo- 
ralischen Gefühl  (dem  subjektiv-praktischen  statt  des  objektiven) 
d.  i.  von  der  Materie  des  Willens,  dem  Zweck,  nicht  von  der  Form 
desselben  d.  i.  dem  Gesetz  an,  um  von  da  aus  die  Pflichten  zu 
bestimmen :  so  finden  freilich  keine  metaphysischen  Anfangsgründe 
der  Tugendlehre  statt;  denn  Gefühl,  wodurch  es  immer  erregt 
werden  mag,  ist  jederzeit  physisch".  Andrerseits  aber  macht  er 
von  der  rationalen  Idee  der  Menschheit  als  Zweck  an  sich  selbst 
nun  offen  nnd  mit  voller  Entschiedenheit  den  materialen  Gebrauch  ; 
den  Mangel  jener  formal  gemeinten  II.  Formel  der  Grdlg.  heben 
dabei  die  Worte  „dabei  er  [der  Mensch]  doch  gegen  sie  [die  an- 
deren und  sich  selbst]  auch  indifferent  sein  kann"  deutlich  hervor 
(VI,  395).  Er  setzt  an  die  Stelle  des  Subjekts,  dem  niemals  zu- 
widergehandelt werden  darf,  positiv  das  Subjekt,  dessen  Kultur 
nach  allen  Richtungen  hin  befördert  werden  soll.  So  kommt  er 
zu  all  den  Zwecken,  die  a  priori  von  der  reinen  praktischen  Ver- 
nunft gegeben  sein  müssen.  Diese  aber  gibt  ihre  Inhalte  nicht 
anders  denn  in  der  Form  der  Pflicht.  Damit  erst  ist  das  Ver- 
hältnis von  Pflicht  und  Zweck,  Form  und  Materie,  prinzipiell  und 
endgiltig  ins  reine  gebracht;  und  es  entfällt  nun  wirklich  alle 
Versuchung,  die  einzelnen  Pflichtgebote  ihrem  Inhalt  nach  offen 
oder  versteckt  aus  dem  formalen  Sittengesetz  herleiten  zu  wollen. 
So  wird  z.  B.  der  kategorische  Imperativ  der  Tugendlehre  neu 
und  selbständig  aus  der  reinen  praktischen  Vernunft  deduziert; 
und  auch  all  die  anderen  Imperative,  auf  die  die  Rechts-  und  Tu- 
gendpflichten gebracht  werden,  folgen  nicht  aus  dem  obersten 
Grundsatze  der  allgemeinen  Sittenlehre,  wie  man  wohl  ursprüng- 
lich vermuten  sollte,  sondern  lassen  sich  unter  jenen  nur  sub- 
sumieren, sofern  er  „überhaupt  nur  aussagt,  was  Verbindlichkeit 
sei"  (VI,  225)  und  lediglich  eine  conditio  sine  qua  non  bedeutet. 
Aus  dem  Begriff  des  kategorischen  Imperativs  geht  weder  das 
System  der  Metaphysik  der  Sitten  hervor,   noch   das  der  ethisch- 


304  Georg  Anderson, 

praktischen  Vernunft.  Die  Ethik  wird  vielmehr  als  Zwecklehre 
nach  dem  schematischen  Fachwerk  logischer  Distinktionen  und 
Gruppierungsgesichtspunkte  hingestellt.  Wenn  aber  wirklich  der 
Akt  der  Zwecksetzung  den  Pflichtbegriff  mit  dem  eines  Zweckes 
überhaupt  verbindet,  dann  muß  man  wenigstens  von  dem  einen 
aus  auf  den  andern  hingelangen  können.  Und  in  der  Tat  beschreibt 
Kant  dies  Verhältnis  von  Pflicht  und  Zweck  folgendermaßen  (VI, 
382):  „man  kann  sich  das  Verhältnis  des  Zwecks  zur  Pflicht  auf 
zweierlei  Art  denken:  entweder  von  dem  Zwecke  ausgehend  die 
Maxime  der  pflichtmäßigen  Handlungen,  oder  umgekehrt,  von  dieser 
anhebend,  den  Zweck  ausfindig  zu  machen,  der  zugleich  Pflicht 
ist Die  Ethik  aber  .  .  .  kann  nicht  von  den  Zwecken  aus- 
gehen, die  der  Mensch  sich  setzen  mag,  und  danach  über  seine  zu 
nehmenden  Maximen,  d.  i.  über  seine  Pflicht  verfügen ;  denn  das 
wären  empirische  Gründe  der  Maximen,  die  keinen  Pflichtbegriff 
abgeben,  als  welcher  (das  kategorische  Sollen)  in  der  reinen  Ver- 
nunft allein  seine  Wurzel  hat;  wie  denn  auch,  wenn  die  Maximen 
nach  jenen  Zwecken  (welche  alle  selbstsüchtig  sind)  genommen 
werden  sollten,  vom  Pflichtgefühl  eigentlich  garnicht  die  Rede 
sein  könnte.  —  Also  wird  in  der  Ethik  der  Pflichtbegriff  auf 
Zwecke  leiten  und  die  Maximen  in  Ansehung  der  Zwecke,  die  wir 
uns  setzen  sollen  nach  moralischen  Grundsätzen  begründen  müssen". 
Von  „Ableitung"  aus  dem  Pflichtbegriff  ist  in  diesen  vorsichtigen 
Wendungen  nicht  die  Rede;  wohl  aber  ist  dieser  das  negative 
Kriterium  der  Unterscheidung  der  rationalen  von  der  empirischen 
„Materie".  Nur  was  Pflicht  sein  kann,  was  in  die  Form  des 
Pflichtbegriffs  eingeht,  kann  als  objektiver  Zweck  gelten,  der 
Pflichtbegriff  daher  auf  diese  Zwecke  hinleiten. 

Unser  Vergleich  von  Grdlg.  und  M.  d.  S.  zeigt  wohl  deutlich 
genug,  daß  der  Formalismus,  weil  zur  Lösung  aller  den  Ethiker 
beschäftigenden  Aufgaben  unzulänglich,  Kant  unmöglich  genügen 
konnte.  Man  mag  beliebige  Handlungen  auf  ihre  Maxime  bringen 
und  diese  sodann  auf  ihre  Tauglichkeit  zum  allgemeinen  Gesetz 
prüfen,  tatsächlich  wird  die  Widerspruchslosigkeit  des  Wollens  in 
ihr  ja  garnicht  an  ihrer  reinen  Form,  allein  für  sich  betrachtet, 
sondern  doch  immer  im  Hinblick  auf  die  in  ihr  gewollten  Inhalte 
erkannt.  Diese  müssen  so  beschaffen  sein,  daß  sie  sich  mit  der 
gesetzgebenden  Form  überhaupt  vertragen;  auf  sie  kommt  es  also 
mindestens  ebenso  an  wie  auf  diese.  Und  weiter:  niemals  ist  die 
gesetzgebende  Form,  weil  sie  eben  nur  eine  conditio  sine  qua  non, 


Die  „Materie"  in  Kants  Tugendlehre  u.  d.  Formalismus  d.  krit.  Ethik.     305 

ein  negatives  Kriterium  ist,  die  schlechthinnige  Garantie  für  den 
sittlichen  Charakter  des  Wollens,  wie  die  Rechtspflichten  beweisen 
und  z.  B.  auch  der  Vorsatz ,  aus  Klugheit  wahrhaftig  zu  sein. 
Zwar  ist  in  diesem  letzteren  das  Wollen  völlig  widerspruchsfrei 
der  Form  nach,  sodaß  ich  meine  Maxime  als  allgemeines  G-esetz 
wollen  kann;  und  dennoch  erkenne  ich  dieses  Wollen  als  nicht- 
sittlich daran,  daß  hier  ein  beliebiger  Zweck  zwar  in  der  Form 
der  Pflicht,  der  Zweck  hingegen,  der  seinem  Begriffe  nach  Pflicht 
ist,  zwar  gewollt,  aber  nicht  als  Zweck,  wie  ihm  zukommt,  son- 
dern nur  als  Mittel  gewollt  wird.  Der  Zweck  selber  also,  der 
seinem  Wesen  nach  um  seiner  selbst  willen  gesetzt  zu  werden 
verlangt,  gibt  uns  hier  erst  die  letzte  Gewähr  für  die  Sittlichkeit 
unseres  Wollens.  Und  vollends,  wenn  wirklich  dem  handelnden 
Subjekt  in  der  Ethik  bestimmte  sittliche  Werte  vorgestellt  und 
als  Normen  vorgeschrieben  werden  sollen,  so  gilt  es  nicht,  Form 
und  Materie  wie  zwei  feindliche  Prinzipien  auseinander  zu  reißen, 
sondern  zu  der  Synthese  von  beiden  zu  gelangen,  welche  allein 
dem  Sinn  dieser  Begriffe  entspricht.  Dieses  aber  ist  die  eigen- 
tümliche systematische  Leistung  eben  der  M.  d.  S.  Das  muß  ge- 
würdigt werden  und  ist  höher  zu  veranschlagen  als  die  Tatsache, 
daß  sie  sich  mit  den  formalistischen  Aufstellungen  in  Grdlg.  und 
Kr.  d.  pr.  V.  nicht  deckt. 

Als  das  Form  und  Materie  vereinigende  höhere  Prinzip  dient 
hier  die  reine  praktische  Vernunft,  zur  Bewerkstelligung  der  Syn- 
these selbst  aber  der  Begriff  des  objektiven  Zwecks,  den  sie  so- 
wohl aufstellt  als  realisiert.  Denn  dieser  Begriff  bedeutet  einen 
von  der  bloßen  Vernunft  aufgegebenen  Zweck,  der  seinem  Begriffe 
zufolge  nur  durch  die  zum  allgemeinen  Gesetz  taugliche  Maxime 
vom  handelnden  Subjekt  sich  selbst  unmittelbar  und  autonom  ge- 
setzt werden  kann.  Andernfalls  er  weder  Zweck,  noch  von  der 
Vernunft  gegeben,  noch  Pflicht  wäre.  In  dem  Begriffe  dieses 
Zweckes,  der  an  sich  selbst  d.  h.  seinem  Begriffe  nach  Pflicht  ist, 
ist  das  Autonomie-Prinzip  schon  mitgedacht.  Zwecksetzung  und 
Selbstgesetzgebung  sind  identisch  geworden.  Der  Inhalt  involviert 
also  die  Qualifikation  der  zugehörigen  Maxime  zum  Gesetz.  In 
dieser  Zwecksetzung  verschmäht  die  reine  praktische  Vernunft 
alle  Vermittlung  der  Neigungen  und  gibt  der  Willkür  mit  dem 
Gegenstande  zugleich  ein  allgemeines  praktisches  Gesetz.  Der 
oberste  Grundsatz  aber  der  Tugendlehre  könnte,  da  Zweck  und 
Maxime  sich  wechselseitig  in  dieser  Weise  fordern,  auch  formuliert 

Kantstudien.    XXVI.  20 


306  Georg  Anderson, 

werden:  setze  dir  die  Zwecke,  die  an  sich  Pflicht  sind.  Form 
bleibt  auch  jetzt  Form ,  Materie  Materie.  Aber  es  wäre  sinnlos, 
-noch  an  Verletzung  des  formalen  Sittlichkeitsprinzips  zu  denken. 
Wir  sind  hinter  die  Gegensätze  von  Materie  und  Form,  Zweck 
und  Pflicht,  mittelbarer  und  unmittelbarer  Willensbestimmung  zu- 
rückgegangen, dahin,  von  wo  aus  die  sittliche  Gesinnung  und  der 
Inhalt  des  Handelns  zugleich  und  gleicherweise  autonom  bestimmt 
werden.  Die  Sittlichkeit  in  ihrer  Reinheit  ist  nun  gesichert,  wenn 
nur  die  reine  Vernunft  praktisch  ist.  Mag  sie  die  Gesinnung  vor- 
schreiben, aus  der  heraus  allein  Zwecke  gesetzt  werden  sollen, 
oder  die  Zwecke,  die  allein  in  solcher  Gesinnung  gesetzt  werden 
können.  Sie  garantiert  die  Untrennbarkeit  von  solcher  Materie 
und  solcher  Form. 

Die  Ethik  ist  aber  demgemäß  sowohl  Pflichten-  als  Zwecklehre. 
Sie  gibt  formal  an,  wie  gewollt  werden  soll,  und  material,  was 
gewollt  werden  soll;  die  Maxime,  nach  der,  und  die  rationalen 
Inhalte,  die  allein  in  ihr  gewollt  werden  dürfen.  Sie  hat  eine 
formale  und  materiale  Betrachtung,  die  sich  beide  nicht  ausschließen, 
sondern  gegenseitig  auf  einander  beziehen  und  ergänzen  müssen; 
und  es  ist  für  sie  kein  Rätsel  mehr,  woher  die  Inhalte  kommen 
können,  die  dem  seiner  Form  nach  als  widerspruchsfrei  und  all- 
gemein gesetzgebend  bestimmten  Willen  als  Gegenstände  vorge- 
stellt werden.  Verliert  damit  der  Gegensatz  von  Form  und  Ma- 
terie seine  konstitutive  Bedeutung  für  die  Ethik,  so  kann  man 
urteilen,  daß  die  M.  d.  S.  zu  ihren  Vorgängern  eine  sachlich  not- 
wendige Ergänzung  bringt  und  Ansätzen,  die  aus  dem  Wesen  der 
Sache  heraus  bereits  in  jenen  verstohlen  und  tastend  gemacht 
wurden,  zu  der  ihnen  zukommenden  Beachtung  verhilft.  So  be- 
trachtet aber,  läßt  sich  das  Alterswerk  mit  jenen  anderen,  die 
auch  nicht  als  fertig  und  in  jeder  Hinsicht  abgeschlossen  gelten 
dürfen,  letztlich  zu  einem  einheitlichen  Gesamtbilde  zusammen- 
schließen. Ja  wir  stehen  nicht  an ,  von  einer  Entwicklung  der 
Kantischen  Ethik  auch  innerhalb  der  kritischen  Epoche  zu  sprechen, 
und  wollen  uns  eines  Satzes  erinnern,  der  sich  bereits  in  der  Kr. 
d.  r.  V.  findet  (III,  520):  „Dagegen  würden  reine  praktische  Ge- 
setze, deren  Zweck  durch  die  Vernunft  völlig  a  priori  gegeben 
ist  und  die  nicht  empirisch-bedingt,  sondern  schlechthin  gebieten, 
Produkte  der  reinen  Vernunft  sein.  Dergleichen  aber  sind  die 
moralischen  Gesetze,  mithin  gehören  diese  allein  zum  praktischen 
Gebrauche  der  reinen  Vernunft  und  erlauben  einen  Kanon". 


Die  „Materie"  in  Kants  Tugendlehre  u.  d.  Pormalismus  d.  krit.  Ethik.     307 

An  der  Lehre  vom  objektiven  Zweck  sei  nur  noch  eine  Kon- 
sequenz hervorgehoben,  die  sie  letzten  Endes  in  sich  birgt:  es 
gibt  spezifisch-sittliche  Inhalte;  und  sie  erfordern  die  ganz  beson- 
ders darauf  eingestellte  Aufmerksamkeit  des  philosophischen  Ethi- 
kers. Es  geht  nicht  an,  das  Wesen  des  Sittlichen  in  einem  Außer- 
sittlichen zu  ,  suchen  wie  in  dem  logischen  Kriterium  der  Wider- 
spruchslosigkeit  des  Willens.  Die  gesetzgebende  Form  der  Maxime 
kann  nicht  der  Grund  dafür  sein,  daß  Inhalte  wie  Treue  oder 
Wahrhaftigkeit  als  „sittlich"  bezeichnet  werden  müssen.  Umge- 
kehrt :  die  zum  Gesetz  taugliche  Maxime  muß  mit  jenen  „Zwecken" 
verbunden  werden,  weil  sie  sittlich  sind.  Die  Herkunft  solcher 
„Materie"  aus  der  reinen  praktischen  Vernunft  mag  allenfalls  aus 
dieser  Form  der  Maxime  erschließbar  und  beweisbar  sein;  sie  ist, 
wie  gesagt,  eine  conditio  sine  qua  non,  aber  nicht  positiv  das 
Wesensprinzip  des  Sittlichen.  Jedenfalls  deutet  die  M.  d.  S.  mit 
ihrer  Lehre  vom  objektiven  Zweck  hin  auf  Fragestellungen  der 
Phänomenologie.  Es  muß  innerhalb  der  Ethik  als  Ganzem  eine 
Disziplin  geben,  die  die  spezifisch-sittlichen  Gehalte  in  einer  eigens 
darauf  gerichteten  Besinnung  erfaßt  und  hinstellt,  und  eine  andere, 
welche  auf  Grund  jener  Einsichten  Normen  für  das  sittliche  Urteil 
und  Verhalten  ausspricht.  Eine  Kritik  der  Kantischen  Ethik  aber 
hätte  sich  keineswegs  bloß  mit  dem  Formalismus  auseinanderzu- 
setzen, sondern  auch  zu  erwägen,  ob  Kant  die  „Materie"  in  der 
M.  d.  S.  ausreichend  charakterisiert  hat,  ob  es  z.  B.  genügt,  nach 
dem  Leitfaden  des  rationalen  Begriffs  der  Menschheit  „Zwecke" 
der  reinen  praktischen  Vernunft  zu  bestimmen. 

Ist  sonach  die  eingangs  gestellte  Frage  im  Wesentlichen  be- 
antwortet, so  bleibt  diese  Lehre  vom  objektiven  Zweck  doch  zu 
ergänzen  durch  eine  kurze  Betrachtung  der  mehrfach  gelegentlich 
gestreiften  Lehre  vom  kategorischen  Imperativ,  die  mit  ihr  zu- 
gleich in  der  M.  d.  S.  eine  Erweiterung  erfährt.  Grdlg.  und  Kr. 
d.  pr.  V.  haben  einzig  und  allein  die  Begründung  der  reinen  Ethik 
im  spezifischen  Sinne  im  Auge.  Wenigstens  ist  in  ihnen  —  so  all- 
gemein sie  sich  auch  als  Wissenschaft  von  den  Freiheitsgesetzen 
auszugeben  scheinen  — ,  von  äußerer  Freiheit,  ihren  Gesetzen  und 
juridischer  Gesetzgebung  wie  in  der  M.  d.  S.  nie  die  Rede.  Ihren 
Pflichtimperativ  entwickeln  sie,  wie  immer  er  schließlich  auch  for- 
muliert werden  mag,  durchaus  im  Hinblick  auf  die  eigentliche 
Ethik  und  zwar  im  Sinne  des  Formalismus,  mit  dem  die  Autonomie 

20* 


308  Georg  Anderson, 

hier  als  unzertrennlich  vorgestellt  wird,  d.  h.  als  Ausdruck  für  die 
bloße  Form  des  sittlichen  Wollens  oder  der  Moralität.  So  ver- 
schieden die  mannigfachen  Formulierungen  des  kategorischen 
Imperativs,  um  die  sich  die  Grdlg.  so  eifrig  bemüht,  zunächst 
vielleicht  anmuten  mögen,  sie  alle  sollen  nichts  anderes  darstellen, 
als  Variationen  ein-  und  desselben  Gedankens.  Sie  sollen  sämtlich 
nur  das  Sittlichkeitsprinzip,  die  Autonomie,  von  den  verschiedensten 
Seiten  her  beleuchten  und  erfassen  und  das  Sittengesetz  der  An- 
schauung und  dem  Gefühl  näher  bringen,  im  Interesse  seiner  Ver- 
wirklichung. Die  „ethische  Gesetzgebung",  um  die  es  sich  hier 
also  handelt,  besteht  aus  dem  einen  Pflichtprinzip,  aus  welchem 
alle  speziellen  Pflichten,  „was  die  Art  der  Verbindlichkeit  betrifft" 
(IV,  424)  vollständig  aufgestellt  werden,  und  mehr  noch :  sogar  in- 
haltlich entwickelt  werden  müßten,  wenn  es  nur  ohne  „Materie" 
ginge,  und  wenn  sich  diese  aus  der  Form  hervorzaubern  ließe ;  — 
denn  auch  die  hypothetischen  Imperative  lassen  sich  doch,  „was 
die  Art  der  Verbindlichkeit  betrifft"  sämtlich  aus  dem  einen 
Prinzip:  wer  einen  Zweck  will,  muß  auch  die  Mittel  wollen,  auf- 
stellen, obzwar  sie  nicht  inhaltlich  daraus  ableitbar  sind. 

Indem  Kant  dagegen  in  der  M.  d.  S.  die  ganze  praktische  Ge- 
setzgebung, das  System  der  äußeren  wie  inneren  Freiheitsgesetze 
zum  Gegenstande  macht,  indem  er  außerdem  den  Zweck  als  Materie 
in  die  ethisch-praktische  Gesetzgebung  aufnimmt,  bedarf  er  einer 
Mehrzahl  verschiedenartiger  kategorischer  Imperative,  sogar  inner- 
halb der  Ethik ;  diese  aber  stehen  nicht  mehr  im  Verhältnis  der 
Ableitbarkeit  auseinander,  sondern  nur  im  logischen  Verhältnis  der 
Über-  und  Unterordnung,  also  des  Allgemeinen  zum  Besonderen. 
Der  fruchtbare  Begriff  des  kategorischen  Imperativs  überhaupt  ist 
damit  nicht  aufgegeben;  er  steht  mit  dem  Formalismus  und  fällt 
mit  ihm  ebensowenig  wie  der  Autonomiegedanke.  Er  verträgt  sich 
nicht  nur  mit  dem  Begriff  der  objektiven  Zwecksetzung,  sondern 
ist  mit  ihm  a  priori  gesetzt  und  einerlei.  Er  bleibt  wie  bisher 
die  ratio  cognoscendi  unserer  Freiheit,  das  Wahrzeichen  der  Au- 
tonomie, die  Form  für  die  Freiheitsgesetze  und  verstattet  keinen 
Beweis,  sondern  muß  aus  der  reinen  praktischen  Vernunft  dedu- 
ziert werden.  Die  reine  praktische  Vernunft  aber  läßt  kategorische 
Imperative  zu,  soviel  als  sie  verschieden  geartete  Pflichten  gebietet. 
So  entspricht  denn  dem  Gattungsbegriff  der  Pflicht  überhaupt 
jener  „oberste  Grandsatz  der  Sittenlehre",  sodann  aber  sind  den 
Hauptarten,  den  Rechts-  und  Tugendpflichten  ihre  besonderen  For- 


Die  „Materie"  in  Kants  Tugendlehre  u.  d.  Formalismus  d.  krit.  Ethik.     309 

mein   zugeordnet   und   deren   Unterarten   wiederum,    wobei   nicht 
selten  an  die  Imperative  der  Wolffschen  Schule  erinnert  wird. 

Im  Besonderen  bestätigt  der  Vergleich  diese  allgemeine  Dar- 
legung. Der  oberste  Grundsatz  der  Sittenlehre  „Handle  so,  daß 
die  Maxime  deiner  Handlung  ein  allgemeines  Gesetz  werden  könne" 
(M.  d.  S.  VI,  389)  deckt  sich  zwar  mit  dem  „Grundgesetz  der 
reinen  praktischen  Vernunft"  :  „Handle  so,  daß  die  Maxime  deines 
Willens  jeder  Zeit  zugleich  als  Prinzip  einer  allgemeinen  Gesetz- 
gebung gelten  könne"  (Kr.  d.  pr.  V.,  V,  30).  Beide  sprechen  ledig- 
lich die  Qualifikation  der  Maxime  zum  Gresetz  in  allgemeinster 
Form  aus  und  enthalten  eine  rein  formale  Bedingung,  „das  for- 
male Prinzip  der  Pflicht"  (IV,  389).  Mehr  aber  besagt  die  Formel 
der  Grdlg.  (IV,  421):  „Handle  nur  nach  derjenigen  Maxime,  durch 
die  du  zugleich  wollen  kannst,  daß  sie  ein  allgemeines  Gesetz 
werde"  oder:  „Handle  so,  als  ob  die  Maxime  deiner  Handlung 
durch  deinen  Willen  zum  allgemeinen  Naturgesetze  werden  sollte". 
Sie  ist  spezieller,  insofern  sie  das  Gesetz  als  an  den  eignen  Willen 
gerichtet  zeigt.  Jene  begreifen  unter  sich  alle  Pflichten,  auch  die 
Rechtspflichten;  diese  nur  die  „ethischen  Pflichten".  Die  Grdlg.  also 
formuliert  allein  das  allgemeinste  Gesetz  der  „inneren  Gesetzgebung". 

Denn  ob  ich  meine  Maxime  zum  allgemeinen  praktischen  Ge- 
setz erhebe  oder  mir  ein  solches  zur  Maxime  mache,  beide  Male 
fällt  durch  meinen  Willen  das  objektive  Gesetz  mit  dem  subjek- 
tiven Grundsatz  und,  wenn  ich  entsprechend  handle,  der  objektive 
Bestimmungsgrund  mit  dem  subjektiven  des  Willens  zusammen. 
Indem  ich  mich  an  die  gesetzgebende  Form  der  Maxime  binde, 
wird  das  Gesetz  oder  die  Idee  der  Pflicht  Triebfeder,  ich  handle 
aus  Pflicht,  und  die  Handlung  bekommt  Moralität  anstatt  Legalität. 
Der  kategorische  Imperativ  der  Grdlg.  ist  also  genau  die  Formel 
für  das,  was  die  M.  d.  S.  „ethische  Pflicht"  nennt  und  als 
das  „Förmliche  der  sittlichen  Willensbestimmung"  von  der  „mate- 
rialen"  Tugendpflicht  unterscheidet.  Die  ethische  Pflicht  ist  in 
der  Tat  die  Forderung  der  reinen  .Tugendgesinnung  und  macht 
die  formale  Bedingung  alles  ethischen  Verhaltens  überhaupt  aus. 
Als  solche  muß  sie  denn  auch  in  allen  Tugendhandlungen  mitver- 
wirklicht, in  allen  wie  immer  inhaltlich  bestimmten  Tugendpflichten 
eo  ipso  mitgedacht  sein,  deren  sittlichen  Charakter  mitkonstituie- 
rend. Denn  alle  die  Zwecke,  die  zugleich  Pflichten  sind,  müssen 
um  ihrer  selbst  willen  gewollt  werden;  oder  mit  anderen  Worten 
sie  sind  als  Pflichten  Zwecke  und  als  Gesetze  Triebfedern. 


310  Georg  Anderson, 

Betrachtet  man  jedoch  die  reine  Tugendgesinnung  nicht  bloß 
formal,  sondern  auch  material,  so  gehört  sie  zum  Inhalt  des  ob- 
jektiven Zwecks  der  Vollkommenheit  und  kann  als  Tugendpflicht 
der  Lauterkeit,  die  man  in  sich  festigen  und  kultivieren  müsse, 
geboten  werden.  Die  „ethische  Pflicht"  ist  mithin  eine  einzige  und 
die  Tugendpflichten  allein  ermöglichen  die  Einteilung  der  Ethik. 
Die  Lehre  der  Grdlg.  vom  kategorischen  Imperativ  ist  in  der  M.  d.  S. 
ihres  ausschließlich  formalen  Charakters  entkleidet;  ihr  Pflicht- 
prinzip ist  als  das  formale  Grundgesetz  der  ethischen  inneren 
Gesetzgebung  bestehen  geblieben  und  wird  durch  die  materialen 
Sittengesetze  zu  dem  System  der  inneren  Freiheitsgesetze  ergänzt. 

Abschließend  kommen  wir  zu  folgendem  Ergebnis :  es  ist  zwar 
befremdlich,  daß  Kant  bei  der  Umbildung  seiner  Gedanken  sich 
nicht  selbst  mit  seinem  früheren  Standpunkt  ausdrücklich  ausein- 
andersetzt und  den  Schritt  vom  formalen  zum  materialen  A  priori 
nicht  ganz  unmißverständlich  präzisiert.  Die  Erkenntnis  der  hier 
aufgedeckten  Gedankenentwickelung  kann  daher  nicht  wie  eine 
reife  Frucht  vom  Baum  gepflückt  werden,  sondern  liegt  sogar 
eigentümlich  versteckt  in  schwerfälligen  Perioden,  in  Abschnitten, 
die  durch  ihre  unfertige  Komposition  und  unübersichtliche  Anord- 
nung nicht  wenig  verwirren.  Wer  dieses  durchaus  nicht  lichtvolle 
Alterswerk  -erstmalig  oder  nur  flüchtig  betrachtet,  mag  wohl 
zweifeln,  ob  es  wirklich  von  demselben  Kant  verfaßt  sei,  den  er 
aus  Grdlg.  und  Kr.  d.  pr.  V.  zu  kennen  glaubt;  und  nichts  wäre 
leichter,  als  auf  einzelnen  ihm  entnommenen  Sätzen  fußend,  seine 
Unvereinbarkeit  mit  der  „kritischen"  Ethik  zu  behaupten.  Trotz 
alledem  konnten  wir  zeigen,  daß  diese  Umbildung  der  Ge- 
danken eine  im  Wesen  des  Gegenstandsgebietes  gegründete  Not- 
wendigkeit war.  Diese  liegt  einmal  in  der  aus  dem  formalen 
praktischen  Prinzip  der  reinen  Vernunft  „nach  welchem  die  bloße 
Form  einer  durch  unsere  Maximen  möglichen  allgemeinen  Gesetz- 
gebung den  obersten  und  unmittelbaren  ,  Bestimmungsgrund  des 
Willens  ausmachen  muß"  (V,  41)  —  gar  nicht  zu  bewerkstelligenden 
Aufgabe  einer  Ethik  als  spezialisierten  Pflichtenlehre.  Und  sie 
liegt  zweitens  in  der  Forderung,  gegenüber  der  Rechtslehre,  die 
nur  äußerer  Gesetze  fähig  ist,  eine  innere  Gesetzgebung  zu  ermög- 
lichen, welches  geschieht  allein  durch  Gesetze  an  die  Maximen,  die 
sich  auf  irgend  welche  materialen  Inhalte  müssen  richten  können. 
Wer  jedoch  in  dieser  Wendung  zur  apriorischen  Materie  einen 
Rückschritt    erblicken    wollte,   der   hätte    die    Überlegenheit    des 


Die  „Materie"  in  Kants  Tugendlehre  u.  d.  Formalismus  d.  krit.  Ethik.      311 

konsequenten  Formalismus  —  der  inkonsequente  kann  auf  unser 
Interesse  keinen  Anspruch  machen  —  zur  Bewältigung  der  den 
Ethiker  angehenden  Probleme  überzeugend  darzutun. 

Die  Meinung  endlich,  Kants  Ethik  sei  ein  fertiges  Gebilde, 
durch  ein  Kennwort  z.  B.  „Formalismus"  hinreichend  zu  charak- 
terisieren und  etwa  aus  der  Grdlg.  bereits  deutlich  zu  erkennen, 
wäre  entschieden  abzulehnen.  Kants  Ethik  ist  ganz  im  Gregenteil 
ein  Ringen  von  verschiedenen  Tendenzen  und  mit  recht  verschie- 
denen Problemen,  das  in  den  uns  vorliegenden  drei  Hauptwerken 
noch  nicht  zu  völlig  abschließender  Klarheit  gediehen  ist.  Sonst 
hätten  die  Ergebnisse  müheloser  ausgesprochen,  und  untereinander 
in  ein  deutlicheres  Verhältnis  gesetzt  werden  können.  Ein  zu- 
treffendes Bild  von  dieser  Ethik  Kants  als  G-anzem,  derart,  daß 
Verschiedenartiges  weder  mit  gar  zu  großer  Selbstverständlichkeit 
einander  zugesellt  noch  mit  überrascher  Energie  beiseitegesetzt 
ist ,  läßt  sich  nur  gewinnen ,  wenn  man  diese  drei  Werke  ver- 
gleicht und  dann  nicht  gegeneinander  ausspielt,  sondern  aus  ihnen 
gemeinsam  die  Summe  zieht,  wobei  darauf  Wert  zu  legen  ist,  daß 
jede  dieser  Hauptschriften  ihre  spezielle  Aufgabe  lösen  will.  Die 
Grdlg.  „ist  .  .  .  nichts  mehr  als  die  Aufsuchung  und  Festsetzung 
des  obersten  Prinzips  der  Moralität,  welche  allein  ein  in  seiner 
Absicht  ganzes  und  von  aller  anderen  sittlichen  Untersuchung  ab- 
zusonderndes Geschäft  ausmacht"  (IV,  392).  Die  Kr.  d.  pr.V.  „soll 
bloß  dartun,  daß  es  eine  reine  praktische  Vernunft  gebe,  und 
kritisiert  in  dieser  Absicht  ihr  ganzes  praktisches  Vermögen" 
(V,  3).  Das  führt  sie  zu  näherem  Eingehen  auf  die  Idee  der 
Freiheit  und  den  Zusammenhang  von  Moral,  Religion  und  spekula- 
tiver Metaphysik,  wobei  sie  hinsichtlich  der  spezifisch-ethischen 
Fragen  zu  der  Grdlg.  kaum  etwas  wesentlich  Neues  hinzu- 
bringt. Die  M.  d.  S.  endlich  besorgt  das  doktrinale  Geschäft,  dem 
die  Vorläufer  propädeutisch  die  Bahn  frei  machen  sollen,  und 
strebt  zu  dem  System,  nicht  nur,  indem  sie  dessen  äußerlich- 
schematisches  Gefüge  hinstellt  und  ausfüllt,  sondern  auch  von  innen 
her ;  nicht  mehr  unter  dem  allzustarken  Zwang  von  Gesichtspunkten, 
die  anderswoher  stammen,  sondern  organisch,  wie  es  die  Eigenart 
ihres  Gegenstandsgebietes  nahelegt. 

Der  „Alte  Kant"  aber  ist  zu  würdigen  nicht  allein  nach  dem, 
was  er  zu  voller  Klarheit  zu  erheben  vermocht  hat,  sondern  nicht 
minder  nach  den  Richtungen,  in  die  seine  Gedanken  weisen. 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung 
des  Apriori  bei  Kant. 

Versuch  einer  Versöhnung  von  Transzendentalismus  und  kritischem 

Psychologismus. 
Von  Dr.  Constanze  Friedmann. 


Einleitung. 

Zwischen  Kant  selbst  und  den  Darstellungen  der  Kantischen 
Philosophie,  den  Kommentatoren  Kants,  scheint  eine  Lücke  zu 
klaffen,  ein  ungelöster  Rest  zurückzubleiben,  der  wohl  daher 
rühren  mag,  daß  strenge  Kantianer  wie  der  vorbildliche  Kant- 
Interpret  Kuno  Fischer  und  die  sogenannten  Neu-Kantianer  Cohen, 
Natorp  und  Andere  nicht  ganz  dem  großen  Genius  Kants  ge- 
recht werden,  indem  sie  das  Kantische  System  nur  von  einem 
Gesichtspunkt  aus  darstellen  (allerdings  von  dem,  von  Kant 
selbst  an  vielen  Stellen  ausdrücklich  hervorgehobenen),  während  sie 
die  vielen  Strömungen,  die  daneben  herlaufen  und  sich  schließlich 
mit  dem  Hauptstrom  vereinigen,  als  „unkantisch"  außer  Acht 
lassen.  Dadurch  werden  aber  zwei  Richtungen  der  Philosophie, 
die  beide  von  Kant  ihren  Ausgangspunkt  nehmen,  in  einen  schroffen 
Gegensatz  gebracht;  dieser  kann  vielleicht  überwunden  werden 
durch  Berücksichtigung  der  verschiedenen  Strömungen  des  Kanti- 
schen Systems  sowie  der  historischen  Bedingtheit  desselben,  aus  der 
Kants  Gedankengänge  wohl  befreit  werden  müssen,  wenn  es  sich 
darum  handelt,  das  noch  für  unsere  Zeit  Fruchtbare  seiner  Philosophie 
auf  uns  wirken  zu  lassen.  Die  ganze  neuere  nachkantische  Philo- 
sophie läßt  sich  in  zwei  Gruppen  bringen  —  bei  aller  Verschieden- 
heit der  Systeme,  die  dann  zu  einer  Gruppe  vereinigt  werden 
müssen,  —  wenn  man  die  Bedeutung,  die  die  verschiedenen  Systeme 
dem  Entwicklungsprinzip  bei  Bestimmung  des  Apriori  zumessen, 
zum  Einteilungsgrund  wählt.   Es  sind  dann  bei  dieser  Gruppierung 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.     313 

Namen  und  Systeme,  die  in  den  Darstellungen  der  G-eschichte  der 
Philosophie  immer  zusammen  genannt  zu  werden  pflegen,  auf  die 
beiden  Gruppen  verteilt  und  andererseits  Systeme  in  einer  Gruppe 
vereinigt,  die  auf  den  ersten  Blick  sehr  divergent  erscheinen.  — 
Die  Berechtigung  der  hier  vollzogenen  Gruppierung  wird  sich  aus 
der  Darstellung  selbst  ergeben. 

Ich  fasse  also  die  transzendental  -  idealistischen  Philosophien 
auf  der  einen  Seite  zusammen  und  stelle  ihnen  gegenüber  die 
kritisch-psychologistischen  Systeme.  I.  Für  die  Transzendentalisten 
ist  charakteristisch,  daß  sie  ein  ewiges,  unwandelbares,  in  un- 
serer Vernunft  begründetes  und  letzten  Endes  immer  auf  Trans- 
szendenz  hinweisendes  Apriori  als  Voraussetzung  unserer  wissen- 
schaftlichen Erfahrung  annehmen,  das  nicht  „geworden"  ist,  sich 
im  Lauf  der  Zeit  nicht  entwickelt  haben  kann.  Sie  lehnen  daher 
das  Entwicklungsprinzip  zur  Aufdeckung  des  Apriori  ab,  da  dieses 
schon  eine  Reihe  anderer  logischer  Voraussetzungen  in  sich  trage. 
Die  Vertreter  dieser  philosophischen  Systeme,  für  die  die  Namen 
Cohen,  Natorp,  Windelband *),  in  verwandtem  Sinne  Sickert  kenn- 
zeichnend sind,  beanspruchen  allein  in  strengem  Sinne  „Kantianer" 
zu  sein  und  berufen  sich  vor  allem  in  Hinblick  auf  die  Methode 
auf  Kant,  der  ja  bekanntlich  das  methodologische  Problem  in  den 
Vordergrund  seiner  Philosophie  gerückt  hat :  „Sie  (die  reine  speku- 
lative Vernunft)  ist  ein  Traktat  von  der  Methode,  nicht  ein  Sy- 
stem der  Wissenschaften  selbst" 2).  Die  kritische  Methode ,  bei 
der  es  sich,  wie  Windelband  ausdrücklich  hervorhebt,  „um  Be- 
gründung, nicht  um  Ursprung  der  Vorstellungen,  um  einen  neuen 
Begriff  von  Apriorität,  nicht  um  psychologische  Priorität  handle" 3), 
ist  bei  Kant  in  der  Einleitung  zur  2.  Ausgabe  der  Kr.  d.  r.  V. 
scharf  charakterisiert  in  der  Fragestellung:  „Wie  sind  synthe- 
tische Urteile  a  priori  möglich",  die  spezifiziert  wird  in  die 
Fragen:  „wie  ist  reine  Mathematik  möglich,  wie  ist  reine  Natur- 
wissenschaft möglich?"  „Von  diesen  Wissenschaften,  da  sie  wirk- 
lich gegeben  sind,  läßt  sich  nun  wohl  geziemend  fragen,  wie  sie 
möglich    sind;    denn   daß    sie    möglich    sein    müssen,    wird    durch 


1)  Windelbands  Standpunkt  unterscheidet  sich  darin  von  dem  der  Neukan- 
tianer, daß  er  von  einem  System  notwendig  geltender  Werte  aus  (des  Wahren, 
Guten,  Schönen)  die  logisch  notwendigen  Voraussetzungen  dieser  Werte  auf- 
decken will. 

2)  Vorr.  z.  Kr.  d.  r.  V.    2.  Ausg.     G.  Reimer,  Berlin  1904. 

3)  Windelband:  Präl.    2.  Ausg.   S.  320. 


314  Constanze  Friedmann, 

ihre  Wirklichkeit  bewiesen."  *)  —  Die  Transzendentalsten  wollen 
also  aus  dem  logisch -objektiven  Begriff  der  Erfahrung  heraus  — 
wobei  für  „Erfahrung"  allgemeine  und  notwendige  Erkenntnis  zu 
setzen  ist  —  durch  die  Frage  nach  den  Bedingungen  ihrer  Möglich- 
keit, also  der  Möglichkeit  der  Mathematik  und  Naturwissenschaft, 
die  notwendigen  Voraussetzungen,  das  transzendentale  Apriori, 
aufdecken,  wobei  dieses  dann  rückläufig  die  Geltung  der  tatsächlich 
existierenden  Wissenschaften  begründen  soll.  —  II.  Der  kritische 
Psychologismus  nimmt  an,  daß  das  Apriori  —  das  sind  hier  sowohl 
die  Voraussetzungen  unserer  gewöhnlichen  Wahnehmungen  und 
Vorstellungen  wie  auch  die  unserer  wissenschaftlichen  Erfahrungen  — 
„geworden"  sei,  sich  in  einem  Ausleseprozeß  gemäß  dem  Prinzip 
der  Lebenserhaltung,  als  unsere  psycho -physische  Organisation 
herausgebildet  habe,  auf  der  #ann  die  wissenschaftlichen  Voraus- 
setzungen beruhen,  die  sich  ihrerseits  wieder  durch  dauernde  An- 
passung der  Gedanken  an  die  Tatsachen,  durch  Aufhebung  von 
Widersprüchen  (Vitaldifferenzen)  infolge  des  allem  Organischen 
wesentlichen  Okonomieprinzips  weiter  entwickeln.  Laas  prägt  für 
diese  Auffassung,  daß  alle  Wahrnehmungen  und  Vorstellungen  keine 
„Wesen  an  sich"  seien,  sondern  nur  für  uns  gelten,  da  sie  sich 
eben  auf  unsere  psycho  -  physische  Organisation  beziehen,  den  Be- 
griff des  Korrelativismus.  „Objekte  sind  unmittelbar  nur  bekannt 
als  Gegenstände,  Inhalte  eines  Bewußtseins,  cui  objecta  sunt,  und 
Inhalte  nur  als  Beziehungszentren,  als  der  Schauplatz  oder  die 
Unterlage  von  Wahrnehmungs-(Vorstellungs-)Inhalten,  quibus  sub- 
jecta  sunt;  die  uns  unmittelbar  gekannten  Objekte  und  Subjekte 
sind  keine  , Wesen  an  sich',  sie  beide  existieren  nur  miteinander, 
sie  entstehen  und  bestehen  miteinander,  sind  aneinander  gebunden"  2). 
Und  sehr  klar  präzisiert  Simmel  den  Gedanken,  daß  unsere  Er- 
kenntnisbegriffe, die  unsere  wissenschaftliche  Erfahrung  gewähr- 
leisten, selbst  in  dauernder  Entwicklung  sich  befinden:  „Mögen  in 
jedem  Augenblick  auch  apriorische  Normen  die  Erfahrung  beherr- 
schen, warum  sollen  nicht  auch  sie,  die  doch  unsere  Naturerklärung 
bildend,  von  der  anderen  Seite  gesehen,  selbst  natürliche  Wirklich- 
keiten sind,  eine  Entwicklung  zeigen,  deren  kontinuierlicher  Fluß 
sie  in  keinem  Augenblick  zu  einem  systematischen  Abschluß  kommen 
läßt?"3)  —  Die  Resultate  unserer  wissenschaftlichen  Erfahrungen 

1)  Kr.  d.  r.  V.    2.  Ausg.    S.  40. 

2)  Laas:  Idealismus  u.  Positivismus.    I.  Bd.    S.  282. 

3)  Simmel :  Kant.    S.  23. 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.     315 

werden  aber  in  dem  Maße,  in  dem  die  Erkenntnisbegriffe  bewußt  zu 
Werkzeugen  der  Forschung  werden,  allmählich  immer  unabhängiger 
von  unserer  psycho  -  physischen  Organisation  dadurch,  daß  die  Er- 
kenntnisbegriffe im  Laufe  der  Entwicklung  der  Wissenschaften  unter 
dem  Zwang  des  Ökonomieprinzips  einer  immer  weitergehenden  Reini- 
gung und  Säuberung  von  den  ihnen  ursprünglich  stark  inhärierenden 
anthropopathischen  Elementen  unterzogen  werden *) 2).  —  Nach  dem 
hier  zur  Charakterisierung  gewählten  Einteilungsprinzip  können  also 
unter  die  Gruppe  der  kritisch-psychologistischen  Philosophien  fol- 
gende Systeme  zusammengefaßt  werden:  der  Empiriokritizismus 
(Avenarius,  Mach)  der  neuere  Positivismus  (Laas,  Jodl)  und  die 
unter  den  Begriff  Transzendentalpsychologismus  zusammenzufassende 
Auffassung  und  Weiterbildung  der  Kantischen  Philosophie  im  Sinne 
von  Fries,  Bona  Meyer,  Fr.  A.  Lange,  Otto  Liebmann.  —  Der 
Charakterisierung  des  Apriori  entspricht  bei  dieser  Gruppe  auch 
die  Art  seiner  Aufdeckung.  Sie  bedient  dich  der  sogenannten  psy- 
chogenetischen  Methode,  die  mit  Hilfe  der  Psychologie  das  in  der 
Erfahrung  Gegebene  in  letzte  Elemente,  Empfindungen  —  die  nur 
Abstraktionen  darstellen  —  analysiert  und  wissenschaftliche  Er- 
fahrung aus  diesen  dann  aufbaut,  vermittelst  der  Gesetze  der  As- 
soziation, des  Interesses,  der  Hemmung,  der  Abstraktion,  die  mit 
dem  Ökonomieprinzip  auf  das  tiefer  liegende  Gresetz  der  Lebens- 
erhaltung zurückweisen.  In  den  Dienst  der  Psychologie  tritt  dann 
auch  Ethnologie  und  Biologie.  —  Laas  hat  diese  Methode  der 
transzendentalen  gegenübergestellt:  „Die  psych ogenetische  Methode 
begnügt  sich  nicht  damit  bei  den  verschiedenen  Prinzipien  und 
Axiomen  deren  tatsächliches  Gelten  zu  statuieren,  sondern  hierüber 
hinaus  forscht  sie  nach  der  Grenese  jenes  Greltens".  Mit  dieser 
Fassung  der  psychogenetischen  Methode  deckt  sich  aber  auch 
teilweise  die  Absicht  von  Fr.  A.  Lange  und  seinen  Anhängern, 
die  das  Entstehen  des  transzendentalen  Apriori  aufzeigen  wollen. 
Daher  ich  den  Transzendentalpsychologismus  in  diese  evolutioni- 
stisch  orientierte  Gruppe  miteinbegreife.  —  Gegen  den  Vorwurf 
von  Windelband,  daß  die  Einbeziehung  des  Apriori  in  die  psycho- 
gen etische  Untersuchung  „den  hoffnungslosen  Versuch  darstelle, 
durch  eine  empirische  Theorie  dasjenige  zu  begründen,  was  selbst 


1)  Vergl.  hierzu  Mach:  Erkenntnis  u.  Irrtum.    S.  147. 

2)  Avenarius:   Philosophie   als   Denken   der  Welt   gemäß   dem   Prinzip    des 
kleinsten  Kraftmaßes.    S.  37. 


316  Constanze  Friedmann, 

die  Voraussetzung  jeder  Theorie  bildet"  *)  muß  geltend  gemacht 
werden,  daß  ebenso  wie  der  Logiker  sich  keines  Widerspruchs 
schuldig  macht,  wenn  er  die  logischen  Gesetze  seinen  logischen 
Untersuchungen  zugrunde  legt,  so  auch  der  Erkenntnistheoretiker 
die  Berechtigung  besitzt,  mittelst  der  Prinzipien  und  Axiome,  die 
er  bei  anderen  voraussetzen  und  selbst  anwenden  muß,  deren  Ent- 
steh e  n  in  Kulturgeschichte  und  Psychologie  nachzuweisen.  —  Es  ist 
interessant  zu  beobachten,  daß,  wenn  Kant  als  Vermittler  von  Dogma- 
tismus (Rationalismus)  und  Epirismus  (Sensualismus)  gelten  kann, 
indem  er  die  Einseitigkeiten  der  beiden  großen  Richtungen  in  seinem 
Kritizismus  überwindet,  die  von  ihm  ihren  Ausgang  nehmenden 
Philosophien  sich  wieder  nach  diesen  beiden  Seiten  gabeln,  nur 
daß  beide  Teile  von  ihm  gelernt  haben.  Auf  einer  höheren  Stufe 
der  Entwicklung  kehrt  hier  der  alte  Gegensatz  von  Piatonismus 
und  Antiplatonismus  wieder2). 

Ich  will  nun  in  vorliegender  Untersuchung  an  der  Hand  der 
wesentlichsten  Stellen  der  Kr.  d.  r.  V.,  im  Einzelnen  an  der  Ab- 
leitung der  Anschauungsformen  Raum  und  Zeit,  der  transzenden- 
talen Einheit  der  Apperzeption,  der  produktiven  Einbildungskraft 
nnd  des  Schemas,  weiter  an  der  Ableitung  der  Kategorie  der  Kau- 
salität und  der  auf  ihr  beruhenden  zweiten  Analogie  der  Erfahrung 
nachweisen,  daß  Kant  bei  der  Ableitung  des  Apriori  nicht  immer 
streng  an  der  von  ihm  geschaffenen  kritischen  Methode  festhält 
und  daß  daher  der  auf  anderem  als  transzendentalem  Wege  ge- 
fundene apriorische  Faktor  der  Erkenntnis  nicht  als  transzen- 
dental geltend  gemacht  werden  kann.  An  dieser  Inkonsequenz 
Kants  scheinen  mir  zwei  Faktoren  in  gleichem  Maße  schuld  zu 
sein  und  einander  zu  durchdringen.  1.  Der,  den  ich  als  historische 
Bedingtheit  des  Kantischen  Systems  bezeichnen  möchte  und  der 
darin  seinen  Ausdruck  findet,  daß  Kant  insofern  rationalistisch 
und  dogmatisch  bleibt,  als  er  „den  rationalistischen  Ausgangs- 
punkt" 3)  beibehält  und  „die  Existenz  der  reinen  Vernunft  im 
weiteren  Sinne,  d.  h.  apriorischer  Bestandteil  des  Erkennens,  we- 
niger ein  Problem  als  eine  Voraussetzung  ist"4).  2.  Wirkt  das 
Erlebnis,  die  psychologische  Introspektion  bei  Aufdeckung  des 
Apriori   bestimmend   mit,   indem  Kant   den  Teil   der  Bewußtseins- 

1)  Windelband :  Präl.    2.  Ausg.    S.  332. 

2)  Vergl.  die  von  Laas  in  „Ideal,  u.  Pos."  durchgeführten  Schematisier ungen. 

3)  Vergl.  Vaihingers  Com.    I.  Bd.    S.  6. 

4)  Ebenda  S.  32. 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.     317 

phänomene,  der  im  Erlebnis  mit  psychologischer  Notwendigkeit 
und  Allgemeinheit  auftritt,  für  das  logische  in  der  Vernunft  be- 
gründete Apriori,  das  die  Bedingung  notwendiger  und  allgemeiner 
Erkenntnis  bilde,  ansieht.  Hierzu  wird  er  durch  die  rationalistisch- 
dogmatische Voraussetzung  der  E  x  i  s  t  e  n  z  der  reinen  Vernunft  als 
eines  Inventars  apriorischer  Formen  und  Kategorien  verführt, 
weshalb  ich  dieser  historischen  Bedingtheit  des  Kantischen  Systems 
gegenüber  eine  kritische  Stellungsnahme  für  erforderlich  halte.  In 
dieser  Untersuchung  soll  also  der  Nachweis  geführt  werden,  daß 
Kant  Ergebnisse,  die  ihm  aus  dem  Erlebnis,  aus  tiefster  Betrach- 
tung des  Aktes  des  Wahrnehmens  und  Vorstellens  fließen,  als  Ant- 
wort auf  die  transzendentale  Fragestellung:  nach  der  Möglichkeit 
der  Erfahrung,  nach  der  Möglichkeit  synthetischer  Urteile  a  priori, 
spezifiziert:  nach  der  Möglichkeit  der  reinen  Mathematik  und  der 
reinen  Naturwissenschaft,  benützt.  Die  psychologische  Notwendig- 
keit und  Allgemeinheit,  mit  der  im  Erlebnis  ein  Teil  desselben 
ausgestattet  ist,  wird  hier  weiter  zurückgeführt  werden  auf  kinä- 
sthetische  Elemente,  die  den  von  Kant  nicht  analysierten  An- 
schauungsformen und  Kategorien  zugrundeliegen  und  auf  die  eigen- 
tümliche Urerlebnis  -  Tatsache,  daß  die  den  Kinästhesien  entstam- 
menden Daten  als  Unmittelbarstes,  als  Subjekt  gegenüber  allem1 
anderen  nur  Objektivem  erlebt  werden.  So  wird  aus  meiner  Dar- 
legung hervorgehen,  daß  in  den  von  Kant  als  Bedingungen  aller 
Erfahrung  aufgestellten  reinen  Anschauungsformen  und  Kategorien 
noch  anthropopathische  Elemente  enthalten  sind  und  daß  gerade 
diese  für  die  Aufdeckung  des  Apriori  maßgebend  waren.  —  Und 
so  wird  letzten  Endes  die  Aufdeckung  des  theoretischen  Apriori 
aus  einem  Erlebnis  herfließen,  ähnlich  wie  die  letzte  meta- 
physische Verankerung  des  ganzen  Kantischen  Systems  im  Begriff 
der  transzendentalen  Freiheit  auf  ein  Erlebnis  zurückgeht, 
nämlich  auf  das  erlebte  Sollen,  die  erlebte  Willens- 
freiheit; nach  Kants  eigenen  Worten  ist  „das  moralische  Gesetz 
die  Bedingung,  unter  der  wir  uns  allererst  der  Freiheit  bewußt 
werden  können".  „(Das  moralische  Gesetz  ist  die  ratio  cognoscendi 
für  die  Freiheit  —  diese  die  ratio  essendi  des  moralischen  Gesetzes)"  1). 
Zur  Vermeidung  jedes  Mißverständnisses  will  ich  hier  noch 
ausdrücklich  betonen,  daß  ich  also  nicht  in  das  von  Biebl  an  den 
Auslegern  und  Kritikern  Kants  gerügte  „psychologische  Vorurteil" 2) 

1)  Vorr.  z.  Kr.  d.  pr.  V.    S.  5  Anm. 

2)  Riehl :  Kritizismus.    2.  Ausg.    S.  380. 


318  Constanze  Friedmann, 

verfalle.  Es  liegt  mir  fern  zu  behaupten,  Kant  habe  durchwegs 
untersucht,  wie  Vorstellungen  psychologisch  Zustandekommen,  (auch 
dieser  Gedankengang  findet  sich  in  der  „Kritik"  und  es  wird  an 
entsprechender  Stelle  darauf  verwiesen  werden)  er  habe  also  „die 
kritische  Philosophie  auf  Psychologie  gegründet" ;  bewußt  und  ab- 
sichtlich hat  er  dies  natürlich  nicht  getan.  Hier  sollen  nur  die 
Erlebnismomente  aufgezeigt  werden,  die  zu  einer  Verquickung  von 
transzendentaler  mit  psychologischer  Methode  bei  Ableitung  des 
Apriori  geführt  haben. 

So  wird  meine  Darlegung  des  Kantischen  Gedankenganges 
auch  den  Weg  zu  einer  Versöhnung  von  Transzendentalismus  und 
kritischem  Psychologismus  bahnen,  indem  sie  zeigen  wird,  daß  Kant 
selbst  neben  der  transzendentalen  Methode  immer  die  psychologische 
benützt  und  daß  er  die  Ergebnisse  beider  unbewußt  mit  einander 
verquickt. 

Jerusalem  vertritt  in  seinem  Werke:  „Der  kritische  Idealis- 
mus und  die  reine  Logik"  eine  der  meinen  in  den  Grundzügen 
verwandte  Auffassung  Kants,  die  er  durch  Aufzählung  verschiedener 
Briefstellen  aus  Kant  zu  bekräftigen  unternimmt.  So  sucht  er 
nachzuweisen,  daß  dieser  „die  introspektive  Arbeit  geleistet  hat  .  .  . 
durch  ein  Versenken  in  die  eigene  Tätigkeit  einsehen  zu  lernen, 
wie  unser  Verstand  tatsächlich  vorgehe,  wenn  er  von  grundlegenden 
Begriffen  wie  etwa  Substanz  und  Kausalität  Gebrauch  mache"  1). 
Und  an  anderer  Stelle  „wenn  also  Kant  die  reine  Spontaneität, 
die  Tat  des  reinen  Ich  durch  seine  tiefeindringende  introspektive 
Tätigkeit  gefunden  zu  haben  glaubte,  so  konnte  er  auf  dem  Boden 
der  intellektualistischen  Psychologie  seiner  Zeit  gar  nicht  anders, 
als  diese  Spontaneität  für  das  reine  Denken  halten.  Er  glaubte 
somit  bis  zur  tiefsten  Wurzel  des  reinen  Denkens  vorgedrungen 
zu  sein"2).  —  Auch  Bona  Meyer  ist  in  seinem  Werke  „Kants 
Psychologie"  bemüht,  durch  eine  Zusammenstellung  aller  in  Kants 
Briefen  und  Hauptstellen  enthaltenen  Äußerungen  nachzuweisen, 
daß  Kant  selbst  im  Grunde  die  psychologische  Natur  der  Ent- 
deckung des  apriorischen  Tatbestandes  nicht  verkannt  habe.  Als 
zwingendsten  Beleg  führt  er  folgende  Stelle  aus  Kant  an :  „Die  Durch- 
forschung unseres  Erkenntnisbestandes  war  eine  Sache  der  analy- 
sierenden und  reflektierenden  Selbstbeobachtung  und  konnte  auf 
keinem  anderen  als  diesem  psychologischen  Wege  zum  Ziel  gelangen". 

1)  Jerusalem:  S.  12. 

2)  Jerusalem:  Der  kritische  Idealismus  und  die  reine  Logik.    S.  15. 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.      319 

Auf  eine  ausführliche  Gegenüberstellung  der  1.  u.  2.  Ausgabe 
der  Kr.  d.  r.  V.  muß  ich  im  Rahmen  dieser  Ausführungen  verzichten, 
wiewohl  sie  sehr  instruktiv  wäre,  da  die  Aufdeckung  des  Apriori 
aus  dem  Erlebnis  heraus,  vermittelst  der  Introspektion,  uns  klarer  und 
unverhüllter  in  der  1.  Ausgabe  der  Kritik  entgegentritt  als  in  der 
2.,  in  der  die  transzendentale  Problemstellung  in  den  Vordergrund 
gerückt  ist.  Im  Einzelnen  wird  an  entsprechender  Stelle  auf  die 
Verschiedenheiten  der  beiden  Ausgaben  verwiesen  werden. 

I. 

Transzendentale  Ästhetik. 

Ableitung  der  reinen  Anschauungsform  Raum. 

Entsprechend  der  Aufgabe,  die  ich  mir  in  der  Einleitung  ge- 
stellt habe,  will  ich  durch  Diskussion  der  Raumargumente  der 
transzendentalen  Ästhetik  zu  zeigen  versuchen,  daß  die  Beweise 
für  die  Apriorität  des  Raumes  nicht  transzendental  geführt  werden, 
was  insbesondere  durch  Vergleich  mit  der  1.  Ausg.  der  „Kritik" 
klar  wird.  Eerner  will  ich  die  Verquickung  der  transzendentalen 
mit  der  psychologisch  -  introspektiven  Methode  bis  zum  letzten 
Motiv  dieser  Verquickung,  bis  zum  Erlebnis  der  Allgemeinheit  und 
Notwendigkeit  eines  Teiles  der  Erfahrungstatsachen,  zurückverfolgen. 

Ich  beginne  der  leichteren  Übersichtlichkeit  wegen  mit  der  Dis- 
kussion des  zweiten  Raumarguments  der  transzendentalen  Ästhetik ; 
die  Berechtigung  hierfür  wird  unmittelbar  aus  dem  Gange  der 
Untersuchung  einzusehen  sein. 

Die  Behauptung  des  zweiten  Raumarguments  lautet:  „Der 
Raum  ist  eine  notwendige  Vorstellung  a  priori,  die  allen  äußeren 
Anschauungen  zugrunde  liegt u.  Das  Beweisargument  besteht  in 
der  Nichthinwegdenkbarkeit  des  Raumes:  „Man  kann  sich 
niemals  eine  Vorstellung  davon  machen,  daß  kein  Raum  sei,  ob 
man  sich  gleich  ganz  wohl  denken  kann,  daß  keine  Gegenstände 
darin  angetroffen  werden".  Dies  möchte  ich  nun  folgendermaßen 
erörtern.  Es  besteht  hier,  nach  meiner  Ansicht,  eine  Verwechs- 
lung von  Abstraktions-  mit  Vorstellnngsmöglichkeit. 
Das  einheitliche  Erlebnis  des  räumlich  bestimmten  Gegenstandes, 
das  wir  einzig  und  allein  tatsächlich  haben,  kann  infolge  der  Va- 
riabilität der  einzelnen  Elemente  desselben,  sehr  leicht  analysiert 
werden  in  Farbe,  Licht  und  Form  oder  Raum,  wobei  wir  dann 
zum  Zwecke  wissenschaftlicher  Betrachtung  nur   eines  dieser  Ele- 


320  Constanze   Friedmann 


mente  ins  Auge  fassen  und  von  den  beiden  anderen  abstrahieren, 
ohne  daß  auch  wirklich  eines  dieser  Elemente  allein  vorgestellt 
werden  könnte1).  Bei  Kant  nun  bildet  die  Vorstellungs- 
unmöglichkeit des  Nichtseins  des  Raumes  das  Beweis- 
argument für  seine  Apriorität.  Hierin  liegt  nun  inbegriffen,  daß 
Kant  den  Raum  allein  —  ohne  darin  enthaltene  Gegenstände  — 
für  eine  Vorstellungsmöglichkeit2)  hält,  während  dieser  nur  ein 
Abstraktionsprodukt  darstellt:  Kant  also  Abstraktions-  mit  Vor- 
stellungsmöglichkeit verwechselt.  Weiter  ist  zu  fragen,  warum  — 
wenn  schon  eine  Verwechslung  von  Abstraktions-  mit  Vorstellungs- 
möglichkeit vorliegt  —  nicht  auch  das  zweite  Abstraktionsprodukt 
(die  Gegenstände)  als  allein  vorstellbar  angesehen  wird,  warum 
also  gerade  die  Nichtvorstellbarkeit  des  Nichtseins  des  Raums  für 
Kant  so  evident  ist.  Hier  scheint  mir  nun  das  Motiv  dafür  ein 
psychologisch  -  introspektives  zu  sein,  nämlich  in  der  nicht  weiter 
zu  analysierenden  Erlebnis  -  Tatsache  der  Subjektivität  der  den 
Kinästhesien  entstammenden  Daten  zu  bestehen.  Die  Raum- 
anschauung bei  Kant,  die  „nichthin wegdenkbar"  sein,  die  „schon 
zum  Grunde  liegen"  soll,  ist  eben  unsere  entwickelte  Raum- 
anschauung, die  neben  den  ursprünglichen  Raumempfindungen  As- 
soziate  von  Bewegungs-  und  Gleichgewichtsempfindungen  enthält. 
Für  die  hier  vertretene  Ansicht  ist  also  die  Alternative :  Empiris- 
mus oder  Nativismus  —  gar  nicht  von  Belang,  da  auch  der  Nati- 
vismus  nicht  leugnet,  daß  Kinästhesien  die  entwickelte  Raum- 
anschauung mitkonstituieren 3). 

Es  erscheint  demnach  verständlich,  daß  Kant  die  Raum- 
anschauung, die  er  durch  Elimination  „der  Gegenstände u  er- 
halten und  nicht  weiter  analysiert  hat,  infolge  der  sie  mitkonsti- 
tuierenden kinästhetischen  Elemente  als  subjektive  Anschauungsform 
betrachtet.  Das  Erlebnis  der  Subjektivität  tritt  hier  mit 
einem  so  starken  psychologischen  Zwang  auf,  daß  die 
psychologische  Notwendigkeit  mit  der  logischen  ver- 
wechselt wird. 

Die  Trennung  in  Form  und  Inhalt,    die  bei  Kant  als   petitio 


1)  Vergl.  Jodl:  Psychologie.    1.  Bd.    S.  371. 

2)  In  den  Antizipationen  der  Wahrnehmung  erklärt  Kant,  daß  leerer  Raum 
und  leere  Zeit  niemals  ein  Gegenstand  möglicher  Erfahrungen  sein  können,  was 
mit  den  Ausführungen  der  transzendentalen  Ästhetik  in  Widerspruch  steht. 

3)  Vergl.  Stöhr:  Psychologie.    S.  215. 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  hei  Kant.     321 

principii  charakterisiert  werden  muß  und  die  —  wie  noch  zu  zeigen 
sein  wird  —  die  unausgesprochene *)  Voraussetzung  für  das  erste 
Beweisargument  bildet,  findet  ihr  psychologisches  Motiv  in  dem- 
selben Erlebnis,  eben  darin,  daß  ein  Teil  der  Bewußtseinstatsachen 
als  hinwegdenkbar,  als  nicht  zum  Ich  gehörend,  erlebt  wird,  wäh- 
rend der  andere  Teil,  der  in  sich  kinästhetische  Elemente  enthält, 
als  fester  Kern,  als  Unmittelbarstes,  zum  Subjekt  Gehörendes, 
aufgefaßt  wird.  —  Damit  wäre  auch  ein  in  der  menschlichen  Natur 
(Konstitution)  begründetes  psychologisches  Motiv  für  die  durch 
die  ganze  Geschichte  der  Philosophie  sich  hindurchziehende  Trennung 
in  Form  und  Inhalt,  Subjekt  und  Objekt  gegeben.  Diese  Trennung 
wird  von  Stöhr  auf  „Sprachzwang"  zurückgeführt,  während  ich 
glaube,  daß  umgekehrt  die  Gliederung  des  Satzes  in  grammati- 
kalisches Subjekt  und  Prädikat  auf  diesem  Urerlebnis  beruht. 

Der  Schlußsatz  des  zweiten  Raumargumentes:  „Er  wird  also 
als  die  Bedingung  der  Möglichkeit  der  Erscheinungen  und  nicht 
als  eine  von  ihnen  abhängende  Bestimmung  angesehen  und  ist  eine 
Vorstellung  a  priori,  die  notwendigerweise  äußeren  Erscheinungen 
zum  Grunde  liegt"  —  verdankt  also  letzten  Endes  dem  psycho- 
logischen Erlebnis  seine  Begründung. 

Ich   komme  nun   zur  Diskussion   des    ersten  Raumarguments.  ^Tcf' 
Die  Behauptung  desselben  lautet:  „Der  Raum  ist  kein  empirischer  rl,ö.A»ä 
Begriff,   der  von  äußeren  Erfahrungen   abgezogen   werden  kann".  uJ&nA  \ 
Der  Beweis   für   diese  Behauptung  liegt  in   den  Worten:    „Denn  ^  ^ 
damit  gewisse  Empfindungen  auf  etwas  außer  mir  bezogen  werden 
(d.  i.  auf  etwas  in  einem  anderen  Orte  des  Raumes,    als  darin  ich 
mich  befinde),   imgleichen  damit  ich  sie  als  außer  und  nebenein- 
ander, mithin  nicht  bloß  verschieden,  sondern  als  in  verschiedenen 
Orten   vorstellen   könne,    dazu   muß   die  Vorstellung   des   Raumes 
schon  zum  Grunde  liegen".    Nun  ist  zu  fragen,  was  dieser  Beweis 
eigentlich  besage  und  die  Antwort  muß  dahin  gehen,  daß  hier  die 
Priorität    der    Raumvorstellung    vor    jeder    wirklichen   Wahr- 
nehmung wieder  nur  behauptet  wird  und  daß  diese  Behauptung 
ihr  Beweisargument  nur  in  der  schon  früher  vollzogenen  Trennung 
in  Form  und  Inhalt2)  besitze.  Es  handelt  sich  hier  also  einerseits 
nur  um  eine  anthropologisch-psychologische 3)  Apriorität  des  Raumes, 


1)  Vergl.  Vaihinger:  Kommentar.   2.  Bd.   S.  165. 

2)  Kr.  d.  r.  V.    2.  Ausg.    S.  50. 

3)  Vergl.  oben  S.  318  u.  Vaihinger:  Kommentar.    2.  Bd.  S.  176. 

Kantstudien.  XXVI.  21 


322  Constanze    Friedmann, 

anderseits  wird  die  Trennung  in  Form  und  Inhalt  „als  eine  außer- 
ordentlich wichtige  aber  latent  bleibende  Prämisse  benützt" 1). 
Die  Trennung  in  Form  und  Inhalt  wurde  aber  auf  ein  Er- 
lebnis2) zurückgeführt,  dessen  Evidenz  Kant  dazu  verführt,  nicht 
zu  merken,  daß  er  hier  eine  petitio  prineipii  begeht.  —  Der  Schluß- 
satz des  1.  Raumarguments  lautet  dann:  „Demnach  kann  die  Vor- 
stellung des  Raumes  nicht  aus  dem  Verhältnis  der  äußeren  Er- 
scheinung durch  Erfahrung  erborgt  sein,  sondern  diese  äußere 
Erfahrung  ist  selbst  nur  durch  gedachte  Vorstellung  allererst 
möglich".  Hier  ist  nun  zu  betonen,  daß  in  den  meisten  Dar- 
stellungen3) der  Kantischen  Philosophie  die  zweite  Hälfte  des 
Schlußsatzes:  „sondern  diese  äußere  Erfahrung  ist  selbst  nur  durch 
gedachte  Vorstellung  allererst  möglich"  als  Beweisargument  für 
die  Apriorität  des  Raumes  aufgefaßt  wird.  Aber  abgesehen  davon, 
daß  es  sich  hier  nicht  um  einen  Beweisgrund,  sondern  schon  um 
den  Schlußsatz  handelt,  ist  auch  das  Prinzip  der  Möglichkeit  der 
Erfahrung  aus  folgendem  von  Vaihinger4)  sehr  gut  formulierten 
Grunde  auf  diese  Stelle  nicht  anwendbar u :  „Daß  jene  späteren  Be- 
deutungen des  Prinzips  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  nicht  auf 
die  Ästhetik,  und  also  speziell  nicht  auf  diese  erste  Stelle,  in 
welcher  der  Ausdruck  auftritt,  übertragbar  sind,  lehrt  ja  schon 
folgende  einfache  Betrachtung.  Sowohl  in  der  Analytik  der  Be- 
griffe als  in  der  der  Grundsätze  hat  'Erfahrung'  eine  ganz 
andere  Bedeutung  als  hier;  nämlich  jene  stringente  Bedeutung  — 
streng  gesetzmäßiger  Zusammenhang  der  Einzeldinge.  Aber  davon 
ist  hier  in  der  Ästhetik  noch  ,gar  nicht  die  Rede.  Es  ist  ja  die 
stets  wiederholte  Lehre  Kants,  daß  jener  strenge  Zusammenhang 
=  Erfahrung  erst  den  kategorialen  Funktionen  verdankt  werde, 
nicht  aber  schon  den  Anschauungsformen.  Diese  bringen  mit  dem 
Empfindungsmaterial  zusammen  erst  die  Wahrnehmung  hervor, 
noch  nicht  die  gesetzmäßige  Erfahrung.  Schon  aus  diesen  Gründen 
ist  es  gänzlich  unberechtigt,  jene  späteren  Bedeutungen  des  Prin- 
zips der  Möglichkeit  der  Erfahrung  in  die  Ästhetik  herüberzutragen; 
denn  wenn  hier  davon  die  Rede  ist,  daß  'die  äußere  Erfahrung  nur 
durch  die  Raum  vor  Stellung  allererst  möglich  sei',   so  ist  dabei  die 


1)  Vaihinger:  Kommentar.   2.  Bd.    S.  165. 

2)  Vergl.  oben  S.  321. 

3)  Vergl.  Vorländer :  Gesch.  d.  Philos.    2.  Bd.    S.  193. 

4)  Vaihinger:  Kommentar.    2.  Bd.    S.  175. 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.      323 

Erfahrung  nicht  im  stringenten  Sinne  gemeint,    sondern   hier   ist 
Erfahrung  ebensoviel  wie  Wahrnehmung". 

Durch  Berücksichtigung  der  1.  Ausg.  der  Kritik  wird  es  nun 
ganz  klar,  daß  die  in  der  metaphysischen  Erörterung  des  Begriffes 
vom  Raum  —  die  Überschrift  ist  in  der  1.  Ausg.  noch  nicht  vor- 
handen —  nicht  transzendental  (aus  der  Möglichkeit  der  Mathe- 
matik), sondern,  wie  gezeigt,  psychologisch  -  introspektiv  abge- 
leitete Apriorität  des  Raumes  ihrerseits  das  Fundament  der 
Mathematik  abgibt.  Das  3.  Raumargument  der  1.  Ausg.  lautet: 
„.  .  .  Auf  diese  Notwendigkeit  a  priori  gründet  sich  die  apodik- 
tische Gewißheit  aller  geometrischen  Grundsätze  und  die  Möglich- 
keit ihrer  Konstruktionen  a  priori  usw".  Hier  ist  also  von  trans- 
zendentaler Fragestellung,  nach  den  Bedingungen  der  Möglichkeit 
Mer  Mathematik,  deren  Tatsächlichkeit  erwiesen  sei,  gar  nicht  die 
Rede.  Die  Apodiktizität  der  Mathematik  ist  hier  nicht  der 
Ausgangrpunkt  der  Untersuchung,  sondern  das  Ergebnis1) 
und  gründet  sich  auf  die  Notwendigkeit  der  Apriorität  des  Raumes, 
die  aber  nur  —  wie  gezeigt  wurde  —  eine  psychologische  ist. 
In  der  2.  Ausg.  der  Kr.  d.  r.  V.  ist  nun  die  transzendentale  Ab- 
leitung der  Apriorität  des  Raumes  in  dem  hier  eingefügten  Kapitel 
„Transzendentale  Erörterung  des  Begriffes  vom  Raum"  anschei- 
nend unabhängig  von  der  „metaphysischen"  vollzogen.  Auf 
die  transzendentale  Frage,  nach  der  Art  der  Vorstellung  des  Rau- 
mes als  Bedingung  der  Möglichkeit  der  Geometrie,  als  einer  Wissen- 
schaft, welche  die  Eigenschaften  desselben  „synthetisch  und  doch 
a  priori"  bestimmt,  wird  die  Antwort  gegeben:  der  Raum  müsse 
„apriorische  Anschauung"  sein.  Und  der  letzte  Absatz  dieses 
Kapitels  lautet  dann:  „Also  macht  allein  unsere  Erklärung  die 
Möglichkeit  der  Geometrie  als  einer  synthetischen  Erkenntnis 
a  priori  begreiflich.  Eine  jede  Erklärungsart,  die  dieses  nicht- 
liefert,  wenn  sie  gleich  dem  Anscheine  nach  mit  ihr  einige  Ähn- 
lichkeit hätte,  kann  an  diesen  Kennzeichen  am  sichersten  von  ihr 
unterschieden  werden".  Daß  auch  hier  die  schon  bewiesene  Raum- 
theorie nachträglich  zur  Fundierung  der  Mathematik  benützt  wird2), 
ist  wohl  eine  nicht  abzuweisende  Auffassung,  wenn  dies  auch  in 
der  2.  Ausg.  nicht  so  offenkundig  geschieht  wie  in  der  ersten. 

Das  Ergebnis   dieser  Darlegung  ist  also,   daß   trotz   der  An- 


1)  Vergl.  Vaihinger:  Kommentar.    2.  Bd.    S.  337. 

2)  Ebenda  S.  338. 

21* 


324  Constanze  Friedmann, 

fassung  des  Problems  von  zwei  Seiten  in  der  zweiten  Ansgabe  — 
nämlich  sowohl  von  der  synthetischen  und  der  analytischen  als 
anch  von  der  psychologischen  nnd  transzendentalen  —  der  ur- 
sprüngliche Gedankengang  (der  synthetisch-psychologische)  der 
maßgebende  bleibt  und  daß  so  die  psychologisch  abgeleitete 
Apriorität  des  Raumes  die  Basis  der  Möglichkeit  der  Geometrie 
bildet1). 

Weiter  ist  noch  zu  zeigen,  daß  dieser  Verquickung  von  trans- 
szendentaler  mit  psychologischer  Methode  bei  der  Ableitung  der 
Apriorität  des  Raumes  parallel  geht  die  Identifikation  unserer 
entwickelten  Raumanschauung  mit  dem  euklidischen  Raumbegriff. 
—  Dem  Beweise,  daß  der  Raum  (der  der  Geometrie  zugrunde- 
liegende) Anschauung  und  nicht  Begriff  sei,  sind  ja  bekanntlich 
das  3.  und  4.  Raumargument  der  transzendentalen  Ästhetik  der 
2.  Ausgabe  der  Kritik  gewidmet.  —  Diese  Identifikation  war  für 
Kant  noch  möglich,  weil  er  nur  die  euklidische  Geometrie  kannte, 
deren  Sätze  für  den  euklidischen  dreidimensionalen  Raum  gelten. 
Dieser  entspricht  aber  unserer  entwickelten  Raumanschauung  und 
infolgedessen  können  in  ihr  die  Sätze  der  euklidischen  Geometrie 
anschaulich  gemacht  werden.  Stöhr2)  sagt:  „Der  physiologische 
Sehraum  wird  durch  Kinästhesien  nicht  optisch  zum  euklidischen 
gestaltet,  wohl  aber  ausgedeutet",  was  ich  so  auffassen  möchte: 
wir  haben  optisch  keinen  dreidimensionalen  homogenen  Raum,  fak- 
tisch aber,  als  Bewußtseinsphänomen  haben  wir  durch  Assoziate 
von  Tast-,  Bewegungs-  und  Gleichgewichtsempfindungen  mii  dem 
ursprünglich  physiologischen  „relie vierten"  Sehraum  einen  drei- 
dimensionalen Raum,  der  begrifflich  erfaßt,  zum  euklidischen 
wird.  —  Kant  wurde  nun  durch  die  noch  nahe  Beziehung 
des  euklidischen  Raumbegriffes  zu  unserer  entwickelten  Raum- 
anschauung, die  er  ja  nicht  weiter  analysiert,  vor  allem  durch 
die  Dreidimensionalität  beider  dazu  verführt,  sie  zu  iden- 
tifizieren und  so  die  psychologische  Notwendigkeit,  mit 
der  sich  die  Raumanschauung  kundtut,  als  logische  Voraus- 
setzung, als  Bedingung  der  Geometrie,  hinzustellen.  So  allein  wird 
es  für  ihn  möglich,  das  Resultat  der  metaphysischen  Erörterung 
des  Begriffs  vom  Raum  als  Antwort  auf  die  transzendentale  Frage» 

1)  Auch  der  Beschluß  der  transzendentalen  Ästhetik,  der  die  transzendentale 
Problemstellung  resp.  —  Lösung  in  den  Vordergrund  rückt,  —  sowie  die  diesem 
vorangehenden  Absätze  II,  III,  IV  sind  Zugabe  der  2.  Ausgabe. 

2)  Stöhr:  Psychol.    S.  219. 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.     325 

nach  der  Art  der  Vorstellung  des  Raumes,  als  Bedingung  der 
Möglichkeit  der  Geometrie,  zu  benützen.  Hierin  zeigt  sich  auch 
die  historische  Beschränkung x)  der  transzendentalen  Methode. 
Wären  zur  Zeit  Kants  die  nichteuklidischen  G-eometrien  bekannt 
gewesen,  so  hätte  er  den  euklidischen  Raum  niemals  als  alleinige 
Voraussetzung  der  Geometrie  aufstellen  können.  So  wäre  er  aber 
vor  der  Identifikation  von  Raumbegriff,  als  Voraussetzung  einer 
Wissenschaft,  mit  psychologisch  gegebener,  entwickelter  Rauman- 
schauung und  den  aus  dieser  Gleichsetzung  sich  ergebenden  Kon- 
sequenzen bewahrt  geblieben. 

Ableitung  der  reinen  Anschauungsform  Zeit. 

Der  Gedankengang  des  ersten  Teiles  dieses  Abschnitts  ist 
ähnlich  dem  des  vorhergehenden.  Statt  ihn  also  ausführlich  dar- 
zulegen, berufe  ich  mich  auf  das  daselbst  Gesagte  und  beschränke 
mich  hier  auf  das  Wesentlichste. 

Das  1.  Zeitargument  ist  parallel  dem  1.  Raumargument  gebaut. 
Das  dort  Ausgeführte  gilt  in  analoger  Weise  auch  hier.  Wieder 
handelt  es  sich  nur  um  eine  Priorität  —  hier  der  Zeit  vor  der 
tatsächlichen  Vorstellung  des  Zugleich-  und  Aufeinanderfolgens. 
Das  Beweisargument  „Denn  das  Zugleichsein  oder  Aufeinander- 
folgen würde  selbst  nicht  in  die  Wahrnehmung  kommen,  wenn 
die  Vorstellung  der  Zeit  nicht  a  priori  zum.  Grunde  läge",  beruht 
auch  hier  auf  der  als  „petitio  principii"  eingeführten  Trennung  in 
Form  und  Inhalt,  die  —  wie  schon  ausgeführt  —  auf  ein  Erlebnis 
zurückgeht.  Der  Schlußsatz  gibt  nochmals  „eine  erläuternde  Be- 
schreibung des  Beweisarguments" 2). 

Das  zweite  Zeitargument  —  wobei  vorläufig  das  der  1.  Aus- 
gabe berücksichtigt  werden  soll  —  ist  ebenfalls  parallel  dem 
2.  Raumargument  gebaut.  Auf  die  Fassung  desselben  in  der 
2.  Ausgabe  werde  ich  noch  zurückkommen. 

Den  Beweisgrund  für  den  Schlußsatz  —  conclusio  —  „die 
Zeit  ist  also  a  priori  gegeben"  —  bildet  die  Nichthinweg- 
denkbarkeit  der  Zeit,  ihre  absolute  Notwendigkeit,  also  ein 
psychologisch  -  introspektives  Motiv:  „Diese  (die  Erscheinungen) 
können  insgesamt  wegfallen,  aber  sie  selbst  (die  Zeit)  kann  nicht 
aufgehoben  werden".    Hier  sind  wieder  die  zwei  Momente  zu  be- 


1)  Vergl.  MaxScheler:  Die  transzendentale  und  die  psychologische  Methode. 

2)  Vergl.  Vaihinger :  Kommentar.    2.  Bd.   S.  368. 


326  Constanze  Friedmann, 

achten:  1.  die  Verwechslung  von  Abstraktions-  mit  Vorstellungs- 
möglichkeit und  2.  die  Behauptung  der  Nichteliminierbarkeit 
nur  des  einen  Abstraktionsproduktes,  der  Zeit.  Daß  es  sich  bei 
Kant  um  eine  Verwechslung  von  Abstraktions-  mit  Vorstellungs- 
möglichkeit handelt,  wird  dadurch  kar,  daß  die  Vorstellung  einer 
leeren  Zeit  eine  Unmöglichkeit  darstellt.  „Würde  es  möglich  sein, 
das  Bewußtsein  von  allen  Inhalten  und  Veränderungen  zu  entleeren, 
so  würde  die  Wahrnehmung  der  Zeit  verschwinden;  niemals  aber 
die  Wahrnehmung  einer  leeren  Zeit  entstehen" '). 

Durch  Abstraktion  von  den  qualitativ  differenten  Inhalten 
gelangen  wir  zum  Begriff  einer  leeren  Zeit,  der  aber  ab- 
solut nicht  identisch  ist  mit  der  Vorstellung  einer  leeren  Zeit,  wie 
überhaupt  Zeitbegriff  und  Zeitvorstellung  auseinandergehalten 
werden  müssen.  —  Das,  was  wir  erleben,  sind  immer  nur  zeitlich 
bestimmte  Erscheinungen  d.  h.  gleichzeitige  oder  aufeinanderfolgende 
Bewußtseinsinhalte.  Wird  von  den  Inhalten  möglichst  abstrahiert, 
so  hat  es  den  Anschein,  als  ob  die  Zeitvorstellung  allein  übrig 
bliebe.  In  Wirklichkeit  sind  in  diesen  Zuständen  „des  Zwielichts 
unseres  Bewußtseins"  —  nach  einem  Terminus  von  Wundt  — 
immer  noch  unbestimmte,  nicht  mehr  eliminierbare  Inhalte  ge- 
geben: der  Schlag  unseres  Herzens,  unser  Atmen,  die  Schwan- 
kungen unserer  Aufmerksamkeit,  Fragmente  von  Worten  und 
Sätzen,  die  durch  den  Kopf  gehen2).  An  diesen  rhythmischen 
Prozessen  nun  hängt  unser  entwickeltes  Zeitbewußtsein,  die  Zeit- 
vorstellung3),'wie  wir  sie  erleben.  Sie  läßt  sich  in  ursprüngliche 
Zeitempfindungen,  Spannungs-  und  Vitalempfindungen  auflösen, 
die  auf  den  periodischen,  vitalen  und  motorischen  Prozessen  der 
Aufmerksamkeitsschwankungen  beruhen.  Da  diese  Inhalte  nun 
einerseits  sehr  unbestimmt  sind  und  nicht  deutlich  zu  Bewußtsein 
kommen,  anderseits  gar  nicht  eliminierbar,  so  hat  Kant  sie  nicht 
mehr  als  Inhalte  aufgefaßt,  sondern  er  glaubte  in  diesem 
Stadium  der  Abstraktion  von  bestimmten  Inhalten,  schon^bei 


1)  Jodl:  Psychol.    2.  Bd.    S.  170. 

2)  Vergl.  hierzu  James :  Psychol.  S.  282  und  Mach :  Erk.  u.  Irrtum  u.  Anal, 
d.  Empfindungen. 

3)  Ich  gebrauche  synonym:  Zeitbewußtsein,  psychologische  Zeit,  Zeitvor- 
stellung, Zeitanschauung,  Dauer.  Zeitvorstellung  schließt  eigentlich  auch  die  vor- 
gestellte Zeit  in  sich.  Hier  ist  dieser  Bedeutungsunterschied  vernachlässigt,  weil 
bei  Kant  Zeitvorstellung  gleichbedeutend  mit  Zeitanschauung  gebraucht  ist.  —  Zum 
Begriff  „Dauer"  vergl.  ßergson:  „Zeit  u.  Freiheit",  „Schöpferische  Entwicklung". 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.     327 

der  Vorstellung  der  Zeit  als  solcher  angelangt  zu  sein. 
Gerade  die  psychologische  Notwendigkeit  aber,  mit  der  diese 
vitalen  und  motorischen  Prozesse  sich  im  subjektiven  Erlebnis 
spiegeln,  hat  Kant  die  Sicherheit  gegeben,  von  der  Vorstellung 
der  Zeit,  für  die  er  diese  nicht  weiter  analysierten  Erlebnisse 
nahm,  zu  sagen,  daß  sie  selbst  nicht  aufgehoben  werden  könne,  „ob 
man  ganz  wohl  die  Erscheinungen  aus  der  Zeit  wegnehmen  kann" . 

In  der  2.  Ausgabe  ist  das  2.  Zeitargument  nicht  ganz  parallel 
dem  2.  Raumargument  gebaut.  Durch  den  Einsatz  „als  die  Be- 
dingung ihrer  Möglichkeit"  ist  die  absolute  Notwendigkeit  ganz 
in  die  relative  verwandelt.  Kant  ist  hier  wie  überall  in  der 
2.  Ausgabe  viel  vorsichtiger;  er  verfährt  strenger  transzendental, 
„hat  aber  durch  diesen  Zusatz  den  eigentlichen  ßeweisnerv  ge- 
tötet" *).  Man  sieht  auch  hier,  daß  die  Aufdeckung  des  Apriori 
aus  dem  Erlebnis,  also  die  psychologische  Motivation  die  ur- 
sprüngliche war  und  daß  die  transzendentale  nachträgliche  Ein- 
kleidung das  ganze  Argument  seiner  Beweiskraft  beraubt. 

Das  3.  Zeitargument,  das  in  der  1.  und  2.  Ausgabe  der  „Kri- 
tik"   gleichlautet,   ist  parallel   gebaut   dem  3.  Raumargument  der 

1.  Ausgabe.  Hier  wird  aus  der  Apriorität  der  Zeitvorstellung,  — 
die  aber,  wie  gezeigt,  nur  psychologisch  im  1.  und  2.  Zeitargument 
deduziert  wurde  —  die  Apodiktizität  der  Zeitaxiome  abgeleitet. 
Auch  hier  muß  also  gelten,  was  an  entsprechender  Stelle  in 
analoger  Weise  schon  von  der  Apodiktizität  der  Geometrie  gesagt 
wurde,  daß  die  Apodiktizität  der  Zeitaxiome  nichteinAusgangs- 
punkt,    sondern   ein   Ergebnis   sei2).     In  dem   erst   in   der 

2.  Ausgabe  eingefügten  Kapitel  „Transzendentale  Erörterung  des 
Begriffs  der  Zeit"  beruft  sich  Kant  auf  Nr.  3  der  metaphysischen 
Erörterung,  wodurch  es  also  ganz  klar  wird,  —  worauf  schon  bei 
Besprechung  der  transzendentalen  Erörterung  des  Begriffs  vom 
Raum  hingewiesen  wurde  — ,  daß  Kant  in  der  transzendentalen 
Erörterung  das  Ergebnis  der  metaphysischen  verwendet,  die  Zeit 
also  nicht  transzendental  („Also  erklärt  unser  Zeitbegriff 
die  Möglichkeit  so  vieler  synthetischer  Erkenntnis  a  priori,  als 
die  allgemeine  Bewegungslehre,  die  nicht  wenig  fruchtbar  ist,  dar- 
legt"), als  Voraussetzung  der  Bewegungslehre  deduziert,  sondern 
psychologisch-introspektiv  aufgedeckt  wurde,  hier  also  eine 

1)  Vergl.  Vaihinger :  Kommentar.    2.  Bd.    S.  370. 

2)  Vergl.  oben  S.  324. 


328  Constanze  Friedmann, 

Verquickung  von  transzendentaler  mit  psychologischer  Methode 
vorliegt. 

Dieser  geht  wieder  parallel  die  Identifikation  der  von 
Kant  nicht  weiter  analysierten  Zeitvorstellung,  der  Zeit  als  Er- 
lebnis, der  Dauer  —  mit  der  Zeit  als  Begriff,  die  die  Voraus- 
setzung der  Mechanik  bildet,  mit  der  objektiv  metrischen  Zeit.  — 
Dem  Beweis,  daß  die  Zeit  (die  der  Bewegungslehre  zugrunde- 
liegende) nicht  Begriff,  sondern  Anschauung  sei,  sind  ja  bekanntlich 
das  4.  und  5.  Zeitargument  gewidmet.  —  Die  metrische  Zeit  hat 
sich  aus  dem  Zeitbewußtsein  heraus  entwickelt.  Mach  sagt:  „Ohne 
Zweifel  liegt  in  der  Verwendung  dieser  Mittel  (all  der  periodischen 
Vorgänge,  die  im  Organismus  reichlich  vertreten  sind)  der  Anfang 
der  physikalischen  Chronometrie" 1).  Im  Altertum  soll  die  sub- 
jektiv-psychologische Zeit  direkt  zur  Zeitmessung  benützt  worden 
sein.  So  erzählt  der  Diener  Ataxerxes  in  Hebbels  „Herodes  und 
Mariamne",  daß  er  am  Hof  des  Satrapen  Uhr  gewesen  sei.  —  Der 
zwanzigjährige  Galilei  fand  das  Gesetz:  die  Quadratwurzeln  aus 
den  Pendellängen  verhalten  sich  wie  die  Schwingungsdauern,  in- 
dem er  die  Schwingungsdauer  von  an  langen  Ketten  schwingenden 
Kirchenampeln  mit  seinen  Pulsschlägen  verglich2).  —  Die  me- 
trische Zeit  also,  die  auf  der  Zeitvorstellung  beruht  und  sich 
aus  ihr  entwickelt  hat,  ist  Voraussetzung  der  Mechanik.  Sie  wird 
durch  Vergleichung  physikalischer  Vorgänge  untereinander  mittelst 
des  Raumvikariates  gewonnen.  Nur  durch  die  Identifikation  der 
Zeitvorstellung  mit  der  metrischen  Zeit  wird  es  für  Kant  möglich, 
das  Ergebnis  der  metaphysischen  Erörterung  als  Antwort  auf  die 
transzendentale  Frage,  nach  der  apriorischen  Bedingung  der  Be- 
wegungslehre, zu  benützen,  d.  h.  die  psychologisch  aufgedeckte  Zeit- 
vorstellung als  Voraussetzung  der  Möglichkeit  der  Bewegungslehre 
aufzustellen. 

Die  Identifikation  von  Zeitanschauung  mit  Zeitbegriff  kommt 
aber  noch  an  anderer  Stelle  zum  Ausdruck,  dort,  wo  Kant  die 
Phänomenalität  unserer  inneren  Zustände  darauf  gründet,  daß  „wir 
die  Zeit,  die  doch  gar  kein  Gegenstand  äußerer  Anschauung  ist, 
uns  nicht  anders  vorstellig  machen  können,  als  unter  dem  Bilde 
einer  Linie,  sofern  wir  sie  ziehen,  ohne  welche  Darstellungsart 
wir  die  Einheit  ihrer  Abmessung  gar  nicht  erkennen  könnten,  un- 
gleichen,  daß  wir  die  Bestimmung  der  Zeitlänge,   oder  auch  der 

1)  Mach :  Erk.  u.  Irrtum.    S.  422. 

2)  E.  Lecher:  Lehrbuch  der  Physik.    S.  36. 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.     329 

Zeitstellen  für  alle  inneren  Wahrnehmungen  immer  von  dem  her- 
nehmen müssen,  was  uns  äußere  Dinge  Veränderliches  darstellen, 
folglich  die  Bestimmungen  des  innern  Sinns  gerade  auf  dieselbe 
Art  wie  Erscheinungen  in  der  Zeit  ordnen  müssen,  wie  wir  die 
der  äußeren  Sinne  im  Räume  ordnen  usw. "  *).  Erst  hierin  erblickt 
er  die  innere  Berechtigung  der  Lehre,  daß  „wir  uns  selbst  nur  so 
anschauen  wie  wir  innerlich  von  uns  selbst  affiziert  werden",  d.  h. 
daß  wir  „unser  eigenes  Subjekt  nur  als  Erscheinung,  nicht  aber 
nach  dem,  was  es  an  sich  selbst  ist"  erkennen,  während  er  sie 
als  Folge  aus  der  Trennung  in  Form  und  Inhalt  in  der  transzen- 
dentalen Ästhetik  noch  als  „widersprechend"  empfand,  als  „das 
Paradoxe,  was  jedermann  bei  der  Exposition  der  Form  des  innern 
Sinns  auffallen  mußte" 2).  Es  ist  aber  nach  dem  Vorhergesagten 
klar,  daß  der  hier  als  Beweis  für  die  Phänomenalität  der  inneren 
Zustände  angeführten  Projizierbarkeit  der  Zeit  in  den  Raum  eine 
unbewußte  Verquickung  von  Zeitanschauung  mit  Zeitbegriff  zu- 
grundeliegt, da  diese  ebenso  wie  die  Behauptung,  daß  die  Gerade  als 
Symbol  der  Zeit  vorgestellt  werden  könne,  nur  für  die  metrische 
homogene  Zeit,  den  Zeitbegriff  Geltung  hat,  während  die  psycho- 
logische Zeit,  die  Zeitanschauung,  „die  Form  des  innern  Sinns,  die 
das  Verhältnis  der  Vorstellungen  in  unserem  inneren  Zustand  be- 
stimmt", die  heterogene,  untrennbar  von  den  Bewußtseinsinhalten 
ein  für  alle  Male  mit  diesen  verschwindende  Zeit  nicht  als  Linie  vor- 
gestellt und  abgemessen  werden  kann.  —  Daß  Kant  in  der  Geraden 
ein  adäquates  Symbol  der  Zeitanschauung  erblickt,  hat  vielleicht 
auch  darin  seine  psychologische  Wurzel,  daß  diesem  Symbol  — 
wie  bei  Besprechung  der  produktiven  Einbildungskraft  noch  aus- 
geführt werden  wird  —  eine  motorische  Reaktion  mit  der  sub- 
jektiven Erlebnisseite  des  Spontaneitätsgefühls  zugrunde  liegt  und 
daß  hierin  eine  innere  Verwandtschaft  mit  der  psychologischen  Not- 
wendigkeit der  Zeitanschauung,  die  auf  die  uneliminierbaren  rhyth- 
mischen vitalen  Prozesse  zurückgeführt  wurde,  erlebt  wird.  —  So 
führt  die  unbewußte  Identifikation  von  Zeitanschauung  und  Zeit- 
begriff Kant  zu  verhängnisvollen  Konsequenzen,  indem  die  hierauf 
beruhende  Lehre  von  der  Phänomenalität  des  eigenen  Selbst  das 
Kant'sche  System  in  Widersprüche  verwickelt,  die  nur  durch  die 
Sprengung  seiner  Grenzen  aufgelöst  werden  können.    Das  Problem 


1)  Kr.  d.  r.  V.   2.  Ausg.    S.  122. 

2)  Ebenda  S.  120. 


330  Constanze  Friedmann, 

der  Freiheit  wird  innerhalb  des  konsequenten  Kantischen  Kriti- 
zismus unlösbar ;  ihre  Lösung  und  Erfüllung  kann  die  Freiheit  nur 
in  einem  intelligiblen  Reich  finden. 

Zu  ähnlichen  Ergebnissen  kommt  Bergson  von  einem  ganz 
anderen  Ausgangspunkte.  Er  sagt:  „Kants  Irrtum  bestand  darin, 
daß  er  die  Zeit  als  ein  homogenes  Medium  auffaßte"  und  so  die 
„Dauer"  mit]  dem  Zeit  begriff  identifizierte  —  infolgedessen  „die 
symbolische  Repräsentation  des  Ich  mit  dem  Ick  selbst" *).  Damit 
werde  aber  unser  in  der  Dauer  verfließendes,  sich  organisierendes 
Ich  zu  einem  Phantom-Ich,  die  psychischen  Tatsachen  könnten  nur 
erfaßt  werden,  indem  sie  nebeneinander  gereiht  und  von  einander 
geschieden  werden,  innerhalb  ihrer  müßte  dann  aber  dieselbe  Kau- 
salität herrschen  wie  in  den  äußeren  Erscheinungen,  weshalb  die 
Freiheit,  für  die  es  hier  keinen  Platz  geben  könne,  in  ein  intelli- 
gibles  Ich  gerettet  werden  müsse.  —  So  kommt  denn  Bergson 
vom  Begriff  der  Dauer  aus  zum  gleichen  Ergebnis  wie  wir,  die 
wir  von  der  Verquickung  transzendentaler  mit  psychologischer 
Methode  bei  Kant  ausgehend,  die  Identifikation  der  heterogenen, 
diskreten  Zeit,  der  Zeitanschauung"  mit  der  homogenen,  kontinuier- 
lichen,   verräumlichten  Zeit,    dem  Zeitbegriff  nachgewiesen  haben. 

II. 
Transzendentale  Analytik. 

Die  metaphysische  Deduktion  der  Kategorien,  ihre  Aufdeckung 
an  der  Hand  der  Urteilstafel,  will  ich  hier  übergehen.  Sie  wird 
damit  motiviert,  daß  der  Verstand,  der  mittels  seiner  Formen 
Ordnung  des  Mannigfaltigen  „Erfahrung"  zustande  bringe,  die 
Urteilsformen  der  formalen  Logik  konstituiere.  Ich  wende  mich 
der  transzendentalen  Deduktion  der  Kategorien  zu,  die  diese  als 
Bedingungen  der  Erfahrung  nachweisen,  ihr  „quid  iuris"  erweisen 
will.  „Die  Möglichkeit  einer  Verbindung  überhaupt"  sei  ein  Aktus 
der  Spontaneität  der  Vorstellungskraft.  Die  Kategorie  setze  schon 
Verbindung  und  Einheit  voraus2).  „Also  müssen  wir  diese  Ein- 
heit noch  höher  suchen,  nämlich  in  demj eiligen,  was  selbst  den 
Grund  der  Einheit  verschiedener  Begriffe  in  Urteilen,  mithin  die 
Möglichkeit  des  Verstandes  sogar  in  seinem  logischen  Gebrauche 
enthält."   Diese  letzte  Einheit,  auf  die  die  Kategorien  als  auf  ihre 


1)  Bergson:  Zeit  u.  Freiheit.    S.  182. 

2)  Kr.  d.  r.  V.    2.  Ausg.    S.  108. 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.     331 

Basis  zurückweisen,   ist  die  ursprünglich  -  synthetische  Einheit  der 
Apperzeption. 

Die  transzendentale  Einheit  der  Apperzeption. 
Nirgends  wird  es  so  klar,  daß  Kants  Transzendentalismus 
letzten  Endes  im  ursprünglichen  Erlebnis  gipfelt,  wie  an  dem 
höchsten  entscheidendsten  Punkte  seiner  theoretischen  Philosophie, 
bei  der  ursprünglich  -  synthetischen  Einheit  der  Apperzeption.  So 
wie  das  erlebte  Sollen  die  Voraussetzung  für  das  Bewußtwerden 
der  Freiheit  bildet  und  somit  den  Ankerpunkt  für  die  Auflösung 
der  Antinomien  und  den  Aufbau  einer  Metaphysik  als  eines  Po- 
stulatensystems,  so  bildet  das  Erlebnis  der  Spontaneität  und  Ak- 
tualität die  Grundlage  der  transzendentalen  Einheit  der  Apper- 
zeption. Allerdings  kann  hier  die  Verquickung  von  transzenden- 
taler mit  psychologischer  Methode  nicht  so  scharf  nachgewiesen 
werden  wie  dies  in  den  vorhergehenden  Kapiteln  geschah;  dennoch 
ist  es  für  denjenigen,  der  sich  in  das  Wesen  der  transzenden- 
talen Apperzeption  versenkt,  besonders  evident,  daß  Kant  hier 
aus  dem  Erlebnis  geschöpft  hat.  Die  analytische  Einheit  der 
Apperzeption,  die  darin  bestehen  soll,  daß  die  in  der  Anschauung 
gegebenen  Vorstellungen  als  mir  zugehörend,  als  die  meinen 
aufgefaßt  werden  „ist  nur  unter  der  Voraussetzung  der  synthe- 
tischen möglich".  Es  genügt  noch  nicht,  daß  ich  jede  Vor- 
stellung mit  Bewußtsein  begleite,  da  das  empirische  Bewußtsein 
an  sich  zerstreut  ist  und  ohne  Beziehung  auf  die  Identität  des 
Subjektes,  sondern  erst  dadurch,  daß  ich  eine  Vorstellung  zu  der 
anderen  hinzusetze  und  mir  der  Synthesis  derselben  bewußt  bin, 
wird  die  Beziehung  auf  die  Identität  des  Subjekts  geschaffen.  Der 
„Aktus  der  Spontaneität"  also,  der  sich  in  der  Vorstellung  des 
„Ich  denke  ..."  kundgibt,  schafft  die  Einheit  des  Selbstbewußt- 
seins. Kant  sagt:  „.  .  .  Der  Gedanke,  diese  in  der  Anschau- 
ung gegebenen  Vorstellungen  gehören  mir  insgesamt  zu,  heißt 
demnach  soviel,  als  ich  vereinige,  sie  in  einem  Selbstbewußtsein 
oder  kann  sie  wenigstens  darin  vereinigen  usw.".  Während 
in  der  empirischen  Apperzeption  Vorstellungen  mit  Bewußtsein 
begleitet  werden,  wird  in  der  transzendentalen  Apperzeption  die 
Apperzeptionstätigkeit  selbst  apperzipiert  oder  sie 
muß  zumindest  apperzipiert  werden  können.  Dies  die  Be- 
deutung des  „Ich  denke,  das  alle  meine  Vorstellungen  muß  begleiten 
können". 


332  Constanze  Friedmann, 

Es  handelt  sich  also  für  uns  darum  zu  begreifen,  was  diese  reine 
Spontaneität,  dieses  „Ich  denke  ..."  seinem  innersten  Wesen  nach 
ist  und  den  Beweggrund  aufzudecken,  der  Kant  dazu  veranlaßt, 
hierin  „die  Voraussetzung  der  Möglichkeit  einer  Verbindung  über- 
haupt", die  letzte  Voraussetzung  für  die  Möglichkeit  der  Er- 
kenntnis durch  Kategorien  zu  erblicken.  Wenn  wir,  um  dies  fest- 
zustellen, in  analogiam  zu  unserer  Kritik  der  Raum-  und  Zeit- 
anschauung hier  vorgehend  >  zunächst  im  gegebenen  komplexen 
Bewußtseins  Vorgang  von  den  Vorstellungen  abstrahieren,  so  bleibt 
etwas  im  Bewußtsein  zurück,  das  vorstellt,  das  Verbindungen  her- 
stellt; dem  Objekt  steht  das  Subjekt  gegenüber  und  dieses  erfassen 
wir  als  unser  empirisches  Ich.  Gehen  wir  nun  aber  auf  dem  Wege 
der  Abstraktion  weiter,  so  gelangen  wir  schließlich  zu  einem  aller 
Inhalte  entleerten  Ich,  von  dem  wir  kaum  etwas  auszusagen  ver- 
möchten ;  dennoch  hat  geradediesesletzteBand  der  wechseln- 
den Bewußtseinsinhalte  für  uns  vollste  Realität;  je  weniger  wir  von 
diesem  Ich  wissen,  umso  intensiver  fühlen,  erleben  wir 
es.  Das,  was  wir  hier  erleben,  ist  das  Gefühl  unserer 
eigenen  Spontaneität  und  Aktualität,  das  Minimum  des 
empirischen  Ich,  das  inhaltlich  unbestimmbar  ist  und  immer  dort 
vorhanden,  wo  ein  Ich  sich  noch  a]s  Ich  begreift.  —  Die  psycho- 
logische Notwendigkeit,  mit  der  dieses  latente  Aktionsgefühl 
erlebt  wird,  ist  für  Kant  bestimmend,  darin  das  logische, 
transzendentale  Ich  zu  erblicken. 

Wir  wissen  auch,  daß  bei  vollständiger  Hingabe  an  das  Objekt 
dieses  latente  Aktionsgefühl  schwindet  und  daß  dann  die  Vorstellungen 
nicht  mehr  als  zum  Ich  gehörende  aufgefaßt  werden,  der  Zustand 
des  Sichverlierens,  des  Sichvergessens,  der  Extase  eintritt.  Hier 
wäre  nach  Kant,  infolge  des  Verlustes  der  ursprünglich  -  syntheti- 
schen Einheit  der  Apperzeption,  auch  die  analytische  Einheit  der- 
selben aufgehoben,  während,  wie  die  Ergebnisse  der  psycho-patho- 
logischen  Forschungen  in  einwandfreier  Weise  kundtun,  in  diesen  und 
ähnlichen  parapsychologischen1)  und  pathologischen  Fällen  durch 
Ausfall  des  Gefühls  der  Spontaneität  das  normale  Selbst- 
bewußtsein einfach  verschwunden  ist.  Dieses,  im  gesunden  Seelen- 
leben, immer  bewußt  oder  unbewußt  erlebte  Minimum  des  empiri- 
schen Ich  kann  (subjektiv)  als  Komplex  von  Organ-  und  kinästhe ti- 
schen Empfindungen  und  deren  Kontinuität,  (objektiv)  als  Motilität 


1)  Vergl.  Dessoir:  Vom  Jenseits  der  Seele. 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.      333 

oder  Reaktionsfähigkeit  begriffen  werden.  Dort,  wo  diese  Konti- 
nuität durch  Veränderung  von  Organempfindungen  durchbrochen  ist, 
treten  dann  die  geschilderten  Phänomene  wie  auch  die  der  sogenannten 
Depersonalisation,  des  Doppelbewußtseins  usw.  auf.  Hierauf  kann 
im  Rahmen  dieser  Ausführungen  nicht  näher  eingegangen  werden, 
ebensowenig  auf  die  verschiedenen  Formen  von  Apraxie,  die  alle  auf 
Störungen  der  normalen  Motilität  und  der  Kinästhesien  zurückzu- 
führen sind.  Ich  habe  diese  Fälle  nur  erwähnt  alsBeleg  dafür,  daß 
das  Erlebnis  der  Aktualität  und  Spontaneität  die  größte  Bedeutung  für 
unser  Selbstbewußtsein  besitzt,  wodurch  klar  werden  soll,  daß  die 
erlebte  Spontaneität,  die  in  der  Vorstellung  des  „Ich  denke  . . ." 
ihren  Ausdruck  findet,  für  Kant  eine  so  große  Evidenz  erhält.  — 
Es  soll  noch  kurz  darauf  hingewiesen  werden,  daß  die  Reak- 
tion mit  ihrer  subjektiven  Seite:  der  erlebten  Aktivität  und  Spon- 
taneität die  Grundlage  für  die  Einprägung  in  das  Gedächtnis  und 
für  das  Wiedererkennen  bildet.  Bergson  führt  in  „Gedächtnis  und 
Materie"  x)  diesbezügliche  Experimente  an.  Hiemit  wäre  auch  für 
die  1.  Ausgabe  der  Kr.  d.  r.  V.,  in  der  die  verschiedenen  Stufen 
des  Erkennens  psychologisch  aufgelöst  werden  als:  Apprehension, 
Reproduktion  in  der  Einbildung  und  Rekognition  im  Begriff  das 
Motiv,  eine  transzendentale  Voraussetzung  zu  diesem  empirischen 
Bewußtseinsprozeß  zu  postulieren,  als  erlebtes  Aktionsgefühl 
dargetan. 

Produktive  Einbildungskraft  und  Schema. 
Vorerst  eine  Bemerkung  über  den  Zusammenhang  und  Gang 
der  „Kritik",  die  für  diese  Ausführungen  von  Belang  ist.  Die 
transzendentale  Deduktion  der  Kategorien  scheint  mir  im  Gegen- 
satz zu  Kuno  Fischer  nicht  in  dem  gleichnamigen  Kapitel  der 
„Analytik  der  Begriffe"  erschöpft  zu  sein.  Die  Rechtfertigung 
der  Kategorien  besteht  bekanntlich  darin,  daß  sie  „von  Seiten  des 
Verstandes  die  Gründe  der  Möglichkeit  aller  Erfahrung  überhaupt 
enthalten",  daß  sie  „den  Erscheinungen,  mithin  der  Natur,  als  In- 
begriff aller  Erscheinungen,   Gesetze  a  priori  vorschreiben",   d.  h. 


1)  Bergson  führt  S.  80  aus,  daß  Versuchspersonen,  die  eine  bestimmte  Silbe 
aussprechen  mußten,  während  man  ihnen  für  kurze  Zeit  Worte  zeigte,  sich  diese 
nicht  einprägen  konnten,  weil  sie  gehindert  waren,  die  nötigen  Artikulations- 
bewegungen auszuführen.  S.  84  Der  Seelenblinde  erkennt  Gegenstände,  die  ihm 
gezeigt  werden,  nicht  wieder,  obgleich  kein  Ausfall  früherer  Taterinnerungen  vor- 
handen ist. 


334  Constanze  Fried  mann, 

aber,  daß  die  Grundsätze,  die  das  System  der  Natur  ausmachen, 
„welches  vor  aller  empirischen  Naturerkenntnis  vorhergeht,  diese 
zuerst  möglich  macht  und  daher  die  eigentliche,  allgemeine  und 
reine  Naturwissenschaft  genannt  werden  kann  .  .  .  aus  reinen  Ver- 
standesbegriffen a  priori  herfließen".  —  Die  Tatsache  der  Grund- 
sätze "also  bildet  die  Rechtfertigung  der  Kategorien  und  gehört  zu 
ihrer  transzendentalen  Deduktion,  wenn  diese  auch  äußerlich  schon  vor- 
her abgeschlossen  erscheint.  —  Damit  es  aber  zu  Grundsätzen  kommen 
könne,  bedarf  es  einer  Versöhnung  der  diskreten,  scheinbar  unver- 
einbaren Elemente :  des  Verstandes  und  der  Sinnlichkeit,  der  Kate- 
gorien und  der  Erscheinungen.  Diese  Brücke  vom  rein  Intellek- 
tualen  zum  rein  Sinnlichen  wird  durch  die  produktive  Einbildungs- 
kraft mittelst  der  Zeitanschauung  gebaut,  die  das  transzendentale 
Schema  liefert.  So  gehört  also  der  Schematismus,  der  die  An- 
wendbarkeit der  Kategorien  auf  Erscheinungen  dartut,  meiner 
Auffassung  nach,  noch  zur  transzendentalen  Deduktion  der  Kate- 
gorien, während  nach  Kuno  Fischer  die  Anwendbarkeit  oder  Un- 
anwendbarkeit  der  Kategorien  ihre  bereits  „bewiesene  Geltung" 
gar  nicht  beeinflussen  kann1).  —  Es  soll  also  noch  an  der  pro- 
duktiven Einbildungskraft  und  dem  transzendentalen  Schema  ge- 
zeigt werden,  daß  auch  hier  Erlebnismomente  deren  Evidenz  be- 
gründen, ebenso  wie  dies  bei  der  transzendentalen  Einheit  der 
Apperzeption  der  Fall  war. 

Neben  der  transzendentalen  Einheit  der  Apperzeption,  welche 
eine  Verstandesverbindung  a  priori  darstellt,  (synthesis  intellec- 
tualis)  ist  nach  Kant  noch  eine  zweite  Synthesis  des  Mannigfaltigen, 
der  sinnlichen  Anschauung  a  priori  möglich  und  notwendig,  die 
„figürliche  Synthesis"  (synthesis  speciosa).  „.  .  .  ihre  (der  pro- 
duktiven Einbildungskraft)  Synthesis  ist  eine  Ausübung  der  Spon- 
taneität, welche  bestimmend  und  nicht  wie  der  Sinn  bloß  bestimm- 
bar ist,  mithin  a  priori  den  Sinn  seiner  Form  nach  der  Einheit 
der  Apperzeption  gemäß  bestimmen  kann  usw." 

In  einer  Anmerkung,  die  von  größter  Wichtigkeit  für  das 
Verständnis  dieser  Stelle  ist,  sagt  Kant2):  „Bewegung  eines  Ob- 
jekts im  Räume  gehört  nicht  in  eine  reine  Wissenschaft,  folglich 
auch  nicht  in  die  Geometrie,  weil,  daß  etwas  beweglich  sei,  nicht 
a  priori,    sondern   nur    durch    Erfahrung    erkannt   werden   kann. 


1)  Kuno  Fischer :  Gesch.  d.  Philos.    Bd.  3.    S.  377. 

2)  Kr.  d.  r.  V.   2.  Ausg.    S.  121  Anm. 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.     335 

Aber  Bewegung  als  Beschreibung  eines  Raumes  ist  ein  reiner 
Aktus  der  sukzessiven  Synthesis  des  Mannigfaltigen  in  der  äußeren 
Anschauung  überhaupt  durch  produktive  Einbildungskraft  und  ge- 
hört nicht  allein  zur  Geometrie,  sondern  sogar  zur  Transzendental- 
philosophie". Und  man  könnte  sagen,  daß  der  Text  des  §  24  der 
Kr.  d.  r.  Vern.  eher  eine  Erläuterung  dieser  Anmerkung  darstelle 
als  daß  das  Umgekehrte  der  Fall  wäre.  „Bewegung  als  Handlung 
des  Subjekts  ...  als  Beschreibung:  eines  Raumes"  ist  für  Kant  die 
Tat  der  produktiven  Einbildungskraft,  die  Spontaneität,  die  eine 
„Wirkung  des  Verstandes  auf  die  Sinnlichkeit  und  die  erste  An- 
wendung desselben  (zugleich  der  Grund  aller  übrigen)  auf  Gegen- 
stände der  uns  möglichen  Anschauung"  ist.  Diese  Spontaneität 
nun  gibt  sich  in  Kants  eigenen  Worten  in  folgendem  kund :  „Wir 
können  uns  keine  Linie  denken,  ohne  sie  in  Gedanken  zu  ziehen, 
keinen  Zirkel  denken,  ohne  ihn  zu  beschreiben,  die  drei  Abmessungen 
des  Raumes  gar  nicht  vorstellen,  ohne  aus  demselben  Punkte  drei 
Linien  senkrecht  auf  einander  zu  setzen  und  selbst  die  Zeit  nicht  *), 
ohne  indem  wir  im  Ziehen  einer  geraden  Linie  (die  die  äußerlich 
figürliche  Vorstellung  der  Zeit  sein  soll)  bloß  auf  die  Handlung 
der  Synthesis  des  Mannigfaltigen,  dadurch  wir  den  inneren  Sinn 
sukzessiv  bestimmen,  und  dadurch  auf  die  Sukzession  dieser  Be- 
stimmung in  demselben  Acht  haben  usw.".  Hier  ist  nun  der  Punkt, 
wo  mit  Klarheit  das  Motiv  zutage  tritt,  von  dem  in  diesen  Aus- 
führungen wiederholt  behauptet  wurde,  daß  es  verstecktermaßen 
eine  so  bedeutende  Rolle  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant 
spielt.  Daß  wir,  wenn  wir  uns  eine  Linie  denken  sollen,  sie  in 
Gedanken  ziehen  müssen,  besagt  nichts  anderes,  als  daß  der  Be- 
griff einer  Linie  stets  von  einer  Bewegungvorstellung 
begleitet  ist  oder  —  da  es  ein  aus  der  Psychologie  bekanntes 
Fakum  ist,  daß  Bewegungsvorstellungen  die  Tendenz  haben  in  Be- 
wegungen überzugehen  —  daß  mit  dem  Begriffe  einer  Linie  eine 
wirkliche  motorische  Reaktion  mit  den  damit  verbun- 
denen kiji  ästhetischen  Empfindungen  gegeben  ist.  Noch 
stärker  kann  diese  Auffassung  betont  werden  durch  den  Hinweis 
auf  die  Theorie  Stöhrs,  für  den  nur  durch  die  Bewegung  der  Er- 
zeugung der  Geraden  der  Begriff  derselben  zustande  kommt,  d.  h. 
„das  Begreifen  an  der  Bewegung,  nicht  die  Bewegung  am  Begreifen"  2) 


1)  Vergl.  oben  über  die  Ableitung  der  reinen  Anschanungsform  Zeit. 

2)  Vergl.  Stöhr:  Psychologie.    S.  333. 


336  Constanze  Friedmann, 

hängt.  Das  also,  was  Kant  als  Tat  eines  transzendentalen  Ver- 
mögens, als  „reinen  Aktns  der  sukzessiven  Synthesis  des  Mannig- 
faltigen in  der  äußeren  Anschauung"  auffaßt,  enthüllt  sich  uns  als 
eine  begriffsbildende  motorische  Reaktion  mit  ihrer  subjektiven 
Erlebnisseite:  dem  Gefühl  der  Aktualität  und  Spontaneität,  das 
sich  mit  psychologischer  Notwendigkeit  und  Evidenz  kundgibt. 

Es  erhellt  aus  dem  Vorhergehenden,  daß  wir  auch  die  Evi- 
denz des  Schemas,  „des  transzendentalen  Produktes  der  Einbildungs- 
kraft", das  durch  seine  sowohl  intellektuelle  als  auch  sinnliche  Be- 
schaffenheit die  Anwendung  der  Kategorien  auf  Erscheinungen 
ermöglichen  soll,  in  analoger  Weise  wie  die  der  transzendentalen 
Einbildungskraft  selbst,  auf  Motilität  und  Aktionsgefühle  zurück- 
führen können.  Daher  will  ich  hier  nur  ganz  kurz  das  Schema 
der  Sukzession  erörtern.  „So  bringt  der  Verstand",  sagt  Kant, 
„sogar  den  Begriff  der  Sukzession  zuerst  hervor,  indem  er  den 
inneren  Sinn  affiziert".  Wir  haben  schon  bei  Besprechung  der 
Ableitung  der  reinen  Anschauungsform  Zeit  darauf  hingewiesen, 
daß  Tatsache  des  Erlebens  immer  nur  gleichzeitige  oder  auf  ein- 
ander folgende  Bewußtseinszustände  seien,  wobei  wir  hier  nur 
letztere  zu  berücksichtigen  haben.  „Eine  Sukzession  von  Bewußt- 
seinszuständen  an  und  für  sich  ist  aber  noch  kein  Sukzessions- 
bewußtsein" l).  Dieses  besteht  in  der  Vorausnahme,  ♦Erwar- 
tung solcher  Ereignisse,  die  wir  als  anderen  sukzedierend  erlebt 
haben  und  die  dann  auftritt,  wenn  die  ersten  Ereignisse  in  Er- 
scheinung treten.  Mit  dem  Auftreten  einer  ErscheinuDg  A  ist  eine 
Erwartung,  Vorausnahme,  Bereitschaft  auf  eine  Erscheinung  B 
unmittelbar  verknüpft,  der  eine  motorische  Reaktion,  verbunden 
mit  der  von  der  Vorstellung  A  noch  nicht  „dissoziierten"  Vor- 
stellung B2),  zugrunde  liegt.  Hieraus  leitet  sich  also  der  Begriff 
der  Sukzession  ab,  der  die  unmittelbare  Provenienz  aus  dem  Er- 
lebnis in  psychologischer  Notwendigkeit  kundtut,  die  wiederum 
von  Kant  als   reine  Spontaneität   des  Verstandes   gedeutet   wird. 

Die  Spontaneität,  die  nach  Kant  „eine  und  dieselbe  ist  ..., 
welche  dort  unter  dem  Namen  der  Einbildungskraft,  hier  des 
Verstandes  Verbindung  in  das  Mannigfaltige  der  Anschauung 
hineinbringt" 3),  wurde  demnach  darauf  zurückgeführt,  daß  sowohl 


1)  James :  Psychol.    S.  286. 

2)  Vergl.  Stöhr :  Psychol.    S.  367. 

3)  Kr.  d.  r.  V.    2.  Ausg.    S.  126. 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.      337 

der  produktiven  Einbildungskraft  und  dem  Schema  wie  auch  der 
transzendentalen  Einheit  der  Apperzeption  Spontaneitätsgefühle 
zugrundeliegen,  die  deren  unmittelbare  Evidenz  begründen. 

Die  Kategorie  der  Kausalität  und  die  J2.  Analogie  der  Erfahrung. 

Nachdem  wir  den  Begriff  der  Sukzession  auf  sein  psycholo- 
gisches Fundament  zurückgeführt  haben,  wollen  wir  nun  endlich 
zur  Erörterung  der  Kategorie  der  Kausalität  und  der  2.  Analogie 
der  Erfahrung  übergehen.  —  Das  Kant' sehe  System  ist  trotz  der 
vielen  Widersprüche,  die  in  ihm  liegen  und  der  Voraussetzungen, 
die  oft  das  zu  Beweisende  vorwegnehmen  oder  vielleicht  gerade 
infolge  dieser  Unvollkommenheiten  und  auch  der  historischen  Be- 
dingtheiten desselben  —  ein  so  geschlossenes  Ganzes,  daß  es  un- 
endlich schwer  ist,  eine  Bresche  zu  schlagen  und  bis  zum  innersten 
Teil  dieser  Festung  vorzudringen,  deren  Mauern,  Türme  und  Tore 
die  grandiose  Architektonik  der  sich  gegenseitig  stützenden  Begriffe 
und  Gedanken  darstellt.  In  dieses  innerste  Herz  der  Kantischen 
Philosophie  aber  gilt  es  einzudringen,  wenn  wir  daran  gehen  wollen, 
die  Kategorie  der  Kausalität  und  die  auf  ihr  beruhende  2.  Ana- 
logie der  Erfahrung  kritisch  zu  betrachten. 

Hier  laufen  alle  Gedankengänge,  alle  von  verschiedenen  Aus- 
gangspunkten kommenden  Fragestellungen  des  Kantischen  Systems 
zusammen  und  von  hier  aus  gehen  sie  wieder  in  die  verschieden- 
sten Richtungen  auseinander. 

Bekanntlich  war  es  der  schwere  Angriff,  den  David  Hume 
auf  die  Metaphysik  machte,  indem  er  behauptete,  daß  der  Begriff 
der  Verknüpfung  der  Ursache  und  Wirkung  zu  Unrecht  als  von  der 
Vernunft  erzeugt,  als  a  priori  gedacht,  dargestellt  werde,  der  den 
Kantischen  Untersuchungen  „im  Felde  der  spekulativen  Philosophie 
.  .  .  eine  ganz  .  .  .  andere  Richtung"  gab,  Kant  „aus  dem  dogma- 
tischen Schlummer  erweckte" 1).  Und  weiter  ist  bekannt,  daß 
Kant  versuchte,  „ob  sich  nicht  Humes  Einwarf  allgemein  vorstellen 
ließe"  und  daß  er  bald  fand:  „daß  der  Begriff  der  Verknüpfung 
der  Ursache  und  Wirkung  bei  weitem  nicht  der  einzige  sei,  durch 
den  der  Verstand  a  priori,  sich  Verknüpfungen  der  Dinge  denkt, 
vielmehr,  daß  Metaphysik  ganz  und  gar  daraus  bestehe".  So  er- 
weiterte sich  denn  für  Kant  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  einer 
Metaphysik,  die  durch  den  Hume'schen  Zweifel  angeregt  war,  zu 
einer  ganz  neuen  Wissenschaft,   die  den  Umfang  und  die  Grenzen 

1)  Prol.  S.  13. 

Kantstudien  XXVL  22 


338  Constanze  Friedmann, 

des  reinen  Vernnnftvermögens  bestimmen  sollte.  Und  das  Ergebnis 
ist :  die  Einschränkung  apriorischer  Erkenntnisse  auf  Erscheinungen, 
damit  verbunden  die  Verneinung  der  Möglichkeit  einer  Metaphysik 
als  der  Wissenschaft  von  den  Dingen  an  sich,  dagegen  ihre  Rettung 
als  eines  Systems  des  Glaubens.  — 

Daß  es  apriorische  Erkenntnisse  geben  müsse,  stand  für  Kant  fest, 
war  ihm  durch  die  Dignität  der  Mathematik  und  Naturwissenschaft 
verbürgt.  Hierin  liegt  seine  eingangs  besprochene  historische 
Bedingtheit,  das  Festhalten  am  rationalistischen  Ausgangspunkt. 
Gerade  das  Experiment,  das  Galilei  und  Toricelli  zuerst  anwandten, 
ist  für  Kant  ein  Beweis,  daß  „die  Vernunft  nur  das  einsieht,  was 
sie  selbst  nach  ihrem  Entwürfe  hervorbringt,  daß  sie  mit  Prinzipien 
ihrer  Urteile  nach  beständigen  Gesetzen  vorangehen  und  die  Natur 
nötigen  müsse,  auf  ihre  Fragen  zu  antworten,  nicht  aber  sich  von 
ihr  allein  gleichsam  am  Leitbande  gängeln  lassen  müsse ;  denn  sonst 
hängen  zufällige,  nach  keinem  vorher  entworfenen  Plane  gemachte 
Beobachtungen  gar  nicht  in  einem  notwendigen  Gesetze  zusammen, 
welches  doch  die  Vernunft  sucht  und  bedarf"  *).  Die  Grundsätze 
sind  „die  beständigen  Gesetze",  welche  vorangehen  müssen,  welche 
nach  der  Kopernikanischen  Wendung  „die  Natur,  als  Inbegriff  der 
Erscheinungen,  erst  möglich  machen".  —  Für  eine  nicht  auf  dem 
Boden  des  Rationalismus  stehende  Auffassung  ist  es  nicht  einzu- 
sehen, warum  derartige  Grundsätze,  Prinzipien,  mittels  derer  Fragen 
an  die  Natur  gestellt  werden,  aus  reiner  Vernunft  entspringen 
müssen,  warum  sie  nicht,  im  Laufe  der  Entwicklung  selbst  ge- 
wordene, heuristische  Prinzipien  sein  können.  —  Eine  weitere 
Voraussetzung  liegt  darin,  daß  nach  Kant  die  Gesetze  des 
empirischen  Seins  den  Gesetzen  des  logischen  Denkens  entsprechen 
müssen,  daß  also  der  Verstand,  der  durch  seine  synthetische  Einheit 
die  Erfahrung  zustande  bringt,  derselbe  ist,  der  vermittelst  der  ana- 
lytischen Einheit  die  Urteilsformen  konstituiert,  m.  a.  W.  die  logi- 
schen Formen  ontologische  Bedeutung  besitzen  müssen.  —  Auf 
diese  Voraussetzung  gründet  sich  die  metaphysische  Deduktion  der 
Kategorien  aus  der  Urteilstafel,  während  die  transzendentale  De- 
duktion derselben  (die  in  dem  Nachweis  besteht,  daß  nur  durch  die 
Kategorien  und  die  aus  ihnen  fließenden  Grundsätze  „Erfahrung"^ 
möglich  sei,  welche  aber  gewährleistet  ist  durch  die  Tatsache  der 
Mathematik  und  reinen  Naturwissenschaft)  die  Voraussetzung  in 


1)  Vorr.  z.  Kr.  d.  r.  V.    2.  Ausg.    S.  10. 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.     339 

sich  trägt,  daß  es  apriorische  Vernunftfaktoren  sein  müssen,  die  — 
im  Zusammentreffen  mit  den  aposteriorischen  Elementen  —  „Er- 
fahrung", „allgemeine  und  notwendige  Erkenntnisse"  zustande 
bringen.  —  So  haben  wir  denn  in  der  doppelten  Deduktion  der 
Kategorien  die  Voraussetzung  nachgewiesen,  die  im  dogmatischen 
Glauben  an  apriorische  Erkenntnisbestandteile  besteht  und  auf  die 
sich  letzten  Endes  die  (metaphysisch:  aus  der  Urteilstafel,  trans- 
zendental: aus  dem  Prinzip  der  Möglichkeit  der  Erfahrung  ab- 
geleitete) Apriorität  des  transzendentalen  Faktors  der  Erkenntnis 
gründet. 

Der  Kritizismus  besteht  demnach  nicht  insofern  in  einer  Über- 
windung des  Dogmatismus,  daß  er  fragen  würde,  o  b  es  apriorische 
Erkenntnisse  geben  könne  —  ihre  Existenz  steht  für  Kant  außer 
Zweifel  —  sondern  nur  insofern  er  die  Machtvollkommenheit  der 
apriorischen  Erkenntnisse  auf  Erscheinungen  restringiert,  die  Meta- 
physik als  die  Wissenschaft  von  den  Dingen  an  sich  negiert.  — 
Die  Kategorie  der  Kausalität,  deren  Verleumdung  von  Seiten  Humes 
als  „Bastard  der  Einbildungskraft,  beschwängert  durch  Erfahrung" 
den  Anstoß  zur  theoretischen  Philosophie  Kants  gegeben  hat,  bildet 
nicht  nur  den  Zentralpunkt  der  transzendentalen  Analytik,  sondern 
auch  den  Punkt,  wo  die  theoretische  Philosophie,  an  der  Grenze 
des  Erkennens  angelangt,  in  praktischen  Glauben  umschlägt.  Und 
zwar  leistet  die  Kategorie  der  Kausalität  hier  einen  doppelten 
Dienst.  Erstens  dient  sie  per  nefas  zur  Einführung  des  Dinges 
an  sich  als  Ursache  der  Erscheinung,  der  transzendentalen  Affektion, 
wenn  auch  nur  als  eines  „noumenon  im  negativen  Verstände",  eines 
Grenzbegriffes,  eines  unbestimmten  X.  Zweitens  aber  wird  in  der 
Auflösung  der  3.  Antinomie  das  Gesetz  der  Kausalität  als  nur 
giltig  im  Reiche  der  Erscheinungen  dargelegt,  während  für  die 
Dinge  an  sich  die  Freiheit  gelten  muß,  die  als  praktische  Idee 
unser  Handeln  bestimmen  soll.  So  führt  die  theoretische  Philo- 
sophie, ihren  Ausgangspunkt  von  der  Begründung  der  Kausalität 
als  einer  apriorischen  Kategorie  nehmend,  zur  Negation  der  Meta- 
physik als  Wissenschaft,  zu  ihrer  Wiederaufrichtung  als  Glaubens- 
system. „Ich  mußte  das  Wissen  aufheben,  um  zum  Glauben  Platz 
zu  bekommen",  sagt  Kant  in  der  Vorrede  zur  Kr.  d.  r.  V. 

In  die  nähere  Besprechung  der  Kategorie  der  Kausalität  und 
der  zweiten  Analogie  der  Erfahrung  nun  eingehend,  ist  also  vor- 
erst zu  sagen:  der  eine  der  beiden  sich  gegenseitig  oft  durch- 
dringenden Faktoren,   von  denen  zu  Beginn   dieser  Ausführungen 

22* 


340  Constanze  Frieämann, 

gesagt  wurde,  daß  sie  an  den  Inkonsequenzen  des  Kantischen  Sy- 
stems Schuld  tragen  (nämlich:  die  historische  Bedingtheit  des 
Kantischen  Denkens,  die  im  Festhalten  am  rationalistischen  Aus- 
gangspunkt besteht,  im  Glauben,  daß  nur  Erkenntnisse  aus  reiner 
Vernunft  oder  doch  zumindest  Erkenntnisse,  deren  ein  Bestandteil 
aus  reiner  Vernunft  entspringt  —  allgemeine  und  notwendige  Er- 
kenntnisse sein  können,  wie  sie  in  Mathematik  und  Naturwissen- 
schaft vorliegen)  wurde  als  stillschweigende  Voraussetzung  der 
ganzen  Kantischen  theoretischen  Philosophie  und  insbesondere  der 
transzendentalen  Analytik  nachgewiesen. 

Gemäß  dieser  Voraussetzung  entsteht  aus  dem  Wahrnehmungs- 
urteil, „der  logischen  Verknüpfung  von  Wahrnehmungen  in  einem 
denkenden  Subjekt",  erst  durch  das  Hinzukommen  von  „besonderen, 
im  Verstand  ursprünglich  erzeugten  Begriffen  . . .  das  Erfahrungs- 
urteil"  1).  Objektive  Gültigkeit  und  notwendige  Allgemeinheit  sind 
Wechselbegriffe,  deren  ersterer  auf  die  Allgemeingiltigkeit  der  em- 
pirischen Urteile  zurückgeht,  „die,  wie  gesagt,  niemals  auf  empiri- 
schen, ja  überhaupt  sinnlichen  Bedingungen,  sondern  auf  einem  reinen 
Verstandesbegriffe  beruht" 2).  Und  in  transzendentaler  Fassung  aus- 
gedrückt, ist:  „Erfahrung",  „Erkenntnis"  nur  möglich,  wenn  Er- 
scheinungen unter  reine  apriorische  Verstandesbegriffe  subsumiert 
werden.  •—  Daß  es  sich  bei  den  Analogien  der  Erfahrung  nicht 
um  direkte  Subsumption  der  Erscheinungen  unter  Kategorien, 
sondern  um  Subsumption  unter  deren  Schemata  handelt,  ist  für 
den  allgemeinen  Gesichtspunkt,  den  es  hier  vor  allem  klarzulegen 
gilt,  irrelevant.  —  „Also  ist  nur  dadurch,  daß  wir  die  Folge  der 
Erscheinungen,  mithin  alle  Veränderung  dem  Gesetze  der  Kausalität 
unterwerfen ,  selbst  Erfahrung ,  d.  i.  empirische  Erkenntnis  von 
denselben,  möglich;  mithin  sind  sie  selbst  als  Gegenstände  der  Er- 
fahrung nur  nach  eben  dem  Gesetze  möglich3).  „Der  Hume'sche 
Angriff  auf  das  Gesetz  der  Kausalität,  daß  es  ein  propter  hoc 
dort  statuiere,  wo  ein  häufiges  post  hoc  durch  Erfahrung  gegeben 
sei  und  damit  nur  einer  inneren  subjektiven  Nötigung  nachkomme, 
wird  von  Kant  durch  den  Nachweis  widerlegt,  daß  ein  objektives 
post  hoc  erst  durch  Voraussetzung  einer  Regel,  nach  der  die  Er- 
scheinungen notwendig  aufeinander  folgen,  möglich  wird.   Von  der 


1)  Prol.  S.  78. 

2)  Ebenda. 

3)  Kr.  d.  r.  V.    2.  Ausg.    S.  168. 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.      341 

Frage  nach  der  Berechtigung  ausgehend,  die  in  der  Apprehension 
jederzeit  sukzessiv  gegebenen  Vorstellungen  objektiv  einander  suk- 
zedieren  zu  lassen,  kommt  Kant  zum  Resultat,  daß  „ .  .  .  es  immer 
in  Rücksicht  auf  eine  Regel,  nach  welcher  die  Erscheinungen  in 
ihrer  Folge,  d.  i.  soweit  sie  geschehen,  durch  die  vorigen  Zustände 
bestimmt  sind,  .  .  .  geschieht,  .  .  .  daß  ich  meine  subjektive  Syn- 
thesis  (Apprehension)  objektiv  mache,  und  nur  lediglich  unter 
dieser  Voraussetzung  allein  ist  selbst  die  Erfahrung  von  etwas, 
was  geschieht,  möglich"  1).  Die  2.  Analogie  der  Erfahrung  in  der 
1.  Ausgabe  lautend:  „Alles,  was  geschieht  (anhebt  zu  sein),  setzt 
etwas  voraus,  worauf  es  nach  einer  Regel  folgt"  —  ist  also  ein 
regulatives  apriorisches  Prinzip,  allerdings  nur  im  empirischen  Ge- 
brauch. Den  Nachweis  dafür  will  Kant  durch  Beispiele  erbringen. 
„Es  kommt  also  darauf  an,  im  Beispiele  zu  zeigen,  daß  wir  niemals, 
selbst  in  der  Erfahrung,  die  Folge  (einer  Begebenheit,  da  etwas 
geschieht,  was  vorher  nicht  war)  dem  Objekt  beilegen  und  sie  von 
der  subjektiven  unserer  Apprehension  unterscheiden,  als  wenn  eine 
Regel  zum  Grunde  liegt,  die  uns  nötigt,  diese  Ordnung  der  Wahr- 
nehmungen viel  mehr  als  eine  andere  zu  beobachten,  ja  daß  diese  Nö- 
tigung es  eigentlich  sei,  was  die  Vorstellung  einer  Sukzession  im 
Objekt  allererst  möglich  macht"2). 

Wir  werden  also  vorerst  zu  zeigen  haben,  daß  Kant  die  Auf- 
gabe, die  er  sich  gestellt  hat,  keineswegs  löst,  da  er  in  den  Bei- 
spielen niemals  bis  zu  einer  Regel  vordringt,  welche  dazu  be- 
rechtigen würde,  die  subjektiv  sukzessive  Apprehension  objektiv 
zu  machen,  sondern  daß  es  sich  hier  immer  nur  um  eine  anderswo- 
her gewonnene  Kenntnis  des  sachlichen  Zusammenhanges 
handelt,  die  also  für  den.  betreffenden  Fall  a  priori  ist,  dies  aber 
nicht  in  dem  strengen  Sinne  des  Wortes,  da  sie  doch  ihrerseits  aus 
Erfahrung  stammt. 

Wir  wissen,  daß  ein  flußabwärts  treibendes  Schiff  zuerst 
im  Ober-  und  dann  im  Unterlauf  des  Flusses  als  „Wahrnehmungs- 
möglichkeit"  existiert  und  geben  infolgedessen  unserer  subjektiven 
Apprehension  objektive  Giltigkeit.  Die  Sukzession  in  der  subjek- 
tiven Apprehension  muß  keineswegs  immer  parallel  gehen  der 
objektiven  Folge  der  Erscheinungen;  immer  ist  es  nur  die  Kenntnis 
des  sachlichen  Zusammenhanges,  die  über  Übereinstimmung  oder 
Nichtübereinstimmung  derselben  aufklärt.  —  Ein  interessantes,  von 

1)  Kr.  d.  r.V.    2.  Ausg.   S.  171. 

2)  Ebenda. 


342  Constanze  Friedmann, 

Mach  in  anderem  Zusammenhange  angeführtes  Beispiel,  ist  folgendes. 
In  der  „Analyse  der  Empfindungen"  heißt  es:  „Es  ist  bekannt,  daß 
ein  optischer  Eindruck,  der  physisch  später  entsteht,  unter  Um- 
ständen dennoch  früher  erscheinen  kann.  Es  kommt  z.  B.  vor,  daß 
der  Chirurg  beim  Aderlassen  zuerst  das  Blut  austreten  und  dann 
den  Schnepper  einschlagen  sieht" *).  Die  objektive  Folge :  Ein- 
schlagen des  Schneppers  —  Blutaustritt,  kann  also  nicht  durch 
die  subjektive  Apprehensioh  bestimmt  werden,  sondern  nur  gemäß 
der  Kenntnis  des  sachlichen  Zusammenhanges.  Von  einem  Apriori 
kann  hier  nur  in  dem  Sinne  gesprochen  werden,  in  dem  Kant  selbst 
in  der  Einl.  z.  Kr.  d.  r.  V.  seinemApriori  ein  Apriori  in  nicht 
stringent er  Bedeutung  gegenüberstellt,  nämlich:  „nicht  unmittelbar 
aus  der  Erfahrung,  sondern  aus  einer  allgemeinen  Regel,  die  wir 
gleichwohl  selbst  doch  aus  der  Erfahrung  entlehnt  haben".  Er 
führt  an,  daß  man  von  jemand,  der  das  Fundament  seines  Hauses 
untergräbt,  sagen  wird:  „Er  konnte  es  a  priori  wissen,  daß  es 
einfallen  würde,  d.  i.  er  durfte  nicht  auf  die  Erfahrung,  daß  es 
wirklich  einfiele,  warten.  .  .  .  Allein"  fügt  Kant  hinzu,  „gänzlich 
a  priori  konnte  er  dieses  doch  nicht  wissen,  denn  daß  die  Körper 
schwer  sind  und  daher,  wenn  ihnen  die  Stütze  entzogen  wird, 
fallen,  mußte  ihm  doch  zuvor  durch  Erfahrung  bekannt  werden". 
Und  genau  dasselbe  läßt  sich  auf  alle  von  Kant  selbst  als  Beleg 
für  die  transzendentale  Deduktion  und  gleichzeitig  als  Widerlegung 
der  Hume'schen  Theorie  des  Kausalitätsgesetzes  angeführten  Bei- 
spiele sagen.  Die  subjektiv  sukzessive  Apprehension 
wird  objektiv  durch  die  für  den  betreffenden  Fall  a 
priori  gegebene  Kenntnis  des  sachlichen  Zusammen- 
hanges. 

Auch  inbezug  auf  das  Beispiel  von  der  Stubenwärme,  deren 
„Ursache  der  Ofen"  ist  und  inbezug  auf  das  vom  „Grübchen  im 
Kissen,  .  .  .  dessen  .  .  .  Ursache  die  Kugel"  ist,  muß  gesagt  werden, 
daß  die  Nichtumkehrbärkeit  des  Abhängigkeitsverhält- 
nisses der  Erscheinungen,  auf  die  hier  „die  objektive  Suk- 
zession in  der  Zeit"  reduziert  ist 2),  (da  es  sich  doch  eben  um  gleich- 
zeitige Erscheinungen  handelt)  auf  der  für  den  betreffenden 
Fall  a  priori  (aber  dennoch  aus  Erfahrung)  gegebenen  Kenntnis 
des  sachlichen  Zusammenhanges  beruht.  Im  ersten  Beispiele  wissen 
wir,  daß  das  Feuer  im  Ofen  einen  Raum  erwärmt  und  ebenso  wissen 

1)  Mach:  Anal,  der  Empfindungen.    S.  195. 

2)  Worauf  noch  zurückzukommen  ist. 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.     343 

wir  im  zweiten,  daß  das  Kesistenzvermögen  des  Kissens  ein  ge- 
ringeres ist  als  das  Gewicht  der  Kugel  und  daß  aus  dieser  Prä- 
misse —  zusammen  mit  dem  allgemeinen  Gesetz  von  der  gleichen 
Aktion  und  Reaktion  der  Kräfte  —  der  Schluß  folgt:  also  wird 
die  Kugel  einen  Druck  ausüben,  der  größer  ist  als  der  Gegendruck 
des  Polsters. 

So  haben  wir  also  durch  Analyse  dieser  Beispiele  gezeigt, 
daß  Kant  garnicht  bis  zu  einem  transzendental  apriorischen  Prinzip, 
das  aller  Erfahrung  vorhergehen  müsse,  damit  aus  subjektiv  suk- 
zessiver Apprehension  objektive  Folge  der  Erscheinungen  werden 
könne,  vorgedrungen  ist,  sondern  daß  es  sich  in  diesen  Beispielen 
vielmehr  immer  nur  um  eine  jeweils  schon  gegebene  Kenntnis  des 
sachlichen  Zusammenhanges  handelt,  die  die  Übereinstimmung  oder 
Nichtübereinstimmung  der  subjektiv  sukzessiven  Apprehension  mit 
der  objektiven  Folge  der  Erscheinungen  (resp.  die  Nichtumkehrbar- 
keit  des  Abhängigkeitsverhältnisses  derselben)  bestimmt. 

Wollen  wir  aber  im  Sinne  Kants  fragen,  wie  die  Kenntnis 
eines  sachlichen  Zusammenhanges  möglich  sei,  ob  hier  nicht  aprio- 
rische Yerstandesgesetze  als  Voraussetzung  vorhergehen  müßten, 
so  kommen  wir  zu  dem  Ergebnis :  Voraussetzung  für  eine  Wissen- 
schaft und  Erkenntnis  ist  die  Annahme  der  Konstanz  und  des 
Zusammenhanges  der  Erscheinungen,  welche  Formulierung  im  we- 
sentlichen dem  allgemein  für  die  Analogien  der  Erfahrung  gel- 
tenden Prinzip  („Erfahrung  ist  nur  durch  die  Vorstellung  einer 
notwendigen  Verknüpfung  der  Wahrnehmungen  möglich")  ent- 
spricht. Die  Frage  würde  sich  also  dahin  zuspitzen,  ob  dieses 
letzte  allgemeine  Prinzip,  um  allgemeine  Notwendigkeit  und  ob- 
jektive Giltigkeit  zu  garantieren,  aus  reiner  Vernunft  stammen 
müsse.  Und  da  werden  wir  sagen,  daß  eine  Bejahung  nur  durch 
die  oben  besprochene  rationalistische  Voraussetzung  motiviert  sei, 
während  für  unsere  Auffassung  die  Konstanz  und  der  Zusammen- 
hang der  Erscheinungen  ein,  biologisch  (in  dem  Streben  nach  Sta- 
bilität) und  psychologisch  (im  Assoziationsmechanismus)  fundiertes,  im 
Laufe  der  Entwicklung  gewonnenes,  •  für  die  Forschung  unentbehr- 
liches, heuristisches  Prinzip  darstellt.  Paulsen  neigt  auch  hinsicht- 
lich des  Kant'schen  Kausalitätsgesetzes  letzterer  Auffassung  zu: 
„.  .  .  Freilich  ist  es  dann  nicht  ein  schlechthin  notwendiges  und 
allgemeines  Gesetz,  sondern  wie  alle  Naturgesetze,  ein  bloß  prä- 
sumtiv allgemein  giltiger  Satz".  Und  an  anderer  Stelle:  „Und  so 
das  Gesetz  der  Kausalität  überhaupt :  es  ist  die  letzte  axiomatische 


344  Constanze  Friodmann, 

Voraussetzung,  womit  die  Wissenschaft  an  ihr  Werk  geht,  aber 
nicht  ein  starres  Aprioribesitztum,  sondern  in  der  Arbeit  an  ge- 
gebenem Material  gebildet,  was  denn  im  Grunde  auch  Kants  An- 
schauung ist,  nur  daß  die  Angst  vor  dem  Skeptizismus  Humes  ihn 
hindert,  es  so  auszusprechen" x).  Die  Rettung  vor  dem  „bodenlosen 
Skeptizismus"  erschien  aber  Kant  in  der  Gestalt  eines  rationali- 
stischen —  wenn  auch  begrenzten  —  Dogmatismus;  dies  eben  die 
historische  Schranke  seines  Denkens. 

Daß  wir  an  Stelle  des  Kausalitätsgesetzes  „die  Konstanz  und 
den  Zusammenhang  der  Erscheinungen"  als  letzte  Voraussetzung 
der  Wissenschaft  postulierten  —  als  Voraussetzung  der  Erfahrung 
im  Sinne  der  Kenntnis  eines  sachlichen  Zusammenhanges,  die  allein 
dazu  berechtigt,  die  subjektiv  sukzessive  Apprehension  als  objektive 
Folge  der  Erscheinungen  aufzustellen,  hat  darin  seinen  Grund,  daß 
letztere  Formulierung  genauer  ist  als  das  Kausalitätsgesetz,  dem 
„Unvollständigkeit,  Unbestimmtheit  und  Einseitigkeit" 2)  anhaftet. 
Schon  Kant  gibt  zu,  daß  sich  hier  eine  „Bedenklichkeit"  äußert, 
„die  gehoben  werden  muß.  Der  Satz  der  Kausalverknüpfung  unter 
den  Erscheinungen  ist  in  unserer  Formel  auf  die  Reihenfolge  der- 
selben eingeschränkt,  da  es  sich  doch  bei  dem  Gebrauch  derselben 
findet,  daß  er  auah  auf  ihre  Begleitung  passe  und  Ursache  und 
Wirkung  zugleich  sein  könne"  3J.  So  haben  wir  schon  an  den 
früher  erörterten  Beispielen  gesehen,  daß  die  Sukzession  in  der 
Zeit,  für  die  allein  ja  das  Kausalgesetz  gelten  soll,  auf  die  Nicht- 
umkehrbarkeit  einer  Abhängigkeitsbeziehung  von 
gleichzeitigen  Erscheinungen  reduziert  wird.  Kant 
sagt:  „Die  Zeit  zwischen  der  Kausalität  der  Ursache  und  deren 
unmittelbaren  Wirkung  kann  verschwindend  (sie  also  zugleich)  sein, 
aber  das  Verhältnis  der  einen  zur  anderen  bleibt  doch  immer  der 
Zeit  nach  bestimmbar  ...  ich  unterscheide  doch  beide  durch  das 
Zeitverhältnis  der  dynamischen  Verknüpfung  beider"4),  was  aber 
nichts  anderes  als  die  Nichtumkehrbarkeit  der  Abhängigkeits- 
beziehung  beinhaltet.  —  Immer  können  wir  sehen,  daß  eine  Kau- 
salitätsbeziehung zweier  Erscheinungen,  die  für  das  praktische 
Leben  ausreichend  sein  mag,  aus  dem  sie  ja  auch  ihr  Dasein  ab- 
leitet,  für   wissenschaftliche  Zwecke  höchst  ungenau  ist  und  sich 

1)  Paulsen :  Kant.   S.  206. 

2)  Mach :  Anal,  der  Empfindungen.    S.  76. 

3)  Kr.  d.  r.  V.    2.  Ausg.    S.  175. 

4)  Ebenda. 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.      345 

in  Abhängigkeitsbeziehungen  der  einzelnen  Faktoren  von  einander, 
die  durch  Analyse  der  noch  komplexen  Erscheinungen  (Ursache  — 
Wirkung)  gewonnen  werden,  auflösen  läßt.  Das  Kausalitätsgesetz 
wird  also  durch  den  Funktionalzusammenhang  ersetzt.  „Alle  genau 
und  klar  erkannten  Abhängigkeiten  lassen  sich  als  gegenseitige 
Simultanbeziehungen  ansehen  ?,  sagt  Mach1).  Die  Nichtumkehrbar- 
keit  im  Abhängigkeitsverhältnis  zweier  Erscheinungen  findet  be- 
kanntlich darin  ihren  Ausdruck,  daß  die  eine  der  beiden  Erschei- 
nungen als  unabhängig  Variable,  die  andere  als  abhängig  Variable 
dargestellt  wird. 

Hier  ist  noch  zu  bemerken:  Nach  Kant  wird  das  Wahr- 
nehmungsurteil, wie  oben  schon  erwähnt,  erst  durch  Anwendung 
einer  Kategorie  zum  Erfahrungsurteil.  Die  „Erfahrungsurteile" 
lassen  aber  in  ihrer  Form  eine  Analogie  mit  menschlichen  Hand- 
lungen erkennen.  Kant  selbst  führt  in  den  ,Prolegomena'  als 
„leichter  einzusehendes  Beispiel",  um  den  Gegensatz  von  Er- 
fahrungsurteil und  Wahrnehmungsurteil  darzutun,  folgendes  an: 
„Wenn  die  Sonne  den  Stein  bescheint,  so  wird  er  warm.  Dieses 
Urteil  ist  ein  bloßes  Wahrnehmungsurteil  und  enthält  keine  Not- 
wendigkeit; ich  mag  dieses  noch  so  oft  und  andere  auch  noch  so 
oft  wahrgenommen  haben.  Die  Wahrnehmungen  finden  sich  nur 
gewöhnlich  so  verbunden.  Sage  ich  aber:  die  Sonne  erwärmt  den 
Stein,  so  kommt  über  die  Wahrnehmung  noch  der  Verstandes- 
begriff der  Ursache  hinzu,  der  mit  dem  Begriff  des  Sonnenscheines 
den  der  Wärme  notwendig  verknüpft  und  das  synthetische  Urteil 
wird  notwendig  allgemeingiltig,  folglich  objektiv  und  aus  einer 
Wahrnehmung  in  Erfahrung  verwandelt".  Die  Notwendigkeit,  von 
der  hier  gesprochen  wird,  ist  aber  eine,  Kant  aus  dem  Erlebnis 
des  Wirkens  bekannte,  eine  psychologische  Notwendig- 
keit, die  mit  der  logischen  Notwendigkeit  einer  apriori- 
schen Voraussetzung  verquickt  wird.  Wäre  das  psychologische 
Erlebnis  nicht  ein  unbewußtes  Motiv  der  hier  statuierten  Not- 
wendigkeit, so  wäre  nicht  einzusehen,  warum  das  Urteil  „wenn  die 
Sonne  den  Stein  erwärmt,  so  wird  er  warm"  nicht  dieselbe  ob- 
jektive Geltung  und  notwendige  Allgemeinheit  besitzen  sollte,  wie 
das  Urteil  „die  Sonne  erwärmt  den  Stein".  Auch  im  ersten  Fall 
ist  eine  Voraussetzung  vorhanden,  die  in  der  Aufstellung  der 
Abhängigkeitsbeziehung   besteht;    also  handelt   es   sich   auch   hier 


1)  Anal,  der  Empfindungen.    S.  75. 


346  Constanze  Friedniann, 

nicht  nur  um  ein  Wahrnehmungsurteil.  Diese  Voraussetzung 
haben  wir  aber  als  die  der  Konstanz  und  des  Zusammenhanges 
der  Erscheinungen  aufgezeigt,  in  die  das  von  anthropopathi- 
schen  Elementen  gesäuberte  Kausalitätsgesetz  übergeht.  Not- 
wendiger Zusammenhang  der  Erscheinungen  ist  eine  logische  Vor- 
aussetzung der  Erkenntnis  und  der  Wissenschaft,  Notwendigkeit  auf 
Grund  eines  „Bewirkens"  aber  enthält  das  im  Handeln  erlebte 
Kraftgefühl,  auf  das  die  Wirkung  in  der  Zeit  folgt ;  psychologische 
und  logische  Notwendigkeit  sind  da  miteinander  verschmolzen. 

In  diese  Auffassung  des  Kausalitätsgesetzes  spielt  aber  auch 
die  in  einem  früheren  Kapitel  besprochene  Identifikation  von  Zeit- 
anschauung  und  Zeitbegriff  hinein.  Es  ist  klar,  daß  die  nach 
Analogie  menschlicher  Handlungen  aufgefaßten  Abhängigkeitsbe- 
ziehungen der  Erscheinungen  nur  in  dem  Schema  der  Sukzession 
in  der  Zeit  realisierbar  gedacht  werden  können.  Nur  in  der 
psychologischen  Zeit,  der  verfließenden  Dauer,  kann  das  Wirken 
vor  sich  gehen.  Infolgedessen  erblickt  Kant  selbst  in  der  Be- 
ziehung gleichzeitiger  Erscheinungen  ein  „Zeitverhältnis  dynami- 
scher Verknüpfung".  Die  auf  ein  Nichts  reduzierbare  Zeit  aber 
(vergl.  oben  S.  328)  ist  eine  ganz  andere  Zeit  als  die  psychologische, 
erlebte  Zeitanschaung,  es  ist  nämlich  die  metrische  Zeit,  die  auf 
Raummessung  beruht.  Und  so  ist  es  nur  die  Identifikation  von  Zeit- 
anschauung und  Zeitbegriff,  die  Kant  dazu  veranlaßt,  die  simul- 
tanen Abhängigkeitsbeziehungen  in  eine  „dynamische  Verknüpfung 
in  der  Zeit"  aufzulösen. 

So  haben  wir  denn  1.  nachgewiesen,  daß  die  dogmatisch-ratio- 
nalistische Voraussetzung,  daß  nur  Erkenntnisse  aus  reiner  Ver- 
nunft (resp.  bei  denen  ein  Faktor  aus  reiner  Vernunft  stammt)  der 
Dignität  der  Mathematik  und  Naturwissenschaft  entsprechen  können, 
in  der  metaphysischen  und  transzendentalen  Deduktion  der  Kate- 
gorien enthalten  ist ;  2.  haben  wir  durch  Diskussion  der  Beispiele, 
die  Kant  anführt,  um  dar  zutun,  daß  ein  objektives  post  hoc  nur 
durch  Anwendung  einer  Regel,  des  Kausalitätsgesetzes,  möglich 
sei,  gezeigt,  daß  Kant  keineswegs  bis  zu  einem  letzten  transzen- 
dentalen, apriorischen  Prinzip  in  diesen  vordringt;  3.  haben  wir 
im  Sinne  Kants  die  Frage  stellend,  nach  einer  letzten  Voraus- 
setzung für  die  Möglichkeit  der  Erkenntnis  und  der  Wissenschaft : 
das  biologisch  und  psychologisch  fundierte,  heuristische  Prinzip 
der  Konstanz  und  des  Zusammenhanges  der  Erscheinungen  ge- 
wonnen, das  wir  an  Stelle  des  Kausalitätsgesetzes  setzten,  wegen 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.     347 

seiner  größeren  Genauigkeit  und  Präzision;  4.  haben  wir  zu  zeigen 
versucht,  daß  der  Begriff  der  Notwendigkeit,  den  das  Kausalitäts- 
gesetz enthält,  auf  einem  psychologischen,  aus  dem  Erlebnis  des 
Handelns,  Wirkens  stammenden,  Motiv  beruht  und  daß  so  die  psy- 
chologische Notwendigkeit  mit  der  logischen  transzendentalen  Not- 
wendigkeit verschmilzt  und  5.  und  letztens  haben  wir  darauf  hin- 
gewiesen ,  daß  die  früher  besprochene  Identifikation  von  Zeit- 
anschauung und  Zeitbegriff  auch  in  die  Kantische  Auffassung  des 
Kausalitätsgesetzes  eingeht. 

Während  bei  der  Ableitung  von  Eaum  und  Zeit  wie  auch  bei  der 
der  transzendentalen  Einheit  des  Selbstbewußtseins  und  der  produk- 
tiven Einbildungskraft  die  Erlebnismomente  immer  durch  die  trans- 
szendentale  Deduktion  hindurchschimmern  und  so  leicht  aufgedeckt 
werden  konnten,  ist  die  Ableitung  der  Grundsätze,  von  denen  hier 
nur  die  2.  Analogie  der  Erfahrung  eine  eingehende  Besprechung 
erfuhr,  so  sehr  in  das  Kantische  System  eingebaut,  daß  die  psycho- 
logischen Momente,  die  auch  hier  wirksam  sind,  nur  mühsam  zum 
Vorschein  gebracht  werden  konnten.  Die  Überzeugung  Kants,  daß 
das  Kausalitätsgesetz,  entgegen  der  Behauptung  Hum es,  einen  Apriori- 
besitz  darstelle,  ist  letzten  Endes  —  abgesehen  von  den  vorerst  er- 
örterten Motiven  —  in  der  erlebten  Spontaneität  des  Handelns 
und  Denkens  gegründet,  auf  die,  als  letzte  Quelle,  wir  die  transzenden- 
tale Einheit  des  Selbstbewußtseins  ebenso  wie  den  kategorischen  Im- 
perativ zurückgeführt  haben.  —  Darin,  daß  der  Forscher  im  Experiment 
Fragen  an  die  Natur  stellt,  „Gesetze  a  priori"  postuliert,  die  verifi- 
ziert werden  sollen,  sieht  Kant  ja  den  Beleg  seiner  Theorien.  Daß 
diese  Fragen  als  Hypothesen  gestellt  werden,  die  ihrerseits 
durch  Intuition  des  Forschers  inbezug  auf  die  maßgebenden 
Faktoren  einer  komplexen  Erscheinung  bedingt  sind  —  entspricht 
unserer  heutigen  Auffassung,  aber  nicht  dem  Kantischen  Denken. 
In  der  Spontaneität  des  Forschers,  der  Zusammenhänge  schafft 
(als  Hypothesen),  unter  die  er  die  Erscheinungen  subsumiert  (als 
Verifikation  durch  das  Experiment),  erblickt  Kant  die  apriorische 
Tätigkeit  des  Verstandes,  der  durch  seine  Spontaneität  „der  Natur 
ihre  Gesetze  vorschreibt". 

Schluß. 
Von  zwei  Seiten  wurde  in  vorliegender  Schrift   eine  Kritik 
und  Neubeleuchtung  der  Kantischen  Philosophie  versucht.     Einer- 
seits sollte  das  psychologische  Erlebnis  aufgedeckt  werden  in   der 


348  Constanze  Friedmann, 

Kolle,  die  es  bei  Ableitung  des  Apriori  verhülltermaßen  spielt, 
andererseits  sollte  die  historische  Bedingtheit  des  Kantischen  Den- 
kens, soweit  durch  sie  Voraussetzungen  in  die  Deduktionen  ein- 
dringen, klargelegt  werden.  Daß  diese  beiden  Momente  sich  gegen- 
seitig oft  durchdringen,  wurde  schon  an  anderer  Stelle  hervor- 
gehoben und  in  der  Ableitung  der  Grundsätze  wurde  auf  letzteres 
Moment  größeres  Gewicht  gelegt. 

Zum  Schlüsse  möchte  ich  noch  ein  Bekenntnis  ablegen.  Oft 
und  oft  hatte  ich  während  dieser  Arbeit  das  Gefühl,  daß  es  eine 
Pietätslosigkeit  sei,  den  Widersprüchen,  unausgesprochenen  Vor- 
aussetzungen und  historischen  Bedingtheiten  im  System  des  größten 
philosophischen  Genius  nachzuspüren.  Bei  der  Lektüre  der  Kr.  d. 
r.  V.,  insbesondere  aber  der  Prolegomena  verließ  mich  immer  wieder 
der  kritische  Verstand  und  ich  stand  im  Banne  dieses  ungeheuren 
Geistes,  dessen  Überzeugungskraft  hinreißend  wird,  wenn  er  den 
Ton  ruhiger  abstrakt  sachlicher  Darlegung  verlassend,  in  seher- 
hafter Sprache  zu  reden  beginnt.  Nur  der  Umstand,  daß  dies 
eigentlich  selten  bei  Kant  der  Fall  ist  und  daß  eine  große  Gedanken- 
arbeit dazu  gehört,  den  vielfach  verschlungenen  Pfaden  seines  Sy- 
stems zu  folgen,  macht  es  erklärlich,  daß  er  unter  seinen  un- 
zähligen Verehrern  keine  Proselyten  gemacht,  sondern  sich  diese 
zu  ebenso  vielen  Kritikern  erzogen  hat. 

Aus  der  Verquickung  von  transzendentaler  und  psychologischer 
Methode  bei  Kant,  die  in  der  vorliegenden  Untersuchung  im  Ein- 
zelnen nachgewiesen  wurde,  folgt  aber  —  wie  in  der  Einleitung 
schon  angedeutet  —  daß  es  möglich,  ja  notwendig  sei,  den 
scharfen  Gegensatz  von  Transzendentalismus  und  kritischem  Psy- 
chologismus zu  überbrücken. 

Einerseits  muß  der  Transzendentalismus,  der  sich  von  Kant 
als  dem  Begründer  der  kritischen  Methode  herleitet,  anerkennen, 
daß  Kant  selbst  das  Apriori  nicht  immer  transzendental  aufgedeckt 
hat,  daß  er  —  geleitet  von  Erlebnismomenten,  die  in  Anschauungs- 
formen und  Kategorien  enthalten  sind,  oft  als  logisch-notwendige 
Voraussetzung  einer  Wissenschaft  ein  psychologisches  Apriori 
benützt  oder  einen  nur  für  eine  bestimmte  Zeit  als  Apriori  dieser 
Wissenschaft  geltenden  Begriff.  (Ich  verweise  insbesondere  auf 
meine  Darstellung  der  Raumanschauung.) 

Andererseits  muß  der  Transzendentalismus,  will  er  strenger 
als  Kant  selbst  verfahren,  die  Konsequenzen  seiner  Methode  ziehen, 
die  ihn  aber  in  unlösliche  Widersprüche  verwickeln.   —  Nur  durch 


Psychologische  Momente  in  der  Ableitung  des  Apriori  bei  Kant.     349 

seine  unbewußte  Inkonsequenz  ist  Kant  den  inneren  Widersprüchen 
der  transzendentalen  Methode  entgangen.  —  Die  beiden  Grund- 
auf gaben,  die  Kant  mittelst  der  kritischen  Methode  erfüllen  will, 
kann  sie  ihrem  Wesen  nach  nicht  leisten.  Bei  Kant  sind  sie, 
wie  folgt,  formuliert:  I.  „Ich  verstehe  aber  unter  einer  trans- 
szendentalen  Erörterung  die  Erklärung  eines  Begriffs  als  eines 
Prinzips,  woraus  die  Möglichkeit  anderer  synthetischer  Erkennt- 
nisse a  priori  eingesehen  werden  kann.  Zu  dieser  Absicht  wird 
erfordert  1.  daß  wirklich  derlei  Erkenntnisse  aus  dem  gegebenen 
Begriffe  herfließen  2.  daß  diese  Erkenntnisse  nur  unter  der  Vor- 
aussetzung einer  gegebenen  Erklärungsart  dieses  Begriffs  möglich 
sind" *).  IL  „Was  nun  die1  Gewißheit  betrifft,  so  habe  ich  mir 
selbst  das  Urteil  gesprochen:  daß  es  in  dieser  Art  von  Betrach- 
tungen auf  keine  Weise  erlaubt  sei  zu  meinen,  und  daß  alles,  was 
darin  einer  Hypothese  nur  ähnlich  sieht,  verbotene  Ware  sei,  die 
auch  für  den  geringsten  Preis  nicht  feilstehen  darf,  sondern  sobald 
sie  entdeckt  wird,  beschlagen  werden  muß"2). 

Das  regressive  Verfahren,  zu  einer  gegebenen  Wissenschaft 
die  Voraussetzungen  ihrer  Möglichkeit  zu  suchen,  kann  sich  nur 
auf  die  logische  Anordnung  der  Ergebnisse  der  Wissen- 
schaft beziehen,  ohne  daß  damit  gesagt  wäre,  daß  diese  apriori- 
schen Voraussetzungen  auch  bei  Entstehung  dieser  Wissenschaft 
maßgebend  waren.  Damit  wird  aber,  wie  Max  Scheler  in  „Die 
transzendentale  und  psychologische  Methode"  nachweist,  der 
Erkenntnisprozeß  in  ganz  unnötiger  Weise  verdoppelt.  Der 
Schluß  von  gegebenen  Sätzen  —  so  hier  von  den  mathematischen 
und  naturwissenschaftlichen  Erkenntnissen  —  auf  die  Voraus- 
setzungen ihrer  Möglichkeit,  kann  nur  mögliche  Voraussetzungen 
liefern,  also  sind  die  gefundenen  Prämissen  nur  Hypo- 
thesen8). Und  weiters  können  die  mittels  des  regressiven  Ver- 
fahrens aufgedeckten  Voraussetzungen  einer  Wissenschaft  nur  für 
ein  bestimmtes  Entwicklungsstadium  derselben  Geltung 
beanspruchen.  (Vergl.  meine  Ausführungen  über  den  euklidischen 
Raumbegriff  bei  Kant.)  —  Die  transzendentale  Methode  —  kon- 
sequent durchgeführt  —  kann  also  nur  Hypothesen  liefern,  die 
sich  auf  die  logische  Anordnung  der  Ergebnisse  der  Wissenschaften 


1)  Kr.  d.  r.  V.   2.  Ausg.    S.  54. 

2)  Vorr.  z.  Kr.  d.  r.  V.    1.  Ausg. 

3)  Vergl.  Sigwart :  Logik.    2.  Bd.    S.  292. 


350     ConstanzeFriedmann,  Psychologische  Momente  i  n  d  er  Ableitung  usw . 

beziehen  und   zwar   nur   auf  ein  bestimmtes  Entwicklungsstadium 
derselben. 

Da  sich  nun  der  Transzendentalismus  damit  nicht  begnügen 
kann,  muß  er  —  um  die  „wirklich  notwendigen  Voraussetzungen"  *) 
der  Wissenschaften  aufzudecken  —  die  regressiv  aufgesuchten 
apriorischen  Erkenntnisbegriffe  bis  zu  ihren  "Wurzeln,  bis  in  die 
Mentalität  des  Menschen  hinein,  in  seine  Organisation,  zurückver- 
folgen. Damit  beschreitet  er  aber  den  von  Fr.  A.  Lange  gewiesenen 
Weg  der  transzendentalpsychologischen  Methode,  die 
das  Entstehen  des  Apriori  selbst  aufdecken  will.  Während  die 
psychogene  tische  Methode  auf  progressivem  Wege  verfolgt, 
wie  sich  aus  dem  gewöhnlichen  Ablauf  der  Vorstellungen  durch 
Assoziation  und  Abstraktion  die  präzisen  Werkzeuge  der  Forschung 
herausbilden,  muß  die  zur  transzendentalpsychologischen  erweiterte 
transzendentale  Methode  regressiv  bis  zur  Psyche  des  Menschen 
fortschreiten.  Die  bei  Kant  unbewußte  Korrektur  und 
Ergänzung  der  transzendentalen  Methode  von  Seiten 
des  Erlebnisses  muß  also  zu  einem  bewußten  Zurück- 
greifen auf  die  Quellen  der  Erkenntnisbegriffe  —  der 
Deduktion  des  logischen  Apriori  aus  der  psychologi- 
schen Konstitution  —  ausgebaut  werden. 

1)  Vergl.  oben  S.  349. 


Genie  und  Tragik. 

Von  Dr.  Ottomar  Wiclimann,  Privatdoz.  d.  Philos  a.  d.  Univ.  Halle. 


Making  . . .  we  fooles  of  nature 
So  horridly  to  shake  our  disposition 
With  thoughts  beyond  the  reaches  of  our  soules. 
Hamlet,  I,  4.39. 

I.    Die  Problematik  der  Freiheitsidee. 

Kaum  ein  Gebiet  —  außer  vielleicht  dem  politischen  —  ist 
wohl  so  geeignet,  die  Dialektik  des  Begriffs  der  Freiheit  zu  zeigen, 
wie  die  Erscheinung  des  Tragischen;  die  Dialektik,  d.  h.  das  not- 
wendige Zusammenbrechen  der  klarsten  und  sichersten  Aufstellungen, 
wobei  dennoch  das  Recht  des  Begriffs  bewahrt  bleibt.  Beim  Tra- 
gischen springt  der  Zwiespalt  der  begrifflichen  Auffassung  dadurch 
schon  in  die  Augen,  daß  man  sein  Wesen  einerseits  in  der 
Freiheit,  andererseits  in  der  Notwendigkeit  fand;  das 
Postulat  einer  Synthese  ergiebt  dann  Schellings  Satz:  es  müsse 
im  Tragischen  die  Identität  von  Notwendigkeit  und  Freiheit  liegen. 
Schelling  hat  mit  das  Geistvollste  über  Tragik  überhaupt  ge- 
schrieben. Aber  seine  Voraussetzungen  sind  uns  heute  fremd.  Trotz- 
dem bin  ich  überzeugt,  daß  tatsächlich  aus  den  beiden  Begriffen 
der  Freiheit  und  Notwendigkeit  das  entscheidende  Verständnis  für 
das  Wesen  des  Tragischen  entspringt,  und  ferner,  daß  aus  Kanti- 
schen Gesichtspunkten  —  ethischen  wie  ästhetischen  —  die  Lösung 
sich  ergibt :  Auch  die  folgenden  Ausführungen  werden  meiner  Mei- 
nung nach,  gerade  wo  sie  von  Kant  abweichen,  diesen  durch  die 
Ausnahme  bestätigen,  d.  h.  die  unabsehbare  Entwicklungsfähigkeit 
und  Gestaltungskraft  seiner  Grundgedanken  beweisen. 

Ohne  weiteres  ist  die  Notwendigkeit,  die  im  Handeln  des 
tragischen  Helden  sich  ausprägt,  augenfällig.  Blind,  unaufhaltsam 
geht  er  seinem  Untergang  entgegen.  Was  andere  tun,  ihn  zu 
retten,  was  er  selbst  einmal  nach  dieser  Richtung  unternehmen 
mag,    was   der  Zufall   an   günstigen   Momenten   ihm   in   den  Weg 


352  Ott omar  Wichmann, 

wirft  —  eg  dient  nur,  um  die  hier  vorwaltende  starre  und  uner- 
bittliche Notwendigkeit  noch  deutlicher  zu  machen.  Dieser  Zng, 
nirgends  ganz  fehlend,  in  einigen  der  anerkanntesten  Tragödien 
wie  dem  Ödipus  Rex  und  der  Braut  von  Messina  mächtig  sich 
äußernd,  ist  bekanntlich  zeitweise  (etwa  1809 — 1825)  in  der  „Schick- 
salstragödie" zur  Modesache  und  dementsprechend  übertrieben  und 
verzerrt  worden.  So  hat  auch  Leopold  Ziegler  in  seinen  ge- 
dankenvollen Ausführungen  „Zur  Metaphysik  des  Tragischen"  *), 
in  der  Notwendigkeit  einen  Grundzug  des  Tragischen  gesehen:  In 
dem  Zusammenhang  verschiedener  Willensrichtungen,  die  alle,  so- 
lange sie  in  einem  gegenseitig  abgestuften  Verhältnis  stehen,  zweck- 
voll und  berechtigt  sind,  wird  eine  zum  Selbstzweck.  Ohne  Rück- 
sicht auf  die  Bedingtheit  ihrer  Geltung  im  Rahmen  einer  weiteren 
zweckvollen  Ordnung  wird  sie  für  sich  als  unbedingt  genommen 
und  gewinnt  so,  im  Mißverhältnis  zu  allen  anderen,  eine  aufs 
äußerste  gesteigerte  und  übertriebene  Intensität,  eine  starre,  un- 
lösbare Eigenmächtigkeit  und  Rücksichtslosigkeit,  aus  der  sich  un- 
ausbleiblich der  Zusammenstoß  mit  anderen  berechtigten  Bestre- 
bungen und  der  Untergang  ergibt.  Ziegler  bestreitet  dabei  folge- 
richtig die  Freiheit  des  tragischen  Menschen.  Frei  ist  nach  ihm 
der  Mensch  bei  seinen  sittlichen  Entscheidungen  im  Gegen- 
satz zum  Tier  und  seinem  blinden  Trieb.  Aber  diese  menschliche 
Freiheit  hat  der  tragische  Mensch  verloren,  er  ist  nicht  mehr  frei, 
die  Entscheidungswahl  steht  ihm  nicht  mehr  zu.  Ziegler  ist  folge- 
richtig genug,  die  so  sich  ergebende  Übereinstimmung  der  tra- 
gischen Persönlichkeit  mit  dem  Tier  zuzugeben,  und  —  wie  bei 
E.  v.  Hartmann  —  wird  aus  diesem  Gedankengang  das  Tragische 
als  die  blinde  Notwendigkeit  zum  Weltgesetz  überhaupt:  auch  in 
tieferen  Lebewesen,  sogar  in  der  einzelnen  Dynamide  äußert  sich 
solche  tragische  Überspannung  der  Willensintensität,  wobei  dann 
freilich  die  Tragik  des  Tieres  'und  der  Natur  als  unter  sittlich 
zu  nehmen  ist,  die  des  Menschen  als  ü  b  e  r  sittlich,  indem  es  eine 
Beziehung  aufs  Metaphysische  und  Göttliche  gewinnt.  —  Es  liegt 
auf  der  Hand,  wie  in  diesen  Ausführungen  das  Ausschlaggebende 
der  Zug  der  Notwendigkeit  im  Tragischen  ist,  genau  wie  in  Hebbels 
Auffassung2),  der  in  der  mit  dem  Wesen  des  Menschen  notwendig 
gegebenen  Willensüberspannung  das  Wesen  des  Tragischen  sieht,  und 


1)  Leopold  Ziegler,  Zur  Metaphysik  des  Tragischen.     Leipzig  1902. 

2)  In  „Mein  Wort  zum  Drama"  und  im  Vorwort  zu  „Maria  Magdalena". 


Genie  und  Tragik.  353 

auch  bei  Max  Scheler *),  wenn  er  vom  Tragischen  spricht  als  von  einem 
„wesentlichen  Moment  im  Universum  selbst",  von  dem  „schweren, 
kühlen  Hauch,  der  von  diesen  Dingen  selbst  ausgeht",  von  der 
„Abwälzung  des  Furchtbaren  auf  den  Kosmos  als  Wesen". 

So  unverkennbar  dieser  Zug  der  Notwendigkeit  im  Handeln 
des  tragischen  Helden  ist,  so  unvermeidlich  es  für  eine  Theorie  des 
Tragischen  ist,  Ursprung  und  Wesen  dieser  Notwendigkeit  deutlich 
zu  machen  und  zu  erklären,  so  soll  doch  die  folgende  Untersuchung 
vom  genau  entgegengesetzten  Pol  ihren  Ausgang  nehmen :  von  der 
Auffassung,  die  den  Grundzug  im  Handeln  des  tragischen 
Helden  in  seiner  Freiheit  erblickt.  Dabei  wird  sich,  so 
denke  ich,  gerade  aus  dem  Begriff  der  Freiheit  und  aus  seiner 
Problematik  schärfer  und  unverkennbarer  das  Wesen  derjenigen 
Notwendigkeit  ergeben,  die  in  dem  tragischen  Handeln  sich 
äußert.  Wir  werden  —  aus  ganz  entgegengesetzter  Richtung  — ,  die 
Aufstellungen  Hebbels,  Zieglers,  Schelers  bestätigt  und  verdeut- 
licht finden.  Zum  Leitsatz  der  Untersuchung  mag  uns  dabei  eine 
Äußerung  Goethes  in  der  Rede  „Zu  Shakespeares  Namenstag"  (von 
1771)  dienen,  die  das  Wesen  des  Tragischen  als  Freiheit  hinstellt 
und,  wie  wir  sehen  werden,  ein  Höchstes  anschaulicher  Formulierung 
des  hier  vorliegenden  Sachverhalts  bedeutet:  „Shakespeares 
.  .  Plane  sind  .  .  keine  Plane;  aber  seine  Stücke  drehen 
sich  alle  um  den  geheimen  Punkt  (den  noch  kein  Phi- 
losoph gesehen  und  bestimmt  hat),  in  dem  das  Eigen- 
tümliche unseres  Ichs,  die  prätendierte  Freiheit  un- 
seres Wollens,  mit  dem  notwendigen  Gang  des  Ganzen 
zusammenstößt"2).  Was  Gundolf3),  der  diese  Stelle  anführt, 
daran  tadelt  —  daß  nämlich  darin  eine  Kennzeichnung  nicht 
der  eigentlich  Shakespeareschen ,  sondern  der  Tragik  überhaupt 
liege  — ,  ist  richtig;  es  macht  aber  diesen  Satz  nur  wertvoller: 
wir  werden  sehen,  daß  dasjenige,  was  hier  als  das  eigentlich  Tra- 
gische gekennzeichnet  ist,  in  so  mächtiger  Form  außer  bei  Shake- 
speare nur  noch  vielleicht  bei  Goethe  selbst  und  bei  Homer  sich 
findet. 

Auf  den  Freiheitsgedanken  in  der  eigentümlich  Kantischen 
Fassung  hat  zunächst  dessen  getreuer  Schüler,   Friedrich  Schiller, 


1)  Max  Scheler,  „Zum  Phänomen  des  Tragischen",  im  „Umsturz  der  Werte" 


I,  S.  237  ff. 


2)  Cottasche  Ausg.  1885  Bd.  VIII,  S.  773. 

3)  Friedrich  Gundolf,  Goethe,  1917.  S.  111. 

Kautstadieu  XXVI.  23 


354  Ottomar  Wichtoann, 

seine  bedeutsamen  Ausführungen  über  das  Wesen  des  Tragischen *) 
aufgebaut.  So  heißt  es  in  der  Abhandlung  „Über  das  Pathetische"  : 
„Das  erste  Gesetz  der  tragischen  Kunst  war  Darstellung  der  lei- 
denden Natur.  Das  zweite  ist  Darstellung  des  moralischen  Wider- 
standes gegen  das  Leiden"  . . .  Von  dem  Menschen  wird  schlechter- 
dings ein  moralischer  Widerstand  gegen  das  Leiden  gefordert, 
durch  den  allein  sich  das  Prinzip  der  Freiheit  in  ihm :  die  Intelli- 
genz, kenntlich  macht.  Damit  ist  aufs  deutlichste  als  Gegenstand 
des  Tragischen  die  Darstellung  der  Freiheit  hingestellt,  und  zwar 
der  im  Kantischen  Sinne  als  moralisch  verstandenen  Freiheit.  Das 
gilt  nach  Schiller  auch  für  die  Fälle,  wo  wir  zwar  keinen  moralischen 
Zweck  der  Handlung  erkennen  können,  wie  wenn  z.  B.  Peregrinus 
Proteus  durch  seine  Selbstverbrennung  in  Olympia  die  Pflicht  der 
Selbsterhaltung  verletzt:  trotzdem  befriedigt  uns  diese  Handlung, 
weil  sie  wenigstens  die  Fähigkeit  zum  Moralischen  beweist.  Ebenso 
bezeichnet  Schiller  in  der  Abhandlung  „Über  den  Grund  ..."  die 
Tragödie  als  „diejenige  Dichtungsart,  welche  uns  die  moralische 
Lust  in  vorzüglichem  Grade  gewährt  .  .  ihr  Gebiet  umfaßt  alle 
möglichen  Fälle,  in  der  irgend  eine  Naturzweckmäßigkeit  einer 
moralischen  oder  auch  eine  moralische  Zweckmäßigkeit  der  anderen, 
die  höher  ist,  aufgeopfert  wird".  Mit  dieser  Begründung  der  tra- 
gischen Wirkung  auf  dem  moralischen  Wohlgefallen  stimmt  es 
überein,  wenn  die  höchste  Steigerung  dieser  tragischen  Wirkung 
darin  gesehen  wird,  daß  man  „sich  in  die  Ahnung  oder  lieber  in 
ein  deutliches  Bewußtsein  einer  teleologischen  Verknüpfung  der 
Dinge,  einer  erhabenen  Ordnung,  eines  gütigen  Willens  verliert". 
Eine  unmittelbare  Hindeutung  auf  die  Kantische  Philosophie,  auf 
die  aus  dieser  quellende  Weltanschauung  als  den  darzustellenden 
Gegenstand  liegt  dann  in  den  Worten:  „Die  neuere  Kunst, 
welche  den  Vorteil  genießt,  von  einer  geläuterten 
Philosophie  einen  reineren  Stoff  zu  empfangen,  ist  es 
aufbehalten,  auch  die  höchste  Forderung  zu  erfüllen, 
und  so  die  ganze  moralische  Würde  der  Kunst  zu  ent- 
falten". 

So  wenig  nun  die  hohe  Bedeutsamkeit  dieser  Gedanken  bestritten 
werden  soll,  so  mächtig  darin  der  Dichter  der  Jungfrau  von  Or- 
leans und  des  Teil  den  besten  Schwung  seiner  eigenen  Dichtung 
gezeichnet  hat  —    so   muß   doch   verschiedenes   diese  Bestimmung 

1)  „Über  das  Pathetische",  „Über  den  Grund  des  Vergnügens  an  tragischen 
Gegenständen".  „Über  die  trag.  Kunst". 


Genie  und  Tragik.  355 

des  Tragischen  in  hohem  Maße  zweifelhaft  machen.  Sie  wider- 
spricht zunächst  der  Kantischen  Ästhetik,  die  ausdrücklich  das 
ästhetische  Wohlgefallen  vom  moralischen  unterscheidet.  Auch 
das  Gefühl  des  Erhabenen  fällt  durchaus  nicht  mit  dem  hier 
von  Schiller  beschriebenen  Wohlgefällen  an  der  moralischen  Ord- 
nung zusammen,  sondern  es  wird  erregt,  wenn  das  Schauerliche, 
Formlose  und  Überwältigende  durch  den  Gegensatz  unser  eigenes 
moralisches  Selbstbewußtsein  weckt.  Aber  weiter !  Eine  der  mäch- 
tigsten Tragödien  ist  der  erste  Teil  des  Faust,  und  diese  Persön- 
lichkeit, die  der  Hoffnung  und  dem  Glauben  flucht  und,  im  Gegen- 
satz zu  früheren  weicheren  Gefühlen  alles  zerreißt,  was  mit  innigen 
und  teueren  Banden  das  Herz  gefesselt  hielt,  zeigt  ganz  unleugbar, 
welch  hinreißende  Wirkung  auch  das  Antimoralische,  die  Unbe- 
dingtheit  des  Wesens  ausüben  kann,  die,  um  frei  zu  sein,  auch  das 
Heiligste  und  Ehrwürdigste  zersprengt.  Und  wenn  man  zur  Not 
auch  dies  noch,  da  ja  Kraft  des  Willens  und  die  Möglichkeit  zur 
Moralität  bewiesen  werde,  unter  das  moralische  Wohlgefallen  rechnen 
wollte,  so  kann  man  dagegen  noch  die  Gestalten  Romeos  und 
namentlich  Werthers  anführen,  die  im  höchsten  Grade  tragisch 
sind  und  wo  trotzdem  auch  von  dieser  Kraft  des  Willens  keine 
Rede  ist.  Auch  Werther  bedeutet  ein  Höchstes  an  Persönlichkeit. 
Noch  im  späteren  Alter  hat  Goethe  dieser  Gestalt  nachgerufen: 

„Du  gingst  voraus  und  hast  nicht  viel  verloren". 
Aus  all  dem  geht  hervor,  daß  die  Sache  so  einfach  nicht  liegt, 
wie  sie  Schiller  in  seiner  Theorie  über  das  Tragische  dargestellt 
hat.  Schiller  hat  das,  wie  der  berühmte  Briefwechsel  mit  Goethe 
über  den  Faust  von  1797  deutlich  zeigt,  selbst  durchgefühlt1). 
Er  tut  nachdenkliche  Äußerungen  über  die  „symbolische  Bedeut- 
samkeit", die  „philosophischen  und  poetischen  Anforderungen  an 
den  Faust",  ohne  daß  sich  das,  was  er  meint  und  richtig  andeutet, 
unter  die  Begriffe  der  Kantischen  Philosophie,  wie  er  sie  verstand, 
hätte  fassen  lassen. 

Scheler  spricht,  gerade  beim  Problem  des  Tragischen,  von  der 
„allzu  kurzsichtigen  Kantischen  Ethik".  Ich  möchte  diese  Ethik 
lieber  allzu  weitsichtig  nennen :  Sie  faßt  das  fernste,  unbedingteste 
Ziel,  den  allerletzten  Inhalt  der  Freiheit  ins  Auge  und  hat  ihn 
mit  dem  „unbedingten  Gebot"  für  alle  Ewigkeit  fest  umrissen. 
Dabei  aber  „übersieht"  sie  —  einzelne  Äußerungen,  namentlich  in 


1)  Vgl.  namentlich  den  Brief  vom  23.  Juni  1797  (Insel-Ausg.  1912  S.  347). 

23* 


356  Ottomar  Wichmann, 

der   „Religion"    abgerechnet,    die   auch    hier   das  Wesentliche   be- 
rühren — ,  daß  im  gewöhnlichen  Dasein  das  echteste  Streben  nach 
Freiheit  und  Persönlichkeit  in  unendlichen  Fällen  zur  allerschärfsten 
Verneinung   des  Moralischen   führt.      Freiheit   ist   die  Verneinung 
der  Bedingtheit,   ist  Un- Bedingtheit,    das  hat  Kant   selbst   in  be- 
wunderungswerter Schärfe  in  seiner  „Grdl.  z.  Met.  d.jSitten"  heraus- 
gearbeitet.   Dieses  Unbedingtseinwollen  aber  äußert  sich  oft  genug 
in  der  leidenschaftlichsten  Ablehnung   derjenigen  Bedingtheit,    die 
durch  Jugenderinnerung  und  Erziehung  mit  der  Persönlichkeit  am 
festesten   verwachsen  ist:    in  Ablehnung   der  Sittlichkeit  und  der 
mit  ihr  verbundenen  und  sie  stützenden  Vorstellungen.     Über  diese 
Unbedingtheit,    dieses    Freiheitsstreben,    das   Piaton,    Fichte    und 
Hegel  machtvoll  veranschaulicht  haben,  sieht  die  Kantische  Ethik 
hinaus l).     Wer   aber  ins  Leben  schaut   und   in   die  Dichtung,   der 
sieht,    daß  diese  Art  Freiheitsstreben  in  ganz   besonderem  Maße 
die  Tragik  des  Lebens  ausmacht :   die  Persönlichkeits wertung,  die 
nur  in  der  Verneinung  des  Sittlichen,  im  „Ubermenschentum"  (ein 
Ausdruck,  über  dessen  Mißbrauch  wir  nicht  vergessen  dürfen,  daß 
er  auch  bei  Goethe  vorliegt)  den  höchsten  Persönlichkeitswert,  die 
Freiheit    sieht.      „Die    menschliche  Vernunft    strebt    rastlos    nach 
dem    Unbedingt-Notwendigen    und    sieht    sich    genötigt,    es    anzu- 
nehmen,  ohne  es  sich  doch  begreiflich  machen  zu  können".     Diese 
ewig  wahren  Worte  der  „Grundlegung"  bezeichnen   auch   für   die 
antimoralische  Wertung  den  Sachverhalt.     Unbedingtheit  der  Ver- 
neinung ist  denn  auch  in  der  Geistesgeschichte  oft  genug  zum  In- 
halt des  Freiheitsgedankens  geworden.     Die  hinreißend  gezeichnete 
Gestalt  des  Kallikles  im  Platonischen  Gorgias  erneuert  sich  in  der 
gleich  hinreißenden  Weise  Friedrich  Nietzsche  in  Lehre  und  Leben. 
Und    schon  vor  Nietzsche   herrscht  in  den  Romantikern,   in  Tieck 
und  Friedrich  Schlegel,  derselbe  Geist,  der  in  der  Verneinung  des 
Sittlichen,   in   der   ungeheuerlichen  Auflehnung  gegen  das  Heilige, 
Größe  und   geistige  Bedeutung  erblickt.     „Was  du  unternimmst", 
schreibt    Fr.  Schlegel    seinem  Bruder,    „handle   groß,    und    wenns 
nicht  gelingt,    bleibe   fest   stehn!     Du  wirst  dann   eine  glorreiche 
Gelegenheit   haben,    Gott  zu  »verachten!"     In   seinem  Romane  Lu- 
cinde  findet  diese  Auffassung   dichterischen  Ausdruck,    ebenso  wie 
in  Tiecks  John  Lovell,   der  manchmal  „statt  seiner  stillen  Gebete 


1)  S.  meine  Vergleichung  der  Kantisehen  und  Platonischen  Ethik  in  „Piaton 
und  Kant",  Weidmann,  1920,  Kap.  III. 


Genie  und  Tragik.  357 

Gott  mit  den  gräßlichsten  Flüchen  lästerte  und  darüber  weinte 
und  es  doch  nicht  lassen  konnte"  .  .  .  „Mein  Wille  und  meine 
Empfindung  sträubte  sich  dagegen,  und  doch  gewährte  mir  dieser 
Zustand  wieder  innige  "Wollust".  Somit  führt  der  dichterische 
Stoff  selbst  mitten  in  die  Dialektik  des  Freiheitsbegriffs  hinein. 
Auch  diesen  Romantikern  mit  ihrem  Ideal  der  Ironie  ist  „Frei- 
heit" das,  was  sie  darstellen  wollen,  aber  Freiheit  in  einem  dem 
Kantischen  und  Schillerschen  schnurstracks  entgegengesetzten 
Sinne.  Freiheit  ist  Unbedingtheit,  der  Gregens atz  gegen 
jede  irgend  wie  geartete  Abhängigkeit.  So  bekommt 
das  Ideal  der  Persönlichkeit  hier  einen  durchaus  ver- 
neinenden Sinn.  Die  Verneinung  dessen,  was  beim  Menschen 
die  innigste  „Bindung"  (lat.  =  religio)  seines  Wesens  ausmacht, 
wird  zum  Maßstab  für  menschliche  Größe  und  Persönlichkeit.  Eine 
Denkweise,  die,  in  der  Romantik  hervorbrechend,  in  Nietzsche  ihren 
mächtigsten  Propheten  gefunden  hat,  die  aber  auch  sonst  durch- 
aus zu  einem  geistigen  Grundzug  des  Zeitalters  geworden  ist  und 
sich  demgemäß  in  zahlreichen  Dichtwerken  äußert:  Von  Byrons 
Manfred  bis  auf  Strindbergs  „Beichte  eines  Toren"  wie  in  Gerhard 
Hauptmanns  „Versunkener  Glocke"  und  Ibsens  „Peer  Gynt"  finden 
wir  diesen  Zug  gesuchter  und  manchmal  erquälter  Verneinung 
wieder,  zu  schweigen  von  der  Unzahl  mehr  oder  minder  geschmack- 
loser Erzeugnisse,  die  auf  jeder  Seite  mit  Stolz  zeigen :  sie  haben 
gelernt,  daß  man  so  und  so  gottlos  sein  muß,  daß  man  so  und  so 
das  Sittliche  verneinen  muß,  um  sich  und  seinen  Helden  die  erfor- 
derlichen Voraussetzungen  für  Größe  und  geistige  Bedeutung  zu 
geben. 

Gerade  damit  aber,  daß  man  diese  Grundtendenz 
aufzeigt,  ist  sie  aber  auch  vom  künstlerischen  Stand- 
punkt aus  gerichtet.  Wenn  man  die  Absicht  merkt,  wird  man 
verstimmt,  und  nirgends  mehr  als  in  der  Kunst.  Es  braucht  aber 
nicht  einmal  Absicht  zu  sein;  wenn  nur  deutlich  wird,  daß  eine  solche 
Tendenz  beherrschend  zu  Grunde  liegt,  so  ist  der  künstlerische 
Genuß  aufs  allerempfindlichste  beeinträchtigt.  Man  bezeichnet  solchen 
dem  Ganzen  zu  Grunde  liegenden  Gedanken  gern  als  die  Idee  des 
Ganzen  und  es  ist  lehrreich  zu  sehen,  wie  Goethe  gerade  in  dieser 
Beziehung  gegen  Schiller  ankämpft.  Für  Goethe  ist  es  erstes  Er- 
fordernis der  Kunst,  daß  man  „aus  der  Idee  herauskommt".  Es 
ist  für  den  Kunsttheoretiker  spaßhaft,  wie  er  Eckermann  (29.  Okt. 
1823)  ziemlich   dringlich  diesen  Befehl   gibt,   wie  er  ein  andermal 


358  Ottom  ar  Wichmann, 

(23.  März  1829)  ausführt,  es  sei  bei  Schiller  der  Fehler  gewesen, 
daß  er  von  der  Idee  ausging  und  nur  manchmal  „das  Objektive 
zu  fassen"  wußte,  wie  er  selbst,  Goethe  „nur  immer  zu  tuntf  hatte, 
„daß  ich  feststand  und  seine  wie  meine  Sachen  von  solchen  Ein- 
flüssen freihielt  und  schützte".  Noch  bezeichnender  ist,  was  er 
(6.  Mai  1827)  auf  die  Frage  nach  der  Idee  des  Tasso  antwortet: 
„Idee?"  sagte  Goethe,  „daß  ich  nicht  wüßte  ...  Da  kommen  sie 
und  fragen,  welche  Idee  ich  in  meinem  Faust  zu  verkörpern  ge- 
sucht ?  Als  ob  ich  das  selber  wüßte  und  aussprechen  könnte !  .  .  . 
Es  war  im  ganzen  .  .  .  nicht  meine  Art,  als  Poet  nach  Verkör- 
perung von  etwas  Abstraktem  zu  streben  .  .  .  Das  einzige  Pro- 
dukt von  größerem  Umfange,  wo  ich  mir  bewußt  bin,  nach  Dar- 
stellung einer  durchgehenden  Idee  gearbeitet  zu  haben,  wären 
etwa  meine  Wahlverwandtschaften.  Der  Roman  ist  dadurch  für 
den  Verstand  faßlich  geworden ;  aber  ich  will  nicht  sagen,  daß  er 
dadurch  besser  geworden  wäre !  Vielmehr  bin  ich  der  Meinung :  j  e 
inkommensurabler  und  für  den  Verstand  unfaßlicher 
eine  poetische  Produktion,  desto  besser!"  Es  liegt  auf 
der  Hand,  wie  in  diesen  Ausführungen  des  poetischen  Genies  die 
Grundgedanken  der  Kantischen  Ästhetik  ihre  Bestätigung  findea: 
Der  ästhetische  Genuß  beruht  darauf,  daß  Einbildungskraft  und  Ver- 
stand in  ein  leichtes  Spiel  versetzt  werden.  Weder  darf  ein  düsterer, 
verworrener  Stoff  vorliegen,  der  sich  überhaupt  nur  durch  schwere, 
geistige  Arbeit  bewältigen  läßt,  noch  darf  der  Verstand  von  vorn- 
herein die  Regel  und  das  'Entstehungsgesetz  des  Gegenstandes 
überschauen,  so  daß  dann  von  einen  Entdecken  und  Auffinden  des 
Wesentlichen  an  der  Sache  keine  Rede  mehr  wäre.  Diese  Freude 
am  Gegenstand  muß  aber  eine  objektive  sein;  es  muß  diese  Lust 
für  jeden  allgemeingültig  gelten.  Es  muß  demnach  unter  allen 
Umständen  ausgeschlossen  sein,  daß  jemals  dieses  Bildungsgesetz 
des  Gegenstandes  vollständig  begrifflich  erfaßt  wird,  denn  dann 
wäre  sofort  das  leichte  Spiel,  das  den  ästhetischen  Genuß  aus- 
macht, für  denjenigen  vorbei,  der  die  Regel  von  vornherein  be- 
griffen hat.  Ein  aus  solcher  abstrakten  Regel,  solcher  „Idee" 
heraus  geschaffenes  Kunstwerk  mag  einen  Sekundaner  begeistern: 
weil  er  noch  nicht  fähig  ist,  die  Regel  und  die  Gewolltheit  des 
Ganzen  zu  überschauen,  liegt  für  ihn  die  Entdeckerfreude  in 
leichtem  Spiele  unverkennbar  vor.  Aber  bei  dem  Gereiften  ist 
die  Sache  wesentlich  anders.  Unendlichkeit  und  Unabsehbarkeit 
des  Gegenstandes,   die  Unmöglichkeit,  jemals   ihn  in   einer  Regel 


Genie  und  Tragik.  359 

ganz  zu  erfassen,  ist  somit  unabweisbares  Erfordernis  des  Kunst- 
werkes. „Je  inkommensurabler  und  für  den  Verstand  unfaßlicher 
eine  poetische  Produktion,  desto  besser".  Daß  sein  Genießen  ein 
solch  objektives,  nur  auf  Grund  der  unabsehbaren  Unendlichkeit 
des  Gegenstandes,  seiner  wirklichen  „Schönheit"  mögliches  Ge- 
nießen sei,  beansprucht  jeder,  der  eben  auf  künstlerisches  Urteil 
Anspruch  macht.  Er  erhebt  diesen  Anspruch,  vielleicht  ohne  ihm 
Worte  leiben  zu  können,  dadurch,  daß  er  tödlich  verletzt  ist,  wenn 
man  da,  wo  er  bewundert,  den  Wert  ablehnt,  d.  h.  die  Allgemein- 
gültigkeit bestreitet.  Jedermann  scheut  es,  da  zu  bewundern  wo 
vielleicht  andere  lächelnd  die  Entstehungsregel  überschauen,  so 
daß  gewisse  Leute  nur  dadurch  den  Wert  ihres  persönlichen  Urteils 
zu  hüten  imstande  sind,  daß  sie  es  sich  zum  Grundsatz  machen, 
nichts  mehr  schön  zu  finden.  Hier  liegt  das  hohe  Geheimnis  der 
Blasiertheit,  für  den  Überschauenden  lächerlich  genug  und  doch 
ein  Zeugnis  dafür,  wie  sehr  der  Vorwurf,  nicht  objektiv  zu  ge- 
nießen, empfunden  und  also  die  Idee  eines  objektiven  Genießens 
gekannt  wird.  Unumgängliche  und  peinlichst  beobachtete  Vor- 
schrift für  den  künstlerisch  Genießenden  und  den  künstlerisch 
Produzierenden  (die  alle  durchaus  fühlen  und  die  vor  allem  die- 
jenigen peinlich  beobachten,  die  beides  nicht  recht  können  und 
doch  wollen),  ist  daher,  sich  jenseits  allen  irgend  wie  erfaßbaren 
Norm  zu  halten  oder,  mit  Goethe  zu  reden,  „das  Objektive  zu 
fassen".  Eine  solche  Jenseitigkeit  hinter  alle  Regel  zum  Stil  zu 
erheben,  ist  daher  die  Grundtendenz  der  romantischen  „Ironie", 
liegt  aber  genau  so  im  modernen  Expressionismus  vor,  womit 
freilich  jederzeit  auch  die  Gefahr  gegeben  ist,  daß  nun  solche 
Verneinungstendenz  zur  überschaubaren  und  lächerlichen  Ent- 
stehungsregel wird.  Die  Kunst  hat  stets  das  Recht,  die  Vorschrift 
zu  durchbrechen,  sie  muß  es  sogar,  wenn  sie  höchste  Kunst  sein 
will.  Aber  wehe,  wenn  diese  Durchbrechung  der  Regel  als  peinlich 
beobachteter  Grundsatz  durchblitzt.  Es  gibt  nichts  Ärgerlicheres 
als  die  Pedanterie  des  Negativfsmus.  —  Vor  diesem  ehernen 
Gesetz  der  Schönheit  bricht  die  edle  und  achtenswerte 
Schillersche  Theorie  zusammen,  die  für  die  moderne  Kunst 
darin  einen  Vorzug  sieht,  daß  sie  von  einer  geläuterten  Philo- 
sophie den  Stoff  und  das  Wesen  der  Menschenwürde  gelernt  hat. 
Es  bricht  aber  auch  die  gegen  sich  selbst  wütende 
Verneinung  zusammen,  die  glaubt,  in  der  Losreißung  vom 
sittlichen  Gesetze  und  der  damit  zusammenhängenden  Vorstellungen 


360  Ottomar  Wichmann, 

den  höchsten  Menschenwert  erkannt  zu  haben  und  danach  gestaltet. 
Ergreifend  bezeugt  dies  das  leidenschaftliche  Eifern,  das  sich  bei 
Nietzsche  gegen  Goethe  findet,  in  dessen  ruhiger  Klarheit  eine 
Kritik  seines  so  schwer  erkämpften  Menschheitsideals  lag,  eine 
Stimmung,    die   in   den  bitteren  und  ungerechten  Hohn  ausklingt: 

An  Goethe: 

Das  Unvergängliche 
Ist  nur  dein  Gleichnis! 
Gott,  der  Verfängliche, 

Ist  Dichter-Erschleichnis 

Weltrad,  das  rollende 

Streift  Ziel  auf  Ziel, 

Not  —  nennts  der  Grollende, 

Der  Narr  nennts  —  Spiel 

Welt-Spiel,  das  herrische 
Mischt  Sein  und  Schein. 
Das  Ewig-Närrische 
Mischt  uns  —  hinein!1) 


IL  Freiheit  als  Unbedingt h'e it. 
Wir  gingen  aus  von  der  Goetheschen  Formulierung  und  ver- 
suchten in  der  Freiheit,  dem  „Eigentümlichen  unserer  Idee,  der 
prätendierten  Freiheit  unseres  Wollens",  das  Wesen  des  Tragischen 
zu  sehen.  Es  ist  unleugbar,  daß  diese  Formulierung  nach  dem 
bisherigen  Gedankengang  in  Gefahr  steht,  ihren  Sinn  zu  verlieren. 
Wir  sahen,  wie  die  Schillersche  Theorie  auf  dem  Gedanken  der 
moralischen  Freiheit  das  Tragische  begründen  will  und  daß  diesem 
Gedanken  an  dem  Aufbau  der  Persönlichkeit  eine  große  Bedeutung 
zukommt,  ist  unverkennbar.  Man  braucht  nur  an  die  Gestalt  des 
Brutus  bei  Shakespeare  zu  erinnern.  Aber  auch  der  Gedanke  des 
Ubermenschentums,  der  die  Freiheit  in  der  Aufhebung  gegen  das 
Sittengesetz  sieht,  hat  im  Faust  allererste  tragische  Bedeutung. 
Man  kann  nun  versucht  sein,  die  Freiheit  darin  zu  sehen,  daß 
überhaupt  der  menschliche  Wille  seine  Kraft  beweist,  wie  das  ja 
auch  Schiller  andeutet,  wenn  er  ausführt,  es  käme  nicht  auf  die 
Richtung,  sondern  nur  auf  die  Kraft  des  Willens  an,  und  ebenso 
Nietzsche,   wenn  er  gelegentlich  Brutus,   der  den  liebsten  Freund 


1)  Bd.  V,  S.  349. 


Genie  und  Tragik.  361 

opfert,  trotz  seiner  moralischen  Haltung  für  ein  Persönlichkeits- 
ideal erklärt.  Aber  dagegen  sprechen  gebieterisch  Gestalten 
wie  Werther,  Tasso,  Hamlet,  die  durch  auffallende  Schwäche  des 
Willens  gekennzeichnet  und  doch  im  allerhöchsten  Sinne  tragisch 
sind.  Es  fragt  sich  mithin,  ob  es  tatsächlich  möglich  sein  wird, 
das  Wesen  des  Tragischen  in  dieser  ganzen  Breite  durch  den  Be- 
griff der  Freiheit  zu  erfassen,  und  was  in  diesem  Falle  der  Sinn 
der  Freiheit  ist. 

Meiner  Meinung  nach  kommen  wir  diesem  höchsten  Sinn  der 
Freiheit  näher,  wenn  wir  uns  auf  den  Standpunkt  der  gewöhn- 
lichen, unphilosophischen  und  ungekünstelten  Lebensbetrachtung 
stellen :  Wenn  wir  davon  sprechen,  daß  etwa  in  Bach,  Shakespeare, 
Beethoven,  Goethe  ein  Höchstmaß  an  „Freiheit"  des  Wesens  zum 
Ausdruck  kommt,  so  ist  uns  vollständig  klar,  daß  damit  ein 
durchaus  verständlicher  Vorzug  ihres  Wesens  gemeint  ist,  und 
daß  Freiheit  in  diesem  Sinne  ein  Höchstmaß  an  Persönlichkeit  be- 
deutet. Es  fragt  sich  nur,  ob  dieser  uns  vorschwebende  Sinn  be- 
grifflich sich  erfassen  und  bestimmen  läßt  und  wie  er  sich  be- 
stimmen läßt.  Es  kommt  bei  solcher  Freiheit  nicht  unbedingt  auf 
das  Sittliche  an,  obwohl  es  in  einzelnen  Fällen  dazu  gehört,  es 
kommt  auch  nicht  nur  auf  die  Einsicht  und  die  Vorurteilslosigkeit 
an.  Eine  starr  dogmatisch  beschränkte  Natur  wie  Luther  zeigt 
diese  Freiheit  in  ausnehmendem  Maße.  Ebensowenig  ist  der  genau 
geregelte  Zusammenhang,  die  klare  Übereinstimmung  der  Wesens- 
äußerungen entscheidend,  im  Gegenteil,  in  vielen  Fällen  gehört 
zu  solchen  Gestalten  gerade  das  ungeregelte  Hervorbrechen  der 
schärfsten  Gegensätze.  Wie  Heine  von  Luther  sagt:  „...  er  hatte 
etwas  Ursprüngliches,  Unbegreifliches,  Mirakulöses,  wie  wir  es 
bei  allen  providentiellen  Männern  finden,  etwas  Schauerlich-Naives, 
etwas  Tölpelhaft-Kluges,  "etwas  Erhaben-Borniertes,  etwas  Unbe- 
zwingbar-Dämonisches" (Briefe  über  Deutschland,  I.  Buch). 

Was  hier  in  so  mächtiger  Weise  als  Wesen  der  Persönlichkeit 
geschildert  wird,  diese  Freiheit,  die  nicht  im  Sinne  Kants  und 
Schillers  moralisch  zu  fassen  ist,  die  aber  noch  viel  weniger 
durch  das  Antimoralische  Nietzsches  getroffen  wird,  kann  man  in 
seiner  vollen  Bedeutung  erst  erfassen,  wenn  man  bedenkt,  in 
welchem  Maße  das  gewöhnliche  Leben,  das  Kultur- 
leben des  gewöhnlichen  Menschen  Unfreiheit  ist.  Die 
dogmatische  Gebundenheit  vergangener  Zeitalter  zu  erkennen  fällt 
uns  nicht  schwer,   und  wir  staunen,   in  welchem  Maße  die  großen 


362  Otto  mar  Wieb  mann, 

Persönlichkeiten  darüber  stehen.  Vollends  klar  kann  aber  erst 
werden,  was  solche  Freiheit  zu  bedeuten  hat,  wenn  man  bedenkt, 
in  welchem  Maße  jede  Kultur  dogmatisch  gebunden  ist,  und  oft 
die  am  meisten,  die  am  allerfreiesten  zu  sein  glauben.  Und  zwar 
ist  es,  so  widersinnig  diese  Formulierung  zunächst 
klingen  mag,  die  Idee  der  Freiheit,  woraus  diese  Un- 
freiheit entspringt.  Ob  der  Mensch  wirklich  frei  ist  oder 
nicht,  ob  Freiheit  überhaupt  möglich  ist  —  gleichgültig!  Der 
Mensch  will  frei  sein  und  deshalb  glaubt  er  frei  zu  sein.  Was 
heißt  das?  Es  heißt,  daß  der  Mensch  in  dem,  was  den  höchsten 
Bestimmungsgrund  seines  Handelns  ausmacht,  in  dem  Grundsatze, 
der  Lehre  oder  der  Gesinnung,  die  für  sein  Leben  die  entscheidende 
und  ausschlaggebende  Bedeutung  hat,  frei  zu  sein  glaubt:  daß  er 
die  Regel  und  die  Vorschriften,  die  er  für  sich  bindend  anerkennt, 
für  allgemeingültig  und  selbstverständlich  ansieht,  für  das  Gesetz 
und  den  Inbegriff  des  Menschentums  überhaupt.  So  beruht  die 
furchtbare  Macht  der  Ideen  auf  der  Fiktion  der  Freiheit.  Weil 
der  Mensch  frei  sein  will,  muß  er  das,  worin  er  unfrei 
ist,  für  den  Ausdruck  und  Inbegriff  der  Freiheit 
nehmen.  Dem  Jesuiten  ist  das  katholische  Dogma,  dem  Bolschewisten 
der  Kommunismus  Ausdruck  aller  menschlichen  Freiheit.  Nur  der 
ist  ihnen  „frei",  der  ihre  Einsicht  teilt,  und  da  sie  höchsten  Menschen- 
wert zu  bieten  glauben,  scheuen  sie  sich  nicht,  das  Allgemeingültige 
und  für  alle  Menschen  Heilsame,  wenn's  not  tut,  mit  Feuer  und 
Schwert  auszubreiten.  In  derselben  Weise  sieht  aber  jeder  in  die 
sein  Dasein  bedingenden  Lebensverhältnisse  die  Freiheit  und  All- 
gemeingültigkeit hinein.  Sie  trachten  alle  nach  dem  Guten,  d.  h. 
dem  von  ihrem  Standpunkt  aus  unbedingt  Wertvollen  und  handeln 
also  nach  der  Idee  des  Guten,  sagt  Piaton.  „Die  menschliche  Ver- 
nunft strebt  rastlos  nach  dem  Unbedingt-Notwendigen  und  sieht 
sich  genötigt,  es  anzunehmen"  sagt  Kant.  Auf  dem  Durchsetzen 
solcher  unbedingten  Ideen,  die  für  allgemeingültig  genommen 
werden;  beruht  alle  Entstehung  der  in  sich  geschlossenen  Kul- 
turen1). Freilich  kann  daraus,  daß  das  Individuum  in  diesen 
herrschenden  Vorstellungskreis  die  Unbedingtheit  hineinsieht,  auch 
die  Sprengung  dieser  Vorstellungskreise  hervorgehen :  Wenn  näm- 

1)  Ich  habe  diesen  Gedanken  der  Wirksamkeit  der  Idee  als  Fiktion  in  meiner 
Broschüre  „Phüosophie  und  Politik",  Halle,  1920  entwickelt  und  in  dem  Bändchen 
„Die  Scholastiker"  Rösl  &  Comp.  München  1921  für  einem  bestimmten  Zeittraum 
durchgeführt. 


Genie  und  Tragik.  363 

lieh  die  Idee  eines  Unbedingten  in  dem  Individuum  so  stark  ist, 
daß  es  das,  was  an  dem  herrschenden  Vorstellungskreise  nicht 
damit  übereinstimmt,  ablehnt  und  zu  bekämpfen  wagt.  Hebbel1) 
hat  den  mächtigen  Gedanken  einer  historischen  Tragödie  in  diesem 
Sinne  gehabt,  in  der  das  Höchstmaß  an  Freiheit  und  Persönlich- 
keit, die  in  solchem  Durchbrechen  der  Idee  sich  äußern  muß,  den 
Gegenstand  zu  bilden  hätte.  Er  fordert  eine  großartige  Darstellung 
der  wenigen  Charaktere,  die  die  Jahrhunderte,  ja  die  Jahrtausende, 
als  organische  Übergangspunkte  vermitteln,  und  die  zuweilen,  wie 
z.  B.  Luther,  „mit  den  Ideen,  deren  individueller  Träger  sie  sind, 
selbst  in  Konflikt  geraten,  weil  sie  vor  den  anfangs  ungeahnten 
Konsequenzen  derselben  zu  schaudern  beginnen."  Das  ist  Hegelisch 
gesprochen,  es  liegt  aber  darin  die  ganz  reale  Tatsache  ausge- 
sprochen, daß  das  Leben  des  gewöhnlichen  Menschen  in  aller- 
stärkstem  Maße  Bedingtheit  und  Unfreiheit  bedeutet,  und  daß 
höchste  Persönlichkeit  diesen  verneinenden  Sinn  der 
Freiheit  hat,  nicht  in  solch  allgemeiner  Bedingtheit 
befangen  zu  sein  und  in  Fühlen,  Denken  und  Wollen 
darüber  zu  stehen. 

Den  hier  vorliegenden  geistigen  Zusammenhang  überschaut 
man  am  besten,  wenn  man  verfolgt,  was  Hermann  Türck 2)  als  den 
„genialen  Menschen0  beschreiht.  Mit  vollem  Rechte  stellt  hier  Türck 
Gestalten  wie  Christus  und  Napoleon  nebeneinander  und  stellt  zu 
ihnen  Faust  und  Hamlet.  Um  das  diesen  Naturen  Wesentliche  zu 
beschreiben,  geht  er  davon  aus,  daß  sie  in  ihrem  Fühlen  und  Wollen 
von  Furcht  und  Hoffnung  nicht  bestimmt,  d.  h.  daß  sie  frei  und 
objektiv  sind.  Die  Darstellung  entwickelt  im  allgemeinen  diesen 
Grundcharakter  der  Objektivität  durchaus  richtig  und 
gibt  für  das,  was  wir  hier  verfolgen,  eine  höchst  brauchbare  Ver- 
anschaulichung. Nur  eins  fehlt  dabei  für  die  begriffliche  Erfassung. 
Weil  Türck  nicht  die  Unfreiheit  des  gewöhnlichen  Menschen  als 
eine,  eben  aus  der  Idee  der  Freiheit  und  der  Einbildung  der  Freiheit 
fließende  Unfreiheit  erkannt  hat,  ist  bei  ihm  auch  nicht  genügend 
hervorgekehrt,  daß  das  Wesen  des  genialen  und  des  tragischen 
Menschen,  der  übereinstimmende  Zug  in  all  den  geschilderten  Ge- 
stalten, eine  Verneinung  ist.  Es  wird  beispielsweise  an  Hamlet  im 
Gegensatz  zu  Laertes  die  Objektivität  seines  Wesens  in  dem  Sinne 

1)  Mein  Wort  z.  Drama  S.  48/49. 

2)  Hermann  Türck,   Der  geniale  Mensch,   Borngräber,  10.  Aufl.;   II.  Türck, 
Faust,  Hamlet,  Christus.  v 


364  Ottomar  Wichmann, 

entwickelt,   daß  er  nicht  der  augenblicklichen  Stimmung  Untertan 
sei,  sondern  immer  den  allgemeinen  Gesichtspunkt  im  Auge  habe. 
Dadurch  wird  in  die  Gestalt  Hamlets  ein  völlig  falscher  Zug  ge- 
bracht :  der  wilde  Unmut,  der  ihn  in  der  Grabszene  hinreißt,  wäre 
dann  unmöglich.  Auch  will  Türck  das  Unentschlossene  und  Zögernde 
in  Hamlets  Charakter  mit  dem  Hinweis  widerlegen,  daß  er,  wenn 
sein  „Schicksal  ruft,  sich  stark  wie  der  nemeische  Löwe"  fühlt  und 
in   persönlicher  Gefahr   bei   der  .Meerfahrt  mit  höchster  Tatkraft 
handelt.     Alles  das  ist  ganz  richtig,  aber  daneben  ist  Hamlet  doch 
der   Grübler    und    Träumer;     nicht   nur    er   selbst    beklagt    seine 
Schwäche  und  Tatenlosigkeit,  sonder  auch  der  Geist  erscheint  ihm 
zum  zweiten  Male,   um  den  „abgestumpften  Vorsatz"  zu  schärfen. 
Für   unsere   Bestimmung   des   tragischen   und   genialen   Menschen 
gilt  dagegen,    daß   dieser   allerdings    objektiv   und   frei   ist,    aber 
daß    dies    nur    eine    verneinende  Bestimmung    ist:    die   Unfreiheit 
und  Befangenheit   in   bestimmten  Ideen  und  Vorurteilen,    die   die 
Kultur     ausmachen    und     die     die    Kultur     einem    jeden    aufer- 
legt,   der   durch  Furcht  und  Hoffnung,   durch   die  Sorge   um   sein 
liebes  Leben   und   die   Freude   an  Hab  und  Gut   in   diese  Kultur 
verstrickt   ist,    diese  Unfreiheit  ist  eine   solche  Persönlichkeit  los, 
und   deshalb   ist   sie   unbegreiflich   frei.     Aber    darum    bleibt   die 
große  Persönlichkeit  doch  vollständig  und  in  jeder  Hinsicht  Mensch : 
Voll  Furcht  und  Hoffnung  (Hamlet  spricht  selbst  von  seiner  Furcht 
bei  der  Seefahrt),   voll  Leidenschaft   und  voll  Zögern.     Nur  steht 
in  all  dem,  in  Fehlern  und  Vorzügen,  in  Tatkraft  und  Lässigkeit, 
eine  solche  Natur  außerhalb  desjenigen  Zusammenhanges  von  Ab- 
hängigkeiten, der  beim  gewöhnlichen  Menschen  sein  ganzes  Wesen 
letzten  Endes  entscheidend  bestimmt.    Man  muß  also,  um  es  noch 
einmal  zu  wiederholen,    um  das  Wesen  dieser  tragischen  und  ge- 
nialen Naturen  zu  verstehen,    die  furchtbare   und   unbezwingliche 
Macht  der  Unfreiheit  erkannt  haben,   die  das  Leben  dadurch  auf- 
erlegt, daß  es  die  Menschen  nötigt,  bestimmte  Lebensanschauungen 
und  Lebensnormen  als  Ausdruck  der  Freiheit,    d.  h.  als  unbedingt 
und  allgemein   gültig   anzunehmen.     Sie  legt  damit  den  Menschen 
eine  ganz  genau  bestimmte  Befangenheit  auf,  in  der  große  sittliche 
und  intellektuelle  Wahrheiten  enthalten  sein  mögen,  die  aber  den- 
noch innerhalb  dieser  Wahrheiten  dogmatisch  bindet.     Die  höchste 
Freiheit   der  Persönlichkeit   nun,    die    geniale   und    die    tragische 
Persönlichkeit,  hat  den  Vorzug  außerhalb  dieses  Netzes  von  Irrtum 
zu  stehen,  unmittelbar  in  seinem  Fühlen,  Wollen  und  Handeln  zu 


Genie  und  Tragik.  365 

sein.   So  kann  man  z.  B.  voll  anerkennen,  daß  das  Deutschtum  ein 
hohes  Maß  sittlicher  und  geistiger  Einstellung  bedeutet.    Dennoch 
aber   legt   es    eine   bestimmte  Befangenheit   auf,   bewirkt   es,   daß 
die,    welche   in  diesem  Kulturkreis   bedingt   sind,   ganz  bestimmte 
Tatsachen  nicht  sehen  können.   Innerhalb  dieses  Lebenskreises  sind 
daher  Gestalten  wie  Heine,   Lasalle,   Marx  und  Nietzsche  nur  da- 
durch,  daß  sie  aus  dieser  Befangenheit  und  dem  damit  notwendig 
verbundenen  Irrtum  heraustreten,  genial :  Sie  sehen  klar  vor  Augen, 
was  andere  trotz  alles  Denkens  nie  erarbeiten  können  und  so  haben 
Heine1)  und  Lasalle  und  namentlich  Nietzsche  Ausblicke  in  unge- 
messene Weiten 1).  Der  Umstand,  daß  Türck  dies  letzte  begriffliche 
Wesen  der  Genialität  nicht  klar  geworden  ist,  hat  auch  bewirkt, 
daß  er  Nietzsche  so  ungerecht  beurteilt.     Mag  man  über  ihn  oder 
seinen  Wert  denken,    wie  man  will,  Genialität  wird  ihm  niemand 
bestreiten   können.  —  Das  Höchstmaß   an   Freiheit   also,    welches 
den  genialen  und  den  tragischen  Menschen  ausmacht,   liegt   darin, 
daß   er  von   derjenigen  Unfreiheit  frei   ist,    der   der  gewöhnliche 
Mensch  dadurch  unterliegt,  daß  er  seine  Bedingtheit  für  Freiheit, 
daß  er  das,  wovon  er  abhängig  ist,  für  den  Ausdruck  der  Freiheit 
und  mithin  für  allgemeingültig  halten  muß.     Ziegler  nennt  den  ge- 
wöhnlichen Menschen  in  seiner  sittlichen  Selbstbestimmung  frei  und 
ihm   gegenüber   den   tragischen  Menschen  unfrei!  —  Es  ist  genau 
ungekehrt.  Der  gewöhnliche  Mensch  ist  unfrei,  geht  in  allem  seinem 
Fühlen,  Wollen  und  Erkennen  an   der  Kette  der  Grundbestimmt- 
heiten seines  Zeitalters  und  seines  Lebenskreises.     Wir  sehen  das 
bei  jedem  verflossenen  Zeitalter,    wir    sehen    es    nur    bei  unserem 
eigenen  nicht,   wie  wir  die  Bewegung  des  Wagens  nicht  sehen,  in 
dem  wir  eingeschlossen  sind.   Die  Menschen  sind  unfrei  im  Wollen 
und  Begehren :  Sie  wollen  und  begehren  immer  nur  nach  der  Regel 
des  Erlaubten  und  Befohlenen.     Und   wo    sie    anscheinend   einmal 
etwas  Unerlaubtes  wollen  und  begehren,    da   ist  eben   gerade  der 
herrschende  Liberalismus  der  Lebensanschauung    das    geheime  Ge- 
setz ihres  Handelns.     Der  Studio,  der  sich  betrinkt,  der  Lebemann, 
der    durchgeht,    so    sehr    sie   ihrem   eigenen    Begehren    zu   folgen 
glauben,    sie   tanzen   doch   nach  der  Pfeife  der  Lebensanschauung 
eines   gewissen  Liberalismus,    der   solch  „Sich-ausleben"  zur   pein- 
lichen Vorschrift  macht.     Wer  nur  einen  geringen  psychologischen 

1)  Heine  namentlich  in  den  viel  zu  wenig  gelesenen  „Brufen  über  Deutsch- 
land", wo  er  das  Deutschtum  hinreißend  veranschaulicht  und  verherrlicht  hat,  die 
für  unsere  Betrachtung  wertvollstes  Material  bieten  (s.  o.  S.  361). 


366  Ottomar  Wichmann, 

Blick  hat,  der  sieht,  in  wie  vielen  Fällen  ganz  anders  geartete 
Naturen  sich  geradezu  abmartern,  eine  gewisse  vorgeschriebene 
und  konventionelle  Forschheit  mitzumachen.  Wenn  man  nicht  so 
begehrt,  ist  man  kein  ganzer  Kerl  —  diese  herrschende  Ansicht 
ist  hier  der  letzte  Grund  des  eingebildet  freien  Begehrens.  Ebenso 
unfrei  ist  das  Fühlen:  So  und  so  fühlt  man  richtig,  in  der  Liebe, 
der  Kunst,  vor  der  und  der  Art  des  Fühlens  hat  man  allgemein 
Respekt,  das  und  das  Gefühl  hält  man  für  den  Ausdruck  der  Frei- 
heit und  für  allgemeingültig.  Und  der  gewöhnliche  Mensch  ist  denn 
auch  nach  dieser  Vorschrift  „frei"  und  fühlt  dementsprechend.  Un- 
frei ist  vor  allen  Dingen  sein  Erkennen.  Das  und  das  ist  Wahrheit, 
und  wehe!  wer  dagegen  spricht!  Die  eigenen  Gedanken,  die  dem 
Menschen  wohl  ursprünglich  kommen  mögen  und  sich  äußern  wollen, 
treffen  auf  unbegreiflichen,  unüberwindlichen  Widerstand.  Wenn 
er  sein  Innerstes  äußert,  stößt  er  wieder  und  wieder  wie  auf  eine 
Stahlwand.  Und  weil  er  Anerkennung  braucht,  weil  Furcht  und 
Hoffnung  im  Rahmen  dieses  Lebenskreises  ihn  letztlich  bestimmen, 
deshalb  muß  er  schließlich  seine  Gedanken  anpassen  und  ver- 
kümmern. Was  vor  Augen  liegt,  sieht  er  nicht  und  darf  er  nicht 
sehen.  Ganz  klar  liegt  das  vor  uns  etwa  für  das  Mittelalter. 
Man  achte  darauf,  wie  etwa  für  einen  so  freien  Intellekt  wie 
Abälard  schließlich  der  allerdogmatischste  Standpunkt  zur  zweiten 
Natur  wird  (vgl.  die  Briefe  an  Heloise!).  Für  unsere  Zeit  da- 
gegen wollen  wir  es  nicht  zugeben  und  überlegen  nicht,  daß  wir 
dies  eben  so  unsichtbare  wie  Unzerreißbare  Netz  nur  deshalb  nicht 
sehen,  weil  wir  es  nicht  sehen  dürfen.  Es  macht  für  die  Tat- 
sache dieser  Unfreiheit  nichts  aus,  ob  man  nicht  an  die  Bewegung 
der  Erde  glauben  darf,  wenn  man  nicht  von  Wissenschaft  und 
Lehrfreiheit  ausgestoßen  sein  will,  oder  ob  man  genötigt  wird, 
Urzeugung  und  Evolutionismus  als  Wahrheit  anzunehmen,  wenn 
man  als  wissenschaftlich  zurechnungsfähig  gelten  will.  Es  ist  für 
die  Sache  gleichgültig,  ob  das  Anathema  unter  der  Formel  des 
unchristlichen  Wesens  oder  unter  der  Formel  des  „reaktionären 
Standpunktes"  das  Verdammungsurteil  ausspricht.  Diese  furchtbare 
Unfreiheit  ihres  eigenen  Zeitalters  hat  allen  großen  —  d.  h.  in  der 
dargestellten  Weise  freien  —  Geistern  immer  furchtbar  deutlich 
vor  Augen  gestanden.  Bei  Piaton  und  Schopenhauer  tritt  sie 
mächtig  hervor,  hier  mag  noch  die  schneidend  scharfe  und  treffende 
Formulierung  angeführt  werden,  die  Fichte  dieser  Tatsache  ge- 
geben hat:    „Sie  können  nicht   anders,   als   jene   sie  be- 


Genie  und  Tragik.  ,    367 

schämende  Überzeugung  von  einem  Höheren  im  Men- 
schen, und  alle  Erscheinungen,  die  diese  Erscheinung 
bestätigen  wollen,  wütend  anfeinden;  sie  müssen  alles 
mögliche  tun,  um  diese  Erscheinungen  von  sich  abzu- 
halten und  sie  zu  unterdrücken.  Sie  kämpfen  für  ihr 
Leben,  für  die  eigenste  und  innerste  Wurzel  ihres 
Lebens,  für  die  Möglichkeit,  sich  selber  zu  ertragen. 
Aller  Fanatismus  und  alle  wütenden  Äußerungen  des- 
selben ist  vom  Anfange  der  Welt  an  bis  zu  diesemTag, 
ausgegangen  von  dem  Prinzip:  wenn  die  Gegner  Recht 
hätten,  so  wäre  ich  ja  ein  armseliger  Mensch"1). 

Schon  in  dem  bisherigen  Ergebnis,  in  der  Freiheit  der  großen, 
der  tragischen  und  genialen  Persönlichkeit  von  der  überall  herr- 
schenden und  nirgends  erkannten  Unfreiheit  —  da  sie  ja  sich  selbst 
für  Freiheit  halten  muß  —  liegt  eine  Lösung  der  zu  Beginn  ge- 
fundenen Schwierigkeiten:  daß  man  von  einem  einheitlichen  Sinn 
der  Freiheit  reden  soll,  die  dennoch  weder  durch  die  moralische 
noch  durch  die  antimoralische  Auffassung  zu  erfassen  ist.  Wenn 
dabei  nur  etwas  im  höchsten  Maße  Widerspruchsvolles  übrig  zu 
bleiben  schien,  so  antworten  wir  jetzt:  Jawohl!  Persönlichkeit 
im  höchsten  Sinne  ist  keine  nach  Yorschriften  abgezirkelte  Haltung, 
sondern  ist  gerade  gekennzeichnet  durch  das  jähe  und  über- 
mächtige Hervorbrechen  widersprechender  Regungen.  Das  den 
beiden  Gestalten  Hamlets  und  Fausts  so  ist,  braucht  nicht  breit 
ausgeführt  zu  werden,  für  Luther  können  wir  auf  die  Darstellung 
Heinrich  Heines  und  neuerdings  auf  die  von  Ricarda  Huch2)  ver- 
weisen. Die  große  Persönlichkeit  ist  ganz  ein  Mensch  wie  wir, 
voll  Liebe,  Haß,  Begehren,  Glauben,  Denken,  Zögern  und  Übereilung, 
je  nachdem.  Nicht  in  einer  dieser  Grundarten  menschlicher  We- 
sensäußerung liegt  ihr  Kennzeichen,  sondern  darin,  daß  sie  in  all 
diesen  Wesensäußerungen  frei  ist.  Es  liegt  darin  eine  für  den 
gewöhnlichen  Menschen,  der  ja  seine  eigene  Unfreiheit  nicht  sehen 
darf  und  kann,  unbegreifliche  Unmittelbarkeit;  es  ist  etwas  bei 
diesen  Persönlichkeiten  ganz  anderes  als  bei  ihm,  und  obwohl  er 
es  nicht  zu  begreifen  vermag,  fühlt  er  doch,  daß  hier  das  Höchste 
liegt,  was  es  für  unser  Geschlecht  gibt.  Um  es  kurz  auszudrücken : 
Wer  in  solchem  Sinne  frei  sein  soll,  muß  mit  dem  Leben  fertig 
sein,  er  muß  einmal  mit  allem,  was  sonst  den  Willen  des  Menschen 

1)  Anweis.  z.  sei.  Leb.,  S.  426. 

2)  Luthers  Glaube,  Leipzig  191G. 


0 1 1 o m a I  AVichmann, 

bindet  und  zwingt,  abgeschlossen  haben,  wenn  er  dem  feinen  und 
unbewußten  Zwange  des  Lebens  entgehen  soll.  Die  inneren  Ge- 
walten, der  heiße  Drang,  sein  "Wesen  auszuprägen  und  keine  Puppe 
zu  sein,  der  Drang  nach  Freiheit  muß  einmal  so  stark  geworden 
sein,  daß  ihm  demgegenüber  das  ganze  Leben  als  „ekel,  schal  und 
unersprießlich"  erschien.  Ihre  merklichste  Ausprägung  findet  diese 
Einstellung  zum  Leben  in  dem  Gedanken  des  Selbstmords.  Auch 
hier  wieder  genügt  der  Hinweis  auf  Faust,  Hamlet,  Werther,  aber 
auch  auf  Bismarcks  Selbstgeständnis  in  den  „Gedanken  und  Er- 
innerungen" (Nikolsburg).  Es  gilt  das  von  Goethes  mächtigster 
und  fruchtbarster  Zeit  selbst:  denn  der  Dichter,  der  höchste  Per- 
sönlickeit  und  höchste  Freiheit  darstellen  soll,  muß  selbst  diese 
Feuerprobe  durchgemacht  haben  —  sonst  könnte  er  ja  diese  Frei- 
heit nicht  sehen,  weil  er  sie  nicht  sehen  dürfte.  Jede  große  und 
geniale  Persönlichkeit  ist  hart  am  Abgrund  vorbeigegangen;  das 
Schicksal  derjenigen  Naturen  aber,  die  aus  dem  Wesen  dieser 
Freiheit  heraus  dem  Untergang  verfallen  und  ihm  verfallen  müssen 
ist  Gegenstand  des  Tragischen. 

Denn  aus  der  Freiheit,  die  wir  als  das  Wesen  des  Tragischen 
gekennzeichnet  haben,  ergibt  sich  nun  auch  der  Zug  der 
Notwendigkeit,  den  man  von  anderer  Seite  her  —  und  mit 
Recht  —  als  der  Erscheinung  des  Tragischen  eigentümlich  und  wesent- 
lich festgestellt  hat.  Wir  sahen  das  erste  Kennzeichen  der  tragi- 
schen Persönlichkeit  (und  damit  der  genialen,  denn  jede  geniale  Per- 
sönlichkeit ist  aus  den  genannten  Gründen  tragisch)  darin,  daß  sie 
mit  dem  Leben  fertig  sind,  daß  in  ihren  letzten  Entscheidungen 
sie  außerhalb  dieser  Rücksichten  und  der  damit  verbundenen  Ab- 
hängigkeiten stehen.  In  dieser  Freiheit  liegt  die  Notwendigkeit 
des  Unterganges.  Denn  wer  keine  Rücksicht  mehr  nimmt  auf  die 
Dinge,  die  ihm  in  den  Weg  treten,  wer  sein  Leben  und  die  Be- 
dingungen des  Lebens  „keiner  Nadel  wert"  achtet,  der  muß  an- 
stoßen. Eine  Vermeidung  des  Unterganges  „ist  so  wenig  denkbar, 
als  ein  Blinder  ohne  Hilfe  einen  verschlungenen  Pfad  sicher  durch- 
wandelt, den  sein  Fuß  noch  nie  betreten  hat"  (Ziegler).  Solche 
Unmittelbarkeit  des  Wesens  bewährt  in  hellster  freudigster  Form 
Held  Siegfried,  dessen  lichte  Natur,  ohne  Rücksicht  auf  Feind- 
schaft und  Arglist  des  Lebens  sich  auswirkend,  dieser  notwendig 
verfallen  muß.  So  muß  gerade  die  höchste  Freiheit  und  ihre 
Äußerung  vom  Standpunkt  des  Lebens  als  blindeste  Notwerdigkeit 
erscheinen.     Dem  Betrachter  ist  es  unfaßbar,    daß  man  auf  diese 


Genie  und  Tragik.  369 

oder  jene  Gefahr,  auf  diese  ohne  jene  Rücksicht  nicht  achtet,  er 
muß  dies  als  furchtbarste  Notwendigkeit  ansehen,  was  Ausdruck 
höchster  Freiheit  ist.  Wenn  Ziegler  den  gewöhnlichen  Menschen 
frei,  den  tragischen  Menschen  unfrei  nennt,  so  hat  er,  vom  Stand- 
punkt des  Lebens  aus,  völlig  recht.  Der  gewöhnliche  Mensch 
merkt  oder  fühlt,  wie  er  seine  Grundsätze,  sein  Denken  und  Fühlen 
gestalten  muß,  um  in  den  Zusammenhängen  des  Lebens  sich  zu 
erhalten,  er  richtet  nach  diesen  Rücksichten  sein  Denken,  Fühlen 
und  Wollen  ein  und  weiß  sich  in  solcher  Bedingtheit  frei  von  den 
Gefahren,  die  ihm  bei  der  Überschreitung  drohen  würden.  Doch 
ist  diese  Freiheit  immer  nur  eine  relative,  eine  Freiheit  inner- 
halb dieser  Bedingtheit.  Der  wahrhaft  freie  Mensch  aber  ver- 
neint diese  Bedingtheit  als  Ganzes,  sein  Denken,  Fühlen  und 
Wollen  ist  mithin  ursprünglich,  unmittelbar,  eigen,  ist  frei  —  aber 
dabei  geht  ihm  der  Schutz  verloren,  den  solche  Unfreiheit  dem 
armseligen  Leben  gibt.  Aus  solcher  Unfreiheit,  die  eine  Freiheit, 
und  solcher  Freiheit,  die  eine  Unfreiheit  sein  kann,  muß  man  die 
Rätsel  und  „Widersprüche"  der  Gestalt  Hamlets  verstehen.  Er, 
der  einmal,  wenn  ihn  „sein  Schicksal  ruft",  sich  stark  wie  der 
nemeische  Löwe  fühlt,  der  im  Einzelfall  höchste  Tatkraft  bewährt 
und  ungerührt  Rosenkranz  und  Güldenstern  als  „schlechtere  Natur" 
in  den  Tod  schickt,  ist  andererseits  ein  Spiel  seiner  Laune  und 
verrät,  durch  Laertes'  Prahlerei  gereizt,  sein  ganzes  sorglich  ver- 
stecktes Wesen,  er  schiebt  aus  unverständlichen  Bedenken  und 
grüblerischer  Haltlosigkeit  die  notwendige  Tat  immer  wieder  auf 
und  geht  schließlich  in  die  von  dem  rührigen  Gegner  gelegte 
Schlinge.  Das  ist  eine  Abhängigkeit  von  Launen  und  Zufällen, 
die  nur  bei  der  durch  die  Unbedingtheit  der  freien  Natur  gegebenen 
Achtlosigkeit  gegen  das  Leben  möglich  ist.  Beim  gewöhnlichen 
Menschen  würde  die  Todesangst,  die  Sorge  um  das  liebe  Leben, 
nötigenfalls  auch  das  Hochgefühl  moralischen  Selbstbewußtseins 
(das  an  Laertes  so  glänzend  ironisch  veranschaulicht  ist)  derartige 
Bedenken  und  Stimmungen  schnell  beseitigen.  Der  gewöhnliche 
Mensch  ist  für  eine  solche  Unfreiheit,  wie  sie  Hamlet 
zeigt,  —  nicht  frei  genug,  d.h.  es  ist  eine  gröbere,  plumpere, 
das  ganze  Wesen  nach  einem  bestimmten  Schema  umgestaltende  Un- 
freiheit da,  die  diese  feinere  und  doch  furchtbar  zwingende  Unfreiheit 
nicht  zur  Geltung  kommen  läßt.  Solche  im  eigenen  Wesen  begründete 
und  mithin  freie  Unfreiheit  offenbart  an  den  Hamlet,  Tasso, 
Werther  und  Egmont  dennoch  ein  Höchstes  an  Persönlichkeit.  — 

Kant  Studien.   XXVI.  24 


370  Ottomar  Wichmann, 

Die  großen,  und  daher  tragischen  Gestalten  der  Geschichte  tragen 
denselben  Zug.  Der  Glaube  an  den  eigener  Stern,  den  wir  bei 
Alexander  wie  bei  Cäsar1)  und  Napoleon  so  deutlich  ausgeprägt 
finden,  ist  nur  der  Ausdruck  dieser  Unbedingtheit,  d.  h.  des  Außer- 
halb-der-Lebensbedingtheit-Stehens.  Sie  glauben  an  ihren  Stern, 
weil  sie  vor  sich  selbst  einen  Anhalt  haben  müssen,  um  sich  selbst 
in  der  Mißachtung  aller  Rücksichten  zu  verstehen.  Dieser  Glaube 
bleibt  dabei  schwebend,  bildlich;  das  erste  an  ihnen  ist  das  Han- 
deln, ihr  Sich-selbst- verstehen- wollen  ist  nur  ein  untergeordnetes, 
nachträgliches  Bedürfnis,  das  mit  einem  schnell  und  sorglos  hin- 
geworfenen Bilde  befriedigt  wird.  Eine  flüchtige  Veranschaulichung 
des  Übersinnlichen,  weiter  nichts  ist  es,  wenn  Cäsar  seinem  Fähr- 
mann zuruft,  furchtlos  zu  sein:  er  trage  Cäsar  und  sein  Glück, 
wenn  Napoleon  seinen  Offizieren,  die  mit  tausend  frivolen  Gründen 
das  Dasein  Gottes  bestritten  haben,  den  gestirnten  Himmel  zeigt 
und  sie  fragt,  wer  all  das  gemacht  habe.  Da  diese  Mißachtung 
aller  Rücksichten  die  größte  Stärke  solcher  freien  und  unbedingten 
Naturen  ist,  —  denn  die  Menschen  folgen  fassungslos,  wenn  sie  so 
alle  Notwendigkeit  ihrer  Lebensanschauung  durchbrochen  sehen  — 
kann  die  kühne  Achtlosigkeit  der  großen  Führer  zur  bewußten 
Absicht  und  zum  Fehler  werden.  So  kommt  bei  Cäsar  und  Frie- 
drich das  oft  unüberlegt  kühne  Handeln  zustande,  bei  Cäsar  Ilerda, 
Durazzo  und  Alexandria,  bei  Friedrich  Kollin  und  Hochkirch. 
Solche  Durchbrechung  und  Nichtachtung  aller  vernünftigen  Rück- 
sicht erscheint  dem  gewöhnlichen  Menschen  als  Wahnsinn,  solch 
Verhalten  ist  von  diesem  Standpunkt  aus  Wahnsinn 2).  So  hat  es 
Hamlet  gar  nicht  nötig,  sich  wahnsinnig  zu  stellen,  obwohl  er  an- 
fangs dies  als  Absicht  ausspricht.  In  solchem  Maße  trägt  diese 
Unbedingtheit  und  Freiheit  das  Gepräge  des  Entrücktseins  an  sich, 
daß  der  junge  Goethe  diesen  selben  Eindruck  hervorrief.  „Er  ist 
damals  Jacobi  als  ein  Besessener  erschienen,  dem  es  fast  in  keinem 
Falle  gestattet  sei,  willkürlich  zu  handeln"  (Dilthey). 

Wir  haben  damit  die  Freiheit,  die  das  Tragische  ausmacht. 
Keine  konstruierte,  moralisch  ausgeklügelte  oder  auch  antimo- 
ralisch er  quälte  Freiheit,    sondern   die  einmal  in  süßer  Liebe  aus- 

1)  Mommsen,  Rom.  G.  Bd.  III,  S.  463 :  „Es  war  auch  in  Cäsars  Rationalismus 
ein  Punkt,  wo  er  mit  dem  Mystizismus  gewissermaßen  sich  berührte". 

2)  Vgl.  Schopenhauer,  „Die  Welt  als  Wille  u.  V."  B.  III.  S.  224—225,  der 
das  Wesentliche  zum  Ausdruck  bringt,  während  Lombroso  nur  meist  unwesent- 
liche Einzelheiten  zusammenträgt. 


Genie  und  Tragik.  371 

strahlende,  einmal  in  mächtigem  Heldentum  erglänzende,  einmal 
in  schauerlicher,  grauenhafter  Tat  ausbrechende  Unbedingtheit  und 
Unmittelbarkeit  des  Wesens,  die  vor  allem  die  Shakespeareschen 
Dichtungen  erfüllt.  Aus  der  Fülle  der  Beispiele,  den  vielbehan- 
delten Romeo,  Hamlet,  Heinrich  IV.,  sei  hier  nur  hingewiesen  auf 
die  Gestalt  Suffolks  in  König  Heinrich  VI.  Er  ist  die  verkörperte 
Gewissenlosigkeit,  um  die  Königstochter  sich  zu  gewinnen,  ver- 
kuppelt er  sie  seinem  König,  ermordet  seine  Gregner,  gibt  den 
Vorteil  seines  Landes  preis.  Und  doch  liegt  darin  Freiheit  und 
Unbedingtheit.  Die  Szene,  wo  er  um  Margareta  wirbt1),  ist  hin- 
reißend durch  die  Unmittelbarkeit  und  Innigkeit  seiner  Liebe. 
Mächtiger  noch  zeigt  seine  Persönlichkeit  sich  in  seiner  Todes  - 
szene2):  der  unbeugsame  Trotz  und  Stolz  der  Herrennatur,  die 
lieber  stirbt  als  vor  einem  Knechte  sich  zu  erniedrigen.  So  reißt 
Shakespeare  auch  den,  der  es  begrifflich  nicht  zu  fassen  vermag, 
an  den  „geheimen  Punkt",  wo  das  Ursprüngliche  der  Persönlickeit, 
diese  wie  ein  Glanz  über  allen  Gestalten  liegenden  Freiheitlichkeit 
des  Wesens,  überwältigend  vorbricht: 

„Unbändig  schwelgt  ein  Geist  in  ihrer  Mitten, 
Und  durch  die  Roheit  spür'  ich  edle  Sitten". 


III.    Mythisierung. 

Wir  haben  die  Erscheinung  der  Tragik,  der  freien  und  un- 
bedingten Persönlichkeit,  unter  einem  Gesichtspunkt  betrachtet, 
der  diese  Gabe  bis  zu  einem  gewissen  Grade  zu  etwas  Natürlichem 
und  Verständlichem  macht.  Daß  tatsächlich  das  Leben  fortwährend 
bemüht  ist,  das  Eigenste  der  Persönlichkeit  abzuschleifen  und  zu 
verkehren,  daß  man  infolgedessen  dadurch,  daß  man  mit  dem  Leben 
fertig  ist,  die  fruchtbarsten  Kräfte  des  Innern  erst  entbindet, 
ist  eine  verständliche  Tatsache."  Wir  müssen  nun  aber  einen 
Schritt  weiter  tun :  ■  denn  es  fragt  sich,  ob  nicht  auch  wir  in  dem, 
was  uns  das  allerselbstverständlichste  erscheint,  in  unserer  Auf- 
fassung der  Welt  als  eines  natürlichen,  in  sich  geschlossenen  Ge- 
schehens, noch  in  einer  solchen  Unfreiheit  stehen,  sodaß  diesem, 
unserem  natürlichen  Verstehen  sich  die  Wahrheit  und  die  Freiheit 
garnicht   erschließen  kann.     Während  die  Freiheit   bisher   immer 


1)  Heinrich  VI.,  1.  Teil;  V,  3. 

2)  Heinrich  VI.,  2.  Teil;  IV,  1. 

24* 


372  Ottomar  Wichmann, 

noch  ein  natürliches  Hinausragen  über  das  .Gewöhnliche  war,  muß 
nunmehr  eine  weitere  Stufe  betrachtet  werden:  ob  es  nicht  ein 
Hinausragen  über  allen  natürlichen  und  begreiflichen  Zusammen- 
hang überhaupt  bedeutet.  Wir  suchen  also  ein  Verständnis  für  etwas, 
das  nicht  nur  über  das  Verständnis  einer  bestimmten  Menschen- 
gruppe und  Lebensweise  hinausliegt,  sondern  wollen  verstehen, 
was  über  das  menschliche  und  mithin  unser  eigenes  Verständnis 
hinausliegt.  Wir  müssen  damit  etwas  Ähnliches  vollziehen  wie 
der  Mathematiker,  wenn  er  von  der  Bildung  des  Differenzen- 
quotienten einer  Kurve,  wo  das  Verhältnis  der  Koordinaten  klar 
sichtbar  ist,  übergeht  zum  Differenz ialquotienten,  wo  alle  An- 
schauung aufhört  und  er  Größenverhältnisse  behandelt,  die  jenseits 
aller  möglichen  Anschauung  liegen.  Ein  ähnliches  sich-über-sich- 
selbst-hinaus-Versetzen  gilt  es  auch  hier.  Muß  doch  das  Schöne, 
wenn  es  wirklich  durch  Belebung  der  Erkentniskräfte  allgemein- 
gültig gefallen  soll,  jenseits  aller  Regeln  und  Formulierungen 
stehen.  Es  ist  also  durch  die  Idee  des  Schönen  ein  solch  Jenseits 
auch  der  uns  gewissesten  Regeln  und  Gesetze  gefordert.  Es  ist 
die  Grundlehre  der  Schopenhauerschen  Ästhetik,  auf  die  wir  damit 
stoßen :  all  unser  natürliches,  von  Zeit,  Raum  und  Kausalität  aus- 
gehendes Erkennen  ist  befangen,  ist  uns  diktiert  vom  „Willen", 
d.  h.  von  Leid  und  Lust  und  unserem  leiblichen  Dasein.  Zur 
Wahrheit  kommen  wir  nur  durch  die  geniale,  d.  h.  objektive,  frei- 
heitliche und  unbedingte  Erkenntnis,  die  deshalb  stets  auf  ein 
Wesenhaftes  außerhalb  der  Naturbedingtheit  sich  richtet.  Drasti- 
scher drückt  das  Shakespeare  aus;  er  nennt  uns  „Narren  der 
Natur",  die  wir,  wenn  ein  solch  Wesenhaftes  vor  uns  hintritt, 
„furchtbarlich  uns  schütteln  mit  Gedanken,  die  unsere  Seele  nicht 
ergreifen  kann"  und  von  „Dingen  zwischen  Himmel  und  Erde" 
spricht,  von  denen  keine  Schulweisheit  jemals  sich  etwas  träumen 
läßt.  —  Wir  kommen  also  zur  Frage :  Wenn  Freiheit  als  ein  Jen- 
seits alles  natürlichen  Verständnisses  den  Gegenstand  der  höchsten 
Dichtkunst  bildet,  wie  ist  dann  dem  Dichter  eine  Veranschaulichung 
möglich?  Die  Antwort  ist,  daß  der  Dichter  auch  hier  das  scheinbar 
Unmögliche  möglich  macht  auf  dieselbe  Art,  wie  von  jeher  die 
Menschheit  dasjenige,  was  außerhalb  aller  Berechenbarkeit  und 
Begreifbarkeit  lag,  sich  begreiflich  gemacht  hat.  Verstehen 
und  begreifen  heißt  aus  Beziehungen  und  Zusammen- 
hängen ableiten.  Wo  nun  das  Wesen  einer  Erschei- 
nung, die  begriffen  werden  soll,  eben  dadurch  gekenn- 


Grenie  und  Tragik.  373 

zeichnet  ist,  daß  es  außerhalb  aller  natürlichen  und 
faßbaren  Zusammenhänge  steht,  daß  es  unbedingt  und 
frei  ist,  da  werden  diese  Beziehungen  eben  in  ein 
Jenseits  verlegt,  das  außerhalb  unseres  sinnlichen 
Erkenntnisvermögens  liegt.  Wenn  ein  Meister  auftrat 
und  eine  Lehre  verkündigte,  die  über  alles  bisher  Dagewesene 
hinausstrahlte  wie  die  Sonne  über  Kerzenlicht,  wenn  er  für  die 
Lehre  Marter  und  Tod  auf  sich  nahm,  so  lag  damit  eine  Erschei- 
nung vor,  die  man  nach  allem,  was  bisher  und  überhaupt  sichere 
Regel  in  der  Beurteilung  von  Menschen  und  ihren  Handlungen  war, 
hinausging.  All  dem  was  sonst  an  Handlungen,  großen  und  kleinen, 
schlechten  und  guten,  aus  Sitte,  aus  Furcht  und  Hoffnung,  aus  sitt- 
lichen Idealen  hervorgegangen  war  und  hervorging,  was  also  ver- 
ständlich und  erklärbar  war,  ließ  dieses  Handeln  sich  nicht  ein- 
ordnen. Für  die  Menschen,  die  in  diesem  unbegreiflichen  Handeln 
und  dieser  Lehre  ihr  Höchstes  sahen  und  sehen  mußten,  die  es 
am  allerdringlichsten  verstehen  wollten  und  doch  aus  sinnlichen  Zu- 
sammenhängen nicht  verstehen  konnten,  erwuchs  daher  eine  Welt 
übersinnlicher  Zusammenhänge,  eine  Glaubenswelt  von  solcher 
Leuchtkraft,  daß  ihr  gegenüber  die.  gegebene  natürliche  Welt  für 
lange  Jahrhunderte  nur  ein  schattenhaftes  Dasein  führte.  Die 
Freiheit,  wie  sie  in  Christus  erschienen,  war  erste  und  gewisseste 
Wahrheit  und  alles  andere  nur  wahr,  soweit  es  damit  überein- 
stimmte. So  mußten  denn  die  übersinnlichen  Zusammenhänge,  die 
man  zum  Verständnis  dieser  ersten  und  ursprünglichsten  Wahrheit 
annahm,  für  alle  Wahrheit  auf  Erden  den  Maßstab  abgeben. 

Unbewußt  wie  die  Mythologie  des  Volkes,  schafft  der  Genius 
des  Dichters.  Das  Höchste,  was  er  erschaut  und  darstellt,  ist  die 
Unbedingtheit  und  Freiheit  menschlichen  Wesens.  Was  unver- 
meidliche Bedingung  zur  Verständlichmachung  und  Veranschau- 
lichung dieser  Unbedingtheit  ist,  die  Beziehungsetzung  dieser  Hand- 
lungen zu  einem  Jenseitigen,  Übersinnlichen,  ist  auch  ihm  Wahr- 
heit. Wie  sogar  der  geniale  Mensch  bei  allem  Rationalismus  eine 
Mystik  braucht,  sei  es  auch  nur,  um  sich  selbst  zu  verstehen  (s.  o. 
S.  370,  Anm.  1),  so  braucht  der  Dichter  zur.Darstellung  des  Höchsten, 
was  seinen  Gegenstand  bildet,  das  Hineinragen  des  Übersinnlichen 
und  wird  sich  niemals  scheuen,  es  anzuwenden.  So  führt  Theodor 
Storm  im  Schimmelreiter  Hauke  Haien  als  eine  in  seinem  Lebens - 
kreise  unbedingte  Persönlichkeit  vor.  Mit  seinem  unbeirrbaren 
wissenschaftlich-technischen    Streben,    seiner    vollständigen   Kälte 


374  Ottomar  Wich  mann, 

gegenüber  der  Sorte  Lebensgenuß  und  behaglicher  Abhängigkeit, 
die  das  Dasein  seiner  Dorfgenossen  ausmachte,  mit  seinen  mäch- 
tigen Leistungen  und  seiner  schroffen  Herrennatur,  bedeutet  Hauke 
Haien  für  diese  Menschen  ein  Unbedingtes,  ein  Unfaßbares  und 
Freiheitliches,  ein  Jenseits  des  für  sie  Natürlichen  und  Selbstver- 
ständlichen. Darum  ist  er  in  diesem  Lebenskreise  tragisch  und 
muß  untergehen,  denn  ihr  Haß  gegen  ihn  ist  zielsicher  und  unbe- 
irrbar folgerichtig.  Er  darf  nicht  recht  haben,  weil  sonst  das, 
was  ihnen  Freiheit  und  notwendig  anzuerkennendes  Gesetz  ist, 
nicht  wahr  wäre.  Sie  werden  ihn  verfolgen,  und  wenn  er  sie  mit 
Wohltaten  überschüttet,  denn  er  hat  sie  in  dem  gekränkt,  worin 
der  Mensch  am  tiefsten  getroffen  wird.  Er  hat  gegen  die  Lebens- 
anschauung verstoßen,  nach  der  sie  ihres  Eigenwertes  sich  bewußt 
sind,  die  sie  brauchen,  um  sich  selbst  „ertragen"  zu  können.  Zu- 
gleich aber  wollen  und  müssen  sie  dies  —  aus  den  für  sie  natür- 
lichen und  selbstverständlichen  Lebensverhältnissen  heraus  unbe- 
greifliche —  Wesen  verstehen.  So  wird  er  zum  „Schimmelreiter", 
wird  in  einem  dämonischen  Zusammenhang  erblickt.  —  Wollte 
nun  der  Dichter  uns  ausführlich  auseinandersetzen,  daß  Hauke 
Haien  ein  ganz  vernünftiger  und  garnicht  besonderer  Mensch  war 
nnd  daß  dieser  Aberglaube  sich  bei  seinen  beschränkten  Dorfge- 
nossen ganz  natürlich  einstellen  mußte  —  so  hätten  wir  eine  ra- 
tionalistische Abhandlung,  und  das  Packendste  an  der  Geschichte 
ginge  verloren.  Wollte  er'  umgekehrt  uns  den  tatsächlichen  Ein- 
fluß der  bösen  Geister  breit  vorführen,  so  hätten  wir  eine  elende 
Spuk-  und  Geistergeschichte  und  noch  weniger  eine  Dichtung. 
Darum  bewegt  sich  die  Darstellung  in  dem  Vorstellungsbereich, 
daß  zwar  die  Dörfler  eine  abergläubische,  dumme  Gesellschaft  sind, 
daß  sie  aber,  wenn  sie  Hauke  Haiens  Werk  zu  einem  übersinn- 
lichen Zusammenhang  in  Beziehung  setzen,  einen  wahren  Zug  an 
ihm  treffen,  eben  die  Persönlichkeit  im  höchsten  Grade,  das  Tra- 
gische. Wir  wissen  es  vom  ersten  bis  zum  letzten  Augenblick 
selber  nicht,  ob  die  Gestalt  des  Schimmelreiters  etwas  Dämonisches 
hat :  die  Erzählung  beginnt  damit,  daß  dem  einsamen  Deich- Wander  er 
in  der  Sturmnacht  die  Erscheinung  des  Reiters  tatsächlich  be- 
gegnet ;  das  Pferdegerippe  auf  der  Hallig,  das  man  in  Mondschein- 
nächten als  Schimmel  umherlaufen  sah,  ist  tatsächlich  verschwunden, 
nachdem  Hauke  Haien  den  Schimmel  ins  Haus  gebracht  hat,  und 
er  selbst  schildert  seiner  Frau  das  Dämonische  im  Auftreten  des 
Verkäufers.     Wir  stehen  damit  bei   dem  Grundgesetz   dieser  Dar- 


Genie  und  Tragik.  375 

Stellung  des  Tragischen.  Um  das  Höchste  der  Persönlichkeit,  die 
Freiheit,  als  volle  Jenseitigkeit  hinter  aller  natürlichen  Erklärbar- 
keit, darzustellen,  wird  das  Übersinnliche  ohne  Scheu  herangezogen, 
aber  nur  schwebend,  unfaßbar  und  ohne  irgend  welche  theologische 
Beschränktheit:  denn  das  "Wesentliche  bleibt  immer,  das  „Eigentüm- 
liche unseres  Ich",  die  Freiheit  der  Persönlichkeit  darzustellen1). 
Die  drei  größten  Dichtungen  der  Menscheit,  der  Faust,  der 
Hamlet  und  die  Ilias  tragen  diesen  Zug  im  ausgeprägtesten  Maße : 
Die  Wesensart  des  Helden  ist  das  Grundthema;  dieser  in  seiner 
Denkart  und  die  daraus  sich  notwendig  ergebenden  Handlungen 
sind  eigentlicher  Gegenstand  der  Dichtung ;  aber  eben  diese  Schilde- 
rung des  Übermenschen  macht  ein  Herbeirufen  und  Hineinberufen 


1)  Ich  stimme  daher  zunächst  mit  Volkelt  (Ästh.  d.  Tragischen,  S.  418)  völlig 
überein,  wenn  er  sagt:  „Die  übernatürlichen  Ereignisse  müssen  einen  faßbaren, 
natürlich  menschlichen  Sinn  haben,  wenn  ihre  Tragik  und  überhaupt  ihr  dichte- 
rischer Wert  nicht  stark  herabgesetzt  werden  soll".  Nur  kann  ich  mich  damit 
nicht  einverstanden  erklären,  daß  „die  moderne  Weltanschauung",  wie  sie  Volkelt 
versteht,  „das  Element"  sei,  „in  dem  allein  das  Tragische  seine  ungeheuer  kraft- 
volle und  folgerichtige  Entwicklung  finden  kann".  Denn  Volkelt  faßt  die  „mo- 
derne Weltanschauung"  so,  daß  für  sie  alles  Transzendente  etwas  „Verletzendes", 
etwas  „Zurückgebliebenes  und  Rückschrittliches"  (S.  417)  darstellt.  Mir  scheint 
da  unter  „moderner  Weltanschauung"  doch  allzusehr  eine  antimetaphysische  Ein- 
stellung bezeichnet  zu  sein,  die  als  alleinberechtigt  —  wie  es  in  dem  Ausdruck 
„moderne  Weltanschauung"  liegt  —  hinzustellen,  ich  am  allerwenigsten  in  der 
Kunst  ein  Recht  sehe.  Im  folgenden  wird  von  Ilias,  Hamlet,  Faust  die  Rede  sein, 
aber  ist  nicht  auch  Storm  selbst  ein  Beweis,  der  wahrhaftig  auf  „moderner"  Welt- 
anschauung im  Sinne  Volkelts  stand,  der  im  „Schimmelreiter"  selbst  gegen  den 
Aberglauben  polemisiert  und  doch  durch  die  Gewalt  der  Stoffe  ins  Metaphysische 
hingerissen  wird.  Wenn  Lipps,  den  Volkelt  selbst  anführt,  sagt,  daß  „der  Dichter 
gut  daran  tue,  die  Weltanschauung,  die  er  als  Mensch  besitzt,  möglichst  für  sich 
zu  behalten",  so  besteht  das  zu  vollem  Recht,  aber  nicht  nur  für  jede  theologisch- 
metaphysische, sondern  auch  für  die  naturalistisch-antimetaphysische  Weltanschauung. 
Was  vom  Dichter  zu  verlangen  ist,  ist  Realismus,  d.  h.  Objektivität.  Wenn  Volkelt 
ganz  richtig  als  das  Thema  der  Tragödie  hinstellt,  „was  es  heiße,  ein  Mensch  zu 
sein"  (S.  39),  so  ist  eben  noch  die  Frage,  ob  nicht  das  tiefste  Wesen  des  Menschen- 
tums, sein  Streben  nach  Freiheit  und  Unbedingtheit,  in  einer  Tiefe  liegt,  die  sich 
einer  antimetaphysischen  Weltanschauung  garnicht  erschließen  kann  und  sich  nur 
metaphysisch  versinnbildlichend  darstellen  läßt.  Die  organische  und  wesent- 
liche Verknüpftheit,  welche  infolge  der  Eigenart  der  Freiheitsidee  das  Tragische 
mit  dem  Übersinnlichen  verbindet,  kommt  in  Volkelts  Darstellung  zu  kurz.  Dieser 
unzweifelhaft  metaphysische  Gehalt  der  Tragik  macht  die  tiefe  Wahrheit  der 
idealistischen  Theorien  (vgl.  Volkelt,  S.  2G— 29)  aus,  er  tritt  bei  Ziegler  und  Scheler 
neu  hervor,  und  wir  werden  im  folgenden  noch  einen  gewichtigen  Zeugen  dafür 
anzuführen  haben:  Goethe  in  seiner  Lehre  vom  „Dämonischen". 


376  Ottomar  Wichmann, 

eines  Göttlichen,  Übersinnlichen  in  die  Handlung  notwendig.  Beim 
Faust  kann  hier  auf  die  ausgezeichneten  Darstellungen  und  Aus- 
führungen E.  Th.  Vischers *)  verwiesen  werden.  Ohne  irgend  welche 
philosophische  oder  metaphysische  Voraussetzungen  kommt  doch 
auch  Vischer  dazu,  das  Streben  Fausts  als  ein  Freiheitsstreben  zu 
kennzeichnen,  weil  es  ein  Unendlichkeitsstreben,  wir  sagen  ein 
Unbedingtheitsstreben,  ist.  „Der  Menschengeist  als  teilhaftig  des 
Unendlichen  heißt  frei,  wenn  vom  Streben,  vom  Vorwärtswollen, 
vom  Greifen,  vom  Übergreifen  über  Gegebenes,  über  Schranken 
die  Rede  ist"  (S.  335).  Da  dies  Streben  nach  Unbedingtheit  aber 
immer  nur  verneinen  kann,  da  es  dem  Menschen,  der  nur  Endliches 
findet,  immer  nur  bei  allem  Endlichen  die  Untreue  ins  Herz  legt, 
so  ist  dies  Streben,  gerade  in  seiner  Reinheit,  ziellos  und  sinnlos. 
„Es  ist  ein  leerer  Freiheits begriff,  der  ihm  vorschwebt.  Streben 
nach  Nichts  und  allem  ist  eigentlich  Unsinn,  dieser  Unsinn  ist 
seine  Meinung".  Der  Freiheitsbegriff,  der  höchste  Wertbegriff  für 
Menschentum  und  Persönlichkeit,  muß  eben  leer  sein,  denn  wenn 
nicht  Freiheit  und  Unbedingtheit  den  Sittlichkeitsgedanken,  das 
allgemeingültige  und  unbedingte  Gebot,  in  ganzer  Reinheit  er- 
greift, so  bleibt  nur  Verneinung  von  allem  und  jedem.  Das  ist 
das  Los  des  Menschentums,  in  solchem  Streben  nach  Persönlich- 
keit und  Freiheit,  das  jeden  einmal  erfaßt,  schließlich  ins  Leere 
zu  greifen;  für  gewöhnlich  ist  das  unausbleibliche  Ende,  daß  der 
Mensch  irgend  etwas,  irgend  einen  Glauben,  ein  Behagen,  eine 
Tätigkeit  als  Inhalt  der  Freiheit  nimmt,  daß  er  in  irgend  etwas 
Würde  und  Allgemeingültigkeit  hineinsieht.  Daß  solch  ein  Hin- 
fallen ans  Bedingte  das  notwendige  Ende  alles  Menschheitsstrebens 
sei,  daß  auch  Faust  diesem  Schicksal  verfallen  und  daß  er  aus  dem 
Nichts  des  Freiheitsgedankens  und  der  ewigen  Unbefriedigung 
schließlich  hinsinken  müsse,  das  besagt  die  triumphierend  sichere  Wette 
des  Mephistopheles  mit  Gott.  Das  Bewußtsein  der  Unbedingtheit 
seines  Wesens  gibt  umgekehrt  Faust  die  Sicherheit  bei  dem  Abschluß 
seines  Vertrages.  Diese  Unbedingtheit  ist  ein  Jenseits  von  Gut  und 
Böse :  Mit  all  dem,  was  sein  Leben  an  weichen  innigen  Bindungen, 
an  „Religion"  enthielt,  hat  Faust  in  den  großen  Fluch  gebrochen 
und  seine  erste  Vorschrift  ist  forthin,  ihn  „mit  der  Moral  in  Frieden 
zu  lassen".  Ein  Jenseits  hinter  aller  Regel  also,  die  sein  Wesen  unter 
moralischen  Vorschriften  einbegreifen  will,    aber   ebenso   auch  ein 


1)  E.  Th.  Vischer,  Goethes  Faust2,  1920. 


Genie  und  Tragik.  377 

3  enseits  von  Böse :  die  peinliche  Gewolltheit  des  Bösen,  um  nicht  gut 
zu  sein,  die  Nietzschesche  und  romantische  Schärfe  der  Verneinung 
des  Sittlichen,  die  in  solcher  Verletzung  des  Heiligen  etwas  Großes 
wähnt  und  dem  durch  den  Bombast  des  Lästerns  Ausdruck  gibt 
—  sie  fehlt  bei  Faust  gänzlich.  Er  geht  zu  keinem  Weibe,  wo 
er  die  Peitsche  mitnehmen  muß,  sondern  er  geht  zu  Gretchen, 
und  was  diese  zu  dem  „besten  Mann"  zieht,  ist  das  Widerklingen 
alles  Hohen  und  Edeln  aus  seinem  unmittelbaren  Gefühl.  Ein 
Jenseits  also  wirklich  von  Gut  und  Böse,  nicht  ein  Böse,  um  nicht 
gut  zu  sein,  darin  liegt  die  Unbedingtheit  seines  Wesens.  Weil 
er  einmal  —  in  der  Selbstmord-  und  Fluchszene  —  mit  dem 
Leben  abgeschlossen  hat,  spottet  sein  Wesen  aller  Regeln  des 
Moralischen  und  Antimoralischen,  unter  die  man  sie  begreifen 
möchte.  Es  ist  Freiheit,  unmittelbares  Hervorbrechen  aus  einem 
unerkennbaren  Grunde.  Diese  Freiheit  aber  wird  nicht  durch 
philosophische  Deklamationen  veranschaulicht,  sondern  dichterisch, 
d.  h.  so,  wie  sich  dem  Auge  der  Menschenkinder  das  Unerfaßbare 
der  Persönlichkeit,  das  doch  ihr  „höchstes  Glück"  ausmacht,  ver- 
körpert: durch  Verlegung  in  eine  jenseitige  Bedingtheit,  durch  Be- 
ziehungnahme  auf  ein  Überirdisches,  die  freilich,  da  sie  ja  nur  ver- 
anschaulichen soll,  schwebend  und  unbegreiflich  bleibt.  Wenn  Faust 
das  Wesen  der  Unfreiheit  in  irgendwelchem  Beharren  sieht:  „wie 
ich  beharre,  bin  ich  Knecht,  ob  dein  was  frag'  ich  oder  wessen", 
so  bemerkt  Vischer  (S.  262)  mit  vollem  Recht,  daß  damit  die  Vor- 
stellung von  „Hölle  und  Teufel  einstürzt".  Aber  das  Merkmal 
dieser  echt  dichterischen  Metaphysizierung  ist  eben,  daß  niemals 
ein  durchgeführter,  übersinnlicher  Zusammenhang  vorliegt,  sondern 
daß  diese  Zusammenhänge  blitzartig,  als  plötzliche  Ausblicke,  auf- 
leuchten. Namentlich  zeigt  das  die  Gestalt  Mephistos  und  ihr 
Verhältnis  zur  Gottheit.  Auch  Mephisto  ist,  gerade  in  seinen 
Widersprüchen,  durchaus  Mensch.  Die  Macht  der  Gemeinheit  weiß 
ganz  wohl,  daß  sie  den  Edlen  nie  durch  banale,  „abgeschmackte 
Vergnügungen"  fassen  kann,  und  so  ist  es  die  Betonung  des  Frei- 
heitlichen, Unbedingten,  der  Spott,  daß  er  den  „braunen  Saft  in 
jener  Nacht  nicht  ausgetrunken",  wodurch  Mephistopheles  Faust 
in  seine  Netze  zieht;  aber  als^  diesem  dann  auch  in  der  Leiden- 
schaft seine  Unbedingtheit  bleibt,  als  er  „in  seinem  tragisch  ra- 
senden Wollen   ein  Idealist"    ist,    „der   alles    oder   nichts    will" *), 


1)  Vischer,  a.  a.  0.  S.  328. 


37S  Ottomar  Wichmann, 

da  ist  es  gerade  er,  der  Verführer,  der  diese  Unbedingtheit  be- 
kämpft, ist  er  es,  der  „dämpft  und  kühlt"  und  wird  ein  „teuflischer 
Prediger  der  Einsicht  in  die  menschlichen  Schranken  und  des  Sich- 
fügens  in  die  Bedingtheit  der  Erfahrungswelt" 1).  So  wie  hier 
der  Teufel  die  Vernunft  vertritt  ( —  und  mit  Recht,  denn  in  diesem 
Falle  ist  die  Vernunft  gemeiner  als  die  Raserei),  so  „stiebt"  über- 
haupt „Mephistopheles  in  tausend  Mephistopheles  auseinander". 
Er  der  so  oft  als  Vertreter  behaglich-freier  Lebensanschauung  er- 
scheint, sodaß  seine  Worte  —  von  der  „grauen  Theorie"  und  dem 
„Kerl  der  spekulieret"  —  noch  heute  als  deren  Ausdruck  gang 
und  gäbe  sind2),  dessen  humorvolle  Entrüstung  über  den  Pfaffen 
uns  den  größten  Spaß  macht,  erscheint  vor  Gretchens  reinem  Blick 
als  grauenhaft  dämonische  Macht,  vor  Fausts  Gewissensqualen  als 
den  Abgrund  der  Gemeinheit,  in  der  letzten  Szene  endlich,  als  es 
ums  Entscheidende  geht,  als  Gretchens  reiner  und  geläuterter 
Wille,  von  den  ewigen  Mächten  unterstützt,  ihm  den  Faust  zu 
entreißen  droht,  da  „brüllt"  in  dem  „Her  zu  mir!"  „das  höllische 
Raubtier  aus  ihm"  und  verkörpert  sich  in  ihm  aller  Inbegriff  des 
Entsetzlichen.  Wie  aber  verträgt  sich  diese  Wesensart  des  Teufels 
mit  dem  humorvoll  behaglichen  Verhältnis  zur  Gottheit,  dem  der 
Schalk  nichts  weniger  als  verhaßt  ist?  —  Das  Übersinnliche,  als 
Verkörperung  des  Unbedingten,  soll  und  darf  eben  nicht  restlos 
erfaßbar  sein ;  tausend  Gedanken  und  Gesetze  soll  es  ausstrahlen, 
durch  keine  darf  es  erschöpft  werden.  „So  wie  die  Dinge  nun 
liegen,  müssen  wir  das  vom  Dichter  selbst  in  Gang  gesetzte  Denken 
allemal  in  dem  Moment  schnell  parieren,  wo  es  die  neben  ihm 
bestehende  Illusion  des  Mythischen  sprengen  will" 4).  Was  hier 
an  Faust  ausgeführt  wurde,  das  „Zwielicht"  der  Darstellung 
(Vischer),  wodurch  das  Unendliche  und  sonst  Undarstellbare  der 
Persönlichkeit  veranschaulicht  wird,  liegt  in  ganz  besonderen  Maße 
vor  bei  Shakespeare.  Es  ist  bei  ihm  ein  stehender  Zug,  und  die 
von  Lessing5)  gerühmte  Natürlichkeit  des  Shakespeareschen  Ge- 
spenster beruht  weniger  auf  „gewissen  Handgriffen"  und  äußeren 
Umständen,  als  auf  der  inneren  Begründung :  Weil  bei  Shakespeare 
sich  alles  „um  den  geheimen  Punkt"  dreht,  „das  Eigentümliche 
unseres  Ich,  die  prätendierte"  —  d.  h.  die  ideell  beanspruchte  — 
„Freiheit   unseres  Wollens",    die   durch   das   Übersinnliche   veran- 


1)  Vischer,  a.  a.  0.  S.  237.  2)  S.  345.  3)  S.  382.  4)  S.  257. 

5)  Hamb.  Dramat.,  11.  Stück,  5.  Juni  1767. 


Genie  und  Tragik.  379 

schaulicht  wird,  so  wird  unaufhörlich  und  aufs  lebhafteste  die  Ein- 
bildungskraft nach  der  Richtung  solcher  übersinnlichen  Beziehungen 
angeregt:  wir  „Narren  der  Natur"  werden  durch  die  Urgründe 
menschlichen  Wesens  und  Wollens,  die  der  Dichter  vor  uns  auf- 
reißt, so  „furchtbar lieh  mit  Gedanken  geschüttelt,  die  uns're  Seele 
nicht  ergreifen  kann",  daß  wir  bei  Hamlet,  bei  Macbeth,  bei  der 
Jungfrau  von  Orleans,  bei  Richard  III.  und  Brutus  das  Eingreifen 
des  Übersinnlichen  als  etwas  Selbstverständliches  'empfinden. 

Als  einen  tatsächlichen,  real  gegebenen  Zug  menschlichen 
Wesens  hat  diesen  von  uns  gekennzeichneten  Inbegriff  von  Freiheit, 
Persönlichkeit  und  Genialität  Goethe  hingestellt  und  es  ist  be- 
zeichnend, daß  er  durch  den  Namen  des  Dämonischen  diese  Be- 
ziehung auf  ein  Übersinnliches,  das  doch  ungreifbar  und  schwebend 
bleiben  soll,  in  den  Vordergrund  stellt.  Eckermann  erzählt l)  wie 
Goethe  „von  jener  geheimen  problematischen  Gewalt"  spricht,  die 
alle  empfinden,  die  kein  Philosoph  erklärt  und  über  die  der  Religiöse 
sich  mit  einem  tröstlichen  Wort  hinaushilft.  Das  Dämonische 
bezeichnet  nach  Goethe  diejenigen  menschlichen  Fähigkeiten  und 
Leistungen,  für  die  ein  Verständnis,  d.  h.  eine  Ableitung  und  Er- 
klärung aus  natürlichen  Zusammenhängen  nicht  möglich  ist:  „Das 
Dämonische  ist  dasjenige,  was  durch  Verstand  und  Vernunft  nicht 
aufzulösen  ist" 2),  es  tritt  in  Persönlichkeiten  wie  Napoleon  auf, 
ferner  findet  er  es  in  den  Begebenheiten,  und  zwar  „in# allen,  die 
wir  durch  Verstand  und  Vernunft  nicht  aufzulösen  vermögen". 
„In  der  Poesie"  ferner  „ist  durchaus  etwas  Dämonisches  und  zwar 
vorzüglich  in  der  unbewußten,  bei  der  aller  Verstand  und  alle 
Vernunft  zu  kurz  kommt,  und  die  daher  auch  so  über  alle  Begriffe 
wirkt.  Wenn  aber  dann  Eckermann  fragt8),  ob  das  Dämonische 
auch  in  die  Idee  des  Göttlichen  eingehe,  so  ist  damit  für  Goethe 
dasjenige,  was  nur  flüchtige,  veranschaulichende  Verbildlichung  eines 
Unbedingten  und  Unfaßbaren  am  Menschentum  bedeutet,  schon  zu 
sehr  festgelegt,  und  er  antwortet :  „Liebes  Kind,  was  wissen  wir 
denn  von  der  Idee  des  Göttlichen  und  was  wollen  denn  unsere 
engen  Begriffe  vom  höchsten  Wesen  sagen?"  Eckermann  bezeichnet 
dann  selbst4)  die  Eigenart  dieser  Veranschaulichung  eines  Jen- 
seitigen, das  im  Menschen  sich  äußert  und  das  Höchste  im  Men- 
schentum ausmacht:  „Goethe  nennt  dies  unaussprechliche 

1)  Eckermann,  Gespräche  mit  Goethe  28.  II.  1831. 

2)  2.  III.  1831. 

3)  8.  III.  31.  4)  28.  II.  1837. 


380  Ottomar  Wichmann, 

Welt-  und  Lebensrätsel  das  Dämonische  und  indem  er 
sein  Wesen  bezeichnet,  fühlen  wir,  daß  es  so  ist,  und 
es  kommt  uns  vor  als  würden  vor  gewissen  Hinter- 
gründen unseres  Lebens  die  Vorhänge  weggezogen. 
Wir  glauben  weiter  und  deutlicher  zu  sehen,  werden  aber  bald 
gewahr,  daß  der  G-egenstand  zu  groß  und  mannigfaltig  ist,  und 
daß  unsere  Augen  nur  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  reichen". 


IV.    Antike  und  moderne  Tragik. 

Wir  fanden  als  einen  Ausdruck  der  im  Tragischen  liegenden 
Unbedingtheit,  der  jenseits  aller  Ableitbar keit  aus  natürlichen  Be- 
ziehungen liegenden  Persönlichkeit,  die  Mythisierung  dieser  Per- 
sönlichkeit, die  aber  immer  ebenso  schwebend  und  ungreifbar 
bleibt.  Es  ist  in  diesem  Zusammenhang  belehrend,  die  Eigen- 
tümlichkeit der  modernen  und  der  antiken  Tragik  zu 
betrachten. 

Ein  entscheidender  Unterschied  der  neueren  Kultur  von  der 
hellenischen  ist,  daß  diese  von  einer  dogmatisch  fest  begründeten 
Metaphysik  ihren  Ausgang  nahm.  Damit  scheint  zunächst  jede 
Ausdrucksmöglichkeit  für  jenes  Übersinnliche  und  Freiheitliche  im 
Menschen  aufgehoben.  Und  doch  hat  sich  der  unüberwindliche 
Drang,  das  *zu  veranschaulichen  gewußt,  was  dem  Menschen  das 
höchste  Glück,  trotz  aller  Himmelsfreuden  und  Strafen  ist.  Das 
freie  Spiel  der  ßeziehungsetzung  zu  übersinnlichen  Mächten  war 
abgeschnitten,  aber  eine  G-estalt  hatte  man  doch  neben  dem  ehern 
geschlossenen  Himmel,  deren  Wirkung  man  in  dem  Unbegreiflichen 
der  Persönlichkeit  ansetzen  konnte:  das  war  der  Teufel.  Und  so 
liegt  darin,  daß  man  in  Deutschland  einen  Albert  den  Großen  und 
Dr.  Faust  mit  den  Teufel  in  Verbindung  bringt,  nichts  weniger 
als  eine  Herabsetzung.  Es  ist  nur  der  Grundtrieb  nach  einer  Aus- 
gestaltung der  jenseits  aller  Regel,  jenseits  auch  des  kirchlichen 
Gut  und  Böse  liegenden  Persönlichkeit,  der  sich  hier  äußert.  Wie 
meisterhaft  Goethe  diesen  Grundzug  deutschen  Wesens  wieder  auf- 
genommen hat,  braucht  nach  dem  Vorangegangenen  nicht  näher 
ausgeführt  zu  werden1). 


1)  Ich  verweise  auch  hier  wieder  auf  Hr.  Heines  „Briefe  über  Deutschland", 
der  diesen  Sachverhalt  ausgezeichnet  darlegt,  davon  spricht,  daß  die  alten  Götter 
und  Geister  in  Deutschland  noch  lange  nicht  tot  seien  und  einmal  mächtige  Auf- 
erstehung feiern  würden.  Auch  Spenglers  Geschichtsphilosophie  schwebt  derartiges 


Genie  und  Tragik.  381 

Beim  Hellenen  liegen  die  Dinge  ganz  anders.  Die  strenge 
Sonderung  und  Systematisierung  des  Metaphysischen  fehlt  hier 
vollständig  und  so  gestaltet  sich  die  Persönlichkeitsidee  viel  leichter 
und  unmittelbarer  zu  einer  Beziehung  aufs  Übersinnliche  aus,  das 
Hereinragen  des  Göttlichen  in  das  Leben  ist  gar  nichts  so  voll- 
ständig Außerordentliches,  sondern  eine  Gregebenheit  des  Lebens. 
Die  Unbedingtheit  der  Natur,  wie  wir  sie  oben  an  einer  Gestalt 
wie  Suffolk  schilderten  (S.  371),  diese  überragenden  Herrenmenschen, 
die  für  die  gewöhnliche  Natur  ein  Unbegreifliches  darstellen  und 
denen  sie  sich  bewundernd  beugt,  werden  für  den  Hellenen  ohne 
weiteres  zu  „göttlichen"  oder  „dämonischen"  Menschen.  Ich  kann 
hier  auf  meine  Schrift:  „Piatons  Lehre  vom  Instinkt  und  Genie"1) 
verweisen,  wo  ich  gezeigt  habe,  wie  Piaton  als  „göttliche"  oder 
„dämonische"  Männer  alle  diejenigen  bezeichnet,  in  deren  Leistungen 
und  Taten  ein  Geniales  und  Unberechenbares  zum  Ausdruck  kommt, 
und  zugleich  auf  diese  Denkweise  als  eine  allgemein -hellenische 
hingewiesen  habe.  Die  Übereinstimmung  dieser  Anschauungsweise 
mit  dem,  was  er  selbst  als  „dämonisch"  kennzeichnet,  hat  übrigens 
Goethe  selbst  betont,  wenn  er  sagt :  „Dämonische  Wesen  solcher 
Art  rechneten  die  Griechen  unter  die  Halbgötter" 2).  Dieser  Zug 
hat  sich  im  Laufe  der  griechischen  Geschichte  nur  verstärkt:  es 
wird  nun  Modesache,  große  oder  groß  sein  wollende  oder  sollende 
Männer  zu  Heroen  oder  Göttersöhnen  zu  machen,  wie  Alexander 
d.  Große,  Lysander  u,  a.,  ein  hellenistischer  Zug,  den  dann  das 
römische  Kaisertum  übernimmt.  In  ursprünglichster  dichterischer 
Kraft  zeigt  sich  diese  Gestaltung  der  unbedingten  Persönlichkeit 
bei  Homer. 

Der  Zorn  des  Übergewaltigen,  der  in  Liebe  und  Haß,  in 
Leiden  und  Taten  über  alles  menschliche  Maß  hinausragt,  ein  Un- 
bedingtes darstellt  unter  den  Kriegern,  die  in  Trojas  Ebene  lagern, 
der  „Zorn  der  Peliden"  ist  das  Thema  der  Ilias.  So  sehr  man  die 
mit  warmer  Herzlichkeit  geschilderten  Gestalten,  die  ergreifenden 
Szenen  zwischen  Hektor  und  Andromache  empfinden  mag,  die 
dichterisch  größte  Gestalt  ist  Achilleus,  das  Grundthema  ist  das 
Rasen  des  Übermenschen  und  wer  diese  Gestalt  und  ihre  Tragik 


vor.  Daß  dieser  Trieb  zu  einem  Jenseits  über  der  Kirchenlehre  auch  in  der 
Scholastik  sich  äußert,  habe  ich  in  meinen  „Scholastikern"  bei  Duns  Scotus  und 
den  Mystikern  betont. 

1)  Kantstudien,  Ergänzungsheft  40,  Berlin  1917. 

2)  Eckermann,  2.  III    1831. 


182  Ottomar  Wichmai)  u, 

ablehnt,  der  weist  damit  den  Entwurf  des  Dichters  als  Ganzes 
zurück.  Man  muß  diese  Gestalt  mit  all  ihrer  schneidenden  Härte 
hinnehmen,  muß  —  so  furchtbar  das  klingt  —  mit  ihr  fühlen 
können,  wenn  sie  für  den  Knaben  Lybaon,  der  um  sein  blühendes 
Leben  weint,  nur  insofern  Mitgefühl  hat,  daß  sie  ihn  zur  Unbe- 
dingtheit  und  Mannhaftigkeit  auch  gegenüber  dem  Tode  aufruft: 
„Also,  mein  Freund,  stirb'  auch  du!"  Man  muß  für  solche  schnei- 
dend harte  Größe  des  Übermenschentums,  die  über  die  Häupter 
der  Mitmenschen  wegschreitet  und  für  alles,  was  zur  eigenen  Un- 
bedingtheit  sich  nicht  aufschwingen  kann,  nur  Fußtritte  und  Ver- 
achtung hat,  Verständnis  haben,  muß  —  es  hilft  alles  nichts!  — 
den  Achilleus  verstehen,  wenn  er  dem  röchelnden  Hektor  seine 
Bitte  um  Ehrung  im  Tode  kurz  abschlägt.  Hier  gilt,  was  Goethe 
in  der  Shakespeare- Rede1)  sagt:  „Er  führt  uns  durch  die  ganze 
Welt,  aber  wir  schwachen  und  verzärtelten  Menschen  rufen,  so  oft 
uns  eine  fremde  Heuschrecke  begegnet:  0  Herr,  er  will  mich 
fressen!"  Wenn  Schiller  aus  einem  idealen  Glauben  heraus  seine 
Jungfrau  von  Orleans  zu  einer  ganz  ähnlich  geschilderten  Härte 
führt,  so  verstehen  wir  das,  aber  die  Persönlichkeitsidee  Homers 
ist  größer,  die  am  Helden  eine  solche  Unbedingtheit  auch  gegenüber 
der  weichen  Rührung  haben  will  und  sie  nicht  aus  religiösen 
Ideen,  sondern  aus  den  Tiefen  der  Persönlichkeit  entspringen  läßt. 
Daß  Achilleus  schließlich  doch  der  rührenden  Klage  des  Priamos 
den  Leichnam  herausgibt,  ist  kein  Einwand,  denn  eine  eigentliche 
Willensbeeinflussung  —  und  nur  diese  wäre  eine  Bedingtheit  und 
Unfreiheit  seines  Wesens  —  findet  durch  die  Rührung  nicht  statt : 
die  Sache  ist  entschieden,  ehe  Priamos  kommt ;  Zeus,  dem  die  Götter 
schon  tagelang  in  den  Ohren  liegen,  doch  den  Frevel  nicht  zu 
dulden,  hat  dem  Achilleus  ganz  höflich,  gewissermaßen  wie  seines- 
gleichen, sagen  lassen,  er  möchte  doch  den  Leichnam  heraus- 
geben. 

Denn  die  Veranschaulichung  der  übergewaltigen  Persönlich- 
keit, der  Freiheit  und  Unbedingtheit,  d.  h.  der  menschlichen  Un- 
ableitbarkeit  ihres  Handelns,  geschieht  auch  hier  durch  Beziehung 
auf  ein  Übersinnliches.  Das  zeigt  schon  die  mächtige  Eingangs- 
szene. Agamemnon,  der  Unglückskönig,  hat  dem  Achilleus  Be- 
leidigungen entgegengeschleudert,  die  dieser  unmöglich  dulden  kann. 
Bleich  und  starr  haftet  der  Blick  der  Achäer  auf  ihm.     Bei  jedem 


1)  S.  o.  S.  353. 


•  Genie  und  Tragik.  383 

andern,  auch  bei  Agamemnon,  würde  der  Gedanke,  was  sie  an- 
richten könnten,  den  furchtbarsten  Ausbruch  des  Zornes  hemmen. 
Beim  Peliden  ist  das  anders,  der  ist  in  Zorn  und  Haß  unbedingt. 
Jeder  weiß,  daß  wenn  er  freundlich  und  gelassen  ist,  er  es  nur 
ist,  weil  er  sich  mäßigt.  „Hemmungen"  gibt  es  für  ihn  nicht; 
wenn  er  seinem  Zorn  freien  Lauf  läßt,  muß  dieser  zerstörend 
wirken  wie  ein  Sturzbach.  Das  ist  das  „Gefährliche"  in  ihm  wie 
ebenso  in  Hamlet *),  worin  diese  unbedingten  Naturen  sich  vor  sich 
fürchten.  Und  dieses  furchtbarste,  der  Zorn  des  Übermenschen, 
scheint  unvermeidlich,  Achilleus  zieht  das  Schwert  —  da  tritt 
etwas  Wunderbares  ein:  er  zögert  einen  Augenblick  und  steckt 
das  Schwert  in  die  Scheide.  Was  war  hier  geschehen?  Daß  kein 
Bedenken,  keine  Besorgnis  ihn  hatte  abhalten  können,  weiß  jeder. 
Wie  kann  man  dies  Handeln  „verstehen",  d.  h.  seine  Beweggründe 
ausfindig  machen?  Sie  können  es  nur  dadurch,  daß  sie  diese  Be- 
ziehungen in  einem  Jenseits  suchen:  In  dem  Augenblick,  wo 
Achilleus  zögerte,  müssen  die  Götter  selbst  erbebt  sein,  muß  Hera 
mit  Athena  gesprochen  haben  und  diese  den  Achilleus  um  Mäßigung 
gebeten  haben.  Und  das  weitere  Thema  ist  nun  das  Hereinbrechen 
dieses  Übermächtigen,  irdisch  Unbegreiflichen,  des  Zornes  des 
Achilleus  in  die  irdische  und  kleinliche  Welt.  Ein  psychologisches 
Thema  sozusagen  ursprünglich,  aber  dieses  begreift,  da  es  sich  um 
die  Seele  eines  Übergewaltigen  handelt,  Glück  und  Leid  von 
Staaten  und  Völkern,  begreift  die  ganze  Götterwelt  und  Himmel 
und  Erde  ein.  Aus  dem  schimmernden  Palaste  rufen  die  Tränen  des 
Beleidigten  die  Meeresgöttin  empor,  die  Ströme  Skamander  und 
Simoeis  brausen  unmutig  auf,  wollen «  den  rasenden  Überwillen 
nicht  dulden  und  sind  doch  ohnmächtig,  denn  das  heiße  Element 
des  Hephaistos  tilgt  die  göttlichen  Stromgewalten.  Das  ergreifend 
warme  und  edle  Heldentum  Hektors  muß  erliegen :  es  ist  Bedingt- 
heit gegenüber  dem  Göttersohn,  und  das  Herrentum  des  Überge- 
waltigen hat  Recht.  Es  ist  nach  alledem  kein  Zufall,  daß  der 
Name  des  „Tragischen",  dem  hellenischen  Weihespiel  entnommen, 
zum  Ausdruck  für  den  höchsten,  unbedingten  und  ideellen  Per- 
sönlichkeitswert geworden  ist.  Ist  doch  eben  dem  Hellenen  alle 
höchste,    geniale  Äußerung   der  Persönlichkeit    „dämonisch"    und 


„Denn  ob  ich  schon  nicht  jäh  und  heftig  bin, 
So  ist  doch  was  Gefährliches  in  mir, 
Das  ich  zu  schaun  dir  rate!  ...u  (V,  1). 


384  Ottomar  Wichmann,  4 

„göttlich",  und  stellen,  doch  eben  seine  Götter  dieses  herrisch  un- 
bedingte Hinausragen  über  jede  irdische  Beschränkung  dar.  Bis 
zu  einem  gewissen  Grade  tritt  ja,  wie  oben  berührt  wurde,  dieser 
Zug  schon  in  dem  Bilde  hervor,  das  der  Goethesche  Faust  von 
der  Gottheit  gibt.  Ein  Zug  des  Jovialen  und  Lustigen  ist  hier 
sogar  in  den  katholischen  Himmel  getragen,  ein  Herrgott,  der  ge- 
mütlich mit  dem  Teufel  selbst  plaudert.  Während  dies  aber  bei 
der  Goetheschen  Gottheit  nur  einen  Hauch  über  der  unberührten 
Majestät  ausmacht,  ist  dieser  Zug  ganz  anders  bei  den  Homerischen 
Göttern  ausgeprägt,  bei  denen  keine  Rede  davon  ist,  daß  sie  sich 
„das  Lachen  abgewöhnt"  hätten.  Unerfaßbarkeit,  ein  Jenseits  von 
Gut  und  Böse,  damit  ist  ihr  "Wesen  getroffen.  Gebunden  an  enge 
Grenzen,  an  die  sittlichen  Gesetze,  deren  Überschreitung  schwere 
Strafe  nach  sich  zieht,  steht  der  Mensch  diesen  Göttern  gegenüber. 
Wo  sie  ihm  erscheinen,  sind  sie  ganz  Majestät.  Das  wüste  Ge- 
zücht der  Freier  ist  den  Göttern  verhaßt  und  muß  vergehen. 
Wenn  man  aber  meint,  durch  sittlichen  Gehalt  das  Wesen  der 
Götter  zu  erschöpfen,  so  irrt  man  gewaltig,  denn  in  tollster  Laune 
spotten  diese  Götter  aller  Würde,  lachen  „homerisch",  zanken, 
betrügen  und  bestehlen  sich  und  haben  die  lockersten  Liebeshändel. 
Von  Xenophones  bis  Piaton  hat  sich  das  sittliche  Bewußtsein  der 
großen  Denker  empört  gegen  diese  Götterwelt  gewandt.  Was 
tut's?  Die  Götter  sind  nicht  zur  Moral  erfunden,  sondern  was 
unter  Freiheit  und  Persönlichkeit  erschaut  und  verlangt  wird,  das 
gestalten  Dichter  und  Volk  zu  mächtigen  Heroen  und  heldischen 
Handlungen,  in  denen,  was  aus  eigener  Bedingtheit  nicht  erklär- 
lich und  begreiflich  ist,  in  eine  jenseitige  Welt  voll  Macht  und 
Glanz  gestellt  wird.  Damit  ist  nicht  Roheit  und  Widersittlich- 
keit  zum  Ideal  erhoben:  auch  die  Gestalt  des  Achilleus  ist  für 
alles  Warme  und  Edle  offen,  und  auch  diese  Götter  weit  hält  das 
moralische  Gesetz  aufrecht.  Aber  zugleich  soll  doch  bei  dem 
Helden  und  bei  der  Gottheit  diese  Sittlichkeit  etwas  anderes,  soll 
Freiheit  sein  und  ihr  Wesen  muß  ein  Jenseits  wie  von  Böse, 
so  auch  von  Gut  ausmachen.  Es  ist  bezeichnend,  daß  Athena,  die 
Göttin  des  freien  Blickes  und  der  hohen  Tat,  die  Helferin  des 
Achilleus  und  Odysseus  und  Rächerin  des  Freierfrevels,  es  ist, 
die  den  Hektor,  um  ihrem  Liebling  „Ruhm  zu  bereiten",  auf  „sata- 
nische" Weise  betrügt. 


Genie  und  Tragik.  385 

Man  könnte  nach  dem  bisherigen  auf  den  Gedanken  kommen, 
es  sei  nach  dieser  Auffassung  des  Tragischen  die  griechische  Tra- 
gödie der  Höchstpunkt  der  TagÖdie  überhaupt,  etwa  nach  der 
Auffassang  Hebbels,  der  die  Antigone  allen  andern  Tragödien 
voranstellt.  Doch  liegt  die  Öache,  wenn  man  genau  zusieht,  ge- 
rade umgekehrt.  Allerdings  verkörpert  die  hellenische  Mythologie 
in  ausgeprägtestem  Maße  das  „Tragische"  am  Menschen.  Dieses 
Jenseitige,  Freiheitliche  in  der  menschlichen  Natur,  das  durch  ein 
Göttliches  veranschaulicht  wird,  ist  dem  Griechen  nicht,  wie  heut 
uns,  etwas  kaum  Glaubliches,  sondern  diese  Eigentümlichkeit 
menschlichen  Wesens  ist  ihm  etwas  durchaus  Gegebenes,  wovon 
er  wie  von  einer  Tatsache  redet,  an  der  niemand  ernstlich  zweifelt. 
Aber  gerade  deshalb,  weil  ihm  dies  Hineinragen  des  Göttlichen 
eine  ganz  geläufige  Vorstellung  ist,  gerade  deshalb  bekommt  diese 
Darstellung  solchen  Übermenschen-  und  Heroentums  etwas  Stereo- 
types, das  nicht  zum  Vorteil  der  Tragödie  ausschlägt.  Die  Freiheit 
im  Menschen,  das  Tragische,  ist  eben  etwas  so  Unfaßbares,  daß  es 
durch  keine  bestimmte  Gestaltungsart  wiedergegeben  werden  kann ; 
das  höchste  Geschenk  der  Musen  läßt  sich  nicht  weitergeben,  auch 
bei  den  Griechen  nicht.  Nur  dann  ist  die  Götter  weit,  das  Über- 
sinnliche, der  echte  Ausdruck  für  das  Höchste  im  Menschen,  die 
Unbedingtheit  seines  Wesens,  wenn  die  Hauptsache  der  Dar- 
stellung immer  die  Freiheit,  das  Metaphysische  im  Menschen 
bleibt,  das  nötigenfalls  sich  leicht  und  schnell,  verschwebend  und 
ungreifbar,  auswächst  zu  einer  leichten  und  luftigen  Geister-  oder 
Götterwelt.  Das  ist  in  vollkommenster  Weise  geboten  bei  Homer. 
Bei  Sophokles  aber  steht  es  anders ;  wohl  sind  hier  die  Götter  noch 
dieselben  wie  bei  Homer:  Athena  ist  im  Ajax  ebenso  betrügerisch 
und  grausam  und  über  Ödipus  und  seinem  Geschlecht  liegt  eine 
ungerechte,  feindliche  Götter  weit.  Aber  während  bei  Homer  die 
im  höchsten  Sinne  tragischen,  überragenden  Persönlichkeiten  da 
sind,  aus  deren  Wesen  diese  Götterwelt  ihre  Begründung  hat, 
fehlen  sie  bei  SophoMes.  Damit  soll  der  Gestalt  der  Antigone 
nicht  der  tragische  Gehalt  abgesprochen  werden.  Aber  er  ist  ein 
anderer  und  paßt  nicht  zu  diesen  Göttergestalten.  Wohl  erringt 
Antigone  die  Freiheit,  indem  sie  das  Sittengebot  als  das  Unbe- 
dingte ansieht  und  in  der  Ergreifung  dieses  höchsten  Gebotes 
ihrem  Wesen  Unbedingtheit  erwächst.  Aber  dafür  hat  Sophokles 
keine  göttliche  Veranschaulichung.  Wie  ungleich  mächtiger  ist 
hier   die   Gestaltungskraft   Goethes,    bei   dem   ebenfalls    Gretchen 

Kantstndien.   XXVI.  25 


3S6  Ottomar  Wiehmann, 

durch  Hinwerfen  an  das  Sittliche  Freiheit  und  Unbedingtheit 
ihrer  Persönlichkeit  gewinnt  und  durch  den  kurzen  Ruf  einer 
Stimme  „Ist  gerettet lu  blitzartig  der  übersinnliche  Zusammenhang 
hereinleuchtet.  Somit  liegt  gerade  in  dieser  Götterwelt,  die  bei 
den  Tragikern  schon  Überlieferung,  nicht  mehr  lebendiges  Sich- 
bilden und  Wachsen  ist,  die  Schwäche  der  griechischen  Tra- 
gödie1). Es  ist  nicht  mehr  die  Freude  an  dem  Herrischen,  Ge- 
waltigen, was  durch  die  Tragödien  wirkt,  sondern  als  dunkle, 
grausame  Macjit  liegt  es  feindlich  über  den  Menschen.  Am  we- 
nigsten gilt  das  noch  von  dem  genialsten  der  drei  Tragiker,  von 
Aischylos.  Indem  er  große  sittliche  Ideen  in  den  Göttern  ver- 
körpert sein  läßt,  bleibt  bei  ihm  diese  Götterwelt  in  gewissem  Grade 
flüssig:  Wenn  er  seinen  „Zeus"  nur  so  nennt,  wenn  und  wie  es  ihm 
lieb  sein  mag2),  so  liegt  darin  eine  großartige  Freiheit  gegenüber 
dem  Mythischen,  und  in  den  „Persern"  gelingt  es  ihm  sogar,  in  groß- 
zügiger Weise  das  „Dämonische  in  den  Geschehnissen",  wie  Goethe 
sagen  würde,  zum  Ausdruck  zu  bringen.  In  Sprache  und  Aufbau 
—  z.  B.  dem  Erscheinen  des  Geistes  des  Darius 3)  und  in  der  er- 
schütternden tragischen  Ironie  im  Agamemnon4)  —  liegt  etwas 
Shakespearesches.  Aber  diese  Linie  wird  von  Sophokles  verlassen : 
Er  stellt  nicht  mehr  heroische  sondern  menschliche  Tragik  dar, 
und  das  gibt,  da  diese  Menschen  doch  immer  noch  Heroen  sind, 
schon  bei  Sophokles  der  ganzen  Handlung  etwas  Beengendes.  Am 
stärksten  äußert  sich  das' dann  bei  Euripides.  Während  Aischylos 
den  Einklang  zwischen  Leben  und  Übersinnlichem  dadurch  zu 
schaffen  sucht,  daß  er  die  großen  Taten  seines  Volkes  ins  Über- 
sinnliche hinaufreißt,  will  Euripides  diesen  Ausgleich  schaffen,  in- 
dem er  die  Heroen  ins  Irdische  herunterzieht.  Es  ist  darüber  von 
Aristophanes  bis  Mommsen 5)  genug  gesagt  worden,  und  ein  längeres 
Verweilen  ist  unnötig. 

So  ergibt  sich  gerade  aus  dem  Vergleich  mit  der 
antiken  Tragödie  der  Vorzug  und  das  Wesen  der  mo- 
dernen. Mommsen  hat  vollständig  recht,  wenn  er  sagt,  daß 
Sophokles  vor  Shakespeare  zurücktreten  muß.  Die  moderne  Tra- 
gödie hat  es  an  sich  unendlich  viel  schwerer,  ihren  höchsten  Gegen- 
stand, das  Methaphysische  im  Menschen,  das  Unbedingte  und  Irra- 
tionale darzustellen,  weil  ihr  keine  überlieferte  mythologische  Aus- 

1)  Vgl.  dazu  Volkelt,  Ästh.  des  Tragischen,  S.  406  ff. 

2)  Agam.  v.  160.  3)  Pers.  v.  681.  4)  Agam.  r.  921  ff. 
5)  Mommsen,  Rom.  Gesch.  I,  S.  910—913. 


Genie  und  Tragik.  387 

gestaltung  dieses  im  höchsten  Sinne  Persönlichen  gegeben  ist.  Aber 
wenn  es  ihr  gelingt,  diesen  tiefsten  Kern  alles  Menschlichen  durch 
Hereinbeziehung  eines  Jenseits  zu  veranschaulichen,  so  bleiben  die 
übersinnlichen  Bildungen  dafür  auch  flüssig  und  schwebend,  in 
jedem  Augenblick  zum  besonderen  Zweck  sich  neugestaltend,  wie 
das  Vischer  so  klar  an  Faust  ausführt,  während  die  antike  Tra- 
gödie im  wesentlichen  doch  eine  „Redaktion  der  Mythologie" 
darstellt  (Mommsen).  Über  dem  modernen  Geist  lastet  das  kirch- 
liche und  neuerdings  das  naturalistische  Dogma;  aber  wenn  die 
dichterische  Kraft  einmal  diesen  ehernen  Himmel  durchstößt,  so 
findet  sie  nicht  das  luftige  Gedränge  der  antiken  Göttergestalten, 
das,  zur  Überlieferung  geworden,  die  antike  Tragödie  beengte, 
sondern  der  Raum  ist  leer  und  der  Mythos  kann  frei  und  spielend 
sich  entfalten. 


V.    Ausblick. 

Es  fehlt  hier  an  Raum,  um  den  bisherigen  Ausführungen  die 
Ergänzung  zu  geben,  deren  sie  natürlich  bedürfen:  es  wurde  ent- 
wickelt, wie  der  Dichter  die  Freiheit  darstellt ;  um  aber  ein  volles 
Bild  des  Tragischen  zu  gewinnen,  ist  auch  nötig  auszuführen,  wie 
der  Dichter  die  Unfreiheit  darstellt.  Wir  sahen,  wie  der  tra- 
gische Mensch,  die  Persönlichkeit  im  höchsten  Sinne,  in  seiner 
Freiheit  zugleich  unfrei  ist,  nämlich  vom  gewöhnlichen  Leben  aus 
betrachtet.  Zum  Tragischen  gehört  aber  auch,  wie  der  gewöhn- 
liche Mensch  trotz  seiner  Unfreiheit  und  seiner  Bedingtheit  frei 
sein  will,  wie  er  den  Bestimmungsgrund  seines  Handelns,  um  sich 
frei  zu  fühlen,  ins  Unbedingte  erhebt  und  gerade  dadurch  seine 
Unfreiheit  unentrinnbar  macht.  Hier  tut  sich  das  Gebiet  auf,  wo 
die  Hebbelsche  Anschauungsweise  vom  Tragischen  berechtigt  ist: 
daß  mit  jedem  Einzelwillen  die  Überspannung  des  Willens  gegeben 
ist.  Weil  der  Mensch  unter  der  Idee  der  Freiheit  —  oder  Un- 
bedingtheit  oder  Allgemeingültigkeit  — -  handelt,  und  deshalb  die 
Denkweise,  das  Gesetz,  welches  den  Bestimmungsgrund  seines 
Handelns  ausmacht,  für  unbedingt  gültig  halten  muß,  entspringt 
auch  auf  dieser  Stufe  die  Notwendigkeit  aus  der  tragischen  Frei- 
heit. Auch  hier  bietet  wieder  Shakespeare  das  Höchste :  wenn 
Cassius  von  Brutus  sagt : 

25* 


388  Ottoinar  Wichmann, 

„Gut,  Brutus,  du  bist  edel!  doch  ich  sehe, 
Dein  löbliches  Gemüt  kann  seiner  Art 
Entwendet  werden  —  — 

war  ich  Brutus  nun,  er  Cassius, 

Er  sollte  mich  nicht  lenken!" 

Aber  auch  König  Heinrich  VI,  und  am  machtvollsten  wohl  König 
Lear  und  Macbeth  zeigen  diesen  Zug.  Namentlich  bei  dem  letzten 
erzeugt  dieses  an  Wahnsinn  grenzende  Festhalten  der  einmal  er- 
wählten Handlungsweise,  die  Unerfaßbarkeit  der  Handlung  die 
auch  in  diesem  Falle  natürliche  Hinaus  Verlegung  ihrer  Bedingt- 
heit in  einen  übersinnlichen  Zusammenhang.  Aber  auch  bei  der 
Gestalt  Hektors  liegt  dies  starre  und  letzten  Endes  sinnlose  Fest- 
halten an  dem  einmal  Erwählten  vor :  an  der  unbeirrbaren  Ritter- 
lichkeit seines  Wesens *),  die  er  doch,  wie  der  alte  vernünftige 
Horaz  schon  gesehen  hat2),  dem  infamen  Paris  gegenüber  nur 
einmal  über  Bord  zu  werfen  brauchte,  um  alles  in  Ordnung  zu 
bringen  und  Volk  und  Vaterland  wirksamer  zu  befreien  als  duich 
alles  Heldentum.  Auch  sei  hier  noch  kurz  darauf  hingewiesen, 
daß  auch  die  schon  oft  bemerkte  Verwandtschaft  des  Komischen 
mit  dem  Tragischen  aus  solcher  am  unpassenden  Ort  sich  äußern- 
den Unbedingtheit  des  Wesens  entspringt.  Das  gilt  von  den  Ge- 
stalten Charles  Dickens',  wie  vom  Don  Quixote  und  vom  Unkel 
Bräsig.  Alle  wahrhaft  komischen  Gestalten  sind  tragisch,  d.  h. 
sie  tragen  eine  solche  Unbedingtheit  des  Wesens  in  sich,  die  zwar 
in  diesen  Fällen  nicht  zum  Untergang,  aber  zu  immer  wiederholten 
Anstößen  führen  muß. 

Und  so  liegt  denn  in  dem  Ausspruch  Goethes  über  Shakespeare 
der  ganze  ideelle  Sachverhalt,  der  das  Wesen  des  Tragischen  aus- 
macht: „ Seine  Pläne  sind  keine  Pläne".  Sehr  recht!  Denn  jedes 
bewußte  Konstruieren  und  Aufbauen,  jeder  „Plan",  den  man  sollte 
merken  können,  widerspricht  der  Idee  des  objektiven  Kunstwerks. 
„Aber  seine  Stücke  drehen  sich  alle  um  den  geheimen  Punkt,  .  .  . 
in  dem  das  Eigentümliche  unseres  Ich,  die  prätendierte  Freiheit 
unseres  Wollens  mit  dem  notwendigen  Gange  des  Ganzen  zu- 
sammenstößt". Die  prätendierte,  d.  h.  die  beanspruchte  oder  die 
ideell  geforderte   Freiheit  macht   das   Eigentümliche   unseres  Ich 


1)  II.  B.  VI,  444. 

iitsl  pdd'ov  fyfisvciL  icd'Xog 

2)  Horaz,  Epist.  I,  2. 


Genie  und  Tragik.  389 

aus.  Entweder  es  liegt  eine  wirkliche  Unendlichkeit  des  Persön- 
lichen, eine  Unbedingtheit  des  Wesens  vor,  —  dann  erschauen  wir 
das  Höchste  der  Persönlichkeit,  was  Piaton  und  Goethe  das  Dä- 
monische nennen.  Oder  aber,  der  Mensch  will  frei  sein  und  nimmt 
deshalb  die  Begrenzung  und  Bedingtheit  seines  Wesens  als  das 
Unbedingte  und  Allgemeingültige,  er  setzt  alle  seine  Kraft  und 
sein  Leben  daran,  diese  durchzusetzen  und  muß  so  sich  selbst  zer- 
stören. Darin  liegt  das  Zusammenfallen  von  Freiheit  und  Not- 
wendigkeit im  Tragischen,  daß,  je  mehr  der  Mensch  frei  ist  oder 
frei  sein  will,  desto  mehr  diese  Unabwendbarkeit  des  Untergangs 
in  seinem  Schicksal  sich  ausprägt.  Daß  die  Freiheit  in  diesem 
Leben  so  vernichtet  werden  muß  und  daß  sie  trotzdem  das  Höchste 
für  das  Menschengeschlecht  ausmacht,  darin  liegt  die  Objektivität, 
die  das  Auge  des  Dichters  erschaut.  Nicht  wo  irgend  eine  Art 
Theologie  oder  irgend  eine  liberale  Lebensanschauung  eine  Ver- 
söhnung schafft,  liegt  die  ideelle  Art  des  Tragischen,  sondern  da, 
wo  das  Leben  geschildert  ist:  Kühl  vernichtend,  schneidend  wie 
blanker  Stahl,  und  wo  dennoch  der  Mensch  dagegen  sich  auflehnt 
und  ein  eigner  bleibt:  an  dem  „geheimen  Punkt ...  wo  das  Eigen- 
tümliche unseres  Ich,  die  prätendierte  Freiheit  unseres  Wollens 
mit  dem  notwendigen  Grange  des  Granzen  zusammenstößt". 


Wie  ist  Psychologie  als  Wissenschaft 

möglich. 

Von  Anna  Tumarkin,  Prof.  an  der  Universität  Bern. 


Fragen  wir  nach  dem  besonderen  Gegenstand,  den  die  Psycho- 
logie zn  behandeln  hat,  nach  dem  Psychischen,  als  einer  besonderen 
Form  der  Wirklichkeit,  so  tritt  nns  das  uralte  ewige  Rätsel  vom 
Leben  entgegen,  das  sich  dem  Menschen  seit  den  ersten  Anfängen 
seiner  philosophischen  Entwicklung  immer  von  Neuem  aufdrängt. 

Scheinbar  so  selbstverständlich,  das  am  unmittelbarsten  Ge- 
gebene, erscheint  doch  das  Leben  völlig  problematisch,  unfaßbar, 
sobald  wir  es  begrifflich  fixieren  wollen.  Wie  sollen  wir  es  in 
unserer  dem  begrifflichen  Denken  angepaßten  Sprache  formulieren, 
da  es  selber  nicht  begrifflich,  sondern  unmittelbar  gegeben  ist? 
Wie  sollen  wir  es  auch  nur  in  schweigender  Betrachtung  für  uns 
selbst  fixieren,  da  das  flüchtige  Leben  unserer  Betrachtung  nicht 
stille  steht  und  in  dem  Augenblick,  wo  wir  seine  lebendige  Flut 
halten  wollen,  uns  entschwindet.  Gerade  das,  was  man  am  Leben 
im  Gegensatz  zu  aller  vermittelnden  Erkenntnis  preist,  seine  Un- 
mittelbarkeit, verliert  sich  vor  dem  aufmerksamen  Blick  der  Selbs't- 
betrachtung.  Ich  will  mein  Gefühl  beobachten,  aber  was  ich  er- 
fasse ist  nicht  mehr  mein  ursprüngliches,  unbefangenes  Gefühl 
selbst.  Und  weil  sich  das  Psychische  aller  Fixierung  entzieht, 
gibt  es  auch  streng  genommen  keine  innere  Wahrnehmung  des 
Psychischen,  wie  es  eine  äußere  Wahrnehmung  des  räumlich  und 
zeitlich  fixierbaren  außerpsychischen  Geschehens  gibt. 

Diese  Ungreifbarkeit  des  unmittelbaren  Erlebens  ist  es,  was 
die  feinsten  Psychologen  als  die  größte  Schwierigkeit  empfinden, 
die  dem  psychologischen  Forschen  in  den  Weg  tritt.  Am  ein- 
dringlichsten hat  diese  Empfindung  in  unserer  Zeit  Bergson  zum 
Ausdruck  gebracht. 


Anna  Tumarkin,    Wie  ist  Psychologie  als  Wissenschaft  möglich.     391 

Und  doch  sind  wir  auf  die  Erkenntnis  des  Psychischen  an- 
gewiesen, des  fremden  wie  des  eigenen.  Das  Znsammenleben  mit 
den  Anderen,  wie  das  Bewußtsein  der  Kontinuität  des  eigenen 
Lebens  wären  unmöglich,  wenn  wir  das  Psychische  nicht  als 
solches  erkennen  könnten.  Es  gibt  tatsächlich  eine  Erkenntnis 
des  Psychischen,  und  wir  müssen  uns  nur  Rechenschaft  geben, 
worin  sie  besteht  und  worauf  sie  beruht.  Es  gibt  allerdings  keine 
besondere  innere  Wahrnehmung  des  einzelnen,  isolierten  Erlebens, 
wohl  aber  gibt  es  ein  Verstehen  des  gesamten  psychischen  Zu- 
sammenhanges, in  den  sich  das  einzelne  Erleben  einordnet,  und 
aus  dem  heraus  es  sich  auch  verstehen  läßt.  Vergebens  jage  ich 
dem  einzelnen  Lebenselement  nach:  was  isolierbar  ist,  ist  nicht 
mehr  psychisch,  subjektiv,  sondern  nur  das  gegenständliche  Korrelat 
eines  Psychischen.  Aber  der  ganze  seelische  Zusammenhang  ist 
mir  verständlich,  und  aus  ihm  heraus  wird  mir  auch  das  Einzelne 
wieder  lebendig,  verständlich.  Nur  aus  dem  Zusammenhang  heraus 
gibt  es  ein  Verstehen  des  Psychischen ;  wie  es  überhaupt  ein  Ver- 
stehen nur  vom  Zusammenhang  oder  aus  einem  Zusammenhang  heraus 
gibt,  nie  von  einem  Einzelnen  für  sich  genommen.  Wir  verstehen 
einen  Satz  oder  eine  Rechnung,  nicht  den  Buchstaben  oder  die 
Zahl;  verstehen  können  wir  nur,  was  sich  aus  einander  ableiten 
läßt.  / 

Bei  dem  Psychischen,  dessen  einzelne  Erscheinung  wir  außer- 
halb ihres  Zusammenhangs  gar  nicht  fixieren  können,  sind  wir  be- 
sonders darauf  angewiesen,  sie  aus  dem  Zusammenhang  heraus  zu 
verstehen,  in  den  sie  sich  einordnet,  so  daß  wenn  sie  auch  selber 
entschwindet,  ihre  Stelle  im  Zusammenhang  fixiert  werden  kann, 
wie  die  fliehende  Bewegung  fixiert  wird  in  der  durchlaufenen 
Linie. 

Daher  kommt  auch  dem  Verstehen  des  Einzelnen  aus  dem  Zu- 
sammenhang heraus  bei  der  Betrachtung  des  Psychischen  eine  ganz 
andere  Bedeutung  zu,  als  bei  der  Betrachtung  der  Außenwelt, 
deren  einzelne  Gegenstände  wir  zwar  auch  nur  -aus  dem  allge- 
meinen Zusammenhang  des  Naturgeschehens  erklären,  daneben 
aber  auch  für  sich,  isoliert  vom  allgemeinen  Zusammenhang  denken 
können.  Beim  Psychischen  aber  gibt  es  überhaupt  keine  Erkenntnis 
außerhalb  des  Zusammenhangs,  keine  Erkenntnis  des  Psychischen, 
die  nicht  ein  Verstehen  aus  dem  Zusammenhang  heraus  wäre. 
Nur  im  Zusammenhang  läßt  sich  das  Einzelne,  als  psychisch,  über- 
haupt fassen ;  außerhalb  dieses  Zusammenhangs  verflüchtigt  es  sich 


392  Anna  Tumarkin, 

in  seiner  Subjektivität  und  verhüllt  sich   hinter   den   gegenständ- 
lichen Bewußtseinsinhalten. 

Darum  erscheint  es  als  methodischer  Grundfehler  aller  an  der 
Naturwissenschaft  orientierten  Psychologie,  daß  sie  von  den  Ele- 
menten des  Seelenlebens  ausgeht,  um  von  da  aufzusteigen  zu 
höheren  Funktionen;  denn  durch  bloße  Zusammensetzung  psychi- 
scher Elemente  läßt  sich  kein  psychischer  Zusammenhang  in  der 
Art  gewinnen,  wie  man  zur  Erkenntnis  eines  körperlichen  Ganzen 
gelangt  durch  sukzessive  Betrachtung  seiner  Teile.  Es  ist  das  große 
Verdienst  Wilhelm  Diltheys  um  die  Psychologie,  daß  er  auf  die 
Ursprünglichkeit  des  seelischen  Zusammenhanges  hinwies,  von  dem 
alles  psychologische  Verstehen  auszugehen  habe;  für  diese  Er- 
kenntnis des  Seelenlebens  aus  seinem  ursprünglichen  Zusammen- 
hang heraus  hat  er  den  Begriff  „Verstehen"  in  Anspruch  ge- 
nommen im  Gegensatz  zum  „Erklären"  des  Natur geschehens,  dem 
wir  durch  Hypothesenbildung  den  Zusammenhang  erst  unterlegen 
müssen. 

Die  terminologische  Unterscheidung  scheint  mir  nicht  be- 
rechtigt; denn  Verstehen  (von  Verstand)  ist  der  allgemeinere  Be- 
griff, unter  den  die  Erkenntnis  eines  jeden  Zusammenhangs  fällt, 
des  psychischen  Zusammenhangs  nicht  mehr,  als  des  empirischen 
Zusammenhangs  des  Naturgeschehens  oder  des  a  priori  deduzier- 
baren Zusammenhangs  der  Ideen;  aber  von  der  Eigenart  des  Zu- 
sammenhangs hängt  auch  die  Besonderheit  des  entsprechenden 
Verstehens  ab.  Und  so  führt  die  Frage  der  psychologischen  Er- 
kenntnis zur  Frage  nach  der  Eigenart  des  psychischen  Zusammen- 
hangs. 

Es  ist  ein  realer  Zusammenhang:  nicht  bloß  das  negative 
Prinzip  der  logischen  Widerspruchslosigkeit ,  auch  nicht  das  for- 
male Prinzip  der  transzendentalen  Einheit  der  Apperzeption,  das 
jenseits  des  empirischen  Reichtums  und  der  individuellen  Unter- 
schiede des  psychischen  Lebens  bleibt,  sondern  der  wirkliche  Zu- 
sammenhang des  konkreten  Lebens  in  allen  seinen  Modifikationen. 
Und  da  liegt  es  nahe,  den  psychischen  Zusammenhang  als  einen 
Ausschnitt  aus  dem  allgemeinen  Zusammenhang  des  Naturgeschehens 
zu  verstehen,  ihn  einzureihen  in  den  großen  Kausalzusammenhang, 
den  die  positive  Forschung  mit  Hilfe  der  Mathematik  immer  fester 
zu  sichern  strebt,  und  so  die  psychologische  Forschung  teilhaftig 
zu  machen  der  Gewißheit  positiver  Wissenschaft:   es  soll  die  Be- 


Wie  ist  Psychologie  als  Wissenschaft  möglich.  393 

trachtung  der  flüchtigen  Erscheinungen  des  psychischen  Lebens 
dadurch  auf  einen  festen  Boden  gestellt  werden,  daß  man  sie  in 
kausalen  Zusammenhang  bringt  mit  greifbaren  und  meßbaren  Er- 
scheinungen der  Außenwelt. 

Wenn  aber  Wundt,  der  kritischste  unter  den  Vertretern  dieser 
an  der  Naturwissenschaft  orientierten  Psychologie,  schließlich  zum 
Eesultate  kommt,  daß  das  Gesetz  der  psychischen  Kausalität, 
causa  aequat  effectum,  sich  nicht  auf  das  psychische  Gebiet  über- 
tragen lasse,  so  erscheint  damit  die  ganze  Einreihung  des  Psy- 
chischen in  den  allgemeinen  Kausalzusammenhang  des  Natur- 
geschehens von  recht  illusorischem  Wert  für  das  Verstehen  des 
ersteren,  denn  zum  Verstehen  des  Naturgeschehens  führt  die  kau- 
sale Betrachtung  nur  dadurch,  daß  man  annimmt,  die  Wirkung 
gleiche  der  Ursache  und  lasse  sich  aus  ihr  ableiten.  Durch  diese 
Annahme  der  Gleichheit  von  Ursache  und  Wirkung  sucht  die 
Naturwissenschaft  einen  Ersatz  für  die  absolute  Notwendigkeit 
des  rein  begrifflichen  Zusammenhangs.  Ohne  sie  gäbe  es  nur  eine 
gewohnheitsmäßige  Verknüpfung  des  Nacheinander,  aber  keine 
Einsicht  in  die  Notwendigkeit  des  Durcheinander,  und  damit  auch 
kein  Verstehen  der  Wirkung  aus  ihrer  Ursache.  Die  ganze  Be- 
deutung der  Mathematik  für  die  Naturwissenschaft  beruht  darauf, 
daß  sie  die  Gleichung  herstellt  zwischen  Ursache  und  Wirkung. 
Eine  solche  mathematisch  bestimmbare  Gleichung  läßt  sich  aber 
zwischen  der  psychischen  Wirkung  und  ihrer  Ursache  nicht  her- 
stellen: die  physische  Ursache  der  psychischen  Wirkung  ist  von 
der  letzteren  ihrem  Wesem  nach  verschieden,  ihr  völlig  inkommen- 
surabel; und  die  psychische  Ursache  läßt  sich  ebenfalls  in  kein 
genau  bestimmbares  Verhältnis  zu  ihrer  Wirkung  bringen,  weil 
sich  beide  der  mathematischen  Bestimmung  entziehen.  Selbst 
wenn  wir  innerhalb  des  psychischen  Zusammenhanges  bleiben  und 
nicht  hinübergreifen  in  die  wesensverschiedene  Sphäre  des  phy- 
sischen Geschehens,  erscheint  so  die  kausale  Erklärung  des  Psy- 
chischen fraglich;  im  besten  Fall  bleibt  die  Psychologie  in  bezug 
auf  kausale  Erklärung  hinter  der  exakten  Wissenschaft  zurück, 
einem  Ziele  nachstrebend,  das  sie  doch  nie  erreichen  kann. 

Und  da  müssen  wir  uns  fragen,  ob  denn  die  kausale  Erklärung, 
die  innerhalb  der  Naturwissenschaft  dank  der  mathematishen  Be- 
stimmbarkeit der  Naturerscheinungen  durchführbar  und  daher  auch 
methodisch  berechtigt  ist,  auch  innerhalb  der  Psychologie,  wo  sie 
doch  nie  die  Vollkommenheit  exakter  wissenschaftlicher  Erklärung 


394  Anna  Tumarkin, 

erreichen  kann,  dieselbe  Berechtigung  habe.  Von  unserer  Be- 
trachtung der  Aussenwelt  her  sind  wir  so  gewohnt,  das  Wirkliche 
in  einen  kausalen  Zusammenhang  zu  bringen,  daß  es  uns  ganz 
natürlich  erscheint,  auch  den  psychischen  Zusammenhang  als  einen 
kausalen  zu  fassen.  Ist  das  aber  nicht  eine  unberechtigte  Über- 
tragung der  wissenschaftlich  geprüften  und  gesicherten  Methode 
der  Naturbetrachtung  auf  das  Gebiet  der  Psychologie,  deren  Me- 
thode doch  ihrem  Gegenstande  angepaßt  sein  sollte?  Den  physi- 
schen Zusammenhang  können  wir  nur  als  einen  kausalen  verstehen, 
d.  h.  ihn  als  eine  Aufeinanderfolge  von  zeitlich  fixierten  Erschei- 
nungen denken,  deren  Notwendigkeit  durch  quantitatives  Be- 
stimmen dieser  aufeinander  folgenden  Erscheinungen  gesichert  wird. 
Für  den  psychischen  Zusammenhang  aber,  ganz  abgesehen  davon, 
daß  die  genaue  quantitative  Bestimmung  hier  versagt,  ist  die  zeit- 
liche Aufeinanderfolge  überhaupt  nicht  wesentlich.  Ein  Zusammen- 
hang z.  B.,  wie  der  zwischen  wissenschaftlicher  Erkenntnis  und 
dem  mit  ihr  verbundenen  Gefühl  der  "Wahrheit,  ist  überhaupt 
nicht  zeitlich  zu  fassen;  wie  die  meisten  eigentlichen  psychischen 
Zusammenhänge,  ist  er  außerzeitlich  und  insofern  auch  nicht  unter 
das  Gesetz  der  Kausalität  fallend,  das  die  eigentliche  Aufeinander- 
folge voraussetzt. 

Es  kann  das  Psychische  unter  Umständen,  insofern  es  in  der 
Zeit  verläuft,  auch  in  einen  kausalen  Zusammenhang  gebracht 
werden,  aber  dieser  Kausalzusammenhang,  dem  nie  die  strenge 
Demonstrierbarkeit  der  mathematisch- naturwissenschaftlichen  Er- 
klärung zukommen  wird,  setzt,  auch  wo  er  bloß  plausibel  ist, 
bereits  einen  anderen  rein  psychischen  Zusammenhang  voraus, 
der  selbst  nicht  mehr  kausal  zu  verstehen  ist:  wenn  wir  ein  Ge- 
fühl der  Befriedigung  erklären  sollen  durch  die  vorausgegangene 
wissenschaftliche  Betätigung,  so  müssen  wir  den  außerzeitlichen 
Zusammenhang  zwischen  Gefühl  und  Erkenntnis  bereits  verstanden  I 
haben. 

Das  ursprüngliche  Prinzip  des  psychologischen  Verstehens 
kann  die  Kausalität  nicht  bilden.  Diese  Einsicht  hatte  Dilthey 
zu  seinem  Kampf  gegen  die  auf  Hypothesenbildung  beruhende 
erklärende  Psychologie  getrieben.  Was  er  dem  kausalen  Zu- 
sammenhang, als  dem  Prinzip  der  erklärenden  Psychologie  ent- 
gegensetzt, ist  der  im  unmittelbaren  Erleben  gegebene  Struktur- 
zusammenhang, von  dem  die  beschreibende  und  zergliedernde  Psy- 
chologie  auszugehen   habe.    Wir    verstehen    das  Leben,    weil   es 


Wie  ist  Psychologie  als  Wissenschaft  möglich.  395 

nicht  nur  um  uns,  sondern  auch  in  uns  selber  strömt  und  atmet; 
das  unmittelbare  eigene  Erleben  wird  uns  zum  Schlüssel  alles 
Psychischen,  das  wir  nach  Analogie  des  eigenen  Lebenszusammen- 
hanges, durch  Einfühlung,  würden  wir  heute  sagen,  in  uns  lebendig 
werden  lassen. 

Und  Dilthey  selbst  verstand  es,  wie  kaum  ein  Anderer,  einen 
fremden  seelischen  Zusammenhang  wieder  lebendig  zu  machen. 
Mit  unvergleichlicher,  einzigartiger  Kunst  ließ  er  Gestalten  der 
Vergangenheit  vor  uns  erstehen,  daß  man  das  Gefühl  hatte,  es  sei 
nichts  mehr  zwischen  ihnen  und  uns,  die  Schranken  individueller 
Form  fielen  hin,  und  hüllenlos  sah  man  die  Seelen  vor  sich.  Wer 
die  Methode  des  einfühlenden  Verstehens  an  Dilthey  selbst  beob- 
achtet hat,  konnte  sich  dem  Zauber  dieser  Meschenbeschwörung 
kaum  entziehen.  Aber  mitten  in  aller  Bewunderung  mußte  man 
sich  sagen:  das  ist  seine  Gabe,  die  Gabe  einer  wunderbar  im- 
pressionablen  und  auf  Grund  der  Impressionabilität  divinatorischen 
Natur;  aber  eine  sichere,  übertragbare,  allgemein  mitteilbare  Me- 
thode ist  es  nicht;  wie  ja  auch  Dilthey  selber  von  seiner  be- 
schreibenden Psychologie  zugibt,  daß  sie  „immer  etwas  von  dem 
lebendigen  künstlerischen  Prozeß  des  Verstehens"  behält.  (Ideen 
z.  e.  beschr.  und  zergliedernden  Psychol.",  Sitzungsber.  d.  Berl. 
Akad.  d.  Wiss.  1894,  S.  1345).  Was  Dilthey  uns  zeigt,  lebt  in 
uns,  löst  eine  Dynamik  des  seelischen  Erlebens  aus,  wie  sie  nie 
durch  verstandesmäßige  Konstruktionen  ausgelöst  werden  kann. 
Aber  daß  das,  was  in  uns  so  lebendig  wird,  dem  fremden  Erleben 
wirklich  entspricht,  dafür  haben  wir  keine  Gewähr:  es  ist  Dil- 
they's  Hölderlin,  Novalis,  junger  Hegel,  was  jetzt  in  uns  lebt, 
wie  des  Künstlers  Gestalten  so  intensiv  in  uns  leben,  daß  wir 
darüber  die  Geschichte,  die  dem  Künstler  das  Motiv  geliefert  hat, 
vergessen.  Und  so  wunderbar  wirksam  dieses  gefühlsmäßig  nach- 
schaffende oder  vielmehr  neuschaffende  Verstehen  ist,  was  sich 
ihm  erschließt,  ist  nicht  der  fremde  Lebenszusammenhang,  wie  er 
für  sich  genommen  ist,  sondern  wie  er  sich  in  dem  unsrigen  spiegelt. 
Denn,  wie  es  Dilthey  wieder  selber  zugibt,  nach  Analogie  mit 
dem  eigenen  unmittelbar  erlebten  Zusammenhang  läßt  sich  der 
fremde  Zusammenhang  überhaupt  nur  unter  der  Voraussetzung 
allgemeiner  Verwandtschaft  des  menschlichen  Seelenlebens  ver- 
stehen, und  „dasjenige  an  einem  fremden  Seelenleben,  was  von 
diesem  eigenen  Inneren  nicht  bloß  quantitativ  abweicht  oder  durch 
Abwesenheit   von    etwas,   das   im    eigenen  Inneren  vorhanden   ist, 


396  Anna  Tumarkin, 

sich  unterscheidet,  kann  von  uns  schlechterdings  nicht  ergänzt 
werden".     (Ibid.  S.  1369). 

Das  gilt  vor  Allem  von  jenen  psychischen  Erscheinungen,  die 
so  verschieden  sind  von  dem,  was  der  normale  Mensch  als  den 
eigenen  seelischen  Zusammenhang  in  sich  erlebt,  daß  wir  sie  als 
pathologisch  bezeichnen;  ihnen  gegenüber  versagt  das  einfühlende 
Verstehen  prinzipiell,  und  selbst  der  impressionabelste  Beobachter 
kann  sie,  vorausgesetzt  daß  er  selber  normal  ist,  durch  Einfühlung 
nicht  verstehen.  Wir  wissen,  daß  ein  Anormaler  Wahnideen  hat 
und  kennen  vielleicht  ihren  Inhalt,  aber  für  uns  ist  es  Wahn, 
für  ihn  —  Wirklichkeit.  Da  findet  die  Einfühlung  ihre  Grenze; 
der  Unterschied  zwischen  unserem  und  seinem  psychischen  Zu- 
sammenhang ist  zu  groß,  als  daß  der  eine  sich  ohne  Vergewalti- 
gung dem  anderen  unterlegen  ließe.  Dilthey  selbst  hat  zwar 
sein  einfühlendes  Verstehen  auch  an  diesen  Erscheinungen  ver- 
sucht; selbst  systematisch  philosophische  Fragen,  wie  die  nach 
dem  Wesen  unseres  Wirklichkeitsglaubens,  hat  er  aus  der  Seele 
von  Geisteskranken  mit  ihren  verschiedenen  Formen  des  Realitäts- 
gefühls  zu  denken  und  lösen  versucht;  es  gibt  kaum  ein  Werk 
der  philosophischen  Literatur,  das  uns  so  nahe  an  den  Rand  des 
Irrsinns  führt,  wie  Dilthey' s  Akademieabhandlung  über  den  Grund 
unseres  Glaubens  an  die  Realität  der  Außenwelt. 

Aber  solche  Impressionabilität  gegenüber  den  Geisteskranken, 
bei  der  man  selber  den  festen  geistigen  Boden  verliert,  wird  man 
nicht  als  Verstehen  der  Geisteskrankheit  bezeichnen  können ; 
jedenfalls  darf  das  Verstehen,  das  der  Psychiater  braucht,  das 
ihm  die  Überlegenheit  gegenüber  dem  Kranken  geben  soll,  statt 
ihn  selber  in  seinem  seelischen  Gleichgewicht  zu  gefährden,  nicht 
auf  den  schwankenden  Boden  der  Einfühlung  gestellt  werden. 

Ein  Verstehen  des  Psychischen  ist  aber  hier  dringend  nötig, 
dringender,  vielleicht,  noch,  als  gegenüber  dem  Normalen,  der 
auch  ohne  unser  Verstehen  sich  selber  im  Leben  zurechtfindet. 
Den  dringenden  Forderungen  gegenüber,  die  da  an  unser  Ver- 
stehen des  Psychischen  gestellt  werden,  können  wir  es  nicht 
darauf  ankommen  lassen,  ob  eine  ferne  Zukunft  eine  sichere 
wissenschaftliche  Methode  der  psychologischen  Forschung  finden 
werde,  können  uns  nicht  dabei  beruhigen,  daß  die  Psychologie, 
vielleicht,  überhaupt  keine  Wissenschaft  ist,  sondern  nur  eine  un- 
verantwortliche Kunst,  die  nur  besonders  begabten  divinatorischen 
Naturen,    mit   einem   besonderen  psychologischen  Takt  zugänglich 


Wie  ist  Psychologie  als  Wissenschaft  möglich.  397 

ist.  Es  muß  eine  objektive  Methode  psychologischen  Verstehens 
gefunden  werden,  die  Not  des  Lebens  duldet  hier  keine  metho- 
dische Unsicherheit  und  verlangt  gebieterisch,  daß  die  Psychologie 
als  Wissenschaft  gestaltet  werde. 

Und  der  Psychiatrie  schließen  sich  in  dieser  Forderung  an 
die  Geschichte  und  die  Geisteswissenschaften,  die  nicht  die  ganze 
Sphäre  des  Psychischen  der  Willkür  des  genialen  Erratens  preis- 
geben können  und  ebenso,  wie  die  Psychiatrie,  von  der  Psycho- 
logie verlangen  müssen,  daß  diese  sich  auf  eine  wissenschaftlich 
gegründete  Methode  und  auf  objektive  Prinzipien  aufbaue. 

Solche  wissenschaftliche  Methode  der  psychologischen  For- 
schung setzt  aber,  da  das  Verstehen  des  Psychischen  nur  aus 
dem  Zusammenhang  heraus  möglich  ist,  voraus,  daß  der  Zusammen- 
hang, aus  dem  das  Psychische  verstanden  werden  soll,  nicht  selber 
bloß  als  ein  subjektiver,  unmittelbar  gegebener  erlebt,  sondern 
daß  er  in  seiner  Notwendigkeit  auch  objektiv  verstanden  werde ;  in 
Dilthey's  Sprache  zu  reden,  es  genügt  nicht,  daß  der  Strom  des 
Lebens  in  uns  selber  fließt,  wir  müssen  ihn  auch  in  Beziehung 
bringen  können  zu  festen  Punkten,  von  denen  aus  sich  seine  Flut 
bestimmen  ließe,  zu  bleibenden  Ufern,  die  den  Strom  zusammen- 
halten. -Die  Kausalität  kann  aber  dieses  bestimmende  Prinzip 
des  objektiven  psychologischen  Verstehens  nicht  sein;  der  Zu- 
sammenhang, aus  dem  heraus  wir  alles  Psychische  verstehen 
sollen,  kann  nicht  ein  Kausalzusammenhang  sein.  Und  wäre  die 
Kausalität  die  einzige  Form  alles  objektiven  Verstehens  der  Wirk- 
lichkeit, gäbe  es  keinen  wirklichen  nach  objektiven  Prinzipien 
faßbaren  Zusammenhang,  als  den  kausalen,  so  ständen  wir  in  bezug 
auf  die  Psychologie  vor  einem  unlösbaren  Dilemma:  entweder  die 
einzig  wissenschaftliche  kausale  Betrachtungsweise,  aber  nur  in 
unvollkommener  Weise  auf  das  Psychische  anwendbar,  so  daß  die 
Psychologie  immer  dazu  verurteilt  bleibt,  ohnmächtig  der  Natur- 
wissenschaft nachzuhinken,  oder  aber  eine  selbständige,  der  Eigen- 
art des  Psychischen  angepaßte  Betrachtungsweise,  aber  dafür  un- 
wissenschaftlich, auf  die  unberechenbare  und  unverantwortliche 
Kunst  der  Einfühlung  angewiesen. 

Aus  diesem  Dilemma  hilft  uns  nur  die  Einsicht,  daß  die  Er- 
hebung der  Kausalität  zum  einzigen  Prinzip  aller  objektiven 
Wirklichkeitserkenntnis  ein  aus  einseitiger  Orientierung  an  der 
Naturwissenschaft  erwachsenes  Vorurteil  ist.  So  gut  wie  der 
kausale  Zusammenhang  des  zeitlichen  Geschehens,    kann  auch  ein 


398  Anna  Tumarkin 


außerzeitlicher,  sinnvoller  Zusammenhang  Gegenstand  objektiven 
Verstehens  sein.  Einen  solchen  sinnvollen  Zusammenhang  stellt 
auch  das  psychische  Leben  dar;  freilich,  was  es  von  den  anderen 
Formen  des  sinnvollen  Zusammenhangs  unterscheidet,  nicht  einen 
bloß  ideellen  Zusammenhang,  wie  es  etwa  der  mathematische  ist, 
sondern  einen  wirklichen  sinnvollen  Zusammenhang;  aber  das  ist 
eben  die  nicht  weiter  abzuleitende  Eigenart  des  Psychischen,  daß 
es  einen  sinnvollen  wirklichen  Zusammenhang  bedeutet. 

Und  einen  sinnvollen  wirklichen  Zusammenhang  verstehen  wir 
nicht  aus  seiner  Ursache,  sondern  aus  seinem  Zweck.  Damit  ist 
nicht  ein  Zweck  gemeint,  der  dem  Leben  willkürlich  vorgesetzt 
wäre,  sondern  der  Zweck,  den  das  Leben  selber  sucht,  als  Wille 
zum  Leben,  zur  Erhaltung  des  Lebens.  Das  Leben  aber,  das  es 
da  zu  erhalten  gilt,  ist  ein  bewußtes,  und,  als  solches,  kann  es 
sich  selbst  nicht  erhalten,  ohne  die  objektive  Einheit  des  Bewußt- 
seins zu  wahren.  Der  Wille  zum  seelischen  Leben  ist  immer 
Wille  zur  Objektivität  seiner  Lebensinhalte.  Warum  das  so  ist, 
ist  eine  ebenso  müssige  Frage,  wie  die,  warum  es  kein  Subjekt 
ohne  Objekt  gibt,  oder  wie  die  nach  dem  Ursprung  des  Bewußt- 
seins. Psychisches  Leben  ist  ein  immerwährender  Kampf  um  die 
objektive  Einheit  des  Bewußtseins,  d.  h.  um  dessen  sinnvollen  Zu- 
sammenhang. Nichts-wird  uns  als  psychisch  bewußt,  tritt  als  Er- 
lebnis in  die  Sphäre  des  Bewußtseins,  was  nicht  in  Beziehung 
steht  zu  diesem  Zweck  unseres  Lebens.  Dieser  Lebenszweck  be- 
stimmt den  Inhalt  des  Erlebens,  er  vollzieht  die  Auswahl  der 
Lebensinhalte,  er  ist  das  schöpferische  Prinzip  des  Lebens.  Sinn- 
widriges duldet  das  Bewußtsein  nicht,  es  deutet  es  um,  sodaß  die 
Sinnwidrigkeit  verschwindet,  oder  es  sperrt  sich  dagegen;  Sinn- 
leeres wird  wohl  eine  Zeit  lang  als  Ballast  mitgeschleppt,  aber, 
wenn  es  sich  dauernd  sträubt  gegen  die  Einreihung  in  einen  sinn- 
vollen Zusammenhang,  über  Bord  geworfen.  Nur  was  Anschluß 
findet  an  den  einheitlichen  sinnvollen  Zusammenhang  des  Bewußt- 
seins, hat  Bestand. 

Das  Seelenleben  ist  Sinnsuchen;  marche  a  l'esprit  hat  es 
Bergson  .  genannt,  und  als  ein  Chaos,  das  Kosmos  werden  will, 
definiert  es  Bickert.  Vom  Standpunkt  unseres  Problems  drücken 
wir  denselben  Tatbestand  so  aus,  daß  wir  den  psychischen  Zu- 
sammenhang, der  den  Gegenstand  der  Psychologie  als  Wissenschaft 
bilden  soll,  fassen  als  einen  Zweckzusammenhang  und  alles  Psy- 
chische   aus    seinem    Zweckzusammenhang    heraus    zu    verstehen 


Wie  ist  Psychologie  als  Wissenschaft  möglich.  399 

suchen.  Wie  das  Kausalitätsprinzip  das  ursprüngliche,  eigentüm- 
liche Prinzip  der  Erklärung  des  physischen  Geschehens  ist,  so 
erscheint  uns  das  Zweckprinzip  als  das  ursprüngliche,  eigentüm- 
liche Prinzip  des  psychologischen  Verstehens;  während  innerhalb 
der  Psychologie  die  Kausalität  ebenso  als  ein  übertragenes  Prinzip 
erscheint,  wie  innerhalb  der  Naturerklärung  das  Zweckprinzip. 

Auch  die  Naturerklärung  greift  zum  Zweckbegriff,  wo  die 
Kausalität  nicht  ausreicht,  um  den  Zusammenhang  des  an  den 
betrachteten  Erscheinungen  gegebenen  Mannigfaltigen  zu  ver- 
stehen, bei  der  Betrachtung  der  organischen  Natur;  und  sie 
glaubt  sich  dazu  berechtigt,  weil  sie  in  der  natürlichen  Anpassung 
der  organischen  Wesen  an  die  vorhandenen  Daseinsbedingungen 
ein  Analogon  zu  bewußtem  Zweckwirken  findet.  Die  Psychologie 
aber  findet  in  ihrem  Gegenstand  nicht  bloß  Zweckmäßigheit,  d.  h. 
Analogie  zu  bewußtem  Zweck  wirken,  sondern  auch  dieses  bewußte 
Zweckwirken  selbst.  Denn  psychisches  Leben  ist  Zweckbewußtsein, 
d.  h.  nicht  bloß  Fähigkeit,  sondern  auch  Wille  zur  Anpassung,  zur 
Selbsterhaltung  und  zwar  zu  einer  Selbsterhaltung,  die  auch  ob- 
jektive Bewußtseinsinhalte,  mithin  objektive  Zwecke,  Aufgaben 
umfaßt:  psychisches  Leben  ist  Zwecksetzung,  und  aus  seiner  Ziel- 
strebigkeit verstehen  wir  alle  seine  Funktionen. 

Ein  Psychisches  verstehen,  heißt  die  Rolle  erkennen,  die  es 
in  dem  allgemeinen  Zweckzusammenhang  des  Lebens  spielt,  im 
Dienste  jener  objektiven  Einheit,  die  herzustellen  und  zu  wahren 
alles  Leben  unablässig  strebt.  Jedes  Erleben  ist  ein  Ausgleich 
zwischen  dem  erworbenen  seelischen  Zusammenhang  und  dem  neu 
hinzukommenden  Eindruck,  ein  Kampf  um  das  seelische  Gleich- 
gewicht. Je  darnach,  ob  wir  an .  sein  greifbares  Resultat,  den 
neugewonnenen  gegenständlichen  Inhalt,  denken  oder  an  die  durch 
ihn  ausgelöste  bewegende  Kraft,  oder  an  das  allgemeine  Bewußt- 
sein des  Gleichgewichtszustandes,  sprechen  wir  von  Erkennen, 
Wollen  oder  Fühlen.  Die  objektive  Einheit  des  Bewußtseins 
bleibt  das  Ziel,  von  dem  aus  wir  alle  diese  Erscheinungen  des 
Seelenlebens  verstehen. 

Derselbe  Zweck  des  Lebens,  die  Selbsterhaltung,  führt  unter 
verschiedenen  Bedingungen  auch  zu  verschiedenen  Modifikationen 
des  Lebenswillens:  in  der  unbegrenzten  Mannigfaltigkeit  psy- 
chischer Individuen  eine  ebenso  unabsehbare  Mannigfaltigkeit  ein- 
ander ablösender  Entwickelungsformen.  Derselbe  Zweck  der 
Selbsterhaltung  erscheint   als   das   bestimmende  Prinzip  unendlich 


400  Anna  Tumarkin, 

vieler  von  Augenblick  zu  Augenbick  sich  verschiebender  Zweck- 
zusammenhänge. Und  die  Psychologie  sieht  sich  dieser  unend- 
lichen Mannigfaltigkeit  von  Zweckzusammenhängen  und  ihren  Ver- 
schiebungen gegenüber.  Das  ist  ihr  Gegenstand.  Was  ihr  die 
Möglichkeit  gibt,  sich  in  dieser  Mannigfaltigkeit  zurechtzufinden, 
ist  die  Richtung  aller  dieser  Formen  des  Lebenswillens  auf  einen 
objektiven  Bewußtseinsinhalt. 

Die  Objektivität  des  Bewußtseinsinhalts,  der  in  seiner  Ob- 
jektivität uns  allen  gemeinsam  ist,  der  objektive  gemeinsame 
Kulturzusammenhang,  an  den  unser  Aller  geistiges  Leben  einen 
Anschluß  sucht,  schlägt  die  Brücke  über  alle  individuellen  Ver- 
schiedenheiten von  einem  seelischen  Zweckzusammenhang  zum 
anderen.  Als  geistige  Wesen  bleiben  wir  nicht  isolierte,  jedes 
Verständnisses  für  einander  entbehrende  Individuen,  sondern  wir 
finden  uns  in  der  Einheit  objektiver  Ziele,  die  unser  Bewußtsein 
als  an  sich  gültig  und  insofern  allen  gemeinsam  erkennt.  In  dieser 
Einheit  objektiver  Ziele  haben  wir  die  einzige  feste  Grundlage 
für  das  gegenseitige  Verstehen  und  durch  sie  sind  wir  auch  dem 
Zufall  und  der  Unsicherheit  der  subjektiven  Einfühlung  entrückt. 
Auch  wo  die  Einfühlung,  als  natürliches  Band  der  Gemeinschaft, 
versagt,  bleibt  dieses  geistige  Band  der  Einheit  der  objektiven 
Aufgaben  bestehen. 

Und  von  diesen  objektiven  Aufgaben  aus,  wie  sie  das  Ziel 
der  Kulturgemeinschaft  bilden,  vermag  auch  die  Psychologie  das 
Lebensziel  und  den  Zweckzusammenhang  der  einzelnen  Individuen  zu 
verstehen.  In  dem  Einzelmenschen  erblickt  sie  einen  Träger  dieser 
Aufgaben,  die  von  ihm  als  Zweck  seines  individuellen  Strebens 
aufgenommen  werden  und  eine  je  nach  seinen  Anlagen  und  seinen 
Lebensbedingungen  bestimmte  Lösung  finden.  Den  individuellen 
Zweckzusammenhang  sucht  sie  als  eine  Modifikation  der  objektiven 
Einheit  geistiger  Aufgaben  zu  verstehen:  warum,  aus  welcher 
Nötigung  des  Lebens,  hat  die  allgemeine,  objektive  Aufgabe  in 
dem  bestimmten  Fall  gerade  diese  Modifikation  erfahren?  An  ob- 
jektiven Aufgaben  findet  so  die  Psychologie  den  festen  Maßstab 
zur  Beurteilung  der  subjektiven  Zwecke  des  Menschen;  als  Wissen- 
schaft von  den  seelischen  Zweckzusammenhängen,  ihren  Verschie- 
bungen und  Entwickelungen ,  muß  sie  sich  an  geistigen  Aufgaben 
orientieren,  die  zu  erkennen  der  eigentliche  Kern  der  Philosophie 
ist.  Und  wie  die  Psychologie  des  normalen  Lebens,  so  bedarf 
auch    diejenige    des    anormalen  Lebens    der  Richtschnur   der   ob- 


Wie  ist  Psychologie  als  Wissenschaft  möglich.  401 

jektiven  Aufgaben;  schon  der  Unterschied  zwischen  normal  und 
anormal  setzt  den  Begriff  der  Norm  voraus.  Die  Richtung  auf 
Aufgaben,  auf  objektive  Ziele  behält  auch  der  Anormale;  denn 
ohne  diese  Tendenz  gibt  es  überhaupt  kein  Bewußtsein,  kein  Seelen- 
leben; aber  was  er  als  objektives  Ziel  erkennt  und  erstrebt,  ist 
unter  dem  Druck  unüberwindlicher  Entwickelungsstörungen  so- 
weit abgewichen  von  dem,  was  das  unbelastete,  sich  frei  ent- 
faltende Bewußtsein  sich  zum  Ziele  setzt,  daß  eine  sachliche  Ver- 
ständigung mit  ihm  nicht  mehr  möglich  ist. 

Ein  Zweckzusammenhang  ist  das  psychische  Leben  des  Anor- 
malen so  gut,  wie  das  des  Normalen,  wenn  auch  ein  verschobener 
Zweckzusammenhang.  Nicht  nur  behält  der  Kranke  —  mit  ge- 
wissen Ausnahmen  —  seinen  Willen  zur  Anpassung,  sondern  er 
vollzieht  auch  wirklich  eine  Anpassung,  die  unter  Umständen  in 
ihrer  Art  viel  bewundernswerter  ist,  als  die  des  normalen  Men- 
schen: eine  Anpassung,  die  für  ihn  vielleicht  in  dem  Augenblick, 
wo  wir  ihn  für  krank  erklären,  eine  Gesundung  bedeutet:  durch 
die  Verschiebung  des  Zweckzusammenhangs  ist  für  den  Kranken 
eine  neue  Möglichkeit  des  Lebens  geschaffen  worden,  während 
sonst  für  ihn  das  Leben  unerträglich  wäre.  Aber  diese  An- 
passung entsprechend  den  subjektiven  Lebensbedürfnissen  des 
Individuums  bedeutet  zugleich,  da  sie  auf  Kosten  der  objektiven 
Aufgaben  geschieht,  eine  Isolierung  von  der  Gemeinschaft.  So 
erscheint  die  geistige  Krankheit  als  das  Produkt  einer  Aus- 
einandersetzung zwischen  dem  Willen  zur  individuellen  Selbst- 
erhaltung und  dem  Willen  zur  Objektivität  des  Bewußtseins- 
inhalts, zwischen  dem  subjektiven  und  dem  objektiven  Zweck  des 
Lebens,  deren  harmonischen  Ausgleich  der  Kranke  aus  inneren 
oder  äußeren  Gründen  nicht  mehr  zu  finden  vermag.  Einen 
Kranken  verstehen  heißt  darnach ,  den  Ausgang  dieser  Aus- 
einandersetzung erkennen,  aber  auch  erkennen,  was  den  Kranken 
gerade  zu  diesem  Ausgang  getrieben  hat.  Ein  Wahnsystem  ver- 
stehen heißt  nicht  sich  gefühlsmäßig  hineinversenken,  sondern 
verstehen,  warum  gerade  dieser  Wahn  für  den  Kranken  zur 
Lebensnotwendigkeit  wurde,  als  Rettung,  als  Flucht  aus  der  un- 
erträglichen Wirklichkeit,  warum  der  Zweck  der  individuellen 
Selbsterhaltung  für  ihn  es  notwendig  machte,  das  Bild  der  Wirk- 
lichkeit in  solcher  Weise  zu  verfälschen. 

So  brauchen  wir,  um  das  normale,  wie  das  anormale  Leben 
zu  verstehen,  Normen;  wir  brauchen  objektive  Aufgaben,    um  die 

Kanfctndien.    XXVI.  26 


402     Anna  Tu  markin,   Wie  ist  Psychologie  als  Wissenschaft  möglich. 

subjektiven  Zwecke  des  geradgewachsenen,    wie  des  verkrümmten 
seelischen  Lebens  zu  verstehen. 

Und  insofern  die  objektiven  Aufgaben  im  letzten  Grunde 
durch  die  Philosophie  bestimmt  werden,  kann  man  sagen,  daß  die 
Psychologie  sich  methodisch  an  der  Philosophie  orientieren  muß, 
wenn  sie  nicht  darauf  angewiesen  bleiben  will,  die  Naturwissen- 
schaft nachzuahmen,  ohne  je  deren  Exaktheit  erreichen  zu  können, 
und  auf  der  anderen  Seite  sich  doch  über  die  wunderbare,  aber 
unverantwortliche  Kunst  der  Einfühlung  erheben  will  zur  syste- 
matischen Wissenschaft. 


Die  Aufgaben  der  Ästhetik. 

Antrittsvorlesung  an  der  Technischen  Hochschule  Dresden. 
Von  Privatdozentin  Dr.  Charlotte  Bühler. 


In  einem  seiner  bewunderungswürdig  geschriebenen  geistvollen 
Aufsätze  *)  hat  Wilhelm  Dilthey  drei  Epochen  moderner  Ästhetik 
konstruiert,  wie  sie  sich  seit  dem  17.  Jahrhundert  entwickelt  hat. 
Die  rationale  Ästhetik  des  L  e  i  b  n  i  z  ,  die  in  innerer  Notwendig- 
keit aus  seinem  genialen  metaphysischen  System  hervorgeht,  findet 
in  Dilthey  einen  ihrer  Größe  gewachsenen  Interpreten.  Der  Greist 
jener  strengen  Ordnung  und  Regel,  der  die  französische  Klassik 
beherrscht,  erhält  in  der  metaphysischen  Weltauffassung  des  Leib- 
niz  Rechtfertigung  und  tiefen  Sinn.  Der  logische  Charakter 
der  ästhetischen  Form,  Einheit  im  Mannigfaltigen,  Gesetz- 
lichkeit des  Aufbaus,  Regel,  Maß,  Rhythmus,  die  Ordnung  selbst 
ist  Grund  des  ästhetischen  Gefallens.  „Von  der  Ordnung  kommt 
alle  Schönheit  her  und  die  Schönheit  erweckt  Liebe",  dies  sagt 
Leibniz.  Mit  vollem  Recht  hält  Dilthey  den  Gedanken  der  Ge- 
setzlichkeit im  Kunstwerk  fest.  Es  gibt  Gesetze  im  Schaffen 
des  Künstlers,  im  Aufbau  des  Kunstwerks  und  im  Wirken  auf  den 
Beschauer,  und  wie  Dilthey  in  richtiger  Voraussicht  sagt,  gilt  es 
nur,  die  allgemeingültigen  Regeln,  die  aus  der  Natur  der  Sache 
fließen,  vom  historisch  Variablen  im  Geschmack  zu  sondern. 

Ein  zweiter  bedeutsamer  Umkreis  von  Fragen,  durch  die  eng- 
lische Ästhetik  des  18.  Jahrhunderts  erschlossen,  führt  bis  zu 
Fechners  „Vorschule  der  Ästhetik"  und  zur  modernen  experimen- 
tellen Analyse  des  ästhetischen  Eindrucks.  Die  schottischen  und 
englischen  Ästhetiker,  denen  in  Deutschland  und  Frankreich  Gleich- 
strebende zur  Seite  träten,  untersuchten  in  sorgsamen  Analysen 
die  Beschaffenheit  der  Kunstwerke  auf  ihre  Wirkung  hin.  Am 
berühmtesten  war  in  England  das  seit  1762  erschienene  Werk  von 

1)  Die  drei  Epochen  der  modernen  Ästhetik  und  ihre  heutige  Aufgabe. 
Dtsche.  Rundschau  Bd.  72.  1892. 

26* 


404  Charlotte  Bühler, 

Home  „Grundsätze  der  Kritik";  die  Einzeluntersuchungen  von 
Lessing,  von  Diderot  sind  bekannt,  mit  der  großen  Menge 
der  anderen  Namen  will  ich  hier  nicht  aufhalten.  Das  Ent- 
scheidende ist,  daß  diesen  Philosophen  und  Kritikern,  die  den  Ge- 
schmack und  die  Ursachen  der  Kunstwirkungen  nun  im  einzelnen 
untersuchten,  zum  ersten  Mal  auch  die  große  und  schwere  Frage 
nach  der  Allgemeingültigkeit  des  Geschmacks  und  der 
ästhetischen  Wissenschaft  aufging.  Home  sprach  vom  Standard 
of  taste,  als  er  sich  an  diesen  schwierigen  Problemkreis  wagte, 
der  heute  wieder  einen  Mittelpunkt  ästhetischer  Problemstellung 
bildet.  Während  man  vorher  allgemein  über  die  ästhetische  Form, 
über  die  Aufgaben  des  Künstlers,  auch  über  die  Schönheit  und 
die  Aufgaben  der  einzelnen  Künste  debattiert  hatte,  ging  einem 
jetzt,  als  man  es  unternahm,  die  Wirkungsweisen  einzelner  Kunst- 
werke zu  analysieren,  erst  auf,  wie  verschieden  der  Geschmack, 
wie  verschieden  das  Werturteil  ist,  nnd  man  wurde  zweifelhaft, 
wie  weit  im  Grunde  überhaupt  von  allgemeingültigen  Regeln, 
von  objektivem  Werturteil,  objektiver  Erkenntnis  die  Rede  sein 
könne.  Die  Fragen  haben  durch  Kants  Genie  ihre  erste  Lösung 
erfahren.  Diese  psychologische  Analyse  und  experimentelle  Me- 
thode von  Home  bis  Fechner  gelangte  mit  ihren  Mitteln  zu 
keinem  objektiven  Maßstab  ihrer  Feststellungen,  sie  führte  zu 
wichtigen  Einsichten  in  die  Gründe  des  Geschmacks,  zeigte  auf, 
was  gefällt  und  was  mißfällt,  aber  wie  weit  diese  Einsichten  all- 
gemeingültig und  verbindlich  seien,  vermochte  sie  niemals  aus- 
zumachen. 

Nach  Dilthey  verlangte  sie  direkt  die  Ergänzung  durch  die 
dritte  Methode,  die  sich  in  einer  dritten  Epoche  der  Ästhetik  tat- 
sächlich einstellte,  nämlich  durch  die  historische  Methode,  die 
im  19.  Jahrhundert  ausgebildet  wurde.  Durch  Kant  wurde  das 
Genie  für  die  Nachfolger  in  den  Mittelpunkt  der  ästhetischen  Be- 
trachtung gerückt.  Denn  da  es  einen  objektiven  Wertmaßstab, 
eine  tatsächliche  Allgemeingültigkeit  auf  ästhetischem  Gebiet  nach 
Kant  nicht  gibt,  da  nach  Kant  das  Genie  der  Kunst  die  Regel  vor- 
schreibt und  schafft,  so  wandten  sich  nun  aller  Augen  der  Betrachtung 
dieses  schaffenden  Geistes,  der  Zergliederung  des  schöpferischen  ästh- 
etischen Vermögens  zu,  und  es  folgen  die  zahllosen  Erörterungen  in 
der  deutschen  Ästhetik  des  vorigen  Jahrhunderts  über  das  Genie  und 
sein  Schaffen,  über  das  Verhältnis  des  schaffenden  Geistes  zur 
Natur,  über  das  Bewußte  und  Unbewußte  im  Schaffen  des  Geistes 


Die  Aufgaben  der  Ästhetik.  405 

usw.,  all  diese  Erörterungen,  die  bei  Sehe  Hing  und  Hegel, 
Solger  und  Vischer,  Schopenhauer  und  Hartmann  doch 
schließlich  nirgends  über  prinzipielle  Untersuchungen  hinaus  zu 
wirklich  fruchtbaren  und  geprüften  Einzelerkenntnissen  führten. 

Es  wird  mit  Recht  von  Dilthey  betont,  wie  sehr  fördernd 
neben  diesen  spekulativen  Gedankengängen  eine  so  ins  einzelne 
und  Tatsächliche  hineingehende,  seinerzeit  nicht  entsprechend  ge- 
würdigte Arbeit  wie  Sempers  Werk  über  den  Stil  war,  und  wie 
überhaupt  in  Deutschland  schon  seit  Schiller  und  Goethe, 
Hebbel  und  Ludwig  bedeutende  ästhetische  [Anregungen  von 
den  theoretischen  Überlegungen  großer  Künstler  über  ihr  Schaffen 
msgingen. 

An  diesem  Punkt  steht  nun  Dilthey.  An  diesem  Punkt  die 
rbeit  aufzunehmen  schien  ihm  vor  allen  anderen  Dingen  erforder- 
ten. Und  so  ging  denn  von  ihm  eine  starke  Fülle  von  Anre- 
gungen in  der  Richtung  der  Analyse  des  künstlerischen  Schaffens 
aus.  Unter  den  Jüngeren  hatte  Meumann  ähnliche  Tendenzen. 
Aber  Dilthey  pflegte  diese  Analyse  des  künstlerischen  Schaffens 
noch  aus  einem  anderen  Gedanken  heraus.  Während  ihm  die  ex- 
perimentelle Ästhetik  ungeeignet  und  unfähig  schien,  mehr  als 
eine  Sammlung  verschiedenartigster  Wirkungsweisen  aufzufinden, 
glaubt  er  mit  der  historisch  und  individuell  vorgehenden  Analyse 
einzelner  Künstlerpersönlichkeiten  und  -leistungen  zum  Verständnis 
der  Einheit  des  Kunstwerks  zu  gelangen,  die  die  Ästhetik  sucht 
und  fordert.  Er  sieht  diese  Einheit  nicht  in  objektiven  G-esetzen, 
sondern  in  der  Individualität  des  Stiles,  der  künstlerischen  Persön- 
lichkeit, die  sie  schafft.  Es  ist  der  Fortschritt,  den  Meumann 
über  Dilthey  hinaus  macht,  daß  er  die  Objektivität  der  Kunstge- 
setze jenseits  dieser  subjektiven  Bedingungen  vermutet  und  über 
Dilthey  hinaus  eine  Ergänzung  der  psychologischen  Ästhetik  durch 
eine  normative  Ästhetik  fordert,  deren  Gesetze  er  im  wesentlichen 
wie  auch  Lipps  und  Volk  elt  aus  dem  ästetischen  Erleben  heraus  « 
folgern  zu  können  glaubt.  Die  Normen  sind  als  Umkehrungen 
psychologischer  Erlebnisanalysen  gedacht.  Die  Mannigfaltigkeit 
der  Inangriffnahme  ästhetischer  Probleme  war  erstaunlich.  Es 
tritt  eine  Fülle  kunstpsychologischer  Arbeitsansätze  zutage,  in 
denen  die  verschiedensten  Momente  am  Kunstschaffen  und  Kunst- 
genießen aufgesucht  wurden.  Nur  flüchtig  seien  hier  Groos  und 
Külpe,  Lipps  und  W i t a s e k  genannt.  Gleichzeitig  suchte  Jonas 
Cohn  von  Wertgesichtspunkten  aus  der  Struktur  des  Kunstwerks 


406  Charlotte  Buhle r, 

habhaft  zu  werden  nnd  brachte  Max  Dessoir  uns  die  grund- 
legende systematische  Trennung  von  Ästhetik  und  allgemeiner  Kunst- 
wissenschaft mit  einer  Fülle  feinsinniger  Analysen. 

Dieser  Reichtum  ästhetischer  Untersuchungen  einerseits  und 
die  überaus  schnelle  Wandlung  der  fortschreitenden  Kunst  mit  der 
aller  wissenschaftlichen  Ästhetik  abholden  Künstlerschaft  anderer- 
seits hat  uns  heute  vor  eine  Mannigfaltigkeit  von  Methoden  und 
Ansichten  gestellt,  die  vielen  unentwirrbar  und  anderen  nur  nach 
Art  des  gordischen  Knotens  durch  Gewalttat  zu  lösen  scheint. 
Diese  Leute  verlangen  zurück  von  aller  irreführenden  Psychologie 
zur  spekulativen  Ästhetik  des  19.  Jahrhunderts.  Ihnen  stehen 
unheilbare  Psychologisten  verständnislos  gegenüber.  Die  theo- 
retisierenden  Künstler  gehen  ihre  eigenen  Wege,  das  Publikum 
verhält  sich  indifferent.  In  dieser  Situation  sich  einen  Weg  zu 
bahnen,  ist  gewiß  unendlich  mühevoll,  doch  muß  es  gelingen,  wenn 
man  unbeirrt  durch  Psychologismus  und  Spekulation  oder  durch 
einseitige  Kunstliebhabereien  die  Gesetze  ausschließlich  aus  der 
Natur  des  Gegenstandes  zu  entnehmen  sucht. 

Zunächst  gilt  es,  sich  über  die  Aufgaben,  die  man  seiner 
Wissenschaft  stellt,  völlig  klar  zu  werden.  Sodann  muß  man  sich 
fragen,  wieweit  man  verbindlich  und  allgemeingültig  diese  Auf- 
gaben zu  lösen  imstande  ist.  Und  schließlich  gilt  es,  die  geeig- 
neten Mittel  und  Wege  zum  Ziel  sich  aufzusuchen. 

Schon  was  die  allgemeinen  Aufgaben  der  Ästhetik  anbelangt, 
herrscht  noch  in  unseren  Tagen  keine  ungetrübte  Klarheit.  Zwar 
daß  die  Ästhetik  es  irgendwie  mit  der  Kunst  und  mit  dem  Schönen 
zu  tun  habe,  hat  sich  von  selbst  ergeben,  aber  daß  beide  Gegen- 
stände nicht  identisch  sind,  hat  sich  erst  im  Laufe  der  Zeit  immer 
mehr  herausgestellt.  So  haben  Fiedler  und  Dessoir,  Spitzer 
und  Utitz  auf  eine  getrennte  Behandlung  der  rein  ästhetischen  und 
der  kunstwissenschaftlichen  Fragen  gedrungen,  und  man  muß  hoffen, 
daß  diese  der  Systematik  förderliche  Arbeitsteilung  sich  allmählich 
durchsetzt.  Hier  hat  die  reine  Ästhetik  die  Modifikationen  des 
Schönen  in  Natur  und  Kunst  zu  untersuchen,  während  die  einzelnen 
Künste  und  das  Problem  der  Kunst  von  der  allgemeinen  Kunst- 
wissenschaft durchforscht  werden.  Daß  beide  Teildisziplinen  aufs 
engste  verbunden  und  aufeinander  angewiesen  sind,  sollte  man  nicht 
betonen  müssen,  es  ist  klar.  Die  für  uns  wesentliche  Bedeutung  der 
Aufgabenteilung  wird  uns  indes  erst  in  späterem  Zusammenhang  ein- 
leuchtend aufgehen.     Einstweilen  mögen  die  von  Spitzer  bis  Utitz 


Die  Aufgaben  der  Ästhetik.  407 

vorgebrachten  wichtigen  Argumente,  daß  einerseits  das  Kunstwerk 
nicht  nur  und  nicht  immer  schön,  daß  andererseits  das  Schöne 
nicht  nur  in  der  Kunst,  sondern  auch  in  der  Natur  aufzufinden 
sei,  genügen. 

Fragen  wir  uns  nun  einmal  ganz  primitiv:  was  soll  denn  an 
der  Kunst  und  den  Künsten  erforscht  werden?  Es  sind  nicht 
wenige,  die  sagen :  Kunst  muß  erlebt  und  gefühlt  werden,  und  alle 
theoretische  Diskussion  darüber  ist  Unfug.  Gerade  sie  übersehen 
aber  völlig,  daß  die  Kunsttheorie,  weit  entfernt  davon,  bloße  ver- 
ständnislose Willkür  zu  sein,  in  erster  Linie  stets  ein  inneres  Be- 
dürfnis der  Schaffenden,  der  großen  Künstler  selber  war.  Es  ist 
ganz  irrig  zu  behaupten,  daß  große  Kunst  sieb  stets  unmittelbar 
und  kampflos  durchsetzt.  Ausführliche  Überlegungen  über  Ziele 
und  Technik  haben  gerade  das  Schaffen  aller  großen  Künstler  vor- 
bereitet und  geleitet  und  haben  ihren  Werken  Verständnis  und 
richtige  Aufnahme  beim  Publikum  gesichert.  Die  gleiche  An- 
sicht faßt  Dilthey  in  folgenden  Sätzen  zusammen1):  „Die  ästhe- 
tische Erörterung  steigert  die  Stellung  der  Kunst  in  der  Gesell- 
schaft, und  sie  belebt  den  arbeitenden  Künstler.  In  einem 
solchen  lebendigen  Milieu  arbeiteten  die  Künstler  der  griechischen 
Zeit  und  der  Renaissance,  Corneille,  Racine  und  Moliere,  Schiller 
und  Goethe.  In  der  Zeit  ihrer  höchsten  künstlerischen  Anstren- 
gungen finden  wir  Schiller  und  Goethe  ganz  umgeben  von  einer 
solchen  sie  tragenden  ästhetischen  Lebendigkeit  der  Nation,  von 
Kritik,  ästhetischem  Urteil  und  lebhafter  Debatte.  Die  ganze  Ge- 
schichte der  Kunst  und  der  Dichtung  zeigt,  wie  das  nachdenkliche 
Erfassen  von  Funktionen  und  Gesetzen  der  Kunst  die  Bedeutung 
und  die  idealen  Ziele  derselben  im  Bewußtsein  erhält,  während  die 
niederen  Instinkte  der  menschlichen  Natur  sie  beständig  herab- 
ziehen möchten". . 

Und  die  Aufgabe  der  Poetik  —  wir  können  allgemeiner  sagen: 
der  Kunstwissenschaft  —  welche  sich  aus  ihrer  lebendigen  Bziehung 
zur  Kunstübung  ergibt,  formuliert  Dilthey  in  folgenden  Fragen: 
„kann  sie  allgemeingültige  Gesetze  gewinnen,  welche  als  Regeln 
des  Schaffens  und  als  Normen  der  Kritik  brauchbar  sind?  Und 
wie  verhält  sich  die  Technik  einer  gegebenen  Zeit  und  Nation  zu 
diesen   allgemeinen  Regeln?     Wie   überwinden   wir    doch    die   auf 


1)  „Die  Einbildungskraft  des  Dichters".     Philos.   Aufsätze   Ed.  Zeller  zum 
50  jährigen  Doktorjubüäum  gewidmet.    Lpz.  1887. 


40g  Charlotte   Bit  hl  er, 

allen  Geisteswissenschaften  lastende  Schwierigkeit,  allgemeingültige 
Sätze  abzuleiten  aus  den  inneren  Erfahrungen,  die  so  persönlich 
beschränkt,  so  unbestimmt,  so  zusammengesetzt  und  doch  unzer- 
legbar sind?  Die*alte  Aufgabe  der  Poetik  tritt  hier  wieder  auf, 
und  es  fragt  sich,  ob  sie  nun  durch  die  Hilfsmittel,  welche  uns 
die  Erweiterung  des  wissenschaftlichen  Gesichtskreises  zur  Verfü- 
gung stellt,  gelöst  werden  könne.  Und  zwar  gestatten  die  em- 
pirischen und  technischen  Gesichtspunkte  der  Gegenwart,  daß  wir 
von  der  Poetik  und  den  nebengeordneten  ästhetischen  Einzelwissen- 
schaften zu  einer  allgemeinen  Ästhetik  aufsteigen. 

Auch  unter  einem  zweiten  Gesichtspunkt  ist  eine  Poetik  ein 
unabweisbares  Bedürfnis  der  Gegenwart  geworden.  Die  unüber- 
sehbare Masse  dichterischer  Werke  aller  Völker  muß  für  die 
Zwecke  des  lebendigen  Genusses,  der  historischen  Kausalerkenntnis 
und  der  pädagogischen  Praxis  geordnet,  dem  Werte  nach  taxiert 
und  für  das  Studium  des  Menschen  sowie  der  Geschichte  ausge- 
nutzt werden.  Diese  Aufgabe  kann  nur  gelöst  werden,  wenn  neben 
die  Geschichte  der  schönen  Literatur  eine  generelle  Wissenschaft 
der  Elemente  und  Gesetze  tritt,  auf  deren  Grundlage  sich  Dich- 
tungen aufbauen". 

„Eine  generelle  Wissenschaft  der  Elemente  und  Gesetze,  auf 
deren  Grundlage  sich  Dichtungen,  sich  Kunstwerke  aufbauen", 
diese  klare  Formel  enthält  die  Aufgabe  der  Kunstpsychologie 
die  seit  dem  18.  Jahrhundert  den  Ausgangspunkt  aller  ästhetischen 
Tatsachenforschung  gebildet  hat  — -  wie  aber  gewinnen  wir  „Nor- 
men der  Kritik",  Wertmaßstäbe? 

Das  ist  die  brennende  Frage  der  allgemeinen  Kunstwissenschaft, 
die  zweite  Frage  in  unserm  Programm,  das  Hauptbedürfnis,  das 
uns  vom  Kunsterleben  aufscheucht  und  forttreibt  zur  Kunstwissen- 
schaft. Gibt  es  objektive  Wertmaßstäbe  für  die  Kunstbetrachtung? 
Hier  gilt  es  nun  sorgfältiger  als  bisher  geschehen  den  Tatbestand 
zu  untersuchen. 

Wer  mit  Hume  einen  Standard  of  taste,  Gesetze  des  Ge- 
schmacks, Kriterien  der  Beurteilung  von  Kunstwerken  suchte,  hatte 
stets  mit  der  Gegnerschaft  der  vielen  Leute  zu  rechnen,  die  im 
Geschmack  eine  persönliche  Angelegenheit  des  einzelnen  erblickten. 
De  gustibus  non  est  disputandum,  über  den  Geschmack  läßt  sich 
nicht  streiten,  sagt  schon  das  Sprichwort.  Trotzdem  ist  die  Rede 
vom  .  guten  Geschmack  und  vom  schlechten  Geschmack  geläufig. 
Und  jeder  Kunstkritiker  erhebt  den  Anspruch,   in  der  wertenden 


Die  Aufgaben  der  Ästhetik.  409 

Beurteilung  eines  Kunstwerks  kompetent  zu  sein.  Mit  welchem 
Rechtsgrund,  mit  welchen  Kriterien?  Historische  Kenntnisse,  ein 
gesander  Geschmack  oder  Instinkt,  wie  man  auch-  wohl  sagt, 
Übung  im  Vergleichen  und  schnellen  "Überschauen  sind  meistens 
die  einzigen  Ausweise  des  jeweiligen  Beurteilers.  Zwar  werden 
auch  Gründe  angeführt.  Aber  diese  Gründe  lassen  sich  niemals 
auf  Regeln  bringen,  sondern  stützen  sich  gewöhnlich  auf  gewisse 
Geschmackstendenzen  der  Zeit.  Es  wäre  interessant,  die  Bühnen- 
kritik im  Hinblick  auf  die  Kriterien,  die  sie  verwendet,  einmal 
durchzuarbeiten.  Man  wird  gewöhnlich  auf  Zeitströmungen  in  An- 
erkennung und  Verwerfung  stoßen.  So  läßt  sich,  um  nur  ein 
Beispiel  zu  nennen,  im  Augenblick  gerade  ein  scharfes  Auge  auf 
den  Intellektualismus  feststellen.  Gelegentlich  ist  unklarste  Mystik 
erwünschter  als  durchsichtige  Zusammenhänge.  Das  sind  so  Zeit- 
strömungen. Trotzdem  wird  der  Unvoreingenommene  nicht  leugnen 
können  zu  bemerken,  das  gewisse  Ideale  zu  allen  Zeiten  festge- 
halten wurden  und  offenbar  mehr  darstellen  als  den  flüchtigen  Ge- 
schmack einer  Epoche,  oder  weniger  Individuen.  Schon  in  der 
Verifizierung  von  Urteilen  liegt  etwas  Objektives.  Unvermerkt 
treten  still  und  sicher  allmählich  die  großen  Erscheinungen  aus 
der  Masse  der  modischen  Ware  heraus,  jene  großen  Kunst-Erschei- 
nungen, die  irgendwie  mit  dem  Ganzen  unseres  Lebens  zusammen- 
hängen, die  über  den  Augenblick  hinaus  Symbolwert  behalten  und 
allgemein  menschlich  bedeutsam  bleiben.  Auf  die  Dauer  verleiht 
selten  das  Machtwort  der  Kritik,  noch  die  Bevorzugung  der  Massen, 
noch  der  Zufall  des  günstigen  Augenblicks,  sondern  der  eigene 
Ewigkeitswert  den  Ruhm  und  die  Geltung,  und  so  müssen  also  doch 
wohl  objektive  Merkmale  einer  irgendwie  begründeten  wahren  Be- 
deutung und  Wer  thaftigkeit  aufzufinden  sein.  Irgendwelche  Eigen- 
schaften des  Kunstwerks  müssen  es  doch  sein,  die  ihm  über  den 
momentanen  Streit  der  Meinungen  hinaus  Geltung  oder  Vergessen 
eintragen.  Nur  wenig  davon  wird  im  Erleben  des  Beurteilers 
aktuell  und  wenig  im  historischen  Erforschen  aller  Zusammenhänge 
ersichtlich.  Gewiß,  der  Reichtum  und  die  Tiefe  des  Eindrucks 
ganz  großer  Werke  ist  unmittelbar,  und  doch  täuscht  ein  er- 
schütterndes Zeitproblem,  eine  blendende  Sinnenerscheinung  tat- 
sächlich doch  oft  über  die  Nachhaltigkeit  und  Tiefe  des  Eindrucks- 
vollen. Kurzum,  selbst  kultivierter  Geschmack  und  echtes  Stil- 
gefühl, Erlebnisfrische  und  Erlebnistiefe  —  Fähigkeiten,  die  selten 
vereint  auftreten  —  garantieren  noch  nicht  ein  Werturteil,  das  vor 


410  rharlotte  Btilfler, 

der  Zeit  besteht.  Der  „Gemeinsinn",  den  Kant  voraussetzt,  um 
ein  vorbildliches  Urteil  fällen  zu  können,  existiert  in  dieser 
Form  nicht. 

Dagegen  muß  ein  anderer  Weg  uns  dem  Ziele  näher  bringen. 
Wenn  ich  mich  nicht  täusche,  ist  dieser  Gedankengang  bereits  in 
Kant  angelegt.  Nach  Kant  gibt  es  zwar  keine  objektiven,  d.  h. 
bei  ihm  keine  in  der  Natur  des  Gegenstandes  begründeten,  Bedin- 
gungen des  Geschmacks,  aber  doch  auch  herrscht  keine  Regellosig- 
keit und  absolute  Willkür  im  Sinne  individuellen  Beliebens.  Viel- 
mehr nimmt  er  ganz  richtig  subjektive  Bedingungen  des  Geschmacks- 
urteils an,  das  heißt  bei  ihm:  Bedingungen  die  in  der  Natur  des 
menschlichen  Subjekts,  also  unseres  Seelenlebens  überhaupt  begrün- 
det sind.  Man  muß  sich  hüten,  Kants  Begriff  der  Subjektivität  mit 
individueller  Willkür  und  Zufälligkeit  gleichzusetzen,  wie  man  heute 
vielfach  den  Begriff  subjektiv  gebraucht.  Subjektiv  ist  bei  Kant  das 
vom  menschlichen  Subjekt  bedingte  und  zwar  regelhaft  durch  seine 
Struktur  Bedingte.  Also  fern  von  aller  Willkür  des  einzelnen 
gibt  es  eine  Regelhaftigkeit  der  Bewertung  auf  Grund  der  allge- 
mein menschlichen  Struktur  der  Psyche,  einen  subjektiven  Rechts- 
grund nach  Kant;  Kant  wird  nicht  müde  zu  betonen,  daß  diesem 
Geschmacksurteil  kein  Privatgefühl,  sondern  ein  Gemeinsinn,  eine 
jedermann  notwendige  Idee  zugrunde  liege,  daß  es  nicht  prinzipien- 
los, sondern  mit  Notwendigkeit  gefällt  werde  —  er  will  es  also 
mit  Recht  der  individuellen  Willkür  entreißen  und  ihm  einen  ersten 
Grad  von  Notwenigkeit  geben,  den  wir  nach  heutiger  Sprechweise 
bereits  objektiv  nennen.  —  Nun  sieht  Kant  aber  gleich,  daß  die 
Gesetzmäßigkeit  des  Geschmacks  auch  eine  Gesetzmäßigkeit  des 
Schaffens  voraussetzen  würde,  während  er  doch  zunächst  die  Ein- 
bildungskraft für  absolut  frei  hält.  Aus  diesem  Widerspruch  findet 
er  keine  uns  befriedigende  Lösung.  Wenn  wir  hier  aber  ansetzen 
und  der  neuen  Forschung  nachgehen,  so  finden  wir,  daß  faktisch 
jene  von  Kant  angenommene  absolute  Freiheit  der  Einbildungs- 
kraft gar  nicht  besteht,  daß  vielmehr  auch  das  produktive 
Schaffen  nach  ganz  bestimmten  Gesetzen  abläuft ,  die  wir  be- 
reits überschauen *).  Mit  der  Gesetzmäßigkeit  auch  des  Schaffens 
ist  die  Antinomie,  der  Widerspruch  gelöst,  wir  finden  nun  für  das 


1)  Vgl.  0.  Selz,  Die  Gesetze  der  produktiven  Tätigkeit.  Arch.  f.  d.  ges.  Ps. 
Bd.  27.  1913,  0.  Kroh,  Eidetiker  unter  deutschen  Dichtern.  Zeitschr.  f.  Psych. 
85.  1920.     Eigene  Arbeiten  d.  Verf.  werden  noch  veröffentlicht. 


Die  Aufgaben  der  Ästhetik.  411 

Geschmacksurteil  auch  jene  höhere  Objektivität  in  Kants  Sinne 
garantiert,  d.  h.  die  Struktur,  der  Aufbau  des  Kunstwerks  selbst 
ist  gesetzmäßig  und  bedingt  gesetzmäßige  Wirkungen.  Indessen 
ist  der  Aufbau  des  Kunstwerks  so  kompliziert,  die  Wirkung  durch 
so  zahlreiche  Komponenten  beeinträchtigt,  daß  dem  einfachen  Er- 
leben und  der  unpsychologischen  primitiven  Analyse  die  Gesetz- 
mäßigkeiten nicht  sogleich  sichtbar  werden.  Mich  dünkt,  daß  es 
zur  Zeit  der  Alchemie  mit  den  Naturwissenschaften  nicht  anders 
stand.  Zur  Erforschung  von  Gesetzen  im  Kunstwerk  ist  mehr  er- 
forderlich als  die  lebhafte  Freude  und  Genußfähigkeit  und  das  Be- 
dürfnis nach  Kunst.  Es  ist  vom  Altertum  an  immer  wieder  ver- 
sucht worden,  die  Bedingungen  und  Gesetze  höchster  Kunst  auf 
Formeln  und  Regeln  zu  bringen,  und  noch  bei  Kant  und  nach 
Kant  besteht  das  Bedürfnis,  in  irgend  einem  Prinzip  der  Grund- 
bedingung habhaft  zu  werden.  Hierzu  muß  erstens  gesagt  werden, 
daß  eine  derartige  Reduktion  auf  ein  einziges  Grundprinzip  gerade 
das,  worauf  es  ankommt,  die  Vielgestaltigkeit  der  Bedingungen, 
unzulänglich  vereinfacht,  und  zweitens  sowohl  dieses  Bestreben 
wie  auch  das  Material,  das  man  benutzte,  die  Ursache  extremer 
Einseitigkeiten  wurde.  Man  war  entweder  einseitig  an  klassischer 
Kunst  orientiert  und  entnahm  ihr  Regeln,  die  der  Entwicklung 
nicht  standhielten.  Oder  wo  man  wie  seit  Hegel  etwa  mehrere 
Kunstepochen  zu  gründe  legte,  verfuhr  man  schematiseh  und  nahm 
die  komplizierten  fertigen  Kunstgebilde,  die  als  individuelle  Ganze 
zunächst  natürlich  mehr  Unterschiede  als  Ähnlichkeiten  präsentierten. 
Die  innere  Gleichheit  der  Struktur  großer  Werke  erschließt  sich 
erst  der  genauen  Analyse.  Um  schnell  verständlich  zu  machen, 
was  gemeint  ist,  weise  ich  auf  Wölfflins  „Kunstgeschichtliche 
Grundbegriffe"  hin,  die  einen  Vorstoß  in  der  gemeinten  Richtung 
bedeuten.  Bei  Wölfflin  sind  einige  Prinzipien  herausanalysiert, 
die  von  theoretisch  ungleichwertigen,  aber  höchst  wichtigen  Ge- 
sichtspunkten das  Problem  der  Kunstgestalt  anpacken.  Nur  an- 
deutungsweise sei  mir  vergönnt,  durch  eine  kurze  Analyse  zu 
exemplifizieren,  wie  das  Gesetzmäßige  und  Gleiche  an  den  ver- 
schiedensten Kunstwerken  aufzufinden  sei  und  naturgemäß  die  ge- 
setzmäßig gleiche  Wirkung  bedingt. 

Ich  wähle  ein  krasses  und  einfaches  Beispiel.  Seit  Lessings 
„Hamburgischer  Dramaturgie"  sind  wir  gewöhnt,  in  der  franzö- 
sischen und  englischen  Bühne  nur  schärfste  Gegensätze  zu  erblicken. 
Und  in  der  Tat  was  könnte  dem  unmittelbaren  Gefühl  und  allem 


412  Charlotte  Bühler, 

Wissen  historischer  Verläufe  zunächst  wohl  sinnloser  erscheinen 
als  die  Zusammenstellung  von  Shakespeare  und  der  franzö- 
sischen Klassik !  Was  haben  zwei  Gestalten,  —  sagen  wir  einmal 
Moliere's  Geizhals  und  Shakespeare'«  Shylock  im  „Kaufmann 
von  Venedig"  überhaupt  noch  gemeinsam,  außer  daß  sie  zwei  Hals- 
abschneider grausamster  Sorte  sind?  Nichts,  so  scheint  es.  Trotz- 
dem wollen  wir  sie  einmal  zusammenhalten.  Erwägen  wir  alle 
Verschiedenheiten.  Moliere's  avare,  das  Sammelbecken  sämtlicher 
Attribute,  die  dem  Typus  des  Geizhalzes  in  seiner  langen  drama- 
tischen Laufbahn  je  glücklichen  Griffs  verliehen  wurden,  ein  Kon- 
zentration sfeld  unangenehmster  und  lächerlicher  Beigaben,  die  jenes 
Laster  begleiten,  ein  Geizhals  so  raffinierter  Konstruktion,  daß 
sicher  kein  möglicher  Zug  dem  Typus  hinzuzusetzen  bliebe.  Die- 
sem vollendetsten  Egoisten,  dem  auch  die  Liebe  nur  Besitzer- 
greifung mit  sparsamsten  Mitteln  ist,  steht  in  Shylock  ein  Typ  ge- 
genüber, der  zwar  nicht  minder  extrem,  nicht  minder  gewalttätig 
und  doch  von  ganz  anderem  Holze  geschnitzt  ist.  Moliere  malt 
den  Geizhals  schlechthin  und  mit  allen  Mitteln  und  Ausweisen, 
eine  internationale  Seelenstruktur,  —  Shylock  dagegen  ist  der 
geizige  Jude,  dessen  individuelles,  zum  Typischen  nur  gesteigertes 
Bild  in  einer  einzigen  Vision  geschaut  scheint.  Erschreckender, 
drohender  wirkt  diese  totaler  geschaute  Gestalt  des  Shylock. 

Und  die  Handlung.  Bei  Moliere  haben  wir  eine  ganze  An- 
zahl paralleler  Verläufe,  die  sich  ebenso  wie  alle  charakterisierenden 
Taten  des  Helden  um  den  Mittelpunkt  herumgruppieren:  die  hoff- 
nungslose Liebe  von  Harpagon's  Tochter  zum  besitzlosen  Jüngling, 
die  hoffnungslose  Liebe  von  Harpagon's  Sohn  zum  armen  Mädchen. 
Der  Liebhaber  der  Tochter  tritt  zum  Geizhals  in  Beziehung,  indem  er 
ihn  schmeichelnd  zu  gewinnen  trachtet ;  die  Erwählte  des  Sohnes  wird 
vom  Geizhals  selbst  geliebt  und  begehrt.  Zum  Mittelpunkt  hin  und 
vom  Mittelpunkt  her  bewegen  sich  diese  wie  alle  anderen  Gestalten 
und  Vorgänge.  Angefangen  von  der  das  Tun  des  Alten  kontra- 
stierenden Generosität  des  Sohnes  gipfelt  schließlich  alles  Tun  der 
andern  in  Kontrast  und  Abwehr  zur  Mittelfigur,  die  trotz  des 
harmlosen  Endes  als  jämmerlicher,  gemeiner  und  geprellter  Schuft 
entblößt  steht.  Ganz  im  Gegensatz  zu  dieser  konzentrischen  Be- 
wegung der  streng  geschlossenen  Form  des  Franzosen  herrscht 
nun  im  „Kaufmann  von  Venedig"  die  bei  Shakespeare  bekannte 
Freiheit  des  Baus.  Der  Episoden  scheint  gar  kein  Ende.  Von  der 
Geldanleihe    beim   Juden    bis    zn   den  Kästchenwahlen   bei   Porzia 


Die  Aufgaben  der  Ästhetik.  413 

scheint  sich  die  Handlung  immer  weiter  von  ihrem  Mittelpunkt  zu 
entfernen.  In  der  Bewerbung  der  unglücklichen  Freier  um  Porzia 
wie  in  der  Verlobung  des  Kammerkätzchens  mit  Graziano  scheint 
schon  jeder  Zusammenhang  mit  dem  eigentlichen  Zentrum  gelöst. 
—  Bis  räumlich  und  geistig  die  Reise  wieder  zurückgeht  und  mit 
dem  verkleideten  Auftreten  der  Frauen  als  Advokaten  in  Shylocks 
Rechtssache  der  Ring  geschlossen  wird,  das  Ende  zum  Anfang  zu- 
rückkehrt. Wie  Shylock  selbst  von  größerem,  wenn  man  will, 
auch  primitiverem  "Wurf  ist  als  der  umfassend  durchdachte  avare 
des  Franzosen,  so  ist  auch  das  kontrastierende  Gegenspiel  der 
generösen  Wagelust  über  das  Beispiel  der  eigenen  Tochter  des 
Juden  hinaus  zu  einem  großen  gesammelten  Gegensatz  vereinigt 
worden,  der  in  Modifikationen  beim  Kaufherrn,  bei  den  Brautwerbern, 
bei  der  Braut  selbst  hervortritt. 

Und  doch  ist  das  Merkwürdige,  daß  die  ungeheure  Verschieden- 
heit des  Aufbaus  und  der  Gefühlswirkung  beider  Komödien  von 
unserm  vereinheitlichenden  zusammenfassenden  Denken  zu  einem 
gleichen  zentralisierenden  Querschnitt  gebracht  wird.  Aus  den 
weiten  Räumen  der  Shakespeareschen  Episodik  zurückgekehrt  wird 
in  der  Gerichtsszene  der  Querschnitt  gemacht,  der  uns  Überschau 
und  Zusammenschau  gibt  wie  nur  je  in  dem  Endbild  der  stets 
konzentrisch  ruhenden  Gruppe  bei  Moliere.  Die  Gerichtsszene 
zeigt  uns  Shylock  isoliert,  gedemütigt  und  entthront,  der  Gewalt 
beraubt,  die  er  wie  Harpagon  bislang  drohend  besaß,  und  dieser 
Querschnitt  zeigt  uns  zugleich  die  Verkettung  der  Zentralfigur 
mit  allen  anderen.  Diese  Zusammenfassbarkeit,  die  dem  gestalt- 
erfassenden Denken  in  irgend  einer  noch  unbekannten  Vereinigung 
mit  der  Anschauung  geboten  wird,  ist  das,  was  man  bislang  „Idee" 
genannt  hat,  was  aber  nur  von  Mißverstehenden  für  ein  abstraktes 
Gedankending  gehalten  wurde.  Es  ist  eine  der  Strukturforderungen 
beim  Kunstgenießen,  eine  vom  individuellen  Geschmack  ganz  un- 
abhängig auftretende  Funktion,  ein  Bedürfnis,  das,  oftmals  miß- 
verstanden und  zu  einem  äußerlichen  Prinzip  herabgesunken,  aber 
doch  zu  keinen  Zeiten  ernstlich  verleugnet  wurde. 

Nur  als  eine  Ergänzung  sei  angedeutet,  wie  wir  uns  mit 
diesem  Prinzip  der  Einheit  mit  Wölfflins  Bildanalyse  in  Einklang 
befinden.  Wölfflin  hat  unter  seinen  Grundbegriffen  auch  jenes 
eine  Paar,  das  hierher  gehört :  vielheitliche  Einheit  und  einheitliche 
Einheit.  Ein  Gegensatzbeispiel  ist  Dürer  und  Rembrandt. 
Während   auf  Dürerschen  Bildern  jeder   einzelne  Gegenstand   für 


11  1  Charlotte  Bühler. 

sich  zu  betrachten  klar  und  selbständig  hervortritt,  wird  bei  Rem- 
brandt  das  einzelne  nur  als  Teil  dem  Ganzen  eingebaut  und  ent- 
behrt durchaus  jeder  Eigenbedeutung.  Ein  Lichtfleck  vereinigt 
und  zentralisiert.  Das  Entscheidende  für  uns  ist  aber,  daß  auch 
die  Vielheit  bei  Dürer  trotz  Selbständigkeit  aller  Teile  auf  ein 
Zentrum  bezogen,  zu  einer  Einheit  zusammentritt. 

Diese  Einheit  ist  eine  der  notwendigen  Gestaltbestandteile  des 
Kunstwerks.  Denn  das  Kunstwerk  ist  Gestalt  im  psychologisch 
exakten  Sinn.  Die  psychologischen  Grundbedingungen  der  Gestalt 
überhaupt  lassen  sich  auch  als  seine  Existenzbedingungen  nach- 
weisen, zu  ihnen  kommen  spezifische  Bedingungen  der  Kunstgestalt 
hinzu.  'Beide  Gruppen  ergeben  kontrollierbare  Bedingungen  von 
Kunstsein  und  Kunstwert,  aus  denen  nur  ein  Beispiel  heraus- 
gegriffen wurde. 

Dies  ist  nun  das  Bild,  das  wir  von  der  Kunstwissenschaft, 
wie  sie  zu  fordern  ist,  gewonnen  haben:  eine  Kunstpsychologie 
muß  ihre  Grundlage  bilden,  und  auf  dem  Fundament  wird  sich  das 
System  der  Kunst  werte  erheben.  Frühere  Ästhetik  hielt  es  ihrer 
Dignität  für  angemessen,  aus  ihrer  Kenntnis  des  Schönen  Vor- 
schriften für  den  schaffenden  Künstler  zu  folgern.  Künftige  Tat- 
sachenkenntnis wird  sich  begnügen,  statt  mit  Normen  die  Zukunft 
einzuengen,  das  Geschaffene  mit  objektiven  Maßstäben  zu  über- 
schauen und  in  umfassenden  Wertsystemen  seiner  Mannigfaltigkeit, 
des  Reichtums  der  uns  geschenkten  Kunstwerte,  gerecht  zu  werden. 
Haben  wir  so  die  Aufgaben  der  Kunstwissenschaft  umschrieben, 
so  bleibt  uns  als  letztes  die  genaue  Bestimmung  der  reinen 
Ästhetik. 

Die  Untersuchungen  über  das  Schöne,  das  Erhabene,  das  Ko- 
mische, Tragische  und  die  übrigen  ästhetischen  Kategorien  sind 
von  jeher  gesondert  von  den  einzelnen  kunstwissenschaftlichen 
Fragen  aufgetreten  und  waren  in  bisheriger  Ermangelung  einer 
Wertlehre  der  Kunst  einstweilen  der  eigentliche  philosophische 
Kern  der  ästhetischen  Erörterungen.  Ganz  mit  Unrecht.  Genau 
wie  die  einzelnen  Kunstwerte  sind  die  Modalitäten  dem  Kunster- 
leben entnommen,  das  Schöne,  das  Erhabene,  das  Unschöne  und 
Häßliche  finden  wir  stückweise  auf  im  Erlebnis  von  Kunst  und 
Natur,  und  keine  metaphysische  Konstruktion  konnte  es  uns  vor 
dem  Erleben  geben.  Als  Schiller  etwa  die  Kategorien  des  Na- 
iven und  Sentimentalischen  aufstellte,  entnahm  er  sie  zunächst  dem 
unmittelbaren  Erleben.    Je  genauer  dieses  studiert  und  beschrieben 


Die  Aufgaben  der  Ästhetik.  415 

werden  kann,  desto  klarer  treten  immer  differenziertere  Kategorien 
hervor,  die  im  ästhetischen  Erleben  gegeben  sind:  das  Rührende 
und  Sentimentale,  das  Spannende  und  Aufregende  und  die  sämt- 
lichen Modifikationen  des  Schönen,  als  da  sind:  das  Hübsche,  An- 
mutige, Liebliche  usw. 

Aber  auch  hier  in  der  reinen  Ästhetik  sind  die  philosophischen 
Aufgaben  mit  der  psychologischen  Analyse  nur  fundiert,  nicht 
erschöpft.  Auch  hier  liefert  die  Beschreibung  nur  das  Material. 
Auf  der  Grundlage  der  beschreibenden  Tatsachenforschung  erhebt 
sich  die  ästhetische  Typenlehre.  Indem  das  Gemeinsame  und 
Grundlegende  im  Erlebnis  des  Schönen,  Komischen  oder  was  es 
sei,  aufgesucht  wird,  gelangt  man  zu  ästhetischen  Typen.  Hier 
handelt  es  sich  nicht  um  Werte  und  Wertdifferenzen  wie  in  der 
Kunst,  sondern  um  die  ästhetischen  Erlebnismöglichkeiten  und  um 
ihre  systematische  Zusammenstellung,  um  die  typische  Struktur  der 
ästhetischen  Erlebnisweisen. 

Ich  fasse  zusammen.  Die  gesamte  Ästhetik  zerfällt  uns  in 
zwei  Untersuchungsgebiete,  in  die  Untersuchung  der  Kunst  einer- 
seits  und  der  ästhetischen  Erlebnis  weisen  in  Kunst  und  Natur 
andererseits.  Wir  nennen  mit  den  Vorgängern  diese  Teile:  all- 
gemeine Kunstwissenschaft  und  reine  Ästhetik.  Jedes 
der  beiden  Gebiete  umfaßt  nun  seinerseits  einen  doppelten  Kreis 
von  Aufgaben.  Eine  Kunstpsychologie  fundiert  die  allgemeine 
Kunstwissenschaft  und  befaßt  sich  mit  der  Analyse  des  Kunst- 
schaffens, des  Kunstgenießens  und  vor  allem  mit  dem  Aufbau  des 
Kunstwerks  selbst,  der  Kunstgestalt.  Auf  der  Kunstpsychologie 
erhebt  sich  das  System  der  Kunstwerte.  Die  allgemeine  Ästhetik 
ist  in  gleicher  Weise  fundiert  von  einer  Psychologie  der  ästheti- 
schen Grunderlebnisse  und  gipfelt  in  einem  System  der  ästhetischen 
Typen.  Also  Kunstpsychologie  und  Lehre  von  den  Kunstwerten, 
psychologische  Ästhetik  und  ästhetische  Typenlehre  wird  das  künf- 
tige System  der  gesamten  Ästhetik  zu  umfassen  haben.  Beginnen 
wir  da,  wo  die  Aufgaben  warten,  am  Fundament,  das  nicht  solide 
genug  werden  kann,  wenn  es  den  philosophischen  Aufbau  tragen  soll. 


Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte 

Ein  methodologischer  Versuch. 
Von  Dr.  Julius  Stenxel. 


Die  Überschrift  bedarf  einer  Erläuterung.  Es  ist  zu  sagen, 
in  welchem  Sinne  die  Geschichte  der  Philosophie  ein  Problem  ge- 
nannt wird.  Nicht  weil  sie  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes  in 
ihrem  faktischen  Betriebe  heute  „problematisch"  geworden  wäre. 
Grabe  es  selbst  Erscheinungen  im  heutigen  Betriebe  der  Philosophie- 
geschichte, die  zu  dieser  Auffassung  berechtigten,  so  könnten  sie 
doch  nur  die  Veranlassung  sein,  sich  auf  das  ganze  sachliche 
„Problem"  aller  Philosophiegeschichte  überhaupt  zu  besinnen.  Daß 
es  ein  solches  Problem  gibt  im  eigentlichen  Sinne  einer  vorgelegten 
zu  lösenden  Aufgabe,  auch  diese  Formulierung  läßt  noch  zwei 
Auffassungen  zu;  die  eine  von  vornherein  auszuschließen  ist  der 
Zweck  des  zweiten  Titels.  Nicht  im  entferntesten  handelt  es  sich 
um  die  Frage,  die  etwa  ein  antiker  Autor  so  fassen  würde:  Wie 
muß  man  Geschichte  schreiben?  Nicht  also  um  Methodik,  sondern 
um  Methodologie,  um  den  Logos  der  Methode  handelt  es  sich  in 
dem  kritischen  Sinne,  Erfahrung  aus  ihren  Bedingungen  zu  ver- 
stehen. Die  Erfahrung  ist  hier  die  reiche  philosophiegeschichtliche 
Arbeit  von  eigenartiger  Prägung,  die  unsere  Zeit  geleistet  hat. 
Ihre  oft  sich  scheinbar  widersprechenden  Tendenzen  aus  der  Sache 
heraus  zu  verstehen,  in  ihrer  Notwendigkeit  zu  begreifen,  ist 
unsere  Aufgabe.  Diese  Einstellung  enthält  in  sich  die  ideale  For- 
derung, möglichst  auf  Kritik  im  populären  Sinne,  auf  individuelle 
Werturteile  zu  verzichten;  im  Gegenteil  ergibt  sich  aus  dem  „Ver- 
stehen" ein  Lernen  wollen  und  -können  aus  allen  Richtungen,  wenn 
irgend  eine  sachliche  Bedeutung  auch  einseitiger  Bestrebungen  sich 
aus  dem  Wesen  der  Wissenschaft  —  hier  der  Philosophiegeschiche 
—  aufzeigen  läßt. 


Julius  Stenzel,  Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.       417 

Erster  Teil. 
I. 

Wie  sich  Philosophie  zur  Geschichte  der  Philosophie  verhalte, 
das  ist  die  Kernfrage  unserer  ganzen  Untersuchung,  eine  Frage, 
die  in  verschiedenen  Richtungen  gefaßt  werden  kann.  Fast  aus- 
nahmslos wird  sie  mit  dem  Blick  auf  die  Philosophie  in  dem  fol- 
genden Sinne  gestellt:  läßt  sich  Philosophie  als  Wissenschaft 
streng  von  Philosophiegeschichte  absondern  ?  Mit  anderen  Worten : 
gibt  es  Philosophie  als  Wissenschaft  völlig  losgelöst  oder  lösbar 
von  ihrer  Geschichte  —  ähnlich  wie  der  Mathematiker  grundsätz- 
lich ohne  Kenntnis  seiner  Greschichte  sein  wissenschaftliches  Werk 
betreiben  kann  ?  Man  sieht,  diese  Frage  ist  ebenso  sehr  eine  Frage 
nach  dem  Wesen  der  Philosophie  überhaupt  wie  nach  dem  Wesen 
der  Philosophiegeschichte,  und  sie  ist  demnach  nicht  ohne  weiteres 
zu  beantworten.  Exponiert  kann  sie  zunächst  durch  die  Aufstellung 
zweier  Grenzfälle  werden,  zwischen  denen  die  Wahrheit  notwendig 
liegen  muß.  Einmal  könnte  das  Verhältnis  der  Philosophie  zu  ihrer 
Geschichte  grundsätzlich  dasselbe  sein  wie  bei  den  Einzelwissen- 
schaften; der  Wissenschaftscharakter  der  Philosophie  wäre  kein 
anderer  als  der  der  Mathematik,  Physik  usw.;  die  historische 
Wissenschaft  von  der  Philosophie  stünde  demnach  in  einem  ebenso 
losen  Verhältnis  zu  dieser  selbst.  Zwar  erforderte  die  Philosophie- 
geschichte die  Kenntnis  der  sachlichen  Inhalte  des  philosophischen 
Systems,  wie  die  Geschichte  der  Mathematik  nur  bei  Kenntnis  der 
mathematischen  Probleme  geschrieben  werden  kann;  umgekehrt 
aber  könne  die  Philosophie  ihrer  Geschichte  völlig  entraten.  Die 
Methode  der  Philosophiegeschichte  wäre  in  keinem  anderen  Sinne 
Objekt  der  philosophischen  Methodenlehre  als  jede  andere  histo- 
rische Einzeldisziplin. 

Die  andere  Meinung  bestreitet  gerade  diesen  Wissenschafts- 
charakter der  Philosophie  nach  Art  und  Muster  der  Einzeldis- 
ziplinen; die  Philosophie  könne  auch  nie  zu  diesem  Grade  von 
Exaktheit  gelangen;  sie  bleibe  dauernd  ein  subjektives  Gebilde: 
Weltanschauung,  bestimmt  durch  die  Eigenart,  die  angeborene 
oder  von  der  Umgebung,  Bildung,  Vertrautheit  mit  der  oder  jener 
Einzelwissenschaft  abhängige  Individualität  des  Philosophen;  bei 
früheren  Philosophen  wäre  auch  der  Stand  der  Einzelwissenschaft 
von  bestimmendem  Einfluß.  Philosophie  könne  nichts  anderes 
tun,  als  die  vorhandenen  Philosopheme  beschreiben,  die  möglichen 
Typen  der  Weltanschauung  historisch  oder  psychologisch  registrieren. 

Kantstudion.  XXVI  27 


418  Julius  Stenzel, 

Bestenfalls  könne  man  gewissen  Einzeldisziplinen,  der  Logik,  der 
Psychologie  —  wenn  man  diese  letztere  nicht  überhaupt  den  Na- 
turwissenschaften hinzuzurechnen  habe  —  einen  gewissen  Bestand 
objektiver  Erkenntnis  zubilligen,  die  nach  Art  der  Einzelwissen- 
schaften einen  Fortschritt,  einen  sich  mehrenden  Bestand  an  Ein- 
sicht darstellen;  die  Philosophie  als  Ganzes  könne  auf  diesen 
Wissenschaftscharakter  keinen  Anspruch  machen;  Philosophie  sei 
eben  mit  ihrer  Geschichte  letzten  Endes  identisch. 

Zwischen  diesen  beiden  Extremen  müssen  sich  alle  Möglich- 
keiten der  Auffassung  unterbringen  lassen.  Auf  eine  Widerlegung 
des  Historismus  und  des  mit  ihm  zusammenhängenden,  hier  zu- 
nächst unwesentlichen  Psychologismus,  durch  den  Nachweis  des 
Wissenschaftscharakters  der  Philosophie  muß  im  Rahmen  dieser 
Untersuchung  verzichtet  werden1).  Etwas  könnte  allerdings  für 
diese  Auffassung  zu  sprechen  scheinen :  die  bunte  Mannigfaltigkeit 
der  Standpunkte  und  Richtungen  innerhalb  der  Philosophie,  die  in 
der  Geschichte  und  im  philosophischen  Leben  der  Gegenwart  sich 
widersprechen. 

Diese  Tatsache  ist  gewichtig  genug,  um  sich  auch  auf  den 
Standpunkt  des  anderen  Poles :  Philosophie  strenge  Wissenschaft 
vom  Charakter  der  Einzelwissenschaften,  nicht  unbedingt  zu  stellen. 
Nicht  nach  dem  Muster  etwa  der  Mathematik  darf  die  Philosophie 
sich  ihren  Wahrheitsbegriff  formen,  wenn  sie  nicht  unendlich  weit 
hinter  ihm  zurückbleiben  und  anstatt  der  erstrebten  Allgemein- 
gültigkeit sich  mit  der  Exklusivität  einer  Sekte,  die  den  Stand- 
punkt einer  Schule  für  den  allein  möglichen  gelten  läßt,  begnügen 
will;  ihren  besonderen  Wahrheits-  und  Wissenschaftsbegriff  muß 
die  Philosophie  so  fassen,  daß  von  ihm  aus  das  Phänomen  ihrer 
scheinbaren  Vielgestaltigkeit  eine  Erklärung  findet  —  nicht  aus 
der  Schwäche  der  menschlichen  Natur,  sondern  aus  der  eigenar- 
tigen Struktur  der  philosophischen  Aufgabe.  Von  dieser  darf  von 
vornherein  der  bestimmende  Zusammenhang  vorausgenommen  und 
vorausgesetzt  werden,  daß  im  Gegensatz  zu  den  besonderen  Me- 
thoden und  Aufgaben  der  Einzel  Wissenschaften  Philosophie  in  ir- 


1)  Der  Historismus  und  Psychologismus  ist  von  jedem  Standpunkt,  der  in 
irgend  einem  Sinne  kritizistisch  ist,  ebenso  unannehmbar  wie  von  dem  der  Phä- 
nomenologie; vgl.  die  mit  großem  Verständnis  für  die  in  der  Weltanschauungs- 
philosophie sich  auswirkenden  Werte  geschriebene  Programmschrift  Husserls  im 
Logos  Bd.  1,  191-0/11  S.  289  Philosophie  als  strenge  Wissenschaft.  Über  die 
innere  Beziehung  der  Philosophie  zu  ihrer  Geschichte  s.  u.  S.  451  ff. 


Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  419 

gend  einem  Sinne  sicherlich  ein  allgemeineres,  alle  Wissenschaften 
gleichmäßig  angehendes  Ziel  sich  stecken  muß.  Damit  ist  natürlich 
ganz  und  gar  nicht  das  auf  früheren  Stufen  der  Welt  erkennt  nis 
möglich  scheinende  Umspannen  aller  Wissenschaften  in  ihrer  eigent- 
lichen Durchführung  oder  auch  nur  eine  eklektische  Berücksich- 
tigung von  deren  Ergebnissen  gemeint.  Vielmehr  hat  sich  ein 
ganz  anderer  systematischer  Wissenschaftsbegriff  herausgebildet, 
der  zugleich  den  Anspruch  einer  allgemeinen  Beziehung  auf  alle 
Wissenschaften  und  den  einer  streng  begrenzten  wissenschaftlichen 
Sonderaufgabe  der  Philosophie  zu  erfüllen  verspricht.  Dieser  mo- 
derne Wissenschaftsbegriff  der  Philosophie  umspannt  gleichmäßig 
die  Probleme  des  Historismus  und  seines  Gegenbildes  „Philosophie 
als  strenge  Wissenschaft"  und  ist  demnach,  wie  oben  gezeigt,  für 
das  Verhältnis  der  Philosophie  zu  ihrer  Geschichte  von  grundle- 
gender Bedeutung.  Mit  diesem  neuen  Systembegriff  hängen  die 
verschiedenen  Arten  der  Stellungnahme  zur  Frage  der  Philosophie- 
geschichte zusammen,  und  um  sie  in  ihrer  grundsätzlichen  Ab- 
hängigkeit von  ihm  zu  verstehen,  muß  dieser  Systemgedanke  mit 
einigen  Strichen  umrissen  werden.  Es  wird  sich  dabei  die  für  un- 
seren Zusammenhang  wesentliche  Tatsache  ergeben,  daß  die  schein- 
bar bunte  Mannigfaltigkeit  von  Richtungen  und  Systemansätzen 
doch  eine  einheitliche  Grandtendenz  erkennen  läßt 

II. 

Es  war  oben  bereits  der  Systemgedanke  der  modernen  Phi- 
losophie negativ  dahin  bestimmt  worden,  daß  er  nichts  mit  den 
Ergebnissen  der  einzelnen  Wissenschaften  zu  tun  habe.  Geriete 
er  in  irgend  welche  Abhängigkeit  davon,  so  wäre  die  Philosophie 
eine  unmittelbare  Funktion  der  Einzelwissenschaft;  sie  wäre  eine 
eklektische  und  notwendig  dilettantische  Encyklopädie,  und  sie 
schlüge  dem  Charakter  der  heutigen  Wissenschaft,  der  auf  ein- 
dringender Differenzierung  beruht,  geradezu  ins  Gesicht.  Nicht 
um  die  Endergebnisse,  auch  nicht  um  die  Voraussetzungen  im  Sinne 
materialer  Bestimmtheit,  sondern  um  die  spezifische  Gegebenheits- 
weise des  Gegenstandes  der  einzelnen  Wissenschaften,  der  sich  in 
ihrer  Methode  formt,  bemüht  sich  die  moderne  Philosophie. 

Die  Begriffsbestimmung  der  Philosophie  als  Einheit  dieser  for- 
malen Voraussetzungen  der  Wissenschaft  könnte  zunächst  noch  zu  eng 
erscheinen.  Zwar  wird  die  Philosophie  die  Beziehung  zu  den  wissen- 
schaftlichen Gegenständen  nicht  verleugnen  dürfen;   die  Frage  ist 

27* 


420  Julius  Stenzel, 

aber,  ob  ihr  Bereich  nicht  weiter  sich  erstrecke,  ob  nicht  eine 
Fülle  außerwissenschaftlicber  Gegenstände:  Sittlichkeit,  Kunst, 
Religion,  schließlich  der  Gegenstand  des  allgemeinsten,  die  Welt 
vorfindenden  Bewußtseins,  also  das  Sein  schlechthin,  hinzunehmen 
wäre,  ja  ob  nicht  an  diesen  Objekten  die  eigentliche  Aufgabe  der 
Philosophie  sich  erfüllen  müsse ;  dann  umfaßte  also  der  oben  ge- 
gebene Begriff  der  Philosophie  nur  einen  Teil  von  ihr,  den  man 
als  Methodenlehre  abgrenzen  müßte.  Bei  näherem  Zusehen  er- 
weist sich  diese  Trennung  freilich  als  undurchführbar.  Die  Ab- 
grenzung der  Kompetenzen  von  Wissenschaft,  Kunst,  Sittlichkeit 
und  Religion,  also  die  kritische  Frage  nach  den  Grenzen  der  je- 
weiligen Geltungssphäre  der  besonderen  Gebiete  und  Methoden, 
diese  Aufgabe  der  Philosophie  umfaßt  auch  zugleich  jene  scheinbar 
allgemeinere.  Die  ideale,  systematische  Einheit  dessen,  was  als 
Wert  oder  Wissen  Gültigkeit  beansprucht,  dies  ist  auch  der  Sinn 
der  allgemeinen  Gegenstandstheorie.  Einen  allgemeinen  Gegen- 
stand schlechthin,  dessen  einfaches  metaphysisches  Sein  die  Philo- 
sophie zu  begreifen  hätte,  gibt  es  nicht;  er  gliedert  sich  für  jede 
methodische  Betrachtung  in  die  differenzierten  Weisen  des  Be- 
wußtseins und  ihrer  gegenständlichen  Entsprechungen,  und  nur  als 
die  diese  Differenzierungen  voraussetzende  Einheit  des  Bewußt- 
seins überhaupt  kann  der  Gegenstand  schlechthin  erfaßt  werden. 
Wir  nehmen  also  die  Frage  wieder  auf:  Ist  mit  einem  System 
der  methodischen  Voraussetzungen  der  Wissenschaften  der  Umfang 
der  Philosophie  in  irgend  einem  Sinne  bezeichnet?  Bedarf  dieses 
System  nicht,  abgesehen  von  den  angedeuteten  grundsätzlich  an- 
deren Einstellungsmöglichkeiten  in  seiner  eigenen  Richtung  noch 
der  inhaltlichen  Erweiterung?  Ohne  Zweifel  muß  ausdrücklich 
bezeichnet  werden,  was  alles  mitgemeint  ist,  wenn  von  den  Wissen- 
schaften gesprochen  wird.  Dazu  gehört  vor  allem  das  Gebiet  des 
Ethischen,  Ästhetischen  und  Religiösen;  inwiefern  auch  diese  Ge- 
biete in  einer  wissenschaftlichen  Formung  zur  Philosophie  in  eine 
analoge  Beziehung  treten  können  wie  die  anderen  Einzelwissen- 
schaften, das  wird  ohne  weiteres  klar,  wenn  die  strenge  Aus- 
sonderung aller  Einzelinhalte  wissenschaftlicher  Forschung  aus 
dem  Kreise  philosophischer  Betrachtung  als  Sinn  jenes  Philosophie- 
begriffes festgehalten  wird.  Man  könnte  sagen :  die  gesamte  Arbeit 
von  Wissenschaft,  Kunst  und  Religion,  kurz  der  Inhalt  der 
Kultur  im  weitesten  Sinne,  wird  von  der  Philosophie  in  seiner 
Bestimmtheit  hingenommen  als  Antwort,  als  Erfüllung  von  Fragen. 


Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  421 

Diese  Fragen  zu  formulieren,  sie  als  „Probleme"  im  alten  eigent- 
lichen Sinne  zu  lösender  Aufgaben  zu  fassen  und  aus  einer  Einheit 
als  vollständiges  System  zu  begreifen,  das  wäre  dann  der  rechte 
Sinn  jener  philosophischen  Kritik.  Nur  bedarf  dann  die  Beziehung 
auf  die  oben  gegebene  Formulierung:  die  Philosophie  handle  von 
dem  Apriori  der  Wissenschaften  angesichts  dieser  empirisch  klin- 
genden Fassung  noch  eines  erläuternden  Wortes.  Es  steht  dann 
die  Philosophie  zur  Erfahrung  der  Kultur  in  demselben  Verhältnis 
wie  zur  Erfahrung  überhaupt.  Nur  an  der  Erfahrung  kann  das 
denkende  Bewußtsein  sich  über  die  konstitutiven  Züge  jeglicher 
Synthesis  klar  werden;  nur  an  ihr  kann  es  die  Frage  begreifen, 
die  durch  die  jeweilig  antwortende  Kulturerfahrung  nicht  endgültig 
erledigt  ist,  sondern  deren  Fortgang  bestimmt  hat  und  in  freier 
Entwicklung  immer  bestimmen  wird.  Denn  diese  Frage  muß  die 
Philosophie  methodisch  stellen.  Es  muß  die  Methode  der 
Wissenschaft  daraus  ersichtlich  sein  —  wieder  nicht  die  Gültigkeit 
von  einzelnen  Urteilen,  sondern  die  Form  der  Gültigkeit  überhaupt, 
wie  sie  etwa  aus  der  Form  des  historischen,  mathematischen  Ge- 
genstandes entspringt.  Denn  das  ist  letzten  Endes  der  entschei- 
dende Unterschied  innerhalb  aller  Wissenschaften,  aller  Arten  von 
Bewußtseinsinhalten,  welche  Form  der  Gültigkeit,  welche  Geltung 
ihnen  zugeschrieben  werden  kann;  sofern  sie  überhaupt  als  Fak- 
toren der  Kultur  aufgefaßt  werden,  müssen  sie  aus  der  Sphäre 
bloßen  subjektiven  Erlebens  heraus  in  irgend  einer  Form  der  Ob- 
jektivität aufgefaßt  werden;  und  selbst  für  den  Fall,  daß  auch 
noch  in  anderen  Formen  vom  Bewußtsein  Objektivität  aufgefaßt 
werden  könnte,  das  Moment  des  „für  alle  Geltenden"  als  des  ein- 
fachen Ausdrucks  übersubjektiver  Wirklichkeit,  wird  darin  in  ir- 
gend einem  Sinne  beschlossen  sein  müssen.  Jedenfalls  ist  es  mög- 
lich, von  dieser  Seite  her  das  System  aller  Grundbezüge  mensch- 
lichen Bewußtseins  aufzubauen:  als  ein  geordnetes  Reich  von  Prob- 
lemen, Fragen,  auf  die  das  Kulturbewußtsein  die  Antwort  gibt  — 
immer  gegeben  hat,  solange  Philosophie  besteht.  Diese  kritische 
Auffassung  der  philosophischen  Aufgabe  liegt  letzten  Endes  auch 
der  historischen  Form  der  Kantischen  Philosophie  zu  Grunde. 
Freilich  verschlingen  sich  bei  ihm  mit  eigentlich  kritischen,  auf 
Begründung  des  Wissenschaftsbegriff  abzielenden  Motiven  noch 
mannigfaltige  andere,  mit  deren  Herauslösung  die  wichtigsten 
systematischen  Klärungen  der  Neueren  in  sachlichem  Zusammen- 
hange stehen.     Wie  weit  die  Ansätze   einer  psychologischen  und 


422  Julius  Stenzel, 

phänomenologischen  Betrachtung  bei  Kant  lediglich  als  Trü- 
bungen des  reinen  kritischen  Gedankens  ausgeschieden  werden 
müssen,  wie  weit  sie  selbständiger  Weiterführung  fähig  und 
zu  einer  wesentlichen  Um-  oder  Ausgestaltung  des  kritischen  Ge- 
dankens berufen  sind,  dies  läuft  letzten  Endes  auf  die  Grund- 
frage hinaus,  ob  neben  dem  wissenschaftlichen  Bewußtsein  ein 
anderer s  faßbar  ist,  ob  grundsätzlich  ohne  irgend  welche  Zu- 
ordnung zu  dem  in  Geltungsbeziehungen  sich  selbst  begründen- 
den „wissenden"  Bewußtsein  sich  Inhalte  erfassen  und  „beschreiben" 
lassen.  Die  Entscheidung  dieser  Frage  ist  die  wesentliche  Aufgabe 
der  Philosophie  der  Gegenwart. 

III. 

Daß  eine  Problemstellung  wie  die  Kantische,  aus  der  heraus 
die  Philosophie  als  das  System  gestellter  und  überhaupt  möglicher 
Probleme  aufgefaßt  werden  kann,  zu  dem  die  jeweiligen  Kultur- 
inhalte als  sich  stets  entwickelnde  und  erweiternde  Antworten 
erscheinen,  für  die  Beurteilung  der  Geschichte  der  Philosophie  als 
der  früheren  Versuche,  die  jeweilige  Kultur  in  einem  Bewußtsein 
zu  vereinigen,  eine  Fülle  neuer  Gesichtspunkte  erschließen  konnte 
und  mußte,  erscheint  uns  heute  ganz  selbstverständlich.  Ordnen  sich 
doch  die  noch  so  widersprechenden  Meinungen  der  Philosophen, 
jenes  scheinbare  „Theater  menschlicher  Beschränktheit  und  Irr- 
tümer", zu  einer  Reihe  von  Versuchen,  für  notwendige,  bestimmte 
Fragen  die  Antwort  zu  finden,  die  der  jeweiligen  Kultur  entsprach. 
Mögen  diese  Antworten  auf,  die  Frage  des  Substanzproblems,  der 
Freiheit,  der  Sittlichkeit,  noch  so  widerspruchsvoll  und  absurd  er- 
scheinen, es  läßt  sich  von  dieser  kritischen  Auffassung  aus  doch 
ein  Sinn  in  allem  finden,  wenn  man  weiß,  daß  das  philosophische 
Denken  etwas  gemeint  hat,  was  spezifisch  philosophisches  Problem 
ist.  Sobald  einmal  die  Richtung  gebende,  immanente  Aufgabe  des 
Denkens  als  solche  erfaßt  ist,  gibt  sie  für  die  Stufen  des  Sichbe- 
wußtwerdens über  die  Frage  einen  Maßstab  ab.  Das  Fehlen  oder 
Zurücktreten  gewisser  Probleme  andererseits  gibt  uns  die  Möglich- 
keit, ganz  andere  Systeme  mit  ganz  anderer  Schwerpunktslage  zu 
verstehen  —  kurz,  alles  das,  was  wir  heute  problemgeschichtliche 
Forschung  nennen,  scheint  uns  gegeben,  sobald  einmal  das,  dessen 
Geschichte  nun  zu  schreiben  wäre,  das  Problem  als  Inbegriff  der 
Philosophie  erkannt  ist.  Doch  der  noch  heute  und  wohl  immer 
wirkende,    weil    sachlich   begründete  Antagonismus    zwischen   dem 


Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  423 

zeitlosen  Problem  und  der  an  das  Medium  der  Zeit  gebundenen 
Geschichte  —  erst  heute  als  „das  Problem"  der  Philosophiege- 
schichte erkannt  —  verhinderte  hier  zuerst  eine  wirklich  kritische 
Verwertung  des  kantischen  Gedankens. 

Das  oben  vorläufig  angedeutete  Prinzip  problemhistorischer 
Betrachtung  soll  gleich  an  einem  Beispiel  erläutert  werden.  Das 
Problem  des  Historischen  überhaupt  war  mit  der  kantischen  Tat 
zunächst  nicht  mit  umspannt.  Die  rücksichtslose  Einseitigkeit, 
mit  der  Kant  das  unveräußerliche  Recht  der  Philosophie  auf  All- 
gemeingültigkeit betonte,  machte  ihn  gleichgültig  gegen  irgend 
welche  relativierenden  —  historischen  oder  psychologischen  —  Ge- 
sichtspunkte. Darin  lag  seine,  das  Zeitalter  der  Auflklärung  er- 
füllende Genialität,  daß  er  den  Gedanken  des  Apriori  in  den 
Mittelpunkt  der  Philosophie  gründete,  als  das  Herz,  das  alle  Teile 
mit  spezifischer  Lebensenergie  versorgt:  Philosophie  mag  sich 
stellen,  wie  sie  will,  sie  kann  sich  selbst  in  ihrer  sichtbaren  Form 
als  menschliche,  von  Menschen  betriebene  Wissenschaft  noch  so 
bescheiden  psychologischer  Betrachtung  unterstellen,  das  Recht 
der  Vernunft  auf  sich  selbst  zu  vertreten  bleibt  ihre  Aufgabe. 
Das  vergröbernde  dogmatische  Mißverständnis  dieser  Tendenz,  gegen 
das  doch  Kant,  eben  weil  es  nahe  liegt,  sich  eigentlich  noch  radi- 
kaler ausgesprochen  hat  als^gegen  die  relativistische  Skepsis,  äußerte 
sich  bei  seinen  Anhängern  daher  sofort  auf  historischem  Gebiet. 
Hatte  Brucker  alle  Philosopheme  unmittelbar  mit  den  Konse- 
quenzen ausgestattet,  die  sie  im  System  Wolffischer  Metaphysik 
gehabt  hätten,  so  mißt  Tennemann  ganz  äußerlich  alle  früheren 
Philosophen  am  System  Kants.  Über  die  Auffassung,  die  Kant 
selbst  von  der  Philosophiegeschichte  hatte,  soll  später  im  Zusammen- 
hang mit  der  Marburger  Schule  gesprochen  werden,  die  diesen  An- 
regungen sich  im  wesentlichen  angeschlossen  hat. 

Eine  wissenschaftliche  Geschichte  der  Philosophie  begründet 
erst  Hegel.  Man  pflegt,  ohne  Zweifel  mit  gewissem  Recht,  ihn 
als  den  zu  bezeichnen,  der  das  Historische  überhaupt  in  seiner 
Bedeutung  erkannt  hat.  Freilich  wächst  das  Historische  —  bei 
Kant  nicht  im  Gegensatz  zum  Systematischen  erfaßt,  sondern  ein- 
fach ausfallend  —  bei  Hegel  aus  dieser  Verdrängung  heraus  tief 
in  das  Philosophische  hinein.  Es  tritt,  nur  aus  der  durch  Kant 
bezeichneten  Situation  verständlich,  ein  höchst  eigenartiger  Aus- 
gleich beider  Gedankenreihen  ein.     Das  Philosophische  wird  histo- 


424  Julius  st  enzel, 

risch,  und  umgekehrt.  Auf  unser  Problem  angewandt:  Die  Ge- 
schichte der  Philosophie  wird  wissenschaftlich  und  „sogar  zur 
Wissenschaft  der  Philosophie  der  Hauptsache  nachu  (Hegel  Werke 
XIII,  17,  Vorlesungen  über  die  Geschichte  der  Philosophie). 

Die  Entwicklung  der  Philosophie  und  der  Kultur  überhaupt 
wird  bei  Hegel  zur  Entfaltung  eines  objektiven  Geistes.  „Der 
Geist  ist  aber  nicht  nur  als  ein  einzelnes,  endliches  Bewußtsein, 
sondern  als  in  sich  allgemeiner,  konkreter  Geist.  Diese  konkrete 
Allgemeinheit  aber  befaßt  alle  die  entwickelten  Weisen  und  Seiten, 
in  denen  er  sich  der  Idee  gemäß  Gegenstand  ist  und  wird.  So 
ist  sein  denkendes  Sicherfassen  zugleich  die  von  der  entwickelten, 
totalen  Wirklichkeit  erfüllte  Fortschreitung,  —  eine  Fortschreitung, 
die  nicht  das  Denken  eines  Individuums  durchläuft,  und  sich  in 
einem  einzelnen  Bewußtsein  darstellt,  sondern  als  der  in  dem 
Reichtum  seiner  Gestaltung,  in  der  Weltgeschichte  sich  darstellende 
allgemeine  Geist" ;  1.  c.  46  f. 

Hegel  ist  also  nicht  auf  die  Aufeinanderfolge  historischer  In- 
dividuen eingestellt,  sondern  auf  die  zeitliche  Entfaltung  eines 
Weltbewußtseins ;  gewiß  meint  er  mit  dieser  Entfaltung  des  Welt- 
bewußtseins niemals  etwas  anderes  als  die  dialektische  Entwick- 
lung; aber  dialektisch  im  kritischen  Sinne  ist  eine  „Entwicklung" 
doch  nur,  sofern  ich  von  dem  (freilich^Paktisch  unlösbaren)  in  die 
Zeit  Eingebettetsein  absehe,  die  Geltungszusammenhänge  des  dia- 
lektischen Prozesses  als  quaestio  iuris  ausdrücklich  von  der  quaestio 
facti  logisch  ablöse.  Diese  Ablösung  erfolgt  in  der  wissenschaft- 
lichen Arbeit  des  19.  Jahrhunderts  dadurch,  daß  das  Moment  des 
Zeitlichen  im-  empirischen  Sinne  im  Historischen  immer  größere 
Selbständigkeit  erlangt.  Für  den  rückschauenden  Blick  ist  Hegels 
Aufnahme  des  Zeitlich- Historischen  in  das  kritische  System  das 
Aufleuchten  einer  berechtigten  Gedankenreihe;  aber  wenn  Hegel 
1.  c.  43  behauptet,  „daß  die  Aufeinanderfolge  der  Systeme  der  Phi- 
losophie in  der  Geschichte  dieselbe  ist,  als  die  Aufeinanderfolge  in 
der  logischen  Ableitung  der  Begriffsbestimmungen  der  Idee",  so 
liegt  die  große  Gefahr  vor,  die  historische  Entwicklung  einem  vor- 
gefaßten System  —  mag  dieses  auch  bereits  im  Hinblick  auf  die 
Geschichte  konzipiert  sein  —  zuliebe  mit  Gewalt  umzupressen, 
eine  Gefahr,  die  bei  der  angedeuteten  Korrelativität  an  sich  nicht 
notwendig  einzutreten  braucht,  der  Hegel  aber  doch  in  der  Durch- 
führung oft  genug  unterlegen  ist. 


Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  425 

Wenn  wir  dagegen  das  uns  als  richtig  scheinende  kritische 
Verfahren  davon  abzuheben  versuchen,  so  beruht  es  auf*  einer 
größeren  Betonung  des  Zeitlich- Historischen.  Die  Idee  der  Ent- 
wicklungsstufe —  hier  z.  B.  Hegels  —  ist  das  Ziel,  das  mit  Zu- 
hilfenahme systematischer  Erwägungen  erstrebt  wurde ;  diese  Idee 
ist  aber  zunächst  eine  Hypothesis,  die  erst  an  der  historischen  Er- 
fahrung sich  zu  bewähren  hat,  und  die  im  Fortschritt  der  Er- 
kenntnis steter  Korrektur  ausgesetzt  bleibt.  So  gewiß  eine  blinde 
historische  Empirie,  der  das  Auge  für  das  Problem,  die  zu  Grunde 
liegende  sachliche  Frage  fehlt,  einer  Erscheinung  von  solcher 
Kompliziertheit  wie  einem  philosophischen  System  gegenüber  ver- 
sagen müßte  und  tatsächlich  sich  „dem  ideenlosen  Auge  nur  ein 
bloßer  Haufe  von  Meinungen  darbieten  würde",  (Hegel  I.e.  44),  so 
verzichtet  historische  Forschung  im  heutigen  Sinne  grundsätzlich 
darauf,  ein  hinter  der  historischen  Erfahrung  tatsächlich  wirksames, 
diese  konstituierendes  Prinzip  zu  erfassen;  sie  begnügt  sich,  die 
Geschichte  reguliert  zu  finden  von  gewissen  wertbezogenen  Ent- 
wicyungsgedanken,  die  sie  natürlich  „hineinlegt",  in  dem  vollen 
Bewußtsein  dieser  methodischen  Teleologie  überzeugt,  sich  der 
theoretisch  unerschöpflichen  historischen  Realität  nur  asymptotisch 
nähern  zu  können.  Dem  gegenüber  ist  Hegels  Methode  das  Proto- 
typon  einer  „metaphysischen  Teleologie1'  (Rickert,  Die  Grenzen 
der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung  l,  454  ff.),  auch  auf  dem 
Gebiete  der  Philosophiegeschichte,  wo  sachlich  der  Hegeische 
Standpunkt  aus  der  Natur  des  Gegenstandes  noch  am  meisten  be- 
rechtigt ist.  Denn  das  verdient  immer  wieder  hervorgehoben  zu 
werden :  bei  aller  Konstruktion  bewährt  Hegel  gerade  dort,  wo  er 
in  der  Geschichte  Marksteine  findet  und  nach  ihnen  seine  dialek- 
tischen Stufen  sichtlich  orientiert,  einen  genialen  Blick  für  die 
historische  Einzelheit  *). 

So  hat  zwar  die  wesenhafte  Wirklichkeit  des  Historischen  auf 
Hegels  Denken  gewirkt  und  sein  System  aufs  stärkste  beeinflußt, 
ohne  in  ihm  ihren  klarbestimmten  logischen  Ort  zu  erhalten.  Darum 
wird  seine  philosophiegeschichtliche  Leistung  trotz  ihrer  glänzenden 
Ansätze  —  wie  fruchtbar  bleibt  gerade  hier  seine  Stufenfolge  von 


1)  Man  vergleiche  z.  B.  Charakterisierungen  wie  die  der  platonischen  Sub- 
jektivität in  der  Einleitung  seiner  Vorlesungen  über  die  Geschichte  der  Philo- 
sophie S.  68  oder  die  Warnung  davor  (S.  57),  die  alten  Philosophen  „in  unsere 
Form  der  Reflexion  umzuprägen". 


426  Julius  Stenzel, 

Thesis,  Antithesis  und  Synthesis,  freilich  als  heuristisches  Prinzip !  - 
gerade  in  seiner  Schule  im  Historischen  überwunden.  Ed.  Zeller, 
Joh.  Ed.  Erdmann  und  Kuno  Fischer  begründen  im  Gegensatz  dazu 
eine  rein  historische  Philosophiegeschichte  unter  so  starker  Zurück- 
drängung des  sj'stematischen  Elementes,  daß  diese  Antithesis 
die  Synthesis  ihrerseits  in  den  letzten  Jahrzehnten  und  damit  das 
bewußte  Zurückgreifen  auf  das  modifizierte  Prinzip  Hegels  zur 
Folge  hatte. 

IV. 

Bei  Kant  und  bei  Hegel  war  das  Historische  mit  allen  seinen 
Nachbarproblemen  des  Individuellen  und  Psychologischen  noch  nicht 
zu  voller  Wirksamkeit  gelangt,  sodaß  hier  wesentliche  Züge  der 
gesamten  Wirklichkeit  verdrängt,  in  anderen,  ihrem  Wesen  nicht 
adäquaten  Formen  sich  ausgewirkt  hatten.  So  war  es  bei  Hegel 
weder  Psychologie  noch  Geschichte  im  eigentlichen  vollen  Sinne; 
beide  Wissenschaften  mußten  die  ihnen  zugeordneten  Seiten  der 
Realität  erst  für  sich  entwickeln,  ehe  sie  in  das  System  der^Phi- 
losophie  eingeordet  werden  konnten,  eine  Aufgabe,  an  der  jetzt 
noch  immer  neue  Schwierigkeiten  in  das  wissenschaftliche  Bewußt- 
sein treten.  Es  ist  nur  natürlich,  daß  beide  Wissenschaften,  in 
dem  Bestreben,  Realität  spekulationsfrei  zu  erfassen,  auf  die  Me- 
thode verfielen,  die  bisher  in  der  Erfassung  der  Realität  die 
größten  Erfolge  erzielt  hatte,  auf  die  naturwissenschaftliche.  Zwar 
merkte  man  wohl,  daß  die  Realität  des  Historischen  und  Psycho- 
logischen nicht  ohne  weiteres  mit  der  der  mathematischen  Natur- 
wissenschaft gleichzusetzen  wäre,  daß  also  die  Methoden  erweitert, 
umgestaltet  werden  müßten,  aber  der  Typus  der  mathematischen 
Naturwissenschaft  schien  doch  weiter  das  Ideal  einer  auf  die  gegebene 
Wirklichkeit  angewandten  Wissenschaft.  Die  klare  Gegenüber- 
stellung einer  erklärenden  und  beschreibenden  Psychologie  war 
noch  nicht  erfolgt,  ebensowenig  die  Grenze  der  naturwissenschaft- 
lichen Methode  erkannt.  Das  wichtigste  Moment  war,  da  man 
von  den  materialistischen  Ausartungen  des  Positivismus  hier  füg- 
lich absehen  kann,  der  stete  Rückhalt,  den  die  naturwissenschaft- 
liche Orientierung  an  Kant  selbst  immer  wieder  finden  mußte, 
wenn  sie  über  ihre  Methode  sich  kritische  Rechenschaft  geben  wollte. 

Die  Stärke  von  Kants  Idealismus  beruhte  gerade  darauf,  daß 
er  das  Reich  der  Natur  von  „Interpolationen"  (Dilthey)  des  Ide- 
alen  grundsätzlich   freihielt   und   eine   unbeschränkte  Geltung   der 


Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  427 

Naturgesetze  schlechthin  lehrte.  Daß  er  mit  dieser  unbeschränkten 
Geltung  gerade  ihren  ideellen  Ursprung  aus  dem  Verstände  in 
Verbindung  brachte,  weil  die  Erfahrung  niemals  Allgemeingültig- 
keit ergeben  könne,  das  konnte  eine  spätere  Generation  um  so 
eher  übersehen,  als  nach  seiner  höchsten  Anspannung  in  Fichte, 
Schelling  und  Hegel  das  idealistische  Pathos  verklang,  aus  dem 
heraus  Kant  die  Antithese  der  praktischen  und  theoretischen  Ver- 
nunft absichtlich  in  die  schärfste,  die  Wurzeln  von  Vernunft  und 
Verstand  berührende  Fassung  gebracht  hatte.  Für  Kant  wogen 
die  Grundtatsachen  des  sittlichen  Lebens  gerade  in  der  Idealität, 
die  er  ihnen  gab  und  in  der  er  sie  vor  jedem  Zweifel  für  immer 
geschützt  zu  haben  glaubte,  so  schwer,  daß  sie  dem  Gedanken  der 
allgemeinsten  Naturgesetzlichkeit  im  Reiche  der  Erscheinung  die 
Wage  hielten. 

Wie  nahe  diese  Schwierigkeit  dem  Mittelpunkt  des  kritischen 
Gedankens  liegen  muß,  zeigen  gerade  die  Divergenzen  der  ver- 
schiedenen Richtungen,  in  denen  sich  das  Streben  „zurück  zu  Kant" 
in  der  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  auswirkte.  Bezeichnenderweise 
ist  es  der  Geschichtsschreiber  des  Materialismus,  der  neben  ge- 
bildeten Naturforschern  wie  Helmholtz  zuert  wieder  auf  die  Be- 
deutung Kants  nachdrücklich  hinwies.  Aber  Lange  ist  weit  von 
dem  Primat  der  praktischen  Vernunft  entfernt,  für  ihn  ist  die 
kritische  Methode  im  wesentlichen  die  Begründung  der  mathematisch- 
physikalischen Naturwissenschaft;  und  über  dieses  Ziel  ist  die 
Marburger  Schule  zwar  fortgeschritten,  aber  doch  im  wesentlichen 
an  ihm  orientiert  geblieben.  Auch  sie  also  versuchte  nicht,  die 
bedeutenden  Ansätze,  die  zur  adäquaten  Erfassung  der  nichtnatur- 
wissenschaftlichen Realität,  also  des  Individuellen,  Psychologischen 
und  Historischen  vorlagen,  in  das  eigentlich  kritische  System  hin- 
einzuziehen. Sie  blieb  damit  der  Kantischen  Philosophie  auch  in 
einem  vielleicht  nur  historisch  bedingten  Sinne  treuer  als  die  süd- 
westdeutsche Richtung  des  Idealismus,;  ihre  Tendenz  ist  tatsächlich 
„zurück"  zu  Kant.  Dieser  Umstand  ist  wichtig  für  beider  Ver- 
hältnis zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  Den  Standpunkt 
der  südwestdeutschen  Richtung  hat  am  schärfsten  Rickert  in  den 
„Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  BegrifFsbildung"  zum  Aus- 
druck gebracht.  Hier  wird  das  Sonderrecht  des  historischen  Ge- 
genstandes ausdrücklich  begründet.  Und  zwar  ist  das  Ziel  der 
historischen  BegrifFsbildung  das  Individuum  im  Gegensatz  zu  dem 
naturwissenschaftlichen  Gegenstand,   der  nur  Sonderfall   eines  all- 


428  Julia«  Stefieel, 

gemeineren  Gesetzes  ist.  In  der  Feststellung  des  historischen 
Individuums  spielt  ein  weiterer,  für  das  moderne  philosophische 
Bewußtsein  charakteristischer  Begriff  eine  entscheidende  Rolle,  der 
des  Wertes.  Wert  ist  immer  auf  ein  persönliches  Bewußtsein 
bezogen,  das  ihn  erlebt;  zugleich  ist  untrennbar  überindividuelle 
Geltung  mit  ihm  gesetzt,  Tätigkeit  des  Bewußtseins,  ein  wesent- 
liches Motiv  des  Kritizismus,  erhält  durch  die  ausdrückliche  Be- 
ziehung auf  ein  individuell  wertendes  Bewußtsein  einen  neuen, 
einfachen  Sinn,  weist  aber  zugleich  über  den  rein  psychologischen 
Vorgang  hinaus  in  das  Bereich  objektiver  Geltung.  Eine  neue 
Form  der  Bewußtheit  spricht  sich  in  ihm  aus,  die  andererseits  eine 
Anknüpfung  gerade  an  die  Motive  des  Kantischen  Idealismus  ge- 
stattet, die  in  der  mathematisierenden  Wendung  unrettbar  ver- 
loren gehen  müssen.  Eine  kritische  Synthese  des  Wert-,  Wahr- 
heits-  und  Wirklichkeitsbegriffes,  auf  die  im  einzelnen  hier  nicht 
eingegangen  werden  kann,  gestattete  den  Gedanken  Kants  vom 
Primat  der  praktischen  Vernunft  neu  zu  begründen;  Rickerts 
System  der  Werte  wird  der  letzte  Ausdruck  dieser  Auffassung 
von  Philosophie. 

Schon  aus  diesen  kurzen  Andeutungen  ist  die  Stellung  der 
südwestdeutschen  Richtung  zur  Philosophiegeschichte  zu  erschließen. 
Einmal  kommt  hier  die  scharfe  Erfassung  des  Historischen  als  des 
Individuellen  zur  Geltung.  Auch  die  Philosophiegeschichte,  sofern 
sie  Geschichte  ist,  muß  die  individuelle,  einmalige  Konkretion  des 
Historischen  zur  Anschauung  bringen.  Sie  muß  daher  als  eine 
„exakt  historische  Disziplin  behandelt  werden  wie  jeder  sonstige 
Teil  der  Geschichte"  (Windelband,  Festschrift  für  Kuno  Fischer, 
543).  Inhaltlich  muß  diese  formale  Überzeugung  vom  Wesen  der 
Philosophiegeschichte  noch  bestätigt  werden  durch  das  sehr  viel 
freiere  Verhältnis  zu  Kant,  das  sich  aus  der  Erkenntnis  ergibt, 
in  einem  so  wesentlichen  Punkte  wie  der  Wertung  des  Historischen 
weit  über  Kant  hinausgehen  zu  müssen.  Die  sich  allmählich  immer 
mehr  klärende  Theorie  des  Historischen,  die  schließlich  in  Rickerts 
„Grenzen"  gipfelte,  führte  insoweit  bereits  zu  einer  vollen  Er- 
fassung der  Eigenart  des  philosophiegeschichtlichen  Gegenstandes, 
als- Windelband  von  vornherein  die  philosophische  Seite  dieser 
historischen  Aufgabe  ausdrücklich  betonte,  die  er  als  „die  Ge- 
schichte der  Probleme  und  der  zu  ihrer  Lösung  erzeugten  Begriffe" 
formulierte  (Gesch.  d.  Philos. 2  1900,  Prospekt  z.  1.  Lief.  d.  1. 
Aufl.  III).     Doch   so  klar  Windelband  das  Doppelgesicht  der  Phi- 


Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  429 

losophiegeschichte,  das  philosophische  und  das  historische,  erkannt 
hat,  so  gründlich  er  sich  die  einzelnen  Seiten  der  historischen  Be- 
dingtheit der  Philosophie  (etwa  in  der  Einleitung  des  eben  zitierten 
Werkes)  gegenwärtig  hielt,  so  hoch  seine  Darstellungen  im  ge- 
samten Umkreis  philosophiegeschichtlicher  Leistungen  dastehen,  so 
hat  er  doch  methodologisch  nur  die  eine  Seite  möglicher  Forschung, 
die  Problemgeschichte,  begründet. 

Seine  *  Arbeit  und  die  der  gesamten  problemgeschichtlichen 
Forschung  muß  als  eine  methodische  Antwort  auf  die  Frage  durch- 
aus anerkannt  werden:  Inwiefern  ist  Philosophiegeschichte  philo- 
sophische Wissenschaft?  Hier  scheint  das  Historische,  als  gegeben 
vorausgesetzt  zu  werden.  Eine  zweite  Frage,  nach  den  allgemeinen 
historischen  Voraussetzungen,  den  Quellen  der  Philosophie  —  be- 
sonders der  alten  —  ist  durch  die  philologische  Forschung  beant- 
wortet, die  ihre  eigentliche  Aufgabe  methodisch  immer  klarer  und 
sicherer  erfaßt.  Aber  das  Problem  der  Philosophiegeschichte  führt 
notwendig  auf  die  dritte  Frage :  Wie  kann  diese  Wissenschaft  so- 
wohl den  wissenschaftlichen  Ansprüchen  der  Philosophie  als  zu- 
gleich denen  der  Geschichte  genügen?  Diese  Vereinigung  liegt 
tatsächlich  vor,  wo  immer  in  eigentlich  philosophischen  Angelegen- 
heiten historische  Gewißheit  intendiert  ist,  worauf  ja  problemhi- 
storische Forschung  grundsätzlich  gar  nicht  gerichtet  zu  sein  braucht. 
Diese  Absicht  liegt  sämtlichen  Arbeiten  der  Marburger  Schule 
zu  Grunde.  Man  mag  den  Ergebnissen  der  Marburger  For- 
schung noch,  so  sehr  diesen  Doppelcharakter  des  Historischen  und 
Philosophischen  absprechen,  —  daß  sie  inhaltlich  und  formal  die 
philosophiehistorische  Forschung  um  neue  Fragen  bereichert  hat, 
daß  man  nun  und  nimmermehr  durch  Ignorierung,  sondern  nur 
durch  Überwindung  ihrer  Leistung  weiterkommen  kann,  dies  soll 
auch  hier  ausdrücklich  begründet  werden. 

Hinter  dem  philosophischen  Bemühen  Cohens  und  seiner  Nach- 
folger steht  immer  die  ausdrückliche  Frage:  wie  gelange  ich  zu 
dem  Sinn,  dem  wahren  Sinn  des  früheren  Philosophen?  Hier  ist 
—  zum  ersten  Male  —  ausdrücklich  die  Aufgabe  in  ihrer  ganzen 
Schwere  gesehen,  das  festzustellen,  was  von  Hegel  an  bis  Windel- 
band ohne  weiteres  für  erreichbar  durch  den  einfachen  Willen  zur 
historischen  Einstellung  gehalten  wurde,  nämlich  jenen  historischen 
Ursinn  „wie  es  gewesen  war",  die  schlichte  Frage  nach  dem 
Tatsächlichen.  So  wenig  die  Arbeit  Cohens  in  seinen  ersten 
Werken  den  Namen  der  Kantphilologie  verdient,  so  bewußt  er  mit 


43<>  Julius  Stenzel , 

der  Kantischen  Forderung,  nicht  Philosophie,  sondern  Philosophieren 
zu  lehren ,  ernst  machte  und  an  die  reine  Herausbildung  der 
kritischen  Methode,  wie  er  sie  verstand,  sein  ganzes  Bemühen  von 
vornherein  setzte,  so  sicher  ist  andererseits,  daß  er  zunächst  die 
klare  Erkenntnis  dessen,  was  Kant  eigentlich  gemeint  hätte,  also 
eine  Aufgabe  der  Philosophiegeschichte  als  historischer  Wissen- 
schaft, in  engster  Verbindung  mit  diesem  Bestreben  auffaßte,  und 
die  gleichen  Absichten  leiteten  ihn  und  seine  Nachfolger  bei  ihren 
Deutungen  der  griechischen  Philosophie,  speziell  Piatons. 

Welches  sind  nun  die  prinzipiellen  Voraussetzungen,  unter 
denen  in  spezifisch  philosophischen  Dingen  historische 
Gewißheit  erreicht  werden  kann?  Nach  dem  —  freilich  in  der 
Durchführung  mannigfaltig  modifizierten  —  Prinzip  der  Marburger 
Schule  bedarf  es  für  die  Interpretation  jedes  Philosophen  grund- 
sätzlich keines  anderen  Weges,  das  Historische  festzustellen,  als 
—  nicht  problemgeschichtlich  —  sondern  unmittelbar  problemhaft 
es  zu  durchdenken.  So  sagt  Cohen,  Plat.  Ideenlehre  u.  d.  Mathe- 
matik, Marburg  1879,6:  „Denn  das  ist  ja  eine  füglich  anerkannte 
Sache,  daß  es  in  letzter  Instanz  kein  anderes  zureichend  objektives 
Kriterium  gibt  für  die  Beurteilung  des  Echten,  des  Reifen,  des 
Hauptsächlichen,  ja  beinahe  muß  man  sagen,  des  Ernsthaft  Ge- 
meinten  in  Piaton,  als  die  eigene  wissenschaftliche  Subjektivität, 
als  die  erkenntnistheoretische  Einsicht,  über  die  ein  jeglicher  zu 
verfügen  hat".  Hier  kann  sich  die  Marburger  Schule  auf  Kant 
selbst  berufen,  der  Kr.  d.  r.  V. 2,  371  Anm.  den  Grundsatz  aufstellt, 
„daß  es  gar  nichts  Ungewöhnliches  sei,  sowohl  im  gemeinen  Ge- 
spräche als  in  Schriften,  durch  die  Vergleichung  der  Gedanken, 
welche  ein  Verfasser  über  seinen  Gegenstand  äußert,  ihn  sogar 
besser  zu  verstehen,  als  er  sich  selbst  verstand,  indem  er  seinen 
Begriff  nicht  genugsam  bestimmte,  und  dadurch  bisweilen  seiner 
eigenen  Absicht  entgegen  redete  oder  auch  dachte". 

Durch  die  Forschung  der  Marburger  Schule,  die  ihre  an  der 
Geschichte  der  modernen  Philosophie  gewonnene  Methode  auch  an 
die  griechische  Philosophie  —  mit  unleugbarem  Erfolge  —  heran- 
brachte, ist  eine  neue  Situation  geschaffen  worden,  deren  Unklar- 
heit am  besten  durch  Wilamowitz'  Piaton  hervortritt.  Wilamo- 
witz  arbeitet  in  der  für  unsere  ganze  Frage  überaus  wesentlichen 
Einleitung  mit  einem  doppelten  Philosophiebegriff :  Philosophie  als 
Theorie  und  Philosophie  als  etwas  anderes,  als  Inbegriff  der  Per- 
sönlichkeit Piatons;    es   ist   schon   in   der  Einleitung   zu   merken, 


Zum  Problem  der  Philo  Sophiegeschichte.  431 

daß  die  Trennung  sich  schwer  durchführen  läßt.  Was  sich  von 
der  ersten  Art  der  Philosophie  an  Piaton  findet,  das  überläßt 
Wilamowitz  den  Philosophen ;  ihm  schwebt  ohne  Zweifel  die  Mar- 
burger Methode  vor,  wenn  er  davon  spricht,  daß  die  Philosophen 
„mit  besonders  erfreulichem  Erfolge  selbständige  Parallelerschei- 
nungen beobachten"  (S.  3).  Höchst  charakteristisch  für  diesen  Be- 
griff der  Philosophie  ist  das  Bedauern,  weder  „Logik  noch  Mathe- 
matik, Astronomie  und  Physiologie  genug  zu  verstehen,  um  den 
Inhalt  seiner  Lehrschriften  auszuschöpfen  und  zu  beurteilen"  (ebenda). 
Wilamowitz  wendet  den  Philosophiebegriff  ins  einseitig  Logisch- 
Technische,  um  jene  „für  Piaton  wertvolle"  Philosophie,  die  ihm 
zugänglich  ist,  nach  Umfang  und  Bedeutung  hervortreten  zu  lassen. 
Der  Grund  ist  klar,  und  hier  liegt  gerade  die  große  grundsätzliche 
Bedeutung  des  Wilamowitzschen  Buches  für  unsere  Frage:  Wila- 
mowitz muß  anerkennen,  daß  nur  der  über  wesentliche  Züge  der 
Philosophie  Piatons  ein  Urteil  hat,  der  Philosophie  als  besondere 
Wissenschaft  versteht;  vielleicht  ohne  es  zu  wissen  erkennt  er 
gerade  durch  die  Nebeneinanderstellung  von  Logik  und  Mathe- 
matik eine  alte  Forderung  Cohens  wörtlich  an,  daß  man  an  die 
Geschichte  der  Philosophie  die  Kenntnis  ihres  Systems  genau  so 
heranbringen  müsse  wie  die  der  Mathematik  an  die  Geschichte  der 
Mathematik.  Die  nicht  hoch  genug  zu  bewertende  Arbeit,  die  für 
die  Erkenntnis  mindestens  der  griechischen  Philosophie  Philologie 
als  Kulturgeschichte  leisten  kann,  insofern  auch  der  Philosoph  mit 
dem  Boden  der  gesamten  Kultur  seiner  Zeit  durch  tausend  Wur- 
zeln verbunden  ist,  zeigt  das  bedeutende  Werk  Wilamowitzens 
ebenso  klar,  wie  es  in  der  Anlage  und  Durchführung  jener  Spaltung 
des  Philosopbiebegriffs  die  ganze  Problematik  der  Philosophiege- 
schichte ins  helle  Licht  setzt.  Und  zu  dieser  Problematik,  zu  der 
Frage  nach  dem  Sinn  dieser  „Arbeitsteilung"  zwischen  Historie 
und  Philosophie  steht,  wie  auch  die  Position  von  Wilamowitz 
zeigt,  der  Marburger  Gedanke  in  engster  Beziehung.  Denn  mit 
dem  Erfolge,  „selbständige  Parallelerscheinungen  zu  Piaton  beob- 
achtet zu  haben",  ist  Natorps  Absicht  wirklich  nicht  erschöpft; 
auch  er  will  Piaton  „selbst"  erfassen,  durch  jenes  philosophische 
Erzeugen  des  Sinnes. 

Zweiter  Teil. 
I. 
Die   radikale    Forderung   Cohens   nach   Gleichsetzung   dessen, 
was  dem  Betrachter  richtig  scheint  und  was  deshalb  des  früheren 


432  Julius  Steuzel, 

Philosophen  Meinung  ist,  soweit  sie  „ernst  gemeint"  ist,  setzt  sich 
zwar  über  andre  wesentliche  Züge  der  historischen  Begriffsbildung 
hinweg;  sie  hat  aber  scharf  und  einseitig  und  deshalb  wirksam 
einen  bedeutsamen  Punkt  herausgehoben:  daß  auch  in  der  Ge- 
schichte das  Philosophische  nicht  vorliegt  als  irgend  etwas  einfach 
Abzulesendes;  daß  es  erst  entsteht,  indem  man  es  versteht,  es 
„erzeugt",  wie  alle  Geschichte  erst  durch  die  Auswahl,  durch  die 
Beziehung  auf  einen  Wert,  unter  dem  der  Gegenstand  im  be- 
stimmten Sinne  Bedeutung  hat,  zustande  kommt. 

Diese  erste  Seite  historischer  Begriffsbildung  ist  nun  für  unsere 
Zwecke  genauer  zu  betrachten.  Zunächst  schließt  der  Ausdruck 
„Wertauslese"  immernoch  nicht  deutlich  genug  den  Gedanken  aus, 
es  handle  sich  darum,  aus  irgendwie  fertigen,  nur  äußerst  zahl- 
reichen, daher  etwas  unübersichtlichen  Gegenständen  die  Auswahl 
zu  treffen.  Dann  hätte  auch  die  Methode  der  Marburger  Philo- 
sophiegeschichte damit  nichts  zu  tun.  In  Wahrheit  ist  aber  eine 
historische  Tatsache,  welcher  Art  auch  immer*,  gar  nicht  denkbar 
außerhalb  des  Zusammenhangs,  der  ihr  erst  irgend  einen  Sinn, 
irgend  eine  Bedeutung  verleiht.  Wenn  der  Historiker  sagt :  Dieser 
kleine,  bisher  übersehene  Zug  ist  von  größter  „Bedeutung"  für  die 
Beurteilung,  so  kann  diese  allgemeinverständliche,  häufige  Bemer- 
kung am  einfachsten  zeigen,  was  unter  der  historischen  Wertbe- 
ziehung gemeint  ist;  es  ist  die  Auffassung  des  Einzelnen  in  einem 
sinnvollen  Zusammenhang,  außerhalb  dessen  es  eben  als  „bedeu- 
tungslos" übersehen  wird.  Auf  die  äußere  Abgrenzung  des  Gegen- 
standes ist  daher  auch  in  unserem  Falle  in  dem  Sinne  weniger 
Wert  zu  legen,  daß  man  das,  was  Philosophie  ihrem  äußeren  Um- 
fange nach  ist,  in  jedem  Falle  gegenwärtig  haben  müsse ;  sondern 
viel  wichtiger  ist  es,  im  einzelnen  Falle  unter  einer  sinnvollen 
Einheitsbeziehung  eine  Reihe  von  „Tatsachen"  allererst  zu  ent- 
decken, die  außerhalb  dieses  Zusammenhanges  „nichts  bedeuten", 
nun  aber  durch  ihre  Einordnung  „Wert"  erhalten  haben  und  da- 
durch erst  ins  wissenschaftliche  Bewußtsein  gehoben  sind.  Wie 
wichtig  dieses  Ausbilden  der  apperzipierenden  Organe  gerade  zur 
Herausstellung  des  philosophischen  Sinnes  irgendwelcher  geschicht- 
licher Denkmäler  ist,  das  ergibt  sich  aus  dem  formalen  Charakter 
des  Philosophischen,  das  nicht  in  einem  Was,  sondern  in  dem  Wie 
der  Betrachtung  sich  erst  von  anderen  Prinzipien  der  Auswahl 
unterscheidet.  So  werden  gerade  in  der  Philosophiegeschichte  die 
Möglichkeiten  der  Auswahl  in  jenem  schöpferisch-kritischen,  nicht 


Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  433 

äußerlich  scheidenden  Sinne  unzählige  sein ;  je  nach  dem  Inhalte,  der 
Struktur  der  philosophischen  Methode,  die  sich  der  Betrachter  ge- 
bildet hat,  wird  diese  oder  jene  Motivreihe  an  einem  Philosophen  ins 
Licht  gesetzt  werden  und  eine  neue  Bedeutung  gewinnen.  Immer  ist 
es  der  neue  Sinn,  wie  er  in  einem  systematischen  Zusammenhang 
sich  bildet,  der  den  spezifischen  Wertgesichtspunkt  philosophie- 
historischer Forschung  darstellt  —  das  Systematische  allein  kann 
das  formende  Prinzip  auch  der  Geschichte  sein. 

Dieses  Ergebnis  wird  im  folgenden  noch  genauer  begründet 
werden;  zunächst  aber  muß  ein  dieser  Anschauung  diametral  ent- 
gegengesetzter Einwand  erledigt  werden,  zu  dem  auch  wieder  die 
Marburger  Philosophiegeschichte,  die  der  Ausgangspunkt  dieser 
Betrachtungen  war,  Veranlassung  gibt.  Ist  es  nicht  verkehrt,  ein 
„bestimmtes  System"  der  historischen  Betrachtung  zu  Grunde  zu 
legen  ?  Führt  das  nicht  umgekehrt  notwendig  zu  einer  Verarmung 
des  historisch  Gegebenen,  indem  es  einen  Zug  auf  Kosten  der  anderen 
an  dem  Bilde  übermäßig  hervorhebt,  andere  ungebührlich  in  den 
Hintergrund  drängt  und  so  das  historische  Bild  verfälscht?  Ist 
das  nicht  der  Vorzug  einer  „rein"  historisch- philologischen  Philo- 
sophiegeschichte, diese  Gefahr  zu  vermeiden  und  der  Problemge- 
schichte die  eigentliche  philosophische  Betrachtung  der  Geschichte 
zu  überlassen,  die  aus  der  bedenklichen  Not  der  willkürlichen  Aus- 
wahl eine  Tugend  macht  und  bewußt  nur  eine  Reihe,  ein  Prob- 
lem in  seiner  Geschichte  verfolgen  will,  ohne  sich  um  die  anderen 
Züge  zu  kümmern,  die  dadurch  in  den  Hintergrund  geraten  ?  Der 
Gang  unserer  Untersuchung,  die  nach  dem  spezifischen  Auswahl- 
und  Formungsprinzip  der  Philosophiegeschichte  fragt,  erfordert 
nicht  minder  wie  dieser  Einwand  eine  Analyse  des  Begriffs  der 
Interpretation;  denn  die  Aufgabe  der  philologischen  Arbeit  der 
Philosophie  —  oder  der  philosophischen  der  Philologie  —  kann 
nur  die  Erklärung  und  Deutung  des  philosophischen  Werkes  sein. 
Eine  allgemeinere  Betrachtung  des  Verstehens  geschriebenen  Wortes 
überhaupt  wird  zeigen,  daß  das  Verstehen  innerhalb  der  Philo- 
sophiegeschichte dem  Übersetzen  seiner  Struktur  nach  nahesteht. 
Es  sei  noch  einmal  an  den  Anlaß  dieses  Exkurses  erinnert,  an  die 
Behauptung,  daß  der  Vorzug  rein  philologischer  Betrachtung  in 
dem  Fehlen  eines  bewußten  Systems  bestünde. 

Übersetzen  heißt  Elemente  eines  bestimmten  Sinnzusammen- 
hangs  durch  andere   ersetzen,    sodaß    derselbe  Sinnzusammenhang 

Kantstudien.   XXVI.  28 


434  Julius  Stenzel, 

gewahrt  bleibt1).  Von  den  einfachsten  Vorgängen  dieser  Art  ab- 
gesehen, wird  die  Schwierigkeit  stets  damit  beginnen,  daß  die  ein- 
zelnen Sinnträger,  die  Worte,  sich  nicht  einfach  für  einander  ein- 
setzen lassen;  man  wird,  um  dem  Sinne  „treu"  zu  bleiben,  „frei" 
übersetzen  müssen.  Oft  ist  die  Möglichkeit  des  wortwörtlichen 
Übersetzens,  die  die  einzelnen  Worte  an  sich  zulassen  würden,  des- 
halb nicht  vorhanden,  weil  offenbar  dies  Wort  „hier"  etwas  anderes 
bedeute.  D.  h.  schon  bei  einfachen  Gedanken  schieben  sich  die 
Bedeutungen  der  Worte  zurecht  nach  dem  an  die  zu  deutenden 
Worte  herangebrachten  Sinnzusammenhang,  der  von  einem  Teil 
als  sicher  angenommener  „Bedeutungen"  geleitet,  in  dem  Bewußt- 
sein des  Deutenden  durch  eine  Antizipation  entsteht;  es  besteht 
die  doppelte  Möglichkeit,  daß  diese  ersten  Bedeutungen  schon  falsch 
waren  oder  daß  diese  richtig,  aber  der  Zusammenhang  falsch  war 
—  es  können  auch  beide  Fehler  zusammentreffen.  Man  kann 
den  Fehler  merken,  wenn  an  einer  anderen  Stelle  ein  Wort  in 
einer  sicher  ganz  anderen  Bedeutung  erscheint,  und  diese  vorher 
nicht  bedachte  Möglichkeit  in  jenen  Zusammenhang  einen  neuen 
Sinn  bringt  —  oder  wie  man  sich  weitere  Complexionen  aus- 
malen mag,  psychologische  Vorgänge,  die  natürlich  dem,  der 
sich  um  den  Sinn  eines  Werkes  bemüht,  im  Einzelnen  gar  nicht 
bewußt  zu  werden  brauchen.  Für  jeden  Zusammenhang,  der  sich 
über  die  Sphäre  unmittelbar  selbstverständlicher  Gegenstände  er- 
hebt, spielen  also  beim  Übersetzen  durchaus  nicht  ohne  weiteres 
eindeutige  Bewußtseinszusammenhänge,  die  der  Deutende  heran- 
bringt, eine  wesentliche  Rolle.  Nun  läßt  sich  jedes  Verstehen 
eines  in  Worte  gefaßten  Sinnzusammenhanges  nach  dem  Typus 
des  Übersetzens  betrachten,  insofern  es  sich  in  allen  Fällen  um 
Herstellung  eines  eigenen  Bewußtseinszusammenhangs  auf  Grund 
eines  fremden  handelt.  Verstehe  ich  etwas  in  einer  Sprache  ohne 
„übersetzen"  zu  müssen,  in  der  Muttersprache  oder  einer  mir  voll- 
ständig geläufigen,  so  wäre  dies  analog  dem  Vorgang  beim  wort- 
wörtlichen Übersetzen :  es  entstehen  sofort  in  mir  dieselben  Bedeu- 
tungs-  und  Sinneseinheiten.  Lese  ich  z.  B.  als  Deutscher  ein  mir 
zunächst  nicht  ganz  verständliches  Goethesches  Gedicht,  so  kann 
der  —  ich  glaube  sehr  seltene  —  Fäll  vorliegen,  daß  ich  von  vorn- 
herein die  Worte  in  dem  Bedeutungsgehalt  Goethes  auffasse,  nur 
seine  Sinnessynthese  nicht  vollziehen  kann.    Meines  Erachtens  wird 

1)  Vgl.  Honigs wald,   Prinzipienfragen  der  Denkpsychologie,   Berlin,  Reuther 
u.  Reichardt  1913,  42. 


Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  435 

aber  in  der  weit  überwiegenden  Zahl  der  Fälle  die  Bedeutung 
einzelner  Worte  eine  andere  sein  als  ich  zunächst  heranbringe  — 
denn  darin  liegt  ein  wesentlicher  Zug  des  Dichterischen  — ,  und 
ich  werde  diese  erst  aus  dem  antizipierten  Zusammenhange  richtig 
verstehen;  es  kam  also  auf  einen  dem  Übersetzen  ganz  analogen 
Vorgang  heraus,  aus  dem  Sinn  eines  antizipierten  Zusammenhanges 
einige  mir  zunächst  unbekannte  Bedeutungs träger  mit  neuer  Be- 
deutung zu  erfüllen.  Denken  wir  uns  nun  einen  philosophischen 
Zusammenhang,  etwa  in  griechischer  Sprache  die  so  vieldeutigen 
Worte  Psyche  Doxa  Episteme,  so  ist  sicher  eine  Antizipation  be- 
stimmter Art  notwendig,  um  diese  Vorstellungen  in  einem  Bewußt- 
sein zu  vereinigen.  Daß  hier  beim  Verstehen  eines  griechischen 
Philosophen  der  denkpsychologische  Vorgang  nur  graduell  von  dem 
eines  in  „unserer"  Sprache  Schreibenden  verschieden  ist,  lehrt  wohl 
die  Unmöglichkeit,  eine  einzelne  Seite  Kant,  Hegel  oder  Fichte 
für  sich  zu  interpretieren.  Daß  auch  hier  die  Erfüllung  der  ein- 
zelnen Termini  mit  einem  klaren  Inhalt  nicht  die  unwichtigste 
Aufgabe  des  Verständnisses  ist,  daß  nur  aus  der  „Ahndung  des 
Ganzen"  (Schleiermacher)  das  Einzelne  begriffen  werden  kann, 
wird  selbstverständlich  durch  die  Tatsache  nicht  erschüttert,  daß 
das  Ganze  auch  aus  den  Teilen  wieder  klarer  verständlich  wird; 
es  kommt  hier  ja  nur  auf  das  stete  Einwirken  einer  übergreifenden 
Synthesis  an,  die  aus  den  Teilen,  die  zunächst  allein  ins  Bewußtsein 
treten,  niemals  abgelesen,  sondern  nur  in  einer  Eigentätigkeit  des 
Verstehenden  erzeugt  werden  kann. 

Schon  an  dieser  Stelle  könnte  durch  eine  naheliegende  Über- 
legung ein  Zugang  zu  dem  philosophischen  Problem  der  Philoso- 
phiegeschichte gefunden  werden.  Denn  wie  anders  kann  der  Sinn 
gerade  eines  irgendwie  philosophischen  Zusammenhanges  ergänzt 
werden  als  aus  dem,  was  dem  Betrachter  wahr  erscheint,  also  aus 
seiner  systematischen  Einsicht,  und  es  wird  für  den,  der  auf  dem 
Standpunkt  Cohens  steht,  sein  oben  zitiertes  Wort  sich  bereits  an 
dem  historisch -philosophischen  Einzelurteil  bestätigen,  daß  die 
„eigene  erkenntnistheoretische  Einsicht"  an  der  Herausstellung  des 
historischen  Sinnes  wesentlich  beteiligt  ist.  Doch  seien  diese  Ge- 
danken ebenso  wie  die  nicht  minder  naheliegende  Auffassung  phi- 
losophischen Verstehens  als  des  Übersetzens  eines  Sinnes  mittels 
anderer,  durch  den  jeweiligen  systematischen  Bestand  der  Philo- 
sophie bestimmter  Begriffe  hier  zurückgestellt.  Denn  noch  darf 
die  Abwehrstellung   gegen  die  Meinung   nicht  aufgegeben  werden, 

28* 


436  Julius  Sftenzel, 

es  wäre  vorteilhafter,  ohne  ein  „System"  den  Sinn  eines  Philo- 
sophen intuitiv  zu  erfassen,  sich  in  die  fremde  Gedankenwelt  ein- 
zufühlen oder  wie  sonst  dieser  Vorgang  bezeichnet  werden  mag. 
Da  eine  Einheitsbeziehung  in  ihrer  Entfaltung,  die  Ergänzung 
eines  durch  irgend  welche  Umstände  Lückenhaften1)  in  den  sel- 
tensten Fällen  mittels  diskursiver  Erwägungen  bewußt  erschlossen 
wird,  sondern  eher  durch  einen  phantasiemäßigen  Akt  zu  Stande 
kommt,  so  kann  diese  Antizipation  der  Einheit  aus  zunächst  un- 
vollständig erfaßten  Elementen  Intuition  genannt  werden.  Freilich 
ist  die  stete  Übertragbarkeit  dieser  Intuition  ins  Diskursive  etwas, 
das  bei  wissenschaftlichem  Verstehen  im  Gegensatz  zum  künst- 
lerischen stets  der  Idee  nach  gefordert  ist.  Daß  dies  nun  gerade 
bei  philosophischem  Verstehen  besonders  notwendig  ist,  wird  kaum 
bestritten  werden  können.  Die  Rechenschaft  über  die  Bewußt- 
seinszusammenhänge, so  töricht  es  wäre,  sie  als  Vorbedingung  des 
Verstehens  eines  Goetheschen  Gedichtes  hinzustellen  —  selbst  bei 
sogenannter  Ideendichtung,  die  eben  deshalb  nicht  Begriffs- 
dichtung heißt  —  ist  doch  stets  aufgegeben,  sobald  ich  etwas  phi- 
losophisch zu  verstehen  trachte;  mögen  auch  die  tatsächlichen 
Denk  Vorgänge  in  beiden  Fällen  zunächst  analoge  Struktur  auf- 
weisen. Wer  deshalb  etwa  an  einer  Stelle  eines  platonischen 
Dialoges  Eidos  oder  Doxa  irgendwie  zu  „verstehen"  behauptet,  ist 
verpflichtet,  darüber  Rechenschaft  zu  geben,  in  welchen  Denkzu- 
sammenhang er  es  einordnet.  Es  will  ja  auch  niemand  damit  sich 
begnügen  zu  sagen:  „ich  fühle  genau,  was  es  bedeutet,  es  ergibt 
sich  ja  aus  dem  Zusammenhang".  Und  bei  jedem  der  Termini, 
die  etwa  in  der  vorsokratischen  Philosophie  vorkommen,  kompliziert 
sich  die  Frage  einmal  durch  die  fragmentarische  Überlieferung 
und  dann  durch  die  Entfernung  vom  heutigen  Allgemeinbewußtsein. 
Trotzdem  „versteht"  jeder  die  mehrdeutigen  Ausdrücke  kq%yj  xCvqöLg 
Atom  Zweck  Grund  aus  einem  systemartigen  Einheitszusammen- 
hang heraus,  mag  er  es  wissen  oder  nicht  Je  unbefangener  er 
glaubt,  kein  „System"  zu  haben,  desto  größer  ist  die  Gefahr  der 
Mißdeutung,  weil  er  ohne  weiteres  die  Bedeutungen,  die  in  ihm 
bereitliegen,  den  zu  verstehenden  Sinnesträgern  substituiert,  weil 
er  sich  der  Mehrdeutigkeit,  der  Bedeutungsfülle  gar  nicht  be- 
wußt ist.  „Systematisch"  nenne  ich  auch  diesen  naiven  Stand- 
punkt, weil  es  unmöglich  ist,  die  Bedeutungen  Abstrakt  Kon- 
kret  Realität   Idealität  Ursache  Zweck   anders   zu  begreifen  als 

1)  Simmel,  Logos  VII,  128. 


Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  437 

aus  einem  System,  das  das  Verhältnis  dieser  Begriffe  gegenseitig 
bestimmt.  Wer  „kein  System  hat",  unterliegt  ohne  es  zu  merken 
unserm  empiristischen  Zeitbewußtsein;  wer  keine  philosophische 
Schulung  hat,  der  ist  nicht  im  Stande,  sich  überhaupt  einen  anderen 
Seins  begriff  vorzustellen,  der  etwa  zwischen  den  Begriffen  Ab- 
strakt und  Konkret  völlig  neue  Beziehungen  ermöglicht,  als  die 
einer  empiristischen  Abstraktionslogik;  daran  hängt  aber  nicht 
etwa  bloß  die  Möglichkeit,  sich  bei  Piaton  über  die  übliche  Alter- 
native: Sein  als  Copula,  Sein  als  Existieren  zu  erheben,  sondern 
an  dem  Eingehen  auf  den  sich  stets  modifizierenden  Seinsbegriff 
hängt  doch  tatsächlich  das  Verständnis  Kants  und  Hegels  nicht 
minder  wie  das  des  Parmenides  oder  Aristoteles *).  Gerade  in 
dem  Begriff,  den  man  am  unbewußtesten  gebraucht,  dem  Ist,  auf 
das  zu  reflektieren  einem  zuletzt  einfällt,  ist  man  am  engsten  an 
ein  System  gebunden,  das  dem  Denken  zu  Grunde  liegt  und  an 
dem  man  alle  ihm  begegnenden  Sinnesbeziehungen  mißt  und  nach 
ihm  sie  „versteht".  Wieder  bedarf  eine  psychologische  Voraus- 
setzung dieser  Erwägungen  eines  erläuternden  Wortes.  Es  muß 
ausdrücklich  die  oben  aufgestellte  Behauptung,  daß  jene  Ergänzung 
lückenhafter  Bedeutungs zusammenhänge  auf  dem  intuitiv  antizi- 
pierten Sinn  des  Ganzen  beruht,  dahin  erweitert  werden,  daß  auch 
so  komplizierten  psychischen  Einheiten,  wie  es  ein  allgemeinster 
Seinsbegriff  ist,  ein  unbewußtes  Analogon  entsprechen  könne,  für 
das  wieder  wegen  seiner  Phantasienähe  der  Ausdruck  Intuition 
gewählt  sei,  das  aber  durch  seine,  wenigstens  intendierte,  Über- 
tragbarkeit in  ein  bewußtes  Bedeutungs  System  vor  ähnlichen  Ge- 
bilden ausgezeichnet  ist.  Es  macht  hierbei  nichts  aus,  wenn  bei 
dem  Versuche,  dieses  unbewußte  System  zu  diskursiver  Bewußt- 
heit zu  erheben,  es  sich  herausstellen  sollte,  das  ihm  ein  wider- 
spruchsloser Sinn  nicht  innewohnt,  daß  es  also  den  logischen  An- 
sprüchen auf  objektive  Geltung  durchaus  nicht  genügt.  Ja,  die 
Erfahrung  gewisser  Diskussionen  im  Leben  und  in  der  Wissen- 
schaft zeigt,    daß   dieser  Prozeß   durchaus   nicht   immer   zur  Zer- 


1)  Ein  sehr   interessantes  Beispiel  dafür,   wie  das  Verständnis   eines  Philo- 

>phen  von  dem  Seinsbegriff  abhängt,  den  man  ihm  unterlegt,  ist  die  Beurteilung 

ss  aristotelischen  Seinsbegriffs  durch  Natorp ;  er  will  ihm  aus  bestimmten  Gründen 

einen  anderen  als  den   gröbsten  empiristischen  Seinsbegriff  nicht  zugestehen,    um 

liesen  von  dem  eigenen  —  Natorps  und  Piatons  —  abzuheben  und  die  Verkennung 

'latons   durch   seinen  Schüler  recht  kraß   darzustellen   (vgl.  Jäger,   Studien    zur 

Intstehungsgeschichte  der  aristotelischen  Metaphysik,  73). 


438  Julius  Stenzel 


Störung  jener    unbewußten  Einheit    zu  führen    braucht,    daß    also 
deren  intuitive  Form  durchaus  psychologische  Realität  besitzt. 

Es  handelt  sich  bisher  um  die  tatsächlichen  Grenzen  des  Ver- 
stehens  bei  bestem  Willen  des  Subjekts,  die  als  psychologische 
Realitäten  aufzuzeigen  waren  und  von  den  logischen  Gebilden  der 
Wahrheit  oder  des  Irrtums,  des  Geltens  oder  Nichtgel tens  bewußt 
abgehoben  waren.  Sobald  jedoch  von  der  Frage,  ob  dem  ver- 
stehenden Subjekt  diese  oder  jene  Möglichkeit  der  Verknüpfung 
überhaupt  „einfallen"  kann  oder  nicht,  zu  der  weiteren  fortge- 
schritten wird,  ob  die  verstehende  Verknüpfung  den  wahren 
Sinn  trifft,  so  müssen  Kriterien  zu  dem  Sinn  hinzutreten,  die  ihn 
als  wahr  determinieren  können;  der  mögliche  Sinn  muß  sich  als  ob- 
jektiv notwendig  darstellen.  So  streng  diese  beiden  Weisen 
der  Bewußtheit  logisch  zu  scheiden  sind,  durch  die  übergreifende 
Bedeutung  des  Sinnbegriffs  sind  beide  Weisen  soweit  parallel  zu 
denken,  daß  alles,  was  von  Sinnbeziehungen  ausgesagt  werden  kann, 
auch  von  dem  objektiven  Sinn,  von  der  Wahrheit  gilt.  Wie  das 
irgendwie  sinnvolle  Ganze  von  einem  Satze  bis  zu  umfassenderen  \ 
Bedeutungszusammenhängen  durch  im  Bewußtsein  des  Verstehenden  | 
bereitliegende  Antizipationen  aus  den  Elementen  sich  aufbaute,  so 
ist  schließlich  auch  die  unter  den  möglichen  Verknüpf ungs weisen 
als  notwendig  erweisbare  Deutung  —  korrespondierend  der  wahren 
Bedeutung  —  im  wissenschaftlichen  Prozeß  der  Erkenntnis  auch 
als  bloßer  Sinn  möglich,  solange  die  Kriterien  der  Wahrheit  nicht 
aktuell  bewußt  sind.  Dieses  Stadium  ist  auch  nach  der  erken- 
nenden Erfassung  der  Kriterien  möglich,  ja  es  wird  sogar  die 
Regel  sein,  daß  das  wissenschaftliche  Bewußtsein,  auch  ohne  actu- 
aliter  die  Kriterien  gegenwärtig  zu  haben,  aus  Antizipationen  den 
wahren  Sinn  deutend  erkennt.  Mit  anderen  Worten,  auch  für 
das  Zustandekommen,  wenn  auch  nicht  für  den  Gehalt  der 
Wahrheit  ist  analog  dem  oben  Geschilderten  eine  Intuition  an- 
zusetzen, die  aber  in  noch  viel  höherem  Grade  bereit  ist,  jeder- 
zeit in  die  aktuelle  Form  der  Bewußtheit  des  Grundes  überzugehen 
als  jene  früher  beschriebenen  psychologischen  Vorgänge.  Das 
Wesen  dieser  Intuition  ist  die  stete  Bereitschaft  in  systematische 
Begrifflichkeit  überzugehen;  wieweit  diese  Bereitschaft  im  beson-  ] 
deren  aktualisiert  wird  und  aktualisiert  werden  kann,  das  ist  eine 
Frage  für  sich.  Sollte  jedenfalls  die  mit  dem  Wesen  der  Wissen-  I 
schaff,  aufgegebene  Begrifflichkeit,  die  urteilsmäßige  Beziehung  auf 
Kriterien,   nicht    restlos   möglich   sein,    so   käme   dieser   Intuition 


Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  489 

freilich  eine  über  das  Erkenntnispsychologische  hinausreichende, 
nicht  nur  sinnvolle,  sondern  sinn  geben  de  Bedeutung  zu.  Doch 
diese  Frage  bleibt  dabin  gestellt;  zunächst  soll  die  Methode  der 
Philosophiegeschichte  betrachtet  werden,  die  durch  ausdrückliche 
Besinnung  auf  die  Kriterien  philosophischer  Wahrheit  die  auf- 
fassenden Organe  auszubilden,  die  antizipierenden  Sinneszusammen- 
hänge zu  wirklich  systematischer  Bewußtheit  zu  erheben  sucht. 
Ihr,  der  problemgeschichtlichen  Methode,  kommt  für  die  Konsti- 
tuierung des  Gegenstandes  der  Philosophiegeschichte  im  Sinne  hi- 
storischer Begriffsbildung  ein  hervorragender  Anteil  zu;  diesen  zu 
bestimmen  und  abzugrenzen  ist  die  Aufgabe  der  folgenden  Er- 
örterungen. 

II. 

Der  Systembegriff,  der  der  Betrachtung  zu  Grunde  gelegt 
wurde,  zeigte  sich  gerade  in  seiner  formalen  Natur  bedeutsam  für 
die  Geschichte  der  Philosophie.  Philosophie  als  Wissenschaft  ist 
das  System  der  Probleme:  also,  könnte  man  schließen,  ist  Philo- 
sophiegeschichte, wenigstens  nach  ihrer  philosophischen  Seite  we- 
sentlich Problemgeschichte.  Zuerst  seien  ihre  Erscheinungsformen 
kurz  beschrieben.  Zwei  Arten  hat  die  Erfahrung  der  Wissen- 
schaft gezeitigt :  Geschichte  des  Einzelproblems  und  Geschichte  der 
Problemzusammenhänge.  Die  Grenze  ist  fließend,  eine  Geschichte 
des  Erkenntnisproblems  ist  eine  Geschichte  der  Philosophie  auf 
der  Grundlage  eines  scharf  ausgeprägten  Systembegriffs,  und  sie 
nähert  sich  methodisch  den  Darstellungen  der  Philosophiegeschichte, 
die  ohne  ihr  Gebiet  nach  dieser  Seite  ausdrücklich  zu  beschränken, 
Philosophiegesenichte  unter  „problemgeschichtliche  und  systema- 
tische" Gesichtspunkte  stellen.  Diese  Erscheinung  ist  in  der  Sache, 
dem  Wesen  der  Philosophie  tief  begründet.  Wer  sich  die  Aufgabe 
stellt,  das  Problem  der  Substanz,  der  Kausalität  historisch  darzu- 
stellen, ist  stets  gehalten,  erst  das  Problem,  die  Frage,  um  die  es 
sich  handelt,  als  solche  zu  explizieren.  Jede  solche  Erörterung 
weist  aber  auf  das  Ganze  der  Erkenntnis  hin;  es  muß  zunächst 
gegen  Nachbarprobleme  abgegrenzt,  diese  selbst  aber  irgendwie 
bestimmt  werden.  Selbstverständlich  ist  es  nicht  nötig,  explizite 
jeder  derartigen  Monographie  ein  System  der  Philosophie  voraus- 
zuschicken. Es  gibt  aber  in  der  heutigen  Philosophie  wie  in  den 
anderen  Wissenschaften  gewisse  festliegende  Begriffe,  systematische 
Abbreviaturen,    die  einen  bestimmten   sachlichen  Bedeutungsinhalt 


440  Julius  Stenzel, 

eindeutig  repräsentieren.  Mit  solchen  Begriffen,  die  für  den  Kun- 
digen sofort  bestimmte  systematische  Einordnungen  vollziehen, 
muß  tatsächlich  jedes  einzelne  Problem  in  dem  System  der  Prob- 
leme überhaupt  verankert  werden,  wenn  es  eindeutig  bestimmt 
sein  soll.  Erst  dann  kann  die  Geschichte  eines  Problems  darge- 
stellt werden.  Wer  Problemgeschichte  treibt,  der  will  ja  gerade 
nicht  das  fertige  System  der  Probleme  vorführen,  sondern  eben 
seine  Geschichte,  die  in  ihrem  Verlauf  alle  diese  Probleme  heraus- 
bildete, aber  gerade  dafür  ist  der  Systemgedanke,  wie  er  im  Be- 
wußtsein antizipiert  ist,  Voraussetzung.  Gewiß  wird  der  Zweck 
einer  derartigen  Untersuchung  sein,  an  der  historischen  Betrach- 
tung, an  dem  inhaltlichen  Reichtum  der  Lösungen,  die  in  verschie- 
denem Zusammenhange  mit  anderen  Problemen  der  eigentlich  unter- 
suchten Frage  zu  Teil  wurden,  diese  selbst  tiefer  zu  erfassen,  den 
Rahmen  der  ursprünglichen  Themastellung  erweiternd  zu  erfüllen ; 
doch  von  dem  Rahmen  hängt  eben  der  Reichtum  dessen,  was  in 
die  historische  Erfahrung  überhaupt  eingeht,  wesentlich  ab;  die 
volle  systematische  Klarheit  über  die  Stelle  des  Problems  im 
Ganzen  der  Philosophie,  seine  Zuordnung  und  Abgrenzung  von 
den  benachbarten  Problemen  befähigt  erst,  das  Problem  in  den 
Verschlingungen  zu  erkennen,  in  denen  es  in  der  Geschichte  auf- 
tritt, es  aus  diesen  Verdunkelungen  herauszulösen,  und  den  Anteil 
zu  bestimmen,  den  der  einzelne  Philosoph  an  der  allmählichen 
Klärung  der  Sache,  an  der  Entwicklung  der  Wahrheit  beanspruchen 
kann.  Dies  zeigt  die  unersetzliche  Bedeutung  der  Problemge- 
schichte für  das  Zustandekommen  aller  Philosophiege'schichte;  in 
der  Problemgeschichte  ist  der  Wert,  nach  dem  aus  der  Vielfältig- 
keit alles  dessen,  was  an  Material  möglicher  philosophiegeschicht- 
licher Forschung  in  der  Geschichte  bereitliegt,  der  spezifische  Ge- 
genstand ausgewählt  und  geformt  wird,  unmittelbar  sichtbar  und 
und  er  muß  ihr  stets  gegenwärtig  sein,  sie  muß  stets  „philoso- 
phisch" bleiben.  Sie  stellt  lediglich  das  Verfahren  auf  höherer 
Stufe  dar,  das  allem  auf  irgend  einen  Sinn  gerichteten  Verstehen 
überhaupt  eignet :  aus  antizipierten  allgemeineren  Zusammenhängen 
die  Elemente  der  Erfahrung  zu  einem  Ganzen  zu  fügen,  nur  daß 
hier  dieser  antizipierte  Zusammenhang  aus  der  Form  deutender 
Sinneserfassung  in  die  bewußte  Form  des  systematischen  Denkens 
hinübergetreten  ist. 

Demnach  ist  unzweifelhaft   die  problemhistorische  Einstellung 
die  Voraussetzung  aller    philosophiegeschichtlichen  Forschung  und 


Zum  Problem  der  Philosopkiegeschichte.  441 

niemals  ist  bisher  solche  zustandegekommen,  ohne  daß  sie  in  irgend 
einer  Vorform  gegenwärtig  war.  Deshalb  ist  sie  die  älteste  Form 
der  Philosophiegeschichte;  die  Ansätze  dieser  Wissenschaft  bei 
Piaton  im  Phaidon  und  Sophistes  bemühen  sich  durchaus  um  die 
sachliche  Bedeutung  eines  Problems,  im  Phaidon  um  den  Begriff 
der  Ursache,  im  Sophistes  um  die  Einheit  oder  Mehrheit  der 
Prinzipien.  Wo  Aristoteles  sich  um  historische  Fragen  kümmert, 
ist  es  das  Problem,  das  den  Zusammenhang  abgibt,  niemals  die 
Individualität  eines  Philosophen.  Freilich  war  diese  Beschränkung 
der  Antike  keine  selbstgewählte,  methodische  Einstellung,  sondern 
sie  entsprang  aus  der  eigentümlichen  Stellung  des  Altertums  zum 
Historischen  und  Individuellen  überhaupt;  denn  diese  Seiten  der 
Wirklichkeit  blieben  für  das  damalige  theoretische  Bewußtsein  im 
Hintergrunde.  Die  moderne  Problemgeschichte  dagegen  entspringt 
dem  bewußten  Willen,  die  Wahrheit  zu  suchen  in  ihrer  geschicht- 
lichen Entwicklung,  als  deren  Ergebnis  das  philosophische  Bewußt- 
sein sich  fühlt.  Gegenüber  der  in  solchen  Fragen  unbewußt  und 
naiv  rationalistischen  Antike  hat  die  moderne  Philosophie  diese 
Methode  herausgebildet  aus  der  Einsicht  in  das  Wesen  des  philo- 
sophischen Wahrheitsbegriffes,  der  keine  bequeme  Relativierung, 
keinen  Historismus  zuläßt,  aber  die  Geschichte  als  die  Erfahrung 
begreift,  ohne  die  jedes  Denken  notwendig  verarmen  muß,  an  der 
es  sich  allererst  über  seinen  eigenen  Sinn  und  Inhalt  klar  werden 
und  zum  Selbstbewußtsein  gelangen  kann.  Doch  wie  weit  kann 
dieser  philosophische  Wahrheitsbegriff  als  Auswahlprinzip  den  Be- 
dingungen der  Geschichte  genügen? 

Je  größer  der  Anteil  angenommen  wird,  der  ihm  bei  der  wert- 
bestimmten Auslese  dessen,  was  philosophisch  in  der  Geschichte 
ist,  zukommt,  desto  geringer  wird  notwendig  das,  was  ohne  ihn 
durch  sogenannte  rein  philologisch-historische  Methode  an  philo- 
sophischem Gehalt  der  Geschichte  apperzipiert  werden  kann.  Wird 
von  der  tatsächlichen  inneren  Durchdringung  historischer,  philo- 
logischer und  philosophischer  Betrachtungweise,  durch  die  allein 
auf  philosophiehistorischem  Gebiete  Ergebnisse  möglich  'sind,  die 
eben  im  wissenschaftlichen  Sinne  zugleich  philosophisch  und  histo- 
risch sind,  abgesehen,  wird  also  die  Leistung  jeder  Methode 
logisch  gesondert  betrachtet,  so  müßte  die  Problemgeschichte  auch 
das  Historische,  das  sie  als  G  e  s  c  h  i  c  h  t  e  der  Probleme  notwendig 
enthält,  aus  sich  erzeugen,  da  alles,  was  außerhalb  ihrer  Me- 
thode gefunden  wird,    streng   genommen  in  das  Gebiet  des  Philo- 


442  Julius  Stenzel, 

sophischen  gar  nicht  hineinreicht.  Kann  sie  das?  Dies  ist  unter 
der  angenommenen  grundsätzlichen  Scheidung  nun  zu  untersuchen. 
Nicht  um  die  tatsächliche  wissenschaftliche  Arbeit,  die  sich  Prob- 
lemgeschichte nennt,  und  deren  Ergebnisse  handelt  es  sich  dabei, 
sondern  um  die  Frage,  ob  nicht  in  aller  problemhistorischen  For- 
schung grundsätzlich  das  Historische  irgendwie  mindestens  als  still- 
schweigende Voraussetzung  gegenwärtig  ist. 

Mit  der  Feststellung  des  Wertes,  auf  den  die  Auswahl  des 
Historischen  bezogen  bleibt,  ist  nämlich  noch  nicht  ohne  weiteres 
der  individuelle  Charakter  des  historischen  Gegenstandes  gegeben, 
von  dem  gerade  der  Unterschied  naturwissenschaftlicher  und  his- 
torischer Begriffsbildung  und  der  Sinn  spezifisch  historischer  Ent- 
wicklung abhängt.  Doch  was  kann  innerhalb  der  Problemgeschichte 
überhaupt  als  individueller  Charakter  des  Gegenstandes  bezeichnet 
werden?  Die  umfassende  Aufgabe,  das  Ganze  eines  individuellen 
Systems  aus  seinen  gesamten  geistigen  Wurzeln  zu  begreifen  und 
den  philosophischen  Bios  darzustellen,  sie  darf  der  Problem- 
geschichte erst  garnicht  gestellt  werden,  weil  sie  ihr  grundsätzlich 
entgegengesetzt  ist,  indem  sie  Geschichte  der  Gedanken,  nicht  der 
Denker  schreiben  will.  Aber  wenn  sie  Geschichte  der  Prob- 
leme sein  will,  muß  sie  diese  beziehungsweise  ihre  Lösungen  — 
eine  für  die  Philosophie  der  Sache  nach  unwesentliche  Scheidung 
—  in  ihrer  historischen  Entwicklung  zeigen;  sie  muß  notwendig 
Stufen  annehmen,  und  sie  hat  bisher  noch  nicht  darauf  verzichtet, 
diese  an  Namen  der  Philosophen  zu  knüpfen.  Verzichtete  sie  darauf, 
würde  sie  nur  Möglichkeiten  der  Problematik  dialektisch  ausein- 
ander entwickeln,  ohne  sie  mit  historischen  Konkretionen  zu  ver- 
binden, so  würde  sie  zwar  immer  noch  philosophische  Arbeit  leisten, 
hätte  aber  aufgehört,  Geschichte  zu  sein.  Als  solche  muß  die 
Problemgeschichte  notwendig  in  Beziehung  bleiben  mit  der  Form 
und  dem  Grade  der  Bewußtheit,  in  der  die  Probleme  in  der  Ge- 
schichte in  Individuen  (auch  ganze  Epochen  sind  als  solche  anzu- 
sehen) hervorgetreten  sind.  Der  Wahrheitsbegriff  der  Philosophie, 
der  aus  der  Idee  des  Systems  der  Probleme  an  die  historische  Aus- 
sage herangebracht  wird  und  deren  Sinn  zu  bestimmen  geeignet 
ist,  ist  grundsätzlich  aus  sich  heraus  nicht  im  Stande,  die  Klar- 
heit und  Unklarheit,  in  der  ein  Problem  auf  einer  geschichtlichen 
Stufe  anzusetzen  ist,  zu  bestimmen.  Wie  der  mögliche  Sinn  der 
Aussage  eines  Philosophen  durch  die  problemgeschichtliche  Ein- 
stellung an   der  Hand  des    systematischen  Wahrheitsbegriffes  eine 


Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  443 

Determinierung  erfuhr,  sozusagen  auf  eine  [Koordinate  bezogen 
wurde,  so  bedarf  dieser  Sinn  nun  nach  einer  anderen  Seite  einer 
weiteren  D  et  erminier  ung.  Dazu  müßte  die  Problemgeschichte 
grundsätzlich  aus  der  Linie  ihrer  eigenen  Denkbewegung  heraus- 
treten. Auf  der  ihr  spezifisch  eigentümlichen  Linie  bleiben  die 
Möglichkeiten  der  Klarheit  des  Problems,  wie  weit  der  Philosoph 
tatsächlich  sich  der  Wahrheit  bewußt  ist,  stets  fließend;  denn  das 
Hinblicken  von  einem  Philosophen  auf  den  andern,  die  Verbin- 
dung zwischen  den  Philosophen,  ist  gerade  der  Nerv  dieser  Be- 
trachtungsweise. Je  konsequenter  der  Problemhistoriker  den  ei- 
gentlichen Grundgedanken  einer  Geschichte  der  Probleme  erfaßt, 
desto  klarer  ist  er  sich  über  diesen  Sachverhalt.  Denn  das  Be- 
wußtsein, daß  die  eigentlich  historische  Arbeit  im  engeren  Sinne 
in  einer  anderen  Einstellung  erfolgt,  gibt  ihm  erst  die  Freiheit, 
die  sachlichen  Konsequenzen  einer  an  ihre  geschichtliche  Bedingt- 
heit gebundenen  Aussage  herauszuarbeiten  und  dadurch  auch  ihre 
historischen  Folgen  verständlich  zu  machen.  In  dieser  Freiheit, 
mitzuphilosophieren  und  den  früheren  Denker  nach-  und  weiterzu- 
denken, entsteht  erst  die  eigentümliche  Selbstbewegung  dieser  Ge- 
schichte, die  von  der  historischen  Gegebenheit  ausgehend  sich  doch 
nicht  an  sie  bindet.  Abgesehen  von  dem  hohen  didaktischen  Wert 
einer  solchen  Betrachtungsweise  kann  auch  nur  aus  dieser  Freiheit 
die  rückwirkende  historische  Wirkung  entstehen.  Durch  schein- 
bar rücksichtsloses  Weiterdenken  der  Probleme  bis  zu  den  äußer- 
sten, modernsten  Konsequenzen  ergeben  sich  oft  wieder  die  über- 
raschendsten Bezüge  auf  andere  historische  Tatsachen,  von  denen 
die  Betrachtung  gar  nicht  ausgegangen  war,  die  unmittelbar  er- 
schöpfend zu  deuten,  Schwierigkeiten  gemacht  hätte1).  Die  Re- 
duktion auf  die  den  historischen  Bedingungen  entsprechende  Be- 
wußtheitsstufe ist  nach  der  Vorarbeit  der  Problemgeschichte  durch- 
aus möglich.  Welches  aber  ist  der  Maßstab  für  die  jeweilige  Be- 
wußtheit des  Problems,  die  zweite  Koordinate  neben  der  Problem- 
geschichte, an  der  die  historische  Wahrheit  der  Philosophiege- 
schichte gemessen  werden  kann?' 

1)  Das  Buch  Hönigswalds  über  die  „Philosophie  des  Altertums"  (München 
1917)  bietet  dafür  die  merkwürdigsten  Beispiele;  gerade  dort,  wo  er  scheinbar  am 
weitesten  geht  in  der  Ausspinnung  sachlicher  Konsequenzen,  in  der  Urteilslehre 
der  Kyniker,  ergeben  sich  Anknüpfungspunkte  an  spätplatonische  Probleme.  Auch 
Einstellungen,  die  in  der  Art  ihrer  Bewußtheit  der  antiken  Philosophie  vollstän- 
dig fernliegen,  können  doch  wesentliche  sachliche  Bezüge  in  ein  neues  Licht 
stellen,  z.  B.  die  phänomenologisch«'. 


444  Julius  S  t  e  n  z  e  1 , 

III. 

Die  Lösung  dieser  historischen  Aufgabe  der  Philosophiege- 
schichte auf  dem  Wege  irgend  einer  unmittelbaren  Erfassung  der 
Aussagen  früherer  Philosophen  in  nichtphilosophischen  Methoden 
zu  erwarten,  ist  nach  dem  Entwickelten  ausgeschlossen.  Nur  aus 
dem  Begriff  der  Philosophie,  aus  dem  Ganzen  ihrer  Probleme,  nur 
durch  eine  Wendung  über  die  Einstellung  der  Problemgeschichte 
hinaus  kann  auch  dieses  Ziel  erreicht  werden,  wenn  es  überhaupt 
im  Bereich  des  Philosophischen  liegen  soll.  Ja  es  wird  hier  der 
Systemgedanke  der  Philosophie  noch  in  einer  anderen  Weise  als 
in  der  Problemgeschichte  gegenwärtig  sein  müssen. 

Es  sei  noch  einmal  von  der  Grundfrage,  dem  Verstehen  der 
Aussage  eines  früheren  Philosophen  ausgegangen,  die  Problemge- 
schichte habe  bereits  ihre  Einordnung  der  Aussage  in  einen  Pro- 
blemzusammenhang vollzogen,  und  es  handle  sich  darum,  festzu- 
stellen, wie  weit  die  Konsequenzen  dieser  Aussage,  die  sich  aus 
der  systematischen  Struktur  des  Problems  ergeben,  dem  Philo- 
sophen zum  Bewußtsein  gekommen  sind,  wie  weit  die  logische 
Leistung  der  Begriffe  sich  in  dem  Denker  bereits  aus  der  Mög- 
lichkeit zur  Wirklichkeit  entwickelt  hat.  Niemals  ist  ein  anderer 
Weg  für  die  Beurteilung  dieser  historischen  Wirklichkeit,  d.  h. 
Wirksamkeit  der  Begriffe  beschritten  worden  als  der,  zu  prüfen, 
ob  die  Konsequenzen,  die  ein  Problem  für  uns  hat,  sich  mit  an- 
deren Aussagen  des  Philosophen  vertragen.  Widersprechen  einige 
der  Folgerungen  unzweideutigen  Aussagen  des  Philosophen,  so  ist 
anzunehmen,  daß  sie  ihm  nicht  zu  Bewußtsein  gekommen  sind, 
wenigstens  nicht  die  Bedeutung  gehabt  haben,  die  nach  unserer 
Ansicht  ihnen  gebührt,  sie  sind  nicht  wirksam  geworden.  Nicht 
also  ist  der  einzelnen  Aussage  der  gesuchte  Grad  der  Klarheit 
abzulesen,  sondern  nur  in  dem  Zusammenhang  weiterer  Aussagen 
ist  darüber  Aufschluß  zu  gewinnen.  An  welchen  Kriterien  wird 
nun  der  Widerspruch  gemessen?  Nur  derselbe  systematische 
Wahrheitsbegriff,  der  die  Urteile  der  Problemgeschichte  bestimmt, 
kann  auch  diese  Beurteilung  leiten.  Die  gegenseitige  Vergleichung 
der  Aussagen,  die  gegenseitige  Korrektur  ihrer  Deutungen  weist 
auf  die  Idee  hin,  jenes  frühere  Bewußtsein  in  seiner  Gesamtheit 
als  ein  widerspruchsloses  System  aufzufassen.  Dieses  System  wird 
durch  Denkschritte  erschlossen,  die  vom  Systemgedanken  des  Ver- 
stehenden geleitet  sind,  aber  es  ist  nicht  das  System  dieses  Ver- 
stehenden selbst,  es  ist  ein  historisches,  d.  h.  in  seiner  historischen 


Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  445 

Konkretion  einzigartiges  Individuum,  ein  immanenter  Zusammen- 
hang der  Gedanken,  der  jedem  einzelnen  bestimmten  Sinn  gibt, 
mag  das  System  als  solches  ausgeführt  vorliegen  oder  nicht.  Nun 
beruht  nach  dem  modernen  Systemgedanken  der  Zusammenhang 
der  Probleme  auf  ihrer  kritischen  Sonder ung,  wie  sie  die  Ent- 
wicklung des  philosophischen  Denkens,  d.  h.  die  Aufwicklung  ge- 
bundener Komplexe  mit  sich  gebracht  hat.  Diese  Sonderung  aber 
bestand  früher  nicht  in  derselben  Weise ;  wie  wir  heute  Probleme 
trennen  in  erkenntnistheoretische  und  metaphysische,  ethische  und 
ästhetische,  so  wurden  sie  früher  nicht  getrennt;  um  so  weniger, 
je  mehr  sich  die  Betrachtung  den  Zeiten  mythischer  „Gebunden- 
heit" (Dilthey)  nähert.  Der  Sinn  der  Philosophiegeschichte  steht 
und  fällt  mit  dem  Gedanken,  daß  die  Summe  der  Probleme  stets 
irgendwie  gegenwärtig  ist;  daß  aus  dieser  Summe  das  Eine  oder 
das  Andere  sich  ans  Bewußtsein  ringt,  aber  das  Niclrb-Gegen- 
wärtige  auch  durch  sein  Fehlen  das  Gegenwärtige  bestimmt  und 
zu  seiner  Formung  beiträgt.  Zum  Teil  noch  in  ursprünglicher 
Verbundenheit  tauchen  die  Probleme  empor,  hemmen,  fördern  sich 
gegenseitig  in  ihren  Konsequenzen,  drängen  sich  in  den  Vorder- 
grund, werden  durch  andere  abgelöst  —  eine  unendliche  Mannig- 
faltigkeit von  Verbindungen  ergibt  sich,  die  aber  alle  auf  einen 
allgemeineren  Systembegriff  bezogen  werden  müssen,  wenn  sie  in 
unser  Bewußtsein  eingehen  und  überhaupt  verstanden  werden  sollen. 
Eine  unerschöpfliche  Aufgabe,  systematische  Möglichkeiten  als  solche 
zu  begreifen,  eröffnet  sich  unter  diesem  Gesichtspunkt  des  Systems, 
das  in  der  Anordnung  und  Sonderung  der  Probleme  individuell, 
in  der  zu  Grunde  liegenden  Idee  der  Geisteseinheit  und  -ganzheit 
allgemeingültig  ist.  Die  individuellen  Systeme1),  jedes  als  Einheit 
begriffen,  d.  h.  in  einem  Bewußtsein  vereinigt  gedacht,  stellen  dem- 
nach den  Umfang  und  Inhalt  alles  dessen  dar,  was  bei  den  ein- 
zelnen Philosophen  als  bewußt  anzusetzen  ist,  sie  beantworten 
demnach  auch  die  Einzelfragen,  die  die  Problemgeschichte  offen- 
lassen mußte.  Zu  der  einen  Koordinate  der  problemgeschichtlichen 
Entwicklung  ergibt  sich  nun  in  dem  System  des  jeweiligen  Philo- 
sophen die  zweite,  an  der  der  Bewußtheitsgrad  des  einzelnen  Prob- 

1)  Ich  wiederhole,  daß  ich  unter  System  lediglich  den  Zusammenhang  ver- 
stehe, dessen  Teile  durch  das  Ganze  bestimmt  sind.  Ich  meine  daher,  daß  jedes 
Problem  Abgrenzung  und  Bestimmung  nur  von  der  Idee  eines  solchen  Systems 
erhalten  kann,  ein  solches  also  immer  anzusetzen  ist,  sofern  das  Problem  in  sich 
bestimmt  ist. 


446  Julius-Stenzel, 

lems  einen  festen  Maßstab  erhält.  Zusammengefaßt  entsprechen 
diesen  Systemen  als  der  Summe  dessen,  was  den  einzelnen  Philo- 
sophen gültig  war,  ebensoviele  Formen  von  Bewußtheit;  denn  das 
ist  die  Eigenschaft  alles  Psychischen,  daß  jeder  Teilinhalt  jeden 
anderen  modifiziert1).  Was  so  zusammengefaßt  der  systematische 
Bewußseinsinhalt  eines  Philosophen  ist,  das  allein  möchte  ich  seine 
philosophische  Individualität  im  Sinne  der  Philosophiegescbichte 
nennen. 

IV. 

Der  Sinn  dieser  neuen,  auf  historische  Konkretion  eingestellten 
Aufgabe  der  Philosophiegeschichte  wird  im  Einzelnen  deutlich 
werden,  wenn  ihre  doppelte  Leistung,  die  historische  und  philo- 
sophische, nun  beschrieben  werden  wird.  Daß  die  Philosophiege- 
schichte ihren  historischen  Gegenstand  erst  damit  erhält,  ergab 
bereits  die  Abgrenzung  des  Anteils,  den  die  Problemgeschichte  an 
dessen  Erzeugung  hat.  Kraft  der  problemgeschichtlichen  Komponente, 
ohne  die  Philosophiegeschichte  nicht  denkbar  ist,  wird  der  Ge- 
genstand der  Philosophiegeschichte  überhaupt  abgegrenzt  aus  der 
Fülle  des  Historischen  als  philosophischer;  kraft  der  anderen  Wen- 
dung auf  die  historische  Individualität  im  Sinne  der  Einzigkeit 
erhält  die  Philosophie g eschichte  ihren  Gegenstand  als  historisch 


1)  Ohne'  in  eine  speziellere  Methodik  der  Philosophiegeschichte,  die  den 
Rahmen  dieser  Abhandlung  überschreiten  würde,  einzutreten,  sei  ein  Punkt  kurz 
berührt.  Es  liegt  nahe,  die  ganz  verschiedene  Wirksamkeit  und  bewußtseins- 
mäßige Wirklichkeit  gewisser  Probleme  und  Konsequenzen  auf  Werte  zurückzu- 
führen, die  in  der  individuellen  Persönlichkeit  des  Philosophen,  an  den  oder  jenen 
Bereichen  der  Kultur  haften  (s.  Kynast,  Intuitive  Erkenntnis,  Breslau  1919,  14  ff.). 
So  sicher  diese  Betrachtungsweise  die  Einseitigkeiten  der  Systeme  vielleicht  schlag- 
lichtartig zu  erhellen  geeignet  ist,  so  sicher  ist  sie  doch  erst  möglich,  nachdem  durch 
eine  systematische  Besinnung  das  Vorwiegen  der  einen  oder  anderen  Gedanken- 
reihe erkannt  und  durch  das  Messen  an  dem  Maßstab  des  beurteilenden  Subjekts 
adäquat  beschrieben  wurde.  Diesen  Sachverhalt  durch  die  Beziehung  auf  eine 
andere  Wertverteilung  zu  erklären,  ist  entweder  nur  eine  Wiederholung  des  durch 
die  Einstellung  auf  das  individuelle  System  bereits  Klargelegten,  insofern  man  jede 
der  Komponenten  durch  einen  spezifischen  Wert  begleitet  sein  läßt,  oder  man 
muß  für  die  Störung  des  Gleichgewichts  einen  besonderen,  überwiegenden  Wert 
ansetzen.  Dadurch  hat  man  grundsätzlich  die  Möglichkeit  einer  philosophischen, 
d.  h.  systematischen  Erklärung  aufgegeben,  und  gelangt  zu  einer  ganz  anderen 
Betrachtungsweise,  einer  „Psychologie  der  Weltanschaungen",  wie  sie  als  eine 
selbständige  Aufgabe  neben  der  hier  geschilderten  denkbar  und  notwendig  ist 
(vgl.  das  so  betitelte  Werk  von  Jaspers,  Berlin,  Springer  1919). 


Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  447 

gültigen.  Sei  es  die  einzelne  Lehre,  die  den  Beitrag  zur  Geschichte 
eines  Problems  darstellt,  sei  es  das  Ganze  der  jeweiligen  Philo- 
sophie selbst,  aus  dem  heraus  dieser  Beitrag  allein  bestimmbar  ist, 
beides  muß  auf  Grund  einer  derartigen  Betrachtung  festgelegt 
werden,  muß  aus  der  fließenden  Bewegung  der  Problemgeschichte 
heraus  in  seiner  spezifischen  Bewußtheit  fixiert  werden.  Nicht  als 
ob  nun  die  Problemgeschichte  explizit  diese  andere  Einstellung  an 
jedem  Punkte  ihrer  spezifischen  Arbeit,  bei  jeder  Stufe  ihrer  Ent- 
wicklung vollziehen  müßte,  aber  implizit  muß  diese  die  Eigenart 
jeder  einzelnen  Problemlösung  erst  feststellende  Idee  des  indivi- 
duellen Systems  gegenwärtig  sein ;  entweder  muß  eine  so  gerichtete 
Betrachtung  vorausgegangen  sein  oder  sie  kann  an  der  als  histo- 
risch vorausgesetzten  Aussage  jederzeit  bestätigend  angestellt 
werden.  So  erst  kann  die  Problemgeschichte  ihrem  Entwicklungs- 
begriff  den  Charakter  der  Geschichte  geben,  wenn  die  einzelnen 
Stufen,  nicht  zu  unbestimmten  Vorstufen  degradiert l),  den  Doppel- 
sinn historischer  Entwicklung  erfüllen  sollen,  zugleich  Eigenwert 
als  Realitäten  zu  haben  und  auf  einen  die  Entwicklung  bestimmenden 
Wert,  der  im  systematischen  Wahrheitsbegriff  beschlossen  ist,  be- 
zogen zu  werden.  Diese  Wertbeziehung  bedeutet  aber,  solange 
die  Stufen  historischer  Einzigartigkeit  begriffen  werden,  keine 
Ableitung  der  Geschichte  aus  einem  hinter  ihr  liegenden  meta- 
physischen Prinzip,  das  in  dialektischer  Entwicklung  unmittelbar 
zu  erfassen  wäre. 

Die  historische  Umstellung  der  systematischen,  an  den  Prob- 
lemen orientierten  Betrachtung  auf  die  Erkenntnis  des  jeweiligen 
Systems  genügt  zwar  der  Idee  nach  sich  selbst  und  kann  für  ihre 
Methode    von   außen   keine   Stütze   erhalten,    um    so    weniger,   je 


1)  Anders  die  Marburger :  Piaton  und  Kant  haben  nach  ihnen  tatsächlich  im 
tiefsten  Sinne  nur  das  geraeint,  was  heute  im  Sinne  der  Marburger  Schule  kri- 
tische Philosophie  ist.  Daher  lernt  man  kritische  Philosophie  aus  diesen  beiden 
Philosophen  am  besten  kennen,  und  höchstens  kann  man  zugeben,  daß  dunkel  und 
verworren  die  anderen  Philosophen  alle  sich  um  denselben  Gedanken  herumbe- 
wegen, nur  immer  klarer  den  wahren  Sinn  der  Philosophie  durch  ihren  Schatten 
begrenzend.  Nicht  die  Hegeische  Thesis  und  Antithesis,  die  beide  berechtigt  sind 
und  zusammen  erst  die  nächste  Stufe  der  Klarheit  ausbilden  helfen,  sondern  rätsel- 
hafte Mißverständnisse,  auf  individueller  Unfähigkeit  eines  Philosophen  beruhend, 
verdunkeln  auf  lange  Zeit  das  Licht,  das  bereits  hell  aufgeleuchtet  haben  kann, 
bis  die  eine,  wahre  Methode,  endlich  wieder  entdeckt,  die  Kontinuität  der  Ent- 
wicklung nach  der  Art  eines  zu  Zeiten  unterirdisch  fließenden  Stromes  wieder- 
herstellt. 


448  Julius  S  t  e  n  z  e  1 , 


stärker  in  der  zu  erfassenden  Philosophie  der  Systemgedanke  zur 
Auswirkung  gekommen  ist.  Sie  muß  sich  jedoch  nach  einer  Hilfe 
umsehen  in  Fällen,  wo  das  zum  Nach-  und  Mitphilosophieren  nötige 
Material  entweder  fragmentarisch  überliefert  ist  oder  die  philoso- 
phischen, auf  ihren  Sinn  zu  deutenden  Aussagen  in  einer  unsyste- 
matischen Form  vorliegen.  Naheliegende  Beispiele  bietet  für  beides 
die  Philosophie  des  Altertums,  doch  ist  jede  sprachliche  Einklei- 
dung mit  unsystematischen  Elementen  notwendig  behaftet,  und  so 
wenig  der  Gedanke,  die  philosophischen  Begriffe  durch  feste  Zeichen 
zu  ersetzen,  je  Aussicht  auf  Verwirklichung  hat,  so  zeigt  doch 
diese  Absicht  am  besten,  wovon  die  Rede  ist :  von  allem  dem,  was 
in  jedem  philosophischen  Werk  eben  nicht  eindeutiges  Begriffs- 
zeichen ist.  Die  Philosophie  als.  der  Inbegriff  des  „Geistes",  des 
Kulturbewußtseins  steht  daher  nach  Form  und  Gehalt  mit  eben 
dieser  Kultur,  wie  sie  in  Sprache,  Kunst,  Sitte,  Religion,  Recht  u.  s.  w. 
sich  objektiviert  hat,  in  enger  Beziehung;  aus  der  lebendigen  An- 
schauung dieser  Kultur  kann  daher  dem  Bestreben,  sich  des  Kul- 
turbewußtseins  einer  Zeit  zu  bemächtigten,  eine  wesentliche 
Klärung  und  Bestätigung  erwachsen.  Neben  die  für  die  Philo- 
sophiegeschichte wichtigste  Beziehung  zwischen  den  Philosophen, 
neben  den  Anteil  an  -  der  Klärung  der  Probleme  tritt  eine  äußere 
Abhängigkeit,  die  in  der  Terminologie  sich  offenbart *) ;  aber  durch 
die  Beziehung  der  Philosophie  zu  den  Einzelwissenschaften  ist  auch 
deren  Terminologie  von  Einfluß,  um  so  mehr,  je  enger  noch  das 
Band  zwischen  den  Wissenschaften  und  der  Philosophie  ist 2).  Frei- 
lich bleibt  der  an  dem  philosophischen  Sinn  sich  orientierenden 
Philosophie  auch  hier  das  letzte  Wort,  da  über  die  jederzeit  mög- 
lichen, mit  dem  Gange  der  begrifflichen  Entwicklung  unvermeid- 
lichen Bedeutungsänderungen  und  -Differenzierungen  doch  nur  die 
systematische  Besinnung  Aufschluß  geben  kann,  wie  sie  oben  als 
das  Wesen  aller  Deutung  und  Interpretation  umrissen  wurde 
(S.  432).  Tiefer  in  den  Gehalt  der  Philosopheme  greift  die  unmittel- 
bare Wirkung  der  Sprache  selbst  ein;  in  den  Worten  liegen  eine 
Menge  von  Bedeutungsverbindxmgen,  oft  höchst  komplizierten 
Sinneseinheiten  vor,  deren  Einwirkung  ein  Philosoph  um  so  stärker 

1)  Wichtige  Einstellungen  werden  durch  einen  richtig  verstandenen  Terminus 
erleichtert;  vgl.  Riehl,  Der  philosophische  Kritizismus,  2.  Aufl.,  S.  15  über  den 
Sinn  „möglicher"  Erfahrung. 

2)  Für  die  griechische  Philosophie  ist  die  Sprache  von  Mathematik  und 
Medizin  von  größter  Bedeutung  gewesen. 


Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  449 

erfährt,  je  mehr  er  aus  der  eigenen  Sprache  sich  erst  eine  Termi- 
nologie aufzubauen  sucht,  wie  es  z.  B.  bei  Piaton  der  Fall  ist. 
Durch  das  Medium  der  Sprache  fließt  der  Charakter  eines  Volkes 
am  unmittelbarsten  in  die  Bildung  der  philosophischen  Begriffe 
ein,  und  das  Interesse,  das  die  Philosophen  von  Heraklit  an  bis 
Leibniz  und  Fichte  der  Sprache  entgegenbrachten,  ist  danach 
wohlbegründet.  Mindestens  für  die  alte  Philosophie  ist  daher  die 
Hilfe  der  Philologie  auch  bei  der  Deutung  des  philosophischen 
Sinnes  —  von  den  wesentlichsten  Vorarbeiten  ganz  abgesehen  — 
nicht  zu  entbehren ;  zeigt  diese  die  verschiedenen  Kulturgebiete  in 
ihrem  Zusammenhange,  in  ihrer  ersten  Bewußtseinsstufe  in  Sprache 
und  Mythus,  Kunst  und  Rhetorik,  so  liegt  gerade  bei  der  hier  zu 
Grunde  gelegten  Auffassung  der  Philosophie  deren  historische  Arbeit 
in  einer  geradlinigen  Fortsetzung  philologischer  Methode,  wie  dies 
ja  schon  die  oben  versuchte  Analyse  der  Interpretation  andeutete. 
Philosophiegeschichte  gerät  dadurch,  in  ein  eigentümliches  Ver- 
hältnis zur  Kulturgeschichte,  das  wenigstens  an  einem  Punkte  noch 
berührt  sei,  der  die  Selbständigkeit  der  philosophiegeschichtlichen 
Aufgabe  gegenüber  der  Kulturgeschichte  deutlich  zum  Ausdruck 
bringt.  Alle  Kulturgeschichte  stützt  sich  in  erster  Linie  auf  die 
irgendwie  erhaltenen  Erzeugnisse  der  Kultur,  auf  die  Literatur 
und  bildende  Kunst,  auf  alle  Beste  des  früheren  Lebens.  Wir 
können  diese  selbst  zum  Teil  noch  betrachten,  sie  auf  uns  wirken 
lassen,  so  wie  sie  —  scheinbar  —  auf  die  Menschen  früherer  Zeiten 
gewirkt  haben.  Kulturgeschichte  gewinnt  damit  eine  gewisse  Ob- 
jektivität gegenüber  der  nur  erschlossenen  Bewußtheit  früherer 
Philosophen.  Tatsächlich  ist  der  Abstand  dessen,  was  wir  und 
was  frühere  Völker  als  Wirkung  dieser  objektiven  Zeugnisse 
empfunden  haben,  meist  viel  größer,  als  man  gemeinhin  annimmt; 
das  führt  dann  zu  völlig  falschen  Perspektiven,  unter  denen  ein 
ganz  verzerrtes  Bild  des  früheren  Kulturbewußtseins  entsteht.  So 
ist  z.  B.  die  klassizistische,  sentimentale  Auffassung  des  Griechen- 
tums entstanden;  man  hat  ohne  weiteres  den  Eindruck,  den  uns 
heute,  wo  sich  Kunst  und  Religion  völlig  getrennt  haben,  grie- 
chische Kunstwerke  erwecken,  dem  gleichgesetzt,  den  die  Griechen 
damals  selber  hatten;  jene  Einheit  von  Kunst  und  Religion  kann 
jedenfalls  ein  Grund  für  die  Tatsache  sein,  daß  die  Griechen  Kunst 
nur  in  einem  ganz  bedingten  Sinne  überhaupt  als  Selbstwert 
empfanden.  Der  Niederschlag  dieser  Anschauungen  ist  die  grie- 
chische   Kunstphilosophie,    z.B.    die    eigentümlichen    Schwer- 

Kantstüdicn.  XXVI.  29 


450  Julius  Stenzel, 

punktsverschiebungen  und  Motivdurchkreuzungen,  die  wir  in  der 
platonischen  Philosophie  da,  wo  von  Schönheit  gesprochen  wird, 
antreffen;  dies  zu  verstehen,  wird  immer  nicht  nur  für  die  Philo- 
sophie, sondern  für  das  gesamte  Kulturbewußtsein  der  Griechen 
eine  wichtige  Aufgabe  sein. 

Aus  dieser  flüchtigen  Andeutung  soll  nur  soviel  erhellen,  daß 
in  dem  Wechselverhältnis  zwischen  Kultur-  und  Philosophiege- 
schichte diese  nicht  nur  nehmend  ist ;  sie  ist  gebend  auch  hier  ge- 
rade durch  ihren  systematischen  Charakter,  wie  er  in  diesem 
letzten  Teil  auch  für  die  historische  Aufgabe  der  Philosophie  in 
besonderer  Methode  neben  der  Problemgeschichte  entwickelt  wurde. 
Das  Verhältnis  beider  Methoden  zu  einander  und  zum  Systemge- 
danken überhaupt,  damit  die  philosophische  Bedeutung  auch  jener 
„historischen"   Philosophiegeschichte   soll   nun   betrachtet   werden. 

V. 

Es  kann  so  scheinen,  als  sollte  mit  dem  Begriff  des  indivi-- 
duellen  Systems  eine  neue  Art  der  Betrachtung  empfohlen  werden, 
die,  insofern  sie  auf  dem  Grundbegriff  des  Systematischen,  der 
Einheit  der  Probleme  beruht,  philosophisch  —  und  doch  nicht 
Problemgeschichte  —  ist.  Dagegen  wollte  die  Herausstellung  dieses 
Zuges  der  philosophiehistorischen  Forschung  nichts  anderes  be- 
deuten als  die  gedankliche  Isolierung  einer  Einstellung,  die  neben 
der  problemhistorischen  im  engeren  Sinne  mindestens  implicite  über- 
all gegenwärtig  ist,  wo  Philosophiegeschichte  als  Wissenschaft, 
gleichviel  ob  von  philosophischem  oder  philologischem  Ausgangs- 
punkt geleistet  wurde.  Beide  Einstellungen,  die  systemgeschicht- 
liche und  die  probkmgeschichtliche,  bedingen  sich  gegenseitig,  sind 
ohne  einander  unmöglich  und  ergeben  zusammen  wie  Zettel  und 
Einschlag  erst  Philosophiegeschichte  als  eine  Einheit,  die  zwei 
Gattungsbegriffen,  dem  philosophischen  und  historischen  genügen 
kann.  Da  die  Problemgeschichte  das  tiqoxeqov  (pvösi  hierbei  ist, 
insofern  ohne  sie  überhaupt  von  keinem  philosophischen  Gegen- 
stand gesprochen  werden  kann,  kann  man  —  das  ist  Sache  der 
Terminologie  —  sie  im  weiteren  Sinne  alle  Philosophiegeschichte 
umspannen  lassen.  Ich  ziehe  es  vor,  Problemgeschichte  in  dem 
strengeren  Sinne  beizubehalten  als  die  Einstellung,  die  sie  als 
neues  der  bloßen  Historie  gegenüber  einführte.  Problemgeschichte 
in  dieser  grundsätzlichen  Isolierung,  d.  h.  auf  die  Probleme  ein- 
gestellt, muß  die  verschiedenen  Stufen  irgendwie  fixiert  erhalten, 
sie  muß  wissen,  von  welchen  historischen  Formen  des  Problems  sie 


Zum  Problem  der  Philosoplriegeschichte.  451 

redet,  wenn  sie  seine  Geschichte  schreibt;  jene  andere  Erforschung 
der  Bewußtheit  individueller  Systeme  aber  setzt  umgekehrt  die 
gedanklichen  Verbindungen  voraus,  die  von  der  heutigen  Problem- 
form zu  der  des  früheren  Philosophen  führen.  Beide  Einstellungen 
beruhen  auf  dem  System  —  nicht  in  dem  überwundenen  Sinne 
einer  erfüllten  Einheit  des  Wissens,  sondern  des  Fragens,  des 
Wissens  um  den  Umfang  und  Inhalt  dessen,  wonach  vernünftig 
gefragt  werden  kann  und  muß  —  woraus  sich  auch  erst  der 
Sinn  eines  Einzelproblems  erfassen  läßt,  ein  Systembegriff,  wie 
er  mit  dem  der  Philosophie  gegeben  und  mit  ihr  unlösbar 
verknüpft  ist.  Denselben  Systembegriff  müssen  wir,  wenn  wir 
historisch  denken,  auch  jedem  wahren  Philosophen  der  Vergangen- 
heit zubilligen,  und  die  Summe  des  ihm  bewußten  geistigen  Le- 
bens als  eine  Einheit  zu  begreifen  suchen.  Nur  als  Wahrheit 
ist  die  Wirklichkeit  geistigen  Lebens  zu  erfassen,  und  nur  von 
Wahrem  können  wir  lernen.  Philosophiegeschichte  hat  nicht  zu 
zeigen,  daß  unsere  Philosophie  wohl  auch  falsch  ist,  weil  die  frü- 
heren es  waren,  sondern  umgekehrt,  daß  wir  nach  einer  gültigen 
Ordnung  der  Probleme  suchen  dürfen  und  müssen,  weil  in  der  Ge- 
schichte dieses  Streben  die  belebende  Triebkraft  alles  Denkens  war, 
weil  die  Wahrheit  im  sich  gegenseitig  bedingenden  Zusammenhang  der 
Probleme  an  jedem  großen  System  sich  von  einer  neuen  Seite  zeigt. 
Nicht  weil  dieses  oder  jenes  Stück  zwischen  anderen  „falschen"  iso- 
liert zufällig  die  Angleichung  an  ein  modernes  Philosophem  zu  ge- 
statten scheint,  deshalb  lohnt  sich  sein  Studium,  sondern  weil  jenes 
frühere  System  als  Einheit  verstanden  die  Probleme,  die  auch  unser 
Denken  bewegen,  in  einer  eigenartigen,  uns  neuen  Beleuchtung  und 
Abschattung  zeigt  und  so  unseren  Begriff  auch  vom  einzelnen  Pro- 
blem in  problemhistorischer  Betrachtung  zu  klären  und  zu  be- 
reichern gestattet1). 

1)  Dies  scheint  mir  der  entscheidende  Gesichtspunkt  für  den  Wert  etwa  der 
Marburger  Piatondeutung  zu  sein:  nicht  weil  sie  an  Piaton  ihren  Erkenntnis- 
begriff heranbringt,  sondern  weil  sie  die  ihm  ohne  Zweifel  entsprechenden  Züge 
Piatons  isoliert,  ist  ihre  Leistung,  so  Bedeutendes  sie  für  die  historische  Er- 
forschung der  griechischen  Philosophie  vollbracht  hat,  der  Idee  nach  unhistorisch. 
Das  erkenntnistheoretische  Motiv  ist  stark  in  Piaton,  aber  es  ist  ausbalanziert 
mit  eigenartigen,  durch  neue  Theorien  wieder  neu  zu  apperzipierenden  Bezügen, 
sodaß  ein  unendlich  reicherer  philosophischer  Inhalt  aus  Piaton  zu  gewinnen  ist. 
Als  Geschichte  des  Erkenntnisproblems  gefaßt  aber  ist  die  Marburger  Forschung 
ein  starker  Beweis  für  die  oben  stets  betonte  historische  Bedeutung  der  Problem- 
geschichte. 

29* 


452  Julius  Stenzel, 

Die  Fülle  des  Gedachten,  die  in  der  Geschichte  vorliegt,  liegt 
unserem  Denken  zu  Grunde,  ob  wir  es  wissen  oder  nicht.  Be- 
greifen wir  diese  Geschichte,  so  begreifen  wir  unser  Denken,  bringen 
wir  andererseits  die  in  unserem  Denken  ruhenden  Probleme,  den 
Inhalt  unserer  Vernunft,  uns  in  systematischer  Einheit  zu  Be- 
wußtsein, so  schaffen  wir  uns  umgekehrt  die  Organe,  das  Denken 
der  früheren,  das  unser  Bewußtsein  bestimmen  half,  in  den  inneren, 
sachlichen  Beziehungen  zu  dem  unseren  zu  verstehen.  Jeder  Fort- 
schritt in  differenzierender  Erfassung  auf  dem  einen  Gebiete  be- 
deutet einen  gleichen  auf  dem  anderen.  Darum  ist  die  Arbeit  der 
Philosophiegeschichte  so  wenig  jemals  abgeschlossen  wie  die  der 
Philosophie.  Jede  Zeit  muß  die  Fülle  des  Geschichtlichen  in  ihre 
Sprache,  in  diejenigen  Begriffe  „übersetzen",  die  ihrer  eigenen 
systematischen  Differenzierung  entsprechen;  aber  der  alte  „Text" 
wird  selbst  immer  wieder  neu,  und  bisher  verborgene  Seiten  zieht 
die  neue  Sprache  ans  Licht,  die  der  früheren  zu  erfassen  und  aus- 
zudrücken nicht  möglich  war ;  leicht  kann  die  Übertragung  in  neue 
Gedanken  den  Zusammenhang  lückenloser  darstellen,  Widersprüche 
verschwinden  lassen,  das  Einzelne  leichter  zum  Ganzen  fügen. 
Freilich  ist  auch  der  umgekehrte  Fall  möglich,  daß  das  Verständ- 
nis für  einen  Philosophen  erschwert  ist,  daß  das  wissenschaftliche 
Bewußtsein  einer  Zeit  kein  Verhältnis  zu  ihm  finden  kann;  die 
Gründe  für  beide  Erscheinungen  zu  verstehen,  bedeutet  für  jede 
Zeit  ein  wichtiges  Stück  wissenschaftlicher  Selbsterkenntnis. 

Diese  enge  Beziehung  der  Philosophie  zu  ihrer  Geschichte  be- 
deutet aber  durchaus  keinen  unsystematischen  Relativismus.  Ge- 
rade durch  die  Weitung  des  Horizontes,  der  nun  die  Geschichte 
des  Geistes  mit  in  das  gegenwärtige  Bewußtsein  aufzunehmen 
trachtet,  wird  die  zeitliche  Beschränktheit  der  Gesichtspunkte,  der 
jede  Epoche  unterworfen  ist,  überwunden.  In  jeder  Zeit  treten 
gewisse  Seiten  möglichen  Kulturbewußtseins  in  den  Vordergrund 
und  modifizieren  so  das  Gesamtbild  geistiger  Inhalte.  So  war  es 
immer,  und  die  verschiedenen  Gleichgewichtslagen  der  Probleme, 
die  in  Thesis,  Antithesis  und  Synthesis  in  viel  reicherer  Wechsel- 
wirkung stehen,  als  daß  eine  Dialektik  im  Sinne  Hegels  die  Ent- 
wicklung je  in  ein  Gesetz  fassen  könnte,  befähigen  das  rückschau- 
ende historische  Bewußtsein,  sich  über  die  Enge  seiner  Zeit  zu 
erheben  und  den  Gedanken  eines  Ganzen  der  Philosophie  zu  fassen, 
ein  Versuch,  der  aus  dem  bloßen  Gegenwartsbewußtsein  heraus 
kaum  gelingen  kann.    Mögen  auch  die  großen  Schöpfer  ihre  Arbeit 


Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte.  453 

stets  mit  der  Geste  beginnen,  die  Bürde  des  Geschichtlichen  bei 
ihrem  systematischen  Geschäft  abzuschütteln  —  die  Philosophie  ist 
doch  nicht  zu  einem  ewigen,  ihren  Fortschritt  vereitelnden  von 
Vornanfangen  verurteilt,  denn  gerade  in  der  Selbstbesinnung  des 
wirklich  schöpferischen  Philosophen  kommt  die  Summe  des  Ge- 
schichtlichen, dessen  Ergebnis  er  ist,  zum  reinsten  Ausdruck.  So 
ist  das  Verhältnis  der  Philosophie  zu  ihrer  Geschichte  wesentlich 
anders  als  das  der  anderen  Wissenschaften,  z.  B.  der  Mathematik 
zu  der  ihren.  — 

Gerade  wenn  die  Philosophie  das  Historische  methodisch  als 
Historisches  begreift,  ist  sie  vor  jedem  Historismus  gesichert,  denn 
das  Historische  ist  nichts,  das  irgendwie  fertig  wäre,  es  besteht 
nur  für  das  systematische  Bewußtsein;  wenn  sie  andererseits  das 
Systematische  richtig  versteht,  nicht  als  bald  verdorrendes,  dem 
Boden  der  Geschichte  entfremdetes  Gewächs,  sondern  mit  seinen 
historischen  Wurzeln,  wird  sie,  anstatt  nur  ihr  eigenes  Echo  aus 
der  Geschichte  zu  hören,  das  Systematische  im  Historischen  rei- 
nigen und  bereichern.  Dieses  wechselseitige  Verhältnis  von  System 
und  Geschichte  lebendig  zu  erhalten,  ist  die  philosophische  Aufgabe 
der  Philosophiegeschichte.  In  dem  hier  beschriebenen  Sinne  ist  sie 
eine  methodisch  abzugrenzende  philosophische  Disziplin  neben  der 
Problemgeschichte  und  eine  historische  neben  der  Philologie. 


Die  Verwechslungen  von  „Beschreibungs- 
mittel" und  „Beschreibungsobjekt"  in  der 
Einsteinschen  speziellen  und  allgemeinen 
Relativitätstheorie. 

Von  Oskar  Kraus,  Professor  an  der  Deutschen  Universität  Prag. 


Motto:  Denn  das  Koordinatensystem  ist  nur  Beschreibungs- 
mittel und  hat  nichts  zu  tun  mit  den  zu  beschrei- 
benden Gegenständen. 

Einstein,  Naturwissenschaften  1920,  Heft  51. 

1.  Es  gibt  Philosophen  die  den  Wahrheitsgehalt  einer  philo- 
sophischen Lehre,  z.  ß.  jener  Kants,  darnach  einschätzen,  ob  sie 
fähig  ist  einen  tragfähigen  Unterbau  für  die  Relativitätstheorie 
Einsteins  abzugeben;  so  erhaben  dünkt  sie  ihnen  über  jeden  Zweifel 
und  von  so  umwälzender  erkenntnis  theoretischer  Bedeutung. 
Demgegenüber  erkläre  ich  es  als  die  Pflicht  jeder  echten  und 
darum  kritischen  Philosophie  zu  prüfen,  ob  die  neu  verkündeten 
umwälzenden  Thesen  vor  den  apriorischen  Vernunfterkenntnissen, 
vor  den  verites  de  raison  stand  zu  halten  vermögen,  ob  die 
neue  Lehre  frei  ist  von  logischen  Gebrechen  und  ob,  was  in  ihr 
etwa  richtig  sein  mag,  zu  so  unerhörten  Folgerungen  zwingt? 
In  anderen  Abhandlungen,  so  namentlich  in  meinem  Vortrage 
„Fiktion  und  Hypothese  in  der  Einsteinschen  Relativitätstheorie" 
(Annalen  der  Philosophie  IL  Bd.,  3.  (Sonder)heft)  habe  ich  bereits 
Beiträge  zur  negativen  Beantwortung  aller  dieser  Fragen  geliefert. 
Die  folgenden  Untersuchungen  —  obgleich  sie  unabhängig  von 
jener  Abhandlung  verständlich  sein  sollen  —  sind  dazu  bestimmt, 
das  dort  Gesagte  zu  ergänzen,  indem  sie  den  eingehenden  Nach- 
weis einer  Reihe  von  Fehlschlüssen  der  neuen  Theorie  erbringen, 
die  auf  der  fortlaufenden  Verwechslung  von  Beschreibungsobjekt 
und  Beschreibungsmittel  und  auf  ähnlichen  Verwirrungen  beruhen. 


Oskar  Kraus,  Verwechslungen  von  Beschreibungsmittel  usw.     455 

Das  Ergebnis  ist,  daß  weder  unsere  Zeit-  noch  unsere  Raumaxiome 
im  mindesten  verändert  werden  müssen,  daß  weder  die  „Rela- 
tivität der  Gleichzeitigkeit"  noch  die  „Krümmung  des  Raumes" 
irgend  einen  Anhaltspunkt  in  dem  empirischem  Tatbestande  vor- 
finden, daß  die  neue  Theorie  schlechthin  untauglich  ist,  um  einen 
tragfähigen  Unterbau  für  irgend  eine  der  von  ihr  aufgestellten 
philosophischen  Lehren  abzugeben  und  daß  besten  Falles 
gewissen  ihrer  Teile  ein  —  vielleicht  nicht  unbedeutender  — 
heuristischer  Wert  zukommen  mag,  über  den  die  Erfahrung 
entscheiden  wird1). 

2.  Einstein  geht  von  einem  „Dilemma",  einem  Widerspruch 
aus,  der  zwischen  zwei  Sätzen  bestehe.  Den  einen  dieser  Sätze 
nennt  er  das  „klassische  Relativitätsprinzip",  den  anderen  das 
„Ausbreitungsgesetz  des  Lichtes  im  Vacuum".  Das  klassische 
Relativitätsprinzip  wird  von  verschiedenen  Autoren  verschieden 
formuliert;  auch  bei  Einstein  selbst  finden  sich  verschiedene 
Fassungen.  Die  eine  knüpft  an  Newton  an,  der  es  in  den  Prin- 
zipien der  Naturphilosophie  als  Zusatz  V  zu  den  Bewegungs- 
gesetzen ausgesprochen  hat.  Darnach  treten  a)  innerhalb  eines 
Systems  von  Körpern,  welches  mit  derselben  konstanten  Ge- 
schwindigkeit geradlinig  durch  den  Raum  wandert,  infolge 
dieser  Bewegung  keine  Kraftwirkungen  auf  die  Körper 
dieses  Systems  auf.  Es  folgt  weiter,  b)  daß  die  Kraftwirkungen, 
welche  die  Körper  dieses  Systems  auf  einander  ausüben  nnd  die 
sich  in  Beschleunigungen  kundgeben,  unabhängig  sind  von  der  Ge- 
schwindigkeit, die  dem  System  als  Ganzem  zukommt2).  Daraus 
ergibt  sich  c),  daß  jene  gleichförmige  Bewegung  des  ganzen  Sy- 
stems aus  den  Bewegungs  -  Vorgängen  innerhalb  dieses  Körper- 
spstems  nicht  erschlossen  werden  kann.  Der  sub  b)  ausgesprochene 
Satz  ist  konform  dem  von  Newton  ausgesprochenem  Gesetze  — 
das  später  das  klassische  Relativitätsprinzip  genannt  wurde.  Wir 
wollen    es   das    Newtonsche  Relativitätsgesetz    nennen.     In 


1)  Ich  verweise  zugleich  auf  die  gegnerischen  bzw.  kritischen  Äußerungen 
von  Physikern  wie  Lorentz,  Gehrcke  (insb.  Kantstudien  XIX)  und  öfter,  Lenard 
über  Relativitätsprinzip,  Äther,  Gravitation,  Leipzig  1921,  Abraham,  W.  Wien, 
Wiechert,  Mie,  Weinstein,  Dingler,  Holst,  Jakob,  Geißler,  Isencrahe,  Glaser, 
Fricke,  Reuterdahl  u.  A. 

2)  Vgl.  Einstein,  Gemeinverständl.  Darstellung  §  5,  Freundlich,  Die  Grund- 
lagen der  Einsteinschen  Gravitationstheorie.  Mit  einem  Vorwort  von  Albert  Ein- 
stein, S.  4  u.  5.    Born,  Die  Relativitätstheorie  Einsteins  S.  50  u.  v.  a. 


456  Oskar  Krane, 

der  Literatur  werden  alle  drei  Formulierungen  gleicherweise 
Relativitätsprinzip  geheißen.  Es  handelt  sich  hierbei  um  Natur- 
gesetze, d.  h.  wir  sollen  durch  diese  Sätze  etwas  erfahren  über  ein 
ausnahmsloses  Geschehen  in  der  Natur  unter  gewissen  Umständen. 

Das  sog.  Ausbreitungsgesetz  des  Lichtes  besagt,  daß  das 
Licht  sich  im  und  relativ  zum  Äther  mit  der  konstanten  Ge- 
schwindigkeit c  =  300000  km/See.  fortpflanze,  wobei  die  Bewe- 
gung der  Lichtquelle  ohne  Einfluß  sei  auf  die  Lichtgeschwindig- 
keit. Der  Äther  wird  als  „stillstehend"  angenommen  und  die 
Körper  durchdringen  ihn  frei  und  lassen  ihn  bei  ihrer  Bewegung 
vollkommen  in  Ruhe,  er  nimmt  keinen  Anteil  an  ihren  Bewegungen. 
Das  Licht,  das  von  einem  solchen  Körper system  ausstrahlt,  gehört 
demnach  diesem  Körpersystem  nicht  an.  So  nach  der  Lorentzschen 
Theorie  des  „ruhenden  Äthers u. 

Das  Relativitätsgesetz  bezieht  sich  nun  auf  solche  Körper- 
gesamtheiten, denen  eine  gemeinschaftliche  Translationsgeschwindig- 
keit zukommt.  Bestehen  zwei  Systeme,  von  denen  jedes  eine, 
von  der  des  anderen  verschiedene  und  im  Ganzen  unabhängige, 
gemeinschaftliche  Translationsgeschwindigkeit  besitzt,  so  bezieht 
sich  das  Relativitätsgesetz  selbstverständlich  nur  auf  die  Bewe- 
gungen innerhalb  jedes  dieser  beiden  Systeme.  Das  Erdsystem, 
(sofern  es  während  einer  genügend  kleinen  Zeit  als  geradlinig 
fortschreitend  aufgefaßt  werden  kann)  und  das  Äthersystem  sind 
zwei  solche  Systeme.  Eine  von  der  Erde  ausgehende  Lichtaus- 
breitung  ist  ein  Vorgang,  der  einem  anderen  Systeme  angehört 
als  jenem,  von  dem  die  Lichtquelle  getragen  wird.  Die  beiden 
Systeme  üben  jedoch  gewisse  Wirkungen  aufeinander  aus:  man 
denke  an  das  Licht,  von  dem  Goethe  sagt:  „von  Körpern 
strömts ,  die  Körper  macht  es  schön ,  ein  Körper  hemmts  auf 
seinem  Gange".  .  .  . 

Kann  nun  auch  aus  den  Vorgängen  innerhalb  eines  jeden 
der  beiden  Systeme,  gemäß  der  obigen  Folgerung  c)  aus  dem 
Relativitätsgesetz  eine  Translation  nicht  erschlossen  werden,  so 
doch  aus  ihrer  Wechselwirkung.  Das  Michelsonexperiment  hätte 
durch  eine  Umlagerung  der  Interferenzstreifen  die  Bewegung  der 
Erde  relativ  zum  Äther  erkennen  lassen  sollen.  Sie  blieb  aus; 
so,  daß  man  daraus  schließen  müßte:  entweder  gehört  der  Äther 
zum  selben  Systeme,  wie  die  Erde  und  die  auf  ihr  liegende  Licht- 
quelle, der  Äther  wird  also,  wenigstens  in  gewisser  Ausdehnung 
von    der  Erde    mitgenommen,    oder    die   Wirkung   der    irdischen 


Verwechslungen  von  Beschreibimgsrnittel  und  Beschreibungsobjekt  usw.    457 

Lichtquelle  auf  den  Äther  ist  derart,  daß  sie  die  Fortschreitung 
des  Lichtes  in  ihrer  Geschwindigkeit  so  beeinflußt,  wie  es* etwa 
nach  einer  mechanischen  Emissionstheorie  der  Fall  wäre:  jedes- 
falls  ergab  das  Experiment,  daß  die  Erdgeschwindigkeit  in  die 
Lichtgeschwindigkeit  einzugehen  scheint!  (Vgl.  hierzu  „Fiktion  nnd 
Hypothese"  Anm.  2  zu  S.  361.) 

Um  seine  Theorie  zu  retten,  nahm  Lorentz  an,  daß  der  Arm 
des  Apparates  in  der  Richtung  der  Erdbewegung  sich  um  einen 
entsprechenden  Betrag  (Lorentzkontraktion)  verkürze  und  so  der 
längere  Licht  weg  kompensiert  werde.  Dadurch  wird  die  Zeit,  die 
das  Licht  bei  verlängertem  Wege  braucht,  der  Zeit  im  Ruhe- 
zustande angeglichen.  —  Seine  Theorie  hatte  Lorentz  gerettet, 
aber  die  ganze  Newtonsche  Mechanik  hierbei  verloren :  Nach  wie 
vor  soll  es  sich  um  zwei  Systeme  handeln,  denn  der  Äther  soll 
von  der  Erde  nicht  mitgenommen  werden;  aber  die  Licht- 
geschwindigkeit soll  auch  nicht  von  der  Geschwindigkeit  der  Erde, 
die  die  Lichtquelle  trägt,  beeinflußt  sein.  Die  Erdgeschwindigkeit 
soll  sich  zur  Lichtgeschwindigkeit  auf  keine  Weise  hinzufügen.  — 
Die  Erklärung  durch  das  Relativitätsgesetz  bleibt  ausgeschlossen, 
weil  es  sich  nicht  um  ein  System  handelt,  aber  auch  eine  sonstige 
Erklärung  nach  Newtonschen  Gesetzen  ist  versagt  —  ja  die  ganze 
Newtonsche  Mechanik  ist  gestürzt  —  denn  mit  der  Annahme,  daß 
der  Apparat  sich  bei  gleichförmiger  geradliniger  Bewegung  in 
der  Längsrichtung  verkürze,  verband  Lorentz  sogleich  das  allge- 
meine Naturgesetz,  bei  jeglicher  derartiger  Bewegung  eines 
Körpers,  Atoms,  Elektrons  finde  die  Lorentzkontraktion  statt. 
Eine  „neue  Mechanik"  hätte  an  die  Stelle  der  Newtonschen  zu 
treten. 

Auch  das  Relativitätsgesetz  gilt  daher  nicht  mehr;  die  Kon- 
traktion erzeugt  lediglich  den  Schein,  als  ob  es  gälte.  Die  Ur- 
sache der  Kontraktion  selbst  lag  freilich  so  im  Dunkeln,  daß 
Minkowski  sie  als  ein  „Geschenk  von  oben"  bezeichnete.  — 
Methodisch  bedenklich  erscheint  vielen  hierbei,  daß  die  durch 
mehr  als  zwei  Jahrhunderte  auf  unzählige  Weise  glänzend  be- 
stätigte mechanische  Theorie  Newtons  aufgegeben  werden  soll, 
um  der  Annahme  Platz  zu  machen,  die  ganze  Natur  sei  darauf 
angelegt,  den  Interferenzapparat  in  so  raffinierter  Weise  zu  ver- 
fälschen, daß  der  Schein  der  Gültigkeit  der  Newtonschen 
Theorie  ganz  besonders  dort  erweckt  wird,  wo  Lorentz  ihre  Un- 
gültigkeit entdeckt  haben  soll.  —  Denn  daran  ist  kein  Zweifel: 


458  Oskar  Kraus, 

mögen  die  Abweichungen  noch  so  gering  sein,  hat  Lorentz  Recht, 
so  ist  das  Newtonsche  Gebäude  erledigt,  und  die  kleinste  Ab- 
weichung in  den  Prinzipien  nötigt  zu  vollständigem  Umbau  aller 
Folgerungen. 

Wie  immer  man  über  die  Wahrscheinlichkeit,  ja  über  die 
Möglichkeit  dieser  Hypothese  denkt,  sie  ist  jedenfalls  der  Versuch 
einer  ursächlichen  Erklärung  des  Michelsonexperimentes. 

3.  Man  findet  nun  nahezu  allgemein  die  Meinung  vor,  Einstein 
habe  durch  den  Umsturz  unserer  Zeitauffassung  den  Michelson- 
versuch  auf  andere  Weise  aber  auch  ursächlich  erklärt. 

Einstein  hat  jedoch  —  was  ich  insbesondere  gegen  Laue  be- 
merke —  in  der  Debatte  am  8.  Januar  1921  in  Prag  erklärt, 
daß  seine  Theorie  „phänomenologisch"  sei  und  einen  Verzicht  auf 
„Kausalerklärung"  in  sich  schließe.  In  der  Tat  könnte  eine  ur- 
sächliche Erklärung  des  Michelsonexperimentes  durch  eine  neue 
Theorie  über  die  Zeit  nur  auf  die  Weise  erfolgen,  daß  man  be- 
hauptete, analog  wie  nach  Lorentz  eine  Längenkontraktion  des 
in  der  Bewegungsrichtung  der  Erde  gelegenen  Interferometerarmes, 
so  träte  nach  Einstein  an  Stelle  dieser  Verkürzung  eine  Dehnung 
des  reellen  Zeitablaufes  in  diesem  Arme  ein,  die  quantitativ  der 
Lorentzkontraktion  entspräche.  Ich  sage  „Zeit Verlaufes"  nicht 
etwa  des  „Uhrenganges",  denn  beim  Michelsonexperiment  kamen 
keine  Uhren  in  Verwendung,  die  gestatten  die  Zeit  an  Uhren- 
zeigern abzulesen.  Ich  sage  ferner,  daß  selbst  wenn  man  eine 
solche  Hypothese  aufstellen  wollte,  hiermit  die  Newtonsche  Me- 
chanik und  das  Relativitätsgesetz  im  besondern  ebenso  gestürzt 
wäre,  wie  nach  Lorentz'  Kontraktionslehre.  —  Das  Michelson- 
experiment würde  auch  hier  nur  den  Schein  erwecken,  als  ob 
das  Relativitätsgesetz  und  die  Newtonsche  Mechanik  gewahrt  wäre. 
Das  zeitliche  Moment  an  den  Körpern  wäre  es,  das  sich  nun  in 
den  Dienst  dieser  Täuschung  stellte.  Es  könnte  keine  Rede 
davon  sein,  daß  Einstein  durch  „systematisches  Festhalten 
an  beiden  Gesetzen"1)  (Relativitätsgesetz  und  Gesetz  der 
konstanten  Lichtgeschwindigkeit)  jenes  Dilemma  beseitigt  habe.  — 
Doch  erübrigen  sich  weitere  Erörterungen  über  derartige  Hypo- 
thesen, nicht  nur  wegen  der  ausdrücklichen  Erklärung  Einsteins, 
auf  Kausalerklärung  zu  verzichten,  sondern  vor  allem  wegen  des 
Inhaltes  seiner  Theorie,  die  in  nichts  anderem,  als  in  einer  eigen- 


1)  „Gemeinverständl.  Darst."  §  7,  S.  13. 


Verwechslungen  von  Beschreibungsmittel  und  Beschreibungsobjekt  usw.    459 

tümlichen  Verknüpfung  von  zeitlichen  mit  räumlichen 
Koordinaten  (Bestimmungszahlen)  besteht. 

4.  Ich  behaupte  nun,  daß  Einstein  von  einem  ganz  anderen 
Dilemma  ausgeht  als  dem  eben  behandelten  zwischen  Relativitäts- 
gesetz und  Konstanzgesetz,  daß  er  jedoch  dieses  quid  pro  quo 
nicht  bemerkt.     Seine  Theorie  beginnt  mit  einer  Verwechslung. 

Dies  ergibt  sich  aus  Folgendem:  Bei  der  quantitativen  For- 
mulierung der  Bewegungsgesetze  durch  Gleichungen  bedient  man 
sich  gewisser  Gedankengebilde,  die  man  Koordinatensysteme  nennt, 
als  Bezugssysteme  und  zur  analytisch  geometrischen  Darstellung. 
Neben  das  Newtonsche  Relativitätsgesetz  —  wonach  die  Größe 
der  Beschleunigungen,  herbeigeführt  durch  die  relativen 
Kraftwirkungen  der  Körper,  die  einem  gleichförmig  geradlinig 
transferierten  Körpersystem  angehören,  invariant  ist  gegenüber 
dieser  Bewegung  d.  h.  unabhängig  von  der  gemeinsamen  Trans- 
lation dieses  Systems  (oben  Satz  a)  und  b))  —  tritt  nun  ein  geo- 
metrisch-mathematisches Hilfsgesetz.  „Zur  Beschrei- 
bung der  mechanischen  Vorgänge"  sagt  Freundlich  a.  a.  0.  S.  4 
„sind  alle  Bezugssysteme  gleichwertig,  die  geradlinig,  gleich- 
förmig gegeneinander  bewegt  sind".  —  Aber  so  schreibt  neuestens 
Einstein  (Naturw.  1920)  „das  Koordinatensystem  ist 
nur  Beschreibungsmittel  und  hat  nichts  zu  tun 
mit  den  zu  beschreibenden  Gegenständen". 

Daß  also  gewisse  Beschreibungsmittel  äquivalent  sind  für  die 
Beschreibung  der  Naturvorgänge,  oder  daß  die  Vorgänge  und  Ge- 
setze der  Mechanik  invariant  sind  gegen  sogenannte  Galileitrans- 
formationen (gegen  gewisse  Veränderungen  der  „Beschreibungs- 
mittel") ist  zweifellos  kein  Naturgesetz,  sondern  ein  mathematisches 
Gesetz,  und  zwar  ein  bloßes  mathematisches  Hilfsgesetz.  Es  ist 
daher  mit  dem  Newtonschen  Relativitätsgesetz  nicht  zu  vermengen, 
wird  aber  meistens  und  auch  von  Einstein  damit  verwechselt.  Es 
belehrt  nicht  über  die  Vorgänge  in  der  Natur,  die  wir  be- 
schreibenwollen, sondern  über  die  Äquivalenz  der  Beschreibungs- 
mittel. 

Es  ist  daher  auch  terminologisch  von  dem  Newtonschen 
Relativitätsgesetz  als  Koordinaten-Äquivalenz- 
prinzip  zu  sondern,  um  Verwirrungen  vorzubeugen.  Ich  frage 
Einstein  und  seine  Anhänger,  ob  sie  die  Verschiedenheit  des 
Newtonschen  Relativitätsgesetzes  und  des  Transformations-Äqui- 
valenzprinzipes,  wie  ich  sie  hier  kennzeichne,  zugeben  oder  nicht  ? 


460  Üskur  Kraus, 

leb  behaupte  nun,  daß  das  Kewtonsche  Relativitätsgesetz  (oben 
§  2  sub  a),  b)  und  c)  als  ein  Naturgesetz  ausgesprochen  ist,  das 
von  den  zu  beschreibenden  körperlichen  Dingen  der  transmentalen 
Körperwelt  handelt ,  während  das  Transformations  -  Aquivalenz- 
prinzip  von  den  geometrisch-mathematischen  Beschreibungsmitteln, 
von  den  Koordinatensystemen  handelt,  also  kein  Naturgesetz  for- 
muliert, sondern  nur  aussagt,  daß  an  dem  Ergebnisse  der  Rech- 
nung oder  Beschreibung  sich  bezüglich  der  Bewegungs  -  Gesetze 
nichts  ändert,  mag  man'  sich  diese  oder  jene  Koordinatensysteme 
relativ  zu  einander  und  dem  zu  beschreibenden  Dinge  in  gerad- 
linig gleichförmiger  Bewegung  begriffen  denken.  Es  ist  ein  ma- 
thematisches Hilfsgesetz,  das  eine  Aussage  macht  über  die  mathe- 
matische Formulierung  von  —  Naturgesetzen. 

5.  Es  ergibt  sich  ferner  Folgendes:  Gemäß  dem  Transform ations- 
Aquivalenzprinzip  ändern  sich  bei  der  sog.  Galileitransformation 
die  Größen  der  Geschwindigkeiten  und  Koordinaten.  Invariant 
bleiben  die  Beschleunigungen.  Auf  S.  8  der  gemeinverständlichen 
Darstellung  führt  Einstein  dies  folgendermaßen  aus: 

„Es  fliege  ein  Rabe  geradlinig  und  gleichförmig  —  vom  Bahn- 
damm aus  beurteilt  durch  die  Luft.  Dann  ist  — *-  vom  fahrenden 
Wagen  aus  beurteilt  —  die  Bewegung  des  Raben  zwar  eine  Be- 
wegung von  anderer  Geschwindigkeit  und  anderer  Richtung,  aber 
sie  ist  ebenfells  geradlinig  und  gleichförmig.  Abstrakt  ausgedrückt: 
Bewegt  sich  eine  Masse  m  geradlinig  und  gleichförmig  in  bezug 
auf  ein  Koordinatensystem  K,  so  bewegt  sie  sich  auch  geradlinig 
und  gleichförmig  in  bezug  auf  ein  zweites  Koordinatensystem  K', 
falls  letzteres  in  bezug  auf  K  eine  gleichförmige  Translations- 
bewegung ausführt". 

Verallgemeinert  formuliert  er  es  S.  9:  „Ist  K'  ein  in  bezug 
auf  K  gleichförmig  und  drehungsfrei  bewegtes  Koordinatensystem, 
so  verläuft  das  Naturgeschehen  in  bezug  auf  K'  nach  denselben 
allgemeinen  Gesetzen  wie  in  bezug  auf  K."  Diese  Aussage  nennen 
wir  das  „Relativitätsprinzip"  im  engeren  Sinne.  —  Es  ist  klar, 
daß  dieses  „Relativitätsprinzip"  nichts  anderes  als  die  Gleich- 
wertigkeit (Äquivalenz)  der  als  Beschreibungs  mittel  benutzten 
Koordinatensysteme  ausspricht.  —  Vor  allem  wichtig  ist  nun,  daß 
hier  die  Rechnung  für  die  Geschwindigkeit  des  Punktes,  dessen 
Bewegung  studiert  wird,  veränderliche  Maßzahlen  relativ  zu  den 
verschieden  bewegten  Koordinatensystemen  ergibt.  Hat  der  Rabe 
die  Geschwindigkeit  c  und  das  Koordinatensystem  die  Geschwindig- 


Verwechslungen  von  Beschreibungsmittel  und  Beschreibungsobjekt  usw.    461 

keit  v,  so  bleibt  seine  Bewegung  zwar  geradlinig  und  gleichförmig, 
aber  ihre  Relativ- Gesch. windigkeit  ändert  sich  notwendig ;  sie  wird 
=  c  — v.  —  Auf  Seite  12  a.  a.  0.  heißt  es  nun:  „Längs  des  Bahn- 
dammes werde  ein  Lichtstrahl  gesandt,  dessen  Scheitel  sich  nach 
dem  vorigen  mit  der  Geschwindigkeit  c  relativ  zum  Bahndamm 
fortpflanzt.  Auf  dem  Geleise  fahre  wieder  unser  Eisenbahnwagen 
mit  der  Geschwindigkeit  v  und  zwar  in  derselben  Richtung,  in  der 
sich  der  Lichtstrahl  fortpflanzt,  aber  natürlich  viel  langsamer. 
Wir  fragen  nach  der  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  des  Licht- 
strahles relativ  zum  Wagen,  w  ist  die  gesuchte  Geschwindigkeit 
des  Lichtes  gegen  den  Wagen,  für  welche  also  gilt  w  =  c  —  v. 
Die  Fortpflanzungsgeschwindigkeit  des  Lichtstrahles  relativ  zum 
Wagen  ergibt  sich  also  kleiner  als  c".  —  Wie  man  sieht,  stimmt 
dieses  Beispiel  völlig  mit  dem  des  Raben  überein,  es  ist  nur  inso- 
fern noch  vereinfacht,  als  hier  auch  die  Richtung  des  Licht- 
strahles dieselbe  bleibt,  wie  die  des  Wagens.  Gesetzt,  der  Zug 
fährt  sehr  langsam  und  der  Rabe  fliege  rascher,  so  erhalten 
wir  auch  für  die  Geschwindigkeit  des  Raben  gegen  den  Wagen, 
wenn  c  die  relative  Geschwindigkeit  des  Raben  gegen  den  Bahn- 
damm ist  w  =  c  —  v. 

Es  besteht  kein  Unterschied  zwischen  den  beiden  Fällen. 
Einstein  behandelt  die  Fälle  ungleich.  Beim  Raben 
(§  5,  S.  8)  betont  er  die  Übereinstimmung;  mit  dem  Relativitäts- 
prinzip (unserem  Aquivalenzprinzip)  —  bei  dem  Lichte  schreibt 
er:  „das  Ergebnis  (w  =  c  —  v)  verstößt  gegen  das  im  §  5  dar- 
gelegte Relativitätsprinzip.  —  Das  Gesetz  der  Lichtausbreitung 
müßte  nämlich  nach  dem  Relativitätsprinzip  wie  jedes  andere 
Naturgesetz  für  den  Eisenbahnwagen  als  Bezugskörper  gleich 
lauten  wie  für  das  Geleise  als  Bezugskörper;  das  erscheint  nach 
unserer  Betrachtung  unmöglich.  Wenn  sich  jeder  Lichtstrahl  in 
bezug  auf  den  Damm  mit  der  Geschwindigkeit  c  fortpflanzt,  so 
scheint  deshalb  das  Lichtausbreitungsgesetz  in  bezug  auf  den 
Wagen  ein  anderes  sein  zu  müssen  (c  —  v)  im  Widerspruch  mit 
dem  Relativitätsprinzip".  Ich  .behaupte  nun,  und  ersuche  um 
Widerlegung,  daß  eine  Begriffsverwechslung  Einstein  und  mit  ihm 
die  zahlreichen  physikalischen  und  philosophischen  Verfechter 
seiner  Lehre  und  erst  recht  das  Laienpublikum  der  ganzen  Welt 
perplex  gemacht  hat.  — 

Ich  frage:  sind  nach  dem  „Relativitätsprinzipe"  d.  h.  nach 
dem   „  Koordinaten- Aquivalenzprinzipe"  Relativ- Geschwindigkeiten 


462  Oflka  r  K  ri  as, 

bewegter    Dinge    —  gleichgültig    ob    Raben    oder    Lichtpunkte  - 
invariant    oder   nicht?     Kein  Zweifel,    sie  sind   nicht   invariant! 
Darin  besteht  ihr  Wesen. 

Das  ist  es  ja  gerade,  was  das  „Relativitätsprinzip"  (=  Aqui- 
valenzprinzip)  verlangt:  invariant  bleiben  die  Beschleunigungen, 
invariant  bleibt  das  Trägheitsgesetz,  nicht  die  Geschwindigkeit! 
(„die  Bewegung  des  Raben  bleibt  geradlinig  und  gleichförmig 
aber  von  anderer  Geschwindigkeit  und  eventuell  anderer  Rich- 
tung" ! !  §  5).  — 

Wie  also  kann  Einstein  hier  von  einem  Widerspruch,  einem 
Dilemma  zwischen  dem  Gesetze  der  Lichtausbreitung  und  dem 
Relativitätsprinzip  (=  Aquivalenzprinzip)  sprechen?  Er  und  seine 
Anhänger  sind  das  Opfer  einer  Begriffsverwechslung. 

Die  Verwirrung  besteht  in  folgendem:  1.  glauben  Einstein 
und  seine  Anbänger  von  dem  Newtonschen  Relativitäts- 
gesetze zu  sprechen,  wonach  die  Beschleunigungen,  welche  die 
Kraftwirkungen  der  Körper  aufeinander  ausüben,  unabhängig  sind 
von  der  gleichförmigen  Translations  -  Geschwindigkeit ,  die  dem 
Körpersystem  als  Ganzem  zukommt,  sprechen  aber  in  Wahrheit 
von  dem  Koordinaten- Aquivalenzprinzip ,  das  nicht  von 
diesen  Körpern,  sondern  von  dem  „BeschreibungsmitteF  handelt 
und  gewisse  dieser  Beschreibungsmittel  (nämlich  geradlinig  und 
gleichförmig  gegen  einander  bewegte  Koordinatensysteme,  die 
stets  Gedankengebilde  sind)  als  gleichwertig  für  die  Zwecke  der 
Beschreibung  erklärt,  so  daß  Beschleunigungen  und  geradlinig 
gleichförmige  Bewegungen  als  solche,  d.  h.  die  Geradlinigkeit  und 
Gleichförmigkeit  invariant  bleiben  gegenüber  diesen  Beschreibungs- 
mitteln. 

2.  Die  Äquivalenz  dieser  Beschreibungsmittel  Jbesteht  nur 
gegenüber  den  Beschleunigungen  und  den  Newtonschen  Ge- 
setzen, die  nur  von  Beschleunigungen  handeln,  nicht  aber  besteht 
sie  gegenüber  den  Relativ  -  Geschwindigkeiten.  Einstein  aber 
fordert  von  der  Lichtgeschwindigkeit,  daß  sie  relativ  zu  jenen 
Koordinatenbewegungen  eine  Invariante  sei. 

Diese  Forderung  widerspricht  dem  Koordinaten-Aquivalenz- 
prinzip,  das  er  „Relativitätsprinzip"  nennt.  Hier  haben  wir  nun 
das  „Dilemma"  —  in  ganz  neuer  Gestalt:  einerseits  nämlich  soll 
das  Relativitätsprinzip  (d.  h.  Koordinaten- Aquivalenzprinzip)  gelten 
und  somit  den  gleichförmig  geradlinig  bewegt  gedachten  Koor- 
dinaten  gegenüber   zwar  die  Beschleunigungen  invariant,    die  Re- 


Verwechslungen  von  Beschreibungsmittel  und  Beschreibungsobjekt  usw.     463 

lativgeschwindigkeiten  aber  —  selbstverständlich  —  variant  sein, 
andererseits  soll  die  Geschwindigkeit  des  Lichtes  relativ  zu  jedem 
geradlinig  bewegten  Koordinatensystem  invariant  =  c  sein! 

Dieses  Dilemma  ist  kein  scheinbarer,  sondern  ein  wirklicher 
Widerspruch.  Es  liegt  im  Begriffe  der  Relativgeschwindigkeit, 
daß  sie  relativ  zu  verschieden  bewegten  Koordinatensystemen  ver- 
schieden ist.  Aber  dieses  Dilemma  ist  von  Einstein  ge- 
s  chaf fen. 

Sprach  man  als  Gesetz  aus,  daß  die  Lichtgeschwindigkeit 
konstant  =  c  sei,  so  war  gemeint,  sie  sei  konstant  im  und  relativ 
zum  Äther.  Hiermit  ist  nicht  nur  vereinbar,  daß  sie  relativ  zu 
einem  Koordinatensystem,  das  relativ  zum  Äther  bewegt  ist  oder 
bewegt  gedacht  wird,  eine  andere  Relativgeschwindigkeit  aufweist, 
sondern  dies  ist  auch  so  selbstverständlich,  daß  hierüber  kein  Wort 
verloren  werden  dürfte,  würde  die  neu  entstandene  Verwirrung 
nicht  hierzu  nötigen.  Ein  Widerspruch  zwischen  dem  richtig  for- 
mulierten Konstanzgesetz  und  dem  richtig  formulierten  Äqui- 
valenzprinzip ist  also  gar  nicht  vorhanden.  Aber  Einstein  formu- 
liert vorerst  das  Konstanzprinzip  unrichtig.  Er  anerkennt  einer- 
seits, daß  die  Relativgeschwindigkeit  eines  grd.  gl.  transferierten 
Beweglichen  relativ  zu  ebensolchen  Koordinatensystemen  variant 
sein  muß,  z.B.  des  Raben,  er  leugnet  gleichwohl  diese  Varianz 
bei  der  Geschwindigkeit  des  Lichtes  relativ  zu  solchen  Koor- 
dinatensystemen, indem  er  sonderbarerweise  das  Gesetz, 
die  Lichtausbreitung  erfolge  mit  der  Geschwindig- 
keit =  c,  nicht  auf  den  Äther  beziehen  will,  relativ 
zu  dem  es  ausgesprochen  ist,  sondern  relativ  zu 
jedem  beliebigen  geradlinig  und  gleichförmig  be- 
wegten Koordinatensystem,  was  sich  auf  die  Beschrei- 
bungsobjekte bezieht  und  eine  mathematische  und  physikalische 
Widersinnigkeit  einschließt.  Einstein  behauptet  daher  einerseits : , 
das  „Relativitätsprinzip"  d.  i.  das  Äquivalenzprinzip,-  in  welchem 
die  Varianz  der  Relativgeschwindigkeit  jeglicher  Translations- 
bewegung enthalten  ist,  andererseits  ein  (von  ihm  erfundenes) 
Konstanzprinzip  des  Lichtes,  wonach  diese  Translationsgeschwindig- 
keit invariant  sein  soll. 

6.  Bevor  wir  weitergehen,  vergleichen  wir  die  beiden  Dilemmen 
sub  §  2  und  sub  §  5.    Wir  bezeichnen  sie  als  I  und  II. 

Das  Dilemma  (I),  das  Lorentz  beschäftigte,  war  das  zwischen 
Newtonschem  Relativitätsgesetz  und   dem  Ausbreitungsgesetz  des 


464 


Oskar    Kraus, 


Lichtes  unter  Zugrundelegung  der  Theorie  des  ruhenden  Äthers 
und  des  Mangels  eines  Einflusses  der  Bewegung  der  Lichtquelle 
auf  die  Lichtgeschwindigkeit.  —  Lorentz  erkannte  die  Unverein- 
barkeit beider  Sätze  und  gab  das  Relativitätsgesetz  auf.  —  Die 
Lorentzkontraktion  stürzt  die  alte  Mechanik.  —  Eine  reelle  Zeit- 
dehnung würde  —  wenn  sie  nicht  apriori  absurd  wäre  —  dasselbe 
leisten.  Es  handelt  sich  hierbei  um  den  Versuch  einer  Kausal- 
erklärung des  Michelsonexperimentes. 

Das  Dilemma  Einsteins  (II)  hat  hiermit  nichts  mehr  zu  tun. 
Nicht  das  Newtonsche  Relativitätsgesetz,  das  von  den  Be- 
wegungsvorgängen der  physischen  Dinge  handelt,  sondern  das 
Aquivalenzprinzip  der  Galilei- Transformationen,  das  sich  auf 
die  Beschreibungsmittel  jener  Vorgänge  bezieht,  ist  der  eine  Satz, 
und  der  andere  ihm  widersprechende  ist  jener,  der  die  Invarianz 
der  Varianten  Relativgeschwindigkeit  des  Lichtes  gegenüber  diesen 
als  Beschreibungsmittel  dienenden  geradlinig,  gleichförmig  trans- 
feriert gedachten  Koordinatensystemen  behauptet.  — 

Dieses  Dilemma  (II),  welches  meist  mit  dem  Dilemma  (I)  ver- 
wechselt wird,  behauptet  er  (§  7  S.  13  der  gemeinverstdl.  Darst.) 
durch  systematisches  Festhalten  anbeiden  Prinzipien 
(1.  Relativitätsprinzip  =  Koordinatenäquivalenzprinzip  und  2.  Kon- 
stanzprinzip =  Invarianz  der  Relativgeschwindigkeit  des  Lichtes) 
als  scheinbar  d.  h.  nicht  vorhanden  nachzuweisen.  Dieser  Nachweis 
ist  hoffnungslos.  Seine  eigenen  Anhänger  bekennen  das.  So  hat 
z.  B.  schon  Laue  (Die  Relativitätstheorie,  4.  Auflage,  S.  19)  durch 
Fett-  und  Sperrdruck  hervorgehoben,  „daß  es  nur  ein  Relativi- 
tätsprinzip in  der  ganzen  Physik  geben  könne,  wenn 
es  diesen  Namen  wirklich  verdienen  soll"  dieses  eine 
sei  aber  eben  nicht  das  der  klassischen  Mechanik  entsprechende 
„Galilei sehe u  Koordinaten- Aquivalenzprinzip.  Dieses  ist  vielmehr 
geopfert!  —  Ganz  analog,  wie  Lorentz  bei  seiner  Kausal erklärung 
durch  Längenkontraktion  die  Newtonsche  Mechanik  geopfert  hat, 
ganz  analog,  wie  bei  einer  Kausalerklärung  durch  reelle  Zeitdehnung 
die  klassische  Mechanik  und  das  Relativitätsgesetz  aufgegeben 
wäre,  ganz  analog  ist  die  „der  klassischen  Mechanik  entsprechende 
Beschreibungs weise"  vermittels  der  Regel  der  Galileitransforma- 
tionen preisgegeben,  wenn  die  Invarianz  der  Lichtgeschwindigkeit 
gegenüber  Koordinatentransformationen  „postuliert"  wird.  — 

Keine  der  11  Auflagen  der  Einsteinschen  „gemeinverständlichen 


Verwechslungen  von  Beschreibungsmittel  und  Beschreibungsobjekt  usw.    465 

Darstellung"  bat  diese  unrichtige  und  verwirrende  Behauptung 
Einsteins,  die  außerdem  gesperrt  gedruckt  ist,  richtig  gestellt. 

7.    Ich  behaupte  ferner: 

Im  klassischen  Aquivalenzprinzip  (klass.  Relativitätsprinzip 
genannt)  ist  die  Varianz  der  Lichtgeschwindigkeit  gegenüber 
den  geradlinig  gleichförmig  transferiert  gedachten  Koordinaten- 
systemen eingeschlossen,  wobei  jedoch  bisher  allgemein  stillschwei- 
gend die  Voraussetzung  als  selbstverständlich  zugrunde  ge- 
legt wurde,  daß  die  Maßeinheiten  der  benutzten  Beschreibungs- 
mittel als  unveränderlich  angenommen  werden  müßten. 

Will  einer  daher  das  klassische  Aquivalenz- 
prinzip aufr,echt  erhalten,  so  darf  er  andieserVor- 
aussetzung  nicht  rütteln.  Unter  Auf  rech  terhaltung 
dieser  Voraussetzung  ist  die  Invarianz  der  Licht- 
geschwindigkeit gegenüber  einer  solchen  Koordinatenge- 
schwindigkeitsänderung ein  unaustilgbarer  Widerspruch. 
Er  ist  durch  nichts  zu  beseitigen.  — 

Was  aber  tut  Einstein !  ?  Er  geht  daran,  diesen  Widerspruch 
unter  „systematischemFesthalten  an  beiden  Prinzi- 
pien" aufzuheben,  indem  er  die  Voraussetzung  beseitigt 
auf  Grund  deren  die  Varianz  der  Lichtgeschwindigkeit  einzig  und 
allein  behauptet  wurde,  nämlich  die  Unveränderlichkeit  der  Maß- 
einheiten der  benutzten  Beschreibungsmittel! 

An  Stelle  dieser  selbstverständlichen  Voraussetzung  führt  er 
eine  andere  ein,  nämlich  die  Abhängigkeit  der  Maßeinheiten  für 
Zeit  und  Raum  vom  Bewegungszustand  der  betreffenden  Beschrei- 
bungsmittel !  Hierbei  nennt  er  jene  selbstverständliche  Voraussetzung, 
die  er  verwirft  „Hypothese"  (§11  S.  20  der  gemeinvefstdl.  Darst.). 
Unter  dieser  abgeänderten  Voraussetzung  ist  es  ohne  weiters  mög- 
lich die  Invarianz  der  Lichtgeschwindigkeit  gegenüber  diesen,  im 
Verhältnis  zur  Geschwindigkeit  verkürzt  gedachten,  Koordinaten 
herzustellen.  Aber,  so  behaupte  ich,  von  einer  Aufweisung  jenes 
Widerspruches  als  eines  scheinbaren  kann  nicht  die  Rede  sein, 
und  das  Fallenlassen  jener  Voraussetzung  verändert  den  Begriff 
der  Maßeinheit  von  Grund  aus. 

Nachdem  also  Einstein  erstens  das  Relativitätsgesetz 
Newtons  von  dem  auf  die  Beschreibungsmittel  sich  beziehenden 
Koordinaten  aquivalenzprinzip  nicht  genügend  ge- 
schieden hat,  behauptet  er  zweitens,  dieses  Aquivalenzprinzip,  das 
er  auch  „klassisches  Relativitätsprinzip"  nennt,  und  das  nach  allen 

Kantstudien.    XXVT.  80 


466  Oskar  Kraus, 

Voraussetzungen  die  Varianz  der  Lichtgeschwindigkeit  gegenüber 
den  transferiert  gedachten  Koordinaten  fordert,  mit  der  Invarianz 
der  Lichtgeschwindigkeit  relativ  zu  diesen  Koordinaten  vereinbar 
machen  zu  können,  springt  aber  von  dieser  Aufgabe,  ohne  es  zu 
merken  und  merken  zu  lassen  dadurch  ab,  daß  er  die  wesent- 
lichste Voraussetzung  dieser  Varianz  fallen  läßt: 
die  Unveränderlichkeit  der  Maßeinheiten  bei  jener  gedachten  Ko- 
ordinatenverschiebung !  Dadurch  verschiebt  sich  das  ganze  Problem. 
Die  vollständig  neue  Aufgabe  formuliert  Einstein  wiederholt  im 
§  11  der  „gemeinverständlichen  Darstellung" : 

„Ist  eine  Relation  zwischen  Ort  und  Zeit  der  einzelnen  Er- 
eignisse in  bezug  auf  beide  Bezugskörper  denkbar,  derart,  daß 
jeder  Lichtstrahl  relativ  zum  Bahndamm  und  relativ  zum  Zug  die 
Ausbreitungsgeschwindigkeit  c  besitzt?"  und  weiter  S.  21  „Unser 
Problem  (!)  lautet  in  exakter  Formulierung  offenbar  folgender- 
maßen :  Wie  groß  sind  die  Werte  x',  y\  z\  t',  eines  Ereignisses  in 
bezug  auf  K'f  wenn  die  Größen  x,  y,  z,  t,  in  bezug  auf  K  gegeben 
sind?"  Hiermit  ist  das  Problem  der  widerspruchslosen  Vereinigung 
von  klassischem  Relativitätsprinzip  =  Äquivalenzprinzip  und  In- 
varianzprinzip aufgegeben,  ja  als  unmöglich  zu  lösen  zugestanden, 
denn  das  Newton- Galileische  Koordinatenäquivalenzprinzip  (klassi- 
sches „Relativitätsprinzip"  genannt)  behauptet  die  Äquivalenz, 
Gleichwertigkeit  im  Sinne  der  gleichen  Brauchbarkeit  gegenein- 
ander gleichförmig  geradlinig  bewegt  gedachter  Koordinatensysteme 
zur  Beschreibung  der  mechanischen  Vorgänge,  behauptet  die  In- 
varianz der  Beschleunigungsgesetze  und  insbesondere  des  Trägheits- 
gesetzes jenen  Verschiebungen  gegenüber,  die  sich  in  der  soge- 
nannten Galileitransformation  ausspricht,  und  was  das  notwendige 
Korrelat  dieser  Aussage  ist :  es  behauptet  die  Varianz  der  Relativ- 
geschwindigkeiten aller  Bewegungsvorgänge  —  auch  des  Lichtes  — 
gegenüber  diesen  Koordinatenverschiebungen,  stets  unter  Voraus- 
setzung unveränderlicher  Maßeinheiten.  Die  Galileitransformation 
ist  ein  mathematischer  Hilfssatz  von  leicht  faßbarer  Evidenz. 

Einstein  „dreht"  wie  Born  (Physik.  Zeitschrift  XVII.  1916, 
S.  53)  richtig  bemerkt  „den  Sachverhalt  um":  er  fordert  die  In- 
varianz einer  geradlinig-gleichförmigen  Relativgeschwindigkeit 
—  in  deren  Begriffe  als  Relativbewegung  es  liegt  variant  zu 
sein  —  nämlich  die  Invarianz  der  Geschwindigkeit  des  Lichtes 
den  Koordinaten  gegenüber,  die  zu  ihrer  Beschreibung  zu  dienen 
haben  —  mögen  diese  Koordinatensysteme  mit  beliebiger  gleich- 


Verwechslungen  von  Beschreibungsmittel  und  Beschreibungsobjekt  usw.    467 

förmiger  Geschwindigkeit  gegeneinander  verschoben  gedacht  werden 
—  und  fragt  nach  den  Veränderungen,  die  sich  rechnerisch  aus 
dieser  verlangten  Invarianz  für  die  Koordinatenmaßzahlen  ergeben. 

8.  Die  Antwort  ist  in  den  sogenannten  „Lorentztransforma- 
tionen"  enthalten.  Die  Galileitransformation  beantwortet  folgende 
Frage :  gesetzt  die  Geschwindigkeit  eines  Beweglichen,  dessen  Be- 
wegung mit  Hilfe  von  Koordinaten  beschrieben  wird,  beziehe  man 
zuerst  auf  das  galileische  Koordinatensystem  K  und  sodann  auf 
ein  relativ  zu  jenem  in  der  Richtung  der  x- Achse  geradlinig  und 
gleichförmig  verschobenes  K\  welches  ist  die  Rechnungsregel  oder 
die  Relation,  nach  welcher  sich  die  so  verändert  zu  beziehende 
Geschwindigkeit  ändert?  Hierbei  ist  die  Unveränderlichkeit  der 
Maßeinheiten  als  selbstverständlich  vorausgesetzt. 

Eine  fundamental  verschiedene  Frage  beantwortet  die  „Lorentz- 
transformation".  Gesetzt  1.  die  Geschwindigkeit  eines  Beweg- 
lichen, dessen  Bewegung  mit  Hilfe  von  Koordinaten  „beschrieben" 
wird,  beziehe  man  zuerst  auf  ein  galileisches  Koordinatensystem  K 
und  sodann  auf  ein  relativ  zu  jenem  in  der  Richtung  der  x- Achse 
geradlinig  und  gleichförmig  verschobenes  K',  und  gesetzt  2.  es 
werde  gefordert,  daß  die  Geschwindigkeit  des  Beweglichen 
Telativ  zu  den  Koordinatensystemen  als  invariant  „beschrieben" 
werden  solle,  welchen  quantitativen  Veränderungen  müssen  die 
Maßeinheiten  der  als  Beschreibungsmittel  dienenden  Koordinaten 
unterzogen  werden?1) 

Die  Antwort  auf  die  soeben  formulierte  Frage  ist  es,  die  Ein- 
stein sucht  und  erteilt.  Im  §  14  faßt  er  den  Gedankengang  fol^ 
gendermaßen  zusammen:  „Die  Erfahrung  hat  zu  der  Überzeugung 
geführt,  daß  einerseits  das  Relativitätsprinzip  (im  engeren  Sinne) 
gelte  und  daß  andererseits  die  Ausbreitungsgeschwindigkeit  des 
Lichtes  im  Vacuum  gleich  einer  Konstanten  c  zu  setzen  sei.  Durch 
die  Vereinigung  dieser  beiden  Postulate  ergab  sich  das  Trans- 
formationsgesetz für  die  rechtwinkeligen  Koordinaten  x,  y,  #,  und 


1)  Die  vorstehenden  Ausführungen  stützen  sich  größten  Teiles  auf  die  ge- 
meinverständliche Darstellung,  die  „eine  möglichst  exakte  Einsicht"  in  die  Relati- 
vitätstheorie vermitteln  will.  Doch  ist  es  vielleicht  nicht  überflüssig  zu  bemerken, 
daß  nicht  nur  die  „gemeinverständliche  Darstellung",  sondern  auch  die  Abhand- 
lung aus  dem  Jahre  1905  (Zur  Elektrodynamik  bewegter  Körper)  und  spätere 
Aufsätze  dieselhen  Irrtümer  enthalten.  Auch  dort  glauht  Einstein  sich  auf  beide 
Prinzipien  zu  stützen,  auf  das  Relativitätsprinzip  und  Konstanzprinzip,  ohne  die 
Verwechslungen  zu  merken,  denen  er  erliegt. 

30* 


468  Oskar  Kraus, 

die  Zeit  t  der  Ereignisse,  welche  das  Natur  geschehen  zusammen- 
setzen und  zwar  ergab  sich  nicht  die  Galileitransformation  sondern 
die  Lorentztransformation".  — 

Das  was  Einstein  „Relativitätsprinzip"  nennt  ist  jedoch  nichts 
anderes  als  das  S.  9.  §  5  formulierte  rein  mathematische  Hilfs- 
prinzip der  Koordinatenäquivalenz  —  bei  vorausgesetzter  Unver- 
änderlichkeit  der  Maßeinheiten,  und  dieses  ist,  wie  wir  gesehen 
haben,  gerade  durch  die  Verwendung  der  Lorentztransformation 
geopfert  —  es  kann  „nur  ein  Relativitätsprinzip"  geben,  und  dieses, 
sagt  Laue,  ist  das  der  Lorentztransformation  entsprechende. 

Und  das  sogenannte  „Ausbreitungsgesetz  des  Lichtes"  ist  aber- 
mals nicht  der  bekannte  als  Naturgesetz  angesehene  Satz,  der  dem 
Lichte  die  konstante  Geschwindigkeit  =  c  relativ  zum  Äther  zu- 
schreibt, sondern  nichts  anderes  als  das  Postulat  einer  Invarianz 
der  Lichtgeschwindigkeit  gegenüber  den  Beschreibungsmitteln,  das 
nur  durch  entsprechende  —  dem  charakterisierten  „Relativitäts- 
prinzipe"  ( Aquivalenzprinzipe )  widersprechende  Voraussetzungen 
ermöglicht  wird.  Ungeachtet  dieses  Sachverhaltes  spricht  Einstein 
von  der  Aufrechterhaltung  beider  Prinzipien  und  von  Bedingungen, 
welche  die  Relativitätstheorie  den  Naturgesetzen  vorschreibt! 

9.  Doch  weiter :  Niemand  kann  es  einem  Menschen  verwehren, 
sich  vorzustellen,  daß  die  Beschreibungsmittel,  die  fingierten  Ko- 
ordinaten —  und  zwar  Raum  und  Zeitkoordinaten  —  durch  Maß- 
stäbe und  Uhren  ersetzt  wären.  Man  kann  sich  weiter  denken, 
daß  jene  Maßstäbe  und  Uhren  eben  denjenigen  Veränderungen 
unterworfen  seien,  denen  eben  die  Beschreibungsmittel  unterworfen 
werden  müssen,  um  das  postulierte  Resultat  der  Invarianz  der 
Lichtgeschwindigkeit  gegenüber  diesen  Beschreibungsinstrumenten 
zu  erhalten.  —  Dieses  Gedankenspiel  ist  unschädlich,  wofern  man 
nur  nicht  wähnt,  der  Natur  und  den  Naturgesetzen  hiermit  etwas 
„vorgeschrieben",  oder  selbst  ein  Naturgesetz  gefunden  zu  haben. 
—  Einstein  hat  jedoch  auch  diesen  Schritt  gewagt.  —  Ja!  die 
Maßstäbe  und  Uhren  müssen  sich  zu  diesen  durch  die  Lorentz- 
transformation vorgeschriebenen  Veränderungen  ihrer  Einheiten 
bequemen.  Jener  gedankliche  Vorgang,  der  nötig  ist,  um  die  In- 
varianz der  Lichtgeschwindigkeit  gegenüber  den  Beschreibungs- 
mitteln herzustellen,  jene  gedankliche  Veränderung,  die  sich  die 
Maßeinheiten  gefallen  lassen  müssen,  um  jenes  Postulat  zu  er- 
füllen, sie  wird  durch  einen  Sprung  von  Fiktion  zur  Hypothese, 
zur  transmentalen  Realität.  —  So   gelangt  Einstein  von  Newtons 


Verwechslungen  von  Besclireibungsrnittel  und  Beschreibungsobjekt  usw.    469 

Relativitätsgesetz,  das  von  den  Naturdingen  handelt,  zu  einer 
Aussage  über  bloße  gedankliche  Beschreibungsmittel,  und  zu  einer 
Aussage  über  Meßinstrumente,  die  einwandfrei  wäre,  sofern  sie  nicht 
mehr  einschlösse  als  die  Regel,  nach  welcher  sich  Meßinstrumente 
verändern  müßten,  um  ein  gewolltes  „Meßresultat"  (Invarianz  der 
Lichtgeschwindigkeit  ihnen  gegenüber)  zu  ergeben;  aber  damit 
nicht  genug,  fordert  er  nun  von  den  Meßinstrumenten,  daß  sie  sich 
tatsächlich  jenen  Regeln  gemäß  verändern!  Daß  hierbei  der  Be- 
griff des  Meßapparates  und  der  Maßeinheit  von  Grund  aus  zerstört 
wird,  wird  von  den  Relativisten  nicht  als  störend  empfunden.  — 
Und  diese  Aussage  über  untauglich  gemachte  Beschreibungs-  und 
„Meß"-mittel  wird  je  nach  dem  zu  einer  Aussage  über  das  zu  be- 
schreibende und  zu  messende  gemacht  und  von  den  Vorgängen 
optischer,  elektrischer  und  schließlich  mechanischer  Art  behauptet, 
daß  sie  tatsächlich  diesen  Rechnungen  gemäß  verlaufen;  so  wird 
insbesondere  die  vermöge  variabler  Beschreibungsmittel  errechnete 
Invarianz  der  Lichtgeschwindigkeit  in  ein  unmögliches  Kon- 
stanzgesetz umgedeutet.  Hiermit  ist  die  herrschende  physikali- 
sche und  philosophische  Deutung  des  Einsteinschen  Rechenverfahrens 
der  speziellen  Relativitätstheorie  Schritt  für  Schritt  als  verfehlt 
nachgewiesen. 

10.  Es  liegt  in  der  „speziellen  Relativitätstheorie"  eingeschlossen, 
daß  die  Zeitkoordinate,  die  bisher  stets  als  eine  von  dem  Raum- 
koordinatensystem unabhängige  Variable  betrachtet  wurde,  nun 
diesen  ihren  Charakter  verliert.  Die  Minkowskitheorie  hat  diesen 
Zusammenhang  in  einer  symbolisch-geometrischen  Darstellung  be- 
quem oder  „elegant"  zum  Ausdrucke  gebracht  und  dadurch  den 
rein  mathematischen  Charakter  der  speziellen  Relativitätstheorie 
noch  auffälliger  gemacht.  Der  Wahn,  der  eine  Zeit  lang  die 
Geister  soweit  gebracht  hatte,  daß  sie  ernstlich  die  Zeit  als  vierte 
Raumdimension  auffassen  wollten,  ist  heute  bereits  zerstoben. 
Selbst  Laue  nennt  die  Minkowskitheorie  nur  ein  Darstellungsmittel 
analytischer  Relationen  zwischen  vier  Variablen.  Ich  zweifle 
ebensowenig  wie  Gehrcke,  Lenard  u.  a.,  daß  die  „Relativität  der 
Gleichzeitigkeit"  über  kurz  oder  lang  dasselbe  Schicksal  ereilen 
wird,  sofern  nämlich  unter  dieser  mehr  verstanden  sein  soll,  als 
jene  eben  geschilderte  Veränderung  der  Zeitmaße,  die  man  sich  einge- 
führt denken  muß,  um  der  Forderung  der  Invarianz  der  Licht- 
geschwindigkeit rechnungsmäßig  zu  genügen;  so  lange  man  sich 
diese  Veränderungen   auf  die   gedachte  Zeitkoordinate  beschränkt 


470  Oskar  Kraus, 

denkt,  ist  diese  Fiktion  ebenso  unschädlich,  wie  wenn  man  Uhren 
fingiert,  welche  die  geforderten  Änderungen  erleiden,  und  sich 
hierbei  seiner  Fiktion  bewußt  bleibt.  Die  Lorentzsche  „Ortszeit" 
z.  B.  war  sich  ihres  fiktiven  Charakters  bewußt.  In  dem  Augen- 
blicke aber,  wo  man  von  den  wirklichen  Uhren  und  Stäben  der- 
gleichen Veränderungen  behauptet,  ist  der  Sprung  von  Fiktion  zur 
Hypothese  vollbracht,  den  ich  in  meinem  Hallenser  Vortrage 
(Sonderheft  der  Annalen  der  Philosophie,  Bd.  II)  genügend  gekenn- 
zeichnet habe.  Vollends  aller  unmittelbaren  Evidenz  widersprechend 
und  ohne  den  geringsten  Anhaltspunkt  in  der  Erfahrung,  ist  der 
weitere  Schritt,  den  die  Einsteinphilosophie  wagt,  Uhrenangaben 
und  Uhrenabläufe  als  „Zeit"  schlechthin  anzusprechen.  Die  Kom- 
petenzüberschreitung des  einseitigen  Rechen-  und  Meßverstandes 
ist  hier  so  offenkundig,  daß  ich,  trotzdem  Philosophen  wie  Schlick 
auch  hier  Gefolgschaft  leisten,  an  dieser  Stelle  diese  ^stocßaetg  slg 
iklXo  yivog  erörtern  zu  müssen,  mich  enthoben  glaube.  Habe  ich 
oben  nachgewiesen,  daß  es  unzulässig  ist,  gedachte  Koordinaten  in 
wirkliche  Uhren  zu  verwandeln,  so  brauche  ich  nicht  nachzuweisen, 
daß  man  Gangarten  und  Zeigerstellungen  fingierter  oder  wirklicher 
Uhren  nicht  für  wirkliche  Zeit  nehmen  darf. 

11.  Es  entfallen  selbstverständlich  alle  physikalischen  Folge- 
rungen aus  jener  mathematisch  hergestellten  Invarianz.  Das  habe  ich 
bereits  hinsichtlich  des  Michelsonexperimentes  an  anderem  Orte 
nachgewiesen.  Gesetzt  es  sei  dieses  Experiment  einwandfrei;  so 
hat  sich,  wie  gezeigt,  prima  facie  nichts  anderes  ergeben,  als  daß 
die  Erdgeschwindigkeit  sich  zu  der  Lichtgeschwindigkeit  addiere 
—  hätte  doch  sonst  nicht  Lorentz  sagen  können,  durch  eine  Emis- 
sionstheorie wäre  es  an  und  für  sich  vollkommen  erklärbar  — 
ebenso  erklärbar  wäre  es  —  an  und  für  sich  —  durch  die  Mit- 
nahme des  Äthers.  Werden  diese  Erklärungsmöglichkeiten  als  mit 
anderen  Erfahrungen  nicht  stimmend  zurückgewiesen,  so  folgt  daß 
irgendwo  in  der  physikalischen  Theorie  ein  Fehler  oder  eine  Lücke 
steckt.  Es  ist  aber  klar,  daß  die  Einsteinsche  Relativitätstheorie 
eine  Erklärung  des  Versuches  auf  keine  Weise  liefern  würde, 
selbst  wenn  man  —  posito  sed  non  concesso  —  sie  zuließe.  Um 
dies  einzusehen,  vergegenwärtige  man  sich  doch  nur,  daß  beim 
Michelsonexperimente  weder  Zeitkoordinaten  beobachtet  wurden, 
deren  Maßeinheiten  hätten  Veränderungen  erleiden  können,  noch 
etwa  Uhren  an  dem  Apparate  aufgestellt  waren,  an  denen  man 
hätte  Zeigerstellungen  ablesen  können. 


Verwechslungen  von  Beschreibungsmittel  und  Beschreibungsobjekt  usw.    471 

Sodann   aber   erwäge  man  doch,   daß  die  Lorentzkontraktion, 
die  angeblich  „aus  der  Einsteintheorie  sich  ergibt",  wie  ich  eben- 
falls bereits  in  „Fiktion  und  Hypothese"  gezeigt  habe,  in  der  Ein- 
steinschen   Theorie    eine   „Putativkontraktion"   sein  muß,   (Witte) 
die  nicht  primär   an   dem  bewegten  Koordinatensystem   K!  auf- 
treten darf,    sondern   an   dem  ruhenden  (vgl.  Fr.  Adler).     Mit  an- 
deren Worten:    durch  Verknüpfung   der  Längenmessung    mit    den 
bereits   durch   Menschenhand   entsprechend   regulierten   Zeitmaßen 
erhält  man  im  bewegten  System  K!  vergrößerte,  gedehnte  Längen- 
maße und  erst  dadurch,  daß  man  mit  größerem  Längenmaße  mißt, 
ergeben  sich  verkleinerte,  kontrahierte  Längen  in  dem  System  K, 
und  die  quantitative  Übereinstimmung  der  Einsteinkontraktion  mit 
der   Lorentzkontraktion   erklärt   sich   durch   die    quantitativ    ent- 
sprechende Uhrenregulierung  bzw.  Zeitmaß  Veränderung.     Endlich 
aber   sollen  ja   alle   diese  Veränderungen   an   den   Beschreibungs- 
und   Messungsmitteln    ja    gar    nicht    das    alte    Gesetz    von    der 
Konstanz    der  Lichtgeschwindigkeit    relativ    zum  Äther   aufrecht 
erhalten,    sondern    die    Invarianz    relativ    zu    den   Beschreibungs- 
mitteln.   Daher  hat  schon  Einsteins  Anhänger  Ph.  Frank  (Ann.  der 
Naturph.  X)    erklärt,    daß    die    Kontraktion   bei    Einstein    „keine 
wirkliche  physikalische   ist,    sondern   auf  verschiedenen  Messungs- 
arten der  Entfernung  beruht"  S.  156  a.  a.  0.,  und  neuestens  betont 
der  Relativist  Born   S.  183  seines   Buches   über   die  Relativitäts- 
theorie:   „Die  Kontraktion   ist   also  nur   eine  Folge  der  Betrach- 
tungsweise, keine  Veränderung  einer  physikalischen  Realität,  also 
fällt  sie  nicht  unter   die  Begriffe  von  Ursache   und  Wirkung".  — 
Nimmt  man  hinzu,  daß  Einstein  selbst  seine  Theorie  eine  phänomeno- 
logische  nennt   und   den  Verzicht  auf  Kausalerklärung  —  wenig- 
stens in  Prag  —  als  in  der  Theorie  involviert,  ausdrücklich  zuge- 
geben hat,  so  muß  der  Rettungsversuch  Laues,    der  allen  Ernstes 
Koordinatensystemen    „genau   so   gut,    wie   irgend   einem  anderen 
durch  Beobachtung   festzustellenden,   also   physikalisch  wirklichen 
Gegenstande"  die  Ausübung  physikalischer  Wirkungen  zuschreibt 
(vgl.  den  Aufsatz  Laues  KSt  1921,  Heft  1/2!),  als  Rettungsversuch 
einer    verlorenen   Sache   bezeichnet    werden.     Dies   umsomehr    als 
Einstein  selbst  sich  an  anderer  Stelle   (Naturwissenschaften  1918) 
über  „humorvolle  Kritiker"  lustig  macht,  die  ihm  zuschreiben  wollen, 
er  mache  Koordinatensysteme  zu  Ursachen.   Allerdings  habe  ich  in 
den  Annalen  der  Philosophie  a.  a.  0.  auch  eine  andere  Stelle  desselben 
Artikels  zitiert,  wo  Einstein  wiederum  das  Gegenteil  lehrt. 


472  Oskar    Kraus, 

12.  Die  „allgemeine  Relativitätstheorie"  Einsteins  beginnt  mit 
einer  verwirrenden  und  unrichtigen  Charakterisierung  der  „spe- 
ziellen", Einstein  hebt  nämlich  in  seiner  Schrift  „Die  Grundlage 
der  allgemeinen  Relativitätstheorie"  mit  den  Worten  an:  „Der  spe- 
ziellen Relativitätstheorie  liegt  folgendes  Postulat  zugrunde, 
welchem  auch  die  Gralilei-Newtonsche  Mechanik  Genüge 
leistet:  „Wird  ein  Koordinatensystem  K  so  gewählt,  daß  in  bezug 
auf  dasselbe  die  physikalischen  Gesetze  in  ihrer  einfachsten  Form 
gelten,  so  gelten  dieselben  Gesetze  auch  in  bezug  auf  jedes  andere 
Koordinatensystem  K',  das  relativ  zu  K  in  gleichförmiger  Trans- 
lationsbewegung begriffen  ist.  Dieses  Postulat  nennen  wir  „spe- 
zielles Relativitätsprinzip".  —  Mit  diesen  Sätzen  führt  Einstein 
sich  selbst  und  seine  Leser  irre.  Der  Satz  spricht  nicht  das 
Einsteinsche  spezielle  Relativitätsprinzip  aus,  sondern  nichts  an- 
deres als  das  klassische  Koordinatenäquivalenzprinzip,  das  stets 
unter  der  stillschweigenden  —  weil  selbstverständlichen  Voraus- 
setzung der  Unveränderlichkeit  der  Maßeinheiten  ausge- 
sprochen wurde.  Er  verschweigt  die  von  Einstein  eingeführte 
fundamentale  Änderung  dieser  Voraus  Setzung!  —  Ganz 
ähnlich  sagt  die  „  gemeinverständliche  Darstellung " :  „  Für  die 
physikalische  Beschreibung  der  Natur  Vorgänge  ist  keiner  der  gerad- 
linig, gleichförmig  gegeneinander  bewegt  gedachten  Bezugskörper 
K,  K'  vor  dem  anderen  ausgezeichnet".  —  Auch  dieser  Satz  ent- 
spricht völlig  der  klassischen  Mechanik  und  ihrem  Aquivalenz- 
prinzip.  Einsteins  Neuerung  kommt  in  ihm  nicht  zum  Ausdruck x), 
auf  sie  aber  kommt  alles  an ;  —  wenn  nun  Einstein  das  allgemeine 
Relativitätsprinzip  in  der  gemeinverständlichen  Darstellung  S.  42 
und  65  dahin  formuliert:  „Alle  Bezugskörper  K,  K'  usw.  sind  für 
die  Naturbeschreibung  (Formulierung  der  allgemeinen  Naturgesetze) 
gleichwertig,  welches  auch  deren  Bewegungszustand  sein  mag", 
und  S.  66  „alle  Gaußschen  Koordinatensysteme  sind  für  die  Formu- 
lierung der  allgemeinen  Naturgesetze  prinzipiell  gleichwertig",  so 
hat  er  das  Postulat  aufgestellt,  es  sei  das  Koordinatenäquivalenz- 
prinzip von  der  gleichförmigen  Translationsbewegung  der  Koor- 
dinaten auf  jede  beliebige  Koordinatenbewegung  zu  übertragen. 

Gesetzt  es  wäre  ihm  dies  gelungen,  so  hätte  er  eine  Aussage 
über  Beschreibungsmittel  gemacht,   die  nach   seinen  eigenen 

1)  Manche  stimmen  der  speziellen  Relativitätstheorie  nur  darum  zu,  weil  sie 
sie  mit  dem  klassischen  Koordinatenäquivalenzprinzip  —  durch  diese  Sätze  irre 
geführt  —  verwechseln. 


Verwechslungen  von  Besckreibungsmittel  und  Beschreibungsobjekt  usw.    473 

Worten  nicht  mit  den  zu  beschreibenden  Gegenständen  verwechselt 
werden  dürfen,  somit  könnte  von  der  Formulierung  eines  Natur- 
gesetzes nicht  die  Rede  sein,  denn  physikalische  Gesetze  handeln 
von  den  Körpern  und  nicht  von  den  Koordinaten.  Es  liegt  jedoch, 
wie  wir  gesehen  haben,  im  Begriffe  des  klassischen  Koordinaten- 
äquivalenzprinzips,  daß  es  unmöglich  gelingen  kann. 

Im  Begriffe  des  nicht  alterierten  klassischen  Koordinatenäqni- 
valenzprinzipes  liegt,  wie  wir  gezeigt  haben,  daß  wohl  die  Ge- 
schwindigkeiten variieren,  daß  aber  die  Beschleunigungen  und  die 
geradlinig  gleichförmige  Bewegung  als  solche  invariant  bleiben, 
wir  erhalten  die  Invarianz  des  Trägheitsgesetzes  und  der  Newton- 
schen  Bewegungsgleichungen.  Soll  daher,  was  von  der  Gleich- 
wertigkeit gleichförmig  transferierter  Koordinaten  ausgesagt  wird, 
auch  von  beliebig  bewegt  gedachten  Koordinaten  gelten,  so  muß 
diese  Invarianz  ohne  eine  neuerliche  Begriffsveränderung  gewahrt 
werden.  Dies  ist  nicht  möglich.  Nur  dadurch,  daß  Einstein  den 
Begriff  der  geradlinigen  gleichförmigen  Bewegung,  mit  dem  die 
klassische  Mechanik  arbeitete,  ersetzt  durch  den  Begriff  der  kürzesten 
Verbindung  zwischen  zwei  Punkten  einer  drei  bzw.  vierdimensio- 
nalen  gekrümmten  Oberflächenwelt,  erhält  er  in  der  Invarianz  des 
Linienelementes  dieses  übereuklidischen  Gebildes  gegenüber  belie- 
bigen Gaußschen  Koordinaten  ein  neues  invariantes  Element ;  dieses 
Element  ist  aber  nicht  das  Symbol  der  Trägheitsbewegung,  sondern 
einer  ungleichförmigen,  in  diesem  Sinne  beschleunigten  Bewegung 
beziehungsweise  einer  unter  dem  Einflüsse  der  Gravitation  erfol- 
genden Bewegung. 

Es  kann  also  nicht  die  Hede  davon  sein,  daß  Einstein  das 
klassische  Koordinatenäquivalenzprinzip  (von  ihm  klassisches 
Relativitätsprinzip  genannt)  von  gleichförmig  transferierten  auf 
beliebig  bewegte  Koordinaten  erweitert  und  in  diesem  Sinne  „ver- 
allgemeinert" habe,  vielmehr  ist  die  Erweiterung  nur  postuliert, 
und  der  Schein  der  Erfüllung  des  Postulates  mit  einer  Veränderung 
des  geometrischen  Begriffes  der  Geradlinigkeit  und  demzufolge  mit 
einer  entsprechenden  Abänderung  des  Begriffes  der  Trägheits- 
bewegung erkauft. 

Um  noch  deutlicher  zu  sprechen:  die  allgemeine  Relativitäts- 
theorie beginnt  mit  einer  begrifflichen  Veränderung  des 
zu  Beschreibenden.  Die  verallgemeinerte  Forderung,  die  Ein- 
stein erhebt,  die  Aufgabe,  die  er  sich  stellt :  „Gleichwertigkeit  be- 
liebig bewegter  Koordinatensysteme"  muß  das  euklidische   Linien- 


474  Oskar  Kraus, 

dement  der  räumlichen  Welt  von  vornherein  durch  ein  gekrümmtes 
„nicht  euklidisches"  ersetzen  —  d.  h.  der  Physik  werden  nun  nicht 
mehr  jene  Begriffe  zugrunde  gelegt,  die  ihr  bisher  auf  Grund  un- 
zähliger Erfahrungen  stillschweigend  zugrunde  gelegt  wurden.  Von 
vornherein  wird,  um  dem  Postulate  scheinbar  zu  entsprechen,  das  zn 
Beschreibende  als  ein  anderes  hingestellt,  als  es  bisher  aufgefaßt 
wurde.  Auf  andere  Weise  kann  der  Schein  einer  Äquivalenz  der 
Beschreibungsmittel  nicht  hergestellt  werden.  Die  zu  beschrei- 
bende Realität  wird  den  willkürlich  gewählten  Be- 
schreibungsmitteln „angepaßt"  (Freundlich  S.  27).  Dieses 
Anpassungs verfahren  ist  methodisch  unerlaubt.  In  der  speziellen 
Theorie  läßt  Einstein  die  stillschweigende  und  selbstverständliche 
Voraussetzung  der  Unveränderlichkeit  der  Maßeinheiten  fallen,  in 
der  allgemeinen  verändert  er  von  vornherein  den  bisher  still- 
schweigend vorausgesetzten,  weil  empirisch  seit  Menschengedenken 
bewährten  Begriff  des  dreidimensionalen  für  sich  bestehenden  und 
ebenen  (homogenen)  Räumlichen. 

13.  Um  mit  beliebigen  Graußschen  Koordinaten 
beschreiben  zu  können,  greift  Einstein  zu  einer  fun- 
damentalen Veränderung  des  Beschreibungsobjektes. 
Nun  kann  eine  gekrümmte  dreidimensionale  Mannigfaltigkeit  wider- 
spruchslos nur  gedacht  werden  als  eingebettet  einer  topoiden 
Mannigfaltigkeit  von  mehr  als  drei  Dimensionen.  Einstein  behan- 
delt seine  sphärische  Welt  wie  ein  für  sich  bestehendes  Gebilde, 
und  prägt  ihr  dadurch  den  Charakter  des  Fiktiven  und  unmöglich 
Realisierbaren  a  priori  auf.  Die  andere  Annahme  der  „Einbettung" 
in  eine  mehrdimensionale  Welt  wird  nicht  erörtert  und  die  Frage 
bleibt  offen,  wie  man  eine  derartige  Hypothese,  die  uns  in  eine 
mehr  als  dreidimensionale  Welt  (mit  unbestimmt  vielen  Dimensionen 
unseres  „Körpers")  hineinragen  läßt,  mit  der  Erfahrung  verein- 
bar machen  kann,  die  uns  nur  von  drei  Dimensionen  Kunde 
gibt *).  Die  erste  Annahme  ist  unmittelbar  absurd,  die  zweite  zum 
mindesten  unendlich  unwahrscheinlich.  —  (Vgl.  Isencrahe,  Zur  Ele- 
mentaranalyse der  Relativitätstheorie,  bei  Vieweg  1921,  S.  63  u.  f. 
Meißner,  phys.  Zeitschr.  1921).  Wie  immer  dem  sei:  Die  Hypo- 
these einer  gekrümmten  Welt  ist  also  nicht  etwa  durch  eine  em- 
pirische Tatsache  nahe  gelegt,  sondern  einzig  und  allein  durch 

1)  Der  Einfachheit  wegen  habe  ich  in  diesem  §  von  der  Einführung  der 
Zeitkoordinate  als  vierte  Koordinate  vorläufig  abgesehen,  ähnlich  wie  Freund- 
lich, S.  22. 


Verwechslungen  von  Beschreibnngsmittel  und  Beschreibungsobjekt  usw.    475 

die  Forderung  der  Gleichwertigkeit  der  beliebig 
bewegten  Beschreibungsmittel;  ein  solches  Verfahren 
widerstreitet  aller  induktiven  d.  h.  empirischen  Naturforschung. 

Aber  nur  so  erklärt  es  sich,  wieso  aus  einer  Forderung  betr. 
die  Äquivalenz  von  Beschreibungsmitteln  eine  Forderung  über  die 
Beschaffenheit  des  Räumlichen,  d.  i.  des  physikalisch  zu  Beschrei- 
benden folgen  kann. 

Die  letztere  ist  einfach  das  Korrelat  der  ersteren. 
Diese  aber  ist  keine  Erfahrungstatsache,  sondern  eine  „Forderung", 
ein  Postulat  und  daher  auch  jene.  Es  wird  nicht  gefragt,  wie 
die  Natur  beschaffen  ist,  sondern  wie  sie  sein  müßte,  um  einer 
bestimmten  sogenannten  „Beschreibung"  zu  entsprechen. 

14.  Doch  nicht  genug!  —  Wir  haben  bis  jetzt  nur  den  einen 
Gedanken  Einsteins  verfolgt,  der  das  allgemeine  Relativitätsprinzip 
in  einer  angeblichen  Erweiterung  des  klassischen  Koordinatenäqui- 
valenzprinzipes  bestehen  läßt.  —  Allein  so  einfach  ist  die  Sache 
nicht!  —  Wenn  Einstein  erklärt  „die  spezielle  Relativitäts- 
theorie weiche  von  der  klassischen  Mechanik  nicht  durch  das  Re- 
lativitätsprinzip ab"  (S.  7  der  Grundlagen  der  allg.  Relativitäts- 
theorie), so  haben  wir  diese  Behauptung  als  eine  durchaus  irrige 
dargetan :  wir  sahen,  daß  durch  die  Invarianz  der  Lichtgeschwindig- 
keit, die  nach  Einstein  den  Unterschied  von  der  klassischen  Theorie 
ausmacht,  notwendig  die  wesentlichste  Voraussetzung  der  letztern, 
die  Unveränderlichkeit  der  Maßeinheiten  der  benutzten  Koordinaten- 
systeme aufgegeben  ist.  — 

Einsteins  allgemeine  Relativitätstheorie  will  die  spezielle, 
deren  wesentlichstes  Kennzeichen  die  Invarianz  der  Lichtge- 
schwindigkeit ist  als  Spezialfall  in  sich  aufnehmen,  also  auch  die 
Modifizierung  der  wesentlichsten  Voraussetzung  des  klassischen  Ko- 
ordinatenäquivalenzprinzipes,  nämlich  der  Unveränderlichkeit  der 
Maßeinheiten;  mit  anderen  Worten:  die  allgemeine  Relativitäts- 
theorie nimmt  ein  Prinzip  in  sich  auf,  welches  das  klassische  Ko- 
ordinatenäquivalenzprinzip  preisgibt.  Andererseits  —  wir  setzten 
dies  soeben  auseinander  —  entspringt  sie  dem  Wunsche  ebendas- 
selbe Aquivalenzprinzip  auf  beliebige  Koordinatensysteme  zu  er- 
weitern!! Diese  Forderung  konnte  aber  nur  durch  Preisgabe  ge- 
wisser (euklidischer)  Voraussetzungen  des  klassischen  Aquivalenz- 
prinzips  erfüllt  werden,  deren  Beibehaltung  sie  als  unerfüllbar 
erscheinen  läßt;  die  Erfüllung  ist  also  nur  eine  scheinbare  „Er- 
weiterung des  klassischen  Relativitätsprinzipes  d.  h.  Koordinaten- 


471) 


Oskar  Kraus, 


äquivalenzprinzipes".  Dieses  ist  vielmehr  in  doppelter  Weise  ge- 
opfert :  1 .  durch  die  Aufnahme  der  speziellen  Relativitätstheorie, 
sofern  diese  das  Invarianzprinzip  enthält;  2.  sofern  die  allgemeine 
Theorie  nicht  mehr  euklidische  Raumbeschaffenheiten  beschreibt, 
sondern  „nichteuklidische",  die  der  bisherigen  Physik,  demnach  auch 
der  klassischen,  fremd  waren.  Es  ist  von  fundamentaler  Wichtig- 
keit sich  klar  zu  machen,  daß  die  sogenannte  erweiterte  oder  all- 
gemeine Relativitätstheorie  weder  eine  Erweiterung,  d.  h.  Verall- 
gemeinerung, des  klassischen  Äquivalenzprinzipes,  (sogenannten 
klassischen  Relativitätsprinzipes),  noch  eine  Erweiterung  der  Ein- 
steinschen  speziellen  Relativitätstheorie  ist,  obgleich  sie  sich  als 
beides  ausgibt,  vielmehr  beiden  widerspricht *).  Daß  auch  von 
einer  Erweiterung  des  Einsteinschen ,  „speziellen  Relativitäts- 
prinzipes" nicht  gesprochen  werden  darf,  erhellt  daraus,  daß  die 
„spezielle"  Theorie,  solches  „beschreibt",  was  euklidische  Raum- 
beschaffenheiten aufweist  und  auch  mit  derartigen  Koordinaten- 
gebilden arbeitet,  während  die  „allgemeine"  die  euklidische  Raum- 
beschaffenheit des  Beschriebenen  und  des  „Beschreibungsmitteis" 
opfert.  Verallgemeinert  ist  lediglich  das  Postulat,  d.  h.  der  Wunsch. 
Es  ist  auch  ausgeschlossen,  daß  die  „allgemeine"  Theorie  die  „spe- 
zielle" als  Spezialfall,  d.  h.  wie  die  Gattung  die  Spezies  unter 
sich  begriffe.  Beide  widersprechen  einander.  Ich  weiß  wohl,  daß  die 
Relativitätstheoretiker  der  Feststellung  dieses  Widerspruches  seit 
jeher  widersprechen.  Aber  vergeblich. 

Das  Unvereinbare  vereinbar  zu  machen  war  schon  fruchtloses 
Bemühen  Einsteins  —  wir  zeigten  es  —  in  der  „speziellen"  Theorie. 
Die  Kunst,  das  Widersprechende  zu  vereinigen,  scheitert  auch  in 
der  „allgemeinen". 

15.  Man  erlaubt  sich  zu  sagen,  die  „spezielle"  gelte  nur  im 
„unendlich  Kleinen".  Was  für  eine  Bewandtnis  es  mit  dieser  Rede- 
weise hat,  ersieht  man  daraus,  daß,  wie  Born  sagt  (Physikal. 
Zeitschr.  XVII,  36)  „riesige,  sogar  astronomische  Dimensionen" 
noch  unendlich  klein  sind  —  für  die  Einsteins  che  Theorie.  Es  ist 
mathematisch  erlaubt,  endlich  Großes  als  unendlich  klein  zu  fin- 
gieren. Einstein  will  aber  Naturwissenschaft  treiben  und  nicht 
Mathematik :  Die  Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit  soll  ein  Natur- 
gesetz sein.  Gibt  es  nun  eine  einzige  Natur  und  eine  Einheit 
des    naturwissenschaftlichen    Weltbildes    oder    gibt    es    zwei    Na- 


1)  Vgl.  schon  Gehrcke  Kantstudien  a.  a.  0. 


Verwechslungen  von  Beschreibungsmittel  und  Beschreibungsobjekt  usw.    477 

turen,  eine  der  „speziellen"  Theorie  und  eine  der  „allgemeinen"? 
Eine  Natur,  in  der  das  Konstanzgesetz  gilt,  und  eine,  in  der  es 
nicht  gilt?  —  Entweder  die  Lichtstrahlen  krümmen  sich  im 
Schwerefeld  oder  sie  tun  es  nicht.  —  Entscheidet  „die  Beobach- 
tung" zu  Gunsten  der  Krümmung,  dann  ist  es  falsch  ein  Gesetz 
der  Konstanz  der  Lichtgeschwindigkeit  zu  behaupten,  denn  in  dem 
Wesen  eines  Naturgesetzes  liegt  die  Ausnahmslosigkeit,  die  Un- 
möglichkeit des  Ausbleibens  eines  gewissen  Geschehens  unter  ge- 
wissen Umständen.  Krümmen  sich  die  Lichtstrahlen  im  Schwer- 
felde, so  kann  nur  behauptet  werden,  daß  ihre  Bewegung,  sofern 
keine  äußern  Kräfte  auf  diese  Bewegung  einwirken,  keine  Änderung 
der  Geradlinigkeit  und  Gleichförmigkeit  aufweisen  könne.  Wo  ist 
aber  dann  der  angebliche  Widerspruch  zwischen  Konstanzgesetz 
und  mechanischem  Relativitätsgesetz  (oben  §  2)?  Dann  gibt  es 
eben  kein  Konstanzgesetz  der  Lichtgeschwindigkeit.  Man  kann 
höchstens  sagen:  In  relativ  kleinen  Bereichen  sei  es  so,  als  ob  es 
gelte;  es  wird  dort  als  geltend  fingiert.  Hierbei  darf  aber  unter 
„Konstanz"  keinesfalls  die  „Invarianz"  verstanden  werden! 

16.  In  der  speziellen  Theorie  „postuliert"  Einstein,  die  Maße 
sollen  als  invariant  beschreiben,  was  variabel  ist,  er  verwandelt 
Koordinaten  in  Uhren  und  in  Maßstäbe,  und  postuliert  von  diesen 
dasselbe.  Er  verwandelt  schließlich  das,  was  wir  an  unbrauchbar 
gewordenen  Maßstäben  und  Uhren  ablesen,  in  Raum  und  Zeit,  ver- 
langt von  Raum  und  Zeit,  daß  sie  sich  seinen  Postulaten  fügen. 
So  wenig  aber  als  diese,  so  wenig  füge  ich  mich  dieser  Postulaten- 
philosophie. 

In  der  allgemeinen  ist  Einstein  noch  kühner.  Das  verallgemei- 
nerte Koordinatenäquivalenzpostulat  beugt  von  vornherein  den 
Raum  unter  sein  Joch,  er  kann  nur  noch  als  gekrümmter  sein 
Dasein  fristen,  hat  aber  die  Genugtuung  dem  Postulate  Einsteins 
zu  genügen. 

Daß  auf  solchem  Boden  kein  dauerndes  Gebäude  aufgeführt 
werden  kann,  ist  zweifellos.  Ob  gewisse'  seiner  Teile  werden  ver- 
wertet werden  können,  ist  eine  andere  Frage.  An  anderer  Stelle 
schien  mir  die  Symbolik  einer  vierdimensionalen  gekrümmten  Ober- 
flächenwelt, wegen  der  Parallelität  der  Unmöglichkeit  gleichförmiger 
Bewegung  in  einer  ausschließlich  von  der  Gravitation  beherrscht 
gedachten  Welt  und  der  Unmöglichkeit  gerader  Linien  in  einem 
solchen  fiktiven  System  ausschließlich  geodätischer  Linien  von 
heuristischem  Werte  sein  zu  können  (Annalen  der  Phil.  1921). 


478  Oskar  Kraus, 

Dieser  heuristische  Wert  würde  sich  z.  B.  darin  zeigen,  daß 
Lichtstrahlen  in  Analogie  zur  Beschaffenheit  geodätischer  Linien 
in  Gravitationsfeldern  wirklich  —  also  von  wo  immer  aus  mit  tadel- 
losen Instrumenten  beobachtet  —  eine  Ablenkung  infolge  der  Gravi- 
tation erfahren  müßten  —  welche  Beschaffenheit  des  Äthers  bzw. 
der  „Strahlen"  man  auch  immer  zugrunde  legte,  —  es  würde  dies 
aus  der  Symbolik  der  geodätischen  Linien  ohne  weiters  sich  er- 
geben — .  Es  müßte  dann  gestattet  sein,  dasjenige,  was  im  soge- 
nannten Lichtstrahl  sich  periodisch  verändert,  dem  Gravitations- 
gesetze zu  unterwerfen.  —  Über  die  Brauchbarkeit  dieser  Sym- 
bolik wird  die  Beobachtung  und  Nachprüfung  entscheiden. 

Daß  eine  weitgehende  Analogie  der  Gesetzmäßigkeiten  unserer 
Erfahrungswelt  mit  apriorisch-geometrischen  Gesetzmäßigkeiten  be- 
steht, war  schon  ein  dem  griechischen  Altertum  geläufiger  Gedanke 
und  ist  neuerdings  mehrfach  hergehoben  worden  (A.  Haas,  Dingler), 
vielleicht  bleibt  hier  ein  wertvoller  Wahrheitskern  der  „allgemeinen 
Relativitätstheorie"  ?  — 

17.  Noch  auf  anderem  Wege  ergibt  sich  die  Möglichkeit  der 
sogenannten  „allgemeinen  Relativitätstheorie"  —  nach  Ausschaltung 
der  ihr  anhaftenden  Irrtümer  —  heuristische  Vorteile  zusprechen 
zu  dürfen. 

Dadurch,  daß  man  das  betrachtete  Bewegliche  auf  Koor- 
dinatensysteme bezieht,  ist  man  genötigt  von  Bewegungsgesetzen 
zu  sprechen,  die  nur  in  bezug  auf  gewisse  Koordinatensysteme 
gelten.  (Vgl.  Einstein  S.  8  gemeinverst.  Darst.  und  öfter).  Relativ 
zur  Erde  als  Bezugssystem  beschreiben  die  Fixsterne  Kreis- 
bewegungen. 

Man  hat  sich  nun  bemüht  empirisch  solche  Körper  oder  Körper- 
gesamtheiten oder  solche  Punkte  in  der  Erfahrungswelt  zu  finden, 
durch  die  man  sich  ein  Koordinatensystem  so  gelegt  denken  kann, 
daß  mit  Beziehung  auf  dieses  System  „das  Trägheitsgesetz  und 
die  übrigen  Bewegungsgesetze  exakt  gelten".  Der  Fixsternhimmel 
wurde  als  ein  solcher  Fundamentalkörper  befunden;  auf  ihn  als 
Träger  eines  Koordinatensystems  bezogen  „gelten  die  Naturgesetze 
möglichst  exakt".  —  D.  b.  in  Newtons  Sinne  gesprochen,  wir 
können  sicher  sein,  daß  die  so  bezogenen  Bewegungen  „wirkliche", 
„absolute",  nicht  „bloß  relative  d.  h.  scheinbare"  sind.  Jenes 
Koordinatensystem  nennt  man  Inertialsystem.  Einstein  spricht 
von  Galileischem  System. 

Das  Ausschlaggebende  ist,    daß   es   empirisch   festgestellt, 


Verwechslungen  von  Beschreibungsmittel  uud  Beschreibungsobjekt  usw.     479 

jeder  Willkür  entzogen  ist.  —  Von  einem  solchen  nur  empirisch 
feststellbaren  Inertialsystem  geht  Einstein  in  den  Grundlagen  der 
allgemeinen  Relativitätstheorie  S.  10  aus.  „Es  sei  K'",  fährt  er  fort, 
„ein  zweites  Koordinatensystem,  welches  relativ  zuK  in  gleich- 
förmig beschleunigter  Translationsbewegung  sei.  Relativ  zu  K' 
führte  dann  eine  von  anderen  hinreichend  getrennte  Masse  eine 
beschleunigte  Bewegung  aus,  derart,  daß  deren  Beschleunigung 
und  Beschleunigungsrichtung  von  ihrer  stofflichen  Zusammen- 
setzung und  ihrem  physikalischen  Zustande  unabhängig  ist".  D.h. 
eine  von  äußeren  Kräften  unbeeinflußte  Masse,  die  sich  relativ 
zu  K  geradlinig  und  gleichförmig  bewegt,  wird  relativ  zu  K'  als 
beschleunigt  bewegt  phoronomisch  beschrieben  werden  können. 
Nun  wissen  wir  aus  dem  Koordinatenäquivalenzprinzip  der  klassi- 
schen Mechanik,  daß  alle  gegenüber  einem  Inertialsystem  gerad- 
linig und  gleichförmig  bewegten  Koordinatensysteme  —  aber  nur 
solche,  äquivalent  sind  zur  Beschreibung  der  mechanischen  Vor- 
gänge, daß  ihnen  gegenüber  die  Beschleunigungen  und  das  Träg- 
heitsgesetz invariant  bleiben  —  aber  nur  ihnen  gegenüber.  Somit 
ist  sicher,  daß  K'  ein  Inertialsystem  unmöglich  sein  kann,  d.  h. 
daß  es  als  dynamisches  Beschreibungsmittel  unmöglich  mit 
einem  Inertialsystem  äquivalent  sein  kann. 

Einstein  aber  behauptet,  daß  K  und  K'  trotzdem  „als  Bezugs- 
systeme für  die  physikalische  Beschreibung  gleichberechtigt  seien" 
(S.  10).  Diese  Behauptung  sucht  er  damit  zu  stützen,  daß  wir 
aus  der  Relativbeschleunigung  jener  unbeeinflußten  Masse  gegen- 
über K',  an  und  für  sich  nicht  entnehmen  können,  daß  K'  kein 
Inertialsystem  ist. 

Man  könne  mit  gleichem  Rechte  annehmen,  daß  K'  ein  Inertial- 
system sei,  in  welchem  ein  Gravitationsfeld  die  Beschleunigung  der 
Masse  relativ  zu  K'  bewirke.  „Das .  mechanische  Verhalten  der 
Körper  relativ  zu  K'  ist  dasselbe"  lehrt  Einstein,  „wie  es  gegen- 
über Systemen  sich  der  Erfahrung  darbietet,  die  wir  als  „ruhende" 
bezw.  als  „berechtigte"  Systeme  anzusehen  gewohnt  sind";  —  dieser 
Satz  ist  irreführend;  die  phorönomischen  kinematischen  Bezie- 
hungen sind  die  gleichen;  ob  das  mechanische  Verhalten,  d.h.  die 
mechanisch- dynamischen  die  gleichen  sind  —  das  ist  nur  postuliert 
und  erst  zu  beweisen  —  und  gerade  dies  ist  zu  beweisen  unmög- 
lich, weil  die  Wahl  der  „berechtigten"  Systeme,  d.  i.  der  Inertial- 
systeme  nicht  von  unserer  Willkür  abhängt,  sondern  empirisch 
festgestellt   ist,    durchaus    nicht    auf  „Gewohnheit"    beruht,    wie 


480  Oskar   Kraus, 

Einstein  glaubt.  Wahr  ist,  daß  sowohl  das  System  K  als  das 
System  K',  das  heißt  sowohl  Inertialsysteme  als  auch  solche,  die 
es  nicht  sind,  für  die  kinematisch -mathematische  Beschreibung 
gleichwertig  als  Bezugssysteme  benutzt  werden  können.  Das  ist 
eine  alte  Sache  —  falsch  aber  ist  es,  daß  sie  darum  als  dyna- 
misch-physikalische Beschreibungsmittel  äquivalent 
sind.  Gleichwertigkeit  als  Bezugspunkt  kinemati- 
scher-phoronomischer  Beschreibung  darf  nicht  mit 
Gleichwertigkeit  als  physikalisch  dynamisches  Be- 
schreibungsmittel verwechselt  werden.  Bei  Benutzung 
von  K'  bleibt  vielmehr  die  Beschleunigung  der  betrachteten  Masse 
nicht  invariant,  sonach  ist  das  verallgemeinerte  Aquivalenz- 
postulat  unerfüllbar. 

(An  der  bereits  zitierten  Stelle  der  „allg.  Relativitätstheorie" 
S.  10  verfällt  Einstein  in  die  Verwechslung  bezw.  Gleichstellung 
von  „ruhendem"  und  „berechtigtem"  (gleichwertigem)  System. 
„Ruhend"  ist  nämlich  lediglich  ein  synonymer  Ausdruck  für  das 
im  Beschreibenden  ruhende  Bezugssystem  oder  das  beschreibende 
Bezugssystem.  Für  die  kinematische  Beschreibung  ist  nun 
jedes  im  Beschreibenden  ruhende  Bezugssystem  gleichberechtigt ; 
weil  jede  Beziehung  richtig  beschrieben  wird,  welches  immer  der 
beiden  in  Beziehung  stehenden  Dinge  ich  zum  Fundament  und 
welches  immer  ich  zum  Terminus  der  Beziehung  mache.  (Vgl. 
Oskar  Kraus,  „Franz  Brentano",  mit  Beiträgen  von  Carl  Stumpf 
und  Edmund  Husserl,  München  1919,  S.  26).  Bei  der  dynami- 
schen Beschreibung  aber  heißt  ruhendes  oder  berechtigtes  Sy- 
stem nichts  anderes  als  Inertialsystem.  Von  diesen  ist  aber 
empirisch  sicher  gestellt,  daß  nicht  jedes  im  Beschreibenden 
ruhende  Bezugssystem  ein  Inertialsystem  sein  kann. 

Nicht  jedes  im  Beschreibenden  ruhende,  in  diesem  Sinne 
berechtigte  Bezugssystem  ist  als  ruhendes,  d.  h.  Inertialsystem 
oder  ihm  äquivalentes,  gleichberechtigtes,  bewegtes  zu  gebrauchen. 
Man  einige  sich  über  die  Termini !  —  Einstein  wünscht,  daß 
jedes  im  Beschreibenden  ruhende  Bezugssystem  gleichwertig  sei 
als  Beschreibungsmittel  der  dynamischen  Gesetze;  diesen  Wunsch 
nennt  er  Postulat,  nach  dem  die  Natur  sich  zu  richten  hat.) 

18.  Eine  andere  Frage  ist  es,  ob  die  von  Einstein  als  „Aqui- 
valenzprinzip"  bezeichnete1)  Inertialfiktion  nicht  —  wie  auch 


1)  Nicht  mit  unserem  Koordinatenäquivalenzprinzip  zu  verwechselnde. 


Verwechslungen  von  Beschreibungsmittel  und  Beschreibungsobjekt  usw.     481 

Loren tz  (3  Vorträge  S.  34)  glaubt  —  einen  heuristischen  Wert 
enthält  ? 

Soll  es  möglich  sein  ein  Koordinatensystem,  das  kein  Inertial- 
system  sein  kann,  trotzdem,  wenn  man  es  als  Beschreibungsmittel 
benutzt,  hinsichtlich  relativ  zu  ihm  beschleunigter  Vorgänge  als 
Inertialsystem  zu  fingieren,  so  schließt  das  gewisse  physikali- 
sche Voraussetzungen  in  sich,  so  vor  allem,  daß  auch  die  Licht- 
strahlen den  Gesetzen  der  Trägheit  und  der  Schwere  unter- 
worfen sind;  die  Durchführung  der  Inertialfiktion  ist  nämlich  nur 
möglich  auf  Grundlage  bestimmter  Hypothesen  über  die  Natur 
des  Lichtes  und  der  Elektrizität,  die  auf  eine  vereinheitlichende 
Naturbetrachtung  und  auf  eine  Synthese  von  Emissions-  und  Un- 
dulationstheorie  hinweisen.  Lichtstrahlen  in  einem  echten  Gravi- 
tationsfeld müßten  abgelenkt  werden,  —  und  ihre  Geschwindigkeit 
ändern  —  womit  das  Gesetz  der  Konstanz  der  Lichtgeschwindig- 
keit aufgegeben  wäre,  und  Licht,  das  von  größeren  Massen  zu  uns 
gelangt,  müßte  eine  spektrale  Rotverschiebung  zeigen,  weil  dort 
die  Schwingungsdauer  der  Lichtquelle  reell  größer,  die  Schwingungs- 
zahl reell  geringer  wäre 1).  Nur  so  kann  nämlich  die  Inertialfiktion 
auch  dem  Lichte  gegenüber  gewahrt  werden.  Hierüber  wird  die 
Beobachtug  entscheiden. 

Als  Postulat  ist  das  „Einsteinsche  Aquivalenzprinzip"  un- 
erfüllbar, als  heuristische  „Inertial-  und  Gravitations-Fik- 
tion" könnte  es  nützlich  sein. 

Zugleich  zeigt  sich  der  logische  Zusammenhang  der  Einstein- 
schen  Inertialfiktion  mit  der  Einsteinscheu  Symbolik  der  geo- 
dätischen Linien.  Die  Inertialfiktion  (von  ihm  Aquivalenzprinzip 
genannt)  kann  sich  nur  bewähren,  wenn  das  Licht  —  und  somit 
auch  die  Elektrizität  —  dem  Gravitationsgesetze  unterliegt,  sie  legt 
somit  den  Gedanken  einer  universellen  Herrschaft  des  Gravitations- 
gesetzes nahe.  Auf  der  Annahme  dieser  Herrschaft  aber  beruht 
die  Symbolik  des  gekrümmten  Raumes 2).  Vielleicht  gelingt  es  auf 
diese  Weise  aus  dem  erkenntnistheoretischen  Dunkel  der  Theorie 
die  physikalisch-heuristisch  wertvollen  Elemente  auszusondern. 

19.  Noch  ein  dritter  Gedanke  Einsteins  zielt  vielleicht  auf  etwas 
Richtiges.  Wer  ein  Naturgesetz  aussprechen  will,  der  will  aus- 
sagen,  daß  es  schlechthin  unmöglich  sei,   daß  unter  gewissen  Um- 


1)  Vgl.  hierzu  insbes.  Kopff  S.  112—178,  Born  S.  231,  Freundlich  S.  63. 

2)  Vgl.  Kantstudien  XXV.    S.  22  f.  u.  „Fiktion  u.  Hypothese"  S.  384. 

Kantrtudien.  XX Tl.  31 


482  Oskar  Kraus, 

ständen  ein  gewisses  X  ausbleibe.  Die  Allgemeinheit,  Allgemein- 
gültigkeit, Ausnahmslosigkeit  gehört  zu  dem  Begriffe  eines  Natur- 
gesetzes. Dadurch  aber,  daß  man  das  betrachtete  Bewegliche  auf 
Koordinatensysteme  bezieht,  ist  man  genötigt  von  Bewegungs- 
gesetzen zu  sprechen,  die  nur  in  bezug  auf  gewisse  Koordinaten- 
systeme gelten.  (So  Einstein,  gemeinverständl.  S.  8,  §  4).  Relativ 
zur  Erde  beschreiben  die  Fixsterne  Kreisbewegungen. 

Nur  wenn  man  das  im  Beschreibenden  ruhend  gedachte  Koor- 
dinatensystem, gewöhnlich  irreführender  Weise  schlechthin  „ruhen- 
des" genannt,  in  den  Fixsternhimmel  verlegt,  erhält  man  ein  empiri- 
sches Inertial System,  und  entsprechen  daher  die  Naturvorgänge  mög- 
lichst genau  den  Newtonschen  Bewegungsgesetzen  und  dem  Inertial- 
gesetze  im  besondern.  Das  Unpassende  eines  „Gesetzes,  das  nicht 
allgemein  gilt"  bezw.  einer  solchen  Redeweise  hat  sich  allmählich 
fühlbar  gemacht.  Denn  um  eine  Redeweise  f  um  nichts  mehr 
handelt  es  sich.  „Das  Koordinatensystem"  sagt  Einstein  (Natur- 
wissensch.  1920,  S.  1010)  ist  nur  Beschreibungsmittel  und  hat  an 
sich  nichts  zu  tun  mit  den  zu  beschreibenden  Gegenständen!" 
Sehr  richtig !  Zieht  man  aus  diesem  Satz  die  Folgerung,  so  ergibt 
sich  erstens,  daß  —  wie  es  auch  Newton  getan  hat  —  die  Natur- 
gesetze ohne  Bezugnahme  auf  Koordinatensysteme  —  absolut  — 
zu  formulieren  sind.  Zweitens  folgt:  Benutzt  man  als  Hilfen 
Koordinatensysteme,  so  muß  man  unter  diesen  Beschreibungs- 
mitteln die  untauglichen  beiseite  lassen.  Tauglich  ist  aber  nur 
das  Inertialsystem  bezw.  —  unter  Berücksichtigung  des  Koor- 
dinatenäquivalenzprinzips  —  die  Inertialsysteme.  Statt  von 
Gesetzen,  die  nicht  allgemein  gelten,  hätte  man  von 
Koordinatensystemen  sprechen  sollen,  die  nicht  all- 
gemein brauchbar  sind.  Das  sind  jene,  die  nicht  Inertial- 
systeme sind.  Statt  die  herkömmliche  Redeweise  abzulegen,  sucht 
Einstein  nach  allgemein  brauchbaren  Koordinatensystemen,  nach 
der  „kovarianten  Formulierung  der  Naturgesetze". 

An  den  Gaußschen  Koordinatensystemen  glaubt  er  solche 
gleichwertige  Beschreibungsmittel  gefunden  zu  haben.  Wir  haben 
soeben  (§  12)  gesehen,  daß  dieses  Unternehmen  aussichtslos  ist.  — 
Dazu  kommt  folgendes:  Das  Trägheitsgesetz,  das  Newton  absolut 
ausgesprochen  hat,  wird  von  Einstein  verändert  wiedergegeben 
(Naturw.  1920):  „Von  einander  hinreichend  entfernte  materielle 
Punkte  bewegen  sich  geradlinig  gleichförmig"  —  so  sagt  Einstein 
—   „vorausgesetzt,   daß   man  die   Bewegung  auf  ein  passend  be- 


Verwechslungen  von  Beschreibungsmittel  und  Beschreibungsobjekt  usw.    483 

wegtes  Koordinatensystem  bezieht  und  daß  man  die  Zeit  passend 
formuliert1)."  —  „Wer  empfindet"  so  fährt  er  fort,  nicht  das  Pein- 
liche einer  solchen  Formulierung.  Den.  Nachsatz  weglassen  aber 
bedeutet  eine  Unredlichkeit".  —  Ich  meine,  daß  diese  Formulierung 
darum  peinlich  ist,  weil  sie  die  Newtonsche  entstellt  und  weil  sie 
eine  Zirkeldefinition  ist.  Denn  ein  passend  gewähltes  Koordinaten- 
system ist  ja  eben  ein  Inertialsystem,  d.h.  ein  solches,  „in  bezug 
worauf  das  Trägheitsgesetz  gilt".  —  Es  ist  ferner  ein  Irrtum, 
Allgemeingültigkeit  der  Naturgesetze  mit  ihrer  kovarianten  Ge- 
stalt zu  verwechseln,  d.  h.  ihr  durch  die  unmögliche  Gleichwertig- 
keit aller  Koordinatensysteme  gerecht  werden  zu  wollen. 

Die  Forderung,  daß  alle  Koordinatensysteme  gleichwertig  seien 
für  die  dynamische  Beschreibung  der  Naturvorgänge,  haben  wir 
dem  empirisch  Räumlichen  gegenüber  als   unerfüllbar  erkannt.  — 

Was  jedoch  diesen  Postulaten  etwa  Richtiges  vorschwebt, 
scheint  mir  folgendes  zu  sein:  Schon  der  Name  „allgemeine  Rela- 
tivitätstheorie" deutet  darauf  hin,  daß  der  leitende  Gedanke  die  sog. 
Relativität  aller  Bewegung  ist.  Wir  schauen  nur  relative  Bewe- 
gungen an,  wir  können  kinematisch,  phoronomisch  nur  Relativ- 
bewegungen beschreiben.  Es  muß  daher,  meint  Einstein, 
möglich  sein,  alle  Bewegungen  auch  dynamisch  als 
relative  zu  beschreiben.  Diese  Aufgabe  ist  erfüllbar.  Denn 
eine  Bewegung  als  relative  beschreiben  ,  heißt  sie  als  nicht  voll- 
kommen bestimmte  —  in  allgemeiner  Weise  beschreiben  (vgl. 
neben  Aloys  Müller ,  insbesondere  Franz  Brentano  Kantstudien 
XXV,  Angersbach,  Das  Relativitätsprinzip,  Leipzig  1920,  S.  8 
und  neuestens  Kopff,  Grundzüge  der  Einsteinschen  Relativitäts- 
theorie S.  14.  107.  108  u.  189).  Da  es  jedoch  im  Begriffe  der 
Relativbewegung  liegt,  daß  mindestens  zwei  Beschreibungs- 
objekte in  Frage  kommen,  so  kann  man  natürlich  eine  Relativ- 
bewegung nicht  anders  beschreiben  als  indem  man  die  Abstands- 
änderung zweier  Körper  oder  die  Änderung  der  Richtung 
ihres  Abstandes  «oder  beides  beschreibt.  Relativistisch  d.  h.  unbe- 
stimmt formuliert  müßte  m.  E.  das  Trägheitsgesetz  so  formuliert 
werden,  daß  man  sagt:  „der  Abstand  zweier  Körper  oder  eine 
vorhandene  geradlinige  gleichförmige  Abstandsveränderung  zweier 
Körper   kann   unmöglich    eine    Änderung    erfahren,    sofern   nicht 

1)  Newtons  Formulierung  lautet:  Ein  jeder  Körper  verharrt  in  seinem  Zu- 
stande der  Ruhe  oder  gleichförmigen  Bewegung,  „solange  er  nicht  von  äußeren 
Kräften  zu  einer  Änderung  gezwungen  wird". 

31* 


484  Oskar  Kraus, 

äußere  Kräfte  auf  mindestens  einen  von  diesen  beiden  Körpern 
einwirken".  —  Das  Beschreibungsmittel  ist  hierbei  begrifflich  von 
den  beschriebenen  Objekten  getrennt.  Gesetzt  nun,  eine  kontinuier- 
liche Richtungsänderung  des  zwischen  Erde  und  Fixsternhimmel 
(Fixsternhimmel  und  Erde)  bestehenden  Abstandes,  also  eine  Re- 
lativrotation, werde  festgestellt. 

Sogleich  steht  fest,  daß  diese  Richtungsänderung  auf  ein  An- 
greifen äußerer  •  Kräfte  gemäß  dem  „relativierten,  d.  h.  verall- 
gemeinerten Trägheitsgesetze"  schließen  läßt,  nur  bleibt  unbe- 
stimmt, ob  dieselben  an  der  Erde  oder  an  den  Fixsternmassen 
angreifen.  Will  man  aber  „eine  Hypothese  über  den  Sitz  der 
Bewegung"  einführen,  so  muß  man  sich  fragen,  ob  bei  Benutzung 
des  so  oder  so  gelegten  Koordinatensystems  sich  das  spezielle 
Newtonsche  Trägheitsgesetz  ergibt,  ob  also  eines  von  ihnen  ein 
Newtonsches  Inertialsystem  ist?  Denn  dieses  entscheidet  nicht 
über  relative,  sondern  über  die  absolute  Bewegung1)  der  Körper. 
Einstein  erklärt  jedoch  eine  kausale  Hypothese  über  den 
Sitz  der  Bewegung  überhaupt  nicht  beabsichtigt  zu 
haben. 

Er  müßte  daher  seine  Anhänger  darauf  aufmerksam  machen, 
daß  seine  Wendung  weder  eine  ptolemäische  noch  eine  koperni- 
kanische  ist,  weil  er  eben  keine  Hypothese  über  den  Sitz  der  Be- 
wegung machen  wolle  (Naturw.  1918).  —  Dann  müßte  er  zurück- 
nehmen, was  er  in  den  Grundlagen  der  allg.  Relativitätstheorie 
verkündet  hat,  daß  die  fernen  Massen  und  ihre  Relativrotation 
Deformationsursachen  sind.  Was  Ursache  ist,  bleibt  unbestimmt, 
weder  daß  die  fernen  Massen  allein  wirken,  noch  daß  sie  mit- 
wirken, ist  gesagt.  Es  ist  nichts  für  und  nichts  gegen  Kopernikus 
oder  Ptolemäus  gesagt.  Freilich  ist  diese  allgemeine  Art  der  Be- 
schreibung, mag  sie  welche  Vorzüge  immer  besitzen,  nicht  das  letzte 
Ziel  der  Naturforschung,  die  stets  konkrete  Kausalforschung  ist.  Ein- 
stein hat  in  Prag  zugegeben,  daß  seine  Theorie  den  Verzicht  auf 
Kausalerklärung  in  sich  schließe.  Das  Allgemeine  und  Unbestimmte 
verlangt  nach  näherer  Determinierung;  schon  Aloys  Müller  und 
Franz  Brentano,  wie  andere  auch,  haben  erkannt,  daß  die  Be- 
schreibung einer  Bewegung  als  bloß  relativer  eine  unvollkommen 
bestimmte  ist,   und  daher  eine  bloß  relative  Bewegung  behaupten, 

1)  Über  diesen  Begriff  vgl.  Kantstudien  XXV  Brentanos  Abhandlung  über 
„Zeit  und  Raum";  er  ist  ohne  die  Gefäßtheorie  des  Raumes  und  der  Zeit  voll- 
ziehbar. 


Verwechslungen  von  Beschreibungsmittel  und  Beschreibungsobjekt  usw.    485 

soviel  heiße,  wie  eine  unbestimmte  Bewegung  als  wirklich 
setzen. 

Niemand  hat  ihre  Argumente  widerlegt.  Dadurch,  daß  eine 
Behauptung  immer  wieder  erhoben  wird,  dadurch  wird  sie  um 
nichts  wahrer.  — 

Wir  wissen  nicht,  was  sich  in  individuo  bewegt,  wenn  wir 
nur  wissen,  daß  zwischen  Erde  und  Fixsternhimmel  eine  Relativ- 
rotation stattfindet. 

Ein  böses  Sophisma  aber  ist  es  nun,  behaupten  zu  wollen,  der 
Beobachter  bringe  die  Bestimmtheit  hinein,  indem  er  je  nach  Lage 
mit  gleichem  Rechte  die  Erde,  wie  jene  fernen  Massen  als  ruhend 
oder  bewegt  betrachten  dürfe.  Das  heißt  den  Teufel  durch  Beel- 
zebub austreiben  und  an  Stelle  der  Existenz  des  Unbestimmten, 
den  protagoräischen  Subjektivismus  setzen,  wie  ihn  z.  B.  Petzold 
als  höchste  Errungenschaft  der  Philosophie  und  Einsteins  im  be- 
sondern verkündet.  Lehnt  Einstein  Petzold  ab,  wie  er  dies  in 
Prag  ausdrücklich  erklärt  hat,  so  bleibt  die  Frage,  ob  er  meint, 
daß  Allgemeines,  Unbestimmtes  existieren  könne? 

Einstein  scheint  dies  zu  glauben.  Denn  er  verkündet,  es  sei 
eine  „Binsenwahrheit"  (so  nach  seinem  Prager  Vortrag),  daß  es 
keine  andere  als  relative  Bewegung  überhaupt  geben  könne. 

Aber  auch  die  geradlinige  gleichförmige  Translation  bleibt  un- 
bestimmt, wenn  nichts  weiter  ausgesagt  wird,  als  daß  zwei  Körper 
oder  Punkte  ihren  Abstand  relativ  zu  einander  so  und  so  ändern. 
Die  Beschreibung  ist  nicht  falsch,  aber  unvollständig.  Zugegeben, 
wir  könnten  nicht  erkennen,  welcher  der  beiden  Körper  sich  ab- 
solut bewegt,  so  ist  doch  apriori  sicher,  daß  einer  von  ihnen  oder 
beide  sich  absolut  bewegen  müssen,  daß  nicht  beide  absolut  ruhen 
können.  Die  Unmöglichkeit  bloß  relativer  Bewegung  steht  apriori 
fest,  ist  eine  einfache  Folge  des  Satzes  des  Widerspruchs,  wie 
der  Artikel  Brentanos  Kantstudien  1920  genügend  deutlich  ge- 
zeigt hat.  Newton  hat  nicht  an  ihr  gezweifelt,  obgleich  er  nur 
bei  der  Rotationsbewegung  Kriterien  für  absolute  und  relative 
Bewegung  aufgezeigt  hat. 

Das  Relativitätsgesetz  (oben  §  1  c)  steht  hiermit  nicht  in 
Widerspruch,  es  handelt  nur  von  der  Unmöglichkeit,  aus  Vorgängen 
innerhalb  eines  geradlinig  gleichförmig  transferierten  Systems  die 
Translation  dieses  Systems  zu  erkennen. 

Die  Unanschaulichkeit  der  absoluten  Bewegung  ist  ebenso- 
wenig  ein  Beweis   gegen  ihre  Wirklichkeit,   wie  die  Anschaulich- 


486     Oskar  Kraus,  Verwechslungrfn  von  Beschreibungsmittel  usw. 

keit  der  Sinnesqualitäten  —  der  Farben  und  Töne  ein  Beweis  ist 
für  ihr  transmentale  Existenz. 

Man  muß  sich  —  so  mahnt  Newton  —  in  der  philosophischen 
Betrachtung  von  den  Sinneseindrücken  befreien,  und  die  Ver- 
wechslung der  wahren  Größen  mit  ihren  Relationen  und  gewöhn- 
lichen Messungen  erklärt  er  als  eine  Versündigung  gegen  den 
Geist  der  Philosophie  und  Mathematik '). 


1)  Daß  auch  die  vollständig  einwandfreie  Feststellung  der  drei  Gravitations- 
effekte  nicht  zur  Einsteinschen  Raum-Zeitauffassung  nötigen  würde,  erklärt  Bott- 
linger  (Jahrbuch  der  Radioakt  1920,  S.  159)  unter  Hinweis  auf  Wiechert.  — 
Die  ablehnende  erkenntnistheoretische  Stellung  von  Lorentz  (drei  Vorträge)  ist 
bekannt.  —  Desgleichen  die  von  Gehrcke  und  Lenard :  (Gehrcke  vgl.  insbesondere 
Kantstudien  XIX,  Naturw.  1913,  Die  Relativitätstheorie,  Berlin  1920,  „Die  Stellung 
der  Mathematik  zur  Relativitätstheorie"  in  den  Beitr.  zur  Philos.  des  Deutschen 
Idealismus  2.  Bd.  usw.;  Lenard,  Über  Relativitätsprinzip,  Äther,  Gravitation 
Leipzig  1921  in  3.  Auflage).  Gegnerische  bezw.  kritische  Äußerungen  ferner  bei 
Wiechert,  Annalen  der  Physik  1921  wie  schon  im  Bande  „Physik"  der  Hinne- 
bergschen  „Kultur  der  Gegenwart";  ich  nenne  weiter  Abraham,  Scientia  Bd.  XV 
1914,  W.  Wien:  Neuere  Entwicklung  der  Physik,  Leipzig  1919.  Mie,  Helge 
Holst,  Dingler,  Geißler,  Glaser,  Kottier,  Fricke,  Weinstein,  Jacob,  Isencrahe, 
Reichenbächer.  Von  Philosophen  erinnere  ich  an  Becher,  Berg,  Bernays,  Lip- 
sius,  Ripke-Kühne,  Sellien,  Frischeisen-Köhler,  Hartmann,  Kries.  —  Bei  Isencrahe 
begegnen  wir  dem  Versuche  einer  eingehenden  Begriffsanalyse.  Die  soeben  er- 
schienene „Mechanik"  von  Hamel  (Teubner  1921)  deckt  sich  vielfach  mit  meinem 
Standpunkt.  —  Während  der  Drucklegung  dieses  Artikels,  der  im  Mai  1921  ab- 
geliefert war,  erschienen  Lenards  Abhandlungen  „Äther  und  Uräther"  (Verlag 
S.  Hirzel,  Leipzig  1921)  und  „Fragen  der  Lichtgeschwindigkeit"  (Astr.  Nachr. 
Bd.  213  Nr.  5107),  in  denen  vermöge  einer  „Synthese  von  Undulationstheorie 
und  Emissionstheorie"  (vgl.  oben  §  16)  von  all  den  Erscheinungen  quantitative 
und  qualitative  Rechenschaft  zu  geben  versucht  wird,  die  den  Anlaß  zur  Ent- 
stehung der  „Relativitätstheorie"  gebildet  haben.  Nur  auf  diese  oder  ähnliche 
Weise  wird  der  Weg  zu  einer  philosophischen  Gesundung  der  Physik  gefunden 
werden. 


Besprechungen. 


Einleitungen  in  die  Philosophie. 

Wandt,  Wilhelm,  System  der  Philosophie.  Vierte,  umgearbeitete 
Auflage.  2  Bände,  1919.  Alfred  Kröner  Verlag  in  Leipzig.  1.  Band:  XVI  und 
436  Seiten;  2.  Band:  VI  u.  304  Seiten.  Geheftet  20  Mk.,  gebunden  25  Mk.  und 
Teuerungszuschlag. 

Alsbald  nach  der  Fertigstellung  der  neuesten  Auflage  seiner  „Logik"  (Ja- 
nuar 1919)  war  es  Wundt  vergönnt,  diese  neue  Auflage  seines  „Systems" 
nach  Erledigung  einiger  Umarbeitungen  und  Einfügung  einiger  Ergänzungen 
fertigzustellen  (März  1919).  Um  seinen  philosophischen  Standpunkt  zu  ver- 
deutlichen und  in  gewissem  Sinne  zu  rechtfertigen  und  zu  begründen,  gibt 
er  Kenntnis  von  dem  Wege,  auf  dem  er  zur  Philosophie  gelangt  ist.  Es  macht 
nach  W.  „einen  Unterschied,  wo  man  anfängt,  und  wo  man  aufhört".  Da  ich 
von  den  Naturwissenschaften  ausgegangen  und  dann  durch  die  Beschäftigung 
mit  empirischer  Psychologie  zur  Philosophie  gekommen  bin,  so  würde  es  mir  un- 
möglich erscheinen,  anders  zu  philosophieren  als  nach  einer  Methode,  die  dieser 
Folge  der  Probleme  entspricht"  (Vorwort  IX).  Gemäß  ihrer  geht  W.  also  den 
Weg  von  unten  nach  oben,  den  der  Induktion,  und  so  ist  ihm  die  Philosophie 
nicht  das  erste ,-  sondern  das  letzte  Glied  im  System  der  Wissenschaften.  Ihren 
allgemeinen  Zweck  erblickt  er  darin,  unsere  Einzelerkenntnisse  zu  einer  die  Forde- 
rungen des  Verstandes  und  die  Bedürfnisse  des  Gemütes  befriedigenden  Welt- 
und  Lebensanschauung  zusammenzufassen,  und  ihr  Verhältnis  zu  den  Einzelwissen- 
schaften bestimmt  er  darin,  daß  sie  den  Tatbestand  dieser  Wissenschaften  rück- 
haltlos als  die  Basis  anzuerkennen  habe,  von  der  allein  sie  ausgehen  dürfe.  So 
ergibt  sich  W.s  bekannte  Begriffsbestimmung:  die  Philosophie  ist  „die  allgemeine 
Wissenschaft,  welche  die  durch  die  Einzelwissenschaften  vermittelten  allgemeinen 
Erkenntnisse  zu  einem  widerspruchslosen  System  zu  vereinigen  hat."  Die  Philo- 
sophie vermag  also  ihr  Geschäft  erst  dann  zu  beginnen,  wenn  dasjenige  der 
Einzelwissenschaften  bereits  bis  zu  einem  gewissen  Abschluß  gediehen  ist.  Indem 
sie  aber  die  Ergebnisse  der  Einzelforschung  in  der  angegebenen  Weise  zusammen- 
faßt, tritt  sie  jenen  selbst  regulierend  und  richtunggebend  gegenüber. 

In  diesem  doppelten  Verhältnis  der  Philosophie  zur  Einzelforschung  ist 
ihr  Charakter  als  wissenschaftliche  Philosophie  begründet.  Ihre  erste 
Aufgabe  gegenüber  den  Einzelwissenschaften  besteht  in  der  Gliederung  derselben, 
die  also  nicht  neue  Wissenschaften  zu  schaffen,  sondern  nur  die  tatsächlich  ge- 
gebenen Forschungsgebiete  zjj  ordnen  hat..  Diese  Einteilung  hat  folgende  Gestalt : 
1)  Formale  oder  mathematische  Wissenschaften ;  2)  Naturwissenschaften;  3)  Geistes- 
wissenschaften. 

Hat  aber  die  Philosophie  auch  den  Inhalt  mit  der  Gesamtheit  der  Einzel- 
wissenschaften gemein,  so  weicht  ihr  Standpunkt,  von  dem  aus  sie  diesen  In- 
halt betrachtet,  insofern  von  den  positiven  Wissenschaften  ab,  als  „sie  von  vorn- 
herein den  Zusammenhang  der  Wissensobjekte  im  Auge  hat"  (S.  22).  Von 
hier  aus  gesehen  gliedert  sich  ihre  allgemeine  Aufgabe  in  zwei  Hauptprobleme 
und  in  zwei,  diesen  entsprechenden  philosophische  Wissenschaften:  in  die  Er- 
kenntnislehre und  die  Prinzipienlehre  oder  Metaphysik. 


488  Besprechungen  (Wundt — Jerusalem). 

gemeine  Erkenntnistheorie,  die  mit  der  formalen  Logik  zusammen  die  Logik  im 
weiteren  Sinne  des  Wortes  bildet  und  die  Bedingungen,  Grenzen  und  Prinzipien 
der  Erkenntnis  im  allgemeinen  untersucht,  und  in  die  Methodenlehre,  die  sich 
mit  den  besonderen  Gestaltungen  dieser  Prinzipien  innerhalb  der  verschiedenen 
Gebiete  wissenschaftlicher  Forschung  beschäftigt"  (S.  23).  Die  Metaphysik  da- 
gegen gliedert  sich  in  die  Philosophie  der  Mathematik,  der  Natur-  und  der  Geistes- 
wissenschaften oder  —  wie  W.  diese  beiden  letzten  Teile  des  Systems  auch  nennt 
—  in  die  Naturphilosophie  und  in  die  Philosophie  des  Geistes. 

Unter  Zugrundelegung  dieses  Schemas  wird  nun  eine  übersicbtliche  Darstellung 
des  Systems  der  Philosophie  geboten.  In  jeder  Zeile  merkt  man  die  Hand  des 
Meisters,  verspürt  man  die  außerordentliche  Begabung  zur  logischen  Analyse  und 
Differenzierung,  die  uneingeschränkte  Sicherheit  in  der  vollendeten  Beherrschung 
des  Stoffes  und  in  der  diesen  Stoff  ordnenden  Technik.  Man  sieht  sich  vor  einen 
überwältigenden  enzyklopädischen  Reichtum  an  Kenntnissen  gestellt,  und  man  ge- 
wahrt die  imposante  Arbeit  eines  architektonisch  formenden  Verstandes,  dem  eine 
scheinbar  nie  erlahmende  Energie  zur  Verfügung  steht,  und  der  in  unbeirrbarer 
Sachlichkeit  und  Ruhe  Punkt  für  Punkt  in  dem  ungeheueren  Gebiete  der  Philo- 
sophie zur  Untersuchung  vornimmt. 

Berlin.  Arthur  Liebert. 

Jerusalem,  Wilhelm,  Professor  a.  d.  Univ.  in  Wien,  Einleitung  in  die 
Philosophie.  7.  u.  8.  Aufl.  Wien  und  Leipzig,  Wilhelm  Braumüller  1919. 
389  S.     Preis  18  Mk. 

Die  neue  Auflage  dieser  Einleitung,  die  zu  den  am  meisten  gelesenen  philo- 
sophischen Büchern  gehört  —  die  6.  Aufl.  war  1918  vergriffen  und  Uebersetzungen 
in  7  Sprachen  sind  bereits  erschienen  —  unterscheidet  sich  von  den  früheren 
durch  die  Umarbeitung  und  Erweiterung  der  Abschnitte  über  Ethik  und  Soziologie. 
Unter  dem  Eindrucke  des  Weltkrieges  hat  J.  sein  Ideal  der  Humanität,  der  Mensch- 
heitssolidarität nicht  etwa  aufgegeben,  sondern  desto  nachdrücklicher  als  Ziel  der 
geschichtlichen  Entwicklung  und  ethische  Aufgabe  hingestellt. 

Ich  gebe  eine  kurze  Inhaltsübersicht  mit  besonderer  Betonung  der  originellen 
und  fruchtbaren  soziologischen  Betrachtungen. 

I.  Bedeutung  und  Stellung  der  Philosophie.  Die  Philosophie  ist 
darum  nicht  minder  eine  Wissenschaft,  weil  sie  mehr  ist  als  Wissenschaft.  Sie 
hat  nicht  nur  die  Erfahrung  des  täglichen  Lebens  und  die  Ergebnisse  der  Wissen- 
schaft zu  einer  einheitlichen  Weltanschauung  zu  vereinigen,  sondern  auch  „den 
unermeßlichen  Kräften,  die  uns  die  Wissenschaft  zur  Verfügung  stellt,  die  Rich- 
tung zu  geben  und  die  Ziele  zu  zeigen"  (S.  15). 

II.  Die  propädeutischen  Disziplinen.  In  der  empirischen  Psycho- 
logie sieht  J.  die  Grundlage  aller  philosophischen  Forschung.  Das  Wesen  der 
experimentellen  Methode,  der  genetischen  und  biologischen  Betrachtungsweise,  der 
differentiellen  Psychologie  wird  kurz  erläutert.  Ebenso  werden  die  Hauptrich- 
tungen der  Logik  aufgezeigt,  wobei  Verf.  gemäß  seinem  pragmatistisch - psycho- 
logistischen  Standpunkt  freilich  nicht  der  großen  von  Husserl  ausgehenden  Re- 
naissance der  reinen  Logik  gerecht  werden  kann,  die  Möglichkeit  einer  Phäno- 
menologie, die  von  empirischer  Psychologie  so  weit  entfernt  ist  wie  von  Meta- 
physik nicht  einzusehen  vermag  (S.  40). 

III.  Erkenntniskritik  und  Erkenntnistheorie.  Aus  ähnlichen 
Gründen  wird  der  kritische  Idealismus  abgelehnt,  weil  er  entweder  zum  Solipsismus 
führe  oder  eine  spiritualistische  Metaphysik  voraussetze.  Dagegen  wird  einem 
„kritischen  Realismus"  das  Wort  geredet,  der  nicht  wie  der  naive  glaubt,  daß 
die  Dinge  so  sind,  wie  sie  erscheinen,  sondern  sagt,  daß  sie  auch  so  sind.  Die 
fruchtbarsten  Gedanken  für  das  Verständnis  des  Ursprungs  und  der  Entwicklung 
der  Erkenntnis  findet  J.  im  Pragmatismus.  Es  fällt  auf,  daß  J.  in  diesem  Zu- 
sammenhang nicht  auf  den  von  Avenarius  begründeten  Empiriokritizismus  hin- 
weist, der  m.  E.  die  biologische  Theorie  des  Erkennens  mit  ganz  anderer  wissen- 
schaftlichen Gründlichkeit  und  weit  entfernt  von  jener  groben  Einstellung  auf  das 
unmittelbare  praktische  Bedürfnis,    die   sich  bei  James  und  den  meisten  Pragma- 


Besprechungen  (Jerusalem).  489 

tisten  findet,  entwickelt  hat.  Verf.  glaubt  das  Wesen  der  Erkenntnis  in  der  Ur- 
teilsfunktion gefunden  zu  haben,  welche  alles  Gegebene  als  Kraftäußerung  eines 
Kraftzentrums  auffaßt.  Der  Begriff  der  Wahrheit  eines  Urteils,  die  nichts  anderes 
sein  soll  als  „die  Bedingung  seiner  Verwertbarkeit  für  die  Bestimmung  der  nötigen 
Maßnahmen",  gewinnt  erst  seine  Bedeutung,  wenn  das  Denken  nicht  mehr  bloß 
unmittelbar  praktische  Zwecke  verfolgt,  sondern  sozusagen  auf  Vorrat  gedacht 
wird.  Neben  das  objektive  Kriterium,  das  sogleich  in  das  tatsächliche  Ein- 
treffen von  Voraussagen  umgedeutet  wird  (so  wird  schließlich  doch  Wahrheit  auf 
Tatsächlichkeit  zurückgeführt,  als  ob  wir  etwas  von  Tatsächlichkeit  wissen  könnten, 
wenn  wir  nicht  erst  wüßten,  was  Wahrheit  ist),  tritt  das  intersubjektive  der  Zu- 
stimmung der  Denkgenossen.  Wenn  Verf.  dem  Apriorismus  vorwirft,  daß  er  sich 
dem  historisch-genetischen  Verständnis  des  menschlichen  Denkens  verschließe,  so 
ist  zu  sagen,  daß  die  Untersuchung  der  Gesetze  des  Denkens,  ohne  die  es  kein 
Denken  wäre,  freilich  nur  am  Denken  selbst  erfolgen  und  durch  keine  empirische 
Tatsachenforschung  gefördert  werden  kann,  daß  das  aber  durchaus  nicht  hindert, 
die  Entwicklung  der  einzelnen  Denkmethoden  unter  biologischem  und  soziologischem 
Gesichtspunkt  zu  verfolgen.  Zur  Soziologie  des  Erkennens  liefert  J.  einen  wert- 
vollen Beitrag,  indem  er  zeigt,  wie  die  historische  Entwicklung  zu  einer  durch 
die  soziale  Differenzierung  bedingten  immer  weiter  gehenden  Emanzipation  des 
denkenden  Individuums  von  den  „sozialen  Verdichtungen"  (das  sind  geistige  Ge- 
bilde, die  zum  Gemeingut  einer  Gruppe  geworden,  überpersönliche  Autorität  an- 
nehmen) führt. 

IV.  Metaphysik  oder  Ontologie.  Nach  einer  Darstellung  der  ver- 
schiedenen Richtungen  des  Monismus  entscheidet  sich  Verf.  für  einen  an  Wundt, 
Bergson  und  Joel  orientierten  Dualismus. 

V.  Wege  und  Ziele  der  Aesthetik.  Die  Aufgabe  der  Ae.,  als  einer 
„Philosophie  des  Fühlens",  wird  hauptsächlich  in  einer  Psychologie  des  ästhetischen 
Genießens  gesehen  und  dieses  als  „eine  besondere  Art  von  Funktionslust,  die 
durch  Betrachtung  hervorgerufen  wird"  (171),  bestimmt.    . 

VI.  Allgemeine  Ethik.  Der  „Philosophie  des  Wollens"  weist  J.  außer 
der  normativen,  auf  der  bisher  alles  Gewicht  gelegen,  die  historisch-psychologische 
Aufgabe  zu,  die  Gesetze  der  moralischen  Beurteilung  zu  erforschen.  In  einem 
historischen  Ueberblick  werden  sittliche  Autonomie  und  Autarkie,  der  Gedanke 
des  Universalismus  und  der  Humanität  als  das  Vermächtnis  der  bisherigen  ethi- 
schen E«twicklung  aufgewiesen. 

VII.  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie.  Die  Aufgaben  der 
So.  werden  eingeteilt  in  „äußere" :  Darstellung  der  Struktur  der  sozialen  Verbände 
und  „innere":  Bestimmung  des  Verhältnisses  von  Individuum  und  Gesellschaft. 
Die  induktiv-naturwissenschaftliche,  die  biologisch-entwicklungsgeschichtliche,  die 
psychologisch,  anthropologisch,  national-ökonomisch  fundierte  Richtung  wird  uns 
vorgeführt.  §44  (S.  286 ff.)  formuliert  „die  soziologischen  Grundeinsichten":  Die 
Menschengruppe  ist  mehr  als  die  Summe  ihrer  Mitglieder;  alle  sozialen  Gebilde 
haben  eine  doppelte  Funktion,  sie  sind  außer  uns  und  über  uns,  zugleich  aber 
auch  in  uns.  So  treten  uns  z.  B.  die  sozialen  Gebote  als  Befehle  einer  mit  der 
Macht  zu  strafen  ausgerüsteten  Autorität  und  als  Stimme  des  eigenen  Gewissens 
entgegen.  Der  Mensch  hat  sich  vom  sozial  gebundenen  Herdentier  allmählich  zur 
selbständigen  Persönlichkeit  entwickelt.  Die  individualistische  Entwicklungstendenz 
führt  aber  zum  Universalismus  und  Kosmopolitismus.  Denn  wenn  das  selbständige 
Denken  zum  Widerspruch  mit  der  nächsten,  engeren  Gruppe  führt,  so  weiß  sich 
der  einsame  Denker  gerade  in  seiner  Vernunft  mit  ,allen  Denkenden  einig.  Dem 
von  Kant  aufgestellten  Ideal  der  „Menschenwürde"  wird  das  der  „Staatenwürde" 
an  die  Seite  gestellt  und  die  Forderung  erhoben,  daß  zu  dem  Gefühl  der  allge- 
mein-menschlichen Solidarität  „in  uns"  eine  Menschheitsorganisation  „über  uns" 
die  notwendige  Ergänzung  schaffe. 

In  dem  Abschnitt  über  Philosophie  der  Geschichte  lernen  wir  die  grund- 
legenden Gedanken  von  Herder,  Kant  und  Hegel  kennen.  In  der  ökonomischen 
Geschichtsauffassung  von  Marx  und  Engels  sieht  J.  ein  „heuristisches  Prinzip 
von  allergrößter  Bedeutung",  glaubt  aber  nicht,  daß  sie  zur  Deutung  des  gesamten 


490  Besprechungen  (Jerusalem-*- Rausch — Uebervveg). 


historischen  Prozesses  ausreicht.  Gegen  Ricker t  betont  er,  daß  die  Auffassung 
der  Geschichte  als  individualisierender  Kulturwissenschaft  zum  Verständnis  der 
historischen  Entwicklung  nichts  beiträgt  und  die  Auffindung  der  Gesetze  des 
historischen  Geschehens  neben  der  Darstellung  der  einzelnen  Ereignisse  weiter 
eine  Aufgabe  der  Wissenschaft  bleibt.  Die  Beziehung  zwischen  Gesellschaft  und 
Individuum  ist  für  J.  der  Kernpunkt  des  geschichtlichen  Geschehens  und  eine 
Synthese  von  Individualismus  und  Sozialismus  das  Ziel  der  Entwicklung. 

Ueberall  ist  J.  bemüht  in  allen  Richtungen  das  Positive,  Wertvolle  hervor- 
zuheben, ohne  darum  die  klare  Stellungnahme  von  seinem  Standpunkte  aus  ver- 
missen zu  lassen.  Daß  trotzdem  der  dem  Verf.  so  fern  liegende  kritische  Idealis- 
mus zu  kurz  kommt,  ist  wohl  notwendig.  Vollkommene  Objektivität  ist  hier  gar 
nicht  möglich  und  scheint  mir  gerade  für  eine  solche  Einführung  gar  nicht 
wünschenswert,  ist  doch  konsequente  Durchführung  einer  bestimmten  Grundauffassung 
und  scharfe  Auseinandersetzung  mit  abweichenden  Richtungen  am  besten  geeignet 
in  das  Wesentliche  der  Philosophie  einzuführen:   in  ihre  unendliche  Problematik. 

Charlottenburg.  Dr.  Josef  Winternitz. 

Rausch,  Alfred,  Direktor  des  Friedrichs  -  Kollegiums  in  Königsberg,  Ele- 
mente der  Philosophie.  4.  Aufl.  Halle  a.  d.  S.  Verlag  der  Buchhandlung 
des  Waisenhauses,  1920.     XII  und  345  Seiten. 

„Ein  Lehrbuch  für  höhere  Schulen  zur  Einführung  in  die  Philosophie"  hat 
der  Verfasser,  der  selbst  Schulmann  ist,  schaffen  wollen,  es  ist  aber  mehr  ge- 
worden, nämlich  ein  Werk,  das,  wie  kein  zweites,  geeignet  ist,  in  philosophisches 
Denken  einzuführen,  das  vor  allem  den  Studierenden  unschätzbare  Dienste  leisten 
kann.  Ausgehend  von  dem  geistigen  Niveau  des  Durchschnittsgebildeten  führt 
das  Werk  den  Leser  spielend  in  alle  Gebiete  der  Philosophie  ein.  Der  etwas 
einseitig  Wundtische  Standpunkt  des  Verfassers  kommt  in  dem  Buche  zwar  zur 
Geltung,  dürfte  aber  seinem  Wert  als  Einleitungswerk  keinen  Eintrag  tun,  eben- 
sowenig wie  die  Tatsache,  daß  einige,  für  den  Anfänger  schwierige  philosophische 
Probleme  (z.  B.  das  Problem  der  Willensfreiheit,  S.  328  ff.)  nicht  erschöpfend  be- 
handelt sind.  Wünschenswert  wäre  nur  eine  eingehende  Literaturangabe  gewesen, 
die  der  Verfasser  leider  weggelassen  hat. 

Königsberg  i.  Pr.  Dr.  Paleikat. 

Alte  und  mittelalterliche  Philosophie. 

Ueberweg1,  Friedrich,  Grundriß  der  Geschichte  der  Philosophie. 
Erster  Teil:  Das  Altertum.  Elfte,  vollständig  neubearbeitete  und  stark  vermehrte, 
mit  einem  Philosophen-  und  Literatorenregister  versehene  Auflage,  herausgegeben 
von  Karl  Praechter,  ord.  Professor  der  klassischen  Philologie  an  der  Universität 
Halle.  Berlin  1920.  Ernst  Siegfried  Mittler  &  Sohn.  696  Seiten  Text,  300  Seiten 
Literaturnachweise  und  Register. 

Der  vorliegende  Band  des  zu  höchstem  wissenschaftlichen  Ansehen  gelangten 
Grundrisses  von  Ueberweg  stellt  sich,  wie  sein  Herausgeber,  der  hervorragende 
Vertreter  der  klassischen  Philologie  an  der  Universität  Halle,  Karl  Praechter, 
mit  Recht  angibt,  als  ein  neues  Buch  dar.  Und  was  P.  geleistet  hat,  dient  dazu, 
den  alten,  anerkannten  Ruhm  dieses  Grundrisses  nicht  bloß  zu  wahren,  sondern 
in  sehr  beträchtlichem  Umfange  zu  mehren.  Wir  verdanken  seiner  mit  vollendeter 
Umsicht,  Treue,  Sachlichkeit  und  Zuverlässigkeit  durchgeführten  Arbeit  eine  ge- 
radezu klassisch  zu  nennende  Leistung,  und  wenn  der  , Ueberweg'  schon  immer 
als  ein  schlechthin  unentbehrliches  Handbuch  für  jeden  auf  dem  Gebiete  der  Ge- 
schichte der  Philosophie  Tätigen  galt,  so  bedingt  Praechters  neue  Bearbeitung 
der  Geschichte  der  antiken  Philosophie  in  entscheidender  Weise  eine  sozusagen 
potenzierte  Unentbehrlichkeit  dieses  Werkes. 

Zunächst  seien  die  hauptsächlichsten  Fortschritte  der  neuen  Ausgabe  gegen- 
über den  früheren  gekennzeichnet.  Daß  eine  außerordentliche  Erweiterung  und 
Vervollständigung  des  Literaturverzeichnisses  vorgenommen  wurde,   ist   selbstver- 


Besprechungöii  (Ueberweg).  •  491 

ständlich;  begründen  sich  doch  der  Wert  und  die  zahllose  Benutzung  dieses 
Grundrisses  auf  der  einzigartigen  Fülle  und  Sorgfalt  der  Literaturangaben,  sowie 
auf  der  übersichtlichen  und  geschickten  Verteilung  und  Anordnung  derselben. 
Steckt  hierin  ein  wesentliches,  allerdings  vergleichsweise  untergeordnetes,  durch 
regelmäßige  Ergänzung  des  Zettelkastens  zu  bewältigendes  Stück  Arbeit,  so  beruht 
dagegen  ein  sehr  bedeutender  Vorteil  des  neuen  Buches  auf  der  beträchtlich 
größeren  Ausführlichkeit  der  Darstellung.  Die  früher  oft  allzu  knappen,  fast 
fragmentarisch  anmutenden,  thesenartigen  Bemerkungen  des  alten  Ueberweg  be- 
deuteten eine  rechte  Erschwerung  für  die  Lektüre,  da  es  bei  diesem  Bestand  des 
Textes  nahezu  unmöglich  war,  ein  einheitliches,  zusammenfassendes  Bild  der  be- 
treffenden philosophischen  Systeme  zu  gewinnen.  Gegen  diesen  Uebelstand  ist  nun 
gründlichst  Abhilfe  geschaffen  und  zwar  dadurch,  daß  eine  ganze  Reihe  von  Par- 
tien überhaupt  neu  geschrieben  wurde.  Diese  wichtige,  aber  unvermeidlich  ge- 
wordene Aenderung  kam  besonders  der  Darstellung  der  Platonischen  und  nächst 
ihr  der  Hellenistischen  Philosophie  zugute.  Aber  bei  diesen  Umgestaltungen  ging 
P.  immer  so  zu  Werke,  daß  das  Prinzip  der  ursprünglichen  Behandlung  gewahrt 
blieb,  indem  es  ihm  vor  allem  darauf  ankam,  fern  von  jedem  besonderen  philo- 
sophischen Gesichtspunkt  und  jeder  systematisierenden  Einstellung  dem  Bericht 
eine  möglichst  große  philologisch  -  historische  Treue  zu  geben.  So  ließ  er,  wie 
das  für  ein  Handbuch  auch  unentbehrlich  ist,  in  weitestem  Umfang  die  Quellen 
und  ursprünglichen  Dokumente  selber  sprechen.  Er  bietet  uns  einen  erheblich 
vermehrten  Strom  von  Autorenstellen,  sodaß  man  im  Material  geradezu  herum- 
schwimmen kann.  Welchen  eminenten  Nutzen  dabei  Diels'  garnicht  genug  zu  prei- 
sende Ausgabe  der  Fragmente  der  Vorsokratiker  für  die  quellenmäßige  Bereiche- 
rung der  betreffenden  Kapitel  gewährte,  läßt  deren  Lektüre  auf  Schritt  und  Tritt 
erkennen.  Und  diese  reiche,  wohl  fast  erschöpfende  Bereitstellung  des  Quellen- 
materials —  für  die  nachsokratischen  Systeme  und  Schulen  in  sehr  umfangreichen 
Auszügen  —  läßt  die  Schwierigkeiten  ermessen,  die  seiner  Deutung  und  Auffassung 
entgegenstehen.  Man  vermag  an  Hand  der  Belege  einzusehen,  warum  über  erheb- 
liche Punkte  der  alten  Philosophie  noch  keine  Uebereinstimmung  in  der  Erfassung 
des  Sinnes  jener  Punkte  erreicht  ist,  ja,  voraussichtlich  nie  erreichbar  sein  wird. 
Deshalb  liegt  ein  Hauptreiz  des  Werkes  gerade  in  der  durch  seine  Eigenart  er- 
möglichten Einführung  in  die  höchst  interessante  Problematik  der  Interpretation 
und  in  die  relative  Berechtigung  der  verschiedenen,  nicht  nur  nebeneinander  her- 
gehenden, sondern  oft  konträren  Deutungen. 

Ohne  nun  die  soeben  berührten  ungewöhnlichen  Vorzüge  des  Werkes  auch 
nur  um  einen  Grad  herabdrücken  und  ohne  auch  nur  das  Geringste  von  der  nach- 
drücklich ausgesprochenen  Anerkennung  und  Zustimmung  zurücknehmen  zu  wollen, 
seien  nun  doch  einige  Momente  der  Kritik  berührt,  deren  Berücksichtigung  zum 
Mindesten  als  Gegenstand  der  Diskussion  der  Erwägung  wert  sein  dürfte: 

1)  Es  hängt  mit  der  alten,  noch  ursprünglich  von  Ueberweg  getroffenen 
Einrichtung  zusammen,  daß  die  Darstellung  nicht  eigentlich  den  Charakter  einer 
einheitlichen,  organisch  verlaufenden  Behandlung  der  maßgebenden  Probleme  trägt. 
Gegen  die  jetzt  von  Praechter  getroffene  Einteilung  in  a)  Die  vorattische 
Philosophie,  b)  Die  attische  Philosophie,  c)  Die  hellenistisch-römische  Philosophie 
wird  man  nichts  einwenden  können,  wenn  man  die  Eigentümlichkeit  des  vor- 
liegenden Lehrbuches  und  seinen  Zweck  im  Auge  behält.  Trotzdem  wäre  es 
wünschenswert,  wenn  bei  der  allgemeinen  Kennzeichnung  der  griechischen  Philo- 
sophie (§  9  S.  37 — 50)  die  große  Linie  der  Probleme  energischer  und  systematischer 
herausgearbeitet  würde.  Der  außerordentliche  Reichtum  der  Einzelausführungen 
und  die  an  sich  bewunderungswürdige  Ausbreitung  des  Materials  lassen  auf  der 
anderen  Seite  die  deutliche,  am  besten  einem  besonderen,  zusammenfassenden 
Paragraphen  zuzuteilende  Hervorhebung  des  Ganges  der  philosophischen  Entwick- 
lung empfehlenswert  erscheinen.  Was  in  dieser  Beziehung  in  den  §§  10,  26  und 
54  a  geboten  wird,  darf  nur  als  eine  wertvolle  Vorarbeit  für  eine  solche  straffere, 
die  einzelnen  Problemzusammenhänge  ans  Licht  hebende  Gesamtdarstellung  an- 
gesehen werden. 

2)  Ein  Mangel  ist  die   gar   zu  knappe  Berücksichtigung   der  orientalischen 


Ü92  *  Besprechungen  (TJeberweg). 

Philosophie;  im  ganzen  nur  drei  Druckseiten.  Hier  muß  m.  E.  eine  grundsätzliche 
Erweiterung  vorgenommen  werden,  zweckmäßigerweise  wohl  unter  Heranziehung 
eines  zweiten  Fachmannes.  Was  P.  zur  Begründung  dieser  Außerachtlassung  an- 
führt, daß  nämlich  ein  Einfluß  der  indischen  auf  die  griechische  Philosophie  kaum 
nachweishar  ist,  rechtfertigt  nicht  diese  weniger  als  summarische  Ahfertigung  der 
orientalischen  Philosophie.  Denn  abgesehen  davon,  daß  die  Frage  dieses  Ein- 
flusses noch  recht  ungeklärt  ist,  so  stellt  die  orientalische  Spekulation  auf  alle 
Fälle  eine  selbständige  und  hochbedeutende  philosophische  Größe  dar,  die  ein- 
gehende Berücksichtigung  verdient.  Verwiesen  sei  nur  auf  das  von  Hinneberg 
bei  Teubner  herausgegebene  ausgezeichnete  Sammelwerk:  Die  Kultur  der  Gegen- 
wart, wo  in  dem  einzigen,  der  Geschichte  der  Philosophie  gewidmeten  Band  von 
543  Seiten  der  orientalischen  Philosophie  etwa  80  Seiten  eingeräumt  sind,  während 
der  ,Ueberweg'  für  die  Darstellung  der  Geschichte  der  Philosophie  über  vier  starke 
Bände  verfügt. 

3)  Ein  grundsätzliches  Bedenken  möchte  ich  gegen  die  im  1.  Paragraphen 
gebotene  Begriffsbestimmung  der  Philosophie  aussprechen.  Ein  jeder,  der  sich 
in  historischer  oder  in  systematischer  Absicht  mit  der  Philosophie  beschäftigt, 
weiß,  wie  überaus  schwer  eine  solche  Begriffsbestimmung  ist.  Diese  sachlich 
höchst  beachtenswerte  und  interessante  Schwierigkeit  ergibt  sich  aus  der  Kompli- 
kation und  Antinomik  im  Begriff  und  in  der  Struktur  der  Philosophie.  Wenn 
aber  P.  definiert:  die  Philosophie  ist  die  Wissenschaft  der  Prinzipien,  so  ist  diese 
Bestimmung  entschieden  zu  eng  und  zu  locker.  Denn  erstens  ist  der  Ausdruck: 
Prinzipien  schon  an  sich  zu  vieldeutig,  als  daß  man  ihn  ohne  Zusatz  lassen  könnte. 
Zweitens  ist  die  Philosophie  Wissenschaft  von  den  Prinzipien  in  einem  bestimmten 
Sinne,  d.  h.  im  Sinne  einer  bestimmten  Erfassungsart  dieser  Prinzipien  auf  Grund 
einer  bestimmten  Methode ;  und  die  wenigstens  allgemeine  Angabe  der  für  die  Philo- 
sophie charakteristischen  Methode  ist  in  einer  solchen  Begriffsbestimmung  unerläßlich. 
Drittens  genügt  jene  Begriffsbestimmung  auch  aus  dem  Grunde  nicht,  weil  sie  die 
weltanschauliche  Tendenz  und  Bedeutung*  der  philosophischen  Spekulation,  ihr  Hin- 
streben sowohl  zu  einer  Weisheitslehre  und  zu  einer  Lehre  von  der  richtigen 
Lebensführung,  als  auch  zur  praktischen  Bewährung  einer  solchen  Lebensführung 
außer  Acht  läßt.  Dabei  ist  doch  dieses  Streben  gerade  für  wichtige  Perioden 
der  griechischen  Philosophie  von  entscheidender  Bedeutung.  Viertens  bleibt  der 
für  alle  philosophischen  Bemühungen  grundlegende  und  wegweisende  Gedanke  der 
Einheit  und  Systematik  der  Erkenntnis  und  Wissenschaften,  ihre  Zusammenfassung 
durch  ein  übergeordnetes  Prinzip  in  jener  Begriffsbestimmung  unberücksichtigt. 

4)  Ich  würde  für  die  Milderung  jener  tadelnden  Bemerkungen  plaidieren, 
die  den  gewaltigen,  von  Pr.  auch  in  gewissem  Umfang  anerkannten  Verdiensten 
Hegels  um  die  geschichtsphilosophischeErfassung  der  großen  Epochen  des  Geistes- 
lebens der  Menschheit  zuteil  werden  (S.  11).  Was  die  Philosophie  der  Geschichte 
Hegel  verdankt,  ist  von  so  grundlegendem  Wert,  von  so  großer  Fruchtbarkeit  und 
Tragweite,  daß  gewisse  Härten  dieser  Konstruktion  mit  in  Kauf  genommen  werden 
können,  weil  sie  mit  zum  Wesen  jeder  Systematik  gehören.  Daß  Hegels  „Sche- 
matismus viel  Unheil  gestiftet"  habe,  erscheint  mir  gegenüber  der  positiven  Förde- 
rung der  Geschichtsphilosophie  durch  jenen  Schematismus  eine  zu  absprechende 
Kennzeichnung  des  Tatbestandes  (vgl.  auch  S.  5*).  —  Im  Zusammenhang  mit 
diesem  Hinweis  möchte  ich  für  eine  Verstärkung  der  Anerkennung  eintreten,  die 
dem  wirklich  hervorragenden  Werk  von  Joh.  Ed.  Erdmann,  Grundriß  der  Gesch. 
der  Philosophie  gewidmet  wird  (S.  6*)  Sehr  schön  und  treffend  dagegen  ist  die 
Würdigung  der  Zellerschen  Leistung,  deren  Vorzüge  und  Schwächen  knapp  und 
sicher  hervorgehoben  werden  (S.  26*).  Ist  es  nicht  aber  doch  zu  viel  gesagt, 
dem  Werk  von  Zeller  „die  trefflichste  Vereinigung  von  philosophischer  Vertiefung 
und  kritischem  Blick"  nachzusagen?  Dringt  Zeller  wirklich  bis  zu  den  letzten 
Wurzeln  des  philosophischen  Gedankens  vor? 

5)  Eine  der  beherrschenden  Fragen  für  alle  Darstellungen  der  griechischen 
Philosophie  bezieht  sich  auf  das  Problem  der  Plato  -  Interpretation,  ein  Problem, 
das  jetzt  fast  ganz  und  gar  an  die  Stelle  der  jahrzehntelang  mit  der  größten 
Emsigkeit  betriebenen  Untersuchung   der  Echtheit  und   der  Reihenfolge  der  Pia- 


Besprechungen  (Ueberweg).  493 

tonischen  Schriften  getreten  ist.  Es  handelt  sich  um  die  Entscheidung  darüber, 
ob  der  Begriff  der  Idee  mehr  im  ontologistischen  Sinne  oder  mehr  im  erkenntnis- 
theoretischen und  methodologischen  Sinne  aufzufassen  sei.  Diese  Streitfrage  ist 
in  erster  Linie  durch  P.  Natorps  Buch:  Piatons  Ideenlehre,  eine  Einführung  in 
den  Idealismus  (Leipzig  1903)  in  Fluß  gekommen,  in  dem  Natorp  mit  großartigem 
Scharfsinn  und  in  echt  philosophisch-dialektischer  Methode  die  logische  Bedeutung 
der  Ideen  verficht.  Wenn  nun  Pr.  schreibt:  „Letzten  Endes  ist  der  Grund  der 
logischen  Umdeutung  der  Ideenlehre"  in  Bemerkungen  zu  suchen,  die  Lotze  in 
seiner  Logik  getan  hat,  so  stimmt  dieser  Hinweis  nicht  ganz.  Denn  man  kann 
einen  noch  viel  bedeutenderen  Vertreter  der  logizistischen  Auffassung  der  Ideen 
nennen.  Es  ist  Kant,  der  zwei  Mal  und  zwar  in  sehr  markanten  Ausführungen 
jene  Umdeutung  vorschlägt,  in  der  transzendentalen  Dialektik  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft  und  in  der  kleinen  Schrift :  Ueber  einen  neuerdings  erhobenen  vornehmen 
Ton  in  der  Philosophie.  —  Praechter  stellt  sich  nun  im  großen  und  ganzen  auf 
die  Seite  der  Vertreter  der  ontologistischen  Auffassung  (S.  278  ff.,  299,  338  und 
341).  und  zwar  begründet  er  seine  Entscheidung  durch  die  Berufung  auf  die 
Autorität  des  Aristoteles.  „Ein  Hauptindiz  gegen  Natorps  Deutung  ist  der  Bericht 
des  Aristoteles  ....  Wenn  irgendwo  so  liegt  bei  Aristoteles  die  Entscheidung 
der  Ideenfrage.  Er  vertritt  uns  die  mit  den  veröffentlichten  Dialogen  parallel 
gehende  zweite  Quelle  für  die  Kenntnis  der  Lehre  Piatons,  den  mündlichen  Unter- 
richt. Dieser  verdiente  vor  der  schriftlichen  Lehrübermittelung  den  Vorzug,  da 
er  Mißverständnissen  weniger  ausgesetzt  war."  Hier  stock'  ich  schon!  Weiß 
nicht  jeder  akademische  Lehrer  aus  zahlreichen  Erfahrungen,  daß  auch  der  Vor- 
trag, und  selbst  der  klarste,  gegen  Mißverständnisse  nicht  gefeit  ist  ?  Aber  weiter : 
Wer  gibt  uns  eine  hinreichende  Bürgschaft  dafür,  daß  gerade  Aristoteles  in  völlig 
einwandfreier  Weise  befähigt  war,  den  Sinn  der  Ideenlehre  adaequat  zu  begreifen? 
Zeigt  sich  Aristoteles  nicht  in  sehr  wichtigen,  garnicht  zu  übersehenden  Beziehungen 
als  ein  von  dem  Platonischen  abweichender  philosophischer  und  geistiger  Typ? 
Man  erwäge  nur  einmal  die  Verschiedenheit  des  Interesses  beider  Philosophen 
gegenüber  der  Mathematik.  „Aristoteles  kann  als  das  Haupt  der  Empiristen, 
Plato  aber  der  Noologisten  angesehen  werden",  heißt  es  in  der  Kritik  der  reinen 
Vernunft.  Es  ist  aber  ein  Merkmal  der  Empiristen  aller  Zeiten  und  Völker,  daß 
sie  auf  Grund  ihrer  Geisteshaltung  ideelle  Werte  nicht  anders  als  in  substan- 
tialistischer  Weise  aufzufassen  vermögen,  um  dann  von  dieser  Auffassung  aus  eine 
Kritik  jener  Werte  zu  versuchen.  Lockes  unzutreffende  Charakteristik  und 
Interpretation  der  Substanzidee  ist  dafür  ein  bezeichnendes  Beispiel.  Und  nun 
ist  es  beachtenswert,  daß  auch  Aristoteles  der  Philosophie  Piatons  innerlich  als 
Kritiker  gegenüberstand.  Inbezug  auf  diesen  Punkt  gibt  Pr.  selbst  eine  inter- 
essante, die  Authentizität  der  Aristotelischen  Darstellungen  jedoch  stark  ein- 
schränkende Charakteristik  vom  Wesen  des  Stagiriten.  „Er  —  Aristoteles  — 
berichtet  vorzugsweise  als  Kritiker  —  nämlich  über  die  früheren  Philosopheme  — 
aber  eben  deshalb  sind  auch  seine  Angaben  nicht  überall  unbedingt  zuverlässig, 
besonders  da  er  an  fremde  Lehren  den  Maßstab  seiner  eigenen  Grundbegriffe 
legt"  (S.  19).  Mit  dieser  m.  E.  durchaus  zutreffenden  kritischen  Kennzeichnung 
des  Aristoteles  mindert  Pr.  aber  in  recht  erheblichem  Maße  die  Zuverlässigkeit 
und  die  Objektivität  seines  Gewährsmannes.  Lotzes,  Natorps  und  vieler  Anderer 
Platon-Auffassung  hat  ihren  Grund  auch  nicht  in  dem  „Empfinden  moderner  Philo- 
sophen" (8.  279),  sondern  in  sehr  eingehenden  Forschungen,  die  darauf  gerichtet 
sind,  den  philosophischen  Sinn  des  Ideenbegriffs  herauszuarbeiten  im  Gegen- 
satz zu  der  doch  vorherrschend  nur  durch  Aristoteles  gestützten  traditionellen 
ontologistischen  Interpretation,  von  der  man  nicht  so  einfach  sagen  kann,  sie 
habe  „sich  auch  unter  den  neueren  Platonerklärern  als  die  herrschende  behauptet" 
(S.  278).  Und  wenn  Pr.  zur  Stützung  der  ontologistischen  Ideendeutung  darauf 
hinweist,  daß  „die  Neigung,  Abstraktes  plastisch  zu  verkörpern,  tief  im  griechischen 
Wesen  wurzelt"  (S.  279),  so  kann  man  mit  Fug  auch  auf  die  entgegengesetzte 
Fähigkeit  der  wirklichen  Philosophen  aufmerksam  machen,  die  dahin  geht,  ihre 
Kraft  in  der  Konstruktion  unsinnlich-formaler,  rein  logischer  Gebilde  zu  betätigen : 
die  Schöpfung  der  Mathematik  und   der  formalen  Logik   sind   ein  Zeugnis  dieser 


494  Besprechungen  (Uebergweg — Wichinann). 

ganz  unontologischen  Begabung  und  Tendenz.  —  Pr.  ist  übrigens  keineswegs  blind 
für  die  erkenntnistheoretisch-logische  Seite  der  Ideenlehre,  wie  einsichtsvolle  Be- 
merkungen z.  B.  auf  S.  280  und  299  belegen.  Da  sich  aber  bei  Aristoteles  keine 
Erkenntnis  dieser  doch  so  unendlich  wichtigen,  ja  der  eigentlich  grundsätzlich  be- 
deutungsvollen Seite  der  Ideenlehre  findet,  so  ist  die  bedingungslose  Berufung  auf 
ihn  und  sein  angeblich  adaequates  Verständnis  des  Sinnes  der  Platonischen  Leistung 
nicht  aufrechtzuerhalten.  Ceterum  censeo:  Die  Deutungsschwierigkeiten  der  Pla- 
tonischen Ideenlehre  stellen  ein  Musterbeispiel  für  die  außerordentlichen  Schwierig- 
keiten der  Deutung  von  Schöpfungen  der  Geschichte  überhaupt  dar.  Besäßen 
wir  eine  systematisch  durchgeführte  Hermeneutik,  deren  Schaffung  eine  der  wich- 
tigsten Aufgaben  aller  philosophischen  Theorie  und  Grundlegung  der  Geschichte 
ist,  dann  hätten  wir  diejenigen  methodischen  Hilfsmittel  an  der  Hand,  um  eine 
Auffassung  und  Illustration  der  Ideenlehre  Piatons  zu  erreichen,  die  aller  Ein- 
seitigkeit fernstehen. 

Die  Frage  der  Plato-Interpretation  ist,  wenn  man  sie  in  ihrem  tiefsten  philo- 
sophischen Grund  und  Gehalt  erfaßt,  keine  Spezialfrage,  auch  kein  Gegenstand 
einer  nur  philologischen  Auseinandersetzung.  An  ihr  läßt  sich  der  immanente 
Kampf  eines  der  größten  Denker  aller  Zeiten  um  den  Begriff  und  Sinn  der  Idee, 
d.  h.  um  den  Begriff  und  Sinn  des  Geistes  und  des  Philosophierens  überhaupt 
verdeutlichen.  Deshalb  wäre  es  nicht  unangebracht,  für  die  Erörterung  dieser 
Frage,  ferner  für  die  Darstellung  der  verschiedenen,  gegeneinander  streitenden 
Ansichten  und  für  die  eigene  Stellungnahme  ein  besonderes  Kapitel  zu  verwenden, 
statt  diese  Dinge  nur  als  Anhang  zur  Inhaltsangabe  des  , Gastmahls'  zu  bringen. 2 — 

Wenn  Kant  —  in  der  Vorrede  zur  2.  Auflage  der  Kr.  d.  rein.  Vern.  —  von 
dem  „bisher  noch  nicht  erloschenen  Geist  der  Gründlichkeit  in  Deutschland" 
spricht,  so  kann  man  in  dem  Werke  Praechters  die  bewunderungswürdige  Fort- 
setzung und  damit  Aufrechterhaltung  dieses  Geistes  erklicken.  Es  stellt  ohne 
Zweifel  einen  Höhepunkt  in  der  wissenschaftlichen  Literatur  der  Gegenwart  dar. 

Berlin.  Arthur  Lieber t. 

Wichmann,  Ottomar,  Dr.,  Privatdozent  an  der  Universität  Halle,  Piaton 
und  Kant,  eine  vergleichende  Studie.  Weidmannsche  Buchhandlung,  Berlin 
1920.     202  Seiten. 

In  W.s  Buche  liegt  eine  für  den  Kant-  wie  den  Piatonforscher  gleich  inter- 
essante Behandlung  des  Themas  Piaton  und  Kant  vor,  die  von  der  Marburger 
Einstellung  abweicht  und  sich  ihr  in  vielen  Stücken  ausdrücklich  entgegenstellt. 
Jede  Kritik  der  Marburger  Piatondeutung  pflegt  auf  die  Züge  des  Piatonismus 
hinzuweisen,  die  bei  der  kritizistischen  Auffassung  völlig  ausfallen.  Sie  innerhalb 
der  platonischen  Gedankenwelt  zu  sehen  ist  nicht  schwer.  W.  faßt  aber  seine 
Aufgabe  anders;  er  will  die  neukantische  Deutung  mit  ihren  eigenen  Waffen 
treffen  und  eine  viel  weitergehende  Uebereinstimmung  zwischen  Kant  und  Piaton 
feststellen;  er  will  also  implicite  die  Marburger  Kantausdeutung  als  ebenso  unzu- 
reichend für  Kant  wie  für  Piaton  erweisen.  Dieses  Verfahren  hat  den  Vorteil, 
daß  die  Diskussion  in  der  philosophischen  Sphäre  bleibt,  von  der  aus  die  Mar- 
burger Deutung  allein  getroffen  werden  könnte. 

Die  Kantauffassung,  die  W.  sich  zurechtgelegt  hat,  legt  größeren  Wert  auf 
die  praktische  Vernunft  und  die  Probleme  der  Urteilskraft;  die  Kantische  Natur- 
philosophie ergibt  überraschende  Uebereinstimmungen  mit  Piaton  (vgl.  das  V. 
Kapitel  W.s);  W.  argumentiert  zwar  im  wesentlichen  mit  den  drei  Kritiken,  er 
findet  aber  (S.  196  Anm.:  „hier  nennt  auch  Kant"  [Piaton  Druckfehler]  „die 
Materie  den  Raum")  „wörtlichere  verblüffendere"  Anklänge  im  Opus  postumum,  in 
dem  er  die  seiner  Meinung  nach  wesentlicheren  metaphysischen  Tendenzen  am 
reinsten  ausgesprochen  findet.  W.  zieht  die  Parallelen  mit  einer  ausgebreiteten 
Belesenheit  in  Kants  und  Piatons  Schriften;  den  letzteren  sucht  er  in  gründlicher 
eingehender  Interpretation  einen  neuen  Sinn  abzugewinnen.  Die  Gesamtauffassung 
Piatons,  zu  der  er  gelangt,  ist  ein  eigentümlicher  Agnostizismus.  Wenn  nach 
Dilthey  alle  Metaphysik  von  dem  Skeptizismus  als  ihrem  Schatten  begleitet  wird, 


Besprechungen  (Wichmann — Apelt).  495 

so  ist  W.s  Auffassung  der  Schatten  zu  der  ehrlich  metaphysischen  Deutung  Wila- 
mowitz',  mit  der  W.  sich  eingehend  auseinandersetzt.  Der  Zielpunkt  der  pla- 
tonischen Philosophie  ist  nach  W.  (S.  52)  „unbedingtes,  voraussetzungsloses 
Wissen".  W.  legt  aber  den  höchsten  Nachdruck  auf  die  geforderte  Rechenschaft 
die  er  in  „begrifflichem"  Sinne  versteht.  Dieses  Ziel  ist  nach  W.  nicht  in  dem 
Prinzip  der  allgemeinen  Gesetzlichkeit  erreicht  (Marburger),  auch  nicht  uner- 
reichbar (Wilamowitz)  sondern  noch  nicht  erreicht,  aber  erreichbar 
(S.  45).  Indem  W.  durchgängig  die  skeptischen  Bemerkungen,  die  Piaton  dem 
Sokrates  in  den  Mund  legt,  als  maßgebend  für  Piatons  eigene  Stellungnahme  an- 
sieht, interpretiert  er  aus  den  Werken  der  Reifezeit  den  Gedanken  heraus,  daß 
später  einmal  eine  größere  Annäherung  an  das  Ziel  begrifflicher  Erfassung  der 
Idee  zu  fordern  ist.  Da  dies  tatsächlich  nie  erfolgt,  auch  der  im  Sophistes  und 
Parmenidos  erfolgende  „neue  Anlauf,  Gewißheit  über  Sein  und  Wert  zu  erlangen, 
(S.  144)  mit  einem  unzweideutigen  Fehlergebnis"  schließt  (S.  109),  so  ist  nach  W. 
die  letzte  Phase  der  Entwicklung  ein  resigniertes  Zurückkehren  zu  der  früheren 
Position  etwa  des  Phaidon>  ein  Zurückweichen  in  die  Ausgangsstellung  nach  ge- 
scheiterter Schlacht  (S.  145).  Im  Timaios  hat  zwar  „die  Forderung ,  der  Gewiß- 
heit ihre  Schwungkraft  verloren"  (171),  aber  sie  bleibt  bestehen,  und  „der  reli- 
giöse Glaube  soll  keinen  Ersatz  bieten  für  das  Xoyov  didovai".  Hinsichtlich  der 
als  Wissenschaft  zweiten  Ranges  aufgefaßten  Naturerklärung  setzt  W.  seine  be- 
reits früher  (Kantstud.  Erg.-Heft  40)  entwickelten  Gedanken  fort  und  vertieft  sie 
durch  interessante  Parallelen  zur  Kritik  der  Urteilskraft. 

Der  Wert  des  Buches  liegt  in  der  Fülle  neuer  Probleme,  die  es  stellt.  Durch 
W.s  Darstellung  wird  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  von  Begriff  und  Idee,  die 
Notwendigkeit  genauerer  Abgrenzung  des  Psychologischen  und  Logischen  in  der 
platonischen  Intuition  (cf.  S.  51  Anm.  1)  in  ihrer  ganzen  Schwierigkeit  fühlbar. 
Wenn  W.  (S.  139)  erklärt,  daß  jeder  Begriff,  sobald  man  ihn  „rein"  auffaßt, 
zur  Idee  und  folglich  begrifflich  nicht  erreichbar  wird,  so  sieht  man  deutlich, 
daß  in  der  scheinbaren  Resignation  Piatons  logische  Motive  auftauchen,  die  zu 
einer  weiteren  Fassung  des  „Begriffes"  drängen.  Hätte  W.  um  den  Sinn  und  das 
Wesen  des  platonischen  Logos  mit  derselben  Genauigkeit  sich  bemüht  wie  um 
den  Sinn  des  „Seins"  (S.  113  —  115)  —  solche  Bedeutungsanalysen  helfen  weiter 
und  sie  allein  führen  zu  einem  Verständnis  Piatons  —  so  wäre  der  Sinn  seiner 
Darstellung  noch  klarer  herausgekommen.  So  aber  nähert  sich  W.  gelegentlich 
der  Auffassung  der  Idee  als  einer  Aufgabe,  ohne  doch  die  Konsequenzen,  die 
sich  daraus  für  ihre  Bedeutung  und  für  den  Seinsbegriff  ergeben,  zu  ziehen. 
Merkwürdig  ist,  daß  W.  manche  sehr  ernste  Probleme  ganz  peripherisch  be- 
handelt, wie  die  Methexis,  die  Gemeinschaft  der  Ideen.  Freilich  stehen  bei  W. 
die  obersten  Ideen,  das  Gute,  das  Sein  so  sehr  im  Vordergrunde,  daß  alle  die 
Fragen  zurücktreten,  die  erst  mit  einer  Vielheit  der  Ideen  brennend  werden. 
Aber  die  Tatsache,  daß  eine  solche  Auffassung  sich  durchführen  läßt,  verdient 
Beachtung.  Ueberhaupt  ist  alles,  was  W.  behauptet,  in  einer  eingehenden  wirk- 
lichen Kenntnis  Piatons  begründet,  er  versucht,  zu  interpretieren.  Darum 
ist  auch  jeder  Anstoß,  den  man  nimmt,  ein  Fingerzeig  auf  Tatsachen,  die  der  Er- 
klärung bedürfen.    Darin  sehe  ich  die  Bedeutung  des  Buches. 

Breslau.  Julius  Stenzel. 

Apelt,  Otto,  Piatons  Briefe  übersetzt  und  erläutert.  Der  Philos.  Biblio- 
thek Band  173.     Leipzig  1918.     Verlag  von  Felix  Meiner.     154  S.    8°.    4,40  Mk. 

Die  Uebersetzung  der  Briefe  Piatons  ist  schon  aus  dem  Grunde  verdienstlich, 
weil  von  den  drei  bisherigen  Uebersetzungen  (Schlosser  1795,  Müller  -  Steinhart 
1859,  Wiegand  1859)  die  zweite  nicht  einzeln,  die  erste  und  dritte  überhaupt 
nicht  mehr  zugänglich  ist.  Die  Einleitung  gibt  über  die  Geschichte  der  Brief- 
literatur im  Altertum  und  über  die  Echtheitsfrage  der  Piatonbriefe  ausführliche 
Auskunft.  Apelt  tritt  für  die  unbedingte  Echtheit  der  Sammlung  ein  und  zwar 
mit  jenen  guten,  allgemeinen  Erwägungen,  die  alle,  die  lernen  wollen,  in  den 
letzten  Jahren  genötigt  haben  umzulernen.  Spezielle  neue  Argumente  bringen 
weder  die  Einleitung  noch   die  reichen,   34  Seiten  langen  Anmerkungen,    aber  es 


496  Besprechungen  (Apelt — Rolfes). 

sind  genug  Stellen  bezeichnet,  an  denen  der,  der  auf  positive  Echtheitsbeweise 
hinauswill,  ansetzen  kann.  Und  dieser  bedarf  es  in  der  Tat!  Es  ist  nicht  richtig, 
daß  der  Beweiszwang,  wie  Apelt  meint,  nur  auf  der  Seite  derer  ist,  die  die  Un- 
echtheit  vertreten.  Wer  sich  in  so  verdächtiger  literarischer  Gesellschaft  befindet, 
wie  Briefe  es  sind,  muß  sich  legitimieren  können.  Aber  das  können  gewisse  Teile 
der  Sammlung  auch.  Ich  glaube,  am  schlagendsten  ist  Ep.  VII,  342 f.:  Name, 
Begriff  als  Wort,  empirisches  Abbild,  wissenschaftliche  Erkenntnis,  Idee,  so  führt 
Piaton  aus,  sind  die  fünf  Punkte,  die  für  jedes  Objekt  unterschieden  werden 
müssen.  Das  ist  in  leicht  verständlicher  Form  und  doch  in  ganz  original  durch- 
gedachter Fassung  die  Lehre  seiner  konstruktiven  Dialoge,  daß  die  sinnlichen 
Objekte  genau  die  Mitte  halten  zwischen  Nichtsein  und  Sein,  und  daß  es  von 
jenen  zu  diesen  eine  Reihe  von  Zwischengliedern  gibt.  Das  kann  nur  Piaton  ge- 
schrieben haben,  denn  im  Altertum  hat  niemand  diese  seine  Lehre  recht  ver- 
standen. —  Die  Uebersetzung  ist  von  der  gleichen  musterhaften  Klarheit  des  Aus- 
drucks und  Gedankens  und  von  derselben  Zuverlässigkeit  in  der  Uebertragung  wie 
alle  übrigen  Bände  des  Werkes,  das  nunmehr  in  sechzehn  Bänden  vorliegt. 

Berlin-Friedenau.  Ernst  Hoffmann. 

Aristoteles,  Kategorien  (Des  Organon  erster  Teil).  Neu  über- 
setzt und  mit  einer  Einleitung  und  erklärenden  Anmerkungen  versehen  von  Dr. 
theol.  Eugeu  Rolfes.  Der  philosophischen  Bibliothek  Bd.  8.  Leipzig  1920.  Ver- 
lag von  F.  Meiner.    8°.    86  Seiten.    Preis  broschiert  10  Mk. 

Aristoteles,  Perihermenias  oder  Lehre  vom  Satz.  (Des  Organon 
zweiter  Teil.)  Neu  übersetzt  und  mit  einer  Einleitung  und  erklärenden  Anmerkungen 
versehen  von  Dr.  theol.  Eugen  Rolfes.  Der  philosophischen  Bibliothek  Band  9. 
Leipzig  1920.    Verlag  von  F.  Meiner.    8°.   42  S.     Brosch.  6,25  Mk. 

Mit  diesen  Uebersetzungen  der  beiden  ersten  Teile  des  aristotelischen  Or- 
ganon kommt  Rolfes  sicher  einem  verbreiteten  Bedürfnis  entgegen :  Werden  doch 
hierdurch  philosophische  Werke  vermittelt,  die  für  die  Beurteilung  der  ganzen 
mittelalterlichen  Philosophie  von  allererster  Bedeutung  sind.  In  diesem  Sinne  ist 
es  auch  wertvoll,  daß  den  Kategorien  eine  Uebersetzung  von  Porphyrius  Ein- 
leitung in  die  Kategorien  vorangeht,  in  der  die  für  das  Mittelalter  so  ent- 
scheidende Formulierung  des  Universalienproblems  sich  findet.  Die  gewiß  nicht 
einfache  Aufgabe,  Aristoteles  sinngetreu  in  ein  lesbares  Deutsch  zu  übertragen, 
hat  Rolfes  auch  hier  wieder  mit  Gründlichkeit  und  Geschick  zu  lösen  gesucht, 
wenn  auch  einzelne  Schwierigkeiten  bleiben.  Eine  solche  findet  sich  z.  B.  in 
Kap.  7  der  Kategorien:  Im  Griechischen  wird  das  Verhältnis  zweier  korrelativer 
Begriffe  wie  „Flügel"  und  „Geflügeltes"  (zum  Flügel  gehört  ein  Geflügeltes  und 
zum  Geflügelten  ein  Flügel)  einfach  durch  den  Genitiv  voll  ausgedrückt,  während 
im  Deutschen  der  Genetiv  einen  solchen  Sinn  nicht  anzeigt.  Wenn  nun  Rolfes 
als  veranschaulichendes  Beispiel  solchen  korrelativen  Verhältnisses  übersetzt:  „So 
ist  z.  B.  der  Flügel  Flügel  des  Geflügelten",  so  ist  im  Deutschen  der  Sinn  des  korre- 
lativen Verhältnisses  keineswegs  zum  Ausdruck  gebracht.  Man  könnte  im  Deutschen 
an  dieser  Stelle  ebenso  „Flügel  des  Vogels"  sagen,  obwohl  doch  nach  Aristoteles 
zwischen  „Flügel"  und  „Vogel"  ein  solch  korrelatives  Verhältnis  nicht  besteht. 
Es  zeigt  dies  Beispiel,  mit  welchen  Schwierigkeiten  die  Aristotelesübersetzung  zu 
kämpfen  hat,  da  im  Deutschen  ein  sprachlicher  Ausdruck  für  das  korrelative  Ver- 
hältnis fehlt.  Vielleicht:  „So  ist  z.  B.  der  Flügel  Flügel  (als  Korrelat)  zum  Ge- 
flügelten." Diese  Schwierigkeit  wiederholt  sich  in  noch  stärkerem  Maße  in  Kap.  8 
auf  S.  56.  —  In  der  Uebersetzung  des  Perihermenias  ist  auf  S.  11  der 
Ausdruck  „jedes  von  beidem,  was"  mindestens  sehr  mißverständlich,  das  griechische 
d7ioTEQovovv  bedeutet  „jedesmal  das  von  beidem,  was".  Auf  S.  15  ist  Aristoteles' 
Wendung:  „niemals  zu  gleicher  Zeit  noch  in  Bezug  auf  dasselbe  wahr  sein"  zu 
stark  zusammengezogen  in  „niemals  von  demselben  Subjekte  wahr  sein".  Auf 
S.  22  hat  uvccyncciov  einen  falschen  Akzent. 

Eins  freilich  darf  hier  nicht  übergangen  werden:  daß  Rolfes  in  der  16.  An- 
merkung in  den  Kategorien  (S.  81)  eine  merkwürdige  Auffassung  vom  „Kantschen 
Idealismus"  vertritt.    Darin,  daß  Aristoteles  das  Dasein  des  Sensiblen  unabhängig 


Besprechungen  (Rolfes — "Wittmann).  497 

und  vor  der  Wahrnehmung  behauptet,  sieht  Rolfes  eine  im  Voraus  erfolgende 
Verurteilung  des  Kantschen  Idealismus.  Demgegenüber  muß  die  ziemlich  bekannte 
Tatsache  festgestellt  werden,  daß  1)  Kant  dem  Raum  und  der  Zeit  empi- 
rische Realität  zuspricht,  2)  daß  er,  selbst  soweit  er  Raum  und  Zeit  als 
Form  behandelt,  dennoch  diesem  Formalen  stets  das  „Materielle  der  Emp- 
findungen" gegenüberstellt.  Während  man  also  nach  Rolfes  annehmen  müßte, 
Kant  habe  den  Realgehalt  in  der  Empfindung  geleugnet,  setzt  der  Kantische 
Formalismus  gerade  in  die  Empfindung  den  Realgehalt.  Aehnliche,  das 
Wesen  der  Kantischen  Philosophie  vollständig  verkennende  Aeußerungen  finden 
sich  übrigens  auch  in  den  Anmerkungen  Rolfes'  zur  Metaphysik.  (Anm.  9  z. 
Buch  X:  „Kant,  der  .  .  .  bezüglich  der  sensiblen  Welt  unsicher  zwischen  Realis- 
mus und  Idealismus  hin-  und  herschwankt",  Anm.  28  zum  IV.  Buch  wird  schlechthin 
vom  „Kantschen  Subjektivismus"  gesprochen".) 

Halle.  Ottomar  Wichmann. 

Wittmann,  Michael,  Prof.  d.  Philosophie  in  Eichstätt,  Die  Ethik  des 
Aristoteles  in  ihrer  systematischen  Einheit  und  in  ihrer  geschichtlichen  Stel- 
lung untersucht.    Regensburg  1920  März.    8°.    XX  u.  355  S. 

Die  vorliegende  Untersuchung  kommt  einem  dringlichen  Bedürfnis  entgegen. 
So  groß  die  Zahl  der  monographischen  Arbeiten  über  Teile  der  aristotelischen 
Ethik  ist,  so  sehr  vermißte  man  bisher  eine  eingehende  Erforschung  der  aristote- 
lischen Ethik  als  eines  Ganzen  und  ihr  allseitig  begründetes  Hineinstellen  in 
die  historischen  Zusammenhänge,  aus  denen  sie  erwachsen  ist  (V— XIV). 

W.  unternimmt  es  nun,  den  inneren  Aufbau  der  ethischen  Gedanken- 
welt des  Aristoteles  klar  zur  Anschauung  zu  bringen  und  dabei  Abhängigkeit 
wie  Originalität  der  Gedankenführung,  ihre  geschichtlich  bedingte  Besonderung 
wie  den  in  ihr  steckenden  allgemein  menschlichen  Kern  herauszuschälen :  Ausgehend 
von  einer  durchsichtigen  Kennzeichnung  der  Eigenart  antiker  Problem- 
stellung auf  ethischem  Gebiete,  insbesondere  von  der  Hervorhebung  ihres 
pragmatischen  („praktischen")  Charakters  weist  der  Verf.  auf  den  Gedanken  des 
letzten  Zieles  als  den  Kristallisationskern  der  aristotelischen  Bemühungen 
auf  ethischem  Gebiete  hin.  Die  „Glückseligkeit",  die  als  dieses  letzte  Ziel  be- 
stimmt wird,  hat  bei  Aristoteles  nicht  einen  eudämonistischen,  sondern  einen  aus- 
gesprochen teleologischen,  näherhin  ethischen  Charakter,  der  seinen 
Richtpunkt  nicht  in  dem  „höchsten  Gut"  der  platonischen  Metaphysik,  sondern 
in  dem  immanent  bestimmten  Lebenszweck  findet,  wenigstens  sofern  der  ari- 
stotelische Gedankengang  von  rein  ethischen  Gesichtspunkten  geleitet  wird. 
Die  Tugendlehre  ist  somit  der  wichtigste  Bestandteil  der  Ethik  als  Glückselig- 
keitslehre, und  zwar  wird,  wenigstens  implizite,  die  sittliche  Tugend  als  spe- 
zieller Grund  der  Glückseligkeit  angesehen  (S.  1 — 42). 

So  versteht  es  sich  von  selbst,  daß  der  Darstellung  der  aristotelischen 
Tugendlehre  der  größte  Raum  zugewiesen  wird  (S.  43—240):  Das  Originelle 
bei  Aristoteles  erblickt  W.  in  der  Bestimmung,  daß  die  Tugend  die  vernunft- 
gemäße Haltung  und  Verfassung  der  Gesamtpersönlichkeit  ist.  Be- 
sonders instruktiv  ist  die  Umgrenzung  der  Funktion  des  „ ög&bg  Adyog"  im  Unter- 
schied zur  n(pQ6vri6igu  sowie  die  überzeugende  Herausstellung  der  für  das  Verständnis 
des  aristotelischen  Systems  wichtigen  Mehrdeutigkeit  der  „(pgdvrioig",  die  bei  A. 
nicht  nur  sittliches  Denken,  sondern  sittliche  Gesinnung  bedeute  (S.  55—97). 
Die  Zergliederung  der  Begriffe  des  „«tovffiov"  und  der  „itQocctQsoig"  führt  uns  in 
die  vielumstrittene  aristotelische  Freiheitslehre  ein  (S.  97 — 143,  auf  S.  116 
Z.  12  v.  u.  muß  es  offenbar  „unfreiwillig"  heißen!).  W.,  der  diesem  Problem 
eine  besondere  Monographie  zu  widmen  beabsichtigt,  stellt  sich  ganz  entschieden 
auf  den  Standpunkt,  daß  A.  sich  bewußt  gegen  den  sokratischen  Determinismus 
gewandt  hat  und  „den  Ruhm  in  Anspruch  nehmen"  kann,  „zum  ersten  Mal  den 
Versuch  zu  einer  Definition  und  Theorie  der  Willensfreiheit  unternommen  zu 
haben".  Bekanntlich  hat  R.  Löning  in  seinem  Buch  „Die  Zurechnungslehre  des 
A."  (1903)  den  entgegengesetzten  Standpunkt  eingenommen.  Das  Kapitel  über 
„die  Tugend  in  ihrer  Beziehung  zum  Gefühlsleben"  (S.  143—173)  bietet  dem  Verf. 

Kantatudien.  XXVI.  32 


498  Besprechungen  (Wittmann — Ehrle). 

Gelegenheit,  darzutun,  wie  A.  bestrebt  ist,  den  einseitigen  sokratischen  Intellek- 
tualismus zu  überwinden,  ohne  damit  einer  hedonistischen  Auffassung  zuzuneigen. 
„Der  aristotelische  Tugendbegriff  ist  intellektualistisch  und  ästhetisch  zugleich" 
(S.  178),  und  er  ist  mehr  als  das,  weil  beide  Momente  sich  dem  obersten  Ziele, 
der  höchsten  Vollkommenheit  der  menschlichen  Gesamtnatur,  unterordnen  (vgl. 
S.  181  f.). 

Die  Darstellung  der  „besonderen  Formen  der  Tugend"  nach  A.  (S.  183  bis 
245),  aus  der  besonders  die  klärenden  Ausführungen  über  den  Gerechtigkeits- 
begriff (S.  208  ff.)  hervorgehoben  sein  mögen,  zeigen  uns  den  Stagiriten  als  Ver- 
treter einer  im  Grunde  optimistischen  Lebensstimmung,  die  aber  gezügelt 
und  veredelt  wird  durch  die  Hervorhebung  des  Pflichtgedankens  und  durch 
den  hellenischen  Sinn  für  Maß  und  Ordnung. 

Ihre  Probe  hat  die  aristotelische,  wie  jede  Ethik  in  der  Stellungnahme  zum 
Lustbegriff  zu  bestehen.  A.  hat  sich  darüber  an  verschiedenen  Stellen  und  an- 
scheinend nicht  in  übereinstimmender  Weise  ausgesprochen.  Der  Verf.  sucht 
kritisch  die  einzelnen  Abschnitte  zu  zergliedern  (S.  246 — 307)  und  legt  dar,  daß 
A.  seiner  grundlegenden  Einschätzung  der  Lust  nie  untreu  geworden  ist.  Die 
scheinbaren  Unstimmigkeiten  erklären  sich  aus  der  verschiedenen  Einstellung,  die 
dem  jeweiligen  Gedankenzusammenhang  entspricht. 

In  einer  Schlussbetrachtung  (S.  308—322)  sucht  W.  insbesondere  die 
schließliche  Einmündung  der  aristotelischen  Ethik  in  intellektualistische  Bahnen 
(vgl.  315  f.)  mit  der  bisherigen  rein  ethisch  orientierten  Gedankenrichtung  aus- 
zugleichen, was  allerdings  nach  seinem  eigenen  Eingeständnis  nicht  vollkommen 
gelingt. 

Ob  in  der  Tat  der  aristotelischen  Ethik  uneingeschränkt  der  „Charakter 
der  systematischen  Geschlossenheit"  zugesprochen  werden  darf,  muß  danach  wohl 
dahingestellt  bleiben.  Daß  es  W.  gelungen  ist,  den  Willen  zum  System  auch 
in  den  ethischen  Schriften  des  A.  als  richtunggebend  zu  erweisen,  ist  zuzu- 
geben. Möge  deshalb  das  klar  und  gründlich  verfaßte  Werk,  dessen  Ziel  es  ist, 
unzweideutig  auf  die  Notwendigkeit  einer  Auseinandersetzung  mit  Aristoteles  auch 
für  die  moderne,  im  wesentlichen  an  Kant  orientierte  Ethik  hinzuweisen,  die  Be- 
achtung finden,  die  es  vollauf  verdient! 

Braunsberg,  Ostpr.  B.  W.  Switalski. 

Ehrle,  Franz  S.  J.,  Grundsätzliches  zur  Charakteristik  der 
neueren  und  neuesten  Scholastik.  (Ergänzungshefte  zu  den  Stimmen 
der  Zeit.  Erste  Reihe:  Kulturfragen.  6.  Heft.)  gr.  8°.  32  S.  Freiburg  i.  Brsg. 
(Herder)  1918.    Preis  1  Mk. 

Die  Scholastik  ist  ein  historischer  Begriff.  Hervorgegangen  aus  einer  Ver- 
einigung der  aristotelischen  Philosophie  mit  dem  besonderen  Lehrgehalt  des 
Christentums,  gipfelt  sie  historisch  in  dem  Werke  des  Thomas  von  Aquin.  Die 
historische  Entwicklung  wird  kurz  skizziert,  ohne  über  eine  ganz  allgemeine 
Charakterisierung  hinauszugehen.  Wesentlich  ist  dem  Verfasser  die  neuere  und 
neueste  Scholastik.  Die  neuere  Scholastik  beginnt  nach  ihm  mit  dem  16.  Jahr- 
hundert. Die  im  Gefolge  der  Reformation  auftretende  Reform  im  Katholizismus 
bringt  theoretisch  ein  Zurückgehen  auf  die  Scholastik;  ihre  Erneuerung  trägt 
deutliche  Spuren  des  Humanismus  an  sich.  Gekennzeichnet  ist  sie  durch  die 
Tätigkeit  des  Dominikanerordens  und  des  neuerstandenen  Jesuitenordens,  der  von 
keinerlei  Tradition  belastet  mit  einer  gewissen  Vorurteilslosigkeit  an  die  Probleme 
heranging.  Die  Erneuerung  der  Scholastik,  die  als  neueste  Scholastik  gelten  kann, 
fällt  in  das  ausgehende  19.  Jahrhundert,  zeitlich  etwa  zusammen  mit  der  Ent- 
stehung des  Neukantianismus;  sie  steht  im  Zeichen  des  Rückgangs  auf  Thomas 
von  Aquin;  doch  verlangt  sie  eine  durchaus  kritische  Sichtung  des  vorhandenen 
Materials  und  versucht  eine  Berücksichtigung  der  gesamten  gegenwärtigen  Philo- 
sophie, vor  allem  wohl  des  erkenntnistheoretischen  Realismus,  wie  denn  ein  Ver- 
treter des  Thomismus,  Grabmann,  Külpes  Realismus  in  seinem  Verhältnis  zur 
Scholastik  monographisch  behandelt  hat.    Hinweise  auf  die  Literatur  ergänzen  die 


Besprechungen  (Ehrle—  Wundt).  499 

Ausführungen  und  machen  sie  zu  einer  brauchbaren  Orientierung  für  weitere 
Kreise,  als  welche  die  kleine  Schrift  auch  gedacht  ist. 

Heidelberg.  Friedrich  Kreis. 

Wundt,  Max,  Professor  an  der  Universität  Jena,  P lotin,  Studien  zur 
Geschichte  des  Neuplatonismus.    Erstes  Heft.    Verlag  Alfred  Kröner  1919. 

Wundts  Schrift  ist  skizzenhafter  Art,  behandelt  Plotins  Schrifttum,  insbe- 
sondere dessen  allgemeinen  Charakter  und  die  Unterscheidung  dreier  Zeitabschnitte, 
weiter  Plotins  Verhältnis  zu  Gallien  und  endlich  Plotins  Evangelium.  Die  Schrift 
ist  außerordentlich  anregend,  kann  aber,  wo  keine  genaue  Kenntnis  Plotins  vor- 
liegt, zu  Mißverständnissen  führen.  Ich  möchte  aus  diesem  Grunde  meine  ab- 
weichende Ansicht,  die  auf  eingehender  Durchforschung  des  Materials  beruht  und 
deren  genaue  Begründung  ich  an  anderer  Stelle  gebe1),  hervorheben. 

Plotin  ist  der  systematischste  Denker  des  Altertums  und  frühen  Mittelalters. 
Diesen  Satz  möchte  ich  der  Behauptung  Wundts  entgegensetzen,  daß  alle  Ver- 
suche, ein  System  des  Plotin  herauszuarbeiten,  dem  eigentümlichen  Charakter 
dieser  Schriften   unangemessen    seien.     Bewiesen    wird   mein  Satz   dadurch,    daß 

1)  allen  Abhandlungen  Plotins  ein  und  dieselbe,  sich  allmählich  ausbildende  und 
dann  wieder  zurückbildende  Reihe  von  wenigen  Grundbegriffen  zugrundeliegt,  daß 

2)  die  einzelnen  Disziplinen  wie  Aesthetik,  Ethik,  Kategorienlehre  in  besonderen 
Untersuchungen  behandelt  werden,  daß  3)  sogar  eine  eigene  Methode  der  Ab- 
leitung der  Begriffe  entsteht  und  daß  sich  endlich  das  System  tatsächlich  auf- 
weisen läßt.  Das  Neue  Plotins  (Wundt  S.  2)  liegt  darin,  daß  er  das  alexandri- 
nische  Weltschema,  welches  Gott  und  Materie  durch  eine  Reihe  von  Zwischen- 
stufen verbindet,  im  Abstiege  die  Welt  erzeugt,  im  Aufstieg  den  Menschen  erlöst, 
zur  Grundlage  eines  Systemes  macht,  es  dadurch  innerlich  umgestaltet  und  eine 
Reihe  neuer  Begriffe  in  ihm  ausbildet.  Er  ist  der  philosophische  Höhepunkt  in 
einer  von  Philo  ausgehenden,  über  tausendjährigen  Entwicklung,  der  größte  Denker 
des  frühen  Mittelalters,  wenn  wir  dieses  mit  der  Wende  der  Zeitrechnung  be- 
ginnen. 

Wenn  man  das  System  —  wohl  gemerkt,  das  sich  entwickelnde,  lebendige, 
in  keinem  Augenblick  starre  System  —  leugnet,  so  begibt  man  sich  damit  auch 
einer  genaueren  Einsicht  in  die  plotinische  Entwicklung.  Denn  die  von  W.  als 
das  einzig  Mögliche  hingestellte  Einzelanalyse  der  Schriften  ist  Voraussetzung, 
aber  nicht  das  Ziel;  gerade  die  von  Hegel  schon  gerügte,  häufige  Wiederholung 
der  (scheinbar)  gleichen  Gedanken  erfordert  eine  zusammenschauende  Betrachtung. 
Wenn  man  aber  die  einzelnen  Schriften  analysiert,  so  darf  man  dabei  nicht  ohne 
weiteres  das  Resultat  Jaegers,  daß  die  aristotelischen  Schriften  zur  Verlesung  in 
der  Schule  bestimmte  Logoi  sind,  auf  sie  übertragen  (S.  3).  Denn  eine  ein- 
gehende Untersuchung  ergibt,  daß  sich  im  plotinischen  Werk  auch  Unterredungen 
der  Schule ,  ja  selbst  von  Schülern  verfaßte  Schriften  finden ;  es  braucht 
sich  keineswegs  bei  allen  um  Vorlesungen  zu  handeln,  und  wenn  es  solche  sind, 
so  bleibt  die  Frage,  ob  von  ihm  oder  seinen  Schülern  aufgezeichnet,  bestehen.  — 
Die  Unterscheidung  dreier  Zeitabschnitte  ist  unzweifelhaft  richtig,  sie  ist  schon 
von  Porphyr  empfunden,  wenn  es  auch  nicht  angeht,  den  Schnitt  zwischen  der 
zweiten  und  dritten  Periode  so  zu  legen,  wie  er  und  W.  es  tun.  Daß  die  von  W. 
zugrundegelegte  Chronologie  nicht  stimmt,  ersieht  man  aus  der  Bemerkung,  daß 
„die  10  (genauer  9)  Jahre,  die  Zeit  von  253—262,  das  50.— 59.  Lebensjahr  des 
Plotin  bedeuten",  und  weiter  daraus,  daß  die  Jahre  262—68  als  6  Jahre  gezählt 
werden.  Die  ganze  Darstellung  der  Entwicklung  erscheint  aber  dadurch  in  fal- 
schem Bild,  daß  die  porphyrische  Reihenfolge  als  die  historische  zugrunde  gelegt 
wird,  was  sie  nicht  ist,  wie  sich  beweisen  läßt.  Auch  die  Charakteristik  der 
einzelnen  Perioden  trifft  m.  E.  nicht  ganz  zu.  „Aufs  Ganze  gesehen",  heißt 
es  S.  28,    „ist  die  erste  Periode  platonisch  gerichtet,    die  zweite  aristotelisch,  die 

1)  Plotin,  Forschungen  über  die  plotinische  Frage,  Plotins  Entwicklung  und 
sein  System.  Gedruckt  mit  Unterstützung  der  Akademie  der  Wissenschaften  in 
Wien.    Leipzig,  Meiner.     1921. 

32* 


500  Besprechungen  (Wundt). 

dritte  stoisch".    Die   erste  geht  sowohl  yon  Plato    wie    von   den  Mysterien   aus, 
führt  aber  in  dem  Begriff  des  Einen   und  in  dem  Willen,   die  anderen  Grund- 
begriffe aus  ihm  abzuleiten,  über  Plato  hinaus.    Die  zweite  ist  so  wenig  aristote- 
lisch,  daß  sie  sich  mit  Aristoteles    vielmehr  auf  das   schärfste   auseinandersetzt 
und   nur   einzelne   seiner   Begriffe   in  völlig   umgebildeter   Form   aufnimmt;    sie 
steht   dem  alexandrinischen  Weltschema  und   damit  Philo  und  der  Gnosis  unend- 
lich viel  näher,  indem  sie  von  beiden  angezogen  und  abgestoßen  wird.    Die  dritt 
endlich  setzt   sich   wohl  mit  stoischen  Problemen   auseinander,   aber  ebenso  mit 
dem  Parsismus,   der  Astrologie  und  dem   Christentum.    Wenn   im  einzelnen  ai 
die  Unterscheidung  des  unteren  und  oberen  Weges   des  Aufstieges  großer  Wei 
gelegt  wird,  so  scheint  mir  das  nicht  ihrer  tatsächlichen  Bedeutung  zu  entsprechei 
13    enthält   so    wenig  Plotin   eigentümliche  Gedanken,   daß  es  sich  fast  ganz   i 
stoische  und  platonische  Bestandteile  zerlegen  läßt  und  man  beim  letzten  Kapite 
füglich  an  seiner  Echtheit  zweifeln  kann ;  man  darf  es  daher  wohl  kaum  als  Prc 
gramm   der  plotinischen  Schule   bezeichnen   (S.  12).    Daß  V  1   älter  ist  als  I 
(S.  12)  ist  ausgeschlossen,    da  I  3  den  Begriff   des  Einen   noch  nicht  kennt,  dei 
in  V  1  im  Mittelpunkt  steht.    Ferner  erscheint  mir  unbegründet,   was  S.  15   vor 
einem  Lehrplan   in   den  ersten  Schriften  und  von  der  zufälligen  Entstehung   dei 
späteren  gesagt  wird.    Am  eingehendsten  werden  die  Schriften  der  dritten  Epoche 
besprochen,  und  diese  ist  daher  am  besten  charakterisiert. 

Das  Verhältnis  Plotins  zu  Gallien  zur  Diskussion  gestellt  zu  haben,    ist  ei 
Hauptverdienst  der  Schrift.    Aber  daß  der  Denker  in  Platonopolis  für  den  Kaisei 
habe  Soldaten  heranziehen  wollen,  klingt  unglaubwürdig,  denn  kriegerisch  ist  seine 
Philosophie,  die  sich  nach  ekstatischer  Vereinigung  mit  der  Gottheit  sehnt,  nicht 
Von  der  politischen  Tugend  wird  mit  Verachtung  gesprochen. 

Auch  daß  nach  einer  Spiegelung  von  Zeitereignissen  in  Plotins  Schrifttum 
gesucht  wird,  ist  neu  und  anregend.  In  V  5,  3  kann  eine  Reminiszenz  an  Galliens 
Jubiläumsfestzug  vorliegen,  aber  die  Ausdeutung  von  I  5,  10  (S.  42)  ist  nicht 
überzeugend.  Daß  der  Kaiser  Plotin  zum  Schreiben  veranlaßt  habe,  erscheint 
mir  unwahrscheinlich  (S.  43),  daß  sein  Ende  auf  den  Zustand  der  Schule  ein- 
gewirkt hat,  dagegen  sehr  wohl  möglich. 

Mit  der  Auffassung  W.s  von  dem  sogenannten  Evangelium  Plotins  werde 
ich  mich  an  anderer  Stelle  auseinandersetzen  und  möchte  hier  nur  noch  auf 
Einzelheiten  aufmerksam  machen.  —  Die  schwer  verständlichen  Ausdrücke  des 
Schlusses  der  vita  des  Porphyrius  nstpulcacc,  v%o\kvr\\ici%u<i  lni%u§r\\i<txu  werden 
unter  dem  Ausdruck  „Erklärungen"  zusammengefaßt,  während  man  sich  fragen 
könnte,  ob  sich  nicht  Reste  von  ihnen  im  überlieferten  Werk  Plotins  finden. 
Auch  sind  die  6%6Xicc  in  t&v  avvovai&v,  von  denen  Amelius  100  Bücher  verfaßte, 
kaum  Erläuterungen  der  plotinischen  Schriften,  sondern  vielmehr  Aufzeichnungen 
der  Diskussionen,  wie  sie  in  der  Schule  Plotins  stattfanden  (S.  3). 

Alles  in  allem :  das  Buch  ist  sehr  interessant  und  anregend  in  seinen  Frage- 
stellungen, besonders  auch  in  der  Frage  der  Verarbeitung  und  Weitergabe  histo- 
risch gegebenen  Materials  durcb  Plotin,  bedarf  aber  in  seinen  Resultaten  einer 
Nachprüfung. 

Berlin.  Fritz  Heinemann. 


Selbstanzeigen. 


Alverdes,  Dr.  Friedrich,  Privatdozent  an  der  Universität  Halle,  Rassen- 
und  Artbildung.  Abhandlungen  zur  theoretischen  Biologie.  Herausgeg.  von 
J.  Schaxel.    Heft  9.    Berlin.    Gebr.  Bornträger  1921.     118  S. 

Innerhalb  der  Deszendenztheorie  ist  eine  Krisis  unverkennbar.  Das 
Grundprinzip  einer  stammesgeschichtlichen  Fortentwicklung  des  Tier-  und  Pflanzen- 
reiches ist  von  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Biologen  angenommen  worden, 
aber  über  kaum  eine  der  spezielleren  Fragen  hat  sich  bisher  Einhelligkeit  der 
Autoren  erzielen  lassen.  Ganz  besonders  bewirkten  es  die  Ergebnisse  der  neu 
emporblühenden  Vererbungsforschung,  daß  die  jahrzehntelang  in  der  Ab- 
stammungslehre anerkannten  Erklärungsprinzipien  von  einer  immer  wachsenden 
Zahl  von  Autoren  abgelehnt  wurden.  Unter  Berücksichtigung  der  neuesten  Literatur 
werden  in  der  vorliegenden  Abhandlung  die  älteren  Anschauungen  einer  Revision 
unterzogen;  dabei  ging  das  Bestreben  dahin,  die  bisher  von  der  Erblichkeits- 
forschung gezeitigten  Resultate  nicht  über  Gebühr  hoch  einzuschätzen,  wie  dies 
heutzutage  gelegentlich  wohl  manchmal  geschieht. 

Dr.  Friedrich  Alverdes. 

Hof  mann,  Paul,  Dr.,  Privatdozent  a.  d.  Universität  Berlin,  DieAntinomie 
im  Problem  der  Gültigkeit.  Eine  kritische  Voruntersuchung  zur  Er- 
kenntnistheorie. Vereinigung  wissenschaftlicher  Verleger.  Berlin  und  Leipzig. 
XVI  u.  78  S.     Gr.  8°.     8  Mk. 

Die  verschiedene  Stellungnahme  zu  der  Frage  nacft  der  Möglichkeit  absolut 
gültiger  Erkenntnis  scheidet  die  erkenntnistheoretischen  Standpunkte.  Ich  suche 
die  Wurzeln  dieser  Stellungnahmen  bloßzulegen.  Der  Relativismus  geht  von  der 
Grundannahme  aus,  daß  Bewußtsein  und  Denken  (als  Erlebnissen)  Existenz 
zugeschrieben  werden  müsse  und  daß  es  sinnlos  sei,  über  nicht-gedachte  Denk- 
inhalte etwas  aussagen  zu  wollen ;  er  sieht  deshalb  in  der  Gültigkeit  eine  Be- 
schaffenheit gewisser  existenter  Ereignisse  (oder :  eine  zwischen  solchen  bestehende 
Beziehung).  Der  Absolutismus  glaubt  von  Existenz  wie  von  jedem  anderen  Gegen- 
stande nur  insofern  sprechen  zu  können,  als  sie  in  Urteilen  gesetzt  und  als  gültig 
begründet  werden  kann,  er  denkt  also  den  Begriff  der  Gültigkeit  als  logisch  kon- 
stitutiv für  den  der  Existenz.  Aus  diesen  unvereinbaren  Grundeinstellungen,  die 
einander  gegenseitig  auch  nicht  widerlegen  können,  folgen  notwendig  die  ver- 
schiedenen Beantwortungen  unserer  Frage.  Ich  lege  diesen  Zusammenhang  in 
seinen  einzelnen  Gliedern  dar  und  zwar  führe  ich  ihn  durch  für  die  vier  mög- 
lichen Typen  erkenntnistheoretischer  Grundeinstellungen,  die  auch  alle  vertreten 
werden.  Ich  frage  dann  nach  dem  Recht  beider  Betrachtungsweisen.  Sie  ruhen 
auf  einer  Antinomie,  die  selbst  wieder  gegründet  ist  auf  die  doppelte  Möglichkeit, 
das  Verhältnis  von  Subjekt  und  Objekt  vorzustellen.  Der  Objektivismus  ordnet 
beide  in  dieselbe  Reihe,  indem  er  das  Subjekt  als  ein  den  andern  gleichwertiges 
Objekt,  als  ein  „Ding  unter  Dingen"  auffaßt.  Der  Subjektivismus  sieht  dagegen 
in  jedem  Objekt  eine  Gegebenheit  (gleichviel  ob  angeschaute  oder  gemeinte)  des 
subjektiven  Bewußtseins.  Er  ordnet  die  Objekte  dem  Subjekt  (dem  Bewußtsein) 
unter  oder  ein.  Jede  Weltanschauung  strebt  danach,  eine  dieser  antagonistischen 
Betrachtungsweisen  unter  Ausschließung  der  andern  allein  durchzuführen.  Eine 
volle  Konsequenz  ist  hierin  aber  unerreichbar,   weil  nur   bei  Kombination  beider 


502  Selbstanzeigen  (Hofmann). 

das  Gegensatzpaar  der  Begriffe  Erkenntnis  und  Irrtum  einen  angebbaren  Sim 
erhält.  So  muß  jede  Weltanschauung  bewußt  oder  unbewußt  neben  der  in  ihr 
vorherrschenden  die  entgegengesetzte,  logisch  jener  durchaus  widersprechende 
Grundauffassung  des  Verhältnisses  von  Subjekt  und  Objekt  in  irgend  einer  Weise 
mitenthalten.  Die  Frage,  ob  diese  Notwendigkeit  als  eine  psychologische  anzu- 
sehen sei,  kann  nicht  eindeutig  beantwortet  werden,  weil  sie  der  gleichen  Anti- 
nomie entspringt  wie  das  betrachtete  Problem  selbst.  Es  gibt  deshalb  keine 
logisch  zwingende  Entscheidung  zwischen  den  Ansprüchen  des  Subjektivismus  und 
Objektivismus  und  darum  auch  keine  zwischen  dem  erkenntnistheoretischen  Abso- 
lutismus und  Relativismus ;  nur  weltanschauungsmäßig  können  wir  zu  diesen  Fragen 
Stellung  nehmen.  —  Auch  ein  solches,  keiner  Partei  rechtgebendes  Untersuchungs- 
ergebnis hat  Wert.  Es  führt  praktisch  zur  Vermeidung  unfruchtbarer  Streitig- 
keiten und  vertieft  unsere  theoretische  Einsicht  in  die  (logische  oder  psycholo- 
gische) Struktur  unseres  Denkens.  Eine  solche  Einsicht  ist  aber  nicht  nur  für 
die  Logik  wertvoll,  sondern  sie  kann  auch  genutzt  werden,  um  typische  Formungen 
und  Entwicklungsvorgänge,  die  uns  die  Geistesgeschichte  zeigt,  in  ihrer  Gesetz- 
lichkeit begreiflich  zu  machen. 

Dr.  Paul  Hofmann. 

Hofmann,  Faul,  Dr.,  Privatdozent  a.  d.  Universität  Berlin.  Eigengesetz 
oder  Pflichtgebot?  Eine  Studie  über  die  Grundlagen  ethischer  Ueber- 
zeugungen.  Vereinigung  wissenschaftlicher  Verleger.  Berlin  und  Leipzig.  X  u. 
118  S.    8°.     6  Mk. 

Die  für  unsere  Begriffe  von  Erkenntnis  und  Sittlichkeit  grundlegenden  Ueber- 
zeugungen  wandeln  sich  mit  den  Kulturepochen.  Die  Gegenwart  scheint  eine 
Ethik  zu  fordern,  in  der  der  innerste  Wille  der  realen,  d.  i.  der  individuellen 
Person  zur  letzten  Quelle  der  Wertsetzungen  gemacht  wird.  Kants  Autonomie- 
prinzip lag  auf  diesem  Wege;  einer  völlig  konsequent  individualistischen  Ethik 
stand  aber  bisher  die  Befürchtung  im  Wege,  mit  ihr  einem  schrankenlosen  Egois- 
mus verfallen  zu  müssen.  Ich  bin  dagegen  überzeugt,  daß  der  individuelle  Mensch 
in  der  Besinnung  auf  den  eigensten  innersten  Willen  alles  finden  und  begründen 
kann,  was  sein  Urteil  als  echt  ethische  oder  gute  Regungen  bestimmen  muß.  Um 
aber  die  Bahn  zu  einer  individualistischen  Ethik  frei  zu  machen,  konnte  ich  nur 
versuchen,  ihre  Möglichkeit  und  grundsätzliche  Durchführbarkeit  zu  zeigen,  indem 
ich  die  verschiedenen  letzten  Grundlegungen  ethischer  Wertsetzungen  überhaupt 
untersuchte.  Das  ethische  Urphaenoraen  ist  der  sittliche  Konflikt,  d.  i.  die  eigen- 
tümliche Tatsache,  daß  wir  dem  eigenen  Wollen  das  sittliche  Urteil  gegenüber- 
stellen; die  Erklärung  der  Möglichkeit  dieses  Erlebnisses  und  der  Maßstab  der 
Entscheidung  durch  das  sittliche  Urteil  charakterisiert  die  verschiedenen  Stand- 
punkte. Nun  ist  uns  der  Mensch  in  zweifacher  Weise  gegeben,  als  ein  außer 
mir  stehendes  Objekt:  als  ein  „Du"  und  in  der  Innenansicht  als  „Ich".  Sehe 
ich  den  Menschen  als  „Du",  so  beobachte  ich  in  ihm  ein  bestimmtes  Handeln, 
das  ich  mir  erkläre  aus  einer  ihm  natürlichen  Willensanlage,  dies  Handeln  nun 
beurteile  ich,  der  Beobachter,  als  sittlich  oder  unsittlich.  Da  der  äußere  Beob- 
achter nie  die  Motivation  sondern  stets  nur  den  Erfolg  des  Wollens  sieht,  so 
charakterisiert  er  die  ursprüngliche  Anlage  des  Beobachteten  als  ein  Streben  nach 
gewissen  Erfolgen,  und  sucht  auch  die  Brechung  dieser  ursprünglichen  Willens- 
richtung durch  das  sittliche  Urteil  aus  einem  Erfolgstreben  zu  begreifen.  In  jedem 
Falle  ist  wie  der  ursprüngliche  Wille,  so  auch  der  Gegenwille  und  die  sittliche 
Entscheidung  durch  Erfolgserwägungen  bestimmt.  Die  herrschenden  Formen  dieser 
Erfolgsethik  sehen  nun  in  der  ihrer  Meinung  nach  ursprünglich  auf  individuellen 
Lustgewinn  gerichteten  Anlage  des  Menschen  das  widersittliche  Prinzip  und  in 
dem  Streben  nach  überindividuellem  Wohl,  dessen  psychologische  Möglichkeit  in 
verschiedener  Weise  erklärt  wird,  das  Sittliche.  —  Betrachten  wir  dagegen  das 
sittliche  Subjekt  vom  Ichstandpunkt,  so  sind  uns  die  ethischen  Konflikte  ohne  den 
Umweg  über  Erfolgsbetrachtungen  unmittelbar  gegeben.  Auch  in  dieser  „Ge- 
sinnungsethik" wird  das  Widersittliche  herkömmlicher  Weise  aus  der  Natur  des 
Individuums  abgeleitet.    Nun  besteht  m.  E.  die  Möglichkeit,  diese  Herkunftstheorie 


Selbstanzeigen  (Hofmann — Ludowici.)  503 

gewissermaßen  umzukehren,  nämlich  mit  einer  individualistischen  Gesinnungsethik 
(„Persönlichkeitsethik")  gerade  in  dem  Sittlichen  das  dem  realen  Individuum  Eigene 
zu  sehen,  während  man  das  Widersittliche  aus  oberflächlicheren,  d.  h.  dem  eigenen 
innersten  Wesen  weniger  entsprechenden  Regungen  ableitet.  —  Die  zwischen 
beiden  Standpunkten  entscheidende  Frage  würde  also  sein:  ist  der  Kern  des  Ich 
individuell  oder  überindividuell?  Die  Streitfrage  bleibt  also  unentscheidbar,  nur 
können  wir  anmerken,  daß  auch  der  Subjektivismus  den  Kern  des  Ich  wenn  auch 
als  „nicht-mehr-individuell"  so  doch  nicht  als  „überindividuell"  bezeichnen  dürfte. 
So  erscheint  eine  Persönlichkeitsethik  theoretisch  möglich ;  kann  aber  von  ihr  aus 
der  soziale  Charakter  unserer  praktischen  Sittlichkeit  begründet  werden?  —  Der 
grundsätzliche  Individualismus  hindert  hieran  keineswegs,  denn  das  innerste  Wesen 
des  Einzelnen  kann  gattungsmäßige  Züge  aufweisen.  Daß  man  aber  auf  den 
Willen  des  Individuums  eine  soziale  Moral  meist  nicht  glaubt  gründen  zu  können, 
beruht  auf  dem  Vorurteil,  daß  der  (in  zu  hohem  Maße  als  „teleologisch  organi- 
siert" gedachte)  Wille  rein  aus  sich  selbst  nur  nach  eigener  Lust  oder  eigenem 
Vorteil  streben  könne.  Eine  unvoreingenommene  Betrachtung  der  Erlebnisse  der 
Liebe  kann  eines  besseren  belehren.  Und  die  auf  das  innerste  der  eigenen  An- 
lage reflektierende  Selbstbesinnung  wird  eben  die  Liebe  als  zum  tiefsten  Wesen 
unserer  Anlage  gehörig  erkennen.  Liebe  aber  ist  „Befriedigung  über  das  Glück 
(oder  Wohl)  des  Andern." 

Dr.  Paul  Hofmann. 

Ludowici,  August,  Die  Pflugschar.  Philosophie  des  Gegensatzes. 
280  Seiten,  München  1921.    Preis  25  Mk.    Verlag  F.  Brinkmann. 

Nur  allzuhäufig  findet  man,  daß  eine  Lehre  in  der  Wissenschaft  mit  einem 
Zwiespalt  abschließt;  am  häufigsten  leider  in  der  Philosophie.  Dieser  Zustand 
birgt  einen  Widerspruch  in  sich.  Es  gibt  daher  keine  vornehmere  Aufgabe,  als 
diesen  Widerspruch  auszugleichen.  Von  diesem  Gedanken  ist  die  vorliegende 
Arbeit  durchdrungen  und  insofern  ist  sie  eigentlich  eine  Fortsetzung  meines  frü- 
heren Werkes  „Spiel  und  Widerspiel"  oder  ein  Versuch,  die  unvermeidlichen  Ge- 
gensätze zu  überbrücken.. 

Im  ersten  Buch  wird  an  der  Sprache  dargetan,  daß  der  Gegensatz  schon 
mit  ihr  gegeben  ist;  denn  die  Sprache  ist  ja  nur  der  Niederschlag  des  Denkens. 
Nur  weil  wir  vergleichend  denken,  kommt  der  Gegensatz  in  die  Sprache.  Hier 
setzt  der  Kampf  ein  zwischen  real  und  ideal,  wahr  und  falsch,  gut  und  böse. 
Von  diesem  Kampfe  handelt  das  zweite  Buch.  Es  zeigt,  daß  der  Mensch  diesem 
Zwiste  überhaupt  nicht  entgehen  kann  und  daß  dieser  den  Denkern  im  Altertum  die 
gleiche  Mühe  verursacht  hat.  Sie  suchten  deshalb  nach  einem  Dritten,  um  die 
Gegensätze  zu  überbrücken.  Plato  fand  im  mikton  den  Mittler  zwischen  peras  und 
apeiron,  Descartes's  Mittler  war  die  Ausdehnung  bei  dem  Gegensatz  Ruhe—Be- 
wegung. Damit  dieser  Vorgang  klar  veranschaulicht  ist,  wird  meine  Formel  an- 
gewendet: ein  senkrechter  Strich  für  die  positive  und  ein  wagrechter  Strich  für 
die  negative  Seite.  Das,  was  beide  verbindet  erhält  die  Zusammensetzung  beider 
Striche,  das  Kreuz.  Es  ist  der  gesuchte  Mittler.  Dadurch  erhält  die  goethesche 
Polarität  und  Steigerung  eine  völlig  neue  Auslegung.  Hiervon  handeln  das  dritte 
und  vierte  Buch.  Auf  dieser  Höhe  angelangt  versucht  nunmehr  das  fünfte  Buch 
die  Ergebnisse  in  einer  Lehre  zusammenzufassen.  Wird  die  Lehre  richtig  an- 
gewandt, dann  können  wir  in  Zukunft  nicht  mehr  aneinander  vorbeireden.  Der 
große  Zwiespalt,  der  von  je  die  besten  Geister  trennt,  rührt  davon  her,  daß  stets 
falsch  entgegengesetzt  wurde.  An  der  polarisch  geordneten  Natur  hat  sich  das 
menschliche  Denken  emporgerichtet  und  auf  diese  Weise  wurde  die  Sprache  selbst 
polarisch  geordnet.  Wird  diesem  Wink  der  Natur  gefolgt,  dann  besteht  Hoffnung 
auch  in  der  Wissenschaft  grobe  Zwiste  zu  vermeiden,  dann  steht  auch  kein  Rela- 
tives für  sich  da  ohne  ein  Absolutes,  keine  Freiheit  ohne  Notwendigkeit.  Beide 
Seiten  sind  gleichwertig,  wenn  der  Mittler  richtig  ausgleicht.  Der  Gegensatz  er- 
hält organisches  Gepräge  und  wird  zum  Wegweiser  durch  den  Irrgarten  mensch- 
licher Verkehrtheiten. 

August  Ludowici. 


B04  Selbstanzeigen  (Maurer— Wiesner). 

Waldeinar  Meurer,  Ist  Wissenschaft  überhaupt  möglich?  Felix 
Meiner,  Leipzig  1920.     VIII  u.  279  S. 

Der  Ausführung  im  einzelnen  geht  die  Aufstellung  des  Wissenschaftsproblems 
voran :  Alles,  was  jemals  ausgesagt  werden  kann,  kann  nur  in  einer  Wiss  jnschaft 
und  als  Wissenschaft  behauptet  werden,  wenn  es  feststehen  soll ;  die  Entscheidung 
über  seine  Berechtigung  ist  also  abhängig  von  der  Entscheidung  über  die  Mög- 
lichkeit der  Wissenschaft.  Wissenschaft  ist  ein  Inhalt,  mit  dem  der  Anspruch 
gegeben  ist,  daß  er  ausschließlich  und  allein  gültig  ist,  und  daß  ihm  auch  ein 
Sein  außerhalb  der  Wissenschaft  zukommt.  Eine  allgemeine  Untersuchung  über 
die  Möglichkeit  eines  solchen  Inhaltes  muß  daher  jeder  besonderen  Wissenschaft 
vorangehen. 

Eine  vorbereitende  Erörterung  betrifft  den  kritischen  Realismus  (Bechers), 
von  dem  versucht  wird  zu  zeigen,  daß  es  für  ihn  keine  theoretische  Rechtferti- 
gung gibt,  ebensowenig  der  Hinweis  auf  die  Lebensnotwendigkeit  etwas  besagt. 

Der  Hauptteil  geht  von  dem  Begriff  des  Wisssenschaftserlebnisses 
aus :  jede  Wissenschaft  ist  psychische  Wirklichkeit  und  etwas  Logisches.  Demnach 
teilt  sich  die  Untersuchung  in  zwei  Teile. 

1.  Eine  Wissenschaft  kann  nicht  alleingültig  sein,  weil  sie  als  psychisches 
Gebilde  stets  mit  Gefühlen  verbunden  ist,  stets  subjektiv  bleibt.  Denn  das  Ge- 
fühlsleben ist  in  jeder  Wissenschaft  von  entscheidender  Bedeutung.  Gefühle  be- 
einflussen das  Wissen  und  jede  Wissenschaft  steht  mit  ganz  bestimmtem  Gefühls- 
leben, ethischen  und  künstlerischen  Bewertungen  zusammen,  so  daß  sie  wegen 
dieser  psychischen  Wirklichkeit  nichts  ist  außerhalb  des  seelischen  Lebens.  Eine 
ausführliche  Auseinandersetzung  mit  dem  neukantischen  Begriff  des  Logos  (Lie- 
bert)  folgt  diesem  ersten  Teile.  —  Wegen  der  psychischen  Wirklichkeit  aller  Wis- 
senschaften und  ihrer  unzertrennlichen  Verbindung  mit  dem  Gefühlsleben  müssen 
sog.  Wissenschaften  und  theoretische  Ausführungen,  welche  nur  subjektiv  befrie- 
digen, auf  einen  Hauptnenner  gebracht  werden:  Einsichten  und  Einsichtszusam- 
menhänge d.  h.  Bewußtseinsinhalte,  denen  der  Charakter  zukommt,  daß  ihr  Inhalt 
auch  sagt,  was  ein  Sein  außer  dem  Wissen  besitzt. 

2.  Der  zweite  Teil  urftersucht  die  logische  Seite  des  Wissenschaftserleb- 
nisses. Da  jeder  Inhalt  so,  wie  er  ist,  ursprünglich  ist,  kann  er  nicht  gerecht- 
fertigt werden.  Die  Ausführung  dieses  Bedenkens  ist  doppelt.  Zuerst  wird  der 
Inhalt  als  Ganzes  genommen  und  nacheinander  gezeigt:  was  unter  dem  Begriffe 
„Einsicht"  zu  verstehen  ist,  daß  jeder  Gegenstand  nur  Einsicht  ist,  daß  jede  ein- 
zelne Einsicht  nur  Glied  eines  Wissenzusammenhanges  ist,  daß  das  isolierte  Urteil 
nicht  mehr  in  Betracht  kommt,  daß  Beobachtung  nichts  lehrt,  daß  Widerspruchs  - 
losigkeit  keine  Rechtfertigung  bedeuten  kann,  und  endlich  daß  aller  Beweis  Zirkel 
oder  Erschleichung  ist.  Die  zweite  Untersuchung  geht  dann  von  einer  neuen 
Gliederung  einer  Wissenschaft  aus:  in  Grundeinsichten  und  abhängige  Einsichten. 
Grundeinsichten  sind  logisch  nicht  von  anderen  Einsichten  abhängig,  aber  alles 
andere  Wissen  ist  es  von  ihnen,  so  daß  die  Verschiedenheit  der  Wissenschaften 
nur  Ausdruck  der  Verschiedenheit  der  Grundeinsichten  ist.  Alles,  was  von  der 
Ursprünglichkeit  der  Wissenschaften  gesagt  wurde,  gilt  im  besonderen  von  ihnen, 
dem  Nerv  einer  jeden  Wissenschaft,  und  so  ist  jede  Anschauung  und  jede  empiri- 
sche Tatsache  es  nur  im  Lichte  einer  Grundeinsicht,  woraus  unmittelbar  folgt: 
Erfahrung,  Tatsachen  lehren  nichts. 

Die  Erörterung  des  Wissenschaftserlebnisses  führt  dann  zu  dem  Wissen- 
schaftsbedenken: die  im  Begriffe  Wissenschaft  aufgestellten  Forderungen  der  Al- 
leingültigkeit, daß  sie  an  keinen  Ort,  an  keine  Zeit,  an  keine  bestimmte  Person 
gebunden  ist,  und  der  Berechtigung,  auch  ein  Sein  wiedergeben,  was  außerhalb 
der  Wissenschaft  besteht,  können  unmöglich  erfüllt  werden ;  Wissenschaft  ist  also 
unmöglich. 

Waldemar  Meurer. 

Wiesuer,  Johann,  Die  Freiheit  des  menschlichen  Willens.  Ver- 
lag Wilhelm  Braumüller,  Wien-Leipzig. 

„Philosophie  für's  Volk".  Damit  ist  der  Inhalt  der  Broschüre  wohl  am  besten 


Selbstanzeigen  (Wiesner).  505 

gekennzeichnet.  Jede  Philosophie  und  ihre  Lehre  sollen  eine  Schulung  sein  für 
kritisches  Denken,  eine  Waffe  im  Kampfe  gegen  suggestiv-autoritären  Mißbrauch 
und  eine  Verkünderin  neuer  Menschheitsziele. 

Trotz  all  ihrer  enormen  Leistungen  ist  die  deutsche  Philosophie  den  breiten 
Schichten  ihres  Volkes  in  dieser  Hinsicht  sehr  viel  schuldig  geblieben.  Sie  paßte 
sich  nämlich  niemals  dem  Verständnishorizont  breiterer  Volksschichten  an,  und 
sie  blieb  daher  volksfremd  und  das  Volk  seinerseits  verblieb  unphilosophisch, 
resp.  unkritisch  und  in  weiterer  Folge  davon  politisch  unbeholfen,  das  Opfer  jedes 
suggestiven  Mißbrauchs.  —  Das  deutsche  Volk  braucht,  und  zwar  heute  mehr 
denn  je,  reifes  kritisches  Erkennen  und  das  können  ihm  nur  seine  Philosophen 
bieten,  daher  „Philosophie  für's  Volk".  —  Meine  Broschüre  behandelt  das  Problem 
der  Willensfreiheit  in  diesem  Sinne,  und  wenn  auch  manche  Fachphilosophen  die 
schlichte,  kunstlose  Art  der  Behandlung  vielleicht  als  anstößig  empfinden  sollten, 
so  denke   ich   doch,    daß    sie   als  Hilfsmittel  für  kritische   Schulung  nicht   ohne 


Nutzen  bleiben  wird. 


Johann  Wiesner. 


Dr.  Johannes  Wenzel,  Zum  „Untergang  des  Abendlandes".  Der 
„Skeptiker"  und  „Pessimist"  Spengler  ein  Verteidiger  der  Reli- 
gion. Verlag  Bon's  Buchhandlung  (Inh.  Günther  Letzsch)  Königsberg  i.  Pr. 
Preis  Mk.  6.—  ord.,  Mk.  4.20.    56  Seiten. 

Nach  einer  Einleitung  (§  1),  die  scharf  den  scheinbar  relativistischen  Skepti- 
zismus und  Pessimismus  heraushebt,  wird  gezeigt,  daß  die  Grundidee  der  Spengler- 
schen  Philosophie  eine  ganz  andere  ist,  als  die  Kritik  bisher  angenommen  hat. 

Die  Untersuchung,  die  sich  zur  Aufgabe  stellt,  den  religiösen  Charakter  der 
Spenglerschen  Gedankenwelt  nachzuweisen,  verfährt  sozusagen  zentripetal,  d.  h. 
derart,  daß  zunächst  indirekte  Anzeichen  (§  2  u.  3)  für  eine  religiöse  Ein- 
stellung zur  Sprache  kommen.  Hierbei  ist  besonders  einerseits  der  überaus 
scharfe  Angriff  gegen  die  Wissenschaft,  den  Intellekt  und  den  Zeitgeist  zu  be- 
achten, andrerseits  dem  gegenüber  die  überaus  große  Sympathie  und  Vorliebe  für 
alles,  was  Religion  und  Religiosität  anbetrifft.  Spengler  tritt  als  Apologet  auf 
für  die  historischen  Religionen,  besonders  für  das  Christentum. 

Es  schließt  sich  dann  in  der  Untersuchung  daran  der  Versuch  eines  di- 
rekten Beweises  (§  4,  5,  6),  der  in  Problemstellung,  Methode  und  Weltanschauung 
Spenglers  wesentliche  Züge  religiöser  Art  aufdeckt!  Das  Ziel  Spenglers,  wie 
die  Problemstellung  zeigt,  ist  Ueberwindung  des  mechanistischen  durch  den  reli- 
giösen Weltaspekt.  Seine  Methode  erweist  sich  als  die  der  religiösen  Metaphysik, 
es  ist  die  gläubige  Intuition  und  Vision! 

In  seiner  Kulturseelentheorie  wird  der  Religion  der  erste  Rang  zugebilligt! 
Der  Schicksalsgedanke  —  das  Schicksal  ist  bei  Spengler  die  absolute  Gottheit 
jenseits  aller  anthropomorphen  Gottesvorstellungen  — ,  der  das  ganze  Buch  be- 
herrscht und  auf  dem  auch  die  Kulturenlehre  aufgebaut  ist,  bietet  in  dieser  Hin- 
sicht den  stärksten  Beweisgrund.  Somit  wird  ersichtlich,  daß  der  Vorwurf  des 
Skeptizismus  und  Pessimismus  unbegründet  erscheinen  muß  und  daß  auch  Spenglers 
Relativismus  nicht  das  ist,  was  man  für  gewöhnlich  darunter  versteht,  sondern 
ein  „ethischer  Blick".  Zum  Schluß  (§  7)  wird  noch  der  Versuch  gemacht,  Spenglers 
Religiosität  religionsphilosophisch  einzuordnen.  Er  muß  der  Gruppe  der  Mystiker 
zugerechnet  werden. 

Dr.  Johannes  Wenzel. 


Mitteilungen. 


Ein  Druckfehler  in  Kants  Kritik  der  Urteilskraft. 

Bei  der  Sichtung  des  juristischen  und  philosophischen  literarischen 
Nachlasses1)  meines  im  Jahre  1916  gefallenen  Sohnes,  des  Referendars 
Georg  Kulimann,  fand  ich  jüngst  den  Hinweis  auf  einen,  in  der  Kritik 
der  Urteilskraft  enthaltenen,  bisher  unbemerkt  gebliebenen  Druckfehler. 

Im  §  4  zweiter  Absatz,  letzter  Satz: 

Das   "Wohlgefallen    am   Schönen    muß    von    der    Reflexion    über 
einen  Gegenstand,  die  zu  irgend  einem  Begriff  (unbestimmt  welchem) 
führt,    abhängen    und    unterscheidet    sich    dadurch    auch    vom   Ange- 
nehmen, welches  ganz  auf  der  Empfindung  beruht, 
muß    es  statt  der  Worte  „am  Schönen"  heißen  „am  Guten".     Andernfalls 
wiederspräche    der    Satz    allem,    was    Kant    über    den    Begriffsunterschied 
zwischen  Gutem  und  Schönem  unmittelbar  vorher  ausgeführt  hat.    Er  stünde 
aber    auch    nicht    im  Einklang    mit    den   unmittelbar    anschließenden  Aus- 
führungen,   in    welchen    der  Unterschied    zwischen   dem  Guten    (nicht    dem 
Schönen)  und  dem  Angenehmen  wieder  aufgenommen    und  bis  zum  Schluß 
des  Paragraphen  besprochen  wird. 

Der  Druckfehler  findet  sich  in  allen  Ausgaben,  der  Urschrift  wie  den 
späteren  Einzel-  und  Gesamtausgaben  mit  einziger  Ausnahme  —  worauf 
mich  ein  Freund  aufmerksam  macht  —  der  Ausgabe  von  Kehrbach  (Re- 
clam).  Diese,  welche  ein  Abdruck  der  Ausgabe  von  1790  ist,  führt  aber 
die  Abänderung  weder  in  den  Fußnoten,  welche  sonst  jede  kleine  Variante 
anmerken,  noch  in  dem  beigefügten  Verzeichnis  der  Textveränderungen  an. 
Sie  scheint  Kehrbach  selbst  ebenso  unbekannt  geblieben  zu  sein,  wie  sie 
bisher  in  der  wissenschaftlichen  Oeffentlichkeit  nicht  bemerkt  worden  ist. 
Es  handelt  sich  sonach,  wie  man  annehmen  muß,  wieder  um  einen  Druck- 
fehler. So  hat  ein  Druckfehler  den  anderen  korrigiert.  Man  sieht,  auch 
Druckfehler  haben  ihre  Schicksale. 

Justizrat  Kuli  mann -Wiesbaden. 


Preisaufgabe:  Kant  und  Litauen. 

In  dem  soeben  erschienenen  ersten  Heft  der  litauischen  philosophischen 
Zeitschrift  „Logos"  ist  folgende  Preisaufgabe  ausgeschrieben  (S.  128),  deren 
Begründung  und  Bedingungen  in  deutscher  Uebersetzung  lauten: 


1)  Aus  ihm  wird  demnächst  eine  Sammlung  von  Prolegomena-Druckfehlern  im 
Verlag  von  H.  Staadt  in  Wiesbaden  erscheinen. 


Mitteilungen.  507 

Preisaufgabe  über  das  Thema: 
„Kants  Verhältnis  zum  Litauertum". 

Bereits  seit  einem  Jahrhundert  oder  schon  länger  tauchen,  in  der 
litauischen  Literatur  (Broschüren,  Tages-  und  Fachzeitungen)  hier  und  da 
mancherlei  Behauptungen  über  Kants  Litauertum  auf.  So  heißt  es,  daß 
Kant  litauischer  Herkunft  und  der  litauischen  Sprache  mächtig  gewesen 
sei,  daß  er  die  litauischen  Volkslieder  (Dainos)  geliebt,  ja  sogar  zu  Hause 
litauisch  gesprochen  habe,  da  seine  Muttersprache  Litauisch  gewesen  sei. 
Und  vor  zwei  Monaten  brachte  die  Tageszeitung  „Lietura"  (Kr.  170, 
3.  VIII.  1921)  eine  Nachricht,  daß  Frau  Stase  Paskeviciene  aus  Pelesiai, 
Kreis  Rasecniai,  75  Jahre  alt,  bei  der  „Gesellschaft  zur  Verschönerung 
Litauens"  um.  die  Erlaubnis  nachgesucht  habe,  in  Kaunas  vor  der  Garnison- 
kirche dem  „Immanuel  Kant,  dem  Weltphilosophen  litauischer  Herkunft" 
ein  Denkmal  zu  setzen. 

Unsere  nächsten  westlichen  Nachbarn  indessen,  die  Kant  als  den 
Mann  ihrer  Nation  par  excellence  rühmen,  erwähnen  nirgends  sein  Litauer- 
tum, ja  sie  haben  sich  wahrscheinlich  nie  etwas  davon  träumen  lassen. 

Zur  Klärung  dieser  Frage  und  um  so  der  Wahrheit  einen  Dienst  zu 
leisten,  setzt  die  Schriftleitung  unserer  Zeitschrift  gelegentlich  des  Heran- 
nahens von  Kants  zweihundertstem  Geburtstag  einen  Preis  von  10  000 
(zehntausend)  Mark  aus  für  die  beste  Bearbeitung  des  Themas 

»Kants   Verhältnis  zum  Litauertum", 
in  der    diese  Frage  entsprechend  den  strengsten  Forderungen  wissenschaft- 
licher Kritik  allseitig  geklärt  wird. 

Für  den  Wettbewerb  sind  folgende  Bedingungen  gestellt:  die  Arbeit 
darf  litauisch,  deutsch,  russisch,  französisch,  englisch  oder  italienisch  abge- 
faßt sein ;  nur  Schreibmaschine ;  keine  Angabe  des  Verfassernamens,  sondern 
nur  einer  Devise;  der  Name  des  Verfassers  ist  zugleich  mit  der  Arbeit  in 
verschlossenem  Umschlag  abzugeben,  der  durch  die  Devise  kenntlich  ge- 
macht ist.  Späteste  Frist  für  Einreichung  der  Arbeiten  ist  der  1.  Januar 
1924.  Die  Arbeiten  sind  an  unsere  Schriftleitung  oder  an  den  Dekan  der 
philosophischen  Fakultät  der  litauischen  Universität  zu  richten.  Ueber 
ihre  Bewertung  entscheidet  eine  Kommission  von  drei  Mitgliedern,  von 
denen  je  eins  durch  die  Schriftleitung  des  „Logos"  und  die  philosophische 
Fakultät  bestimmt  wird;  das  dritte  ist  der  jeweilige  Dekan  der  philoso- 
phischen Fakultät.  Das  Urteil  dieser  Kommission  wird  von  der  philoso- 
phischen Fakultät  der  litauischen  Universität  an  Kants  zweihundertstem 
Geburtstag,  dem  24.  April  1924,  bekannt  gegeben. 

Wenn  von  allen  eingereichten  Arbeiten  keine  des  ganzen  Preises  würdig 
sein  sollte,  so  kann,  nach  dem  Urteil  der  Kommission,  ein  Teil  des 
Preises  zuerkannt  werden.  Der  Verfasser  der  mit  einem  Preise  gekrönten 
Arbeit  behält  alle  Rechte  auf  sein  Werk.  Die  Schriftleitung. 


608  Kant-Geseilsehaft. 


Kant-Gesellschaft. 


Ortsgruppe  Hannover. 

Die  hannoverschen  Mitglieder  der  Kant-Gesellschaft,  der  größten  philo- 
sophischen Gesellschaft  der  Erde,  haben  beschlossen,  durch  Gründung  einer 
Ortsgruppe  einen  Sammelpunkt  für  die  philosophischen  Interessen  Hannovers 
zu  schaffen.  Dabei  wird  durch  Voranstellung  des  Namens  Kant  nicht  etwa 
die  Festlegung  auf  ein  bestimmtes  philosophisches  Bekenntnis,  sondern 
lediglich  die  Aufforderung  zu  vertiefter  Arbeit  jeglicher  Art  ausgesprochen. 
Vertreter  aller  philosophischen  Richtungen  sollen  sich  in  Vorträgen  und 
Diskussionen  zu  gemeinsamer  Arbeit  vereinigen. 

Das  Ziel  dieser  Arbeit  grenzt  sich  ab  gegen  das  der  Volkshochschulen 
und  des  hiesigen  Euckenbundes.  Ein  reibungsloses  Nebeneinanderarbeiten 
mit  diesen  Bestrebungen  ist  natürlich  erwünscht.  Aber  während  diese  in 
erster  Linie  auf  die  notwendige  Erziehung  breiter  Massen  und  eine  sittliche 
und  intellektuelle  Lebensumgestaltung  abzielen,  will  die  Ortsgruppe  eine 
durchaus  wissenschaftliche  Gesellschaft  sein,  deren  Pflege  der  zweckfreien 
Erkenntnis  gilt. 

Als  Arbeitsgegenstände  kommen  sämtliche  Wissens-  und  Lebensgebiete 
in  Frage,  soweit  sie  philosophischer  Art  sind.  Es  ist  also  nicht  nur  an 
strenge  Fachphilosophie  gedacht,  sondern  an  alle  Grenzgebiete,  ja  schließlich 
an  alle  wissenschaftlichen  Gegenstandsgebiete  nach  ihrer  grundbegrifflichen 
Seite  hin.  Dabei  soll  versucht  werden,  immer  mehrere  hintereinander- 
liegende  Veranstaltungen  um  einen  Ideenkomplex  zu  gruppieren. 

Die  Arbeit  wird  sich  gliedern  in  die  Veranstaltung  allgemein  zugäng- 
licher Vorträge  und  in  die  Einrichtung  von  Vortrags-  und  Diskussions- 
abenden,   die  nur  unsern  Mitgliedern    und  eingeführten  Gästen  offenstehen. 

Die  Mitgliedschaft  wird  erworben  durch  Beitritt  zur  Hauptgesellschaft 
oder  zur  Ortsgruppe.  Sie  berechtigt  dazu,  an  allen  Veranstaltungen  zumeist 
ohne  Eintrittsgeld  teilzunehmen.  Mitglied  kann  jeder  philosophisch  Inter- 
essierte werden  entweder  gegen  Entrichtung  des  Ortsgruppenbeitrags  von 
12  Mk  (Studenten  8  Mk.)  an  Herrn  Studienrat  Grimme  (Hanno  ver-Laatzen, 
Lindenplatz  10)  oder  an  die  Buchhandlung  Schmorl  &  von  Seefeld  Nachf., 
oder  aber  gegen  Zahlung  des  Jahresbeitrags  für  die  Hauptgesellschaft,  der 
mindestens  25  Mk.  beträgt,  an  den  Geschäftsführer  der  Hauptgesellschaft, 
Prof.  Dr.  Arthur  Liebert,  Berlin  W  15,  Fasanenstraße  48.  Mitglieder  der 
Hauptgesellschaft  sind  ohne  weitere  Zahlung  auch  Mitglieder  der  Ortsgruppe ; 
sie  genießen  aber  diesen  gegenüber  den  freien  Bezug  sämtlicher  Schriften 
der  Kant-Gesellschaft,  also  der  etwa  500  Seiten  starken  „Kant- Studien", 
der  „Ergänzungshefte",  der  „philosophischen  Vorträge",  der  „Neudrucke 
seltener  philosophischer  Werke"  u   a. 


Kant-Gesellschaft.  509 

Die  hiesige  Geschäftsstelle  hat  für  alle  Mitglieder  im  1.  Stock  ihrer 
Buchhandlung  ein  Lesezimmer  eröffnet,  in  dem  philosophische  Neuerschei- 
nungen zur  Einsicht  ausliegen. 

Im  kommenden  Winter  plant  die '  Ortsgruppe 

I.    0 öffentliche  Vorträge 
über  die  Frage: 

Kulturuntergang  oder  Kulturerneuerung? 
Es  werden  sprechen: 

1.  Prof.  Dr.  Arthur  Liebert. 

Berlin:     „Die   Philosophie   und   die    geistige   Krise    der   Gegen- 
wart".    (Anfang  November.) 

2.  Prof.  Dr.  H.  Timerding,  Technische  Hochschule,  Braunschweig: 
„Der  Sinn  der  Technik".     (Ende  November.) 

3.  Universitäts-Professor  Dr.  Max  Scheler,  Köln:  „Sinn  und  Grenzen 
der  Vergänglichkeit  im  geschichtlichen  Leben  (Das  alte  und  das 
werdende  Europa)".     (Anfang  Dezember.) 

4  Prof.  Martin  Havenstein,  Grunewald:  „Autorität  und  Freiheit  in 
der  Erziehung  zum  deutschen  Menschen".  (Mitte  Dezember.) 
Max  Scheler  wird  am  Tage  nach  dem  öffentlichen  Vortrage  im  engeren 
Kreise  über  die  Frage  sprechen:  Gibt  es  eine  absolute  Gotteserkenntnis 
(Eine  positive  Möglichkeit  der  Metaphysik)?  Die  hiesige  Geschäftsstelle 
vermittelt  auch  Nichtmitgliedern  eine  Einlaßkarte.  Auch  Arthur  Liebert 
hoffen  wir  für  eine  Aussprache  im  engeren  Kreise  am  Tage  nach  seinem 
öffentlichen  Vortrag  zu  gewinnen. 

Wir  haben  uns  mit  den  „Freunden  evangelischer  Freiheit"  bei  aller 
gedanklichen  Selbständigkeit  der  beiderseitigen  Vereinigungen  dahin  ver- 
ständigt, daß  sie  ebenfalls  Vorträge  über  dieselbe  Gesamtfrage  veranstalten. 
Bei  ihnen  werden  sprechen  nach  Weihnachten: 

Universitäts-Prof .  Dr.  Hermann  Nohl,  Göttingen  (Kunst) ;  Priv.-Doz. 
Dr.  P.   Tillich,    Berlin    (Religion);    Pastor    Dörries,    Hannover    (Er- 
neuerung der  Kirche)  und  Pastor  Chappuzeau,  Hannover. 
Plakate  und  Zeitungen  werden  nähere  Mitteilungen  bringen. 
Für  Frühjahr  1922  hat  der  Kant-Gesellschaft  außerdem  einen  Vortrag 
zugesagt:  Universitäts-Professor  Dr.  Oskar  Walzel,  Bonn: 
„Der  Wandel  des  Lebensgefühls  in  der  Dichtung  der  letzten  Jahrzehnte". 

H.    Mitgliederabende. 
Diese  finden  von  Oktober  bis  April  monatlich  einmal  statt  und  werden 
Spenglers  Ideen   gewidmet   sein.     Es    werden   die   einleitenden  Referate   zu 
den  Diskussionen  geben  die  Herren: 

Dr.  phil.  G.  Frebold  .     .     .     über  Spenglers  Gesamtwerk. 
Dr.  phil.  H.  Havemann    .      .     über  Spenglers  Auffassung  der  Kunst;. 

Prof.  Heyn über  Spenglers  Auffassung  des  Christentums. 

Studienrat  Dr.  Hoffmann  .     .     über  Spenglers  Auffassung    der  Mathematik. 
Prorektor  Mehlhase      .     .     .     über  Spenglers  Auffassung  der  Religion. 
Studienrat  Dr.  Meltzer      .     .     über  Spenglers  Auffassung  der  Antike. 
Buchhändler  Schmorl   .     .     .     über  Spenglers  Leben. 
Studienrat  Dr.  Scherwatzky  .     über  Spenglers  Auffassung  der  Musik. 


510  Kant-Gesellschaft. 

Prof.  Dr.  Stammler     .     .     über  Spengler  und  die  deutsche  Literatur. 
Oberstudienrat  Dr.  Wolf  .     über  Spengler  und  Goethe. 

„  „         über  Spengler  und  die  Staatsidee. 

Die  Mitglieder  erhalten  besondere  Einladungen.  Außerdem  werden 
die  Zeitungen  unter  der  Rubrik  „Vorträge,  Veranstaltungen,  Vereine  usw." 
einen  Hinweis  bringen. 

Alle  Freunde  der  Philosophie  werden  gebeten,  durch  ihren  Beitritt 
ihre  Teilnahme  zu  bekunden,  die  Bestrebungen  durch  Stiftung  größerer 
Summen  zu  unterstützen  und  diesen  Aufruf  weiterzuverbreiten.    • 

Die  Ortsgruppe  Hannover  der  Kant-Gesellschaft: 

Dr.  Berkenbusch,  Dr.  Linckelmann, 

Studienrat.  Justizrat. 

Adolf  Grimme,  Studienrat  Dr.  Scherwatzky, 

an  der  Oberrealschule  am  Clevertor.  Studienrat. 

Prof.  Dr.  Kunze,  Oskar  Schmorl,  Buchhändler, 

Direktor  d.  vorm.  Kgl.  u.  Prov.-Bibliothek.  Schriftführer  der  Ortsgruppe ; 

Bahnhofstraße  14. 


Ortsgruppe  Meersburg  a.  Bodensee. 

Wir  sind  wiederum  in  der  erfreulichen  Lage,  von  der  Gründung  einer 
neuen  Ortsgruppe  Mitteilung  machen  zu  können.  Dem  Kreis  der  bereits 
bestehenden  Ortsgruppen  hat  sich  nämlich  eine  solche  in  dem  entzückenden 
Städtchen  Meers  bürg  am  Bodensee  zugesellt.  Daß  di  ese  Gründung 
möglich  wurde,  ist  dem  tatkräftigen  Bemühen,  der  Umsicht  und  der  leben- 
digen Liebe  für  die  Philosophie  des  Herrn  Pfarrer  Adolf  Seeger  zu 
verdanken,  dem  es  gelungen  ist,  an  der  Stätte  seiner  Wirksamkeit  eine 
beträchtliche  Anzahl  philosophisch  interessierter  Persönlichkeiten  zu  ver- 
einen. Es  ist  uns  ein  Bedürfnis,  Herrn  Pfarrer  Seeger  auch  an  dieser 
Stelle  den  nachdrücklichsten  Dank  für  alles  das  auszusprechen,  was  er  für 
die  Kant-Gesellschaft  und  für  die  Hebung  des  philosophischen  Lebens  be- 
reits getan  hat  und  zu  tun  im  Begriff  ist. 

Eröffnet  wurde  die  neue  Ortsgruppe  am  1.  Oktober  1921  in  dem 
stattlichen  Bau  des  Lehrerseminars  in  Meersburg,  dessen  Leiter,  Herr  Di- 
rektor Dr.  Boos,  die  Räume  seiner  Anstalt  in  der  liebenswürdigsten  Weise 
zur  Verfügung  gestellt  hatte.  Auch  in  Zukunft  wird  es  das  verständnis- 
volle Entgegenkommen  von  Herrn  Direktor  Dr.  Boos  ermöglichen,  die  Ver- 
anstaltungen der  Ortsgruppe  in  dem  Lehrerseminar  abzuhalten.  Den  Er- 
öffnungsvortrag hielt  der  stellvertr.  Geschäftsführer  Prof.  Liebe rt,  der 
sich  gerade  auf  der  Eeise  aus  der  Schweiz  in  der  Nähe  des  Bodensees 
befand,  über  das  Thema:  „Die  Philosophie  im  Geistesleben  der 
Gegenwart".  An  diesen  ersten  Vortrag  schloß  sich  am  3.  Oktober 
gleich  ein  zweiter,  ebenfalls  von  Liebert  gehaltener  Vortrag  über  „Der 
Begriff  der  Philosophie"  an.  War  der  erste  Vortrag  schon  von 
etwa  60  Teilnehmern  besucht,  so  hatten  sich  zu  dem  zweiten  Vortrag  be- 
reits über  120  Besucher  eingefunden. 


Kant-Gesellschaft.  511 

Sowohl  Herr  Pfarrer  Seeger  als  Herr  Fritz  Mauthner,  der  be- 
kannte, in  der  wissenschaftlichen  "Welt  so  angesehene  Verfasser  des  grund- 
legenden dreibändigen  Werkes:  „Beiträge  zu  einer  Kritik  der  Sprache", 
des  geistvollen  „Wörterbuches  der  Philosophie"  und  des  großen,  gleich- 
falls dreibändigen  Werkes:  „Der  Atheismus  und  seine  Geschichte  im  Abend- 
lande" werden  durch  Abhaltung  seminaristischer  Uebungen  und  durch  die 
Leitung  philosophischer  Arbeitsgemeinschaften  die  Ortsgruppe  unterstützen 
und  deren  Zwecke  fördern.  Wir  begrüßen  die  Mitarbeit  von  Herrn  Fritz 
Mauthner,  der  sich  mit  ungeminderter  Kraft  in  dem  Idyll  des  „Glaser- 
häusles"  bei  Meersburg  dem  Abschluß  seiner  sprachkritischen  Untersuchungen 
widmet,  mit  Freude  und  Genugtuung.  Es  sind  ferner  Schritte  eingeleitet 
zur  Verbindung  der  Ortsgruppe  Meersburg  mit  dem  nahen  Konstanz,  wo 
gleichfalls  die  Gründung  einer  Ortsgruppe  in  Aussicht  genommen  ist. 

Die  Geschäftsführung  der  Kant-Gesellschaft. 


Ortsgruppe  Berlin. 

Vortragsveranstaltung. 

9.    Bericht. 

Im  Jahre  1921  sind   in   der  Berliner  Abteilung  der  Kant-Gesellschaft 

folgende  Vorträge  gehalten  worden: 

Nr.  75:  Studienrat  Dr.  Freitag-Berlin,  Studienrat  Dr.  Behrendt- 
Berlin,  Univ.-Prof.  Dr.  Sprang  er- Berlin  sprachen  am  15.  Januar 
1921  über:   „Philosophie  und  Schule". 

Nr.  76:  Privatdozent  Dr.  Brinkmann -Berlin  sprach  am  24.  Februar 
1921  über:   „Soziologie  und  Staatswissenschaft". 

Nr.  77:  Professor  Dr.  J.  M.  Verweyen-Bonn  sprach  am  10.  März  1921 
über:  „Beziehungen  zwischen  mittelalterlicher  und  neuzeitlicher  Er- 
kenntnislehre". 

Nr.  78:  Dr.  Kurt  Sternberg-Berlin  sprach  am  14.  April  1921  über: 
„Die  philosophischen  Grundlagen  in  Spenglers  »Untergang  des  Abend- 
landes«". 

Nr.  79:  Dr.  Fritz  Heinemann-Berlin  sprach  am  2.  Juni  1921  über: 
„Der  Neuplatonismus  der  deutschen  Philosophie". 

Nr.  80:  Professor  Dr.  Franz  Eulenburg- Berlin  sprach  am  11.  No- 
vember 1921  über:  „Gibt  es  historische  Gesetze"? 

Nr.  81:  Privatdozent  Dr.  Siegfried  Marck -Breslau  sprach  am  16.  De- 
zember 1921  über:  „Hegelianismus  und  Marxismus". 


512  Kant-Gesellschaft. 

Vergünstigungen  beim  Bezug  von  Büchern. 

Die  Mitglieder  der  Kant  -  Gesellschaft  erhalten  auf  folgende 
Bücher  Vergünstigungen: 

a)  Erich  Adickes ,   o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Tübingen, 

„Untersuchungen  zu  Kants  physischer  Geographie" 
(1911.  Gr.  8°.  VIII  und  344  Seiten)  zu  8  Mk.  statt  20  Mk. 
Lädenpreis. 

b)  Derselbe,  „Kants  Ansichten  über  Geschichte  und  Bau 

der  Erde«  (1911.  Gr.  8°.  VIII  und  207  S.)  zu  4  Mk.  statt 
9.20  Mk.  Ladenpreis. 

Mitglieder,  die  von  diesen  Vergünstigungen  Gebrauch  machen 
wollen,  wollen  sich  mittels  eines  einfachen  Hinweises  auf  ihre  Mit- 
gliedschaft direkt  an  den  Verlag  von  Paul  Siebeck  (J.  C.B.Mohr) 
in  Tübingen  wenden  (nicht  an  die  Geschäftsführung  der  Kant- 
Gesellschaft).  Der  Verlag  wird  dann  sofort  die  Zusendung  —  der 
Einfachheit  halber  unter  Nachnahme  —  vornehmen. 

Die  Geschäftsführung  der  Kant-Gesellschaft, 
i.  A.  Liebert. 


Kant-Gesellschaft. 


513 


XVII.  Jahresbericht  1920 '). 
I.    Einnahmen. 


8. 


9. 


Uebertrag  aus  dem  Jahre  1919 

Jahresbeiträge:    19202) 

Jahresbeiträge:  Nachzahlungen  für  frühere  Jahre  . 
Zinsen  der  Kant-Stiftung  (durch  die  Universitäts- 
kasse Halle  a.  S.) 

Bankzinsen  in  Halle  u.  Berlin  aus  verschiedenen  Kontos 
Einnahmen  durch  den  Verkauf  von  Veröffentlichungen: 

a)  Ergänzungshefte:     236.95  Mk.  ,] 

b)  Vorträge:  1705.03     „      [ 

c)  Neudrucke:  640.32     „      ) 

Zuschuß  von  Dr.  Beate  Berwin  zur  Herstellung  des  Er- 
gänzungsheftes Nr.  49 

Zuschuß    von    Dr.  D.  Baumgardt    zur  Herstellung    des 

Ergänzungsheftes  Nr.  51 

Beisteuer  seitens  verschiedener  Mitglieder  zur  Her- 
stellung des  Ergänzungsheftes  Nr-   53  (Ewald): 

a)  Carl  Helle- Braunschweig  =     500  Mk. 

b)  H.  Holzner-Berlin  =       50     „ 

c)  Geh.-Eat  Harries-Berlin  =   1000     „ 

d)  Rechtsanwalt  Kahn-München     =  2000     „ 

e)  Victor  Altmann-Berlin  =     500     „ 


f)  Generaldirektor  Vögler-Berlin 


500 


Uebertrag  Mk. 


492 

62693 

280 

1606 
1889 


2582 
2335 
3640 


4550 


80069 


04 
27 


32 
24 


30 
65 
30 


12 


1)  Diese  Zusammenstellung  der  Einnahmen  und  Ausgaben  des  Geschäfts- 
jahres 1920  ist  auf  dem  Kuratorium  der  Universität  Halle  a.  S.  rechnerisch  nach- 
geprüft und  dann  von  dem  Verwaltungsausschuß  der  Kant-Gesellschaft  auf  Grund 
der  Vorlegung  aller  Belegpapiere  genehmigt  worden.  —  Die  endgültige  Genehmi- 
gung dieser  Abrechnung  und  die  Entlastung  der  Geschäftsführung  bleibt  der 
nächsten  allgemeinen  Mitgliederversammlung  vorbehalten. 

Die  Geschäftsführung  der  Kant- Gesellschaft. 
Vaihinger.  Liebert. 

2)  Bei  diesem  Posten  ist  zugleich  die  große  Zahl  freiwilliger  Erhöhungen 
des  Jahresbeitrages  berücksichtigt,  zu  denen  sich  viele  Mitglieder,  einem  dring- 
lichen Ersuchen  seitens  der  Geschäftsführung  freundlichst  entsprechend,  ohne 
weiteres  bereit  gefunden  haben.  Wir  ergreifen  die  Gelegenheit,  den  betreffenden 
Mitgliedern  für  ihre  besondere  Unterstützung  hierdurch  den  aufrichtigsten  und 
nachdrücklichsten  Dank  abzustatten. 

Die  Geschäftsführung. 
Vaihinger.  Liebert. 

Kantstndien.    XXYI.  33 


:.M 


Kant-Gesellsclialt. 


Uebertrag  Mk. 

10.  Zuschuß  von  Dr.  W.  Blumenfeld  zur  Herstellung  des 
Vortrages  Nr.  25 

11.  Spende  von  Wemer  Daitz  in  Harburg 

12.  Spende  von  Dr.  Georg  Frebold  in  Hannover 

13.  Spende  von  Privatdozent  Dr.  Geißler  in  Eisenach  . 

14.  Spende  von  Dr.  Jungmann  in  Basel 

15.  Spende  von  Prof.  Kohnstamm  in  Amsterdam 

16.  Spende  von  Loewenthal  &  Levy  in  Berlin     .     .     .     . 

17.  Spende  von  Robert  Marko wski  in  Halle 

18.  Spende  von  Justus  Meyer  in  Zandvoort 

19.  Spende  von  Direktor  Dr.  Starke  in  Kopenhagen 

20.  Spende  der  Familie  des  verstorbenen  Ehrenmitgliedes 
der  Kant-Gesellschaft:  Dr.  Walter  Simon-Königsberg  . 

21.  Spende  von    Fabrikant  Ewald  Schultze-Berlin-Lankwitz 

22.  Spende  von  Paul  Ternstrand  in  Upsala 

23.  Spende  von  Dr.  Hans  Wendland  in  Berlin     .... 

24.  Spenden  in  geringerer  Höhe  durch  verschiedene  Mit- 
glieder1)     

25.  Einnahmen  durch  den  Kauf  einzelner  Veröffentlichungen 
seitens  mehrerer  Mitglieder,  besonders  des  Ergänzungs- 
heftes 50  (Adickes) 

26.  Einnahmen  durch  nachträgliche  Gutschrift  für  früher 
bezahlte  Verpackung  der  Papierballen.  Verpackung  ist 
jetzt  an  die  Lieferstellen  des  Papiers  für  die  Veröffent- 
lichungen der  Kant-Gesellschaft  zurückgeschickt  worden  . 

27.  Einnahmen  durch  die  Preiserhöhung  der  Veröffent- 
lichungen der  Kant-Gesellschaft 


Uebertrag  Mk.    [  87641  75 


80069 

1200 
100 
100 
100 
100 
100 
400 
400 
300 
248 

1000 
100 
100 
300 

1232 


1327 

217 
247 


12 


23 


25 


35 


80 


1. 
2. 
3. 
4. 
5. 
6. 
7. 
8. 
9. 

10. 

11. 

12. 
13. 
14. 
15. 
10. 
17. 
18. 
10. 


1)  Es  haben 
Flaischlen 
Geißler 
Frau  Schmidt 
Riese 
Dioyer 
Metzuer 
Drexler 
Gerhard 
Westerby 
Eklimd 
Zimmermann 
Mahnke 
Bornschein 
Rusch 
Damm 
Eisner 
Kloth 
Paßkönig 
Manasse 


solche  Spenden  gestiftet: 

5,—  20.  Dzialas  50  — 

2,—  21.  Leibl  30,— 

10,—  22.  Stadtbibliothek 

50,—  Danzig  20,— 

2,—  23.  Katz  50,— 

5,—  24.  Kallweit                5  — 

80,—  25.  Martin  Meyer  30,— 

45,65  26.  Jacoby  20,50 

21,—  27.  Fischer  30,— 

32,50  28.  Linckelmann  20,— 

-  29.  Kohrs  10,— 

-  30.  Kehrl  30,— 

-  31.  Pöckel  40.— 

-  32.  Rohrbeck  50,— 

33.  Regensburger       4, — 

34.  Stadtbücherei 

10  —  Charlottenburg  20  — 

30  —  35.  Witte  20  — 

50,—  36.  Spemarm  30,— 


37.  Klippel  20,— 

38.  Univ.-Bibliothek 

Tübingen  20,— 

39.  Seidler  3,90 

40.  Metz  20,— 

41.  Hasserl  30  — 

42.  Metzner  20  — 

43.  Jaensch  25  — 

44.  Döring  40, — 

45.  Paleikat  20,— 

46.  Bittorf  19,70 

47.  Eßlen  40,— 

48.  Staudinger  10,— 

49.  Ackermann  30,— 

50.  Petsch  5,— 

51.  Wimmer  40,— 

52.  Hiller  10  — 

53.  Pohl  50,— 

54.  Kleinecke  20  — 


Kant-Gesellschaft. 


515 


Uebertrag  Mk. 

28.  Einnahmen  aus  dem  Kapital  des  Fördererfonds;  ent- 
nommen zur  Deckung  des  Unterschusses  und  zum  Aus- 
gleich zwischen  den  Einnahmen  und  Ausgaben  des  Jahres 
1920  n      .     .     .     .     .     


Gesamteinnahmen  Mk. 


II.  Ausgaben, 


1. 

Honorare  an  die  Mitarbeiter  (Autoren  der  Kant-Studien, 

Leiter  der  Ortsgruppen  etc.) . 

7083 
35167 

86 

2. 
3. 

Kant-Studien:  Gesamtherstellungskosten:  Papier,  Satz, 
Druck,  Umschlag,  Broschur   .      .     .     .     .     .     .      .     . 

Drei  Ergänzungs hefte:    Satz,    Druck,    Papier,  Bro- 

78 

schur,  Redaktion  usw. 

a)  Nr.  49   (Berwin)          =   2815, 

65  2)                            \    . 

b)  Nr.  50  (Adickes)        ==   1900, 
der  Kosten    bestritten 

—  3)   (Anteil;    Rest  j 
durch  Mäzene  und  f 

4. 

Subskriptions  -  Beiträge 

glieder) 
c)  Nr.   51   (Baumgardt)  =  4017 
Zwei  Vorträge:    Satz,    Druck, 
daktion  usw. 

seitens    878   Mit-  / 

,-4)                           ) 
Papier,  Broschur,  Re- 

8732 

65 

a)  Nr.  24  (Radbruch-Tillich)  = 

b)  Nr.  25  (Blumenfeld) 

=  2590.90  |5 
=  6436.83  i  } 

9027 

73 

Uebertrag  Mk.   |[  60012J02 


1)  Nach  den  Bestimmungen  der  „Förderer"  werden  die  Mittel  des  „Förderer- 
fonds" der  Geschäftsführung  zur  Verfügung  gestellt  zur  Ermöglichung  der  Zwecke 
der  Kant-Gesellschaft ;  die  Geschäftsführung  ist  verpflichtet,  über  die  Verwendung 
dem  Verwaltungsausschuß  und  der  Allgemeinen  Mitglieder- Versammlung  Rechen- 
schaft abzulegen.  —  Die  Einrichtung  dieses  Fördererfonds  ist  auf  Grund  eines 
Berichtes  seitens  der  Geschäftsführung  vom  Vewaltungsausschuß  der  Kant-Gesell- 
schaft genehmigt  worden  (26.  Januar  1920).  Vgl.  Kant-Studien,  Band  XXV,  Heft  1 
S.  84  ff.  —  Ueber  die  Höhe  dieses  Fonds  und  über  die  demselben  zugeführten 
Beträge  wird  regelmäßig  in  den  Kant-Studien  Bericht  erstattet. 

Vaihingen"  Lieber  t. 

2)  Vgl.  Nr.  7  der  Einnahmen:  Zuschuß  der  Verfasserin:  2335,65  Mk. 

3)  Die  Gesamtherstellungskosten  nebst  Versendungskosten  und  Ausfuhrbe- 
willigungen dieses  sehr  stattlichen  Werkes  beliefen  sich  auf  22140,65  Mk.  Der 
Hauptteil  dieses  Betrages  wurde  dadurch  gedeckt,  daß  eine  Reihe  von  wissenschaft- 
lichen Instituten  und  von  Mäzenen  die  Summe  von  6000  Mk.  zur  Verfügung 
stellten,  ferner  dadurch,  daß  878  Mitglieder  sogleich  auf  das  Werk  subskribierten. 

4)  Vgl.  Nr.  8  der  Einnahmen:  Zuschuß  des  Verfassers:  3640,30  Mk. 

5)  Vgl.  Nr.  10  der  Einnahmen:  Zuschuß  des  Verfassers:  1200  Mk. 

33* 


516 


Kant-Gesellschaft. 


b. 


t . 


8. 


10. 


11. 


12. 


Ueb  ertrag  Mk. 


des    verstorbenen    Ehrenmit- 
in  Königsberg;    Kant  -  Studien 


Beigabe    eines    Bildes 
gliedes  Dr.  Walter  Simon 

XXV,  Heft  2—3 

Versendungskosten  für  die  Veröffentlichungen 
der  Kant  -  Gesellschaften  (Generalversendungen):  Kant- 
Studien;  Ergänzungshefte  und  Vorträge:  Porti,  Ver- 
packungspappen, Bindfaden 

Frachtkosten,  bes.  für  den  Verkehr  usw.  mit  der  Buch- 
druckerei u.  a.  Porti  für  Fracht  der  Papierballen  an  die 
Druckereien  für  Herstellung  der  Veröffentlichungen  .  . 
Verschiedene  Drucksachen:  Neujahrsmitteilungen, 
verschiedene  Prospekte  und  Rundschreiben  an  die  Mit- 
glieder und  an  die  Presse ;  Auskunfts-  und  Werbematerial, 
Interessentenformulare,  Eintrittskarten  zu  den  Vorträgen, 
Mitgliedskarten;  Drucksachen  für  die  Generalversammlung 
1920;  Postkarten,  Ankündigungen  von  Preisaufgaben, 
Mahnbriefe ,  Satzungen ;  Zirkulare  über  die  Veröffent- 
lichungen der  Kant-Gesellschaft  usw.  .  

Repräsentationsausgaben  und  Reisen  des  stell- 
vertr.  Geschäftsführers  nach  Halle  und  nach  anderen  Städten 
zur  Begründung  verschiedener  Ortsgruppen,  sowie  der  Schrift- 
leiter der  Kant  -  Studien ;  verschiedener  Redner  zu  Vor- 
trägen usw 

Beiträge  an  wissenschaftliche  Gesellschaften  und  Unter- 
nehmungen      

Verschiedenes:  Zustellungs-  und  Einziehungsgebühren 
für  die  Jahresbeiträge;  Buchbinderarbeiten;  Abonnement 
auf  Deutsche  Literatur-Zeitung;  Beschaffung  verschiedener 
Zeitschriften  und  Rezensionsexemplare  für  die  Kant- Studien; 
Aktenpapier,  Briefbogen,  Umschläge,  Tinte,  Federn,  Blei- 
stifte; Packmaterial,  Bindfaden ;  Briefwage;  Gummistempel; 
Klammern,  Telegramme;  Versicherungsmarken  für  die  Se- 
kretärin; Gebühren  für  Ortskrankenkasse;  Durchschlag- 
und  Kohlepapier ;  Farbbänder;  Veranstaltung  der  Vorträge ; 
Reparaturen  an  den  Schreibmaschinen ;  Bankaufbewahrungs- 
gebühren für  Manuskripte;  Kontobücher  für  die  Mitglieder- 
listen; Anmeldegebühren  bei  der  Reichswirtschaftsstelle 
für  die  Auslandssendungen;  Formulare  für  Auslandssen- 
dungen; Nachnahmekarten,  Zahlkarten;   Veranstaltung  der 

Generalversammlung  1920  etc 

Lieferung  früherer  Jahrgänge  der  Kant-Studien, 
Ergänzungshefte,  Vorträge,  Neudrucke  an  Universitäts- 
seminare und  an  einige  Mitglieder 


Uebertrag  Mk. 


60012 


764 


11730 


2725 


3579 

2831 
149 


7923  38 


02 


40 


70 


20 


40 


957 


90672  35 


25 


Kant-Gesellschaft. 


517 


V6. 


14. 


15. 


16. 

17. 

18. 


Uebertrag  Mk. 

Zuschüsse  für  die  Ortsgruppen  in  Hamburg,  Königsberg, 
Leipzig,  München,  Münster,  Stuttgart  für  Herstellung  der 
Einladungsschreiben    zur    Gründung;     der   Eintrittskarten, 

für  Saalmiete  usw 

Schreibhilfe:  a)  Vaihinger  =     656,10  ) 

b)  Frischeisen-Köhler  =     512,50  > 

c)  Liebert  =  3992,50  ) 
Porto-Ausgaben: 

a)  Vaihinger  =     1020  Nummern  =     268,20  ) 

b)  Frischeisen-Köhler  =       240  „  ==     151,70  [ 

c)  Liebert  =   18779  „  =  3683,10  ] 
Fernsprecher:    Anlage    (Hinterlegung    von  1000  Mk. 

für  den  Apparat)  und  Gebühren 

Entschädigung  für  den  stell  v.  Geschäftsführer  Prof.  Liebert 
Entschädigung  für  den  Assistenten 


Gesamtausgaben  Mk 


11434445 


Kant-Gesellschaft. 


Neuangemeldete  Mitglieder  für  1921. 
Ergänzungsliste  2:  Juni— Dezember  1921. 

I.   Jahresmitglieder. 

A. 

stud.  phil.  Ilse  Abraham,  Berlin  W  50,  Achenbachstr.  3. 

cand.  phil.  Adolf  Ackermann,  Gießen,  Westanlage  58. 

Wilhelm  Ahrens,  Zschortau  b.  Leipzig,  Pfarrhaus. 

Dr.  Paul  Altenberg,  Berlin-Schöneberg,  Hauptstr.  48. 

Dr.  An d er h üb,  Cöln- Lindenthal,  Dürenerstr.  236. 

Dr.  Georg  Anderson,  Halle  a.  d.  Saale,  Friedrichstr.  59. 

Hannah  Arendt,  Königsberg  i.  Pr.,  Busoldstr.  6. 

Justizrat  Georg  Aronsohn,  Berlin- Wilmersdorf,  Kaiserallee  26. 

Ministerialrat  Professor  Dr.  Apelt,  Dresden-N.,  Hospitalstr.  10b. 

KarlAuf'mkolk,  Hagen  i.  Westf.,  Potthofstr.  40. 

B. 

Pfarrvikar  Ludwig  Badstübner,  Dresden-Löbtau,  Walbritzstr.  16. 

L.  Ballhorn,  Halle  a.  d.  Saale,  Kirchnerstr.  21. 

cand.  med.  Hans  Bargou,  Tübingen,  Keplerstr.  9,  bei  Vatters. 

Paul  Barth,  Leipzig-Schönefeld,  Scheumannstr.  lc. 

Btud.  jur.  Ernst  Barthel,  Halle  a.  d.  Saale,  Zapfenstr.  21. 

Taubstummenlehrer  W.  J.  Bechinger,  Meersburg  a.  Bodensee. 


5J8  Kant-Gesellschaft. 

cand.  phil.  Heinrich  Becker,  Berlin-Steglitz,  Belfortstr.  13a. 

Dr.  Theodor  Becker,  München,  Elisabethstr.  29. 

stud.  med.  Cl.  Beckmann,  Gießen  a.  d.  Lahn,  Hoffmannstr.  3. 

Richard  Benjamin,  Rheydt  i.  Rhlnd.,  Kaiserstr.  60. 

Studienassesor  Ferdinand  Bergenthal,  Hamm  i.  Westf.,  Nassauerstr.  10. 

Dorothea  Bicke,  Hannover,  Alte  Döhrenerstr.  85. 

Seminar-Prorektor  Ludwig  Blatter,  Ottweiler,  Saargebiet,  Friedrichstr.  5. 

Apotheker  Friedrich  Blochberger,  Leipzig,  Südstr.  16. 

Dr.  Kurt  Blumenfeld,  Berlin-Wilmersdorf,  Rüdesheimerplatz  7. 

Dr.  Karl  Bock,  Königsberg  i.  Pr.,  Moltkestr.  5. 

E.  Böckmann,  Cöln-Lindenthal,  Theresienstr.  18. 

stud.  phil.  Felix  Böhme,  Leipzig- Dölitz,  Bornaischestr.  176. 

Rektor  Emil  Böiger,  Göteborg,  Schweden,  Oere  Djupedalegatan  9. 

Referendar  Walter  Böse,  Berlin-Lichterfelde,  Luisenstr.  18. 

Carla  Böttcher,  Berlin-Charlottenburg,  Berlinerstr.  93. 

William  Boettcher,  Berlin  N  4,  Borsigstr.  5. 

stud.  math.  Hermann  Brandt,  Tübingen,  Bursagasse  2. 

Dr.  Friedrich  Braun,  i.  Fa.  Braunsche  Hof  buchdruckerei,  Karlsruhe  i.  Baden, 

Karlfriedrichstr.  14. 
Studienrat  Dr.  Brink,  Hannover- Waldheim,  Ottostr.  3. 
Rechtsanwalt  Hans  Brückner,  Löbau  i.  Sa. 

Gerard  Slotemaker  de  Bruine,  Utrecht,  Holland,  Dondersstraat  11. 
Fr.  Burgdorf,  Magdeburg,  Gustav  Adolfstr.  24. 

C. 
Redakteur  Josef  Cavallier,  Budapest,  Ungarn,  I  Lovas-ut.  8. 
Dr.  Chemnitz,  Visselhövede,  Provinz  Hannover. 

stud.  phil.  Chi-kui  Chung,  Berlin-Charlottenburg,  Leibnizstr.  82,  bei  Frau  Spieß. 
Dr.  jur.  A.  Claus,  Sondershausen,  Thüringen,  Elisabethstr.  9. 
Bettina  Cohn  p.  A.  Kirstein,  Berlin  W,  Bendlerstr.  17. 

D. 

stud.  theol.  Carl  Damour,  Göttingen,  Rosdorferweg  19a. 

Bibliothekar  Leonhard  Dal,  Stockholm,  Adv.  Nobelbibliothek. 

Studienrat  Dammann,  Dessau,  Joachim  Ernststr.  18. 

Dr.  Dänzer-Vanotti,  Karlsruhe  i.  B.,  Vincentiusstr.  4. 

Professor  Walter  Dierenbach,   Freiburg  i.  Br.,  Belfortstr.  26. 

Reallehrer  Hermann  Dietrich,   Meersburg  a.  Bodensee,  Taubstummenanstalt. 

Lehrer  Hans  Di  Um  er,  Hannover,  Strohmeyerstr.  2. 

stud.  phil.  Alfons  Diwo,  Heidelberg,  Ladenburgerstr.  60. 

Prokurist  Christian  Dohle,  Cöln-Klettenberg,  Nassestr.  26. 

Dr.  Joseph  Drexler,  Shanghai,  China,  Weihaiwei  Road  95. 

A.  Driessen,  Rotterdam,  Holland,  Gelderschestraat  4a. 

Frau  Dryander,  Halle  a.  d.  Saale,  Friedrichstr.  IIa. 

E. 

stud.  phil.  Herrn.  Chr.  Eberle,  Darmstadt,  Heidelbergerstr.  129. 

Reallehrer  Wilhelm  Eck,  Meersburg  a.  Bodensee. 

Dr.  Walter  Eckstein,  Wien  IV,  Kandlglasse  6. 

Professor  Dr.  Rudolf  Ehrmann,  Berlin  W  15,   Kurfürstendamm  18—49. 

Dr.  Hugo  Eichert,  Ludwigsburg  i.  Wttmbg.  Kaiserstr.  7. 

stud.  phil.  Fritz  Ephraim,  Heidelberg,  Landfriedstr.  14  bei  Singhoff. 

Frl.  Dr.  M.  E  r  1  e  r  ,  Leipzig,  Ranstädter  Steinweg  40  III. 

C.  C.  van  Essen,  Utrecht,  Holland,  Catharynesingel  93  bis 

Professor  Dr.  Karl  Essl,  Aussig,  Tschechoslo vakei,  Mozartstr.  IIa. 

cand.  phil.  J.  C.  B.  Eykmann,    Amsterdam,   Holland,  J.  W.  Brouwerstraat  40. 


Kant-Gesellschaft.  519 

F. 

Lehrer  Jakoh  Faber,  Offenbach,  Rheinland. 

Studienassessor  Walter  Fabian,  Breslau  V,  Rehdigerstr.  28. 

Dr.  Robert  Faesi,  Zollikon,  Schweiz. 

stud.  theol.  F  au  sei,  Tübingen,  Klosterberg  8. 

Prof.  D.  Dr.  Joseph  Feldmann,  Paderborn,  Phil,  theol.  Akademie. 

Kaplan  F erber,  Püttlingen  a.  d.  Saar. 

Dr.  Wilhelm  Flitner,  Jena,  Forstweg  23. 

cand.  phil.  Alfred  Franken feld,   Göttingen,  Lotzestr.  41. 

Professor  Dr.  Paul  Frankl,  Halle  a.  d.  Saale,  Neuwerk  19. 

Privatdozent  Dr.  Walther  Freymann,    Dorpat,  Estland,   Petersburgerstr.  36. 

G. 

Gerson  Gervai,'  Eichwalde  bei  Berlin. 

Dr.  H.  Giltay,  den  Haag,  Holland,  45  van  Imhoffstraat. 

Helmuth  von  Gizycki,  Berlin-Charlottenburg,  Mommsenstr.  71. 

Dr.  Ludwig  Goldschmidt,  Cassel,  IJohenzollernstr.  10. 

Dr.  jur.  Kurt  Graeven,  Berlin-Friedenau,  Bismarckstr.  11. 

Dr.  Marie  Grosche,  Hannover,  Emilienstr.  4. 

stud.  jur.  Ernst  Grumach,  Königsberg  i.  Pr.,  Vorder-Roßgarten  47. 

Professor  Grund el,  Karlsruhe,  Westendstr.  9. 

Professor  Dr.  Alfred  Günther,  Heidelberg,  Bergstr.  13. 

Rektor  John  Gustavson,  Klippan,  Schweden. 

Dr.  Otto  v.  Gyssling,  General  d.  Art.,  München,  Barerstr.  24. 

H. 

P.  J.  de  Haan,  Utrecht,  Holland,  Parkstraat  45. 

Studienassessorin  Else  Habering,  Königsberg  i.  Pr.,  Herbartstr.  8. 

Dipl.-Ing.  Walter  Hänig,  Dresden-A.,  Feldgasse  16. 

Lehrerin  Johanna  Hartmann,  Stuttgart-Untertürkheim,  Urbanstr.  78. 

Studienrat  Rudolf  Hartmann,  Grimma,  Sachsen,  Schröderstr.  3. 

Kapellmeister  Karl  Hauptmann,  Graz,  Oesterreich,  Attemsgasse  8. 

Studienassessor  Dr.  Hans  Havemann,  Hannover,  Stephansplatz  6. 

Walther  Hecker,  Leipzig-R.,  Oststr.  521. 

Felix  Heinemann,  Luzern,  Schweiz,  Haldenstr.  53. 

Gertrud  Helbing,  Aschersleben,  Lange  Reihe  15. 

stud.  phil.  Margarete  Henze,  Göttingen,  Schildweg  23. 

stud.  math.  Lehrer  Willy  Hermecke,  Magdeburg,  Duvigneaustr.  16. 

Landgerichtsdirektor  Dr.  Hertz,  Frankfurt  a.  Main,  Lichtensteinstr.  2. 

Professor  E.  Heyn.  Hannover,  Bödeckerstr.  15. 

Dr.  Konstantin  Hilpert,  Berlin-Wilmersdorf,  Brabanterstr.  22. 

Studienrat  Margarete  Hippke,  Königsberg  i.  Pr.,  Hermann-Allee  2. 

Frau  Tilly  Hoffmann,  Jena,  Fuchsturmweg  18. 

cand.  theol.  Friedrich  Hofmann,  Tübingen,  Neuestr.  4. 

Referendar  Dr.  Rudolf  Hoffnung,    Berlin  W  62,  Lützowplatz  4  bei  Landau. 

stud.  math.  Helmut  Hole,  Tübingen,   Deutsches  Institut  für  ärztliche  Mission. 

Dr.  Ernst  Honold,  Villingen  i.  Baden,  Marktplatz. 

i,  j. 

stud.  phil.  Gerhard  Jacob,  Leipzig,  Bismarckstr.  2. 

stud.  Hans  Jacob,  Witzenhausen  a.  d.  Werra,  Bezirk  Cassel,  Mündenerstr.  402. 

Frau  E.  Jansen,  Meersburg  a.  Bodensee. 

Referendar  Otto  Joseph,  Berlin  W  15,  Kurfürstendamm  37. 

Geheimer  Finanzrat  Dr.  Jost,  Berlin  W  15,  Düsseldorferstr.  47. 

stud.  theol.  Carl  Jung,  Tübingen,  Münzgasse  12. 

K. 

stud.  rer.  pol.  Ernst  Kah,  Freiburg  i.  Br.,  Scheffelstr.  59. 
Fritz  Karsch,  Marburg  a.  d.  Lahn,  Wcißenburgstr.  32. 


520  Kant-Gesellschaft. 

Botho  Kehr,  Landwirt,  Pabstorf,  Braunschweig. 

Studienrat  P.  Kittel,  Zittau,  Dornspachstr.  2. 

P.  Klantke,  Shanghai,  China,    Medizin-  u.  Ingenieurschule  Weihaiwei  Road  9'> 

Wilhelm  Klees,  Hamburg  15,  i.  Firma  Wilhelm  Klees  &  Co. 

Privatdozent  Dr.  Richard  Koch,  Frankfurt  a.  Main,  Savignystr.  8. 

Dr.  K.  Kof,  Jena,  Oberer  Philosophenweg  2. 

Albert  Köhler,  Prokurist,  München,  Ismaningerstr.  56. 

cand.  theol.  W.  Koehn,  Tornow  bei  Hohenfinow,  Marl:. 

cand.  phil.  Hans  Kohn,  Prag,  Tschecho-Slowakei,  Rudolfava  15. 

Lehrer  Hans  Köhler,  Berlin  N.  31,  Ruppinerstr.  231. 

Albert  Köllges,  Dohr,  Post  Mülfort,  Dohrerstr.  320. 

Hans  Költzsch,  Leipzig,  Arndtstr.  68. 

Elisabeth  Koste r,  Magdeburg,  W,  Arndtstr.  11. 

Dr.  phil.  Alexander  Koyre,  Bergzabern,  Pfalz,  Eisbrünnerweg  bei  Dr.  Conrad. 

Lehrerin  Hanna  Kramer,  Wegeleben,  üstharz,  Zuckerfabrik. 

cand.  rer.  pol.  Heinz  Krapoth,  Mülheim-Ruhr,  Broich,  Rheinl.,  Wilhelminenstr.  31. 

Wilhelm  Kratz,  Münster  i.  Westf.,  Melchersstr.  41. 

cand.  ing.  Willy  Kriz,  Zellerfeld  i.  Harz,  Bergstr.  163. 

Dr.  Hans  Krüger,  Hannover,  Ubbenstr.  19. 

stud.  phil.  Wilhelm  Krüger,  Marburg  a.  d.  Lahn,  Hofstadt  18. 

Gymnasiallehrer  Werner  Kürsteiner,  Bern,  Schweiz,  Wabernstr.  22. 

Hans  Ulrich  Kuss,  Sondershausen,  Thür.,  Possenweg  2b. 

Pfarrer  H.  Kuttter,  Beggingen,  Schweiz  bei  Schaffhausen. 


Lehrer  Lampersdörfer,  Cadolzburg,  bei  Fürth. 

Referendar  Fritz  Landsberger,  Berlin-Schöneberg,  Salzburgerstr.  16. 

Studienrat  Fritz  Laue,  Friedrichshagen  b.  Berlin,  Scharneweberstr.  101. 

Dipl.-Ing.  Friedrich  Lechner,  Wien  III,  Apostelgasse  12. 

Ernst  Levy,  Cassel,  Kölnischestr.  86. 

cand.  phil.  Hans  Lichtenstein,  Heidelberg,  Schillerstr.  31  bei  Schirmer. 

Geh.  Reg.-Rat  F.  List,  Berlin  W.  63,  Landgrafenstr.  4. 

Lic.  theol.  Olof  Ljngren,  Gotheburg,  Schweden,  Olivedalsgadan  19. 

Dr.  Arthur  Loewenherz,  Mariampol,  Litauen,  Hebräisches  Gymnasium. 

stud.  phil.  Kurt  Loewenstein,   Hamburg  30,  Eppendorferweg  150. 

Julius  Loewenstein,  Breslau  13,  Augustastr.  63. 

Studienrat  Reinhard  Lorenz,  Borna  bei  Leipzig,  Seminar. 

Oberstudiendirektor  Professor  Dr.  Wilhelm  Lorey,  Leipzig,  Fockestr.  7. 

Pfarrer  G.  Ludwig,  Dießbach  bei  Büren,  Schweiz. 

M. 

Studienrat  Dr.  H.  Marre,  Gladbeck  i.  Westf.,  Babnhofstr.  4. 

cand.  phil.  Fritz  Marti,  Bern,  Schweiz,  Brunnadernstr.  42. 

Professor  Dr.  Theodor  Marx,  Heidelberg,  Schröderstr.  47. 

Staatsanwalt  Dr.  May,  Darmstadt. 

Professor  Dr.  Meltzer,  Hannover,  Meterstr.  42. 

Prof.  Dr.  Rudolf  Menzel,  Aussig,  Böhmen,  Dr.  Weitsstr.  4. 

Dr.  phil.  Margarete  Merleker,  Berlin  W  57,  An  der  Apostelkirche  1. 

stud.  phil.  Fritz  Metz,  Cassel,  Martinsplatz. 

Amtsgerichtsrat  Dr.  Theodor  Metz,  Heppenheim  a.  d.  Bergstraße. 

stud.  phil.  M  i  s  g  r  y  1 1 ,  Neckarsteinach  bei  Heidelberg. 

Vermessungsdirektor  M.  Moldenhajier,  Benneckenstein,  Harz. 

Studienassessor  Robert  Monje",  Heppenheim  a.  d.  Bergstraße,  Liebigstr.  6. 

stud.  ing.  H.  Mönkemeyer,  Hannover,  Am  Grasweg  7. 

Oberlandesgerichtsrat  Müller,  Dresden- A.,  Wartburgstr.  2. 

Privatdozent  Dr.  Aloys  Müller,  Buschdorf  b.  Bonn. 

Rechtsanwalt  Ernst  Müller,  Hannover,  Ferdinand  Walbrechtstr.  18. 

Studienassessor  Georg  Müller,  Cassel,  Grüner  Weg  33. 


Kant-Gesellschaft.  521 

cand.  jur.  Wilhelm  Müller,  Greifswald  i.  Pommern,  Fischstr.  19. 

Pfarrer  K.  Müller  von  Hagen,  Barmen,  Mühlenweg  12. 

Graf  Münster,  stud.  jur.,  Leipzig,  Talstr.  31. 

Lehrer  Rudolf  Murtfeld,   Hannover-Buchholz,  Weidetorstr.  44. 

Professor  Dr.  W.  Nausester,  Templin,  Uckermark,  Prenzlauerchaussee  30. 

Geh.  Studienrat  Direktor  Dr.  F.  Neubauer,   Frankfurt  a.  M.,    Hansa- Allee  27. 

cand.  jur.  Franz  Neumann,  Frankfurt  a.  M.,  Westendstr.  103. 

Karl  zur  Nie  den,  Berlin-Reinickendorf-Ost,  Raschdorffstr.  1. 

Pater  M.  Niehues,  Professor  der  Philosophie,  Düsseldorf,  Herzogstr.  17. 

cand.  phil.  M.  A.  Nolda,  Rostock,  Moltkestr.  20. 

Dr.  Willy  Nußbaum,  Berlin  W.,  Grunewaldstr.  55. 

0. 

Reallehrer  Karl  Oechsle,  Meersburg,  Bodensee,  Taubstummenanstalt, 
stud.  med.  Hanna  Oppenheim,  Frankfurt  a.  M. 

P. 

Dr.  Alessandro  Passerin  d'Entreves,  Turin,  Italien,  Corso  Vittorio  Ema- 

nuele  5. 
Studienassessor  Walter  Peter,  Zittau  i.  S.,  Schillerstr.  16. 
Lehrerin  Marie  Peters,  Hannover,  Callinstr.  6. 
cand.  phil.  Edgar  Pfankuch,  Berlin-Steglitz,  Schildhornstr.  16. 
Taubstummlehrer  Friedrich  Pfefferle,  Meersburg,  Bodensee. 
Frau  Dr.  M.  Po  hie,  Frankfurt  a.  M.,  Schwarzwaldstr.  82. 
Fräulein  Professor  Dr.  CarolaProskauer,  Karlsruhe  i.  B.,  Weinbrennerstr.  38. 

ß. 

Professor  Dr.  A.  F.  Raif,  Karlsruhe  i.  Baden,  Karlstr.  89. 

Studienrat  Franz  Rauschen,  Paderborn,  Bahnhofstr.  3. 

Dr.  L.  Reiche,  Schwerin  a.  d.  Warthe. 

Realschuldirektor  Dr.  Ludwig  Roesel,  Leipzig,  Georgiring  5. 

Studienreferendar  Erich  Rogier,  Breslau  10,  Moltkestr.  8. 

Justizrat  Dr.  Römisch,  Dresden-Strehlen,  Residenzstr.  36  b. 

Anne  Rosenbusch,  Heidelberg,  Grabengasse  18. 

Dr.  med.  Alfred  Rosenthal,  Frankfurt  a.  M.,  Holbeinplatz  26. 

Frau  Dr.  Rosenthal,  Frankfurt  a.  M.,  Sophienstr.  22. 

Erich  Rüping,  Bochum,  Hernerstr.  253. 

Studienreferendar  Heinrich  Rüping,  Bochum,  Hernerstr.  253. 

S. 
Prof.  Dr.  H.  S  a  i  1  e  r  ,  Freiburg  i.  Br.,  Zasiusstr.  32. 
Dr.  phil.  I.  E.  Salomaa,  Järvenpää,  Finnland. 
br.  William  M.  Salt  er,  Silver  Lake,  New-Hampshire,  U.S.A. 
G.  W.  Sayffaerth,  Cöln-Lindenthal,  Gleuelerstr.  96. 
cand.  phil.  Günter  Schab,  Halle  a.  Saale,  Jacobstr.  60. 
Dr.  Alfred  Seidel,  Heidelberg,  Untere  Neckarstr.  68. 
Georg  Seidler,  Braunschweig,  Leonhardstr.  2. 
Professor  Dr.  Julius  Seyfried,  Karlsruhe  i.  Baden,  Friedenstr.  17. 
Studienrat  Dr.  Bruno  Siburg,  Düsseldorf,  Speldorferstr.  2. 
Waldemar  Sobottke,    Königsberg  i.  Pr.,    Schindekopstr..  26   bei  Franz  Strü- 

wecker. 
Sanitätsrat  Dr.  Ludwig  Spanier,  Hannover. 
Dr.  J.  van  der  Spek,  den  Dolder,  Holland,  Doldersche  Weg  60. 
Otto  Splitter  i.  Firma:  Brüggemann  y  Cie.,  Popotla  D.  F.  in  Mexiko. 


522  Kant-Gesellschaft. 

Sch. 

«aiul.  phil.  Franz  Schabram,  Braunsberg  i.  Ostpr.,  Collegienstr.  2. 

l>r.  1!.  Schlesinger,  Hannover,  Emilienstr.  4. 

Regierungspräsident  Schleusener,  Potsdam. 

Walter  Schlitzberger,  Berlin  W  50,  Regensburgerstr.  32. 

Professor  Dr.  Schmied-Kowarzik,  Dorpat,  Estland,  Teichstr.  19. 

Karl  Theodor  Schmidt,  Frankfurt  a.  M.,  Darmstädterlandstr.  197. 

stud.  theol.  Victor  Schmidt,  Utrecht,  Holland,  Hugo  de  Grootstr.  42. 

Gerichtsreferendar  Dr.  Wilhelm  Schmidt,   Dortmund,  Westfalendamm  4. 

Oberingenieur  S  c  h  o  1  z ,  Cöln-Lindenthal,  Landgrafenstr.  68. 

stud.  phil.  Walter  Scholz,  Berlin  N.  113,  Carmen  Sylvastr.  22  1V. 

stud.  phil.  Karl  Schönewolf,  Cassel,  Obere  Königstr.  30. 

Oberlehrer  Oskar  Schröder,  Dresden-Laubegast,  Bismarckstr.  10. 

Dr.  Wilhelm  Schröder,  Hannover,  Wedekindstr.  5. 

Lehrer  Fritz  Schulze,  Hannover,  Birkenstr.  8. 

L.  J.  Schutte,  Hilversum,  Holland,  Stationsstraat  13. 

Studienrat  Dr.  R.  Schwarz,  Hannover,  Ubbenstr.  9. 

St. 

Apotheker  Alfred  Stahl,  Völpke,  Kreis  Neuhaidersleben. 

Hauptmann  a.D.  Steigertahl,  Groß-Salza  bei  Magdeburg,  Burghof  1. 

Lilly  Stettier,  Frankfurt  a.  M. ,  Weserstr.  1. 

Studienrat  Dr.  Bruno  Strauß,  Berlin  NW.  87,  Wullenweberstr.  8. 

A.  Strohbusch,  Damme,  Westhavelland. 

Frl.  Carmen  Stubenrauch,  Berlin- Wilmersdorf,  Rüdesheimerplatz  3. 

T. 

Theodor  Tagger,  Ischl,  Oesterreich,  Brennerstr.  3. 
Fritz  Teichmüller,  Nordhausen  a.  Harz,  Eichendorffstr.  2. 
Landgerichtsdirektor  Thiel,  Dresden-A,  Ludwig  Richsterstr.  8. 
stud.  phil.  Karl  Thieme,  Basel,  Schweiz,  Socinstr.  2. 
Seminar-Prorektor  Lebrecht  Thomas,  Waldau  i.  Ostpr. 
(r.  Tippe,  Hannover,  Steinmetzstr.  21a. 
Studienrat  von  Thünen,  Hannover,  Callinstr.  25. 
Dr.  Hilde  Treschen,  Leipzig,  Kronprinzstr.  701. 
Dr.  Dimitry  Tschizewski,  Heidelberg,  Moltkestr.  10. 

u. 

Dr.  ing.  Henry  Ulrich,  Mexico  D.  F.  3a  de  Revillagigedo. 
Frau  Professor  Agnes  Unden,  Upsala,  Schweden. 
Georg  Urdang,  Berlin  NW,  Lessingstr.  37. 
cand.  theol.  Heinz  Urig,  München,  Kaiserstr.  71. 

V. 

stud.  theol.  C.  M.  Veenhuysen,  Utrecht,  Holland,  Willem  Barentzstraat  83. 

w. 

Wagner,  Halle  a.  d.  Saale,  Gr.  Brauhausstr.  12. 

Lektor  Lic.  theol.  Gustaf  Walli,  Göteborg,  Schweden,  Plantagegatan  11. 
Reallehrer  Leo  Wannenmacher,  Meersburg,  Bodensee. 
Studienrat  Dr.  Reinhard  Wegener,  Magdeburg,  Kl.  Münzstr.  6. 
Dr.  Ernst  Weinwurm,  Wien  III,  Löwengasse  2. 

cand.  phil.   Felix  Wen  gh  off  er,    Königsberg  i.  Pr.,    Steindamm  27—29,    Pen- 
sionat Klein. 
Frl.  Adele  Wesche,  Hamburg,  Bramfelderstr.  84. 


Kant-Gesellschaft.  523 

Attache    Hans   Winter,    Bern,    Schweiz,    Oesterreichische    Gesandtschaft,    Sul- 

genauweg. 
Frau  G.  Wittkower,  Berlin  NW,  Hansaufer  8. 
Frau  E.  Witzel,  Tübingen,  Poststr.  4. 

Realgymnasialdirektor  Professor  Dr.  Wolf,  Hannover-Linden,  Falkenstr.  11. 
J.  R.  Wolfens  berger,  Utrecht,  Holland,  Oorspronkspark  5. 
Studienassessor  Hellmut  Wohlenberg,  Kloster  Wennigsen  am  Deister. 
Lehrer  Wulf,  Theessen,  Bez.  Magdeburg. 

z. 

Günther  Ziegler,  Halle  a.  d.  Saale,  Zwingerstr.  13. 

Pfarrer  Zuckschwerdt,  Groß-Salze,  Bezirk  Calde,  Saale,  Kirchstr.  15. 

Institute. 

Amsterdam:  Vereinigung  für  Philosophie ;  Schriftführer  Dr.  Albert  S t e e n- 
bergen,  Amsterdam,  Holland,  Prinsengracht  810. 

Hannover,  Leibniz- Akademie ;  Volkstümliche  Hochschulkurse,  Hannover,  Goethe- 
straße 2  a. 

Herrnhut  i.  Schles. :  Theologisches  Seminar,  Direktor  Professor  Dr.  Theophil 
Steinmann. 

II.    Dauermitglieder  ab  Januar  1921. 

A. 

stud.  theol.  B.  J.  A  r  i  s ,  Groningen,  Holland,  Gedempte  Boterdiep  7  a. 

B. 

Ingenieur  G.  Baeumlin,  Luzern,  Schweiz,  Hertensteinstr.  52. 

cand.  phil.  et  theol.  Em.  Behrens,  Rögle,  Schweden. 

Privatdozent  Dr.  I.  Benrubi,  Genf,  Schweiz,  Avenue  Luzerna  11. 

Dr.  G.  A.  van  den  Bergh  van  Eisingha,  Amersfoort,  Holland. 

Dr.  Ludwig  Binswanger,  Kreuzungen,  Schweiz,  Kuranstalt  Bellevue. 

Prof.  Dr.  G.  Bohnenblust,  Genf,  Schweiz,  Avenue  des  Vollandes  2. 

Frithiof  Brandt,  Stengaarden,  Dänemark. 

Prof.  Dr.  N.  Braunshausen,  Luxemburg,  Avenue  Victor  Hugo  31. 

Dr.  J.  R.  Buisman,  Utrecht,  Holland,  Mulderstraat  5. 

D. 

cand.  theol.  J  o  h.  D  i  p  p  e  1 ,  Groningen,  Holland,  Zuidersingelstr.  27. 

E. 

Hugo  Eggeling,  Leipzig-Reudnitz,  Johannesallee  4. 
Dr.  B.  K.  Engel,  Berlin-Zehlendorf,  Potsdamerstr.  47 — 48. 

Pfarrer  Max  Gerber,  Langenthai,  Kanton  Bern,  Schweiz. 
Dr.  Louis  Glatt,  Zürich,  Schweiz,  City  Hotel. 
Dr.  Th.  Goedewaagen,  Blaricum,  Holland,  Kerklaan  03. 
Dr.  Gerhard  Güttier,  Reichenstein  i.  Schi. 

H. 

Max  Hamlet,  Hamburg,  Schlüterstr.  52. 

Prof,  Dr.  J.  Hausheer,  Zürich,  Schweiz,  Bergheimstr.  10. 

Dr.  Hans  H  e  g  g ,  Bern,  Schweiz,  Kirchenfcldstr.  78. 

r. 

Max  Isaac,  Hamburg,  Mittelweg  107. 

Prof.  Dr.  K.  Ito,  Charlottenburg,  Berlinerstr.  103. 


524  Kant-Gesellschaft. 


Prof.  Dr.  Malte  Jacobsson,  Göteborg,  Schweden,  Aschebergsgantan  36. 
Prof.  Dr.  Karl  Jesinghaus,  Parana,  Argentinien. 

K. 

Legationsrat  a.  D.  W.  v.  Krause,  Schloß  Bendeleben  bei  Sondershausen. 
Prof.  Dr.  Victor  Kuhr,  Kopenhagen,  Dänemark,  Gyldenlovesgatan  10. 
Privatdozent  Dr.  Reinhold  Kynast,  Breslau,  Arletiusstr.  7. 

L. 

Alfred  Lisser,  Hamburg,  Neuer  Wall  10. 

M. 

cand.  phil.  F.  Marescot,  Haag,  Holland,  Javastraat  69. 

Rechtsanwalt  Hans  Marquardt,  Berlin  NW.,  Lessingstr.  35. 

Pfarrer  Dr.  Georg  Merkel,  Nürnberg,  Pfarrgasse  5. 

Justus  Meyer,  Zandfoort,  Holland,  Zandfoortsche  Laan  30. 

Dr.  Job.  Müller,  Danzig,  Lastadie  2. 

Ing.  W.  A.  Th.  Müller-Neuhaus,  Berlin  NW.,  Kronprinzen  Ufer  23. 

P. 

Prof.  Dr.  Adolf  Phalen,  üpsala,  Schweden,  Salag  29a. 

cand.  phil.  J.  Poortmann,  Groningen,  Holland,  Helperbrink  12. 

R. 

Prof.  Dr.  A.  Rademacher,  Bonn,  Argelanderstr.  1. 
Heinrich  Reuber,  Bernitt,  Mecklbg. 

S. 
Privatdozent  Dr.  Martin  Simmen,  Luzern,  Schweiz,  Loewenplatz  11. 
Schuldirektor  A.  Sjögren,  Smedjebacken,  Schweden. 
Prof.  Dr.  Norman  Kemp  Smith,  Edinburg.  Schottland,  Universität. 

Seh. 

Prof.  Dr.  Paul  Schölten,  Amsterdam,  Holland,  Waldeck  Pyrmontlaan  17. 

St. 

Dr.  Melchior  Stechow,  Berlin-Dahlem,  Goßlerstr.  14. 

Dr.  Arthur  Stein,  Burgdorf  bei  Bern,  Schweiz,  Pestalozzistr.  51. 

Friedr.  Freiherr  v.  Stromer-Reichenbach,  Konstanz,  Baden,  Kauzleistr.  4. 

T. 

Fabrikdirektor  Dr.  Georg  Teply,  Zürich-Seebach,  Schweiz. 

stud.  theol.  L.  H.  W.  Theunissen,  Utrecht,  Holland,  Ouade  Gracht  189 bis. 

Dr.  med.  A.  Tiedemann,  Celle,  Mühlenstr.  23. 

V. 

Dr.  H.  W.  van  der  Vaart  Smit,  s'Graveland,  Holland. 
Dr.  Carl  Vering,  Hamburg,  Holzdamm  S. 
Regierungs-  u.  Baurat  Karl  Verlohr,  Fulda,  Heinrichstr.  16. 
Dr.  D.  Th.  V ollen weid er,  Jegensdorf,  Kanton  Bern,  Schweiz. 

w. 

A.  C.  Wageningen,  Hilversum,  Holland,  Middenweg  16. 
Kristian  Wester by,  Kopenhagen,  Thorwaldsenvey  12. 

z. 

Prof.  Dr.  Paul  Ziert  mann,  Berlin-Steglitz,  Breitestr.  32. 


Absolutes  137,  149,  Abso- 
lutismus 13,  501 

Abstraktion  190, 194, 3 19  f., 
326,  437 

Affektion  des  Ich  n.  Kant 
169  f.,  339 

Agnostizismus  157,  494 

Akt  des  Willens  47,  Akti- 
vität 60  ff.,  68,  177 

Allgemeines  485,  A.es  und 
Einzelnes  195,  A.heit44, 
341,  345,  A.gültigkeit  48, 
123,  177,  341,  387,  404, 
418 

Als-Ob  213 

Analogien  der  Erfahrung 
316,  337  ff. 

Analyse  185,  Analytik, 
transzendentale  145,  330, 
339  f. 

Anschauung  83,  113,  115, 
126,  144,  154,  206  f.,  em- 
pirischelOO,intellektuelle 
126,  reine  100,  108  f., 
Formen  der  A.  104  f.  160, 
316  ff.,  319  ff. 

Antinomien  77, 80, 127, 142, 
331,  410,  501,  Antinomik 
85 

Antizipation  434  ff. 

Apodiktizität98ff.,  111,  327 

Apperzeption  316,  331  ff., 
392 

Apprehension  341  ff. 

Apriori  98  ff.,  111,  145  f., 
154,  160,  167,  175,  180, 
186,  191,  1981,209,294, 
312ff.,  421,  423,  A.smus 
489,  formaler  299,  mate- 
rialer  300 

Ästhetik  19  f.,  56,  180,  355, 
358,  372,  403  ff.,  489,  ex- 
perimentelle 405,  tran- 
szendentale 105, 144, 146, 
198,  212,  319  ff. 

Atome  63  f.,  94,  201, 
Atomistik  64 


Register. 

1.   Sachregister. 

Aufgabe  36,  38,  61  f.,  495, 

unendliche  186,  A.n  der 

Ästhetik  403  ff. 
Aufklärung  1  ff.,  142,  145, 

423 
Autonomie  6,  12  f.,  56,  59, 

190,  194,  300,  305,  307, 

489 
Axiome,    geometrische  99, 

101,  198  f. 

Bedeutung  434  f. 

Begriff  83,  108,  113,  126, 
136,  139,  181  f.,  185,188, 
206,210,213,495,  B.  des 
Lebens  127,  B.  des  Raums 
321,B.d.Zeit326ff.,B.u. 
Leben  1 16  ff.,  B.sbildung 
190 

Beschreibungsmittel  u.  Be- 
schreibungsobjekt 454  ff. 

Bewegung  106  f.,  198, 455  ff., 
483  ff. 

Bewußtsein  83  f.,  88,  124, 
168,  177,  179,  182,  197, 
331,  391,  398  f.,  501, 
metaphysisches  122,  sitt- 
liches 149,  B.  überhaupt 
177,  B.sinhalte  400 

Bezugssystem  93,  480 

Bildung  35,  65,  86 

Binomismus  209 

Biologie  47, 116  f.,  186,191  f., 
201  f.,  315 

Chemie  117,  132,  190,  192 
Christentum   3  f.,   82,   215, 
228,  500,  505 

Dämonisches  80,  88,  375, 
379,  381 

Deduktion  102,  metaphysi- 
sche 330,  transzendentale 
143  f.,  146,  148,  167  ff., 
212,  294,  330,  333 

Denken  144,  208  ff.,  213, 
227,    501,    atomistisches 


63,  pädagogisches  17  ff., 
44,  produktives  200 f.,  D. 
u.  Sein  86,  90,  Denkge- 
setze 188  f. 

Dialektik  74,  78,  85  ff.,  90, 
138,  196,  351,  452,  tran- 
szendentale 84,  145,  493 

Ding  an  sich  143  f.,  157, 
171,  195,  197,  200,  338  f. 

Dogmatismus  135, 142, 144, 
316,  339,  344 

Dynamik  68,  94,  D.  des  see- 
lischen Erlebens  395 

Eidologie  185 

Eigengesetz  502  f. 

Einbildungskraft,  produk- 
tive 316,  333  ff.,  339,  358 

Einheit  53,  56,  58, 146,  193, 
451,  systematische  420, 
E.  der  Apperzeption  316, 
330  ff.,  392,  E.  desBewußt- 
sein 182,  398  f.,  E.  der 
Erkenntnis  186,  E.  des 
Endlichen  70,  E.  d.Gegen- 
sätze  61,  E.  des  Geistes 
60,  E.  der  Mannigfaltig- 
keit 20,  E.  der  Natur 
102  f.,  E.  des  Selbstbe- 
wußtseins 347,  E.  von 
Denken  und  Sein  90,  E. 
von  Form  und  Gehalt  75, 
E.  von  Sein  u.  Sollen  63. 

Einteilung  d.  Wissenschaf- 
ten 193  f.,  487 

Einzelnes  u.Allgemeinesl95 

Einzelwissenschaften  129, 
133,  E.  und  Philosophie 
194  f.,  417  ff.,  487 

Elektrizitätslehre  94,  Elek- 
trodynamik 93,  Elektro- 
nen 94 

Empfindung  98,  169,  171, 
177,  209,  497 

Empirismus  94  ff.,  142, 144, 
147,  316,  320,  Empirio- 
kritizismus 315 


Register. 


.  E.prinzip  92 
Entwicklung    148,    175  f., 

203,  215,  312,  424  f. 
Erfahrung  58,  98,  102,132, 
142  f.,  144,  146,171,180, 
184  f.,  206  f.,  316,  322, 
330,  333  ff.,  421,  E.sur- 
teile  191,  345 
Erkennen  77,    143  f.,   207, 

E.  u.  Leben  85,  Erkennt- 
nis 23,  63,  79,  111,  142, 
186, 188f.,  197, 200, 207f., 
3 16  f.,  338,  340,  488  f., 
502,  Erkenntniskritik  96, 
1 09, 488,  Erkenntnislehre 
209,  487,  Erkenntnis- 
problem 195  f.,  451,  Er- 
kenntnistheorie 121,  169, 
174  ff.,  243,  488 

Erleben  112  ff.,  395,  Erleb- 
nis 37  f.,  57,  112  ff. 

Erscheinung  144,  169,  333, 
336,  338  ff.  • 

Erziehung  3,  6,  18  ff.,  35  ff., 
65  f.,  soziale  52 

Ethik  12,  27,  145,  149, 186, 
190,  197,  208,  213,  355, 
489,  502  f,  angewandte 
23,  aristotelische  497  f., 
kritische  283  ff. 

Evidenz  101, 180f.,  189, 336 

Evolution  176,  E.stheorie 
218  f. 

Exaktheit  31,  417 

Existenz  142,  199  f.,  501 

Fiktion  362,  468,  470  f.,  481 
Finitismus  63,  70 
Form  32  f.,  68,  71,105, 127, 
154,  163,  F.  u.  Gehalt  75, 

F.  u.  Inhalt  320  ff.,  F.  u. 
Materie  182  f.,  194, 305ff, 
F.U.Stoff  20 f.,  34,  104, 
Formalismus  12,  86,  ethi- 
scher F.alismus  289  ff. 

Freiheit  6,  32,  65f.,71,217, 
292,  298ff.,  317,  330 f., 
356 ff.,  360 ff.,  F.U.Not- 
wendigkeit 351  ff.,  Frei- 
willigkeit 60  ff. 

Ganzes  28,  31,  46,  49,  83 

Gegebenes  134,  181,  187, 
209,  217,  Gegebenheits- 
lehre 217 

Gegensatz  61, 64, 70,  Gegen- 
sätzlichkeit 66 

Gegenstand  143,  178,  183, 
202,299,  358,  G.  der  Pä- 


dagogik 20,  G.  der  Psy- 
chologie 390  ff.,  G.  der 
Wissenschaft  38 

Geist  56,  59,  88,  127,  156  f., 
448,  objektiver  162,  424, 
G.esleben  125,  130,  227, 
G.estypen  76  ff.,  G.es Wis- 
senschaften 38,  50  f.,  193, 
397,  487 

Geltung  183,  184 

Gemeinschaft  6,  57,  66  ff., 
70  ff.,  177,  401,  soziale 
149 

Genie  56,  404,  G.  u.  Tragik 
351  ff. 

Geometrie  99,  104  f.,  108, 
190  f.,  198,  206,  323  ff., 
334 

Gerechtigkeit  65  f. 

Geschichte  121,  177,  191, 
218,  397,  426,  453,  489  f., 
492,  G.  der  Philosophie 
121,  139  ff.,  416  ff, 
G.sphilosophie  186,  489, 
G.sschreibung  57 

Geschmack  404,  410  f. 

Gesellschaft  162  f.,  489 

Gesetz  31,  54f.,  56,  102 f., 
105, 198,  208,  300  ff.,  334, 
338,  340,  387,  458,  aprio- 
risches 347,  empirisches 
99,  ethisches  293,  indi- 
viduelles 55,  G.lichkeit  56, 
61  f.,  64,  102,  182,  403, 
495,  G.mäßigkeit  55,  63, 
102,  174,  198,  41 
(Gesinnung  62,  300 f.,  497, 
502  f. 

Gignomenoiogie  194,  209 

Gott  158  f.,  163,  172,  218, 
G.esbeweise  4,  215,  G.es- 
lehre  171 

Gravitationsgesetz  93,  104, 
477 

Grund,    zureichender    189, 
Grundsätze  338,  348, 
Grundwissenschaft  d.  Pä- 
dagogik 32,  35  ff. 

Gültigkeit  184,  501  f. 

Gute  495,  506 

Handeln  20,  24,  31,  37,  44, 
51,  126,  217,  ethisches 
291  ff.,  praktisches  56 

Heterogonie  der  Zwecke  177 

Historie  122,  Historismus 
123  f.,  418 

Hypothese  99, 347,  349, 465, 
468,  470  f.,  481,  484 


Ich  127,   154,  156,    L( 
177,  179,  183 

Ideal  59,  219,  individuali- 
stisches 65,  I.  der  Ge- 
rechtigkeit 65 

Idealismus  52  ff.,  51», 
135,  156  f.,  193,200,209, 
221,  426  ff,  496,  abso- 
luter 155,  157,  äternisti- 
scher  158,  dogmatischer 
171,  kritischer  105,  154, 
157, 196 ff.,  199,  logischer 
97,  101,  103,  objektiver 
153,  181,  rationeller  153, 
158,  subjektiver  154, 157, 
transzendentalerl42,154, 
Idealität  von  Raum  und 
Zeit  103,  154 

Idee  38,  45,  62,  74  f.,  82  ff., 
90,  127,  154,  159  f.,  162, 
197,219,  358  f.,  425,495, 
praktische  163,  transzen- 
dentale 67, 1.  der  Freiheit 
362  f.,  387,1.  der  Sittlich- 
keit 150, 1.beiHume  184f., 
I.nlehre83,  154,160,493 

Identität  178,  189,  211 

Immanenz  114  f. 

Immaterialismusl53,  Imma- 
terielles 175 

Imperativ,  kategorischer 
293  ff. 

Individualismus  53  ff.,  59  ff., 
186,  216,  490,  Individua- 
lität 43,  446,  Individuität 
60,61,  Individuum  6, 54ff., 
163,  174,  401,  489  f. 

Inertialfiktion  480  f.,  Iner- 
tialsystem  93  f.,  480 

Inhalt  115, 1.u.Form  320  ff. 

Invarianz  466  f.,  469  ff.,  477 

Intuition  18,  113,  124,  130/ 
436,  438,  I.ismus  181  f. 

Ironie,  romantische  359,  tra- 
gische 386 

Irrationales  81,  83,  Irra- 
tionalismus 84,  Irratio- 
nalität 18,  83 

Kant-Gesellschaft  219,  230, 
260  ff.,  508  ff. 

Kategorien  122, 142f.,  145f., 
168,178,  183,  185  f.,  189, 
197,  3 16  ff.,  330,  333 ff., 
338  f.,  aristotelische  496, 
K.lehre  121,  128,  192 

Kausalerklärung  458,  Kau- 
salproblem 141  f.,  184  ff., 
Kausalität  142,  149,  174, 


Register. 


527 


184  f.,   21G,    316,  337  ff., 

392  ff.,  396  f.,  psychische 

393  f. 

Kirche  6  ff,  13,  70 

Koinzidenz  der  Weltpunkte 
101 

Konstanz  477,  K.gesetz  463, 
469 

Kontinuität  60,  127,  390 

Koordinatensystem  482 

Körper,  physikalische  91  ff., 
105,  455  ff. 

Kritik,  der  historischen  Ver- 
nunft 128,  Kritizismus 
96  ff.,  134  ff.,  142,  145  f., 
149,  193,  224,  316,  330, 
339 

Kultur  50,  133,  420  f.,  424, 
448  f.,  505,  K.bewußtsein 
421,448f.,K.gemeinschaft 
400,  K.wirklichkeit  19, 23, 
39 

Kunst  18 ff.,  34,  56,  131  f., 
219,   358  ff,  403  ff.,  420, 
449,   K.psychologie  408, 
414 f.,  K.wissenschaft 
406  f.,  414  f. 

Leben  30,  32,  55,  74 f. ,78  f., 
112  ff.,  156,  psychisches 
156,  398  ff.,  L.  desGeistes 
81,  L.U.Begriff  116,  L. 
u.  Idee  84  f.,  L.  u.  Philo- 
sophie 1 12ff,  L.sanschau- 
ung  227,  487,  L.sbegriff 
62,  112  ff.,  L.sganzes42, 
50,  L.sganzheit  43,  L.s- 
philosophie  112  ff.,  218, 
L.stotalität  55 

Logik  121,  139,  171,  174ff., 
231,  241  ff.,  formale  138, 
188,  330,  493,  normative 
208,  transzendentale  138, 
145  f.,  L.  der  Philosophie 
122,  136,  L.U.Ethik  300, 
Logismus  144,  194,  Logi- 
zismus  194,  209,  Logos 
495 

Lorentz-Kontraktion  91  ff. 

Marburger  Schule  190, 197, 
423,  427,  429f.,  447,  494f. 

Material  29  f.,  M.ismus  78, 
237,  Materie  55,  104  f., 
137,  194,  205  ff.,  M.  in 
Ethik  289  ff.,  M.u.Form 
182  f. 

Mathematik  123,  178,  185, 
193  f.,    206  f.,    217,    313, 


317,  323,  338,  340,  346, 
392  f.,  453,  486,  493 

Maxime  6,  12,  291  ff. 

Mechanik  94,  457,  472,  Me- 
chanismus 83 

Menschu.Welt  227,  Mensch- 
heit 12 

Metaphysik  107,  121  ff., 
134  f.,  144ff.?  167,  173, 
175,  177,  179,  196,  207, 
217  f.,  237,  243,303,311, 
331,  337  ff.,  423,  487  ff., 
494,  497,  505,  M.  d.  Le- 
bens 112 

Methode,  dialektische  138, 
empirische  180,  psycho- 
logische 318, 348ff.,  394ff., 
transzendentale  180,  318, 
348  f.,  M.d. Wissenschaft 
207  f.,  Methodik  des  pä- 
dagogischenDenkens  17ff 

Mittel  u.  Zweck  25,  27,  293 

Mittelalter  53,  366 

Moral  311,  384,  M.ität  308, 
311 

Mystik  80 ff.,  126,  133,  373, 


Nationalökonomie  116  f. 

Natur  24  f.,  49,  84,  102  f., 
131,  133,  178,  194,  204, 
218  f.,  333  f.,  338,  352, 
426,  457  ff.,  481,  N.ge- 
schehen  392  f.,  N.gesetz 
101  f.,  106,343,457,478, 
481ff.,N.philosophie207, 
218,  243,  455  ff.,  N. Wis- 
senschaft 24,  31,  47,  96, 
101  f.,  117,  167,186,190, 

193,  197,  214,  233,  313, 
317,338,340,  346,  426  f, 
487,  N.wissenschaft  und 
Psychologie  392  ff. 

Negativismus  79,  359 

Neukantianismus  96,  113, 
135,  186,215,255,  312  f. 

Nihilismus  78  f. 

Normen  41,  117,  208,  ästhe- 
tische 407  f. 

Notwendigkeit  327, 336,347, 
368  ff.,  logische  u.  psy- 
chologische 345,  N.  und 
Freiheit  351  ff. 

Objekt  37,  46  ff.,  75  f.,  161, 

194,  202,  227,  pädago- 
gisches 21  f.,  0.  der  Er- 
ziehung 30  f.,  0.  u.  Sub- 
jekt 321,  501,  O.ivismus 


181,  501,  O.ivität  47,  50, 

363,  398,  401,  410 
Ontogenese  203,  Ontologie 

218 
Ordnungslehre  175,  177 
Organismus  60, 63, 83, 176f ., 

186,  202  f.,  314 

Pädagogik  17  ff.,  224  f. 

Panentheismus  116  f.,  Pan- 
logismus  133,  154,  Pan- 
psychismus  154 

Personalismus  154,  Persön- 
lichkeit 46,  49,  83,  160, 
356,  360  ff.,  367,  371, 
375  ff.,  religiöse  216  f, 
Persönlichkeitsideal  67 

Pflicht  149  f.,  291  f.,  P.gebot 
502  f. 

Phänomen  160,  P.alismus 
154,  209,  P.alität  197, 
328  f. 

Phänomenologie,  Diltheys 
122,  Hegels  88, 137,  Hus- 
serls  124  f.,  181,  418, 
Kants  107,  198,  307 

Philosophie  57,  116,  121, 
129  f.,  133,  alte  u.  mittel- 
alterliche 490  ff„  ange- 
wandte 23,  kritische  96, 

131,  prophetische  74,  87, 
90,  wissenschaftliche  113, 
P.  als  Wissenschaft  417  f., 
Begriff  der  P.  492,  P.  u. 
Einzelwissenschaft.  194f., 
P.  u.  Leben  112  ff.,  P.u. 
Schule230ff.,P.geschichte 
140  ff.,  416  ff.,  490  ff. 

Phylogenie  177,  203 
Physik    91  ff.,    96  ff.,    117, 

132,  165,  167,  172, 190  ff., 
205ff.,  217,  455  ff. 

Piatonismus  316,  494 

Poetik  407  ff. 

Politik  2,  14,  P.u.Idealis- 
mus  52  ff. 

Positivismus  81, 97,99,121f„ 
193,  315,  426. 

Postulate  215,  des  Denkens 
54,  der  praktischen  Ver- 
nunft 180 

Praxis  19,  36,  44  f,  58  f., 
P.  der  Erziehung  20, 29  ff., 
P.  u.  Theorie  9,  217 

Primat  der  praktischen  Ver- 
nunft 427,  der  Gemein- 
schaft 59,  des  .Individu- 
ums 


.Vis; 


Register. 


principium  identitatis  in- 
discernibilium  107 

Prinzipien  106,  338,  aprio- 
rische 100,  145,  ethische 
293  ff.,  konstitutive  99, 
praktische  302,  transzen- 
dentale 62,  P.d.  Atomistik 
64,  P.  des  Konkreten  64 

Propädeutik,philosophische 
230  ff. 

Psychisches  90,  390  ff.,  Psy- 
chologie 87,  108  f.,  139, 
172, 177f.,  180, 183, 186f., 
190,  241  ff,  335,  426,  an- 
gewandte 23,  beschrei- 
bende395,  empirische231, 
erklärende  44,  48,  394, 
naturwissenschaftliche 
123,  verstehende  89,  Psy- 
chologie d.  Weltanschau- 
ungen 74  ff.,  446,  P.  als 
Wissenschaft  390  ff, 
Transzendentalpsycholo- 
gie 180,  315  ff,  Psycho- 
logie u.Logik  193  f.,  199, 
209 

Psychologismus  57, 113,144, 
193  f.,  197,405,  418,  kri- 
tischer 312  ff. 

Rationalismus  3,  10,  62,  79, 
144,  146  f.,  158,316,358,' 
373 

Raum  100  f.,  103  ff,  154, 
171,175,  185,  198  f.,  201, 
204  ff.,  316,  319  ff.,  497 

Realismus  179,  193,  200, 
498,  kritischer  488,  tran- 
szendentaler 196 ff.,  Rea- 
lität 53, 78, 101, 105,  116, 
157,  199  f.,  426  f.,  468 

Recht  163,  215  f.,  R.slehre 
290f.,R.s  Wissenschaft  190 

Relativismus  103,  452,  501, 
rechtsphilosophischer2 15 

Relativität  102,  106  f.,  194, 
R.stheorie  91  ff,  96  ff., 
174  f.,  198f.,204ff.,454ff. 

Religion  3,  10 f.,  13,  131  ff, 
161,  216,  228,  311,  420, 
505 

Revolution  2,  6,  57 

Schema  202,  340,  346 
Scholastik  131,  141,  147  f., 

381,  498 
Schönheit  359,  403,  506 
Schule  u.  Philosophie  230  ff. 


Seele  79, 83, 178, 218, 392ff., 
8.  u.  Welt  123 

Sein  39,  43,  45,  63,  123, 
126,  137,  155,  215  f.,  420, 
437,  495  f. 

Selbstbewußtsein  93,  154, 
156,  159,  347,  Selbst- 
setzung des  Ich  171 

Sensualismus  97,  99,  316 

Sinnesqualitäten  21,  Sinn- 
lichkeit  144,    161,    298, 

334  ff. 

Sittengesetz  63,  Sittenlehre 
171,  217,  289  ff.,  Sittlich- 
keit 149,  161,  217,  302, 
384,  420,  502  f. 

Skeptizismus  78,  197,  237, 
344,  494,  505 

Skeptizismus  78,  197,  237, 
344,  494,  505 

Solipsismus ,  methodischer 
177,  179 

Sollen  39,  43  f.,  45,  63,  317, 
331,  S.u.  Sein  215 f.,  S.s- 
bestimmung  43  f. 

Sozialidealismus  52  ff.,  59 

Sozialismus  53, 67, 186,216, 
490 

Soziologie  44,  186,  489 

Spinozismus  4,  412 

Spiritualismus  154,156, 186 

Spontaneität  146,148, 330ff 

335  f.,  347 

Sprache  188, 210, 448  f.,  503 

Staat  5  f.,  59  f.,  66  ff.,  72, 
158, 163,203,  S.sanschau- 
ung  7,  S.sform  5 

Stoff  103  f.,  S.  u.  Form  20 ff., 
34 

Subjekt  47  ff.,  53,  60,  62, 
75  f.,  169,  181,  191,  197, 
292,  298,  303,  331,  340, 
410,.  ideales  61,  psycho- 
logisches 55,  61,  70,  tran- 
szendentales 55,  61,  70, 
S.u.  Objekt  194, 196, 227. 
321,  501,  S.ivismus  196, 
200,  215,  227,  485,  S.ivi- 
tät  320,  410 

Sukzession  341,  344,  346 

Synthesis  99,  144, 168,  185, 
331,  334  f. 

System  118, 122,  129, 136  f., 
186,  194,  419,  436,  439, 
445,  451,  453,  natürliches 
18,  physikalisches  92  f. 


Technik  24,  27,  34,  191 

Teleologie  218,  428 

Theologie  4,  10,  191,  215 

Theorie  36,  58  f.,  68,  91  f., 
102, 123,  T.  der  Dialektik 
87,  der  Erziehung  22  f., 
29  ff,  des  Handelns  20, 
T.  u.  Erfahrung  132,  T. 
u.  Praxis  9,  217 

Thomismus  488 

Totalität  49,  79,  123,  185  f. 

Tragik  und  Genie  351  ff, 
Tragödie  354,  363,  375, 
386 

Transzendental  54,  62  f., 
71,  181,  327,  T.idealis- 
mus  53,  T  Ideologie  218, 
T.ismus  312  ff.,  T.philo- 
sophie  100,  103,  172,  T.- 
psychologie  180,  315 

Tugend  63,  289  ff,  497  f., 
T.lehre  289  ff,  497  f. 

Typen  80,  122,  T.  der  Welt- 
anschauung 417,  Geistes- 
typen 76  f.,  Typenlehre 
122,  ästhetische  415 

Umwelt  33,  201  f. 

Unbedingtheit  83,  356  f., 
360  ff.,  376,  387 

Unendliches  53,  62  ff,  Un- 
endlichkeit 53,  absolute 
60,  intensive  53,  poten- 
tielle 60 

Ursache  93,  U.  u.  Wirkung 
25,  174,  185,  337,  344, 
393  f 

Urteil  145,  171,  181,  183f., 
188,  191,  199,210,330f, 
489,  analytisches  191, 
synthetisches  103,  313, 
U.skraft  56,  180 

Vernunft  7,  54,  145,  159, 
305,  historische  128,  lei- 
dende 182,  praktische  180, 
217,  293  f.,  427,  reine  146, 
213,294,  3 16,. tätige  182, 
theoretische  427,  V  er- 
kenntnis  146,  V.gesetz 
54,  V.kritik  125,  145 

Verstand  83,  144,  334  f., 
347, 358,  V.esbegriffe  143 

Verstehen  49, 54,  74,  391  ff., 
434  f.,  rationales  85 

Vorstellung  155  f.,  209,  314 


Tatsachen  20,  36,  39,  434,    Wahrheit    428,    438,    442, 
T.forschung  25 


Register. 


529 


W.  und  Falschheit   181, 
W.  u.  "Wirklichkeit  213. 

Wahrnehmung  98, 3 14,  W.s- 
urteile  191,  345  f. 

Welt  77,  123,  129,  227,  in- 
telligible  u.  sinnliche  148, 
W.anschauung  74 ff., 
122  ff.,  133,  194,  207, 
234  f.,  242  ff,  417,  487, 
W.anschauungslehre  121, 
194 

Wert25f.,  76ff.,88f.,  117ff, 
129.  186,  194,  313,  359, 
428,  W.  u.  Sein  123,  W.- 
auslese  432,  W.ung76f., 
88  f. 

Wesensschau  124  f. 


Widerspruch  (Satz  d.  W.s) 
185,  189 

Wille  47,  65,  70  f.,  149, 180, 
295 ff.,  398,  W.nsfreiheit 
217,317,490,497,  504  f., 

Wirklichkeit  20ff.,  28,  46, 
48,  53  ff.,  103,  107,  129, 
149,  155  ff.,  159, 161,  179, 
190,  194,213,428,  W.u. 
Wert  186,  W.ssphäre  28 

Wirkung  u.  Ursache  25, 174, 
185,  337,  344,  393 f.,  W.s- 
zusammenhang  28 

Wissen  20,  22, 137,178,213 

Wissenschaft  26,  29,  48,  87, 
102,  116,  122,  124,  129, 
132f.,137,194,207,390ff., 
487,  504,  exakte  98,  217, 


normative  208,  W.  und 
Philosophie  417,  W.en, 
angewandte  23  f.,  27  f.,  32, 
35,  38  f.,  44,  51,  Eintei- 
lung der  W.en  193  f.,  W.- 
lichkeit  der  Pädagogik 
17 ff.,  W.serlebnis  504, 
W.slehre  126,  172,  194 

Zeit  100,  103  ff.,  154,  160, 
171,  175,  178,  185,  198f., 
201,  204 ff.,  316,  325  ff, 
335,  346  f.,  458,  469,  497 

Zweck  289 ff.,  399,  sittlicher 
149,  Z.  w.  Mittel  25ff., 
Z  mäßigkeit  177,  Z.zu- 
sammenhang  400  f. 


2.    Personenregister. 


Abulard  366 
Abegg,  J.  Fr.  2 
Adickes,  E.  165  ff. 
Adler,  Fr.  471 
Amelang  14  f. 
Angersbach  483 
Aristoteles  182, 184, 
188,204,254,437, 
441,  493,  496  ff. 
Augustin  218 
Avenarius  315 

Bacon  147 
Bauch,  B.  7 
Becher,  E.  139,  177, 

486 
Behrend,  F.  230 
Berg  486 
Bergson    112,    114, 

121,176,187,204, 

326,  330,  333, 390, 

489 
Berkeley  139,  147f., 

154,  157 
Beyerhaus,  G.  8 
Biberg  154,  163 
Biester  4,  11 
boethius  163 
du  Bois-Reymond 

249 
Bolzano  208 
Bonus,  A.  63 
Born,  M.    110,  455, 

466,471,476,481 
Boström,  Jac.  151  ff. 
Bottlinger  486 

Kantstudien  XXVI. 


Boutroux  194 
Braun,  0.  251 
Brentano,F.  180,199, 

208,  480,  483  ff. 
Brück,  E.  v.  8 
Brucker  423 
Buchenau,  A.  255 
Budde,  G.  249,  255 
Buddha  88 
Büsching  9 

Cartesius  s.  Descar- 

tes 
Cassirer,E.56,96ff, 

169 
Cohen,  Herrn.  2,  96, 

180,187,193,312f., 

429  ff,  435 
Cohn,  Jon.  405 
Cornelius,  H.  184 
Coulomb  93 
Creuz  5 
Crusius  142 

Darwin  177,  254 

Descartes  70,  105, 
137, 147f.,  177,182 

Dessoir,  M.  249, 332, 
406 

Diels,  H.  491 

Dilthey,  W.  10,  75-, 
85,112,1 14, 121ff, 
128,  370,  392, 
394ff.,403ff.,426, 
445,  494 

Dingler  455,  486 


Dittes  225 
Driesch,  H.  187,  218 
Duns  Scotus  381 

Eberhard  5,  12 
Eckermann  357, 379, 

381 
Edfeldt,  H.  152,  159 
Einstein  91  ff.,  96 ff., 

198f.,204ff.,454ff. 
Eisler,  R.  249 
Engels  489 
Erdmann,B.9,139ff., 

183 
Erdmann,  Joh.  Ed. 

426,  492 
Ettner  11 
Eucken  125  ff,  130, 

226  ff.,  250,  255 
Euklid  99,  103,  112, 

191,  206 

Falckenberg,  R. 

220  ff. 
Fechner  250,  403  f. 
Fichte  112, 126, 161, 
163,    170,    195  ff., 
222,  250,  259,  356, 
366,  435,  449 
Fiedler  406 
Fischer,  Chr.  G.  10 
Fischer,  K.   4,   6  f., 
13,  312,  333  f,  428 
Förster,  F.  W.  254 
Frank,  G.  3,  8,  471 
Freitag,  0.  230,  253 


Freundlich  455, 459, 

474,  481 
Friedrichd.Gr.3,12, 

14  f. 
Fricke  455,  486 
Fries  315 
Frischeisen  -  Köhler 

17,  251,  486 
Fromm,  C.  4 

Gagelmann,  Fr.  251 
Galilei  99,  137,  147, 
328,338,464,467, 
472 
Gauß  474,  482 
Gehrcke   445,    469, 

476,  486 
Geijer,  E.  G.  163 
Geißler  455,  486 
Gerhardt  182 
Gille  249 
Glaser  455,  486 
Goethe    80  f.,     112, 
215,      219,      353, 
355ff.,360ff,  370, 
375  ff,  382,  384  f., 
388f.,  407, 434,436 
Grabmann  488 
Groos,  K.  405 
Grabbe  154,  162 

Hartmann  486 
Hartmann,  Ed.  von 

196 f.,  352,  405 
Hay,  Jos.  4 

84 


530 


Register- 


Hebbel    352  f.,   363, 

385,  405 
He-;el81f.,86ft.,90, 
135,  137  f.,  154, 
161  f.,  195  f.,  233, 
356, 363, 395, 405, 
411,  423  ff.,  429, 
435,437,447,452, 
489,  492,  499 

Heine  361,  365,  367, 
380 

Helmholtz  427 

Henry,  V.  206  f. 

Heraklit  449 

Herbart    155,  »183, 
224  f.,  233 

Herder  112, 254, 259, 
489 

Hobbes  137,  147 

Hoffmann,  E.  T.  A. 

207,  212 
Hoffmann,  P.  251 
Höfler,  A.  257  f. 
Holst  455,  486 
Home  404,  408 
Homer  375,382,384f. 
Hönigswald   18,  99, 

434,  442 
Humboldt,  W.  v.  5, 

43,  222 
Hume    141  f.,     148, 

184  f.,    259,    337, 

339  f,  344 
Husserl  85,    123  ff., 

180,    193  f.,    205, 

208,  418,  480 
Huyghens  106 

Jacobi,  F.  H.  4,  370 
Jäger,  W.  AV.   437, 

499 
Jakob  455,  486 
James  326,  336,  488 
Jaspers,    K.     74  ff., 

446 
Jellinek,  G.  6,  12 
Jerusalem  318 
Jesus  80 f.,  363,  373 
Jhering,  R.  v.  216 
Jodl  320,  326 
Joel  489 
Johannsen  203 
Isencrahe  455,  474, 

486 

Kant  lff,  56,  61,  63, 
74,    80,  81  ff.,  86,1 
90,96, 98ff.,103f.,  ! 
106,    108  f.,    112,! 


122,  139,  141  ff., 
144  ff.,  149,  154, 
157,  160,  163, 
165  ff.,  180,  185, 
187,189,193,195f., 
198  ff.,  201,  203, 
209,  2 12  ff.,  217  ff, 
221,233,246,250, 
254  f,  259,  289  ff., 
312ff.,351,  353ff., 
362,  404,  408  f., 
421  ff.,  426  ff.,  435, 
437,447,454,489, 
493ff.,496ff.,506f. 

Kancorowicz  215 

Kastil  180 

Keijser,  G.  J.  152 

Kierkegaard  81  ff. 

Kinkel  249 

Küugberg,  Gustaf 
152  f. 

Knutzen,  M.  9,  141 

König,  E.  249 

Kopernikus  145, 254, 
338,  484 

Kopff  481,  483 

Kottier  486 

Kraus,  0.  480 

Krause  165 

Kries  486 

Kroh,  0.  410 

Külpe,  0.  194,  405, 
488 

Kullmann,  H.  506 

Kynast  181,  446 

Laas  314,f. 
Lambeck  246,  251 
Lampreclit  236 
Lange, F.  A.  315, 350 
Lange,  L.  92,  94 
Lask,  E.  85,  182 
Laßwitz,  K.  257 
Laue  458,  464,  469, 

471 
Lecher,  E.  328 
Lehmann,R.  225,251 
Leibniz    90,    106  f., 

137,    141  f.,    144, 

148,154,  159,  182, 

218,  225,  403,  449 
Lenard  455, 469,486' 
Lessing   3,    4,    142, 

378,  404,  411 
Liebert,  A.  186,  195, 

219 
Liebmann,  0.    249, 

315  [405 

Lipps,  Th.  193,  375, 


Lipsius  486 
Ljunghoff,  J.  161 
Locke  4,  147,  493 
Löning,  R.  497 
Lorentz,  H.A.  91  ff., 

455,  457  ff.,  463  ff., 

481,  486 
Lorentz,  P.  251 
Lotze,  H.  218,  249, 

250,  254,  493 
Loewe,  0.  218 
Luther  361, 363,  367 
Lyell  215 
Lysander  381 

Mach  97,  106  f.,  194, 

315,  328,  342,  345 
Mahnke,  D.  151 
Maier,  H.  187 
Malebranche  148 
Marty  180 
Marx2,216,365,489 
Mauthner,  F.  4 
Maxwell  258 
Meinong    180,   242, 

251 
Meißner  474 
Mendel  203 
Mendelssohn  5,  12 
Menzer,  P.  2  ff.,  12, 

249 
Messer,  A.  249 
Meumann,  E.  405 
Meusel  10 
Meyer,  J.B.  315, 318 
Michelson  456,  458, 

470 
Mie  455,  486 
Mill,  J.  St.  208 
Minkowski  91,  469 
Mommsen370,  386  f. 
Moog,  W.  193,  251 
Moritz,  K.  Ph.   112 
Müller,  Aloys  483  f. 
Münch,  W.  180 

Napoleon  363,  370, 
379 

Natorp  52  ff.,  59, 
62  ff.,  135,  180, 
183  f.,  193,  228, 
312  f.,  429,  431, 
437,  493         [251 

Neubauer,  Fr.   246, 

Newton  93, 96, 103f., 
106, 109, 142,  147, 
198,  455,  457  ff, 
472  ff.,  478,  482  f., 
485  f. 


Nietzsche  SO  f.,  88, 
112,  114,120,259, 
356  f.,  360,  365, 
377 

Parmenides  437 
Pascal  82,  148 
Pauisen,Fr.237,251. 

343  f. 
Petzold  485 
Piaton  65,  102,  187, 
153,  157, 163,  204. 
222,249,255,258f., 
356,362,366,381, 
384.      389,     425, 
430 f.,  436  f.,  441, 
447,    451,   493  ff., 
503 
Plotiu  82,  137,  499  f. 
Poincar(3,H.109,lll 
Porphyrius496.499f. 

Radbruch  215 
Rausch,    A.     245  f., 

251,  254 
Rehmke  177,  193  f., 

248,  255 
Reichenbach,  H. 

110  f. 
Reichenbächer  486 
Reicke,  R.  165 
Reinhold,  K.  L.  5 
Rickert,H.74,112ff., 

177,    187,    190  f., 

194,313,425,427. 

490 
Rieffert  139 
Riehl,   A.    99,    194, 

254,  317,  448 
Riemann  101,  104 
Ripke-Kühne  486 
Roloff  225 
Rousseau   3,   4,  12, 

259 
Rydberg,  V.  151 

Schaxel,  Jul.  191 
Scheler,  M.  43,  114, 

125,325,349,353, 

355 
Schelling76,84, 134, 

143, 162,  165,  196, 

405 
Schiller  259,  353  ff., 

360  ff.,    405,   407, 

414 
Schlegel,  F.  112,356 
Schleiermacher  250, 

435 


Register 


531 


Bchlick,M.  101, 108f. 
Schlosser  495 
Schmid,   Bast.   249, 

251 
Schmidkunz  182,250, 

255 
Schneider,  Ilse  104f., 

107 
Schopenhauer      88, 

180,250,366,371f., 

405 
Schulte-Tigges  247 
Schulz,  Joh.  H.  10f., 

Uff. 
Seiler,  G.  F.  14 
Sellien,E.  104,108f., 

486 
Selz,  0.  410 
Shakespeare      353, 

360  f.,    363,    369, 

371,    378,    382  f., 

386  ff.,  412  f. 
Siegel,  C.  251 
Sigwart  249,  349 


Simmel,  G.   43,   85, 

112,114,127,130, 

314,  436; 
Solger  260,  405 
Spencer  137,  216 
Spengler,  0.  85,  380, 

505 
Spinoza  4,  11,  142f., 

148,  258 
Spitzer  406 
Spranger,Ed.43,230 
Stammler  215  f. 
Starck,  J.  A.    10  f., 

Uff.    ' 
Stern,  W.' 34 
Stöhr,  A.  320 f.,  324, 

335  f. 
Storm  373  ff. 
Strindberg  357 
Stumpf,  K.  200,  480 

Thomas  von  Aquino 

225 
Trau,  H.  151 


Trendelenburg  224 
Troeltsch,  E.  7,  45, 

128,  135 
Tschackert  10 
Türck,  Herrn.  363  ff. 

Utitz  406 

Vaihinger  238,  248, 

251,   316,   321  ff., 

325,  327 
Vannerus,  Allen  151, 

155,  163 
Vischer  376  ff.,  387, 

405 
Volkelt  177, 375,  386 
Vorländer,  K.  2,  10, 

12,  289,  322 

Weinstein,  455,  486 
Weißenfels,  0.  251 
Weißfeld,  M.  2 
Wiechert  455,  486 
Wien  455,  486 


Wilamowitz    430  f., 

495  [254 

Willmann,  0.  224 ff., 

Windelband       177, 

313,  315  f.,  428  f. 

Wirsen,  C.  D.  af  151 

Wolf,  Kanzler  v.  10 

Wolff,   Chr.    Ulf., 

144,159,233,309, 

423 

Wölfflin  411,  413 

Wundt,    W.    193  f, 

226,234,249,251, 

255,  326,  393,  489 

Zedlitz,Frhr.v.lOf., 

15  f. 
Zeller,  Ed.  195,  407, 

426,  492 
Ziegler,    L.     352  f., 

365,  368  f. 
Ziehen,  Th.  194 
Ziertmann  251 
Zimmermann,  C.  251 


3.   Besprochene  Kantische  Schriften. 

(In  zeitlicher  Folge). 
Gedanken  von  der  wahren  Schätzung  der  lebendigen  Kräfte  (1749)  104. 
Nachricht  von  der  Einrichtung  seiner  Vorlesungen  1765/6  249. 
De  mundi  sensibilis  atque  intelligibilis  forma  et  principiis  143. 
Brief  an  M.  Herz  (1772)  143. 
Kritik  der  reinen  Vernunft  (1.  Auflage  1781),  3,  4,  84,  103,  105,  141,  142  ff.,  148, 

154,  196  f.,  198,  202,  212  f.,  217,  259,  289,  306,  316,  319  ff.,  493. 
Rezension  von  Schulz'  Versuch  einer  Anleitung  zur  Sittenlehre  (1783)  10. 
Prolegomena  (1783)  139,  141,  143,  199,  212,"  337,  340,  348,  506. 
Idee  zu  einer  allgemeinen  Geschichte  in  weltbürgerlicher  Absicht  (1784)  4. 
Was  ist  Aufklärung?  (1784)  lff. 

Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  (1785)  289  ff.,  356 
Metaphysische  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft  (1786)  106,  169,  198. 
Kritik  der  reinen  Vernunft  (2.  Annage  1787)  142  f.,    313  f.,   319  ff.,   329,  334,  336, 

338  f.,  340  ff,  348,  430,  494. 
Kritik  der  praktischen  Vernunft  (1786)  3,  9,  54,  217,  289  ff.,  317,  494. 
Kritik  der  Urteilskraft  (1790)  3,  56,  143,  180,  404,  410  f.,  494,  506. 
Ueber  den  Gemeinspruch:  Das  mag  in  der  Theorie  richtig  sein  usw.  (1793)  !). 
Von  einem  neuerdings  erhobenen  vornehmen  Tone  in  der  Philosophie  (1796)  493. 
Metaphysik  der  Sitten  (1797)  289  ff. 
Opus  postumum  165  ff. 
Reflexionen  3,  141. 


532 


Register, 


4.   Verzeichnis  der  Verfasser 
besprochener  Neuerscheinungen. 


Alverdes,  F.  501 
Apel,  M.  212 
Apelt,  0.  495  f. 
Benjamin,  W.  219 
Berg,  E.  174 
Birnbaum,  K.  212 
Bloch.  W.  174  f. 
Driesch,  H.  177  ff. 
Ehrle,  Fr.  498  f. 
Feldkeller,  P.  213 
Fischer,  L.  213  f. 
Fischer,  W.  180 
Geyser,  J.  180  ff. 
Grau,  K.  J.  183 f. 
Hasse,  H.  184  f. 
Höffding,  H.  185  f. 


Hofmann,  P.  501  ff. 
Jerusalem,  W.  488  ff. 
Koppelmann,  W.  187  ff. 
Lewin,  K.  191  f. 
Lippa,  L.  v.  215 
Ludowici,  A.  503 
Meurer,  W.  504 
Mezger,  E.  215  f. 
Moog,  W.  193  f.,  194  f. 
Phale'n,  A.  195  f. 
Praechter,  K.  489  ff.     ■ 
Bausch,  A.  490 
Rauschenb erger,  W.  196  ff. 
Rolfes,  E.  496  f. 
Schlemmer,  H.  2 16  f. 
Schneider,  Herrn.  217  f. 


Schneider,  Ilse  198  f. 
Stapel,  W.  199 
Thalheimer,  A.  199  f. 
Überweg,  Fr.  489  ff. 
Uexküll,  G.  201  ff. 
Vaart,  Smit,  van  der  218  f. 
Wenzel,  Joh.  505 
Wertheim  er,  M.  200  f. 
Weyl,  H.  205  ff. 
Whitehead,  A.  N.  204  f. 
Wichmann,  0.  494  f. 
Wiesner,  Joh.  504  f. 
Wittmann,  M.  497  f. 
Wundt,  M.  499  f. 
Wundt,  W.  207  f.,  487  f. 
Ziehen,  Th.  208  ff. 


5.   Verzeichnis  der  Mitarbeiter. 


Alverdes,  Friedr.  501 
Anderson,  Georg  289—311 
Apelt,  Max  212 
Behrend,  Felix  251—260 
Benjamin,  Walter  219 
Beyerhaus,  Gisbert  1—6 
Birnbaum,  Karl  212—213 
Blumenfeld,  Walter  191 — 

192,  200—201 
Buchenau,  Arthur  183—184 
Bühler,  Charlotte  403—405 
Cohn,  Jonas  74—90 
Driesch,    Hans    201—204, 

204—205 
Endriß,    K.    F.    193—194. 

194—195 
Falkenfeld,  Hellmut  199 
Feldkeller,  Paul  213 
Fischer,  Ludwig  213—214 
Flaskämper,  P.  175—177 
Frebold,  Georg  226—230 
Freitag,  Otto  230—251 
Friedemann,  Constanze  312 

—350 


Frischeisen  -  Köhler ,    Max 

110—138 
Geyer,  R.  151—164 
Hartmann,  Alma  v.   196— 

198 
Heinemann,  Fritz  499—500 
Herrigel,  H.  52—73     . 
Hoffmann,  Ernst  495—496 
Hofmann,  Paul  501—503 
Koppelmann,  W.  208—211 
Kraus,  Emil  180 
Kraus,  Oskar  454—486 
Kreis,  Friedrich  498—499 
Kröner,  Fr.  195—196 
Kulimann  506 
Kynast,  R.  182—183 
Laue,  M.  v.  91—95 
Leser,  Herrn.  220—224 
Liebert,    Artur    207—208, 

487—488,  489—494 
Lippa,  Lazar  v.  215 
Litt,  Th.  17—51 
Ludowici,  August  503 
Meurer,  Waldemar  504 
Mezger,  Edmund  215—216 


Paleikat  490 
Rauschenberger,  W.  174 
Reimer,  W.   180—182 
Schlemmer,  Hans  216—217 
Schlick,    Moritz     96—111, 

174—175,  205—207 
Schneider,  Herrn.  165—173, 

217—218 
Stenzel,  Jul.  416—453,  494 

—495 
Sternberg,     K.     185—187 

187—191 
Switalski,  B.  W.  224—226, 

497—498 
Tumarkin,  Anna  390—402 
Vaart,  Smit,  van  der,  H.  W. 

218 219 

Wentscher,  Else  139—150 
Wenzel,  Job.  505 
Wichmann,  Ottomar  351  — 

389,  496—497 
Wiesner,  Joh.  504—505 
Winternitz,  Jos.  177-179, 

184—185,  198—199,  199 

—200,  488-491 


KANT-STUDIEN 


PHILOSOPHISCHE 
ZEITSCHRIFT 


UNTER  MITWIRKUNG  VON 

E.  ADICKES      J.  E.  CREIGHTON      R.  EUCKEN 

P.  MENZER      A.  RIEHL 


MIT  UNTERSTÜTZUNG  DER  „KANT- GESELLSCHAFT' 


HERAUSGEGEBEN  VON 


Prof.  Dr.  HANS  VAIHINGER  Prof.  Dr.  MAX  FRISCHEISEN-KÖHLER 

IN  HALLE  IN  HALLE 

UND 

Prof.  Dr.  ARTHUR  LIEBERT 

IN  BERLIN 


SIEBENUNDZWANZIGSTER  BAND 


BERLIN 

VERLAG   VON  REUTHER   &   REICHARD 

1922 


Alle  Rechte  vorbehalten 


INHALT. 

Seite 

Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  Von  Georg 
Lasson l 

Strukturwissenschaft  und  Kulturwissenschaft.  Von 
Aloys  Müller 59 

Der  Darwinismus  und  die  logische  Struktur  des 
biologischen  Artbegriffs.    Von  EmilUngerer  86 

Die  philosophischen  Grundlagen  in  Spenglers  „Unter- 
gang des  Abendlandes".    Von  Kurt  Sternberg    .    101 

Kant  und  Fichte  als  Rousseau -Interpreten.  Von 
Georg  Gurwitsch 138 

Grundbegriffe  der  Rousseauschen  Staatsphilosophie. 
Von  Siegfried  Marck .    165 

Zur  „Antinomie   im  Problem  der  Gültigkeit".    Von 

E.v.Aster 179 

Die  Logik  des  historischen  Entwicklungsbegriffes. 
Von  Ernst  Troeltsch 265 

Das  logische  Recht  der  Kantischen  Tafel  der  Urteile. 
Von  Karl  Joel 298 

Die  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant. 

Von  Erich  Adickes 328 

Zur  Analysis  des  Relativitätsbegriffes.   Von  Heinrich 

Scholz .    369 

Mythus  und  Kultur.    Von  Arthur  Liebert     ....   399 

Die  Ueberwindung  des  Religionsbegriffs  in  der  Re- 
ligionsphilosophie.   Von  Paul  Till  ich     .    .    .    .446 

Zur  „Als  Ob-Theorie"  in  der  Kunstphilosophie.    Von 

Emil  Utitz 470 

Realismus  und  Positivismus.    Von  Ernst  von  Aster   496 

Besprechungen : 

/.  Geschichtsphilosophie. 
Hegel,  O.  W.  F.,  Vorlesungen  über  die  Philosophie  der  Weltgeschichte 

(Lasson).    Von  Franz  Rosenzweig 188 

Adler,  Max,  Marx  als  Denker. 

Derselbe,  Engels  als  Denker.    Von  Hermann  Broch  .    .    .    184 


Seite 
Brandenburg,  Erich,  Die  materialistische  Geschichtsauffassung.    Von 

J  osef  Winternitz 186 

Barth,   Paul,   Die   Philosophie   der   Geschichte   als   Soziologie.     Von 

Arthur  Liebert 187 

Hurwicz,  Elias,   Die  Seelen  der  Völker.    Von  Ludwig  Marcuse   .    187 
Jaensch,    E.  R.,   Die  Friedensfrage   im  Zusammenhang  mit  Bildungs- 
und Kulturproblemen  der  Gegenwart.    Von  A.  Vierkandt     .    .    189 
Lessing,  Th.,  Geschichte  als  Sinngebung  des  Sinnlosen. 
Derselbe,  Die  verfluchte  Kultur.    Von  FriedrichSeifert   .    .    .    .    190 
Möller -Freienfels,    Richard,    Philosophie    der   Individualität.     Von 

Julius  Schultz 191 

Schul ze-Soelde,  Walther,   Geschichte   als  Wissenschaft.    Von  Kurt 

Sternberg 194 

Schuck,  Karl,  Spenglers  Geschichtsphilosophie.    Von  Emil  Kraus  .    195 

//.  Religionsphilosophie. 

Bruhn,  Wilhelm,  Der  Vernunftcharakter  der  Religion.   Von  Heinrich 

Scholz 196 

Scholz,    Heinrich,    Der   Unsterblichkeitsgedanke   als   philosophisches 

Problem.    Von  Richard  Müller-Freienfels 198 

Enckendorff ,  Marie  Luise,  Über  das  Religiöse.  Von  Alfred  Vier- 
kandt      199 

Steffes,  J.  P.,  Eduard  von  Hartmanns  Religionsphilosophie  des  Unbe- 
wußten.   Von  August  Messer 201 

///.  Rechtsphilosophie  und  Staatsphilosophie. 
Fichte,  Joh.   Gottl.,    Rechtslehre   (Hans  Schulz).     Von   Siegfried 

Berger 202 

Dokumente  der  Menschlichkeit,  Bd.  1—10.  Von  WillyMoog.  .  203 
Bendix,  Ludwig,  Die  Neuordnung  des  Strafverfahrens.  Von  P.  Tillich  203 
Brinkmann,  Carl,  Versuch  einer  Gesellschaftswissenschaft.  Von  Alfred 

Baeumler 205 

Brodmann,  E.,  Recht  und  Gewalt.    Von  AlfredPagel 207 

Holldack,    F.,    Grenzen    der   Erkenntnis   ausländischen   Rechts.     Von 

Albert  Pagel 208 

Israel,  Walter,   Zur   wissenschaftlichen  Fortbildung  des  Sozialismus. 

Von  Kurt  Sternberg 211 

Fränkel,  Richard,  Der  Sinn  des  Rechts.  Von  AlbertPagel.  .  .  212 
Kaufmann,   Erich,   Kritik  der  neukantischen  Rechtsphilosophie.    Von 

Albert  Pagel 212 

Kelsen,   Hans,   Das  Problem   der  Souveränität  und   die  Theorie   des 

Völkerrechtes.    Von  Adolf  Merkl 215 

Koppelmann,   W.,    Einführung    in    die   Politik.     Von   Margarete 

Calinich 218 

Latte,  Kurt,  Heiliges  Recht.    Von  O.  Wich  mann 219 

Siegel,  Carl,  Piaton  und  Sokrates.    Von  O.  Wich  mann 219 

Metzger,  Wilhelm,   Gesellschaft,  Recht  und  Staat  in  der  Ethik  des 

deutschen  Idealismus.    Von  Alfred  Vierkandt 220 


Seite 
Stammler,   Rudolf,  Sozialismus   und  Christentum.    Von  Karl  Vor- 
länder    223 

Unger,  Erich,  Politik  und  Metaphysik.    Von  Adolf  Caspary.    .    .  224 
Wichmann,   Ottomar,   Philosophie  und  Politik.    Von  Maximilian 

Abich 225 

Wilbrandt,  Robert,  Oekonomie.    Von  AdolfLöwe    .    .    .    ..    .  225 

Selbstanzeigen : 

Schopenhauer-Gesellschaft,  Zehntes  Jahrbuch  1921 229 

Baeumler,  Alfred,  Hegels  Aesthetik 229 

Feld  kell  er,  Paul,  Graf  Keyserlings  Erkenntnis  weg  zum  Übersinnlichen  229 

Guastella,  Cosmo,  Le  ragioni  del  fenomenismo 230 

Marquardt    Hans,  Der  Mechanismus  der  Seele 231 

Messer,  A.,  Erläuterungen  zu  Nietzsches  Zarathustra 232 

Pos,  H.  J.,  Zur  Logik  der  Sprachwissenschaft 232 

Reininger,   Robert,   Friedrich   Nietzsches   Kampf  um   den   Sinn   des 

Lebens 233 

Richter,  Gustav,  Kritik  der  Relativitätstheorie  Einsteins 234 

Stern berg,  Kurt,  Die  politischen  Theorien 234 

Ungerer,   Emil,   Die  Teleologie   Kants  und  ihre  Bedeutung  für  die 

Logik  der  Biologie 234 

Neue  deutsche  Schopenhauer-Gesellschaft,  Gründungsbuch  ...  235 

Heinemann,  Fritz,  Plotin 235 

Lehmann,  Gerhard,  Über  die  Setzung  „Individualitätskonstante"  und 

ihre  erkenntnistheoretisch-metaphysische  Verwertung 236 

Mitteilungen: 

Professor  Bolland  f  in  Leyden  am  11.  Februar  1922.    Von  G.  A. 

van  den  Bergh  van  Eysinga 237 

Julius   Schultz    zum   sechzigsten   Geburtstag.     Von   R.  Müller- 
Freienfels 233 

Kants  Ethik  und  der  preußische  Staat.    Von  Arthur  Liebe rt.  239 

I.  Preisausschreiben  der  Johannes  Rehmke-Gesellschaft ....  240 

Kant- Gesellschaft: 

Landesgruppe  Holland 242 

Ortsgruppe  Karlsruhe 243 

Ortsgruppe  Königsberg 245 

Ortsgruppe  Heidelberg 246 

Ortsgruppe  Baden-Baden 246 

Ortsgruppe  Konstanz 247 

Ortsgruppe  Meersburg 247 

Kantstudien  Band  VIII-XIV,  XVI  und  XVII  gesucht! 247 

An  die  Mitglieder  der  Kant-Gesellschaft 248 

Neuangemeldete  Mitglieder  für  1922:  Liste  I 255 

Bericht  über  die  Generalversammlung  in  Halle   am  7.  und  8.  Juni  1922  518 

XVIII.  Jahresbericht  1921 :  Einnahmen  und  Ausgaben 521 

Siebente  (Jubiläums-)  Preisaufgabe:  Urteile  der  Preisrichter      ....  524 


Seite 

Akademie  für  Philosophie  in  Erlangen       528 

Ortsgruppe  Tübingen 529 

Ortsgruppe  München 530 

Ortsgruppe  Heidelberg 530 

Ortsgruppe  Erlangen-Nürnberg-Fürth 531 

Preisänderung  (Annalen  der  Philosophie) 531 

Zehntes  Preisausschreiben  .-  Personalismus  und  Idealismus 532 

An   die  Mitglieder  der  Kant  -  Gesellschaft :    Betrifft  Nachzahlung   zum 

Jahresbeitrag  1922 535 

Neue  Jahresmitglieder:  Ergänzungsliste  II:  Juni-September  1922   ...  536 

Register: 

1.  Sachregister 542 

2.  Personenregister 544 

3.  Besprochene  Kantische  Schriften 547 

4.  Verzeichnis  der  Verfasser  besprochener  Neuerscheinungen    .    .  547 

5.  Verzeichnis  der  Mitarbeiter 548 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus, 

Von  Dr.  phil.  (h.  c.)  Georg  Lasson. 


Für  den  gegenwärtigen  Stand  der  philosophischen  Arbeit  in 
Deutschland  ist  nichts  so  bezeichnend  wie  das  immer  stärker  her- 
vortretende Verlangen  nach  irgend  einer  Art  von  metaphysischer 
Systematik.  Eine  gleichsam  unwiderstehliche  Gewalt,  die  tiefer 
als  das  intellektuelle  Räsonnement  in  das  innere  Leben  des  Men- 
schen eingreift,  treibt  den  Geist  der  Zeit  auf  die  Suche  nach  über- 
empirischer Wirklichkeit.  Was  auf  dem  Gebiete  der  gebildeten 
und  der  ungebildeten  Vorstelluug  die  seltsamsten  Phantastereien 
erzeugt  und  die  rückständigsten  Wahngebilde  neubelebt,  das  bringt 
sich  innerhab  der  methodischen  Wissenschaft  des  Gedankens  in 
dem  Bewußtsein  zum  Ausdruck,  daß  der  heute  durchweg  befolgten 
philosophischen  Methode  bei  all  ihrem  formalen  Scharfsinn  oder 
gerade  wegen  ihres  bloß  scharfsinnigen  Formalismus  ein  Mangel 
anhafte,  den  es  zu  beseitigen  gelte.  Nun  wäre  es  durchaus  ver- 
hängnisvoll, wenn  diese  Beseitigung  von  einem  andern  Standpunkt 
aus  versucht  werden  sollte  als  von  dem  letzten,  den  die  Philo- 
sophie in  ihrer  bisherigen  Ausbildung  glücklich  erreicht  hat;  der 
Hinweis  auf  die  Blüte  zuchtlosen  Aberglaubens  in  der  Gesellschaft 
unserer  Tage  muß  zur  dringenden  Warnung  dienen,  daß  sich  das 
Denken,  weil  ihm  an  der  gegenwärtigen  Gestalt  der  philosophischen 
Wissenschaft  etwas  fehlt,  nicht  auf  längst  überwundene  Vor- 
stellungen zurückziehe.  Andererseits  ist  jener  Rückfall  in  den 
Aberglauben  ja  gerade  dadurch  zu  erklären,  daß  ein  ursprüng- 
liches Bedürfnis  des  Gemütes,  dem  die  Zeitbildung  keine  legitime 
Nahrung  zu  bieten  vermocht  hat,  sich  mit  Ungestüm  eigenmächtige 
Befriedigung  sucht,  und  man  darf  sicher  voraussetzen,  daß  sobald 
die  ernsthafte  Wissenschaft  in  Vernunft  und  Freiheit  ihren  eigenen 
Mangel  zu  ergänzen,  ihre  durch  lange  Gewöhnung  an  das  Weiter- 
arbeiten in  bestimmter  Richtung  erworbene  Einseitigkeit  zu  über- 

Kantstadion.   XXVII.  1 


2  Georg  Lasson, 

winden  verstehen  wird,  jener  Schaum  der  Willkürlichkeit  und 
Abenteuerlichkeit  aas  dem  gärenden  Moste  des  Gemütslebens  aus- 
geschieden werden  und  nur  der  Drang  nacli  einem  Leben  im  Lichte 
der  Wahrheit  übrig  bleiben  wird.  Damit  ist  der  Wissenschaft 
eine  große  Aufgabe  gestellt,  die  aber  nicht  von  außen  ihr  diktiert, 
sondern  durch  die  Notwendigkeit  ihres  eigenen  Fortschreitens  in 
ihr  selbst  hervorgerufen  wird  und  von  da  aus  auf  das  Gesamt- 
bewußtsein  der  Zeit  einwirkt.  Denn  freilich  ist  die  Wissenschaft 
kein  vereinzeltes  Faktum,  das  von  dem  großen  Strome  des  wirk- 
lichen Lebens  abgesperrt  bleiben  könnte;  aus  der  Quelle  der  Er- 
kenntnis, die  sie  sprudeln  läßt,  empfängt  dieser  Strom  die  wich- 
tigsten Zuflüsse,  und  wenn  ihre  Quelle  einmal  spärlich  oder  trübe 
rinnt,  so  leidet  darunter  das  Gedeihen  der  Menschheit  überhaupt. 
Jahrzehntelang  galt  es  bei  den  Philosophen  als  ausgemacht, 
daß  es  mit  der  Metaphysik  ein  für  allemal  zu  Ende  sei;  wer  in 
ihr  noch  ein  berechtigtes  Moment  des  wissenschaftlichen  Denkens 
sah,  galt  für  eine  Art  Fossil  aus  gänzlich  begrabener  Vergangen- 
heit. Jetzt  regt  sich  überall  das  Empfinden,  daß  die  Wissenschaft 
ohne  Metaphysik  unvollständig  sei  und  in  ihr  die  Synthese  finden 
müsse,  auf  die  sich  heute  der  Geist  wieder  richtet,  nachdem  er 
lange  sich  an  der  Analyse  hat  genügen  lassen.  Die  Katastrophe 
des  Weltkrieges  hat  einem  Zeitalter  den  Untergang  gebracht,  das 
durch  die  Hingebung  des  Geistes  an  die  Außenwelt  charakterisiert 
war.  Mit  dem  platten  Materialismus  und  Mechanismns  hat  es  be- 
gonnen; er  war  die  nächste  Auskunft,  wo  sich  das  Bewußtsein 
von  dem  sogenannten  Realen  beherrschen  ließ  und  sich  in  ihm 
zerstreute.  Unmöglich  aber  konnte  der  Gedanke,  der  von  Natur 
die  Freiheit  in  sich  trägt,  auf  dieser  Stufe  stehen  bleiben;  schon 
die  Evolutionstheorie,  die  eben  deshalb  mit  allgemeiner  Begeiste- 
rung aufgenommen  wurde,  brachte  in  die  bloße  Geistlosigkeit  einen 
Schimmer  höherer  Vernünftigkeit  hinein,  obwohl  man  sie  ängstlich 
vor  jedem  Anklang  an  Teleologie  und  Jdeenentwicklung  zu  schützen 
suchte.  Den  Retter  vor  dem  Versinken  in  den  Naturalismus  fand 
das  Denken  dann  in  Kant;  für  die  damalige  Situation  war  es  das 
Angemessene,  daß  er  von  der  Seite  aufgefaßt  wurde,  nach  der  er 
einesteils  die  Möglichkeit  der  Naturwissenschaft  und  andernteils 
die  Unmöglichkeit  einer  rein  verstandesmäßigen  Erkenntnis  des 
Transzendenten  zu  beweisen  unternommen  hat.  Ein  kritischer 
Positivismus  und  Agnostizismus  wurde  ausgebildet,  der  dann  durch 
das   Geltenlassen   von   Gemütswerten   noch   einer    Welt  der  sub- 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  3 

jektiven  Ideale  neben  der  Welt  der  exakten  Erkenntnis  Raum 
gab;  die  Philosophie  des  „Als  ob"  ist  der  letzte  konsequente  Aus- 
gang dieser  Entwicklung.  Indes  ließ  die  Zwiespältigkeit  dieses 
Standpunktes  ein  Beruhen  bei  dieser  Auffassung  der  Kantischen 
Lehre  nicht  zu.  Der  Neukantianismus  geht  über  die  Scheidung 
von  Objektivität  und  Subjektivität  zurück  zu  der  Kantischen 
Grundanschauung,  die  zwischen  beiden  eine  unlösliche  Korrelation 
feststellt  und  zwar  so,  daß  überhaupt  nur  durch  die  Erkenntnis 
und  in  der  Erkenntnis  etwas  objektiv  ist.  Hierdurch  verringert 
sich  der  Abstand  zwischen  der  Erkenntnis  der  empirischen  Be- 
wußtseinsinhalte und  den  Werten  idealer  Natur.  Diese  erscheinen 
als  zu  einer  Objektivität  der  Kultur  gehörig,  die  selbstverständlich 
nur  durch  die  Vernunfttätigkeit  möglich,  ja  nichts  anderes  als 
Vernunfttätigkeit  selbst  ist,  jene  haben  keinerlei  von  der  Er- 
kenntnis verschiedenes  Sein,  sondern  sind  nichts  als  Geltungs- 
urteile. Das  einzige  Objektive,  das  so  der  Philosophie  übrig  bleibt, 
ist  die  Vernunfttätigkeit,  das  Erkennen  selbst,  und  die  einzige 
Aufgabe  der- Philosophie  ist  die  Selbstbestimmung  dieses  Erkennens, 
für  das  es  keinen  anderen  Inhalt  gibt  als  seine  eigene  Tätigkeit. 
So  entsteht  ein  äußerst  folgerichtiger  Logismus,  die  Anschauung 
eines  in  sich  geschlossenen  Ganzen  intellektueller  Tätigkeit,  die 
indes  nach  dem  transzendentalen  Prinzip  des  Kritizismus  darauf 
beschränkt  bleibt,  die  Erfahrungsmöglichkeiten  zu  bestimmen  oder 
einem  ursprünglich  Bestimmungslosen  zur  erkenntnismäßigen  Form 
zu  verhelfen.  Man  würde  sehr  unrecht  tun,  wenn  man  nicht  an- 
erkennen wollte,  daß  in  diesem  Neukantianismus  tatsächlich  eine 
Weiterbildung  des  kritischen  Idealismus  über  seine  geschichtlich 
erste  Erscheinungsform  in  Kant  selber  vorliegt.  Vielleicht  darf 
man  sogar  sagen,  daß  hierüber  hinaus  es  ein  Weitergehen  in  der- 
selben Richtung  nicht  mehr  gibt.  Die  Aufgabe  wäre  fesselnd  genug 
zu  zeigen,  wie  diese  extreme  Zuspitzung  des  Transzendentalismus 
mit  der  Gestalt  der  Bildung  zusammenpaßt,  die  dem  jetzt  zu  Ende 
gegangenen  Zeitalter  sein  Gepräge  gegeben  hat.  Uns  liegt  eine 
andere  Aufgabe  ob.  Nicht  bloß*  von  außen  verstärkt  sich  der 
Widerspruch  gegen  diesen  abstrakten  Logismus;  von  ihm  selbst 
aus  bereitet  sich  eine  Umkehr  zur  Versöhnung  mit  dem  Leben 
der  Wirklichkeit  vor,  von  dem  er  sich  tatsächlich  allzuweit  ent- 
fernt hatte.  Ist  es  doch  ungefähr  der  Standpunkt,  wie  ihn  Herder 
und  Jacobi  irrtümlicherweise  Kant  selber  zugeschrieben  haben, 
der    Standpunkt   einer    Isolierung  der   Philosophie,    der   von   der 

l* 


4  Georg  Lasson, 

ganzen  Welt  nichts  übrig  läßt  als  abstrakte  Beziehungen  von 
Denkakten,  ohne  doch  diese  Denkakte  anders  begreiflich  machen 
zu  können  als  durch  die  Voraussetzung  eines  nicht  weiter  zu  be- 
stimmenden Anlasses  für  eben  diese  Denkakte.  Aber  grade  dieser 
vollständige  Ausbau  der  Theorie  trägt  das  Mittel  zur  Heilung 
ihres  Schadens  in  sich  selbst.  Es  läßt  sich  der  Schritt  gar  nicht 
umgehen,  durch  den  der  Wert  zu  einem  Moment  der  vernünftigen 
Wirklichkeit,  die  Geltung  zur  Wahrheit  im  konkreten  System 
des  Wissens  wird.  Die  Art,  wie  Artur  Liebert  durch  die 
Untersuchung  der  Voraussetzungen  der  kritischen  Philosophie  den 
Weg  zu  einer  neuen  kritischen  Metaphysik  zu  bahnen  unternimmt, 
ist  ein  klarer  Beweis  dafür,  daß  im  Neukantianismus  eine  Neu- 
orientierung sich  vollzieht. 

In  gewissem  Sinne  wiederholt  sich  damit  die  Bewegung,  die 
vor  nunmehr  fünf  Vierteljahrhunderten  stattgefunden  hat,  der 
Fortschritt  vom  kritischen  zum  spekulativen  Idealismus,  der  Weg 
von  Kant  zu  Hegel;  und  es  ist  gewiß  kein  Zufall,  daß,  nachdem 
der  Name  Hegels  weit  länger  als  ein  Menschenalter  hindurch  in 
der  deutschen  Philosophie  kaum  noch  genannt  wurde,  man  heut 
überall  der  Bezugnahme  auf  ihn  begegnet.  Immerhin  darf  der 
große  Unterschied  zwischen  der  philosophischen  Situation  der 
Gegenwart  und  der  Blütezeit  des  deutschen  Idealismus  nicht 
übersehen  werden.  Damals  hat,  mit  Kant  angefangen,  der  durch- 
aus ein  Führer  zu  neuen  Zielen  war,  eine  Reihe  bahnbrechender 
Genien  dem  Geiste  der  Zeit  das  Losungswort  gegeben  und  ihn 
damit  gleichsam  über  sich  selbst  emporgehoben.  Damals  sind, 
wenn  auch  durch  Schranken  des  zeitgeschichtlichen  Horizontes  in 
der  Durchführung  vielfach  gehemmt,  die  bleibenden  Grundgedanken 
und  beherrschenden  Begriffe  des  Idealismus  der  reinen  Vernunft 
und  der  Autonomie  des  selbstbewußten  Geistes  herausgearbeitet 
und  formuliert  worden.  Damals  machte  der  denkende  Geist  in 
wenigen  Jahren  eine  Entwickelung  durch,  die  ein  Programm  für 
Jahrhunderte  in  sich,  birgt.  Heute  muß  die  Philosophie  mühsam 
darum  kämpfen,  die  ihr  gebührende  Stellung  im  Geistesleben  der 
Zeit  wiederzugewinnen,  die  sie  während  des  verflossenen  Zeitalters 
an  die  sogenannten  exakten  Wissenschaften  verloren  hatte,  und 
noch  ist  kein  Denker  von  dem  Kaliber  aufgetaucht,  daß  er  das 
Bewußtsein  seiner  Zeit  auf  die  Hohe  der  inneren  Freiheit  und 
Klarheit  emporreißen  könnte,  von  der  es  lange  herabgeglitten  ist. 
Heute  gilt  es,    die   von  jenen  großen  Lehrern  uns  überkommenen 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  5 

Prinzipien  sorgfältig  auffassen,  prüfen,  durch-  und  weiterbilden 
und  geduldig  warten,  ob  und  wann  etwa  die  denkende  Vernunft 
in  ihrer  Selbstbetrachtung  noch  hinter  diese  Prinzipien  wird  zurück- 
gehen und  eine  noch  tiefere  Grundlegung  ihrer  eigenen  Organisation 
wird  finden  können.  Heute  sieht  sich  das  Denken  auf  den  Weg  einer 
langsamen,  durch  die  Vergangenheit  bestimmten  Weiterarbeit  an  den 
Aufgaben  gewiesen,  die  frühere  schöpferische  Zeiten  ihm  gestellt 
haben,  und  muß  sich  bescheiden  in  den  Fluß  einer  Entwickelung 
einreihen,  der  das  Stichwort  schon  vor  etlichen  Menschenaltern 
gegeben  worden  ist.  Dafür  ist  dann  freilich  auch  vom  wissen- 
schaftlichen Gesichtspunkte  ein  wichtiger  Vorteil  auf  Seiten  der 
heutigen  philosophischen  Arbeit  zu  buchen.  Wir  stehen  zeitlich 
jenen  Anfängen  der  neuen  philosophischen  Betrachtungsweise  jetzt 
fern  genug,  um  sie  unbefangen  nach  ihrer  geschichtlichen  Bedingt- 
heit sowohl  wie  nach  ihrem  bleibenden  Wahrheitsgehalt  beurteilen 
zu  können.  Wenn  den  Chorführern  der  deutschen  idealistischen 
Philosophie  in  den  ersten  Generationen  ihrer  Schüler  fast  durch- 
weg nur  Epigonen  entstanden,  die  von  ihren  Meistern  die  Formel 
entlehnten,  um  sie  bestenfalls  in  geistreichem  Räsonnement  auf 
den  mannigfachsten  Stoff  anzuwenden,  so  liegt  darin  der  beste 
Beweis,  um  wie  viel  die  ursprünglichen  G-edankenschöpfungen  jener 
Großen  über  die  Schranken  ihrer  Zeit  hinwegragten.  Nachdem 
sich  inzwischen  die  Zeiten  zweimal  gänzlich  gewandelt  haben, 
nachdem  die  erste,  unmittelbare  Gestalt  jener  idealistischen  Philo- 
sophie von  dem  lebendigen  G-eiste  verlassen  worden  ist  und  als 
ein  Denkmal  der  Vergangenheit  dasteht,  dem  unser  Nachdenken 
erst  wieder  Leben  einflößen  muß,  sind  wir  auch  eigentlich  erst  in 
den  Stand  gesetzt,  uns  mit  freiem  Verständnis  an  diese  Philo- 
sophie heranzumachen,  in  sie  einzugehen,  ihre  letzten  Motive  und 
den  ihren  geschichtlichen  Ablauf  beherrschenden  Begriff  zu  er- 
fassen. Wenn  also  jetzt  der  Weg  vom  kritischen  zum  spekulativen 
Idealismus  wieder  sollte  zurückgelegt  werden,  so  wäre  das  eine 
Wiederholung  gleichsam  in  zweiter  Potenz,  eine  Wiederholung  mit 
dem  Bewußtsein,  daß,  und  mit  der  Einsicht,  warum  und  wieweit 
es  eine  Wiederholung  ist  und  sein  muß. 

Die  Aufgabe,  diese  beiden  Standpunkte  zu  vergleichen,  läßt 
sich  demnach  nicht  dadurch  erschöpfend  lösen,  daß  man  nur  den 
Hergang  ihres  ersten  geschichtlichen  Auftretens  betrachtet  und 
an  der  Form  Kritik  übt,  in  der  sie  damals  gegeneinander  sich  er- 
hoben  und   abgegrenzt   haben.     Es   kommt  darauf  an,    den  prin- 


6  Georg  Lasson, 

zipiellen  Unterschied  ans  Licht  zu  heben,  der  sie  gleichzeitig  trennt 
und  eint  und  der,  aller  geschichtlichen  Abwandlangen  ungeachtet, 
unverändert   derselbe    bleibt.     Daß   dafür    der  Rückgang    auf   die 
gleichsam  klassische  Zeit  ihrer  Ausbildung  unerläßlich  ist,  versteht 
sich  von  selbst;  ohnehin  aber  kann  man  heute  sich  zu  jener  Ver- 
gangenheit  gar   nicht   anders  hinwenden   als   ausgerüstet  mit  dem 
Begriffs  vorrate,    in  dem   man  durch  die  gegenwärtigen  philosophi- 
schen  Methoden    heimisch   gemacht    worden  ist.      Der    hier    sich 
zeigenden   doppelten   Gefahr,    in   die   früheren  Theoreme  moderne 
Beziehungen    hineinzuinterpretieren   oder   das    heutige  Denken   an 
die  Schemata  vergangener  Gedankenrichtungen  zu  binden,  entgeht 
nur  der,  dem  es  gelingt,  sich  denkend  über  die  zeitlichen  Bedingt- 
heiten sowohl  von  damals  wie  von  jetzt  zu  erheben  und  die  Seele, 
den  lebendigen  Begriff  zu   erfassen,    der  sich  in  den  verwandten 
Denkweisen    verschiedener    Zeiten     verschiedenartig     verkörpert. 
Naturgemäß  wird  auch   da  noch  sich  ein  Unterschied,    wenn  nicht 
in  dem  endlichen  Ergebnisse   selbst,    aber  doch  in  dem  Ausgangs- 
punkte,   von    dem   man   sich   ihm    nähert,   und   in   dem  Wege  be- 
merklich machen,  auf  dem  man  es  erreicht,  je  nachdem  man  nämlich 
selber   gewöhnt  gewesen   ist,    in   den    Gedankenreihen  des   einen 
oder   des   andern  Standpunktes    sich   zu  bewegen.     In  dieser  Hin- 
sicht hat  es  heute  der  Denker,   der   aus  dem  Lager  des  kritischen 
Idealismus  stammt,   leichter,    Gehör   zu  finden,   als  wer  von  je  an 
die  Gesichtspunkte   des   spekulativen  Idealismus  sich  zu  eigen  ge- 
macht hat.     Jenem  werden  zur  Zeit  die  meisten  Hörer  und  Leser 
mit   willigem  Vertrauen   entgegenkommen,    weil  sie   mit  ihm  den 
gleichen  Gedankenansatz  haben,   während   ihnen  die  Anschauungs- 
weise, die  der  spekulative  Idealist  bei  dem  besten  Willen,  auf  die 
Denkart  der  andern  Seite  einzugehen,  doch  niemals  ganz  verleugnen 
kann,  von  vornherein  befremdlich   und  sogar  abstoßend  erscheinen 
wird.     Bedenkt  man  vollends,  daß,  sobald  auf  die  tiefsten  Funda- 
mente, auf  die  entscheidenden  Differenzen  zwischen  beiden  Stand- 
punkten zurückgegangen  wird,  Gegensätze  hervortreten,  die  nicht 
von  heut  und  gestern  stammen,  sondern  die  Probleme  des  philoso- 
phischen Denkens  von  jeher  gewesen  sind,    so  tritt  dem  Versuch 
einer  Verständigung  noch  eine  weitere  Schwierigkeit  in  den  Weg. 
Es   scheint   nämlich,    daß    über   diese   letzten  Unterschiede  nichts 
Neues  mehr  gesagt  werden  könne ;  sie  sind  längst  nach  allen  Seiten 
erörtert  worden,  und  von  beiden  Standpunkten  aus  hat  man  ihren 
Sinn,  ihr  Verhältnis  zu  einander,  ihre  geschichtlichen  und  gedank- 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  7 

liehen  Verbindungen  und  Entgegensetzungen  in  aller  Sorgfalt  aus- 
einandergelegt. Das  gilt  ebenso  von  der  Darstellung  des  Weges 
von  Kant  zu  Hegel,  wie  von  der  prinzipiellen  Darstellung  der 
Transzendentalphilosopbie  und  des  absoluten  Idealismus.  So  lautet 
denn,  wenn  aus  dem  einen  Lager  wieder  einmal  eine  solche  Dar- 
stellung hervorgeht,  die  Antwort  aus  dem  andern,  daß  sie  keine 
neuen  Gesichtspunkte  bringe,  und  die  Replik  darauf  beschwert 
sich,  daß  die  Gegenseite  immer  wieder  ihre  längst  widerlegten 
Argumente  vortrage.  Mit  diesem  gegenseitigen  Vorwurf  aber, 
daß  der  andere  beständig  zurück  nur  komme  auf  sein  erstes  Wort, 
wenn  man  Vernunft  gesprochen  stundenlang,  ist  natürlich  nichts 
ausgelichtet.  Der  Weg  zur  Verständigung  zwischen  beiden  Lagern 
kann  nur  in  dem  einen  Umstände  gefunden  werden,  daß  nicht  von 
der  Gegenseite  her,  sondern  durch  immanenten  Fortschritt  inner- 
halb der  eigenen  Denkweise  der  Anstoß  gegeben  wird,  den  eigenen 
Standpunkt  zu  revidieren  und  sich  dadurch  dem  andern  zu  nähern. 
Da  gegenwärtig  im  Lager  des  kritischen  Idealismus  ein  solcher 
Revisionsprozeß  vor  sich  geht,  so  wird  dem  Vertreter  des  speku- 
lativen Idealismus  um  so  mehr  die  Bescheidenheit  geziemen,  nicht 
durch  rechthaberisches  Auftrumpfen  diese  Bewegung  zu  stören, 
sondern  sich  auf  den  Versuch  zu  beschränken,  wie  er  Mißverständ- 
nisse, die  eine  Annäherung  erschweren,  aus  dem  Wege  räumen 
und  den  Ausgleich  der  Gegensätze  durch  ihre  möglichst  klare 
Formulierung  von  seiner  AufTassungsweise  aus  fördern  könne. 

Die  folgenden  Betrachtungen  möchten  in  diesem  Sinne  ver- 
standen werden.  Sie  sind  veranlaßt  worden  durch  das  Er- 
scheinen des  dritten  Bandes  von  Ernst  Cassirers  ausgezeich- 
netem Werke  über  die  Geschichte  des  Erkenntnisproblems 1).  Eine 
Besprechung  des  Buches,  die  seinem  reichen  Inhalte  auch  nur  an- 
nähernd gerecht  werden  wollte,  würde  einen  Umfang  annehmen 
müssen,  der  sie  selbst  zu  einem  Buch  aufschwellen  würde.  Mit 
einer  bloßen  Lobpreisung  der  Sorgfalt  und  Klarheit,  des  liebevollen 
Eingehens  und  nachfühlenden  Verständnisses,  womit  der  Verfasser 
die  bunte  Reihe  der  von  ihm  betrachteten  Systematiker  dem 
heutigen  Denken  nahebringt,  würde  ihm  nicht  gedient  sein.  Den 
besten   Beweis   für   den   Wert   seines   Buches  wird    die   Tatsache 


1)  Ernst  Cassirer,  Das  Erkenntnisproblem  in  der  Philosophie  und  Wissen- 
schaft unserer  Zeit.  3.  Bd.  Die  nachkantischen  Systeme.  Berlin  1920,  Bruno 
Cassirer. 


8  Georg  Lasson, 

liefern,  daß  es  Gelegenheit  zu  fruchtbarer  Diskussion  bietet;  un( 
wenn  wir  zum  Thema  dieser  Diskussion  die  Frage  nach  dem  Vei 
hältnis  zwischen  kritischem  und  spekulativem  Idealismus  wählei 
so  glauben  wir  damit  das  Problem  aufgegriffen  zu  haben,  das 
ebensowohl  in  dem  Mittelpunkte  des  Cassirerschen  Buches  wie  der 
wissenschaftlichen  Bemühungen  seines  Verfassers  überhaupt  steht. 
Denn  für  ihn  vor  allem  ist  das  Bestreben  bezeichnend,  unter 
grundsätzlichem  Verharren  auf  dem  Standpunkt  der  kritischen 
Philosophie  den  Ertrag  der  Geisteskultur  festzuhalten  und  weiter 
auszubauen,  den  wir  den  großen  Vertretern  des  spekulativen 
Idealismus  verdanken.  Es  wäre  zu  viel  gesagt,  wollte  man  seine 
Denkweise  nach  bekanntem  Muster  so  bezeichnen:  mit  dem  Kopf 
ein  Kantianer,  mit  dem  Herzen  ein  Fichteaner,  wenn  nicht  gar 
ein  Hegelianer;  aber  daß  sein  Herz  Goethe  gehört,  und  daß  in 
Goethe  nicht  bloß  Leibniz  mit  Spinoza,  sondern  auch  Kant  mit 
Schelling  und  Hegel  in  ganz  wunderbarer  Integration  verschmolzen 
erscheinen,  das  wird  man  wohl  behaupten  und  von  daher  das 
Interesse  Cassirers  für  den  spekulativen  Idealismus  herleiten 
dürfen.  Da  er  in  seinem  Buche  die  historische  Darstellung  mit 
prinzipieller  Auseinandersetzung  regelmäßig  verbindet  und  sogar 
am  Schlüsse  seiner  Schilderung  des  Hegeischen  Systems  einen 
besondern  Abschnitt  bringt,  der  von  „dem  kritischen  und  dem 
absoluten  Idealismus"  handelt,  so  ermöglicht  das  Eingehen  auf 
dies  Buch  die  Erörterung  des  Themas  in  seiner  ganzen  Bedeutung. 
Jedoch  wird  die  Rücksicht  auf  den  Kaum  uns  dazu  nötigen,  aus 
der  Fülle  der  einzelnen  Punkte,  die  der  Erörterung  wert  wären, 
nur  einige  herauszugreifen,  die  uns  besonders  dazu  geeignet 
scheinen,  Kopf  und  Herz  in  Rücksicht  auf  den  spekulativen 
Idealismus  zu  versöhnen. 

Es  handelt  sich  für  uns  um  zwei  Formen  des  Idealismus,  d.  h. 
um  zwei  eng  verwandte  Denkweisen,  deren  Verschiedenheit  eben 
darum  so  scharf  hervortritt,  weil  sie  sich  so  außerordentlich  nahe 
stehen.  Das  Gemeinsame  der  beiden  aber  ist  diejenige  Stellung 
des  wissenschaftlichen  Denkens,  die  der  tatsächlichen  Stellung  des 
Menschen  in  seiner  Welt  am  genauesten  entspricht.  Der  Mensch 
ist,  weil  er  denkendes  Wesen  ist,  an  sich  oder  von  Natur  Idealist, 
auch  wenn  er  es  selbst  nicht  weiß.  Es  gibt  für  ihn  ohne  die  Ver- 
mittelung  seines  Innern  keinerlei  Wirklichkeit;  daß  er  sich  von 
dem  allen  unterscheidet,  dessen  er  sich  bewußt  ist,  auch  von  sich 
selber,   und   dieses   alles   immer  in  Beziehung  auf  sich   sieht  und 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  9 

empfindet,  macht  ideell  beständig  die  ganze  Welt  von  ihm  ab- 
hängig, wie  stark  er  auch  reell  von  ihr  abzuhängen  scheint. 
Infolgedessen  ist  insbesondere  das  theoretische  Verhalten  des 
Menschen  als  solches  idealistisch,  und  alle  Philosophie,  sie  mag 
eine  Richtung  haben,  welche  sie  wolle,  ist  deshalb,  weil  sie  das 
scheinbar  selbständige  Objekt  mit  dem  Verstände  sich  unterwirft 
und  denkend  erfaßt,  Idealismus  schlechthin.  Auch  der  philo- 
sophische Materialismus  kommt  davon  nicht  los,  Idealismus  zu 
sein;  er  gibt  eine  gedankliche  Konstruktion  der  Wirklichkeit, 
und  wenn  er  meint,  die  Wirklichkeit  nur  aufzunehmen,  wie  sie  an 
sich  ist,  so  fügt  er  ihr  eben  doch  bereits  durch  dies  Aufnehmen 
eine  Beziehung  zu  dem  denkenden  Subjekt  hinzu  und  übersetzt  sie 
aus  einer  Sphäre  des  bloßen  Daseins  in  die  Sphäre  des  Gedacht- 
werdens. Dem  Denken  konnte,  sobald  es  anfing,  sich  auf  sich  zu 
besinnen,  dies  Verhältnis  nicht  lange  verborgen  bleiben;  innerhalb 
der  Philosophie  hat  sich  von  früh  an  als  diejenige,  die  schließlich 
den  entscheidenden  Antrieb  zu  der  Fortbildung  auch  aller  andern 
neben  ihr  bestehenden  Richtungen  in  sich  trägt,  der  philosophische 
Idealismus  entwickelt.  Ganz  im  allgemeinen  ist  er  als  die  An- 
schauung zu  bezeichnen,  die  als  das  Wirkliche,  das  Wahre,  das 
Geltende,  das  Wertbetonte  —  man  mag  die  verschiedenen  Aus- 
drücke zunächst  freigeben  —  dasjenige  erkennt,  was  der  sinnlichen 
Wahrnehmung,  der  Erfahrung  einer  Außenwelt  unzugänglich  ist, 
Bestimmungen  des  menschlichen  Inneren,  Inhalte  des  Denkens,  der 
Tätigkeit  des  Subjekts,  die  als  bleibende  Formen,  erhaltende 
Gründe,  leitende  Zwecke  an  dem  Wechsel  der  raumzeitlichen  Er- 
scheinung nicht  teilnehmen.  Es  ist  das  unsterbliche  Verdienst  der 
Antike,  diese  Inhalte  in  ihrer  nächsten  einfachen  Bestimmtheit  ans 
Licht  gestellt  und  formuliert  zu  haben;  sie  hat  den  objektiven 
Idealismus  geschaffen,  dessen  Hauptproblem  die  Frage  bildet :  was 

tist  das  Wahre  ?  Es  liegt  aber  auf  der  Hand,  daß  davon  die  andere 
Frage  nicht  zu  trennen  ist:  welches  ist  der  Weg  zu  dem  Wahren? 
Wenn  Plato  in  eingehenden  Untersuchungen  die  Wahrnehmung, 
die  Vorstellung,  die  richtige  Meinung  nicht  als  wissenschaftlich 
zureichende  Mittel  zur  Wahrheitserkenntnis  gelten  läßt  und  das 
begriffliche  Denken  als  den  einzigen  Weg  zum  wahren  Wissen  er- 
weist, so  treibt  er  bereits  Erkenntniskritik;  diese  also  ist  nicht 
das  Privileg  des  kritischen  Idealismus.  Wenn  Plato  ferner  von 
den  Philosophen  erklärt,  daß  sie  sich  im  Sterben  üben  und  aus 
der  Welt  der  Erscheinungen  abscheiden,  um  das  Wahre  zu  erfassen, 


10  Georg  Lasson, 

so  vertritt  er  bereits  einen  Standpunkt,  der  das  Erkennen  transzen- 
dental bestimmt  als  von  Bedingungen  ausgehend,  die  in  ihm  selber 
liegen  und  alle  Erfahrung  erst  möglich  machen ;  auch  der  transzen- 
dentale Gesichtspunkt  ist  nicht  erst  im  kritischen  Idealismus  auf- 
getaucht. Und  wenn  dann  Aristoteles  den  Gegenstand  der  äußeren 
Erfahrung  analysiert  und  als  die  beiden  Momente,  die  ihn  kon- 
stituieren, die  Materie  und  die  Form  bezeichnet,  die  die  Idee  dieser 
Materie  ist,  so  hat  er  damit  die  Erfahrung  schon  als  das  geistige 
Setzen  einer  Beziehung  zwischen  zwei  für  sich  allein  nirgend  ge- 
gebenen oder  möglichen  Faktoren  bestimmt.  Es  ist  demnach  zu 
sagen,  daß  in  dem  objektiven  Idealismus  der  kritische  bereits  als 
ein  noch  nicht  zur  Selbständigkeit  herausgebildetes  Moment  vor- 
handen ist. 

Erst  im  Gefolge  der  Reformation  tritt  eine  grundlegende 
Weiterbildung  des  Idealismus  dadurch  ein,  daß  sich  das  denkende 
Ich  als  das  Prinzip  der  Selbstgewißheit  und  den  Zentralpunkt  des 
gesamten  Bewußtseinsinhaltes  erfaßt.  Das  Cartesische  cogito,  ergo 
sum  erweckt  zuerst  einen  Ontologismus ,  der  die  antike  Meta- 
physik in  eine  Weltanschauung  des  aufgeklärten  und  vernünftigen 
Bewußtseins  übersetzt,  und  wird  dann  zur  Grundlage  eines  sub- 
jektiven Idealismus,  dem  nichts  als  die  Tatsache  des  Bewußt- 
seins selbst  gewiß  ist.  Die  Welt  ist  die  Welt  unserer  Wahr- 
nehmungen; außerhalb  unserer  Wahrnehmungen  von  einer  ma- 
teriellen Welt  zu  reden  hat  keinen  Sinn:  die  „Dinge"  existieren 
nur  im  wahrnehmenden  Geiste.  Mit  diesem  subjektiven  Idealismus 
könnte  der  absolute  zusammenzufallen  scheinen,  wenn  nicht  der 
Ausgangspunkt,  die  Wahrnehmung,  selbst  nicht  das  reine,  durch 
sich  selbst  bestimmte,  sondern  vielmehr  das  zufällige,  natürlich 
bestimmte  Subjekt  voraussetzte;  man  kann  ja  um  deswillen  Ber- 
keley auch  unter  die  Sensualisten  rechnen.  Die  Analyse  der  Er- 
fahrung führt  nun  aber  zu  der  Erkenntnis,  daß  die  Welt  unserer 
Wahrnehmungen  gar  nicht  durch  die  einzelnen  Wahrnehmungen 
ihre  Gestalt  erhält,  sondern  durch  die  Formen,  in  denen  der 
denkende  Geist  diese  Wahrnehmungen  miteinander  verknüpft. 
Hier  ist  der  Wendepunkt  des  philosophischen  Denkens  der  neuen 
Zeit  erreicht.  Denn  von  dieser  Erkenntnis  aus  fällt  einerseits 
jede  Möglichkeit  hin,  eine  Realität  der  Außenwelt  gesondert  von 
der  Aktivität  des  Bewußtseins  festzuhalten,  und  eröffnet  sich 
andererseits  der  Weg,  Außenwelt  und  Innenwelt,  Natur  und  Frei- 
heit in  den  vernünftigen  Zusammenhang  einer  einheitlichen  geistigen 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  11 

Produktion  hineinzustellen. '  Den  Nachweis  des  ersten  Satzes  hat 
Hume  geliefert:  die  Kategorien  gehören  unserm  Verstände,  nicht 
den  Dingen  an;  also  ist  die  Welt,  wie  wir  sie  uns  vorstellen, 
eine  durch  unsere  Verstandesformen  erzeugte  fable  convenue.  Man 
kann  in  den  Dingen,  deren  Eindrücke  auf  uns  die  Wahrnehmungen 
hervorrufen,  keine  Kausalität  nachweisen,  denn  die  Kausalität  ist 
unsere  Vorstellungsart;  deshalb  ist  es  gänzlich  ungewiß,  ob  die 
Welt  unserer  Wahrnehmungen  irgend  etwas  mit  der  Welt  der 
Dinge  gemein  hat.  Bei  dieser  Schlußfolgerung  widerfährt  freilich 
Hume  das  Mißgeschick,  daß  er  die  Kausalität,  deren  objektive 
Gültigkeit  er  bestreitet,  gerade  an  der  entscheidenden  Stelle  selbst 
muß  gelten  lassen;  er  müßte  ganz  wie  Berkely  im  subjektiven 
Idealismus  stehen  bleiben,  wenn  er  nicht  die  Perzeptionen  und 
Sensationen  als  verursacht  durgh  äußere  Einwirkungen  auffaßte. 
So  ruht  sein  Empirismus  auf  einem  offenkundigen  Selbstwider- 
spruch; es  wird  hier  unausweichlich  klar,  daß  eine  Zweiteilung  in 
eine  Welt  der  Dinge  und  in  eine  Welt  des  Bewußtseins  in  dem 
Augenblick  unmöglich  geworden  ist,  wo  die  kategoriale  Form 
jeder  Erkenntnis,  auch  der  empirischen  außer  Zweifel  steht. 

Die  Philosophie  ist  damit  auf  dem  Punkte  angekommen,  sich 
ihres  eigentlichen  Charakters  bewußt  zu  werden;  haben  wir  oben 
bemerkt,  daß  sie  ihrem  Wesen  nach  Idealismus  sei,  so  wird  nun 
dies  ihr  Wesen  auch  zu  ihrer  Tat.  Hierin  liegt  die  epoche- 
machende Bedeutung  der  Kantischen  Philosophie ;  Kant  erhebt  die 
Idee  der  Philosophie  zur  lebendigen  Substanz  seines  Systems  und 
macht  mit  der  Erkenntnis  ernst,  daß  das  vernünftige  Subjekt,  das 
denkende  Ich  der  Schöpfer  der  Wirklichkeit,  daß  bereits  die  Welt 
der  äußeren  Erfahrung  eine  Welt  des  G-eistes  und  daß  die  Freiheit 
die  fundamentale  Bestimmung  der  Vernunft  ist.  Das  ist,  könnte 
man  sagen,  absoluter  Idealismus;  wenn  zwischen  diesem  und 
dem  Kritizismus  dennoch  eine  scharfe  Trennungslinie  gezogen 
wird,  so  liegt  der  Grund  dafür  jedenfalls  nicht  in  einer  ver- 
schiedenen Stellung  dieser  beiden  Richtungen  zu  den  Metboden 
des  vorkritischen  Denkens.  Es  ist  einfach  ein  sachlicher  Irrtum, 
wenn  man  dem  absoluten  Idealismus  vorwerfen  möchte,  er  sei  in 
den  Dogmatismus  der  ontologischen  Metaphysik  zurückgefallen. 
Daß  während  seiner  Ausbildung  sein  Prinzip  nicht  gleich  in  allen 
Beziehungen  rein  durchgeführt  worden  ist,  besagt  so  wenig  gegen 
das  Prinzip,  wie  die  mannigfachen  Residuen  von  Psychologismus 
und  Empirismus  bei  Kant  etwas  gegen  dessen  kopernikanische  Tat 


12  Georg  Lasson, 

besagen.  Der  absolute  Idealismus  ist  mit  dem  kritischen  völlig 
eins,  soweit  es  den  Unterschied  von  den  übrigen  philosophischen 
Standpunkten  gilt,  die  dem  Leben  des  Geistes  irgend  eine  ding- 
liche, geistfremde  Wirklichkeit  vorausschicken  und  es  davon  ab- 
hängig sein  lassen.  Er  ist  selbst  mit  Bewußtsein  kritisch  und 
bemängelt  an  dem  Kritizismus  nur,  daß  dieser  nicht  zum  Bewußt- 
sein davon  kommt,  daß  an  sich  auch  er  bereits  absoluter  Idealis- 
mus ist.  Was  also  die  beiden  Standpunkte  trennt,  ist  eine  imma- 
nente Verschiedenheit,  eine  Unähnlichkeit  von  Geschwistern.  Es 
handelt  sich  allein  um  die  Beantwortung  der  Frage:  wie  weit 
kann  die  Vernunft  durch  ibr  Denken  in  der  Erkenntnis  ihrer 
selbst  kommen?  Während  hier  der  kritische  Idealismus  eine  nie 
ganz  aufzuhebende  Schranke  statuiert  und  die  Vernunft  an  eine 
ihr  unentbehrliche  und  von  ihr  nicht  überwindbare  Gegebenheit, 
ein  mit  ihr  zugleich  gesetztes  Irrationales  und  eine  ihr  natur- 
notwendig anhaftende  Mehrheit  von  Anlagen  und  Vermögen  bindet, 
will  der  absolute  Idealismus  den  Gedanken  der  Spontaneität  der 
Vernunft  bis  zu  Ende  denken  und  behauptet  das  Recht  einer  Ver- 
nunftphilosophie, für  die  alle  scheinbare  Gegebenheit  und  alles 
scheinbar  Irrationale  als  freie  Setzung  des  Geistes  erkannt  wird, 
der  sich  selbst  und  alles  andere  produziert.  Die  Kritik  der  Ver- 
nunft, die  dieser  absolute  Idealismus  übt,  bleibt  also  nicht  bei 
dem  Feststellen  von  Schranken  stehen,  sondern  wendet  sich  auch 
kritisch  diesem  Feststellen  zu  und  findet  den  Grund  dafür  in  der 
Selbsttätigkeit  des  Geistes,  der,  indem  er  sich  selber  Schranken 
zieht,  über  diese  Schranken  bereits  hinaus  und  ihr  eigner  Schöpfer 
ist.  Weil  das  Denken  so  das  Ganze  aller  Erkenntnisse  und  Be- 
wußtseinsinhalte in  einem  aus  seiner  eigenen  Vernünftigkeit  und 
Freiheit  erzeugten  vernünftigen  Zusammenhange  schaut,  der  durch 
sich  selbst  klar  und  in  dem  sich  die  Vernunft  selbst  durchsichtig 
ist,  trägt  diese  Form  des  philosophischen  Idealismus  den  Namen 
des  spekulativen  Idealismus.  Dieser  behauptet  von  sich,  daß 
er  die  rechtmäßige  Durchführung  des  von  Kant  aufgedeckten 
Prinzips  darstelle,  daß  also  der  Weg  vom  kritischen  zum  speku- 
lativen Idealismus  der  notwendige  Weg  des  vernünftigen  Denkens 
sei.  Der  Kritizismus  hinwiederum  gibt  heute,  im  Bückblick  auf 
die  geschichtliche  Entwickelung,  ohne  weiteres  zu,  daß  dieser  Weg 
freilich  einmal  gemacht  werden  mußte  und  auch  in  seiner  Weise 
die  Philosophie  mannigfach  gefördert  hat,  sieht  aber  doch  in  ihm 
ein  Abenteuer  des  Gedankens,  eine  Hybris  der  menschlichen  Ver- 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  13 

nunft,  die  deshalb  seinerzeit  mit  kläglichem  Zusammenbruch  ge- 
straft worden  und  zu  stets  erneutem  Scheitern  auf  ewig  verdammt 
sei.  Lange  schien  dies  Urteil  das  endgültige  zu  sein;  die  Gegen- 
wart zeigt,  daß  eine  Nachprüfung  unerläßlich  ist.  Sehen  wir  zu, 
welches  Material  Cassirer  dafür  beibringt. 

Wir  greifen  zunächst  eine  Reihe  von  Bemerkungen  heraus,  in 
denen  Cassirer  sehr  nachdrücklich  den  ursprünglichen  Kantianismus 
als  noch  unfertig  charakterisiert.  Ganz  im  Sinne  echter  geschicht- 
licher Auffassung  sagt  er  (S.  2):  „Der  Zerfall  des  kritischen  Systems 
in  seine  einzelnen  verschiedenartigen  Elemente  bedeutet  zugleich  die 
Vorbedingung  und  den  Anfang  eines  neuen  Verständnisses  seines 
begrifflichen  Aufbaus"  und  bezeichnet  als  die  Gruppe  von  Be- 
griffen, in  denen  das  Problem  des  kritischen  Systems  sich  aus- 
drückt und  die  deshalb  der  weiteren  Bearbeitung  durch  die  nach- 
kantischen  Systeme  anheimfallen  mußten,  die  Begriffe  des  Dinges 
an  sich,  der  synthetischen  Einheit,  des  Gegensatzes  von  Form  und 
Materie  und  des  Verhältnisses  von  Allgemeinem  und  Besonderem 
innerhalb  der  Erkenntnis.  In  diesen  Begriffen  und  Problemen 
liege  ein  intellektuelles  Bezugsystem  vor,  auf  das  alle  charak- 
teristischen und  entscheidenden  Einzelbestimmungen  in  den  Lehren 
der  maßgebenden  Denker  von  Reinhold  bis  Hegel  hinweisen  (S.  3). 
Wenn  sich  wohl  zu  diesen  Begriffen  und  Problemen  noch  manche 
nicht  minder  fundamentale  würden  hinzufügen  lassen,  die  durch 
die  kantische  Lehre  noch  nicht  zur  Klarheit  gebracht  worden 
waren,  so  darf  man  Cassirer  ohne  weiteres  beistimmen,  daß  die 
von  ihm  genannten  in  der  Tat  den  kritischen  Punkt  innerhalb  des 
Kritizismus  betreffen;  sie  können  in  dem  einen  Problem  eines  ur- 
sprünglichen und  durchgängigen  Dualismus  zusammengefaßt  werden. 
Ereilich  erhebt  sich  dann  auch  sofort  die  Frage,  worauf  eigentlich 
Kants  Absicht  gegangen  sei,  auf  die  Überwindung  dieses  Dualis- 
mus, den  er  aus  der  zeitgenössischen  Philosophie  übernommen  hatte, 
durch  seine  Einordnung  unter  die  Einheit  des  autonomen  denkenden 
Subjekts,  oder  auf  die  Neubegründung  des  Dualismus,  den  er  der 
dogmatischen  Metaphysik  entgegenstellte,  durch  das  Festhalten  an 
dem  Phänomen  der  sinnlichen  Erfahrung.  Dass  er  zur  Abwehr 
des  Dogmatismus  sich  immer  wieder  dem  fruchtbaren  Bathos  der 
Erfahrung  zugeneigt  hat,  ist  gewiß  unbestritten.  Aber  ebenso- 
wenig läßt  sich  verkennen,  daß  er  über  die  ursprüngliche  Ent- 
gegensetzung der  in  der  Erfahrung  vorgefundenen  Elemente  hinaus 
einer  Synthese  zugestrebt  hat,   die  mehr  bedeutete   als    die  bloß 


14  Georg  Lasson, 

formal  logische  Korrelation  dieser  Elemente  im  Denkprozeß.  Er 
ist  zu  dieser  Synthese  durch  eine  Erweiterung  des  Erfahrungs- 
begriffs gelangt,  den  er  aus  der  Sphäre  der  sinnlichen  auf  die  der 
sittlichen  Erfahrung  ausdehnte,  und  man  sollte  endlich  aufhören 
das  wegzuleugnen,  was  er  selbst  offen  erklärt  hat,  daß  ihm  die 
kritische  Analyse  der  Bedingungen  einer  möglichen  sinnlichen 
Erfahrung  ausdrücklich  dazu  hat  dienen  sollen,  die  Unbedingtheit 
der  praktischen  Vernunft,  die  Selbstgewißheit  des  moralischen 
Willens  festzustellen  und  eine  Wirklichkeit  der  inneren  Erfahrung 
zu  erweisen,  in  die  sich  die  Welt  der  äußeren  Erfahrung  einzu- 
gliedern hat.  Die  praktische  Freiheit  wird  durch  Erfahrung  als 
eine  Kausalität  der  Vernunft  in  Bestimmung  des  Willens  erkannt 
(Kr.  d.  r.  V.  2.  Aufl.,  S.  81);  dem  bestirnten  Himmel  über  mir 
tritt  das  moralische  Gesetz  in  mir  als  Erfahrungstatsache  zur 
Seite.  Diese  Tatsache  aber  ermöglicht  nun  vermittelst  des  Be- 
griffs der  Autonomie  die  konkrete  Synthese  von  Phänomenen  und 
Noumenen. 

Die  Tendenz  Kants  auf  den  einheitlichen  Aufbau  der  Er- 
kenntnis aus  ihrer  eigenen  Gesetzlichkeit  bezeichnet  Cassirer  als 
den  Kern  der  Vernunftkritik.  Rückhaltlos  gib£  er  zu,  daß  die 
ersten  Abschnitte  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  den  Sachverhalt, 
den  Kant  aufzudecken  beabsichtigt,  „noch  nirgends  in  voller  Klar- 
heit hervortreten  lassen"  (S.  7).  Auch  die  Darstellung  in  den 
Prolegomena  gibt  er  einfach  preis  (S.  9).  Er  betont,  daß  sich  in 
Kants  Stil  „der  Kampf  zwischen  der  neuen  logischen  Begriffsansicht 
und  der  empirischen  Dingansicht,  fortsetzt  und  darin  seinen  deut- 
lichsten Ausdruck  erhält"  (S.  5).  Den  Ausdruck  „Anlagen"  für 
die  Voraussetzungen  der  Form  aller  Erkenntnis,  den  Ausdruck 
„Affektion  durch  die  Dinge  an  sich"  für  die  Voraussetzungen  zu 
materialer  Begriffsbestimmung  nennt  er  Symbole  für  das  Problem 
des  Kritizismus,  nicht  Lösungen.  Er  meint,  daß  auf  dem  Boden 
der  transzendentalen  Ästhetik  „das  Ding  einstweilen  nur  als  ein 
unbegriffener  Rest  erscheinen  muß,  der  für  das  Wissen  zurück- 
bleibt". Das  Gemüt  und  die  Dinge  an  sich  treten  hier  als  abso- 
lute, für  sich  bestehende  Potenzen  auf;  „die  originale  und  tiefere 
Frage,  wie  sich  die  Welt  der  Erfahrung  als  ein  einheitliches 
Ganzes  des  Sinnes  und  der  Erkenntnis  konstituiert",  bleibt  noch 
verdeckt  (S.  7).  Erst  mit  der  transzendentalen  Logik  tritt  der 
kantische  Gedanke  klar  zutage ;  indem  die  Bestimmung  der  Gegen- 
ständlichkeit schlechthin  kategorialen  Charakter  erhält,  „scheint  es 


s 

Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  15 

jetzt  freilich,  als  habe  die  Vernunftkritik  hier  in  dem  Ziel,  zu 
dem  sie  jetzt  gelangt,  ihren  eigenen  Anfang  zunichte  gemacht" 
(S.  8).  Das  heißt,  es  ist  in  der  Tat  aus  dem  Dualismus 
von  Sein  und  Denken  ein  monistischer  Idealismus 
der  logischen  Beziehungssysteme  von  Gedanken- 
bestimmungen  geworden;  was  ihn  von  dem  Gipfelpunkte 
des  absoluten  Idealismus ,  dem  „Sicbselbsterkennen  im  absoluten 
Anderssein"  noch  trennt,  ist  nur  der  Umstand,  daß  die  Beziehung 
in  der  Form  der  Eeflexion  ursprünglich  entgegengesetzter  Mo- 
mente aufgefaßt  und  also  das  Denken  mit  einer  von  ihm  nicht 
auflösbaren  Gregebenheit  belastet  wird. 

Daß  der  Kantianismus  zu  solcher  idealistischen  Einheitslebre 
hintreibt,  erläutert  Cassirer  ferner  sehr  interessant  an  der  kri- 
tischen Auffassung  des  aposteriorischen  Urteils.  Er  weist  nach, 
daß,  da  die  Kategorien  die  notwendige  Bedingung  aller  möglichen 
Wahrnehmungen  sind,  die  empirische  Tatsache  selbst  in  dem,  was 
gerade  ihren  eigentümlichen  Sachcharakter  ausmacht,  durch  nichts 
anderes  konstituiert  wird  als  durch  jenes  reine  Geltungsmoment, 
das  im  Gedanken  der  apriorischen  Synthesis  festgehalten  ist  (S.  10). 
Aus  dem  besondern  Dialekte  der  Schule  in  die  geläufigeren  Aus- 
drücke des  überlieferten  philosophischen  Sprachgebrauches  über- 
setzt, besagen  diese  Worte,  daß  die  vollständige  Form  der  Er- 
kenntnis nicht  im  Urteil,  sondern  im  Schlüsse  zu  finden  ist  und 
daß  jedem  besondern  Erfahrungsurteil  immer  bereits  ein  Vernunft- 
schluß zugrunde  liegt,  der  überhaupt  eine  Erkenntnis  erst  möglich 
macht.  Es  zeigt  sich  hier  der  einheitliche  Erkenntnisgrund,  der 
Boden  einer  synthetischen  Vernunfttätigkeit,  die,  wie  Cassirer 
sagt,  zwischen  den  gegensätzlichen  Bedeutungsmomenten,  dem  Not- 
wendigen und  dem  Zufälligen,  dem  Allgemeinen  und  dem  Einzelnen, 
dem  Gesetze  und  der  Tatsache,  die  wesentliche  Verknüpfung  be- 
wirkt, ohne  die  Gegensätze,  die  isoliert  nicht  bestehen  können, 
aufzulösen  (S.  10).  So  entsteht  für  die  kritische  Betrachtung  der 
Grundgegensätze  „stets  die  Doppelaufgabe:  eine  unlösliche  Korre- 
lation zwischen  Bestimmungen  zu  schaffen,  ohne  sie  ihrem  Begriffe 
nach  in  einander  aufgehen  zu  lassen"  (S.  11).  Merkwürdigerweise 
hat  Cassirer  nicht  gesehen,  daß  er  hiermit  das  Wesen  der  viel- 
berufenen dialektischen  Methode  genau  beschrieben  hat.  Die 
kritische  Methode  ist  tatsächlich  ihrem  Wesen  nach 
dialektische  Methode;  was  sie  von  deren  reiner  Ausbildung 
und   bewußter  Übung  noch  trennt,    ist  nur  der  Umstand,    daß  sie 


16  Georg  Lasson, 

vorstellungsmäßig  die  reinen  Gedankenbestimmungen  selbst  wieder 
in  der  Weise  einander  repellierender  Einzeldinge  auffaßt  und  den 
Sinn  der  Identität  des  Unterschiedenen  oder  den  Begriff  der  über- 
greifenden geistigen  Einheit  nicht  erreicht.  Ihre  Dialektik  bleibt 
deshalb  in  Reflexionsbestimmungen  stecken  und  kommt  nicht  zu 
einer  lebendigen  Systematik  des  Allgemeinen  und  Besonderen. 

Diesen  Mangel  bat  Cassirer  treffend  hervorgehoben.  Der 
Schematismus  der  reinen  Verstandesbegriffe,  durch  den  die  Kritik 
der  reinen  Vernunft  das  Verhältnis  des  Allgemeinen  und  des  Be- 
sonderen neu  zu  bestimmen  versucht,  mag  zwar,  wie  er  sagt,  ein 
Nebeneinanderwirken  von  Sinnlichkeit  und  Verstand  allenfalls  ver- 
ständlich machen,  ist  aber  nicht  imstande,  die  innere  wesentliche 
Heterogenität  zwischen  beiden  zu  versöhnen,  sondern  verschärft 
sie  vielmehr  (S.  11).  Die  hier  gestellte  Aufgabe,  der  Gedanke, 
auf  den  die  Lehre  vom  Schematismus  hinzielt,  hat  die  entscheidende 
Ergänzung  und  Erfüllung  erst  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  ge- 
funden. Sie  fragt,  wie  Cassirer  meint,  nach  dem  Grund  und  dem 
transzendentalen  Rechte  der  Besonderung  der  Verstandesgesetze 
selbst  (S.  12) ;  das  bedeutet  nichts  anderes,  als  daß  sie  an  die  Auf- 
gabe herantritt,  die  den  Begriff  der  Vernunftkritik  erst  vollendet, 
nämlich  den  kritischen  Standpunkt  selbst  zu  kritisieren  und  aus 
der  Analyse  der  Erfahrung  zu  dem  System  des  Erfabrbaren  vor- 
zudringen. Die  Angemessenheit  der  Natur  für  unsern  Verstand 
setzt  als  Bedingung  für  alle  empirische  Forschung  den  Grundsatz 
einer  bis  ins  einzelnste  durchgehenden  Zweckmäßigkeit,  eines  ver- 
nünftigen, gesetzlichen  Zusammenhanges  der  ganzen  Erfahrnngs- 
welt  voraus,  in  dem  sich  das  auf  einer  Stufe  als  zufällig  Er- 
scheinende auf  einer  höheren  Stufe  als  vernünftig  bestimmt,  sich 
als  Bestandteil  eines  Systems  verständlich  machen  läßt.  Hier  ist 
eine  Einheit  der  Idee  erreicht,  und  dieser  Fortschritt  ist  zustande- 
gekommen, als  „Kant  das  konkrete  Prinzip  der  Einzelforschung 
selbst  auszusprechen  suchte  und  andererseits  im  Problem  der  or- 
ganischen Zweckformen  einen  neuen  und  sicheren  Begriff  der  Natur 
gewann"  (S.  14  f.).  Die  Erfahrung  wird  jetzt  nicht  mehr  lediglich 
als  mathematische  Naturwissenschaft  aufgefaßt,  und  mit  dem  Ge- 
danken eines  „intellectus  archetypus,  eines  göttlichen  Verstandes, 
der  als  schöpferisches,  zwecktätiges  Prinzip  den  Weltzusammen- 
hang in  seinen  verschiedenen  Ordnungen  einheitlich  gestaltet,  lebt 
nicht  nur  der  Leibnizische  Begriff  der  Harmonie  wieder  auf,  sondern 
öffnet   sich   aufs   neue  eine  Erkenntnis  weise,    die,   als  solche  nicht 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  17 

vom  Einzelnen  zum  Ganzen,  sondern  von  der  Idee  des  G-anzen 
zum  Einzelnen  fortschreitet".  „Das  Zweckprinzip  bleibt  bei  Kant 
selbst  nicht  auf  den  Gedanken  der  formalen  Zweckmäßigkeit  be- 
schränkt, sondern  es  erweitert  sich  zu  der  Idee  eines  absoluten 
Endzwecks,  in  welchem  die  beiden  Gebiete  der  Natur  und  der 
Freiheit  ihren  letzten  Zusammenhang  finden  sollen.  Hier  hat  daher 
die  immanente  Entwickelung  der  kritischen  Methodik  selbst  zu 
einem  Punkte  geführt,  an  dem  sie  über  sich  selbst  gleichsam 
hinauswächst"  (S.  15).  Wir  haben  uns  hier  ganz  auf  die  Wieder- 
gabe der  Cassirerschen  Äußerungen  beschränkt,  um  es  recht  deutlich 
zu  machen,  wie  an  diesem  Punkte  Cassirer  selbst  im  Kantianismus 
den  absoluten  Idealismus  aufdeckt.  Ein  Hinweis  auf  die  Methoden- 
lehre in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  und  auf  den  ganzen  Tenor 
der  Kritik  der  praktischen  Vernunft  würde  außerdem  klarstellen, 
daß  die  in  der  Kritik*  der  Urteilskraft  entfaltete  Anschauung  nicht 
ein  späteres  Accidens  zu  Kants  ursprünglicher  Philosophie,  sondern 
von  jeher  das  Ziel  gewesen  ist,  dem  sein  gesamtes  kritisches  Be- 
streben gegolten  hat.  Die  Bemerkung  Arthur  Lieberts,  daß  die 
kritische  Methode  Kants  dazu  bestimmt  gewesen  sei,  der  Leib- 
nizischen  Metaphysik  die  methodische  Begründung  zu  liefern,  dürfte 
demnach  wohl  das  Richtige  treffen. 

Für  den  kritischen  Idealismus  in  der  Form,  die  er  durch  Kant 
erhalten  hat,  wird  durch  die  Cassirersche  Darstellung  unser  Satz 
erhärtet,  daß  er  seinem  Wesen  nach  absoluter  Idealismus  ist ;  was 
ihn  von  dem  absoluten  Idealismus  seiner  Nachlolger  trennt,  ist 
nur  der  Umstand,  daß  er  in  dem  idealen  Zusammenhange  von 
Denken  und  Sein  wohl  das  eine  Moment  festhält,  wonach  dieser 
Zusammenhang  eine  notwendige  und  vernünftige  Forderung  des 
menschlichen  Denkens  ist,  das  andere  aber  bei  Seite  läßt,  wonach 
die  Möglichkeit  einer  solchen  Forderung  in  nichts  anderem  be- 
gründet sein  kann  als  in  der  Bestimmung,  die  sich  der  denkende 
Geist  selber  gibt.  Daß  also  der  Geist  allein  als  der  Grund  zu 
fassen  ist,  der  Sein  und  Denken  als  seine  eigenen  Momente  pro- 
duziert und  in  dem  Sein  und  Denken  deshalb  identisch  sind,  diesen 
Schluß  weigert  sich  der  Kritizismus  zu  ziehen.  Gefühlsmäßig  ist 
es  die  Scheu  vor  einem  Eückfall  in  den  Dogmatismus,  was  ihn 
hindert,  diesen  Begriff  der  obersten  Einheit,  zu  dem  er  sich  ge- 
führt sieht,  ernsthaft  auch  zum  obersten  Prinzip  der  systematischen 
Erkenntnis  zu  machen;  er  läßt  ihn  als  einen  „Grenzbegriff",  als  eine 
Idee  stehen,   auf  die  der  Verstand  wohl  hinauskommt,    bei  der  er 

Kantatudion.    XXVII.  2 


18  Georg  Lasso n, 

aber  schon  außer  sich  und  bei  der  es  ihm  darum  nicht  geheuer  ist. 
Verstandesmäßig  ist  es  die  abstrakte  Fassung  des  Gegensatzes 
von  Erfahrungsinhalt  und  Transzendenz,  weswegen  der  Kritizismus, 
obwohl  er  selber  fortwährend  den  Nachweis  der  Abhängigkeit  der 
Erfahrung  von  überempirischen  Bestimmungen  führt,  die  Bestim- 
mung des  absoluten  Geistes  vermeidet  und  hier  tatsächlich  sich 
die  Schranke  des  „Als  ob"  zieht.  Wenn  Cassirer  mit  Recht  sagt, 
daß  es  nicht  das  Interesse  der  Transzendenz  gewesen  sei,  wodurch 
das  Denken  über  diese  Stellungnahme  vorwärts  getrieben  wurde, 
so  muß  man  zufügen,  daß  gerade  umgekehrt  der  Kritizismus  dies 
Interesse  der  Transzendenz  gewahrt,  sie  als  ein  isoliertes  und  un- 
zugängliches Abstraktum  festgehalten  hat,  wogegen  der  spekula- 
tive Idealismus  ihr  diesen  Schein  der  Selbständigkeit  abzustreifen 
und  sie  als  ein  Moment  in  der  Totalität  der  geistigen  Wirklich- 
keit immanent  zu  fassen,  die  gesamte  Diesseitigkeit  mit  ihr  zu 
versöhnen  unternommen  hat.  Was  ihn  dazu  trieb,  war  in  der  Tat 
nicht  das  Interesse  eines  ontologischen  oder  gar  außerphilosophi- 
schen, religiösen  Dogmatismus,  sondern  um  mit  Cassirer  zu  sprechen, 
„das  Interesse  an  der  systematischen  Gestaltung  der  Erfahrung 
selbst,  das  eine  Erweiterung  der  Befugnisse  des  Denkens,  eine 
tiefere  Gestaltung  des  Verhältnisses  des  Allgemeinen  und  Beson- 
dern fordert"  (S.  16).  Deshalb  rühmt  Cassirer  den  nachkantischen 
Lehren  als  eines  ihrer  wesentlichen  geschichtlichen  Verdienste 
nach,  daß  sie  den  Problemkreis  Kants  und  der  kritischen  Philo- 
sophie erweitert  haben,  und  meint:  „Auch  wenn  man  die  neuen 
Antworten,  die  hier  gegeben  werden,  als  ungenügend  und  als  vor- 
eilige dogmatische  Entscheidungen  ansieht,  so  wird  man  sich  doch 
den  neuen  und  wichtigen  Fragen,  die  hier  geprägt  worden  sind, 
nicht  auf  die  Dauer  entziehen  können"  (S.  VII). 

Wir  können  für  unsern  Zweck  die  Betrachtungen  übergehen, 
die  Cassirer  den  Kantianern  Reinhold,  Beck  und  Maimon  und  den 
Antikantianern  Jacobi  und  Aenesidem  gewidmet  hat.  An  den 
fruchtbaren  Kern  der  Kantischen  Lehre  rührt  von  ihnen  am 
nächsten  Maimon  heran,  der  dem  Neukantianismus  besonders 
darum  interessant  sein  muß,  weil  er  zur  Aufstellung  der  kriti- 
schen Position  sich  der  Analogien  aus  der  Mathematik  bedient 
hat.  Gerade  deshalb  aber  ist  es  nicht  zu  verwundern,  daß  er 
trotz  der  kongenialen  Erfassung  des  kantischen  Erkenntnisproblems 
und  trotz  der  Neigung,  es  im  Sinne  der  Kritik  der  Urteilskraft 
zu  lösen  (S.  94  ff.),  doch  bei  der  Idee  einer  Wissenschaft  ankommt, 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  19 

die  von  dem  Wirklichen  immer  getrennt  bleibt  (S.  102  f.),  und  bei 
der  Idee  einer  Wahrheit,  die  nicht  beansprucht,  systematisch, 
notwendig  und  allgemeingültig  zu  sein  (S.  125).  Denn  das  Eigen- 
tümliche der  Mathematik  besteht  gerade  darin,  daß  die  Einheit, 
die  in  ihr  maßgebend  ist,  die  Einheit  der  Funktion,  eine  Beziehung 
zwischen  zwei  einander  an  sich  fremden  Elementen  bedeutet,  denen 
sie  als  ein  von  außen  auferlegtes  Gesetz  übergeordnet  ist,  und  daß 
der  Infinitesimalbegriff,  mit  dem  die  Spannung  zwischen  Diskon- 
tinuität und  Kontinuität  überwunden  werden  soll,  nur  zu  einer 
unendlichen  Annäherung  führt,  die  mit  unendlichem  Getrennt- 
bleiben  gleichbedeutend  ist.  So  beweist  schon  der  Gebrauch  der 
mathematischen  Analogien  die  im  gründe  skeptische  Stellung  Mai- 
mons  zum  Erkenntnisproblem ;  Cassirer  findet  ihre  tiefere  Begrün- 
dung darin,  daß  Maimon  einseitig  nur  die  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft berücksichtigt  habe  und  „von  der  systematischen  Weiter- 
führung und  Fortbildung,  die  der  Grundgedanke  in  Kants  Ethik 
und  Ästhetik  erfährt,  so  gut  wie  unberührt"  geblieben  sei  (S.  121). 
Das  ist  nun  bei  den  drei  großen  Vertretern  des  spekulativen 
Idealismus,  bei  Fichte,  Schelling  und  Hegel  vollkommen  anders. 
Ganz  richtig  erklärt  Cassirer,  daß  Fi  cht  es  Philosophie  auf  Kants 
Freiheitslehre  beruhe,  „deren  Geltung  sie  schon  mit  der  ersten 
Frage,  die  sie  sich  stellt,  voraussetzt"  (S.  131).  In  dem  Grund- 
akte dieser  Freiheit,  dem  Sichselbstsetzen  des  vernünftigen  Ich 
ist  alles  Wissen  verankert;  alle  Inhalte  des  Bewußtseins,  alle  Ob- 
jekte der  Natur  sind  jenem  Selbstbewußtsein  gegenüber  sekundär. 
Darum  aber  hat  die  Reflexion  hier  verspielt,  die  zwischen  der  Ma- 
terie der  Erfahrung  und  den  reinen  Form  Verhältnissen ,  die  sie 
durchdringen  sollen,  hin  und  her  pendelt,  ohne  „die  Kluft  zwischen 
den  allgemeinen  Formgesetzen  und  der  besonderen  Bestimmtheit, 
in  der  sie  sich  uns  in  den  Gegenständen  der  Erfahrung  darstellen", 
jemals  schließen  zu  können  (S.  130  u.  134).  Das  peccatum  originale 
dieser  Reflexion  wird  freilich  hier  von  Cassirer  nicht  aufgedeckt, 
aber  in  dem  von  Fichte  zuerst  rein  erfaßten  Begriff  des  ver- 
nünftigen Selbstbewußtseins  ist  es  überwunden :  die  Reflexion 
reflektiert  nicht  auf  sich  selbst  und  wird  nicht  gewahr,  daß  sie 
bei  all  ihren  Operationen  schlechterdings  innerhalb  des  Kreises 
ihrer  eigenen  Begriffe  bleibt,  daß  es  sich  um  lauter  Probleme  des 
begrifflichen  Denkens  handelt,  die  gar  nichts  mit  einer  jenseits' 
des  Denkens  liegenden  Gegebenheit  zu  tun  haben  können,  sondern 
in   dem   logischen  Verhalten    der  Selbsttätigkeit    des  Ich   liegen; 

2* 


20  Georg  Lasson, 

das  Allgemeine  sowohl  wie  das  Einzelne,  die  Vielheit  und  die 
Einheit,  ja  die  Materie  selbst  und  die  Gegebenheit  —  es  sind  alles 
Gedankenbestimmungen,  Begriffe,  und  erst  wenn  das  Denken  sie 
als  solche  sich  zum  Bewußtsein  gebracht  und  nach  all  ihren  Be- 
ziehungen und  Zusammenhängen  durchgedacht  hat,  ist  es  befugt, 
etwas  darüber  auszusagen,  was  sie  etwa  außerdem,  daß  sie  seine 
Begriffe  sind,  sonst  noch  sein  könnten.  Damit  stellt  sich  in  dem 
Ich,  das  sich  selbst  setzt  und  seines  gesamten  Bewußtseinsinhaltes 
als  seiner  eigenen  Bestimmungen  bewußt  ist,  die  „vollendete  Un- 
endlichkeit" dar,  die  dem  Skeptizismus  als  ein  Widerspruch  er- 
scheint (S.  131),  die  aber  die  einzige  wahre  Unendlichkeit  ist; 
denn  eine  unvollendete  Unendlichkeit  ist  eben  Endlichkeit,  besten- 
falls eine  aus  und  über  sich  selbst  hinausweisende  oder  -strebende 
Endlichkeit.  Das  Wesen  der  Reflexion  liegt  gerade  darin,  daß  sie 
an  diese  „falsche"  Unendlichkeit  gebunden  ist,  deren  Sphäre  die 
Welt  der  Erscheinungen  und  des  Entgegensetzens  von  Materie 
und  Form  bildet.  Es  ist  ganz  selbstverständlich,  daß  sich  das 
Denken,  so  lange  es  innerhalb  dieser  Sphäre  sich  hält,  immer  auf 
die  unvollendete  Unendlichkeit  gewiesen  sieht ;  in  dem  Augenblick, 
wo  es  hinter  diese  Gegebenheiten  auf  ihren  und  seinen  einheit- 
lichen Grund  zurückgeht,  auf  den  Begriff  des  autonomen  Ich,  hat 
es  die  wahre,  in  sich  geschlossene  Unendlichkeit  gefunden. 

Naturgemäß  fehlt  noch  viel  daran,  daß  Fichte  im  einzelnen 
diesem  von  ihm  ergriffenen  Prinzip  gerecht  werde.  Cassirer  rechnet 
es  ihm  zu  besonderem  Lobe  an,  daß  ihm  „die  Identität  nicht  so- 
wohl der  gegebene  Ausgangspunkt  als  vielmehr  der  geforderte 
Endpunkt  der  Gesamtbewegung"  ist  (S.  136).  Dies  Lob  ist  in  dem 
Sinne  berechtigt,  daß  die  Identität  nicht  als  eine  „leere  formale 
Einerleiheit"  gefaßt  werden  darf  (S.  137);  dem  widerspricht  ja  ihr 
Begriff  selbst,  da  zur  Identität  notwendig  die  Verschiedenheit  ge- 
hört. Aber  es  darf  doch  nicht  übersehen  werden,  daß  auch  die 
Bestimmung  der  Identität  als  einer  erst  herzustellenden  solange 
abstrakt  und  einseitig  bleibt,  solange  man  damit  die  Wirklichkeit 
der  Identität  verneinen  will.  Die  Aufgabe,  die  Identität  herzu- 
stellen, führt  die  Frage  nach  ihrer  Möglichkeit  mit  sich;  die  Auf- 
gabe selbt  würde  nicht  möglich  sein,  wenn  die  Identität  nicht  dem 
Begriffe  nach,  als  leitender  Gedanke  oder  als  Zweck  etwa  vor- 
handen und  gegeben  wäre.  Oder  man  muß  sagen:  die  „geforderte" 
Identität  ist  bereits  auch  Identität;  das  Ich  könnte  an  ihre  Her- 
stellung nicht  einmal  denken,  wenn  es  sie  nicht  als  seine  Bestim- 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  21 

mung  in  sich  trüge.  Das  Sollen  setzt  „Notwendigkeit  für  die 
freie  Vernunft"  voraus ;  man  mag  es  ins  Endlose  formierend  denken, 
so  liegt  ihm  doch  die  einfache  Wirklichkeit  des  daseienden  Ver- 
nunftzweckes und  also  eine  ursprüngliche  Identität  zugrunde. 
Für  Fichte  dagegen  wird  es  verhängnisvoll,  daß  er  den  ersten 
Fortschritt  von  dem  Ich,  das  sich  selbst  setzt,  zu  der  Mannig- 
faltigkeit seiner  Bestimmungen  nicht  rein  aus  dem  Begriffe  des 
Ich  heraus  vollziehen  kann;  die  Art,  wie  er  Ich  und  Nichtich  im 
Ich  einander  gegenüberstellt,  geschieht  wieder  in  der  Form  der 
Reflexion,  und  die  vorstellungsmäßige  Aushilfe  der  Redeweise  von 
einer  „Teilbarkeit"  des  Ich  und  des  Nichtich  ist  davon  die  not- 
wendige Folge.  Man  darf  die  Absicht  Fichtes,  zur  inneren  Ein- 
heit der  Vernunftanschauung  zu  gelangen,  und  seine  steten  Ver- 
sicherungen, daß  er  diese  Einheit  meine  und  ausspreche,  nicht  mit 
der  Ausführung  dieser  Absicht  verwechseln,  die  ihm  nie  völlig  ge- 
lungen ist.  Er  findet  von  dem  Ich  als  dem  absoluten  Subjekte  zu 
dem  endlichen  Ich  so  wenig  die  methodisch  tragbare  Brücke  wie 
von  der  sinnlichen  Welt  zur  intelligibeln.  Sein  großer  Gedanke, 
daß  im  Anfange  die  Tat  ist,  setzt  sich  nicht  zu  der  Totalität  eines 
allumfassenden  geistigen  Organismus  um,  weil  ihm  die  Reflexions- 
bestimmungen des  Handelns,  das  Sollen  und  seine  Materie,  als  ur- 
sprüngliche Gegensätze  dazwischen  kommen.  Das  methodische 
Ergebnis  ist  deshalb  bei  ihm,  daß  die  Freiheit  nicht  ist,  weil  sie 
immer  nur  sein  soll,  und  damit  steht  er  gegen  sich  selbst  und 
seine  tiefste  Intuition  in  einem  Widerspruch,  dessen  Qual  er  selbst 
deutlich  empfunden  und  den  zu  überwinden  er  immer  neue  Formen 
des  Ausdruckes  seiner  Meinung  gesucht  hat. 

Dessen  ungeachtet  ist  es  bewundernswert,  mit  welcher  Treff- 
sicherheit er  eine  Anzahl  von  Grundlinien  gezogen  hat,  die  für 
den  spekulativen  Idealismus  von  entscheidender  Bedeutung  sind. 
Man  kann  aus  Cassirers  Darstellung  erkennen,  in  wie  vielen 
Punkten  Hegel  einfach  die  Erkenntnisse  Fichte's  hat  übernehmen 
dürfen.  „Ohne  Selbstbewußtsein  ist  überhaupt  kein  Bewußtsein" 
(S.  137);  dem  Formalismus  der  kritischen  Untersuchungen  gegen- 
über, die,  weil  sie  sich  auf  die  Möglichkeit  des  Erfahrungswissens 
beschränken  und  nur  die  Beziehung  zwischen  Bewußtsein  und 
Gegenstand  betrachten,  den  Einheits-  und  Beharrungspunkt  des 
Ich  bis  zu  dem  Maße  aus  den  Augen  verlieren  können,  daß  ihnen 
das  Ich  zu  einem  bloßen  Schnittpunkte  von  Beziehungsrichtungen 
wird,  hebt   der   spekulative  Idealismus   die  Tatsache   hervor,    daß 


22  Georg  Lasson, 

die  sinnliche  Erfahrung  nur  einen  einzelnen  Bestandteil  der  Be- 
wußtheit ausmacht,  dem  die  geistige  Selbstbestimmung  übergeordnet 
ist.  Er  macht  deshalb  das  autonome  Subjekt  zum  Ausgangspunkt 
und  sieht  in  dem  Bewußtsein  eine  Bestimmung  des  Selbstbewußt- 
seins, darin  zweifellos  dem  Kantischen  Gedanken  sich  anschließend, 
der  „das  Bewußtsein  meiner  selbst  als  die  ursprüngliche  Apper- 
ception"  das  „transzendentale  Bewußtsein"  nennt,  auf  das  alles 
empirische  Bewußtsein  sich  notwendig  bezieht,  und  der  hinzufügt, 
daß  „die  bloße  Vorstellung  Ich"  das  transzendentale  Bewußtsein 
sei  (Kr.  d.  r.  V.  1.  Aufl.,  S.  117).  —  Daß  das  Wissen  System,  nicht 
Aggregat  sein  müsse  (S.  137),  daß  die  Wissenschaftslehre  das  zum 
Wissen  von  sich  selbst,  zur  Herrschaft  über  sich  selbst  gekommene 
Wissen  sei  (S.  138),  sind  Sätze,  die  fast  in  denselben  Worten 
von  Hegel  wiederholt  worden  sind.  Auch  die  merkwürdige  Wen- 
dung, daß  schließlich  man  die  Wissenschaftslehre  gar  nicht  hat, 
sondern  daß  man  sie  ist  und  zu  ihr  geworden  sein  muß  (S.  139), 
die  Fichte  später  in  der  Form  wiederholt,  daß  das  Wissen  in  sich 
und  durch  sich  ein  absolutes  Ende  finde,  in  dem  es  wissend  zu 
seinem  absoluten  Ursprung  komme,  dem  Nichtwissen  alles  Beson- 
deren (S.  176),  kehrt  bei  Hegel  in  der  Ausführung  wieder,  daß 
das  absolute  Wissen  zur  Unmittelbarkeit  wird.  „Jedes  besondere 
Wissen,  jedes  Wissen  von  Etwas  verwirklicht",  wie  Cassirer  den 
Fichte'schen  Gedanken  wiedergibt,  „den  universellen  Wissens- 
charakter, so  daß  er  sich  an  und  in  ihm  vollständig  erfassen  läßt 
(S.  141) u ;  mit  dieser  Begründung  alles  einzelnen  Denkens  in  dem 
allgemeinen  Begriffe  der  Vernunft,  von  dem  jeder  besondere  Be- 
griff ein  Moment  ist,  hat  Fichte  den  Standpunkt  der  bloßen  Re- 
flexion überwunden,  den  er  z.  B.  in  dem  Satze  dargestellt  hat: 
„Begreifen  heißt  ein  Denken  an  ein  anderes  anknüpfen,  das  erstere 
vermittelst  des  letzteren  denken.  Wo  eine  solche  Vermittelung 
möglich  ist,  da  ist  nicht  Freiheit,  sondern  Mechanismus"  (S.  135). 
Daraus  erklärt  sich  auch,  daß  bei  ihm  ein  außerordentlicher  Fort- 
schritt in  der  bewußten  Handhabung  der  dialektischen  Methode  zu 
bemerken  ist.  —  Den  Zusammenhang  der  Grundgestaltungen  des 
Bewußtseins,  wie  Empfindung,  Anschauung,  Einbildungskraft, 
Urteil  sieht  Fichte,  wie  Cassirer  richtig  ausführt,  darin,  daß  sie 
als  die  Phasen  eines  Fortschrittes  von  Gebundenheit  zur  Freiheit 
auftreten.  Cassirer  sagt  dazu:  „Die  echte  und  wahrhafte  Ge- 
schichte des  Geistes  ist  . . .  die  Aufweisung  des  notwendigen  Stufen- 
ganges, der  von  dem  ersten  tatsächlichen  Zustande  der  Gebunden- 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  23 

heit  des  Ich  bis  zum  höchsten  Wissen  von  seiner  wesentlichen 
Freiheit  führt"  (S.  156).  Wer  aber  könnte  verkennen,  daß  hier 
das  Thema  der  Hegeischen  Phänomenologie  in  voller  Klarheit  an- 
gegeben ist?  Fügen  wir  hier  noch  das  Wort  bei:  „Das  Wissen  kann 
sich  nicht  erzeugen,  ohne  sich  schon  zu  haben,  und  es  kann  sich 
nicht  für  sich  und  als  Wissen  haben,  ohne  sich  zu  erzeugen"  und 
Cassirers  Anmerkung:  „Die  Wissenschaftslehre  erklärt  somit  in 
einem  Schlage  und  aus  einem  Prinzip  sich  selbst  und  ihren  Gegen- 
stand; das  absolute  Wissen  ist  selbst  die  Selbstvollziehung  und 
Selbsterkenntnis  des  absoluten  Wissens  als  solchen"  (S.  185),  so 
scheint  es  in  der  Tat,  als  habe  man  bei  Fichte  schon  sämtliche 
Ingredienzien  des  spekulativen  Idealismus  bei  einander. 

Das  ist  auch  in  gewissem  Sinne  richtig,  nämlich  der  Intention 
Fichte's  nach.  Systematisch  hat  er  hinter  dieser  Intention  zurück- 
bleiben müssen,  weil  ihm,  wie  oben  schon  gesagt  wurde,  die  dua- 
listische Reflexion  doch  immer  noch  in  die  Quere  kommt.  Doch 
muß  man  sich  hüten,  diese  Unzulänglichkeit  dem  spekulativen 
Idealismus  als  solchem  zur  Last  zu  legen,  der  in  der  Fichte'schen 
Philosophie  seinen  ersten  Flug  unternommen  hat.  Auch  Cassirer 
hat  in  seiner  abschließenden  Kritik  des  Fichte'schen  Systems  sich 
nicht  an  dessen  Besonderheiten  gehalten,  sondern  hat  seinen  Wider- 
spruch gegen  dasselbe  geradezu  auf  seinen  spekulativen  Charakter 
im  allgemeinen  gegründet.  Es  tritt  in  diesem  Widerspruch  der 
prinzipielle  Gegensatz  des  kritischen  und  des  spekulativen  Idealis- 
mus rein  ans  Licht.  Sehen  wir,  ob  er  so  unüberwindlich  ist,  wie 
ihn  Cassirer  empfindet. 

Was  er  der  Fichte'schen  Philosophie  vorwirft,  ist  der  Ge- 
brauch, den  sie  von  dem  Begriff  des  Absoluten  macht.  Die 
Metaphysik  Fichte's  steht  und  fällt,  wie  er  sagt,  „mit  dem  Ge- 
danken des  schlechthin  einheitlichen  und  eben  deshalb  schlechthin 
bestimmungslosen  Absoluten"  (S.  206).  Hier  wäre  zur  Erläuterung 
gleich  beizufügen,  daß  natürlich  das  Absolute  nur  insoweit  be- 
stimmungslos heißen  darf,  als  es  keinerlei  Bestimmung  von  außen 
unterliegt;  die  Inhaltsbestimmung,  die  Fichte  dem  Absoluten  gibt, 
ist  nach  Cassirer  die,  daß  es  in  einem  Tun  und  Leben  bestehe 
(S.  208) :  also  ist  es  ein  stetes  Sichselbstbestimmen,  ein  „ruhiges 
Sein  und  Bestehen",  das  zugleich  „actus  purus",  ein  reines  Sich- 
selbstsetzen und  -erfassen  ist  (S.  187).  Mindestens  der  Absicht 
nach  hat  Fichte  also  das  Absolute  bereits  als  den  absoluten  Geist 
begriffen,    so  wie  er  für  den  spekulativen  Idealismus  die  zentrale 


24  Georg  Lasson, 

Idee  bildet.  Wenn  es  aber  bei  Fichte  noch  schwierig  scheint,  den 
Weg  von  der  absoluten  Einheit  zur  Vielheit  zu  finden,  so  ist 
damit  nicht  gesagt,  daß  dies  überhaupt  ein  ungangbarer  oder  ver- 
botener Weg  sei.  Darauf  aber  kommt  nun  Cassirers  Widerspruch 
hinaus ;  was  er  an  Fichte  tadelt,  ist  nicht  eine  besondere  Schwäche 
in  seinem  Verfahren,  sondern  das  Verfahren  überhaupt,  aus  dem 
Begriff  einer  obersten  Einheit  die  mannigfachen  Bestimmungen 
dieser  Einheit  zu  deduzieren.  „Nicht  wie  von  der  Erscheinung 
des  Vielen  zum  Gedanken  und  zur  Idee  des  Einen,  sondern  wie 
von  dem  an  und  für  sich  seienden  Einen  zum  Vielen  zu  gelangen 
ist,  lautet  nunmehr  die  eigentliche  spekulative  Grundfrage"  (S.  206). 
Daß  diese  Frage  überhaupt  gestellt  wird,  darin  sieht  Cassirer 
die  entscheidende  Peripetie  des  kantischen  Idealismus  und  den 
Punkt,  [weswegen  die  nachkantische  Spekulation  überhaupt  zu 
verurteilen  sei.  n 

Man  könnte  demgegenüber  zunächst  sich  auf  die  Neigung  be- 
rufen, die  Cassirer  für  das  mathematische  Verfahren  hat,  und 
könnte  fragen,  ob  für  die  philosophische  Methode  nicht  erlaubt 
sein  dürfe,  was  bei  jeder  Rechnung  geboten  scheint,  nämlich  daß 
man  die  Probe  macht  und  den  Weg,  den  man  in  der  einen  Rich- 
tung zurückgelegt  hat,  nun  auch  in  der  andern  geht.  Gesetzt, 
es  gäbe  in  dem  Erkennen  einen  Weg,  auf  dem  man  ausschließlich 
von  dem  Bedingten  und  Mannigfaltigen  zu  dem  Unbedingten  und 
Einen  aufsteigen  könnte,  so  wäre  geradezu  die  einzige  Möglichkeit, 
ihn  als  richtig  zu  erweisen,  die,  daß  man  ihn  auch  rückwärts 
mache  und  vom  Unbedingten  und  Einen  bei  dem  Bedingten  und 
Mannigfaltigen  anlange.  Vielleicht  könnte  man  sich  dafür  auch 
auf  Kant  selbst  berufen,  der  als  das,  was  die  Vernunft  in  dem 
ganzen  Umfang  der  Verstandeserkenntnisse  zustande  zu  bringen 
sucht,  ausdrücklich  den  Zusammenhang  der  Erkenntnis  aus  einem 
Prinzip  bezeichnet  und  darunter  ein  „Ganzes  der  Erkenntnis"  ver- 
steht, „welches  vor  der  bestimmten  Erkenntnis  der  Teile  vorher- 
geht und  die  Bedingungen  enthält,  jedem  Teile  seine  Stelle  und 
Verhältnis  zu  den  übrigen  a  priori  zu  bestimmen".  Wenn  er  aber 
in  diesem  Zusammenhange  von  den  „Vernunftbegriffen"  redet,  die 
„nicht  aus  der  Natur  geschöpft  werden",  und  bemerkt:  „vielmehr 
befragen  wir  die  Natur  nach  [d.  h.  nach  dem  Maßstabe  von]  diesen 
Ideen  und  halten  unsere  Erkenntnis  für  mangelhaft,  so  lange  sie 
denselben  nicht  adäquat  ist"  (Kr.  d.  r.  V.,  2.  Aufl.,  S.  673),  so 
leuchtet   vielmehr   ein,    daß    er    ein   ausschließlich   induktives  Er- 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  25 

kennen  gar  nicht  gelten  läßt,  sondern  überall  im  Denken  zugleich 
die  Bewegung  vom  Allgemeinen  zum  Besonderen  wie  die  vom  Be- 
sonderen zum  Allgemeinen  erkennt.  Dann  aber  ist  vollends  eine 
Darstellung  des  Erkenntnisprozesses,  die  das  Besondere  zum 
alleinigen  Ausgangspunkte  nimmt  und  das  Allgemeine  rein  als 
das  Endergebnis  des  Prozesses  aufweisen  will,  einseitig  und  falsch 
und  fordert  die  Ergänzung  durch  die  entgegengesetzte  Methode, 
die  vom  Allgemeinen  ausgeht  und  aus  ihm  zum  Besondern  hin- 
führt. Erst  in  der  Vereinigung  beider  Darstellungsformen  kann 
die  Wissenschaft  dem  von  ihr  selbst  festgestellten  Tatbestande 
gerecht  werden,  daß  niemals  das  Besondere  ohne  das  Allgemeine, 
das  Unbedingte  ohne  das  Bedingte  denkbar  und  erkennbar  ist." 
Der  Forderung  der  philosophischen  Systematik  wird  deshalb  die  Me- 
thode am  vollkommensten  entsprechen,  die  bei  jeder  Einzelerkenntnis 
ebenso  wie  bei  dem  Begriff  des  Wissens  überhaupt  diese  lebendige 
Bewegung,  dieses  Hin  und  Her  vom  Vielen  zum  Einen,  vom  Apo- 
steriorischen zum  Apriorischen  unda  umgekehrt  wiederzuspiegeln 
versteht.  Und  man  wird  es  als  höchst  unerheblich  ansehen  dürfen, 
welches  von  beiden  Momenten  dabei  zuerst  herangenommen  wird, 
da  notwendig  jedes  von  beiden  ebenso  als  Ausgangs-  wie  als  End- 
punkt der  Betrachtung  wird  dargestellt  werden  müssen.  Daß  Kant 
selbst  eine  solche  Methode  vorgeschwebt  und  er  ein  vollkommen 
einheitliches  System  der  philosophischen  Erkenntnis  zum  Ziele 
gehabt  hat,  ist  offenbar.  Er  sagt  zwar,  daß  die  Philosophie  zwei 
Gegenstände  habe,  Natur  und  Freiheit,  aber  er  erklärt  zugleich, 
daß  sie  das  Natur-  und  das  Sittengesetz  „anfangs  in  zwei  beson- 
deren, zuletzt  aber  in  einem  einzigen  philosophischen  System"  ent- 
halte (ebd.  S.  868).  Dies  einzige  System  auszuführen  ist  ihm 
nicht  vergönnt  gewesen;  der  Gedanke  daran  scheint  ihn  bis  in 
seine  spätesten  Jahre  verfolgt  zu  haben.  Dieser  Gedanke  aber 
setzt  jedenfalls  einen  „Vernunftbegriff"  voraus,  der,  nicht  aus  der 
Erfahrung  geschöpft,  die  Einheit  beider  Sphären  konstituiert  und 
den  Maßstab  bildet,  nach  dem  beide  zusammen  befragt  werden 
müssen  zum  Zwecke  der  Prüfung,  ob  wir  von  ihnen  eine  adäquate 
Erkenntnis  haben.  Damit  wäre  jenes  Eine  und  Unbedingte  gesetzt, 
das  nicht  als  Negation  des  Vielen  und  Bedingten  dieses  zurück- 
stößt ,  sondern  es  als  seine  Momente  und  konkrete  Selbstbe- 
stimmungen in  sich  schließt.  Wohingegen  der  bloß  historische 
Umstand,  daß  Kant  durch  sein  Festhalten  an  der  ursprünglichen 
Scheidung  von  Natur  und   Freiheit   daran   gehindert   worden  ist, 


26  Georg  Lassoü, 

auf  der  Grundlage  jener  höchsten  Einheit  ein  System  der  abso- 
luten Idee  zu  entwickeln,  den  Geist  seiner  Lehre  ganz  unberührt 
läßt. 

Wir  haben  hier,  wo  rein  prinzipiell  das  Recht  des  spekulativen 
Begriffs  des  Absoluten  erörtert  werden  soll,  uns  genauer  auf 
Kantische  Sätze  einlassen  müssen,  weil  Cassirer  die  Debatte  ein- 
fach durch  Berufung  auf  Kant  entscheiden  will.  Daß  er  an  diesem 
Kernpunkte  der  Diskussion  sich  auf  ein  Zitat  aus  Kant  zurück- 
zieht ,  ist  ein  interessanter  Beweis  dafür ,  wie  fest  der  Neu- 
kantianismus, trotz  aller  Umbildungs versuche  der  kritischen  Sätze 
im  einzelnen,  sich  an  die  Autorität  Kants  klammert.  Aber  gerade 
hier  reicht  das  avtbg  scpa  nicht  zu;  denn  es  erhebt  sich  sofort  die 
Frage  nach  der  richtigen  Interpretation  Kants,  und  unsere  obigen 
Hinweise  dürften  wohl  genügen,  um  auch  eine  von  der  Cassirer'- 
schen  wesentlich  abweichende  Auffassung  der  Kantischen  Gedanken 
möglich  erscheinen  zu  lassen.  Cassirer  führt  Äußerungen  Kants 
an,  die  unserem  Zitat  über  Vernunfteinheit  und  Vernunftbegriffe 
unmittelbar  vorhergehen  und  erklären,  daß  niemals  durch  die 
transzendentalen  Ideen  Begriffe  gewisser  Gegenstände  gegeben 
werden.  Er  rühmt  die  meisterhafte  Prägnanz  und  Klarheit,  mit 
der  hier  der  Kritiker  der  reinen  Vernunft  die  Illusion  aufdeckt, 
als  ob  „die  Linien,  in  denen  der  Verstand  seine  Begriffe  von  Ob- 
jekten, nach  Reihen  von  Bedingungen  verknüpft,  zu  einem  ge- 
wissen einheitlichen  Ziele  richtet,  von  einem  Gegenstande  selbst 
ausschössen,  der  außer  dem  Felde  empirisch  möglicher  Erkenntnis 
läge"  (S.  208).  Die  Illusion,  gegen  die  sich  Kant  wendet,  ist,  wie 
der  Wortlaut  seiner  Sätze  klar  ergibt,  die  Meinung,  es  könne  in 
der  Sphäre  der  gegenständlichen  Reflexion,  die  bedingte  und  der 
empirischen  Erkenntnis  gegebene  Gegenstände  vor  sich  hat,  zu 
einem  unbedingten  Gegenstande  fortgeschritten  werden.  Diese 
Meinung  wird  kein  spekulativer  Idealist  vertreten ;  keiner  wird 
die  barbarische  Vorstellung  hegen,  das  Absolute,  Gott,  sei  „ein 
gewisser  Gegenstand".  Nun  aber  hat  Kant  selbst  deutlich  genug 
erwiesen,  daß  die  Sphäre  der  gegenständlichen  Reflexion  es  über- 
haupt nur  mit  Erscheinungen  zu  tun  habe  und  diese  ganze  Ver- 
standeserkenntnis in  einem  Systeme  der  Vernunft  wurzele,  dessen 
Prinzip  die  Autonomie  des  Ich,  des  vernünftigen,  denkenden  und 
wollenden  Selbstbewußtseins  ist.  Es  wäre  in  der  Tat  eine  folgen- 
schwere Illusion,  wollte  man  diese  höhere,  über  die  empirische 
Erkenntnis  hinübergreifende  Sphäre  gerade   da  vergessen,   wo  die 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  27 

sich  kritisierende  Erkenntnis  unausweichlich  auf  sie  hingeführt 
wird,  und  wollte  man  behaupten,  weil  die  Reflexion  im  unendlichen 
Progreß  vom  Einzelnen  zum  Einzelnen  niemals  das  konkret  All- 
gemeine erreiche,  sei  dieses  überhaupt  unerreichbar. 

Kant  hat  jedenfalls  diese  Illusion  nicht  geteilt ;  er  hat  dem 
empirischen,  endlichen  Erkennen  mit  voller  Klarheit  das  logische 
Erkennen  aus  der  Vernunfteinheit  entgegen  gestellt.  Daß  diese 
Entgegenstellung  selbst  noch  eine  Folge  des  Gebundenseins  an  die 
endliche  Reflexion  ist,  daß  man  Verstand  und  Vernunft  so  ab- 
strakt, wie  Kant  es  tut,  nicht  scheiden  kann,  und  daß  wegen 
dieser  abstrakten  Scheidung  die  Vernunft  bei  Kant  zuerst  in 
einen  unhaltbaren  Gegensatz  gegen  die  Wirklichkeit  zu  geraten 
scheint,  den  er  erst  hintennach  durch  den  Begriff  der  Zweck- 
mäßigkeit der  in  der  Natur  immanenten  Vernunft  überwindet, 
das  wollen  wir  nur  erwähnen,  um  nicht  in  den  Verdacht  zu 
kommen,  als  wüßten  wir  es  nicht;  das  Eingehen  darauf  würde  uns 
vom  Thema  zu  weit  abführen.  Nur  darauf  muß  hingewiesen 
werden,  daß  sich  Kant,  indem  er  an  das  System  der  Erfahrung 
geht,  ehe  er  das  System  der  Logik  entwickelt  hat,  von  Anfang 
an  in  eine  Schwierigkeit  verstrickt  hat,  die  nicht  einmal  so  sehr 
ihm  selbst  wie  seinen  Schülern  verhängnisvoll  geworden  ist.  Wäh- 
rend er  sich  der  kategorialen  Natur  des  Denkens  vollkommen  be- 
wußt ist,  hält  er  sich  bei  seiner  Analyse  der  Erkenntnis  an  diejenige 
Form  der  Denktätigkeit,  die  durch  den  Gegensatz  von  Bewußtsein 
und  Gegenstand  schon  bestimmt  ist,  und  findet  von  der  Vorstellung 
einer  aus  beiden  gemischten  Erfahrung  nur  mühsam  und  unvoll- 
kommen den  Weg  zu  der  gedanklichen  Grundlage  aller  möglichen 
Erfahrung.  Das  tritt  gerade  an  der  Art  hervor,  in  der  er  an  der 
von  Cassirer  zitierten  Stelle  die  Idee  des  Absoluten  behandelt. 
Er  hat  gezeigt,  wie  der  Verstand  von  der  Verknüpfung  bedingter 
Gegenstände  zu  der  Idee  eines  Unbedingten  fortgetrieben  wird, 
das  entsprechend  der  Schlußform,  mit  der,  und  der  Reihe  der  „Be- 
griffe von  Objekten",  an  denen  er  zu  ihm  aufsteigt,  eine  bestimmte 
Gestalt  annimmt  und  je  nachdem  als  Seelenidee,  Weltidee,  Gottes- 
idee bestimmt  wird.  Dann  aber  erklärt  er  abschließend  es  für 
eine  Illusion,  jene  Idee  des  Absoluten  für  mehr  als  einen  focus 
imaginarius  zu  halten  und  sie  als  einen  Gegenstand  zu  betrachten. 
Nun  ist  das  Merkwürdige,  daß  er  selbst  weit  davon  entfernt  ist, 
Seele,  Welt  und  Gott  bloß  als  focos  imaginarios  gelten  zu  lassen ; 
nur  der  Weg,  auf  dem  er  den  Verstand  zu  diesen  Ideen  gelangen 


28  Georg  Lasson, 

läßt,  erscheint  ihm  unfähig,  zu  einer  inhaltsvolleren  Bestimmung 
dieser  „Grenzbegriffe"  zu  führen,  womit  er  vollkommen  recht  hat. 
Mit  diesem  Wege  nämlich  stimmt  es  in  keinem  Punkte.  Das  Ab- 
solute ist  ebensowenig  ein  Gegenstand  wie  ein  Grenzbegriff,  der, 
wie  Cassirer  sagt,  erst  „entsteht,  indem  wir  den  Gebrauch  des 
Verstandes  und  einzelner  seiner  Kategorien  von  jeder  Bedingtheit 
und  Schranke,  die  ihm  innerhalb  eines  bestimmten  Gebietes  der 
Erfahrung  anhaften,  befreien  und  ihn  ins  Unbedingte  erweitern" 
(S.  207).  "Wenn  das  mehr  sein  soll  als  eine  psychologische  Be- 
schreibung, dann  ist  es  der  sonderbarste  circulus  vitiosus.  Er 
setzt  voraus,  daß  „wir"  —  gemeint  ist  doch  das  vernünftig 
denkende  Subjekt  —  den  Begriff  des  Bedingten  gefaßt  haben 
sollen  ohne  den  Begriff  des  Unbedingten  und  daß  dann  in  uns  der 
Begriff  des  Unbedingten  entstehen  soll,  in  dem  wir  den  des  Be- 
dingten „ins  Unbedingte"  erweitern.  Wie  könnten  wir  aber  von 
einer  Bedingtheit  und  Schranke,  die  unserm  Verstandesgebrauch 
und  seinen  Kategorien  anhaften,  etwas  wissen,  wie  könnten  wir 
das  bestimmte  Gebiet  der  Erfahrung  als  die  Sphäre  der  Bedingt- 
heit und  Endlichkeit  ansehen,  wenn  wir  nicht  den  Begriff  des  Un- 
bedingten mit  dem  des  Endlichen  zugleich  besäßen?  Es  ist  nichts  als 
eine  Täuschung  der  empirischen  Reflexion,  wenn  man  sich  vor- 
stellt, durch  Betrachtung  bedingter  Gegenstände  gelange  man 
zu  der  Idee  des  Unbedingten;  man  kann  keinen  Gegenstand  und 
keine  Verstandesbestimmung  als  bedingt  bezeichnen,  wenn  man 
nicht  den  Begriff  der  Bedingtheit  ebenso  wie  der  Unbedingtheit 
darauf  anwendet.  Das  Unbedingte  und  das  Bedingte,  das  Absolute 
und  das  Relative  sind  Kategorien  genau  so  gut  wie  die  wenigen, 
die  Kant  auf  seine  Kategorientafel  gesetzt  und  von  denen  er  ge- 
meint hat,  daß  sie  alle  ursprünglich  reinen  Begriffe  der  Synthesis 
ausmachten.  Der  zufällige  Ausgangspunkt,  den  er  für  ihre  Auf- 
stellung genommen  hat,  ist  ihm  zum  Hindernis  für  ein  in  sich  ge- 
gründetes umfassendes  logisches  System  geworden.  Sobald  aber 
das  Denken  den  Boden  eines  solchen  Systems  gewonnen  hat,  in 
dem  die  innere  Zusammengehörigkeit  des  Einen  und  des  Vielen, 
des  Endlichen  und  des  Unendlichen,  der  Wirklichkeit  und  der 
Vernunft,  des  Aposteriori  und  des  Apriori  aus  dem  Zentralbegriffe 
der  Freiheit  des  sich  selbst  bestimmenden  Geistes  sich  ergibt,  ist 
der  Vorwurf  Cassirers  ohne  jede  Kraft,  daß  die  Spekulation  allen 
sicheren  Boden  verliere,  wenn  sie,  um  das  Absolute  desto  sicherer 
zu  ergreifen,   den  Zusammenhang   und  die  Relation  des  Absoluten 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  29 

mit  der  Wissens-  und  Willenswelt  abbreche  (S.  209).  Wie  könnte 
denn  um  alles  in  der  Welt  die  Spekulation  so  närrisch  sein,  das 
zu  versuchen?  Wenn  bei  Fichte  sich  Äußerungen  finden  sollten, 
die  man  dahin  deuten  müßte,  dann  wäre  damit  nur  bewiesen,  daß 
er  in  einseitiger  Übertreibung  seines  Prinzips  sich  von  seinen 
eigenen  Grundlagen  irrtümlich  entfernt  habe.  Aber  den  speku- 
lativen Idealismus  als  solchen,  der  seinen  Namen  gerade  von  dem 
Zusammenschauen  des  Mannigfaltigen  und  Entgegengesetzten  hat, 
kann  man  mit  einer  solchen  Anklage  keineswegs  belasten.  Gewiß 
läßt  sich  die  „Notwendigkeit  für  das  Eine,  sich  in  das  Viele  zu 
zerspalten,  die  Notwendigkeit  für  Gott,  zur  Welt  zu  werden,  aus 
seinem  eigenen  Grund  nicht  mehr  begreiflich  machen"  (S.  210), 
wenn  das  Eine  ein  Ding,  Gott  ein  alles  Relative  von  sich  aus- 
schließendes höchstes  Wesen  ist.  Aber  wenn  doch  die  kritische 
Philosophie,  die  Tätigkeit  der  denkenden  Vernunft,  die  sich  selbst 
kritisch  durchdenkt,  als  den  Ertrag  der  Prüfung  des  gesamten 
von  der  Vernunft  vorgefundenen  Bewußtseinsinhaltes,  als  das  Re- 
sultat, auf  das  notwendig  das  Denken,  das  sich  selber  denkt, 
geführt  wird,  den  Begriff  des  sich  selbst  setzenden  Ich,  des  Geistes 
gewinnt,  der  actus  purus  und  schöpferisches  Subjekt  ist,  dann  hat 
dieses  Eine  in  sich  seinen  eigenen  Grund,  aus  dem  sich  die  Notwendig- 
keit, die  zugleich  die  höchste  Freiheit  ist,  die  Notwendigkeit  seiner 
steten  Systole  zur  Einheit  und  Diastole  zum  Universum  sehr  wohl 
begreift.  Sagt  man,  das  Denken  steige  von  der  Welt  der  Mannig- 
faltigkeit zu  diesem  Begriff  auf,  so  kann  man  ebensogut  sagen, 
er  steige  im  Denken  zu  dieser  Welt  hernieder;  indem  die  Ver- 
nunft das  höchste  Prinzip  als  die  Freiheit  und  die  Versöhnung 
(Identität,  Liebe)  bestimmt,  faßt  sie  es  nicht  als  einen  Grenz- 
begriff, was  ohnehin  wider  den  Begriff  des  Absoluten  streitet,  — 
denn  woran  sollte  das  Absolute  seine  Grenze  haben?  —  sondern 
als  die  Totalität,  aus  der  die  Deduktion  zu  dem  Vielen  herab 
genau  denselben  Weg  geht  wie  die  Induktion  zu  dem  Einen 
hinauf.  Oder  vielmehr,  es  sind  überhaupt  gar  nicht  zwei  Wege, 
sondern  es  ist  das  Sich  entfalten  des  Begriffes,  ein  stetes  Ineinander 
des  geistigen  Lebens,  das  mit  dem  Besondern  das  Allgemeine  und 
mit  dem  Allgemeinen  das  Besondere  setzt,  ein  Urteilen,  das 
gleichzeitig  aus  dem  Schlüsse  der  Vernunft  hervorgeht  und  wieder 
in  dem  Vernunftschlusse  mündet. 

Diese   Anschauung    der    Totalität   ist   es,    was    Schellings 
Denkweise   beherrscht.     Cassirer   weist    sehr   treffend  nach,    wie 


30  Georg  Lasson, 

genau  sich  der  Standpunkt  Schellings  an  den  von  Kant  und  Fichte 
anschließt.  „Die  logische  Grundlegung  des  Kritizismus  erscheint 
als  ein  Moment  der  Vorbereitung  für  das  kritische  System  der 
Teleologie,  für  die  Analyse  des  Zweckgedankens  und  der  Probleme 
des  Organismus"  (S.  226).  Der  Inhalt  der  Kritik  der  Urteilskraft 
wird  in  der  Anschauung  beibehalten,  daß  die  Natur  ein  Analogon 
der  Freiheit  darstellt;  aber  über  das  „antithetische  Verhältnis" 
von  Natur  und  Geist  ist  das  Schellingsche  Denken  hinausgegangen, 
da  „die  Natur  selbst  nichts  anderes  als  eine  Stufe  in  der  Ent- 
wicklung und  Selbstrealisierung  des  Geistes  bedeuten  soll"  (S.  225). 
Nun  haben  wir  oben  schon  gesehen,  wie  bei  Kant  selbst  die  Ten- 
denz auf  die  Aufhebung  jenes  antithetischen  Verhältnisses  ge- 
richtet ist.  Und  auf  den  Punkt,  von  dem  aus  die  Vereinigung 
der  beiden  Systeme  von  Gesetz  und  Freiheit  allein  möglich  ist, 
der,  bei  Kant  deutlich  sichtbar,  von  Fichte  als  Prinzip  seiner 
Lehre  ausgesprochen  worden  ist,  stellt  sich  mit  Bewußtsein  auch 
Schelling,  wenn  er  den  treibenden  Gedanken  der  ganzen  nach- 
kantischen  Fortbildung  des  Idealismus  in  den  Worten  aufdeckt: 
„Wenn  man  sich  an  die  Idee  der  Autonomie  gehalten  hätte,  die 
Kant  selbst  als  Prinzip  seiner  praktischen  Philosophie  aufgestellt 
hat,  so  hätte  man  leicht  gefunden,  daß  diese  Idee  in  seinem  System 
der  Punkt  ist,  durch  welchen  theoretische  und  praktische  Philo- 
sophie zusammenhängen  und  daß  in  ihr  eigentlich  schon  die  ur- 
sprüngliche Synthesis  theoretischer  und  praktischer  Philosophie 
ausgedrückt  ist".  So  bestätigt  sich  für  Schelling  die  Fichtesche 
Anschauung,  daß,  was  wir  Objekt  nennen,  nur  das  Produkt  und 
der  .Reflex  eines  ursprünglichen  Tuns  ist  (S.  219),  und  daß  zu- 
gleich die  Handlung,  in  der  das  Ich  sich  selbst  aus  absoluter  Kau- 
salität setzt  und  weiß,  der  Quell  und  die  einzige,  unmittelbar 
gewisse  Rechtfertigung  für  den  Gedanken  des  Unbedingten  ist 
(S.  220).  Die  Frage,  wie  der  Gedanke  zu  der  Wirklichkeit  komme, 
ist  müssig;  denn  es  gibt  keine  andere  Wirklichkeit  als  die,  die 
er  in  sich  selbst  hat  und  ist  (S.  239).  Mit  diesem  Gedanken,  den 
Schelling  seinem  System  des  transzendentalen  Idealismus  zugrunde- 
legt, hat  er  das  Prinzip  des  spekulativen  Idealismus,  der  ja  not- 
wendig Identitätsphilosophie  ist,  so  rein  ausgesprochen,  wie  es 
auch  Hegel  nur  je  gekonnt  hat. 

Was  nun  Schellings  eigentümliche  Leistung  für  die  Identitäts- 
philosophie betrifft,  so  brauchen  wir  für  unsern  Zweck  nicht  ge- 
nauer darauf  einzugehen,   weil  zu  allem,    was  daran   haltbar  ist, 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  31 

Hegel  erst  die  vollendende  wissenschaftliche  Durcharbeitung  hinzu- 
gefügt hat.  Damit  wird  die  fast  unheimliche  Genialität  Schellings, 
in  der  eine  beinahe  grenzenlose  B-ezeptivität  mit  der  Grabe  ver- 
bunden war,  alles  Aufgenommene  in  das  lebendige  G-anze  der 
großen  ihn  beseelenden  Anschauung  einzufügen,  in  keiner  Weise 
herabgesetzt.  Man  kann  sogar  eine  logische  Notwendigkeit  darin 
finden,  daß,  wenn  das  Denken  die  Identität  als  den  Sinn  der 
Wirklichkeit  erfassen  sollte,  ihm  diese  Identität  erst  als  inner- 
liche Anschauung  gewiß  werden  mußte,  ehe  es  diese  Anschauung 
in  kritisch  Schritt  vor  Schritt  sichernder  Methode  zum  freien 
Begriff  ausgestaltete.  Daß  die  Geisteskultur  seiner  Zeit  der 
Schellingschen  Anschauung  außerordentlich  viel  verdankt  und  daß 
sie  fruchtbare  Anregungen  auch  für  die  Folgezeit  in  sich  ent- 
halten hat,  steht  für  den  unparteiischen  Betrachter  außer  Frage. 
Wie  sehr  auch  seine  Naturphilosophie  sich  „in  ein  willkürliches 
und  phantastisches  Analogiespiel  verlieren"  mag  (S.  238),  so  er- 
kennt doch  Cassirer  an,  daß  Schelling  durch  seine  Kritik  an  den 
hypothetischen  „Grundstoffen"  der  zeitgenössischen  Physik  und 
Chemie  in  der  Tat  auch  den  empirischen  Fortschritt  dieser  Wissen- 
schaften gefördert  und  durch  die  zentrale  Stellung,  die  er  dem 
elektrischen  Phänomen  gegeben,  dem  elektrodynamischen  Begriff 
der  Materie  vorgearbeitet  habe  (S.  237).  Freilich  das  Wichtigere 
ist  doch,  daß  er  auf  dem  Felde  der  Philosophie  selbst  den  Natur- 
begrifF  vertieft  hat.  Die  Natur,  von  der  er  handelt,  ist  nicht  die 
Natur  der  mathematischen  Naturwissenschaft,  die  Abstraktion 
eines  für  sich  bestehenden  mechanischen  Zusammenhanges,  der  ab- 
gesondert vom  Geiste,  ja  sogar  baar  des  Lebens  vorgestellt  wird. 
Der  ganze  Ingrimm,  mit  dem  Fichte  der  Natur  gegenübersteht, 
schreibt  sich  ja  davon  her,  daß  er  sie  von  diesem  Gesichtspunkte 
aus  betrachtet.  Für  Schelling  dagegen  ist  die  Natur  das  Uni- 
versum, das  in  jedem  seiner  Bestandteile  Leben  und  der  Schau- 
platz und  das  Werkzeug  des  Geistes  ist,  die"  lebendige  Natur,  da 
Gott  den  Menschen  schuf  hinein.  Die  Natur  hört  so  auf,  ein 
isolierter  Bestandteil  der  Wirklichkeit  zu  sein,  und  wird  zu  einem 
durchgängigen  Momente  der  Wirklichkeit,  zu  dem  Ansich,  das 
ebenso  dem  Geiste  selbst  zukommt  —  muß  man  doch  auch  von  der 
Natur  des  Geistes  sprechen  —  wie  den  Bestimmtheiten,  in  denen 
er  sich  und  die  er  in  sich  vorfindet.  Die  Einheit  aber  von  Natur 
und  Geist  stellt  sich  als  ein  Prozeß,  eine  stete  Entwickelung  aus 
dem  Ansich  zum  Leben   des   Selbstbewußtseins   und   der   Freiheit 


32  Georg  Lasson, 

dar.  Daß  Schelling  diesen  Prozeß  nicht  methodisch  zu  entwickeln 
vermocht  hat,  daß  ihm  Natur  und  Geist  zwei  Pole  geblieben  sind, 
die  sich  nur  in  einem  Indifferenten,  in  einem  Absoluten  einigen, 
bei  dem  gerade  dem  Denken  der  Begriff  ausgeht,  daß  er  deshalb 
den  Weg  von  dem  Absoluten  zu  der  Erscheinungswelt  nicht  mehr 
findet  und  in  einen  platonisierenden  Dualismus  zurückfällt,  um 
schließlich  ebenso  das  Absolute  wie  die  Erscheinungswelt  als  irra- 
tionale Wesenheiten  anzusehen  und  so  die  Philosophie  zur  Ro- 
mantik hinüberzuführen,  der  das  Unvernünftige  für  das  höchste 
Prinzip  und  für  die  eigentliche  Wahrheit  gilt,  das  hat  in  der  Tat 
seinen  Grund  in  dem  Umstände,  den  Cassirer  richtig  hervorhebt, 
daß  er  „die  Vermittelung  des  Begriffs  verschmäht"  hat  (S.  283). 
Eben  deswegen  aber  wäre  es  falsch  zu  sagen,  die  Identitäts- 
philosophie oder  der  spekulative  Idealismus  vermöge  die  prokla- 
mierte Vernunft einheit  nicht  herzustellen,  wenn  eben  nur  das  Un- 
vermögen Schellings  nachgewiesen  ist,  sich  der  Methode  zu  be- 
dienen, auf  der  doch  der  Idealismus  als  solcher  beruht,  der  Me- 
thode der  begrifflichen  Entwickelung.  Wenn  deshalb  Cassirer 
apodiktisch  erklärt,  daß  sich  die  Kluft  zwischen  Ideenwelt  und 
Sinnenwelt  im  reinen  konstruktiven  Denken  selbst  und  kraft  des- 
selben nicht  schließen  lasse,  und  fortfährt:  „der  Panlogismus  hat 
hier  sein  Ende  erreicht,  die  absolute  Vernunft  trifft  auf  ein 
schlechthin  Irrationales,  daß  sie  weder  ablehnen,  noch  aus  sich 
verstehen  und  begründen  kann"  (S.  271),  so  begeht  er  eine  zu 
schnelle  Verallgemeinerung.  Nicht  die  absolute  Vernunft,  sondern 
das  Schellingsche  Nachdenken  ist;  auf  jenes  Irrationale  getroffen, 
und  es  bleibt  durchaus  die  Frage  bestehen,  ob  eine  dem  Prinzip 
des  Panlogismus  getreuere  Methode  nicht  auch  diese  Kluft  zu 
schließen  vermögen  würde. 

Hegel  hat  seiner  Methode  diese  Leistung  zugetraut;  er  hat 
sich  nicht  mit  der  bloßen  Versicherung  ihrer  Fähigkeit  dazu  be- 
gnügt, sondern  hat  in  unendlicher  Mühe  sowohl  die  Welt  der 
reinen  Begriffe  wie  die  Welt  des  konkreten  Daseins  aus  und  nach 
dem  Prinzip  dieser  seiner  Methode  zu  einem  System  des  Begriffes, 
zu  einem  Wissen  des  Geistes  von  sich  selbst  —  zum  Sichselbst- 
erkennen  im  absoluten  Anderssein  —  zu  entwickeln  gesucht.  Zur 
Beurteilung  seines  Werkes  muß  man  deshalb  zwei  Fragen  sorg- 
fältig auseinanderhalten,  erstens  die,  ob  sein  Prinzip  vor  dem 
Forum  des  methodischen  Denkens  bestehen  kann,  und  zweitens 
die,   wieweit    er  imstande  gewesen  ist,    dies  Prinzip  an  dem  kon- 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  33 

kreten  Stoffe  rein  und  mit  vollkommenem  Gelingen  durchzuführen. 
Es  liegt  auf  der  Hand,  daß,  selbst  wenn  man  die  erste  Frage  be- 
jaht, man  bei  der  zweiten  Frage  mit  Notwendigkeit  zu  den 
stärksten  Vorbehalten  sich  wird  gedrängt  sehen  müssen.  Denn  die 
Aufgabe,  den  unendlichen  Stoff  der  Erscheinung  nach  allen  ihren 
Besonderheiten  wissenschaftlich  zu  begreifen,  ist  nicht  nur  niemals 
von  einem  einzelnen  Denker,  sondern  auch  von  dem  philosophischen 
Denken  der  gesamten  Menschheit  nicht  eher  zu  lösen,  als  bis  etwa 
der  ewige  Wechsel  der  Erscheinung  zum  Stillstande  würde  ge- 
kommen, also  dem  Erkennen  nichts  mehr  würde  übrig  geblieben 
sein.  Gesetzt  also,  der  Vorwurf,  mit  dem  Cassirer  seine  Dar- 
stellung Hegels  schließt,  bestände  zurecht,  daß  nämlich  Hegel  „in 
der  Geistesphilosophie  das  Ideelle  an  das  Faktische,  in  der  Natur- 
philosophie das  Faktische  an  das  Ideelle  verloren  habe"  (S.  377),  so 
würde  damit  zunächst  nur  gesagt  sein,  daß  er  in  der' Ausführung 
seines  Prinzips  hinter  der  Konzeption  zurückgeblieben  sei,  die  ihn 
geleitet  hat;  inwiefern  das  die  Schuld  der  Konzeption  und  des 
Prinzips  und  nicht  vielmehr  einfach  der  allem  Menschlichen  an- 
haftenden Unvollkommenheit  sei,  darüber  wäre  noch  gar  nichts 
ausgemacht. 

Das  Prinzip  nun,  in  dem  das  Hegeische  Denken  wurzelt  und 
von  dem  seine  Methode  unzweideutig  bestimmt  wird,  hat  er  nicht 
erst  in  der  Auseinandersetzung  mit  seinen  philosophischen  Zeit- 
genossen und  in  dem  Bestreben  gefunden,  die  bei  ihnen  entdeckten 
Unklarheiten  oder  Unzulänglichkeiten  zu  verbessern ;  es  hat  längst 
sein  Bewußtsein  gestaltet,  ehe  er  es  sich  selbst  zum  wissenschaft- 
lichen Begriff  entwickelt  hat,  und  es  hat  ihm  vom  Beginn  seines 
philosophischen  Nachdenkens  an  selbst  über  die  nächst  verwandten 
Denker  seiner  Zeit  eine  Überlegenheit  gegeben,  deren  er  sich  auch 
als  bescheiden  Lernender  immer  bewußt  gewesen  ist.  Es  ist  für 
Cassirers  Darstellung  schade,  daß  sie  den  Begriff,  von  dem  Hegels 
Denken  ebenso  getragen  wird,  wie  es  ihn  offenbart,  nicht  zum 
Ausgangspunkte  nimmt,  ja,  ihn  durchweg  zurücktreten  läßt,  den 
Begriff  des  absoluten  Geistes.  "Was  Cassirer  am  nächsten 
interessiert,  ist  eben  der  Vergleich  Hegels  mit  Kant;  darum  be- 
ginnt er  die  Betrachtung  Hegels  mit  einem  Abschnitt  über  den 
Begriff  der  Synthesis  bei  Kant  und  Hegel,  und  es  ist  verständlich, 
daß  er  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  wohl  bis  zu  dem  Hegeischen 
Begriffe  des  Ich,  der  Persönlichkeit,  des  Subjektes  gelangt,  das  in 
sich  als  Einzelnes  die  Einheit  des  Allgemeinen  und  des  Besonderen 

Kantstudion  XXVII.  3 


34  Georg  Lasson, 

darstellt  und  dadurch  die  Objektivität  konstituiert.  Damit  ist 
zweifellos  Hegels  Meinung  richtig  wiedergegeben;  aber  die  Syn- 
thesis,  die  seinem  Geiste  die  ursprüngliche  und  grundlegende  ist, 
wird  dadurch  noch  nicht  erreicht :  sie  tritt  erst  in  den  Sätzen  ans 
Licht,  das  Wahre  sei  nicht  als  Substanz,  sondern  ebenso  sehr  als 
Subjekt  aufzufassen;  oder  die  Substanz  sei  wesentlich  Subjekt,  die 
Bestimmung  des  Absoluten  als  Geist  sei  der  erhabenste  Begriff  und 
der  der  neueren  Zeit  und  ihrer  Religion  angehöre,  und  die  Wirk- 
lichkeit des  Begriffs  des  Absoluten,  das  Subjekt  ist,  sei  die  Selbst- 
bewegung. Mit  diesem  Prinzip  ist  die  Methode  der  Philosophie 
zugleich  gegeben,  die  das  Wahre  nicht  bloß  als  ein  System,  sondern 
als  ein  sich  aus  sich  selbst  durch  die  Selbstbewegung  seiner  Glieder 
entfaltendes  System  betrachtet  und  also  der  subjektiven  Zutaten 
sich  enthält,  um  den  Begriff  sich  selbst  von  einer  seiner  Bestim- 
mungen zur 'andern  forttreiben  zu  sehen,  bis  er  wieder,  durch  die 
Freiheit  seines  eigenen  Selbstbewußtseins  oder  durch  das  Bewußt- 
sein seiner  Gültigkeit  bereichert,  in  seinen  Anfang  zurückkehrt. 

Sehr  mit  Recht  bemerkt  Cassirer ,  daß  in  der  kantischen 
Philosophie  die  Richtung  auf  eine  solche  Gestalt  der  Metaphysik 
bestanden  hat,  deren  „Ziel  in  dem  vollständigen  Begriff  von  der 
Organisation  des  Geistes  selbst"  lag  (S.v285).  Er  erkennt  dem- 
gemäß auch  an,  daß  die  dialektische  Methode  in  streng  kontinuier- 
licher Entwicklung  aus  den  für  die  gesamte  nachkantische  Philo- 
sophie gemeinsamen  Prämissen  hergeleitet  sei  (S.  305).  So  erscheint 
in  gleichem  Maße  das  Prinzip  wie  die  Methode  Hegels  als  der  Ab- 
schluß und  die  Vollendung  des  in  der  kantischen  Lehre  zum  ersten 
Ausdrucke  gekommenen  Idealismus  des  vernünftigen  Selbstbewußt- 
seins, und  eben  wegen  dieser  Grundlage  seiner  Philosophie,  die 
schlechthin  auf  der  transzendentalen  Anschauung  beruht,  das  Ab- 
solute in  die  Subjektivität  verlegt  und  den  Satz  ausspricht,  daß 
der  Geist  höher  ist  als  die  Natur,  steht  er  gegen  die  gesamte 
vorkantische  Philosophie  auf  einem  Boden  mit  Kant.  Nur  möchten 
wir  bezweifeln,  ob  man  mit  Cassirer  der  vorkantischen  Metaphysik 
in  Bausch  und  Bogen,  statt  bloß  den  kleinen  Geistern  des  nach- 
leibnizischen  Dogmatismus,  den  Vorwurf  machen  könne,  sie  habe,  um 
ihre  Aufgabe  zu  erfüllen,  ein  „Wissen  von  den  absoluten  Dingen" 
sein  müssen,  die  „als  schlechthin  äußere  in  einem  transzendenten 
Bezirk  jenseits  des  Geistes  bestehen" ;  der  ontologische  Gedanke, 
der  nichts  als  seinsnotwendig  anerkennt,  als  was  denknotwendig 
ist,  trennt  offenbar  das  Sein  keineswegs  äußerlich  von  dem  Geiste, 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  35 

sondern  spricht  nur  in  unbefangener  Weise  den  Begriff  eben  der 
Identität  von  Denken  und  Sein  aus,  den  erst  die  von  dem  Gesichts- 
punkte  des  Kritizismus  ausgehende  Philosophie  sich  in  methodischer 
Vermittelung  zum  beherrschenden  Leitsatz  machen  konnte.  Daß 
nichts  diesen  Begriff  in  dem  Bewußtsein  der  Menschheit  so  wirksam 
belebt  hat  wie  die  Gottesidee  der  Offenbarungsreligion,  erhellt 
von  selbst;  sie  ist  deshalb  auch  der  Boden  gewesen  für  die  be- 
wußte Ausprägung  des  Ontologismus.  Zugleich  hat  auf  diesem 
Boden  der  religiösen  Kultur  auch  der  Begriff  des  absoluten  Greis t es 
früher  als  in  der  Philosophie  seine  Ausgestaltung  erfahren.  Von 
der  religiösen  Grundlage  seines  persönlichen  Bewußtseins  her  ist 
auch  Hegel  die  Anschauung  des  absoluten  Geistes  aufgegangen; 
Cassirer  hat  ganz  richtig  empfunden,  daß  die  Religion  für  Hegel 
das  Moment  der  Wirklichkeit  ist,  aus  dem  er  seinen  Begriff  des 
Absoluten  gewinnt.  Aber  es  ist  nicht  so,  daß  sich  ihm  die  drei 
Kantischen  Absoluta,  „wie  sie  im  Geiste  der  Erkenntnis,  in  dem 
der  Sittlichkeit  und  in  dem  der  Kunst  festgestellt  sind",  etwa 
hinterher  erst  in  das  eine  Absolutum  der  Religion  zusammenfassen 
(S.  290),  sondern  dieses  steht  als  beherrschendes  Prinzip  und 
leitender  G-edanke  ihm  bereits  in  Form  der  Intuition  fest,  wenn 
er  daran  geht,  die  Erscheinungen  der  geschichtlichen  Geistes- 
kultur zu  untersuchen,  denen  ja  seine  frühesten  Studien  gegolten 
haben. 

Daß  Cassirer  auf  diese  zentrale  Stellung  der  Religion  in  der 
Hegeischen  Gedankenwelt  aufmerksam  macht,  ist  um  so  verdienst- 
licher, als  bei  der  Neubelebung  des  Interesses  für  Hegel,  die  wir 
zur  Zeit  beobachten  können,  bisher  das  Hauptgewicht  meist  auf 
Hegels  Stellung  zum  Staat  und  zur  Geschichte  gelegt  wird.  Ihm 
selbst  war  die  religiöse  Idee  selbst  in  der  Staats-  und  Geschichts- 
auffassung das  Bestimmende:  der  Staat  beruht  auf  Religion,  die 
Geschichte  ist  Theodizee.  Das  ist  Hegels  Auffassung  immer  ge- 
wesen und  geblieben;  man  wird  sagen  dürfen,  daß  er  sich  damit 
von  der  letzten  Absicht  Kants  keineswegs  entfernt  hat.  Denn 
was  Cassirer  meint,  daß  im  Unterschiede  von  Kant  das  Problem 
der  Synthesis  und  der  synthetischen  Einheit  durch  Hegel  von  dem 
Boden  der  reinen  Erkenntnis  auf  denjenigen  des  konkreten  geistigen 
Lebens  in  der  Totalität  seiner  Äusserungen  versetzt  wird  (S.  291), 
das  trifft  doch  nur  zu,  wenn  man  von  der  ganzen  Arbeit  Kants 
ausschließlich  seine  Kritik  aller  möglichen  sinnlichen  Erfahrung 
betrachtet.     Cassirer  hat  aber  selbst  als  den  wahrhaften  Abschluß 

3* 


36  Georg  Lasson, 

des  Objektivitätsproblems  der  kritischen  Philosophie  die  Synthese 
bezeichnet,  die  Kant  in  der  Kritik  der  Urteilskraft  erreicht,  den 
Standpunkt,  auf  dem  die  Idee  der  Natur  selbst  unter  dem  Gesichts- 
punkte der  Freiheit,  die  Idee  der  Freiheit  selbst  unter  dem  Ge- 
sichtspunkte der  Natur  erscheint  (S.  288).  In  seiner  Religionslehre 
wie  in  seinen  Betrachtungen  über  die  Probleme  der  Weltgeschichte 
hat  Kant,  der  systematisch  diesen  Standpunkt  an  dem  gesamten 
Erfahrungsstoff  zu  bewähren  nicht  mehr  vermocht  hat,  die  frucht- 
barsten Ansätze  zu  solcher  Arbeit  geliefert,  die  es  über  jeden 
Zweifel  erheben,  daß  er  nicht  gemeint  war,  die  Synthesis  in  dem 
luftleeren  Räume  der  abstrakten  Erkenntnistheorie  eingesperrt  zu 
halten,  sondern  sie  als  konkrete  Erscheinung  in  der  "Wirklichkeit 
aufzuweisen  beabsichtigt  hat.  Gerade  in  ihren  Gedanken  hin- 
sichtlich dieser  so  zu  sagen  angewandten  Synthesis  befinden  sich 
Kant  und  Hegel  vielfach  in  vollkommener  Übereinstimmung. 

Was  Hegels  Größe  ausmacht,  das  ist  das  erstaunliche  Gleich- 
gewicht zwischen  der  Gabe  der  Intuition  und  der  Sorgfalt  des 
methodischen  Denkens,  zwischen  dem  Interesse  an  dem  Leben  und 
an  der  Wirklichkeit  und  dem  rastlosen  Bohren  der  Abstraktion 
nach  dem  geistigen  Quell  alles  Daseins.  Dieses  Gleichgewicht 
drückt  sich  gleichsam  symbolisch  darin  aus,  daß  er  in  seinen  zwei 
grundlegenden  Werken,  in  der  Phänomenologie  und  in  der  später 
zur  Enzyklopädie  ergänzten  Logik,  sein  System  von  zwei  ganz 
verschiedenen  Ausgangspunkten  aufbaut*  Daß  etwa  die  Phäno- 
menologie als  ein  propädeutisches  Werk  gedacht  gewesen  wäre, 
ist  ein  noch  immer  viel  verbreiteter  Irrtum.  Sie  ist  nur  für  Leser 
geschrieben,  die  bereits  in  dem  Gedankenkreise  der  Identitäts- 
philosophie heimisch  und  in  der  Dialektik  des  Begriffs  geübt  sind. 
Auch  daß  sie  ein  früheres  Stadium  seiner  Philosophie  darstelle 
als  seine  Logik,  trifft  nicht  zu.  Durch  die  vor  sechs  Jahren  er- 
folgte Drucklegung  seines  ersten  Systems  ist  es  nun  urkundlich 
bezeugt,  daß  die  Phänomenologie  bereits  die  Hegeische  Logik  in 
ihrer  Eigenart  voraussetzt.  Cassirer  hat  auf  jene  Logik  von  1802 
leider  nicht  Bezug  genommen ;  sie  ist  gerade  für  den  Neukantianer 
besonders  interessant,  da  sie  den  ersten  Teil,  dem  Hegel  später 
die  Überschrift  „das  Sein"  gibt,  mit  dem  Titel  „die  einfache  Be- 
ziehung" bezeichnet  und  den  beiden  andern,  nachher  „das  Wesen" 
und  „der  Begriff"  benannten  Teilen  die  Namen  „das  Verhältnis" 
und  „Proportion'4  gibt.  Wie  weit  auch  dieser  erste  Entwurf  seiner 
Logik  an  genauer  Durchbildung  hinter  dem  späteren  Werke  zurück- 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  37 

bleiben  mag,  nicht  bloß  die  Methode  ist  dort  bereits  vollkommen 
klar  und  bewußt  ausgearbeitet,  auch  alle  leitenden  Gesichtspunkte 
finden  sich  schon  vor.  Vergleicht  man  die  Phänomenologie  mit 
jener  ersten  Logik  Hegels,  so  wird  der  Titel,  den  er  anfangs  für 
die  Phänomenologie  gewählt  und  erst  nacb  Abfassung  seiner  be- 
rühmten Vorrede  durch  ihren  jetzigen  ersetzt  hat,  erst  ganz  ver- 
ständlich; er  hatte  sie  die  „Wissenschaft  von  der  Erfahrung  des 
Bewußtseins"  genannt  und  hat  also,  während  er  in  der  Logik  die 
reinen  Gedankenbestimmungen  entwickelt,  die  jeder  Erfahrung 
zugrunde  liegen,  hier  zeigen  wollen,  wie  sich  diese  Bestimmungen 
in  der  Erfahrung  selbst  verwirklichen.  Dem  kantischen  Kritizismus 
haftet  der  ursprüngliche  Mangel  an,  daß  er  mit  der  Frage  der 
Erkenntnistheorie  nach  den  Bedingungen,  unter  denen  Erfahrung 
überhaupt  möglich  ist,  gleich  von  vorn  herein  die  zwei  zunächst 
disparaten  Elemente  des  abstrakten  Denkens  und  des  empirischen 
Bewußtseins  zusammenwirft  und  deshalb  gerade  bewirkt,  daß  sie 
sich  beständig  fliehen  und  nie  zur  vollen  Einheit  gelangen.  Hegel 
ist  über  diesen  Mangel  dadurch  hinweggekommen,  daß  er  das 
logische  Fundament  des  Bewußtseins  für  sich  entwickelt,  die  Natur 
der  reinen  Wesenheiten  darstellt,  die  über  den  Unterschied  von 
Subjektivität  und  Objektivität  hinübergreifend,  als  die  reinen  Ge- 
danken das  Leben  des  Geistes  und  die  gesamte  Welt  der  Wirk- 
lichkeit konstituieren.  Auf  diesem  Fundamente  hat  er  das  System 
der  Subjekt-Objektivität  errichtet  und  hat  darum  auch  über  die 
bloße  Kritik  der  Erfahrung  hinaus  die  Erfahrung  selbst  nach 
ihrer  wirklichen  Erscheinung  und  nach  ihrer  geistigen  Wahrheit 
darstellen  können  als  das  Zusichselbstkommen  des  Geistes  in  dem 
Bewußtsein  des  Subjekts.  Diese  Aufgabe  hat  er  sich  in  der  Phäno- 
menologie gestellt;  er  will  zeigen,  wie  dem  Bewußtsein  des  Subjekts 
der  Geist  innewohnt  und  in  der  Entwickelung,  die  es  als  denkendes 
und  wollendes  Selbstbewußtsein  durchmacht,  sich  zur  Erscheinung 
der  geistigen  Welt  vollendet.  Hegels  Ausgangspunkt  ist  hier  die 
ursprüngliche  Synthese,  mit  der  auch  die  kritische  Philosophie  be- 
ginnt, das  Subjekt  der  sinnlichen  Erfahrung.  Den  Ausgangspunkt 
der  Logik  könnte  man  dem  gegenüber  als  die  einfache  These  be- 
zeichnen, die  nur  erst  abstrakte  Wahrheit  hat,  die  reinen  Gedanken- 
bestimmungen, durch  deren  Selbstbewegung  die  Welt  der  Gegen- 
sätze und  das  Reich  der  Versöhnung  oder  der  Geist  in  seiner 
Totalität  sich  entfaltet.  Das  Hegeische  Denken  hat  so  vor  dem 
Kritizismus    folgenden  Vorsprung.     Dieser  geht   einseitig  von  der 


38  Georg  Lasson, 

Synthese,  d.  h.  im  gründe  von  der  Antithese  aus,  für  die  er  stets 
die  Synthese  sucht,  ohne  sich  darüber  klar  zu  werden,  daß  ohne 
eine  vorausliegende  These  selbst  eine  Antithesis  nicht  möglich 
wäre;  denn  Gegensätze  sind  sich  eben  immer  in  irgend  einem 
Etwas  entgegengesetzt.  Hegel  dagegen  geht  auf  dies  Etwas,  auf 
den  Grund  zurück,  der  die  Gegensätze  möglich  macht,  nämlich  auf 
den  seine  eigenen  Bestimmungen  setzenden  und  entfaltenden  Geist. 
Natürlich  wird  es  hier  auch  klar,  daß  Thesis  und  Synthesis  iden- 
tisch sind,  daß  diese  nur  die  konkrete  Verwirklichung  jener  ist, 
so  daß  Anfang  und  Ende  der  Entwickelung  so  zusammenfallen 
wie  der  gewollte  und  der  erreichte  Zweck.  Ebenso  klar  ist  es 
deshalb,  daß  dem  Kritizismus  auch  jener  einfache  Grund,  die  an- 
fängliche These  nicht  fehlt;  er  hat  sie  in  derjenigen  Synthesis, 
die  er  als  wirklich  und  ursprünglich  anschaut,  in  dem  vernünftigen 
Selbstbewußtsein,  dem  autonomen  Ich,  und  gelangt  sogar  von  da 
aus  neuerdings  bis  zu  einem  Logismus,  der  dem  Hegeischen  außer- 
ordentlich ähnlich  scheint.  Aber  er  will  es  nicht  wahr  haben, 
daß  er  damit  zu  dem  Einheitsprinzip  vorgedrungen  ist,  das  den 
Gegensatz  produziert,  zu  der  These,  die  sich  durch  die  Antithesis 
zur  Synthesis  vollendet,  sondern  er  haftet  fest  an  der  Antithese 
und  sieht  zwar  die  Bewegung  ihrer  Vermittelung,  aber  nicht  den 
unbewegten  Beweger,  den  Geist  in  der  bleibenden  Organisation 
seines  vernünftigen  Wesens,  wie  er  „vor  der  Erschaffung  der 
Natur  und  eines  endlichen  Geistes  ist".  Dabei  aber  beschäftigt 
er  sich  unablässig  mit  diesem  ersten  Prinzip ;  denn  die  reinen  Ge- 
dankenbestimmungen sind  der  feste  und  unveränderliche  Maßstab 
seiner  kritischen  Denktätigkeit,  übrigens  ein  Beweis  dafür,  daß 
der  Begriff  der  Substanz  durch  den  der  Funktion  nicht  „ersetzt", 
d.  h.  beseitigt,  sondern  vielmehr  bestimmt  wird.  Und  so  ergibt 
es  sich  hier  aufs  neue,  daß  der  kritische  Idealismus  an  sich  abso- 
luter Idealismus  ist,  nur  ohne  selbst  sich  dessen  bewußt  zu  sein. 
Damit  sind  wir  dann  noch  einmal  daraufgewiesen,  prinzipiell 
den  Vergleich  zwischen  kritischem  und  absolutem  Idealismus  zu 
ziehen,  wie  es  Cassirer  am  Schlüsse  seiner  sehr  eingehenden 
Wiedergabe  der  Gedankenentwickelung  in  Hegels  Phänomenologie 
und  Logik  unternommen  hat.  Cassirer  meint,  das  System  Hegels 
habe  „den  geschichtlichen  Beweis  für.  die  Unlösbarkeit  der  Pro- 
bleme" geliefert,  „mit  denen  schon  Hegels  Ausgangspunkt  und 
Fragestellung  die  Philosophie  belastet"  (S.  366).  Dieser  Satz 
klingt   an   sich   einigermaßen  überraschend;    denn  man  müßte  aus 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  39 

ihm  schließen,  daß  es  gewisse  Ausgangspunkte  und  Fragestellungen 
gebe,  deren  sich  die  Philosophie  zu  entschlagen  habe,  weil  sie  auf 
unlösbare  Probleme  führen.  Es  könnte  dann  immerhin  als  ein  ge- 
schichtliches Verdienst  gelten,  wenn  ein  Denker  einmal  solche 
Probleme  aufgeworfen  hat ;  aber  nachdem  er  an  ihrer  Lösung  ge- 
scheitert ist,  scheint  es  der  Philosophie  gebühren  zu  sollen,  daß 
sie  von  ihnen  als  von  rebus  iudicatis  sich  lernhalte  und  sie  auf 
sich  beruhen  lasse.  Das  ist  nun  freilich  eine  Auffassung,  die  sich 
mit  dem  Begriffe  der  Philosophie  ebensowenig  reimt  wie  mit  deren 
tatsächlichem  Verhalten.  Das  philosophische  Denken  läßt  sich 
keine  Grenzpfähle  stecken,  und  wenn  es  sie  sich  selbst  steckt,  so 
hat  es  damit  schon  die  Grenze  überwunden ;  denn  es  kann  sie 
nicht  ziehen,  ohne  diesseits  und  jenseits  von  ihr  Bescheid  zu 
wissen.  Und  deshalb  legt  die  Philosophie  niemals  ein  Problem  als 
unlösbar  beiseite;  entweder  sie  führt  den  methodischen  Beweis, 
daß  es  an  sich  unlösbar  sei,  und  dann  hat  es  aufgehört,  ein  Pro- 
blem zu  sein,  und  seine  Lösung  ist  gelungen  in  dem  Nachweise, 
daß  nur  der  Schein  eines  Problems  vorgelegen  habe;  oder  aber 
das  Problem  wird  dauernd  als  ein  solches  empfunden,  und  dann 
genügt  kein  geschichtlicher  Hinweis  auf  einen  mißglückten  Ver- 
such, es  zu  lösen,  sondern  der  denkende  Geist  macht  sich  immer 
aufs  neue  daran,  die  Wahrheit  zu  begreifen,  die  ihm  in  Form  des 
Problems  entgegentritt.  Cassirer  hat  selbst  den  Nachweis  geführt, 
wie  mit  innerer  Notwendigkeit  aus  dem  Standpunkte  des  Kriti- 
zismus die  Fragestellungen  der  nachkantischen  Philosophie  sich 
ergeben  haben.  Es'  sind  also  sachlich  notwendige  Fragestellungen, 
und  man  kann  sie  nicht  deshalb  abweisen,  weil  sie  die  Philosophie 
mit  Problemen  belasten,  die  man  für  unlösbar  erklärt,  und  noch 
weniger,  weil  man  meint,  daß  Hegel  seinerzeit  sie  nicht  be- 
friedigend beantwortet  habe. 

Nun  ist  weiter  die  Frage,  wieweit  überhaupt  die  Vorwürfe 
berechtigt  sind,  die  der  Arbeit  Hegels  im  einzelnen  gemacht  werden. 
Daß  er  die  Sache  nicht  für  alle  Zeiten  endgiltig  ins  Reine  ge- 
bracht hat,  versteht  sich  von  selbst;  ob  aber  die  Mängel  seiner 
Darstellung  so  grob  sind  und  seiner  Methode  selbst  so  kraß  ent- 
gegenstehen, wie  man  häufig  annimmt,  ist  doch  sehr  zweifelhaft. 
Es  ist  vieles  von  dem,  was  ihm  zum  Vorwurf  gemacht  wird,  reines 
Mißverständnis.  Schon  Schelling  hat,  wie  Cassirer  erwähnt  (S.  281), 
gegen  Hegels  Logik  den  seitdem  immer  wieder  erhobenen  Ein- 
spruch geltend  gemacht,  daß,  wenn  man  mit  dem  reinen  abstrakten 


40  Georg  Lasson, 

Begriff  des  Seins  anfange,  man  zu  inhaltlicheren  Bestimmungen 
nur  durch  Erschleichung  und  Supponierung  eines  Seienden  gelangt, 
eines  letzten  Subjektes  des  dialektischen  Prozesses,  das  sich  in 
ihm  und  durch  ihn  entfaltet.  Cassirer  selbst  faßt  die  Dialektik 
bei  Hegel  so,  daß  für  sie  das  Absolute  nicht  mehr  den  unmittel- 
baren Anfang  der  Philosophie,  sondern  ihr  Ende,  nicht  mehr  ihre 
Voraussetzung,  sondern  ihr  Resultat  bedeute  (S.  303).  Aber  in 
seiner  Kritik  der  Hegeischen  Logik  erklärt  er  selbst,  daß  dieses 
Resultat  schon  in  jeder  Phase  des  Prozesses,  in  jedem  neuen  Über- 
gänge als  das  eigentlich  bestimmende  und  vorwärtstreibende  Prin- 
zip wirke  (S.  367).  So  wird  es  wohl  ein  Irrtum  sein,  wenn  man 
Hegels  Methode  dahin  auslegt,  er  fange  mit  dem  absolut  Leeren, 
dem  Sein  an,  das  mit  dem  Nichts  identisch  ist,  und  lasse  dieses 
sich  durch  Selbstbewegung  bis  zum  Begriffe  der  Totalität  erweitern, 
einem  schlappen  Beutel  gleich,  den  man  aufbläst,  bis  er  platzt. 
Cassirer  meint:  „nach  der  Grundvoraussetzung  Hegels  soll  jedes 
einmal  gesetzte  Moment  sich  selbst  negieren  und  durch  diesen 
Widerspruch  das  Denken  zu  einem  andern  und  höhern  hinaus- 
treiben" (S.  366).  Abgesehen  davon,  daß  die  Art  der  Entgegensetzung 
der  einzelnen  sich  gegenseitig  fordernden  Gedankenbestimmungen  in 
den  verschiedenen  Sphären  des  Logischen  nicht  die  gleiche  und 
also  die  bloße  Negation  bei  weitem  nicht  für  den  dialektischen 
Prozeß  im  ganzen  charakteristisch  ist,  so  spricht  doch  Cassirer 
selbst  von  dem  „gesetzten  Moment".  Ja,  wovon  ist  es  denn  Mo- 
ment, und  wodurch  wird  es  denn  gesetzt?  Es  ist  doch  offenbar, 
daß  die  Totalität  und  zwar  die  Totalität  als  Geist  bereits  voraus- 
gegeben ist,  wenn  man  von  gesetzten  Momenten  redet.  In  der  Tat 
ist  für  alles  Philosophieren  Hegels  die  ursprüngliche  Identität,  die 
keinen  mittelbaren  Beweis  zuläßt  (S.  302),  die  unbedingte  Grund- 
lage; das  cogito,  ergo  sum,  ist  der  Punkt  des  unmittelbaren  Wissens, 
von  dem  es  keinen  Regreß  zu  einem  ihm  vorausliegenden  Prinzip 
geben  kann,  und  alles  Beweisen  in  der  Philosophie  bedeutet  nur 
das  Aufzeigen  des  notwendigen  systematischen  Zusammenhanges, 
den  dies  Prinzip  fordert  und  herstellt.  Es  gibt  darum  für  Hegel 
auch  keinen  eigentlichen  Anfang  in  der  Philosophie;  sie  ist  ein  in 
sich  geschlossener  Kreis,  mit  dessen  Betrachtung  das  denkende 
Subjekt  an  jedem  beliebigen  Punkte  müßte  anfangen  können  und 
sich  nur  nach  Zweckmäßigkeitsgründen  für  diesen  oder  jenen  An- 
fang entscheiden  wird.  Auch  der  Anfang  mit  der  Logik  ist  der 
Anfang  mit  einem  Momente  des  Granzen  und   insofern  ebenso    zu- 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  41 

fällig,  wie  wenn  in  der  Phänomenologie  mit  dem  natürlichen  Be- 
wußtsein angefangen  wird.  Nur  weil  das  Logische  das  übergrei- 
fende Moment,  sowohl  eine  besondere,  als  auch  die  allgemeine  Weise 
der  absoluten  Idee  ist  (S.  363),  erscheint  Hegel  der  Anfang  mit 
der  Logik  besonders  zweckmäßig.  Aber  immer  handelt  es  sich 
hier  um  die  Dar stellungs form,  und  dieser  liegt  die  Idee  selbst 
voraus.  Kein  Teil  der  Philosophie  und  kein  einzelner  Begriff  der 
Logik  kann  für  sich  allein  gedacht  oder  entwickelt  werden;  das 
Ganze  liegt  ihm  zugrunde,  trägt  und  bestimmt  ihn.  Das  philo- 
sophische Denken  ist  Nachdenken;  es  saugt  sich  das  Wahre,  das 
Konkrete  nicht  aus  den  Pfoten  der  Abstraktion  und  klaubt  nicht 
aus  dem  Begriffe  des  leeren  Seins  und  des  reinen  Nichts  die  Fülle 
der  göttlichen  Gesichte  heraus,  sondern  es  hat  den  ganzen  Reich- 
tum des  lebendigen  Bewußtseins  und  der  wissenschaftlichen  Er- 
kenntnisse vor  sich,  es  trägt  die  Anschauung  der  geistigen  Totalität 
und  das  Bewußtsein  seiner  schöpferischen  Freiheit  in  sich,  und  es 
gestaltet  sich  auf  grund  dieser  seiner  vernünftigen  Bestimmtheit 
seine  Welt  zum  begriffenen  System,  sich  selbst  zum  absoluten 
Wissen,  zum  focus  realis  des  absoluten  Geistes. 

Die  Art,  wie  Hegel  Sein,  Nichts  und  Werden  dialektisch  an- 
ander, ganz  deutlich  nicht  auseinander,  entwickelt,  gilt  gewöhnlich 
als  das  eigentliche  Merkmal  seiner  Philosophie  überhaupt.  Wie 
man  Kant  auf  die  transzendentale  Ästhetik  festbindet,  so  sieht 
man  in  dem  ersten  Kapitel  der  Hegeischen  Logik  den  ganzen 
Hegel  und  schlägt  vor  Verwunderung  über  den  Einfall,  das  leere 
Sein  zum  Fundament  des  Universums  zu  machen,  die  Hände  über 
dem  Kopf  zusammen.  Cassirer  hat  selbstverständlich  mit  diesem 
Verhalten  nichts  gemein.  Er  weiß,  daß  Hegel  seine  Logik  nicht  bloß 
damit  anfängt,  zu  sagen,  das  leere  Sein  sei  mit  dem  Nichts  iden- 
tisch, sondern  daß  diesem  besonderen  Satze  der  allgemeine  voraus- 
liegt, das  Sein  und  das  Denken  sei  identisch.  So  ist  für  Hegel 
das  Sein  Gedanke,  das  Nichts  Gedanke,  das  Werden  Gedanke,  und 
er  bringt  nicht  drei  disparate  Dinge  gewaltsam  zueinander,  sondern 
er  zeigt  auf,  wie  diese  drei  Gedankenbestimmungen  durch  das 
innere  Leben  des  sie  produzierenden  Begriffes  miteinander  in  Zu- 
sammenhang stehen.  Ganz  richtig  sagt  deshalb  Cassirer:  „daß 
Sein  und  Nichts  identisch  sind,  kann  gar  nicht  anders  als  vom 
Werden  her  deutlich  gemacht  werden"  (S.  366).  Natürlich,  das 
„Umschlagen"  der  einen  Gedankenbestimmung  in  die  andere  ließe 
sich  nicht  aufzeigen,  wenn  sie  nicht  sämtlich  dem  Denken  in  ihrer 


42  Georg  Lasson, 

besonderen  Bestimmtheit  bereits  bekannt  wären.  Daß  aber  nnn, 
wie  Cassirer  meint,  dieser  Gesichtspunkt  dem  Prinzip  der  dialek- 
tischen Methode  nicht  entspräche  (S.  367),  trifft  keineswegs  zu. 
Anch  für  die  dialektische  Methode  ist  das  philosophische  Denken 
kein  Konstruieren  ins  Blaue  hinein,  und  der  Gedanke  des  Systems 
steht  ihr  fest,  wenn  sie  die  Beziehung  seiner  Glieder  sich  entfalten 
läßt.  Ohnehin  besteht  diese  Beziehung  durchaus  nicht  bloß  in  dem 
„Umschlagen"  eines  Begriffes  in  den  andern,  wie  es  bei  jenen 
ersten  abstraktesten  Begriffen  der  Fall  ist;  sie  nimmt  im  Fort- 
gange zu  konkreteren  Bestimmungen  die  Form  einer  immer  tieferen 
Zusammengehörigkeit  an,  bis  die  ideale  Einheit  der  Momente  des 
gedanklichen  Organismus  erreicht  ist.  Das  ist  natürlich  ohne  die 
vorausgehende  Anschauung  dieses  Organismus  gar  nicht  möglich. 
Darum  ist  es  nur  eine  Seite  der  Hegeischen  Methode,  die  Cassirer 
mit  dem  Satz  ausdrückt:  „Das  Absolute  soll  wesentlich  Resultat 
sein,  also  erst  am  Ende  des  Gesamtprozesses  heraustreten"  (S.  367). 
Hegel  selbst  zeigt  beständig  auf,  daß  ebenso  das  Absolute  das 
erste  Prinzip  und  daß  der  gesamte  Verlauf  der  Entwicklung  nichts 
als  das  Hervortreten  der  im  Absoluten  enthaltenen  und  darin  sich 
entfaltenden  Bestimmungen  sei;  und  es  geht  wirklich  nicht  an, 
dieses  Moment  der  Betrachtung  als  eine  Preisgabe  seines  dialek- 
tischen Prinzips  aufzufassen.  Vielmehr  ist  „das  Prinzip  des  Fort- 
schritts, das  ihn  durch  die  gesamte  Reihe  der  untergeordneten 
Momente  bis  zur  höchsten  Idee  hinaufführt"  (S.  366),  eben  nur  die 
eine  Seite  in  seiner  Darstellung  der  logischen  Idee,  und  das  Prinzip 
der  Totalität,  die  sich  die  Bestimmungen  der  einzelnen  Momente  gibt, 
ist  die  andere,  mindestens  ebenso  wichtige  Seite.  Das  „Nachein- 
ander der  Momente"  ist  in  der  Logik  natürlich  eine  vollkommen 
zeitlose  Aufeinanderfolge,  und  insofern  wird  man  sagen  können, 
daß  sich  das  Absolute  in  einem  ewigen  Nun  nach  der  Fülle  seiner 
Bestimmungen  durchsichtig  ist,  während  das  denkende  Subjekt  im 
diskursiven  Denken  nicht  alles  zu  gleicher  Zeit  präsent  haben 
kann.  Aber  das  bedeutet  nicht,  daß  die  begriffliche  Entwickelung 
nichts  als  der  „Fortgang  einer  bloß  subjektiven  Reflexion"  sei. 
Hegel  behauptet  ja  nicht,  daß  die  Selbstbewegung  des  Begriffs,  zu 
deren  Darstellung  der  Denker  natürlich  Zeit  braucht,  eine  zeit- 
liche Bewegung  sei;  er  will  „die  reinen  Gedanken,  den  sein  Wesen 
denkenden  Geist"  darstellen,  von  denen  er  sagt:  „ihre  Selbstbe- 
wegung ist  ihr  geistiges  Leben".  Dieses  geistige  Leben  ist  zeitlos 
und  „wesentlich  itzt".     Das    subjektive  Denken   aber,    das   dieser 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  43 

Selbstbewegung  nachdenkt,  stellt  den  objektiven  Gang  der  Sache 
dar,  indem  es  sich  dazu  erzieht,  die  wesentlichen  Zusammenhänge 
jener  Gedankenbestimmungen  aufzufassen,  wonach  die  eine  mit 
innerer  Notwendigkeit  zu  der  andern  führt,  sich  in  ihr  aufhebt 
und  wiederfindet  usf.  Den  Gegensatz  dazu  bildet  dann  die  sub- 
jektive Reflexion,  die  aus  irgendwelchem  partikularen  Interesse 
ein  paar  beliebige  Einzelbestimmungen  aufrafft  und  in  dem  Raisonne- 
ment,  das  sich  an  sie  hält,  über  einseitige  Abstraktionen  nicht 
hinauskommt.  Sorgfältiger  als  Hegel  kann  man  sich  nicht  be- 
mühen, diesen  Fehler  zu  vermeiden:  was  an  seiner  Darstellung 
des  objektiven  Ganges  der  Sache  notwendig  subjektiv,  Angelegen- 
heit des  Zuschauers  bleibt,  ist  nur  das  zeitliche  Aufzählen;  die 
gedankliche  Sukzession  der  Momente  sucht  er  rein  aus  deren 
eigenem  Charakter  zu  entwickeln.  Ereilich  versteht  er  unter  dieser 
Sukzession  nicht  einen  in  einer  Richtung  geradlinig  verlaufenden 
Fortschritt,  sondern  eher  das  Hin-  und  Her  wandeln  der  „Mütter" : 
„Gestaltung,  Umgestaltung,  des  ewigen  Sinnes  ew'ge  Unterhal- 
tung". Es  bleibt  immer  merkwürdig,  daß  man  ihm  seine  eignen 
Worte  nicht  glauben  will.  Er  beschreibt  selbst  das  Wahre  mit 
den  Worten :  es  sei  ein  bacchantischer  Taumel,  an  dem  kein  Glied 
nicht  trunken  ist,  und  zugleich  die  einfache  und  durchsichtige  Ruhe. 
Und  dennoch  meint  Cassirer,  daß  bei  Hegel  schließlich  die  Be- 
wegung auf  die  Seite  des  Subjekts  und  die  Ruhe  auf  die  Seite 
des  Gegenstandes  falle  und  Denken  und  Sein  in  offenbarem  Dualis- 
mus auseinandertreten  (S.  368). 

Die  Erklärung  dafür,  wie  Cassirer  auf  diesen  Vorwurf  ge- 
kommen ist,  den  eigentlich  jeder  Satz  bei  Hegel  widerlegt,  ist 
darin  zu  finden,  daß  er  die  immanenten  Geltungsunterschiede  über- 
sieht, die  zwischen  den  verschiedenen  Gebieten  des  denkenden  Be- 
wußtseins bestehen.  Was  für  die  Sphäre  der  zeitlosen  Beziehungen 
der  reinen  Begriffe  gilt,  die  über  die  Trennung  von  Objektivität 
und  Subjektivität  erhoben  sind,  das  hat  nicht  ohne  weiteres  die 
gleiche  Geltung  für  die  Sphären,  in  denen  sich  der  Gegensatz 
zwischen  Bewußtsein  und  Gegenstand  auswirkt.  Als  allgemeines 
Moment  ist  das  Logische  selbstverständlich  auch  in  diesen  Sphären 
wirksam  und  gegenwärtig;  aber  als  besonderes  Moment  steht  es 
gleichzeitig  ihnen  beiden  in  eigenartiger  Bestimmtheit  gegenüber. 
Der  Gedanke  konstruiert  von  dem  Logischen  über  die  Natur  zum 
Geiste  einen  dialektischen  Fortschritt;  aber  dieser  Fortschritt  ist 
ein  andrer  als  der  in  der  Realität,  einfach  weil  das  Logische  ja  nicht 


44  Georg  Lasson, 

am  Anfange,  nicht  vor  der  Realität  steht,  sondern  sie  als  ihr  ein- 
einheitlicher Bestimmungsgrund  von  Anfang  bis  zu  Ende  durchdringt. 
Während  so  jene  drei  Sphären  in  ihrer  Einheit  eine  in  sich  befrie- 
digte und  —  wenn  man  die  Zeitvorstellung  einmal  dabei  will  gelten 
lassen  —  in  jedem  Augenblick  vollendete  Totalität  bilden,  den 
„seligen  Gott",  zeigt  jede  von  ihnen  in  ihrer  dialektischen  Ver- 
schiedenheit sich  als  eine  besondere  Bestimmtheit  des  Ganzen  mit 
einer  ihr  eigenen  Bewegung.  Unter  diesem  Gesichtspunkt  er- 
ledigt sich  auch  der  immer  wieder  gegen  Hegel  erhobene  Vorwurf 
wegen  des  Überganges  von  der  logischen  Idee  zur  Natur:  die 
Idee  entläßt  sich  frei  in  ihr  Gegenteil.  Das  darf  man  ebensowenig 
für  die  Sprache  des  Mythos  halten,  wie  wenn  Fichte  sagt:  das 
Ich  setzt  das  Nichtich,  oder  Schiller :  es  ist  der  Geist,  der  sich 
den  Körper  baut.  Hegel  redet  hier  von  logischen  Beziehungen 
der  Begriffe,  nicht  von  Dingen  der  Wahrnehmung.  Wenn  man 
von  dem  Logischen  als  der  ersten  Sphäre  des  Systems  beginnt, 
dann  erscheint  die  Natur  als  seine  Entäußerung,  der  Geist  als 
seine  Verwirklichung.  Setzt  man  die  Natur  als  die  erste  Sphäre, 
so  enthüllt  sich  in  ihr  das  Logische  als  ihr  Einheitsprinzip,  die 
Seele  dieses  organischen  Ganzen,  und  der  Geist  als  ihr  Ziel  und 
beherrschender  Zweck.  Geht  man  von  dem  Geiste  aus,  so  erfaßt 
sich  dieser  in  dem  Logischen  nach  seinem  an  sich  seienden  Wesen 
und  in  der  Natur  als  in  dem  von  ihm  gesetzten  Mittel  seiner  uni- 
versalen Selbstdarstellung  nach  seinem  unterschiedenen  Fürsichsein. 
Keiner  dieser  drei  Aspekte  des  Systems  ist  für  sich*  allein  das 
ganze  System;  jeder  hat  einen  Schein  von  Abstraktion  an  sich, 
den  erst  ihre  spekulative  Zusammenfassung  beseitigt.  Darum  aber 
kann  man  auch  nicht,  wie  es  Cassirer  tut,  einfach  den  letzten  Ab- 
schnitt der  Enzyklopädie,  die  Geschichte  der  Philosophie,  als  das 
Ende  der  Bewegung  bezeichnen,  die  in  der  Logik  anfängt  (S.  368). 
Als  zeitlos  dialektischer  Prozeß  ist  die  Bewegung  vom  Begriff  des 
bloßen  Seins  bis  zum  Begriff  des  sich  selbst  begreifenden  Wissens 
wohl  anzusehen;  wenn  aber  auf  den  Fortschritt  im  subjektiven 
Geiste  reflektiert  wird,  wie  es  Cassirer  hier  tut,  dann  handelt  es  sich 
um  eine  in  der  besonderen  Sphäre  der  geistigen  Kultur  verlaufende 
Bewegung,  und  die  beginnt  mit  dem  Begriffe  des  natürlichen  Be- 
wußtseins, um  bis  zum  absoluten  Wissen  fortzuschreiten.  So  kann 
man  auch  nicht  folgern,  daß  für  Hegel  das  Absolute  die  Gestalt 
eines  einzelnen  geschichtlichen  Zustandes,  nämlich  seiner  geschicht- 
lichen Gegenwart  habe  annehmen  müssen.    Es  ist  richtig,  daß  Hegel 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  45 

„die  jetzige  Zeit   auf  dem  Standpunkt  angelangt   sieht,   wo   das 
endliche  Selbstbewußtsein  mit   dem  absoluten  sich  in  begrifflicher 
Erkenntnis  eins  setzt".    Er  bietet  seinen  Schülern  die  Befriedigung, 
daß  in  seiner  Philosophie,  die  ja  „ihre  Zeit,   in  Gedanken  gefaßt" 
sein  will,    der  Kampf  zwischen   den  Abstraktionen  der  Unendlich- 
keit und   der  Endlichkeit   aufhört,    der  noch  in  der  dualistischen 
Reflexion  seiner  unmittelbaren  Vorgänger   zur   schärfsten  Ausprä- 
gung gekommen  ist.     Aber  wenn   er  meint,    daß    „für  jetzt"    die 
Reihe  der  geistigen  Gestaltungen  geschlossen  sei,  bemerkt  er  doch 
gleichzeitig,    daß    eine   neue  Epoche   in  der  Welt  eingesetzt  habe. 
So  kann  man  ihm  nicht  schuld  geben,  daß  er  die  Weltentwicklung 
mit  dem  Erscheinen  seines  Systems  aufhören  lasse,  um  so  weniger, 
als  sich  bei  ihm    zahlreiche  Äußerungen  finden,    die    auf   weiteren 
Fortschritt  und  auf  später  zu  vollbringende  Lösungen  von  „Knoten" 
hinweisen,  an  denen  der  Weltgeist  in  der  Gegenwart  steht.   Jeden- 
falls berechtigt   der  Umstand,    daß   er    den  Gesamtertrag  der  bis- 
herigen Geistesgeschichte   als   die   bisher   vom  Weltgeist  erreichte 
höchste  Stufe  der  Entwickelung   ansieht,    nicht   zu   dem  Vorwurf, 
er   habe    „ein  Einzelnes   und   Zufälliges   zum  Absoluten   erhoben" 
(S.  369);  eher  würde  zutreffen,   daß  er  in  jedem  klassischen  philo- 
sophischen System,   weil   es   das   zum  Begriff  gestaltete  Selbstbe- 
wußtsein einer  ganzen  Zeit  und  damit  ein   ewig  gültiges  Moment 
der  Totalität  ist,    die  Weltentwickelung  zur  Ruhe  kommen  sieht. 
So  erklärt  denn  freilich  Hegel   nicht   dies  oder  jenes  jeweilig  er- 
reichte und  bestimmte  Wirkliche  (S.  369),  sondern  alles  Wirkliche 
schlechthin  für  vernünftig;   darin  eine  „Gefahr"  zu  sehen,  ist  nur 
dann  möglich,    wenn  man   das  Faktische  und  das  Ideelle  als  zwei 
getrennte   und    nie  wirklich    zu   vereinbarende   Dinge   betrachtet. 
Aber  daß  diese  Betrachtung  richtig  sei,  müßte  erst  bewiesen  werden. 
Den   deutlichsten  Beweis    dafür,   daß  Hegels  Methode  in  der 
Ausführung   notwendig    scheitern    muß,    glaubt    Cassirer    in    der 
Hegeischen  Naturphilosophie    erbracht    zu   sehen.      Nun   ist   aber 
das  Merkwürdige,  daß  Hegel,  wo  er  über  den  Erscheinungskomplex 
redet,    den  die  mathematische  Naturwissenschaft  mit  dem  Namen 
Natur  bezeichnet,  äußerst  vernünftige,    dieser  Wissenschaft  durch- 
aus verständnisvoll  gerecht  werdende  Ansichten  vorträgt.    Cassirer 
weist   selbst   auf  Hegels  Ausführungen   in   der  Logik   über    eine 
„Mathematik  der  Natur"  hin  und  erkennt  an,  daß  für  Hegels  Auf- 
fassung der  Prinzipienlehre   der  mathematisch  -  physikalischen  Er- 
kenntnis  dort    „wichtige    und  fruchtbare  Bestimmungen"    gegeben 


46  Georg  Lasson, 

seien  (S.  342).  Aber  freilich  erschöpft  sich  für  Hegel  der  Natur- 
begriff nicht  in  der  Hypothese  Natur,  wie  sie  von  der  mathe- 
matischen Physik  ihren  Berechnungen  zugrunde  gelegt  wird.  Und 
daraus  wird  man  ihm  wieder  keinen  Vorwurf  machen  dürfen ;  gibt 
doch  Cassirer  selbst  zu,  daß  bereits  bei  Kant  sich  „der  Wirklich- 
keitsbegriff der  mathematischen  Naturwissenschaft  als  eine  freilich 
notwendige  und  in  ihrer  Geltung  unantastbare  Abstraktion"  er- 
weise (S.  288),  womit  dann  schon  ausgesprochen  ist,  daß  über  den 
Umfang  ihrer  Greltung  nur  die  Philosophie  entscheiden  kann.  Denn 
deren  Aufgabe  ist  es  ja  gerade,  die  Abstraktionen,  von  denen  die 
verschiedenen  Einzelwissenschaften  ausgehen  müssen,  weil  sie  eben 
Einzelwissenschaften  sind,  in  dem  konkreten  System  des  sich 
wissenden  Geistes  aufzuheben.  Auch  ist  es  nicht  weiter  zu  ver- 
wundern, daß  für  Hegel  gerade  der  Begriff,  von  dem  die  mathe- 
matische Physik  grundsätzlich  abstrahiert,  im  Vordergrunde  seiner 
Naturanschauung  steht,  nämlich  der  Begriff  des  Lebens.  Ein  großes 
Lebendiges  ist  ihm  die  Natur;  darin  steht  er  mit  Goethe  und 
Schelling  völlig  auf  dem  gleichen  Boden ;  aber  ernstlicher  als  beide 
faßt  er  die  Aufgabe  an,  die  geistige  Organisation  dieses  Lebens 
methodisch  aufzuzeigen.  Nun  ist  es  gewiß  sehr  leicht,  über  Einzel- 
heiten der  Hegeischen  Naturdeutung  zu  spotten,  und  es  ist  ohne 
weiteres  zuzugeben,  daß  er  nicht  bloß  durch  die  außerordentliche 
Mangelhaftigkeit  des  empirischen  Stoffes,  den  ihm  die  damalige 
Naturforschung  lieferte,  sondern  auch  durch  ein  übertriebenes  Be- 
mühen, die  zufälligen  Einzelheiten  der  Erscheinung  in  bestimmte 
begriffliche  Gestalt  zu  fassen,  auf  Irrwege  geführt  worden  ist. 
Damit  aber  ist  noch  durchaus  nicht  gesagt,  weder  daß  die  Anlage 
seiner  Naturphilosophie  im  ganzen  verfehlt,  noch  daß  ihre  Durch- 
führung in  den  Hauptpunkten  ein  Mißgriff  sei.  Man  muß  sich 
nur  gegenwärtig  halten,  was  Hegels  Absicht  war.  Er  befand  sich 
der  Schellingschen  Naturphilosophie  gegenüber,  mit  deren  Grund- 
gedanken, in  der  Natur  eine  vernünftige  Organisation,  ein  zum 
Geiste  hindrängendes  und  aus  dem  Geiste  geborenes  Leben  zu  be- 
greifen, er  gänzlich  übereinstimmte.  Dagegen  warf  er  ihr  vor, 
daß  sie  anstelle  des  Begriffs  ein  unlebendiges  Schema  setze  und 
statt  die  Gestaltungen  der  Natur  in  ihrer  Eigenart  zu  erkennen, 
sie  durch  die  Subsumtion  unter  eine  Anzahl  von  B-eflexionsbe- 
stimmungen  wie  Polarität,  Magnetismus,  Elektrizität,  Sensibilität 
usf.  gerade  ihres  individuellen  Gepräges  beraube.  Deshalb  war  es 
sein  Bestreben,    den   Sinn   und  die  Grliederung   der  verschiedenen 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  47 

Gestaltungen  der  Natur  in  ihrer  Unterschiedenheit  zu  erfassen. 
Der  Vorstellung  ist  solches  Verfahren  im  Einzelnen  durchaus  ge- 
läufig; Löwe  und  Bär,  Palme  und  Eiche  unterscheiden  wir,  um 
ganz  triviale  Beispiele  zu  geben,  ohne  weiteres  nach  rein  ideellen 
Gesichtspunkten,  und  wenn  wir  uns  genauer  beobachten,  so  be- 
merken wir  auch,  daß  wir  sehr  viel  weniger  hochstehende  Gattungen 
im  Naturleben  durch  ganz  klare  geistige  Bestimmungen  von  ein- 
ander sondern  und  miteinander  verbinden.  Dies  vorstellungsmäßige 
Verhalten  wird  von  Hegel  zum  methodischen  Verfahren  erhoben 
und  dadurch  vor  dem  Denken  gerechtfertigt,  daß  alle  Sphären  des 
natürlichen  Daseins  in  ihrer  individuellen  Bestimmtheit  als  Glieder 
eines  großen  geistigen  Zusammenhanges  aufgewiesen  werden,  aus 
dem  dieselbe  Vernunft  herausleuchtet,  die  sich  in  den  reinen  Ge- 
dankenbestimmungen der  Logik  wie  in  den  geschichtlichen  Schöp- 
fungen des  selbstbewußten  Geistes  entfaltet.  Die  Wirklichkeit, 
das  Wahre  sieht  Hegel  nirgends  in  der  Abstraktion;  ihm  ist  es 
stets  um  das  Individuelle  zu  tun,  in  dem  sich  das  Faktische  und 
das  Ideelle  unlösbar  in  eins  verschmolzen  zeigen.  Das  Einzelne 
ist  ihm  das  Allgemeine,  und  das  Sinnliche  ist  ihm  das  Geistige. 
Was  ist  denn  auch  an  dem,  was  man  faktisch  nennt,  das  Faktische, 
wenn  nicht  die  Bestimmtheit,  die  ihm  im  Unterschiede  von  allem 
anderen  als  seine  ideelle  Eigenart  zukommt?  Wenn  Hegel  die 
Natur  unter  diesem  Gesichtspunkte  betrachtet,  so  kann  man  ihm 
nicht  vorwerfen,  daß  er  das  Faktische  an  das  Ideelle  verloren 
habe.  —  Die  Verwandtschaft  übrigens  seiner  Naturauffassung  mit 
der  Goetheschen,  die  sich  beide  Männer  mehrfach  freudig  bezeugt 
haben,  wird  dadurch  nicht  verneint,  daß  Goethe  einmal  im  Jahre 
1812  an  einem  aus  dem  Zusammenhange  gerissenen  Zitat  aus  der 
Vorrede  zur  Phänomenologie  (nicht,  wie  Cassirer  meint,  aus  der 
Logik),  das  er  auf  dem  Titelblatte  eitles  Buches  von  Troxler  als 
Motto  fand,  starken  Anstoß  genommen  hat  (S.  375) ;  ein  aufklärender 
Brief  von  Seebeck  hat  ihn  schnell  beruhigt,  und  er  hat  erklärt: 
„Hegel  ist  bei  mir  entsühnt"  (vgl.  Kuno  Fischer,  Hegel,  2.  Aufl. 
S.  1207). 

Ohne  weiteres  zuzugeben  ist,  daß  die  Hegeische  Naturphilo- 
sophie eine  Disziplin  ist,  an  die  der  Kritizismus  kaum  gedacht 
hat;  in  ihr  erneuert  sich  die  Betrachtungsweise  Jakob  Boehmes, 
die  dem  rationalistischen  Drange  zur  Mechanisierung  und  Ent- 
gotterung  der  Natur  immer  ärgerlich  sein  wird.  Deshalb  ist  es 
wohl  zu  begreifen,    daß  nichts   an  Hegels  System  so  kräftig  per- 


48  Georg  Lasson, 

horresziert  wird  wie  seine  Naturphilosophie,  obwohl  sie  nichts 
anderes  unternimmt,  als  daß  sie  den  kritischen  Gedanken,  den 
Sinnbezug  der  Gegebenheiten  verständlich  zu  machen,  auf  das 
Gebiet  des  Naturlebens  anwendet.  Merkwürdiger  dagegen  ist  es, 
daß  sich  der  Kritizismus  auch  gegen  die  Geschichtsphilosophie 
Hegels  ablehnend  verhält;  denn  hier  findet  sich  nicht  nur  bereits 
bei  Kant  selbst  die  prinzipielle  Wegbereitung,  sondern  auch,  was 
Cassirer  selbst  über  diese  Disziplin  sagt,  steht  in  voller  Überein- 
stimmung mit  den  Gesichtspunkten,  von  denen  Hegel  sich  leiten 
läßt.  Cassirer  stellt  der  Geschichtsphilosophie  die  Aufgabe,  „Prin- 
zipien und  Richtlinien  des  geistigen  Lebens  aufzustellen,  das  im 
übrigen  seinem  eigenen  unendlichen  Fortgang  überlassen  bleibt" 
(S.  369);  worin  hier  ein  Gegensatz  gegen  die  Hegeische  Auffassung 
der  geschichtlichen  Wirklichkeit  liegen  soll,  ist  nicht  zu  erkennen. 
Denn  es  kann  doch  nicht  gemeint  sein,  daß  die  Prinzipien  und 
Richtlinien  anders  woher  gewonnen  werden  könnten  als  aus  dem 
sorgfältigen  Eingehen  auf  die  Tatsachen  jener  Wirklichkeit.  Der 
faktische  Verlauf  und  der  wirkliche  Inhalt  des  geistigen  Lebens 
muß  genau  beobachtet  werden,  wenn  man  seine  Prinzipien  er- 
mitteln, Ausgangspunkt  und  Ziel  der  Bewegung  muß  denkend  fest- 
gestellt werden,  wenn  man  ihre  Richtlinien  angeben  soll.  Der 
Gedanke  muß  also  aus  der  Einzelheit  den  allgemeinen  Sinn  er- 
faßt, er  muß  die  Idee  oder  den  Gesamtgehalt  des  ganzen  Verlaufes 
„vorweggenommen"  haben,  wenn  er  überhaupt  ihn  vernünftig  be- 
urteilen will.  So  hat  es  schon  Kant  gehalten  bei  seinem  Versuch 
zum  philosophischen  Verständnis  der  Weltgeschichte;  so  hält  es 
jeder  Transzendentalphilosoph,  wenn  er  über  Themen  der  geschicht- 
lichen Geisteskultur  handelt,  und  anders  hat  es  auch  Hegel  nicht 
gemacht.  Alle  wollen  sie  die  „konstitutive  Regel"  finden,  die  das 
Ganze  beherrscht  und  bildet  (S.  373);  natürlich  ist  damit  auch 
gesagt,  das  Ganze  sei,  bereits  vor  seinem  Ablauf  oder  unbeschadet 
seines  unendlichen  Verlaufes  in  der  Zeit,  dem  Denken  schon  vor- 
ausgegeben, und  das  Einzelne  müsse,  um  als  dem  Ganzen  zuge- 
hörig gelten  zu  können,  als  Verkörperung  der  konstitutiven  Regel, 
als  eine  Gestaltung  des  dem  Ganzen  innewohnenden  Begriffes  sich 
wirklich  erweisen  lassen.  Ebenso  sind  der  kritische  und  der  absolute 
Idealismus  darin  ganz  einig,  daß  sie  den  Inhalt  des  praktischen, 
religiösen,  ästhetischen  Bewußtseins  nicht  durch  einen  andern  „er- 
setzen" wollen;  es  ist  nichts  als  ein  glattes  Mißverständnis,  das 
von  Cassirer  leider  wiederholt  wird,  daß  bei  Hegel  die  Kunst  und 


Kritischer  uod  spekulativer  Idealismus.  49 

die  Religion  „nur  in  dem  Sinne  begründet  würden,  daß  sie  zugleich 
erledigt  werden  und  ihre  autonome  und  selbständige  Geltung  ver- 
lieren, um  dem  eignen  Systemzweck  untergeordnet  und  eingefügt 
zu  werden"  (S.  372).  Man  kann  die  Tendenz  der  Hegeischen  Philo- 
sophie gar  nicht  besser  charakterisieren  als  mit  dem,  was  Cassirer 
als  die  Methode  der  kritischen  Philosophie  bezeichnet:  „die  Einheit 
der  Vernunft  in  ihren  verschiedenen  Grundrichtungen  im  Aufbau 
und  in  der  Gestaltung  der  wissenschaftlichen,  der  künstlerischen, 
der  sittlichen  und  der  religiösen  "Welt  als  solche  zu  erweisen" 
(S.  373);  das  ist  genau  der  Sinn  des  Hegelianismus.  Das  beherr- 
schende und  umfassende  Prinzip,  das  Cassirer  unter  dem  Namen 
des  „eignen  Systemzwecks"  bei  Hegel  ablehnt,  das  erkennt  er  hier 
unter  dem  Namen  „Einheit  der  Vernunft"  ausdrücklich  an.  Die 
Aufgabe  nun,  diese  Einheit  zu  erweisen,  ist  offenbar  nicht  anders 
lösbar,  als  wenn  gezeigt  wird,  daß  und  warum  in  der  Vernunft 
jene  verschiedenen  Grundrichtungen  begründet  sind  und  wie  sie 
tatsächlich  zur  lebendigen  Einheit  des  sich  als  freie  Totalität  er- 
fassenden Geistes  zusammengehen.  Daß  diese  Totalität,  die  Einheit 
der  Vernunft,  über  jedes  ihrer  Momente  übergreift  und  dabei,  in 
der  Form  des  absoluten  Wissens,  selbst  als  abschließendes  oder 
bekrönendes  Moment  erscheint,  ist  die  eine  Seite  der  Sache;  daß 
Hegel  sie,  der  systematischen  Art  seines  Denkens  gemäß,  der 
andern  Seite  gegenüber,  wonach  jedes  der  Momente  selbst  auch 
die  Totalität  und  eine  Form  der  absoluten  Wahrheit  ist,  nicht 
vernachlässigt  hat,  dürfte  man  ihm  kaum  zum  Tadel  rechnen. 
Ganz  im  Gegensatze  zu  solchem  Tadel,  der  den  Vorwurf  der  Ver- 
einerleiung  und  Negation  der  Besonderheit  enthält,  wird  Hegel 
gleichzeitig  deswegen  getadelt,  daß  er  die  Mannigfaltigkeit  der 
Kulturformen  und  des  Kulturbesitzes  „bis  in  die  letzten  Einzel- 
heiten" aus  der  Vernunft  habe  ableiten  wollen  (S.  373);  davon  ist 
in  Hegels  Werken  nichts  zu  finden,  da  vielmehr  Hegel  das  Beiher- 
spielende und  Nebensächliche  sehr  klar  in  seinem  Unterschiede 
von  dem  Wesentlichen  und  Bedeutenden  erfassen  lehrt.  Es  blieb 
anderen,  die  durchaus  nicht  auf  Hegels  Bahnen  wandeln,  vorbe- 
halten, die  Allongeperücken  oder  die  doppelte  Buchführung  aus 
dem  Begriff  der  jeweiligen  Kultureinheit,  der  sie  angehören,  zu 
deduzieren.  Doch  müssen  wir  das  bei  Cassirer  unberührt  geblie- 
bene Problem  des  Zufalls,  der  vom  Begriffe  zwar  umgrenzten,  aber 
in  sich  freigelassenen  Sphäre  des  Akzidentellen ,  hier  beiseite 
lassen,  um  nicht  ins  Uferlose  zu  geraten.    Hegel  denkt  nicht  daran, 

Kantstudien.  XXVII.  4 


60  Georg  Lasson, 

das  Zufällige,  das  man  gern  das  rein  Faktische  nennt,  zu  leugnen; 
aber  er  will  es  an  den  ihm  gebührenden  Platz  im  System  der 
Vernunft  stellen  und  es  also  begreifen.  Dies  System  in  seiner 
inneren  Lebendigkeit  wiederzuspiegeln ,  ist  die  Arbeit  der  dia- 
lektischen Methode,  die  deshalb  die  Einheit  genau  so  stark  betont 
wie  die  Verschiedenheit.  Daß  Hegel  den  methodischen  Gegensatz 
zwischen  der  Form  und  der  Materie  der  Erkenntnis,  zwischen 
dem  Allgemeinen  und  dem  Besonderen,  dem  Empirischen  und  Ra- 
tionalen, dem  Vernünftigen  und  Wirklichen  beseitigt  habe  (S.  377), 
trifft  so  wenig  zu,  daß  vielmehr  das  Gregenteil  richtig  ist:  keiner 
hat  mit  der  gleichen  Sorgfalt  wie  er  diese  Begriffe  in  ihrer  eigen- 
tümlichen Bestimmtheit  herauszuarbeiten  gewußt.  Freilich  aber 
hat  er  auch  gewußt,  daß  sie  in  der  Einheit  der  Vernunft,  in  dem 
Wahren  und  dem  Wirklichen  niemals  getrennt  vorkommen.  Wenn 
er  sie  alle  als  Momente  aufweist,  die  in  abstrakter  Isolierung  ge- 
nommen, nicht  nur  sich  selbst  widerlegen,  sondern  ihr  korrelates 
Moment  als  in  ihnen  selbst  enthalten  erkennen  lassen,  wenn  er 
also  die  Identität  des  Verschiedenen  zeigt ,  so  erklärt  er  damit 
die  „Trennungen  des  Verstandes"  wohl  für  überwunden,  aber  nicht 
im  mindesten  für  „nichtig"  (S.  377) ;  gibt  es  doch,  wie  man  immer 
wiederholen  zu  müssen  scheint,  keine  Identität,  wo  nicht  Ver- 
schiedene sind.  Der  Widerspruch  des  Kritizismus  gegen  Hegel 
und  damit  gegen  den  absoluten  Idealismus  kommt  immer  auf  den- 
selben Punkt  hinaus,  daß  Hegel  Ernst  damit  gemacht  hat,  die 
Einheit  der  Vernunft,  den  Begriff  des  autonomen  Subjekts,  wie  sie 
von  Kant  zum  methodischen  Prinzip  erhoben  worden  sind,  als  zu- 
reichenden Grund  für  das  System  des  gesamten  Bewußtseinsinhaltes 
zu  erweisen.  Daß  er  grundsätzlich,  nicht  etwa  in  Einzelheiten, 
mit  diesem  Unternehmen  gescheitert  sei,  läßt  sich,  wie  wir  gesehen 
haben,  an  dem  Bestände  seiner  Lehren  nicht  nachweisen;  was  man 
gegen  sie  einwendet,  ist  schließlich  vielmehr  die  prinzipielle,  prä- 
judizierende  Behauptung,  dem  menschlichen  Denken  sei  eine  der- 
artige systematische  Erkenntnis  versagt.  Die  Frage  bleibt  zu 
erwägen,  ob  diese  Behauptung  stichhaltig  sei. 

Wir  sind  damit  zu  dem  letzten  Punkte  gekommen,  den  wir 
noch  zu  erörtern  haben.  Es  handelt  sich  darum,  diejenigen  Sätze 
zu  prüfen,  die  der  Kritizismus  als  sein  besonderes  Erkenntnisgut 
dem  spekulativen  Idealismus  gegenüber  festhält  und  durch  die  er 
sich  ihm  überlegen  fühlt.  Es  wird  zu  untersuchen  sein,  wie  weit 
diese  Sätze   tatsächlich    den    spekulativen  Idealismus    widerlegen, 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  51 

oder  wie  weit  etwa  sie  selbst  durch  Entwicklung  der  in  ihnen 
enthaltenen  Bestimmungen  auf  ihn  als  ihre  eigene  Konsequenz 
hinführen,  d.  h.  wie  weit  der  kritische  Idealismus  nicht  kritisch, 
genug  ist. 

Am  bestimmtesten  finden  wir  den  Standpunkt  des  Kritizismus 
bei  Cassirer  in  folgenden  Worten  ausgesprochen:  „Die  Erfahrung 
und  das  System  der  synthetischen  Grundsätze,  auf  dem  sie  ihrer 
Möglichkeit  nach  beruht,  kann  nicht  mehr  von  etwas  anderem, 
Höheren  abgeleitet  und  aus  ihm,  als  einer  Vernunft  höherer  Art, 
gerechtfertigt  werden"  (S.  371).  Es  wird  hier  also  dem  Denken 
ein  höchstes  Gegebenes,  ein  letztes  Absolutes  gezeigt,  über  das 
ihm  kein  Rückgang  zu  einem  übergeordneten  Prinzip  mehr  offen- 
steht. Nun  stocken  wir  aber  sogleich,  da  wir  nicht  ein,  sondern 
zwei  sehr  verschiedene  absolute  Daten  genannt  sehen,  erstens  die 
Erfahrung  und  zweitens  das  System  der  synthetischen  Grundsätze, 
auf  dem  sie  beruht;  und  da  man  doch  kaum  zwei  Absolute  zu 
gleicher  Zeit  wird  behaupten  wollen,  so  bleibt  zu  fragen,  woran 
nun  das  Denken  als  an  das  höchste  Prinzip  sich  zu  halten  habe, 
an  dieses  System  oder  an  jene  Erfahrung.  Sollte  darauf  geant- 
wortet werden,  die  beiden  ließen  sich  eben  nicht  von  einander 
trennen,  man  müsse  sie  in  ihrer  notwendigen  Beziehung,  in  ihrer 
inneren  Einheit  auffassen,  dann  ist  schon  erwiesen,  daß  tatsächlich 
das  Höchste  weder  die  Erfahrung  noch  das  System  von  Grund- 
sätzen, sondern  vielmehr  die  Notwendigkeit  sei,  mit  der  sie  auf- 
einander bezogen,  die  Einheit,  in  der  sie  enthalten  sind.  Diese 
Notwendigkeit  und  Einheit  wäre  dann  aber  gerade  jene  Vernunft 
höherer  Art,  von  der  doch,  wie  Cassirer  meint,  der  Kritizismus 
nichts  darf  wissen  wollen.  Damit  wäre  dann  auch  die  Unzuläng- 
lichkeit des  Erkenntniszieles  erwiesen,  das  ihm  Cassirer  zuschreibt, 
wenn  er  sagt,  die  einzige  Notwendigkeit,  die  hier  gesucht  wird, 
sei  die. Notwendigkeit  in  der  Erfahrung,  nicht  die  Notwendigkeit 
der  Erfahrung  selbst.  Denn  wenn  doch  nach  den  Bedingungen 
der  möglichen  Erfahrung  gefragt  werden  soll,  so  heißt  das:  was 
muß  notwendig  vorhanden  sein,  damit  Erfahrung  möglich  sei? 
Und  bei  dieser  Frage  handelt  es  sich  offenbar  um  die  denknot- 
wendige Deduktion  der  Erfahrung  als  solcher  aus  den  durch  den 
denkenden  Geist  geforderten  Voraussetzungen ;  die  abstrakte  Unter- 
scheidung zwischen  „möglich"  und  „notwendig",  wie  sie  hier  der 
Kritizist  macht,  hat  ihre  Geltung  nur  innerhalb  der  Vorstellungs- 
sphäre von  sinnlichen  Gegenständen  und  erweist  sich,    wo   es  sich 


52  Georg  Lasson, 

um  die  wissenschaftliche  Erörterung  der  Begriffe  handelt,  der 
inneren  Dialektik  der  geistigen  Wirklichkeit  gegenüber  unzu- 
reichend. In  dem  System  der  Gedankenbestimmungen,  durch  die 
dem  Geiste  die  Erkenntnis  möglich  wird,  muß  der  Erfahrung  ihr 
notwendiger  Platz  nachgewiesen  werden,  es  sei  denn,  daß  man 
der  reinen  Vernunft  die  Autonomie,  die  Kant  ihr  vindiziert  hat, 
wieder  entziehen  will.  Es  zeigt  sich  hier  wieder,  welch  ein 
Hindernis  für  die  konsequente  Durchbildung  der  kritischen  Philo- 
sophie darin  liegt,  daß  Kant  am  Anfang  seiner  Kritik  der  reinen 
Vernunft  sich  nicht  auf  seinen  eignen,  sondern  auf  den  Stand- 
punkt gestellt  hat,  den  er  aufzulösen  beabsichtigte.  Die  Annahme, 
als  ob  es  keine  andere  als  sinnliche  Erfahrung  gebe  und  alle  Er- 
kenntnis durch  diese  Erfahrung  begrenzt  sei,  hat  er  durch  den 
Hinweis  auf  die  Erfahrung  der  Freiheit  des  Ich  und  auf  die  Er- 
kenntnis der  reinen  Vernunft  von  sich  selber  und  von  ihrer  Be- 
griffswelt klar  widerlegt;  wenn  er  mit  großer  Hartnäckigkeit  die 
Naturerkenntnis  auf  das  durch  die  Bedingungen  der  äußeren  Er- 
fahrung im  Felde  der  bloßen  Erscheinung  festgehaltene  Wissen 
beschränkt,  so  tut  er  das,  um  den  Weg  zur  Erkenntnis  der  Ver- 
nunfteinheit und  des  Systems  der  geistigen  Zwecke  von  jeder  em- 
pirischen Bindung  freizuhalten.  Es  ist  ganz  gegen  die  philosophische 
Intention  Kants,  wenn  man  mit  Berufung  auf  ihn  die  Erkenntnis 
ausschließlich  in  der  Sphäre  der  sinnlichen  Erfahrung  sucht.  Statt 
des  Grund-  und  Ecksteins,  auf  dem  sich  die  Philosophie  der  Neu- 
zeit aufbaut,  des  Satzes:  ich  denke,  mithin  so  bin  ich,  stellt  man 
den  Satz  auf:  ich  erfahre,  mithin  so  bin  ich.  Aber  man  beachtet 
nicht,  daß  damit  nur  gesagt  wird :  ich  denke  mich  als  Erfahrungen 
machend;  denn  die  Erfahrung  ist  ein  im  Denken  erfaßtes  und  vor 
dem  Denken  zu  rechtfertigendes  Phänomen.  Sagt  man  dagegen, 
daß  die  Erfahrung  nicht  mehr  von  etwas  Höherem  abgeleitet 
werden  könne,  so  erklärt  man  sie  für  das  Absolute,  dem  Denken 
als  Gesetz  Aufgelegte  und  von  ihm  gehorsam  Anzuerkennende. 
„Da  liegt  der  Fels,  man  muß  ihn  liegen  lassen;  zuschanden  haben 
wir  uns  schon  gedacht u.  Das  aber  ist  dogmatischer  Empirismus, 
nicht  kritischer  Idealismus. 

Die  sinnliche  Erfahrung  kann  sowenig  Ausgangspunkt  und 
Richtschnur  für  das  Denken  sein,  daß  im  Gegenteil  sie  als  solche 
nur  durch  das  Denken  zur  Geltung  kommen  kann.  Ob  etwas, 
wovon  versichert  wird,  es  sei  eine  Erfahrung,  wirklich  eine  Erfah- 
rung ist,  kann  immer  nur  die  Philosophie  entscheiden.    Vorgestellt 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  53 

werden  kann  es  immer  als  eine  Erfahrung;  aber  darnm  ist  es  als 
solche  noch  nicht  erwiesen.  Deshalb  kann  auch  nur  die  Philosophie 
den  Begriff  der  Erfahrung,  seinen  Geltungsbereich  und  sein  Ver- 
hältnis zu  den  andern  Momenten  der  Erkenntnis  entwickeln;  oder 
vielmehr  dieser  Begriff  wird  selbst  vor  dem  philosophischen  Denken 
sich  als  ein  Moment  erweisen,  das  isoliert  gar  nicht  bestehen  kann, 
sondern  im  organischen  Zusammenhange  des  begreifenden  Wissens 
selbst  eine  Durchgangsstufe  bedeutet.  Cassirer  meint,  die  kantische 
Kritik  habe  keine  Antwort  auf  die  Frage,  „wie  die  Momente,  aus 
denen  die  Erkenntnis  als  Ganzes  besteht,  in  ihrer  Verschmelzung 
den  primitiven  Inhalt  der  Erfahrung  aus  sich  hervorgebracht 
haben".  Denn  das  einzige  Datum,  auf  das  sich  das  Begreifen  und 
"Wissen  stützt,  sei  eben  die  notwendige  Bezogenheit  dieser  Mo- 
mente (S.  7).  Aber  daß  sie  notwendig  bezogen  sind,  schließt  ihre 
notwendige  Unterscheidung  in  sich  ein;  sie  sind  sich  also  für  den 
Gedanken  ebenso  „ursprünglich  fremd"  wie  untrennbar  „zusammen- 
gehörig", und  gerade  hier  tut  sich  das  Problem  für  die  Philosophie 
auf,  das  der  Kritizismus  dadurch  nicht  beseitigt,  daß  er  einfach 
die  Dualität  von  Stoff  und  Form  der  Erkenntnis  als  die  Bedingung 
des  Erfahrungswissens  proklamiert.  Cassirer  gibt  freilich  zu,  daß 
auch  Kants  kritische  Theorie  „in  der  transzendentalen  Einheit  der 
Apperzeption  einen  höchsten  Einheitsbegriff  besitze,  auf  den  sich 
alle  Elemente  der  Erkenntnis,  die  Formen  der  Sinnlichkeit  wie 
die  Kategorien  des  reinen  Verstandes  gleichmäßig  beziehen" 
(S.  371),  meint  aber,  daß  von  diesem,  wie  Kant  sagt,  höchsten 
Punkte,  an  den  sich  die  Transzendentalphilosophie  anknüpfen  läßt, 
niemals  die  Vielheit  der  Formen  deduktiv  hergeleitet  werde.  Wie- 
weit Kant  das  begrifflich  und  methodisch  für  ungangbar  gehalten, 
wieweit  nur  er  es  nicht  mehr  auszuführen  vermocht  hat,  darüber 
brauchen  wir  hier  nicht  zu  reden;  im  Vorigen  ist  ja  die  Sprache 
schon  darauf  gekommen.  Wenn  aber  Cassirer  in  einer  Weise,  die 
als  Modifikation  der  alten  Anlagentheorie  erscheint,  eine  oberste 
Einheitsfunktion  der  Vernunft  mit  der  Begründung  ablehnt,  daß 
sich  „die  Einheit  der  Apperzeption  als  ein  Ineinander  verschiedener 
Erkenntnisfunktionen  darstellt,  von  denen  keine  die  erste  und  keine 
die  letzte  ist,  weil  sie  sich  alle  korrelativ  durchdringen"  (S.  371), 
so  wäre  daran  zu  erinnern,  daß  er  gerade  nur  die  eine  Funktion 
übersehen  hat,  die  er  und  alles  philosophische  Denken  beständig 
übt,  die  Funktion  nämlich,  mit  der  jenes  gegenseitige  Sichdurch- 
dringen der  verschiedenen  Erkenntnisfunktionen  erkannt  wird.  Diese 


54  Georg  Lasson, 

wird   man   doch   wohl    als    die   umfassende    und   alle   übrigen  be- 
stimmende ansehen  müssen. 

So  wenig  also  die  Erfahrung  selbst  für  den  absoluten  Aus- 
gangspunkt der  Philosophie  wird  gelten  können,  so  wenig  auch 
das  System  der  synthetischen  Grundsätze,  auf  denen  sie  ihrer  Mög- 
lichkeit nach  beruht ;  denn  über  beiden  muß  notwendig  eine  sie  be- 
gründende höhere  Einheit  gedacht  werden.  Zwar  meint  Cassirer: 
„die  Einheit  der  wissenschaftlichen  Erfahrung  ist  das  Ganze,  das 
aus  seinen  Teilen  nicht  aufgebaut  zu  werden  braucht",  das  „zu- 
nächst nur  als  faktische  Einheit,  als  das  Faktum  der  Wissenschaft 
gegeben"  sei,  und  spricht  von  ihm  als  „dieser  reinen  Mannigfaltig- 
keit der  Grundformen  der  Erkenntnis,  die  nur  als  einfache  Tat- 
sächlichkeit aufgewiesen  werden  kann"  (S.  370).  Aber  es  scheint 
doch  zweifelhaft,  ob  diese  Vorstellungen  vor  der  nüchternen  Be- 
trachtung der  Wirklichkeit,  geschweige  vor  dem  kritischen  Be- 
griffe bestehen  können.  Das  Faktum  der  Wissenschaft  ist  weder 
als  ein  Ganzes,  noch  als  ein  Einheitliches  gegeben,  sondern  als 
eine  schier  unübersehbare  Menge  der  disparatesten  Wissenschaften. 
Ihre  Verschiedenheit  ist  so  groß,  daß  man  für  die  zunächst  rein 
empirisch  aufgenommenen  Gattungen  der  Wissenschaft  sogar  ver- 
schiedene Logiken  konstruiert,  die  Logik  der  Naturwissenschaft 
von  der  Logik  der  Historie  unterscheidet,  wobei  dann  drittens 
noch  eine  Logik  der  sich  selbst  erkennenden  Vernunft  übrig  bleibt. 
Daß  also  eine  Mannigfaltigkeit  der  Grundformen  der  Erkenntnis 
tatsächlich  aufgewiesen  werden  kann,  würde  danach  zutreffen ;  mit 
welchem  Rechte  sie  als  „reine"  Mannigfaltigkeit  zu  bezeichnen 
wäre  und  woher  sie  als  ein  Ganzes  zu  gelten  hätte,  bleibt  aber 
völlig  dunkel,  solange  man  nur  auf  das  Faktum  der  Wissenschaft 
reflektiert.  Die  einzige  Einheit,  die  sich  da  feststellen  läßt,  ist 
das  Prinzip  einer  Beziehung  zwischen  Bewußtsein  und  Gegenstand; 
aber  dies  Prinzip  kann  man  nicht  das  Ganze  der  Wissenschaft 
oder  der  Erkenntnis  oder  der  Erfahrung  nennen.  Die  Synthese, 
die  der  Wirklichkeit  wie  dem  Gedanken  den  Charakter  der  To- 
talität, der  konkreten  Einheit  gibt,  kann  niemals  in  einem  bloßen 
Prinzip,  einem  abstrakten  Gesetz,  einer  formalen  Beziehung,  son- 
dern nur  in  dem  schöpferischen  Subjekte  gefunden  werden,  das 
sich  selbst  und  sein  Anderes  zugleich  setzt,  trennt  und  eint;  der 
Kritizismus  mag  sich  dagegen  sträuben,  aber  er  kann  es  nicht 
widerlegen,  daß  von  seinen  Prämissen  aus  der  Fortschritt  not- 
wendig zu  dem  absoluten  Idealismus  führt. 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  55 

Fragt  man  sich,  weshalb  der  Kritizismus  sich  gegen  diese 
Konsequenz  sträubt,  so  bleibt  die  einzige  Erklärung  dafür  die, 
daß  sich  das  Denken  von  der  in  ihm  selbst  empirisch  vorgefundenen 
Trennung  zwischen  Bewußtsein  und  Gegenstand  nicht  losmacht.  Es 
findet  zwar  in  sich  auch  die  Identität  und  kann  es  nicht  leugnen, 
daß  der  Gredanke  selbst  die  Einheit  von  Sein  und  Denken  ist; 
aber  es  kann  sich  zu  dem  Wagnis  nicht  entschließen,  seiner  eigenen 
Freiheit  und  Souveränität  sich  zu  bedienen  und  sich  von  jeder 
andern  Bestimmtheit  freizuhalten,  als  die  es  sich  selbst  gibt.  Und 
dabei  ist  doch  dieses .  Wagnis  in  jedem  kritischen  Akte  der  reinen 
Vernunft  schon  enthalten.  Weil  aber  das  Denken  auf  die  ihm 
vertraute  Dualität  nicht  verzichten  will,  so  gelangt  es  auch,  wo 
es  die  Einheitsfunktion  bestimmen  möchte,  immer  nur  bis  zu  Be- 
stimmungen, die  den  unversöhnten  Dualismus  noch  in  sich  tragen 
wie  Beziehung,  Gesetz,  Prinzip,  Bedingung,  Regel,  Grundsatz,  wo 
ganz  deutlich  eine  Polarität  zwischen  dem  Allgemeinen  und  dem 
Einzelnen  festgehalten  wird,  die  beide  zu  unwirklichen  Abstrak- 
tionen macht.  Insbesondere  ist  es  die  Meinung,  daß  die  Vernunft, 
weil  sie  der  Inbegriff  des  Allgemeingiltigen  und  Notwendigen  ist, 
im  Aufstellen  von  Gesetzen  und  im  Aufzeigen  gesetzlicher  Zu- 
sammenhänge sich  erschöpfe.  Selbst  die  Hegeische  Auffassung 
meint  Cassirer  so  ausdrücken  zu  können,  daß  ihm  das  Objekt  als 
der  Ausdruck  und  die  Zusammenfassung  von  Gesetzen  gelte,  die 
das  Wesen  des  Geistes  selbst  und  seiner  Funktionen  ausmache 
(S.  288).  Aber  man  müßte  das  Wort  „Gesetz"  schon  in  so  er- 
weitertem Sinne  brauchen,  daß  von  seiner  eigentümlichen  Bedeu- 
tung nichts  mehr  übrig  bleibt,  wenn  man  die  Vernunft  und  Wirk- 
lichkeit, wie  der  absolute  Idealismus  sie  versteht,  als  ein  gesetz- 
mäßiges Kompositum  annehmen  wollte.  Der  Dichter  darf,  wenn 
er  auf  die  geprägte  Form  hinweist,  die  lebend  sich  entwickelt,  von 
dem  „Gesetze"  sprechen,  „wonach  du  angetreten".  Der  methodische 
Denker  wird  hinzufügen,  daß  dies  Gesetz  vielmehr  als  die  Idee 
bezeichnet  werden  müsse,  die  das  innere  Leben  des  Individuums  aus- 
macht, während  unter  dem  Ausdrucke  Gesetz  ein  gegen  das  Indi- 
viduelle gleichgiltiges  Allgemeines  verstanden  werden  muß.  Des- 
halb \  erschwindet  die  Vorstellung  des  Gesetzes,  die  für  die  mathe- 
matische Physik  in  der  Tat  alles  bedeutet,  bereits  bei  der  An- 
schauung des  Organismus,  und  macht  dem  immanenten  Zwecke, 
der  Seele,  dem  Begriffe  der  Einheit  von  Form  und  Inhalt  Platz. 
Goethe  hat  diese  höhere  Notwendigkeit,  der  es  übrigens  sehr  gleich- 


56  G-eorgLasson, 

giltig  sein  kann,  ob  man  sie  logisch  oder  metaphysisch  nennt,  rein 
erfaßt,  wenn  er  sagt :  „was  ist  das  Allgemeine?  —  der  einzelne  Fall." 
Und  erst  wenn  die  Vernunft  als  das  Vermögen  erkannt  ist,  die 
Notwendigkeit  des  Begriffs,  die  Lebendigkeit  der  Idee,  nicht  aber 
nur  die  Notwendigkeit  der  gesetzlichen  Beziehung  und  das  Schema 
der  regulativen  Prinzipien  zu  entwickeln,  ist  der  Standpunkt  der 
reinen,  von  jeder  Fremdherrschaft  befreiten  Vernunft  erreicht. 

Daß  der  Kritizismus  gerade  in  seinen  modernen  Gestaltungen 
diesem  Ziele  sich  fortschreitend  nähert,  wer  wollte  das  verkennen? 
Immerhin  zieht  er  sich  noch  immer  selbst  die  Schranke  mit  seiner 
Hypothese  eines  ursprünglich  der  Vernunft  entgegenstehenden  und 
ihr  bei  aller  Annäherung  doch  zuletzt  immer  fremdbleibenden  Mo- 
mentes, einer  „Materie  der  Erkenntnis"  oder  eines  „Materials,  das 
die  Erkenntnis  vor  sich  hat"  (S.  365),  von  dem  er  zwar  zugibt, 
daß  es  „sich  durch  die  Formen  der  Erkenntnis  als  begreiflich  er- 
weist", aber  zugleich  behauptet,  daß  es  „wenn  es  in  diesen  Formen 
faßbar  ist,  doch  niemals  vollständig  aus  ihnen  abgeleitet  werden 
kann"  (S.  365).  Diese  Behauptung  wird  man  getrost  als  reinen 
Dogmatismus  bezeichnen  können,  dessen  Härte  nur  dadurch  ge- 
mildert wird,  daß  der  ganze  Gegensatz  von  Materie  und  Formen 
der  Erkenntnis  rein  fiktiv  ist,  weil  die  Materie  selbst  in  jedem  Falle 
bereits  ein  Begriff,  d.  h.  eine  Form  der  Erkenntnis  ist.  Wie  oft 
hat  man  sich  gegen  die  Ungerechtigkeit  des  Vorwurfs  erregt  ver- 
wahrt, den  Hegel  der  Erkenntnistheorie  macht,  daß  sie  die  Er- 
kenntnis als  ein  Operieren  mit  Instrumenten  ansehe,  mit  deren 
Hilfe  das  Denken  sich  des  gegen  sie  ursprünglich  indifferenten 
Gegenstandes  bemächtigen  wolle.  Und  wird  dieser  Vorwurf  nicht 
durch  solche  abstrakte  Unterscheidung  zwischen  einer  Materie  der 
Erkenntnis  und  den  Formen,  die  sie  wohl  begreiflich,  aber  niemals 
vollständig  in  ihrer  Notwendigkeit  erkennbar  machen  können,  di- 
rekt bestätigt?  Gewiß,  der  Kritizismus  hütet  sich  heute,  von  dem 
Ding  an  sich,  oder  gar  von  den  Dingen  an  sich  zu  sprechen,  und 
hat  das  hypothetische  Etwas,  das  er  außer  dem  Geiste,  von  dem 
offenbar  alle  „Formen"  der  Sinnlichkeit  herstammen,  noch  behaupten 
zu  müssen  glaubt,  auf  den  Begriff  der  Unbestimmtheit  selbst  re- 
duziert. Aber  eben  diesen  Begriff  will  er  der  bestimmenden  Macht 
des  Begriffs  entzogen  und  als  ein  Unnahbares  und  Absolutes  fest- 
gehalten wissen;  es  ist  von  selbst  klar,  daß  von  dieser  Grundvor- 
aussetzung aus  er  jedes  System  der  Identität  von  vornherein  als 
durch   den   unaufhebbaren  Dualismus   zwischen  Form  und  Materie 


Kritischer  und  spekulativer  Idealismus.  57 

zur  Unfruchtbarkeit  verurteilt  ansehen  muß.  Aber  der  Fehler 
liegt  in  dieser  Grundvoraussetzung;  denn  vielmehr  wird  das  Unter- 
nehmen, mit  allem  Scharfsinn  des  vernünftigen  Denkens  die  Ra- 
tionalität des  Daseins  eines  schlechthin  Irrationalen  erweisen,  also 
im  selben  Atemzuge  behaupten  zu  wollen,  das  Irrationale  sei 
rational  und  es  sei  doch  nichts  als  schlechthin  irrational,  immer 
unfruchtbar  bleiben  müssen.  Solch  ein  metaphysisches  Irrationales 
paßt  in  den  konsequent  durchgeführten  kritischen  Idealismus  nicht 
hinein. 

i  Gewiß,  der  Kritizismus  stellt  das  Irrationale  nur  als  den  un- 
bestimmten Anfang  an  die  unterste  Stelle  des  geistigen  Lebens 
und^  kommt  dem  absoluten  Idealismus  ganz  nahe  in  der  Vorstellung 
einer  Idealisierung  des  Realen,  die  mit  der  Realisierung  des  Idealen 
identisch  ist.  Aber  indem  er  dem  Realen  eine  Basis  gibt,  die 
das  Geistige,  Ideale  schlechthin  ausschließt,  hält  er  nicht  bloß  dem 
naturalistischen  Empirismus  eine  Hintertür  offen,  der  sich  auf  dem 
Boden  der  Naturwissenschaft  für  unangreifbar  hält  und  sich  gegen 
die  andern  Wissenschaften  souverän  gebärdet,  sondern  er  fordert 
auch  förmlich  dazu  auf,  im  System  des  Idealismus  das  Irrationale 
zu  stärkerer  Geltung  zu  bringen.  Denn  schließlich  liegt  es  in  dem 
Wesen  der  Idee  selbst,  daß  sie  da,  wo  sie  angefangen  hat,  auch 
wieder  endet;  und  so  stellt  sich  das  Irrationale  notgedrungen  da 
wieder  ein,  wo  der  Kritizismus  die  Summe  seiner  Arbeit  zieht  und 
das  Verhältnis  der  Bezugssysteme  feststellt,  die  er  entfaltet  hat. 
Da  ergibt  sich  denn,  daß  jenseits  der  an  die  sinnliche  Erfahrung 
geknüpften  Urteile  sich  Gebiete  von  geistigen  Inhalten  befinden, 
über  deren  Wirklichkeit  und  Wahrheit  das  methodische  Denken 
nichts  entscheiden  kann ;  sie  bleiben  gerade  darum  irrational,  weil 
ihnen  der  Ansatz  einer  irrationalen  Materie  fehlt,  an  den  der  Kri- 
tizismus alle  Erkenntnisfunktionen  gebunden  hält.  Die  Sphären 
also,  in  denen  der  Geist  wesentlich  bei  sich  selber  und  in  seiner 
Freiheit  ist,  vor  allem  die  Sphäre  des  Glaubens  und  der  Religion, 
bleiben,  auch  wenn  sie  formell  logisch  sich  systematisieren  lassen, 
doch  nach  ihrem  Grunde  und  Gehalte  dem  vernünftigen  Denken 
unzugänglich  und  stehen  als  selbständige  Sphären  neben  ihm.  Dieser 
Standpunkt  empfahl  sich  den  Kindern  des  nun  zu  Ende  gehenden 
Zeitalters,  weil  er  ihnen  erlaubte,  sich  gegen  die  höchsten  Lebens- 
fragen indifferent  zu  stellen,  jedem  einzelnen  zu  überlassen,  was 
er  etwa  von  den  überirdischen  Realitäten  denken  mochte,  und  sich 
ein  gutes  Gewissen  zu  machen,  wenn  sie  sich  möglichst  außer  Be- 


58  Georg  Lasson,  Kritischer  und  spekulativer  Idealismus. 

rührung  mit  dem  Gottesgedanken  und  dem  Leben  der  Frömmigkeit 
hielten.  Heute  bietet  er  denen  eine  bequeme  Handhabe,  die  positiv 
sich  dem  Irrationalen  als  dem  Üb  er  vernünftigen  zuwenden  und  unter 
Verachtung  von  Vernunft  und  Wissenschaft  in  die  Bahnen  Sweden- 
borgs und  Cagliostros,  in  die  Praxis  der  Yoga  oder  der  exercitia 
spiritualia  wieder  einlenken.  In  philosophischer  Methodik  nimmt 
diese  Bewegung  die  Form  an,  daß  sie  die  Rückkehr  hinter  Kant 
zu  Plato,  die  Abkehr  vom  Denken  zum  Erlebnis  fordert.  Das 
Gefühl  der  Unbefriedigtheit,  das  die  Menschen  aus  der  Freiheit 
der  Gedanken  in  solche  vorstellungsmäßige  Unklarheit  zurückfallen 
läßt,  vermag  der  Kritizismus  als  solcher  nicht  zu  bannen;  denn 
er  erhebt  gerade  die  Unmöglichkeit  der  Befriedigung  zum  Prinzip. 
Aber  in  ihm  selbst  lebt  der  Drang  des  Gedankens,  der  nicht  rück- 
wärts, sondern  vorwärts  weist.  Der  Weg,  den  er  öffnet,  führt 
nicht  hinter  Kant  und  den  kritischen  Idealismus  zurück,  sondern 
mit  ihm  und  über  ihn  hinaus  vorwärts  zu  dem  absoluten  Idealismus 
der  reinen  und  darum  ebenso  kritischen  wie  spekulativen  Vernunft. 
In  ihm  erschließt  sich  dem  methodisch  denkenden  Geiste  sein  Ur- 
quell und  seine  Heimat,  in  ihm  ist  er  zur  Freiheit  und  zum  Ge- 
nüsse seiner  selbst  gelangt,  in  ihm  erfaßt  er  sich  selbst  als  das 
begriffene  und  das  begreifende  Universum. 


Strukturwissenschaft 
und  Kulturwissenschaft. 

Von  Privatdozent  Dr.  Aloys  Müller,   Bonn. 


Das  Problem,  das  die  folgenden  Ausführungen  mit  Rücksicht 
auf  seine  Gestaltung  in  den  Wissenschaften  anfassen  wollen,  ist 
das  Problem  des  Verhältnisses  von  Gegenstand  und 
Methode. 

Die  Methode,  mit  deren  Hilfe  eine  Wissenschaft  den  Nachweis 
der  Geltung  ihrer  Erkenntnisse  führt,  ist  ohne  Zweifel  typisch 
für  diese  und  nur  für  diese  Wissenschaft.  Die  Wissenschaft  kann 
deshalb  durch  sie  charakterisiert  werden.  Aber  der  Logiker  möchte 
gern  tiefer  schauen  und  möchte  wissen,  worin  die  Verschiedenheit 
der  Methoden  ihren  Grund  hat.  Sie  kann  nun  auf l  nichts  anderem 
beruhen  als  auf  der  Verschiedenheit  der  Gegenstände.  Eine  Me- 
thode allein  ist  ein  Unding,  ein  in  die  Luft  zu  bauendes  Haus; 
sie  ist  immer  nur  mit  Rücksicht  auf  einen  Gegenstand.  Der 
Gegenstand  wählt  sich  gleichsam  die  Methode  aus.  Ob  eine  Me- 
thode angewandt  werden  kann,  hängt  von  der  Beschaffenheit  des 
Gegenstandes  ab.     Die  Methode  ist  vom  Gegenstand  bedingt. 

Man  verdeckt  dieses  Verhältnis,  wenn  man  sagt,  das  Ziel 
einer  Wissenschaft  bestimme  die  Methode.  Als  ob  das  Ziel  etwas 
Willkürliches  gegenüber  dem  Gegenstand  sei,  das  man  nach 
Belieben  wechseln  könne!  Das  Ziel  ist  selbst  vom  Gegenstand 
bestimmt.  Einem  Gegenstandsbereich  gegenüber  gibt  es  nur  ein 
Ziel,  das,  wenn  man  überhaupt  Wissenschaft  will,  vom  Gegenstand 
gefordert  und  durch  die  Methode  erreicht  wird. 

Kann  das  Verhältnis  von  Gegenstand  und  Methode  nun  nicht 
anders  sein,  als  wie  wir  es  eben  beschrieben  haben,  dann  muß  es 
logisch  möglich  sein,  eine  Umgrenzung  der  Wissenschaften  vom 
materialen  Standpunkt  aus  zu  geben.  Dann  kann  eine  Wissen- 
schaft nicht  ausschließlich  vom  formalen  Gesichtspunkt  aus  ver- 


60  Aloys  Müller, 

standen  werden,  nicht  einmal  primär  von  ihm  aus;  das  primäre 
Moment,  das  sie  charakterisiert,  ist  vielmehr  ihr  Gegenstand,  das 
sekundäre  ist  die  Methode.  Dann  ist  es  auch  unmöglich,  daß  zwei 
Wissenschaften  denselben  Gegenstand  haben  und  sich  nur  formal 
unterscheiden. 

Unser  Problem  stellt  uns  deshalb  vor  zwei  Aufgaben.  Wir 
müssen  erstens  versuchen,  die  Wissenschaften  von  den  Gegen- 
ständen her  zu  scheiden.  Wir  müssen  zweitens  zeigen,  wie 
die  typischen  Methoden  der  Wissenschaften  von  ihren  Gegen- 
ständen bedingt  sind.  Wenn  unsere  Untersuchungen  also  auch 
aus  dem  Gedankenkreise  Rickerts  herausgewachsen  sind,  so  gehen 
sie  doch  zunächst  insofern  über  ihn  hinaus,  als  sie  sich  auf  die 
Gesamtheit  der  Wissenschaften  beziehen.  Daß  sie  dann  fernerhin 
Umprägungen  nötig  machen,  ist  dem  weiter  nicht  verwunderlich, 
der  weiß,  daß  auch  die  wissenschaftlichen  Gedanken  an  sich  nichts 
sind,  sondern  immer  nur  etwas  inbezug  auf  die  Wahrheit,  der  sie 
dienen. 

I.    Die  Strukturwissenschaften. 

Wir  wollen  unter  Gegenstand  alles  verstehen,  was  Subjekt 
eines  Urteils  werden  kann,  und  das  auch  nur,  insofern  es  Subjekt 
eines  Urteils  ist.  Allen  Gegenständen,  denen  die  Hauptarbeit  der 
Wissenschaften  gewidmet  ist,  legen  wir  Wirklichkeit  bei  und  lassen 
sie  sich  durch  die  Form  ihrer  Wirklichkeit  unterscheiden; 
von  den  nichtwirklichen  Gegenständen  sprechen  wir  weiter  nicht. 
Dann  zerfällt  die  Gesamtheit  der  (wirklichen)  Gegenstände  in  drei 
Klassen:  die  sinnlichen,  die  übersinnlichen  und  die  unsinnlichen 
Gegenstände. 

Als  sinnliche  Gegenstände  bezeichnen  wir  alle  Gegenstände 
der  tatsächlichen  oder  möglichen  Wahrnehmung  und  Erfahrung. 
Hierher  gehört  also  zunächst  das,  das  wir  durch  unsere  Sinne  und 
ihre  Erweiterung,  die  Instrumente,  wahrnehmen  können.  Ferner 
die  psychischen  Vorgänge,  die  ja  auch  Gegenstände  der  Erfahrung 
sind.  Aber  auch  alles  das  müssen  wir  mitzählen,  was  zwar  nur 
hypothetisch  angenommen,  aber  als  zu  derselben  Wirklichkeit  dieser 
Gegenstände  gehörig  betrachtet  wird,  z.  B.  Atome,  Elektronen, 
Erbmasse,  das  unbewußte  Psychische.  Alle  sinnlichen  Gegenstände 
besitzen  die  Wirklichkeitsform  des  zeitlichen  realen  Seins. 

Zu  den  übersinnlichen  Gegenständen  rechnen  wir  solche,  zu 
deren  Annahme  man,  von  den  sinnlichen  Gegenständen  ausgehend, 
durch  Schlüsse  kommen  kann,  die  der  Erfahrung  zu  ihrer  Deutung 


Strukturwissenschaft  und  Kulturwissenschaft  61 

unterlegt  werden,  die  selbst  aber  prinzipiell  niemals  Gegenstände 
der  Erfahrung  sein  können.  Als  Beispiele  nenne  ich  das  Ding  an 
sich,  die  Seele,  die  absoluten  Raumfaktoren.  Die  Wirklichkeitsform 
dieser  Gegenstände  bedürfte  noch  der  genaueren  Erforschung. 

Die  unsinnlichen  Gegenstände  zerfallen  in  zwei  scharf  ge- 
schiedene Klassen,  die  lediglich  durch* den  Gegensatz  zu  den  beiden 
bereits  genannten  Klassen  zusammengehalten  werden,  die  man  aber 
vielleicht  besser  als  zwei  selbständige  daneben  setzte.  Zu  der 
ersten  zählen  wir  Gegenstände  wie  die  mathematischen  (Zahl, 
Linie,  Fläche,  euklidischer  Raum  usw.).  Auch  die  Relationen  ge- 
hören dazu.  Ihre  Wirklichkeitsform  ist  das  zeitlose  ideale  Sein. 
Den  zweiten  Bereich  der  unsinnlichen  Gegenstände  bilden  die 
Werte,  d.  h.  alle  die  Gegenstände,  von  denen  man  kein  Sein,  son- 
dern ein  Gelten  aussagen  muß.  Ihre  Wirklichkeitsform  ist  also 
das  zeitlose  Gelten. 

Wir  lassen  es  dahingestellt,  ob  unsere  Einteilung  der  (wirk- 
lichen) Gegenstände  vollständig  ist. 

Man  sieht  also,  wie  sich  die  gesamte  Gegenstandswelt  in  ein- 
zelne Bereiche  auseinanderlegen  läßt,  die  durch  ihre  Wirklichkeits- 
form fest  umrissen  sind.  Dadurch  lassen  sich  den  Bereichen 
Wissenschaften  zuordnen.  Auf  zwei  Dinge  ist  dabei  wohl  zu 
achten.  Es  kann  zunächst  im  Laufe  der  Geschichte  aus  praktischen 
Gründen  vom  Material  her  eine  Unterteilung  der  Gegenstände  eines 
Bereiches  erfolgen,  so  daß  eine  Wissenschaft  in  mehrere  Einzel- 
wissenschaften zerfällt,  die  sich  aber  zu  einer  großen  Wissenschaft 
zusammenfügen.  Ein  bekanntes  Beispiel  bietet  die  Naturwissen- 
schaft. Es  ist  aber  auch  möglich,  daß  eine  Wirklichkeitsform 
spezialisiert  wird,  so  daß  auf  diese  Weise  mehrere  Wissenschaften 
entstehen,  die  natürlich  auch  miteinander  verwandt  sind.  So  ist 
es  z.  B.  mit  der  Mathematik  und  der  Relationstheorie.  Dann  ver- 
hält sich  die  eine  Wissenschaft  zur  anderen  wie  ein  besonderer 
Fall  zum  allgemeinen ;  der  besondere  Fall  tritt  ein,  wenn  die  Gegen- 
stände  des   allgemeinen  gewissen  Bedingungen  unterworfen  sind. 

So  hätten  wir  denn  nun  schon  der  Gegenstandstheorie  als 
der  Wissenschaft,  die  die  Gegenstände  im  allgemeinen  untersucht, 
ferner  der  Mathematik  und  der  Relationstheorie  ihre  Plätze  an- 
gewiesen. 

Der  Naturwissenschaft  teilen  wir  den  Bereich  der  sinnlichen 
Gegenstände  zu.  Jetzt  verstehen  wir  vom  Gegenstand  her, 
daß  die  Naturwissenschaft  phänomenologisch  arbeiten  muß,  daß  sie 


62  Aloys  Müller, 

erkenntnistheoretisch  neutral  ist1).  Sie  fragt  sich  nicht,  was  das 
Physische  und  Psychische  im  Grunde  seien,  ob  beides  eins  oder 
beides  verschieden  ist,  in  welchem  Sinne  eins  oder  in  welchem 
Sinne  verschieden.  Würde  sie  so  fragen,  so  würde  sie  in  den  Be- 
reich der  übersinnlichen  Gegenstände  hinübergreifen,  der  einer 
anderen  Wissenschaft  zufällt.  Jetzt  verstehen  wir  ferner  vom 
Gegenstand  her,  daß  die  Psychologie  auch  eine  Naturwissen- 
schaft ist.  Das  Psychische  besitzt  dieselbe  Wirklichkeitsform  zeit- 
lichen realen  Seins  wie  das  Physische,  und  deshalb,  weil  das 
so  ist,  muß  die  Psychologie  dieselben  allgemeinen  Methoden 
brauchen  wie  die  sonstigen  Naturwissenschaften. 

Der  Philosophie  fallen  die  Gebiete  der  übersinnlichen  Gegen- 
stände und  der  absoluten  Werte  zu.  Der  Platz  der  Theologie 
richtet  sich  nach  der  logischen  Bestimmung  ihres  Gegenstandes, 
die  die  verschiedensten  Formen  angenommen  hat. 

Es  ist  ohne  weiteres  verständlich,  daß  sich  in  der  Praxis 
auch  Mischgebiete  herausgebildet  haben,  die  Gegenstände  verschie- 
dener Bereiche  zusammenfassen.  Als  solche  Mischgebiete  werden 
sich  wohl  in  der  Hauptsache  die  Gegenstände  der  Gesellschafts- 
wissenschaften, der  Pädagogik  u.  a.  auffassen  lassen.  Dabei 
ist  aber  erstens  zu  beachten,  daß  man  das  Wissenschaftliche  des 
rein  theoretischen  Denkens  von  dem  Praktischen  der  Normen  sorg- 
fältig scheidet,  und  zweitens,  daß  das  im  folgenden  Abschnitt  zu 
besprechende  Historische  gleichfalls  in  solche  Mischgebiete  ein- 
gehen kann. 

Unsere  Bemerkungen  sollen  alles  eher  sein  als  eine  logische 
Charakteristik  der  einzelnen  Wissenschaften;  die  ist  heute  bei 
zahlreichen  Wissenschaften  noch  kaum  versucht.  Sie  wollen  nur 
deutlich  machen,  daß  es  eine  Gruppe  von  Wissenschaften  gibt,  die 
ihren  Gegenständen  in  derselben  allgemeinen  Weise  gegenüber- 
stehen. Alle  die  Wissenschaften,  die  wir  durch  diese  Ausein- 
anderlegung der  Gegenstandswelt  finden  können,  haben  die  Auf- 
gabe, die  Beschaffenheit,  die  Struktur  ihres  Gegenstandes  zu 
erforschen.  Es  ist  gar  keine  andere  Aufgabe  für  sie  erfindlich, 
sie  ist  die  einzig  mögliche,  und  in  ihr  sind  sie  alle  einig.  Wenn 
sie  nun  aber  wirklich  Wissenschaften  sein  wollen,  dürfen  sie  sich 


1)  Ueber  den  phänomenologischen  Standpunkt  der  Naturwissenschaft  vgl.  mein 
demnächst  bei  Fr.  Vieweg  &  Sohn  (Braunschweig)  erscheinendes  Buch  „Die  philo- 
sophischen Probleme  der  Einsteinschen  Relativitätstheorie",  erster  Abschnitt. 


Strukturwissenschaft  und  Kulturwissenschaft  63 

nicht  damit  begnügen,  soweit  es  ihnen  möglich  ist,  mit  photo- 
graphischer Trene  Einzelheiten  neben  Einzelheiten  zu  setzen, 
sondern  müssen  versuchen,  Allgemeines  über  ihre  Gegenstände 
auszusagen.  Darum  nennen  wir  sie  Strukturwissenschaften 
und  bezeichnen  ihre  Methode  als  generalisierend. 

Später  wird  uns  klar  werden,  wodurch  die  logische  Struktur 
dieser  Gegenstände  die  generalisierende  Methode  möglich  macht 
und  erfordert. 

IL    Das  Irrationale  und  die  historischen  Wissenschaften. 

Überblickt  man  dieses  Wissenschaftssystem,  so  sieht  man  mit 
einiger  Überraschung,  daß  die  historischen  Wissenschaften  im 
weitesten  Sinne  und  nur  sie  darin  fehlen. 

Wie  kommt  das?  Haben  wir  die  Ganzheit  des  Gegenstands- 
gebietes noch  nicht  erschöpft?  Wir  haben  es  in  der  Tat  nicht. 
Aber  nicht  in  dem  Sinne,  als  ob  sich  neben  die  genannten  Be- 
reiche noch  ein  anderer  lege,  so  wie  auf  einer  Landkarte  neben 
einigen  Ländern  andere  liegen;  auch  nicht  in  dem  Sinne,  als  ob 
man  noch  eine  Ganzheit  eines  Gegenstandsbereichs  als  eigenen 
Gegenstand  aufstellen  könnte  (wie  wir  das  schon  getan  haben),  so 
wie  man  Europa  im  allgemeinen  neben  seinen  Ländern  betrachten 
kann.  Das  alles  ist  prinzipiell  erledigt.  Sondern  die  Ganzheit 
unseres  Gebietes  wird  überdeckt  von  einem  anders  gearteten 
Gegenstandsbereich,  so  wie  wenn  ich  über  eine  politische  Karte 
von  Europa  die  geographische  oder  die  tiergeographische  oder  die 
Karte  der  Religionsformen  drucke. 

Wie  ist  dieses  neue  Gegenstandsgebiet  logisch  zu  charakte- 
risieren? An  welchen  Punkten  hängt  es  mit  dem  ersten  zusammen? 
Wie  erwächst  es  gleichsam  aus  dem  ersten?  Denn  daß  es  irgend- 
wie damit  zusammenhängen  muß,  ist  uns  klar;  sonst  wäre  die 
Täuschung,  als  hätten  wir  bereits  das  ganze  Gegenstandsgebiet 
restlos  erfaßt,  nicht  so  groß  gewesen. 

Wenn  wir  unser  bisher  betrachtetes  Gegenstandsgebiet  einmal 
genau  besehen,  so  erkennen  wir,  daß  es  mit  dem  Begriffe  der 
Struktur  logisch  noch  nicht  vollständig  allgemein  charakterisiert 
ist.  Denn  die  sinnlichen  Gegenstände  stehen  in  der  Zeit,  und 
deshalb  müssen  wir  als  zweiten  Begriff  den  des  Zustandes  hin- 
zunehmen. Der  sinnliche  Gegenstandsbereich  hat  nicht  nur  eine 
Struktur,  sondern  auch  Zustände. 

Zustand  hat  stets  Bezug  auf  Zeit.     Von  Zustand  können  wir 


64  Aloye  Müller, 

nur  da  sprechen,  wo  es  den  einen  und  den  anderen  Zustand  geben 
kann,  wo  die  Zustände  wechseln.  Wir  sagen  nur  dann,  ein  Be- 
reich habe  einen  Zustand,  wenn  es  auch  noch  andere  Zustände 
für  ihn  gibt.  Ist  das  aber  nicht  der  Fall,  so  ist  alles,  was  der 
Zustandsbegriff  besagt,  ohne  Rest  im  Strukturbegriff  enthalten. 

Wir  fragen  nun  weiter :  Ist  der  Zustand  des  sinnlichen  Gegen- 
standsbereiches in  jedem  Augenblick  nur  von  seiner  Struktur  ab- 
hängig? Ist  der  Zustand  in  jedem  Augenblick  rational  ver- 
ständlich oder  gibt  es  auch  Irrationales  darin?  Ist  das  Be- 
sondere ganz  vom  Allgemeinen  aus  abzuleiten? 

Wir  überlegen  uns  zunächst  einen  Augenblick,  daß  der  Zu- 
stand auch  von  der  Struktur  abhängig  ist.  Die  Naturwissenschaft 
stellt  zwar  allgemeine  Gesetze  auf,  die  ein  Teil  der  Struktur 
sind,  aber  nach  diesen  allgemeinen  Gesetzen  geht  eben  der  zeit- 
liche Ablauf  auch  vor  sich.  Ja  im  größten  Teil  der  sinnlichen 
Gegenstandswelt  geht  der  Ablauf  nur  danach  vor  sich.  «Seinen 
schärfsten  Ausdruck  hat  das  in  der  Minkowskiwelt  der  Relativitäts- 
theorie gefunden.  Wäre  indes  der  Zustand  ganz  von  der 
Struktur  abhängig,  dann  gäbe  es  außer  den  Struktur- 
wissenschaf ten  keine  weiteren  Wissenschaften  mehr. 
Er  ist  aber  nicht  ganz  davon  abhängig,  es  gibt  Irrationales  im 
Zustand,  also  solches,  was  von  den  Strukturwissenschaften  nicht 
erfaßt  werden  kann. 

Worauf  beruht  dieses  Irrationale? 

Es  beruht  erstens  auf  dem  Charakter  des  sinnlichen  Gegen- 
standsbereiches. Die  sinnliche  Welt  ist  unerschöpflich  oder  unüber- 
sehbar. Dadurch  kennt  zunächst  die  Naturwissenschaft  nicht  alle 
Gesetze  und  hat  so  niemals  die  Mittel  in  der  Hand,  um  den  Zu- 
stand zu  bestimmen.  Aber  selbst  wenn  sie  diese  Mittel  besäße, 
wäre  es  ihr  dennoch  unmöglich.  Denn  um  die  Zustände  in  der 
Vergangenheit  oder  Zukunft  zu  bestimmen,  muß  man  nicht  nur 
alle  Gesetze  wissen,  sondern  auch  einen  Zustand  kennen.  So 
genügt  z.  B.  die  Kenntnis  des  Newtons chen  Gravitationsgesetzes 
allein  nicht,  um  die  Konstellationen  in  unserem  Sonnensystem 
für  beliebige  Zeitpunkte  zu  bestimmen,  seine  absolute  Gültigkeit, 
die  Geschlossenheit  des  Sonnensystems  und  die  klassische  Mechanik 
vorausgesetzt ;  sondern  dazu  muß  man  irgend  einen  Anfangszustand 
kennen,  von  dem  aus  man  rechnet.  Einen  solchen  Zustand  der 
sinnlichen  Welt  zu  bestimmen,  ist  aber  wegen  der  Unübersehbar- 
keit dieser  Welt  unmöglich. 


. 


Strukturwissenschaft  und  Kulturwissenschaft.  65 


Würden  wir  aber  zweitens  auch  diese  Unmöglichkeit  weg- 
nehmen, so  wäre  der  Zustand  doch  nicht  ganz  von  der  Struktur 
abhängig,  und  zwar  deshalb  nicht,  weil  der  Zustand  der 
sinnlichen  Welt  mitbestimmt  ist  von  den  anderen 
Gegenstandsbereichen.  Muß  ich  das  beweisen,  was  wir  tag- 
täglich selbst  erleben,  wenn  wir  nur  hinsehen  wollen?  Ich  wähle 
ein  grobes  Beispiel.  Nehmen  wir  an,  nach  längerem  Suchen  fände 
ein  in  sehr  bescheidenen  Verhältnissen  lebender  Mathematiker  den 
Beweis  für  den  großen  Fermatschen  Satz ;  theoretisch  gesprochen: 
wir  nehmen  an,  ein  Sinnzusammenhang,  als  dessen  letztes  Glied 
der  Sinn  des  Fermatschen  Satzes  erscheint,  knüpfe  sich  an  gewisse 
psychische  Vorgänge  in  einem  menschlichen  Kopfe.  Was  sind  die 
Folgen  ?  Er  wird  seinen  Beweis  veröffentlichen  und  der  Göttinger 
Gesellschaft  der  Wissenschaften  einsenden.  Er  erhält  die  Wolfs- 
kehlstiftung, bekommt  möglicherweise  einen  Ruf  als  Universitäts- 
professor und  kann  sich  nun  in  anderen  Lebensformen  einrichten. 
Zahlreiche  Artikel  und  Schriften  erscheinen  zu  dem  Ereignis.  Setz- 
maschinen, Buchbinder,  Post  werden  dadurch  in  Bewegung  gesetzt. 
Das  läßt  sich  noch  eine  Weile  so  ausspinnen.  Uns  soll  es  nur  ein 
Bild  davon  geben,  wie  im  Ablauf  der  psychischen  Welt  direkt  der 
Bereich  der  Werte  durch  den  Sinn  des  Urteils,  indirekt  durch 
diesen  Sinn  die  sonstigen  Gegenstandsbereiche  mitwirken,  wie 
dann  durch  Vermittlung  des  psychischen  Bereiches  alles  das  auf 
den  Ablauf  in  der  physischen  Welt  Einfluß  hat.  Wir  verstehen 
dieses  Bild  erst  ganz  richtig,  wenn  wir  noch  darauf  achten,  daß 
wir  im  voraus  nicht  wissen  und  nicht  wissen  können,  mit  welchen 
Werten  und  zu  welchem  Zeitpunkte  das  Reich  der  Werte  sich  mit 
dem  Reiche  der  psychischen  Gegenstände  berührt. 

Ich  will  nicht  noch  auf  das  viel  umstrittene  Freiheitsproblem 
eingehen.  Wer  eine  Willensfreiheit  annimmt,  wird  ein  weiteres 
irrationales  Moment  im  Zustand  finden.  Aber  mir  scheint,  daß 
dieses  Moment  schon  in  dem  zuletzt  genannten  Irrationalen  logisch 
mit  enthalten  ist.  Denn  die  Freiheit  äußert  sich  primär  im  An- 
erkennungsakt eines  geltenden  Sinnes;  ein  Wollen  ohne  vorauf- 
gegangene Erkenntnis  kann  unter  keinen  Umständen  frei  genannt 
werden. 

Wir  sehen  also,  daß  der  Zustand  der  sinnlichen  Welt  von  der 
Naturwissenschaft  nicht  ganz  erfaßt  werden  kann.  Wir  können 
deshalb,  vom  materialen  Gesichtspunkte  ausgehend, 
auf    die    Notwendigkeit    einer    Wissenschaft    schließen,    die    hier 

Kantstodien.    XXVH.  5 


66  Aloys  Müller, 

ergänzend  eintritt.  Das  darf  natürlich  nicht  so  verstanden  werden, 
als  ob  sie  das  Irrationale  rational  mache.  Das  ist  prinzipiell  un- 
möglich. Sie  erfaßt  den  von  der  Struktur  nicht  ganz  bestimmten 
Zustand  auf  die  einzige  noch  mögliche  "Weise,  indem  sie  seinen 
Wechsel  in  der  Zeit  beschreibt.  Nur  auf  diese  Weise  geht 
das  Irrationale  in  die  Wissenschaft  ein.  Versteht  man  demnach 
unter  Irrationalem  alles  das,  was  die  Strukturwissenschaften  nicht 
erfassen  können,  so  beruht  die  Möglichkeit  der  histori- 
schen Wissenschaften  auf  der  Irrationalität  des  Zu- 
standes  der  Welt.  Wäre  diese  Irrationalität  nicht  vorhanden, 
so  gäbe  es  keine  Geschichtswissenschaft. 

Wir  wollen  uns  nun  zunächst  die  beiden  Arten  des  Irratio- 
nalen etwas  genauer  ansehen.  Das  erste  Irrationale  ist  tatsäch- 
lich vorhanden  und  wird  sicherlich  niemals  ganz  verschwinden. 
Aber  es  schrumpft  gleichsam  immer  mehr  ein,  soweit  es  uns  über- 
haupt interessiert,  weil  wir  die  Struktur  der  sinnlichen  Welt  stets 
besser  kennen  lernen.  Prinzipiell,  wenn  man  also  an  den  Ab- 
schluß der  Wissenschaft  denkt,  ist  dieses  Irrationale  für  die 
Naturwissenschaft  nicht  vorhanden.  Es  ist  ein  relatives  Irra- 
tionale 1).  Das  ist  bei  dem  zweiten  anders.  Es  besteht  offensicht- 
lich auch  prinzipiell  für  die  Naturwissenschaft,  es  ist  ein  abso- 
lutes Irrationale. 

Der  besondere,  von  der  Naturwissenschaft  nur  teilweise  zu  be- 
stimmende Ablauf  der  Welt  ist  also  ein  Gegenstandsgebiet  eigener 
Art,  das  sich  dem  uns  schon  bekannten  Gegenstandsgebiet  über- 
lagert. Es  fällt  mit  dem  Gebiete  der  sinnlichen  Gegenstände  über- 
all dort  zusammen,  wo  der  Ablauf  prinzipiell  wenigstens  von  der 
Naturwissenschaft  erfaßt  werden  kann.  An  allen  anderen  Stellen 
hebt  es  sich  gleichsam  darüber  empor.  Die  zusammenfallenden 
Stellen  wollen  wir  Koinzidenzen  nennen. 


1)  Die  relative  Irrationalität  deckt  sich  hier,  wo  wir  nur  von  der  Natur- 
wissenschaft sprechen,  mit  der  Rickertschen  Irrationalität,  die  in  der  extensiven 
und  intensiven  Unübersehbarkeit  liegt.  Man  kann  den  Begriff  selbstverständlich 
auch  auf  andere  Gegenstandsgebiete  ausdehnen.  Alles,  was  man  gewöhnlich  irra- 
tional nennt,  ist  nur  relativ  irrational.  Nicht  als  ob  wir  das  jemals  ganz  erkannten. 
Ein  unerkannter  Rest  bleibt  uns  Menschen  immer;  insofern  ist  es  unerkennbar. 
Aber  wir  erhalten  immer  neue  Erkenntnisse  darüber.  Unsere  Erkenntnis  des 
relativen  Irrationalen  verhält  sich  zur  vollen  Erkenntnis  wie  die  Asymptote  zur 
Kurve ;  sie  nähert  sich  ihr,  ohne  sie  jemals  zu  erreichen.  Unsere  Erkenntnis 
des  absoluten  Irrationalen  verhält  sich  zur  vollen  Erkenntnis  wie  eine  Parallele 
zur  Achse;  sie  besitzt  von  ihr  stets  denselben  Abstand. 


Strukturwissenschaft  und  Kulturwissenschaft.  67 

Die  Koinzidenzen  scheiden  als  Gegenstand  der 
historischen  Wissenschaften  aus.  Es  gibt  unter  ihnen 
manche,  die  wir  tatsächlich  historisch  behandeln  müssen,  z.  B. 
die  Entwicklungsgeschichte  der  Organismen.  Aber  das  ist  nur  ein 
prinzipiell  wenigstens  vorläufiges  Müssen,  ein  vorläufiger  Er- 
satz für  die  strukturwissenschaftliche  Behandlung. 
Je  weiter  die  Naturwissenschaft  fortschreitet,  desto  mehr  schwindet 
der  historische  Ersatz,  desto  mehr  relativ  Irrationales  wird  weg- 
geschafft. Es  ist  nicht  prinzipiell  unmöglich,  daß  die  Entwicklungs- 
geschichte der  Organismen  einmal  ganz  strukturwissenschaftlich 
dargestellt  wird,  wenn  wir  auch  sicher  sind,  daß  hier  das  histo- 
rische Ersatzmittel  niemals  ausscheiden  wird.  Aber  als  Gregenstand 
der  historischen  Wissenschaften  kann  das  relativ  Irrationale  nicht 
in  Betracht  kommen,  weil  es  eben  prinzipiell  Gegenstand  der 
Naturwissenschaft  ist. 

Als  Gregenstand  der  Geschichtswissenschaften  bleibt  also  das 
absolute  Irrationale  übrig,  d.  h.  der  von  den  Werten  mitbestimmte 
individuelle  Ablauf  des  Geschehens.  Die  prinzipiell  histo- 
rischen Wissenschaften  müssen  sich  deshalb  auf 
Menschheitsgeschichte  beschränken;  alles  übrige  ist  nur 
vorläufig  historisch.  So  verstehen  wir  vom  Gegenstande  her,  wie 
nur  die  Geschichte  von  Menschlichem  Geschichte  ist. 

Welches  ist  der  Gegenstandscharakter  des  Gegenstandes  der 
historischen  Wissenschaften?  Er  hat  sicherlich  das  zeitliche  Sein. 
Es  ist  aber  gut,  sich  zu  erinnern,  daß  zeitlich  Seiendes  und  Histo- 
risches durchaus  nicht  identisch  sind.  Soweit  der  Ablauf  in  der 
Struktur  miterfaßt  ist  oder  werden  kann,  ist  er  nicht  historisch. 
Daß  und  in  welchem  Sinne  der  Gegenstand  heterogen  ist,  werden 
wir  später  hören.  Was  ihn  von  allen  anderen  Gegenständen  unter- 
scheidet, ist  die  Irrationalität.  Alle  anderen  Gegenstandsgebiete 
haben  die  Kategorie  der  Eationalität,  d.  h.  der  Erfaßbarkeit  durch 
allgemeine  Erkenntnis,  nur  das  Gebiet  der  Geschichtswissenschaften 
nicht.  # 

Ist  nicht  die  Kausalität  auch  eine  Kategorie  des  Gegenstands- 
bereiches der  Geschichtswissenschaft?  Sickert  unterscheidet  be- 
kanntlich gesetzmäßige  Kausalität  und  individuelle  Kausalität,  die 
also  nicht  gesetzmäßig  ist,  und  findet  die  letztere  im  historischen 
Geschehen.  Nun  ist  hier  die  gesetzmäßige  Kausalität  ohne  Zweifel 
auszuschließen.  Trotzdem  gibt  es  ein  Wirken  im  Gegenstands- 
bereich der  Geschichtswissenschaften,  aber  dieses  Wirken  ist  nicht 

5* 


68  Aloys  Müller, 

kausal.  Daß  nämlich  die  Werte  in  der  sinnlichen  Welt  wirken 
und  ihren  Ablauf  ändern,  ist  eine  tagtäglich  festzustellende  Tat- 
sache. Aber  sie  können  nicht  als  Grlieder  einer  Kausalreihe  gedacht 
werden,  weil  sie  dann  als  psychische  Grlieder  gefaßt  werden  müßten. 
Wie  sie  wirken,  ist  ein  Geheimnis l).  Hier  ragt  etwas  Neues 
in  die  kausale  Notwendigkeit  herein,  etwas,  das  von  ihr  nicht  mit- 
gefaßt und  von  ihr  aus  nicht  verstanden  werden  kann,  und  gerade 
dieses  Eingreifen  des  Neuen  konstituiert  die  Geschichte  als  Gegen- 
stand einer  eigenen  Wissenschaft.  Damit  glaube  ich  auch  den 
Gedanken  Neeffs2)  gerecht  geworden  zu  sein.  Wenn  er  mit  dem 
Worte  „Originalität"  den  Neuheitscharakter  am  historischen  Ge- 
schehen bezeichnen  will,  so  hätte  ich  gleichfalls  nichts  einzuwenden. 
Nur  bleiben  wir  mit  dem  Gegensatz  „Kausalität— Originalität" 
innerhalb  der  Grenzen  der  empirischen  Wissenschaften.  Wenn 
wir  einmal  das  Irrationale  als  begründendes  Moment  der  Geschichte 
erkannt  haben,  kann  das  Originale  ohne  die  Fessel  jenes  Gegen- 
satzes als  Charakterbezeichnung  dienen.  Auf  diese  Weise  läßt 
sich  nun  auch  ganz  klar  machen,  daß  durch  das  Individuelle  allein 
der  Sinn  der  Geschichte  noch  nicht  gegeben  ist.  Sonst  müßte  jeder 
Ablauf,  auch  der  ganz  in  der  Struktur  erfaßte,  historischer  Gegen- 
stand sein ;  denn  jeder  Gegenstand  einer  absolut-heterogenen 
Wirklichkeit  ist  ein  Individuum.  Nur  das  originale  Individuelle 
kommt  in  Betracht,  also  das  individuelle  Geschehen,  in  dem  durch 
das  Wirken  der  Werte  etwas  Neues  gegenüber  dem  reinen  Kausal- 
geschehen steckt.  Wir  können  deshalb  kurz  als  Gegenstand  der 
historischen  Wissenschaften  den  original-individuellen  Ablauf  der 
Welt  nennen.  Historisches  Geschehen  ist  danach  jenes  Geschehen, 
das  im  naturwissenschaftlichen  Sinne  als  Exemplar  einer  Gattung 
nicht  ganz  verstanden  werden  kann. 

Wir  vermögen  nun  auch  die  Frage  von  Troeltsch3)  zu  be- 
antworten: „Sind  das  wirklich  nur  zweierlei  Betrachtungsweisen 
desselben  Objektes  oder  sind  das  nicht  doch  Teilungen  innerhalb 
der  Objekte,  die  zum  einen  Teil  dem  ersten  und  zum  anderen  dem 
zweiten  Efklärungsprinzip  unterliegen?"     Kickert4)  hatte  ja  be- 


1)  Vergl.  darüber  meine  Schrift  „Wahrheit  und  Wirklichkeit",  S.  56  ff.,  1913. 
Damals  hatte  ich  den  Wertbegriff  noch  nicht  in  seiner  vollen  Reinheit  erfaßt. 

2)  Fr.  Neeff,  Kausalität  und  Originalität,  1918. 

3)  E.  Troeltsch,  Gesammelte  Schriften,  2,  720,  1913. 

4)  H.  Rickert,   Die  Grenzen   der   naturwissenschaftlichen   Begriffsbildung  2, 
S.  224,  1913. 


Strukturwissenschaft  und  Kulturwissenschaft.  69 

hauptet:  Die  empirische  Wirklichkeit  „wird  Natur,  wenn  wir  sie 
betrachten  mit  Rücksicht  auf  das  Allgemeine,  sie  wird  Geschichte, 
wenn  wir  sie  betrachten  mit  Rücksicht  auf  das  Besondere  und 
Individuelle."  Es  ist  aber  in  der  Tat  nicht  ein  Gegenstand,  der 
von  verschiedenen  Gesichtspunkten  aus  geschaut  wird.  Schon  für 
Rickert  selber  trifft  das  nicht  genau  zu;  denn  er  muß  die  "Wirk- 
lichkeit als  wertfrei  ansehen,  um  den  Gegenstand  der  Natur- 
wissenschaft zu  erhalten,  die  wert  behaftete  Wirklichkeit  ist 
ihm  aber  Gegenstand  der  Geschichtswissenschaft.'  Wir  können 
noch  sorgfältiger  scheiden.  Gegenstand  der  Naturwissenschaft  ist 
die  sinnliche  Wirklichkeit  und  demnach  auch  ihr  zeitlicher  Ablauf, 
soweit  er  rational  ist.  Gegenstand  der  Geschichtswissenschaft  ist 
der  original-individuelle  Ablauf. 

Wir  wollen  zum  Schlüsse  noch  ein  Bild  bringen,  das  den 
Gegenstand  des  naturwissenschaftlichen  und  des  historischen  Ab- 
laufes zu  veranschaulichen  vermag.  Unter  einer  Brücke  fließt  ein 
Fluß.  Von  der  innern  Wölbung  des  Brückenbogens  aus  gehen 
eine  Anzahl  von  Eisengittern  bis  dicht  über  die  Oberfläche  des 
Wassers.  Wo  die  Oberfläche  ruhig  ist,  berührt  das  Wasser  das 
Gitter  nicht.  Aber  bald  hier,  bald  dort  wirft  sie  eine  kleine  Welle, 
und  diese  Welle  trifft  einen  Stab  des  Gitters.  Wenn  auch  nur 
eine  einzige  Welle  ein  einziges  Mal  einen  Gitter stab  berührt,  so 
ist  von  diesem  Augenblicke  an  der  Zustand  des  Flusses  hinter  der 
Berührungsstelle  anders,  als  er  sein  würde,  wenn  die  Berührung 
nicht  stattgefunden  hätte.  Für  den  makrokosmischen  Beobachter 
freilich  nicht,  aber  für  den  mikrokosmischen.  Der  Fluß  ist  der 
Ablauf  des  Geschehens.  Die  Gitterstäbe  sind  die  Werte.  Die 
Berührungen  eines  Stabes  durch  eine  Welle  bedeuten  die  Zeitpunkte, 
wo  ein  Wert  an  psychischen  Ablauf  geknüpft  wird  und  damit  als 
wirkendes,  wenn  auch  nicht  kausal  wirkendes  Glied  in  den  Ablauf 
des  Geschehens  eintritt  und  ihn  ändert.  Für  den  makrokosmischen 
Beobachter  des  Ganzen  der  Naturwelt  verschwindet  das,  für  ihn 
gibt  es  keine  Geschichte.  Aber  der  mikrokosmische  Beobachter 
sieht  an  den  Punkten  der  Naturwelt,  wo  es  erkennende  Wesen 
gibt,  Geschichte.  So  erscheint  die  Geschichte  wie  winzige  Kräuse- 
lungen auf  einem  gewaltigen  Strome,  und  doch  ringt  sich  in  ihr 
der  Sinn  der  Welt  erst  zur  Bewußtheit  durch. 


70  Aloys  Müller, 

III.    Heterogeneität  und  Homogeneität. 

Wir  haben  unsere  erste  Aufgabe,  die  Wissenschaften  von  den 
Gegenständen  her  zu  bestimmen,  gelöst,  soweit  es  in  den  Grenzen 
dieser  kleinen  Skizze  möglich  ist.  Unsere  zweite  Aufgabe  ist,  zu 
zeigen,  wie  die  allgemeinen  Methoden  von  den  Gegenständen  be- 
dingt sind.  Zu  dem  Ende  müssen  wir  vorher  die  Begriffe  der  Hetero- 
geneität und  der  Homogeneität  genauer  analysieren. 

Um  eine  kurze  Terminologie  für  diesen  und  die  folgenden 
Abschnitte  zu  gewinnen,  knüpfen  wir  an  einen  Begriff  der  Logistik 
an.  Nach  der  Logistik  bestimmt  jede  Satzfunktion1)  eine  Klasse 
oder  Menge,  d.  h.  die  Gesamtheit  der  Werte,  die  sie  bestätigen.  Wir 
wollen  die  Klasse  auch  Umfang  nennen.  Umfang  ist  also  die  Menge 
der  Subjekte,  die  durch  eine  Satzfunktion  bestimmt  wird.  Unter 
Inhalt  verstehen  wir  nun  die  Menge  aller  Prädikate,  die  von  dem 
durch  eine  Satzfunktion  festgesetzten  Umfang  gelten.  Auch  jeder 
einzelne  Gegenstand,  d.  h.  ein  solcher,  der  nicht  durch 
Klassenbildung  entstanden  ist,  bildet  einen  Umfang,  zu  dem 
ein  Inhalt  gehört.  Alle  Prädikate,  die  einen  Inhalt  bilden,  nennen 
wir  die  Teile  dieses  Inhalts.  Ein  Prädikat  kann  also  gleichzeitig 
Inhalt  und  Inhaltsteil  sein.  Inhaltsteile  sind  auseinander  ableitbar, 
sie  stehen  in  notwendiger  Verknüpfung  —  oder  nicht.  Im  ersten 
Falle  heißen  sie  gleichartige  oder  unechte  Teile,  im  zweiten  un- 
gleichartige oder  echte  Teile.  Temperatur  und  Größe  eines  Körpers 
sind  unechte,  Größe  und  spezifisches  Gewicht  sind  echte  Teile. 

Wir  wollen  nun  zunächst  an  zwei  Beispielen  die  Merkmale 
der  Heterogeneität  und  der  Homogeneität  aufweisen. 

Als  erstes  Beispiel  nehmen  wir  die  sinnliche  Wirklichkeit. 
Wenn  wir  sie  heterogen  nennen,  so  wollen  wir  damit  zwei  Momente 
hervorheben:  erstens  hat  jeder  ihrer  Gegenstände  einen  unüber- 
sehbaren Inhalt,  zweitens  ist  jeder  ihrer  Gegenstände  ein  Um- 
fang, zu  dem  ein  anderer  Inhalt  gehört.  Dieses  letztere  Merk- 
mal beruht  auf  dem  ersteren.  Wäre  der  Inhalt  jedes  Gegenstandes 
nicht  unübersehbar,  dann  wäre  die  Wahrscheinlichkeit  größer,  daß 
es  absolut  gleiche  Gegenstände  gebe.  Der  Heterogeneität  der  sinn- 
lichen Wirklichkeit  ist  nun  aber  eine  Homogeneität  übergelagert. 
Wenn  auch  jeder  Umfang  einen  anderen  Inhalt  besitzt,  so  haben 
diese  Inhalte  doch  unechte  Teile.     Die  Folge  davon  ist,   daß  man 

1)  Vergl.  Couturat  in  der  Enzyklopädie  der  philosophischen  Wissenschaften, 
1,  150,  1912. 


Strukturwissenschaft  und  Kulturwissenschaft.  71 

Gegenstände  mit  gemeinsamen  Teilen  findet,  daß  also  doch 
auch  eine  gewisse  Homogeneität  in  der  sinnlichen  Wirklichkeit 
herrscht.  Man  stellt  z.  B.  fest,  daß  immer  dann,  wenn  man  die 
Temperatur  eines  beliebigen  Körpers  um  denselben  Betrag  wachsen 
läßt,  auch  die  Größe  des  Körpers  um  einen  bestimmten  Betrag 
wächst.  Alle  diese  Körper  (Gegenstände)  haben  als  gemeinsames 
Prädikat  ihres  Inhaltes  also  diesen  Zusammenhang  zwischen  Größe 
und  Temperatur. 

An  zweiter  Stelle  betrachten  wir  die  Wirklichkeit  der  mathe- 
matischen Gegenstände.  In  ihr  gibt  es  absolut  gleiche  Gegen- 
stände x),  d.  h.  nicht  jeder  ihrer  Gegenstände  ist  ein  Umfang,  zu 
dem  ein  anderer  Inhalt  gehört.  Die  mathematische  Wirklichkeit 
kennt  auch  keine  unübersehbaren  Inhalte.  Die  Beschreibung,  die 
die  Mathematik  von  einem  ihrer  Gegenstände  gibt,  ist  notwendig 
und  hinreichend,  um  diesen  Gegenstand  mit  allen  seinen  Besonder- 
heiten zu  bestimmen.  Daß  in  dieser  Wirklichkeit  Inhalte  mit  ge- 
meinsamen Teilen  bestehen,  braucht  wohl  nicht  eigens  hervorgehoben 
zu  werden. 

Die  beiden  Merkmale  der  Übersehbarkeit  (bzw. 
Unübersehbar keit)  und  der  Andersartigkeit  be- 
stimmen durch  ihre  verschiedenen  Kombinationen 
die  Typen  der  Heter ogeneität  und  der  Homogenei- 
tät. Die  Andersartigkeit  hat  rein  formal  zwei  Grenzfälle :  erstens 
den  Fall,  wo  keine  gemeinsamen  Teile  vorhanden  sind,  zweitens 
den  Fall,  wo  alle  Teile  gemeinsam  sind.  Dazwischen  liegen  die 
möglichen  anderen  Fälle.  Wir  wollen  nun  nicht  durch  Kombination 
alle  Typen  ableiten,  die  rein  formal  möglich  sind.  Einige  davon 
sind  vom  inhaltlichen  Standpunkte  aus  in  sich  unmöglich.  So  der 
Fall,  daß  keine  gemeinsamen  Teile  vorhanden  sind ;  denn  wenigstens 
den  einen  Teil,  daß  sie  Inhalte  sind,  haben  alle  Inhalte.  Übrigens 
lassen  sich  auch  die  formal  abgeleiteten  Kombinationen  nach  an- 
deren Gesichtspunkten  noch  unterteilen. 

Als  die  wichtigsten  Kombinationen  sehen  wir  die  folgenden 
vier  an. 

Eine  Wirklichkeit  besitzt  absolute  Heterogeneität, 
wenn  jeder  ihrer  Gegenstände  ein  Umfang  ist,  zu  dem  ein  anderer 


1)  Vgl.  dazu  H.  Rickert,  Das  Eine,  die  Einheit  und  die  Eins,  Logos,  ,2,  26, 
1911/12  und  meine  demnächst  erscheinende  Schrift  „Der  Gegenstand  der  Mathe- 
matik mit  besonderer  Beziehung  auf  die  Relativitätstheorie". 


72  Aloys  Müller, 

und  unübersehbarer  Inhalt  gehört,  und  die  Inhalte  gemeinsame 
Teile  haben.  Wie  wir  wissen,  ist  die  sinnliche  Wirklichkeit  ein 
Beispiel  für  diesen  Typus. 

Eine  Wirklichkeit  besitzt  relative  Heterogeneität, 
wenn  jeder  ihrer  Gegenstände  ein  Umfang  ist,  zu  dem  ein  anderer 
und  übersehbarer  Inhalt  gehört  und  die  Inhalte  gemeinsame  Teile 
haben.    Die  Wirklichkeit  der  Werte  hat  u.  a.  diese  Heterogeneität. 

Eine  Wirklichkeit  besitzt  absolute  Homogeneität, 
wenn  jeder  ihrer  Gegenstände  ein  Umfang  ist,  zu  dem  derselbe 
Inhalt  gehört  und  dieser  Inhalt  ein  Minimum  ist.  Ein  Beispiel 
ist  das  nur  homogene  Medium1). 

Eine  Wirklichkeit  besitzt  relative  Homogeneität, 
wenn  jeder  ihrer  Gegenstände  ein  Umfang  ist,  zu  dem  nicht 
immer  ein  anderer  und  immer  ein  übersehbarer  Inhalt  gehört,  und 
die  Inhalte  gemeinsame  Teile  haben.  Wir  haben  bereits  die  Wirk- 
lichkeit der  mathematischen  Gegenstände  als  zu  diesem  Typus 
gehörig  erkannt. 

Schließlich  bemerken  wir  noch,  daß,  wenn  eine  Wirklichkeit 
lediglich  einen  einzigen  Gegenstand  besitzt,  dieser  Gegenstand  von 
der  Heterogeneität  nur  das  Merkmal  der  Ubersehbarkeit  (bzw. 
Unübersehbarkeit),  und  die  Homogeneität  nur  insofern  haben  kann, 
als  man  seine  Inhaltsteile  als  Gegenstände  ansieht. 

Wir  wollen  nun  an  den  drei  Beispielen  der  Geschichtswissen- 
schaft, der  Naturwissenschaft  und  der  Mathematik  das  Heraus- 
wachsen der  besonderen  Formen  der  allgemeinen  Methoden 
aus  dem  Gegenstande  studieren.  Dabei  verstehen  wir  unter  all- 
gemeiner Methode  die  Art  des  Erkenntnisstrebens,  die  durch  das 
Ziel  einer  Wissenschaft  oder  durch  das  Verhältnis  der  Erkennt- 
nisse zum  Gegenstand  charakterisiert  ist. 

IV.    Die  allgemeine  Methode  der  Geschichtswissenschaften. 

Gegenstand  der  Geschichtswissenschaften  ist,  wie  wir  wissen, 
jdas  Original-Individuelle,  d.  h.  der  Ablauf  des  Geschehens,  soweit 
er  von  Werten  mitbestimmt  ist.  Daraus  ergibt  sich  die  Unmög- 
lichkeit einer  Anwendung  der  generalisierenden  Methode  in  der 
Geschichtswissenschaft.  Das  ist  ja  gerade  das  begriffliche  Merkmal 
des  Irrationalen,  daß  man  es  nicht  generalisierend  fassen  kann. 
Es  gibt  also  keine  allgemeinen  historischen  Erkenntnisse  über  den 


1)  Siehe  den  vorhin  zitierten  Aufsatz  Rickerts. 


Strukturwissenschaft  und  Kulturwissenschaft.  73 

historischen  Gegenstand.  Da  Gesetze  anch  allgemeine  Erkennt- 
nisse darstellen,  so  gibt  es  auch  keine  historischen  Ge- 
setze. 

Gewiß  ergeben  sich  durch  das  gleichmäßige  Verhalten  der 
Menschen  gewisse  Regelmäßigkeiten,  gewisse  Typen  von  Erschei- 
nungen in  der  Geschichte.  Das  sind  aber  keine  historischen  Ge- 
setze, sondern  massenpsychologische  Regelmäßigkeiten.  Je  mehr 
es  sich  um  Massenvorgänge  handelt,  desto  deutlicher  heben  sich 
solche  Typen  heraus,  desto  mehr  tritt  die  Wirkung  des  Irratio- 
nalen zurück  und  das  rein  naturwissenschaftlich  zu  erfassende 
Geschehen  in  den  Vordergrund.  Am  reinsten  offenbart  sich  das 
Original -Individuelle  in  den  Persönlichkeiten,  und  um  so  voll- 
kommener, je  höher  die  Persönlichkeit  über  das  allgemein  Mensch- 
liche hinauswächst.  Die  Geschichte  ist  ein  wundersames  Gewebe 
von  Irrationalem  und  Rationalem,  dessen  Fäden  ganz  zu  verfolgen 
menschlichen  Augen  für  immer  versagt  bleibt.  Aber  begrifflich 
müssen  diese  Dinge  auseinandergehalten  werden;  historisches  Ge- 
schehen ist  nur  das  original-individuelle  Geschehen. 

Am  häufigsten  wird  unter  den  typischen  Erscheinungen  der 
Geschichte  der  Organismentyp  auftreten,  d.h.  das  Aufblühen 
und  Absterben  eines  Gebildes.  Er  ist  ja  der  auffallendste  Typ 
alles  Lebendigen  im  naturwissenschaftlich  zu  erfassenden  Geschehen 
und  bestimmt  dadurch  auch  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  den  Ab- 
lauf des  historischen  Geschehens.  Die  ausschließliche  Einstellung 
auf  diesen  Typ  charakterisiert  die  Auffassung  der  Geschichtswissen- 
schaft von  Spengler1).  Er  dehnt  diesen  Typ  so  weit  aus,  daß  er 
erstens  das  Eintreten  der  "Werte  in  die  Wirklichkeit,  das  Irratio- 
nale, und  zweitens  sogar  die  Geltung  der  Werte  mitumfaßt,  und 
das  ist  der  Grund,  warum  wir  ihm  hier  einige  Worte  widmen 
müssen.  Beides  ist  falsch,  und  nur  von  diesen  beiden  Gesichts- 
punkten aus  läßt  sich  aus  seinen  Gedanken  das  Richtige  heraus- 
schälen. Das  Eintreten  der  Werte  in  die  sinnliche  Wirklichkeit 
ist  nun  einmal  irrational.  Freilich  schafft  das  naturwissenschaft- 
lich zu  erfassende  Geschehen  Dispositionen  und  bildet  dadurch 
mitunter  Regelmäßigkeiten,  aber  nicht  der  Zeitpunkt  des  Ein- 
tretens, nicht  der  Umfang  und  Inhalt  der  Werte  und  darum  auch 
nicht  die  Folgen  lassen  sich  strukturgesetzlich  ableiten.  Spengler 
versucht  dies   auch  gar  nicht,   sondern  er  überträgt  einfach  einen 


1)  0.  Spengler,  Der  Untergang  des  Abendlandes.   I.  Bd.  11.— 14.  Aufl.  1920. 


74  Aloys  Müller, 

in  seinen  Grenzen  wohlgesicherten  Typ  anf  alles  Geschehen,  und 
sieht  nicht  ein,  daß  diese  Übertragung  nur  dann  gerechtfertigt 
wäre,  wenn  er  nachweisen  könnte,  daß  auch  das  Irrationale  ge- 
setzmäßig zu  verstehen  ist.  Daher  finden  sich  in  seinem  Buche 
neben  richtigen  Charakterisierungen  völlig  falsche.  Man  denke 
z.  B.  bei  seiner  Behauptung  vom  Niedergang  der  abendländischen 
Wissenschaft  an  die  Physik,  die  wohl  niemals  in  so  tiefgreifenden, 
fruchtbaren  und  folgereichen  Gedankenkreisen  gestanden  hat,  wie 
sie  heute  die  Relativitätstheorie  und  die  Forschungen  über  das 
Innere  der  Atome  bilden.  Diese  ganze  Auffassung  wird  aber  erst 
möglich  durch  die  zweite  Verallgemeinerung,  in  der  Spengler  den 
Organismentyp  auch  auf  die  Geltung  der  Werte  ausdehnt.  Er 
sieht  den  eigenartigen  Gegenstandscharakter  der  Werte  nicht. 
Für  ihn  gibt  es  keine  allgemeingültige,  absolute  Wahrheit 1).  Er 
ist  extremer  Relativist  und  nur  dadurch  wird  es  ihm  möglich,  die 
Werte  formell  in  den  Gegenstandsbereich  des  naturwissenschaftlich 
zu  erfassenden  Ablaufes  einzustellen  und  seinen  Typen  zu  unter- 
werfen. Hier  muß  man  ansetzen,  wenn  man  seine  Theorie  der 
Geschichtswissenschaft  an  ihrer  tiefsten  und  zugleich  wundesten 
Stelle  angreifen  will.  Schwer  wird  die  Überwindung  nicht,  wenn 
es  auch  sicher  ist,  daß  das  Feuerwerk  der  letzten  Konsequenzen 
der  Theorie  noch  lange  blenden  wird.  Man  könnte  zeigen,  wie 
der  Satz  „Es  gibt  keine  ewigen  Wahrheiten"  sich  selbst  wider- 
spricht; er  mag  richtig  oder  unrichtig  sein,  immer  folgt  daraus, 
daß  es  doch  solche  Wahrheiten  gibt.  Man  fragt  sich  voll  Er- 
staunen, wie  es  Spengler  möglich  macht,  einen  Standpunkt  über 
den  Kulturen  zu  gewinnen.  Seine  Theorie  ist  ja  auch  ein  Er- 
zeugnis abendländischer  Wissenschaft.  Wenn  nun  alle  Wahrheit 
und  Wissenschaft  nur  für  einen  bestimmten  Kulturkreis  gilt,  dann 
auch  offenbar  die  seinige.  Glänzender  hat  noch  nie  jemand  in  der 
Wissenschaft  seine  eigenen  Gedanken  selber  widerlegt,  als  Spengler 
es  getan  hat. 

Wir  halten  also  an  der  negativen  Erkenntnis  fest,  daß  die 
Geschichtswissenschaft  keine  Gesetzeswissenschaft  sein  kann.  Wie 
erfaßt  nun  die  Geschichte  ihren  Gegenstand,  wenn  sie  es  nicht 
generalisierend  tut?  Auch  an  dem  original-individuellen  Ablauf 
läßt  sich  vieles  generalisierend  betrachten.  Aber  das  muß  sie  der 
Strukturwissenschaft  überlassen.    Was  den  Gegenstand  zu  ihrem 


1)  a.  a.  0.  S.  34,  S.  58,  S.  65. 


Strukturwissenechaft  und  Kulturwissenschaft.  75 

Gegenstand  macht,  ist  nicht  dieses  Allgemeine,  das  der  Gegen- 
stand sogar  mit  Gegenständen  gemeinsam  haben 
kann,  die  überhaupt  nichts  Historisches  besitzen, 
sondern  es  ist  das  Besondere,  das  Individuelle,  das,  was  ihn  von 
den  anderen  unterscheidet,  das,  was  wegen  der  Irrationalität  eben 
gar  nicht  anders  denn  als  Individuelles  verstanden  und  erfaßt 
werden  kann.  Die  Geschichtswissenschaft  muß  also,  wenn  sie 
ihren  Gegenstand  erfassen  will,  auch  abstrahieren,  nur 
nicht  in  dem  Sinne  der  Naturwissenschaft.  Die  Naturwissenschaft 
sieht  vom  Individuellen  ab  und  behält  das  Allgemeine,  die  Ge- 
schichtswissenschaft sieht  vom  Allgemeinen  ab  und  behält  das 
Individuelle.  Dort  ist  die  generalisierende  Abstraktion, 
hier  die  individualisierende  Abstraktion  die  Methode. 
Aber  wohlverstanden:  nicht  bei  allem  individuellen  Geschehen 
macht  die  Geschichtswissenschaft  das  so,  sondern  nur  bei  dem 
original-individuellen. 

Die  Wirklichkeit  des  Original-Individuellen  besitzt  absolute 
Heterogeneität.  Die  vollständige  Darstellung  dieser  Wirklichkeit 
ist  für  die  Geschichtswissenschaft  deshalb  unmöglich.  Gibt  es 
aber  hier  keine  Scheidung  in  Wesentliches  und  Unwesentliches? 
Ohne  Zweifel  kann  man  sie  machen.  Wenn  ich  in  diesem  Augen- 
blicke vom  Schreibtisch  aufstehen  und  zufällig  sehen  würde,  daß 
ein  Buch  meiner  Bibliothek  nicht  an  seinem  richtigen  Platze  ist 
und  dadurch  späteres  Suchen  erschwert  wird,  so  würde  ich  es 
richtig  einstellen.  Dieses  Geschehen  wäre  ein  historisches  Ge- 
schehen, aber  es  wäre  der  Geschichtswissenschaft  höchst  gleich- 
gültig. Wie  trennt  nun  die  Geschichtswissenschaft  das  Wesent- 
liche vom  Unwesentlichen?  Hier  hilft  ihr  im  Grunde  dasselbe 
Moment,  das  ihr  Gegenstandsgebiet  überhaupt  herstellt,  das  Irra- 
tionale. Das  Eintreten  der  Werte  in  die  sinnliche  Wirklichkeit 
stellt  etwas  Neues  in  die  Naturwelt  hinein,  es  schafft  langsam 
Gebilde,  die  ohne  es  nicht  da  wären,  es  macht  eben,  daß  das  histo- 
rische Geschehen  auch  von  Werten  gelenkt  wird.  Es  ist  die 
Ursache,  daß  wir  nicht  nur  Natur,  sondern  auch  Kultur  haben. 
Historisch  wesentlich  nennt  die  Geschichtswissenschaft  nun  das, 
was  nicht  für  ein  Individuum,  sondern  für  mehr  oder  weniger  große 
Gemeinsamkeiten  von  Menschen  bedeutsam  ist,  mit  anderen  Worten, 
was  Beziehung  auf  Kulturgüter  hat. 

Die  allgemeine  Methode  der  Geschichtswissenschaft  ist  also 
zweifach.    Das  Irrationale    zwingt   sie   zur  individualisie- 


76  Aloys  Müller. 

renden  Abstraktion,  zum  Abheben  des  Individuellen  von  dem 
strukturgesetzlich  nicht  ganz  erfaßbaren  Ablauf;  die  absolute 
Heterogeneität  zwingt  sie  zur  isolierenden  Abstraktion, 
zum  Scheiden  des  historisch  Wesentlichen  vom  Unwesentlichen. 
Die  individualisierende  Methode  der  historischen  Wissenschafton 
ist  nicht  das,  genaue  Gegenstück  zu  der  generalisierenden  der 
Strukturwissenschaften.  Denn  während  die  generalisierende  Me- 
thode schon  dort,  wo  es  nötig  ist,  die  Heterogeneität  überwindet 
und  das  Wesentliche  heraushebt,  tut  die  individualisierende  Methode 
das  nicht,  und  zwar  aus  dem  einfachen  Grunde  nicht,  weil  das 
Individuelle  eben  der  Ausdruck  der  Heterogeneität  ist.  Sie  muß 
deshalb  eine  Ergänzung  durch  eine  andere  Methode,  die  isolierende, 
bekommen,  die  das  Wesentliche  vom  Unwesentlichen  trennt.  Es 
ist  also  nicht  der  Begriff  der  Kultur,  der  das  historische  Geschehen 
charakterisiert  und  der  die  individualisierende  Abstraktion  nötig 
und  möglich  macht,  sondern  das  alles  schafft  das  Irrationale.  Aber 
in  der  vom  Irrationalen  bestimmten  historischen  Wirklichkeit  hilft 
der  Kulturbegriff  die  absolute  Heterogeneität  überwinden,  macht 
also  die  Geschichtswissenschaft  als  Wissenschaft  möglich.  Weil 
nun  aber  das  Eintreten  der  Werte  in  die  sinnliche  Wirklichkeit 
die  Kultur  hervorbringt,  beruht  letzten  Endes  auch  diese  Mög- 
lichkeit auf  dem  Dasein  des  Irrationalen.  So  sind  beide  Methoden 
vom  Gegenstand  her  bestimmt,  und  auch  von  diesem  Standpunkte 
aus  wird  das  logische  Wesen  der  Geschichtswissenschaften  richtig 
bezeichnet,  wenn  man  sie  Kulturwissenschaften  nennt. 

Noch  ein  Wort  über  die  besondere  Form,  die  die  individua- 
lisierende Methode  annimmt.  Weil  die  Geschichtswissenschaft  es 
mit  dem  original-individuellen  Ablauf  des  Geschehens  zu  tun  hat, 
die  Induktion  aber  das  bleibende  Homogene  erfassen  will,  so  kennt 
die  Geschichtswissenschaft  eine  Induktion  im  eigentlichen  Sinne 
nicht.  Es  gibt  also  empirische  Wissenschaft  ohne  Induktion.  Weil 
nun  aber  die  Vergangenheit  vom  Historiker  nur  in  winzigem  Aus- 
maße unmittelbar  erlebt  ist,  so  kann  die  Geschichtswissenschaft 
zu  ihr  nur  in  den  Zeugnissen  der  Vergangenheit  in  Beziehung 
treten:  sie  muß  als  individualisierende  Wissenschaft  Zeugnis- 
wissenschaft sein. 

Somit  haben  wir  den  Rickertschen  Gegensatz  „Naturwissen- 
schaft und  Kulturwissenschaft"  erweitert  in  den  Gegensatz 
„Strukturwissenschaft  und  Kulturwissenschaft",  und 
zwar   in   zwingender   Folgerichtigkeit   aus    dem  Versuche   heraus, 


Strukturwissenschaft  und  Kulturwissenschaft.  77 

die  Wissenschaften  vom  Gegenstände  her  zu  bestimmen.  Mir 
scheint  zunächst,  daß  Struktur  ganz  gut  das  ausdrückt,  was  hier 
im  Gegensatz  zur  Kultur  gemeint  ist  und  was  Natur  im  engeren 
Rahmen  bezeichnet.  Struktur  bedeutet  zunächst  das  Ungemachte, 
Selbstgewachsene,  das  natürlich  Seiende  im  Gegensatz  zum  Ge- 
pflegten, Geschaffenen  der  Kultur.  Man  spricht  kaum  von  der 
Struktur  einer  Statue,  wohl  aber  von  der  Struktur  des  Marmors. 
Und  wenn  das  Wort  einmal  von  Kulturdingen  gebraucht  wird, 
da  meint  es  in  der  Regel  Strukturwissenschaftliches,  das  ja  mit 
allen  Kulturdingen  verknüpft  ist.  Struktur  bezeichnet  zweitens 
das  Ruhende,  das  zeitlos  Seiende  im  Gegensatz  zum  zeitlich  Ab- 
laufenden der  Kulturerscheinungen.  Das  Begriffspaar  Struktur — 
Kultur  behält  hier  auch  dieselbe  Aufgabe  wie  das  Rickertsche 
Paar.  Der  Begriff  Kultur  ist  auch  hier  das,  was  die  Geschichts- 
wissenschaft als  Wissenschaft  begründet,  indem  es  die  Hetero- 
geneität  ihres  Gegenstandsbereiches  überwinden  hilft.  Natur  ist 
bei  Rickert  mit  Gesetz  untrennbar  verbunden:  Wo  Natur,  da 
Gesetz.  Weil  nun  das  Gesetz  als  Erfassung  des  Homogenen  die 
Heterogeneität  des  sinnlichen  Gegenstandsbereiches  überwindet 
und  so  die  Naturwissenschaft  als  Wissenschaft  möglich  macht,  ist 
die  Gegenüberstellung  Natur — Kultur  gestattet.  Damit  weist  aber 
dieser  Gegensatz  schon  über  sich  selbst  hinaus.  Denn  in  allen 
Gegenstandsgebieten  mit  Ausnahme  des  historischen  gibt  es  Ge- 
setze. Wo  Struktur  ist,  da  ist  Gesetz,  und,  so  können  wir  hin- 
zufügen, wo  Gesetz  ist,  da  ist  Struktur.  Der  Gegensatz  Struktur — 
Kultur  hat  demnach  denselben  logischen  Typus  wie  der  engere 
Rickertsche  Gegensatz  Natur — Kultur,  und  somit  bietet  sich  der 
Strukturbegriff  als  eine  selbstverständlich  verblaßte,  aber  doch 
treffende  Erweiterung  des  Naturbegriffes  zum  Gebrauche  in  der 
Wissenschaftstheorie  an. 

V.    Die  allgemeine  Methode  der  Naturwissenschaft. 

Wir  haben  schon  angedeutet,  daß  die  allgemeine  Methode  der 
Naturwissenschaft  (die  das  ausdrückt,  was  den  Methoden  der 
Strukturwissenschaft  gemeinsam  ist)  generalisierend  ist  und  auf 
dem  Dasein  von  Homogenem  beruht.  Die  generalisierende  Methode 
nimmt  nun  in  der  Naturwissenschaft  die  besondere  Form  der  In- 
duktion an.  Wir  dürfen  aber,  um  das  richtig  zu  verstehen,  eine 
wichtige  Unterscheidung  nicht  aus  den  Augen  lassen.  Die  Gene- 
ralisationen   der  Naturwissenschaft   werden   erreicht   nicht  nur 


78  Aloys  Müller, 

auf  dem  Wege  der  Induktion,  sondern  auch  durch  Deduktion, 
Vergleich,  Analogie,  Intuition  usw.  Aber  gerechtfertigt 
werden  sie  ausschließlich  durch  die  Induktion.  Die  auf  irgend  eine 
Weise  gefundene  Bestätigung  in  der  Erfahrung  ist  der  einzige 
legitime  Weg,  auf  dem  letzten  Endes  die  Geltung  der  natur- 
wissenschaftlichen Generalisationen  erwiesen  wird. 

Wir  zerlegen  unsere  Ableitung  der  Induktion  aus  dem  Gegen- 
standscharakter der  sinnlichen  Wirklichkeit  in  zwei  Teile.  An 
erster  Stelle  zeigen  wir,  wie  sich  aus  der  Struktur  dieser  Wirk- 
lichkeit die  sogenannte  Inhalt- Umfang-Relation  (I-U-R)  ergibt, 
an  zweiter  Stelle,  wie  die  I-TJ-R  eine  notwendige  Bedingung  der 
Induktion  ist.  Der  Zusammenhang,  den  wir  hier  beschreiben,  ist 
von  Zilsel1)  aufgewiesen  worden.  Wir  ändern  seine  Darstellung 
ein  wenig  ab. 

Man  kann  mehrere  oder  alle  Gegenstände  derselben  Art  zu 
einer  Klasse  zusammenfassen  und  nennt  sie  dann  Glieder  der 
Klasse.  Im  ersten  Falle  sprechen  wir  von  immanenter  Klassen- 
bildung und  interessieren  uns  im  folgenden  nur  für  sie.  Jede 
Klasse  kann  wieder  als  ein  Gegenstand  mit  einem  Inhalt  be- 
trachtet werden.  Es  ist  nur  von  vornherein  nicht  klar,  was  wir 
unter  dem  Inhalt  einer  Klasse  verstehen  sollen.  An  und  für  sich 
kann  man  zweierlei  damit  meinen:  entweder  faßt  man  alle  In- 
haltsteile der  Glieder  zusammen  oder  nur  diejenigen,  die  den 
Gliedern  gemeinsam  sind.  Das  erstere  ist  aber  wegen  der  Hete- 
rogeneität  der  sinnlichen  Wirklichkeit  ausgeschlossen.  So  bleibt 
das  zweite  allein  übrig.  Um  seine  Rechtmäßigkeit  einzusehen, 
braucht  man  nur  zu  überlegen,  daß  die  gemeinsamen  Inhaltsteile 
der  Glieder  ja  alle  Teile  sind,  die  die  Klasse  als  ein  Gegen- 
stand besitzt. 

Wir  fragen  uns  nun,  wie  sich  Inhalt  und  Umfang  bei  imma- 
nenter Klassenbildung  zu  einander  verhalten. 

Wenn  ich  zu  einem  einzelnen  Gegenstande  Ii  Ui  einen  zweiten 
I2  U2  hinzufüge,  so  entsteht  eine  Klasse  (Ii  Ui  I2  U2)  als  neuer 
Gegenstand,  dessen  Umfang  man  mit  Ui  -f  U2,  dessen  Inhalt  man 
aber,  weil  er  nur  die  gemeinsamen  Teile  faßt,  mit  L  I2  be- 
zeichnen kann. 

Ist,  wenn  wir  unser  Augenmerk  auf  die  Anzahl  der  Inhalts- 
teile richten,  Ii  I2  größer,  gleich  oder  kleiner  als  Ii  ? 


1)  E.  Zilsel,  Das  Anwendungsproblem,  1916. 


Strukturwissenschaft  und  Kulturwissenschaft.  79 

Es  kann  nicht  größer  sein.  Denn  wenn  selbst  I2  größer  als 
Ii  ist,  so  kann  doch,  weil  Ii  L  ja  die  g  e  m  e  i  n  s  a  m  e  n  Teile  be- 
deutet, Ii  I2  höchstens  gleich  Ii  sein. 

Ii  L  kann  aber  auch  nicht  gleich  Ii  sein.  Ein  Merkmal  der 
Heterogeneität  ist  ja  die  Andersartigkeit,  die  besagt,  daß  jeder 
Inhalt  auch  Teile  hat,  die  andere  Inhalte  nicht  haben.  Ii  hat  also 
auch  andere  Teile  als  L.  Da  nun  Ii  I2  die  gemeinsamen  Teile 
bedeutet,  kann  es  nicht  gleich  Ii  sein,  sondern  muß  kleiner  sein 
als  Ii. 

Fügen  wir  nun  zu  (Ii  Ui  I2  U2)  einen  weiteren  Gegenstand 
L  Us  hinzu,  so  können  wir  diese  Betrachtung  mit  dem  gleichen 
Ergebnis  wiederholen.  Das  Ergebnis  hat  also  allgemeine  Geltung. 
Gehen  wir  umgekehrt  von  der  Klasse  aus  und  lassen  Glieder  weg, 
so  nimmt  der  Inhalt  ab.  Es  ergibt  sich  also  schließlich  die 
I-U-B,:  Mit  wachsendem  Umfang  nimmt  der  Inhalt  ab  und  um- 
gekehrt. 

Betrifft  die  Inhaltsabnahme  nun  alle  Teile  in  der  gleichen 
Weise?  Sie  tut  das  nicht.  Denn  da  es  in  der  sinnlichen  Wirk- 
lichkeit auch  unechte  Teile  gibt,  die  bei  Gegenständen  derselben 
Art  zahlreiche  gemeinsame  Teile  erzeugen,  so  werden  offensicht- 
lich die  echten  Teile  in  erster  Linie  von  der  Inhaltsabnahme  be- 
troffen. Was  nun  aber  hier  die  der  Heterogeneität  überlagerte 
Homogeneität  tut,  das  kann  ich  bei  immanenter  Klassenbildung  mit 
Absicht  bei  echten  Teilen  tun,  nämlich  einen  echten  Teil  so  fest- 
halten, daß  die  Inhaltsabnäbme  ihn  nicht  betrifft.  Wenn  ich  z.  B. 
eine  elastische  Kugel  oft  unter  dem  Winkel  von  30°  wider  eine  feste 
Wand  stoßen  lasse,  dann  habe  ich  unter  den  unendlich  vielen 
Gegenständen  „Stoß  der  elastischen  Kugel  wider  die  feste  Wand" 
diejenigen  wirklich  erzeugt,  die  den  echten  Inhaltsteil  „unter  dem 
Winkel  von  300tf  besitzen.  Anstatt  zu  sagen,  daß  man  einen  In- 
haltsteil festhalte,  kann  man  also  auch  sagen,  man  wähle  aus  einer 
Klasse  Individuen  unter  einem  bestimmten  Gesichtspunkte  aus, 
und  diesen  Gesichtspunkt  liefert  eben  der  festgehaltene  Inhaltsteil. 

Um  nun  zu  sehen,  wie  die  Induktion  auf  der  I-U-ß  beruht, 
nehmen  wir  das  Beispiel  von  vorhin.  Ich  lasse  eine  elastische 
Kugel  beliebig  oft  wider  eine  feste  Wand  stoßen  und  wähle  dann 
unter  all  den  Gegenständen  dieser  Klasse  diejenigen  mit  dem 
echten  Inhalts  teil  „unter  dem  Winkel  von  30° u  aus.  Dann  wird 
sich  zeigen,  daß  bei  den  ausgewählten  Gegenständen  stets  außer 
diesem  Teil  noch  ein  weiterer  Teil  konstant  geblieben  ist,  nämlich 


80  Aloys  Müller, 

das  „Abprallen  unter  dem  Winkel  von  300a.  Es  treten  also  kon- 
stante Verknüpfungen  von  Inhaltsteilen  auf.  Weil  nun  nach  der 
I-U-R  die  echten  Teile  in  erster  Linie  von  der  Inhaltsabnahme 
betroffen  werden,  so  müssen  wir  schließen,  daß  der  festgehaltene 
Teil  gar  kein  echter  Teil  ist,  sondern  mit  dem  anderen  notwendig 
verknüpft  ist.  Wir  schließen  demnach  auf  Grund  der  I-U-R  von 
der  Konstanz  einer  Verknüpfung  auf  die  Notwendigkeit,  und  das 
ist  der  Typus  jedes  Induktionsschlusses.  Wende  ich  die  I-U-R 
noch  öfter  auf  die  genannte  Gegenstandsklasse  an,  so  ergibt  das 
schließlich  den  allgemeinen  Satz,  daß  das  Abprallen  stets  unter 
demselben  Winkel  wie  das  Aufprallen  geschieht..  Wir  sehen,  daß 
jede  Induktion  ein  System  von  immanenten  Klassen- 
bildungen mit   festgehaltenen  Inhaltsteilen   enthält. 

Sicher  ist  also  nach  dieser  Analyse,  daß  jede  Induktion  auf 
der  I-U-R  beruht ;  es  fragt  sich  nur,  ob  sie  darauf  beruhen  muß, 
ob  also  die  I-U-R  eine  notwendige  Bedingung  der  Induktion  ist. 
Wir  wollen  einmal  annehmen,  die  I-U-R  gelte  nicht.  Was  würde 
die  Folge  sein?  Dann  müßten  außer  den  notwendigen  Verknüp- 
fungen noch  andere  auftreten,  die  zufällig  sind,  und  es  wäre  uns 
unmöglich,  die  zufälligen  von  den  notwendigen  zu  unterscheiden. 
Wenn  ich,  um  bei  dem  genannten  Beispiel  zu  bleiben,  die  Kugel 
unter  dem  Winkel  von  30°  mit  verschiedenen  Geschwindigkeiten 
vi,  V2,  vs  . . .  vn  aufprallen  ließe,  so  würde  sich  etwa  ergeben,  daß 
das  Abprallen  stets  unter  dem  Winkel  von  30°  mit  der  gleichen 
Geschwindigkeit  V3  erfolgt,  so  daß  also  dann  der  eine  festgehaltene 
Inhalts  teil  „Stoß  unter  30° u  mit  den  beiden  Inhaltsteileh  „Abprall 
unter  30° a  und  „Abprall  mit  der  Geschwindigkeit  vs"  verknüpft 
erschiene.  Die  Induktion  wäre  in  diesem  Falle  ausgeschlossen. 
Daraus  folgt,  daß  die  Induktion  die  I-U-R  notwendig  voraussetzt. 
Da  nun  aber  die  I-U-R,  wie  wir  sahen,  nur  bei  der  bestimmten 
Struktur  der  sinnlichen  Wirklichkeit  vorhanden  ist,  so  ergibt  sich, 
daß  die  Induktion  bei  dieser  und  nur  bei  dieser  Struktur  einer 
Wirklichkeit  möglich  ist,  daß  sie  die  Methode  ist,  die  diese  Struktur 
sich  aus  allen  Methoden  auswählt. 

Um  nicht  mißverstanden  zu  werden,  möchte  ich  noch  betonen, 
daß  die  I-U-R  durchaus  nicht  die  einzige  Bedingung  der  In- 
duktion ist.  Sie  hilft  die  konstanten  Verknüpfungen  finden.  Der 
Schluß  von  der  Konstanz  auf  die  Notwendigkeit  aber  muß  eigens 
logisch  gerechtfertigt  werden.  Das  geht  nun  über  die  Grenze 
hinaus,  die  wir  uns  gezogen  haben.    Es  genügt  für  unsere  Aufgabe, 


Strukturwissenschaft  und  Kulturwissenschaft.  81 

wenn  wir  erkannt  haben,    daß  die  I-U-R  eine  notwendige  Be- 
dingung der  Induktion  ist. 

VI.    Die  allgemeine  Methode  der  Mathematik. 

Auch  die  Mathematik  generalisiert  (aber  ohne  Abstraktion). 
Diese  Behauptung  mag  auf  den  ersten  Blick  Verwunderung  er- 
regen und  Widerspruch  wachrufen.  Bei  genauerem  Zusehen  er- 
weist sie  sich  aber  als  richtig.  Die  Mathematik  generalisiert  schon, 
wenn  sie  Buchstaben  für  Zahlen  setzt.  Sie  faßt  die  Gleichungen 
der  verschiedenen  Kegelschnitte  in  der  allgemeinen  Kegelschnitts- 
gleichung zusammen.  Sie  begnügt  sich  nicht  damit,  beliebige 
Primzahlen  rechnerisch  zu  erhalten,  sondern  sucht  allgemeine  Ge- 
setze der  Verteilung  der  Primzahlen.  Sie  stellt  allgemeine  Sätze 
über  die  Wurzeln  von  Gleichungen  auf.  Sie  versucht  ganze  Ge- 
biete einheitlich  zu  verstehen,  z.  B.  vom  Gruppenbegriff  aus  die 
euklidische  Geometrie  oder  die  Gleichungen  in  der  Galoisschen 
Theorie.  Kurz,  sie  forscht  immer  nach  allgemeinen  Standpunkten, 
die  das  Besondere  einschließen  und  von  wo  aus  es  sich  infolge- 
dessen erfassen  läßt. 

Auch  zu  den  mathematischen  Generalisationen  führen  die 
verschiedensten  Methoden,  Induktion,  Deduktion,  Analogie,  der 
Instinkt,  den  jeder  echte  Forscher  hat.  Aber  die  einzige  Methode, 
durch  die  die  mathematischen  Generalisationen  bewiesen  werden, 
ist  die  Deduktion. 

Wir  führen  nun  den  Beweis  dafür,  daß  die  Generalisation  vom 
Gegenstande  der  Mathematik  gefordert  wird,  und  zwar  in  der 
eigenartigen  Form,  in  der  sie  hier  auftritt,  auf  indirektem  Wege. 
Wir  werden  erstens  sehen,  daß  die  Struktur  des  mathematischen 
Gegenstandsbereiches  die  Induktion  ausschließt.  Die  Deduktion 
bleibt  also  als  einziges  legitimes  Beweismittel  übrig;  die  Deduktion 
führt  aber  zur  Generalisation  oder  setzt  sie  voraus.  Wir  werden 
zweitens  erkennen,  wie  der  absolut  sichere  Charakter  der  mathe- 
matischen Deduktion  gleichfalls  auf  jener  Struktur  beruht. 

Die  Struktur  des  Wirklichkeitsbereiches  der  mathematischen 
Gegenstände  ist  so,  daß  in  ihm  die  Andersartigkeit  zum  Teil,  die 
Unübersehbarkeit  ganz  geschwunden  ist.  Nehmen  wir  zunächst  den 
Fall,  daß  zwei  absolut  gleiche  Gegenstände  zu  einer  Klasse  ver- 
einigt werden,  so  ist  offenbar  der  ganze  Inhalt  jedes  Gegenstandes 
der  gemeinsame  Inhalt.     Er  bleibt  konstant,  so  viele  von  den  ab- 

Kantstudien.  XXVII.  6 


g2  Aloys  Müller, 

solut  gleichen  Gegenständen  wir  auch  hinzunehmen.  Hier  gilt 
also  jedenfalls  die  I-U-R  nicht. 

Fassen  wir  nun  zwei  mathematische  Gegenstände  mit  ver- 
schiedenem Inhalt  zusammen,  z.  B.  die  Zahlen  5  und  7  oder  zwei 
Ellipsen,  so  tritt  im  allgemeinen  gleich  mit  diesem  Schritte 
der  Klassenbildung  schon  die  Konstanz  des  Inhaltes  ein;  der  In- 
halt ist  jetzt,  weil  er  nicht  unübersehbar  ist,  bereits  zusammen- 
geschrumpft auf  das,  was  allen  Gliedern  der  Klasse  gemeinsam 
ist.  Es  kann  natürlich  durch  Zufall  vorkommen,  daß  die  Konstanz 
noch  nicht  gleich  beim  ersten  Schritt  vorhanden  ist,  wenn  ich  z.  B. 
zwei  Ellipsen  nehme,  deren  kleine  Achsen  gleich  sind.  Aber  solche 
Zufälligkeiten  müssen  außer  Betracht  bleiben.  Die  I-U-R  verlangt 
einen  bei  jeder  Umfangszunahme  abnehmenden  Inhalt.  Sie  gilt 
also  auch  im  vorliegenden  Falle  nicht. 

Das  Nichtbestehen  der  I-U-R  im  mathematischen  Gegenstands- 
gebiet läßt  sich  auch  indirekt  beweisen.  Wir  hörten  im  vorigen 
Abschnitt,  daß,  wenn  die  I-U-R  nicht  gilt,  zufällige  Konstanzen 
auftreten  müssen  und  wir  außerstande  sind,  zufällige  von  not- 
wendigen zu  unterscheiden.  Dieser  Zustand  liegt  nun  tatsächlich 
im  mathematischen  Gebiete  vor.  Daß  z.  B.  der  Ausdruck  x2  -f-  x  +  41 
eine  Primzahl  ist,  ist  eine  für  viele  Fälle  zufällig  auftretende 
Verknüpfung;  sie  ist  aber  nicht  notwendig,  denn  für  x  =  40  ist 
sie  z.  B.  falsch.  Ob  ferner  der  Satz,  daß  jede  gerade  Zahl  sich 
als  die  Summe  zweier  Primzahlen  darstellen  läßt,  notwendig  gilt 
oder  nur  zufällig  für  die  bis  jetzt  untersuchten  geraden  Zahlen, 
wissen  wir  nicht. 

Wir  sehen  also,  daß  die  I-U-R  im  Bereiche  der  mathematischen 
Gegenstände  nicht  besteht.  Weil  sie  aber  eine  notwendige 
Bedingung  der  Induktion  ist,  kennt  die  Mathema- 
tik auch  keine  Induktion.  Wir  wollen  nur  einen  Augen- 
blick darauf  aufmerken,  daß  die  Mathematik  die  I-U-R  sozusagen 
in  ihr  Gegenteil  verkehrt.  Wenn  nämlich  ihre  Generalisationen 
Aussagen  über  Relationen  zwischen  homogen-quantitativen  Gegen- 
ständen sind,  so  enthalten  diese  Aussagen  nicht  die  gemein- 
samen Inhaltsteile  der  Gegenstände,  sondern  alle  Inhaltsteile. 
Die  Ellipsengleichung  enthält  alle  Besonderheiten  aller  Ellipsen, 
die  Kegelschnittsgleichung  alle  Besonderheiten  aller  Kegelschnitte, 
die  Gleichung  der  Flächen  zweiter  Ordnung  alle  Besonderheiten 
aller  Flächen  zweiter  Ordnung  usw. 

Man  könnte  unseren  Beweis  dafür,  daß  die  Deduktion  von  der 


Strukturwissenschaft  und  Kulturwissenschaft.  83 

Struktur  des  mathematischen  Gegenstandsbereiehes  gefordert  wird, 
deshalb  noch  nicht  für  geschlossen  halten,  weil  doch  die  sog.  voll- 
ständige Induktion  in  der  Mathematik  möglich  sei.  Hier  muß 
man  unterscheiden.  Wenn  man  mit  Windelband *)  den  Schluß  vom 
universalen  auf  das  generelle  Urteil  als  vollständige  Induktion 
bezeichnet,  so  ist,  wie  Windelband  selbst  bemerkt,  kein  Unterschied 
von  der  eigentlichen  Induktion  vorhanden.  Jener  Schluß  ist  aber 
in  der  Mathematik  unmöglich.  Denn  in  ihr  ist  jedes  universale 
Urteil  zugleich  ein  generelles,  weil  alle  möglichen,  d.  h.  wider- 
spruchsfreien Gegenstände  des  mathematischen  Bereiches  wirklich 
sind.  In  allen  anderen  Fällen  ist  die  sog.  vollständige  Induktion 
überhaupt  keine  Induktion. 

Es  erübrigt  noch  ein  Wort  über  den  absolut  sicheren  Cha- 
rakter der  mathematischen  Deduktion.  Worauf  er  beruht,  können 
wir  auf  indirekte  Weise  folgendermaßen  finden.  Wir  suchen  die 
Wissenschaften,  die  die  gleiche  Gewißheit  wie  die  Mathematik  er- 
geben und  lesen  dann  die  Übereinstimmungen  zwischen  ihren 
Gegenständen  ab.  Es  gibt  nun  nur  eine  einzige  Wissenschaft  von 
derselben  Gewißheit,  die  Relationstheorie;  die  mathematische 
Naturwissenschaft  kommt  nicht  in  Betracht,  weil  sie  ihre  Gewiß- 
heit ja  nur  von  der  Mathematik  hat.  Mathematik  und  Relations- 
theorie stimmen  nun  darin  überein  und  unterscheiden  sich  dadurch 
von  allen  anderen  Wissenschaften,  daß  sie  sich  mit  homogenen 
Gegenständen  beschäftigen.  Auf  der  Homogeneität  ihres  Gegen- 
standsbereiches beruht  also  die  Gewißheit  der  Mathematik2). 

VII.    Allgemeine  Resultate. 

Da  es  sich  in  den  vorstehenden  Ausführungen  zum  Teil  um 
einen  ersten  Versuch  handelt,  in  das  Wesen  gewisser  Zusammen- 
hänge einzudringen,  und  ich  die  großen  Linien  nicht  durch  vieles 
Beiwerk  überdecken  mochte,  habe  ich  möglichste  Kürze  angestrebt. 
Dadurch  sind  vielleicht  mehr  Probleme  aufgegeben  als  gelöst  worden. 
Trotzdem  sind  wir  in  der  Lage,  auch  etwas  Allgemeines  über  unser 
Hauptproblem  des  Verhältnisses  von  Gegenstand  und  Methode  ab- 
zuheben. 


1)  Windelband  in  der  Enzyklopädie  der  pliilos.  Wissenschaften,  1,  40,  1912. 

2)  Eingehenderes  über  die  Probleme  dieses  Abschnittes  und  vor  allem  über 
ihre  gegenstandstheoretische  Grundlage  in  meiner  beim  III.  Abschnitt  zitierten 
Schrift  über  den  Gegenstand  der  Mathematik. 

6* 


84  Aloys  Müller, 

Dieses  Verhältnis  stellt  sich  etwa  so  dar.  Der  allgemeine 
Charakter  der  Methode  einer  "Wissenschaft  hängt  davon  ab,  ob 
für  sie  die  Gegenstände  ihres  Bereiches  nnr  heterogen  oder  auch 
homogen  sind.  Besitzt  das  Gegenstandsgebiet  einer  Wissenschaft 
auch  Homogeneität,  die  nicht  ausschließlich  von  der  Gegenstands- 
theorie erfaßt  wird,  so  ist  die  Generalisation  möglich  und  nötig. 
Weil  das  in  den  Gegenstandsgebieten  der  Strukturwissenschaften 
der  Fall  ist,  läßt  sich  ihre  Methode  allgemein  als  generalisierend 
(nicht  immer  durch  Abstraktion)  charakterisieren.  Daß  die  histo- 
rischen Wissenschaften  trotz  der  homogenen  Bestandteile  ihres 
Gegenstandsgebietes  nicht  generalisieren,  liegt  daran,  daß  diese 
homogenen  Teile  von  der  Naturwissenschaft  und  der  Gegenstands- 
theorie schon  erfaßt  werden.  Der  besondere  Charakter,  den 
die  generalisierende  Methode  einer  Wissenschaft  annimmt,  ist  durch 
das  Maß  bestimmt,  in  dem  das  Heterogene  vom  Homogenen  durch- 
herrscht wird. 

Wir  lassen  die  Frage  offen,  ob  das  Begriffspaar  heterogen- 
homogen ausreicht,  um  auf  allen  Gegenstandsgebieten  den  Zu- 
sammenhang zwischen  Gegenstand  und  Methode  aufzuweisen. 

Noch  zwei  Bemerkungen  zum  Schluß. 

Zunächst  läßt  die  Abhängigkeit  der  Methode  vom  Gegenstande 
der  Persönlichkeit  des  Forschers  einen  großen  Spiel- 
raum. Der  Gegenstand  eines  Gebietes  verlangt  nur  eine  bestimmte 
allgemeine  Methode  der  Rechtfertigung.  Wie  diese  Methode 
im  einzelnen  Falle  gehandhabt  und  ausgebaut  wird,  ist  Sache  des 
Forschers.  Ein  Vergleich  kann  das  verdeutlichen:  wenn  jemand 
sich  einen  Anzug  aussucht,  so  verlangt  seine  Gestalt  einen  zu  ihr 
passenden  Anzug;  aber  der  Stoff,  die  Farbe,  der  Schnitt  usw. 
können  beliebig  ausgewählt  werden.  Fast  ganz  Sache  des  For- 
schers ist  die  Axt  und  Weise,  wie  er  die  Wahrheiten  seiner  Wissen- 
schaften findet;  dabei  kommt  es  übrigens  weniger  auf  die  Me- 
thode, sondern  mehr  auf  die  Problemstellung  an. 

Nachdem  ich  schon  in  den  einleitenden  Worten  angedeutet 
habe,  daß  unsere  Überlegungen  zwar  ihre  Wurzel  in  Rickertschen 
Gedankenkreisen  haben,  aber  nicht  nur  über  sie  hinauswachsen, 
sondern  sie  auch  manchmal  durchbrechen,  möchte  ich  endlich,  um 
Mißverständnisse  bei  solchen,  die  die  Rickertschen  Gedanken  noch 
immer  nicht  verstehen  können,  auszuschließen,  die  hauptsächlichsten 
Gegensätze  zu  Rickert  —  und  nur  diese  —  noch  kurz  zusammen- 
stellen. 


Strukturwissenschaft  und  Kulturwissenschaft.  85 

1)  Nach  Rickert  können  -zwei  Wissenschaften  denselben  Gegen- 
stand haben  und  sich  nur  durch  ihre  Methode  unterscheiden;  das 
ist  für  ihn  z.  B.  der  Fall  bei  Naturwissenschaft  und  Geschichts- 
wissenschaft.  Ich  bin  der  Ansicht,  daß  jede  Wissenschaft  einen 
ihr  und  nur  ihr  eigentümlichen  Gegenstand  besitzt  und  daß  von 
diesem  Gegenstande  her  die  allgemeine  Methode  der  Wissenschaft 
und  ihre  besondere  Form  bestimmt  sind.  Nur  von  diesem  Stand- 
punkt aus  ist  die  Verschiedenheit  der  Methoden  zu  verstehen  und 
zu  begründen,  wie  ich  praktisch  an  drei  Beispielen  gezeigt  habe. 
Wir  sehen  also  bei  Rickert  eine  Überschätzung  der  Methode  und 
eine  Unters chätzung  des  Gegenstandes,  die  vermutlich  mit  seiner 
Erkenntnistheorie  zusammenhängen. 

2)  Als  Gegenstand  der  Geschichtswissenschaft  haben  wir  aus 
dem  Gegenstandssystem  abgeleitet  den  original-individuellen  Ab- 
lauf des  sinnlichen  Geschehens,  während  ßickert  ihn  in  der  sinn- 
lichen Wirklichkeit  selbst  erblickt.  Für  uns  ergibt  sich  so  ohne 
weiteres,  daß  nur  Menschheitsgeschichte  Geschichte  ist,  und  manche 
der  von  Rickert  sog.  Mischformen  unter  den  Wissenschaften,  wie 
z.  B.  die  Biologie,  machen  uns  keine  Schwierigkeit  mehr. 

3)  Rickert  stellt  die  generalisierende  Abstraktion  als  Methode 
der  Naturwissenschaft  und  die  individualisierende  Abstraktion  als 
Methode  der  Geschichtswissenschaft  in  genaue  Parallele.  Aber 
dieser  Parallelismus  besteht  nicht.  Denn  die  individualisierende 
Methode  leistet  nicht  alles  das  auf  ihrem  Gegenstandsgebiet,  was 
die  generalisierende  auf  dem  ihren  leistet,  sondern  nur  einen  Teil 
davon.  Den  anderen  Teil  —  die  Überwindung  der  Heterogeneität 
des  Gebietes  —  übernimmt  bei  der  Geschichtswissenschaft  die 
isolierende  Abstraktion.  — 

Alle  unsere  Überlegungen  bewegen  sich  außerhalb  der  erkennt- 
nistheoretischen Sphäre.  Wie  sie  sich  in  das  Transzendental- 
problem einfügen,  mag  eine  spätere  Arbeit  zeigen. 

Nachschrift  bei  der  Korrektur.  Kurz  vor  der  Kor- 
rektur erschien  die  3.  und  4.  Auflage  von  Rickerts  Buch  „Die  Grenzen 
der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung",  die  dem  Gegenstand 
sein  Recht  geben  soll.  Ich  kenne  sie  bis  jetzt  nicht,  hätte  sie  aber 
auch  nicht  mehr  berücksichtigen  können. 


Der  Darwinismus  und  die  logische  Struktur 
des  biologischen  Artbegriffs1). 

Von   Privatdozent  Dr.  Emil  Unserer,  Karlsruhe. 


Mit  wieviel  Recht  man  auch  die  Naturwissenschaft,  die  von 
der  Erfahrung  ausgeht  und  ihrer  Bestimmung  sich  widmet,  eine 
Tatsachenwissenschaft  nennt,  wie  treffend  man  sie,  die 
feste  Formen  des  Geschehens  und  des  Soseins  sucht,  als  Gesetzes- 
wissenschaft  kennzeichnet:  wo  wir  irgend  größere  Abschnitte 
ihrer  Geschichte  im  Zusammenhang  überschauen,  sehen  wir  ihre 
Fragestellung,  ihr  Arbeitsverfahren  und  ihre  Ergebnisse  bedingt 
durch  große  Theorien.  Sie  sind  es,  die  ganzen  Zeiträumen  der 
"Wissensgeschichte  ihr  Gepräge  geben.  Als  kühne  Ideen  weisen 
sie  nach  einem  Ziele,  zu  dem  sogleich  eine  Schar  von  Hypothesen 
nach  mancherlei  Plänen  Wege  zu  zeigen  versucht,  auf  denen  erst 
die  Forschung  dann  jene  Gesetze  findet,  durch  die  sie  Tatsachen 
bestimmt. 

So  ist  die  Biologie  im  letzten  Drittel  des  19.  Jahrhunderts  — 
fast  bis  in  ihre  letzten  Auszweigungen  —  bedingt  durch  jenes 
Theorien-  und  Hypothesengebilde,  das  man  als  Darwinismus 
bezeichnet,  und  das  in  seinem  wesentlichen  Grundstock  auch  wirk- 
lich Charles  Darwins  Werk  war.  Wenn  man  von  allem  Beiwerk 
absieht,  so  enthält  seine  Lehre  zwei  Hauptbestandteile,  die  man 
unter  Anhängern  und   Gegnern    früh   scharf   geschieden  hat:    die 


1)  Literatur  angaben  über  die  sachliche  Seite  der  behandelten  Fragen,  die 
den  Text  dieser  kurzen  Ausführungen  zu  stark  belasten  würden,  finden  sich  in 
meiner  als  Heft  14  von  J.  Schaxels  „Abhandlungen  zur  theoretischen  Biologie"  (1921) 
erscheinenden  Arbeit  „Die  Teleologie  Kants  und  ihre  Bedeutung  für  die  Logik  der 
Biologie",  wo  die  hier  dargestellten  Probleme  unter  anderen  Gesichtspunkten  er- 
örtert werden.  Dort  wird  auch  der  Erblichkeitsbegriff  des  Neodarwinismus  und  des 
Neolamarckismus  berücksichtigt,  sowie  zu  Stadlers  Auffassung  des  Darwinismus 
in  seiner  Schrift  über  „Kants  Teleologie"  (1874)  Stellung  genommen. 


Emil  TTngerer,  Der  Darwinismus  u.  d.  log.  Struktur  d.  biol.  Artbegriffs.       87 

Lehre  von  der  Abstammung  der  Lebewesen,  von  ihrem  ge- 
netischen Zusammenhang,  die  ihre  vielgestaltige  Mannigfaltigkeit 
auf  ihre  Geschichte  zurückführt,  ihre  Herkunft  von  eintachsten 
Organismen  auf  den  im  biologischen  System  vorgezeichneten  (in 
Vergangenheit  oder  Gegenwart  verwirklichten)  Zwischenstufen  be- 
hauptet, —  und  die  Lehre  von  der  Entstehung  dieser  Ge- 
samtheit von  Lebewesen  durch  ununterbrochene  Variabi- 
lität unter  Ausmerzung  aller  „nich  tan  gepaßten"  Organismen  im 
Kampf  ums  Dasein,  die  Lehre  von  der  natürlichen  Selektion.  Beiden 
Teilen  zugleich  verdankt  der  Darwinismus  seinen  unerhörten  Sieges- 
zug weit  über  die  Grenzen  der  Biologie  hinaus.  Im  Abstammungs- 
gedanken erhielt  die  uralte  Entwicklungsidee  neue  Gestalt,  der 
sich  kein  geschichtlich  aufzufassendes  Geschehen  entziehen  konnte. 
Durch  die  Lehre  von  der  natürlichen  Zuchtwahl  wurde  der  seltsam 
gesetzmäßige  Bau  der  Organismen  und  das  verwickelte  Getriebe 
des  organischen  Geschehens  —  welch  beide  man  in  vor  auf  gehenden 
Zeitaltern  der  Biologie  ohne  Zielstrebigkeit,  ohne  Verwendung  der 
Zweckidee  meist  nicht  zu  erklären  gehofft  hatte  —  zurückgeführt 
auf  die  sich  von  selbst  ergebende  Auslese  zufälliger  Treffer  nach 
Wahrscheinlichkeitsregeln,  und  damit  schien  das  Gebiet  des  Le- 
bens der  Gesetzmäßigkeit  einer  rein  mechanischen  Kausalität  unter- 
worfen zu  werden,  die  man  gerade  als  Ziel  aller  anorganischen 
Wissenschaften  anzusehen  gelernt  hatte,  und  so  eine  überwälti- 
gende Einheit  des  Weltbildes  gewährleistet  zu  sein.  Geschicht- 
liches Denken  auf  Grund  der  Entwicklungsidee  und 
mechanistische  Weltauffassung  mit  allgemeinen  Ge- 
setzen und  Zufälligkeit  alles  Besonderen:  diesen  beiden 
methodischen  Grundstimmungen  fügte  der  Darwinismus-  sich  ein, 
und  sie  bereichernd  und  befestigend,  als  ihre  Einheit  im  Gebiet 
der  Biologie,  erfocht  er  seine  Siege. 

Der  Abstammungsgedanke  hat  sich  gegen  anfänglichen 
Widerstand  fast  unbestritten  durchgesetzt,  trotzdem  er  im  Ganzen 
nicht  nur  unbewiesen,  sondern  auch  unbeweisbar,  im  Einzelnen 
günstigenfalls  wahrscheinlich  zu  mächen  ist.  Die  sogenannten  „Be- 
weise" der  Abstammungslehre  haben  im  allgemeinen  die  Form,  daß 
eine  Menge  von  Tatsachen,  die  sonst  einfach  hinzunehmen  sind, 
eine  neue  Bedeutung  erlangen,  als  teilweise  „erklärt"  erscheinen, 
wenn  man  einen  genetischen  Zusammenhang  zwischen  verschieden- 
gearteten Lebewesen  annimmt.  So  dienen  vor  allem  die  Tatsachen 
der  mannigfach  abgestuften    systematischen  Verwandtschaft,   d.  h. 


88  Emil  Ungerer, 

die  verschiedenen  Grade  der  Übereinstimmung  der  Lebewesen  in 
stofflicher  und  organisatorischer  Beziehung,  in  der  Aufeinander- 
folge ihrer  Formbildung  und  im  Ablauf  der  Lebensvorgänge  als 
ein  Anzeichen  der  Wahrscheinlichkeit  jener  Umbildung,  die  all- 
mähliche Steigerung  der  Unterschiede  in  diesen  Merkmalen  syste- 
matischer Verwandtschaft  mit  der  Vergrößerung  der  räumlichen 
und  zeitlichen  Entfernung  der  Lebewesen  voneinander  als  ein  an- 
deres. Eine  Bestätigung  der  Abstammungslehre  im  Einzelnen 
müßte  ferner  durch  die  Nachprüfung  ihrer  notwendigen  Voraus- 
setzung, nämlich  durch  den  Nachweis  der  erblichen  Umbildung 
einer  Form  von  Lebewesen  in  eine  andere  erbracht  werden,  ob- 
wohl auf  diesem  Wege  nur  die  unerläßliche  Bedingung  jener  Lehre, 
nicht  ihre  Ausdehnung  auf  das  Ganze  der  lebenden  Natur  nach- 
zuweisen ist.  Sehr  wesentlich  ist  freilich,  daß  auf  beiden  Wegen 
die  Abstammungslehre  auch  nicht  widerlegt  werden  kann.  Das 
Fehlen  vermuteter  Verwandtschaftsbeziehungen  zeigt  höchstens, 
daß  man  sie  an  falscher  Stelle  gesucht  hat  und  könnte  bei  weiter 
Ausdehnung  etwa  die  Sonderhypothese  des  monophyletischen  Stamm- 
baums zu  Fall  bringen;  mißglückte  Umbildungsexperimente  sind 
nicht  beweiskräftig,  da  die  erforderlichen  Bedingungen  nicht  her- 
gestellt sein  können  und  außerdem  der  Erdgeschichte  größere  Zeit- 
räume zur  Verfügung  stehen  als  dem  experimentierenden  Menschen. 
Die  nirgends  widerlegte  und  nicht  widerlegbare  Annahme  einer 
echten  Fortpflanzungsverwandtschaft  der  Lebewesen,  die  viele, 
sonst  schlechtweg  hinzunehmende  Tatsachen  in  einheitliche  Be- 
leuchtung rückte  und  dem  Bestreben  entgegenkam,  das  Seiende 
als  ein  Gewordenes  und  Werdendes  zu  begreifen,  mußte  auch  den 
entschiedensten  Zweiflern  mindestens  als  wahrscheinliche  Hypo- 
these gelten. 

Ganz  anders  war  von  vornherein  die  Stellung  der  Selek- 
tionshypothese. Sie  mußte  experimentell  unmittelbar  nachge- 
prüft werden  können  und  mußte  überall  durchführbar  sein,  sollte 
sie  wirklich  die  „Erklärung"  der  Abstammung  enthalten.  Gegen 
sie  richteten  sich  von  Anfang  an  die  stärksten  Angriffe,  und  ob- 
gleich der  Sachverhalt  heute  im  Wesentlichen  klargelegt  scheint, 
wird  auch  in  der  Gegenwart  noch  heftig  um  sie  gestritten.  Ihre 
Gegner  kommen  —  so  verschiedenartig  ihre  Einwände  im  einzelnen 
sind  —  methodisch  von  zwei  verschiedenen  Seiten:  die  einen  suchen 
aufzudecken,  was  alles  die  Selektion  nicht  leisten  kann,  wenn 
sie  besteht;    die  anderen  suchen   zu  zeigen,    daß    sie   in    der   von 


Der  Darwinismus  u.  die  logische  Struktur  des  biologischen  Artbegriffs.  89 

Darwin  vorausgesetzten  Weise  in  der  Natur  überhaupt  nicht 
bestehe. 

Dabei  wird  diese  Lehre  von  der  natürlichen  Zuchtwahl  als 
ein  bequem  auswechselbares  Glied  innerhalb  des  „Darwinismus" 
behandelt,  als  eine  unter  einer  Reihe  möglicher  Hypothesen  zur 
kausalen  Erklärung  der  „Abstammung".  Diese  verbreitete  An- 
schauung bedarf  einer  erheblichen  Vertiefung,  die  auf  die  Grund- 
begriffe der  Darwinschen  Lehre  zurückgehen  muß.  Diese  war 
viel  mehr  als  ein  bloßer  Versuch,  den  längst  von  anderen  ausge- 
sprochenen Gedanken  eines  genetischen  Zusammenhangs  der  Lebe- 
wesen allgemein  durchzusetzen  und  zu  seiner  Erklärung  eine  neue 
Hypothese  (eben  die  Zuchtwahllehre)  zu  ersinnen.  Sie  stellte  auch 
abgesehen  von  der  Deutung  der  systematischen  Verwandtschaft 
als  eines  Erzeugungszusammenhangs  eine  von  Grund  aus  neue 
Auffassung  der  biologischen  Systematik  dar,  die  im  vorangegan- 
genen Zeitalter  der  idealistischen  Morphologie  zu  einer  vermeintlich 
klassischen  Durchbildung  gereift  war. 

Der  große  Naturforscher  Darwin  zeigte  sich  darin,  daß  er 
sich  nicht  damit  begnügte,  den  morphologischen  Verwandtschafts- 
begriff jener  alten  Systematik  einfach  in  den  genetischen  zu  über- 
setzen und  so  im  „Stammbaum"  die  Grundlage  des  Systems  zu  er- 
blicken, wie  das  nachher  der  größte  Teil  seiner  Anhänger  tat,  die 
in  dieser  neuen  Beleuchtung  auch  die  alten  Erkenntnisse  für  neue 
hielten,  sondern  daß  er  den  Gedanken  der  Abstammung  bis  in  die 
letzten  Folgerungen  zu  Ende  dachte  und  dadurch  zu  Voraus- 
setzungen gelangte,  deren  Naturtatsächlichkeit  er  nun  an  einem 
ungeheuren  Beobachtungsmaterial  nachzuweisen  suchte.  In  seinem 
Gedankengebäude  ist  die  Zuchtwahllehre  nicht  einfach  auswechsel- 
bar, denn  sie  ist  eine  Folgerung  aus  der  Verknüpfung  dieser  letzten 
Voraussetzungen  der  Möglichkeit  einer  Abstammung,  wie  Darwin 
sie  durch  logische  Zergliederung  gefunden  und  durch  tausendfältige 
Beobachtung  bestätigt  zu  haben  glaubte,  mit  der  weiteren  durch 
ebenso  vielfache  Beobachtung  beglaubigten  Tatsache  des  „Daseins- 
kampfes", d.  h.  des  Untergangs  aller  Lebewesen,  die  ihren  Lebens- 
bedingungen nicht  gewachsen  sind. 

Den  von  Darwin  aufgestellten  Voraussetzungen  der  Möglich- 
keit einer  genetischen  Verknüpfung  von  Lebewesen  mit  verschie- 
dener systematischer  Stellung  liegt  eine  Kritik  der  System- 
begriffe zugrunde,  die  durchaus  nominalistisch  gerichtet 
ist.     Ganz  im  Geiste  Berkeleys,   Humes  und  der  englischen  Asso- 


90  Emil  Ungerer, 

ziationspsychologen  werden  Allgemeinbegriffe  der  Biologie  wie 
Gattung  (Genus),  Art  (Spezies),  Rasse  (Varietät)  als  bloße  Namen 
für  eine  unabgrenzbare  Gesamtheit  von  Individuen  aufgefaßt.  Das 
Gegebene  sind  die  Individuen,  alle  mehr  oder  minder  untereinander 
verschieden,  verschieden  auch  als  Nachkommen  desselben  Indivi- 
duums. Gesamtheiten  von  Individuen,  die  sich  in  nicht  allzustark 
abweichenden  Merkmalen  unterscheiden,  welche  überdies  bei  ihren 
Nachkommen  vorwiegend  nicht  festgehalten  werden,  heißen  Varie- 
täten ;  Varietäten  mit  strengerer  „Erblichkeit"  heißen  Arten :  beides 
also  ineinander  übergehende  Klassenbegriffe  (Abstraktionen 
erster  Stufe).  Ahnliche  Arten  werden  unter  einem  Namen  als 
Gattungen  zusammengefaßt  (Abstraktionen  zweiter  Stufe).  Die 
Bemühungen  um  den  Wesens  begriff  der  biologischen  Art  oder 
Spezies,  wie  überhaupt  der  biologischen  Klassifikationsstufen,  die 
noch  kurz  zuvor  auf  englischem  Boden  zu  der  interessanten  Aus- 
einandersetzung zwischen  Whewell  und  John  Stuart  Mill  geführt 
hatten,  werden  als  sinnlos  abgelehnt  durch  die  Feststellung,  daß 
es  einen  solchen  Wesensbegriff  gar  nicht  gebe:  die  Bezeichnung 
der  Lebewesen  nach  Arten  ist  ihm  bloße  Konvention.  Zwei 
Grundeigentümlichkeiten  von  ähnlicher  Struktur  haften  dem  Or- 
ganismus an  und  daher  auch  allen  Klassen  von  Organismen:  sie 
sind  nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin  und  innerhalb  der 
beobachteten  Grenzen  in  jedem  denkbaren  Quantum  veränder- 
lich, und  die  der  Änderung  unterworfenen  Merkmale  sind  in 
allen  möglichen  Graden  vom  völligen  Fehlen  bei  den  Nachkommen 
bis  zur  vollkommenen  Übertragung  auf  alle  Deszendenten  erblich. 
Variabilität  und  Heredität,  Veränderlichkeit  und  Erblichkeit  sind 
stetige  Eigenschaften:  zwischen  gegebenen  Grenzen  einer  Ver- 
änderung (Variation)  ist  kein  Grad  der  Ausprägung  denkbar,  der 
nicht  auftreten  könnte,  und  ebenso  wird  die  Übertragung  einer 
Veränderung  auf  die  Nachkommen  als  keine  diskret  abgestufte 
gedacht,  wie  dies  schon  Darwins  Wendung  von  der  „strength 
of  hereditary  tendency"  zeigt.  Das  ausnahmsweise  Vorkommen 
plötzlicher  erheblicher  Abweichungen,  von  „Sprüngen",  wird  nicht 
geleugnet,  aber  es  bleibt  Ausnahme;  von  erheblicher  Bedeutung 
für  den  Vorgang  der  Artbildung  sind  allein  die  kleinen ,  allseits 
stetigen  Variationen,  unter  denen  die  den  Außenbedingungen  am 
besten  gemäßen  zur  Fortpflanzung  gelangen,  während  die  übrigen 
im  Daseinskampf  zugrunde  gehen. 


Der  Darwinismus  u.  die  logische  Struktur  des  biologischen  Artbegriffs.    91 

Fassen  wir  das  Ergebnis  der  Darwinschen  Kritik  der  System- 
begriffe nochmals  zusammen: 

Damit  ein  Abstammungszusammenhang  zwischen  der  Gesamt- 
heit der  verschiedenen  Lebewesen  möglich  sei,  darf  es  nicht  erblich 
feste  Arten  geben,  d.  h.  Lebewesen,  die  einen  bestimmten  Typus 
in  ihrer  Organisation  wesenhaft  ausprägen.  Vielmehr  unterscheiden 
sich  die  Nachkommen  eines  Organismus  —  oder  zweier  getrennt- 
geschlechtlicher Organismen  —  stets  mehr  oder  minder  unterein- 
ander und  von  den  Erzeugern,  und  diese  Veränderungen  werden 
unter  den  Nachkommen  aus  den  folgenden  Generationen  wiederum 
mehr  oder  minder  stark  festgehalten,  wobei  eine  Eigenschaft  bei 
der  Wiederholung  in  der  Nachkommenfolge  immer  „fester",  d.  h. 
in  höherem  Grade  erblich  wird.  Die  Abgrenzung  von  Varietäten 
oder  Arten  ist  Sache  bloßer  Konvention :  ihr  Kriterium,  genügend 
deutliche  Unterscheidbarkeit  und  genügend  lange  Dauer  der  Erb- 
lichkeit, ist  durch  menschliche  Willkür  festgelegt.  Die  teleologische 
Zuordnung  einiger  der  regellos  nach  allen  Eichtungen  gehenden 
Änderungen  zu  bestimmten  Außenbedingungen,  inbezug  auf  die 
sie  mehr  oder  minder  „angepaßt"  erscheinen,  hat  eine  Auslese  nach 
bestimmter  Richtung  zur  Folge,  sodaß  die  so  ausgezeichneten  In- 
dividuen zur  Fortpflanzung  gelangen.  Dadurch  kommt  eine  „fort- 
schreitende" Entwicklung  zu  allmählich  fest  werdenden  neuen 
„Arten"  zustande.  Allseitige  und  stetige  Variabilität  soll  unter 
den  zahllosen  „ Nieten a  die  wenigen  „Treffer"  gewährleisten,  die 
zu  Stufen  einer  Höherentwicklung  und  Neubildung  werden  können. 
Die  der  Veränderlichkeit  entzogenen,  ein  für  allemal  durch  Ver- 
erbung festgehaltenen  Merkmale  erscheinen  dann  als  diejenigen  der 
obersten  Systemkategorien,  der  Klassen,  Ordnungen  und  etwa  noch 
Familien;  etwas  schon,  wenn  auch  noch  selten  variabel  sind  die 
der  Gattung,  stärker  veränderlich  die  der  Spezies,  ganz  im  Flusse 
die  der  Rasse. 

Damit  genügt  Darwin  eben  den  Bedingungen,  die  Kant  — 
in  der  Kr.  d.  r.  V.,  im  „Anhang  zur  transzendentalen  Dialektik" 
—  als  Grundvoraussetzungen  derKlassifikation  über- 
haupt festgestellt  hat.  Von  den  drei  dort  entwickelten  Klassi- 
fikationsprinzipien  fordert  das  der  Einheit  oder  Homogenität  „Gleich- 
artigkeit des  Mannigfaltigen  unter  höheren  Gattungen"  und  spricht 
damit  in  einem  den  Stufenbau  der  Einteilung  aller  Lebewesen  und 
innerhalb  jeder  Stufe  die  Gleichwertigkeit  aller  ihrer  Einzigkeiten 
aus,  d.  h.  den  Gattungs-  und  den  Klassencharakter  der  Systembe- 


92  Emil  Ungerer, 

griffe.  Durch  das  Prinzip  der  Mannigfaltigkeit  oder  Spezifikation 
wird  die  völlige  Gleichheit  zwischen  den  Einzigkeiten  jeder  Klasse 
verneint  zugunsten  ihrer  Mannigfaltigkeit:  kein  Klassenbegriff 
soll  an  sich  der  letzte  sein,  es  soll  keine  infimae  species,  keine 
untersten  Arten  geben.  Und  als  Ergänzung  postuliert  das  Prinzip 
der  Verwandtschaft  oder  Kontinuität  —  wie  so  häufig  bei  Kant 
als  dritter  Schritt  aus  der  Vereinigung  der  beiden  anderen  her- 
vorgehend —  einen  kontinuierlichen  Übergang  von  einer  jeden  Art 
zu  jeder  anderen  durch  stetiges  Wachstum  ihrer  Verschiedenheiten : 
es  soll  „zwischen"  zwei  Arten  immer  noch  andere  geben  bezw. 
geben  können,  die  geringere  Grade  der  Verschiedenheit  von  einer 
jener  Arten  zeigen,  als  diese  untereinander.  Mit  dieser  Behauptung 
der  Unmöglichkeit  unterster  oder  letzter  Arten  und  mit  der  For- 
derung beliebig  fortsetzbarer  Einschaltung  neuer  Arten  „zwischen" 
gegebene  will  Kant  Voraussetzungen  aller  Systematik,  aller  Art- 
begrifflichkeit  überhaupt  —  von  Dingen  und  Vorgängen,  von  allem 
gesetzlich  Verknüpf  baren  —  aufzeigen,  ohne  besondere  Bezie- 
hung zu  den  Lebewesen  als  Naturgegenständen,  die  nach  seiner 
Überzeugung  (wenigstens  noch  in  der  Kr.  d.  r.  V.)  ganz  im  Linn£- 
schen  Sinne  in  der  Natur  als  unveränderliche  ohne  Übergang 
voneinander  getrennte  Arten  ein  „quantum  discretum"  ausmachen 
sollen:  denn  ihm  bleiben  jene  Forderungen  Denkforderungen. 
Mag  die  Naturgegebenheit  immerhin  Unstetigkeit  zeigen,  —  als 
Naturmögliches  bedeutende,  einem  System  einordenbare  Begriffe 
müssen  wir  die  Klassen  ihrer  Gegenstände  jenen  Stetigkeitsforde- 
rungen unterworfen  denken,  die  keinen  Klassenbegriff  als  untersten 
und  keinen  Artunterschied  als  letzten  gelten  läßt. 

Es  ist  ohne  weiteres  einleuchtend,  daß  die  Darwinsche  Kon- 
struktion des  Artbegriffs  von  der  Kants  Ansicht  gegenüber  neuen 
Voraussetzung  ausging,  jene  beiden  letzten  Kantischen  Forde- 
rungen für  das  Denken  seien  durch  die  Naturgegeben- 
heit restlos  erfüllt.  Die  nach  allen  Seiten  hin  erfolgenden 
beliebig  kleinen  Variationen  genügen  dem  Prinzip  der  Kontinuität, 
nach  dem  keine  zwei  naturgegebenen  Arten  als  die  einander  an 
sich  nächsten  anzusehen  sind ;  die  Annahme  einer  gradhaft  abstuf- 
baren Erblichkeit  läßt  keine  naturgegebene  Art  als  „unterste" 
schlechthin  erscheinen  und  erfüllt  so  die  Forderung  des  Mannig- 
faltigkeitsprinzips. Den  von  Kant  so  tief  erfaßten  Gegensatz 
dieser  beiden  Prinzipien  zum  ersten  der  Homogenität,  welches 
Einheit  der  Mannigfaltigkeit  innerhalb  jeder  Stufe,  echten  Klassen- 


Der  Darwinismus  u.  die  logische  Struktur  des  biologischen  Artbegriffs.     93 

Charakter  der  Gattungsbegriffe  verlangt,  ein  Gegensatz,  der  für 
Kant  nur  durch  einen  unendlichen  Prozeß  der  „Bestimmung"  aus- 
gleichbar gedacht  werden  kann,  weil  in  ihm  die  nur  für  einen 
intellectus  archetypus  vollendbare  Idee  des  Systems  zum  Ausdruck 
kommt,  diesen  Gegensatz  beseitigt  Darwin  dadurch,  daß  er  das 
logische  Recht  solcher  Artbegriffe  leugnet,  daß  er  sie  als  strenge 
Begriffe  von  angebbarem  Inhalt  und  Geltungsbereich  nicht  aner- 
kennt, sondern  als  „Konventionen"  betrachtet,  als  willkürliche 
Festsetzungen,  wie  sie  alle  „Einheiten"  stetig  abgestufter  Mannig- 
faltigkeiten, alle  Größenmaße  der  Längen,  Flächen  und  Volumina, 
der  Farben,  Töne,  Gewichte,  Temperaturen  usw.  darstellen. 

Diese  Leugnung  der  strengen  Geltung  des  ersten  Kantischen 
Prinzips  zusammen  mit  der  Anerkennung  der  beiden  anderen  für 
die  naturgegebenen  Organismen,  diese  Lehre  von  der  Stetigkeit 
der  Variation  und  Erblichkeit  hält  Darwin  für  die  notwendigen 
begrifflichen  Voraussetzungen  des  Gedankens  einer  Stammesent- 
wicklung. Daraus  ergibt  sich  die  grundsätzliche  Frage- 
stellung sowohl  der  logischen  Untersuchung  wie  der 
Tatsachenforschung  gegenüber  diesem  „Darwinismus" 
i.  e.  S.,  die  wesentlich  tiefer  angreift  als  die  zahllosen  scharf- 
sinnigen Möglichkeitserwägungen  in  den  Erörterungen  über  die 
Bedeutung  des  „struggle  for  life"  für  die  Artenentwicklung. 

„Sind  wirklich  stetige,  in  gradweiser  Abstufung  festgehaltene 
Änderungen  der  Lebewesen  die  notwendige  Voraussetzung  des 
Abstammungsgedankens?"  —  so  lautet  das  logische  Problem; 
dem  sachlichen  läßt  sich  die  Form  geben:  „Was  spricht  bei 
den  mit  exakten  Forschungsmethoden  untersuchten  Lebewesen  für 
und  gegen  solche  stetige  Erblichkeit  stetiger  Variationen?" 

Stellen  wir  zunächst  fest,  was  sich  beim  heutigen  Stand  der 
Untersuchungen  über  die  zweite  Frage  sagen  läßt. 

Zunächst  besteht  kein  Zweifel  über  das  Vorkommen  ste- 
tiger Variationen.  Genügend  große  Gesamtheiten  ähnlicher 
Organismen  einer  Art,  einer  Rasse,  auch  von  Nachkommen  eines 
Organismus  zeigen  inbezug  auf  eine  Reihe  von  Merkmalen  Ände- 
rungen, die  sich  meist  so  um  einen  „Mittelwert"  der  Ausbildung 
des  betreffenden  Merkmals  anordnen,  daß  kleine  Abweichungen  von 
ihm  häufig  sind,  während  größere  nach  dem  Grade  des  Unterschieds 
immer  seltener  auftreten.  Dies  läßt  sich  am  besten  durch  Varia- 
tionskurven veranschaulichen,  die  mehr  oder  weniger  genau  der 
Gauß'schen    Wahrscheinlichkeitsfunktion    entsprechen,     sodaß    die 


94  Emil  Ungerer, 

Zahlen  der  (in  der  Natur  als  diskrete  gegebenen  oder  aus  einer 
kontinuierlichen  Menge  ausgesonderten)  Größenklassen  von  Ab- 
weichungen durch  den  Grenzwert  der  Koeffizienten  der  Entwick- 
lung des  Binoms  (a  +  b)n  für  sehr  große  n  mit  guter  Annäherung 
ausgedrückt  werden.  Nun  handelt  es  sich  vor  allem  darum,  ob 
der  Grad  der  Abweichung  vom  Mittelwert  auf  die  Nachkommen 
übertragen  wird,  ob  er  erblich  ist.  Dann  nur  ist  die  Voraus- 
setzung der  Lehre  von  der  natürlichen  Zuchtwahl  erfüllt.  Zunächst 
ergab  die  Selektion  extremer  Varianten  aus  beliebigen  naturgege- 
benen Gesamtheiten  von  Lebewesen,  etwa  die  Verwendung  der 
schwersten  Samen,  die  aus  einem  Bohnenfeld  geerntet  wurden,  zur 
Aufzucht  neuer  Bohnen,  wenn  man  sie  durch  mehrere  Generationen 
immer  wieder  durchführte,  'wirklich  eine  Verschiebung  des  Mittel- 
werts des  betreffenden  Merkmals  bei  den  jeweiligen  Nachkommen, 
hier  also  eine  Erhöhung  des  durchschnittlichen  Samengewichts.  Es 
ist  das  große  Verdienst  des  dänischen  Botanikers  W.  Johannsen, 
die  vermeintliche  Beweiskraft  dieses  Ergebnisses  für  Darwins  Vor- 
aussetzung zerstört  zu  haben.  Er  zeigte,  daß  der  Versuch  ganz 
anders  ausfällt,  wenn  man  statt  von  einer  Menge  beliebiger  Pflanzen 
unbekannter  Herkunft  (von  einer  „Population")  ausgeht  von  einzelnen 
selbstbefruchtenden  Pflanzen,  die  man  vor  Fremdbestäubung  schützt 
und  deren  Nachkommen  man  in  gleicher  Weise  behandelt.  Die  Selek- 
tion in  solchen  „reinen  Linien"  ergibt  zwar  gleichfalls  jene  eingipfligen 
Variationskurven,  aber  der  Mittelwert  liegt  auch  bei  den  Nachkommen 
der  extremsten  Varianten  stets  an  derselben  Stelle,  wie  bei  denen 
der  ursprünglichen  Mittelwertsvariante.  Die  Selektion  in  reinen 
Linien  bleibt  daher  ohne  jeden  Erfolg.  Daß  die  hier  fehlende  Mittel- 
wertsverschiebung bei  Selektion  in  Populationen  auftritt,  konnte 
Johannsen  überzeugend  auf  das  Vorhandensein  erblich  verschie- 
dener Rassen  in  jenen  zufällig  zusammengesetzten  Mengen  von 
Organismen  zurückführen.  Die  Ergebnisse  Johannsens  über  das 
Fehlen  der  Erblichkeit  der  Varianten  bei  Selektion  in  „reinen 
Linien"  (bezw.  in  „Klonen",  d.  h.  in  der  Generationenfolge  vege- 
tativ sich  vermehrender  Organismen)  wurden  von  ihm  und  anderen 
auch  an  einer  Reihe  anderer  Pflanzen,  an  höheren  Tieren  wie  an 
Protozoen  und  an  Bakterien  bestätigt.  Da  die  Randvariationen 
benachbarter  reiner  Linien  sich  häufig  überdecken  (transgredierende 
Variation) ,  so  können  äußerlich  durchaus  gleiche  Individuen 
erblich  verschiedenen  Sippen  angehören.  Von  zwei  äußerlich  glei- 
chen „Varianten",    die  in   derselben  Weise  von  der  „Norm"  einer 


Der  Darwinismus  u.  die  logische  Struktur  des  biologischen  Artbegriffs.     95 

Art  abweichen,  kann  die  erste  diese  Eigenschaft  auf  ihre  Nach- 
kommen übertragen,  die  andere  nicht.  Es  zeigen  eben  die  Ab- 
kömmlinge aus  reinen  Linien  in  ihrer  Gesamtheit  ebenso  das  Bild 
einer  Variationskurve  wie  die  Bestandteile  von  Populationen,  ob- 
gleich diese  Kurve  im  letzten  Falle  häufig  mehrgipflig  oder  sonst 
unregelmäßig  erscheint.  Aufklärung  über  die  Bedeutung  der  nicht- 
erblichen  Variation,  die  man  als  Modifikation  oder  Fluktuation 
bezeichnet,  brachten  die  Experimente  der  Formphysiologie,  vor 
allem  die  Forschungen  des  Botanikers  Georg  Klebs.  Er  zeigte, 
daß  die  Ausbildung  der  „ Merkmale"  mit  bestimmten  Außenbedin- 
gungen in  gesetzmäßiger  Beziehung  steht,  und  daß  man  beliebig 
gestaltete  Variationskurven  durch  bestimmt  geregelte  Außenbe- 
dingungen (Feuchtigkeit,  Luft,  Wärme,  Nährstoffe  usw.)  erzielen 
kann.  In  vielen  Fällen  ist  diese  Beziehung  eine  streng  quantita- 
tive. Ebenso  wichtig  wie  seine  Versuchsergebnisse  sind  die  Fol- 
gerungen, die  er  daraus  für  die  Festlegung  des  Erblichkeits-  und 
Artbegriffs  gezogen  hat.  Nicht  eine  feste  „Norm",  wie  sie  etwa 
der  „Mittelwert"  von  Variationskurven  darstellt,  ist  Gegenstand 
der  erblichen  Übertragung,  der  gegenüber  die  „Modifikationen"  als 
in  geringerem  Grade  vererbte  „Abweichungen"  erscheinen,  sondern 
erblich  ist  die  Fähigkeit,  auf  bestimmte  äußere  Be- 
dingungen in  bestimmter  Weise,  z. B.  durch  eine  bestimmte 
Formbildung,  zu  reagieren.  Erbgut  eines  Organismus  sind  alle 
seine  Formbildungsmöglichkeiten  (Potenzen),  die  in  ganz  bestimmter 
gesetzmäßiger  Zuordnung  zu  quantitativ  abgestuften  Außenbedin- 
gungen stehen;  einer  Art  gehören  alle  Organismen  an,  die  das 
gleiche  Verhältnis  von  Potenzen  und  Außenfaktoren  zeigen,  die  in 
dieser  fest  definierbaren  Weise  Isoreagenten  sind.  Nicht  eine 
Summe  von  „Merkmalen"  (Formen,  Farben  usw.)  machen  darnach 
das  Wesen  der  „Art"  aus,  sondern  eine  durch  Versuche  möglichst 
genau  quantitativ  festzulegende  Funktion  (im  mathematischen 
Sinne)  von  Reaktionen  des  Organismus  auf  der  einen  Seite  und 
von  Vorgängen  in  seiner  Umgebung,  d.  h.  von  Beziehungen  des 
verhältnismäßig  einfach  zusammengesetzten  „Mediums"  auf  der  an- 
dern. Die  Außenbedingungen  stellen  bei  dieser  Betrachtung  im 
allgemeinen  die  unabhängigen,  die  Lebensreaktionen  die  abhängigen 
Variabein  dar.  Zu  einer  Art  wie  zum  Erbgut  eines  Indivi- 
duums gehört  also  der  ganze  Umkreis  der  Variation,  und  In- 
dividuen gehören   verschiedenen  Arten   an,    wenn   die  Ausbildung 


96  Emil  Ungerer, 

ihrer  „Merkmale"  in  verschiedener  Beziehung  zur  Quan- 
tität der  Außenbedingungen  steht. 

Tritt  uns  hier  die  Erblichkeit  als  ein  festes,  gesetz- 
mäßiges Verhältnis  der  Formbildung  zu  ihren  Bedingungen  ent- 
gegen, so  zeigten  die  überraschenden  Ergebnisse  eines  anderen 
Zweigs  der  modernen  Biologie,  nämlich  der  Bastardforschung, 
daß  auch  aus  der  experimentellen  Untersuchung  der  Kreuzung  ver- 
schiedener Organismen  keinerlei  Anhaltspunkte  für  die  Darwin- 
sche Voraussetzung  einer  größeren  oder  geringeren  Erblichkeit 
von  beliebiger  Stärke  sich  ergab,  sondern  Regeln  einer  festen,  sich 
gleichartig  über  viele  Generationen  erstreckenden  Übertragung 
von  „Erbeinheiten".  Seit  der  Wiederentdeckung  der  schon  1865 
von  dem  Brünner  Abt  Gregor  Mendel  nachgewiesenen  Vererbungs- 
regeln im  Jahre  1900  durch  Correns,  Tschermak  und  de  Vries  hat 
die  gemeinsame  Arbeit  von  Botanikern  und  Zoologen  aller  Kultur- 
länder eine  Fülle  von  Gesetzmäßigkeiten  zutage  gefördert ,  deren 
einfachste  Grundlinien  feststehen,  während  die  Aufhellung  der 
verwickeiteren  Verhältnisse  noch  im  Gange  ist.  Auch  hier  ergab 
sich,  daß  nicht  „Außenmerkmale",  unmittelbar  sichtbare  Eigen- 
schaften als  solche  „vererbt"  werden,  sondern  daß  ihnen  „Erbein- 
heiten" („Gene")  zugrunde  liegen,  die  meist  unabhängig  vonein- 
ander auf  die  Nachkommen  übertragen  werden  (zuweilen  auch  ganz 
oder  teilweise  „gekoppelt"  erscheinen),  die  mit  den  „Potenzen", 
den  elementaren  Reaktionsfähigkeiten  der  Formphysiologie  und 
Variationsforschung  identisch  sind.  Die  Zahlenregeln  der  Vertei- 
lung dieser  Erbeinheiten  auf  die  aus  der  Kreuzung  verschiedener 
Eltern  hervorgehenden  Nachkommen  braucht  uns  hier  so  wenig 
zu  beschäftigen  wie  die  Aufstellung  der  „Erbformeln"  der  genauer 
erforschten  Sippen  oder  die  Beziehungen  der  Gene  zu  gewissen 
Kernbestandteilen  der  Keimzellen.  Wesentlich  dagegen  ist  die 
Tatsache,  daß  noch  aus  einem  anderen  Grunde  als  dem  oben  er- 
wähnten zwei  gleichaussehende,  ja  sogar  zwei  gleich  auf  die  Außen- 
bedingungen reagierende  Individuen  erbungleich,  verschieden 
in  ihren  Potenzen  sein  können.  Wegen  der  Tatsache  der  Domi- 
nanz, d.  h.  des  Überwiegens  der  vom  einen  Elter  überkommenen 
Erbeinheit  gegenüber  der  abweichenden  des  anderen  kann  nämlich 
ein  Bastard  (ein  „heterozygoter"  Organismus)  von  der  dominie- 
renden Eiterform  und  allen  ihr  gleichen  erbreinen  Individuen 
(„homozygoten"  Organismen)  in  ihren  Eigenschaften  nicht 
unterschieden  werden.     Erst  aus   der  Beschaffenheit  ihrer  Nach- 


Der  Darwinismus  u.  die  logische  Struktur  des  biologischen  Artbegriffs.     97 

kommen  (soweit  sie  durch  Selbstbefruchtung  oder  durch  Kreu- 
zung mit  Individuen  von  bekannter  erblicher  Struktur  erzeugt 
werden)  ist  diese  Verschiedenheit  der  Erbformel  erkennbar.  So 
muß  denn  der  Versuch,  von  seiten  der  experimentellen  Vererbungs- 
forschung her  die  „Art"  als  die  Gesamtheit  erbgleicher 
Individuen  zu  definieren,  ausgehen  von  homozygoten,  d.h. 
inbezug  auf  alle  Gene  erbreinen  Individuen,  setzt  also  die  sorg- 
fältige Prüfung  der  untersuchten  Sippen  durch  zahlreiche  Kreu- 
zungen (und  womöglich  Selbstbefruchtungen)  voraus,  die  durch 
eine  Eeihe  von  Generationen  hindurch  unter  genau  einzuhaltenden 
Versuchsbedingungen  fortgesetzt  werden  müssen.  Soviel  auf  diesem 
Gebiete  noch  zu  erforschen  bleibt,  so  notwendig  ferner  auch  die 
Ausdehnung  der  hier  gewonnenen  systematischen  Begriffe  auf  He- 
terozygoten ist :  von  außerordentlicher  Tragweite  ist  die  Tatsache, 
daß  man  durch  das  Zusammenarbeiten  verschiedener  Forschungs- 
zweige der  Biologie  zu  der  Möglichkeit  gelangt  ist,  unterste 
Arten  erbgleicher  Individuen  zu  definieren  und  die 
Zugehörigkeit  von  Organismen  zu  einer  solchen  Art  experimentell 
festzustellen,  ohne  daß  man  etwa  bei  den  Individuen  selbst  als 
der  letzten  Einheit  angelangt  wäre.  „Unterste  Arten",  das  heißt 
aber,  Arten,  die  nur  Klassen-  und  nicht  auch  Gattungscharakter 
haben,  die  nicht  wieder  „Arten  von  Arten"  sind. 

Sehen  wir  zu,  was  aus  diesen  Ergebnissen  der  Naturforschung 
bezüglich  der  Darwinschen  Begriffe  und  der  Kantischen  Forde- 
rungen folgt,  und  wie  es  angesichts  dieser  Folgerungen  um  die 
Voraussetzungen  der  Abstammungslehre  steht. 

Die  Natur  tat  sächlichkeit  unterster  Arten  von  strenger  Erblich- 
keit, deren  allseitige  und  stetige  Variationen  zum  Gesetz  der  Art 
selbst  gehören,  sodaß  sich  die  Nachkommen  der  untereinander  ver- 
schiedensten Abweichungen  unter  gleichen  Bedingungen  gleich  ver- 
halten, sind  mit  Darwins  Auffassung  vom  Wesen  der  biologischen 
Art  durchaus  unvereinbar.  Selektion  der  Varianten  dieser  ste- 
tigen Veränderlichkeit,  der  Modifikationen,  kann  keine  Wirkung 
auf  die  Umbildung  der  Organismen  haben,  weil  sie  die  Beschaffen- 
heit der  Nachkommen  nicht  beeinflußt.  Eine  natürliche  Zuchtwahl 
kann  der  Kampf  ums  Dasein  nur  ausüben  durch  Auslese  der  schon 
vorhandenen  erblich  verschiedenen  Arten,  die  freilich  hierdurch 
keine  Änderung  im  Grad  der  Erblichkeit  erfahren,  nicht  „fester" 
werden,  weil  Erblichkeit  keine  stetige  Eigenschaft,  sondern  ein 
gesetzmäßiges  Verhalten  darstellt,  das  nicht  nach  beliebigen  Stärke- 
Kantstudien.   XXVII.  7 


98  Emil  Ungerer, 

graden  abstuf  bar  ist.  Ob  auf  die  „untersten  Arten",  die  wir 
Kants  zweitem  Prinzip  zum  Trotz  annehmen  müssen,  sein  drittes 
Prinzip  der  Kontinuität  Anwendung  findet,  wie  Johannsens  Er- 
gebnisse mit  seinen  quantitativ  verschiedenen  „reinen  Linien"  mit 
übergreifender  Veränderlichkeit  es  nahe  legen  könnten,  d.  h.  ob 
es  zwischen  zwei  benachbarten  Elementararten  noch  beliebig 
viele  Arten  geben  kann,  ob  die  „Mittelwerte"  benachbarter  reiner 
Linien  beliebig  nahe  liegen  können,  läßt  sich  heute  noch  nicht 
endgültig  entscheiden.  Es  ist  nicht  auszuschließen,  daß  wir  noch 
genötigt  sein  könnten,  einen  letzten  Unterschied  von  bestimmbarer 
Größe  zwischen  den  Reaktionsnormen  benachbarter  Elementararten 
anzunehmen  oder  z.  B.  auch  anzunehmen,  daß  zwar  Elementararten 
innerhalb  einer  „Sammelart"  (etwa  vieler  Linn£'scher  Arten)  sich 
stetig  anordnen  lassen,  während  Sammelarten  untereinander  sich 
grundsätzlich  durch  erhebliche  und  in  der  Natur  unausfüllbare 
Unterschiede  trennen. 

Es  ist  eben  durchaus  nicht  selbstverständlich,  daß  die  von 
Kant  aufgestellte  Stetigkeitsforderung,  die  im  Bereich  der  Zahlen 
und  des  Raumes  wie  der  Sinnes  qualitäten  oder  reinen  Solchheiten 
unausweichlich  ist,  in  den  Ansatz  mit  aufgenommen  werden  muß, 
durch  den  die  Naturwissenschaft  ihren  Gegenstand  bestimmt.  Hat 
doch  auch  die  Materientheorie  durch  die  Annahme  letzter  Arten 
von  Urdingen  und  durch  die  andere  einer  Unstetigkeit  der  Natur- 
vorgänge Erfolge  von  größter  Tragweite  erzielt,  während  der  Aus- 
gang von  einer  Kontinuität  der  Materie  hierzu  keinerlei  Hand- 
haben bot.  Denn  die  für  eine  Reihe  von  Stoffen  geglückte  Fest- 
stellung, daß  es  kleinere  Teile  vom  Charakter  eines  chemischen 
Elements  als  sein  größenmäßig  bestimmbares  Atom  nicht  gibt,  der 
Versuch  der  gegenwärtigen  Naturforschung,  mit  der  Annahme 
zweier  Klassen  gleicher  Urdinge,  der  negativen  Elektronen  und 
der  positiven  Wasserstoffkerne?  auszukommen,  verstoßen  ebenso 
gegen  die  Kantischen  Prinzipien  wie  die  Voraussetzung  der  Planck- 
schen  Quantentheorie,  daß  die  Energieabgabe  schwingender  Atome 
nicht  stetig,  sondern  sprungweise  erfolgt,  sodaß  das  Verhältnis 
von  Energiequantum  und  Schwingungszahl,  das  Wirkungsquantum, 
konstant  ist.  Sie  verstoßen  freilich  nur  dann  gegen  jene  zwei 
Prinzipien  Kants,  wenn  diese  mehr  bedeuten  sollen  als  Aussagen 
über  bloße  Denk  bar  k  ei  t,  wenn  sie  als  Forderungen  für  Natur- 
möglichkeit ausgelegt  werden.  Es  ist  von  großer  Bedeutung, 
daran  festzuhalten,  daß  Ordnungsformen,   die  für  bloße  Setzungen 


Der  Darwinismus  u.  die  logische  Struktur  des  biologischen  Artbegriffs.     99 

zwingende  Geltung  als  Denkmöglichkeiten  besitzen,  keineswegs 
ohne  weiteres  Ordnungsformen  der  Naturtatsächlichkeit  darstellen. 
Inwiefern  sie  dies  tun,  muß  an  Hand  der  Gregebenheit  besonders 
untersucht  werden. 

Mit  der  Preisgabe  der  stetigen  Erblichkeit  stetiger  Varia- 
tionen, die  Darwin  für  die  unerläßliche  Bedingung  der  Möglichkeit 
der  stammesgeschichtlichen  Entwicklung  der  Lebewesen  gehalten 
hatte,  verlor  auch  die  Selektionshypothese  erheblich  an  Wert.  Sie 
konnte  die  Umwandlung  einer  Art  in  eine  andere  nicht  mehr  er- 
klären, wenn  sie  das  Bestehen  der  auszuwählenden  Art  schon  vor- 
aussetzen mußte.  Damit  steht  die  Biologie  vor  der  Frage,  ob  die 
neue  Fassung  des  Vererbungs-  und  Artbegriffs  überhaupt  noch  als 
mögliche  Voraussetzung  der  Abstammungslehre  gelten  kann,  ob, 
paradox  gesprochen,  Artkonstanz  und  Artenumwandlung  sich  ver- 
einen lassen.  Soweit  sich  übersehen  läßt,  gibt  es  nur  zwei  mög- 
liche Auswege.  Entweder  man  nimmt  an,  daß  von  Anfang  an 
sämtliche  jemals  in  Organismen  verwirklichten  Erbeinheiten  oder 
Gene  vorhanden  und  über  die  vorauszusetzenden  Urorganismen 
völlig  ungeordnet  so  verteilt  waren,  daß  nur  ganz  wenige  von 
ihnen  sich  in  einfachen  Formbildungen  äußern  konnten  und  die 
ganze  spätere  Mannigfaltigkeit  durch  ihre  Vereinigung  infolge  der 
geschlechtlichen  Fortpflanzung  allmählich  möglich  wurde.  Dann 
gibt  es  zwar  genetische  Verwandtschaft  und  Stammbaum,  aber 
keine  echte  „Entwicklung",  sondern  nur  einen  Wechsel  von  Gen- 
Verkettungen,  der  dem  Austausch  der  Elemente  im  Auf-  und  Abbau 
der  chemischen  Verbindungen  entspricht.  Diese  Anschauung,  in 
der  Gegenwart  wohl  nur  von  dem  holländischen  Botaniker  J.  P.  Lotsy 
vertreten,  der  damit  einen  Gedanken  des  Österreichers  A.  Kerner 
von  Marilaun  aufgriff,  ist  einstweilen  nicht  mehr  als  eine  kühne 
Hypothese,  die  nur  auf  die  Tatsächlichkeit  des  Auftretens  neuer 
Formen,  der  sogenannten  „Kombinationen",  in  den  den  Mendel- 
schen  Regeln  unterworfenen  Kreuzungen  sich  stützt.  Oder  man 
setzt  voraus,  daß  unter  bestimmten  Bedingungen  eine  Änderung 
der  Reaktionsnorm  einer  Art  eintreten,  eine  sprunghafte  Wand- 
lung ihrer  erblichen  Fähigkeiten,  eine  „Mutation"  stattfinden  kann. 
Dann  ist  die  Geschichte  der  Lebewesen  eine  wirkliche  Entwick- 
lung, ein  Entstehen  neuer  Potenzen,  eine  Umbildung  in  zahllosen 
Einzelschritten.  Das  Musterbeispiel  des  Schöpfers  dieser  Muta- 
tionstheorie, des  holländischen  Botanikers  H.  de  Vries,  die  von 
ihm  eingehend  untersuchte   Oenothera  Lamarckiana,    scheint  nach 


100    EmilTJngerer,  Der  Darwinismus  u.  d.  log.  Struktur  d.  biol.  Artbegriffs. 

neueren  Untersuchungen  wegen  ihrer  verwickelten  Erb lichkeits Ver- 
hältnisse zur  endgültigen  Entscheidung  dieser  Frage  nicht  geeignet 
zu  sein.  Das  sprunghafte  Auftreten  neuer  erblicher  Formen  ohne 
Zwischenstufen  ist  aber  durch  ein  umfangreiches  Tatsachenmaterial 
belegt.  Freilich  sind  gerade  die  sichersten  Fälle  großenteils  „Ver- 
lustmutanten", d.  h.  solche  neuen  Arten  sind  vielfach  ärmer  an 
Mannigfaltigkeit  der  Formbildung  als  ihre  Mutterarten,  sodaß  sie 
nur  für  die  Tatsache  der  Mutation,  nicht  aber  für  deren  Ausrei- 
chen zur  Erklärung  der  Entstehung  der  Organismenwelt  zeugen 
können.  Auch  steht  der  Mutationstheorie  noch  die  Schwierigkeit 
im  Wege,  daß  sie  noch  in  keinem  Falle  eindeutig  die  Bedingungen 
für  das  Eintreten  der  Mutation,  der  erblichen  Änderung  der  Re- 
aktionsnorm zu  bestimmen  vermag. 

So  ist  denn  in  der  Gegenwart  gerade  die  Grundfrage  der  Ab- 
stammungslehre wieder  vollständig  im  Flusse.  Das  Lebenswerk 
Darwins  war  der  erste  großartige  Versuch,  die  begrifflichen  Vor- 
aussetzungen zu  ihrer  Lösung  zu  schaffen  und  deren  Berechtigung 
durch  eine  gewaltige  Tatsachenfülle  zu  belegen.  Seine  Lehre  war 
die  nächstliegende ,  von  ihrem  Schöpfer  mit  unerbittlicher  Folge- 
richtigkeit durchgeführte  Hypothese  und  damit  eine  notwendige 
Stufe  der  Wissens entwicklung.  Die  größere  Strecke  bis  zum  Ziel 
liegt  noch  vor  uns.  Auf  der  erfolgreichen  Zusammenarbeit  experi- 
menteller und  logischer  Forschung,  die  in  den  letzten  Jahrzehnten 
die  inneren  Schwierigkeiten  dieses  ersten  Lösnngs Versuchs  aufge- 
deckt hat,  ruht  die  Hoffnung  einer  glücklichen  Bewältigung  der 
von  Darwin  der  Biologie  gestellten  Aufgabe. 


Die  philosophischen  Grundlagen  in 
Spenglers  „Untergang  des  Abendlandes"1). 

Von  Dr.  Kurt  Sternberg,  Berlin. 

1.  Es  hieße  Eulen  nach  Athen  tragen,  wollte  man  rühmend 
auf  die  Verdienste  hinweisen,  welche  sich  die  Philosophie  der 
letzten  Jahrzehnte,  speziell  die  neukantische,  um  die  methodi- 
sche Grundlegung  der  Naturwissenschaften  erworben  hat.  Man 
darf  geradezu  behaupten,  daß  in  dieser  Hinsicht  ein  gewisser  Ab- 
schluß erreicht  worden  ist  oder  doch  wenigstens  erreicht  worden 
war.  Wohl  sind  die  jüngsten,  vor  allem  durch  die  moderne  Rela- 
tivitätstheorie bewirkten  Fortschritte  auf  naturwissenschaftlichem 
Grebiet  imstande,  der  Naturphilosophie  entscheidende  Anregungen 
zu  geben ;  aber  es  bedurfte  eben  einer  Wandlung  des  naturwissen- 
schaftlichen Weltbilds,  um  für  die  Naturphilosophie  neue  Aufgaben 
zu  gewinnen,  und  die  philosophische  Begründung  des  alten  —  sagen 
wir:  des  Newtonschen  Weltbilds  —  war  doch  im  wesentlichen 
vollendet. 

Anders  verhielt  und  verhält  es  sich  auf  geschichtsphilosophi- 
schem  Boden.  Gerade  das  19.  —  das  sogenannte  historische  — 
Jahrhundert  hat  einen  ungeheuren  Fortschritt  der  Geschichtswis- 
senschaften gezeitigt,  und  hieraus  erwuchs  der  Philosophie  die 
Pflicht  zu  einer  methodischen  Grundlegung  der  Geschichtswissen- 
schaften. Diese  Pflicht  wurde  um  so  ernster,  je  mehr  auf  der 
einen  Seite  die  historische  Forschung  sich  entwickelte  und  je  mehr 
auf  der   anderen   Seite  die  moderne   Philosophie,    vor   allem  die 


1)  Die  folgenden  Ausführungen  sind  der  erweiterte  Abdruck  eines  Vortrages, 
der  am  14.  April  1921  in  der  Berliner  Ortsgruppe  der  Kant-Gesellschaft  gehalten 
wurde.  Der  Vortrag  berücksichtigte  und  verwirklichte  die  Anregungen,  die  die 
Schriftleitung  in  ihrem  Zusatz  zu  der  Besprechung  des  Buches  von  Spengler 
durch  Prof.  Schuck  in  Kant-Studien  Bd.  XXV,   Heft  2—3  S.  265   gegeben  hatte. 

Die  Schriftleitung. 


102  Kurt  Sternberg, 

neukantische,  ihr  Interesse  der  Naturwissenschaft  widmete. 
Wohl  kam  es  in  der  Richtung  auf  die  philosophische  Durchdrin- 
gung der  geschichtlichen  Wirklichkeit  zu  wertvollen  Leistungen, 
auch  innerhalb  des  Neukantianismus,  sofern  man  diesen  in 
einem  weiteren  Sinne  nimmt  und  auch  die  B a d e n e r  Schule  Win- 
delbands undRickerts  zu  ihm  rechnet.  Allein  man  war  noch 
lange  nicht  am  Ende,  und  nach  wie  vor  blieb  der  Versuch  einer 
philosophischen  Konstruktion  des  geschichtlichen  Lebens  eine  der 
wichtigsten,  ja,  vielleicht  die  wichtigste  Obliegenheit  der  Philo- 
sophie unserer  Zeit.  Es  mußte  für  die  Geschichtsphilosophie  das 
erreicht  werden,  was  für  die  Naturphilosophie  bereits  erreicht 
worden  war. 

Das  war  die  Problemlage,  als  Spenglers  so  großes  Aufsehen 
erregendes  Buch  „Der  Untergang  des  Abendlandes"  erschien,  und 
diese  Problemlage  erklärt  sowohl  das  Erscheinen  des  Spengler- 
schen  Werks  sowie  das  Aufsehen,  welches  es  erregt.  Nun  ent- 
steht die  Frage,  ob  durch  Spengler  eine  Veränderung  der  ge- 
schilderten Problemlage  herbeigeführt  worden  ist,  d.  h.  ob  er  uns 
die  ersehnte  Geschichtsphilosophie  großen  Stils  gegeben  oder  doch 
wenigstens  einen  förderlichen  Beitrag  zu  ihr  geliefert  hat. 

2.  Was  Spengler  will,  entspricht  durchaus  der  Forderung 
der  Gegenwart,  um  deren  Erfüllung  sich  auch  so  mancher  andere 
Geschichtsphilosoph  bemüht  hat  und  bemüht.  Es  handelt  sich 
darum,  die  Sphäre  des  geschichtlichen  Lebens  in  ihrer  Eigenart, 
in  ihrer  Autonomie,  herauszustellen,  und  diese  Herausstellung  kann 
nur  unternommen  werden,  indem  man  das  Verhältnis  von  Geschichte 
und  Natur  bestimmt,  indem  man  beide  voneinander  abhebt  und 
streng  umgrenzt.  Hiermit  soll  nicht  gesagt  sein,  daß  eine  Be- 
schränkung auf  die  Differenz  von  Geschichte  und  Natur  notwendig 
oder  auch  nur  möglich  wäre ;  die  Einheit  der  Vernunft  verlangt 
vielmehr,  daß  neben  und  über  allen  Differenzen  die  letztliche  Ein- 
heit von  geschichts-  und  naturwissenschaftlicher  Erkenntnis  auf- 
gewiesen wird.  Allein  den  methodischen  Ausgangspunkt  wird 
freilich  der  Unterschied  zwischen  Geschichte  und  Natur  zu  bilden 
haben,  und  Spengler  wird  nicht  müde,  diesen  Unterschied  aufs 
stärkste  zu  betonen.  Immer  wieder  hebt  er  hervor,  daß  die  Ge- 
schichte „im  Gegensatz  zur  Natur",  daß  „die  Welt  als  Geschichte, 
aus  ihrem  Gegensatz,  der  Welt  als  Natur,  begriffen"  werden  müsse. 
Besonders  interessant  ist  folgende  Stelle:  „Der  Mensch  ist  als 
Element  und  Träger  der  Welt  nicht  nur  Glied  der  Natur,  sondern 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes".     103 

auch  Glied  der  Geschichte,  eines  zweiten  Kosmos,  von  anderer 
Ordnung  und  anderem  Gehalte,  der  von  der  gesamten  Metaphysik 
zugunsten  des  ersten  vernachlässigt  worden  ist". 

Die  letzte  Bemerkung  Spenglers  über  die  Vernachlässigung 
der  geschichtlichen  Welt  durch  die  Philosophie  ist  keineswegs  eine 
beiläufige,  isolierte;  auch  anderswo  wird  von  der  „Morphologie 
der  Natur"  als  „bisher  dem  einzigen  Thema  der  Philosophie"  ge- 
sprochen. Diese  Behauptung  läßt  sich  gewiß  nicht  aufrecht  halten. 
Wohl  ist  es  richtig,  und  es  ist  dies  mit  speziellem  Bezug  auf  die 
letzten  Jahrzehnte  auch  im  vorigen  ausdrücklich  hervorgehoben 
worden,  daß  die  Philosophie  vielfach  vorwiegend  der  Natur  Beach- 
tung geschenkt  hat.  Der  —  Spengler  unbekannte  —  Grund 
hierfür  ist  darin  zu  suchen,  daß  die  Philosophie  sich  um  ihrer 
eigenen  Wissenschaftlichkeit  willen  znnächst  an  den  Naturwissen- 
schaften als  den  methodisch  am  weitesten  fortgeschrittenen  Wis- 
senschaften orientieren  mußte.  Daß  aber  niemals  das  Reich  des 
Historischen  in  seiner  Eigengesetzlichkeit  und  Verschiedenheit  von 
der  Natur  gewürdigt  worden  wäre,  wird  man  weder  für  die  Ge- 
genwart zugeben  können,  wenn  man  die  modernen,  dem  histori- 
schen Naturalismus  entgegengesetzten  geschichtsphilosophischen 
Bemühungen  vor  Spengler  kennt,  noch  für  die  Vergangenheit, 
wenn  man  sich  der  Geschichtsphilosophie  des  deutschen  Idealismus 
von  Kant  über  Fichte  bis  zu  Hegel  erinnert.  Man  mag  über 
diese  klassische  Geschichtsphilosophie  Deutschlands  denken,  wie 
man  will :  keinesfalls  kann  man  leugnen,  daß  hier  und  gerade  hier 
der  Versuch  gemacht  worden  ist,  eine  von  der  Natur  unabhängige 
geistig-geschichtliche  Welt  zu  konstruieren,  und  diese  Konstruktion 
wurde  nur  dadurch  möglich,  daß  Kant  die  Idee  der  Freiheit  als 
ihr  methodisches  Grundprinzip  aufgestellt  hatte.  Wenn  Spengler 
dennoch  meint,  erst  durch  ihn  sei  das  Problem  der  Geschichte  im 
Unterschied  zu  dem  der  Natur  entwickelt  worden,  so  ist  dies  einer 
jener  zahlreichen,  völlig  unbegründeten  Prioritätsansprüche,  von 
welchen  sein  Werk  durchsetzt  ist. 

Allein  nicht  die  Priorität  ist  sachlich  das  Entscheidende,  son- 
dern die  Fassung,  die  Spengler  dem  Verhältnis  von  Geschichte 
und  Natur  gibt.  Da  er  die  Geschichtsphilosophie  des  deutschen 
Idealismus  ignoriert,  so  ist  es  von  vornherein  klar,  daß  trotz  seiner 
ständigen  Betonung  des  Gegensatzes  zwischen  Geschichte  und  Natur 
bei  ihm  von  einem  durchgreifenden,  prinzipiellen  Gegensatz  gar 
keine  Rede  sein  kann  ;  denn  ein  solcher  liegt  nur  vor,  die  geschieht- 


104  Kurt  Sternberg, 

liehe  Welt  kann  von  der  Natur  nur  als  unabhängig  gedacht  wer- 
den, wenn  sie  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Freiheit  gedacht  wird, 
wie  dies  von  seiten  Kants,  Fichte  s  und  Hegels  geschah.  Es 
vermag  und  braucht  in  diesem  Zusammenhang  nicht  ausgemacht 
zu  werden,  ob  die  auf  dem  Grunde  der  Freiheitsidee  ruhende  prin- 
zipielle Entgegensetzung  von  Geschichte  und  Natur  richtig  und 
notwendig  ist  oder  nicht.  Spengler  jedenfalls  wünscht  einen 
prinzipiellen  Gegensatz  zwischen  Geschichte  und  Natur  zu  kon- 
struieren; aber  er  beraubt  sich  selbst  der  Möglichkeit,  der  imma- 
nenten Voraussetzungen  einer  solchen  Konstruktion,  indem  er  das 
methodische  Rüstzeug  der  Geschichtsphilosophie  des  deutschen 
Idealismus  unbenutzt  läßt. 

3.  Dies  zeigt  sich,  sobald  man  danach  fragt,  worin  nun 
eigentlich  Spengler  den  Gegensatz  von  Geschichte  und  Natur 
erblickt.  Er  lehrt,  „die  Polarität  von  Geschichte  und  Natur"  sei 
die  „von  lebendiger  und  toter  Natur".  Daß  auf  diesem  Wege  ein 
grundlegender  Unterschied  zwischen  Geschichte  und  Natur  nicht 
statuiert  werden  kann,  leuchtet  ohne  weiteres  ein;  denn  auch  die 
lebendige  Natur,  zu  der  die  Geschichte  in  Beziehung  gesetzt  wird, 
ist  doch  wohl  Natur.  Die  Geschichtswissenschaft  wird  so  zu  einer 
Naturwissenschaft  und  zwar  zu  einer  Wissenschaft  von  der  or- 
ganischen Natur,  die  Biologie  zu  ihrem  logischen  Fundament,  und 
das  geschieht,  obwohl  für  Spenler  „die  Biologie  nach  Gehalt 
und  Methode  unsre  schwächste  Wissenschaft"  ist.  Es  gehört  dies 
zu  den  mancherlei  methodischen  Unbegreiflichkeiten  in  dem  Speng- 
lerschen  Werk. 

Also  die  Geschichte  ist  Spengler  zufolge  ein  Teil  des  or- 
ganischen Lebens.  Leben  und  Geschichte  haben  ist  hiernach  ein 
und  dasselbe.  Spengler  hebt  ausdrücklich  hervor,  daß  auch 
jeder  Grashalm,  jedes  Insekt  eine  Geschichte  hat.  Man  sollte  auf 
Grund  dessen  erwarten,  daß  Spengler  nichts  ferner  liegt  als 
die  Auffassung  der  Geschichte  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Kul- 
tur ;  allein  gerade  die  Kultur  wird  ihm  —  oder  vielmehr  richtiger : 
gerade  die  Kulturen  werden  ihm  zu  den  Trägern  des  geschicht- 
lichen Lebens,  zu  der  „eigentlichen  Substanz  der  Weltgeschichte". 
Dies  wird  freilich  nur  dadurch  möglich,  daß  er,  der  den  Gegensatz 
von  Geschichte ,  d.  h.  geschichtlicher  Kultur,  und  Natur  dauernd 
betont,  in  der  Kultur  nichts  als  ein  Stück  Natur  sieht,  ein  Stück 
der  lebendigen  Natur.  „Kulturen  sind  Organismen",  heißt  es  bei 
Spengler;    an  anderer  Stelle   werden  sie   sogar   noch    spezieller 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes".     105 

als  Pflanzen  bezeichnet:  „Kulturen  sind  Pflanzen".  Diese  Ver- 
gleichung  wird  bis  ins  einzelne  ausgeführt:  „Wie  Blätter,  Blüten, 
Zweige,  Früchte  in  Tracht,  Form  und  Haltung  ein  Pflanzendasein 
zum  Ausdruck  bringen,  so  tun  es  die  ethischen,  mathematischen, 
politischen,    wirtschaftlichen  Bildungen  im  Dasein  einer  Kultur". 

Gegen  diese  biologische  Betrachtungsweise  der  Kulturen  läßt 
sich  an  sich  nichts  sagen;  es  kommt  nur  darauf  an,  daß  man  sich 
ihrer  Grenzen  bewußt  ist.  Der  Grashalm  und  das  Insekt  sind 
Organismen  und  die  Kulturen  nach  Spengler  auch.  Läßt  sich 
aber  von  dem  Organismus  einer  Kultur  nicht  mehr  und  nichts  an- 
deres sagen  als  von  dem  eines  Grashalms  und  Insektes?  Die 
Frage  stellen  heißt  sie  bejahen.  Was  ist  denn  nun  das,  was  den 
Organismus  der  Kulturindividuen  von  dem  des  Grashalms  und  des 
Insektes  sowie  jedes  sonstigen  Naturindividuums  unterscheidet? 
Die  Antwort  mag  lauten,  wie  sie  wolle:  sie  kann  jedenfalls  nicht 
mehr  der  Biologie  entnommen  werden.  Gerade  weil  die  Kultur  - 
und  die  Naturorganismen  vom  biologischen  Standpunkt  aus,  also 
als  Organismen,  einander  gleich  sind,  vermag  die  Verschiedenheit 
von  Kultur  und  Natur,  die  Selbständigkeit,  die  Eigenart  der  Kul- 
tur, nicht  durch  die  Biologie  begreiflich  gemacht  zu  werden.  Diese 
weiß  als  eine  Naturwissenschaft  nichts  von  Werten;  wir  aber 
wissen  heute  längst,  daß  dem  Kulturbegriff  die  Beziehung  auf 
Werte  immanent  ist,  auf  die  Werte  des  Wahren,  Guten  und 
Schönen.  Diese  Werte  finden  sich  zwar  im  Leben;  aber  sie  wur- 
zeln nicht  in  ihm,  sie  stehen  zu  ihm  vielmehr  oft  in  einem  Ver- 
hältnis der  Spannung  und  Reibung.  Ebendarum  kann  die  Kultur 
nicht  restlos  und  in  ihrer  spezifischen  Geltung  als  Kultur  über- 
haupt nicht  auf  das  Leben  gegründet,  biologisch  erfaßt  werden. 

Die  Biologie  ist  folglich,  da  nach  Spengler  die  Kulturen 
der  Gegenstand  der  Geschichte  sind,  zwar  ein,  aber  nicht  das  ein- 
zige methodische  Fundament  der  Geschichte,  nicht  einmal  das 
hauptsächliche,  nämlich  nicht  das,  welches  die  Geschichte  in  ihrer 
eigentlichen,  in  ihrer  autonomen  Bedeutung  als  Geschichte  konsti- 
tuiert. Vorausgesetzt,  daß  man  überhaupt  von  der  Geschichte 
eines  Grashalms  und  Insektes  reden  kann,  so  ergibt  sich  das  Pro- 
blem: Was  macht  die  Geschichte  der  Kulturen  zu  der  Geschichte 
der  Kulturen  und  damit  zu  dem,  was  wir  in  Wahrheit  unter  Ge- 
schichte verstehen  im  Unterschied  von  der  Geschichte  eines  Gras- 
halms und  Insektes?  Man  verriegelt  sich  den  Zugang  zum  Ge- 
scbichtsbegrifF  ganz  ebenso  wie  den  Zugang  zu  dem  mit  dem  Ge- 


106  Kurt  Sternberg, 

Schichtsbegriff  —  auch  nach  Spengler  —  unzertrennlich  ver- 
bundenen Kulturbegriff,  wenn  man  die  Geschichte  und  die  Kultur 
nur  ganz  allgemein  als  Organismen  anspricht  und  nicht  in  ihrem 
spezifischen  Geltungs werte  würdigt,  wenn  man  in  den  geschicht- 
lichen Kulturindividuen  nichts  als  Lebewesen  sieht. 

4.  Diese  Lebewesen  sollen  nun  eine  Seele  haben.  Nach 
Spengler  liegt  jeder  Kultur  ein  bestimmtes  Seelentum  zugrunde; 
ja,  eine  Kultur  ist  ihm  zufolge  nichts  anderes  als  ein  bestimmtes 
Seelentum.  An  einer  Stelle,  an  welcher  er  von  Kultur  redet,  setzt 
er  zur  Erläuterung  dieses  Ausdrucks  hinter  ihn  in  Klammern  das 
Wort  Seele.  So  ist  ihm  „sichtliche  Geschichte"  —  als  die  Ge- 
schichte der  Kulturen  —  „Ausdruck,  Zeichen,  formgewordenes 
Seelentum".  Alle  Teile  eines  Kultur  Organismus :  Religion,  Kunst, 
Wirtschaft,  Recht  usw.  sind  danach  als  Symbole  einer  ganz  ge- 
wissen Psyche  zu  verstehen;  in  der  Einheit  dieser  Psyche  liegt 
die  Einheit  der  betreffenden  Kultur. 

Auch  gegen  eine  solche  kulturpsychologische  ßetrachtungsart 
ist  an  und  für  sich  nichts  einzuwenden ;  nur  ist  es  wiederum  nötig, 
die  ihr  gesetzten  Schranken  zu  beachten.  Gewiß  darf  jede  Kultur 
als  Ausdruck  eines  eigen-  und  einzigartigen  Seelentums  angesehen 
werden ;  aber  es  kann  und  muß  noch  mehr  in  ihr  erblickt  werden. 
Jede  Kultur  repräsentiert  zugleich  einen  ganz  bestimmten  Wert 
bezw.  einen  ganz  bestimmten  Inbegriff  von  Werten,  und  hierdurch 
wird  sie  überhaupt  erst  zur  Kultur.  Sonst  würde  sie  eine  bloße 
Naturerscheinung  sein  und  bleiben,  deren  prinzipieller  Unterschied 
von  allen  anderen  Naturerscheinungen  nicht  angegeben  zu  werden 
vermag.  Hier  liegt  die  Grenze  für  jedwede  Kulturpsychologie, 
wenigstens  für  jedwede  naturalistische,  d.  h.  für  eine  solche,  welche 
Kultur  und  Seele  ausschließlich  im  Sinne  eines  Naturproduktes 
nimmt. 

Dies  tut  Spengler,  und  es  muß  das  umsomehr  hervorgehoben 
werden,  als  er  sich  immer  wieder  bemüßigt  fühlt,  die  Schale  seines 
Zorns  und  Spottes  über  die  moderne  naturwissenschaftliche  Psy- 
chologie auszugießen.  Er  lehnt  eine  Psychologie  ab,  deren  Begriffe 
„aus  der  Vorstellungsweise  der  Naturwissenschaft"  stammen,  deren 
Objekt  „in  der  Tat  ein  Stück  verkappter  Physik"  ist;  er  spricht 
vom  „platten  Handwerk  der  experimentellen  Psychologie",  von 
ihren  „albernsten  Methoden".  Nun,  experimentelle  Psychologie 
findet  man  in  dem  Spenglerschen  Werke  freilich  nicht;  man 
kann   aber   auch   auf  dem  Pfade  der  naturwissenschaftlich   orien- 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes".      107 

tierten  Psychologie  wandeln,  ohne  experimenteller  Psychologe  zu 
sein,  und  bei  Spengler  ist  das  der  Fall.  Gerade  er  hat  darum 
am  wenigsten  das  Recht,  sich  gegen  die  naturwissenschaftliche 
Psychologie  zu  wenden. 

Wie  naturalistisch  seine  eigene  Psychologie  ist,  geht  schon 
daraus  hervor,  daß  er  die  Geburt  aller  Kulturseelen  „aus  dem 
Schöße  einer  mütterlichen  Landschaft"  lehrt,  „an  die  jede  von 
ihnen  im  ganzen  Verlauf  ihres  Daseins  streng  gebunden  ist*.  Eine 
jegliche  Kultur  =  Seele  „erblüht  auf  dem  Boden  einer  genau  ab- 
grenzbaren Landschaft,  an  die  sie  pflanzenhaft  gebunden  bleibt". 
Noch  naturalistischer  —  man  möchte  beinahe  sagen:  materialisti- 
scher —  kann  keine  Psychologie  sein! 

Spenglers  psychologischer  Naturalismus  wurzelt  in  seiner 
biologischen  Grundeinstellung,  in  dem  Umstand,  daß  er  das  Leben 
zum  Zentralbegriff  seiner  Philosophie  macht.  Das  Leben  ist  uns 
in  der  Form  von  Erlebnissen  gegeben;  diese  sind  die  Manifesta- 
tionen des  Lebens.  Es  ist  somit  von  Spenglers  Voraussetzungen 
aus  nur  konsequent,  wenn  er  die  Geschichte  als  den  „Inbegriff 
des  einmaligen  wirklichen  Erlebens"  definiert,  wenn  er  sagt:  „Er- 
lebtes ist  Geschehenes,  ist  Geschichte".  Der  Psychologismus  ist 
mit  dem  Biologismus  ebenso  unzertrennlich  verknüpft  wie  die 
naturwissenschaftliche  Psychologie  mit  der  Biologie.  Walter 
Blumenfeld  hat  in  einem  Vortrag,  den  er  in  der  Berliner  Ab- 
teilung der  Kant- Gesellschaft  hielt,  die  Beziehungen  zwischen 
naturwissenschaftlicher  Psychologie  und  Biologie  in  überzeugender 
Weise  klargelegt;  er  hat  gezeigt,  daß  jene  in  dieser  logisch  ver- 
ankert ist,  daß  die  allgemeine  Biologie  sich  zur  naturwissenschaft- 
lichen Psychologie  spezialisiert,  konkretisiert1).  Von  hier  aus 
wird  es  verständlich,  daß  neben  der  Biologie  eine  naturalistische 
Psychologie,  daß  die  Biologie  als  naturalistische  Psychologie  im 
Mittelpunkt  der  Geschichtsphilosophie  Spenglers  steht. 

5.  Der  Psychologie  und  Biologie  entnimmt  er  das  methodi- 
sche Mittel  zur  Bewältigung  der  geschichtsphilosophischen  Pro- 
bleme. Seine  Methode  ist  letzten  Endes  keine  andere  als  eine 
der  in  der  modernen  Völkerpsychologie  verwendeten,  nämlich  die 
der  Entwicklungsvergleichung.  Freilich  ist  bei  ihm  das  Objekt 
der  Vergleichung   ein  verschiedenes,    nämlich  nicht  bloß   einzelne 


1)  Blumenfeld,  Zur  kritischen  Grundlegung  der  Psychologie  (Philosophi- 
sche Vorträge  der  Kant-Gesellschaft  Nr.  25;  Berlin  1920). 


108  Kurt  Sternberg, 

Kulturgebiete  wie  Sitte,  Recht,  Religion  usw.,  sondern  die  —  als 
selbständige  Organismen  verstandenen  —  Kulturen  in  ihrer  Ge- 
samtheit resp.  die  ihnen  zugrunde  liegenden  Seelen.  Die  Kultur- 
seelen sollen  in  ihren  Entwicklungs Stadien  miteinander  verglichen 
werden. 

Spengler  nennt  seine  Methode  der  Entwicklungsvergleichung 
die  morphologische.  Man  kennt  die  Morphologie  aus  der  Biologie ; 
sie  ist  die  Lehre  von  den  die  Gestalt  und  ihre  Entwicklung  be- 
stimmenden Gesetzen.  Spengler  überträgt  nun  in  konsequenter 
Verfolgung  seines  Biologismus  die  Morphologie  aus  der  Biologie 
auf  die  Geschichte.  Es  sollen  durch  Vergleichung  die  für  die 
Kultur-  bzw.  Seelengestalten  und  ihre  Entwicklung  charakteristi- 
schen Strukturformen  aufgedeckt  und  auf  diese  Weise  nicht  vage 
Analogien,  sondern  sichere,  eindeutig  festgelegte  Homologien  ge- 
wonnen werden.  Auch  diese  Termini  spielen  bekanntlich  in  der 
Biologie  eine  große  Rolle.  Die  Analogie  bezeichnet  in  der  Bio- 
logie die  Gleichwertigkeit  der  Verrichtung,  des  Gebrauchs,  die 
Homologie  hingegen  eine  solche  der  Struktur,  des  Baus.  Struk- 
turelle Gleichwertigkeiten,  also  Homologien,  soll  nun  die  Geschichts- 
philosophie zu  finden  trachten.  Sie  kann  es  Spengler  zufolge; 
denn  der  Organismus  jedweder  Kultur  =  Seele  zeigt  —  immer  nach 
Spengler  —  dieselbe  Struktur.  Er  wird  geboren,  wächst  und 
blüht,  gelangt  zur  Reife,  um  dann  zu  verfallen  und  schließlich  ab- 
zusterben. Es  gibt  bei  ihm  Frühling,  Sommer,  Herbst  und  Winter ; 
das  sind  die  Stadien :  Kindheit,  Jugend,  Männlichkeit  und  Greisen- 
tum.  Alles  kommt  darauf  an,  die  Entwicklungsphase  und  inner- 
halb ihrer  den  Platz  zu  bestimmen,  den  ein  historisches  Faktum 
oder  Individuum  einnimmt.  Historische  Fakta  oder  Individuen 
der  mannigfachen  Kulturen  sind  homolog,  sofern  sie  innerhalb 
ihrer  Kultur  an  der  gleichen  Stelle  stehen.  Aus  dem  Begriff  der 
Homologie  folgen  die  Begriffe  der  Gleichzeitigkeit  und  des  Zeit- 
genossen. Gleichzeitig  sind  „zwei  geschichtliche  Fakta,  die,  jedes 
in  seiner  Kultur,  in  genau  derselben  —  relativen  —  Lage  ein- 
treten und  also  eine  genau  entsprechende  Bedeutung  haben";  als 
Zeitgenossen  müssen  Individuen  angesprochen  werden,  welche  „Glie- 
der derselben  geistigen  Stufe  verschiedener  Kulturen"  sind.  Gleich- 
zeitig geschieht  die  mystisch-visionäre  Ausgestaltung  des  Welt- 
bilds zu  Beginn  einer  jungen  Kultur;  Plotin,  den  Spengler 
der  von  ihm  neu  eingeführten,  das  gesamte  erste  Jahrtausend  un- 
serer Zeitrechnung   beherrschenden    arabischen   Kultur    zurechnet, 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes".     109 

und  Dante,  der  zu  unserer  das  zweite  nachchristliche  Jahrtausend 
umfassenden  abendländischen  Kultur  gehört,  sind  somit  Zeitgenossen. 
Gleichzeitig  sind  die  Epochen  der  Jonik  und  des  Barock.  Poly- 
let,  der  Schöpfer  des  Kanons  der  antiken  Plastik,  und  Jo- 
ann  Sebastian  Bach,  der  Schöpfer  des  Kanons  der  abend- 
ländischen kontrapunktischen  Musik,  sind  Zeitgenossen;  sie  legen 
ie  strenge  Form  der  spezifischen  Kunst  ihrer  Kultur  fest.  Gleich- 
seitig erfolgt  in  jeder  Kultur  ihr  Übergang  zur  Zivilisation,  d.  h. 
su  ihrem  letzten  Stadium,  wo  die  schöpferische  Kraft  der  Seele 
ibnimmt  und  schließlich  ganz  verloren  geht,  wo  sie  nicht  mehr 
die  Tiefe,  sondern  in  die  Breite,  nach  der  Ausdehnung,  strebt, 
wo  der  Organismus  zum  Mechanismus  erstarrt,  wo  die  organische, 
organisierende  Seele  zum  mechanischen,  mechanisierenden  Geiste 
wird.  Die  Sophisten  und  Sokrates  auf  der  einen,  Voltaire 
und  Rousseau  auf  der  anderen  Seite  stehen  an  der  Schwelle 
der  Zivilisation;  sie  sind  also  Zeitgenossen.  Dies  sind  ferner 
Alexander  der  Große  und  Napoleon,  bei  denen  die  für  alle 
Zivilisation  charakteristische  Tendenz  zur  Breite,  zur  Expansion, 
zum  ersten  Male  auf  politischem  Gebiet  in  die  Erscheinung  tritt. 
Dagegen  sind  Cäsar  und  Napoleon,  die  man  auch  oft  zusam- 
menstellt, keine  Zeitgenossen;  denn  Cäsar  gehört  einer  späteren 
Stufe  der  Zivilisation  an  als  Napoleon,  der  mit  Alexander 
an  ihrem  Anfang  steht.  Daher  sind  nur  Alexander  und  Na- 
poleon homologe,  also  innerlich  dasselbe  bedeutende,  strukturell 
gleichwertige  Phänomene;  Cäsar  und  Napoleon  sind  hingegen 
bloß  analoge,  hinsichtlich  ihrer  äußeren  Betätigung  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  ähnliche  Phänomene. 

Es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  Spenglers  Argumentation 
etwas  Bestechendes  an  sich  hat,  und  man  kann  auch  nicht  leugnen, 
daß  ihm  mit  Hilfe  dieser  Argumentation  vielfach  überraschende 
Vergleichungen  von  großer  Kühnheit  und  Neuheit  gelangen  sind, 
die  stark  zum  Nachdenken  anregen.  Allein  die  methodischen 
Grenzen  und  Schwächen  der  Spenglerschen  Position  liegen 
für  den,  der  sie  unter  logischem  Gesichtspunkt  betrachtet,  auf 
der  Hand. 

Zunächst  einmal  ist  die  Unsicherheit  bemerkenswert,  die  sich 
bei  Spenglers  Vergleichungen  zeigt.  Es  ist  unter  Spengler- 
schen Voraussetzungen  gewiß  richtig,  daß  —  im  ganzen  gesehen 
—  Plato  und  Aristoteles  auf  der  einen,  Goethe  und  Kant 
auf  der  anderen  Seite  Zeitgenossen  sind.    Dennoch  bleibt  es  pein- 


110  Kurt  Sternberg, 

lieh,  daß  im  einzelnen  bisweilen  Plato  und  G-oethe  als  die 
großen  Vertreter  der  Intuition  sowie  Aristoteles  und  Kant 
als  die  großen  Systematiker,  bisweilen  aber  auch  Plato  und 
Kant  zusammengestellt  werden.  Noch  peinlicher  ist  es,  daß  zwar 
in  der  Regel  Aristoteles  und  Kant  als  die  Vollender  der 
systematischen  Philosophie  ihrer  Kulturen  miteinander  verglichen 
werden,  daß  aber  an  einer  Stelle  auch  einmal  Schopenhauer 
als  „letzter  großer  Systematiker"  der  abendländischen  Philosophie 
bezeichnet  wird.  Damit  würde  Schopenhauer  zu  einem  Zeit- 
genossen des  Aristoteles  werden,  derselbe  Schopenhauer, 
der  sonst  als  morphologisch  gleichwertig  mitEpikur,  also  einem 
der  Begründer  der  nacharistotelischen  Philosophie,  ange- 
sprochen wird.  Dies  kommt  daher,  daß  es,  wie  auch  Heinrich 
Scholz  in  seiner  Broschüre  über  Spengler  ausführt *),  bei  die- 
sem trotz  der  hierauf  bezüglichen  Darlegungen  an  einem  objektiven 
Prinzip  fehlt,  auf  Grund  dessen  im  besonderen  Falle  eindeutig 
bestimmt  werden  könnte,  ob  zwei  Erscheinungen  wahrhaft  homolog 
oder  bloß  analog  sind.  Das  kann  nach  Spengler  gar  nicht  er- 
kannt, sondern  nur  „gefühlt,  erlebt,  geschaut"  werden,  und  wie 
sonst  noch  die  Lieblingstermini  der  Spenglerschen  Methodik 
lauten. 

Überdies  ist  zu  erwägen,  ob  auf  dem  Wege  Spenglers  über- 
haupt jemals  wirkliche  Homologien  gefunden  werden  können  oder 
ob  wir  nicht  vielmehr  mit  Notwendigkeit  auf  die  Bildung  von 
Analogien  beschränkt  bleiben.  Der  Ausgangspunkt  Spenglers 
ist  die  Auffassung  der  Kulturen  als  Organismen.  Diese  Auffassang 
ist  aber  eine  rein  analogische.  Zwar  heißt  es  bei  Spengler,  wie 
wir  bereits  wissen,  einmal:  „Kulturen  sind  Organismen"  und  ein 
anderes  Mal:  „Kulturen  sind  Pflanzen",  wobei  das  Wort  „Sind" 
bei  der  zweiten  Stelle  von  Spengler  selbst  durch  Sperrdruck 
noch  besonders  hervorgehoben  worden  ist.  Allein  eine  solche  Be- 
hauptung steht  logisch  auf  demselben  Niveau  wie  die  bekannte 
materialistische,  daß  Empfindungen  Nervenbewegungen  sind.  Wie 
Empfindungen  Empfindungen  und  Nervenbewegungen  Nervenbewe- 
gungen sind,  so  sind  Organismen  Organismen  resp.  Pflanzen  Pflanzen 
und  Kulturen  Kulturen.  Allerdings  kann  ich  diese  als  Organis- 
men,   also   nach  Analogie   mit   den   Organismen   betrachten;    aber 


1)  Scholz,  Zum  „Untergang"   des  Abendlandes.    Eine  Auseinandersetzung 
mit  Oswald  Spengler  S.  59  (2.  Aufl.,  Berlin  1921). 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes".     111 

das  Ergebnis  eines  solchen  analogiscben  Verfahrens  vermag  immer 
nur  eine  Analogie  zu  sein.  Spengler  selbst  erklärt  einmal 
gleich  zu  Anfang  seines  Werkes:  „Das  Mittel,  lebendige  Formen 
zu  verstehen,  ist  die  Analogie".  Nun  wohl:  ist  es  die  Analogie, 
so  ist  es  eben  nicht  die  Homologie,  d.  h.  eine  ßedeutungsgleichheit 
in  strengem  Gesetzessinne. 

Man  weiß  ans  der  Logik,  mit  welchen  Schwierigkeiten  die 
Analogieschlüsse  zu  kämpfen  haben,  daß  sie  alle  in  höherem  oder 
geringerem  Grade  fragwürdig  sind.  Ihr  Produkt  ist  höchstens 
nur  eine  mehr  oder  weniger  unbestimmte  Generalisation ,  niemals 
ein  bestimmtes  Gesetz.  Es  liegt  gewiß  eine  nicht  uninteressante 
Nuance  vor,  wenn  Spengler  nicht  mehr  wie  vielfach  die  bis- 
herige Philosophie  die  gesamte  Menschheit,  die  Gesellschaft,  ein 
Volk  oder  eine  abgegrenzte  Kulturerscheinung,  z.  B.  die  bildende 
Kunst  oder  noch  spezieller  die  deutsche  Romantik,  sondern  die 
einzelnen  Kulturen  in  ein  analogisches  Verhältnis  zu  den  Orga- 
nismen setzt  und  auf  sie  seine  Generalisationen  bezieht;  allein 
unter  prinzipiellem  Gesichtspunkt  ist  es  ein  und  dasselbe.  Es 
bleibt  sich  in  logischer  Hinsicht  gleich,  ob  ich  von  Geburt,  Blüte, 
Reife  und  Verfall  einer  einzelnen  Kulturerscheinung  oder  einer 
ganzen  Kultur  spreche  und  ob  ich  von  einer  Kultur  oder  von 
einem  Volk  resp.  der  Menschheit  den  Durchgang  durch  die  Stadien 
der  Kindheit,  der  Jugend,  der  Männlichkeit  und  des  Greisentums 
behaupte.  Spenglers  analogische  Generalisationen  unterscheiden 
sich  vom  methodischen  Gesichtspunkt  aus  keineswegs  von  den- 
jenigen, welche  aus  der  bisherigen  Geschichtsphilosophie  bekannt 
geworden  sind,  sofern  diese  generalisierende  Tendenzen  verfolgte. 
Hier  wie  dort  handelt  es  sich  um  mehr  oder  weniger  unsichere 
Generalisationen,  nicht  aber  um  sichere  Gesetze. 

Diese  können,  wie  wir  seit  Galilei  und  der  Begründung  der 
modernen  Naturforschung  wissen,  niemals  durch  Generalisation, 
sondern  nur  durch  Analyse  eines  Einzelfalls  gefunden  werden. 
Indem  Spengler  durch  generalisierende  Abstraktion  Gesetze  zu 
gewinnen  trachtet,  zeigt  er,  daß  .  er  —  trotzdem  das  alte  Grie- 
chenland, wie  wir  sehen  werden,  nach  seiner  Meinung  völlig  tot 
ist  —  noch  ganz  auf  dem  von  keinem  Fortschritt  der  neuzeitlichen 
Logik  berührten  Standpunkt  der  aristotelischen  Induktion 
steht. 

Freilich:  die  Gesetze  bei  Galilei  und  in  der  modernen  Natur- 
wissenschaft  sind   Naturgesetze.     Allein    Spengler    selbst   hebt 


112  Kurt  Sternberg, 

ausdrücklich  hervor,  daß  alle  Gesetze  Naturgesetze  sind:  „Es 
gibt  nur  Naturgesetze".  Da  mutet  es  nun  höchst  sonderbar  an, 
daß  Spengler,  der  von  dem  Gegensatz  zwischen  Natur  und  Ge- 
schichte ausgeht  und  ihn  immer  wieder  betont,  nach  Gesetzen  des 
geschichtlichen  Lebens  sucht,  obwohl  diese  Gesetze  seiner  eigenen 
Überzeugung  nach  ausschließlich  Naturgesetze  sein  können.  Dies 
heißt  denn  doch  wohl  die  methodische  Verwirrung  bis  auf  die 
Spitze  treiben!  Zwar  würde  Spengler  seinerseits  bestreiten, 
daß  er  historische  Gesetze  zu  entdecken  sucht;  aber  was  bedeutet 
es,  wenn  man  strukturelle  Gleichwertigkeiten  aufweisen,  wenn 
man  von  der  Analogie  die  Homologie  als  strenge  Bedeutungsäqui- 
valenz, wenn  man  vor  allem  die  geschichtliche  Zukunft  berechnen 
will? 

Spenglers  Werk  beginnt  mit  dem  Satze:  „In  diesem  Buche 
wird  zum  ersten  Male  der  Versuch  gewagt,  Geschichte  vorauszu- 
bestimmen". Was  den  in  diesen  Worten  zum  Ausdruck  gelan- 
genden Prioritätsanspruch  betrifft,  so  wird  er  durch  den  bloßen 
Hinweis  auf  Comte  und  Spencer  erledigt,  die  gleichfalls  „Ge- 
schichte vorauszubestimmen"  trachteten.  Ja,  schon  der  erste  und 
älteste  Geschichtsphilosoph  großen  Stils,  der  heilige  Augustin, 
strebte  danach,  indem  er  seine  Geschichtskonstruktion  keineswegs 
auf  die  —  Augustinische  —  Gegenwart  beschränkte,  sondern 
bis  zum  jüngsten  Tag  und  sogar  darüber  hinaus  führte.  Aber 
auch  hier  kommt  es  letzten  Endes  nicht  auf  die  Priorität,  sondern 
auf  die  Sache  an. 

Diese  liegt  in  dem  Versuch,  Geschichte  vorauszubestimmen. 
Soll  eine  solche  Vorausbestimmung  nicht  eine  bloße  Spekulation 
sein,  so  muß  sie  sich  offenbar  auf  die  Erkenntnis  von  Gesetzlich- 
keiten gründen,  ganz  wie  die  Vorausbestimmung  von  Naturtat- 
sachen. An  keiner  anderen  Stelle  tritt  der  —  Spengler  selbst 
völlig  unbewußte  —  prinzipielle  Naturalismus  seiner  Geschichts- 
betrachtung so  klar  zutage  wie  ebenhier. 

Es  wird  aber  nicht  bloß  ganz  allgemein  versucht,  Geschichte 
vorauszubestimmen;  es  wird  der  spezielle  Versuch  gemacht,  den 
Untergang  des  Abendlandes  vorauszubestimmen.  Dieser  Versuch 
wird  Von  Spengler  nur  gemacht,  er  kann  von  ihm  nur  gemacht 
werden,  weil  er  die  Strukturgesetzlichkeit  der  abendländischen 
Kultur  genau  zu  kennen  meint  und  nicht  bloß  der  abendländischen, 
sondern  auch  der  anderen  Kulturen ;  denn  gerade  auf  Grund  ihrer 
Vergleich ung   erscheint   ihm    der  Untergang   des   Abendlandes  als 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes".     113 

ein  notwendiges  Phänomen.  Nun  haben  wir  im  vorigen  gesehen, 
daß  die  auf  der  Basis  der  Spenglerschen  Morphologie  vorge- 
nommenen Vergleichungen  immer  nur  zur  Aufstellung  analogischer 
Verhältnisse,  niemals  zur  Statuierung  gesetzlicher  Beziehungen 
führen.  In  der  Tat:  was  Spengler  beibringt,  um  uns  den  Ver- 
fall der  abendländischen  Kultur  glaubhaft  zu  machen,  sind  nichts 
als  Analogien,  allerdings  zum  Teil  recht  interessante.  Diese  Ana- 
logien lassen  vieles  in  einem  ganz  neuen  Licht  erscheinen,  und 
durch  sie  hat  sich  Spengler  zweifelsohne  ein  Verdienst  erworben. 
Immerhin  sind  Analogien  keine  Gesetze.  Notwendigkeit  haben 
aber  nur  diese,  und  es  kann  somit  keine  Rede  davon  sein,  daß 
Spengler  den  Tod  unserer  Kultur,  noch  dazu  für  die  Zeit  um 
das  Jahr  2000,  nachgewiesen  hätte.  Sollten  ein  solcher  Nachweis 
und  überhaupt  eine  historische  Vorausbestimmung  nicht  etwa  schon 
im  Prinzip  unmöglich  sein:  auf  dem  Fundament  von  Spenglers 
Morphologie  sind  sie  jedenfalls  nicht  möglich. 

6.  Diese  Morphologie  macht  nun  noch  eine  Voraussetzung, 
die  ihrer  entscheidenden  Bedeutung  wegen  besonders  betrachtet 
werden  muß.  Sie  erblickt  in  einer  Kultur  nicht  bloß  einen  Orga- 
nismus, sondern  einen  solchen  von  absoluter  Selbständigkeit.  Diese 
Voraussetzung  folgt  aus  dem  Wesen  der  morphologischen  Methode 
an  sich  keineswegs;  die  Morphologie,  wie  sie  in  der  Biologie  ver- 
wendet wird,  macht  sie  nicht.  Der  biologische  Organismus  wird 
durchaus  als  abhängig  gedacht  von  seinen  Vorfahren  sowie  son- 
stigen Einflüssen  und  zwar  nicht  bloß  rein  äußerlich,  mit  Rück- 
sicht auf  seine  Gestalt,  sondern  auch  innerlich,  in  seelischer  Hin- 
sicht. Von  hier  aus  gesehen,  lag  für  Spengler  kein  zwingender 
Grund  vor,  bei  seiner  Übertragung  des  Organismus begriffs  auf  die 
Kulturen  diesen  totale  Selbständigkeit  zuzuschreiben.  Immerhin 
kann  man  Spenglers  Motiv  verstehen:  Je  mehr  und  je  strenger 
die  verschiedenen  Kulturen  voneinander  abgegrenzt  sind,  um  so 
klarer  und  reiner  kann  ihre  von  Spengler  angenommene  struk- 
tive  Gesetzlichkeit  hervortreten,  um  so  leichter  wird  die  nach 
Spengler  mögliche  Vorausbestimmung  ihres  Schicksals,  insbe- 
sondere des  Untergangs  der  abendländischen  Kultur. 

Darum  stellt  Spengler  also  eine  radikale  Trennung  der 
Kulturen  her.  Ihm  zufolge  liegt  jeder  von  ihnen  —  wir  wissen 
es  bereits  —  ein  eigen-  und  einzigartiges  Seelen  tum  zugrunde,  und 
alle  einzelnen  Erscheinungen  innerhalb  einer  Kultur  sind  ein  Aus- 
druck,   Symbole  dieses  eigen-  und   einzigartigen  Seelentums.     Mag 

Kautstudien  XXVn.  8 


114  Kurt  Sternberg, 

eine  Kultur  —  immer  nach  Spengler  —  sich  auch  äußerlich  die 
Formen  einer  anderen  aneignen,  so  erfüllt  sie  diese  doch  mit  einem 
völlig  neuen  inneren,  seelischen  Gehalt.  Es  besteht,  sieht  man 
von  der  „Oberfläche"  ab,  kein  Zusammenhang  zwischen  den  ver- 
schiedenen Kulturen;  die  eine  wurzelt  niemals  in  der  anderen,  die 
eine  setzt  die  andere  nicht  voraus.  „Im  Phänomen  der  einzelnen, 
aufeinander  folgenden,  nebeneinander  aufwachsenden,  sich  berüh- 
renden, überschattenden,  erdrückenden  Kulturen  erschöpft  sich  der 
Grehalt  aller  Historie". 

Demselben  relativistischen  Standpunkt,  den  Spengler  gegen- 
über den  Kulturen  in  ihrer  Gesamtheit  einnimmt,  unterstellt  er 
nun  natürlich  auch  die  einzelnen  Kulturgebiete.  Gerade  in  philo- 
sophischen Kreisen  könnte  man  der  Auffassung  sein,  daß  dieser 
Relativismus  in  bezug  auf  die  Philosophie  bereits  durch  einen 
Blick  auf  ihre  Entwicklungsgeschichte  widerlegt  würde;  denn  die 
Philosophie  der  abendländischen  Kultur  —  diese  stets  im  Speng- 
lerschen,  d.  h.  ausschließlich  das  zweite  nachchristliche  Jahr- 
tausend umfassenden  Sinne  verstanden  —  ist  bekanntlich  ohne  die 
antike  Philosophie  nicht  begreiflich,  gar  nicht  denkbar.  Spengler 
ist  anderer  Meinung:  „Jede  Philosophie  ist  ein  Ausdruck  ihrer 
und  nur  ihrer  Zeit".  „Es  gibt  keine  Philosophie  überhaupt". 
Und  wie  es  —  immer  nach  Spengler  —  keine  Philosophie  über- 
haupt gibt,  so  gibt  es  auch  sonst  keine  Wissenschaft,  zum  Bei- 
spiel keine  Mathematik  überhaupt:  „Es  gibt  keine  Mathematik, 
es  gibt  nur  Mathematiken".  Ebenso  gibt  es  keine  Physik,  sondern 
„nur  einzelne,  auftauchende  und  schwindende  Physiken  innerhalb 
einzelner  Kulturen".  Die  moderne  Mechanik  mit  ihrem  Geltungs- 
anspruch  ist  nichts  als  „eine  die  Struktur  des  westeuropäischen 
Geistes  bezeichnende  Illusion". 

Wie  es  auf  wissenschaftlichem  Gebiete  steht,  so  auch  auf 
moralischem:  „Es  gibt  so  viele  Moralen,  als  es  Kulturen  gibt"; 
mithin  gibt  es  „keine  allgemein  menschliche  Ethik". 

Entsprechendes  gilt  von  der  Kunst  bzw.  den  Künsten.  „Die 
Malerei  —  das  gibt  es  nicht".  „Malerei  ist  nur  ein  Wort". 
„Ebenso  ist  Musik  ein  vages  Wort".  Die  Kunst  „der  freistehenden 
griechischen  Statue,  des  Kontrapunkts,  des  byzantinischen  fron- 
talen Porträts,  des  perspektivischen  Ölgemäldes :  Jede  dieser  Künste 
ist  ein  Organismus  für  sich,  ohne  Vorgänger  und  Nachfolger,  wenn 
man  vom  Äußerlichsten  absieht".  Darum  gibt  es  „keine  Geschichte 
der  Kunst,    der  Architektur,    der  Musik,  des  Dramas";  es  sind 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes".     115 

„diese  Gesamtgeschichten  lediglich  eine  äußerliche.  Summierung 
einer  Anzahl  von  Einzelphänomenen,  von  Sonderkünsten  .  .  . ,  die 
nichts  als  den  Namen  und  einiges  der  handwerklichen  Tecknik 
gemein  haben". 

„Nichts  als  den  Namen";  schon  gut,  aber  immerhin  den  Namen! 
Wie  kommt  das?  Worauf  beruht  es,  daß  wir  sowohl  die  Fresko- 
malerei Griechenlands  als  auch  die  perspektivische  Ölmalerei  der 
Neuzeit  als  Malerei,  sowohl  die  antike  Musik  —  sie  mag  im  übrigen 
so  primitiv  gedacht  werden  wie  nur  möglich  —  als  auch  die  mo- 
derne kontrapunktische  Musik  als  Musik  bezeichnen?  Es  müssen 
hier  wie  dort  gewisse  grundlegende  Voraussetzungen  logischer 
Natur  vorhanden  sein,  welche  allein  es  ermöglichen,  dann  aber 
auch  dazu  verpflichten,  von  Malerei  bezw.  Musik  zu  sprechen. 
Malerei  und  Musik  sind  eben  nicht  bloße  „Namen",  bloße  „Worte", 
noch  dazu  „vage  Worte" ;  es  handelt  sich  vielmehr  um  streng  de- 
finierte Begriffe.  Diese  Begriffe  stellen  —  wie  sämtliche  Begriffe  — 
Geltungszusammenhänge  dar;  sie  enthalten  —  gleich  allen  Be- 
griffen —  in  sich  ein  System  formaler  Bedingungen,  die  erfüllt 
sein  müssen,  wenn  ein  Objekt  durch  sie  bestimmt  werden  soll. 
Diese  formalen  Bedingungen  hat  das  Objekt  der  antiken  Ma- 
lerei und  Musik  genau  so  zu  erfüllen  wie  das  der  abendländischen, 
damit  es  als  Objekt  der  Malerei  und  Musik  begriffen  werden  kann 
und  muß,  mögen  antike  und  abendländische  Malerei  und  Musik 
inhaltlich  auch  noch  so  sehr  voneinander  verschieden  sein.  Das 
System  der  formalen  Bedingungen,  der  Geltungszusammenhang, 
stellt  die  Einheit  der  Malerei  und  der  Musik,  überhaupt  der  Kunst 
her  und  gestattet,  ja,  gebietet  es  uns,  von  der  Malerei,  der 
Musik,  der  Kunst  zu  reden. 

Das  System  der  formalen  Bedingungen,  der  Geltungszusam- 
menhang, gestattet  und  gebietet  es  uns  auch,  von  der  Moral  zu 
reden.  Gewiß:  „es  gibt  so  viele  Moralen,  als  es  Kulturen  gibt"; 
aber  diese  verschiedenen  Moralen  sind  immerhin  Moralen.  Der 
Begriff  der  Moralen  setzt  doch  wohl  den  der  Moral  voraus! 

Ebenso  setzt  der  Begriff  der  Physiken,  Mathematiken, 
Philosophien  doch  wohl  den  Begriff  der  Physik,  Mathe- 
matik, Philosophie  voraus.  Fraglos  besteht  zwischen  der 
dynamischen  Physik  der  Neuzeit  und  der  statischen  des  Altertums 
ein  großer  Unterschied,  derselbe  Unterschied  wie  zwischen  der 
infinitesimalen  Mathematik  der  Neuzeit  und  der  euklidischen 
des  Altertums.    Allein   dieses   Unterschiedes  ungeachtet,    handelt 

8* 


116  Kurt  Sternberg, 

es  sich  beidemal  um  Physik  resp.  Mathematik,  und  dieser  Umstand 
erfordert,  daß  beidemal  ein  Inbegriff  von  Momenten  vorliegt,  die 
das  jeweilige  Objekt  in  seinem  physikalischen  resp.  mathematischen 
Geltungswerte,  die  den  Geltungswert  von  Physik  resp.  Mathematik 
konstituieren.  Und  inbetreff  der  Philosophie  ist  es  nickt  anders. 
Allerdings  ist  jede  Philosophie  ein  Ausdruck  ihrer  Zeit.  Das  führte 
schon  Plato  als  Entschuldigung  für  die  Irrlehren  der  Sophisten 
an,  und  von  Hegel  stammt  das  schöne  und  tiefe  Wort:  „Eine 
Philosophie  ist  ihre  Zeit  in  Gedanken  erfaßt".  Aber  Hegel  dachte 
gar  nicht  daran,  der  verschiedenen  Philosophien  wegen  den  ein- 
heitlichen Philosophiebegriff  aufzuheben;  denn  er  wußte,  daß  in 
ihnen  allen  trotz  ihrer  inhaltlichen  Verschiedenheit  dieselben 
formalen  Elemente  wirksam  sind,  die  Elemente,  welche  die  ver- 
schiedenen Philosophien  zur  Philosophie  machen  und  somit  den 
Begriff  der  Philosophie  selbst  begründen. 

Die  Wirksamkeit  der  formalen  Elemente,  der  logischen  Voraus- 
setzungen und  Bedingungen,  welche  den  Grund  legen  zu  den  Be- 
griffen Wissenschaft,  Moral  und  Kunst,  garantiert  die  Einheit  auf 
den  genannten  Kulturgebieten.  Diese  formale  Einheit  bildet  den 
absoluten  Faktor  in  den  relativen  Inhalten;  sie  stellt  die  von 
Spengler  so  völlig  verkannte  *  Kontinuität  her.  Die  Kontinuität 
in  der  Wissenschaft,  Moral  und  Kunst  —  sie  bedeutet  aber  die 
Kontinuität  in  der  Kultur  überhaupt;  denn  die  wissenschaftliche, 
die  —  im  weitesten  Sinne  verstandene,  also  auch  Recht,  Religion 
usw.  in  sich  begreifende  —  moralische  und  die  künstlerische  Kultur 
umfassen  den  gesamten  Bereich  der  menschlichen  Kultur. 

„Was  ist  nun  von  der  monadologischen  Struktur  der  welt- 
geschichtlichen Kulturen  zu  halten?",  fragt  Heinrich  Scholz 
in  seiner  Auseinandersetzung  mit  Spengler,  und  er  fährt  fort: 
„Unsere  Antwort  darf  kurz  sein.  Sie  lautet  so  :  Soweit  sich  dieser 
Strukturgedanke  mit  dem  Kontinuitätsprinzip  verträgt ,  ist  er 
gut"  1).  Hiermit  ist  die  Stellung  gekennzeichnet,  die  unter  logi- 
schem Aspekt  allein  diesem  Problem  gegenüber  eingenommen  werden 
kann. 

Relativität  und  Kontinuität  schließen  einander  keineswegs  aus. 
Die  Kontinuität  ist  stets  eine  solche  im  Relativen;  der  Begriff 
der  Kontinuität  fordert  3omit  den  der  Relativität  als  sein  Korrelat. 
Umgekehrt  verlangt  auch  dieser  jenen  zu  seiner  Ergänzung.    Das 


1)  Scholz,  1.  e.  S.  48. 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes".     117 

Relative  hat  nur  Sinn  nnd  Bedeutung  in  Beziehung  auf  ein  Abso- 
lutes, das  in  ihm  kontinuierlich  fortwirkt.  Dieses  Absolute,  welches 
kontinuierlich  fortwirkt  —  es  ist  nichts  anderes  als  das  Denken, 
die  Erkenntnis  selbst.  Gewiß:  alles  Gedachte,  alles  Erkannte  ist 
relativ;  daß  aber  alles  Relative  in  der  Einheit  des  Denkens,  der 
Erkenntnis,  wurzelt,  in  logischem  Sinne  aus  ihr  hervorgeht,  dies 
besagt  das  Prinzip  der  Kontinuität.  Darum  ist  es  von  Leibniz 
und  von  Kant  vertreten  worden,  und  über  seine  methodische  Be- 
deutung sollte  zum  mindesten  seit  Hermann  Cohen  kein  Zweifel 
mehr  möglich  sein.  Das  Urteil  der  Kontinuität  ist  das  Urteil  des 
Ursprungs,  des  logischen  Ursprungs  aus  dem  Denken,  wie  es  sich 
am  klarsten  in  der  mathematischen  Infinitesimal- Analysis  offenbart. 
Hätte  sich  Spengler,  der  diese  ständig  im  Munde  führt,  ihren 
wahren  methodischen  Sinn  und  Gebalt  vergegenwärtigt,  so  würde 
er  sich  auch  Sinn  und  Gehalt  des  Kontinuitätsprinzips  vergegen- 
wärtigt und  nicht  alle  Kontinuität  bestritten  haben. 

Nicht  dies  ist  der  Fehler  Spenglers,  daß  er  die  Relativität 
aller  Kultur  auf  das  stärkste  betont  und  aufzuzeigen  strebt.  Dies 
ist  sogar  ein  Verdienst  von  ihm,  und  er  hat  in  der  Unterscheidung 
der  verschiedenen  Kulturen,  in  ihrer  Abhebung  voneinander,  Be- 
deutsames geleistet.  Daß  er  aber  die  Relativität  in  relativisti- 
schem Sinne  interpretiert,  ausbeutet,  darin  liegt  der  Fehler.  Et- 
was anderes  ist  es,  die  Relativität,  etwas  anderes,  den  Relativis- 
mus zu  vertreten;  jene  ist  im  Gegensatz  zu  diesem  mit  dem  un- 
entbehrlichen Kontinuitätsgedanken  durchaus  verträglich. 

7.  Dieser  ist  aber  unentbehrlich,  weil  er  und  nur  er  uns  das 
Verständnis  fremder  Kulturen  ermöglicht.  Wäre  zwischen  den 
verschiedenen  Kulturen  keine  Kontinuität  vorhanden,  so  würde  es 
keine  Übergänge  geben,  keine  Brücken,  die  von  der  einen  zur  an- 
deren führen,  und  es  würde  somit  unmöglich  sein,  die  eine  von 
der  anderen  aus  zu  erfassen,  zu  begreifen.  Die  völlige  Leugnung 
der  Kontinuität  würde  also  den  völligen  Skeptizismus  im  Gefolge 
haben. 

Spengler  zeigt  unverkennbar  Neigung,  diese  Konsequenz  zu 
ziehen.  Er  selbst  bezeichnet  seinen  Standpunkt  als  Skeptizismus, 
als  „historisch-psychologischen  Skeptizismus".  Sollte  es  wirklich 
nötig  sein,  die  in  der  Philosophie  längst  erkannte  theoretische 
Widersinnigkeit  des  Skeptizismus  noch  einmal  nachzuweisen?  Ge- 
ringes Nachdenken  führt  zu  der  Einsicht,  daß  letzten  Endes  nicht 
das  Denken  im  Zweifel,    sondern  der  Zweifel  im.  Denken  wurzelt. 


118  Kurt  Sternberg, 

"Wir  verdanken  Richard  Hönigswald  eine  wertvolle  Studie 
über  den  Zweifel *).  In  ihr  wird  seine  ungemein  große  methodische 
Fruchtbarkeit  gekennzeichnet;  in  ihr  werden  aber  auch  seine 
Grenzen  abgesteckt.  Diese  Grenzen  ergeben  sich  daraus,  daß  der 
Zweifel  —  als  ein  Denken  —  die  Denkgesetze  zu  seiner  Bedin- 
gung hat,  an  sie  mithin  nicht  heranreicht.  So  wird  zwar  die 
Skepsis  gerechtfertigt,  welche  den  Hebel  aller  Forschung  bildet, 
zugleich  aber  der  Skeptizismus  ad  absurdum  geführt.  Das 
letztere  ist  in  der  Tat  nicht  schwer !  Der  Skeptizismus  will  eine 
Theorie  sein,  aber  eine  solche,  die  alle  Theorie  unmöglich  macht; 
der  Skeptizismus  will  eine  Erkenntnis  vermitteln,  aber  eine  solche, 
die  alle  Erkenntnis  aufhebt;  der  Skeptizismus  will  Wahrheit  • 
geben,  aber  eine  solche,  die  alle  Wahrheit  leugnet.  Dieser  innere 
Widerspruch,  der  dem  Skeptizismus  anhaftet,  ist  seit  langem  auf- 
gedeckt worden;  man  sollte  meinen,  daß  er  auch  Spengler  be- 
kannt geworden  sei.  Allein  das  Gregenteil  ist  der  Fall;  er  macht 
sich  bei  ihm  in  seinem  ganzen  Ausmaß,  in  seiner  vollen  Schärfe 
geltend. 

Auf  der  einen  Seite  setzt  Spenglers  Methode  der  morpho- 
logischen Vergleichung  doch  wohl  das  Verständnis  des  zu  Ver- 
gleichenden voraus,  nämlich  der  Kulturen  resp.  der  ihnen  zugrunde 
liegenden  Seelen.  So  erscheint  es  ihm  denn  als  die  Aufgabe  seiner 
Morphologie,  „das  Weltgefühl  nicht  nur  der  eigenen,  sondern  das 
aller  Seelen  zu  durchdringen,  in  denen  große  Möglichkeiten  über- 
haupt bisher  erschienen  und  deren  Verkörperung  im  Bereiche  des 
Wirklichen  die  einzelnen  Kulturen  sind."  In  diesem  Sinne  sucht 
er  den  Charakter  der  verschiedenen  Kulturseelen  festzulegen.  So 
bestimmt  er  die  antike  Kulturseele  als  die  apollinische.  Man 
kennt  diesen  Terminus  von  Friedrich  Nietzsche  her.  Die 
apollinische  —  es  ist  die  auf  das  Maß,  auf  das  Begrenzte  gerich- 
tete Seele.  Ihr  gegenüber  ist  die  des  Abendlandes  im  zweiten 
nachchristlichen  Jahrtausend  die  faustische;  es  eignet  ihr  Fausts 
Sehnsucht  nach  dem  Unendlichen,  Grenzenlosen,  Fausts  Wille  zur 
Macht.  "So  wird  mithin  die  Möglichkeit  einer  Erfassung  der 
mannigfachen  Kulturseelen  von  Spengler  angenommen,  und  von 
dieser  Möglichkeit  leben  die  meisten  Ausführungen  in  seinem  Werke. 

Nichtsdestoweniger  leugnet  er  auf  der  anderen  Seite  wieder- 
holt und   mit  Entschiedenheit,    daß   einer  Kultur  das  Verständnis 


1)  Hönigswald,  Die  Skepsis  in  Philosophie  und  Wissenschaft  (Göttingen 
1914). 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes."     119 

einer  anderen  möglich  sei.  Ausdrücklich  wird  erklärt,  daß  jede 
Kulturerscheinung  Symbol  eines  Seelentums,  Zeichen  eines  „Welt- 
gefühls" ist,  „das  nur  zu  Menschen  einer  einzigen  Kultur  redet." 
Deshalb  handelte  resp.  handelt  es  sich  nach  Spengler  um  eine 
bloße  „Illusion",  wenn  wir  die  Antike  zu  verstehen  glaubten  resp. 
glauben:  „Wir  haben  in  unser  Bild  von  den  Griechen  und  Römern 
jedesmal  das  hineingelegt,  hineingefühlt,  was  wir  in  der  Tiefe 
der  eigenen  Seele  entbehrten  oder  erhofften." 

Das  ist  ja  nun  wohl  richtig.  Jeder  Epoche  erscheint  die  An- 
tike anders;  jede  macht  sich  von  ihr  ein  anderes  Bild,  ein  anderes 
Ideal.  Aber  ist  ein  anderes  Verständnis  etwa  kein  Verständ- 
nis ?  Vielleicht  versteht  niemand  von  uns  Heutigen  die  Philosophie 
Pia  tos  so,  wie  die  Griechen  und  vor  allem  Plato  selbst  und 
seine  Zeitgenossen  sie  verstanden  haben;  allein  daraus  folgt  nicht, 
daß  wir  sie  überhaupt  nicht  verstehen.  Spengler  hat  schon 
ganz  Recht  mit  seinem  vorher  angeführten  Satze,  daß  jede  Philo- 
sophie ein  Ausdruck  ihrer  Zeit  ist;  er  hat  jedoch  Unrecht,  wenn 
er  hinzufügt:  „und  nur  ihrer  Zeit."  Der  Philosophie  ist  neben 
dem  zeitlichen  noch  ein  überzeitlicher  Faktor  immanent,  der  in 
allem  Zeitlichen  kontinuierlich  fortwirkt,  und  dieser  überzeitliche 
Faktor  ermöglicht  auch  anderen  Zeiten  ein  —  wenn  auch  anderes 
—  Verständnis  der  Philosophie  einer  Zeit.  Was  von  der  Philo- 
sophie gilt,  das  gilt  auch  von  sämtlichen  übrigen  Kulturerschei- 
nungen. Gewiß:  ein  griechisches  Drama,  eine  griechische  Statue 
hat  vielleicht,  sogar  vermutlich  in  einem  Griechen  ein  anderes 
Gefühl  der  Schönheit  ausgelöst  als  in  uns  Jetzigen;  immerhin: 
ein  Gefühl  der  Schönheit  ist  es  nach  wie  vor,  welches  ausgelöst 
wird.  Das  ist  nur  begreiflich  bei  der  Annahme  gewisser  Bedin- 
gungen, Gültigkeiten,  die  in  der  Antike  vorlagen  und  auch  in  der 
Moderne  nicht  verloren  gegangen  sind,  gar  nicht  verloren  gehen 
können,  weil  sie  von  allem  Zeitlichen  unabhängig  sind.  Wir 
kommen  somit  zu  dem  Schlüsse:  Jede  Kulturerscheinung  ist  ein 
Ausdruck,  ein  Symbol  eines  bestimmten  Seelentums ;  aber  sie  ist 
nicht  bloß  der  Ausdruck,  nicht  bloß  das  Symbol  einer  Psyche. 
Und  was  sie  mehr  ist:  das  konstituiert  den  Begriff  der  Kultur 
selbst,  ist  darum  in  allen  Kulturen  wirksam  und  ermöglicht  es 
der  einen,  die  andere  —  wenn  auch  auf  ihre  Weise  —  zu  ver- 
stehen. 

8.  Es  heißt  einmal  bei  Spengler:  „Weil  Gegensätze  sich 
berühren,   weil   sie  auf  ein  vielleicht  Gemeinsames   in  der  letzten 


120  Kurt  Sternberg, 

Tiefe  der  Existenz  verweisen,  finden  wir  in  der  abendländischen, 
faustischen  Seele  jenes  sehnsüchtige  Suchen  nach  dem  Ideal  der 
apollinischen,  die  sie  allein  von  allen  anderen  begriffen  und  um 
die  Kraft  ihrer  Hingabe  an  die  sinnlich-reine  Gegenwart  beneidet 
hat."  Diese  Stelle,  an  der  übrigens  plötzlich  zugegeben  wird,  daß 
die  abendländisch-faustische  Seele  die  griechisch- apollinische  „be- 
griffen" hat,  enthält  einen  sehr  fruchtbaren  Gedanken,  den 
Spengler  nur  leider  nicht  zu  Ende  gedacht  hat.  Er  sagt,  daß 
„Gegensätze  sich  berühren"  und  „ auf  ein  vielleicht  Gemeinsames  .  .  . 
verweisen."  Allerdings:  bei  jeder  Vergleichung  wird  logisch  ein 
einheitliches  Prinzip  vorausgesetzt,  auf  Grund  dessen  verglichen 
wird,  eine  höhere  Einheit ,  innerhalb  derer  die  Vergleichung  statt- 
findet. Ebendas  bedeutet  das  Prinzip  der  Kontinuität ;  diese  ist  die 
Einheit  im  Verschiedenen,  im  Gegensätzlichen.  Mögen  zwei  Objekte 
auch  noch  so  verschieden,  entgegengesetzt,  sein:  es  muß  eine  kon- 
tinuierliche Einheit  zwischen  ihnen  gedacht  werden,  da  sonst  ihre 
Verschiedenheit,  ihr  Gegensatz,  gar  nicht  gedacht  werden  könnte. 
So  muß  denn  auch  zwischen  den  nach  Spengler  entgegenge- 
setzten Seelen  der  abendländisch-faustischen  und  der  antik-apolli- 
nischen Kultur  eine  kontinuierliche  Einheit  gedacht  werden;  sie 
müssen  „auf  ein  vielleicht  Gemeinsames  in  der  letzten  Tiefe  der 
Existenz  verweisen." 

Wenn  dem  aber  so  ist,  dann  können  das  Apollinische  und  das 
Faustische  einander  nicht  bloß  entgegengesetzt,  nicht  schlecht- 
hin fremd  sein,  dann  muß  das  Apollinische  auch  in  der  Kultur 
des  Abendlandes  und  das  Faustische  in  der  der  Antike  wirksam 
sein.  Hiermit  ist  gegeben,  daß  weder  die  Kategorie  des  Apolli- 
nischen zur  Bestimmung  der  antiken  noch  die  des  Faustischen  — 
wenigstens  wenn  sie  in  Spenglers  Sinne  genommen  wird  —  zur 
Bestimmung  der  abendländischen  Kultur  ausreichend  ist. 

Trotzdem  soll  durchaus  zugestanden  werden,  daß  Spengler 
mit  Hilfe  dieser  Kategorien  Beträchtliches  gelungen  ist.  Durch 
sie  ist  so  manche  Kulturerscheinung  in  ganz  anderer  Weise  als 
zuvor  dem  Verständnis  erschlossen  worden.  Spenglers  Schilde- 
rung der  antiken  und  der  abendländischen  Kultur  —  und  nicht 
nur  dieser  beiden  —  macht  den  eigentlichen  Wert  seines  Werkes  aus. 

Nichtsdestoweniger  sind  diese  Kulturschilderungen  einseitig. 
Sie  kehren  stets  bloß  einen,  vielleicht  manchmal  den  entschei- 
denden, jedenfalls  aber  nicht  alle  Gesichtspunkte  hervor.  Wenn 
Spengler,    der  die  Kultur  als  Ganzes  atomisiert,   bei  der  Fest- 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes".     121 

legung  der  einzelnen  Kulturen  nach  Einheit  trachtet,  so  ist  das 
gewiß  berechtigt ;  aber  er  hätte  Einheit  nicht  mit  Einfachheit  ver- 
wechseln sollen.  Eine  Einheit  kann  zusammengesetzt,  ein  Gebilde 
von  höchst  komplizierter  Struktur  sein,  und  Kulturen  sind  zu- 
sammengesetzte Einheiten,  Grebilde  von  höchst  komplizierter 
Struktur. 

Gerade  der  bei  ihm  so  beliebte  Begriff  des  Faustischen  hätte 
Spengler  die  Augen  öffnen  können.  Bekanntlich  sagt  Faust 
von  sich,  daß  zwei  Seelen  in  seiner  Brust  wohnen.  Nur  die  eine 
ist  die  nordisch-germanische,  die  ins  Unendliche,  Grenzenlose  stre- 
bende; die  andere  aber,  die  ihn  an  das  endliche,  begrenzte  Dies- 
seits kettet,  ist  die,  welche  Spengler  als  die  apollinische  be- 
zeichnet. Ja,  sogar  noch  eine  dritte  Seele,  die  religiös -christliche, 
wohnt  in  der  Brust  des  Faust,  den  der  Klang  der  Osterglocken 
von  dem  beabsichtigten  Selbstmord  zurückhält.  Hätte  Spengler 
dies  beachtet,  so  würde  er  den  Begriff  des  Faustischen  nicht  in 
unzulässiger  Weise  verengt  haben,  so  würde  seine  Bestimmung 
der  okzidentalen  Kultur  durch  diesen  Begriff  ganz  erheblich  frucht- 
barer gewesen,  ganz  erheblich  tiefer  gegangen  sein.  Er  würde 
entdeckt  haben,  daß  der  abendländischen  Kultur  des  zweiten  nach- 
christlichen Jahrtausends  —  schon  sofern  sie  als  faustisch  charak- 
terisiert wird  —  nicht  bloß  eine,  sondern  verschiedene  Seelen  zu- 
grunde liegen,  und  diese  Erkenntnis  würde  ihn  zu  der  Frage  ge- 
führt haben,  ob  nicht  vielleicht  auch  der  antiken  Kultur  noch 
mehr  als  nur  jene  apollinische  Seele  immanent  ist. 

Der  junge  Nietzsche  stellte  neben  das  Apollinische  das 
Dionysische.  Er  war  hier  schon  sehr  viel  weiter  als  Spengler, 
dem  das  Dionysische  in  der  griechischen  Kultur  nichts  als  ein 
bloßer  Auflehnungsversuch  gegen  das  Apollinische,  nichts  als  eine 
mehr  oder  minder  unwesentliche  Gegenbewegung  ist.  Dem  Dio- 
nysischen eignet  ganz  unverkennbar  ein  Zug  zum  Unendlichen, 
und  dieser  Zug  muß  sich  auch  in  den  einzelnen  Erscheinungen  der 
griechischen  Kultur  —  wenigstens  in  einem  gewissen  Sinne  und 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  —  nachweisen  lassen.  Bei  Speng- 
ler freilich  heißt  es  in  bezug  auf  das  antike  Seelenbild,  wie  es 
speziell  von  Plato  gemalt  worden  ist:  „Nichts  deutet  auf  ein 
Unendlichkeitsbedürfnis  hin."  Aber  was  besagt  es,  wenn  der 
platonischen  Lehre  zufolge  die  Dinge  die  Ideen  nie  erreichen, 
obwohl  sie  ewig  danach  streben?  Die  ganze  Tragik  des  Lebens, 
die    ganze  Problematik   der   Kultur   gelangt  hier   zum  Ausdruck, 


122  Kurt  Sternberg, 

und  diese  Tragik,  diese  Problematik,  ist  von  den  Griechen  erfaßt 
worden,  seitdem  die  Pythagoreer  ihre  Tafel  der  Gegensätze 
aufstellten  und  Heraklit  den  Kampf  als  den  Vater  aller  Dinge 
bezeichnete. 

Die  Problematik,  die  das  Wesen  der  Kultur  überhaupt  aus- 
macht, ist  in  der  antiken  Kultur  erkannt  worden  und  konnte 
ihr  nur  erkannt  werden,  weil  sie  in  ihr  wirksam  war,  und  sie  \s\ 
in  der  abendländischen  Kultur  des  zweiten  Jahrtausends  unsere] 
Zeitrechnung  womöglich  noch  tiefer  erkannt  worden,  weil  sie  in 
ihr  womöglich  noch  mehr  wirksam  war  bzw.  ist.  Es  ist  der  groß- 
artige Grundgedanke,  von  dem  die  Hegeische  Dialektik  getragei 
wird,  daß  alles  geistig-geschichtliche  Leben  sich  in  Gegensätzen 
vollzieht,  vollziehen  muß,  und  dieser  Gedanke  bewährt  und  be- 
wahrt seine  prinzipielle  methodische  Bedeutung,  mag  er  in  ein- 
zelnen Ausführungen  Hegels  auch  oft  genug  zu  „ Ab strusi täten* 
—  um  mit  Spengler  zu  reden  —  geführt  haben.  Der  dialek- 
tische, der  Gesichtspunkt  der  Problematik,  ist  für  das  Verständnis 
der  Kultur  in  unseren  Tagen  vornehmlich  von  Arthur  Liebe H 
fruchtbar  gemacht  worden,  der  als  den  Grundgegensatz  in  allei 
Kultur  den  zwischen  dem  griechischen  und  dem  jüdisch-christ- 
liehen  Ideal  anspricht,  wobei  beide  Ideale  nicht  als  historische 
Fakta,  sondern  als  überzeitliche  Wertgegensätze  verstanden  werdei 
müssen1).  Hier  wird  also  das  jüdisch-christliche  Ideal  genannt, 
dessen  von  Spengler  nur  ganz  ungenügend  gewürdigte  Bedeu- 
tung für  die  abendländische  Kultur  auch  von  Goetz  Briefs  be- 
tont worden  ist 2).  Man  sieht  jetzt,  wie  unzureichend  die  Bestim- 
mung  der  abendländischen  Kultur  durch  die  Kategorie  des  Fau- 
stischen ist,  wenn  sie  nicht  in  dem  vorher  bezeichneten  weiterei 
Sinne  genommen  wird,  sondern  ausschließlich  in  dem  engen  Sinne 
Spenglers,  dem  zufolge  das  Faustische  einzig  das  germanische 
Unendlichkeitsstreben  ist.  Ernst  Troeltsch  hat  schon  | 
Recht,  wenn  er  drei  Grundbestandteile  unserer  Kultur  unterscheidet, 
nämlich  den  religiös-christlichen,  den  nordisch-germanischen  unc 
den  humanistisch-antiken,  und  wenn  er  in  der  Verschlingung  diese] 
drei  Faktoren  die  eigentümliche,  die  schwere  Problematik  unsere] 


Leuchter";  Darmstadt  1919). 

2)  Briefs,  Untergang  des  Abendlandes,  Christentum  und  Sozialismus.    Eine 
Auseinandersetzung  mit  Oswald  Spengler  (Freiburg  i.  Br.  1920). 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  n Untergang  d.  Abendlandes".     123 

Zeit  sieht1),  die  übrigens  von  Georg  Simmel  in  einer  kleinen, 
gehaltreichen,  noch  kurz  vor  seinem  Tode  erschienenen  Studie 
durch  verschiedene  Einzelbeispiele  beleuchtet  worden  ist2).  Diese 
Problematik  unserer  Zeit  wird,  aber  nur  begreiflich,  wenn  man 
das  kontinuierliche  Fortwirken  des  religiös-christlichen,  des  nor- 
disch-germanischen und  des  humanistisch- antiken  Moments  aner- 
kennt, und  so  offenbart  sich  uns  das  Kontinuitätsprinzip  als  die 
Bedingung  für  das  Verständnis  nicht  bloß  fremder  Kulturen,  son- 
dern auch  unserer  eigenen  Kultur. 

9.  Was  setzt  nun  eigentlich  Spengler  an  die  Stelle  des 
Kontinuitätsprinzips?  Es  ist  ein  Prinzip,  das  man  mit  Heinrich 
Scholz  als  das  der  Kohärenz  bezeichnen  kann3).  Diese  wird 
freilich  bei  Spengler  selbst  letztlich  zur  Koinzidenz. 

Jede  Kultur  bringt  doch  nach  ihm  ein  ganz  gewisses  Seelen- 
tum  zum  Ausdruck,  und  durch  die  Beziehung  auf  dieses  Seelentum 
erhalten  die  verschiedenen  Kulturgebiete  ihren  Zusammenhang. 
Keines  von  ihnen  ist  isoliert,  für  sich  zu  begreifen,  sondern  nur 
im  Konnex  mit  allen  anderen;  denn  sie  sind  sämtlich  Symbole 
einer  Seele.  "Wenn  diese  sich  in  den  uns  schon  bekannten  Sta- 
dien entwickelt,  so  entwickeln  sich  eben  alle  die  kulturellen 
Phänomene,  in  denen  sich  die  Seele  verkörpert;  die  Entwicklung 
des  einen  ist  unlöslich  verknüpft  mit  der  der  ganzen  übrigen. 
Also  nicht  nur  die  Erscheinungen  einer  bestimmten  Kultur  im 
allgemeinen,  auch  die  einer  bestimmten  Kulturstufe  im  besonderen 
sind  unzertrennlich  miteinander  verbunden. 

Das  ist  nun  freilich  nicht  ganz  neu.  Vor  allem  hat  Comte 
den  inneren  Zusammenhang  der  verschiedenen  Kulturgebiete  be- 
tont und  hervorgehoben,  daß  einer  Veränderung  in  dem  einen 
stets  eine  solche  in  allen  anderen  entspricht.  Dennoch  ist  dieser 
gewiß  höchst  fruchtbare  Gedanke  wohl  noch  nie  mit  einer  solchen 
Kraft  vertreten  und  in  einem  solchen  Umfang  durchgeführt  worden 
wie  von  Spengler. 

Allein  Spengler  hat  ihn  maßlos  übertrieben.  Wenn  er  mit 
Rücksicht  darauf,  daß  RichardWagners  „  Ring  des  Nibelungen" 
sowie  „Tristan  und  Isolde"  einerseits  und  Darwins  Hauptwerk 
andererseits  ungefähr  gleichzeitig  entstanden  sind,  die  Behauptung 

1)  Troeltsch,  Deutsche  Bildung  (in  dem  Sammelwerk  „Der  Leuchter"  ; 
Darmstadt  1919). 

2)  Simmel,  Der  Konflikt  der  modernen  Kultur  (München  u.  Leipzig  1918). 

3)  Scholz,  1.  c.  S.  14f. 


124 


Kurt  Sternberg, 


aufstellt,  der  dritte  Akt  von  „Siegfried*  und  nun  gar  „Tristan 
und  Isolde"  enthielten  „die  Musik  zur  geschlechtlichen  Zuchtwahl", 
so  kann  man  nur  sagen:  „difficile  est  satiram  non  scribere". 
Spengler  hat  in  gewissem  Sinne  schon  ganz  Eecht,  wenn  er  er- 
klärt: „Griechische  Musik  steht  der  griechischen  Plastik  tausend- 
mal näher  als  der  Kunst  Palestrinas,"  aber  nur  in  gewissem 
Sinne ;  denn  als  Musik  gehört  die  griechische  Musik  wohl  doch  zu 
„der  Kunst  Palestrinas".  Zwar  befindet  sich  die  Musik  alle- 
mal in  nahem  Zusammenhang  mit  der  bildenden  Kunst;  allein  sie 
ist  keine  bildende  Kunst,  wie  Spengler  schlechtweg  meint. 
Darum  ist  sein  Satz:  „Watteau  gehört  zu  Coup  er  in  und  Ph. 
Em.  Bach"  freilich  richtig;  aber  wenn  er  hinzufügt:  „nicht  zu 
Raffael",  so  geht  er  offenbar  zu  weit.  Dasselbe  trifft  zu,  wenn 
er  die  Mathematik  zur  Kunst  und  die  Kunst  zur  Mathematik,  die 
Physik  zur  Religion  und  die  Religion  zur  Physik  macht. 

Die  berühmten  Worte  Kants,  daß  es  nicht  Vermehrung, 
sondern  Verunstaltung  der  Wissenschaften  ist,  wenn  man  ihre 
Grenzen  ineinanderlaufen  läßt,  sie  gelten  nicht  bloß  vom  ^wissen- 
schaftlichen, sondern  von  all  den  verschiedenen  Kulturgebieten. 
Sollen  diese  miteinander  verknüpft  werden,  so  werden  sie  in  ihrer 
Verschiedenheit  vorausgesetzt;  verschieden  voneinander  sind  sie 
aber  nur  dann,  wenn  ein  jegliches  eine  in  sich  geschlossene,  streng 
abgegrenzte  Einheit  bildet.  Ist  dies  der  Fall,  so  ist  es  auch  mög- 
lich, die  kontinuierliche  Entwicklung  auf  jedem  dieser  Kulturge- 
biete für  sich  darzustellen,  ihre  geschichtliche  Entwicklung  geson- 
dert als  eine  kontinuierliche  zu  begreifen.  Dies  muß  sogar  ge- 
schehen, bevor  die  mannigfachen  parallelen  Entwicklungen  in  ihrer 
Parallelität  verstanden  werden  können,  bevor  die  Kohärenz  dieser 
Entwicklungen  eingesehen  zu  werden  vermag.  Die  Kohärenz,  die 
niemals  wie  bei  Spengler  zur  Koinzidenz  ausarten  darf,  hat 
somit  die  Kontinuität  zu  ihrer  logischen  Bedingung,  und  die  Pa- 
role lautet  nicht :  Kohärenz  oder  Kontinuität,  sondern :  Kohärenz 
und  Kontinuität. 

10.  Fragt  man  nach  dem  Grunde,  aus  welchem  Spengler 
die  Kontinuität  nicht  gelten  lassen  will,  so  erkennt  man  leicht, 
daß  es  die  Furcht  ist,  es  könnte  mit  der  Kontinuität  zugleich  ein 
Sinn  oder  gar  ein  Zweck  anerkannt  werden.  Das  aber  ist  es, 
wovor  sich  Spengler  scheut.  Die  Kulturen  „wachsen  in  einer 
erhabenen  Zwecklosigkeit  auf,  wie  die  Blumen  auf  dem  Felde," 
so   heißt   es   bei    Spengler.     Er  weist  einmal  darauf  hin,    He- 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes".     125 

raklit  habe  das  Werden  „mit  dem  Spiel  eines  Knaben  verglichen, 
der  Sandhaufen  auftürmt  und  wieder  zerstört."  Genau  so  wie 
der  spielende  Knabe  Heraklits  macht  es  —  zwar  nicht  die  Ge- 
schichte, wohl  aber  —  Spengler  mit  den  Kulturen;  er  türmt 
sie  auf  und  zerstört  sie  wieder,  ohne  Sinn,  ohne  Zweck. 

Nun  hat  Spengler  gewiß  ganz  Recht,  wenn  er  sich  gegen 
eine  Behandlung  der  Geschichte  unter  dem  Einfluß  subjektiver 
Ideale  wendet,  sofern  sie  den  Anspruch  auf  Wissenschaftlichkeit 
erhebt  und  sich  nicht  darauf  beschränkt,  ein  rein  persönlicher 
Standpunkt  zu  sein;  denn  es  ist  in  der  Tat  „eine  völlig  unhalt- 
bare Manier,  Weltgeschichte  zu  deuten,  indem  man  seiner  politi- 
schen, religiösen  oder  sozialen  Überzeugung  die  Zügel  schießen" 
läßt.  Allein  darf  die  Geschichte  wissenschaftlich  auch  nicht  unter 
dem  Aspekt  eines  subjektiven  Sinnes  und  Zweckes  betrachtet 
werden,  so  darf  sie  es  doch  wohl  unter  dem  eines  objektiven 
Sinnes  und  Zweckes,  und  sie  muß  es  sogar,  soll  sie  überhaupt  be- 
greiflich sein.  Dieser  objektive  Sinn  und  Zweck  der  Geschichte 
können  aber  in  nichts  anderes  gesetzt  werden  als  in  die  Idee  der 
Kulturmenschheit.  Spengler  selbst  spricht  die  Weltgeschichte 
nicht  nur  gelegentlich,  sondern  wiederholt  als  die  „Gesamtge- 
schichte des  höheren  Menschentums"  an.  Freilich  findet  sich  ein- 
mal auf  derselben  Seite,  auf  welcher  von  der  „Geschichte  des  hö- 
heren Menschentums"  die  Rede  ist,  die  Behauptung :  „Die  Mensch- 
heit ist  ein  leeres  Wort",  und  diese  Behauptung  steht  allerdings 
der  Spenglerschen  Geschichtsauffassung  näher  als  der  Begriff 
einer  „Gesamtgeschichte  des  höheren  Menschentums".  Hätte 
Spengler  an  diesem  Begriff  festgehalten  und  ihn  in  seine  letzten 
Konsequenzen  zerlegt,  so  dürfte  seine  Geschichtsphilosophie  we- 
sentlich fruchtbarer  ausgefallen  sein.  Die  „Gesamtgeschichte  des 
höheren  Menschentums"  —  das  ist  die  Geschichte  der  Kultur- 
menschheit, d.  h.  der  Menschheit  in  der  Beziehung  auf  die  ewigen 
Kulturwerte  des  Wahren,  Guten  und  Schönen.  Diese  Geschichte 
braucht  durchaus  nicht  als  ein  Fortschritt  in  der  Richtung  auf 
irgendwelche  subjektiven  und  angeblich  endgültigen  Ziele  an- 
gesehen zu  werden,  und  sie  darf  es  in  wissenschaftlicher  Hinsicht 
auch  gar  nicht;  wohl  aber  darf  und  muß  sie  verstanden  werden 
als  eine  einheitliche  Gesetzlichkeit  unter  dem  Gesichtspunkt  der 
objektiven  Kulturideen.  Die  Einheit  dieser  Ideen,  dieser  kul- 
turellen Werte,  konstituiert  die  Einheit  und  damit  den  Sinn  der 
Menschheit  und   folglich  auch  ihrer  Geschichte.     Wir  werden   uns 


126  Kurt  Sternberg, 

daher  die  folgenden  Worte  aus  einer  Abhandlung  zu  eigen  machen, 
in  der  sich  Alfred  Bäumler  u.  a.  auch  mit  Spengler  ausein- 
andersetzt: „Das  sinnlose  Bild  der  in  ihren  Kreisen  sich  zu  Tode 
drehenden  ,Kulturen'  verschwindet.  An  seine  Stelle  tritt  die  alte, 
aber  gereinigte  Vorstellung  der  einen,  in  sinnvoller  Bewegung  be- 
griffenen (nicht  fortschreitenden')  Menschheit.  Es  ist  eine  mannig- 
fach gebrochene  Bewegung  —  aber  es  ist  jedenfalls  Bewegung  in 
einem  Granzen,  nicht  sinnloses  Drehen  im  Kreise"1).  Sinnvolle, 
wenn  auch  mannigfach  gebrochene  Bewegung  in  einem  Ganzen  — 
ebendas  besagt  der  Gedanke  der  historischen  Kontinuität. 

11.  Von  dem  Kontinuitätsgedanken  aus  ergibt  sich  nun  auch 
die  Bedeutung,  in  der  allein  vom  Untergang  des  Abendlandes, 
überhaupt   von  Untergängen   der  Kulturen  geredet  werden  kann. 

Spengler  spricht  vom  Untergang  der  abendländischen  Kultur, 
weil  er  in  ihr  einen  Organismus  sieht,  der  geboren  wird  und  reift, 
verfällt  und  stirbt.  Nun  ist  das  zwar  nichts  als  ein  bloßes  Bild, 
wie  im  vorigen  dargetan  worden  ist;  aber  es  ist  schon  viel  ge- 
wonnen, wenn  dieses  Bild  wirklich  ausgeführt  wird,  wobei  man 
freilich  nicht  immer  nur  mit  Spengler  an  den  pflanzlichen  Or- 
ganismus zu  denken  hat.  Der  tierisch-menschliche  Organismus 
stirbt;  aber  er  braucht  darum  nickt  völlig  unterzugehen.  Wenn 
er  sich  fortpflanzt,  dann  erhält  er  sich  in  seinen  Nachkommen 
und  zwar  nicht  bloß  den  äußeren  Formen,  sondern  auch  der  inne- 
ren Seele  nach.  So  brauchen  auch  Kulturen  nicht  völlig  unter- 
zugehen; auch  sie  erhalten  sich  in  ihren  Nachkommen,  d.  h.  in 
den  nachkommenden  Kulturen,  und  zwar  auch  nicht  bloß  den 
äußeren  Formen  nach,  wie  Spengler  meint,  sondern  auch  der 
inneren  Seele  nach.  Ja,  Kulturen  können  dem  Kontinuitäts- 
prinzip zufolge  gar  nicht  völlig  untergehen;  ihre  Aufhebung 
kann  immer  nur  eine  solche  im  Hegeischen  Sinne  sein.  Sie  er- 
halten sich  in  den  folgenden  Kulturen  und  wirken  fort,  weil  der 
Begriff  der  Kultur  selbst  sich  erhält.  So  vermag  von  einem  ab- 
soluten, totalen  Untergang  in  der  von  Spengler  gewollten  Weise 
gar  keine  Rede  zu  sein. 

Um  ihn  dennoch  behaupten,  um  den  Untergang  des  Abend- 
landes nicht  bloß  voraussagen,  sondern  sogar  genau  vorausberechnen 
zu-  können,  genügt  es  nicht,  in  den  Kulturen  Organismen  zu  er- 
blicken ;  man  muß  diesen  Organismen  vielmehr  eine  ein  für  allemal 

1)  Bau  ml  er,  Metaphysik  und  Geschichte  (in  der  Zeitschrift  „Die  neue 
Rundschau«  XXXI.    Jahrgang  Heft  10  vom  Oktober  1920)  S.  1128  f. 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes".     127 

feststehende,  von  vornherein  bekannte  Lebenszeit  zuschreiben. 
Durch  den  Begriff  des  Organismus  wird  solches  nicht  gefordert. 
Tierisch-menschliche""  Organismen  erreichen  ein  sehr  verschiedenes 
Lebensalter,  das  zum  Teil  von  äußeren  Einflüssen  abhängig  ist. 
Yon  allen  äußeren  Einflüssen  schließt  Spengler  seine  Kultur- 
organismen freilich  geradezu  hermetisch  ab,  und  nur  darum  kann 
er  ihnen  eine  a  priori  bestimmte,  im  voraus  berechenbare  Lebens- 
dauer beimessen.     Diese  legt  er  auf  tausend  Jahre  fest. 

Um  nun  das  Dogma  von  der  tausendjährigen  Dauer  der  Kul- 
turen aufrecht  halten  zu  können,  muß  Spengler  zu  allen  mög- 
lichen und  unmöglichen  Mitteln  greifen.  Wenn  er  die  Entstehung 
der  antiken  Kultur  auf  die  Zeit  um  das  Jahr  1000  v.  Chr.  ansetzt, 
so  hat  das  vielleicht  Sinn;  wenn  er  behauptet,  daß  die  antike  — 
wohlgemerkt:  die  antike,  nicht  die  griechische  —  Kultur  vom  4. 
vorchristlichen  Jahrhundert  an  in  ständigem,  sich  stetig  steigern- 
dem Verfall  begriffen  ist,  so  braucht  und  vermag  das  durchaus 
nicht  jeder  zuzugestehen;  wenn  er  endlich  die  antike  Kultur  beim 
Auftreten  Jesu  für  total  erloschen,  vollkommen  abgestorben  aus- 
gibt, so  ist  das  kaum  noch  ernst  zu  nehmen.  Er  bringt  dies  nur 
fertig  durch  die  bereits  berührte  Erfindung  einer  das  ganze  erste 
nachchristliche  Jahrtausend  umfassenden  arabischen  Kultur.  Auf 
diese  Weise  gelingt  es  ihm,  die  gesamten  spätantiken  Kulturer- 
scheinungen seit  Christi  Geburt,  also  die  philosophischen,  religiösen, 
künstlerischen  usw.,  nicht  mehr  als  antike  anzusprechen,  sondern 
eben  der  neuen  arabischen  Kultur  einzugliedern.  Er  hat  sich  hier 
offenbar  durch  den  Einfluß  täuschen  lassen,  den  in  der  Tat  der 
Orient  damals  auf  den  hellenisch-römischen  Kulturkreis  ausgeübt 
hat.  Dieser  Einfluß  reicht  aber  nicht  dazu  aus,  um  der  Antike 
einfach  den  Lebensfaden  abzuschneiden  und  um  das  Jahr  1  eine 
völlig  neue  Kultur  beginnen  zu  lassen,  die  nur  darum  als  die 
arabische  bezeichnet  wird,  weil  viele  Jahrhunderte  später  die 
Araber  ihren  großen  Siegeszug  angetreten  haben. 

Wie  zu  der  Zeit  von  Christi  Geburt  das  orientalische  Moment 
für  die  Gestaltung  der  europäischen  Kultur  von  Bedeutung  wurde, 
so  das  nordisch-germanische  Moment  um  das  Jahr  1000  n.  Chr. 
Allein  auch  dies  reicht  nicht  dazu  aus,  um  unter  Preisgabe  aller 
Kontinuität  die  Entstehung  einer  gänzlich  neuen,  nämlich  unserer 
abendländischen  Kultur  zu  behaupten.  Um  nun  den  Tod  dieser 
unserer  abendländischen  Kultur  für  die  Zeit  um  das  Jahr  2000 
vorausbestimmen  zu  können,  muß  Spengler  sie  schon  seit  langem 


128  Kurt  Sternberg, 

in  Verfall  begriffen  sehen.  Nach  ihm  haben  die  moderne  Philo- 
sophie und  Mathematik  ihre  schöpferische  Fähigkeit  endgültig  ein- 
gebüßt, Entropielehre  und  Relativitätstheorie  sind  „Symbole  des 
Niedergangs",  ebenso  Ibsen  und  Strindberg  sowie  Richard 
Wagner.  Man  kann  hierüber  verschiedener  Meinung  sein,  und 
eine  Auseinandersetzung  würde  unfruchtbar  bleiben.  Was  soll 
man  aber  dazu  sagen,  wenn  Spengler  bereits  ein  Phänomen  der 
Zersetzung  unserer  Kultur  darin  erblickt,  daß  „die  Musik  Beet- 
hovens die  große  Form  der  Instrumentalmusik  des  18.  Jahrhun- 
derts zerstört"  habe,  weil  schon  Beethoven  „dem  großen  Stil 
nicht  mehr  gewachsen"  gewesen  sei?  Hier  rächt  sich  das  man- 
gelnde Verständnis,  welches  Spengler  dem  vorher  entwickelten 
Begriff  der  Problematik  entgegenbringt.  Hätte  er  für  ihn  Ver- 
ständnis, so  würde  er  gesehen  haben,  daß  das  titanische  Ringen 
Beethovens,  welches  —  wie  zum  Beispiel  im  Schlußsatz  der 
9.  Sinfonie  —  nicht  nur  die  hergebrachte  Form  sprengt,  sondern 
nahezu  alle  Form  überhaupt  zu  sprengen  droht,  keineswegs  bloß 
ein  Zeichen  der  Zerstörung,  sondern  zugleich  kraftvollen  Aufbaues 
ist,  daß  es  keineswegs  bloß  etwas  Negatives,  sondern  zugleich  et- 
was Positives  bedeutet. 

Es  ist  also  Spengler  nicht  gelungen,  und  es  konnte  ihm 
auch  nicht  gelingen,  nachzuweisen,  daß  die  Lebensdauer  der  Kul- 
turen tausend  Jahre  beträgt.  Dieser  Gedanke  erinnert  sehr  an 
den  des  tausendjährigen  Reiches,  an  die  aus  dem  Altertum  be- 
kannten Spekulationen  über  das  Weltjahr.  Die  mystische  Zahlen- 
symbolik der  —  nach  Spengler  schon  so  lange  vollkommen  toten 
—  Pythagoreer  erlebt  hier,  wenn  auch  in  veränderter  Form, 
eine  Wiederauferstehung  und  nicht  bloß  hier,  sondern  bei  allen, 
die  —  wie  Max  Kemmerich  und  Friedrich  von  Stromer- 
Reichenbach  —  durch  Aufdeckung  okkulter  Zahlbeziehungen, 
angeblicher  periodischer  Rhythmen  bzw.  rhythmisch  gegliederter 
Perioden  Geschichte  vorauszubestimmen,  die  Zukunft  „exakt"  zu 
berechnen  suchen.  Nicht  nur  jede  Kultur,  so  meint  Spengler, 
auch  „jede^  ihrer  notwendigen  Phasen  hat  eine  bestimmte,  immer 
gleiche,  immer  mit  dem  Nachdruck  eines  Symbols  wiederkehrende 
Dauer."  In  diesem  Sinne  macht  er  „auf  den  Abstand  der  drei 
punischen  Kriege  und  auf  die  ebenfalls  rein  rhythmisch  zu  begrei- 
fende Reihe  des  spanischen  Erbfolgekrieges,  der  Kriege  Friedrichs 
des  Großen,  Napoleons,  Bismarcks  und  des  Weltkriegs  aufmerk- 
sam."    Er  fragt:  „Was  bedeutet  die  in  allen  Kulturen  herrschende 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes".     129 

50  jährige  Periode  im  Rhythmus  des  politischen,  geistigen,  künst- 
lerischen Werdens?"  Hier  sieht  er  eine  „Welt  geheimnisvollster 
Zusammenhänge",  und  er  erklärt:.  „Die  Dauer  einer  Generation  — 
gleichviel  von  was  für  Wesen  —  ist  ein  Wert  von  beinahe  mysti- 
scher Bedeutung."  Allerdings,  um  Mystik  handelt  es  sich,  um 
mystische  Metaphysik! 

12.  Spengler,  der  angesichts  seines  Strebens,  die  historische 
Zukunft  zu  berechnen,  zweifellos  stark  naturalistisch  eingestellt 
ist,  hat  dennoch  ein  überaus  inniges  Verhältnis  zur  Metaphysik. 
Der  Grund  hierfür  liegt  in  der  psychologisch-biologischen  Funda- 
mentierung  seiner  Philosophie.  Man  kann  es  immer  wieder  bei 
psychologisch-biologisch  orientierten  Denkern  —  so  auch  bei  Berg  - 
son  —  beobachten,  wie  der  psychologisch-biologische  Ausgangs- 
punkt zu  einem  metaphysischen  Ende  führt.  Arthur  Liebert 
hat  in  einer  wertvollen  Untersuchung  die  Relation  zwischen  dem 
Psychologismus  und  Biologismus  einerseits  und  der  Metaphysik, 
zum  mindesten  einer  ontologistischen,  d.  h.  auf  das  Sein  bezogenen, 
verdinglichenden  Metaphysik  andererseits  klargelegt.  Er  hat  ge- 
zeigt, wie  alle  ontologistische  Metaphysik  auf  die  unzulässige  Ver- 
dinglichung  von  Erlebnissen,  von  psychischen  Vorstellungen,  zu- 
rückgeht1). Die  Spenglersche  Metaphysik  ist  ein  Schulbeispiel 
für  die  Richtigkeit  von  Lieberts  Theorie. 

Spengler  verdinglicht  nicht  bloß  einzelne  seelische  Erleb- 
nisse ;  er  verdinglicht  das  Erlebnis  der  Seele  selbst.  Seine  Kultur- 
seelen sind  nicht  das,  was  sie  unter  logisch- wissenschaftlichem 
Aspekt  allein  sein  dürften,  nämlich  Begriffe,  Kategorien,  metho- 
dische Prinzipien,  um  eine  Anzahl  zusammenhängender,  zusammen- ' 
gehöriger  Erscheinungen  als  Einheit  zu  begreifen;  sie  sind  Gege- 
benheiten, Wesenheiten,  Dinge.  Wenn  sie,  wie  zum  Beispiel  die 
arabische  Kulturseele,  durch  den  überragenden  Einfluß  einer  an- 
deren Kultur  in  ihrer  Entwicklung  beeinträchtigt  werden  —  was 
nach  Aufhebung  des  Kontinuitätsprinzips  eigentlich  gar  nicht  mög- 
lich sein  sollte  — ,  so  holen  sie  das  Versäumte  mit  doppelter  Kraft 
und  in  beschleunigtem  Tempo  nach.  Sie  sind  auch  eifersüchtig: 
„Es  scheint,  daß  die  Seele  alter  Kulturen  in  ihren  letzten  Ver- 
feinerungen und  sterbend  wie  eifersüchtig  auf  ihr  eigenstes  Eigen- 
tum, ihren  Gehalt  an  Eorm  .  .  .  ist."  Stirbt  eine  Kultur,  d.  h. 
wird  sie  zur  Zivilisation,  so  hat  „die  Seele  sich  fortgestohlen",  so 


1)  Liebert,  Das  Problem  der  Geltung  (2.  Aufl.;  Leipzig  1920). 
Kantstudien  XXVII.  9 


130  Kurt  Sternberg, 

kehrt  sie  ins  „Urseelentum"  zurück.  Die  Seelen  sind  nämlich 
ewig.  Ihre  „Gestalt  bedarf  keiner  Wirklichkeit,  um  zu  sein.  Sie 
entsteht  und  vergeht  nicht."  Darum  bezeichnet  Spengler  die 
Kulturseelen  als  „reine  Formen";  darum  spricht  er  auch  von  „un- 
geborenen Formen"  eines  Seelentums.  Damit  sind  wir  glücklich 
wieder  bei  den  substantiellen  Formen,  bei  den  Entitäten  einer 
längst  überwundenen  ontologistischen  Metaphysik  angelangt.  Die 
Entelechie  des  alten  —  angeblich  so  vollkommen  toten  —  Ari- 
stoteles ist  zu  frischem  Leben  erwacht,  allerdings  ohne  das 
Moment,  welches  methodisch  ihren  Gehalt  und  ihre  Rechtfertigung 
ausmacht,  nämlich  ohne  das  teleologische.  Aristoteles  gehörte 
einer  Kultur  an,  der  Spengler  einen  apollinisch- statischen  Cha- 
rakter zuschreibt,  und  wenn  er  die  aristotelischen  Formsub- 
stanzen in  seiner  Metaphysik  erneuert,  so  ist  diese  eine  apollinisch- 
statische. Hat  er  nun  aber  damit  Recht,  daß  die  abendländische 
Kultur  eine  faustisch- dynamische  ist,  so  fällt  der  Abendländer 
Spengler  mit  seiner  apollinisch-statischen  Metaphysik  aus  dem 
Rahmen  der  faustisch-dynamischen  Kultur  des  Abendlands  heraus. 

In  den  „reinen  Formen"  und  „Gestalten"  glaubt  Spengler 
des  Lebens  selbst,  an  sich,  habhaft  zu  werden.  Es  liegt  auf  der 
Hand,  daß  er  damit  das  Leben  nicht  mehr  im  Sinne  der  wissen- 
schaftlichen Biologie  nimmt,  aus  der  doch  seine  Methode  der  mor- 
phologischen Vergleichung  stammt.  Auch  dies  ist  eine  Beobach- 
tung, die  man  sehr  oft  bei  den  von  der  Biologie  ausgehenden 
Philosophen  machen  kann,  daß  sie  dazu  gelangen,  dem  Leben  eine 
ganz  andere  Bedeutung  zu  geben  als  die,  welche  es. in  der  Bio- 
logie hat.  Bei  Spengler  tritt  an  die  Stelle  des  biologischen 
Lebensbegriffs  ein  davon  sehr  verschiedener  —  oder  vielmehr  rich- 
tiger: das  Leben  selbst  in  seiner  Unmittelbarkeit.  Die  Biologie 
hat  es  mit. dem  erkannten,  begriffenen  Leben  zu  tun;  Spengler 
will  —  gleich  Bergs on  —  das  Leben  als  solches  erfassen  ohne 
die  Vermittlung,  ohne  den  Umweg  des  Begriffs.  Das  soll  durch 
Intuition,  durch  das  Gefühl  geschehen. 

Die  Sphäre  des  Gefühls  ist  die  der  Kunst,  und  so  wird  der 
Historiker,  wenigstens  der  philosophische,  der  Geschichtsphilosoph, 
für  Spengler  zum  Künstler.  „Dichten  und  Geschichtsforschung 
sind  verwandt,"  sagt  er;  „über  Geschichte  soll  man  dichten". 
Nur  der  Künstler  und  der  Historiker  nur  als  Künstler  wird  mit 
dem  Leben  eins,  mit  diesem  Leben,  das  nichts  anderes  als  das 
Schicksal  ist. 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes".     131 

Und  das  Schicksal?  „Schicksal  ist  das  Wort  für  eine  nicht 
zu  beschreibende  innere  Gewißheit."  Wie  heißt  es  doch  im 
„Faust"?  „Wo  Begriffe  fehlen,  da  stellt  ein  Wort  zur  rechten 
Zeit  sich  ein."  Schicksal  hat  Spengler  zufolge  nichts  mit  Kau- 
salität zu  tun,  umsomehr  aber  diese  mit  jenem;  denn  Kausalität 
ist  „erstarrtes  Schicksal". 

Ganz  ebenso  ist  —  immer  nach  Spengler  —  Raum  „er- 
starrte Zeit".  Die  Zeit  —  das  ist  dasselbe  wie  das  Schicksal,  das 
Leben  in  seinem  ständigen,  ewigen  Flusse.  Darum  kann  die  echte 
Zeit  nicht  begriffen,  gemessen,  sondern  nur  gefühlt,  erlebt  werden. 
Spengler  stellt  dem  physikalischen  Begriff  der  gemessenen  Zeit 
die  gefühlte,  erlebte  Zeit  gegenüber,  genau  wie  Bergson,  und 
die  Geringschätzung,  mit  der  Spengler  auf  Bergson  herab- 
blickt, ist  in  Anbetracht  ihrer  großen  methodischen  Verwandt- 
schaft nicht  so  recht  verständlich. 

„Zeit  ist  ein  Wort,  um  etwas  Unbegreifliches  anzudeuten," 
sagt  Spengler.  Seine  hier  latent,  an  anderer  Stelle  aber  auch 
offen  geäußerte  Klage  über  die  Unzulänglichkeit  des  sprachlichen 
Ausdrucks  zur  adäquaten  Darstellung  innerer  Erlebnisse  und  Ge- 
fühle ist  bei  Romantikern  oft  anzutreffen.  Romantiker  ist  Speng- 
ler trotz  aller  naturalistischen  Tendenzen  durch  und  durch,  und 
er  selbst  widerlegt  auf  das  beste  seine  —  übrigens  kaum  glaub- 
liche —  Behauptung,  daß  die  Gegenwart  „von  aller  Romantik 
endgültig  geschieden  ist. "  Wer  kennt  nicht  aus  der  romantischen 
Philosophie  die  Methode  der  unmittelbaren  Anschauung,  der  er- 
lebnis-  und  gefühlsmäßigen  Erfassung  von  etwas,  was  angeblich 
durch  das  begriffliche  Denken  nicht  erreicht  wird  ?  Die  typischen 
Züge  der  romantischen  Geisteshaltung  —  sie  finden  sich  bei 
Spengler  sämtlich,  nicht  zum  mindesten  auch  jene  Grenzver- 
wischungen, jenes  Ineinanderfließen  der  Formen,  wodurch  die  Ro- 
mantik von  jeher  charakterisiert  wird.  Sogar  jener  Grundgegen- 
satz zwischen  Geschichte  und  Natur,  auf  dem  die  ganze  Geschichts- 
philosophie Spenglers  beruht,  wird  von  ihm  aufgehoben  und 
zwar  nicht  bloß  in  der  praktischen  Ausführung,  worauf  ja  im 
vorigen  bereits  hingewiesen  worden  ist,  sondern  selbst  in  der 
Theorie.  Nach  Spengler  bezieht  sich  die  Geschichtsbetrachtung 
auf  das  Werden,  die  Naturwissenschaft  auf  das  Gewordene.  Da 
nun  ihm  zufolge  in  jedem  Weltbild  sich  sowohl  Momente  des 
Werdens  wie  auch  solche  des  Gewordenen  finden,  so  daß  es  sich 
immer  nur  um  ein  Mehr  oder  Weniger  des  einen  oder  des  anderen 

9* 


132  Kurt  Sternberg, 

Faktors  handelt,  besteht  zwischen  Geschichte  nnd  Natnr  überhaupt 
kein  qualitativer,  genereller  Unterschied  mehr,  sondern  bloß  noch 
ein  quantitativer,  gradueller.  Damit  wird  die  Autonomie  sowohl 
der  geschichtlichen  wie  der  Natursphäre  vernichtet.  Genau  so 
wird,  wie  wir  gesehen  haben,  die  Autonomie  der  sämtlichen  Kul- 
turgebiete vernichtet;  denn  sie  fallen  sämtlich  letzten  Endes  zu- 
sammen als  schemenhafte,  wesenlose  Symbole  irgendeines  Seelen- 
tums. 

Man  darf  wohl  sagen,  daß  alle  die  Gefahren  und  Mängel,  die 
Heinrich  Rickert  in  einem  unlängst  erschienenen  Werke  der 
„Philosophie  des  Lebens"  nachsagt1),  bei  Spengler  in  poten- 
zierter Form,  in  einem  bis  ins  Ungeheuerliche  gesteigerten  Maß 
zutage  treten. 

13.  Es  leuchtet  ohne  weiteres  ein,  wie  Spengler  in  Anbe- 
tracht seiner  romantisch-symbolistisch- mystischen  Geisteshaltung 
der  kritischen  Philosophie  Kants  gegenübersteht.  Spenglers 
Verhältnis  zu  Kant  —  das  ist  ein  Kapitel  für  sich,  welches  hier 
nicht  mehr  erschöpfend  behandelt,  sondern  nur  noch  angedeutet 
werden  kann. 

Dabei  geht  man  am  besten  von  der  Behauptung  Spenglers 
aus,  „der  einzige  ernste  Versuch"  einer  Wiederbelebung  Kants 
finde  sich  in  —  Weiningers  „Geschlecht  und  Charakter".  Den 
Neukantianismus  ignoriert  Spengler  also  völlig.  Freilich, 
es  handelt  sich  hier  ja  um  „Professorenphilosophie  der  Philosophie- 
professoren", die  Spengler  im  Anschluß  an  Schopenhauer 
gründlich  verachtet.  Vielleicht  würden  aber  seine  zahlreichen  Be- 
merkungen über  Kant  den  Kern  der  Sache  besser  getroffen  haben, 
hätte  er  die  neukantische  „Professorenphilosophie"  mehr  ge- 
würdigt. 

Wenn  man  das  Leben  unmittelbar  erfassen  zu  können  glaubt, 
so  wird  man  natürlich  sagen,  daß  Kants  „zopfige  Formeln",  daß 
seine  „Abstraktionen"  sowie  überhaupt  die  der  systematischen 
Philosophen  „das  Leben  .  .  .  nicht  zu  berühren  vermochten."  Wer 
sich  mit  jugendlicher  Schwärmerei  zu  einem  Leben  an  sich  aufzu- 
schwingen vermag,  dem  muß  der  auf  methodische  Klarheit  und 
Sauberkeit  und  darum  überall  auf  begriffliche  Formung  und  Ord- 
nung bedachte  Kant  als  der  „ewige  Greis"  erscheinen.  Begriffen 
werden  kann  nach  Spengler  nur  die  Natur,  nicht  das  Leben  und 


1)  Rickert,  Die  Philosophie  des  Lebens  (Tübingen  1920). 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes".     133 

somit  nicht  die  Geschichte,  welche  Leben  ist.  Deshalb  ist  es 
durchaus  eine  Konsequenz  der  Voraussetzungen  Spenglers, 
wenn  er  erklärt,  Kant  habe  sein  Interesse  ausschließlich  der 
Natur  zugewandt.  Hat  denn  nicht  aber  gerade  Kant  durch  die 
Aufstellung  der  Freiheitsidee  die  Möglichkeit  einer  Welt  wahren 
geistig-geschichtlichen  Lebens,  einer  Welt  der  Kultur,  überhaupt 
erst  erschlossen?  Schon  durch  den  Hinweis  auf  die  Freiheitsidee 
als  das  Kantische  Moralprinzip  erledigt  sich  auch  der  Vorwurf 
Spenglers,  daß  das  Weltbild  Kants,  der  die  Ethik  als  die 
Lehre  von  dem  das  Gute  wollenden  und  auch  die  Ästhetik  als  die 
Lehre  von  dem  das  Schöne  fühlenden  Menschen  neubegründet  hat, 
nicht  „die  Ausstrahlung  des  ganzen  Menschen",  sondern  „nur 
die  des  erkennenden  ist."  Um  die  Erkenntnis  handelt  es  sich 
allerdings  stets  bei  Kant;  denn  aus  ihrem  Bereiche  kommt  man 
ohne  logisches  Salto  mortale  nicht  heraus,  und  der  ganze  Mensch 
kann  immer  nur  der  erkannte  sein  in  einer  Philosophie,  die 
Anspruch  auf  Wissenschaftlichkeit  erhebt.  Freilich  soll  umgekehrt 
der  erkannte  Mensch  der  ganze  sein,  und  er  ist  es  auch  bei 
Kant;  denn  Gegenstand  der  Erkenntnis  ist  ihm  keineswegs  bloß 
der  erkennende,  d.  h.  das  Wahre  denkende  Mensch,  sondern  auch 
der  das  Gute  wollende  und  der  das  Schöne  fühlende. 

Neben  den  allgemeinen  Mißverständnissen  Spenglers  in  be- 
zug  auf  Kant  stehen  nun  zahlreiche  besondere.  Wer  die  Zeit 
fühlen  und  erleben  will,  vermag  wohl  der  Kantischen  Frage 
nach  der  Bedeutung  der  Zeit  als  eines  wissenschaftkonstituierenden 
Faktors  nicht  gerecht  zu  werden,  und  wer  die  Zeit  zum  Raum 
„erstarren"  läßt,  wer  diesen  als  „erstarrte  Zeit"  ausgibt  und  er- 
klärt, der  echte  Raum  könne  „weniger  verstanden"  als  vielmehr 
nur  gefühlt,  „geahnt"  werden,  dem  muß  wohl  das  begriffliche, 
dafür  aber  auch  begreifliche  „Raumproblem  der  kritischen  Philo- 
sophie" als  ganz  ungemein  „dürftig"  erscheinen.  Spengler  ver- 
fehlt das  Kantische  Raumproblem  bereits  als  Problem;  denn 
sonst  würde  er  nicht  der  Meinung  sein,  daß  nach  Kant  die  An- 
schauungsform „alle  Dinge  erst  schafft".  So  spricht  er  auch 
von  dem  „kosmischen  Solipsismus,  der  Kants  Vernunftkritik  zu- 
grunde liegt."  Hier  offenbart  sich  jenes  subjekti  vis  tische  Mißver- 
ständnis Kants,  das  durch  Schopenhauer  beinahe  sakrosankt 
geworden  ist;    es  zeigt  sich  der  Einfluß  Schopenhauers,    dem 


134  Kurt  Sternberg, 

Spengler  überhaupt  sehr  nahesteht,  wie  Alfred  Bäumler  ge- 
zeigt hat1). 

Außer  zu  Schopenhauer  unterhält  Spengler  —  schon 
als  Kritiker  der  Kultur,  speziell  der  Dekadenz  —  die  innigsten 
Beziehungen  zu  Nietzsche,  und  auch  dieser  hat  so  manches  bei- 
getragen zu  der  irrigen  Auslegung  Kants  durch  Spengler. 
Der  Geist  von  Nietzsches  Machtphilosophie  wirkt  auf  Speng- 
ler, wenn  er  erklärt,  die  Kantische  Lehre  vom  Raum  als  der 
Anschauungsform  „bedeute  einen  Herrschaftsanspruch  der  Seele 
über  das  Fremde, u  sie  wolle  „die  Welt  ,als  Erscheinung'  den 
Machtansprüchen  des  erkennenden  Ich  unterwerfen,"  und  wenn  er 
in  den  kategorischen  Imperativ  den  —  allerdings  nicht  individua- 
listischen, sondern  sozialistischen  —  Willen  zur  Macht  hineinver- 
legt. 

Dies  alles  beweist,  wie  wenig  Spengler  sich  über  den  Kan- 
tischen Begriff  der  Form  klargeworden  ist.  Nach  seiner  Mei- 
nung sind  die  Formen  der  Anschauung  und  des  Denkens  von 
Kant  im  Sinne  des  „Angeborenseins"  genommen  worden.  Er  ver- 
mag sich  eben  nicht  über  den  psychologischen  Ausgangspunkt  zu 
erheben  und  in  die  Sphäre  reiner  logischer  Geltung  vorzudringen. 
Das  zeigt  sich  nicht  zum  wenigsten,  wenn  der  alle  Grenzen  ver- 
wischende Romantiker  auch  die  Grenze  zwischen  dem  Äpriori  und 
Aposteriori  aufhebt,  beide  ineinanderlaufen  läßt  und  „den  schwan- 
kenden Grad"  der  Allgemeingültigkeit  behauptet.  Spengler 
weiß  nichts  vom  Geltungsproblem,  diesem  Grundproblem  des  Kri- 
tizismus; der  Ontologist  weiß  nur  etwas  vom  Seinsproblem. 

14.  Dem  Sein  gegenüber  sind  zwei  Einstellungen  möglich :  die 
naturalistische,  die  sich  an  das  natürliche  Sein  hält,  und  die  ro- 
mantisch-symbolistische, die  auf  die  Erfassung  eines  übernatür- 
lichen Seins  ausgeht  und  in  allem  natürlichen  bloßes  Symbol  eines 
übernatürlichen  Seins  erblickt.  Spengler  kennt  nur  diese 
beiden  Einstellungen ;  aber  er  kennt  sie  beide.  Naturalismus  und 
romantischer  Symbolismus  gehen  bei  ihm  ständig  mit-  und  durch- 
einander. 

Hierin  ist  er  nun  freilich  ein  Kind  seiner,  unserer  Zeit.  Ar- 
thur Liebert  hat  die  Entwicklung  geschildert,  welche  unsere 
Kultur  in  den  letzten  Jahrzehnten  genommen  hat,  und  er  hat  ge- 
zeigt,   wie    diese   Entwicklung  beherrscht   wird  von   dem  Kampf 

1)  Bäumler,  1.  c.  S.  1114f.  und  S.  1120ff. 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes".     135 

zwischen  einem  aufs  Nene  andringenden  Romantizismus  und  Sym- 
bolismus auf  der  einen  und  einem  allmählich  immer  mehr  zurück- 
gedrängten, aber  keineswegs  ganz  aufgegebenen  Naturalismus  auf 
der  anderen  Seite 1).  Dieser  Kampf  hat  bekanntlich  in  der  Kunst 
zu  jener  Bewegung  geführt,  die  man  als  Expressionismus  bezeich- 
net. Der  Expressionismus  will  die  Grefühle  und  Erlebnisse  der 
Seele  zu  unmittelbarem  Ausdruck  bringen.  Das  will  auch  Speng- 
ler, für  den  die  Kulturerscheinungen  doch  nichts  als  ein  Aus- 
druck, Symbol  eines  bestimmten  Seelentumes  sind.  Mit  dem 
Spenglerschen  Werk  hat  der  —  im  weiteren  Sinne  verstan- 
dene —  Expressionismus  einen  gewaltigen  Vorstoß  auf  das  Grebiet 
der  Philosophie  unternommen.  Allein  hiermit  ist  jenes  Werk  noch 
nicht  erschöpfend  gekennzeichnet.  Wir  haben  gesehen,  daß  sich 
in  ihm  neben  den  Zügen  eines  romantisch-symbolistischen  Expres- 
sionismus auch  eine  stark  ausgeprägte  naturalistische  Tendenz 
findet,  und  erst  das,  erst  diese  Verquickung  von  Naturalismus 
und  Romantik,  macht  Spenglers  Buch  zu  einem  typischen  Buche 
unserer  Zeit.  Aus  ihr  und  nur  aus  ihr  erklärt  sich  die  Bemühung 
Spenglers  sowie  der  vorhin  genannten  Max  Kemmerich  und 
Friedrich  von  Stromer-Reichenbach,  auf  dem  Wege 
einer  mystischen  Romantik  ein  rein  naturalistisches  Ziel  zu  ver- 
folgen: die  Vorausberechnung  der  historischen  Zukunft. 

Unsere  Zeit  ist  eine  solche  des  Übergangs.  Es  muß  und  es 
wird  ihr  gelingen,  sich  von  jenem  ungesunden  Hin-  und  Herpen- 
deln zwischen  Naturalismus  und  Romantik  zu  befreien.  Ebendies 
wird  allmählich  auch  zu  der  dringlichsten  Aufgabe  für  die  Philo- 
sophie der  G-egenwart.  Sie  kann  aber  nicht  dadurch  gelöst  werden, 
daß  man  den  einen  oder  den  anderen  Faktor  in  den  Schwerpunkt 
rückt,  daß  man  sich  für  den  Naturalismus  oder  für  die  Romantik 
entscheidet.  Die  Problemlage  selbst  muß  überwunden  werden! 
Naturalismus  und  Romantik  liegen  trotz  aller  scheinbaren  und 
auch  wirklichen  Gegensätzlichkeit  auf  derselben  Ebene;  beide  sind 
in  unkritischer  Weise  ontologistisch,  auf  das  Sein  eingestellt. 
Demgegenüber  werden  wir,  sollen  die  Leistungen  Kants  und  des 
Neukantianismus  nicht  vergeblich  gewesen  sein,  wiederum  die 
kritische  Geltungsfrage  aufzurollen  haben;  wir  werden  uns  an 
das  halten  müssen,   was   man  bei  Spengler   am   schmerzlichsten 


1)  Lieb  er  t,   August  Strindberg.    Seine  Weltanschauung  und  seine  Kunst 
(Berlin  1920)  S.  29  ff.  und  S.  123  ff. 


136  Kurt  Sternberg, 

vermißt,  an  das  platonische  Xöyov  didövcu,  d.h.  wir  werden 
danach  streben  müssen,  uns  vor  uns  selbst  auf  das  Genaueste 
Rechenschaft  abzulegen  über  die  Geltung  der  methodischen  Grund- 
lagen unseres  Philosophierens.  So  und  nur  so  können  wir  von 
Naturalismus  und  romantischem  Mystizismus  loskommen! 

15.  Indem  wir  von  ihnen  loskommen,  werden  wir  zugleich 
von  dem  trostlosen  Fatalismus  loskommen,  der  bei  Spengler  so- 
wohl aus  der  naturalistischen  wie  auch  aus  der  mystisch-roman- 
tischen, keineswegs  aber  aus  einer  kritischen  Quelle  gespeist  wird 
und  der  ihn  veranlaßt,  das  Abendland  unrettbar  dem  Untergang 
verfallen  zu  sehen.  Jawohl,  es  gibt  ein  Schicksal.  Allein  dieses 
Schicksal  ist  in  und  durch  uns  selbst;  es  wird,  indem  wir  es  ge- 
stalten. 

Im  vorigen  ist  gezeigt  worden,  daß  Spengler  ein  wissen- 
schaftlicher Nachweis  vom  Untergang  des  Abendlandes  nicht  ge- 
lungen ist.  Dennoch  mag  sein  Pessimismus  berechtigt  sein;  wir 
wissen  es  nicht.  Jedoch  selbst  in  diesem  Falle  ist  zu  beachten, 
daß  —  wie  dargelegt  worden  ist  —  auf  Grund  des  Gedankens 
der  historischen  Kontinuität  nicht  von  einem  absoluten,  sondern 
immer  nur  von  einem  relativen  Untergang  die  Rede  sein  kann. 
Wie  sich  die  griechische  Kultur  trotz  Spengler  bis  auf  den 
heutigen  Tag  erhalten  hat,  so  wird  sich  auch  unsere  Kultur  er- 
halten in  allem,  was  in  ihr  wertvoll  und  fruchtbar  ist.  Sie  mög- 
lichst wertvoll  und  fruchtbar  werden  zu  lassen,  das  hat  unser 
aller  Aufgabe  zu  sein.  Durch  Fatalismus  und  Pessimismus  kann 
diese  Aufgabe  gewiß  nicht  erfüllt  werden;  denn  sie  führen  zu 
einem  Quietismus,  der  letzten  Endes  Selbstmord  bedeutet1).    Nein, 


1)  In  einer  nach  Niederschrift  der  obigen  Zeilen  veröffentlichten  Abhandlung 
„Pessimismus"?  (Schriftenreihe  der  Preußischen  Jahrbücher  Nr.  4;  Berlin  1921) 
wendet  sich  Spengler  gegen  die  Kennzeichnung  seines  Standpunkts  als  eines 
pessimistischen,  indem  er  darauf  hinweist,  daß  er  doch  dem  heutigen  Abendländer 
eine  Aufgabe  stelle,  nämlich  die  —  nach  ihm  einzig  mögliche  — ,  die  angebrochene 
Zivilisation  bewußt  zur  größten  Entfaltung  zubringen.  Allein  Spenglers  Aus- 
führungen bieten  nicht  die  mindeste  Veranlassung,  von  den  im  Text  gegebenen 
Darlegungen  irgendetwas  zurückzunehmen.  Selbstverständlich  ist  derjenige  ein 
Pessimist,  welcher  den  „Untergang"  des  Abendlandes  lehrt.  Daran  wird  auch 
nichts  geändert,  wenn  Spengler  in  seiner  Abhandlung  erklärt,  er  meine  den 
Untergang  im  Sinne  der  Vollendung.  Die  Vollendung  der  abendländischen  Kultur 
bedeutet  für  Spengler  nicht  ihr  Emporreifen,  ihren  Aufstieg  zur  Höhe,  sondern 
ihren  Abstieg  von  dieser,  ihren  Verfall.  Ebenhierin  liegt  sein  Pessimismus,  mit 
dem  ein  gewisser  Quietismus  unzertrennlich  verknüpft  ist.    Wohl  ist  Spengler 


Die  philosoph.  Grundlagen  in  Spenglers  „Untergang  d.  Abendlandes".     137 

die  Aufgabe  kann  nur  erfüllt  werden  durch  zielbewußte  und  plan- 
volle Arbeit  an  der  Steigerung  der  Kultur,  durch  jene 
Beschäftigung,  die  nie  ermattet, 
Die  langsam  schafft,  doch  nie  zerstört, 
Die  zu  dem  Bau  der  Ewigkeiten 
Zwar  Sandkorn  nur  für  Sandkorn  reicht, 
Doch  von  der  großen  Schuld  der  Zeiten 
Minuten,  Tage,  Jahre  streicht. 


nicht  insofern  Quietist,  als  er  uns  zu  beschaulicher  Betrachtung  einlädt;  er  ver- 
langt von  uns  im  Gegenteil  energisches  Handeln.  Allein  er  schreibt  diesem  Han- 
deln nicht  die  Fähigkeit  zu,  unserer  Kultur  zum  —  nach  ihm  längst  unwider- 
ruflich erloschenen  —  Glänze  zu  verhelfen.  Gegen  ihren  Niedergang  können  wir 
Spengler  zufolge  nichts  mehr  unternehmen.  In  dieser  —  wahrlich  entschei- 
denden —  Hinsicht  bleibt  uns  also  nichts  übrig,  als  die  Hände  in  den  Schoß  zu 
legen,  und  das  ist  unzweifelhaft  auch  eine  Art  von  Quietismus. 


Kant  und  Fichte  als  Rousseau-Interpreten. 

Von  Privatdozent  Dr.  Georg  <*nr  witsch  (Petersburg). 


Die  innigsten  Beziehungen  zwischen  Kant  und  Rousseau  sind 
allgemein  bekannt *).  Daß  aber  Kant  in  einer  ganzen  Reihe  von 
schwerwiegenden  Äußerungen  eine  höchst  interessante  und  eigen- 
artige, von  der  herkömmlichen  Auffassung  gänzlich  abweichende 
Interpretation  der  Rousseauschen  Gedankenwelt  gegeben  hat, 
ist  so  viel  wie  unbeachtet  geblieben.  Dasselbe  gilt  auch  von 
J.  Gr.  Fichte,  um  so  mehr,  da  hier  auch  der  Einfluß  Rousseaus 
wenig  Aufmerksamkeit  auf  sich  lenkte. 

Die  Aufgabe  vorliegender  Abhandlung  ist  diese  Lücke  zu 
füllen  und  Rechenschaft  über  Kants  und  Fichtes  Interpretation 
der  Rousseauschen  Theorie  zu  geben. 

9 
1. 

Zum  ersten  Male  äußerte  sich  Kant  über  die  Gedankenwelt 
Rousseaus  in  den  „Bemerkungen"  2)  zu  den  „Beobachtungen  über 
das  Gefühl  des  Schönen  und  Erhabenen"  (1763).  Er  spricht  in 
diesem  vorkritischen  Jugendwerke,  wie  allgemein  bekannt,  mit  der 
größten  Begeisterung  von  Rousseau:  „Der  erste  Eindruck,  den  ein 
Leser  .  .  .  von  den  Schriften  Rousseaus  bekommt,  ist,  daß  er  eine 
ungemeine  Scharfsinnigkeit  des  Geistes,  einen  edlen  Schwung  des 
Genius  und  eine  gefühls volle  Seele  in  einem  so  hohen  Grade  an- 
trifft, als  vielleicht  niemals  irgend  ein  Schriftsteller,  von  welchem 
Zeitalter  oder  von  welchem  Volke  es  auch  sei,  vereint  besessen 
haben  mag".  Und  weiter :  „Rousseau  hat  mich  zurecht  gebracht.  Ich 

1)  Ausführliche  Literaturangabe  und  Zusammenfassung  ihres  Ergebnisses  bei 
V.  Delbos,  „Essai  sur  la  formation  de  la  philosophie  pratique  de  Kant",  1903, 
S.  115—129,  101—106.  Vgl.  neustens  Vorländer,  Kant  und  Rousseau.  (Neue 
Zeit,  1919,  Nr.  20  ff.) 

2)  Zuerst  veröffentlicht  in  der  Ausgabe  von  Kants  Werke  von  Rosenkranz 
und  Schubert,  XI  B.  I  Abt.,  1842;  nach  dieser  Ausgabe  werden  die  unten  fol- 
genden Zitate  angeführt. 


Georg  Gurwitsch,  Kant  und  Fichte  als  Rousseau-Interpreten.     139 

lerne  die  Menschen  ehren"1).  Die  Lehre  von  der  Menschen- 
würde ist  nach  Kants  Auffassung  der  Grundpfeiler  des  Rousseau- 
schen  Systems.  „Rousseau  entdeckte",  sagt  Kant,  „zu  allererst 
unter  der  Mannigfaltigkeit  der  menschlich  angenommenen  Gestalten 
die  tief  verborgene  Natur  des  Menschen  und  das  versteckte  Gesetz, 
nach  welchem  die  Vorsehung  durch  seine  Beobachtung  gerecht- 
fertigt wird" 2).  Diese  Natur  und  dieses  Gesetz  bilden  die  Welt 
des  Sittlichen3).  „Die  größte  Angelegenheit  des  Menschen  ist  zu 
wissen,  was  man  sein  muß,  um  ein  Mensch  zu  sein"  4)  —  formuliert 
Kant  die  neue  ethische  Problemstellung,  die  er  aus  den  Werken 
Rousseaus  herauslas.  Und  er  vergleicht  Rousseau  mit  Newton 5). 
Der  viel  verschmähte  Genfer  Bürger  ist  für  den  um  seine  Welt- 
anschauung ringenden  Kant  ein  Newton  der  Moral !  So  wie  Newton 
zu  allererst  die  Ordnung  in  der  Welt  der  Naturerscheinungen  fest- 
gestellt hatte,  ist  es  Rousseau  nach  Kantischer  Meinung  gelungen, 
die  Gesetzmäßigkeit  der  moralischen  Welt  aufzudecken6).  Wenn 
man  bedenkt,  welch'  eine  grundlegende  Bedeutung  für  Kants  theo- 
retische Philosophie  das  System  Newton's  hatte,  das  in  den  Augen 
des  Königsbergers  mit  der  Naturwissenschaft  überhaupt  zusammen- 
fiel7), so  wird  man  ganz  besonders  auf  diesen  Vergleich  aufmerksam. 
Rousseau  wird  allgemein  als  ein  Philosoph  des  moralischen 
Gefühls  dargestellt8).  Dann  wäre  zwischen  ihm  und  den  eng- 
lischen Moralisten  Hutscheson,  Shaftesbury  und  Hume  kein  erheb- 
licher Unterschied  zu  finden.  Warum  denn  sieht  Kant  gerade  in 
Rousseau  den  Newton  der  moralischen  Welt?  Kant  kann  hier 
nicht  anders  verstanden  werden9),   als   daß   er  zwischen  Rousseau 

1)  ibid,  S.  240. 

2)  ibid,  S.  248. 

3)  Beobachtungen  über  das  Gefühl  des  Schönen  und  Erhabenen  1763,  S.  217, 
Band  II,  „Kants  gesammelte  Schriften",  herausgegeben  von  der  Preußischen  Aka- 
demie der  Wissenschaften,  I.  Abteilung. 

4)  „Bemerkungen",  S.  239,  241. 

5)  ibid,  S.  248. 

6)  ibidem. 

7)  Vgl.  dazu  die  Ausführungen  Cohens  in  „Kants  Theorie  der  Erfahrung", 
II.  Aufl.    S.  24—26,  55  ff. 

8)  Auch  Hoeffding,  der  am  entschiedensten  Rousseaus  Einfluß  auf  die  Kantische 
Ethik  hervorhebt  (vgl.  Hoeffding,  „Rousseau  und  seine  Philosophie"  1897,  S.  121, 
Anmerkung,  und  den  Aufsatz  in  Kantstudien,  B.  II,  „Rousseaus  Einfluß  auf  die 
definitive  Form  der  Kantischen  Ethik"),  charakterisiert  trotzdem  seinen  morali- 
schen Standpunkt  als  den  des  Gefühls.    Vgl.  op.  cit.  S.  114—116. 

9)  Vgl.  auch  Kants  „Nachricht"  von  der  Einrichtung  seiner  Vorlesungen,  in 


140  Georg  Gurwitsch, 

und  den  Engländern  einen  grundlegenden  Unterschied  erblickt. 
Worin  lag  denn  dieser  Unterschied?  —  das  ist  die  erste  Frage, 
auf  die  die  Rousseau-Interpretation  antworten  muß,  wenn  sie  auf 
die  Winke  Kants  aufmerksam  werden  will.  Auf  diesen  Unter- 
schied hat  Kant  schon  in  seinen  „Beobachtungen  über  das  Gefühl 
des  Schönen  und  Erhabenen"  hingewiesen.  Kant  legt  hier  im  be- 
wußten Gegensatze  zur  englischen  Moralphilosophie  dar,  daß  die 
empirischen  Neigungen,  wie  Mitleid  und  Gefälligkeit,  nicht  zur 
Begründung  der  Moral  ausreichen.  „Demnach  kann  wahre  Tugend", 
führt  hier  Kant  aus,  „nur  auf  Grundsätze  gepropft  werden, 
welche  je  allgemeiner  sie  sind,  desto  erhabener  und  edler  wird 
sie.  Diese  Grundsätze  sind  nicht  spekulative  Regeln,  sondern  das 
Bewußtsein  eines  Gefühls,  das  in  jedem  menschlichen  Busen 
lebt  ....  Ich  glaube,  ich  fasse  alles  zusammen,  wenn  ich  sage: 
es  sei  das  Gefühl  der  Schönheit  und  der  Würde  der  mensch- 
lichen Natur"  l).  Die  angeführten  Worte  Kants  sind  eine  präzise 
Wiedergabe  der  Ausführungen  Rousseaus  in  den  „Bekenntnissen 
des  savoyardischen  Vikars".  „La  justice  et  bonte",  lesen  wir  dort, 
„ne  sont  point  de  mots  abstraits  .  .  .  formet  par  l'entendement, 
mais  de  vöritables  affections  de  l'äme,  eclairees  par  la  raison" 2). 
„Trop  souvent  la  raison  nous  trompe,  nous  n'avons  que  trop  acquis 
le  droit  de  la  recuser:  mais  la  conscience  ne  trompe  jamais;  eile 
est  le  vrait  guide  de  l'homme" 8).  Und  diese  „conscience",  als 
Quelle  der  moralischen  Gewißheit,  unabhängig  und  ebenbürtig  der 
theoretischen  Vernunft,  wird  von  Rousseau  als  überempirisches 
Prinzip  klar  und  deutlich,  allerdings  aber  mit  den  Mitteln  der 
kartesianischen  Metaphysik,  dem  empirischen  „sentiment"  der  eng- 
lischen Gefühlsphilosophen  gegenübergestellt:  „La  conscience",  sagt 
Rousseau,  „est  la  voix  de  l'äme"4),  und  die  Seele,  nach  dem 
III.  Artikel  der  Bekenntnisse,  ist  eine  inmaterielle  Substanz,  als 
überempirisches,  unbedingtes  Prinzip  in  seiner  vorkritischen,  meta- 
physischen Dinghaftigkeit.  „L'action  de  l'äme  sur  le  corps  est 
l'äbime  de  la  philosophie" 5)  sagt  einmal  Rousseau  ganz  in  karte- 


dem  Wintersemester-Halbjahre  1765—66,   wo  die  Engländer  ausdrücklich  erwähnt 
werden. 

1)  Beobachtungen  ....  II  B,  op.  cit.  S.  217. 

2)  Emile,  Livre  IV,    e'dition  des  oeuvres  dans  un  volume  de  Sautelet,    Ver- 
diere,  Dupont  et  Roret,  1826,  S.  204. 

3)  ibid,  S.  224.  4)  ibidem. 

5)  Ursprüngl.  Eedaktion  des  „Contr.  Soc",   aus  dem  Nachlaß   veröffentlicht, 


Kant  und  Fichte  als  Rousseau-Interpreten.  141 

sisch  -  okkasionalis tischer  Art.  „Conscience !  Conscience ! u  ruft  er 
aus:  „instinct  divin,  l'immortelle  et  Celeste  voix,  guide  assure  d'un 
etre  ignorant  et  borne,  mais  intelligent  et  libre,  juge  infaillible 
du  bien  et  du  mal  .  .  ." 1).  Wenn  man  diese  Äußerungen  Rosseaus 
mit  den  oben  angeführten  hindeutenden  Worten  Kants  zusammen- 
stellt, so  wird  ohne  weiteres  klar,  daß  Rousseau  im  scharfen  Gegen- 
satze zu  der  englischen  Moral philosophie  nicht  das  empirische  Ge- 
fühl, sondern  ein  metaphysisches  Prinzip  zum  Ausgangspunkt  seiner 
Ethik  machte.  Es  war  das  innere  Gefühl,  aber  von  allen  empi- 
rischen Inhalten  gereinigt  und  zum  Unbedingten  emporgehoben  — 
ethische  Intuition  von  der  Vernunft  geklärt  (eclair^e  par  la  raison) 
—  eine  vorkritische  praktische  Vernunft,  eine  autonome  Quelle 
der  sittlichen  Gewißheit. 

Das  war  das  grundlegend  Neue,  das  Bahnbrechende,  das  ein 
Kant  aus  den  Werken  Rousseaus  mit  Enthusiasmus  herauslas. 
Um  mit  Kant  zu  reden:  die  Moral,  die  auf  „allgemeinen  Grund- 
sätzen" (nicht  auf  dem  vagen  Sentiment  der  Engländer)  gegründet 
ist,  welche  aus  dem  „Bewußtsein  eines  Gefühls"  des  Erhabenen 
(deutsche  ungelungene  Uebersetzung  der  „ conscience a)  und  nicht 
aus  der  theoretischen  Vernunft,  die  ohnmächtig  in  moralischen 
Dingen  ist  (also  gegen  den  Intellektualismus  der  Aufklärung  über- 
haupt, und  Leibniz-Wolf  im  besonderen)  hervorgeht,  und  dessen 
Inhalt  das  Prinzip  der  menschlichen  Würde  ist.  Rousseau  hat 
als  erster  die  Welt  des  reinen  sittlichen  Sollens  entdeckt  und  die 
Lehre  der  autonomen  Moral  der  intellektualistischen  Aufklärung 
gegenübergestellt.  —  Das  war  der  prinzipielle  Standpunkt  der 
Kantischen  Rousseau-Interpretation,  den  der  große  Königsberger 
schon  in  seiner  vorkritischen  Periode  formuliert  und,  wie  wir 
weiter  sehen  werden,  für  immer  festgehalten  hat. 

Wir  haben  nun  über  die  Kantische  Interpretation  der  einzelnen 
Lehren  Rousseaus  und  ihres  systematischen  Zusammenhanges  zu 
berichten,  die  die  konkrete  Durchführung  dieser  prinzipiellen  Grund- 
auffassung  enthält.  —  Rousseaus  Lehre  wird  immer  als   eine  An- 


zuerst  von  Alexejew  (1887),    und   dann   von  Dreyfuß  -  Brisac  (1896),   22.  S.    des 
Manuskriptes. 

1)  Emile  IV,  226  S. 

2)  Der  einzige,  so  viel  ich  sehe,  der  in  der  neueren  Literatur  auf  den  prin- 
zipiellen Gegensatz  zwischen  „sentiment"  und  „conscience"  bei  Rousseau  aufmerk- 
sam wurde,  ist  Charles  Renouvier  gewesen,  vgl.  seine  „Esquisse  d'une  Classifi- 
cation systematique  de  doctrines  philosophiques"  in  der  „Critique  religieuse". 


142  Georg  Gurwitsch, 

häufung  von  widerstreitenden  Behauptungen  dargelegt.  Der 
Anarchist  und  Individualist  Rousseau  vom  „Discours  sur  l'in^ga- 
litöa  und  vom  „Emile"  soll  nichts  Gemeinsames  mit  dem  Verehrer 
des  Staatsgedankens  und  Absolutisten  des  „Contr.  Soc."  haben1). 
Im  „Contrat  Social"  selbst  soll  Rousseaus  Gedanke  immer  zwischen 
dem  Individualismus  und  Absolutismus  schwanken2).  Ist  es  denn 
überhaupt  möglich ,  von  der  Gedankenwelt  Rousseaus ,  als  von 
einem  Ganzen  zu  reden?  Kant  erkennt  das  Vorhandensein  von 
scheinbaren  Widersprüchen  im  Gedankengange  Rousseaus  gerne 
an.  Aber  er  sucht  diese  Widersprüche  durch  ein  tiefes  Eindringen 
in  die  Gedankenwelt  Rousseaus  aufzuheben,  er  ist  überzeugt,  daß 
Rousseau  sich  nur  „dem  Scheine  nach  widerspricht".  „.  .  .  Die 
Befremdung  an  seltsamen  und  widersinnigen  Meinungen  (Rousseaus), 
die  demjenigen  was  allgemein  gangbar  so  sehr  entgegen  gehen"8), 
sucht  Kant  schon  in  den  „Reflexionen  zur  Anthropologie  von  den 
70  und  80  Jahren"  zu  heben;  er  gibt  sich  hier  Mühe  „die  drei 
paradoxe  Sätze  des  Rousseau:  1)  von  dem  Schaden  der  Kultur 
(durch  Wissenschaften),  2)  von  dem  Schaden  der  bürgerlichen  Ver- 
fassung (durch  Ungleichheit),  3)  vom  Schaden  durch  künstliche 
Methode  der  Erziehung"4)  gemeinverständlich  zu  interpretieren. 
In  dem  „Mutmaßlichen  Anfange  der  Mensch  engeschichten"  (1785), 
also  schon  in  der  kritischen  Periode,  wird  das  Problem  der 
Rousseau-Interpretation  klar  und  tief  als  die  Aufgabe  formuliert: 
„die  so  oft  gemißdeuteten,  dem  Scheine  nach  einander  widerstrei- 
tenden Behauptungen  des  berühmten  J.  J.  Rousseau  unter  sich  und 
mit  der  Vernunft  in  Einstimmung  zu  bringen"  5).  Also  stellt  sich 
Kant  auf  den  Standpunkt  der  Einheit  der  Gedankenwelt  Rousseaus. 
Er  sieht  in  seinen  Werken  ein  folgerichtiges  System.  Von  den 
Reflexionen  zur  Anthropologie  der  70  er  und  80  er  Jahre,  über  die 
kulturphilosophischen  Schriften :  „Ideen  zur  allgemeinen  Geschichte 

1)  So  Faguet  in  „Revue  de  deux  Mondes"  15.  Sept.  1909,  Bourguin, 
Les  deux  tendences  de  Rousseau  (Revue  mätaphysique  et  morale,  1912,  mafy 
Espinace  (Revue  internationale  de  Fenseigrement  1895),  von  den  älteren  Schrift- 
stellern Morley,    Saint-Marc  Girardin   und  der  Russe  Tschitscherin. 

2)  So  Gierke,  Joh.  Althusius,  III.  Aufl.  116—117,  347.  Rebm,  Geschichte 
der  Staatsrechtswissenschaften  S.  259,  Landmann,  Der  Souveränitätsbegriff. 
S.  124.  127-130,  von  den  älteren  P.  Janet,  Stahl  und  Mohl. 

3)  „Bemerkungen",  op.  cit.  S.  240. 

4)  Handschriftlicher  Nachlaß,  B.  II,  2,  Ausgabe  der  preußisch.  Akademie 
der  Wissensch.,  III.  Abt.,  S.  889. 

5)  Kants  Schriften,  B.  VIII  op.  cit.  S.  116. 


Kant  und  Fichte  als  Rousseau-Interpreten.  14:3 

in  weltbürgerlicher  Absicht"  und  dem  „Mutmaßlichen  Anfang  der 
Menschengeschichte"  zu  den  rechtsphilosophischen  Werken :  „Theorie 
und  Praxis",  „Zum  ewigen  Frieden"  und  den  „Metaphysischen  An- 
fangsgründen der  Rechtslehre"  und  zur  endgültigen  Redaktion  der 
„Anthropologie"  wickelt  sich  immer  derselbe  Faden  dieser  Rousseau- 
Interpretation  ab. 

In  den  „Reflexionen"  stellt  Kant  die  Frage,  ob  Rousseau  wirk- 
lich behauptet  habe,  daß  „der  wilde  Zustand  besser  sei,  als  der 
gesittete"  x)  und  daß  „es  nötig  sei,  in  die  Wälder  zurückzukehren" 2). 
Er  lehnt  diese  Auffassung  von  Rousseaus  Gedanken  entschieden 
ab.  Die  „ganze  Absicht  des  Rousseau  ist,  den  Menschen  durch 
Kunst  dahin  zu  bringen,  daß  er  alle  Vorteile  der  Kultur  mit  allen 
Vorteilen  des  Naturzustandes  vereinigen  könne.  Rousseau  will 
nicht,  daß  man  in  den  Naturzustand  zurückgehen,  sondern  dahin 
zurücksehen  soll"3).  Aber  was  heißt  es,  „alle  Vorteile  der  Kultur 
mit  allen  Vorteilen  der  Natur  vereinigen"  ?  Kants  Antwort  lautet : 
„den  moralischen  Zustand"  erreichen.  In  den  Reflexionen  zur 
Anthropologie  der  70  er  Jahre  legt  Kant  den  Inhalt  von  Rousseaus 
Dissertationen  von  „dem  Schaden  der  Wissenschaften"  und  von 
der  „Ungleichheit  der  Menschen"  mit  folgenden  Worten  dar:  „Der 
natürliche  Zustand  ist  in  der  Idee  ein  goldenes  Zeitalter,  das  der 
Rohigkeit  und  Unwissenheit.  Aber  der  Mensch  kann  sich  darin 
nicht  erhalten  und  geht  aus  dem  Stande  der  Natur,  ohne  noch  eine 
Idee  von  der  sittlichen  Ordnung  zu  haben,  und  so  entwickeln  sich 
.  .  .  die  Kenntnisse,  aus  ihnen  die  Begierden  und  Bedürfnisse, 
mit  diesen  das  Elend  entspringt.  Er  wird  cultiviert.  .  .  .  Nun 
bedarf  er  moralisiert  zu  werden  und  dann  erreicht  er  seine 
Bestimmung.  —  Der  Naturmensch  stimmt  alsdann  mit  dem  Ver- 
nunftmenschen.  Aber  nur  die  Spezies  erreicht  sie" 4).  In  den 
letzten  drei  Sätzen  zieht  Kant  zu  seiner  Auslegung  des  Inhaltes 
der  Dissertationen  den  „Contr.  Soc."  und  den  „Emile"  herbei,  die 
er  auch  auf  der  nächsten  Seite  ausdrücklich  erwähnt5).  —  In  den 
„Ideen  zur  allgemeinen  Geschichte  in  weltbürgerlicher  Absicht" 
(1784)  formuliert  Kant  seine  Auffassung  von  Rousseaus  Endabsicht 
in  noch  klarerer  Weise:  „Wir  sind  in  hohem  Grade  durch  Kunst 
und   Wissenschaft    cultiviert.    .  .  .    Aber    uns    für   moralisiert   zu 


1)  Handschrift!  Nachlaß,  op.  cit  S.  778  B.  II,  2. 

2)  ibid,  S.  783.  3)  ibid,  S.  890. 
4)  ibid,  S.  8ß8.  5)  ibid,  S.  890. 


144  Georg  Gurwitsch, 

halten,  daran  fehlt  noch  sehr  viel"  *)  .  .  .  „Ehe  dieser  letzte  Schritt 
geschehen,  .  .  .  erduldet  die  menschliche  Natur  die  härtesten  Übel, 
unter  dem  betrüglichen  Anschein  äußerer  Wohlfahrt"  .  .  .  und 
„Rousseau  hatte  so  unrecht  nicht,  wenn  er  den  Zustand  der  Wilden 
vorzog,  sobald  man  nämlich  diese  letzte  Stufe,  die  unsere 
Gattung  noch  zu  ersteigen  hat  (NB.  die  der  sittlichen  Ordnung) 
wegläßt"2).  Rousseau  hat  diese  letzte  Stufe  weggelassen,  als 
er  seine  zwei  Dissertationen  schrieb,  aber  das  war  nur  die  Me- 
thode der  Kritik  an  der  intellektualistischen  Kultur  der  Aufklärung. 
In  seinem  „Contr.  Soc."  und  „Emile"  behandelt  er  die  Frage,  wie 
dem  Elend  durch  „Kunst"  abzuhelfen  sei,  und  antwortet:  durch 
Gründung  einer  bürgerlichen  Verfassung,  die  auf  sittlicher  Ord- 
nung fußt,  und  den  Menschen  von  der  Tierheit  zur  moralischen 
Person  erhebt.  Nun  wird  die  Lösung,  die  Kant  dem  Problem  der 
Einheit  der  Gedankenwelt  Rousseaus  in  dem  „Mutmaßlichen  An- 
fange der  Menschengeschichte"  gibt,  ganz  klar  und  verständlich: 
„In  seiner  Schrift  über  den  Einfluß  der  Wissenschaften  und  über 
die  Ungleichkeit  der  Menschen",  sagt  hier  Kant  von  Rousseau,  „zeigt 
er  ganz  richtig  den  unvermeidlichen  Widerstreit  der  Kultur  mit 
der  Natur  des  menschlichen  Geschlechts,  als  einer  physischen 
Gattung,  in  welcher  jedes  Individuum  seine  Bestimmung  ganz  er- 
reichen sollte ;  in  seinem  Emile  aber,  seinem  Gesellschaftlichen  Kon- 
trakte und  anderen  Schriften,  sucht  er  wieder  das  schwere  Problem 
aufzulösen:  wie  die  Cultur  fortgehen  müsse,  um  die  Anlagen  der 
Menschheit  als  einer  sittlichen  Gattung  zu  ihrer  Bestimmung 

gehörig  zu  entwickeln bis  vollkommene  Kunst  wieder  Natur. 

wird :    Als  welches   das  letzte  Ziel   der  sittlichen  Bestimmung  der 
Menschengattung  ist"  3).     Und  in  seinem  letzten  Greisen- Werke  — 
in  der  „Anthropologie  in  pragmatischer  Hinsicht"  (1798)  faßt  Kant 
das  ganze  Ergebnis  seiner  Interpretation  der  Rousseauschen  Kultur- 
philosophie  in   folgenden  abschließenden  Bemerkungen  zusammen: 
„Man  darf  eben  nicht  die  hypochondrische  Schilderung,  die  Rousseau 
von  dem  Menschengeschlecht  macht,  das  aus  dem  Naturzustande  her- 
auszugehen wagt,  für  Anpreisung  wieder  dahinein  und  in  die  Wälder 
zurückzukehren,    als    dessen  wirkliche  Meinung  annehmen.  ...... 

Seine  drei  Schriften  von  dem  Schaden,  den  1.  der  Ausgang  aus 
der   Natur   in   die    Cultur   unserer    Gattung,    durch    Schwächung 

1)  Ideen  zu  einer  allgemeinen  Geschichte  in  weltbürgerlicher  Absicht,  7.  Satz, 
Band  VIII,  op.  cit.  S.  26.  2)  ibid,  S.  26. 

3)  Mutmaßlicher  Anfang  der  Menschengeschichte,  op.  cit.  B.  VIII,  S.  116— 118. 


Kant  und  Fichte  als  Rousseau-Interpreten.  145 

unserer  Kraft ;  2.  Die  Civilisierung  durch  Ungleichheit  und  wechsel- 
seitige Unterdrückung,  3.  Die  vermeinte  Moralisierung  durch  natur- 
widrige Erziehung  und  Mißbildung  der  Denkungsart  angerichtet 
hat:  —  diese  drei  Schriften,  sage  ich  .  .  .,  sollten  nur  seinem 
Sozialkontrakt,  seinem  Emile,  und  seinem  Savoyardi- 
schen  Vicar  zum  Leitfaden  dienen  aus  dem  Irrsal  der 
Übel  sich  herauszufinden,  womit  sich  unsere  Gattung 
durch  ihre  eigene  Schuld  umgeben  hat"1). 

Diesen  Deutungen  Kants  scheint  es  mir  angemessen,  einige 
sich  hierauf  beziehende  Zitate  aus  Rousseau  beizufügen.  Rousseau 
lehnt  selbst  mit  der  größten  Energie  die  Meinung  ab,  als  ob  er 
im  „Discours  sur  rinegalite""  die  Notwendigkeit  der  Rechtsgemein- 
schaft negiert  hätte.  In  einem  Briefe  an  Voltaire  vom  18.  Aug.  1856, 
der  auf  dessen  verbissene  Angriffe  antwortet,  schreibt  er :  n Vous 
avez  qualifie  de  livre  contre  le  genre  humain  un  ecrit  ou  je  plai- 
dais  la  cause  du  genre  humain  contre  lui  meme,  .  .  .  car  je  mon- 
trait  aux  hommes  comment  ils  faisaient  leurs  malheurs  eux-memes, 
et  par  consequent  comment  ils  les  pouvaient  eviter"  2).  Und  in 
der   ursprünglichen   Redaktion    des   „Contr.   Soc."    heißt    es    noch 

klarer:    „ Quoique  (les  hommes)   deviennent  malheureux  et 

me*schants  en  devenant  sociables,  .  .  .  loin  de  penser  qu'il  n'y 
aii  ni  vertu,  ni  bonheur  pour  nous,  .  .  .  par  de  nouvelles  asso- 
ciations,  corrigeons  s'il  se  peut,  le  defaut  de  l'association  generale. 
Montrons  .  .  .  dans  l'art  perfectionne*  la  reparation  des  maux,  que 
l'art  commence  fit  ä  la  nature" 3).  Und  diese  perfektionierte  Kunst 
besteht,  wie  Rousseau  es  schon  gelegentlich  im  „Discours  sur  l'ine'- 
galite"  ausspricht,  in  dem  Aufbau  einer  neuen  Rechtsordnung,  die 
auf  den  Regeln  des  Sollens,  des  natürlichen  Rechts  gegründet  wird, 
„regles  que  la  raison  est  .  .  .  force"  de  re'tablir  sur  d'autre  fonde- 
ment  (als  im  Naturzustande,  wo  der  Instinkt  vorherrscht),  quand 
par  ses  developpements  successifs,  elles  est  venue  a  bout  d'^touffer 
la  nature"  4).  Rousseau  stellt,  ganz  im  Sinne  der  Kantischen  Deu- 
tung, im  „Contr.  Soc."  den  ideellen  bürgerlichen  Zustand,  als  den 
der  sittlichen  Ordnung ,  des  ethischen  Sollens ,  der  Mechanik  der 
Instinkte  im  Naturzustande  gegenüber.  Im  8.  Kap.  des  I.  Buches 
lesen  wir:    „Ce  passage  de  l'e'tat  de  nature  ä  T^tat  civil  produit 

1)  Anthropologie,  op.  cit.,  B  VII,  S.  326—327. 

2)  Oeuvres  completes,  op.  cit.,  S.  1386. 

3)  Ursprüngliche  Redaktion,  S.  10—11  des  Manuskriptes. 

4)  Discours  sur  l'ine'galittf,  ddition  Lahure,  I.  Band,  S.  81. 
Kantetudien  XXVII.  10 


146 


Georg  Gurwitsch, 


dans  Thomme  un  changement  tres  remarquable  en  substituant  dans 
sa  conduite  la  justice  a  l'instinct  et  donnant  a  ses  actions  la 
moralitö  qui  leur  manqnait  auparavant.  C'est  alors  seulement 
que  la  voix  du  devoir  succ^dant  ä  1'impulsion  physique  et  le  droit 
k  l'appetit,  Thomme  .  .  .  se  voit  force"  ...  de  consulter  sa  raison, 
avant  d'ecouter  ses  penschants".  .  .  .  „La  Constitution  de  l'homme 
(s'altöre)  .  .  . ,  a  l'existence  physique  et  independante  ...  (se  sub- 
stitue)  .  .  .  une  existence  partielle  et  morale"  l).  „.  .  .  Ce  que 
l'homme  perd  . . .  c'est  la  liberte"  naturelle,  ce  qu'il  gagne,  c'est  la 
liberte"  civile"-*).  „.  .  .  il  ...  fait  qu'un  behänge  avantageux 
.  .  .  de  sa  force,  que  d'autre  pouvaient  surmonter,  contre  un 
droit  que  l'union  social  rend  invincible"  3).  Und  diese  neu  er- 
worbene civile  Freiheit,  die  Rousseau  als  moralische  mit  großer 
Klarheit  der  natürlichen  Freiheit,  die  nur  Unabhängigkeit  einer 
Kraft  von  der  anderen  bedeutet,  gegenüberstellt,  wird  von  ihm 
als  sittliche  Autonomie  verstanden.  „On  pourrait  . . .  aj  outer  ä 
l'acquis  de  l'ätat  civil  la  liberte"  morale,  qui  seul  rend  l'homme 
vraiment  maitre  de  lui;  car  1'impulsion  du  seul  appätit  est  £scla- 
vage  et  l'obeissance  ä  la  loi  qu'on  s'est  prescrite  est  liberte^ 4)« 
Diese  Autonomie  wird  nach  Rousseaus  Lehre  durch  die  Unter- 
werfung des  Einzelnen  unter  die  „volonte  generale"  erzeugt.  Es 
entsteht  also  die  Frage:  was  ist  „volonte  generale"?  Bevor  wir 
aber  auf  die  Antwort  Kants  auf  diese  Frage  eingehen  (und  Kant 
hat  wirklich  eine  Antwort  gegeben),  möchte  ich  noch  die  Auf- 
merksamkeit auf  eine  grundlegende  Unterscheidung  hinlenken,  die 
Rousseau  mit  der  größten  Schärfe  seines  Denkens,  nicht  aber  des 
Ausdrucks,  macht.  Sie  steht  nämlich  in  unmittelbarer  Beziehung 
zur  Kantischen  Interpretation  des  Rousseauschen  Systems  und 
gewährt  den  klarsten  Einblick  in  seinen  Gedankengang.  —  So 
wie  zwei  Arten  der  Freiheit,  unterscheidet  Rousseau  auch  zwei 
Arten  des  natürlichen  Rechts:  das  instinktive,  natürliche  Recht 
des  Naturzustandes,  das  mit  der  Kraft  zusammenfällt,  und  das 
wahrhafte  moralische  Naturrecht  —  das  Vernunft  recht,  das 
nur  im  bürgerlichen  Zustande  Geltung  erlangt,  und  seine  Quelle 
in  der  „volonte*  generale"  hat.  In  der  ursprünglichen  Redaktion 
des  „Contr.  Soc.a   ist  diese  Unterscheidung5)   ausdrücklich  ausge- 


1)  Contr.  Soc.  L.  II,  C.  VII. 
3)  ibid,  L.  II,  C.  IV. 


2)  Contr.  Soc.  L.  I,  C.  VIII. 
4)  ibid,  L.  I,  C.  VIII. 


5)  Ausführliche    Darlegung    dieser    vorhin    unbeachtet    gebliebenen    Lehre 
Rousseaus  habe  ich  in  meiner  Monographie  „Rousseau  und  die  Erklärung  der 


Kant  und  Fichte  als  Rousseau-Interpreten.  147 

sprochen:  „Proteges  par  la  socie*te*  dont  nous  sommes  membres  . . . 
nous  sommes  portös  . . .  ä  en  user  avec  les  autres  hommes  ...  et 
de  cette  disposition  . . .  naissent  les  rögles  du  droit  raisonne* 
different  du  droit  naturel  proprement  dit,  qui  n'est  fonde*  que  sur 
un  sentiment  vrai,  mais  tres  vague  et  souvent  etouffe*  pur  Tamour 
de  nous  meme"  1).  „C'est  ainsi  que  se  forment  en  nous  les  pr^miers 
notions  distincts  du  juste  et  de  l'injuste.  Le  plus  grand  avantage 
qui  resulte  . . .  de  la  loi  . . .  (Texpression  de  la  volonte*  generale) 
. . .  est  de  nous  montrer  clairement  le  vrai  fondement  de  la  ju- 
stice et  du  droit  naturel  (c'est  a  dire  du  droit  naturel  raisonne*)"  2). 
Und  in  seiner  anonymen  Abhandlung  im  XI.  Bande  der  „Enzyklo- 
pädie" —  „Droit  Naturel" s),  weist  Rousseau  mit  der  größten  Klarheit 

Rechte.  Idee  der  unveräußerlichen  Rechte  des  Einzelnen  in  der  politischen 
Theorie  Rousseaus",  Petersburg  1918  (russisch),  S.  23—51,  zu  geben  versucht. 

1)  Ursprüngliche  Redaktion  des  Cont.  Soc,   op.  cit.,  S.  66  des  Manuskripts. 

2)  ibid,  S.  66-67. 

3)  Ich  rechne  diesen  anonymen  Artikel  Rousseaus  Werken  an  aus  folgenden 
Gründen.  Außer  der  allgemeinen  Ähnlichkeit  der  hier  entwickelten  Lehren  mit 
Rousseaus  Ansichten  (worauf  schon  Dreyfuss-Brisac  in  seiner  „Einleitung  zur 
Ausgabe  des  Contr.  Soc."  1896  S.  XI,  aufmerksam  wurde  und  Zustimmung  von 
Chinz,  Revue  historique  de  la  France  t.  XIV,  und  Haymann,  Rousseaus  Sozial- 
philosophie, S.  81—82,  Anm.  3,  fand)  ist  es  mir  gelungen,  die  textuelle  Iden- 
tität einer  Reihe  von  Sätzen  dieses  Artikels  mit  dem  Wortlaut  der  ursprüng- 
lichen Redaktion  des  „Contr.  Soc."  festzustellen.    Wir  lesen: 

Im  Artikel  „Droit  naturel":  In  der  ursprünglichen  Redaktion: 

„. .  .Ou  porterons  nous  cette  question?  „. . .  Le  philosophe  me  renverra  par 
Ou? 

Devant  le  genre  humain;  c'est  Devant  le  genre  humain  .  ..,  ä 

ä  lui  seul  qu'il  appartient  de  la  qui  seul  il  appartient  de  deci- 

de'cider    parce    que    le   bien    de  der  parce  que  le  plus  grand  bien 

tous  est  la  seul  passion  qu'il  ait  de  tous  est  la  seul  passion  qu'il 

(VI -384)  ait«  (S.d.M.  7—8) 

C'est  ä  la  volonte"  gänärale  que  C'est,   me   dira-t-il,    a  la   vo- 

l'individu  doit  s'adresser  pour  lontö    gdnärale    que    l'individu 

savoir  jus^qu'oü  il  doit  etre  hom-  doit  s'adresser  pour  savoir jus- 

me,    citoyen,    pere,    enfant    et  qu'oü  il  doit  etre  homme,  citoyen, 

quand  il  lui  convient  de  vivre  sujet,   pere,   enfant  et  quand  il 

et  de  mourir.  (VII— 384)  lui  convient  de  vivre  et  de  mou- 

rir  (ibid.) 

. . .  Vous  resterez  convaincu :  . . .  2.  Que  la  volonte'   generale   soit 

Que  la  volonte*  gdndral  est  dans     dans   chaque   individu    un    acte 

chaque   individu  un   acte   pure     pure  de  l'entendement,    qui  rai- 

de  l'entendement,  qui   raisonne     sonne  dans  la  silence  de  passions 

.       10* 


148 


Georg  Gurwitsch, 


auf  die  „volonte*  g^nörale"  als  die  Quelle  dieses  vernünftigen  Na- 
turrechtes hin.  „Parce  que  la  volonte*  ge* neurale  est  toujours  bonne, 
eile  n'a  jamais  trompe*.  Vous  avez  le  droit  naturel  le  plus 
sacre*  a  tout  ce  que  vous  est  point  conteste*  . . .  (par  eile)"  *)." 
„Ainsi  la  cause  du  droit  naturel  se  plaide  pardevant  l'humanite* 
...  et  cette  consideration  de  la  volonte*  ge*ne*rale  est  la  regle  de 
la  conduite".  Und  im  Traktat  „L'e*conomie  politique"  heißt  es: 
„Cette  volonte*  g6*ne*rale  est  ...  la  regle  du  juste  et  de  l'injuste 
. . .  C'est  cette  vois  cöleste  qui  dicte  ä  chaque  citoyen ,  les  pre*- 
ceptes  de  la  raison  publique 3)  .  . .  Also  sieht  Rousseau  ganz  unbe- 
streitbar in  der  volonte*  ge*ne*rale  die  Quelle  des  natürlichen  Ver- 
nunftsrechtes. Was  soll  denn  die  volonte*  ge*ne*rale  in  seinem 
System  bedeuten?  Nun  wird  Kants  Antwort  auf  diese  Frage  be- 
sonders interessant  und  wichtig. 

„Der  allgemeine  a  priori  vereinigte  Volkswille",  mit  welchem 
Terminus  Kant  in  den  „Metaphysischen  Anfangsgründen  der  Rechts- 


dans  lasilence  des  passions,  sur  sur  ce  que  l'homme  peut  exiger 

ce  que  l'homme  peut  exiger  de  de  son  semblable  et  sur  ce  que 

son  semblable  et  sur  ce  que  son  son  semblable  est  en  droit  d'exi- 

s'emblable    peut    exiger    de   lui  ger  de  lui,  nul  n'en  disconvien- 

(IX— 385)  dra.  (ibid.  8) 


Je  sens  que  je  porte  l'epouvante 
et  letrouble  aumilieu  del'espece 
humaine,  dit  l'homme  independant . . ., 
mais  il  faut  que  je  soit  malheur- 
eux,  ou  que  je  fasse  le  malheur 
des  autres,  et  personne  ne  m'est 
plus  eher  que  moi.  (ibid.  6) 


Je  sens  que1  je  porte  l'epou- 
vante et  le  trouble  au  milieu  de 
l'espece  humaine,  mais  il  faut 
ou  que  je  sois  malheureux,  ou 
que  je  fasse  le  malheur  des  au- 
tres, et  personne  ne  m'est  plus 
eher  que  je  me  le  sui  ä  moi  meme 
(III— 383). 

Wenn  man  die  angeführten  Zitate  vergleicht,  so  wird  ihre  wörtliche  Iden- 
tität unzweifelhaft;  und  da  die  Ursprüngliche  Redaktion  bis  1887  im  Manuskript 
geblieben  ist  und  sie  von  allen  Forschern  (vgl.  Dreyfuss-Brisac,  op.  cit,  S.  IX 
und  Alexejew,  Etüden  über  Rousseau,  B.  II,  S.  5—7)  zur  Periode  vor  1755 
(die  Zeit  des  Erscheinens  des  XI.  Bandes  der  Enzyklopädie)  gerechnet  wird,  so 
läßt  sich  mit  Sicherheit  behaupten:  1)  daß  die  zitierten  Sätze  der  Abhandlung 
„Droit  Naturel"  aus  der  „Ursprünglichen  Redaktion"  des  „Contr.  Soc.fa  entlehnt 
sind,  2)  daß  dieses  nur  der  Verfasser  der  „UrsprünglichenJEtedaktion"  selbst  machen 
konnte,  da  sie  ungedruckt  geblieben  ist  und  3)  daß  also  Rousseau  der  Autor 
dieses  Artikels  ist.  Vgl.  zur  ausführlicheren  Begründung,  meine  Arbeit  „Rous- 
seau   ",  S.  49—80. 

1)  Droit  Naturel  VII,  op.  cit,  S.  384.  2)  ibid.  IX,  op.  cit.,  S.  385. 

.     3)  Economie  politique  I,  Oeuvres  completes,  S.  313,  314,  315. 


Kant  und  Fichte  als  Rousseau-Interpreten.  149 

lehre"  die  Rousseausche  volonte*  gene"ral"  übersetzt,  wird  schon  in 
der  „Theorie  und  Praxis"  (1793)  als  Synthese  zwischen  Freiheit 
und  Gleichheit  definiert:  „Eigentlich  kommen",  sagt  Kant  hier, 
„um  diesen  Begriff  auszumachen,  die  Begriffe  der  äußeren  Frei- 
heit, Gleichheit  und  Einheit  des  Willens  aller  zusammen"1). 
Und  im  Aufsatze  „Über  ein  vermeintliches  Recht,  aus  Menschen- 
liebe zu  lügen"  (1797)  wird  der  Inhalt  der  „volonte*  genäral"  als 
„vereinigte(r)  Wille  aller  nach  dem  Prinzip  der  Gleichheit,  ohne 
welche  keine  Freiheit  von  jedermann  statthaben  würde"  2)  bestimmt. 
Dieser  synthetische  „a  priori  gegebene  allgemeine  Wille"  ist  es, 
der,  wie  es  im  „Traktat  zum  ewigen  Frieden"  (1795)  erklärt  wird, 
„gerade  allein  was  unter  Menschen  Rechtens  ist  bestimmt",  „welch' 
(letzteres)  als  der  Ausspruch  des  allgemeinen  Willens  nur  ein  ein- 
ziges sein  kann  . . .  und  die  Form  Rechtens  nicht  die  Materie  oder 
das  Objekt,  worin  ich  ein  Recht  habe,  betrifft" s).  „Der  allgemeine 
vereinigte  Volkswille  —  der  übereinstimmende  und  vereinigte  Wille 
aller,  sofern  ein  jeder  über  alle,  und  alle  über  jeden  ebendasselbe 
beschließen"  4)  ist,  wie  es  einmal  Kant  mit  Bezug  auf  das  Problem 
der  Strafe  ausspricht:  „in  jedem  die  reine  rechtlich-ge- 
setzgebende Vernunft  (homo  noumenon)" 5),  die  dem  empi- 
rischen homo  phaenomenon  gegenübersteht.  Darum  nennt  auch 
Kant  diesen  Willen  den  „vereinigten,  a  priori  aus  der  Vernunft 
abstammenden  Volkswillen"6),  oder  im  Sinne  des  eigenen 
Kantischen  Systems  eine  Idee:  „Es  ist  eine  bloße  Idee  der  Ver- 
nunft, die  aber  ihre  unbezweifelte  (praktische)  Realität  hat:  näm- 
lich jeden  Gesetzgeber  zu  verbinden,  daß  er  seine  Gesetze  so  gebe, 
als   sie   aus   dem  vereinigten  Willen   eines   ganzen  Volkes  haben 

entspringen  können "  7).    „Man  nennt  dieses  Grundgesetz,  das 

nur  aus  dem  allgemein  vereinigten  Volkswillen  entspringen  kann, 
den  ursprünglichen  Vertrag" 8),  ...  (der)  „keineswegs  als  ein  Fak- 
tum vorauszusetzen  nötig  ist,   ja  als  ein  solcher  garnicht  möglich 

1)  „Über  den  Gemeinspruch:    Das  mag  in  der  Theorie  richtig  sein,   taugt 
aber  nicht  für  die  Praxis",  op.  cit.  B.  VIII,  S.  295. 

2)  op.  cit.  B.  VIII,  S.  429. 

3)  Zum  ewigen  Frieden,  Anbang  I,  op.  cit.  B.  VIII,  S.  378. 

4)  Theorie  und  Praxis,  II.  Abschnitt,  op.  cit.  B.  VIII,  S.  292. 

5)  Die  Metaphysik   der  Sitten,   I.  Teil,  Rechtslehre,   §  49,   allgemeine   An- 
merkung, E.,  op.  cit,  B.  VI,  S.  335. 

6)  ibid,  §  51,  S.  338. 

7)  Theorie  und  Praxis,  B.  VIII  op.  cit.,  S.  297. 

8)  ibid,  S.  295. 


150  Georg  Gurwitsch, 

ist"  ...  „sondern   nnr  als  Vernnnftprinzip  zur   Beurteilung  aller 
rechtlichen  Verfassung  überhaupt"  *)  (Geltung  hat).  — 

Die  Unterwerfung  unter  den  synthetischen  a  priori  vereinigten, 
in  jedem  die  reine  rechtlich- gesetzgebende  Vernunft  darstellenden  all- 
gemeinen Willen,  die  den  Inhalt  des  Gesellschaftsvertrages  ausmacht 
und  zum  bürgerlichen  Zustande  hinleitet,  kann  selbstverständlich  nur 
zur  Begründung  der  wahren  Freiheit  des  Einzelnen  führen.  Der 
allgemeine  Wille  ist  ja  nur  Synthese  zwischen  Freiheit  und  Gleich- 
heit. Kant  drückt  dies  Ergebnis  seiner  Deutung  der  politischen 
Theorie  Eousseaus,  die  der  von  Benjamin  Konstan2)  eingeleiteten 
und  zuletzt  von  Jellinek8)  formulierten  Auffassung  scharf  ent- 
gegengesetzt ist,  in  folgenden  Worten  aus:  „Man  kann  nicht  sagen : 
der  . . .  Mensch  im  Staate  habe  ein  Tteil  seiner  angeborenen  äußeren 
Freiheit  einem  Zwecke  aufgeopfert,  sondern  er  hat  die  wilde  ge- 
setzlose Freiheit  gänzlich  verlassen,  um  seine  Freiheit  überhaupt 
in  einer  gesetzlichen  Abhängigkeit,  in  einem  rechtlichen  Zustande 
unvermindert  wieder  zu  finden,  weil  diese  Abhängigkeit  aus  seinem 
eigenen  gesetzgebenden  Willen  entspringt"  4).  Die  Unterwerfung 
unter  den  synthetisch  a  priori  vereinigten  Willen  erzeugt  „die 
gesetzliche  Freiheit,  die  bürgerliche  Gleichheit  und  die  bürgerliche 
Selbständigkeit"  5).  Und  diese  Rechte,  die  „nicht  sowohl  Gesetze 
(sind),  die  der  schon  errichtete  Staat  gibt,  sondern  nach  denen 
allein  eine  Staatserrichtung  nach  reinen  Vernunftprinzipien  des 
äußeren  Menschenrechtes  überhaupt  möglich  ist"  6),  sind,  wie 
Kant  es  ausdrücklich  in  der  „Theorie  und  Praxis"  ausspricht,  „un- 
verlierbare Rechte  gegenüber  dem  Staatsoberhaupt"  7).  So  erzeugt 
die  Einsetzung  der  absoluten  Herrschaft  des  apriorischen  synthe- 
tisch  vereinigten  Gesamt  willens   „den  Staat  in  der  Idee,    wie  er 

1)  ibid,  S.  297. 

2)  B.  Constant,  Cours  de  politique  constitutionnel  (1818—1820),  Edition 
Laboulay,  1861,  B.  I,  S.  10,  128—129,  B.  II,  S.  537,  549. 

3)  Jellinek:   Die  Erklärung  der  Menschen-  und  Bürgerrechte,  1895,  S.  6. 

4)  Metaphys.  Anfangsgründe  der  Rechtslehre,  S.  47,  op.  cit.,  B.  VI,  S.  315 — 316. 

5)  ibid,  S.  46,  S.  314;   „Theorie  und  Praxis",   B.  VIII  op.  cit.  S,  290—295. 

6)  Theorie  und  Praxis,  B.  VIII  S.  290. 

7)  ibid,  S.  303.  Allerdings  spricht  ihnen  Kant  im  entschiedenen  Unter- 
schiede zu  Rousseau  (vgl.  unten  S.  153)  den  Zwangscharakter  ab  und  erblickt 
das  „einzige  Palladium  der  Volksrechte  in  der  Freiheit  der  Feder"  (304).  Über 
den  Grund  dieser  Schwankungen  in  der  politischen  Lehre  Kants  vgl.  die  tief- 
dringenden Ausführungen  von  Prof.  P.  Nowgorodzeff.  Die  politischen  Theo- 
rien Kants  und  Hegels,  Moskau  1902  (russisch),  S.  126—146. 


Kant  und  Fichte  als  Rousseau-Interpreten.  151 

nach  reinen  Rechtsprinzipien  sein  soll" 1),  wo  „das  Gesetz  selbst- 
herrschend ist  und  an  keiner  besonderen  Person  hängt"  2).  Nach 
Kants  kritischer  Auffassung  ist  dies  die  ewig  unerreichbare  Auf- 
gabe, zu  der  ein  jeder  Staat  streben  soll;  nach  Rousseaus  meta- 
physischer Theorie  —  die  einzig  rechtmäßige  Form  des  in  Wirklich- 
keit zu  begründenden  Staates.  —  Jedenfalls  können  aber,  wie  wir 
gleich  sehen  werden,  Kants  Sätze  als  präzise  Wiedergabe  und 
Interpretation  der  politischen  Theorie  Rousseaus  angesehen  werden, 
wenn  auch  in  der  Formulierung  der  selbständige  rechtsphiloso- 
phische Standpunkt  Kants  zu  fühlen  ist,  so  daß  der  eigene  Kan- 
tische Aufbau  von  seiner  Rousseau-Interpretation  auseinanderzu- 
halten ist.  Umsomehr  wird  es  hier  angemessen  erscheinen,  Rousseau 
selbst  sprechen  zu  lassen. 

Kant  deutet  die  „volente  generale",  die  in  der  Rousseau- 
Literatur  immer  wieder  als  Durchschnittswille  mit  dem  empi- 
rischen Volkswillen  vermengt  wird,  als  ein  überempirisches 
Prinzip  in  seiner  Allgemeingültigkeit.  Diese  Auffassung  stimmt 
ganz  und  gar  mit  dem  Wortlaute  des  „Contr.  Soc."  überein. 
„La  volonte  generale"  lesen  wir  hier:  „est  toujours  constante, 
inalteralbe  et  pure"  „eile  est  indes  tructible"  „(Si)  la 
volonte  generale  devient  muette  .  .  .  s'ensuit-il  de  la  (qu'elle) 
soit  an6*antie  ?  Non" 4).  .  Sie  bleibt  immer  rein  und  unverändert 
(eile  est  la  meme) 5).  Sie  untersteht  nicht  dem  empirischen  Wechsel 
der  Dinge,  da  sie  überhaupt  über  die  empirische  Wirklichkeit 
emporgehoben  ist;  gerade  darum  ist  die  „volonte"  generale  toujours 
droite"  und  „eile  ne  peut  pas  errer" 6).  Rousseau  unterscheidet 
im  Begriffe  der  Staatsgewalt  zwei  Elemente:  die  ideelle  „volonte" 
generale"  und  die  reelle  „force  publique",  die  mit  der  „delibe*- 
ration  publique"  zusammenfällt 7).  „II  y  a  ...  dans  l'£tat  une 
force  commune  qui  le  soutient,  une  volonte"  generale,  qui  dirige  cette 
force,  et  c'est  l'application  de  l'une  ä  l'autre,  qui  constitue  la  sou- 
verainete^ 8).  Und  diese  zwei  Elemente  liegen  in  der  denkbar  größten 
Entfernung,  wie  es  Rousseau  in  einem  vorhin  schon  erwähnten  Zitat 
ganz  kartesisch  ausdrückt:  „Comme  dans  la  Constitution  de  l'homme 
l'action   de  Tarne  *sur  le  corps   est  Täbime   de  la  philosophie,    de 


1)  Met.  Auf.  d.  Rechtslehre,  §  45,  op.  cit.  B.  VI,  S.  313. 

2)  ibid,  §  52,  S.  341.  3)  Contr.  Soc.  L.  IV,  C.  I.         4)  ibid,  L.  IV,  C.  I. 
5)  ibid,  L.  II,  C.  II.  6)  ibid,  L.  II,  C.  III. 

7)  Vgl.  darüber  ausführlich  in  meiner  Arbeit  „Rousseau  ..."  S.  56-59. 

8)  Ursprüngliche  Redaktion  des  „Contr.  Soc",  op.  cit.  S.  20  des  Manuskripts. 


152  Georg  Gurwitsch, 

meme  Taction  de  la  volonte  generale  sur  la  force  publique  est 
1'äbime  de  la  politique  dans  la  Constitution  de  l'£tat"  l).  Wir  sehen, 
die  „volonte  g^nörale"  ist  für  Rousseau  eine  metaphysische  Sub- 
stanz im  vorkritischen  Sinne,  keine  regulative  Idee  nach  Kantischer 
Weise.  Sie  ist  aber  ganz  unzweifelhaft  ein  rein  ideelles,  über- 
empirisches Prinzip,  kein  empirischer  Durchschnitts wille 2).  Um 
so  mehr,  als  Rousseau  in  der  „volonte  g£n£rale"  die  Quelle  des 
ewigen  Vernunftsrechts  erblickte.  „Le  droit  naturel  ne  change 
pas"  lesen  wir  in  dem  gleichnamigen  Artikel  der  Enzyklopädie: 
„puisque  il  est  toujours  relative  ä  la  volonte  generale"  8).  —  Und 
dieses  überempirische  ideelle  Prinzip,  das  als  „volonte"  generale" 
bezeichnet  wird,  fällt  im  Grunde  bei  Rousseau  mit  der  individuellen 
conscience  zusammen,  oder  richtiger  gesagt,  die  „volonte*  generale" 
ist  eine  Richtung  der  „conscience",  seine  abstract-rechtliche  Seite. 
Rousseau  spricht  es  selbst  gelegentlich  aus,  indem  er  den  Begriff 
der  Tugend  —  „vertu",  das  eine  Mal  durch  das  Übereinstimmen 
der  Handlung  mit  der  „conscience",  das  andere  Mal  mit  der  „vo- 
lonte generale",  definiert 4).  Und  dann  wird  die  volonte*  generale 
mit  der  größten  Klarheit  von  Rousseau  als  überempirischer  Be- 
standteil des  individuellenWollens  hingestellt;  die  „volonte* 
g£n6rale"  wird  nicht  dem  individuellen  Willen,  sondern  dem 
Privatwillen,  also  seinem  empirischen  Element,  das  bei  jedem 
Menschen  ein  anderes  ist,  gegenübergestellt:  „Chaque  individu 
peut  . . .  avoir  une  volonte*  particuliere  contraire  ou  dissemblable 
ä  la  volonte"  generale  qu'il  a  . . ." 5).  „Que  la  volonte*  generale 
.  .  .  soit  dans  chaque  individu  un  acte  pure  de 
l'en  t  end  em  ent ,  qui  raisonne  dans  la  silence 
de  ses  passions  .  .  .  nul  n'en  disconviendra" 6).  „Volonte 
generale"  ist  abstrakte  überempirische  Wesenheit  eines  jeden 
Individuums,  die  bei  allen  die  gleiche  ist.  —  Nun  verstehen  wir, 
warum   die  Unterordnung  unter   die  volonte  generale   zur  indivi- 

1)  Ursprüngl.  Red.  des  „Contr.  Soc"  op.  cit.  S.  22  des  Manuskripts. 

2)  So  viel  ich  sehe,  waren  Kistiakowski  (Gesellschaft  und  Einzelwesen 
1899,  S.  156—157)  und  Stammler  („Notion  et  portde  de  la  volonte  generale 
chez  J.  J.  Rousseau",  Revue  Metaphysique,  Mai  1912,  S.  383—389)  die  einzigen 
in  der  modernen  Literatur,  die  den  ideellen  Charakter  der  volonte*  generale» 
emporhoben.    Vgl.  „Rousseau  ..."  S.  51—80. 

3)  Droit  naturel,  IX.  op.  cit.,  S.  385. 

4)  Emile,  IV.,  op.  cit.,  S.  227  und  Economie  politique,  op.  cit.,  S.  316. 

5)  Contr.  Soc,  L.  I,  C.  VII. 

6)  Ursprüngliche  Redaktion  des  Contr.  Soc,  op.  cit.,  des  Manuskripts. 


Kant  und  Fichte  als  Rousseau-Interpreten.  l        153 

duellen  Freiheit  und  Gleichheit  führt,  eine  Synthesis  der  beiden 
erzeugt1).  Es  ist  eine  Unterwerfung  unter  sein  eigenes  und  bei 
allen  gleiches  vernünftig  -  moralisches  Wesen,  also  Autonomie;  so 
werden  die  unveräußerlichen  natürlichen  Vernunftrechte  von  Ein- 
zelnen errungen,  die  nur  jetzt,  im  Staatszustande,  zur  Geltung 
kommen,  aus  der  „volonte  generale"  emporquellend.  Die  unbe- 
dingte Veräußerung  aller  Eechte  von  Seiten  des  Individuums,  als 
conditio  sine  qua  non  des  Gesellschaftsvertrages,  stellt  sich  als 
bloßes  Absagen  von  Instinkten  zu  Gunsten  des  natürlichen  Ver- 
nunftsrechts heraus,  dessen  Hauptinhalt  die  individuelle  Freiheit 
ist.  Es  ist  ein  Erringen,  nicht  ein  Absagen  von  unveräußerlichen 
Menschenrechten 2).  —  Und  statt  des  Absolutismus  des  empirischen 
Volkswillens  haben  wir  in  Rousseaus  Konstruktion  die  Herrschaft, 
die  Souveränität  des  Vernunftsrechts,  als  unbedingte  Voraussetzung 
des  Bestehens  des  Staates  selbst ;  wenn  die  empirische  delib^ration 
publique  nicht  mehr  mit  der  metaphysischen  „volonte*  generale" 
übereinstimmt,  so  wird  nach  Rousseaus  Lehre,  im  Unterschiede  zu 
Kant,  der  Staat  aufgelöst,  da  keine  rechtmäßige  Gewalt  mehr 
vorhanden  ist  und  die  Individuen  in  den  Naturzustand  zurück- 
fallen3). Das  Individuum  und  seine  unveräußerlichen  Vorrechte, 
in  der  Substanz  der*  „volonte*  generale"  symbolisiert,  sind  das  ein- 
zige Ziel,   zu  dem  Rousseaus  politisches  Denken  hinstrebt4).  — 

Wir  sehen:  Kants  Interpretation  der  Rousseauschen  Lehre 
von  der  volonte  g£ne"rale 5)  im  Zusammenhange  mit  seiner  Deutung 

1)  Über  diese  Synthese  vergleiche  man  Ausführungen  in  „Rousseau  .  .  .", 
S.  97—100. 

2)  In  der  Abhandlung  „De  Päconomie  politique"  (1755),  schon  nach  der  „Ur- 
sprünglichen Redaktion"  verfaßt,  werden  einzelne  unveräußerliche  Menschenrechte 
formuliert,  die  aus  der  „volonte  generale"  emporgehen  (Ec.  polit.  II,  317,  S.  316, 
I,  314),  und  von  der  Regierung  wird  gefordert  „de  respecter  les  droits  in- 
violables  de  tous  les  membres  de  l'e'tat".  Diese  ihre  Pflicht  wird  so  streng 
verstanden,  daß  Rousseau  hinzufügt :  „c'ette  Convention  (der  Staat)  serait  dissoute 
par  le  droit,  s'il  perissait  dans  l'e'tat  un  seul  citoyen  qu'on  eut  pu  secourir,  si 
l'on  en  retenait  un  seul  en  prison  et  s'il  se  perdait  und  seul  proces  avec  une  in- 
justice  evidente  (Ec.  pol.  II,  S.  316).  Ausführlicher,  in  meiner  Arbeit  „Rousseau  . . ." 
S.  37—41,  und  über  Eigentumsrecht  und  Religionsfreiheit,  ibid,  S.  80—95. 

3)  Contr.  Soc.  L.  IV,  C.  II  und  Economie  Politique  II,  316. 

4)  Vgl.  meine  Arbeit  „Rousseau  . . ."  (S.  75—78),  wo  ich  als  Rousseaus  End- 
absicht die  Lehre  von  der  Souveränität  der  unveräußerlichen  Rechte  des  Ein- 
zelnen zu  bezeichnen  versuchte. 

5)  Es  ist  hervorzuheben,  daß  in  einem  Punkte  Kants  und  Rousseaus  An- 
sichten über  die  „volonte'  ge'ne'rale"  sich  entschieden  scheiden.    Der  Metaphysiker 


154  Georg  Gurwitsch, 

der  Kultarphilosophie  des  Genfers,  kann  zu  einer  ganz  neuen,  von 
der  Tradition  stark  abweichenden  Auffassung  dessen  politischer 
Theorie  führen,  die  als  ein  durchaus  konsequentes  System  sich  dar- 
legen läßt. 

2. 
Wenn  wir  uns  nun  zu  Fichte,  diesem  offenherzigen  Bewunderer 
der  französischen  Revolution  wenden,  um  ihn  über  seine  Auffassung 
des  Systems  Rousseaus  zu  befragen,  so  kommen  vorerst  selbstver- 
ständlich seine  politischen  Jugendschriften  in  Betracht:  „Zurück- 
f orderung  der  Denkfreiheit  von  den  Fürsten  Europas"  und  „Bei- 
trag zur  Berichtigung  der  Urteile  des  Publikums  über  die  franzö- 
sische Revolution"  (1793),  beide  vor  den  ersten  rechtsphilosophischen 
Publikationen  Kants  in  der  Schweiz  erschienen.  Der  „Beitrag", 
der  den  stärksten  Einfluß  von  Rousseau  bezeugt1),  enthält  fol- 
gende allgemeine  Erklärung  über  den  Genfer  Bürger,  den  Fichte 
zum  Stammvater  des  deutschen  Idealismus  erhebt:  „Rousseau  ... 
(der  unseren  Weg  ging)  . . .  verfuhr  viel  zu  schonend  mit  euch  ihr 
Empiriker,  das  war  sein  Fehler.  Man  wird  noch  ganz  anders  mit 
euch  reden.  Unter  euren  Augen,  und  ich  kann  es  zu  eurer  Be- 
schämung hinzusetzen  .  .  .  durch  Rousseau  geweckt,  hat 
der  menschliche  Geist  ein  Werk  vollendet,   das  ihr  für 


Rousseau  ist  von  der  glücklichen  Harmonie  zwischen  Gerechtigkeit  und  Vorteil 
überzeugt,  darum  verbindet  er  ohne  Bedenken  seine  ideelle  volonte"  generale  mit 
dem  „allgemeinen  Interesse".  Diese  Verbindung,  die  metaphysisch  fundiert  ist, 
kann  aber  keineswegs  zur  utilitaristischen  Ausdeutung  der  volonte"  generale  führen 
(wie  es  immer  in  der  Literatur  geschieht,  und  auch  in  den  neueren  sonst  scharf- 
sinnigen Werken  von  Fr.  Haymann  (Rousseaus  Sozialphilosophie  1899,  S.  166, 
152,  175)  und  M.  Liepmann  (Die  Rechtsphilosophie  Rousseaus,  S.  115—118) 
wiederholt  wird).  Außer  dem  vorhin  gesagten  kann  noch  auf  die  Worte  Rousseaus 
verwiesen  werden:  „le  droit  ne  se  plit  point  aux  passions  des  hommes"  (Emile, 
V  Partie,  S.  295)  und  seine  Erklärung  im  Anfange  des  „Contr.  Soc":  er  wolle 
verbinden  „ce  que  le  droit  permet,  avec  ce  que  1'interSt  prescrit"  (L.  I,  C.  I); 
also  hält  er  doch  die  beiden  klar  auseinander.  —  Der  Kritizist  Kant  hat  nur  die 
Brücke  vernichtet,  die  der  metaphysische  Glaube  Rousseaus  zwischen  der  ideellen 
„volonte  generale"  und  dem  empirischen  Interesse  geschlagen  hatte. 

1)  Über  den  Einfluß,  den  Rousseau  auf  Fichte  ausübte,  vergleiche  besonders 
die  Ausführungen  von  Fester,  Rousseau  und  die  deutsche  Geschichtsphilosophie 
1890,  Kap.  V.  —  Völlig  unbegründet  ist  die  Behauptung  Streckers,  Die  An- 
fänge von  Fichtes  Staatsphilosophie  1917,  „daß  man  aus  Fichtes  Werken  nicht 
den  Eindruck  gewinnt,  als  ob  er  sich  besonders  gründlich  mit  ihm  (Rousseau) 
auseinandergesetzt  habe"  (S.  31).  Das  Entgegengesetzte  scheint  mir  das  richtige 
zu  sein,  wie  aus  den  folgenden  Ausführungen  klar  werden  soll. 


Kant  und  Fichte  als  Rousseau-Interpreten.  155 

das  Unmöglichste  aller  Unmöglichkeit  würdet  erklärt  haben,  wenn 
ihr  fähig  gewesen  wäret,  die  Idee  desselben  zu  fassen :  er  hat  sich 
selbst  ausgemessen"  1).  Fichte  spricht  im  „Beitrag"  auch  sehr  klar 
aus,  worin  eigentlich  die  bahnbrechende  Tat  Rousseaus  bestand :  Rous- 
seau hat  zuerst  das  Reich  des  reinen  sittlichen  Sollens  entdeckt,  die 
Autonomie  der  sittlichen  Welt  festgestellt.  So  erklärt  Fichte,  er 
habe  die  Ansichten  eines  gewissen  Herrn  Rehrbergs  zu  bekämpfen, 
„der  durchgängig  aus  dem,  was  geschieht,  auf  das  schließt,  was 
geschehen  soll;  der  alles  wieder  verwirrt,  was  Rousseau 
und  seine  Nachfolger  (also  Kant)  auseinandergesetzt 
haben  und  hier  auseinandergesetzt  (wird)"2).  Und  wirklich  ent- 
wickelt der  jugendliche  Fichte,  mit  der  ihm  eigenen  Macht  seiner 
tiefen  Einfältigkeit,  im  Anfange  des  „Beitrags"3)  die  Lehre  vom 
reinen  Sollen  mit  so  einer  Schärfe  und  Präzision  des  Ausdruckes, 
wie  es  Rousseau  und  selbst  Kant  nicht  gegönnt  war.  Und  dieser 
glühende  Prediger  des  reinen  Sollens  sieht  gerade  in  Rousseau 
den  Stammvater  seiner  Lehre.  — 

Es  ist  bezeichnend  für  Fichtes  Auslegung  des  Begriffs  „con- 
science"  bei  Rousseau,  daß  er  im  Gewissen  (deutsche  Übersetzung 
der  conscience)  die  Quelle  der  sittlichen  Gesetzgebung  erkennt. 
„Das  Gesetz,  heißt  es  im  „Beitrag" :  das  nur  für  freie  Hand- 
lungen gilt  .  . .  und  daher  Sittengesetz  genannt  wird ,  wird  im 
Gewissen  geäußert" 4) ,  und  das  Reich  des  sittlichen  Sollens  ist 
das  „Gebiet  des  Gewissens a  5).  Hier  wird  die  Rousseausche  Ter- 
minologie der  Kantischen  vorgezogen.  Daß  die  „conscience"  — 
„das  Gewissen"  des  Genfers,  als  reine  Quelle  des  sittlichen  Sollens, 
als  über  empirisches  Prinzip,  nicht  als  vages  empirisches  Gefühl, 
interpretiert  wird,  ist  offenkundig6).  Auch  für  Fichte,  wie  für 
Kant  war  Rousseau  der  Newton  der  Moral. 

Über  das  Problem  der  scheinbaren  Kulturfeindschaft  bei  Rousseau 
handelt  Fichte  in  den  „Vorlesungen  über  die  Bestimmung  des  Ge- 
lehrten" (1794),  nämlich  in  der  5.  Vorlesung  betitelt:  „Prüfung 
der  Rousseauschen  Behauptungen  über  den  Einfluß  der  Künste 
und  Wissenschaften   auf  das  Wohl   der  Menschheit".     Trotz   der 


1)  Beitrag  zur  Berichtigung  der  Urteile  des  Publikums  über  die  französische 
Revolution,  II.  Auflage,  Zürich  1844,  S.  32—33. 

2)  op.  cit.,  S.  50.  3)  op.  cit,  S.  11—17. 
4)  op.  cit,  S.  17.            5)  op.  cit.,  S.  110—112. 

6)  Auch   in    „Der  Bestimmung   des   Menschen"    wird    das    „Gewissen"    zur 
Quelle  der  sittlichen  Welt  erhoben,  Ausg.  Medicus,  B.  III,  S.  354  ff. 


156 


Georg  Gurwitsch, 


bemerkbaren  Abkühlung  der  Begeisterung  für  den  Genfer1),  wird 
Rousseau  hier  als  „einer  der  größten  Männer  seines  Jahrhunderts u 
bezeichnet.  „Friede  sei  über  seiner  Asche,  ruft  Fichte  aus:  und 
Segen  über  seinen  Namen.  —  Er  hat  gewirkt.  Er  hat  Feuer 
in  manche  Seele  gegossen,  die  weiterführte,  was  er 
anfing"  *).  Aber  zwischen  Rousseaus  Ansichten  und  seinen  eigenen 
Behauptungen,  daß  „die  Bestimmung  der  Menschheit  gesetzt  ist 
in  dem  beständigen  Fortgange  der  Kultur  und  der  gleichförmigen 
Entwicklung  aller  ihrer  Anlagen  und  Bedürfnisse"  3),  konstatiert 
Fichte  einen  Widerspruch,  den  er  doch  aufzuheben  verspricht : 
„Wir  werden  den  Widerspruch  lösen,  wir  werden  Rousseau 
besser  verstehen,  als  er  sich  selbst  verstand  und  wir 
werden  ihn  in  vollkommener  Übereinstmmung  mit 
sich  selbst  und  mit  uns  antreffen"4).  Nämlich,  „Rousseau 
hatte  sich  ein  Bild  von  der  Welt  und  besonders  von  dem  gelehrten 
Stande  entworfen,  wie  sie  sein  sollten" 5).  Mit  diesem  Standpunkte 
des  Sollens  „kam  er  in  die  größere  Welt  .  .  .  und  wie  ward 
ihm,  als  er  Welt  und  Gelehrte  sah,  wie  sie  wirklich  waren. 
Er  sah,  zu  einer  fürchterlichen  Höhe  gestiegen  —  Menschen  ohne 
Ahnung  ihrer  hohen  Würde  ...  sah,  wie  sie  in  Befriedigung 
. . .  niederer  Sinnlichkeit  nicht  Recht  und  Unrecht,  nicht  Heiliges 
noch  Unheiliges  achteten;  (folgt  entrüstete,  mit  Rousseau  über- 
einstimmende Schilderung  der  Laster  des  Zeitalters).  —  Das 
alles  sah  er  und  sein  hochgespanntes  und  so  getäuschtes  Ge- 
fühl empörte  sich.  Mit  tiefem  Unwillen  strafte  er  sein  Zeitalter" 6). 
Die  Negation  der  Kultur  in  den  Dissertationen  war  also  die 
Methode  einer  ethischen  Kritik  und  Beurteilung  der  positiven 
Kultnr,  die  Betätigung  des  Standpunktes  des  Sollens.  „Die  Sinn- 
lichkeit herrschte,  das  war  die  Quelle  des  Übels;  nur  diese  Herr- 
schaft der  Sinnlichkeit  wollte  er  (Rousseau)  aufgehoben  wissen"  7). 

1)  Sie  war  durch  das  Fortschreiten  Fichtes  zu  einem  selbständigen  Stand- 
punkt verursacht,  der  immer  weiter  vom  Rousseauschen  Individualismus  abwich, 
und  nach  1798 — 1800  zur  synthetischen  Konstruktion  der  konkreten  Wertgemein- 
schaft führte.  Das  Urteil  über  Rousseau  wurde  bei  Fichte  daher  immer  strenger 
(vgl.  z.  B.  die  „Grundlage  des  Naturrechts"  (1796),  die  „Grundzüge  des  gegen- 
wärtigen Zeitalters"  1806  und  etwa  „die  Staatslehre"  (1813)  aus  dem  Nachlasse). 
Der  Unterschied  der  Bewertung  rührt  aber  nicht  an  der  Einheit  der  Fichteschen 
Rousseau-Interpretation. 

2)  Fichtes  Werke  in  Auswahl,  herausgegeben  von  Fr.  Medicus,  I.  Bd.,  S.  272. 

3)  ibid,  S.  263—264.  4)  ibid,  S.  265.  5)  ibid,  S.  266. 
6)  ibid,  S.  266—267.             7)  ibid,  S.  268. 


Kant  und  Fichte  als  Kousseau-Interpreten.  157 

„Rousseau  wollte  nicht,  fährt  Fichte  fort,  in  Absicht  der  geistigen 
Ausbildung,  sondern  bloß  in  Absicht  der  Unabhängigkeit  von  den 
Bedürfnissen  der  Sinnlichkeit  den  Menschen  in  den  Naturstand 
zurückversetzen",  „er  nahm  (dabei)  unvermerkt  an,  daß  sie  schon 
aus  demselben  herausgetreten  sein  und  den  ganzen  Weg  der  Bil- 
dung durchlaufen  haben"1).  —  Rousseaus  „Fehlschluß"  besteht 
darin,  daß  er  die  „Sinnlichkeit  überhaupt  tötet.  Daher  Rousseaus 
Naturstand".  „Rousseau  vergißt,  daß  die  Menschheit  diesem  Zu- 
stande nur  durch  Sorge,  Mühe  und  Arbeit  sich  nähern  kann  und 
soll"2).  „Vor  uns  also  liegt,  was  Rousseau  unter  dem 
Namen  des  Naturstandes  ...  hinter  uns  setzte"1)  ... 
„Rousseau  schildert  die  Vernunft  in  der  Ruhe,  aber  nicht  im 
Kampfe;  er  schwächt  die  Sinnlichkeit  statt  die  Vernunft  zu  stär- 
ken" 3).  „Hierin  fehlt  Rousseau  ...  er  fühlt  stark  das  Elend  der 
Menschen;  aber  er  fühlt  weit  weniger  seine  eigene  Kraft,  dem- 
selben abzuhelfen"  3).  Er  hat  noch  nicht  erkannt,  darin  liegt  sein 
Hauptfehler,  daß  „Handeln!  Handeln!,  das  ist,  wozu  wir  da  sind"  4). 
—  Diese  Kritik,  die  Fichte  an  der  Rousseauschen  Theorie  übt, 
differiert  nicht,  wie  es  im  ersten  Augenblick  scheinen  mag,  mit 
der  Kantischen  Rousseau-Interpretation.  Fichte  versteht  es  ganz 
genau,  wie  aus  seinem  „Beitrage"  hervorgeht,  daß  Natur  bei  Rousseau 
im  positiven  Ausbau  seines  Systems,  also  im„Contr.  Soc."  und  „Emile", 
mit  dem  Reiche  des  sittlichen  Sollens,  des  vernünftigen  Natur- 
rechts zusammenfällt.  Fichte  übt  nur  Kritik  an  der  Methode, 
die  Rousseau  benutzt,  um  die  intellektualistische  Kultur  der  Auf- 
klärung zu  beurteilen:  das  Bezugnehmen  auf  den  einfältigen,  in- 
stinktiven Naturzustand,  die  Wildheit,  als  Wertmesser  der  histo- 
risch gegebenen  Kultur.  Schon  Kant  hat  dieser  Methode  Rousseaus 
seine  eigene  gegenübergestellt:  er  nannte  das  Verfahren  des  Genfers 
„synthetisch,  weil  er  vom  natürlichen  Menschen  anfange,  während 
ich  (Kant)  analytisch  verfahre  und  vom  gesitteten  Menschen  aus- 
gehe" 5).  Dieser  Unterschied  der  Methoden  wird  von  Fichte  mit 
desto  größerer  Energie  emporgehoben,  als  er  im  Begriffe  stand, 
seine  Ethik  des  Handelns,  die  nicht  nur  über  Rousseau,  sondern 
auch  über  Kant  hinausging,  auszuarbeiten.  Daß  aber  dieser  Unter- 
schied des  Verfahrens  eben  ein  rein  methodischer  war,  dafür  ist 
das   beste  Zeichen,    daß  Fichte,    als    er   in   den  „Grundzügen   des 

1)  ibid,  S.  270.  2)  ibid,  S.  271. 

3)  ibid,  S.  273.  4)  ibid,  S.  272. 

5)  Bemerkungen  . .  .  op.  cit.,  S.  220. 


158  Georg  Gurwitsch, 

gegenwärtigen  Zeitalters"  von  der  Rechtsphilosophie  zur  Geschichts- 
philosophie sich  wandte,  zur  „synthetischen  Methode"  Rousseaus 
zurückkehrte;  er  unterscheidet  hier  ganz  im  Sinne  des  Genfers 
5  Epochen  in  der  Geschichte  der  menschlichen  Gattung:  angefangen 
von  der  Epoche  der  Unschuld,  wo  „die  Vernunft  wirkt  als  dunkler 
Instinkt",  durch  die  Epoche  der  Befreiung  von  der  gebietenden 
Autorität  unmittelbar  und  mittelbar  von  der  Vernunft  überhaupt 
—  dem  Zustand  der  vollendeten  Sündhaftigkeit",  zur  „Epoche 
der  Vernunft  -  Weisheit,  dem  Stande  der  vollendeten  Rechtferti- 
gung" ').  —  Jedenfalls  berührt  der  Unterschied  der  Methoden  nicht 
das  Endergebnis  der  Rousseauschen  Kritik  der  Kultur,  die  klar, 
so  gut  von  Fichte,  wie  von  Kant,  als  bahnbrechende  Entdeckung 
der  Selbständigkeit  der  ethischen  Welt  (in  der  Negation  der  Allein- 
herrschaft der  theoretischen  Vernunft  symbolisiert),  erfaßt  wird. 
Es  wurde  schon  erwähnt,  daß  der  „Beitrag"  die  Lehren  des 
„Contr.  Soc."  unter  der  Kategorie  des  reinen  Sollens  interpretiere. 
So  wird  die  Lehre  vom  ursprünglichen  Vertrage  selbst  ausgelegt. 
Fichte  führt  diesbezüglich  folgendes  aus,  sich  gegen  Rehrberg 
wendend:  „Es  sei  (wird  von  Rehrberg  behauptet)  seit  Rousseau 
gesagt  und  wieder  gesagt  worden,  daß  alle  bürgerliche  Gesell- 
schaft sich  der  Zeit  nach  auf  einem  Vertrag  gründet,  meint  ein 
neuer  Naturrechtslehrer :  aber  ich  wünsche  zu  wissen,  gegen  welchen 
Riesen  diese  Lanze  eingelegt  ist.  Wenigstens  sagt  Rousseau 
das  nicht.  —  Man  muß  auf  seinen  Gesellschafts  vertrag  einen  sehr 
flüchtigen  Streifzug  gemacht  haben,  um  das  in  ihm  zu  finden  .  .  . 
Rousseau  sucht  im  ganzen  Buche  nach  dem  Rechte,  nicht 
nach  der  Tatsache"  2).  Mit  welch'  einer  Tiefe  und  Präzision 
hier  Fichte  Rousseau  versteht,  wird  besonders  klar,  wenn  man 
folgende  Äußerungen  Rousseaus  in  Betracht  zieht,  die  die  nur  un- 
längst bekannt  gewordene  (1887)  ursprüngliche  Redaktion  des  „Contr. 
Soc."  enthält:  „Dans  la  multitudes  d'aggregations  .  . .  il  n'y  a  . .  . 
pas  une  qui  ...  ait  £te  (form6)  selon  .  . .  (la  maniere)  que  j'£tablis. 
Mais  je  cherche  le  droit  et  la  raison  et  ne  dispute  pas 
de  faits"8).  Wir  sehen,  Fichte  ist  so  tief  in  die  Gedankenwelt 
Rousseaus  eingedrungen,  daß  er,  ohne  es  zu  wissen,  sogar  wörtlich 
die  gleiche  Formulierung  des  Sinnes  der  Vertragstheorie  Rousseaus 

1)  Die  Grundzüge  des  gegenwärtigen  Zeitalters  1806.    Erste  Vorlesung,  der 
Ausgabe  von  Medicus  IV.  Band,  S.  405. 

2)  „Beitrag",  op.  cit.,  S.  43—44  und  Anmerkung. 

3)  Ursprüngliche  Redaktion,  op.  cit.,  S.  24  des  Manuskripts. 


Kant  und  Fichte  als  Rousseau-Interpreten.  159 

gab,  wie  der  Genfer  selbst.  Desto  belehrender  für  die  Rousseau- 
Forschung  müssen  Fichtes  einzelne  Deutungen  der  politischen 
Theorie  des  Genfers  werden,  und  vor  allem,  der  grundlegenden 
Lehre  von  der  „volonte  generale". 

Die  „Grundlage  des  Naturrechts"  (1796 — 97)  enthält  eine  aus- 
führliche Auslegung  dieses  Hauptbegriffes  der  Rousseauschen  Rechts- 
philosophie. „Wie  kann",  wirft  Fichte  hier,  das  Grundproblem 
des  „Contr.  Soc."  formulierend,  die  Frage  auf:  „die  Freiheit  eines 
Einzelnen,  die  nach  dem  Rechtsgesetze  nur  durch  die  Freiheit  aller 
begrenzt  ist,  mit  der  notwendigen  Bedingung  des  Rechtsgesetzes  — 
der  gänzlichen  und  ohne  jeden  Vorbehalt  geschehenden  Veräußerung 
der  Macht  und  des  Rechtsurteils  jeder  Person  —  in  Vereinigung  ge- 
bracht werden" *).  Und  er  antwortet,  sich  ausdrücklich  auf  Rousseau 
berufend 2),  mit  dem  Hinweis,  daß  diese  Unterwerfung  nicht  unter 
die  Willkür  des  empirischen  „allgemeinen  Willens  (volonte  de  tous), 
sondern  unter  den  „gemeinsamen  Willen  (volonte  generale)  (S.  262), 
den  „apriorischen  Willen  des  Rechts"  erfolgt.  „Der  aufgestellte 
"Widerspruch  ist  gehoben,  wenn  . . .  ich  mich  nicht  der  veränder- 
lichen Willkür  eines  Menschen,  sondern  einem  unabänderlichen 
festgesetzten  Willen  (unterwerfe)  und  zwar  ...  da  das  Gesetz  so 
ist,  (wie)  ich  selbst  nach  der  Regel  des  Rechts  es  geben  müßte  . . . 
meinem  eigenen  unveränderlichen  Willen,  den  ich 
notwendig  haben  müßte,  wenn  ich  gerecht  bin  und 
also  überhaupt  Rechte  haben  soll"8).  Also  ist  der  „ge- 
meinsame Wille"  —  das  volonte  ge*ne*rale  in  Fichtescher  Deutung 
—  das  „Wollen  des  Rechts"4),  als  der  bei  allen  Individuen 
gleiche  Bestandteil  ihres  Wollens  —  „das  einzig  mögliche  daher, 
worüber  ihr  Wille  sich  vereinigt"5).  „Wenn  eine  Million  Menschen 
beisammen  sind,  so  mag  wohl  jeder  Einzelne  für  sich  selbst  soviel 
Freiheit  wollen,  als  nur  immer  möglich  ist.  Aber  man  ver- 
einige den  Willen  aller  in  einen  Begriff,  als  einen 
Willen,  so  teilt  derselbe  die  Summe  der  möglichen  Freiheit  zvl 
gleichen  Teilen;  er  geht  darauf,  daß  alle  miteinander  frei  seien, 
daß  daher  die  Freiheit  eines  jeden  beschränkt  sei 
durch  die  Freiheit  aller  übrigen"  —  „Rousseaus  volonte* 
gön^rale,  deren  Unterschied  von  der  volonte*  des  tous  keineswegs 
so  gar  unbegreiflich  ist"  6),   fügt  Fichte  in  der  Anmerkung  an.  — 

1)  Grundlage  des  Naturrechts  nach  Prinzipien  der  Wissenschaftslehre,  op. 
cit.,  B.  II,  S.  105—106.  2)  ibid,  S.  110,  262.  3)  ibid,  S.  108. 

4)  ibid,  S.  110.  5)  ibid,  S.  110—111.  6)  ibid,  S.  110. 


160  Georg  Gurwitsch, 

Wir  sehen,  die  Fichtesche  Interpretation  der  volonte  generale 
stimmt  mit  der  Kantischen  überein,  nur  daß  die  Formulierang 
sich  näher  dem  Rousseauschen  Gedankengange  hält,  als  es  bei 
Kant  geschah.  Durch  diese  Präzision  der  Wiedergabe  erhält  Fichte 
die  Möglichkeit,  den  Unterschied  der  „volonte*  ge*n£rale"  und  „vo- 
lonte* des  tous"  zur  Klarheit  zu  bringen,  und  so  die  berüchtigte 
Dunkelheit  der  Rousseauschen  Lehre  über  die  Summierung  der 
Einzel  willen l) ,  aufzuklären.  „Alle  einzelnen",  erklärt  Fichte 
Rousseaus  Gedanken,  „wollen  jeder  soviel  als  möglich  für  sich  be- 
halten und  allen  übrigen  so  wenig  wie  möglich  lassen;  aber  eben 
darum,  weil  dieser  Wille  unter  sich  streitig  ist,  hebt  das  Wider- 
streitende sich  gegenseitig  auf,  und  das,  was  als  letztes  Resultat 
bleibt,  ist,  daß  jeder  haben  solle,  was  ihm  zukommt.  Wenn  zwei 
Leute  im  Handel  miteinander  begriffen  sind,  so  mag  man  immer 
annehmen,  daß  jeder  den  anderen  bevorteilen  will;  da  aber  keiner 
von  beiden  der  Bevorteilte  sein  will,  so  vernichtet  sich  dieser  Teil 
ihres  Wollens  gegenseitig  und  ihr  gemeinsamer  Wille  ist 
der,  daß  jeder  erhalte  was  recht  sei"2).  Also  das  Resultat 
der  Summierung  ist  nicht  ein  empirischer  Wille,  der  aus  summierten 
Teilen  besteht,  sondern  das  apriorische,  bei  allen  Beteiligten  gleiche 
Wollen  des  Rechts,  das,  durch  das  gegenseitige  Vernichten  der 
empirischen  Bestandteile  des  individuellen  Willens,  in  ihrer  Rein- 
heit und  Klarheit  hervortritt3). 

So  ist  nach  Fichtes  Auffassung  die  „volonte  generale"  ein 
unveränderliches  apriorisches  Wollen  des  Rechts,  das  eine  Syn- 
thesis  zwischen  der  Freiheit  eines  jeden  und  der  Gleichheit  aller 
erzeugt.  Kann  demnach  die  erforderte  Unterwerfung  unter  die 
„volente  generale"  zur  Beeinträchtigung  der  Freiheitsr  echte  führen? 
Fichtes  Antwort,  die  auch  hier  mit  der  Kantischen  zusammenfällt, 
wenn  auch  viel  schärfer  formuliert,  ist  von  vornherein  klar.  „Weit 
entfernt",  führt  hier  Fichte  aus,  in  die  Tiefen  des  Rousseauschen 
Denkens  eindringend,  „durch  diese  Unterwerfung  meine  Rechte  zu 

1)  Contr.  Soc.  L.  II,  C,  III:  „II  y  a  souvent  bien  de  la  dififärence  entre  la 
volonte*  de  tous  et  la  volonte"  generale,  . . .  mais  otez  de  ces  memes  volontes  les 
plus  et  les  moins  qui  s'entre-ditruisent,  reste  pour  somme  de  differences  la  vo- 
lonte" generale".  Sogar  ein  so  tiefer  Forscher  in  der  Geschichte  der  Rechtsphilo- 
sophie, wie  0.  v.  Gierke,  deutet  dieses  Zitat  im  Sinne  der  Lehre  vom  „Durch- 
schnittswillen", des  arithmetischen  Mittels  der  empirischen  Willensäußerungen  aus, 
vgl.  Gierke,  Johannes  Althusius,  III.  Aufl.  1913,  S.  203. 

2)  Grundlage  des  Naturrechts,  op.  cit.,  S.  110—111,  Anmerkung. 

3)  Vgl.  m.  Arb.  „Rousseau  .  .  .",  S.  62—67. 


Kant  und  Fichte  als  Rousseau-Interpreten.  161 

verlieren,  erhalte  ich  sie  erst,  indem  ich  erst  durch  sie  äußere, 
daß  ich  die  Bedingung,  unter  welcher  allein  jemand  Eechte  hat, 
erfülle" ').  Wie  wir  uns  erinnern,  unterscheidet  Rousseau  zwischen 
dem  vor  staatlichen  „droit  naturel"  instinctif,  das  mit  der  Macht 
zusammenfällt,  und  dem  vernünftigen  Naturecht,  dem  wahrhaften 
Recht,  das  aus  der  volonte'  generale  hervorgeht.  Als  Vorbedingung 
der  Geltung  des  Vernunftsrechts  muß  die  volonte*  g£n£rale  herr- 
schen, also  der  Staat  gegründet  sein.  Diesen  neuen  Gedanken 
Rousseaus  2)  prägt  Fichte  vollständig  aus.  „Es  ist",  sagt  er  (die 
Lehre  Rousseaus  klar  erfassend)  .  . .  „gar  kein  Naturrecht  (denn 
das  droit  naturel  instinctif  des  Genfers  ist  eigentlich  kein  Recht, 
wie  wir  wissen),  d.  h.  es  ist  kein  rechtliches  Verhältnis  zwischen 
Menschen  möglich,  außer  in  einem  Gemeinwesen  und  unter  posi- 
tiven Gesetzen"  s).  ...  „Keiner  kann  bei  einem  Staatsvertrage 
etwas  zubringen  und  es  geben,  denn  er  hat  nichts  vor  diesem 
Vertrage.  Weit  entfernt  sonach ,  daß  dieser  Vertrag  sich  mit 
Geben  anfangen  sollte,  hebt  er  an  von  Erhalten" 4).  Diesen  Worten 
würde  Rousseau  unbedingt  zustimmen,  da  es  gerade  seine  Mei- 
nung war,  daß  erst  im  bürgerlichen  Zustande  die  unveräußerlichen 
Vernunftsrechte  der  Menschen  erzeugt  werden5).  Das  ist,  wie 
wir  schon  sahen,  die  logische  Folge  der  Rousseauschen  Lehre  über 
die  zwei  Arten  des  Naturrechts.  „11  est  si  faut",  lesen  wir  direkt 
zur  Bestätigung  dieser  Deutung  in  einem  bereits  vorerwähnten 
Zitat  des  „Contr.  Soc":  „que  dans  le  contrat  social  ily  ait  de 
la  part  de  particuliers  aucune  renonciation  veritable 
. . .  qu'au  lieux  d'une  alieanation  ils  n'on  fait  qu'un  eschange  avan- 

tageu de  leur  force,   contre  un  droit,  que  Tunion  social 

rend  invincible"  6).  r 

Fichte  hat  die  größere  Klarheit  in  der  Darlegung  dieses  Ge- 
dankens erreicht,  indem  er  den  verwirrenden  Begriff  des  instink- 
tiven Naturrechts  fortließ.     Im  Grunde   war   er  bei  Rousseau  auf 


1)  Grundlage  des  Naturrechts  I,  op.  cit.,  B.  II,  S.  108. 

2)  Vgl.  meine  Arbeit  „Rousseau  ...",  S.  29—35,  48—51,  77—78,  91—94;. 
96—97. 

3)  Grundlage  I,  op.  cit,  S;  152. 

4)  ibid,  II,  S.  208. 

5)  In  meiner  Schrift  habe  ich  gerade  auf  dieser  Lehre  des  Genfers  fußend,. 
Rousseau  gegen  Jellinek  (Die  Erklärung  der  Menschenrechte,  1896,  S.  6  ff.)  zu«, 
verteidigen  versucht. 

6)  Contr.  Soc,  L.  II,  C.  IV. 

Kantstudien.   XXVU.  11 


162  Georg  Gurwitsch, 

einer  terminologischen  Zweideutigkeit  gebaut 1).  Wenn  daher  Fichte, 
sich  Rousseau  gegenüberstellend,  bemerkt:  „Rousseau  behauptet 
unbedingt,  ein  jeder  gibt  sich  ganz.  Dies  kommt  daher:  Rousseau 
nimmt  ein  Eigentumsrecht  an  vor  dem  Staats  vertrage"  2),  so  kann 
dies  nur  die  Terminologie,  nicht  den  Sinn  der  Lehre  des  Genfers 
betreffen.  Rousseau  weiß  es  ganz  genau,  daß  das  Eigentumsrecht, 
wie  jedes  andere  Recht  im  normativen  Sinne  nur  im  Staat  be- 
steht; und  gerade  bezüglich  des  Eigentumes  formuliert  er  es  auch 
dem  Ausdrucke  nach  sehr  deutlich:  „H  faut  bien  distinguer  .  .  . 
la  possesion  qui  n'est   que   l'effet   de   force,   de   la  propriöte*  .  .  . 

Ce  que  l'homme  perd  par  le   contrat  social  c'est un  droit 

illimite'  ä  tous  ce  qui  le  tente  et  qu'il  peut  atteindre,  ce  qu'il 
gagne  .  . .  c'est  la  pro  priese*  de  tout  ce  qu'il  possede" 3).  Also 
sind  eigentlich  Fichtes  Ausführungen  eine  genaue  Wiedergabe  des 
Rousseauschen  Gedankenganges,  nur  von  der  terminologischen 
Unklarheit  befreit,  gegen  die  sich  Fichtes  Kritik  wendet.  Rous- 
seau muß  das  Verdienst  zugesprochen  werden,  als  erster  erkannt 
zu  haben,  daß  das  Vernunftrecht  sich  nur  im  bürgerlichen  Zu- 
stande realisiert,  wo  es  erst  zur  Geltung  kommt,  also  kein  vor- 
gemeinschaftlicher Begriff  ist.  Und  Fichte  hat  diesen  Gedanken 
endgültig  ins  Klare  gebracht. 

Gerade  auf  dieser  Idee  fußt  Rousseaus  eigentümliche  Be- 
gründung der  Menschenrechte,  die  ein  Meister  von  der  Größe 
Jellineks  verkannt  hatte.  Die  Menschenrechte  werden  nach  Rous- 
seaus Lehre,  wie  es  schon  erwähnt  wurde,  im  Staate  durch  die  Vor- 
herrschaft der  volonte  generale  geboren,  —  des  vernünftig-ethischen 
Elementes  des  individuellen  Wollens  eines  jeden  Bürgers.  Ihre 
Grundlage  ist  die  Menschenwürde,  die  sich  nur  nach  der  Unter- 
werfung aller  Instinkte  unter  dieses  ideelle  Prinzip  behauptet  und 
zur  Entfaltung  kommt.  Der  Staat  wird  zur  rechtmäßigen  Insti- 
tution nur  durch  die  unbedingte  Vorherrschaft  des  Vernunftrechtes. 
Wenn  der  Mehrheits willen  nicht  mehr  mit  der  „volonte*  generale" 
übereinstimmt,  so  gibt  es  nach  Rousseau  auch  keinen  Staat  mehr, 
keine  Rechtsgewalt,  sondern  nur  Vergewaltigung  rein  faktischer 


1)  Vgl.  darüber  meine  Ausführungen  in  „Rousseau ",  S.  41—51. 

2)  Grundlage  des  Naturrechts,  II,  op.  cit.,  S.  208. 

3)  Contr.  Soc,  L.  I,  C.  VIII  u.  IX.  Anderer  Meinung  ist  Liepmann  (op. 
cit.,  S.  124),  der  ein  vorstaatliches  Eigentumsrecht  bei  Rousseau  annimmt.  Vgl. 
meine  Auseinandersetzung  mit  ihm  in  „Rousseau ",  S.  91 — 94. 


Kant  und  Fichte  als  Eousseau-Interpreten.  163 

Art1).  Und  da  der  Hauptinhalt  des  Vernunftsrechtes,  nach 
Rousseau,  die  individuelle  Freiheit  ist,  so  ist  die  Souveränität  der 
individuellen  Freiheitsrechte  die  Grundidee  seiner  politischen  Theorie. 
Und  dieses  gerade  hat  Fichte  mit  klarem  Blicke  aus  den  Werken 
Rousseaus  herausgelesen.  Gerade  in  der  Zeit  seiner  größten  Be- 
geisterung für  Rousseau  schrieb  er  seine  flammende  Lobrede  für 
die  unveräußerlichen  Menschenrechte :  „Zurückforderung  der  Denk- 
freiheit von  den  Fürsten  Europas"  (1793),  und  im  „Beitrage"  und 
der  „Grundlage"  werden  immer  mit  größter  Energie  die  Menschen- 
rechte unter  ausdrücklicher  Berufung  auf  Rousseau  verteidigt. 
Die  französische  Revolution,  von  der  Fichte  auch  durch  den  Terror 
nicht  abgeschreckt  wurde,  erscheint  ihm  als  „ein  reiches  Gemälde 
über  den  großen  Text:  Menschenrecht  und  Menschenwert2).  Die 
Grundlage  der  Menschenrechte  ist  Menschenwürde.  „Der  Mensch 
hat  ein  Recht  zu  den  Bedingungen,  unter  denen  allein  er  pflicht- 
mäßig handeln  kann.  Solche  Rechte  sind  nie  aufzugeben,  sie  sind 
unveräußerlich"  3).  Also  „es  ist  ewige  menschliche  und  göttliche 
Wahrheit,  daß  es  unveräußerliche  Menschenrechte  gibt,  und  daß 
die  Denkfreiheit  darunter  gehört"4).  Und  der  einzige  Zweck  des 
Staates  ist,  nach  Fichtes  Ansicht,  in  dieser  Anfangsperiode,  die 
ganz  mit  Rousseau  übereinstimmt,  das  Geltendmachen  dieser  Men- 
schenrechte, die  „Kultur  zur  Freiheit"  der  Person5).  Es  kann 
keine  Veräußerung  der  Freiheit  stattfinden.  „Nein,  Mensch,  du 
durftest  es  nicht  versprechen;  du  hast  das  Recht  nicht,  auf  deine 
Menschheit  Verzicht  zu  tun;  dein  Versprechen  ist  rechtswidrig, 
mithin  rechtsohnmächtig"6);  —  aus  diesen  Worten  des  „Beitrags", 
die  eine  genaue  Wiedergabe  des  berühmten  Satzes  Rousseaus 
(„Renocer  a  ca  liberte  c'est  renoncer  a  sa  qualite  d'homme  . . .  une 
teile  renonciation  est  incompatible  avec  la  nature  de  l'homme;  et 
c'est  oter  toute  moralite  a  ses  actions,  que  d'oter  toute  liberte  a 
sa  volonte") 7)  sind,  werden  von  Fichte  alle  Konsequenzen  gezogen, 
und  ein  System  der  Menschenrechte  errichtet,  das  auch  das  System 
Rousseaus  in  seinem  eigentlichen  Gedankengange  war.    Eine  neue 


1)  Siehe  oben  S.  153  (Anm.  2). 

2)  Beitrag,  op.  cit.,  Vorwort,  S.  VIII. 

3)  Zurückforderung  der  Denkfreiheit  von  den  Fürsten  Europas,  die  sie  bis- 
her unterdrückten  (1793).  J.  G.  Fichtes  sämtliche  Werke,  Berlin  1845,  Bd.  VI, 
S.  12. 

4)  ibid,  S.  19.  5)  Beitrag  op.  cit.,  S.  70,  73,  77. 
6)  ibid,  S.  73.  7)  Contr.  Soc,  L.  I,  C.  IV. 

11* 


164     Georg  Gurwitsch,  Kant  und  Fichte  als  Rousseau-Interpreten. 

Theorie  der  Menschenrechte,  die  im  Staate  erzeugt  werden  und 
durch  die  Vorherrschaft  der  individuellen  volonte*  gänörale  zur 
Geltung  kommen1).  Fichte  hat  die  individualistische  Grundidee 
des  „Contr.  Soc.a,  die  in  der  Synthese  zwischen  individueller  Frei- 
heit und  Gleichheit  gipfelt,  klar  zum  Vorschein  gebracht,  und  so 
das  Hauptmotiv  des  Rousseauschen  politischen  Denkens  aufgeklärt.  — 
Wenn  wir  jetzt  das  Endresultat  unserer  Ausführungen  zu- 
sammenfassen, so  scheint  uns  bewiesen,  daß  Kant  und  Fichte  tiefe 
und  bedeutungsvolle  Auslegungen  der  Rousseauschen  Theorie 
brachten,  die  in  voller  Übereinstimmung  mit  dem  Texte  der  Werke 
des  Genfers  stehen,  und  als  Wegweiser  zur  weiteren  Rousseau- 
Forschung,  als  unentbehrlich  betrachtet  werden  müssen.  Die  Kant- 
Fichtesche  Interpretation  gibt  die  Möglichkeit,  die  Theorie  Rous- 
seaus,  trotz  aller  scheinbaren  Wiedersprüche,  als  ein  folgerichtiges 
einheitliches  Ganzes  zu  begreifen,  und  ihren  Zusammenhang  mit 
der  Geschichte  des  deutschen  klassischen  Idealismus,  also  ihre 
historische  Bedeutung,  zu  erkennen. 


1)  Siehe  oben  S.  153  Anmerkung. 


Grundbegriffe  der  Rousseauschen 
Staatsphilosophie. 

Von  Privatdozent  Dr.  Siegfried  ÜKarck,  Breslau. 


I. 

Der  Sinn  der  Rousseauschen  Staatsphilosophie  ist  von  jeher 
der  Gegenstand  lebhafter  Streitfragen  gewesen.  In  das  Gewirr 
vulgärer  Auffassungen,  in  denen  Rousseau  bald  als  Staatsabsolutist, 
bald  als  Utilitarist  oder  als  Utopist  anerkannt,  bezw.  bekämpft 
wurde,  hat  erst  die  problemgeschichtliche  Herausarbeitung  kri- 
tischer Motive  bei  Rousseau  vom  Boden  der  neukantianischen 
Rechtsphilosophie  aus  Klarheit  gebracht.  Es  ist  das  Verdienst 
Stammlers,  Haymanns  und  Natorps,  das  Rousseau -Problem  auf 
eine  neue  Grundlage  gestellt  zu  haben.  Sie  überwanden  ins- 
besondere endgültig  die  genetische  Auffassung  des  Gesellschafts- 
vertrages gemäß  dem  klaren  Sinne  der  Rousseauschen  Problem- 
stellung. Trotz  oder  gerade  infolge  dieser  grundlegenden  metho- 
dischen Einstellung  bleibt  die  Analyse  des  Ineinanders  kritischer 
und  dogmatischer  Gedankengänge  bei  Rousseau  stets  aufs  neue  für 
die  problemgeschichtliche  Forschung  anziehend. 

Der  kritische,  nicht  genetische  Sinn  der  Rousseauschen  Frage- 
stellung im  Contrat  social  steht  schon  nach  dessen  Eingangssätzen 
außer  Zweifel.  Eine  spekulative  Hypothese  über  die  Entstehung 
des  staatlichen  Zusammenlebens  zu  geben  lehnt  Rousseau  dort  ab, 
er  stellt  vielmehr  die  quaestio  iuris  des  Staates  in  der  Frage  nach 
der  Vereinbarkeit  des  staatlichen  Zwanges  mit  der  natürlichen 
Freiheit  des  einzelnen.  Der  rechtlich- staatliche  Zwang  soll  geprüft 
und  legitimiert  werden,  jedoch  der  Maßstab  dieser  Rechtfertigung, 
der  Begriff  der  natürlichen  Freiheit,  scheint  die  Möglichkeit  kri- 
tischer Lösung  des  Problems  von  vornherein  dogmatisch  zu  ge- 
fährden.   Scheint  doch  mit  dem  Begriff  der  „natürlichen  Freiheit" 


166  Siegfried  Marck, 

der  spekulative  Gedanke  des  Nat Urzustandes  den  Eckstein  der 
Rousseauschen  Staatsphilosophie  zu  bilden,  auch  wenn  er  nicht 
mehr  als  Ausgangspunkt  für  die  Entstehung  der  Gesellschaft  ver- 
wandt wird.  Auch  die  kritische  Frage  nach  der  Rechtfertigung 
des  Staates  scheint  an  die  ganze  Problematik  des  Naturzustandes 
gebunden.  Die  Abgrenzung  des  Rousseauschen  „Naturzustandes" 
gegenüber  den  möglichen  Bedeutungen  dieses  Begriffes  und  seine 
Beziehung  zur  „natürlichen  Freiheit"  bilden  eine  grundlegende 
Voraussetzung  des  Verständnisses  der  Rousseauschen  Staatsphilo- 
sophie. In  enger  logischer  Verknüpfung  mit  dem  Gedanken  des 
Vertrages  geht  der  Begriff  des  Naturzustandes  durch  die  Staats  - 
Philosophie  und  hat  neben  dem  Sinn  der  Hypothese  bald  die 
Bedeutung  der  Kategorie,  bald  die  der  Fiktion.  Mit  der 
methodischen  Erfassung  des  Gesellschaftsbegriffs  ist  auch  der  Be- 
griff des  Naturzustandes  charakterisiert,  der  den  Gegenbegriff  der 
Gesellschaft  bedeutet.  Bei  einer  genetischen  Ableitung  ist  der 
Begriff  des  Naturzustandes  eine  Hypothese  über  ein  gesellschafts- 
loses Verhalten,  mit  der  die  Grenze  der  gesellschaftlichen  Er- 
fahrung überschritten  wird.  Wo  hingegen  die  Frage  nach  der 
logischen  Möglichkeit  der  Gesellschaft  gestellt  wird  und  ihre  kate- 
gorialen  Bedingungen  aufgewiesen  werden,  hat  auch  der  Begriff 
des  Naturzustandes  kategorialen  Charakter.  Denn  soll  er  einen 
methodischen  Sinn  in  der  transzendentalen  Frage  nach  der  Möglich- 
keit der  Gesellschaft  besitzen,  so  kann  er  dies  nicht  als  deren 
schlechthin  negative  Setzung,  als  der  Gedanke  des  gesellschaft- 
lichen Chaos,  vielmehr  muß  er  den  methodologischen  Ansatzpunkt 
zur  Konstituierung  des  Gesellschaftsbegriffes  bilden.  Der  Natur- 
zustand ist  als  Gegensatz  des  Gesellschaftsbegriffes,  platonisch 
gesprochen,  nicht  das  ovx  ov  sondern  das  fti)  bv  der  Gesellschaft, 
d.  h.  nicht  ihre  schlechthinnige  Negation,  ihr  Nichtsein,  sondern 
ihr  Noch-nicht-sein  als  Ansatzpunkt  ihrer  Konsti- 
tuierung. Der  Begriff  des  Naturzustandes  in  der  Rolle  einer 
Fiktion  tritt  mit  seinem  möglichen  logisch  -  kategorialen  Sinn  auf 
eine  Seite,  während  der  Sinn  der  Hypothese  auf  der  andern  Seite 
steht.  Auch  in  der  Fiktion  wird  im  Gegensatz  zur  genetischen 
Hypothese  über  ein  Faktum  ein  Zustand  mit  schöpferischer  Phan- 
tasie gesetzt,  ein  Naturzustand  „erdichtet".  Soll  die  wissenschaft- 
liche Fiktion  sich  von  willkürlicher  oder  ästhetischer  Phantasie 
unterscheiden,  so  muß  sie  als  wissenschaftspädagogische  Verdeut- 
lichung  eines   auch   unabhängig   von  ihr  geltenden  Begriffes   auf 


Grundbegriffe  der  Rousseauschen  Staatsphilosophie.  167 

diesen  als  ihre  methodische  Grundlage  zurückweisen.  Der  Natur- 
zustand als  Fiktion  kann  also  nur  den  wissenschaftlichen  Sinn 
einer  Veranschaulichung  der  „apriorischen  Vernunftidee"  Natur- 
zustand besitzen,  die  Fiktion  muß  in  jenem  methodologischen  An- 
satzpunkte für  die  Kategorien  der  Gesellschaft  objektive  Fundie- 
rung haben.  Vom  kategorialen  resp.  fiktiven  Sinne  des  Naturzu- 
standes aus  kann  infolge  der  Unabtrennbarkeit  von  Ergebnis  und 
methodischem  Ansatzpunkte  der  Staatsbegriff  einer  Staatsphiloso- 
phie abgelesen  werden. 

So  hat  z.  B.  auch  bei  H  o  b  b  e  s  der  Naturzustand  kategorial- 
fiktive  und  nicht  Hypothesenbedeutung.  Seinem  Naturzustand 
als  Kriegszustand  entspricht  der  auf  bloße  Übermacht  des  Sou- 
veräns gegründete  staatliche  Frieden,  der  Zustand  des  ,Nichtkrieges', 
wie  man  ihn  im  zwischenstaatlichen  Leben  bezeichnet  hat.  In 
formaler  Hinsicht  ist  für  den  B/ousse  au  sehen  Naturzustand 
seine  kategoriale  Bedeutung  festzuhalten,  zu  der  sich  auch  bei 
ihm  Elemente  der  Fiktionsbedeutung  gesellen.  Seinem  materialen 
Sinne  nach  aber  enthält  der  Rousseausche  Naturzustand  ein  über 
den  sonstigen  Gedanken  des  Naturzustandes  hinausgehendes  Ele- 
ment. Eousseaus  ,Natur'  ist  ja  nicht  die  Natur  der  Naturwissen- 
schaft, sein  Naturbegriff  ist  vielmehr  romantisch  nicht  bloß  im 
vulgären,  sondern  im  philosophischen  Sinne  dieses  "Wortes,  insofern 
er  die  Synthesis  zweier  heterogener  Elemente,  eben  der  Natur 
der  Naturwissenschaft  und  der  wahrhaften  Menschlichkeit  oder 
der  Kultur  in  sich  darstellen  will.  Unter  ethischen  Gesichtspunkten 
ist  die  Forderung  der  Naturrückkehr  sowohl  sittlicher  Imperativ 
wie  Streben  zu  leidensfreier  Idylle.  Von  dieser  romantisch  ver- 
klärten Natur  aus,  die  allein  auch  Kultur  ist,  kommt  Rousseau  in 
seiner  sozialphilosophischen  Erstlingsschrift  ,Discours  sur  l'origine 
de  rinegalite"  parmi  les  hommes'  zu  völliger  Ablehnung  der  Ge- 
sellschaft, zu  radikalem  sozialphilosophischem  Pessimismus.  Die 
Gesellschaft  ist  ihm  das  Stadium  des  Abfalls  aus  der  natürlichen 
Vollkommenheit.  Hinsichtlich  dieses  Standpunktes  ist  der  „Contrat 
social"  kritisch  auch  gegenüber  .dem  Naturzustande.  Nicht  mehr 
stimmungsmäßig  verworfen,  sondern  kritisch  gerechtfertigt  soll  der 
Staat  im  Contrat  social  werden.  Seine  Notwendigkeit  gegenüber 
dem  Naturzustande  wird  damit  anerkannt.  Im  Gegensatz  zur 
früheren  idyllischen  Verklärung  der  Natur  werden  Sittlichkeit  und 
Gerechtigkeit  menschlicher  Handlungen  nunmehr  erst  in  den  Über- 
gang zum  bürgerlichen  Zustand  verlegt:    ,Ce  passage  de  T£tat  de 


168  Siegfried  Marck, 

nature  a  Fötat  civile  produit  dans  1'homme  un  changement  tres- 
remarquable,  en  substituant  dans  sa  conduite  la  justice  a  l'instinct, 
et  donnant  ä  ses  actions  la  moraHte"  qui  leur  manquait  aupara- 
vant',1).  Indessen  macht  sich  auch  das  übernaturalistische  Element 
des  Rousseauschen  Naturbegriffs  hier  von  neuem  geltend,  wenn 
die  sittliche  Freiheit  als  natürliche  bezeichnet  wird.  Das  kultur- 
indifferente Moment  des  Naturbegriffs  kommt  in  derjenigen  Fas- 
sung des  Naturzustandes  zum  Ausdruck,  mit  dem  der  bürgerliche 
Zustand  brechen  muß  und  in  dessen  Charakteristik  Rousseau  mit 
Hobbes  verwandte  Züge  aufweist.  Das  Kulturelement  dagegen 
des  Naturbegriffes  erhält  sich  im  Gedanken  der  natürlichen  Frei- 
heit', die  den  Maßstab  für  die  Deduktion  der  bürgerlichen  Ord- 
nung bildet.  In  Rousseaus  Staatsbegriff  spiegelt  sich  also  die 
Doppeldeutigkeit  seines  Naturgedankens:  dem  naturalistisch  ver- 
standenen Naturzustand  entspricht  eine  utilitaristisch-eudämonisti- 
sche  Fassung  des  Begriffs  vom  Sozialverein.  ,Je  suppose  les 
hommes  parvenus  ä  ce  point  ou  les  obstacles  qui  nuisent  a  leur 
conversation  dans  l'e*tat  de  nature  Temportent  par  leur  resistance 
sur  les  forces  que  chaque  individu  peut  employer  pour  se  main- 
tenir  dans  cet  e"tat.  Alors  cet  £tat  primitif  ne  peut  plus  subsister ; 
et  le  genre  humain  perirait  s'il  ne  changeait  sa  maniere  d'etre* 2). 
Diese  Fassung  aber  wird  zurückgedrängt  durch  Rousseaus  ethisch- 
idealistischen Staatsbegriff,  in  dem  der  romantische  Naturbegriff 
durch  Entlassung  seines  idealistisch-kulturellen  Ele- 
ments seinen  Gewinn  trägt.  Hier  erhält  das  ne  libre  den  Sinn 
einer  eingeborenen  sittlichen  Freiheit,  auf  der  die  Menschenwürde 
beruht :  ,Renoncer  ä  sa  libert£,  c'est  renoncer  a  sa  qualite  d'homme, 
aux  droits  de  l'humanit6,  meme  ä  ses  devoirs' 8).  Dieser  Rousseau- 
sche  Freiheitsbegriff  liegt  in  der  Richtung  des  Kantischen  Auto- 
nomiegedankens und  hebt  sich  scharf  ab  von  der  anarchischen 
Willkürfreiheit  des  Hobbesschen  natürlichen  Kriegszustandes.  Die 
anarchische  Freiheit  des  Hobbes  muß  ganz  in  der  bürgerlichen 
Freiheit  verschwinden,  sie  muß  restlos  gegen  die  bürgerliche  Frei- 
heit veräußert  werden.  Rousseaus  natürliche  Freiheit  bleibt  in 
der  bürgerlichen  Freiheit  als  deren  unveräußerlicher  Maßstab,  dem 
jene  zu  genügen  hat,  erhalten.  Diese  Funktion  der  natürlichen 
Freiheit  ist  nicht  nur  von  der  Problematik  des  dogmatischen  Be- 

1)  Du  Contrat  Social  (Petits  Chefs-D'Oeuvre  de  J.-J.  Rousseau,  Paris  1886) 
I,  8  S.  164. 

2)  a.  a.  0.  I,  6  S.  160.  3)  a.  a.  0.  I,  4  S.  156. 


Grundbegriffe  der  Rousseauschen  Staatsphilosophie.  169 

griffs  Naturzustand*  befreit,  sondern  erhebt  sich  auch  über  dessen 
kritische  Fassung  als  Grenzbegriff.  An  die  Stelle  des  Naturzu- 
standes tritt  jetzt  das  Naturrecht,  dessen  Sinn  der  eines 
sittlich-vernünftigen,  eines  ,richtigen*  Rechtes  ist.  Die  natürliche 
Freiheit  des  einzelnen  ist  der  Ausdruck  der  Menschheit  im  Indi- 
viduum, ist  sittlich- vernünftige  Freiheit;  die  Vereinbarkeit  des 
staatlichen  Zwanges  mit  der  natürlichen  Freiheit  bedeutet  die 
Rechtfertigung  jedes  positiven  Rechtes  vor  dem  richtigen  Rechte. 

II. 

Die  Vereinbarkeit  von  Unterordnung  und  natürlicher  Freiheit 
ergibt  sich  für  Rousseau  bekanntlich  durch  die  Möglichkeit  der 
Zurückführung  des  Staates  auf  einen  Urvertrag  als  seine  logische 
Bedingung.  Eine  mit  der  natürlichen  Freiheit  des  einzelnen  ver- 
einbare Autorität  des  Staates  muß  von  den  Unterstellten  freiwillig, 
d.  h.  in  ihrer  Rolle  als  ursprünglich  freie  Kontrahenten  anerkannt 
werden  können.  Der  den  Staat  konstituierende  Vertrag  tritt  in 
parallelen  Bedeutungen  zu  seinem  Gegenbegriff  Naturzustand  auf, 
als  Hypothese,  als  Kategorie  oder  als  Fiktion.  Sofern  der  Ver- 
trag den  aus  der  Sphäre  des  positiven  Rechtes  stammenden  Akt 
bezeichnet,  drängt  sich  bei  ihm  der  fiktive  Charakter  in  den  Vorder- 
grund, demgegenüber  das  Ergebnis  des  Aktes  den  kategorialen 
Sinn  dartellt,  auf  den  die  Fiktion  zurückweist.  Ebenso  wie  im 
Begriff  des  Naturzustandes  spiegeln  sich  im  Vertragsgedanken  die 
verschiedenen  Grundeinstellungen  dem  Staate  gegenüber:  utilita- 
ristische und  idealistische. 

Unter  diesen  Gesichtspunkten  ist  eine  Gegenüberstellung  der 
Rousseauschen  Vertragstheorie  zu  der  des  Hobbes  klärend.  Beiden 
gemeinsam  ist  der  nicht  als  Hypothese  auf  ein  Faktum  zielende, 
sondern  fiktive  Charakter  des  Vertrages,  beide  verbindet  — 
darauf  hat  besonders  Gierke1)  aufmerksam  gemacht  —  gegenüber 
andern  Vertragstheorien  ein  vertragstheoretischer  Monismus.  An 
die  Stelle  der  zwei  Verträge  früherer  Theorien:  1.  Bildung  einer 
Gesellschaft  durch  Vereinigung  (Unionsvertrag)  und  2.  Einsetzung 
einer  staatlichen  Herrschaft  durch  vertragsmäßige  Unterwerfung 
(Subjektions vertrag)  wird  bei  beiden  Denkern  ein  Staatsvertrag 
gesetzt,  nun  aber  mit  dem  grundlegenden  Unterschiede,  daß  Hobbes 
den  Vereinigungsvertrag   im   Herrschaftsvertrage,    Rousseau    den 


1)  Otto  v.  Gierke:  Joh.  Althusius  .  .  .  Breslau  1913. 


170  Siegfried  Marck, 

Herrschaftsvertrag  im  Vereinigungs vertrage  aufhebt.  Bei  Hobbes 
nämlich  schließen  den  fingierten  Vertrag  empirische  Subjekte 
untereinander  zu  Gunsten  eines  Herrschers,  bei  Rousseau  da- 
gegen wird  der  Vertrag  zwischen  den  einzelnen  und  der  Ge- 
samtheit geschlossen.  Dieser  Unterschied  führt  bei  Rousseau 
zu  einer  Umbildung  des  Vertragsgedankens,  der  sich  bei  ihm  in 
demselben  Maße  von  dem  des  Hobbes  entfernt  wie  sein  Begriff 
der  natürlichen  Freiheit  vom  Hobbesschen  Naturzustande.  Bei 
Hobbes  soll  der  fingierte  Vertrag  zwischen  den  empirischen  ego- 
istischen Einzelnen  das  Staatsrecht  begründen,  er  müßte  bereits 
ein  Recht  voraussetzen,  das  mit  dem  Grundsatze  „pacta  sunt  ser- 
vanda u  Verträge  als  bindend  normiert.  Für  den  Hobbesschen  Ver- 
trag gilt,  was  Radbruch1)  in  seiner  geistreichen  Analyse  gegen- 
über dem  Vertragsgedanken  überhaupt  herausarbeiten  will :  soll 
jener  Zirkel  vermieden  werden,  so  muß  hinter  den  Vertrag  auf  das 
ihn  psychologisch  begründende  Vertragsinteresse  der  einzelnen 
an  der  wechselseitigen  Beschränkung  des  Eigentums  als  gesell- 
schaftsfundierend  zurückgegangen  werden.  So  weit  wie  Rousseau 
mit  dem  Hobbesschen  Naturzustand  in  seiner  Staatsphilosophie  ar- 
beitet; weist  auch  sein  Vertragsbegriff  auf  die  Heteronomie  ego- 
istischer Vertragsinteressen.  Bereits  aber  der  Gedanke  eines  Ver- 
trages zwischen  einzelnen  und  der  Gesamtheit  deutet  auf  eine 
Form  des  Vertragsgedankens  hin,  in  der  sich  wiederum  der  Be- 
griff der  natürlichen  Freiheit  geltend  macht  und  die  durch  das 
erwähnte  Zirkelargument  nicht  angreifbar  erscheint.  Rousseaus 
natürlich  freie  Subjekte  stehen  in  keinem  Kriegszustande  mitein- 
ander, der  die  Fiktion  eines  Friedensschlusses  unter  ihnen  recht- 
fertigen könnte.  Einem  sittlich  vernünftigen  Rechte  unterstellt, 
sind  sie  vielmehr  von  vornherein  in  einer  Beziehung  der  Verträg- 
lichkeit*. Denn  die  sittlich  -  vernünftige  Freiheit  des  einen  hat 
keine  mögliche  Interessenkollision  mit  der  Freiheit  des  andern. 
Sie  bilden  von  vornherein  eine  Gesamtheit,  deren  Bedingung  das 
Vernunftrecht  als  das  ,Zusammenbestehen  der  Freiheit  eines  jeden 
mit  der  des  andern',  kantisch  geredet,  ist.  Mit  der  Umwandlung 
des  Begriffs  Naturzustand*  in  den  eines  Natur  rechtes  (Vernunft- 
rechtes) erhält  auch  der  Begriff  des  Vertrages  die  bloße  Funktion 
einer  Symbolisierung  vernunftrechtlicher  Beziehungen. 
Der  Rousseausche  Vertrag   setzt  im  Gegensatz   zu  dem  zwischen 


1)  Gustav  Radbruch:  Grundzüge  der  Rechtsphilosophie.    Leipzig  1914. 


Grundbegriffe  der  Rousseauschen  Staatsphilosophie.  171 

empirischen  Subjekten  kein  höheres  ,Natur'-Recht  über  sich  voraus, 
weil  er  selbst  das  ,Naturrecht'  definiert,  das  jedem  positiven  Recht 
als  logische  Bedingung  vorangeht.  Er  wird  nicht  im  Naturzustand', 
sondern  innerhalb  des  Naturrechtes  geschlossen.  Damit  aber  tritt 
der  fiktive  Vertrags  Schluß  zu  Gunsten  des  rein  logischen  Ver- 
tragsresultates im  Sinne  des  Sichvertragens  oder  der  Vereinbar- 
keit der  vernünftigen  Freiheit  des  einen  mit  der  des  andern  als 
Bedingung  staatlicher  Ordnung  immer  mehr  zurück.  Auch  der 
Vertrag  wird  wie  die  natürliche  Freiheit  zum  vernunftrechtlichen 
Maßstabe  des  positiven  Rechts.  Die  Bürger  eines  Staates  stehen 
zueinander  in  dem  wechselseitigen  Verhältnis,  das  durch  den  Ge- 
danken des  Ur Vertrages  adäquat  symbolisiert  wird.  Es  hat  auch 
nur  fiktive  Bedeutung,  wenn  von  dem  Vertragsschluß  zwischen 
den  einzelnen  und  einer  Gesamtheit  gesprochen  wird,  vielmehr 
stellen  die  einzelnen  kraft  der  zwischen  ihnen  waltenden  Bezie- 
hungen von  vornherein  eine  Gesamtheit  dar.  Der  endgültige  Sinn 
des  Vertragssymboles  spricht  nur  die  reine  Idee  einer  Rechtsord- 
nung aus,  den  Gedanken  des  Vernunfrechtes  als  Bedingung  jedes 
empirisch-positiven  Rechtes.  Von  den  natürlichen  Subjekten  aber 
fordert  die  naturrechtliche  Freiheit  Unterordnung,  die  Gesamtheit 
der  einzelnen  hat  sich  der  reinen  Idee  der  ,Rechtsgemeinschaftf 
als  ihrer  Bedingung  zu  unterstellen.  So  bedeutet  für  die  empiri- 
schen Subjekte  der  Gedanke  des  Rechts  die  Unterordnung  eines 
jeden  unter  die  Idee  der  eigenen  Freiheit,  damit  unter  die  Frei- 
heit der  andern  und  durch  sie  unter  die  Freiheit  der  Gesamheit. 
In  Rousseaus  Sprache:  der  Untertan  in  jedem  Bürger  wird  frei 
durch  seine  Unterordnung  unter  sich  selbst  und  den  andern  als 
Souverän  und  dadurch  unter  die  Souveränität  der  Gesamtheit. 

Von  dem  richtig  verstandenen  Sinne  des  Urvertrags  aus  kann 
die  aus  ihm  resultierende  Rousseau  sehe  volonte*  g^närale  nunmehr 
als  die  reine  und  allgemeingültige  Idee  des  Staates 
bezeichnet  werden.  Rousseaus  allgemeiner  Wille  ist  der  allge- 
mein gültige  und  richtige  Wille  der  Rechtsordnung.  Die  volonte" 
gön^rale  bedeutet  den  Inbegriff  von  Normen,  die  in  der  Idee  der 
Rechtsordnung  gesetzt  sind,  sie  ist  der  Ausdruck  für  die  in  der 
rechtlichen  Ordnung  geforderte  Zusammenfassung  freier  Persön- 
lichkeiten zu  einer  ob j  ektiv- notwendigen  Gesamtheit.  Volonte 
gön^rale  ist  Gesamtheitswille  überhaupt  als  Form  jedes  em- 
pirischen Gesamtheitswillens,  ist  nur  in  demselben  Sinne  , Wille', 
wie  das  erkenntnistheoretische  Bewußtsein  überhaupt   Bewußtsein 


172  Siegfried  Marck, 

ist.  Ein  Staatsbewußtsein  überhaupt  konstituiert  jener  Begriff 
der  Gesamtheit  als  Träger  der  normativen  Bedingungen,  die  einen 
empirischen  Staat  erst  möglich  machen.  Nicht  empirische  einzelne 
waren  die  Kontrahenten  des  Rousseauschen  ;Ur Vertrages ,  sondern 
die  frei,.geborenena  Individuen  sind  von  vornherein  als  Rechtssub- 
jekte zu  denken.  Als  ihr  Inbegriff  faßt  die  volonte*  g6ne"rale  sie 
zur  Gesamtheit  zusammen  als  den  reinen  Begriff  des  Staates  stellt 
sie  damit  die  reine  Idee  der  Souveränität  dar.  Der  allgemein- 
gültige Gesamtwille  ist  seinem  Begriffe  nach  stets  richtig  und 
kann  nicht  irren.  In  Rousseaus  Satze:  ,Der  Souverän  ist  immer 
was  er  sein  soll'  ist  daher  die  Definition  des  objektiven  Normcha- 
rakters der  volonte  generale  gegeben.  Zweifel  an  der  Richtigkeit 
der  Souveränitätsidee  wäre  eine  staatsphilosophische  Parallele  zum 
logischen  Zweifel  am  Begriffe  der  Wahrheit  oder  mit  einem  reli- 
gionsphilosophischen Vergleich:  eine  Spannung  zwischen  Sein  und 
Sollen  kann  es  bei  der  volonte*  generale  ebensowenig  geben  wie 
in  einem  göttlichen  Willen.  Die  unbedingte  Geltung  der  Idee  der 
volonte*  g£n£rale  ist  nicht  gleichbedeutend  mit  dem  positiv  staats- 
rechtlichen Satze:  ,Der  König  kann  nicht  Unrecht  haben'  oder 
mit  der  Formel  der  Volkssouveränität:  ,Das  Volk  kann  nicht 
irren'.  Denn  in  der  volonte*  generale  handelt  es  sich  eben  nicht 
um  den  Souverän  im  Sinne  eines  positiven  Rechtes,  sondern  um 
die  reine  regulative  Idee  der  Souveränität,  nicht  um  einen  tat- 
sächlichen Gesetzgeber  im  Staate,  sondern  um  den  Begriff  des 
Staates  überhaupt.  Rousseau  hat  zwar  den  Terminus  volonte*  ge- 
nerale ebenso  für  die  allgemeingültige  Idee  der  Souveränität  als 
Form  jeder  empirischen  wie  für  den  empirischen  Souverän'  selbst 
verwandt,  dem  Sinne  des  Zusammenhangs  nach  hat  er  jedoch  die 
volonte  generale  als  Souveränität  im  Sinne  des  richtigen  Rechtes 
erfaßt  und  sie  als  Bedingung  positiv-rechtlicher  Souveränität  er- 
kannt. Nach  dem  Recht  oder  Unrecht  eines  empirischen  Souveräns 
kann  überhaupt  erst  unter  der  Voraussetzung  und  im  Namen  des 
allgemeingültigen  Maßstabes  der  reinen  Souveränität  gefragt  werden. 
Die  Deduktion  eines  Souveräns  im  Sinne  des  positiven  Staatsrechts 
ist  eine  weitere  Aufgabe,  die  sich  der  Rousseauschen  Staatsphilo- 
sophie stellt  und  die  den  Begriff  der  volonte  g£n6rale  zur  Vor- 
aussetzung hat. 

III. 
Ehe   Rousseaus    Versuch    einer   Deduktion    auch    des   positiv 
rechtlichen  Souveräns  in  der  Lehre  von  der  Volks  Souveränität  be- 


Grundzüge  der  Rousseauschen  Staatsphilosophie.  173 

trachtet  wird,  sei  die  Problematik  der  Beziehung  seiner  Idee  des 
Rechts  zum  positiven  Recht  angedeutet.  Es  ist  oft  auf  Rousseaus 
theoretischen  Radikalismus  hingewiesen  worden,  der  schlechthin 
kein  positives  Recht  und  keinen  empirischen  Staat  als  solche  an- 
erkennt, in  denen  die  Bedingungen  des  Urvertrages  nicht  erfüllt 
sind.  Ein  Recht  der  Sklaverei  etwa  enthält  nach  Rousseau  einen 
logischen  Widerspruch  und  kann  daher  niemals  als  Recht  bezeichnet 
werden,  auch  wenn  es  tatsächlich  in  Geltung  gestanden  hat;  gegen- 
über dem  französischen  Staate  des  ancien  regime,  der  für  Rousseau 
nicht  der  Idee  des  Staates  entspricht,  bedeutet  die  Revolution 
keinen  Rechtsbruch.  Gegen  diesen  Radikalismas  Rousseaus  haben 
sich  von  jeher  die  Angriffe  des  positiven  Rechts  gerichtet.  Auch 
der  Vertreter  der  kritizistischen  Rousseau- Auffassung  Haymann1) 
hat  zwar  in  seiner  Darstellung  Rousseaus  mit  aller  Schärfe  den 
Anspruch  des  Contrat  social  nicht  ein  bloßes  Ideal  von  Recht  und 
Staat,  sondern  in  der  Rechtsidee  zugleich  die  Kategorien  jedes 
Rechtsstaates  darzustellen,  hervorgehoben,  in  seiner  Kritik  Rous- 
seaus hat  er  jedoch  diesen  Anspruch  abgewiesen  und  die  Rousseau- 
sche  Staatstheorie  doch  nur  auf  die  Rolle  einer  regulativen  Idee 
für  den  Staat  beschränken  wollen.  Demgegenüber  ist  die  logische 
Eigenart  des  zur  praktischen  Philosophie  gehörenden  Geltungsge- 
bietes ,Recht'  hervorzuheben,  der  gemäß  die  regulative  Idee  hier 
zugleich  die  Funktion  einer  konstitutiven  Bedingung  besitzt.  Wie 
in  aller  praktischen  Philosophie  tritt  die  Bedingung  seiner  Ob- 
jektivität hier  in  der  Eorm  der  Forderung  auf,  deren  ,Erfüllung' 
allein  in  der  Annäherung  an  diese  Forderung,  in  der  ,Richtung' 
nach  ihr  hin  gelegen  ist.  So  gewiß  also  die  Idee  des  nichtigen' 
Rechts  lediglich  eine  ,Richtung'  in  der  Satzung  des  Rechts  be- 
deutet, so  gewiß  ist  Rousseaus  Anspruch,  in  seinem  regulativen 
Begriffe  der  volonte*  generale  zugleich  die  konstitutive  Form  jedes 
empirischen  Gesamtwillens  aufzustellen,  gerechtfertigt.  Ein  dar- 
über hinausgehender  Versuch  der  Deduktion  bestimmter  Rechts- 
inhalte aus  der  allgemeingültigen  Rechtsidee  ist  geradezu  als 
Widerspruch  zum  regulativen  Prinzip  unmöglich.  Der  Gedanke 
des  Urvertrages  vermag  nur  seiner  Idee  widersprechende  Rechts- 
inhalte wie  in  der  Tat  ein  Recht  der  Sklaverei  auszuschalten,  nicht 
anzugeben,  welche  Inhalte  des  positiven  Rechts  der  richtigen  Rechts- 
idee adäquat  sind.    Es   ist  ein  positivistischer  Begriff  des  Rechts, 


1)  Franz  Haymann:  J.-J.  Rousseaus  Staatsphilosophie.    Leipzig  1898. 


174  Siegfried  Marck, 

nicht  der  Begriff  des  positiven  Rechts,  von  dem  aus  Haymann  zur 
restlosen  Identifikation  der  Geltungsart  des  positiven  Rechtes  mit 
seinem  tatsächlichen  Beobachtetwerden  und  zur  Ablehnung  des  Rous- 
seauschen  Anspruches  gelangt.  Dieser  Positivismus  reißt  positives 
Recht  und  richtiges  Recht  vollständig  auseinander.  Bei  seiner 
konsequenten  Durchführung  kann  auch  von  keiner  regulativen 
Rolle  des  richtigen  Rechtes  mehr  die  Rede  sein,  auch  für  dessen 
regulative  Funktion  müssen  Recht  und  positives  Recht  unter  dem 
gemeinsamen  Begriffe  ,Recht'  zusammengefaßt  werden  können.  Dies 
ist  nicht  möglich,  wenn  die  Geltungsart  des  positiven  Rechtes  ganz 
alogische  Geltung  ist,  vielmehr  muß  zur  Zusammenfaßbarkeit  des 
positiven  und  des  richtigen  Rechtes  im  positiven  Recht  die  Gel- 
tungsart des  richtigen  Rechtes  inbegriffen  sein.  Und  in  der  Tat 
verbinden  sich  in  der  Geltungsweise  des  positiven  Rechtes  der 
Paktor  der  Durchsetzbarkeit,  des  Sich-Geltung-verschaffen-könnens 
mit  dem  rechtslogischen  Geltungsbegriff,  wie  er  im  richtigen  Recht 
in  Reinheit  zum  Ausdruck  kommt.  Einem  empiristischen  Begriffe 
des  positiven  Rechtes  stände  das  Ideal  eines  guten  Rechts  nicht 
einmal  als  Vernunftidee,  sondern  als  Schöpfung  willkürlicher  Phan- 
tasie gegenüber1). 

IV. 
Aus  der  vom  Urvertrag  gewonnenen  Idee  der  volonte"  gene- 
rale sucht  Rousseau  den  Souverän  des  positiven  Staatsrechts,  den 
Träger  der  Hoheit  des  empirischen  Staates,  zu  deduzieren.  Dieser 
Souverän  im  Staate  ist  das  Volk  und  Rousseaus  Lehre  die  konse- 
quenteste Durchbildung  des  alten  Gedankens  der  Volkssouveränität. 
Das  souveräne  Volk  ist  der  empirische  Träger  der  reinen 
Staatssouveränität,  der  trotz  der  Gleichsetzung  mit  der  volonte 
generale,  wie  sie  aus  manchen  Wendungen  hervorzugehen  scheint, 


1)  Dieser  Gesichtspunkt  zur  Verteidigung  der  konstitutiven  Bolle  des  Rechts- 
ideals  bei  Rousseau  gilt  auch  gegenüber  Stammlers  Einwand  gegen  ihn,  daß  er 
die  drei  zu  trennenden  Fragen  der  Rechtsphilosophie  1.  was  ist  Recht?  2.  worauf 
beruht  die  Verbindlichkeit  des  Rechts?  und  3.  was  ist  das  richtige  Recht?  in 
einer  Problemstellung  und  -Lösung  zusammenfasse.  Ohne  in  diesem  Zusammen- 
hange auf  diese  letzten  rechtsphilosophischen  Fragen  eingehen  zu  können,  sei 
auf  die  Unablösbarkeit  des  formalen  Rechtsbegriffs,  auf  den  Stammlers  erste  Frage 
antworten  will,  von  dem  Geltungsbegriff  der  zweiten  Frage  hingewiesen  und  auf 
die  Unmöglichkeit  im  formalen  Rechtsbegriffe  etwas  der  Idee  des  richtigen  Rechtes, 
dem  Gegenstand  der  dritten  Frage,  Widersprechendes  zu  setzen.  (Rudolf  Stammler : 
Die  Lehre  von  dem  richtigen  Rechte.    Berlin  1902.    3.  Abschn.,  IV). 


Grundbegriffe  der  Kousseauschen  Staatsphilosophie.  175 

im  Zusammenhange  des  Rousseauschen  Denkens  von  dieser  be- 
grifflich zu  trennen  ist.  Denn  von  der  volonte  generale  wird  mit 
Eecht  ihre  schlechthinnige  Unfehlbarkeit  behauptet,  vom  Volke 
jedoch  heißt  es,  daß  es  zwar  stets  den  richtigen  Willen  besitzt, 
daß  ihm  die  Einsicht  aber  in  seinen  eigenen  Willen  infolge  Irre- 
führung mangeln  kann.  Dem  Volke  steht  als  alleinigem,  unteil- 
barem und  unveräußerlichem  Souverän  die  stets  direkt,  nicht  durch 
Repräsentation  auszuübende  Funktion  der  Gesetzgebung  zu.  Volks- 
souveränität und  ihre  Darstellung  in  der  gesetzgebenden  Gewalt 
—  und  nur  in  dieser  —  werden  von  Rousseau  direkt  aus  der  Idee 
der  volonte  generale  herzuleiten  gesucht.  Es  handelt  sich,  in 
Rousseaus  Lehre  von  der  Volkssouveränität  um  den  Versuch  einer 
Deduktion  der  Republik.  Bei  seiner  scharfen  Trennung  von 
Souveränität  und  Regierung  braucht  diese  durchaus  nicht  mit  de- 
mokratischer Republik  zusammenzufallen,  sondern  sie  kann  auch 
aristokratische,  ja  auch  Republik  mit  monarchischer'  Spitze,  d.  h. 
alleiniger  Exekutivgewalt  eines  Präsidenten,  sein.  Diese  auch  von 
Kants  Autorität  gestützte  Deduktion  der  republikanischen  Staats- 
form muß  —  soweit  der  rationalistische  Standpunkt  der  Vernunft- 
deduktion gegenüber  der  Staatsform,  (nicht  der  Regierungsform) 
den  Rousseau  mit  Energie  vertritt,  anzuerkennen  ist  —  als  geglückt 
bezeichnet  werden.  Volonte*  g£n£rale  —  das  ist  der  Nerv  der  De- 
duktion —  bedeutet  rechtlich-staatliche  Allgemeingültigkeit.  Sie 
ist  aufs  deutlichste  geschieden  von  der  volonte*  de  tous  als  der 
Summe  der  nicht-staatsbürgerlichen  Partikularwillen.  Eun  ist  zwar 
das  allen  Einzelwillen  logisch  vorangehende  apriori  in  seiner  All- 
gemeingültigkeit und  seinem  Charakter  als  Kategorie  niemals  durch 
ein  induktives  Abstraktionsverfahren  aus  den  noch  ungeformten 
Sonderwillen  zu  gewinnen,  dennoch  aber  schließt  die  Allgemeingültig- 
keit des  Staatswillens  die  Allheit  der  nun  nicht  mehr  partikulären 
sondern  staatsbürgerlichen  Willen  in  sich  ein.  M.  a.  W.  : 
die  kategoriale  Allgemeinheit  oder  Allgemeingültigkeit  der  volonte 
generale  ist  stets  bezogen  auf  die  quantitative  Allgemeinheit 
oder  Allheit  der  einzelnen  staatsbürgerlichen  Willen.  Auch  hier 
gilt  das  Wort  aus  Riehls  Kritizismus,  daß  Verallgemeinerung  nicht 
zur  Allgemeingültigkeit,  Allgemeingültigkeit  aber  zur  Allgemein- 
heit führt.  Ein  empirischer  Gesamtheitswille  kann  nur  dort 
anerkannt  werden,  wo  die  Allheit  der  citoyens  in  der  Bildung  des 
Gesamtwillens  zum  Ausdruck  gelangt,  jeder  Staatsbürger  an  der 
Gesetzgebung  in  gleicher  Weise  Anteil  erhält.    Anders  gewendet: 


176  Siegfried  Marck, 

der  positiv  rechtliche  Träger  der  Staatssouveränität  oder  die  Idee 
der  Rechtsgesamtheit  kann  nur  die  empirische  Gesamtheit,  das 
Volk,  sein.  Ein  Akt  der  Souveränität  ist  ein  Beschluß  der  Ge- 
samtheit über  die  Gesamtheit,  denn  auch  der  Gegenstand  des  An- 
spruch auf  Allgemeingültigkeit  erhebenden  Gesetzes  muß  allgemein 
sein,  muß  die  Gesamtheit  betreffen.  Kein  formeller  Ausschluß 
eines  Staatsbürgers  bei  dem  Zustandekommen  des  Gesetzes  und 
kein  formeller  Ausschluß  eines  Staatsbürgers  durch  das  Gesetz 
ist  möglich,  keine  Entrechtung  eines  Trägers  der  Gesetzgebung 
(souverain),  kein  Ausnahmegesetz  gegen  ein  Objekt  der  Gesetzge- 
bung (sujet).  Ein  antirepublikanischer  Denker  wie  Gierke  hat  sich 
der  zwingenden  Kraft  der  Idee  der  Volkssouvränität  durch  die 
metaphysische  Idee  einer  realen  Staatspersönlichkeit  zu  entziehen 
gesucht.  Die  Unterscheidung  von  Staatssouveränität  und  Organ- 
souveränität ist  für  diesen  Denker  nicht  die  logische  der  regula- 
tiven zum  richtigen  Recht  gehörenden  Idee  des  Staates  von  dem 
positiv  rechtlichen  Staate  und  seiner  gesetzgebenden  Gewalt,  viel- 
mehr ist  die  „lebendige"  Staatspersönlichkeit  durch  die  Organe  der 
Souveränität  stets  auch  in  der  empirischen  Gesetzgebung  wirksam. 
Man  kann  bei  dieser  Theorie  allerdings  der  Konsequenz  einer  po- 
sitiv rechtlichen  Gesetzgebung  durch  die  empirische  Gesamtheit 
ausweichen,  kann  den  positiv  rechtlichen  Souverän  in  die  zwei  Or- 
gane des  Monarchen  und  des  Volkes  zerlegen,  die  bei  Wahrung 
der  Einheit  der  Souveränität  gleichsam  zu  den  zwei  Attributen 
der  Einen  Staatssubstanz  werden  —  damit  aber  ist  der  kritisch- 
regulative Sinn  des  Begriffs  Staatssouveränität  völlig  verloren  ge- 
gangen. 

Mit  der  Einführung  der  Volkssouveränität  sind '  jedoch  die 
Schwierigkeiten  einer  der  Idee  der  volonte  generale  adäquaten 
Gesetzgebung  für  Rousseau  noch  keineswegs  erschöpft.  Das  Volk 
ist  als  empirischer  Träger  der  Souveränität  gefunden,  nunmehr 
aber  gilt  es  den  Volkswillen  selbst  aus  den  empirischen  Einzel- 
willen zu  konstruieren.  Diese  bleiben  der  irrationale  Rest  der 
Analyse,  ihr  Egoismus  das  spröde  Material,  in  dem  der  empirische 
Gesetzgeber  arbeiten  muß  und  auf  das  auch  die  staatsphilosophi- 
sche Konstruktion  zuletzt  stößt.  Jedes  Gesetz  ist  eine  Willens- 
kundgebung des  souveränen  Volkes,  aber  wie  unterscheidet  sich 
das  Volk  unverwechselbar  von  einer  heterogenen  Masse?  Wie 
ist  die  empirische  Gesamtheit,  die  der  reinen  Rechtsidee  der  Ge- 
samtheit zwar  nie  adäquat  sein  kann,  aber  sich  ihr  annähern  soll. 


Grundbegriffe  der  Rousseauschen  Staatsphilosophie.  177 

aus  den  zerstreuten  Einzelwillen  zu  gewinnen?  Wenn  das  Volk 
spricht,  kommt  ein  Gesetz  zu  stände,  wie  aber  löst  man  dieser 
von  der  Hobbesschen  multitudo  zu  unterscheidenden  juristischen 
Person  des  , Volkes4  die  Zunge?  Welches  Abstimmungsverfahren 
garantiert,  daß  das  Volk  gesprochen  hat?  Die  formale  Forderung 
einer  Abstimmung  aller  Staatsbürger  garantiert  nicht  den  Inhalt 
des  Volks  willens  als  Resultat  der  Abstimmung.  Das  souveräne 
Volk  mag  nunmehr  im  Sinne  des  positiven,  nicht  des  richtigen 
Staatsrechtes  niemals  irren,  wohl  aber  können  die  Abstimmenden 
oder  eine  Gruppe  von  ihnen  sich  irrtümlich  als  ,Volk*  ausgeben. 
Kein  Verfahren  scheint  zu  garantieren,  daß  sich  in  der  Abstimmung 
tatsächlich  das  Volk  dargestellt  hat.*  Für  die  Technik  der  positiven 
Gesetzgebung  stellt  vielmehr  der  Begriff  des  Volkes  ebenso  ein 
regulatives  Prinzip  dar  wie  die  volonte*  generale  für  den  Begriff 
des  positiven  Rechtes.  Auch  beim  Übergang  von  der  Volkssou- 
veränität zum  Majoritätsprinzip  kann  es  immer  nur  eine  an- 
nähernde Lösung  geben.  Rousseau  hat  den  Blick  für  die  Schwierig- 
keiten dieses  Überganges,  er  umgibt  die  Methode  der  Abstimmung 
und  das  Majoritätsprinzip  mit  einer  Reihe  staatsrechtlicher  Kau- 
telen,  und  diese  hätten  ihn  gegen  den  Vorwurf  schützen  sollen, 
theoretischer  Vertreter  eines  Majoritätsdespotismus  zu  sein,  der 
den  kritischen  Unterschied  von  volonte*  generale  und  volonte  de 
tous  nivelliere.  Neben  unkritischen  und  unvollziehbaren  Begriffen 
wie  dem  eines  Durchschnittswillens  aus  der  Summa  differenter 
Einzelwillen  steht  sein  großartiger  Versuch  die  Abstimmung  als 
staatsrechtliches  Experiment  zu  denken,  d.  h.  im  präzisen  Sinne 
als  Antwort]  auf  eine  richtig  gestellte  Frage  nach  dem  Gesamt- 
willen zu  fassen.  Dieses  Experiment  will  er  von  einem  Auspro- 
bieren des  Kräfteverhältnisses  der  partikularen  Willen  scharf  ge- 
trennt sehen.  Von  jedem  Abstimmenden  fordert  der  Staatsgedanke, 
daß  er  restlos  auf  die  ihm  vorgelegte  Frage  nach  dem  Staatsin- 
teresse, daß  er  als  Staatsbürger  antworte.  Die  Stimme  des  Sonder- 
interesses müßte  nach  dem  regulativen  Sinne  der  Abstimmung  aus- 
geschaltet werden.  Eine  praktisch-technische  Handhabe  zur  Kon- 
struktion eines  Volks  willens  vermögen  diese  vernunftrechtlichen 
Forderungen  natürlich  in  keiner  Weise  zu  bieten,  sie  können  nur 
als  regulative  Idee  den  abstimmenden  Staatsbürger  leiten ,  als 
Staatsbürger  zu  stimmen,  d.  h.  an  das  Gemeinwohl  zu  denken. 
Stammler  hat  gegenüber  diesem  letzten  Begriffe  und  seiner  eu- 
dämonis tischen  Mißdeutung  mit  Recht  das  Motiv  des  sozialen  Ideals 

Kantstudien.  XXYIL  12 


178    Siegfried  Marck,  Grundbegriffe  d.  Rousseauschen  Staatsphilosophie. 

in  ihm  hervorgehoben.  Anf  tatsächliche  Abstimmungsergebnisse  ange- 
wandt, hat  die  Auffassung  der  Abstimmung  als  methodisch  einwand- 
freies staatsrechtliches  Experiment  nur  den  Wert  einer  Fiktion, 
ebenso  wie  die  Geltung  des  Willens  der  Majorität  als  Wille  der  Ge- 
samtheit nur  eine  Fiktion,  und  zwar  eine  Fiktion  niederer  Stufe  be- 
deutet, die  nur  in  technischen,  nicht  mehr  in  rechtlichen  Gesichts- 
punkten fundiert  ist.  Die  Inhalte  des  empirischen  Gesamtwillens 
und  das  zu  ihrer  Feststellung  unumgängliche  Majoritätsprinzip 
bilden  so  die  eigentliche  Grenze,  bis  zu  der  eine  unter  dem  Ge- 
sichtspunkte des  richtigen  Rechts  stehende  staatsphilosophische 
Analyse  im  Sinne  Rousseaus  überhaupt  vordringen  kann.  Positive 
Gesetzesinhalte  kann  solche  Analyse  niemals  als  richtig  kenn- 
zeichnen, nur  durch  Aufstellung  formal-regulativer  Prinzipien  das 
negative  Kriterium  für  rechtswidrige  darstellen.  Positives  Recht 
und  historische  Staaten  kann  die  Rechts-  und  Staatsphilosophie, 
auch  wenn  sie  so  weit  wie  bei  Rousseau  vordringt,  nicht  dedu- 
zieren, und  ihre  regulativen  Vernunftprinzipien  bilden  daher  auch 
kein  Prinzip  der  historischen  Betrachtung  von  Staat  und  Recht. 
Die  Bildung  der  Inhalte  des  Gesamtwillens  und  damit  des  positiven 
Rechts  erfolgt  in  politischen  Macht-  und  Wirtschaftskämpfen.  Diese 
zu  erkennen  überläßt  die  Staatsphilosophie  der  Geschichte.  Eine 
Theorie  für  die  historische  Entstehung  von  Recht  und  Staat,  für  das 
tatsächliche  Herausringen  eines  Gesamtheitswillens  aus  den  Kämpfen 
der  Individuen,  Parteien  und  Klassen  bildet  die  eigentümliche 
Schranke  der  Staatsphilosophie  in  ihrer  Problemstellung.  An  dem 
Punkte,  an  dem  die  Rolle  der  ,  Wirtschaft'  gegenüber  dem  ,Recht' 
einsetzt  und  mit  ihr  die  praktische  gegenüber  der  ,richtigen'  Po- 
litik muß  Rousseaus  philosophische  Lehre  vom  Staate  wie  jede 
andre  Halt  machen. 


Zur  „Antinomie  im  Problem  der 
Gültigkeit". 

Von  E.  v.  Aster,  Gießen. 


Der  Berliner  Philosoph  Paul  Hof  mann  hat   seinem   großen 
Werk  über    „die   antithetische  Struktur   des  Bewußtseins "  (Berlin 
1914)  eine  kurze  erkenntnistheoretische  Skizze  folgen  lassen  („Die 
Antinomie  im  Problem   der  Gültigkeit.     Eine   kritische 
Voruntersuchung  zur  Erkenntnistheorie".    Berlin  1921.    77  S.),  die 
dieselbe  Grundtendenz  wie  das  größere  Buch  verfolgt,  die  erkenntnis- 
theoretische Einstellung  aber  deutlicher  hervortreten  läßt.    Hof- 
mann macht  einen  Versuch,  von  dem  man  voraussehen  konnte,  daß 
er  einmal  gemacht  werden  würde:    er    sucht   den  Gegensatz   von 
„Logismus"    und  „Psychologismus"    in   der   modernen  Erkenntnis- 
theorie   als   eine  unauflösbare]  Antinomie,   die   im  Wesen  der  Er- 
kenntnis gründet  und  ihren  zwei  Seiten  entspricht,  darzustellen. 
Es  ist   der  Gegensatz   zweier  prinzipiell  gleichberechter  Weltan- 
schauungsmotive (Objektivismus  und  Subjektivismus),  der  sich  darin 
äußert,  daß  man  die  eine  oder  die  andre  Seite  zum  Ausgangspunkt 
wählt,   jeder  ist  an  sich  berechtigt  und  möglich,   aber  von  keinem 
beider  Standpunkte  aus  ist  es  möglich,  den  andern  zu  widerlegen. 
Durch  den  Kampf  zwischen  Rationalismus  und  Empirismus  wurde 
die  vor-Kantische  Metaphysik  zerstört,   Kant  glaubte  in  der  „Er- 
kenntnistheorie"   einen    Inbegriff    streng  und    allgemein   giltiger, 
wissenschaftlich  beweisbarer  Gedanken,  wenn  auch  ohne  metaphy- 
sische Brauchbarkeit,    aus    dem   Zusammenbruch   der   Metaphysik 
retten  zu  können.     Nun  tritt    derselbe  Gegensatz,    der   die  Meta- 
physik als  Wissenschaft  zerstörte,  in  der  Erkenntnistheorie  wieder 
zu  Tage.     Philosophie   ist  ohne  „Weltanschauung"    nicht   möglich, 
in  Dingen  der  Weltanschauung  aber  gibt  es  von  Anfang  verschie- 
dene Möglichkeiten,    zwischen   denen  nicht  mehr   wissenschaftlich 
entschieden  werden  kann,  zwischen  denen  man  „wählen"  muß.   Zur 

12* 


180  E.  v.  Aster, 

Philosophie  in  diesem  Sinne  gehört  nicht  nur  Metaphysik,  sondern 
auch  Erkenntnistheorie,  deren  letzte  Gegensätze  daher  nicht  ent- 
schieden, sondern  nur  verstanden  werden  können.  Nicht  rein 
historisch  verstanden,  als  Produkte  geschichtlicher  Bedingungen, 
sondern  durch  Herausarbeitung  der  hier  letzt-möglichen  Typen 
und  ihrer  gedanklichen  und  außergedanklichen  Motive.  Es  ist 
der  Geist  Wilhelm  Diltheys,  der  in  dieser  Auffassung  der  Phi- 
losophie und  ihrer  Geschichte  erkennbar  wird. 

Der  „Logismus",  wie  ihn  Hofmann  faßt,  setzt  das  Bestehen 
einer  (schaubaren  oder  denkbaren)  absoluten  Wahrheit  jenseits 
von  Raum,  Zeit  und  Individuum  voraus;  alles  „Sein"  ist  für  ihn 
abhängig  von  dieser  Idee  der  Wahrheit,  ihrem  Bestehen,  ihrer 
Gültigkeit,  denn  „sein"  bedeutet:  in  einem  gültigen  Existential- 
urteil  gesetzt  sein.  Der  „Psychologismus"  erklärt  umgekehrt  die 
Wahrheit  als  eine  Beziehung  zwischen  Seiendem,  als  Übereinstim- 
mung von  Denkinhalten  und  realen  Dingen,  oder,  im  Phänomena- 
lismus, von  Bewußtseinsinhalten  miteinander  (Erwartungen  und 
Wahrnehmungen)  und  behauptet  daher,  daß  es  nur  eine  relative, 
von  wechselndem  Seiendem  abhängige  Wahrheit  gebe:  Die  Anti- 
nomie ist  unauflöslich,  weil  es  gleich  berechtigt  und  gleich  unver- 
meidlich ist,  das  Sein  als  Setzung  des  Bewußtseins  und  daher  den 
Begriff  des  Seins  nur  sinnvoll  als  Inhalt  einer  gültigen  Erkenntnis 
aufzufassen,  wie  umgekehrt  Erkenntnis  als  existenten  Denkakt  an- 
zusehen. 

Es  sei  mir  nun  im  Folgenden  gestattet,  diesen  Ausführungen 
Hofmanns  einige  kurze  kritische  Bemerkungen  hinzuzufügend  Es 
geschieht  das  zugleich  in  Verteidigung  des  eignen  Standpunktes, 
da  H.  mich  gelegentlich  als  Vertreter  des  „Psychologismus"  phä- 
nomenalistischer  Richtung  nennt.  (Ob  diese  Bezeichnung  für 
mich  und  für  H.  Cornelius,  als  dessen  Schüler  ich  mich  fühle,  in 
jeder  Hinsicht  zutrifft,  ist  eine  Frage  untergeordneterer  Bedeutung). 

H.  gebraucht  bezeichnender  Weise  die  beiden  Begriffe  „Be- 
wußtsein" und  „Erkenntnis"  als  gleichbedeutend;  so  können 
wir  seiner  Meinung  nach  wie  bei  der  Erkenntnis  so  beim  Bewußt- 
sein nicht  nur  in  Worten,  sondern  in  der  Sache  zwischen  der  Er- 
kenntnis und  dem  was  erkannt  wurde,  scheiden.  Hier  hätte  ich 
zunächst  Einspruch  zu  erheben.  Der  Begriff  des  Bewußtseins  oder 
des  unmittelbar  Gegebenen  ist  meiner  Meinung  nach  ein  Begriff, 
der  über  den  Gegensatz  des  Seins  und  der  Erkenntnis  hinausliegt 
und  in  Bezug  auf  den  wir  jene  Scheidung  nur  in  nachträglicher 


Zur  „Antinomie  im  Problem  der  Gültigkeit".  181 

Übertragung  und  Analogisierung  vornehmen  können.  Anders  ge- 
sagt: das  unmittelbare  Erleben  oder  Gegebensein  ist  kein  Exi« 
stentialurteil.  In  jedem  Existentialurteil  wird  ein  bestimmtes 
„Was",  das  also  dem  Existentialurteil,  oder  dessen  Was-Erkenntnis 
der  Erkenntnis  seiner  Existenz  logisch  vorhergeht,  für  existierend 
gesetzt.  Im  unmittelbaren  Erleben  oder  Gegebensein  aber  wird 
eben  nicht  etwa  ein  vorgegebenes  „Was"  (ein  rot,  ein  hart,  ein 
Lustgefühl  nicht  einmal  ein  „dies")  als  existierend  erkannt.  Eben- 
sowenig wird  im  unmittelbaren  Erleben  ein  vorgegebenes  „was" 
als  ein  bestimmtes  „was",  als  ein  „solches"  erkannt:  sondern  jedes 
„was"  (einschließlich  des  bloßen  „dies")  entsteht  erst  im  unmittel- 
baren Gegebensein.  (Mit  Fichte  könnte  man  sagen,  das  Bewußt- 
sein sei  eine  Tathandlung,  keine  Tatsache).  Halte  ich  dann  dies 
inhaltlich  bestimmte  Etwas  als  einen  solchen  Inhalt  fest,  dann 
kann  ich,  diesen  gewonnenen  Denkinhalt  rückbeziehend  auf  das 
Gegebene,  das  Bewußtseinserlebnis,  in  dem  er  entstand  und  es  mit 
demselben  identifizierend  das  Urteil  fällen:  das  Erlebte  sei 
„dies"  oder  ein  solches  (in  weitergehender  logisch  vorausgesetzter 
Vergleichung,  es  sei  ein  „rot"  etc.),  und  ebenso  umgekehrt :  „dies" 
oder  „rot"  sei  gegeben,  existiere  als  gegeben.  Genauer  freilich 
muß  eben  dieses  Urteil  schon  anders  lauten;  nämlich:  dieser  In- 
halt ist  jetzt  und  er  ist  mir  gegeben  oder  er  existiert  jetzt  und 
in  meinem  Bewußtsein.  Denn  indem  ich  das  „Was"  von  dem  Er- 
lebnis unterscheide,  kann  ich  jetzt  bereits  diesen  Inhalt  auch  als 
nicht  existierend,  nämlich  zu  einer  andern  Zeit  oder  in  einem  an- 
dern Bewußtsein  nicht  existierend  vorstellen.  Das  „Sein",  das 
durch  jene  das  Existentialurteil  ermöglichende  Scheidung  im  Be- 
wußtsein entsteht,  entsteht  sofort  als  ein  Sein  verschiedener  Sphären 
oder  Seinsweisen,  als  gegenwärtiges,  vergangenes,  zukünftiges,  als 
Sein  meines  und  eines  fremden  Bewußtseins;  denn  mit  der  Schei- 
dung des  Erlebnisses  und  seines  „was"  sind  sofort  jene  weiteren 
Möglichkeiten,  dies  was  als  existierend  zu  beurteilen,  gesetzt. 
Ohne  diese  Scheidung  in  Erlebnis  und  Inhalt  des  Erlebnisses  in 
jene  zwei  Bestandteile,  die  als  identisch  gesetzt  werden,  kann 
nicht  sinnvoller  Weise  von  einem  Urteil,  speziell  auch  nicht  von 
einem  Existentialurteil  gesprochen  werden.  Zugleich  ist  es  auch 
hier  erst  möglich  sinnvoller  Weise  die  Frage  nach  der  „Wahr- 
heit" zu  stellen  (die  sich  jedoch  in  diesem  Fall  unmittelbar  und 
evident  bejahend  beantwortet,  das  Erlebnis  und  das  „Was"  des 
Erlebnisses    werden   selbst   als   identisch    erlebt):    nicht  das    un- 


182       E.  v.  Aster,  Zur  „Antinomie  im  Problem  der  Gültigkeit". 

mittelbar  Gregebene  ist  „wahr"  —  das  gäbe  keinen  Sinn  —  sondern 
daß  es  diesen  Inhalt  hat,  ein  „dies"  ist  oder  daß  „dies"  gegeben 
ist,  ist  wahr.  Aber  mußte  nicht  der  Bewußtseinsinhalt  selbst  da- 
sein und  so-sein,  ehe  sein  „was "  und  das  Erlebtsein  dieses  „Was" 
geschieden  werden  konnte?  Diese  Frage  ist  zweideutig:  der  Ur- 
teilende identifiziert  das  „Was"  mit  dem  Erlebnis,  behauptet 
also  schlechthin,  daß  es  eben  dies  „was"  ist,  das  erlebt  wurde  und 
das  Erlebnis  ein  solches  Erlebnis .  Darum  wird  doch  das  Urteil 
erst  sinnvoll  von  jener  Scheidung  aus  und  für  den,  der  sie  voll- 
zieht, genau  so,  wie  jene  Frage  erst  hier  sinnvoll  wird.  Noch 
genauer  muß  ich  von  jener  vollzogenen  Scheidung  aus  gesprochen 
sagen :  der  Bewußtseinsinhalt  mußte  als  mein  und  mein  jetziges 
Erlebnis  „dasein".  Gleichwohl  setzt  nicht  das  unmittelbar  Gre- 
gebene als  solches  Zeit  und  fremdes  Bewußtsein  etwa  voraus,  son- 
dern die  Zeit  und  das  fremde  Bewußtsein  entstehen  erst  für  das 
Wissen  dessen,  der  jene  Unterscheidungen  vollzieht  (Zukunft  ist 
die  in  der  Weise  der  Erwartung,  Vergangenheit  die  in  der  Weise 
der  Erinnerung  vorgestellte  Wasgegebenheit).  Nehme  ich  meinen 
Standpunkt  vor  allen  jenen  Unterscheidungen,  so  ist  das  Bewußt- 
sein, das  unmittelbar  Gregebene  weder  seiend,  noch  nicht  seiend, 
weder  jetzt  noch  zu  anderer  Zeit,  wie  ein  ganz  allein  für  sich 
gesetzter  Punkt  im  Raum  weder  ruht  noch  sich  bewegt. 

Das  Bewußtsein,  von  dem  der  „Psychologist"  ausgehen  muß, 
erinnert  so  an  das  „Bewußtsein  überhaupt"  der  Windelband-Rickert- 
schule,  von  dem  es  sich  aber  dadurch  unterscheidet,  daß  es  positiv 
beurteilt,  d.  h.  von  dem  Standpunkt  der  Trennung  von  Erlebnis 
und  „Was"  des  Erlebnisses  aus  gesehen  sofort  zum  individuellen 
jetzigen  Bewußtsein  wird,  so  wie  das  reine  „Sein"  Hegels  beur- 
teilt sofort  zum  „Werden"  wird.  Es  erinnert  aber  auch  an  die 
„Wahrheit",  die  der  Logismus  nach  H.  als  Letztes  voraussetzen 
muß.  denn  damit  das  Wort  „Wahrheit"  nicht  eine  leere  Worthülse 
ist  oder  bleibt,  muß  auch  der  Logist  das,  was  er  mit  jenem  Wort 
meint,  irgendwie  selbst  erfassen,  also  sich  („phänomenologisch)  zur 
„Selbstgegebenheit"  bringen.  Damit  wird  die  Wahrheit  ein  un- 
mittelbar Gregebenes. 

Auch  vom  logistischen  Standpunkt  aus  lassen  sich  gegen  H. 
eine  Reihe  von  Einwänden  erheben.  Auf  sie  näher  einzugehen 
ist  indessen  nicht  meine  Aufgabe. 


Besprechungen. 


I.  Geschichtsphilosophie. 

Hegel,  G.  W.  F.,  Vorlesungen  über  die  Philosophie  der  Welt- 
geschichte. Vollständig  neue,  auf  Grund  des  aufbehaltenen  handschriftlichen 
Materials  besorgte  Ausgabe  von  Georg-  Lasson.  Hierzu  als  Einleitung:  Hegel 
als  Geschichtsphilosoph  von  Georg  Lasson.    Verlag  F.  Meiner,   Leipzig. 

Der  fleißige  Hegelforscher  Georg  Lasson  hat  uns  mit  einer  Neuausgabe 
der  Vorlesungen  über  die  Philosophie  der  Geschichte  beschenkt.  In  vier,  die 
Einleitung  des  Herausgebers  mitgerechnet  fünf,  Bänden  liegt  sie  vollendet  vor. 
Schon  ist  von  dem  Lassonschen  Einleitungsband  die  zweite  Auflage  notwendig 
geworden.  Das  Interesse  an  Hegel  scheint  noch  im  Wachsen.  Lasson  weiß  ihm 
zu  dienen,  als  Herausgeber  wie  als  Erklärer. 

Vollkommen  richtig  erfaßt  der  Herausgeber  den  Augenblick,  wenn  er  —  hier 
wie  in  allen  seinen  Ausgaben  —  nicht  auf  die  letzte  philologische  Genauigkeit 
ausgeht,  sondern  sich  sein  Ziel  näher  steckt.  Er  weiß,  daß  für  eine  „Akademie- 
ausgabe" heut  die  Zeit  noch  nicht  gekommen  ist.  Erst  muß  die  0 Öffentlichkeit 
sich  noch  ganz  anders,  als  es  bisher  der  Fall  ist,  wieder  für  Hegel  interessieren, 
ehe  den  großen  wissenschaftlichen  Körperschaften  zugemutet  werden  kann,  hier 
eine  Pflicht  zu  sehen.  Bis  dahin  sind  Ausgaben  wie  die  Lassonschen  gerade  das 
Richtige.  Sie  halten  die  Mitte  zwischen  dem  Verlangen  des  Lesers  nach  Hand- 
lichkeit und  Lesbarkeit  und  der  Forderung  des  Forschers  nach  Ausbreitung  des 
gesamten,  für  den  ursprünglichen  Textbestand  wichtigen  Ueberlieferungsstoffs. 
Wenn  von  Lasson  immerhin  jenes  Verlangen  noch  wesentlich  vollständiger  be- 
friedigt wird  als  diese  Forderung,  so  entspricht  das  ebenfalls  nur  dem  Umstand, 
daß  der  philosophische  Gelehrte  im  allgemeinen  jenem  Pol  des  reinen  Lesers  näher 
stehen  muß  als  dem  des  reinen  Forschers;  philosophisches  Verständnis  erschließt 
sich  viel  eher  dem  heiteren  Blick  des  gemächlich  von  Blatt  zu  Blatt  fortwan- 
dernden Lesers  als  dem  ängstlich  unter  gerunzelter  Stirn  über  die  Zeile  gebeugten 
bewaffneten  Auge  des  Philologen. 

Lasson  der  Erklärer  unterzieht  sich. in  seinem  Einleitungsband  der  schweren 
Aufgabe,  „Hegel  als  Geschichtsphilosoph"  und  —  bezeichnend  für  die  Eigenart 
Hegelscher  Systematik  —  damit  zugleich  Hegel  als  Philosophen  überhaupt,  dem 
Publikum  von  heute  nahe  zu  bringen  in  einer  Sprache,  die  dem  Philosophen  selber 
verwandter  ist  als  dem  Publikum,  das  in  ihn  eingeführt  werden  soll.  Kein  Zweifel, 
daß  gerade  der  Geschichtsphilosoph  sich  solchem  Unterfangen  vergleichsweise  noch 
am  gefügigsten  erweist,  gefügiger  als  etwa  (um  gleich  die  extrem  ungünstigen 
Fälle  zu  nennen)  der  Logiker  oder  der  Naturphilosoph,  aber  selbst  auch  ge- 
fügiger als  etwa  der  Staatsphilosoph.  Denn  von  Hegels  Geschichtsphilosophie 
führt  bis  dicht  an  die  Gegenwart  heran  ein  ununterbrochener  Strom  wissenschaft- 
licher Tradition,  bezeichnet  etwa  durch  die  Namen  Rankes  und  Treitschkes,  ein 
Strom,  der  dicht  hinter  Hegel  zwar  eine  entschiedene  Abbiegung  erfahren  hat, 
der  aber  nicht  wie  die  anderen  Ströme  seiner  Philosophie  schon  wenige  Jahrzehnte 
nach  seinem  Tod  unter  der  Erde  verschwunden,  wenn  nicht  gar  versickert  war. 
So  konnte  Lasson  die  Aufgabe,  die  er  sich  offenbar  gestellt,  Hegel  hegelsch  reden 


184  Besprechungen  (Hegel— Adler). 

zu  lassen,  gelingen.  Wer  Lassons  Einleitung  auf  sich  wirken  läßt,  kann  aus  ihr 
ein  wohlgerundetes  Bild  des  großen  Denkers  gewinnen. 

Darf  ich  gleichwohl  ein  Bedenken  äußern?  Es  ist  mehr  grundsätzlicher 
Natur,  —  doch  nicht  bloß  grundsätzlicher.  Gewiß  gehört  zu  aller  geschichtlichen 
Darstellung  Liebe.  Aber  so  wie  es  nicht  die  höchste  Liebe  ist,  die  sich  mit 
ihrem  Gegenstand  identifiziert,  sondern  wie  es  höhere  Liebe  ist,  zu  lieben,  was 
man  sich  nicht  gleicher  Art  weiß,  wie  —  mit  einem  Wort  —  die  Kluft  und  das 
Gefühl  der  Kluft  erst  der  Liebe  den  vollen  Krafteinsatz  und  den  stärksten  Flügel- 
schlag abnötigt,  so,  meine  ich,  müßte  dennoch  aus  einem  größeren  und  vor  allem 
aus  einem  empfundeneren  Abstand  das  Bild  gewaltiger,  die  Farben  leuchtender, 
die  Umrisse  kühner  sich  gegen  den  Himmel  abzeichnen.  Es  ist  ja  doch  kein  Zu- 
fall, daß  unter  den  drei  bedeutenden  biographischen  Versuchen  —  Rosenkranz, 
Haym,  Dilthey  —  der  Haymsche,  bei  dem  in  der  Liebe  des  Erkennenden  ein 
starkes  Stück  Haß  mitschwingt,  der  weitaus  lebendigste  und  lebenskräftigste  ge- 
worden ist,  so  lebendig,  daß  selbst  die  starken  Verzeichnungen,  die  er  enthält, 
hier  wenig  stören;  wie  wir  im  Werk  des  malerischen  Genius  anatomische  Un- 
richtigkeiten übersehen,  die  auf  dem  Gemälde  des  Akademikers  uns  unerträglich 
sein  müßten.  Lasson  selber  hat  jenen  Abstand  vielleicht  mehr,  als  er  zugeben 
möchte;  in  der  Schlußzeile  seiner  Einleitung  —  vom  Gott  der  Geschichte,  „der 
zugleich  der  Vater  jedes  einzelnen  Ich  ist"  (Seite  177)  —  steckt  das,  was  er  weiß 
und  was  Hegel  nicht  gewußt  hat,  jedenfalls  nicht  so  gewußt  hat,  daß  dies  Wissen 
den  Aufbau  seiner  Philosophie  bestimmt  hätte.  Von  hier  aus ,  von  diesem  seinen 
Wissen  aus,  müßte  sich  noch  ein  andres  Bild  Hegels  zeichnen  lassen,  als  uns 
Lasson,  bisher  wenigstens,  gegeben  hat.  Vielleicht,  daß  er  es  noch  gibt,  und 
wenn  nicht  er,  dann  ein  andrer.  Vorläufig  aber  seien  wir  ihm  dankbar  für  das, 
was  er  gibt.   Für  viele  wird  es  heute  gerade  das  sein,  was  sie  brauchen. 

Frankfurt  a.  Main.  Dr.  Franz  Rosenzweig. 

Adler,  Dr.  Max,  Professor  a.  d.  Universität  Wien,  Marx  als  Denker. 
2.  umgearbeit.  Auflage.  Verlag  der  Wiener  Volksbuchhandlung,  Wien.  1921.  VIII 
u.  159  Seiten.  Engels  als  Denker.  Verlagsgenossenschaft  „Freiheit",  Berlin 
1921.  VIII  und  79  Seiten. 

In  diesen  beiden  Veröffentlichungen,  deren  zweite  zum  100.  Geburtstage  En- 
gels erschienen  ist,  hat  Max  Adler  die  Resultate  seiner  früheren  Arbeiten  über 
die  philosophischen  Grundlagen  des  Marxistischen  Sozialismus  zu  summarisch- 
klarem Ueberblick  zusammengefaßt.  Das,  was  er  im  Vorwort  zu  seinen  „Marxisti- 
schen Problemen"  gesagt  hat,  gilt  auch  für  diese  Untersuchungen:  sie  wollen 
keine  Marx-Philologie  geben  und  sind  auch  keine,  vor  allem  deswegen,  weil  sie 
sich  nicht  auf  den  speziellen  Vorwurf  beschränken,  sondern  diesen  im  Gesamtzu- 
sammenhang des  Geistigen  sehen  und  bearbeiten,  solcherart  sowohl  für  das  engere 
als  das  weitere  Gebiet  zu  aufschlußreichen  Ergebnissen  gelangend.  Auf  dem  Boden 
des  neukantischen  Kritizismus  stehend,  sucht  Adler  den  philosophischen  Gehalt 
der  sozialistischen  Einstellung  —  darin  bekundet  sich  eben  das  Nicht-Philologische 
seiner  Forschung  —  vor  allem  in  der  methodologischen  Orientierung  ihrer  Theorie. 
Denn  jeder  Erkenntnisfortschritt  ist  es  nur  darum,  weil  er  zugleich  Fortschritt 
der  methodischen,  idealistischen  Hypothesen-Bildung  auf  Basis  des  Datums  der 
Erfahrung  ist.  Der  Nachweis  für  die  Geltung  dieses  Postulates  im  Bereich  der 
Naturwissenschaften  wurde  zu  einem  der  tragenden  Eckpfeiler  der  neukantischen 
Bewegung;  Adler,  welcher  immer  mit  Entschiedenheit  für  die  Unität  der  natur- 
und  geisteswissenschaftlichen  Erkenntnis  eingetreten  ist,  beansprucht  dieses  Postulat 
folgerichtig  auch  für  die  geisteswissenschaftliche  Methode,  die  sich  ihm  eben  in 
der  Marx's  verkörpert.  Es  ist  außerordentlich  instruktiv,  wie  er  jenen  Nachweis 
hier  in  der  Analyse  der  Hegeischen  Dialektik  und  Logik  gründet,  die  ihm  ent- 
gegen der  landläufigen  Ansicht  und  durchaus  zutreffend  keineswegs  eine  gewaltige, 
solipsistische  Konstruktion  darstellt,  vielmehr  in  ihrer  „Dialektik  des  Realen"  die 
Aufforderung  ihm  enthüllt,  zum  Datum  der  Erfahrung  Kants  zurückzukehren. 

Akzeptiert  man  diese  sehr  begründete  Auffassung  Adlers  über  die  Hegeische 
Philosophie,  so  zeigt  sich  diese  nicht  nur  als  Vorläufer  und  Wegweiser  für  die 


Besprechungen  (Adler).  185 

weitere  Entwicklung  des  Idealismus,  sondern  sie  stellt  auch  die  empirischen 
Wissenschaften  mit  allen  Nachdruck  in  jene  Richtung  ein,  welche  schon  Kant 
für  sie  gefordert  hatte,  nämlich  in  die  ausschließliche  Blickrichtung  auf  das  Ob- 
jekt ihrer  Erkenntnis.  Die  Forschergeneration  nach  Hegel,  welche  eigentümlicher- 
weise durchwegs  vermeinte,  Hegel  „überwunden"  zu  haben,  verdankte  ihre  empi- 
rische Gewissenhaftigkeit  und  Präzision  sicherlich  zum  Großteil  der  Hegeischen 
Logik,  durch  deren  Schule  sie  gegangen  ist.  Wir  sehen  dies  in  gleicher  Weise 
bei  Ranke  und  Mommsen  als  bei  Marx  und  Engels,  in  einiger  Entfernung  auch 
in  den  religionspsychologischen  Forschungen  Feuerbachs. 

Im  gewissen  Sinne  scheint  Hegel  damit  dem  Positivismus  den  Weg  bereitet 
zu  haben,  denn  die  Einstellung  auf  das  Objekt  ist  unverkennbar  eine  positivistische, 
ist  ja  selbst  Kant  in  seiner  Einstellung  auf  sein  Objekt,  das  das  Phänomen  des 
Denkens  überhaupt  ist,  ein  Positivist  im  weitesten  Verständnis  zu  nennen.  Es  ist 
daher  nicht  verwunderlich,  daß  Marx  den  positivistischen  Anregungen,  die  er  bei- 
spielsweise von  Saint-Simon  erfahren  hat,  sich  gerne  öffnete.  Was  ihn  aber  über 
die  allgemeine  positivistische  Arbeitsweise  in  den  Geisteswissenschaften,  etwa  der 
Buckles,  hinausführte,  war  jener  philosophische  Blick  aufs  Ganze  und  die  be- 
wußte, prinzipielle  Herausstellung  der  neuen  Methode,  die  jeden  großen  Denker, 
es  sei  bloß  Kepler  oder  Newton  angeführt,  auszeichnete.  Sozialismus  als  Logik 
vom  „vergesellschafteten  Menschen"  ist,  wie  Kelles-Kranz  formulierte,  kein  „Dogma" 
sondern  eine  „Forschungsmethode"  und  diese  neue  und  durchaus  idealistische 
Arbeitshypothese  zum  wirkenden  Agens  der  Soziologie  gemacht  zu  haben,  ist  die 
Tat  Marx's. 

Es  ist  nun  allerdings  die  Frage,  ob  die  idealistische  Grundtendenz  einer 
positivistischen  Arbeitsmethode  auch  schon  die  Berechtigung  gibt,  den  „Inhalt" 
solcher  Arbeit  als  Philosophie  anzuerkennen.  Soziologie  und  Geschichtsphilosophie 
laufen  so  eng  ineinander,  daß  es  immer  nahe  liegt,  es  sei  auf  Barth  verwiesen, 
die  beiden  zu  identifizieren,  und  daß  die  materialistische  Geschichtsauffassung  viel- 
fach als  „die"  Geschichtsphilosophie  schlechthin  gilt,  ist  bekannt.  Es  muß  nicht 
neuerdings  betont  werden,  welche  Gefahren  der  philosophische  Positivismus  für 
die  reine  Philosophie  in  sich  birgt,  so  vielfältig  seine  Erscheinungsformen  sind, 
seien  diese  nun  psychologistisch-energetisch,  pragmatistisch  oder  sonstwie  gefärbt, 
sie  enthalten  als  letzte  Möglichkeit  doch  immer  die  Gefahr  eines  groben  Materia- 
lismus. Für  Marx  besteht  diese  in  doppelter  Beziehung.  Denn  erstens  ist  sein 
und  Engels  Verhältnis  zu  Feuerbach  in  diesem  Sinne  auszudeuten,  ebenso  seine 
Bejahung  Dietzgens  als  „Philosophen  der  Sozialdemokratie" ;  andererseits,  wenn 
auch  nur  rein  äußerlich,  verleitet  das  Wort  „Materialistische  Geschichtsauffassung" 
leichthin  dazu,  diese  mit  dem  naturalistischen  Materialismus  zu  verwechseln.  Adler 
sucht  nun,  in  einer  ausgezeichneten  und  tiefgründigen  Polemik  gegen  Stammler 
—  in  der  vorliegenden  Broschüre  nur  auszugsweise  —  diesen  drohenden  Vorwurf 
gegen  Marx  zu  entkräften  und,  eben  auf  Grund  der  idealistischen  Reinheit  der 
methodischen  Prinzipien  in  der  Marxistischen  Einstellung,  auch  deren  logische 
und  philosophische  Reinheit  nachzuweisen.  Eine  wesentliche  Unterstützung  findet 
er  dabei  in  dem  ethischen  Gehalt,  der  dem  Sozialismus  innewohnt  und  jedenfalls 
über  den  des  Positivismus  hinausgeht  und  der  auch  anderen  Kantianern,  wie  Lange, 
Cohen,  Staudinger,  Woltmann,  Vorländer  Anlaß  gegeben  hat,  die  innere  Verbin- 
dung zwischen  Kant  und  Marx,  resp.  Engels  aufzusuchen.  Daß  die  materialistische 
Geschichtsauffassung  mit  naturalistischem  Materialismus  nicht  in  einen  Topf  ge- 
worfen werden  darf,  kann  daher,  und  vor  allem  in  Ansehung  der  scharfen  Unter- 
suchungen Adlers  als  ausgemacht  gelten.  Hingegen  darf  deren  positivistische 
Tendenz,  wie  wir  glauben,  nicht  übersehen  werden.  Schon  Masaryk  reklamierte 
Marx  als  Positivisten,  und  Adler  selber  hat  in  einer  schönen  Studie  über  Marx 
und  einen  so  positivistischen  Denker  wie  Mach  es  war,  die  geistige  Verwandt- 
schaft dieser  beiden  Männer  hervorgehoben.  Die  Folgerungen,  welche  aus  diesem 
Tatbestande  zu  ziehen  wären,  gehen  aber  über  den  Rahmen  dieser  bescheidenen 
Besprechung  weit  hinaus. 

In  einer  Zeit,  in  welcher  „Marxismus"  allzuoft  zum  Schlagwort  herabge- 
zogen wird,  bestenfalls  zu  einer  „Ueberzeugung",   die   wie  jede   politische   nicht 


186  Besprechungen  (Adler — Brandenburg). 

mehr  von  sich  weiß,  als  daß  sie  „respektiert"  werden  will,  und  yor  einer  Popu- 
larisierung, die,  wenn  es  hoch  geht,  den  Sozialismus  in  eine  sozusagen  philoso- 
phische Verbindung  mit  Darwinismus  und  Dietzgenismus  bringt,  erscheint  es  als 
ein  tieferes,  menschliches  und  wissenschaftliches  Verdienst  der  Adlerschen  For- 
schungen, immer  wieder  auf  das  rein  Geistige  der  Quelle  hingewiesen  zu  haben 
und  sie  aufzudecken. 

Teesdorf.  Hermann  Broch. 

Brandenburg,  Erich,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Leipzig,  Die  ma- 
terialistische Geschichtsauffassung.  Ihr  Wesen  und  ihre  Wandlungen. 
Verlag  von  Quelle  und  Meyer  in  Leipzig.     1920.    66  S.    Preis  geb.  3  Mk. 

Die  kleine  Schrift  des  Historikers  der  Leipziger  Universität,  aus  einer  Rek- 
toratsrede hervorgegangen,  gibt  zunächst  eine  prägnante  Darstellung  des  ökono- 
mischen Materialismus  und  weist  die  naheliegenden  Mißverständnisse,  auf  denen 
die  üblichen  Einwände  beruhen,  zurück,  die  Verwechslung  mit  dem  philosophi- 
schen Materialismus,  mit  dem  Fatalismus  usw.  Die  kritische  Stellungnahme  des 
Verf.  ist  in  dem  Abschnitt  „Unzulänglichkeit  der  Naturfaktoren  zur  Erklärung 
der  Entwicklungsrichtung.  Lebensnotdurft  und  Lebensverbesserung".  (S.  39  ff.) 
enthalten  und  richtet  sich  gegen  die  beiden  Kernpunkte  der  marxistischen  Theorie, 
gegen  die  Auffassung,  daß  das  ständige  Anwachsen  der  Produktivkräfte,  weiterer 
Erklärung  nicht  bedürftig,  die  Grundlage  der  Erklärung  der  ganzen  gesellschaft- 
lichen Entwicklung  bildet  und  daß  der  politische,  juristische,  ideologische  „Ueber- 
bau"  durch  die  jeweiligen  ökonomischen  Verhältnisse  und  die  durch  sie  bewirkte 
Klassenteilung  bestimmt  ist.  Verf.  sieht  in  dem  Bedürfnis  nach  Lebensverbesse- 
rung eine  Triebkraft  der  ökonomischen  Entwicklung  und  meint,  daß  weder  die 
Richtung  dieses  Bedürfnisses,  noch  die  Art  seiner  Befriedigung  durch  die  Pro- 
duktionsverhältnisse eindeutig  bestimmt  sei.  „Oder  kann  jemand  im  Ernst  be- 
haupten", fragt  er,  „daß  im  15.  Jahrhundert  nur  die  Erfindung  der  Buchdrucker- 
kunst, im  19.  nur  die  der  Eisenbahnen  und  des  Telegraphen  die  westeuropäische 
Gesellschaft  vor  dem  Untergange  hätte  retten  können?"  Wo  es  eine  Wahl  gebe, 
da  hänge  die  Entscheidung  schließlich  von  der  seelischen  Beschaffenheit  der  be- 
treffenden Menschengruppe  ab.  „Verschiedene  Gruppen  könnten  durch  eine  lange 
Reihe  in  verschiedener  Richtung  verlaufender  Entscheidungen  von  dem  gleichen 
Ausgangspunkte  her  im  Laufe  der  Zeit  zu  ganz  von  einander  abweichenden  Zu- 
ständen gelangen".  Ebenso  könnten  im  allgemeinen  bei  einem  bestimmten  Sta- 
dium der  Produktivkräfte  die  Menschen  auch  bei  anderen  Produktionsverhältnissen, 
Klassenbildungen,  Staats-  oder  Denkformen  leben  als  den  tatsächlich  verwirk- 
lichten, wenn  auch  vielleicht  schlechter  und  unvollkommener.  Somit  verbürge  der 
Zwang  der  Lebensnotdurft   nicht   die  Eindeutigkeit  des   historischen  Geschehens. 

Die  Schlußkapitel  zeigen,  wie  einzelne  Sozialisten,  Bernstein  u.  a.,  die  Theorie 
weitergebildet  haben,  um  diesen  Schwierigkeiten  gerecht  zu  werden.  Man  könnte 
hier  allerdings  ebenso  gut  wie  von  einer  „Fortbildung",  vom  Aufgeben  des  Marxis- 
mus sprechen.  Denn  was  bleibt  mehr  übrig  als  ein  selbstverständlicher  Gemein- 
platz, wenn  man  in  den  ökonomischen  Verhältnissen  lediglich  Bedingungen  oder 
Schranken  des  gesellschaftlichen  Lebens  sieht  und  in  der  materialistischen  Ge- 
schichtsauffassung ein  heuristisches  Prinzip,  daß  neben  den  anderen  Kräften  auch 
die  ökonomischen  zu  berücksichtigen  rät.  Gegen  Max  Adlers  Versuch,  die  Ein- 
deutigkeit der  Entwicklung  durch  einen  ideellen  Faktor,  „die  Idee  der  sozialen 
Gemeinschaft"  zu  begründen,  meint  Verf.  wohl  mit  Recht,  daß  sich  die  ausschlag- 
gebende Wirksamkeit  dieses  Faktors  kaum  nachweisen  ließe. 

Mir  scheinen  die  vom  Verf.  mit  so  viel  Nachdruck  vorgebrachten  Einwände 
nicht  gerade  unwiderleglich.  Klimatische  und  ökonomische  Verhältnisse,  die  die 
Anspannung  aller  Kräfte  in  Kampf  ums  Dasein  verlangen,  —  und  beides  fällt 
unter  den  Begriff  der  Produktionsbedingungen  —  zwingen  dazu,  sich  jede  nach 
dem  Stand  der  Naturerkenntnis  mögliche  technische  Verbesserung  zu  nutze  zu 
machen.  Gewiß  haben  Buchdruckerkunst,  Eisenbahn  und  Telegraph  die  westeu- 
ropäische Gesellschaft  nicht  „gerettet";  aber  sobald  einmal  diese  Einrichtungen 
»ach  dem  Stand  der  Kenntnisse  möglich  waren,   war  es  so  unwahrscheinlich,  daß 


Besprechungen  (Brandenburg — Barth — Hurwicz).  187 

man  sie  ungenützt  ließ,  wie  daß  ein  Goldstück  unberührt  auf  einer  belebten  Strecke 
liegen  bleibt.  Auch  ist  leicht  zu  erkennen,  daß  die  Bedürfnisse,  die  durch  jene 
Erfindungen  befriedigt  wurden,  unmittelbar  aus  den  Verhältnissen  der  Warenpro- 
duktion, als  Produktion  für  den  Markt  entsprangen.  Die  Bestimmtheit  des  „Ueber- 
baus"  durch  die  Produktionsverhältnisse  ist  deshalb  schwer  zu  prüfen,  weil  nicht 
leicht  abzugrenzen  ist,  was  zu  diesem  „Ueberbau"  gehört,  muß  man  sich  doch, 
wie  auch  der  Verf.  meint,  davor  hüten,  „diesen  Grundsatz  zu  eng  oder  pedantisch 
zu  fassen,  zu  viel  Einzelheiten  des  Verfassungs-  oder  Geisteslebens  auf  diese  Art 
erklären  zu  wollen".  (S.  17).  Immerhin  ist  es  wohl  nicht  unbillig,  von  einem 
Historiker,  der  die  Möglichkeit  verschiedener  Klassenbildung  usw.  bei  gleichen 
Produktionsverhältnissen  behauptet,  konkrete  Beispiele  dafür  zu  verlangen.  Die 
Bemerkung  (S.  19),  daß  die  Theorie  von  Marx  und  Engels  nicht  aus  Hegels  Phi- 
losophie erwachsen,  im  Keime  kaum  mit  ihr  verwandt  sei,  sondern  „sich  nur 
eines  Stückes  dieser  Philosophie  als  eines  brauchbaren  logischen  Hilfsmittels  be- 
dient" habe,  scheint  mir  gegenüber  der  sonst  in  der  Regel  (so  neuerdings  wieder 
von  E.  Tröltsch  in  der  „Hist.  Zeitschrift"  (1919)  vertretenen  Anschauung  das 
Richtige  zu  treffen. 

Prag.  Josef  Winternitz. 

Barth,  Paul,  Dr.,  ord.  Honorarprofessor  an  der  Universität  Leipzig.  Die 
Philosophie  der  Geschichte  als  Soziologie.  Erster  Teil:  Grundle- 
gung und  kritische  Uebersicht.  3.  und  4.  wiederum  durchgesehene  und  erweiterte 
Auflage.    1922.   Leipzig.   0.  R.  Reisland.    870  Seiten.   Br.  Mk.  90.— ;  geb.  105.—. 

Obwohl  in  Kant-Studien,  Band  XXII  (1917),  Heft  3  S.  329—340  dem  Werke 
Barths  ein  eingehender  Bericht  nebst  genauer  Würdigung  gewidmet  worden  ist, 
obwohl  ferner  die  neue  Auflage  von  der  früheren,  die  zur  Besprechung  gelangt 
war,  nur  in  geringem  Maße  abweicht,  sei  dennoch  an  dieser  Stelle  nochmals  auf 
jenes  Werk  und  auf  das  Erscheinen  der  3.  und  4.  Auflage  mit  nachdrücklicher 
Empfehlung  aufmerksam  gemacht.  Denn  es  handelt  sich  um  eine  Leistung  von 
hervorragender  Qualität.  Ihr  Hauptwert  besteht  in  dem  etwa  700  Seiten  umfas- 
senden historisch-kritischen  Teil,  der  in  mustergültiger  Klarheit  und  Zuverlässig- 
keit wohl  alle  ernstlich  in  Betracht  kommenden  Typen  der  Geschichtsphilosophie, 
vor  allem  die  soziologischen  Ausprägungen  derselben,  zur  ausführlichen  Darstel- 
lung bringt.  Wir  lernen  sowohl  die  „intellektualistische  Soziologie"  (Comte,  De 
Greef  u.  a.),  ferner  die  „biologische  Soziologie"  (besonders  Herbert  Spencer,  Fouille'e 
u.  a.),  als  auch  die  „voluntaristische  Soziologie"  (Tönnies,  Ward,  Giddings  u.  a.) 
kennen.  Unter  dem  Titel:  „Die  einseitigen  Geschichtsauffassungen"  werden  die 
„individualistische  und  die  kollektivistische",  die  „anthropogeographische",  die 
„ethnologische",  die  „kulturgeschichtliche",  die  „politische",  die  „ökonomische", 
endlich  die  „ideologische"  Geschichtsauffassung  besprochen. 

Barths  meisterhafte  Stoffbeherrschung  und  unbedingte  Sachlichkeit  in  allen 
Angaben,  ferner  die  ebenso  geschickte  wie  lehrreiche  Zusammenfassung  und  An- 
ordnung des  ungeheuren  Materials  an  vorhandenen  geschichtsphilosophischen  Theo- 
rien haben  uns  ein  Werk  geschenkt,  das  man  ein  Lehrbuch  der  Hauptformen 
der  Geschichtsphilosophie  im  wahrsten  Sinne  nennen  kann.  Es  läßt  sich  seinem 
Wesen  und  Wert  nach  mit  den  Neubearbeitungen  des  alten  'Ueberweg'  vergleichen 
und  mit  diesen  auf  eine  und  dieselbe  Stufe  stellen.  Das  Beste,  was  man  ihm 
nachsagen  kann,  läßt  sich  wohl  so  aussprechen :  Für  jeden,  der  sich  mit  vollem 
Vertrauen  mit  der  Geschichte  der  Geschichtsphilosophie  beschäftigen  will,  ist 
Barths  Buch  eine  Unentbehrlichkeit. 

Berlin.  Arthur  Liebert. 

'  Hurwicz,  Elias,  Die  Seelen  der  Völker.  Ihre  Eigenart  und  Bedeutung 
im  Völkerleben.  Ideen  zu  einer  Völkerpsychologie.  Verlag  Friedrich  Andreas 
Perthes  A.-G.,  Gotha.    Preis  Mk.  6.— 

Dieses  Werk  ist  auf  dem  Boden  der  morphologischen  Psychologie  gewachsen. 
Es  gehört  zur  großen   Reihe   derjenigen  modernen   Arbeiten,   die  jenseits  einer 


188  Besprechungen  (Hurwicz). 

atomistisch-synthetischen  und  experimentierenden,  wie  einer  konstruktiv-metaphy- 
sischen Psychologie  die  Fülle  seelischer  (individueller  wie  überindividueller)  Ge- 
stalten phänomenologisch  erkennen  wollen.  Vor  allem  ist  es  Hurwicz  aber  um 
die  Methodik  dieses  Erkennens  zu  tun,  sein  Werk  ist  vorwiegend  erkenntnistheo- 
retisch. 

Doch  ist  das  erkenntnistheoretische  Interesse  immerhin  erst  das  eine  Motiv. 
Es  könnte  allein  die  Wahl  eines  so  komplizierten  Objektes  wie  die  Völkerver- 
schiedenheit nicht  erklären ;  denn  die  Erkenntnistheorie  wird  gut  tun,  erst  einmal 
die  Methodik  der  Biographie  zu  erklären,  bevor  sie  ernstlich  die  Aprioris  in  der 
Erkenntnis  überindividueller  Lebensformen  heraus  zu  analysieren  versucht.  Das 
andere  Motiv  ist  das  Interesse  am  Gegenstand,  wie  es  vor  allem  durch  den 
Weltkrieg  mit  seinen  Völkerproblemen  und  ihrer  unzulänglichen  Lösung  hervor- 
gerufen worden  ist.  So  sind  denn  auch  die  erkenntnistheoretischen  Erörterungen 
reichlich  durchzogen  von  Beispielen  völkerpsychologischer  Erkenntnis. 

Die  Geschichte  der  Völkerpsychologie  zeigt,  daß  diese  sich  als  wissenschaft- 
liche Disziplin  erst  in  unseren  Tagen  konstituieren  will.  Im  griechisch-römischen 
Altertum  finden  sich  wohl  bei  Plato  und  Aristoteles,  bei  Strabo  und  Plinius,  bei 
Cäsar  und  Tacitus,  bei  Hippokrat  und  Galen  gelegentlich  völkerpsychologische 
Apercus.  Doch  „eine  breite  und  systematische  Abhandlung  der  Völkerpsychologie 
hinterläßt  uns  das  Altertum  doch  nicht".  Der  Stand  der  Völkerpsychologie  im 
Mittelalter  ist  für  uns  dunkel.  Von  einigen  Arbeiten  an  der  Schwelle  der  Neuzeit 
abgesehen,  setzt  dann  die  bahnbrechende  Inangriffnahme  der  Völkerpsychologie 
mit  Herder  ein,  Kant  fördert  sie  in  seiner  Anthropologie,  und  im  Gefolge  des  phi- 
losophisch deduzierten  Nationalitätsbegriffs  bei  Fichte  strömen  völkerpsycholo- 
gische  Erkenntnisse  in  die  Gedankenmasse  des  klassischen  Idealismus  ein.  Hegel 
und  die  von  ihm  abhängige  historische  Schule  waren  dann  von  Natur  diesen  Pro- 
blemen zugekehrt ;  doch  hat  die  historische  Schule  wegen  ihres  mystischen  Begriffs 
des  Volksgeistes  hier  wenig  geleistet;  Lazarus,  Steinthal  und  Wundt,  die  man 
gemeinhin  als  die  modernen  Begründer  und  stärksten  Förderer  der  Völkerpsy- 
chologie bezeichnet,  haben  nur  die  allen  Völkern  gemeinsamen  psychischen  Er- 
scheinungen, aber  nicht  ihre  Sonderarten  erforscht.  .Ein  reiches  Material  gerade 
für  diese  Charakterdifferenzen  ist  verstreut  in  Beobachtungen  von  Essaiisten, 
Dichtern  und  Politikern.  Es  ist  der  Wert  des  Werkes  von  Hurwicz,  daß  sein 
Buch  aus  einer  umfassenden  Kenntnis  der  einschlägigen  deutschen,  englischen, 
französischen  und  russischen  Literatur  herausgewachsen  ist.  Da  er  aber  seine 
Charakterisierung  der  verschiedenen  Völker  fast  ausschließlich  dieser  Literatur 
(Fouille'e,  Leroy-Beaulieu,  Emile  Boutmy,  Münsterberg,  Scheler,  Nötzel  usw.)  ent- 
nimmt, so  wollen  wir  uns  allein  auf  die  Kennzeichnung  seiner  erkenntnistheore- 
tischen und  methodologischen  Ausführungen  beschränken. 

Es  gilt  hier  zunächst,  überhaupt  einmal  den  Gegenstand  der  Völkerpsycho- 
logie, den  Volkscharakter  zu  konstituieren.  Verschiedene  Einwände  stellen  die 
Anerkennung  seiner  Existenz  in  Frage.  Die  Mannigfaltigkeit  psychischer  Gestalten 
innerhalb  eines  Volkes,  die  Verschiedenheit  der  Individuen,  Klassen,  Berufe,  Lo- 
kaleinheiten soll  den  übergreifenden  Begriff  einer  Volkseinheit  sprengen.  Doch 
vergißt  dieser  Einwurf,  daß  mit  der  Behauptung  der  Einheit  des  Volkscharakters 
noch  nicht  die  psychische  Identität  aller  seiner  Angehörigen  behauptet  wird,  und 
daß  dieses  Phänomen  der  Ueber-Einheit,  der  Einheit  über  Einheiten  ein  Urphä- 
nomen  der  geschichtlichen  Welt  darstellt. 

Es  genügt  aber  nicht,  diese  Einheit  in  eine  mystische  Begriffsatmosphäre 
einzunebeln,  sondern  es  müssen  präzis  und  möglichst  erschöpfend  die  diese  Volks- 
Einheit  bewirkenden  Motive  aufgesucht  werden.  Da  sind  die  physikalisch-geo- 
graphischen Einflüsse:  Luft,  Licht,  Temperatur,  Boden.  Allerdings  ist  hier  — 
wie  die  Literatur  zeigt  —  die  Gefahr  der  Ueberschätzung  recht  groß,  und  oft 
verdecken  schöngeistige,  vage  Analogien  zwischen  materieller  Gegebenheit  und 
seelischem  Charakter  echte  Erkenntnisse  durch  Ueb  jrspannung  des  Vergleichs. 
Diese  physikalisch-geographischen  Einflüsse  sind  nur  ein  die  Einheit  formendes 
Element  neben  andern;  der  psychophysische  Volkstypus  wird  weiterhin  gebildet 
durch  die  verschiedensten  Arten  von  Assimilation:   durch  Symbiose,   durch  Staat- 


Besprechungen  (Hurwicz — Jaensch).  189 

liehe,  die  Einheit  prägende  Erziehung,  durch  gemeinsame  Existenzbedingungen 
und  vor  allem  durch  das  Schicksal  einer  gemeinsamen  Vergangenheit.  Die  affek- 
tive Beschaffenheit  repräsentiert  das  charakterologische  Merkmal,  durch  das  sich 
auch  alle  anderen  Merkmale  des  Volkscharakters  enthüllen.  Alle  anderen  Merk- 
male —  bis  auf  die  geistige  Disposition.  Es  ist  der  vorsichtig  analysierenden 
Art  dieses  Buches  durchaus  angemessen,  die  geistige  Eigenart  als  unableitbar  und 
selbständig  hinzunehmen  und  so  metaphysischen  Konstruktionen  zwar  aus  dem 
Wege  zu  gehen,  zugleich  aber  auch  vor  dem  irrationellen  Kern  sich  zu  bescheiden, 
ohne  zu  gewaltsamer  Auflösung  zu  drängen.  So  kommt  man  über  den  Dualismus 
von  objektiver  und  subjektiver  Gesetzlichkeit  auch  hier  nicht  hinaus.  Die  Seele 
der  Völker  ist,  ebenso  wie  die  Seele  des  Einzelnen,  „gleichsam  die  Kesultante 
eines  Kräftekomplexes".  Jeder  Versuch,  die  Seele  einseitig  aus  sich  selbst  oder 
ebenso  einseitig  aus  seiner  Umwelt  zu  erklären,  muß  scheitern. 

Welches  sind  nun  die  Methoden,  die  Völkerseele  zu  erkennen?  Die  sta- 
tistische Methode  liefert  vor  allem  in  der  Kriminalstatistik  reichliches  Material. 
Die  Beobachtung  kann  durch  Massenbilder,  auf  belebten  Plätzen  und  in  kritischen 
Momenten,  oft  entscheidenden  Einblick  gewinnen.  Die  rechtspsychologische  For- 
schung hat  in  Männern  wie  Jhering,  Gierke,  Kohler,  die  sprachpsychologische 
Forschung  durch  Studium  der  Synonima,  durch  Vergleich  der  abstrakten  und  kon- 
kreten Vokabeln,  der  Phonetik  und  der  unübersetzbaren  Worte  verschiedener 
Sprachen  völkerpsychologische  Erkenntnisse  gewonnen. 

Die  Psychologie  der  Philosophie,  der  Wissenschaft  und  der  Künste  eines 
Volkes  bietet  weitere  Möglichkeiten  zur  Erkenntnis  seiner  Eigenart.  Doch  darf 
„nur  solchen  Erscheinungen  charakterologischer  Wert  beigemessen  werden,  die 
sich  in  einen  einheitlichen  seelischen  Strukturzusammenhang  einreihen  lassen". 
Neben  all  diesen  Erkenntniswegen  läuft  ebenbürtig  parallel  einher  der  Erkenntnis- 
weg der  Intuition,  er  führt  erst  zu  jenen  differenzierten  Distinctionen,  die  allein 
fähig  sind,  Seelen  begrifflich  auszudrücken. 

Die  Völkerpsychologie  —  das  sagt  ein  Nachwort  —  steht  im  Dienste  eines 
Ethos :  sie  soll  erkennen,  um  anzuerkennen.  Sie  soll  jene  Humanität  im  Völker- 
verkehr fördern,  die  Herder,  den  Stifter  der  völkerpsychologischen  Wissenschaft, 
und  seinen  Kreis  beseelt  hat.  Man  mag  über  diese  ethische  Mission,  die  H.  der 
Völkerpsychologie  zuteilt,  skeptisch  denken.  Gleichviel:  die  theoretis  che  Auf- 
gabe der  Völkerpsychologie  ist  ein  Teil  jener  gewaltigen  Aufgabe  unserer  Zeit: 
alle  seelischen  Gestalten  unserer  Welt  im  Begriff  einzufangen. 

Berlin.  Ludwig  Marcus e. 

Jaensch,  E.  R.,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Marburg,  DieFriedens- 
frage  im  Zusammenhang  mit  Bildungs-  und  Kulturproblemen 
der  Gegenwart.  (Wissenschaft  und  Leben,  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  E. 
R.  Jaensch  in  Marburg.  Heft  1).  Leipzig.  1919.  Verlag  von  Johann  Ambrosius 
Barth.     16  S.    0.80  Mk. 

Zur  Förderung  der  Friedensbewegung  würde  es  wesentlich  beitragen,  wenn 
die  Ueberzeugung  von  der  Möglichkeit  der  Erfindung  neuer  furchtbarer  Vernich- 
tungsmittel, die  selbst  schwache  Völker  mit  Erfolg  handhaben  können,  und  zu 
diesem  Zweck  diejenige  von  der  Möglichkeit  überhaupt,  völlig  Neues  (im  Sinne 
der  schöpferischen  Entwicklung)  zu  erfinden,  in  weiten  Kreisen  ausgebreitet  würde. 
Aber  die  Naturforscher,  die  dazu  am  meisten  berufen  sind,  entziehen  sich  über- 
wiegend dieser  Aufgabe,  teils  weil  der.  Beschäftigung  mit  den  Naturwissenschaften 
vorwiegend  eine  innere  Abkehr  vom  Leben  zu  Grunde  liegt,  teils  wegen  ihrer  über- 
wiegenden positivistischen  Grundhaltung.  —  So  der  Vf.,  dessen  stark  rationalisti- 
scher Gedankengang  dem  wesentlichen  Zusammenhang  zwischen  Friedensfrage  und 
modernen  Kulturproblemen  m.  E.  nicht  gerecht  wird. 

Berlin.  A.  Vierkandt. 


190  Besprechungen  (Lessing). 

Lessing,  Th.,  Dr.,  Privatdozent  an  der  Technischen  Hochschule  in  Hannover, 
Geschichte  als  Sinngebung  des  Sinnlosen.  C.  H.  Becksche  Verlags- 
buchhandlung Oskar  Beck,  München.  1919.    299  S. 

Derselbe:  Die  verfluchte  Kultur.    Im  gleichen  Verlag  1921.    45  S. 

Die  Forderung,  mit  der  L.s  geschichtstheoretisches  Buch  schließt:  „ein  Buch, 
das  in  Tagen,  wo  Geschichte  alle  Herzen  erfüllt,  von  Geschichte  befreien  will, 
darf  nicht  selbst  historisch  beurteilt  werden"  (298),  ist  in  dem  vorliegenden  Fall 
umso  weniger  akzeptabel,  als  gerade  L.s  Anschauungen  im  stärksten  Maße  selbst 
Ausdruck  sind  der  geistigen  Situation  der  Zeit.  Der  Stimmung  nach  stehen 
sie  in  der  Nähe  von  Spenglers  Kulturskepsis:  Schatten  des  Untergangs,  Ah- 
nungen vom  „Erkalten  der  Erde",  von  unaufhaltsamem  Verfall  und  Auflösung, 
demgegenüber  einmal  der  zeitgemäße  Glaube  an  das  „ex  Oriente  lux",  zum  andern 
die  postulierte  Notwendigkeit  einer  radikalen  Desillusionierung  in  Bezug  auf  alles, 
was  Geschichte  heißt  —  diese  Züge  bestimmen  die  Physiognomie  des  Buches. 
Sachlich  genommen  liegt  die  Grundauffassung  in  der  Richtung  einer  Metaphysik 
des  Irrationalen,  in  der  sich  Schopenhauersche  und  Nietzschesche  Anfänge  ins 
20.  Jahrhundert  kontinuieren. 

Die  beste  Einführung  in  L.s  Gedanken  gibt  die  kleine   (2  Jahre  nach  dem 
größeren,  mit  dem  Strindbergpreis  ausgezeichneten  Werk  erschienene)  Broschüre. 
Hier  kommt  der  beherrschende  Dualismus  von  Geist   und  Leben  am  stärksten 
zum  Ausdruck.    L.s  ganze  Ausführungen   variieren  das  Doppelthema:   Sehnsucht 
nach   dem   alogischen,   nur   erlebnismäßig   zu   gewinnenden  Urgrund  des  „Leben- 
digen" (in  dem  seit  Nietzsche,  Bergson,  Simmel  geläufigen  emphatischen  Sinn)  — 
Kampf,  Haß  und  Verachtung   gegen   das    „notgeborene  Widerspiel   des  Lebens", 
gegen  dessen  „Ueb ermächtiger"  Geist.     Die  als  Höchstes   gefeierte  Idee  des  Le- 
bens freilich  —  und  darin  offenbart  sich  das  unkritisch  Dogmatische  der   grund- 
legenden Konzeption  —  wird  nur  als  abstraktes  Ethos  wirksam;  unter  dem  Titel 
„Leben"  wird  nur  die  allgemeine  Vitalität,  das  unmittelbare  und  bewußtlose  „Ele- 
mentarischflutende" überhaupt  herausgearbeitet.    Dieses  dumpfe  und  gänzlich  be- 
griffslose Substrat  erscheint  als  Träger  aller  Realität;  einer  Realität  freilich,  die 
stark  an  jene  absolute  Indifferenz  erinnert,  die  einst  von  Hegel  als  die  Nacht,  in 
der  alle  Kühe  schwarz  sind,  bezeichnet  wurde.     Da  sich  über  ein  solches  meta- 
physisch Erstes  systematisch  nicht  viel  sagen  läßt,   treten  faktisch  die  polemisch 
destruierenden  Ausführungen  stark  in  den  Vordergrund.     In  dem  Verhältnis  von 
Leben  und  Geist  liegen  keinerlei  positive  Möglichkeiten  beschlossen.     Alle  Tätig- 
keit der  ratio  ist  lebensf  eindlich;   vernünftige  Formung  vergiftet  und  entseelt 
die  kostbare  Irrationalität  des  Lebendigen.     „Der  sicherste  Totschläger  des  Le- 
bens ist  der  Begriff"  (24).    Kultur  aber  bedeutet  für  diesen  erneuerten  Rous- 
seauismus nichts  anderes  als  die  Gesamtheit  aller  aus  dieser  Lebensvergewaltigung 
erstehenden  Wertformen,   wobei  zwischen  Kultur-  und  Zivilisationserscheinungen 
keinerlei  Unterschied  gemacht  wird:   Kultur  ist    „die  ganze  Welt  menschheits- 
steigernder  Sachwerte,  von  Dynamo,  Turbine,  Eisenbahn,  Dampfschiff  angefangen 
bis  zu  den  höchsten  Leistungen   der  Kunst  und  Wissenschaft"  (20).     Das   Baco- 
nische  Erkenntnisideal  „Wissen  ist  Macht"  erscheint  schlechthin  als   „das  Ideal, 
darin  die  ganze  Geschichte  des  Abendlandes  wurzelt"  (24).   Solche  Voraussetzungen 
ermöglichen  die  These,  daß  für  alles  Ueble,  für  allen  Schmerz,  für  alle  Schrecken 
und  Sinnlosigkeiten  des  Kulturdaseins   dem  „Raubtier  Geist"   die  Schuld  zufalle; 
solche  Voraussetzungen  erklären   auch  die  ungewöhnliche  Auffassung  bestimmter 
geschichtlicher  Persönlichkeiten:  Sokrates,  Buddha  und  Christus   sind  die  ersten 
Verführer  zum  Geist,  Hegel,  Darwin  und  Marx  die  letzten  großen  „Truggeister" 
und  „Köpfeverwüster"  des  Abendlandes.    „Ihr  Werk  ist:  die  Kultur.    Ihr  Werk: 
der  Fluch  der  Kultur"  (39).     Bei  dieser  Polemik  gegen  große  Ahnen  gerät   L.s 
an  sich  schon  extrem  subjektiver  Vortrag  zuweilen  bis  hart   an  die  Grenze  des 
Möglichen  (die  „tollhäuslerische  Annahme"  des  Hegeischen  „Historismus"!). 

Die  „Wandlung  von  Erlebnis  in  Geschichte  zu  belauschen"  (12)  ist  das  Ziel 
des  geschichtstheoretischen  Hauptwerks.  L.  wünscht  hier  „den  ersten  entschie- 
denen  Versuch   zu   einer  historischen   Kategorienlehre   darzubieten"  (5).     Diese 


Besprechungen  (Lessing— Müller-Freienfels).  191 

Kategorienlehre  wird  aber  zu  einer  Negation  der  historischen  Kategorien;  die 
eigentliche  Aufgabe  der  beiden  ersten  Hauptteile  (Erkenntniskritik  und  Psycho- 
logie der  Geschichte)  bildet  die  Zerstörung  der  „Legende"  von  der  Geschichte 
als  Wissenschaft.  Völlig  verkehrt  erscheint  H.  Rick  er  ts  Definition  der  Ge- 
schichte als  Wir klichk ei ts Wissenschaft;  denn  geschichtliches  Erkennen  formt 
die  ursprüngliche  Lebensgrundlage  ebenso  gewaltsam  um  wie  das  naturwissen- 
schaftliche Erkennen.  Alles  Urteilen  über  Geschichte  ist  eine  logificatio  post 
festum  an  der  Hand  fertiger  Normen  und  Wertmaßstäbe.  Es  gibt  in  Wahrheit 
keine  Einheit,  keine  immanenten  Ziele,  keine  Entwicklung,  überhaupt  keine  „ge- 
nerellen Instanzen"  in  der  Geschichte.  Alles  dies  sind  Unterstellungen  der  Ver- 
nunft ;  denn  in  der  geschichtlichen  Materie  selbst  ist  keine  Vernunft.  Diese  Ver- 
nunftlosigkeit  des  geschichtlichen  Lebens  sucht  L.  durch  eine  ausgedehnte  Erör- 
terung der  historischen  Zufälle  darzutun;  die  Wesenlosigkeit  der  „generellen 
Instanzen"  aber  wird  zu  begründen  versucht  durch  eine  stellenweise  an  Lamettries 
zynische  Lehre  von  „Hunger  und  Liebe"  erinnernde  psycho-physiologische  Erklä- 
rung aus  Wunsch  und  Willen,  aus  grober  menschlicher  Notdurft  und  Betäubungs- 
bedürfnis. Geschichtliche  Ideale  sind  „Notausgänge  des  Lebens",  sind  Fiktionen, 
die  an  die  brutale  und  sinnlose  Realität  herangetragen  werden.  Es  „brennt  .  .  . 
hinter  den  historischen  Idealen  nie  etwas  anderes  als  die  aufsummierte  Selbstsucht 
und  aufsummierte  Dummheit  vieler  Einzelnen.  Hinter  jeder  Ansicht  Absicht, 
hinter  jeder  Einsicht  Notdurft"  (22).  —  Der  dritte  Teil  (Geschichte  als  Ideal) 
sucht  nach  solchem  Negativismus  dennoch  einen  Weg,  auf  dem  Geschichte  möglich 
wird,  zu  erschließen.  Hier  kehrt  sich  plötzlich  das  bisher  als  gänzlich  unfruchtbar 
erkannte  Verhältnis  von  Sein  und  Wert  um.  Die  als  Wissenschaft  verpönte 
Geschichte  muß  zur  „umdichtenden  Willenschaft"  erhoben  werden.  Nur 
durch  bewußte  Umgestaltung  der  facta  bruta  nach  Maßgabe  bestimmter  Wertzu- 
sammenhänge entsteht  das  Bild  einer  geschichtlichen  Welt,  das  innere  Berechti- 
gung besitzt.  Die  Weltgeschichte  wird  also  zum  „Weltgedicht",  zur  „Hüterin  des 
schönen  Scheins"  gegenüber  der  „unheiligen  ernüchternden  Erkenntnis  unseres 
Wissens"  (273)  und  die  „rein  illusionäre  Natur  der  Geschichte  (wird)  grade  der 
Geschichte  unverwelklicher  Ruhmestitel"  (233).  Die  Geschichte  darf  „den  er- 
kennenden und  daher  wahnfreien  Geist  nicht  dulden!  Ihre  Macht  ist  die  Macht 
des  Wähnens"  (271).  Eine  Entscheidung  zwischen  den  mannigfachen  möglichen 
„Baugedanken"  der  Geschichte  ist  Sache  des  persönlichen  Erlebens.  L.  selbst 
stellt  von  allen  Lebensdeutungen  die  epikuräische  und  die  buddhistische  am  höchsten. 

Der  beschränkte  Raum  verbietet  eine  eingehende  kritische  Würdigung.  Das 
logisch  nicht  völlig  geklärte  Verhältnis  zwischen  dem  illusionären  dritten  Teil 
und  den  wahnfreien  ersten  Abschnitten  mag  aus  der  referierenden  Wiedergabe 
schon  hervorgegangen  sein.  Besonders  bemerkt  sei  ein  —  leider  nicht  durchge- 
führter —  Gedanke:  die  in  einem  besonderen  Kapitel  versuchte  Bestimmung  der 
Geschichte  als  „allgemeiner  Gestaltenkunde",  als  „universaler  Charakterologie". 
Hier  liegt,  insofern  die  logisch  entscheidenden  Begriffe  der  „Individualität"  und 
des  historisch  Konkreten  angedeutet  sind,  in  den  übrigen  theoretischen  Zusammen- 
hang eingelassen  ein  systematisch  fruchtbarer  Keim. 

München.  Friedrich  Seifert. 


Mttller-Frelenfels,  Richard,  Philosophie;  derlndividualität.  Leipzig. 
Meiner  1921.     XII  u.  272  S. 

Um  eine  bedeutsame  Philosophie  der  Individualität  zu  schreiben,  muß  der 
Philosoph  selber  eine  bedeutsame  Individualität  sein.  Als  solcher  hat  sich  R. 
M.-F.  durch  eine  Reihe  feiner  psychologischer  und  ästhetischer  Schriften  erwiesen. 
In  seinem  neuen  Werke  erfliegt  er  noch  höhere  Höhen. 

Am  Eingang  seiner  —  wie  jeder  echten  —  Philosophie  steht  das  Erkenntnis- 
problem. Was  heißt  Erkennen?  Formung  von  Inhalten.  Also:  Gestaltung  eines 
Chaos  von  Empfindungen  zum  durchdenkbaren  Kosmos ;  Erhebung  von  subjektiven 


192  Besprechungen  (Miiller-Freienfels). 

Eindrücken  zu  objektiver  Gültigkeit;  doch  auch,  und  dies  ist  die  andere  Seite 
des  Vergeistigens :  Abtötung  des  Lebendigen  und  Konservierung  des  Ewigbeweg- 
lichen durch  kategoriale  Gifte.  Von  hier  aus  nun  scheiden  sich  die  Denkertypen. 
Die  Rationalisten  betonen  die  Form  des  Erkennens;  immer  einseitiger  und  ein- 
seitiger; bis  im  äußersten  Falle  das  „Gegebene",  will  sagen,  das  Tatsächliche, 
Einzigartige,  Unauflösliche  zur  bloßen  „Aufgabe"  sich  verflüchtigt;  und  da  schreibt 
denn  zuletzt  Kant  übers  Marburger  Tor:  „Begriffe  ohne  Anschauung  sind  leer". 
Die  Irrationalisten  dagegen  neigen  dazu,  das  allgemeingültige  Gesetz  in  bloße 
Konvention  aufzuweichen  und  zuletzt  sogar  noch  die  Kategorien  selber  als  Fäl- 
schungen der  Wirklichkeit,  als  Idole  und  Fetischismen  beiseite  zu  schieben;  bis 
sie  ganz  am  Ende  vor  der  Realität  des  unmittelbaren  Erlebens  verstummen  müßten, 
wenn  sie  recht  konsequent  sein  wollten;  denn  „Anschauungen  ohne  Begriffe  sind 
blind".  Zu  diesen  extremen  „Lebensphilosophen",  besser  „Erlebensphilosophen" 
nun,  die  jüngst  Rickerts  schneidige  Kritik  traf,  gehört  unser  Autor  nicht;  aber 
immer  doch  zur  zweiten  Gruppe  von  Erkenntnistheoretikern,  zu  den  „Irrationa- 
listen" also.  (Man  vergleiche  auch  seine  schöne  Untersuchung  über  „Rationales 
und  irrationales  Erkennen"  in  den  „Annalen  der  Philosophie",  II).  Ihm  ist  das 
Sein  vor  dem  Denken  (S.  97) ;  denn  schöpferisch  kann  niemals  die  Vernunft  sein ; 
schöpferisch  ist  immer  nur  das  Irrationale  (S.  86 f.;  171);  und  die  letzten  Gründe 
aller  Erkenntnis  sind  ihrem  Wesen  nach  individuell,  also  eben  nicht  von  vorne- 
herein allgemeingültig  (177).  Lächerlich  ist  das  bekannte  Argument  der  Logisten 
gegen  diese  Ansicht:  sie  schließe  ein,  daß  eben  auch  sie  selber  nicht  allgemein- 
gültig sei;  denn:  „Die  Relativisten  behaupten  ja  gar  nicht,  eine  absolute  Er- 
kenntnis erbracht  zu  haben,  sondern  auch  ihr  allgemeinster  Satz,  daß  alle  Er- 
kenntnis relativ  sei,  meint  natürlich  alle  menschliche  Erkenntnis,  besagt  also, 
daß  auch  in  jenem  allgemeinsten  Satze  die  Relation  auf  die  menschliche  Er- 
kenntnis stecke"  (176  f.). 

Wer  nun  mit  dem  Vf.  einerseits  die  Denkformen  für  notwendige  Instrumente 
aller  ersinnlichen  Erkenntnis  hält,  anderseits  aber  sich  weigert,  aus  ihnen  nach 
rationalistischen  Rezepten  das  Sein  hervorgehen  zu  lassen,  dem  bleibt  nichts 
übrig,  als  sie  nach  psychologistischer  oder  biologistischer  Methode  aus  dem  irra- 
tionalen Seelenleben  abzuleiten.  Dies  nun  tut  der  Vf.  in  dem  glänzenden  Ab- 
schnitt von  der  Rationalisierung  des  Vernunftfreien  (S.  85  ff.).  Aus  Probierbewe- 
gungen und  der  mnemischen  Tendenz,  nützliche  Aktionen  zu  wiederholen  („Trial 
and  error":  Bain  und  Jennings),  lassen  sich  zweckmäßige  Gewohnheiten  er- 
klären (S.  95;  100 ff.);  solche  werden  vererbt  (S.  103)  oder  durch  Nachahmung 
fortgepflanzt  (S.  88) ;  zu  ihnen  gehören  nun  auch  die  logischen  Verfahrungs weisen 
(S.  94f.).  Der  soziale  Verkehr  aber  macht  die  Varianten  ausgleichende  „zwischen- 
individuelle Rationalisierung"  nötig  (S.  91)  und  erzwingt  sie,  wo  es  erforderlich 
wird,  durch  Erziehung  (S.  105  ff.).  „Die  Rationalisierung  geschieht  zunächst  überall 
ohne  Ratio"  (S.  96).  Hat  sich  nun  aber  das  psychische  Wesen  mit  Vernünftig- 
keit einmal  bewehrt,  so  wendet  es  diese  Riesenwaffe  wider  alles  Irrationale  an, 
bearbeitet  solches,  macht  es  sich  dadurch  mundgerecht.  Die  „Rationalisierung" 
in  einem  andern  Sinne  des  Wortes  tritt  ein:  die  begriffliche  Erfassung  des  sonst 
Ungreifbaren.  Und  um  die  Fülle  alles  Einmaligen,  Höchstpersönlichen,  Immer- 
wechselnden, das  im  Erleben  keine  Grenzen  und  keine  Normen  kennt  (S.  36 — 81), 
nun  dennoch  zu  packen  und  zu  verstehen,  dazu  tragen  wir  eine  besondere  Kate- 
gorie in  uns:  die  Individualität.  Als  „eine  der  Grundformen  der  denkenden 
Verarbeitung  des  Erkenntnismaterials"  (S.  202)  ist  sie  das  unumgängliche  Mittel, 
in  den  Wirrwarr  des  unmittelbaren  Erlebens  Ordnung  zu  bringen.  Der  Vf.  ver- 
gleicht sie  mit  anderen  Kategorien  ihrer  Gruppe  und  findet  sie  schließlich  als 
eigenartigen  Urbegriff  (S.  203—208) ;  am  ehesten  ließe  sie  sich  mit  dem  Begriffe 
der  „Form"  identifizieren ;  allein,  sie  enthält  im  Gegensatz  zu  diesem  die  Voraus- 
setzung der  Zeitlichkeit  (S.  200) ;  ist  „geprägte  Form,  die  lebend  sich  entwickelt" 
(S.  206);  „Entwicklung"  also  ist  ihr  notwendiges  Korrelat  (S.  36 ff.). 

Ohne  die  so  definierte  Kategorie  nun  ließe  sich  lebendiges  Geschehen  über- 
haupt nicht  auffassen;  ein  Gestöber  unzusammenhängender  Sensationen  wäre  es, 
was  vom  Ich,  merkwürdige  Wechselbilder,  was  vom  Mitmenschen,  vom  Tier,   von 


Besprechungen  (Müller-Freienfels).  193 

der  Pflanze  übrig  bliebe.  So  darf  man  behaupten,  daß  das  Individuum  als  solches 
recht  eigentlich  erst  durch  die  Denkform  der  Individualität  entsteht,  die  es  aus 
den  Strudeln  des  Urerlebens  herausgestaltet.  Im  Fortgange  dieser  Gestaltung  aber 
begegnet  ihr,  was  auch  anderen  Kategorien  geschieht,  wenn  sie  auf  besondere 
Probleme  angewendet  werden:  sie  splittert  sich  in  Antinomien  auf  und  erscheint 
dann  in  einander  widersprechenden  Fiktionen.  Da  finden  wir  für  psychologische 
Zwecke  oft  die  Erdichtung  einer  substantiellen  „Seele"  (S.  20;  118  f.),  eines  „Kernes" 
der  Persönlichkeit  (S.  121)  bequem;  und  dann  wieder  individualisieren  wir  in  der 
Geschichte  gerne  umfassende  „Normalsubjektivitäten"  (S.  68, 111, 125  f.,  130,  230  ff.). 
Wir  verlegen  das  letzte  Geheimnis  der  menschlichen  Handlungen  in  angeblich 
dauerhafte  Charaktere,  die  wir  nach  angeblich  feststehenden  „Typen"  einteilen 
(S.  132  ff.)  —  um  dann  wieder  ein  von  außen  einwirkendes  „Schicksal"  alles  Tun 
und  Leiden  entscheiden  zu  lassen  (136).  Lauter  Fiktionen ;  aber  genug,  sie  helfen 
uns  zur  Herausarbeitung  des  „Individuums"  aus  dem  völlig  Irrationalen,  also  Un- 
zugänglichen, höchstens  durch  „Einfühlung"  zu  Erahnenden  (S.  61,  123,  209,  219). 
Doch  halt !  Geraten  wir  da  nicht  in  einen  Zirkel  ?  Aus '  den  Bedürfnissen 
der  höheren  Lebewesen,  insonderheit  der  Menschen,  also  doch  biologisch  charak- 
terisierter Individuen,  soll  das  Denken  und  mit  ihm  die  Kategorie  der  Individu- 
alität samt  ihren  Auszweigungen  entsprossen  sein;  und  diese  Kategorie  soll  nun 
wieder  das  Individuum  schaffen?  Wie  verträgt  sich  das?  Mit  dieser  Frage  be- 
treten wir  metaphysischen  Boden.  Es  verträgt  sich  unter  folgender  Annahme 
(S.  210):  ein  Irrationales,  Unerkennbares,  nur  im  Drange  des  Augenblicks  blind 
Erfahrbares,  ein  X,  treibt  das  Denken  aus  sich  heraus;  und  das  Denken  stellt 
dieses  X  als  eine  Summe  von  Individuen  vor.  Individuum  ist  demnach  Erschei- 
nung; und  die  dahinter  stehende  letzte  Realität,  das  geheimnisvolle  X  —  ist  das 
„Leben"  (S.  201,213);  Leben  wird  somit  zur  wahren  „Individualitas  individuans" 
(S.  197  ff.,  218).  Das  einzelne  Ich  verliert  ihm  gegenüber  seine  Suveränität;  es 
fehlt  ihm  ja  an  genauer  Abgrenzung  gegen  die  Umwelt  (S.  65  ff.,  221  ff.,  230); 
es  ist  fast  beliebig  spaltbar  (S.  54 ff.);  als  geschlossene  Einheit  tritt  es  keines- 
wegs von  vornherein  auf;  eher  als  Aufgabe  hohen  Menschentums  läßt  sich  die 
„Persönlichkeit"  bezeichnen  (S.  64).  Auch  stellt  sich  das  individualisierte  Leben 
im  einzelnen  Ich  keineswegs  eindeutig  dar;  vielmehr  kommen  da  sieben  verschie- 
dene Erscheinungsweisen  in  Betracht  (S.  11  ff.):  das  Momentan-Ich,  der  Leib,  die 
fiktive  Seele,  das  „Mein",  das  Innenbild,  das  Außenbild,  die  Objektivierung  im 
Wirken.  Man  sieht,  das  Individuum  als  solches  ist  Phänomen;  in  seinem  Leibe 
sowohl  wie  in  seinem  Bewußtsein  spiegelt  sich  ein  „Drittes",  eben  das  Leben 
(S.  199,  213). 

„Ein  Drittes"  —  ist  diese  Konstruktion  nötig?  Gerät  der  metaphysische 
Aufbau  nicht  gefälliger,  wenn  wir  statt  der  Vokabel  „Leben"  die  andere  als 
gleichbedeutend  setzen :  „Seele"  ?  Dann  würden  wir  die  bewußten  Erlebnisse  als 
besondere,  hochkomplizierte  Zustände  des  Dinges  an  sich  auffassen ;  und  dieses  er- 
schiene unsern  Sinnen  als  Leib.  Soweit  nun  brauchte  die  Aenderung  noch  keine 
der  Ansichten  des  Vf.  wesentlich  zu  modifizieren;  nur  die  Polemik  gegen  den 
psychophysischen  Parallelismus  (S.  214)  würde  gegenstandslos.  Aber  es  steckt 
freilich  hinter  der  Ausdrucksweise  des  Vf.  mehr  als  nur  der  Ausdruck.  Der 
Parallelismus  nämlich  hängt  logisch  fest  mit  der  mechanistischen  Weltauffassung 
zusammen ;  diese  nun  würde  sich  mit  des  Vf.  Voraussetzungen  an  sich  vortrefflich 
vertragen ;  zumal  seine  psychologische  Methode  —  wie  er  etwa  nützliche  Instinkte  aus 
Probierbewegungen  ableitet  (S.  95)  oder  den  Willen  zum  bloßen  Bewußtseinsbe- 
gleiter einer  Bedürfnisbefriedigung  macht  (S.  145)  —  mutet  schulgerecht  mecha- 
nistisch an ;  auch  gibt  er  zu,  daß  die  Mechanistik  theoretisch  nicht  zu  widerlegen 
sei  (S.  258).  Allein  genug,  sie  ist  ihm  einmal  zuwider  —  weil  sie  ihm  allzu  ra- 
tional und  maschinenmäßig  vorkommt;  und  verwirft  er  sie,  dann  freilich  muß  er 
seinen  Phänomenalismus  wohl  oder  übel  formulieren,  wie  er  tut.  Vielleicht  zeigt 
sich  hier  ein  gewisser  Konflikt  zwischen  Denkantrieben  und  ästhetischem  Geschmack  ? 
Aber  wenn  schon :  was  täte  das  ?  Auch  Konflikt  ist  Leben,  und  nur  aus  leben- 
digem Leben  keimt  echte  Philosophie.  Dadurch  aber  hebt  sich  Richard  Müller- 
Freienfels  so  hoch  über  die  meisten,  die  sich  heute  Philosophen  nennen:    daß   er 

Kftntstndien.   XX VII.  13 


194  Besprechungen  (Müller-Freienfels — Schulze-Soelde). 

seine  tiefen  und  starken  Gedanken  mit  seinem  Blute,  nicht  mit  Wörtern  nährt. 
Deshalb  regt  er  mit  jedem  Satze  an,  sei  es  zu  lebhafter  Beistimmung  (wie  durch- 
weg den  Ref.),  sei  es  meinethalben  auch  zum  Widerspruch.  Daher  auch  funkelt 
sein  Stil  und  erquickt  zugleich  durch  lautere  Klarheit.  Kurzum,  wir  haben  eine 
ungewöhnliche  Leistung  vielseitigen  und  gediegenen  Denkens  vor  uns :  niemand 
wird  an  dem  Buche  vorbeigehen  dürfen. 

Berlin.  Julius  Schultz. 

Schulze-Soelde,  Walther,  Dr.,  Geschichte  als  Wissenschaft.  Berlin 
1917.    Verlag  Reuther  und  Reichard.    93  S. 

Nicht  um  die  Geschichte  an  sich,  sondern  um  die  Erkenntnis  der  Geschichte 
handelt  es  sich  in  der  vorliegenden  Untersuchung.  Zur  Erörterung  gelangt  die 
den  berühmten  Kantischen  nachgebildete  Frage,  wie  Geschichtswissenschaft  mög- 
lich ist.  Diese  Frage  kann  nach  Schulze-Soelde  weder  in  einer  rein  formallogischen 
Begriffsbildungslehre  auf  die  Art  Rickerts  beantwortet  werden,  noch  durch  eine 
Betrachtung,  die  sich  ausschließlich  an  den  gegenständlichen  Inhalt  wendet.  Auf 
die  Beziehung  zwischen  Form  und  Inhalt  kommt  es  dem  Jünger  Kants  an. 

Allerdings  stellt  Kant  selbst  —  immer  dem  Autor  zufolge  —  diese  Bezie- 
hung für  das  Gebiet  des  Historischen  noch  nicht  zur  Diskussion.  Die  Kantische 
Geschichtsphilosophie  ist  nicht  kritisch;  es  sind  in  ihr  eine  metaphysische  und 
eine  ethische  Epoche  zu  unterscheiden.  Die  Metaphysik  kommt  bei  der  Be- 
gründung der  historischen  Erkenntnis  für  den  streng  wissenschaftlichen  Kritizismus 
nicht  in  Betracht,  aber  auch  nicht  die  die  Sache  in  den  Bereich  des  Praktischen 
hinüberspielende  Ethik.  Nicht  eine  Ethik,  sondern  eine  Theorie  der  Geschichte 
muß  gegeben  werden.  Das  tut  Kant  nicht,  der,  wo  seine  Geschichtsphilosophie 
nicht  metaphysisch  oder  ethisch  orientiert  ist,  das  Problem  der  Geschichte  in 
das  der  Natur  auflöst.  Sein  Verdienst  ist  die  Schöpfung  und  Durchführung  der 
kritischen  Methodik  in  bezug  auf  den  Naturgegenstand;  was  nun  not  tut,  das  ist 
die  Anwendung,  die  Uebertragung  der  kritischen  Methodik  auf  den  eigenartigen 
historischen  Gegenstand. 

Die  Auffindung  dieses  ist  die  Leistung  Hegels ;  von  ihm  wird  das  Bewußtsein 
als  Gegenstand  der  Geschichte  entdeckt,  die  Vernunft,  deren  Begriff  allerdings  so  weit 
zu  fassen  ist,  daß  auch  die  Unvernunft  darunter  fällt.  Freilich  verfährt  Hegel  dog- 
matisch, ontologistisch.  Er  nimmt  nicht  die  vom  kritischen  Standpunkt  aus  un- 
entbehrliche Trennung  zwischen  Ichbewußtsein  und  Gegenstandsbewußtsein  vor, 
zwischen  der  erkennenden  Vernunft  des  Historikers  und  der  zu  erkennenden  Ver- 
nunft als  dem  Gegenstand  der  Historie;  die  Vernunft  wird  bei  ihm  zur  Vernunft 
an  sich.  Wenn  Kant  dem  spezifischen  Charakter  des  inhaltlichen  Momentes  am 
Geschichtsbegriff  nicht  gerecht  wird,  so  ist  das  bei  Hegel  hinsichtlich  der  for- 
malen Struktur  des  Geschichtsbegriffs  der  Fall.  Hieraus  resultiert  die  Notwendig- 
keit einer  Synthese  von  Kant  und  Hegel. 

Es  kommt  also  alles  auf  die  Einsicht  an,  daß  der  Kernpunkt  das  Wechsel- 
spiel zwischen  Ich-  und  Gegenstandsbewußtsein  ist,  die  Beziehung  zwischen  der 
die  Geschichte  erkennenden  und  der  sie  machenden  Vernunft.  Ebendadurch,  daß 
das  Bewußtsein,  die  Vernunft,  nicht  bloß  das  Subjekt,  sondern  zugleich  das  Ob- 
jekt der  Erkenntnis  darstellt,  unterscheidet  sich  die  historische  von  der  Natur- 
erkenntnis. In  bezug  auf  die  Natur  handelt  es  sich  darum,  das  noch  nicht  Be- 
wußte in  der  Erkenntnis,  durch  sie,  zum  Bewußtsein  zu  erheben;  in  bezug  auf 
die  Geschichte  hingegen  ergibt  sich  die  Aufgabe,  das  bereits  Bewußte  zu  erfassen, 
nachzubilden,  zu  erneuern.  Das  von  dem  Historiker  zu  bearbeitende  Material  ist 
im  Unterschied  zu  dem  des  Naturwissenschaftlers  kein  sinnliches,  sondern  ein 
intelligibles.  Wohl  geht  auch  der  Historiker  von  sinnlichen  Daten  aus;  denn  das 
die  Geschichte  schaffende  Bewußtsein  findet  seinen  Niederschlag  in  Taten,  Lei- 
stungen, welche  einen  Ausbruch  des  Bewußtseins  in  die  sinnliche  Aeußerlichkeit 
bedeuten.  Allein  nicht  das  Sinnliche  als  solches,  sondern  die  ihm  immanente  Be- 
deutung, die  ihm  zugrunde  liegende  Vernunft,  ist  der  eigentliche  Gegenstand  der 
Geschichte. 

Daraus  folgt  dann  weiter,   daß   der  Kausalzusammenhang  in  der  Geschichte 


Besprechuugen  (Schulze-Soelde — Schuck).  195 

ein  anderer  ist  als  der  in  der  Natur.  Wenn  das  Historische  aus  der  Vernunft 
hervorgeht,  für  die  doch  die  Spontaneität  kennzeichnend  ist,  so  gibt  es  in  der 
Geschichte  im  Gegensatz  zur  Natur  nicht  eine  Kausalität  der  Gesetzlichkeit,  son- 
dern eine  solche  der  —  nicht  in  ethisch-praktischem,  sondern  in  theoretischem 
Sinne  verstandenen  —  Freiheit.  Der  Gesetzesbegriff  bezieht  sich  nur  auf  das  sich 
regelmäßig  Wiederholende,  mithin  auf  die  Natur;  für  die  Geschichte  aber  gilt 
Leibniz'  principium  identitatis  indiscernibilium  und  damit  die  Freiheit.  — 

Eine  kritische  Würdigung  dieser  Darlegungen  würde  sich  vor  allem  auf 
folgende  vier  Fragen  zu  richten  haben:  1.  auf  die,  ob  in  einer  auf  die  Heraus- 
schälung des  logisch-kritischen  Geltungsproblems  so  ernsthaft  bedachten  Unter- 
suchung die  häufige  Verwendung  der  unter  Umständen  irreführenden  Termini  Ich, 
Bewußtsein,  Subjekt  und  Objekt  zweckmäßig  ist;  2.  auf  die  erheblich  wichtigere 
Frage,  ob  mit  der  von  Schulze-Soelde  an  der  Kantischen  Geschichtsphilosophie 
geübten  Kritik  schon  das  letzte  Wort  gesprochen  ist;  3.  auf  die  noch  sehr  viel 
wichtigere  Frage,  ob  wirklich  das  Entscheidende  für  den  Gesetzesgedanken  der 
Gedanke  der  Regelmäßigkeit  ist,  ob  ferner  jedes  Gesetz  ein  Naturgesetz  ist  und 
folglich  der  Freiheits-  und  der  Gesetzesbegriff  sich  ohne  weiteres  ausschließen, 
so  daß  der  letztere  in  der  Tat  für  die  Geschichtswissenschaft  gar  nicht  in  Betracht 
käme;  4.  auf  die  vielleicht  bedeutungsvollste  Frage,  ob  ohne  jedwede  Beziehung 
auf  die  Idee  der  Kultur  der  Gegenstand  der  Geschichtswissenschaft  erschöpfend 
bestimmt  und  von  dem  der  Naturwissenschaft  hinreichend  abgegrenzt  werden  kann. 
Die  soeben  aufgeworfenen  Fragen  vermögen  an  diesem  Orte  nur  gestellt,  nicht 
beantwortet  zu  werden.  Nur  dies  sei  noch  gesagt,  daß  Schulze-Soeldes  Arbeit  eine 
von  echt  kritischer  Gesinnung  getragene  und  ganz  ungemein  scharfsinnige  ist. 

Berlin- Wilmersdorf.  Kurt  Sternberg. 

Schuck,  Karl,  Professor  in  Karlsruhe,  Spenglers  Geschichtsphilo- 
sophie. Eine  Kritik.  G.  Braunsche  Hofbuchdruckerei  und  Verlagsanstalt  Karls- 
ruhe     B.  1921.    39  Seiten. 

Schucks  Schrift  verdient  unter  der  nach  und  nach  ziemlich  angewachsenen 
Spengler -Literatur  besondere  Beachtung.  Im  Gegensatz  zu  anderen  Schriften, 
die  sich  mit  einzelnen  Thesen,  Auffassungen  und  Deutungen  Spenglers  befassen, 
die  ethisch,  religiös  oder  kulturpolitisch  zu  ihm  Stellung  nehmen,  ihn  bejahen  oder 
verneinen,  versucht  Seh.  zum  erstenmal  eine  prinzipielle  philosophische  Gesamt- 
kritik an  den  Grundbegriffen  der  Spenglerschen  Geschichtsphilosophie  bezw.  Ge- 
schichtsdeutung. Nur  wer  sich  die  Mühe  gemacht  hat,  Spengler  wirklich  durch- 
zuarbeiten, wer  seine  faszinierende  und  verwirrende  Diktion  kennt,  wird  die 
Leistung  der  Sch.schen  Arbeit  zu  schätzen  wissen.  Wenn  Seh.  den  Anspruch  er- 
hebt, eine  erschöpfende  Kritik,  die  nicht  nur  beurteilt,  sondern  auch  versteht,  zu 
geben,  so  kann  das  m.  E.  nur  für  die  Fragestellung  und  Problemandeutung,  nicht 
aber  für  die  Durchführung  gelten.  Im  Verhältnis  zur  Größe  und  Tiefe  der  ange- 
schnittenen Probleme  ist  Sch.s  Kritik  zu  knapp  und  negativ  ausgefallen. 

Seh.  gibt  zu,  daß  die  historischen  Einzelheiten,  das  geschichtliche  Material, 
das  Spengler  für  seinen  Kulturbegriff  und  sein  schicksalmäßiges  Entwicklungs- 
schema verwendet,  auf  Schritt  und  Tritt  Fehler  und  Willkürlichkeiten  aufweist. 
Wenn  Seh.  auch  recht  hat,  daß  alle  Anschauungen  über  solche  Einzelheiten  nur 
relativ  sind,  so  hat  er  doch  nicht  recht,  wenn  er  meint,  daß  eine  genaue  Kritik 
der  Einzelheiten  nicht  nötig  sei,  da  der  Schwerpunkt  der  Entscheidung  von  den 
Prinzipien  her  zu  treffen  ist.  Die  Willkürlichkeiten  dieses  Materials  können 
Grenzen  erreichen,  welche  die  Wissenschaftlichkeit  dieser  ganzen  Geschichts- 
philosophie in  Frage  stellen.  M.  E.  wird  diese  Grenze  von  Spengler  sehr  oft  er- 
reicht und  überschritten.  Wenn  es  z.  B.  nicht  richtig  ist,  daß  der  griechische 
Geist  den  Begriff  des  Unendlichen  nicht  gekannt  hat,  so  fällt  doch  die  gesamte 
Geschichtskonstruktion  des  „faustischen"  Abendlandes  im  Gegensatz  zum  nur  plastisch 
denkenden  Hellenentum.  Was  bleibt  dann  übrig  ?  ...  S.  1 1  seiner  Schrift  stellt 
Seh.  eine  Reihe  wichtiger  Fragen,  ob  die  seelische  Zuständlichkeit  allen  Individuen 
desselben  Kulturkreises  gemeinsam  ist,  ob  es  Ausnahmen  gibt,  ob  Individuen  an- 
derer Völker  und  Kulturkreise  an  dieser  seelischen  Zuständlichkeit  auch  teilhaben 

13* 


196  Besprechungen  (Schuck — Bruhn). 

können.  Seh.  erledigt  sie  damit,  daß  durch  sie  die  eigentlich  metaphysische  Grund- 
lage des  Kulturbegriffes  nicht  berührt  werde.  Und  doch  ist  das  der  Fall,  denn 
die  ganze  mögliche  Bedeutung  und  Geltung  der  Hypothese  „Kulturseele"  steht 
und  fällt  mit  der  Beantwortung  dieser  Fragen.  Denn  wenn  diese  Kulturseele 
nicht  allen  Individuen  des  Kulturkreises  gemeinsam  ist,  wenn  sie  hinausreicht  in 
andere  Kultursphären,  wenn  diese  Kontinuität  Formen  erreicht,  die  den  ganzen 
Sinn  des  Begriffes  qualitativ  ändern,  was  bleibt  dann  von  der  ganzen  Konzeption 
noch  übrig?  Seh.  lehnt  Spenglers  metaphysischen  Kulturbegriff  ab,  weil  er  will- 
kürliche Deutungen  zuläßt  und  die  Entwicklung  in  ein  Zwangsschema  preßt,  in 
das  sie  nicht  gepreßt  werden  kann.  Allerdings  glaubt  er,  daß  auch  manches  für 
Spengler  spricht,  so  die  Erscheinungen  der  kulturellen  Hochblüten,  „die  sich  jeden- 
falls nicht  immer  rein  kausal  erklären  lassen",  sondern  wo  wirklich  die  Herrschaft 
bestimmter  Ideen  durchgeführt  ist.  Zunächst  ist  diese  „Herrschaft  bestimmter 
Ideen"  ein  recht  problematischer  Begriff  der  Geschichtsphilosophie,  der  noch  drin- 
gend der  Klärung  bedarf  und  dann:  muß  man  denn  metaphysische  Kulturseelen 
annehmen,  wenn  man  nicht  Kausalitätstheoretiker  sein  will?  Seh.  selbst  erkennt 
in  der  eigentlichen  philosophischen  Kritik,  die  sich  ja  von  der  historischen  nur 
ganz  künstlich  trennen  läßt,  daß  sich  hier  das  Problem  einer  historischen  Gesetz- 
mäßigkeit im  Gegensatz  zur  kausalen  und  biologischen  erhebt.  Aber  an  diesem 
Punkt,  wo  nun  das  Positive  der  Kritik  einzusetzen  hätte,  begnügt  sich  Seh.  mit 
Aufstellung  einer  „noetischen"  Gesetzmäßigkeit,  die  nur  angedeutet  und  daher 
unklar  bleibt.  Hier  hätte  eine  Auseinandersetzung  mit  der  Geschichtsphilosophie 
der  Wertphilosophen,  mit  der  ökonomischen  Geschichtsauffassung  und  mit  der 
heutigen  Soziologie  einsetzen  müssen.  Ein  Gedankensprung  Sch.s  sei  hier  kurz 
noch  angemerkt.  Seh.  tadelt  in  Spengler  mit  vollem  Recht  eine  einseitig  psy- 
chologistische  Geschichtsauffassung.  So  Seite  21;  Seite  31  kommt  dann  die 
plötzliche  Behauptung:  „Der  einseitige  erkenntnistheoretische  Subjek- 
tivismus Spenglers  ist  das  Produkt  gewisser  Formen  des  Neukantianismus,  die  in 
immanenz-  und  geltungsphilosophischen  Einseitigkeiten  befangen  sind  und  die 
Dinge  an  sich  —  als  vorkantisch  —  glauben  leugnen  zu  müssen."  Es  geht  doch 
nicht  an,  psychologistische  Geschichtsauffassung  mit  erkenntnistheoretischem  Sub- 
jektivismus zu  identifizieren,  ganz  abgesehen  davon,  daß  Erkenntnistheorie  die 
weitaus  schwächste  Seite  Spenglers  ist. 

So  wertvoll  die  kritischen  Fragestellungen  Seh  s  im  einzelnen  sind,  die  Funda- 
mentalfrage wird  nicht  gestellt.  Spengler  will  Weltbildschöpfer  sein,  will  Gesamt- 
erkenntnis geben,  die  Zukunft  vorausbestimmen.  Es  ist  zu  fragen,  kann  das  noch 
Aufgabe  einer  Philosophie  sein,  die  Wissenschaft  sein  will?  Wer  den  transzen- 
dentalen Grundgedanken  des  kantischen  Kritizismus  verstanden  hat,  wird  das  ver- 
neinen müssen.  Die  kritische  Philosophie,  die  jene  metaphysischen  Türme  haßt, 
um  die  gemeiniglich  viel  Wind  ist,  steckt  sich  bescheidenere  Ziele,  das  andere 
überläßt  sie  der  Kunst,  die  keine  strenge  logische  Rechenschaftslegung  erheischt. 

Heidelberg.  Dr.  Emil  Kraus. 


IL   Religionsphilosophie. 

Bruhn,  Wilhelm,  Dr.,  Privatdozent  an  der  Universität  Kiel,  Der  Ver- 
nunftcharakter der  Religion.  Leipzig.  1921.  Verlag  von  Felix  Meiner. 
283  Seiten. 

„Es  genügt  nicht,  daß  heutzutage  weithin  das  Interesse  an  den  irrationalen 
Erlebenstatsächlichkeiten  erwacht  ist.  . . .  Vielmehr  ist  die  Aufmerksamkeit  darauf 
zu  lenken,  daß  hier  ein  für  den  wissenschaftlichen  Standpunkt  ganz  unerhörter 
Anspruch  erhoben  wird,  den  es  logisch  nachzuprüfen  gilt.  Besonders  die  Theo- 
logie, welche  doch  in  besonderem  Maße  die  rationale  Wissenschaft  von  einem 
Irrationalen  sein  will,  darf  sich  nicht  daran  genügen  lassen,  das  letztere  als  ihr 
Schoßkind  umherzutragen  und  sich  in  seiner  Eigenwilligkeit  zu  sonnen,  sondern 
hat  die  Pflicht,  die  Tatsächlichkeit  als  Anspruch  aufzufassen  und  als  Problem  dem 
Logos  zur  Feststellung  des  Vernunftcharakters  zu  überantworten." 


Besprechungen  (Bruhn).  197 

Mit  diesen  Worten  hat  der  Verfasser  die  Prohlemlage  seines  Werkes  nach 
meinem  Urteil  so  zutreffend  formuliert,  daß  ich  sie  voranstelle,  obschon  sie  in  seiner 
Arbeit  selbst  erst  an  einer  verhältnismäßig  recht  späten  Stelle  (S.  163  f.)  erscheinen. 
Die  ersten  anderthalbhundert  Seiten,  die  dieser  Formulierung  vorangehen,  sind 
ausgefüllt  mit  kritikreichen  Erörterungen  des  Wirklichkeits-  und  des  Geltungs- 
begriffs und  der  Konstruktion  der  drei  Geltungsreihen  des  Nurbewußten,  des 
Ueberbewußten  und  des  Auchbewußten.  Unter  dem  Nurbewußten  ist  das  Erlebte, 
unter  dem  Ueberbewußten  das  Normative,  unter  dem  Auchbewußten  das  mit  dem 
Bewußtsein  der  Normativität,  folglich  des  transsubjektiven  Forderungscharakters 
Erlebte  zu  verstehen.  Es  kann  übrigens  sein,  daß  damit  die  Meinung  des  Ver- 
fassers noch  nicht  ganz  zutreffend  charakterisiert  ist.  Aber  ich  müßte  S.  62— 66 
ausschreiben,  um  dem  Leser  das  zur  Nachprüfung  erforderliche  Material  vorzu- 
legen, und  würde  mich  selbst  doch  nicht  deutlicher  ausdrücken  können,  als  es  so- 
eben versuchsweise  geschehen  ist.  Vielleicht  geht  meine  Unsicherheit  auch  darauf 
zurück,  daß  hier  im  Text  nicht  alles  so  klar  ist,  wie  es  wünschenswert  wäre. 
Gegen  die  Identifizierung  des  Normativen  mit  dem  Ueberbewußten  würde  ich  z.  B. 
sehr  ernste  Bedenken  anzumelden  haben. 

Die  Analysis  der  „Geltung  des  Auchbewußten"  führt  den  Verf.  anfangs  in 
die  nächste  Nähe  Frischeisen-Köhlers,  dem  das  Verdienst  zugesprochen 
wird,  „das  psychologische  Erleben  Diltheys  zu  einem  kritischen  Empirismus  des 
Irrationalen  durchgebildet  zu  haben"  (S.  177).  Schließlich  aber  drängen  ihn  kriti- 
sche Bedenken  (S.  190  ff.),  deren  Wiedergabe  ohne  eine  eingehende  Interpretation 
des  für  meine  Begriffe  recht  schwierigen  Textes  nicht  möglich  sein  würde  und 
daher  an  dieser  Stelle  unterbleiben  muß,  auch  über  Frischeisen-Köhler  hinaus  zu 
folgender  Position,  die  ich  im  Interesse  einer  treuen  Berichterstattung  in  des  Ver- 
fassers eigener  Formulierung  hier  einsetze: 

A)  „Das  menschliche  Bewußtsein,  für  gewöhnlich  in  der  Knechtschaft  der 
Dinge  von  Erscheinung  sich  zu  Erscheinung  spinnend,  erfaßt  sich  in  den  Augen- 
blicken der  Selbstbesinnung  ohne  weiteres  als  die  Dauer  im  Wechsel,  den  festen 
Punkt  in  der  Erscheinungen  Flucht"  (S.  196). 

B)  Dieses  unantastbare  „Ichheitsfaktum"  ist  der  wissenschaftlich  geltende 
Beweis  dafür: 

„1.  Daß  das  subjektiv-individuelle  Bewußtsein  das  reale  Sein  umschließt;  und 
zwar  ...  als  das  Transsubjektive,  in  welchem  das  schlechthin  Unabhängige  gegen- 
über der  subjektiven  Empirie  und  damit  der  gesuchte  Halt  im  Flusse  der  Er- 
scheinungen gegeben  ist; 

2.  Daß  diese  Realität  als  ein  unmittelbarer  Besitz  in  einer  irrationalen  Be- 
wußtseinsfunktion des  Habens  gegeben  ist,  d.h.  nicht  als  ein  Erkennen  und 
Wissen,  nicht  als  Gedanke,  Begriff,  Postulat  oder  seelische  Zuständlichkeit,  son- 
dern als  ein  mit  dem  Bewußtsein  auf  eine  nicht  aufzudeckende  Weise  organisch 
und  innig  verbundenes  Selbstleben,  daher  von  nicht  zu  überbietender  Unmittelbar- 
keit und  Gewißheit. 

3.  ...  Auch  das  Erleben  des  Schönen,  des  Sittengesetzes  und  der  Gottheit 
beansprucht  die  Geltung  einer  transsubjektiven  Realität.  ...  Da  nun  einer  dieser 
Inhalte,  nämlich  das  Ichbewußtsein,  seinen  Realitätscharakter  erwiesen  hat,  so 
folgt  daraus,  daß  auch  die  Realität  der  anderen  für  wissenschaftlich  erwiesen 
gelten  muß,  sofern  diese  die  gleichen  Kriterien  der  Irrationalität  und  Unmittelbar- 
keit aufzuweisen  haben.  Damit  ist  das  Erlebnis  des  Künstlers,  des  Sittlichen,  des 
Frommen  wissenschaftlich  unterbaut"  (S.  249  f.). 

Was  insbesondere  die  Religion  betrifft,  so  befindet  sie  sich,  „sofern  sie  nichts 
anderes  sein  will,  als  eine  bestimmte  seelische  Form  des  Realerlebens,  in  Ueber- 
einstimmung  mit  der  Wissenschaft,  und  ihre  subjektive  Gewißheit  hat  objektive 
Geltung  zu  beanspruchen.  Damit  ist  der  Vernunftcharakter  der  Reli- 
gion erwiesen"  (S.  259). 

Das  ist  er  unstreitig,  wenn  anders  der  Glaube  an  das  bewußtseinsunabhän- 
gige Dasein  der  Substrate  gewisser  Erlebnisinhalte  ein  Vernunftglaube  ist,  und 
—  wenn  die  Religion  so  anspruchslos  wird,  sich  als  eine  bestimmte  seelische  Form 
des  Realerlebens  charakterisieren  zu  lassen.  Vielleicht  hängt  es  mit  meiner  theo- 


198  Besprechungen  (Bruhn — Scholz). 

logischen  Herkunft,  vielleicht  mit  einem  andern  Vorurteil  zusammen,  daß  es  mir 
nicht  gelingen  will,  die  wirkliche  Religion,  die  so  anspruchsvoll  ist,  daß  sie  den 
Menschen  mit  unerbittlicher  Strenge  vor  die  Gottesfrage  stellt,  in  dieser  Cha- 
rakteristik wiederzuerkennen. 

Aber  darin  irre  ich  wohl  nicht,  daß  es  unmöglich  ist,  die  Religion  mit 
dem  Verfasser  der  vorliegenden  Untersuchung  in  einem  Atemzuge  als  ein  Gott- 
haben und  —  für  das  wissenschaftliche  Urteil  —  als  eine  bestimmte  seelische 
Form  des  Realerlebens  zu  charakterisieren.  Es  muß  vielmehr  unter  allen  Um- 
ständen heißen:  Religion,  im  Licht  der  Erkenntnis  gesehen  und  an  den  Maß- 
stäben empirischer  Existentialurteile  gemessen,  ein  Wirklichkeitsbewußtsein  von 
transzendentem  Inhalt,  folglich  von  größter  Fragwürdigkeit.  Dann  aber 
ist  ihr  Vernunftcharakter  jedenfalls  nicht  auf  einem  Wege  erweisbar,  dessen  Be- 
weiskraft darauf  beruht,  daß  an  der  entscheidenden  Stelle  der  Transzendenz- 
charakter gestrichen  und  die  ihm  kategorisch  unterworfene  Religion  zu  einer 
neutralisierten  seelischen  Form  des  Realerlebens  herabgestimmt  wird. 

Auch  ist  mir  nicht  recht  klar  geworden,  warum  der  Verfasser  für  diesen 
Beweis  noch  einen  besonderen  Unterbau  in  Gestalt  einer  schwer  zu  durch- 
schauenden Lehre  von  der  Konstanz  des  Ich  geliefert  hat.  Ich  bin  geneigt,  diesen 
Unterbau  auch  deshalb  für  entbehrlich  zu  halten,  weil  es  mir  nicht  gelungen  ist, 
mit  der  Idee  eines  Ich,  das  sich  selbst  in  seiner  Konstanz  als  etwas  Transsubjek- 
tives erlebt,  einen  bestimmten  Begriff  zu  verbinden. 

Endlich  möchte  ich  nicht  verschweigen,  daß  ich  mir  bei  dem  Geltungs- 
charakter des  Wirklichen,  von  dem  in  diesem  Buch  unablässig  die  Rede  ist,  auch 
nichts  Bestimmtes  zu  denken  vermag.  Geltung  ist  etwas,  was  den  Urteilen  zu- 
kommt und  mit  ihrem  Wahrsein  zusammenfällt.  Was  Geltung  sonst  noch  be- 
deuten könnte,  und  was  insbesondere  dem  Wirklichen  widerfährt,  dadurch  daß 
ihm  eine  bestimmte  Geltung  oder  ein  besonderer  Geltungscharakter  zugeschrieben 
wird,  scheint  mir  noch  immer  so  dunkel  zu  sein,  daß  ich  diesen  Begriff  lieber  gar 
nicht  gebrauchen,  als  an  einer  Stelle  verwenden  würde,  wo  deutliche  Begriffe  am 
nötigsten  sind. 

Kiel.  Heinrich  Scholz. 

Scholz,  Heinrich,  o.  ö.  Professor  a.  d.  Universität  Kiel,  Der  Unsterb- 
lichkeitsgedanke als  philosophischesProblem.  Berlin.  1920.  Reuther 
und  Reichard.   96  S. 

Bewußt  den  Namen  eines  Metaphysikers  nicht  fürchtend,  rührt  der  Ver- 
fasser an  jenen  dunkeln  Vorhang,  der  uns  die  Aussicht  über  das  Grab  hinaus 
verschließt.  Der  Tod,  allen  Positivisten,  Materialisten  und  ihren  Geistesverwandten 
eine  gleichgültige  Sache  oder  höchstens  ein  Aergernis,  wird  ihm  zum  Problem, 
und  mit  kritischer  Wage  prüft  er  die  Versuche,  die  vor  ihm  unternommen  sind, 
den  Tod,  das  scheinbar  Negativste,  umzuwerten  in  ein  Positives.  Auf  Grund  um- 
fassender Belesenheit  stellt  Scholz  mit  vollendeter  Klarheit  die  einzelnen  Lösungen 
einander  gegenüber,  alle  Möglichkeiten  abwägend,  um  sich  zuletzt  jener  Meinung 
anzuschließen,  die  im  Tode  nicht  einen  Untergang,  sondern  einen  üebergang  zu 
höheren  Lebensformen  von  unsichtbarer,  aber  persönlicher  Beschaffenheit  sieht, 
so  daß  jenseits  der  Grabesnacht  der  Morgenstern  der  Unsterblichkeit  aufleuchtet. 
Nachdem  in  kurzem  Kapitel  Piatons  Begründung  und  Kants  Kritik  der  Unsterb- 
lichkeitsbeweise besprochen  sind,  erörtert  der  Verfasser  wieder  in  trefflicher 
Nebeneinanderstellung  die  Umformungen,  die  der  Unsterblichkeitsgedanke  in  alter 
und  neuer  Zeit  gefunden  hat.  Besonders  wertvoll  erscheint  mir  die  Erörterung 
des  Begriffs  des  Ewigen  Lebens. 

Im  Schlußabsatz  endlich  spricht  Scholz  über  die  Grundlagen  und  den  Ge- 
halt des  Unsterblichkeitsglaubens,  hier  seine  persönliche  Stellung  offenbarend.  Er 
bezeichnet  sein  Verfahren  als  ein  „argumentierendes"  Denken,  das  er  zwar  vom 
„demonstrierenden"  der  exakten  Wissenschaft  unterscheidet,  darum  jedoch  keines- 
wegs als  „phantasierend"  angesprochen  wissen  will.  So  geht  er  eingestandener- 
maßen nicht  auf  Unsterblichkeitsbeweise,  sondern  nur  auf  Begründungen  des 
Unsterblichkeitsglaubens  aus.    Und  zwar  findet  er  dessen  Grundlagen  in  dem 


Besprechungen  (Scholz — Enckendorff).  199 

Erlebnis  der  Unzerstörbarkeit  des  Geistes  und  der  Kraft  und  ferner  in  sekun- 
dären Motiven  wie  dem  Glauben  an  eine  sittliche  Weltordnung,  an  einen  Sinn  der 
Geschichte,  dem  Gedanken  der  Vollendung.  Scholz  schließt  damit,  daß  der  Un- 
sterblichkeitsglaube in  dem  Sinne,  in  dem  er  philosophisches  Problem  werden 
kann,  der  auf  den  Erlebnissen  und  Spekulationen  hochstehender  und  hochgesinnter 
Menschen  auf  ruhende  Glaube  an  die  Ewigkeit  des  persönlichen  Geistes  sei. 

Das  Büchlein  ist  wertvoll  und  klärend,  selbst  wenn  man,  wie  ich  selbst,  der 
Meinung  ist,  daß  der  hier  vorausgesetzte  Begriff  der  Persönlichkeit  oder  der  In- 
dividualität zunächst  seinerseits  als  Problem  gefaßt  werden  müßte.  Das  schließt 
aber  nicht  aus,  daß  man  innerhalb  des  gezogenen  Rahmens  mit  Vergnügen  den 
lichtvollen  Erörterungen  des  Verfassers  folgt,  die  in  seiner  kürlich  erschienenen 
wertvollen  „Religionsphilosophie"  noch  bedeutsame  Ergänzungen  finden. 

|Berlin-Halensee.  Richard  Müller-Freienfels. 

Enckendorff,  Marie  Luise,  Ueber  das  Religiöse.  München  und  Leipzig, 
1919.   Verlag  von  Duncker  &  Humblot.    180  Seiten. 

Das  Buch  handelt,  wie  schon  der  Titel  vermuten  läßt,  nicht  von  den  ver- 
schiedenen Religionen  sondern  von  der  Religion.  Das  ersteKapitel  behandelt 
das  Wesen  der  Religion  im  engeren  Sinne.  Vf.  erblickt  es  in  einer  spezifischen 
inneren  Haltung,  die  ein  Urphänomen  ist  und  daher  nicht  weiter  zergliedert,  son- 
dern auf  die  nur  hingewiesen  und  die  nur  angedeutet  oder  durch  Vergleiche  und 
Gegenüberstellungen  gekennzeichnet  werden  kann.  Die  entwickelte  Auffassung 
stimmt  wesentlich  überein  mit  derjenigen  Ottos  in  seinem  Buch  über  „das  Heilige" : 
in  der  religiösen  Verfassung  läßt  der  Mensch  die  Erfahrungswelt  vollständig 
hinter  sich  und  steht  einem  unbedingt  Ueberlegenen  und  Erhabenen  gegenüber 
mit  Gefühlen  im  Sinne  der  eigenen  Nichtigkeit,  des  Grauens  und  der  unbedingten 
Unterwerfung  und  Verehrung.  Daneben  klingt  eine  andere  Gedankenreihe  an,  bei 
der  man  an  das  erste  Kapitel  in  Simmeis  hinterlassenem  Werk  „Lebensanschauung 
(vier  metaphysische  Kapitel)"  denken  mag:  in  der  religiösen  Verfassung  bewegt 
sich  der  Mensch  ganz  und  gar  in  jener  spezifischen  Welt  des  Geistes  (Erhebungs- 
welt), die  der  Welt  der  Nützlichkeit  (Anpassungswelt)  gegenüber,  auf  die  das 
animalische  Leben  beschränkt  ist,  eine  spezifische  Eigenschaft  des  Menschen  aus- 
macht. Von  dieser  „echten  Religion"  ist  für  unsere  Auffassung  streng  zu  unter- 
scheiden eine  „unechte  Religion":  bei  dieser  dringt  in  die  höhere  Welt  wieder 
die  niedere  Welt  mit  ihren  Nützlichkeitsinteressen  ein  und  sucht  das  Göttliche  in 
den  Dienst  menschlicher  Zwecke  zu  ziehen  und  wendet  überhaupt  die  Vorstellungen 
der  Erfahrungswelt  auf  das  Göttliche  an.  Beide  Formen  der  Religion  sind  jedoch 
nur  dem  Wesen  nach  zu  scheiden;  in  der  Wirklichkeit  des  religiösen  Lebens 
vermengen  sie  sich  unentwirrbar. 

Das  zweiteKapitel  behandelt  den  tiefen  Unterschied  zwischen  dem  reli- 
giösen Erlebnis  und  seinem  Niederschlag  im  Dogma,  oder  anders  ausgedrückt 
zwischen  dem  religiösen  Erlebnis  und  seiner  Rationalisierung.  Freiheit  z.  B.  als 
religiöses  Erlebnis  (bekanntlich  auch  als  Erlebnis  schlechtweg,  d.  h.  auch  abge- 
sehen vom  religiösen  Einschlag)  ist  etwas  ganz  anderes  als  das  metaphysische 
Dogma  vom  freien  Willen.  Ebenso  ist  es  mit  der  Allmacht  Gottes:  „Macht,  All- 
mächtigkeit ist  Macht  über  vorhandene  Potenzen.  Allmächtigkeit  ist  Allmächtig- 
keit über  . . .  Allmächtigkeit  schlechthin  ohne  jenes  „über"  . . .  hebt  sich  auf, 
kann  nicht  gedacht  werden.  Man  kann  sie  ins  Absolute  nicht  transponieren  . . . 
die  absolute  Kausalität  ist  nicht  Allmacht.  Sie  aber  wird  gefolgert  aus  dem  reli- 
giösen Erlebnis  Allmacht"  (S.  46)  ...  „es  ist  kein  Gesetz,  daß  das,  was  wir  sind 
und  erleben  . . .  logisch  einwandfrei  ausgedrückt  werden  müßte.  —  Die  Schwierig- 
keiten der  Theodizee  fallen  hierunter"  (S.  48).  (Zu  den  letzten  Beispielen  ist  frei- 
lich zu  bemerken,  daß  die  Unmöglichkeit  einer  Theodizee  wesentlich  auch  aus  Tat- 
beständen herrührt,  die  die  älteren  Weltanschauungen  im  allgemeinen  nicht  be- 
achtet und  nicht  gewürdigt  haben).  Alle  derartigen  theoretisch-metaphysischen 
Fragen,  sagt  Vf.  mit  Recht  (S.  49),  sind  keine  religiösen  Fragen :  „Sie  sind  Fragen 
des  religiösen  Menschen,  insoweit  er  nicht  religiös  ist."  Bei  den  religiösen  Erleb- 
nissen selbst  handelt  es  sich  um  unbestreitbare  Tatsachen,  bei  ihren  rationalen 


200  Besprechungen  (Enckendorff). 

Objektivierungen  dagegen  um  Lehren  mit  unauflöslichen  Widersprüchen.  Ein 
tiefer  Sinn  und  Gehalt  kommt  nur  in  der  ersten  Reihe  zum  Ausdruck,  während 
die  zweite  Reihe  durchweg  Trugprobleme  gezeitigt  hat.  Den  neueren  psycholo- 
gischen Anschauungen  gemäß  könnte  man  hier  auch  von  einem  Gegensatz  sprechen 
zwischen  Tiefengebilden  und  ihrem  oberflächenhaften  rationalen  Ueberbau;  und 
es  ist  charakteristisch  für  unsere  Zeit,  daß  das  Verständnis  für  jene  Tiefengebilde 
selbst  zum  großen  Teil  bei  uns  verschüttet  ist. 

Das  dritte  Kapitel  handelt  vom  Christentum:  es  übt  Kritik  an  den 
empirischen  christlichen  Religionen  oder  Kirchen  und  deckt  deren  Gebrochenheit 
auf.  Der  Gott  des  Christentums  ist  weitabgewandt  und  läßt  die  sinnlich-irdische 
Seite  des  Lebens  in  der  religiösen  Welt  nicht  zu  ihrem  Rechte  kommen.  Das 
Christentum  hat  nicht  vermocht,  dieses  Gebiet  des  Lebens  zu  vergöttlichen.  Ent- 
weder kommt  es  überhaupt  nicht  zu  seinem  Rechte  oder  es  sucht  sich  selbst  sein 
Recht  in  naturalistischer  Weise  auf  Kosten  der  Religion.  Stellenweise  hat  Vf.  er- 
greifende Wendungen  für  diesen  Gedanken  gefunden.  So  S.  103.  „Es  schien  er- 
reicht, daß  der  Mensch  mit  dem  Scheitel  die  Sterne  berührte.  Allerdings:  sowie 
er  mit  Füßen  die  Erde  wieder  berühren  wollte,  reichte  er  nicht  mehr  hinauf, 
sondern  war  nur  auf  der  Erde,  vom  Himmel  abgetrennt,  wie  er  dort  von  der  Erde 
abgetrennt  war.  Uns  fehlt  immer  noch  der  Gott,  der  uns  auf  Erden  gründet  und 
im  Himmel  hält."  Im  ganzen  aber  bewegt  sich  das  Kapitel  in  Wiederholungen, 
die  teilweise  auch  stilistisch  nicht  einwandfrei  ausgefallen  sind. 

Am  schwächsten  ist  wohl  das  letzte  Kapitel  geraten.  Es  handelt  vom 
religionslosen  Leben  der  Gegenwart,  indem  es  Kritik  übt  am  Utilitarismus  und  Po- 
sitivismus und  deren  innere  Unmöglichkeit  aufdecken  will.  Stellenweise  schlägt 
die  Verfasserin  auch  hier  ergreifende  Töne  an.  „In  der  menschlichen  Art  liegt 
es,  daß  er  seine  gerade  menschlichen  Fähigkeiten  gebrauchen  kann  zu  einer  bloßen 
Parodie  auf  das  Animalische.  Der  Mensch  kann  sich  dem  Gestrudel  seiner  Triebe 
überlassen  und  das  Sichereignen  mit  Reflexion  begleiten  . . .  und  hat  der  Mensch 
es  gar  zu  einem  Maße  von  Geistigkeit  gebracht  und  kann  er  sich  dennoch  nicht 
festhalten,  ...  so  übergießt  seine  Geistigkeit  diesen  Prozeß  mit  einem  Schimmer, 
der  ihn  zehnfach  schauerlich,  zehnfach  demütigend  macht.  . . .  Die  Feinheiten  der 
Kultur,  die  die  feinsten  Schleier  zieht,  begleiten  den  Menschen  grotesk  und  scheuß- 
lich auf  dem  Abwärtswege"  (S.  120).  —  „Jene  Unterscheidung  von  den  Vielen 
und  den  Wenigen  ist  das  hochmütigste  und  gedankenloseste  Wort.  . . .  Die  massa 
perditionis  ist  in  Jedem  von  uns  —  die  Sinnlosigkeit.  . . .  Jeder  Mensch  ist  nur 
die  Möglichkeit  zu  einem  Menschen  und  die  Möglichkeit  wird  nur  in  Augenblicken 
zur  Wirklichkeit.  Nach  diesen  Augenblicken  zählt  der  Mensch"  (S.  138).  Im  ganzen 
ermüdet  das  Kapitel  aber  durch  seine  fortgesetzten  Wiederholungen,  und  man 
vermißt  hier  besonders  jede  Fühlung  mit  der  vorhandenen  Literatur.  Wer  dächte 
z.  B.  bei  der  eben  zuerst  angeführten  Stelle  nicht  an  die  bekannte  Unterscheidung 
von  Kultur  und  Zivilisation? 

Die  Form  der  Darstellung  fordert  zur  Kritik  heraus.  Der  Stil  ist 
an  vielen  Stellen  nachlässig.  Häufig  sind  Einwortsätze,  gleichsam  bloße  Ueber- 
schriften.  An  vielen  Stellen  hat  der  Stil  einen  halblyrischen  Charakter;  stellen- 
weise fällt  er  auch  in  den  Ton  der  Predigt.  Die  Darstellung  bewegt  sich  oft  in 
einer  Reihe  von  Wiederholungen  eines  Gedankens,  die  äußerlich  an  musikalische 
Variationen  erinnern,  aber  ohne  deren  Gehalt  und  Berechtigung  zu  besitzen.  Sie 
ist  auch  gesättigt  mit  biblischen  Reminiszenzen.  Dazwischen  tauchen  lange  Aus- 
züge aus  religionsgeschichtlichen  Werken  auf.  Was  den  Inhalt  anbetrifft,  so  ist 
von  einer  planmäßigen  Entwicklung  der  Gedanken,  einer  geordneten  Disposition 
nirgend  die  Rede.  Erst  recht  fehlt,  wie  schon  angedeutet,  jede  Stellungnahme  zu 
der  vorhandenen  Literatur.  Man  möge  das  Buch  einmal  mit  Ottos  Buch  über 
„das  Heilige"  vergleichen,  das  zum  Teil  denselben  Gegenstand  behandelt,  um  den 
Unterschied  zwischen  einer  planmäßigen  wissenschaftlichen  Darstellung  und  ihrem 
Gegenteil  voll  zu  würdigen.  Man  hat  den  Eindruck,  daß  hier  eine  erste  Nieder- 
»chrift  von  aufgetauchten  Gedanken  (die  Verfasserin  hat  wirklich  Gedanken),  Ge- 
fühlsergüssen und  Auszügen  vorliegt,  die  dann  unbearbeitet  zum  Verleger  ge- 
wandert ist.    Wer  aber  über  so  viel  Tiefe  und  Innerlichkeit  verfügt,   wie  sie  aus 


Besprechungen  (Enckendorff— Steffes).  201 

diesem  Buche  spricht,  bei  dem  darf  man  wohl  auch  die  Fähigkeit  voraussetzen, 
seine  Gefühle  und  Gedanken  klar  zu  gestalten,  so  wie  dies  nicht  nur  jeder  Ge- 
lehrte, sondern  auch  jeder  echte  Künstler  vollbringt. 

Berlin.  Alfred  Vier  k  an  dt. 

Steffes,  J.  P.,  Dr.  theol.  et  phil.,  Privatdozent  an  der  Universität  Münster, 
Eduard  von  Hartmanns  Religionsphilosophie  des  Unbewußten. 
Auf  der  Grundlage  seiner  induktiven  Metaphysik  dargestellt  und  kritisch  ge- 
würdigt. Ein  Beitrag  zur  Auseinandersetzung  zwischen  theistischer  und  monisti- 
scher Weltanschauung.  Mit  Druckerlaubnis  des  hochwürdigsten  Herrn  Bischofs  von 
Rottenburg.  Mergentheim.  1921.  Karl  Ohlingers  Verlag.  XII  und  575  Seiten. 
SO  Mark. 

Das  Werk  behandelt  zunächst  dieerkenntnistheoretischenVoraus- 
setzungen,  dann  —  weit  ausführlicher  —  die  induktive  Metaphysik 
Hartmanns  als  Grundlage  seiner  Religionsphilosophie,  endlich  diese  Religions- 
philosophie  nach  ihrem  historischen  und  systematischen  Teil.  Der  letz- 
tere gliedert  sich  wieder  in  Religionspsychologie,  Religionsmetaphysik  und  Reli- 
gionsethik. 

Die  Gliederung  des  gewaltigen  Stoffes  ist  sachlich  zutreffend,  klar  und  über- 
sichtlich; die  Darstellung  schlicht,  verständlich1)  und  nüchtern.  Schreibt  schon 
Hartmann  im  allgemeinen  einen  trockenen  Gelehrtenstil,  so  kann  man  sich  denken, 
daß  diese  möglichst  knappe  Wiedergabe  seiner  Gedanken  oft  an  die  Ausdauer  des 
Lesers  hohe  Anforderungen  stellt. 

Obwohl  der  Verfasser  sichtlich  bemüht  ist,  sich  möglichst  knapp  und  präg- 
nant auszudrücken,  hat  sein  Werk  doch  recht  erheblichen  Umfang  gewonnen,  weil 
er  mit  einem  wahrhaft  rührenden  Eifer  aus  dem  außerordentlich  reichen  Schrift- 
tum Hartmanns  das  Einschlägige  zusammengetragen  hat,  und  weil  er  Schritt  für 
Schritt  auf  die  Darstellung  immer  die  Kritik  folgen  läßt. 

So  steckt  unendlich  viel  Gelehrtenfleiß  in  dem  Werke.  Dazu  bekennt  der 
Verfasser  in  der  Vorrede,  er  habe  die  Drucklegung  „unter  Einsatz  schwerster 
persönlicher  Opfer"  durchgeführt. 

Mir  drängt  sich  angesichts  des  Werkes  die  Frage  auf:  sind  wirklich  alle 
diese  Opfer  an  Mühe,  Zeit  und  Geld  ausreichend  begründet?  Ist  wirklich  Hart- 
manns Religionsmetaphysik  ihrem  Gehalt  nach  oder  durch  ihre  Wirkungen  so  be- 
deutend, daß  es  sich  für  einen  Vertreter  der  katholischen  Weltanschauung  der 
Mühe  lohnte,  sich  heute  noch  so  ausführlich  mit  ihm  abzugeben,  nachdem  sich 
schon  —  abgesehen  von  anderen  —  Hermann  Schell  eingehend  mit  ihm  ausein- 
ander gesetzt  hatte! 

Wollte  man  aber  schon  eine  Erneuerung  dieser  (freilich  sehr  einseitigen) 
Diskussion,  so  hätte  doch  wohl  bei  dem  systematischen  Charakter  von  Hartmanns 
Denken  eine  Darstellung  und  kritische  Zerstörung  der  erkenntnistheoretischen  und 
metaphysischen  Fundamente  des  ganzen  Baues  seiner  Religionsphilosophie  genügt, 
um  das  Gebäude  zum  Einsturz  zu  bringen.  Daß  wir  durch  alle  Stockwerke  und 
Zimmer  ausnahmslos  hindurchgeführt  werden  und  daß  uns  immer  wieder  gesagt 
wird,  was  darin  sich  befindet  und  was  daran  sich  aussetzen  läßt,  das  erscheint 
wirklich  entbehrlich. 

Aber  vielleicht  erklärt  sich  das  übergroße  Interesse  der  Vertreter  der  neu- 
scholastischen Philosophie  für  Hartmann  durch  das  Gefühl  der  -—  trotz  aller  Ver- 
schiedenheit —  bestehenden  nahen  Verwandtschaft. 

Daß  Steffes  Hartmanns  erkenntnistheoretischem  Standpunkt  die  Bezeichnung 
des  „kritischen  Realismus"  verweigert,  scheint  mir  sachlich  nicht  ausreichend  be- 
gründet. Denn  wenn  auch  Hartmann  seinen  Standpunkt  selbst  als  „transzendentalen" 
Realismus  bezeichnet,  so  scheint  mir  doch  dafür  auch  der  Name  des  kritischen 
Realismus  gleich  gut  zu  passen2). 

1)  Nur  bisweilen  wird  durch  das  Streben  nach  Kürze  die  Verständlichkeit 
etwas  gefährdet. 

2)  Ich  verweise  in  diesem  Zusammenhang  auf  die  vortreffliche  Monographie 
von  Martin  Schmidt,    „Die  Behandlung   des   erkenntnistheoretischen   Idealismus 


202  Besprechungen  (Steffes — Fichte). 

Wenn  ich  nun  aber  auch  diesem  kritischen  oder  transzendentalen  Realismus 
grundsätzlich  zustimme1),  so  vermag  ich  doch  nicht  die  Zuversicht  zu  teilen,  mit 
der  Ed.  v.  Hartmann  nicht  minder  wie  sein  Kritiker  Steffes  die  metaphysischen 
Probleme,  insbesondere  die  Fragen  nach  dem  Dasein  und  dem  Wesen  Gottes  und 
seinem  Verhältnis  zu  der  Welt,  mit  Bestimmtheit  zu  entscheiden  in  Anspruch 
nehmen.  Steffes  kommt  dabei  freilich  zu  ganz  anderen  Ergebnissen  als  Hartmann ; 
seine  Polemik  ist  immer  sachlich,  aber  er  hat  insofern  leichtes  Spiel,  als  sein 
Gegner  tot  ist.  Lebte  er  noch,  so  würde  der  scharfsinnige  und  gewandte  Dialek- 
tiker wohl  seinem  Kritiker  nicht  die  Wahlstatt  überlassen. 

Wir  haben  hier  jenen  „Kampfplatz"  vor  uns,  von  dem  Kant  witzig  bemerkt, 
daß  daselbst  „jeder  Teil  die  Oberhand  behält,  der  die  Erlaubnis  hat,  den  Angriff 
zu  tun  und  derjenige  gewiß  unterliegt,  der  bloß  verteidigungsweise  zu  verfahren 
genötigt  ist.  Daher  auch  richtige  Ritter,  sie  mögen  sich  für  die  gute  oder  schlimme 
Sache  verbürgen,  sicher  sind,  den  Siegerkranz  davon  zu  tragen,  wenn  sie  nur  da- 
für sorgen,  daß  sie  den  letzten  Angriff  zu  tun  das  Vorrecht  haben  und  nicht  ver- 
bunden sind,  einen  neuen  Anfall  des  Gegners  auszuhalten"  (Kritik  d.  r.  V. 
Reclam  351). 

Wenn  wir  so  mit  Kant  gegenüber  jenen  endlosen  metaphysischen  Streitig- 
keiten kritische  Zurückhaltung  uns  auferlegen,  so  können  wir  freilich  uns  auch 
Kants  Lösung,  den  Vernunftglauben  in  Gestalt  der  „Postulate",  nicht  zu  eigen 
machen.  Aber  wir  müssen  diese  Lehre  Kants  doch  in  Schutz  nehmen  gegenüber 
der  Verkennung,  die  ihr  bei  Steffes  begegnet.  Dieser  schreibt  (S.  4):  „Religion 
und  Wissenschaft  können  nach  kantischer  Auffassung  in  schärfster  Form  kon- 
trastieren. Von  der  Religion  darf  indes  nie  die  Wahrheitsfrage  abgetrennt,  nie 
ihr  Anspruch  auf  absolute  Geltung  mit  bloßer  Probabilität  unterbaut  werden." 

Es  ist  unverständlich,  wie  Steffes  diese  Behauptung  aufstellen  kann,  da  er 
doch  gerade  vorher  (S.  3)  zutreffend  bemerkt  hat,  daß  Kant  „die  sichere  wissen- 
schaftliche Erkenntnis  auf  das  Gebiet  der  Erfahrung  eingeengt  und  damit  einer 
transzendenten  Metaphysik  den  Boden  entzogen  habe."  Eben  dadurch,  daß  er  das 
metaphysische  Schein-„Wissen"  „aufhob",  hat  er  doch  „für  den  Glauben  Platz 
bekommen"  und  dafür  gesorgt,  daß  Wissen  und  Glauben  nicht  „kontrastieren" 
können.  Solchen  Widerstreit  zu  verhüten,  dient  endlich  noch  die  Lehre  vom  Primat 
der  praktischen  Vernunft  (Kr.  d.  pr.  V.  Reclam  146). 

Indem  aber  Kant  seine  Glaubenssätze  als  „Postulate"  bezeichnet,  hat  er 
nicht  den  Anspruch  auf  Wahrheit  und  absolute  Geltung  für  sie  aufgegeben,  nicht 
sich  mit  „bloßer  Probabilität"  begnügt.  Er  definiert  seinen  Begriff  des  „Postulats 
der  reinen  praktischen  Vernunft"  als  „einen  theoretischen,  als  solchen  aber  nicht 
erweislichen  Satz,  sofern  er  einem  a  priori  unbedingt  geltenden  praktischen  Ge- 
setze unzertrennlich  anhängt"  (Kr.  d.  r.  V.  S.  14).  Als  theoretische  Sätze  wollen 
die  Postulate  natürlich  gültig,  d.  h.  wahr  sein,  und  sofern  sie  a  priori  geltenden 
Gesetzen  „unzertrennlich"  anhangen,  kommt  ihnen  nach  Kant  deren  absolute 
Geltung  und  nicht  bloß  „Probabilität"  zu. 

Gießen.  August  Messer. 

III.   Rechtsphilosophie  und  Staatsphilosophie. 

Fichte,  Jon.  Gottl.,  Rechtslehre.  Vorgetragen  von  Ostern  bis  Mi- 
chaelis 1812.  Nach  der  Handschrift  herausgegeben  von  Hans  Schulz.  Verlag 
von  Felix  Meiner  in  Leipzig.   1920.    VI,  176  S.    Geh.  8  Mk.,  geb.  12  Mk. 

Die  Rechtslehre  1812  ist  für  die  Entwicklung  der  Fichteschen  Gedanken- 
welt besonders  wichtig  (vergl.  Medicus,  Zeitschr.  f.  Völkerrecht  Bd.  11).  Sie  war 
bisher  nur  im  Erstdruck  im  zweiten  Band  der  Nachlaßschriften  (1834)  zugäng- 
lich.   Dort  hat  J.  H.  Fichte   eine  Textbearbeitung   auf  Grund    der  Kolleghand- 

bei  Ed.  v.  Hartmann"  (Berlin  1918.   Ergänzungsheft  der  Kantstudien  Nr.  43).  Sie 
ist  leider,  wie  es  scheint,  Steffes  unbekannt  geblieben. 

1)  Vgl.  meine  „Einführung  in  die  Erkenntnistheorie".  2.  Aufl.  Leipzig 
1921.   Meiner. 


Besprechungen  (Fichte— Bendix).  203 

schrift  seines  Vaters  veröffentlicht.  Die  Neuausgabe  von  Schulz  geht  auf  die 
im  Berliner  Nachlaß  befindliche  Originalhandschrift  zurück,  die  alles  andere, 
als  einen  druckreifen  Text  bietet.  J.  G.  Fichte  hat  nach  seiner  Gewohnheit  bei 
der  Vorbereitung  für  das  Kolleg  Stichworte,  Satzfragmente  und  Hinweise  auf 
sein  gedrucktes  „Naturrecht"  notiert.  Aus  diesen  fragmentarischen  Aufzeich- 
nungen schuf  der  Sohn  seine  Textbearbeitung.  Schulz  hat  sie  abgedruckt,  um 
eine  fortlaufende  Lektüre  zu  ermöglichen,  dabei  aber  durch  ein  genaues  Zeichen- 
system den  Urtext  der  Handschrift  kenntlich  gemacht,  sodaß  der  Leser  jeder- 
zeit in  der  Lage  ist,  die  zuweilen  eine  Interpretation  bedeutende  stilistische 
Bearbeitung  des  Sohnes  am  Urtexte  nachzuprüfen.  Ungenaue  Lesungen  des 
Sohnes,  unleserliche  Worte,  die  genaue  ursprüngliche  Einteilung  der  Hand- 
schrift und  solche  Stellen  der  Bearbeitung  von  J.  H.  F.,  die  auf  dem  gedruckten 
Naturrecht  beruhen,  hat  Schulz  in  einem  sorgfältigen  Variantenapparat  kennt- 
lich gemacht.  Die  Neuausgabe  zeigt  die  große  Dringlichkeit  und  Schwierigkeit 
einer  Revision  aller  von  J.  H.  F.  edierten  Schriften  und  ist  eine  wichtige  Vor- 
arbeit für  eine  Gesamtausgabe.  —  Das  Register  ist  hinsichtlich  der  philo- 
sophischen Fachausdrücke  etwas  lückenhaft. 

Merseburg  a.  S.  Siegfried  Berger. 

Dokumente  der  Menschlichkeit,  Band  1:  Joh.  G.  Fichte,  Die  Re- 
publik der  Deutschen.  Band  2:  Thomas  Morus,  Utopia.  Band  3:  Jo- 
nathan Swift,  Attacken.  Band  4:  Jean  Paul,  Friedenspredigt.  Band  5: 
J.  J.  Rousseau,  Der  Gesellschaftsvertrag.  Band  6:  Thomas  Campa- 
nella, Der  Sonnenstaat.  Band  7:  Imm.  Kant,  Zum  ewigen  Frieden. 
Band  8:  Joh.  G.  Fichte,  Neue  Welt.  Band  9:  W.  v.  Humboldt,  Die 
Grenzen  des  Staates.  Band  10:  Louis  Blanc,  Organisation  der  Ar- 
beit.   München,  Wien,  Zürich.    1919.    Dreiländerverlag. 

Die  Sammlung  bietet  eine  geschickt  ausgewählte  Zusammenstellung  von 
kurzen  Auszügen  aus  Schriften,  die  für  das  geschichtliche  und  philosophische 
Verständnis  moderner  sozialistischer  Ideen  von  Bedeutung  sind.  Es  ist  ja  durch- 
aus notwendig,  gerade  die  philosophischen  Grundlagen  des  Sozialismus  kritisch 
zu  prüfen  und  die  mancherlei  Fäden  bloßzulegen,  die  von  der  Philosophie  aus 
zu  sozialistischen  Lehren  geführt  haben.  Die  Herausgeber  der  vorliegenden 
Bändchen  haben  ihre  Auswahl  großenteils  recht  sachkundig  getroffen.  Sie  lassen 
mit  Recht  die  Autoren  selbst  zu  Wort  kommen  und  geben  nur  jeweils  in  einem 
kurzen  Nachwort  einige,  meist  sachliche  Bemerkungen,  in  denen  sich  nur  ge- 
legentlich ihre  eigene  sozialistische  Tendenz  verrät.  Fichte  wird  als  glühender 
„Revolutionär",  als  „Führer  des  Sozialismus"  gepriesen,  eine  Auffassung,  die  bei 
schärferer  philosophischer  Bestimmung  von  Fichtes  Lehren  'doch  nicht  stand- 
hält. Aus  Kant  sind  in  Bd.  7  nicht  nur  Stücke  aus  dem  Traktat  zum  ewigen 
Frieden  abgedruckt,  sondern  auch  Abschnitte  ethischen  Inhalts  aus  anderen 
Schriften  (so  die  berühmte  Apostrophe  an  die  Pflicht  und  der  Schlußabschnitt 
aus  der  Kr.  d.  pr.  V.).  Von  W.  von  Humboldts  „Ideen  zu  einem  Versuch,  die 
Grenzen  der  Wirksamkeit  des  Staates  zu  bestimmen",  werden  in  Band  9  die  drei 
ersten  Kapitel  gegeben.  Man  sieht  aus  der  ganzen  Reihe  der  ausgewählten 
Schriftsteller  jedenfalls,  daß  die  Sammlung  erfreulicherweise  nicht  eng  im 
Rahmen  sozialistischer  Theorie  gehalten  ist.  Die  dünnen  Bändchen  sind  zur 
einführenden  Orientierung  über  Staats-  und  sozialphilosophische  Ansichten  durch- 
aus brauchbar. 

Greifs wald.  Privatdozent  Dr.  Willy  Moog. 

Bendix,  Ludwig,  Dr.  jur.,  Die  Neuordnung  des  Strafverfahrens. 
Berlin  und  Leipzig.    1921.    Verlag  von  Dr.  Walter  Rotschild.    400  Seiten. 

Unter  obigem  Titel  mit  dem  Untertitel:  „Gegenvorschläge  zu  den  drei 
Regierungsvorlagen  von  1920"  hat  Dr.  Bendix  ein  Buch  erscheinen  lassen,  für 
das  eine  rechtsphilosophische  Besprechung  durchaus  erforderlich  erscheint.  Denn 
es  sind  philosophische  Grundsätze,  auf  die  der  Verfasser  seine  Kritik  gründet 
und  seine  Gegenvorschläge  aufbaut. 


204  Besprechungen  (Bendix). 

In  einer  kurzen  einleitenden  Erörterung  über  „die  erkenntnistheoretischen 
Grundlagen  der  Rechtsfindung  und  die  Strafprozeßreform4'  werden  die  Voraus- 
setzungen angedeutet,  deren  anschauliche  Erfüllung  die  Einzelbehandlung  der 
GeselzesvorBchläge  ergibt.  Die  naiv-realistische  Voraussetzung  des  rechtlichen 
Erkenntnisvorganges  wird  einer  scharfen  und  überzeugenden  Kritik  unterworfen. 
Es  gibt  keine  eindeutigen  Tatsachen.  Das  Ding  —  auch  als  rechtlicher  Tat- 
bestand —  ist  in  seinem  An-Sich  unerfaßbar,  es  ist  eine  Aufgabe  der  Rechts- 
findung, die  gemeinsam  von  den  Parteien  zu  lösen  ist,  aber  keine  Wirklichkeit, 
die  abgesehen  von  dem  Rechtsverfahren  Bestand  hätte. 

Dieser  Gedanke,  der  zunächst  ganz  neukantisch  klingt,  ist  von  prinzipieller 
Bedeutsamkeit,  gerade  weil  er  über  die  neukantische  Stellung  hinausführt.  Mag 
es  in  der  Sphäre  des  Theoretischen  angängig  sein,  das  An-Sich  in  die  Unend- 
lichkeit der  Erkenntnisaufgabe  aufzulösen,  in  der  Sphäre  des  kulturellen  Lebens 
ist  das  jedenfalls  nicht  möglich;  denn  hier  handelt  es  sich  darum,  Lebenswirk- 
lichkeiten zu  schaffen,  die  ihrem  Sinne  nach  abgeschlossen  sind.  Eine  rechts- 
gültige strafrichterliche  Entscheidung  schafft  für  den  Betroffenen  und  für  die 
Gesellschaft  eine  Realität,  für  die  der  Gedanke  unendlicher  Annäherung  an  eine 
ideale  Richtigkeit  völlig  bedeutungslos  ist.  Ein  solcher  Gedanke  würde  höch- 
stens zum  Stachel  werden,  der  zu  immer  neuen  Verfahren,  zum  Zweck  größerer 
Annäherung  an  das  Ideal  treiben  und  eine  gesellschaftliche  und  psychische  Be- 
ruhigung, einen  Rechtsfrieden,  nie  eintreten  lassen  würde,  d.  h.  aber,  der  voraus- 
gesetzte Gedanke  der  unendlichen  Annäherung  wäre  genau  so  lebensunmöglich, 
wie  der  naive  Realismus  denkunmöglich  ist. 

Die  Relativität  jeder  richterlichen  Entscheidung  kann  also  nicht  dieses 
bedeuten,  daß  die  Entscheidung  einer  idealen  Richtigkeit  gegenüber  unvoll- 
kommen, mehr  oder  minder  angenähert  ist,  sondern  sie  muß  etwas  völlig  an- 
deres, durchaus  Positives  besagen.  Relativität  ist  kein  quantitativer,  sondern 
ein  qualitativer  Begriff.  Die  Rechtsentscheidung  ist  eine  freie  Schöpfung  des 
Richters,  und  ihre  Gültigkeit  beruht  auf  der  Leben  schaffenden  Kraft,  mit  der 
sie  in  überzeugender  Weise  den  Rechtsunfrieden  in  Rechtsfrieden  verwandelt. 
Daß  sie  diese  Kraft  nur  haben  kann,  weil  in  die  irrational-konkrete  Lebendig- 
keit des  einzelnen  Falles  zugleich  die  rational-abstrakte  Geltung  des  allgemeinen 
Rechtsbewußtseins,  wie  es  in  dem  Gesetz  niedergelegt  ist,  eingegangen  ist,  ist 
selbstverständlich  und  unterscheidet  Schöpfung  von  Willkür.  Aber  eben  das  ist 
das  Entscheidende,  daß  diese  rational-abstrakten  Elemente  nicht  selbständig  sind 
und  aus  einer  unantastbaren  Lebensjen seitigkeit  das  Leben  vergewaltigen.  Darin 
unterscheidet  sich  Schöpfung  von  Mechanismus. 

Die  Kürze  der  erkenntnistheoretischen  Grundlegung  hindert  im  Buche  ein 
näheres  Eingehen  auf  diese  Probleme.  Daß  aber  die  hier  gegebene  Deutung 
dem  Sinne  des  Verfassers  gemäß  ist,  dafür  spricht  seine  Einführung  des  Stand- 
punktbegriffs und  sein  Hinweis  auf  die  Art,  wie  der  Verfasser  dieser  Zeilen 
diesen  Begriff  in  dem  Vortrag  Nr.  24  der  Kantgesellschaft  über  „die  Idee  einer 
Theologie  der  Kultur"  eingeführt  hat.  In  der  Theologie,  sofern  sie  als  norma- 
tive Religionsphilosophie  betrachtet  wird,  wie  überhaupt  in  jeder  normativen 
Kulturwissenschaft  liegen  die  Dinge  ganz  analog.  Die  Normierung  ist  weder 
Willkür  noch  Deduktion.  Sie  ist  eine  eigentümliche  Einheit  von  rationalen 
Denk-  und  irrationalen  Lebenselementen,  die  wir  „Schöpfung"  nennen,  weil  sie 
das  Seinshafte,  das  in  sich  Wahre  und  Ueberzeugende  des  Lebendigen  hat.  Die 
Bendixsche  Auffassung  der  Rechtsfindung  führt  also  über  die  Erkenntnistheorie 
hinaus  zu  einem  höchst  bedeutsamen  Begriff  der  Kulturphilosophie. 

Die  Strafprozeßreform  selbst  wird  von  Bendix  in  den  umfassenden  Rahmen 
staatspolitischer  Gedankengänge  hineingestellt.  Von  philosophischem  Interesse 
ist  dabei,  wie  er  die  „obrigkeitliche",  staatsautoritative  Auffassung  in  direkten 
Zusammenhang  bringt  mit  der  abstrakt-rationalistischen  Deutung  der  Rechts- 
tatsachen, und  umgekehrt  die  volksstaatliche  Auffassung  mit  dem  lebendig 
schöpferischen  Sinn  der  Rechtsfindung.  Zu  beanstanden  ist  nur,  wenn  die  erste 
Richtung  als  „Mittelalter"  bezeichnet  wird.  Es  entspricht  das  ja  der  allge- 
meinen, noch  immer  herrschenden  Auffassung  des  Mittelalters.  Wer  aber  mit 
Bendix  im  besten  Sinne  des  Mittelalters  die  Uebernahme  der  wichtigsten  Rechts- 


Besprechungen  (Bendix — Brinkmann).  205 

funktionen  durch  Verbände  und  Kommunen  verlangt,  darf  das  aufklärerische 
Scheltwort  nicht  mitsprechen.  Was  er  bekämpft,  ist  ja  nicht  Mittelalter,  son- 
dern der  aus  der  Auflösung  des  Mittelalters  sich  entwickelnde  abstrakte  Ab- 
solutismus von  Kirche,  Staat,  Kabinett,  Beamtentum,  Militär  usw.,  die  Zeit  der 
Abstraktion,  Zentralisation  und  Mechanisierung,  die  unmittelbar  in  die  rationale 
Aufklärung  überging  und  erst  durch  die  Entstehung  der  liberalen  Idee  —  in- 
folge Scheiterns  des  Staatsabsolutismus  in  der  englischen  ^Revolution  —  einge- 
schränkt wurde.  Es  wäre  wünschenswert,  daß  auch  die  strafprozeßlichen  Pro- 
bleme einmal  in  den  Zusammenhang  dieser  geschichtsphilosophischen  Betrachtung 
gestellt  würden;  es  würden  dann  viele  Forderungen  der  Gegenwart  in  positi- 
verem Verhältnis  zur  Vergangenheit  erscheinen,  als  es  jetzt  vielfach  der  Fall 
ist.     Und  das  ist  überzeugender  als  die  bloße  Antithese. 

Auf  die  Einzelforderungen,  in  denen  die  Konsequenzen  der  philosophischen 
Grundstellung  gezogen  werden,  können  wir  nicht  eingehen.  Nicht  Forderungen 
an  sich,  wie  Wählbarkeit  der  Eichter,  Gleichstellung  von  Berufs-  und  Laien- 
richtern (rationales  und  irrationales  Element),  radikale  Durchführung  der  Auf- 
fassung des  Strafprozesses  als  Parteiprozeß,  Beschränkung  der  staatsanwalt- 
lichen Kechte,  wenn  möglich  ihr  Wegfall  überhaupt,  Erweiterung  der  Privat- 
klage, Beteiligung  der  Laienrichter  bei  der  Eechtsrügeinstanz  usw.,  nicht  diese 
z.  T.  ganz  neuen,  z.  T.  auch  sonst  erhobenen  Forderungen  machen  in  erster 
Linie  die  Bedeutsamkeit  des  Buches  aus,  sondern  der  strenge  Zusammenhang, 
in  dem  sie  mit  dem  philosophischen  Grundproblem  stehen;  und  es  wäre  ein 
vorläufiger  großer  Erfolg,  wenn  die  Gegner  der  Forderungen  sich  überhaupt  ein- 
mal in  die  Arena  der  grundsätzlichen  philosophischen  Debatte  dieser  Probleme 
begeben  würden. 

Berlin.  Privatdozent  Dr.  P.  Till  ich. 

Brinkmann,  Carl,  Dr.,  Professor  an  der  Universität  Berlin,  Versuch 
einer  Gesellschaftswissenschaft.  München  und  Leipzig.  1919.  Verlag  von 
Duncker  &  Humblot.     138  S. 

Die  Studie,  die  durch  eine  ausgesprochene  stilistische  Eleganz  gekenn- 
zeichnet ist,  behandelt  auf  einem  bestimmten  Arbeitsgebiet  das,  was  man  philo- 
sophisch das  Problem  des  Konkreten  nennt.  Ausschließlich  mit  den  philoso- 
phischen Grundlagen   der  vorliegenden  Schrift  haben  wir  im  folgenden  zu  tun. 

Brinkmann  sucht  den  Weg  zu  dem  konkreten  Gebilde,  das  zwischen  Indi- 
viduum und  Staat  liegt,  historisch  formuliert:  den  Weg  zwischen  deutscher  und 
westeuropäischer  Soziologie.  Das  „gesellschaftliche  Kontinuum",  heute  „bei  uns 
fast  zum  subjektivsten  aller  wissenschaftlichen  Arbeitsbegriffe  geworden",  soll 
zur  Bestimmtheit  gebracht  werden.  Hier  wären  nun  zwei  verschiedene  Wege 
möglich.  Es  kann  der  Begriff  der  Gesellschaft  erörtert  und  systematisch  ab- 
gegrenzt, oder  der  Inhalt  des  Individuum  und  Staat  vermittelnden  „Zwischen- 
gebiets" geordnet  angegeben  werden.  Brinkmann  zieht  es  mehr  zur  inhaltlichen 
Beschreibung  als  philosophischen  Ergründung.  Seine  Handhabung  der  Beispiele 
erinnert  manchmal  an  Simmel,  für  den  Brinkmann  gegen  den  der  Tendenz  nach 
zu  „philosophischen"  Othmar  Spann  Partei  nimmt. 

Die  Soziologie  steht  nach  Brinkmann  zwischen  der  Philosophie  und  der 
besonderen  Erfahrung.  Sie  liefert  also,  kantisch  zu  reden,  das  Schema  für 
die  Anwendung  der  Philosophie  auf  die  gesellschaftliche  Erfahrung.  Brinkmann 
deutet  die  Probleme  nur  mehr  an,  als  daß  er  sie  löste,  das  Ergebnis  seines  Buches 
liegt  weniger  in  einem  Satz,  als  in  der  Art,  wie  sein  Neues  zwischen  den 
Extremen  gesucht  wird.  Es  ist  daher  schwer,  von  den  Prinzipien  dieses  Buches 
zu  reden ;  das  Prinzip  ist  gleichsam  ein  persönliches.  Die  Auffassung  des  Autors 
ist  mehr  aus  Negationen  und  Verwahrungen  zu  erraten,  als  daß  sie  in  be- 
stimmten Begriffen  dargeboten  würde.  Der  Grundeinstellung  nach  neigt  der 
Verfasser  offenbar  stärker  als  er  zugeben  will  der  westeuropäischen  Behandlung 
der  Soziologie  zu.  Es  kommt  ihm  vor  allem  auf  die  Abgrenzung  des  soziologi- 
schen Arbeitsgebietes  von  der  Kechts-  und  Geschichtsphilosophie,  kurz,  dem, 
was  man  Kulturwissenschaft  nennt,  an.    Daher  wendet  er  sich  gegen  die  deut- 


206  Besprechungen  (Brinkmann). 

sehe  Anschauung  von  der  Bedeutung  des  gewöhnlich  sogenannten  Kulturellen  und 
Geistigen  in  der  Gesollschaft,  und  drückt  seine  Vermittlungsabsicht  auch  so 
aus:  „Der  meinetwegen  reichlich  flache  Zivilisationsbegriff  der  Engländer  und 
Franzosen  ist  wenigstens  ein  Anfang  wissenschaftlicher  Erkenntnis,  wenn  auch 
in  der  Kegel  ohne  Ende,  der  „deutsche"  Kulturbegriff  ist  nur  ein  Ende,  sei  es 
das  Ende  überwissenschaftlicher  Gewißheit,  aber  ohne  den  Anfang,  der  wissen- 
schaftlich nicht  mehr  entbehrt  werden  kann"  (55).  In  dieser  Aufnahme  des  west- 
europäischen Zivilisationsbegriffes  als  eines  Mittels  soziologischer  Erkenntnis 
liegt  ein  glücklicher  Gedanke.  Es  wäre  sehr  zu  begrüßen,  wenn  wir  aus  der 
Alternative  „Zivilisation"  und  „Kultur"  oder  „Gesellschaft"  und  „Staat"  einmal 
heraus  kämen  und  durch  Isolierung  der  in  diesen  Begriffen  enthaltenen  Ge- 
dankenmotive zu  Methodenbegriffen  gelangten,  die  dem  Konkreten  näherzu- 
rücken  gestatteten.  —  Was  Brinkmann  positiv  versucht,  einen  „Aufbau  der  Ge- 
sellschaft aus  ihren  physiologischen  Fundamenten  und  ihrem  rechtlich-sitt- 
lichen Ueberbau"  ist  der  Tendenz  nach  mit  dem  ausgleichenden  Verfahren 
Kjellens  verwandt.  Wie  dieser  zwischen  „Leben"  und  „Recht"  so  will  Brink- 
mann zwischen  „naturhafter  Bindung"  und  „sittlicher  Norragebung"  vermitteln 
und  zeigen,  daß  jene  ihre  Gesetze  höher  herauf,  diese  ihre  Ansprüche  tiefer 
hinunter  in  die  sozialen  Bildungen  erstreckt  „als  die  bequeme  Dämmerung  einer 
anscheinenden  Gesetzlosigkeit  gewöhnlich  annehmen  läßt"  (79).  In  Physis  und 
Nomos  „die  ehernen  Züge  menschlicher  Gleichheit  zu  bewahren"  ist  die  Auf- 
gabe der  Gesellschaft.  Diese  ist,  kurz  gesagt,  ein  „Gebilde  von  Macht  und 
Recht."  Die  Frage,  wodurch  sich  dieses  Gebilde  von  dem  gewiß  ebenso  zu 
definierenden  Staate  unterscheidet,  hat  Brinkmann  nicht  eigens  beantwortet. 
Es  gälte  die  eigentümliche  nebenstaatliche  Macht,  deren  Träger  die  Gesellschaft 
ist,  näher  zu  bestimmen.  Daß  die  „staatsgegnerische  oder  mindestens  staats- 
freiere Soziologie  der  westeuropäischen  Aufklärung  ein  kräftiges  Eigenleben  der 
Gesellschaftswissenschaft  begründet  hat"  ist,  wie  Brinkmann  bemerkt,  nicht  zum 
wenigsten  dem  tieferen  Verständnis  Westeuropas  für  diejenigen  Mächte,  die 
neben  dem  Staate  sich  entfalten,  zu  verdanken. 

Dem  Gegensatz  von  Macht  und  Recht  liegt  schließlich  der  allgemein  philo- 
sophische des  Seins  und  desSollens  zugrunde.  Die  westeuropäische  Soziologie 
ist  allzu  „monistisch"  ausschließlich  vom  Sein,  wie  die  deutsche  zu  gern  aus- 
schließlich vom  Sollen  ausgegangen.  Indem  er  zwischen  diesen  beiden  Rich- 
tungen zu  vermitteln  sucht,  folgt  Brinkmann  dem  Zuge  der  deutschen  Philo- 
sophie der  Gegenwart,  deren  Erkenntnisziel  das  Konkrete  bildet,  und  ist  somit 
deutscher  als  er  glaubt.  Die  Eigenart  seiner  Position  wird  aus  den  Sätzen 
deutlich,  die  ich  nicht  anders  als  wörtlich  anführen  kann,  weil  sie  nach  Form 
und  Inhalt  den  Versuch  ausgezeichnet  charakterisieren.  „Während  sich  der 
englische  Positivismus  umsonst  damit  schmeichelte,  das  Sollen  durch  irgendeine 
geheimnisvolle  Gesellschaftsentwicklung  aus  dem  Sein  hervorgehen  zu  lassen, 
mühte  sich  der  nachkantische  Idealismus  ebenso  vergeblich  darum,  den  Wider- 
streit beider  in  einer  nicht  minder  geheimnisvollen  Idealität  aufzuheben.  In 
der  ersten  Anschauung  spiegelte  sich  gleichsam  die  Zufriedenheit  bürgerlicher 
Herrscherklassen  mit  einer  von  der  Wirtschaftstatsache  geleiteten  Sozialordnung, 
in  der  zweiten  die  des  alten  Obrigkeitsstaats  mit  der  Unterwerfung  des  Gesell- 
schaftsdaseins unter  seinen  Machtwillen.  Keine  von  beiden  wird  die  schlichte 
Beobachtung  und  das  grundsätzliche  Denken  auf  die  Dauer  befriedigen  können. 
Wohl  gibt  die  Erkenntnis  der  Rechtsnorm  in  ihrer  mit  jedem  sozialen  Ge- 
schehen unmittelbar  mitgesetzten  Allgegenwart  und  Unausweichlichkeit  dem 
soziologischen  Objekt  in  Wahrheit  erst  jene  Einheitlichkeit,  letzte  Verständlich- 
keit und  optimistische  Gewähr,  auf  die  sowohl  der  positivistische  Fortschritts- 
gedanke wie  die  idealistische  Entfaltungstheorie  hinzielen.  Aber  das  liegt 
weder,  wie  der  eine  will,  an  der  stetigen  Normwerdung  des  Seins,  noch,  wie 
der  andere  meint,  an  der  systematischen  Inkarnation  der  Norm.  Es  handelt 
sich  vielmehr  dabei  ganz  einfach  um  einen  labilen  Gleichgewichtszustand  ohne 
a  priori  bestimmbare  Richtungen  und  Durchschnittswerte,  deren  Eigenstes  ge- 
rade verfehlt  wird,  wenn  man  diese  Bestimmung  ausschließlich  von  einer  seiner 
beiden  Kräftegruppen  aus   vorzunehmen  sucht"  (97  f.).  —  Die  Lösung   des   hier 


Besprechungen  (Brinkmann — Brodmann).  207 

aufgerollten  Problems  des  Konkreten  in  einem  „labilen  Gleichgewichtszustand 
ohne  a  priori  bestimmbare  Eichtungen  und  Durchschnittswerte"  zu  suchen,  darf 
wohl  durch  Simmeis  Art  zu  philosophieren  bestimmt  angesehen  werden.  Die 
Konstatierung  eines  labilen  Gleichgewichtszustandes  zwischen  Sein  und  Norm 
bietet  uns  statt  eines  Begriffes  ein  Bild.  Ueber  dieser  bildlichen  Fixierung 
des  Verhältnisses  und  einer  Bestimmung  „ausschließlich  von  einer  der  beiden 
Kräftegruppen  aus"  liegt  erst  die  eigentliche  Aufgabe,  die  in  der  begrifflichen 
Definition  des  Verhältnisses  von  Macht  und  Eecht  in  der  gesellschaftlichen 
Wirklichkeit  (wenn  man  die  Gesellschaft  schon  einmal  durch  Macht  und  Eecht 
bestimmen  will)  liegt.  So  sehr  der  „Wirklichkeitssinn"  zu  schätzen  ist,  der  aus 
Brinkmanns  Studie  spricht,  so  sehr  muß  doch  vor  der  Unter  Schätzung  des  be- 
grifflichen Moments  gewarnt  werden.  Wenn  der  Begriff  in  einer  wirklichkeits- 
fremden „angeblich  idealistischen  Kultur -Soziologie"  inhaltlich  als  sozialer 
„Geist"  und  dergl.  eine  zu  große  Bolle  spielt,  so  folgt  daraus  noch  nicht,  daß 
er  zur  systematischen  Verarbeitung  wirklichkeitsnäherer  Grundkonzeptionen  ent- 
behrlich ist.  Mit  bloßem  Wirklichkeitssinn  ist  die  Gesellschaftswissenschaft 
nicht  zu  begründen.  Es  gibt  keine  Systematik  ohne  Begriffe.  Das  weiß  auch 
Brinkmann  selber,  da  er  geneigt  ist,  die  Soziologie  systematisch  sehr  hoch, 
noch  über  die  Geschichtsphilosophie  zu  stellen.  „Wenn  sich  der  moderne  Ee- 
lativismus  abgewöhnt  haben  wird,  auf  prinzipielle  soziale  Fragen  geschichtliche 
Antworten  zu  geben,  wird  vielleicht  einmal  umgekehrt  die  große  Frage  des 
,Sinns',  der  letzten  Erklärbarkeit  der  Geschichte  ihre  Beantwortung  in  der 
Lehre  von  der  Gesellschaft  erfahren"  (106).  So  wertvoll  das  Drängen  des  Ver- 
fassers auf  eine  konkrete  Wissenschaft  von  der  Gesellschaft  ist,  so  beweist 
doch  die  soeben  angeführte  Stelle,  daß  er  der  Erkenntnis  nicht  genugtut,  daß 
die  Gesellschaftswissenschaft  immer  nur  einen  durch  systematische  Voraus- 
setzung abgegrenzten  Ausschnitt  aus  dem  umfassenden  Leben  darbietet,  das 
wir  geschichtlich  nennen,  und  daß  die  Soziologie  daher  niemals  der  Geschichte 
ihre  Ziele  nennen  kann. 

Die  anregungsreiche  Studie  Brinkmanns  stellt  sich  mitten  in  den  Kampf 
um  die  Herausarbeitung  derjenigen  Wirklichkeiten,  welche  die  rein  naturwissen- 
schaftlich oder  allzu  „idealistisch"  orientierte  Philosophie  bisher  vernachlässigt 
hat.  Ich  führe  nur  noch  den  treffenden  Satz  an,  mit  welchem  Brinkmann  gegen 
die  herkömmliche  Art,  gesellschaftlich-konkrete  Dinge  „von  oben"  zu  behandeln 
nachdrücklich  Protest  erhebt.  „Eben  weil  man  für  das  Verständnis  der  höchsten 
gesellschaftlichen  Bildungen  noch  weniger  Vorkenntnis  oder  sogar  noch  mehr 
„Vorurteilslosigkeit"  nötig  zu  haben  meint,  als  für  das  Leben  in  der  kleinsten 
seiner  Zellen,  wagt  man  es  jeden  Augenblick,  Volkscharaktere  zu  beurteilen 
oder  Massenstimmungen  zu  schätzen  nach  Anhalten,  wonach  Hinz  und  Kunz  zu 
behandeln  schon  die  bürgerliche  oder  strafrechtliche  Verantwortung  ver- 
böte" (31). 

Nürnberg.  Dr.  Alfred  Baeumler. 

Brodmann,  E.,  Eecht  und  Gewalt.  Berlin  und  Leipzig.  1921.  Vereini- 
gung wissenschaftlicher  Verleger,  Berlin.    114  S.    20  Mark. 

Verfasser  —  ein  hochgestellter  Eichter  —  gehört  zu  den  Praktikern,  die 
das  Eecht  nicht  nur  in  den  Paragraphen  der  Satzungen  suchen  oder  ängstlich 
der  Uebung  nachspüren.  Der  Wert  der  vorliegenden  Arbeit  liegt  u.  E.  in  der 
treffenden  Kritik  von  Gumplowicz'  und  Somlos  verkehrtem  Staatsbegriff  sowie 
darin,  daß  sich  Verf.  zum  Eecht  aus  der  „Natur  der  Sache"  bekennt.  Leider 
verbietet  der  Eaum,  auf  Einzelheiten  einzugehen.  Sonst  würde  über  den  u.  E. 
nicht  gelungenen  Versuch  des  Verf.,  zu  einer  kritisch  geläuterten  Imperativen- 
lehre zu  gelangen,  sowie  über  das  von  ihm  keineswegs  geklärte  Verhältnis  von 
„Macht"  und  „Gewalt"  (erstere  stehe  auch  der  Sitte  zu  Gebote,  letztere  sei  als 
direkter  Zwang  dem  Eechto  wesentlich),  manches  zu  sagen  sein. 

Verf.  erkennt  an,  daß  das  Eecht  eine  Gewaltanwendung  im  Dienste  der 
Vernunft  bedeute.  Aber  worin  besteht  die  Eechts Vernunft  —  wenn  sie  nach 
dem  Zeugnis  des  Verf.    zwar    das  Widersittliche   regelmäßig   ausschlioßt,    ohne 


208  Besprechungen  (Brodmann — Holldack). 

jedoch  positiv  mit  dem  Sittlichen  notwendigerweise  zusammenzufallen?  Eigen- 
artig berührt  es,  daß  der  Verf.  (dessen  Ausführungen  über  den  „Gesamtwillen" 
ins  Soziologisch -Metaphysische  führen)1)  eine  eigentliche  Eechtsphilosophie 
nicht  gelten  lassen  will  (vergl.  z.B.  S.85ff.),  weil  ein  einheitliches  Kriterium 
der  Kechtsbewertung  nach  seiner  Ansicht  nicht  ausfindig  gemacht  werden 
könne.  Dennoch  stellt  er  S.  86  das  Prinzip  auf,  „daß  Zwang  nur  insoweit  herr- 
schen soll,  als  es  nach  den  gegebenen  Verhältnissen  unbedingt  erforderlich  er- 
scheint." Eichtig.  Nur  darf  dieses  Prinzip  nicht  in  dem  Sinne  mißverstanden 
werden,  als  ob  die  äußere  Freiheit  Selbstzweck  sei.  Also  ist  dieses  Prinzip 
nur  negativ.  Wenn  Verf.  aber  jedes  positive  Prinzip  richtiger  Politik  (S.  86) 
leugnet  („alles  weitere  ist  empirisch  und  Aufgabe  der  Politik"  sie!),  so  verliert 
jenes  von  ihm  anerkannte  negative  Prinzip  jeden  Wert.  Es  bleibt  inhaltlich 
ohne  jede  Erfüllung.  Welches  ist  das  entscheidende  teleologische  Kriterium 
dafür,  daß  „Zwang  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  unbedingt  erforderlich 
erscheint"? 

Berlin.  Dr.  Alfred  Pagel. 

Holldack,  F.,  Dr.,  ord.  Prof.  an  der  Techn.  Hochschule  Dresden,  Grenzen 
der  Erkenntnis  ausländischen  Eechts.  Leipzig  1919,  Verlag  von  Felix 
Meiner.     292  S.    Preis  brosch.  66  Mark. 

Das  vorliegende  Buch  bedeutet  eine  tiefgreifende  und  wahrhaft  gründliche, 
weit  über  das  im  Titel  des  Buches  angegebene  Thema  hinaus  förderliche  Arbeit, 
die  alle  Schwierigkeiten  der  Erkenntnis  geltenden  Eechts  auf  Grund  reichen 
Wissens  und  mit  ungemeinem  kritischen  Scharfblick  bloßlegt  —  ohne  darum  zu 
einem  unfruchtbaren  Skeptizismus  zu  gelangen. 

Wie  wir  die  Gesetze  der  eigenen  Sprache  oft  erst  durch  das  Studium 
fremder  Sprachen  verstehen  lernen,  so  gilt  dies  mutatis  mutandis  auch  auf  dem 
Gebiete  des  Eechts.  Dies  wird  durch  H.s  Untersuchungen  zur  Gewißheit  er- 
hoben. Sie  nehmen  ihren  Ausgangspunkt  von  einer  speziellen  Interpretations- 
frage und  ihrer  Geschichte  (Seefahrt  —  §  16  BGB.,  Seereise  —  §  2251  BGB.). 
—  Verf.  konstatiert  eine  interessante  Parallelentwicklung  im  französischen 
Eecht.  Sie  betrifft  den  terminus  „navir"  oder  „bäteau  de  mer".  Dieser  in  seinen 
rechtspraktischen  Folgerungen  sehr  bedeutsame  terminus  hat  in  der  französi- 
schen und  in  der  belgischen  Eechtsinterpretation  und  -praxis  einen  ganz  ver- 
schiedenen Sinn  angenommen,  obwohl  das  diesbezügliche  Gesetz  in  beiden  Staaten 
den  gleichen  Wortlaut  hat.  Die  Zuweisung  eines  Schiffes  zu  den  Meerfahrzeugen, 
von  der  die  Anwendung  des  Seehandelsrechts  ahhängt,  geschieht  in  dem  einen 
Lande  nach  konstruktiven  Merkmalen,  d.  h.  nach  der  baulichen  Eignung  des 
Schiffes  für  die  Meerfahrt,  in  dem  anderen  nach  wirtschaftlichen  Merkmalen, 
d.  h.  nach  der  Absicht  des  Besitzers,  das  Schiff  zur  Meerfahrt  zu  benutzen  (in 
einigen  Urteilen  auch  nach  der  Ausfertigung  einer  rechtlichen  Urkunde  durch 
den  Besitzer).  Sogar  Urteilsbegründungen  gleichen  Wortlauts  führen  in  beiden 
Ländern  zu  ganz  verschiedenen  Konsequenzen,  indem  mit  dem  einzelnen  terminus 
ein  ganz  verschiedener  Sinn  verbunden  wird. 

Diese  höchst  interessante  Erscheinung  veranlaßt  nun  den  Verfasser  zu 
folgender  theoretischer  Untersuchung.  Er  geht  von  der  Norm  aus  und  stellt 
ihr  den  Sachverhalt  der  Eechtswirklichkeit  gegenüber.  Die  wechselweise  Ee- 
lation  von  Norm  und  Eechtswirklichkeit  wird  so  erstmals  einer  exakt  wissen- 
schaftlichen Aufklärung  entgegengeführt.  Und  es  ergibt  sich,  daß  die  Kon- 
kretisierung des  kodifizierten  Eechts  keineswegs  nur  von  dem  ursprünglich  ge- 
meinten, d.  h.  zu  einer  einzelnen  Zeit  den  Inhalt  einer  Vorschrift  bildenden,  mit 
den  Worten  des  Gesetzes  zu  verbindenden  Sinne  abhängig  ist,  sondern  noch  von 


1)  Ueber  den  vom  Verf.  S.  103  betonten  „Blankettwillen"  vgl.  u.  a.  meine 
Beiträge  zur  philosophischen  Eechtslehre,  Berlin,  Tetzlaff.  1914,  S.  66,  70.  Hier 
wird  neu  aufzubauen  sein.  —  Vgl.  übrigens  wegen  der  Schwierigkeiten  der 
Imperativenlehre  daselbst  S.  72  ff.;  hierzu  freilich  Max  Wenzel,  Juristische  Grund- 
probleme I:  Der  Begriff  des  Gesetzes  usw.,  S.  86  Anm.  1— S.  88. 


Besprechungen  (Holldack).  209 

einem  anderen  Faktor  emotionaler  Art,  den  Verf.  als  „Eechtswirklichkeit"  be- 
zeichnet. Alle  Kechtswirklichkeit  ist,  als  kulturbedeutsames,  historisches  Ge- 
schehen (wie  Verf.  auf  Eickerts  Forschungen  weiterbauend  lehrt),  „einmalig", 
ein  Akt  volksschöpferischer,  aus  ursprünglich  dunklem,  keineswegs  in  der  Denk- 
tätigkeit, sondern  im  Gefühl  wurzelndem  Wertempfinden  hervorgehend  und  da- 
her nicht  restlos  in  einem  logischen  Schema  ausdrückbar.  Eben  darum  aber, 
weil  die  Kechtswirklichkeit  einmalig  ist,  führt  sie  nicht  zu  starren  Normen, 
sondern  bewirkt  sie,  über  diese  allemal  hinausweisend,  unmerkliche  Aenderungen 
des  ursprünglichen  Sinnes  der  gesetzlichen  Vorschriften  vornehmend.  Solche 
neuschöpferische  Interpretation  wird  umso  leichter  von  statten  gehen,  je  freier 
die  gesetzlichen  Generalisationen  der  Fülle  rechtlich  erheblicher  Einzelvorkommnisse 
gegenüberstehen.  Daher  die  „Weltgeltung"  des  entwickelten  römischen  Eechts 
und  des  code  civil.  Die  mannigfachste  „Kechtswirklichkeit"  konnte  hier  als  Er- 
füllung der  allgemeinen  Normen  auf  grund  schon  bestehenden  Kechts  zur  Geltung 
gelangen,  oder,  wie  H.  sagt,  „normgerecht",  mit  dem  intellektuellen  Faktor 
der  Eeehtsgeltung  in  Einklang  gebracht  werden.  Eine,  wie  H.  meint,  auf  „ari- 
stotelisch-hellenistischem" Vorurteil  beruhende  Dogmatik  mußte  hier  versagen, 
weil  ihr  die  unzutreffende  Annahme  konstanter  Inhalte  der  jeweils  vorliegen- 
den, vermeintlich  abschließbar  mittels  bloßer  formallogischer  Interpretation  zu 
ermittelnden  Kegelung  verhängnisvoll  wurde.  Deshalb  sei  dieser  Eechtsposi- 
tivismus  kein  wahrer  Fortschritt  gegenüber  Natur-  und  „Vernunftrecht".  Hier 
wie  dort  liege  echter  Dogmatismus  vor  —  Ueberschätzung  reiner  Denktätig- 
keit, Uebersehen  des  emotionalen  Faktors  wahrer  Eechtsgeltung.  Dieser  Irr- 
tum macht  es  begreiflich,  daß  man  zu  völliger  Verkennung  des  Wesens  auch 
der  vergleichenden  Eechtswissenschaft  gelangte.  Man  schloß  aus  der  Gleich- 
heit der  Formulierung  von  Normen  in  verschiedenen  Eechten  auf  eine  innere 
Üebereinstimmung  der  normerlullenden  Bewertungen  —  beruhend  auf  gleicher 
Denktätigkeit  oder  in  Hegelscher  Weise  darauf,  daß  alles  Eecht  eine  Stufe  auf 
dem  Wege  zur  absoluten  Vernünftigkeit  in  Selbstbewegung  des  Logos  sei.  Voraus- 
setzung und  Ziel  der  universalen  Eechtsgeschichte  und  Eechtswissenschaft  glaubte 
man  in  der  Idee  eines  Weltrechts  finden  zu  sollen,  dem  alle  Kulturrechte  in 
ihren  gemeinsamen  Grundzügen  zuzustreben  schienen.  Verf.  tritt  dieser  Ansicht 
aufs  schärfste  entgegen,  weil  sie  die  Verschiedenheit  der  „Eechtswirklichkeit", 
d.  h.  die  Einmaligkeit  jeweiligen  Kulturlebens  und  Erlebens  mit  seinen  für  jedes 
Land  und  Volk  sehr  verschiedenen  Bedingungen  vollkommen  außer  acht  lasse. 
Die  denk-  und  sprachpsychologische  Forschung  zeige  uns  überdies,  wie  dasselbe 
Wort  den  mannigfaltigsten  Bedeutungsdifferenzierungen  unterworfen  ist  und 
deshalb  Ausdruck  der  verschiedensten  Bewertungen  werden  kann,  die  sich  von 
vornherein  garnicht  übersehen  lassen.  Die  Idee  eines  Weltrechts  bleibt  daher 
ein  Gedanke,  dessen  Erfüllung  in  der  Wirklichkeit  des  Lebens  der  Natur  der 
Sache  nach  ausgeschlossen  ist. 

Damit  ist  auch  die  Hauptschwierigkeit  der  Erkenntnis  ausländischen  Eechts 
bloßgelegt,  und  es  ergibt  sich  ein  geringerer  Grad  der  Sicherheit,  keineswegs 
eine  völlige  Unmöglichkeit,  ausländisches  Eecht  (d.  h.  ausländische  Eechtswirk- 
lichkeit) —  durch  Einfühlung  —  inhaltlich  festzustellen1). 

Darf  Eechtsordnung  (Inbegriff  formulierter  Normen)  und  Eechtsein  (Eechts- 
wirklichkeit) nicht  verwechselt  werden,  so  kann  von  einer  eigentlichen  Ee- 
zeption  fremden  Eechts  nur  da  gesprochen  werden,  wo  ganze  Wertstellungen 
eines  Volkes  durch  das  andere  übernommen  werden,  wo  also,  wie  H.  sagt,  eine 
Eenaissance  vorliegt  (S.  101).  Davon  zu  scheiden  ist  die  bloße  Uebernahme 
einer  fremden  „Eechtsordnung",  d.  h.  des  intellektuellen  Gerüsts  fremden 
Eechts  -  wie  dies  in  dem  von  H.  bearbeiteten  Falle  für  die  Annahme  des 
französischen  Eechts  in  Belgien  zutrifft  (vgl.  auch  das  bekannte  Verhältnis  un- 
serer Pr.  V.-U.  vom  31.  1.  1850   zu   der  belgischen  Verfassung  —  loi  belgique; 


1)  Was  die  praktische  Wichtigkeit  dieser  Feststellung  anlangt,  so  sei  für 
juristisch  nicht  genügend  orientierte  Leser  bemerkt,  daß  das  einheimische  sog. 
„Normenkollisionsrecht"  in  zahlreichen  Fällen  die  Anwendung  fremden  „mate- 
riellen" Eechts  vorschreibt. 

Kantstudion.    XXVII.  14 


210  Besprechungen  (Ilolldack). 

Batbie,  traite  thoorique  et  pratique  du  droit  public  et  administrativ  2  ed.  Paris 
1855,  III  p.  127  sv.,  Arndt,  Die  Verf.-Urk.  f.  d.  Preuß.  Staat,  3.  Aufl.,  1894, 
S.  26  ff.). 

Die  grundsätzliche  Untersuchung  des  Verf.  findet  im  II.  Teil  des  Buches 
ihre  praktische  Bestätigung.  Es  zeigt  sich  hier  in  der  Tat,  mit  welchen 
Schwierigkeiten  die  Feststellung  ausländischen  Kechts  und  ausländischen  Rechts- 
lebens und  -erlebens  verbunden  ist.  Verf.  bringt  in  diesem  IL  Teile  eine  mit 
wahrhaft  philologischer  Akribie  gearbeitete,  kritische  Geschichte  der  einschlä- 
gigen Gesetzgebung  und  Rechtsprechung.  Das  gesamte  Material  ist  liier  in 
bewunderungswürdiger  Vollständigkeit  verarbeitet;  die  mannigfach  verschlun- 
genen Pfade  der  Entwickelung  deckt  Verf.  restlos  auf.  Interessant  ist  es,  zu 
sehen,  wie  oft  eine  plötzliche  Abkehr  vom  Bisherigen,  ein  Umbiegen  des  erst 
eingenommenen  Standpunkts,  z.  T.  geradezu  ein  Rückgang  zu  scheinbar  längst 
aufgegebener  Anschauung  stattfindet,  ja  wie  sich  der  Standpunktwechsel  inner- 
halb einer  und  derselben  richterlichen  Dezision  und  Deduktion  vollzieht.  Der 
angesponnene  Faden  wird  plötzlich  fallen  gelassen  —  eine  neue  Motivation 
greift  modifizierend  ein  und  führt  von  dem  ursprünglichen  Gedankengang  ab. 
So  z.  B.  Einwirkung  sozialpolitischer  Erwägungen  (Arbeiterschutz,  Unfallgesetz- 
gebung) als  Motiv  von  Umdeutungen,  die  zu  der  sozialpolitisch  wünschenswerten 
Subsumtion  führen. 

Die  Darlegungen  des  Verf.  sind  nach  Methode  und  Ergebnis  zweifellos 
höchster  Beachtung  wert;  besonders  gilt  dies  auch  von  der  Ablehnung  des  Ver- 
suchs, durch  Abstraktion  scheinbar  gemeinsamer  Einzelzüge  mehrerer  Rechte 
ein  Weltrecht  zu  gewinnen.  Der  abgewiesene  Standpunkt  würde  die  Natur  des 
Allgemeinen  in  der  Tat  völlig  verkennen.  Das  rechtlich  Allgemeine  ist  der 
logisch-normative  Sinn,  der  mit  gewissen  sozialen  Tatbeständen  ohne  wei- 
teres gesetzt  ist,  die  erst  hierdurch  zu  rechtlichen  werden  und  ihrem  recht- 
lichen Sinn  zufolge  ihr  Recht  bereits  in  sich  tragen1).  Dieser  Sinn  ist  es,  der 
die  sog.  juristische  Konstruktion  ermöglicht,  die  ihrerseits  nicht  bloß  zusammen- 
fassender Natur  ist,  sondern  juristisch  inhaltliche  und  inhaltbestimmende  Be- 
deutung hat.  Kein  Gesetzbuch  kann  an  diesem  ursprünglichen  Sinne  der  recht- 
lichen Tatbestände  vorübergehen,  es  muß  diese  Tatbestände  mit  ihrem  Sinne 
annehmen,  kann  sie  aber  auch,  um  irgendwie  verfolgter  Gerechtigkeitsziele  willen 
verwerfen,  bezw.  ihren  ursprünglichen  Sinn  für  das  positive  Recht  durch  positive 
„Bestimmung"  modifizieren  und  ausgestalten  („aliquid  addere  vel  detrahere": 
fr.  6  pr.  Dig.  1,1).  Mit  fast  immer  zielsicherem  Blick  haben  die  römischen  Ju- 
risten diese  „naturalis  ratio"  in  den  rechtlichen  Tatbeständen  herauszuarbeiten 
verstanden  —  und  hierauf  beruht  die  von  H.  treffend  hervorgehobene  „zeitlose 
Geltung  römischen  Rechtseins4',  die,  wie  H.  zeigt,  dazu  führen  muß,  daß  der 
Rechtsunterricht  sich  zu  den  Wurzeln  seiner  Kraft  im  römischen  Recht  wieder 
zurückfindet,  womit  zugleich  durch  Wiederherstellung  der  Pandekten  Vor- 
lesung dem  Postulat  geschichtlicher  Besinnung  Genüge  getan  würde.  Wenn 
H.  das  Ueberwiegen  des  „Formalen"  über  das  „Materiale"  beim  römischen  Recht 
betont  und  wenn  er,  beiläufig  bemerkt,  daß  es  im  Wesen  der  Sache  begründet 
sei,  wenn  die  „Kritik  der  juristischen  Vernunft"  nur  ein  Jurist  „gemeinen 
Rechts"2)  (Stammler)  zu  liefern  vermochte,  so  ist  dies  wiederum  eine  höchst 
treffende  Beobachtung.  Aber  es  muß  davor  gewarnt  werden,  in  logisch  und 
sachlich  unzulässiger  Umkehrung  dieses  Sachverhalts  den  „Formalismus"  der 
Stammlerschen  Rechtstheorie  mit  der  bedingenden  Rechts  inhaltlichkeit  zu 
verwechseln,  die  in  den  rechtlichen  Tatbeständen  selber  als  deren  Sinn  und 
teleologischer  Gehalt  (unabhängig  von  jeder  positiven  Regelung)  gesetzt  ist. 
Die  römischen  Juristen  betätigen   hier   nicht    bloß   eine    „Methode",   ein    „Ver- 


1)  Treffend  Dernburg,  Pand.,  7.  Aufl.,  Bd.  I  §  38  ad  2;  in  ontologischer 
Hypostasierung  (aber  den  Grundgedanken  gut  erfassend)  Rein  ach,  Die  apriori- 
schen Grundlagen  des  bürgerlichen  Rechts,  Husserls  Jb.,  1913,  S.  A.,  vgl.  dort, 
S.  162,  163,  über  die  Umbiegung  der  richtigen  Erkenntnis  ins  Sozial  psycho- 
logische durch  Burkh.  Wilh.  Leist. 

2)  Pandektenrecht. 


Besprechungen  (Holldack-Israel).  211 

fahren",  eine  „Art  und  Weise"  des  Erkennens.  Vielmehr  handelt  es  sich  bei 
dem  Ablesen  der  Eechtsfolge  aus  dem  vorliegenden  Material  rechtlicher  Tat- 
bestände um  einen  Sachverhalt,  der  in  dem  St.schen  „Formalismus"  nicht  recht 
zur  Geltung  gelangt-  Auch  H.  läßt  die  phänomenologische  Seite  des 
Problems  der  Kechtsgeltung  etwas  stark  zurücktreten  —  freilich  aus  einem  an- 
deren Motive  als  einem  solchen,  das  einem  Zurückgreifen  auf  den  Formalismus 
Stammlers  entspringen  würde.  Für  H.  handelt  es  sich  darum,  die  „Bechts- 
wirkliehkeit",  die  Tatsächlichkeit  des  zur  Durchführung  kommenden  „Rechts" 
in  ihren  psychologischen  Hauptmomenten  zu  erfassen.  Zu  diesem  Behufe 
knüpft  H.  nicht  an  Stammler,  sondern  an  die  Wertlehre  Eickerts  an.  H. 
ist  aber  durch  seine  psychologische  Einstellung  nicht  etwa  einem  völligen 
Ueber8ehen  der  logischen  Seite  des  Geltungsproblems  zum  Opfer  gefallen,  wie 
seine  Ausführungen  S.  27  ff.,  91  ff.  und  sonst  zeigen,  und  er  ist  ebenfalls  weit 
entfernt  davon,  Psychologist  zu  sein  (auch  der  „versteckte  Psychologismus" 
des  Eickertschen  Wahrheitsbegriffs  ist  bei  H.  vermieden). 

Einzelne  Inzidenzpunkte  werden  vielleicht  noch  einer  anderen  Auffassung 
zugänglich  sein,  ohne  daß  man  genötigt  wäre,  in  der  Hauptsache  in  Gegensatz 
zu  H.  zu  treten.  So  ist  meines  Erachtens  die  These  von  der  „logischen  Ge- 
schlossenheit'' des  Eechts  mit  der  von  H.  treffend  gelehrten  Unabschließbarkeit 
des  Materials  und  der  „Eechtswirklichkeit"  logisch  wohl  vereinbar  und  erleidet 
durch  die  Erkenntnis  der  dogmatischen  Verwechselung  materialer  Wahrheit  und 
Wissenschaft  mit  der  Kodifizierbarkeit  lediglich  formaler  Logik  keinerlei  Modi- 
fikation. Dann  würde  der  Vorwurf  dieser  Verwechselung  und  des  Versuchs, 
metaphysische  Ergebnisse  aus  bloßen  Schlußfolgerungen  zu  gewinnen,  nicht  zu 
richten  sein  gegen  die  Lehre  von  der  Lückenlosigkeit  des  gerade  darum  für  Er- 
füllungen im  Speziellen  in  unendlicher  Aufgegebenheit  offenen  normativen  Sy- 
stems, wie  es  durch  „eine  Rechtsordnung"  dargestellt  wird. 

Uebrigens  fällt  auch  wohl  dem  Stagiriten  der  von  H.  gerügte  Irrtum  nicht 
zur  Last1).  Mag  man  aber  auch  immerhin  bezüglich  solcher  Inzidenzpunkte  der 
H.schen  Untersuchung  die  Darstellung  vielleicht  noch  ergänzen  und  berichtigen 
können,  dies  ändert  nichts  an  der  großen. Bedeutung,  die  dem  Werk  als  Ganzem 
zukommt  —  und  wir  müssen  dankbar  bekennen  und  anerkennen,  daß  der  Verf. 
die  Gabe  besitzt,  einen  positiven  Eechtsstoff  nach  jeder  Eichtung  hin,  d.  h.  so- 
wohl im  rechtsgeschichtlich-philologischen  wie  im  juristisch-systematischen  Sinne 
restlos  zu  meistern  und  darüber  hinaus  zu  allgemeinster  Besinnung  über  die 
tief  liegenden  Problemzusammenhänge  vorzudringen.  So  konnte  er  sich  das  Ver- 
dienst erwerben,  der  Wissenschaft,  wo  sie  am  problemreichsten  und  unweg- 
samsten uns  entgegentritt,   festes  Land   und   sicheren  Boden   erobert  zu  haben. 

Berlin-Halensee.  Dr.  Albert  Pagel. 

Israel,  Walter,  Zur  wissenschaftlichen  Fortbildung  4des  So- 
zialismus. Eine  erkenntnistheoretische  Studie.  Verlag  Gesellschaft 
und  Erziehung.    Berlin-Fichtenau.     1921.    33  S. 

Diese  Schrift  des  sich  selbst  zur  „Marburger  Schule"  zählenden  Autors 
sucht  eine  kritische  Grundlegung  des  wissenschaftlichen  Sozialismus  zu  geben. 
Gemäß  den  Kantischen  Fragen  nach  der  Möglichkeit  von  Mathematik,  Natur- 
wissenschaft und  Metaphysik  fragt  Israel  nach  der  Möglichkeit  des  Sozialismus 
als  Wissenschaft.  Hierbei  nimmt  er  den  Sozialismus  nicht  etwa  in  parteipoli- 
tischem Sinne  bezw.  als  bloße  Wirtschaftsordnung,  sondern  in  seiner  allge- 
meinsten sittlich-kulturellen  Bedeutung.  Sozialismus  ist  für  ihn  die  Idee  der 
sittlichen  Gesellschaft,  wissenschaftlicher  Sozialismus  die  wissenschaftliche  Lehre 
von  dieser  Idee  und  ihrer  Durchführung.  Das  Kriterium  für  die  Wissenschaft- 
lichkeit des  Sozialismus  sieht  der  Verfasser  in  der  Beziehung  auf  das  geschicht- 

1)  Aristoteles  lehrt  vielmehr  in  der  Nikom.  Ethik  gerade  umgekehrt,  daß 
der  auf  den  Durchschnitt  der  Fälle  (inl  Ttluarov)  zugeschnittene  Spruch  des 
Gesetzgebers  steter  Berichtigung  und  Ergänzung  im  Sinne  der  „Billigkeit"  (rö 
iitMxsg)  fähig  und  bedürftig  ist. 

14* 


212  Besprechungen  (Israel — Fränkel — Kaufmann). 

liehe  Lehen  der  Menschheit,  während  ihm  zufolge  der  utopische  Sozialismus 
dieser  Beziehung  ermangelt.  Die  sozialistische  Idee  ist  für  Israel  die  Hypo- 
thesis,  welche  das  auf  Erkenntnis  der  sittlichen  Gestaltung  der  Gesellschaft 
ausgehende  Denken  an  die  historische  Wirklichkeit  heranbringt  und  durch  diese 
verifizieren  läßt.  Damit  tritt  in  den  Mittelpunkt  der  Begriff  der  geschichtlichen 
Kontinuität;  die  ständige  Wahrung  dieser  wird  so  zur  fundamentalen  metho- 
dischen Maxime  des  wissenschaftlichen  Sozialismus.  Zudem  ist  sich  Israel 
durchaus  darüber  im  klaren,  daß  die  Idee  des  Sozialismus  —  wie  jedwede 
Idee  —  eine  unendliche  Aufgabe  ist,  etwas,  was  immer  wieder  erstrebt  werden 
soll,  aber  nie  voll  und  ganz  zu  erreichen  ist. 

Berlin-Wilmersdorf.  Dr.  Kurt  Sternberg. 

Fränkel,  Richard,  Der  Sinn  des  Kechts.  Langensalza.  1921.  Wendt  u. 
Klauwell.     „Die  Bücher  der  Zeit"  Nr.  20.    32  S. 

Eine  volkstümliche  Darlegung  über  des  Kechtes  Wesen  und  Werden,  die 
dem  Stande  der  Wissenschaft  ungefähr  entspricht  und  zur  Belehrung  und  An- 
regung des  Laien  nicht  ungeeignet  ist. 

Berlin.  Dr.  Albert  Pagel. 

Kaufmann,  Erich,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Bonn,  Kritik  der 
neukantischen  Rechtsphilosophie.  Eine  Betrachtung  über  die  Bezie- 
hungen zwischen  Philosophie  und  Rechtswissenschaft.  Tübingen.  1921.  J.  C.  B. 
Mohr.    102  S.   8°. 

Verf.,  dessen  z.  T.  vorzügliche,  jedenfalls  aber  stets  eindringende  und 
fördernde  Untersuchungen  zur  allgemeinen  Rechtslehre  und  insbesondere  zur 
Staats-  und  Völkerrechtstheorio  wenigstens  dem  juristisch  orientierten  Leser 
bereits  bekannt  sind,  sucht  sich  in  dieser  Arbeit  durch  Auseinandersetzung  mit 
dem  Neukantianismus  in  der  Rechtsphilosophie  den  Weg  zu  systematischem 
Neuaufbau  zu  ebnen.  Die  Arbeit  ist  Paul  Hensel  gewidmet,  dem  der  Verf. 
nach  seiner  Mitteilung  seine  ersten,  philosophischen  Anregungen  verdankt  — 
wie  denn  Kaufmann  bekennt,  daß  er  in  seinen  philosophischen  Bestrebungen 
vom  Neukantianismus  ausgegangen  sei,  jedoch  alsbald  das  Unbefriedigende  dieser 
Philosophie  empfunden  habe.  Er  äußert  sich  darüber  auf  S.  VI  folgendermaßen: 
„Der  metaphysikfreie,  abstrakte  Formalismus  und  der  transzendentale  Ratio- 
nalismus und  Intellektualismus,  der  die  neukantische  Philosophie  charakterisiert, 
hätte  mich  zwar  als  Juristen  auf  ihm  verwandte  Erscheinungen  der  damals 
herrschenden  rechtswissenschaftlichen  Methodik  führen  können.  Aber  auf  der 
einen  Seite  hatte  das  bewußt  entstofflichende,  von  dem  Anschaubaren  und  Er- 
lebbaren entfernende  Denken  der  Neukantianer,  das  über  die  ethischen,  poli- 
tischen, sozialen  und  kulturellen  Probleme  der  Gegenwart  hinweg  nach  den 
reinen  Formen  des  transzendentalen  Denkens  strebt,  in  mir  einen  ungeheuren 
Anschauungs-  und  Stoffhunger  erweckt,  der  mich  in  die  Gefilde  der  rechts- 
und  staatswissenschaftlichen,  geschichtlichen  und  politischen  Forschung  und 
Praxis  trieb,  vermutlich  letztlich  aus  einem  —  freilich  dem  neukantischen  ent- 
gegengesetzten —  philosophischen  Bedürfnis:  wer  philosophiert,  muß  auch  mög- 
lichst viel  wissen,  gesehen,  erlebt  haben,  über  was  er  philosophieren  kann;  sonst 
wird  die  Philosophie  zu  einer  unfruchtbaren  Spezialwissensehaft,  die  selbst- 
genugsam,  aber  unbeeinflußt  und  nicht  beeinflussend,  ein  kathederhaftes  Schatten- 
dasein im  letzten  verstaubten  Winkel  der  universitas  literarum  und  der  Zeit 
führt.  Und  auf  der  anderen  Seite  glaubte  ich,  die  Unfruchtbarkeit  der  herrschen- 
den rechtswissenschaftlichen  Methodik,  je  mehr  ich  mich  mit  den  Problemen 
des  sozialen,  politischen  und  geschichtlichen  Lebens  beschäftigte,  um  so  klarer 
erkennen  zu  müssen.  Die  sog.  rein  juristische  Methode  hatte  die  Rechtswissen- 
schaft in  eine  ähnliche,  von  den  Realitäten  des  gesellschaftlichen  und  politischen 
Lebens  isolierte  unfruchtbare  Selbstgenügsamkeit  geführt,  unter  deren  wissen- 
schaftlichen und  soziologischen  Auswirkungen  wir  heute  zu  leiden  haben." 

Verf.  sucht  die  Rückkehr  zu  Kant  als  einen  Akt  der  Rezeption  darzu- 
stellen, bei  der  das  Beste  von  Kants  Philosophie  sich  verflüchtigt  habe.  Dieser 


Besprechungen  (Kaufmann).  213 

Gedanke  ist  eines  der  leitenden  Motive  der  Schrift  des  Verfassers.  Kaufmann 
beklagt,  daß  unserer  Zeit  eine  echte  Metaphysik  fehle.  Der  Neukantianismus 
sei  weder  willens  noch  fähig,  eine  solche  zu  schaffen.  Er  habe  durch  das  er- 
kenntnistheoretische Vorurteil  der  Wissenschaft  eine  Bahn  gewiesen,  die  zum 
Kelativi8mus  und  Empirismus  führen  müsse.  Zwar  sei  es  nicht  möglich,  die 
großartige  Metaphysik  Kants,  seine  Lehre  von  der  noumenalen  Sphäre  wieder  zu 
neuem  Leben  zu  erwecken,  in  der  der  Philosoph  Sittlichkeit  und  Recht  fest 
verankert  habe.  Aber  es  gehe  doch  nicht  an,  auf  jeden  metaphysischen  Halt 
zu  verzichten  und,  anstatt  dem  wahren  Sein  der  Dinge  auf  den  Grund  zu 
gehen,  die  logisch  gebotene  Art  und  Weise  der  Stellungnahme  zu  den 
Dingen  als  das  angeblich  Wesentliche  zu  betonen,  um  das  wirklich  Wesentliche 
in  nachträglicher  Hinzufügung  zu  den  methodischen  Postulaten  schlecht  und 
recht  irgendwie  in  Beziehung  zu  setzen.  Die  Folge  dieser  Einseitigkeit  sei  eine 
«inseitig  normative  Rechtsbetrachtung  mit  ihrer  destruktiven  Tendenz  gegen- 
über den  irrationalen  Mächten,  den  Realitäten,  denen  man  mit  dem  Versuche, 
sie  in  bloße  rechtliche  Relationen  aufzulösen,  Gewalt  antue.  Dieser  Versuch  sei 
nicht  minder  willkürlich  wie  das  unphilosophische  Beginnen  derjenigen,  die 
lediglich  kausale  Zusammenhänge  anerkennen  wollen.  Es  sei  eben  ein  Grund- 
fehler, die  gesamte  Wirklichkeit  in  eine  einzige  Dimension  projizieren  zu  wollen. 
Das  Recht  dürfe  weder  allein  als  Macht  noch  als  bloße  Norm,  sondern  es  müsse 
im  Sinne  von  Norm  und  Macht  zugleich  verstanden  werden.  Nur  so  sei  eine 
allseitige  Erkenntnis  möglich.  Entscheidende  Sachverhalte  wie  Staat,  Vertrag 
usw.  seien  nicht  bald  soziologische,  bald  juristische,  sondern  mit  sich  identi- 
sche Tatbestände,  welche  nicht  die  Soziologie  oder  Jurisprudenz,  jede  in  ihrer 
Weise  verschieden,  erzeuge.  Daher  könne  wohl  vorläufig  und  hypothetisch  von 
einem  bestimmten  Gesichtspunkte  aus  an  die  Erscheinungen  der  sozialen  Welt 
herangetreten  werden.  Aber  bei  solchen  vorläufigen  Bestimmungen  dürfe  es 
nicht  bleiben. 

Gegen  die  Stammler  sehe  Lehre  erhebt  Verf.  den  Vorwurf,  daß  Stammler 
der  den  ,, Stoff"  gestaltenden  Norm  die  bloße  „Form"  untergeschoben  und  hier- 
durch sowohl  das  Recht  wie  die  Wirtschaft  „denaturiert"  habe.  Der  Stammler- 
sche  Begriff  des  Rechts  und  die  Stammlerschen  „Kategorien"  seien  —  wie 
Binder  dargetan  habe  —  „empirische  Allgemeinbegriffe".  Das  „soziale  Ideal" 
sei  1.  ein  lediglich  negatives,  2.  ein  bloß  moralisches  Prinzip.  Sein  Gesamt- 
urteil über  Stammler  faßt  der  Verf.  S.  20  dahin  zusammen:  „Es  sind  allerlei 
disieeta  membra  des  Kantischen  Bauwerks  aus  ihren  tektonischen  Zusammen- 
hängen herausgerissen,  beschnitten,  behauen  und  transformiert,  und  dann  ist 
aus  ihnen  ein  ganz  neues  Gebäude  errichtet  worden,  das  nicht  auf  festen  Funda- 
menten ruht,  sondern  in  den  luftleeren  Raum  hineingebaut  ist." 

Kaufmann  hat  wenigstens  die  Lehre  Stammlers  vom  sozialen  Ideal  bereits 
früher  in  der  Schrift:  „Das  Wesen  des  Völkerrechts  und  die  clausula  rebus  sie 
stantibus  usw."  S.  149  mit  denselben  Gründen  wie  in  der  gegenwärtigen  Schrift 
abzuweisen  gesucht.  Wir  sind  der  Meinung,  daß  Kaufmanns  Kritik  in  diesem 
Punkte  doch  sicherlich  zu  scharf  ist,  da  Stammler  ja  tatsächlich  (freilich 
im  Widerspruch  mit  seinem  logisch-methodologischen  Ausgangspunkt)  sich  nicht 
mit  einem  bloß  negativen  Kriterium  oder  gar  einer  bloßen  Methode  begnügt, 
auch  einen  durchaus  nicht  bloß  für  das  Innenleben  der  Einzelperson  brauch- 
baren Grundsatz  aufstellt,  sondern  im  Gegenteil  in  den  Sätzen  des  Achtens 
und  Teilnehmens  eminent  soziale  Inhalte  zur  Geltung  bringt.  Ueberhaupt 
wird  der  Verf.  Stammler  insofern  nicht  ganz  gerecht,  als  Kaufmann  übersieht, 
daß  bei  Stammler  ein  Kern  unverlierbar  richtiger  Grundeinsichten  vorhanden 
ist,  deren  Preisgabe  nach  der  Ueberzeugung  des  Referenten  einen  Rückschritt 
der  Rechtsphilosophie  bedeuten  würde.  Es  ist  nicht  möglich,  dies  im  Rahmen 
einer  kurzen  Besprechung  beweisend  auszuführen. 

Kaufmann  wendet  sich  sodann  —  S.  20,  21  ff.  —  dem  „radikalsten  Ver- 
such, auf  neukantischer  Grundlage  den  reinen  Rechtsformalismus  durchzu- 
führen", nämlich  den  Arbeiten  Kelsens  zu.  Verf.  zeigt  hier,  daß  mit  Kelsens 
„reinem  Sollen"  nicht  auszulangen  ist.  Kelsen  kommt,  wie  Kaufmann  ausführt, 
auf   dem  Wege    verfehlter  Abstraktionstheorie   zu   einem    „inhaltsleeren  Allge- 


214  Besprechungen  (Kaufmann). 

meinbegriff"  (S.  21).  Verf.  zeigt,  zu  welchen  Konsequenzen  die  „Eindiraensiona- 
litiit"  bloß  normativer  Betrachtung  des  öffentlichen  Rechts  bei  Kelsen  führe,  der 
den  eigenartigen  Versuch  mache,  seinem  metaphysischen  Logizismus  durch  Hin- 
zuziehung des  Mach  sehen  Prinzips  der  Denkökonomie  den  empirischen  Stoff 
anzupassen,  um  schließlich  anzuerkennen,  daß  das  Völkerrecht  „zwar  nicht  jede 
faktische  Macht  als  Kechtsmacht  zu  etablieren  bemüht  ist,  aber  doch  nur  eine 
bestimmte  faktische  Macht  als  Rechtsmacht  gelten  lassen  will."  Dies 
zeige,  daß  ohne  soziologischen  Unterbau  die  Rechtslehre  ihren  Halt  verliere. 
Als  Verdienst  Kelsen s  erkennt  Verf.  an,  „daß  er  alle  jene  Umkippungen  aus 
dem  bloß  Formalen  in  die  empirischen  Substruktionen  schonungslos  und  mit 
einer  kritischen  Schärfe,  die  ihresgleichen  in  unserer  juristischen  Literatur  nicht 
hat,  daß  er  alle  die  ,Halbwahrheiten'  als  solche  erkannt  und  aufgedeckt  hat." 
Kaufmann  nennt  ihn  den  „Meister  des  Rechtsformalismus,  der  die  anderen 
meistert"  (S.  79).  „Der  Unterschied  von  Kelsen  und  den  anderen  besteht  nur 
darin,  daß  diese  bereits  in  den  unteren  Regionen  ohne  erkennbaren  Grund  bald 
hier,  bald  da,  bald  mehr,  bald  weniger,  systemlos,  ins  bloß  Faktische  umkippen, 
während  Kelsen  das  nur  auf  der  letzten  und  obersten  Stufe  tut"  (S.  80). 

Eingehende  Erörterungen  widmet  der  Verf.  (S.  35  ff.)  der  südwestdeutschen 
Philosophenschule.  Er  charakterisiert  ihre  Bedeutung  für  die  Jurisprudenz  und 
stellt  den  gewaltigen  Einfluß  dar,  den  die  Schule  in  methodologischer  Hinsicht 
auf  die  Rechtswissenschaft  unserer  Tage  geübt  hat.  Verf.  sucht  zu  zeigen,  daß 
auch  die  südwestdeutsche  Schule  einen  Abfall  von  Kant  bedeute.  Damit  wäre 
sachlich  über  den  Wert  oder  Unwert  der  Leistung  dieser  Schule  freilich  nichts 
gesagt.  Es  ist  für  jede  Philosophie,  die  als  Wissenschaft  wird  auftreten  können, 
selbstverständlich,  daß  sie  an  Kant  anknüpfen  muß.  Aber  es  ist  ebenso  selbst- 
verständlich, daß  wir  bei  Kant  nicht  stehen  bleiben  können.  Gibt  man  zu,  daß 
der  wahre  Kant  mit  dem  historischen  Kant  nicht  schlechthin  identisch  gesetzt 
zu  werden  braucht,  so  ist  nicht  bewiesen,  daß  durch  Preisgabe  der  Dingansich- 
lehre und  der  metaphysischen  Auflösung  der  dritten  Antinomie  der  wahre  Kant 
aufgegeben  sei.  Es  wäre  also  eine  tiefergehende  Erörterung  darüber  erforderlich, 
inwieweit  die  Kantische  Lehre,  als  systematische  Potenz  genommen,  trotz  der 
angedeuteten  durchgreifenden  Veränderungen  gegenüber  dem  historischen  Kant 
zum  Aufbau  einer  neuen  Philosophie  zu  führen  und  deren  Gehalt  zu  bilden 
vermöchte.  Daß  für  Kant  die  erkenntniskritische  Aufgabe  nur  die  allerdings 
entscheidende  Vorbereitung  zu  einer  Metaphysik  darstellen  sollte,  ist  freilich 
unbezweifelbar.  Aber  es  fragt  sich,  ob  die  metaphysische  Position,  zu  der  Kant 
selbst  gelangt  ist,  und  ob  gerade  die  Ausführung  der  erkenntniskritischen  Vor- 
bereitung, die  für  den  historischen  Kant  charakteristisch  ist,  nicht  einer  erheb- 
lichen Umgestaltung  fähig  und  bedürftig  sei,  die  um  des  kritischen  Grund- 
gedankens willen  in  seiner  Gegensätzlichkeit  zum  relativistischen  Empirismus 
wie  zum  rationalistischen  Dogmatismus  anderseits,  der  mit  Hilfe  bloß  formaler 
Logik  von  beliebigen  (dogmatischen)  Prämissen  aus  Beliebiges  zu  beweisen  ver- 
mag, dennoch  den  Namen  der  Kantischen  Philosophie  durchaus  zu  rechtfertigen 
vermöchte.  Jedenfalls  kann  man  sich  in  einem  Punkte  mit  dem  Verf.  einig  er- 
klären: die  Herabsetzung  der  Philosophie  zur  bloßen  Erkenntnislehre,  ja  zu 
einer  bloßen  Methode  ist  von  dem  unsererseits  betonten  kritischen  Grundge- 
danken himmelweit  verschieden.  Sie  ist  nicht  nur  unkantisch,  sondern  auch 
sachlich  unzulässig.  Es  wäre  nun  die  Aufgabe,  diesem  Punkt  in  allgemein- 
philosophischer Untersuchung  nachzugehen.  Bedeutsame  Ansätze  hierzu  liegen 
in  der  modernen  Phaenomenologie  Husserls  vor.  Ferner  wären  anderseits 
Rehmkes  Ueberlegungen  heranzuziehen.  Indes  hat  sich  der  Verf.  in  der  vor- 
liegenden Schrift,  wie  er  expressis  verbis  S.  VII  und  VIII  hervorhebt,  nicht  die 
Aufgabe  gestellt,  eine  eigene  positive  Darlegung  zu  geben,  wenn  auch  seinem 
kritischen  Unternehmen  selbstverständlich  der  eigene  positive  Standpunkt  des 
Verf.  als  Voraussetzung  zugrunde  gelegt  ist  —  eine  fruchtbare  Kritik  kann  ja 
überhaupt  niemals  bloß  negativ  sein,  sie  bedarf  allemal  der  eigenen  Einsicht 
des  Kritikers  in  die  Sache  selber.  Aber  der  Verf;  hat  sich  in  dieser  Beziehung 
zunächst  geflissentlich  Zurückhaltung  auferlegen  wollen.  So  begnügt  er  sich 
damit,  das  seiner  Meinung  nach  Fragmentarische  und  Lückenhafte  auch  der  süd- 


Besprechungen  (Kaufmann — Kelsen).  215 

westdeutschen  Gesamtansieht  andeutungsweise  aufzuzeigen.  Hieran  schließt  sich 
eine  kurze  Würdigung  der  reehtsphilosophisehen  Darlegungen  Binders,  der 
nach  eigenem  Zeugnis  der  südwestdeutschen  Schule  zugerechnet  sein  will.  Auch 
ihm  gegenüber  hebt  der  Verf.  in  beachtlicher  Weise  hervor,  daß  Binder  für 
seine  Rechtslehre  die  Kantische  Philosophie  nicht  in  Anspruch  nehmen  dürfe 
(S.  48  ff).  Ferner  versucht  der  Verf.  seine  eigene  Lehre,  die  heftige  Bekämpfung 
in  der  Literatur  gefunden  hat,  gegen  das  Mißverständnis  in  Schutz  zu  nehmen, 
als  han<lele  es  sich  ihm  um  bloßen  Machtkultus.  Er  habe  stets  lediglich  die 
Erkenntnis  zur  Geltung  bringen  wollen,  daß  das  Recht  Norm  und  Macht  in 
prästabilierter  Harmonie  fordere.  Mit  einem  interessanten  problemgeschichtlichen 
Rück-  und  Ausblick  iindet  die  Arbeit  ihren  Abschluß. 

Des  Verf.  Stellungnahme  erinnert  zum  Teil  an  die  Rechtsphilosophie  des 
unvergeßlichen  Adolf  Lasson,  in  der  aristotelische  Elemente  mit  einem  abge- 
klärten Hegelianismus  und  der  Ideenwelt  Stahls  sich  verbanden.  Auch  mag 
auf  Lassons  Berliner  Festvortrag  zum  Klöjährigen  Todestage  Kants  hingewiesen 
sein,  da  hier  Kants  metaphysische  Intentionen  treffend  gewürdigt  worden  sind. 
Eine  Erwähnung  Lassons  wäre  immerhin  nicht  unwillkommen  gewesen.  Wenn 
der  Verf.  allerdings  die  von  Lasson  gezogene  Konsequenz  hinsichtlich  des  Völker- 
rechts nicht  teilt,  sondern  gerade  hier  einen  dem  Richtigen  sehr  viel  näher 
kommenden  Standpunkt  als  Lasson  einnimmt  (vgl.  vorläufig  meinen  Aufsatz: 
„Zur  Rechtsnatur  des  Völkerrechts"  Ztschr.  f.  pos.  Philos.  Bd.  2  Heft  3  und  4, 
1914,  S.  197  ff.),  so  schließt  diese  freilich  durchgreifende  Abweichung  doch  ander- 
seits eine  nicht  unerhebliche  Verwandtschaft  in  den  politisch-philosophischen 
Grundanschauungen  Lassons  und  Kaufmanns  keineswegs  aus. 

Auffallend  ist  es,  daß  der  Verf.  die  gründliche  Schrift  Wielikowskis:  „Die 
Neukantianer  in  der  Rechtsphilosophie"  (München  1914)  übergeht.  Abgesehen 
von  der  Identität  des  Themas  münden  Wielikowskis  Gedankengänge  in  eine 
ähnliche  Tendenz  zugunsten  einer  metaphysisch-soziologischen  Lehre  aus  wie 
Kaufmanns  Darlegungen. 

Kaufmanns  Schrift  ist  in  vielen  Punkten  recht  beachtenswert,  auch  für  den, 
der  sich,  wie  Ref.,  trotz  mancher  Uebereinstimmung  in  der  kritischen  Stellung- 
nahme zum  Neukantianismus  die  positive  Ausführung  der  philosophischen  Lehre 
anders  denkt,  als  es  der  Ansicht  des  Verf.  entsprechen  möchte. 

Berlin.  Dr.  Albert  Pagel. 

Kelsen,  Hans,  o.  ö.  Universitätsprofessor  in  Wien,  Das  Problem  der 
Souveränität  und  die  Theorie  des  Völkerrechtes.  Beitrag  zu  einer 
reinen  Recht  sichre.  Tübingen.  1920.  Verlag  von  J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck). 
320  S. 

Der  Philosoph  empfängt  vom  heutigen  Stande  der  Rechtswissenschaft  unter 
Umständen  den  Eindruck,  daß  sie  sich  noch  in  einem  vorwissenschaftlichen 
Stadium,  etwa  in  der  Verfassung  der  vorkantischen  Naturwissenschaft 
befinde:  dies  trotz  der  ununterbrochenen  Versuche  der  jüngsten,  zum  guten  Teil 
philosophisch  interessierten  und  orientierten  Juristengeneration,  mit  der  großen 
übrigen,  dicht  um  die  Philosophie  als  zentrale  Disziplin  gruppierten  Wissen- 
schal tsgemeinde  engere  Fühlung  zu  gewinnon.  Aber  auch  der  Jurist  kann  sich 
des  nicht  ganz  unbegründeten  Eindruckes  nicht  erwehren,  daß  die  Philosophie 
der  Jurisprudenz  fremder  als  anderen  Einzelwissenschaften  gegenüberstünde,  daß 
die  Philosophen,  in  deren  Kreise  ja  in  immer  stärkerem  Maße  das  Problem  der 
Jurisprudenz  Beachtung  findet,  gerade  diesor  Spezialwissenschaft  zum  Unter- 
schied»' von  fast  allen  anderen  nicht  recht  gerecht  zu  werden  vermögen.  Was 
gegenüber  jeder  anderen  Spezialdiszipün  geradezu  ausgeschlossen  wäre,  trifft 
nämlieh  gerado  gegenüber  der  Jurisprudenz  zu:  daß  infolge  einer  relativ  un- 
klaren Vorstellung  über  das  rechtliche  Material,  infolge  —  begreiflicher- 
weise, ja  geradezu  notwendig-unzulänglicher  Beherrschung  der  rechtlichen 
Erfahrung  mitunter  geradezu  der  Gegen ■  tauet  der  Jurisprudenz  verfohlt 
wird.     Der  selbst  dem  gebildeten  Nichtjuristen   zur  Verfügung   stehende  Schatz 


216  Besprechungen  (Kelsen). 

von  Rechtsnormen,  auf  Grund  dessen  der  Rechtsbegriff  unbedenklich  bestimmt 
wird,  ist  ja  in  der  Regel  nicht  größer  als  beispielsweise  die  Erfahrung  eines 
Nichtzoologen  von  der  Fauna,  der  etwa  die  Gruppe  der  Haustiere  mit  dem  Tier- 
reich einfach  gleichsetzen  würde.  Eine  derart  begrenzte  zoologische  Erfahrung 
müßte  wohl  ebenfalls  eine  darauf  aufgebaute  zoologische  Wissenschaft  desorien- 
tieren. So  erklärt  sich  denn  auch  meines  Erachtens  zum  Teile,  wenn  auch  nicht 
restlos,  die  immer  wieder  vorgenommene  Verwechselung  der  Rechtsordnung  mit 
der  Moralordnung,  die  Einbeziehung  des  Rechtssystemes  in  ein  höheres  ethisches 
System  aus  der  Tatsache,  daß  die  Gruppe  von  Rechtsnormen,  die  sich  inhalt- 
lich (nicht  auch,  weil  einem  anderen  Systeme  angehörig,  formell),  mit  den 
Normen  einer  Moralordnung  decken,  die  geläufigsten,  bekanntesten  sind;  es 
sind  dies  der  Großteil  der  strafrechtlichen  und  ein  Teil  der  zivilrechtlichen 
Vorschriften.  Mit  den  etwa  sonst  noch  bekannten,  vermeintlich  nicht  allzu  zahl- 
reichen Rechtsnormen,  die  an  sich  moralisch  irrelevant  erscheinen,  pflegt  man 
sich  wohl  in  der  Erwägung  abzufinden,  daß  sie  nur  Mittel  zu  dem  ethischen 
Zwecke  des  Rechtes  und  daß  sie  im  Gegensatz  zu  jenen  für  jede  Rechtsordnung 
wesentlichen  Normen  einen  unwesentlichen  Bestandteil  der  Rechtsordnung  dar- 
stellen. Eine  solche  Deutung  würde  aber  tatsächlich  einen  überragenden 
Teil  des  gegebenen,  nur  eben  zum  größeren  Teile  unbekannten  Rechtsnormen- 
materiales  mißdeuten.  Nur  an  einem  außerrechtlichen  Maße  gemessen,  erscheint 
der  eine,  und  zwar  im  besonderen  der  moralisch  irrelevante  Teil  der  Rechts- 
ordnung als  bloßes  Mittel  für  den  Zweck  des  anderen  Teiles,  und  nur  vom 
Standpunkt  eines  außerrechtlichen  Wertes  kann  man  zwischen  wesentlichen  und 
unwesentlichen  Bestandteilen  der  Rechtsordnung  unterscheiden.  An  spezifischem 
Rechtswert  sind  die  inhaltlich  verschiedensten,  auch  die  zahllosen 
moralisch  irrelevanten  Rechtsnormen  einander  gleich;  der  materiell 
mit  einer  Moralnorm  zusammenfallende  Strafrechtssatz  „Du  sollst  nicht  töten" 
oder  die  Zivilrechtsnorm :  „pacta  sunt  servanda"  haben  keinen  anderen,  insbe- 
sondere keinen  höheren  Rechtswert  als  die  einfache  Verwaltungsvorschrift  rechts 
oder  links  zu  fahren  oder  etwa  die  Polizeivorschriften  über  das  Meldewesen.  Es 
sei  nur  die  Feststellung  gestattet,  daß  die  Jurisprudenz  ebenso  eine  beson- 
dere, von  jedem  anderen  Wertsystem  unabhängige  Wertkategorie  zum  Gegen- 
stande hat  wio  z.  B.  die  Aesthetik  oder  die  Grammatik. 

Mit  diesem  kurzen  Exkurse  sollte  nur  in  aller  Kürze  angedeutet  werden, 
daß  die  im  übrigen  außerordentlich  dankenswerten  und  lehrreichen  Exkurse 
philosophischer  Autoren  in  das  Gebiet  jener  abseits  gelegenen,  fast  vergleichs- 
losen Spezialdisziplin,  die  wir  in  der  Jurisprudenz  zu  erblicken  haben,  dargetan 
zu  haben  scheinen,  daß  die  Einordnung  der  Rechtswissenschaft  in  das 
System  der  Wissenschaften  im  allgemeinen,  der  Brückenschlag  zwischen 
Jurisprudenz  und  Philosophie  im  besonderen,  von  juristischer  Seite  vorge- 
nommen werden  muß,  weil  nur  hier  die  für  ein  solches  Beginnen  unerläßliche 
eindringliche  Vertrautheit  mit  dem  positiven  Rechte  zu  erwarten  ist.  Und 
es  muß  in  philosophischen  Kreisen  anerkannt,  zu  diesem  Zwecke  aber  allerdings 
erst  bekannt  werden,  daß  sich  eine  Reihe  von  Schriften  juristischer  Autoren, 
allen  voran  Rudolf  Stammlers,  ferner  Julius  Binders,  Leonard  Nelsons, 
Felix  Somlos,  insbesondere  aber  Hans  Kelsen s  und  neuestens  Fritz  Sanders 
—  die  Liste  macht  auf  Vollständigkeit  keinen  Anspruch!  —  jenem  selbstver- 
ständlichen, von  anderen  Disziplinen  schon  längst  erreichten  Ziele  beträchtlich 
angenähert  haben. 

Was  insbesondere  die  Rechtslehre  Hans  Kelsens  betrifft,  so  ist  sie,  ab- 
gesehen von  zahlreichen,  rechtstheoretischen  Einzelproblemen  zugewandten  Mo- 
nographien, in  den  beiden  Hauptwerken  „Hauptprobleme  der  Staatsrechtslehre" 
(Tübingen  1911.  Verlag  J.  C.  ß.  Mohr,  709  S.)  und  „Das  Problem  der  Sou- 
veränität und  die  Theorie  des  Völkerrechts.  Beitrag  zu  einer  reinen  Rechts- 
lehre" (derselbe  Verlag  1920.  320  S.)  niedergelegt l).   Was  die  Rechtslehre  Hans 

1)  Für  eine  nähere  Orientierung  über  Kelsens  Rechtstheorie  vergl.  meine 
in  Band  41  Heft  2  des  Archivs  des  öffentlichen  Rechts  (Tübingen)  erschienene 
Abhandlung  über  Hans  Kelsens  System  einer  reinen  Rechtstheorie. 


i 


Besprechungen  (Kelsen).  217 

Kelsens,  namentlich  in  ihrer  im  zweiten  Werke  gewonnenen  vervollkommneten 
Gestalt,  vom  philosophischen  Standpunkt  bemerkenswert  macht,  ist  die  selbst- 
verständliche, in  Juristenkreisen  aber  vor  kurzem  wohl  noch  unerhörte  Tat- 
sache, daß  sie  die  bewußte  und  beabsichtigte  Anwendung  des  philosophischen 
Systemgedankens  auf  die  Eechtswissenschaft  darstellt.  Im  Gegensatz  zu 
dem  in  den  ,. Hauptproblemen"  gewonnenen  einzelstaatlichen  Rechts- 
systeme  gelangt  nun  Kelsen  in  seinem  neuesten  Werke  zu  einem  die  sämt- 
lichen Einzelstaatsordnungen  als  Teilordnungen  umfassenden  Weltrechtssy- 
steme. Freilich  behauptet  Kelsen  nicht  die  Ausschließlichkeit  dieser  Konstruk- 
tion des  positiven  Rechts,  sondern  gibt  auch  die  Möglichkeit  einer  auf  den 
Einzelstaat  abgestellten  Rechtskonstruktion  zu.  Aber  auch  bei  dieser  Konstruk- 
tion müssen  die  Völkerrechtsordnung  und  die  übrigen  Staatsrechtsordnungen 
gleichwohl  in  den  Systemzusammenhang  der  zum  Ausgangspunkt  genommenen 
und  zur  Universalordnung  erhobenen  Einzelstaatsordnung  eingeordnet,  als  deren 
Teilordnungen  gedeutet  werden:  denn  niemals  kann  das  einheitliche  Rechts- 
material —  wie  ihm  in  der  herrschenden  Rechtswissenschaft  nur  noch  zu  häufig 
widerfährt  —  auf  eine  Mehrzahl  von  einander  als  unabhängig  und  zugleich 
gleichgeordnet  gedachter  Systeme  verstreut  werden.  —  Es  wäre,  wie  nur  neben- 
bei bemerkt  sei,  ein  Mißverständnis  von  Kelsens  Aufstellungen,  wenn  man  die 
von  ihm  behauptete  Möglichkeit  einer  doppelten  oder  mehrfachen  Deutung  des 
gesamten  Rechtsmaterials  mit  der  bisherigen  Annahme  des  Bestandes  mehrerer 
Rechtssysteme  verwechseln  würde,  die  erst  in  ihrer  Summierung  die  gesamte 
Rechtserfahrung  erschöpfen.  Kelsen  wollte,  wenn  wir  ihn  recht  verstehen, 
nur  den  Dualismus  einander  ergänzender,  nicht  den  einander  ausschließender 
Rechtssysteme  überwinden. 

Abschließend  betrachtet  Kelsen  die  Ergebnisse  seines  Werkes  sub  specie 
der  großen  Weltanschauungsgegensätze  (S.  314  ff.).  Die  einzelstaatliche 
Konstruktion  der  Rechtsordnung,  oder,  wie  sich  Kelsen  ausdrückt,  die  Theorie 
vom  Primat  des  Staates,  ist  verhältnismäßig  individualistisch-subjek- 
tivistisch,  und  sie  ist  der  wissenschaftliche  Mantel  des  Imperialismus. 
Die  völkerrechtliche,  weltrechtliche  oder  weltstaatliche  Konstruktion  der  Rechts- 
ordnung, mit  Kelsens  Ausdruck:  die  Theorie  vom  Primat  des  Völkerrechtes, 
entspringt  kollektivistischem,  objektivistischem  Denken,  und  sie  ist 
die  rechtstheoretische  Grundlage  des  Kulturideals  des  Pazifismus.  Kelsens 
Werk,  mit  dessen  Einzelheiten  man  sich  nicht  restlos  zu  identifizieren  braucht, 
das  aber  als  Ganzes  zum  Bedeutendsten  gehört,  was  das  Schrifttum  über  Recht 
und  Staat  hervorgebracht  hat,  läßt  erkenntnismäßig  die  Wahl  zwischen  den 
beiden  angedeuteten  grundsätzlichen  rechtstheoretischen  Positionen  offen. 
Willensmäß'ig  ergreift  aber  unser  Autor  sehr  entschieden  Partei,  indem  seine 
im  übrigen  hinreißend  geschriebene  Schrift,  die  Grenzen  der  Rechtstheorie 
an  diesem  Punkt  bereits  überschreitend,  in  eine  ethische  Apotheose  des 
Primates  der  Völkerrechtsordnung  ausklingt. 

An  Einzelergebnissen  der  Schrift  sei  nur  mit  der  gebotenen  Kürze  die 
Parallele  zwischen  Jurisprudenz  und  Theologie  (S.  21)  hervorgehoben, 
worüber  sich  bereits  in  Kelsens  Monographie  über  Staatsunrecht  (in  Grünhuts 
Zeitschrift  für  das  private  und  öffentliche  Recht  der  Gegenwart,  Jahrgang  1913) 
Vorbemerkungen  finden.  —  Von  nicht  bloß  rechtstheoretischera  Wert  sind  ferner 
auch  die  aus  Anlaß  der  Konfrontation  der  Völkerrechts-  und  Staatsrechtsord- 
nung angestellten  grundlegenden  Untersuchungen  über  das  mögliche  logische 
Verhältnis  mehrerer  Normsysteme  (S.  102  - 120). 

In  der  Vorrede  bittet  Kelsen  „eine  philosophische  Kritik  um  Nachsicht", 
da  er  „als  Jurist,  nicht  als  Berufsphiloaoph"  und  für  Juristen  schreibe,  denen 
die  strenge  Sprache  reiner  Erkenntnis  nicht  geläufig  sei,  weshalb  er  an  einen 
unwissenschaftlichen  Sprachgebrauch  anknüpfen  müsse,  um  sich  überhaupt  ver- 
ständlich zu  machen.  Man  darf  erwarten,  daß  nicht  bloß  die  Terminologie 
des  besprochenen  Werkes,  sondern  selbst  die  in  ihm  entwickelte  Rechtstheorie 
auch  vor  dem  Forum  philosophischer  Kritik  in  Ehren  bestehen  kann. 

Wien.  Prof.  Dr.  Adolf  Merkl. 


218  Besprechungen  (Koppelmann). 

Kitppclmiinii,  W.,  Dr.  phil.,  ord.  Honorarprofessor  an  der  Universität  Münster, 
Einführung  in  die  Politik.    Bonn  und  Leipzig.    1920.    274  S. 

Der  Verfasser  will  in  seinem  Buch  eine  theoretische  Grundlegung  für  die 
Aufgaben  der  Praxis  geben.  In  Verfolgung  dieses  Ziels  sucht  er  zunächst  nach 
der  im  Wesen  des  Staats  begründeten  Grundaufgabo  desselben,  und  prüft  dann 
an  diesem  umfassenden  Zweck  des  Staats  die  Forderungen,  die  man  zu  stellen 
hat  an  die  Form  des  äußeren  und  inneren  Staatsgofüges  und  an  die  Wirksam- 
keit des  Staats,  nämlich  an  die  Gesetzgebung. 

Nach  Durchprüfung  der  Hauptstaatsformen,  die  wir  bis  auf  unsere  Zeit 
im  geschichtlichen  Leben  wirksam  gesellen  haben,  und  nach  Darlegung  der  Lehren 
über  Enstehung,  Zweck  und  Wert  des  Staates  an  sich,  die  die  Geistesgeschichte 
bisher  gezeitigt  hat,  kommt  er  zur  Aufstellung  seiner  eigenen,  kurzen  Formel 
über  Wesen  und  Aufgabe  des  Staats:  der  Staat  ist  eine  Organisation  zum 
Zweck  der  Sicherung  des  Friedens  im  Innern  und  zum  Schutze  gegen  äußere 
Angriffe  Er  befindet  sich  mit  dieser  Formel  in  der  Nähe  von  W.  v.  Humboldt, 
wie  dieser  in  seinen  ersten  staatspolitischen  Schriften  sich  ausspricht.  Alle 
Aufgaben,  die  nun  bei  steigender  Zivilisation  in  den  Wirkungsbereich  des 
Staats  gefallen  sind,  werden  an  jener  Grundbestimmung  geprüft.  Es  zeigt  sifh 
da,  daß  es  eigentlich  kein  Gebiet  des  Lebens  gibt,  weder  irgend  ein  theore- 
tisches, noch  ein  praktisches,  das  nicht  unter  diesem  Gesichtspunkt  irgendwie 
auch  in  die  Interessensphäre  des  Staats  fallen  müßte.  Insbesondere  erweist  es 
sich,  daß  die,  in  dieser  Hinsicht  viel  umstrittenen,  Gebiete  der  Religion  und 
der  Ethik  unlösbar  sind,  sowohl  aus  dem  Wirken  des  Staats  als  auch,  eben 
darum,  aus  seiner  Fürsorge.  Das  Wie  bleibt  nur  Gegenstand  sowohl  des  theore- 
tischen Forschens  als  auch  des  praktischen  Erweisens.  Auch  die  Frage  nach 
der  Größe  und  der  Macht  des  Staats  und  nach  seiner  wirtschaftlichen  Be- 
tätigung muß  ihre  grundlegende  Lösung  finden  an  der  oben  dargelegten  Formel. 

Folgt  man  im  allgemeinen  den  Darlegungen  des  Verfassers  mit  Zustimmung, 
und  gibt  man  ihm  zu,  daß  fast  das  ganze  Seins-  und  Wirkensbereich  des  Staats 
seine  Umgrenzung  finden  könnte  an  der  von  ihm  aufgestellten  Formel,  so  möchte 
man  doch  das  so  schwer  zu  fassende  Wesen  „Staat"  und  die  Beziehungen  von 
Staat  und  Mensch  tiefer  begründen,  als  es  der  Verfasser  unternimmt. 

Wir  denken  an  die  Grundlegung,  die  Hegel  diesem  Verhältnis  gibt.  Zu- 
nächst ist  der  Staat  der  Ausdruck  des  Geistes  einer  bestimmten  Volksgemein- 
schaft. Eben  aus  dem  besonderen  Geist  jedes  Volkes  muß  dieses  sich,  wenn  es 
überhaupt  begabt  und  reif  genug  dazu  ist,  seine  eigene  Form  des  Staats  schaffen. 
Parallelen  mit  früheren  historischen  Gebilden,  und  der  Vergleich  mit  anderen 
gleichzeitigen  Staatsbildungen  können  daher  nur  bedingte  Geltung  haben.  Das 
sagt  der  Verfasser  auch,  allein  er  sucht  nicht  nach  der  Idee,  die  dem  deutschen 
Staatswesen   zugrunde   liegt  und   die   alle  seine  Beziehungen  durchwalten  muß. 

Diese  Idee  wäre  nach  Hegel,  daß  der  Staat  die  Verkörperung  der  sitt- 
lichen Idee  sein  soll,  die  ein  Volk  beherrscht.  Da  nach  ihm  diese  sittliche  Idee 
Ausdruck  findet  in  der  Religion  eines  Volkes,  so  muß  darum  (nicht  aus  Gründen 
der  inneren  Sicherheit)  der  Staat  ein  religiöser  sein,  oder  er  ist  überhaupt  noch 
nicht  Staat.  Da  Kunst  und  Wissenschaft,  in  anderer  Weise,  auch  ein  Ausdruck 
der  Religion  sind,  so  rührt  es  daher,  daß  der  Staat  durchdrungen  sein  muß 
von  Kunst,  Religion  und  Wissenschaft,  oder,  anders  ausgedrückt,  daß  das  leben- 
dige, handelnde  Leben  des  Staats  alle  diese  Gebiete  durchfluten  muß,  die  Form, 
in  der  das  geschieht,  ist  in  der  Geschichte  wandelbar,  sie  ist  immer  neu  zu 
entwickeln  und  zu  gestalten  nach  der  Freiheit,  die  ein  Volk  gewonnen  hat,  und 
hier  heißt  Freiheit  die  Entwicklung  zur  Einheit  des  sittlichen  Willens  der  Ge- 
samtheit, der  sich  im  Staat  verkörpert.  Als  Grundidee  der  Personen,  die  den 
Staat  bilden,  möchten  wir  Hegels  Theorie  der  großen  Männer  hinstellen. 

Sie  handeln  mit  ihrer  ganzen  Kraft  und  Umsicht  für  ihre  Lebenszwecke, 
aber,  weil  ihr  Charakter  groß  und  ihre  Einsicht  bedeutend  ist,  so  erweitern  sich 
ihre  eigenen  Zwecke  zu  den  Zwecken  des  Ganzen.  Sich  selbst  dienend,  dienen 
sie  dem  Staat  und  meist;  über  den  Staat  hinaus,  der  Menschheit. 

Von  hier  aus  löst  sich  die  Frage  nach  der  Haltung  des  Staates  in  der 
inneren  und  äußeren  Politik,   denn   auch   der  Staat  ist  mehr  noch  als  eine  Or- 


Besprechungen  (Koppelmann— Latte — Siegel).  219 

ganisation,  er  ist  eine  Persönlichkeit.  Er  muß  mit  höchster  Kraft  die  Zwecke 
verfolgen,  die  sein  eigenes  Leben  zur  vollen  Entfaltung  bringen.  Hat  dieses 
Leben  einen  sittlichen  Wert,  so  ist  seine  Durchsetzung  sittlich,  auch  wo  sie 
scheinbar  fremde  Rechte  beeinträchtigt,  und  —  dies  ist  nicht  zu  übersehen  — 
sie  wird  in  solchem  Falle  immer  auf  im  Grunde  sittlichem  Wege  geschehen. 

Wir  möchten  glauben,  daß  von  einer  solchen  einheitlichen  Auffassung  des 
Staatswesens,  nach  Wegräumung  der  Hemmungen,  die  in  einer  vergangenen 
Epoche  die  freie  und  rege  Betätigung  am  Staatswesen  zurückhielten  und  hin- 
derten, neue  Kräfte  der  Staatsbildung  sich  regen  würden,  und  daß  aus  diesen 
Kräften  heraus  sich  die  fruchtbare  Gestaltung  aller  Einzelbeziehungen  zwischen 
dem  Staat,  wie  er  sich  in  seiner  Verfassung  darste.lt,  und  zwischen  allen  Lebens- 
gebieten, die  von  ihm  berührt  werden  müssen,  bilden  läßt. 

Idee  und  Gestaltung  in  Raum  und  Zeit  werden  immer  weit  von  einander 
abweichen,  aber  von  der  Stärke  der  Idee  wird  die  Schönheit  der  Gestaltungen 
(was  in  diesem  Falle  ihre  Freiheit  und  Zweckerfülltheit  heißt)  abhängen. 

Berlin.  Dr.  Margarete  Calinich. 

Latte,  Kurt,  Dr.  phil.,  Heiliges  Recht.  Untersuchungen  zur  Ge- 
schichte der  sakralen  Rechtsformen  in  Griechenland.  Tübingen.  1920. 
8°.    116  Seiten.    Preis  geheftet  14  Mark  und  75%  Teuerungszuschlag. 

In  einer  philologisch  sorgfältigen,  dabei  faßlich  und  übersichtlich  geschrie- 
benen Darstellung  zeigt  Latte  im  Bereiche  des  griechischen  Rechtslebens  den 
Einfluß  religiöser  Vorstellungen.  Die  Rechtssatzung  sucht  „die  ethischen  Forde- 
rungen zu  verwirklichen,  ...  die  man  als  unbedingt  verpflichtend  und  deshalb 
als  göttlich  empfand",  sie  folgt  dabei  „dem  Wandel  der  Anschauungen".  Ur- 
sprünglich steht  der  Glaube  an  das  Göttliche  so  fest  und  greifbar  im  Gemüte 
des  Menschen,  daß  in  der  Nötigung  zur  Eidleistung,  wodurch  der  Schuldige 
sich  den  Göttern  überantwortet,  schon  der  Strafvollzug  liegt.  Diese  Rechts- 
auffassung zeigt  sich  besonders  in  den  älteren  Zeiten  im  Verfahren  (I.  Kap.),  in 
den  Strafen  (II.  Kap.)  und  den  Rechtsgeschäften  (III.  Kap.).  Darum  treten,  na- 
mentlich in  Athen,  mit  dem  Erstarken  der  staatlichen  Gewalt,  diese  sakralen 
Formen  zurück,  ohne  doch  sich  ganz  zu  verlieren.  Ja,  im  Ausgange  des  Alter- 
tums gewinnen  sie  entsprechend  der  langsam  aber  sicher  aus  dem  Grunde  der 
Volksseele  anschwellenden  metaphysisch-religiösen  Einstellung  von  neuem  an 
Bedeutung  und  bereiten  das  Kirchenrecht  vor,  das  nun,  in  genauer  Fassung  aus- 
gearbeitet, jene  alten  Anregungen  verwirklicht.  —  Die  Arbeit  ist  für  die  ge- 
scbichtsphilosophische  Betrachtung  nicht  unergiebig.  Sie  weist  auf  einem  ganz 
anders  gearteten  Gebiete  die  Strömungen  nach,  die  auch  in  der  eigentlichen 
Philosophie  der  Zeit  sich  äußern.  Ueberall  beweist  der  Verfasser  ein  für  all- 
gemein geistesgeschichtliche  Fragen  offenes  und  geschultes  Auge.  AVünschens- 
wert  wäre  es  für  den  Philosophen  gewesen,  wenn  er  die  geistesgeschichtliche 
Skizze,  die  er  in  seinem  Rückblick  (S.  112—113)  gibt,  zu  einem  besonderen  Ka- 
pitel ausgestaltet  hätte.  Gerade  in  allgemeinen  Aeußerungen  über  das  Altertum 
wird  heute  so  viel  gesündigt,  daß  jedes  zugleich  fachmännische  und  philo- 
sophisch einsichtige  Urteil  zu  begrüßen  ist. 

Halle  a.  S.  Privatdozent  Dr.  0.  Wich  mann. 

Siegel,  Carl,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Czernowitz,  Piaton  und 
Sokrates.  Leipzig.   1920.  Verlag  von  F.  Meiner.  8°.   106  Seiten.  Preis  10  Mark. 

Ein  einheitlicher  Erklärungsgrund,  ein  „Uni versal Schlüssel"  zum  Ver- 
ständnis Piatons  muß  gefunden  werden,  denn  „nur  insofern  man  eben  diesen 
Standpunkt  bejaht,  ist  man  von  der  Philosophie  Platons,  resp  der  Metaphysik 
Piatons  zu  sprechen  berechtigt."  Diesen  Schlüssel  sieht  Siegel  in  der  These: 
„Platons  Metaphysik  stellt  den  Vorsuch  dar,  des  Sokratos  Persön- 
lichkeit, Wirken,  Leben  und  Sterbon  philosophisch  zu  orkläron  und 
zu  rechtfertigen"  (S.  5).  Deshalb  versucht  zunächst  Siegel  unter  Benutzung 
von  Xonophon  „als  Quelle  für  Sokrates"  (I.  Kap.),  das  „Bild  der  sokratischon 
Persönlichkeit"  (II.  Kap.)   zu    gowinnen.    Er  sieht  den  Kernpunkt  von  Sokrates 


220  Besprechungen  (Siegel — Metzger). 

Wirken  in  einem  aufs  Gemeinwohl  gerichteten,  sozialen  Militarismus,  und  wenn 
aus  solcher  „Militärmoral4'  sein  freiwilliger  Tod  nicht  verständlich  erscheint,  so 
ist  wohl  anzunehmen,  daß  Sokrates  sein  Vertrauen  auf  die  gute  Sache  gelegt 
habe,  dann  aber,  als  er  seine  Täuschung  erkannte,  mag  wohl  die  Erfahrung  „den 
letzten  Kest  von  Liebe  zum  Leben  ihm  genommen  haben."  Eine  wirkliche  Lehre 
hat  nach  Siegel  bei  Sokrates  nicht  vorgelegen.  „Nicht  seine  Lehre  findet"  bei 
Piaton  „ihre  Fortsetzung  oder  Umgestaltung",  sondern  Piatons  Problemstellung 
ist:  „Wie  ist  ein  solches  Phänomen,  wie  die  Sokratität,  möglich  und  verständ- 
lich." „Sokrates  übliche  philosophiegeschichtliche  Stellung  wäre  nicht  berech- 
tigt, wenn  er  nicht  einen  Piaton  gefunden  hätte."  —  Ich  finde,  hier  ist  die  un- 
mittelbare philosophische  Anregung,  die  Sokrates  gegeben  hat,  doch  zu  gering 
bewertet.  Zwar  keine  Lehre,  aber  eine  allerdings  schwer  faßbare  Problemstellung 
hat  Sokrates  gegeben,  und  außer  Piaton  gehen  doch,  um  nur  die  bedeutendsten 
zu  nennen,  auch  die  kynische  und  kyrenaische  Schule  auf  ihn  zurück. 

Die  weitere  Ausführung  will  nun  „Sokrates  als  Problem  der  Platonischen 
Philosophie"  (III.  K.)  in  dem  Sinne  nachweisen,  daß  überall  da,  wo  es  sich 
um  einen  weiteren  Fortschritt  in  der  platonischen  Metaphysik 
handelt,  Sokrates  im  Mittelpunkt  stehe.  So  seien  z.B.  Laches,  Kratylos, 
Euthydera  und  Menexemos  ohne  diese  Zentralstellung  des  Sokrates  und  es  fehle 
hier  auch  ein  konstruktiver  Ertrag.  Dasselbe  soll  nun  aber  auch  von  Staat 
und  Theätet  gelten.  Wir  lernen  nach  Siegel  in  ihnen  nicht  Sokrates  „von 
irgend  welcher  speziellen  Seite  her  kennen",  und  andererseits  ist  „keines  der 
beiden  Werke  konstruktiv  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes,  d.  h.  ist  Ausdruck 
der  eben  gemachten  Entdeckung  eines  neuen  Elementes  und  Bausteines  für  das 
metaphysische  Gebäude"  (S.  39).  —  Man  ist  versucht,  für  den  Staat  beides,  für 
den  Theätet  eines  von  beiden  zu  bestreiten.  Denn  um  von  vielen  anderen  abzu- 
sehen, worin  der  Staat  aufbauend  im  allerhöchsten  Sinne  ist,  so  ist  die  zentrale 
Erörterung  der  Idee  des  Guten  der  metaphysische  Eckstein  des  ganzen  meta- 
physischen Gebäudes  und  diese  Aufstellung  ist  in  höchst  persönlicher  Weise 
an  Sokrates  und  seine  persönliche  Meinung  geknöpft  (506  DE  ff.).  Andererseits 
ist  es  m.  E.  nicht  angängig,  dem  Theätet  den  wirklich  konstruktiven  Gehalt 
daraufhin  abzusprechen,  daß  in  ihm  „die  Ideenlehre  z.  B.  explicite  überhaupt 
nicht  hervortritt"  (S.  40).  Man  braucht  demgegenüber  nur  auf  die  Lehre  von 
den  Urbestandteilen  und  vom  Nichtseienden  hinzuweisen.  Gerade  weil  er  über 
die  Ideenlehre  hinausgeht,  ist  dieser  Dialog  für  Piatons  Erkenntnistheorie  und 
Metaphysik  so  wichtig.  Wie  künstlich  die  Hereinbeziehung  der  Persönlichkeit 
des  Sokrates  gelegentlich  wird,  zeigt  die  Behauptung,  daß  man  beim  Timaios, 
„noch  ein  letztes  Mal  von  unserer  Grundhypothese  Gebrauch  machend",  sagen 
könnte,  „unser  Dialog  wolle  die  Frage  beantworten:  Wie  muß  die  Natur  ge- 
dacht werden,  in  der  ein  Mensch  wie  Sokrates  auftreten  konnte?"  In  Staat  und 
Theätet  die  volle  Einbeziehung  der  sokratischen  Persönlichkeit  bestreiten,  im 
Timaios,  —  der  allerdings  von  metaphysischem  Gehalte  strotzt  — ,  sie  aufrecht 
erhalten  wollen,  das  erscheint  gewagt.  Siegel  hätte  besser  getan,  einfach  den 
Zusammenhang  der  metaphysischen  Aufstellungen  mit  der  Ausdeutung  der  so- 
kratischen Persönlichkeit  zu  verfolgen.  Er  hätte  dann,  wenn  auch  keinen  „Uni- 
versalschlüssel", doch  einen  äußerst  wichtigen  und  anregenden  Ge- 
sichtspunkt entwickelt,  und  seine  feinsinnigen  und  lesenswerten  Ausführungen 
nicht  durch  die  Gewaltsamkeit  solcher  Deutungen  beeinträchtigt.  —  Aus  dem 
Schlußteil  (V.),  der  die  Chronologie  behandelt,  sei  noch  erwähnt,  daß  auch  Siegel 
aus  sachlichen  Gesichtspunkten  zu  einer  Stellung  desPhädrus  nach  dem 
Menon  und  vor  dem  Symposion  kommt.  Ich  halte  diese  Ansetzung  im  Gegen- 
satz zu  der  aus  Ueberschätzung  der  Anamnesislehre  hervorgegangenen  Ansetzung 
bei  Wilamowitz  (nach  dem  Staat)  für  die  einzig  richtige,  setze  allerdings  nicht 
mit  Siegel  vor,  sondern  nach  dem  Phädon. 

Halle  a.  Saale.  Privatdozent  Dr.  0.  Wichmann. 

Metzger,  Wilhelm,  Dr.  phil.,  weiland  Privatdozent  an  der  Universität 
Leipzig,  Gesellschaft,  Recht  und  Staat  in  der  Ethik  des  deutschen 
Idealismus.    Mit   einer  Einleitung:    Prolegomena    zu   einer  Theorie   und  Ge- 


Besprechungen  (Metzger).  221 

schichte  der  sozialen  Werte.  Aus  dem  Nachlaß  herausgegeben  von  Dr.  Ernst 
Bergmann,  a.  o.  Professor  an  der  Universität  Leipzig.  Heidelberg.  1917.  Carl 
Winters  Universitätsbuchhandlung.    V11I  und  345  Seiten. 

Das  Buch  behandelt  nach  einer  systematischen  Einleitung  die  Ethik,  Ge- 
sellschafts-, Rechts-  und  Staatsphilosophie  Kants,  Fichtes,  der  Romantik  und 
(in  einem  Bruchstück)  Hegels.  Der  Schwerpunkt  liegt,  abgesehen  von  der  in 
ihrem  Grundgedanken  gehaltvollen,  aber  leider  skizzenhaften  Einleitung,  in  der 
Behandlung  der  praktischen  Philosophie  Kants.  Hier  entwickelt  der  Vf.  eine 
neue  und  glückliche  Aulfassung  der  Kantischen  Theorie.  Der  Bericht  soll  sich 
demgemäß  auf  diese  ersten  beiden  Abschnitte  beschränken  und  sie  dafür  etwas 
ausführlicher  behandeln. 

1.  Die  Einleitung  behandelt  unter  anderem  die  Bedeutung  der  gesell- 
schaftlichen Grundverhältnisse  für  den  Inhalt  der  jeweiligen  Ethik.  Mit  Recht 
weist  Vf.  darauf  hin,  daß  jedem  Grundverhältnis  eine  besondere  Ethik  ent- 
spricht, und  daß  jede  menschliche  Gesellschaft  jede  diese  Formen  nebeneinander 
ausgebildet  hat.  Solcher  Grundverhältnisse  unterscheidet  M.  drei:  das  Gemein- 
schafts-, das  Rechts-  und  das  Gewaltverhältnis,  denen  er  eine  Liebes-,  eine 
Rechts-  und  eine  Gewaltethik  entsprechen  läßt.  Zunächst,  wie  gesagt,  bestehen 
diese  nebeneinander,  jede  giltig  für  ihr  besonderes  Lebensgebiet.  Tatsächlich 
beharren  sie  doch  nicht  in  dieser  Gleichberechtigung,  sondern  je  nach  der 
Persönlichkeit  wird  jeweilen  eine  von  ihnen  bei  einem  Denker  dominieren,  wie 
z.  B.  bei  Nietzsche  die  Gewaltethik.  Auch  verschiedene  Zeitalter  sind  hierin 
verschieden.  Nach  M.  sind  heute  nicht  nur  die  Kriegswerte  einem  starken  „sitt- 
lichen Verdacht-  und  Widerwillen  ausgesetzt,  sondern  auch  die  Liebeswerte, 
Hingabe  und  Pietät  stehen  vielleicht  nicht  mehr  in  so  hohem  Preise  wie  in 
naiveren  Zeitläuften;  dagegen  sind  die  Bürgerwerte  Korrektheit,  Arbeit  und 
Beruf,  Pünktlichkeit,  Einhaltung  von  Pflicht  und  Recht,  sicher  niemals  so  tief 
und  allgemein  dem  Wertbewußtsein  eingegraben  gewesen,  wie  im  heute  bürger- 
lich-industriellen Europa  und  Amerika"  (S.  20).  In  Wirklichkeit  ist  hier  freilich 
Gewalt  mit  Macht  verwechselt,  genauer  gesagt,  nicht  unterschieden  zwischen 
geregeltem  und  ungeregeltem  Machtgebrauch;  es  ist  nämlich  das  Gewaltver- 
hältnis, obwohl  mit  dem  Machtverhältnis  eng  verwandt,  doch  von  ihm  zu  unter- 
scheiden. Tatsächlich  unterscheiden  wir  in  der  Soziologie  vier  Grundverhält- 
nisse: Gemeinschaft,  Rechtsverhältnis,  Kampf-  und  Machtverhältnis.  Das  bloße 
Gewaltverhältnis  dagegen  ist  ein  Verhältnis  für  sich,  das  außerhalb  der  ^ge- 
sellschaftlichen" Grundverhältnisse  steht.  2.  Wie  Nietzsche  der  klassische  Ver- 
treter der  Kampf-  und  Machtmoral  oder  die  christliche  Moral  der  typische  Aus- 
druck einer  Gemeinschaftsmoral,  ebenso  ist  Kant  der  klassische  Vertreter  der 
Rechtsmoral.  Auch  in  der  Ethik  schweben  ihm  durchweg  Rechtsverhältnisse 
vor,  und  ihr  letzter  Sinn  kommt  auf  die  Forderung  hinaus,  das  menschliche  Zu- 
sammenleben überall  auf  Rechtsverhältnisse  aufzubauen;  das  ist  der  Grundge- 
danke des  langen  und  gehaltvollen  Abschnittes  über  Kant.  Bei  der  Analyse 
seiner  Ethik  ist  M.,  können  wir  sagen,  von  dem  Bestrehen  geleitet,  hinter  den 
formalen  Eigentümlichkeiten  seiner  Lehre,  die  zunächst  als  das  ausschließlich 
Eigentümliche  seines  Systems  erscheinen,  gewisse  inhaltliche  Besonderheiten 
zu  erkennen,  bei  denen  sich  dann  insbesondere  enge  Beziehungen  der  Kantschen 
Moral  zum'  Rechtsverhältnis  ergeben.  M.  beginnt  mit  der  Unterscheidung 
zwischen  der  subjektiven  und  der  objektiven  Seite  der  Kantschen  Ethik.  Die 
subjektive  Seite  wird  bezeichnet  durch  Begriffe  wie  „Vernunft",  „Pflicht", 
„Autonomie"  usw.  Als  objektive  Eigentümlichkeit  tritt  uns  zunächst  das  logi- 
sche Prinzip  der  Allgemeinheit,  der  Rationalität  und  Gesetzlichkeit  entgegen; 
dahinter  aber  das  teleologische  Prinzip  der  Menschheit,  vermöge  dessen 
jedes  vernünftige  Wesen  als  Zweck  an  sich  selbst  anerkannt  und  mit  der 
Achtung,  die  seiner  Würde  gebührt,  behandelt  werden  soll.  Schon  in  der  Grund- 
legung der  Metaphysik  der  Sitten  und  noch  auffälliger  in  der  Kritik  hat  Kant 
freilich  die  reine  logische  Fassung  vor  der  teleologischen  geflissentlich  bevor- 
zugt. —  M.  betont  weiterhin,  daß  Kant  berechtigt  war,  sein  Moralprinzip  als 
ein  formales  den  raaterialen  Prinzipien  der  Glückseligkeit  und  der  Vollkommen- 
heit entgegenzustellen:  ein  höchstes  Gut  zu  suchen,  lehnt  seine  Ethik  ausdrück- 


222  Besprochungen  (Metzger). 

lieh  ab,  sich  damit  begnügend,  den  menschlichen  Dingen,  so  wie  sie  sind,  eine 
gewisse  Form  und  Ordnung  zu  geben.  Von  einer  Kulturethik  ist  bei  ihm  nicht 
die  Rede.  Indem  Kant  alle  anderen  Motive  des  sittlichen  Handelns  als  das 
strenge  Pflichtbewußtsein  ausdrücklich  ablehnt,  insbesondere^  auch  Liebe,  Be- 
geisterung, Religiosität  nicht  als  vollwertige  sittliche  Triebfedern  gelten  läßt, 
so  bedeutet  das  auch  in  sachlicher  Hinsicht  eine  bestimmte  Einschränkung 
seines  ethischen  Lebensideals.  „Kants  ethische  Gesinnung,  die  man  aber  durch- 
aus nicht  für  die  einzig  mögliche  Sittlichkeit  halten  darf,  ist  ganz  eigentlich 
die  Rechtlichkeit,  d.  h.  diejenige  Haltung,  welche  mit  gleichsam  wissensrhaft- 
licher  Objektivität  allen  menschlichen  Dingen  ihr  Recht  widerfahren  läßt." 
Gegenüber  der  Liebesethik  wie  der  naturalistischen  Kampf-  und  Machtethik  ist 
„selten  oder  niemals  so  rein  und  vor  allem  so  ideal,  aber  auch  so  einseitig"  die 
Rechtsethik  vertreten  worden  wie  von  Kant.  Das  „Recht  der  Menschen,  dieser 
Augapfel  Gottes",  ist  für  ihn  der  Kern  aller  Sittlichkeit.  Menschenliebe  er- 
scheint ihm  im  Grunde  nur  als  eine  „moralische  Schwärmerei".  Jeder  Macht- 
wille aber,  der  sich  eines  Rechtsbruchs  schuldig  macht,  jede  Handlung  des  Not- 
standes, z.  B.  die  Notlüge,  erscheint  Kant  ungeachtet  aller  Dringlichkeit  der 
Antriebe  grundsätzlich  wegen  ihrer  Verletzung  der  Rechts-  und  Moralordnung 
als  ein  schweres  Unrecht. 

M.  betont  dabei,  daß  diese  Stellung  Kants  nicht  nur  durch  eine  gewisse 
Einseitigkeit,  sondern  auch  durch  positive  Kräfte,  vor  allem  durch  eine  fast 
religiöse  Begeisterung  für  das  „Recht  der  Menschen"  bestimmt  war.  Er  scheint 
mir  dabei  freilich  in  der  Schätzung  der  Kantschen  Ethik,  für  die  er  sich  im 
Prinzip  in  zutreffender  Weise  auf  die  grundlegende  Bedeutung  des  Rechtes  für 
das  moderne  Wirtschafts-  und  Gesellschaftsleben  überhaupt  beruft,  doch  zu 
weit  zu  gehen.  Dagegen  trifft  es  gewiß  zu,  wenn  M.  in  origineller  Weise  die 
Eigenart  der  Kantschen  Ethik  mit  gewissen  Bewegungen  seiner  Zeit  in  Zu- 
sammenhang bringt,  nämlich  mit  dem  Kampf  gegen  die  feudale  Gesellschafts- 
ordnung und  dem  Drängen  auf  eine  neue  „demokratische"  Gesellschaftsordnung, 
die  -den  naturrechtlichen  Forderungen  der  Freiheit  und  Gleichheit  entsprechen 
sollte.  Patriarchalisches  Wohlwollen  und  allgemeine  Menschenliebe  versuchten 
damals  vergeblich,  die  Schäden  der  alten  Gesellschaftsordnung  auszubessern: 
darauf  sei  Kants  Verurteilung  der  bloßen  Menschenliebe  und  ihre  Zurückstellung 
hinter  die  Erfüllung  der  strengen  Rechtspflichten  zurückzuführen.  Als  große 
Aufgabe  der  Zeit  habe  ihm  mehr  unbewußt  als  bewußt  eine  Reform  der  Ge- 
sellschaftsordnung vorgeschwebt,  die  die  Rechte  unter  den  Menschen  anders 
verteilen  sollte.  Für  ihre  Durchführung  aber  war  eine  Gesinnung  erforderlich, 
die  das  Recht  zum  Angelpunkt  der  Sittlichkeit  macht. 

In  den  Einzelausführungen  bekennt  sich  M.  zunächst  ebenfalls  zu  der  An- 
schauung, daß  die  Formel  des  kategorischen  Imperativs  keine  eigentliche  Er- 
kenntnisquelle für  das  sittliche  Urteil  bedeutet,  sondern  mehr  einen  didakti- 
schen Wert  hat,  indem  sie  uns  den  betreffenden  Tatbestand  gleichsam  unter 
einem  Vergrößerungsglase  zeigt.  —  Bei  der  Durchführung  der  Sittenlehre  hat 
Kant  sich  nicht  auf  die  eigentlichen  Rechtswerte  beschränkt,  sondern  auch  den 
„höheren"  Lebenswerten,  der  Liebe  und  „Teilnelmmng",  wie  auch  der  Voll- 
kommenheit eine  Position  im  Reiche  der  Werte  zugestanden.  Darin  liegt,  sagt 
M.  wohl  mit  Recht,  eine  Unfolgerichtigkeit,  sofern  die  sittlichen  Aufgaben  der 
letzteren  Art  sich  Jogischer  Weise  aus  dem  Kantschen  Moralprinzip  nicht  ab- 
leiten lassen,  indem  sie  sowohl  dem  Prinzip  der  Allgemeinheit  und  Rationalität 
als  dem  der  (bloßen)  Menschenwürde  zuwiderlaufen.  Die  ganze  Charakteristik 
der  Moralgebote  als  Gebote  von  unbedingt  allgemeinem  und  notwendigem,  da- 
her a  priori  angebbarem  Charakter  paßt  eben  nur  auf  die  sogenannten  „voll- 
kommenen" Pflichten.  —  Es  entspricht  dem  hier  angedeuteten  Gegensatz  einiger- 
maßen, wenn  Kant  in  der  Metaphysik  der  Sitten  dem  Gebiet  der  Rechtspfiichten 
die  „Form"  zuweist,  für  die  irrationalen  Tugendpüichten  aber  die  Termini  „Ma- 
terie" und  „Zweck"  verwertet. 

Berlin.  Alfred  Vierkandt. 


Besprechungen  (Stammler).  223 

St ammler,  Rudolf,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Berlin,  Sozialismus 
und  Christentum.  Erörterungen  zu  den  Grundbegriffen  und  Grundsätzen  der 
Sozialwissenschaft.  Leipzig*.  1920.  Verlag  von  Felix  Meiner.  Geheftet  18,75  Mark, 
gebunden  25  Mk.     VII  und  171  Seiten. 

Rudolf  Stammler  hat  durch  sein  bedeutsames,  von  den  einen  lebhaft  be- 
grüßtes, von  den  andern  scharf  angegriffenes  Werk  „Wirtschaft  und  Recht 
nach  der  materialistischen  Geschichtsauffassung",  das  1914  in  dritter  Auflage 
erschienen  ist,  schon  vor  beinahe  einem  Vierteljahrhundert  (1896)  in  den  Kampf 
um  die  theoretische  Grundlegung  des  Sozialismus  wirkungsvoll  eingegriffen.  Wir 
haben  seine  Leistung  damals  in  einem  Sonderaufsatz  unter  dem  Titel  ,.Eine 
Sozialphilosophie  auf  Kantischer  Grundlage"  in  den  „Kantstudien"  (I.  197  ff.) 
gewürdigt  und  haben  auch  in  unserer  „Geschichte  der  Philosophie  (Bd.  II 
§72.3)  ausführlich  darauf  hingewiesen.  Ebenso  auf  seine  rechtsphilosopliische 
Ergänzung  jenes  sozialphilosnpuischen  Werks  in  der  „Lehre  vom  richtigen 
Recht"  (1902);  wozu  dann  1911  noch  die  umfassende  „Theorie  der  Rechtswissen- 
schaft" trat.  Wir  dürfen  uns  daher  in  der  Besprechung  der  jetzt  veröffent- 
lichten kleineren  Schrift  kurz  fassen. 

Denn  Stammler  hat,  wie  zu  erwarten  war,  in  allen  wesentlichen  —  und  als 
das  Wesentliche  betrachtet  er  mit  Recht  auch  in  der  Sozialphilosophie,  mit  Kant 
und  dem  Kritizismus,  die  geübte  Methode  —  seinen  Standpunkt  von  1896  bei- 
behalten, wenn  auch  die  Art  der  Darstellung,  auf  164  Kleinoktavseiten,  eine 
populärere  und  gedrängtere  ist.  Leicht  freilich  schreibt  er  niemals,  und  die  Zu- 
hörer seiner  Vorträge  im  „Apologetischen  Seminar"  zu  Wernigerode  Oktober 
1919,  aus  denen  die  Schrift  hervorgegangen  ist,  werden  sich  schon  haben  an- 
strengen müssen,  um  seinen  Gedankengängen  zu  folgen,  die  gleich  mit  ziemlich 
abstrakten  Themen  einsetzen,  während  die  dazwischen  eingeschalteten  histo- 
rischen Partien,  z.  B.  Abschnitt  13:  „Zur  Geschichte  der  sozialistischen  Be- 
strebungen, die  Geschichte  der  sozialen  Theorien  (Abschnitt  II),  die  Uebersicht 
über  christlich-sozialistische  Versuche  (S.  74,  89)  u.  a.,  trotz  ihrer  sehr  ge- 
drängten Zusammenfassung,  den  Fachmann  wie  den  Laien  in  gleicher  Weise 
anziehen  werden. 

Das  eigentlich  Neue,  wovon  in  den  früheren  Werken  des  Verfassers,  we- 
nigstens unserer  Erinnerung  nach,  nichts  zu  finden  war,  ist  die  Wertung  des 
Christentums  im  Verhältnis  zum  Sozialismus.  Und  hier  scheint  mir  doch 
bei  dem  das  Gefühlsleben  sonst  gern  und  mit  Recht  aus  der  Wissenschaft  aus- 
schließenden Verfasser  das  Gefühl,  die  persönliche  Ueberzeugung  einigermaßen 
mitzusprechen  und  ihn  zu  günstig  für  das  Christentum,  zu  ungünstig  für  den 
Sozialismus  zu  stimmen.  Gewiß  wird  auch  der  denkende  Sozialist  die  sozialisti- 
sche Wirtschaft  immer  nur  als  bedingtes  Mittel  zu  einem  unbedingten,  unend- 
lichen Zweck  (vgl.  S.  III,  161)  auffassen.  Aber  gerade  weil  wir  mit  Stammler 
das  soziale  Ideal  als  „richtenden  Plan"  (S.  96),  als  „gedachten  Blickpunkt" 
(S.  132)  auffassen,  vermögen  wir  auch  dem  Christentum  nicht  jene  Ausnahme- 
stellung zuzubilligen,  die  in  dem  Satze  Stammlers  liegt:  „Wer  immer  als  Be- 
rater und  Helfer  in  den  Geisteskampf  unserer  Tage  eintreten  mag,  der  kann  vor 
sich  selbst  nur  dann  bestehen,  wenn  er  versucht,  den  unverlierbaren  Gehalt  des 
Christentums  in  die  Sprech-  und  Denkart  des  nach  Weltanschauung  Ringenden 
zu  übertragen"  (S.  161  ohen).  Andererseits  wird  der  Sozialismus  unterschätzt, 
wenn  der  Verfasser  meint:  „diejenigen  würden  aus  dem  Felde  des  Irrtums  nicht 
herauskommen",  die  da  meinten,  daß  „durch  den  Sozialismus  ein  neues  Problem 
für  des  Menschen  Geist  und  Gemüt  aufgeworfen  worden  sei"  (S.  155).  Der  frü- 
here Stammler  würde  auch  kaum  von  dem  „stieren  Hin^tarren"  auf  die  Ver- 
gesellschaftung der  Produktionsmittel,  von  „sklavischer  Abhängigkeit  von  diesem 
begrenzten  Mittel",  von  dem  „hohlen  Schlagwort"  der  Sozialisierung  (S.  144)  ge- 
sprochen und  selbst  im  Vergleich  (zürn  Christentum)  den  wirtschaftlichen  So- 
zialismus nicht  mit  einer  „Eisenbahnverkehrsordnuug"  (S.  162)  gleichgesetzt 
haben1).    Mir  scheint,  daß  in  dieser  Hinsicht  Stammler  an  Tiefe  wie  an  Höhe 

1)  Stammler  hätte  auch,  da  er  die  Schriften  von  Max  Adler,  0.  Bauer,  E. 
Bernstein,  Kautsky,  Labiola,  Renner  u.  a.  kennt,  auf  sie  nicht  das  in  anderem 


224  Besprechungen  (Stammler-Unger). 

der  Auffassung  hinter  dem  „Sozial-Idealisraus"  seines  Freundes  Paul  Natorp 
zurückgeblieben  ist. 

Das  hindert  uns  jedoch  nicht  anzuerkennen,  daß  im  übrigen  Stammlers 
Buch  nicht  bloß  eine  Fülle  wertvollster  Einzelbemerkungen  in  sich  birgt,  son- 
dern namentlich  auch  die  sozialwissenschaftlichen  Grundbegriffe  mit  jener  ziel- 
sicheren Methode  bearbeitet,  die  aus  seinen  größeren  Werken  bekannt  ist. 

Münster  i.  M.  Karl  Vorländer. 

Unger,  Erich,  Politik  und  Metaphysik.  Erste  Veröffentlichung  der 
Theorie:  Versuche  zu  philosophischer  Politik.  Berlin.  1921.  Verlag  David.  58  S. 
5  Mk.  und  Sortimenterzuschlag. 

Das  Thema  probandum  der  Arbeit  ist:  Jede  nicht  metaphysisch  fundierte 
Politik  ist  notwendig  Katastropbenpolitik.  Dieser  Satz  kann  aber  nur  verstanden 
werden  auf  Grund  einer  neuen  Bestimmung  des  Begriffs  „Metaphysik".  Es  gibt 
nämlich  nach  U.  zwei  Arten  des  Fortschritts  in  der  Erkenntnis:  die  eine  hat 
innerhalb  einer  bestimmten  Erfahrungsstruktur  statt;  —  hierunter  fallen  die 
Fortschritte  der  Naturwissenschaften,  die  bis  ins  Unendliche  gehend  immer 
unterhalb  der  von  der  Transzendentalphilosopbie  festgestellten  „reinen"  Natur- 
gesetze bleiben.  Die  zweite  Art  des  Fortschritts  aber  ist  eine  Erfahrung,  die 
ihrer  Struktur  nach  neu  ist,  die  ein  Fortschritt  gegenüber  dem  —  in  seiner 
Struktur  erfaßten  —  Ganzen  der  gegebenen  Erfahrung  ist.  Und  diese  —  zu- 
nächst nur  begrifflich  mögliche  —  Art  der  Erkenntnis  ist  nach  U.  Metaphysik. 
So  daß  er  dem  alten  Begriff  der  spekulativen  Metaphysik  den  einer  erfahrbaren 
gegenüberstellt.  Dieser  Bereich  der  erfahrbaren  Metaphysik  wird  nun  bei  U. 
durch  das  psychophysiologische  Problem  bezeichnet.  Denn  als  dessen  Lösung 
läßt  Verf.  keinerlei  Theorie  über  das  gegebene  Verhältnis  von  Körper  und  Geist 
zu,  fordert  vielmehr  eine  unmittelbar  anschauliche  Erkenntnis  der  faktischen 
Wurzel  des  psychophysiologischen  Zusammenhangs.  Und  eine  solche  ist  aller- 
dings im  strukturellen  Bereich  der  gegebenen  Erfahrung  nicht  zu  vollziehen; 
sie  verlangt  vielmehr,  wie  Verf.  mit  Kecht  sagt,  eine  Erweiterung  der  Erkenntnis 
in  ganz  anderer  Richtung,  als  sonst  eine  Erweiterung  der  empirischen  Erkenntnis 
gewonnen  wird.  Denn  ihr  steht  derjenige  Bereich  der  Sinnlichkeit  in  Frage,  der 
die  gewöhnliche  Empirie  (Material)  ermöglicht. 

Auf  dem  Wege  dieser  Steigerung  des  Bewußtseins  soll  nun  nach  U.  auch 
die  politische  Problematik  ihre  Lösung  finden.  Denn  die  politischen  Katastrophen 
sind  —  wie  Verf.  nachweist  —  darin  begründest,  daß  die  politische  Wirklichkeit 
den  von  der  Theorie  ausgehenden  Gestaltungsversuchen  immer  schon  um  ein 
Stück  voraus  ist:  die  Theorie  greift  nie  an  die  natürlichen  Grundlagen  der 
politischen  Wirklichkeit,  greift  nie  die  Tatsache  der  Koexistenz  einer  Vielheit 
von  Menschen  an  der  Wurzel  an;  sie  steht  der  Vielheit  als  einer  Summe  von 
Einzelexistenzen  gegenüber,  —  begreift  sie  aber  nicht  aus  der  Struktur  der 
Einzelindividuen  als  deren  notwendige  Existenzform.  Das  aber  sucht  U.  zu  be- 
weisen: daß  die  Realität  der  Gesamtheit  physische  und  psychische  Erscheinung 
am  Einzelnen  ist.  Als  solche  wahrnehmbar  aber  freilich  nur  in  dem  erwähnten, 
von  U.  postulierten  Stadium  des  gesteigerten  Bewußtseins. 

Durch  diese  Einschränkung  werden  nun  zwar  die  von  U.  aus  seiner^ Grund- 
these gezogenen  positiven  Konsequenzen  in  Frage  gestellt,  —  solange  nicht  die 
Anschauung,  deren  Möglichkeit  er  selbst  als  unerläßlich  bezeichnet,  de  facto 
vorliegt.  Trotzdem  aber  kommt  der  Arbeit  gleich  große  praktische  wie  theore- 
tische Bedeutung  zu:  praktische,  weil  sie,  wie  uns  scheint,  den  Beweis  für  das 
disjunktive  Urteil  erbracht  hat:  entweder  das  psychophysiologische  Problem  wird 
in  der  angedeuteten  Weise  gelöst  oder  die  politischen  Katastrophen  dauern  not- 
wendig bis  in  alle  Ewigkeit;  theoretische  wegen  der  Aufstellung  des  Begriffs 
einer  erfahrbaren  Metaphysik  und  der  Vindizierung  einer  naturhaften  ontologi- 
schen  Grundlage  der  Politik,   ohne  in  den  Fehler  des  Empirismus  zu  verfallen. 

Berlin.  Dr.  Adolf  Caspary. 

Zusammenhange  gehaltene  Wort  Cunows  anwenden  dürfen.  Die  sozialistische  Lite- 
ratur über  materialistische  Geschichtsauffassung  beschränke  sich  auf  bloße  Agi- 
tationsbroschüren  oder  Popularisationen  Marx-Engelscher  Schriften  (S.  59). 


Besprechungen  (Wichmann — Wilbrandt).  225 

Wichmann,  Ottomar,  Dr.  phil.,  Privatdozent  an  der  Universität  Halle, 
Philosophie  und  Politik.  Halle  (Saale  1920).  Verlag  von  Max  Niemeyer. 
16  Seiten. 

In  der  vorliegenden  kleinen  Arbeit,  die  als  Antrittsvorlesung  an  der  Uni- 
versität Halle  diente,  sucht  Verf.  die  Beziehungen  der  Philosophie  zur  Politik, 
die  Wirkung  philosophischer  Gedanken  auf  die  Gestaltung  politischer  Verhält- 
nisse an  geschichtlichen  Beispielen  aufzuweisen  und  in  ihrem  Werte  klarzulegen. 
Gegenüber  den  Behauptungen  der  materialistischen  Geschichtsauffassung,  wie 
sie  in  den  kanonischen  Schriften  der  Sozialdemokratie,  bei  Marx  und  Engels  vor- 
liegt, zeigt  er,  daß  es  nicht  nur  materielle  —  in  diesem  Falle  also  wirtschaft- 
liche —  Ursachen  waren,  die  zu  den  verschiedenen  Formen  und  Stufen  histo- 
rischen Geschehens  geführt  haben,  sondern  stets  gedankliche  Motive,  philoso- 
phische Ideen,  deren  charakteristisches  Merkmal  gerade  in  dem  Gegensatz  gegen 
jede  Art  materieller  Bedingtheit,  in  ihrer  „Unbedingtheit"  liegt.  Der  Nachweis 
hierfür  wird  u.  a.  an  dem  Einfluß  der  christlichen  Idee  und  ihren  Ausprägungen 
in  den  verschiedenen  christlichen  Sekten  bis  auf  die  Hussiten  und  Bilderstürmer 
auf  den  Gang  der  Geschichte  geführt.  In  der  Menschheitsidee  im  umfassendsten 
Sinne  sieht  Wichmann  nun  die  „einzige  Möglichkeit,  eine  Staatsidee  zu  schaffen, 
die  dem  deutschen  Geiste  gerecht  wird."  Das  Schriftchen  bietet  trotz  seines 
geringen  Umfanges  gerade  unserer  Zeit  genug  des  Anregenden. 

Berlin-Wilmersdorf.  Maximilian  Ab  ich. 

Wilbrandt,  Kobert,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Tübingen,  Oeko- 
nomie.  Ideen  zu  einer  Philosophie  und  Soziologie  der  Wirt- 
schaft.  Tübingen.   1920.  Verlag  von  J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck).    152  Seiten. 

Zu  dem  seit  etwa  15  Jahren  währenden  Streit  über  die  wissenschaftliche 
Methode  der  Nationalökonomie  nimmt  nunmehr  Wilbrandt  mit  der  ganzen  Leiden- 
schaftlichkeit eines  von  seiner  Berufung  durchdrungenen  Forschers  das  Wort. 
Max  Webers  temperamentvolle  Angriffe  auf  die  Werturteile  in  der  nationalökono- 
misehen  Wissenschaft  und  die  sich  daran  knüpfenden  Auseinandersetzungen  des 
Vereins  für  Sozialpolitik  einerseits,  der  politischen  Gegner  des  Kathedersozialismus 
andererseits,  haben  die  Frage  nach  der  Aufgabe  der  ökonomischen  Forschung  in 
den  Mittelpunkt  der  wissenschaftlichen  Auseinandersetzung  gerückt.  Ist  die  Wirt- 
schaftswissenschaft eine  normative  Wissenschaft  oder  hat  sie  sich  mit  der  Deskrip- 
tion  der  Tatsachen  zu  begnügen? 

In  dem  ersten  Teil  seines  Buches,  welcher  „Ideen  zu  einer  Philosophie  der 
Wirtschaft"  enthält,  sucht  Wilbrandt  nach  einer  neuen,  allgemeingültigen  Norm 
für  die  ökonomischen  Werturteile.  Mit  Max  Weber  weist  er  die  Ansprüche  der 
Ethik,  diese  Normen  zu  geben,  als  Subjektivismus  zurück.  Aus  dem  Grundprinzip 
der  Wirtschaft  selbst  soll  die  Norm  für  die  nationalökonomische  Wertung  er- 
schlossen werden.  Dieses  Grundprinzip  der  Wirtschaft  ist  das  allgemeine  Be- 
mühen, für  künftiges  Wollen  die  Mittel  bereitzustellen.  Damit  wird  die  National- 
ökonomie bestimmt  als  eine  Wissenschaft  ausschließlich  von  den  Mitteln  irgend- 
welcher Zwecke,  deren  Bestimmung  nicht  Aufgabe  der  ökonomischen  Forschung 
ist.  Die  abzugebenden  Werturteile  stellen  sich  damit  als  hypothetische  Wert- 
urteile dar,  die  nur  unter  bestimmten  vorausgesetzten  Wertungen  oder  Bestre- 
bungen gelten.  Wilbrandt  sagt  nun  (S.  18):  „Eine  solche  rein  hypothetische  Be- 
wertungsmöglichkeit ist  auch  durch  das  Oekonomische  gegeben.  Von  allen  son- 
stigen Wertungen  und  Bestrebungen  abstrahierend  kann  man  ein  System  objek- 
tiver Werturteile  schaffen,  wenn  man  von  der  einen  Voraussetzung  ausgeht,  daß 
gewirtschaftet  werde:  was  für  die  Wirtschaft  zweckdienlich,  also  wirtschaftlich 
oder  ökonomisch  ist,  das  ist  unter  diesem  Gesichtspunkte  gut  oder  wertvoll."  Und 
(Seite  22):  „Abstrahiert  wird  vorläufig  noch  von  aller  Besonderheit  der  Einzel- 
form, welche  die  Wirtschaft  in  der  Gesellschaft  annehmen  kann;  nur  daß  über- 
haupt eine  Gesellschaft  da  sei,  daß  irgend  welche  Beziehungen  zwischen  den 
Menschen  eine  Gesellschaft  bilden,  wie  sie  von  fortschreitender  Oekonomie  in 
immer  steigendem  Maße  gefordert  wird,  ist  vorausgesetzt.  . . .  Die  Wirtschaftlich- 
keit vertritt  das  Gemeinsame  Aller,    also    der  Gesellschaft.    Denn   eben   das  Ab- 

Kantatndien  XXVII.  15 


226  Besprechungen  (Wilbrandt). 

strahieren  vom  Subjektiven  der  persönlichen  Zwecke,  Werte  usw.  läßt  uns  das  für 
Alle  Vorteilhafte,  weil  für  je  de  Wirtschaft  Fördernde,  also  das  für  die  Gesell- 
schaft allein  Maßgebende,  in  der  Wirtschaftlichkeit  finden." 

Nach  solcher  Festlegung  einer  nach  Wilbrandts  Meinung  ausschließlich  aus 
seiner  oben  genannten  Definition  des  Prinzips  der  Wirtschaft  abgeleiteten  for- 
malen und  abstrakten  Norm  wird  nun  die  Oekonomie  der  Produktion  im  einzelnen 
untersucht,  d.  h.  die  Normen  für  die  Anwendung  der  einzelnen  Produktionsmittel 
bestimmt.  Für  die  Verwendung  der  Arbeit  in  der  Produktion  gilt  die  Norm: 
möglichste  Arbeitsersparnis  im  allgemeinen,  sowie  eine  möglichste  Ersparnis  an 
den  einzelnen  Elementen  des  dabei  vor  sich  gehenden  Aufwandes  an  inneren 
Gütern.  Für  ihre  gesellschaftliche  Anwendung  folgt  daraus  die  „Wiedervereinigung 
verschiedener  Arbeit  in  derselben  Hand  auf  Grundlage  der  dies  erst  ermöglichenden 
äußeren  Feinheit  der  Arbeitsteilung"  (Seite  43),  sowie  eine  möglichst  weitgehende 
Anwendung  der  Technik.  Das  Grundgesetz  der  organischen  Produktion,  d.  h.  der 
Anwendung  der  Naturkräfte,  heißt  für  die  Landwirtschaft  „als  ihr  Eigenstes  und 
Besonderes  nicht  Arbeitsersparnis,  sondern  Bodenausnutzung"  (S.  54),  während 
die  maßgebende  Norm  der  industriellen  Produktion  ist:  „Ersatz  sonst  fehlender 
und  arbeitsbelastender  organischer  durch  massenhaft  vorhandene  und  arbeits- 
sparende anorganischer  Natur"  (Seite  58). 

Auch  die  Gesetze  der  Konsumption  leitet  Wilbrandt  aus  seiner  oben  ge- 
wonnenen abstrakten  Norm  ab.  Es  ergibt  sich  ihm  in  der  Bevölkerungsfrage,  daß 
sowohl  zu  viel  wie  zu  wenig  Konsumenten  ihre  Zwecke  nur  mit  einem  gesteigerten 
Aufwand  an  inneren  Gütern  erreichen  (S.  67).  Für  die  Oekonomie  der  Bedürfnisse 
folgt  daraus  optimale  quantitative  Begrenzung  und  qualitative  Auswahl  der  Mittel 
zur  Erreichung  der  Zwecke  mit  besonderem  Hinblick  auf  eine  dadurch  erreichte 
optimale  Steigerung  der  Leistungsfähigkeit  für  die  Produktion.  Damit  aber  nicht 
„auf  der  einen  Seite  eine  Einschränkung  unter  das  Lebensminimum,  die  Leistungs- 
fähigkeit untergrabend,  die  Regel  ist,  auf  der  anderen  dagegen  ein  Uebermaß, 
daß  die  entferntesten  Befriedigungen  noch  mit  raffiniertem,  ungeheurem  Aufwand 
anstrebt"  (S.  82),  muß  der  Bedarf  eine  bestimmte  Verteilung  der  Güter  zur  Grund- 
lage bekommen  nach  der  Formel:  „Jeder  nach  seinen  Fähigkeiten,  jedem  nach 
seinen  Bedürfnissen"  (S.  87).  Dieses  Ideal,  . . .  das  aus  den  Prämissen  allgemeiner 
Oekonomie  . . .  abgeleitet  (S.  87)  ist,  erfordert  schließlich  eine  Umgestaltung  der 
gesellschaftlichen  Beziehungen  mit  dem  Ziele:.  Friede  durch  Selbstbeschränkung 
des  Individuums  auf  seine  ökonomisch  berechtigten  Zwecke. 

Der  zweite  Teil  des  Werkes,  der  Ideen  zu  einer  Soziologie  der  Wirtschaft 
enthält,  bringt  die  „Konkretisierung  abstrakter  Oekonomie  in  den  Gesellschafts- 
formen oder  -stufen,  in  denen  allein  sie  geschichtlich  auftritt  und  allmählich  zur 
Entwicklung  gelangt  ...  Es  handelt  sich  um  Formen  und  Arten  wie  bei  Linne 
und  zugleich  um  Entstehung  der  Arten,  um  Entwicklung  der  einen  aus  der  an- 
deren, wie  bei  Darwin"  (S.  101).  Wilbrandt  findet  vier  solcher  Stufen,  die  sich 
ihm  einmal  als  historische  Aufeinanderfolge,  zugleich  aber  auch  als  eine  Art 
Selbstentfaltung  des  ökonomischen  Prinzips  zu  immer  größerer  Vollkommenheit 
darstellen.  Von  der  mehr  oder  weniger  auf  Gewalt  beruhenden  Stufe  der  Allein- 
wirtschaft steigt  die  Entwicklung  zu  der,  äußere  und  innere  Güter  besser  nutzen- 
den, immer  noch  aber  mit  schlechter  Oekonomie  der  Verteilung  behafteten  Tausch- 
wirtschaft auf,  deren  Mangel  die  demokratische  Organisation  der  Gemeinwirtschaft 
unter  Führung  der  Unterklasse  überwindet,  um  selbst  erst  als  Hingabewirtschaft, 
alle  Motive  des  Eigennutzes  abstreifend,  in  reiner  Verwirklichung  des  Gemein- 
schaftsgedankens zu  voller  Oekonomie  zu  gelangen.  — 

Die  Kritik  der  Wilbrandtschen  Darlegungen  hat  von  seiner  Definition  des 
Wirtschaftsbegriffes  auszugehen.  Durchaus  zutreffend  bestimmt  er  die  National- 
ökonomie als  die  Wissenschaft  von  den  Mitteln  unter  Ablehnung  willkürlicher 
Zwecknutzung.  Folgerichtig  ergibt  sich  daraus  der  hypothetische  Charakter  aller 
ökonomischen  Werturteile.  Dann  hat  es  aber  keinen  logischen  Sinn,  wenn  Wil- 
brandt „das  Oekonomische"  als  allgemein  gültigen  Zweck  und  damit  als  Grund- 
lage für  die  Verwandlung  des  hypothetischen  Werturteiles  in  ein  kategorisches 
postuliert.    Wer  untersuchen  will,   was   „überhaupt   der  Wirtschaft"   entspricht, 


Besprechungen  (Wilbrandt).  227 

kommt  besten  Falles  zu  leeren  analytischen  Urteilen  von  der  Art,  wie  sie  oben 
über  die  Oekonomie  der  Bevölkerung  ausgesprochen  werden.  Gerade  W.s  metho- 
dischem Ausgangspunkt  entspricht  es,  daß  erst  durch  Einfügung  konkreter  natür- 
licher Produktionsbedingungen  sich  inhaltlich  bestimmte  Normen  für  die  Oeko- 
nomie der  Produktion  aufstellen  lassen. 

Dieser  unausweichliche  logische  Zwang  zeigt  sich  denn  auch  überall  wirk- 
sam, wo  W.  zu  inhaltlich  fixierten  Normen  kommt.  Er  beginnt  den  Abschnitt  über 
Menschenökonomie  (S.  33)  mit  der  Bemerkung,  daß  er  sich  nunmehr  zu  den 
inneren  Gütern  wende,  „zu  denen  in  uns  selbst,  in  den  Wirtschaftenden  von  heute 
und  morgen,  oder  ganz  allgemein  in  den  Menschen."  Da  er  im  weiteren  Verlaufe 
von  den  Wirtschaftenden  von  heute  und  morgen  und  also  gerade  nicht  ganz  all- 
gemein von  den  Menschen  redet,  kommt  er  durchaus  folgerichtig  zu  der  Forde- 
rung einer  möglichst  rationellen  Verwertung  der  Menschenkraft,  die  für  eine  mit 
Ueberfluß  an  Sklaven  arbeitende  Plantagenwirtschaft  gewiß  nicht  gilt.  Ebenso 
steht  es  mit  den  ökonomischen  Normen  für  die  Arbeit  und  ihre  Organisation,  so- 
wie für  die  gegenüber  der  landwirtschaftlichen  und  industriellen  Produktion  auf- 
gestellten Thesen.  Ueberall  sind  die  konkreten,  natürlichen  Bedingungen  der 
gegenwärtigen  Gesellschaft  in  den  „von  allen  Konkreten  der  Einzelwirklichkeit 
abstrahierenden"  (S.  21)  Begriff  der  Wirtschaft  hineingedacht. 

Auf  keinem  anderen  Wege  sind  die  für  die  Verteilung  und  die  Organisation 
der  Gesellschaft  aufgestellten  Normen  gefunden.  Ihre  Konkretisierung  aus  dem 
formalen  Prinzip  der  Wirtschaftlichkeit  kann  nur  durch  Zugrundelegung  eines 
inhaltlich  bestimmten  Rechtszustandes  oder  einer  konkreten  Wirtschaftsmoral  der 
betreffenden  Gesellschaft  erreicht  werden.  Hier  legt  Wilbrandt  aber  nicht  den  in 
der  ihn  umgebenden  Wirklichkeit  geltenden  rechtlichen  und  moralischen  Tat- 
bestand zugrunde,  sondern  einen  nach  den  Maßstäben  sozialer  Ethik  geforderten. 
Anders  könnte  er  nicht  sagen  (S.  22),  daß  die  Wirtschaftlichkeit  das  für  alle 
Vorteilhafte,  also  das  für  die  Gesellschaft  allein  Maßgebende  darstelle.  In  einer 
auf  Gewalt  und  Ausbeutung  aufgebauten  Gesellschaft  ist  das  für  die  Gesellschaft 
allein  Maßgebende  gewiß  nicht  das  für  alle  Vorteilhafte.  Wenn  Wilbrandt  aus  der 
ökonomischen  Norm  die  Ablehnung  einer  Verteilungsordnung  mit  Ausbeutung  ab- 
leitet, so  schiebt  er  den  aus  keinem  formalen  Prinzip  ableitbaren  Zweck  einer 
gerechten  Verteilung  in  den  seiner  Behauptung  nach  „aus  den  Prämissen  all- 
gemeiner Oekonomie"  gefundenen  Verteilungsbegriff  hinein. 

Bei  den  Ergebnissen  dieses  ersten,  der  Absicht  nach  rein  philosophischen 
Teiles  ist  also  keineswegs  von  aller  konkreten  Gestaltung  (S.  99)  abstrahiert 
worden.  Auch  hat  die  Gesellschaft  dabei  „nicht  im  Hintergrunde  gestanden" 
(S.  99),  sondern  die  natürlichen  Voraussetzungen  des  gegenwärtigen  abendländi- 
schen Gesellschaftszustandes  haben  sich  in  das  Bewußtsein  des  Betrachters  ein- 
geschlichen, gewertet  an  dem  Maßstab  einer  sozialen  Ethik,  oder  in  Wilbrandts 
Terminologie :  der  erste  Teil  seines  Buches  stellt  nicht  eine  Philosophie  der  Wirt- 
schaft, sondern  die  Darlegung  der  Struktur  einer  bestimmten  historischen  Stufe, 
nämlich  der  Hingabewirtschaft,  dar,  angewendet  auf  die  natürlichen  Produktions- 
bedingungen der  gegenwärtigen  Gesellschaft. 

In  der  Darstellung  der  Wirtschaftsstufen  des  zweiten  Teiles  gibt  Wilbrandt 
eine  sehr  fruchtbare  Skizze  zu  einer  Morphologie  der  Wirtschaftsformen.  Wenn 
er  freilich  die  von  ihm  angeführten  konkreten  Gebilde  einmal  als  historische  Ent- 
wicklungsreihe, zugleich  aber  als  sinnvolle  Entfaltung  des  ökonomischen  Prinzips 
auffaßt,  so  ist  die  Struktur  dieser  Wirtschaftsform  noch  nicht  in  ihrer  letzten 
Reinheit  bloßgelegt.  In  diesen  vier  Stufen  ist  jeweilig  eine  bestimmte  natürliche 
Entwicklungshöhe  der  Menschheit  mit  einer  bestimmten  Gesellschaftsmoral  zu 
einem  Sozialgebilde  verschmolzen.  Der  Charakter  einer  notwendigen  histori- 
schen Entwicklung  kommt  aber  nur  dem  einen  Gestaltungsprinzip,  nämlich  der 
Entfaltung  der  natürlichen  Bedingungen  der  Menschheit,  zu.  Im  Sinne  einer 
historischen  Aufeinanderfolge  sind  die  Gesellschaftsmoralen  zufällig.  Es  ist 
durchaus  denkbar,  daß  die  drei  wesentlichen  Typen  der  Gesellschaftsmoral:  Ge- 
waltmoral, Vertragsmoral,  Gemeinschaftsmoral,  mit  jeder  natürlichen  Entwicklungs- 
stufe ein  historisch  wirkliches  Gesellschaftsgebilde  gestalten   können.    So   haben 

15* 


228  Besprechungen  (Wilbrandt). 

neuere  ethnologische  Forschungen  ergeben,  daß  gewisse  Urvölker  auf  primitivster 
natürlicher  Entwicklungsstufe  mit  einer  höchstentwickelten  Gemeinschaftsmoral 
einen  gesellschaftlichen  Zustand  verwirklichen,  der  den  Wilbrandtschen  Forde- 
rungen der  Hingabewirtschaft  weit  mehr  entspricht,  als  er  dies  selbst  für  die 
Urzustände  annimmt.  Die  vier  von  Wilbrandt  aufgewiesenen  Stufen  stellen  die 
Entwicklungsstufen  der  abendländischen  Menschheit  in  geschichtlicher  Zeit  dar. 
Diese  haben  aber,  nicht  zuletzt  im  Hinblick  auf  die  minimale  Zeitspanne,  die  un- 
sere geschichtliche  Erkenntnis  überschaut  verglichen  mit  der  tatsächlichen  Ent- 
wicklung menschlicher  Gesellschaftsbildungen,  keine  so  typische  Bedeutung,  daß 
sie  als  die  allein  denkbaren  dargestellt  werden  dürften.  Vielmehr  wird  es  die 
Aufgabe  einer  Morphologie  der  Wirtschaftsformen  sein,  alle  möglichen  idealen 
Typen  von  Sozialgebilden  auf  ihre  inneren  Strukturzusammenhänge  zu  unter- 
suchen. Nur  dies  kann  auch  die  Aufgabe  des  von  Wilbrandt  am  Schlüsse  seines 
Buches  angekündigten  allgemeinen  Systems  der  Oekonomie  sein.  Das  vorliegende 
Buch  leistet  auf  diesem  gänzlich  unbeackerten  Boden  ausgezeichnete  Vorarbeit. 
Insbesondere  gibt  der  erste  Teil,  so  wenig  er  die  gestellte  Aufgabe  einer  formalen 
Philosophie  der  Wirtschaft  löst,  *eine  ausgezeichnete  Klarlegung  der  Struktur- 
zusammenhänge einer  Gemeinschaftswirtschaft.  Auch  kann  Wilbrandts  Leistung, 
gegenüber  dem  alle  sonstigen  Auseinandersetzungen  beherrschenden  Gesichtspunkt 
der  Tauschwirtschaft  die  Möglichkeit  einer  davon  ganz  unabhängigen  Betrachtung 
anderer  Wirtschaftsformen  unter  einem  mehr  als  historischen  Interesse  klargelegt 
zn  haben,  garnicht  hoch  genug  angeschlagen  werden.  Er  hat  damit  auch  für  die 
soziologische  Grundlegung  des  sozialistischen  Gedankensystems  überaus  Wichtiges 
geleistet. 

Der  Methodenstreit  der  Nationalökonomie  aber  kann  gerade  von  dem  rich- 
tigen Ausgangspunkt  Wilbrandts  aus  nur  so  gelöst  werden,  daß  die  gültigen 
außerökonomischen  Ziele  für  die  ökonomische  Wissenschaft  von  den  Mitteln 
dort  gefunden  werden,  wo  der  Maßstab  alles  praktischen  Handelns  zu  suchen  ist : 
in  den  Geboten  der  Sittlichkeit.  Die  bei  dem  gegenwärtigen  Stand  der  ethischen 
Auffassung  in  der  Philosophie  drohende  Gefahr  des  Subjektivismus  zu  überwinden, 
liegt  allerdings  nicht  im  Machtbereiche  der  ökonomischen  Forschung. 

Berlin.  Dr.  Adolf  Löwe. 


Selbstanzeigen. 


Schopenhauer -Gesellschaft,  Zehntes  Jahrbuch  1921.  Carl  Winters 
Universitätsbuchhandlung,  Heidelberg.   IV  u.  177  Seiten.    Preis  30  Mk» 

Das  Buch  enthält:  Hans  Zint,  „Schopenhauers  Philosophie  des  doppelten 
Bewußtseins";  Carl  Gebhardt,  „Schopenhauer  und  die  Eomantik";  Hans 
Taub,  „Adam  Ludwig  von  Doß.  Zu  seinem  100.  Geburtstag  (15.  Februar  1920)" 
(enthält  bisher  unveröffentlichte  Briefstellen  und  Aphorismen  dieses  in  seiner 
Bescheidenheit  niemals  mit  Publikationen  hervorgetretenen  Schopenhauer-Jün- 
gers); Constantin  Großmann,  „Die  Kossaksche  Eezension"  (teilt  Kossaks 
auf  Grund  Schopenbauerscher  Gedanken  über  die  Oper  an  Eichard  Wagner 
geübte  Kritik  im  Wortlaut  mit);  Franz  Mockrauer,  „Zur  Biographie  Arthur 
Schopenhauers.  (Vermischte  kleine  Beiträge  auf  Grund  neuen  urkundlichen  Ma- 
terials.)";  Edmund  0.  von  Lippmann,  „Aus  Schopenhauers  letzten  Lebens- 
jahren"; Arthur  Prüfer,  „Arthur  Schopenhauers  Abhandlung  'Transzenden- 
tale Spekulation  über  die  anscheinende  Absichtlichkeit  im  Schicksale  des  Ein- 
zelnen4, im  Lichte  der  Weltanschauung  Bichard  Wagners  (,Was  nützt  diese  Er- 
kenntnis?')"; Franz  Eiedinger,  „Dennoch  oder  Demnach?";  Eudolf 
Borch,  „Nachträge  zur  Schopenhauer-Bibliographie  für  die  Jahre  1913 — 1918" 
und  „Schopenhauer-Bibliographie  für  das  Jahr  1919";  ferner  Mitteilungen 
und  Mitgliederverzeichnis  der  Schopenhauer-Gesellschaft;  beige- 
fügt ist  das  Faksimile  zweier  Seiten  aus  Schopenhauers  Handexemplar  von 
Hegels  „Encyklopädie",  2.  Aufl.  1827,  mit  Eandglossen. 

Schopenhauer-Gesellschaft. 

Baeumler,  Alfred,  Hegels  Aesthetik.  Unter  einheitlichem  Gesichts- 
punkte ausgewählt;  eingeleitet  und  mit  verbindendem  Texte  versehen.  München. 
1922.    C.  H.  Beck'sche  Verlagshandlung  Oskar  Beck.    249  S. 

Die  Auswahl  macht  den  Versuch,  den  Gehalt  der  Hegel'schen  Aesthetik 
unabhängig  von  ihrer,  durch  die  dialektische  Methode  bestimmten  äußerlichen 
Systematik  herauszustellen.  '  Sie  folgt  daher  nicht  dem  Gange  der  Vorlesungen, 
sondern  stellt  nach  sachlichen  Gesichtspunkten  das  zusammen,  was  innerlich 
zusammengehört.  Der  Nachdruck  ist  auf  den  reichen  geschichts-philosophischen 
Ertrag  der  Hegel'schen  Aesthetik  gelegt.  Als  Höhepunkt  erscheint  nicht  die 
(veraltete)  Systematik  der  Künste,  sondern  eine  Philosophie  der  Geschichte 
der  Kunst.  —  Die  einzelnen  Stücke  werden,  vor  allem  in  dem  Teil,  der  die 
Metaphysik  der  Kunst  behandelt,  durch  überleitende  Zwischensätze  des  Heraus- 
gebers verbunden.  Dieser  Teil  kann  als  eine  Art  Einführung  in  die  Logik  der 
Idee  gelten.  Besonderen  Wert  wurde  auf  die  Herausarbeitung  des  Zusammen- 
hangs der  Kunstphilosophie  Hegels  mit  Schillers  Aesthetik  gelegt.  In  der  Ein- 
leitung wird  die  Geschichte  der  Begriffe  „klassisch"  und  „romantisch"  („sym- 
bolisch") angedeutet  und  die  Bedeutung  der  Hegel'schen  Aesthetik  für  die  Gegen- 
wart entwickelt.  Dem  Verhältnis  von  Kunst,  Eeligion  und  Philosophie  ist  ein 
eigener  Abschnitt  gewidmet. 

Nürnberg.  Dr.  Alfred  Baeumler 

Feldkeller,  Paul,  Dr.,  Graf  Keyserlings  Erkenntnisweg  zum  Übersinnlichen. 
Die  Erkenntnisgrundlagen  des  „Eeisetagebuches  eines  Philosophen".  OttoEeichl, 
Darmstadt.    1922.    191  Seiten. 

Das  Buch  ruht  auf  dem  festen  Grunde  der  Kantischen  Vernunftkritik,  na- 
mentlich auf  der  fundamentalen  Einsicht,  daß  unser  wissenschaftliches  („hoch- 
europäisches") Denken  zur  Gewinnung  metaphysischer  Erkenntnis  weder  direkt 
noch  indirekt  tauglich  ist,  daß  aber  gleichwohl  die  metaphysische  Gewißheit 
ein,  obwohl  von  der   abendländischen  Philosophie  nicht  legitimiertes,  tatsäch- 


230  Selbstanzeigen  (Feldkeller— Guastella). 

liches  Dasein  führt.  Kant  war  der  erste  Metaphysiker  ohne  Metaphysik.  Seit 
ihm  führt  das  tiefste  Wissen,  dessen  der  Mensen  fähig  ist,  im  Abendlande  eine 
wilde,  illegitime,  ungeregelte,  ja  abenteuerliche  Existenz.  Das  ist  ein  unhalt- 
barer Zustand,  wenn  man  bedenkt,  daß  Kant  nur  dem  hocheuropäischen  Denk- 
dialekte das  Eecht  absprach,  über  metaphysische  Dinge  etwas  zu  bestimmen  (ja 
nicht,  sie  zu  leugnen!),  andere  Denkdialekte  aber  gar  nicht  untersuchte.  Hat 
er  darum  auch  die  berühmte  Frage :  „Wie  ist  Metaphysik  als  Wissenschaft 
möglich,?"  endgültig  und  für  alle  Zeiten  beantwortet,  so  doch  bei  weitem  nicht 
die  andere  Frage,  wie  die  unleugbar  vorhandene  metaphysische  Gewißheit  über- 
haupt möglich  sei  und  gedacht  werden  müsse.  Denn  als  Menschen  und  Philo- 
sophen erblicken  wir  in  dieser  Gewißheit  unser  kostbarstes  und  wertvollstes, 
aber  noch  von  keiner  Philosophie  legitimiertes  d.  h.  transzendental  begründetes 
Besitztum. 

Diese  Arbeit  leisten  zu  helfen,  ist  die  Aufgabe  dieses  Buches :  es  enthält 
die  Grundzüge  einer  erkenntniskritischen  Logik  der  philosophischen  Me- 
taphysik. Das  philosophisch-metaphysische  Denken  wird  vom  ästhetischen 
wie  religiösen,  namentlich  aber  vom  wissenschaftlichen  Denken  genau  unter- 
schieden und  die  herrschende  Begriffslogik  zugunsten  der  Intentionslogik  ab- 
gelöst. 

Durch  diese  Zurückverlegung  der  absoluten  Geltung,  Widerspruchslosigkeit, 
Autonomie  und  Apriorität  der  Gedanken  von  den  manifesten  Begriffen  in  die 
Intentionen  (Begriffsseelen)  wird  sowohl  dem  Kritizismus  genug  getan,  wie  dem 
Relativismus  gesteuert,  als  auch  eine  beachtenswerte  Gedankenstruktur,  wie  sie 
in  Graf  Keyserlings  „Reisetagebuch  eines  Philosophen"  vorliegt,  zu  richtigem 
philosophischem  Verständnis  gebracht  und  ihr  geschichtlicher  Zusammenhang 
mit  der  klassischen  deutschen  Philosophie  aufgezeigt.  Daß  die  neue  metaphy- 
sische Denkweise  im  Gegensatz  zum  Orient  und  zu  aller  modernen  Aestheterei 
die  hellenisch-deutsche  Errungenschaft  der  strengen  Zucht  des  Denkens  nicht 
nur  voll  und  ganz  wahrt,  sondern  nachdrücklichst  betont,  in  diesem  Nachweise 
wolle  man  eine  der  Haupt  ab  sichten  des  Verfassers  erblicken. 

Schönwalde  (Mark).  Paul  Feldkeller. 

Guastella,  Cosmo,  Professor  an  der  Universität  Palermo,  Le  ragioni 
del  fenomenismo.  Volume  primo.  (Die  Gründe  des  Phänomenismus.  Erster 
Band).    E.  Priulla  editore.    Palermo.    1921. 

Das  Motto  des  Buches  ist  der  Leibnizsche  Satz:  „Es  ist  ein  großes 
Wissen,  zu  erkennen,  was  man  weiß".  Seine  Aufgabe  ist,  den  Phänomenismus 
zu  begründen.  D.  h.  die  Lehre,  wonach  man  keine  andere  Existenz  behaupten 
kann  als  diejenige  der  Phänomene  (d.h.  der  Erfahrung)  und  daß  es  keine  an- 
dere Wissenschaft  gibt  als  diejenige  der  Gesetze  derselben.  Dasselbe  enthält 
die  Darstellung  der  allgemeinen  Typen,  auf  welche  die  verschiedenen  metha- 
physischen  Systeme  der  Geschichte  der  Philosophie  zurückgeführt  werden,  und 
gleichzeitig  deren  Kritik,  sowie  die  Kritik  der  metaphysischen  Denkweise  über- 
haupt. Diese  Kritik  sucht  hauptsächlich  zwei  Punkte  ins  Licht  zu  setzen: 
erstens,  daß  die  Pseudo-Idee  und  der  Widerspruch  das  Element  der  Metaphysik 
sind,  und  zweitens,  daß  die  metaphysischen  Systeme  aller  Beweise  ermangeln, 
sowie  auf  gewissen  trügerischen  inneren  Augenscheinlichkeiten  (idola  tribus) 
begründet  sind,  deren  psychische  Entstehungsprozesse  studiert  werden,  sowie 
diejenigen,  wodurch  sie  die  verschiedenen  metaphysischen  Täuschungen  hervor- 
rufen (idola  theatri).  Der  allgemeine  Prozeß,  wodurch  diese  inneren  trügerischen 
Augenscheinlichkeiten  hervorgebracht  werden,  ist  die  Tendenz,  alle  Erscheinungen 
und  alle  unsere  Ideen  über  diese  Erscheinungen  denjenigen  Erscheinungen  und 
Ideen  gleichzusetzen,  welche  uns  am  meisten  vertraut  sind.  Dieser  Prozeß  gibt  zu 
täuschenden  Ergebnissen  Anlaß,  wenn  die  Erfahrung,  worauf  er  sich  gründet, 
obgleich  die  vertrauteste,  doch  nicht  allgemein  und  dauernd  ist. 

Das  Buch  ist  in  drei  Teile  geteilt,  deren  jedem  ein  Band  entspricht.  Bis 
jetzt  ist  nur  der  erste  Band  erschienen;  der  zweite  und  dritte  sind  jedoch 
schon  im  Druck. 


Selbstanzeigen  (Guastella — Marquardt).  231 

Der  erste  Teil  enthält  drei  Abschnitte.  Der  erste  Abschnitt  hat  als  Auf- 
gabe, die  fundamentalen  Prinzipien  des  Empirismus  zu  begründen.  Diese  Prin- 
zipien sind  wesentlich  folgende :  Alle  unsere  Kenntnisse  gehen  aus  der  Er- 
fahrung hervor;  die  Sätze,  welche  an  und  für  sich  evident  (und  deshalb  a 
priori)  erscheinen,  entsprechen  unserer  gewöhnlichsten  Erfahrung.  Die  Evidenz 
ist  kein  Kriterium  der  Wahrheit;  und  die  syllogistische  Deduktion  kann  keinen 
wirklichen  Fortschritt  des  Denkens  bilden.  Nur  durch  die  Induktion  schreitet 
das  Denken  fort. 

Der  zweite  Abschnitt  handelt  von  der  Causalität  (und  deshalb  von  der  Er- 
klärung) im  metaphysischen  und  wissenschaftlichen  Sinne.  Die  Causalität  im 
wissenschaftlichen,  d.  h.  empirischen  Sinne  ist  nichts  anderes,  als  eine  unver- 
änderliche Succession.  Doch  unser  spontaner  Causalitätsbegriff,  worauf  die  me- 
taphysische Erklärung  'begründet  ist,  ist  nicht  der  wissenschaftliche;  nach 
diesem  spontanen  Causalitätsbegriff  soll  nämlich  die  Fähigkeit  der  Ursache 
die  Wirkung  hervorzubringen  an  und  für  sich  evident  sein  und  nicht  einfach 
eine  Tatsache  der  Erfahrung.  Psychologischer  Ursprung  und  allgemeine  Kritik 
dieses  Begriffs.  Prüfung  der  verschiedenen  Typen  der  methaphysischen  Er- 
klärung ,  welche  aus  diesem  spontanen  Causalitätsbegriff  hervorgehen ,  sowie 
der  Lehre,  wonach  es  Ursachen  in  diesem  letzten  Sinne  gibt,  dieselben  jedoch 
unerkennbare  sind. 

Der  dritte  Abschnitt  handelt  von  dem  Ursprung  und  Inhalt  der  Eaum- 
begriffe.  Der  Tast-  und  der  Muskelsinn  geben  uns  an  und  für  sich  keine  Vor- 
stellung des  Eaumes  (d.  h.  des  Kaumes,  welchen  wir  als  objektiv  betrachten). 
Die  Vorstellung  des  Eaumes,  welche  uns  unsere  anderen  Sinne  als  der  Gesichts- 
sinn geben,  sind  nichts  als  Eingebungen  (suggestioni)  von  Gesichtsvorstellungen 
durch  eine  aus  der  Erfahrung  gebildete  Assoziation.  Die  Ausdehnung  und  alle 
Eaumverhältnisse  sind  unmittelbare  Produkte  der  Gesichtserapfindung  und  keine 
Ergebnisse  von  psychischen  Prozessen.  Ursachen  (im  wissenschaftlichen  Sinne) 
der  Wahrnehmung  der  dritten  Dimension. 

Die  Frage  des  Ursprungs  und  des  Inhalts  des  Eaumbegriffs  ist  eine  un- 
entbehrliche Einleitung  zu  derjenigen  über  die  äußere  Welt,  welche  letztere 
den  Hauptinhalt  des  Buches  bildet. 

Palermo.  Cosmo  Guastella. 

Marquardt,  Hans,  Der  Mechanismus  der  Seele.  Verlag  von  Theodor 
Dittmann,  Neumünster.     1921.    158  Seiten. 

Der  Titel  des  Buches  darf  nicht  dazu  verleiten,  es  für  eine  Wiederholung 
der  sog.  mechanistischen  Lebensauffassung  zu  halten.  Im  Grunde  ist  der  Ge- 
gensatz zwischen  Mechanismus  und  Vitalismus  ein  Streit  um  Worte.  Ist  es 
unfaßbar,  daß  das  lebende  Wesen  eine  bestimmte  „Veranlagung"  auf  die  Welt 
mitbringt,  aus  der  seine  Individualität  zwangsläufig  erwächst,  so  ist  es  ebenso 
unverständlich,  daß  es  einen  „Lebenstrieb"  besitzt,  der  zu  zweckmäßiger  Le- 
bensführung, Arterhaltung  und  Höherentwicklung  veranlaßt.  Aus  beiden  Auf- 
fassungen folgt  mit  gleichem  logischen  Zwang  die  Notwendigkeit  alles  Ge- 
schehens und  damit  die  Unmöglichkeit  freier  Willensbestimmung. 

Faßt  man  dies  Problem  der  Probleme  scharf  ins  Auge,  so  lautet  die  Frage : 
Ist  das  Tun  des  lebenden  Wesens  dem  Gesetz  der  Kausalität  unterworfen  oder 
nicht?  —  Die  Verneinung  scheint  unserem  Denken  und  Forschen  jede  Grund- 
lage zu  nehmen,  die  Bejahung  unserem  Empfinden  und  der  Ordnung  unseres 
Zusammenlebens.  Ganz  klar  ist  das  Problem  nur  von  der  unerbittlichen  Logik 
Kant's  erfaßt  worden.  Da  er  die  Geltung  des  Kausalitätsgesetzes  nicht  in 
Zweifel  ziehen,  andererseits  der  mit  ihm  unvereinbaren  Freiheit  der  Willens- 
bestiramung  sich  nicht  verschließen  kann,  knüpft  er  den  Menschen  (nicht  auch 
das  Tier)  mit  einem  unsichtbaren  Faden  an  eine  andere  Welt,  in  der  die  Kau- 
salität nicht  gilt.  Ein  Ausweg  aus  dem  Dilemma  auf  dem  Boden  unserer  vom 
Kausalitätsgesetz  regierten  Welt  ist  bisher  nicht  gefunden. 

Um  ihn  zu  finden,  muß  man  sich  klar  machen,  welche  besonderen  Folge- 
rungen für  das  lebende  Wesen  sich  aus  dem  Gesetz  von  Ursache  und  Wirkung 
ergeben  ;   denn  Wirkungen   sind  abhängig  von  der  Art  des  Stoffes,   in  dem  sie 


232  Selbstanzeigen  (Marquardt — Pos). 

ausgelöst  werden.  Die  ihn  von  allen  anderen  Körpern  unterscheidende  Eigen- 
schaft des  lebenden  Wesens  besteht  in  seinem  Vorstellungswesen.  Es  ist  nur 
so  zu  erklären,  das  im  lebenden  Protoplasma  Reaktionen  ausgelöst  werden,  die 
Bewußtsein  vermitteln.  Reaktionen  dieser  Art  sind  nicht  wunderbarer  als  un- 
endlich viele  andere,  uns  unfaßbare  Geschehnisse  physikalischer,  chemischer, 
vegetativer  oder  animalischer  Natur. 

Die  Bewußtseinsvorgänge  befähigen  das  lebende  "Wesen  zu  denken,  zu  ur- 
teilen, zu  wägen.  Wenn  diese  Kraft  nicht  den  Erfolg  haben  könnte,  auch  zur 
Wahl  d.  i.  zur  Ausführung  des  Urteils  zn  führen,  so  würde  sie  wirkungslos  sein. 
Mithin  ergibt  sich  gerade  aus  dem  Gesetz  der  Wirkungsnotwendigkeit  einer 
jeden  Ursache,  daß  ein  Wägevermögen  je  nach  seiner  Art  und  Stärke  Wahlver- 
mögen werden  muß.  Unscharfe  Vorstellungen  bleiben  wirkungsschwach.  Die 
scharfen  verdichten  sich  zum  Urteil,  gestalten  sich  zum  Willen  ;  häufiger  erlebte 
fixieren  sich  zu  Vorstellungsgewohnheiten  (Charakter  und  Temperament). 

Größere  und  geringere  Schärfe  der  Bewußtseinsreaktionen  auf  den  ver- 
schiedenen Denkgebieten  bewirken  partielle  Stärke  bew.  Schwäche  des  Wäge- 
und  damit  des  Wahlvermögens,  in  der  Art  wie  im  Individuum.  Das  sieht  so 
aus,  als  ob  das  Handeln  nur  zum  Teil  von  Einsicht  und  anderen  geistigen 
Kräften  geleitet  werde,  im  übrigen  von  tierischen  Trieben  und  seelischen  In- 
stinkten. Aber  solche  Auffassung  von  neben  und  gegen  einander  wirkenden 
Seelenfunktionen,  die  zudem  nicht  scharf  von  einander  abzugrenzen  sind,  ist 
im  höchsten  Grade  unökonomisch,  jedenfalls  unbeweisbar.  Die  einfachste  Lösung 
ist  immer  die  wahrscheinlichste.  Sie  ist  stark  verdeckt  worden,  weil  die  im 
doppelten  Sinn  obersten  Erscheinungen  des  Vorstellungslebens  wie  Vernunft, 
Gewissen,  Kunst  etc.  vorwiegend  hervortreten  und  zur  Erklärung  aus  sich 
selbst  verlockten.  Aufdecken  läßt  sich  der  ursprüngliche  Zusammenhang  nur, 
wenn  man  ganz  unten  anfängt  und  von  der  biologischen  Bestimmung  der  alier- 
einfachsten  Lebensvorgänge  ausgeht. 

Messer,  A.,  Erläuterungen  zu  Nietzsches  Zarathustra.  Stuttgart, 
Verlag  Strecker  und  Schröder.    1922.     170  S.     10  Mk. 

In  diesem  Commentar  soll  der  philosophische  Gehalt  des  Werkes  her- 
ausgearbeitet werden.  Es  ergibt  sich  dabei  die  innigste  Verwandtschaft 
von  Nietzsches  ethischen  Grundanschauungen  mit  dem  ethischen 
Idealismus  eines  Kant  und  Fichte. 

Besonderer  Nachdruck  ist  daraufgelegt,  den  Gedankenzusammenhang 
der  einzelnen  Abschnitte  und  besonders  auch  die  inneren  Beziehungen 
zwischen  den  beiden  Grundlehren,  der  vom  „Übermenschen"  und 
der  von  „der  ewigen  Wiederkehr",  klar  zu  stellen.  Es  ergibt  sich  dabei, 
daß  diese  nicht  —  wie  man  häufig  angenommen  hat  —  isoliert  und  unvermittelt 
neben  einander  stehen  und  so  die  philosophische  und  künstlerische  Einheit  des 
Werkes  bedrohen.  Die  Lehre  von  der  ewigen  Wiederkehr  wird  vielmehr  als  der 
symbolische  Ausdruck  für  das   ewig   sich   gleich   bleibende  Wesen   des  Lebens 


Dieses  Leben  mit  all  seinem  Niederziehenden,  in  all  seiner  Hoffnungs- 
losigkeit (ewiger  Wiederkunft  auch  der  „kleinen  Menschen")  zu  ertragen,  das 
fordert  eine  seelische  Stärke,  die  nur  der  aufbringen  kann,  den  die  Idee  des 
„Übermenschen"  innerlich  bezwungen  hat. 

Gießen.  August  Messer. 

Pos,  H.  J.,  Dr.,  Zur  Logik  der  Sprachwissenschaft.  Heidelberg 
1922.    Carl  Winter'sche  Buchhandlung.    Beiträge  zur  Philosophie  Nr.  8.    191  S. 

Die  Schrift  wurde  im  Sommer  des  vorigen  Jahres  in  Heidelberg  als  Disser- 
tation eingereicht.  Sie  versucht  die  Gesichtspunkte  der  neueren  Logik  und  Er- 
kenntnistheorie für  eine  Untersuchung  der  Grundbegriffe  und  Voraussetzungen 
der  Sprachwissenschaft  fruchtbar  zu  machen.  Dabei  wird  der  Gedanke  zugrunde 
gelegt,  daß  eine  Analyse  der  logischen  Grundlagen  der  Erkenntnis  eines  Gegen- 
standes durch  die  Struktur  desselben  in  eigentümlicher  Weise  mitbestimmt 
wird.    Die   Einleitung  versucht   das  Recht   erkenntnistheoretisch-logischer  Be- 


Selbstanzeigen  (Pos — Reininger).  233 

sinnung  für  die  Sprachwissenschaft,  die  bis  heute  hauptsächlich  empirische 
Wissenschaft  ist,  mit  Hinweis  auf  Kant's  Grundlegung  der  Naturwissenschaft 
zu  begründen. 

Das  Kapitel:  Gegenstand  und  Methode  beginnt  dem  in  der  Einleitung 
vorgetragenen  Programm  gemäß  mit  einer  Analyse  der  logischen  Grundmomente 
am  Gegenstand:  Sprache,  der  sich  als  ein  mehrfach-gegliederter,  in  Schichten 
auseinanderfallender  erweist.  Außerdem  stellt  sich  heraus,  daß  jeder  sprach- 
liche Gegenstand  an  ein  dahinterstehendes  Psychologisches  „sich  anlehnt".  Die 
ganze  Struktur  unserer  Erkenntnis  sprachlicher  Tatsachen  erscheint  dadurch 
bedingt. 

Die  nächsten  Kapitel:  „Systematik"  und  „Entwicklung"  handeln  von  den 
beiden  sich  ergänzenden  Grundgesichtspunkten  oder  -auffassungsweisen,  die  wir 
dem  Gegenstand:  Sprache  gegenüber  anwenden  können:  dem  Normativ-Kon- 
struktiven und  dem  genetischen.  Es  wird  versucht  darzutun,  daß  Sprach- 
wissenschaft nicht  reine  Wirklichkeitswissenschaft  sein  kann,  sondern  in  jedem 
Laut-Bedeutungsverhältnis  ein  Geltungsmoment  zu  erblicken  hat.  In  weiterem 
Sinne  stellt  sich  rein-psychologische  Erfassung  der  sprachlichen  Entwicklungen 
ohne  Hinzunahme  irgendwelcher  nicht-psychologischen  (logischen,  objektiven) 
Momente  als  Unmöglichkeit  heraus.  Der  Psychologismus  hat  in  der  historischen 
Sprachwissenschaft  nicht  das  letzte  Wort.  An  der  Analyse  des  Bedeutungs- 
wandels wird  gezeigt,  wie  sich  subjekti vierende  (normative)  und  objektivierende 
(genetische)  Betrachtung  ergänzen.  Es  arbeitet  jedes  sprach  theoretische  Urteil 
mit  einem  „irrealen  Subjekt",  dem  aber  doch  wieder  ein  psychologisches  Korrelat 
nicht  fehlt.  Der  Akt  des  sinnvollen  Sprechens  und  Verstehens  wird  gedeutet, 
als  „Stellungnahme  zu  Werten".  Demnach  ist  die  Erkenntnisleistung  der  Er- 
fassung der  sprachlichen  Tatsachen  in  ihrer  zeitlichen  Aufeinanderfolge '  schon 
eine  Objektivierung,  hinter  die  zum  eigentlichen  Akt  des  Bewußtseins  zurück- 
gegangen werden  muß.  Die  „Ursprungsfrage"  erscheint  hierdurch  in  anderer 
Beleuchtung:  restloses  Verstehen  aus  zeitlicher  Aufeinanderfolge  ist  bei  diesem 
Gegenstand  nicht  möglich.  Jeder  historische  Sprachprozeß  kann  nur  zugleich 
im  Hinblick  auf  seine  „prospektive"  Entwicklungstendenz  vollständig  erfaßt 
werden. 

Amsterdam.  Dr.  H.  J.  Pos. 

Reininger,  Robert,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Wien,  Friedrich 
Nietzsches  Kampf  um  den  Sinn  des  Lebens.  Der  Ertrag  seiner  Philo- 
sophie für  die  Ethik.    Wien  und  Leipzig.     Wilhelm  Braumüller.    1922.    197  S. 

Aus  der  Vorrede :  Meine  Absicht  ist  nicht,  eine  ausführliche  und  allseitige 
Darstellung  von  Nietzsches  Leben  und  Lehre  zu  geben.  An  vortrefflichen  Werken 
dieser  Art,  welche  auch  strengeren  wissenschaftlichen  Ansprüchen  genügen,  ist 
kein  Mangel.  Was  mir  aber  noch  lange  nicht  in  zureichendem  Maße  geleistet 
erscheint,  ist  eine  kritische  Wertung  dieses  Gedankensystems  in  systematischer 
Hinsicht.  Nietzsche  ist  aber  bis  nun  der  letzte  Philosoph,  dessen  Wirken,  über 
die  Sphäre  der  Wissenschaft  und  den  Kreis  der  Schulen  hinausgreifend,  ja  sie 
überspringend  zu  einer  Lebensmacht  geworden  ist.  Über  ihn  endlich  Klarheit 
zu  gewinnen  und  ihm  gegenüber  einen  Standpunkt  sicherer  Stellungnahme  zu 
erobern,  ist  gerade  wissenschaftliche  Pflicht.  Wenn  ich  mir  in  dieser  Hinsicht 
ausschließlich  als  Ziel  setze,  Nietzsches  Ethik  in  ihren  Motiven  und  letzten 
Folgerungen  durchzudenken,  so  verkenne  ich  dabei  nicht,  daß  der  ethische  Ge- 
sichtspunkt für  sich  allein  noch  keineswegs  den  ganzen  Reichtum  der  von  ihm 
hinterlassenen  Gedanken  und  Probleme  ausschöpft.  Auch  der  Psychologie,  Er- 
kenntnistheorie, Ästhetik  und  nicht  zuletzt  der  Kulturphilosophie  harren  hier 
noch  mannigfache  Aufgaben,  wenn  ich  auch  nicht  die  weitverbreitete  Meinung 
teilen  kann,  daß  in  dieser  letzteren  der  Schwerpunkt  von  Nietzsches  Bedeutung 
zu  suchen  sei.  Aber  der  ethische  Gesichtspunkt  scheint  mir  am  tiefsten  in  das 
Zentrum  seiner  Denkerpersönlichkeit  hineinzuführen  und  auf  diese  wird  eben 
zuletzt  jedes  Verstehen  dieser  persönlichsten  aller  Philosophien  zurückgehen 
müssen.  Die  Natur  meiner  Aufgabe  bringt  es  mit  sich,  daß  das  systematische 
Interesse   überall   das  rein  historische  überwiegt.    Nicht   um  eine  Würdigung 


234  Selbstanzeigen  (Reininger — Ungerer). 

der  Person  Nietzsches  ist  es  mir  zu  tun,  sondern  um  die  Herausstellung  und 
Fruchtbarmachung  dessen,  was  seine  Lehre  an  wertvollen  Ansatzpunkten  für 
eine  Ethik  der  Zukunft  enthält.  Mein  Thema  in  kürzester  Formulierung  lautet 
also:  Was  kann  die  Ethik  von  Nietzsche  lernen? 

Richter,  Gustav,  Dr.,  Bozen,  Kritik  der  Kelativitätstheorie  Ein- 
steins.    Verlag  0.  Hillmann,  Leipzig.     17  S. 

Dem  Michelsohn-Versuch  stelle  ich  das  spektralanalytische  Experiment 
gegenüber,  mit  welchem  sich  nachweisen  läßt,  ob  sich  die  Erde  einem  bestimmten 
Sterne  nähert  oder  sich  von  ihm  entfernt.  Dies  beweist,  daß  die  Lichtge- 
schwindigkeit im  ersten  Fall  sich  vergrößert,  im  zweiten  verringert.  Das 
Michelsohn-Experiment  müßte  anders  ausfallen,  wenn  es  das  Licht  der  Sterne 
untersuchen  würde. 

Die  Ableitung  der  Kelativität  der  Zeit  beruht  auf  einen  logischen  Trug- 
schluß, indem  der  subjektive  Beobachtungsfehler  bei  der  Beobachtung  gleich- 
zeitiger Ereignisse  von  verschiedenen  bewegten  Systemen  aus  auf  Grund  des 
aus  dem  Michelsohn-Versuch  abgeleiteten  Gesetzes  von  der  konstanten  Licht- 
geschwindigkeit zu  einem  realen  Zeitunterschied  gemacht  wird,  obwohl  das 
Gesetz  der  konstanten  Lichtgeschwindigkeit  eine  Differenz  der  Beobachtungen 
auf  beiden  Systemen  ausschließe.  Die  Relativität  der  Zeit  wird  ad  absurdum 
geführt,  weil  sie  sich  selbst  aufhebt, 

Ich  versuche  die  vierdimensionale  Eaumzeit  ohne  die  Relativität  der  Zeit 
anschaulich  zu  machen  und  führe  die  rechnerischen  Erfolge  der  Einsteinstheorie 
darauf  zurück,  daß  mit  der  Annahme  gebrochen  wird,  als  ob  jede  Bewegung 
aus  sich  heraus  in  alle  Ewigkeit  gleichgerichtet  und  gleichschnell  bleiben  würde, 
wenn  sie  nicht  gestört  wird.  Vielmehr  ist  jegliche  Bewegung  die  Komponente 
meiner  Kräfte:  Ich  kann  keinen  Körper  abstoßen,  der  nicht  angezogen  wird. 
Denn  ohne  Anziehung  hätte  er  keine  Schwere,  keine  Maße,  keine  Trägheit. 
Nicht  nur  der  geworfene  Stein  fällt  wieder  zur  Erde  zurück,  sondern  jede  Be- 
wegung hat  das  Bestreben  zu  ihrem  Ausgangspunkt  zurückzukehren.  Das  nennt 
Einstein:  die  Welt  ist  endlich  und  jede  Bewegung  kehrt  in  sich  zurück. 

Sternberg,  Kurt,  Die  politischen  Theorien.  Berlin.  1922.  Verlag 
Siegfried  Seemann. 

Mein  Buch  verfolgt  die  Entwicklung  der  politischen  Theorien  von  den 
griechischen  Sophisten  bis  zur  Gegenwart  und  zwar  in  steter  Beziehung  auf 
die  gesamte  Kulturentwicklung.  Es  wendet  sich  weder  ausschließlich  noch  auch 
nur  in  erster  Linie  an  „Fachphilosophen",  sondern  an  den  weiten  Kreis  der 
philosophisch,  speziell  staatsphilosophisch  Interessierten.  Originalität  in  stoff- 
licher Hinsicht  ist  nicht  vorhanden,  wurde  auch  nicht  angestrebt ;  es  handelt 
sich  vielmehr  nur  um  den  Versuch,  das  zu  verbinden,  was  an  sich  an  vielen 
verschiedenen  Stellen  zerstreut  vorliegt  und  nur  mehr  oder  minder  mühsam  zu- 
sammengestellt werden  kann.  Eine  gewisse  —  wenn  auch  nur  relative  —  Ori- 
ginalität bedeutet  freilich  die  strenge  Durchführung  eines  ganz  bestimmten 
Standpunktes  bei  der  Kritik.  Geraeint  ist  nicht  etwa  irgendein  parteipolitischer, 
sondern  mein  wissenschaftlich-philosophischer  Standpunkt.  Dieser  ist  der  des 
kritischen  Idealismus,  wie  er  im  Altertum  von  Plato,  in  der  Neuzeit  vor  allem 
von  Kant  vertreten  worden  ist. 

Berlin.  Kurt  Sternberg. 

Ungerer,  Emil,  Dr.,  Privatdozent  a.  d.  Technischen  Hochschule  Karlsruhe, 
Die  Teleologie  Kants  und  ihre  Bedeutung  für  die  Logik  der  Bio- 
logie. Abhandlungen  zur  theoretischen  Biologie  hgg.  v.  Prof.  Dr.  J.  Schaxel. 
Heft  14.    Berlin.    Verlag  von  Gebr.  Bornträger,  Berlin.     1922.     135  S. 

Alle  Bemühungen  um  das  Lebensproblem  während  des  19.  Jahrhunderts 
setzen  die  grundlegenden  Bestimmungen  der  Kritik  der  Urteilskraft  voraus, 
knüpfen  bewußt  oder  ungewollt  an  sie  an.  Die  vorliegende  Arbeit  will  die  für 
die  Logik  der  Biologie  dauernd  wertvollen  Ergebnisse  dieses  Kantischen  Werks 
herausarbeiten  und  ihre  Weiterentwicklung  zur  Bewältigung  der  Gegenwarts- 
fragen anbahnen.    Hierher   gehört  vor  allem  die  Untersuchung  der  Bedeutung 


Selbstanzeigen  (Ungerer — Heinemann).  235 

des  Systemgedankens  in  der  Biologie  für  den  Variations-,  Vererbungs-  und  Art- 
begriff, für  das  Gefüge  der  Lebewesen  und  für  die  Abstammungshypothese,  sowie 
der  Nachweis  der  beherrschenden  Eolle  des  von  Kant  klar  erfaßten  Ganzheit- 
begriffs für  die  Darstellung  und  Erklärung  der  Lebensformen  und  des  Lebens- 
geschehens. Die  logischen  und  tatsächlichen  Grundlagen  der  Eigenformenlehre 
und  der  Funktionsformenlehre  in  der  Morphologie,  des  ganzheitbezogenen  Ge- 
schehens in  der  Physiologie  sowie  der  Mechanismus-Vitalismusfrage  werden  be- 
handelt. Kants  eigener  Standpunkt  wird  im  Gegensatz  zur  herkömmlichen  Auf- 
fassung als  der  eines  metaphysischen  Vitalismus  gekennzeichnet. 

Darüber  hinaus  sucht  die  Arbeit  darzutun,  auf  welche  Weise  die  von  Kant 
gewollte  formale  Einheit  der  dritten  Kritik  durch  das  Prinzip  der  reflektierenden 
Urteilskraft  hergestellt  wird.  Sie  zeigt  diesen  Zusammenhang  der  verschiedenen 
Zweckideen  aber  nur  auf,  um  ihn  durch  die  Erkenntnis  der  zugrunde  liegenden 
psychologischen  Fiktion  wieder  zu  zerstören  und  die  verschiedene  Struktur  der 
jeweils  gegebenen  Zweck-  und  Ganzheitbegriffe  bezw.  die  verschiedenen  regio- 
nalen Stufen  der  Ganzheitkategorie  aufzuzeigen.  Dabei  werden  u.  a.  drei  ver- 
schiedene Bedeutungen  der  Begriffe  „subjektiv"  und  „objektiv"  bei  Kant  festgestellt. 

Dr.  E.  Ungerer. 

Neue  deutsche  Schopenhauer -Gesellschaft,  Gründungsbuch.  Preis 
Mk.  15.-. 

Dieses  Gründungsbuch  enthält  folgende  Aufsätze: 

a)  G.  F.  Wagner-:  „Zur  Entstehungsgeschichte  der  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft". Diese  Arbeit,  eine  Einführung  in  den  Transzendentalidealismus  Kants  und 
seines  Vorgängers  Maupertuis,  in  gekürzter  Form  zum  ersten  Male  erschienen 
im  Jahrbuche  der  Schopenhauer-Gesellschaft  1912,  hat  in  ihrer  nun  vorliegenden 
endgiltigen  Gestalt  durch  Angliederung  einer  Übersetzung  der  Briefe  des  Mau- 
pertuis und  durch  Mithineinbeziehung  des  Briefwechsels  Wagners  mit  Wilhelm 
von  Gwinner  an  Wert  und  an  Bedeutung  noch  gewonnen.  (Die  für  diese  Arbeit 
hochwichtige  Quellenschrift:  Maupertuis  „Sur  l'origine  des  langues  et  la  signi- 
fication  des  mots"  wird  in  Übersetzung  und  im  Urtext  veröffentlicht  in  der 
zweiten  Publikation  1922  der  Neuen  deutschen  Schopenhauer-Gesellschaft.)  Diese 
Abhandlung  bietet  Blicke  in  die  geistige  Werkstatt  Kants,  wodurch  Kant  uns 
nicht  allein  wissenschaftlich,  sondern  auch  menschlich  näher  rückt,  b)  einen 
Aufsatz  über  die  in  Kant-Studien  XXV,  Heft  4  geführte  Polemik  \  über  die 
Deußensche  und  Weißsche  Schopenhauerausgabe,  c)  Ernst  Häckel  und  Schopen- 
hauer: Kritische  Bemerkungen  zu  der  Forderung  Bindings  und  Hoches  „der 
Freigabe  der  Vernichtung  lebensunwerten  Lebens",  d)  Aus  Schopenhauers  poli- 
tischer Lehre,  e)  Schopenhauer  und  die  deutsch  gläubige  Gemeinschaft,  f)  Über- 
setzung von  Bruchstücken  aus  Deußens  „Outlines  on  Indian  Philosophy"  mit 
Kommentar. 

Heinemann,  Fritz,  Dr.,  Privatdozent  an  der  Universität  Frankfurt  a.  M., 
Plotin,  Forschungen  über  die  plotinische  Frage,  Plotins  Entwick- 
lung und  sein  System.  Gedruckt  mit  Unterstützung  der  Wiener  Akad.  d. 
Wiss.   Meiner.   1921.    65  Mk. 

Heute  würde  sich  mir  die  meinem  Buche  zugrunde  liegende  Gesamtkonzep- 
tion in  folgenden  Umrissen  darstellen :  eine  vergleichende  Philosophiegeschichte. 
Die  griechische  Philosophie  nur  eine  Ausgestaltung  des  antiken  Geistes,  in 
ihrer  Eigentümlichkeit  scharf  hervortretend  gegen  die  anderen  Geistesformen 
jener  Zeit  und  in  lebendiger  Wechselwirkung  mit  ihnen  stehend.  Seit  dem 
dritten  vorchristlichen  Jahrhundert  aus  hellenistischen,  iranischen,  jüdischen, 
indischen  Quellen  ein  neues  Zeitalter  heraufsteigend,  das  der  Gnosis l).  In  diesem 
der  Neuplatonisraus  einer  der  Höhepunkte,  sein  Weltbild  auf  die  exakteste 
Formel  bringend.  Neben  ihm  ein  christlicher,  ein  eigentlich  gnostischer,  ein 
jüdischer   Strom.    Dann    das   Mittelalter   (Hereinwachsen    des   arabischen,    des 

1)  So  wird  die  These  der  Arbeit  korrigiert,  die  mit  Philo  das  Mittelalter 
beginnt,  indem  zugleich  das  Kichtige  jener  Ansicht,  die  Aufhobung  der  Isolie- 
rung der  spätantiken  und  der  frühchristlichen  Philosophie  erhalten  wird. 


236  Selbstanzeigen  (Heinemann — Lebmann). 

jüdischen  und  der  christlichen  Völker  in  die  Kultur  des  Abendlandes).  Und 
endlich  die  Neuzeit  als  ein  lebendiges  Nebeneinander  von  einer  Reihe  nationaler 
Ströme.  Der  Neuplatonismus  also  der  eine  Brennpunkt  des  Zeitalters  der 
Gnosis,  in  sich  nicht  nur  die  Strahlen  der  griechischen,  sondern  wahrscheinlich 
auch  der  außergriechischen  Kulturen  des  Altertums  sammelnd  und  dann  weit 
durch  das  Mittelalter  hindurch,  bis  in  die  Neuzeit,  vor  allem  in  die  deutsche 
Philosophie  und  da  bis  in  die  Romantik,  ja  bis  zu  Eduard  von  Hartmann  und 
bis  in  die  Gegenwart  (Natorp,  Lask,  Scheler)  strahlend.  Das  ist  die  Grund- 
konzeption, die  aber  innerhalb  des  Buches  nicht  in  allen  Einzelheiten  durch- 
geführt werden  konnte. 

An  exakter  Einzelforschung  bringt  das  Buch  zunächst  eine  kritische  Grund- 
legung :  einen  Beweis,  daß  die  überlieferte  Reihenfolge,  die  man  für  eine  chrono- 
logische hielt,  keine  solche  ist,  daß  eine  Reihe  von  Büchern  unecht  ist,  andere 
nur  Diskussionen  innerhalb  der  Schule  darstellen  oder  solche  enthalten,  weiter 
einen  Versuch,  die  Mitarbeit  der  Schule,  insbesondere  des  Porphyrius  und  Ame- 
lius  zu  erweisen  und  abzugrenzen.  Auf  diese  Einsichten  und  einen  exakten 
Ordnungsversuch  der  Schriften  baut  sich  eine  Darstellung  der  Entwicklung 
Plotins  unter  Hervorhebung  der  Hauptbegriffe  auf. 

Die  Darstellung  des  außerordentlich  geschlossenen  Systems,  die  neben 
Grundlegung  und  Entwicklung  als  dritter  Teil  tritt,  unterscheidet  Systemteile, 
die  sich  vorzugsweise  im  Abstieg  bewegen  und  solche,  die  vor  allem  aufsteigend 
sind  (in  gewissem  Sinne  spiegelt  ein  jeder  das  Ganze  wieder).  Der  Umschwung 
vom  Abstieg  zum  Aufstieg  vollzieht  sich  in  der  Religionsphilosophie,  die  hier 
wohl  zum  ersten  Mal  eine  eingehende  Darstellung  findet;  auch  die  Erkenntnis- 
lehre dürfte  in  dieser  Form  früher  nicht  gesehen  sein.  —  Plotin  verkörpert 
eine  typische  Weltansicht,  die  man  alexandrinisches  Weltschema  nennen  kann, 
mit  einer  philosophischen  Kraft  wie  sonst  keiner,  zweitens  verbindet  er  mit  der 
intellektuellen  Potenz  eine  seltene  moralisch-religiös-ästhetische  Reinheit,  drittens 
hat  er  trotz  seiner  sonstigen  historischen  Gebundenheit  ein  unmittelbares  Ver- 
hältnis zu  den  sachlichen  Problemen,  das  ihn  den  großen  Metaphysikern  bei- 
gesellt. 

Frankfurt  a.  Main.  Fritz  Heinemann. 

Lehmann,  Gerhard,  Dr.,  Ueber  die  Setzung  „Individualit äts konstante" 
und  ihre  erkenntnistheoretisch-metaphysische  Verwertung.  Eine  Untersuchung  über 
das  Wesen  des  Individuums.    Berlin  1922  bei  Emil  Ebering. 

Nach  zwei  Richtungen  hin  bedarf  es  einer  gründlichen  Bearbeitung  des 
Fundamentes  der  Logik:  einmal  gilt  es,  die  Logik  mit  den  Forderungen  der 
Realwissenschaft  in  Einklang  zu  setzen  und  sodann  müssen  die  logischen  Axiome 
selbst  auf  ihren  metalogischen  Schall  hin  geprüft  werden.  Die  vorliegende  Arbeit 
unternimmt  das  letztere,  nachdem  Vaihinger  u.  a.  dargetan  haben,  daß  die  Ge- 
setze und  die  Methoden  der  Einzelwissenschaften  keineswegs  eine  einfache  „An- 
wendung" reiner  Logik  darstellen,  sondern  daß  in  ihnen  weit  mehr  Irrationales 
oder  gar  Widersprechendes  enthalten  ist,  als  es  „eigentlich"  erlaubt  sein  sollte. 
Die  „Setzung  Individualitätskonstante"  ist  ein  Hilfsmittel  des  Denkens,  eine  Fik- 
tion, die  es  gestattet,  das  Individuum  logisch  zu  charakterisieren  als  Einheit  von 
Begriff  und  Urteil :  insofern  handelt  es  sich  auch  in  vorliegender  Arbeit  um  einen 
Beitrag  zur  „angewandten"  Logik.  Daß  aber  das  so  fundierte  „Individuum"  als 
vor  dem  Forum  reiner  Logik  unhaltbares  Denkgebilde  fallen  muß,  das  führt  von 
selbst  in  das  Gebiet  der  Metalogik. 

Denn  es  gilt  nunmehr  den  „Schall"  des  Identitätssatzes  aufzuzeigen.  Und 
hier  wird  in  durchweg  neuen  Gedankengängen  darzustellen  versucht,  daß  die 
Einzigkeit  des  „Einen"  den  überlogischen  Kern  des  Identitätssatzes  ausmacht,  daß 
das  Wissen  um  diese  Einzigkeit  den  vorobjektivierten  Ausdruck  des  Selbst- 
bewußtseins darstellt,  daß  das  Identitätsproblem  in  das  Ichproblem  mündet.  Die 
schwierigen  Gedankengänge  der  Schrift  werden  erleichtert  durch  Kontroversen  mit 
Vaihinger,  Driesch,  Hartmann,  Hegel,  Bahnsen  und  Herbart.  Es  muß  hervor- 
gehoben werden,   daß  die  Auseinandersetzung  mit  Vaihinger  allein  eine  Lücke  in 


Selbstanzeigen  (Lehmann).  237 

der  Literatur  über  die  Als-Ob-Philosophie '  ausfüllt.  Die  Hervorhebung  der  Be- 
deutung Bahnsens  für  die  gegenwärtige  Philosopie,  ebenso  wie  die  Rechtfertigung 
der  philosophischen  Bedeutung  Stirners  wird  zur  vertieften  Auffassung  beider 
Denker  beitragen. 

Die  vorliegende  Schrift  hat  einen  doppelten  Sinn:  es  ist  eine  Monographie 
über  das  Wesen  des  Individuums,  soweit  Logik  hierüber  zu  urteilen  in  der  Lage 
ist,  und  sie  ist  im  Systementwurf:  Erkenntnistheorie,  Wertelehre  und  Metaphysik 
müssen  ihr  Teil  beisteuern  zur  Errichtung  einer  LehrevondenEgomorphismen, 
deren  nähere  Ausarbeitung  ferneren  Schriften  überlassen  bleiben  muß. 


Mitteilungen. 

Professor  Bolland, 

f  in  Leyden  am  11.  Februar  1922. 

Gerardus  Johannes  Petrus  Josephus  Bolland  wurde  als  Sohn  eines 
niedrigen  Polizeibeamten  am  9.  Juni  1854  in  Groningen  geboren  und  hat 
in  seiner  Jugend  die  für  einen  vom  Missionsdrang  brennenden  Knaben 
widerwärtigsten  Arbeiten  verrichten  müssen.  Schließlich  an  einer  Volks- 
schule tätig,  erhielt  er  die  Gelegenheit,  sich  den  Wissenschaften  zuzu- 
wenden, bald  erreichte  er  die  angesehene  Stellung  eines  Lehrers  der  eng- 
lischen Sprache  am  Gymnasium  in  Batavia  (1882).  Er  konnte  dieses 
Stellungsangebot  nicht  abschlagen,  obwohl  Kern  und  Cosyn,  seine  Gönner, 
den  Wunsch  hegten,  daß  er  auf  Grund  seiner  ganz  besonderen  sprach- 
wissenschaftlichen Begabung  bei  Professor  Sie v er s  in  Jena  seinen  Doktor 
machen  würde,  um  die  an  der  Universität  Groningen  neu  zu  gründende 
Professur  der  englischen  Sprache  übernehmen  zu  können.  In  Batavia  lenkte 
ein  Kollege  dann  seine  Aufmerksamkeit  auf  Schultzes  Philosophie  der 
Naturwissenschaft,  und  dieses  Buch  ist  es  gewesen,  durch  das  Bolland 
sich  seiner  philosophischen  Veranlagung  erst  recht  bewußt  geworden  ist. 
Er  fing  jetzt  an,  Kant,  Schopenhauer  und  von  Hartmann  zu  studieren;  vor 
allem  war  er  für  die  Philosophie  des  Unbewußten  begeistert. 

Am  19.  Sept.  1896  hielt  der  Autodidakt  seine  Antrittsvorlesung  als 
Philosophieprofessor  an  der  Universität  Leyden;  er  sprach  über  „Verände- 
rung und  Zeit".  Durch  ihn  kam  die  Begeisterung  für  das  philosophische 
Studium  in  die  weitesten  Kreise;  er  suchte  die  Königin  der  Wissen- 
schaften wenigstens  in  ihren  Grundzügen  den  Gebildeten  zugänglich  zu 
machen,  und  keine  Mühe  war  ihm  zu  groß,  um  die  Philosophie  im  edelsten 
Sinne  des  Wortes  zu  popularisieren.  Dieser  Drang,  Prediger  der  Wahrheit 
zu  sein,  hat  ihm  dann  mancherlei  Enttäuschung  gebracht.  Dennoch  ist  der 
Einfluß,  den  er  direkt  und  indirekt  auf  das  geistige  Leben  Hollands  und 
auf  die  holländische  Sprache  geübt  hat,  nicht  leicht  zu  überschätzen. 

In  seinen  ersten  kleineren  philosophischen  Arbeiten,  die  er  noch  in 
Indien  verfaßte,  erscheint  er  ganz  als  Hartmannianer ;  während  eines  Ur- 
laubs hat  er  Eduard  von  Hartmann  in  Groß-Lichterfelde  bei  Berlin  be- 
sucht und  war  dessen  Gast.  Als  er  jedoch  seine  Professur  antrat,  hatte  er 
seinen  Hartmannianismus  bereits  aufgegeben;  denn  seine  kritische  Kraft 
war  zu  groß,  um  ihn  bei  einem  Standpunkt  festzuhalten. 


^15S 


Mitteilungen. 


Seit  1897  vertiefte  er  sich  in  Hegels  Werke,  hier  fand  er  die  Me- 
thode, welche  den  Bedürfnissen  seines  Denkens  entsprach.  Gerade  diesen 
Wendepunkt  in  seiner  Entwicklung  habe  ich  als  Hörer  seiner  Vorlesungen 
mitgemacht.  Bei  der  Lektüre  von  Spinozas  Ethik  und  Kants  Kritik  der 
reinen  Vernunft  zeigte  er  uns,  wie  die  Substanz  Spinozas  durch  den 
Kantischen  Kritizismus  hindurch  zum  Hegeischen  Begriff  kommen  mußte. 
Er  sah  ein,  daß  das  Verkennen  der  Wahrheit,  daß  das  Ich  in  der  Wirk- 
lichkeit und  die  Wirklichkeit  im  Ich  denkt,  die  Wurzel  aller  Einwürfe 
gegen  den  sogenannten  absoluten  Idealismus  ist.  Nichts  läßt  sich  halten; 
alles  ist  relativ;  dann  aber  ist  die  Relativität  das  Absolute;  in  aller  Rela- 
tivität offenbart  sich  das  Absolute,  das  nicht  irgendwo  außerhalb  des  Rela- 
tiven gesucht  werden  kann.  Das  wahre  Unendliche,  das  unendliche  Wahre 
ist  das  Unendliche,  das  in  aller  Endlichkeit  wiederzufinden  ist  und  zu  sich 
selbst  kommt.  Nur  im  Begriff  ist  Wahrheit,  und  wer  vernünftig  begreift, 
verzichtet  auf  den  regressus  in  infinitum  der  üblichen  Erklärungswut. 
In  seiner  deutsch  verfaßten  Schrift  „Alte  Vernunft  und  neuer  Ver- 
stand" (Leyden  1902)  hat  Bolland  den  Unterschied  Hegelscher  und 
Hartmannscher  Lehre  auseinandergesetzt  und  die  traditionelle  Ansicht  end- 
gültig widerlegt,  daß  Hegel  die  Natur  in  aprioristischer  Weise  dedu- 
zieren gewollt  hat.  Seine  Hauptarbeit  ist  „ZuivereRede"  (=  reine 
Vernunft),  ein  Buch,  das  in  der  dritten  vermehrten  Auflage  etwa  1400 
Seiten  zählt.  Vom  Hegeischen  Buchstaben  hat  er  sich  gelöst,  ohne  den 
Hegeischen  Geist  zu  verleugnen.  Das  Buch  lag  seinen  oft  außerordentlich 
temperamentvoll  gestalteten  Vorlesungen  zugrunde,  die  er  auch  außerhalb 
Leydens  in  Utrecht,  Amsterdam,  Haag,  Delft  und  Rotterdam  hielt.  Es 
enthält  die  enzyklopädische  Behandlung  der  Kategorien  jeder  Wissenschaft. 
Sein  Collegium  Logicum  wurde  einmal  stenographiert,  es  ist  ein 
glänzendes  Zeugnis  eindringlichster  philosophischer  Darstellungskunst.  Um 
die  Wissenschaft  hat  Bolland  sich  ferner  verdient  gemacht  durch  die 
Uebersetzung  mancher  Werke  von  Hegel  und  Hegelschülern.  Alle  diese 
Ausgaben  hat  er  durch  gründliche  Anmerkungen  bereichert. 

Die  Wahrheit  war  seine  einzige  Leidenschaft. 

Santpoort.  Dr.  G.  A.  van  den  Bergh  van  Eysinga. 


Julius  Schultz 

zum  sechzigsten  Geburtstag. 

Am  16.  April  1922  feierte  in  Berlin  Julius  Schultz  den  60.  Geburts- 
tag. Er  ist  den  Lesern  der  Kantstudien  durch  manchen  wertvollen  Beitrag, 
den  Mitgliedern  der  Berliner  Ortsgruppe  insbesondere  auch  als  Redner  und 
eifriger  Debatter  bestens  bekannt.  Leider  sind  die  Werke  des  abseits  aller 
Schulen  still  seines  Weges  gehenden  Denkers  bisher  nicht  so  sehr  in  die 
breite  Oeffentlichkeit  gedrungen,  wie  sie  es  nach  ihrem  Gehalt  und  ihrer 
künstlerischen  Darstellung  verdienten.  Denn  es  sei  hier  bemerkt,  daß  es 
nicht  viele  Denker  heute  gibt,  die  sich  an  Selbständigkeit  des  Denkens 
und  Weite  des  Ausblicks  mit  Schultz  vergleichen  dürfen,  vielleicht  aber 
keinen,  der  mit  solcher  Souveränität  wie  er  mit  den  Problemen  gleichsam 
zu    spielen   vermag,    ohne  je   im   geringsten   ins  Spielerische    oder  Effekt- 


Mitteilungen.  239 

suchende  zu  verfallen.  Gerade  wegen  seiner  bei  aller  Selbständigkeit  doch 
ungeheuer  ausgebreiteten  Vielseitigkeit  der  wissenschaftlichen  Beziehungen 
ist  es  nicht  leicht,  ihn  mit  einem  einzigen  Schlagwort  zu  kennzeichnen. 

J.  Schultz  selbst  nennt  sich  Kantianer,  und  er  ist  es  auch,  freilich  in 
einem  bewußt  dem  logistischen  Neukantianismus  entgegengesetzten  Sinne. 
Am  besten  wäre  seine  Richtung  noch  durch  die  Namen  F.  A.  Lange  und 
Vaihinger  zu  kennzeichnen,  obwohl  ihn  auch  mit  diesen  nur  Verwandtschaft, 
nicht  Abhängigkeit  verbindet.  Sein  erkenntnistheoretischer  Standpunkt  ist 
vor  allem  in  den  beiden  Büchern  „Psychologie  der  Axiome"  (1899) 
und  „Die  drei  Welten  der  Erkenntnistheorie"  1908)  begründet 
(beide,  wie  alle  früheren  Werke  von  Schultz  im  Verlag  Vandenhoeck  & 
Ruprecht,  Göttingen,  erschienen).  Besonders  das  erste  Buch  gibt  eine 
glänzende  logische  Grundlegung  der  Mathematik  und  der  Naturwissen- 
schaften. In  zwei  weiteren  Werken  hat  Schultz  dann  auf  diesen  Funda- 
menten weiter  gebaut.  Eine  Wissenschaftslehre  der  anorganischen  Natur- 
forschung gibt  das  Buch:  „Die  Bilder  von  der  Materie"  (1905),  der 
organischen  Natur  das  Werk:  „Die  Maschinentheorie  des  Lebens" 
(1909).  Besonders  das  zweite  dieser  Bücher,  das  noch  durch  die  Schrift: 
„Die  Grundfiktionen  der  Biologie"  (Bornträger,  1920)  in  wertvoller  Weise 
ergänzt  wird,  erscheint  mir  als  eine  der  hervorragendsten  Leistungen  der 
neueren  Philosophie.  Es  vertritt,  in  lebhaftester  Diskussion  mit  dem  Neu- 
vitalismus, eine  mechanistische  Weltanschauung,  die  aber  nichts  mit  der 
Nüchternheit,  die  sonst  leicht  dieser  Denkrichtung  anhaftet,  gemein  hat, 
sondern  in  höchst  eigenartiger  Weise  die  große  Tradition  von  Leibniz  und 
Lotze  fortsetzt  und  den  Mechanismus  zu  einer  fast  poetisch  anmutenden 
Metaphysik  ausweitet,  ohne  je  das  wissenschaftliche  Fundament  zu  ver- 
lassen. Denn  Schultz  ist,  wie  so  viele  Philosophen,  zugleich  Dichter,  nicht 
nur  innerhalb  seiner  Philosophie,  auch  neben  ihr  in  selbständigen  Werken, 
und  an  mehreren  großen  Bühnen  hat  man  mit  Erfolg  seine  Dramen  ge- 
spielt. Alle  diejenigen  die  ihn  näher  kennen,  aber  verehren  außer  dem 
Philosophen  und  Dichter  vor  allem  den  liebenswürdigen  und  gütigen 
Menschen  in  Julius  Schultz,  dem  noch  ein  langes  und  reiches  Wirken  be- 
schieden sein  möge! 

Berlin-Halensee.  Dr.  R.  Müller-Freienfels. 

Kants  Ethik  und  der  preußische  Staat. 

WilhelmDiltheys  geistvolle  Anregungen  und  großzügige,  zum  Teil 
großartige  Untersuchungen  waren  es  vor  allem,  die  die  Aufmerksamkeit 
und  die  Interessen  der  geisteswissenschaftlichen  Forschung  auf  die  Er- 
gründung  und  Kennzeichnung  der  für  die  Entstehung  eines  philosophischen 
Systems  maßgebenden  Faktoren  gelenkt  haben.  Wertvolle  Arbeiten  sind 
aus  dieser  Forschungsrichtung  hervorgegangen.  Dennoch  fehlt  noch  viel 
daran,  um  von  einer  abgeschlossenen  Erkenntnis  der  Voraussetzungen  der 
Hauptsysteme  der  Philosophie  sprechen  zu  können.  Auch  diejenigen  Be- 
dingungen, auf  denen  sich  der  verwickelte  Bau  des  Kantischen  Kritizismus 
erhebt,  sind  noch  keineswegs  in  ihrer  Gesamtheit,  in  ihrem  Charakter,  in 
ihrer  Herkunft  erfaßt  und  durchschaut. 

In  die  Reihe  der  hierher  gehörigen  Untersuchungen  greift  auch  mit 
einer    kurzen,    aber    eindrucksvollen    Abhandlung    Professor    Dr.    Arnold 


240  MitteilimgeD. 

Oskar  Meyer,  der  Historiker  der  Kieler  Universität  ein.  Sie  trägt  den 
Titel:  „Kants  Ethik  und  der  preußische  Staat"  und  gehört  zu  den  Bei- 
trägen, die  Erich  Marcks  zum  60.  Geburtstag  in  einer  Festschrift  gewidmet 
wurden  (erschienen  unter  dem  Gesamttitel  „Vom  staatlichen  Werden  und 
Wesen"  bei  J.  G.  Cotta  Nachf.,  Stuttgart  und  Berlin.  1921).  Meyers  Haupt- 
frage lautet:  Wurzelt  Kants  Ethik  im  Geiste  des  altpreußischen  Staates? 
Seine  Antwort  fällt  aber  in  einem  verneinenden  Sinne  aus.  Er  hebt  mit 
sicherem  Griff  die  Hauptzüge  jener  Ethik  hervor,  wobei  es  angenehm  be- 
rührt, daß  er  im  Gegensatz  zu  der  üblichen  Einseitigkeit  sich  nicht  auf 
die  erste  Formulierung  des  kategorischen  Imperativs  bezieht  und  beschränkt, 
sondern  in  den  Mittelpunkt  seiner  Darlegungen  jene  Formulierung  stellt, 
deren  Gegenstand  die  Idee  der  sittlichen  Autonomie  und  der  Würde  des 
Menschen  bildet.  Auf  der  anderen  Seite  entwickelt  er  in  knappen  An- 
deutungen die  Grundform  des  frederizianischen  Staates,  vor  allem  weist  er 
auf  jene  Theorie  hin,  die  das  Wesen  desselben  durch  den  Vergleich  mit 
einer  Maschine  am  schärfsten  verdeutlicht.  Im  Sinne  dieses  mechanistischen 
Rationalismus  hatte  August  Ludwig  von  Schlözer  in  seinem  berühmten 
Lehrbuch:  „Allgemeines  Statsrecht  und  Statsverfassungslere  (Göttingen. 
1793)  den  Souverän  geradezu  „ Maschinen directeur"  nennen  können.  „Der 
Stat  ist  eine  Erfindung:  Menschen  machten  sie  zu  ihrem  Wol,  wie  sie 
Brand-Cassen  usw.  erfanden.  Die  instruktivste  Art,  Statslere  abzuhandeln, 
ist,  wenn  man  den  Stat  als  eine  künstliche,  überaus  zusammengesetzte  Ma- 
schine, die  zu  einem  bestimmten  Zwecke  gehen  soll,  behandelt." 

Kant  aber  fordert,  „den  Menschen,  der  nun  mehr  als  Maschine 
ist,  seiner  Würde  gemäß  zu  behandeln."  So  nicht  nur  in  seinen  großen 
ethischen  Schriften,  sondern  auch  in  dem  kleinen  Aufsatz:  „Was  ist  Auf- 
klärung?" „Die  Würde  der  Menschheit  in  uns"  ist  der  leitende  Gedanke, 
sagt  Meyer,  zu  dem  alle  Erwägungen  und  Entscheidungen  der  Kantischen 
Sittenlehre  immer  wieder  zurücklenken.  „In  ihr,"  so  faßt  er  seine  Aus- 
führungen zusammen,  „liegt  jenes  Allerheiligste,  das  von  Anbeginn  ge- 
schaute, persönlich  erlebte  Ziel  der  Kantischen  Ethik.  Nicht  aus  dem 
Geiste  des  preußischen  Staates  oder  irgend  eines  Staates  überhaupt  ist 
diese  Ethik  geboren  —  sie  ist  reine  Frucht  des  im  Aufblick  zur  Antike 
gefundenen  deutschen  Humanitätsideals.  Kant  steht  auf  demselben  Boden, 
auf  dem  das  Bildungsideal  der  deutschen  Klassiker  erwachsen  ist,  der  treue 
Sohn  des  Zeitalters,    das    im  Menschheitsgedanken    seinen  Polarstern   sah." 

Arthur  Liebert. 


I.  Preisausschreiben  der  Johannes-Rehmke-Gesellschaft 

(Vereinigung  für  grundwissenschaftliche  Philosophie). 
In  dankenswerter  Weise   sind    der  Johannes-Rehmke-Gesellschaft   von 
ihren  Mitgliedern,    den  Herren  Dr.  Julius  Eßlen  und  Karl  Eßlen  in 
Luxemburg    (Stadt)    3000  Mark    für    ein  Preisausschreiben    zur  Verfügung 
gestellt  worden. 

Die  Preisaufgabe  lautet: 

Grundwissenschaft  und  Beligionswissenschaß. 
Erläuterung:    Es  soll  untersucht  werden,   ob  und,   bejahendenfalls, 
inwiefern    die    grundwissenschaftliche    Philosophie    Johannes    Eehmkes    der 


Mitteilungen.  241 

systematischen  Religionswissenschaft  neue  Möglichkeiten  öffnet.  Dabei  sind 
insbesondere  zwei  Aufgaben  ins  Auge  zu  fassen: 

1.  ob  die  grundwissenschaftliche  Betrachtung  einen  grundsätzlich  neuen 
Ansatz  der  Religionswissenschaft  ermöglicht,  wenn  ja,  wie  dieser 
Ansatz  zu  bestimmen  und  wie  von  ihm  aus  der  Aufgabenkreis  der 
Religionswissenschaft  zu  umschreiben  und  zu  begrenzen  ist  (me- 
thodischer Teil), 

2.  wie  sich  vom  grundwissenschaftlichen  Standort  das  "Wirklichkeits- 
problem der  Religion  darbietet  und  inwieweit  eine  Möglichkeit 
seiner  Lösung  gefunden  werden  kann. 

Die  Frage  der  religiösen  Gemeinschaftsbildung  soll  im  wesentlichen 
außerhalb  des  Rahmens  der  Untersuchung  bleiben. 

Die  Bewerbungsarbeiten  sind,  in  deutscher  Sprache  abgefaßt, 
deutlich  leserlich  hergestellt,  mit  Rand  und  Seitenzahlen  versehen,  „einge- 
schrieben" bis  zum  31.  Dezember  1922  an  den  Geschäftsführer  der  Gesell- 
schaft Dr.  J.  E.  Heyde,  Stettin,  Deutsche  Straße  34,  einzusenden. 
Jede  Bewerbungsschrift  muß  ein  Kennwort  tragen.  Dasselbe  Kennwort  muß 
die  Aufschrift  eines  beigelegten  verschlossenen  Briefumschlages  sein,  der 
die  Angabe  des  Namens  und  der  Anschrift  des  Verfassers  enthält.  Das 
Preisurteil  wird  spätestens  am  1.  Juni  1923  verkündet  werden. 

Preisrichter  sind  die  Herren: 

1.  Kaufmann  Dr.  Julius  Eßlen  (Luxemburg), 

2.  Ober  Studiendirektor  Dr.  Hermann  Hegenwald  (Bielefeld), 

3.  Geheimer  Regierungsrat  Professor  Dr.  Johannes  Rehmke 
(Greifswald), 

4.  Pfarrer  Dr.  Friedrich  Karl  Schumann  (Triberg-Baden). 
Die   Preisrichter   können    nach   freiem    Ermessen    bestimmen,    ob    die 

Summe  von  3000  Mk.  ungeteilt  einer  Arbeit  zukommen  oder  an  mehrere 
Arbeiten  nach  Maßgabe  ihres  Wertes  verteilt  werden  soll.  Die  Entscheidung 
wird  in  unserer  Zeitschrift  „Grundwissenschaft"  veröffentlicht.  Der 
Vorstand  hat  das  Recht,  aber  nicht  die  Pflicht,  preisgekrönte  Arbeiten  als 
Abhandlungen  in  der  „Grundwissenschaft"  oder  als  Sonderveröffentlichung 
in  Druck  zu  geben.  Die  nicht  preisgekrönten  Arbeiten  werden  einschließ- 
lich der  ungeöffneten  Kennwortbriefe  am  31.  Dezember  1923  vernichtet, 
wofern  ihre  Verfasser  unter  Nennung  ihres  Namens  und  Wohnortes  sie 
nicht  vorher  zurückfordern. 

Auf  Wunsch  werden  Abzüge  dieses  Preisausschreibens  unentgeltlich 
vom  Geschäftsführer  der  Gesellschaft  Dr.  J.  E.  Heyde,  Stettin,  Deutsche 
Straße  34,  versandt. 

Kolberg  und  Stettin,  im  Dezember  1921. 

I.  A.  des 

Vorstandes  der  Johan  nes-Rehmke-Gesellschaft: 

Dr.  Hochfeld,  Vorsitzender.  Dr.  Heyde,  Geschäftsführer. 


Kantstudien  XXVII.  16 


Kant-Gesellschaft. 


Landesgruppe  Holland.' 

Den  regen  Bemühungen  einer  Anzahl  für  die  Kant-Gesellschaft  leb- 
haft interessierter  holländischer  Mitglieder  ist  es  zu  verdanken,  daß  anläßlich 
einer  Vortragsreise  von  Professor  Dr.  Liebert,  zu  der  dieser  von  einer  Reihe 
großer  wissenschaftlicher  Gesellschaften  eingeladen  worden  war,  eine  LandeS- 
gruppe  Holland  begründet  werden  konnte.  Dadurch  hat  sowohl  die 
Kant- Gesellschaft  in  ihrer  Allgemeinheit  als  auch  unsere  Organisation  der 
Ortsgruppen  einen  sehr  bedeutsamen  Ausbau  erfahren. 

Die  Eröffnungssitzung  und  die  anschließenden  Vorträge,  zu  denen  eine 
stattliche  Anzahl  von  Mitgliedern  erschienen  war,  fanden  am  14.  und  15. 
Dezember  1921  in  der  „Internationalen  Schule  für  Philosophie"  in  Amers- 
foort  statt.  Der  Ausschuß  dieser  Schule  hatte  die  Räume  in  gastfreund- 
lichster Weise  zur  Verfügung  gestellt. 

Zwei  volle  Tage  konnten  die  Teilnehmer  in  der  in  einem  "Wald  reizend 
gelegenen,  mit  Arbeits-  und  Schlafzimmern  aufs  beste  ausgestatteten  Inter- 
nationalen Schule  verbringen.  Ihrem  großzügigen  und  von  vollem  Unter- 
stützungswillen beseelten  Ausschuß  sei  auch  noch  an  dieser  Stelle  der  ver- 
bindlichste Dank  ausgesprochen. 

Professor  Dr.  Liebert  sprach  über:  „Die  Krisis  im  Geistes- 
leben der  Gegenwart"; 

Professor  Dr.  Kohnstainm,  o.  Prof.  für  theoretische  Physik  an  der 
Universität  Amsterdam  über  „Kants  Begriff  der  Autonomie"; 

Priv.-Doz.  Dr.  Polak  von  der  Universität  Amsterdam  über  „Kant 
als  geistiger  Kopernikus." 

An  alle  drei  Vorträge  schloß  sich  eine  lebhafte  Aussprache,  die,  gleich 
den  beiden  ausgezeichneten  Vorträgen  der  beiden  holländischen  Gelehrten, 
aus  liebenswürdiger  Rücksicht  für  den  anwesenden  stellvertretenden  Ge- 
schäftsführer in  deutscher  Sprache  geführt  wurde. 

Der  geschäftsführende  Ausschuß  setzt  sich  aus  folgenden  Herren  zu- 
sammen : 

Prof.  Dr.  H.  Y.  Groenewegen,  Prof.  an  der  Universität  Amsterdam, 
Rembrandtlaan  28,  Huis  ter  Heide,  als  Vorsitzenden;  Dr.  H.  W.  Van 
derVaartSmit,  's  Graveland,  Schriftführer  und  Schatzmeister;  Dr.  G. 
A.  Van  den  Bergh  van  Eysinga,  Santpoort;  Dr.  E.  E.  Eckstein, 
Haag;  Prof.  Dr.  B.  J.  H.  Ovink,  Prof.  an  der  Universität  Utrecht; 
Dr.  Leo  Polak,  Priv.-Dozent  an  der  Universität  Amsterdam. 

Wir  knüpfen  an  die  Begründung  der  Landesgruppe  Holland,  die  durch 
die  Tatkraft  und  das  Interesse  unserer  Mitglieder  ins  Leben  gerufen  ist, 
die  besten  Hoffnungen  für  einen  weiteren  Ausbau  unserer  Gesellschaft. 


Kant-Gesellschaft.  243 

Im  Anschluß  an  die  obige  Mitteilung  über  die  Gründung  der  „Landes- 
gruppe Holland"  können  wir  folgendes  berichten: 

Die  erste  Versammlung  dieser  „Landesgruppe"  fand  am  6.  März  1922 
in  Amsterdam  statt.  Bei  dieser  Versammlung  wurden  die  Satzungen  der 
„Landesgruppe"  festgelegt,  und  der  in  dem  vorhergehenden  Bericht  ge- 
nannte Ausschuß  definitiv  gewählt. 

Ferner  wurde  die  Sammlung  einer  einmaligen  Notspende  für  die 
Kant-Gesellschaft  beschlossen.  Der  Hauptzweck  dieser  Notspende,  deren 
Verteilung  dem  Ermessen  der  beiden  Geschäftsführer  anheimgegeben  wird, 
besteht  hauptsächlich  in  der  Unterstützung  solcher  Gelehrter,  die  durch  die 
Not  der  Zeit  in  wirtschaftliche  Bedrängnisse  geraten  sind.  An  diese  Samm- 
lung für  die  Notspende  wird  sich  die  „Niederländisch-Deutsche  Vereinigung" 
anschließen  (über  das  Ergebnis  der  Sammlung  wird  seinerzeit  in  den 
„Kant- Studien"  Mitteilung  gemacht  werden). 

Außerdem  wurde  auf  dieser  Versammlung  die  Einberufung  einer 
„Sommerkonferenz"  für  den  September  beschlossen.  Die  Mitglieder  der 
Landesgruppe  Holland  werden  gebeten,  dem  Ausschuß  ihre  Vorschläge  in- 
bezug  auf  Vorträge  und  einzuladende  Redner  so  bald  als  möglich  mitzu- 
teilen. Als  Vortragende  kommen  sowohl  holländische  als  auch  nicht- 
holländische  Eedner  in  Betracht,  wie  denn  auch  sämtliche  Mitglieder  der 
Kant-Gesellschaft  zur  Teilnahme  an  dieser  Sommerkonferenz  eingeladen  sind. 

Nähere  Auskunft  erteilt  der  Ausschuß. 

Der  Ausschuß  wird  dann  noch  die  Entscheidung  darüber  treffen,  wo 
diese  Sommerkonferenz  tagen  wird,  wahrscheinlich  in  der  „Internationalen 
Schule  für  Philosophie"  in  Amersfoort,  deren  Käume  wiederum  in  der  gast- 
freundlichsten Weise  vom  Vorstand  für  den  genannten  Zweck  zur  Ver- 
fügung gestellt  werden. 

Als  Ehren- Vorsitzender  der  Landesgruppe  Holland  wurde  vom  Aus- 
schuß das  Ehrenmitglied  der  Kant-Gesellschaft  Herr  Professor  Dr.  Georg 
Heymans,  o.  Professor  an  der  Universität  Groningen  erwählt,  der  diese 
Wahl  auch  annahm. 

Endlich  richtete  die  Versammlung  an  die  Schriftführung  der  „Kant- 
Studien"  den  Antrag,  in  der  genannten  Zeitschrift  eine  besondere  Rubrik 
zur  Besprechung  der  philosophischen  Literatur  Hollands  einzurichten.  (Die 
Schriftleitung  wird  natürlich  diesem  berechtigten  Wunsch  gern  entsprechen ; 
es  sind  bereits  Schritte  eingeleitet  worden,  um  eine  solche  Eubrik  zu 
schaffen). 

Die  Geschäftsführung  der  Kant-Gesellschaft 
Prof.  Dr.  Vaihinger,         Prof.  Dr.  Liebert. 

Ortsgruppe  Karlsruhe. 

Die  Entwicklung  der  Ortsgruppe  darf  sehr  erfreulich  genannt  werden. 
Die  Mitgliederzahl  erhöhte  sich  seit  der  zweiten  Jahresversammlung  am 
25.  Mai  1921  (s.  Bericht  in  den  Kantstudien.  XXVI  S.  274  ff.)  bis 
zur  dritten  Jahresversammlung  am  18.  Januar  1922  von  152  auf  189. 
Die  Zahl  der  zur  Ortsgruppe  gehörenden  Mitglieder  der  Hauptgesellschaft 
stieg  im  selben  Verhältnis.   Einen  Kassenvorrat  von  1567,20  Mk.  und  Ein- 

16* 


244  Kant-Gesellschaft. 

nahmen  von  2238,50  Mk.,  zusammen  3805,70  Mk.  stehen  Ausgaben  in 
Höhe  von  2163,53  Mk.  gegenüber,  so  daß  der  neue  Vermögensstand 
1642,17  Mk.  beträgt. 

Auf  der  Jahresversammlung  am  18.  1.  22  wurden  die  vom  Vorstand 
vorgeschlagenen  Satzungen  nebst  der  Geschäftsordnung  für  den  Vorstand 
einstimmig  angenommen.  Ferner  wurde  bestimmt,  daß  für  1922  (Kalender- 
jahr) jedes  Mitglied  der  Ortsgruppe  20  Mk.  (für  jede  Beikarte  15  Mk.)  be- 
zahlt; Mitglieder,  die  auch  der  Hauptgesellschaft  angehören,  zahlen  an  die 
Ortsgruppe  15  Mk.,  für  jede  Beikarte  10  Mk. ;  Studenten  und  Seminaristen 
10  Mk.  Nach  Entlastung  des  Rechners  wurde  der  Vorstand  einstimmig 
wiedergewählt.  Er  besteht  aus  dem  Vorsitzenden  Privatdozent  Prof.  Dr. 
E.  Ungerer,  Maxaustr.  29,  dem  Schriftführer  Professor  Dr.  K.  Schuck, 
Klauprechtstr.  32  und  dem  Rechner  Prof.  A.  Kistner,  Stefanienstr.  8.  Ge- 
schäftsstelle ist  die  Metzlersche  Buchhandlung,  Karlstr.  13.  Postscheckkonto 
der  Ortsgruppe:  Karlsruhe  26  373. 

Während  des  W.-S.  bis  zur  Jahresversammlung  wurden  folgende  Vor- 
träge gehalten: 

1.  Prof.  Dr.  A.  Liebert-Berlin:  Die  Krisis  im  Geistesleben 
der  Gegenwart;  am  10.  X.  21  (öffentlich); 

2.  Prof.  Dr.  H.  Driesch- Leipzig:  Leib  und  Seele;  am  18.  X.  21 
(öffentlich). 

Drei    wissenschaftliche    Abende    über    Humes    „Untersuchung 
über  den  menschlichen  Verstand": 

3.  Priv.-Doz.  Prof.  Dr.  E.  Ungerer -Karlsruhe:  Die  Aufgabe 
der  Philosophie  und  deren  psychologische  Grund- 
legung bei  Hume  am  9.  XI.  21; 

4.  Direktor  Dr.  K.  0 1 1  -  Karlsruhe :  Erfahrung  und  Erkenntnis; 
am  23.  XL  21; 

5.  Prof.  Dr.  A.  Fr.  Raif- Karlsruhe:  Die  Kritik  des  Kausal- 
problems; am  7.  XII.  21;  —  —  — 

6.  Prof.  Dr.  ~W.  Hellpach-Karlsruhe:  Die  Aufgaben  der  Phi- 
losophie in  der  Wiedervergeistigung  unserer  Beruf  s - 
bildung;  am  14.  XH.  21  (öffentlich); 

7.  Prof.  Dr.  K.  S  c  h  ü  c  k  -  Karlsruhe :  Ein  Besuch  bei  Rabin- 
dranath  Tagore;    am    18.  I.  22    (bei  der  Jahresversammlung). 

Im  nächsten  halben  Jahr  werden  folgende  Vorträge  gehalten: 
Nr.  1.    Freitag,    3.  Febr.,    Prof.    Dr.    C.    Boehm:    Begriffsbildung; 
öffentlich    (Festsitzung    zu   Ehren     des     60.    Geburtstages    David 
Huberts); 

„    2.    Mittwoch,    22.  Febr.,    Prof.  A.  Kreuzer:    Wertphilosophie; 

„  3.  Sonntag,  12.  März,  Prof.  Dr.  W.  Koehler-Berlin:  Ueber  For- 
schungen an  Menschenaffen  (mit  kinematographischen  Vor- 
führungen); öffentlich; 

„  4.  Mittwoch,  22.  März,  Priv.-Doz.  Prof.  Dr.  Fr.  Schnabel:  Die 
historische  Ideenlehre; 

„  5.  Mittwoch,  5.  April,  Dr.  E.  K  r  a  u  s  -  Heidelberg :  Die  materia- 
listische Geschichtstheorie; 


Kant-Gesellschaft.  245 

Nr.  6.    Mittwoch,  26.  April,  Prof.  Dr.  H.  Kinkel:  Die  Geschichts- 
philosophie des  Positivismus; 
„    7.    Mittwoch,  10.  Mai,  Frl.  Dr.  E.  Sturm:   Ueber  Th.  Lessings 
„Sinngebung  des  Sinnlosen." 
Für  den  Winter  stehen  Vorträge  von  Prof.  Dr.  L ieb er t- Berlin,  Prof. 
Dr.  Joel -Basel  und  Graf  H.  Keyserling-Darmstadt  in  Aussicht.   Mit- 
glieder der  Ortsgruppe  haben  zu  allen  Veranstaltungen   (mit  Ausnahme  et- 
waiger sehr  kostspieliger  Vorträge)  freien  Zutritt. 

Privatdozent  Dr.  E.  Ungerer. 


Königsberger  Ortsgruppe  der  Kantgesellschaft. 

Berieht  über  das  Geschäftsjahr  1920/21. 

Ueber  die  Gründung  der  Ortsgruppe  wurde  in  Bd.  25  Seite  478  der 
Kantstudien  berichtet.  Sie  ist  mit  über  100  Mitgliedern  zu  einer  statt- 
lichen Vereinigung  angewachsen  und  hat  inzwischen  ihr  erstes  Arbeitsjahr 
hinter  sich. 

Bei  den  öffentlichen  Sitzungen  wurden  folgende  Vorträge  gehalten: 
27.  X.  20.    Univ.-Prof.  Dr.  Kowalewski:  Spenglers  Kantkritik; 
1.  XEE.  20.    Studienassessor   Dr.    Paleikat:    Kants    Religionsphilo- 
sophie    (an    diesen  Vortrag    schloß  sich  eine  Lesestunde  über 
Kants  Aufsatz :  „Was  istAufklärung?"    Die  Leitung  hatte 
Prof.  Dr.  Kowalewski); 
,19.1.21.    Univ.-Prof.   Dr.  Wilhelm  Sauer:    Die    moderne    Philo- 
sophie des  Lebens; 
23.  II  21.    Studienrat  Prof.  Dr.  Schöndörf f er:  Kant  über  Lüge  und 

Selbstmord; 
16.  III.  21.  Akademieprofessor  Heinrich  Wolff:   Kant   und  die  bil- 
dende Kunst    (gedruckt   im  Sonntagsblatt    der  Königsberger 
Hartungschen  Zeitung  Nr.  143,  153,  165); 
27.  IV.  21.  Univ.-Prof.  Lic.  Dr.  Kust:  Ist  Kants  Ethik  ergänzungs- 
bedürftig? 
Im  Oktober  1921  fand  die  Neuwahl  des  Vorstandes  statt.   Die  Aemter 
blieben  wie  bisher  besetzt,  nur  der  1.  Vorsitzende  wechselte.  An  Stelle  des 
Univ.-Professors  Dr.  Kowalewski    trat  Univ.-Prof.  Dr.    med.    et   phil.  Ach. 
Da  er  erst  nach  Weihnachten  die  Geschäfte  übernehmen  kann,  wird  er  bis 
dahin  durch  Prof.  Dr.  Schöndörffer  vertreten. 

Für  die  nächsten  Versammlungen  sind  u.  a.  folgende  Vorträge  in  Aus- 
sicht genommen: 

Studienassessorin  Dr.  Gertrud  Rosenthal:  Kants  Pädagogik; 
Studienrat    Dr.    Paleikat:    Die   Religionsphilosophie    des   Neu- 
kantianismus; 
Univ.-Prof.  Dr.  Goedeckemeyer:  Nietzsches  Wertlehre: 
Univ.-Prof.  Dr.  Ach:  Kant  und  der  Okkultismus; 
Univ.-Prof.  Lic.  Dr.  Rust:    Kant   als    der   Philosoph    des   Prote- 
stantismus: 


246  Kant-Gesellschaft, 

Studienrat  Dr.  Schmitt:  Ueber  den  Zufall; 

Amtsgerichtsrat  TVarda:  Mitteilungen  über  Kants  Bibliothek. 

Anmeldungen  zur  Ortsgruppe  und  Anfragen  richte  man  an  den  Schrift- 
führer, Studienrat  Dr.  Schmitt,  Oberteichufer  16. 

Königsberg  i.  Pr.,  im  Dezember  1921. 

Ortsgruppe  Heidelberg. 

Dem  regen  Interesse  und  den  tatkräftigen  Bemühungen  unseres  Mit- 
gliedes und  Mitarbeiters,  Dr.  Emil  Kraus,  ist  es  gelungen,  wieder  eine 
sehr  wertvolle  Erweiterung  unseres  Ortsgruppenkreises  zu  erreichen  durch 
Gründung  einer  Ortsgruppe  Heidelberg. 

Geheimrat  Prof.  Dr.  Heinrich  Rick  er  t,  Ehrenvorsitzender; 

Dr.  Emil  Kraus,  Häußerstr.  32,  1.  Vorsitzender; 

Dr.  Karl  Bosch,  Bismarckstr.  19,  2.  Vorsitzender; 

Fritz  Reuse h,  Moltkestr.  10,  Schriftführer  und  Kassierer. 

Ferner  wurde  für  das  Semester  1922  folgendes  Arbeitsprogramm  auf- 
gestellt : 

Arbeitsprogramm. 

I.  Diskussionsabende.    „Philosophische  Gegenwartsfragen". 
Am  2.  Febr.    Dr.  E.  Kraus:    „Das  Kategorienproblem    und    das 

System  der  Philosophie"; 

„  2.  März  Dr.  Kreis:  „Erkenntnistheoretische  und  systema- 
tische Begründung  des  "Wertbegriffs"; 

„  6.  April  Dr.  R.  K.  Goldschmit:  „Das  Ichproblem  im  mo- 
dernen Drama" ; 

„  4.  Mai  Dr.  Ungerer-Karlsruhe:  „Aus  der  Philosophie  des 
Organischen". 

II.  Oeffentliche  Vorträge.     Ende  Februar  wird  wahrscheinlich  Prof. 

Hellpach-Karlsruhe  über:  „Die  Philosophie  und  dieWieder- 

vergeistigung  der  Berufe"  hier  sprechen. 

Sämtliche  Diskussionsabende  finden  abends  8  Uhr  im  Hörsaal  des 
geographischen  Instituts  (Seminariengebäude)  statt.  Die  Veranstaltungen  der 
Kant-Gesellschaft  sowie  event.  Aenderungen  des  Programms  sind  jeweils 
am  schwarzen  Brett  der  Universität  sowie  im  Schaufenster  der  Buchhand- 
lung Hönicke,  Hauptstraße  79,  angeschlagen.  Anmeldungen  und  Anfragen 
sind  zu  richten  an  den  Schriftführer  Fritz  Keusch,  Moltkestraße  10. 

Ortsgruppe  Baden-Baden, 

Auf  Grund  einer  dankenswerten  Anregung  des  von  regem  Interesse 
für  die  Philosophie  erfüllten  Herrn  Wirklichen  Geheimrats  Richard  von 
Chelius  hat  sich  im  Dezember  1921  in  Baden-Baden  eine  Ortsgruppe 
der  Kant-Gesellschaft  gebildet,  der  sich  bereits  eine  Anzahl  neuer  Mit- 
glieder angeschlossen  hat.  Es  ist  zu  erwarten,  daß  durch  diese  Ortsgruppe, 
die  in  engerer  Fühlung  mit  der  Ortsgruppe  Karlsruhe  arbeiten  wird,  die 
Interessen  der  Kant- Gesellschaft  eine  wesentliche  Förderung  erfahren  werden. 


Kant-Gesellschaft.  247 

Den  Vorsitz  hat  in  liebenswürdigster  "Weise  Herr  Geheimrat  von 
Chelius  übernommen,  Schriftführer  ist  Herr  Dr.  med.  et  phil.  Bern- 
hard Beizer,  Baden-Baden,  Luisenstr.  26. 

Ortsgruppe  in  Konstanz  am  Bodensee. 

Unsere  Mitglieder  in  Konstanz  haben  sich  zu  einer  Ortsgruppe  zu- 
sammengeschlossen, die  sich  bereits  in  einer  lebhaften  Entwicklung  be- 
findet. Eröffnet  wurde  die  Ortsgruppe  durch  einen  ungemein  zahlreich  be- 
suchten Vortrag  des  stellv.  Geschäftsführers  Prof.  Liebert,  der  über  „Die 
geistige  Krisis  der  Gegenwart"   sprach. 

Im  Sinne  der  Bestrebungen  der  Kant-Gesellschaft  sieht  der  Arbeitsplan 
der  neuen  Ortsgruppe  eine  dreifache  Betätigung  vor:  Außer  regelmäßigen 
Diskussionsabenden,  die  nur  für  Mitglieder  berechnet  sind,  ist  eine  größere 
Reihe  öffentlicher  Vorträge  vorgesehen,  für  die  sich  bereits  eine  Anzahl 
bekannter  TJniversitätsdozenten  und  Gelehrten  in  dankenswerter  Weise  zur 
Verfügung  gestellt  hat.  Drittens  endlich  sollen  kleinere  Arbeitsgemein- 
schaften gebildet  werden,  die  sich  die  Durchdringung  eines  Teilproblems 
zur  Aufgabe  machen. 

Geschäftsstelle  ist  die  „Bücherstube"  in  Konstanz,  an  die  sich  alle 
Interessenten  wenden  wollen. 

Ortsgruppe  Meersburg. 

Ueber  Winter  1921 — 22  las  die  Ortsgruppe  in  wöchentlichen  Sitzungen 
zur  Einführung  in  die  Kantische  Philosophie,  als  Grundlage  für  jede 
weitere  wissenschaftliche  Arbeit,  Kants  Prolegomena.  Den  Abschluß  dieser 
Arbeit  bildete  ein  Zyklus  von  drei  Vorträgen  über  die:  „Grundzüge  der 
Philosophie  Kants",  die  Herr  Prof.  Dr.  A.  Liebert  hier  in  einem  größeren 
Kreise  hielt,  und  die  er  dann  noch  im  engen  Kreise  der  Ortsgruppe  ver- 
tiefte und  erläuterte.  Bis  zu  den  Sommerferien  sollen  noch  besonders  die 
ethischen  und  geschichtsphilosophischen  Schriften  Kants  gelesen  werden,  um 
dann  hauptsächlich  die  neuere  und  neueste  Philosophie  und  ihre  Strömungen 
und  Bestrebungen  kennen  zu  lernen. 


Kantstudien 
Band  VIII— XIV,  sowie  Band  XVI  und  XVII  gesucht! 

Da  ich  vor  Jahresfrist  mit  Rücksicht  auf  meine  fast  völlige  Erblindung 
und  aus  finanziellen  Gründen  meine  ganze  Bibliothek  verkaufen  mußte,  und 
da  ich  infolgedessen  kein  vollständiges  Exemplar  der  ganzen  Serie  der 
Kantstudien  mehr  besitze,  so  muß  ich  jetzt  für  die  von  Herrn  Dr  Ray- 
mund  Schmidt  zu  besorgende  zweite  Auflage  meines  Kantkommentars  und 
für  die  damit  verbundene  Vollendung  desselben  die  mir  jetzt  fehlenden 
Bände  der  Kantstudien  beschaffen.  Es  sind  dies  die  Bände  VIII — XIV 
sowie  XVI  und  XVII.  Ich  bitte  um  Angebote  zu  mäßigem  Preise  ent- 
weder für  alle  gesuchten  Bände  oder  für  einzelne  Bände. 

Halle  a.  S.,  Reichartsr.  15,  Prof.  Dr.  H.  Vaihingen 

den  25.  April  1922. 


Januar  1922. 

An  die  Mitglieder 
der  Kant-Gesellschaft. 


Vorbemerkungen. 

1)  Sofortige  Einsendung  des  Jahresbeitrages  dringend 
erwünscht. 

2)  Möglichst  grosse  Erhöhung  des  Jahresbeitrages  drin- 
gend erbeten. 

3)  Angabe  des  Absenders  in  recht  deutlicher  Hand- 
schrift unerlässlich. 

4)  Zur  Verminderung  der  ständig  wachsenden  Verwal- 
tungsunkosten werden  unsere  Mitglieder  gebeten,  bei  An- 
fragen an  die  Geschäftsführung  Rückporto  beilegen  zu 
wollen. 

1. 

Auch  im  vergangenen  Jahre  1921  —  dem  18.  Jahr  des  Be- 
stehens der  Kant -Gesellschaft  —  hat  diese  sich  sehr  günstig 
weiter  entwickelt.  So  traten  der  Gesellschaft  nicht  weniger  als 
783  Jahresmitglieder  bei.  Ebenso  hat  sich  die  Zahl  der  Dauer- 
und  Förderer  -  Mitglieder  (Durchschnittsbeitrag  Mk.  1000, — )  von 
83  auf  160  erhöht.  Die  Gesamtzahl  der  Mitglieder  belief  sich  am 
Schluß  des  Jahres  1921  auf  über  3000  Mitglieder.  Damit  hat  die 
Gesellschaft  ihren  Platz  als  größte  philosophische  Organisation  der 
Erde  behauptet. 

Die  Gründe  für  diesen  Aufschwung  liegen  wohl  zunächst  in 
der  intensiven,  für  das  geistige  Leben  der  Gegenwart  bezeich- 
nenden Erneuerung  und  Erstarkung  der  philosophischen  Interessen 
überhaupt ;  ferner  in  dem  Umstand,  daß  wir  trotz  aller  aus  den  Zeit- 
verhältnissen sich  ergebenden  Schwierigkeiten  unsere  Bestrebungen 
und  Leistungen  nicht  nur  in  der  gleichen  Höhe  zu  halten,  sondern 
auch  zu  steigern  und  in  unparteilicher  Weise  in  den  Dienst  aller 
ernsthaften  philosophischen  Richtungen  zu  stellen  unausgesetzt 
bedacht  waren ;  endlich  aber  und  nicht  zuletzt  in  der  tatkräftigen 
und  erfolgreichen  Mitarbeit  einer  grossen  Zahl   unserer 


Kant-Gesellschaft.  249 

Mitglieder  und  Freunde.  Diese  überaus  wichtige  und  dankens- 
werte Mitarbeit  bestand  außer  mannigfachen  Anregungen  und  Vor- 
schlägen zur  Erweiterung  unserer  Arbeiten  vor  allem  in  der  Ge- 
winnung zahlreicher  neuer  Mitglieder.  Jene  Persönlichkeiten,  die 
uns  auf  diese  Weise  zur  Seite  standen,  haben  sich  damit  nicht  nur 
um  die  Kant  -  Gesellschaft ,  sondern  auch  um  die  Förderung  des 
philosophischen  Lebens  überhaupt  ein  Verdienst  erworben. 

2. 

a.  Wir  konnten  unseren  Mitgliedern  die  üblichen  vier  Hefte 
der  Kant-Studien  (in  2  Doppelheften)  zustellen  und  zwar  in  dem 
Umfange  von  nicht  weniger  als  34  Druckbogen  (d.  h.  532  Seiten). 

b.  Ferner  erhielten  unsere  Mitglieder  drei  Ergänzungshefte, 
u.  z.  die  Hefte:  Nr.  52:  „Wertbegriff  und  Wertphilosophie"  (85  S.) 
von  Dr.  Konrad  Wiederhold1);  Nr.  53:  „Welche  wirklichen 
Fortschritte  hat  die  Metaphysik  seit  Hegels  und  Herbarts  Zeiten 
in  Deutschland  gemacht?"  (67  S.)  von  Dr.  Oskar  Ewald;  Nr.  54: 
„Kants  Lebensanschauung  in  ihren  Grundzügen"  (92  S.)  von  Prof. 
Dr.  Albert  Groedeckemeyer. 

c.  In  allen  unseren  zahlreichen  Ortsgruppen  fanden  regel- 
mäßige und  außerordentlich  gut  besuchte  Vortragsveranstal- 
tungen  statt.    Vgl.  Berichte  Kant-Studien,  Bd.  XXVI. 

d.  Die  Organisation  von  Ortsgruppen  hat  eine  wesentliche 
Ergänzung  erfahren.  Neue  Ortsgruppen:  Landesgruppe  Holland; 
Ortsgruppe  Utrecht;  Halle,  Hannover,  Meersburg  a.  Bodensee, 
Baden-Baden,  vgl.  Berichte  Kant-Studien,  Band  XXVI. 

Die  weitere  Gründung  von  Ortsgruppen  ist  ins  Auge  gefaßt 
bzw.  bereits  eingeleitet.  Über  alle  diese  Veranstaltungen  wird 
regelmäßig  in  den  Kant-Studien  berichtet.  Es  werden  dort  auch  die 
Namen  und  Adressen  der  Ortsleiter  angegeben,  damit  sich  die  be- 
treffenden Interessenten '  mit  ihnen   in  Verbindung  setzen  können. 

e.  Unseren  Mitgliedern  wurde  ferner  ein  Vortrag  zugestellt: 
Nr.  26 :  „Die  Bedeutung  der  Hegeischen  Philosophie  für  das  philo- 
phische  Denken  der  Gegenwart"  (60  S.)  von  Prof.  D.  Dr.  Hein- 
rich Scholz. 


1)  Zu  unserem  Bedauern  konnten  die  Ergänzungshefte  Nr.  52  und  53  einer 
Anzahl  von  Mitgliedern,  die  ihren  Jahresbeitrag  erst  in  der  2.  Hälfte  des  Jahres 
eingeschickt  haben,  oder  die  der  Kant-Gesellschaft  überhaupt  erst  in  den  letzten 
Monaten  beigetreten  sind,  nicht  mehr  zugestellt  werden,  da  durch  den  unerwartet 
großen  Zuwachs  unseres  Mitgliederbestandes  die  beiden  Hefte  im  Laufe  des  Jahres 
vergriffen  wurden. 


250  Kant-Gesellschaft. 

Der  buchhändlerische  Wert  der  genannten  Zustellungen,  deren  Preise  von  der 
Kant-Gesellschaft  absichtlich  außerordentlich  niedrig  angesetzt  worden  sind,  über- 
steigt beträchtlich  die  Höhe  des  Jahresbeitrages: 

Kantstudien  1921,  Band  XXVI =  12.—  Mk. 

3  Ergänzungshefte  (Nr.  52,  53,  54) =  34.—    „ 

1  Vortrag  (Nr.  26) =    5.—    „ 

51.—  Mk. 
Voraussichtlich  sind  alle  diese  Sendungen  in  den  Besitz  unserer  Mitglieder 
gelangt.   Anderenfalls  bitten  wir  an  den  stellvertretenden  Geschäftsführer  Liebert 
eine  entsprechende  Mitteilung  zu  richten.  — 

,       3. 
Unsere  Mitglieder  genießen  folgende  Vergünstignngen : 

a)  „Kants  Opus  postumum,  dargestellt  und  beur- 
teilt" von  Professor  Dr.  Erich  Adickes,  erschienen  im  Früh- 
jahr 1920  als  Ergänzungsheft  50  (855  S.),  das  im  Buchhandel  etwa 
80  Mark  kostet,  wird  Mitgliedern  der  Kant-Gresellschaft  zu  dem 
ermäßigten  Preis  von  50  Mark  ausschließlich  der  Verpackungs- 
und Portospesen  geliefert.  Die  Versendung  des  Werkes  an  die 
inländischen  Mitglieder  erfolgt  der  Einfachheit  halber  unter  Nach- 
nahme. Für  ausländische  Mitglieder,  die  das  Werk  zu  erhalten 
wünschen,  kommt  wegen  des  ungünstigen  Standes  der  Mark  ein 
Verpackungs-  und  Portoaufschlag  von  50  Mk.  hinzu.  Interessenten 
mögen,  am  einfachsten  bei  Zahlung  des  Jahresbeitrages  durch  eine 
Angabe  auf  dem  Abschnitt  der  Zahlkarte,  einen  diesbezüglichen 
Wunsch  dem  stellv.  Geschäftsführer  Liebert  übermitteln. 

b)  Der  Verlag  von  Felix  Meiner  in  Leipzig  stellt  das  Heft  4 
des  zweiten  Bandes  der  „Annalen  der  Philosophie"  auf 
Wunsch  den  Mitgliedern  der  Kant-Gresellschaft  zu  dem  Vorzugs- 
preise von  5  Mk.  (statt  eines  Ladenpreises  von  8  Mk.)  zu.  Das 
Heft  enthält  eine  Reihe  von  Aufsätzen  über  die  „Philosophie  des 
Als-Ob"  von  HansVaihinger,  so  den  Vortrag  von  Professor 
Julius  Schultz:  „Die  Fiktion  vom  Universum  als 
Maschine  und  die  Korrelation  des  G-eschehens",  eine 
Arbeit  von  Greh.-Rat  Vaihingen  „Ist  die  Philosophie  des 
Als-Ob  Skeptizismus?"  und  die  Bedingungen  zweier  Preis - 
aufgaben: 

1)  „Die  Rolle  der  Fiktionen  in  der  Erkenntnistheorie  von 
Friedrich  Nietzsche"  (Preis  3000  Mk.). 

2)  „Das  Verhältnis  der  Einsteinschen  Relativitätslehre  zur 
Philosophie  der  Gregenwart  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Philo- 
sophie des  Als-Ob".    (Preis  5000  Mk.). 


Kant-Gesellschaft.  251 

Die  Mitglieder  der  Kant  -  Gesellschaft  werden  gebeten,  ihre 
Bestellung  direkt  an  den  Verlag  der  „Annalen",  (Felix 
Meiner,  Leipzig,  Kurzestr.  8)  zu  richten. 

c)  Unsere  Mitglieder  erhalten  vom  Verlag  Paul  Siebeck 
folgende  Vergünstigungen : 

1)  Erich  Adickes,  o.  ö.  Prof.  a.  d.  Universität  Tübingen,  „Unter- 

suchungen zu  Kants  physischer  Geographie"  (1911. 
Gr.  8°.  VIII  und  344  S.)  zu  8  Mk.  statt  20  Mk.  Ladenpreis. 

2)  Derselbe,  „Kants  Ansichten  über  Geschichte  und  Bau 

der  Erde«  (1911.   Gr.  8°.  VIII  und  207  S.)  zu  4  Mk.  statt 

9.20  Ladenpreis. 

Mitglieder,  die  von  diesen  Vergünstigungen  Gebrauch  machen 
wollen,  wollen  sich  mittels  eines  einfachen  Hinweises  auf  ihre 
Mitgliedschaft  direkt  an  den  Verlag  von  Paul  Siebeck 
(J.  C.  B.  Mohr)  in  Tübingen  wenden  (nicht  an  die  Geschäfts- 
führung der  Kant  -  Gesellschaft).  Der  Verlag  wird  dann  sofort 
die  Zusendung  —  der  Einfachheit  halber  unter  Nachnahme  —  vor- 
nehmen. 

4. 

a)  Die  „Kant-Studien"  werden  auch  in  dem  neuen  Jahrgang 
eine  Reihe  wertvoller  Aufsätze  aus  der  Feder  bekannter  Gelehrter 
veröffentlichen.   Das  erste  Doppelheft  befindet  sich  bereits  im  Druck. 

b)  Auch  für  die  Fortsetzung  der  „Ergänzungshefte"  ist  be- 
reits Sorge  getragen.  Folgende  interessante  Arbeiten  werden  unsern 
Mitgliedern  zugestellt  werden: 

1)  Nr.  55:    Dr.   Gerhard  Stammler:    „Berkeleys   Philosophie 

der  Mathematik u  (72  S. ;  bereits  fertiggestellt). 

2)  Nr.  56:  Dr.  Rudolf  Carnap:  „Der  Raum.    Ein  Beitrag  zur 

Wissenschaftslehre a  (87  S.j  bereits  fertiggestellt). 

3)  Nr.  57:  Dr.  Karl  Mannheim:  „Die  Strukturanalyse  der  Er- 

kenntnistheorie u  (80  S. ;  bereits  fertiggestellt). 

c)  Als  neues  Vortragsheft  wird  unsern  Mitgliedern  geliefert: 
Nr.  27:  Dr.  Marck,  Privatdozent  an  der  Universität  Breslau: 
„Hegelianismus  und  Marxismus". 

Um  Mißverständnisse  zu  verhindern  und  entbehrliche  Inanspruchnahmen  nach 
Möglichkeit  auszuschließen,  machen  wir  wiederum  darauf  aufmerksam,  daß  aus- 
schließlich Professor  Dr.  Max  Frischeisen-Köhler  (Halle,  Mozartstr.  24) 
die  Entscheidung  über  die  Annahme  von  Aufsätzen  und  Abhandlungen  für  die 
Kant-Studien  und  für  die  Ergänzungshefte  hat,  während  Prof.  Dr.  Liebert  über 
dasjenige  entscheidet,  was  sich  auf  die  Abteilung:  „Besprechungen  neuer  Bücher 
sowie  allgemeine  wissenschaftliche  Mitteilungen"  bezieht.    Wir  bitten  diejenigen 


252  Kant-Gesellschaft. 

unter  den  Mitgliedern  der  Kant-Gesellschaft,  die  zu  den  Mitarbeitern 
der  Kant-Studien  gehören,  von  dieser  Anordnung  Kenntnis  nehmen  und 
ihre  Anfragen  bezw.  Einsendungen  dementsprechend  einrichten  zu  wollen. 

Bei  Zuschriften  an  Prof.  Dr.  Liebert  sind  die  letztgenannten  redaktionellen 
Angelegenheiten  streng  zu  scheiden  von  den  Angelegenheiten  der  Geschäftsführung. 
Diese  beiden  Gebiete  sind  völlig  getrennt  voneinander,  sie  sind  nur  durch  eine 
zufällige  Personalunion  bis  auf  weiteres  miteinander  verknüpft.  Und  sie  sind  ohne 
jeden  Einfluß  aufeinander. 

Professor  Vaihinger,  der  wie  bisher  der  Schriftleitung  der  Kant-Studien  an- 
gehört, hat  sich  in  dieser  nur  eine  beratende  Stimme  vorbehalten.  An  ihn  sind 
daher  Zusendungen  in  Angelegenheiten  der  Redaktion  in  keinem  Falle  zu  richten. 

d.  In  allen  unseren  Ortsgruppen  werden  im  Jahre  1922  von 
führenden  Gelehrten  Vorträge  über  die  verschiedensten  wissen- 
schaftlichen Themen  gehalten  werden.  In  der  Mehrzahl  der  Fälle 
wird  sich  eine  allgemeine  Ausspräche  anschließen.  Soweit  in  unseren 
Ortsgruppen  Arbeitsgemeinschaften  und  seminaristische  Übungen 
eingerichtet  sind,  wird  diese  Einrichtung  beibehalten  und  sinngemäß 
ausgebaut  werden.  Den  Mitgliedern  geht  seitens  der  Leitung  der 
Ortsgruppen  regelmäßig  eine  Ankündigung  zu.  Mitglieder,  die  in 
der  Nähe  von  Ortsgruppen  wohnen,  wollen,  falls  sie  von  den  be- 
treffenden Veranstaltungen  Kenntnis  zu  erhalten  wünschen,  einen 
diesbezüglichen  Wunsch  an  die  Leitung  der  nächsten  Ortsgruppe 
richten.  Die  Namen  und  Adressen  der  Ortsgruppenleiter  werden 
regelmäßig  in  den  „Kant-Studien"  angegeben. 

e.  Die  allgemeine  Mitgliederversammlung  (Generalver- 
sammlung), die  im  vergangenen  Jahre  durch  die  Ungunst  der 
Verhältnisse  unmöglich  gemacht  wurde,  wird  voraussichtlich  an 
2  Tagen  in  der  Pfingstwoche  dieses  Jahres  abgehalten  werden, 
also  zwischen  dem  6.  und  11.  Juni.  Wir  planen  für  diese  Ver- 
anstaltung wiederum  einen  wesentlichen  Ausbau.  Vortragende: 
Geh.  ßeg.-Rat  Prof.  Dr.  Ernst  Troelt  seh -Berlin:  „Die  Logik 
des  Begriffes  der  historischen  Entwicklung";  Geh.  Reg.-Rat  Prof. 
Dr.  Theodor  Ziehen -Halle:  „Zum  Begriff  und  zur  Methodik 
der  Geschichtsphilosophie".  Mit  anschließender  Aussprache.  Bis 
zum  22.  April  1921  lief  die  Frist  für  die  Ablieferung  der  Arbeiten 
zur  siebenten,  sog.  Jubiläumsaufgabe:  „Der  Einfluß  Kants  und  der 
von  ihm  ausgehenden  deutschen  idealistischen  Philosophie  auf  die 
Männer  der  Reform-  und  Erhebungszeit".  Es  waren  bis  dahin 
drei  Arbeiten  eingelaufen,  wie  in  Kant- Studien  XXVI,  Heft  1 — 2 
S.  270  f.  berichtet  wurde.  Das  Urteil  der  drei  Preisrichter,  der 
Herren  Professoren  Lenz  -  Hamburg,    Meinecke  -  Berlin,    Spranger- 


Kant-Gesellschaft.  253 

Berlin  wird  dann  bei  der  Generalversammking  bekannt  gegeben,  der 
verschlossene  Briefumschlag,  der  der  Arbeit  beiliegt  und  den  Namen 
des  Verfassers  und  Preisträgers  enthält,  durch  den  Vorsitzenden, 
den  Kurator  der  Universität  Halle,  geöffnet  werden.  In  Ver- 
bindung mit  der  Generalversammlung  wird  eine  Zusammenkunft  der 
Anhänger  und  Freunde  der  Philosophie  desAls-Ob  stehen. 
Allen  unseren  Mitgliedern  wird  zur  Zeit  eine  genaue  Einladung 
zugehen.  Wir  hoffen,  im  Laufe  der  Zeit  die  Generalversamm- 
lungen der  Kant-Gesellschaft  zu  einem  allgemeinen  philo- 
sophischen Kongreß  auszubauen,  auf  dem  Anhänger  aller 
philosophischen  Eichtungen  vertreten  sind. 

Unser  Mitgliederstand  hat  sich,  wie  schon  eingangs  erwähnt, 
dem  Vorjahre  gegenüber  in  bedeutendem  Maße  gehoben.  Diesen 
erfreulichen  Aufschwung  verdanken  wir  außer  unseren  literarischen 
Darbietungen  sowie  unseren  Vortrags  Veranstaltungen  wesentlich  der 
Mitarbeit  und  der  Werbetätigkeit  der  Mitglieder 
selbst,  die  so  liebenswürdig  waren,  uns  neue  Mitglieder  zu- 
zuführen bzw.  den  Geschäftsführern  Adressen  von 
Interessenten  anzugeben.  Daher  liegt  auch  dieser  Sendung 
wieder  ein  entsprechendes  Formular  bei,  um  dessen  ausgiebige 
Benutzung  dringend  gebeten  wird.  Wir  erstreben  die  Erweite- 
rung unseres  Mitgliederkreises  in  erster  Linie,  um  das  Maß  unserer 
Leistungen  zu  vergrößern,  manchen,  schon  lange  gehegten  wissen- 
schaftlichen Plan  auch  ausführen  und  die  Kant- Gesellschaft  immer 
mehr  zu  einer  umfassenden  Organisation  und  zu  einem  Sammel- 
punkt des  ganzen  philosophischen  Lebens  ausgestalten  zu  können. 

Für  sämtliche  Jahres-Mitglieder  liegt  die  neue  Mitgliedskarte 
bei,  sowie  eine  Postscheck  -  Zahlkarte.  Diese  Zahlkarte  dient  für 
die  Einzahlung  des  Beitrages  (mindestens  Mk.  20. — )  an  die  Bank; 
Adresse :  Deutsche  Bank,  Depositenkasse  W,  Berlin  W.  15,  Uhland- 
straße  57,  Conto  Liebert  (Kantgesellschaft)  unter  Postscheckkonto 
1023.  Um  recht  baldige  und  möglichst  stark  erhöhte  Zahlung 
der  Beiträge  wird  sehr  gebeten. 

Wegen  der  außerordentlichen  Erhöhung  aller  Kosten  für  die 
Herstellung  und  Versendung  unserer  Veröffentlichungen  und  für  die 
Durchführung  unserer  Bestrebungen  wiederholen  wir  unsere  dring- 
liche Bitte  um  eine  solche  freiwillige  Heraufsetzung  des  Jahres- 
beitrages. Eine  größere  Reihe  von  Mitgliedern  hat  ihren  Jahres- 
beitrag erfreulicherweise  in  recht  erheblichem  Maße  erhöht  (nicht 
wenige  auf  50.—,  100.—  und  200.—  Mk.).    Wir  bitten   auch  die- 


254  Kant-Gesellschaft. 

jenigen  Mitglieder,  die  ihren  Jahresbeitrag  bereits  eingesendet 
haben,  eine  solche  Erhöhung  vorzunehmen.  Denn  nur  bei 
einer  ansehnlichen  Vermehrung  unserer  Einnahmen  sind  wir  an- 
gesichts der  schwierigen  Zeitverhältnisse  imstande,  den  Umfang 
unserer  Bestrebungen  und  Arbeiten  aufrechtzuhalten  und  ihn  wo- 
möglich in  der  erforderlichen  Weise  zu  erweitern. 

Dem  gebotenen  Zweck  der  Vermehrung  unserer  Einnahmen 
dient  auch  die  Schaffung  eines  besonderen  „Förderer -Fonds". 
In  diesen  Fonds  kommen  auch  einmalige  größere  Spenden,  die  zu 
diesem  Zweck  gegeben  werden.  Solche  Mäzene ,  die  zu  diesem 
Fonds  mindestens  1000  Mk.  beitragen,  werden  lebenslängliche  Mit- 
glieder der  Kant  -  Gesellschaft  mit  dauernden  Bezugsrechten  auf 
alle  unsere  Veröffentlichungen.  Wir  gebrauchen  ihn  dringend  zur 
Verwirklichung  wichtiger  wissenschaftlicher  Pläne.  Aus  diesem 
Grunde  bitten  wir  unsere  Freunde  und  die  Gönner  der  Gesellschaft, 
uns  bei  der  weiteren  Erhöhung  des  Fonds  tatkräftig  zu  unter- 
stützen und  wirtschaftlich  günstig  gestellte  und  für  die  Philo- 
sophie sich  interessierende  Persönlichkeiten  aus  ihrem  Bekannten- 
kreise zu  Beiträgen  zu  diesem  Fonds  zu  veranlassen. 


Um  Verzögerungen,  doppelte  Kosten,  mühsame  und  zeitrau- 
bende Nachforschungen  bei  der  Zustellung  unserer  Veröffentlichungen 
oder  Verluste  derselben  zu  verhüten,  bitten  wir  unsere  Mitglieder 
dringlichst,  jede  Adressenänderung,  und  sei  es  die  gering- 
fügigste, auf  dem  Abschnitt  der  Zahlkarte,  der  von  der  Bank  der 
Geschäftsführung  zugestellt  wird,  deutlich  zu  vermerken  und  sie 
auch  zu  anderer  Zeit  sofort  dem  stellvertr.  Geschäftsführer 
Lieb  er t  mitzuteilen. 
Halle  und  Berlin, 

im  Januar  1922.  Dje  Geschäftsführung: 

Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr.  H.  Vaihinger. 

Prof.  Dr.  Arthur  Liebert,  Berlin  W.15,  Fasanenstr.  48. 

KB.  Wir  bitten  unsere  Mitglieder  dringend,  etwaige  Be- 
stellungen auf  Veröffentlichungen  der  Kant  -  Gesellschaf  t  nicht 
an  den  stellv.  Geschäftsführer  zu  richten,  um  dessen  Belastung 
mit  Arbeiten  nicht  noch  mehr  zu  erhöhen,  sondern  direkt  an 
unsere  Verlagsbuchhandlung  Rentner  &  Reichard,  Berlin  W  35, 
Derfflingerstr,   19a,  jedoch  unter  Hinweis  auf  ihre  Mitgliedschaft. 


Kant-Gesellschaft. 


Neuangemeldete  Mitglieder  für  1922. 

Ergänzungsliste:  Januar— Mai  1922. 

A. 

Dr.  phil.  Erik  Ahlman,  Abo,  Finnland,  Puolalankatu  1. 
Landrichter  Dr.  Rudolf  Albert,  Hamburg,  Mittelweg  143. 
Pfarrer  Lic.  Dr.  Karl  An  er,  Berlin-Charlottenburg,  Leibnizstr.  42. 
Dr.  Paul  Apel,  Zürich,  Schweiz,  Zollikerstr.  159. 

B. 

Lehrer  Hans  Bachmayer,  Berlin-Neukölln,  Thüringerstr.  19. 

Seine  Großherzogliche  Hoheit  Prinz  Max  von  Baden,  Schloß  Salem  in  Baden. 

Professor  Dr.  R.  Baldus,  Karlsruhe  i.  Baden,  Eisenlohrstr.  47. 

Frau  Regina  Barkan,  Jena,  Schillerstr.  6. 

stud.  phil.  Hans  Baron,  Berlin  0.  36,  Reichenbergerstr.  63. 

Pfarrer  Johannes  Baron,  Maribor,  S.  H.  S.  Trubarjeva  u.  1. 

J.  Bauer,  Erlangen,  Henkestr.  12. 

Studienrat  Dr.  Berneburg,  Hannover,  Oesterleystr.  18. 

Professor  Dr.  0.  Bethe,  Danzig,  Lastadie  2. 

stud.  theol.  Hugo  Bluth,  Berlin  N.  24,  Oranienburgerstr.  76a. 

Dr.  Traugott  Böhme,   Direktor  der  Deutschen  Schule,  Mexiko,  D.  F.  Colegi* 

Aleman  Calzade  de  la  Piedad  81. 
Privatdozent  Dr.  S.  T.  Bok,  Amsterdam,  Holland,  Veerstraat  29. 
Ingenieur  A.  Bölsche,  Dortmund-Gartenstadt,  Natorpweg  3. 
stud.  phil.  Paul  Bondy,  Erlangen,  Bismarckstr.  17. 
Dr.  Konrad  Bouterwek,  München,  Widenmayerstr.  39. 
C.  Brandt,  Flensburg,  Friesstr.  125. 

cand.  phil.  Klaus  Brandt,  Berlin  NW.,  Lüneburgerstr.  28. 
stud.  jur.  Leo  Bräunlich,  Jena,  Kaiserin  Augustastr.  6. 
Dr.  med.  Brilmayer,  Karlsruhe  i.  Baden,  Bunsenstr.  14. 
Studienrat  Alexander  Broecker,  Neuenkirchen a.  d.  Saar,  Wellesweilerstr.  178. 
Dr.  H.  J.  F.  W,  Brugmans,  Groningen,  Holland,  Schuitendiep  W.  Z.  31. 
stud.  rer.  pol.  Enno  Budde,  Neuenkirchen  a.  d.  Saar,  Wellesweilerstr.  178. 
Dr.  h.  c.  Rose  Burger,  Göttingen,  Nikolausberger  Weg  61. 
Richard  Busse,  Halle  a.  S.,  Sophienstr.  13. 

c. 

Justizobersekretär  H.  Cammann,  Hannover,  Voßstr.  18. 
Architekt  J.  M.  de  Casseres,  Beverwyk,  Holland. 
Dr.  W.  S.  Chang,  Erlangen,  Akademie  a.  d.  Burgberg. 
Schriftsteller  Dr.  Egmont  Colerus,  Wien  XVIII,  Dittesgasse  14. 

D. 

Landgerichtsrat  Dr.  Friedrich  Darmstädter,  Mannheim,  L.  2.  1. 
stud.  phil.  Doris  Dauber,  Kiel,  Reventlowallee  18. 


256  Kant-Gesellschaft. 

stud.  theol.  H.  G.  von  Deelen,  Groningen,  Holland,  Israelsstraat  61. 

Lehrerin  Dora  Deetken,  Gerlachsheim  i.  Baden,  Taubstummenanstalt. 

Oberstleutnant  a.  D.  W.  von  Delius,  Berlin  NW.  23,  Claudiusstr.  3. 

Studienrat  Diehl,  Berlin-Schöneberg,  Erfurterstr.  9. 

Dr.  H.  Dooyeweerd,  s.  Gravenhage,  Holland,  Regentesselaan  92. 

Studienrat  Karl  Dorbritz,  Köslin,  Neukleuzerstr.  2. 

Lehrer  R.  Döring,  Leipzig-Reudnitz,  Nostizstr.  81. 

Gutsbesitzer  Hans  Dorn,  Tennenlohe  bei  Erlangen,  Post  Eitersdorf. 

E. 

Bernhard  Ebel,  Beuthen,  Oberschlesien,  Bahnhofstr.  31. 

Lehramtspraktikant  B.  Eberhard,  Konstanz,  Wilhelmstr.  8. 

N.  A.  Elenbaas,  Rotterdam,  Holland,  Achter  Donk  12. 

Dr.  Engel,  Berlin  W.  8,  Budapesterstr.  21. 

Studienrat  Dr.  Susanne  Engelmann,  Berlin  W.  15,  Fasanenstr.  58. 

cand.  phil.  August  Ernst,  Bonn  a.  Rhein,  Baumschulallee  9. 

F. 

Frau  Else  Faerber,  Berlin-Charlottenburg,  Spandauerberg  10—12. 

Forstmeister  Friedrich  Feist,  Jestetten  i.  Baden. 

Pastor  T.  Ferwerda,  Amsterdam,  Holland,  Vondelstraat  166. 

Professor  Dr.  Paul  Fischer,  Zehlendorf  Wannseebahn,  Riemeisterstr.  1. 

Studienrat  Bernhard  Fließ,  Aschersleben,  Reform-Realgymnasium. 

Arno  Förster,  Düsseldorf,  Gustav  Poensgenstr.  7. 

Studienrat  Hermann  Frings,  Bonn  a.  Rh.,  Niebuhrstr.  44. 

Lektor  H.  Fritze,  Halle  a.  Saale,  Ludwig  Wuchererstr.  42. 

stud.  ehem.  Friedrich  Freundlich,  Lemberg,  Polen,  Technische  Hochschule, 

Sapiehygasse. 
cand.  med.  Friedrich  Fuchs,  Erlangen,  Nürnbergerstr.  4nl\2. 

Q. 

Architekt  Heinrich  Gehring,  Erlangen,  Palmstr.  6. 
Güterinspektor  Geiger,  Oberuhldingen,  Amt  Ueberlingen,  Baden. 
Julius  Giese,  Aachen,  Maria  Theresia- Allee  9. 
Landgerichtsrat  Moritz  Glücksohn,  Elberfeld. 
F.  Goepferich,  Konstanz  i.  Baden,  Obermarkt  32. 

Frl.  Dr.  Margaret  Goldsmith,  Berlin-Halensee,   Eisenzahnstr.  65,    bei  Frau 
stud.  phil.  Gustav  Graske,  Berlin  SW.  47,  Katzbachstr.  18.  [Levy. 

Justizrat  Karl  Grosch,  München,  Herzog  Wilhelmstr.  7  III. 
Professor  Dr.  Arvid  Grotefelt,  o.  ö.  Professor  a.  d.  Universität  Helsinki,  Finn- 
land, Mericatu  1. 
H.  M.  Gruber,  Riedheim,  Post  Zeipheim,  Bayern. 

H. 

Lehrer  Karl  Habel,  Reichenberg  i.  Böhmen,  Brauhofgasse  6. 

E.  Hackenberg,  Düsseldorf,  Pfalzstr.  31. 

stud.  jur.  Otto  Hänert,  Baden-Baden,  Gernsbacherstr.  74. 

Dr.  med.  Otto  Halasz,  Wien  XIX,  Döblingerhauptstr.  24. 

Anton  Hall  er,  Berlin-Friedenau,  Kirchstr.  6. 

stud.  phil.  Niels  Hansen,  Leipzig,  Südstr.  96. 

Forstmeister  Hartnagel,  Todtnau  i.  Baden. 

stud.  phil.  Baron  Wolfv.  Härder,  Erlangen,  Luitpoldstr.  48. 

Dr.  Arnold  Hauser,  Berlin  W.,  Unter  den  Linden  62/63,  Pension  Fritz. 

M.  A.  L.  B.  S.  Z.  Hasan,  Erlangen,  Luitpoldstr.  48. 

Schulrat  Dr.  Hedenus,  Erlangen,  Puchtaplatz  3. 

Studienrat  Prof.  Dr.  Heincke,  Königsberg  i.  Pr.,  Hinter  Tragheim  60. 

Frl.  Studienrat  Dr.  Margarete  Heine,  Königsberg  i.  Pr.,  Claudiusstr.  3. 

Lehrer  Erich  Hennecke,  Wetter,  Ruhr,  Märkischestr.  5. 


Kant-Gesellschaft.  257 

Dr.  Eugen  Herrigel,  Heidelberg,  Philosophenweg  6. 

Studienrat  Dr.  Hans  Herrmann,  Berlin  NO.  55,  Kurischestr.  13. 

Dr.  phil.  et  med.  A.  Herzberg,  Berlin-Tempelhof,  Berlinerstr.  56. 

Professor  Dr.  Sergius  Hessen,  Berlin-Cbarlottenburg,  Seesenheimerstr.  28. 

Dr.  phil.  Wilhelm  Heuer,  Frankfurt  a.  M.,  Roßmarkt  1. 

Alfred  Hinsehe,  Oberfrohna,  Sachsen,  Grenzstr.  1. 

Frl.  Dr.  Hildegard  Hoepner,  Leipzig,  Bleichertstr.  8. 

Lehrer  Leopold  Hoffmann,  Weißwasser,  Oberlausitz,  Bismarckstr. 

J.  H.  van  der  Hoop,  Zenuwarts.  Amsterdam,  Holland,  P.  C.  Hoofstraat  5. 

Forstamtmann  Wilhelm  Hug.  Tiengen,  Amt  Waldshut  i.  Baden. 

J. 

Georg  Jacob,  Mannheim-Feudenheim,  Körnerstr.  53. 

Dr.  Paul  Jacob,  Berlin  NW.,  Flatowstr.  7. 

Hauptlehrerin  Hedwig  Jaeger,  Erlangen,  Puchtaplatz  3. 

Lehrer  Karl  Johannes,  Klötze  i.  d.  Altmark,  Neustaedterstr.  36. 

Dr.  Max  Jordan,  Berlin-Wilmersdorf,  Uhlandstr.  126. 

Mag.  art.  JörgenJörgensen,  Kopenhagen,  Dänemark,  Vesterbrogade  61. 

Frau  Professor  Dr.  Meta  Joerges,  Halle  a.  d.  Saale,  Seebenerstr.  190. 

Studienassessor  Dr.  Stephan  Juergens,  Horde  i.  Westf.,  Penningskamp  6. 

K. 

Fabrikbesitzer  H.  Kaiser,  Beichenberg  i.  Böhmen. 

Charlotte  Kalimann,  Berlin  W.  10,  Regentenstr.  3. 

cand.  phil.  Myrtill  Kaufmann,  Tübingen,  Nauklerstr.  19. 

cand.  phil.  Wilhelm  Keiling,  Hamburg,  Eppendorferstieg  4. 

cand.  theol.  Otto  Kerber,  Frankfurt  a.  M.,  Niersteinerstr.  14. 

Fritz  Kisch,  Breslau  IX,  Sternstr.  38. 

Professor  Dr.  R.  Kita,  Prof.  a.  d.  Univ.  Wasseda,  Japan,  z.  Z.  Heidelberg,  Kron- 

prinzenstr.  17. 
stud.  phil.  W.  Klapp,  München,  Kaiserstr.  56. 
Lehrer  Fritz  Klein,  Königsberg  i.  Pr;,  Hinterroßgarten  16. 
Reg.-Schulrat  Kolrep,  Magdeburg,  Hauswaldtstr.  15. 
Ernst  Körner,  Berlin-Karlshorst,  Prinz  Joachimstr.  4. 
Lehrer  Willi  Körner,  Berlin  SW.  61,  Johanniterstr.  19. 
Prof.  Dr.  V.  A.  Koskenniemi,   Helsingfors  in  Finnland,   Munksnas  Pensionat. 
Frau  Gertrud  Kramer,  Bremen,  Bürgermeister  Smidstr.  1. 
Studienrat  Dr.  Karl  Kreiter,  Kaiserslautern,  Mannheim erstr.  9. 
Josef  Kreitmaier,  Herrenau,  Post  Gundelthausen  i.  Bayern. 
Ingenieur  Alfred  Krischke,  Bielitz,  Polnisch-Schlesien,  Bleichstr.  61. 
W.  Krössin,  Berlin-Niederschönhausen,  Paul  Franckstr.  3. 
Studienassessor  Werner  Kuhrau,  Malzkow  bei  Lupow,  Kreis  Stolp. 
Studienrat  W.  Kurz,  Saarbrücken,  Paul  Karstenstr.  12. 

L. 

Studienrat  Walter  Lag,  Köslin,  Danzigerstr.  86. 

Lehrer  Paul  Lazar,  Wetter  a.  d.  Ruhr,  Kaiserstr.  9c. 

Richard  Lange,  Coblenz,  Casinostr.  2. 

Studienassessor  Erwin  Lebek,  Königstein  i.  Taunus,  Limburgerstr.  23. 

Alfred  Lehmann,  Hagen  i.  Westf.,  Kaiserstr.  1. 

Mag.  phil.  Nils  Lehmuskoski,  Lektor,  Helsingfors,  Finnland,  Puolalankatu  1. 

Bruno  Leiner,  Konstanz,  Bodensee,  Hofapotheke  zum  Malhaus. 

Dr.  Karl  Lelbach,  Universitätsbibliothekar,  Bonn  a.  Rh.,  Hohenzollernstr.  17. 

Franz  Lepinski,  Berlin  SW,  Brandenburgstr.  73. 

Ing.  Karl  Lienhard,  Reichenberg  i.  Böhmen,  Altstädterplatz  24. 

Lehrer  Theodor  Lindhorst,  Berlin  NO.  56,  Chodowieckistr.  29. 

Dr.  Kurt  Lisser,  Hamburg,  Badestr.  47. 

Carl  Felix  Litthauer,  Berlin  W.  30,  Bambergerstr.  22. 

Kantetudien  XXVII.  17 


258  Kant-Gesellschaft. 

Landesobersekretär  W.  Lojek,  Düsseldorf,  Adersstr.  1. 

Redakteur  Ad  albert  Lux,  Reichenberg  i.  Böhmen,  Reichenberger  Zeitung. 

M. 

C.  Garzön  Maceda,  Cordoba,  Argentinien,  Caseros  53. 

Lehrer  Rudolf  Markhoff,  Magdeburg,  Schönebeckerstr.  93. 

Peter   Marstrander,    Universitätsstipendiat,    Kristiania,    Norwegen,    Under- 

haugsveien  13. 
Fritz  May,  Geschäftsführer  der  Freien  Volksbühne,  Halle  a.  S.,  Delitzscherstr.  16. 
Dr.  Herbert  Mendelssohn-Bartholdy,  Erlangen,  Burgbergstr.  45. 
stud.  theol.  ev.  Johannes  Michael,  Breslau  XIII,  Neudorf str.  99. 
Prof.  Dr.  Enrico  de  Michelis,  Turin,  Italien,  Corso  Sommellier  9 bis. 
Prof.  Wakichi  Miyamoto,  Prof.  d.  Phil,  am Niigata Katogakko,  Niigata,  Japan, 

Nichi  Chata  Machi  625. 
Lehrerin  A.  Mosolf,  Hannover,  Humboldstr.  33. 
stud.  phil.  Albert  Müller,  Berlin-Halensee,  Joachim  Friedrich  str.  71. 
Dr.  med.  Werner  Müller,  Dresden,  Voglerstr.  18. 

N. 

Studienrat  Walter  Naumann,  Hoyerswerda,  Oberlausitz,  Reform  Realgymnasium. 
Lehrer  Bernhard  Neke.  Berlin-Siemensstadt,  Nonnendamm- Allee  88a. 
Studienassessor  Friedrich  Neumann,  Berlin-Schöneberg,  Salzburgerstr.  2. 
Dipl.-Ing.  M.  Neumann,  Düsseldorf,  Brehmstr.  16. 
Leutnant  Konrad  Nieschlag,  Hannover,  Heinrichstr.  61. 
Lehrer  Carl  Nolte,  Magdeburg,  Südost,  Am  Krug  2a. 
Lehrer  Wilhelm  Nolte,  Berlin  NO.  18,  Landsberger  Allee  29. 

0. 

Reg.- Assessor  Dr.  Oehler,  Düsseldorf,  Grafenberger  Allee  86. 

P. 

Studienrat  Dr.  Theodor  Pelizaeus,  Hermsdorf  bei  Berlin,  Neptunstr.  14. 

Oberarzt  Privatdozent  Dr.  Eduard  Pflaum  er,  Erlangen,  Ratsbergerstr.  10. 

stud.  theol.  Wilhelm  Petersen,  Rostock,  Patriotischer  Weg  70. 

Privatdozent  Dr.  Eduard  Pflaumer,  Erlangen,  Rahtsbergerstr.  10. 

Rechtsanwalt  Dr.  J.  Picard,  Konstanz,  Bodensee,  Kreuzlingerstr.  68. 

Studienassessor  Dr.  Pies,  Saarbrücken,  Metzerstr.  84. 

Direktorin  Margarete  Poehlmann,  M.  d.  L.,  Berlin  NW.  23,  Bachstr.  3. 

Professor  Dr.  Otto  Pommer,  Wien  XVIII,  Eckpergasse  26. 

Max  Pzibilla  S.  J.,  München,  Veterinärstr.  9. 

Lehrerin  Johanna  Pößel,  Aken-Elbe,  Topf  erb  ergstr.  19. 

Q. 

Studienassessor  Käte  Quasebarth,  Cöln  a.  Rh.,  Titusstr.  4. 
Gertrud  Quilisch,  Freienwalde  a.  Oder,  Wriezenerstr.  3. 

B. 

Dr.  Johannes  Radioff,  Berlin  SW.  68,  Lindenstr.  10. 

Lehrer  Rebbe,  Rünthe,  Kreis  Hamm. 

Studienassessor  K.  Reichel,  Breslau,  Sonnenstr.  26. 

Oberstudienrat  Prof.  Dr.  Hermann  Richter,  Chemnitz,  Kaiserstr. , 54. 

Prof.  Dr.  Otto  Rieseberg,  Pforzheim,  Westliche  28. 

stud.  phil.  J.  Ritter,  Geesthacht,  Heilstätte  bei  Hamburg. 

Wilhelm  Roediger,  Berlin-Friedenau,  Fregestr.  78. 

Joseph  Roersch,  Bonn,  Cölnstr.  54. 

Realscbuloberlehrer  Johannes  Rolle,  Leipzig-Reudnitz,  Oststr.  69. 

Elsa  Rosenberg,  Landau  i.  Pfalz,  üntertorstr.  7. 


Kant-Gesellschaft.  259 

Adolf  Roth,  Wien  VI,  Gumpendorferstr.  118a.     * 
Wilhelm  Rümmelein,  Erlangen,  Nürnbergerstr.  61. 

8. 

Hauptlehrer  Sachs,  Beiningen,  Post  Blaubeuren. 

stud.  jur.  Georg  Samorey,  Berlin  NO.  55,  Immanuelkirchstr.  25. 

Dipl.-Ing.  C.  Siemens,  Nürnberg,  Labenwolfstr.  15. 

Studienrat  Heinrich  Simon,  Sulzbach,  Saar,  Hauptstr.  13. 

Prof.  Dr.  G  i  o  e  1  e  S  o  1  a  r  i ,  R.  Universftä  Turin,  Italien,  Via  Maria  Vittoria  3. 

cand.  phil.  Spohr,  Verden  a.  d.  Aller,  Marienstr.  15. 

Sch. 

cand.  phil.  Hans  Schade,  Halle  a.  S.,  Bismarckstr.  8. 

stud.  phil.  Fritz  Schalk,  Wien  XII,  Schönb runner  Allee  26. 

Dr.  Edgar  Schieldrop,  Berlin  W.  15,  Schaperstr.  16  bei  Braun. 

Lehrerin  Ilse  Schirmer,  Heidelberg,  Goethestr.  35. 

stud.  ehem.  Gerhard  Schmidt,  Stuttgart,  Hegelstr.  21. 

Georg  Schmidt,  Hohen-Neuendorf,  Nordbahn,  Karl  Ludwigstr.  2. 

stud.  theol.  Walter  Schmidt,  Greifswald,  Stralsunderstr.  16a  b.  Brockelmann. 

Professor  Dr.  Franz  Josef  Schneider,  o.  ö.  Prof.  a.  d.  Univ.  Halle  a.  S.,  am 
Kirchtor  23. 

Oberstudiendirektor  Professor  Dr.  Schmidt-Hartlieb,  Saarbrücken,  Ludwigs- 
platz 17. 

Dr.  med.  Berta  Schnock,  Kiel,  Holtenauerstr.  90. 

Fabrikbesitzer  Kurt  Schultheiß,  Spardorf  bei  Erlangen. 

Studienrat  Johannes  Schulz,  Berlin  NO.  55,  Pasteurstr.  44—46. 

Lehrer  Wilhelm  Schulz,  Geesthacht,  Bezirk  Hamburg. 

Ferdinand  Schüring,  Düsseldorf,  Gutenbergstr.  15. 

Inspektor  Schütte,  Hannover-Kleefeld,  Kantstr.  1. 

Studienassessor  Schwarz,  Altona,  Stiftstr.  20. 

St. 

Studienrat  Dr.  Martin  Stecher,  Bautzen  i.  S.,  Paulistr.  7. 

Kaplan  Karl  Stein,  Ludwigshafen  a.  Rh.,  Wredestr.  24. 

Frl.  M.  Stein,  Bad  Berka  bei  Weimar,  Haus  Mirador. 

stud.  phil.  Resi  Stein,  Hamburg,  Tornquiststr.  7. 

Prof.  Dr.  Horst  Stephan,  o.  ö.  Prof.  a.  d.  Univ.  Halle  a.  S.,  Advokatenweg  38. 

stud.  rer.  pol.  Mally  Stern,  Fulda,  Edelzellerweg  62. 

M.  U.  Dr.  Franz  Strauski,  Edler  v.  Greifenfels,  Reichenberg  i.  Böhmen, 

Stephans-Hospital,  Neustädterplatz  6. 
Dr.  med.  F.  Stromeyer,  Hannover,  Königstr.  42. 

T. 

Direktor  Georg  Teply,  Zürich-Seebach,  Schweiz,  Türk.-Macedonische  Tobacco 

Comp. 
Dr.  Hermann  Theiner,  Landgerichtsrat,  Neustadt a.  T.,  Böhmen,  Bez.  Friedland. 
T.  H.  Thung,  Berlin  S.  14,  Prinzenstr.  72. 
Dr.  Desiderius  Tihanyi,  Budapest,  Ungarn,  Lazar  utea  13. 
Mag.  phil.  Allan  Tornudd,  Abö,  Finnland,  Abö  Akademis  Bibliothek. 

U. 

stud.  phil.  Herbert  Ulbricht,  Prag,  Tschechoslowakei,  Karolinental,  Vitkowa. 
Frau  Martha  Unger,  Berlin  W.  50,  Pragerstr.  15. 

v. 

Otto  Vasel,  Berlin-Schmargendorf,  Köseneretr.  11 II. 

Dr.  P.  Vrylandt,  Nymwegen,  Holland,  Verlengde  Heselstraat  119. 


260  Kant-Gesellschaft. 

W. 

Lehrer  Bernhard  Wahl,  Uslar  in  Hannover. 

Lehrer  E.  Wasserthal,  Kerkau  bei  Kallehne,  Kreis  Osterburg,  Altmark. 

stud.  phil.  Erich  Wasmund,  Heidelberg,  Geisbergstr.  17. 

Lehrer  Max  Wehack,  Weißwasser,  Oberlausitz,  Rothenburgerstr. 

Anton  Weichberger,  Wien  V,  Kohlgasse  51. 

Lehrer  Paul  Weis,  Schömberg  i.  Schlesien,  Kreis  Landshut. 

Rechtsanwalt  Dr.  Hans  Weise,  Dresden- A.  19,  Kyffhäuserstr.  26 H. 

Dr.  Robert  Welt  seh,  Charlottenburg,  Kaiserdamm  83. 

Franz  Werner,  Wandsbeck  bei  Hamburg. 

Rechtsanwalt  Dr.  R.  Wertheimer,  Baden-Baden,  Langestr.  55. 

Dr.  med.  Josef  Westermann,  Köln-Lindenburg,  Universitätsklinik. 

Studienassessor  Walter  Wetzel,  Plauen  i.  V.,  Dobenaustr.  15. 

stud.  phil.  Eva  Weydemann,  Halle  a.  S.,  Blumenthalstr.  25. 

Studienassessorin  Frieda  Wilde,  Berlin  W.  50,  Paussauerstr.  3. 

Lehrer  Karl  Witt,  Uslar  in  Hannover. 

Winfried  Wolf,  Berlin- Wilmersdorf,  Brabanterplatz  1. 

z. 

Professor -Dr.  Hugo  Zimmermann,  Karlsruhe  i.  Baden,  Moltkestr.  1. 
Frl.  Franziska  Zimmerspitz,  Krakau,  Polen,  Wrzesinska  5. 
Karl  Zink,  Leipa,  Tschecho-Slovakei,  Herrengasse  222. 

Institute. 

Detmold,  Fürst  Leopold-Hochschule  für  Staats-  und  Wirtschaftswissenschaften. 
Florenz,  Italien,  Biblioteca  Filosofica  Piazza  Del  Duomo  8. 
Iglau,  Tscheschoslowakei,  Deutsche  Volksbücherei. 
Jena,  Theologisches  Seminar  der  Universität. 
Langenberg  i.  Rhld.,  Realgymnasium. 
Meersburg  a.  Bodensee,  Lehrerseminar,  Direktor  Boos. 
Meersburg  a.  Bodensee,  Taubstummenanstalt,  Lehrerbibliothek. 
Wien,  Rechtstheoretisches  Seminar  der  Universität,   Professor  Dr.  Hans  Kelsen, 
Sendungen  an  Antiquariat  Franz  Deuticke,  Wien  I,  Helfersdorferstr.  4. 


</ 


'V 


Ic 


Autotypie  von  J.  G,  Huch  6°  Co.  in  Braunschweig 


Kantstudien  Band  XXVII 


m 


DEM  BEGRÜNDER 
DER  KANT-OESELLSCHAFT  UND  DER  KANT-STUDIEN 

HANS  VAIHINGER 

ZUM  70.  GEBURTSTAG 

AM  25.  SEPTEMBER 
1922 


VORSTAND  UND 
VERWALTUNGSAUSSCHUSS  DER  KANT-OESELLSCHAFT 

SCHRIFTLEITUNO  DER  KANT-STUDIEN 

VERLAG  DER  KANT-STUDIEN 


m 


Mit  der  Vollendung  seines  70.  Lebensjahres  scheidet  der  hoch- 
verdiente Begründer  der  Kant-Studien,  Geheimer  Regierungsrat 
Professor  Dr.  HANS  VAlHINöER  aus  der  Schriftleitung  der 
Kant-Studien  aus. 

Mehr  als  fünfundzwanzig  Jahre  lang  hat  er  die  Kant-Studien, 
zuerst  als  alleiniger  Herausgeber,  sodann,  als  seine  zunehmende 
Augenschwäche  ihn  mehr  und  mehr  zur  Beschränkung  seiner 
Arbeit  zwang,  in  Gemeinschaft  mit  anderen  Fachgenossen,  geleitet. 

Die  unermüdliche,  hingebende,  selbstlose  und  erfolgreiche 
Tätigkeit,  die  Hans  Vaihinger  den  Kant-Studien  widmete,  hat  in 
erster  Linie  dazu  beigetragen,  ihnen  im  Lauf  der  Jahre  eine  an- 
gesehene und  führende  Stellung  in  der  wissenschaftlichen  Welt 
zu  erwerben. 

Indem  die  Unterzeichneten  fortan  allein  die  Leitung  der  Kant- 
Studien  übernehmen,  glauben  sie,  Herrn  Geheimrat  Vaihinger  den 
dauernden  Dank  für  die  Förderung,  die  das  Kant- Studium,  die 
Geschichtsschreibung  der  Philosophie  und  ihre  systematische  Fort- 
bildung in  der  Gegenwart  durch  seine  Schöpfung  erfahren  habeni 
nicht  besser  als  durch  die  Widmung  des  vorliegenden  Festheftes 
aussprechen  zu  können. 

MAX  FRISCHEISEN-KÖHLER        ARTHUR  LIEBERT 


18: 


^ 


Die  Logik  des  historischen  Entwickelungs- 
begriffes. 

Von  Ernst  Troeltsch. 


Neben  der  Logik  des  naturwissenschaftlichen,  seinerseits  wieder 
nach  der  mathematisch-physikalisch-chemischen  und  der  biologischen 
Seite  geteilten,  Erkennens  ist  die  Logik  des  historischen  Erkennens 
immer  ein  eigentümliches  Problem  gewesen.  Der  Kern  aller  histo- 
rischen Logik  ist  nun  aber  der  historische  Entwickelungsbegriff, 
der  mindestens  zunächst  von  den  auf  anderen  Grebieten  gebrauchten 
EntwickelungsbegrifFen  sich  wesentlich  durch  seine  unmittelbare 
Phantasie-Anschaulichkeit  unterscheidet.  Da  weiterhin  an  diesen 
Entwickelungsbegriff  sich  alle  ethischen  und  kulturphilosophischen 
Probleme  anschließen,  so  ist  er  zugleich  ein  Hauptbestandteil  aller 
G-eschichtsphilosophie  und  wird  von  Philosophen  wie  Historikern 
gleicherweise  immer  neu  untersucht  und  überdacht.  Bei  der  lo- 
gischen Natur  des  Begriffs  und  der  engen  Verbindung  mit  den 
allgemeinsten  Kulturproblemen  ist  in  diesem  Überdenken  der  Anteil 
der  Philosophen  naturgemäß  der  stärkere.  Ich  habe  daher  in  einer 
Reihe  von  Untersuchungen  die  Begründung  und  Sinndeutung  des 
Entwickelungsbegriffes,  der  bei  den  Philosophen  zumeist  in  eine  Kon- 
struktion der  Universalgeschichte  ausläuft,  eingehend  untersucht *). 
An  die  Ergebnisse  dieser  Untersuchungen  ist  der  weitere  Gedanken- 
gang anzuschließen  und  zwar  zunächst  an  die  Ergebnisse  derjenigen 
Denker,  die  in  der  historischen  Entwickelung  des  Menschentums 
eine  eigentümliche  und  besondere  Gestaltung  und  Bedeutung  des 
Entwickelungsbegriffes   sehen.    Von  der  empirischen  Historie  aus 


1)  Vgl.  Über  den  Begriff  einer  historischen  Dialektik  HZ  1917;  Die  Dynamik 
in  der  Geschichtsphilosophie  des  Positivismus,  Ergänzungsheft  der  Kantstudien 
1920;  Der  historische  Entwickelungsbegriff  in  der  modernen  Geistes-  u.  Lebens- 
philosophie, HZ  1921—22; 


266  Ernst  Troeltscb, 

ist   das   jedenfalls    die   zunächst   geforderte   Einstellung   auf  das 
Problem. 

Das  Ergebnis  von  alledem  ist  daher  in  erster  Linie  diese  Sonder- 
stellung und  Sonderbedeutung  eines  spezifisch  historischen 
Entwickelungsbegriffes  selbst.  Er  ist  erstlich  in  dem  Wesen 
des  menschlichen  Geistes  begründet,  aus  keimhaften  Ideen  oder  Ten- 
denzen heraus  zu  schaffen  und  deren  innere  Konsequenzen  in  der 
beständigen  Auseinandersetzung  mit  den  geographischen  und  bio- 
logischen Voraussetzungen  und  mit  allerhand  zufälligen  Kreuzungen 
in  einer  logisch  begreiflichen  Folge  auszuwirken.  Er  ist  zweitens 
in  der  Fähigkeit  desselben  Geistes  begründet,  bestimmte  dauernde 
oder  wechselnde,  naturhafte  oder  soziale  oder  historische  Be- 
dingungen aufzunehmen  und  in  der  Anpassung  an  sie  gleichfalls 
Wege  einzuschlagen,  die  durch  die  Auswirkung  einer  darin  er- 
griffenen Richtung  den  Eindruck  eines  logisch  fortschreitenden 
Zusammenhanges  machen.  Von  beiden  sich  meist  irgendwie  ver- 
bindenden Richtungen  aus  entsteht  das  Bild  relativ  logisch  kon- 
struierbarer Entwickelungen  anfänglicher  Tendenzen  zu  größeren 
oder  kleineren  Werdezusammenhängen.  Die  innere  Logik  dieses 
Werdens  besteht  in  der  beständigen  und  immer  neu  einsetzenden, 
instinktiven  oder  bewußten  Einordnung  bedeutender,  massenhafter 
und  entscheidender  Handlungen  unter  das  in  diesen  Tendenzen 
vorschwebende  Ziel  eines  Sinnes  oder  Zweckes  oder  Bedeutungs- 
zusammenhanges,  wobei  die  Handelnden  auch  oft  durch  Konse- 
quenzen ihres  eigenen  Handelns  überrascht  und  die  späteren  Aus- 
wirkungen den  ersten  Instinkten  oft  geradezu  zu  widersprechen 
scheinen  können1).  Hiermit  ist  auch  die  Eigentümlichkeit  der 
historischen  Zeit  gesetzt,  die  durch  Gedächtnis,  Trieb  und  Ziel- 
setzung über  Vergangenheit  und  Zukunft  disponiert  und  im 
schöpferischen  Augenblick  produktiv  wird,  ebenso  der  Begriff  der 

1)  Zu  diesen  in  den  historischen  Tendenzen  sich  äußernden  logischen  Zu- 
sammenhängen s.  vor  allem  Heinrich  Maier,  Die  Psychologie  des  emotionalen 
Denkens,  1908,  der  das  kognitive  und  das  emotionale  Denken  unterscheidet.  Nur 
vom  letzteren  aus  gibt  es  eine  innere  Logik  der  historischen  Tendenzen.  Wer* 
nur  eine  kognitive  Logik  anerkennt  wie  Driesch,  der  kann  historische  Entwickelungs- 
tendenzen  nur  wie  Comte  und  Driesch  in  der  Entwickelung  der  Wissenschaft  an- 
erkennen und  wird  dann  wie  der  letztere  nur  im  Wachstum  des  Wissens,  das 
dann  nebenbei  „lust-  und  wertbetont"  sein  mag,  Wesen  und  Ziel  der  Geschichte 
sehen.  Doch  haben  beide  Denker  diesen  Standpunkt  nicht  festhalten  können  und 
eine  innere  Logik  des  Affektlebens,  der  Moral,  der  Soziabilität,  der  künstlerischen 
Phantasie  daneben  anerkennen  müssen. 


Die  Logik  des  historischen  Entwickelungsbegriffes.  267 

Unbewußten,  der  gerade  das  Überschießen  der  logischen  Konsequenzen 
über  das  im  aktuellen  Bewußtsein  Enthaltenen  bedeutet.  Die  Aus- 
wirkung der  Konsequenzen  bildet  einen  überindividuellen  Zusammen- 
hang und  ist  als  solcher  erst  nach  Vollendung  der  Entwickelung  ver- 
ständlich; aber  die  Individuen  sind  dabei  nicht  das  bloße  Medium 
oder  die  Stützpunkte,  durch  die  hindurch  sich  der  logische  Prozeß 
vollzieht,  sondern,  wie  er  nur  in  den  Handlungen  von  durch  Vererbung 
und  Erziehung  verknüpften  Individuen  sich  vollzieht,  so  schließt 
er  die  verschiedengradige  Aktivität  der  Individuen  und  die  Mög- 
lichkeit bestimmter  Hemmungen  oder  Beschleunigungen,  Abbiegungen 
oder  Umformungen,  Klärungen  oder  Verwirrungen  durch  diese  ein. 
Der  EntwickelungsbegrifF  in  diesem  Sinne  ist  zunächst  auf  die 
Erfassung  einzelner,  abgeschlossener  und  quellenmäßig  hinreichend 
übersehbarer  Kreise  eingeschränkt.  Die  allgemein,  gern  oder  un- 
gern, vollständig  oder  unvollständig  vollzogene  Folge  von  alledem 
ist  die  Anerkennung,  daß  die  Methode  der  Erforschung  der  Ent- 
wickelung oder  der  durch  die  Individuen  hindurchgehenden  allge- 
meinen Zusammenhänge  nicht  die  den  Methoden  der  Naturwissen- 
schaft nachgebildeten  Methoden  der  Experimentalpsychologie,  Sozial- 
psychologie und  Soziologie  sein  können,  die  die  zwischen  einzel- 
nen Elementen  oder  einzelnen  Vorgängen  sich  abspielenden  gesetz- 
lichen Wirkungsverhältnisse  sachen.  Es  muß  eine  Methode  sein, 
die  von  vorneherein  auf  das  Allgemeine  als  auf  innere  Kontinuität, 
als  flüssige  Einheit,  als  Lebensprinzip  oder  als  Bewegungseinheit 
abgestellt  ist.  Hegels  Dialektik  und  ihr  Gegensatz  gegen  die 
Reflexionsphilosophie  ist  der  schärfte  Ausdruck  für  diesen  Sach- 
verhalt, Bergsons  Lehre  von  der  Dauer  und  der  Bewegung  der 
anschaulichste.  Aber  der  erste  reduziert  die  Logik  dieser  Be- 
wegung auf  die  allgemeine,  ins  Metalogische  erhobene  Bewegung 
des* rein  theoretischen  Denkens,  das  angeblich  die  Eealität  und 
dieses  ihr  zugleich  praktisches  Bewegungsgesetz  aus  sich  hervor- 
bringen und  bestimmen  soll.  Dem  widerspricht  jedoch  der  wirk- 
liche Charakter  des  Geschehens.  Hegels  Gedanke  ist  nur  der 
schärfste  und  klarste  Hinweis  auf  das  Problem,  aber  nicht  seine 
Lösung.  Umgekehrt  zeigt  Bergson  nur  die  Flüssigkeit  und  alles 
Einzelne  in  Leben  auflösende  Bewegung  im  Gegensatz  gegen  die 
davon  sich  abscheidende  und  niederschlagende  tote  Materie,  aber 
keine  Möglichkeiten  der  Gliederung  der  Bewegung,  am  aller- 
wenigsten gerade  auf  dem  historischen  Gebiet.  Auch  er  stellt  das 
Problem  in  aller  Schärfe  und  weist  auf  das  Anschauliche  hin,  das 


268  Ernst  Troeltsch, 

darin  liegt  und  das  nur  durch  Anschauung  ergriffen  werden  kann. 
Aber  er  läßt  dann  diese  Anschauung  selber  unbestimmt  und  sieht 
mit  ihrer  Hilfe  nichts,  was  einen  inneren  Zusammenhang  geistigen 
Lebens  begründen  könnte.  Dilthey  meint  mit  seinem  historischen 
Strukturzusammenhang  dasselbe.  Indem  er  sich  aber  darauf  ka- 
priziert, diesen  Strukturzusammenhang  mit  Hilfe  der  Psychologie 
zu  fassen,  kommt  er  in  fortwährenden  Konflikt  mit  jeder  noch 
irgend  Psychologie  darstellenden  Wissenschaft  vom  Psychischen 
oder  er  verwandelt  die  Psychologie  geradezu  in  Geschichte  und 
verliert  mit  der  Psychologie  auch  jede  methodische  Grundlage. 
Lotze  spricht  von  einer  Melodie  der  historischen  Zusammenhänge, 
Simmel  von  Gestalten  und  beide  meinen  damit  wiederum  dasselbe, 
versuchen  aber  gar  nicht  den  Zugang  zu  solcher  Erkenntnis  und 
damit  diese  selbst  aufzuhellen.  Sie  weisen  das  Problem  der  Meta- 
physik zu.  Diejenigen,  welche  wie  Kickert,  Xenopol,  Wundt 
zweierlei  Kausalitäten,  eine  naturwissenschaftliche  und  eine  ent- 
wickelungs wissenschaftliche  oder  auch  psychologische  unterscheiden, 
meinen  gleichfalls  dasselbe,  können  es  aber  von  einer  im  Grunde 
doch  immer  der  Naturwissenschaft  analogen  Kausalität  aus  über- 
haupt nur  durch  starke  Inkonsequenzen  erreichen1).  Es  muß  also 
der  Erfassung  des  Entwickelungsbegriffs  eine  eigene  und  selb- 
ständige Logik  zugrunde  liegen,  die  das  Anschauliche  mit  Ideellem 
durchwirkt.  Die  Neukantianer,  deren  Theorie  von  der  Erzeugung 
des  Gegenstandes  durch  Denken  in  der  Historie  vollends  uner- 
träglich ist,  haben  doch  darin  Recht,  wenn  sie,  wie  im  Natur- 
begriff,  auch  in  diesem  Anschauen  ein  logisch  -  autonomes  Element 
enthalten  wissen  wollen.  Wie  ist  nun  aber  unter  diesen  Umständen 
dieses  anschauliche  Denken  oder  denkende  Anschauen  zu  verstehen  ? 
Ist  hier  überhaupt  mehr  als  ein  bloß  praktisch  -  intuitives,  durch 
Erfahrung  und  Vergleichung  geschultes  und  verfeinertes  Verfahren 
der  Historiker  selbst  festzustellen? 

1)  Wenn  Xenopol,  La  theorie  de  l'historie  2  1904  in  seinem  übrigens  sehr 
lehrreichen  Buche  die  faits  de  repetitions  und  die  faits  de  succession  unterscheidet 
und  den  letzteren  eine  eigentümliche,  durch  das  produktive  Wesen  der  Zeit  be- 
stimmte Kausalität  zuschreibt,  so  ist  diese  Produktivität  der  Zeit  und  die  ihr 
zugeschriebene  besondere  Art  der  produktiven  Individualkausalität  eben  das  Pro- 
blem. Nur  in  diesem  letzteren  Sinne  kann  er  sagen:  La  causalite',  c'est  le  seul 
bien  qui  tire  les  faits  de  leur  isolement  et  en  fait  des  touts  qui  acquierent 
un  charactere  plus  general,  que  les  e'venements,  dont  ils  se  composent,  et 
qui  leur  (Du  touts)  sont  subordorne's".  Das  ist  von  der  Kausalität  zuviel  ver- 
langt. Er  ersetzt  daher  auch  den  Begriff  dieser  Kausalität  sofort  durch  den  der 
series  oder  tendances,  worüber  gleich^noch  einiges  zu  sagen  ist. 


Die  Logik  des  historischen  Entwickelungsbegriffes.  269 

Diese  Frage  erinnert  uns  daran,  daß  doch  nur  ein  Teil  der 
geschilderten  Denker  solche  Stellung  nimmt.  Andere,  vor  allem 
die  aus  der  Schule  Spencers  Stammenden  oder  Angeregten  erklären, 
daß  dieses  Problem  von  einer  isolierten  Betrachtung  der  mensch- 
lichen Geschichte  aus  unlösbar  sei  und  daß  jede  Logik  eines 
Einzelgebietes  nur  aus  einer  allgemeinen,  das  ganze  Universum 
oder  das  All  des  Denkbaren  umfassenden  logischen  Theorie  erst 
hervorgehen  könne 1).  Das  aber  sei  in  unserem  Falle  die  allge- 
meine kosmische  Entwickelungstheorie,  welche  die  Logik  des  für 
das  Universum  geltenden  Entwickelungsgedankens  nur  für  dieses 
besondere  Gebiet  genauer  bestimme.  So  denken  im  Grunde  schon 
Hegel,  Schelling,  E.  v.  Hartmann,  Wundt,  Xenopol  und  Bergson. 
Bei  den  drei  ersten  läuft  der  Gedanke  allerdings  darauf  hinaus, 
die  Entwickelung  des  Universums  unter  die  Formeln  der  mensch- 
lichen Entwickelung  zu  bringen,  bei  den  drei  letzteren  umgekehrt 
darauf,  die  menschliche  Entwicklung  unter  die  der  physikalischen 
und  biologischen  zu  bringen.  Aber  der  Gedanke  einer  kosmi- 
schen Entwickelung  besteht  und  sicherlich  im  allgemeinen  nicht  zu 
Unrecht.  Auch  ist  es  logisch  verlockend,  die  menschliche  Historie 
derart  auf  eine  Logik  der  Weltentwickelung  und  damit  auf  ein 
letztes  und  allgemeinstes  logisches  Prinzip  zu  begründen.  Das 
Verfahren  gilt  heute  vielfach  fast  für  selbstverständlich.  Insbe- 
sondere die  Spencersche  und  neu-Humesche  Schule  faßt  den  Ent- 
wickelungsbegriff  so  allgemein,  daß  er  zu  einer  Weltformel  wird. 
Allein  bei  der  genaueren  Durchführung  solcher  Konzeptionen  führt 
dann  doch  kein  Weg  zu  den  wirklichen  Besonderheiten  der  eigent- 
lichen Geschichte  d.  h.  der  menschlichen.  In  Wahrheit  ist  jener 
allgemeine    Evolutionsbegriff,     soweit    er    sich    von    den 


1)  Charakteristisch  Xenopol,  S.  124 :  Le  tout  c'est  la  continuite'  de  la  matiere 
et  de  l'esprit;  la  partie,  c'est  le  de'veloppement  de  ce  dernier.  Pour  etre  lo- 
g  i  q  u  e ,  il  faut  partir  du  tout,  pour  f ormuler  les  principes  qui  regissent  la  partie, 
et  non  conclure  par  voie  d'analogie,  du  plus  petit  au  plus  grand.  Im 
übrigen  ist  auch  bei  Rickert  die  Tendenz,  die  individualisierende  Logik  durch 
das  ganze  Universum  hindurch  der  allgemein-gesetzlichen  parallel  gehen  zu  lassen, 
in  dem  gleichen  Motiv  begründet  und  kommt  mit  seiner  faktischen  Sonderbedeutung 
des  Individuellen  auf  dem  Boden  der  menschlichen  Geschichte,  die  Rickert  im 
Grunde  der  romantischen  Metaphysik  und  der  Praxis  des  Historikers  entnimmt, 
vielfach  in  Konflikt.  Im  Grunde  ist  schon  Schelling  damit  vorausgegangen,  dem 
Hegel  und  Croce  scharf  widersprechen,  dann  vor  allem  Spencer.  Gegen  solche 
Auflösung  der  Logik  der  menschlichen  Geschichte  in  die  der  kosmischen  s.  außer- 
dem besonders  v.  Gottl,  Die  Grenzen  der  Geschichte  1904. 


270  Ernst  Troeltsch, 

Hegeischen  Gedanken  gelöst  hat,  überhaupt  kein  Entwickelungs-, 
sondern  ein  bloßer  Veränderungsbegriff,  der  die  wirkliche  Ent- 
wicklung, die  Entfaltung  eines  individuellen  Ganzen  aus  eigenen 
in  seiner  Anlage  liegenden  Triebkräften,  mit  den  bloßen  An- 
häufungen oder  Kumulationen  oder  Schein-Entwicklungen  auf  eine 
Stufe  stellt,  der  das  Beharrende  und  die  Tatsache  der  Neuent- 
stehung oder  den  Sprang  und  vor  allem  die  Sonderart  des  Geistes 
und  des  geistigen  Werdens  gegenüber  den  bloßen  Assoziationen 
und  Dissoziationen  nicht  beachtet,  auch  Aufstieg  und  Abstieg, 
Gutes  und  Böses  gemeinsam  der  Entwickelungsformel  unterstellt. 
Das  heißt:  das  in  Wahrheit  Entwicklungslose,  von  rein  kausalen, 
physikalischen  und  chemischen  Veränderungs-  und  Verschmelzungs- 
formeln  Beherrschte  zum  Wesen  der  Entwickelung  und  das,  was 
echte  Entwickelung   ist,    zum  Zufall  machen1).     Derartige  phan- 

1)  0.  Max  Rosenthal,  Tendenzen  der  Entwickelung  und  Gesetze,  Viertel- 
jahrsschrift für  wiss.  Phil,  34,  1910.  Die  Tendenzen  sind  hier  von  vorneherein 
lediglich  die  von  der  Statistik  aufweisbaren  Richtungen  und  sind  praktisch-brauch- 
bare Formeln  für  relativ  dauernde  Reihen  von  Tatbeständen,  die  an  sich  aus  den 
kausalen  Wechselwirkungen  fest  begrenzbarer  kleinster  Elemente  resultieren,  aber 
wegen  der  Kompliziertheit  bis  in  diese  letzten  Gründe  nicht  verfolgt  werden  können.  — 
Aus  der  Athmosphäre  von  Ernst  Mach  insbesondere  stammt  L.  M.  Hartmann,  Über 
historische  Entwickelung.  Sechs  Vorträge  zur  Einleitung  in  eine  historische  Sozio- 
logie, 1905.  Hier  wird  von  vorneherein  jedes  „metaphysische  und  psychologische  Vor- 
urteil" ausgeschaltet,  also  Gott,  das  Ich,  die  Freiheit,  die  Initiative  geistiger  Kräfte 
und  jeder  Zielgedanke,  aus  dem  immer  nur  animistische  Allgemeinbegriffe  als  über- 
individuelle Zusammenhänge  und  Vordatierungen  der  Bewußtseinsanpassung  an  ge- 
gebene Verhältnisse  schon  in  das  Geschehen  selbst  hervorgehen.  Alles  erklärt  sich 
aus  Kampf  ums  Dasein,  Selektion  und  Anpassung  der  körperlichen  Vorgänge  (samt 
der  ihnen  zugeordneten  psychischen  Korrelate)  aneinander.  Entwickelung  ist  der 
tatsächliche  Verlauf  der  Veränderungen  und  die  Richtung,  welche  dieser  faktisch 
nimmt.  Daß  sie  tatsächlich  in  der  Richtung  auf  „fortschreitende  Ver- 
gesellschaftung, Produktivität  und  Differenzierung"  verläuft,  ist 
eben  darum  nicht  mehr  als  reine  Tatsache.  Verliefe  sie  umgekehrt  zum  Chaos 
oder  zur  Zusammenhangslosigkeit,  so  wäre  eben  das  die  „Entwickelung".  Nur 
deshalb  könne  es  heißen:  „In  dieser  Dreieinigkeit  muß  der  gesamte  Inhalt  der 
historischen  Entwickelung  verlaufen,  während  ihre  Form  durch  direkte  Anpassung, 
und  Auslese  bedingt  ist"  S.  62.  Durch  diese  Tatsache  oder  diesen  Zufall  erweist 
sich  die  Marxistische  Lehre  als  wesentlich  berechtigt.  Ideologie,  Ziele,  Zwecke, 
Wünsche,  auch  die  Moral  sind  Anpassungsformen  des  Bewußtseins  an  die  bereits 
vollzogene  Entwickelung  und  haben  auf  diese  keine  Einwirkung.  „Die  Geschichts- 
wissenschaft schleppt  zu  ihrem  Nachteil  das  menschliche  Bewußtsein  als  schwere 
Bürde  mit  sich"  S.  7.  „Es  ist  selbstverständlich,  daß  die  Anhänger  dieser  Auf- 
fassung, die  nicht  durchaus  passend  als  'materialistische  Geschichtsauffassung' 
bezeichnet  wird,   von  den  gegnerischen  Argumenten,   die  aus  der  Psychologie  ge- 


Die  Logik  des  historischen  Entwickelungsbegriffes.  271 

tastische  und  sinnzerstörende  Auswirkungen  des  Entwickelungs- 
begriffes sind  unmöglich ;  will  man,  einem  allgemeinen  Eindruck  in 
der  Welt  folgend  diese  Kumulationen  trotzdem  zur  Entwickelung 
machen,  so  ist  das  nicht  durch  die  diese  Gebiete  beherrschende 
Logik,  sondern  nur  durch  metaphysische  und  religiöse  Deutungen 
möglich,  wie  das  E.  v.  Hartmann  und  Lotze,  jeder  auf  seine  Weise, 
getan  haben.  Soll  daher  schon  der  historische  Entwickelungs- 
begriff  einem  allgemeineren  logischen  Prinzip  unterstellt  werden,  so 
bleibt  nur  die  Biologie  übrig.  Allein  auch  hier  ist  es  wieder  nur 
ein  bestimmter  Punkt  innerhalb  ihrer,  an  dem  allein  der  Entwicke- 
lungsbegriff  ernstlich  in  Frage  kommt,  die  Ontogenie,  da  es  bei  ihr 
allein  sich  um  gesetzlich  darstellbare,  die  individuelle  Einheit  des 
Ganzen  hervorbringende  und  auswirkende  Veränderungen  handelt. 
Der  Streit  um  die  rein  mechanistische  oder  vitalistisch-entelechische 


wonnen  werden,  nicht  getroffen  werden  können,  wenn  ...  in  sehr  vielen  Einzel- 
fällen nachgewiesen  wird,  daß  bestimmte  menschliche  Handlungen,  welche  wirt- 
schaftliche Folgen  hatten,  ganz  anders  als  durch  den  wirtschaftlichen  Zweck,  sei 
es  durch  religiösen  Fanatismus  oder  durch  nationale  Begeisterung  oder  durch 
ethische  Ideen  motiviert  sind.  .  Alle  diese  Einwendungen  beziehen  sich  auf 
ein  Gebiet,  das  für  den  Forscher  zunächst  gar  nicht  in  Betracht 
kommt,  solange  er  sich  eben  mit  den  menschlichen  Handlungen  und  ihrem  Zu- 
sammenhang und  nicht  mit  der  Motivation  d.  h.  mit  der  Frage  beschäf- 
tigt, wie  sich  die  menschlichen  Handlungen  im  Bewußtsein 
widerspiegeln  .  .  .  Die  Motivierung  dieser  Handlungen  ist  irrelevant"  S.  30 f. 
Dieser  „Empirismus"  scheint  mir  das  volle  Gegenteil  aller  Empirie  zu  sein.  — 
Gleichfalls  aus  Wien  stammt  das  sehr  besonnene  und  kritische  Buch  des  Bota- 
nikers J.  v.  Wiesner,  Erschaffung,  Entstehung,  Entwickelung,  1916,  dessen  Ergeb- 
nisse oben  im  Text  verwertet  sind.  Für  die  Sonderart  der  Geschichte  hat  freilich 
auch  er  wenig  Sinn.  Er  weist  sie  von  vorneherein  der  Phylogenie  zu  und  dis- 
kutiert sie  nur  in  der  Form,  die  Lamprecht  ihr  gegeben  hat,  während  er  von 
Hegel  und  Schelling  meint,  „diese  Anfänge  einer  Geschichtsentwickelung  hätten 
in  ihrer  zu  allgemeinen  und  zu  spekulativen,  der  tatsächlichen  Begründung  noch 
entbehrenden  Fassung  keine  tieferen  Wurzeln  geschlagen"  195.  Für  die  Ethik  ver- 
weist er  als  etwas  ganz  Außerhistorisches  und  Außernaturwissenschaftliches  auf 
Kant.  Jedenfalls  hat  W.  das  Verdienst,  den  Entwickelungsbegriff  genau  bestimmt 
zu  haben,  indem  er  diesen  als  auf  eine  individuelle  Totalität,  auf  ein  nachweisbares 
Gesetz  der  Folge  und  eine  innere  Zielstrebigkeit  bezogen  betrachtet  und  davon 
alles  übrige  mit  Driesch  als  bloße  Veränderung,  Kumulation  oder  Pseudo- Ent- 
wickelung unterscheidet,  indem  er  ihn  ferner  von  der  sprungweisen  Entstehung 
als  einer  innerhalb  ihrer  und  auch  sonst  stattfindenden  wichtigen  Erscheinung  unter- 
scheidet und  Entwickelung  mit  Wiederauflösung  unter  einen  gemeinsamen  Begriff 
zu  fassen  warnt.  Im  übrigen  ist  sie  selber  ihm  ein  bis  heut  unauflösliches  Ge- 
heimnis, dem  man  nur  durch  Deskription  nahe  kommen  könne  und  das  er  durch 
Metaphysik  nicht  wie  Driesch  auflösen  möchte. 


272  Ernst  Troeltsch, 

oder  psychovitalistische  Auffassung  der  Ontogenie  kann  hier  auf 
sich  berohen.  Die  Hauptsache  ist,  daß  die  historischen  Entwicke- 
lungen  nicht  der  Ontogenie,  sondern  der  Phylogenie  analog  sind. 
Für  diese  aber,  also  für  die  Herausbildung  der  verschiedenen  Arten 
aus  ontogenetischen  Anfängen,  ist  ein  Gesetz  bis  heute  nicht  ge- 
funden, das  wirklich  eine  Entwickelung  bedeutete.  Die  von  der 
Biologie  ausgehenden  Logiker  pflegen  darum  die  menschliche  Ge- 
schichte als  Teil  und  Fortsetzung  der  Phylogenie  zu  betrachten 
und  dann  hier  begreiflicher  Weise  noch  weniger  ein  solches  Gesetz 
zu  finden.  So  glauben  Driesch  und  Wiesner  die  Geschichte  wesent- 
lich als  bloße  Kumulation  und  Scheinentwickelung,  d.  h.  als  Häu- 
fung von  Veränderungen  betrachten  zu  dürfen,  wobei  Driesch  nur 
offen  läßt,  daß  spätere  Forschungen  vielleicht  —  etwa  im  Unter- 
bewußten —  ein  solches  Gesetz  finden  könnten,  das  den  Gesetz- 
mäßigkeiten der  Ontogenie  vergleichbar  wäre.  Im  übrigen  ver- 
weist er  das  Problem  aus  der  Logik  hinaus  in  die  deren  Gesetze 
und  Inhalte  ausdeutende  Metaphysik,  wo  die  in  der  Erfahrung  und 
ihrer  Logik  sehr  fragliche  Bedeutung  der  historischen  Entwickelung 
in  den  Gedanken  einer  lebensjenseitigen  inneren  Bewegung  des 
göttlichen  Willens  zum  Wissen  und  zur  Wissenseinheit,  sozusagen 
in  die  Wissens-Biologie  des  absoluten  Ich,  aufgenommen  wird.  Allein 
all  das  ist  dann  doch  —  logisch  genommen  —  eine  Unterwerfung 
der  Historie  unter  die  ihr  ganz  fremdartige  Biologie  und  besonders 
unter  das  für  sie  in  der  Tat  ganz  unmögliche  Ideal  der  Auf- 
hellung der  Ontogenie,  wie  sie  auf  den  Arbeiten  von  K.  E.  v.  Bär 
bis  heute  beruht.  Man  kann  von  vorneherein  sagen,  daß  auf  diesem 
Wege  allerdings  an  die  Geschichte  nicht  heranzukommen  ist.  Das 
Eigentümliche  der  Historie  besteht  in  dem  Auftauchen  der  Geist- 
und  Wertwelt  und  ihren  individuellen,  reiche  Konsequenzen  aus 
den  Ansätzen  entfaltenden  Auswirkungen,  überhaupt  in  dem  logisch- 
teleologischen  Charakter  der  die  Einzelheiten  verbindenden  und  durch- 
waltenden Sinn -Zusammenhänge  oder  Tendenzen.  Darauf  bezieht 
sich  in  ihr  der  Entwickelungsbegriff.  Daher  schließt  er  hier  auch 
Selbständigkeit  und  Unberechenbarkeit  der  in  diesen  Zusammen- 
hängen handelnden  Individuen  und  den  Kampf  wie  die  engste  Ver- 
wachsung mit  der  bloß  naturhaften  Unterlage  des  geistigen  Lebens 
ein.  Das  alles  ist  mit  der  Biologie  ganz  unvergleichbar  und  schließt 
ganz  andere  logische  Prinzipien  ein 1).    Gerade  dieser  Umstand  hatte 

1)  Siehe  Hans  Driesch    „Logische  Studien  über  Entwickelung",  Abhh.   der 
Heidelberger  Akad.,   1918   und   das  Problem  der  Geschichte,  Annalen  der  Natur- 


Die  Logik  des  historischen  Entwickelungsbegriffes.  273 

die  älteren,  vom  modernen  Naturalismus  weniger  gebundenen 
Denker  dazu  geführt,   vielmehr  umgekehrt,   diese,   sei  es  logische, 

philos.  VII :  Zusammenfassungen  und  Auszüge  aus  den  großen  Werken  Ordnungs- 
lehre 1912,  Wirklichkeitslehre  1917  und  Philosophie  des  Organischen  1909,  2.  Aufl. 
1921.  Auch  er  geht  für  die  Geschichte  von  der  Biologie  und  innerhalb  dieser 
von  dem  einzig  klaren  Entwickelungsfall,  der  Ontogenie,  aus.  Sie  bildet  den 
vierten  Fall  der  logisch  möglichen  Entwickelungsbegriffe,  von  denen  die  drei  ersten 
mechanische  Veränderungen  einer  zählbaren  Mannigfaltigkeit  bei  Erhaltung  des 
Ganzen,  also  Kumulationen,  sind,  während  der  vierte  ein  unräumliches  Agens, 
die  Entelechie,  voraussetzt.  Ob  es  in  der  Phylogenie  „eine"  Entwickelung  gibt, 
sei  bis  heute  noch  nicht  zu  sagen,  aber  möglich.  Noch  weniger  sei  das  von  der 
Historie  bis  jetzt  zu  sagen,  wenn  auch  nicht  unmöglich.  Es  könnte  einmal  „eine" 
Entwickelung  im  Unterbewußten  noch  nachgewiesen  werden.  Neuerdings  ist  er 
auf  dem  Gebiete  der  Wissenschaft  und  Moral  eine  solche  anzunehmen  geneigt; 
das  setzt  dann  eine  suprapersonale,  die  persönlichen  einbefassende  Entelechie 
oder  ein  Psychoid  der  Menschheit  voraus.  Von  der  Historie  nimmt  er  nur  Buckle, 
Taine  und  Lamprecht  ernst,  meint  aber,  daß  auch  sie  nur  Kumulation  in  der  Historie 
nachgewiesen  hätten,  die  ein  Bestandteil  der  Phylogenie  sei.  So  kann  man  natür- 
lich niemals  zum  Verständnis  des  in  der  Historie  befolgten  EntwickelungsbegrifFs 
kommen,  welches  immer  die  Verdienste  des  scharfsinnigen  Denkers  um  der  Bio- 
logie sein  mögen.  „Es  gibt  wirklich  nichts  Evolutionistisches,  das  sich  auf  die 
Generationen  der  Menschheit  als  solche  bezöge.  Wenigstens  ist  bis  jetzt  nichts 
nachgewiesen."  Evolutionistisch  erklärbar  seien  auch  in  der  Geschichte  nur  die 
Individuen,  die  geschichtlichen  Bildungen  aber  nur  als  Kumulationen  von  derart 
erklärbaren  Individuen.  „Staats-  und  Rechtsphilosophie  im  Sinne  Hegels  ist  daher 
nur  Philosophie  zweiter  Klasse.  Sie  verhält  sich  zur  Philosophie  der  (psycholo- 
gisch erklärbaren)  Handlung  wie  Geologie  zur  Physik  und  Chemie"  Annalen  VII 
212  f.  Das  ist  trotz  aller  ontogenetischen  Entelechien  und  Vitalismen  in  allem 
übrigen  genau  die  Stellung  des  Positivismus.  Dem  entsprechend  schätzt  Driesch 
den  philosophischen  Wert  der  Geschichte  als  sehr  gering  ein.  Historische  Bildung 
könne  praktisch  nützlich  sein,  retardire  aber  meistens  den  Fortschritt.  „Aller 
wirkliche  Fortschritt  ist  nicht-historisch"  222.  „Man  kann  aus  der  Geschichte  die 
größten  Persönlichkeiten  streichen,  die  Weltanschauung,  die  Philosophie  wird  da- 
durch nicht  berührt.  Die  stammt  aus  der  Naturwissenschaft.  Von  einer  philo- 
sophischen Gleichwertigkeit  der  Geschichte  und  der  Naturwissenschaften  ist  gar 
keine  Rede"  223.  Den  Schluß  bildet  ein  scharfer  Angriff  auf  die  humanistisch- 
historische Bildung,  die  mit  dem  „Ewigen"  gar  nichts  zu  tun  habe,  aber  auch 
nichts  mit  dem  Praktischen.  Rickert  wird  gelobt,  weil  er  wenigstens  nichts  von 
„einer"  Entwickelung  in  der  Geschichte  wissen  will,  im  übrigen  wird  sein  Buch 
als  bedenkliche  Galvanisierung  der  überlebten  historischen  Bildung  abgelehnt. 
Die  späteren  Arbeiten  zeigen  allerdings  eine  etwas  achtungs-  und  hoffnungsvollere 
Betrachtung  der  Geschichte  und  preisen  Jak.  Burckhardts  Weltgesch.  Betr.  als  be- 
deutendstes geschichtstheoretisches  Buch,  Wirkl.  332  f. ;  der  Grund  ist  Burckhardts 
vermeintliche  Abneigung  gegen  Staat  und  Macht.  Damit  tritt  die  Entwickelung  des 
Wissens  als  irdische  Spur  einer  in  der  Menschengeschichte  vielleicht  wirkenden 
suprapersonalen  Entwickelungseinheit  stärker  hervor  und  nimmt  die  Geschichte 


274  Ernst  Troeltsch, 

sei  es  teleologische,  Bewegtheit  des  Geeistes  nun  ihrerseits  zu  ver- 
allgemeinern und  zur  Weltformel  zu  machen  oder  den  so  schwie- 
rigen Begriff  überhaupt  nicht  der  Logik,  sondern  den  kunstvollen 
Verknüpfungen  der  Metaphysik  zuzuweisen,  die  ihn  dann  aus  Ver- 
bindungen von  Seinserkenntnissen,  logischen  Regeln  und  ethischen 
Postulaten  herstellt.  Allein,  das  erste  scheitert  an  den  Natur- 
wissenschaften und  das  zweite  stimmt  mit  der  Einfachheit  des 
praktischen  historischen  Verfahrens  nicht  überein,  wie  das  ja  auch 
von  der  Metaphysik  Drieschs  gilt.  Der  letztere  ignoriert  die 
empirisch  -  historische  Forschung  vollständig  und  hält  sich  nur  an 
Taine  und  Buckle,  Lamprecht  und  Breysig,  indem  er  alle  sonstige 
Historie  für  Erbauungsbücher  erklärt.  Annähernde  Entwickelung 
gibt  es  bei  ihm  nur  auf  dem  Gebiete  des  Wissens  und  allenfalls 
der  Moral,  von  wo  aus  er  dann  gleich  in  seine  Metaphysik  des 
jenseitigen  „Grottes  oder  Wissensstaates"  überspringt.  Allein  für 
wirkliche  Empirie  liegen  die  Dinge  ganz  anders.  Die  in  der  Hi- 
storie den  Entwickelungseinheiten  zugrunde  liegenden  Tendenzen 
sind  an  sich  völlig  anschaulich  und  klar  und  bedürfen  und  ertragen 
keine  Erläuterung  aus  ganz  allgemeinen,  die  entferntesten  Dinge 
verknüpfenden  Spekulationen.  Sie  geben  umgekehrt  allen  meta- 
physischen Annahmen  erst  ihrerseits  die  Unterlage  und  das  Material, 
wenn  man  überhaupt  zu  jenen  fortschreiten  will.  Die  Frage  ist 
wirklich  ganz  einfach  lediglich  die,  wie  diese  anschaulich,  aus  dem 
Leben  aufgenommenen  Bilder  zugleich  Erkenntnis  realer  Zusammen- 
hänge sein  können  und  nicht  bloß  subjektiv  und  praktisch  be- 
dingte Verkürzungen  und  Zusammenschauungen.  Das  ist  aber  eine 
Frage,  die  sich  lediglich  von  dem  Boden  der  empirisch-historischen, 
auf  das  Menschliche  bezogenen  Forschung  aus  lösen  läßt. 

Damit  soll  die  Möglichkeit,  die  historische  Entwickelung  in 
eine  kosmische  einzureihen,  an  sich  gar  nicht  bestritten  werden. 
Aber  aus  dieser  Einreihbarkeit  ergibt  sich  nichts  für  die  Logik 
des  historischen  Entwickelungsbegriffes  selbst.    Die  Idee  des  kos- 

auf  in  die  Entwickelung  des  Geistes  zu  einer  Art  Nirvana  oder  Gottesreich,  das 
grundsätzlich  nicht  von  dieser  Welt  ist.  Da  ergeben  sich  dann  Anklänge  an 
Schopenhauer,  S.  Wirkl.  334, 173  ff.,  106.  Vom  Staate  heißt  es :  „Einzelstaat  ist 
also  ein  durch  den  Inhalt  gewisser  Bücher  geregeltes  seelisches  Verhalten  einer 
Zahl  von  Einzelmenschen;  sie  haben  den  Inhalt  dieser  auf  sie  zurückwirkenden 
Bücher  so  gewollt,  wie  er  ist"  204 !  Man  wird  dem  scharfsinnigen  und  originellen 
Denker  nicht  zu  nahe  treten,  wenn  man  sagt,  daß  ihm  die  empirisch-historische 
Forschung  ebenso  unbekannt  als  widerwärtig  ist.  Nicht  umsonst  erklärt  er  seinen 
Anschluß  an  einen  Doktrinär  wie  F.  W.  Förster. 


Die  Logik  des  historischen  Entwickehmgsbegriffes.  275 

mischen  Fortschrittes  mag  den  Weg  von  der  Emporhebung  des 
organischen  Lebens  aus  dem  anorganischen,  des  menschlichen  aus 
dem  biologischen  und  des  Geistig-Übermenschlichen  oder  Ewigen  aus 
dem  Bloß-Menschlichen  zeigen  und  entspricht  damit  sicherlich  einem 
gewissen  Eindruck  der  Dinge.  Aber  für  die  Erkenntnis  der  Historie 
selbst  nützt  das  gar  nichts.  In  ihr  erscheint  der  Fortschritt  immer 
nur  als  Glaube  und  Pflicht  des  Handelnden  zu  höherer  Erhebung,  wo- 
durch eben  diese  Erhebung  selbst  zu  Stande  kommt.  Aber  über  den 
empirischen  Verlauf  und  den  Zusammenhang,  vor  allem  auch  über 
die  jeweils  konkret  zu  schaffenden,  aus  der  bisherigen  Entwickelung 
zu  schöpfenden  gegenwärtigen  Kultursynthesen  selbst  ist  damit  gar 
nichts  gesagt1).  Ebensowenig  hilft  der  Gedanke  der  bloßen  kos- 
mischen Kontinuierlichkeit  und  der  Sammlung  kleinster  Wirkungen 
in  unendlichen  Zeiträumen.  Einerlei,  wie  weit  eine  solche  Konti- 
nuierlichkeit auch  schon  für  die  außermenschliche  Wirklichkeit 
lückenlose  Geltung  hat,  in  der  Historie' ist  die  Frage,  in  welchen 
Zusammenhängen  diese  Kontinuierlichkeit  konkret  sich  äußert  und 
ist  ihre  Erklärung  aus  bloßen  kausalen  Summierungen  kleinster 
Veränderungen  in  unendlichen  Zeiträumen  einfach  ausgeschlossen. 
Die  Frage  ist  vielmehr  bei  ihr,  worauf  die  in  ihren  Tendenzen 
und  Ideen  erkennbare,  in  logischen  Konstruktionen  darstellbare  Kon- 
tinuierlichkeit konkret  beruhe  und  wie  man  dieser  Kontinuierlich- 
keit habhaft  werde,  da  sie  aus  bloßen  Summierungen  und  bloßen 
Kausalmethoden  nicht  zu  gewinnen  ist2).  Ebenso  wenig  hilft  zu 
diesem  Ziel  der  Gedanke  der  Reihenbildung,  sei  es  daß  man  mit 
ihm  einfach  die  in  den  Tatsachen  liegenden  Reihen  bloß  abzubilden 
glaubt,  sei  es  daß  man  sie  teleologisch  deutet,  als  ob  sie  einen  Sinn 


1)  S.  Hermann  Siebeck,  Zur  Religionsphilosophie,  1907.  Der  Titel  ist  un- 
passend. Es  sind  drei  sehr  feine  Betrachtungen  über  Fortschritt  und  Entwickelung, 
denen  ich  zustimme,  die  aber  die  Einordnung  der  konkreten  Historie  in  diese 
Gedanken  noch  ganz  frei  lassen.     Das  aber  ist  erst  das  eigentliche  Problem. 

2)  S.  F.  Retzal,  Die  Zeitforderung  in  den  Entwickelungswissenschaften,  An- 
nalen  der  Naturphilosophie  I  1902.  Er  verweist  vor  allem  auf  die  Geologen 
Hutton  und  Lyell  und  auf  Darwin.  Er  sieht  aber  selbst,  daß  darin  kein  positives 
organisierendes  Prinzip  enthalten  ist,  wie  es  das  Leben  und  die  Geschichte  ver- 
langen, fügt  daher  den  „äußeren  Variationen"  die  „inneren"  hinzu,  zu  denen  dann 
die  „Mutationen"  gehören.  Er  unterscheidet  geschichtliche  Bewegung 
durch  äußere  Variationen  und  geschichtliche  Entwickelung  durch  innere  und 
verlangt  für  die  erstere  „kausale  Gesetze",  für  die  zweite  bloß  „empirische". 
Dann  hätte  nach  R.  der  ganze  Streit  um  die  Gesetze  in  der  Geschichte  keinen 
Sinn  mehr,  S.  340  f. 


276  Ernst  Troeltsch, 

oder  Zweck  verwirklichten,  sei  es  daß  man  gar  in  ihnen  die  „Evo- 
lution" wie  eine  Kraft  d.  h.  im  Grunde  wie  eine  Gottheit  sich  aus- 
wirkend denkt.  Es  mag  ja  nahe  liegend  scheinen,  neben  den  all- 
gemeinen die  Zeit  grundsätzlich  aufhebenden  Gesetzen  der  Physik 
und  Chemie  das  Universum  als  Sukzession  qualitativer  Zuständlich- 
keiten  zu  denken  und  diese  Sukzession  in  Reihen  darzustellen.  Aber 
ganz  abgesehen  von  den  sich  daran  anschließenden,  soeben  ange- 
deuteten Fragen,  sind  doch  die  Reihen  des  Alters  und  der  Größe 
der  Gesteine  oder  Erdschichten  oder  der  biologischen  Arten  oder 
der  Lebensalter  der  Individuen  etwas  völlig  anderes  als  die  Reihe, 
die  sich  etwa  in  Entstehung  und  Ausbildung  des  Kapitalismus  mit 
allen  möglichen  Verfilzungen,  Knickungen  und  Neu-Ansätzen  dar- 
stellt. Oder  vielmehr  das  letztere  ist  überhaupt  keine  Reihe,  son- 
dern eben  eine  menschlich-historische  Entwickelung,  die  nur  nach 
den  oben  entwickelten  Grundsätzen  sich  darstellen  läßt.  Eine  ein- 
fache Abbildung  und  nachträgliche  Deutung  der  empirisch  vorfind- 
baren, sukzessiven  Tatsächlichkeiten  liegt  hier  eben  gerade  nicht 
vor  und  eben  deshalb  ist  es  die  Frage,  wie  ein  solches  Ent- 
wickelungsbild  zu  verstehen  sei,  ob  es  ein  logisches  Arrangement 
oder,  wofür  es  sich  zumeist  selbst  hält,  ein  aus  dem  Gang  der 
Dinge  herausgeschauter  innerer  Zusammenhang  sei1). 


1)  Ganz  kindlich  Alex  Brückner,  Über  Tatsachenreihen  in  der  Geschichte, 
Dorpater  Festrede  1886.  —  Von  dem  Reihenbegriff  aus,  den  er  aus  dem  Wesen 
des  Kosmos  als  Reihe  von  faits  de  succession  allgemein  konstruiert,  erfaßt  auch 
Xenopol  den  Entwicklungsbegriff.  Danach  soll  streng  sukzessionskausal  ohne 
jede  Einmischung  von  Werten  und  Zwecken  die  Reihenfolge  der  individuellen,  sich 
immer  stärker  komplizierenden  Tatsachen  vom  Geschichtsforscher  wiedergegeben 
werden.  Auf  einmal  aber  verwandelt  sich  die  darin  sich  ausdrückende  Evolution 
in  eine  treibende  Bewegungskraft,  wird  hypostasiert  zu  einer  Art  Gottheit,  die 
mit  Hilfsmitteln  des  Mechanismus ,  des  Kampfes  ums  Dasein,  des  Milieu  usw.  ar- 
beitet und  mit  diesen  Mitteln  den  Aufstieg  von  der  anorganischen  Welt  zur  or- 
ganischen, von  da  zum  Menschen  und  von  da  zum  Geist  in  großen  Sprüngen  be- 
wirkt. In  der  Geistesgeschichte  bewirke  die  Evolution  mit  Hilfe  der  Tendenzen 
auf  das  Wahre,  Schöne  und  Gerechte  die  Verwirklichung  der  Ideale  der  fort- 
schrittlichen sozial  gesinnten  Bourgeoisie  als  Weltzweck!  „On  considere  Invo- 
lution, non  plus  comme  une  question  de  procede  ou  de  methode,  mais  bien  comme 
la  manifestation  d'une  force  naturelle"  212.  In  der  Entwickelung  des  Geistes  d.  h. 
in  der  menschlichen  Geschichte  benutzt  die  Evolution  die  Ideen  als  Mittel,  aber 
nicht  die  flüchtigen  und  kleinen,  sondern  „les  ide'es  les  plus  Stahles,  Celles  de 
charactere  general  objectiv.  Nous  voilä  donc  arrives,  par  un  raisonnement  des 
plus  rigoureux  (!),  ä  cette  importante  conclusion  que  l'evolution  de  l'humanite  se 
fait  sur  le  terrain  des  ide'es  generales  objectives,  ide'es  qui  donnent  naissance  ä 


Die  Logik  des  historischen  Entwickelungsbegriffes.  277 

"Wenn  derart  eine  Zurückführung  auf  allgemeine  logische  Prin- 
zipien der  kosmischen  Entwicklung  zu  nichts  führt,  so  scheint  es 
geraten,  sich  an  die  Praxis  der  Historiker  zu  halten,  die  im 
Verkehr  mit  dem  Objekt  und  unter  dem  Zwang  des  Objekts  die 
Anschmiegung  der  Erkenntnis  und  der  Darstellungsform  an  den 
Muß  des  Geschehens  leichter  findet  als  die  logische  Theorie.  In 
der  Tat  hat  es  hier  die  Historie,  die  heute  fast  auf  jeder  Seite 
das.  Wort  „Entwicklung"  gebraucht,  zu  einer  sehr  feinen  Kunst 
dieser  Anschmiegung  gebracht,  die  auf  den  verschiedenen  Gebieten, 
je  nachdem  es  sich  um  Staat,  Wirtschaft,  Kunst,  Religion,  Wissen- 
schaft oder  Gesellschaft  handelt,  recht  verschiedene  Mittel  ver- 
wendet und  jedesmal  größte  Intimität  mit  dem  Gegenstande  ver- 
langt. Darin  sind  die  Heimlichkeiten  der  historischen  Disziplinen 
begründet,  von  denen  Jakob  Grimm  gerne  redet.  Aber  dieses  Ver- 
fahren der  Belauschung  der  historischen  Praktiker  hat  für  unsern 
Zweck  doch  nur  begrenzte  Bedeutung,  genau  wie  das  bei  analoger 
Fragestellung  von  der  naturwissenschaftlichen  Praxis  gilt 1).  Die 
von  den  empirischen  Forschern  gebrauchten  Kategorien  stammen 
ursprünglich  alle  selber  aus  der  Philosophie.  Sie  werden  dann  in 
der  Praxis  der  Forschung  empirisiert  und  verselbständigt,  ver- 
feinert und  verwandelt  und  vermögen  durch  gegenseitigen  Zu- 
sammenhang und  fruchtbare  Anwendung  sich  schließlich  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  selbst  zu  tragen,  wobei  den  Naturwissen- 
schaften die  Mathematik  ein  festes  Rückgrat  gibt,  das  der  Historie 
fehlt  und  immer  fehlen  wird.  So  hat  die  Historie  sich  heute  ge- 
wiß bis  zu  einem  gewissen  Grade  verselbständigt.  Aber  bei  allen 
Schwierigkeiten  und  Widersprüchen,  allen  größeren  Synthesen  und 
Einpassungen  in  einen  Gesamtzusammenhang  kommt  dann  doch  der 
ursprüngliche  philosophische  Untergrund  zum  Vorschein.  Bei  der 
Historie  insbesondere  ist  dieser  Untergrund  auch  in  der  empirischen 
Arbeit  recht  fühlbar,  sobald  sie  über  die  Regeln  der  Quellenkritik 


des  faits  sociaux"  221.  —  Über  Rickerts  Ersetzung  des  Entwickelungsbegriffs 
durch  den  Reihenbegriff  s.  HZ.  1918.  Bei  ihm  ist  die  Entwicklung  „Wertverwirk- 
lichung" in  Reihen  individual-kausal  verbundener  Tatsachen.  Alles  Interesse  liegt 
dann  an  der  Beziehung  der  historischen  Entwickelungswerte  auf  die  überhisto- 
rischen absoluten  "Werte. 

1)  S.  dazu  das  Vorwort  zu  Rothackers  „Einleitung  in  die  Geisteswissen- 
schaften" I  1920.  Das  Buch  zeigt  aber  auch  deutlich  die  Uferlosigkeit  eines 
solchen  Verfahrens:  „Vielleicht  zeigt  ein  genialer  Logiker  dereinst  600  ver- 
schiedene wissenschaftliche  Zielsetzungen!"    S.  IV. 

Kautfltudien  XXVH.  19 


278  Ernst  Troeltsch, 

und  der  Rekonstruktion  der  einfachen  Tatsachen  hinausgeht.  Dann 
beginnt  der  geschichtstheoretische  Streit,  dann  zeigen  sich  die 
Unterschiede  der  nationalen  Philosophien,  wo  in  Deutschland  die 
Organologie,  in  Frankreich  der  Soziologismus  überall  durchblickt ; 
dann  zeigt  sich  die  Nachwirkung  des  Naturrechts  in  fast  allen 
westeuropäischen  und  die  gründliche  Ausrottung  des  Naturrechts 
in  fast  allen  deutschen  Darstellungen.  Daran  hat  auch  der  nach- 
spekulative, moderne  historische  Realismus  nichts  geändert.  Ge- 
rade er  wirft  eine  Menge  philosophischer  Fragen  auf,  die  er  aus 
sich  selber  und  seiner  bloßen  Praxis  erst  recht  nicht  beantworten 
kann.  So  sind  also  die  Kategorien  der  Historie  und  insbesondere 
der  Entwickelungsbegriff  zwar  in  der  selbständig  gewordenen 
Handhabung  bedeutend  geklärt  und  befestigt  worden,  aber  doch 
aus  dieser  allein  nicht  zu  abstrahieren.  Es  muß  immer  noch  die 
selbständige  Überlegung  des  Wesens  der  historischen  Tatsachen- 
welt und  der  historischen  Methode  hinzukommen.  Was  hierbei  er- 
reicht werden  kann,  ist  oben  kurz  umschrieben  worden.  Weiter 
wird  man  mit  rein  logischen  Erwägungen  wohl  überhaupt  nicht 
kommen  können,  wenn  man  gleichzeitig  die  Ableitung  des  histo- 
rischen Entwickelungsbegriffes  aus  einer  allgemeinen  übergeord- 
neten Logik  der  kosmischen  Entwickelung  und  dann  etwa  gar 
noch  aus  den  a  priori  im  Wesen  der  Logik  liegenden  Möglich- 
keiten für  untunlich  hält1). 

1)  Im  Lamprechtschen  Streit  sind  diese  Grundsätze  oft  formuliert  worden, 
besonders  klar  von  Rachfahl,  Über  die  Theorie  einer  kollektivistischen  Geschichts- 
wissenschaft, Jahrb.  f.  Nationalök.  u.  Statistik,  64,  1897.  Inhaltlich  geschieht  es 
im  Sinne  der  oben  eingangs  formulierten  Kategorien.  Aber  bemerkenswert  ist 
bei  R.  die  Beschränkung  dieser  Kategorien  auf  einen  rein  empirischen  Sinn  und 
Gebrauch,  so  lange  es  sich  um  „Wissen"^  und  „Wissenschaft"  handelt.  Die  wei- 
tere Verfolgung  dieser  Kategorien,  insbesondere  der  aus  den  Quellen  ermittelten 
Ideen  und  Tendenzen,  auf  tiefere  metaphysische  und  erkenntnistheoretische 
Gründe  sei  Sache  der  Privatmetaphysik  oder  „Weltanschauung,  welche  die  per- 
sönliche, eigenste  Angelegenheit  eines  jeden  ist,  in  die  niemand  sjch  einzumischen 
ein  Recht  hat"  685!  Immerhin:  „Welches  Gebiet  großer  psychischer  Zusammen- 
hänge man  auch  immer  betrachten  möge,  ob  Wirtschaft,  Sprache,  Sitte,  Recht, 
Moral,  Kunst  und  Wissenschaft,  man  wird  finden,  daß  für  sie  der  Zweckbegriff 
als  immanentes  Entwicklungsprinzip  anzusehen  ist"  667.  Ähnlich  Preuß.  Jahrbb. 
84  in  einer  Besprechung  von  Lamprechts  deutscher  Geschichte.  —  Schärfer  sieht 
Meinecke,  gleichfalls  in  einer  Erwiderung  an  Lamprecht  HZ.  77,  1896,  S.  262 — 
266,  die  Notwendigkeit  eines  Fortganges^  zu  den  metaphysischen  Zusammenhängen. 
„Wir  sehen  in  dem  Bestreben,  eine  von  allen  metaphysischen  Voraussetzungen 
freie  Empirie  zu  treiben,  nur  den  wunderlichen  Versuch  über  den  eigenen  Schatten 


Die  Logik  des  historischen  Entwickelungsbegriffes.  279 

In   der   Tat   ist  aber  auch    das   hier   entspringende   Problem 
und  Interesse    gar  kein  logisches  mehr.      Vielmehr   das   ist   die 


zu  springen  . . .  Der  erfahrungsmäßig  gegebene  Kern  des  Individuums  (den  L.  an- 
erkenne, aber  kausal  auflösen  wolle)  ist  für  uns  schlechthin  seiner  Natur  nach 
unauflösbar  und  einheitlich  als  das  innere  Heiligtum.   Die  einzelnen  Elemente  des- 
selben mögen  zusammengeflossen  sein  und  allerlei  Quellen;   daß   und   wie  sie  mit 
einander  verbunden  werden,  ist  zum  guten  Teil  die  spontane  Tat  des  apri- 
orischen X  im  Menschen"  265.    Ein  Minimum  solcher  Originalität  steckt  in 
jedem.    Daher  erschließe  sich  auch  die  Massenzuständlichkeit  und  Massenstrebung 
nur    dem   geschulten   psychologischen   Takt   und   der  Anschauungskunst   des   er- 
fahrenen Historikers   und  können  Ideen  und  Tendenzen   sowohl   von  Massen   als 
-von   eminenten  Persönlichkeiten   ausgehen.    So  oder  so   bleibe  die   Quelle  aller 
Ideen  und  Tendenzen,   die   das   eigentliche  Wesen   der  Entwickelung  bilden,   in 
jenem  X:  damit  faßt  M.  seine  und  Rankes  Lehre   zusammen.   —    Ähnlich  formu- 
liert Voßler  die  Entwickelung  sogar  für  die  Sprache,   bei  der  doch  Naturgesetz 
und  psychologisches  Gesetz  eine  sehr  große  Rolle  spielen :  „Sprache  als  Schöpfung 
und  Entwickelung",  Heidelberg  1905  und  „Frankreichs  Kultur"  1913.  —  Für  die 
Kunstgeschichte   s.  R-.  Hamanns  Auseinandersetzung  mit  Hans  Tietzes  Buch  „Die 
Methode   der  Kunstgeschichte"   1913   in  „Monatshefte  für  Kunstwissenschaft  IX, 
1916   unter   dem    Titel    „Die  Methode   der   Kunstgeschichte   und   die   allgemeine 
Kunstwissenschaft.      Während   T.   sich  auf  Rickerts   individualisierenden  Stand- 
punkt stellt  und  in  Riegls  Kunstwollen  einen  Rest  von  Entwicklungstendenzen  be- 
hält, bildet  H.  den  Begriff  der  Reihen  zu  dem  einer  echten  Entwicklung  um.  „Die 
Bedingungen,  die  ein  solcher  Einheitsbegriff  erfüllen  muß,   sind  die  der   örtlich- 
zeitlichen Kontinuität  oder  eines  Subjektes,  das  trotz  der  isoliert  und  unverbunden 
nebeneinander  stehenden   Werke   ein   und  dasselbe  bleibt  d.  h.    ein   historisches 
Individuum  ist  und  mit  einem  Begriff  bezeichuet  werden  kann  und  doch  einer 
Veränderung  fähig  ist,    die  die  stetige  Veränderung  und  Differenzierung  der  ein- 
zelnen Werke  bedingt  und  erklärt,  während  sie  zur  Einheit  verknüpft  werden" 
28.    Das  ist  in  der  Kunstgeschichte  der  Stil.    Von  da  aus  läßt   sich  eine  Ent- 
wickelungstypik  und  eine  immer  größere  Zeitspanne  umfassende  „historische  Syste- 
matik"   (S.  32)    gewinnen ,    vorbehaltlich    aller    etwaigen   Unterbrechungen ,   Er- 
müdungen,   Verwirrungen,    Stauungen,    Revolutionen,   Rezeptionen  und  Endos- 
mosen.   Es  ist  eine  „logisch  sich  entwickelnde  Komplizierung"  von  typischen  Pe- 
rioden und  Verläufen,  eine  „Art  organischer  Einheit  zwischen  den  Einzeltatsachen" 
37  im  Gegensatze  gegen  die  auch  oft  genug  vorkommenden  bloßen  Kumulationen. 
Das   seien  „Gesetze"   der  Historie,   aber  eben  von   denen  der  Naturwissenschaft 
ganz   verschiedene  Gesetze,  denen  überdies  der  wirkliche  Verlauf  nicht  restlos 
unterliegt.  —  Ein  klassisches  Beispiel  der-  methodischen  Durchführung  dieses  Ent- 
wickelungsbegriffes bieten  Wölflin's   „Grundbegriffe  der  Kunstwissenschaft",  auch 
Carl  Neumanns  Rembrandt.   —  Auf  religiousgeschichtlichem  Gebiet  sind  ein  Bei- 
spiel der  Entwickelungsforschung  die  feine  Studie  von   Karl  Seil   „Die   wissen- 
schaftlichen Aufgaben  einer  Geschichte  der  christlichen  Religion,  Preuß.  Jahrbb.  98, 
1899  und  die  klassischen  Untersuchungen  Wellhausens,  die  gerade  von  der  Hypo- 
these einer  „Entwickelung"  der  Religion  Israels  ausgehen. 

19* 


280  Ernst  Troeltsch, 

Frage,  ob  in  diesen  logischen  Mitteln  ein  bloßes  pragmatistisch  zu 
verstehendes  Arrangement  der  Tatsachen  und  etwa  ein  transzen- 
dentollogisch  zu  konstruierendes  Erzeugnis  des  Denkens  liege  oder 
ob  damit  der  reale  und  wirkliche  Zusammenhang  erfaßt  und  er- 
schaut werden  könne.  Für  das  erstere  spricht  die  ungeheure  Um- 
formung, die  das  Material  durch  diese  Begriffe  erfährt,  für  das 
zweite  das  Evidenzgefühl  eines  wirklich  gesehenen  Zusammenhangs 
und  die  Abhängigkeit  immer  mehr  sich  berichtigender  Bilder  von 
der  Einarbeitung  in  die  Tatsachen.  Es  ist  der  Streit  der  Lebens- 
Anschauer  und  der  Form-Denker,  der  hier  entsteht  und  dessen  Lö- 
sung erst  genauere  Aussagen  über  Wesen,  Konsequenzen  und  Aus- 
wertungen des  Entwickelungsbegriffes  ermöglicht.  Das  aber  ist 
kein  rein  logisches  Problem  mehr  und  daher  vom  Boden  der  Logik 
aus  auch  nicht  zu  beantworten.  Es  ist  in  Wahrheit  ein  er- 
kenntnistheoretisches Problem  und  nur  von  der  Erkennt- 
nistheorie aus  zu  entscheiden. 

Hier  ist  nun  aber  von  vornherein  die  unglückselige  Verwir- 
rung auszuscheiden,  die  eine  solche  reinliche  Scheidung  von  em- 
pirischer Logik  und  Erkenntnistheorie  unmöglich  machen  würde, 
nämlich  die  neukantische  Lehre  von  der  Erzeugung  des  Gegen- 
standes erst  und  nur  durch  das  Denken,  die  Lehre,  die  statt  Logik 
und  Erkenntnistheorie  zu  scheiden,  sie  vielmehr  als  Transzendental- 
logik identifiziert  und  demgemäß  die  Realität  durch  Gültigkeiten, 
die  Objektivität  durch  Wertbeziehungen  und  subjektive  Notwen- 
digkeiten, die  Wirklichkeit  durch  die  sie  angeblich  erst  hervor- 
bringenden Methoden  ersetzt,  die  also  von  den  beiden  Quellen 
aller  Gewißheit,  der  Anschauung  und  dem  Denken,  die  erste  bis  auf 
ein  bedeutungsloses  Minimum  des  vorausgesetzten  und  gänzlich  un- 
bekannten oder  gar  auch  noch  durch  Denken  zu  erzeugenden  Er- 
kenntnis-Stoffes austrocknet.  Die  Logik  dient  in  Wahrheit  zur 
Ordnung  der  Erfahrung  und  zu  nichts  anderem.  Die  Frage  da- 
gegen nach  dem  Verhältnis  der  logisch  geordneten  Erfahrungs- 
bilder zur  Realität  ist  ein  Problem  der  Erkenntnistheorie,  die  sich 
stets  nur  mit  dem  Verhältnis  von  Denken  und  Sein  beschäftigt 
hat  und  beschäftigen  wird,  die  aber  nicht  in  eine  Lehre  von  der 
Erzeugung  des  Seins  durch  eben  diese  selben  logischen  Methoden 
der  Erfahrungsordnung  verwandelt  werden  darf. 

Auch  hier  ist  es  nützlich,  sich  des  Ausgangs  der  modernen 
Philosophie  von  der  Cartesianischen  Bewußtseinslehre  zu  erinnern. 
Solange  und  wo  man  mit  Descartes  von  dem  festen  Standort  des 


Die  Logik  des  historischen  Entwickelungsbegriffes.  281 

geschlossenen  substanzialen  Einzelbewußtseins  und  innerhalb  dessen 
wieder  von  den  bewußten  Wahrnehmungen  und  Vorstellungen  aus- 
geht,  bringt  man  es  nur  zu  apriorischen  oder  empirischen  Ord- 
nungsformen einer  von  außen  her  gesehenen  und  lediglich  gege- 
benen Realität,  wobei  es  in  der  Wirkung  gleichgültig  ist,  ob  man  den 
so  empfangenen  und  geordneten  Wahrnehmungen  und  Vorstellungen 
eine  metaphysische  Realität  noch  unterbreitet  oder  nicht.  Sie 
bleiben  immer  etwas  Fremdes,  sozusagen  von  außen  her  Gegebenes, 
und  die  sog.  inneren  Erfahrungen  sind  dann  nur  Produktion  alles 
dessen,  was  nicht  von  außen  her  durch  Körpereinwirkung  gegeben 
werden  kann,  aus  eigenen  Tätigkeiten  des  bloßen,  auf  sich  gestellten 
Subjekts.  Die  Ordnung  kann  dann  nach  apriorischen,  auf  Mathematik 
gestützten  Ordnungsprinzipien  oder  nach  bloß  empirischen,  auf 
Regelmäßigkeit  gestützten  erfolgen;  sie  bleibt  immer  Ordnung 
von  Erfahrungsmaterial.  Der  körperlichen  Natur  gegenüber  ge- 
langt man  mit  Hilfe  der  Mathematik  leichter  zur  Festigkeit  der 
Ordnung,  der  seelischen  Erfahrungswelt  gegenüber  wird  man  auf 
die  Psychologie  und  psychologisch- genetische  Gesetze  angewiesen 
sein.  Da  bringt  man  es  naturgemäß  nach  der  einen  Seite  nur  zum 
Mechanismus,  nach  der  andern  nur  zu  Kumulationen  und  Kom- 
plexionen. Alle  Reihenbildung  ist  auf  beiden  Gebieten  wirklich 
nichts  als  Aneinanderreihung  ohne  inneres  Band;  sofern  man  ein 
solches  trotzdem  zu  besitzen  glaubt,  muß  man  ethische,  religiöse 
oder  ästhetische  Postulate  heranziehen,  die  sich  aber  nie  innerlich 
mit  jenen  wirklich  verbinden  können.  So  steht  es  denn  auch  in 
der  Tat  in  dem  ganzen  Positivismus  mehr  empirischer  oder  mehr 
logischer  konstruktiver  Art.  Die  Sache  wird  aber  auch  nicht  an- 
ders, wenn  man  an  Stelle  der  Cartesianischen  denkenden  Substanz 
das  logische  Subjekt  oder  das  transzendentale  „Bewußtsein  über- 
haupt" setzt,  um  den  Schwierigkeiten  der  Ich-Psychologie  zu  ent- 
gehen. Auch  von  da  aus  gibt  es  nur  Mechanismus  einerseits  und 
Kumulationen  oder  Reihenbildungen  anderseits,  denen  man  durch 
irgend  eine  Moral  oder  Werttheorie  glauben  kann  lebendes  Blut 
einzuflößen,  die  aber  dadurch  keine  wirkliche  innere  Bewegung  ge- 
winnen. Das  gilt  von  Kant  selbst  und  vor  allem  vom  gesamten 
Neukantianismus.  Dann  entsteht  jenes  fatale  Problem,  wie  weit 
die  von  der  Historie  behaupteten  Entwickelungserkenntnisse  ein 
wirklicher  Lebenszusammenhang  der  Dinge  oder  nur  ein  künst- 
liches Produkt  logischer  Auslese,  Verkürzung  und  Zusammenfassung 
des    „Erfahrungsmaterials"    seien.     Ist  man   aber  erst   einmal  in 


282  Ernst  Troeltsch, 

dieser  Klemme,  dann  ergibt  sich  als  das  einfachste  der  pragma- 
tistische  Aasweg,  anf  jede  Objektivität  überhaupt  zn  verzichten 
und  in  der  Geschichte  nur  die  praktischen  Zwecken  dienende,  mit 
allerhand  technischen  Kunstgriffen  vorzunehmende  Redaktion  un- 
serer Erinnerung  zu  sehen.  Das  intuitiv  -  anschauliche  Vermögen, 
das  die  Historiker  zu  besitzen  meinen  und  in  ihren  Darstellungen 
entfalten,  wird  man  dann  der  Kunst  zuweisen  und  die  historische 
Darstellung  kurzweg  als  künstlerische  Leistung  betrachten,  ohne 
sich  Gedanken  darüber  zu  machen,  wieso  denn  der  Künstler  seiner- 
seits zu  solchen  intuitiven  Fähigkeiten  komme. 

Aber  die  Cartesianische  Wendung  kann  auch  zu  andern  Er- 
gebnissen führen  und  hat  auch  zu  andern  geführt,  sobald  man  den 
starren  Begriff  der  denkenden  Substanz  oder  des  normstiftenden 
Bewußtseins  aufgibt  und  das  Ich  als  Monade  faßt ,  die  vermöge 
des  Unbewußten  oder  ihrer  Identität  mit  dem  Allbewußtsein  am 
Gesamtgehalte  des  Wirklichen  partizipiert  und  die  „Außenwelt", 
die  körperliche  wie  die  fremdseelische,  vermöge  dessen  virtuell  in 
sich  trägt,  um  unter  gewissen  Bedingungen  die  vom  individuellen 
Bewußtsein  erlebten  Ausschnitte  des  Alls  als  eigene  Erlebnis-  und 
Erfahrungswirklichkeit  auf  das  eigene  Ich  zu  beziehen  und  die 
darin  liegenden  zugleich  mitgeschauten  Zusammenhänge  mit  lo- 
gischen Mitteln  weit  über  die  bewußten  Erfahrungen  hinaus  zu  er- 
gänzen. Das  ist  der  Weg,  den  Leibliiz  mit  seiner  Monadenlehre 
beschritten  hat  und  der  viel  ergebnisreicher  ist  als  die  verwandte 
Lösung  des  gleichen  Problems  durch  den  Substanz-  oder  Grottes- 
begriff Spinozas.  Er  hat  deshalb  die  die  endlichen  Geister  durch- 
strömenden Lebenszusammenhänge  als  innergöttliche,  in  der  onto- 
logischen  und  teleologischen  Einheit  des  göttlichen  Lebens  begrün- 
dete, kontinuierliche  Bewegungen  zugleich  schauen  und  denken 
können,  wenn  er  auch  den  Auftrieb  allzu  eng  in  der  Vollendung 
des  Wissens  und  die  Kontinuität  allzu  naturalistisch  in  der  mathe- 
matischen Folge  der  Differentiale  gesehen .  hat.  Die  Monade,  deren 
Vorgeschichte  interessant  wäre,  aber  noch  nicht  geschrieben  ist, 
bedeutet  die  Identität  des  endlichen  und  unendlichen  Geistes  bei 
Aufrechterhaltung  der  Endlichkeit  und  Individualität  des  letzteren. 
Darauf  kommt  es  in  diesem  Zusammenhange  an,  nicht  auf  die  bi- 
zarr mathematisierende  Durchführung  und  nicht  auf  die  damit 
zusammenhängende  Fensterlosigkeit  der  Monade.  Darin  beruht 
aber  auch  Leibnizens  außerordentliche  Bedeutung  für  die  Erkennt- 
nistheorie und  vor  allem  —  ihm  selber  unbewußt  —  für  das  Ver- 


Die  Logik  des  historischen  Entwiekelungsbegriffes.  283 

ständnis  der  G-eschichte.  Etwas  anders,  aber  aus  dem  gleichen 
Motiv  hat  Malebranche  die  inneren  Verbindungen  des  Werdens 
durch  das  Kausalprinzip  nicht  in  den  empirischen  Reihenbildungen, 
sondern  nur  durch  Partizipation  des  endlichen  Geistes  an  der  in- 
neren Lebenseinheit  und  -Bewegung  des  absoluten  Geistes  finden 
können  und  ganz  analog  auch  die  Erkenntnis  des  Fremdseelischen, 
seiner  Inhalte,  Ziele  und  Werte  nur  als  „Erkenntnis  in  Gott"  zu 
verstehen  vermocht.  Alle  systematischen  Lehren  über  theoretische 
und  praktische  Weltzusammenhänge  sind  ihm  Ausdeutungen  der 
Erlebnisse  durch  Erkennen  und  Verstehen  in  Gott  zu  den  die  Gott- 
heit erfüllenden  und  von  uns  wenigstens  zu  ahnenden  idees  prim- 
ordiales *).  In  beiden  Fallen  ist  die  Erkenntnis  der  sog.  Außenwelt 
eine  Auswertung  und  Ausdeutung  des  in  den  Erlebnissen  und  ihrem 
logischen  und  praktischen  Gehalt  repräsentierten  Allbewußtseins. 
„Nichts  ist  außen,  nichts  ist  innen",  und  es  ist  „Kern  der  Natur 
mitten  im  Herzen",  aber  nicht  bloß  der  Körper -Natur,  son- 
dern der  alles  Fremdseelische  zugleich  umfassenden  Gottnatur. 
Auf  dieser  Grundlage  allein  ist  der  Streit  der  Lebens-  Anschauer 
und  der  Formdenker  zu  schlichten:  die  im  Angeschauten  ent- 
haltenen und  von  dem  menschlichen  Denken  ausgeweiteten  und  er- 
gänzten begrifflichen  Formen  sind  die  inneren  Zusammenhänge  des 
göttlichen,  die  ganze  konkrete  Wirklichkeit  umfassenden  Geistes 
selbst.  Kant  hat  diese  Lehre  nur  in  Gestalt .  der  allerdings  sehr 
zopfigen  Lehre  von  der  prästabilierten  Harmonie  gekannt  und  sie 
bei  seiner  Abneigung  gegen  die  immer  in  Antinomien  verwickelnde 
Metaphysik  abgelehnt.  Er  hat  sie  aber  stets  als  die  zweite  neben 
seiner  eigenen  Lehre  bestehende  Alternative  behandelt.  Und  es 
ist  wohl  zu  bemerken,  daß  die  nachkantische  Spekulation  in  der 
Tat  zu  dieser  zweiten  Alternative  zurückgekehrt  ist,  nur  eben 
nicht  im  Anschluß  an  Leibniz,  sondern  an  einen  Spinoza,  der  doch 
ein  sehr  stark  mit  Leibnizischem  Geist  durchsetzter  Spinoza  war. 
Im  Grunde  ist  ihr  Wesen  doch  nichts  anderes  als  die  Deutung 
des  endlichen  Ich  aus  dem  in  ihm  erschaubar  werdenden  und  re- 
konstruierbaren absoluten  Ich  oder  der  Gottheit.    Indem  dadurch 


1)  Über  den  historischen  Leibniz  s.  jetzt  Schmalenbach ,  Leibniz,  1921,  der 
bei  Leibniz  die  erste  Durchbrechung  der  seit  der  Antike  herrschenden  philoso- 
phia  perennis  d.h.  des  Substanz -Monismus  durch  einen  echten  Pluralismus  fest- 
stellt. Doch  kann  ich  seine  Erklärung  des  Individuellen  bei  L.  nicht  billigen. 
Über  Malebranche  wären  neue  ähnliche  Untersuchungen  sehr  zu  wünschen. 


284  Ernst  Troeltsch, 

den  Erfahrung sinhalten  der  körperlichen  Naturerfahrung  wie  der 
Durchdringung  des  Fremdseelischen  ein  inneres,  übergreifendes, 
verbindendes  und  logisch  ausdrückbares  Leben  eingeflößt  war, 
wurde  eine  neue,  neben  dem  Mechanismus  sehr  wohl  mögliche 
Naturanschauung  und  vor  allem  eine  tiefe  innere  Durchdringung 
des  geschichtlichen  Lebens  möglich,  die  sich  dementsprechend  auch 
sofort  in  einer  mächtigen  Belebung  des  geschichtlichen  Denkens 
und  Forschens  ausgewirkt  hat.  Damit  steht  die  deutsche  Historie 
durch  intuitive  Erfassung  der  historischen  Bewegung  grundsätz- 
lich der  westeuropäischen  und  positivistischen  gegenüber,  die  ihrem 
Wesen  nach  nur  Reihenbildungen  nnd  Naturgesetze  der  Geschichte 
suchen  kann,  bei  jedem  ernstlichen  und  historisch  bedeutenden  Ver- 
such der  Durchführung  aber  stets  in  die  Nähe  der  deutschen  Spe- 
kulation geraten  ist.  Dafür  sind  Taine  und  Carlyle  lehrreiche 
Beispiele.  Das  wesentlich  mit  französischer  Literatur  beschäftigte 
Buch  Xeuopols  zeigt  deren  noch  viele  andere. 

Nicht  die  Identität  von  Denken  und  Sein  oder  von  Natur  und 
Geist,  sondern  die  wesenhafte  Identität  der  endlichen  Geister  mit 
dem  unendlichen  Geiste  und  ebendamit  die  intuitive  Partizipation 
an  dessen  konkretem  Gehalt  und  bewegter  Lebenseinheit  ist  der 
Schlüssel  zur  Lösung  unseres  Problems.  Auf  diese  Art  ver- 
mindert sich  überhaupt  die  Last,  die  die  bloße  Logik  zu  tragen 
hat,  so  lange  man  von  solchen  Hintergründen  absieht,  und  wird 
das,  was  kunstvolles  logisches  Produkt  und  Mache  des  Menschen 
war,  zu  einer  erschaubaren  Realität,  die  zugleich,  wie  alle  Rea- 
lität, ganz  durchtränkt  ist  mit  Idee,  Gesetz  und  Sinn.  Ein  reines 
Schauen  und  eine  tief  bohr  ende,  alle  Erfahr  ungs-  und  Erlebenshin- 
weise zusammenraffende  Forschung  können  so  in  den  wirklichen 
Realzusammenhang,  der  damit  zugleich  tatsächlich  und  zugleich 
ideell  durchdrungen  ist,  in  sehr  weitem  Umfange  eindringen.  Frei- 
lich darf  man  dann  doch  mit  dieser  Identität  nicht  zuviel  beweisen 
wollen.  Es  bleibt  ja  doch  die  Monade  selbst  bestehen  und,  wenn 
sie  auch  ihr  eigenes  Wesen  im  Grunde  nur  in  Gott  und  darum  im 
Zusammenhang  mit  dem  Lebensstrom  überhaupt  erkennt,  so  bleibt 
sie  doch  ein  endliches  Wesen  und  ist  ihre  Erkenntnis  doch  nicht 
ein  bloß  quantitativ  beschränkter  und  an  den  Rändern  durch  Fol- 
gerungen und  Ahnungen  ergänzter  Ausschnitt  aus  dem  göttlichen 
Geistesinhalt  selbst.  Ihre  Endlichkeit  ist  vor  allem  auch  eine 
qualitative.  Diese  zeigt  sich  in  der  Abhängigkeit  aller  solcher 
Intuition   von  der   realen  Berührung  mit  der  Umgebung  unseres 


Die  Logik  des  historischen  Entwickelungsbegriffes.  285 

Körpers,  in  der  Bindung  aller  Erkenntnisse  und  Maße  an  sinnliche 
Organe  und  Bedingungen  des  Leib-Ichs ,  in  der  begrenzten  Fähig- 
keit menschlicher  Logik,  Widersprüche  und  Antinomien  zu  über- 
winden, ja  in  dem  grundsätzlich  stets  in  Antinomien  auslaufenden 
Charakter  des  menschlichen  Denkens.  Die  Logik,  mit  der  wir  die 
Erlebnisse  ausdeuten  und  das  Göttliche  begrifflich  fassen,  ist  zu- 
nächst nur  ein  Mittel,  Täuschungen,  Verwirrungen  und  Zufallsver- 
bindungen der  Erlebniswirklichkeit  und  des  Alltagsdenkens  aufzu- 
lösen ;  dann  ein  Mittel,  durch  Verbindung  des  Zusammengehörigen 
uns  an  die  wirklichen  Realzusammenhänge  heranzuführen,  ohne  sie 
selbst  mit  ihren  Mitteln  des  Satzes  vom  Widerspruch  und  vom 
Grunde  endgiltig  klären  zu  können.  Sie  bleibt  in  ihrem  Stoff 
körperlich  -  organisch  und  in  ihren  Mitteln  begrifflich  -  antinomisch 
gebunden.  Unsere  Erkentnis  trägt  also  neben  jenem  Identitäts- 
charakter zugleich  einen  anthropologischen,  und  aus  diesem  Gegen- 
satze gibt  es  überhaupt  keinen  Ausweg,  nur  annähernde  Lösung. 
Hinter  allem  und  am  Ende  von  allem  steht  die  Metalogik,  in  wel- 
cher unsere  anthropologisch  bedingten  logischen  Mittel  und  der 
göttliche  Lebenszusammenhang  auf  völlig  unbekannte  Weise  zu- 
sammengehen. In  der  logischen  Bearbeitung  nähern  wir  uns  einer 
reinen  Erfassung  des  göttlichen  Lebens-  und  Ideengehaltes,  aber 
wir  nähern  uns  nur  und  bei  jedem  Schritt  weiter  zerbrechen  wir 
in  Widersprüchen.  Dann  ergeben  wir  uns  resigniert  dem  Sen- 
sualismus oder  dem  Fiktionalismus,  wenn  wir  nicht  hoffen  mit  dem 
deutlichsten  und  schärfsten  logischen  Zwang,  dem  mathematischen, 
durchzukommen  und  dann  die  Wirklichkeit  entschlossen  mathe- 
matisieren,  verräumlichen  und  mechanisieren.  Diese  sehr  verständ- 
lichen Gründe  sind  es,  die  Kant  dazu  geführt  haben,  eine  rein 
intrasubjektive  und  erfahrungsimmanente,  sich  selber  tragende  Gül- 
tigkeitslehre aufzustellen  und  den  Rest  als  in  Antinomien  ver- 
wickelnde Metaphysik  preiszugeben,  die  Partizipation  am  gött- 
lichen Geiste  aber  auf  das  Moralische  einzuschränken.  Leibniz 
selbst  hatte  alle  diese  anthropologischen  Beschränktheiten  auf  Ver- 
worrenheit und  Unklarheit  des  Denkens,  Malebranche  sie  auf  den 
Sündenfall  abgeschoben.  In  Wahrheit  besteht  hier  aber  ein  un- 
ausbleiblicher Widerspruch,  an  dem  jede  Durchführung  der  Er- 
kenntnistheorie bis  zu  ihrem  letzten  Ende  bis  jetzt  gescheitert 
ist  und  immer  scheitern  wird.  Aber  bis  zu  einer,  das  Objekti- 
vitätsbedürfnis grundsätzlich  befriedigenden  Annäherung  an  die 
Intuition   der   innergöttlichen    Lebensfülle   und   Lebenszusammen- 


286 


Ernst  Troeltsch, 


hänge  kann  sie  gelangen,  wobei  sie  nur  immer  der  Abhängigkeit 
aller  solcher  Intuition  von  den  Gelegenheitsursachen  der  körper- 
lichen Berührung  des  eigenen  Körpers  mit  seinen  Umgebungs- 
bestandteilen sowie  von  der  aus  der  Gesamterfahrung  immer  be- 
stimmte Einzelheiten  auslösenden  Abstraktion  eingedenk  bleiben  muß. 
Diese  Gedanken  können  hier  nicht  weiter  verfolgt  werden ; 
insbesondere  Natur  Wahrnehmung,  Naturdenken  und  das  Bestehen 
der  abstrakten  Gesetzeslehre  neben  der  qualitativen  Fülle  leben- 
diger Naturanschauung  können  hier  von  diesem  Standpunkt  aus 
nicht  erläutert  werden.  Dagegen  ist  die  Bedeutung  für  die  Er- 
kenntnistheorie der  Geschichte  und  insbesondere  für  den  Ent- 
wicklungsbegriff  nachdrücklichst  zu  betonen.  Im  Mittelpunkt  steht 
hier  die  Frage  nach  der  Erkenntnis  des  Fremdseelischen,  die 
die  eigentliche  Erkenntnistheorie  der  Geschichte  ist,  übrigens  über- 
haupt ein  Zentralpunkt  aller  Philosophie  ist,  weil  auf  ihr  die 
Möglichkeiten  und  Schwierigkeiten  gemeinsamen  Denkens  und  Phi- 
losophierens überhaupt  beruhen1).  Es  ist  merkwürdigerweise  im 
Verhältnis  zu  seiner  Bedeutung  wenig  beachtet  worden,  fast  nur 
die  Dichter  haben  ihm  eine  ernste  Aufmerksamkeit  gewidmet.  Der 
Grund  dieser  geringen  Beachtung  liegt  darin,  daß  man  bezüglich 
der  elementaren  Lebensinhalte  von  der  Gleichartigkeit  der  mensch- 
lichen „Natur"  ausging  und  so  annahm,  daß  die  Selbsterkenntnis 
zugleich  Kenntnis  des  Menschen  überhaupt  ist.  Manche  Histo- 
riker haben  darauf  die  Erkenntnistheorie  der  Geschichte  überhaupt 
—  summarisch  genug  —  begründet.  Wenn  man  Bedenken  schöpfte, 
dann  griff  man  zur  Theorie  der  „Kongenialität",  wonach  der  Gleiche 
den  Gleichen  verstehe  und  weshalb  der  Historiker  nur  die  ihm  kon- 
genialen Personen  und  Sachverhalte  verstehe,  wozu  dann  die  Tat- 
sache wenig  paßt,  daß  oft  gerade  der  Haß  oder  der  Kontrast  der 
persönlichen  Anlage  der  Ausgangspunkt  des  Verstehens  ist  oder 
daß  persönlich  schwächliche  Menschen  intellektuell  die  historischen 


1)  In  den  Mittelpunkt  gestellt  ist  es  in  Sprangers  „Lebensformen"  und  in 
Schelers  bekannter  Abhandlung  Zur  Phänomenologie  und  Theorie  der  Sympathie- 
gefühle 1913.  Die  sensualistische  Deutung  am  charakteristischsten  bei  Becher 
„Geisteswissenschaften  und  Naturwissenschaften"  1921 ;  immerhin  hat  Becher  das  Ver- 
dienst, das  Problem  in  das  Zentrum  der  Erkenntnistheorie  gestellt  zu  haben,  die  sonst 
immer  nur  von  der  Naturerkenntnis  handelt.  Daß  von  da  aus  die  Probleme  einer 
Soziologie  der  Erkenntnis  entspringen,  hat  wieder  Scheler  richtig  gesehen.  Er 
beabsichtigt  dem  ein  ganzes  Buch  zu  widmen;  Kölner  Vierteljahrsheft  f.  Soz. 
Wiss.,  1921. 


Die  Logik  des  historischen  Entwicklungsbegriffes.  287 

Katastrophen  wunderbar  durchdringen  können1).  Bezüglich  der 
höheren  geistigen  Gehalte  verließ  man  sich  auf  die  „ Allgemein- 
gültigkeit u  des  Logischen,  Ethischen  oder  Ästhetischen  und  glaubte, 
daß  die  überall  identische  Notwendigkeit  der  geistigen  Selbst- 
explikation dieser  Gebiete  die  Gemeinsamkeit  des  Denkens,  Wollens, 
Fühlens  und  das  gegenseitige  Verständnis  der  Philosophen  genügend 
vermittle,  wobei,  ganz  abgesehen  von  der  Fraglichkeit  jener  All- 
gemeingültigkeit, doch  der  reichliche  Anteil  der  lernenden  Hinein- 
versetzung in  die  fremde  Subjektivität  und  die  jedesmal  psycholo- 
gische Eigentümlichkeit  des  fremden  Denkens  übersehen  oder  als 
Nebensache  behandelt  wurde,  während  es  in  Wahrheit  doch  oft 
die  Hauptsache  ist.  Das  logische  oder  transzendentale  Subjekt  ist 
überall  identisch  und  scheint  dem  Verstehen  keine  Schwierigkeit 
zu  bieten.  Aber  in  Wirklichkeit  ist  sein  Verhältnis  zum  psycho- 
logischen Subjekt  völlig  dunkel  und  sind  die  Auswirkungen  des 
transzendentalen  Subjekts  überall  andere 1).  Wo  man  sich  das  Problem 
ausdrücklich  stellte,  da  hat  man  es  zumeist  von  den  Voraussetzungen 
eines  sensualistischen  assoziationistischen  Empirismus  aus  behandelt, 
indem  man  mit  der  Wahrnehmung  fremder  Körperbewegungen  die 
erfahrungsgemäß  bei  unserm  eigenen  damit  verbundenen  psychischen 
und  geistigen  Inhalte  in  den  fremden  Körper  einlege,  und  das  sah 
man  dann  als  den  Kern  der  sog.  Einfühlung  an.  Daß  man  so  im 
Grunde  nie  etwas  Neues  erführe  und  immer  nur  sich  selbst  wieder- 
holte, hat  dabei  ebenso  wenig  gestört  als  die  Frage,  wieso  denn 
auf  diese  Weise  gemeinsames  Denken  und  Philosophieren  überhaupt 
möglich  sei.  Da  die  gegenseitige  Einwirkung  zum  großen  Teil  an 
der  Sprache,  d.  h.  an  sinnlichen  Lauten,  hängt,  so  fällt  das  ganze 
Problem    zu   einem   großen  Teil   in   das  Gebiet  der  Sprachwissen- 


1)  S.  o.  Sybel,  Über  die  Gesetze  des  historischen  Wissens  1864  S.  14  ff. : 
„Nun  aber  findet  bei  aller  individuellen  Verschiedenheit  eine  gewisse  Gleich- 
artigkeit, und  folglich  auch  die  Möglichkeit  eines  gegenseitigen  Verständnisses 
der  Menschen  statt,  eben  weil  alle  menschlichen  Wesens  sind  und  von  den 
gleichen  Gesetzen  der  menschlichen  Natur  bestimmt  sind".  Im  fol- 
genden sind  dann  diese  Gesetze  der  gemeinsamen  und  gleichen  Natur  entscheidend 
für  die  Wissenschaftlichkeit  der  Historie  und  diese  Gesetze  bieten  dann  weiterhin 
dar:  „die  absolute  Gesetzmäßigkeit  in  der  Entwicklung,  die  gemeinsame 
Einheit  in  dem  Bestand  der  irdischen  Dinge",  „die  Tatsachen  nach 
ihrem  Zusammenhang  in  Zeit  und  Raum  und  Kausalvorstellung"  S.  17.  Auch 
Bernheim  beruft  sich  auf  die  Gleichheit  der  —  offenbar  von  der  Selbsterkenntnis 
aus  erfaßten  —  menschlichen  Natur  als  Erkenntnisgrundlage  der  Geschichte.  Aber 
in  Wahrheit  fängt  hier  das  Problem  erst  an. 


ggg  Ernst  Troeltsch, 

schaft,  die  deshalb  ein  Meister  wie  Hermann  Paul  nicht  von  der 
Psychologie,  sondern  von  der  Soziologie  aus  behandelt  sehen  will, 
womit  im  Begriff  der  Gesellschaft  die  gegenseitige  Erkenntnis  des 
Fremdseelischen  freilich  schon  vorausgesetzt,  aber  nicht  erleuchtet 
ist1).     Andere,    die  tiefer  zu  greifen  für  nötig  hielten,  haben  den 


1)  S.  Hermann  Paul,  Prinzipien  der  Sprachgeschichte  41909.  Paul  stellt, 
indem  er  die  Sprache  nicht  bloß  vom  Standpunkt  des  Sprechenden,  sondern  auch 
von  dem  des  Hörenden  nimmt,  das  Problem  der  Erkenntnis  des  Fremdseelischen 
geradezu  in  den  Mittelpunkt  nicht  nur  der  Sprachgeschichte,  sondern  der  Kultur- 
entwicklung überhaupt.  Er  löst  das  Problem  grundsätzlich  vom  Standpunkt  des 
geschlossenen  Herbartschen  Ich  und  mit  Hilfe  jenes  Sensualismus,  der  physische 
Zeichen  einlegend  aus  den  mit  deren  Analogon  verbundenen  eigenen  Bewußtseins- 
komplexen auch  beim  andern  deutet.  Daher  gibt  es  für  ihn  keine  Völkerpsychologie, 
keinen  Gemeingeist  und  keine  Bewußtseinseinheit  anders  denn  als  Ergebnis  dieser  im 
physischen  Verkehr  herangebildeten,  ausgebreiteten  und  immer  sinnreicher  dem 
Physischen  assoziierten  Bewußtseinskomplexe.  Es  ist  der  starrste  und  extremste 
Individualismus,  Nominalismus  und  Sensualismus,  der  die  Auflösung  komplexer 
Gebilde  in  feste  und  einfache  Grundelemente  und  die  Rekonstrnktion  jener  aus 
diesen  für  die  Aufgabe  der  positiven  Wissenschaft  hält,  während  das  Haften  an 
unaufgelösten  Komplexen  das  Wesen  des  populären  Denkens  sei.  Die  Frage,  wie  unter 
diesen  Umständen  die  Übertragung  fremder  Bewußtseinsinhalte  auf  uns  möglich  sei, 
beantwortet  er  ganz  folgerecht  durch  die  Leugnung  jeder  solchen  Übertragung. 
Aller  Geistesgehalt  sei  assoziative  Entwicklung  rein  aus"  dem  eigenen  Bewußtsein 
selbst  und  die  Übereinstimmung  erkläre  sich  durch  die  Gleichartigkeit  der  mensch- 
lichen Natur,  die  allen  Kulturgebieten  ursprünglich  zu  Grunde  liege,  bei  der 
Sprache  vermöge  ihrer  unbewußten  Produktion  aber  geblieben  sei  bis  heute.  Den 
Schein  einer  Übertragung  und  realen  Gemeinschaft  erklärt  er  durch  Unterschei- 
dung direkter  und  indirekter  Assoziationen  S.  15  f.  Das  Aufgenommene  arbeitet 
weiter  und  assoziiert  sich  im  Aufnehmenden  mit  weiteren  Komplexen,  es  arbeitet 
jetzt  direkt  statt  erst  nur  indirekt  in  der  Deutung  des  fremden  sinnlichen  Zeichens. 
Bei  neuer  Verlautbarung  gibt  der  Fortarbeiter  Zeichen,  die  den  jetzt  Aufneh- 
menden veranlassen,  die  assoziierten  Fortschritte  des  ersten  nachzubilden  (!).  So 
können  nach  und  nach  eine  Reihe  Mittelglieder  fortfallen  und  der  Schein  unmittel- 
baren Verstehens  entstehen.  Diese  Prozesse  hellt  die  Soziologie  auf,  die  über- 
haupt überall  das  Komplexe,  Interindividuelle  und  Überindividuelle  entwicklungs- 
geschichtlich erklärt.  Eine  solche  Soziologie  ist  ihm  daher  überall  die  theore- 
tische Grundlage  der  historischen  Entwicklungswissenschaften.  Er  möchte  sie  als 
„Prinzipienwissenschaft"  an  die  Stelle  der  unbrauchbaren  Geschichtsphilosophie 
als  das  eigentlich  philosophische  Element  der  Historie  stellen,  ähnlich  wie  die 
Naturwissenschaften  mindestens  in  der  Biologie  eine  solche  Prinzipienwissenschaft 
der  Entwicklung  hätten.  Da  ist  unverkennbar  Herbart  im  Übergang  zu  Spencer, 
von  welchem  letzteren  Paul  sich  allerdings  durch  die  prinzipielle  Unterscheidung 
allgemeiner,  immer  wiederkehrender  Naturgesetze  und  individuell  kombinierender 
d.h.  Komplexe  schaffender  Entwicklungsgesetze  unterscheidet.  Jedenfalls  ist  hier 
besonders  klar,  wie  eng  die  grundlegende  Theorie  über  die  Erkenntnis  des  Fremd- 


Die  Logik  des  historischen  Entwickelungsbegriffes.  289 

Menschen  mit  einem  Apriori  der  verschiedenen  Kategorien  des 
Eremdverständnisses,  mit  einem  Schema  der  Sinnmöglichkeiten  und 
Wertmöglichkeiten  ausgestattet,  das  bei  der  Berührung  mit  dem 
Fremdseelischen  aus  der  unbewußten  Potentialität  in  die  Aktua- 
lität trete.  Da  dieses  Schema  schließlich  aus  dem  unterbewußten 
oder  überbewußten  Wesen  des  allen  gemeinsamen  Geistes  überhaupt 
stammen  muß,  so  führt  das  zuletzt  auf  einen  gemeinsamen  Grund 
der  Einzelgeister  überhaupt.  Aber  die  Bindung  an  die  sinnlichen 
Zeichen  bleibt  bestehen  und  die  Berührung  selbst  bleibt  unerhellt; 
vor  allem  das  alle  Möglichkeiten  schon  enthaltende  System  ist  auf 
den  wichtigsten  Fall  nicht  eingestellt,  daß  elementar  neue  Kräfte 
aus  dem  Fremd- Ich  in  das  eigene  überströmen1). 

Auf  dem  letztern  Wege  allein  ist  vorwärts  zu  kommen.  Er 
führt  aber  dann  geradezu  zu  Sätzen,  die  denen  der  Leibnizischen 
Monaden-  und  der  Malebrancheschen  Partizipationslehre  sehr  nahe 
stehen.  Das  Fremdseelische  kann  nur  erkannt  werden,  weil  wir 
es  vermöge  unserer  Identität  mit  dem  Allbewußtsein  anschaulich 
in  uns  selber  tragen  und  es  verstehen  und  empfinden  können  wie 
unser  eigenes  Leben,  indem  wir  es  doch  zugleich  als  ein  fremdes, 
einer  eigenen  Monade  angehöriges  empfinden.  Nur  so  ist  vor  allem 
die  eigentliche  Begabung  des  Dichters  zu  verstehen,  etwa  auch 
ein  großer  Teil  der  sogenannten  okkultistischen  Phänomene,  soweit 
sie  sich  experimentell  bewähren  sollten.  Nur  so  ist  auch  das  Ver- 
fahren des  Historikers  zu  verstehen,  der  gleichfalls  hierin  seine 
besondere  Begabung  hat,    die  er   Takt,    Instinkt  und  Divination 

seelischen  mit  der  besonderen  Art  der  Auffassung  der  Historie  und  Entwicklung 
zusammenhängen.  —  Dem  entspricht  auch  bei  Paul  die  allgemeine  philosophische 
und  praktische  Einschätzung  der  Geschichte.  Sie  bietet  ihm  wesentlich  nur  förder- 
liche oder  warnende  Beispiele  für  rationelle  Lebensgestaltung  und  vor  allem  ein 
retardierendes  Mittel  gegen  revolutionären  Doktrinarismus,  Das  Wesen  der  Ge- 
schichte, 1920.  Was  für  Driesch  der  Mangel,  das  ist  für*Paul  der  Vorteil  der 
Geschichte ;  im  übrigen  sind  die  Voraussetzungen  verwandt.  —  Auch  Driesch  geht 
in  seiner  Ordnungslehre  oder  der  die  Gesamterfahrung  umfassenden  Logik  vom 
strengen  Solipsismus  aus  und  behandelt  in  ihr  das  Fremdseelische  ganz  in  der  sen- 
sualistisch-assoziationistischen  Weise  wie  Paul,  Wirkl.  S.  9,  Ordnungsl.  332. 

1)  S.  hierzu  Paul  Menzer,  Persönlichkeit  und  Philosophie,  1920  mit  dem 
charakteristischen  Motto  aus  Dilthey :  „Der  Biograph  soll  den  Menschen  sub  specie 
aeterni  erblicken,  wie  er  selbst  sich  in  Momenten  fühlt,  in  welchen  zwischen  ihm 
und  der  Gottheit  alles  Hülle,  Gewand  und  Mittel  ist.  M.  meint  S.  16  f. :  „Für 
die  letzte  Annäherung  von  Seele  zu  Seele  läßt  sich  naturgemäß  keine  eigentlich 
methodische  Regel  angeben"  S.  16  und  verweist  auf  das  Geheimnis  der  Kon- 
genialität. 


290  Ernst  Troeltsch, 

nennt,  wie  umgekehrt  in  der  Partizipation  an  der  eigentümlichen 
die  Natur  durch  waltenden  Gesetzmäßigkeit  die  Schärfe  der  jedesmal 
auf  dieses  Ziel  hin  orientierten  Beobachtung  die  eigentümliche 
Begabung  des  Naturforschers  ausmacht.  Aber  freilich  ist  nun 
alles  das  von  einer  phantastischen  Mystik  freizuhalten.  Es  bleibt 
immerdar  bei  der  Bindung  solcher  intuitiven  Erkenntnis  an  ein- 
fache oder  abgeleitete  sinnliche  Vermittelungen.  Nur  durch  die 
Einwirkung  von  fremden  Körpern  her  und  durch  körperliche 
Wahrnehmung  wird  diese  Intuition  aktualisiert.  Der  häufigste 
Fall  der  Aktualisierung  ist  Mimik  und  Sprache.  Aber  auch  Schrift, 
Denkmäler,  Überreste  aller  Art  können  als  solche  Vermittler 
dienen.  Es  sind  die  Gelegenheitsursachen,  ohne  die  es  solche 
Schau  nicht  gibt;  sogar  die  eventuellen  okkultistischen  Phänomene 
können  ihrer  nicht  entbehren.  Weiter  bleibt  bestehen,  daß  nach 
Begabung  und  Art  des  Schauenden,  also  nach  psychologischen  Zu- 
fälligkeiten das  Ergebnis  sehr  verschieden  ist.  Die  Talente  des 
Verstehens  können  durch  Übung  und  Vergleichung  gesteigert  werden, 
aber  die  Fähigkeiten  der  Hingebung  und  Einbohrung  in  das  Fremd- 
seelische bleiben  auch  dann  sehr  verschieden  in  der  Intensität  und 
in  der  Interessenrichtung.  Auch  die  Fähigkeiten  der  Ergänzung, 
Zusammenschau  und  Durchschau  sind  verschieden  von  denen  der 
scharfen  Einzelbeobachtung  und  strengen  Exaktheit.  Keine  wissen- 
schaftliche Erziehung  kann  das  vollständig  ausgleichen.  Sinnhuber 
und  Stoffhuber  wird  es  immer  geben.  Das  führt  in  die  unauf hell- 
baren Tiefen  der  Individuation,  vermöge  deren  das  Allbewußtsein 
in  den  einzelnen  Individuen  mit  seinem  Inhalt  und  Gesetz  ver- 
schieden intensiv,  extensiv  und  qualitativ  enthalten  ist.  Auch  sind 
selbstverständlich  Täuschungen  und  Irrtümer  nicht  ausgeschlossen, 
sowohl  in  der  Deutung  der  sinnlichen  Zeichen  und  Symbole  als 
in  der  Deutung.,  des  aus  ihnen  hervorleuchtenden,  dahinterlie- 
genden  Zusammenhanges.  Darin  ist  auch  die  Mithilfe  so  vieler 
intellektueller  Hilfsmittel,  Ergänzungen,  Konstruktionen  und  Kon- 
trollen begründet,  die  aus  tausendfacher  Erfahrung  hervorgehen 
und  zu  generalisierenden  Typen  und  Schematen  oder  Auffassungs- 
kategorien sich  verdichten.  Aber  letzten  Endes  liegt  die  eigent- 
liche Überführung  und  Gewißheit  doch  immer  in  einem  Gefühl, 
schauend  das  Reale  im  Einzelnen  wie  im  Zusammenhang  erfaßt  zu 
haben.  Es  ist  Schauen,  nicht  Erdenken.  Aber  in  dem  Geschauten 
sind  die  logischen  Zusammenhänge,  Kontinuierlichkeiten  und  Kon- 


Die  Logik  des  historischen  Entwickelungsbegriffes.  291 

struktionen  mitgeschaut  und  mitenthalten1)  und  werden  bei  ab- 
strakter Fragestellung  nur  aus  ihm  herausgelöst,  um  dann  weiter- 
hin wieder  als  Hilfsmittel  und  Kriterien  zu  dienen.  Darin  ist 
letztlich  die  Anschaulichkeit  aller  Entwicklungsbegriffe,  der  histo- 
rischen insbesondere,  also  die  Anschaulichkeit  des  Begriffs  über- 
haupt, begründet,  der  in  keiner  Realwissenschaft  einen  letzten  Rest 
von  Anschaulichkeit  austilgen  kann,  beim  seelisch-geistigen,  auf 
Körperlichkeit  begründeten  Leben  aber  sie  in  besonders  hohem  Maße 
festhält.  Die  Entwicklungsbegriffe  sind  also  nichts  anderes  als  die 
Selbsterfassung  der  inneren,  geschauten  und  durch  die  Verwicklungen 
miterlebten,  werdenden  Sinnzusammenhänge  des  Geschehens  selbst 
mit  all  den  anthropologischen  Einschlägen,  Begrenzungen  und  Kunst- 
griffen, vermöge  deren  sie  einer  Oberflächenbetrachtung  überhaupt 
als  bloße  Kunstgriffe  oder  als  rein  logische,  aus  allerhand  Erwä- 
gungen zusammengeflickte  Gültigkeiten  erscheinen  können.  In 
letzter  Linie  gehen  sie  auf  die  innere  Bewegung  des  Weltlebens 
selbst  zurück  und  bedeuten  in  ihrem  letzten  und  tiefsten  Grunde 
als  Einheit  von  Sein  und  Sinn,  Tatsache  und  Ideen,  Substanz  und 
Bewegung  den  eigentlichsten  Gegenstand  der  Metalogik,  wie  bei 
Hegel  und  Bergson2). 


1)  Gottl  in  seiner  scharfsinnigen  Untersuchung  drückt  das  mehrmals  so  aus : 
„das  Erschließen  des  (spezifisch-historischen)  Geschehens  hat  den  Sinn,  daß  wir 
an  der  Hand  jener  vernünftigen  Erwägung  das  Geschehen  in  seinen  in- 
neren Zusammenhängen  durchschauen.  In  solcher  Weise  steckt  hier 
gleichsam  die  Logik  im  Geschehen  selber.  Und  danach  ist  auch  das 
Verhältnis  unsres  erkennenden  Geistes  zum  historischen  Geschehen  beschaffen; 
a.  a.  0.  51.  Die  „vernünftige  Erwägung"  ist  die  Erfassung  des  Sinnzusammen- 
hanges, die  etwas  ausgesprochen  „Rezeptives"  sei  49. 

2)  Die  Eigentümlichkeiten  des  historischen  Begriffs  und  der  historischen 
Abstraktion  erhalten  von  hier  aus  ihre  letzte  Begründung.  Wie  weit  auch  Urteil 
und  Schluß  und  innerhalb  des  letztern  Induktion  und  Deduktion  besonders  bestimmt 
werden,  ist  eine  Frage  für  sich.  Xenopol  lehrt  auf  Grund  der  Zeit-  und  Successions- 
logik  auch  besondere  Formen  der  Induktion  und  Deduktion  auf  dem  Gebiete  der 
Historie  S.  465  ff.  Er  will  lieber  von  Inferenz  als  von  Syllogismus  sprechen.  Doch  sind 
seine  Ausführungen  zu  kurz  und  dürftig.  —  Sehr  charakteristisch  ist,  daß  auch 
Driesch  immer  wieder  diese  Doppelheit  und  die  in  Elementen  nicht  fixierbare  Art 
des  Werdens  streift.  Es  zeigt  sich  hier,  daß  die  SetzungWerden  der  tiefsten 
Ursprünglichkeit  des  Denkens  widerstrebt ;  Denken  ist  ja  gerade  Festhalten,  Setzen. 
Doch  muß  die  Ordnungslehre  das  Werden  zulassen.  „Ord.  324.  Indem  die  Ordnung 
oder  Logik  bei  Driesch  auf  das  bestimmt  umgrenzte  Festhalten  losgeht,  gelangt 
sie  sofort  zum  Zählen  und  zu  zählbaren  Mannigfaltigkeiten,  damit  zu  Arithmetik  und 
Geometrie.    Damit  ist  der  naturwissenschaftliche  Charakter  aller  Logik  bei  ihm  ent- 


292  Ernst  Troeltsch, 

Damit  erst  kann  der  Streit  der  Lebens -Anschauer  und  der 
Formdenker  geschlichtet  werden.  Freilich  bleiben  ungeheure  Schwie- 
rigkeiten übrig:  wieso  es  zu  jenen  Konkretionen  des  Allbewußt- 
seins kommen  könne  und  wie  weit  sich  diese  oberhalb  und  unter- 
halb der  Menschen  erstrecken  mögen?  wieso  es  zu  der  Bindung 
dieser  Bewußtseinskonkretionen  an  körperliche  "Leiber  komme  und 
jede  Schauung  durch  sinnliche  Zeichen  vermittelt  sein  müsse  ?  wie 
das  anthropologisch  bedingte  Denken  zugleich  eine  Erfassung  des 
Absoluten  sein  könne?  wie  Sein  und  Denken,  Tatsächlichkeit  und 
Sinnziel  in  diesem  eine  Lebenseinheit  bilden  können  ?  wie  die  durch 
das  Wirrsal  der  Erfahrung  an  diese  Schauung  sich  herantastende 
formale  Logik  sich  zu  den  innern  Einheitsgesetzen  des  Absoluten 
verhalte?  wieso  unser  Leib  in  die  Verknüpfung  mit  der  Leibes- 
umgebung die  Voraussetzung  aller  Schauung  und  doch  selber  zu- 
gleich ein  Bestandteil  dieser  sein  könne  und  müsse?  Auf  diese 
Fragen  ist  hier  nicht  zu  antworten,  abgesehen  davon,  daß  ich  es 
überhaupt  nicht  vermöchte.  Auch  braucht  weder  die  Alltagser- 
kenntnis noch  die  Realwissenschaft  bei  ihrer  praktischen  Betäti- 
gung auf  diese  ganze  Erkenntnistheorie  jedesmal  zurückzugehen, 
so  wenig  wie  der  Mensch  zum  G-ehen  die  Gesetze  der  Statik  zu 
überlegen  braucht.  Diese  Hinter-  und  Untergründe  wirken  ganz 
von  selbst  und  umso  sicherer,  je  weniger  wir  gleichzeitig  auf  sie 
reflektieren.  Aber,  wo  die  großen  Grund-  und  Prinzipienfragen 
nach  Wesen  und  Gehalt  der  wissenschaftlichen  Arbeit  auftauchen, 
da  muß  auf  sie  zurückgegriffen  werden,  weil  diese  nur  von  ihnen 
aus  beantwortet  werden  können,  so  unabhängig  die  Praxis  im 
Einzelnen  ist  und  sein  muß1). 


schieden  und  auch  die  Geschichte  gehört  ihm  zur  Naturwissenschaft,  173  Anmkg.  Es 
bleibt  nur  die  Möglichkeit  übrig  sie  wie  die  Embryologie  auf  ein  Ganzheitssystem 
zu  beziehen,  das  wir  aber  leider  nicht  kennen.  Ein  solches  Ganzheitssystem  hat 
überdies  mit  Sinn  und  Wert  nichts  zu  tun,  sondern  ist  ein  rein  logischen  Bedürf- 
nissen genügender  Ordnungsbegriff,  wie  die  mathematischen  und  biologischen  Be- 
griffe auch.  Auch  hier  ist  die  Vorherrschaft  des  Naturalismus  trotz  alles  „ Idea- 
lismus" entscheidend. 

1)  So  sagt  Schmoller  „Gedächtnisrede  auf  Sybel  und  Treitschke"  SBA  1896 
S.  6 ;  „Es  hat  nie  einen  großen  Historiker  gegeben,  der  nicht  über  das  Verhältnis 
der  Gottheit  zur  Menschengeschichte,  über  Ursprung  und  Ziel  der  historischen  Ent- 
wicklung, über  Fortschritt  oder  Rückschritt  und  ihre  Ursachen,  über  die  großen 
Tendenzen  in  den  innern  Veränderungen  der  Staaten,  über  ihre  Wechselwirkung 
unter  einander,  über  die  letzten  sittlichen  und  politischen  Fragen  eine  feste  Über- 
zeugung gehabt  hätte".  —  Über  den  Übergang  von  Empirie  und  Phänomenologie 


Die  Logik  des  historischen  Entwickelungsbegriffes.  293 

Wenn  man  nur  von  hier  aus  die  Individualität  in  ihrem 
historisch  letzten  Sinne  verstehen  kann,  so  kann  man  auch  erst 
von  hier  aus  den  historischen  Entwicklungsbegriff  bestimmen.  Wie 
weit  etwas  ähnliches  von  den  außerhistorischen  Entwicklungsbe- 
griffen und  gar  von  dem  kosmischen  Entwicklungsbegriff  gelten  kann, 
ist  eine  Frage  für  sich.  Jedenfalls  sind  diese  Begriffe,  vor  allem 
natürlich  der  zweite,  abstrakter  und  konstruierter  als  der  histo- 
rische. Dieser  letztere  beruht  in  voller  Wahrheit  auf  Intuition 
des  Fremdseelischen  in  dem  geschilderten  Sinne,  somit  in  erster 
Linie  auf  Anschaulichkeit.  Erst  inj  dem  Maße,  als  er  aus  dieser 
Anschaulichkeit  konstruktiv  den  logisch-teleologischen  Zusammen- 
hang herauslöst,  wird  er  abstrakter,  und  über  je  weiteres  und  je 
mittelbareres  Material  er  sich  ausdehnt,  umso  mehr  wird  auch  er 
naturgemäß  abstrakt,  konstruktiv  analogiehaft  und  unanschaulicher. 

Daraus  ergeben  sich  wichtige  F o  1  g e n  in  der  praktischen 
Ausgestaltung  des  Entwicklungsbegriffes.  Er  wird 
zunächst  nur  auf  geschlossene,  anschaulich  und  real -kausal  zu- 
sammenhängende, in  der  Zeit  bereits  vollendete  Geschehens-Grruppen 
angewendet  werden  können,  seien  es  nun  Völker  und  Staaten,  Pe- 
rioden und  Zeitabschnitte  oder  Entwicklungsstrecken  einzelner 
Kulturelemente.  Er  wird  umso  konkreter,  anschaulicher  und  leben- 
diger sein,  je  reicher  das  Überlieferungs-  d.  h.  das  Zeichenmaterial 
ist,  und  je  ernster  die  Vertiefung  in  dessen  innern  Zusammenhang 
hineingetrieben  wird.  Beim  Mangel  an  solchem  kann  er  nicht  ge- 
funden, beim  Überfluß  nicht  festgehalten  werden.  Erst  wenn  Ver- 
vollständigung oder  Sichtung  des  Materials  in  immer  neuen  An- 
läufen erreicht  worden  ist,  wird  man  eine  historische  Totalität 
entwicklungsgeschichtlich  darstellen  können,  immer  beim  Darsteller 
eine  allgemein  ausgebreitete  und  kategorial  geordnete  Menschen- 
und  Weltkenntnis  d.  h.  angehäufte  und  wiederholte  Schauungen 
vorausgesetzt.  Auch  so  wird  etwas  Hypothetisches  und  Kon- 
struiertes immer  übrig  bleiben.  Aber  wo  Stärke  und  Tiefe  der 
Anschauung,  realer  Tatsachensinn  und  Wahrheitsliebe,  kritische 
Vorsicht  und  Fähigkeit  der  Anschmiegung  an  das  Wirkliche, 
Kunst  der  Zerteilung  und  Verknüpfung  der  Fäden  zugleich  mit- 
eingesetzt werden,  da  wird  man  ein  Bild  gewinnen,  das  in  allen 
Grenzen    anthropologisch  -  endlicher  Bedingtheit  doch  die  im  kon- 

zur  Metaphysik  Drieschs  Wirklichkeitslehre,  mit  dem  ich  in  diesem  Punkte  ganz 
übereinstimme;  nur  muß  m.  E.  die  Metaphysik  wenigstens  in  der  Historie  früher 
eingreifen. 
Kantstudien.   XXVII.  20 


294  Ernst  Troeltsch, 

kreten,  absoluten  Bewußtsein  oder  im  Allleben  sich  abspielende 
Bewegung  und  ihren  Sinnzusammenhang  erfaßt.  Es  werden  in 
erster  Linie  also  Einzel -Entwicklungskreise  sein,  die  sich 
so  ergeben,  und  die  Regel  ihrer  Darstellung  wird  sich  in  Form 
empirischer  Geschichtslogik  so  darstellen,  wie  es  oben  geschehen  ist. 
Aber  naturgemäß  drängen  die  Einzelkreise  zu  Verbindungen 
und  Reihen,  die  ja  überdies  real- kausal  und  anschaulich  vorliegen, 
die  aber  nun  freilich  eine  sehr  starke  umfassende  Kraft,  sehr  tiefe 
Einfühlung  und  viele  ergänzende  und  Lücken  überbrückende  Hy- 
pothesen verlangen.  Auf  diesem  Wege  kommt  es  zur  Universal- 
geschichte, die  die  natürliche  Vollendung  und  Krone  der 
Historie,  die  zusammenfassende  Leistung  des  Entwicklungsbegriffes 
ist.  Aber  mit  der  Universalgeschichte  hat  es  nun  doch  überdies 
eine  eigene  Bewandtnis,  die  aus  dem  Wesen  dieser  ganzen  Sachlage 
folgt.  Sie  scheint  dem  Wesen  der  Sache  nach  auf  eine  Geschichte 
der  ganzen  Menschheit  in  der  Weite  des  Raumes  und  der  Uner- 
meßlichkeit der  Zeit  hinausgehen  und  den  Zusammenhang  sowohl 
als  einen  real-kausalen  wie  als  einen  von  einheitlicher  Sinnentwick- 
lung erfüllten  ansehen  zu  müssen.  Nun  ist  aber  dieses  Ganze 
räumlich  und  auch  zeitlich,  soweit  es  bereits  vorliegt,  nicht  zu 
übersehen.  Auch  gehen  die  vorliegenden  großen  Hauptgruppen 
—  abgesehen  von  vereinzelten  Berührungen  —  weder  zu  einem 
real-kausalen  Zusammenhang  noch  zur  Einheitlichkeit  des  kultu- 
rellen Sinnes  tatsächlich  zusammen.  Vor  allem  aber  ist  selbst- 
verständlich die  Zukunft  unbekannt  und  bei  deren  realen,  höchst 
verschiedenen  Möglichkeiten  in  der  Einheit  eines  aus  der  Betrach- 
tung des  Ganzen  geschöpften  Sinnes  nicht  einzubeziehen.  Es  ist 
daher  nur  natürlich,  daß  in  Zeiten  ohne  den  historischen  Sinn  und 
ohne  das  harte  kritische  Realitätsbewußtsein  der  Gegenwart *)  das 
auch  dort  schon  erwachende  Bedürfnis  nach  der  Universalgeschichte 
diese  ohne  weiteres  aus  völlig  idealen  oder  abstrakten  Zielen  ethischer 
oder  religiöser  Art  konstruierte,  wie  es  der  jüdische  Messianisraus, 
die  christliche  Erlösungslehre  und  das  stoische  Naturrecht  getan 
haben.  Aus  der  Historie  selbst  ist  dabei  nur  insofern  geschöpft, 
als  gewisse  Inhalte  der  eigenen  Gegenwart  einfach  abstrakter 
gefaßt  und  verabsolutiert  wurden.  Nicht  anders  steht  es  mit  dem 

1)  Über  dieses  herbe  und  männliche  Ethos,  das  schon  die  Voraussetzung  der 
Quellenkritik  und  Tatsachenfeststellung  ist,  s.  v.  Sybel,  Gesetze  S.  22.  Das  Gegen- 
stück dazu  ist  etwa  die  Vorrede  von  Benz  zu  der  Diederichschen  Prachtausgabe 
der  Legenda  Aurea  mit  ihrer  weichlichen  und  rührseligen  Phantastik. 


Die  Logik  des  historischen  Entwickelungsbegriffes.  295 

nächsten  Nachfolger  der  christlichen  Universalgeschichte,  dem  mo- 
dernen profanen  Naturrecht  und  natürlichen  System,  das  als  Ziel 
und  Triebkraft  des  Fortschrittes  konstruiert  wurde  und  auch 
seinerseits  den  eigenen  gegenwärtigen  Kulturstand,  den  ver- 
bürgerlichten und  politisierten  Individualismus  der  Renaissance, 
verbegrifflichte  und  verabsolutierte.  Nur  war  jetzt  die  Einbezie- 
hung kritisch  untersuchten  historischen  Stoffes  schon  sehr  viel 
reichlicher.  Das  ideale  ethisch -religiöse  Ziel  und  die  inzwischen 
ungeheuer  angewachsene  moderne  Historie  zur  Deckung  zu  bringen 
und  gerade  in  dieser  Deckung  Universalgeschichte  und  Sinneinheit 
der  Menschheit  zugleich  anschaulich  zu  machen,  war  dann  das 
Bestreben  der  übrigens  so  völlig  verschiedenen  Lehren  Hegels  und 
Comtes.  Hegel  rechnete  daher  mit  einer  prinzipiellen  Vollendetheit 
des  Geschichtsprozesses,  Comte  mit  der  Berechenbarkeit  und  Voraus- 
sehbarkeit  der  Zukunft  auf  Grund  historischer  Gesetze;  nur  bei 
diesen  Voraussetzungen  waren  ihre  Konstruktionen  logisch  möglich. 
Seitdem  hat  der  historische  Realismus  sehr  viel  weiter  um  sich 
gegriffen,  und  die  Universalgeschichte  ging  entweder  wieder  in 
Gestalt  der  Evolutionslehre  oder  des  Naturrechts  auf  die  alten 
abstrakten  Zielkonstruktionen  der  Aufklärung  zurück  oder  sie  verfiel 
der  Skepsis  und  der  Geringschätzung.  Die  Historiker  huldigten  der 
Geschichte  von  Einzelkreisen  und  die  universale  Entwickelungslehre 
flüchtete  sich  in  die  systematischen  Geisteswissenschaften,  und  fand 
auch  dort  immer  geringere  Möglichkeiten  der  Durchführung. 

Soweit  die  Historiker  selbst,  wie  Ranke  und  Guizot,  der  Uni- 
versalgeschichte treu  blieben,  schufen  sie  sie  in  "Wahrheit  in  eine 
Entwickelungsgeschichte  der  mittelmeerisch  -  europäisch  -  amerika- 
nischen Kultur  um.  Aber  auch  bei  ihnen  war  das  organisierende 
Einheitsprinzip  der  Entwickelung,  so  sehr  es  aus  dem  Zusammen- 
hang der  Tatsachen  selbst  geschöpft  werden  sollte  und  geschöpft 
wurde,  doch  von  dem  Glauben  des  Besitzes  einer  gegenwärtigen 
Humanität  und  einer  von  ihr  weiter  geleiteten  Zukunft  bestimmt. 
Da  Verlauf  und  Gegenwart  selbstverständlich  keine  schlechthin 
einheitliche  Sinn-Idee  zeigen,  mußte  die  letzte  und  eigentlichste 
Zusammenfassung  doch  auch  bei  ihnen  aus  eigenem  Glauben  und  Be- 
jahen und  aus  antezipierter  Weiterent Wickelung  gewonnen  werden. 
Die  nun  folgenden  Erschütterungen  der  europäischen  Humanitäts- 
idee, die  Ausbreitung  des  historischen  Forschungsfeldes,  das  Spezia- 
listentum, die  philosophische  und  religiöse  Skepsis  machten  aber 
auch    schließlich    diese   Art    der   Universalgeschichte    immer    sel- 

20* 


2%  Ernst  Troeltsch, 

tener1).  Heute  schweigen  die  eigentlichen  Historiker  darüber  im 
Ganzen,  die  Philosophen  klammern  sich  an  Biologie,  Darwinismus 
oder  allgemein  idealistische  Konstruktionen  aus  Postulaten  oder 
sie  erneuern  naturrechtliche  Ideen,  die  in  Westeuropa  und  vor 
allem  in  Amerika  immer  sehr  stark  geblieben  sind,  oder  man  kehrt 
zu  Hegel,  Schelling  und  Fichte,  Comte  oder  Spencer  zurück. 

Der  universalgeschichtlichen  Entwicklung  ist  Sinneinheit  und 
Sinnbeziehung  unentbehrlich.  Diese  aber  ist  bei  dem  unabgeschlos- 
senen Verlauf  aus  rein  historischer  Kontemplation  nicht  zu  finden. 
Diese  könnte  höchstens  eine  Fülle  historischer  Gestalten  neben 
einander  und  in  mannigfacher  Verkettung  zeigen.  Der  Sinn  könnte 
dann  höchstens  in  dem  Reichtum  des  Anschauens  dieser  Fülle 
menschlicher  Möglichkeiten,  der  Illustration  der  Humanität,  be- 
stehen. Es  wäre  im  Grunde  nichts  anderes  als  die  Kaleidoskop- 
und  enzyklopädische  Bildungsidee ;  wenigstens  ist  das  die  populäre 
Vergröberung  jener  Kontemplation.  Aber  das  hat  für  eine  in 
schweren  sozialen  Krisen  und  geistig-religiösen  Nöten  lebende  Welt 
den  Reiz  verloren.  Sie  kennt  und  liebt  das  allgemeine  Menschen- 
tum nicht  mehr,  das  sich  in  dieser  Fülle  von  Bildern  auseinander- 
legen soll.  Sie  will  des  eigenen  Wesens  und  Sinnes  sicher  werden, 
die  Humanität  als  führende  Zielidee  neuen  oder  gereinigten  Menschen- 
tums erst  finden,  und,  soweit  sie  an  dem  kritisch  -  wissenschaft- 
lichen Geiste  festhält,  sucht  sie  aus  der  Geschichte  Erkenntnis  für 
das  Leben.  Das  ergibt  dann  eine  Universalgeschichte,  die  organi- 
siert ist  von  der  Idee  einer  gegenwärtigen  Kultursynthese  aus 
und  eine  gegenwärtige  Kultursynthese,  die  herausgeholt  ist  aus 
dem  Entwickelungstrieb  unseres  geschichtlichen  Lebenszusammen- 
hanges. In  dieser  Korrelation  besteht  darum  heute  die  Geschichts- 
philosophie,   und  die  Lösung  dieses  ihres  Problems   ist   weder   ein 


1)  Interessant  ist  eine  Bemerkung  v.  Belows  „Deutsche  Geschichtsschreibung" 
S.  Ulf.  „Wenn  wir  das  konkrete  politische  Ziel  und  die  (Entwickelungs-)Formel 
der  spekulativen  Philosophie,  die  uns  Hegel  bot,  als  konstruktives  Prinzip  ver- 
werfen, welches  bleibt  uns  dann  noch"?  Er  antwortet  durch  den  Hinweis  auf 
„Werte,  an  deren  objektive  Geltung  wir  glauben",  und  von  denen  wir  voraus- 
setzen, „daß  ein  Fortschritt  in  dem  allgemeinen  Erkennen  und  Anerkennen  der 
Werte  zu  erreichen  ist".  „Das  Streben  nach  dem  Fortschritt  in  dem  Erkennen 
solcher  objektiver  Kulturwerte  in  Verbindung  mit  dem  Bewußtsein,  daß  hier 
eine  Erkenntnis  nur  durch  immer  fortgesetzte  S e  1  b s t prüfung,  Selbstbesinnung 
zu  gewinnen  ist,  wird  das  zuverlässigste  konstruktive  Prinzip  sein,  über  das  der 
Historiker  verfügen  kann".  Dann  aber  ergibt  sich  freilich  das  Problem  des  Indi- 
viduellen. 


Die  Logik   des  historischen  Entwickelungsbegriffes.  297 

phantasiereiches  und  poetisches  Lebensbild  noch  eine  künstliche 
logische  Erzeugung  des  Denkens,  sondern  das  Werk  eines  reinen 
Schauens,  das  alle  unterstützenden  Hilfsmittel  mit  schärfstem  rea- 
listischen Sinn  gewissenhaft  benützt.  Solche  Geschichtsphilosophie 
verlangt  aber  eine  Zusammendrängung  des  Gegebenen  und  einen 
Zuschuß  des  Glaubens  an  eine  im  Gegebenen  sich  offenbarende 
göttliche  Idee,  die  alle  Universalgeschichte  trotz  fast  unmerklicher 
Übergänge  von  der  empirischen  Entwickelungsforschung  wesentlich 
und  grundsätzlich  unterscheidet.  Darum  gehört  die  Universalge- 
schichte der  Geschichte  und  Geschichtsphilosophie  zugleich  und  nicht 
der  bloßen  exakten,  empirischen  Forschung.  Sie  ist  illusionslose 
kritische  Tatsachenforschung  und  ent wickelungsgeschichtliche  sorg- 
samste Konstruktion;  denn  trotz  aller  Greuel  und  Frevel  der 
Wirklichkeit  hält  sie  die  Erkenntnis  #es  Wirklichen  für  die 
Voraussetzung  aller  Wahrheit;  sie  will  nicht  Dichtung  und  nicht 
apriorisches  System  sein.  Aber  sie  muß  zugleich  auch  mit  einem 
Tropfen  ethischen  Entschlusses  und  religiösen  Glaubens  an  die  im 
Wirklichen  durchdringenden  Ideengehalte  gesalbt  sein,  oder  sie  ist 
überhaupt  unmöglich. 


Das  logische  Recht  der  Kantischen  Tafel 

der  Urteile. 

Von  Karl  Joel,  Basel. 


Seit  fünfzig  und  menr  Jahren  erleben  wir  in  der  Philosophie 
eine  mannigfache  Erneuerung  der  Kantischen  Lehre ;  in  merkwür- 
digem Gegensatz  dazu  vollzog  sich  gleichzeitig  eine  kritische  Zer- 
störung der  Kantischen  Urteilstafel  mit  solcher  Schärfe,  daß  von 
diesem  wichtigen,  ausgeführtesten  Bauteil  des  Systems  wohl  kein 
Stein  mehr  auf  dem  andern  steht,  weil  sie  mehr  oder  minder  alle 
der  modernen  Kritik  zu  Steinen  des  Anstoßes  wurden.  Schon 
Lotze  hatte  ja  die  Kantischen  Formulierungen  der  Urteilsunter- 
schiede (außer  denen  der  Relation)  stark  diskreditiert:  die  quan- 
titativen Unterschiede  bezeichneten  keinen  eigentümlichen  „Fort- 
schritt der  logischen  Arbeit";  die  Modalitätsunterschiede  sollen 
„mit  dem  logischen  Gefüge  des  Urteils  in  gar  keinem  Zusammen- 
hang stehen".  Bei  der  Qualität  heißt  es  von  den  affirmativen  und 
negativen  Urteilen:  „zwei  wesentlich  verschiedene  Arten  des  Ur- 
teils als  solchen  begründet  dieser  Unterschied  nicht",  und  gar  im 
limitativen  Urteil  kann  Lotze  „nur  ein  widersinniges  Erzeugnis 
des  Schulwitzes  finden".  Wohl  alle  Modernen  folgen  ihm  darin, 
S  ig  wart  voran,  der  die  Kritik  weiterführt:  auch  „das  vernei- 
nende Urteil  kann  nicht  als  eine  dem  positiven  Urteil  gleichbe- 
rechtigte und  gleich  ursprüngliche  Species  des  Urteils  betrachtet 
werden".  Ebenso  kann  Sigwart  die  quantitative  Einteilung  nicht 
„als  eine  richtige  erschöpfende  betrachten",  schon  weil  das  singu- 
lare Urteil  mit  dem  particularen  und  dem  allgemeinen  „ganz  un- 
vergleichbar" sei,  und  es  bestehe  auch  „kein  Grund"  aus  diesen 
wieder  „besondere  Arten  des  Urteils  überhaupt  zu  machen" ;  ja 
es  sei  „eine  Gewaltthätigkeit"  „von  jedem  Urteil  den  Ausweis  zu 
verlangen,  ob  es  ein  particulares  oder  allgemeines  ist".    Das  „so- 


Das  logische  Recht  der  Kantischen  Tafel  der  Urteile.  299 

genannte"  particulare  Urteil  biete  einen  „durchaus  inadäquaten 
Ausdruck":  „incongruent"  dem  Gedanken,  den  es  „verhüllt",  sei 
es  „verwirrend"  und  gehöre  „zu  den  unglücklichsten  und  unbe- 
quemsten Schöpfungen  der  Logik".  Aber  auch  bei  den  „soge- 
nannten Unterschieden  der  Modalität"  dürfe  zunächst  das  „soge- 
nannte" problematische  Urteil  „nicht  als  Urteil  bezeichnet  werden", 
und  die  Lehre,  daß  es  „eine  Art  des  Urteils  sei",  ist  also  aufzu- 
geben". „Nicht  viel  glücklicher  ist  die  traditionelle  Lehre  in  ihrer 
Unterscheidung  des  assertorischen  und  apodiktischen  Urteils" ;  denn 
„das  sog.  assertorische  Urteil  ist  von  dem  apodiktischen  nicht 
wesentlich  verschieden".  Endlich  lasse  sich  auch  die  Einteilung 
„der  sogenannten  Relation"  in  kategorische,  hypothetische  und 
disjunktive  nicht  „als  erschöpfende  irgendwie  begründen".  „Die 
ganze  Einteilung  ist  undurchsichtig  und  unbrauchbar".  Und  so 
zeigt  sich  \m  „Ergebnis"  Kants  Tafel  überhaupt  als  „mangelhaft" 
oder  vielmehr:  es  bleibt  von  allen  12  Urteilsformen  für  Sigwart 
nur  eine:  „die  kategorische  Aussage  eines  Prädikats  von  einem 
Subjekt".  Ebenso  scharf  geht  Schuppe  mit  der  Kantischen  Ein- 
teilung ins  Gericht.  Wie  er  in  seinem  „Grundriß  der  Erkenntnis- 
theorie und  Logik"  schon  von  den  analytischen  und  synthetischen 
Urteilen  erklärt:  „eine  wissenschaftliche  Einteilung  kann  es  un- 
möglich sein",  so  heißt  es  da  weiter :  „die  Einteilung  der  Urteile 
nach  der  Quantität  trifft  nicht  das  Urteil  als  solches".  „Auch  die 
Einteilung  nach  der  Qualität  kann  der  wissenschaftlichen  Theorie 
nicht  genügen".  „Die  Urteile  der  Relation  (kategorische,  hypo- 
thetische, disjunktive)  und  die  der  Modalität  (apodiktische,  pro- 
blematische, assertorische)  unterscheiden  sich  eigentlich  gar  nicht". 
So  bleibt  also  von  der  ganzen  Kantischen  Einteilung  wieder  nichts 
übrig.  Nicht  ganz  so  ablehnend  und  doch  auch  scharf  lautet  das 
Resultat  bei  Lask  (die  Lehre  vom  Urteil  S.  205):  „die  einzige 
im  Specificum  der  Urteilsregion  heimische  Einteilung  ist  die  nach 
der  Qualität.  Alle  übrigen  Einteilungen  betreffen  irgendwie  in 
die  Urteilsregion  von  auswärts  hineinragende  Momente".  Ahnlich 
kennt  Rickert  (Gegenstand  der  Erkenntnis  4.  u.  5.  Aufl.  1921. 
S.  158)  im  Urteilsakt  nur  die  Unterschiede  der  Bejahung  und  Ver- 
neinung. Auch  Wundts  „Logik"  findet,  daß  Kants  Einteilung 
z.  T.  dem  Wesen  des  Urteils  fremde  Gesichtspunkte  von  außen 
hereintrage,  wie  sie  auch  nicht  nach  systematischem  Prinzip  ab- 
geleitet sei,  sondern  den  Charakter  einer  gewissen  Zufälligkeit  an 
sich  trage.     Nach  alledem  ist  es  noch   viel,   wenn  Windelband 


300  Karl  Joel, 

in  seinen  „Prinzipien  der  Logik"  (Encyclop.  d.  philos.  Wiss.  Bd.  I) 
von  den  12  Kantischen  Urteilsformen  5  übrig  behält,  nämlich  die 
der  Relation  und  die  mit  der  Modalität  zu  vereinigenden  Quali- 
tätsformen, von  denen  natürlich  das  limitative  Urteil  abzustreichen 
ist.  So  hat  selbst  für  Windelband  „der  Leitfaden,  den  Kant  in 
der  alten  „Tafel  der  Urteile"  gefunden  zu  haben  glaubte,  sich 
zerfasert",  und  „der  Fehler"  der  transcendentalen  Analytik  be- 
stehe darin,  daß  diese  Tafel  „lediglich  historisch  aufgerafft  ist. 
Denn  die  Vierteilung  ist  in  keiner  Weise  aus  dem  Wesen  des 
Urteils  abgeleitet  und  abzuleiten,  sondern  empirisch  aus  der  Schul- 
logik übernommen  und  in  den  Trichotomieen  symmetrisch  zuge- 
stutzt" (a.a.O.  34,1). 

Es  ist  eigentlich  Entgegengesetztes,  das  hier  Kant  vorgeworfen 
wird;  denn  die  Trichotomie  ist  ja  gerade  nicht  „historisch  auf- 
gerafft", sondern  es  bleibt  eine  wesentliche  Neuerung,  #  daß  Kant 
die  dritte  Form  als  „besonderen  Actus  des  Verstandes"  selbständig 
macht.  Um  nun  bald  mit  dem  letzten  Vorwurf  zu  beginnen,  so 
ist  diese  wohl  allgemein  angegriffene  Trichotomie  der  Urteilsarten 
ja  zunächst  gestützt,  allerdings  auch  gebunden  durch  die  der 
Kategorieen,  und  an  dieser  Beziehung  beider  und  der  darin  ge- 
suchten prinzipiellen  Gemeinsamkeit  zwischen  formaler  und  trans- 
cendentaler  Logik  will  gerade  auch  Windelband  festhalten  (ib., 
doch  vgl.  dazu  Lask  a.  a.  0.  117).  Aber  die  Bedeutung  der  Triaden 
reicht  ja  weiter.  Eine  bloße  Künstelei  stirbt  rasch  ab,  die  Kanti- 
sche Trichotomie  aber  hat  sich  erstaunlich  fruchtbar  erwiesen  und 
ja  den  ganzen  Aufbau  der  Systeme  Fichtes,  Schellings  und  Hegels 
bestimmt.  Kant  selber  hat  sie  bekanntlich  am  Schluß  der  Ein- 
leitung der  Kritik  der  Urteilskraft  aus  dem  Wesen  der  apriori- 
schen Synthesis  (gegenüber  der  analytischen  Dichotomie),  also  aus 
dem  Mark  seiner  Lehre  und  speziell  aus  seiner  Bestimmung  des 
Urteils  zu  rechtfertigen  gesucht.  Für  Kant  und  seine  spekulativen 
Nachfolger,  also  für  die  baumeisterlichsten  deutschen  Geister  ist 
also  das  Prinzip  der  Dreiteilung  hier  innerlich  begründet,  das  den 
weniger  innerlich  und  weniger  synthetisch  gestimmten  Modernen 
nur  als  äußere  Aufmachung  gilt,  als  willkürliche  und  gewaltsame 
Schematik,  ja  als  zopfige  Marotte.  Wer  nun  hier  Recht  habe,  je- 
denfalls so  leichthin,  ja  so  spöttisch  läßt  sich  diese  „innere  Form" 
der  alten  Meister  nicht  abtun.  Schließlich  sind  die  antithetischen 
Zweiteilungen,  die  der  schon  in  seiner  Erstlingsschrift  als  prinzi- 
pieller Mittler  auftretende  Kant  bei  den  Analytikern  Wolff  und 


Das  logische  Recht  der  Kantischen  Tafel  der  Urteile.  301 

Hume  vor  sich  hat,  auch  nicht  zufällig  und  ebensowenig  geschützt 
gegen  den  Vorwurf  schematischer  Künstelei.  Auch  die  überlie- 
ferten Zweiteilungen  der  analytischen  und  synthetischen  wie  der 
apriorischen  und  aposteriorischen  Urteile  hat  doch  Kant  gekreuzt 
zu  der  von  ihm  entdeckten  dritten  Klasse  der  synthetisch-apriori- 
schen, und  schließlich  steckt  doch  in  dieser  Entdeckung  der  ver- 
knüpfenden und  damit  dreiteilig  gestaltenden  Vernunft  der  ganze 
.  Kant. 

Wenn  aber  die  dreiteilige  Symmetrie  der  vier  Urteilsgruppen 
sich  nicht  schon  aus  diesem  allgemein  synthetischen  Charakter  der 
Vernunft  erklärt,  so  ließe  sie  sich  vielleicht  sonst  aus  einer  inneren 
Verwandtschaft  der  Gruppen  rechtfertigen,  die  gerade  von  jenen 
Kantkritikern  vielfach  bemerkt  wurde.  Sigwart  z.  B.  hat  die  tradi- 
tionellen Quantitätsunterschiede  auf  solche  der  Modalität  zurück- 
geführt (Logik  I4  238).  Lotze  schon  brachte  das  hypothetische 
Urteil  mit  dem  particularen  wie  das  disjunktive  mit  dem  allge- 
meinen zusammen  und  fand,  daß  in  diesem  das  Prädikat  dem  Sub- 
jekt notwendig  anhafte,  im  Einzelurteil  nur  als  zufällige  Tatsache, 
also  assertorisch;  dann  würde  das  particulare  Urteil,  das  nur 
„einigen"  einer  Subjektsgattung  ein  Prädikat  zuspricht,  es  damit 
als  möglich  kennzeichnen.  Ferner  lassen  sich  die  Urteile  der  Mo- 
dalität mit  denen  der  Relation  in  eine  Verbindung  bringen,  die 
Kant  selbst  schon  z.  T.  angedeutet  hat:  das  kategorische  Urteil 
spricht  assertorisch,  das  hypothetische  im  Sinne  einer  Möglichkeit, 
das  disjunktive  sagt  apodiktisch  über  eine  Allheit  aus.  Nach  alle- 
dem würden  die  kategorischen,  assertorischen  und  singularen  Ur- 
teile zusammengehen,  ebenso  die  hypothetischen,  problematischen 
und  particularen  und  wieder  die  apodiktischen,  disjunktiven  und 
allgemeinen,  und  wenn  nun  noch  Windelband  Recht  hätte,  daß  die 
Modalitätsformen  mit  denen  der  Qualität  schon  bei  Kant  und  in 
den  meisten  Behandlungen  vielfach  durcheinandergehen  und  sich 
auch  nicht  absondern  ließen  (a.  a.  0.  23) ,  so  wäre  der  Verwandt- 
schaftskreis geschlossen,  und  über  die  Gemeinsamkeit  der  drei- 
gliedrigen Struktur  der  Urteilsklassen  dürfte  niemand  mehr  den 
Kopf  schütteln. 

Doch  all  dies  mag  und  soll  als  zweifelhaft  gelten  und  kann 
wie  die  vorher  genannten  Daten  für  tiefere  und  weitere  Zusam- 
menhänge der  Trichotomie  nichts  entscheiden;  all  dies  soll  hier 
vielmehr  nur  als  Präliminarien  dienen  und  zwar  negativer  Art 
als  Warnungssignale,    daß   man  selbst  über   die  Form  der  Kanti- 


302  Karl  Joel, 

sehen  Urteilstafel  nicht  so  leichten  Fußes  hinwegspringe.  Natürlich 
soll  damit  nicht  entfernt  das  Formale  bei  Kant  für  sakrosankt 
erklärt  werden.  Wir  haben  ja  aus  Vaihingers  so  gründlichem 
Kommentar  reichlich  gelernt  schon  in  früheren  Abschnitten  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft  Inconvenienzen  zu  erkennen,  und  selbst 
Cohens  kurzer  Kommentar  des  Werkes  findet  an  Kants  Ausdrücken 
bei  Behandlung  der  Urteilstafel  manches  als  „schwierig"  und  „an- 
stößig" zu  berichtigen  (S.  47  ff.).  Gewiß  ist  so  Manches  an  der 
Namengebung,  an  der  Aufeinanderfolge  und  sogar  an  der  Begrün- 
dung bei  Kant  preiszugeben,  teils  weil  dem  damals  als  Lehrer 
noch  ans  Handbuch  Gefesselten  die  alten  Termini  und  sonstigen 
traditionellen  Formen  schwer  nachhingen,  teils  weil  sein  genialer 
Instinkt  oft  nur  ahnte,  aber  nicht  wußte,  warum  und  worin  er 
Neuerungen  brachte,  die  er  deshalb  bisweilen  nicht  bis  zur  Rein- 
heit ihrer  Tendenz  herausarbeitete.  Für  das  Urteil  nun  liegt  die 
wesentliche  Neuerung  in  seiner  Umschaltung  aus  analytischer  Statik 
in  synthetische  Dynamik  und  das  heißt  in  reine  Funktion.  Nur 
weil  Kant  selber  noch  darüber  hinaus  am  Inhalt  hängend  z.  B. 
das  Urteil:  alle  Körper  sind  schwer  (Newton  zu  Ehren)  für  syn- 
thetisch erklärt,  hat  er  Schleiermachers  Kritik  verdient,  die  ja 
den  Unterschied  des  synthetischen  und  analytischen  Urteils  ins 
Relative  aufhebt,  da  dasselbe  Urteil  je  nach  den  Umständen  beides 
sein  könne,  für  den  Wissenden  analytisch,  für  den  Unwissenden 
synthetisch  zustande  komme.  Wenn  Wundt  dazu  einwendet,  daß 
nach  Kant  nur  solche  Urteile  analytisch  seien,  in  denen  das  Prä- 
dikat im  Subjekt  nicht  mitgedacht  wird,  sondern  mitgedacht  werden 
muß,  so  fällt  hier  Kant  selbst  seinem  Verteidiger  ins  Wort ;  denn 
es  heißt  da  in  der  Einleitung  der  Kr.  d.  r.  V.  (2.  Ausg.):  „die 
Frage  ist  nicht,  was  wir  zu  dem  gegebenen  Begriff  hinzudenken 
sollen,  sondern  was  wir  wirklich  in  ihm  denken".  Aber  Kants 
Tendenz  ist  besser  als  der  hier  noch  psychologisierende  Kant  und 
behält  doch  Recht  gegen  Schleier macher.  Denn  wie  dieselbe  Zahl 
je  nach  den  Umständen  bald  durch  Addition,  bald  durch  Subtrak- 
tion zustande  kommen  kann  und  trotzdem  beide  Rechnungsfunk- 
tionen absolut  verschieden  bleiben,  so  bleiben  es  auch  die  Denk- 
funktionen Analyse  und  Synthese,  mögen  sie  noch  so  sehr  im  Denk- 
inhalt, den  sie  wechselnd  hervorbringen,  zusammentreffen.  Ihr 
Gegensatz  liegt  im  Denken  selbst,  das  in  ihm  atmet  und  selber 
nur  lebt   als   wechselnde   Entfaltung  von  Analyse   und  Synthese. 


Das  logische  Recht  der  Kantischen  Tafel  der  Urteile.  303 

Die  Kantische  Scheidung  besteht  eben  zu  Recht  nicht  für  die  In- 
halte, sondern  für  die  Funktionen,  für  die  Urteilsformen. 

Nun  aber  wirft  man  gerade  der  Kantischen  Urteilstafel  vor, 
daß  ihre  Scheidungen  mehr  oder  minder  nur  den  Urteilsinhalt  oder 
gar  nur  den  Begriffsinhalt  betreffen,  nicht  die  reine  Funktion.  So 
sollen  nach  Überweg,  Schuppe,  Windelband  u.  a.  die  Kantischen 
Unterschiede  der  Quantität  nur  den  Subjektsbegriff  und  seinen  Um- 
fang angehn,  nicht  aber  das  Urteil  als  solches  treffen.  Doch  sol- 
cher Einwand  läßt  sich  schon  aus  der  Logik  selber  zurückschlagen : 
kann  überhaupt  der  Umfang  des  Subjektsbegriffs  für  das  Urteil 
etwas  Grleichgiltiges  sein?  Er  hängt  ja  mit  dem  Inhalt  des  Be- 
griffs schon  nach  dem  Gresetz  ihres  umgekehrten  Verhältnisses  im 
Wachstum  innerlich  und  notwendig  derart  zusammen,  daß  eine 
Mehrung  des  Umfangs  sogleich  eine  Minderung  des  Inhalts,  eine 
Minderung  des  Umfangs  eine  Mehrung  des  Inhalts  nach  sich  zieht, 
kurz  daß  der  Umfang  den  Inhalt  bedingt  und  umgekehrt,  also 
Quantitätsunterschiede  des  Subjekts  Verschiedenheiten  der  Prä- 
dikatssetzung, das  heißt  der  Urteile  mit  sich  bringen.  Ginge  es 
bei  Kant  wirklich  nur  um  die  Zahl  der  Subjekte,  dann  hätte  er 
allerdings  richtiger  unendlich  viele  Urteilsunterschiede  (für  jede 
Zahl  einen)  ansetzen  sollen  als  gerade  seine  drei,  die  willkürlich 
aufgegriffen  scheinen.  Doch  die  quantitativen  Urteilsformen  sind 
eben  nicht  äußerlich  nach  der  Zahl  des  Subjekts,  sondern  innerlich 
nach  ihrem  Funktionscharakter  zu  bestimmen.  Dann  erst  gewinnen 
die  Unterschiede  Recht  und  Bedeutung.  Ist  denn  das  Urteil  „das 
Pferd  ist  ein  Huftier"  wirklich  ein  singulares,  weil  das  Subjekt 
in  der  Einzahl  steht?  Oder  wird  das  allgemeine  Urteil  „alle 
Menschen  sind  sterblich"  dadurch  ein  Einzelurteil,  daß  ich  es  auf 
die  Form  bringe :  „jeder  Mensch  ist  sterblich"  ?  Und  ist  das  all- 
gemein ausgedrückte  Urteil  „die  im  Wasser  lebenden  Säugetiere 
sind  Wale"  nicht  auch  ein  particulares  Urteil?  Es  kommt  eben 
auf  die  Tendenz,  die  Leistung,  die  Zweckfunktion  des  Urteils  an, 
die  beim  allgemeinen  Urteil  Generalisierung,  beim  particularen 
Spezifizierung  ist. 

Diese  beiden  Urteilsarten  wurden  ja  lange  vor  Kant  von  den 
alten  Logikern  unterschieden,  bei  denen  schon  dieser  heute  be- 
strittene Unterschied  sogar  über  die  Urteile  hinaus  bis  in  die 
feinste  Scheidung  der  Schlußfiguren  greift  und  sich  so  auch  in  der 
weiteren  logischen  Verwertung  der  Urteile  rechtfertigt.  Anderer- 
seits  ist   er  ja  schon  angelegt  in  der  Subordination  der  Begriffe, 


;ji»4  Karl  Joel, 

in  der  alten  Scheidung  von  genns  und  species.  Will  man  etwa 
auch  diese  Grundscheidung  aller  Begriffe  aufheben?  Dann  würde 
man  den  Hauptwert  der  Begriffsbildung  gegenüber  den  unorgani- 
sierten Vorstellungen  aufheben:  die  Setzung  von  Verhältnissen. 
In  ihr  aber  besteht  ja  gerade  das  Urteil.  Wer  daher  wie  Sigwart, 
Windelband,  Sickert  und  die  Marburger  das  Urteil  als  begriffs- 
bildend erkennt  und  es  darum  dem  Begriff  vorauszuschicken  oder 
auch  nur  inhaltlich  möglichst  nahezubringen  geneigt  ist1),  muß 
die  Grrunddifferenz  der*  Begriffe  auch  im  Urteil  angelegt  finden. 
Man  sollte  das  allgemeine  und  particulare  Urteil  richtiger  den 
Begriffen  entsprechend  benennen  als  generelles  und  spezielles  oder, 
wie  es  schon  bei  Kant  heißt,  besonderes  Urteil,  dann  würde  man 
nicht  mehr  mit  Sigwart  dieses  particulare  Urteil  als  „unglück- 
lichste Schöpfung  der  Logik"  beklagen,  sondern  würde  erkennen, 
daß  jene  Differenzierung  im  Grundwesen  des  Denkens  wurzelt, 
das  sich  als  Vergleichen  und  Unterscheiden  entfaltet  oder  wieder 
kantisch  zu  reden,  sowohl  den  Forderungen  der  Homogeneität  wie 
denen  der  Specifikation  zu  entsprechen  hat.  Wollen  wir  wirklich 
mit  Windelband  (Prinz,  d.  Logik  S.  21),  Bickert  (G-gstd.  d.  Erk. 
1921  S.  153 ff.,  Logos  III  235  ff.)  u.a.  wahrhaft  modernen  Logikern 
so  die  Urteile  nach  ihren  Leistungszwecken  als  reine  Funktionen 
verstehen,  dann  müssen  wir  die  Funktionen  der  Generalisation  und 
der  Specifikation  als  allgemeines  und  besonderes  Urteil  unterscheiden. 
Doch  in  diese  logische  Paarung  bringt  nun  die  Kantische 
Trichotomie  einen  Störenfried,  und  als  Dritter  im  Bunde  drängt 
sich  das  singulare  Urteil  hinzu  —  wie  Wundt  meint,  unter 
Hereinmengung  eines  fremden  Gesichtspunkts,  da  es  sonst  den  all- 
gemeinen Urteilen  gleichwertig  sei.  Kant  selber  erklärt,  daß  die 
alten  Logiker  dieses  Urteil  als  ausnahmslos  gleich  den  allgemeinen 
behandelt  hätten.  Herbart  aber  findet,  daß  dies  nur  bei  bestimmtem 


1)  So  erklärt  Sigwart  von  der  Definition  als  Urteil:  sie  sei  „der  Begriff 
selbst,  nicht  etwas  vom  Begriff  Verschiedenes".  Bei  Windelband  heißt  es  (Prinz, 
d.  Log.  20 f.):  „Begriff  ist  stets  das  Ergebnis  eines  Urteils,  das  ihn  begründet". 
„Die  logische  Struktur  des  Begriffs  ist  keine  andere  als  die  des  Urteils".  Riehl 
nennt  (Philos.  Kritic.  1879  II  1.  221)  Begriffe  „potentielle  Urteile",  und  Schuppe 
läßt  den  Begriff  „aus  Urteilen  bestehen".  Rickert  erklärt  (Zur  Lehre  v.  d.  De- 
finition 2.  Aufl.  S.  60) :  „Der  Begriff  ist  daher  etwas  von  dem  ihn  bildenden  Ur- 
teilen dem  logischen  Gehalt  nach  nicht  Verschiedenes".  Vgl.  Weiteres  zur  Nieder- 
reißung der  inhaltlichen  Schranke  zwischen  Begriff  und  Urteil  bei  Lask,  Die  Lehre 
vom  Urteil  S.  49  f. 


Das  logische  Kecht  der  Kantischen  Tafel  der  Urteile.  305 

Subjekt  zulässig  sei,  beim  unbestimmten  dagegen  sei  das  singulare 
Urteil  als  particulares  zu  behandeln,  und,  so  schließt  Überweg, 
gehe  es  überhaupt  in  den  beiden  andern  Klassen  auf.  Doch  nur 
die  übliche  Formulierung  des  particularen  Subjekts  als  „einige" 
hat  solche  Zuweisung  verschuldet;  Aristoteles  hatte,  weitsichtiger 
als  seine  Nachfolger,  das  particulare  Urteil  vom  unbestimmten  ge- 
schieden. Tatsächlich  ist  das  unbestimmte  Urteil  vielmehr  ein  un- 
fertiges ;  das  singulare  läßt  aber  zumeist  an  Bestimmtheit  nichts 
zu  wünschen  übrig;  auch  das  particulare  kann  eine  species,  eine 
Besonderheit  zur  Bestimmtheit  bringen,  kann  auch  die  genaue, 
beschränkte  Zahl  der  Subjekte  angeben,  denen  das  Prädikat  zu- 
kommt. Andererseits  könnte  man  in  der  „Unendlichkeit",  die 
Kant  selber  in  der  Erläuterung  hier  mit  der  Allgemeinheit  gleich- 
setzt, auch  das  allgemeine  Urteil  in  der  Zahl  unbestimmt  finden. 
Die  Unbestimmtheit  taugt  also  in  keiner  Weise  zu  einem  Krite- 
rium für  die  Charakteristik  quantitativer  Urteilsarten. 

Neben  diesem  bloß  negativen  Kennzeichen,  das  so  versagte, 
versuchte  man  das  singulare  Urteil  als  bloß  empirisches  herabzu- 
drücken, bei  dem,  wie  Lotze  meint,  das  Prädikat  dem  Subjekt 
., zufällig"  anhafte.  Aber  spottet  derselbe  Lotze  nicht  auch,  daß 
man  bei  den  Menschen  das  allgemeine  Kennzeichen  des  aufrechten 
Ganges  wesentlich  findet?  Und  sehen  andere  Grattungsmerkmale, 
die  Aristoteles,  Hegel  u.  a.  an  den  Menschen  im  Unterschied  von 
den  Tieren  bemerken,  wie  Lachfähigkeit  oder  Ohrläppchen  minder 
zufällig  und  empirisch  aus?  Empirisch  können  eben  alle  Quanti- 
täten der  Urteile  zustande  kommen,  aber  auch  alle  rational.  Eine 
quantitative  Urteilsform  sagt  ja  als  solche  noch  nichts  aus,  wie 
in  ihr  das  Prädikat  dem  Subjekt  anhafte,  ob  accidentiell  oder 
wesenhaft,  „zufällig"  oder  notwendig.  Also  auch  das  Kennzeichen 
des  Empirischen  versagt  für  das  singulare  Urteil.  Immerhin  ge- 
winnt es  doch  hier  zuerst  positive  Bedeutung  und  zwar  initiale, 
sofern  die  Erfahrung  nun  einmal  vom  Einzelurteil  anfangen  muß, 
um  zum  allgemeinen  fortzuschreiten  durch  das  particulare,  das 
deshalb  Kant  (in  den  Prolegomena)  lieber  pluratives  Urteil  nennen 
will,  um  eben  den  Fortgang  von  der  Einheit  durch  die  Vielheit 
zur  Allheit  kenntlich  zu  machen,  während  die  Bezeichnung  parti- 
cular  schon  die  Allheit  voraussetze,  die  durch  sie  negiert  werde. 
Übrigens  findet  auch  Sigwart  das  „plurale"  Urteil  „auf  dem  Wege 
zu  einem  allgemeinen",  resp.  als  eigentlich  particulares  Urteil  auf 
dem  umgekehrten  Wege  von  jenem  abwärts.    Danach  müßte  doch 


306  Karl  Joöl, 

auch  Sigwart  Kants  Dreiteilung  anerkennen ;  denn  „auf  dem  Wege" 
ist  eben  nur  das  particulare  resp.  plurale  Urteil,  von  <dem  daher 
ebenso  das  singulare  wie  das  allgemeine  Urteil  zu  scheiden  wären, 
die  je  nach  der  Richtung  des  „Weges"  als  sein  Anfang  oder  sein 
Ziel  sich  auf  tun.  Jedenfalls  erhält  beim  Kantischen  „Fortgang" 
der  Erkenntnis  so  das  Einzelurteil  unbestreitbar  seine  berechtigte, 
ja  notwendige  Stelle  als  Ausgangspunkt  der  Generalisierung,  die 
sich  da  stufenweise  in  drei  wahrlich  verschiedenen  Geistesakten 
vollzieht  von  der  Einzelfeststellung  durch  das  Wiederfinden  in 
einer  Mehrheit  zur  abschließenden  Gesetzesbildung.  Sind  das  wirk- 
lich Unterschiede  bloß  der  Subjektsbegriffe  und  nicht  vielmehr 
der  Akte,  der  Funktionen,  als  die  eben  Kant  schärfer  als  seine 
Kritiker  die  Urteile  herausarbeitet  und  auf  denen  er  die  Begriffe 
erst  „beruhen"  läßt?  Entsprechen  hier  die  drei  Urteilsformen 
nicht  genau  den  verschiedenartigen  Akten,  die  Kant  als  Stadien 
der  Synthesis  unterscheidet :  der  Apprehension  in  der  Anschauung, 
der  Reproduktion  in  der  Einbildung,  der  Rekognition  im  Begriff? 
Doch  die  Apprehension  im  Einzelurteil  hört  ja  nicht  auf  mit 
der  Entdeckung  des  ersten  Falls,  sondern  muß  fortlaufen  in  der 
Erfassung  weiterer  Einzelfälle,  um  plurale  oder  universale  Urteile 
bilden  zu  können.  So  gewinnt  das  singulare  Urteil  über  die  ini- 
tiale hinaus  induktive  Bedeutung,  aber  eigentlich  auch  deduk- 
tive, überhaupt  systematische  Bedeutung;  denn  die  drei  Urteils- 
arten arbeiten  hier  schon  Gattung,  Art  und  Exemplar  heraus. 
Oder  soll  etwa  das  Exemplar  logisch  nicht  faßbar  sein?  Dann 
würde  dem  Denken  nicht  nur  die  Fülle  des  Seins  sich  verschließen, 
es  würde  seinen  Grundberuf  der  Systembildung  nicht  erfüllen 
können,  die  ebenso  wie  in  den  Gattungen  die  Arten  so  in  den 
Arten  die  Exemplare  umfassen  will.  Und  wir  denken  doch  nun 
einmal  die  Exemplare  unterschieden  von  ihren  Gattungen  und 
Arten.  Wir  denken  die  Zahl,  die  aus  Einzelheiten  besteht  und 
die  Kant  doch  mit  Recht  über  die  bloße  Anschauung  hinaushob. 
In  jener  oft  unbewußten  Konsequenz,  mit  der  sich  jede  große 
Lehre  stilgemäß  ausbaut,  geht  Kants  Herausstellung  des  singu- 
laren  Urteils  zusammen  mit  seiner  Überwindung  des  rationalisti- 
schen principium  identitatis  indiscernibilium ,  das  die  Einzelheit 
mit  der  Besonderheit  einssetzt,  das  Singulare  schon  im  Speziellen 
findet,  die  Quantität  mit  der  Qualitäts Scheidung,  das  Sein  mit  den 
Artunterschieden  enden  läßt,  also  zwei  gleiche  Dinge  unmöglich 
findet  und  damit  die  Gleichheit  schon  zur  Identität  stempelt.    Aber 


Das  logische  Recht  der  Kantischen  Tafel  der  Urteile.  307 

ob  es  zwei  gleiche  Dinge  gibt  oder  nicht,  logisch  ist  jedenfalls 
die  Identität  von  der  Gleichheit  zu  trennen,  das  heißt  die  Einzel- 
heit von  der  Besonderheit  zu  scheiden  und  damit  das  Einzelurteil 
von  dem  „besonderen"  Urteil.  Die  Funktionstendenz  des  Urteils 
geht  hier  auch  gerade  darauf,  Vieles  als  Gleiches  zu  behandeln 
d.  h.  als  Exemplare  einer  Species.  Wer  hier  die  Sonderleistung 
des  singularen  Urteils  leugnet,  verleugnet  den  Wert  der  Zahl,  die 
eben  viele  Einzelheiten  aufnimmt,  um  sie  als  gleiche  Einheiten  zu 
summieren. 

Mit  dem  Sonderwert  des  singularen  Urteils  wäre  ferner  der 
Wert  des  Beispiels  aufgehoben,  das  ja  durch  das  Einzelne  eine 
Art  oder  Gattung,  durch  den  Einzelfall  eine  Regel  anschaulich 
macht.  So  gewinnt  das  singulare  Urteil  auch  illustrative  Be- 
deutung; denn  das  Exemplar  kann  als  Exempel  dienen,  zumal  als 
schlagender  Fall,  als  prärogative  Instanz  im  Sinne  Bacons ;  ja  für 
das  Genie  kann  sogar  das  singulare  Urteil  sich  sogleich  ins  all- 
gemeine ausschwingen ,  kann  ein  Fall  genügen  das  G-esetz  auf- 
leuchten zu  lassen,  wie  ja  an  einem  fallenden  Apfel  Newton  das 
Gesetz  der  Schwere,  an  einer  schwingenden  Kirche  G-alilei  das 
der  Pendelschwingung  entdeckt  haben  soll. 

Aber  das  singulare  Urteil  kann  nicht  nur  hingebend  eingehn 
ins  universale,  sondern  auch  herausgehen  aus  ihm,  sich  kritisch 
dagegen  stemmen  als  Ausnahme  von  der  allgemeinen  Regel.  So 
erhält  dieses  Urteil  auch  isolierende  Bedeutung;  denn  die  Aus- 
nahme wird  doch  ebenso  wie  die  Regel,  von  der  sie  abweicht, 
nicht  im  Begriff,  sondern  im  Urteil  gefunden  und  dargelegt.  Sig- 
wart  nimmt  da  die  singularen  mit  den  particularen  resp.  pluralen 
Urteilen  zusammen,  sofern  sie  Unterschiede  und  Ausnahmen  am 
Allgemeinen  hervorheben.  Doch  die  Unterschiede  gehören  eben 
zur  Funktion  des  particularen  oder  „besonderen"  Urteils  und  können 
noch  innerhalb  der  allgemeinen  Regel  liegen.  Die  Ausnahme  aber 
fällt  aus  ihr  heraus,  und  solche  Isolierung  kommt  am  reinsten  im 
singularen  Urteil  zum  Ausdruck. 

So  lehrt  das  singulare  Urteil  entdecken,  aufzählen,  veranschau- 
lichen und  ausscheiden;  es  bietet  der  Erkenntnis  Ansatz,  Zahl, 
Beispiel  und  Ausnahme  und  dient  ihr  zu  Fortschritt,  Exaktheit, 
Klarheit  und  Kritik.  Aber  zu  dieser  initialen,  induktiven,  illustra- 
tiven, ja  intuitiven  und  isolatorischen  Funktion  kommt  nun  noch 
als  höhere,  geistigere  die  individualisierende.  Schon  die 
vorher  genannten  Zwecke  lagen  z.  T.  der  Antike,  noch  mehr  dem 


308  Karl  Joel, 

Mittelalter  ferner  und  ließen  da  das  singulare  Urteil  nicht  zur 
Selbständigkeit  aufkommen.  Das  Interesse,  das  Aristoteles  in 
seiner  Vielseitigkeit  noch  an  der  Induktion  und  überhaupt  am  Ein- 
zelnen nahm,  zeigt  sich  bei  seinen  scholastischen  Erben  mehr  oder 
minder  verschüttet;  sie  ließen  vielmehr  wesentlich  das  Allgemeine 
triumphieren  im  Syllogismus  und  dagegen  schon  das  „Particulare" 
als  unvollkommneres,  eben  bloßes  Teilresultat  absinken.  Weniger 
noch  als  der  antike  Typensinn  vermochte  der  hoch  sich  aufwöl- 
bende mittelalterliche  Universalsinn  das  Singulare  zu  fassen.  In- 
dividuum est  ineffabile!  Selbst  im  Nominalismus  blieb  der  hier 
nur  nach  seiner  Fassung  des  Allgemeinen  benannte  Individualismus 
in  der  Opposition  und  zog  sich  ins  Irrationale  bis  zur  Skepsis  zu- 
rück. Der  Sinn  für  das  singulare  Urteil  fordert  aber  zu  seiner 
Erweckung  den  Sinn  für  das  Auffallende,  Merkwürdige,  Abson- 
derliche, wie  er  etwa  in  der  Hochrenaissance  bei  dem  für  die 
Naturwissenschaft  so  anregenden  Hieronymus  Cardanus  geradezu 
aufkreischte,  fordert  weiter  den  Sinn  für  das  Neue,  für  die  kri- 
tisch ausgebildete  Induktion,  für  Gegeninstanzen  und  schlagende 
Fälle,  kurz  für  alles,  was  Bacon  als  Begründer  neuzeitlichen 
Geistes  zur  bewußten  Methode  vereinigt,  fordert  ferner  den  Sinn 
für  die  Eigenart,  wie  sie  Leibniz  in  schärferer  Erneuerung  des 
scotistischen  Individualismus  allerdings  erst  als  Grad  des  Univer- 
salen begreift,  dazu  noch  den  Sinn  für  das  repräsentative  Beispiel, 
an  dem  Berkeley,  der  Fanatiker  der  Einzelvorstellung,  der  Be- 
streiter  der  Allgemeinvorstellung  allein  noch  Allgemeines  erkennt. 
Doch  all  diese  sich  steigernden  Vorstöße  der  Neuzeit  zum 
Singularen  kamen  mehr  der  Naturwissenschaft  zugute.  Obgleich 
im  Individualismus  der  Renaissance  erwacht,  trug  doch  der  neu- 
zeitliche Geist  noch  logisch  lange  die  Fesseln  der  Scholastik,  die 
neben  oder  vielmehr  unter  dem  Universalen  höchstens  noch  das 
Particulare  gnädig  duldete.  So  verdanken  wir  es  der  trichotomi- 
schen  „Marotte"  Kants,  daß  er  mit  der  Sonderstellung,  ja  Ent- 
deckung des  singularen  Urteils  den  Geist  der  Neuzeit  erst  logisch 
zum  Siege  führte.  Allerdings  selbst  Kants  Autonomie,  von  Fichte 
fortgebildet,  gab  dabei  erst  das  Signal  zu  einer  Individualisierung, 
die  bei  der  Frühromantik  an  Goethe  sich  orientierte,  aber  noch 
bevor  sie  zu  logischer  Ausprägung  kam,  bald  wieder  überrauscht 
ward  vom  Kult  des  Allgemeinen,  der  bei  Hegel  zu  logischer  Mo- 
numentalität ausgebaut,  dann  beim  Naturalismus  in  irrationalen 
Massenkult  versank  und  unter  der  Flagge   erst  der  Naturwissen- 


Das  logische  Recht  der  Kantischen  Tafel  der  Urteile.  309 

schaft,  später  der  Sozialwissenschaft  alle  Erkenntnis  nur  auf  das 
allgemeine  Gesetz  hinzusteuern  wußte.  Erst  die  Jahrhundertwende 
brachte  wieder  neue  Zeichen  herauf,  wenn  etwa  Windelband  und 
Sickert  neben  der  nomothetisch  generalisierenden  Naturwissen- 
schaft das  Eecht  der  Kulturwissenschaft  oder  Geschichte  als  idio- 
graphischer  oder  individualisierender  Erkenntnis  begründeten  und 
Simmel  zuletzt  das  „individuelle  Gesetz"  verkündete.  Selbst 
Spengler  sucht  ja  die  Geschichte  als  Reich  des  Einmaligen  zu 
emanzipieren  von  der  Natur,  aber  leider  auch  von  der  Logik. 
Doch  wer  solchen  gestrigen  Erkenntnispessimismus  und  überhaupt 
Irrationalismus  nicht  teilt ,  sondern  mit  jenen  modernen  Denkern 
auch  für  das  Individuelle  Gesetz  und  Wissenschaft  proklamiert, 
muß  sie  doch  wohl  im  singularen  Urteil  entfalten  und  darin  dem 
Individuellen  seine  logische  Sonderform  gönnen  —  und  zwar  nicht 
nur  negativ,  wie  sie  in  Spinozas  determinatio  oder  selbst  noch 
bei  der  Ausnahme  vom  Allgemeinen  erscheint.  Nein,  alle  drei 
Urteilsformen,  die  universale,  particulare  und  singulare  lassen  sich 
in  negativer  Funktion  fassen  als  Abstrahieren,  Differenzieren  und 
Isolieren,  alle  aber  auch  in  positiver  Funktion  als  Generalisieren, 
Typisieren  und  Individualisieren. 

Oder  soll  das  Individuelle  der  logischen  Fassung  widerstreben, 
weil  Begriff  und  Urteil  nur  auf  das  Allgemeine  gehen?  Dann 
hätten  zwei  Jahrtausende  schon  mit  der  Zulassung  des  particularen 
Urteils  eine  halbe  Sünde  wider  den  logischen  Geist  begangen. 
Doch  wer  so  urteilt,  sündigt  selber  viel  schwerer  gegen  die  Logik  ; 
denn  er  verwechselt  das  Allgemeine  und  das  Allgemeingiltige,  das 
allein  logisch  gefordert  wird.  Das  Allgemeingiltige  aber  braucht 
wie  Kants  Sittengesetz  durchaus  nicht  in  einer  Allgemeinheit  rea- 
lisiert zu  sein;  es  gilt,  auch  wenn  es  nur  einmal,  auch  wenn  es 
keinmal  erfüllt  wird.  Das  Allgemeingiltige  auch  als  Logisches 
ist  so  wenig  an  eine  Zahl,  wie  an  eine  Wirklichkeit  gebunden. 
Doch  darin  läge  erst  das  negative  Recht  ein  Allgemeingiltiges 
auch  vom  Individuellen  auszusagen.  Aber  kann  man  denn  auch 
am  positiven  Recht  logischer  Erfassung  der  Individualität  zweifeln, 
da  sie  doch  dem  obersten  Grundsatz  der  Logik  untersteht,  dem 
Identitätssatz,  ja  mehr,  da  dieser  Satz  gerade  an  ihr  erlebt  wird, 
aus  ihr  erst  geschöpft  ward?  Es  ist  wieder  der  Geist  der  Neu- 
zeit, in  dem  Descartes  vom  Satz  des  Eigenbewußtseins  als  logi- 
scher Grundlage  sein  System  aufbaut,  in  dem  noch  deutlicher 
Leibniz  und  Fichte  den  Satz   der  Identität  am  Ichbewußtsein  ab- 

Kantutndien.   XXVn.  21 


310  Karl  Joöl, 

lesen.  Als  evident  eben  unmittelbar  erleben  kann  jeder  die  Iden- 
tität nur  an  sich  selbst.  So  wird  das  singulare  Urteil,  in  dem 
allein  sich  das  Eigenbewußtsein  als  Identitätsbewußtsein  aussprechen 
kann,  nicht  nur  zu  logischer  Erfassung  berechtigt,  sondern  ge- 
radezu Grundlage  logischer  Erfassung  und  zwar  als  Erfassung 
der  reinen  identischen  Einheit,  die  nun  einmal  weder  particular 
noch  universal  gegeben  ist.  Dabei  bleibt  es  als  Urteil  eine  Syn- 
thesis,  da  es  mehrere  Momente  zur  Einheit  bringt,  das  Selbst  als 
Subjekt  und  als  Objekt  oder  das  Eigensein  in  Vergangenheit,  Ge- 
genwart und  Zukunft.  Damit  gewinnt  das  singulare  Urteil  seine 
geisteswissenschaftliche  Bedeutung  und  Notwendigkeit,  historisch 
wie  ethisch,  descriptiv  wie  normativ.  Der  Historiker  muß  indivi- 
dualisieren, charakterisieren,  das  heißt  den  Einzelnen  nicht  nur 
als  Kuriosum  von  andern  absondern,  sondern  positiv  ausprägen, 
aus  wechselnden  Accidentien  sein  Wesen  herausstellen.  Auch  das 
Singulare  ist  eben  nicht  ein  blind  Gegebenes,  Zufälliges,  sondern 
etwas  Wesenhaftes  über  und  hinter  seinen  einzelnen  Erscheinungs- 
momenten. In  jedem  Menschen  wohnt  eine  Idee,  ,ist  ein  inneres 
Gesetz,  eine  logische  Forderung  als  konsequenter  Stil  angelegt, 
auf  Erfüllung  wartend,  und  muß  vom  Beurteiler  erst  gesucht  wer- 
den, vom  Forscher  wie  vom  Erzieher,  der  da  fordert:  bleibe  dir 
selbst  treu  und :  werde,  der  du  bist.  Ja,  den  Wert  des  Charakters 
entfaltet  das  singulare  Urteil  und  tut  so  dieser  Zeit  wahrlich  not 
und  ist  so  geradezu  berufen  für  die  Erneuerung  unserer  Kultnr. 

Das  Einzelurteil  aber  kennzeichnet  eben  den  Einzelnen  nicht 
nur  als  solchen,  sondern  auch  als  Eigenen,  Selbständigen,  kenn- 
zeichnet auch  die  Individualität  als  Subjektivität  und  darin  als 
Totalität.  Hierin  liegt  der  wundersame  Zusammenhang  des  sin- 
gularen  Urteils  mit  dem  universalen,  aber  zugleich  seine  notwendige 
Unterscheidung  sowohl  von  diesem  wie  vom  particularen  Urteil. 
Denn  das  Individuum,  das  „Unteilbare",  darf  nicht  particular  ge- 
nommen werden,  es  ist  vielmehr  ein  Ganzes  und  doch  zugleich  ein 
Einzelnes,  das  aber  das  Ganze  nicht  etwa  nur  als  pars  pro  toto 
alogisch  symbolisiert,  sondern  das  Gesetz  des  Ganzen  selber  in 
sich  tragen  und  als  Mikrokosmos  dem  Makrokosmos  gleich  sein 
kann.  Auch  diese  Werterkenntnis  des  Individuellen,  das  sich  mit 
dem  Universalen  füllen  kann,  ist  ja  im  Beginn  der  Neuzeit  durch- 
gebrochen in  der  Mystik,  die  heute  wieder  erneuert  nicht  bloß 
von  Freund  und  Feind  im  Dunkel  des  Irrationalen  festgehalten, 
sondern  zur  Entfaltung  ihres  logischen  Gehalts  hingeführt  werden 


Das  logische  Recht  der  Kantischen  Tafel  der  Urteile.  311 

sollte.  Gegenüber  einem  äußerlichen  Zug  zum  leeren  Allgemeinen 
wie  gegenüber  einem  sterilen  Spezialismus  gilt  es  heute  den  Wert 
der  dritten,  der  singularen  Urteilsbildung  und  zugleich  den  or- 
ganischen Zusammenhang,  das  Ineinandergreifen  der  drei 
Urteilsformen  zu  entwickeln  und  so  erst  Kants  quantitative  Ein- 
teilung fruchtbar  zu  machen.  Liegt  doch  der  tiefere  Sinn  seiner 
Dreiteilung  darin,  daß  nun  die  „Tafel  der  Urteile"  keine  „Schul- 
tafel" mehr  ist,  auf  der  die  fertigen  Urteile  in  analytischer  Zwei- 
teilung starr  vis  a  vis  gestellt  werden,  sondern  daß  da  in  den 
Urteilsformen  als  „Akten  des  Verstandes"  das  Denken  selber  in 
lebendiger  Entwicklung  niederschlägt,  indem  Kant,  wie  es  in  den 
Prolegomena  §  20  heißt,  vom  Einzelurteil  „anhebt"  und  durch  die 
Vielheit  zur  Allheit  „fortgeht".  Lebendiges  bleibt  eben  nicht 
stehen,  verharrt  nicht  im  Gegensatz,  sondern  drängt  zum  Aus- 
gleich und  kehrt  kreisläufig,  doch  in  immer  höherer  Bahn  als  Ent- 
wicklung immer  wieder  zur  Einigung  mit  sich  selbst  zurück.  Das 
Denken  wie  das  Leben  hebt  von  der  Einheit  an,  entfaltet  sich  zur 
Vielheit  und  schließt  sich  am  Ende  der  Entfaltung  doch  wieder 
zu  einer  neuen  Einheit  zusammen,  die  nun  auf  höherer  Stufe  wieder 
Vielheit  und  schließlich  Allheit  und  so  eine  neue  Einheit  hervor- 
bringt und  diesen  Kreislauf  immer  höher  ausschwingt.  So  sind 
die  Kantischen  Urteilsformen  nicht  starre  Klassen,  sondern  Stufen 
des  Denkens,  „Momente"  seiner  Entfaltung.  Das  singulare  Urteil 
ist  der  Keim  eines  durch  das  particulare  entfalteten  universalen 
und  dieses  wieder  der  Keim  eines  singularen  und  so  einer  neuen 
Entfaltung.  Nur  durch  die  Mehrheit  wird  die  Einheit  zur  Allheit, 
nur  durch  die  Allheit  wieder  die  Mehrheit  zur  Einheit,  nur  durch 
die  Einheit  immer  wieder  die  Mehrheit  zur  Allheit.  So  bedingen 
sich  die  Kantischen  Quantitätsurteile  in  ihren  Unterschieden  wie 
in  ihrem  Zusammenhange. 

Kaum  minder  scharf  wie  gegen  Kants  Quantitätsformen  rich- 
tete sich  nun  die  moderne  Kritik  gegen  seine  Urteilsscheidung 
nach  der  „Qualität".  Gewiß  ist  hier  schon  dieser  allgemeine  Titel 
wie  der  speziellere  der  „unendlichen"  Urteile  als  mißverständ- 
licher, ja  unzutreffender  Archaismus  abzulehnen.  Doch  wir  fragen 
ja  nicht  nach  den  Namen,  sondern  den  Bedeutungen  der  Kantischen 
Formen.  Zunächst  rüttelte  man  hier  nun  wie  bei  den  quantitativen 
Urteilen  an  einem  aristotelischen  Erbgut  Kants,  an  der  primären 
Scheidung  der  bejahenden  und  verneinenden  Urteile,  die  allerdings 
auch  heute  noch   kräftige  Verteidiger  findet.     Schuppe  aber  z.  B. 

21* 


312  Karl  Joel, 

wendet  dagegen  ein :  Ob  ich  gesund  bin  oder  nicht  gesund  bin,  in 
der  Lotterie  gewonnen  oder  nicht  gewonnen  habe,  ist  zwar  ein 
sehr  wichtiger  Unterschied,  aber  doch  nur  in  praktischer  Beziehung. 
Aber  ist  es  wirklich  auch  nur  ein  praktischer  Unterschied,  ob  die 
Erde  ein  Planet  ist  oder  nicht  und  ob  Bejahung  und  Verneinung 
logisch  zu  scheiden  sind  oder  nicht?  Feiner  klingt  der  Einwant 
bei  Lotze:  die  beiden  Sätze  S  ist  P  und  S  ist  nicht  P  müssei 
genau  dieselbe  „Verbindung  von  S  und  Pu  meinen,  nur  daß  ihi 
die  „Giltigkeit  oder  Wirklichkeit"  vom  affirmativen  Urteil  zuge- 
sprochen, vom  negativen  verweigert  werde ;  „aber  zwei  wesentlich 
verschiedene  Arten  des  Urteils  als  solchen  begründet  dieser  Unter- 
schied nicht".  Hier  wird  klar,  daß  Lotze  und  die  ihm  folgen,  di( 
Kantische  Urteilsscheidung  ablehnen,  weil  sie  unter  „Urteil"  an- 
deres verstehen  als  Kant,  der  es  als  „Funktion",  als  „Aktus  de? 
Verstandes"  nimmt  und  bei  den  quantitativen  Urteilen  im  Unter- 
schied der  „inneren  Giltigkeit"  vielmehr  von  der  Größe  offenbar 
als  äußerer  Giltigkeit  spricht,  weil  er  eben  die  Giltigkeit  in  das 
Urteil  als  ihre  Setzung  einschließt.  Seine  modernen  Kritiker  aber 
schieben  die  Setzung  der  Giltigkeit  als  „Nebengedanke"  (Wundt) 
oder  „Nebenurteil"  (Lotze)  aus  dem  Urteil  selber  heraus,  das  ihnen 
nur  als  eine  Beziehung  von  Vorstellungen  oder  Begriffen,  eben 
als  „Verbindung  von  S  und  P"  wieder  fertig  dasteht.  "Wer  nimmt 
hier  das  Urteil  scholastisch  starrer,  mechanisch  äußerlicher  —  Kant 
oder  seine  Kritiker?  Ihnen  geht  hier  sichtlich  das  Urteil  auf  in 
seinem  Inhalt,  den  sie  wieder  als  Satz  an  der  Wandtafel  vor  siel 
sehen,  und  neben  solchem  Urteil  als  Satzinhalt  steht  doch  das 
Kantische  Urteil  als  Setzung  zunächst  einmal  mindestens  gleich- 
berechtigt da,  sodaß  Windelband  diese  Frage  der  Terminologi( 
zuweisen  möchte. 

Tatsächlich  aber  führt  die  unkantische  Fassung  des  Urteils 
als  bloßen  Inhalts  ohne  Giltigkeitsfunktion  zu  Schwierigkeiten,  y< 
zu  Widersprüchen.  Erst  soll  das  Urteil  da  sein  und  dann  sol 
über  seine  Giltigkeit  ein  „Nebenurteil  gefällt"  werden  (Lotze),  ein 
„Urteil  über  ein  Urteil",  wie  Sigwart  speziell  das  verneinende 
Urteil  nennt,  ein  „sekundäres  Urteil",  wie  Vaihinger  es  noch 
klarer  vom  „primären  Urteil"  unterscheidet  (Philos.  des  Als  Ob 
593).  Da  zeigt  sich  doch,  daß  man  „Urteil"  in  zweierlei  ganz 
verschiedenem  Sinn  nimmt  und  auch  braucht  und  daß  man  mit 
dem  Urteil  als  bloßem  Inhalt  keinesfalls  auskommt,  sondern  es 
wenigstens  im  „gefällten  NebenürteilÄ   oder   „sekundären"  „Urteil; 


Das  logische  Recht  der  Kantischen  Tafel  der  Urteile.  313 

über  ein  Urteil"  als  Funktion  braucht  d.  h.  im  Kantischen  Sinn. 
Das  Urteil  kann  nun  einmal  nicht  aufgehen  im  Beurteilten,  in 
seinem  Inhalt  oder  Objekt.  Dann  müßte  man  dazu  doch  wieder 
eine  Funktion  haben,  für  die  es  eben  Objekt  wird  und  die  man 
auch  wieder  nicht  anders  wie  als  „Urteil"  bezeichnen  kann.  Wundt 
erhebt  da  gegen  Windelband  und  alle,  die  wie  auch  Brentano, 
Bergmann,  Rickert  und  Lask  mit  Recht  das  Urteil  als  Richten 
nach  Ja  und  Kein  verteidigen,  den  Vorwurf  der  Verwechslung 
einer  Reflexion  über  einen  Gegenstand  mit  dem  Gegenstand  selbst. 
Aber  das  Urteil  ist  gerade  Reflexion  und  nicht  bloßer  Gegenstand, 
und  gerade  die  Kritiker  Kants  begehen  hier  die  Verwechslung, 
indem  sie  Gegenstand  und  Funktion  des  Urteils,  das  Beurteilte 
und  den  Urteilsakt  mit  demselben  Terminus  belegen.  Windelband 
hat  gerade  zur  Vermeidung  solcher  Verwechslung  die  Giltigkeits- 
setzung  als  praktisches  „Beurteilen"  vom  „Urteilen"  geschieden 
mit  nicht  eben  glücklicher  Benennung1).  Immerhin  ist  die  Schei- 
dung notwendig;  denn  der  Akt  der  Giltigkeitssetzung  ist  eben 
nicht  etwas  Paralleles  zu  der  „Verbindung  von  S  und  P",  sondern 
etwas  ganz  Anderes,  das  man  nicht  als  ein  Nebenurteil  dazu,  als 
zweites  Urteil  über  jenes  bezeichnen  kann;  vielmehr  gilt  es  zu 
wählen,  welches  von  beiden  nun  „Urteil"  heißen  soll.  Und  da 
kann  doch  wohl  keine  Frage  sein,  daß  nach  dem  Sinn  des  Wortes 
die  Giltigkeitssetzung,  der  Akt  der  Entscheidung  Urteil  heißen 
muß.     Der  Richter  urteilt,  und  das  Urteil  richtet. 

Was  aber  soll  das  Urteil  ohne  seine  Funktion  der  Entschei- 
dung sein?  Lask  nennt  diesen  bloßen  Urteilsinhalt,  der  da  be- 
urteilt wird,  Sinnfragment  als  bloße  Unterlage  für  Bejahung  und 
Verneinung  (vgl.  die  Lehre  vom  Urteil  164.  186  f.).  Eine  bloße 
Vorstellung  ist  es  gewiß  nicht  —  darin  hat  Jerusalem  gegen 
Brentano  Recht.  Wohl  aber  ist  es  eine  Vorstellungsbeziehung 
oder  Begriffsverbindung,  was  hier  die  in  Wahrheit  vorkantischen 
Kritiker  Kants  schon  als  „Urteil"  ausspielen.  Doch  sie  müssen 
weiter  Schritt  für  Schritt  zurückweichen;  dann  wenn  dergleichen 
schon  zum  „Urteil"  genügen  soll,  dann  müßte  auch  „Berufsbe- 
ratung", „der  Löwe  von  San  Marco",  „Haus  und  Hof",  „der  Hund 
mit  dem  Halsband",  „die  Tante  der  Kinder",  ja  selbst  der  „braun- 
goldene Logarithmus"  —  dann   müßten   all   diese  Vorstellungsbe- 


1)  Vgl.  hier  gegen  Windelband  (Präludien  I  29  ff. 6)  Sigwarts  Antikritik  Logik 
I  163  ff.  *  und  auch  Rickerts  Bedenken  Ggstd.  d.  Erk.  1921  S.  151. 


314  Karl  Joel 


Ziehungen  schon  Urteile  sein,  ja  dann  wäre  schließlich  aller  Un- 
terschied von  Begriff  und  Urteil  aufgehoben;  denn  jeder  Begriff 
mit  seinen  Merkmalen  enthält  ja  schon  ein  Verhältnis,  eine  Vor- 
stellungsbeziehung. Inhaltlich  als  Beziehung  kann  der  Begriff  mit 
dem  Urteil  völlig  übereinstimmen  (vgl.  oben  S.  269).  Aber  nicht  der 
Inhalt,  erst  die  Funktion  macht  das  Urteil,  das  als  solche  min 
destens  Bildung  oder  Entfaltung  eines  Begriffs  ist  und  damit  im 
Unterschied  von  ihm  ein  Akt,  eine  geistige  Tat,  die  als  Tat  allein 
richtend  und  richtbar  auftreten  d.  h.  Geltung  beanspruchen  kann 
Selbst  das  analytische  Urteil  besteht  ja  erst  in  der  Funktion  der 
Begriffsanalyse,  die  eben  mit  dem  Anspruch  auf  Gültigkeit  das 
Prädikat  aus  dem  Begriff  entfaltet  und  so  ihm  entsprechen  läßt. 
Wenn  Wundt  nun  gegen  Schleiermachers  These,  daß  der  allwissende 
Geist  nur  analytische  Urteile  bilde,  einwendet,  dieser  Geist  werd< 
überhaupt  keine  Urteile  bilden,  so  ist  doch  damit  zugestanden,  dal 
Urteil  eben  als  Entfaltungsakt  mehr  bedeutet  als  die  bloße  Vor 
Stellungsbeziehung,  die  auch  der  Allwissende  hätte.  Mit  der  Ent 
deckung  der  synthetischen  Urteile  a  priori,  d.  h.  der  allgemein 
giltigen  Urteile,  die  nicht  im  Begriff  angelegt  sind,  hat  Kant  noch 
deutlicher  das  Urteil  vom  Begriff  emanzipiert,  hat  er  es  als  dy 
namische  Funktion  des  Geistes  entdeckt  in  Überwindung  der  alte 
logischen  Mechanik,  die  im  Urteil  wesentlich  Begriffe  als  logisch 
Atome  zum  logischen  Molekül  „kopulieren"  ließ.  Wie  aber  könne: 
moderne  Logiker,  die  mit  Sigwart  den  Begriff  erst  aus  dem  Urteil 
entspringen  lassen,  es  zugleich  noch  als  bloße  Begriffskopulierung 
ansehen?  Der  Begriff  ist  da  selber  schon  durch  Kopulierung  ge- 
gebildet, und  das  Urteil  würde  sich  von  ihm  nur  dadurch  unter- 
scheiden, daß  es  den  Begriffsinhalt  in  einem  Satze  ausdrückt 
Damit  würde  der  Unterschied  von  Begriff  und  Urteil  in  die  Gram- 
matik gehören  und  aus  der  Logik  ausscheiden. 

Aber  drückt  nicht  auch  der  Satz  meist  schon  eine  Giltigkeit 
Bejahung  oder  Verneinung  aus?  So  findet  nun  Lotze,  um  doch 
das  Urteil  als  bloße  Beziehung  noch  ohne  Anspruch  auf  Giltigkeit 
zu  retten,  daß  der  „von  Bejahung  und  Verneinung  noch  freie  Aus 
druck  der  Fragesatz u  sei  —  wieder  eine  Verschiebung  in  eine 
grammatische  Form!  Aber  auch  dieser  Ausweg  verschließt  sich; 
denn  der  Fragesatz  ist  wohl  ein  Satz,  aber  darum  noch  kein  Urteil, 
sondern  steht  noch  vor  dem  Tor  als  Aufruf  zu  einem  Urteil,  das 
selber  erst  in  der  Antwort  gegeben   wird1).    So   liegt   eben  das 

1)  Vgl.  auch  Rickert,  Ggstd.  d.  Erk.  1921,  S.  157. 


Das  logische  Recht  der  Kantischen  Tafel  der  Urteile.  315 

Urteil  erst  in  der  Entscheidung  und  kann  nicht  ganz  frei  sein  von 
Bejahung  oder  Verneinung.  Gewiß  kann  man  ein  Urteil  bejahen 
oder  verneinen,  aber  daraus  folgt  natürlich  nicht,  daß  nicht  das 
beurteilte  Urteil  selber  schon  bejahend  oder  verneinend  sein  dürfte. 
Andererseits  folgt  daraus  nicht,  daß  dieses  Urteil  selber  wieder 
ein  früheres  als  seinen  Beurteilungsgegenstand  voraussetzte.  Sonst 
könnte  ja  das  Urteilen  niemals  anfangen,  weil  es  immer  schon  ein 
Urteil  als  Material  braucht.  Man  kann  daher  nicht  das  Urteil  mit 
seinem  bloßen  Material  schon  einssetzen  und  den  Griltigkeitsan- 
spruch  nachhinken  lassen,  sondern  muß  vielmehr  jenes  logisch  vor- 
aussenden und  erst  mit  diesem  das  Urteil  vereinigen.  Empirisch 
und  psychologisch  gerichtete  Logiker  stimmen  hierüber  mit  ratio- 
naler denkenden  überein.  So  sagt  schon  Stuart  Mill:  „Urteilen 
und  ein  Urteil  für  wahr  halten  ist  dasselbe",  und  in  diesem  Sinne 
findet  auch  Jerusalem  „die  Wahrheit  liegt  implicite  im  Urteilsakte". 
So  will  auch  "Windelband  nur  in  der  Wahrheitswertung  einer  Vor- 
stellung das  Urteil  erkennen.  Eiehl  läßt  den  „eigentlichen  Akt 
des  Urteilens  zu  der  Vorstellung,  über  die  er  ergeht",  hinzutreten, 
und  Sickert  erklärt:  das  Urteil  enthalte  ein  nicht  vorstellungs- 
mäßiges  Moment  die  Entscheidung  über  wahr  und  falsch1). 

Doch  hier  gerade  hakt  noch  eine  letzte  Kritik  an  Kant  ein. 
Sigwart,  Hamilton,  Wundt,  Vaihinger,  B.  Erdmann,  Jerusalem  sind 
alle  weitblickend  genug  im  ursprünglichen  Urteil  bereits  den  Gil- 
tigkeitsanspruch  anzuerkennen,  wollen  es  aber  nur  als  bejahendes 
fassen  oder,  wie  Sigwart  vorsichtiger  sagt,  als  positives ;  denn  be- 
jahend erscheine  es  erst  neben  dem  verneinenden  Urteil,  das  aber 
stets  jenes  voraussetze  und  sich  erst  über  ein  mindestens  versuchtes 
positives  Urteil  erhebe ;  so  sei  es  also  kein  unmittelbares,  sondern 
erst  ein  sekundäres  Urteil  über  ein  Urteil  und  also  nicht  wie  bei 
Kant  dem  bejahenden  an  Ursprünglichkeit  gleichzusetzen.  Aber  da 
das  Urteil  über  ein  Urteil  sowohl  ein  bejahendes  wie  ein  vernei- 
nendes sein  kanu,  bleibt  eben  doch  die  Kantische  Scheidung  be- 
stehen, und  die  beiden  Urteilsarten  stehen  sich  jedenfalls  als 
mittelbare  gleich ;  denn  das  verneinende  Urteil  ist  nun  einmal  nicht 
nur  „Aufhebung  eines  Urteils"  (Sigwart)  —  dann  wäre  ja  der 
Kritiker  urteilslos  — ,  sondern  selber  ein  Urteil.  Aber  niemals  ein 
unmittelbares,  sondern  immer  erst  die  Aufhebung  eines  bejahenden? 


1)  Vgl.  Jerusalem,  die  Urteilsfunktion  S.  181.    Windelband  Prinz,  d.  Logik 
21.    Riehl,  Beitr.  z.  Logik  15  f.    Rickert  a.a.O.  153  ff. 


316  Karl  Joel, 

Spukt  hier  nicht  doch  noch  die  scholastisch-mechanische  Urteils- 
deutung als  Kopulierung  von  Begriffen,  die  dann  natürlich  erst 
positiv  da  sein  muß,  ehe  sie  im  negativen  Urteil  aufgehoben  wird? 
Doch  das  Urteil  setzt  nicht  eine  „Verbindung"  sondern  allge- 
meiner ein  Verhältnis,  eine  Beziehung,  die  ursprünglich  ebensogut 
negativ  wie  positiv  d.  h.  Trennung  wie  Verbindung  sein  kann. 
Sigwart  spottet  zwar  darüber,  daß  die  „Kopula",  also  das  Band 
auch  trennen  solle.  Aber  wer  sprach  denn  hier  so  prinzipiell  von 
der  „Kopula"  und  stellte  die  Bindung  von  S  und  P  als  Urform 
des  Urteils  voran  ?  Die  Scholastik 1).  Wenn  Sigwart,  Wundt  u.  a. 
darauf  Wert  legen,  daß  nicht  die  Bejahung,  sondern  die  Vernei- 
nung einen  besonderen  Ausdruck  fordere  und  sich  durch  Einschie- 
bung  eines  „nicht"  als  spätere  Form  erweise,  so  zeigt  sich  wieder, 
daß  diese  modernen  Logiker  die  Urteile  gut  scholastisch  nach 
ihrem  Ausdruck  bestimmen.  Kants  Leistung  ist  aber  gerade  die 
völlige,  endliche  Ablösung  der  Logik  von  der  Grammatik  und 
Rhetorik,  in  deren  Bann  sie  z.  T.  schon  bei  Aristoteles  steht,  ihre 
Vergeistigung,  ihre  Ausgestaltung  nach  der  inneren  Form  und 
Funktion,  nach  den  lebendigen  Akten  des  Geistes,  auf  die  es  einem 
Kant  allein  ankommt.  Seine  heutigen  Kritiker  aber  vollziehen  im 
Urteil  nicht  Akte  des  Geistes,  sondern  hören  und  sehen  wieder 
nur  Sätze.  Aber  bloß  sprachlich  könnte  man  ja  auch  das  be- 
jahende Urteil  negativ  ausdrücken  und  umgekehrt,  das  Gleiche  als 
nicht  verschieden,  das  Verschiedene  als  nicht  gleich  bezeichnen. 
Doch  mit  solcher  äußerlichen  Behandlung  geht  schließlich  der  Sinn 
der  Bejahung  und  Verneinung  verloren,  die  als  Verbindung  und 
Trennung  unaustilgbar  und  gleich  ursprünglich  im  Wesen  des 
Denkens  angelegt  sind  als  seine  Grundfunktionen ;  denn  das  Urteil 
entscheidet  ja  nicht  nur  über  Giltigkeit  oder  Nichtgiltigkeit  einer 
Verbindung  —  mit  solcher  Deutung  hat  Sigwart  natürlich  schon 
der  Verbindung  den  Vortritt  gegeben  — ,  sondern  über  Giltigkeit 
einer  Verbindung  oder  Trennung  und  entfaltet  sich  damit  un- 
mittelbar als  Bejahung  oder  Verneinung. 

Es  ist  auch  garnicht  abzusehen,   warum  bei  der  theoretischen 

1)  Windelband  hat  Prinzip  d.  Log.  S.  21—24  mit  Recht  gegen  die  Auf- 
rollung der  ganzen  Urteüslehre  von  der  bloßen  Satzform  S  ist  P  protestiert  und 
das  Urteü  als  „Behauptung  einer  Beziehung"  bestimmt,  wobei  auch  die  Setzung 
einer  negativen  Beziehung  irgendwie  sachlich  in  einer  Unvereinbarkeit  der  Ur- 
teilselemente begründet  und  daher  das  verneinende  Urteil  nicht  erst  sekundär  als 
bloß  subjektiver  Schutz  gegen  Irrtum  zu  nehmen  sei. 


Das  logische  Recht  der  Kantischen  Tafel  der  Urteile.  317 

Entscheidung  des  Geistes  die  Annahme  der  Ablehnung  durchaus 
vorausgehen  soll,  während  praktisch  beide,  Anerkennung  und  Ver- 
werfung wie  Anziehung  und  Abstoßung,  Zuneigung  und  Abneigung, 
Loben  und  Tadeln  gleich  elementar  sich  vollziehen  und  so  parallel 
im  Ausdruck  wie  Nicken  und  Schütteln  des  Kopfes.  Ob  nicht 
bei  Sigwart  und  Wundt  die  Priorität  des  bejahenden  Urteils  statt 
aus  der  freien  Aktion  des  Geistes  vielmehr  aus  der  äußeren  Gre- 
gebenheit des  ursprünglichen  Urteils,  gegen  die  der  Geist  nur  re- 
agiere, also  genetisch-positivistisch  begründet  ist?  Jerusalem  we- 
nigstens macht  hier  mit  verdienstlicher  Offenheit  der  Gegenpartei 
den  Vorwurf,  daß  sie  sich  um  die  genetische  Entwicklung  der 
Phänomene  nicht  kümmere.  Wenn  nun  aber  nach  Schopenhauer 
die  Unlust  der  Lust  vorangeht  und  die  Philosophie  beginnt  mit 
dem  Staunen  über  die  Weltdissonanz,  wenn  nach  Fichte  der  „An- 
stoß" das  Bewußtsein  weckt,  wenn  die  Logik  in  dem  agonistisch 
und  antithetisch  gestimmten  Hellas  als  Dialektik  begründet  ward 
und  Aristoteles  den  Satz  vom  Widerspruch  prinzipieller  als  die 
Identität  herausarbeitete  und  Chr.  Wolff  aus  jenem  die  Logik  ab- 
leitete, so  könnte  man  nach  solchen  Fingerzeigen  eher  versucht 
sein  den  Widerspruch  und  damit  das  verneinende  Urteil  dem  be- 
jahenden vorauszuschicken.  Indessen  würden  wir  damit  selber 
diesen  Vortritt  mehr  psychologisch-genetisch  nach  dem  Erwachen 
im  Bewußtsein  als  logisch  aus  dem  Wesen  des  Denkens  begründen. 
Wir  aber  stellen  hier  mehr  die  quaestio  juris  als  die  quaestio 
facti  und  treiben  hier  Logik,  nicht  Psychologie,  von  der  wir  jene 
so  entschieden  emanzipieren  müssen,  wie  es  ja  Husserl  und  die 
Neukantianer  bereits  getan  haben  und  namentlich  für  die  Urteils- 
betrachtung Sickert  (im  Logos  III  230  ff.).  Logisch  aber  behält 
ewig  Aristoteles  Recht,  daß  jeder  Bejahung  eine  Verneinung  ent- 
spreche. Das  Denken  als  reiner  Akt  des  Geistes  entscheidet  im 
Urteil  für  oder  gegen,  entscheidet  sich  an  der  Kreuzung,  wo  beide 
Wege  zum  Ja  oder  zum  Nein  sich  vor  dem  wählenden  Geist  gleich 
nahe  und  unmittelbar  auftun  als  Gegensätze,  die  einander  bedingen. 
Wenn  Wundt  Recht  hat,  daß  der  Satz  der  Identität  der  Grund- 
satz der  bejahenden  Urteile,  und  der  Satz  des  Widerspruchs 
der  Grundsatz  der  verneinenden  ist,  dann  fordern  sich  Bejahung 
und  Verneinung  gegenseitig  ebenso  wie  diese  beiden  obersten 
Grundsätze  der  Logik.  Und  es  liegt  dabei  nicht  nur  im  Wesen 
des  denkenden  Subjekts,  daß  es  urteilend  entscheidet  zwischen  Ja 
und  Nein,    sondern   auch  im  Wesen  des   gedachten  Objekts,    daß 


318  Karl  Joel, 

seine  positiven  und  negativen  Prädikate  sich  ergänzen.  Denn  zu 
diesem  Wesen  gehört  nicht  nur,  was  es  ist,  sondern  auch,  was  es 
nicht  ist,  seine  Begrenzung  und  Differenz  gegen  andere,  die  im 
verneinenden  Urteil  bestimmt  wird. 

Wenn  endlich  jene  Kritiker  Kants  dieses  Urteil  auch  darum 
stets  an  eine  vorausgehende  Bejahung  als  ihr  Motiv  anschließen, 
weil  sich  von  jedem  Subjekt  eine  endliche  Zahl  von  Prädikaten 
bejahen,  aber  eine  unendliche  verneinen  ließe,  so  ist  zunächst  zu 
fragen,  ob  nicht  der  Begriff  nach  Lotze  gerade  darum  ein  „lo- 
gisches Ideal"  heißen  muß,  weil  er  auch  positiv  nie  fertig  bestimmt 
werden  kann,  und  gar  wenn  manche  Logiker  den  Satz  vom  ausge- 
schlossenen Dritten  als  Satz  der  Bestimmbarkeit  jedes  Gegen- 
standes durch  jedes  Prädikat  (positiv  oder  negativ)  formulieren 
durften,  dann  müßte  sich  für  ihn  ebenso  eine  positive  wie  eine 
negative  Unendlichkeit  auftun.  Doch  diese  Sphäre  der  verneinenden 
Urteile  wächst  nur  so  in  die  leere  Unendlichkeit,  wenn  man  bei 
den  Begriffen,  die  in  ihnen  getrennt  werden,  an  disparate  denkt, 
deren  es  allerdings  unzählige  gibt,  statt  an  disjunkte.  Dann  aber 
bedeutet  das  Nein  nicht  mehr  eine  bloße  unbestimmte  Nichtposi- 
tivität,  ein  bloßes  Nicht-Ja,  sondern  ein  Anderes,  das  auch,  we- 
nigstens negativ  bestimmt  ist  und  mit  dem  Positiven  durch  einen 
gemeinsamen  höheren  Begriff  irgend  eine  wenn  auch  kritische  Be- 
ziehung hat,  irgend  eine  Vergleichbarkeit  oder  naheliegende,  aber 
durch  Verneinung  abgewiesene  Vertauschbarkeit.  Und  speziell  geht 
hier  die  Disjunktion  auf  einen  kontradiktorischen  Gegensatz,  auf 
ein  Nein  als  Gegensatz  zum  Ja,  das  eben  selber  umgekehrt  einen 
Gegensatz  zum  Nein  darstellt.  Disjunkte  Begriffe  aber  bleiben 
koordiniert,  und  auch  das  disjunktive  Urteil  zeigt  die  Hebung,  die 
Bejahung  des  einen  Gliedes  unmittelbar  verbunden  mit  der  Sen- 
kung, Verneinung  des  andern,  aber  auch  umgekehrt,  zeigt  also  die 
Entscheidung  ebenso  tollendo  ponens  wie  ponendo  tollens.  So 
zeigen  sich  auch  die  bejahende  und  die  verneinende  Urteils funktion, 
mag  psychogenetisch  die  eine  oder  die  andere  vorangehn,  doch 
logisch  durchaus  gleichberechtigt  und  gleich  ursprünglich. 

Wenn  das  Kantische  Nebeneinander  der  Affirmation  und  Ne- 
gation teilweise  und  bedingt  Widerspruch  fand,  so  erfuhr  die 
dritte  qualitative  Urteilsform  wohl  bei  allen  modernen  Logikern 
unbedingte  Verwerfung  als  „blindes  Fenster"  der  Kantischen  Tri- 
chotomie,  und  Lotze  fand  es  sogar  „nicht  der  Mühe  wert"  über 
dieses  „widersinnige  Erzeugnis  des  Schulwitzes"  „weitläufiger  zu 


Das  logische  Recht  der  Kantischen  Tafel  der  Urteile.  319 

sein;  offenbare  Grillen  müssen  in  der  Wissenschaft  nicht  einmal 
durch  zu  sorgfältige  Bekämpfung  fortgepflanzt  werden".  Aller- 
dings die  Bezeichnung  dieses  beschränkenden  Urteils  zugleich 
als  „unendlichen"  ist  samt  ihrer  Rechtfertigung  bei  Kant  wieder 
eine  bedenkliche  Zugabe  aus  seinem  Schulsack  und  stammt,  wie 
Sigwart  sagen  darf,  aus  einer  „ungeschickten  Übersetzung  und 
Anwendung  des  äögiötog11,  das  Aristoteles  wesentlich  von  Bestand- 
teilen des  Urteils,  übrigens  ebenso  vom  Verbum  wie  vom  nomen 
und  ebenso  vom  Subjekt  wie  vom  Prädikat  braucht1).  Doch  ist 
hier  einzufügen,  daß  bereits  Chr.  "Wolf,  der  zwar  wie  Aristoteles 
und  die  Scholastik  unter  den  Urteilen  nur  affirmative  und  negative 
schied,  solche  Urteile,  in  denen  nicht  die  Kopula,  sondern  Subjekt 
oder  Prädikat  mit  einer  Negation  behaftet  sind  und  die  nach  ihm 
verneinend  zu  sein  scheinen,  ohne  es  zu  sein,  propositiones  infinitas 
nannte,  und  andere  wie  Reimarus  folgten  ihm  darin.  Aus  seiner 
Wölfischen  Schulung  also  empfing  Kant  schon  den  „ungeschickten" 
Terminus  der  „unendlichen"  Urteile  und  wenigstens  den  Anreiz 
durch  ihn  eine  Klasse  von  Urteilen  abzusondern,  die,  wie  Herbart 
es  scharf  formuliert,  eine  verneinende  Bestimmung  bei  sich  führen, 
ohne  selber  verneinend  zu  sein.  Danach  würde  das  verneinende 
Urteil  die  sog.  Kopula  verneinen  (S  ist  nicht  P),  das  limitative 
nur  Subjekt  oder  Prädikat:  S  ist  Nicht-P.  Ist  dies  nun  wirklich 
so  unsinnig,  wie  Lotze  es  hinstellt?  „Wenn  Nicht-Mensch  alles 
bedeutet,  was  es  logisch  bedeuten  soll,  nämlich  alles,  was  nicht 
Mensch  ist,  nicht  bloß  Tier,  Engel,  sondern  auch  Dreieck,  Wehmut 
und  Schwefelsäure,  so  ist  es  eine  ganz  unausführbare  Forderung 
dies  wüste  Gremeng  des  Verschiedenartigsten  in  eine  Vorstellung 
zusammenzufassen,  die  sich  dann  als  Prädikat  zu  einem  Subjekt 
hinzufügen  ließe".  Aber  Lotze  streitet  mit  der  Leugnung  eines 
Nicht-P  garnicht  bloß  gegen  die*  Möglichkeit  des  unendlichen  Ur- 
teils, sondern  schon  gegen  die  negativer  Begriffe  und  müßte  dann 
eigentlich  die  Begriffe  Unschuld,  Unrecht,  ungeduldig,  inkonsequent, 
unendlich,  anorganisch  auch  als  unvollziehbare  Vorstellungen  ab- 
lehnen; er  müßte  es  auch  sich  selber  verbieten  hier  von  Unsinn 
zu  reden  und  so  sich  selber  schlagen.  Mag  nun  der  „Nichtmensch" 
nicht  möglich  sein,  der  „Unmensch"  ist  doch  wohl  möglich.  Der 
Fehler  des  feinen  Kantkritikers  liegt  darin,  daß  er  selber  noch 
hier  durch   die  Kantische  „Unendlichkeit"   sich   betören  ließ   und 


1)  Vgl.  Trendelenburg,  Elem.  Log.  Ar.  §  5.    Prantl,  Gesch.  d.  Logik  I  143  f. 


320  Karl  Joel, 

eben  wieder  die  Verneinung  als  bloße  Nichtbejahung  statt  als 
Gegenteil  der  Bejahung  verstand  und  sie  auf  das  unbestimmte 
Verhältnis  disparater  Begriffe  bezog  statt  auf  das  bestimmte  dis- 
junkter  und  zumal  gegensätzlicher.  Indem  nun  Lotze  jeden  ne- 
gativen Begriff,  jedes  Nicht-P  leugnet,  zieht  er  die  Verneinung  vom 
Prädikat  auf  die  Kopula  zurück  und  löst  so  jedes  limitative  Urteil 
in  ein  negatives  auf.  Hat  es  aber  wirklich  dieselbe  Bedeutung, 
wenn  ich  sage:  Geistiges  ist  nicht  materiell  (womit  ich  diese  Be- 
griffe nur  trenne)  und:  das  Geistige  ist  das  Immaterielle  (womit 
ich  es  bejahe  und  bestimme)?  Den  Satz:  das  Wahre  ist  nicht 
das  Schöne  könnte  jeder  unterschreiben,  aber  kaum  einer  den  Satz: 
das  Wahre  ist  das  Unschöne. 

Wundt  sieht  ein,  daß  es  ein  Anderes  ist,  ob  die  Negation  auf 
die  Kopula  fällt  oder  bloß  auf  das  Prädikat,  und  scheidet  deshalb 
unter  den  negativen  Urteilen  das  „Trennungsurteil"  (Blei  ist  nicht 
Silber)  und  das  „negativ-prädizierende"  (der  Orang-Utan  ist  im 
Gesicht  nicht  behaart).  Aber  ist  mit  diesem  zweiten  Typus,  der 
nur  das  Prädikat  verneint,  nicht  eben  jene  Sonderform  des  Urteils 
anerkannt,  die  Kant  als  „beschränkende"  bezeichnet?  Gewiß  zu 
Unrecht  auch  als  „unendliche";  denn  Wundt  hat  Hecht :  das  Urteil 
über  den  im  Gesicht  unbehaarten  Orang-Utan  lautet  so  bestimmt 
wie  irgend  ein  positives.  Aber  sind  darum  diese  Urteile  vom 
Typus  S  ist  ein  Nicht-P  wirklich  verneinende?  Wundt  und  schon 
Lotze  finden  dies  selbstverständlich.  Aber  andere  wie  Sigwart 
(Logik  I  160  f. 4)  und  schon  Chr.  Wolff  nennen  dieselben  Urteile 
ebenso  selbstverständlich  bejahende.  Ob  nicht  an  diesem  Streite 
das  verrufene  Kantische  tertium  gaudet?  Trotz  Lotzes  Wider- 
spruch sind  eben  solche  Urteile,  die  das  Blei  den  „anorganischen" 
Körpern,  das  Insekt  den  „Wirbellosen",  die  7  den  „ungeraden" 
Zahlen  zuweisen,  nicht  nur  möglich,  sondern  systematisch  ebenso 
notwendig  wie  die  rein  positiven,  und  wenn  sie  selber  nicht  rein 
positiv  sind,  so  sind  sie  auch  nicht  rein  negativ,  sondern  zeigen 
die  Notwendigkeit  mit  Kant  einen  dritten  Typus  zu  unterscheiden. 

Doch  die  Sphäre  des  beschränkenden  Urteils  reicht  ja  viel 
weiter,  wenn  wir  nur  nicht  das  an  Worten  hängende  Schuldenken, 
sondern  das  lebendige  Denken  befragen,  das  da  strotzt  von  Ur- 
teilen wie :  der  Baum  ist  nicht  ganz  drei  Meter  hoch,  dieser  Wein 
ist  nicht  so  übel,  ich  tat  es  unbewußt.  Wundt  spricht  von  dem 
Dom,  dessen  Bauzustand  je  nachdem  als  vollendet  oder  als  nicht 
vollendet  oder  auch  als   teilweise  vollendet  zu   bezeichnen  wäre. 


Das  logische  Recht  der  Kantischen  Tafel  der  Urteile.  321 

Sind  ferner  das  hypothetische  und  das  disjunktive  Urteil,  die  be- 
dingungsweise bejahen  oder  verneinen,  wirklich  als  bejahende  oder 
verneinende  und  nicht  vielmehr  als  beschränkende  Urteile  zu  be- 
zeichnen? Begreift  man  nach  solchen  leicht  zu  vermehrenden 
Beispielen  nicht,  daß  unser  wahrhaft  Welt  und  Leben  erfassendes 
Denken  sich  nicht  im  Prokrustesbett  der  traditionellen  logischen 
Zweiteilung  vergewaltigen  läßt,  nicht  nur  Spießruten  läuft  zwischen 
Ja  und  Nein,  sondern  zwischen  Beiden  geradezu  schreit  nach  der 
Funktion  des  beschränkenden  Urteils,  dessen  Notwendigkeit  auch 
Fichte  bezeugt  in  der  logischen  Entwicklung  des  Weltbewußtseins, 
wenn  er  nach  der  Setzung  des  Ich  und  des  Nicht-Ich  die  Setzung 
ihrer  Teilbarkeit  d.  h.  ihrer  gegenseitigen  Beschränkung  fordert? 
Wie  Piaton  durch  die  Entdeckung  des  Mittleren  zwischen  gut  und 
böse,  Sein  und  Nichtsein  usw.  im  Symposion,  Sophistes  etc.  erst  die 
Gefahren  der  nachwirkenden  Sophistik  bannte,  so  hat  Kant  unser 
Geistesleben  aus  steriler  Antithetik  erlöst,  unser  Denken  erst  zu 
fruchtbarer  Welterfassung  und  Lebensformung  befähigt  oder  doch 
berechtigt  durch  das  beschränkende  Urteil;  denn  es  ist  recht 
eigentlich  das  Urteil  des  Ausgleichs  und  damit  des  Aufbaus,  der 
Entwicklung,  die  ohne  Überwindung  der  Gegensätze,  ohne  das 
Recht  des  „Dritten"  logisch  nicht  faßbar  wäre. 

Über  die  Relationsurteile  dürfen  wir  uns  kurz  fassen,  zumal 
hier  der  Sturmwind  moderner  Kritik  weniger  zu  zausen  fand. 
Lotze  wenigstens  erkennt  in  der  Kantischen  Scheidung  des  kate- 
gorischen, hypothetischen  und  disjunktiven  Urteils  die  von  ihm 
gesuchten  und  behandelten  wesentlichen  Bestimmtheiten  des  Ur- 
teils. Allerdings  auf  Kants  erste  äußerliche  Unterscheidung  wird 
man  keinerlei  Wert  legen :  das  kategorische  Urteil  betrachte  zwei 
Begriffe,  das  hypothetische  zwei  Urteile,  das  disjunktive  mehrere 
Urteile  im  Verhältnis  zu  einander.  Natürlich  kann  aber  das  kate- 
gorische Urteil  auch  als  zusammengesetztes  ein  Verhältnis  mehrerer 
Urteile,  das  disjunktive  ebensogut  wie  das  hypothetische  auch  ein 
Verhältnis  nur  zweier  Urteile  bieten,  und  damit  fiele  die  ganze 
Unterscheidung  zusammen.  Weiter  liegt  hier  der  Einwand  gegen 
die  Kantische  Einteilung  nahe,  daß  sie  nur  den  Ausdruck,  nicht 
den  Gehalt  betreffe,  da  sich  die  Urteilsformen  ineinander  ver- 
wandeln ließen.  Dock  zunächst  einmal  sind  dieser  Verwandlung 
Grenzen  gesteckt,  und  sie  findet  nur  nach  einer  Richtung  freie 
Bahn;  denn  das  disjunktive  Urteil  läßt  sich  wohl  in  ein  hypothe- 
tisches und  dieses  in  ein  kategorisches  umformen,   nicht  aber  um- 


322  Karl  Joel, 

gekehrt  jedes  kategorische  in  ein  hypothetisches,  jedes  hypothe- 
tische in  ein  disjunktives.  Dann  aber  wird  selbst  in  der  erlaubten 
Richtung  mit  der  Verwandlung  ein  Teil  des  Gehalts  geopfert  und 
die  Bedeutung  des  Urteils  geändert.  Wenn  eine  vollkommene 
Gerechtigkeit  da  ist,  wird  der  beharrlich  Böse  bestraft:  dieses  Ur- 
teil behauptet,  wie  schon  Kant  selbst  lehrt,  zwischen  bloßen  Mög- 
lichkeiten ein  Verhältnis  der  Notwendigkeit;  in  der  kategorischen 
Fassung  aber  (die  vollkommene  Gerechtigkeit  bestraft  den  be- 
harrlich Bösen)  behauptet  es  eine  Wirklichkeit.  Ebenso  kann  ich 
das  disjunktive  Urteil  „die  Zeitung  liegt  entweder  im  Wohnzimmer 
oder  im  Eßzimmer"  gewiß  hypothetisch  formen:  „wenn  die  Zeitung 
nicht  im  Wohnzimmer  liegt,  so  liegt  sie  im  Eßzimmer".  Doch 
diese  Umschaltong  würde  natürlich  den  Suchenden  zuerst  ins 
Wohnzimmer  treiben  —  eine  Wirkung,  die  vom  disjunktiven  Ur- 
teil garnicht  beabsichtigt  war.  So  greift  die  Umformung  des  Aus- 
drucks, soweit  sie  überhaupt  möglich  ist,  auch  den  Gehalt  der 
.Relationsurteile  an,  deren  innere  Unterschiede  eben  bestehen  bleiben. 
Sigwart,  der  die  Einteilung  weder  als  ursprünglich  noch  als 
erschöpfend  begründet  findet,  räumt  zwar  ein:  Urteile,  die  be- 
stimmten einzelnen  Subjekten  bestimmte  Prädikate  zuweisen,  lassen 
sich  nicht  hypothetisch  umformen;  die  unbedingt  allgemeinen  ka- 
tegorischen Urteile  aber  findet  er  mit  hypothetischen  „völlig  gleich- 
bedeutend", da  sie  nur  die  notwendige  Zusammengehörigkeit  des 
Prädikats  mit  dem  Subjekt  aussagen.  Doch  der  gläubige  Grieche, 
der  kategorisch  sagt:  alle  Götter  sind  unsterblich,  wird  zum 
Zweifler  in  der  hypothetischen  Form:  wenn  es  Götter  gibt,  sind 
sie  unsterblich.  Es  ergibt  eben  noch  keine  einfache  Gewißheit, 
wenn  zwei  Hypothesen  im  „Verhältnis  von  Grund  und  Folge 
stehen"  —  so  nämlich  bestimmt  Sigwart  das  hypothetische  Urteil. 
Es  handelt  sich  eben  bei  diesem  Urteil  nicht  so  sehr  um  eine 
„notwendige  Folge",  wie  er  annimmt,  sondern,  was  er  gerade  be- 
streitet, um  die  Giltigkeit,  die  bedingte  Behauptung  des  Nach- 
satzes, der  aber  nicht  zufällig  Hauptsatz  ist,  während  es,  wie 
Sigwart  anerkennt,  auf  die  Giltigkeit  des  Vordersatzes  garnicht 
ankommt.  Würde  wirklich  nur  die  „notwendige  Folge"  entschei- 
dend sein,  dann  müßten  Sätze  mit  „weil"  oder  mit  „sodaß"  gleich 
solchen  mit  „wenn"  hypothetische  Urteile  darstellen.  Auf  Giltig- 
keit allerdings  kommt  es  an,  und  sie  wird  eben  in  den  drei  Ur- 
teilsformen verschieden  gesetzt :  bei  der  kategorischen  in  das  Urteil 
selbst,   bei   der  hypothetischen  in   seine  Abhängigkeit  von  einem 


Das  logische  Recht  der  Kantischen  Tafel  der  Urteile.  323 

andern  Urteil,  bei  der  disjunktiven  in  die  wechselseitige  Beziehung 
der  Urteile.  Darum  sind  die  drei  Formen  nicht  nur  „ grammatisch 
verschiedene  Ausdrücke  desselben  Gedankens"  oder  nur  als  ein- 
faches und  zusammengesetztes  Urteil  zu  scheiden;  denn  das  kate- 
gorische Urteil  kann  ja  auch  zusammengesetzt  sein,  und  zusammen- 
gesetzte Urteile  oder  Satzverbindungen  gibt  es  neben  dem  hypo- 
thetischen und  disjunktiven  Urteil,  wie  Sigwart  selber  betont, 
noch  andere  genug.  Nein,  es  handelt  sich  hier  wie  bei  den  andern 
Urteilsklassen  um  die  Gültigkeit  des  Urteils,  und  da  bleibt  der 
Unterschied  bestehen,  ob  es  darin  selbständig  gesetzt  wird  oder 
bedingt  oder  wechselseitig  bedingend  und  bedingt. 

Schärfer  und  breiter  wieder  richtete  sich  die  moderne  Kritik 
gegen  die  Einteilung  nach  der  Modalität.  Dieser  leere  Name  wie 
Manches  in  der  Kantischen  Erläuterung  hier  der  Urteilsunterschiede 
mag  wieder  fallen,  und  wenn  man  sie  wieder  nur  äußerlich,  sprach- 
lich ablesen  zu  dürfen  glaubt  und  das  problematische,  assertorische 
und  apodiktische  Urteil  in  die  drei  Formeln  zu  kleiden  pflegt:  S 
kann  P  sein,  S  ist  P  und  S  muß  P  sein,  dann  könnte  Lotze  (und 
auch  Schuppe)  Recht  behalten,  daß  sie  sich  nur  nach  dem  Inhalt 
unterscheiden,  aber  in  Bezug  auf  die  logische  Haltung,  die  sie  ihm 
geben,  vollkommen  gleichartig  seien,  z.  B.  dem  Satze  „alle  Körper 
können  durch  angemessene  Kräfte  in  Bewegung  gesetzt  werden" 
ließen  sich  alle  drei  Modalitäten  zuschreiben.  Trotzdem  erklärt 
Lotze  selber  den  Satz  mit  Recht  für  assertorisch  offenbar  nach 
seiner  logischen  Geltung.  Damit  ist  doch  zugestanden,  daß  er  einem 
problematischen  oder  apodiktischen  Satze  nicht  „vollkommen  gleich- 
artig" sei,  also  die  Modalitätsunterschiede  zu  Recht  bestehen. 
Aber  dabei  darf  gerade  der  Inhalt  so  wenig  maßgebend  sein  wie 
der  Ausdruck;  denn  man  kann  ja  eine  Möglichkeit  für  notwendig 
erklären  und  eine  Notwendigkeit  für  bloß  möglich.  „Fritz  kann 
als  junger  Mensch  unbedingt  sich  noch  entwickeln"  ist  trotz  dem 
Möglichkeitsausdruck  und  -inhalt  ein  apodiktischer  Satz.  „Der 
morgige  Tag  ist  vielleicht  schön"  bleibt  ein  problematischer  Satz 
wie  „alle  Menschen  müssen  sterben"  ein  assertorischer.  Nicht 
was,  sondern  wie  geurteilt  wird,  bestimmt  hier  die  Urteilsform. 
Nicht  der  Satzinhalt,  nicht  der  Satzausdruck,  sondern  die  Setzung 
der  Giftigkeit  entscheidet,  also  wieder  die  innere  Funktion,  der 
Akt  des  Geistes,  der  diese  Urteile  darin  verschieden  abstuft. 

Nun  aber  setzt  wieder  Sigwarts  schärfere  Kritik  ein  und  will 
diese  Unterschiede  überhaupt   aufheben.    Zunächst  sei  das  proble- 


324  Karl  Joel, 

matische  Urteil  als  solches  aufzugeben ;  denn  es  fehle  ihm  das  Be- 
wußtsein objektiver  Giltigkeit,  und  da  es  die  Vorstellung  einer 
Synthese  noch  ohne  Entscheidung  als  Frage  oder  Vermutung  in 
der  Schwebe  halte,  sei  es  nur  der  Ausdruck  der  Ungewißheit,  nur 
der  unvollendete  Versuch  eines  Urteils,  aber  kein  Urteil.  Wenn 
nun  Windelband  es  trotzdem  als  kritische  Indifferenz  zwischen 
dem  bejahenden  und  verneinenden  Urteil  festhalten  will,  so  darf 
allerdings  Sigwart  sich  weigern,  solche  ausdrückliche  Suspension 
der  Beurteilung  als  eine  Art  der  Beurteilung  anzuerkennen.  Auch 
Lask  vermag  Windelbands  problematisches  Urteil  trotz  ähnlicher 
Deutung  dem  bejahenden  und  verneinenden  nicht  zu  koordinieren, 
und  ähnlich  Bickert1).  Grewiß  eine  bloße  Schwebe  zwischen  Ur- 
teilen ist  noch  kein  Urteil.  Doch  all  diese  Logiker,  ob  sie  das 
problematische  Urteil  anerkennen  oder  nicht,  fassen  es  nur  ne- 
gativ: als  Unentschiedenheit  oder  Indifferenz.  Aber  ist  denn  das 
problematische  Urteil  wirklich  „nur  eine  Privation"  (Sigwart),  nur 
ein  Urteilsverzicht  und  sind  Zweifel  und  Frage  wirklich  schon 
problematische  Urteile?  Der  unglückliche  Name  wieder  hat  hier 
getäuscht;  doch  das  problematische  Urteil  soll  ja,  wie  auch  die 
parallele  Kategorie  bezeugt,  über  Möglichkeit  entscheiden,  und 
ist  deren  Setzung  wirklich  nur  etwas  Negatives  und  nicht  etwas 
höchst  Positives  ?  Wenn  Windelband  mit  Recht  das  problematische 
Urteil  in  eine  Gradation  der  Urteile  nach  der  Intensität  der  Ge- 
wißheit einstellt2),  dann  gehört  es  darum  noch  nicht  wie  bei 
ihm  zwischen  Bejahung  und  Verneinung,  die  beide  gewiß  sind,  in 
den  Nullpunkt  des  Urteils,  nein,  es  liegt  über  diesem  Nullpunkt 
wie  bei  Kant  vielmehr  in  einer  Skala  unter  dem  assertorischen 
und  dem  apodiktischen  Urteil.  Das  problematische  Urteil  bedeutet 
eben  nicht  eine  Schwebe,  sondern  eine  Stufe  des  Urteils.  Der 
Fragende  oder  Zweifelnde  aber  erhebt  sich  noch  garnicht  zur 
Setzung  eines  Möglichen,  die  ihn  schon  aus  der  Spannung  der 
Frage  und  dem  Druck  des  Zweifels   befreien  würde  und  die  doch 


1)  Vgl.  Windelband,  Straßb.  Abhandl.  185  ff.  Prinz,  d.  Logik  26  f.  Lask, 
die  Lehre  vom  Urteil.  202  f.    Rickert,  Gstd.  d.  Erk.  1921.  157  f. 

2)  Kroman  (Logik  u.  Psychol.  S.  35)  unterscheidet  hier  sogar  Möglichkeits-, 
Wahrscheinlichkeits-  und  Gewißheitsurteil.  Windelband  dagegen  (Prinz,  d.  Log. 
27)  möchte  das  problematische  Urteil  als  solches  der  Wahrscheinlichkeit  fest- 
halten, die  er  definiert  als  Behauptung  aus  unzureichenden  Gründen.  Wer  aber 
seine  Gründe  bloß  so  negativ  als  unzureichend  taxiert,  setzt  noch  keine  Wahr- 
scheinlichkeit, die  doch  wohl  mehr  enthält  als  „kritische  Indifferenz". 


Das  logische  Recht  der  Kantischen  Tafel  der  Urteile.  325 

eine  positive  Entscheidung  bedeutet  sowohl  gegenüber  dem  Zweifler, 
ob  es  möglich  ist,  wie  gegenüber  dem  Leugner,  daß  es  möglich  ist. 
Was  will  man  hier  an  den  Möglichkeitsurteilen  bestreiten? 
Ihre  besondere  psychologische  Tatsächlichkeit?  Sie  ist  unbe- 
streitbar, aber  kommt  hier  nicht  in  Frage.  Oder  ihren  Denk- 
wert? Das  hieße  allen  Erkenntnisfortschritt  durch  Hypothesen 
und  den  schöpferischen  Wert  des  konstruierenden  planenden  Den- 
kens leugnen.  Oder  endlich  das  logische  Recht  der  „Möglichkeit"? 
Chr.  Wolff  durfte  die  Philosophie  geradezu  bestimmen  als  die 
Wissenschaft  vom  Möglichen  als  dem  Denkbaren  im  Unterschied 
von  der  erfahrungsmäßigen  Wirklichkeit.  Gewiß  einseitig;  aber 
das  Mögliche  gehört  zum  Denken  wie  das  Notwendige;  ja  beide 
bedingen  sich  darin,  sodaß  eine  Unmöglichkeit  im  apodiktischen 
Urteil,  eine  Nichtnotwendigkeit  im  problematischen  dargetan  wird, 
wie  auch  Sigwart  erkannte,  daß  die  Verneinung  der  Möglichkeit 
auf  die  Notwendigkeit  führe  und  umgekehrt.  Beide  aber  diffe- 
renzieren und  orientieren  sich  auch  am  Wirklichen.  Wer  aber 
wie  Sigwart  das  problematische  Urteil,  ja  auch  das  assertorische 
aufhebt  in  das  bloße  Notwendigkeitsurteil1),  geht  den  Felsenweg 
des  Diodoros  Kronos,  jenes  megarischen  Aristoteleskritikers,  dem 
alles  Mögliche  und  Wirkliche  in  die  sterile  Notwendigkeit  des  einen 
Absoluten  versank.  Es  ist  der  geistig  lähmende  Determinismus 
des  späteren  19.  Jahrhunders,  der  konsequent  auch  vom  Denken 
nichts  übrig  behielt  als  die  kahle  Notwendigkeit.  Aber  schien  sie 
nicht  objektiv  gefordert?  Haben  nicht  Sigwart,  Schuppe  und 
schließlich  auch  Lask  Recht,  wenn  sie  die  Modalunterschiede  auf 
das  urteilende  Subjekt  abschoben  und  so  nur  für  dieses,  also 
eigentlich  nur  psychologisch  das  assertorische  und  problematische 
Urteil  als  bloße  unvollkommenere  Gewißheitsgrade  zuließen  ?  Dann 
könnte  also  ein  allwissender  Geist  nur  apodiktische  Urteile  bilden 
(wie  nach  Schleiermacher  nur  analytische)  ?  Aber  dann  müßte  man 
ihm  und  dem  logischen  Denken  überhaupt  auch  die  hypothetischen 
und  disjunktiven  Urteile  streichen;  denn  sie  sagen  ja  in  ihren 
Gliedern  bloße  Möglichkeiten  aus.  Dann  aber  dürfte  schließlich 
der  Allwissende,  wie  schon  Wundt  meint,  überhaupt  keine  Urteile 
bilden  können.  Er  wäre  dann  auch  kein  wollender  Geist,  kein 
Gott,   der  doch  nach  Leibniz  gerade  zwischen  Möglichkeiten 

1)  Ähnlich  Schuppe:  „ein  assertorische  Urteile  gibt  es  überhaupt  nicht". 
„In  der  Sache  ist  immer,  auch  wenn  nur  Möglichkeit  ausgesagt  wird,  eine  Not- 
wendigkeit vorhanden". 

Kantstudien  XXVH.  22 


326  Karl  J0^1» 

die  Welt  wählt.  Kurz,  er  wäre  nur  ein  starrer  Geist,  d.  h.  auch 
kein  Geist  mehr,  weil  er  nicht  als  solcher  sich  entfalten,  nicht 
leben  könnte.  Solches  Denken  in  starrer  Gebundenheit  wäre  eben 
kein  Denken  mehr,  kein  lebendiger  Akt,  kein  Urteilen,  kein  freies 
Entscheiden.  Denn  was  ist  das  Denken  ohne  die  Freiheit  der 
Abstraktion,  die  eben  in  der  Setzung  von  Möglichkeiten  besteht  ? . 
Alles  Denken  ist  nun  einmal  Akt  des  Subjekts,  aber  eines  Subjekts, 
das  sich  objektiviert.  Hier  könnten  schon  hypothetisches  und 
disjunktives  Urteil  die  objektive  Seite  der  Möglichkeit  erweisen. 
Die  Möglichkeit  überhaupt  gibt  eine  abstrakte  Giltigkeit,  aus  der 
erst  die  Wirklichkeit  als^  konkrete  Giltigkeit  logisch  entspringt. 
Was  wirklich  und  was  notwendig  ist,  muß  erst  möglich  sein. 
Kann  so  das  logische  Sonderrecht  der  Möglichkeit  noch  zweifelhaft 
sein?  Und  zwar  geht  hier  die  Möglichkeit  logisch  voran  als  das 
Allgemeinere,  d.  h.  aber  das  problematische  Urteil  setzt  die  Gil- 
tigkeit noch  über  den  Gedanken,  sodaß  er  in  ihrer  logischen  Sphäre 
liegt,  ohne  schon  von  ihr  speziell  ergriffen  zu  sein;  das  asserto- 
rische Urteil  setzt  die  Giltigkeit  schon  und  nur  in  den  Gedanken 
selbst;  das  apodiktische  setzt  sie  in  und  über  den  Gedanken,  in 
den  Zusammenhang  des  Denkens  und  leitet  so  aus  der  höheren 
abstrakten  Giltigkeit  die  spezielle  oder  konkrete  ab.  So  sind  es 
Grade  der  Sicherung  des  Gedankens  im  Denken  selbst,  sofern  es 
Giltigkeit  setzt. 

Wir  müssen  hier  abbrechen,  obgleich  noch  Fragen  genug  an- 
drängen. Alle  metaphysischen,  ontologischen  Fragen,  ja  schon  die 
eigentlich  transzendentalen,  wie  sie  etwa  Lask  tiefringend  erörtert, 
mußten  draußen  bleiben  und  erst  recht  die  psychogenetischen,  die 
Jerusalems  Buch  über  die  Urteilsfunktion  in  klarer  Entwicklung 
aufrollt.  Selbst  der  Zusammenhang  der  Kantischen  Urteilsformen 
bleibt  noch  fraglich  und  auch  ihre  Vollständigkeit,  die  ich  aller- 
dings vorläufig  nur  bedroht  sehe  durch  das  von  Vaihinger  in  seiner 
großen  Bedeutung  entdeckte  fiktive  Urteil,  das,  wie  er  treffend 
zeigt1),  von  Kant  zu  Unrecht  mit  dem  problematischen  Urteil 
vermischt  wurde  und  das  eine  besondere  Erörterung  und  Ein- 
stellung verlangt,  weil  es  nur  subjektive  Giltigkeit  beansprucht 
und  die  objektive  gerade  ablehnt,  die  eben  sonst  die  Kantischen 
Urteilsformen  setzen.  Daß  sie  es  tun,  ja  daß  sie  in  dieser  Setzung 
bestehen,  galt  es  zu  zeigen.     Es   ist   schließlich  doch  nicht  abzu- 

1)  Philos.  des  Als  Ob  S.  163.  167.  593.  5974. 


Das  logische  Recht  der  Kantischen  Tafel  der  Urteile.  327 

sehen,  warum  z.  B.  Wundt  nur  die  negativen,  problematischen  und 
apodiktischen  Urteile  als  „Giltigkeitsformen  des  Urteils u  anerkennt, 
warum  etwa  das  bejahende  nicht  ebenso  gut  über  Gültigkeit  aus- 
sagen soll  wie  das  verneinende,  und  worin  denn  das  hypothetische 
und  disjunktive  Urteil  anders  bestehen  sollen,  als  daß  sie  eben 
eine  Giftigkeit  hypothetisch  oder  disjunktiv  setzen,  sie  bedingen. 
Alle  Urteilsformen  der  Kantischen  Tafel  sind  wesentlich  Entschei- 
dungen über  Griltigkeit  und  gerade  als  solche  zu  unterscheiden *) : 
danach  ob  sie  ein  Verhältnis  giltig  setzen  (Eealitäts-  statt  „Qua- 
litätsurteile"), in  welchem  Umfange  (Extensitäts-  statt  „Quan- 
titätsurteile"), in  welchem  Grade  (Intensitäts-  statt  „Modalitäts- 
urteile") und  in  welcher  Beziehung  (Relationsurteile).  Namen 
u.  a.  Äußerlichkeiten  der  Kantischen  Tafel  mögen  verlöschen;  die 
Grundzüge  sind  zu  tief  eingemeißelt,  um  sich  durch  die  moderne 
Kritik  so  leicht  hinwegwischen  zu  lassen.  Gerade  die  von  ihr 
am  meisten  bestrittenen  Urteilsformen  wie  das  singulare,  das  be- 
schränkende und  das  problematische  Urteil  sollten  hier  in  ihrer 
tieferen,  geradezu  reformatorischen  Bedeutung  gezeigt  werden  und 
offenbaren  sich  als  wahre  Befreiungen  des  Geistes  aus  scholasti- 
scher und  leider  wieder  moderner  Erstarrung. 

Die  moderne  Kritik  hat  an  der  Kantischen  Tafel  gerüttelt, 
weil  sie  das  Urteil  nicht  im  Kantischen  Sinn  als  solches  nahm, 
sondern  teils  als  Urteilsinhalt,  teils  als  Urteilsaus  druck,  und  da- 
nach hat  sie  die  Tafel  teils  vereinfacht,  teils  erweitert.  Natürlich 
wenn  man  wesentlich  den  Urteilsinhalt  noch  scholastisch  als  bloßes 
Verhältnis  von  S  und  P  betont,  so  bleibt  an  solcher  logischen 
Struktur  nicht  viel  zu  differenzieren.  Und  andererseits  wenn  man 
Urteile  wesentlich  sprachlich  als  Sätze  versteht,  so  mag  man  noch 
Frage,  Befehl,  unbestimmte  Urteile,  einfache  und  zusammengesetzte, 
benennende,  beschreibende,  erzählende  und  noch  vielerlei  andere 
unterscheiden.  Nimmt  man  aber  Urteile  weder  scholastisch  noch 
rhetorisch,  weder  innerlich  starr  noch  äußerlich  formal,  sondern 
mit  Kant  oder  doch  mit  seiner  Tendenz,  die  es  hier  herauszuschälen 
galt,  in  reiner  Funktion,  als  lebendige  Akte  des  Geistes,  als  Denk- 
entscheidungen, als  Setzungen  von  Giltigkeit,  dann  hat  uns  die 
Kantische  Tafel  noch  viel  fruchtbare  Wahrheit  zu  künden,  mag 
sich  dabei  auch  wieder  das  Wort  bewähren,  daß  Kant  verstehen 
über  ihn  hinausgehen  heißt. 

1)  Während  die  Scheidung  der  analytischen  und  synthetischen,  apriorischen 
und  aposteriorischen  Urteile  natürlich  ihren  Ursprung  betrifft. 

22* 


Zur  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon 

bis  Kant. 

Von  Erich  Adickes,  Tübingen. 


Die  folgenden  Seiten  verdanken  ihre  Entstehung  einem  Werk 
über  „Kant  als  Naturwissenschaftler",  das  unmittelbar  vor  seinem 
Abschluß  steht.  Sie  gehören  zwar  mehr  der  Geschichte  der  Natur- 
wissenschaften als  der  Geschichte  der  Philosophie  an,  stehen  aber 
doch  immerhin  in  enger  Beziehung  zu  dem  Großen,  nach  welchem 
diese  Zeitschrift  benannt  ist.  Und  so  mögen  sie  denn  in  diesem 
Festheft  Platz  finden.  Hat  doch  auch  der  Jubilar,  dem  es  gewid- 
met ist,  einen  großen  Teil  seiner  Lebensarbeit  in  den  Dienst  Kants 
gestellt  und  sich  um  die  Erforschung  von  dessen  System  unbe- 
streitbare Verdienste  erworben. 

Es  ist  behauptet  worden  —  und  zwar  auch  von  Gelehrten,  von 
denen  man  eigentlich  erwarten  sollte,  daß  sie  mit  den  Verhältnissen 
genau  bekannt  wären1)  — ,  Kant  habe  in  seiner  Magister  -  Disser- 
tation :  Meditationum  quarundam  de  igne  succincta  deüneatio  (1755) 
die  moderne  mechanische  Wärmelehre  vorweggenommen.  Nichts 
kann  falscher  sein  als  diese  Darstellung.  Ihre  weite  Verbreitung 
zwang,  der  Sache  auf  den  Grund  zu  gehen,  um  Kant  in  wirklich 
sachgemäßer  Weise  in  die  geschichtliche  Entwickelung  einordnen 
zu  können. 

Und  da  zeigte  sich,  daß  schon  seit  den  Anfängen  der  neueren 
Philosophie  und  Naturwissenschaft,  seit  Bacon,  Gassendi  und  Des- 
eartes,  zwei  Auffassungen  über  Wesen  und  Ursache  der  Wärme 
einander  in  scharfem  Kampf  gegenüberstanden:  die  Einen  hielten 
die  Wärme  für  einen  besonderen  Stoff  und  leiteten  aus  ihm  und 


1)  Z.  B.  von  G.  Keuschle  in  seinem  Aufsatz :  Kant  und  die  Naturwissen- 
schaft, mit  besonderer  Rücksicht  auf  neuere  Forschungen,  in :  Deutsche  Viertel- 
jahrsschrift 1868,  2.  Heft,  S.  55  f. 


Zur  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  329 

seinen  Bewegungen  die  Erscheinungen  ab,  die  Andern  sahen  in 
der  Wärme  nur  einen  Zustand  der  Materie  und  betrachteten  sie 
als  eine  innere  Bewegung  der  kleinsten  Körperteilchen.  Jene  be- 
zeichne ich  als  Stoff-  oder  Substantialitätstheorie,  diese  als  Vibra- 
tions-  oder  Bewegungstheorie.  Der  zweiten  Ansicht  brachten  die 
letzten  80  Jahre  den  Sieg,  die  mechanische  Wärmetheorie  steht 
und  fällt  mit  ihr.  Aber  auch  schon  im  17.  und  18.  Jahrhundert 
gab  es  nicht  wenige  Naturwissenschaftler  und  Philosophen,  die 
sich  zu  ihr  bekannten.  Freilich,  das  Gros  der  Forscher  und  Ge- 
lehrten pflichtete  der  substantiellen  Auffassung  der  Wärme  bei, 
vor  allem  seit  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts.  Sehr  begreiflich! 
Denn  auch  die  Phänomene  des  Lichtes,  der  Elektrizität,  des  Mag- 
netismus, des  Verbrennungsprozesses  (Phlogiston !)  glaubten  die 
Meisten  damals  nicht  ohne  Annahme  besonderer  Stoffe  erklären 
zu  können. 

Auch  Kant  gehört  diesem  Gros  an,  und  man  vergewaltigt  die 
Tatsachen,  wenn  man  ihn  in  die  Reihe  der  Forscher  stellt,  welche 
die  Wärme  als  bloße  Bewegung  betrachteten  und  so  die  moderne 
Wärmelehre  vorbereiten  halfen. 

Die  wichtigeren  Vertreter  aus  beiden  Lagern  werde  ich  dem 
Leser  im  Folgenden  vorführen,  in  möglichster  Kürze,  und  deshalb 
überall  da,  wo  genügende  Vorarbeiten  vorliegen,  wegen  aller  Einzel- 
heiten auf  diese  verweisend. 

Ich  beginne  mit  der  substantiellen  Auffassung. 

1.  Die  Substantialitätstheorie. 

Hier  ist  aus  der  Zeit  der  Begründung  der  neuen  Naturwissen- 
schaft P.  Gassendi,  der  Erneuerer  des  antiken  Atomismus,  zu 
nennen.  Er  nimmt  besondere  Wärmeatome  von  sehr  kleiner  Masse, 
runder  Figur  und  sehr  schneller  Bewegung  an,  die  zwar  nicht  selbst 
warm  sind  (Wärme  ist  ja  nur  subjektive  Empfindung),  wohl  aber 
von  den  sogenannten  warmen  Körpern  emittiert  werden,  in  die 
Poren  anderer  (warm  werdender)  Körper  eindringen,  ihre  Teile 
auseinander  treiben,  trennen,  die  Körper  ausdehnen,  weich  machen 
oder  gar  auflösen,  die  ferner  durch  eben  diese  Wirkungen  auf 
menschliche  Leiber  die  Empfindung  der  Wärme  oder  den  das  Ge- 
brannt -  Werden  begleitenden  Schmerz  erzeugen.  Solange  diese 
Atome  durch  irgend  welche  Hindernisse  in  den  betreffenden  Kör- 
pern gebunden  sind  (revinctae  cohibentur),  sind  die  letzteren  nur 
der  Möglichkeit  nach  (eminenter)  warm,  wie  Pfeffer,  Holz,  Wachs. 


330  Erich  Adickes, 

Acta  oder  formaliter  warm  werden  sie  erst  dann  genannt,  wenn 
die  in  ihnen  befindlichen  Wärmeatome  ihre  Freiheit  erlangen, 
aus  ihren  Gefängnissen  hervorbrechen  und  auf  andere  Körper 
wirken.  Ein  solches  Hervorbrechen  oder  Emittiertwerden  der 
Wärmeatome  ans  einem  Körper  setzt  entweder  das  Eindringen 
anderer  Wärmeatome  vorans  (wie  bei  Einwirkung  eines  Feuers, 
das  nichts  ist  als  Wärme  in  besonders  hohem  Grade,  wobei  ganze 
Haufen  von  Wärmeatomen  aus  der  Flamme  in  die  Körper  über- 
gehen) oder  eine  Erschütterung,  sei  es  der  Wärmeatome,  die  sich 
den  Körpermolekülen,  sei  es  des  ganzen  Körpers,  die  sich  den 
Wärmeatomen  mitteilt.  Bewegung  hat  also  Wärme  zur  Folge 
(das  Tier  schwitzt  infolge  eiligen  Laufens,  die  Säge  wird  heiß 
infolge  der  Reibung),  aber  nur  insofern  durch  sie  die  Wärmeatome 
in  Aktivität  gebracht  werden ;  wo  letztere  fehlen,  wie  beim  Wasser, 
kann  auch  das  stärkste  Schütteln  keine  Wärme  hervorbringen. 
Den  besonderen  Wärmeatomen  entsprechen  besondere  Kälteatome, 
welche  von  größerer  Masse,  pyramidaler  (tetraedrischer)  Form  und 
langsamerer  Bewegung  sind.  Dringen  sie  in  Flüssigkeiten  ein,  so 
berühren  sie  sich  mit  deren  Atomen  an  vielen  Punkten,  wirken 
dadurch  wie  durch  ihre  Gestalt  und  langsamere  Bewegung  con- 
stringierend  auf  sie  ein  und  verwandeln  sie  so  in  feste  Körper1). 
Lemery  jun.  veröffentlichte  in  den  Me'moires  der  Pariser 
Akademie  für  das  Jahr  1709  (S.  400 — 418)  Conjectures  et  re'flexions 
sur  la  matiere  dn  feu  ou  de  la  lumiere2),  nach  denen  die  Feuer- 
materie (die  wahre  Ursache  der  Hitze,  des  Lichtes,  der  Flüssig- 
keit, des  Schmelzens)  ein  flüssiger  Körper  ist,  dessen  besondere 
Eigenschaften  nicht  nur  von  der  Geschwindigkeit,  sondern  nicht 
minder  von  der  Gestalt  seiner  Teile  abhängen.  Bei  der  Erwär- 
mung dringt  sie  in  die  sich  ausdehnenden  Körper  und  bleibt  dann, 
wenn  diese  sich  wieder  zusammenziehen,  in  ihnen  gleichsam  einge- 
kerkert, da  ihr  nach  allen  Seiten  hin  der  Ausgang  versperrt  ist. 
Sie  wird  zwar  sehr  wahrscheinlich  von  einer  noch  viel  feineren 
Materie,  die  auch  die  kleinsten  Poren  der  Körper  durchdringt  und 
allen  leeren  Raum  in  der  Welt  erfüllt,  in  Bewegung  gehalten,  doch 
kann  sie  sich  meistens,  weil  diese  Bewegung  zu  gering  ist,   nicht 

1)  P.  Gassendi:  Syntagma  philosophicum,  II.  Pars.,  1.  Sect.,  6.  Lib.,  6.  Cap. 
in:  Opera  omnia  1727,  fol.  I,  346'ff. 

2)  Vgl.  ebenda  Histoire  S.  6—8  und  die  deutsche  Übersetzung  der  „Physi- 
schen Abhandlungen"  der  Pariser  Akademie  von  W.  B.  A.  v.  Steinwehr,  1749, 
III,  484—506. 


Zur  Lehre  von  der  "Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  331 

ohne  fremde  Hülfe  (Erwärmung,  Auflösung  des  ungelöschten  Kalkes 
durch  Wasser)  aus  dieser  Gefangenschaft  befreien.  Sie  ist  es, 
die  beim  Verkalkungsprozeß  das  Gewicht  mancher  Metalle  ver- 
mehrt, die  alle  entzündlichen  Körper  entzündlich  macht,  und  die 
Sonne  scheint  nichts  anderes  als  ein  sehr  großer  flammender 
Klumpen  Feuer-  oder  Lichtmaterie  zu  sein. 

Chr.  Wolff1)  nimmt  neben  der  Materie  des  Lichtes  (Himmels- 
luft, Äther),  der  magnetischen,  der  schwermachenden,  der  aus- 
dehnenden Materie  noch  eine  besondere  Wärmematerie  (oder  das 
elementarische  Feuer)  an,  die  „sich  aus  einem  Körper  in  den  andern 
bewegt,  in  deren  Bewegung  die  Wärme  bestehet".  Warm  nennen 
wir  einen  Körper,  aus  dem  soviel  Wärmematerie  austritt,  daß  sie 
in  uns  bei  der  Berührung  „eine  empfindliche  Veränderung"  hervor- 
bringt. Ist  ihre  Bewegung  in  einem  Körper  nur  gering  oder  ganz 
gehemmt,  so  zeigt  er  nicht  die  Phänomene  der  Wärme.  Sie  treten 
aber  auf,  sobald  die  Wärmematerie,  sei  es  unmittelbar  sei  es  durch 
Vermittlung  des  Körpers  (Schlagen,  Reiben  usw.),  in  stärkere  Be- 
wegung versetzt  wird  2).  Diese  letztere  greift  dann  auch  auf  die 
Körperteilchen  selbst  über:  feste  wie  flüssige  Körper  werden  aus- 
gedehnt, indem  die  in  ihnen  vorhandenen  Zwischenräume  ver- 
größert werden,  feste  Körper  werden  in  flüssige  verwandelt,  bei 
denen  die  Teilchen,  durch  die  fremde  Materie  von  einander  ge- 
trennt, einander  nicht  mehr  berühren,  geschweige  denn  an  ein- 
ander hängen.  Feuer  ist  konzentrierte  Wärme,  die  Sonne  ist  ein 
wirkliches  Feuer  und  brennt  rings  herum  über  und  über. 

Nach  G.  E.  Hambergers  Elementa  physices  (zuerst  1727) 
ist  das  Feuer  „congeries  corpusculorum  subtilissimorum,  levissime 
cohaerentium.     Ergo  ut  corpus  fluidum,  et  particulas  habet  sphae- 


1)  Vernünftige  Gedanken  von  den  Würkungen  der  Natur,  1723,  §  71  ff.,  S.  103  ff. 
Allerhand  nützliche  Versuche,  dadurch  zu  genauer  Erkenntnis  der  Natur  und  Kunst 
der  Weg  gebähnet  wird,  2.  Aufl.,  1728,  II,  §  104  ff.,  S.  287  ff. 

2)  F.  Rosenberger  meint  in  seiner  Geschichte  der  Physik  (1884,  II,  282), 
man  sehe  durch  Wolffs  Hypothese  von  dem  an  sich  nicht  warmen  Wärmestoff 
„schon  den  Begriff  der  so  lange  gebrauchten  latenten  Wärme  durchleuchten".  Aber 
Rosenberger  irrt,  wenn  er  glaubt,  hier  liege  eine  Spezialität  Wolffs  vor.  Die 
Hypothese,  daß  der  Feuerstoff  nur,  wenn  er  stärker  bewegt  ist,  die  Wärme- 
wirkungen hervorzubringen  vermag,  galt  den  Vertretern  der  Substanzialitätstheorie 
durchweg  als  ausgemachte  Sache,  und  zwar  auf  Grund  der  Reibungs-,  der  Aus- 
dehnungserscheinungen und  zahlreicher  anderer  auf  eine  innige  Beziehung  zwi- 
schen Wärme  und  Bewegung  hindeutenden  Tatsachen;  die  Phänomene  der  später 
sogenannten  latenten  Wärme  hingegen  spielten  dabei  keine  Rolle. 


332  Erich  Adickes 


ricasa  (3.  Aufl.,  1741,  §  267).  Es  geht  aus  heißen  Körpern  in  we- 
niger heiße  über,  durchdringt  sie,  bringt  ihre  Partikeln  in  Be- 
wegung, dehnt  sie  aus  und  macht  sie  warm;  denn  Wärme  ist 
nichts  als  (wie  immer  hervorgebrachte)  Bewegung  des  Feuers  in 
einem  Körper.  Diese  Bewegung  kann  durch  den  Widerstand  der 
Körperpartikeln,  besonders  wegen  der  Cohäsionsanziehung,  die  sie 
auf  die  Feuerteilchen  ausüben,  zum  Stillstand  gebracht  werden: 
dann  erkaltet  der  Körper,  ohne  daß  Feuerteilchen  in  anstoßende 
Körper  übergegangen  wären.  Bei  der  Calcination  vermehrt  das 
Feuer  das  Gewicht  der  Metalle.  Die  Sonne  ist  ein  Feuer,  und 
ihre  Strahlen  unendliche  Ketten  (series)  von  Feuerteilchen.  Der 
Äther,  der  den  ganzen  Himmelsraum  und  alle  Zwischenräume  und 
Poren  in  den  Körpern  erfüllt,  ist  wahrscheinlich  spezifisch  schwerer 
als  das  Feuer  (§  251—272,  312,  532—536,  635,  737). 

H.  Boerhaave  handelt  in  den  Elementa  chemiae  (1732,  I, 
126 — 422 *))  sehr  ausführlich  vom  Feuer,  beweist  seine  Körperlich- 
keit aus  seiner  Ausdehnung,  Beweglichkeit,  Undurchdringlichkeit, 
und  läßt  es  aus  äußerst  kleinen,  festen  (solidissimis),  glatten,  kugel- 
förmigen, unveränderlichen,  ganz  einfachen,  homogenen  Teilchen 
bestehen,  die  seit  der  Schöpfung  ihrer  Zahl  nach  weder  vermehrt 
noch  vermindert  sind.  Es  findet  demnach  keine  Umwandlung 
anderer  Substanzen  in  Feuer  statt,  auch  nicht  beim  Verbrennungs- 
prozeß. Der  Gravitationskraft  ist  es  nicht  unterworfen:  es  ist 
also,  wenn  nicht  äußere  Ursachen  einwirken,  im  ganzen  Universum 
überall  in  gleicher  Menge  und  Kraft  verbreitet.  Ansammlungen 
an  einzelnen  Punkten  geschehen  stets  auf  Kosten  der  Umgebung, 
und  die  Hauptursache  solcher  Ansammlungen  ist  die  gegenseitige 
Reibung  irgendwelcher  Körper.  Die  Feuerteilchen  sind  immer  in 
Bewegung,  auch  in  der  größten  Kälte.  Die  Intensität  der  Be- 
wegung wächst  mit  der  Hitze  und  teilt  sich  auch  den  Körper- 
partikeln mit,  daher  die  Ausdehnung  fester  und  flüssiger  Körper, 
das  Flüssigwerden  fester  unter  dem  Einfluß  der  Wärme,  deren 
alleinige  Ursache  stets  und  überall  in.  der  Bewegung  der  Feuer- 
teilchen zu  suchen  ist. 

Boerhaaves  Ausführungen  machten  durch  ihre  innere  Gediegen- 
heit, unterstützt  durch  den  Glanz  seines  Namens,  auf  die  damalige 
Zeit  einen  großen  Eindruck.     Boerhaave  geht  sehr  vorsichtig  und 


1)  Deutscher  Auszug  unter  dem  Titel:   Anfangs  -  Gründe  der  Chimie,  1755 
S.  54—163. 


Zur  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  333 

methodisch  zu  Werke,  erhebt  sich  allmählich  von  Tatsachen  und 
Experimenten  zu  allgemeineren  Schlußfolgerungen  und  sucht  seiner 
Substanzialitätstheorie  durch  eindringende  Erörterung  auch  der 
ihr  ungünstigen  Phänomene  einen  möglichst  hohen  Grad  von  Über- 
zeugungskraft zu  verschaffen. 

So  ist  es  begreiflich,  daß  P.  van  Musschenbroek  in  der 
2.  Auflage  seiner  Elementa  physicae  (1741;  1.  Aufl.  1734)  den  Ab- 
schnitt „De  igne"  S.  309  mit  den  Worten  beginnt:  „De  igne  adeo 
eleganter  disseruit  Cl.  ßoerhavius,  ut  fere  tantum  eadem  repetere, 
pauca  addere  fas  sit"  1).  Die  Resultate  seiner  Untersuchungen 
faßt  er  sodann  S.  325 ff.  übersichtlich  dahin  zusammen:  1.  Ignem 
esse  corpus,  quia  spatium  occupat,  sese  extendit  ex  corpore  cale- 
facto  quaquaversum  in  alia  corpora,  vel  in  spatia :  deinde  movetur, 
cum  sese  expandit:  soliditatem  suam  repercussione  a  speculis  cau- 
sticis  ostendit :  gravitatem  habet  ...  2.  Constabit  ignis  e  partibus 
subtilissimis,  cum  penetrat  in  porös  quorumcunque  corporum,  tarn 
firmorum,  quam  fluidorum.  3.  Eruntque  ejus  partes  solidissimae, 
quia  sunt  minimae,  proinde  non  multum  porosae:  forte  elasticae. 

4.  Quae  habent  superficiem  politissimam,  haec  enim  fluit  ex  facul- 
tate  penetrandi  in  omnia  corpora  usque  ad  intimum  meditullium  : 
quod  fieri  non  posset,  si  ignis  partes  forent  hirtae,  scabrae,  hamo- 
sae:  summa  ignis  fluiditas  laevem  superficium  quoque  partium  de- 
monstrat ;  obtinetque  tantum  inter  corpuscula  figurae  sphaeroideae. 

5.  Est  quoque  ignis  mobilissimus,  cum  moveat  summa  rapiditate 
reliquorum  corporum  partes :  veluti  inprimis  patet  in  foco  ustorio- 
rum.  Corporibus  adhaerere  potest,  äuget  enim  pondus,  et  cum  iis, 
quae  volatilia  fecit,  avolat.  7.  Potestque  reduci  ad  quietem,  saltem 
ad  minorem  rapiditatem  quam  ante  habebat,  veluti  haeret  in  calce 
metallorum,  aliorumque  corporum,  ad  thermometrum  non  calen- 
tium" 2).  „Est  ignis  ubivis  praesens,  et  in  omni  corpore,  atque 
ille,  qui  in  corpore  fere  quiescebat,  vel  parum  movebatur,  tritu 
celerrime  iterum  agitatus  a  partibus,  quae  motu  vibratorio  citissime 
contremiscunt,  illico  suam  vim  et  praesentiam  ostendit.  .  .  .  Verum 
an  solo  igne,  quem  in  se  habuerunt  corpora  ante  tritum,  nunc 
calent  trita?  an  vero  alius  ex  ambiente  spatio  accedit,  tritu  quasi 


1)  Mit  derselben  Anerkennung  und  in  ganz  ähnlichen  Worten  spricht  Mus- 
schenbroek sich  auch  noch  1762  in  seinem  Alterswerk:  Introductio  ad  philosophiara 
naturalem  II 609  aus. 

2)  Fast  wörtlich  übereinstimmend  in  der  Introductio  II 63G  f.  In  Nr.  3  wird 
nach  „forte  elasticae"  noch  hinzugefügt:  „se  mutuo  repellentes". 


334  Erich  Adickes, 

in  ea  attractus?  hoc  obtinere  videtur,  quia  ignis  ex  uno  corpore 
transit  in  aliud:  tum  quia,  quo  densius  est  corpus,  eo  diutius  ig- 
nem  retinet,  quo  rarius  est,  eo  citius  eum  amittit :  ea  quae  flagrant, 
non  suo  tantum,  sed  aliunde  accepto  igne  ardent"  (S.  335;  Intro- 
ductio  II  650  f.).  Auch  für  Musschenbroek  ist  das  Feuer  (ebenso 
wie  für  Boerhaave)  ein  „corpus  sui  generis" :  eine  Umwandlung 
anderer  Substanzen  in  Feuer  ist  er  nicht  geneigt  anzunehmen. 
Was  wir  Wärme  in  den  Körpern  nennen,  ist  also  nichts  als  eine 
gewisse  Menge  bewegter  Feuermaterie  in  den  Zwischenräumen 
ihrer  Teilchen  und  in  den  Poren  der  kleinsten  Partikeln,  und  der 
Grrad  der  Wärme  richtet  sich  nach  der  Größe  jener  Menge  (S.  351, 
350) l), 

Für  das  Jahr  1738  stellte  die  Pariser  Akademie  als  Preis- 
frage das  Thema :  La  nature  et  la  propagation  du  feu.  Veran- 
lassung dazu  bot  vermutlich2)  die  Schwierigkeit,  daß  aus  dem 
kleinsten  Funken  bei  genügender  Nahrung  ein  gewaltiges  Feuer 
entstehen  kann  und  andererseits  doch  ein  alter,  allgemein  aner- 
kannter Grundsatz  besagt,  die  Wirkung  könne  nie  größer  sein  als 
ihre  Ursache ;  das  Problem  war  also  modern  ausgedrückt :  die  Aus- 
breitung des  Feuers  mit  der  Erhaltung  der  Energie  in  Einklang 
zu  bringen.  Von  den  etwa  30  einlaufenden  Abhandlungen  wurden 
die  von  L.  Euler,  dem  Jesuiten  Lozeran  de  Fiese  und  dem  Grafen 
von  Crequy  preisgekrönt,  die  der  Marquise  du  Chätelet  und  Vol- 
taires ehrenvoll  erwähnt  und  alle  fünf  im  IV.  Band  des  „Recueil 
des  pieces  qui  ont  remporte  les  prix  de  l'academie  royale  des  scien- 
ces"  (1752,  S.  1—219)  abgedruckt. 

Die  Substanzialitätstheorie  herrscht  in  diesen  Arbeiten  ent- 
schieden vor.  Nur  der  Graf  von  Crequy  sieht  unter  dem  Ein- 
fluß des  Cartesius  das  Wesen  des  Feuers  in  der  Bewegung,  wandelt 
aber  auf  ganz  phantastischen  Bahnen,  indem  er  die  Quelle  der 
der  Feuer-Bewegung  in  dem  gewaltigen,  allgegenwärtigen  Doppel- 
strom der  magnetischen  Materie  sucht,  der  durch  das  ganze  Weltall 
geht  und  dessen  eigentliche  Triebfeder  bildet.  Das  Feuer  wird 
definiert  als   die  Auflösung  der  brennbaren  Körper  durch   diesen 


1)  Nach  der  Introductio  II 673  ist  dagegen  der  Grad  der  Wärme  mitunter 
nicht  allein  von  der  Menge  der  Feuermaterie,  sondern  auch  von  der  Intensität 
der  inneren  Bewegung  der  körperlichen  Teilchen  abhängig;  denn:  „si  notabilis 
copia  ignis  agitati  corpus  ingressa  sit,  partes  corporis  ab  eo  segnius  aut  celerius 
ineipient  moveri,  conquassari,  vibrari." 

2)  Vgl.  Nollet:  Lecons  de  physique  experimentale,  1754,  IV  189. 


Zur  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  335 

Doppelstrom,  der  seine  Bewegung  mitteilt,  sobald  sieb  seinem  Streben, 
alles  zu  durchdringen,  Hindernisse  in  den  Weg  stellen. 

Stark  phantastisch  sind  auch  die  Ansichten  des  Jesuiten 
L.  de  Fiese.  Die  elementare  Natur  des  Feuers  leugnet  er,  als 
Elementarfeuer  könne  man  höchstens  den  Äther,  die  subtile  Materie 
des  Descartes,  bezeichnen.  Das  von  der  Preisfrage  gemeinte  sicht- 
bare, fühlbare  Feuer  dagegen  betrachtet  er  als  ein  aus  wesentlichen 
oder  flüchtigen  Salzen,  Schwefel,  Luft  und  ätherischer  Materie 
zusammengesetztes  Fluidum,  das  gewöhnlich  mit  andern  hetero- 
genen Substanzen  (wäßrigen,  erdigen,  metallischen  Teilchen)  ge- 
mischt ist,  die  seine  Geschwindigkeit  herabsetzen;  die  Kraft  aber, 
welche  diese  Materie  belebt  und  ihr  erst  die  eigentliche  Feuer- 
Natur  verleiht,  ist  eine  sehr  heftige  Wirbelbewegung  aller  dieser 
Substanzen  (S.  27  f.,  40). 

Die  bedeutendste  der  fünf  Abhandlungen  ist  ohne  Zweifel  die 
Voltaires,  der  in  echt  naturwissenschaftlicher  Weise  nach  Art 
Boerhaaves  von  Tatsachen  und  Experimenten  ausgeht.  Im  wesent- 
lichen stimmen  seine  Ansichten  und  die  der  Marquise  du  Chäte- 
let  überein.  Beide  verfaßten  ihre  Preisarbeiten  auf  dem  Schloß 
Cirey,  wo  Voltaire  als  Grast  seiner  Freundin,  der  Marquise,  weilte. 
Dort  und  in  einem  benachbarten  Hüttenwerk  machte  er  seine 
Experimente.  Die  Marquise  Schrieb  angeblich  in  8  Nächten  ihre 
84  Quartseiten  lange  Arbeit  nieder  und  bewarb  sich  ohne  Wissen 
Voltaires  um  den  Preis  *). 

Nach  Voltaire  ist  das  Feuer  (mit  dem  Licht  wesensgleich  und 
nur  in  quantitativer  Hinsicht  von  ihm  unterschieden)  ein  Element, 
das  in  allen  Grundeigenschaften  (Beweglichkeit,  Teilbarkeit,  Aus- 
dehnung, sehr  wahrscheinlich  auch  in  der  Schwere  und  noch  wahr- 
scheinlicher in  der  Undurchdringlichkeit2))  mit  der  Materie  über- 
einkommt. Es  ist  keiner  Wandlung  in  andere  oder  aus  andern 
Substanzen  (durch  Umlagerung  und  Bewegung  ihrer  Teilchen) 
fähig:  es  war  also  in  der  Natur  stets  dieselbe  Quantität  Feuer 
vorhanden.  Es  besteht  aus  runden  Teilchen,  die  einfacher  und 
deshalb  auch  härter  als  die  aller  andern  Körper  sind;  es  ist  ela- 
stisch,  von  Natur  in   fortwährender  Bewegung,   sucht   sich  nach 


1)  Vgl.  du  Bois-Reymond  in  den  Monatsberichten  der  Berliner  Akademie 
der  Wissenschaften  für  1868,  S.  48. 

2)  Die  Marquise  zweifelt  an  der  Undurchdringlichkeit  und  noch  viel  mehr 
an  der  Schwere  des  Feuers,  sie  betrachtet  es  demgemäß  als  ein  Mittelding  zwi- 
schen Geist,  Materie  und  Raum. 


336  Erich  Adickes, 

allen  Seiten  gleichmäßig  auszubreiten,  wirkt  auf  alle  Körper, 
nimmt  ihre  Poren  ein,  dehnt  sie  aus,  bewegt,  verzehrt  sie  je  nach 
seiner  Quantität  und  Bewegungsintensität.  Nach  diesen  beiden 
Momenten  richten  sich  auch  seine  Wärme  und  sein  Licht;  das 
Feuer  allein  von  allen  Körpern  ist  imstande  zu  erwärmen  und  zu 
leuchten.  Alle  Körper  würden  sich  durch  die  zwischen  ihren  Teilen 
wirkende  Anziehungskraft  zu  gleichmäßig  harten  Massen  verdichten, 
wenn  nicht  das  Feuer  überall  in  entgegengesetzter  Richtung  wirkte. 
Die  innere  Bewegung  der  Körperteilchen  kann  so  wenig  Feuer 
hervorbringen,  daß  dieses  vielmehr  umgekehrt  die  Ursache  der 
inneren  Bewegung  in  allen  Körpern  ist *).  Auch  jede  Elastizität 
der  Körper  stammt  von  ihm  her2),  ferner  der  Aggregatzustand 
der  Flüssigkeit,  und  an  den  Erscheinungen  der  Elektrizität  hat 
es  ebenfalls  hervorragenden  Anteil.  Der  Mensch  kann  nie  Feuer 
wirklich  hervorbringen,  nicht  einmal  einen  Funken,  sondern  nur 
das  in  den  Körpern  vorhandene  Elementarfeuer  entbinden  und 
ihm  zur  "Wirksamkeit  verhelfen,  sei  es  durch  Steigerung  seiner 
Bewegungsintensität,  sei  es  durch  Zufuhr  weiteren  Feuerstoffes 
aus  andern  Körpern8). 

L.  Euler  schließlich  nimmt  gleichfalls  eine  besondere,  höchst 
feine  und  elastische  Feuermaterie  an,  die  vom  Äther,  dem  Medium 
der  Lichtstrahlen,  durchaus  verschieden  ist  und  ihn  an  Feinheit 
und  Elastizität  etwa  in  demselben  Maße  übertrifft  wie  die  Luft 
das  Wasser.  Diese  Feuermaterie  wird  von  den  Körperteilchen  ge- 
bunden und  in  einem  Zustand  der  Kompression  erhalten.  Feuer 
entsteht  und  greift  um  sich,    sobald  die  Feuermaterie  aus  jenem 


1)  Die  Marquise  drückt  sich  teilweise  etwas  theologischer  aus :  der  Schöpfer 
hat  der  Feuermaterie  von  vornherein  eine  gewisse  Quantität  Bewegung  verliehen, 
und  zwar  der  (ungeordneten)  Bewegung  nach  allen  Richtungen  hin,  die  ihr  Wesen 
ausmacht.  Diese  Art  der  Bewegung  teilt  sie  den  Körperpartikelchen  mit  und 
wirkt  dadurch  der  allgemeinen  Anziehungskraft  und  ihrer  Tendenz,  alles  zu  einer 
kompakten  Masse  zusammenzuhauen,  entgegen;  so  entspricht  sie  dem  Zweck,  zu 
dem  der  Schöpfer  sie  geschaffen  hat,  und  dient  diesem  als  eine  der  wichtigsten 
Spannkräfte,  das  Universum  zu  heieben  und  zu  erhalten.  „Le  feu  est,  pour  ainsi 
dire,  Tarne  du  monde,  et  le  souffle  de  vie  repandu  par  le  Createur  sur  son  ouvrage" 
(S.  112  f.,  118—120). 

2)  Die  Marquise  behauptet  S.  141  ff.  das  Gegenteil. 

3)  Vgl.  ferner  auch  Voltaire :  Elements  de  la  philosophie  de  Newton,  II.  Par- 
tie, 2.  Chap. ;  Des  singularites  de  la  nature,  32.  Chap. ;  Dictionnaire  philosophique 
unter  „Feu«  (Oeuvres  completes  de  Voltaire,  1879,  Bd.  22,  S.  446  ff.,  Bd.  27,  S.  178  ff., 
Bd.  19,  S.  118  ff.). 


Zur  Lehre  von  der  "Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  337 

Zustand  durch  äußere  Gewalt  befreit  wird.  Diese  Befreiung  geht 
explosionsartig  vor  sich:  bei  der  Zertrümmerung  der  Körper- 
partikeln durch  die  Einwirkung  der  äußeren  Gewalt  werden  die 
Moleküle  gleichsam  wie  Projektile  nach  allen  Seiten  geschleudert, 
und  die  komprimierte  Feuermaterie  bricht  mit  großer  Heftigkeit 
hervor.  So  zieht  die  Zertrümmerung  des  einen  Körperteilchens 
die  des  andern  nach  sich,  und  der  Prozeß  schreitet  so  lange  fort, 
als  geeignete  Partikeln  in  Gestalt  brennbarer  Materien  (d.  h.  solcher, 
die  ein  reichliches  Maß  Feuermaterie  in  gebundenem  Zustande  ent- 
halten *))  vorhanden  sind.  So  (modern  ausgedrückt :  durch  Umwand- 
lung potentieller  in  aktuelle  Energie)  erklärt  sich  also  der  schein- 
bar so  geheimnisvolle  Vorgang  der  Ausbreitung  des  Feuers  unter 
voller  Aufrechterhaltung  der  Grundsätze,  daß  die  Wirkung  stets 
der  Ursache  proportional  sein  muß  und  die  Quantität  der  Be- 
wegung und  der  Kräfte  nicht  vermehrt  werden  kann.  Bis  soweit 
zeigt  Euler  sich  als  unzweideutigen  Anhänger  der  Substanzialitäts- 
theorie.  Weiterhin  aber  macht  er  der  Yibrationstheorie  starke 
Zugeständnisse,  indem  er  (§  17)  die  Wärme  als  eine  Bewegung  der 
kleinsten  Körperteilchen  definiert.  Daß  Feuer  Wärme  hervorbringt, 
erklärt  er  für  selbstverständlich,  da  die  Explosion  der  kompri- 
mierten feinen  Feuermaterie,  worin  das  (sichtbare  und  fühlbare) 
Feuer  besteht,  natürlich  auch  die  Körperteilchen  in  Bewegung 
versetzen  wird,  die  keine  Feuermaterie  in  sich  gebunden  halten. 
Umgekehrt  muß  Wärme  Feuererscheinungen  hervorbringen,  sobald 
die  innere  Bewegung  in  einem  Körper  (etwa  infolge  von  Eeibung) 
so  stark  wird,  daß  dadurch  Feuermaterie  befreit  (zur  Explosion 
gebracht)  wird 2).  —  Man  wird  sagen  können,  daß  Euler  stark  zur 
Yibrationstheorie  hinneigt  und  daß  ihn  zur  Annahme  einer  be- 
sondern Feuermaterie  nur  die  Schwierigkeiten  drängen,  in  die  sich 
die  damalige  Physik  und  Chemie  bei  Erklärung  des  Verbrennungs- 
prozesses verwickelt  sah  und  denen  beide  Wissenschaften  im  Grunde 
völlig  ratlos  gegenüberstanden. 


1)  Neben  der  Menge  der  Feuermaterie  ist  auch  noch  die  Größe  des  Wider- 
standes in  Rechnung  zu  setzen,  den  der  die  Feuermaterie  enthaltende  Körper 
durch  seine  innere  Beschaffenheit,  seine  Lagerungsverhältnisse  etc.  den  auf  eine 
Befreiung  jener  Materie  ausgehenden  äußeren  Gewalten  entgegensetzt. 

2)  Anders  spricht  Euler  sich  über  das  Verhältnis  von  Licht  und  Wärme 
und  die  beiderseitigen  Ursachen  in  seiner  „Nova  theoria  lucis  et  colorum"  (Opus- 
cula  varii  argumenti,  1746,  S.  225  f.)  aus.  Es  würde  jedoch  zu  weit  führen,  auf 
diese  Unterschiede  näher  einzugehen.    Vgl.  auch  u.  S.  864  Anm. 


338  Ernst  Adickes, 

In  der  Theorie  der  Verbrennung  und  der  Ausbreitung  des 
Feuers  schließt  sich  der  Abbe*  J.  A.  N  oll  et  in  seinen  Lecons  de 
physique  experimentale  IV  187  ff.  (1754;  zuerst  1743  f.)  ganz  an 
Euler  an.  Auch  setzt  er  Wärme  mit  innerer  Bewegung  der 
Körperteilchen  gleich,  bleibt  trotzdem  aber  überzeugter  Anhänger 
der  Substanzialitätstheorie,  indem  er  als  Ursache  auch  jener  Wärme- 
bewegung die  stets  in  Bewegung  befindliche  Feuermaterie  be- 
trachtet. Die  strenge  Vibration stheorie  hat,  wie  er  meint,  über- 
haupt keine  Anhänger  mehr ;  wer  sie  noch  aufrecht  erhält,  schreibt 
meistens  entweder  dem  Äther  oder  „der  subtilen  Materie"  jene  innere 
Bewegung  der  Teilchen,  worin  das  Wesen  des  Feuers  bestehen 
soll,  als  ursprüngliche  Eigenschaft  zu  (S.  154  f.).  Nach  Nollet  ist 
die  Feuermaterie  als  ein  Körper  sui  generis,  mit  jener  inneren 
Bewegung  der  Teilchen  von  vornherein  behaftet,  im  Anfang  ge- 
schaffen; Feuer  und  Licht,  Erwärmung  und  Leuchten  gehen  in 
gleicher  Weise  auf  sie  zurück,  nicht  minder  auch  die  Erscheinungen 
der  Elektrizität  (S.  155,  182  f.).  Auch  Nollet  spricht  von  Boer- 
haaves  Behandlung  des  Gegenstandes  mit  der  größten  Anerkennung, 
stimmt  ihm  im  allgemeinen  zu,  ist  sehr,  abweichend  von  ihm,  geneigt, 
dem  Feuer  Schwere  zuzuschreiben.  Es  kann  nie  aufhören,  selbst 
flüssig  zu  sein,  und  ist  sehr  wahrscheinlich  die  Hauptursache  der 
Flüssigkeit  auch  aller  andern  Körper.  Es  ist  allgegenwärtig: 
an  jedem  Ort  zu  jeder  Zeit.  Seine  Teile  übertreffen  an  Feinheit, 
Dünne,  Härte,  Festigkeit,  Undurchdringlichkeit  alle  sonstige  Materie. 

Nach  J.  Gr.  Krügers  Naturlehre  (zuerst  1740)  ist  das  Feuer, 
die  Ursache  der  Wärme  sowohl  wie  des  Lichtes,  eine  flüssige,  un- 
gemein leichte  Materie,  aus  kleinen,  runden,  sehr  wenig  oder  gar 
nicht  zusammenhängenden  Teilchen  bestehend,  die  in  die  kleinsten 
Zwischenräume  der  Körper  eindringen  und  von  deren  Partikeln 
angezogen  werden.  Durch  Reiben,  Hämmern  der  Körper  und 
ähnliche  Manipulationen  werden  diese  Partikeln  in  zitternde  Be- 
wegung versetzt,  die  sich  auch  der  von  ihnen  angezogenen  Feuer- 
materie mitteilt.  So  entsteht  Wärme,  die  „nichts  anders,  als 
die  Gewalt  des  bewegten  Feuers"  ist;  ihr  Grad  hängt  von  der 
Masse  des  Feuers  und  seiner  Bewegungsintensität  ab.  Die  Sonne 
ist  ein  wirkliches  Feuer,  ihre  Strahlen  bestehen  aus  lauter  Feuer- 
teilchen (3.  Aufl.,  S.  297  ff.,  770). 

Chr.  Aug.  Crusius  will  in  seiner  „Anleitung  über  natür- 
liche Begebenheiten  ordentlich  und  vorsichtig  nachzudenken"  (1749) 
unter  Ausschluß  aller  Fernwirkungen,  sowie  aller  anziehenden  und 


Zur  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  339 

abstoßenden  Kräfte,  die  gesämmten  physikalischen  Erscheinungen 
streng  mechanisch  erklären.  Dabei  spielt  eine  komplizierte  Ather- 
theorie  die  Hauptrolle.  Es  werden  zwei  Hauptgattungen  des  Äthers 
unterschieden,  je  nachdem  sich  seine  Teilchen  ihrer  Figur  nach 
merklich  verändern  lassen  oder  nicht;  jede  dieser  Gattungen  kann 
wieder  „gar  viele  species  infimas  unter  sich  begreifen"  (1 395). 
Auf  den  Äther  führt  Crusius  den  Zusammenhang  der  Körper  (die 
Kohäsionserscheinungen),  die  Schwere  der  Körper  auf  dem  Erd- 
boden wie  die  Schwere  und  Bewegung  der  Weltkörper  zurück,  er 
ist  ferner  wesentlich  mitbeteiligt  an  den  Phänomenen  der  Dukti- 
lität,  Elastizität  und  Flüssigkeit 1).  Die  Lichtmaterie  besteht  aus 
elastischen  Ätherkügelchen,  die  ihre  Figur  nicht  merklich  verändern 
lassen;  sie  füllt  das  ganze  Weltall  und  wird  von  der  flüssigen 
Feuermaterie  (Äther),  die  den  größten  Teil  der  Oberfläche  der 
Sonne  einnimmt,  in  Bewegung  gesetzt  (II 1013).  Auch  das  irdische 
Feuer  ist  eine  Art  von  Äther,  und  zwar  ein  sehr  kompressibler, 
elastischer  Äther,  der,  um  als  Feuer  wirken  zu  können,  in  einer 
gewissen  Bewegung  sein  muß.  Feuer  befindet  sich  in  den  Poren 
und  kleinen  Zwischenräumen  aller  irdischen  Körper,  in  „Capsula" 
von  verschiedener  Feinheit  eingeschlossen,  von  denen  die  feinsten 
aus  Wasserteilchen  zu  bestehen  scheinen ;  es  strebt  beständig  nach 
einer  gleichförmigen  Verteilung  (II  683  f.,  699,  721).  Erwärmung 
findet  statt,  wenn  der  Zusammenhang  der  Körper  so  weit  ge- 
lockert wird,  daß  die  eingeschlossene  Feuermaterie  sich  aus  dem 
Zustande  gewaltsamer  Zusammenpressung  befreit  und  in  starke 
Bewegung  gerät.  Durch  Einwirkung  dieser  Bewegung  auf  unseren 
Körper  wird  in  uns  die  Empfindung  der  Wärme  hervorgebracht. 
Als  Ursachen  jener  Lockerung  kommen  vor  allem  die  Sonnen- 
strahlen, brennende  oder  heiße  irdische  Körper  und  Reiben  in  Be- 
tracht. Crusius  warnt  ausdrücklich  davor,  daß  „man  das  Reiben, 
bloß  wiefern  es  Bewegung  ist,  vor  die  zureichende  Ursache  des 
Feuers  halte,  als  wodurch  man  etwas  völlig  Unbegreifliches  und 
den  Umständen  Widerstreitendes  sagen  würde.  .  .  .  Bestünde  das 
Feuer  nur  in  dem  Stande  der  Bewegung  einer  jeden  Materie;  so 
müßte  es  von  der  Bewegung,  welche  das  Feuer  zuerst  anzündet,  ein 
proportionierter  Effekt  sein.  Diese  Bewegung  aber,  weil  sie  sich 
immer  in  mehr  Materie  zerstreut,    müßte   durch  den  Widerstand 

1)  Vgl.  Kants  Werke,  Akademie  -  Ausg.,   XIV  236  ff.,  242  ff.,  weiterhin  als 
„A.A."  zitiert. 


340  Erich  Adickes, 

beständig  schwächer  werden  ,  welches  doch  nicht  geschiehet ,  da 
vielmehr  das  einmal  entstandene  Feuer  immer  stärker  wird,  wenn 
es  nur  nicht  an  einer  bequemen  verbrennlichen  Materie  fehlet." 
Woraus  zu  schließen,  daß  die  Bewegungskraft  der  beim  Feuer  be- 
wegten Materie  von  der  veranlassenden  Ursache  des  Feuers  unab- 
hängig ist  und  letztere  nur  die  Bedeutung  eines  auslösenden  Mo- 
mentes haben  kann.  „Das  Reiben  verursachet  demnach  nur  Wärme 
und  Feuer,  indem  es  die  in  dem  Körper  schon  vorher  befindliche 
Feuermaterie  in  den  Stand  der  Wirksamkeit  setzet"  (II  683  ff., 
705 ff.,  713 f.).  Die  Feuermaterie  hat  Schwere:  sie  ist  ein  gröberer 
Äther  als  die  Lichtmaterie;  letztere  hat  keine  Schwere,  ist  viel- 
mehr selbst  (durch  ihre  komprimierende  und  zurücktreibende  Wirk- 
samkeit) vermutlich  die  Ursache  der  Schwere  und  Kohäsion  (II 
730  ff.).  Übrigens  ist  nach  Crusius  auch  die  elektrische  Materie 
großenteils  Feuer,  und  auch  die  Lebensgeister  oder  den  Nerven- 
saft denkt  er  sich  als  Kügelchen  elementarischen  Feuers,  „welches 
in  sehr  zarte  Behältnisse  verschlossen  ist"  (I  612,  639  f.). 

Nach  le  Cat1)  setzt  alle  Wärme  einen  feinen  und  durchdrin- 
genden Stoff,  der  in  Bewegung  ist,  voraus. 

J.  A.  Segner  erscheint  nach  seiner  Einleitung  in  die  Natur- 
Lehre2  1754  S.  258  „die  Meinung,  daß  das  reine  Feuer  eine  be- 
sondere, und  von  allen  übrigen  Körpern  verschiedene  Materie  sei, 
der  Wahrheit  gemäßer",  als  die  entgegengesetzte  Ansicht,  welche 
Wärme  und  Feuer  als  Produkte  starker  innerer  Vibration  der 
kleinsten  Körperteilchen  betrachtet.  Das  Feuer  ist  nicht  schwer 2), 
ist  überall  verbreitet  und  durchdringt  alles,  vermag  aber  erst 
dann  zu  wärmen  (und  zu  erleuchten),  wenn  es  in  eine  gewisse  Be- 
wegung versetzt  und  dadurch  zur  Einwirkung  auf  andere  Körper 
fähig  gemacht  ist. 

J.  H.  Winkler  definiert  in  seinen  Anfangsgründen  der  Physik 
(1753)  das  Feuer  als  „eine  flüssige  und  unsichtbare  Materie,  welche 
vermögend  ist,  sowohl  die  Luft,  als  alle  sichtbare  flüssige  und  feste 
Materie  auf  unserer  Erde  auszudehnen".    Die  vom  Feuer  in  einem 


1)  Vgl.  „Des  Herrn  le  Cat  Abhandlung  von  der  innern  Wärme  der  Erde 
zur  Erläuterung  ihrer  natürlichen  Geschichte,  welche  1750  der  Akademie  zu  Rouen 
vorgelesen  ist  (Magasin  Francois,  Janvier  1751)",  in:  Allgemeines  Magazin  der 
Natur,  Kunst  und  Wissenschaften  1754,  Leipzig,  IV  74. 

2)  Die  Gewichtszunahme  beim  Verkalken  vonMetallen  erklärt  er  schon  dar- 
aus, daß  „ein  Teil  der  Luft  an  den  Körpern  haftet"  und  ihr  Gewicht  vermehrt 
(S.  259). 


Zur  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  341 

tierischen  Körper  verursachte  und  von  dem  Tier  empfundene  Aus- 
dehnung heißt  "Wärme  (S.  52).  In  jeder  irdischen  Materie  ist  Feuer 
enthalten,  jedoch  in  gebundenem  Zustande;  dies  „verschlossene 
Feuer"  muß,  um  den  Sinnen  kenntlich  zu  werden,  erst,  sei  es  durch 
anderes  Feuer,  sei  es  durch  Reiben,  in  Bewegung  gebracht  werden 
(S.  56).  Daß  auch  die  Lichtmaterie,  der  Euler'sche  Äther,  Feuer 
sei,  erklärt  Winkler  für  wahrscheinlich,  doch  sei  es  nicht  mit  völ- 
liger Gewißheit  zu  behaupten  (S.  118  ff.). 

Nach  J.  P.  Eberhards  Ersten  Gründen  der  Naturlehre 
(1753),  die  Kant  lange  Jahre  als  Vorlesungskompendium  dienten1), 
sind  Feuer  und  Licht  zwei  flüssige  Materien,  an  deren  Körperlich- 
keit nicht  gezweifelt  werden  kann,  da  sie  einen  Raum  einnehmen, 
undurchdringlich,  teilbar,  beweglich  sind  und  in  körperlichen  Or- 
ganen Veränderungen  hervorbringen.  Beide  sind  durch  das  ganze 
Weltall  ausgebreitet,  ihre  Teile  berühren  sich  nicht.  Doch  ist  das 
Licht  noch  leichter  beweglich  und  darum  noch  weit  subtiler  als 
das  schon  als  „höchst  subtil"  bezeichnete  Elementarfeuer.  Von 
beiden  ist  noch  das  Brennbare  (Phlogiston)  zu  unterscheiden:  eine 
zusammengesetzte  Materie,  „in  welcher  sich  ungemein  viel  Ele- 
mentarfeuer befindet,  welches  sich  bei  Gelegenheit  ausbreitet".  Das 
(Elementar-)Feuer  ist  elastisch;  seine  Teile  sind  unendlich  klein, 
besitzen,  im  Gegensatz  zu  denen  des  Lichtes,  Repulsionskraft  und 
können  also  nur  durch  den  Druck  einer  umgebenden  Materie  oder 
einen  ähnlichen  äußeren  Widerstand  beisammen  gehalten  werden. 
Wird  in  einem  Körper  (etwa  durch  Reiben)  eine  innere  Bewegung 
der  Teile  hervorgebracht,  so  wird  das  in  ihm  enthaltene  Brenn- 
bare befreit,  und  auch  dessen  Teilchen  werden  in  schütternde  Be- 
wegung versetzt,  wodurch  es  dann  möglich  wird,  daß  das  zwischen 
ihnen  befindliche  Elementarfeuer  seine  umgebende  Rinde  sprengt, 
sich  mit  Gewalt  ausbreitet,  unter  Anderm  auch  in  die  Zwischen- 
räume des  menschlichen  Körpers  eindringt,  auf  seine  Nerven  ein- 
wirkt und  so  in  uns  die  Empfindung  der  Wärme  auslöst.  Körper, 
die  nichts  Brennbares  oder  das  Brennbare  wenigstens  nur  in  sehr 
stark  gebundener  Form  enthalten,  können  trotzdem  dieselben  Wir- 
kungen erzielen,  wenn  sie  durch  starke  innere  Vibration  das  in 
ihnen  befindliche  Elementarfeuer  und  das  ihrer  Umgebung  in  Be- 
wegung versetzen.  Ja  sogar  —  und  hier  macht  Eberhard  der 
Undulationshypothese   eine    für  die  Konsequenz   seiner  Auffassung 


1)  Vgl.  E.  Arnoldt :  Gesammelte  Schriften  1909  V  179,  219. 
Kftiitstudion.   XXVII.  23 


342  Erich  Adick  es, 

sehr  bedenkliche  Konzession1)  —  bei  unmittelbarer  Berührung 
eines  in  seinen  Teilen  stark  vibrierenden  Körpers  kann  in  uns  die 
Wärmeempfindung  dadurch  hervorgebracht  werden,  daß  diese  Teil- 
chen direkt  (ohne  jede  Vermittlung  einer  Feuermaterie !)  ihre  zit- 
ternde Bewegung  auf  die  kleinen  elastischen  Teilchen  unserer 
Nerven  übertragen;  die  so  ausgelöste  Empfindung  soll  sogar  stärker 
sein,  als  in  den  beiden  andern  Fällen,  da  keine  Kraft  verloren  geht, 
wie  es  der  Fall  ist,  wenn  die  Vibrations-Bewegung  zunächst  dem 
Elementarfeuer  und  erst  von  ihm  den  Nerven  mitgeteilt  wird2). 
Die  Ausdehnung  der  Körper  durch  die  Wärme  erklärt  sich  dar- 
aus, daß  die  in  innere  Vibration  versetzten  Körperteilchen  mehr 
Raum  einnehmen  als  im  Zustand  der  Ruhe  und  daß  in  die  durch 
Vibration  erweiterten  kleinen  Zwischenräume  des  Körpers  Ele- 
mentarfeuer eindringt,  den  Zusammenhang  noch  mehr  lockert,  die 
Teilchen  noch  stärker  auseinander  treibt  und  so  das  Einströmen 
weiteren  Elementarfeuers  ermöglicht,  das  dann  wieder  dieselben 
Wirkungen  nach  sich  zieht  (Erste  Gründe  der  Naturlehre  1753 
S.  310  ff.,  Gedanken  vom  Feuer  1750  S.  23  ff.).  Die  Sonne  scheint 
Eberhard  „ein  äußerst  erhitzter  Körper  zu  sein,  dessen  Teile  in 
einer  sehr  heftigen  schwingenden  Bewegung  sind,  und  daher  auf 
das  Licht  wirken"  (Erste  Gründe  S.  656  f.),  und  in  seiner  früheren 
Schrift  (S.  141)  ist  er  geneigt,  sie  für  einen  geschmolzenen  Gold- 
klumpen zu  halten:  „denn  warum  sollte  es  kein  Goldklumpen  sein, 
da  doch  dieses  das  edelste  Metall  ist,  und  die  Sonne  in  Absicht 
auf  uns  der  vortrefflichste  Körper  des  Weltbaus  zu  sein  scheint?" 
Hinsichtlich  der  elektrischen  Materie  ist  es  ihm  „höchst  wahr- 
scheinlich", daß  sie  „nichts  als  eine  Art  von  Brennbarem  ist,   das 


1)  Er  ist  sich  des  springenden  Punktes  in  dem  Gegensatz  der  beiden  sich 
bekämpfenden  Theorien  überhaupt  nicht  klar  bewußt,  wie  die  folgende  Charak- 
teristik der  verschiedenen  Ansichten  in  seinen  „Gedanken  vom  Feuer  und  denen 
damit  verwandten  Körpern,  dem  Licht  und  der  elektrischen  Materie"  (1750  S.  8) 
zeigt:  „Einige  stellen  sich  das  Feuer  als  etwas  Besonders,  als  eine  eigene  Ma- 
terie vor,  die  ein  von  der  übrigen  Materie  ganz  unterschiedenes  Wesen  besitzt. 
Andere  glauben,  es  sei  zum  Feuer  nichts  anders  nötig,  als  die  Subtilität  der 
Teile,  und  die  schnelle  Bewegung.  Jede  Materie  könne  zu  Feuer  werden,  wenn 
sie  in  so  kleine  Teile  aufgelöst  würde,  die  in  die  kleinsten  Zwischenräumlein  ein- 
dringen könnten,  und  dabei  den  gehörigen  Grad  der  Bewegung  erhielte." 

2)  Nach  S.  361  f.  der  „Ersten  Gründe  der  Naturlehre"  (1753)  „besteht  das 
Feuer  entweder  in  der  schwingenden  Bewegung  der  Teile  des  Körpers  oder  in 
der  Bewegung  des  Elementarfeuers  oder  des  Lichts."  Letzteres  wirkt  in  der 
Weise,  daß  es  Elementarfeuer  oder  Körperteilchen  in  zitternde  Bewegung  versetzt. 


Zur  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  343 

aber  nur  nicht  so  stark  und  heftig  wirken  kann,  als  das  ordent- 
liche Brennbare,  so  zur  Erzeugung  der  Flamme  erfordert  wird. 
Es  muß  daher  teils  aus  weniger  Elementarfeuer  bestehen,  teils 
aber  eine  feinere  Rinde  haben,  und  überhaupt  subtiler  sein  als  das 
zur  Flamme  erforderliche  (Erste  Gründe  S.  432 ;  Gedanken  vom 
Feuer  S.  167 ff.).  Zur  Erklärung  gewisser  Phänomene,  z.B.  der 
Wärmeabnahme  bei  Vermischung  von  Wasser  mit  Salpeter  oder 
Salmiak,  glaubt  Eberhard  noch  eine  besondere  kaltmachende  Ma- 
terie annehmen  zu  müssen,  die  eine  stark  zusammenziehende  Kraft 
ausübt  und  durch  sie  die  Teile  der  Körper  einander  näher  bringt, 
zugleich  aber  auch  „ durch  ihr  Anhangen  die  schwingende  Be- 
wegung derer  Teile  und  folglich  die  Ursache  der  Wärme  mindert u 
(Erste  Gründe  S.  417  ff.).  In  der  3.  und  4.  Auflage  von  1767  und 
1774  ist  diese  Theorie  sogar  noch  weiter  ausgedehnt:  mit  großer 
Bestimmtheit  wird  behauptet  (S.  460,  483),  daß  bei  jedem  Gefrieren 
die  Mitwirkung  der  kaltmachenden  Materie  nötig  sei.  Im  Übrigen 
zeigen  diese  späteren  Auflagen  in  den  uns  hier  interessierenden 
Lehren  keine  irgendwie  wesentlichen  Änderungen. 

Ich  füge  gleich  noch  einige  Bemerkungen  bei  über  das  Physik- 
Kompendium,  dessen  Kant  sich  von  den  70  er  Jahren  ab  (mit  Aus- 
nahme des  S.  S.  1785)  bediente1).  Es  waren  J.  Ch.  P.  Erx- 
lebens  Anfangsgründe  der  Naturlehre  (1772).  Hier  wird  über 
die  Natur  des  Feuers  im  Anschluß  an  den  Abschnitt  über  die 
Wärmeerregung  durch  Eeiben  gesprochen,  der  mit  der  Behauptung 
schließt:  man  kenne  bisher  noch  keine  Entstehung  einer  Hitze, 
wobei  sich  nicht  körperliche  Teilchen  an  einander  rieben.  Die 
dadurch  scheinbar  nahgelegte  Folgerung,  daß  Wärme  nur  in  einer 
zitternden  Bewegung  der  kleinsten  Körperteilchen  bestehe,  lehnt 
Erxleben  aber  ab,  und  zwar  mit  der  Begründung,  es  wäre  dann 
doch  „sonderbar",  „daß  die  lockersten  Körper,  wie  z.  B.  der  luft- 
leere Raum,  auch  eben  den  Grad  der  Hitze  annehmen,  den  die  be- 
nachbarten viel  dichtem  haben;  auch  daß  alle  Körper,  selbst  die, 
welche  nur  eine  schwache  Elastizität  besitzen,  diese  feine  zitternde 
Bewegung  durch  sich  durch  so  leicht  fortpflanzen;  da  man  sonst 
erwarten  dürfte,  daß  unelastische  Körper  sie  dämpfen  würden,  so 
wie  ein  weiches  Tuch  die  zitternde  Bewegung  einer  Glocke,  wo- 
durch sie  schallt,  dämpft."  Er  hält  demgemäß  die  Existenz  einer 
besondern  Feuermaterie,  eines  Elementarfeuers  für  sehr  wahrschein- 


1)  Vgl.  E.  Arnoldt:  Gesammelte  Schriften  1908  IV  323,  1909  V  242,  281,  300. 

23* 


344  Erich  Adickes, 

lieh,  das  er  als  „ein  höchst  feines  flüssiges  Wesen"  schildert,  „das 
durch  die  Zwischenräume  aller  Körper  gleichförmig  ausgebreitet 
ist,  und  in  dessen  Zittern  die  Wärme  besteht".  Es  muß  allerwärts 
auf  der  Erde  vorhanden  sein;  um  Wärme  hervorzubringen,  muß 
es  bewegt  werden.  Beim  Reiben  dringt  es  vielleicht  aus  der  Um- 
gebung des  geriebenen  Körpers  in  ihn  hinein  und  verursacht  so 
die  Zunahme  der  Wärme,  ohne  jedoch  das  Gewicht  in  merkbarer 
Weise  zu  vermehren.  Möglich  aber  auch,  daß  der  heiße  Körper 
überhaupt  nicht  mehr,  sondern  nur  schneller  bewegtes  Ele- 
mentarfeuer in  sich  enthält  als  der  kalte.  Hinsichtlich  des  Lichtes 
neigt  Erxleben  der  Euler'schen  Vibrationshypothese  zu.  Gegen- 
über einer  Identifizierung  von  Licht-  und  Feuermaterie  verhält  er 
sich  skeptisch,  die  Einerleiheit  beider  mit  der  elektrischen  Materie 
lehnt  er  ausdrücklich  ab  (S.  245  ff.,  358  ff.,  423).  In  der  2.  Auf- 
lage von  1777  äußert  er  sich  (S.  420)  über  den  letzten  Punkt  be- 
deutend zurückhaltender,  im  Übrigen  sind  seine  Ansichten  unver- 
ändert geblieben.  Von  der  3.  Aufl.  (1784)  ab  gab  G.  C.  Lichten- 
berg das  Werk  heraus.  Er  läßt  Erxlebens  Text  unverändert,  fügt 
aber  S.  431—443  einen  kurzen  Abriß  der  Crawford'schen  Theorie 
vom  Feuer  hinzu,  an  dessen  Schluß  es  heißt:  „Vielleicht  zeigt  uns 
dereinst  ein  künftiger  Priestley,  daß  es,  so  wie  mehrere  Luftarten 
sind,  auch  mehrere  Feuerarten  gibt,  die  auf  verschiedene  Weise 
gebunden,  verbunden  und  getrennt  die  Erscheinungen  von  Phlo- 
giston,  Feuer,  der  elektrischen  Materien  und  des  Lichts  darstellen, 
und  die ,  wenn  man  nicht  über  Worte  streiten  will ,  ebensowenig 
alle  die  Empfindung  von  Wärme  zu  erregen  brauchen,  als  alle 
Luftarten  zum  Einatmen  dienen"  (S.  442  f. ;  4.  Aufl.  S.  416).  In 
einer  Anmerkung  zwecks  Empfehlung  der  Symmer' sehen  dualisti- 
schen Elektrizitätstheorie  (3.  Aufl.  S.  498;  4.  Aufl.  S.  475)  bemerkt 
Lichtenberg:  „Das  Verbrennen  der  Körper  vernunftmäßig  zu  er- 
klären, hat  man  ja  auch  Feuer  und  Phlogiston  mit  Vorteil  ange- 
nommen, wie  wenn  nun  gar  hier  eben  dieses  Feuer  und  Phlogiston, 
nur,  wie  die  Luftarten  durch  Beimischungen  verändert,  gerade 
eben  das  wären,  was  wir  positive  und  negative  Elektrizität 
nennen." 

Nach  J.  E.  Silberschlags  „Theorie  der  am  23.  Julii  1762 
erschienen  (!)  Feuerkugel"  (1764),  die  Kant  am  23.  März  1764  in 
den  Königsbergschen  Gelehrten  und  Politischen  Zeitungen  sehr  an- 
erkennend besprach  (II2  272  c/d),  besteht  Wärme  in  Oszillationen 
des  alle  Körper  durchdringenden  Äthers.    Dessen  Teilchen  denkt 


Zur  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  345 

Silberschlag  sich,  ebenso  wie  die  kleinsten  Teilchen  der  Körper, 
dynamisch  als  Wirkungssphären  von  Kräften,  die  von  einem  „dy- 
namischen Mittelpunkt"  ans  einen  kleineren  oder  größeren  Um- 
kreis mit  ihren  Wirkungen  erfüllen  und  beherrschen.  Ob  Wärme 
mechanisch  (durch  Reiben)  oder  chemisch  (durch  schnelle,  heftige 
Auflösung  von  Körpern)  hervorgebracht  wird:  in  beiden  Fällen 
läßt  sich  das  Bezeichnende  des  Vorgangs  auf  eine  Erzeugung  von 
Ätheroszillationen  zurückführen.  Diese  letzteren  entstehen  ebenso 
wie  die  Oszillationen  materieller  Teilchen  dadurch,  daß  die  dy- 
namischen Sphären  durch  äußere  Kraft  entweder  zusammengedrückt 
oder  ausgedehnt  werden  und  dann  sofort  wieder  die  Freiheit  zur 
Herstellung  des  ursprünglichen  Zustandes  bekommen.  Oszillierender 
Äther  kann  seine  Erschütterung  körperlichen  Massen  mitteilen, 
und  umgekehrt  können  Erschütterungen  materieller  Teilchen  auch 
den  Äther  in  Oszillationen  versetzen.  An  den  ätherischen  Oszil- 
lationen sind  Heftigkeit  (Stärke)  und  Lebhaftigkeit  (Gresch windig- 
keit in  der  Aufeinanderfolge)  zu  unterscheiden :  die  erstere  ist  Ur- 
sache der  Wärme,  die  zweite  dagegen  bringt,  sobald  sie  so  groß 
wird,  daß  die  Augennerven  harmonisch  mit  oszillieren,  die  Licht- 
empfindung hervor.  Funken,  Feuer  und  Flammen  haben  demge- 
mäß ätherische  Oszillationen  zur  Voraussetzung,  bei  denen  ein 
großer  Grad  von  Heftigkeit  und  ein  großer  Grad  von  Lebhaftig- 
keit vereinigt  sind  (Silberschlag  a.  a.  0.  S.  3—7,  13—15,  22  f.,  27, 43). 
Zu  derselben  Zeit  etwa,  als  Kant  seine  Meditationes  de  igne 
ausarbeitete,  begannen  J.  Black  und  J.  A.  de  Luc  unabhängig 
von  einander  mit  ihren  experimentellen  Untersuchungen  über 
Wärmebindung,  speziell  bei  den  Prozessen  des  Schmelzens  und 
Siedens.  De  Luc  veröffentlichte  seine  Eesultate  1772  in  seinen 
Recherches  sur  les  modifications  de  Tatmosphere,  die  Blacks  wurden 
gar  erst  1779  durch  A.  Crawfords  Experiences  and  observations 
on  animal  heat  and  the  inflammation  of  combustible  bodies  in  wei- 
teren Kreisen  bekannt.  Als  Dritter  trat  Jh.  C.  Wilke  hinzu; 
ihm  und  besonders  Crawford  ist  es  eigentlich  erst  gelungen,  die 
allgemeine  Aufmerksamkeit  auf  die  Phänomene  der  freien  und  ge- 
bundenen sowie  der  spezifischen  Wärme  (Wärmekapazität)  zu 
lenken.  Wilkes  erste  Veröffentlichung  auf  diesem  Gebiet  war 
der  Aufsatz  „Von  des  Schnees  Kälte  beim  Schmelzen",  1772  in 
den  Abhandlungen  der  schwedischen  Akademie  erschienen,  1776 
von  Kästner  ins  Deutsche  übersetzt.  Crawfords  Werk  erregte 
großes   Aufsehen,   von    dem   zahlreiche   Besprechungen  und   Auf- 


346  Erich  Adickes, 

sätze  in  Journalen  zeugten.  1777  machte  C.  W.  Scheele  in 
seiner  „Chemischen  Abhandlung  von  der  Luft  und  dem  Feuer u 
seine  zahlreichen  Beobachtungen  über  die  „strahlende  Hitze" 
(Wärmestrahlung  im  Gegensatz  zur  Wärmeleitung)  bekannt. 

Alle  diese  Entdeckungen  und  Beobachtungen  schienen  der  An- 
nahme einer  besonderen  Wärmematerie  sehr  günstig  zu  sein,  ja! 
sogar  nur  von  ihr  aus  erklärt  werden  zu  können1).  So  gewinnt 
denn  gerade  in  den  letzten  30  Jahren  des  18.  Jahrhunderts  die 
Substantialitätstheorie  noch  sehr  an  Boden  und  ist  in  dieser  Zeit 
fast  Alleinherrschern!  gewesen.  Eintritt  und  Austritt  des  Wärme- 
stoffs in  bezw.  aus  Körpern  dachte  man  sich  nach  Art  chemischer 
Verbindungen  und  Affinitätsverhältnisse.  Daß  gebundene  Wärme 
weder  auf  das  Gefühl  noch  auf  das  Thermometer  wirkt,  also 
gleichsam  zeitweise  verschwindet ,  erklärte  man  gern  durch  den 
Hinweis  auf  analoge  Verhältnisse  im  ungelöschten  Kalk  oder 
ätzenden  Laugensalz,  die  beide  durch  Sättigung  mit  fixer  Luft 
(Kohlensäure)  ihre  Atzkraft  verlieren.  Nach  Wilkes  vorhin  ge- 
nanntem Aufsatz  (S.  107  ff.  der  deutschen  Übersetzung)  stimmen 
die  Gelehrten,  so  sehr  auch  ihre  Meinungen  über  „die  nächste  Ur- 
sache der  Wärme  und  Kälte"  noch  auseinander  gehen,  doch  darin 
überein,  daß  eine  feine  flüssige  Materie  dabei  im  Spiele  sei,  die 
durch  ihre  Bewegungen,  ihren  Mangel  oder  Überfluß  alle  Phäno- 
mene des  Feuers  hervorbringe.  Feste  sowohl  wie  flüssige  Körper 
ziehen  diese  Materie  an,  sie  dringt  so  in  deren  Zwischenräume  und 
umgibt  die  kleinsten  Teilchen.  Wenn  Wasser  gefriert,  so  legen 
sich  seine  Teilchen,  die  Wilke  sich  als  kleine,  dünne,  runde  Scheib- 
chen wie  Pfennige  denkt,  mit  ihren  platten  Oberflächen  unmittel- 
bar auf  einander,  und  der  durch  Anziehung  gebundene  Wärme- 
stoff  wird  herausgepreßt;  beim  Schmelzen  werden  die  Teilchen 
durch  den  eindringenden  Wärmestoff  von  einander  getrieben,  und 
die  so  „entblößten  Oberflächen"  legen  auf  eine  bestimmte  Menge 
Wärmestoff  gleichsam  Beschlag,  binden  ihn  durch  ihre  Attrak- 
tion. —  Ähnlich  der  berühmte  Geograph  T.  Bergman  in  seinem 
Vorbericht  zu  Scheeles  „Chemischer  Abhandlung  von  der  Luft  und 
dem  Feuer" :  „Die  Wasserpartikeln  ziehen  die  Materie  der  Wärme 


1)  Crawford  selbst  nimmt  allerdings  zu  den  Fragen  nach  Wesen  und  Ur- 
sache der  Wärme  (ob  besonderer  Wärmestoff,  ob  bloße  Vibration)  keine  entschei- 
dende Stellung  ein.  Doch  wurde  seine  Theorie  meistens  so  aufgefaßt,  als  setze 
sie  eine  eigene  Wärmematerie  voraus. 


Zur  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  347 

stark  an  sich  und  wenn  dieselben  mit  einer  gewissen  Menge  der- 
selben bereichert  sind,  oder  damit  umhüllet  werden,  wird  dieses 
vereinigte  Wesen  so  leicht  beweglich,  daß  dessen  Oberfläche  immer 
nach  horizonteller  Lage  zu  streben  scheint ;  es  hat  mit  einer  feinen 
durch  Feuer  geschmolzenen  Erde  viele  Ähnlichkeit."  Beim  Auf- 
tauen von  Eis  verliert  sich  eine  bestimmte  Wärmemenge  und  wird 
nur  darauf  verwandt,  eine  Art  Sättigung  zu  Wege  zu  bringen, 
„meist  eben  so,  als  wenn  eine  Säure  durch  Sättigung  mit  Alkali 
ihre  charakterisierende  Eigenschaften  auszuüben  verhindert  wird. 
So  ist  es  auch  mit  ungelöschtem  Kalk.  Er  enthält  Wärme,  die 
aber  unwirksam  ist,  bis  daß  eine  stärkere  elektivische  Anziehungs- 
kraft sie  frei  und  los  macht."  —  Scheele  selbst  nimmt  je  ein  be- 
sonderes materielles  Substrat  für  die  gewöhnliche  Wärme,  für  die 
strahlende  Hitze  und  für  das  Licht  an.  Alle  drei  bestehen  aus 
Feuerluft  (Sauerstoff)  und  Phlogiston,  einem  „wahren  Element  und 
ganz  einfachen  Principium" ;  sie  unterscheiden  sich  nur  durch  die 
Menge  des  Phlogiston:  die  gewöhnliche  Wärme  hat  am  wenigsten, 
das  Licht  am  meisten  davon.  Die  Hitze  wird  demnach  als  eine 
besondere  Säure  bezeichnet,  als  ein  sehr  zarter,  elastischer  und 
flüssiger  Körper,  der  in  die  Zwischenräumchen  der  brennbaren 
dringt  und  ihren  Zusammenhang  aufhebt1). 

De  Luc  (f  1817)  hat  in  seinem  weiteren  langen  Leben  ver- 
schiedentliche  Wandlungen  in  seiner  Wärmelehre  durchgemacht; 
nie  aber  hat  er  die  Auffassung  verlassen,  daß  die  Wärme  eine  be- 
sondere Materie  sei  (vgl.  A.  A.  XIY  484  ff.,  504  ff). 

W.  J.  G.  Karstens  „Anleitung  zur  gemeinnützlichen  Kennt- 
nis der  Natur"  (1783),  die  Kant  im  S.  S.  1785  seiner  Vorlesung 
über  theoretische  Physik  zu  Grunde  legte2),  steht  ganz  auf  dem 
durch  die  neuen  Entdeckungen  bereiteten  Boden.  Auch  Karsten 
nimmt  eine  besondere  Feuermaterie  an,  die  er  sehr  geneigt  ist  zu 
den  einfachen  Grundstoffen  zu  zählen,  wie  er  auch  das  Phlogiston 
als  einen  solchen  betrachtet  (S.  17,  174  ff.).  Er  ist  der  Überzeu- 
gung, „daß  die  Feuermaterie  den  Gesetzen  der  Verwandtschaft 
und  Wahlanziehung  eben  so,  wie  andre  Stoffe  unterworfen  sei, 
daß  sie  bald  mit  diesem,   bald  mit  jenem  Stoff  eine  ähnliche  ge- 


1)  Zu  den  beiden  letzten  Absätzen  vgl.  meine  weiteren  Ausführungen  A.  A. 
XIV  450—454.  Auch  Black  ist  Anhänger  der  Substanzialitätstheorie ;  vgl.  E.  Mach : 
Die  Prinzipien  der  Wärmelehre  1896  S.  159. 

2)  Vgl.  E.  Arnoldt:  Gesammelte  Schriften  1909  V  281. 


31S  Erich  Adickes, 

Dane  Vereinigung  eingehe,  wie  eine  Säure  mit  dem  Laugensalz, 
auch  bei  dieser  Vereinigung  so  gebunden  werde,  daß  sie  alsdenn 
nicht  weiter  auf  unser  Gefühl  und  auf  das  Thermometer  wirken 
könne"  (S.  252,  601). 

Die  Ansicht  von  der  stofflichen  Natur  der  Wärme  und  des 
Feuers  finden  wir  auch  inMarats  De'couvertes  sur  le  feu,  l'elec- 
tricite*  et  la  lumiere  (1779,  deutsch  1783),  in  seinen  Recherches  sur 
le  feu  (1780),  sodann  bei  dem  späteren  Philosophen  Fr.  X.  Baader, 
dessen  „Probeschrift" :  „Vom  Wärmestoff,  seiner  Verteilung,  Bin- 
dung und  Entbindung,  vorzüglich  beim  Brennen  der  Körper"  (1786) 
schon  im  Titel  seinen  Standpunkt  ankündigt  (vgl.  A.  A.  XIV  482  f.), 
ferner  in  Fr.  A.  C.  Grens  Grundriß  der  Naturlehre  (zuerst  1787), 
in  seinem  Systematischen  Handbuch  der  gesammten  Chemie  (zu- 
erst 1787—1790),  seinem  Grundriß  der  Chemie  (1796 f.)1)».  in 
J.  Webers  Vorlesungen  aus  der  Naturlehre  (5.  Abhandl. :  Über 
das  Feuer  1788),  in  M.  A.  Pictets  Essai  sur  le  feu  (T.  I  der 
Essais  de  physique  1790;  auch  deutsch  in  demselben  Jahr),  in 
P.  Prevosts  Recherches  physico-mecaniques  sur  la  chaleur  (1792). 

Lavoisier  und  de  Laplace  stellen  im  Anfang  ihrer  berühmt 
gewordenen  Abhandlung  über  die  Wärme  in  den  Memoires  der 
Pariser  Akademie  für  das  Jahr  1780  S.  355  ff.  (1784)  die  beiden 
feindlichen  Wärmetheorien  dar,  die  Vibrationstheorie  besonders 
ausführlich  und  mit  vorzüglicher  Klarheit.  Sie  nehmen  offiziell 
für  keine  von  beiden  Partei,  da  einige  Erscheinungen  sich  nach 
ihrer  Meinung  leichter  nach  der  einen,  einige  leichter  nach  der 
andern  Theorie  erklären  lassen.  Doch  drängt  sich  im  Lauf  der 
Untersuchung  die  stoffliche  Auffassung  der  Wärme  entschieden 
vor  und  erweist  sich  als  die  den  Gedankenhintergrund  der  beiden 
Forscher  beherrschende.  Damit  steht  durchaus  in  Übereinstim- 
mung, daß,  als  Lavoisier  mit  seinen  Genossen  die  neue  antiphlo- 
gistische chemische  Nomenklatur  schuf,  sie  für  die  erschlossene 
Ursache  der  Wärme  den  Namen  calorique  (Caloricum)  einführten. 
Sie  selbst  betrachteten  dies  calorique  als  eine  außerordentlich  ela- 
stische Flüssigkeit,  wenn  Lavoisier  auch  in  seinem  Traite  elemen- 
taire  de  chimie  (1789  S.  5  f.)  da,  wo  er  von  der  Entstehung  der 
neuen  Terminologie  spricht,  als  besonderen  Vorteil  des  Namens 
hervorhebt,  daß  er  zu  allen  Theorien  passe,  da  er  genau  genommen 
nicht  einmal  die  Voraussetzung,  daß  der  Wärmestoff  eine  wirklich 


1)  Über  Gren.  vgl.  A.  A.  XIV  521—527. 


Zur  Lehre  von  der  "Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  349 

existierende  Materie  sei,  in  sich  schließe.  Die  allgemeine  Auf- 
fassung aber  ging  entschieden  dahin,  daß  man  in  dem  calorique 
gerade  so  gut  einen  besonderen  chemischen  Stoff  zu  sehen  habe, 
wie  im  Sauerstoff,  Kohlenstoff,  Stickstoff  usw.,  und  die  deutsche 
Übersetzung  des  neuen  Terminus  lautete  regelmäßig  Wärmestoff. 
So  trug  also  auch  die  Reform  der  Chemie  durch  Lavoisier  das 
Ihrige  dazu  bei,  der  Stofftheorie  zu  einem  vorläufigen  Siege  zu 
verhelfen. 

J.  S.  T.  Grehler  faßt  in  seinem  Physikalischen  Wörterbuch 
(1789  II  208  ff.)  die  Ansicht  seiner  Zeit  dahin  zusammen1),  daß 
die  meisten  Naturforscher  die  Ursache  der  Wärmeerscheinungen 
ganz  oder  zum  Teil  von  einer  eigenen  Substanz  herleiten,  welche 
durch  die  ganze  Körperwelt  verbreitet  und  von  sehr  starker  Wir- 
kung auf  andere  Substanzen  sein  soll.  (regen  die  Theorie,  daß 
das  Feuer  „bloß  für  einen  Zustand  der  Körper,  oder  für  eine  nach 
gewissen  Modifikationen  erfolgende  Bewegung  ihrer  feinsten  Teile" 
zu  halten  sei,  sprechen,  wie  er  meint,  entscheidende  Gründe,  die 
er  kurz  skizziert,  mit  dem  Zusatz :  um  ihretwillen  werde  das  Da- 
sein einer  besonderen  Feuermaterie  „anjetzt  mit  fast  allgemeiner 
Übereinstimmung"  angenommen.  Aber  über  ihr  Wesen  und  ihre 
Wirkungsart  sei  die  Verschiedenheit  der  Ansichten  noch  sehr 
groß  :  „Einige  halten  das  Elementarfeuer  für  nichts  anders  als 
für  die  Materie  des  Lichts  ;  andere  unterscheiden  es  von  derselben, 
oder  sehen  doch  das  Licht  als  eine  eigne  neue  Modifikation  des 
Feuerwesens  an.  Viele  haben  das,  was  die  Körper  entzündlich 
oder  verbrennlich  macht,  das  sogenannte  Phlogiston,  für  ein  in 
den  Körpern  befindliches  gebundenes  Feuer  gehalten,  andere  aber 
haben  Feuer  und  Phlogiston  als  zween  besondere  sich  entgegenge- 
setzte Stoffe,  betrachtet.  Einige  nehmen  das  Feuer  für  ein  allge- 
meines Auflösungsmittel  aller  Körper  an,  andere  glauben  hingegen, 
daß  dasselbe,  um  wirksam  zu  werden,  und  die  Erscheinungen  der 
Wärme  zu.  zeigen,  selbst  eines  neuen  hinzukommenden  Auflösungs- 
mittels  bedürfe.  Diese  ungemeine  Verschiedenheit  der  Meinungen 
hat  ihren  natürlichen  Grund  darin ,  daß  hier  die  Rede  von  einer 
Ursache  ist,  die  wir  nie  an  sich  selbst  untersuchen,    sondern  bloß 


1)  Ich  halte  mich  bei  diesem  Werk  etwas  länger  auf  und  lasse  die  ent- 
scheidenden Stellen  in  extenso  abdrucken,  da  es  einen  Niederschlag  der  damals 
herrschenden  Theorien  darstellt  und  von  der  zeitgenössischen  Kritik  als  tüchtige 
Leistung  allgemein  anerkannt  wurde. 


350  Erich  Adickes, 

aus  ihren  Wirkungen  beurteilen  können.  Das  einzige  nun,  was 
sich  aus  diesen  mit  einiger  Gewißheit  folgern  läßt,  ist,  daß  das 
Feuer  ein  feines,  flüssiges,  höchst  elastisches  Wesen  sei,  das  alle 
Körper  durchdringt,  verschiedene  Verwandtschaften  gegen  die- 
selben äußert,  und  in  ihnen  in  verschiedener  Menge  sowohl,  als 
auf  verschiedene  Weise,  enthalten  sein  kann."  Im  IV.  Band  des 
Wörterbuchs  (1791  S.  543  ff.)  weist  Gehler  mit  Nachdruck  darauf 
hin,  wie  sehr  die  Untersuchungen  über  freie,  gebundene,  spezifische 
Wärme  dazu  beigetragen  haben,  die  Überzeugung  von  der  stoff- 
lichen Natur  der  Wärme  allgemein  zu  verbreiten.  Auf  den  Ge- 
danken, die  Erscheinungen  der  Wärme  durch  bloße  Schwingungen 
zu  erklären,  verfiel  man  nach  ihm  nur,  „  weil  man  von  der  Wärme- 
erzeugung durch  Reiben  ausging.  Hätte  man  ehedem  die  Phäno- 
mene der  chymischen  Vermischungen  besser  gekannt  und  zum 
Grunde  gelegt,  so  wurden  die  Erkältungen,  wobei  sich  doch  die 
Stoffe  auch  reiben,  gleich  anfangs  auf  andere  Wege  geführt  haben. 
So  hat  man  auch  nie  dartun  können,  daß  bei  allen  Arten  der  Rei- 
bung Wärme  entstehe,  oder,  daß  die  Wärme  im  Verhältnisse  mit 
der  Stärke  der  Reibung  sei,  usw.  Nollets  Einwurf  (Lecon  XIII 
Sect.  I),  daß  jede  Bewegung  abnimmt,  wenn  sie  sich  durch  größere 
Massen  verbreitet,  dahingegen  bei  der  Entzündung  eines  Holzstoßes 
durch  einen  Eunken,  dem  Vibrationssystem  zufolge,  die  Bewegung 
wachsen  müßte,  ist  völlig  entscheidend.  Auch  weiß  man  jetzt, 
daß  sich  die  Wärme  gar  nicht  nach  den  Gesetzen  schwingender  Be- 
wegungen mitteilt,  und  daß  überhaupt  aus  bloßen  Schwingungen 
keine  befriedigende  Erklärung  der  Erscheinungen  hergeleitet  werden 
kann.  Also  isj^  es  ohne  Zweifel  notwendig ,  einen  eignen  Stoff 
der  Wärme  anzunehmen."  Boerhaave  meinte,  vermittelst  dieses 
Stoffes  die  ganzen  Wärmeerscheinungen  „bloß  mechanisch  durch 
Stoß  und  Bewegung"  erklären  zu  können.  „Seine  Lehre  vom 
Feuer  enthält  in  der  Hauptsache  alles,  was  man  noch  lange  nach 
ihm  über  diesen  merkwürdigen  Stoff  vorgetragen  hat,  bis  endlich 
neuere  Entdeckungen  die  Begriffe  hievon  veränderten,  und  auf 
die  Vermutung  einer  chymischen  Verbindung  des  Wärmestoffs  mit 
den  Körpern  leiteten."  Denn  auf  Grund  der  neuen  Entdeckungen 
Wilkes  und  Blacks  und  den  auf  ihnen  beruhenden  Begriffen  der 
freien  und  gebundenen  Wärme  zufolge  „sieht  man  jetzt  den  Wärme- 
stoff als  etwas  an,  das  sich  mit  den  Körpern  nach  seiner  ver- 
schiedenen Verwandtschaft  chymisch  verbinden ,  und  dadurch  die 
Wirksamkeit,  die  es  im  freien  Zustande  zeigt,  verlieren  kann,  d.  h. 


Zur  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  351 

man  betrachtet  ihn  als  ein  Auflösungsmittel  der  Körper.  Dies 
hat  sich  nun  durch  alle  bisherige  Untersuchungen  so  wohl  be- 
stätiget ,  daß  wenige  Physiker  mehr  das  Dasein  eines  eignen 
Wärmestoffs  bezweifeln  werden.  Man  kann  auch  eben  nicht  sagen, 
daß  dieser  Stoff  ganz  hypothetisch  sei,  da  er  sich  dem  Sinne  des 
Gefühls  auf  eine  so  deutliche  Art  zu  erkennen  gibt ,  die  sich 
schwerlich  für  Wirkung  irgend  einer  andern  Materie  erklären  läßt. 
Dennoch  läßt  er  sich  nicht  dem  Auge  darstellen,  in  Gefäße  ein- 
schließen, und  unmittelbaren  Versuchen  unterwerfen."  Des  Wei- 
teren (S.  545  ff.)  zeigt  Gehler  dann,  daß  der  Wärmestoff  in  seinem 
freien  Zustand  ein  äußerst  feines  elastisches  Eluidum  sein  muß, 
das  gegen  alle  Stoffe  eine  starke  Verwandtschaft  hat,  d.  h.  ein  Be- 
streben äußert,  sich  mit  ihnen  zu  vereinigen.  Es  ist  auf  der  Erde 
überall  verbreitet  (weshalb  es  keinen  wärmeleeren  Raum  und  keine 
absolute  Kälte  geben  kann),  stammt  nicht  aus  der  Sonne,  sondern 
ist  eine  irdische  Materie;  ihm  kommt  darum  aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  auch  Schwere  und  Anziehung  zu.  Um  die  Erschei- 
nungen der  spezifischen  Wärme  zu  erklären,  muß  man  dem  Wärme- 
stoff nach  Art  der  Chemiker  Wahlverwandtschaften  beilegen.  Er 
ist  „ein  allgemeines  Auf lösungsmittel ,  das,  wie  alle  Menstrua, 
durch  die  wirkliche  Verbindung  einen  Teil  seiner  Auflösungskraft 
verliert,  bei  völliger  Sättigung  diese  Kraft  gar  nicht  mehr  zeigt, 
nach  der  Entbindung  aber  dieselbe  aufs  Neue  äußert ;  i  eben  so,  wie 
Säuren  durch  Verbindung  mit  Laugensalzen  ihre  Atzkraft  ver- 
lieren, und  nach  der  Trennung  von  selbigen  wieder  zeigen"  (S.  549, 
vgl.  auch  ebenda  S.  484). 

So  schien  gegen  Ende  des  18.  Jahrhunderts  die  Substantiali- 
tätstheorie  ihren  endgültigen  Sieg  erfochten  zu  haben.  Aber  wie 
so  oft  liebte  die  Geschichte  den  Zickzack-Kurs :  noch  in  den  letzten 
Jahren  des  18.  Jahrhunderts  stellte  Graf  Rumford  seine  berühmten 
Versuche  an,  die  den  Anfang  vom  Ende  der  Stofftheorie  bedeuteten 
oder  mindestens  dem  Kampf  der  beiden  feindlichen  Lager  eine 
ganz  neue  Wendung  zu  Gunsten  der  Vibrationstheorie  gaben. 

Zu  dieser  und  ihren  Vertretern  wenden  wir  uns  nunmehr. 

2.  Die  Vibrationstheorie. 

Im  17.  und  18.  Jahrhundert  waren  ihre  Anhänger  entschieden 
in  der  Minderzahl.  Doch  hat  es  von  der  Renaissance  an  bis  zum 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  zu  keiner  Zeit  an  bedeutenden  Natur- 
forschern und  Philosophen  gefehlt,    die  sie  vertraten.     Und  hätte 


352  Erich  Adickes, 

man  die  Stimmen  gewogen,  nicht  gezählt,  so  würde  sich  vermutlich 
wenigstens  um  1700  herum  die  Wagschale  zu  ihren  Gunsten  ge- 
senkt haben. 

Im  II.  Buch  von  Fr.  Bacons  Novum  Organum  (Aphorismus 
XI  ff.)  spielt  der  Begriff  der  Wärme  eine  große  Rolle :  er  dient 
als  Exempel  für  die  Durchführung  der  neuen  von  Bacon  empfoh- 
lenen naturwissenschaftlichen  Methode.  So  wenig  diese  Methode 
taugt ,  so  glücklich  ist  —  ausnahmsweise !  —  die  Intuition ,  die 
Bacon  zu  seiner  Wärmelehre  geführt  hat.  Aus  den  beiden  Tafeln 
der  positiven  und  negativen  Instanzen  (ähnlicher  Fälle,  wo  Wärme 
vorkommt  oder  fehlt)  sowie  der  dritten,  eine  Vergleichung  dem 
Grad  nach  bringenden  Tafel  wird  zunächst  an  der  Hand  eines 
Ausschließungsverfahrens  unter  anderen  negativen  Resultaten  die 
Erkenntnis  abgeleitet,  daß,  weil  der  erwärmende  Körper  weder 
an  Gewicht  noch  Substanz  abnimmt,  die  Erwärmung  nicht  in 
einem  Übergang  materieller  Teilchen  bestehen  kann,  daß  ferner 
die  Wärme,  weil  sie  auch  durch  bloße  Reibung  entsteht,  kein 
selbständiger  Stoff  sein  kann.  Vielmehr  ergibt  sich  als  positive 
Folgerung,  daß  sie  eine  Art  von  Bewegung  ist.  Nicht  als  ob 
Wärme  Bewegung  oder  Bewegung  Wärme  erzeuge,  obgleich  auch 
das  für  einige  Fälle  zutrifft;  sondern:  „quod  ipsissimus  calor,  sive 
Quidipsum  caloris  sit  motus,  et  nihil  aliud :  limitatus  tarnen  per 
differentias."  Prima  differentia:  „quod  calor  sit  motus  expansivus, 
per  quem  corpus  nititur  ad  dilatationem  sui,  et  recipiendum  se  in 
majorem  sphaeram  vel  dimensionem,  quam  prius  occupaverat."  Se- 
cunda  differentia:  „quod  calor  sit  motus  expansivus  sive  versus 
circumferentiam :  hac  lege  tarnen,  ut  una  feratur  corpus  sursum." 
Tertia  differentia :  ,;ut  calor  sit  motus,  non  expansivus  uniformiter 
secundum  totum,  sed  expansivus  per  particulas  minores  corporis; 
et  simul  cohibitus,  et  repulsus ,  et  reverberatus ;  adeo  ut  induat 
motum  alternativum,  et  perpetuo  trepidantem,  et  tentantem  et  ni- 
tentem,  et  ex  repercussione  irritatum;  unde  furor  ille  ignis  et 
caloris  ortum  habet. u  Quarta  differentia :  „quod  motus  ille  stimu- 
lationis  aut  penetrationis  debeat  esse  nonnihil  rapidus  et  minime 
lentus ;  atque  fiat  etiam  per  particulas,  licet  minutas ;  tarnen  non 
ad  extremam  subtilitatem ,  sed  quasi  majusculas."  Daraus  ergibt 
sich  hinsichtlich  der  Wärmeerzeugung  der  Satz :  kann  man  in 
einem  Naturkörper  eine  Bewegung  hervorrufen,  die  darauf  aus- 
geht ihn  zu  erweitern  und  auszudehnen,  und  kann  man  diese  Be- 
wegung so  zurückdrängen  und  gegen  sich  selbst  kehren,   daß  jene 


Zur  Lehre  von    der  Wärme   von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  353 

Erweiterung  nicht  gleichmäßig  vor  sich  geht,  sondern  teilweise 
Platz  greift,  teilweise  gehemmt  wird,  so  wird  man  sich  Wärme 
erzeugen 1). 

Bei  Descartes,  Hobbes,  Locke  steht  die  Wärmetheorie  in  engem 
Zusammenhang  mit  ihrer  Lehre  von  der  Subjektivität  der  Sinnes- 
qualitäten. Descartes  erklärt  in  §  197  f.  des  IV.  Teils  seiner  Prin- 
cipia  philosophiae,  daß  es  in  der  Körperwelt  nur  Bewegungen  ver- 
schiedener Art  gibt,  die  unsere  Sinnesorgane  treffen,  von  ihnen 
zum  Gehirn  fortgepflanzt  werden  und  dann  unserem  Geist  in  Form 
von  Empfindungen  zum  Bewußtsein  kommen.  So  entsteht  die 
Lichtempfindung  durch  den  Druck  oder  Stoß  der  kleinen  Kugeln 
des  den  Himmelsraum  erfüllenden  zweiten  Elements  auf  unser 
Auge.  So  ist  Wärme  nichts  anderes  als  die  schnelle  Bewegung 
(agitatio)  der  irdischen  Teilchen  (des  dritten  Elements),  ob  sie 
nun  von  der  Lichtbewegung  oder  von  sonst  einer  Ursache  her- 
rührt. Jedes  derartig  in  Erregung  gebrachte  irdische  Teilchen  be- 
harrt dann  den  Naturgesetzen  gemäß  in  seiner  Bewegung,  bis  es 
von  einer  andern  Ursache  gehemmt  wird,  und  darum  dauert  die 
vom  Licht  erzeugte  Wärme  immer  noch  einige  Zeit  nach  Ent- 
fernung des  Lichtes.  Die  von  den  Sonnenstrahlen  getroffenen 
irdischen  Teilchen  bringen  ferner  die  ihnen  benachbarten,  zu  denen 
jene  Strahlen  nicht  gelangen,  in  Bewegung,  diese  wieder  andere, 
und  so  weiter.  Auf  diese  Weise  vermag  die  durch  das  Sonnen- 
licht hervorgebrachte  Wärme  bis  zu  den  innersten  Teilen  der 
mittlem  Erdregion  zu  dringen.  Daß  die  Wärme  fast  alle  Körper 
ausdehnt,  rührt  daher,  daß  die  irdischen  Teilchen,  wenn  sie  von 
der  Wärme  in  stärkere  Bewegung  als  gewöhnlich  versetzt  werden, 
wegen  ihrer  unregelmäßigen  Figuren  nicht  in  einem  so  engen 
Raum  untergebracht  werden  können  wie  im  Zustand  der  Ruhe 
oder  geringerer  Bewegung;  der  Grad  der  Ausdehnung  richtet  sich 
nach  der  Lage  und  Gestalt  der  kleinen  Teilchen  (§  28—31).  Ähn- 
lich heißt  es  im  Anfang  der  Meteora  (Kap.  I  §  7):  um  das  Wesen 
der  Wärme  und  Kälte  zu  begreifen,  bedarf  man  keiner  anderen 
Annahme,  als  daß  die  kleinen  Teilchen  der  von  uns  berührten 
Körper  von  der  subtilen  Materie  des  zweiten  Elements  oder  von 
irgend  einer  andern  Ursache  in  stärkere  oder  schwächere  Be- 
wegung als  gewöhnlich  versetzt  werden  und  dementsprechend  auch 
heftiger  oder  sanfter  als  gewöhnlich  auf  die  kleinen  Fasern  unserer 


1)  Baconi  Opera  omnia.     1694  fol.  S.  346—351. 


354  Erich  Adickes, 

Tastorgane  treffen:  jenes  gibt  die  Empfindung  der  Wärme,  dieses 
die  der  Kälte.  Die  Erscheinung  des  Feuers  entsteht  (nach  §  45  f., 
80  des  IV.  Teils  der  Principia  philosophiae),  wenn  die  irdischen 
Teile  (das  dritte  Element)  einzeln  für  sich  von  den  außerordentlich 
stürmisch  bewegten  Teilchen  des  ersten  Elements  mitgerissen 
werden  zu  gleich  stürmischer  Bewegung.  Bewegen  sie  sich,  gleich- 
falls von  einander  getrennt,  weniger  schnell  zugleich  mit  den 
Kügelchen  des  zweiten  Elements,  so  bilden  sie  das,  was  wir  Luft 
nennen.  Deren  Elastizität  ist  ganz  und  gar  vom  Grad  der  Wärme, 
d.  h.  also  von  der  Bewegungsintensität  der  biegsamen  kleinen 
Teilchen,  abhängig,  die,  je  schneller  sie  bewegt  werden,  desto  mehr 
sich  ausdehnen  und  einen  um  so  größeren  Raum  für  ihre  Bewegung 
erfordern. 

Im  Anfang  seiner  Elements  of  law  natural  and  politic  (ed. 
F.  Tönnies  1889  S.  3  ff.  English  works  ed.  Molesworth  IV  3  ff.) 
und  seines  Leviathan  entwickelt  Hobbes  ausführlich  die  Lehre 
von  der  Subjektivität  der  Sinnesempfindungen,  unter  denen  im 
letzteren  Werk  neben  Härte  und  Weiche  auch  Wärme  und  Kälte 
als  Gefühlsqualitäten *)  erscheinen.  AJle  Empfindungen  sind  nur 
in  unserem  Bewußtsein.  In  den  Objekten  selbst,  auch  in  unserem 
Körper,  gibt  es  nur  Bewegungen;  letztere  pflanzen  sich  zum  Ge- 
hirn und  von  da  bis  zum  Herzen  fort,  und  dieses  reagirt  mit  einer 
Gegenbewegung,  die  nach  außen  strebt  und  uns  deshalb  auch  als 
etwas  Äußeres  erscheint,  d.  h.  für  das  Bewußtsein  die  Form  der 
Empfindung  annimmt.  Wärme  und  Licht  sind  nach  Hobbes  eng 
verwandt,  doch,  nicht  in  der  Weise,  daß  das  eine  die  Ursache  des 
andern  wäre,  sondern  so,  daß  beiden  dieselbe  Ursache,  nämlich  Be- 
wegung in  dem  leuchtenden  oder  wärmenden  Körper,  zu  Grunde  liegt. 
Und  zwar  entsteht  die  Lichtempfindung  dann,  wenn  die  Bewegung 
sich  von  dem  „leuchtenden"  Körper  aus  durch  ein  Medium  in 
graden  Linien  bis  zu  unserm  Auge  hin  fortgepflanzt,  Wärme  da- 
gegen, wenn  die  durch  das  Medium  fortgeleitete  Bewegung  die 
kleinsten  Teilchen  fortwährend  ihren  Ort  unter  einander  wechseln 
läßt,  sie  gleichsam  beständig  durch  einander  wirbelt  oder,  modern 
ausgedrückt,  sie  in  einen  Zustand  völlig  ungeordneter  Bewegung 
versetzt.  Hat  der  Körper  in  seinen  Teilchen  eine  solche  Bewegung, 
daß   er   zugleich   erwärmt    und  leuchtet,    dann  entsteht    die  Er- 


1)  English  works  ed.  Molesworth  III 2 :  „qualities  as  we  discern  by  feeling". 
Opera  latina  ed.  Molesworth  III  6:  „pertinentia  ad  sensum  tactus". 


Zur  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  355 

scheinung  des  Feuers.  Letzteres  ist  also  nicht  ein  eigenartiger, 
selbständiger  Stoff,  nicht  etwas  von  dem  brennenden  Holz  oder 
glühenden  Eisen  Verschiedenes,  sondern  das  Holz  oder  Eisen  selbst, 
nur  in  einem  Zustand  besonderer  Bewegung.  Die  Behauptung, 
das  Feuer  sei  eine  von  dem  glühenden  oder  brennenden  Körper 
verschiedene  Substanz,  bezeichnet  Hobbes  als  absurd.  Auch  glaubt 
er  nicht,  daß  von  der  Sonne  materielle  Teilchen  emittiert  werden ; 
wäre  es  der  Fall,  so  würde  unbegreiflich,  warum  die  Sonne  selbst 
nicht  schon  längst  aufgezehrt  sei  (English  works  ed.  by  Moles- 
worth  I  445  ff.,  VII  25  ff.,  117  ff.  Opera  latina  1362  ff.,  IV  265  f., 
279,  326  ff.). 

Auch  für  Locke  ergibt  sich  das  Wesen  der  Wärme  ohne 
weiteres  aus  der  Subjektivität  der  Sinnes empfindungen.  Zu  ihnen 
und  somit  zu  den  bloß  sekundären  Qualitäten  gehört  auch  die 
Wärme,  sie  muß  also  in  den  primären  Qualitäten  begründet  sein. 
Größe  (Masse),  Gestalt  und  besonders  Bewegung  werden  demgemäß 
an  verschiedenen  Stellen  des  Essay  concerning  human  understanding 
als  das  bezeichnet,  was  in  der  körperlichen  realen  Welt  der  rein 
subjektiven  Wärmeempfindung  entspricht  und  sie  in  uns  hervor- 
bringt. So  stellt  er  in  B.  II  Ch.  7  §  4  einen  mäßigen  Grad 
unserer  Körperwärme  gleich  mit  einer  in  gewissen  Grenzen  ein- 
geschränkten Bewegung  der  unsichtbaren  Teile  unseres  Körpers 
„What  is  sweet,  blue  or  warm,  in  idea,  is  but  the  certain  bulk, 
figure,  and  motion  of  the  insensible  parts  in  the  bodies  themselves, 
which  we  call  so"  (B.  II  Ch.  8  §  15,  vgl.  §  10,  24).  Daher  die  Re- 
lativität der  Temperaturempfindung.  Ist  letztere  nur  eine  bestimmte 
Art  und  Intensität  der  Bewegung  in  den  kleinen  Partikeln  unserer 
Nerven  oder  Lebensgeister,  so  wird  es  verständlich,  daß  ein  und 
dasselbe  Wasser  gleichzeitig  der  einen  Hand  warm,  der  andern 
kalt  erscheinen  kann.  Denn  wenn  die  kleinsten  Teilchen  des 
Wassers  in  stärkerer  Bewegung  begriffen  sind  als  die  unserer 
einen  Hand,  aber  in  schwächerer  als  die  der  andern,  so  werden  sie 
jenen  einen  Zuwachs  an  Bewegung  bringen,  diesen  aber  eine  Ver- 
minderung und  also  dort  die  Empfindung  der  Wärme,  hier  die 
der  Kälte  hervorrufen  (§  21).  Nach  Ch.  16  §  12  des  IV.  Buches 
folgt  die  Annahme,  daß,  was  wir  Hitze  und  Feuer  nennen,  in  Wirk- 
lichkeit eine  heftige  Bewegung  der  unwahrnehmbaren  kleinsten 
Teile  des  brennenden  Gegenstandes  sei,  als  berechtigter  Analogie- 
schluß aus  dem  Entstehen  der  Reibungshitze.  Besonders  berühmt 
geworden  und  viel  zitiert   ist  folgende  Stelle,   die  (ohne  weitere 


Q56  Erich  A  dickes, 

Herkunftsangabe,  nur  als  Ausspruch  Lockes  charakterisiert)  J.  P. 
Joule  1850  als  Motto  über  seine  Arbeit  On  the  mechanical  equi- 
valent  of  heat  (Philosophical  Transactions  S.  61)  setzte,  und  die 
Berthold1)  dann  in  Lockes  Elements  of  natural  philosophy  (Kap. 
XI)  auffand:  „Heat  is  a  very  brisk  agitation  of  the  insensible 
parts  of  the  object,  which  produces  in  us  that  Sensation,  from 
whence  we  denominate  the  object  hot;  so  what  in  onr  Sensation 
is  heat,  in  the  object  is  nothing  but  motion.  This  appears  by 
the  way  whereby  heat  is  produced;  för  we  see  that  the  rubbing 
of  a  brass  nail  upon  a  board  will  make  it  very  hot,  and  the  axle- 
trees  of  carts  and  coaches  are  often  hot,  and  sometimes  to  a  de- 
gree,  that  it  sets  them  on  fire,  by  the  rubbing  of  the  nave  of  the 
wheel  upon  it.  On  the  other  side,  the  utmost  degree  of  cold  is 
the  cessation  of  that  motion  of  the  insensible  particles,  which  to 
our  touch  is  heat". 

In  England  zählte  die  Vibrationstheorie  zu  Lockes  Zeiten  eine 
Reihe  berühmter  Namen  unter  ihren  Anhängern.  So  R.  Boyle, 
obwohl  er  das  Feuer  als  einen  besondern  Körper  betrachtete,  der 
aus  kleinsten  Teilchen  bestehe,  die  wegen  ihrer  Kleinheit  und  Be- 
wegungsintensität auch  feste  Körper,  z.  B.  Glas,  zu  durchdringen 
vermöchten,  sich  mit  andern  Körpern,  deren  Gewicht  vermehrend, 
verbänden  und  so  verschiedenartige  neue  zusammengesetzte  Körper 
hervorbrächten.  Auch  die  bei  der  Kalzination  von  Metallen  ein- 
tretende Gewichtsvermehrung  ist  Boyle  dementsprechend  geneigt 
auf  Zutritt  der  Feuerteilchen  zurückzuführen  (The  works  of  R. 
Boyle  1772  I  523  f.,  III  706—730).  Für  die  Wärme  dagegen 
lehnt  Boyle  jede  Stofftheorie  ganz  entschieden  ab :  sie  besteht 
nach  ihm  nur  in  einer  starken  Agitation  der  Körpermoleküle,  die  na- 
türlich durch  Feuer  hervorgebracht  werden  kann,  ebenso  gut  aber 
auch  auf  irgend  eine  andere  Weise,  wie  z.  B.  durch  Hämmern  von 
Eisen  oder  Silber,  ohne  deshalb  ihren  Charakter  irgendwie  zu  ver- 
ändern (I  446).  Besonders  ausführlich  entwickelt  Boyle  seine 
Wärmetheorie  in  der  Schrift:  Experiments,  notes  etc.,  about  the 
mechanical  origin  or  production  of  divers  particular  qualities  (zu- 
erst 1675),  in  der  2.  Sektion  des  I.  Abschnitts :  Of  the  mechanical 
origin  of  heat  and  cold  (IV  244  ff.).  Hier  heißt  es:  The  nature 
of  heat  „seems  to  consist  mainly,    if  not  only,  in  that  mechanical 


1)  Vgl.    G.  Berthold:    Kumford   und   die   mechanische   Wärmetheorie   1875 
S.  28  f. 


Zur  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  357 

affection  of  matter  we  call  local  motion  mechanically  modified". 
Für  diese  Modifikation  gibt  er  die  Bedingungen  an.  Erstens 
muß  die  Bewegung  der  Teile  sehr  heftig  (vehement)  sein:  durch 
diesen  Grrad  der  Rapidität  unterscheidet  sich  die  den  heißen  Körpern 
eigne  Bewegung  von  der  der  bloß  flüssigen  Körper,  denn  diese 
letzteren,  als  solche,  erfordern  auch  nicht  entfernt  eine  derartige 
Heftigkeit  der  Bewegung  wie  die  heißen.  So  bewegen  sich  die  Par- 
tikeln des  Wassers  in  seinem  gewöhnlichen  Zustand  so  langsam,  daß 
wir  es  überhaupt  nicht  als  warm  empfinden,  obwohl  es,  um  flüssig  zu 
sein,  in  fortwährender  Molekularbewegung  sein  muß.  Wird  aber 
das  Wasser  wirklich  heiß,  so  wächst  entsprechend  der  Zunahme 
der  Wärme  auch  die  Heftigkeit  der  Bewegung:  das  zeigt  sich 
nicht  nur  in  der  stärkeren  Affektion  unserer  Sinnesorgane,  sondern 
auch  in  der  Bildung  zahlreicher  kleiner  Blasen,  im  Schmelzen 
hineingeworfener  Butter  und  im  Aufsteigen  von  Dämpfen.  Kommt 
es  gar  zum  Kochen,  so  wird  die  heftige,  tumultuarische  Bewegung 
der  kleinsten  Teilchen  noch  viel  augenscheinlicher  und  ist  dann 
von  solcher  Kraft,  daß  ein  großer  Teil  der  Wassermoleküle,  in 
der  Form  von  Dampf  und  Dunst,  in  die  Luft  emporsteigt.  Die 
Heftigkeit  der  Molekularbewegung  sieht  man  ferner,  wenn  auf 
glühendes  Eisen  Wassertropfen  fallen,  vor  allem  aber  am  Feuer, 
dem  heißesten  Körper,  den  wir  kennen.  Zweitens  müssen  die 
Moleküle  sich  nach  ganz  verschiedenen  Richtungen  bewegen:  nach 
rechts,  links,  oben,  unten,  schief  etc.  Eine  noch  so  heftige  pro- 
gressive Bewegung  des  ganzen  Körpers  (z.  B.  von  Luft  und  Wasser 
bei  starken  Winden  oder  Wasserfällen)  erzeugt  dagegen  keine  Wärme, 
weil  sie  der  Molekularbewegung  nicht  den  notwendigen  Intensitäts- 
zuwachs bringt.  Drittens  müssen  die  bewegten  Partikeln,  wenig- 
stens in  ihrer  großen  Mehrzahl,  so  klein  sein,  daß  sie  einzeln 
nicht  wahrgenommen  werden  können.  Wird  ein  Haufen  Sand  oder 
Staub  durch  einen  Wirbelwind  heftig  herumgetrieben,  so  kann 
von  der  spezifischen  Wärmebewegung  keine  Rede  sein.  Aus  dem 
Gesagten  folgt  für  Boyle,  daß  Wärme  mechanisch  auf  so  viele 
Art  erzeugt  werden  kann,  als  man  die  unwahrnehmbaren  Teilchen 
eines  Körpers  in  eine  recht  heftige  und  völlig  ungeordnete  Be- 
wegung zu  versetzen  vermag.  Beispiele  dafür  gibt  er  in  den  auf 
S.  246 — 259  dargestellten  28  Experimenten;  darunter  fehlt  selbst- 
verständlich das  des  Schmiedes  nicht,  der  durch  schnelles  Hämmern 
einen  Nagel  oder  ein  ähnliches  Stück  Eisen  stark  erhitzt.  Als 
Ursache  der  Wärme  kann  hier  nichts  in  Betracht  kommen  als  „the 

Kantstudien.  XX VU.  24 


358  Erich  Adickes, 

forcible  motion  of  the  hammer,  which  impresses  a  vehement,  and 
variously  determined  agitation  of  the  small  parts  of  the  iron". 
—  An  anderer  Stelle  (III  21)  definiert  Boyle  die  Wärme  als  „the 
brisk  and  confnsed  local  motion  of  the  minute  parts  of  a  body", 
III  748  als  „a  tnmultuary  and  vehement  agitation  of  the  minute 
parts  of  the  body,  that  is  said  to  be  hot,  and  producing  also  in 
the  bodies,  that  it  is  communicated  to,  a  local  motion".  Die  Rela- 
tivität des  Wärmegefühls  wird  von  Boyle  stark  betont,  und  zwar 
ebenso  wie  nach  ihm  von  Locke  und  Berkeley *)  unter  Hinweis  auf  die 
verschiedene  Wirkung  lauwarmen  Wassers  auf  die  verschieden 
temperierten  Hände  eines  und  desselben  Menschen:  „Men  are  wont 
to  esteem  no  body  hot,  but  such  an  one,  the  agitation  of  whose 
small  parts  is  brisk  enough  to  encrease  or  surpass  that  of  the 
particles  of  the  organ,  that  touches  it ;  for  if  that  motion  be  more 
languid  in  the  object,  than  in  the  sentient,  the  body  is  reputed 
cold ;  as  may  appear  by  this,  that  if  the  same  person  put  one  of 
his  hands,  when  it  is  hot,  and  the  other  when  it  is  cold,  into 
lakewarm  water,  that  liquor  will  feel  cold  to  the  warm  hand, 
and  warm  to  the  cold"  (III  735  f.,  vgl.  III  26).  Das  Vorhanden- 
sein absoluter  Ruhe  an  irgend  einem  Punkt  des  Universums  ist 
Boyle  —  mit  Rücksicht  auf  die  Wärmebewegung  in  den  inneren 
Teilchen  der  Körper  —  geneigt  zu  verneinen  oder  mindestens 
stark  zu  bezweifeln  (I  443 — 457) 2). 

R.  Hook  es  Wärmetheorie  findet  sich  am  ausführlichsten 
dargestellt  in  seiner  „Micrographia  or  some  physiological  descrip- 
tions  of  minute  bodies"  (1665)  S.  12  f.  Alle  Flüssigkeit  verdankt 
nach  dieser  Stelle  die  Möglichkeit  ihres  Aggregatzustandes  der 
Wärme,  und  Wärme  ist  „nothing  eise  but  a  very  brisk  and  ve- 
hement agitation  of  the  parts  of  a  body".  Die  letzteren  werden 
dadurch  so  unzusammenhängend  („loose  from  one  another"),  daß 
sie  sich  leicht  nach  jeder  Richtung  bewegen  und  flüssig  werden. 
Hooke  erläutert  das  durch  zwei  Beispiele.  Man  setze  eine  Schüssel 
voll  Sand  aui*  einen  in  lebhafteste  Agitation  versetzten  und 
durch  schnelle,    stark  vibrierende  Bewegung  erschütterten  Körper 

1)  Vgl.  o.  S.  355  und  Berkeleys  Three  dialogues  between  Hylas  and  Phi- 
lonous  (Works  ed.  by  A.  C.  Fräser  1901  I  388,  vgl.  I  265).  Auch  Bacon  ar- 
beitet schon  mit  demselben  Gedanken,  nur  daß  er,  wie  es  scheint,  ein  und  die- 
selbe Hand  erst  kalt  sein  und  dann  warm  werden  läßt  (Novum  Organum  L.  II  Aph. 
XIII  Nr.  41 ;  Opera  omnia  1694  S.  344). 

2)  Vgl.  hinsichtlich  seiner  Wärmelehre  auch  noch  II  142,  III  302,  V  13,  27  ff. 


Zur  Lehre   von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  359 

wie  einen  sehr  rasch  gedrehten  Mühlstein  oder  ein  recht  steifes, 
heftig  oder  sehr  rasch  mit  den  Trommelstöcken  bearbeitetes 
Trommelfell,  so  wird  aus  der  trägen,  toten  Masse  des  Sandes  eine 
vollkommene  Flüssigkeit.  Macht  man  ein  Loch  hinein  mit  seinem 
Finger,  so  ist  es  alsbald  wieder  ausgefüllt  und  die  Oberfläche  eben ; 
steckt  man  einen  leichten  Körper,  etwa  ein  Stück  Kork,  hinein, 
so  taucht  er  sofort  wieder  auf  und  schwimmt  oben;  man  kann 
keinen  schweren  Körper,  wie  ein  Stück  Blei,  auf  die  Oberfläche 
legen,  ohne  daß  er  sogleich  untersinkt  —  und  das  alles  nur  wegen 
der  heftigen  Agitation  des  den  Sand  enthaltenden  Gefäßes,  wo- 
durch» jedes  Körnchen  eine  vibrierende  oder  tanzende  Bewegung  be- 
kommt, so  daß  kein  schwererer  Körper  auf  dem  Sande  ruhen 
kann,  er  werde  denn  auf  jeder  Seite  von  einem  andern  gestützt, 
und  anderseits  der  Sand  keinen  Körper  unter  sich  duldet,  der 
leichter  wäre  als  er  selbst.  Dies  Beispiel  zeigt,  wie  ein  wirklich 
schon  in  kleine  Teile  zerteilter  Körper  flüssig  wird.  Das 
zweite  Beispiel  soll  die  seltsame  auflockernde  "Wirkung  einer 
heftigen  schwirrenden  oder  einer  stark  und  schnell  vibrierenden 
Bewegung  illustrieren,  und  begreiflich  machen,  auf  welche  Weise 
die  Wärme  -  Agitation  die  Teile  der  festen  und  harten  Körper 
so  leicht  lockert  und  auflöst:  wird  in  ein  Stück  Eisen  ein  Stift 
oder  Bolzen  so  fest  eingeschoben,  daß  man  ihn  mit  den  Fingern, 
obwohl  sein  Kopf  eine  genügende  Handhabe  bietet,  auf  keine  Weise 
herausschrauben  kann,  so  braucht  man  nur  das  Eisen  mit  einer 
Feile  sehr  stark  zu  raspeln,  und  der  Boizen  wird  sich  leicht  drehen 
und  herauslösen  lassen.  Soweit  man  auf  mechanischem  Wege  eine 
genügend  schnelle  und  starke  Bewegung  der  kleinsten  Teilchen 
hervorbringen  kann,  bedarf  man  keines  Aufwandes  an  Feuerung, 
um  einen  Körper  zu  schmelzen.  Hooke  verweist  in  diesem  Zu- 
sammenhang auf  seine  8.  Observation  „Of  the  fiery  sparks  Struck  from 
a  flint  or  steel"  (S.  44  ff.),  aus  der  hervorgehe,  daß  man  an  kleinen 
Stahlteilchen  die  Erscheinungen  des  Rotglühens,  Schmelzens  etc. 
sowohl  durch  eine  Flamme  als  durch  schnelle  und  heftige  Be- 
wegung beim  Feuerschlagen  hervorbringen  könne,  was  keiner 
wunderbar  finden  werde,  der  in  Betracht  ziehe,  wie  starke  Hitze- 
grade durch  Reiben,  Hämmern,  Feilen  usw.  erzeugt  werden.  Der 
Hitzegrad,  bei  dem  feste  Körper  flüssig  werden,  ist  verschieden. 
In  einigen  Körpern  sind  die  Teilchen  so  locker  gelagert,  so  wenig 
geeignet  zu  kohärieren,  so  winzig  und  klein,  daß  schon  eine  sehr 
kleine  Intensität  der   (Molekular-)  Bewegung  sie  dauernd  im  Zu- 

24* 


360  Erich  Adickes, 

stand  der  Flüssigkeit  erhält.  Andere  erfordern  weit  größere, 
oder  gar  fast  unendlich  große  Intensität  (S.  13,  15).  Doch  ist 
Hooke  der  Meinung,  es  gebe  keinen  Körper  in  der  Welt,  der 
nicht  durch  irgendeinen  Grad  von  Bewegungsintensität  oder  Hitze 
flüssig  gemacht  werden  könnte.  Da  alle  Körper  einen  gewissen 
Grad  von  Wärme  in  sich  haben  und  noch  niemals  ein  absolut 
kalter  Körper  gefunden  ist,  müssen  die  kleinsten  Teilchen  aller 
Körper,  so  fest  sie  auch  seien,  stets  in  vibrierender  Bewegung  sein. 
Sich  im  großen  Theater  der  Welt  einen  Körper  zu  denken,  dessen 
Moleküle  ganz  in  Ruhe,  träge  und  untätig  wären:  das  wider- 
spräche durchaus  der  großartigen  Ökonomie  des  Universums 
(S.  16).  Hookes  Wärmetheorie  spielt  auch  in  der  7.  Observation 
„Of  some  phaenomena  of  glass  drops"  (S.  33  ff.)  eine  große  Rolle. 
S.  37  heißt  es:  „Heat  is  a  property  of  a  body  arising  from  the 
motion  or  agitation  of  its  parts;  and  therefore  whatever  body  is 
thereby  touched  must  necessarily  receive  some  part  of  that  motion, 
whereby  its  parts  will  be  shaken  and  agitated,  and  so  by  degrees 
free  and  extricate  themselves  from  one  another,  and  each  part  so 
moved  does  by  that  motion  exert  a  conatus  of  protruding  and 
displacing  all  the  adjacent  particles.  Thus  air  included  in  a  vessel, 
by  being  heated  will  burst  it  to  pieces".  Auf  das  Verhältnis 
zwischen  Wärme  und  Licht  und  das  Wesen  des  Feuers  einzugehen, 
würde  zu  weit  führen;  vgl.  darüber  S.  55 f.,  105.  Vgl.  ferner  The 
posthumous  works  of  R.  Hooke  ed.  by  E.  WaUer  1705  S.  49,  80  f., 
Ulf.,  116,  169,  191. 

J.  Newton  tritt  mit  Bezug  auf  die  Wärme  ebenso  ent- 
schieden für  die  Vibrationstheorie  ein,  wie  mit  Bezug  auf  das 
Licht  für  die  Emissions-  und  also  die  Stofftheorie.  Wärme  und 
Licht  sind  für  ihn  demgemäß  etwas  sehr  Verschiedenes.  Er 
spricht  sich  über  ihr  Verhältnis  in  den  seiner  Optik  (1704)  an- 
gehängten, in  den  späteren  Auflagen  stark  vermehrten  Fragen  aus. 
Körper  und  Licht  wirken  nach  Quaestio  Vauf  einander  wechsel- 
weise, die  Körper  auf  das  Licht:  indem  sie  es  aussenden,  zurück- 
werfen, brechen  und  beugen,  das  Licht  auf  die  Körper:  indem  es 
sie  erwärmt  und  die  vibrierende  Bewegung,  in  der  die  Wärme  be- 
steht, in  ihren  Teilen  erregt.  Nach  Quaestio  VIII  senden  alle 
festen  Körper,  wenn  sie  über  einen  gewissen  Grad  hinaus  erhitzt 
sind,  infolge  der  vibrierenden  Bewegung  ihrer  Teilchen  Licht  aus, 
wobei  es  ganz  gleichgültig  ist,  ob  diese  Bewegung  durch  Wärme 
entsteht,  oder  Reibung,  oder  Stoß,  oder  Fäulnis,  oder  eine  Vital- 


Zur  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon   bis  Kant.  361 

bewegung  oder  irgend  eine  andere  Ursache.  Feuer  ist  ein  so 
stark  erhitzter  Körper,  daß  er  in  reichlicherem  Maße  Licht  aus- 
sendet, Flamme  ein  Dampf  oder  Rauch  oder  eine  Ausströmung, 
wiederum  so  stark  erhitzt,  daß  sie  Licht  aussendet ;  denn  die 
Flamme  ergreift  keinen  Körper,  der  nicht  reichlichen  Rauch  aus- 
sendet, und  dieser  Eauch  brennt  dann  in  der  Flamme  (Quaestio 
IX,  X).  Zur  Erklärung  der  Wärmeleitung  im  luftleeren  Raum1) 
bedarf  man  der  Annahme  eines  die  Vibrationen  des  erwärmenden 
Körpers  aufnehmenden  und  weiter  verbreitenden  Mediums,  das  viel 
feiner,  subtiler,  elastischer  und  aktiver  sein  muß  als  die  Luft  und 
auch  nach  deren  Vertreibung  noch  im  Vacuum  zurückbleibt.  Das 
Licht  wird  durch  dieses  Medium  (=  Äther)  gebrochen  und  zurück- 
geworfen und  teilt  durch  dessen  Vibrationen  die  Wärme  den 
Körpern  mit.  Diese  Vibrationen  bewirken  in  den  warmen  Körpern, 
daß  die  Wärme  stärker  und  dauernder  wird,  und  die  warmen 
Körper  teilen  ihre  Wärme  den  benachbarten  kalten  dadurch  mit, 
daß  die  Vibrationen  jenes  Mediums  sich  von  den  warmen  Körpern 
aus  in  die  kalten  verbreiten  (Quaestio  XVIII). 

Leibniz,  in  vielem  Newtons  Antipode,  ist  doch  gleich  ihm 
ein  Anhänger  der  Vibrationstheorie,  wenn  auch  die  Rolle,  die  er 
den  Äther  spielen  läßt,  aus  diesem  stellenweise  fast  eine  besondere 
Feuermaterie  macht.  Leibniz  entwickelt  seine  Ansichten  darüber 
in  einer  seiner  ersten  Schriften,  die  er  als  25  jähriger  1671  ver- 
öffentlichte: Hypothesis  physica  nova2),  in  deren  erstem  Teil 
(Theoria  motns  concreti)  es  in  §  30,  34  heißt :  „Lux  est  motus 
aetheris  ad  sensum  rectilineus  celerrimus  in  quodlibet  punctum 
sensibile  circum  circa  propagatus."  Lux  est  vel  primigenia  (in 
sole)  „vel  secundo-genita,  eaque  aut  originalis,  aut  imitata:  origi- 
nalis  est  in  igne  apud  nos  genito  qui  fit  aethere  innumerabilium 
bullarum  rupturis  acervatim  disploso 3) ;  imitata  est  in  speculis" 
etc.  „Caloris  eadem  est  causa,  quae  lucis,  solo  subtilitatis  dis- 
crimine.  Utrumque  et  oritur  a  motu  intestino  in  se  redeunte, 
subtiliora  sui  ejaculante,  et  eum  facit.  Unde  et  raritas  et  con- 
gregatio  homogeneorum.     Contra  frigus,   quod  constringit,    oritur 


1)  „calor  exterior  trans  vacuum  defertur." 

2)  Leibniz:    Mathematische  Schriften  ed.  C.  J.  Gerhardt  1860  II  2  S.  17 ff. 
Leibniz:   Philosophische  Schriften  ed.  C.  J.  Gerhardt  1880  IV  177 ff. 

3)  Also  eine  ähnliche  Anschauungsweise  wie  bei  Euler  (oben  S.  386  f.) ;  vgl. 
auch  §  40  ff. 


362  Erich  Adickes, 

a  motu  quodam  forti,  et  recto,  sed  crasso,  unde  obtundente,  non 
penetrante,  ac  proinde  non  solvente,  sed  constringente."  Vgl. 
§  56 :  Calida  motu  intestino  forti  subtiles  radios  ejaculantur ;  aerem 
gravi  täte  sua  innitentem  rejiciunt  ventilantque  ....  „Lux  nihil 
aliud,  quam  rei  agitatio  intestina,  tarn  fortis,  ut  conatus  ejus  ex- 
trorsum  tendentes  ad  quodlibet  et  ex  quolibet  puncto  sensibili  di- 
recte  et  reflexe  oculum  feriant.  Ab  agitatione  tarn  forti,  quis  ca- 
lorem  et  rarefactionem  ....  oriri  miretur?  u  Vgl.  auch  §  4 — 7. 
An  dieser  Wärmetheorie  scheint  Leibniz  auch  in  späteren  Jahren 
der  Hauptsache  nach  festgehalten  zu  haben.  In  seiner  nach- 
gelassenen Protogaea  (edita  a  Chr.  L.  Scheidio  1749  S.  2)  leitet 
er  den  Flüssigkeitszustand  von  der  inneren  Bewegung  und  Wärme 
ab  und  setzt  hinzu:  „Calor  motusve  intestinus  ab  igne  est,  seu 
luce,  id  est  tenuissimo  spiritu  permeante." 

Gr.  L.  Lesage,  später  bekannt  geworden  durch  seinen  Lu- 
crece  Newtonien  (1784)  und  durch  die  von  seinem  Schüler  P.  Pre- 
vost  1818  herausgegebene  Physique  mecanique,  nimmt  in  seinem 
Cours  abrege"  de  physique  (1732)  eine  besondere  Licht-  und  Feuer- 
materie an,  die  Schwere  hat,  hart  und  elastisch  ist,  alle  Körper 
durchdringt  und  sich  mit  ihnen  vereinigt,  um  einen  Teil  ihrer 
Substanz  auszumachen,  die  ferner  keine  homogene  Flüssigkeit  ist, 
sondern  eine  Menge  heterogener,  teilbarer  Körper  von  verschiedener 
Masse  und  daher  auch  verschiedener  Bewegungsgröße  und  Brechbar- 
keit (S.  31ff.,  69  ff.).  Die  Wärme  dagegen  ist  kein  Stoff.  Als  Em- 
pfindung ist  sie  ganz  verschieden  von  ihrer  Ursache  in  den  warmen 
Körpern.  Letztere  besteht  in  einer  ungeordneten  Bewegung  oder 
einer  Erschütterung  (trömoussement)  der  Moleküle  (parties),  die 
sich  den  Molekülen  anderer  Körper  bei  Berührung  mitteilt,  einerlei 
ob  diese  Bewegung  durch  heftige  Reibung  oder  irgend  welche 
äußere  Erschütterung  oder  die  Nachbarschaft  eines  Feuers  oder 
Gärung  hervorgebracht  ist.  Alle  festen  Körper  können  gemäß  den 
Erfahrungen  mit  Brennspiegeln  durch  starke  Hitze  flüssig  gemacht 
werden.  Zur  Flüssigkeit  ist  fortwährende  Molekularbewegung  er^- 
forderlich.  Körper  sind  fest  nur  durch  eine  Art  Gefrieren,  und 
eine  gute  Physik  muß  Wärme  und  Bewegung,  Kälte  und  Ruhe 
als  Synonyma  brauchen  (S.  68—74,  77  f.). 

Dan.  Bernoulli  spricht  in  seiner,  erst  in  den  letzten  De- 
zennien ihrer  vollen  Bedeutung  nach  anerkannten  Hydrodynamica 
(1738),  in  der  er  die  moderne  kinetische  Gastheorie  vorweggenommen 


Zur  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  363 

hat1),  gegen  Schluß  der  1.  Sekt.  (S.  14  f.)  auch  über  das  Wesen  der 
Wärme.  Freilich  nur  kurz,  indem  er  feststellt,  daß  alle  Flüssig- 
keiten in  innerer  Bewegung  sind;  daß  daher- ein  hinreichender 
Grad  von  Wärme,  die  alles  in  Bewegung  bringt  (rapit),  die  meisten 
Dinge,  seien  sie  auch  noch  so  fest,  flüssig  macht;  daß  ferner  in- 
folge jener  inneren  Bewegung  die  Partikelchen  einander  nicht 
berühren,  sondern  gleichsam  umherfliegen  und  daher  ohne  Reibung 
auf  den  geringsten  Impuls  hin  von  ihrem  Platz  weichen,  was  auf 
keinen  Fall  geschehen  würde,  wenn  die  Partikelchen  einander  be- 
rührten, wie  in  einem  Sandhaufen.  Je  stärker  die  Wärme,  desto 
heftiger  sei  auch  die  Bewegung  der  Partikelchen,  und  durch  einen 
desto  größeren  Zwischenraum  seien  sie  von  einander  getrennt :  das 
stehe  in  vollkommener  Übereinstimmung  mit  der  Ausdehnung  aller 
Flüssigkeiten  durch  Wärmezuwachs  und  ihrer  Zusammenziehung 
durch  Kälte.  Vgl.  S.  202:  „Constat  calorem  intendi  ubique  cres- 
cente  motu  particularum  intestino." 

Mich.  Lomonosow2)  veröffentlichte  1750  im  I.  Bd.  der  „Novi 
Commentarii"  der  Petersburger  Akademie  der  Wissenschaften  (für 
die  Jahre  1747  und  1748)  auf  S.  206—229  Meditationes  de  caloris 
et  frigoris  causa,  in  denen  er  die  Ansicht  vertritt,  Wärme  und 
Feuer  bestünden  „in  motu  intestino  gyratorio  materiae  cohaerentis 
corporis  calidi".  Unter  materia  cohaerens  versteht  er  diejenige, 
die  sich  mit  dem  ganzen  Körper  bewegt  und  im  Stoße  wirkt, 
einerlei  ob  sie  „propria"  oder  „peregrina"  ist  (jene  z.  B.  die  Teil- 
chen des  Schwammes,  diese:  das  von  ihnen  eingezogene  Wasser). 
Ihr  entgegengesetzt  ist  die  einem  Strom  gleich  die  Poren  des 
Körpers  durchfließende  feine  Materie  wie  der  Äther.  Von  den 
möglichen  Arten  innerer  Bewegung :  der  progressiven,  vibrierenden 
und  gyratorischen,  sind  die  ersten  beiden  mit  Rücksicht  vor  allem 
auf  die  Kohäsion  der  Teilchen  unmöglich;  es  bleibt  also  nur  die 
Drehung  der  letzteren  um  die  eigne  Axe  übrig,  die  unbeschadet 
der  Kohäsion  vor  sich  gehen  kann,  vor  allem  wenn  die  Teilchen 
kuglig  sind.    Steigerung   dieser   inneren  Bewegung  bedeutet  also 


1)  Vgl.  du  Bois-Reymond  in  JPoggendorfs  Annalen  der  Physik  und  Chemie 
1859  Bd.  107  S.  490  ff.,  G.  Berthold:  Rumford  und  die  mechanische  Wärmetheorie 
1875  S.  13  ff.,  38  f.,  R.  Rühlmann:  Handbuch  der  mechanischen  Wärmetheorie 
1885  II  12  ff.,  878  ff. 

2)  Über  ihn  B.  N.  Menschutkin  in  W.  Ostwalds  Annalen  der  Naturphilo- 
sophie 1905  IV  204—225,  ferner  Fr.  Dukmeyer  in  den  Preuß.  Jahrbüchern  191 1 
Bd.  146  S.  247—264. 


864  Erich  Adickes, 

Wärmezunahme,  ein  Maximum  beider  ist  nicht  denkbar,  da  es 
keine  Bewegungsintensität  gibt ,  im  Vergleich  mit  der  nicht  eine 
noch  größere  gedacht  werden  könnte.  Verminderung  der  innern 
Bewegung  ist  gleichbedeutend  mit  Abkühlung;  hört  jene  völlig 
auf,  herrscht  also  absolute  Ruhe  im  Innern  eines  Körpers,  so  ist 
das  Kältemaximum  erreicht.  Ein  solcher  nicht  mehr  überschreit- 
barer Grad  der  Kälte  könnte  also  an  sich  in  der  Natur  wohl  an- 
getroffen werden,  auf  unserer  Erde  jedoch  existiert  er  nicht,  da 
keine  Flüssigkeit  ohne  innere  Drehbewegung  und  Wärme  möglich 
ist,  die  Luft  aber  und  viele  andere  Flüssigkeiten  noch  nicht  zum 
Gefrieren  gebracht  sind.  Für  die  Phänomene  der  Wärmeleitung 
und  die  der  Wärmestrahlung  bietet  Lomonosow  verschiedene  Er- 
klärungsprinzipien. Dort  handelt  es  sich  um  Übertragung  der  in- 
neren Bewegung  von  Teilchen  zu  Teilchen  und  Körper  zu  Körper. 
Warme  Körper  kühlen  bei  der  Berührung  kalter  ab,  da  die  schnel- 
lere Bewegung  in  jenen  durch  die  trägere  in  diesen  verlangsamt 
wird;  zugleich  wirkt  aber  die  erstere  auf  die  letztere  beschleu- 
nigend zurück,  und  so  werden  die  kalten  Körper  erwärmt.  Bei 
der  Wärmestrahlung  dagegen  übernimmt  die  außerordentlich  feine 
Materie  des  Äthers,  durch  die  alle  von  wahrnehmbaren  Körpern 
freien  Räume  erfüllt  sind ,  die  Vermittlung :  ihr  werden  von  den 
Teilchen  des  warmen  Körpers  die  Drehbewegungen  mitgeteilt,  und 
sie  überträgt  dann  wieder  diese  Bewegungen  auf  entfernte  Körper, 
so  vor  allem  die  Sonnenwärme  auf  die  Erde  und  die  übrigen  Pla- 
neten. Von  diesen  Grundsätzen  aus  erklärt  Lomonosow  zahlreiche 
Wärmephänomene.  Außerdem  bekämpft  er  die  Annahme  eines  be- 
sonderen Wärmestoffs ,  ob  er  nun  als  Äther  oder  als  Elementar- 
feuer  bezeichnet  werde,  mit  sehr  triftigen  Gründen1). 

Aus  der  Zeit  nach  1755  nur  noch  einige  kürze  Nachrichten! 
In  J.  H.  GL  v.  Justis  Geschichte  des  Erdkörpers  (1771)  heißt  es 
S.  39:  „Das  Feuer  ist  nichts  anders,  als  eine  sehr  heftige  Bewe- 
gung der  Materie  in  ihren  kleinsten  Teilen",  und  S.  123 :  „Wir 
müssen  hier  wiederholen ,  daß  das  Feuer  nichts  weniger  als  ein 
vor  sich  bestehendes  Wesen,  Materie  oder  Körper  sei ;  sondern  es 
ist  weiter  nichts  als  die  heftigste  Bewegung  der  Materie  in  ihren 
kleinsten  Teilen. a 


1)  L.  Euler  hat  sich  nach  Dukmeyer  (a.  a.  0.  254)  in  einem  Brief  an  Lo- 
monosow lobend  über  die  Neuheit  und  Gründlichkeit  seiner  Wärmetheorie  ausge- 
sprochen und  die  von  den  Gegnern  vorgebrachten  Einwände  für  ungereimt  und 
unbegründet  erklärt.    Vgl.  auch  o.  S.  337  Anm. 


Zur  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  365 

P.  J.  Macquer  hält  in  der  2.  Auflage  seines  Chymischen 
Wörterbuchs  (übersetzt  von  J.  GL  Leonhardi  1781 1 425  ff.  II 237  ff.) 
das  Licht  für  eine  besondere  Materie,  welche,  wenn  sie  in  andere 
Körper  als  Bestandteil  eingeht,  Phlogiston  (Brennbares,  gebundenes 
Feuer)  genannt  wird.  Die  Wärme  dagegen  betrachtet  er  als  eine 
schwingende  oder  oszillierende  Bewegung,  deren  sowohl  die  zu- 
sammengehäuften Teile  der  Lichtmaterie  als  die  Bestandteile  von 
allen  und  jeden  Körpern  fähig  sind,  wenn  sie  durch  einen  Stoß 
erschüttert  werden,  mag  letzterer  vom  Lichte  oder  von  irgend 
einer  andern  Ursache  (Reiben,  Stoßen,  Hämmern  etc.)  herrühren *). 
Macquer  führt  Bacon  als  Zeuge  für  diese  Vibrationstheorie  an  und 
setzt  hinzu:  „Auch  denken  die  mehresten  neuern  Naturforscher  so: 
jedennoch  ist  mir  keiner  bekannt,  der  diese  Gedanken  aus  einander 
gesetzt  hätte"  (II  238). 

Für  die  Vibrationstheorie  treten  ferner  ein :  der  Kopenhagener 
Physiker  Chr.  Gr.  Kratzenstein  in  seinen  Vorlesungen  über  die 
Experimental- Physik  (1758;  in  der  4.  Aufl.  von  1781  S.  129 ff.)2), 
Bordenave  in  einem  Aufsatz  über  die  Natur  des  Feuers,  aus 
Roziers  Observations  sur  la  physique  etc.  übersetzt  in  L.  Crells 
Chemischen  Annalen  1786  Stück  5  S.  458—465,  Gr.  Fr.  Werner  in 
seinem  Entwurf  einer  neuen  Theorie  der  anziehenden  Kräfte,  des 
Ethers,  der  Wärme  und  des  Lichts  (1788),  F.  A.  Lorenz  in  seiner 
Chemisch  physikalischen  Untersuchung  des  Feuers  (1789),  A.  N. 
Scherer  in  seinen  „Nachträgen  zu  den  Grundzügen  der  neuern 
chemischen  Theorie"  (1796). 

Kurz  vor  dem  Schluß  des  18.  Jahrhunderts  setzten  sodann 
Graf  Rumford  (Benj.  Thompson)  und  H.  Davy  mit  ihren  ent- 
scheidenden Experimenten  und  Untersuchungen  ein,  die  zwar  der 
Lehre  von  der  stofflichen  Natur  der  Wärme  noch  keine  endgül- 
tige Niederlage  zu  bereiten  vermochten  —  dazu  war  gerade  da- 
mals ihre  Herrschaft  zu  fest  gegründet  — ,  die  aber  gegenüber 
der   feindlichen  Festung   eine   neue   unüberwindliche  Position    er- 


1)  In  der  ersten  Auflage  leiden  die  betreffenden  Ausführungen  an  großer 
Unklarheit.  Macquer  scheint  hier  auch  noch  hinsichtlich  der  Wärme  der  Stoff- 
theorie zuzuneigen.  Vgl.  die  deutsche  Übersetzung:  Allgemeine  Begriffe  der 
Chymie  nach  alphabetischer  Ordnung  mit  Anmerkungen  von  K.  W.  Pörner  1768 
II  135  ff. 

2)  Kratzenstein  ließ  zu  Gunsten  der  Vibrationstheorie  und  zur  Verteidigung 
seiner  Vorlesungen  gegen  eine  Rezension  1791  auch  noch  eine  besondere  kleine 
Brochüre  erscheinen:  Schreiben  an  Fr.  Nicolai  über  die  Lehre  vom  Feuer. 


366  Erich  Adickes, 

richteten,  von  der  aus  mit  der  Zeit  ihr  Fall  herbeigeführt  werden 
konnte  *). 

Kant  selbst  steht  in  seiner  Magister  -  Dissertation  auf  dem 
Boden  der  Substantialitätstheorie :  als  Träger  und  Vermittler  der 
Wärme-  und  Lichterscheinungen  nimmt  er  einen  gemeinsamen  ela- 
stischen Stoff  an,  den  Äther,  der  zugleich  auch  die  Ursache  der 
verschiedenen  Aggregatzustände  und  der  Elastizität  fester  sowohl 
wie  flüssiger  Körper  ist.  Anderseits  macht  er  der  Vibrations- 
theorie insofern  ein  Zugeständnis,  als  dieser  Äther  im  Zustand  der 
Rune  nicht  fähig  sein  soll,  irgendwelche  Wärmephänomene  hervor- 
zubringen, sondern  nur  im  Zustand  eines  „motus  undulatorius  s. 
vibratorius" :  diese  seine  Bewegung  ist  eben  das,  was  man  Wärme 
(sc.  objektiv  in  den  Körpern)  nennt.  Bewegung  der  Körperteil- 
chen selbst  kommt  also  nicht  in  Betracht,  oder  tritt  doch  wenig- 
stens nur  als  ein  ganz  sekundäres  Moment  auf,  z.  B.  bei  der  Aus- 
dehnung der  Körper,  als  ein  Moment,  das  nicht  für  das  Wesen  der 
Wärme  selbst,  sondern  nur  für  ihre  (bezw.  des  bewegten  Wärme- 
stoffs) Wirkungen  kennzeichnend  ist. 

Was  Kant  entwickelt,  ist  also  durchaus  nicht  etwa  eine  Ab- 
art der  Vibrationstheorie,  sondern  eine  ausgesprochene  Stofftheorie, 
die  nur  dem  unleugbaren  Zusammenhang  zwischen  Wärme  und  Be- 
wegung, wie  er  vor  allem  in  der  Erzeugung  von  Reibungswärme 
klar  zutage  tritt,  dadurch  gerecht  zu  werden  sucht,  daß  sie  die 
Bewegung  des  Wärmestoffs  als  die  conditio  sine  qua  non  und 
als  das  eigentlich  Charakteristische  hinstellt.  Ähnliche  Ansichten 
trafen  wir  bei  vielen  Vertretern  der  Stofftheorie,  so  bei  Wolff, 
Hamberger,  Boerhaave,  v.  Musschenbroek,  Euler,  Nollet,  Krüger, 
Crusius,  le  Cat,  Segner,  Winkler,  Erxleben.  Ja,  man  kann  sagen : 
die  Wucht  der  Tatsachen  ist  so  groß,  daß  jeder  Anhänger  jeder 
Stofftheorie,  wie  er  sie  auch  im  Einzelnen  gestalten  möge,  sich 
genötigt  sieht,  nicht  vom  ruhenden,  sondern  vom  irgendwie 
bewegten  Wärmestoff  seine  spezifischen  Wirkungen  abzuleiten. 

Daß  auch  Kant  das  tut,  ist  also  kein  Grund,  ihn  mit  der  Vi- 
brationstheorie in  Verbindung  zu  bringen  und  als  einen  Vorläufer 
der  modernen  mechanischen  Wärmetheorie  zu  betrachten.    Er  ge- 


1)  Über  Rumford  und  Davy  vgl.  G.  Berthold :  Rumford  und  die  mechanische 
Wärmetheorie  1875  S.  39  ff.,  R.  Rühlmann :  Handbuch  der  mechanischen  Wärme- 
theorie 1885  II  886  ff.,  F.  Rosenberger :  Geschichte  der  Physik  1887—90  III  60  ff. 


Zur  Lehre  von  der  Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant.  367 

hört  vielmehr  dem  entgegengesetzten  Lager  an.  Und  es  ist  auch 
sonst,  wie  mein  Werk  über  „Kant  als  Naturwissenschaftler"  aus- 
führlich nachweisen  wird,  kein  Grund  vorhanden,  von  den  Medi- 
tationes  de  igne  viel  Aufhebens  zu  machen.  Sie  stellen  ein  ziem- 
lich mäßiges  Produkt  dar,  das  keinerlei  neue  durchgreifende  Ge- 
danken enthält  und  das  auch  die  Einzelprobleme,  die  es  behandelt, 
an  keinem  Punkt  wirklich  fördert. 

Kants  Verdienste  um  die  Naturwissenschaft  liegen  auf  ganz 
anderm  Gebiet :  nicht  in  seiner  Wärme-  und  Äthertheorie,  sondern 
vor  allem  in  seiner  Kosmogonie,  seiner  Theorie  der  Winde  und 
seiner  Lehre  von  den  Faktoren,  die  verlangsamend  oder  beschleu- 
nigend auf  die  Erdrotation  einwirken,  sodann  in  dem  Hinweis  auf 
die  Bedeutung  des  abfließenden  Wassers  für  die  Oberflächengestal- 
tung der  Erde  und  in  dem  Grundgedanken  seiner  Rassentheorie  mit 
ihrer  starken  Betonung  der  die  Vererbung  bestimmenden  Keime 
und  natürlichen  Anlagen. 

Überall  da  zeigt  sich  die  Größe  seines  Genies  im  hellsten 
Licht.  Er  ist  zwar  weit  davon  entfernt,  ein  eigentlich  natur- 
wissenschaftlicher Geist  zu  sein:  weder  liegt  ihm  die  experimen- 
telle Betätigung,  noch  genügen  seine  mathematischen  Kenntnisse 
und  Fertigkeiten  zur  mathematischen  Behandlung  schwierigerer 
naturwissenschaftlicher  Fragen.  Ja,  man  muß  noch  weiter  gehen 
und  sagen:  trotz  reicher  Einzelkenntnisse  und  trotz  wiederholter 
Vorlesungen  über  Mathematik  und  theoretische  Physik1)  war  und 
blieb  er  doch  Zeit  seines  Lebens  in  naturwissenschaftlichen  Dingen 
ein  Dilettant,  und  die  Schattenseiten  eines  solchen  Dilettantismus 
machen  sich  auch  bei  ihm  nicht  selten  bemerkbar. 

Aber  andrerseits  ist  er  ein  Dilettant  von  wahrhaft  großem 
Genie,  ausgezeichnet  durch  eine  ungewöhnliche  Verbindung  schärf- 
sten abstrakten  Denkens  mit  einer  ausgesprochenen  Gabe  der  In- 
tuition, von  ungemeiner  Vielseitigkeit  der  Interessen  und  einem 
Überblick  über  die  verschiedensten  Gebiete,  um  den  ihn  mancher 
Fachgelehrte  hätte  beneiden  können.  Und  was  uns  am  Genie  so 
oft  entgegentritt ,  das  trifft  auch  bei  Kant  zu :  er  liebt  es ,  auf 
einer  hohen  Warte  mit  weiter  Aussicht  zu  stehn.  Die  Ideen  waren 
seine  Leidenschaft,  beständig  brütete  er  über  ihnen,  wie  er  es  selbst 
einmal  ausdrückt  (A.  A.  X2  397). 


1)  Jene  hat  er  14  mal,  diese  mehr  als  20  mal  angekündigt.   Vgl.  E.  Arnoldt 
Gesammelte  Schriften  1909  V  338  f. 


368     Erich  Adickes,  Zur  Lehre  von  der  "Wärme  von  Fr.  Bacon  bis  Kant. 

Und  so  vermochte  er,  als  Ausnahmegeist,  trotz  seines  Dilet- 
tantismus, die  Naturwissenschaft  mit  weitumspannenden  Ideen  und 
kühnen  Synthesen  zu  befruchten  und  neue,  überraschende  Gesichts- 
punkte in  sie  einzuführen.  Seine  stark  entwickelte  analytische 
Fähigkeit  erlaubte  ihm  tiefe  Blicke  in  schwer  übersehbare  und  zer- 
legbare Verhältnisse,  und  eine  seltene  Kraft  der  Synopsis  ließ  ihn 
weit  Getrenntes,  scheinbar  Zusammenhangsloses  zusammenschaun 
und  in  innere  Verbindung  bringen. 


Zur  Analysis  des  Relativitätsbegriffs. 

Eine  Skizze. 
Von  Heinrich  Scholz,  Kiel. 


Es  gibt  ein-  und  mehrdimensionale  Begriffe.  Der  Relativitäts- 
begriff  gehört  zu  den  mehrdimensionalen.  Die  folgende  Skizze  ist 
ein  Versuch,  ihn  nach  seinen  wichtigsten  Dimensionen  zu  ana- 
lysieren. 

1. 

Wir  beginnen  mit  einem  Ausspruch  Lotzes.  In  §318  seiner 
Logik  stoßen  wir  auf  die  schönen  "Worte:  „Wir  alle  sind  über- 
zeugt, in  dem  Augenblick,  in  welchem  wir  den  Inhalt  einer  Wahr- 
heit denken,  ihn  nicht  erst  geschaffen,  sondern  nur  ihn  anerkannt 
zu  haben.  Auch  als  wir  ihn  nicht  dachten,  galt  er  und  wird 
gelten,  abgetrennt  von  allem  Seienden,  von  den  Dingen  sowohl 
als  von  uns,  und  gleichviel,  ob  er  je  in  der  Wirklichkeit  des  Seins 
eine  erscheinende  Anwendung  findet,  oder  in  der  Wirklichkeit  des 
Gredachtwerdens  zum  Gegenstand  einer  Erkenntnis  wird.  So  denken 
wir  alle  von  der  Wahrheit,  sobald  wir  sie  suchen  und  suchend 
vielleicht  ihre  Unzugänglichkeit  für  jede  wenigstens  menschliche 
Erkenntnis  beklagen.  Auch  die  niemals  vorgestellte  gilt  nicht 
minder,  als  der  kleine  Teil  von  ihr,  der  in  unsere  Gedanken  ein- 
geht" (Ausgabe  von  Misch  S.  515). 

Was  Lotze  hiermit  sagen  will,  ist  grundsätzlich  klar.  Er  will 
den  Wahrheitsbegriff,  in  selbständiger  Fortspinnung  tiefer  und  ur- 
wüchsiger platonischer  Gedanken,  gegen  den  Subjektivismus  schützen 
und  auf  die  Stufe  emporheben,  auf  der  er  über  alle  Relativierungs- 
versuche  erhaben  ist.  An  dieser  Tendenz  kann  kein  Zweifel  sein. 
Eher  schon  kann  man  sich  über  den  genauen  Sinn  gewisser  Einzel- 
heiten den  Kopf  zerbrechen.  Was  es  heißt,  daß  der  Inhalt  einer 
Wahrheit  „in  der  Wirklichkeit  des  Seins  eine  erscheinende  An- 
wendung findet",  ist  schwer,  vielleicht  überhaupt  nicht  deutlich 
zu  sagen. 


370  Heinrich  Scholz, 

Aber  lassen  wir  solche  Nebensachen  bei  Seite.  Es  handelt  sich 
hier  nicht  um  Fragen  der  Einkleidung,  sondern  um  den  Kern  und 
die  Sache  selbst.  Es  handelt  sich  um  jene  Tendenz  zur  Autonomi- 
sierung  des  Wahrheitsbegriffes,  die  ganz  eindeutig  in  Lotzes  Aus- 
spruch hervortritt.  Um  Mißverständnisse  auszuschließen,  schicken 
wir  die  ausdrückliche  Bemerkung  voraus,  daß  diese  Tendenz  als  solche 
auch  nach  unserer  Auffassung  nicht  Gegenstand  der  Kritik  werden 
kann.  Sie  fällt  mit  der  Ehrfurcht  vor  der  Wahrheit  zusammen 
und  ist  der  Ausdruck  einer  intellektuellen  Gesinnung,  deren  Exi- 
stenz die  Voraussetzung  jeder   ernsten  logischen  Analysis  bildet. 

Um  so  nachdrücklicher  wird  die  Kritik  sein  müssen,  die  wir 
an  Lotzes  Gedankenführung  zu  üben  haben.  Er  spricht,  um  es 
kurz  zu  sagen,  von  Wahrheiten  an  sich.  Er  redet  von  Wahrheiten, 
die  gelten  sollen,  auch  wenn  sie  nie  und  von  niemandem  gedacht 
werden.  Er  verlegt  —  so  wird  man  sich  ausdrücken  dürfen  — 
geradezu  das  Wesen  der  Wahrheit  in  ihre  Unabhängigkeit  von 
der  Tatsache  ihres  Gedacht-  oder  Anerkanntwerdens.  Wie  den 
platonischen  Ideen  ein  „Sein"  zukommt,  das  von  dem  Akt  ihres 
Erfaßtwerdens  ganz  unabhängig  ist,  so  verhält  es  sich  nach  Lotzes 
bekannter  Auffassung  nicht  nur  mit  jenen  viel  erörterten  Gebilden 
der  platonischen  Spekulation,  sondern  mit  der  Wahrheit  überhaupt. 
Ja,  die  platonischen  Ideen  sind  nach  Lotze  bekanntlich  nichts  an- 
deres als  die  Stellvertreter  derjenigen  Gebilde,  die  wir  heute  als 
Wahrheiten  bezeichnen,  wie  andererseits  der  platonische  Seins- 
begriff das  genaue  Äquivalent  unseres  Geltungsbegriffes  sein  soll. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  in  eine  Kritik  der  Lotzeschen  Plato- 
Auffassung  einzutreten.  Wir  begnügen  uns  vielmehr  an  dieser 
Stelle  mit  der  Andeutung  der  beiden  Hauptgesichtspunkte,  die  ihre 
Ablehnung  notwendig  machen.  Erstens  ist  die  platonische  Idee 
das  Korrelat  eines  Begriffs,  während  die  Lotzesche Wahrheit  in 
jedem  Falle  das  Korrelat  eines  Urteils  ist.  Zweitens  kann  sich 
das  „Sein"  der  platonischen  Ideen  schon  deshalb  nicht  in  ihrem 
Gelten  erschöpfen,  weil  die  Geltung  einer  Idee  eine  Sache  ist,  bei 
der  man  sich  überhaupt  nichts  denken  kann.  Denken  kann  man 
sich  nur  etwas  bei  der  Geltung  eines  Urteils  über  eine  Idee; 
und  wenn  man,  nachlässig  genug,  gleichwohl  von  der  Geltung  einer 
Idee  spricht,  so  meint  man  tatsächlich  stets  die  Geltung  des  Ur- 
teils über  diese  Idee.  Aber  dieses  Urteil  ist  nicht  selbst  die 
Idee,  über  die  im  Urteil  geurteilt  wird,  sondern  eine  Prädikation 
der  Idee,  also  etwas,  was  die  Idee  immer  schon  zur  Voraussetzung 


Zur  Analysis  des  Kelativitätsbegriffs.  371 

hat  und  von  dieser  logisch  durchaus  verschieden  ist.  Ich  kann  dem 
platonischen  Urteil,  daß  es  ein  an  sich  Schönes  gibt  und  daß  die 
schönen  Dinge  auf  Erden  nur  durch  die  mystische  Gegenwart 
dieses  an  sich  Schönen  selbst  schön  werden  oder  schön  sind,  Geltung 
zuschreiben  oder  auch  nicht.  Aber  es  hat  schlechterdings  keinen 
Sinn,  von  einer  Geltung  des  an  sich  Schönen  zu  sprechen,  während 
es  einen  sehr  bestimmten  Sinn  hat,  dem  an  sich  Schönen  mit  Plato 
eine  übersinnliche  Existenz  zuzuschreiben. 

Eine  ganz  andere  Frage  ist  es,  ob  diese  Zuschreibung  haltbar 
ist  und  wie  man  sie  etwa  umformen  müßte,  um  ihr  Haltbarkeit  zu 
verleihen.  Aber  ganz  unabhängig  von  dieser  Frage,  die  hier  nicht 
diskutiert  werden  kann,  ist  die  Tatsache,  daß  die  platonische  Rede- 
weise vom  Fürsichsein  der  Ideen  eine  wohlbestimmte  Bedeutung 
hat,  und  daß  dieses  Fürsichsein  schon  deshalb  nicht  in  ein  Lotze- 
sches  Gelten  aufgelöst  werden  darf,  weil  dadurch  nicht  nur  der 
platonische  Sinn,  sondern  überhaupt  jeder  deutlich  angebbare 
Sinn  verschwindet.  Es  ist  fast  seltsam,  daß  man  das  aussprechen 
muß,  nachdem  so  viel  Scharfsinn  und  Geisteskraft  an  den  Ausbau 
der  Lotzeschen  Lehre  gewendet  worden  ist;  aber  der  Tatbestand 
selbst  ist  unwidersprechlich,  und  es  bedarf,  wie  mir  scheint,  nur 
des  energischen  Versuchs,  sich  bei  der  Geltung  einer  Idee  etwas 
Bestimmtes  denken  zu  wollen,  um  entweder  einzusehen,  daß  man 
sich  nichts  dabei  denken  kann,  oder  zu  finden,  daß  tatsächlich  in 
jedem  genau  geprüften  Falle  statt  der  Geltung  der  Idee  vielmehr 
die  Geltung  des  Urteils  über  sie  gemeint  ist. 

Aber  wir  haben  es  hier  eigentlich  nicht  mit  Lotzes  Plato- Auf- 
fassung zu  tun,  sondern  mit  der  Tendenz  seiner  Wahrheitslehre. 
Die  Kritik  seiner  Plato-Interpretation  gehört  lediglich  insofern 
hierher,  als  sie  den  Geltungsbegriff  betrifft.  Wir  haben  gefunden, 
daß  Lotze  diesen  Begriff  auf  die  platonischen  Ideen  in  einer  Weise 
anwendet,  die  bei  aller  Hochachtung,  die  wir  ihm  schuldig  sind, 
nur  als  unklar  bezeichnet  werden  kann.  Es  ist  a  priori  zu  ver- 
muten, daß  auch  der  Geltungsbegriff,  der  das  Wesen  der  Wahr- 
heit erleuchten  soll,  nicht  einwandfrei  ist. 

Diese  Vermutung  trifft  zu.  Die  durch  die  Lotzesche  Geltungs- 
lehre erstrebte  Autonomisierung  der  Wahrheit,  ihre  Loslösung  von 
allen  Relationen,  läßt  sich  in  dieser  Form  keinesfalls  aufrecht  er- 
halten. Wir  zeigen  das  zunächst  durch  eine  kurze  Analyse  des 
Geltungsbegriffes.  Was  wollen  wir  denn  eigentlich  sagen,  wenn 
wir   einer  Wahrheit  Geltung   zuschreiben?    Wenn  wir  etwas  Be- 


372  Heinrich  Scholz 


stimmtes  damit  ausdrücken  wollen,  und  nicht  gedankenlos  Worte 
gebrauchen,  über  deren  Sinn  wir  uns  selbst  im  Unklaren  sind,  so 
kann  nur  eine  einzige  Absicht  in  Betracht  kommen.  Wir  können 
damit  nur  sagen  wollen,  daß  diese  Wahrheit  von  jedem  urteils- 
fähigen Subjekt,  das  sie  vernimmt,  anerkannt  werden  müsse. 
Wir  wollen  damit  zum  Ausdruck  bringen,  daß  es  niemandem  frei- 
stehe, auch  anders  zu  urteilen,  wenn  er  nicht  mit  der  Wahrheit 
spielen  oder  sich  selbst  aus  der  Vernunft  heraussetzen  will.  Das 
meinen  wir  allerdings,  wenn  wir  im  strengen  und  vollen  Sinne 
des  Wortes  von  der  Geltung  einer  Wahrheit  sprechen ;  aber  keines- 
falls meinen  wir  mehr.  Vor  allem  denken  wir  nicht  daran,  von 
der  Existenz  vernehmender  und  urteilsfähiger  Subjekte  in  diesem 
Zusammenhange  abzusehen.  Im  Gregenteil,  wir  setzen  sie  auf  das 
bestimmteste  voraus.  Ja,  wir  müssen  sie  voraussetzen;  denn  wir 
würden  von  Geltung  gar  nicht  sprechen  können,  wenn  es  nicht 
vernehmende  und  urteilsfähige  Subjekte  gäbe,  auf  die  der  Geltungs- 
anspruch sich  bezieht.  Das  Gelten  ist  stets  ein  Gelten  für 
jemanden,  für  ein  Subjekt,  das  imstande  ist,  den  In- 
halt dessen,  was  gelten  soll,  zu  vernehmen.  Gäbe  es 
keine  solchen  Subjekte,  so  könnte  es  auch  kein  Gelten  geben; 
denn  das  Gelten  ist  schlechthin  gleichbedeutend  mit  der  Forde- 
rung, anerkannt  zu  werden,  und  eine  Anerkennung  ohne  aner- 
kennende Subjekte  ist  ein  Unding,  das  sich  durch  sich  selber  er- 
ledigt. Der  Geltungsbegriff  ist  mithin  ein  charakte- 
ristischer Relationsbegriff;  er  hat  das  Dasein  ver- 
nehmender und  anerkennungsfähiger  Subjekte  zur 
Voraussetzung. 

Zu  einem  ähnlichen  Ergebnis  führt  die  Analyse  des  Wahr- 
heitsbegriffes.  Was  verstehen  wir  unter  Wahrheit?  Wenn  ich 
recht  sehe,  kommen  für  eine  prinzipielle  Erörterung,  die  auf  Neben- 
dinge nicht  eingehen  kann,  zwei  Grundbedeutungen  in  Betracht. 
Zunächst  verstehen  wir  unter  Wahrheit  eine  Urteilsqualität. 
Wahrheit  in  diesem  primären  Sinne  ist  gleichbedeutend  mit  dem 
Merkmal  des  Wahrseins.  In  diesem  Sinne  sprechen  wir  alle  von 
der  Wahrheit  eines  Urteils  oder  Urteilskomplexes,  gleichviel, 
worauf  er  sich  im  übrigen  bezieht.  Wir  können  sogar,  wenn  es 
nötig  ist,  von  der  Wahrheit  einer  Wahrheit  sprechen.  Hier  tritt 
der  Wahrseinscharakter  des  Wahrheitsbegriffs  in  seiner  primären 
Bedeutung  besonders  greifbar  hervor. 

Es  zeigt  sich  an  dieser  Stelle  aber  auch  noch  etwas  anderes. 


Zur  Analysis  des  Kelativitätsbegriffs.  373 

Wir  würden  von  der  Wahrheit  einer  Wahrheit  nicht  sprechen 
können,  wenn  der  WahrheitsbegrifF  nicht  noch  eine  zweite,  sekun- 
däre Bedeutung  hätte.  Unter  Wahrheit  verstehen  wir  nicht  nur 
die  Qualität  eines  Urteils,  sondern  im  erweiterten  Sinne  auch  ein 
Urteil  von  bestimmter  Qualität,  nämlich  der  Qualität  des  Wahr- 
seins. Jedes  mit  der  Wahrseinsqualität  behaftete  Urteil,  genauer 
jeder  Urteilsinhalt,  dem  das  Prädikat  des  Wahrseins 
zukommt,  hat  in  diesem  Sinne  als  Wahrheit  zu  gelten.  Ein  Bei- 
spiel. Leibnizens  berühmte  Unterscheidung  zwischen  verites  de 
faxt  und  verites  de  raison  bestätigt  unsere  Deutung  aufs  Beste.  Es 
handelt  sich  um  die  Unterscheidung  zweier  Urteils klassen,  genauer 
zweier  Klassen  von  Urteilsinhalten,  die  beide  auf  das  Merkmal 
des  Wahrseins  Anspruch  erheben  können.  Man  könnte  auch  an 
Lessings  Unterscheidung  von  zufälligen  Geschichts Wahrheiten 
und  notwendigen  Vernunftwahrheiten  erinnern,  wenn  sich  bei  ge- 
nauerer Analyse  nicht  zeigte,  daß  die  zufälligen  Geschichtswahr- 
heiten Lessings  nur  ein  aus  Gründen  dialektischer  Symmetrie  ge- 
wählter, logisch  inkorrekter  Ausdruck  für  zufällige  Geschichts- 
tatsachen sind.  An  sich  können  diese  zufälligen  Geschichts  Wahr- 
heiten nur  als  wahrheitsgemäße  Aussagen  über  geschichtliche  Tat- 
bestände interpretiert  werden,  die  ihrerseits  mit  dem  Charakter 
der  Zufälligkeit  behaftet  sind. 

Wahrheiten  in  diesem  sekundären  Sinne  —  sekundär,  weil  auf 
einer  Erweiterung  des  primären  Wahrheitsbegriffes  beruhend  — 
können  jederzeit  im  Plural  vorkommen.  Es  gibt,  wie  schon  bemerkt 
wurde,  so  viele  Wahrheiten,  wie  es  Urteilsinhalte  mit  dem  Merk- 
mal des  Wahrseins  gibt.  Vergleichen  wir  hiermit  den  primären 
Wahrheitsbegriff,  so  tritt  uns  seine  Eigenart  auch  sprachlich  ent- 
gegen. Wahrheit  im  primären  Sinne,  also  in  Identität  mit  dem 
Charakter  des  Wahrseins,  erträgt  keinen  Plural;  sie  ist  an  die 
Singularform  gebunden. 

Es  kann  hier  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  die  Bedingungen  fest- 
zustellen, denen  ein  Urteil  genügen  muß,  um  wahr  zu  sein.  Nicht 
einmal  darnach  kann  hier  gefragt  werden,  was  wir  unter  der 
Wahrheit  eines  Urteils  eigentlich  verstehen.  So  viel  steht  fest: 
zu  den  unantastbaren  Elementen  dieses  prädikativen  Wahrheits- 
begriffes, wie  wir  ihn  kurz  nennen  können,  gehört  das  Moment  der 
Anerkennungs  Würdigkeit  *).     Wir   könnten   statt   dessen   auch  von 

1)  Hieraus  ergibt  sich  eine  wichtige  Folgerung.  Wenn  einerseits  die  Geltung 
(siehe   oben   S.  372),    andrerseits    die  Wahrheit   eines  Urteils   durch   seine  Aner- 

Kantstudien.  XXVU.  25 


374  Heinrich  Scholz, 

Normgemäßheit  sprechen.  Wir  ziehen  den  Ausdruck  „  Anerkennungs- 
würdigkeit" vor,  weil  er  einen  Irrtum  ausschließt,  der  sich  an  den 
Begriff  der  Normgemäßheit  leicht  anhängt  und  auf  dem  Umweg 
über  diesen  zu  großen  Verwirrungen  führen  kann.  Man  glaubt,  von 
Normen  sprechen  zu  dürfen,  die  gelten,  auch  wenn  sie  von  nie- 
mandem anerkannt  werden ;  und  man  schließt  aus  der  Unabhängig- 
keit der  Norm  von  der  Tatsache  ihres  Anerkanntwerdens  auf  die 
weitere  Unabhängigkeit  von  der  Tatsache  ihres  Erleb t wer dens. 
Hierin,  in  dieser  radikalen  Relationslosigkeit,  soll  sich  der  soge- 
nannte absolute  Charakter  aller  echten  Normen  offenbaren. 

Es  sei,  daß  es  wirklich  Normen  gibt,  deren  Geltung  völlig 
unabhängig  ist  von  der  Tatsache  ihrer  praktischen  Anerkennung. 
Dann  werden  sie  wenigstens  theoretisch  in  irgend  einem  Umfange 
anerkannt  sein  müssen,  um  sich  als  Normen  behaupten  zu  können. 
Ganz  undenkbar  aber  sind  Normen,  die  von  niemandem  vernommen 
werden,  an  niemanden  ergehen,  und  dennoch  nicht  aufhören,  Normen 
zu  sein. 

Selbst  um  eine  Norm  übertreten  oder  auch  nur  überhören  zu 
können,  muß  man  sie  jedenfalls  zuvor  vernommen  haben.  Sonst 
wird  der  ganze  Ausdruck  sinnlos.  Und  wenn  wir  uns  fragen,  was 
es  heißt,  eine  Norm  als  Norm  vernehmen,  so  wird  die  Antwort 
lauten  müssen:  es  heißt,  sie  als  etwas  vernehmen,  was  der  An- 
erkennung wert  oder,  Kantischer  gesprochen,  der  Anerkennung 
würdig  ist. 

Wir  haben  es  in  diesem  Zusammenhange  nur  mit  den  logischen 
Normen  zu  tun.  Wenn  die  Wahrheit  eines  Urteils  auf  seiner 
logischen  Normgemäßheit  beruht,   so  wird  sie  gleichzeitig  irgend- 


kennungswürdigkeit  definiert  werden  muß  —  ob  sie  sich  in  ihr  erschöpft,  ist  eine 
Frage,  die  wir  hier  offen  lassen  — ,  so  müssen  Urteils geltung  und  Urteils- 
wahrheit jedenfalls  im  Prinzip  zusammenfallen.  Da  nun  der  Wahrheitsbegriff 
unstreitig  dem  Geltungsbegriff  an  Faßbarkeit  weit  überlegen  ist  und  gehaltlose 
Spekulationen  sich  in  der  Analysis  des  Wahrheitsbegriffes  viel  schneller  offen- 
baren als  im  Geltungsbegriff,  so  liegt  es  im  Interesse  der  Logik,  daß  die  Geltungs- 
lehre aus  ihrer  Isolierung  zurückgenommen  und  in  die  Wahrheitslehre  einge- 
schmolzen wird.  Die  Analysis  des  Wahrheitsproblems  hat  unter  dem  Übergewicht 
der  Geltungslogik  unverhältnismäßig  gelitten  und  könnte  sich  mit  Recht  über 
einen  Mangel  an  guter  Behandlung  beklagen.  —  Eine  schöne  Ausnahme  —  die 
einzige,  die  ich  kenne  —  macht  in  dieser  Hinsicht  die  Erkenntnislehre  von  Moritz 
Schlick.  Bolzanos  bedeutungsvolle  Ansätze  —  bedeutungsvoll  trotz  der 
scharfen  Kritik,  die  sie  durch  ihren  Absolutismus  herausfordern  —  sind,  so  weit 
ich  sehe,  von  niemandem  fortgeführt  worden. 


Zur  Analysis  des  Relativitätsbegriffs.  375 

wie  in  seiner  Anerkennungswürdigkeit  bestehen  müssen.  Sie  setzt 
also  jedenfalls  Subjekte  voraus,  die  das  Urteil  mit  seinem  Anspruch 
auf  Anerkennungswürdigkeit  vernehmen  können  und  im  wünschens- 
werten Falle  nicht  nur  vernehmen,  sondern  sich  aneignen.  Der 
prädikative  Wahrheitsbegriff  ist  also  ein  unanfechtbarer  Relations- 
begriff.  Er  setzt  das  Dasein  eines  vernehmenden,  urteilsfähigen 
Subjektes  voraus. 

Dasselbe  Ergebnis  liefert  die  Analyse  des  zweiten,  judika- 
tiven Wahrheitsbegriffes,  wie  wir  ihn  kurz  nennen  wollen.  Wahr- 
heit im  judikativen  Sinne  soll  jeder  Urteilsinhalt  sein,  dem  das 
Merkmal  des  Wahrseins  zukommt.  Analysieren  wir  diesen  Begriff 
genauer,  so  ergibt  sich  folgendes  Resultat.  Es  ist  klar,  daß  ein 
Urteilsinhalt  nur  dann  eine  Wahrheit,  also  Träger  des  Wahrseins- 
merkmals sein  kann,  wenn  er  zuvor  irgendwie  als  Urteilsinhalt 
existiert.  Mit  der  Aufhebung  des  denknotwendigen  Subjektes  ver- 
schwindet notwendig  auch  das  Prädikat.  Ein  nicht  existierender 
Urteilsinhalt  kann  schlechterdings  keine  Wahrheit  sein.  Ist  aber 
die  Urteilsexistenz  die  notwendige  Voraussetzung  dafür,  daß  es 
überhaupt  Wahrheiten  gibt,  so  stoßen  wir  wieder  auf  das  urteils- 
erzeugende Subjekt.  Der  Wahrheitsbegriff  ist  also  auch  in  seiner 
judikativen  Funktion  ein  echter  Relationsbegriff.  Er  setzt  nicht 
nur,  wie  der  prädikative,  das  Dasein  eines  urteils vernehmenden 
Subjektes,  sondern  aueh  die  Existenz  eines  urteilserzeugenden 
Subjektes  voraus. 

Die  Anwendung  auf  Lotze  ergibt  sich  von  selbst.  Lotze 
zielt  mit  seinem  schönen  Ausspruch  auf  das  Ideal  der  vollkommenen 
Relationslosigkeit.  Dieses  Ideal  vermag  der  Prüfung  an  keiner 
Stelle  standzuhalten.  Weder  der  Begriff  der  Geltung,  noch  der 
Begriff  der  prädikativen,  noch  der  der  judikativen  Wahrheit  kann 
seines  Relationscharakters  entkleidet  werden,  ohne  den  angebbaren 
Sinn  zu  verlieren,  der  ihm  allein  ein  logisches  Existenzrecht  ver- 
leiht. Geltung  ist  stets  Greltung  für  ein  urteilendes  Subjekt; 
Wahrsein  stets  Wahr  sein  für  ein  Subjekt,  das  den  Wahrheitsan- 
spruch zuvor  vernommen  hat  oder  sich  im  Besitz  eines  Wahrheits- 
kriteriums befindet ;  Wahrheit  im  inhaltlichen  Sinne  stets  Wahrheit 
für  ein  Subjekt,  das  den  als  wahr  charakterisierten  Urteilsinhalt 
entweder  erzeugt  oder  denkend  nachgeschaffen  hat. 

Aber  hat  Lotze  nicht  recht,  wenn  er  daran  erinnert,  daß  wir 
alle  überzeugt  sind,  in  dem  Augenblick,  in  welchem  wir  den  Inhalt 
einer  Wahrheit  denken,  ihn  nicht  erst  geschaffen,  sondern  nur  ihn 

25* 


376  Heinrich  Scholz 


anerkannt  zu  haben?  Wir  fragen  zunächst :  was  ist  Inhalt  einer 
Wahrheit?  Es  kann  nur  ein  Urteilsinhalt  gemeint  sein,  dem  das 
Merkmal  des  Wahrseins  zukommt.  Prüfen  wir  diesen  Urteilsinhalt 
genauer,  so  werden  wir  ihn  allerdings  erst  geschaffen  haben  müssen, 
ehe  von  seiner  Wahrheit  die  Rede  sein  kann.  Es  versteht  sich, 
daß  dieses  Schaffen  kein  ursprüngliches-  Erzeugen  zu  sein  braucht. 
Es  kann  auch,  wie  schon  angedeutet  wurde,  ein  bloßes  Nach- 
schaffen sein.  Das  ändert  nichts  an  der  Tatsache,  daß  hier  die 
Tätigkeit  des  Subjekts  in  einem  konstitutiven  Sinne  gefordert 
wird.  Wir  wiederholen :  ein  Urteil  kann  erst  wahr  sein,  wenn  es 
als  Urteil  existiert. 

Das  freilich  ist  Lotze  zuzugeben:  mit  dem  Urteilsinhalt  als 
solchem  wird  lediglich  die  notwendige,  aber  durchaus  noch 
nicht  die  hinreichende  Bedingung,  wenn  ich  diese  schönen 
Begriffe  der  Mathematik  hier  einsetzen  darf,  seines  Wahrseins 
geschaffen l).  Die  Wahrheit  eines  Urteils  hängt  vielmehr  hand- 
greiflich von  Bedingungen  ab,  die  ihrerseits  von  der  Tatsache 
seines  Gefälltwerdens  ganz  unabhängig  sind.  Aber  auch  diese 
Wahrheitsbedingungen  haben,  wenn  man  sie  scharf  durchdenkt, 
das  Dasein  eines  denkenden  Subjekts  zur  Voraussetzung.  So  wenig 
sie  durch  das  Denken  allein  geschaffen  werden  —  daß  auch  das 
Denken  an  ihrer  Hervorbringung  teilnimmt,  ja  sehr  stark  beteiligt 
sein  kann,  lehrt  ein  Blick  auf  die  Axiomensysteme  der  axiomati- 
sierten  Wissenschaften  —  so  treten  diese  Bedingungen  doch  jeden- 
falls erst  im  Denken  und  durch  das  Denken  hervor.  Sie  sind 
also    allerdings   nicht   durch   das  Denken   erzeugt   —  wenigstens 


1)  Die  notwendige  Bedingung  ist  die  Möglichkeitsbedingung  ,  d.i.  die 
Vorausetzung,  unter  der  eine  gewisse  Folge  überhaupt  erst  eintreten  kann.  „Wenn 
A  nicht  ist,  ist  auch  B  nicht".  Die  hinreichende  Bedingung  ist  die  Voraus- 
setzung dafür,  daß  eine  gewisse  Folge  stets  eintritt.  „Wenn  A  ist,  muß  auch 
B  sein." 

Ist  A  nur  die  notwendige  Bedingung  von  B,  so  ist  B  mit  A  noch  nicht 
notwendig  gesetzt.  Ist  A  nur  die  hinreichende  Bedingung  von  B,  so  ist  A 
mit  B  noch  nicht  notwendig  gesetzt.  Ist  A  die  notwendige  und  hinreichende 
Bedingung  von  B,  so  sind  A  und  B  notwendig  zugleich  miteinander  gesetzt.  Das 
Verhältnis  von  A  und  B  ist  dann  umkehrbar  eindeutig  (in  der  Sprache  der  Mathe- 
matik :  ein-eindeutig) :  Wenn  A,  dann  B ;  und  wenn  B,  dann  A. 

So  ist  die  Stetigkeit  einer  Kurve  an  der  Stelle  x  zwar  die  notwendige, 
aber  keineswegs  die  hinreichende  Bedingung  ihrer  Differenzierbarkeit.  Hierzu 
ist  bekanntlich  erforderlich,  daß  nicht  nur  die  Kurve,  sondern  auch  ihre  Tan- 
gente an  der  betreifenden  Stelle  stetig  ist. 


Zur  Analysis  des  Relativitätsbegriffs.  377 

nicht  in  einer  gewissen,  uns  hier  interessierenden  Dimension  — ; 
aber  sie  sind  schlechterdings  erst  im  Denken  präsent  und  setzen 
es  in  diesem  Sinne  voraus.  Ohne  Denken  keine  Denkvoraus- 
setzungen, folglich  auch  keine  Wahrheit  im  Sinne  des  Wahrseins, 
d.  i.,  wie  wir  hier  einmal  sagen  können,  in  Übereinstimmung  mit 
den  Voraussetzungen  alles  sinnvollen  Denkens. 

L  o  t  z  e  will  offenbar  zwei  Dinge  zugleich  zum  Ausdruck 
bringen.  Einmal,  daß  wir  uns  dessen  bewußt  sind,  die  Wahrheit 
einer  Wahrheit  nicht  erst  dadurch  hervorzubringen,  daß  wir  jene 
Wahrheit  denken.  Zum  andern,  daß  wir  die  Wahrheit  einer  Wahr- 
heit nicht  willkürlich  zu  erzeugen  vermögen.  Diese  beiden,  an 
sich  durchaus  sinnvollen  Tendenzen  sind  aber  höchst  unglücklich 
in  einen  Satz  zusammengedrängt,  der  in  seiner  Lotzeschen  For- 
mulierung keinesfalls  aufrecht  erhalten  werden  kann.  Was  heißt 
es  denn,  daß  wir  uns  bewußt  sind,  in  dem  Augenblick,  in  welchem 
wir  den  Inhalt  einer  Wahrheit  denken,  ihn  nicht  erst  geschaffen, 
sondern  nur  ihn  anerkannt  zu  haben?  Ihn,  nämlich  den  Inhalt 
einer  Wahrheit,  schaffen  wir  doch  unfraglich  in  dem  Augenblick, 
indem  wir  ihn  denken.  Was  wir  nicht  schaffen,  oder  wenigstens 
nicht  willkürlich  schaffen  können,  ist  die  Wahrheit  des  denkend 
erschaffenen  Urteilsinhaltes  selbst.  Lotze  verwechselt  hier  offenbar 
zwei  Dinge:  den  Urteilsinhalt  in  Identität  mit  der  „Wahrheit",  also 
die  Wahrheit  im  judikativen  Sinne,  und  die  Wahrheit  des  Urteils- 
inhaltes, also  die  Wahrheit  im  prädikativen  Sinne.  Um  sich  kor- 
rekt auszudrücken,  hätte  er  wenigstens  sagen  müssen:  Wir  be- 
trachten die  Wahrheit  eines  Urteilsinhaltes  als  etwas, 
was  wir  nicht  willkürlich  schaffen  können,  sondern 
was  wir  unabhängig  von  aller  Willkür  denkend  er- 
leben, so  oft  wir  einen  solchen  Urteilsinhalt  erzeugen. 

Der  Schatten,  der  auf  diesen  Eingangssatz  fällt,  dehnt  sich 
auf  den  ganzen  Gedankengang  aus.  Noch  ein  zweites  Mal  spricht 
Lotze  von  dem  Inhalt  einer  Wahrheit,  wo  er  die  Wahrheit  eines 
Urteilsinhaltes  meint.  Aber  auch  mit  dieser  Korrektur  hält  sein 
Ausspruch  der  Prüfung  noch  nicht  stand.  Er  lautet  mit  unserer 
Korrektur:  „Auch  als  wir  ihn  (den  Urteilsinhalt  mit  dem  Wahr- 
heitsprädikat) nicht  dachten,  galt  sie  (nämlich  die  Wahrheit  dieses 
Urteilsinhaltes ;  Lotze  sagt  in  Folge  seiner  Verquickung  der  beiden 
Wahrheitsbegriffe:  galt  er,  der  Urteilsinhalt  mit  dem  Wahrheits- 
prädikat) und  wird  gelten,  abgetrennt  von  allem  Seienden,  von 
den  Dingen  sowohl  als  von  uns.     Auch  die  niemals  vorgestellte 


378 


Heinrich  Scholz, 


Wahrheit  gilt  nicht  minder,  als  der  kleine  Teil  von  ihr,  der  in 
unsere  Gedanken  eingeht". 

Diese  Sätze  lassen  sich  nicht  aufrecht  erhalten.  Es  ist  unmög- 
lich, von  einem  Urteilsinhalt  zu  sprechen,  dessen  Wahrheit  auch 
dann  gilt,  wenn  er  von  niemandem  gedacht  wird.  Ein  ungedachter 
Urteilsinhalt  ist  ein  ungedachtes  Gedachtes,  mithin  ein  Ding,  das 
sich  selber  aufhebt.  Was  im  Sinne  des  Wahr s eins  gelten  will, 
muß  unter  allen  Umständen  zuvor  gedacht  sein ;  es  würde  sonst 
nicht  wahr  sein  können.  Diese  schlichte,  fast  triviale  Bemerkung 
muß  hier  noch  einmal  hervorgehoben  werden,  weil  sie  eine  Grund- 
voraussetzung ausspricht,  die  immer  wieder  übersehen  worden  ist. 

Also  wäre  der  Pythagoreische  Lehrsatz  erst  dadurch  wahr 
geworden,  daß  Pythagoras  oder  vielmehr  der  Unbekannte,  dessen 
Name  in  der  späteren  Überlieferung  durch  den  des  Pythagoras 
verdrängt  worden  ist,  ihn  aufgestellt  und  bewiesen  hat?  Wir  sind 
auf  diese  Gegenfrage  gefaßt.  Es  ist  nicht  schwer,  sie  von  unseren 
Voraussetzungen  aus  zu  beantworten.  Selbstverständlich  kann  die 
Wahrheit  des  pythagoreischen  Lehrsatzes  nicht  von  der  Person 
des  Pythagoras  oder  des  eigentlichen  Entdeckers,  den  wir  nicht 
kennen,  abhängen.  Sie  hängt  vielmehr  von  der  sinnvollen  Anwen- 
dung gewisser  Axiome  ab,  die  im  Euklid  zu  finden  sind.  Aber 
er  wäre  auch  heute  noch  nicht  wahr,  wenn  er  nicht  irgendwann 
einmal  aufgestellt  und  bewiesen  worden  wäre.  Wer  das  gemacht 
hat,  ist  freilich  gleichgültig,  und  wir  haben  absichtlich  das  Bei- 
spiel des  Pythagoras  gewählt,  weil  wir  hier  den  Entdecker  tat- 
sächlich nicht  kennen.  Aber  daß  diese  Entdeckung  einmal  ge- 
schehen ist,  ist  für  die  Gültigkeit  des  Pythagoras  allerdings  von 
entscheidendem  Belang.  Denn  wenn  er  nicht  als  Urteilsinhalt 
existierte,  könnte  er  schlechterdings  auch  nicht  gelten.  Wir 
greifen,  um  uns  klar  auszudrücken,  auf  die  Unterscheidung  von 
notwendigen  und  hinreichenden  Gültigkeitsbedingungen  zurück. 
Dann  werden  wir  Folgendes  sagen  können:  so  wenig  die  Aufstel- 
lung und  der  Beweis  dieses  Satzes  durch  irgend  einen  Geometer 
des  fünften  Jahrhunderts  die  hinreichende  Bedingung  seiner 
Gültigkeit  ist,  so  sehr  ist  sie  die  notwendige  Bedingung  der- 
selben. Und  es  hat  einen  guten  Sinn  zu  sagen,  daß  der  Pytha- 
goras erst  durch  seine  Entdeckung  wahr  geworden  ist,  insofern 
er  vor  dieser  nicht  existierte,  also  gar  nicht  wahr  sein  konnte. 
Wer  anders  urteilt,  muß  zu  Wahrheiten  greifen,  die  in  erhabener 
Unabhängigkeit  von  der  Tatsache  ihres  Gedachtwerdens  in  irgend 


Zur  Analysis  des  Relativitätsbegriffs.  379 

einem  intelligiblen  Raum  existieren  und  irgend  wann  durch  das 
menschliche  Denken  ergriffen  werden  oder  auch  nicht.  Dies  führt 
aber,  bei  aller  Sublimierung,  die  wir  als  selbstverständlich  voraus- 
setzen, schließlich  auf  einen  mythischen  Wahrheitsbegriff,  und 
ebenso  auf  eine  Theorie  der  Erkenntnisgewinnung,  die  nur  als 
haptisch  bezeichnet  werden  kann1). 

Es  ist  also  jedenfalls  ausgeschlossen,  mit  Lotze  zu  sagen,  auch 
die  niemals  vorgestellte  Wahrheit  gelte  nicht  minder,  als  der 
kleine  Teil  von  ihr,  der  in  unsere  Gedanken  eingeht.  Wahrheiten 
werden  überhaupt  nicht  vorgestellt,  sondern  gedacht;  aber  das  ist 
hier  eine  Nebenbemerkung,  bei  der  wir  uns  nicht  aufhalten  wollen. 
Unser  Widerspruch  richtet  sich  vielmehr  gegen  die  ungedachten 
Wahrheiten,  die  dennoch  gelten  sollen;  und  zwar,  wie  es  zuvor 
heißt,  abgetrennt  von  allem  Seienden,  von  den  Dingen  sowohl  als 
von  uns.  Wir  behaupten  demgegenüber,  und  glauben  durch  unsere 
Analyse  gezeigt  zu  haben,  daß  diesen  Wahrheiten  die  beiden  not- 
wendigen Bedingungen  des  Geltens  fehlen:  das  Gedachtwerden 
auf  der  einen  und  das  Vernommenwerden  auf  der  anderen  Seite. 

Der  probehaltige  Kern  der  Lotzeschen  Ansicht  ist  offenbar 
der,  daß  die  Geltung  einer  Wahrheit  nicht  davon  abhängt,  von 
wem  sie  gedacht  und  vernommen  wird.  Aber  es  ist  gänzlich  un- 
zulässig, die  Geltung  einer  Wahrheit  davon  unabhängig  zu  machen, 
daß  sie  gedacht  und  vernommen  wird.  Man  schadet  einer  großen 
Sache,  wenn  man  sie  in  edlem  Kampf  gegen  Ehrfurchtslosigkeit 
und  Willkür  der  Beziehungen  beraubt,  die  ihr  als  notwendige 
Existenzbedingungen  zukommen. 

Der  Wahrheits-   und   ebenso   der  Geltungsbegriff  sind   echte 


1)  Die  Renaissance  des  realistischen  Wahrheitsbegriffs  ist  offenbar  durch 
das  Vordringen  des  erkenntnistheoretischen  Idealismus  begünstigt  worden.  Mit 
dem  bekannten  Bewußtseinsargument  hat  man  sich  frei  gemacht  von  den  Dingen 
an  sich  —  als  ob  das  Bewußtsein  schon  die  hinreichende  Bedingung  für  die 
Existenz  einer  Sache  und  nicht  vielmehr  nur  die  notwendige  Bedingung  für  das 
Wissen  um  ihre  Existenz,  und  als  ob  der  Wirkungszusammenhang  der  Dinge, 
der  allen  unsern  Erfahrungen  vorausgeht,  nichts  wäre,  was  den  Namen  der  Exi- 
stenz verdient.  Nachdem  man  so  mit  den  Dingen  an  sich  die  natürliche  Bin- 
dung des  Bewußtseins  verloren  hat,  sucht  man  sie  in  den  Wahrheiten  an  sich 
wiederzugewinnen.  Das  heißt:  man  gibt  den  Wahrheiten,  was  den  Dingen  zu- 
kommt, und  nimmt  den  Dingen,  was  man  nach  unserer  Auffassung  vielmehr  den 
Wahrheiten  absprechen  muß:  das  Sein  an  sich. 

Aus  diesen  Andeutungen  geht  hervor,  daß  der  im  Text  vertretene  ideali- 
stische Wahrheitsbegriff  sich  sehr  wohl  mit   einer  realistischen  Erkenntnistheorie 


380  Heinrich  Scholz, 

Relationsbegriffe *).  Sie  deuten  auf  einen  Relativitätsbegriff  hin, 
der  völlig  sui  generis  ist,  und  mit  dem  Subjektivismus,  mit  dem 
er  immer  wieder  verwechselt  wird,  nicht  das  Geringste  gemein 
hat.  Wir  wollen  ihn  den  erkenntnistheoretischen  Relati- 
vitätsbegriff nennen.  In  diesem  erkenntnistheoretischen  Sinne  ist 
Relativität  gleichbedeutend  mit  der  Abhängigkeit  vom  Da- 
sein eines  urteilsfähigen  und  vernehmenden  Subjektes. 
Wer  diesen  Relativcharakter  der  Wahrheit  und  Geltung  dadurch 
sicherstellen  will,  daß  er  es  vorzieht,  von  ihrem  Relationscha- 
rakter zu  sprechen,  handelt  durchaus  in  unserem  Sinne.  Vielleicht 
gewöhnt  man  sich  auch  daran,  im  adjektivischen  Sprachgebrauch 
zwischen  relativ  und  relationell  (nach  Analogie  rationell)  zu  unter- 
scheiden. Den  Begriffen  der  Wahrheit  und  Geltung  würde  als- 
dann kein  relativer,  sondern  ein  relationaler  Charakter  zukommen ; 
aber  diese  gewiß  nicht  zu  unterschätzende  Differenzierung  darf 
keinesfalls  dazu  verführen,  diesen  Begriffen  das  Lotzesche  Merkmal 
der  Relationslosigkeit  zu  erteilen. 


Der  erkenntnistheoretische  Relativitätsbegriff  wird  nicht  nur 
im  vorphilosophischen  Sprachgebrauch,  sondern  auch  in  der  philo- 
sophischen Analysis  fort  und  fort  mit  einem  anderen  verwechselt, 

verbinden  kann.  Realistisch  nenne  ich  jede  Erkenntnislehre,  die  die  Autonomie 
oder  Bewußtseinsunabhängigkeit  der  Erfahrungsinhalte  gegenüber  der  intellek- 
tuellen, durch  das  Denken  geschaffenen  Erfahrungs  f  o  r  m  betont.  Ein  bewußtseins- 
unabhängiger Erfahrungs-,  also  Bewußtseinsinhalt  ist  kein  Widerspruch  in  sich 
selbst,  sobald  es  sich  um  dinglicheinhalte  handelt,  die  sich  in  der  Tatsache  ihres 
Gedacht-  oder  Erlebtwerdens  offenbar  nicht  erschöpfen. 

1)  Der  scharfsinnige  B  o  I  z  a  n  o  war  einsichtig  genug ,  um  seinen  „Wahr- 
heiten an  sich"  diesen  notwendigen  Relationscharakter  wenigstens  nachträglich 
dadurch  zu  verschaffen,  daß  er  sie  dem  göttlichen  Geiste  als  Erkenntnisinhalte 
zuordnete  (Wissenschaftslehre  §  19).  Die  metaphysische  Logik  Bolzanos  ist  das 
einzige  konsequente,  folglich  annehmbare  System  einer  transzendentalen  Wahrheits- 
lehre. Sie  hat  vor  der  Lotzeschen  den  Vorzug  der  Widerspruchslosigkeit ,  vor 
der  späteren  Geltungslogik  auch  noch  den  der  Furchtlosigkeit  vor  dem  Meta- 
physischen voraus.  Alle  eigentlichen  „Wahrheiten  an  sich"  haben 
den  intellectus  divinus  zum  denknotwendigen  Korrelat.  Wer  mit 
Bolzano  von  dieser  Voraussetzung  ausgeht,  schafft  eine  neue  Konstellation,  über 
die  nur  auf  Grund  einer  fundierten  Stellungnahme  zur  Metaphysik  geurteilt  werden 
kann.  Die  Kritik  des  Textes  richtet  sich  lediglich  gegen  die  metaphysisch  ent- 
wurzelten „Wahrheiten  an  sich",  die  in  den  Gedankengängen  der  neueren  Geltungs- 
logik auftreten. 


Zur  Analysis  des  Relativitätsbegriffs.  381 

der  scharf  von  ihm  unterschieden  werden  muß.  Wir  können  ihn 
den  perspektivistischen  Relativitätsbegriff  nennen.  Er  ver- 
dient diesen  Namen  insofern,  als  er  in  seiner  allgemeinsten  Gestalt 
am  besten  durch  den  philosophisch  erweiterten  Begriff  der  Per- 
spektive definiert  wird.  Gleich  dem  erkenntnistheoretischen  Rela- 
tivitätsbegriff hat  er  das  Dasein  eines  auffassenden  und  urteils- 
fähigen Subjektes  zur  Voraussetzung.  Er  enthält  also  den  er- 
kenntnistheoretischen Relativitätsbegriff  in  sich  und  kann  ohne 
diesen  gar  nicht  gedacht  werden.  Aber  er  greift  in  seiner  eigen- 
tümlichen Bedeutung  höchst  charakteristisch  über  diesen  hinaus. 
Denn  die  Abhängigkeit,  die  er  zum  Ausdruck  bringt,  ist  nicht 
nur  die  Abhängigkeit  vom  Dasein  eines  auffassenden  und  urteils- 
fähigen Subjektes,  sondern  die  Abhängigkeit  von  seinem  Standort 
oder  Gesichtskreis;  und  zwar  einem  Standort  oder  Gesichts- 
kreis, der  dadurch  näher  gekennzeichnet  ist,  daß  er  als  ein  viel- 
fältig wechselnder  gedacht  wird  oder  wenigstens  gedacht 
werden  kann. 

Die  Accente,  die  auf  diesen  Bestimmungen  liegen,  sind  für 
den  perspektivistischen  Relativitätsbegriff  so  wesentlich,  daß  das 
Band,  das  ihn  mit  dem  erkenntnistheoretischen  Relativitätsbegriff 
verbindet,  im  Bewußtsein  des  urteilenden  Subjektes  ganz  und  gar 
zurücktreten  kann.  Es  ist  hier  ähnlich,  wie  mit  dem  Begriff  des 
Menschen  in  seiner  anthropologischen  und  seiner  geschichtswissen- 
schaftlichen Bedeutung.  Unstreitig  setzt  der  Historiker  den  an- 
thropologischen Begriff  des  Menschen  in  seiner  Analysis  stillschwei- 
gend voraus.  Aber  das,  was  ihn  am  Menschen  eigentlich  inter- 
essiert, ist  nicht  das  anthropologische  Fundament  oder  Substrat, 
sondern  der  Inbegriff  der  Energien,  aus  denen  sich  geschichtliches 
Leben  erzeugt.  Dieses  Beispiel  ist  wertvoll;  denn  es  liefert  eine 
Analogie,  die  uns  einen  tieferen  Einblick  in  das  Verhältnis  der 
beiden  Relativitätsbegriffe  ermöglicht.  So  gewiß  der  zweite  den 
ersten  voraussetzt,  so  wenig  wird  seine  Eigenart  durch  diesen 
Zusammenhang  beeinträchtigt.  Was  auf  der  einen  Seite  als  Stei- 
gerung erscheint,  die  Ausdehnung  der  Abhängigkeitsbeziehung  auf 
Standort  und  Gesichtskreis,  führt  auf  der  anderen  zu  einer  Distanz, 
die  den  perspektivistischen  Relativitätsbegriff  dem  erkenntnistheo- 
retischen gegenüber  zu  voller  Selbständigkeit  erhebt. 

Die  Perspektivität,  von  der  wir  hier  sprechen,  ist  ihrer  Her- 
kunft nach  ein  optischer  Begriff.     Alle   optischen  Urteile,    also 


382  Heinrich  Scholz, 

alle  Aussagen  über  groß  und  klein,  hoch  und  niedrig,  nah  und 
fern  u.  s.  f.,  sind  relativ,  weil  sie  perspektivisch  bedingt  sind. 

Es  wird  erlaubt  sein,  diesem  räumlichen  PerspektivitätsbegrifF 
den  zeitlichen  zur  Seite  zu  stellen.  Alle  subjektiven  Aussagen 
über  die  „Dauer"  eines  Zeitraums,  d.  i.  über  seine  „Länge"  oder 
„Kürze"  sind  gleichfalls  relativ  —  diesmal,  insofern  sie  durch  die 
jeweilige  Bewußtseinslage  des  urteilenden  Subjektes  bedingt  sind. 

Man  kann  diesen  zeitlichen  Perspektivitätsbegriff  erweitern. 
Jedes  Zeitalter  hat  seinen  eigentümlichen  Gesichtskreis,  der  es  in 
seinem  geistigen  und  sittlichen  Gehalt  ebenso  bestimmt  wie  be- 
grenzt. Es  war  der  Irrtum  des  Rationalismus,  zu  glauben,  daß 
im  Grunde  alles  zu  allen  Zeiten  möglich  sei.  Alle  Geschichtsfor- 
schung im  ernst  zu  nehmenden  Sinne  ruht  auf  der  Voraussetzung 
auf,  daß  es  sich  nicht  so  verhält;  und  was  den  Rationalismus 
betrifft,  so  kann  man  sagen,  er  habe  durch  sein  relativitätsvernei- 
nendes Grunddogma  seine  eigene  Relativität  nur  um  so  deutlicher 
ausgesprochen. 

Wir  übergehen  die  Relativität  der  Empfindungen  und  der 
ihnen  zugeordneten  Wahrnehmungsurteile,  weil  sie  sich  von  selber 
aufdrängt,  und  heben  in  dieser  allgemeinen  Charakteristik  nur 
noch  eine  Komponente  hervor,  die  wegen  ihrer  prinzipiellen  Be- 
deutung hier  nicht  unterdrückt  werden  darf.  Der  Perspektivitäts- 
begriff ist  nicht  nur  einer  räumlichen  und  zeitlichen,  sondern  auch 
einer  logischen  Ausdeutung  fähig. 

Wir  exemplifizieren  am  Wirklichkeitsbegriff.  Was  wirklich 
ist  oder  so  genannt  zu  werden  verdient,  hängt  in  jedem  charak- 
teristischen Falle  vom  Standort  des  urteilenden  Subjektes  ab. 
Wie  verschieden  ist  der  Wirklichkeitsbegriff  des  Psychologen  von 
dem  des  Physikers!  Für  den  Psychologen  ist  alles  wirklich,  was 
subjektiv  erlebt  wird;  für  den  Physiker  nur  das,  was  sich  messen 
läßt.  Was  den  Metaphysiker  seit  Plato  vom  Positivisten  unter- 
scheidet, ist  sein  eigentümliches  Wirklichkeitsbewußtsein.  Derselbe 
Unterschied  trennt  das  religiöse  Subjekt  vom  Metaphysiker,  we- 
nigstens in  allen  charakteristischen  Fällen,  wo  beide  in  der  Rein- 
heit ihrer  Eigenart  so  hervortreten,  daß  eine  Differenzierung  nicht 
nur  möglich,  sondern  notwendig  wird. 

Wenn  man  auch  nur  die  vier  Wirklichkeitsbegriffe  betrachtet, 
die  wir  hier  angedeutet  haben,  so  wird  man  die  ernstesten  Be- 
denken tragen,  sie  auf  einen  gemeinsamen  Nenner  zu  bringen,  der 
mehr  als    die   Gegebenheitskomponente    enthält;    denn    daß   diese 


Zur  Analysis  des  Relativitätsbegriffs.  383 

und  nicht  die  widerspruchslose  Einfügbarkeit  in  einen  bewährten 
Urteilszusammenhang  das  Gj-rundmerkmal  alles  "Wirklichen  ist,  ist 
deshalb  gewiß,  weil  die  mathematischen  Urteile,  die  diesem  Ein- 
ordnungsideal auf  das  vollkommenste  genügen,  zweifellos  keine 
Wirklichkeitsurteile  sind. 

Natürlich  ist  e£  ein  leichtes  Kunststück,  die  unbequeme  Man- 
nigfaltigkeit dieser  Wirklichkeitsbegriffe  dadurch  aus  der  Welt  zu 
schaffen,  daß  man  die  übrigen  auf  Kosten  eines  einzigen,  etwa  des 
physikalischen,  unterdrückt.  Aber  Philosophie  ist  das  nicht.  Die 
Aufgabe  der  Philosophie  ist  eine  ganz  andere.  Fragt  man  nämlich, 
woher  jene  Mannigfaltigkeit  stammt,  so  gibt  es  nur  Eine  hinrei- 
chende Antwort.  Sie  stammt  aus  der  Mannigfaltigkeit  der  Ein- 
stellungen, mit  denen  wir  dem  Gregebenen  gegenübertreten  können. 
Das  Integral  dieser  Einstellungen  liefert  uns  erst  den  vollen 
Begriff  der  menschlichen  Entelechie.  Der  Philosoph  hat  das 
stärkste  Interesse  daran,  diesem  Begriff  nicht  auszuweichen.  Er 
ist  ein  Objekt,  das  ihn  mehr  als  ein  anderes  verpflichtet,  und  an 
dessen  Klärung  er  mit  allen  Kräften  zu  arbeiten  hat.  Es  gibt 
hier  nur  einen  einzigen  Weg.  Dieser  Weg  ist  der  immer  wieder- 
holte Versuch  einer  Schichtung  und  Rangordnung  dieser  konstitu- 
tiven Gesichtspunkte.  Durchführbar  aber  ist  eine  solche  Rang- 
ordnung nur  dann,  wenn  man  den  Mut  hat,  sich  einzugestehen, 
daß  jeder  zur  Geltung  zu  bringende  Gesichtspunkt,  an  sich  be^ 
trachtet,  relativ  ist,  und  daß  ein  absoluter  Charakter  höchstens 
dem  Ganzen  zukommen  kann. 

Wer  über  diese  Dinge  nachdenkt,  stößt  alsbald  auf  eine  wei- 
tere Frage,  die  ihn  über  die  Kategorien  des  Standortes  und  Ge- 
sichtspunktes hinausführt.  Es  fragt  sich:  woher  stammen  die 
Einstellungen,  die  uns  zur  Bildung  des  perspektivistischen  Rela- 
tivitätsbegriffs genötigt  haben?  Die  Antwort  kann  sehr  ver- 
schieden ausfallen.  Wir  müssen  uns  hier  damit  begnügen,  zwei 
Antworten  zu  diskutieren,  die  für  die  innere  Gliederung  des  per- 
spektivistischen Relativitätsbegriffs  von  prinzipieller  Wichtigkeit 
sind. 

Die  Wahl  des  Standpunktes  und  das  Ausmaß  des  Gesichts- 
kreises kann  von  der  Lebensverfassung  abhängen.  Sie  kann 
abhängen  von  dem  Inbegriff  der  Bedingungen,  unter  denen  ein 
Menschenleben  sich  abspielt,  und  mit  der  Basis  dieses  Lebens  iden- 
tisch sein.    In  diesem  prägnanten  Falle  vertieft  sich  der  perspek- 


384  Heinrich  Scholz, 

tivistische  Relativitätsbegriff  zum  konstitutionellen.  Der 
konstitutionelle  Relativitätsbegriff  bringt  also  die  Abhängigkeit 
von  der  Lebensverfassung  und  den  Lebensbedingungen 
zum  Ausdruck.  Wir  philosophieren  hier  nicht  über  das  Verhältnis 
von  Lebensverfassung  und  Lebensbedingung.  Wir  setzen  lediglich 
voraus,  daß  die  persönliche  Lebens  Verfassung  mehr  ist,  als  das 
Resultat  der  objektiven  Lebensbedingungen,  und  daß  sie  selbst 
eine  Lebensbedingung  erster  Ordnung  ist. 

Die  ungeheure  Bedeutung  dieses  ontologischen  Faktors  wird 
niemand  übersehen  können,  der  ihn  sich  einmal  zum  Bewußtsein 
gebracht  hat.  Die  ganze  Welt  der  Werturteile  rückt  ihn  uns 
handgreiflich  nahe.  Sie  ist  ohne  diesen  Faktor  überhaupt  nicht 
zu  begreifen;  und  es  ist  um  so  auffallender,  daß  der  ernste  Ver- 
such gemacht  werden  konnte,  sie  nicht  nur  von  dieser  Kompo- 
nente, sondern  von  allen  Relationen  zu  befreien.  Der  Wert 
eines  Wertes  und  dieser  selbst  soll  unabhängig  davon  sein,  ob  er 
erlebt  und  anerkannt  wird  oder  nicht.  Wir  erwidern:  ein  uner- 
lebter  Wert  ist  ebenso  undenkbar,  wie  eine  ungedachte  Wahrheit 
und  eine  unvernommene  Norm.  Natürlich  sind  alle  echten  Werte 
unabhängig  davon,  ob  sie  von  irgend  einem  zufälligen  Subjekt 
als  solche  erlebt  werden  oder  nicht.  Der  Wert  einer  Raffaelschen 
Madonna,  einer  Beethovenschen  Symphonie,  eines  Goethischen  Ge- 
dichtes wird  nie  dadurch  in  Frage  gestellt  werden,  daß  ein  Frie- 
sischer Bauer  oder  ein  Galizischer  Handelsmann  diesen  Wert  nicht 
erlebt  —  auch  dann  nicht,  wenn  man  ihn  darauf  aufmerksam 
macht.  Aber  was  man  sich  unter  einem  Wert  denken  soll,  der 
auch  dann  nicht  aufhört,  als  Wert  zu  existieren,  wenn  er  von 
niemandem  erlebt  und  bejaht  wird,  ist  noch  niemals  gezeigt  worden 
und  wird  vermutlich  auch  nicht  gezeigt  werden,  weil  es  nicht  ge- 
zeigt werden  kann.  Goethe,  der  es  wissen  konnte,  hat  einmal 
von  der  Kunst  gesagt:  sie  verschwinde,  wenn  der  Kunstsinn  er- 
lischt. Man  wird  von  der  Religion,  von  der  Metaphysik,  vom 
Recht,  ja  von  der  Moral  dasselbe  sagen  dürfen.  Alle  die  unge- 
heuren Werte,  die  in  diesen  Bereichen  investiert  sind,  verschwinden 
mit  der  Menschheit,  die  sie  erlebt.  Sie  erhalten  sich  nur  durch 
die  Charaktere,  in  denen  sie  als  gefühlte  Werte  lebendig  sind  und 
denen  aus  diesem  Grunderlebnis  die  Kraft  erwächst,  sich  mit  der 
Energie  des  Selbsterhaltungstriebes,  ja  mit  Gefährdung  und  Hin- 
gabe des  eigenen  Lebens,  für  ihre  Erhaltung  einzusetzen. 

Noch   deutlicher   wird   der  Relativitätscharakter   aller  echten 


Zur  Analysis  des  Relativitätsbegriffs.  385 

Werturteile,  wenn  wir  von  den  Urphänomenen  zum  einzelnen 
übergehen.  Ein  Beispiel  aus  der  Geschichte  der  Kunst  mag  ge- 
nügen. Die  Zeitgenossen  haben  Bernini  als  einen  zweiten 
Michelangelo  gepriesen.  Winckelmann  hat  ihn  einen  Esel  ge- 
nannt und  durchgesetzt,  daß  ein  ganzes  Jahrhundert  seiner  Barock- 
kunst den  Rücken  kehrte.  Philipp  Hackert,  der  Landschafts- 
maler, ist  heute  nur  noch  dem  Kunsthistoriker  bekannt.  Goethe 
hat  ihn  für  einen  Meister  gehalten,  der  es  verdiente,  daß  kein 
geringerer  als    er  selbst  ihm  ein  biographisches  Denkmal  stiftete. 

Was  steht  hinter  solchen  Werturteilen,  und  wie  erklärt  sich 
überhaupt  das  Phänomen  ihres  Wandels  ?  Hier  kann  nur  der  kon- 
stitutionelle Faktor  in  Frage  kommen,  der  auf  die  allgemeinen 
Lebensbedingungen  und  auf  die  individuelle  Lebensverfassung  hin- 
deutet. Das  klassizistische  Werturteil,  das  Winckelmann  und 
Goethe  geprägt  haben,  ist  auch  deshalb  so  wichtig  für  uns,  weil 
man  daran  erkennen  kann,  wie  viel  in  diesem  Urteilsbereich  dar- 
auf ankommt,  von  wem  eine  solche  Wertung  ausgeht.  Die  so- 
kratische  Wertung  der  sittlichen  Ideen  würde  schwerlich  auf 
Plato  den  Eindruck  gemacht  haben,  der  sich  in  seiner  Ideen- 
lehre unvergleichlich  objektiviert  hat,  wenn  Sokrates  nicht  der 
Mensch  gewesen  wäre,  an  dessen  Wertungen  das  ganze  Gewicht 
eines  geborenen  großen  Menschen  hing. 

Für  die  Philosophie  ist  das  Beispiel  Fi  cht  es  beweisend. 
Das  Bekenntnis  zu  einer  bestimmten  Metaphysik,  ja  zur  Meta- 
physik überhaupt,  wird  von  der  Lebensverfassung  des  urteilenden 
Subjektes  niemals  losgelöst  werden  können.  Es  versteht  sich, 
daß  jeder  die  Pflicht  hat,  seine  Stellung  so  scharf  zu  begründen, 
wie  er  kann,  und  keine  Anstrengung  und  Mühe  des  Denkens  scheuen 
darf,  die  ihm  durch  die  Tatsachen  aufgezwungen  wird.  Aber 
selbst  der  Pflichtbegriff  ist  ein  relativer  Begriff,  und  es  ist  eines 
der  schönsten  Worte,  die  Nietzsche  geprägt  hat,  daß  man  sich 
wohl  hüten  solle,  seine  Pflichten  zu  jedermanns  Pflichten  zu 
machen. 

Es  ist  also  nicht  nur  die  Werturteilsbildung,  sondern  die 
Urteilsbildung  überhaupt,  die  in  gewissen  Dimensionen  durch  den 
konstitutionellen  Faktor  unwidersprechlich  mitbestimmt  wird. 
Wer  die  Philosophie  mit  den  exakten  Wissenschaften  unbefangen 
vergleicht,  wird  nicht  leugnen  können,  daß  sie  sich  in  diesen  Di- 
mensionen befindet.  Und  wenn  man  erweiternd  sagen  kann,  daß 
selbst  jede   exakte  Wissenschaft  in   ihrer  konkreten  Gestalt   die 


386  Heinrich  Scholz, 

Wissenschaft  ihrer  Zeit  ist,  also  abhängig  von  dem  erreichten  Er- 
kenntnisstande, den  leitenden  Erkenntnis  zielen  nnd  zur  Verfügung 
stehenden  Erkenntnismitteln,  so  wird  man  der  Philosophie  erst 
recht  eine  solche  temporäre  Komponente  zuschreiben  müssen. 
Jede  Philosophie  ist  die  Philosophie  ihrer  Zeit,  wie  Hegel  zuerst 
mit  voller  Klarheit  gesehen  hat.  Worauf  es  ankommt,  ist  dies, 
daß  sie  nicht  nur  die  Philosophie  ihrer  Zeit  sei.  Sofern  diese 
Möglichkeit  besteht  und  durch  die  Geschichte  beglaubigt  ist,  lohnt 
es  sich,  zu  philosophieren  und  allen  Relativitäten  zum  Trotz  die 
Kraft  eines  Lebens  für  sie  zu  opfern. 

Aber  die  Relativitäten  als  solche  bleiben;  und  sie  sind  ernst 
und  wichtig  genug,  um  immer  wieder  bedacht  zu  werden.  Daß  sie 
uns  nicht  zermürben  müssen,  hängt  mit  Folgendem  zusammen.  Die 
Lebens  Verfassung  und  die  Lebensbedingungen,  die  wir  einsetzen 
müssen,  um  die  Situation  zu  verstehen,  sind  etwas,  was  niemand 
sich  selber  gibt.  Sie  sind  letzte  Determinanten,  die  man  entweder 
resignierend  als  Schicksal  oder  ehrfürchtig  als  Setzung  eines  als 
sinnvoll  empfundenen  höchsten  Waltens  hinzunehmen  hat.  Be- 
trachtet man  sie  als  Schicksal,  so  sind  sie  Schranken,  die  man  so 
wenig,  wie  seinen  Schatten  überspringen  kann.  Noch  niemand  hat 
daran  gedacht,  das  Wandern  deshalb  aufzugeben,  weil  er  nicht 
über  seinen  Schatten  hinwegkommt.  Man  wird  also  auch  von 
keinem  erwarten  können,  daß  er  auf  das  Philosophieren  verzichtet, 
weil  er  bei  klarer  Selbstbesinnung  auf  Grenzen  stößt,  die  mit  der 
Tatsache  des  Subjektseins  zusammenfallen,  folglich  bei  jedem  etwas 
anders  verlaufen  und  oft  genug  weit  von  einander  abweichen. 
Empfindet  man  jene  Determinanten  als  Setzung,  so  können  sie 
nicht  nur  als  Schranken,  sondern  als  Kraft  zum  Bewußtsein  kommen, 
insofern  sie  als  die  Elemente  empfunden  werden,  aus  denen  die 
Person  eines  Menschen  sich  aufbaut.  Man  erkennt  diese  Auf- 
fassung im  Allgemeinen  daran,  daß  sie  das  Gefühl  der  Verant- 
wortung steigert  und  die  intellektuellen  Kräfte,  deren  Deter- 
miniertheit empfunden  wird,  zu  irgend  einer  Höchstleistung  spannt. 

Diese  Sätze  waren  erforderlich,  um  zu  zeigen,  wie  weit  der 
Gedankengang,  den  wir  hier  durchgeführt  haben,  von  jenen  Folgen 
entfernt  ist,  die  man  ihm  gern  als  Konsequenzen  aufbürdet.  Ab- 
hängigkeit von  der  Konstitution  ist  nicht  Abhängigkeit  von  Will- 
kür und  Augenblicks  Stimmung,  sondern  vielmehr  ihr  Gegenstück. 
Es  ist   eine  ganz  andere  und  neue  Form  des  perspektivischen  Re- 


Zur  Analysis  des  Relativitätsbegriffs.  387 

lativitätsbegriffs,  die  diese  Abhängigkeit  von  der  Willkür  des 
Subjekts  hervorhebt.  Wir  nennen  ihn,  mit  Rücksicht  auf  dieses 
Willkürmoment,  den  arbiträren  Relativitätsbegriff.  Der  Hin- 
weis auf  Pr otagoras  und  die  Pyrrhoneische  Skepsis  er- 
spart uns  seine  Analysis.  Es  kommt  uns  lediglich  darauf  an,  den 
Artunterschied  hervorzuheben,  der  innerhalb  des  gemeinsamen  per- 
spektivistischen  Rahmens  zwischen  diesem  unendlich  oft  diskutierten 
und  dem  viel  zu  wenig  beachteten  konstitutionellen  Relativitäts- 
begriff besteht.  Auf  eine  Kritik  des  arbiträren  Relativitäts- 
begriffs  müssen  wir  an  dieser  Stelle  verzichten,  obschon  es  sich 
lohnen  würde,  zu  zeigen,  wie  sehr  sie  trotz  ihres  ehrwürdigen 
Alters  einer  gründlichen  Neugestaltung  bedarf. 

3. 

Als  Zentralbegriff  der  physikalischen  Relativitätslehre  läßt  sich 
der  Relativitätsbegriff  am  besten  im  Anschluß  anNewton  analy- 
sieren. Denn  Newton  hat  diesen  Begriff  geschaffen,  obschon  er  ihn 
selbst  nur  als  Requisit  in  das  System  der  absolutistischen  Physik 
eingebaut  hat.  In  dem  berühmten  Scholion,  auf  welches  wir  hinzielen, 
geht  Newton  vom  Begriff  der  Bewegung  aus.  Bewegung  ist  die 
Ortsveränderung  eines  Körpers  im  Räume  mit  der  Zeit.  Es  gibt 
nach  Newton  zwei  in  physikalischer  Hinsicht  gänzlich  verschiedene 
Bewegungsformen,  die  absoluten  und  die  relativen  Bewegungen. 
Folglich  muß  es  auch  zwei  entsprechende  Existenzformen  des 
Raumes  und  der  Zeit  geben:  den  absoluten  und  den  relativen 
Raum,  und  ebenso  die  absolute  und  die  relative  Zeit.  Denn  die 
absolute  Bewegung  ist  bei  Newton  definiert  als  die  Ortsverände- 
rung eines  Körpers  im  absoluten  Raum  mit  der  absoluten  Zeit; 
die  Relativbewegung  entsprechend  als  Ortsveränderung  im  relativen 
Raum  mit  der  relativen  Zeit. 

Über  diese  beiden,  für  seine  Bewegungslehre  konstitutiven 
Existenzformen  von  Zeit  und  Raum  drückt  Newton  sich  folgender- 
maßen aus : *) 


1)  Da  die  eingerückte  Übersetzung  zugleich  als  Interpretation  des  Urtextes 
gedacht  ist,  so  setze  ich  diesen  zur  Kontrolle  hierher;  und  zwar  in  der  Ortho- 
graphie und  Interpunktion  der  zweiten  Ausgabe  von  1713  (p.  5  ff).  Ich  bedaure 
es  sehr,  daß  ich  meine  auf  einer  genauen  Analysis  des  Scholions  und  der  Prole- 
gomena  überhaupt  beruhende  Auffassung  des  Newtonschen  Kelativitätsbegriffs 
mit  Rücksicht  auf  den  mir  zur  Verfügung  stehenden  Raum  hier  nicht  näher  be- 
gründen kann. 


388  Heinrich  Scholz, 

Die  absolute,  wahre  und  mathematische  Zeit  ist  die  Zeit  an  sich  —  d.  i. 
die  Zeit,  die  vermöge  ihrer  Natur  ohne  Beziehung  auf  irgend  einen  äußeren 
Vorgang  gleichmäßig  abfließt.    Sie  wird  auch  mit  dem  Namen  Dauer  belegt. 

Die  relative,  scheinbare  und  gewöhnliche  Zeit  ist  die  Zeit,  die  im  ge- 
wöhnlichen Leben  an  die  Stelle  der  wahren  Zeit  tritt  —  die  Zeit,  die  man 
meint,  wenn  man  die  Dauer  eines  Ereignisses  in  einem  Zeitmaß  ausdrückt, 
das  sich  auf  die  Beobachtung  eines  wahrnehmbaren,  von  außen  her  gegebenen 
Bewegungsvorganges  stützt:  wie  Stunde,  Tag,  Monat,  Jahr.  Die  in  einem 
solchen  Zeitmaß  ausgedrückte  Zeit  ist  stets  relativ  —  nicht  nur  dann,  wenn 
das  Zeitmaß  ungleich,  sondern  auch  dann,  wenn  es  genau  ist. 

Der  absolute  Raum  ist  der  Raum,  der  vermöge  seiner  Natur  ohne  Be- 
ziehung auf  irgend  einen  äußeren  Gegenstand  stets  sich  selbst  gleich  und  un- 
beweglich bleibt. 

Der  relative  Raum  ist  der  Raum,  der  im  täglichen  Leben  an  die  Stelle 
des  wahren  Raumes  tritt  —  der  Raum,  den  man  meint,  wenn  man  den  ab- 
soluten Raum  zu  Messungszwecken  in  irgendwelche  beweglichen  Teilgebiete 
zerlegt,  die  mit  Hilfe  der  sinnlichen  Wahrnehmung  durch  ihre  Lage  zu  realen 
Bezugskörpern  bestimmt  werden  können:  wie  die  Teilgebiete  des  irdischen 
und  des  kosmischen  Raumes  durch  ihre  Lage  zur  Erde. 

Absoluter  und  relativer  Raum  sind  nach  Gestalt  und  Größe  miteinander 
identisch;  aber  sie  bleiben  es  nicht  immer  in  numerischer  Hinsicht. 


Tempus  Absolutum,  verum,  et  mathematicum,  in  se  et  natura  sua  absque 
relatione  ad  externum  quodvis,  aequabiliter  fluit,  alioque  nomine  dicitur  Du- 
ratio:  Relativum,  apparens,  et  vulgare  est  sensibilis  et  externa  quaevis  Du- 
rationis  per  motum  mensura  (seu  accurata  seu  inaequabilis)  qua  vulgus  vice 
veri  temporis  utitur;  ut  Hora,  Dies,  Mensis,  Annus. 

Spatium  Absolutum,  natura  sua  absque  relatione  ad  externum   quodvis, 
semper  manet  similare  et  immobile:  Belativum  est  spatii  huius  mensura  seu 
dimensio  quaelibet  mobilis,  quae  a  sensibus  nostris  per  situm  suum  ad  corpora 
definitur,  et  a  vulgo  pro  spatio  immobili  usurpatur :   uti  dimensio  spatii  sub- 
terranei,   aerei  vel  coelestis  definita  per  situm  suum  ad  Terram.    Idem  sunt 
spatium  absolutum  et  telativum,  specie  et  magnitudine ;   sed  non  permanent 
idem  semper  numero. 
Ich  will  es  nicht  unterlassen,   an  dieser  Stelle  ausdrücklich  vor  der   nach- 
lässigen Übersetzung   zu   warnen,  die  A.  v.  Oettingen  in   den   „Abhandlungen 
über  jene  Grundsätze    der  Mechanik,    die   Integrale    der  Differentialgleichungen 
liefern",    1914  in  Ostwalds  Klassikern   der  exakten  Wissenschaften  Nr.  191  ge- 
liefert hat.     So  lehrreich  die  beigesteuerten  Anmerkungen   sind,   so   wenig  darf 
man  den  dargebotenen  deutschen  Text  des  Newtonschen  Scholions  für  authentisch 
halten.    Viel   zuverlässiger  ist   die  schöne  Übersetzung  des  Newtonschen   Haupt- 
werkes von  J.  Ph.  Wolfers  1872,    die  nur  leider  vergriffen  und  auch  antiquarisch 
nicht  mehr  zu  haben  ist.   —   Eine  sorgfältige,   an   einigen  Stellen  über  Wolfers 
hinausführende  Verdeutschung   des  Scholions  findet  sich  auch  in   den  „Vorreden 
und  Einleitungen  zu  den  klassischen  Werken  der  Mechanik",  übersetzt  und  her- 
ausgegeben von  Mitgliedern  der  Philosophischen  Gesellschaft   an   der  Universität 
zu  Wien,  Leipzig  1899. 


Zur  Analysis  des  Relativitätsbegriffs.  389 

Fragt  man  auf  Grund  dieser  Exposition,  was  Newton  unter 
der  absoluten  und  relativen  Zeit,  sowie  unter  dem  absoluten  und 
relativen  Raum  verstanden  habe,  so  wird  man  nach  einem  gründ- 
lichen Studium  des  ganzen  Scholions  Folgendes  antworten  dürfen. 
Die  absolute  Zeit  im  Newtonschen  Sinne  ist  die  in  erhabener  Un- 
abhängigkeit von  allen  realen  Bewegungsvorgängen  existierende 
Zeit  an  sich.  Ebenso  ist  der  absolute  Raum  der  in  gleicher  Un- 
abhängigkeit von  allen  Bezugskörpern,  also  von  aller  Materie, 
existierende  Raum  an  sich.  Relative  Zeiten  im  Newtonschen  Sinne 
sind  die  mit  Hilfe  realer  Bewegungs Vorgänge  gemessenen  Inter- 
valle der  absoluten  Zeit.  Ebenso  sind  relative  Räume  die  mit 
Hilfe  realer  Bezugskörper  abgegrenzten  Teilräume  des  absoluten 
Raumes.  Oder  noch  kürzer:  die  relative  Zeit  ist  die  von 
realen  periodischen  Bewegungsvorgängen  abhängige 
Zeit;  der  relativeRaum  der  zu  realen  Bezugskörpern 
gehörige  Raum1). 

Ein  Bewegungs  Vorgang  ist  demnach  im  Newtonschen  Sinne 
absolut,  wenn  er  ohne  realen  Bezugskörper  vor  sich  geht  und  als 
solcher  erkannt  werden  kann.     Er  ist  relativ,  sofern  er  das  Dasein 


1)  Zur  Rechtfertigung  der  vorstehenden  Interpretation  des  Newtonschen  Ke- 
lativitätsbegriffs führe  ich  noch  folgende  Stelle  an  (Newton,  p.  7): 

Quoniam  spatii  dbsoluti  partes  videri  nequeunt,  et  ab  invicem  per  sensus 
nostros  distingui;  earum  vice  adhibemus  mensuras  sensibiles.  Ex  positionibus 
enim  et  distantiis  rerum  a  corpore  aliquo,  quod  spectamus  ut  immobile,  defi- 
nimus  loca  universa:  deinde  etiam  et  omnes  motus  aestimamus  cum  respectu 
ad  praedicta  loca,  quatenus  corpora  ab  iisdem  transferri  concipimus.  Sic 
vice  locorum  et  motuum  absolutorum  relativis  utimur,  nee  incommode  in  rebus 
humanis;  m  Philosophicis  autem  abstrdhendum  est  a  sensibus.  Fieri  enim 
potest,   ut  nullum  revera  quiescat  corpus,    ad  quod  loca  motusque  referantur. 

In  dieser  Kritik  ist  der  relative  Raum  mit  absoluter  Eindeutigkeit  als  der 
von  realen  Bezugskörpern  durchsetzte  Raum  charakterisiert. 

Dasselbe  gilt  von  der  Zeit.  Auch  die  relativ  absolute  Zeit,  die  die  Astronomie 
mit  Hilfe  der  Zeitgleichung  errechnet,  ist  für  Newton  wegen  ihrer  wenigstens 
indirekten  Abhängigkeit  von  realen  Bewegungsvorgängen  immer  noch  nicht  die 
„wahre",  folglich  auch  nicht  die  absolute,  sondern  nur  die  „wahrere"  (absolutere) 
Zeit. 

Tempus  Absolutum  (zu  übersetzen  mit:  Eine  Art  von  absoluter  Zeit)  a 
relativo  distinguitur  in  Astronomia  per  Aequationem  temporis  vulgi.  Inae- 
quales  enim  sunt  dies  Naturales,  qui  vulgo  tanquam  aequales  pro  mensura 
temporis  habentur.  Hanc  inaequalitatem  corrigunt  Astronomi,  ut  ex  veriore 
tempore  mensurent  mOtus  coelestes  (p.  7). 

Kantstudien.    XXVII.  26 


390  Heinrich  Scholz, 

eines  solchen  voraussetzt  und  sich  nur  unter  dieser  Voraussetzung 
erkennen  läßt. 

Dieser  Newtonsche  Relativitätsbegriff  liefert  uns  einen  ganz 
neuen  Gesichtspunkt,  nämlich  die  Abhängigkeit  vom  Dasein 
realer  Bezugskörper.  Bisher  ist  unsere  Analysis  immer  nur 
auf  Subjekte  gestoßen.  Hier  stößt  sie  zum  ersten  Mal  auf  Ob- 
jekte. Wir  werden  daher  den  Newtonschen  Begriff  als  den  ob- 
jektivistischen Relativitätsbegriff  bezeichnen  dürfen.  "Wie 
wenig  er  trotz  der  erkenntnistechnischen  Komponente  mit  dem 
erkenntnistheoretischen  Relativitätsbegriff  gemein  hat,  kann  fol- 
gende Überlegung  zeigen.  Man  kann  die  Kantische  Raum-  und 
Zeitlehre  als  eine  erkenntnistheoretische  Relativitätslehre  auf- 
fassen. Sie  setzt  an  die  Stelle  der  absoluten  die  empirische,  das 
heißt  aber  die  relative  Realität  von  Raum  und  Zeit.  Allein  was 
bedeutet  hier  relativ?  Es  bedeutet  die  Abhängigkeit  der  raum- 
zeitlichen Auffassung  der  Dinge  von  der  Existenz  eines  an  diese 
Auffassungsformen  gebundenen,  in  seiner  Sinnlichkeit  durch  sie 
charakterisierten  Subjekts.  Newtons  Relativität  hat  hiermit  nicht 
das  Geringste  zu  schaffen.  Nicht  die  Existenz  von  auffassenden 
Subjekten,  sondern  das  Dasein  wahrnehmbarer  Objekte  (Bezugs- 
körper) ist  sein  Relativitätskriterium. 

Es  ist  auch  das  Relativitätskriterium  der  modernen  Relativitäts- 
lehre ;  und  zwar  insofern,  als  es  die  Basis  liefert,  auf  der  man  den 
modernen  Relativitätsbegriff  mit  dem  geringsten  Kraftaufwand  auf- 
bauen kann.  Bekanntlich  unterscheidet  sich  die  neue  relativistische 
Physik  von  der  Newtonschen  vor  allem  durch  den  Satz  von  dem 
Relativcharakter  aller  Bewegungs Vorgänge.  Dieser  Satz,  so  um- 
wälzend er  in  seinen  Konsequenzen  geworden  ist,  enthält  aber 
an  sich  nur  eine  gegenständliche  Erweiterung  des  Newton- 
schen Relativitätsbegriffs.  Dieser  selbst  wird  in  seiner  Bedeutung 
nicht  angetastet.  „Alle  Bewegungen  sind  relativ"  bedeutet  auch  in 
der  Relativitätslehre  grundsätzlich  nichts  anderes,  als  daß  sie  das 
Dasein  realer  Bezugskörper  voraussetzen. 

Denn  daß  sie,  sobald  diese  Voraussetzung  gilt,  mindestens 
theoretisch  umkehrbar  sind,  also  mit  dem  Bewegungszustande 
des  jeweiligen  Bezugkörpers  vertauscht  werden  können,  mithin 
in  ihrer  Auffassung  prinzipiell  vom  Ermessen  des  auffassen- 
den Subjektes  abhängen,  ist  eine  selbstverständliche  Konsequenz, 
die  nicht  erst  Newton,  sondern  schon  Euklid  in  seiner  Optik  ge- 


Zur  Analysis  des  Relativitätsbegriffs.  391 

zogen  hat1).  Und  bekanntlich  hat  schon  Newton  gesehen,  daß 
diese  prinzipielle  Umkehrbarkeit  nicht  nur  theoretisch,  sondern 
auch  praktisch,  d.  i.  vom  physikalischen  Standpunkt  aus, 
allen  gleichförmig  gradlinig  fortschreitenden  Bewegungen  und  Be- 
zugsystemen zukommt.  Da  sich  alle  bekannten  Naturvorgänge  in 
einem  solchen  Bezugsystem  genau  so  wie  in  einem  ruhenden  ab- 
spielen, so  gibt  es  zwischen  Ruhe  und  gleichförmig  gradliniger  Be- 
wegung keinen  physikalischen  Unterschied2).  Daher  kann  der  Be- 
wegungszustand eines  solchen  Systems  nur  mit  Hilfe  eines  Bezug- 
körpers festgestellt  werden,  der  seinerseits  als  ruhend  gedacht  wird. 
Es  steht  aber  dem  Beobachter  jederzeit  frei,  dieses  Verhältnis  um- 
zukehren und  sich  selbst  als  ruhend,  hingegen  den  Bezugskörper 
als  im  entgegengesetzten  Sinne  bewegt  zu  betrachten. 

Dies  ist  das  „klassische"  Relativitätsprinzip.  Man  sieht  aus 
unserer  Herleitung,  wie  die  arbiträre  Komponente,  die  ihm  in 
dieser  Formulierung  innewohnt,  mit  dem  objektivistischen  Rela- 
tivitätsfaktor zusammenhängt.  Wenn  also  das  klassische  Rela- 
tivitätsprinzip in  etwas  anderer  Formulierung  die  Abhängigkeit 
des  Urteils  über  den  Bewegungszustand  eines  dem  Trägheitsprinzip 


1)  Euclid,  Optik  (opp.,  ed.  Heiberg,  vol.  VII  p.  110): 

(1)  'Eav  xivmv  tpsgofi^vcov  7iXsl6vg)V  aviGta  xä%u  avpnaQuysQritui  snl  xa 
avxä  %al  xb  ö(i(icc,  xa  filv  xat  öptiaxi  laoxa%ä>g  cpSQÖfisva  dö&L  §6xcivcu,  xa  8s 
ßgccddxsQOv  slg  xohvavxlov  (p£QS6&ca,  xa  8s  %axxov  slg  xa  itQoriyov[isva. 

Si  aliquibus  latis  pluribus  inaequali  celeritate  simul  transportetur  in  eas- 
dem  partes  et  oculus,  quae  quidem  oculo  aequali  celeritate  feruntur,  videbuntur 
stare,  tardiora  vero  in  contrarium  ferri,  celeriora  vero  in  praecedentia. 

(2)  'Edv  xivav  ysqops'vnv  8iatpaCvr\xaC  xi  pjjj  cpe'QOfisvov,  86£si  xb  yt,r\  cpsgd- 
fisvov  stg  xa  Ö7tio&sv  cpiQsad'ai' 

Si  aliquibus  latis  appareat  aliquid,  quod  non  feratur,  videbitur  illud  non 
latum  retrorsum  ferri. 

Das  heißt  zusammengefaßt:  was  einem  Beobachter,  der  sich  als  bewegt  be- 
trachtet, als  ruhend  erscheint,  erscheint  demselben  Beobachter,  sofern  er  sich  als 
ruhend  betrachtet,  als  rückläufig  bewegt.  Damit  ist  das  Prinzip  der  geometrischen 
Vertauschbarkeit'der  Bewegungszustände  von  Bezugssystem  und  Bezugskörper  zum 
ersten  Mal  deutlich  ausgesprochen. 

Ich  verdanke  den  Hinweis  auf  diese  interessante  Stelle  einer  Arbeit  des 
belgischen  Forschers  PaulMansion,  Note  sur  le  caractere  giometrique  de  Van- 
cienne  astronomie,  die  in  der  Festschrift  zum  70.  Geburtstag  Moritz  Cantors 
1899  enthalten  ist.    Vgl.  daselbst  S.  280  Anm.  6. 

2)  Corollarium  V  (a.  a.  0.  p.  18) :  Corporum  dato  spatio  inclusorum  iidem 
sunt  motus  inter  se,  sive  spatium  illud  quiescat,  sive  moveatur  idem  uniformiter 
in  directum  absque  motu  circulari. 

26* 


392  Heinrich  Scholz, 

und  seinen  Konsequenzen  genügenden  Bezugssystems  vom  indi- 
viduellen Ermessen  des  urteilenden  Subjektes  zum  Ausdruck  bringt, 
so  zieht  es  nur  die  Konsequenz  aus  der  Tatsache,  daß  solche  Sy- 
steme in  Hinsicht  auf  ihren  Bewegungszustand  nicht  von  sich  aus, 
sondern  nur  mit  Hilfe  realer  Bezugskörper  beurteilt  werden  können, 
da  der  Ablauf  des  Naturgeschehens  in  ihnen  für  eine  solche  Be- 
urteilung nichts  abwirft. 

Es  versteht  sich,  daß  man  diese  wichtige  Tatsache  auch  als 
Identität s- oder  Invarianz phänomen  formulieren  kann.  Etwa 
so :  die  Gesetze,  nach  denen  sich  die  Bewegungsvorgänge  abwickeln, 
sind  in  allen  gleichförmig-gradlinig  gegen  einander  bewegten  Sy- 
stemen (allen  sogenannten  Galilei-Systemen)  identisch  dieselben. 
Das  einzige,  was  sich  beim  Übergang  von  einem  solchen  System 
zu  einem  andern  von  anderem  Bewegungszustande  ändert,  ist  der 
Gesamtbetrag  der  Geschwindigkeit;  und  zwar  ändert  er  sich  um 
eine  additive  Konstante  mit  positivem  oder  negativem  Vorzeichen. 
Unverändert  bleiben  hingegen  die  Bewegungsformen  als  solche;  ja 
selbst  die  Geschwindigkeitsbeträge  der  Beschleunigungen  ändern 
sich  nicht.  Nennt  man  die  Gleichungen,  die  allgemein  den  Über- 
gang von  einem  Galilei-System  zu  einem  andern  vermitteln,  Galilei- 
Transformationen,  so  sind  die  Differentialgleichungen  der  Mechanik 
als  solche  gegen  Galilei-Transformationen  stets  invariant. 

Analytisch  ausgedrückt :  wenn  die  Kraftkomponenten  eines  frei 
beweglichen  Massenpunktes  P(X,  Y,  Z)  in  einem  beliebig  vorgege- 
benen System  S  den  Gleichungen  genügen: 

~r  d*x       _,  d2y       „  d2z 

X  =  M1F'    ¥=mW    z=müf' 

so  ändert  sich  an  diesen  Gleichungen  nichts,  wenn  der  Massenpunkt 
P  auf  ein  beliebiges  zweites  System  S'  bezogen  wird,  in  dem 
seine  Koordinaten  lauten: 

x'  =  x  —  ut,    y"  =  y  —  vt,    z'  =  z  —  wt\ 
vorausgesetzt,  daß  u,  v,  w  Konstanten  sind1). 

1)  Beweis.  Setzt  man  die  Werte  von  x',  y',  z'  in  die  Gleichungen  der  Kraft- 
komponenten ein,  so  erhält  man 


x  -m{  *«  +  dp  ) 

z  -m\-d^-rs^r 


Zur  Analysie  des  Relativitätsbegriffs.  393 

Wir  mußten  diese  einfachsten  Formeln  hier  anschreiben,  weil 
sich  allein  mit  ihrer  Hilfe  eine  Frage  beantworten  läßt,  die  wohl 
schon  jedem  selbstdenkenden  Anfänger,  der  die  analytischen  Aus- 
drücke nicht  kennt,  und  vielleicht  nicht  nur  diesem,  zu  schaffen 
gemacht  hat.  Invarianz  ist,  logisch  betrachtet,  doch  wohl  das  Gegen- 
teil von  Relativität?  Wie  kann  eine  Wissenschaft,  die  wegen  ihrer 
logischen  Strenge  als  Muster  geschätzt  wird,  ein  Prinzip  als  Rela- 
tivitätsprinzip auszeichnen,  dessen  Inhalt  das  Invarianzphänomen 
ist?  Liegt  hier  nicht  schon  an  der  Schwelle  der  Analysis  eine 
merkwürdige  Unklarheit  vor? 

Hierauf  ist  Folgendes  zu  erwidern.  Vom  Standpunkt  der 
„reinen"  Logik  ist  diese  Ausdrucks  weise  in  der  Tat  nicht  zu  recht- 
fertigen. Denn,  logisch  betrachtet,  ist  das  Invarianzphänomen  nicht 
der  Inhalt,  sondern  vielmehr  die  Grundlage  des  Relativitätsprinzips. 
Weil  die  Naturvorgänge  sich  in  Hinsicht  auf  ihre  Gesetzlichkeit 
in  allen  gleichförmig-gradlinig  gegeneinander  bewegten  Bezugs- 
systemen identisch  abspielen,  darum  ist  das  Urteil  über  den  Be- 
wegungszustand aller  derartigen  Systeme  relativ  oder  arbiträr 
(nämlich  abhängig  von  der  Wahl  eines  realen  Bezugskörpers,  der 
willkürlich  so  gewählt  werden  kann,  daß  er  gegen  die  beurteilten 
Systeme  entweder  ruht  oder  eine  translatorische  Bewegung  voll- 
führt). Der  Philosoph  darf  in  diesem  Falle  wohl  fragen,  ob  es  nicht 
zweckmäßiger  gewesen  wäre,  jene  Grundlage  des  Relativitätsprinzips 
auch  begrifflich  von  ihm  zu  unterscheiden  und  etwa  im  Abschluß 
an  Newtons  Formulierung  als  mechanisches  Identitäts- 
gesetz auszuzeichnen1).  Er  darf  es  mit  demselben  Rechte,  mit  dem 
er  die  Frage  stellen  darf,  ob  „Differentialquotient"  ein  logisch  zweck- 
mäßiger Ausdruck  ist  für  den  Grenzwert  eines  Differenzenquotienten, 
der  seinen  Quotientencharakter  vor  dem  Vollzug  des  Grenzüberganges 
abgestreift  hat,  oder  ob  die  übliche  Einteilung  der  Mechanik  in  Statik 

Nun  ist  aber         '  =  u  und  —  =  0  (wegen  u  =  const.),  folglich  — —-—  =  0. 

Dasselbe  gilt  von  (vt)  und  (wt). 
Folglich  ist 

X  =  m~w>  Y  =  m~dh  Z  =  m1^' 

Die  Kraftkomponenten  bleiben  mithin  beim  Übergang  von  S  zu  Sf  unter 
Voraussetzung  der  Konstanz  von  w,  v,  w  invariant. 

1)  Siehe  oben  S.  391  Anm.  2:  Corporum  dato  spatio  inclusorum  iidem  sunt 
motus  mter  se  usf. 


394  Heinrich  Scholz, 

und  Dynamik  nicht  durch  eine  bessere  ersetzt  werden  konnte,  die 
die  Begriffe  der  Kinematik  und  Dynamik  zu  Oberbegriffen  erhebt 
und  die  Dynamik  selbst  in  Statik  und  Kinetik  gliedert  *).  Allein  es 
wird  wohl  richtiger  sein,  sich  durch  Eindringen  in  die  Grundlagen 
des  klassischen  Relativitätsprinzips  mit  der  zunächst  paradoxen 
Gestalt  seiner  Formulierung  zu  befreunden,  als  im  Namen  der 
Philosophie  Begriffe  zu  bilden,  die  der  Psysiker  nicht  braucht, 
und  die  dem  Laien  nicht  weiter  helfen,  da  er  sie  in  der  For- 
schung nicht  antrifft. 

Denn  diese  Formulierung  verliert  ihren  paradoxen  Charakter 
auf  der  Stelle,  sobald  man  ihren  analytischen  Ursprung  erkannt 
hat.  Analytisch  läßt  sich  das  Relativitätsprinzip  gar  nicht 
anders  ausdrücken,  als  durch  drei  Gleichungen,  welche  besagen: 
Wenn  zwei  gleichförmig-gradlinig  gegen  einander  bewegte  Systeme 
S  und  S'  gegeben  sind  und  die  Komponenten  X,  Y,  Z  einer  in  S  wir- 
kenden Kraft  K  beim  Übergang  zu  S'  in  die  Komponenten  X',  Y*,  Z' 
der  Kraft  K'  übergehen,  so  ist 

X'  =  X,  Y'=  Y'}Z'  =  Z,  also  auch  K'=  K. 

Der  große  Schritt,  den  Einstein  getan  hat,  besteht  bekannt- 
lich in  der  radikalen  Verallgemeinerung  dieses  klassischen  Rela- 
tivitätsprinzips. Er  fällt  mit  der  grundsätzlichen  Relativierung 
aller  realen  Bewegungen  zusammen  und  führt  zu  einem  Ergebnis, 
das  sich  so  formulieren  läßt: 

(1)  Jede  reale  Bewegung  ist  eine  Bewegung  gegen  einen  re- 
alen Bezugskörper. 

(2)  Folglich  hat  jedes  Urteil  über  reale  Bewegungen  die  Exi- 
stenz realer  Bezugskörper  zur  Voraussetzung. 

(3)  Die  Wahl  des  Bezugskörpers  ist  arbiträr,  das  Verhältnis 
seines  Bewegungszustandes  zu  dem  des  Urkörpers  jederzeit  um- 
kehrbar, mithin  die  Beurteilung  desselben  grundsätzlich  relativ. 

Diese  drei  Sätze  haben  vor  andern,  an  sich  genau  so  berech- 
tigten Formulierungen  den  Vorzug,  daß  sie  den  inneren  Zusammen- 
hang zwischen  dem  objektivistischen  Relativitätsfaktor  und  der 
subjektivistischen  Relativitätskomponente  unmittelbar  hervortreten 
lassen.     Denn  wenn   keine  Bewegung   durch   sich  ks eiber  als   Be- 


1)  Sehr  bemerkenswerte  Ansätze  zu  einer  solchen  verbesserten  Gliederung 
finden  sich  in  Marcolongos  schöner  Theoretischer  Mechanik;  deutsch  von  H» 
E.  Timerding.    2  Bde.    1911  und  12. 


Zur  Analysis   des   Relativitätsbegriffs.  395 

wegung  erkannt  werden  kann,  wenn  jede  eines  Bezugskörpers  be- 
darf, so  folgt  mit  Notwendigkeit,  daß  die  Wahl  des  Bezugs- 
körpers, folglich  auch  die  Interpretation  der  Bewegungsverhältnisse 
dem  persönlichen  Ermessen  anheimgestellt  ist.  Selbstverständlich 
waltet  dabei  die  Voraussetzung  ob,  daß  gezeigt  werden  kann,  in 
welchem  Sinne  das  Naturgeschehen  und  mit  ihm  die  Gleichungen 
der  theoretischen  Physik  einer  Auffassung  fähig  sind,  die  gegen 
jede  Standpunktsverschiebung  invariant  ist. 

Die  ungemeine  Gedankenarbeit,  die  an  dieser  entscheidenden 
Stelle  einsetzen  mußte,  kann  hier,  wo  uns  nur  der  Relativitäts- 
begriff interessiert,  auch  nicht  einmal  andeutungsweise  analysiert 
werden.  Einen  authentischen  Hinweis  auf  die  Bedeutung,  die  dem 
Invarianzproblem  zukommt,  kann  man  in  der  Tatsache  erblicken, 
daß  Hermann  Minkowski  schon  1908,  als  erst  die  spezielle  Re- 
lativitätslehre existierte,  den  Vorschlag -gemacht  hat,  an  die  Stelle 
des  Ausdrucks  „Relativitätspostulat"  den  kräftigeren  und  bezeich- 
nenderen Ausdruck  „Postulat  der  absoluten  Welt"  zu  setzen1). 

Aber  wir  kehren  zum  Relativitätsbegriff  zurück.  Sofern  im 
Zusammenhang  der  Relativitätslehre  von  einer  Relativierung  des 
Raumes  zu  sprechen  ist  —  des  Raumes  und  nicht  der  Längen- 
maße, deren  Anwendung  das  Dasein  des  Raumes  voraussetzt  — , 
ist  es  wieder  der  objektivistische  Relativitätsbegriff  New- 
tons, der  hier  allein  in  Frage  kommt.  Unter  der  Relativität  des 
Raumes  hat  man  also  die  Abhängigkeit  des  realen,  d.  i.  des  meß- 
baren Raumes  —  denn  nur  der  meßbare  Raum  ist  physikalisch 
real  —  vom  Dasein  materieller  Bezugskörper  zu  verstehen.  Durch 
sie  allein  wird  die  Deutung  der  Zentrifugalkräfte  als  Gravitations- 
wirkungen ermöglicht,  und  damit  die  Vertauschbarkeit  der  Begriffe 
Trägheit  und  Schwere,  die  in  der  allgemeinen  Relativitätslehre 
eine  so  große  Rolle  spielt. 

Was  bedeutet  nun  schließlich  die  Relativität,  die  aus  der  Re- 
lativierung der  Gleichzeitigkeit  und  ihren  denknotwendigen 
Konsequenzen,  der  Kontraktion  der  Längen-  und  der  Di- 
latationderZeitmaße,  hervorgeht  ?  Sie  bedeutet  die  Abhän- 
gigkeit dieser  drei  Dinge  vom  jeweiligen  Bewegungszustande  des 
urteilenden  Beobachters.  Es  läßt  sich  leicht  zeigen,  wie  auch 
diese  Bedeutung  mit  dem  objektivistischen  Relativitätsbegriff  zu- 
sammenhängt.    Ein  Bezugskörper  kann  nicht  existieren  ohne  einen 


1)  Lorentz,  Einstein,  Minkowski,  Das  Relativitätsprinzip.   *1922  S.  60. 


396  Heinrich   Scholz, 

Bewegungszustand.  Es  tritt  also  in  dieser  kinematologischen 
Wendung,  wie  wir  sie  kurz  nennen  können,  nur  eine  besonders 
hervorzuhebende  Komponente  des  objektivistischen  Relativitäts- 
begriffs hervor,  die  in  diesem  eigentlich  schon  analytisch  enthalten 
ist.  Wir  können  aber  um  der  Deutlichkeit  willen  die  Abhängigkeit 
vom  Dasein  eines  realen  Bezugskörpers  als  den  ontologischen 
Faktor  des  objektivistischen  Relativitätsbegriffs  auszeichnen. 

Die  Relativität  der  Zeit  als  solcher  ist  mit  der  Relativität 
der  Zeitmessung  identisch.  Auch  hier  wiederholt  sich  das 
Axiom,  daß  nur  die  gemessene  und  meßbare  Zeit  im  physikalischen 
Sinne  real  ist.  In  diesem  Sinne  aber  ist  sie  es  wirklich.  Folglich 
besteht  ihre  Relativität  in  ihrer  Abhängigkeit  von  dem  Bewegungs- 
zustande  des  jeweiligen  Bezugssystems,  während  Newtons  Relati- 
vitätsbegriff hier  lediglich  die  Existenz  periodischer  Bewegungs- 
vorgänge voraussetzt. 

Was  endlich  die  durch  die  spezielle  Relativitätslehre  an- 
gebahnte, in  der  allgemeinen  vollzogene  Zusammenfassung 
von  Raum,  Zeit  und  Materie  betrifft,  so  dürfen  wir  uns 
hier  mit  zwei  Bemerkungen  begnügen.  Die  erste  betrifft  das  Objekt 
dieser  Zusammenfassung.  Daß  wirklich  Raum  und  Materie  zu  einem 
unzertrennlichen  G-ebilde  zusammengefaßt  werden,  ergibt  sich  aus 
dem  relativistischen  Raumbegriff,  wie  er  prinzipiell  von  Newton  ge- 
prägt und  als  Gegenstück  des  absolutistischen,  von  der  modernen 
Relativitätslehre  verworfenen  Raumbegriffs  aufgestellt  worden  ist. 
Der  Ausdruck  „Verschmelzung  von  Raum  und  Zeit"  entstammt  hin- 
gegen einem  mathematischen  Sprachgebrauch,  den  man  besser  nicht 
übernehmen  wird.  Gemeint  ist  bekanntlich  die  Zusammenfassung 
der  drei  räumlichen  Koordinaten  eines  Ereignisses  mit  seiner  zeit- 
lichen Koordinate  in  der  Minkowskischen  Weltlinie.  Man  wird  diesen 
Sachverhalt  deutlicher  ausdrücken,  wenn  man  von  einer  konse- 
quenten Verschmelzung  der  räumlichen  und  zeitlichen  Bestim- 
mungsstücke eines  Ereignisses  spricht1). 

1)  Die  berühmten  und  oft  zitierten  Worte  Minkowskis:  „Von  Stund  an 
sollen  Raum  und  Zeit  für  sich  völlig  zu  Schatten  herabsinken,  und  nur  noch 
eine  Art  Union  der  beiden  soll  Selbständigkeit  bewahren"  sind  so  zu  interpre- 
tieren: „Von  Stund  an  sollen  alle  Einzelaussagen  über  den  räumlichen  oder  zeit- 
lichen Abstand  zweier  Ereignisse  zu  wissenschaftlicher  Bedeutungslosigkeit  herab- 
sinken, und  nur  noch  eine  konsequente  Verknüpfung  beider  Arten  von  Aussagen 
durch  den  Begriff  des  raumzeitlichen  Weltabstandes  soll  statthaft  sein".  An 
irgend  etwas  Mystisches  wird  bei  dem  Wort  ,Union'  wohl  niemand  denken,  der 
das  Minkowskische  Hyperboloid  studiert  hat. 


Zur  Analysis  des  Relativitätsbegriffs.  397 

Unsere  zweite  Bemerkung  gilt  der  Bedeutung,  die  man 
dem  Relativitätsbegriff  an  dieser  Stelle  zuzuschreiben  hat.  Re- 
lativität ist  hier  gleichbedeutend  mit  wechselseitiger  Ab- 
hängigkeit, also  mit  Korrelativität. 

Wir  fassen  zusammen.  Der  für  die  moderne  Relativitätslehre 
charakteristische  Relativitätsbegriff,  in  seinen  Fundamenten  von 
Newton  geschaffen ,  besteht  aus  einem  objektivistischen 
und  einem  subjektivistischen  Faktor.  Als  objektivistisches 
Prinzip  zerfällt  er  in  eine  ontologische  und  eine  kinemato- 
logische  Komponente,  je  nachdem  er  die  Abhängigkeit  von  der 
Existenz  eines  realen  Bezugskörpers  oder  neben  dieser  aus- 
drücklich die  Abhängigkeit  von  seinem  Bewegungszustande 
zum  Ausdruck  bringt.  Der  ontologische  Relativitätscharakter 
kommt  nach  der  verallgemeinerten  Relativitätslehre  allen  Bewe- 
gungen überhaupt,  ferner  dem  physikalischen  Räume  zu,  in  dem 
sich  die  realen  Bewegungen  abspielen.  Die  Relativität  der  Gleich- 
zeitigkeit, des  Zeitverlaufs,  sowie  der  Zeit-  und  Längenmaße  ist 
kinematologischer  Art.  Ebenso  die  der  Masse  und  Energie,  worauf 
hier  nicht  näher  eingegangen  werden  kann. 

Aus  diesem  objektivistischen  Relativitätsbegriff  läßt  sich  der 
subjektivistische  herleiten ,  der  die  Abhängigkeit  vom  Er- 
messen des  urteilenden  Beobachters  ausspricht;  und  zwar  auf  dem 
Wege  über  das  Invarianzphänomen.  Weil  alle  Bewegungs Vor- 
gänge so  aufgefaßt  werden  können,  daß  ein  Standpunkts  Wechsel 
ihre  Gesetzlichkeit  nicht  affiziert,  so  hängen  alle  Bewegungs- 
urteile   von    der    arbiträren  Wahl    eines   Bezugskörpers    ab 1). 


1)  Es  ist  heute  wieder  lehrreich  zu  sehen,  wie  unter  den  Hauptstößen,  die 
einst  Copernicus  gegen  die  Aristotelische  Physik  geführt  hat,  das  Relativitäts- 
prinzip  hervortritt.  „Omnis  quae  videtur  secundum  locum  mutatio  aut  est  propter 
spectatae  rei  motum  aut  videntis  aut  certe  disparem  utriusque  mutationem"  (I,  5). 
Natürlich  fehlt  diesem  Trumpf  noch  das  ganze  Gewicht  einer  Kenntnis  der  Phä- 
nomene, um  derentwillen  Newton  hernach  eine  absolutistische  Physik  gefordert 
hat.  Ganz  im  Newtonschen  Sinne  drückt  sich  hingegen  Ptolemaeus  aus.  Nur 
ist  es  nicht  die  Newtonsche,  sondern  selbstverständlich  die  Aristotelische  Physik, 
um  derentwillen  er  den  radikalen  Relativismus  der  antiken  Kopernikaner  verwirft. 
AsXri&s  ccbxovg,  Zxi  x&v  filv  nsgl  xa  äoxgcc  cpccivofisvcov  %vey,ev  ovdhv  ccv  l'cag 
xcoXvoi  ncixci  ys  xr\v  ccitXovaxegccv  imßoXi}v  roütf  ovxtog  £%sivt  catb  8s  x&v  negl 
7](i&s  ccbxo'bg  %al  x&v  iv  &sql  aviinxcoficixav  xcci  ndvv  "kv  yeXoidxccxov  ötpfteiri  xb 
xoiovxov  (Syntaxis  math.  I  7 ;  ed.  Heiberg,  p.  24). 

Unter  den  neueren  Physikern  ist  wohl  Huygens  der  erste  konsequente 
Relativist  gewesen  (vgl.  L.  L  a  n  g  e ,  Die  geschichtliche  Entwicklung  des  Bewegungs- 


398        Heinrich  Scholz,  Zur  Analysis  des  Relativitätsbegriffe. 

Aber  wie  man  seinen  Standpunkt  auch  wählen  möge :  die  Bewegungs- 
gesetze  als  solche  lassen  sich  stets  so  formulieren,  daß  sie  von 
dieser  Wahl  nicht  betroffen  werden. 

Dieses  Invarianz ergebnis  ist  für  die  abschließende  Beurteilung 
der  ganzen  Relativitätslehre  von  so  entscheidender  Wichtigkeit, 
daß  man  eben  so  gut  von  einer  Invarianztheorie  wie  von  einer 
Relativitätslehre  sprechen  könnte.  Der  innere  Zusammenhang  von 
Relativität  und  Invarianz  macht  sich  hier  noch  einmal  geltend. 
Man  kann  diesen  Zusammenhang  doppelt  ausdrücken.  Entweder 
man  sagt:  die  prinzipielle  Darstellbarkeit  des  gesamten  Natur- 
geschehens in  Invarianten  ist  die  Grundlage  der  relativistischen 
Physik;  oder:  der  grundsätzliche  Ausdruck  alles  Naturgeschehens 
in  Invarianten  ist  das  Ziel  der  umfassenden  Relativierungsprozesse, 
denen  die  neue  Physik  ihren  Namen  verdankt.  Beides  ist  im 
Grunde  dasselbe. 

Es  versteht  sich,  daß  diese  begriffliche  Analysis  himmelweit 
entfernt  davon  ist,  den  philosophischen  G-ehalt  der  Relativitätslehre 
erleuchten  zu  wollen.  Nach  der  grundlegenden  Arbeit,  die  Moritz 
Schlick,  Hans  Reichenbach  und  Ernst  Cassirer  in  dieser  Hin- 
sicht geleistet  haben,  wird  man  entscheidende  Fortschritte  jetzt  vor 
allem  von  der  Axiomatisierung  der  Relativitätslehre  erwarten  dürfen, 
die  Hans  Reichenbach  eingeleitet  hat.  In  diesen  Prozeß  irgendwie 
eingreifen  zu  wollen,  liegt  der  vorstehenden  Analysis  gänzlich  fern. 
Sie  will  lediglich  der  Klärung  des  Relativitätsbegriffs  dienen  und 
einerseits  die  Modalitäten  desselben  im  Bereich  der  physikalischen 
Relativitätslehre  aufhellen,  andrerseits  die  Beziehungen  des  physika- 
lischen Relativitätsbegriffs  zur  philosophischen  Relativitätskategorie 
auf  einen  möglichst  bestimmten  Ausdruck  bringen.  Das  Ziel  wäre 
erreicht,  wenn  sich  der  Eindruck  erzeugte,  daß  dies  ohne  Inanspruch- 
nahme scholastischer  Distinktionen  und  Vorurteile  gelungen  ist. 

begriffs  1886  S.  72  ff. ;  dazu  die  sehr  interessanten  Dokumente,  die  A.  Schouten 
im  Jahresbericht  der  deutschen  Mathematiker- Vereinigung,  29.  Bd.  1920  S.  136  ff. 
unter  dem  Titel:  „Die  relative  und  absolute  Bewegung  bei  Huygens"  aus  dessen 
Nachlaß  veröffentlicht  hat.  Indessen  ist  sein  konsequenter  Relativismus  selbst- 
verständlich nicht  über  die  Stufe  eines  kritischen  Anti  -  Absolutismus  hinausge- 
kommen, so  wenig  wie  derjenige  Berkeleys.  Den  entscheidenden  Schritt,  die 
Identifizierung  von  Trägheit  und  Gravitation,  hat  keiner  dieser  „Vorläufer"  auch 
nur  von  fern  ins  Auge  gefaßt.  Auch  nicht  Ernst  Mach,  dessen  ganzen  Rela- 
tivismus man  überhaupt  nicht  mehr  allzu  ernst  nehmen  wird,  wenn  man  die  zwar 
ehrliche,  aber  schroffe  Absage  an  die  Relativitätslehre  in  der  Vorrede  seiner 
nachgelassenen  Optik  gelesen  hat. 


Mythus  und  Kultur. 

Von  Arthur  JLiebert,  Berlin. 


„Alles  ist  ja  nur  symbolisch  zu  nehmen  und  überall 
steckt  noch  etwas  Anderes  dahinter"  (Goethe,  Ge- 
spräch mit  dem  Kanzler  von  Müller  vom  8.  Juni  1821). 


.  „Nicht  nur  unsere  Kunst  und  Dichtung,  unser  ganzes 
Vorstellungsleben,  Denken  und  Keden  könnte  den  Schatz 
von  Mythen,  der  uns  mit  dem  Glauben  des  klassischen 
Altertums,  der  Germanen,  der  Kelten,  der  ganzen  Re- 
ligions-  und  Phantasiewelt  des  Mittelalters  überliefert 
ist,  nicht  mehr  entbehren".  (FriedrichTheodor 
Vi  seh  er,  Kritische  Gänge;  herausg.  von  Robert 
Vischer ;  4.  Band  S.  430.)  — 

Inhalt. 

Seite 
Einleitung 399—401 

I.  Die  allgemeine  Bedeutung  des  Mythus  überhaupt  für  die  Kultur  .    401—414 

II.  Typische  Sondermythen  auf  einzelnen  geschichtlichen  Kulturstufen    415—429 

III.  Unsere  Zeit  und  das  Problem  des  Mythus 429—445 

Einleitung1. 

G-erade  für  eine  Hans  Vaihinger,  dem  Philosophen  der 
Fiktion  und  dem  gegenwärtigen  Führer  der  Als  Ob-Lehre,  ge- 
widmete Festschrift  dürfte  ein  Beitrag  nicht  nnangemessen  sein, 
der  sich  grundsätzlich  mit  dem  Problem  des  Mythus  beschäftigt. 
Zwar  wird  keine  eingehendere  Untersuchung  die  tiefen,  bis  in  das 
Prinzipielle  hinabreichenden  Unterschiede  außer  Acht  lassen  oder 
übersehen  dürfen,  die  zwischen  Fiktion  und  Mythus  obwalten.  Auf 
der  anderen  Seite  besteht  zwischen  der  Fiktion  im  Sinne  Vai- 
hingen und  dem  Mythus  aber  insofern  eine  gewisse,  unverkenn- 
bare Gemeinschaft,  als  sie  beide  zwar  aus  nicht  bloß  theoretischen 
Absichten  des  menschlichen  Geistes  entspringen,  auf  nicht  bloß 
theoretischen  Funktionen  und  bloß  wissenschaftlich-begriffsmäßigen 


400  Arthur  Liebert, 

Leistungen  des  Bewußtseins  beruhen,  beide  trotzdem  bestimmte 
Begriffselemente  und  Erkenntnisformen  in  sich  tragen  und  den  An- 
spruch erheben,  als  eine  eigentümliche  „Erkenntnis"  zu  gelten. 
Ihre  gemeinsame  Wurzel  ist  die  produktive  Einbildungskraft,  die 
je  nach  Wunsch  und  Erforderlichkeit  sich  gewisser  wissenschaft- 
licher Begriffe  und  Erkenntniswerte  bedient.  Gemeinsam  ist  ihnen 
ihre  außerordentlich  bedeutungsvolle  weltanschauliche  Rolle  inner- 
halb der  menschlichen  Kultur  und  Gesellschaft,  die  über  alle  von 
der  engeren  und  strengeren  Wissenschaft  beherrschte  Zone  des 
Lebens  hinausreicht,  auch  das  Gebiet  der  Kunst  und  der  Religion 
in  sich  umfaßt,  und  die  den  Abschluß  ihrer  Aufgabe  und  den  Sinn 
ihres  Spieles  in  der  Errichtung  eines  aus  den  verschiedenartigsten 

geistigen  Tendenzen  zusammengewobenen  Weltbildes  findet. 

Die  folgenden  Ausführungen  wollen  keinen  Beitrag  zur  Psy- 
chologie oder  zur  Philosophie  des  Mythus  darstellen.  Nach  jener 
Richtung  ist  bereits  höchst  Wertvolles  geleistet  worden.  Hinge- 
wiesen sei  auf  den  2.  Band  von  Wilhelm  Wundts  „Völkerpsycho- 
logie", der  im  besonderen  die  psychologische  Begründung  und  Ab- 
leitung von  <  Mythus  und  Religion >  unternimmt,  und  auf  Konstantin 
Oesterreichs  „Religionspsychologie".  Was  die  Philosophie  des 
Mythus  anlangt,  so  darf  hier  auf  diejenigen  Werke  der  spekula- 
tiven Ästhetik  verwiesen  werden,  die  ihre  Aufmerksamkeit  dem 
Begriff  und  dem  Phaenomen  des  Symbols  zuwenden,  wie  das  z.  B. 
bei  Schelling  und  in  der  Ästhetik  von  Friedrich  Theodor  Vischer 
der  Fall  ist.  Vischer  hat  außerdem  seinen  „Kritischen  Gängen"  ein 
fesselndes  Kapitel  über  „Das  Symbol"  eingereiht.  Schließlich  sei 
noch  die  vortreffliche  Schrift  von  Johannes  Volkelt:  „Der  Sym- 
bolbegriff in  der  neuesten  Ästhetik"  (1876)  erwähnt.  Der  Zweck 
der  folgenden  Darlegungen  ist  vielmehr  der,  die  eigentümliche, 
oft  entscheidungsvolle,  stets  ungemein  charakteristische  Stellung 
des  Mythus  innerhalb  der  geschichtlich-gesellschaftlichen  Kultur 
zum  mindesten  anzudeuten.  Etwa  im  Sinne  einer  etwas  genaueren 
Ausführung  des  unserer  Untersuchung  vorangestellten  Wortes  von 
Fr.  Th.  Vischer  oder  jenes  Satzes  von  Friedrich  Nietzsche  in  der 
< Geburt  der  Tragoedie> :  „Ohne  Mythus  aber  geht  jede  Cultur 
ihrer  gesunden  schöpferischen  Naturkraft  verlustig:  erst  ein  mit 
Mythen  umstellter  Horizont  schließt  eine  ganze  Culturbewegung 
zur  Einheit  ab"  (W.  I,  S.  160).  Was  unserer  wissenschaftlichen 
Literatur  fehlt,  das  ist  eine  umfassende  Kulturgeschichte  des 
Mythus,   die  den  Wandel  und  die  Abwandlung   des  Grundmythus 


Mythus  und  Kultur.  401 

durch  die  Entwicklung  des  europäischen  Geisteslebens  verfolgt, 
die  ferner  die  geschichtlichen  Motive  und  Voraussetzungen  für 
diese  Abwandlung  aufzeigt  und  endlich  die  Rolle  beleuchtet,  die 
der  in  der  »Enge  einer  historischen  Wirklichkeit"  (Nietzsche)  ent- 
standene besondere  Mythus  für  die  betreffende  geschichtliche  Le- 
bensstufe besitzt. 

In  drei  gedrängten  Kapiteln  sei  nun  von  dem  „Los  des  Mythus" 
auf  Erden  unter  besonderer  Berücksichtigung  der  eigentümlichen 
Beziehung  unserer  Zeit  zu  dem  Problem  des  Mythus  gehandelt. 
Gerade  in  dieser  Beziehung  nämlich  ruht  und  offenbart  sich  eine 
der  entscheidenden  Voraussetzungen  für  die  schwere  geistige 
Krisis,   in  der  wir  uns  gegenwärtig  befinden. 


Die  allgemeine  Bedeutung  des  Mythus  überhaupt  für  die  Kultur. 

Der  ganzen  äußerlichen  Mannigfaltigkeit  der  europäischen 
Kulturentwicklung  entspricht  ein  ihr  gemäßer,  in  ungemeiner 
Folgerichtigkeit  verlaufender  Zusammenhang  von  Werken  der 
Kunst,  Gedankensystemen,  Schöpfungen  des  religiösen,  politischen, 
rechtlichen,  wissenschaftlichen  Bewußtseins.  Und  man  begreift 
die  konkreten  Geschehnisse  und  den  empirischen  Gang  der  Kultur 
erst  dann,  wenn  man  die  Voraussetzungen  und  den  Sinn  jener 
ideellen  Hervorbringungen  zu  erfassen  und  zu  würdigen  vermag. 
Einen  eigentümlichen,  in  seiner  Wichtigkeit  kaum  hoch  genug  zu 
veranschlagenden  Ausdruck  dieser  Arbeit  der  geschichtlichen  Ver- 
nunft stellen  die  verschiedenen  Mythen  dar,  die  in  den  mannig- 
fachsten Ausprägungen  den  Verlauf,  das  Auf  und  Ab  unserer  ge- 
schichtlichen Entwicklung  begleiten.  Wenn  für  diese  Entwicklung 
etwas  notwendig  und  geeignet  ist,  ihr  zur  inneren  Rechtfertigung, 
zur  Festigung  ihres  Wellenspieles  zu  dienen,  dann  sind  es  die  in 
ihr  auftretenden,  durch  sie  bedingten  und  dann  auf  sie  wieder  zu- 
rückwirkenden Mythen.  Was  in  ihnen  seinen  Niederschlag  findet, 
und  was  sie  wiederspiegeln,  das  sind  die  tiefsten  Hoffnungen, 
Sehnsüchte,  Gläubigkeiten  und  Überzeugungen,  das  sind  die  cha- 
rakteristischen Begabungen,  Neigungen,  Forderungen  und  Erkennt- 
nisse eines  bestimmten  geschichtlichen  Lebenskreises.  Wem  sich 
die  Voraussetzungen,  der  Sinn  und  der  Wert  der  Mythen  er- 
schließen, dem  offenbaren  sich  die  wesenhaften  Gründe  aller  ge- 
schichtlichen Leistungen.    Denn   sowohl   das,   was   eine  Zeit  oder 


402  Arthur  Liebert, 

ein  Geschlecht  will,  worauf  die  Anspannung  gerichtet  ist,  was  dem 
Wollen  als  Grundlage  dient,  nicht  zuletzt  auch  das,  was  als 
Schwäche  und  Unzulänglichkeit  empfunden  oder  erkannt  wird,  er- 
klingt aus  den  Mythen  mit  vernehmlicher  Stimme.  Es  entspricht 
einem  unmittelbaren,  elementaren  menschlichen  Bedürfnis,  die  Nei- 
gungen und  Wünsche,  die  Interessen  und  Erwartungen  der  Seele 
zu  einem  Idealgemälde  zu  verbinden  und  zu  verdichten  und  diesem 
in  der  Form  einer  naiven  und  unbewußten  Hypostasierung  und 
Objektivierung  irgend  eine  Realität,  meistens  in  der  Gestalt  einer 
geschichtlichen  Lebenslage,  zu  verleihen.  Man  glaubt  das,  was 
einem  fehlt,  aber  was  man  erstrebt,  in  irgend  einer  anderen  Zeit, 
bei  irgend  einem  Volk  in  fruchtbarer  Tatsächlichkeit  zu  erblicken. 
So  bildete  sich  Nietzsche,  der  so  bitter  unter  dem  „chaotischen 
Durcheinander  aller  Stile"  der  Deutschen  seiner  Tage  litt,  den 
Mythus  von  der  „Einheit  des  künstlerischen  Stiles  in  allen  Lebens- 
äußerungen eines  Volkes".  Er  nannte  diese  Form  der  Einheit 
„Kultur"  und  schuf  den  weiteren  Mythus,  daß  die  Griechen  diese 
Einheit,  also  Kultur,  erreicht  hätten.  Auch  darin  ein  Schüler 
Goethes,  eines  der  größten  Mythenschöpfer  aller  Zeiten.  Unbe- 
kümmert um  die  strengeren  Ergebnisse  der  philologischen  und 
historisch-kritischen  Erforschung  der  griechischen  und  hellenisti- 
schen Welt  gestalteten  sie  den  so  außerordentlich  wirkungsvollen 
Mythus  vom  Hellenismus  und  vom  klassischen  Griechentum.  Sie 
ersannen  ihn  aus  dem  Bedürfnis  heraus,  die  ihnen  vorschwebende 
Kulturidee  zur  geschichtlichen  Wirklichkeit   zu   erheben  und  ihre 

geschichtliche  Möglichkeit  darzutun. 

Der  tiefste  Sinn  des  Mythus  beruht  auf  dem  Streben  nach 
einer  idealen  Ergänzung  und  Vollendung  unseres  Wesens  und 
Schicksals.  Kein  Mensch,  dem  nicht  alle  Spannkraft,  Gläubigkeit, 
alle  Fähigkeit  zu  einer  konstruktiven  Deutung  der  geschichtlichen 
Welt  abhanden  gekommen  ist,  vermag  auf  die  Dauer  die  Ein- 
spannung  in  den  Umkreis  des  Bloß- Sachlichen  zu  ertragen  und 
sich  an  der  konkreten  Gegenständlichkeit  des  ihn  umgebenden 
Lebenszusammenhanges  genügen  zu  lassen.  Denn  man  will  für 
sein  Dasein  nickt  nur  äußere  Fülle  und  Abwechselung,  sondern 
auch  innere  Tiefe,  nicht  nur  die  Form  des  Gesetzes,  sondern  auch 
sinnhafte  Begründetheit  und  Endgültigkeit  haben.  Wir  wollen  in 
ihm  nicht  nur  Wechsel,  sondern  auch  Gehalt,  nicht  nur  Notwen- 
digkeit, sondern  in  allem  Ablauf  und  Tun  auch  Wert.  Wir  hegen 
darnach  deshalb  Verlangen,  weil  wir  immer  auch  des  „Gegenteils" 


Mythus  und  Kultur.  403 

bedürftig  und  begierig  sind  und  nur  in  der  Verbindung  von  Re- 
lativität und  Absolutheit,  nur  in  der  Synthese  des  Empirisch- 
Diesseitigen  mit  seinem  symbolhaften  Anschluß  an  ein  Unbedingtes, 
ganz  gleich  wie  dieses  aufgefaßt,  ausgedeutet,  anerkannt  werden 
mag,  das  Ganze  des  Lebens  erblicken  und  nur  in  einem  solchen 
Ganzen  überhaupt  des  Lebens  froh  und  gewiß  werden  können. 
Die  ewige  Dialektik  der  Kultur  prägt  sich  in  der  synthetisch- an- 
tithetischen Verwebung  von  Notwendigkeit  und  Freiheit,  Erschei- 
nung und  Idee,  Endlichkeiten  und  Unendlichkeiten,  wechselnden 
und  jeweiligen  Inhalten  und  ewigen  Formen,  wechselnden  und  je- 
weiligen Formen  und  ewigen  Inhalten  aus.  Aus  der  Welt  des 
Geschichtlich-Tatsächlichen  nährt  unser  Geist  seine  Unruhe;  denn 
diese  "Welt  ist  kein  Ganzes,  und  sie  ermangelt  ferner  des  sinn- 
haften Erfülltseins.  Über  den  Geist  Europas  wäre  nicht  jene  Über- 
bewegtheit und  Aufgewühltheit  gekommen,  hätte  er  nicht  in  allzu 
energischer  und  allzu  einseitiger  Weise  sich  nur  auf  Tatsächlich- 
keiten eingestellt.  Der  Beziehung  auf  das  Bloß-Tatsächliche  ent- 
keimt die  Problematik,  wenn  auch  die  Gewinnung  und  Bewahrung 
des  Empirischen  und  die  Herrschaft  über  das  Erfahrungsmäßig- 
Gegenständliche  eine  der  Hauptaufgaben  aller  Kultur  ist  und  bleibt. 
Aber  diese  Problematik  muß  überwunden  werden,  weil  das 
Empirische  und  Gegebene,  das  Endliche  und  Konkret-Notwendige 
nur  die  eine  Seite  in  der  Universalität  des  Lebens  ist,  weil  es 
seine  Hinausführung  zu  einem  Absoluten  innerlich  verlangt.  Denn 
wo  von  einer  Einheit  und  Gesetzlichkeit  der  Erscheinungen  ge- 
sprochen, wo  nach  einer-  solchen  Einheit  und  Gesetzlichkeit  gesucht 
wird  —  und  auf  welchem  Gebiet  des  geschichtlichen  Lebens  könnte 
ein  derartiges  Suchen  und  Forschen  unterlassen  oder  unterbunden 
werden?  —  da  wird  das  Gegebene  an  ein  Ewiges  angeknüpft,  da 
vollzieht  sich  die  Erhebung  zum  Reich  des  Absoluten.  Welche 
Gestalt  aber  auch  immer  diese,  unter  jedem  Betracht  gebotene  Er- 
hebung aufweisen  mag,  stets  und  unweigerlich  erfolgt  sie  in  der 
Form  und  unter  der  Voraussetzung  eines  Mythus.  Das  soll  keines- 
wegs heißen,  daß  das  Absolute  zu  einem  Mythus  gestempelt  oder 
nur  als  ein  Mythus  angesehen  würde.  Geschähe  dies,  so  würde 
man  ja  aus  dem  Relativismus  nicht  hinauskommen,  dem  man  doch 
gerade  durch  die  Bildung  jenes  Mythus  entrinnen  will.  Jene  für 
alle  Kultur  schicksalshafte  Wendung  des  Geisteslebens  bedeutet 
vielmehr,  daß  man  sich  des  Absoluten  in  der  Form  des  Mythus 
wieder  bemächtigt.     Denn  der  Mythus   ist  in   allen  Kulturen  der 


404  Arthur  Liebert, 

Weg,  auf  dem  der  Menschengeist  zum  Absoluten  emporsteigt.  Er 
mythologisiert  also  so  wenig  das  Absolute,  daß  dieses  geradezu 
seine  Voraussetzung  darstellt,  daß  seine  Realität  die  Bedingung 
aller  Mythen,  daß  der  Wahrheits-  und  Geltungswert  und  daß  der 
Sinn  aller  Mythen  und  das  menschliche  Suchen  nach  ihnen  von 
der  Realität  des  Absoluten  abhängig  ist.  Nur  ein  in  einem  extrem- 
einseitigen und  doktrinären  Empirismus  und  Positivismus  befan- 
genes Zeitalter  oder  Geschlecht  verwässert  und  verkennt  die  Idee 
des  Absoluten  und  verkleinert  sie  zu  einer  subjektiven  Glaubens- 
vorstellung  oder  Einbildung,  die  durch  den  Fortschritt  der  Auf- 
klärung und  Intellektualität  angeblich  aus  der  Welt  geschafft 
werden  würde.  Aber  auch  umgekehrt  ist  nicht  einem  sich  in 
starker  Gläubigkeit  bewegenden  Zeitalter  oder  Geschlecht  die 
Pflege  und  Bewahrung  des  Mythus  ausschließlich  vorbehalten,  als 
besitze  es  ihn  als  ein  unantastbar  eigentümliches  Vorbehaltsgut. 
Denn  alle  Züge  und  Schichten,  alle  Richtungen  und  Gestalten 
der  Kultur  sind  vom  Mythus  erfüllt  und  umrankt,  und  es  ist  ein- 
fach ein  Vorurteil  oder  ein  Mißverständnis,  seine  Existenz  gewissen 
Stufen  und  Abschnitten  der  geschichtlichen  Entwicklung  abzu- 
sprechen. Ohne  Mythus  verliert  eine  Kultur  eine  ihr  wesentliche 
Bedingung,  weil  ihr  dadurch  der  so  notwendige  Weg  der  Her- 
stellung des  Verhältnisses  zu  einem  Absoluten  fehlen  würde.  Auch 
der  Rationalismus  hat  in  sich  einen  deutlich  erkennbaren  Mythus. 
So  kann  man  dem  Nietzsche  der  ersten  und  dritten  Periode  seiner 
philosophischen  Entwicklung  nicht  recht  geben,  dem  der  ,Sokra- 
tismus'  als  Verkörperung  einer  blutlosen,  negierend  und  zweifel- 
süchtig gerichteten  Aufklärerei  erschien,  und  der  behauptete, 
der  abstrakt  geleitete  Mensch,  die  abstrakte  Erziehung,  die  ab- 
strakte Sitte,  das  abstrakte  Recht,  der  abstrakte  Staat  ermangelten 
des  Mythus.  Und  man  kann  ebensowenig  Friedr.  Theodor  Vischer 
in  seiner  Behauptung  zustimmen:  „Kritik  ist  der  Tod  alles  My- 
thus" (Kritische  Gänge,  3.  Band  S.  34,  herausg.  von  Robert  Vischer). 
Denn  durch  die  Kritik  wird  nicht  aller  und  jeder  Mythus  ver- 
nichtet, sondern  nur  eine  bestimmte  Ausprägung  und  Erscheinung 
desselben.  Die  Kritik  selber,  sofern  sie  nur  irgendwie  schöpferisch 
ist,  also  einen  bestimmten  wissenschaftlichen  Gesichtspunkt  in  me- 
thodischer Folgerichtigkeit  durchführt  und  zu  dem  Fortschritt  der 
menschlichen  Erkenntnis  und  Einsicht  beiträgt,  m.  a.  W. :  positive 
Arbeit  leistet,  beruht  ebenfalls  auf  einem  Mythus  und  betätigt 
sich  in  dem  Rahmen  eines  solchen.     So  stimme  ich  durchaus  Ernst 


Mythus  und  Kultur.  405 

Bertram  zu,  der  in  seinem  eindrucksvollen  Werk:  «Nietzsche, 
Versuch  einer  Mythologie >  sagt:  „Selbst  in  sehr  bewußten,  ana- 
lytisch gerichteten  Zeiten,  in  Perioden  sogenannter  Allgemeinbil- 
dung, wird  die  Legende  (die  B.  ganz  im  Sinne  unseres  Begriffes 
Mythus  gebraucht)  nicht  ausgeschaltet,  ja  nicht  einmal  zurückge- 
drängt. Die  zunehmende  Bewußtheit,  die  Selbstkontrolle,  das  phi- 
lologische Wissen  um  die  tatsächlichen  Lebensumstände  einer  großen 
Erscheinung,  all  das  hat  nur  einen  recht  schmalen  Einfluß  auf  die 
Entstehung  der  Legende.  Weder  hemmend  noch  fördernd  ist  dieser 
Einfluß  wesentlich.  Der  überwache  und  überwachende  Intellekt 
hat,  wo  ein  Mythus  sich  durchsetzen  will,  auch  heute  nicht  anders 
als  früher  seine  unverrückbaren  Schranken"  (S.  3). 

Auch  in  der  ,Kritik'  verbirgt  sich  ein  Mythus.  Er  hat  die 
Grestalt  der  unbedingten  Überzeugung  von  der  Greltung  und  dem 
Wert  der  Wissenschaft,  von  der  Kulturbedeutung  der"  Erkenntnis. 
Und  diese  Überzeugung  gelangt  in  der  wissenschaftlichen  Kritik 
zu  theoretischem  Ausdruck.  Daß  die  Wissenschaft  eine  solche 
Bedeutung  hat,  ist,  wenn  man  sich  von  der  banalen  Feststellung 
ihrer  äußeren  Erfolge  und  von  dem  empirischen  Hinweis  auf  ihren 
unvergleichlichen  Siegeszug  fernhält,  rein  begriffsmäßig  nicht  be- 
weisbar. Hier  äußert  sich  vielmehr  die  mythenbildende  Kraft 
eines  Postulates,  das  sein  Eecht  aus  der  Idee  der  sittlichen  Be- 
stimmung des  Menschen,  aus  dem  G-edanken,  daß  die  wahre  Natur 
des  Menschen  im  Eeiche  der  Intelligibilität  liegt,  zieht.  Das  Ein- 
treten des  18.  Jahrhunderts  für  das  Werk  der  Aufklärung  und 
für  die  Ersetzung  der  dogmatischen,  auf  Offenbarung  sich  be- 
rufenden Gläubigkeit  durch  die  Vernunftreligion  und  Vernunft- 
theologie beruhte  auf  keinem  geringeren  Mythus  als  die  Geistes- 
verfassung und  das  ganze  System  der  mittelalterlichen  Katholizität. 
Hier  wie  dort  waren  Voraussetzungen  im  Spiel,  die  ihr  Recht  und 
ihr  Ansehen  auch  durch  keinerlei  Nützlichkeitserwägungen  be- 
glaubigen lassen.  Läßt^  es  sich  doch  mit  nichten  in  endgültiger 
und  einwandfreier  Entscheidung  ausmachen,  daß  die  Aufklärung 
bzw.  die  Vertretung  uud  Beibehaltung  der  mittelalterlich-kirch- 
lichen G-esinnung  und  Stimmung  „nützlich"  waren  oder  sind.  Auch 
an  diesem  Punkt  leuchtet  die  theoretische  Unzulänglichkeit,  ja 
Ambiguität  aller  pragmatistisch  -  utilitaristischen  Beweisführung 
ohne  weiteres  ein. 

Gesinnung,  G-eistesart,  Wertungen,  theoretisches  und  prak- 
tisches Verhalten   einer  Zeit    oder  eines  Lebenskreises,   eines  Ge- 

Kantstudien.   XXVII.  27 


406  Arthur  Liebert, 

schlechtes  oder  eines  einzelnen  Menschen  stehen  ihrem  letzten  Sinn 
nach  jenseits  der  Möglichkeit  einer  rein  begriffsmäßigen  Begrün- 
dung und  Ableitung.  Sie  sind  eben  in  ein  System  mythischer 
Voraussetzungen  eingebettet,  die  darin  ihr  Wesen  haben  und  ihre 
Kraft  darin  auswirken,  daß  sie  dem  ganzen  äußeren  und  inneren 
Wollen  und  Tun  die  Sicherung  der  Unbedingtheit  gewähren.  Durch 
sie  wird  die  empirische  Gegebenheit  der  Lebenszustände  und  Le- 
bensbetätigungen verankert  in  einem  Zusammenhang,  dessen  Struk- 
tur erhaben  ist  über  die  Zufälligkeiten  des  geschichtlichen  Wandels, 
weil  seine  Gesetze  den  Charakter  von  Sinnbeziehungen  oder  Sinn- 
bezogenheiten  der  äußeren  Lebenserscheinungen  auf  irgendeinen 
als  unbedingt  gültig  anerkannten  oder  geglaubten  Wert  besitzen. 
Selbst  ein  in  der  Stimmung  des  Relativismus  und  Skeptizismus  auf- 
gehendes Zeitalter  hat  in  der  Hypothesis  der  Geltung  des  Re- 
lativismus und  Skeptizismus  eine  Anknüpfung  an  ein  Unbedingtes. 
(Der  Begriff  der  Hypothesis  in  platonischem  Sinne  verstanden,  wie 
er  in  der  Philosophie  der  Gegenwart  besonders  von  den  Marbur- 
gern, hier  in  erster  Linie  von  Hermann  Cohen  und  Natorp,  her- 
ausgearbeitet und  vertreten  wird.)  Darin  bekundet  sich  der  grund- 
sätzliche und  unverwischbare  Unterschied  desjenigen  Zusammen- 
hanges, den  wir  Geschichte  nennen,  gegenüber  allen  Bezügen  na- 
turhaften Seins,  daß  jede  seiner  Stufen  und  Begebenheiten,  daß 
jeder  seiner  Zustände  und  jede  in  ihm  auftretende  Person  sich 
nicht  restlos  darin  erschöpft  und  ausspricht,  daß  sie  bloß  da  ist  und 
wirkt.  Sie  hat  vielmehr  eine  immanente  Beziehung  auf  einen  Sinn 
oder  ein  Ziel,  deren  Erfassung  und  Feststellung  nicht  sowohl  eine 
Tat  der  Erkenntnis  als  vielmehr  eine  Aufgabe  mehr  oder  minder 
konstruktiver  Deutung  ist.  Die  Einsicht  darin,  daß  die  empirische 
Geschichte  in  jedem  ihrer  Momente  und  Elemente,  sofern  diese 
wirklich  von  historischer  Zuständigkeit  sind,  auf  einen  Zusammen- 
hang hinweisen  und  hinarbeiten,  den  wir  einmal  der  Kürze  halber 
als  einen  intelligibelen  bezeichnen  wollen,  verdanken  wir  bekannt- 
lich der  spekulativ-idealistischen  Geschichtsphilosophie.  Deren 
Wesen  besteht  darin,  daß  sie  den  sinnhaften,  absoluten  Hinter- 
grund alles  Empirischen  und  Peripheren  in  der  Geschichte  in  me- 
thodischer Konstruktion  gedeutet  hat.  Diese  konstruktive,  speku- 
lative Einstellung  war  es,  der  es  gelang,  über  die  empirisch-histo- 
rische Erkenntnis  der  Geschichte  hinauszugehen  und  die  Geschichte 
zur  Idee  zu  erheben  und  damit  erstmalig  die  Kultur  als  Idee  zu 
sehen  und  in  ihrem  ideellen  Gehalt  zu  entwickeln. 


Mythus  und  Kultur.  407 

Dieses  Aufgraben  des  Absoluten  in  allem  Relativen,  dieses  Er- 
blicken eines  ewigen  Sinnes  in  allen  Zeitlichkeiten  ist  seinem 
Prinzip  und  Wesen  nach  nichts  anderes  als  jene  Fälligkeit  und 
Funktion,  die  wir  gewöhnlich  als  ein  Vorrecht  und  als  eine  Eigen- 
tümlichkeit mythologisch  gerichteter  Zeitalter  anzusprechen  pflegen. 
Jedoch  selbst  ein  G-eschlecht,  das  einem  vollkommenen  Positivismus 
nnd  Naturalismus  verfallen  ist,  und  das  die  Aufgabe  und  Kraft 
der  menschlichen  Erkenntnis  auf  die  Feststellung  der  Gesetzmäßig- 
keit der  Erscheinungen  beschränkt  wähnt,  hat  in  der  notwendig 
vorauszusetzenden  Geltung  der  Gesetzlichkeit  seinen  Mythus. 
Deshalb  kann  nicht  der  religiöse  Glaube  für  sich  den  Vorzug  und 
die  Besonderheit  in  Anspruch  nehmen,  daß  er  allein  ein  Anrecht 
auf  den  Mythus  besäße.  Was  ihn  auszeichnet,  ist  nur  eine  spe- 
zifische Form  des  Mythus,  vielleicht  eine  solche  von  der  größten 
Inhaltlichkeit  und  Innigkeit  und  darum  begabt  mit  dem  stärksten 
Antrieb  zur  Erlösung,  zur  Weltüberwindung.  Überall  da,  wo  sich 
innerhalb  des  geschichtlichen  Lebens  eine  Beziehung  zu  einem,  in 
diesem  Leben  nicht  ganz  eingebetteten  und  sich  ihm  nicht  restlos 
ausliefernden  Sinnhaft-Absoluten  eröffnet,  stehen  wir  vor  der 
Wirksamkeit  eines  Mythus.  Und  da  sich  diese  Durchbrechungen 
der  empirischen  Lebenszone  an  hunderttausend  Ecken  zeigen,  da 
die  Dialektik  und  Paradoxie  der  Kultur  in  einer  unaufhörlichen 
Transzendierung  ihrer  Bestandteile  und  Vorgänge  besteht,  worauf 
besonders  Georg  Simmel  und  Heinrich  Rickert  aufmerksam  ge- 
macht haben,  bekundet  sich  in  zahllosen  Fällen  und  in  allen 
Schichten  und  Bewegungen  der  Kultur  die  schöpferische  und  un- 
vermeidliche Leistung  des  Mythus.  Man  muß  ihn  geradezu  als 
eine  für  alle  Kultur  wesentlich  bestimmende  Bedingung  bezeichnen ; 
und  keine  Philosophie  der  Kultur  oder  im  philosophischen  Geiste 
gehaltene  Geschichte  der  Kultur  kann  an  dieser  konstitutiven  Be- 
deutung des  Mythus  vorübergehen. 

So  läßt  sich  in  Zusammenfassung  der  bis  jetzt  gebotenen  Aus- 
führungen als  Ergebnis  aussprechen:  Überall  da  machen  sich  das 
Auftreten  und  die  Betätigung  eines  Mythus  geltend,  wo  die  Re- 
lativität und  die  geschichtliche  Gebundenheit  eines  Glaubens-, 
Vorstellungs-,  Gedankenkreises  überschritten  wird,  wo  irgendein 
Bezirk  der  Kultur,  über  das  Empirische  seines  Bestandes  und  An- 
sehens hinausgreifend,  nach  seinen  ewigen  Vernunftbedingungen 
als  den  Prinzipien  seiner  Phaenomenalität  fragt,  wo  er  sich  zur 
Unbedingtheit    erhebt.     Der    geschichtlich   am   häufigsten   zu   be- 

27* 


408  Arthur  Liebert, 

obachtende  Prozeß  dieses  Unbedingtwerdens  oder  auch  nur  dieses 
Verlangens  nach  Unbedingtheit  hat  die  Form,  daß  ein  einzelnes 
Kulturgebiet,  sagen  wir  die  Philosophie  oder  die  Religion,  über 
das  ursprüngliche  Feld  seiner  Entstehung  und  Geltung  hinaus  zur 
Herrschaft  über  die  ganze  geistige  Ebene  und  Tiefe  einer  Zeit 
strebt,  sich  in  die  Stellung  der  Allgemeinheit  und  Allgemein- 
gültigkeit einschiebt  und  nun  alle  übrigen  Tendenzen,  Arbeiten, 
Einrichtungen  der  Zeit  mit  seinem  Wesen  erfüllt,  sie  gleichsam 
umklammert.  Der  Akt  der  Annahme  und  Anerkennung  solcher 
Grundbedingungen,  denen  metaphysische  Geltung  innewohnt,  dient 
allem  empirischen  Gebahren  und  Verhalten  zur  Voraussetzung :  er 
hat  durchaus  konstruktiv-mythische  Bedeutung  und  stellt  eine 
völlig  autonome  Geistestat  dar.  Die  sich  in  ihm  und  mittels  seiner 
vollziehende  prinzipielle  Wendung  des  Lebens  ist  mit  Hilfe  der 
Wissenschaft  nicht  weiter  erklärbar.  Wir  stehen  hier  vor  einer 
durchaus  spontanen  Freiheitshandlung,  die  allein,  wie  die  idealisti- 
sche Philosophie  uns  gelehrt  hat,  die  Erscheinungen  des  Lebens 
zur  Hohe  des  Wertes  und  der  Würde  steigert  und  ohne  deren 
Vollzug  nicht  einmal  von  einem  Seienden  mit  Vernunft  und  Sinn 
gesprochen  werden  kann.  Diese  Wendung  kann  religiösen  Cha- 
rakter haben  und  zu  einem  religiös  gearteten  Mythus  führen, 
braucht  es  aber  mit  nichten.  Sie  kann  ebensogut  einen  ethischen, 
aesthetischen,  politischen,  intellektuell-wissenschaftlichen  Charakter 
aufweisen  und  hat  einen  solchen  im  Laufe  der  geschichtlichen 
Entwicklung  oft  genug  aufgewiesen  und  dann  eine  Verabsolutierung 
und  Verewigung  der  sittlichen,  der  künstlerischen,  der  staatlichen, 
der  wissenschaftlichen  Prinzipien  gezeitigt. 

Der  metaphysische  Sinn,  der  in  dieser  durch  den  Mythus  sich 
vollziehenden  Wendung  des  Lebens  ruht,  und  um  dessentwillen 
das  Leben  zur  Schöpfung  eines  Mythus  greift,  läßt  sich  auch  durch 
folgende  Überlegung  klarstellen  oder  zum  mindesten  umschreiben. 

Der  übliche  Ablauf  der  geschichtlichen  Bewegung  verstrickt 
Menschen  und  Zeiten  immer  unerbittlicher  in  das  Netz  empirischen 
Geschehens,  starrer,  seelenloser  Konventionen,  formaler  Bindungen, 
hingenommener  Größen  und  Autoritäten,  deren  Recht  und  Aner- 
kennung schließlich  nur  auf  der  äußeren  Dauer  ihres  Daseins  und 
nur  auf  einer  durch  Gewohnheit  gestützten  Tradition  gegründet 
scheinen.  Mit  einem  starken  Wort:  Das  Reich  der  Schatten  und 
die  Gesetze  der  Schattenwelt  breiten  sich  immer  mehr  aus.     Alle 


Mythus  und  Kultur.  409 

geschichtlichen  Geltungen  scheinen  alsdann  ihr  Ansehen  und  ihre 
Bürgschaft  lediglich  aus  der  Tatsächlichkeit  des  Umstandes  zu 
ziehen,  daß  sie  unter  bestimmten  historischen  Bedingungen  ent- 
standen sind  und  damit  einem  bestimmten  historischen  Zusammen- 
hang angehören.  Aus  der  Tatsache,  daß  sie  geworden  sind  und 
einen  Teil  des  geschichtlichen  Bestandes  darstellen,  suchen  sie 
ihren  "Wert  abzuleiten  und  zu  beglaubigen. 

Da  jedoch  keine  Tatsächlichkeit  einen  Wert,  eine  Bedeutung 
zu  schaffen  imstande  ist,  und  mag  sie  einen  noch  so  großen  histori- 
schen Raum  einnehmen,  so  gerät  das  geschichtliche  Leben,  wenn  es 
einmal  keiner  anderen  Leitung  unterstellt  ist  als  den  empirischen 
Gesetzen  seines  konkreten  Daseins  und  Dahingetriebenwerdens,  in 
einen  schließlich  blut-  und  seelenlosen  Relativismus ;  es  wird  zu 
nichts  anderm  als  zur  bloßen  „ Geschichte ".  Denn  das  alsdann 
herrschende  Gesetz  kennt  und  umfaßt  nichts  anderes  als  Erschei- 
nungen. Die  nackten  Gegebenheiten  in  ihrem  Vorhandensein  und 
Wirken  rücken  in  ein  Scheinrecht  ein,  und-  alle  Geltung  ver- 
äußerlicht sich  zu  dem  leeren  Charakter  eines  in  reiner  Macht 
verankerten  Seins,  das  sittliche,  ästhetische,  religiöse,  metaphy- 
sische Sinnbeziehungen  und  alle  Begründungen  in  einem  Absoluten 
nicht  duldet  oder  geradezu  verschmähen  zu  dürfen  glaubt.  Man 
kann  diese  Bewegung  des  geschichtlichen  Lebens,  die  in  tausend 
Fällen  zu  beobachten  ist,  als  den  Weg  der  Verendlichung  und 
Empirisierung  einer  Kultur  oder  einer  Periode  bezeichnen:  Die 
wesenhaften  Rechtsgründe  der  geschichtlichen  Arbeit  geraten  mehr 
und  mehr  in  Vergessenheit,  höchstens  daß  versucht  wird,  die  Be- 
strebungen und  Errungenschaften  der  Geschichte  durch  einen  mehr 
oder  minder  banalen  Pragmatismus  zu  beglaubigen.  Das  Leben 
erhält  einen  stetig  zunehmenden  Zug  an  Unwirklichkeit  und  Un- 
wesentlichkeit, es  beginnt,  gleichsam  in  der  Luft  zu  schweben ;  die 
Momente  seiner  Wirklichkeit  erstarren  und  veräußerlichen  sich 
zu  selbstgenugsamen  Faktizitäten  und  zu  bloß-zeitlichen  Stellen  in 
einem  empirischen  Zusammenhang. 

Damit  aber  büßt  es  seine  Substanz  ein.  Denn  die  Substanz 
des  geschichtlichen  Lebens  besteht  in  dessen  Beziehung  auf  das 
Absolute.  Nur  in  dieser  Beziehung  gewinnt  und  bewahrt  es  seinen 
Gehalt ;  nur  aus  seiner  Beziehung  zu  dem  wahrhaft  Wirklichen  ge- 
winnt und  bewahrt  es  selber  eine  Wirklichkeit.  Die  ihm  aus 
seinem  notwendig  zu  postulierenden  Sinn  gestellte  Aufgabe  besteht 
demnach  in  dem  unnachlaßlichen  und  unermüdlichen  Bestreben,  die 


410  Arthur  Lieber t, 

ihm  ständig  drohende  Relativierung  um  jeden  Preis  fernzuhalten 
bezw.  zu  überwinden.  Es  ist  das  der  beständige  gigantische  Kampf 
der  Geschichte  gegen  die  Vergewaltigung  durch  leere  Schatten 
und  Formen,  damit  ihr  ideeller  Gehalt,  damit  ihre  Idee,  damit  ihre 
Vernunft  nicht  unterdrückt,  nicht  erdrosselt  werde.  Diese  im- 
manent geforderte  Erhebung  zu  seinem  Sinn,  zu  seiner  Vernunft 
kann  das  Leben  jedoch  auf  keinem  anderen  und  keinem  sichereren 
Wege  erreichen  als  dadurch,  daß  es  eine  seiner  empirischen  Ge- 
stalten und  Erscheinungsformen  aus  ihrer  bloß  zeitlichen  Ver- 
klammerung und  Tatsächlichkeit  befreit  und  es  zur  Unbedingtheit 
steigert.  Das  kann  das  eine  Mal  die  Religion,  das  andere  Mal 
die  Kunst,  ein  drittes  Mal  die  Philosophie,  ein  viertes  Mal  die 
Wissenschaft  usw.  sein  bezw.  durch  diese  geschehen. 

Diese  Steigerung  eines  Kulturgebietes,  einer  Gesinnungsweise, 
eines  Betätigungskreises  zur  Unbedingtheit  vollzieht  sich  nämlich 
alle  Male  dann,  wenn  wieder  die  Entdeckung  gemacht  und  ein 
Verständnis  dafür  wieder  gewonnen  ist,  daß  sich  die  betreffende 
Lebensform  auf  der  Ewigkeit  vernünftiger  Prinzipien  gründet,  also 
mehr  ist  als  das  lockere  Ergebnis  historischer  Entwicklungen  und 
Konventionen,  mehr  ist  als  der  Ausdruck  menschlicher  Wünsche 
und  Bedürfnisse,  wenn  also  alles  Psychologische  und  Anthropolo- 
gische, das  ihr  in  noch  so  auffälliger  Auflagerung  anhaften  mag, 
als  ein  zeitlicher  Zusatz  erkannt  wird.  Geschieht  das,  und  dieses 
Geschehen  ist  ebenso  notwendig,  wie  in  zahlreichen  Fällen  nach- 
weisbar, dann  pflegt  das  betreffende  Kulturgebiet  seinen  ursprüng- 
lichen Herkunfts-  und  Geltungskreis  zu  überschreiten,  seinen  Cha- 
rakter als  Sonderfach  abzustreifen,  die  Züge  seines  Wesens  zur 
Allgemeinherrschaft  über  den  ganzen  Bereich  einer  Kultur  zu 
bringen.  So  tritt  z.  B.  zu  bestimmten  Zeiten  die  ganze  Fülle  des 
geschichtlichen  Lebens  unter  das  Licht  der  Religion,  die  dann  das 
maßgebende  Prinzip  für  alle  Bestrebungen  und  Leistungen  wird. 
Wir  kennen  auch  Zeiten,  die  der  Philosophie  oder  außer  ihr  der 
Wissenschaft  diese  überragende  Stellung  und  Geltung  einräumten. 
Steht  doch  fast  die  ganze  Weite  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  so- 
wohl der  Gesinnung  als  der  theoretischen  und  praktischen  Ein- 
stellung nach  unter  dem  bestimmenden  Einfluß  des  Rationalismus, 
der  in  den  mathematischen  Naturwissenschaften  und  den  konstruk- 
tiven Systemen  von  Descartes  und  Leibniz  seinen  höchsten  Aus- 
druck fand  und  eine  im  nahezu  uneingeschränkten  Sinne  tyran- 
nische Macht  ausübte.     Was    sich   hier  begab,  war  nichts  weniger 


Mythus  und  Kultur.  411 

als  eine  zwar  grandiose,  aber  doch  auch  wieder  gewaltsame  Ra- 
tionalisierung und  Verwissenschaftlichung  des  ganzen  geschicht- 
lichen Lebens  in  allen  dessen  Formen  und  Zweigen,  ein  Vorgang 
von  ungeheuerer  Tragweite  und  Folgewichtigkeit,  der  seine  nach- 
haltige Auswirkung  bis  in  die  Gegenwart  erstreckt.  — 

Wenn  man  nun  den  metaphysischen  Sinn  einer  solchen  inneren 
und  äußeren  Potenzierung  eines  Sondergebietes  zur  normgebenden 
Größe  und  zum  Regulativ  für  eine  ganze  geschichtliche  Periode 
zu  erfassen  und  zu  deuten  sucht,  so  wird  man  unschwer  gewahr, 
daß  sich  in  dem  Prozeß  dieser  Wertsteigerung  die  Schöpfung  einer 
Weltanschauung  und  die  Gewinnung  eines  Weltbildes  vollziehen, 
mag  es  sich  dabei  in  dem  einen  Falle  um  eine  mehr  religiös,  im 
andern  um  eine  mehr  wissenschaftlich  -  rationalistisch,  vielleicht 
speziell  naturwissenschaftlich  geartete  Weltanschauung  handeln. 
Wesen  und  Sinn  dieses  Prozesses  aber,  von  dessen  Verlauf  und 
Gelingen  fast  ausnahmslos  das  Schicksal  seiner  ganzen  Zeit  und 
aller  in  dieser  tätigen  Geschlechter  abhängt,  bestehen  nun  eben 
in  der  Erreichung  und  in  der  Konstruktion  einer  Absolutheit,  sei 
es,  daß  es  die  der  Religion,  sei  es,  daß  es  die  der  Wissenschaft 
oder  der  Kunst  oder  der  Philosophie  ist,  wodurch  inmitten  des 
geschichtlichen  Gewirres  und  seiner  gleichmacherisch-empirischen 
Tendenz  ein  intelligibler  Halt  und  Maßstab  aufgerichtet,  d.  h.  der 
Weg  zur  Unbedingtheit  aufgewiesen,  angebahnt  oder  unter  Um- 
ständen auch  schon  beschritten  wird.  Die  Bildung  einer  Weltan- 
schauung besitzt  ihre  wohl  wichtigste  sachliche  Voraussetzung  in 
der  Anknüpfung  an  ein  besonderes  Wertgebiet,  das  nun  die  so- 
wohl in  intensiver  als  in  extensiver  Beziehung  möglichst  größte 
Ausweitung  und  Stärkung  erfährt.  So  hat  die  naturalistisch-kos- 
mologische  Weltanschauung  ihre  Voraussetzung  zum  Hauptteil  in 
der  Naturwissenschaft  und  Naturphilosophie.  Für  den  Piatonismus 
stellt  die  Mathematik  eine  der  wesentlichen  grundlegenden  Funk- 
tionen dar.  Diejenige  Weltanschauung,  die  wir  Klassizismus  und 
Hellenismus  nennen,  ruht  auf  einer  humanistisch  gefärbten  Ästhetik, 
die  romantische  Weltanschauung  auf  der  Absoluterklärung  der 
Kunst  bezw.  der  Verbindung  von  Kunst  und  Religion,  die  histo- 
rische Weltansicht,  wie  sie  besonders  im  19.  Jahrhundert  hervor- 
getreten ist,  auf  der  Übersteigerung  der  Geisteswissenschaften; 
der  Rationalismus,  einer  der  macht-  und  bedeutungsvollsten  Typen 
der  Weltanschauung  überhaupt,  auf  der  Verabsolutierung  der  ma- 
thematisch-mechanischen   Naturwissenschaft   und    ihrer    Methodik. 


412  Arthur  Liebert, 

Hat  man  doch  —  übrigens  in  zutreffender  Weise  —  die  mechanistische 
Weltansicht  geradezu  die  Religion  jener  Zeit  genannt,  ebenso  wie 
—  nicht  ohne  ironisierenden  Unterton  —  das  Systeme  de  la  Na- 
tur e  von  Holbach  als  „Bibel"  des  Atheismus  und  Materialismus 
bezeichnet  wurde. 

Diese  Wendung  zur  Weltanschauung  ist  in  sich,  ist  in  ihrer 
Bedeutung  ein  intelligibler  Vorgang,  der  also  nicht  psychologisch 
verstanden,  nicht  anthropologisch  oder  subjektivistisch  aufgefaßt 
werden  darf,  mag  er  sich  auch  innerhalb  der  menschlichen  Seele 
vollziehen.  Denn  wo  anders  sollte  er  denn  vonstatten  gehen? 
Aber  nicht  das  Wo,  Wie  und  Wann,  sondern  der  Sinn  ist  auch 
hier  maßgebend.  Dieser  Sinn  besteht  darin  und  wirkt  sich  stets 
dahin  aus,  daß  jene  Wendung  von  der  Absicht,  von  der  Zielein- 
stellung auf  Erfassung  der  Intelligibilität,  auf  Gewinnung  eines 
sinnhaft-absoluten  Wertes  als  des  wahrhaft  Wirklichen  erfüllt  ist. 
Indem  aber  inmitten  der  Empirie  des  geschichtlichen  Lebens  dieser 
Zug  zur  Geltung  gelangt,  indem  das  Geschichtliche  die  Steigerung 
zum  Metaphysischen  erfährt,  wird  das  Empirische  und  Alltägliche, 
wird  die  Erscheinung  und  das  Durchschnittliche  überwachsen  und 
durchtränkt,  vom  Bloß-Geschichtlichen  erlöst  und  zu  geschichtlicher 
Bedeutsamkeit  erhoben  durch  die  Kraft  des  Mythus,  wobei  es 
nebensächlich  ist,  ob  derselbe  in  den  traditionellen  Formen  eines 
solchen  auftritt  oder  nicht. 

Seine  vergleichsweise  wichtigste  und  interessanteste  Verwirk- 
lichung erlebt  eine  Zeit  oder  ein  Geschlecht  jedoch  immer  dann, 
wenn  sich  der  Mut  und  die  Begabung  zur  Metaphysik  zeigen  und 
es  zur  Schöpfung  einer  konstruktiven  Metaphysik  kommt.  Wie 
denn  auch  umgekehrt  eine  Zeit  geistig  verarmt  und  dem  seelischen 
und  sittlichen  Zusammenbruch  rettungslos  entgegentreibt,  wenn 
jene  Schöpfung  auf  die  Dauer  ausbleibt  oder  alle  auf  sie  gerich- 
teten Bemühungen  mißachtet  bezw.  als  ein  vergnügliches,  aber 
aussichtsloses  Spiel  hingestellt  werden.  Metaphysikfreie  oder  meta- 
physikfeindliche Zeiten  sind  unfruchtbar  im  höheren  Sinne  dieses 
Begriffes;  das  Merkmal  geistiger  Fadheit  ist  ihnen  unverwischbar 
aufgeprägt.  Denn  sie  sind  dadurch  gekennzeichnet,  daß  sich  der 
Geist  nicht  zur  Freiheit,  nicht  zum  Absoluten  durchzukämpfen 
vermag,  daß  ihn  die  Bürde  der  Tatsachen  allzu  stark  bedrückt  und 
fesselt,  um  in  diesen  nur  Symbole  eines  Ewigen  zu  erblicken. 

Prägt  sich  im  Mythus  ganz  allgemein  die  Wendung  des  Geistes 
zum  Absoluten  aus,  so  ersteht  eine  Metaphysik  dann,   wenn  diese 


Mythus  und  Kultur.  413 

Wendung  sich  des  Mittels  des  Gedankens,  also  der  Form  der  Er- 
kenntnis und  des  Begriffes  bedient.  So  stellt  die  Metaphysik  den 
speziellen  theoretischen  Versuch  der  Erfassung  des  Absoluten  dar ; 
sie  ist  m.  a.  W.  der  begriffsmäßige,  in  theoretischer  Entwicklung 
und  in  systematischer  Methode  durchgeführte  Ausdruck  des  Mythus ; 
also  keineswegs  seine  volle,  restlose  Darstellung  und  Umsetzung. 
Sie  ist  von  ihm  und  aus  seiner  ungeheueren  Fülle  nur  das,  was 
in  die  Gestalt  des  systematisch  gefaßten  Gedankens  eingeht,  was 
von  seinem  Sinn  und  Inhalt  sich  mit  den  Werkzeugen  methodisch 
und  begrifflich  geleiteter  und  geregelter  Deutung  und  Konstruk- 
tion aussagen,  einfangen  läßt.  Daneben  bleibt  die  Möglichkeit 
anders  gerichteter  Einstellungen  zum  Inhalt  und  Zweck  des  My- 
thus offen,  jener  Einstellungen,  die  in  der  Kunst,  in  den  Einzel- 
wissenschaften, in  der  Religion,  in  der  wahren  Sittlichkeit,  in  den 
höchsten  Formen  der  Liebe,  der  Freundschaft,  der  Verehrung,  der 
Pietät,  der  wertschaffenden  Arbeit  ihren  objektiven  Niederschlag 
und  ihre  befreiende  Verwirklichung  finden.  In  ihnen  allen  ist  die 
Kraft  des  Mythus  wirksam  u.  z.  in  jenem,  in  den  vorangehenden 
Zeilen  entwickelten  Sinne:  Überwindung  der  empirisch-psycholo- 
gischen Gegenständlichkeit  einer  Handlung  oder  eines  Vorganges 
durch  die  Anknüpfung  an  ein  Absolutes,  wodurch  jene  Handlung 
oder  jener  Vorgang  über  ihre  empirische  Tatsächlichkeit  hinaus- 
weisen und  den  Wert  von  Symbolen  gewinnen.  Ohne  die  trans- 
zendierende  Wirksamkeit  des  Mythus  bleiben  wir  rettungslos  der 
Zone  der  bloßen  Erscheinungen  verfallen,  gibt  es  keine  Erhebung 
zum  Reiche  der  Ideen.  So  ist  also  auch  der  Mythus  selber  nicht 
als  ein  subjektiv- empirisches  Vorstellungsgebilde  aufzufassen,  dem 
man  mit  der  Betrachtungsweise  der  üblichen,  naturwissenschaftlich 
orientierten  Psychologie  nahekommen  könnte.  Es  gilt  vielmehr, 
ihn  als  dasjenige  Sinngebilde  zu  begreifen,  in  dem  die  intelligibele 
Freiheit  als  Urtat  des  Menschen  ihre  allgemeinste  Bekundung 
ausübt. 

Und  als  diese  allgemeinste  Bekundung  ist  er  nun  in  allen 
besonderen  Sinngefügen  der  Kultur  wirksam,  gleichsam  ihrer  aller 
Grundzug,  der  es  ihnen  ermöglicht,  mehr  als  nur  empirische  Voll- 
züge in  dem  Bewußtsein  der  Menschen  zu  sein.  Daß  die  Idee  der 
Freiheit  in  die  Sphäre  irgendeiner  empirischen  Betätigung  ein- 
strahlt und  in  dieser  eine  metaphysische  Wendung  hervorruft, 
beruht  auf  der  Funktion  des  Inbegriffes  jener  konstruktiven  Sinn- 
deutungen des  Lebens,  den  wir  Mythus  nennen. 


414  Arthur  Liebert, 

Die  theoretische  Spezialform  jener  konstruktiven  Spekulation 
ist  die  Metaphysik.  An  dieser  Stelle  sei  Abstand  davon  genommen, 
dem  Verhältnis  zwischen  Mythus  und  Metaphysik  genauer  nach- 
zugehen. Durchschaut  man  aber  dieses  Verhältnis,  dann  erledigt 
sich  auch  der  alte  Streit  über  die  Eigentümlichkeit  des  Geltungs- 
charakters  der  Metaphysik,  zugleich  auch  der  über  die  Frage,  ob 
Metaphysik  Wissenschaft  sei  oder  nicht.  Wenn  wir  hier  durchaus 
dafür  eintreten,  daß  zwischen  Mythus  und  Metaphysik  eine  imma- 
nente Beziehung  obwalte,  so  ist  nicht  die  Meinung,  daß  die  Meta- 
physik ein  Mythus  sei.  Sie  ist  mehr,  und  sie  ist  weniger.  Mehr : 
Den  allgemeinen  Transzendierungen,  die  sich  im  Mythus  begeben, 
verleiht  sie  die  systematische  Gedankenform,  die  begriffsmäßige 
Einkleidung;  ohne  sie  würde  der  Mythus  nicht  zu  theoretischer, 
vernünftiger  Gestaltung  gelangen.  Weniger:  Die  Metaphysik  ist 
nur  eine  der  möglichen  Vernunftformen  des  Mythus,  der  überhaupt 
alles  Historische  zu  einem  symbolischen  Bild  verklärt  u.  z.  da- 
durch, daß  er  es  in  das  Reich  der  Idee  erhebt  oder  von  der  Idee 
als  dem  Absoluten  aus  begründet.  So  ist  denn  auch  der  ewige 
Sinn  des  Mythus  nur  aus  der  einen  oder  der  andern  der  ihm  mög- 
lichen und  gewährten  symbolischen  Verkörperungen  zu  begreifen, 
die  seine  historischen  und  historisch  bedingten  Objektivationen 
darstellen,  während  er  selber  sich  in  keiner  von  ihnen  erledigt. 
Man  muß  die  schöpferische  Geistes einstellung  und  Geistesmacht 
begreifen,  die  in  dem  Begriff  des  Mythus  zusammengefaßt  wird; 
man  muß  verstehen,  was  sie  für  die  menschliche  Geschichte  und 
das  menschliche  Leben  bedeuten,  und  man  braucht  dann  nicht  mehr 
bänglich  zu  erwägen,  ob  zu  ihrer  Bezeichnung  das  Wort  Mythus 
mit  Recht  gewählt  ist.  Wenn  nach  der  tiefsinnigen  Auffassung 
und  Deutung  Hegels  der  Mythus  das  Anschauen  des  Weltgeheim- 
nisses in  der  Form  der  Person  ist,  so  bedarf  es  nur  der  vollstän- 
digen Durchführung  dieses  'personalistischen'  Gedankenzuges,  wozu 
in  der  Philosophie  des  deutschen  Idealismus  die  wertvollsten  Hand- 
haben und  Richtlinien  geboten  werden  (in  der  Gegenwart  in  erster 
Linie  von  William  Stern),  um  den  Begriff  des  Mythus  ganz  in 
dem  in  dem  vorliegenden  Zusammenhang  entwickelten  und  ver- 
tretenen Sinn  zu  verstehen.     (Vgl.  auch  weiter  unten  S.  437.) 


Mythus  und  Kultur.  415 

II. 

Typische  Sondermythen  auf  einzelnen  geschichtlichen  Kultur- 
stufen. 

Der  auf  Verabsolutierung  eingestellte  und  auf  das  Absolute 
hinzielende  Prozeß  der  Mythologisierung  der  Kultur  nimmt  nun 
nämlich  teil,  an  dem  dialektischen  und  antinomischen  Schicksal  aller 
schöpferischen  und  im  metaphysischen  Sinne  spontanen  und  auto- 
nomen Funktionen.  D.  h. :  Auch  er  vermag  seine  volle  Freiheit  nicht 
uneingeschränkt  zu  betätigen,  sondern  er  erfährt  eine  Abwandlung 
und  Einengung  durch  die  besonderen  Verhältnisse  und  Strukturen 
der  an  ihm  interessierten  Zeiten,  Geschlechter,  Menschen.  Man 
sieht  das  ewige  Bild  des  Mythus  stets  gleichsam  gefärbt  durch 
eine  bestimmte  geschichtliche  Brille;  man  historisiert  und  konkre- 
tisiert es  und  sucht  es  jeweiligen  Forderungen,  Lebensstimmungen, 
Zweckvorstellungen,  Zeitempfindungen  und  Zeitströmungen  anzu- 
gleichen, sogar  es  durch  diese  beeinflussen  zu  lassen  und  von  ihnen 
abhängig  zu  machen. 

Auf  diese  Weise  entstehen  jene  Sonderformen  des  Mythus, 
die  für  bestimmte  geschichtliche  Lagen  und  Verhältnisse  so  sehr 
charakteristisch  sind,  daß  sie  geradezu  einen  Wesensbestandteil 
dieser  Lagen  und  Verhältnisse  darstellen  und  herangezogen  und 
genau  berücksichtigt  werden  müssen,  soll  eine  innere  Erfassung 
der  betreffenden  historischen  Perioden  und  ihrer  Vertreter  gelingen. 
Die  in  Ausführung  von  Andeutungen  Nietzsches  und  besonders 
Diltheys  in  Angriff  genommenen,  sehr  wertvollen  und  aussichts- 
reichen Bemühungen  um  die  Entwicklung  einer  Struktur-  und 
Typenpsychologie  als  Grundlage  der  Geisteswissenschaften  —  hier 
wäre  in  vorderster  Linie  Eduard  Sprangers  Werk :  „Lebensformen" 
zu  nennen  —  muß  es  sich  angelegen  sein  lassen,  die  maßgebenden 
Hauptarten  der  Mythen  zu  studieren,  weil  gerade  ihre  Erfassung 
ungemein  geeignet  ist,  unser  historisches  Verständnis  zu  fördern. 
In  den  Hauptmythen  der  Kultur  liegen  charakteristische  Verdich- 
tungen typisch-menschlicher  Einstellungen  zur  Wirklichkeit  "vor, 
die  oft  wie  mit  einem  Blitz  die  Grundverfassung  ganzer  Zeitab- 
schnitte und  Generationen  erhellen.  — 

* 

a)  Einen  interessanten  Beleg  für  die  Richtigkeit  dieser  Behaup- 
tungen bietet  der  in  den  mannigfachsten  Gestalten  und  Abwand- 
lungen immer  wieder  auftretende  Mythus  von  Piaton  und  vom 
Piatonismus.    Fast  regelmäßig  macht  sich  auf  hervorstechenden 


416  Arthur  Liebert, 

Stufen  der  abendländischen  Greistesgeschichte  eine  bestimmte  Aus- 
prägung dieses  Mythus  geltend.  So  wird  gewöhnlich  angenommen, 
seit  der  durch  Cosimo  von  Medici  bewirkten  Gründung  der  Pla- 
tonischen Akademie  zu  Florenz  datiere  die  vertiefte  Erneuerung 
der  Kenntnis  und  des  Studiums  der  Philosophie  Piatos.  Tatsächlich 
aber  haben  wir  hier,  wie  ich  an  anderer  Stelle  darzutun  versucht 
habe,  eine  legendarische  Zurechtmachung  der  eigenen  Lebensstim- 
mung und  Weltanschauung  unter  der  Führung  und  dem  bestim- 
menden Einfluß  eines  Symbols  vor  uns,  dem  man  einzelne,  an  Piaton 
anklingende  Züge  lieh.  Die  besondere  Lage  und  Geistesverfas- 
sung der  Renaissance  verlangte  nach  einer  Heiligenfigur  und  nach 
einer  Philosophengestalt,  die  möglichst  stark  von  dem  im  Mittel- 
alter als  unbedingten  Meister  verehrten  Aristoteles  abwich,  zu- 
gleich aber  gewisse  Möglichkeiten  und  Voraussetzungen  gab,  um 
als  Vertreter  und  Verkörperer  der  eigenen  Gedanken  und  Gefühle 
zu  erscheinen.  Der  Prozeß  der  Deutung  und  Umdeutung  Piatos 
und  dessen  Angleichung  an  den  Ideen-  und  Erlebniskreis  der  Re- 
naissance floß  aus  einer  tiefen  mythologisierenden  Quelle.  Und  das 
auf  diesem  Wege  entstandene  Gemälde  entsprach  nicht  sowohl  der 
Philosophie  Piatos  als  vielmehr  einem  dynamischen  und  emana- 
tistischen  Pantheismus,  der  viel  mehr  von  Plotin  und  aus  der 
Mystik  des  Neuplatonismus  stammte  als  aus  dem  Geiste  des 
Schöpfers  die  Ideenlehre.  Denn  in  dem  Bilde  dieses  neuplatonisch 
umstilisierten  Piaton  waren  z.  B.  die  Beziehungen  der  Ideenlehre  zur 
Mathematik  und  die  Bedeutung  derselben  als  Wissenschaftslehre 
bis  auf  den  letzten  Grund  getilgt.  Umgekehrt  zeigte  die  Formung, 
die  in  den  letzten  Jahrzehnten  mit  Piaton  etwa  von  der  Marburger 
Schule  vorgenommen  wurde,  eine  wiederum  aus  konstruktiver  Deu- 
tung erfolgende  Interpretation,  die  den  Mythus  von  Piaton  als 
dem  Erkenntnis theoretiker  und  dem  Vorläufer  der  kritisch- trans- 
zendentalen Logik  schuf,  also  gleichsam  nach  der  der  Renaissance- 
auffassung entgegengesetzten  Seite  gerichtet  ist,  wie  sie  in  der 
Hauptsache  Paul  Natorp  in  seinem  bekannten  Piatonbuch  entwickelt. 
Welche  von  beiden  Auffassungen  und  Darstellungen  ist  im 
Recht?  Wenn  wir  antworten:  beide,  so  geschieht  das  nicht  in  der 
Meinung,  daß  sich  nun  durch  ihre  Vereinigung  ein  adäquates  Bild 
des  ,ganzen'  Piaton  herstellen  ließe.  Sie  haben  beide  Recht,  weil 
sie  die  Auslegung  unter  Heranziehung  der  aus  ihrer  Zeit  oder  aus 
ihrem  besonderen,  ihnen  zugehörigen  Gedanken-  und  Lebenskreise 
hervorgehenden  Auffassungs-  und  Interessenrichtungen  vornehmen. 


Mythus  und  Kultur.  417 

Diese  methodische  Einseitigkeit  ist  natürlich  einem  in  methodischen 
Dingen  geradezu  vorbildlichen  Kopfe  wie  Hermann  Cohen  durch- 
aus bewußt.  Sagt  er  doch  in  seiner  Schrift:  «Piatos  Ideenlehre 
und  die  Mathematik> :  „Denn  das  ist  ja  eine  füglich  anerkannte 
Sache,  daß  es  in  letzter  Instanz  kein  anderes  zureichend  objektives 
Kriterium  gibt  für  die  Beurteilung  des  Echten,  des  Reifen,  des 
Hauptsächlichen,  ja  beinahe  muß  man  sagen,  des  ernsthaft  Ge- 
meinten in  Piaton,  als  die  eigene  wissenschaftliche  Subjektivität, 
als  die  erkenntnistheoretische  Einsicht,  über  die  ein  jeglicher  zu 
verfügen  hat"  (S.  6).  (Vgl.  auch  den  wertvollen  Aufsatz  von 
Julius  Stenzel,  Zum  Problem  der  Philosophiegeschichte  j  Kant- 
Studien  Band  XXVI,  Heft  3—4  S.  416  ff.). 

Demgemäß  also  wäre  auch  die  Vereinigung  der  verschiedenen 
Interpretationsformen  ein  Akt  systematischer  Deutung,  der  der 
Eigenart  einer  vornehmlich  synkretistischen  Denkart  entsprechen 
würde.  Von  einer  Platon-Legende  reden,  heißt  also  nicht  etwa,  die 
Existenz  Piatons  in  Abrede  stellen,  ebenso  wenig  die  Möglichkeit 
einer  objektiven  Erkenntnis  der  philosophischen  Leistung  Piatons 
bezweifeln.  Die  geisteswissenschaftliche  Hermeneutik,  dieses  bei- 
nahe wichtigste  Kapitel  einer  theoretischen  Grundlegung  der  Ge- 
schichtswissenschaft, zeigt,  daß  es  eine  Reihe  wissenschaftlich  ein- 
ander gleichberechtigter  Formen  und  Typen  der  Auffassung  und 
Auslegung  gibt,  und  daß  das  ,Recht'  und  die  Objektivität  einer 
jeden  in  der  inneren  Folgerichtigkeit  und  in  der  methodischen 
Strenge  des  in  ihr  sich  erfüllenden  Bildes  begründet  sind.  — 

Die  ewige  Aktualität  der  ganz  großen  Geister  der  Weltge- 
schichte prägt  sich  darin  aus,  daß  jedes  Zeitalter  und  jedes  Ge- 
schlecht sie  nach  seinen  Bedürfnissen  sich  zurechtlegen  kann.  Es 
entdeckt  an  ihnen  irgendwelche  Momente,  die  zu  seinem  Wesen 
eine  besondere  fesselnde  Beziehung  haben,  und  die  es  nun  in  umdeu- 
tender Vereinseitigung  aus  der  Gesamtheit  des  Originals  heraus- 
löst. Das  im  praktischen  und  wissenschaftlichen  Leben  unendlich 
häufig  geübte  Verfahren  der  Auslegung  dient  den  sehr  starken 
mythologisierenden  Neigungen  der  menschlichen  Natur  und  unter- 
steht in  weitem  Umfange  der  mythologisierenden  Phantasie. 

Außer  Piaton  sind  es  von  den  Philosophen  im  wesentlichen 
wohl  in  erster  Linie  noch  Spinoza  und  Kant,  deren  Leistung  in 
die  Form  des  Mythus  eingegangen  ist.  Lediglich  auf  diese  Weise 
gedieh  ihr  Werk  zu  seiner  außerordentlichen  geschichtlichen  und 
weltanschaulichen  Wirksamkeit.    Wenn  Georg  Simmel  seine  Dar- 


418  Arthur  Liebert, 

Stellung  der  Philosophie  Kants  mit  der  Erklärung  einleitet:  „Die 
Absicht  dieses  Buches  ist  keine  philosophie-geschichtliche,  sondern 
eine  rein  philosophische.  Es  gilt  ausschließlich,  diejenigen  Kern- 
gedanken, mit  denen  Kant  ein  neues  Weltbild  gegründet  hat,  in 
das  zeitlose  Inventar  des  philosophischen  Besitzes  einzustellen", 
so  erwächst  hier  ein  aus  der  antihistoristisch  gerichteten  Einstel- 
lung Simmeis  und  einer  in  ihm  sich  verkörpernden  ganzen  Zeit- 
strömung gestaltetes  Kant-Bild.  Diesem  eignet  unter  den  Voraus- 
setzungen seines  Greformtwerdens  sachlich  und  sinnhaft  derselbe 
Wahrheitswert  wie  etwa  einem  Werk  über  Kant,  bei  dessen  Ab- 
fassung die  Philologie  und  die  historische  Kritik  Pate  gestanden 
haben.  Aus  der  Relativität  und  konkreten  Gegenständlichkeit  der 
geschichtlichen  Urkunden,  wie  uns  solche  in  den  einzelnen  Werken 
Kants  vorliegen,  soll  dasjenige,  was  an  der  kritischen  Philosophie 
den  Charakter  absoluter  Bedeutsamkeit  trägt,  herausgeschält 
werden.  Es  könnte  diesem  Beginnen  entgegengehalten  werden: 
Ist  das  denn  überhaupt  möglich  und  durchführbar?  Kann  jene 
, Absolutheit'  ein  für  allemal  einwandfrei  und  eindeutig  festgestellt 
werden?  Was  der  Simmelschen  Auslegung  als  absolut  gilt,  kann 
von  einem  anderen  Standpunkt  aus  oder  einer  anderen  Interessen- 
und  Zeitrichtung  als  verhältnismäßig  äußerlich  und  zufällig  er- 
scheinen. Diese  Einwände  berühren  aber  nicht  das  Wesen  der 
Sache.  Denn  das  Kant-Bild  Simmeis  stellt  erstens  keine  Abschrift 
einer  geschichtlichen  Wirklichkeit  dar,  obwohl  es  als  solche  auch 
bereits  eine  synthetische  Formung  bedeuten  würde,  d.  h.  eine  Über- 
windung des  mit  allen  Zügen  der  Relativität  behafteten  Stoffes 
als  einer  in  gewissen  geschichtlichen  Büchern  niedergelegten,  unter 
bestimmten  individuellen  und  geschichtlichen  Umständen  ins  Leben 
getretenen  Tatsache  durch  die  zeitlosen  Kategorien  und  Methoden 
der  wissenschaftlichen  Erkenntnis.  Zweitens  erschließt  sich  in 
jener  Interpretation  eine  Gestalt  des  Denkens,  die  deshalb  ewig 
ist,  weil  nicht  das,  was  sie  ihrem  empirischen  Bestand  nach  ist  und 
als  was  sie  erscheint,  an  ihr  geschätzt  und  beachtet  wird,  sondern 
weil  sich  für  jene  Auslegung  in  ihr  die  Vernunft  des  Absoluten 
und  das  Absolute  der  Vernunft  in  eine  der  ihnen  möglichen  Strah- 
lungen spiegelt.  Es  interessiert  keineswegs  lediglich  der  Tatbestand 
der  Lehre  Kants  selber,  der  schon  wegen  seiner  unvergleichlich 
verwickelten  Struktur,  wegen  der  Mannigfaltigkeit  seiner  syste- 
matischen und  geschichtlichen  Voraussetzungen  und  Motive  von 
sich  aus  eine  Vielheit  von  Deutungen  erlaubt,  ja  geradezu  fordert, 


Mythus  und  Kultur.  419 

sondern  mit  dieser  Möglichkeit  verschwistert  sich  jene  Fülle  her- 
meneutisch  zulässiger  Standpunkte,  die  ein  Ausdruck  der  Ver- 
schiedenartigkeit des  Weltgefühls  der  an  der  Auslegung  beteiligten 
Zeiten  und  Menschen  ist. 

Und  indem  diese  Verschiedenartigkeiten  in  die  Formen  des  Be- 
griffes eingehen,  erwachsen  die  Mythen  von  Kant  und  seiner 
Philosophie.  Die  Entstehung  der  zahlreichen  Kantischen  Schulen 
erklärt  sich  nicht  nur  daraus,  daß  aus  dem  höchst  verschlungenen 
Bau  des  Kantischen  Systems  von  diesem  die  eine,  von  einem  an- 
dern eine  andere  Tendenz  und  Linienführung  herausgelesen  und 
herausgehoben  und  zur  Entwicklung  gebracht  wurde,  sondern  der 
Geist  der  Arbeit  an  Kant  und  die  Versuche  der  Fortbildung  der 
kritischen  Philosophie  unterstanden  und  unterstehen  zugleich  eigen- 
tümlichen Gesichtspunkten  und  Betrachtungsweisen,  die  sich  aus 
der  wissenschaftlichen  Bildung,  der  metaphysischen  Gesinnung,  der 
Zugehörigkeit  zu  bestimmten  Zweigen  und  Forschungsrichtungen 
der  Wissenschaft,  aus  der  Persönlichkeit  und  Begabungsart  des 
betreffenden  Interpreten  und  Fortbilders  ergeben.  Die  Weiter- 
führung der  Philosophie  Kants  im  19.  Jahrhundert  verfolgen,  heißt 
nicht  nur,  den  in  jener  Philosophie  gelegenen  sachlichen  Tendenzen 
nachgehen  und  die  systematische  und  historische  Ausbreitung  der- 
selben zu  dem  riesigen  Geflecht  verschiedenartigster,  dennoch  durch 
ihre  gemeinsame  Beziehung  auf  Kant  untereinander  verbundener 
philosophischer  Systeme  darstellen,  sondern  zugleich  auf  fast  die 
gesamte  Fülle  von  Gedankenmotiven,  Überzeugungen,  religiösen 
Glaubensformen,  wissenschaftlichen  und  metaphysischen  Stand- 
punkten, ja  selbst  von  politischen  Bewegungen  und  Parteien  Bezug 
nehmen,  die  im  Laufe  der  genannten  Zeit  hervorgetreten  ist. 
Von  allen  diesen  Standpunkten  aus  hat  man  es  unternommen, 
sich  mit  Kant  auseinanderzusetzen,  sei  es  in  zustimmender,  sei  es 
in  bekämpfender  oder  ablehnender  Hinsicht.  Und  in  dem  Prozeß 
dieser  nach  Zahl  wie  Qualität  außerordentlich  reichen  Auseinander- 
setzungen hat  sich  eine  ganze  Reihe  der  merkwürdigsten  Kant- 
Bilder  und  Kant-Mythen  herauskristallisiert.  Es  wäre  eine  nicht 
nur  reizvolle,  sondern  auch  wichtige  kultur-  und  philosophiege- 
schichtliche Aufgabe,  einmal  unter  diesem  Gesichtspunkt  die  ver- 
schiedenen Auslegungsarten  des  Kritizismus,  ihre  inneren  Voraus- 
setzungen, ihren  Wert  und  das  Maß  ihrer  Fort-  bezw.  Umbildung 
der  Philosophie  Kants  zu  beleuchten.  — 


420  Arthur  Liebert, 

b)  Neben  denjenigen  Mythen,  die  sich  um  einzelne  Persönlich- 
keiten ranken  und  die  Schöpfungen  derselben  aus  dem  Fluß  der 
geschichtlichen  Endlichkeit  und  Gregebenheit  herausheben,  stehen 
solche,  in  denen  ein  ganzer  Kulturkreis  zur  Legende  geformt 
wurde.  Die  vergleichsweise  wichtigste  und  am  reichsten  ausge- 
stattete Legende  ist  diejenige  vom  klassischen  Griechen- 
tum und  vom  Hellenismus.  Oft  ist  das  Schicksal  ganzer 
Zeiten  und  hochstehender  Individuen  gerade  von  diesem  Mythus 
bestimmt  worden  (Hölderlin),  an  dem  man  der  kulturschöpferischen 
und  kulturtragenden  Funktion  des  Mythus  überhaupt  so  recht  ge- 
wahr zu  werden  vermag.  Nicht  handelt  es  sich  hier  um  eine  be- 
wußtfalsche Auffassung  der  Antike,  die  durch  eine  nüchtern-kri- 
tische Nachprüfung  richtiggestellt  wäre  oder  richtiggestellt  werden 
könnte,  sondern,  wie  Hermann  Diels  sich  ausdrückt,  um  eine  „op- 
timistische Verklärung,  mit  dem  unser  Neuhumanismus  die  antike 
Welt  betrachtete"  (Hermann  Diels,  Der  antike  Pessimismus  S.  4). 
Dieser  idealisierten  Auffassung  hat  Friedrich  Schiller  den  ge- 
hobensten Ausdruck  mit  den  Worten  verliehen: 

Da  ihr  noch  die  schöne  Welt  regieret, 

An  der  Freude  leichtem  Grängelband 

Selige  Greschlechter  noch  geführet, 

Schöne  Wesen  aus  dem  Fabelland; 

Ach,  da  euer  Wonnedienst  noch  glänzte, 

Wie  ganz  anders  war  es  da! 

Da  man  deine  Tempel  noch  bekränzte, 

Venus  Amathusia.  (Die  Grötter  Griechenlands) 

Es  ist  nicht  schwer  zu  erkennen,  was  dem  Zeitalter  des 
Humanismus  oder  dem  des  Neuhumanismus,  was  Winckelmann, 
Goethe,  Schiller,  Wilhelm  von  Humboldt  jene  zum  Ideal  umge- 
schaffene und  zum  Ideal  verklärte  Welt,  die  sie  Griechentum 
nannten,  bedeutete.  Sie  erschauten  in  einer  Phantasiewirklichkeit 
das  als  erreicht  und  bewährt,  was  ihnen  als  Sinn  und  Gehalt  des 
Lebens  galt,  und  zwar  sowohl  in  Hinsicht  auf  die  Gesinnung  als 
auch  in  Bezug  auf  die  Form. 

Wilhelm  von  Humboldt  hatte  das  Ziel  der  Erziehung  zur  Hu- 
manität mit  den  berühmten  Worten  umschrieben:  „Der  wahre 
Zweck  des  Menschen,  nicht  der,  welchen  die  wechselnde  Neigung, 
sondern  welchen  die  ewig  unveränderliche  Vernunft  ihm  vorschreibt 
—  ist  die  höchste  und  proportionierlichste  Bildung  seiner  Kräfte 
zu  einem  Ganzen.     Zu   dieser  Bildung  ist  Freiheit   die   erste   und 


Mythus  und  Kultur.  421 

unerläßliche  Bedingung.  Allein  außer  der  Freiheit  erfordert  die 
Entwicklung  der  menschlichen  Kräfte  noch  etwas  anderes,  obgleich 
mit  der  Freiheit  eng  Verbundenes  —  Mannigfaltigkeit  der  Situa- 
tionen. Auch  der  freieste  und  unabhängigste  Mensch,  in  einför- 
mige Lagen  versetzt,  bildet  sich  minder  aus".  Die  Idee  dieser 
Erziehung  sieht  er  bei  den  Griechen  verwirklicht1).  Zwar  weiß 
er  natürlich,  daß  das,  was  er  von  dem  Charakter  der  Griechen 
sagt,  „unmöglich  von  einer  ganzen  Nation  in  allen  ihren  einzelnen 
Individuen  buchstäblich  wahr  sein  kann".  Dennoch  gilt  der  Ge- 
danke als  Richtschnur:  „Die  griechische  Vorwelt  dient  uns  zu 
einem  Ideal".  Denn  was  sie  uns  als  erreicht,  als  möglich  zeigt, 
das  ist  die  „schöne  Einheit  des  Gemüts".  Uns  Moderne  quält  „das 
Mißverhältnis  zwischen  innerem  und  äußerem  Dasein  —  die  Grie- 
chen dagegen  „verdienen  schlechtweg  das  Ideal  zu  heißen,  weil 
...  der  vorherrschende  Zug  in  ihrem  Geist,  ja  der,  welchen  man 
immer  wählen  würde,  wenn  man  nur  einen  einzigen  anzuführen 
hätte,  Achtung  und  Freude  an  Ebenmaß  und  Gleichgewicht  ist, 
auch  das  Edelste  und  Erhabenste  nur  da  aufnehmen  zu  wollen, 
wo  es  mit  einem  Ganzen  zusammenstimmt  .  .  .  sie  kannten  nicht 
das  Umtreiben  in  Gedanken  und  Empfindungen,  hinter  denen  jeder 
Ausdruck  zurückbleibt".  Und  wie  bis  ins  einzelne  gehend  Hum- 
boldt sich  diesen  Griechen-Mythus  ausmalt,  und  wie  sehr  er  in 
ihm  lebte,  erhellt  nicht  nur  aus  den  Anweisungen,  die  er  für  das 
Studium  der  Griechen  erteilt,  sondern  auch  aus  der  Überlegung, 
die  er  anstellt,  um  die  den  Griechen  nachgesagte  Ablehnung  alles 
Maßlosen  zu  begründen.  Der  „Widerwille  gegen  das  Un verhältnis- 
mäßige entsprang  aber  bei  den  Griechen  nicht  eigentlich  aus  einem 
oft  nur  von  Schwäche  und  Verweichlichung  zeugenden  Abscheu 
vor  dem  übermäßig  Hervorragenden  oder  dem  sich  von  der  ge- 
wöhnlichen Natur  Entfernenden,  sondern  unmittelbar  aus  dem  Be- 
dürfnis, überall  auf  das  höchste  Leben  zu  dringen,  das  nur  aus 
der  Übereinstimmung  quillt,  die  nichts  ausschließt,  und  aus  dem 
tiefen  Gefühl  der  Natur,  die  durchgängiger  Organismus  ist."  Das 
ist  ein  Mythus  in  reinster  Gestalt,  den  Humboldt  kennzeichnet: 
„Die  Empfindungen,  mit  welchen  wir  auf  die  Alten  zurücksehen, 
sind  denjenigen  ähnlich,   welche   der  Anblick   der   schönen   Natur 

1)  Vgl.  außer  Eduard  Sprangers  Werken:  „Wilhelm  von  Humboldt  und  die 
Reform  des  Bildungswesens"  und  „Wilhelm  von  Humboldt  und  die  Humanitätsidee" 
auch  Paul  Hensels  Aufsatz:    „Wilhelm   von  Humboldt",  Kant-Studien  Bd.  XXIII, 
;    1918,  Heft  2—3  S.  174  ff. 

Kantetadien.  XX VII.  28 


422  Arthur  Liebe rt, 

überhaupt  ...  in  uns  erweckt.  Es  ist  eine  vollendete  Form,  die 
sich  uns  zur  Nachbildung  darbietet,  und  wir  empfinden  es  lebhaft, 
daß  der  Wert  alles  Gehalts,  den  wir  zu  erwerben  oder  besitzen 
vermöchten,  nur  auf  der  Möglichkeit  beruht,  ihn  zu  einer  ähnlichen 
zu  vereinen".  Die  Idee  der  humanistischen  Bildung,  die  Idee  der 
Entfaltung  aller  Kräfte  und  ihrer  harmonischen  Verwebung  zur 
Einheit  einer  Vollgestalt  war  die  gedanklich-sittliche  Grundlage 
jenes  Mythus.  Das  bestimmende  Motiv  für  seine  bildhafte  Durch- 
führung aber  war  die  Aussicht,  den  Wert  und  das  Recht  dieser 
Idee  durch  die  Aufweisung  ihrer  geschichtlichen  Wirklichkeit  zu 
erhärten.  Mochte  man  auch  zu  dem  Zugeständnis  oder  der  Ein- 
schränkung sich  gedrängt  sehen,  daß  „auch  der  Begriff  des  Ideals 
es  notwendig  mit  sich  bringt,  daß  sich  die  Idee  der  Möglichkeit 
ihres  Erscheinens  unterwerfe".  Trotzdem  hebt  Humboldt  die  außer- 
ordentliche pädagogische  Bedeutung  dieses  Mythus  mit  den  starken 
Worten  hervor:  „Wer,  wie  der  Grieche,  mit  Schönheit  der  Formen 
genährt,  und  so  enthusiastisch,  wie  er,  für  Schönheit  und  vor- 
züglich auch  für  sinnliche  gestimmt  ist,  der  muß  endlich  gegen 
die  moralische  Disproportion  ein  gleich  feines  Gefühl  besitzen  als 
gegen  die  physische.  Aus  allem  Gesagten  ist  also  eine  große 
Tendenz  der  Griechen,  den  Menschen  in  der  möglichsten  Vielseitig- 
keit auszubilden,  unleugbar".  „Der  gefühlvolle  Kenner  (!)  des  Alter- 
tums, der  die  harmonische  Ausbildung  aller  Kräfte,  die  edle  Frei- 
heit der  Gesinnungen,  die  Entfernung  von  allen  niedrigen  Be- 
schäftigungen, den  edlen  Müssiggang  und  die  hohe  Schätzung  des 
inneren  Menschen  unter  den  Griechen  mit  hohem  Erstaunen  be- 
wundert, wird  nicht  ohne  Scham  und  Niedergeschlagenheit  bemerken, 
daß  unter  uns  fast  jeder  nur  einzelne  Anlagen  einseitig  entwickelt, 
daß  die  Freiheit  des  Geistes  mancherlei  Fesseln  erduldet,  daß  eine 
mühselige  Geschäftigkeit  einen  großen  Teil  unseres  Lebens  hinweg- 
nimmt und  die  innere  Ausbildung  nicht  selten  der  äußeren  Wirk- 
samkeit nachgesetzt  wird."  Welche  Abstriche  die  historische  und 
philologische  Einzelforschung  an  diesem  Gemälde  vornehmen  mochte, 
unberührt  davon  bleibt  seine  ausschlaggebende,  geradezu  kultur- 
sch äffende  Wichtigkeit,  die  darin  zum  Ausdruck  gelangt,  daß  es 
mit  seiner  Hilfe  Humboldt  möglich  wurde,  nicht  nur  seiner  Sehn- 
sucht und  seinen  sittlichen  und  'künstlerischen  Forderungen  eine 
lebendige,  wirkungsvolle  Gestalt  zu  geben,  sondern  er  gewann 
dadurch  die  Grundlage  für  seine  Erziehungspläne  und  seine  pä- 
dagogischen Reformbestrebungen.    Ihm  selber  und  seinem  Kreise 


Mythus  und  Kultur.  423 

mußten  das  Recht  und  die  Notwendigkeit  seiner  pädagogischen 
Ideen  und  Maßnahmen  umsomehr  einleuchten,  je  mehr  er  ihnen  in 
dem  Griechen  -  Mythus  Fleisch  und  Blut  zu  verleihen  vermochte 
und  in  diesem  Mythus  die  Wirklichkeit  eines  Ideals  beglaubigte. 
Dieser  Mythus  versinnlichte  und  sprach  aus,  was  man  kurz  die 
absolute  Gestalt  und  den  absoluten  Sinn  aller  menschlichen  Bildung 
—  unter  den  Bedingungen,  die  der  Geist  des  Neuhumanismus  diesem 
Begriff  der  Bildung  gab  —  nennen  darf.  Denn  dieser  Sinn  gipfelte 
in  der  griechischen  Kalokagathie,  die  eine  innere  Verbindung  dar- 
stellt „edler,  großer,  eines  Freien  wahrhaft  würdiger  Gesinnungen 
in  der  Seele  und  dieser  lebendige  Ausdruck  derselben  in  der  Sitt- 
lichkeit der  Bildung  und  der  Grazie  der  Bewegungen  des  Körpers" 
und  „die  sich  bei  keinem  Volke  wieder  in  dem  hohen  Grade  findet" 

wie  bei  den  Griechen  *). 

* 

c)  Während  sich  in  dem  Bildungs-Mythus  des  Neuhuma- 
nismus eine  bezeichnende  Verwebung  ethischer  und  ästhetischer 
Züge  äußert  und  die  Eigentümlichkeit  dieses  Mythus  und  das  Gre- 
heimnis  seines  Ansehens  und  seines  Einflusses  auf  dieser  Verwebung 
beruhen,  vollzieht  sich  die  Verabsolutierung  ausschließlich  ästheti- 
scher Momente  in  dem  Mythus  von  der  Kunst,  den  dann  die  Ro- 
mantik schafft.  Ihr  ist  nicht  ein  philosophisches  System,  auch  nicht 
der  Wert  sittlicher  Harmonie  und  harmonischer  Sittlichkeit  das 
Ewige  und  Unbedingte,  das  Vollkommene  und  Erlösende,  das  allem 
Leben  erst  seinen  Sinn  und  Gehalt  schenkt,  und  auf  das  hin  alle 
Erscheinungen  projiziert  werden  müssen,  soll  ihnen  Charakter  und 
Wert  zufließen:  diese  Rolle  und  Kraft  ist  vielmehr  der  Kunst 
eigen.  Sie  übt  eine  durchaus  mythische  Funktion,  wie  sich  denn 
in  dieser  Wertungsart  der  Kunst  die  kulturschöpferische  Leistung 
des  Mythus  in  ästhetischer  Sonderausprägung  bekundet.  „Die 
Kunst",  so  heißt  es  in  Wackenroders  <Herzensergießungen  eines 
kunstliebenden-  Klosterbruders >,    „schmelzt  das   Geistige  und  Un- 

1)  An  dem  Mythus  vom  Griechentum  läßt  sich  als  an  einem  hervorragenden 
Sonderfall  die  geradezu  ungemeine  Bedeutung  studieren  und  erkennen,  die  der 
Mythus  überhaupt  innerhalb  der  menschlichen  Gesellschaft  und  für  dieselbe  besitzt. 
Es  bedarf  in  dieser  Beziehung  nur  eines  kurzen  Hinweises  darauf,  daß  Wilhelm 
von  Humboldt  zu  den  Schöpfern  des  humanistischen  Gymnasiums  gehört.  Ist  doch 
durch  dieses  der  Mythus  vom  Griechentum  für  ungezählte  Geschlechter  zu  einer 
entscheidenden  pädagogischen  Wertform,  ja  zur  Substanz  ihres  sittlichen  Wesens 
und  zum  Halt  für  ihre  ganze  Gesinnung  und  Lebensführung  geworden. 

28* 


424  Arthur  Liebert, 

sinnliche  auf  eine  so  rührende  und  bewundernswürdige  Weise  in 
die  sichtbaren  Gestalten  hinein,  daß  unser  ganzes  Wesen  und 
alles,  was  an  uns  ist,  von  Grund  auf  bewegt  und  erschüttert 
wird".  Und  weiter  in  demselben  Zusammenhang:  „Die  Kunst  .  .  . 
schließt  uns  die  Schätze  in  der  menschlichen  Brust  auf,  richtet 
unsern  Blick  in  unser  Inneres  und  zeigt  uns  das  Unsichtbare,  ich 
meine  alles,  was  edel,  groß  und  göttlich  ist,  in  menschlicher  Ge- 
stalt .  .  .  Die  Kunst  stellt  uns  die  höchste  menschliche  Vollendung 
dar".  In  dem  nur  wenige  Seiten  umfassenden  Aufsatz:  <Die  Ewig- 
keit der  Kunst>,  der  die  Steigerung  der  Kunst  zum  sinndeutenden 
und  erlösenden  Mythus  in  aller  Stärke  ausdrückt,  heißt  es  geradezu : 
„Alles,  was  vollendet  ist,  das  heißt,  was  Kunst  ist,  ist  ewig  und 
unvergänglich  ...  ein  vollendetes  Kunstwerk  trägt  die  Ewigkeit 
in  sich  selbst  ...  In  der  Vollendung  der  Kunst  sehen  wir  am 
reinsten  und  schönsten  das  geträumte  Bild  eines  Paradieses,  einer 
unvermischten  Seligkeit  ...  In  sich  selbst  trägt  die  Gegenwart 
der  Kunst  ihre  Ewigkeit  und  bedarf  der^Zukunft  nicht,  denn 
Ewigkeit  bezeichnet  nur  Vollendung".  Die  Kunst  hebt  uns,  unser 
irdisches  Dasein  über  Tod  und  Vergänglichkeit  hinaus,  da  sie  „in 
sich  keine  Bedingungen  kennt,  und  ihr  Ganzes  keine  Teile  hat  .  .  . 
Laßt  uns  darum  unser  Leben  in  ein  Kunstwerk  verwandeln,  und 
wir  dürfen  kühnlich  behaupten,  daß  wir  dann  schon  irdisch  un- 
sterblich sind"  *). 

Diese  Aufgabe  und  diese  Funktion  eignen  aber  deshalb  der 
Kunst,  weil  sie  es  ist,  in  der  der  Atem  und  die  Kraft  des  Kos- 
mos, des  Ewigen  glühen,  weil  sie  es  ist,  in  der  der  Weltgeist 
sich  auswirkt.  Das  ist  der  Grundgedanke  und  das  Dogma  dieses 
ästhetischen  Idealismus  im  Gegensatz  zu  dem  ethischen  Idealismus, 
der  in  dem  guten  Willen,  in  der  praktischen  Vernunft  den  Aus- 
druck des  Absoluten  erblickt.  „Alle  heiligen  Spiele  der  Kunst 
sind  nur  ferne  Nachbildungen  von  dem  unendlichen  Spiele  der 
Welt,  dem  ewig  sich  selbst  bildenden  Kunstwerk",  sagt  Friedrich 
Schlegel.  Wir  haben  somit  nicht  die  Ansicht  der  Aufklärung  vor 
uns,  die  den  Bau  des  Weltalls  allerdings  in  Analogie  zu  einem 
Kunstwerk,  aber  einem  solchen  mechanischer  Struktur  vorstellte 
und  in  diesem  Sinne  Gott  als  Weltarchitekten  und  Weltmechaniker 

1)  Ob  und  in  welchem  Sinne  auf  die  romantische  Verabsolutierung  der 
Kunst  Schillers  Kunsttheorie  eingewirkt  hat,  die  besonders  in  den  ästhetischen 
Briefen  zur  Größe  einer  Metaphysik  der  Kunst  aufwuchs,  mag  hier  unerörtert 
bleiben. 


Mythus  und  Kultur.  425 

dachte.  Indem  nämlich  die  Aufklärung  überall  in  der  Welt  Zweck- 
mäßigkeiten und  planvolle  Zurichtungen  fand,  führte  der  Gedanke 
der  mechanischen  Gesetzmäßigkeit  zur  Vorstellung,  das  All  sei 
ein  aus  der  Vernunfttätigkeit  Gottes  hervorgegangenes  Kunstwerk. 
Es  war  m.  a.  W.  der  Begriff  der  formalen  Ordnung,  der  das  Ver- 
bindungsglied zur  Herstellung  jener  Analogie  darbot.  Die  Ro- 
mantik dagegen  sah  im  Kunstwerk  darum  ein  Symbol  des  Kosmos, 
des  Alls,  weil  ihr  nichts  Anderes  zur  Versinnlichung  des  Unend- 
lichen genügen  konnte.  An  die  Stelle  der  formalen  Zweckordnung 
des  Gesetzes  trat  der  romantische  Begriff  des  Unendlichen  im 
Sinne  unerschöpflicher  Tiefe  und  Fülle,  die  die  Romantik  ungleich 
mehr  reizten  und  ihr  ungleich  viel  mehr  sagten  als  alle  gesetzliche 
Strenge  und  Ordnung.  So  definiert  Wilhelm  Schlegel  in  seinen 
grundlegenden  Berliner  Vorlesungen:  «Über  schöne  Literatur  und 
Kunst>  das  Schöne  als  die  symbolische  Darstellung  des  Unend- 
lichen. Auch  in  diesem  entscheidenden  Punkt  Schüler  und  Nach- 
folger Schellings,  der  in  seinem  «System  des  transzendentalen 
Idealismus»  in  dem  Kapitel  über  die  Deduktion  der  Hauptsätze 
der  Philosophie  der  Kunst  (6.  Hauptabschnitt)  von  dem  Künstler 
gesagt  hatte,  er  „scheint,  so  absichtsvoll  er  ist,  doch  in  Ansehung 
dessen,  was  das  eigentlich  Objektive  in  seiner  Hervorbringung  ist, 
unter  der  Einwirkung  einer  Macht  zu  stehen,  die  ihn  von  allen 
andern  Menschen  absondert  und  ihn  Dinge  auszusprechen  und  dar- 
zustellen zwingt,  die  er  selbst  nicht  vollständig  durchsieht,  und 
deren  Sinn  unendlich  ist".  „Der  Grundcharakter  des  Kunstwerks 
ist  eine  bewußtlose  Unendlichkeit  (Synthesis  von  Natur  und  Frei- 
heit). Der  Künstler  scheint  in  seinem  Werk  außer  dem,  was  er 
mit  offenbarer  Absicht  darein  gelegt  hat,  instinktmäßig  gleichsam 
eine  Unendlichkeit  dargestellt  zu  haben,  welche  ganz  zu  entwickeln 
kein  endlicher  Verstand  fähig  ist:  Um  uns  nur  durch  Ein  Beispiel 
deutlich  zu  machen,  so  ist  die  griechische  Mythologie,  von  der  es 
unleugbar  ist,  daß  sie  einen  unendlichen  Sinn  und  Symbole  für 
alle  Ideen  in  sich  schließt *),  unter  einem  Volk  und  auf  eine  Weise 
entstanden,  welche  beide  eine  durchgängige  Absichtlichkeit  in  der 
Erfindung  und  in  der  Harmonie,  mit  der  alles  zu  Einem  großen 
Ganzen  vereinigt  ist,  unmöglich  annehmen  lassen.  So  ist  es  mit 
jedem  wahren  Kunstwerk,  in  dem  jecles,  als  ob  eine  Unendlichkeit 


1)  Auf  diese  Weise  hätte  ein  Vertreter  der  neuhumanistischen  Interpretation 
den  Sinn  der  griechischen  Mythologie  kaum  ausgelegt. 


426  Arthur  Liebert, 

von  Absichten  darin  wäre,  einer  unendlichen  Auslegung  fähig  ist, 
wobei  man  doch  nie  sagen  kann,  ob  diese  Unendlichkeit  im  Künst- 
ler selbst  gelegen  habe  oder  aber  bloß  im  Kunstwerk  liege".  Und 
wenige  Seiten  später:  „Es  ist  nichts  im  Kunstwerk,  was  nicht  ein 
Unendliches  unmittelbar  oder  wenigstens  im  Reflex  darstellt".  — 

* 

d)  Indem  die  mythische  Verabsolutierung  der  Kunst 
seitens  der  Romantik  durch  das  Bedürfnis  nach  einem  Symbol 
für  das  Erlebnis  überrationaler  Tiefe  entsteht,  ist  nun  auch  der 
zweite  große,  für  sie  charakteristische  Mythus  gegeben,  der  von 
der  Religion.  Wären  für  die  Romantik  die  Grenzen  zwischen 
Kunst  und  Religion  nicht  so  fließend,  ginge  nicht  durch  die  Ver- 
mittelung  der  Idee  der  Unendlichkeit  ein  G-ebiet  notwendig  und 
organisch  in  das  andere  über,  so  könnte  man  im  Zweifel  sein, 
welcher  Mythus,  der  der  Kunst  oder  der  der  Religion,  von  tieferer 
Bedeutung  für  sie  sei.  Jedenfalls  hat  ihr  Mythus  von  der  Kunst 
entschieden  religiöse  Färbung  und  ihr  Mythus  von  der  Religion 
künstlerische  Färbung.  So  wird  es  verständlich,  daß  trotz  und 
neben  aller  Verabsolutierung  der  Kunst  und  der  Lobpreisung  ihres 
Unendlichkeits-  und  Ewigkeitscharakters  Wilhelm  Schlegel  in  den 
Vorlesungen  < Über  dramatische  Kunst  und  Literatur >  sagen  kann: 
„Die  Religion  ist  die  Wurzel  des  menschlichen  Daseins.  Wäre  es 
dem  Menschen  möglich,  alle  Religion,  auch  die  unbewußte  und  un- 
willkürliche zu  verleugnen,  so  würde  er  ganz  Oberfläche  werden 
und  kein  Inneres  mehr  haben.  Wenn  dieses  Zentrum  verrückt 
wird,  so  muß  sich  folglich  darnach  die  gesamte  Wirklichkeit  der 
Gemüts-  und  Geisteskräfte  anders  bestimmen".  Und  in  den 
<Ideen>  Friedrich  Schlegels  heißt  es  (Athenäum  III,  1) :  „Die  Re- 
ligion ist  nicht  bloß  ein  Teil  der  Bildung,  ein  Glied  der  Mensch- 
heit, sondern  das  Zentrum  aller  übrigen,  überall  das  Erste  und 
Höchste,  das  schlechthin  Ursprüngliche".  Ferner  ebenda:  „Die  Idee 
der  Gottheit  ist  die  Idee  aller  Ideen". 

Die  reine,  sozusagen  ungemischte  und  ungebrochene  Heraus- 
stellung der  Absolutheit  der  Religion  gelang  innerhalb  des  Kreises 
der  Romantiker  im  Grunde  jedoch  nur  dem  einen  Schleiermacher, 
der  bezeichnenderweise  von  sich  bekannte,  daß  er  zur  Kunst  noch 
weniger  ein  eigentliches  Vefhältnis  habe  als  zur  Natur  (Haym, 
Die  Romantische  Schule,  2.  Aufl.,  S.  459).  Denn  was  in  dem  merk- 
würdigen Fragment  von  Novalis:  < Die  Christenheit  oder  Europa> 
an  religiösen  Stimmungen  und  Ideen  vorhanden  ist,  ist  bis  in  seine 


Mythus  und  Kultur.  427 

Glaubens  Voraussetzungen  hinein  von  Schleiermachers  Reden  ab- 
hängig. Doch  erübrigt  es  sich,  an  dieser  Stelle  auf  Schleiermachers 
Verhältnis  zur  Religion  und  auf  die  absolute  Bedeutung  einzu- 
gehen, die  sie  für  ihn  hatte.  (Ebenso  bleibt  hier  natürlich  seine 
religionsphilosophische  und  religionspsychologische  Leistung  uner- 
wähnt.) Er  gehört  in  die  Reihe  jener  ausschließlichen  und  unbe- 
dingten Naturen,  deren  Leben,  wie  das  z.  B.  bei  Mose,  Jesus,  Mo- 
hammed, Franz  von  Assisi,  Luther  der  Fall  war,  bis  in  die  ein- 
zelnen, auch  unwichtigen  Züge  und  Handlungen  hinein,  die  aber 
dadurch  alle  Unwesentlichkeit  verloren,  von  einem  geradezu  persön- 
lichen Verhältnis  zum  Ewigen  erfüllt,  durch  ein  unmittelbares  Be- 
sitzergreifen und  Gewißsein  des  Absoluten  gekennzeichnet  ist.  Bei 
ihnen  ist  das  Transzendieren  zum  Absoluten  so  sehr  das  Alpha  und 
Omega  ihres  Seins,  es  stellt  einen  so  unaufhörlichen  und  dabei 
unantastbar  sicheren  Prozeß  dar,  daß  hier,  vergleichsweise  stärker 
als  bei  den  Absolutisten  des  Logos  oder  der  Bildungsidee  oder 
der  Kunst,  die  Grenze  zwischen  Erscheinung  und  Idee  wie  auf- 
gehoben ist  und  der  Symbolcharakter  und  Gleichniswert  alles 
Seienden  bereits  wieder  als  eine  Seinsgestalt  hervortritt  und  sich 
zu  geschichtlicher  Wirklichkeit  formt.  In  ihnen  wird  die  Religion 
und  die  religiöse  Absolutheit  gleichsam  Fleisch  und  Blut.  Sie  wan- 
deln in  einer  Sphäre,  die  ebenso  jenseits  der  Zone  der  Erscheinungen 
und  bereits  im  Reiche  der  Erfüllung  als  auch  sozusagen  diesseits 
alles  Jenseits  liegt.  Die  Zweifel,  von  denen  sie  heimgesucht  werden, 
ruhen  auf  dem  Grunde  der  Gewißheit ;  ihre  endliche  Existenz  weiß 
sich  mit  unerschütterlicher  Sicherheit,  so  oft  auch  sie  vor  dem 
Sturz  in  das  Nichts  zu  stehen  scheinen,  bereits  in  aller  ihrer  Em- 
pirie im  Unbedingten  geborgen.  Aber  dieses  Wissen  ist  kein 
intellektueller  Vorgang,  sondern  eine  persönliche  Seligkeit;  jede 
Verrichtung,  auch  die  äußerlichste,  hat  bei  ihnen  den  Sinn  einer 
Kulthandlung  und  erhebt  sich  zur  Bedeutung  eines  Gleichnisses 
und  Mythus. 

Deshalb  ist  es  auch  kein  Zufall  oder  Wunder,  daß  es  gerade 
ihr  Leben  und  ihr  Schicksal  sind,  die  so  leicht  und  so  gern  in  das 
Licht  des  Mythus  und  der  Legende  gerückt  werden  und  so  schnell 
und  bequem  den  Charakter  des  Mythus  und  der  Legende  annehmen. 
Überhaupt  ruht  der  Sinn  jeder  geschichtlichen  Leistung,  wie  schon 
oben  angedeutet  wurde,  in  der  Übersteigerung  des  geschichtlichen 
Bestandes  zur  Intelligibilität  irgendeines  Wertes.  Diese  Über- 
steigerung läßt  sich  an  sich  auch  an  dem  Philosophen-Mythus,  an 


428  Arthur  Liebert, 

dem  humanistisch -ethisch -ästhetischen  Bildnngs  -  Mythus,  an  dem 
Mythus  der  Kunst  erkennen.  Die  aber  in  sich  absolute  Form  dieser 
auf  Verabsolutierung  gerichteten  Lebenssteigerung  verwirklicht  sich 
doch  erst  im  Leben  der  Religion,  da  in  diesem  alle  Dissonanzen 
und  Antinomien  des  Seins  zu  einer  im  Prinzip  restlosen  Über- 
windung gebracht  werden.  Das  ist  das  Wunder,  das  der  Religion 
erreichbar  ist,  erreichbar  sowohl  in  der  Subjektivität  des  religiösen 
Gefühls,  als  auch  im  Gebet  und  in  der  Objektivität  der  Glaubens- 
gemeinschaft. Wenn  nach  dem  Johannes  -  Evangelium  der  Logos 
Fleisch,  also  Erscheinung  ward,  wenn  sich  das  Wunder  der  Offen- 
barung begibt  —  und  ohne  „Offenbarung"  gibt  es  keine  Religion 
und  kann  es  keine  geben  —  dann  vollzieht  sich  der  mystische 
Ausgleich  zwischen  dem  Ewigen  und  dem  Endlichen,  dann  findet 
dieses  seinen  Eingang  und  seine  Versöhnung  in  jenem. 

Darin  bekundet  sich  nun  die  Paradoxie  des  religiösen  Mythus : 
Auf  der  einen  Seite  übt  er  die  stärkste,  die  endgültige  Über- 
windung aller  irdischen  Unzulänglichkeiten;  man  denke  an  den 
Mythus  der  Trans  substantiation  oder  an  die  im  Gesinnungskreis 
der  Mystik  vertretene  Deifikation.  Aber  andererseits  macht  er 
sich  zugleich,  indem  nach  ihm  das  Göttliche  eine  endliche  Gestalt 
annimmt  und  im  irdischen  Gewand  erscheint,  damit  entbehrlich, 
ja  er  wird  dadurch  geradezu  hinfällig.  Er  ist  der  stärkste  und 
dauerndste  und  zugleich  der  am  unbedingtesten,  radikalsten  über- 
windliche  und  ausschaltbare  Mythus.  Indem  er  lehrt  und  zeigt, 
daß  die  ewige  Wahrheit,  daß  die  Idee  Wirklichkeit  wird  und  in 
die  Erscheinung  eingeht,  löscht  er  die  Grundantinomie  alles  Seien- 
den aus,  die  doch  die  Voraussetzung  für  seine  Entstehung  und  für 
sein  Anerkanntwerden  darstellt.  Er  ruht  einerseits  auf  der  rück- 
haltlosen und  rücksichtslosen  Hervorhebung  des  Gegensatzes  zwi- 
schen dem  Irdischen  und  dem  Unvergänglichen.  Darin  ist  das 
eine  Moment  seines  gewaltigen  Reizes  und  Einflusses  begründet. 
Er  führt  in  tausendfältiger  Ausmalung  die  Verweslichung  des 
Menschen  und  die  Unverweslichkeit  des  Göttlichen  vor  Augen.  Da- 
durch schreckt  er  das  Gewissen,  die  Angst,  die  Hoffnung  auf.  Zu- 
gleich läßt  er  andererseits  alles  Sterben  vergehen  und  trägt  alle  „ver- 
lorenen Kinder"  mit  feurigen  Armen  zur  Ewigkeit  empor.  Dadurch 
beruhigt  er  die  Sorgen,  tilgt  er  die  Ängste  und  schafft  sich  eine 
ungleich  größere  Gefolgschaft  als  durch  alle  Betonung  der  empi- 
rischen und  der  metaphysischen  Zwiespältigkeiten  und  Antinomien. 
Er  ist  aus  allen  diesen  Gründen  ohne  Frage  der  lebendigste,  der  ein- 


Mythus  und  Kultur.  429 

drucksvollste,  der  wuchtigste  Mythus,  eine  Gestalt  von  unerhörter 
kulturschöpferischer  Macht.  Das  läßt  sich  aus  seinem  Begriff  a  priori 
deduzieren ;  das  läßt  sich  auch  rein  erfahrungsgemäß  durch  zahllose 
Beispiele  der  konkreten  geschichtlichen  Wirklichkeit  belegen.  Will 
man  die  unermeßliche  Bedeutung  begreifen,  die  der  Idee  des  Abso- 
luten für  alle  Formen  und  Zweige  der  geschichtlichen  Kultur  eignet, 
so  bietet  sich  kaum  ein  ergiebigerer  Untersuchungsgegenstand  dar 
als  der  religiöse  Mythus.  Und  es  wird  verständlich,  daß  er  gerade 
dann  sich  meldet,  wenn  eine  Zeit  ganz  tief,  sozusagen  rettungslos 
an  den  Relativismus  sich  verloren  und  die  Beziehung  zum  Ab- 
soluten völlig  preisgegeben  zu  haben  scheint.  Nur  muß  man  im- 
stande sein,  sein  Wesen  auch  dann  zu  erkennen  und  seine  Funktion 
auch  dann  zu  würdigen,  falls  er  in  solchen  scheinbar  abgeirrten, 
weil  scheinbar  ganz  unmetaphysisch  gewordenen  Zeitaltern  in 
grotesken  Gestalten  auftritt,  die  wie  eine  Fratze  des  Religiösen 
aussehen. 

Im  Gebiet  des  Ethischen  bleibt  die  Antinomie  zwischen  Sinn- 
lichkeit und  Sittlichkeit,  Bindung  und  Freiheit  in  irgendeiner  Form 
dauernd  akut,  so  sehr,  daß  diese  Antinomie  geradezu  als  konsti- 
tutive Bedingung  des  Ethischen  bezeichnet  werden  muß.  In  der 
Religion  jedoch  wird  sie  „aufgehoben".  Wie  das  möglich  ist,  vermag 
keines  Menschen  Geist  zu  enträtseln:  wir  stehen  hier  vor  der 
vollendeten  Kraft  des  Mythus  selbst.  Was  wir  zu  erkennen  ver- 
mögen, ist  nur  die  Tatsache,  daß  jene  Aufhebung  möglich  ist,  und 
daß  sie  sich  oft  begeben  hat.  Aber  gerade  diese  Aufhebung  ist 
es,  in  der  die  Autonomie  der  Religion  besteht  und  die  erlö- 
sende Kraft  des  religiösen  Mythus  zutage  tritt.  In  dieser  Auto- 
nomie aber  betätigt  sich  in  Verbindung  mit  der  Erlösungsfunktion 
das,  was  wir  die  Realität  und  Wahrheit  der  Religion  zu  nennen 
pflegen. 

III. 
Unsere  Zeit  und  das  Problem  des  Mythus. 

Verfügt  nun  auch  unsere  Zeit  über  einen  für  sie  charakte- 
ristischen oder  überhaupt  über  einen  Mythus? 

Auf  Grund  der  vorstehenden  Ausführungen,  die  die  Unent- 
behrlichkeit  des  Mythus  für  jede  Kulturperiode,  sogar  für  jeden 
Lebenszusammenhang  darzutun  und  die  inneren  Bedingungen  für 
diese  Unentbehrlichkeit  aufzudecken  versuchten,  müßte  das  der 
Fall  sein.    Wie  könnte  sonst  die  Gegenwart  vor  dem  Richterstuhl 


430  Arthur  Liebert, 

der  Geschichte  bestehen?  Ja,  wie  wäre  es  sonst  möglich,  ihr 
Wesen  zu  erfassen  und  über  sie  eine  Erkenntnis  auszusprechen, 
ganz  gleich  in  welchem  Geiste  dies  geschähe,  und  ob  man  ihr  den 
Aufstieg  oder  den  Untergang  prophezeie?  Denn  jede  einzelne 
in  ihr  auftretende  Erscheinung  und  Erscheinungsgruppe  läßt  sich, 
je  nach  der  Gesinnungsweise  und  dem  Temperament  des  Deutenden, 
nach  dieser  oder  jener  Richtung  auslegen.  Inbezug  auf  das  Ein- 
zelne bleibt  der  Willkür  der  Interpretation  ein  ziemlich  erheblicher 
Spielraum.  Nicht  aber  inbezug  auf  die  Ganzheit,  auf  die  innere 
Totalität.  Diese  innere  Totalität  erschließt  sich  jedoch  dann,  wenn 
es  gelingt,  denjenigen  Grundmythus  zu  bestimmen,  an  dem  sich 
die  Gesamtstruktur  unserer  Zeit  in  all  der  Fülle  ihres  Wollens 
und  Ringens,  ihrer  Unfertigkeiten  und  ihrer  Leistungen,  ihres 
Plauens  und  ihres  Vollbringens  erleuchtet.  — 

a)  Nun  scheint  aber  nichts  ausgemachter,  nichts  sicherer  zu 
sein  als  die  Behauptung,  daß  unserer  Zeit  ein  solcher,  sie  kenn- 
zeichnender Mythus  fehle.  Mögen,  so  könnte  eingewendet  werden, 
die  Geschichtsphilosophen  noch  so  sehr  die  Notwendigkeit  und  die 
kulturschöpferische  Bedeutung  des  Mythus  betonen,  sogar  nach- 
gewiesen zu  haben  glauben  (vgl.  die  Einleitung  und  das  1.  Kapitel 
dieser  Abhandlung),  trotzdem  könne  man  nicht  umhin,  einzuräumen, 
daß  alle  Bemühungen,  einen  solchen  Mythus  in  der  Gegenwart  auf- 
zufinden, ergebnislos  bleiben  würden. 

Zwei  Gründe  ließen  sich  zur  Stützung  dieser  Behauptung  bei- 
bringen. Erstens  dulde  die  immer  mehr  zunehmende  Aufklärung 
und  die  doch  zu  außerordentlicher  Höhe  emporgestiegene  Aus- 
bildung der  Kritik  das  Fortbestehen  eines  Mythus  einfach  nicht. 
Jeder  von  uns  sei  von  der  modernen  geisteswissenschaftlichen 
Schulung  unmittelbar  oder  mittelbar  berührt.  Ist  deren  Haupt- 
arbeit und  Hauptabsicht  aber  nicht  darauf  gerichtet,  und  zwar 
mit  dem  größten  Erfolge,  die  Mehrzahl  der  sogenannten  histori- 
schen „ Wahrheiten a  als  Sagen  und  Mythen  abzutun,  oft  ohne  auch 
nur  den  leisesten  Versuch  zu  unternehmen,  ihren  Sinn  und  damit 
ihr  Recht  aufzuhellen  ?  In  der  Wissenschaft  und  in  der  durch  sie 
veranlaßten,  nahezu  uferlosen  Rationalisierung  unseres  ganzen 
Geisteslebens  haben  wir  uns,  allerdings  in  unabweisbarer  Zwangs- 
läufigkeit, den  Erb-  und  Erzfeind  des  Mythus  herangezogen.  Des- 
halb müßte  man  Fr.  Th.  Vischer  zustimmen,  der  da  erklärt:  „Der 
Tod  eines  Mythus  ist  nur  die  in  die  Majorität  eingedrungene  Ein- 
sicht,    daß   es    eben    ein    Mythus    ist"    (Kritische    Gänge,    3.  Bd. 


Mythus  und  Kultur.  431 

S.  31  f.).  Das  Begreifen  beseitige  den  Mythus,  da  es  alles  jenseits 
des  Pormalen  und  Begrifflichen  Liegende  grundsätzlich  in  den 
Kreis  des  Begriffs  hineinzieht.  Welche  paradoxen  Folgen  er- 
gaben sich  daraus,  daß  David  Friedrich  Strauß  in  seinem  <  Leben 
Jesu>  (1835)  die  Berichte  über  Jesu  als  „Mythen"  entschleierte! 
Denn  dadurch,  daß  jene  Erzählungen  als  Mythen  erkannt  und 
durchschaut  wurden,  wurden  alle  geheimnisvolle  Realität  und  die 
Realität  des  Geheimnisses,  die  nur  so  lange  bestehen,  als  sie  in 
ihrem  Mythus- Sein  von  der  Kritik  und  dem  Intellekt  nicht  be- 
rührt werden,  dem  Wissen  und  dem  Wissenden  ausgeliefert.  Damit 
jedoch  verblaßte  und  zerstob  ihr  „Mythus".  Der  Mythus  ist  eine 
natürliche  und  organische  Äußerung  des  religiösen  Bewußtseins; 
es  lebt  in  ihm  und  mit  ihm.  Für  das  wissenschaftliche  Bewußt- 
sein ist  er  ein  Untersuchungsgegenstand,  wie  deren  es  für  dasselbe 
zahllose  gibt,  und  denen  allen  es  in  kritischer  Neutralität  gegen- 
übersteht. Indem  es  den  Mythus  in  diese  wertfreie  Zone  der 
sachlichen  Untersuchung  hineinzieht,  ihn  hinsichtlich  seiner  Ent- 
stehung und  Entwicklung  und  hinsichtlich  der  Umstände  seines 
ästhetischen  und  literarischen  Geformtwerdens  ins  Auge  faßt, 
ihn  mit  Glossarien  und  Kommentaren  begleitet,  raubt  es  ihm  bei 
diesem  Vorgang  seiner  intellektuellen  Durchdringung  gerade  die- 
jenigen Momente,  wegen  deren  er  dem  religiösen  Bewußtsein  so 
wert  ist.  Während  das  religiöse  Bewußtsein  sich  in  einem  Mythus 
verklärt,  sucht  das  wissenschaftliche  ihn  zu  erklären.  Während  die 
mythenbildende  und  für  Mythen  begabte  und  empfängliche  Phantasie 
in  der  Realität  des  Mythus  sich  darstellt,  streben  wir  „  aufgeklärte ", 
durch  einen  ungeheueren  Intellektualisierungsprozeß  hindurchge- 
gangene Menschen  des  19.  und  20.  Jahrhunderts  darnach,  uns  diese 
Form  der  Realität  durch  gelehrte  Forschung  zu  verdeutlichen.  Wir 
tun  das  mit  den  Mitteln  derjenigen  Wissenschaft,  die  in  diesen  Zeiten 
zu  so  starker  Ausbildung  und  so  hohem  Ansehen  gekommen  ist, 
der  Psychologie.  Dadurch  aber  werden  die  Objektivität  und  die 
Realität  auch  des  Mythus  in  Verbindung  mit  der  menschlichen 
Subjektivität  gebracht  und  von  dieser  abhängig  gemacht.  Von 
hier  aus  erscheint  der  Mythus  als  eine  willkürliche,  biologisch  und 
utilitaristisch  begründete  Schöpfung  subjektiven  Beliebens,  als  eine 
Fiktion.  Diese  Erkenntnis  seines  Wesens,  so  könnten  die  Ver- 
treter dieser  kurz  angedeuteten  positivistisch -naturwissenschaft- 
lichen Beweisführung  abschließend  sagen,  hat.  sich  in  unwidersteh- 
licher Ausbreitung  der  Allgemeinheit  mitgeteilt,  die  in  ihrer  Geistes- 


432  Arthur  Liebert, 

Verfassung   nun  in  das  Zeitalter  des  Positivismus   eingetreten  sei, 
um  mit  Auguste  Comte  zu  sprechen. 

Im  engsten  Zusammenhang  mit  dieser,  unter  naturwissenschaft- 
licher Führung  vollzogenen  Rationalisierung  des  modernen  Zeit- 
bewußtseins  steht  nun,  so  könnte  weiter  eingewendet  werden,  der 
zweite  Gegengrund  gegen  die  Möglichkeit  eines  Mythus  für  unsere 
Tage.  Der  Fortschritt  der  wissenschaftlichen  Forschung  hat  uns 
die  gesamte  Wirklichkeit  immer  mehr  als  eine  nach  festen  Ge- 
setzen aufgebaute  Einheit  erkennen  gelehrt,  die  —  ihrer  erkennt- 
nistheoretischen Begründung  nach  —  in  den  kategorialen  Formen 
des  Verstandes  ihre  Voraussetzungen  habe.  Der  Begriff  der  Ge- 
setzlichkeit sei  das  Losungswort  für  alles  wissenschaftliche  Ver- 
fahren geworden,  ganz  gleich,  welche  Unterscheidungen  nun  inner- 
halb dieses  Begriffes  als  notwendig  befunden  und  vorgenommen 
werden.  Ist  aber  alles  Sein  in  diesen  undurchbrechbaren  Gesetzes- 
rahmen eingespannt,  verläuft  es  in  strengen  Ordnungen  und  nach 
allgemeinen,  über  alles  Subjektive  erhabenen  Prinzipien,  wie  kann 
dann  noch  Raum,  noch  Anknüpfung  für  einen  Mythus  vorhanden 
sein?  Für  eine  solche  Anknüpfung  müßte  eine  persönliche,  mensch- 
liche, gemütvoll  gefärbte  Beziehung  vorliegen.  Wie  sachlich,  wie 
unpersönlich  hat  sich  aber  das  Verhältnis  des  Menschen  zur  Wirk- 
lichkeit unter  der  Leitung  des  allmächtigen  naturwissenschaftlichen 
Rationalismus  gestaltet !  Zu  Allgemeinheiten,  zu  gesetzlichen  Zu- 
sammenhängen tritt  man  in  das  begriffliche  Verhältnis  der  Er- 
kenntnis. Verehren,  lieben  läßt  sich  nur  Persönliches,  wie  denn 
auch  umgekehrt  Verehrung,  Liebe  ein  Ausfluß  und  Ausdruck  un- 
serer Persönlichkeit  sind  und  nicht  eines  in  der  Zone  der  abstrakten 
Unpersönlichkeit  sich  bewegenden,  nur  begrifflich  eingestellten 
Bewußtseins.  Man  verfolge  das  charakteristische  Umschlagen  von 
Spinozas  Rationalismus,  der  übrigens  von  Anfang  an  mit  erheb- 
lichen Gefühlsmomenten  erfüllt  war,  in  eine  fast  schwärmerische 
Stimmung  gegenüber  der  „Natur",  jemehr  nämlich  ihm  diese  zu 
„Gott"  wird.  „Der  Mythus  ist  gläubige  Personifikation"  heißt  es 
treffend  bei  Friedrich  Theodor  Vischer  (Kritische  Gänge,  4.  Band 
S.  426).  Indem  jedoch  das  europäische  Geistesleben  —  allerdings 
mit  einer  Folgerichtigkeit  und  Strenge,  denen  man  seine  Aner- 
kennung nicht  vorenthalten  wird  —  sich  mit  Theorien  durch- 
setzte, mit  Begrifflichkeiten  durchtränkte,  nahm  nicht  nur  die 
Stärke  und  Unmittelbarkeit  des  Glaubens   ab,  sondern   auch   alle 


Mythus  und  Kultur.  433 

personifizierenden  Neigungen  müssen  von  nun  an  als  Rückständig- 
keiten und  Rückartungen  erscheinen. 

Ferner:  Die  Ermattung  des  religiösen  Glaubens  in  Europa 
stehe  nicht  nur  in  Verbindung  mit  dem  Anwachsen  der  Kritik  und 
des  Rationalismus,  sondern  auch  mit  dem  symptomatischen  Vorgang 
der  Entpersönlichung  der  Wirklichkeit.  Formen,  Begriffe,  Sche- 
mata seien  über  uns  Herr  geworden,  mußten  es.  Dieser  Entwicklung 
könnten  wir  uns  nicht  mehr  entziehen ;  wir  müssen  einfach  mit  ihr 
rechnen  und  uns  über  sie  klar  werden.  Dabei  machte  es  fast  gar- 
nichts  aus,  ob  die  Wissenschaft  uns  anweise,  die  Wirklichkeit  im 
mechanistisch-mathematischen  oder  im  vitalistisch-dynamischen  Sinne 
aufzufassen.  Als  Theorien  seien  sie  nämlich  beide  durchaus  Gegner 
jeder  unmittelbaren  und  jeder  mythisch  gearteten  Beziehung  des 
Menschen  zur  Wirklichkeit;  sie  verwehren  eine  personifizierende 
Anschauung  und  ein  persönlich  gestaltetes  Verhältnis  zu  ihr  in 
jeder  Hinsicht.  Damit  müßten  wir  uns  eben  abfinden,  soweit  wir 
Anspruch  darauf  machen,  an  der  modernen  Einstellung  und  Arbeit 
des  Geistes  teilzunehmen.  Möge  auch.  Hermann  Lotze  noch  so  sehr 
im  Recht  sein  mit  der  tiefsinnigen  Überzeugung:  „Der  Sehnsucht 
des  Gemütes,  das  Höchste,  was  ihm  zu  ahnen  gestattet  ist,  als 
Wirklichkeit  zu  fassen,  kann  keine  andere  Gestalt  seines  Daseins 
als  die  der  Persönlichkeit  genügen  oder  nur  in  Frage  kommen" 
(Mikrokosmus,  3.  Band  S.  563),  wir  seien  nun  doch  einmal  dahin 
gelangt,  uns  zu  entwöhnen,  das  Unendliche  unter  den  Bedingungen 
der  Persönlichkeit  zu  sehen. 

Ergebe  sich  aber  als  unserer  Weisheit  letzter  Schluß  die  Ein- 
sicht von  der  in  sich  geschlossenen  einheitlichen  Gesetzlichkeit  und 
gesetzlichen  Einheit  alles  Wirklichen,  von  seiner  eindeutigen  Be- 
stimmtheit und  Begrenzung  durch  ein  Gefüge  fester  Begriffsformen, 
so  entfalle  die  Möglichkeit  eines  Mythus  darum,  weil  die  Möglich- 
keit einer  idealen  Ergänzung  nach  der  Richtung  einer  jenseits  des 
Gewebes  von  Kausalitäten  wirkenden  Absolutheit  entfalle.  Weil 
wir  zu  lernen  gezwungen  wurden,  daß  das  Dasein  sich  aus  sich 
selber  nährt  und  sich  in  seinen  eigenen  Gesetzen  befriedigt.  Weil 
wir  in  unserer  Gesinnung  und  in  unserem  Denken  nun  einmal  so 
vertatsächlicht  und  historisiert  sind,  daß  jeder  Schritt  zur  Ewig- 
keit eine  Flucht  ins  Traumland  bedeutet,  das  doch  nur  der  eigent- 
lich längst  überwundenen  metaphysischen  Spekulation  erreichbar 
wäre.  Mit  der  Überwindung  der  Metaphysik  sei  aber  zugleich, 
so  meint  man,  aller  Mythus  zur  Verabschiedung  gebracht  worden. 


434  Arthur  Liebert, 

Die  für  das  moderne  Bewußtsein  maßgebende  Begrenzung  des 
Denkens  und  Handelns  auf  das  Reich  gegenständlicher  Erfahrung, 
und  zwar  eine  Begrenzung,  die  in  dem  erkenntnistheoretischen 
Phaenomenalismus  als  der  herrschenden  Richtung  und  Überzeugung 
in  der  Erkenntnistheorie  ihre  prinzipielle  Begründung  gefunden 
habe,  könne  die  Erhebung  zum  Reiche  der  Ideen  nur  als  ein  fik- 
tives Verhalten  gelten  und  in  den  Ideen  selber  nur  Fiktionen  er- 
blicken lassen.  Übrigens  sei  es  nur  eine  andere  Ausdrucksweise 
für  dieselbe  Entscheidung,  wenn  Friedrich  Albert  Lange  die  Me- 
taphysik als  „Begriffsdichtung"  ansieht  und  angesehen  wissen  will. 
Denn  auch  er  will  mit  dieser  Bezeichnung  nur  besagen,  daß  dem 
Absohiten  nicht  die  Eignung  selbständiger  Objektivität  zukomme, 
sondern  daß  dieses  nur  ein  durch  das  menschliche  Triebsystem  be- 
dingtes subjektives  Gebilde  von  biologisch  bestimmter  Struktur  sei. 
Stärker  aber  und  radikaler  könne  man  doch  vom  Mythus  sich 
nicht  lossagen  als  durch  die  naturwissenschaftliche  Auffassung  aller 
Erscheinungen,  einschließlich  der  Biologie,  Anthropologie,  Psycho- 
logie, m.  a.  W.  als  durch  eine  ausgesprochen  positivistische  Geistes- 
haltung und  durch  eine  positivistische  Erkenntnisweise.  Indem  diese 
aber  an  die  Stelle  der  Spekulation  traten,  haben  sie  mit  aller 
Spekulation  auch  allen  Mythus  aus  dem  Kreis  moderner  Bewußt- 
seinstätigkeit entfernt. 

b)  Diese  Beweisführung  ist  nun  keineswegs  ausreichend,  um 
die  theoretische  Unmöglichkeit  und  sachliche  Überlebtheit  des 
Mythus  darzutun.  Der  moderne  Positivismus  vermag  nämlich  darum 
die  Zulassung  des  Mythus  nicht  auszuschalten,  weil  er  selber  — 
eine  Form  des  Mythus  ist.  Auch  er  arbeitet,  ob  in  metaphysischer 
und  in  erkenntnistheoretischer  Hinsicht  mit  begründetem  Recht, 
bleibe  dahingestellt,  mit  einer  Absolutheit,  u.  zw.  in  doppeltem 
Sinne.  Erstens  gilt  ihm  die  Tatsache  als  solche,  sei  das  eine 
naturwissenschaftlich  oder  geisteswissenschaftlich  charakterisierte, 
so  wie  sie  als  Erscheinung  im  gesetzlich  geregelten  Verband  empi- 
rischen Ablaufs  bzw.  Gegebenseins  nachweisbar  ist,  als  ein  Letztes 
und  Unableitbares.  Sie  ist  ihm  das  Grundelement  zur  Weltkon- 
struktion, zugleich  das  Ziel,  auf  dessen  Erfassung  seine  wissen- 
schaftlichen Unternehmungen  gerichtet  sind.  Damit  jedoch  tritt 
sie  in  das  Licht  des  Mythus,  gewinnt  sie  mythisches  Ansehen. 
Das  muß  auch  der  Vertreter  des  Positivismus  einräumen,  so  para- 
dox dieses  Zugeständnis  aus  seinem  Munde  klingen  mag. 


Mythus  und  Kultur.  435 

Die  Form  aber  für  seine  Weltkonstruktion  ist  ihm  das  Natur- 
gesetz. Welche  Bedeutung  dieses  innerhalb  des  positivistischen 
Gedankenkreises  besitzt,  bedarf  nicht  längerer  Ausführungen.  Es 
ist,  mit  einem  Wort,  neben  der  Absolutheit  der  Tatsache  der  zweite 
Ausdruck  der  Absolutheit.  Die  ihm  zugesprochene  unbedingte 
Geltung  hat  sich  in  der  Herrschaft  des  theoretischen  Geistes  in 
der  europäischen  Kultur  ihre  kräftigste,  unzweideutige  Bekundung 
verschafft.  Will  man  jene  Geltung  jedoch  noch  deduzieren,  und 
fragt  man  nach  ihrer  endgültigen  Stütze,  so  findet  sich  im  letzten 
Grunde  für  sie  doch  keine  andere  Gewähr  als  jener  nicht  weiter 
ableitbare  geistige  Typ,  den  wir  als  den  abendländischen  Rationalis- 
mus zu  bezeichnen,  und  als  dessen  höchsten  legitimen  Nieder- 
schlag wir  die  Mathematik  und  die  mathematische  Naturwissen- 
schaft zu  betrachten  pflegen. 

So  erscheinen  diese  als  Symbole  des  Gesetzesgedankens.  Dieser 
Gesetzesgedanke  ist  ihre  logische  und  transzendentale  Bedingung. 
Indem  er  aber  im  Verein  mit  der  immer  mehr  zunehmenden  Aus- 
breitung der  mathematischen  und  der  mechanistischen  Erkenntnis- 
form zu  immer  vollerer  und  stärkerer  Anwendung  und  zu  der 
denkbar  umfassendsten  systematischen  Durchbildung  und  Durch- 
setzung gedieh,  weitete  und  vertiefte  er  sich  zu  der  entscheidenden 
Konstruktionsform,  über  die  der  zu  nahezu  uneingeschränkter  An- 
erkennung emporsteigende  *  Rationalismus  verfügte.  Vergrößerte 
sich  nun  im  Laufe  der  neuzeitlichen  Entwicklung  dessen  Macht 
mehr  und  mehr,  so  war  es  eben  der  Gesetzesgedanke,  der  ihm  als 
Mittel  dieser  Machtausdehnung  diente.  Dieser  Gedanke  kleidete 
sich  in  die  verschiedenartigsten  Ansdrucksweisen ;  er  wurde  das 
formale,  konstruktive  Organ,  dessen  Verfeinerung  gleichbedeutend 
wurde  mit  dem  Fortschritt  der  menschlichen  Erkenntnis  und  mit 
der  Schöpfung  neuer  theoretischer  Systeme.  So  wuchs  er,  das  ist 
keine  Frage,  zu  einem  Mythus  empor,  der  Zeiten  und  Völker  mit 
seinem  Bann  umfing  und  zum  guten  Teil  noch  umfängt. 

Diese  auch  den  Faktoren  des  Positivismus  innewohnende  my- 
thische Bedeutung  ist  es ,  auf  der  in  letzter  Linie  dessen  unver- 
kennbar großen  theoretischen  und  praktischen  Leistungen  und  dessen 
Einfluß  und  Stellung  beruhen.  Dadurch  daß  den  Tatsachen  auf 
der  einen  Seite  und  den  Gesetzesbeziehungen  auf  der  andern  die 
Unbedingtheit  zugesprochen  wurde,  konnte  der  Positivismus  unter 
bestimmten  Bedingungen  des  europäischen  Lebens  den  Charakter 
und   die  Geltung   eines   allgemeinen  Systems   und  die  Bedeutung 


436  Arthur  Liebert, 

einer  Weltanschauung  erreichen.  So  wenig  verwehrt  der  Positi- 
vismus einem  Mythus  die  Möglichkeit  oder  die  Existenz,  daß  er 
selber  auf  einem  solchen  beruht  und  in  seiner  geistesgeschichtlichen 
Rolle  eine  spezifische  Ausprägung  des  Mythus  vertritt.  Das  er- 
hellt nicht  nur  aus  der  kurz  angedeuteten  eigentümlich  absoluti- 
stischen Geltung,  die  seine  Faktoren  beanspruchen  bezw.  besitzen, 
sondern  auch  aus  dem  zur  Höhe  eines  Dogmas  gesteigerten  An- 
sehen, das  er  eine  Zeitlang  genoß.  Daß  aber  ein  Dogma  allemal 
die  Verkörperung  eines  Mythus  darstellt,  bedarf  keines  eingehen- 
deren Nachweises.  — 

c)  Ferner  aber  ist  für  die  geistige  und  seelische  Lage,  in  der 
wir  uns  befinden,  offensichtlich  nichts  bezeichnender  als  der  Um- 
stand der  Loslösung  von  diesem  Positivismus,  mag  er  in  der  Spiel- 
art des  naturwissenschaftlichen  oder  des  geisteswissenschaftlichen 
Positivismus  oder  mag  er  in  der  allgemeinen  Form  einer  Weltan- 
schauung auftreten  oder  aufgetreten  sein.  Die  eigentümliche  Krisis 
der  Gegenwart  beruht  zum  mindesten  in  einer  ausschlaggebenden 
Beziehung  darauf,  daß  wir  uns  von  einem  geistigen  Verhalten  und 
einer  wissenschaftlichen  Erkenntnis-  und  Behandlungsart  freizu- 
machen streben,  die  viele  Jahrzehnte  eine  außerordentliche  Macht 
ausgeübt  hat,  und  die  etwa  seit  Hegels  und  Goethes  Tode  zur 
herrschenden  Gedanken-  und  Bildungsform  geworden  war.  Es 
würde  hier  zu  weit  führen,  wenn  die  Gründe  für  diese  Abkehr 
vom  Positivismus  und  für  seinen  notwendigen  Ersatz  durch  eine 
andere  Gestalt  des  geistigen  Lebens  ausführlicher  erörtert  werden 
würden.  Versuche  der  verschiedensten  Art  und  von  sehr  ver- 
schiedenartigem Wert  liegen  vor.  Und  wenn  auch  nicht  wenige 
derselben  zu  einem  bisweilen  schmerzlichen  Lächeln  nötigen  oder 
sogar  eine  entschiedene  Abfertigung  und  Ablehnung  erheischen,  so 
bleibt  dennoch  das  innere  Bedürfnis  nach  einer  anderen  Einstel- 
lung zum  Leben,  das  in  ihnen  als  eine  ihrer  Voraussetzungen 
wirksam  ist,  ernsterer  Berücksichtigung  würdig. 

Ist  die  Abkehr  vom  Positivismus  ein  Motiv  und  ein  Symptom 
—  neben  manchen  anderen  —  für  die  geistige  Krisis  der  Gegen- 
wart, so  besteht  das  zweite  Motiv  und  Symptom  nicht  sowohl  in 
dem  Erreichen  und  Besitz  einer  neuen  geistigen  Lebensform,  als 
vielmehr  in  dem  schicksalshaften  Suchen  nach  ihr,  in  der  Erwar- 
tung ihrer.  Man  pflegt  dieses  Suchen  als  das  Verlangen  nach 
einer  Metaphysik  zusammenzufassen.    Doch  das  ist  nicht  ganz  zu- 


Mythus  und  Kultur.  437 

treffend,  weil  der  Tatbestand  nicht  in  ausreichendem  Maße  damit 
umspannt  wird.  Nicht  als  wenn  jenes  Verlangen  nach  einer  Meta- 
physik auch  nur  im  geringsten  geleugnet  oder  verkannt  werden 
sollte.  Sind  doch  die  Anzeichen  für  eine  Wendung  des  Geistes  in 
der  Richtung  nach  einer  Metaphysik  zu  auffällig,  zu  stark  und  zu 
zahlreich,  und  so  manche  Bemühungen  dahin  haben  ein  zu  großes 
Gewicht  und  sind  von  zu  hohem  theoretischen  Wert  und  gedank- 
lichen Reiz,  als  daß  sie  eindruckslos  bleiben  und  leichthin  ge- 
nommen werden  dürften.  Aber  jene  Hinweise  auf  die  zunehmende 
Teilnahme  für  die  Metaphysik,  auf  die  Erkenntnis  ihrer  Notwen- 
digkeit und  auf  die  Versuche  zu  ihrer  Erneuerung  berücksichtigen 
nur  die  eine,  gleichsam  die  intellektuelle  Seite  jenes  allgemeinen 
Bedürfnisses  und  Suchens.  Es  ist  schon  richtig,  daß  uns  kaum 
etwas  nötiger  ist,  daß  unser  Schicksal  kaum  etwas  gebieterischer 
fordert  als  eine  von  konstruktivem  Geist  erfüllte  Metaphysik,  als 
eine  spekulative  Deutung  der  Erscheinungen.  Denn  das  Zeitalter 
des  Positivismus  hat  unter  allen  Umständen  das  Verdienst,  daß  es 
uns  kraft  seiner  Methode  in  den  Besitz  eines  ungeheueren,  fast 
unübersehbaren  Reichtums  an  Einzelwissen,  Einzelkenntnissen, 
von  Tatsachen  gesetzt  hat.  Doch  nunmehr  handelt  es  sich  nicht  nur 
darum,  diese  Fülle  zu  gedanklichen  Einheiten  zusammenzufassen, 
sondern  auch  den  Sinn  dieser  Welt  von  Tatsachen  deutend  zu  er- 
fassen. Damit  jedoch  ist  Platz  geschaffen  für  die  neue  Metaphysik, 
und  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  aller  metaphysischen  Unter- 
nehmungen ist  wiederum  anerkannt  und  erneuert. 

In  dem  Prozeß  dieser  Deutung  gewinnt  der  endliche  Geist 
ein  Verhältnis  zum  Absoluten.  Denn  in  ihm  wird  keine  empi- 
rische, keine  kausale  Ableitung  der  Tatsachen  aus  gesetzlich  be- 
stimmten Ursachen  vorgenommen.  Ein  solches  Verfahren  würde  uns 
im  Reiche  der  Erscheinungen  zurückhalten  und  selber  im  positi- 
vistischen Fahrwasser  verbleiben.  Sondern  sein  Wesen  ist  ein  da- 
von völlig  verschiedenes  und  zwar  in  dreifacher  Beziehung:  er- 
stens soll  die  vernünftige  Einheit  der  Tatsachen  logisch  erfaßt,  es 
soll  diese  Einheit  in  der  Form  der  Konstruktion  erkannt  werden; 
zweitens  soll  der  Wert  dieses  Gefüges  unter  dem  Gesichtspunkt 
einer  höchsten  Idee  bestimmt  werden,  wobei  natürlich  keinerlei 
Utilitarismus  irgendein  Wort  verstattet  ist ;  drittens  endlich  muß 
der  Sinn  dieser  Einheit  und  dieses  Wertes  gedeutet  werden.  Viel- 
leicht läßt  sich  zur  genaueren  Klärung  dieser  Aufgabe  davon 
sprechen,   daß  es  sich  darum  handele,   allem  Seienden  unter  Vor- 

Kantstudien  XXVft.  29 


438  Arthur  Liebert, 

aussetzung  seiner  immanenten  Vernünftigkeit,  d.  h.  des  Waltens 
eines  Allgeistes  ein  bestimmtes  Schicksal  zuzusprechen.  Wenn  nun 
die  Durchführung  dieser  dreifachen,  doch  in  sich  einheitlichen  Auf- 
gabe die  Gestalt  des  Begriffes  und  der  methodischen  Regelung 
annimmt,  so  befinden  wir  uns  grundsätzlich  im  Arbeitsbereich  der 
Metaphysik.  Diese  stellt  diejenige  Geisteshaltung  in  dem  Verhält- 
nis zum  Absoluten  dar,  die  ausgesprochenermaßen  die  Form  der 
Erkenntnis  trägt.  Wir  erwägen  hier,  wie  ohne  weiteres  ersicht- 
lich ist,  nicht  die  wissenschaftliche  Möglichkeit,  nicht  den  Geltungs- 
wert  dieser  Erkenntnisform,  sondern  wir  weisen  nur  darauf  hin, 
daß  diejenige  Form  der  Beziehung  zum  Absoluten,  die  sich  theo- 
retischer Mittel  und  der  Gestalt  des  Gedankens  bedient,  innerhalb 
der  menschlichen  Kultur  als  Metaphysik  auftritt.  Und  die  außer- 
ordentliche Wichtigkeit  der  Metaphysik  für  unsere  Zeit  erhellt 
nun  eben  daraus,  daß  sie  uns  überhaupt  von  dem  Druck  der  nichts- 
sagenden Tatsächlichkeiten  und  aus  der  Verstrickung  in  die  kau- 
salen Endlichkeiten  befreit  und  in  jedem  Falle  eine,  wenn  auch 
nur  einseitige  Beziehung  zur  Welt  der  Ideen  herstellt. 

Nun  war  bereits  oben  S.  414  dargetan  worden,  daß  alle  Meta- 
physik auf  dem  Grund  eines  Mythus  ruht.  In  ihr  spricht  sich  ein 
Mythus  aus,  dem  sie  die  spezifisch  systematische  Form  verleiht.  Der 
Mythus  selber  ist  hingegen  die  überhaupt  allgemeinste  Gesinnungs- 
richtung des  endlichen  Geistes  inbezug  auf  das  Unendliche,  ein 
umfassendes  Verhalten,  das  z.  B.  auch  in  den  Objektivationen  der 
Kunst  und  der  Religion  seine  geschichtliche  Wirklichkeit,  seine 
Sonderausprägungen  besitzt.  Diese  allgemeinste  Gesinnungsrich- 
tung muß  sich  dann  bemerkbar  zu  machen  und  zur  Auswirkung 
zu  gelangen  suchen,  wenn  erstens  ein  Überdruß  an  der  zu  ausge- 
dehnt gewordenen  und  schließlich  keine  neuen  Fruchtbarkeiten 
zeitigenden  positivistischen  Geisteshaltung  eintritt,  zweitens  die 
errungene  Fülle  an  Tatsächlichkeiten  eine  so  große  Hohe  erreicht 
hat,  daß  alle  auf  sie  verwendeten  Bemühungen  zum  mindesten 
zur  Hälfte  dann  nutzlos  zu  werden  drohen,  sobald  das  Verbot  er- 
geht, diese  ganze  schwere  Arbeit  nach  ihrem  Sinn  zu  befragen 
und  sie  aus  einem  dem  Leben  überlegenen  Wert  und  Zweck  zu 
rechtfertigen.  Bloße  Tatsachen  sind,  von  einem  höheren  Stand- 
punkt aus  gesehen,  an  sich  belanglos,  selbst  diejenige  Tatsache, 
auf  die  der  moderne  Biologismus  einen  so  nachdrücklichen  Ton  zu 
legen  pflegt,  der  Wille  zum  Leben.  Denn  wir  erfassen  und  ge- 
nießen nirgendwo  einen  „Sinn"  des  Lebens,  wenn  wir  über  seinen 


Mythus  und  Kultur.  439 

Bestand  und   sein  erscheinungsmäßiges  Gregebensein  nicht  hinaus- 
zugehen vermögen.  — 

d)  Diese  innerlichste  wurzelhafte  Erhebung  über  die  Nichtigkeit 
eines  Bestandes,  dieses  tiefste  Freiwerden  von  allen  äußeren  kau- 
salen Gebundenheiten,  diese  reinste  Überwindung  aller  empirischen 
Determiniertheit  vollzieht   sich  nun   ohne  Zweifel  in  den  Formen 
und  Erlebnissen  religiösen  Charakters.     Daß  dem  so  ist,  ergibt 
sich-  sowohl  aus   der  Idee  der  Religion,   in  der  der  endliche  Geist 
die  größte,   soweit  ihm  überhaupt  mögliche  Annäherung  an   das 
Schlechthinnige  erreicht,   als   auch  aus  zahlreichen  Fällen  der  ge- 
schichtlichen Entwicklung.     Nirgends  sonst  werden  wir  so  gewiß, 
daß    alle   Erscheinungen   nur   Symbole   sind,    also  nirgends   sonst 
bleibt  die  Erscheinung  als  solche,    als  wesenloser  Schein,   so  weit 
hinter  uns  als  im  Reiche  und   vor  dem  Richterstuhl  der  Religion. 
Daraus  aber  folgt,   daß  je   mehr  ein  Zeitalter  sich  dem  Posi- 
tivismus   verschrieben    sah    und    Jahrzehnte    hindurch    in   seinem 
Geiste  tätig  war,   es   gerade  nach  der  Religion  die  stärkste  Sehn- 
sucht verspüren  muß,   vorausgesetzt,  daß  in  ihm  nicht  alles   Be- 
dürfnis nach  dem  Absoluten  und  alle  Fähigkeiten,  in  irgendeine 
Beziehung  zu  ihm  zu  gelangen,    erloschen  sind.     Regen  sich  aber 
in   unseren   Tagen   nicht  diese   Bedürfnisse  und  Fähigkeiten  u.  z. 
mit  charakteristischer  Entschiedenheit?     Geht  nicht  durch  unsere 
Zeit  ein  bis  zur  Verehrung  erhöhtes  Interesse  —  für  den  Orient  ? 
Diese  Teilnahme  erschöpft  sich   ihrem  tieferen  Sinn  nach  nicht  in 
dem  ästhetischen  Genuß  an  der  orientalischen  Kunst  oder  in  der 
intellektuellen  Freude  an  den  Leistungen  des  Orients  auf  dem  Ge- 
biete  der   Metaphysik.     Sondern    aus   einem  unmittelbaren  meta- 
physischen Verlangen  sucht  und   fragt  die  Gegenwart  nach  dem 
Geist  des  Orients.     Der  einzelne  Europäer,  der  sich  mit  persischer, 
indischer,  chinesischer  Kunst,  mit  der  Philosophie  der  Veden,   der 
Religion  und   Lebensweisheit  Buddhas   beschäftigt,    weiß    in    der 
Regel  kaum  etwas  von  dem  metaphysischen  Grund  und  Sinn  seiner 
Neigung,    seiner   Tätigkeit.     Und  doch  tragen   die   orientalischen 
Farben  und  Formen,  Gedichte  und  Bildnisse,  Gestalten  und  Lebens- 
auffassungen,   die    Predigten .  und    Weisungen    morgenländischer 
Denker  für  uns  Abendländer  die  Bedeutung  wegbahnender  Sym- 
bole. 

Was  nämlich  dem  Neuhumanisten  und  Klassi- 
zisten  sein  Hellas  und  sein  Griechenland,  was  dem 
Renaissancemenschen   sein  Piaton,   was   dem  Roman- 

29* 


440  Arthur  Liebert, 

tiker  das  Mittelalter,  die  gotischen  Dome  und  das 
ganze  Wesen  der  Katholizität  war,  das  ist  für  uns 
Heutige  in  beträchtlichem  Maße  derOrient,  in  erster 
Linie  der  indische  Orient.  Nicht  sein  geographisches, 
ethnographisches,  geschichtliches  Sein,  wie  dieses  sich  im  Spiegel 
der  kritischen  Forschung  darstellt,  weckt  und  unterhält  unsere 
Stimmung  und  Teilnahme  für  ihn,  sondern  es  handelt  sich  bei 
dieser  Beziehung  zu  ihm  um  etwas  Anderes.  Dieses  Andere  soll 
nicht  sowohl  der  Erweiterung  unseres  wissenschaftlichen  Horizontes, 
nicht  der  Mehrung  unserer  Kenntnisse,  dem  Verlangen  nach  in- 
tellektuellem Aufschluß  über  merkwürdige  Völker  und  merkwür- 
dige Einrichtungen  und  Gewohnheiten  dienen,  als  vielmehr  dem 
Bedürfnis  nach  Erfüllung  und  Vollendung  unseres  Seins,  nach  Ver- 
tiefung und  Sicherung  unseres  Schicksals,  das  während  der  Herr- 
schaft des  Positivismus  und  Relativismus  zu  einem  halt-  und  wert- 
losen Moment  in  einem  halt-  und  wertlosen  Werden  zu  zerfallen 
drohte. 

Deshalb  kann  man  diesem  Ruf  nach  dem  Orient  auch  nicht  da- 
durch Einhalt  gebieten  oder  seine  Unangebrachtheit  damit  belegen 
wollen,  daß  man  auf  die  tiefe,  unüberbrückbare  Wesensverschieden- 
heit zwischen  Abend-  und  Morgenland  hinweist.  Etwa  als  ob  wir 
die  Vertreter  eines  unentwegten  Aktivismus  und  einer  in  immer 
neuen  Errungenschaften  sich  entladenden  aktiven  Spontaneität 
seien,  während  dem  Orient  nur  Ruhe,  Ergebung,  Verzicht,  Quietismus 
als  Ideale  vorschwebten.  Wir  wissen- jetzt,  daß  eine  solche  Gegen- 
überstellung unter  den  genannten  Gesichtspunkten  dem  Tatbestand 
ganz  einfach  widerspricht.  Ich  lasse  hier  einem  Sachkenner  das 
Wort.  Nachdem  Leopold  Ziegler  in  seinem  Buche:  <Der  ewige 
Buddho>  gefordert  hat,  daß  man  „zuvörderst  alle  die  ungefügen 
und  grobschlächtigen  Schlagworte  vergessen  haben  muß,  mit  wel- 
chen seit  Jahrhunderten  jeder  Europäer  dumm  geprügelt  wird, 
der  in  Gesellschaft  den  Begriff  Buddhismus  zu  erwähnen  sich  ge- 
traut" (S.  18),  und  nachdem  er  einige  andere  Mißverständnisse 
richtiggestellt  hat,  so  das,  daß  der  Buddhismus  die  Religion  des 
Pessimismus  sei,  fährt  er  fort  (S.  20):  „Man  hat  in  dem  Buddhis- 
mus schlecht  und  recht  eine  der  geschichtlichen  Spielarten  des  aus 
der  Mystik  aller  Zeiten  und  Völker  fließenden  Quietismus  zu  er- 
blicken sich  gewöhnt,  und  wird  jetzt,  angesichts  dieses  Buddho, 
überraschend  inne,  daß  Gotama  von  der  Person  des  dem  Orden 
verpflichteten   bhiMu   eine   unausgesetzte   Höchstanspannung    und 


Mythus  und  Kultur.  441 

Höchststeigerung  sämtlicher  Kräfte  des  Leibes  und  des  Geistes 
und  der  Seele  fordert;  eine  Höchstanspannung  und  -Steigerung, 
die,  wenn  sie  auch  nicht  geradezu  Arbeit  im  Sinn  des  europäi- 
schen Berufsmenschen  zu  nennen  ist,  doch  auch  erst  recht  nicht 
als  Ruhe  oder  gar  als  Müssiggang,  am  ehesten  vielleicht  noch  als 
,tätige  Muße'  bezeichnet  werden  darf,  und  die  zu  ihrem  Teil  den 
Mönch,  dem  es  bitter  ernst  ist,  ausschließlich  Tag  und  Nacht  be- 
ansprucht, bis  jeder  Rest  von  Kraft  für  andere  Lebensäußerungen 
aufgezehrt  ist.  > Wohlan  denn,  ihr  Mönche:  unermüdlich  mögt  ihr 
da  kämpfen«,  —  das  ist  die  Summe  der  Gebote,  das  ist  das  Gebot 
aller  Gebote,  in  welches  der  Buddho  selbst  im  Augenblick  der 
Erlöschung  die  gesamte  Lehre  knapp  und  einprägsam  zusammen- 
faßt. Und  abermals  untersteh'  ich  mich  zu  behaupten,  daß  so 
kein  Quietismus  und  nicht  einmal  die  Mystik  an  und  für  sich 
sprechen  würde!" 

Und  dennoch  darf  man  sagen,  daß  wir  einen  Schuß  Quietismus 
recht  gut  gebrauchen  könnten,  nicht  zur  Beförderung  unseres  Selbst 
in  das  Nichts  tatenloser  Ruhe,  sondern  im  Sinne  von  Beruhigung, 
um  ein  Verhältnis  zu  uns  und  zu  den  anderen  Menschen  zu  ge- 
winnen, das  nicht  das  Kainszeichen  qualvoller  Ungeschlossenheit 
und  pragmatistischer  Wetterwendigkeit  trägt.  Wir  müßten  nach 
einer  Einstellung  zu  der  Welt  der  Erscheinungen  streben,  die  sich 
nicht  verzehrt  in  atemloser  Dialektik,  und  die  nicht  jede  tiefere 
sinnhafte  Beziehung  zu  uns  selber  und  zu  den  anderen  ausschließt 
oder  zerstört. 

Wer  die  Krisis  der  Gegenwart  wirklich  mit  allem  Ernst  durch- 
leidet und  ihre  eigentümliche  Beschaffenheit  durchschaut,  der  wird 
nicht  nur  das  Bedürfnis  nach  einem  erlösenden  Mythus  erkennen, 
sondern  auch  verstehen,  wieso  die  Sehnsucht  nach  dem  Absoluten 
ihre  Erfüllung  gerade  in  der  Wendung  unseres  Geisteslebens  zum 
Orient  zu  finden  meint.  Denn  der  neue  Mythus,  der  im  Werden 
begriffen  ist,  trägt  orientalisches  Gepräge:  Es  ist  der  Orient, 
vornehmlich  in  seiner  indischen  Gestalt,  der  als  My- 
thus vor  unseren  Blicken  emporsteigt;  es  ist  ein 
Mythus,  der  sich  in  die  Form  und  in  das  Wesen  des 
asiatischen  Orients  kleidet.  — 

e)  Warum  aber  muß  es  gerade  der  Orient  sein,  der  uns  als 
Symbol  des  Absoluten  gilt,  gleichsam  als  dessen  geschichtliche 
Verkörperung?  Weshalb  nicht  Hellas  oder  die  Gestalt  eines  Phi- 
losophen?   Weil  weder  die  Kunst  noch  die  Wissenschaft  noch  die 


442  Arthur  Liebert, 

Philosophie  diejenige  Versinnlichungsform  des  Absoluten  darstellen, 
die  wir  eben  heute  so  nötig  haben.  Unser  Verlangen  nach  dem 
Absoluten  und  die  in  uns  jetzt  wirkende  Notwendigkeit  eines  Ver- 
hältnisses zu  einem  in  jeder  Hinsicht  Wesentlichen  sind  gleichbe- 
deutend mit  der  Notwendigkeit  der  Religion.  Der  Orient  aber 
ist  das  uralte  Schöpferland  und  der  geheiligte  Heimatboden  der 
Religion.  Und  weil  er  das  ist,  ward  er  das  Land  der  Weisheit 
und  der  menschlichen  Vollendung.  Man  beachte  doch,  daß  das, 
was  wir  in  Europa  und  in  unserer  Mitte  an  religiösen  und  religiös 
verankerten  metaphysischen  Systemen  besitzen,  letzten  Endes  aus 
dem  Orient  stammt.  Und  man  sollte  einmal  dem  Einfluß  nach- 
geben, den  der  orientalische  Geist,  wie  immer  er  bei  dem  einzelnen 
europäischen  Denker  wirksam  sein  mag,  auf  die  Ausbildung  der 
verschiedenen  Formen  und  Typen  der  Metaphysik  ausgeübt  hat. 

Die  orientalische  Form  der  Geisteshaltung  gehört  ohne  Frage 
mit  zu  den  konstitutiven  Bedingungen  für  die  Entwicklung  ge- 
wisser metaphysischer  Systeme,  sowie  für  die  eigentümliche  Art 
ihrer  Geltung.  Spinozas  einzig-  und  eigenartige  Stellung  im  euro- 
päischen Geistesleben  beruht  im  tiefsten  Grunde  auf  der  charak- 
teristischen Bestimmtheit,  mit  der  jene  Form  in  seiner  Metaphysik 
zum  Ausdruck  gelangt.  Man  kann  fast  jeden  Einzelzug  seines 
Systems  aus  den  Schöpfungen  seiner  Vorgänger  ableiten,  in  ihm 
Beziehungen  zur  Stoa,  Abhängigkeiten  von  Giordano  Bruno,  Des- 
cartes,  Hobbes  nachweisen:  seine  Originalität  beruht  auf  der  Ein- 
stellung zu  allen  diesen  Einzelheiten,  eigentlich  darauf,  daß  alle 
jene  Abhängigkeiten  und  Entlehnungen,  und  deren  Zahl  ist  nicht 
gering,  doch  für  das  Ganze  des  Systems  nebensächlich  sind.  Wo 
nämlich  gibt  es  innerhalb  der  Ideenwelt  Europas  einen  Denker, 
der  so  unmittelbar,  gleichsam  so  unbedenklich,  so  jenseits  aller 
Dialektik,  so  unumwunden,  so  wirklich  ganz  dogmatisch  auf  das 
Sein,  auf  die  Substanz  gerichtet  war,  diese  nicht  erst  auf  dem 
Wege  irgendeiner  Begründung  oder  Erschließung  erkenntnistheo- 
retischer, psychologischer,  ethischer  Natur  näher  zu  führen  und 
ihrer  gewiß  zu  werden  brauchte.  Das  Sein  der  Substanz  steht 
bei  ihm  da,  wie  aus  der  Pistole  geschossen,  um  einen  von  Hegel 
inbezug  auf  Schelling  gebrauchten  Ausdruck  hier  auf  Spinozas  On- 
tologismus  anzuwenden.  Vom  allerersten  Atemhauch  und  Schritt 
an  sind  wir  in  Spinozas  Ethik  in  der  Sicherheit  des  Seins,  der 
keine  Vermittelung  von  irgendeinem  außerhalb  der  Substanz  lie- 
genden Ableitungspunkt  vorgelagert  ist.     Spinozas  Sein  ist  in  der 


Mythus  und  Kultur.  443 

Tat  über  jeglichen  Bezug  zu  irgendeinem  Werden  in  jeder  Hin- 
sicht erhaben.  Man  wird  kaum  einen  anderen  abendländischen 
Philosophen  treffen,  der  den  Gedanken  des  Seins  so  primär,  so 
absolut,  so  deduktionslos,  so  unkritisch,  so  unkantisch,  so  gänzlich 
naiv,  so  in  sich  geschlossen  gedacht  hat  wie  Spinoza.  Um  einen 
solchen  zu  finden   muß   man   schon  nach  dem  Orient  sich  wenden. 

Europas  Geist  und  Sehnsucht  kreisen  gleichsam  unermüdlich 
um  das  Absolute,  ohne  sich  seiner  je  in  voller  Tiefe  bemächtigen 
zu  können.  Wir  leben  in  dem  Prozeß  des  ewigen  Werdens.  Hat 
doch  Goethe  sogar  den  Gedanken  eines  > werdenden  Gesetzes <  ge- 
formt, den  Gundolf  mit  Recht  als  einen  ungeheuren  bezeichnet 
(Gundolf,  Goethe,  S.  563).  Ungeheuer  aber  ist  er,  dem  sich  zahl- 
lose ähnliche  an  die  Seite  stellen  ließen,  besonders  aus  der  Samm- 
lung „Gott  und  Welt",  nicht  nur  wegen  seiner  spekulativen  Kühn- 
heit, ja  Verwegenheit,  sondern  als  überwältigende  Zusammenfas- 
sung der  für  Europas  Gesinnung  charakteristischen  Auffassungs- 
und Bewertungs weise  des  Seienden.  Der  Sinn  des  Werdens  ist 
das  Suchen  nach  dem  Absoluten.  Und  keinen  Mythus  haben  die 
vergangenen  Jahrzehnte,  also  die  der  Vorrangstellung  des  Histo- 
rismus und  des  Relativismus,  in  denen  der  Begriff  der  Entwick- 
lung der  leitende  und  bestimmende  Gesichtspunkt  für  alle  Unter- 
nehmungen des  Geisteslebens  war,  stärker  und  umfassender,  ein- 
heitlicher und  folgerichtiger  ausgebildet  als  den  Mythus  vom 
ewigen  Werden. 

Des  Orientalen,  des  religiösen  Menschen  Wesen  dagegen  ruht 
stets  im  Absoluten.  Er  nimmt  die  Welt  der  Erfahrung  niemals  so 
schwer  und  so  ernst,  daß  er  darüber  ihren  Charakter  als  bloße 
Erscheinung  vergessen,  ihre  Unwesentlichkeit  übersehen  würde. 
Während  sich  der  Europäer  mit  ihrer  Problematik  herumschlägt 
und  ihr  schon  damit  einen  entschiedenen  Wert  zubilligt,  steht  der 
Orientale,  steht  der  religiöse  Mensch  jenseits  dieser  Problematik, 
steht  er  im  Sein,  richtet  er  sich  auf  das  Wesen  der  Dinge.  Für 
den  Sinn  dieser  Leistung  und  dieses  Verhaltens  dürfte  aber  keine 
Bezeichnung  angemessener  sein  als  die,  daß  hier  der  andere  ty- 
pische Mythus  zur  Entwicklung  gelangt  ist,  der  Mythus  vom 
ewigen  Sein. 

Sollte  das  nicht  der  neue  Mythus  sein,  den  wir  suchen  und 
gebrauchen,  nachdem  wir  den  Mythus  vom  ewigen  Werden  nach 
allen  Richtungen  und  in  allen  denkbaren  Abstufungen  ausgebildet 
und    selber    in   dem   Gedanken   des   unaufhörlichen    Werdens   und 


444  Arthur  Liebert, 

seiner  unabschließbaren  Entwicklung  uns  selber  nahezu  restlos  ver- 
loren haben?  Wie  aber  lassen  sich  Wesen  und  Sinn  dieses  Mythus 
vom  ewigen  Sein  genauer  verdeutlichen  ?  Wohl  durch  nichts  besser 
als  durch  die  Ideen  von  Gott  und  von  Natur.  So  sind 
zwei,  aber  untereinander  eng  verbundene  Formen  der  Ausprägung 
und  Entfaltung  jenes  Mythus  gegeben:  denMythus  von  Gott 
und  den  Mythus  von  der  Natur.  Sie  beide,  zusammengefaßt 
und  in  spekulativer  Deutung  durchgeführt,  zeitigen  die  W  e  n  d  u  n  g 
zur  Religion,  d.h.  zu  dem  größten,  hinreißendsten 
Mythus  der  Kultur.  — 

Wie  nun  unter  den  allgemeinen  Eigentümlichkeiten  des  euro- 
päischen Geistes  und  unter  den  Besonderheiten  unserer  gegenwär- 
tigen Lage  ein  solcher  Mythus  in  konkreter  Gestalt  sich  entfalten 
und  zu  umgreifender  Wirksamkeit  gelangen  könnte,  das  läßt  sich 
in  eindeutiger  und  einwandfreier  Weise  nicht  ausmachen.  Keinen 
Augenblick  können  die  Ungeheuern  Schwierigkeiten  verkannt  werden, 
die  der  Geburt  und  der  Durchsetzung  des  notwendig  gewordenen 
neuen  religiösen  Mythus  in  der  heutigen  Weltlage  im  Wege  stehen. 
Wie  wird  sich  seine  Auseinandersetzung  mit  dem  verwissenschaft- 
lichten Greist  unserer  Kultur,  d.  h.  sein  Verhältnis  zum  „Logos" 
gestalten?  „Ohne  Logos  kann  eine  große  religiöse  Lebenswelt 
ebensowenig  bestehen  wie  ohne  Mythos",  sagt  Ernst  Troeltsch, 
der  der  Spannung  zwischen  Denken  und  Leben,  Systematik  und 
Geschichte,  Logos  und  Mythos,  wie  überhaupt  der  religiösen  Pro- 
blematik unserer  Tage  tiefstgreifende  Überlegungen  gewidmet  hat 
(vgl.  u.  a.  die  grundlegende  Abhandlung  < Logos  und  Mythos  in 
Theologie  und  Religionsphilosophie  >;  abgedruckt  in  Gesammelte 
Schriften,  2.  Band :  «Zur  religiösen  Lage,  Religionsphilosophie  und 
Ethik >  S.  805  ff.).  Ferner :  Welche  Momente  werden  in  den  neuen 
Mythus  aus  dem  Christentum  einfließen,  und  welche  Rolle  wird 
und  kann  überhaupt  bei  seiner  Entstehung  und  Verbreitung  das 
Christentum  spielen  ?  Die  Zukunft  des  Christentums,  Art  und  Grad 
seiner  Beteiligung  an  der  werdenden  Kultur  sind  in  den  letzten 
Jahren  mit  begreiflicher  Lebhaftigkeit  erörtert  worden. 

Aber  sowohl  hier  als  bei  der  zuerst  aufgeworfenen  Frage  läßt 
sich  mit  rein  wissenschaftlichen  Mitteln  eine  Entscheidung  nicht 
fällen  (so  auch  Troeltsch,  u.  a.  S.  824).  Alle  derartigen  Erörte- 
rungen würden  wie  eine  Voraussage  der  Zukunft  erscheinen. 
Erstens  aber  kann  die  Vorherbestimmung  zukünftigen  Geschehens 


Mythus  und  Kultur.  445 

nicht  als  eine  wissenschaftlich  mögliche  oder  zulässige  Aufgabe 
gelten.  Zweitens  würde  das  Genie,  das  uns  den  erhofften  reli- 
giösen Mythus  brächte,  alle  Voraussagen,  mögen  sie  noch  so  um- 
sichtig vorgenommen  sein,  über  den  Haufen  werfen,  weil  es  aus 
Tiefen  des  Lebens  und  Erlebens  schöpft,  die  jenseits  der  wissen- 
schaftlichen Erfassung  liegen. 


Die  Überwindung   des   Religionsbegriffs 
in  der  Religionsphilosophie1). 

Von  Paul  Tillich,   Berlin. 


Es  ist  meine  Pflicht,  die  Paradoxie  in  der  Formulierung  meines 
Themas  zu  begründen.  „Paradox"  kann  den  Sinn  von  „geistreich" 
haben,  dann  beruht  die  Paradoxie  auf  der  widerspruchsvoll  zwei- 
deutigen Wortform  und  gehört  in  die  ästhetische  Sphäre.  Sie 
kann  auch  dialektisch  sein.  Dann  beruht  sie  auf  dem  Zusammen- 
stoß zweier  widerspruchsvoller,  aber  in  sich  notwendiger  Gedanken- 
reihen, und  gehört  in  die  logische  Sphäre.  In  beiden  Fällen  liegt 
die  Paradoxie  im  Subjekt,  einmal  in  der  Willkür  der  künstlerischen 
Phantasie ,  das  anderemal  in  der  Notwendigkeit  der  logischen 
Konstitution.  Nun  aber  gibt  es  einen  Punkt,  wo  Paradoxie  nicht 
im  Subjekt,  sondern  durchaus  im  Objekt  begründet  ist,  wo  Para- 
doxie zur  Aussage  ebenso  notwendig  gehört ,  wie  Widerspruchs- 
losigkeit  zu  jeder  erfahrungswissenschaftlichen  Aussage :  Der  Punkt, 
in  dem  das  Unbedingte  zum  Objekt  wird.  Denn  daß  es  das  wird, 
ist  ja  eben  die  Urparadoxie,  da  es  als  Unbedingtes  seinem  Wesen 
nach  jenseits  des  Gegensatzes  von  Subjekt  und  Objekt  steht.  Para- 
doxie ist  also  die  notwendige  Form  jeder  Aussage  über  das  Un- 
bedingte. Die  ästhetische  wie  die  logische  Paradoxie  ist  grund- 
sätzlich auflösbar,  beide  stellen  eine  Aufgabe,  sei  es  an  den  Witz, 
sei  es  an  das  Denken.  Die  Paradoxie  des  Unbedingten  ist  nicht 
auflösbar.     Sie  stellt  eine  Aufgabe  an  das  Schauen. 

Das  scheint  die  philosophische  Aussage  über  das  Unbedingte 
zu  einer  religiösen  zu  machen.  Dazu  ist  zu  bemerken:  Religions- 
philosophie, die  außerhalb  der  religiösen  Wirklichkeit  steht,  ist  so 
sinnwidrig,  wie  Ästhetik,  die  außerhalb  der  künstlerischen  Wirk- 


1)  Die  folgenden  Ausführungen  stellen  die  Ausarbeitung    eines  in   der  Ber- 
liner Abteüung  der  Kant-Gesellschaft  am  25.  Jan.  1922  gehaltenen  Vortrages  dar. 


\ 
\ 


Paul  Tillich,  Die  Überwindung  des  Religionsbegriffs  usw.     447 

lichkeit  steht,  denn  beides  hieße;  Über  einen  Gegenstand  reden, 
dessen  einzige  Gegebenheitsform  unzugänglich  bliebe.  Dabei  kann 
die  Berührung  mit  der  Sache  die  Form  des  schärfsten  Gegensatzes 
annehmen,  wenn  dieser  Gegensatz  nur  aus  der  Sache  selbst  stammt. 
So  hatte  Nietzsche  ein  Recht,  Gott  zu  bekämpfen,  denn  er  tat  es 
im  Namen  des  Gottes,  der  durch  ihn  sprach,  während  Strauß  kein 
Recht  dazu  hatte,  denn  durch  ihn  sprach  das  Menschliche,  allzu 
Menschliche.  Es  ist  darum  sachlich  begründet ,  wenn  ich  auf  die 
geistige  Gemeinschaft  hinweise,  in  der  ich  mich  in  den  folgenden 
Gedanken  mit  Männern  des  religiösen  Wortes,  wie  Barth  und  Go- 
garten  befinde.  Es  war  überraschend  für  mich,  zu  sehen,  wie 
ohne  gegenseitige  Beeinflussung  das  unbedingte  „Ja"  zum  Unbe- 
dingten in  dem  religionsphilosophischen,  wie  in  dem  religiösen 
Denken  zu  der  prinzipiell  gleichen  Stellung  geführt  hat.  Dennoch 
sind  die  folgenden  Gedankengänge  ganz  aus  sich  heraus  zu  ver- 
stehen; sie  sind  Philosophie  und  sie  sollen  nichts  sein  als  Philo- 
sophie. Die  Paradoxie  aller  letzten  Aussagen  über  das  Unbedingte 
hindert  nicht  die  Rationalität  und  Notwendigkeit  der  Begründungs- 
zusammenhänge, aus  denen  diese  Paradoxie  hervorwächst. 

Es  steht  zu  beweisen,  daß  der  Begriff  der  Religion  in  sich 
selbst  eine  Paradoxie  enthält.  „Religion"  ist  der  Begriff  einer 
Sache,  die  eben  durch  diesen  Begriff  zerstört  wird.  Und  doch  ist 
er  unvermeidlich;  es  käme  also  darauf  an,  ihn  so  zu  verwenden, 
daß  er  einem  höheren  Begriff  untergeordnet  wird,  der  ihm  seine 
zerstörende  Kraft  nimmt.  Das  aber  ist  der  Begriff  des  Unbe- 
dingten. Es  wird  nun  freilich  infolge  der  inneren  Dialektik  des 
Religionsbegriffs  eine  gewisse  Zweideutigkeit  unvermeidlich  sein, 
insofern  das  eine  Mal  der  Begriff  neutral,  orientierend  gebraucht 
wird,  das  andere  Mal  prägnant,  polemisch.  Dem  ist  nicht  abzu- 
helfen, denn  jeder  etwa  nea  geschaffene  Begriff  würde  der  gleichen 
Dialektik  anheimfallen,  der  Zusammenhang  muß  entscheiden,  was 
gemeint  ist. 

Wir  sprechen  I)  Von  dem  Protest  der  Religion  gegen  den 
Religionsbegriff.  II)  Von  der  Herrschaft  des  Religionsbegriffs  in 
der  Religionsphilosophie.  III)  Von  der  Überwindung  des  Reli- 
gionsbegriffs.   IV)  Von  der  Dialektik  der  Autonomie. 


448  Paul  Tillich, 

I. 

Der  Protest  der  Religion  gegen  den  Religionsbegriff. 

Es  sind  vier  Einwände,  die  die  Religion  gegen  den  Religions- 
begriff  erhebt.  1.  Er  macht  die  Gottesgewißheit  relativ  gegenüber 
der  Ichgewißheit.  2.  Er  macht  Gott  relativ  gegenüber  der  Welt. 
3.  Er  macht  die  Religion  relativ  gegenüber  der  Kultur.  4.  Er 
macht  die  Offenbarung  relativ  gegenüber  der  Religionsgeschichte. 
Insgesamt :  Durch  ihn  wird  das  Unbedingte  gegründet  auf  das  Be- 
dingte, es  wird  selbst  bedingt,  d.  h.  zerstört. 

1.  Die  Gewißheit  des  Unbedingten  ist  unbedingt.  Wo  aber 
der  Religionsbegriff  das  Denken  leitet,  soll  es  eine  Gewißheit  geben, 
die  grundlegender  ist  als  die  des  Unbedingten :  —  Die  Gewißheit 
des  Ich.  Die  Selbstgewißheit  des  Subjekts  soll  vor  der  Gottesge- 
wißheit stehen.  Vom  Gottesbewußtsein  losgelöst  soll  das  Ich  sich 
selbst  erfassen.  —  Aber  auch  die  Ichgewißheit  ist  kein  Fundament 
unbedingter  Gewißheit.  Sie  wird  von  einem  Traumschleier  über- 
deckt, wenn  die  Außenwelt,  auf  die  sie  bezogen  ist,  sich  in  Schein 
auflöst.  Mit  dem  Objekt  wankt  auch  das  Subjekt.  Das  Unbe- 
dingte aber  steht  jenseits  von  Subjekt  und  Objekt.  Nur  wo  das 
Ich  als  Stätte  der  Selbsterfassung  des  Unbedingten  gemeint  ist, 
nimmt  es  teil  an  der  unbedingten  Gewißheit,  sei  es  des  absoluten 
Lebens,  wie  bei  Augustin,  sei  es  der  absoluten  Form,  wie  bei  Car- 
tesius.  Immer  aber  ist  das  Unbedingte  das  Begründende,  das  Ich 
das  Medium  und  das  Begründete.  Wo  es  anders  ist,  wo  das  Ich 
sich  loslöst,  entsteht  zwar  —  Religion,  aber  das  Ich  verliert  mit 
Gott  zuletzt  auch  sich  selbst. 

2.  Mit  der  Gewißheit  des  Unbedingten  geht  auch  die  Wirk- 
lichkeit des  Unbedingten  verloren.  Die  Religion  ruht  als  Funktion 
des  Bedingten  in  der  Welt  des  Bedingten.  Und  sie  geht  von  dieser 
ihrer  Welt  aus,  um  zum  Unbedingten  zu  gelangen.  Sie  hat  einen 
selbstgenügsamen  Weltbegriff,  der  nur  an  seinen  Rändern  einer 
Ergänzung  bedarf.  Und  so  wird  Gott  zu  einem  Korrelat  der 
Welt,  dadurch  aber  selbst  Welt.  Und  das  wahre  Unbedingte 
liegt  jenseits  von  diesem  Gott  und  der  Welt.  Es  entsteht  ein 
Gott  unter  Gott ;  der  Gott  des  Deismus.  —  Oder  der  Weltbegriff 
bedarf  keiner  Ergänzung ;  das  Universum  ist  in  sich  vollendet  und 
Gott  identisch  mit  ihm,  die  Totalität,  die  Synthesis  aller  endlichen 
Formen,  das  Universum  des  Bedingten,  das  aber  niemals  das  Un- 
bedingte sein  kann,   der  Gott  des  Pantheismus.  —  Wo  der  Welt- 


Die  Überwindung  des  Religionsbegriffs  in  der  Religionsphilosophie.  449 

begriff  ohne  Gott  fertig  ist,  da  ist  Gott  ein  bloßer  Name,  den 
man  um  der  Religion  willen  ausspricht,  den  man  aber  auch  weg- 
lassen kann,  ganz  gleich,  ob  das  Universum  Geist  oder  Materie 
genannt  wird. 

3.  Der  Geist  des  Religionsbegriffs  vernichtet  Gottes  gewißheit 
und  Gottes  Wirklichkeit,  und  er  vernichtet  die  Religion  selbst. 
„Religion"  ist  eine  Funktion  des  menschlichen  Geistes.  Sie  bleibt 
es  auch,  wenn  man  sie  (mit  Scholz)  zu  einer  Schöpfung  Gottes 
im  Menschen  macht.  Denn  zum  mindesten  muß  der  menschliche 
Geist  die  funktionelle  Möglichkeit  zur  Religion  haben,  und  mehr 
ist  ja  so  wie  so  nicht  gemeint.  Sie  steht  also  neben  den  übrigen 
Geistesfunktionen.  Aber  wo?  Zuerst  suchte  sie  ihre  Heimat  in 
einer  anderen,  der  praktischen ;  aber  die  autonome  Ethik  ist  fertig 
ohne  sie,  löst  sie  in  sich  auf  oder  schickt  sie  weiter;  zu  der  theo- 
retischen; aber  die  autonome  Philosophie  braucht  sie  nicht,  stellt 
sie  unter  sich  als  Vorstufe,  als  Übergang,  löst  sie  in  sich  auf  und 
schickt  sie  weiter,  zum  Gefühl;  aber  Gefühl  begleitet  jede  Funk- 
tion; also  ein  bestimmtes  Gefühl;  etwa  für  das  Univerum;  aber 
damit  ist  es  nicht  mehr  die  Funktion,  sondern  der  Gegenstand, 
der  die  Religion  bestimmt.  So  wird  der  Heimatlosen  eine  eigne 
Stätte  gesucht,  eine  Provinz  im  Geistesleben  (Schleiermacher)  ein 
religiöses  „Apriori"  (Tröltsch)  die  höchste  Aktklasse  (Scheler); 
und  so  ist  man  ethisch,  wissenschaftlich,  ästhetisch,  politisch  und 
ist  auch  religiös.  Das  Unbedingte  steht  neben  dem  Bedingten; 
aber  die  Religion  gestattet  nicht,  daß  man  auch  religiös  ist,  sie 
gestattet  überhaupt  nicht,  daß  man  „religiös"  ist.  Sie  erträgt 
keine  Nebenordnung,  auch  nicht  in  der  Form  einer  Rangordnung, 
wo  sie  an  erster  Stelle  steht.  Sie  ist  ein  verzehrendes  Feuer 
gegen  alle  autonomen  Geistesfunktionen,  und  wer  ein  religiöses 
Apriori  sucht,  der  muß  wissen,  daß  damit  alle  anderen  Apriori's 
im  Abgrund  versinken.  Davon  aber  weiß  der  Religionsbegriff 
nichts. 

4.  Wie  der  Religionsbegriff  die  Unbedingtheit  des  Glaubens 
in  die  Relativität  der  Geistesfunktionen  auflöst,  so  löst  er  die 
Unbedingtheit  der  Offenbarung  in  das  Werden  und  Wandeln  der 
Religions-  und  Kulturgeschichte  auf;  die  Religion  als  Allgemein- 
begriff ist  indifferent  gegen  den  Offenbarungsanspruch  jeder  Re- 
ligion. Absolute  Religion  ist  hölzernes  Eisen ;  war  das  Christentum 
Religion  geworden ,  so  war  es  seiner  Absolutheit  a  priori  ent- 
kleidet.   Und  Tröltsch   tat  recht  daran,   das   a  posteriori   festzu- 


450  Paul  Tillich, 

stellen.  Der  Glaube  gibt  das  Prädikat  „Religion"  höchstens  der- 
jenigen Religion,  die  das  Heil  nicht  bringt,  der  falschen  Religion. 
Es  ist  ein  herabsetzendes  Wort  nnd  bezeichnet  das  Minderwertige 
in  der  Religion,  daß  sie  im  Subjekt  stecken  bleibt,  daß  sie  lediglich 
Intention  auf  Gott  hin  ist,  daß  sie  Gott  nicht  hat,  weil  Gott  sich 
in  ihr  nicht  gegeben  hat.  Und  dieses  Wort  der  Herabsetzung 
wird  nun  zu  dem  Fundament,  auf  das  die  Offenbarung  sich  gründen 
soll  —  und  doch  nicht  gründen  kann.  Denn  entweder  wird  Offen- 
barung zur  Mitteilung  eines  Wissens,  das  der  autonome  Geist 
auch  sonst  gefunden  hätte.  Sie  löst  sich  auf  in  Rationalismus  mit 
gelegentlicher  Nachhilfe  supranaturaler  Art,  oder  sie  wird  Geistes- 
geschichte und  löst  sich  auf  in]  die  Bedingtheiten  des  Kulturpro- 
zesses. Ist  Offenbarung  ein  „religiöser"  Begriff,  so  ist  sie  über- 
haupt kein  Begriff  mehr. 

Das  ist  der  Widerspruch  der  Religion  gegen  den  Geist  des 
Religionsbegriffs.  Sehen  wir  zu,  wie  sich  die  bisherige  Religions- 
philosophie dazu  gestellt  hat. 

II. 
Die  Herrschaft  des  Religionsbegriffs  in  der  Religionsphilosophie. 

Die  Religionsphilosophie  ist  im  Abendland  in  drei  Perioden 
verlaufen:  die  rationale,  die  kritische  und  die  intuitive.  Die  em- 
piristische Religionsphilosophie  geht  neben  allen  drei  Perioden 
einher,  kann  aber  hier  außer  Acht  bleiben,  da  sie  konsequenter- 
weise nur  über  die  Verwirklichung  der  Religion  im  seelischen  und 
geschichtlichen  Leben,  nicht  über  sie  selbst  etwas  aussagen  kann. 
Sobald  sie  es  versucht,  macht  sie  Anleihen  bei  einer  der  anderen 
Methoden. 

1.  Die  rationale  Periode  ist  die  der  unbewußten  Herrschaft 
des  Religionsbegriffes,  die  kritische  die  seiner  bewußten  Herrschaft 
und  die  phänomenologische  die  seiner  schwindenden  Herrschaft.  In 
der  Philosophie  der  Renaissance  ist  das  Weltbewußtsein  noch  ein- 
geschlossen in  ein  mystisches  oder  ekstatisches  Gottesbewußtsein. 
Es  gibt  keine  Welt  abgesehen  von  Gott,  wie  es  freilich  im  Unter- 
schied vom  Mittelalter  keinen  Gott  abgesehen  von  der  Welt  gibt. 
Der  Unterschied  von  Natur  und  Übernatur  ist  aufgehoben.  Die 
Natur  ist  übernatürlich ;  das  Übernatürliche  Natur.  Aber  das  war 
ein  Übergang.  —  Die  mathematische  Naturwissenschaft  seit  Galilei 
bannte  das  Übernatürliche.  Die  Natur  wird  rein  gegenständlich, 
rein    rational,    rein   technisch,    sie  wird  außergöttlich.     Es  wird 


Die  Überwindung  des  Religionsbegriffs  in  der  Religionsphilosophie.  451 

möglich,  einen  Weltbegriff  ohne  Grottesbegriff  zu  vollziehen.  Da- 
mit aber  ist  der  Herrschaft  des  Religionsbegriffs  freie  Bahn  ge- 
schaffen. Sie  zeigt  sich  sofort  am  Ausgangspunkt  der  ganzen 
Entwicklung,  bei  Cartesius.  Das  Ich  ist  die  Gewißheitsgrundlage ; 
vom  Ich  wird  auf  Gott  geschlossen.  Nicht  das  ist  das  Verhängnis- 
volle, daß  in  der  Selbstgewißheit  des  Ich  das  Prinzip  aller  Ratio- 
nalität gefunden  wird:  darin  ist  ja  die  Unbedingtheit  der  logi- 
schen Form  enthalten,  die  als  Unbedingtheit  Heiligkeitsqualität  in 
sich  birgt.  Aber  daß  nicht  das  Unbedingte  daraus  entnommen  wird, 
um  in  ihm  Gott  zu  erfassen,  sondern  das  Rationale,  um  mit  ihm 
G-ott  zu  deduzieren,  das  zeigt  die  Veränderung  der  ganzen  Lage, 
z.  B.  gegenüber  Augustin.  Sie  kommt  zu  voller  Deutlichkeit  erst 
in  der  Aufklärungsphilosophie,  die  mit  Hilfe  der  technisch-gegen- 
ständlichen Kategorie  Ursache  und  Zweck  Gott  aus  der  Welt  er- 
schließen will.  Die  Gottesgewißheit  soll  ruhen  auf  der  Weltge- 
wißheit und  der  Kraft  des  logischen  Schlusses.  Das  ist  Herrschaft 
des  Religiosbegriffs ;  freilich  in  verhüllter  Form,  da  überhaupt  noch 
von  Gott  und  nicht  von  Religion  die  Rede  ist. 

Kant  hat  richtig  gesehen,  daß  ohne  ontologischen  Beweis  dieses 
Ziel  unerreichbar  ist.  Aber  der  ontologische  Weg  war  versperrt ; 
er  ist  nur  da  möglich,  wo  das  Bewußtsein  in  unmittelbarer  Ein- 
heit mit  dem  Unbedingten  steht,  er  ist  dann  kein  logischer  Schluß 
vom  Denken]  aufs  Sein  des  Unbedingten,  der  natürlich  unmöglich 
ist,  sondern  er  ist  der  Ausdruck  für  die  unbedingte  Gewißheit, 
die  das  Unbedingte  allem  Bedingten  gegenüber  hat,  insofern  es 
jenseits  des  Gegensatzes  von  Denken  und  Sein  steht.  Mit  der 
Verselbständigung  des  Weltbewußtseins,  mit  dem  Auseinanderfallen 
von  Denken  und  Sein,  mit  der  Vergegenständlichung  Gottes  wird 
dieser  Ausdruck  einer  realen  Bewußtseinslage  zu  einem  Syllogis- 
mus, dessen  Prämisse  nicht  zutrifft.  So  wurde  die  Kritik  des  on- 
tologischen Beweises  das  Fazit  der  Geistesentwicklung  vom  Mittel- 
alter zur  Neuzeit,  vom  Gottesbewußtsein  zum  autonomen  Welt- 
bewußtsein ;  und  sie  wurde  zugleich  das  Ende  der  rationalen  Periode. 

Der  verhüllten  Aufhebung  der  Gottesgewißheit  entspricht  die 
verhüllte  Aufhebung  der  Gottes  Wirklichkeit.  Gott  wird  im  Welt- 
bild fast  aller  Philosophen  dieser  Periode  das  zentrale  Moment 
der  Weltkonstruktion:  der  Träger  der  Weitharmonie,  der  geniale 
Uhrmacher  des  kosmischen  Systems,  der  Vermittler  von  Subjekt 
und  Objekt,  immer  technisch,  immer  gegenständlich,  ein  Ding  auch 
wenn  er  der  Ort  der  Ideen  oder  das  Jenseits   von  Denken  und 


452  Paul  Tillich, 

Ausdehnung  genannt  wird.  Denn  auch  das  Denken  ist  durch  den 
Determinismus  der  vorherbestimmten  Harmonie  dinghaft  geworden. 
Der  Gott,  der  die  Welt  ergänzen  soll,  ist  Welt  und  nicht  Gott. 
Allein  Spinozas  religiöse  Tiefe  überwindet  diese  Gottes  unwürdigen 
Begriffe  und  weist  in  die  folgende  Periode ;  er  selbst  aber  bleibt 
überwunden  von  dem  dinghaften  Weltbegriff  seiner  Zeit,  durch 
den  Gott  gerade  bei  ihm  zum  absoluten  Ding  wird.  Er  enthüllt 
die  Tendenz  des  Religionsbegriffs  und  mit  Recht  empfand  ihn 
seine  Zeit  als  ihre  eigentliche  Gefahr. 

Auch  die  Unbedingtheit  der  Religion  gegenüber  der  Kultur 
ist  in  verhüllter  Weise  aufgehoben.  Das  „colere  et  intelligere 
Deuma  steht  neben  den  „colere  et  intelligere a  von  Welt  und  Men- 
schen. Wie  Gott  neben  der  Welt  steht,  steht  die  Religion  neben 
Wissenschaft  und  Politik,  neben  Kunst  und  Sittlichkeit.  Auch 
hier  bleibt  die  zerstörende  Konsequenz  des  Religionsbegriffs  ver- 
hüllt. Man  erkennt  die  Welt  —  und  auch  Gott;  man  hat  den 
Staat  —  und  auch  die  Kirche,  man  hat  die  Kunst  —  und  auch 
den  Kultus.  Die  Religion  ist  noch  überall,  aber  sie  ist  überall 
ein  Teil,  und  hat  ihre  Allgegenwart  verloren.  Dieselbe  Verhül- 
lung im  vierten  Punkt.  Die  Absolutheit  der  Offenbarungs Wahr- 
heit tritt  auf  als  Absolutheit  der  Vernunftreligion.  D.  h.  die 
Offenbarung  ist  ein  Kapitel  der  Metaphysik  geworden,  hineinge- 
zogen in  die  Dialektik  des  Widerlegens  und  Begründens.  So  lange 
trotz  alier  Widersprüche  der  Glaube  an  die  absolute  Vernunft 
herrschte,  blieb  die  Konsequenz  des  Religionsbegriffs  verhüllt.  Als 
die  Vernunft  geschichtlich  wurde,  ward  die  Vernunftreligion  zur 
Religionsgeschichte . 

2.  In  der  kritischen  Periode  brechen  die  relativistischen  Kon- 
sequenzen des  Religionsbegriffs  offen  hervor.  Die  Gottesgewißheit 
verliert  ihren  theoretischen  Sinn.  Der  moralische  Gottesbeweis 
kann  seinem  wahren  Gehalt  nach  nichts  anderes  leisten,  als  der 
sittlichen  Autonomie  die  Weihe  des  Unbedingten  zu  geben:  Alle 
Versuche  aber,  philosophischer  und  theologischer  Kantianer,  aus 
ihm  mit  ethischen  Postulaten  eine  theoretische  Existenz  Gottes 
herauszuholen,  sind  vergeblich.  Der  Neukantianismus  hat  darin 
die  klare  Konsequenz  der  kritischen  Grundlage  gezogen.  Und  es 
ist  das  religionsphilosophische  Verdienst  der  „Philosophie  des  Ais- 
Ob",  diesen  theoretisch  existierenden  Gott,  der  mit  ethischen  Postu- 
laten erwiesen  werden  soll,  als  Fiktion  durchschaut  zu  haben.  — 
Eür  die  idealistischen  Kantianer  kommt  eine  Gottesgewißheit,  ab- 


Die  Überwindung  des  Religionsbegriffs  in  der  Religionsphilosophie.  453 

gesehen  von  der  Weltgewißheit  nicht  in  Frage.  Die  Religion  ist 
eine  besondere  Art  des  Welterlebens,  die;  entweder  in  der  Philo- 
sophie aufgehoben  ist,  wie  bei  Hegel  oder  eine  dauernde  eigentüm- 
liche Bedeutung  hat,  wie  bei  Schleiermacher.  Am  deutlichsten  ist 
die  Wirkung  des  Religionsbegriffs  da,  wo  nominalistisches  Denken 
einen  gegenständlichen  Weltbegriff  überhaupt  nicht  kennt,  wie  bei 
Simmel,  und  demgemäß  die  Religion  ausschließlich  ins  Subjekt  ge- 
legt wird:  die  Religion  ein  Rythmus,  eine  Färbung  der  Seele,  ein 
Ausdruck  ihrer  metaphysischen  Bedeutsamkeit.  Also  eine  Weihe 
nicht  der  gegenständlichen  Welt,  wie  im  Realismus,  sondern  des 
subjektiven  Lebens.  Der  Religionsbegriff,  der  vom  Ich  zu  Gott 
führen  wollte,  ist  zum  Ich  zurückgesunken. 

In  der  Fassung  des  Gottesgedankens  senkt  sich  die  drohende 
Wolke  der  vergangenen  Periode,  des  Spinozismus  nieder,  seiner 
Dinghaftigkeit  durch  den  idealistischen  Ausgangspunkt  entkleidet. 
Es  gibt  keinen  Gott  mehr  abgesehen  von  der  Welt.  Der  Deismus 
wird  zum  Pantheismus.  Gott  ist  die  Weltidee,  die  Form  der 
Formen,  die  letzte  Synthesis,  die  als  Realität  oder  unendliche  Auf- 
gabe gedacht  wird;  er  ist  die  Welt  sub  specie  aeternitatis.  Da- 
durch ist  wieder  die  Einheit  von  Gott  und  Welt  hergestellt,  aber 
nicht,  wie  in  der  Renaissance  von  Gott  aus,  der  die  Welt  in  sich 
aufgenommen,  sondern  von  der  Welt  aus,  die  Gott  in  sich  aufge- 
nommen hat.  Darum  ist  hier  die  gegenständlich-wissenschaftliche 
Begriffsbildung  der  Durchgang  zu  Gott.  Der  Weltbegriff  schafft 
den  Gottesbegriff  und  hält  ihn  in  Abhängigkeit  von.  sich.  So  ist 
es  im  Idealismus,  so  weiterhin :  Der  Gottesbegriff  bleibt  abhängig 
vom  Weltbegriff:  er  geht  mit  ihm  die  materialistischen,  volunta- 
ristischen,  naturalistischen,  positivistischen  Wege,  also  die  Uner- 
füllbarkeit  der  romantischen  Sehnsucht  offenbarend,  von  der  Welt- 
form zu  Gott  zu  kommen,  eine  neue  Unmittelbarkeit,  eine  neue 
ontologische  Geisteslage  von  der  wissenschaftlichen  Welterfassung 
her  zu  erreichen.  Und  wieder  ist  es  die  „Philosophie  des  Als-Ob", 
die  in  klarer  Erkenntnis  der  Sachlage  die  Entwurzelung  durch- 
schaut hat,  die  den  Gottesbegriff  in  dem  Augenblick  treffen  muß, 
wo  er  zu  einer  abgeleiteten  Wirklichkeit  herabgedrückt  ist,  anstatt 
das  Urgegebene  selbst  zu  sein. 

Daraus  ergibt  sich  nur  auch  das  Verhalten  der  kritischen 
Periode  zu  dem  dritten  Punkt:  Entsprechend  dem  Pantheismus 
geht  die  Religion  über  in  Kultur.  Sie  wird  einer  der  Geistesfunk- 
tionen angehängt,  und  es  bleibt  nicht  aus,    daß    sie    sich  in   diese 

Kantetudien  XXVII.  30 


454  Paul  Tillich, 

auflöst.  Der  Erfolg  in  der  geistigen  Lage  des  Jahrhunderts  ist 
deutlich  sichtbar:  In  einzelnen  von  Hegel  abhängigen  Denkern 
und  in  der  von  Hegel-Marx  bestimmten  Arbeiterschaft  nimmt  die 
Wissenschaft  die  Stelle  der  Religion  ein,  in  den  ethisch-bürgerlich 
bestimmten  Kreisen  tritt  die  Moral  in  die  Lücke,  in  den  Schichten 
der  höchsten  Bildung  die  Kunst.  Die  Versuche,  der  Religion  eine 
Sonderfunktion  zu  retten,  mißlingen,  weil  ihre  Absolutheit  eine 
Relativisierung  nicht  verträgt,  weil  die  geforderte  religiöse  Funk- 
tion genau  so  in  Kultur  umschlagen  muß,  wie  der  geforderte 
deistische  Gott  in  "Welt.  Es  ist  freilich  nicht  zu  verkennen,  daß 
auf  diese  Weise  die  Kultur  religiöse  Weihe  erhält;  aber  diese 
Färbung  erhält  sie  nachträglich;  sie  kann  auch  fehlen  und  fehlt, 
sobald  der  Weltbegriff  aus  idealistischen  in  materialistische  und 
voluntaristische  Fassungen  übergegangen  ist. 

Der  Sieg  der  historischen  Vernunft  im  Idealismus  bedeutet 
auch  den  Sieg  der  Religionsgeschichte  in  dieser  Periode.  Sie  war 
durchaus  als  Offenbarungsgeschichte  gemeint,  natürlich  nicht  im 
supranaturalen,  aber  im  immanent-geistesgeschichtlichen  Sinn ;  es  ist 
Gott  selbst,  der  in  ihr  zum  Selbstbewußtsein  im  Endlichen  kommt ; 
es  sind  die  Weltpotenzen,  die  der  Reihe  nach  in  der  Mythologie 
und  Offenbarung  sich  kundgeben.  —  Mit  dem  Zerbrechen  der  idea- 
listischen Voraussetzung  wird  die  Offenbarungsgeschichte  ein  Stück 
menschlicher  Geistesgeschichte,  dessen  Sinn  es  ist,  sich  in  Kultur- 
geschichte aufzulösen.  Auch  hier  der  völlige  Sieg  des  Religions- 
begriffes. —  Die  kritische  Periode  ist  konsequenter  als  die  ratio- 
nale; das  ist  ihr  Vorzug;  sie  enthüllt  die  religionszerstörenden 
Folgen  des  Religionsbegriffes,  aber  sie  leistet  auch  etwas  Positives. 
Sie  ist  eine  machtvolle  Reaktion  gegen  die  gegenständliche  Ent- 
leerung und  Entheiligung  der  Welt.  Diese  Reaktion  bleibt  zwar 
romantisch  und  ästhetisch  und  schlägt  wieder  in  ihr  Gegenteil  um ; 
denn  das  zerstörte  religiöse  Bewußtsein  kann  nicht  durch  Wille 
einzelner,  sondern  nur  durch  Schicksale  von  Völkern  und  Massen 
wiedergewonnen  werden.  Aber  die  romantische  Religionsphilo- 
sophie gibt  dennoch  die  Brücke  und  schafft  Formen,  über  die 
wieder  der  neue  Geist  ontologischen  Gottesbewußtseins  sich  er- 
gießen könnte. 

Welt,  Kultur,  Geschichte  haben  Heiligkeitsqualitäten,  können 
sie  haben,  aber  brauchen  sie  nicht  zu  haben.  Wie  aber,  wenn  die 
Ordnung  umgekehrt  würde;  wenn  es  hieße:  Müssen  sie  haben:  wenn 
vor   allem  das  Religiöse  Unbedingtheit  und  Gewißheit   hätte   und 


Die  Überwindung  des  Religionsbegriffs  in  der  Religionsphilosophie.  455 

die  Welt  und  die  Kultur  und  die  Geschichte  zeitliche,  zweifel- 
hafte, zu  überwindende  Profanisierungen  des  Heiligen  wären  ?  Mit 
dieser  Frage  wenden  wir  uns   der  dritten,   intuitiven  Periode   zu. 

3.  Sie  beginnt  mit  der  Jahrhundertwende;  nicht  nur  durch 
die  im  engeren  Sinne  phänomenologische  Philosophie,  sondern  durch 
die  allgemeine  Bewegung  des  Geisteslebens  hinweg  von  der  gegen- 
ständlich-technischen zu  einer  urständlich-intuitiven  Welterfassung. 
Es  ist  schwerer  über  sie  etwas  zu  sagen,  da  sie  erst  in  Entfaltung 
begriffen  ist ;  aber  es  ist  doch  schon  möglich,  sie  in  den  weitesten 
Umrissen  zu  erschauen.  Für  die  Religionsphilosophie  hat  sie  die 
Bedeutung,  gegen  die  Herrschaft  des  Religionsbegriffs  bewußt  an- 
zugehen. Es  scheint  sich  eine  neue  ontologische  Geisteslage  an- 
zubahnen. Die  Erfassung  des  Numinösen  durch  Otto  als  einer 
alle  Gegenstandsformen  durchbrechenden  Wirklichkeit,  die  Erhe- 
bung des  Heiligkeitswertes  über  die  übrigen  Wertstufen  durch 
Scheler,  die  völlige  Trennung  des  religiösen  von  dem  theoretischen 
Existentialurteil  durch  Scholz  liegen  in  dieser  Richtung.  Wir 
stellen  nun  die  Frage,  wieweit  gelingt  es  hier,  den  Geist  des  Re- 
ligionsbegriffs zu  bannen? 

Scheler  wie  Scholz  wollen  die  funktionelle  Begründung  der 
Religion  mit  Energie  überwinden,  Scheler,  indem  er  dem  religiösen 
Objekt  die  primäre  Gewißheit  gegenüber  dem  religiösen  Akt  zu- 
schreibt und  die  Gottesfrage  vor  der  Religionsfrage  erledigt,  Scholz, 
indem  er  die  Auffassung  der  Religion  als  autonomer  Geistesschöp- 
fung bestreitet  und  in  dem  Satze  „Gott  ist"  das  erste  Wesens- 
merkmal der  Religion  sieht.  Es  könnte  eingewandt  werden,  daß 
damit  eine  Wiederkehr  der  rationalen  Methode  droht;  aber  die 
Gefahr  besteht  in  Wirklichkeit  nicht.  Nicht  mit  Hülfe  von  Syl- 
logismen soll  aus  einem  feststehenden  Weltbegriff  Gott  erschlossen 
werden,  sondern  ohne  Berücksichtigung  der  Welt  soll  seine  Wirk- 
lichkeit erschaut  werden.  —  Um  die  Scheidung  dieses  Anschauens 
von  der  reflektiv-gegenständlichen  Welterkenntnis  hervorzuheben, 
baut  Scheler  die  Wirklichkeitserfassung  in  Stufen  auf:  die  wissen- 
schaftliche, die  metaphysische  und  die  religiöse  Erkenntnis.  Zweifellos 
ist  damit  eine  Überwindung  sowohl  der  rationalen  wie  der  kriti- 
schen Methode  angebahnt.  Aber  doch  nicht  erreicht.  Denn  es  ist 
nicht  deutlich,  wie  sich  die  Stufen  zu  einander  verhalten.  Welche 
Schwierigkeiten  hier  vorliegen,  zeigt  Scheler,  wenn  er  die  Meta- 
physik mit  einem  sacrificium  intellectus  sich  selbst  aufheben  läßt, 
zu  Gunsten   der  Religion.     Damit  ist   das  Gottesbewußtsein   ab- 

30* 


456  Paul  Tillich, 

hängig  gemacht  von  einem  sich  selbst  vernichtenden  Weltbewußt- 
sein;  die  Gottesgewißheit  lebt  vom  Opfer  der  Weltgewißheit;  die 
Gotteswirklichkeit  vom  Opfer  der  Welt  Wirklichkeit.  Aber  dieses 
Opfer  bringt  die  Welt.  Gott  lebt  vom  Opfer  und  er  schwindet, 
wenn  der  autonome  Geist  das  Opfer  weigert.  Der  aber  muß  es 
weigern,  um  nicht  durch  theoretische  Urteile,  die  fremder  Quelle 
entspringen,  in  sich  zweispaltig  zu  werden. 

Der  protestantische  .Religionsphilosoph  Scholz  fordert  nicht 
ein  sacrificium  intellectus,  sondern  er  sucht  dem  Intellect  die  Glaub- 
würdigkeit der  Religion  zu  beweisen.  Er  setzt  also  ein  Bewußt- 
sein voraus,  für  das  die  Glaubwürdigkeit  bewiesen  werden  müßte. 
Dieses  Bewußtsein  aber  ist  das  der  sittlichen  Persönlichkeit.  An 
der  ethischen  Qualität  der  Offenbarungsträger  hat  sich  das  Ver- 
trauen auf  die  Wahrheit  ihrer  Offenbarung  zu  entzünden.  Wer 
sieht  hier  nicht  den  ins  Persönliche  transponierten  moralischen 
Gottesbeweis,  der  dem  Protestantismus  so  tief  im  Blut  sitzt?  — 
In  beiden  Fällen  ist  die  Weltgewißheit  und  die  Weltwirklichkeit 
als  das  Grundlegende  beibehalten  gegenüber  der  Gottesgewißheit 
und  Gotteswirklichkeit,  einmal  als  Stufe,  das  andere  Mal  als  Kri- 
terium. Erreicht  ist  nur  ein  doppeltes.  Gott  wird  weder  er- 
schlossen, wie  in  der  rationalen,  noch  in  die  Welt  hineingezogen, 
wie  in  der  kritischen  Periode. 

Auch  in  den  beiden  anderen  Punkten,  Religion  und  Kultur, 
Offenbarung  und  Geschichte,  hilft  sich  Scheler  durch  den  Stufen- 
gedanken: die  religiösen  Werte  sind  die  höchsten  in  der  Wert- 
reihe; Heiligkeitswerte  stehen  noch  über  Persönlichkeits  werten. 
Und  innerhalb  der  Heiligkeits  werte  steht  wieder  die  im  Christus 
gegebene  Gotteswirklichkeit  an  erster  Stelle  über  Propheten  und 
Heiligen:  die  Religion  der  höchste  Kulturwert,  die  christliche 
Religion  der  höchste  Heiligkeitswert.  —  Offenbar  herrscht  auch 
hier  noch  der  Religionsbegriff.  Die  Stufenreihe  läßt  die  höhere 
Stufe  auf  die  niederen  gegründet  sein  im  Sinne  des  Bildes,  wie 
im  Sinne  der  Sache,  die  es  veranschaulichen  soll;  es  bleibt  ein 
Denken  von  unten,  ein  Emporsteigen;  aber  es  gibt  keine  Stufen, 
die  zum  Unbedingten  führen;  die  höchste  wie  die  niedrigste  ist 
von  dem  Unbedingten  gleich  weit  entfernt. 

Bei  Scholz  tritt  auch  hier  an  Stelle  der  Stufenlehre,  deren 
katholisch- mittelalterlicher  Ursprung  ja  deutlich  ist,  die  ethisch- 
kulturelle Persönlichkeitsidee,  deren  protestantische  Wurzel  offen 
liegt:    die  Religion  ist    eine    dem  übrigen  Geistesleben  gegenüber 


Die  Überwindung  des  Eeligionsbegriffs  in  der  Keligionsphilosophie.  457 

selbständige  Sache,  die  da  sein,  aber  auch  fehlen  kann;  ist  sie 
aber  da,  so  ist  das  Maß  ihrer  Wertung  die  Erlebbarkeit  durch 
den  Kulturmenschen  der  Gegenwart,  d.  h.  durch  die  geistig-ethisch 
geformte  Persönlichkeit.  An.  erlebbaren  Religionen  aber  kommen 
schließlich  nur  drei  in  Betracht ;  das  Christentum,  der  Pantheismus, 
die  Mystik.  —  Es  widerspricht  nun  schlechterdings  der  Unbedingt- 
heit  des  Unbedingten,  daß  es  in  seiner  Art  und  seinem  Maß  ab- 
hängig gemacht  wird  von  dem  Maß  einer  bestimmten  geistig-ethi- 
schen Persönlichkeits-  oder  Kulturlage.  All  diese  Gedanken  ent- 
stammen noch  einem  Denken,  das  nicht  auf  das  Unbedingte,  son- 
dern Bedingte  sieht,  um  an  ihm  das  Unbedingte  zu  messen.  Sie 
haben  den  Geist  des  Religionsbegriffes  nicht  bannen  können.  — 
Aber  ist  er  überhaupt  zu  bannen?  Oder  ist  es  das  Verhängnis 
der  Religionsphilosophie,  ihm  verfallen  zu  sein?  Ist  es  das  Ver- 
hängnis der  menschlichen  Geschichte,  daß  es  nur  eines  in  ihr  geben 
kann,  Religion  oder  Religionsphilosophie? 

in. 

Die  Überwindung  des  Religionsbegriffs. 

Der  entscheidende  Einwand,  den  wir  gegen  die  bisherige  Re- 
ligionsphilosophie erhoben,  ist  der,  daß  sie  das  Unbedingte  auf 
das  Bedingte  gründet  entweder  durch  Nebenordnung  oder,  da  diese 
unerträglich  ist,  durch  Auflösung  des  Unbedingten  in  das  Bedingte. 
Eine  Religionsphilosophie,  die  dem  Wesen  des  Unbedingten  gerecht 
werden  will,  muß  das  Unbedingte  in  allem  Bedingten  erfassen,  als 
das,  was  sich  selbst  und  das  Bedingte  begründet.  Das  Bedingte 
ist  das  Medium,  in  dem  und  durch  das  hindurch  das  Unbedingte 
erfaßt  wird.  Zu  diesem  Medium  gehört  auch  das  erkennende  Sub- 
jekt. Auch  dieses  tritt  in  keiner  Weise  als  begründend  auf,  son- 
dern nur  als  der  Ort,  in  dem  das  Unbedingte  im  Bedingten  offenbar 
wird.  Daraus  folgt,  daß  der  Sinn  jeder  Aussage  über  das  Unbe- 
dingte prinzipiell  unterschieden  sein  muß  von  dem  Sinn  jeder 
Aussage  über  Bedingtes.  Da  aber  jede  Aussage  als  solche  in  dem 
Schema  von  Subjekt  und  Objekt,  also  in  den  Formen  des  Bedingten 
verläuft,  so  muß  die  Aussage  über  das  Unbedingte  diese  Formen 
zwar  benutzen,  aber  doch  so,  daß  ihr  Unzulängliches  offenbar 
wird,  d.  h.  sie  muß  die  Form  der  systematischen  Paradoxie  tragen. 

1.  Die  Selbstgewißheit  des  Ich  ist  unter  der  Herrschaft  des 
Religionsbegriffs  begründend  für  die  Gottesgewißheit.  Nun  aber 
ist  in  der  Selbstgewißheit  des  Ich  ein  Doppeltes   enthalten:   Das 


458  Paul  Tillich, 

Unbedingte  einer  Realitätserfassung,  die  jenseits  von  Subjekt  und 
Objekt  liegt  und  das  Teilhaben  des  subjektiven  Ich  an  diesem 
Unbedingt- Wirklichen,  auf  dem  es  ruht.  Das  Ich  ist  das  Medium 
der  unbedingten  Realitätserfassung;  und  es  nimmt  als  Medium 
teil  an  der  Gewißheit  dessen,  was  es  vermittelt ;  aber  es  nimmt 
nur  als  Medium  teil;  es  ist  nicht  das  Tragende,  sondern  das  Ge- 
tragene. —  Es  besteht  nun  für  das  Ich  die  Möglichkeit ,  seine 
Selbstgewißheit  so  zu  erleben,  daß  die  unbedingte  Realitätsbezie- 
hung, die  darin  enthalten  ist,  im  Vordergrund  steht:  die  a  priori 
religiöse  Art  der  Selbsterfassung ;  es  besteht  andererseits  die  Mög- 
lichkeit, seine  Selbstgewißheit  so  zu  erleben,  daß  die  Beziehung 
auf  das  Sein  des  Ich  im  Vordergrund  steht,  die  a  priori  unreligiöse 
Art  der  Selbsterfassung;  im  ersten  Fall  dringt  das  Ich  gleichsam 
durch  die  Form  ■  seiner  Bewußtheit  hindurch,  zu  dem  Realität  s- 
grund,  auf  dem  es  ruht,  im  zweiten  Fall  bleibt  dieser  Untergrund 
zwar  wirksam  —  ohne  ihn  gäbe  es  keine  Selbstgewißheit  —  aber 
er  wird  nicht  angetastet;  das  Ich  bleibt  in  seiner  Losgelöstheit, 
in  der  Bewußtseinsform.  Kann  man  diese  zweite  Stellung  auch 
mit  Recht  unreligiös  nennen,  so  doch  nur,  insofern  die  Intention 
in  Betracht  kommt,  nicht  soweit  es  sich  um  den  Erfolg  handelt. 
Ein  der  Substanz  nach  unreligiöses  Bewußtsein  gibt  es  nicht,  wohl 
aber  der  Intention  nach.  In  jeder  Ich-Erfassung  ist  die  Beziehung 
auf  das  Unbedingte  als  Realitätsgrund  enthalten;  aber  nicht  in 
jeder  ist  sie  gemeint;  danach  unterscheiden  sich  die  beiden  Lagen 
des  Bewußtseins. 

Die  Aussage,  daß  in  der  Selbstgewißheit  die  Gewißheit  des 
Unbedingten  erfaßt  wird,  ist  paradox;  denn  sie  hat  die  Form  des 
Theoretischen  und  ist  doch  dem  Theoretischen  schlechterdings  fremd. 
Wenn  gesagt  wird,  daß  Ich  erfasse  in  sich  das  Unbedingte  als 
Grund  seiner  Selbstgewißheit,  so  ist  in  der  Form  dieser  Aussage 
der  Gegensatz  von  Subjekt  und  Objekt  enthalten;  aber  der  Ge- 
halt dieser  Aussage  steht  dem  gerade  entgegen:  das  Unbedingte 
ist  nicht  Objekt,  es  ist  auch  nicht  Subjekt,  sondern  es  ist  die 
Voraussetzung  jedes  möglichen  Gegensatzes  von  Subjekt  und  Ob- 
jekt. Darum  steht  die  Erfassung  des  Unbedingten  auch  vor  jedem 
theoretischen  Urteil.  Und  ist  in  Grund  und  Folgen  unabhängig 
von  aller  theoretischen  Gewißheit.  Ob  der  Geist  die  religiöse  oder 
unreligiöse  Intention  in  sich  trägt,  ist  theoretisch  indifferent,  da 
das  Unbedingte  zwar  das  Tragende  auch  alles  theoretischen  Ur- 
teils ist,  selbst  als  absolute  Voraussetzung  aber  niemals  Gegenstand 


Die  Überwindung  des  Religionsbegriffs  in  der  Religionsphilosophie.  459 

der  Theorie  sein  kann.  Wird  es  das  doch  —  und  es  muß  es  ja 
werden,  da  sonst  überhaupt  nichts  ausgesagt  werden  könnte  —  so 
hat  diese  Aussage  notwendig  paradoxe  Form :  Grottesgewißheit  ist 
die  in  der  Selbstgewißheit  des  Ich  enthaltene  und  sie  begründende 
Gewißheit  des  Unbedingten.  Damit  ist  die  Gottesgewißheit  schlechter- 
dings unabhängig  von  jeder  anderen  vorausgesetzten  Gewißheit. 
Das  Ich  und  seine  Religion  steht  unter  dem  Unbedingten;  es  ist 
erst  möglich  durch  das  Unbedingte.  Es  gibt  deswegen  überhaupt 
keine  Gewißheit,  in  der  nicht  die  Gottesgewißheit  implicite  ent- 
halten wäre;  aber  ob  sie  auch  explicite  enthalten  ist,  das  macht 
den  entscheidenden  religiösen  Unterschied  aus.  Objektiv  ist  jedes 
Bewußtsein  Gott-gebunden,  aber  subjektiv  kann  das  Bewußtein 
Gott-los  sein. J  Es  gibt  also  keinen  Weg  vom  Ich  zu  Gott ;  aber  es 
gibt  —  der  Richtung,  nicht  der  Substanz  nach  —  einen  Weg  von 
Gott  weg  zum  Ich.  Ist  dieser  Weg  einmal  beschritten,  so  gibt 
es  auf  ihm  freilich  kein  Zurück:  Nur  der  Durchbruch  des  im  Ich- 
Bewußtsein  enthaltenen  Grundes  durch  die  autonome  Bewußtseins- 
form befreit  von  dem  Zwang  der  Gottesferne ;  die  Religion  nennt 
diesen  Durchbruch  Gnade.  Sie  weiß,  daß  kein  theoretisches  Hin- 
weisen auf  das  aller  Theorie  zu  Grunde  Liegende  das  Unbedingte 
im  Bewußtsein  lebendig  machen  kann;  denn  die  Theorie  hat  das 
Unbedingte  als  Objekt,  also  als  das,  was  es  nicht  ist. 

2.-  Die  Weltwirklichkeit  begründet  unter  der  Herrschaft  des 
Religionsbegriffs  die  Gotteswirklichkeit.  Nun  steht  jedes  Wirk- 
liche in  den  Formen  der  Gegenständlichkeit,  zu  denen  auch  die 
Existenz  gehört;  zugleich  aber  ist  durch  jedes  Wirkliche  erfaßbar 
ein  Unbedingt- Wirkliches ,  das  nicht  in  den  Formen  der  Gegen- 
stände steht,  also  auch  keine  Existenz  hat.  Wo  der  Geist  sich  so 
auf  die  Welt  und  ihren  Inhalt  richtet,  daß  er  das  Moment  der 
Unbedingtheit,  das  in  allem  enthalten  ist,  ins  Bewußtsein  erhebt, 
da  ist  er  auf  Gott  gerichtet.  Dieses  Moment  der  unbedingten 
Wirklichkeit  in  allem  Bedingt- Wirklichen,  ist  das,  was  tragend  ist 
in  jedem  Ding;  es  ist  seine  Seienswurzel,  seine  Ernsthaftigkeit, 
seine  Unergründlichkeit,  seine  Heiligkeit.  Es  ist  sein  Realitäts- 
gehalt im  Unterschied  von  seiner  zufälligen  Form. 

Jedes  gegenständliche  Denken  ist  hier  streng  auszuschließen. 
Es  ist  nicht  von  einem  Gegenstand  neben  den  Dingen,  oder  über 
den  Dingen  oder  in  den  Dingen  die  Rede ;  es  ist  überhaupt  von 
keinem  Gegenständlichen,  sondern  von  dem  Urständlichen  schlecht- 
hin die  Rede,   dem  was   aller  Form,   auch  der  Existenz   enthoben 


460  Paul  Tillich, 

ist.  Aber  auch  hier  gilt,  daß  jede  Aussage  gegenständliche 
Form  hat,  und  darum  nur  als  gebrochene,  paradoxe  Aussage 
wahr  ist. 

So  ist  die  Aussage  „Gott  ist"  der  Form  nach  eine  theoretische 
Aussage  und  keine  Stufenordnung  kann  das  ändern;  es  ist  die 
Einreihung  Gottes  in  die  Gegenstands  weit ;  aber  diese  Einordnung 
ist  Gottlosigkeit.  Ist  die  Aussage  „Gott  ist"  auch  dem  Gehalt 
nach  theoretisch,  so  vernichtet  sie  die  Gottheit  Gottes.  Ist  sie 
aber  als  Paradoxie  gemeint,  so  ist  der  notwendige  Ausdruck  für 
die  Bejahung  des  Unbedingten;  denn  es  ist  nicht  möglich,  sich 
anders  auf  das  Unbedingte  zu  richten  als  durch  Vergegenständ- 
lichkeit.  —  Damit  ist  Deismus  und  Pantheismus  überwunden.  Der 
Deismus,  der  nicht  nur  eine  Zeit-Richtung,  sondern  ein  Element  ist 
in  jeder  Gottes  Vorstellung,  das  Moment  der  Vergegenständlichung. 
Verendlichung  Gottes,  das  überall  auftritt,  wo  der  paradoxe 
Sinn  des  göttlichen  Seins  nicht  mehr  erfaßt  wird;  und  des  Pan- 
theismus, der  das  Unbedingte  mit  der  universalen  Dingform,  der 
Welt,  gleichsetzt,  weil  das  Unbedingte  durch  jedes  Wirkliche  hin- 
durch erfaßbar  ist,  der  aber  dann  doch  bei  einer  Gegenstandsform, 
der  universalen,  stehen  bleibt,  und  nicht  sieht,  daß  das  Unbedingte 
der  Totalität  so  fern  ist,  wie  der  Einzelheit.  Es  ist  Platz  für 
einen  Theismus,  der  nichts  gemein  hat  mit  dem  üblichen  kirchlichen 
Semi-Deismus,  sondern  der  nur  sagt,  daß  das  Unbedingte  —  das 
Unbedingte  ist. 

Auch  für  diese  Haltung  gibt  es  keine  theoretische  Notwendig- 
keit. Es  ist  möglich,  sich  auf  das  System  des  Bedingten  zu 
richten  und  es  in  seiner  Selbstheit  zu  bejahen,  wie  das  autonome 
Ich.  Es  ist  möglich,  sich  von  der  Beziehung  auf  das  Unbedingt- 
Wirkliche,  das  allem  innewohnt,  abzuwenden  zu  der  Existenz  und 
der  Form  des  Gegenständlichen ;  denn  jedes  Ding  in  der  Welt  hat 
die  Form  der  Existenz  und  des  Objektiven.  Es  ist  das  möglich 
ohne  theoretische  Bedenken,  denn  das  Unbedingte  ist  nie  und 
nirgends  ein  theoretisches  Streitobjekt;  man  kann  von  der  Theorie 
weder  dafür  noch  dagegen  Partei  nehmen ;  es  begibt  sich  nicht  in 
die  Kampfarena  der  Existential-Urteile,  der  Fragen  nach  Dasein 
oder  Nichtsein.  Ist  man  aber  einmal  unter  Verzicht  auf  die 
Gotteswirklichkeit  zu  einer  Weltwirklichkeit  gekommen,  die  der 
Absicht  nach  —  der  Substanz  nach  ist  es  es  unmöglich  —  außer- 
göttlich ist,  so  gibt  es  keinen  Weg  zur  Gotteswirklichkeit  zurück. 
Denn  Gott  ist  entweder  der  Anfang  oder  er  ist  nicht. 


Die  Überwindung  des  Keligionsbegriffs  in  der  Religionsphilosophie.  461 

3.  Die  Religion  wird  unter  der  Herrschaft  des  Keligionsbegriffs 
aus  der  Kultur  begründet,  entweder  als  einzelne  Kulturfunktion 
oder  als  Synthesis  der  Kulturfunktionen.  Das  ist  durchaus  analog 
der  deistischen  und  pantheistischen  Grottesauffassung.  Nun  gibt 
es  aber  eine  Funktion  des  Geistes,  die  weder  neben  dem  andern 
steht  noch  ihre  Einheit  ist,  sondern  in  ihnen  und  durch  sie  hin- 
durch zum  Ausdruck  kommt:  die  Funktion  der  Unbedingtheit ;  sie 
ist  die  Wurzelfunktion,  diejenige,  in  der  der  Geist  durch  alle  seine 
Formen  hindurchbricht  bis  auf  seinen  Grund.  Sie  ist  deswegen 
auch  keine  Geistesform  und  kann  nur  durch  Paradoxie  Funktion 
genannt  werden.  Phänomenologisch  gesprochen :  es  gibt  eine  Akt- 
klasse, die  aus  einer  Tiefe  stammt,  in  welcher  der  Gegensatz  von 
Akt  zu  Akt  aufgehoben  ist,  und  die  infolgedessen  nur  durch 
Brechung  im  Medium  des  Bewußtseins  zu  eigenen  Akten  kommen 
kann.  Ihrem  "Wesen  nach  aber  ist  sie  nichts  anderes  als  die  Be- 
ziehung auf  das  Unbedingte,  die  jedem  Akt  innewohnt.  —  Es  gibt 
also  keine  besondere  religiöse  Funktion  neben  der  logischen,  ästhe- 
tischen, ethischen,  sozialen ;  sie  ist  auch  nicht  in  einer  oder  in  der 
Einheit  aller  enthalten,  sondern  sie  ist  der  Durchbruch  durch  jede 
und  die  Realität,  die  unbedingte  Bedeutung  einer  jeden.  Die 
Kultur  ist  das  Medium  des  Unbedingten  im  Geistesleben,  wie  die 
Dinge  das  Medium  des  Unbedingten  in  der  Welt  sind. 

Damit  ist  aufs  Nachdrücklichste  bestritten,  daß  durch  die  Re- 
ligion ein  neuer  Wert  in  das  System  der  Werte  eingeführt  ist. 
Es  gibt  keine  Heiligkeits werte,  sondern  das  Heilige  ist  das,  was 
den  Werten  den  Wert  gibt,  die  Unbedingtheit  ihres  Geltens,  die 
Absolutheit  ihrer  Realitätsbeziehung.  —  Es  ist  die  Religionsphilo- 
sophie also  nie  und  nimmer  eine  Ergänzung  der  Geistes-  oder 
Wertphilosophie.  Auch  an  diesem  Punkte  tritt  das  Unbedingte 
nicht  in  die  Diskussion  der  Bedingtheiten.  Die  Heiligkeitsqua- 
lität, die  Unbedingtheitsfunktion  kann  fehlen,  ohne  daß  das 
System  der  Werte  im  Mindesten  verändert  wird ;  sie  kann  fehlen, 
freilich  nur  der  Intention,  auch  hier  wie  überall  —  nicht  der 
Substanz  nach;  denn  fehlte  .sie,  wäre  das  Denken  wahrheits- 
und  das  Anschauen  wesenlos,  das  Handeln  ziel-  und  die  Gemein- 
schaft seelenlos.  Aber  sie  braucht  nicht  gemeint  zu  sein.  Der 
Geist  kann  sich  richten  auf  die  Autonomie  seiner  Funktionen, 
deren  Realitätswurzel  er  nicht  anführt,  deren  Form  er  durchsetzt. 
Der  Geist  kann  autonome  Kultur  schaffen,  mit  einem  autonomen 
Ich,  in  einem  autonomen  Universum.    Damit  aber  hat  er  sich  den 


462  Paul  Tillich, 

Weg  zu  Gott  versperrt.  Auf  dem  Boden  der  autonomen  Kultur 
gibt  es  höchstens  —  Religion. 

Hier  ist  nun  der  Ort,  die  Dialektik  des  Religionsbegriffs  zu 
völliger  Durchsichtigkeit  zu  bringen:  Sobald  das  Bewußtsein  sich 
auf  das  Unbedingte  richtet,  entsteht  die  Doppelheit  von  Akt  und 
Gegenstand.  Nun  ist  der  religiöse  Akt  aber  kein  besonderer;  er 
ist  nur  in  den  übrigen  Akten  wirklich.  Er  muß  diesen  also  eine 
Formung  geben,  an  der  die  religiöse  Qualität  sichtbar  ist.  Diese 
Formung  ist  die  Parodoxie,  d.  h.  zugleich  die  Bejahung  und  Ver- 
neinung der  autonomen  Form.  Das  religiöse  Denken,  Anschauen 
ist  also  ein  Denken,  ein  Anschauen,  das  die  autonomen  Formen 
des  Denkens  und  Anschauens  zugleich  benutzt  und  zerbricht.  Das 
G-leiche  gilt  von  den  sittlichen  und  sozialen  Formen. 

Das  Erkennen  unter  der  Gegenwart  des  Unbedingten  ist  In- 
spiration. Das  Anschauen  ist  Mj'sterium,  das  Handeln  Gnade,  die 
Gemeinschaft  Reich  Gottes.  Alles  das  sind  paradoxe  Begriffe, 
d.h.  solche,  die  sofort  ihren  Sinn  verlieren,  wenn  sie  gegenständ- 
lich gemacht  werden;  Inspiration  als  eine  übernatürliche  Art  der 
Erkenntnisvermittlung  ist  ein  einfacher  Widerspruch.  Mysterium 
im  Sinne  einer  materiell-realen  Gegenwart,  das  Unbedingte  im  Be- 
dingten ist  eine  sinnlose  Aussage ;  die  Gnade  als  übernatürliche 
Kraftmitteilung  ist  ein  ethischer  Nonsens  und  das  Reich  Gottes 
als  reale  Größe  eine  Utopie  mechanistischen  Denkens.  An  Stelle 
des  Parodox  ist  der  Supranaturalismus  getreten ;  d.  h.  der  Versuch, 
ein  Bedingtes  unbedingt  zu  machen.  Dem  Supranaturalismus  aber 
entspricht  immer  der  Naturalismus,  d.  h.  der  Versuch,  das  Unbe- 
dingte überhaupt  auszuschalten. 

Und  doch  kann  die  Religion  nicht  anders,  als  mit  diesen  Be- 
griffen arbeiten;  sie  muß  vergegenständlichen,  um  aussagen  zu 
können;  daß  sie  aussagen  will,  ist  ihre  Heiligkeit;  daß  sie  gegen- 
ständlich aussagen  muß,  ist  ihre  Profanheit.  Gerechtfertigt  ist 
sie  nur  da,  wo  sie  diese  ihre  Dialektik  durchschaut  und  dem  Un- 
bedingten allein  die  Ehre  gibt.  —  Wo  sie  es  nicht  tut,  führt  sie 
das  Unbedingte  in  die  Niederung  und  die  Kampfarena  des  Be- 
dingten herab,  in  der  es  notwendig  unterliegen  muß :  Es  wird  eine 
Kultur,  die  die  Beziehung  auf  das  Unbedingte  verloren  hat,  ein 
Denken,  das  nichts  mehr  weiß  von  Inspiration  als  dem  Durch- 
bruch der  unbedingten  Realität,  ein  Anschauen,  das  nichts  mehr 
weiß  vom  Mysterium  des  Grundes  in  den  Formen  der  Dinge,  ein 
Handeln,   das  ohne  Gnade  dem  Gesetz  verfallen  ist,   eine  Gemein- 


Die  Überwindung  des  Religionsbegriffs  in  der  Religionsphilosophie.  463 

schaft,  die  fern  ist  von  dem  Durchbrechen  der  unbedingten  Liebe 

—  das  anf  der  einen  Seite;  und  eine  Religion,  die  aus  all  diesen 
Begriffen  supranaturale  Gesetze,  Objektivierungen  der  Paradoxie, 
Verendlichungen  des  Unbedingten  gemacht  hat:  das  ist  der  Zu- 
stand des  Geistes  unter  der  Herrschaft  des  Religionsbegriffs.  — 
Erlösung  der  Religion  vom  Verhängnis  der  Objektivierung,  Er- 
lösung der  Kultur  vom  Verhängnis  der  Profanisierung,  Durchbruch 
des  Unbedingten  durch  alle  Arten  der  Relativisierung,  das  ist  Sieg 
über  den  Geist  des  Religionsbegriffs. 

4.  Unter  der  Herrschaft  des  Religionsbegriffs  gründet  sich  die 
Offenbarung  auf  das  autonome  Geistesleben,  sei  es  im  Sinne  einer 
offenbarten  Vernunftreligion,  sei  es  im  Sinne  der  Religionsge- 
schichte. Dadurch  wird  die  absolute  Tat  Gottes  zu  einer  rela- 
tiven Entwicklung  des  religiösen  Geistes.  Die  Religion  aber  will 
nicht  Religion,  auch  nicht  absolute  Religion,  sondern  sie  will  Er- 
lösung, Offenbarung,  Heil,  Wiedergeburt,  Leben,  Vollendung,  sie 
will  das  unbedingt  Reale,  sie  will  Gott.  Und  sie  nennt  wahre 
Religion  die,  in  welcher  Gott  sich  gibt,  und  falsche  die,  in  welcher 
er  vergeblich  gesucht  wird.  —  Der  Religionsbegriff  aber  kann  der- 
artige Unterschiede  nicht  anerkennen,  auch  nicht  in  der  verhüllten 
Form  von  erlebbarer  und  nichterlebbarer  Religion.  Der  Religions- 
begriff macht  gleich,  bringt  Göttliches  und  Menschliches  auf  eine 
Ebene.  —  Nun  aber  ist  es  selbst  schon  eine  Wirkung  des  Reli- 
gionsbegriffs, selbst  schon  eine  Bedingtmachung  des  Unbedingten, 
wenn  eine  bestimmte  Religion  unbedingt  gesetzt,  mit  der  gött- 
lichen Offenbarung  gleich  gestellt  wird.  Jede  Religion  ist  als 
Religion  relativ,  denn  jede  Religion  ist  Vergegenständlichung  des 
Unbedingten.  Aber  jede  Religion  kann  als  Offenbarung  absolut 
sein;  denn  Offenbarung  ist  das  Durchbrechen  des  Unbedingten  in 
seiner  Unbedingtheit.  Jede  Religion  ist  insoweit  absolut,  als  sie 
Offenbarung  ist,  d.  h.  insoweit  als  das  Unbedingte  in  ihr  als  Un- 
bedingtes herantritt  im  Gegensatz  zu  allem  Relativen,  was  ihr  als 
Religion  zukommt. 

Es  ist  nun  aber  die  Eigenschaft  jeder  lebendigen  Religion, 
daß  sie  eine  ständige  Opposition  gegen  das  Religiöse  in  ihr  in 
sich  trägt.  Der  Protest  gegen  die  Vergegenständlichung  ist  der 
Pulsschlag  der  Religion.  Erst  wo  er  fehlt,  ist  nichts  Absolutes 
mehr  in  ihr,   ist  sie  ganz  Religion,   ganz  Menschliches  geworden. 

—  Es  sind  aber  drei  Formen,  in  denen  sich  der  typische  Protest 
der  lebendigen  Religion  gegen  ihre  Vergegenständlichung  als  Re- 


464  Paul   Tillich, 

ligion  erhebt:  die  Mystik,  die  Prädestination,  die  Gnade.  Die 
Mystik  durchschaut  den  paradoxen  Sinn  aller  Aussagen  über  das 
Unbedingte.  Sie  sucht  die  Einheit  mit  dem  absolut  Gegenständ- 
lichen, dem  Abgrund,  dem  Überseienden,  dem  reinen  „Nichts". 
Sie  weiß  auch,  daß  diese  Einheit  nur  vom  Unbedingten  her  ge- 
schaffen werden  kann,  sie  weiß,  daß  sie  Gnade  ist.  —  Aber  sie 
bereitet  sich  doch  vor,  der  Gnade  würdig  zu  werden  und  sie  be- 
nutzt dazu  die  Formen  der  Religion  und  schafft  selbst  Formen. 
Sie  verläßt  den  Boden  der  Religion  nicht.  Das  ist  ihre  Grenze. 
—  Die  Prädestination  überläßt  alles  Handeln  zum  Heil  des  Ein- 
zelnen und  der  Menschheit  Gott.  Weder  Kirche  noch  Religion 
sind  Bedingungen  der  Erwählung  und  des  Reiches  Gottes,  sie  sind 
höchstens  ihre  Gott-geordnete  Vermittlung;  dadurch  sinkt  ihre 
Bedeutung  dahin  und  da  der  göttliche  Ratschluß  im  Verborgenen 
geschieht,  so  ist  alles  religiöse  Handeln  und  Vorstellen  des  Men- 
schen entwertet,  und  kommt  bald  dem  Punkt  nahe,  wo  es  ganz 
aufhört  und  übergeht  in  profanes,  kulturelles  Handeln ;  das  ist  die 
Gefahr,  wenn  das  Religiöse  ganz  ins  Verborgene  und  Absolute 
gestellt  wird.  —  Die  konkrete  Gnade  (von  Gnade  lebt  ja  auch 
Mystik  und  Prädestination)  stellt  das  Heil  gleichfalls  schlechter- 
dings in  das  Unbedingte ;  aber  nicht  in  seinen  Abgrund  und  nicht 
in  seinen  verborgenen  Willen,  sondern  in  seine  konkrete  geschicht- 
liche Selbstmitteilung.  Es  fällt  von  hier  aus  ein  starkes  Ja  auf 
die  kirchlich-religiösen  Medien,  auf  Offenbarungsmittler  und  Offen- 
barungsmittel, auf  Gebet  und  lebendige  Gemeinschaft  mit  Gott. 
Hier  ist  der  Abweg  fast  unvermeidlich,  daß  diese  Medien  ins  Ab- 
solute erhoben  und  aus  der  Offenbarung  der  Gnade  Religion  der 
Gnadenmittel  wird. 

Jede  der  drei  Formen,  in  denen  innerhalb  der  Religion  die 
Religion  überwunden  wird,  haben  also  die  gleiche  Dialektik  wie 
die  Religion  selbst,  sie  können  sich  an  Stelle  Gottes  setzen.  Es 
ist  deswegen  auch  falsch,  diese  Formen  zur  absoluten  Religion  zu 
machen,  Sie  sind  Ausdrucksformen  für  das  absolute  Element  jeder 
lebendigen  Religion,  aber  sie  werden  selbst  relativ,  sobald  sie  Re- 
ligionsformen werden.  Die  absolute  Religion  geht  durch  alle 
Religionen  hindurch;  die  wahre  Religion  ist  überall  da,  wo  das 
Unbedingte  als  Unbedingtes  bejaht  und  die  Religion  vor  ihm  ver- 
nichtet wird. 

Wo  das  geschieht,  ist  im  Allgemeinen  verborgen.  Offenbar 
wird  es  dann  und  wann  in  Form  der  großen  mystischen  oder  pro- 


Die  Überwindung  des  Religionsbegriifs  in  der  Religionsphilosophie.  465 

phetischen  Reaktionen  gegen  die  bloße  Religion.  Das  Maß,  in 
dem  eine  Religion  zu  solchen  Reaktionen  fähig  ist,  entscheidet 
über  ihren  relativen  Rang.  Absolute  Religion  ist  niemals  ein 
gegenständliches  Faktum,  sondern  ein  jeweils  lebendiger  Durch- 
bruch des  Unbedingten.  Den  Beweis  der  Absolutheit  führt  Gott 
selbst,  indem  er  den  Absolutheitsanspruch  einer  Religion  zerbricht, 
nicht  durch  Skepsis  und  Religionsgeschichte,  sondern  durch  die 
Offenbarung  seiner  Unbedingtheit,  vor  der  alle  Religion  nichts  ist. 

Es  ist  also  auch  hier  das  Unbedingte  das  Tragende,  das  Han- 
deln Gottes  die  Substanz  der  Religion,  ohne  die  sie  nicht  sein 
kann;  aber  sie  kann  sich  von  ihr  abwenden;  sie  kann  mit  und 
ohne  Bewußtsein  diese  Substanz  unangerührt  lassen  und  sich  ihrer 
eigenen  autonomen  Form  zuwenden.  Sie  kann  autonome,  selbst- 
genügsame, Gott-ferne  Religion  werden,  und  den  Götzendienst 
dadurch  vollenden,  daß  sie  sich  absolute  Religion  nennt. 

Damit  sind  die  vier  Vorwürfe  der  Religion  gegen  die  Reli- 
gionsphilosophie in  ihrem  Rechte  anerkannt;  aber  es  ist  nicht  die 
Folgerung  daraus  gezogen,  daß  um  der  Religion  willen  die  Reli- 
gionsphilosophie sich  selbst  aufgeben  müßte,  sondern  es  ist  der 
Versuch  gemacht,  eine  Religionsphilosophie  auf  die  Forderungen 
zu  gründen,  die  in  jenen  Vorwürfen  enthalten  sind,  d.  h.  eine 
Religionsphilosophie,  die  nicht  vom  Bedingten,  sondern  vom  Un- 
bedingten, die  nicht  von  der  Religion,  sondern  von  Gott  ausgeht. 
An  dem  Gelingen  oder  Mißlingen  nicht  dieses  meines,  aber  eines 
solchen  Versuches  überhaupt  hängt  das  Schicksal  der  Religions- 
philosophie und  damit  der  Stellung  des  Geisteslebens  zur  Religion. 
Wir  stehen  vor  der  Alternative:  Entweder  Aufhebung  der  Re- 
ligion durch  die  Kultur,  oder  Durchbrechen  des  Unbedingt- Wirk- 
lichen als  des  Grundes  oder  der  Realität  aller  Kultur  in  all  ihren 
Funktionen.  Die  Art,  wie  innerhalb  der  Wissenschaft  sich  dieser 
Durchbruch  vollziehen  könnte,  sollten  die  ausgesprochenen  Ge- 
danken andeuten.  Was  das  Ziel  betrifft,  so  kann  es  für  mich 
keinen  Zweifel  geben;  was  die  Form  betrifft,  so  ist  sie  ein  Ver- 
such, und  nicht  mehr. 

IV. 
Die  Dialektik  der  Autonomie. 

Alles  Gesagte  hat  im  Grunde  das  Ziel,  einer  Bewußt- 
seinslage den  Weg  zu  bereiten,  in  der  die  Selbstgewißheit  des 
Bedingten   zerbrochen    ist   vor   der   Gewißheit   und  Wirklichkeit 


466  Paul  Tillich, 

des  Unbedingten.  Nicht  die  Lösung  eines  theoretischen  Problems 
war  mir  die  Hauptsache,  sondern  die  Aufweisung  einer  Geisteslage, 
auf  die  meiner  Überzeugung  nach  schicksalsmäßig  die  Geistesbe- 
wegung hindrängt.  Um  so  mehr  ist  es  meine  Pflicht,  Rechenschaft 
zu  geben  über  die  Denkmittel,  die  zur  Anwendung  gekommen  sind. 
Es  ist  aber  ein  Doppeltes,  was  dabei  herauszustellen  ist,  eine  be- 
stimmte Methode  und  eine  bestimmte  Geschichtsphilosophie,  eine 
logische  und  eine  metaphysische  Voraussetzung. 

1.  Die  Methode,  die  am  schärfsten  in  der  Analyse  der  Selbst- 
gewißheit, aber  auch  an  den  anderen  Punkten  zur  Anwendung 
gebracht  ist,  kann  als  kritisch-intuitive  Methode  angesprochen 
werden.  Sie  geht  davon  aus,  daß  sowohl  die  kritische,  wie  die 
intuitive  Methode  in  Absonderung  unfähig  zur  Lösung  des  reli- 
gions-  und  damit  kulturphilos optischen  Zentralproblems  ist:  der 
Frage  nach  dem  Sinn  oder  besser  der  Realität,  der  unbedingten 
Ernsthaftigkeit  des  Geistes  und  durch  ihn  hindurch  die  Wirklich- 
keit überhaupt.  —  Die  kritische  Methode  nicht,  weil  es  ihr  unter 
keinen  Umständen  möglich  ist,  über  die  Formen  der  Gegebenheit 
hinauszukommen  zu  dem  Gegebenen  selbst.  Die  intuitive  Methode 
nicht,  weil  sie  über  der  Versenkung  in  jedes  mögliche  Gegebene 
die  Form  der  Gegebenheit  überhaupt  außer  Acht  lassen  muß.  Die 
kritische  Methode  kommt  nicht  zum  „Was"  der  Dinge,  die  intui- 
tive nicht  zu  ihrem  „daß".  Die  kritische  Methode  verliert  über 
dem  Problem  der  Realität  die  Realität  selbst.  Sie  wird  Forma- 
lismus ;  die  intuitive  verliert  über  der  Anschauung  des  Wirklichen 
das  Problem  der  Realität ;  sie  wird  Romantik  und  Reaktion.  Das 
Problem  des  Unbedingten  aber  ist  der  Punkt,  wo  der  Unterschied 
von  Existenz  und  Wesen  aufgehoben  und  damit  das  Nebeneinander 
der  Methode  unmöglich  ist.  Hier  ist  gebieterisch  eine  Methode 
gefordert,  in  der  beide  eins  sind;  „kritisch-intuitiv"  das  ist  eine 
Forderung ;  und  wenn  sie  ganz  erfüllt  ist,  wird  auch  der  adäquate 
Name  geboren  sein.  Es  scheint  mir  aber  in  Folgendem  ihr  Wesen 
zu  bestehen:  Sie  ruht  auf  dem  Boden  der  kritischen  Methode;  sie 
geht  aus  von  den  Funktionen  des  Geistes  als  den  Formen  aller 
Gegebenheit.  Aber  sie  wendet  sich  auf  sich  selbst  zurück  und 
sieht,  daß  alle  diese  Formen  mehr  als  leere  Formen  nur  dadurch 
sind,  daß  sie  erfüllt  sind  mit  dem  Gehalt  eines  Unbedingt-Wirk- 
lichen, das  jeder  Einzelform,  wie  der  Totalität  aller  Formen  un- 
erfaßbar ist.  Das  in  Allem  Sinngebende  ist  nicht  selbst  ein  Sinn, 
auch  nicht  die  Gesamtheit,  auch  nicht  die  Unendlichkeit  des  Sinnes ; 


Die  Überwindung  des  Religionsbegriffs  in  der  Religionsphilosophie.  467 

das  in  Allem  Reale  ist  nicht  selbst  ein  Reales,  auch  nicht  die  Ge- 
samtheit, auch  nicht  die  Unendlichkeit  des  Realen.  Das  zu  sehen 
aber  ist  nicht  mehr  Sache  der  Kritik,  sondern  der  Intuition;  wo 
die  Kritik  ihre  Grenzbegriffe,  d.  h.  die  Dokumente  ihrer  Begrenzt- 
heit setzt,  da  schaut  die  Intuition  das  Unbedingt-Wirkliche,  das 
freilich  für  sie  nicht  jenseits  der  Grenzpfähle,  sondern  mitten  im 
Lande  der  Kritik  die  Realitätswurzel  darbietet,  von  der  alle  Kritik 
lebt.  Es  ist  die  Methode  des  Paradox,  der  ständigen  Durch- 
brechung und  Aufhebung  der  Form  zu  Grünsten  des  Wirklichen 
in  ihr.  Nicht  Formlosigkeit,  nicht  fremde  Formherrschaft  darf 
die  kritische  Form  durchbrechen ;  das  wäre  Verzicht  auf  Methode, 
d.h.  auf  Philosophie;  sondern  bei  vollem  Ja  zur  autonomen,  kri- 
tischen Form  soll  der  Gehalt  des  Unbedingten  hervorbrechen  und 
zerbrechen,  nicht  formlos,  sondern  paradox.  Leben  in  dieser  höchsten 
Spannung  ist  Leben  aus  Gott.  Anschauen  dieser  unendlichen  Pa- 
radoxie  ist  Denken  über  Gott,  und  wenn  es  methodisch  wird,  Re- 
ligionsphilosophie oder  Theologie.  Niemand  freilich  kann  metho- 
disch zu  dieser  Methode  gezwungen  werden,  wie  er  zur  bloß  kri- 
tischen Methode  gezwungen  werden  kann ;  es  ist  möglich  zu  leben 
und  zu  denken,  ohne  die  Wurzel  zu  sehen,  aus  der  man  lebt  und 
denkt,  es  ist  möglich,  das  Unbedingte  zum  Grenzbegriff,  zum  Ideal- 
begriff und  dgl.  zu  machen,  es  in  die  Peripherie  zu  schieben  und 
in  der  Autonomie  der  bloßen  Form  zu  bleiben.  Es  ist  möglich, 
aber  es  ist  in  seinen  Konsequenzen  Selbstzerstörung,  und  das  führt 
zum  zweiten,  der  Geschichtsphilosophie. 

2.  Theonom  möchte  ich  eine  Geisteslage  nennen,  in  welcher 
alle  Formen  des  geistigen  Lebens  Ausdruck  des  in  ihnen  durch- 
brechenden Unbedingt- Wirklichen  sind.  Es  sind  Formen,  also  Ge- 
setze, v6\hoi  darum  theonom.  Aber  es  sind  Formen,  deren  Sinn 
nicht  in  ihnen  selbst  liegt,  es  sind  Gesetze,  die  das  alles  Gesetz 
Durchbrechende  fassen;  darum  theonom.  In  gewissen  Perioden 
z.  B.  des  abendländischen  Mittelalters  war  diese  Geisteslage  an- 
nähernd verwirklicht.  Sobald  eine  Periode  der  Theonomie  ihrem 
Ende  zugeht,  sucht  sie  die  Formen,  die  einmal  der  adäquate  Aus- 
druck ihres  Gehaltes  waren,  zu  konservieren;  diese  Formen  aber 
sind  leer  geworden;  werden  sie  mit  Gewalt  aufrecht  erhalten,  so 
entsteht  Heteronomie.  Heteronomie  geht  immer  von  der  Religion 
aus,  die  Gott  verloren  hat,  die  bloße  Religion  geworden  ist.  Im 
Gegensatz  zu  Heteronomie  wächst  die  Autonomie.  Autonomie  ist 
immer  der  Rückschlag  gegen  die  Autonomie  der   bloßen  Religion, 


468  Paul  Tillich, 

die  alle  Kultur  unter  ihre  Heteronomie  bringen  will.  Autonomie 
der  Religion  gegen  Gott  schafft  Autonomie  der  Kultur  gegen  die 
Religion.  Der  Ausgang  des  Mittelalters  ist  typisch  für  diese 
G-eisteslage.  Die  autonome  Kultur  ist  im  Recht  gegen  die  Reli- 
gion; es  ist  das  Recht  der  logischen  Form  gegen  eine  ehemals 
paradoxe,  dann  ihres  Sinnes  beraubte  Form,  die  nun  als  einfacher 
Widersinn  das  Logische  vergewaltigen  will.  Hier  ist  der  Sieg 
der  autonomen  Form,  im  Logischen  wie  im  Ästhetischen,  im  Recht- 
lichen wie  im  Ethischen  von  vornherein  entschieden.  Und  dieser 
Sieg  bedeutet  Einsicht  in  die  gegenständlichen  Formen  der  Dinge, 
bedeutet  exakte  Wissenschaft,  bedeutet  technisch-rationale  Welt- 
beherrschung. 

Aber  der  Sieg  ist  teuer  erkauft.  Das  Recht  der  Autonomie 
gegenüber  der  Heteronomie  wird  zum  Unrecht  gegenüber  der  Theo- 
nomie,  denn  die  autonome  Form  ist  Gesetz.  Mit  dem  Gesetz  kann 
man  technisieren  und  rationalisieren,  aber  unter  dem  Gesetz  kann 
man  nicht  leben.  Wo  das  Unbedingte  in  keiner  anderen  Weise 
erfaßt  wird,  als  in  der  unbedingten  Geltung  der  logischen  oder 
ethischen  oder  ästhetischen  Form,  da  tötet  es  das  Leben ;  denn  da 
ist  es  der  Richter,  der  jede  einzelne  Form  verurteilt,  weil  sie  das 
Gesetz  nicht  erfüllt,  weil  sie  die  Bedingtheit  des  Unbedingten 
nicht  erreicht.  Darum  muß  jede  autonome  Periode  zerbrechen: 
Sie  kann  mit  ihrer  formalen  Unbedingtheit  alles  Lebendige  töten 
und  rationalisieren;  aber  sie  kann  nicht  einen  einzigen  Lebens- 
inhalt schaffen.  Sie  verliert  die  Wahrheit  und  bleibt  in  der  leeren 
Form  der  Identität,  sie  verliert  die  Persönlichkeit  und  bleibt  in 
der  leeren  Form  des  „Du  sollst u.  Sie  verliert  die  Schönheit  und 
bleibt  in  der  leeren  Form  der  Synthesis:  sie  verliert  die  Gemein- 
schaft und  bleibt  in  der  leeren  Form  der  Gleichheit.  Alles  ver- 
zweifelte Ringen  aber  um  die  Erfüllung  dieser  Formen  im  Logi- 
schen wie  im  Ethischen,  im  Denken,  wie  im  Handeln  ist  nur  der 
Ausdruck  für  die  Tragik  der  Autonomie. 

Dieses  Ringen  ist  von  überwältigender  Größe  und  diese  Tragik 
von  erschütternder  Tiefe.  Es  sind  die  Zeiten  der  großen  indivi- 
duellen Kulturschöpfungen;  aber  das  Ende  ist  das  Schwanken 
zwischen  anspruchsvollem  Rationalismus  und  verzweifelnder  Skepsis 
im  Logischen,  und  zwischen  Pharisäismus  und  Gesetzlosigkeit  im 
Ethischen.  Die  Autonomie  bricht  auseinander  in  Nomismus  und 
Antinomismus.  Lebensfähig  bleiben  nur  diejenigen,  welche  sich 
den  großen  Spannungen  des  Geistes  entziehen  und   die  autonome 


Die  Überwindung  des  Religionsbegriffs  in  der  Keligionsphilosophie.  469 

Form  benutzen  zu  Technik  und  Taktik  in  Wissenschaft  und  "Wirt- 
schaft, in  Politik  und  Kunst.  Sie  haben  ihren  Lohn  dahin.  Der 
Lohn  aber  des  Geistes,  der  ausharrt,  ist  das  Durchbrechen  des 
Unbedingten  durch  alle  Formen,  nicht  als  Gesetz,  sondern  als 
Gnade,  als  Schiksal,  als  unmittelbare  überwältigende  Wirklichkeit 
—  wie  es  z.  B.  der  Antike  beschieden  war,  in  der  Doppelform  der 
neuplatonischen  Mystik  auf  logischem  und  des  Christentums  auf 
ethischem  Boden. 

Das  Thema  der  Geistesgeschichte  ist  der  Kampf  von  Theo- 
nomie  und  Autonomie.  Die  Theonomie  ist  sieghaft,  solange  sie 
lebendiger  Durchbruch  ist,  solange  die  Paradoxie  als  Paradoxie 
erlebt  wird.  Sie  ist  aber  dem  Verhängnis  verfallen,  immer  wieder 
aus  dem  lebendigen  Paradox  einen  objektiven  Widerspruch  machen 
zu  müssen;  dann  steigt  aus  dem  Kampf  gegen  ihre  Heteronomie 
die  Autonomie  der  Form  sieghaft  empor,  um  schließlich  ihrem 
eignen  Verhängnis,  der  Auflösung  entgegenzugehen.  Das  ist  nicht 
bloß  im  Nacheinander  gemeint.  In  jedem  Augenblick  der  Geistes- 
geschichte tobt  dieser  Kampf.  Aber  der  Sieg  und  die  Niederlage 
des  einen  oder  anderen  gibt  auch  ein  Nacheinander,  eine  Geschichts- 
philosophie nicht  nur  des  Querschnitts,  sondern  auch  des  Längs- 
schnitts. 

Wir  haben  das  Ringen  beider  in  der  Religionsphilosophie  be- 
trachtet; sie  ist  der  Ort,  wo  der  Kampf  am  deutlichsten  sichtbar 
ist.  Sie  ist  selbst  in  ihrer  Entwicklung  ein  Teil  dieses  Kampfes. 
Nur  weil  ihr  die  autonome  Entwicklung  die  Formen  gegeben  hat, 
kann  sie  Philosophie  sein;  nur  wo  ihr  die  Theonomie  den  Gehalt, 
die  —  Wurzelung  im  Unbedingten  gibt,  kann  sie  Religions-Philo- 
sophie sein.  Sie  kann  es  aber  nur,  wenn  sie  sich  der  Herrschaft  des 
Begriffs  entzieht,  der  das  typische  Symbol  der  autonomen,  Gott 
abgewandten  Periode  ist,  des  Begriffs  der  Religion,  wenn  sie  einsieht, 
daß  nicht  die  Religion  der  Anfang  und  das  Ende  und  die  Mitte 
in  allem  ist,  sondern  Gott,  und  daß  jede  Religion  und  jede  Reli- 
gionsphilosophie Gott  verlieren,  wenn  sie  sich  nicht  auf  den  Boden 
des  Wortes  stellen:  Impossibile  est,  sine  deo  discere  deum.  Gott 
wird  nur  erkannt  aus  Gott. 


Kantstudien  XXVII.  31 


Zur 
„Als-Ob-Theorie"  in  der  Kunstphilosophie, 


Von  Emil  Utitz  -  Rostock. 


Vaihinger  zufolge  dient  die  künstlerische  Fiktion  dem  Zwecke 
„gewisse  erhebende  oder  sonst  wichtige  Empfindungen  in  uns  zu 
wecken. u  Sie  ist  demnach  gleich  der  wissenschaftlichen  „nicht 
Selbstzweck,  sondern  Mittel  zur  Erreichung  höherer  Zwecke."  Wir 
dürfen  vielleicht  sagen :  die  Struktur  des  Kunstwerks  ist  eine  te- 
leologische, denn  sein  Sinn  erfüllt  sich  in  einem  bestimmten  geistigen 
Verhalten,  dem  —  gegenständlich  —  eine  bestimmte  Gestaltung 
entspricht.  (Vergl.  meine  „Grundlegung  der  allgemeinen  Kunst- 
wissenschaft" 1914  und  1920)  Nach  drei  Richtungen  könnte  man 
darnach  Bedeutung  und  Grenzen  der  künstlerischen  Fiktion  zu 
erforschen  trachten:  für  das  Schaffen  des  Künstlers,  für  die  ob- 
jektive Formung  des  Kunstwerks,  für  das  künstlerische  Genießen. 
Wie  weit  die  rein  tatsächliche  Wertung  der  Kunst  Fiktionen  ir- 
gendwelcher Art  beeinflussen,  scheidet  hier  aus,  weil  diese  Frage 
mehr  kulturpsychologisch  interessant  ist,  als  kunstphilosophisch  oder 
kunstpsychologisch. 

Daß  wir  innerhalb  der  Kunst  weithin  Fiktionen  —  in  Vaihin- 
gen Auffassung  —  begegnen,  entzieht  sich  jedem  Zweifel.  Bäume 
und  Häuser  auf  einem  Gemälde  sind  doch  keine  „wirklichen"  Bäume 
oder  Häuser ;  eine  Marmorstatue  ist  doch  kein  „wirklicher"  Mensch 
usw.  Der  Schauspieler  ist  doch  kein  „wirklicher"  König,  und  er 
stirbt  auf  den  Brettern  der  Bühne  keinen  „wirklichen"  Tod.  Man 
hat  darum  häufig  von  dem  „Scheincharakter"  des  Aesthetischen 
und  Künstlerischen  gesprochen.  Daraus  folgt  aber  gewiß  nicht, 
daß  wir  den  „Schein"  einfach  für  gewöhnliche  Wirklichkeit  hin- 
nehmen sollen;  denn  gerade  dadurch  ginge  der  Kunstcharakter 
völlig  verloren.  Diese  Frage  ist  in  der  wissenschaftlichen  Litera- 
tur der  letzten  Jahrzehnte  lebhaft  erörtert  worden.    Da  ich  selbst 


Emil  Utitz,  Zur  „Als-Ob-Theorie"  in  der  Kunstphilosophie.     471 

eingehend  zu  ihr  Stellung  genommen  habe,  darf  ich  mich  wohl 
auf  wenige  "Worte  beschränken.  Die  äussersten  Extreme  sind :  der 
eine  sieht  —  von  vorwiegend  stofflichen  Interessen  geleitet  — 
den  nackten  Menschen  im  Marmor,  „als  ob"  er  lebend  wäre.  Der 
andere  zeigt  sich  lediglich  formal  gefesselt ;  er  beobachtet  nur,  wie 
der  Marmor  behandelt  ist.  Das  Gegenständliche  tritt  zurück;  es 
wirkt  bloß  als  Träger  formaler  Werte.  Zwischen  diesen  Stand- 
punkten (dem  des  völlig  Ungebildeten  und  künstlerisch  Blinden  und 
jenem  des  virtuosen  Artistentums)  pendelt  nun  die  Eeichweite 
jener  Einstellungen,  die  den  gemeinten  Sinn  aus  der  Gestaltung 
heraus  erleben ;  in  ihr  beschlossen.  Sie  bewegen  sich  in  der  Wirk- 
lichkeitssphäre der  Kunst,  machen  ihre  „Fiktion"  mit.  Ich  bin 
gewohnt,  hierbei  von  der  „Seins-Schicht"  des  Kunstwerkes  zu 
sprechen.  Für  die  Lehre  vom  angemessenen  künstlerischen  Ver- 
halten ergeben  sich  daraus  ganze  Reihen  phänomenologischer 
und  psychologischer  Probleme.  Es  liegt  mir  fern,  ihnen  —  im 
Rahmen  dieser  Abhandlung  —  nachzugehen.  Ich  will  vielmehr 
ein  einziges  Beispiel  —  und  auch  das  nicht  erschöpfend  —  analysie- 
ren, um  an  seiner  Hand  einige  für  die  Gesamtheit  der  Kunst  we- 
senhafte Sachverhalte  einsichtig  zu  machen,  die  zu  der  Frage  der 
künstlerischen  Fiktionen  in  enger  Beziehung  stehen. 


Nirgends  tritt  das  Fiktive  in  der  Kunst  dem  denkenden  Be- 
wußtsein (nicht  etwa  dem  schlicht  erlebenden)  stärker  entgegen 
als  im  Theater.  Handlungen  rollen  vorüber ;  Menschen  lachen  und 
leiden,  ringen  und  straucheln,  heiraten  und  sterben;  und  es  sind 
bloß  eingelernte  Rollen,  aufeinander  in  zäher  Probenarbeit  abge- 
stimmt. Die  Menschen  sind  Schauspieler,  die  eben  zur  Schau 
spielen.  Die  aufgehende  Sonne  ist  elektrisches  Licht;  das  wogen- 
de Meer,  der  krachende  Donner  —  lauter  Fiktionen.  Ein  Blick 
in  die  technische  Apparatur  entschminkt  gleichsam  den  Glanz  dieser 
Welt ;  wir  müssen  jene  zu  „vergessen"  suchen,  solange  wir  mitfüh- 
lende Zuschauer  sind.  Sonst  achten  wir  nur  auf  den  szenischen 
und  organisatorischen  Betrieb,  bewundern  vielleicht  sein  vollendetes 
und  reibungsloses  Funktionieren  ;  aber  das  eigentliche  Theaterstück 
entzieht  sich  uns  dabei.  „Vergessen"  wir  jedoch  wirklich,  verlieren 
wir  auch  das  Theaterstück.  Denn  die  Bühne  wird  zur  realen 
Welt.  Ist  hier  nun  alles  ein  dichtes  Gewebe  von  Fiktionen  (man 
könnte  sagen :  von  Fiktionen  verschiedener  Ordnung,  die  sich  über- 

31* 


472  Emil  TJtitz, 

einander  bauen),  dem  wir  uns  anzuvertrauen  haben  oder  das  wir 
tunlichst  übersehen  sollen;  oder  liegen  die  Verhältnisse  ver- 
wickelter? 

Wie  steht  der  Schauspieler  zu  seiner  Rolle?  (Vgl.  meine 
„Psychologie  der  Simulation"  1918  und  „die  Kultur  der  Gegen- 
wart" 1921).  Die  Ansicht  ist  heute  verlassen,  daß  er  völlig  in 
seiner  Rolle  versinkt,  daß  also  eine  restlose  Verwandlung  in  eine 
andere  Person  stattfindet.  Er  glaubt  nicht  ein  wirklicher  König 
oder  ein  wirklicher  Mörder  zu  sein,  sondern  verharrt  in  seiner 
Rolle.  Nach  zwei  Seiten  kann  er  aus  der  Rolle  „herausfallen" : 
etwas  reizt  ihn  zum  Lachen,  und  er  gibt  dieser  Regung  nach. 
Sie  gehört  nicht  zur  dramatischen  Aufgabe.  Die  Gestaltung 
wird  —  vielleicht  nur  für  einen  Augenblick  —  unterbrochen. 
Oder:  das  Publikum  hustet,  wird  unruhig,  verärgert;  der  Mime 
nervös.  Seine  ängstliche  Zerfahrenheit  hemmt  das  „Spiel",  wider- 
streitende Züge  schleichen  ein.  In  diesen  Fällen  schiebt  sich  die 
nackte  Wirklichkeit  vor.  Die  andere  —  viel  seltenere  —  Gefahr  ist 
das  Echtwerden  der  Rolle:  sie  packt  ihren  Vertreter  so,  daß  er 
ihrer  Gewalt  unterliegt.  Das  leidenschaftliche  Toben  steigert  sich 
zu  unverständlichem  Schreien,  ungezügelten  Bewegungen;  die 
Rücksicht  auf  Mitspieler  und  Publikum  zerreißt.  Das  Stichwort 
setzt  aus.  Manchmal  glättet  sich  diese  Verwirrung  gleich;  in 
Ausnahmefällen  hält  sie  an :  erschwert  das  Spiel  oder  macht  es 
unmöglich.  Auch  hier  drängt  nackte  Wirklichkeit  vor,  aber  solche 
ganz  anderer  Art.  Bei  den  ersten  Beispielen  stört  die  Fernstel- 
lung zur  Rolle;  bei  den  letzten  die  Identifizierung  mit  ihr. 

Vor  weiterer  Betrachtung  gebe  ich  zunächst  noch  eine  ein- 
fache Beobachtung  aus  angrenzendem  Gebiet:  wird  ein  Redner  in 
einer  Trauerversammlung  selbst  von  tiefem  Schmerz  übermannt, 
versiegt  der  Fluß  der  Worte;  das  wunderbare  Instrument  der 
Sprache  gehorcht  nicht  mehr;  ein  Würgen,  Schluchzen  und  Ver- 
stummen. —  Vor  uns  steht  ein  leidender  Mensch;  wir  sind  die 
verlegenen  oder  mitleidigen  Zeugen  seiner  Ergriffenheit;  aber 
dieser  Mensch  ist  dann  gewiß  unfähig,  die  Trauer  zu  gestalten  mit 
den  Mitteln  der  Rede;  mit  der  dunkelnden  Untermalung  seiner 
Stimme,  mit  dem  langsam  getragenen  Rhythmus  der  Worte,  mit  der 
gedämpften  Glut  sprachlicher  Bilder  usw.  Zur  höchsten  schöpfe- 
rischen Leistung  taugt  weder  jener,  der  den  Stürmen  der  Affekte 
unterliegt,  noch  auch  der  Teilnahmslose ;  bloß  der  glücklich  Begabte, 
dem  Rührung  und  Begeisterung  Form  seines  Werkes  werden,  der 


Zur  „Als-Ob-Theorie"  in  der  Kunstphilosophie.  473 

sie  bändigt  in  die  Darstellung  seines  Vortrages.  Man  sagt  bis- 
weilen: der  „ Künstler u  spiele  mit  seinem  „Herzblut".  Beides  muß 
da  sein :  Erlebnis  und  Gestaltung ;  nur  die  Akzente  verschieben  sich 
in  verschiedenen  Fällen.  Der  Romane  „spielt"  mehr:  der  Germane 
hat  mehr  „Herzblut".  Jenen  bedräut  die  Gefahr  der  leeren, 
weit  ausladenden  Geste,  diesen  eine  dumpfe,  verschlossene  Inner- 
lichkeit. Zwischen  diesen  beiden  Polen  treibt  die  Kunst  des  Mimen. 
Sie  ist  weder  Verstecken  in  einer  Rolle  wie  unter  einer  Tarn- 
kappe (dieser  falsche  Naturalismus  des  Verwandlungskünstlers), 
noch  das  Illuminieren  einer  Rolle  mit  Effekten  gleich  Knallbonbons 
(dieser  dekorative  Apparat  des  Virtuosentums) ;  jene  Wege  rühren 
nicht  an  das  Geheimnis  mimischer  Kunst.  Wie  der  Dichter  seine  Er- 
schütterungen hineinführt  in  die  objektivierende  Konstellation  sugge- 
stiver Worte,  und  in  diesem  Erleben  und  Können  —  das  Erleben 
wird  durch  das  Können  möglich;  und  das  Erleben  entsiegelt  das 
Können  —  sein  Künstlertum  wurzelt;  so  macht  die  passende 
Rolle  dem  Schauspieler  die  Bahn  frei,  um  Ichseiten  auszuwirken 
durch  Prägung  jener  Gestalt.  Es  sind  also  „wirkliche"  Ichquali- 
täten, die  hier  zum  Durchbruch  gelangen,  so  wirklich  wie  das 
hohe  C  des  Sängers  oder  das  silberne  Kichern  der  Operetten- 
diva. 

*  * 

* 

Wir  beachten  vorerst  ein  Extrem:  der  Schauspieler  rezitiert 
bloß  seine  Rolle,  er  „verkörpert"  sie  nicht.  Er  trägt  nur  die 
Worte  vor,  ist  lediglich  Sprecher.  Die  theatralische  Gestaltung 
fehlt.  Auch  hierbei  stoßen  wir  noch  auf  grundsätzliche  Unter- 
schiede: das  Interesse  verankert  sich  im  Rhetorischen;  es  soll 
klar  vorgebracht  werden,  wechselnd  im  Rhythmus,  anschwellend 
und  abklingend.  Man  fahndet  nach  rednerischen  Effektmöglich- 
keiten und  wählt  die  Stoffe,  die  jenen  entgegenkommen.  Nicht 
ihre  geistige  Wesenheit  steht  in  Frage,  vielmehr  ihre  Verwert- 
barkeit für  virtuose  Sprachtechnik.  Man  könnte  meinen,  es 
handle  sich  um  Studien  für  Vortragskunst,  aber  es  wären  doch 
äußerliche  Studien:  sie  loten  nicht  in  die  Tiefe,  sondern  „verzie- 
ren* die  Oberfläche.  Der  Zuhörer  soll  —  von  den  Effekten  ge- 
blendet und  überrumpelt  —  das  Können  bewundern.  Die  Rolle 
ist  Fiktion  —  ihr  Träger  nimmt  sie  nicht  ernst,  das  Publikum 
darf  dies  auch  nicht  —  aber  diese  Fiktion  ist  das  Mittel,  das  jene 
Künsteleien  gestattet.  Wie  auch  bisweilen  in  der  Wissenschaft 
Annahmen  gemacht  werden,   um  aus  ihnen   ein  blitzendes  Feuer- 


474  Emil  Utitz, 

werk  von  Geistreichelei  herauszuschlagen;  eine  intellektuelle 
Spielerei,  zuchtlos  und  unfruchtbar.  Und  nun  der  andere  Fall: 
den  Vortragenden  packt  der  geistige  Gehalt  der  Worte;  er  wühlt 
sich  in  ihn  ein.  Gleich  einer  Explosion  schleudert  er  die  Rede 
hinaus;  oder  die  Satze  schleppen  sich  mühsam,  weil  ungestaltetes 
Bleigewicht  an  ihnen  lastet.  Der  Sprecher  lebt  innere  Spannung 
und  Erschütterung  aus,  indem  er  die  Worte  sich  abringt,  oder  sie 
ihm  entsprudeln.  Nennt  man  da  die  Rolle  eine  Fiktion,  scheint 
die  Bedeutung  verschoben:  denn  jetzt  ist  die  „Rolle"  nicht  mehr 
fast  gleichgültiger  Anlaß,  aber  immer  noch  Mittel,  um  jenes  Er- 
leben auszulösen  und  dem  Hörer  den  Eindruck  zu  gewähren, 
einen  bestimmten  Inhalt  in  dieser  persönlich  zugespitztesten  Form 
aufzunehmen.  Auf  das  Wort  Form  lege  ich  Nachdruck,  weil  da 
Differenzen  sich  erschließen :  der  Redner  ist  vom  Inhalt  ergriffen ; 
nun  kann  er  ihn  entweder  chaotisch  abstoßen,  oder  gestalten.  Der 
erste  Vorgang  steht  außerhalb  der  Kunst;  der  zweite  gehört  ihr 
an.  Mischtypen  verknüpfen  in  allmählicher  Abwandlung  den  einen 
mit  dem  anderen.  Ich  zeige  ein  Beispiel :  ein  junger  Mann  ist  von 
politischen  Sorgen  geängstigt,  von  politischen  Hoffnungen  bewegt ; 
da  findet  er  einen  Aufruf,  in  dem  all  das  klar  formuliert  ist,  was 
ihn  bedrängt;  er  liest  seinen  Gefährten  diesen  Aufruf  vor;  Wort 
für  Wort  möchte  er  ihnen  einhämmern;  die  Gedanken  schreit  er 
heraus,  daß  die  Stimme  überkippt ;  vieles  wird  undeutlich,  weil  er 
ein  fieberndes  Tempo  anschlägt,  dem  seine  Sprachgeläufigkeit 
nicht  folgt  usw.  Wir  merken  keine  Spur  „Künstelei",  alles  unver- 
dorben, echt;  wir  genießen  vielleicht  aesthetisch  diese  Persönlich- 
keitsoffenbarung ;  aber  der  Inhalt  der  Rolle  bleibt  ungeformt.  Er 
strebt  auch  kein  künstlerisches  Erlebnis  an ;  glaubt  er  doch  heilige 
Wahrheit  zu  verkünden,  die  zu  Taten  aneifern  soll.  Bedient  er 
sich  überhaupt  künstlerischer  Gestaltung  —  soweit  er  hierzu 
fähig  ist  —  erscheint  sie  lediglich  als  Hilfsmittel,  das  eigentlich 
unmerklich  zu  bleiben  hat.  Der  Fromme  genießt  ja  auch  nicht 
den  Gottesdienst  aesthetisch,  sondern  eben  religiös.  Je  stärker 
das  Aesthetische  vordrängt,  um  so  mehr  verblaßt  das  echt  Religiöse. 
Nur  als  ancilla  theologiae  hat  jenes  hier  Daseinsrecht.  Nun  kann 
aber  das  gleiche  Manifest  nur  künstlerisch  vorgetragen  werden, 
wenn  es  auch  selten  dazu  besondere  Eignung  besitzen  wird.  Dann 
verrückt  sich  der  Schwerpunkt  auf  die  Gestaltung ;  und  der  Hörer 
schließt  sich  auf  für  die  Art,  wie  ein  geistiger  Gehalt  seinem 
Fühlen  entgegengebracht  wird;    ein  Gehalt,   der  nicht  mehr   von 


Zur  „Als-Ob-Theorie"    in  der  Kunstphilosophie.  475 

der  Form  abzulösen  ist,  sondern  von  ihr  her  Sinngebung  empfängt. 
Denn  nicht  mehr  handelt  es  sich  um  das  gedruckte  Manifest,  das 
irgendwie  nachdrücklich  verbreitet  wird,  sondern  um  das  so  und 
nicht  anders  gesprochene,  das  in  dieser  Seinsschicht  begriffen,  er- 
lebt und  beurteilt  werden  muß. 

Ich  darf  vielleicht  an  die  Poesie  der  Pubertätsjahre  erinnern 
oder  an  die  der  Bräutigamszeit.  Drängende  Spannungen  heischen 
Entladung;  und  da  ihnen  jede  andere  versperrt  ist,  flüchten  sie  in 
die  Kunst.  Aber  diese  Kunstwelle  ebbt  bald  ab;  rückschauend 
schämen  sich  ihrer  viele.  Die  Kunst  ist  da  bloß  ein  „Notausgang". 
Es  wäre  jedoch  völlig  falsch,  diese  Auffassung  auch  für  den 
„echten"  Künstler  gelten  zu  lassen.  Gewiß;  auch  ihn  bewegt  Un- 
ruhe ;  allein  diese  Unruhe  befriedet  nur  das  Kunstwerk,  die  künst- 
lerische Tat,  nichts  anderes.  Warum  aber  ?  weil  das  Erleben  —  so- 
weit es  überhaupt  künstlerische  Sphären  ergreift  und  nicht  le- 
diglich der  bürgerlichen  Existenz  angehört  —  schon  angelegt  ist 
auf  künstlerische  Reifung.  Es  ist  nicht  auf  der  einen  Seite  ein 
Erleben  und  auf  der  anderen  die  künstlerische  Form,  in  die  es 
hineingeschüttet  oder  hineingepreßt  wird,  vielmehr  eine  Bewußt- 
seinsstruktur, deren  Funktionieren  nur  in  diesen  Formen  abläuft, 
sonst  gehemmt  und  zerstört  wird.  Dieses  Erleben  kann  sich  nur 
auswirken,  indem  es  im  Kunstwerk  sich  objektiviert.  Solange  dies 
nicht  erfolgt,  brennt  Unruhe,  peinigt  Ungenügen.  (Vgl.  die  ein- 
gehenden Untersuchungen  über  das  Schaffen  des  Künstlers  im 
zweiten  Bande  meiner  „Grundlegung  der  allgemeinen  Kunst- 
wissenschaft"). 

Ein  Beispiel  soll  diesen  Sachverhalt  beleuchten:  ein  Tanzfest. 
Der  gewöhnliche  Mensch  gibt  sich  dem  Vergnügen  der  Ballnacht 
hin,  verliebt  sich  vielleicht;  und  den  Alltag  umsonnt  eine  schöne 
Erinnerung,  bis  sie  verlöscht,  oder  die  angeknüpften  Beziehungen 
erfahren  ihre  Fortsetzung.  Der  Künstler  —  soweit  er  gewöhn- 
licher Mensch  ist  —  kann  in  genau  gleicher  Weise  sich  verhalten ; 
aber  eben  nicht  als  Künstler.  Da  packt  ihn  vielleicht  der  farbige 
Zusammenklang ;  er  erspäht  den  Schicksalszug  einer  Geste,  die 
nackt  sich  enthüllt;  aus  dem  Treiben  löst  sich  ihm  eine  Melodie, 
in  der  Jugend  lacht  und  Sehnsucht  schluchzt,  und  in  deren  Rhyth- 
mus das  ganze  Treiben  schwingt.  Oder  er  ist  bloß  von  gärender 
Unruhe  ergriffen,  aus  der  dann  jener  zündende  Funke  entspringt, 
vielleicht  längst  nach  verklungenem  Feste.  Diese  künstlerische  Sinn- 
gebung wächst   also  von  Anfang  an  auf  einem   Boden,   der  gar 


476  Emil  Utitz, 

keinen  Weg  in  „wirkliches"  Handeln  nnd  Tun  gestattet.  Denn  die 
Tat,  in  der  jene  Erlebnisse  ihre  Erfüllung  gewinnen,  zu  der  sie 
emporwachsen  und  reifen,  kann  nur  das  Kunstwerk  sein;  sie  sind 
gleichsam  schon  von  Geburt  aus  zu  eben  diesem  Schicksale  be- 
stimmt. Keine  andere  Äußerung  schüfe  hier  Befreiung;  denn  sie 
steckt  nicht  in  dem  Abwälzen  des  Erlebnisses  an  andere.  Es  ist 
überhaupt  ausgeschlossen,  daß  diese  Abwälzung  gelingt;  denn  sie 
verharrte  doch  im  Stofflichen.  Die  Loslösung,  die  jetzt  in  Frage 
steht,  hängt  von  der  formalen  Kristallisation  ab,  daß  eben  die  Aus- 
druckskraft einer  Geste  ganz  Bild,  ganz  "Wortleib  wird,  daß  dieses 
Erlebnis  zur  reinen  Gestalt  sich  klärt.  Was  der  Künstler  einem 
anderen  mitzuteilen  vermag,  ist  bloß  die  Absicht  einer  Gestaltung ; 
die  Angst,  sie  nicht  vollziehen  zu  können,  die  Beseligung  ihrer 
Verwirklichung.  Aber  all  dies  ist  peripherer  Schaum,  der  ans 
Ufer  schlägt,  nicht  Wellenbewegung  des  Meeres.  Nicht  als  Zwei- 
heit  haben  wir  „Objektivieren"  und  „Gestalten"  zu  denken;  sondern 
dieses  Gestalten  wird  durch  das  Objektivieren  möglich,  und  das 
Objektivieren  durch  das  Gestalten. 

Immer  wieder  habe  ich  nachdrücklich  betont,  daß  wir  das 
Wesen  des  Künstlertums  nicht  in  einer  einzelnen  Eigenschaft  zu 
suchen  haben,  sondern  in  der  Angelegtheit  seiner  ganzen  Persön- 
lichkeit auf  die  spezifische  Art  der  Gestaltung.  Der  Künstler 
kann  sich  eben  gar  nicht  anders  ausleben  als  in  dieser  Weise; 
keine  andere  glättet  seine  Spannungen.  Will  man  hier  von  Fik- 
tion sprechen,  muß  man  jeden  Charakter  als  Fiktion  betrachten, 
auch  den  des  Handelnden,  der  von  Tat  zu  Tat  schreitet.  Sicher- 
lich darf  man  die  Konzeption  des  Charakterbegriffes  als  eine  Fik- 
tion bezeichnen,  um  die  eigentliche  Teleologie  einer  seelischen 
Totalität  zu  deuten.  Aber  sie  selbst  ist  ein  Gewebe  von  psy- 
chischen Realvorgängen;  also  auch  das  künstlerische  Schaffen. 
Es  ist  jedoch  —  eine  solche  Argumentation  wäre  möglich  —  auf 
Fiktionen  gerichtet;  diese  setzen  es  erst  gleichsam  in  Bewegung. 
Denn  ringt  nicht  der  Musiker  darum,  Gestalten  von  Tönen  so  zu 
bauen,  daß  Leidenschaft  in  ihnen  braust  und  Sehnsucht  weint ;  der 
Maler  darum,  durch  Linien  und  Farben  auf  Leinwand  oder  Holz 
eine  gegenständliche  Welt  vorzuzaubern ;  der  Schauspieler  eine 
Rolle  so  anzulegen,  daß  der  Eindruck  entsteht,  hier  schreite  ein 
König  oder  hier  ducke  sich  ein  feiger  Mörder.  Nach  zwei  Seiten 
hin  könnte  die  Berechtigung  solcher  Fiktionen  verteidigt  werden : 
in  Rücksicht    auf   den  Kunstbetrachter  —  davon  war  bereits  die 


Zur  „Als-Ob-Theorie  in  der  Kunstphilosophie.  477 

Rede  —  und  im  Hinblick  auf  den  Künstler  selbst,  weil  sie  eben 
die  Form  seines  Lebens  ermöglicht.  Es  ist  dann  leicht,  Vergleiche 
heranzuziehen :  zu  jenen,  die  ihr  Dasein  auf  die  Fiktion  gründen, 
geliebt,  geachtet,  bewundert  zu  sein,  oder  auf  die  Fiktion,  un- 
schuldig zu  leiden  usw.  Bis  weit  ins  Pathologische  hinein  zeigt 
sich  diese  Auffassung  abwandlungsfähig.  Und  nun  lassen  sich 
beide  Seiten  verknüpfen:  dem  Auswirken  und  Entfalten  eines 
Charakters  korrespondiert  die  Leistung  für  eine  Gemeinschaft. 
Auf  beiden  Seiten  stehen  also  Werte;  und  die  seltsame  Verknüp- 
fung soll  einer  Fiktion  vorbehalten  sein.  Man  könnte  weiter 
differenzieren:  manche  Eigentümlichkeiten  des  Kunstwerks  ver- 
danken ihr  Sein  oder  So- sein  lediglich  den  individuellen  Bedürf- 
nissen des  Künstlers;  sie  sind  nicht  "Wirkungsfaktoren;  andere 
wieder  scheinen  lediglich  dieser  Absicht  entsprungen.  Erstere 
sind  Schlacken,  deren  restfreie  Gestaltung  nicht  geglückt  ist,  letz- 
tere äußerliche  Mache,  Routine,  Berechnung.  Es  eröffnet  sich  also 
eine  reich  verzweigte  Problematik  —  hier  nur  dürr  und  kurz 
skizziert  —  und  trotzdem  genügt  sie  nicht,  die  Bedeutung  der 
künstlerischen  Fiktion  wahrhaft  zu  erfassen.  Wir  kehren  darum 
auf  einem  Umwege  zu  unserem  „Beispiel"  zurück  und  nähern  uns 
ihm  von  einer  anderen  Seite. 


Verstellung  —  Simulation  —  ist  bewußte  Vorspiegelung  nicht 
vorhandener  Sachverhalte.  Der  kleine  Schuljunge,  der  besorgt  — 
weil  völlig  unvorbereitet  —  das  „Aufgerufenwerden"  durch  den 
Lehrer  ahnt,  schützt  Kopfschmerzen  vor.  Weit  entfernt  davon, 
Kopfschmerzen  wirklich  zu  haben,  bedient  er  sich  bloß  dieser  List 
in  dem  für  ihn  entscheidenden  Kampfe  ums  Dasein,  dessen  tiefere 
Bedeutung  er  vielleicht  mißversteht.  Er  wählt  die  Darstellung 
des  Kopfschmerzes,  weil  sie  relativ  leicht  eindrucksvoll  arrangier- 
bar und  ein  schlagender  Gegenbeweis  schwer  zu  führen  ist.  Hat 
er  sein  Ziel  erreicht  —  wird  er  etwa  von  dem  Lehrer  zur  Er- 
holung auf  eine  Weile  in  den  Schulgarten  beurlaubt  —  meldet  er 
vielleicht  durch  fröhliche  Grimassen  seinen  Kollegen  die  Sieger- 
freude. Die  Rolle,  die  er  spielte,  war  also  ganz  eine  Maske;  es 
fiel  ihm  in  keiner  Weise  ein,  sich  mit  ihr  zu  identifizieren;  nach 
Bedarf  wird  diese  Maske  vorgebunden  und  abgelegt.  Ein  anderer 
Typus  von  Kindern  „braucht"  nicht  —  um  es  grob  zu  sagen 
—  diese  Maske.    Die  Furcht  daranzukommen  —  obwohl  die  Lek- 


478  Emil  Utitz, 

tion  nicht  gelernt  ist  —  jagt  ihnen  tatsächlich  den  rettenden 
Kopfschmerz  ein.  Sie  pochen  dann  auf  ihr  „gutes*  Recht,  wenn 
sie  wehleidig  ihre  Beschwerden  äußern.  Das  nähere  Studium  psy- 
chogener Symptome  und  hysterischer  Mechanismen  beleuchtet  grell 
diese  jedem  Psychiater  bekannten  Erscheinungen.  Ob  hier  nun  im 
Einzelfall  mangelndes  Gesundheitsgewissen  mitspielt,  ein  mehr  oder 
minder  bewußter  "Wunsch  —  ach,  würde  ich  doch  erkranken!  — 
kommt  in  diesem  Zusammenhange  weiter  nicht  in  Betracht.  Denn 
aufschlußreicher  sind  für  uns  gewisse  Mischformen,  in  denen  die 
Verstellung  —  die  Fiktion  —  zwar  nicht  erlischt,  aber  keineswegs 
ständig  durch  den  antreibenden  Willen  wachgehalten  werden  muß, 
sondern  eher  „triebartig"  und  „wie  von  selbst"  aus  einer  be- 
stimmten inneren  und  äußeren  Konstellation  sich  entwickelt.  Der 
Schuljunge  in  seinem  vorgetäuschten  Kopfschmerz  kann  jede  Be- 
wegung, jede  Geste  genau  kontrollieren  und  auf  Grund  scharfer 
Überlegung  tunlichst  zweckmäßig  und  wirksam  ausführen.  Dazu 
gehört  Energie.  Lockert  sich  die  Spannung,  wird  das  Benehmen 
falsch;  der  Betreffende  verrät  sich  leicht.  Es  ist  ja  auch  aus  der 
Graphologie  geläufig,  daß  eine  absichtliche  Verstellung  der  Schrift 
im  Schreiben  abklingt,  und  immer  neue  Willensvorstöße  müssen 
helfend  und  korrigierend  eingreifen.  Noch  ein  weiterer  Umstand 
ist  bekannt:  die  Reichweite  solcher  Simulation  begrenzt  das  Wissen. 
Wo  es  versagt  —  meist  bei  „Nebensachen",  die  darum  besonders 
charakteristisch  sind  —  wird  das  Gesamtbild  verzerrt;  und  da 
hakt  der  Verdacht  ein.  Die  Rolle,  die  hierbei  vorgeführt  wird, 
ist  an  sich  dem  Betreffenden  fremd;  und  er  bleibt  stets  in  Ge- 
fahr, daß  sie  ihm  entgleitet.  Spielt  er  sie  öfter,  wird  sie  ein- 
gelernt; er  wird  sicherer,  und  die  Anstrengung  geringer.  Aber 
über  das  durch  Berechnung  und  Willen  Erreichbare  kommt  er 
nicht  hinaus.  Glücklicher  —  in  dieser  Hinsicht  —  ist  nun  eine 
andere  Veranlagung;  der  Schuljunge  —  durch  die  Situation  be- 
drängt —  ergreift  das  schützende  Mittel  des  Kopfschmerzes,  mimt 
jedoch  den  Patienten,  ohue  sich  immer  innerlich  dessen  versichern 
zu  müssen,  was  er  in  jedem  Augenblick  zu  tun  oder  zu  lassen  hat. 
Er  spielt  die  Rolle  gleichsam  aus  sich  heraus,  indem  er  sich  in 
ihre  Möglichkeiten  einlebt.  Nicht  nur  die  Aussicht,  der  Prüfung 
zu  entrinnen  oder  den  Lehrer  zu  betrügen,  leitet  ihn,  sondern  die 
Freude  an  der  Rolle  selbst.  Indem  er  sie  nun  nicht  von  außen, 
sondern  von  innen  ergreift,  sie  „liegt"  ihm  eben,   braucht    er  sich 


Zur  „Als-Ob-Theorie"  in    der  Kunstphilosophie.  479 

auch  bloß  ihrer  Führung  zu  überlassen.  Er  muß  gar  nicht  viel 
arrangieren;  er  gehorcht  ihren  Antrieben  und  Anweisungen. 

Deutlicher  wird  dies  durch  ein  weiteres  Beispiel:  wir  kennen 
die  häufigen  Wirkungen  der  Verkleidungen  auf  Maskenfesten.  Der 
elegante  Student  wird  zum  Strolch,  wenn  er  dessen  Grewand  anlegt,  die 
vornehme  Dame  zur  Dirne,  das  Stubenmädchen  zur  Gräfin.  Dabei 
muß  es  sich  keineswegs  um  eine  vollendete,  den  gewiegten  Kenner 
auf  die  Dauer  täuschende  Darstellung  jener  Rollen  handeln;  wir 
achten  an  dieser  Stelle  lediglich  darauf,  daß  der  als  Strolch  mas- 
kierte Student  oder  die  als  Kokotte  verkleidete  vornehme  Dame 
nicht  unaufhörlich  ihre  Handlungen  vorsätzlich  zu  regeln  haben. 
Dank  einer  einzigen  durch  die  Änderung  des  Gewandes  und  durch 
die  besonderen  Umstände  bedingten  Einstellung  erfolgt  der  Sprung 
in  das  andere  „Leben".  Wie  der  gebildete  Student  sich  nicht  bei 
jeglicher  Gelegenheit  die  Frage  vorlegen  muß :  „wie  handelt  da 
der  wohlerzogene  Student?",  sondern  er  handelt  als  wohlerzogener 
Student;  so  handelt  er  jetzt  als  Strolch.  Und  das  gleiche  gilt 
von  der  eleganten  Dame.  Ähnlichen  Erscheinungen  begegnen  wir 
oft  auch  in  anderen  Lebenslagen:  Jeder,  der  z.  B.  den  Betrieb 
in  den  Familienbädern  unserer  Seekurorte  kennt,  weiß,  mit  welch 
völliger  Ungeniertheit  sich  auch  „sehr  anständige"  Frauen  und 
Mädchen  im  bloßen  Trikot  bewegen,  also  in  einem  Kostüm,  das 
höchstens  mit  dem  von  Nackttänzerinnen  zu  vergleichen  ist.  Mit 
dem  Badeanzug  hat  man  sich  förmlich  einen  neuen  Menschen  an- 
gezogen, der  sich  dieser  neuen  Situation  völlig  anpaßt,  so  daß 
auch  die  Regungen  des  Schamgefühls  ausbleiben,  die  unter  anderen 
Umständen  gewiß  zutage  treten.  Der  entrüstete  Ruf  einer  Mutter 
zu  ihrer  halbwüchsigen  Tochter,  die  das  erste  Mal  das  Bad  be- 
sucht: „Schämst  du  dich  nicht,  daß  du  dich  schämst!"  ist  be- 
zeichnend :  du  sollst  dich  schämen,  weil  du  nicht  besser  die  richtige 
Einstellung  findest.  Darum  scheuen  auch  so  viele,  als  Arzt  je- 
manden heranzuziehen,  mit  dem  sie  gesellschaftlich  verbunden  sind  ; 
es  erschwert  die  eigentümliche  Einstellung  des  Patienten,  weil 
eine  andere,  geläufigere,  erst  unterdrückt  werden  muß. 

Die  Aoisicht,  jede  Simulation  fuße  auf  einem  Nachleben,  läßt 
stets  nach  der  Vorlage  fahnden.  Die  Verstellung  soll  die  Kopie 
liefern,  mag  dabei  das  Original  mehr  oder  minder  hell  dem  Be- 
wußtsein vorschweben,  sei  es  auch  nur  in  der  unanschaulichen 
Form  einer  „Aufgabe".  Es  ist  der  gleiche  Fehler  wie  die  An- 
nahme, künstlerisches  Schaffen   sei   immer  nur  ein  Ausführen  der 


480  Emil  Utitz, 

in  der  Phantasie  konzipierten  Bilder,  und  die  formende  Tätigkeit 
sei  ein  Nachbilden,  ein  Streben  nach  Konkretisierung  des  innerlich 
fertig  vorliegenden  Originals.  Jedenfalls  ist  diese  Auffassung  ge- 
eignet, den  Blick  für  jene  Simulationen  zu  versperren,  die  ich 
als  „auslebende"  bezeichne.  Es  wird  nicht  irgend  etwas  nachge- 
ahmt, nachgebildet,  nacherlebt,  nachgefühlt  usw. ;  sondern  die  Ge- 
staltung wächst  frei  aus  ihren  eigenen  Bedingungen  heraus.  Die 
eine  Kokotte  spielende  Dame  muß  nicht  den  Erfahrungen  folgen, 
die  sie  an  Kokotten  gemacht  hat;  sie  gibt  sich  Neigungen  und 
Trieben  ihres  Wesens  hin,  befreit  geradezu  gewisse  Seiten  ihres 
Seins.  Natürlich  werden  Erfahrungen  auf  die  Verhaltungsweisen 
abfärben,  diese  modifizieren  usw.  Wir  müssen  immer  wieder  be- 
tonen, das  Wirklichkeit  oft  verknüpft,  wo  Theorie  zu  sondern  hat. 
Doch  ohne  jene  Sonderungen  verstehen  wir  nicht  die  Wirklichkeit. 
Die  erstaunte  Frage:  „woher  kann  das  der  Simulant,  er  hat  doch 
Ahnliches  nie  gesehen?"  beantwortet  sich  oft  leicht,  wenn  wir 
nicht  die  gewagtesten  Vermutungen  aushecken,  einer  vermeintlich 
durchgängigen  Abbildtheorie  zu  Ehren,  sondern  uns  der  beschei- 
denen Einsicht  vergewissern,  daß  hier  innere  Anlagen  sich  aus- 
wirkend entfalten.  Oft  spinnt  sich  ein  im  einzelnen  unentwirr- 
bares Netz,  dessen  Fäden  gezogen  sind  aus  Begabung,  Neigung, 
Trieb,  Erfahrung  und  äußerem  Anlaß. 

Vergessen  aber  jene  verkleideten  Studenten  oder  Damen  völlig 
ihren  wahren  Stand,  daß  eigentlich  die  Simulation  verschwindet  ?  Vor 
allem  ist  in  jedem  Augenblick  die  Möglichkeit  gegeben,  die  Rolle 
abzuwerfen  und  in  die  „Wirklichkeit"  zurückzukehren.  Es  kommt 
plötzlich  eine  wichtige  Nachricht,  und  trotz  Kostüm  und  Maske 
ist  das  Alltagsleben  sofort '  da.  Das  Spiel  wird  abgeschüttelt ; 
oder  es  endet  mit  dem  Glockenschlag,  mit  dem  Abschluß  des 
Festes.  Die  Betreffenden  haben  es  in  der  Hand,  zu  beginnen,  wann 
sie  wollen,  und  nach  Belieben  aufzuhören.  Oft  führen  sie  auch 
ihre  Rolle  nicht  allen  gegenüber  durch,  so  z.B.  nicht  bei  nahen 
Verwandten,  Bekannten,  denen  Ehrfurcht  gezollt  wird,  oder  solchen, 
die  keinen  „Spaß"  verstehen.  Da  bleiben  sie  die  „Alten".  Eben- 
sowenig wie  der  Mime  in  den  Pausen  seiner  Rolle  im  allgemeinen 
hinter  der  Kulisse  weiterspielt,  es  sei  denn  zum  Scherz.  Auch 
wissen  die  Beteiligten  meist  ganz  genau,  wie  weit  sie  gehen  dürfen, 
wie  weit  ihre  Maskenfreiheit  sie  deckt.  Werden  auch  die  Grenzen 
nicht  eng  gezogen,  sie  werden  doch  mehr  oder  minder  beachtet; 
denn  Aufhebung  der  Spielregel  beendet  das  Spiel.    Die  Rolle  des 


Zur  „Als-Ob-Theorie"    in   der  Kunstphilosophie.  481 

Lumpen  führt  nur  selten  zu  „wirklichen"  Gemeinheiten,  die  ge- 
spielte Kokotte  gibt  sich  nicht  jedem  für  Greld  hin.  Es  ist  klar, 
wie  hier  allenthalben  die  Pforten  zum  Pathologischen  sich  öffnen. 
Mancher  findet  den  Weg  aus  der  Simulation  nicht  mehr  zurück: 
das  „Spiel"  beherrscht  ihn,  erfüllt  ihn,  er  identifiziert  sich  völlig 
mit  demselben,  oder  er  hat  die  Macht  verloren,  es  zu  beenden. 
Als  äußerste  Extreme  stehen  vor  uns:  die  Simulation,  deren  jeden 
Schritt  das  kontrollierende  Bewußtsein  überwacht,  das  niemals 
die  Aufgabentendenz  verliert;  und  jene  Fälle,  wo  das  Bewußtsein 
der  Simulation  immer  mehr  einschläft.  Aber  es  sind  Extreme, 
zwischen  denen  unzählige  Zwischenstufen  vermitteln. 

Der  Student,  der  den  Lumpen  auf  dem  Maskenfest  mimt,  die 
Dame,  welche  die  Kokotte  spielt,  das  Nähmädchen,  welches  die 
Prinzessin  darstellt,  der  kleine  Verkäufer,  der  den  reichen  und 
blasierten  Lebemann  kopiert,  oder  auch  der  Maler,  der  in  der 
Tracht  Botticellis  sich  gefällt,  sie  folgen  alle  vielleicht  einer  ge- 
heimen, tiefer  oder  oberflächlicher  verborgenen  Sehnsucht,  oder 
auch  einem  mit  Liebe  gehegten  Ideal.  Sie  wissen,  daß  sie  spielen, 
aber  die  Rolle  ist  ihnen  nicht  entgegengesetzt,  feindlich,  nicht 
einmal  innerlich  fremd.  Sie  leben  sich  nach  einer  Richtung  hin 
aus,  kosten  eine  Möglichkeit  des  Seins,  die  der  Alltagsbetrieb 
sperrt.  Ohne  den  Rollencharakter  ganz  abzustreifen,  ohne  das 
Bewußtsein  der  Maskierung  völlig  einzubüßen,  können  sie  doch 
empfinden  —  ob  mit  Recht  oder  Unrecht  kommt  da  gar  nicht  in 
Frage  —  daß  gerade  dies  ihr  eigentlicher  Sinn  ist,  daß  sie  im  ge- 
wöhnlichen Leben  an  falscher  Stelle  stehen  und  sich  verstecken 
müssen  usw.  In  tieferer  Bedeutung  erscheint  ihnen  dann  die  Si- 
mulation als  echteres  Verhalten;  und  sie  können  doch  dabei  der 
Simulation  bewußt  bleiben.  Diese  Sehnsüchte  schweifen  —  wenn 
man  so  sagen  darf —  sowohl  nach  „oben",  wie  nach  „unten".  Der 
Bürger  möchte  König  sein,  der  König  ungekannt  durch  die  Menge 
dahingehen,  Freuden  und  Leiden  einfachen  bürgerlichen  Seins 
durchkostend.  Die  Sehnsucht  nach  der  Maske  —  die  oft  nur  eine 
Sehnsucht  ist,  die  Maske  fallen  zu  lassen  —  gewinnt  Hintergründe 
und  Ausblicke  in  dunkle  Schichten  der  Seele.  Selbst  den  engen 
Philister,  der  im  Kino  sich  erhitzt,  bedrängen  Sehnsüchte  nach 
Fülle  und  Buntheit  des  Lebens,  die  der  Alltag  nicht  gewährt;  und 
der  Philister  weicht  doch  den  grellen  und  großen  Ereignissen  aus, 
er  will  den  umfriedeten  Winkel,  und  die  Grluten  der  Leidenschaft 
nur  im  Theater,   nur  im  Roman.     So   können   auch   Student  und 


482  Emil  Utitz, 

Dame,  Nähmädchen  und  Verkäufer  mit  ihrer  Simulation  spielen. 
Es  sind  gewünschte  Lebensmöglichkeiten,  auf  Zeit  und  Kündigung ; 
passend  für  den  Sonntag,    lächerlich  für  den  Montag. 

Es  liegt  nahe,  die  ganzen  eigentlichen  Simulationsvorgänge  als 
periphere  Erlebnisse  aufzufassen,  wenn  wir  auf  das  Moment  der 
absichtlichen  Vorspiegelung  achten.  Das  Zentrale;  z.  B.  der  Willen 
zur  Simulation,  der  sie  strafft,  spannt,  vorwärtsschiebt,  das  Be- 
gehren, zu  täuschen,  die  Lust  an  der  anscheinend  glücklichen  Si- 
mulation; ist  offenbar  —  wenn  auch  in  innigem  Zusammenhang 
mit  der  Simulation  —  doch  außerhalb,  nicht  in  sie  eingebettet. 
Mit  dem  simulierten  Kopfschmerz  identifiziere  ich  mich  nicht, 
ebensowenig  mit  der  geheuchelten,  schmeichlerischen  Freundlichkeit^ 
wie  mit  der  gespielten  Trunkenheit.  Der  periphere  Charakter 
dieser  Erlebnisse  ist  unbestreitbar.  Und  man  darf  wohl  sagen :  er 
ist  für  die  ganz  reine  Simulation  auch  bezeichnend.  Aber  denken  wir 
nun  an  das  Ladenmädchen,  das  am  Feiertag  die  elegante  Dame  von 
Welt  mimt,  an  den  Kellner,  der  „ Ausgang"  hat  und  nun  den  vol- 
lendeten Edelmann  markiert !  Es  sind  vielleicht  tiefste  Sehnsüchte, 
geheimste  Wünsche,  geliebteste  Ideale,  die  hier  eine  —  wenn  auch 
groteske  und  tragikomische  —  Verwirklichung  gewinnen;  also 
Regungen,  die  aus  dem  Zentrum  der  Persönlichkeit  herrühren  und 
die  nur  der  Alltag  zurückdämmt,  die  Zensur  unterbindet,  wenn 
wir  uns  eines  psychoanalytischen  Terminus  bedienen  wollen.  Das 
Ladenmädchen  und  der  Kellner  empfinden  ihre  Maskierung  als 
echtere  —  sagen  wir  —  sein  sollendere  Wirklichkeit,  im  Ver- 
hältnis zu  der  das  kärgliche  und  demütigende  Aschenbrödeldasein 
am  Wochentag  verblaßt,  wie  ein  schlimmer  Halbtraum.  Sie  passen 
auf,  ob  der  Trug  gelingt ;  und  das  Gelingen  ist  ihnen  neuer  Beweis 
nicht  nur  für  die  Güte  ihrer  Simulation,  sondern  für  die  Legiti- 
mität ihrer  Wünsche,  für  die  in  einem  höheren  Sinne  geltende 
Wahrheit  der  Simulation.  Auch  hier  kann  und  wird  —  wenn  wir 
von  den  Abzweigungen  ins  Pathologische  absehen  —  ein  Grund- 
gefühl  gegeben  sein,  daß  „man"  nicht  „tatsächlich"  Gräfin  oder 
Graf  sei,  ein  schmerzlich  —  süßes  Grundgefühl  vielleicht;  schmerz- 
lich, weil  das  Spiel  nur  Spiel,  und  süß,  weil  in  dem  Spiel  Ver- 
heißungen aufglühen,  Ahnungen  einer  hohen  Sendung,  verlockende 
Perspektiven  eines  Lebens  in  großem  Stil.  In  dieser  Simulations- 
form wirken  sich  jedenfalls  echte  Ichseiten  aus,  und  darum  be- 
zeichnen wir  sie  auch  als  zentrale  Simulation.  Das  hat  an  sich 
nichts  zu  tun  mit  der  Fähigkeit  zur  begrenzten  oder  allgemeinen 


Zur  „Als-Ob- Theorie"    in  der  Kunstphilosophie.  483 

Simulation.  Wer  alle  Rollen  meistert,  muß  noch  nicht  sein  „Herz- 
blut" in  sie  vergießen.  Sie  können  alle  peripher  sein.  Nicht  jene 
Fähigkeit  steht  da  in  Frage,  sondern  die  Stellung  des  Ich  in  und 
zur  Simulation.  Faßt  man  ihre  Gebilde  als  Fiktionen  auf,  handelt 
es  sich  erstens  um  Fiktionen  verschiedener  Art  und  zweitens  ver- 
schiedenen Grades.  Der  Sinn  der  Fiktion  verschiebt  sich,  je  nach- 
dem sie  zweckvolle  Täuschung  ausschließlich  intendiert  oder  vor- 
nehmlich ein  Ausleben  bestimmter  Wesenszüge  ermöglicht.  Damit 
wandelt  sich  aber  auch  ihr  Charakter.  Ist  er  dort  in  Reinkultur 
gegeben,  kann  er  hier  die  mannigfachsten  Komplikationen  erfahren, 
bis  zur  Selbstvernichtung.  Eine  allgemeine  Psychologie  der  Fik- 
tionen, die  diese  differentiellen  Ergebnisse  in  umfassendere  Zu- 
sammenhänge einzubauen  vermöchte,  ist  noch  nicht  geschrieben. 


Diese  meiner  „Psychologie  der  Simulation"  entlehnten  Be- 
trachtungen gilt  es  für  die  Erkenntnis  mimischer  Kunst  zu  ver- 
werten und  darüber  hinaus  für  die  der  Kunstgesamtheit.  Doch 
scheinen  mir  die  meisten  Analogien  so  selbstverständlich,  daß  wir 
es  uns  wohl  ersparen  dürfen,  sie  im  einzelnen  auszumalen.  Ein 
Hauptpunkt  ist  die  Stellung  zur  Rolle.  Zeigt  sich  die  Rolle 
fremd,  bloß  als  Erfüllung  von  außen  gesetzter  Aufgabe  zu  be- 
stimmten —  wiederum  —  äußeren  Zwecken,  betätigen  sich  an  ihr 
lediglich  Wille,  Wirkungsabsicht,  Ehrgeiz,  Technik  usw.  Verstand 
und  Energie  übernehmen  die  Führung;  fleißigstes  Studium  sorgt 
für  möglichst  tadellose  Gestaltung.  Das  Akademische  herrscht 
vor  oder  das  dem  Effekt  zugewandt  Yirtuosistische.  Aus  keinem 
ursprünglichen  Erlebnis  wächst  das  „Spiel"  ;  aber  vielleicht  ent- 
faltet sich  hohes  Können ;  vielleicht  packt  der  herbe  Ernst  straffer 
Disziplin  und  unsäglicher  Arbeit ;  oder  es  blendet  der  Instinkt  für 
das  Ausnutzen  jeglicher  Eindrucksmöglichkeit.  Zu  all  dem  gehört 
Begabung;  und  doch  bleibt  derartige  Kunst  an  der  Oberfläche: 
die  Nacktheit  des  Fiktiven  ernüchtert.  Die  Rolle  verharrt  durch- 
aus in  der  Sphäre  der  Fiktion ;  sie  wird  aufgeputzt,  hergerichtet, 
drapiert,  instrumentiert  usw.  „Dahinter"  steht  der  Mensch,  der 
sich  eben  darum  bemüht.  Die  scharfe  Zweiheit  liegt  offen  zutage. 
Man  unterschätze  aber  nicht  die  Bedeutung  solcher  Kunst,  die  in 
formaler  Hinsicht  Vollkommenes  zu  leisten  vermag.  Wie  viel 
auch  an  ihr  —  in  ihren  besten  Vertretern  —  rein  errechnet  und 
ausgeklügelt  erscheint,  so  rechnen  und  klügeln  kann  nur  jemand, 


484  Emil  Utitz, 

dem  eben  ein  starkes  Talent  diese  Betätigungen  gestattet.  Grad 
gehen  die  Rechnungen  nicht  auf;  die  Klügeleien  stimmen  nicht 
ganz ;  Unklarheiten,  Verschwommenheiten  schleichen  sich  ein ;  es 
fehlen  letzte  Prägnanz,  künstlerische  Ökonomie  und  Durchsichtig- 
keit. Das  „Menschliche"  der  Rolle  kommt  wenig  in  Betracht,  umso 
stärker  das  Artistische;  im  guten  und  Übeln  Sinne.  Das  Arti- 
stische verletzt,  wenn  etwa  ordinäre,  eitle  Tendenzen  aus  ihm 
hervorlugen,  schleuderhafte  Mache  oder  mangelndes  Können  sich 
verraten.  Es  wird  geadelt  durch  vornehme  Weisheit,  ausgeglichene, 
reife  Beherrschung  usw.  Diese  Qualitäten  beziehen  wir  nun  na- 
türlich nicht  auf  die  Rolle,  sondern  ganz  auf  ihren  Träger.  Wir 
nennen  bloß  die  Rolle  „dankbar",  die  dem  Artistischen  fruchtbare 
Aufgaben  zuweist;  und  wir  rühmen  es  besonders,  wenn  einer  an 
sich  undankbaren  Rolle  doch  starke  Wirkungen  abgerungen  werden. 
Die  nun  in  jenen  Träger  projizierten  Eigenschaften  halten  wir 
nicht  für  Fiktion;  wir  glauben:  der  Schauspieler  hat  sie  „wirk- 
lich". Meist  geben  wir  uns  aber  keine  Rechenschaft  darüber,  was 
dieses  „wirklich"  hier  bedeutet.  Der  Schauspieler  kann  ja  der 
nachlässigste  Mensch  sein,  aber  von  stärkstem  Verantwortlichkeits- 
gefühl,  wo  es  sich  um  seine  Kunst  handelt.  Er  ist  etwa  ferner 
dumm  im  gewöhnlichen  Verstände  des  Wortes,  aber  überraschend 
klug,  wenn  er  an  seiner  Rolle  arbeitet.  Und :  wiederum  alle  bürger- 
liche Intelligenz  schützt  und  feit  ihn  nicht  vor  absurdesten  Tor- 
heiten in  künstlerischer  Hinsicht.  Was  ist  nun  das  „Wirkliche"  ? 
Manchmal  beides,  wie  auch  der  strenge,  hartherzige  Beamte  da- 
heim in  Güte  und  Milde  fast  zerfließen  kann.  Man  muß  nur  das 
charakterologische  Problem  tief  genug  fassen,  um  diesen  Ver- 
ästelungen und  dem  bunten  Wechselspiel  ihrer  Beziehungen  nach- 
zuspüren. Bisweilen  wird  die  strenge  Hartherzigkeit  nur  einem 
Panzer  gleichen,  um  nicht  den  Regungen  der  milden  Grüte  aus- 
geliefert zu  sein,  wie  ja  auch  bisweilen  unverschämte  Lüge  nur 
innere  Scham  und  Keuschheit  deckt.  Und  sie  bilden  dann  die 
tiefste  Schicht,  das  andere  erscheint  übergelagert.  Aber  um  die 
artistischen  Eigenschaften  steht  es  doch  anders:  künstlerische 
Weisheit  ist  keine  Maske,  die  sich  allgemeine  Dummheit  vorhält. 
Künstlerischer,  unverdrossener  Fleiß  ist  kein  Mäntelchen,  das  Faul- 
heit um  sich  drapiert.  Ebenso  wenig  muß  aber  künstlerische  Un- 
vornehmheit  Zeichen  dafür  sein,  daß  der  Betreffende  sonst  niedrig 
und  gemein  ist.  Gewiß  kann  man  künstlerische  Qualitäten  simu- 
lieren;   der   Kenner    wird   auf  die  Dauer   selten    getäuscht,    mag 


Zur  „Als-Ob-Theorie"  in  der  Kunstphilosophie.  485 

auch  dem  Schwindel  der  Tag  Beifall  klatschen.  Im  Schützengraben 
hört  die  Mnt- Simulation  gewöhnlich  bald  auf;  bei  vielen  schon 
bei  der  Musterung.  Jedenfalls  wird  sie  gemeinhin  leicht  durch- 
schaut. Auch  das  Kunstschaffen  ist  so  ein  Ernstfall,  bei  dem  das 
Unechte  seinen  fehlenden  Gehalt  schwer  zu  verbergen  vermag. 
Ein  Wort  wird  zum  Verräter;  eine  falsche  Geste;  eine  zu  kurze 
oder  zu  lange  Pause.  All  das  Gesagte  gilt  nun  wieder  nicht  allein 
von  der  Kunst  des  Mimen,  sondern  von  jeglicher  Kunst.  Es  ist 
ein  vom  einzelnen  Kunstzweig  ganz  unabhängiger  Typus :  gekenn- 
zeichnet durch  seine  Stellung  zur  „Bolle",  zum  Gegenstand. 


Uns  zeigte  sich  noch  ein  zweiter  Typus :  jener,  wo  der  Simu- 
lant echte  Ich-Seiten  in  der  Rolle  durchlebt,  wo  sie  Mittel  —  unter 
Umständen  unersetzliches  und  unersetzbares  Mittel  —  wird,  um 
jenen  Ich-Seiten  die  ihnen  angemessene  Auswirkung  zu  schaffen. 
Vergessen  wir  nicht  —  denn  es  erscheint  mir  sehr  wichtig  —  daß 
auch  in  den  eben  erörterten  Fällen  echte  Ich-Seiten  sich  betätigten : 
aber  „an"  der  Rolle,  nicht  „in"  der  Rolle.  Ich  brauche  wohl  nicht 
eingehend  gegen  den  Vorwurf  mich  zu  verteidigen,  daß  ich  über- 
scharf trenne,  wo  die  Wirklichkeit  zart  in  unzähligen  Schattie- 
rungen verbindet.  Die  polaren  Unterschiede  sind'  unverwischbar; 
und  auch  für  die  Übergänge  schulen  wir  den  Blick,  wenn  wir  die 
ganzen  Skalen  gleichsam  durchspielen.  Gewiß  ist  die  Rolle  der 
Gräfin  dem  Stubenmädchen  eine  Fiktion,  aber  ihr  ganzes  Bedürfnis 
nach  Vornehmheit,  Eleganz,  Weltgeltung  usw.  vermag  sie  in  diese 
Rolle  hineinzulegen;  sie  spielt  diese  Rolle  und  spielt  doch  gleich- 
sam sich  selbst,  oder  wenigstens  eine  Richtung  ihrer  selbst.  Die 
Rolle  ist  ihr  auf  den  „Leib"  geschrieben;  „aus  ihrer  Seele"  heraus, 
wie  man  wohl  zu  sagen  pflegt.  Von  dem  so  gearteten  Schau- 
pieler  sprechen  wir  jetzt:  eine  innere  Verwandtschaft  erhellt  ihm 
intuitiv  die  Rolle;  von  innen  her  wird  sie  ergriffen;  aus  seiner 
Persönlichkeit  wächst  sie  dann  hervor.  Ohne  Studium  geht  das 
nicht  reibungslos ;  das  Studium  dient  nur  dazu,  die  ganzen  inneren 
Spannungen  in  die  Formung  der  Rolle  aufzulösen  und  damit  zu 
befreien.  Es  ist  nun  kein  feilendes  Arbeiten  an  der  Rolle,  sondern 
wieder  in  der  Rolle,  auf  daß  jener  Zusammenklang  voll  harmonisch 
sich  entfalte.  Der  Mime  würde  ersticken  oder  verbrennen,  wäre 
es  ihm  versagt,  seine  verschiedenen  Ich-Seiten  auszuströmen  in 
seine  Rollen.   Denn  sie  allein  ermöglichen  jenes  Ausströmen.   Und 

Kantstudien  XXYU.  32 


486  Emil  Utitz, 

der  Schauspieler  braucht  eben  bestimmte  Rollen,  sei  es  nur  solche 
einer  gewissen  Art,  sei  es  bunt  verschiedene.  Immer  wird  er  sie 
dieser  seiner  Bestimmung  gemäß  anlegen.  Denn  er  verschwindet 
nicht  in  ihnen,  gerade  weil  er  und  kein  anderer  sich  in  ihnen  aus- 
wirkt. Ein  anderer  täte  das  nicht  in  genau  gleicher  Weise,  weil 
er  eben  eine  andere  menschliche  und  künstlerische  Persönlichkeit 
ist;  daher  auch  das  Ungenügende  bloßer  Kopie.  Hier  sei  nur 
kurz  an  bereits  Ausgeführtes  erinnert:  das  Ausleben  in  der  Rolle 
ist  zugleich  künstlerisches  Formen ;  und  dieses  Formen  ist  zugleich 
jenes  Ausleben.  Eine  Zweiheit  —  Rolle  und  Rollenträger  —  finden 
wir  auch  da ;  aber  sie  stellt  sich  doch  wesentlich  anders  dar.  Denn 
an  der  Rolle  wird  von  außen  gar  nichts  gemacht;  das  erschiene 
in  diesem  Zusammenhange  bloß  aufgesetzt,  aufgeleimt.  Einheitlich 
ist  sie  von  einem  ursprünglichen  Erleben  durchtränkt,  das  sie  bis 
ins  letzte  Detail  hinein  durchglüht.  Doch  dieses  wird  Offenbarung 
jener  Innerlichkeit.  Wäre  es  dies  nicht,  bliebe  es  Fremdkörper; 
tote  Stelle,  die  unbewältigt  verharrte.  Wobei  hier  ununtersucht 
bleiben  mag,  ob  im  Einzelfalle  Dichter  oder  Schauspieler  die  Schuld 
tragen.  Was  ist  nun  aber  jene  Innerlichkeit,  dieses  ursprüngliche 
Erlebnis,  das  durch  Intuition  —  wenigstens  meistens  —  die  Aus- 
drucksqualität der  Rolle  bestimmt?  Sagen  wir:  das  Verlangen 
nach  keuscher,  spröder  Liebe.  Aber  der  Schauspieler  kann  im 
Alltag  brutal  und  zynisch  sein.  Oder:  die  heroische  Leidenschaft 
opferbereiten  Mutes.  Aber  der  Mime  kann  wieder  ein  erbärmlicher 
Angsthase  sein.  Zweifellos  haben  wir  nicht  das  Recht,  dem  Hel- 
dentenor etwa  alle  jene  Eigenschaften  anzudichten,  die  er  auf  der 
Bühne  verkörpert.  Jene  Sehnsüchte  müssen  jedoch  in  ihm  schlum- 
mern; sie  werden  durch  die  Rolle  geschürt  und  entfacht  und  ver- 
brennen in  ihr.  Wir  denken  dabei  an  keine  wilde  Feuersbrunst, 
vielmehr  an  eine  reine  Flamme.  Denn  die  Rolle,  die  sie  nährt, 
bändigt  sie  zugleich ;  vorausgesetzt,  daß  es  um  echte  Künstlerschaft 
sich  handelt.  Es  sind  doch  Wesensseiten,  die  im  gewöhnlichen 
Leben  keinen  Abfluß  finden,  oder  bloß  verzerrten  und  perver- 
tierten; und  die  in  der  Kunst  ihre  volle  Ausstrahlung  gewinnen. 
Das  macht  zugleich  die  Stellung  vieler  Mimen  zum  Leben  so  ko- 
misch oder  tragikomisch.  Sie  nehmen  das  Leben  immer  wieder 
als  „Rolle",  aber  die  richtigen  Stich worte  bleiben  aus.  Dadurch 
werden  die  Rollen  falsch.  Sie  spielen  etwa  —  vielleicht  sogar  — 
„echtes"  Mitleid,  statt  einfach  zu  helfen.  Denn  ihr  Charakter  lebt 
sich  in  jenem  Spiel  aus ;  die  Tat  ist  ihm  weniger  wichtig,  sie  kann 


Zur  „Als-Ob-Theorie"  in  der  Kunstphilosophie.  487 

schließlich  auch  fortfallen.  Auf  dem  künstlerischen  Durchfühlen 
und  Durchgestalten  rnht  der  Nachdruck.  Darum  muß  auch  Hel- 
dentum einer  Rolle  nicht  zum  „wirklichen"  Heldentum  anfeuern; 
es  wird  in  der  Rolle  erledigt,  verspritzt  da  sein  Feuer.  Nachher 
kommt  vielleicht  der  aufgeschlagene  Rockkragen,  der  vor  Erkäl- 
tung schützt,  der  warme  Grog  und  die  Sorge  um  das  Honorar. 
Sicherlich  kann  herbe  Keuschheit  im  Leben  auch  im  „Spiele"  sich 
zeigen;  aber  der  Fall  braucht  nicht  so  einfach  zu  liegen.  Ja, 
manchmal  stimmt  er  sogar  bedenklich.  "Wer  nur  sich  selbst  gibt, 
und  dessen  Selbst  wenige  Seiten  hat,  dessen  Rollenfach  wird  meist 
sehr  beschränkt  sein,  vielleicht  eingeengt  auf  eine  einzige  Rolle. 
Die  anderen  geraten  matt  und  blaß  und  werden  nur  artistisch 
bezwungen.  Tieferes  klingt  bloß  an,  wenn  jene  eine  Seite  berührt 
wird.  Wieder  andere  haben  gegen  aufquellende  Schamhaftigkeit 
anzukämpfen,  wenn  eine  Rolle  zu  stark  in  G-eheimbezirke  ihres 
Ich  eingreift.  Sie  fühlen  sich  ungehemmter  und  freier,  soweit 
zwar  Ich-Seiten  angeschlagen  werden,  aber  diese  letzte  Selbstent- 
hüllung nicht  in  Frage  kommt. 

In  der  Skizzierung  weiterer  Typen  will  ich  hier  nicht  fort- 
fahren :  sie  differenzieren  sich  wieder  durch  die  Stellung  zur  Rolle, 
nach  ihrem  Echtheitsgrade,  nach  ihrer  Fiktionsstufe.  Zweifellos: 
sie  alle  tun  so,  „als  ob"  sie  Könige  oder  Verbrecher  wären,  ver- 
zweifelnde Liebende  oder  leidenschaftliche  Hasser.  Diese  Fiktion 
bleibt  gewahrt ;  sie  verschwindet  nicht.  Aber  der  königliche  Edel- 
mut, seine  Herrschsucht,  sein  Machthunger,  dann  wieder  die  jeg- 
liche umfriedete  Gesellschaft  befehdende  Rachsucht,  die  Verderben 
säet,  das  Aufrauschen  seelischer  Gluten;  sie  sind  nicht  bloß  von 
der  Rolle  vorgeschrieben,  sondern  drängen  auch  aus  dem  Rollen- 
träger hervor,  und  sie  verschmelzen  ineinander:  die  Rolle  gleicht 
sich  ihrem  Träger  an,  und  wieder  umgekehrt.  Nicht  nur  äußeren 
Geboten  —  die  Verstand,  Erfahrung  und  Energie  diktieren  — 
folgt  der  Schauspieler,  sondern  inneren  Antrieben,  weil  Möglich- 
keiten seines  Seins  sich  hier  erfüllen.  Weitere  Fragen  knüpfen 
an:  welchen  Schichten  entstammen  diese  Seinsmöglichkeiten?  wer- 
den sie  nur  Wirklichkeit  in  der  Kunst,  oder  decken  sie  sich  mit 
dem  Verhalten  im  Leben?  Und  wo  verankert  sich  die  tiefste 
Schicht  ?  Gibt  es  doch  Mimen,  für  die  allein  die  Kunst  den  echten 
Ernstfall  bedeutetf  das  „Leben"  nur  etwas  Wirres,  Dumpfes,  eigent- 
lich Gewichtsloses.  Sie  sind  ganz  Berufsmenschen,  und  was  außer- 
halb des  Berufes  liegt,  erscheint  als  das  nicht  Wahre.   Ihr  tiefstes 

32* 


488  Emil  TJtitz, 

Wesen :  das  ist  die  Rolle  und  die  Art,  wie  sie  die  Rolle  meistern. 
Alles  andere  zählt  wenig  mit.  Problematisch  bleibt,  ob  nicht 
künstlerische  Erfüllung  unter  dieser  menschlichen  Aushöhlung  lei- 
det, ob  nicht  alle  Gefühle,  Leidenschaften,  Affekte  nur  artistischen 
Oberflächencharakter  empfangen,  ob  nicht  darum  Unechtes,  Fik- 
tives —  weil  nicht  genügend  seelisch  Unterbautes  —  einschleichen. 
Die  Erscheinung  des  Literaten  ist  bekannt,  aber  ebenso  die  des 
verknöcherten  Beamten,  denen  schließlich  das  schlicht-Menschliche 
immer  ferner  rückt.  So  entsteht  beamtenhafte  Artistik.  Doch 
müssen  wir  es  uns  wieder  versagen,  diesen  Problemen  nachzugehen. 
Wir  fassen  vielmehr  einen  anderen  Typus  ins  Auge,  der  ganz 
gegenteilige  Eigenschaften  zeigt,  und  damit  trennen  wir  uns  nun 
völlig  von  der  Simulation,  die  bisher  die  Vergleichsflächen  bot.  Der 
Mime  bringt  jetzt  seine  ,, wirkliche"  Persönlichkeit  mit  in  die  Rolle; 
und  diese  ist  bloß  ein  Mittel,  daß  diese  Persönlichkeit  zur  Geltung 
kommt:  einerseits  für  das  Publikum  und  andererseits  für  den 
Künstler  selbst,  der  sich  so  auslebt,  wie  ein  anderer  im  beflügelnden 
Gespräch  oder  im  geschäftlichen  Tatendrang.  Auf  niedrigster  Stufe 
handelt  es  sich  allein  um  körperliche  Vorzüge:  die  schönen  Beine 
einer  Tänzerin,  um  ihren  gelenkig-sehnigen  Körper,  weiter  aber 
um  die  Anmut  ihrer  Bewegungen  usw.  Diese  Realwerte  werden 
zur  Schau  gestellt  und  in  einer  ihnen  angemessenen  Weise.  Schon 
die  Kostümierung  verfolgt  diesen  Zweck.  Es  liegt  mir  fern,  ihn 
irgendwie  herabzusetzen.  Die  Bewunderung  schönen  Menschentums 
ist  gewiß  nicht  unberechtigt ;  von  sehr  naheliegenden  Entgleisungen 
dürfen  wir  hier  absehen.  Aber  dieses  schöne  Menschentum  kann 
auch  in  einer  inneren  Fröhlichkeit  bestehen,  die  alles  mitreißt. 
Und  sie  tollt  sich  nun  auf  der  Bühne  aus.  Der  Zuschauer  atmet 
beglückt.  Ein  andermal  ist  es  die  herbe  Männlichkeit,  die  einfach 
packt.  In  diesen  Fällen  ist  die  Rolle  —  in  sich  Fiktion  —  will- 
kommene Gelegenheit,  jene  Menschlichkeit  kennen  zu  lernen;  diese 
strömt  ihre  Fülle  durch  die  Rolle  aus,  keineswegs  immer  in  die 
Rolle.  Ein  „Zu-viela  an  Kunst  würde  hier  nur  verschleiern,  über- 
decken, Schwerpunkt  verschieben.  Die  Kunst  ist  da  gleichsam 
heimlich  am  Werk ;  sie  fehlt  sicherlich  nicht.  Der  schönste  Körper 
—  im  obigen  Beispiel  —  bliebe  steif,  ungelenk;  fehlte  ihm  das 
Könnerische  des  Tanzes.  Dieses  ganze  Können  frommt  dabei  letzt- 
lich dem  Ziele,  gerade  jene  Schönheit  ihrer  höchsten  Entfaltung 
entgegenzuführen.  Hier  —  wo  am  meisten  Naturgegebenes  ist  — 
tritt   das  Fiktive   der  Rolle   ebenso  scharf  hervor   wie  bei  jenem 


Zur  „Als-Ob-Theorie"  in  der  Kunstphilosophie.  489 

Typus,  der  die  Rolle  von  außen  formt  behufs  stärkster  Effekt- 
ausnutzung. Die  äußersten  Gegensätze  treffen  aufeinander  an 
diesem  kritischen  Punkte.  Ist  die  Persönlichkeit  nur  ein  wenig 
unbedeutend  oder  unsympathisch,  wird  ihre  Verherrlichung  durch 
die  Rolle  unangenehm,  oft  widerlich.  Sie  hat  kein  Recht  dazu, 
sich  selbst  auszutrumpfen.  Der  Widerstand  versteift  sich,  mischt 
gar  Eitelkeit  sich  ein.  Und  —  zum  zweiten  —  versagt  nur  ein 
wenig  die  Technik,  wird  jene  Instrumentation  der  Rolle  schwülstig, 
peinlich,  uninteressant.  Weil  eben  in  diesen  Fällen  die  Rolle  selbst 
wenig  bedeutet,  entscheiden  die  anderen  Faktoren.  Hier  muß  am 
ehesten  ein  Fiktionalismus  anknüpfen.  Wie  gründlich  er  auf  künst- 
lerischem Felde  mißverstanden  wurde,  beweist  deutlich  die  Tat- 
sache, daß  all  diese  Fragen  ihm  mehr  oder  minder  fremd  blieben. 
Was  aber  nicht  Schuld  Vaihingers  ist  sondern  derer,  die  seine 
Formeln  auf  kunstphilosophisches  oder  aesthetisches  Gebiet  an- 
wandten, ohne  genügende  Analyse  der  überaus  komplizierten  Ver- 
hältnisse. 


Wir  versuchten  diese  Problemverwicklungen  an  der  Hand 
eines  Beispiels  zu  beleuchten,  ohne  der  Fülle  der  möglichen  Aspekte 
gerecht  werden  zu  wollen.  Eine  Übertragung  unserer  Ergebnisse 
auf  die  Gesamtheit  der  Kunst  begegnet  keinen  Schwierigkeiten. 
Selbstverständlich  dürfte  man  nicht  einfach  überpflanzen,  sondern 
bei  Wahrung  des  Prinzipiellen  der  Eigengesetzlichkeit  der  ver- 
schiedenen Bedingungen  zu  genügen  trachten.  Hiermit  erschlössen 
sich  zugleich  wohl  wichtige  Einsichten  in  das  Strukturgefüge  der 
einzelnen  Künste.  Nur  auf  einige  Andeutungen  muß  ich  mich  hier 
beschränken. 

Die  gemalte  Landschaft  ist  gewiß  eine  Fiktion:  die  Häuser, 
Bäume,  das  Meer,  die  untergehende  Sonne,  der  Wind,  der  über 
die  Felder  streicht.  Real  sind:  Rahmen,  Leinwand,  Farbmaterial, 
Der  Rahmen  rundet  nicht  nur  das  Bild,  sondern  sein  mattes 
Leuchten  hat  Eigenwert;  ebenso  der  körnig-feste  Malgrund  oder 
die  sinnliche  Leuchtkraft  des  Kolorits.  Stärker  tritt  dieses  Natur- 
gegebene —  im  Gegensatz  zum  Fiktiven  —  hervor  etwa  im  Holz- 
schnitt, bei  kostbarem  Pergament,  auf  das  Silberstift  zarte  Linien 
zieht,  im  Kunstgewerbe,  das  mit  Gold,  Silber  und  Edelsteinen  ar- 
beitet. Diese  Materialien  werden  ihrer  höchsten  Steigerung  ent- 
gegengeführt,   der  stärksten  Entfaltung  ihrer  Wirkungsmöglich- 


490  Emil  Utitx, 

keiten.  Wie  auch  in  der  Dichtung  Worte  und  Wortfolgen  klang- 
lichen und  rhythmischen  Eigenwert  gewinnen.  Entscheidendes 
Gewicht  fällt  auf  jene  Qualitäten  nur  bei  einem  bestimmten  Kunst- 
typus; aber  gleichgültig  werden  sie  nie.  Marmor,  Bronze,  Holz 
usw.  sind  eben  Persönlichkeiten,  die  einmal  mehr,  das  anderemal 
weniger  zur  Geltung  gelangen ,  doch  stets  abfärben.  Auch  der 
Schauspieler  verschwindet  niemals  in  seiner  Rolle,  denn  damit 
verschwände  ja  seine  Kunst.  Diese  Analogie  liegt  also  offen  zu- 
tage, aber  auch  die  anderen  sind  unschwer  zu  entdecken.  Für  den 
Maler  kann  die  Landschaft  oder  ein  Akt  nur  erwünschte  Gelegen- 
heit schaffen,  seine  technischen,  perspektivischen,  kompositioneilen 
Kräfte  zu  erproben  und  vorzuführen;  ebenso  für  den  Dichter  ein 
Stoff,  an  dem  er  sich  in  solcher  Weise  betätigt.  Auch  hier  —  wo 
die  Gefahr  hohlen  und  spielerischen  Artistentums  in  unmittelbare 
Nähe  gerückt  ist  —  darf  man  nicht  ohne  weiteres  absprechen: 
sehr  hohes,  edles  Können  vermag  sich  zu  offenbaren,  zäher  Eifer, 
leidenschaftlicher  Arbeitsdrang,  manchmal  sogar  eine  fast  heilige 
Liebe  zur  künstlerischen  Sache.  Es  werden  meist  jene  Motive 
gewählt,  die  in  diesem  Sinne  dankbar  sind;  oft  in  sich  völlig  un- 
scheinbar und  uninteressant,  weil  der  Anreiz  stärker  ist,  etwas 
aus  ihnen  zu  „machen".  Man  will  auch  nicht,  daß  die  Motive  an 
sich  wirken,  nein  die  Wirkung  soll  ganz  allein  der  künstlerischen 
Arbeit  entstammen.  Nur  ihr  gebührt  der  Dank.  Nun  aber  ge- 
denken wir  kurz  der  Fälle,  wo  das  Motiv  —  die  „Rolle",  um  den 
Vergleich  fortzuspinnen  —  den  Künstler  packt,  erfüllt.  Dieses 
sein  Erleben  schmilzt  in  den  Stoff  ein.  Das  einfachste  Beispiel 
liefert  die  Stimmungslandschaft  oder  ein  ausdrucksbeladener  Kopf. 
Auch  hier  bleibt  die  Fiktion ;  sie  wird  nicht  aufgehoben,  aber  ver- 
geistigt oder  beseelt.  Sie  wird  Träger  dieser  Werte;  sie  sind  in 
ihr  beschlossen  und  sprechen,  klingen,  tönen  aus  ihr.  Alles  tech- 
nische Mühen  dient  nun  diesem  Ziele.  Und  ähnlich  wie  im  Falle 
des  Schauspielers  verlegen  wir  jene  Erlebenswerte  nicht  nur  in 
das  Bild,  sondern  lassen  sie  aus  dem  Erleben  des  Künstlers  ent- 
springen. Wir  „wiederholen"  gleichsam  —  wie  manche  meinen  — 
sein  Erleben,  wenn  wir  das  Kunstwerk  genießen.  Diese  Wieder- 
holungstheorie ist  fraglos  falsch;  denn  wir  erleben  doch  nicht  die. 
Studien  des  Künstlers  nach,  seine  Qualen  und  Beglückungen,  seine 
Unruhe  und  seine  Entspannungen.  Auch  die  ursprüngliche  Intui- 
tion ist  uns  nicht  unmittelbar  gegeben,  sondern  bloß  die  ins  Werk 


Zur  „Als-Ob-Theorie"  in  der  Kunstphilosophie.  491 

ausgereifte  und  in  ihm  objektivierte.  Nur  auf  Pfaden  nicht  immer 
sicherer  Rekonstruktion  dringen  wir  zu  jenem  Kern  vor. 

Von  diesem  Auswirken  „in"  der  Rolle  —  der  Melancholie  des 
Herbstabends,  der  Heiterkeit  des  Frühlings,  die  peripher  bleiben, 
treffen  sie  nicht  auf  Ich-Seiten,  durch  deren  künstlerische  Entfal- 
tung das  Bild  hervorwächst,  sei  es  in  mehr  objektiver  oder  sub- 
jektiver Akzentuierung  —  scheiden  wir  wieder  das  Auswirken 
„durch"  die  Rolle.  In  der  gemalten  Landschaft  rast  der  Maler 
„seine"  Leidenschaft  aus;  die  Felder  sind  wie  gepeitscht;  Bäume 
züngeln  wie  Flammen;  jeder  Pinselstrich  ist  wie  Aufruhr,  Auf- 
schrei. Dieser  Sturm,  der  da  hinfegt,  ist  ein  Sturm  des  „Herzens", 
seelische  Erschütterung,  die  sich  nur  kraft  dieses  Mediums  mani- 
festiert. In  einem  anderen  Falle  ist  es  etwa  die  ruhige,  abgeklärte 
Weisheit,  welche  die  ganze  Erzählung  durchfließt  und  ihr  Bedeu- 
tungsschwere verleiht.  In  einem  dritten  ist  es  das  erschütternde 
Ringen  um  Wahrheit,  das  sittliche  Pathos,  die  religiöse  Glut, 
welche  die  Formung  des  Stoffes  durchleuchten.  Der  „Stoff"  allein 
wiegt  leicht ;  er  ist  ja  auch  nur  die  Fiktion,  die  jene  Offenbarungen 
ermöglicht.  Sonst  werden  sie  nicht  „ offen" -bart,  und  die  Gesetz- 
lichkeit der  Gestaltung  erstickt  in  einem  brodelnden  Chaos. 

So  haben  wir  auch  hier  jene  drei  Grundstellungen  zur  Rolle, 
zum  Stoff,  die  sich  mannigfach  differenzieren  und  verschlingen: 
das  Formen  „an"  der  Rolle,  „in"  und  „durch"  die  Rolle.  Davon 
hängt  es  ab,  wie  weit  die  Rolle  fertig  übernommen,  wie  weit  sie 
erst  erzeugt  wird.  All  diesen  Verschiedenheiten  entspricht  der 
Fiktionsgrad  der  Rolle,  ihr  Sinn.  Achteten  wir  bisher  in  erster 
Linie  auf  den  Künstler,  ist  doch  ohne  längere  Erwägung  klar 
—  schlechthin  evident  —  daß  diese  Unterschiede  die  objektive 
Gegenständlichkeit  des  Kunstwerks  wesentlich  bestimmen.  Täten 
sie  dies  nicht,  hätten  wir  sie  schwerlich  auffinden  können.  Zum 
Künstler  gelangen  wir  immer  vom  Kunstwerk  geführt.  Seine  Ge- 
staltung gibt  erst  sichere  Leitung.  Ihre  genaue  Analyse  liefert 
demnach  einen  weiteren  Beitrag  zum  Fiktionalismus  in  der  Kunst. 
Diese  Umorientierung  unserer  Betrachtung  wollen  wir  aber  an 
dieser  Stelle  nicht  vornehmen,  denn  sie  liegt  grundsätzlich  klar. 
Auch  ein  Vergleich  mit  den  „Weltanschauungen  der  Malerei",  wie 
sie  Hermann  Nohl  entwickelt,  würde  uns  zu  weit  abführen,  wenn 
auch  sehr  interessante  Parallelen  enthüllen. 


492  Emil  Utitz, 

Wir  kehren  zu  unserem  „Beispiel"  zurück,  um  uns  an  ihm 
noch  ein  Problem  einsichtig  zu  machen,  das  rückwirkend  die  an- 
deren belichtet.  Wie  ist  es,  wenn  ein  Schauspieler  die  Rolle  eines 
ganz  abgefeimten,  niedrigen  Schurken  zu  mimen  hat?  Betätigt 
er  sich  bloß  „an"  der  Rolle,  ergeben  sich  keine  Schwierigkeiten. 
Sie  kann  artistische  Möglichkeiten  erschließen.  Kurz,  ein  Sonder- 
fall scheint  nicht  gegeben.  Der  Mime  wahrt  die  gleiche  Fernstel- 
lung, aus  der  er  auch  sonst  heraus  schafft ;  und  das  Was  der  Fik- 
tion entscheidet  nicht,  nur  das  Wie  ihrer  artistischen  Ausnutzung. 
Widersteht  dem  Schauspieler  innerlich  die  Rolle,  wird  er  —  viel- 
leicht an  sich  anderem  Typus  zugehörig  —  sei  es  triebartig,  sei 
es  verstandesmäßig  hier  diesen  Weg  einschlagen  und  nun  mit  Rou- 
tine, Technik,  Wirkungsberechnung  usw.  arbeiten.  Die  klare  Zwei- 
heit  ist  da;  der  Schauspieler  und  die  Rolle.  Die  abstoßenden 
Eigenschaften  der  Rolle  wird  man  nichts  in  den  Schauspieler  pro- 
jizieren, man  müßte  denn  schon  sehr  naiv  sein.  Aber  nun  findet 
vielleicht  auch  diese  Rolle  inneres  Entgegenkommen ;  eine  Wesens- 
seite des  Schauspielers  wirkt  sich  auch  hier  aus;  er  lebt  also  in 
der  Rolle.  Gewiß,  er  muß  nicht  im  gewöhnlichen  Leben  diese 
Eigenschaften  „wirklich"  haben,  aber  jene  Wesensseite  ist  da, 
knetet  und  formt  die  Rolle,  durchglüht  und  beseelt  sie.  Da  fühlen 
wir  uns  leicht  abgestoßen,  da  werden  wir  empfindlich:  es  ist  „zu 
echt".  Wie  wir  es  auch  auf  einem  Maskenfeste  ablehnen,  wenn 
jemand  eine  „niedrige"  Maske  „zu  echt"  darstellt.  Daß  er  dies 
so  echt  kann,  berührt  uns  peinlich.  Er  verrät  sich  unwillkürlich. 
Daß  er  sogar  diese  Wesensseite  hat,  das  verzeihen  wir  ihm  nicht. 
In  rasender  Sinnlichkeit,  dämonischer  Rachsucht,  verzehrendem 
Machthunger  erleben  wir  kräftige  Vitalität ;  aber  gegen  schmutzige 
Lüsternheit  und  hartherzigen  Greiz  lehnen  wir  uns  auf.  Hier 
scheint  das  Menschliche  geschwächt,  verdunkelt,  fast  erloschen. 
Sicherlich  sind  wir  abhängig  von  Kulturhöhe,  gesellschaftlichem 
Milieu  und  individueller  Sittlichkeit.  Es  ist  ja  auch  bekannt,  daß 
Komik  —  welche  die  einen  zum  schallenden  Gelächter  reizt  — 
andere  anwidert.  Was  die  einen  komisch  finden,  erscheint  anderen 
traurig,  und  es  befremdet  sie,  daß  man  darüber  scherzen  kann. 
Aber:  aus  heitersten  Melodien  schluchzt  zuweilen  geheime  Melan- 
cholie ;  aus  stolzestem  Antlitz  sprechen  Züge  verhaltenen  Leidens ; 
in  wildester  Grausamkeit  weint  manchmal  Schmerz  um  vergeudete 
Güte.  Hier  bahnen  sich  dem  Mimen  neue  Pfade :  er  darf  die  Rolle 
nicht  entfärben,  den  Bösewicht  nicht  abmildern  und  seine  Schärfen 


Zur  „Als-Ob-Theorie"  in  der  Kunstphilosophie.  493 

nicht  glätten;  aber  der  innere  Zusammenklang  erfolgt  nicht  an 
den  Stellen,  wo  nur  das  Negative  in  Frage  steht,  sondern  wo  das 
Positive  schlummert.  Von  diesem  her  wird  die  Gestalt  erhellt 
und  durchleuchtet;  der  Schauspieler  lebt  dann  in  der  Rolle;  aber 
diese  Ich-Seiten  wird  man  ihm  wahrlich  nicht  als  persönliches  Ver- 
schulden buchen,  sondern  als  persönliches  Verdienst.  Natürlich, 
soweit  sie  nicht  den  Eindruck  gespreizter  Eitelkeit  erwecken  oder 
den  absichtlicher  Mache.  Zugleich  kann  sich  aber  damit  das 
Spielen  „in"  der  Rolle  verschieben  zum  Spielen  „durch"  die  Rolle. 
Seine  Menschlichkeit  interpretiert  gleichsam  die  Rolle.  Der  „schöne, 
wertvolle"  Mensch  spielt  den  „häßlichen,  wertlosen" ;  und  Schimmer 
seiner  Schönheit  und  seines  Wertes  breitet  er  noch  über  die  Um- 
nachtung des  anderen.  Im  Organismus  des  Dramas  kann  das  ein 
Fehler  sein;  aber  von  diesen  höchst  verwickelten  Problemen  der 
Regie,  der  Inszenierung  sei  nicht  die  Rede.  Das  Niedrige,  Ge- 
meine, Häßliche  an  sich  hat  niemals  seine  Heimatstätte  in  der 
Kunst;  es  ist  immer  bloß  Dissonanz,  die  sich  irgendwie  löst  in 
Wohllaut.  Nur  daß  eben  im  Theater  jene  Auflösung  durch  die 
Gegenspieler  oder  das  ganze  Stück  kommen  kann.  Da  erwachsen 
die  schwierigsten  Aufgaben. 

Sehr  klar  —  bisweilen  mit  erschreckender  Deutlichkeit  — 
begegnen  wir  jenen  Erscheinungen,  wo  „in"  der  Rolle  oder  „durch" 
die  Rolle  minderwertige  Seiten  sich  offenbaren.  Sie  verlangt  etwa 
„gute  Kinderstube",  das  zwanglos -sichere  Benehmen  eines  Mannes 
der  großen  Welt;  und  sie  wird  herabgedrückt  auf  die  Stufe  klein- 
bürgerlichen Spießertums  mit  schlechten,  steifen  Manieren.  Oder 
sie  erfordert  triebhafte  Leidenschaft,  und  diese  verkehrt  sich  in 
geile  Frivolität.  Was  dort  Sturm  der  Natur  sein  soll,  wird  hier 
unappetitliche  Verworfenheit.  Naivität  wandelt  sich  in  schamlose 
Koketterie.  Das  sind  Gefahren,  die  nicht  nur  den  Mimen  bedrohen, 
sondern  ebenso  den  Dichter.  Er  kann  dumme  Gestalten  darstellen, 
aber  er  darf  nicht  dumm  darstellen.  Er  kann  ordinäre  Personen 
vorführen,  aber  er  darf  nicht  ordinär  sie  vorführen.  Wo  er  dem 
Abwegigen  sich  zuwendet,  entzündet  sich  das  unerbittliche  Streben 
nach  Wahrheit,  souveräne  Lebensweisheit,  nachfühlende  Liebe  zu 
allem  Menschlichen,  selbst  wo  es  in  Fratzen  uns  entgegengrinst, 
erlösende  Komik  oder  erschütternde  Tragik.  So  zeigt  sich  gerade 
auch  hier  die  Bedeutung  des  Fiktiven  „als  Mittel  zur  Erreichung 
höherer  Zwecke",  wie  Vaihingen  sagt.  Doch  sie  selbst  sind  keine 
Fiktionen  mehr. 


494  Emil  Utitz, 

Das  Publikum,  an  das  sich  all  die  so  verschieden  gearteten 
Kunstwerke  wenden,  ist  eigentlich  nicht  jenes,  das  applaudiert 
oder  zischt  —  das  ist  bloß  psychologisches  Ereignis  —  sondern 
der  „ideale  Betrachter",  von  dem  ein  „ideales  Kunst  verhalten" 
erwartet  wird.  Dabei  handelt  es  sich  gewiß  um  „Fiktionen", 
nicht  nur  weil  Kunsterziehung  niemals  jenes  Ziel  zu  erreichen 
vermag,  vielmehr  stets  mit  Annäherungen  sich  begnügen  muß, 
und  daher  hier  Seiendes  und  Sein-sollendes  immer  auseinanderfallen 
werden.  Nein,  der  ideale  Kunstgenuß  (vgl.  wieder  den  ersten  Band 
meiner  „Grundlegung  der  allgemeinen  Kunstwissenschaft"  und  den 
Vortrag  auf  der  Hallenser  Kant-Tagung  1922)  ist  eine  „heuristi- 
sche Abstraktion",  keineswegs  realer  Kunstgenuß.  "Wie  jede  Rolle 
von  jedem  bedeutenden  Schauspieler  anders  gefaßt  wird,  dank 
seiner  menschlichen  und  artistischen  Persönlichkeit,  dank  kultu- 
reller und  nationaler  Besonderheiten,  und  sie  zwar  immer  dasselbe 
Thema  abgibt,  das  aber  in  ständig  erneuter  Variation  erklingt; 
so  verschiebt  sich  auch  die  Wirkung  des  Kunstwerkes  —  ja  dieses 
selbst  —  je  nach  dem  Menschen,  der  jene  in  sich  erfüllt.  Sein 
Charakter,  sein  Milieu,  seine  kulturelle  und  nationale  Zugehörig- 
keit, seine  sittliche  und  künstlerische  Reife  sind  da  mitbestim- 
mend. Dieses  innere  Verhältnis  zwischen  Kunstwerk  und  Kunst- 
genießer —  vergleichbar  dem  zwischen  Schauspieler  und  Rolle  — 
schafft  erst  lebendige  Wechselbeziehung,  macht  hellsichtig  für  be- 
stimmte Qualitäten  des  Kunstwerkes,  während  anderen  gegenüber 
Blindheit  herrscht.  Wissenschaftliche  Forschung  mag  und  muß 
diese  subjektiven  „Fehlerquellen"  abbauen  und  wegräumen;  ihre 
Aufgabe  ist  es,  sie  zu  „erklären"  aus  persönlichen  oder  irgendwie 
typischen  Faktoren.  Aber  die  nackten  Formeln,  die  sie  übrig 
läßt,  sind  nur  ein  Gerippe,  gewiß  nicht  lebendiger  Kunstbetrieb 
und  wirklicher  Kunstgenuß.  Doch  ist  es  durchaus  berechtigt,  „an- 
gemessenes" und  „nicht  angemessenes"  Kunstverhalten  zu  scheiden. 
Letzteres  geht  an  der  Formung  des  Kunstwerkes  und  den  in  ihr 
beschlossenen,  durch  sie  erzeugten  Werten  achtlos  vorüber;  es 
genießt  entweder  rein  subjektive  Reaktionen  (z.B.  liebe  Erinne- 
rungen an  gefühlsumrauschte  Landschaften  und  Situationen)  oder 
das  Fiktiv-Stoffliche  als  Real-Geltendes ;  oder  es  stiftet  dem  Kunst- 
werk gegenüber  irrige  Zusammenhänge.  Der  angemessene  Kunst- 
genuß quillt  aber  aus  inneren:  Zusaramenprall  mit  dem  Kunstwerk  ; 
seine  gestalteten  Werte  werdend  riebt  —  nicht  nur  gedacht,  ge- 
meint,  verstanden  —  weil  verwandte  Aufgeschlossenheit  sie   em- 


Zur  „Als-Ob- Theorie"  in  der  Kunstphilosophie.  495 

pfängt.  Damit  werden  sie  aber  in  einer  besonderen  Weise  erlebt  ; 
und  diese  Besonderheit  abstreifen  zu  wollen,  hieße  das  volle  Er- 
leben entfärben  oder  gar  zerstören.  Das  ist  —  man  mag  dies 
bewundern  oder  beklagen  —  unerläßliche  Aufgabe  der  Wissen- 
schaft ;  denn  sie  kann  mit  dem  bloßen  Erleben  sich  nicht  begnügen. 
Umso  deutlicher  wird  der  Fiktionscharakter  des  idealen  Kunst- 
genusses: seine  reale  Unmöglichkeit,  die  nicht  letzte  Zielsetzung 
bedeutet.  Ihn  umweht  Nüchternheit,  Kälte,  Sachlichkeit  der  Wis- 
senschaft. Wer  diesem  Typus  in  seinem  Kunstverhalten  sich  nä- 
hert, dessen  Kunstverhalten  ist  kein  voll  dahinströmender,  aus 
tiefen  Ichquellen  rauschender  und  in  sich  wieder  zurückströmender 
Kunstgenuß.  Hier  erglänzt  keine  Seligkeit  und  hier  wuchtet  nicht 
letzte  Erschütterung. 

So  glaube  ich,  daß  wir  nach  verschiedenen  Richtungen  hin 
Bedeutung  und  Geltung  der  Fiktionen  innerhalb  der  Kunst  und 
Kunstphilosophie  verfolgen  konnten,  und  daß  der  heuristische  Wert 
solcher  Betrachtungsweise  wahrlich  nicht  gering  ist.  Ihre  Vor- 
züge werden  sich  erst  erweisen,  wenn  sie  nicht  in  dürrer  Pro- 
grammatik verharrt;  sie  lädt  im  Gregenteil  dazu  ein,  in  feinsten 
Differenzierungen  die  fraglichen  Sachverhalte  zu  schattieren.  Doch 
handelt  es  sich  dabei  nicht  um  Detail,  sondern  um  Grundprobleme 
von  entscheidendem  Gewicht.  Die  Kunstphilosophie  hat  es  bisher 
verabsäumt,  Vaihingers  Anregungen  aufzugreifen  und  zu  verwerten. 
Die  wenigen  Versuche,  die  unternommen  wurden,  sind  mißglückt 
und  haben  der  Theorie  mehr  geschadet  als  genützt.  Ihren  posi- 
tiven Kern  herauszustellen  —  wenn  auch  nur  andeutungsweise  — 
waren  Zweck  und  Ziel  dieses  Aufsatzes. 


Realismus  und  Positivismus. 

Von  Ernst  v.  Aster,  Gießen. 


Die  Erkenntnistheorie,  die  sich  in  enger  Berührung  mit  der 
mathematischen  Physik  auf  der  einen  Seite,  unter  Rückgang  auf 
Kantische  Ideen  auf  der  anderen  Seite  in  den  90  Jahren  des  ver- 
gangenen Jahrhunderts  etwa  entwickelte,  war  vorwiegend  positi- 
vistisch und  idealistisch.  Heute  sind  wir  offenbar  in  einer  nicht 
unbedeutenden  entgegengesetzten,  realistischen  Strömung,  der  auch 
eine  Reihe  von  bedeutenden  Physikern  nahe  steht  (Planck  u.  a.), 
obgleich  die  an  Mach  und  Kirchhoff  sich  knüpfende  phänomena- 
listische  Tradition  in  der  Physik  keineswegs  erloschen  ist.  In  der 
philosophischen  Literatur  hat  diese  realistische  Erkenntnistheorie 
ihre  hervorragendsten  Vertreter  in  Volkelt  und  Külpe  gefunden, 
zugleich  spinnen  sich  Fäden  zwischen  ihr  und  der  Phänomenologen- 
schule.  Letzteres  aus  naheliegenden  Gründen,  obgleich  Husserl 
selbst  in  der  bekannten  Abhandlung  im  1.  Band  des  phänomeno- 
gischen  Jahrbuchs  sich  bezüglich  der  Körperwelt  auf  Grund  einer 
scharfsinnigen  Analyse  auf  einen  idealistischen  Standpunkt  stellt 
(der  Körper  ist  wesensgesetzlich  auf  ein  ihn  in  abschattenden 
"Wahrnehmungen  erfassendes  Bewußtsein  bezogen):  Wenn  der  Re- 
alismus möglich  sein  soll,  so  muß  er  voraussetzen,  daß  es  nicht 
nur  „Bewußtseinsinhalte"  gibt,  sondern  auch  Gegenstände 
für  ein  Bewußtsein;  oder  daß  Bewußtsein,  Wissen,  nicht  ein  ab- 
straktes Merkmal  von  Inhalten,  von  Lockeschen  Ideen,  sondern 
ein  intentionales  Bezogensein  auf  Gegenstände  ist,  welche 
Gegenstände  danach  prinzipiell  auch  ohne  diese  Beziehung  zu  einer 
solchen  Intention  als  seiend  gedacht  werden  können,  während  eine 
„Idee"  Lockes  oder  Berkeleys  nicht  ohne  das  Merkmal  des  bewußt 
(==  Idee)seins  denkbar  ist.  Daß  Bewußtsein  ein  intentionaler  Akt 
ist,  ist  ja  aber  die  Grundbehauptung  der  Phänomenologie. 

Die  Absicht  der  folgenden  Ausführungen  nun  ist  es,  die  Haupt- 
argumente, in  denen  die  Widerlegung  des  Phänomenalismus  durch 


Ernst  v  Aster,  Realismus  und  Positivismus.  497 

Volkelt  und  Külpe  zu  gipfeln  scheint,  hervorzuheben  und  die  Frage 
zn  erörtern,  ob  sie  als  Widerlegung  einer  positivistischen  Erkennt- 
nistheorie wirklich  zwingend  sind.  Die  These  der  positivistischen 
Erkenntnistheorie  fasse  ich  kurz  in  den  Satz  zusammen:  Jeder 
Versuch,  uns  endgiltig  und  letztlich  die  Gegenstände,  von  denen 
wir  überhaupt  handeln,  die  wir  denken  können,  inhaltlich  oder 
sachlich  vorzustellen,  also  sie  nicht  nur  in  leeren  Worten  zu  be- 
zeichnen, endet  in  der  Vorstellung  von  Inhalten,  die  wir  nur  als 
Inhalte  eines  individuellen  Bewußtseinslebens  vorzustellen  vermögen. 
Alle  Worte,  die  nicht  solche  'Inhalte  bezeichnen,  sind  bei  genauerer 
Betrachtung  „leer",  d.  h.  ihre  Beziehung  auf  Gegenstände,  die  sie 
bezeichnen  oder  benennen  sollen,  ist  fiktiv.  Ich  füge  jedoch  aus- 
drücklich hinzu,  dass  der  genaue  Sinn  dieser  These  sich  erst  in 
der  folgenden  Begründung  derselben  ergeben  muß. 

In  drei  Hauptargumenten  scheint  sich  mir  die  Kritik  Volkelts 
und  Külpes  zusammenzufassen.  Das  erste  betrifft  den  Begriff  des 
Gegebenen,  den  der  Positivismus  vorauszusetzen  genötigt  ist. 
Das,  was  der  Positivist  als  „gegeben"  und  damit  als  im  eigent- 
lichen Sinn  existierend  annehme  und  annehmen  müsse,  sei  selbst 
schon  das  Resultat  einer  gedanklichen  Verarbeitung  und  keineswegs 
die  unmittelbare  Bewußtseinswirklichkeit,  es  sei  selbst  ein  Reales, 
realiter  existierende  Ideen,  die  da  sind  auch  ohne  daß  sie  gedacht 
werden.  „Die  einzige  unbestreitbare  Grundlage  aller  empirischen 
Wissenschaften  ist  die  Bewußtseinswirklichkeit  nur  insofern,  als 
sie  das  Material  darstellt,  vor  dem  alle  empirische  Forschung 
ausgeht.  Für  sich  allein  aber  kann  sie  keine  Wissenschaft  zustande 
bringen.  Erkenntnis,  wie  sie  schon  in  den  einfachsten  Urteilen 
einer  Erfahrungswissenschaft  niedergelegt  ist,  läßt  sich  nicht  rest- 
los und  adäquat  auf  Bestandteile  jener  Wirklichkeit  zurückführen, 
sondern  hängt  nur  irgendwie  von  ihr  ab.  Die  Methoden  der  For- 
schung zeigen  gleichfalls  in  ihrer  ungeheuren  Mannigfaltigkeit,  daß 
sehr  verschiedene  Operationen  eingeschlagen  werden,  um  das  Ge- 
gebene zu  einem  Besitz  der  Wissenschaft  zu  machen.  Alle  diese 
Operationen  gehören  somit  auch  zu  den  Grundlagen  der  empirischen 
Wissenschaften.  Ohne  Beobachtung,  ohne  Schlüsse,  ohne  Abstraktion 
und  Kombination,  ohne  Analyse  und  Kritik  sind  die  Bewußtseins- 
tatsachen für  die  Realwissenschaften  unverwendbar.  Diese  Ope- 
rationen führen  alsbald  zu  Gegenständen." 

Nebenbei  bemerkt :  Külpe  berührt  sich  in  diesem  Gedankengang 
mit  dem  Neukantianismus  Marburger  Richtung.   Auch  er  anerkennt 


498  Ernst  v.  Aster, 

ja  kein  Gegebenes  im  Sinn  des  Positivismus,  sondern  nimmt  dies 
„Gregebene"  selbst  als  Produkt  eines  objektivierenden  Erkenntnis- 
prozesses, an  dessen  Anfang  kein  für  sich  faßbares  Gegebenes, 
sondern  ein  hypothetisches  „Aufgegebenes"  steht  und  der  in  gerad- 
liniger Fortsetzung  gleichsam  vom  „gegebenen"  „Dies"  zum  beharr- 
lichen Ding  und  weiter  zum  gültigen  Naturgesetz  führt.  Der  obigen 
Kritik  Külpes  würde  sich  also  auch  der  Neukantianismus  anschließen, 
nur  daß  für  ihn  „gegebener"  Wahrnehmungsinhalt  und  „reales" 
Ding  nur  als  Produkte  jenes  Objektivationsprozesses  gedacht 
werden  können  (das  Denken  ein  Schaffen  von  Gegenständen  ist), 
während  für  Külpe  der  Realisierungsprozeß  ein  Reflexionsprozeß 
ist,  der  aus  der  unmittelbaren  Erfahrung  fixierbare  Inhalte  heraus- 
schält, die  dann  aber  als  „real"  auch  unabhängig  vom  Realisierungs- 
prozeß selbst  gedacht  werden. 

Mit  dieser  Kritik  des  Gegebenheitsbegriffes  hängt 
ein  zweites  Argument  eng  zusammen,  das  ich  als  Kritik  des 
Immanenzgedankens  bezeichne.  Ist  alle  Existenz  eine  Existenz 
unmittelbar  gegebener  Inhalte  im  Bewußtsein  und  alles  Hinaus- 
gehen des  Denkens  und  Erkennens  über  diese  Inhalte  unmöglich, 
so  ist  der  Solipsismus,  ja  noch  mehr:  der  Illusionismus  in  Bezug 
auf  die  eigne  Erinnerung  und  Erwartung  die  notwendige  Konse- 
quenz. Fremdes  Bewußtsein,  eigne  Vergangenheit  und  Zukunft 
sind  meinem  Augenblicksbewußtsein  transzendente  Realitäten, 
werden  also  mit  aller  Transzendenz  zugleich  aufgehoben. 

Endlich  das  3.  Hauptargument:  Das  menschliche  Denken  ist 
zur  Setzung  von  Realitäten  gezwungen,  weil  ohnedem  nur  ein 
zusammenhangloses,  lückenhaftes,  gesetzloses  Chaos  als  „Wirklich- 
keit" übrig  bliebe.  Auch  nach  dem  Realismus  soll  die  Wissen- 
schaft /Jie  Gesetze  der  „Inhalte"  entdecken,  aber  die  Inhalte  des 
Bewußtseins  rein  als  solche  genommen  sind  gar  nicht  gesetzmäßig, 
sondern  werden  es  für  unser  Bewußtsein  erst,  wenn  wir  sie  in  eine 
sie  weit  überragende  reale  Welt  gleichsam  einbauen.' 

Der  erste  Einwand  kann  und  muß  zum  Anlaß  dienen,  den 
Begriff  des  „Gegebenen"  genauer  zu  fixieren.  Wir  stellen  zu  diesem 
Zweck  zunächst  das  Gegebene  dem  nur  symbolisch,  dem  nur  in 
Wortbedeutung  Gemeinten  gegenüber.  Ich  kann  einmal  von  einem 
Gegenstand  nur  sprechen,  ihn  nur  nennen,  ein  andres  Mal  ihn 
selbst  vor  Augen  haben.  Ein  Gegenstand  kann  gegenwärtig  — 
selbstgegeben  —  ohne  genannt,  er  kann  genannt  ohne  gegeben,  er 
kann  endlich  zugleich  genannt  und  gegeben  sein,  d.  h.  das  gebrauchte 


Realismus  und  Positivismus.  499 

Wortsymbol  kann  sich  nennend  auf  ein  „Gregebenes",  Selbstgegen- 
wärtiges beziehen.  In  dem  letzteren  Fall  ist  uns  der  Anlaß  ge- 
geben, eben  das  mit  dem  "Wort  (oder  der  Wortverbindung)  x  Ge- 
meinte als  „gegeben",  oder  das  „Gegebene"  als  eben  das  mit  dem 
Wort  x  „Gemeinte",  als  seinen  Sinn  zu  bezeichnen. 

Bei  jedem  Wort  können  und  müssen  wir  nach  seiner  Bedeutung 
fragen.  Eben  diese  Frage  verlangt  letzten  Endes,  den  Gegenstand 
selbst  an  die  Stelle  des  ihn  vertretenden  Symbols  zu  setzen, 
verlangt  also  ein  Nebeneinander  von  Wort  und  gegebenem 
Gegenstand,  der  durch  das  Wort  benannt  wird.  Umgekehrt:  setze 
ich  zu  einem  Gegebenen  ein  sprachliches  Symbol  in  diese  Beziehung, 
die  das  Symbol  zum  Namen  des  Gegebenen  macht,  so  ist  dieses 
sprachliche  Symbol  damit  seiner  Bedeutung  nach  für  mich  ein- 
deutig festgelegt. 

Das  Gesagte  bedarf  nun  einer  doppelten  Ergänzung.  Ich 
sehe  einmal  eine  Farbe,  ein  anderes  Mal  nenne  ich  sie  nur,  ein 
drittes  Mal  erinnere  ich  mich  ihrer,  erwarte  sie,  stelle  sie  vor. 
Das  Erinnerungs-  oder  Phantasiebild,  das  ich  in  diesem  Fall  vor 
mir  habe,  ist  wie  das  Wort  etwas,  mit  dem  ein  anderes  (im  Er- 
innerungsbild das  früher  Dagewesene)  gemeint  ist,  also  ein  Symbol, 
das  eine  Bedeutung  hat,  aber  es  ist  kein  künstliches  und  ver- 
tretendes Symbol,  wie  das  Wort,  sondern  ein  natürliches  und  dar- 
stellendes Symbol,  ein  Symbol,  durch  das  eben  damit  das  Gemeinte 
nicht  nur  symbolisch  gemeint,  sondern  „mittelbar  gegeben" 
ist.  Diese  Bezeichnungen,  die  ich  im  Wesentlichen  der  Erkennt- 
nistheorie von  H.  Cornelius  entnehme,  bedürfen  wol  keiner  näheren 
Erläuterung.  Zweitens:  Gegenstände  können  nur  symbolisch  ge- 
meint, sie  können  unmittelbar  und  mittelbar  gegeben,  sie  können 
endlich  noch  durch  ihreRelationen  zu  anderen  Gegen- 
ständen bestimmt  sein.  Ich  denke  einen  Gegenstand  x,  der 
einem  andern,  mittelbar  oder  unmittelbar  gegebenen  a  zeitlich 
folgt  oder  ich  denke  einen  Gegenstand  x,  der  einem  gegebenen  a 
ähnlich  oder  von  ihm  verschieden  sein  soll.  Was  ich  mir  hier  be- 
wußt vergegenwärtige,  ist  das  a  mit  einer  sich  an  dasselbe 
schließenden,  in  einem  zweiten  Glied  Erfüllung  ver- 
langenden Relation,  ich  meine  einen  Gegenstand,  der  diese 
Relation  erfüllen  oder  zu  dem  der  von  dem  a  ausgehende  Relations- 
schritt führen  würde.  Dieser  letzte  Fall  steht  in  gewisser  Weise 
zwischen  dem  des  bloß  symbolischen  Meinens  und  dem  des  mittel- 
baren  Vorstellens.     Mittelbar  (oder   unmittelbar)    vorgestellt   ist 


500  Ernst  v.  Aster, 

das  a  und  die  Relation,  der  Schritt,  wie  ich  es  eben  nannte,  um 
es  im  Beispiel  zu  sagen :  das  sich  abheben  und  in  Gegensatz  treten 
und  wiederum  das  sich  einfügen  und  gleichmäßige  Fortgleiten  des 
Bewußtseins,  das  ich  erlebe,  wenn  ich  von  einem  Gegenstand  ein- 
mal zu  einem  verschiedenen,  ein  andres  Mal  zu  einem  ähnlichen 
übergehe.  Der  Gegenstand  selbst  aber,  zu  dem  dieser  Schritt 
führt,  ist  nur  genannt  oder  symbolisch  gemeint.  Die  Relationen 
selbst  aber  zerfallen  wieder  in  zwei  Gruppen,  nämlich  solche,  die 
zu  einem  Vorstellen  des  gedachten  Gegenstandes  hinführen  können 
und  solche,  bei  denen  das  nicht  der  Fall  ist.  "Weiß  ich,  der  ge- 
meinte Gegenstand  x  ist  einem  mir  bekannten  a  gleich  oder  doppelt 
so  groß  als  a  (und  im  übrigen  a  gleich),  so  ist  mir  in  dieser  Be- 
stimmung zugleich  die  Möglichkeit,  x  vorzustellen  oder  mir  mittel- 
bar, in  einem  Phantasiebild  zur  Gegebenheit  zu  bringen  geboten; 
dagegen  bietet  mir  die  Bestimmung  des  x  als  eines  dem  a  zeitlich 
folgenden  oder  voraufgehenden  keine  solche  Möglichkeit. 

"Wir  haben  also  zu  unterscheiden :  das  unmittelbare  oder  Selbst- 
gegebensein, das  mittelbare  (durch  ein  darstellendes  Vorstellungs- 
bild)  Gegebensein  eines  Gegenstandes,  das  denkende  Bestimmen 
(durch  Relationen)  und  das  nur  symbolische  Meinen  desselben.  Die 
Frage  nach  dem  „"Was"  eines  Gegenstandes  findet  sozusagen  ihre 
endgiltig  befriedigende  Antwort  erst  im  Selbstgegebensein,  alle 
andern  Formen  der  Vergegenwärtigung  sind  eine  Vergegenwärti- 
gung durch  Mittel,  also  durch  Symbole,  die  schließlich  auf 
ein  Selbstgegebenes  zurück-  (oder  vor-)  weisen.  Ein  scharfer  und 
wesentlicher  Unterschied  aber  besteht  zwischen  denjenigen  Mitteln 
oder  Symbolen,  die,  weil  sie  den  betreffenden  Gegenstand  direkt 
(Vorstellungsbild)  oder  indirekt  (Gleichheits-,  mathematische  Ahnlich- 
keitsrelation)  zur  Darstellung  bringen,  geeignet  sind,  ihn  kennen 
zu  lernen,  und  denjenigen,  die  nur  auf  ihn  hinweisen  oder  ihn 
vertreten  (bloße  äußerliche  Zusammenhangsrelation,  "Wortsymbol). 
Man  kann  hier  noch  die  Frage  stellen,  ob  nicht  auch  der  Gegen- 
stand, den  wir  nur  symbolisch,  durch  ein  "Wort  meinen,  von  uns 
„gedacht",  wenn  auch  „unanschaulich"  gedacht  sei.  In  ganz  be- 
stimmtem Sinn  ist  das  zuzugeben,  wir  können  nämlich  den  Fall 
des  nur  symbolischen  Meinens  unter  den  des  durch  Relationen 
bestimmenden  Denkens  einreihen.  Der  Gegenstand  „A"  ist  dann 
eben  von  uns  bestimmt  als  der  Gegenstand,  der  zu  dem  Wort  A 
in  der  bekannten  Beziehung  des  durch  A  benanntseins  steht  oder 
als  der  Gegenstand,  dem  das  Wort  A  in  der  "Weise  seines  Namens 


Eealismus  und  Positivismus.  501 

(Eigennamens)  aufliegt.  Es  ist  indessen  ohne  weiteres  klar,  daß 
die  Beziehung,  durch  die  der  Gegenstand  hier  gedacht  wird,  keine 
darstellende  oder  zu  einer  solchen  führende  Beziehung  ist.  Wir 
wissen  bei  einem  Wort,  das  wir  „sinnvoll",  d.  h.  in  der  Über- 
zeugung, daß  ihm  ein  Sinn  zukommt,  gebrauchen,  nicht  einmal,  ob 
es  einen  solchen  Gegenstand  wirklich  gibt.  Wir  brauchen  Worte, 
glauben  einen  Sinn  damit  zu  verbinden  und  merken  erst  nach- 
träglich, daß  das  gebrauchte  Wort  völlig  inhaltsleer  für  uns  war. 

Dem  „Selbstgegebenen"  stehen  die  verschiedenen  Formen  des 
„Gemeinten"  gegenüber,  dem  nur  Gemeinten  die  verschiedenen 
Formen  des  mittelbar  und  unmittelbar  Gegebenen.  Nun  gründet 
in  dem  Unterschied  des  Gegebenen  und  Gemeinten  noch  eine 
wichtige  Beziehung.  Ich  stelle  etwas  vor,  dessen  Eintritt  ich  er- 
warte und  jetzt  tritt  das  Erwartete  ein  und  zwar  so,  wie  ich  es 
erwartete.  Meine  Erwartung  „erfüllt"  sich.  Dann  habe  ich  das 
Bewußtsein,  daß  das  von  mir  Erwartete  eben  dasselbe  ist,  das 
ich  jetzt  wahrnehme,  das  Bewußtsein  einer  Identität.  Identisch 
ist  das  jetzt  Selbstgegebene  und  —  nicht  mein  Vorstellungsbild, 
aber  —  das  im  Vorstellungsbild  Gemeinte  und  eben  diese  Identität 
erlebe  ich  in  dem  Zusammenfallen,  dem  zur  Deckung  kommen  der 
Vor  stellungsintention  und  des  selbstgegebenen  Gegenstandes. 
Ebenso:  ich  suche  unter  einer  Gruppe  von  Gegenständen  einen 
bestimmten,  der  einem  vorgegebenen  Gegenstand  gleich  sein  soll; 
habe  ich  ihn  gefunden,  so  habe  ich  das  Bewußtsein,  es  sei  eben 
derselbe,  den  ich  suche;  die  intendierende  Relation  erfüllt  sich 
in  jenem  Inhalt.  Endlich:  das  Wort  fügt  sich  als  Name  einem 
selbstgegebenen  Gegenstande  an;  auch  hier  besteht  Identität,  der 
Gegenstand  ist  eben  dasselbe,  wie  das  im  Wort  Gemeinte.  Iden- 
tität ist  uns  da  und  nur  da  gegeben,  wo  wie  in  allen  diesen  Fällen 
eine  Intention  sich  in  einem  Inhalt  erfüllt.  Es  wird  auf  diesen 
Punkt  noch  zurückzukommen  sein. 

Alle  Erkenntnis  muß  ausgehen  vom  „Gegebenen"  —  diese 
Forderung  bedeutet  nach  dem  Ausgeführten  nichts  andres  als :  alle 
Erkenntnis  darf  nicht  ausgehen  von  Worten,  sondern  von  dem 
mittelbar  oder  unmittelbar  zur  Gegebenheit  gebrachten  Sinn  der 
Worte. 

Fassen  wir  noch  einmal  zusammen:  was  ein  „gegebener" 
Tatbestand  ist,  erkennen  wir,  wenn  wir  uns  eine  gesehene  Farbe 
und  Form,  einen  gehörten  Ton,  ein  erlebtes  Gefühl  vergegen- 
wärtigen und  auf  das  Gemeinsame  dieser  Dinge  achten  im  Unter- 

Kantstudien.    XXVII.  33 


502  Ernst  v.  Aster, 

schied  zu  dem  Fall,  daß  wir  von  den  genannten  Tatsachen  nur 
sprechen.  Diese  Festlegung  des  Begriffs  „gegeben"  ist  ganz  analog 
derjenigen  Art,  wie  wir  einen  Begriff  wie  Farbe,  oder  rot  oder 
süß  fixieren  (wir  haben  in  dem  obigen  Hinweis  was  das  Wort 
„gegeben"  bedeuten  soll,  selbst  zur  Gregebenheit  gebracht).  Nicht 
was  Gegebenheit  überhaupt  bedeutet,  sondern  nur  noch  was  in 
einem  bestimmten  Fall  tatsächlich  gegeben  oder  nicht  gegeben  ist, 
kann  jetzt  umstritten  sein,  oder  was  dasselbe  bedeutet:  wie  das 
in  einem  solchen  Fall  Gregebene  genau  zu  beschreiben  ist.  Hier 
kommt  dann  die  von  uns  hervorgehobene  Frage  zur  Behandlung, 
ob  wirklich  die  von  uns  zur  Beschreibung  des  Gregebenen  ge- 
brauchten Worte  in  dem  Gregebenen  selbst  zur  identischen  Er- 
füllung kommen. 

Stellt  man  sich  nun  die  Aufgabe,  das  in  einem  bestimmten 
Augenblick  oder  Zusammenhang  unmittelbar  Gregebene  zu  be- 
schreiben, so  entsteht  eine  besondere  Schwierigkeit,  die  zu  dem 
ersten  Argument  Külpes  führt.  Etwas  beschreiben  und  bestimmen 
heißt:  es  „beobachten",  „abgrenzen",  „vergleichen",  kurz  jene 
Tätigkeiten  üben,  von  denen  Külpe  in  der  angezogenen  Stelle 
spricht.  Wenn  ich  nun  etwa  die  Wahrnehmungen,  Empfindungen, 
Gefühle  meines  Gesamtbewußtseins  in  einem  bestimmten  Augenblick 
in  dieser  Weise  analysiere :  darf  ich  dann  nachträglich  behaupten, 
daß  mir  im  Moment  vorher  eben  das  gegeben  sei,  was  mir  die 
nachfolgende  Analyse  zeigt,  und  eben  so,  wie  sie  es  mir  zeigt? 
Hat  nicht  vielmehr  die  Analyse  selbst  das  im  Bewußtsein  Gegebene 
verändert  bezw.  setzt  nicht  die  Behauptung,  daß  das  „Gegebene" 
so  und  so  näher  zu  bestimmen  sei,  ein  andres  an  die  Stelle  des 
eigentlich  „Gegebenen",  ist  nicht  jenes  Beschreiben  ein  „Objekti- 
vieren" im  Sinne  des  Setzens  gedachter  Objekte?  Darauf  ist  nun 
m.  M.  u.  Folgendes  zu  erwidern.  Erstens :  Es  ist  sicherlich  unzu- 
lässig, das  Ergebnis  einer  nachträglichen  Analyse  ohne  Weiteres 
zur  Beschreibung  eines  vorgängigen  gegebenen  Tatbestandes  zu 
verwenden.  Mir  sind  zwei  Strecken  in  der  Wahrnehmung  gegeben, 
in  vergleichender  Einstellung  geben  sie  sich  mir  nachträglich  als 
gleich  —  dann  darf  ich  darum  nicht  sagen,  daß  mir  vorher  zwei 
gleiche  Strecken  gegeben  gewesen  seien,  es  sei  denn,  daß  diese 
Behauptung  nur  ein  andrer  Ausdruck  dafür  ist,  es  habe  sich  um 
zwei  Strecken  gehandelt,  an  die  sich  nachher,  unter  bestimmten 
weiteren  Bedingungen  ein  Gleichheitsbewußtsein  geheftet  habe 
(auch  diese  Beschreibung  bedarf  indessen  noch  einer  näheren,  gleich 


Realismus  und  Positivismus.  503 

zu  gebenden  Erläuterung).  Zweitens:  Auf  der  andern  Seite  aber 
ist  zu  betonen,  daß  nie  ein  Inhalt  gegeben  ist,  ohne  daß  er  zu- 
gleich auch  in  gewisser  Weise  von  seiner  Umgebung  abgehoben 
(„unterschieden")  und  mit  ihr  verglichen  (als  ähnlich  und  gleich 
erkannt)  wäre,  genau  so  wie  kein  Inhalt  gegeben  sein  kann,  ohne 
mehr  oder  weniger  „einer"  und  mehr  oder  weniger  ein  „Mannig- 
faltiges" zu  sein.^  Einheit  und  Vielheit,  Ähnlichkeit  und  Ver- 
schiedenheit sind  mit  allem  Gregebenen  mitgegeben,  sie  sind 
„Formen"  des  Gegebenen  überhaupt.  Man  lasse  einen  Inhalt  sich 
weniger  und  weniger  von  seiner  Umgebung  abheben  —  was  ist 
die  Folge?  Er  verschwindet  in  dieser  Umgebung,  er  ist  als  dieser 
Inhalt  auch  gar  nicht  mehr  gegeben.  Alles  Gregebene  ist  also 
innerhalb  gewisser  Grenzen  zugleich  ein  „Beurteiltes"  in  diesem 
ganz  bestimmten  Sinn  des  Verglichenen  und  Unterschiedenen.  Das 
nur  Gegebene,  „vor"  aller  Beurteilung,  die  „reine  Empfindung" 
wäre  in  der  Tat  ein  hypothetisch  Angenommenes,  also  eben  nicht 
mehr  gegeben.  Dafür  können  wir  auch  sagen:  Alles  Gegebene  ist 
ein  „Objekt",  ein  „Objektiviertes",  wenn  wir  unter  einem  Objekt 
etwas  verstehen,  das  verglichen,  unterschieden,  in  sich  bestimmt 
ist.  Aber  alles  Gegebene  ist  auch  nur  mehr  oder  weniger  Objekt: 
eine  gefärbte  geometrische  Figur,  die  ich  sehe,  ist  in  höherem 
Grade  Bewußtseinsobjekt,  d.  h.  bestimmt  sich  abgrenzender,  durch 
bestimmte  Eelationen  mit  anderem  Gegebenen  verknüpfter  einheit- 
licher Inhalt,  als  etwa  ein  diffuser  Schmerz  im  Innern  unseres 
Körpers  oder  gar  als  ein  „Erlebnis"  der  Freude  oder  der  Trauer. 
Dem  gegebenen  Objekt,  das  sich  abgrenzt  und  schärfer  oder 
weniger  scharf  abhebt,  steht  hier  gegenüber  die  fließendePhase 
eines  Ganzen,  die  in  dies  Ganze  ohne  Grenze  verläuft  und  andern 
„Teilen"  dieses  Ganzen  nicht  in  der  Weise  des  Gleichen  oder  Ver- 
schiedenen gegenübersteht.  Dem  Wahrgenommensein  jenes  Objekts 
unter  andern  Objekten  entspricht  das  „Erlebtsein"  einer  solchen 
Phase  eines  Erlebnisstroms,  eines  subjektiven  Erlebnisstroms, 
wie  wir  nun  auch  sagen  können.  Der  Gegensatz  des  Subjektiven 
und  Objektiven  ist  aber  hier,  wie  nochmals  hervorgehoben  sei,  kein 
absoluter,  sondern  ein  fließender  und  relativer :  auch  ein  Gefühl 
ist  indem  es  erlebt  wird,  innerhalb  gewisser  Grenzen  als  dieser 
bestimmte  Inhalt  erlebt,  d.  h.  verglichen  und  unterschieden;  Sub- 
jekt und  Objekt,  das  Erlebte  und  das  Wahrgenommene,  sind  nicht 
zwei  Sphären,  sondern  zwei  Pole  des  Gegebenen;  das  nur  Objektive 
wie  das  nur  Subjektive  ein  Grenzbegriff  im  Sinne  der  Neukantianer. 

33* 


504  Ernst  v.  Aster, 

Endlich  fügt  sich  hier  nun  noch  ein  dritter  Punkt  ein.  Dürfen 
wir  mit  Sinn  sagen,  daß  „derselbe"  Inhalt  einmal  erlebt  und 
einmal  wahrgenommen  sei?  Oder  daß  er  einmal  so  und  einmal 
anders  aufgefaßt  und  beurteilt  sei?  Diese  Ausdrucksweise  hat 
einen  bestimmten  Sinn,  aber  man  muß  sich  über  denselben  klar 
sein.  Ich  erlebe  einen  bohrenden  Zahnschmerz  und  dann  mache 
ich  mir  diesen  Zahnschmerz  gegenständlich,  vergleiche,  beurteile 
ihn.  Dann  muß  ich  sagen,  daß  hier  das  Gregebene  im  ersten  und 
zweiten  Moment  ein  verschiedenes  war.  Aber:  es  hoben  sich  hier 
nicht  zwei  Inhalte  scharf  gegeneinander  ab,  wie  dann,  wenn  ich 
erst  einen  hohen,  dann  plötzlich  einen  tiefen  Ton  höre,  sondern 
die  zwei  Inhalte  werden  als  Phasen  eines  Stromes  erlebt,  es  sind 
nicht  zwei  verschiedene,  sondern  es  ist  ein  sich  ver- 
ändernder Inhalt  da.  Ein  andres  Beispiel:  ich  betrachte  ein 
auf  Papier  gezeichnetes  Quadrat  und  hebe  bald  die  eine,  bald  die 
andre  Seite,  bald  die  Fläche  besonders  „beachtend"  hervor,  bald 
sehe  ich  das  Quadrat  auf  der  einen,  bald  auf  der  andern  Seite 
„stehend"  usw.  Dann  habe  ich  das  Bewußtsein,  daß  ich  hier  nicht 
mehrere,  sondern  einen  G-egenstand,  dasselbe  Rechteck  sehe,  nur 
in  verschiedener  Auffassung.  Aber  ist  es  nun  möglich,  irgend 
einen  dieser  Inhalte  herauszugreifen  und  von  ihm  zu  sagen,  daß 
er  das  Rechteck  selbst  sei,  das  in  den  verschiedenen  andern  Wahr- 
nehmungen nur  gemeint  wäre  ?  Offenbar  nicht,  das  Wahrnehmungs- 
bild eines  Quadrats  kann  mir  ebenso  wenig  ohne  ein  bestimmtes 
„Beachtungsrelief"  gegeben  sein,  wie  ein  Haus  von  mir  wahr- 
genommen werden  kann,  ohne  von  einem  bestimmten  Standpunkt 
und  entweder  von  vorn  oder  von  hinten  oder  von  einer  Seite 
wahrgenommen  zu  sein.  Aber  auch  wenn  ich  um  das  Haus  herum- 
gehe und  es  betrachte,  ist  mir  nur  „ein  Objekt"  und  innerhalb 
desselben  sich  wandelnde  Phasen,  nicht  eine  Summe  von  Inhalten 
gegeben. 

Kehren  wir  nun  noch  einmal  zu  einem  vorher  erwähnten  Fall 
zurück :  wir  sehen  eine  Figur,  in  der  zwei  Strecken  enthalten  sind 
—  im  nächsten  Moment  erfassen  wir,  was  vorher  nicht  der  Fall 
war,  beide  Linien  als  einander  gleich  oder  die  eine  als  größer 
usw.  Sagen  wir  nun,  es  seien  hier  die  ganze  Zeit  über  dieselben 
zwei  gleichen  oder  ungleichen  Linien  gegeben  gewesen,  so  bedienen 
wir  uns  einer  „Begriffsbildung",  die  über  das  Gregebene  als  solches 
hinausgeht,  d.  h.  wir  sprechen  von  einem  Gegenstand,  der  nicht 
mehr    „gegeben"   ist:   die  dauernd  vorhandenen,   dauernd  im  Ver- 


Realismus  und  Positivismus.  505 

hältnis  der  Gleichheit  oder  Ungleichheit  stehenden  Linien  sind 
nicht  gegeben,  sondern  zur  Gregebenheit  bringen  kann  ich  nur, 
wenn  ich  mich  so  ausdrücken  darf,  ihre  wechselnden  „Beachtungs- 
erscheinungen", die  sich  mir  als  Phasen  eines  Objektes  darstellen, 
genau  so,  wie  ich  mir  nicht  das  Ding,  sondern  nur  seine  Erschei- 
nungen (seine  „Abschattungen")  von  verschiedenen  Standpunkten 
aus  zur  Gegebenheit  bringen  kann.  Das  Quadrat,  das  auf  keiner 
Seite  einseitig  steht  und  doch  auf  jeder  stehen  kann,  das  vier 
gleiche  und  je  zwei  gleichgerichtete  Seiten,  das  vier  gleiche  rechte 
Winkel  dauernd  hat  —  dies  Quadrat  ist  kein  jemals  zur  Gegeben- 
heit gebrachter  Inhalt,  sondern  ein  „Ding  an  sich".  (Husserl 
würde  nach  den  Ausführungen  seiner  „Ideen"  diese  Analogisierung 
des  objektivierten  Wahrnehmungs-  oder  Empfindungsinhalts  mit 
dem  „Ding",  der  unmittelbar  gegebenen  Beachtungserscheinung 
mit  der  Dingerscheinung  freilich  ablehnen  als  phänomenologisch 
unzutreffend,  mir  scheint  gerade  die  phänomenologische  Analyse 
durchaus  für  diese  Analogie  zu  entscheiden.) 

"Was  ist  das  „Ding"?  Nicht  die  Summe  seiner  Erschei- 
nungen, denn  wenn  ich  die  Erscheinungen  zu  einer  Summe  ge- 
trennter Summanden  mache,  habe  ich  das  Ding  gerade  zerstört. 
Und  ich  stelle  das  „Ding"  auch  nicht  wieder  her,  wenn  ich  durch 
Relationen  die  getrennten  Erscheinungen  wieder  verknüpfe  („ge- 
setzmäßiger Zusammenhang").  Das  Ding  „ist"  aber  auch  nicht 
das  eine  „Objekt",  als  dessen  Phasen  ich  seine  Erscheinungen 
erlebe,  denn  dies  Objekt  ist  ja  ein  fließendes,  in  wechselnden  Phasen 
sich  veränderndes,  ist  ein  Prozeß,  wenn  man  so  will,  während  das 
Ding  ein  Beharrliches,  Dauerndes,  sich  gleich  Bleibendes  ist. 
M.  a.  W.  die  obige  Frage  ist  unbeantwortbar :  das  Ding  selbst  ist 
kein  zur  Gegebenheit  zu  bringendes  Gebilde,  sondern  ein  Fictum, 
es  gibt  nur  das  zusammenfassende  Wortsymbol,  keine  ihm  ent- 
sprechende Sache. 

Wir  knüpfen  an  die  Erscheinungen  „desselben  Dinges"  das 
gleiche  Wortsymbol,  sprechen  von  „dem  Apfel  hier",  gleichgiltig 
ob  wir  ihn  von  der  einen  oder  andern  Seite  sehen  oder  betasten. 
Dies  gleiche  Symbol  scheint  auf  einen  identischen  Gegenstand  hin- 
zudeuten, an  dessen  Stelle  uns  jedoch  nie  etwas  andres,  als  eine 
der  wechselnden  Dingerscheinungen  faßbar  wird.  Mit  demselben 
Wort  aber  belegen  wir  jene  Erscheinungen,  weil  und  soweit 
sie  mit  einander  vertauschbar  sind  oder  einander  vertreten 
können.    Vertauschbar  sind  sie,  insofern  ich  von  jeder  Erscheinung 


506  Ernst  v.  Aster, 

zu  jeder  beliebigen  andern  übergehen  kann :  ob  ich  den  Apfel  von 
der  einen  oder  andern  Seite  ansehe,  jedesmal  wird  er  sich  als  hart 
erweisen,  wenn  ich  das  Gesehene  mit  dem  tastenden  Finger  be- 
rühre und  als  süß,  wenn  ich  hineinbeiße.  Die  Erscheinungen  sind 
vertauschbar  hinsichtlich  der  Fortsetzung,  die  sie  in  weiteren 
Erscheinungen  finden,  hinsichtlich  ihrer  diese  weiteren  Erschei- 
nungen anzeigenden  Funktion;  dafür  können  wir  auch  sagen: 
sie  sind  identisch,  soweit  sie  nur  als  Träger  dieser  anzeigenden 
Funktion,  als  Symbole  des  Kommenden  erscheinen :  wir  wissen  ja, 
Identität  ist  das  sich-Treffen  der  Bedeutungen  zweier  Symbole  in 
einem  Punkt.  Wir  können  uns  also  nicht  das  „identische  Ding", 
aber  wir  können  uns  die  Identität  (die  identische  Bedeutung)  der 
verschiedenen  Erscheinungen  desselben  Dinges  zur  Gregebenheit 
bringen. 

Machen  wir  uns  dieselbe  Sachlage  noch  an  einem  andern  Fall 
klar.  Ich  erwarte  jetzt,  daß  morgen  etwas  Bestimmtes  geschehen, 
sagen  wir  gutes  Wetter  sein  wird.  Ich  hege  dann  die  gleiche 
(dieselbe)  Erwartung  noch  mehrfach  im  Laufe  des  Tages.  Dann 
habe  ich  hier  offenbar  eine  Mehrheit  verschiedener  Erwartungs- 
erlebnisse,  diese  Erwartungserlebnisse  aber  stellen  alle  dasselbe 
zukünftige  Geschehen  vor  und  sind  insofern  identisch,  ganz  im 
Sinn  des  Identitätsbegriffs,  den  wir  festgestellt  haben.  Sie  sind 
„dieselbe  Erwartung".  Wollte  nun  aber  Jemand  wissen,  wie 
eigentlich  diese  identische  eine  „Erwartung"  aussieht,  die  „in" 
allen  jenen  Erwartungserlebnissen  angeblich  „steckt",  so  wäre 
diese  Frage  natürlich  sinnlos  —  genau  so  sinnlos  wie  die  Frage 
nach  dem  „Ding  an  sich"  hinter  seinen  Erscheinungen.  Es  gibt 
nicht  diese  Erwartung  selbst,  auch  nicht  oder  gerade  nicht  als 
abstraktes  Teilmoment  jener  Erlebnisse,  es  gibt  nur  die  Erwartungs- 
erlebnisse  (Erwartungsbilder)  und  ihre  Identität,  d.  h.  ihre  Be- 
ziehung auf  dasselbe  Erwartete.  Diese  Identität  aber  läßt  uns 
von  derselben  Erwartung  sprechen  und  legt  dadurch  die  Fiktion 
eines  für  sich  existierenden  psychischen  oder  außerpsychischen 
G-ebildes  nahe,  das  nun  wirklich  diese  Erwartung  wäre. 

Fassen  wir  das  Ergebnis  noch  einmal  speziell  mit  Rücksicht 
auf  den  Külpeschen  Einwand  zusammen,  so  können  wir  sagen : 
wir  dürfen  nicht  im  eigentlichen  Sinn  behaupten,  es  seien  uns 
zwei  gleiche  oder  verschiedene  Strecken  oder  Farben  etwa  ge- 
geben, sondern  nur,  es  seien  uns  zwei  Strecken  als  gleich  oder 
„als"  verschieden,   durch  das  Grleichheits-  bezw.  Verschiedenheits- 


Realismus  und  Positivismus.  507 

bewußtsein  an  einander  gebunden  gegeben,  dabei  ist  natürlich  auch 
der  weitere  Fall  möglich,  daß  zwei  Strecken  oder  Farben  gegeben 
sind,  die  weder  als  verschieden  sich  von  einander  abheben,  noch 
als  gleich  jene  eigentümliche  Einheit  bilden,  die  eben  das  Wesen 
der  unmittelbar  erlebten  Gleichheitsrelation  ausmacht,  es  können 
auch* Linien  oder  Farben  gegeben  sein,  ohne  überhaupt  als  „zwei" 
sich  dem  Bewußtsein  darzustellen  usw.  (obgleich  wie  wir  wissen 
jeder  Inhalt,  indem  er  gegeben,  auch  von  andern  unterschieden 
und  auf  sie  bezogen  ist).  Das  Urteil,  das  auf  Grund  hinter- 
her kommender  Vergleichung  von  „gleichen"  oder  „verschiedenen" 
(gleich-  usw.  seienden)  Strecken  spricht,  die  im  Moment  vorher 
wahrgenommen  gewesen  seien,  setzt  an  die  Stelle  des  unmittel- 
bar Greg  ebenen  ein  „Ding",  d.h.  beschreibt  nicht  einfach  das 
Gegebene,  sondern  bezeichnet  (beurteilt)  es  sprachlich  im  Hinblick 
eben  auf  jene  weiteren  Gegebenheiten,  mit  denen  es  in  die  Einheit 
der  Dingwahrnehmung  sich  zusammenfügt. 

Das  Gegebene,  von  dem  wir  auszugehen  haben,  ist  in  einem 
individuellen  Bewußtsein  gegeben,  es  ist  ferner  ein  jetzt 
und  hier  Gregebenes.  Auch  diese  Behauptung,  die  uns  zum  zweiten 
Einwand  hinüberführt,  bedarf  indessen  der  genaueren  Erläuterung. 
„Ich  nehme  zwei  Farben  als  gleich  wahr"  und  „ich  nehme  zwei 
Farben  wahr,  die  gleich  sind"  —  wir  wissen,  es  sind  zwei  ver- 
schiedene Gregebenheiten,  auf  die  in  diesen  beiden  Wendungen  hin- 
gedeutet wird.  Das  im  zweiten  Fall  Gegebene  wird  bezeichnet 
oder  beurteilt  im  Hinblick  auf  eine  zu  erwartende  weitere  Ge- 
gebenheit, in  die  es  sich  unter  bekannten  Bedingungen  („Ver- 
gleichen", entsprechende  Einstellung  der  Aufmerksamkeit)  jederzeit 
verwandeln  kann.  Entsprechendes  ist  zu  sagen,  wenn  wir  die 
Wendungen  gegenüberstellen:  „ich  nehme  einen  Inhalt  als  jetzt 
gegeben  (und  nicht  zu  irgend  einer  andern  Zeit)  wahr"  und  „ich 
nehme  einen  Inhalt  wahr,  der  tatsächlich  jetzt  gegeben  ist".  Oder 
ebenso:  „ich  erlebe  einen  Inhalt  als  Inhalt  meines  Bewußtseins 
(und  nicht  eines  fremden  Bewußtseins)"  und  „ich  erlebe  einen  In- 
halt der  tatsächlich  Inhalt  meines  Bewußtseins  ist."  Die  zweiten 
Wendungen  weisen  vordeutend  auf  eine  mögliche  Gegebenheit  hin, 
die  bei  der  ersten  Wendung  als  tatsächlich  gegeben  vorausgesetzt 
ist.  Als  jetziger  Bewußtseinsinhalt  ist  mir  ein  Inhalt  nur  ge- 
geben, indem  er  sich  als  unmittelbar  gegebener  von  einer  mittelbar 
gegebenen  (vorgestellten)  Vergangenheit  und  Zukunft  abhebt  — 
der  Gegensatz   des   unmittelbar   und   mittelbar  Gegebenen  wurde 


508  Ernst  v.  Aster, 

weiter  oben  erörtert.  Ebenso  nun  freilich,  wie  jeder  Inhalt,  am 
überhaupt  gegeben  zu  sein,  sich  von  einer  Umgebung  abheben,  wie 
jedes  Bewußtsein  ein  Unterscheiden  sein  muß,  so  muß  auch  jeder 
gegebene  Inhalt  für  das  Bewußtsein  anheben  zu  sein,  d.  h.  sich 
von  einer  erlebten  Vergangenheit  abheben,  also  „als"  jetzt  erlebt 
sein.  Aber  dies  Jetzt,  als  dessen  Inhalt  er  erlebt  wird,  braucht 
sich  nicht  von  einer  Mannigfaltigkeit  bestimmt  geordneter  Zeit- 
momente abzuheben,  und  insofern  einem  zeitlich  bestimmbaren 
Augenblicke  anzugehören.  Die  objektive  Zeit,  als  kontinuierliche 
Abfolge  auf  einander  folgender  Augenblicke,  in  der  jeder  einzelne 
Inhalt  zu  einem  ganz  bestimmten  Zeitpunkt,  in  seiner  Zeitbeziehung 
zu  jedem  andern  Inhalt  eindeutig  fixiert  „existiert"  —  diese  Zeit 
mit  allen  „Erlebnissen",  oder  „Wahrnehmungsinhalten",  die  sie  er- 
füllen, ist  nichts  Gegebenes,  sondern  etwas,  das  wiederum  in 
die  Sphäre  der  „Dinge"  gehört. 

Es  ist  sinnvoll  und  möglich,  jedem  gegebenen  Inhalt  gegenüber 
die  Aufgabe  zu  stellen,  ihn  in  seiner  zeitlichen  Stellung  zu  be- 
stimmen, genau  so  wie  die  Aufgabe  sinnvoll  ist,  eine  im  Gesichts- 
feld gegebene  Form  mit  allen  sonstigen  im  Gesichtsfeld  gegebenen 
Formen  zu  vergleichen.  Die  eine  wie  die  andre  Aufgabe  aber 
führt  in  eine  unendliche  Reihe  von  weiteren  Gegebenheiten  hinein, 
die  aus  der  ersten  hervorwachsen,  mit  ihr  in  jener  früher  charak- 
terisierten Weise  zur  Einheit  verbunden.  Jeder  gegebene  Inhalt 
ist  zeitlich  fixierbar,  d.  h.  es  ist  möglich,  ihn  in  seiner  zeitlichen 
Folge  oder  seinem  Voraufgehen  in  Bezug  auf  andre  Inhalte  zu 
erleben,  diese  dann  ihrerseits  auch  wieder  erinnernd  oder  erwartend 
in  ihre  zeitliche  Umgebung  hineinzustellen  und  so  einen  immer 
umfassenderen  Zeitrahmen  um  den  zu  bestimmenden  Inhalt  zu 
spannen,  der  schließlich  alle  Inhalte  des  betreffenden  Bewußtseins- 
lebens umfassen  würde.  In  Wahrheit  bestimmen  wir  natürlich 
nie  einen  Inhalt  zeitlich  in  dieser  vollständigen  Weise,  die  voll- 
ständige Bestimmung  würde  auch,  wie  eben  hervorgehoben,  zu 
einer  unendlichen  Aufgabe  führen.  Die  jederzeitige  Möglich- 
keit aber,  in  ein  Urteil  über  den  betreffenden  Inhalt  gleichsam 
übersetzt,  als  „seiende  Eigenschaft"  desselben  gefaßt,  führt  dazu, 
ein  fingiertes  Ding  an  die  Stelle  des  unmittelbaren  Erlebnisses  zu 
setzen. 

Ein  Inhalt  kann  unmittelbar,  er  kann  aber  auch  wie  wir 
wissen  mittelbar,  durch  einen  Vorstellungsinhalt  gegeben  sein. 
Nun   kann   aber   dies   mittelbare    Gegebensein   noch   verschiedene 


Eealismus  und  Positivismus.  509 

Formen  annehmen.  Auch  jeder  vorgestellte  Inhalt  —  nicht  das 
unmittelbar  gegebene  Vorstellungsbild,  sondern  der  mit  ihm  ge- 
meinte, erinnerte,  phantasierte  Inhalt  muss  in  eine  wenn  auch  noch 
so  unbestimmte  Umgebung  hineingestellt,  er  muß  von  dieser  Um- 
gebung unterschieden,  abgehoben  sein.  Ferner  aber  kann  dieser 
Inhalt  mit  seiner  Umgebung  erinnert,  erwartet  oder  „ein- 
gefühlt" sein,  d.  h.  er  kann  als  eigne  Vergangenheit,  eigne  Zu- 
kunft oder  fremdes  Bewußtsein  vorgestellt  sein.  Im  Erinnerungs-, 
Erwartungs-  und  Einfühlungsbild  stellen  wir  einen  Inhalt  als  im 
eignen  vergangenen  oder  zukünftigen  oder  im  fremden  Bewußt- 
seinsleben wirklich  vor.  Was  das  heißt,  kann  nur  erlebt,  nicht 
weiter  erklärt  oder  verdeutlicht  werden  und  zwar  in  der  Form 
des  Erinnerungs-,  Erwartungs-  und  Einfühlungsbildes  erlebt  werden. 
Wer  nie  ein  Erinnerungsbild  erlebt  hätte,  dem  würde  auch  der 
Begriff  der  eignen  Vergangenheit  und  ihrer  Wirklichkeit  völlig 
unbekannt  sein. 

Es  ist  nun  nicht  zu  leugnen:  in  Erinnerung,  Erwartung  und 
Einfühlung  haben  wir  das  Bewußtsein  einer  Transzendenz, 
gehen  wir  über  das  unmittelbar  Gegebene  hinaus.  Die  „Möglich- 
keit" dieses  Transzendierens  ruht  auf  der  Möglichkeit  bezw.  Tat- 
sächlichkeit eines  „mittelbar  Gegebenen".  Das  aber,  was  hier 
vorgestellt  und  als  „wirklich"  vorgestellt  wird,  ist  wiederum  ein 
Bewußtseinsinhalt,  der  in  einer  Kette  oder  einem  Strom  andrer 
sich  abhebt,  ein  Inhalt,  den  wir  im  bisher  bereits  erörterten  Sinn 
als  Inhalt  eines  individuellen  Bewußtseins  bestimmen  können.  Es 
gibt  eben  zwei  ganz  verschiedene  Arten  der  Trans- 
zendenz: die  Transzendenz  des  vorgestellten  Bewußt- 
seinsinhalts und  die  des  Dinges,  der  erstere  ist  mittel- 
bar gegeben,  das  letztere  nur  im  vertretenden  Symbol  gemeint, 
also  fiktiv. 

Erinnerung,  Erwartung  und  Einfühlung  habe  ich  an  andrer 
Stelle  (in  meinen  „Principien  der  Erkenntnislehre")  als  unmittel- 
bar erlebte  (im  Gegensatz  zu  den  sprachlich  formulierten)  Ur- 
teile bezeichnet.  Sie  sind  Urteile,  wenn  wir  Urteil  alles  nennen, 
was  wahr  oder  falsch  sein,  d.  h.  „mit  einem  Gegenstand  überein- 
stimmen oder  nicht  übereinstimmen"  kann.  Im  Erinnerungs-  und 
Erwartungsbild  stelle  ich  etwas  vor  —  einen  Gegenstand  —  und 
kann  mit  Sinn  fragen,  ob  dies  Etwas  wirklich  so  war  oder  sein 
wird,  wie  ich  es  vorstelle.  Freilich  hebt  sich  nun  aus  jenen  drei 
Formen   die  Erwartung   dadurch    hervor,    daß    sie   allein  (natür- 


510  Ernst  v.  Aster, 

lieh  auch  nicht  in  allen,  sondern  nur  in  bestimmten  Fällen)  auf 
ihre  Wahrheit  hin  geprüft  werden  kann:  ich  kann  das  sich-Er- 
füllen  oder  -Enttäuschen  einer  Erwartung,  das  Zusammenfallen 
von  Erwartung  und  Erwartetem  (die  Identität  beider)  erleben. 
Erinnerung  und  Einfühlung  bleiben  auf  ihre  Wahrheit  hin  nicht 
prüfbar  und  insofern  einem  —  jedoch  nur  theoretischen  —  Zweifel 
ausgesetzt. 

Alles  unmittelbar  Gegebene  hebt  sich  ab  von  einem  erinnerten, 
erwarteten,  eingefühlten  mittelbar  Gegebenen.  Es  wird  eben  in 
diesem  sich  Abheben  oder  Unterscheiden  zu  einem  „mir"  und  „jetzt" 
Gegebenen.  Fassen  wir  andrerseits  alles  unmittelbar  und  mittel- 
bar Gegebene  zusammen,  so  erhalten  wir  als  „Gegebenes"  den 
Inbegriff  der  Bewußtseinsinhalte  verschiedener  Bewußtseinsabläufe. 
Diese  Bewußtseinsabläufe  und  ihre  Inhalte  sind  aber  selbst  nur 
erlebbar  von  einem  bestimmten  Punkt  (einem  „Jetzt")  eines 
bestimmten  Bewußtseinslebens  aus  —  von  einem  unmittelbar 
gegebenen  Icherlebnis  aus,  für  das  alle  übrigen  Inhalte  vergangene 
oder  zukünftige  Icherlebnisse  oder  Duerlebnisse  sind.  Nur  in  der 
Centriertheit  auf  ein  Augenblicksich  ist  das  Gegebene  faßbar. 
Anderseits  können  wir  aber  jeden  vorgestellten  Inhalt  unter  Ab- 
straktion von  der  ihn  repräsentierenden  Vorstellung  zum  Aus- 
gängspunkt, zum  Augenblicks-ich  machen,  dann  wird  alles  andre 
zu  einem  von  hier  aus  mittelbar  Gegebenen.  Das  Gegebene  teilt 
mit  den  Formen  des  Raumes  und  der  Zeit  diese  Eigentümlichkeit 
der  Centriertheit  (der  Centriertheit  auf  ein  unmittelbar  Gegebenes, 
für  das  alles  übrige  mittelbar  gegeben  ist,  welches  mittelbar  Ge- 
gebene aber  selbst  wieder  in  allen  seinen  Teilen  zum  num.  Geg. 
werden  kann  —  wie  jeder  Zeitpunkt  um  bestimmt  zu  werden, 
der  Beziehung  auf  ein  „  Jetzt"  bedarf  (einen  zeitlichen  Koordinaten- 
Anfangspunkt) ,  aber  auch  selbst  zum  „Jetzt"  gemacht  werden 
kann).  Genauer  ist  die  Centrierung  von  Raum  und  Zeit  auf  einen 
Koordinaten- Anfangspunkt,  auf  ein  „Hier"  und  „Jetzt",  das  be- 
liebig verschoben  werden  kann,  ein  Stück  der  Centrierung  aller 
Erfahrungswelt  auf  ein  unmittelbar  Gegebenes,  auf  das  gleichfalls 
beliebig  verschiebbare  „Augenblicksich" :  eben  darauf  beruht  der 
Nerv  der  Beweisführung  in  Kants  transzendentaler  Ästhetik.  Raum 
und  Zeit  sind  die  Formen  der  Körperwelt,  die  Bedingungen  der 
Möglichkeit  ihrer  Existenz,  Raum  und  Zeit  aber  haben  eine  un- 
aufhebbare  Beziehung  auf  jenen  Mittelpunkt,  der  genauer  der 
Standpunkt  des  erfahrenden  Ich  ist,  also  eignet  auch  der  Körper- 


Realismus  und  Positivismus.  511 

weit  diese  unaufhebbare  Beziehung,  ist  sie  nur  als  Welt  möglicher 
Erfahrung,  bezogen  auf  ein  erfahrendes  Ich,  denkbar.  In  der  hier 
gegebenen  Darstellung  nimmt  dieser  Gedankengang  die  folgende 
Form  an:  Alles  "Wirkliche  ist  ein  Wirkliches  in  der  Zeit  —  in 
einem  bestimmten  Zeitmoment  —  jeder  Zeitmoment  erhält  seine 
Stellung  durch  seine  Vergangenheits-  und  Zukunftsbeziehungen  zu 
einem  „Jetzt"  —  „Vergangenes"  und  „Zukünftiges"  in  Beziehung 
und  Gegensatz  zu  einem  „Jetzt"  bedeutet:  in  der  Weise  der  Er- 
innerung und  in  der  Weise  der  Erwartung  mittelbar  Gegebenes 
sich  abhebend  von  einem  unmittelbar  Gegebenen.  (Für  ein  Be- 
wußtsein, das  keine  Erinnerung  besäße,  wäre  „Vergangenheit"  ein 
ebenso  sinnleeres  Wort,  wie  das  Wort  „rot"  für  den  Farben- 
blinden). 

Vielleicht  wendet  man  nun  hiergegen  ein:  das  Gesagte  gelte 
für  die  unmittelbar  erlebte,  aber  eben  nicht  für  die  real  existierende 
Zeit.  Ich  erlebe  einen  Gegenstand  als  vergangen  heißt:  ich  er- 
innere mich  seiner  —  dagegen:  der  Gegenstand  ist  vergangen 
heißt:  ihm  kommt  diese  bestimmte  Seinsweise  zu,  die  ich  als 
Grund  dafür  betrachte,  daß  ich  ihn  nur  in  der  Weise  des  Er- 
innerns  zu  erleben  vermag,  die  aher  nicht  mit  jenem  Erlebtsein 
zusammenfällt.  Der  Einwand  kann  offenbar  erweitert  werden: 
das  Reale  ist  der  gedachte  Grund  des  Gegebenen  und  seiner 
Zusammenhänge.  Die  reale  rote  Farbe,  die  als  Eigenschaft  des 
vor  mir  liegenden  Löschblatts  wirklich  existiert,  ist  das  dem  ge- 
sehenen oder  gegebenen  Farbquale  „zu  Grunde  liegende",  das  sich 
seiner  Ähnlichkeit  und  Verschiedenheit  nach  zu  dem  andern  realen 
(den  gegebenen  Farbquales  Grün,  Blau  usw.  zu  Grunde  liegenden) 
Farben  verhält,  wie  das  gegebene  Rot  zum  gegebenen  Blau  usw., 
das  überhaupt  zu  den  sonstigen  realen  Gegenständen  in  Beziehungen 
steht,  die  den  Beziehungen  der  gegebenen  Inhalte  entsprechen, 
denen  jene  Realien  zu  Grunde  liegen.  Die  „erschlossene"  Welt 
des  Realen  wäre  danach  eine  Welt,  die  in  ihrem  Quäle  nicht  selbst 
dem  Quäle  der  Welt  des  Gegebenen  ähnlich  oder  gleich  ist,  die 
aber  in  den  Beziehungen  ihrer  Bestandteile  zu  einander  den  Be- 
ziehungen der  gegebenen  Inhalte  entspricht  und  die  endlich  in  dem 
besonderen  Verhältnis  des  „Grundes"  zum  „Gegründeten"  zur 
Welt  des  Gegebenen  steht. 

Hiergegen  wäre  nun  zunächst  die  Frage  zu  stellen,  was  denn 
das  für  ein  Verhältnis  von  Grund  und  Folge  sein  soll,  von  dem 
hier   die  Rede   ist?    Für  die  Worte,   die  Beziehungen   oder  Ver- 


512  Ernst  v.  Aster, 

hältnisse  benennen,  gilt  doch  zunächst  offenbar  dasselbe  wie  für 
alle  Worte:  sie  müssen  ihren  Sinn  irgendwie  zurGegebenheit 
bringen,  sonst  bleibt  das  Wort  leer.  Wo  und  wann  erleben  wir 
denjenigen  Zusammenhang  von  „Grund  und  ,Folge',  der  Reales" 
und  phänonomenal  Gegebenes  verknüpfen  soll  (und  der  natürlich 
kein  Zusammenhang  zeitlicher  Folge  sein  kann)  ?  Nun,  diese  Frage 
ließe  sich  vielleicht  noch  beantworten:  Von  dem  phänomenal  ge- 
gebenen Wahrnehmungsinhalt  erstreckt  sich  eine  nach  Erfüllung 
gleichsam  suchende  Relation,  die  wir  unmittelbar  erleben  —  das 
andre  Glied  dieser  Relation  freilich  kann  nicht  gegeben,  es  kann 
eben  nur  als  Endglied  dieser  Relation  —  als  „  Grund"  des  Wahr- 
nehmungsinhalts —  bestimmt  oder  gedacht  sein.  Allein  hier  ent- 
steht nun  eine  tiefere  Schwierigkeit:  Das  „Reale"  ist  selbst  rea- 
liter Grund  der  Phänomene,  nicht  blos  phänomenaliter,  wir  sagen, 
das  Reale  sei  Grund  des  Wahrnehmungsphänomens,  nicht  etwa, 
es  werde  als  solcher  erlebt,  das  Relationserlebnis  ist  also  nur  der 
im  Bewußtsein  gegebene  Ausgangspunkt,  von  dem  aus  wir  zur  An- 
nahme eines  realen  Verhältnisses  zwischen  dem  realen  Ding  und 
dem  Wahrnehmungsphänomen  kommen.  Damit  aber  wiederholt  sich 
hier  offenbar  genau  dieselbe  Frage  wie  oben:  Was  meinen  wir 
mit  der  real  bestehenden  Relation,  von  der  uns  die  phänomenal 
gegebene  Kunde  gibt,  mit  welchem  Recht  und  Sinn  sprechen  wir 
von  der  ersteren?  Soll  auch  hier  das  Phänomenale  —  das  phä- 
nomenale Relationserlebnis  —  für  unser  Bewußtsein  in  einem  Re- 
alen —  einer  realen  Relation  —  „gründen"  ?  Dann  sind  wir  offen- 
bar bei  einem  unendlichen  Regreß  angelangt. 

Und  nun  noch  weiter.  Soll  der  „Grund"  der  Wahrnehmungs- 
phänomene nicht  in  einem  ewig  unbekannten  und  unbestimmbaren 
Ding  an  sich  liegen,  soll  das  Reale  irgend  eine  positive  Bedeutung 
für  die  Erkenntnis,  im  Besondren  die  wissenschaftliche  Erkenntnis 
haben,  so  müssen  wir  auf  die  Realen,  wie  schon  hervorgehoben, 
die  Beziehungen  übertragen,  die  zwischen  den  entsprechenden 
Phänomenen  bestehen,  wir  müssen  sie  also  als  ähnlich,  gleich  und 
verschieden,  als  einheitlich  und  mannigfaltige  Teile  in  sich  schließend 
etwa  betrachten.  Es  müssen  solche  Relationsbegriffe  auf  sie  an- 
wendbar sein.  Was  heißt  aber  „gleich"  und  „verschieden"?  Es 
sind  offenbar  Bewußtseinsphänomene,  auf  die  uns  diese  Worte 
zurückweisen,  Phänomene,  von  denen  schon  andeutungsweise  ge- 
sprochen wurde:  die  „Verschiedenheit"  zweier  Inhalte  erleben  wir 
in  ihrem  sich  von  einander  Abheben  im  Ganzen  eines  Bewußtseins- 


Realismus  und  Positivismus.  513 

lebens.  Und  zwar  handelt  es  sich  hier,  wie  wir  wissen,  nicht  nur 
um  Bewußtseinsinhalte  beliebiger  Art,  wie  Farben  und  Töne,  son- 
dern um  die  Phänomene  d e s  Bewußtseins,  ohne  die  kein  Bewußt- 
sein vorstellbar  ist:  alles  „Bewußtsein"  ist  zugleich  ein  „Unter- 
scheiden" „eines"  Inhalts ,  der  zugleich  eine  „ Mannigfaltigkeit " 
enthält  und  seiner  Umgebung  als  mehr  oder  weniger  ähnlich  ge- 
funden wird.  Ohne  diese  Relationsphänomene,  die  zugleich  den 
einzelnen  Inhalt  in  ein  Bewußtseinsganzes  eingliedern,  ist  kein  Be- 
wußtsein möglich,  aber  auch  jedes  Unterscheiden,  Zergliedern, 
Wiedererkennen  —  alle  diese  Tatbestände,  ohne  die  die  Begriffe 
der  Gleichheit,  Verschiedenheit  usw.  ebenso  zu  sinnleeren  Worten 
werden ,  wie  der  Begriff  der  Vergangenheit  ohne  den  Tatbestand 
der  Erinnerung  —  ist  nur  innerhalb  eines  Bewußtseinslebens  mög- 
lich. Jene  Relationsphänomene  sind  Konstituentien ,  wenn  man 
will  „Formen"  eines  Bewußtseins  überhaupt  und  damit  auch  jedes 
Bewußtseinsinhalts.  So  wird  auch  jeder  Gegenstand,  an  den  solche 
Relationsphänomene  sich  knüpfen,  eben  damit  als  „Bewußtseins- 
inhalt" in  einem  Bewußt  seinsieben  charakterisiert. 

Es  ist  möglich,  hier  noch  einen  Schritt  weiter  zu  gehen.  Jedes 
Bewußtsein  ist  Ichbewußtsein  —  Bewußtsein  eines  Ich-  und  Gegen- 
standsbewußtsein —  Bewußtsein  von  Gegenständen.  Oder  jedes 
Bewußtsein  hat  eine  Ich-  und  eine  Gegenstandsseite,  einen  subjek- 
tiven und  einen  objektiven  Pol.  Es  ist  Gegenstandsbewußtsein, 
sofern  sich  in  ihm  einheitliche,  unterschiedliche  Gegenstände  ab- 
zeichnen, Inhalte,  die  als  umschlossene  Einheiten  einander  und  der 
fließenden  Bewußtseinseinheit,  in  der  sie  sich  abheben,  „gegenüber 
stehen,"  es  ist  Ichbewußtsein,  sofern  es  eben  als  fließende  Einheit 
mit  kontinuierlich  wechselnden  Phasen,  als  ein  Bewußtseinsleben 
(bezw.  als  Phase  desselben)  erlebt  wird.  Nun  sind  es  eben  die 
Relationsphänomene,  die  die  „Gegenstände"  zur  Abhebung  vonein- 
ander bringen :  ohne  Verschiedenheits-  und  Gleichheitserlebnis  keine 
Mannigfaltigkeit  von  Gegenständen.  Aber  ohne  die  verknüpfenden 
Relationsphänomene  würden  die  Gegenstände  sich  auch  wiederum 
nicht  als  Inhalte  eines  Bewußtseins,  als  Glieder  eines  und  des- 
selben Bewußtseinslebens  darstellen.  So  sind  die  Relationserleb- 
nisse zugleich  wenn  auch  in  verschiedener  Weise,  die  Konstituen- 
tien des  Ich-  und  des  Gegenstandsbewußtseins,  sie  sind  Kantisch 
gesprochen  die  Formen  der  „Einheit  der  transzendentalen  Apper- 
zeption", die  sowohl  Gegenstands-  wie  Icheinheit  ist.  Dasselbe 
verknüpfende  und  scheidende  Relationsbewußtsein,  das  die  Summe 


514  Ernst  v.  Aster, 

der  Gegenstände,  läßt  auch  das  eine  sie  denkende  Ich  in  unserm 
Bewußtsein  entstehen. 

Was  bedeutet  es  nun,  wenn  wir  zwei  Inhalten  gegenüber  nicht 
nur  behaupten,  daß  an  sie  sich  ein  Gleichheits-  oder  Verschieden- 
heitsbewußtsein knüpfe ,  sondern  daß  sie  gleich  oder  verschieden 
;; seien"?  Wir  betrachten  zwei  Farben  bei  Lampenlicht ,  die 
„gleich  aussehen".  Wir  behaupten,  daß  sie  „in  Wirklichkeit" 
nicht  gleich,  sondern  verschieden  seien.  Es  ist  klar,  daß  wir  uns 
in  dieser  Behauptung  auf  weitere,  zukünftige  Vergleiche  beziehen, 
erwartend  beziehen  und  zugleich  ist  klar,  daß  diese  weiteren  Ver- 
gleiche in  ihrer  Gesamtheit  nicht  mehr  den  jetzt  und  hier  ver- 
glichenen zwei  Inhalten,  -sondern  Dingeinheiten  und  damit  auf  kon- 
tinuierlich sich  wandelnden  Inhaltsganzen  gelten.  Diese  „Farbe", 
d.  h.  das  Ding,  das  ich  diese  Farbe  nenne,  sieht  in  der  Dämme- 
rung grau,  in  der  Nacht  schwarz,  bei  Lampenlicht  grün  und  bei 
Tageslicht  blau  aus,  sie  ist  realiter  blau  im  Unterschied  zu  jener 
anderen  Farbe,  die  auch  in  der  Dämmerung  grau,  im  Dunkeln 
schwarz  und  im  Lampenlicht  grün  erscheint.  Und  ebenso  sind 
diese  beiden  Farben  verschieden  —  d.  h.  es  werden  sich  Bedin- 
gungen finden  lassen,  unter  denen  sie  sich  dem  Vergleich  ver- 
schieden darstellen,  obgleich  sie  wie  Jeder  weiß,  unter  andern  Be- 
dingungen gleich  erscheinen. 

Es  ist  also  zweierlei  festzuhalten :  Wenn  wir  von  zwei  Gegen- 
ständen sagen,  sie  „seien"  gleich  oder  verschieden,  so  bezieht  sich 
dieses  Urteil  nicht  auf  gegebene  Inhalte  als  solche  —  diese  In- 
halte können  als  gleich  oder  verschieden  erlebt  werden,  aber  sie 
können  es  nicht  sein  —  sondern  auf  „Dinge" ,  die  als  „dieselben" 
Dinge  unter  verschiedenen  Bedingungen  betrachtet  werden,  also 
in  einer  kontinuierlichen  Abfolge  wechselnder  Inhalte  sich  dar- 
stellen können.  Diese  Dinge  selbst  als  identische  Einheiten 
sind  fiktive  Gebilde,  fingierte  Gegenstände,  die  in  unserm  Denken 
oder  vielmehr  in  unserm  Sprechen  entstehen,  indem  wir  ein  ein- 
heitliches Wort  für  die  wechselnden  Erscheinungen  setzen,  sofern 
diese  selbst  sich  wechselseitig  vertreten  können.  „Vertreten"  aber 
bedeutet  hier  allemal :  Vertreten  in  Bezug  auf  das  Kommende,  das 
Zukünftige,  das  zu  Erwartende,  als  Anzeichen  oder  Vorzeichen 
des  Kommenden.  Als  solches  Vorzeichen,  in  dieser  symbolischen 
Bedeutung  des  Kommenden  sind  die  Erscheinungen  „desselben" 
Dinges  identisch  und  in  dieser  Identität  bezeichnet  sie  der  Ding- 
name.   (Daß  dieser  Dingname  vielfach  mit  dem  Namen  der  cha- 


Realismus  und  Positivismus.  515 

rakteristischen  Erscheinung  gleichlautend  ist,  wie  bei  den  Farbbe- 
zeichnungen etwa,  bedarf  wohl  keiner  besondren  Erklärung).  Diese 
Dinge  „sind"  gleich  und  verschieden,  das  will  sagen:  ihre  Gleich- 
heit und  Verschiedenheit,  die  wir  in  unsern  Grleichheits-  und  Ver- 
schiedenheitserlebnissen erkennen ,  verhält  sich  zu  diesen  Erleb- 
nissen, wie  eben  das  „Ding"  überall  sich  zur  „Erscheinung"  ver- 
hält, sie  ist  in  demselben  Sinn  eine  Fiktion  und  in  demselben  Sinn 
gegründet  auf  einen  Erwartungszusammenhang  von  Phänomenen, 
wie  das  von  dem  „Ding"  gesagt  werden  kann.  — 

Je*tzt  ist  es  endlich  möglich,  die  letzte  noch  übrig  bleibende 
Frage  zu  beantworten.  Alles  Erkennen  stellt  sich  die  Aufgabe, 
seinen  Gegenstand,  die  „Welt",  in  seiner  Gesetzmäßigkeit  zu  er- 
kennen. Nun  ist  das  Gegebene  selbst  wesentlich  zufällig,  unzu- 
sammenhängend (unzusammenhängend  im  Sinn  des  durch  die  Wissen- 
schaft gesuchten  Funktional-  und  Kausalzusammenhangs,  also  ab- 
gesehen von  dem  unmittelbar  erlebten  Zusammenhang  des  Bewußt- 
seinslebens, in  das  alles  Gregebene  als  „Phase"  oder  „Gegenstand" 
eingebettet  ist).  Nie  wäre  es  möglich,  die  gegebenen  Inhalte 
allein  in  einen  geschlossenen  Kausalzusammenhang  zu  bringen. 
Andrerseits  weisen  sie  unverkennbar  hin  auf  das  Bestehen  eines 
solchen  Zusammenhangs,  der  aber  im  Gegebenen  selbst  eben  nur 
bruchstückweise  sich  darstellt,  weil  die  „Welt"  im  „Gregebenen" 
nur  bruchstückweise  uns  entgegentritt. 

Die  Argumentation  hat  etwas  Überzeugendes  und  ist  auch  in 
gewisser  Weise  durchaus  richtig.  Die  Flamme,  die  ich  vor  einer 
Viertelstunde  im  Ofen  sah  und  die  Asche,  die  ich  jetzt  in  ihm 
sehe,  werden  zu  Gliedern  eines  gesetzmäßigen  Zusammenhangs  erst, 
indem  ich  sie  durch  den  Gedanken  eines  die  ganze  Zeit  hindurch 
im  Ofen  brennenden  Feuers  verknüpfe.  Dieses  Feuer  aber  ist  eben 
nicht  wahrgenommen,  kein  Gegebenes,  es  existierte  realiter,  ohne 
gegeben  zu  sein.  Indessen:  das  was  ich  hier  phantasiemäßig 
ergänzend  hinzufüge,  ist  gleichwohl  ein  Inbegriff,  eine  Kette 
von  Wahrnehmungen,  die  das  zuerst  gesehene  Feuer  und  die  zu- 
letzt gesehene  Asche  zum  Ganzen  einer  kontinuierlichen  Ding- 
erscheinung ergänzen.  Diese  Wahrnehmungen  sind  in  derselben 
Weise  als  zu  erwartende  vorgestellt,  wie  die  übrigen  Erscheinungen 
eines  Dinges,  das  von  einer  Seite  gesehen  vor  uns  steht.  Jene 
Wahrnehmungen  wären  zu  erwarten  gewesen,  wenn  wir  zur 
rechten  Zeit  hingesehen  hätten,  sie  sind  noch  jetzt  zu  erwarten, 
nämlich  als  Erinnerungsbilder  im  Bewußtsein  eines  Andern,   der 


516  Ernst  v.  Aster, 

das  Feuer  in  der  Zwischenzeit  etwa  betrachtete.  Genauer  hegen 
wir  diese  Erwartungen  nicht  ausdrücklich,  aber  sie  sind  impliziert 
sobald  wir  das  brennende  Feuer  und  die  Asche  als  „dasselbe", 
nämlich  dasselbe  Ding  (denselben  dinglichen  Vorgang)  identifizieren. 
Wir  wissen:  zwei  gegebene  Inhalte  als  Erscheinungen  „desselben 
Dinges"  auf  einander  beziehen  und  identifizieren  heißt:  sie  als  an- 
zeigende Symbole  derselben  Inhalte,  also  als  Ausgangspunkt  der- 
selben Erwartungen  (Erwartungen  nach  vorwärts  und  nach  rück- 
wärts) sprachlich  bezeichnen  und  identifizieren.  So  ist  also  in  der 
Tat  die  Welt  des  Gregebenen  unzusammenhängend,  die  des  ding- 
lich Realen  funktionell  und  kausal  zusammenhängend,  ein  Zu- 
sammenhang, der  uns  auch  tatsächlich  durch  den  fragmentarischen 
Zusammenhang  der  gegebenen  Wahrnehmnngen  nahe  gelegt  wird, 
aber  dieser  Zusammenhang  entpuppt  sich  dann  bei  genauerem  Zu- 
sehen doch  als  ein  Zusammenhang  von  Gregebenem,  nämlich  er- 
wartetem Gregebenen. 

Fordert  indessen  nicht  die  Gesetzmäßigkeit  der  Wahrnehmungs- 
inhalte  eine  Erklärung?  Und  kann  diese  Erklärung  nicht  nur  ge- 
funden werden  in  der  Bedingtheit  der  Wahrnehmungen  durch  eine 
kausal  zusammenhängende  dinglich  reale  Welt?  Mir  scheint  die 
hier  vorliegende  Frage  und  Antwort  so  wenig  sinnvoll  zu  sein, 
wie  die  bekannte  „Erklärung",  die  die  Erde  auf  dem  Elefanten, 
diesen  auf  der  Schildkröte  ruhen  läßt.  Bleiben  wir  bei  der  Ge- 
setzmäßigkeit der  Wahrnehmungsinhalte  nicht  stehen,  sondern 
führen  sie  auf  eine  Gesetzmäßigkeit  der  Dinge  zurück,  so  ist  nicht 
einzusehen,  warum  nicht  auch  nach  einem  weiteren  Grunde  dieser 
Gesetzmäßigkeit  gefragt  werden  sollte  u.  s.  f.  Allerdings  hat  es 
einen  guten  Sinn,  auf  die  Frage,  „ warum u  ytiv  an  jener  Stelle 
erst  einen  leuchtenden  Schein,  dann  rauchende  Asche  sahen,  zu 
antworten:  „weil"  dort  ein  Feuer  brannte,  das  wir  sahen.  Die 
Erklärung,  die  wir  hier  geben,  hat  die  Bedeutung,  daß  sie  einfach 
die  hier  gegebene  Wahrnehmungsfolge  als  Spezialfall  eines  allge- 
meinen Gesetzes  anspricht.  Der  Sinn  der  Behauptung,  das  Wahr- 
genommene „sei"  Feuer,  ist  kein  andrer,  als  der,  es  sei  der  Aus- 
gangspunkt dieser  und  jener  gültiger  Erwartungen  (Erwartungen- 
nicht  Erwartungserlebnisse:  der  Unterschied  wurde  weiter  oben 
genannt  und  begründet),  als  deren  Erfüllung  eben  auch  der  leuch- 
tende Schein,  wie  die  rauchende  Asche  angesehen  werden  kann.  — 

Die  vorigen  kurzen  Ausführungen  sollten  weder  die  positivi- 
stische Erkenntnistheorie  beweisen,    noch  den  realistischen  Stand- 


Kealismus  und  Positivismus.  517 

punkt  widerlegen.  Sie  sollte  sich  nur  gegen  die  oben  angeführten 
Argumente  wenden.  Die  tiefere  Entgegensetzung  beider  Stand- 
punkte müßte  mit  der  Diskussion  des  Gegenstandsbegriffs  und  da- 
mit zugleich  des  Bewußtseins  auf  beiden  Seiten  einsetzen.  Der 
Standpunkt,  von  dem  der  Positivismus  hier  gefaßt  ist,  dürfte  klar 
sein.  Er  ruht  auf  der  Fassung,  die  H.  Cornelius  der  Erkennt- 
nistheorie gegeben  hat  und  zugleich  auf  der  Fiktionenlehre  H.  Yai- 
hingers. 


Kantutudien.    XXVU.  34 


Kant-Gesellschaft. 


Bericht  über  die  Generalversammlung  der  Kant- 
Gesellschaft  am  7.  und  8.  Juni  1922  in  Halle  a.  S, 

Am  Mittwoch,  den  7.  Juni  abends,  begann  die  satzungsmäßige,  Ton 
inländischen  und  ausländischen  Mitgliedern  außerordentlich  reich  besuchte 
Generalversammlung  mit  einem  zwanglosen  Beisammensein  im  Vereinshaus, 
Halle,  Mittelstraße.  — 

Die  geschäftliche  Sitzung  fand  unter  Leitung  des  Vorstandes, 
des  Geh.  Oberreg.-Rates  Dr.  med.  h.  c.  Meyer,  Kurators  der  Universität 
Halle- Wittenberg,  dann  am  Donnerstag,  den  8.  Juni  in  der  Aula  der  Uni- 
versität statt.  Die  einzelnen  Punkte  der  Tagesordnung  wurden  wie  folgt 
erledigt : 

a)  Auf  Antrag  der  Geschäftsführer  wurde  von  der  Versammlung  für 
die  Jahresrechnung  1920  Entlastung  erteilt.  Sie  war  in  den  Kant- 
Studien  Bd.  XXVI,  Heft  3—4,  S.  513—517  vollständig  veröffentlicht  und 
nach  Prüfung  durch  das  Kuratorium  der  Universität  Halle- Wittenberg  vom 
Verwaltungsausschuß  genehmigt  worden. 

b)  Die  Jahresrechnung  1921,  die  ebenfalls  schon  geprüft  und 
vom  Verwaltungsausschuß  genehmigt  war,  wurde  nach  Verlesung  auch  von  der 
Versammlung  genehmigt;  der  Geschäftsführung  wurde  Entlastung  erteilt.  Sie 
ist  abgedruckt  in  den  Kant-Studien,  Band  XXVII,  Heft  3—4,  S.  521—524. 

C)  Die  wechselnden  Mitglieder  des  Verwaltungs-Ausschusses: 
Stammler,  Cassirer,  Lehmann,  Liebert  wurden  einstimmig  wieder- 
gewählt. 

An  Stelle  des  verstorbenen  Geh. -Rat  Gerhard -Halle  wurde  der 
Geh.  Med.-Rat  Prof.  Dr.  Abderhalden,  o.  ö.  Professor  an  der  Uni- 
versität Halle,  einstimmig  in  den  Verwaltungsausschuß  gewählt. 

Sodann  wurde  auf  Antrag  des  stellv.  Geschäftsführers  Liebert  Priv.- 
Doz.  Dr.  Ottomar  Wichmann- Halle,  der  Vorsitzende  der  Hallenser 
Ortsgruppe  der  K.-G.,  einstimmig  in  den  Verwaltungsausschuß  gewählt. 

d)  Die  beiden  Geschäftsführer  Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr.  H.  Vai- 
hinger-Halle  und  Prof.  Dr.  A.  Liebert-Berlin,  werden  einstimmig  wieder- 
gewählt. 

e)  Die  Erörterung  über  eine  Erweiterung  des  Verwaltungs- 
ausschusses wurde  von  der  Tagesordnung  abgesetzt. 

f)  Prof.  Dr.  Liebert  berichtete  über  die  Entwicklung  der  K.G. 
und  der  Ortsgruppen: 

Die  Zahl  der  Mitglieder  der  K.G.  ist  in  ständigem,  sehr  lebhaftem 
Wachstum  begriffen.     1920  waren  es  2427,  1921  über  3000  und  in  diesem 


Kant-Gesellschaft.  519 

Jahre  werden  die  4000  überschritten.  Bis  zum  Tage  der  Generalversamm- 
lung sind  im  Jahre  1922  über  300  neue  Jahresmitglieder  und  80  neue 
Förderer  eingetreten.  So  ist  die  K.G-.  die  größte  philosophische  Gesell- 
schaft der  "Welt.  Dies  dauernde  Wachstum  der  K.G.  bezeugt  das  große, 
immer  noch  zunehmende  Interesse  für  die  Philosophie.  Das  zeigt  sich 
auch  in  der  ständig  zunehmenden  Zahl  der  Ortsgruppen,  über  deren  Ver- 
anstaltungen regelmäßig  in  den  Kant-Studien  berichtet  wird. 

Von  besonderer  Bedeutung  ist  in  dieser  Hinsicht  die  kürzlich  erfolgte 
Gründung  der  Landesgruppe  Holland.  (Vgl.  den  eingehenden  Bericht 
darüber  in  den  Kant-Studien  Band  XXVII,  Heft  1—2,  S.  242—243.) 

g)  Auf  die  Veranstaltungen  in  Erlangen  und  die  Gründung  der 
Akademie  für  Philosophie  auf  dem  Burgberg  in  Erlangen  wurde  hinge- 
wiesen. 

h.)  Endlich  erfolgte  noch  eine  vorläufige  Mitteilung  über  eine  Preis- 
aufgabe, die  voraussichtlich  im  Herbst  dieses  Jahres  ausgeschrieben 
werden  wird:  „Personalistische  Strömungen  in  der  Philosophie  der  Gegen- 
wart". Preisstifter  ist  Herr  Prof.  Dr.  Ph.  Kohnstamm  von  der 
Universität  Amsterdam.     Näheres  vgl.  in  diesem  Heft  S.   532  ff. 

Nach  einer  kurzen  Pause  begann  dann  der  zweite,  von  Prof.  Liebert 
geleitete  Teil,  der  die  wissenschaftlichen  Mitteilungen  und 
Vorträge  umfaßte. 

i)  Als  Erstes  wurde  das  Ergebnis  derJubiläums-Preisauf- 
g  a  b  e  verkündigt :  „Der  Einfluß  Kants  und  der  von  ihm  ausgehenden 
idealistischen  Philosophie  auf  die  Männer  der  Reform-  und  Erhebungszeit 
(1806 — 1815)".  Von  drei  eingereichten  Arbeiten  war  eine  preisgekrönt 
worden,  deren  Verfasser,  Studienrat  Dr.  Wagner-Cöln,  anwesend 
war.  Das  von  den  drei  Preisrichtern  erstattete  eingehende  Gutachten  und 
die  Beschlußfassung  über  die  Zuerteilung  des  Gesamtpreises  an  Dr.  Wagner 
sind  abgedruckt  in  diesem  Heft  der  Kant-Studien  (Band  XXVII,  Heft  3 — 4, 
S.  524  ff.). 

k)  Dann  erstattete  Studienrat  Dr.  Schmitt-Königsberg  im 
Auftrage  der  Ortsgruppe  Königsberg  der  Kantgesellschaft  Bericht  über 
die  Vorbereitungen  der  Kantstadt  zur  Feier  von  Kants 
zweihundert  jährigem  Geburtstag  im  Jahre  192  4.  Es  ist 
beabsichtigt,  die  StoaKantiana  am  Dom  zu  Königsberg,  Kants  Grabmal, 
neu  herzurichten,  sowie  in  der  Universität  ein  Kantzimmer  einzu- 
richten, das  Andenken  aller  Art  an  Kant  aufnehmen  soll.  Ferner  plant 
die  Ortsgruppe  Königsberg  der  K.G.  die  Herausgabe  eines  Sammel- 
werkes :  „K ant  im  Bilde",  das  eine  möglichst  vollständige  Sammlung 
aller  Bilder  von  Kant  bieten  soll.  Die  Vorarbeiten  dazu  sind  seit  einiger 
Zeit  im  Gange;  die  Ortsgruppe  Königsberg  bittet  um  allseitige  Unter- 
stützung ihres  Unternehmens.  —  (Die  Kant- Gesellschaft  hat  diesen  Plan 
durch  Ueberweisung  von  10000. —  Mk.  gefördert.) 

1)  Nach  dieser  Einleitung  erfolgten  dann  die  wissenschaftlichen  Vor- 
träge.    Am  Vormittag  sprachen: 

1)  Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr.  Ernst  Troeltsch-Berlin  über:  „Die  Logik 

34* 


520  Kant-Gesellschaft. 

des  historischen  Entwicklungsbegriffes".  (Der  Vortrag  ist  in  dem  vorlie- 
genden Heft  der  Kant- Studien  veröffentlicht.) 

2)  Geh.  Med. -Rat  Prof.  Dr.  Theodor  Ziehen-Halle :  „Zum  Begriff  und 
zur  Methode  der  Geschichtsphilosophie".  (Dieser  Vortrag  wird  voraus- 
sichtlich im  ersten  Heft  des  nächsten  Jahrganges  der  Kant -Studien  er- 
scheinen.) 

An  beide  Vorträge  schloß  sich  eine  äußerst  angeregte  Aussprache  an, 
bei  der  Vertreter  der  verschiedensten  philosophischen  Richtungen  zu  Worte 
kamen. 

Vor  dem  Mittagessen  wurde  auf  der  Freitreppe  der  Universität  eine 
vortrefflich  gelungene  Gruppenaufnahme  gemacht.  (Das  Bild  ist  gegen  Nach- 
nahme von  50  Mk.  zu  beziehen  von  Photograph  A.  Pieperhoff,  Halle, 
Poststr.  15.) 

m)  Nach  dem  gemeinsamen  Mittagessen  sprachen 

1)  Prof.  Dr.  Emil  Utitz-Rostock  „Zur  Grundlegung  einer 
allgemeinen  Kunstwissenschaft"  und 

2)  Den  Schlußvortrag  hielt  Graf  Hermann-Keyserling- 
Darmstadt  über  das  Thema :  „Der  Weg  des  wahren  Fort- 
schritts". Die  Ausführungen  dieses  Vortrages  finden  sich  in  größerem 
Umfange  in  dem  im  Herbst  erscheinenden  Buche  des  Grafen  Keyserling 
„Schöpferische  Erkenntnis". 

Damit  schloß  die  eigentliche  Tagung. 

Am  Freitag  Vormittag  wurde  dann  noch  von  einer  Anzahl  von  Teil- 
nehmern ein  gemeinsamer  Ausflug  nach  Merseburg  unternommen  und  dort 
der  Dom,  das  Domkapitel  und  das  Schloß  besichtigt.  Der  Dom,  der  mit 
seinen  ältesten  Teilen  bis  ins  11.  Jahrhundert  zurückreicht,  ist  kunst- 
geschichtlich recht  interessant  und  birgt  viele  Schätze.  In  der  Bibliothek 
des  Domkapitels  finden  sich  viele  alte  Handschriften,  u.  a.  die  „Merse- 
burger Zaubersprüche",  das  älteste  althochdeutsche  Literaturdenkmal. 

Durch  Vermittlung  von  Herrn  Prof.  Utitz  war  es  dann  am  Nachmittag 
noch  möglich,  die  Kunstwerkstätten  auf  der  Unterburg  Giebichenstein  zu 
besichtigen,  wozu  sich  noch  ein  Kreis  zusammenfand,  der  dort  viel  Schönes 
und  Interessantes  zu  sehen  bekam.  — 

Damit  war  die  diesjährige  Generalversammlung  zu  Ende. 

Wie  dieses  Mal  so  wird  es  hoffentlich  auch  zur  nächsten  General- 
versammlung gelingen,  Privatquartiere  in  genügender  Anzahl  zu  beschaffen, 
so  daß  die  Kostenfrage  für  den  einzelnen  Teilnehmer  eine  angenehme 
Lösung  finden  kann. 

Halle  a.  S.  Kurt  Nitzschke. 


Kant-Gesellschaft. 


521 


XVIII.  Jahresbericht  1921 
I.    Einnahmen. 


1.  Jahresbeiträge:    1921  (einschließlich  der  freiwilligen 
Erhöhungen) 

2.  Jahresbeiträge:   Nachzahlungen  für  frühere  Jahre    . 

3.  Zinsen  der  Kant-Stiftung  (durch  die  Universitäts- 
kasse Halle  a.  S.) 

4.  Bankzinsen  in  Halle  u.  Berlin  aus  verschiedenen  Kontos 

5.  Einnahmen  durch  den  Verkauf  von  Veröffentlichungen : 

a)  Ergänzungshefte:  608.50 

b)  Vorträge:  749.40 

c)  Neudrucke:  430.40  < 

d)  Ergänz.-Heft  50  (Adickes):  1236.25' 

e)  Teuerungs-  und  Valutazu- 
schläge: 867.95 

6.  Zuschuß   von  Dr.  Konrad  Wiederhold    zur  Herstellung 
seines  Ergänzungsheftes  52  (vgl.  Punkt  3  der  Ausgaben) 

7.  Zuschuß  von  Dr.  Rudolf  Carnap  zur  Herstellung  seines 
Ergänzungsheftes  56  *)  (vgl.  Punkt  9) 

8.  Zuschuß  von  Dr.  Karl  Mannheim  zur  Herstellung  seines 
Ergänzungsheftes  57:  1.  Kate1) 

9.  Beisteuer    seitens    verschiedener    Mitglieder    zur    Her- 
stellung des  Ergänzungsheftes  56  (Carnap);  vgl.  Punkt  7 

10.  Beisteuer  von  F.  A.  Waldmann,  Osnabrück  für  eine 
beabsichtigte  Veröffentlichung  von  Erich  Adickes;  wahr- 
scheinlich für  „Kant  und  die  Naturwissenschaften"     .     . 

11.  Spende:  Universitäts-Bibliothek  Basel 

12.  Spende:  Dr.  Brandt,  Hedemora 

13.  Spende:  Fred  Braun,  Zürich 

14.  Spende:  Frau  Dr.  Alma  Brunies,  Basel 

15.  Spende:  Prof.  Clav,   Bandong      ........ 

16.  Spende:  Rechtsanwalt  Goldberg,  Berlin 

17.  Spende:  Dr.  Felix  Groß,  Wien 

18.  Spende:  Prof.  Dr.  Joerges,  Halle 

19.  Spende:  Prof.  Dr.  Kohnstamm,  Amsterdam    .... 

20.  Spende:  Prof.  Dr.  Kuhn,  Kopenhagen 

21.  Spende:  Magistrat  Königsberg  i.  Pr 

22.  Spende:  Magistrat  Königsberg  i.  Pr. 

Uebertrag  Mk. 


100390 
690 

1606 
2062 


3892 
9930 
1500 
3000 
900 


2000 
118 
100 
107 
100 
200 
100 
100 
200 


60 
00 

32 
15 


50 
00 
00 
00 
00 


00 
00 
00 
00 
00 
00 
00 
00 
00 


35000 
20000 


200 
200 


127946  57 


00 
00 


1)  Die  Ergänzungshefte  56  (Carnap)  und  57  (Mannheim)  wurden  den  Mit- 
gliedern der  Kant-Gesellschaft  im  Laufe  des  Jahres  1922  zugestellt. 


522 


Kant-Gesellschaft. 


23. 
24. 
25. 
26. 
27. 
28. 
29. 
30. 
31. 
32. 
33. 
34. 

35. 


36. 


37. 


38. 
39. 

40. 

41. 
42. 


Uebertrag  Mk. 

Spende:  Schaffhausen,  Munot- Verein 

Spende:  Prof.  Nef,  St.  Gallen 

Spende:  Dr.  Ninck,  Winterthur 

Spende:  Prof.  Oyama,  Freiburg 

Spende:  Dr.  H.  J.  Pos,  Amsterdam 

Spende:  Dr.  M.  Simmen,  Luzern 

Spende:  Robert  Sostberg,  Berlin 

Spende:  Prof.  Dr.  Tumarkin,  Bern 

Spende:  Dr.  Vannerus,  Stockholm 

Spende:  Prof.  Wolff,  Basel 

Spenden  in  geringerer  Höhe 

Einnahmen  durch  den  Verkauf  einzelner  Veröffent- 
lichungen an  verschiedene  Mitglieder 

Einnahmen  durch  den  direkten  Verkauf  des  Ergänzungs- 
heftes 50    (Adickes)    (vgl.  Punkt  5  d)    durch   Einzahlung 

bei  der  Geschäftsstelle 

Einnahmen  durch  nachträgliche  Gutschrift  auf  frühere 
Papierlieferung  und  für  früher  bezahlte  Verpackung  der 
Papierballen    (betrifft   die  Lieferung    des  Papiers   für    die 

„Kant-Studien") 

Zinsen  der  Emil  Sidler-Preisaufgabe :  2  Jahre  .  .  . 
(Kapital  der  Stiftung:  5000  Mk.).  Die  Preisauf- 
gabe gelangt  erst  zu  einem  späteren  Termin  zur 
Ausschreibung. 

Beiträge  für  die  Ortsgruppe  Berlin . 

Für    das    Verleihen    der   Mitgliederliste    an    verschiedene 

Verlagsbuchhandlungen 

Spende:  Ministerium  für  Kunst,  Wissenschaft  und  Volks- 
bildung       

Zinsen  vom  Fernsprechamt  für  den  Fernsprecher  .  . 
Einnahme  aus  dem  Kapital  des  Fördererfonds;  ent- 
nommen zur  Deckung  des  Unterschusses  und  zum  Aus- 
gleich zwischen  den  Einnahmen  und  Ausgaben  des  Jahres 
1921  J) 

Gesamteinnahmen  Mk. 


127946 

200 
100 
100 
200 
200 
460 
100 
200 
100 
100 
1205 

1310 


432 


696 
898 


1074 

401 

2000 
21 


37377  33 


57 

00 
00 
00 
00 
00 
00 
00 
00 
00 
00 
90 

50 


00 


10 
75 


00 

00 

00 
60 


17512375 


1)  Nach  den  Bestimmungen  der  „Förderer"  werden  die  Mittel  des  „Förderer- 
fonds" der  Geschäftsführung  zur  Verfügung  gestellt  zur  Ermöglichung  der  Zwecke 
der  Kant-Gesellschaft ;  die  Geschäftsführung  ist  verpflichtet,  über  die  Verwendung 
dem  Verwaltungsausschuß  und  der  Allgemeinen  Mitglieder- Versammlung  Rechen- 
schaft abzulegen.  —  Die  Einrichtung  dieses  Fördererfonds  ist  auf  Grund  eines 
Berichtes  seitens  der  Geschäftsführung  vom  Vewaltungsausschuß  der  Kant-Gesell- 
schaft genehmigt  worden  (26.  Januar  1920).  Vgl.  Kant- Studien,  Band  XXV,  Heft  1 
S.  84  ff.  —  lieber  die  Höhe  dieses  Fonds  und  über  die  demselben  zugeführten 
Beträge  wird  regelmäßig  in  den  Kant-Studien  Bericht  erstattet. 
Vaihinger.  Lieber  t. 


Kant-Gesellschaft. 


523 


IL  Ausgaben. 


1.  Honorare  an  die  Mitarbeiter 

2.  Kant-Studien;  Gesamtherstellungskosten :  Papier,  Satz, 
Druck,  Umschlag,  Broschur 

3.  Drei  Ergänzungshefte:  Satz,  Druck,  Papier,  Bro- 
schur, Redaktion  usw. 

a)  Nr.  52  (Wiederhold)         =     9940.90 *)  ) 

b)  „     53  (Ewald)  =     6978.25  2)  } 

c)  „     54  (Goedeckemeyer)  =  12356.00      ) 

4.  Zwei  Vorträge:  Satz,  Druck,  Papier,  Broschur,  Re- 
daktion usw. 

a)  Nr.  24,  2.  Aufl.  (Radbruch-Tillich)  =  4345.00  j 

b)  Nr.  26  (Scholz)  =  7587.70  j 

5.  Versendungskosten  für  die  Veröffentlichungen 
der  Kant-Gesellschaft  (Generalversendung):  Kant-Studien; 
Ergänzungshefte,  Vorträge;  Porti,  Verpackungspappen, 
Bindfaden,  Arbeitslohn 

6.  Frachtkosten,  bes.  für  den  Verkehr  usw.  mit  der  Papier- 
fabrik und  den  Druckereien :  Porti  für  Fracht  der  Papier- 
ballen auf  der  Eisenbahn  an  die  verschiedenen  Druckereien 

7.  Verschiedene  Drucksachen:  Neujahrsmitteilungen, 
verschiedene  Prospekte,  Werbe-  und  Auskunftsmaterial, 
Interessentenformulare,  Eintrittskarten  zu  den  Vorträgen, 
Mitgliedskarten,   Postkarten,   Mahnbriefe,   Satzungen  usw. 

8.  Repräsentationsausgaben  und  Reisen  des  stell- 
vertr.  Geschäftsführers  nach  Halle  und  nach  anderen  Städten 
zu  Vorträgen  in  verschiedenen  Ortsgruppen,  verschiedener 
Redner  zu  Vorträgen  usw 

9.  Beiträge  an  wissenschaftliche  Gesellschaften  und  Unter- 
nehmungen  

10.  Verschiedenes:  Zustellungs-  und  Einziehungsgebühren 
für  die  Jahresbeiträge;  Gebühren  an  die  Deutsche  Bank 
für  die  Verwaltung  der  Gelder;  Abonnement  auf  die 
Deutsche  Literatur  -  Zeitung ;  Beschaffung  einzelner  Zeit- 
schriften und  Rezensionsexemplare  für  die  Kant  -  Studien ; 
Buchbinderarbeiten;  Aktenpapier;  Briefbogen;  Umschläge; 
Tinte;  Federn;  Bleistifte;  Packmaterial;  Bindfaden;  Gummi- 
stempel; Klammern;  Telegramme;  Versicherungsmarken  für 


Uebertrag  Mk. 


8659 
51684 

29275 

11933 

18317 
5158 

4712 

2894 
189 


65 
05 

15 

70 

85 
45 

50 

45 

00 


13282480 


1)  Vgl.  Nr.  6  der  Einnahmen:  Zuschuß  des  Verfassers:  9930.00  Mk. 

2)  Laut  Jahresbericht  1920,  No.  9  der  Einnahmen  wurden  zur  Herstellung 
dieses  Ergänzungsheftes  von  verschiedenen  Mitgliedern  beigesteuert:  4550.00  Mk. 
(Diese  Summe  bereits  unter  den  Einnahmen  des  Rechnungsjahres  1920  gebucht.) 


524 


Kant-Gesellschaft. 


11. 


12. 


13. 


14. 


15. 
16. 
17. 


Uebertrag  Mk. 

die  Sekretärin ;  Gebühren  für  die  Ortskrankenkasse ;  Farb- 
bänder; Veranstaltung  der  Vorträge;  Kontobücher  für  die 
Mitgliederlisten;    Formulare   für   die   Auslandssendungen; 

Zahlkarten  usw 

Lieferung  früherer  Jahrgänge  der  Kant-Studien, 
Ergänzungshefte,  Vorträge,  Neudrucke  an  Universitäts- 
seminare und  an  verschiedene  Mitglieder  und  Bibliotheken 
Zuschüsse    für    die   Ortsgruppen   Karlsruhe  i.  B. 

Hannover,  Stuttgart,  Heidelberg 

Schreibhilfe:  a)  Vaihinger  =     486.00  ) 

b)  Frischeisen-Köhler  =     950.50  | 

c)  Liebert  =  6419.90  ) 
Porto-Ausgaben: 

a)  Vaihinger  =       264  Nummern  =     197.50 ) 

b)  Frischeisen-Köhler  =       321  „  =     261.75  | 

c)  Liebert  =  15018  „  =  4300.65  ) 

Fernsprecher     

Entschädigung  für  den  stell  v.  Geschäftsführer  Prof.  Liebert 
Entschädigung  für  den  Assistenten 

Gesamtausgaben  Mk 

Zusammenstellung: 

Einnahmen 175123.75  Mk. 

Ausgaben 175123.75  „ 


132824 

4131 

910 
1200 

7856 


4759 

990 

20000 

2450 


175123 


80 

25 

90 
00 

40 


90 
50 
00 
00 


75 


Siebente  (Jubiläums-)Preisaufgabe. 

Urteile  der  Preisrichter. 

Die  Kant-Gesellschaft  hat  im  Oktober  1913  als  Preisaufgabe 
das  Thema  gestellt: 

„Der   Einfluß    Kants   und   der   von   ihm    ausgehenden   deutschen   idealistischen 
Philosophie  auf  die  Männer  der  Heform-  und  Erhebungszeit." 

Nach  wiederholter  Fristverlängerung  sind  bis  zum  endgiltigen  Ab- 
lieferungstermin, dem  22.  April  1921,  folgende  drei,  durch  Kennworte  be- 
zeichnete Arbeiten  eingegangen: 

1.  „Das  Zeitalter  kann  nur  durch  den. Geist  geheilt  und  gekräftigt 
werden".    E.  M.  Arndt,  120  Seiten,  Folio,  Handschrift. 

2.  „Kant  ist  kein  Licht  der  Welt,  sondern  ein  ganzes  strahlendes 
Sonnensystem  auf  einmal".  Jean  Paul,  179  Seiten  Quart,  Hand- 
schrift. 

3.  „Zur  Form".     91  Seiten  Folio,  Maschinenschrift, 

Die  unterzeichneten  Preisrichter  stimmen  in  der  Auffassung  überein, 
daß  wesentlich  neue  Zusammenhänge  in  Bezug  auf  das  Thema  nicht  mehr 


Kant-Gesellschaft.  525 

zu  entdecken  waren,  daß  aber  die  Aufgabe,  die  Fülle  quellenmäßig  fest- 
stehender Einzelzüge  zu  einem  historischen  Gemälde  zu  vereinigen,  um  so 
schwieriger  war,  als  dabei  die  verschiedensten  Geistesgebiete  durchschritten 
werden  mußten.  Auch  lag  die  Gefahr  nahe,  die  Kraft  bloß  literarischer 
Einflüsse  zu  überschätzen,  oder  alles  auf  Kant  als  eine  Art  Zentralsonne 
zurückzuführen,  während  vieles  in  "Wahrheit  aus  der  Aufklärung,  der  fran- 
zösischen Revolution,  dem  Physiokratismus  usw.  abzuleiten  ist.  Umgekehrt 
bestätigen  die  eingegangenen  Arbeiten,  daß  das  Ethos  großer  Denker  auch 
auf  solche  Zeitgenossen  ausstrahlen  kann,  die  in  die  strenge  rationale  Be- 
gründung ihrer  philosophischen  Systeme  niemals  eingedrungen  sind. 

Die  wünschenswerte  Verbindung  von  Quellenforschung,  philosophischem 
Geist  und  zusammenschauender  Darstellungsgabe  findet  sich  in  keiner  der 
vorliegenden  Abhandlungen.  Infolgedessen  sind  auch  gewisse  philosophische 
Hauptpunkte  nicht  so  herausgekommen,  wie  es  der  historische  Sachverhalt 
forderte.  Man  hätte  vor  allem  eine  genaue  Abgrenzung  erwartet,  wie  groß 
der  Anteil  der  strengen  Kantischen  Lehre  einerseits,  der  besonders  von 
Fichte  und  Schelling  ausgehenden  spekulativen  Philosophie  andererseits  ein- 
zuschätzen ist.  Das  Kriterium  für  die  über  Kant  hinausgehenden  Lehren 
hätte  sich  vermutlich  in  folgenden  drei  Hauptpunkten  gefunden:  in  der 
neuplatonisch  gefärbten  Ideenlehre,  nach  der  die  Ideen  metaphysische 
Weltmächte  und  nicht  bloß  Regulative  oder  Postulate  sind;  in  der  Ge- 
schichtsphilosophie, die  die  Vernunft  selbst  in  einen  planmäßig  be- 
stimmten Entfaltungsprozeß  hineinzieht;  und  endlich  in  der  Konstruktion 
der  Rationalität  als  einer  individuellen  Darstellung  der  ewigen  Mensch- 
heitsidee unter  den  Bedingungen  der  Zeit.  Eine  ganze  Anzahl  von  Re- 
formen steht  auf  dem  Boden  dieser  Grundansichten  und  gehört  deshalb 
mehr  in  den  Einflußbezirk  von  Fichte  als  von  Kant.  Besonders  das  an- 
geblich orthodoxe  Kantianertum  von  Th.  Schön  hätte  unter  diesem  Ge- 
sichtspunkt nachgeprüft  werden  müssen.  Zusammenhängend  sind  diese 
Fragen  in  keiner  der  Preisaufgaben  behandelt  worden.  Wohl  aber  be- 
handelt die  zweite  die  Einzelabhängigkeiten  im  allgemeinen  richtig,  während 
die  dritte  das  Verdienst  hat,  von  der  grundsätzlichen  Frage  auszugehen,  in 
welchem  Sinne  von  einem  „Einflußhaben"  auf  Geistesformen  überhaupt  die 
Rede  sein  kann. 

Im  einzelnen  sind  die  Preisrichter  zu  folgenden  Urteilen  gelangt: 
1.  Die  erste  Arbeit  mit  dem  Motto:  „Das  Zeitalter  ..."  gibt  eine  an- 
genehm lesbare  Darstellung  in  einer  Reihe  von  Einzelbildern,  die  die  Philo- 
sophen, philosophisch  beeinflußten  Staatsmänner  und  einige  Dichter  dieser 
Reformzeit  an  uns  vorüberziehen  läßt.  Jedoch  mangelt  durchgängig 
eigentliche  Quellenforschung,  die  die  Arbeit  erst  zu  einer  wissenschaftlichen 
erheben  würde.  Dies  gilt  schon  von  dem  ersten  Teil,  der  sich  mit  Kant, 
Schiller  und  Fichte  in  recht  populärer  und  zum  Teil  oberflächlicher  Form 
beschäftigt.  Im  Abschnitt  über  die  Staatsmänner  ist  zwar  Vollständigkeit 
der  Namen  angestrebt,  dabei  aber  mancher  herangezogen,  der  zu  dem  Geist 
der  preußischen  Reform  nur  in  sehr  entfernten  Beziehungen  steht.  Die 
flüchtigen  Schlußbemerkungen  über  die  Dichter  müßten,  wenn  man  diese 
überhaupt  berücksichtigt,  wesentlich  vertieft  werden,  besonders  unter'  Ver- 
wertung der  inzwischen  neu  erschienenen  Untersuchungen  von  Ernst  Cassierer. 


526  Kant-Gesellschaft. 

—  Als  Ganzes  hat  die  Arbeit  nur  den  Wert  einer  anregenden  Uebersicht, 
nicht  aber  einer  wissenschaftlichen  Forschung  oder  auch  nur  einer  ab- 
schließenden gründlichen  Verarbeitung  fremder  Ergebnisse. 

2.  Wesentlich  höher  steht  die  Arbeit  mit  dem  Motto:  „Kant  ist  . .  . 
ein  ganzes  Sonnensystem".  Sie  beruht  auf  eigener  Quellenbenutzung,  die 
sich  allerdings  auf  gedrucktes  Material  beschränkt  und  auch  dies  nicht  er- 
schöpfend heranzieht.  Die  Darstellung  ist  so  angelegt,  daß  die  Persönlich- 
keiten der  Politiker  in  den  Vordergrund  gerückt  werden,  von  Stein,  Harden- 
berg und  Altenstein  an  über  Humboldt,  Süvern  und  eine  Anzahl  mehr  in 
zweiter  Linie  stehender  Männer  bis  zu  den  Trägern  der  Heeresreform.  Ihre 
geistige  und  politische  Individualität  wird  im  allgemeinen  zutreffend  ge- 
schildert ;  auch  Einzelheiten  der  Verfassungsgeschichte  werden  sorgfältig  be- 
richtet, wobei  freilich  sehr  oft  auf  Kant  und  Fichte  zurückgeführt  wird, 
was  ebenso  gut  der  allgemeinen  Zeitatmosphäre  oder  der  ursprünglichen 
Veranlagung  des  Betreffenden  entstammen  kann.  Der  Hauptmangel  der 
Arbeit  liegt  darin,  daß  sie  in  eine  Reihe  zusammenhangloser  Einzelbilder 
zerfällt.  Sie  behandelt  den  Gegenstand  mosaikartig,  ohne  wirklich  durch- 
dringende und  beherrschende  Gedanken.  Schon  die  Hauptsache:  das  philo- 
sophische Denken  der  Zeit,  gelangt  gleichsam  nur  gelegentlich  und  nach 
Personen  zerstückt  zur  Darstellung.  Es  fehlt  aber  auch  sonst  an  gestalten- 
der Phantasie  und  bildgebender  Formkraft.  Der  Verfasser  ist  sich  dieser 
Mängel  selbst  bewußt.  In  einer  Vorbemerkung  entschuldigt  er  sie  mit 
Kriegsbehinderungen  und  Verwundung.  Er  ist  nicht  über  eine  Folge  von 
Einzelabhandlungen  hinausgekommen,  in  der  manches  sich  wiederholt,  an- 
deres (z.  B.  der  Abschnitt  über  Altenstein)  zu  weitschweifig  geraten  ist, 
während  wieder  anderes  (z.  B.  der  abschließende  Süvernsche  Gesetzentwurf 
von  1819)  ergänzt  werden  müßte.  Zur  Drucklegung  in  der  vorliegenden 
Gestalt  können  die  Beurteiler  unter  keinen  Umständen  raten.  Ob  aber  eine 
wirkliche  Formgebung  gelingt,  bleibt  abzuwarten. 

3.  Die  dritte  Abhandlung  endlich  mit  dem  Kennwort  „Zur  Form" 
zeigt  das  größte  spekulative  Talent,  beschäftigt  sich  aber  leider  zu  wenig 
mit  dem  gestellten  Thema.  Der  Verfasser  beginnt  mit  der  allerdings 
interessanten  Vorfrage,  was  man  sich  unter  dem  Einfluß  einer  Philosophie 
auf  Männer  und  Zeiten  zu  denken  habe,  und  gibt  im  übrigen  mehr  seinen 
eigenen  philosophischen  Standpunkt,  als  daß  er  Kant  oder  Fichte  oder  gar 
die  Politiker  der  Reformzeit  behandelte.  Seine  Arbeit  hat  daher  etwas 
Modern-Expressionistisches.  Sie  ergeht  sich  in  einer  überphilosophischen, 
sich  fortwährend  verschränkenden,  drehenden  und  windenden  Darstellungs- 
weise, aus  der  nur  das  eine  greifbar  herausspringt,  daß  Kant  als  die 
schlechtweg  entscheidende  Wendung  des  deutschen  Geisteslebens  vergöttert 
wird.  An  den  historisch  gegebenen  Zusammenhang  des  Kantischen  Sy- 
stems hält  sich  der  Verfasser  dabei  sehr  wenig.  Er  widmet  fast  zwei 
Artikel  der  Arbeit  dem  Nachweis,  daß  Kant  in  seiner  apriorischen  Frei- 
heitslehre eine  neue  „Form"  für  den  deutschen  Geist  geschaffen  habe. 
Sein  Verdienst  liege  ausschließlich  in  dieser  Richtung,  also  in  seiner 
Metaphysik,  nicht  in  der  Kritik  der  Wissenschaft,  die  er  zu  Unrecht 
damit  verkoppelt  habe  und  die  bei  Hume  viel  besser  geleistet  sei.  Auch 
seine   Wirkung    auf    das    öffentliche    Leben    der    Zeit    stamme    allein    aus 


Kant-Gesellschaft.  527 

dem  schöpferischen  Willen  zur  Form:  „Die  Ethik  Kants  ist  eine  Anleitung 
dazu,  das  Leben  in  bejahender  Form  zu  leben".  —  Obgleich  nicht  ge- 
leugnet werden  kann,  daß  sich  in  diesen  Ausführungen  mancher  starke  und 
fruchtbare  Gedanke  verbirgt,  so  vermißt  man  doch  zu  sehr  die  Ehrfurcht 
vor  der  historischen  Tatsache. 

Schon  in  die  Philosophie  Kants  wird  des  Verfassers  eigener  Stand- 
punkt mehr  durch  Willensentscheidungen  hineingedrückt,  als  daß  eine  histo- 
risch einführende  Interpretation  auch  nur  versucht  würde.  Aber  auch  sonst 
werden  die  Tatsachen  in  einer  Weise  vergewaltigt,  daß  man  sich  nichts 
geschichtsfremderes  denken  kann.  Die  moderne  Meinung,  daß  man  eine 
Philosophie  nicht  darstellen,  sondern  über  sie  philosophieren  solle,  wird  hier 
anscheinend  auf  die  Geschichte  überhaupt  ausgedehnt;  offenbar  sind  dabei 
jungdeutsche  Konstruktionen  der  Nationalidee  stärker  maßgebend  gewesen 
als  der  historische  Sinn.  Da  nun  überdies  nach  einer  so  umständlichen  Ein- 
leitung dem  Thema  selbst,  nämlich  den  Männern  der  Reformzeit,  am  Schluß 
nur  etwa  zehn  Seiten  sehr  flüchtiger  und  allgemeiner  Bemerkungen  ge- 
widmet werden,  so  kann  die  ganze  Arbeit  nicht  eigentlich  als  Erfüllung 
der  Preisaufgabe  betrachtet  werden.  Sie  scheidet  —  trotz  der  angedeuteten 
philosophischen  Originalität  —  für  die  Beurteilung  aus,  da  sie  sich  grund- 
sätzlich nicht  auf  den  Boden  der  historischen  Forschung  stellt.  —  — 


Nach  eingehender  Erwägung  kommen  die  Preisrichter  sonach  zu  dem 
Ergebnis,  daß  zwar  keine  der  Arbeiten  die  Hoffnungen  ganz  erfüllt,  die 
zur  Themastellung  Anlaß  gegeben  haben.  Denn  keine  gibt  ein  wirklich 
abschließendes  Bild  des  Anteiles  der  Philosophie  an  der  politischen  Be- 
wegung der  preußischen  Reformzeit.  Jedoch  steht  die  zweite  Arbeit  (mit 
dem  Motto:  „Kant...  ist  ein  ganzes  Sonnensystem")  infolge  ihrer  fleißigen 
und  sorgfältigen  Einzeluntersuchungen  so  weit  vor  den  anderen  voran,  daß 
ihr  trotz  der  hervorgehobenen  Einschränkungen  der  erste  Preis  im  Betrage 
von  1500  Mark  erteilt  werden  soll. 

Die  Preisrichter  stellen  es  dabei  dem  Vorstand  der  „Kant-Gesellschaft" 
anheim,  wie  weit  er  aus  Rücksicht  auf  den  inzwischen  erheblich  gesunkenen 
Geldwert  den  Preis  aus  den  verfugbar  bleibenden  Summen  des  zweiten  und 
dritten  Preises  zu  erhöhen  geneigt  ist. 

gez.  Lenz.       Meinecke.       Spranger. 

Anmerkung  der  Geschäftsführung:  Als  Verfasser  der  zweiten 
Arbeit,  also  als  Preisträger  ergab  sich,  wie  bereits  oben  S.  519  mitgeteilt  wurde, 
Herr  Studienrat  Dr.  Wagner  in  Cöln,  dem  von  dem  Vorstand  der  Kant-Gesellschaft 
die  Summe  von  4000  Mk.  eingehändigt  wurde. 

Lebenslauf.    (Dr.  Wagner.) 

Am  27.  1.  78  zu  Darmstadt  geboren,  machte  ich  Ostern  1896  meine 
Reifeprüfung  an  dem  Realgymnasium  meiner  Heimatstadt  und  studierte 
dann  deutsche,  englische,  romanische  Philologie  und  Geschichte  an  den 
Universitäten  Berlin  und  Gießen.  Hier  bestand  ich  S.S.  1900  das  Staats- 
examen für  das  höhere  Lehramt  im  Großherzogtum  Hessen.  Im  Winter 
1904/5    promovierte    ich    mit   einer    germanistischen  Arbeit  bei    Prof.  Dr. 


528  Kant-Geseilschaft. 

Behaghel  in  Gießen,  trat  dann  aus  dem  Großh.  Hess.  Staatsdienst  aus  und 
übernahm  Ostern  1905  eine  Stelle  am  Schillergymnasium  in  Köln -Ehren- 
feld, die  ich  zur  Zeit  noch  verwalte.  Zu  meinen  unvergeßlichen  Lehrern 
gehört  der  nun  verstorbene  Vertreter  der  Philosophie  in  Gießen,  Prof.  Dr. 
Siebeck,  dessen  sämtliche  Vorlesungen  ich  hörte.  Er  war  kein  Redner, 
aber  der  Gedankengang  seiner  Vorlesungen  kam  in  so  klarer  und  fein 
geschliffener  Form  zum  Ausdruck,  daß  von  ihm  eine  Fülle  von  Anre- 
gungen auf  seine  Hörer  ausging.  Er  steht  mir  auch  heute  noch  so  lebhaft 
vor  der  Seele,  daß  ich  sagen  darf,  er  war  es,  der  mir  zuerst  und  aufs 
Nachhaltigste  eine  Brücke  zur  Philosophie  schlug.  Diese  Beziehung  wurde 
genährt  durch  meine  berufliche  Tätigkeit,  durch  den  deutschen  Unterricht 
in  Prima,  namentlich  durch  die  mehrjährige  Ausdeutung  von  Schillers 
Gedankenlyrik  und  vor  allem  seines  Wallenstein.  Eine  eingehendere  Be- 
schäftigung mit  Kant,  mit  Werken  von  Windelband,  Kuno  Fischer,  Paulsen 
u.  a.  war  die  Folge.  Durch  den  Krieg  aus  meiner  Amtstätigkeit  und  pri- 
vaten Beschäftigung  herausgerissen,  trat  ich  nach  meiner  Entlassung  aus 
dem  Lazarett,  als  ich  meine  berufliche  Tätigkeit  wieder  aufgenommen  hatte, 
1917  in  die  Kantgesellschaft  ein.  Bei  der  Durchsicht  der  Kantstudien 
stieß  ich  auf  das  Preisausschreiben,  welches  mich  bestimmte,  vorliegende 
Arbeit  in  Angriff  zu  nehmen.  In  den  allerersten  Anfängen  stehend,  wurde 
ich  Ende  1917  wieder  eingezogen,  sodaß  ich  erst  nach  unserm  Zusammen- 
bruch fortfahren  konnte.  Die  Verschiebung  des  Endtermins  auf  den  20.  4.  21 
durch  die  Geschäftsleitung  machte  es  mir  möglich,  zu  einem  vorläufigen 
Abschluß  zu  kommen.  Bitter  schwer  war  es  für  mich,  neben  der  beruf- 
lichen Tätigkeit  noch  genügend  Zeit  zu  angestrengter  wissenschaftlicher 
Tätigkeit  zu  finden.  Manchmal  wollte  der  letzte  Funken  des  Muts  er- 
löschen. Der  Drang  nach  Betätigung  in  rein  geistiger  Sphäre  siegte. 
Liegt  nun  auch  der  Haupterfolg  einer  derartigen  wissenschaftlichen  Arbeit 
in  der  geistigen  Selbstbereicherung,  so  soll  mir  die  äußere  Anerkennung, 
die  ihr  durch  den  Spruch  der  Preisrichter  zuteil  geworden  ist,  ein  Ansporn 
zu  weiterer  Arbeit  sein.  Dr.  phil.  Wilhelm  Wagner. 


Akademie  für  Philosophie  in  Erlangen. 

Am  Montag,  den  12.  Juni  1922  wurde  die  auf  dem  Burgberg  zu 
Erlangen  gelegene  und  von  Dr.  Rolf  Hoffmann  gestiftete  Akademie  er- 
öffnet. Eine  Aufforderung  zur  Teilnahme  an  den  Eröffnungsfeierlichkeiten 
in  Erlangen  waren  an  die  Mitglieder  der  Kant  -  Gesellschaft  zugleich  mit 
der  Einladung  zur  Teilnahme  an  der  Generalversammlung  in  Halle  ergangen. 

Das  Programm  der  Veranstaltungen  in  Erlangen  gestaltete  sich  wie  folgt: 

Montag,  den  12.  Juni  1922. 
Nachm.  5  Uhr:  1.  Eröfmungsworte :  Dr.  Rolf  Hoff  mann.  2.  Ansprache: 
Der  Oberbürgermeister  von  Erlangen,  Herr  Dr.  Klippel.  3.  An- 
sprache: Geh.  Reg.-Rat  Herr  Prof.  Dr.  Hans  Vai  hinger -Halle  im 
Namen  der  Kant- Gesellschaft.  4.  Ansprache:  Herr  Prof.  Dr.  Paul 
H  e  n  s  e  1  -  Erlangen,  Ehrenvorsitzender  der  Ortsgruppe  Nürnberg- 
Fürth- Erlangen.  —  Besichtigung  der  Akademie. 


Kant-Gesellschaft.  529 

7  Uhr:  Konzert  (Kammermusik). 

8  Uhr:  Bewirtung  der  Gäste  im  Park  der  Akademie  (unentgeltlich). 

Dienstag,  den  13.  Juni  1922. 
Vormittags:   Besichtigung  Erlangens:    Schloß  —  Seminargehäude    der  Uni- 
versität —  Orangerie  —  Gemäldegalerie  —  Altes  Rathaus  —  Haus 
des  Volksbildungsbundes  —  des  Instituts   für   Röntgentiefentherapie 
(Professor  Wintz).     Dieses  Röntgen-Institut  ist  das  größte  der  Erde. 
Bei  der  Besichtigung  hielt  Professor  Wintz  einen  eingehenden  Vortrag, 
"Waldspaziergang  nach  Spardorf  und  Schloß  Marioffstein,  wo  für  Mittag- 
essen Vorsorge  getroffen  war. 
Nachmittags  ^5  Uhr:    Vortrag    des   Herrn  Prof.  Dr.  Paul  Hensel: 
„Wilhelm  von  Humboldt". 
6  Uhr:  Vortrag    des    Herrn    Prof.    Dr.  Arthur  Liebert:     „Die 

geistige  Krisis  der  Gegenwart". 
8  Uhr:  Bewirtung  der  Gäste  im  Park  der  Akademie  (unentgeltlich). 
3/49  Uhr:  Klavier-Konzert:  Winfrid  Wolf -Berlin. 

OKÜT"  Anfragen  wegen  der  Veranstaltungen  auf  der  Akademie  und 
wegen  der  Akademie  sind  ausschließlich  an  Dr.  Rolf  Hoff  mann, 
Akademie  auf  dem  Burgberg,  Erlangen,  zu  richten. 


Ueber  die  wissenschaftliche  Leitung,  über  die  ins  Auge  gefaßten 
Pläne  und  Arbeiten,  wie  überhaupt  über  die  ganze  Einrichtung  und  Betä- 
tigungsform der  Akademie  können  voraussichtlich  erst  in  einem  späteren 
Heft  der  Kant-Studien  genauere  Angaben  gemacht  werden.  — 


Ortsgruppe  Tübingen. 
Bericht  vom  Winter-Semester  1921/22. 

Seit  dem  S.-S.  1921  fanden  hier  regelmäßig  Zusammenkünfte  der 
Mitglieder  der  allgemeinen  Kantgesellschaft  statt.  Da  sich  unsre  Vortrags- 
abende im  W.-S.  1921/22  eines  regen  Besuches  erfreuten  und  in  weiteren 
Kreisen  Beifall  fanden,  entstand  das  Bedürfnis  nach  einem  festeren  Zu- 
sammenschluß. So  wurde  am  27.  Januar  1922  eine  Ortsgruppe  der  Kant- 
gesellschaft in  Tübingen  gegründet,  deren  Ehrenvorsitz  Herr  Prof.  E.  Adickes 
übernahm.  Die  aktive  Vorstandschaft  führt  Herr  E.  Keller,  Repetent  am 
Tübinger  Stift. 

Der  Zweck  unsrer  Vereinigung  ist  die  gemeinsame  Pflege  der  philo- 
sophischen Interessen.  Wir  nehmen  daher  außer  den  Mitgliedern  der  Kant- 
gesellschaft auch  Ortsmitglieder  auf.  Der  Semesterbeitrag  ist  auf  6  Mk. 
festgesetzt.  Das  dankenswerte  Entgegenkommen  der  Stuttgarter  Ortsgruppe 
ermöglicht  uns  ein  engeres  Zusammengehen  mit  der  schwäbischen  Schwester 
in  der  Form,  daß  wir  unsren  Mitgliedern  beiderseits  dieselben  Vergünsti- 
gungen bei  unsren  Veranstaltungen  gewähren. 

Den  Eröffnungsvortrag  hielt  Herr  Repetent  Keller  über  das  Thema 
„Spengler  als  Philosoph".  Weitere  Vorträge  hielten  die  Herren  cand.  theol. 
Hof  mann:  „Vaihingers    Philosophie    des  Als  ob",    cand.  phil.  Spiegel- 


530  Kant-Gesellschaft. 

berg:  „Hegels  Geschichtsphilosophie",  Professor  Häring  jr.:  „Der  Begriff 
Intuition  in  den  modernen  Geistesströmungen",  Professor  Dr.  E.  M e t z g e r : 
„Der  Neukantianismus  in  der  Rechtsphilosophie",  Dr.  phil.  Paret:  „Das 
Wesen  des  Individuellen  in  der  Geschichte",  Stadtpfarrer  Lic.  G.  Paber: 
„Husserls  Phänomenologie  und  ihre  Bedeutung  für  die  Religionsphilosophie".  — 

Der  Vorstand  der  Ortsgruppe  Tübingen. 

Ortsgruppe  München. 

Im  Jahre  1921  sind  in  der  Münchner  Ortsgruppe  der  Kantgesellschaft 
folgende  Vorträge  gehalten  worden : 

Prof.  Dr.  Emil  Wolff,  Hamburg,  sprach  am  3.  Januar  1921  über 
„Hegel  und  die  Philosophie  unserer  Zeit". 

Professor  Dr.  I.  M.  Verweyen,  Bonn,  sprach  am  14.  Februar  1921 
über  „Die  Beziehungen  der  mittelalterlichen  und  der  modernen  Erkenntnislehre". 

Professor  Dr.  E.  von  Aster,  Gießen,  sprach  am  7.  März  1921  über 
„Idealistische  und  realistische  Philosophie". 

Professor  Dr.  Erich  Becher,  München,  sprach  am  24.  Mai  1921  über 
„Die  Führerrolle  des  Seelischen  im  Organismus". 

Dr.  Friedrich  Seifert,  München,  sprach  am  30.  Juli  1921  über 
„Prinzipielle  Bemerkungen  zur  Philosophie  des  Lebens". 

Professor  Dr.  Karl  Voßler,  München,  sprach  am  21.  Juli  1921  über 
„Poesie  und  Prosa". 

Professor  Dr.  Richard  Hamann,  Marburg,  sprach  am  28.  Oktober  1921 
über  „Die  Kategorie  des  Künstlerischen". 

Im  Jahre  1922  sind  in  der  Münchner  Ortsgruppe  der  Kantgesellschaft 
folgende  Vorträge  gehalten  worden: 

Professor  Dr.  Janentzky,  München,  sprach  am  20.  Februar  1921 
über  „Mystik  und  Rationalismus". 

Geheimrat  Professor  Dr.  von  Beling,  München,  sprach  am  9.  Mai 
1922  über  „Rechtswirklichkeit  und  Rechtsideal". 

Dr.  Alfred  Baeumler,  München,  sprach  am  26.  Juni  1922  über 
„Hegel  und  Kierkegaard". 

Dr.  Felix  Noeggerath,  München,  sprach  am  22.  Juli  über  „Pro- 
bleme des  Relativismus  in  den  exakten  Wissenschaften". 


Ortsgruppe  Heidelberg  1922/23. 

I.  Diskussionsabende  über  „Hauptrichtungen  der 
Geschichtsphilosophie". 

2.  November  1922:  Einleitungsvortrag  von  Dr.  Rothacker. 

7.  Dezember  1922:  Augustin,  Dr.  Salin. 
11.  Januar  1923:        Montesquieu  und  Rousseau,  Dr.  Bosch. 

1.  Februar  1923:      Kant,  Prof.  Ernst  Hoffmann. 
15.  Februar  1923:      Der  deutsche  Idealismus,  Dr.  GHockner. 


26. 


Kant-Gesellschaft.  531 


April  1923:  Marx  und  Comte,  Dr.  Kraus. 

17.  Mai  1923:  Die  Fachhistorie    (Droysen    und    seine    Schule), 

Dr.  Rothacker. 
7.  Juni  1923:  Diskussionsabend  über  Spengler. 

5.  Juli  1923:  Das  historische  Verstehen  (Simmel,  Max,  Weber 

Troeltsch,  Spranger   und  Scheler),    Dr.  Mannheim 

II.  Öffentliche  Vorträge. 

In  Aussicht  genommen  sind  Vorträge  von  den  Professoren  Liebert, 
Joel,  Ungerer  und  Hensel.     Dieselben    werden    durch  Anschläge   be- 
sonders bekanntgegeben.  Die  Geschäftsleitung. 
NB.     Die  Diskussionsabende  finden  abends  8  Uhr  c.  t.  im  Hörsaal  des  geo- 
graphischen   Instituts  ( Seminariengebäude)    statt.    —    Anfragen    und 
Anmeldungen  an  den  Schriftführer  stud.  phil.  Herr  mann,  Bergstr.  114. 


Ortsgruppe  Erlangen-Nürnberg-Fürth. 

Ab  Montag,  den  7.  August  1922  um  774  abends  hält  Professor  Dr. 
Paul  H  e  n  s  e  1  -  Erlangen  eine  Woche  lang  täglich  um  dieselbe  Zeit  in  der 
Akademie  auf  dem  Burgberg  eine  Vorlesung: 

„Einführung  in  die  Kantische  Philosophie". 
Für  Mitglieder  frei.      Nichtmitglieder,    die  eingeführt   werden  können, 
zahlen  50  Mk.  für  den  Kurs. 

Der  Vorstand  der  Ortsgruppe. 

Anmeldungen  zu  dieser  Ortsgruppe  sind  zu  richten  an  Dr.  Rolf 
Hoffmann,  Erlangen,  Akademie  auf  dem  Burgberg. 


Preisänderung. 

In  unseren  Allgemeinen  Mitteilungen  in  den  „Kant- Studien",  Band 
XXVH,  Heft  1 — 2  Seite  250  war  angegeben,  daß  der  Verlag  von  Felix 
Meiner,  Leipzig  das  Heft  4  des  2.  Bandes  der  „Annalen  der  Philosophie" 
auf  Wunsch  den  Mitgliedern  der  Kant-Gesellschaft  zu  dem  Vorzugspreis 
von  5. —  Mk.  statt  eines  Ladenpreises  von  8. —  Mk.  zustellt. 

Wie  uns  die  Verlagsbuchhandlung  jetzt  mitteilt,  kostet  das  Heft  nun- 
mehr regulär  im  Buchhandel  40. —  Mk.  Der  Verlag  will  aber  den  Mit- 
gliedern der  Kant-Gesellschaft  das  Heft  zu  einem  Vorzugspreis  von  20  Mk. 
zustellen  (der  Geldentwertung  entsprechend).  Interessenten  wollen  sich  gef. 
nicht  an  die  Geschäftsführung  der  Kant-Gesellschaft,  sondern  direkt  an  den 
Verlag  von  Felix  Meiner,  Leipzig,  Kurzestr.  8  wenden. 

Das  Heft  enthält  unter  anderm  eine  Reihe  von  Aufsätzen  über  die 
„Philosophie  des  Als  Ob"  von  Hans  Vaihinger,  so  den  Vortrag  von  Professor 
Julius  Schultz :  „Die  Fiktion  vom  Universum  als  Maschine  und  die  Korre- 
lation des  Geschehens"  und  eine  Arbeit  von  Geheimrat  Vaihinger:  „Ist 
die  Philosophie  des  Als  Ob  Skeptizismus?" 


Zehntes  Preisausschreiben  der 
Kant- Gesellschaft. 


Thema: 


Personalismus  und  Idealismus  als  Grundtypen 
der  Weltanschauung, 

erläutert  und  beurteilt  an  den  gegenwärtigen  Versuchen 
einer  personalistischen  Philosophie. 

Preise : 

1.  Preis:  9000. —  Mk.  )  Gerechnet  u.  eingezahlt  an  die  Kasse  der  Kant- 

2.  Preis:  6000. —  Mk.  (  Gesellschaft  zu  einem  Dollarstand  von  250  Mk. 


Die  Preise  werden   bei   der  Auszahlung  eventuell   dem    dann 
gültigen  Dollarstand  entsprechend  erhöht. 

Erläuterung. 

Es  lassen  sich  zwei  Typen  der  Weltanschauung  danach  unterscheiden 
ob  das  Gültige  in  der  Form  des  Allgemeinen,  Abstrakten  (der  absoluten 
Vernunft,  der  Idee,  des  Gesetzes)  oder  in  der  Form  einmaliger,  konkreter 
Ganzheiten  (Personen,  Persönlichkeiten)  gefaßt  wird.  Man  kann  jenen  als 
den  idealistischen,  diesen  als  den  personalistischen  Typus  bezeichnen. 

In  der  Geschichte  des  philosophischen  Denkens  ist  bis  jetzt  der  erste 
Typus  weitaus  am  stärksten  vertreten  worden.  Wohl  finden  sich  bei 
Aristoteles  und  Leibniz,  in  neuerer  Zeit  bei  Eduard  von  Hartmann,  Lotze, 
Nietzsche,  sowie  an  einzelnen  Stellen  idealistischer  Systeme  (z.  B.  in  Kants 
Lehre  von  der  sittlichen  Persönlichkeit)  Ansätze  zum  Personalismus.  Die 
eigentliche  Vertretung  dieser  Ueberzeugung  wurde  aber  bisher  meist  dem 
naiven  Personalismus  überlassen,  wie  er  sich,  abseits  von  der  Philosophie, 
in  Mythus,  Religion,  Kunst,  tätigem  Leben  äußert.  Erst  in  unserer  Zeit 
hat  sich  die  Philosophie  die  Aufgabe  gesetzt,  personalistische  Ueberzeu- 
gungen  mit  den  Hilfsmitteln  systematischer  und  kritischer  Methodik  zu 
durchdenken.  Hierbei  haben  sich  eigenartige  Beziehungen  positiver  und 
negativer  Art  zu  den  Kategorien  des  abstrakten  Idealismus  herausgebildet. 
Diese  Beziehungen   zu  untersuchen,    soll  die  Aufgabe   der  Preisschrift  sein. 

Hierfür  ist  es  nicht  erwünscht,  daß  die  Gedankengänge  der  idealistischen 
Systeme,  die  ja  bereits  in  aller  Gründlichkeit  philosophisch  durchgearbeitet 


Kant-Gesellschaft.  533 

sind,  nochmals  ausführlich  behandelt  werden.  Vielmehr  sind  die  persona- 
listischen  Ansätze  und  Systemversuche  unserer  Zeit  zum  Mittelpunkt  der 
Arbeit  zu  machen.  Von  diesem  Mittelpunkt  aus  soll  der  Bearbeiter  die 
genannten  Beziehungen  zum  Idealismus  darlegen  und  zu  ihnen  kritisch 
Stellung  nehmen. 

Es  wird  vorausgesetzt,  daß  die  der  eigentlichen  Philosophie  angehö- 
rigen  Ansätze  zu  einem  Personalismus,  wie  sie  etwa  in  der  Dilthey sehen, 
in  der  südwestdeutschen  Schule,  bei  Eucken,  Simmel,  Troeltsch,  in  der 
Ethik  Schelers  zu  finden  sind,  dann  besonders  der  Ausbau  der  Idee  des 
Personalismus  in  dem  metaphysischen  System  William  Sterns  berücksichtigt 
werden.  "Weiterhin  ist  den  Bearbeitern  die  Heranziehung  verwandter 
Gedankengänge  aus  der  nichtdeutschen  Philosophie  freigestellt.  Ebenso  ist 
es  ihnen  überlassen,  in  welchem  Umfange  sie  analoge  Gedanken  in  den 
Spezialwissenschaften  (z.  B.  die  vitalistische  Hypothese  in  der  Biologie, 
das  Gestaltsprinzip  in  der  Psychologie,  die  verstehende  Methode  in  der 
Geschichtsschreibung,  den  Begriff  der  juristischen  Persönlichkeit  in  der 
Rechtswissenschaft  usw.)  einbeziehen  wollen.  — 

Dies  sind  im  großen  und  ganzen  die  Richtlinien,  die  für  die  Bear- 
beitung des  Themas  maßgebend  sind.  Sie  bezeichnen  aber  nur  den  allge- 
meinen Rahmen,  innerhalb  dessen  nun  die  freie  Gestaltung  der  Darlegungen 
erfolgen  wird. 

Für  die  Bewerbung  an  diesem  Preisausschreiben  gelten  folgende  Be- 
stimmungen : 

1.  Die  Bewerbungsschriften  sind  an  das  „Kuratorium  der  Universität 
Halle  a.  S."  einzusenden. 

2.  Die  Ablieferungsfrist  läuft  bis  zum  1.  April  1925.  Die  Preie- 
verkündigung  findet  möglichst  in  der  darauf  folgenden  General- 
versammlung, spätestens  bis  Pfingsten  1926  statt. 

3.  Jede  Arbeit  ist  mit  einem  Kennwort  zu  versehen.  Name  und  An- 
schrift des  Verfassers  dürfen  nur  in  geschlossenem  Umschlag  bei- 
gefügt werden,  das  mit  dem  gleichen  Kennwort  zu  überschreiben  ist. 

4.  ÜTur  deutlich  hergestellte  Manuskripte  werden  be- 
rücksichtigt. Jeder  Arbeit  ist  ein  Verzeichnis  der  benutzten 
Literatur,  sowie  eine  recht  genaue  Inhaltsangabe  beizufügen. 

5.  Die  Blätter  des  Manuskripts  müssen  mit  Seitenzahlen  und  mit  Rand 
versehen  sein.  Nur  die  Vorderseite  der  Blätter  soll  beschrieben 
werden.  Das  Manuskript  kann  aus  losen  Blättern  in  einer  mit 
Bändern  versehenen  Mappe  bestehen.  Herstellung  der  Bewerbungs- 
schriften durch  Schreibmaschine  ist  sehr  erwünscht. 

6.  Die  Arbeiten  müssen  in  deutscher  Sprache  abgefaßt  sein. 

7.  Preisrichter  sind: 

Prof.  Dr.  William  Stern -Hamburg 

Prof.  Dr.  Karl  Jaspers -Heidelberg 

Prof.  Dr.  Theodor  L  i  1 1  -  Leipzig. 
~8.    Der  erste  Preis  beträgt  3/ö,  der  zweite  2/ö  der  ausgesetzten  Summe. 
Entsprechen  jedoch    die    eingelaufenen  Arbeiten   in   ihrem  wissen- 
schaftlichen Wert  nicht  diesem  Verhältnis,    so    können   die  Preis- 
richter nach  freiem  Ermessen  Preise   in   einer  anderen  Abmessung 

Kantetndien  XXVH.  35 


534  Kant-Gesellschaft. 

austeilen  oder  eventuell  die  Gesamtsumme  einer  einzigen,  besonders 
wertvollen  Arbeit  zuweisen.  Ist  keine  der  eingelaufenen  Arbeiten 
eines  Preises  würdig,  so  fällt  die  Summe  an  die  Kant-Gesellschaft 
und  zwar  an  den  „Fördererfonds"  derselben  zur  freien  Verfügung 
für  die  Zwecke  der  Gesellschaft.  Die  Entscheidung  über  die  Ver- 
wendung der  Summe  steht  dann  der  Geschäftsführung  zu.  Die 
Kant  -  Gesellschaft  behält  sich  vor,  falls  dazu  Mittel  vorhanden 
sind  oder  zusammengebracht  werden  können,  nach  Vorschlag  der 
Preisrichter  die  Preise  zu  erhöhen  und  ev.  noch  weitere  Preise 
hinzuzufügen.  Die  Preisrichter  haben  auch  das  Recht,  solchen 
Arbeiten,  denen  zwar  kein  Preis  zuerkannt  werden  kann,  die  aber 
doch  eine  Auszeichnung  ihrer  bes.  Vorzüge  wegen  verdienen,  eine 
„Ehrenvolle  Erwähnung"  zuzuerkennen  und  sie  dadurch  auszuzeichnen. 
9 .    Zurückziehung  einer  eingelieferten  Bewerbungsschrift  i  st  nicht  gestattet . 

10.  Das  Urteil  wird  in  den  „Kant- Studien"  und  in  den  größeren  Tages- 
zeitungen des  deutschsprachigen  Gebietes  veröffentlicht. 

11.  Die  Leitung  der  „Kant-Studien"  ist  berechtigt,  aber  nicht  verpflichtet, 
preisgekrönte  Arbeiten  in  ihrer  Zeitschrift  (oder  in  den  zugehörigen 
„Ergänzungsheften")  abzudrucken.  Macht  sie  von  diesem  Recht 
keinen  Gebrauch,  so  bleiben  die  preisgekrönten  Arbeiten  Eigentum 
ihrer  Verfasser.  Doch  sind  dieselben  verpflichtet,  ihre  Arbeiten  bei 
einer  Veröffentlichung  als  von  der  Kant-Gesellschaft  preisgekrönt 
zu  bezeichnen.  Das  gilt  auch  für  diejenigen  Arbeiteu,  die  eine 
„ehrenvolle  Erwähnung"   gefunden  haben. 

12.  Nichtgekrönte  Arbeiten  werden  durch  die  Geschäftsführung  der 
Kant-Gesellschaft  dem  zurückgegeben,  der  sich  als  Verfasser  nach 
dem  Urteil  der  genannten  Stelle  genügend  ausweist.  Die  Namen 
der  betr.  Verfasser  werden  nur  der  Geschäftsführung  der  Kant-Ge- 
sellschaft bekannt,  welche  verpflichtet  ist,  die  betr.  Namen  geheim- 
zuhalten. Will  ein  Verfasser  ganz  unbekannt  bleiben,  so  kann  er 
seiner  Arbeit  einen  mit  demselben  Kennwort  versehenen  zweiten 
verschlossenen  Umschlag  hinzufügen,  in  welchem  eine  Deckadresse 
angegeben  ist,  an  die  das  Manuskript  zurückgesendet  werden  soll, 
„für  den  Fall  der  Nichtprämiierung",  wie  auf  diesem  Umschlag 
ausdrücklich  zu  bemerken  ist.  Nicht  zurückgeforderte  Arbeiten 
werden  samt  dem  zugehörigen  ungeöffneten  Umschlag  nach  dem 
1.  April  1927  vernichtet. 

Halle  und  Berlin,  im  September  1922. 

Die  Geschäftsführung  der  Kant-Gesellschaft. 

Prof.  Dr.  H.  Vaihinger.       Prof.  Dr.  Arthur  Liebert. 


Abzüge  dieses  Preisausschreibens  versendet  auf  Wunsch  im  Auf- 
trag der  Kant- Gesellschaft  unentgeltlich  der  stellvertretende  Geschäfts- 
führer Prof,  Dr.  Arthur  Liebert,  Berlin  W.  15,  Fasanenstr.  48. 


Kant-Gesellschaft.  535 


An  die  Mitglieder  der  Kant-Gesellschaft 

Betrifft  Nachzahlung  zum  Jahresbeitrag  1922. 

Als  zu  Beginn  dieses  Jahres  den  Mitgliedern  der  Kant- 
G-esellschaft  die  Mitgliedskarte  für  1922  nebst  dem  Ersuchen 
um  freiwillige  Erhöhung  des  Jahresbeitrages  zugestellt  wurde, 
glaubte  die  Geschäftsführung  angesichts  der  damaligen  Wirtschafts- 
lage die  Heraufsetzung  des  Beitrages  auf  50  Mk.  als  ausreichend 
vorschlagen  zu  können. 

Die  in  der  Zwischenzeit  eingetretene  gewaltige  Entwertung 
der  Mark  auf  der  einen  Seite  und  die  ununterbrochene  Steigerung 
der  Ausgaben  für  die  Herstellung  und  Versendung  unserer  Ver- 
öffentlichungen auf  der  anderen,  veranlaßt  nun  die  Geschäfts- 
führung zu  der  dringenden  Bitte  an  die  Mitglieder,  noch  einen 
kleinen  Betrag  von  etwa  30—40  Mk.  nachzuzahlen.  Wir  benötigen 
eine  solche  Nachzahlung  um  so  mehr,  als  die  Postverwaltung  eine 
erneute,  sehr  erhebliche  Erhöhung  des  Portos,  abgesehen  von  der 
am  lv  Juli  eingetretenen,  wahrscheinlich  zum  1.  Oktober  ins  Auge 
gefaßt  hat. 

Wir  bitten,  diese  Einzahlung  mittels  Zahlkarte  wie  folgt  vor- 
zunehmen :  An  die  Deutsche  Bank,  Depositenkasse  W,  Berlin  W.  15 
Uhlandstr.  57,  Postscheckkonto  1023,  Konto  Kant -Gesellschaft. 
Auf  der  Rückseite  des  Zahlkartenabschnitts  die* Angabe:  Nach- 
zahlung. Alle  Angaben  in  recht  deutlicher  Schrift.  Die  auslän- 
dischen Mitglieder  wollen  die  Nachzahlung  in  einer  größeren  Höhe 
vornehmen,  am  besten  durch  Scheck  oder  Postanweisung  an  den 
mitunterzeichneten  Liebert. 

Die  Geschäftsführung: 
Vaihingen    Liebert. 

P.S,  Weitere  freiwillige  Gaben  sind  hochwillkommen,  weil 
hochnotwendig.  Der  buchhändlerische  Wert  unserer  Jahresveröffent- 
lichungen beträgt  nach  den  jetzigen  Ladenpreisen  mindestens 
300  Mk. 


35* 


Kant-Gesellschaft. 


Neuangemeldete  Jahresmitglieder  für  1922. 
IL  Ergänzungsliste:  Juni— September. 

A. 

Prof.  Dr.  Emil  Abderhalden,  o.  ö.  Prof.  a.  d.  Univ.  Halle,    Halle  a.  Saale, 

Kaiserplatz  5. 
Dr.  Wilhelm  Ahlmann,  Kiel,  Niemanns  weg  102. 
Prof.  Dr.  Antonio  Aliotta,    ordinario   di  Filosofia   teoretica  R.  Universität 

Neapel,  Italien. 
Anton,  Kiel,  Körnerstr.  9. 

B. 

Prof.  Dr.  Ferdinand  Bährens,  Köln,  Deutscher  Ring  82. 

stud.  phil.  G.  Barang,  Berlin  W.  50,  Passauerstr.  15 III 

Frau  Hedwig  Beckh,  Konstanz,  Hofhalde  1. 

Dr.  Bruno  Berneis,  Nürnberg,  Lindenaststr.  19. 

Schwester  Rose  Bernstein,  Eckernförderstr.  4. 

Musikdirektor  Bienert,  Konstanz,  Gartenstr.  19. 

H.  Heinrich  Birner,  Wien  XIII,  Hütteldorferstr.  118. 

Studienassessor  Heinrich  Bittner,  Breslau  IX,  Hirschstr.  43. 

Rektor  Block,  Hannover,  Sextrostr.  14. 

Geheimer  Hofrat  Direktor  Dr.  Blum,  Baden-Baden. 

Prof.  Dr.   Otto  Blumenthal,  Prof.  a.   d.  Technischen  Hochschule,    Aachen, 

Rütscherstr.  38. 
cand.  phil.  Kurt  Bona,  Berlin  NW.,  87,  Sickingerstr.  8 III. 
Frau  H.  Bormann,  Magdeburg,  Goethestr.  14. 
Pfarrer  Boesel,  Krevese,  Krs.  Osterburg. 
Dr.  Bouma,  Berlin  W.  30,  Lindauerstr.  4—5  bei  Prof.  Biltz. 
Dr.  H.  Brandt,  Aachen, 

stud.  phil.  Hellmut  Braun,  Berlin  W.  15,  Düsseldorf erstr.  19—20. 
Dr.  Brauns,  Pattensen  i.  Hannover. 
Dr.  Brückner,  Crawinkel  bei  Ohrdruf  i.  Thür. 
stud.  phil.  Fr;itz  Brunner,  Berlin-Lichterfelde,  Dürerstr.  26. 
Geh.-Rat  Prof.  Dr.  Adolf  Busse,  Berlin  SW.  11,  Kleinbeerenstr.  2. 

c. 

Hugo  Cahn,  Gelsenkirchen,  Bochumerstr.  44. 

Dr.  med.  Adolf  W.  Calm,  Hannover,  Warmbücherstr.  24. 

Giovanni  Maria  De  Caria,  Palermo  16,  Italien,  Via  Siracusa  16. 

Geh.  Reg.-Rat  M.  Conrad,  Charlottenburg,  Luisenplatz  4. 

Prof.  Dr.  Aurelio   Covotti,  ord.  Prof.  a.  d,  Universität  Neapel,   Ariano   di 

Puglia,  Italien. 
Prof.  Dr.  Benedetto  Croce,  Neapel,  Italien,  Trinitä  Maggiore  12. 


Kant-Gesellschaft.  537 

D. 

Dr.  med.  Bruno  Deckert,  Wörlitz  in  Anhalt, 
cand.  rer.  pol.  Bruno  Deppe,  Hamburg  30,  Neumünsterstr.  22. 
Studienrätin  Anna  Dernehl,  Halle  a.  Saale,  Yorkstr.  73 III. 
Dr.  med.  Dohrendorff,  Uelzen,  Hanover,  Veersserstr.  20. 
Lehrer  Otto  Donath,  Gohrau  i.A.    Post  Wörlitz,  Krs.  Dessau. 
Dr.  E.  Dornfeld,  Köln,  Humboldtstr.  42. 

E. 

cand.  med.  Alfred  Ebel,  Wien  IV,  Alserstr.  25. 

Adolf  Eberbach,  Bern,  Schweiz,  Dapplesweg  15. 

cand.  sc.  pol.  Walter  Ebert,  Kiel,  Feldstr.  13. 

Sekretär  Wilhelm  Eckhardt,  Halle  a.  S.,  Huttenstr.  96. 

Bankier  Heinrich  Emden,  Frankfurt  a.  Main,  Im  Trutz  42. 

Dr.  Engel,  Berlin  W.  8,  Budapesterstr.  21. 

Dr.  Gerhard  Erdsick,  Berlin  W.  30,  Heilbronnerstr.  22. 

J.  F.  van  Essen,  Zandvoort  bei  Amsterdam,  Holland,  Boulevard  Farange  22. 

F. 

Kapellmeister  E.  Faust,  Falkenstein  i.  Vogtl.,  Kaiser  Wilhelmstr.  16. 

Geh.-Rat  Prof.  Dr.  Finger,  o.  ö.  Prof.  a.  d.  Univ.  Halle  a.  Saale,  Reichardtstr.  2. 

Elisabeth  Franck,  Magdeburg,  Schenckendorfstr.  16. 

Dr.  Freund,  Halle  a.  Saale,  Blumenstr.  19. 

cand.  phil.  Theodor  Frey,  Dorpat,  Estland,  Karlowstr.  47. 

G. 

Dr.  Gadamer,  Marburg  a.  d.  Lahn,  Marbacherweg  15. 

Dr.  Ettore  La  Gatta,  Priv.-Doz.  a.  d.  Univ.  Rom,  Italien,  Via  Nazionale  89 

Fräulein  Lotti  Gauss,  Halle  a.  Saale,  Reichardtstr.  15  bei  Geh.-Rat  Vaihinger. 

Dr.  Francesco  di  Gennaro,  Advokat,  Neapel,  Italien,  Via  Kernbaker  53,  Vomero. 

Dr.  Max  Gerber,  Charlottenburg,  Kantstr.  34. 

Dr.  Gerhards,  Aachen,  Preußweg  99. 

cand.  jur.  Lutz  Gielhammer,  Berlin  NW.  60,  Alsenstr.  7. 

Graf  W.  von  Görtz,  Wrisbergholzen,  Krs.  Ahlfeld. 

Werner  Gottschalk,  Berlin-Steglitz,  Forststr.  54. 

Obersteuersekretär  Friedrich  Gottsmann,  Erlangen,  Neuestr.  16. 

Rosa  Grab,  Wien  VII,  Kaiserstr.  83. 

Rudolf  Gröber,  Hohndorf,  Bezirk  Chemnitz,  Rödlitzerstr.  13. 

Regisseur  Dr.  Edgar  Groß,  Halle  a.  Saale,  Staudestr.  7. 

Lehramtspraktikant  Karl  Güntert,   Villingen,   Schwarzwald,   Marbacherstr.  6. 

stud.  ing.  Erwin  Gurke,  Wien  III,  Fasang  49—26. 

Dr.  Wilhelm  Grebe,  Fechenheim  bei  Frankfurt  a.  Main. 

cand.  phil.  Horst  Grüneberg,  Berlin  W.  30,  Neue  Winterfeldstr.  7. 

Professor  Dr.  Ernst  Grünfeld,  Halle  a.  Saale,  Lafontainestr.  23. 

Prof.  Dr.  Augusto  Guzzo,  Neapel,  Italien,  Via  Carlo  de  Cesare  53. 

H. 

Obersteiger  Otto  Haase,  Halle  a.  Saale,  Huttenstr.  96. 

stud.  phil.  Walter  Hahne,  Wansdorf  bei  Nauen. 

Studienrat  Dr.  R.  Hanewald,  Magdeburg,  Pappelallee  18. 

Studienrat  G.  Härtung,  Hannover,  Gneisenaustr.  3. 

Lehrerin  Hedwig  Hecker,  Burg  bei  Magdeburg,  Kaiser  Wilhelmstr.  28. 

Bibliothekar  Dr.  Heimes,  Paderborn,  Leostr.  21. 

Superintendent  J.  Hellwig,  Halle  a.  Saale. 

Dr.  Adolf  Herfs,  Köln  a.  Rh.,  Jülicherstr.  21. 

Dr.  Max  Herre,  Falkenstein  i.V.,  Hotel  Pohland. 

Dr.  Herz,  Berlin- Wilmersdorf,  Brandenburgischestr.  37. 

stud.  jur.  Walther  Heß,  Höchst  am  Main,  Kleine  Brüningstr.  2. 


538  Kant-Gesellschaft. 

Studienrat  Hesselmann,  Eilenburg,  Wilhelmstr.  11. 

Prof.  Dr.  GeorgHeymans,  o.  ö.  Professor  an  der  Universität  Groningen,  Holland. 

Walther  Heyn,  Berlin  N.  31,  Wattstr.  10,  bei  Sperling. 

Regierungsbaumeister  Felix  Hirschberg,  Berlin-Charlottenburg,  Lohmeyerstr.  23. 

Direktor  Siegfried  Hirschberg,  Berlin- Wilmersdorf,  Helmstedterstr.  12. 

Dr.  med.  Georg  Hirschfeld,  Halle  a.  Saale,  Lindenstr.  48. 

Ilse  Hoffmeister,  Magdeburg,  Fürstenufer  16. 

Redakteur  Paul  Hopfer,  Burg  bei  Magdeburg,  Zerbsterstr.  28. 

cand.  phil.  Max  Horkhenner,  Cronberg,  Taunus,  Hauptstr.  3. 

Studienrat  Dr.  Max  Hörn,  Neuhaldensleben,  Bez.  Magdeburg,  Bülstringerstr.  16. 

Fräulein  Hörtig,  Konstanz,  Braun eggerstr.  70. 

Frau  Franziska  Hundel,  Düsseldorf,  Karolingerstr.  73. 

J. 

Professor  Dr.  W.  Jellinek,  Kiel,  Esmarchstr.  59. 

Frau  Annnie  Joachim,  Berlin,  Hitzigstr.  9,  bei  Heilbut. 

Dr.  Ernst  Jörin,  Bezirkslehrer,  Lenzburg,  Kanton  Aargau,  Schweiz. 

Bernhard  Juretschke,  Regensbrrg,  Beraiterweg  2. 

Johannes  Junge,  Schriftleiter  u.  Buchdruckereibesitzer,  Erlangen. 

K. 

Lehrer  Heinrich  Kamien,  Berlin- Friedenau,  Bornstr.  15. 

Herr  Kampmann  i.  Fa.  Kampmann  &  Schnabel,  Prien  am  Chiemsee,  Oberbayern. 

Ella  Kappenbusch,  Jena,  Kaiserin  Augustastr.  16. 

Prof.  Dr.  von  Karman,  Aachen,  Technische  Hochschule. 

Frau  Dr.  Kaufmann,  Braunschweig,  Goßlarstr.  31,  Pfarramt  St.  Jacobi. 

Dr.  Hans  von  K ei tz,  Magdeburg. 

Prof.  Dr.  Edmund  Kern,  Freiburg  i.  Br.,  Bürgerwehrstr.  15. 

Max  Klein,  Berlin  NO.  43,  Am  Friedrichshain  26 H. 

Richard  Kleiß,  Berlin  SW.  61,  Tempelhof  er  Ufer  1  bei  Frau  Justizrat  Benedict. 

Oberlehrer  W.  Kloot  jr.,  Rotterdam,  Holland,  Oudedijk68a. 

Dr.  Knabe,  Elberfeld,  Handelskammer. 

Lehrerin  Hanni  Knauer,  Burg  bei  Magdeburg,  Berlinerstr.  42. 

Prof.  Paul  Knauer,  Künzelsau  i.  Wttmbg. 

Rektor  Fr.  Kohlhase,  Magdeburg-S.,  Staßfurterstr.  16. 

cand.  theol.  Walter  Kohls chmidt,  Frankfurt  a.  Main,  Tiergarten  6. 

Will  Kord- Ru wisch,  Charlottenburg  2,  Knesebeckstr.  20,  bei  Pluentsch. 

Dr.  F.  W.  A.  Kor  ff  jr.,  Heemstede,  Holland. 

Stadtrat  Johannes  Korn,  Berlin  SW.,  Halleschestr.  22. 

Studienassessor  Waldemar  Koschinski,  Berlin  N.  20,  Badstr.  9 III. 

Maria  Kratz,  Wandsbeck  i.  Holstein,  Löwenstr.  3a. 

cand.  phil.  Max  Kreuzberger,  Beuthen  O./S.,  p.  Adr.  Adolf  Kreuzberger. 

Studienrat  Dr.  Krippendorf,  Plauen  i.V.,  Pestalozzistr.  701. 

Theodor  Krische,  Universitätsbuchhandlung,  Erlangen,  Hauptstr.  33. 

stud.  rer.  pol.  Wilhelm  Krompfardt,  Kiel,  Blücherplatz  4. 

cand.  phil.  Martin  Kruse,  Leipzig,  Sophienstr.  30. 

Staatsanwalt  Krusinger,  Düsseldorf,  Grunerstr.  36. 

Jürgen  Kuczynski,  Berlin-Schlachtensee,  Terrassenstr.  17. 

Dr.  phil.  Walter  Kurenbach,  Naumburg  a.  Saale,  Schönburgerstr.  3. 

Frau  Dr.  Olga  Kuttner,  Staad  bei  Konstanz  a.  B. 

L. 

Else  Lange,  Koblenz  a.  Rh.,  Kasinostr.  2. 

Studienrat  Edmund  Lantz,  Saarbrücken,  Feldmannstr.  38. 

stud.  phil.  Otto  Lehmann,  Königsberg  i.  Pr.,  Vorder  Roßgarten  63. 

Studienrat  Karl  Leonhardt,  Leipzig-Gohlis,  Blumenstr.  51. 

Fritz  Lepke,  Hagen  i.  Westf.,  Südstr.  1. 

cand.  jur.  H.  Lieb  au,  Hannover,  Marschnerstr.  20. 

Rechtsanwalt  Dr.  Julius  Lippmann,  Hamburg  39,  Leinpfad  4. 


Kant-Gesellschaft.  539 

cand.  phil.  Hermann  Loeb,  Cöln,  Kleingedankstr.  4. 
Dipl.-Ing.  Eduard  Lohmann,  Braunschweig,  Gauß-Str.  28. 
Prof.  D.  Dr.  Ernst  Lohmeyer,  Breslau  18,  Lohensteinerstr.  9. 
Prof.  Dr.  Heinrich  Loewe,  Berlin  NW.  52,  Flemmingstr.  12. 

M. 

Rudolf  Freiherr  von  Maltzahn,  Halle  a.  Saale,  Kaiserstr.  5. 

Lehrer  Gustav  Mangold,  Mannheim-Neckarau,  Friedhofstr.  15. 

Geh.  Justizrat  Prof.  Dr.  A.  Manigk,  Breslau  18,  Kleinburgstr.  28. 

Professor  Julius  Maerker,  Konstanz,  Brauneggerstr.  32. 

Pfarrer  P.  Marti,  Innerskirchen,  Pfarramt,  Berner  Oberland,  Schweiz. 

stud.  jur.  Yalo  May,  Erlangen,  Postschließfach  6. 

stud,  theol.  Meinicke,  Berlin  NW.  6,  Charite'str.  2. 

Hermann  Meyer,  Batavia  auf  Java,  holl.  Indien,  Weltevreden,  Salembaplein  7. 

Polizeirat  Meyer,  Hannover,  Drostestr.  6. 

Dr.  Walter  Misch,  Berlin- Wilmersdorf,  Trautenaustr.  16. 

Dr.  Walter  Miethke,  Elsterwerda. 

Realschullehrer  Arnulf  Molitor,    Perchtoldsdorf  bei   Wien,    Leonhardsberg- 

gasse  376. 
stud.  phil.  Otto  Monsheimer,  Frankfurt  a.  Main,  Schneckenhofstr.  9. 
Dr.  rer.  pol.  Moraht,  Berlin- Wilmersdorf,  Rüdesheimerplatz  9. 
Studienrat  Möricke,  Magdeburg,  Regierungsstr.  4 — 6. 
Alfred  Moerstede,  Düsseldorf,  Helmholtstr.  14. 
Willy  Moser,  Berlin  N.  54,  Zehdenickerstr.  13. 
Kurt  Müller,  Ragnit,  Seminar. 

Lehrer  Richard  Müller,  Spandau,  Schönwalderstr.  10. 
Lehrer  Karl  Münchmeyer,   Magdeburg  -  Buckau,    Schönebeckerstr.   im  Hause 

der  Post. 

N. 

Ministerialrat  Dr.  Namslau,  Potsdam,  Birkenstr.  1. 

Dr.  Ernst  Nathan,  Nowawes,  Wilhelmstr.  29. 

cand.  theol.  Fritz  Neifer,  Hunspach  bei  Weißenburg,  Elsaß,  Frankreich. 

Dr.  F.  Neu  mark,  Groß-Flottbeck  bei  Hamburg,  Lindenstr.  7. 

stud.  phil.  Fritz  Neunhoeffer,  Marburg,  Lahn,  Universitätsstr.  48. 

Ing.  C.  G.  Noack,  Halle  a.  Saale,  Martinstr.  26. 

Lotte  Noetzel,  Oldenburg  i.  0.,  Kastanienallee  23. 

o. 

Regierungsrat  von  Oppen,  Düsseldorf,  Tempelforterstr.  22. 

stud.  phil.  Hans  Oppenheimer,  Freiburg  i.  Br.,  Ludwigstr.  5. 

Direktor  M.  Oppenheimer,  Berlin  W.  56,  Schinkelplatz  1—4,  Bank  für  Handel 

und  Industrie. 
Dr.  Maria  Ortiz,  Neapel,  Italien,  Salita  Arendia  9,  Villa  Garzille. 
Ferdinand  Oster  tag,  Berlin  W.  50,  Augsburgerstr.  28. 

P. 

Dr.  AugustGrafvonPestalozza,  Oberstudiendirektor  am  Friedrich- Wilhelm- 
Gymnasium,  Berlin  SW.  68,  Kochstr.  13. 
Dr.  Michele  Petrone,  Berlin- Wilmersdorf,  Uhlandstr.  77. 
Gymnasialdirektor  Dr.  Pilling,  Merseburg. 
Erich  Popper,  Hamburg  30,  Curschmannstr.  6. 
Rechtsanwalt  Prael,  Harburg  a.  Elbe,  Lüneburgerstr.  4. 
cand.  phil.  Joachim  Prinz,  Oppeln,  O./S.,  Krakauerstr.  13. 
Oberstudienrat  Hedwig  von  Probst,  Berlin-Charlottenburg,  Marchstr.  10. 

E. 

Bd.  R.  F.  Reiche,  Berlin-Steglitz,  Althoffstr.  21. 

cand.  phil.  Hans  Reiner,  Freiburg  i.  Br.,  Kunigundenstr.  3. 


540  Kant-Gesellschaft. 

Reinhold  Renschel,  Kiel,  Goethestr.  6. 

Heinz  Rheinhard,  Hannover,  Hindenburgstr.  35. 

Dr.  Richarz,  Essen,  Ruhr,  Schützenbahn  7. 

Seminardirektor  Prof.  Dr.  Adolf  Richter,  Schneeberg,  Erzgeb.,  Seminarstr. 

Othmar  Richter,  Wien  X,  Triesterstr.  11. 

Studienassessor  Rohrbach,  Hamm  i.  Westf.,  Südenwall  17. 

cand.  paed.  Richard  Röscher,  Leipzig,  Arndtstr.  571. 

Ludwig  Rösl,  Verlagsbuchhändler,  München,  Georgenstr.  28. 

Professor  Dr.  Nicola  De  Ruggiero,  Neapel,  Italien,  Salvator  Rosa  264. 

S. 

Dr.  phil.  Enar  S  ahlin,  Lektor,  Stockholm,  Schweden,  Thulegatan  27. 

cand.  phil.  Richard  Samuel,  Berlin  W.  62,  Burggrafenstr.  14. 

Justizrat  Sandberg,  Eberswalde,  Pfeilstr.  11. 

Studienrat  H.  Sauer,  Kiel,  Scharnhorststr.  8. 

Studienrat  R.  Sautter,  Backnang  i.  Wtbg.,  Obere  Marktstr.  10. 

Studienrat  Seiler,  Hagen  i./Westf.,  Lessingstr.  1. 

Studienassessor  Siebecke,  Egeln,  Bez.  Magdeburg,  Aschersieb enerstr.  13. 

stud.  theol.  Wilhelm  Siebel,  Barmen,  Kothenerschulstr.  9. 

Fräulein  Margarethe  Siebert,  Lehrerin,  Magdeburg,  Schrotdorf erstr.  la. 

stud.  phil.  Karl  S öl In  er,  Wien  I,  Schottengasse  3a. 

stud.  theol.  Kurt  Sontag,  Stettin,  Elisabethstr.  17. 

Dr.  M.  Spanier,  Magdeburg,  Walter  Rathenaustr.  65. 

Dr.  Emil  Spiegel,  Prag  II,  Tschechoslowakei,  Tyrsova  7. 

Landgerichtsrat  Dr.  Eduard  Springmann,  Elberfeld,  Sadowastr.  61. 

Sek 

J.  Schaefer,  Wetter  a.  d.  Ruhr,  Königstr.  94. 

Dr.  Hugo  Schiff,  Landesrabbiner,  Braunschweig,  Steinstr.  4. 

Lehrer  W.  Schildhauer,  Berlin  N.  113,  Schönfließerstr.  14. 

Professor  Otto  Schmidt,  Lyck,  Ostpreußen,  Myluckerweg  6. 

Obersekretär  Ottomar  Schmidt,  Halle  a.  Saale,  Am  Bergmannstrujst  13. 

Ria  Schmidt,  Berlin  SW.  29,  Gneisenaustr.  102,  bei  Herbarth. 

Studienrat  Theodor  Schmidt,  Künzelsau  i.  Wttmbg. 

Dr.  Hans  Schnaß,  Hannover,  Josefstr.  10. 

Wilhelm  Schneider,  München,  Clemensstr.  66. 

Oskar  Schnell,  Magdeburg,  Gneisenaustr.  1. 

Albert  Schorer,  Fürth  i.  Bayern,  Uhlandstr.  19. 

Frau  Rechtsanwalt  Schreiber,  Halle  a.  Saale,  Neuwerk  10. 

Priv.-Doz.  Dr.  Fr.  Schuh,  Rostock,  Friedrich  Franzstr.  64. 

Studienrat  Dr.  Hans  Schuhardt,  Berlin- Steglitz,  Düppelstr.  37. 

Lehrer  F.  W.  Schulze,  Berlin- Wilmersdorf,  Laubacherstr.  35. 

stud.  theol.  Otto  Schumacher,  Hamburg  25,  Malzweg  5. 

Dr.  Michael  Schwarz,  Berlin  W.  15,  Württembergischestr.  25—26,  bei  Klein. 

Fräulein  Schwarz,  Hannover,  Nicolaistr.  19. 

Lehrerin  B.  Schweitzer,  Luthe  bei  Wunstorf. 

Ignatz  Schweitzer,  München,  Königinstr.  43. 

St. 

Studienrat  Ruth  Stammler,  Bydgoszcz,  Polen,  Garbary  33. 

cand.  theol.  A.  Steenbeek,  Utrecht,  Holland,  Merwedekade  8. 

Wolfgang  Steidel,  Architekt,  Erlangen,  Palmstr.  8. 

Professor  Dr.  J.  P.  Stein,  Luxemburg,  Hollericher  Ring  49. 

cand.  rer.  pol.  Ewald  Steinkrüger,    Kiel,    Adolfstr.  38. 

Dr.  Fritz  Sternberg,  Heidelberg,  Plöck  32. 

Studienassessor  Fritz  Steudel,  Wittenberge,  Bez.  Potsdam,  Chausseestr.  45. 

Dr.  Otto  Strasmann,  Rechtsanwalt,  Barmen,  Cronenbergerstr.  24. 

Professor  Dr.  Oskar  Stümper,  Luxemburg,  Arsenalstr.  25. 


Kant-Gesellschaft.  541 


Fräulein  Emmy  Theine,  Lehrerin,  Magdeburg,  Lüneburgerstr.  25a. 
Schriftsteller  Axel  Thorstad,  Berlin- Wilmersdorf,  Mainzerstr.  11. 
cand.  theol.  Treusei,  Reutlingen  i.  Wttmbg.,  Ringelbachstr.  16. 

u. 

Prof.  Dr.  Otto  Ullrich,  Cöln,  Roonstr.  40. 

V. 

Dr.  Angelico  Venuti,  Neapel,  Italien,  Via  Mondella  Gaetani  27. 
W.  J.  Vi ss er,  Haag,  Holland,  Nicolaas  Tulpstraat  22. 

w. 

Dr.  G.  J.  Waardenburg,  Pfarrer,  Hansweert,  Holland. 

cand.  phil.  Ludwig  Wagner,  Marien werder,  Westpr.,  Kehrwiederstr.  5. 

Carl  Walther,  Bibliothekar  a.  d.  Technischen  Hochschule  Aachen,  Malteserstr. 

Richard  Walther,  Verlagsbuchhändler,  Konstanz,  Rosgartenstr.  18. 

Viktor  Wasservogel,  Wien  VII,  Neustiftgasse  62. 

Studienrat  Wedig,  Lyck  i.  Ostpr.,  Kaiser  Wilhelmstr.  86. 

Dr.  Edmund  Weyers,  Allershausen  bei  Freising;  Oberbayern. 

Professor  Leopold  Weil,  Villingen,  Schwarzwald,  Waldhotel. 

Frau  H.  Wertheimer,  Düsseldorf,  Haroldstr.  I. 

stud.  math.  Hans  Westphal,  Hannover,  Ferd.  Wallbrechtstr.  27. 

Dr.  Hermann  Weyl,  Frankfurt  a.  Main,  Rückertstr.  44. 

Studienrat  Dr.  Rudolf  Wilckens,  Hannover,  Sallstr.  31. 

cand.  rer.  pol.  Arno  Winter,  Hamburg-Eppendorf,  Voldsenweg  2. 

Justizrat  Dr.  Paul  Wittkowsky,  Berlin  W.  8,  Kronenstr.  72. 

Lehrer  Witt  wer,  Delitzsch,  Eilenburgerstr.  82. 

Prof.  Dr.  Wohltat,  Düsseldorf-Oberkassel,  Düsseldorferstr.  60. 

Referendar  Hans  Wolff,  Elberfeld,  Bismarckstr.  45. 

Generalleutnant  von  Wolff,  Exzellenz,  Baden-Baden. 

Dr.  Friedrich  Würzbach,  München,  Schackstr.  4. 

Y. 

Prof.  Dr.  T.  Yukiyama,  Leipzig,  Schreberstr.  4. 

z. 

Prof.  "Dr.  W.  Zenkowsky,  Belgrad,  Jugoslavien,  Takowska  57. 
Mittelschullehrer  Paul  Ziegler,  Nienburg  a.  d.  Saale. 
Studienrat  Dr.  F.  Zillmann,  Berlin  N.  20,  Wollankstr.  64  a. 
Dr.  Rudolf  Zocher,  Radeburg,  Bez.  Dresden  Nr.  54. 

Institute. 

Altenplathow  bei  Genthin,  Junglehrer- Arbeitsgemeinschaft,  Lehrer  Fritz 

Leue. 
Belgrad,   Philosophisches   Seminar  der  Universität,    Sendungen  an   Prof.  Dr. 

B.  Petrowievics-Belgrad,  Jugoslavien,  Kapitän  Miliana  ul.  12. 
Budweis,  Verein  Deutscher  Akademiker,  Deutsches  Haus. 
Halle  a.  Saale,  Philosophisches  Seminar  der  Universität. 
Jena,  Philosophisches  Seminar  der  Universität. 
Paderborn,  Bischof  1.  Akademische  Bibliothek. 
Petrograd,  Rußland,  Philosophische  Gesellschaft  an  der  Universität. 
Wien,  Volksheim,  Philosophische  Fachgruppe,  Wien  XVI,  Koflerpark  7. 
Würzburg,   Philosophisches  Seminar  der  Universität,   Direktor  Prof.  Dr.  Hans 

Meyer. 


Absolutes  23  f.,  27  f.,  35, 
40,  42,  238,  403,  409, 
424,  427,  437,  443,  Ab- 
solutismus 142,  153 

Allgemeines  13,  16,  24  f., 
29,33,47,50,  56,  308  ff., 
A.gültigkeit  134,  175  f., 
287,  A.heit  175  f.,  305 

Als  Ob  3,  18,  237,  399, 
452  f.,  470  ff. 

Antinomien   283,  285,  429 

Apperzeption ,  transzen- 
dentale 53,  513 

Apriori  25,  28,  288,  449 

Artbegriff  86  ff. 

Ästhetik  229,  400,  411, 
transzendentale  14,  41 

Aufklärung  144,  405 

Autonomie  4,  12,  14,  26, 
30,  52,  146,  153,  168, 
240,  429,  452,  465  ff. 

Begriff  29,  36,  42,  192, 
303  ff.,  369 

Bewußtsein  10,  19,  54  f., 
197,  280  f.,  282,  379, 
431,  496  ff.,  507  ff.  B. 
überhaupt  182,  281 

Biologie  86  ff.,  104  f.,  107  f., 
130,  234  f.,  271  ff.,  296, 
B.ismus  107  f.,  129 

Buddhismus  440  f. 

Chemie  31,  276,  337,  349 
Christentum  200,  223,  457 

Darwinismus  86  ff.,  186 
Deduktion  29,  81  ff.,  291 
Denken    27,    280,    325  f., 

376  ff.,  448  ff.,  462,  D.U. 

Anschauen    268,    D.    u. 

Sein  15,  17,  451 
Dialektik  16,  36,   40,   52, 

122,  184,  267,  317,  403, 

462,  465  ff. 
Ding  an  sich  56,  61,  214, 

379 


Register. 

1.   Sachregister. 

Dogmatismus  11,  17  f.,  34, 
214 


Einheit  16  f.,  24,  31,  35, 
54,  305,  508,  513,  syn- 
thetische 13,  E.  der 
Apperzeption  53,  E.  der 
Vernunft  49 

Empirismus  11,  52,  179, 
213  f.,  224,  231,  271 

Entelechie  130,  273,  383 

Entwicklung  192,  265  ff. 

Erfahrung  9  f.,  13  ff.,  28, 
51  ff.,  60,  86,  184 

Erkenntnis  3,  14  ff.,  24,  50, 
50  f.,  56,  117  f.,  180  f., 
191  f.,  283,  285,  501, 
E.  kritik  9,  E.  theorie 
36,  56,  85,  179  ff.,  204, 
232,  280,  285  f.,  379  f., 
496  ff. 

Ethik  114,  141  ff.,  194,- 
220ff.,  225,  227,  232ff., 
239  f.,  271,  429 

Evolutionstheorie  2,  269  ff. 

Existenz  459  f.,  Existential- 
urteil  181 

Fiktion  166  ff.,  178,  193, 
399,  452,  470  ff.,  F.alis- 
mus  285,  489,  491,  517 
Form  10,  13,  50,  56 
Freiheit  19,  21,  28,  31, 
146,  150,  159  f.,  163, 
165,  168  f.,  270,  prak- 
tische 14,  F.  u.  Natur 
10,  25,  30,  36 

Gegebenes  498  ff,  509  ff. 

Gegenstand  28,  54  f.,  59  ff., 
313,  496  ff. 

Geist  17,  29,  37,  46,  190, 
277,  absoluter  18,  23, 
33  ff.,  G.  u.  Natur  30  f., 
G.eswissenschaften  185 

Geltung  4,  61,  74,  197  f., 
296,  370  ff.,  406 


Geschichte  35, 102ff.,  190ff., 

309,  406,    G.philosophie 

103ff,  183ff.,205,265ff.. 

406,      G.wissenschaften 

63  ff.,  101  ff,   191 
Gesellschaft     166  ff,     186, 

205  ff.,  220  ff.,  G.svertrag 

165  ff.,     G.swissenschaft 

205  ff. 
Gesetz  30,  55,  64,  498 
Gott  27,  29,  197,  199,  270, 

276,    282  f.,  425,    443  f., 

447  ff. 
Gültigkeit  179ff.,  280, 313ff., 

325  f. 

Heterogeneität  70  ff. 
Historie  265  ff. 
Homogeneität  70  ff. 
Humanismus  420  ff. 
Hypothese  166,  406 

Ich  19,  21,  26,  29,  33,  38, 
52,  236,  238,  270,  282, 
288,  309,  448,  451,  453, 
457  ff. 

Idealismus  154,  164,  185, 
414,  453  f.,  absoluter  7, 
llff,,  ästhetischer  424, 
kritischer  lff,  8  ff.,  235, 
monistischer  15,  speku- 
lativer lff.,  subjektiver  10 

Idee  10,  16  f.,  27  f.,  26,  44, 
55,  149,  152,  171,  370  f., 
384  f.,  413,  428,  496, 
absolute  26,  platonische 
121,  416 

Identität  20,  31,  236,  309, 
317,  468,  501,  506,  I. 
Philosophie  30  ff.,  36 

Individualismus  142,  156, 
288,  308 

Individualität  191  ff.,  293 

Individuum  55,  153,  205, 
236  f.,  267,  309. 

Induktion  29,  77  ff.,  82, 
111,  231,  291 


Register. 


543 


intellectusarchetypus  16,93 
Intuition  35,  130,  467 
Irrationales  12, 32, 57, 63ff., 

193,  308 

Kant-Gesellschaft     242  ff., 

518  ff. 
Kategorien  11,  15,  28,  67, 

120,    166 f.,    193,    277  f., 

289,  300 
Kausalität    11,    14,    67  f., 

87,  231,  268 
Kontinuität    19,    92,    117, 

120,  124 
Körper  336  ff.,  496 
Kritizismus   3,   11  ff.,   184, 

194,  230,  238,  419 
Kultur   3,   35,   77,   104  ff., 

143  ff.,  167  ff.,  190,  196, 
296,  399  ff.,  461  f.,  453  f., 
K.philosophie204,  K.wis- 
senschaft  59  ff,  205,309 
Kunst  114  f.,  124,  130,229, 
279,  384,  400,  423  ff, 
470  ff,  K.philosophie 
470ff.,  K.wissenschaft279 

Leben  3,  46,  104,  129,  190, 
193,  233  f.,  267,  275, 
384,  405,  408,  468 

Logik  36 ff,  184  f.,  232, 
236,  empirische  280,  tran- 
szendentale 280,  L.  der 
Biologie  234  f.,  L.  des 
historischen  Entwick- 
lungsbegriffs 265  ff.,  Lo- 
gismus 3,  38,  179  ff.,  182, 
Logistik  70,  Logos  427f., 
444 

Macht  u.  Recht  206  ff.,  213, 

221 
Marburger  Schule  211, 304, 

406,  497 
Materialismus   2,  9,  185  f. 
Materie  10,  13,  31,  50,  56, 

98,  337  ff.,  396  ff. 
Mathematik  19, 61, 72, 81ff., 

114ff,  124,129,  277,281, 

411,  416,  435 
Mechanismus  2,  231  f.,  235, 

239,  276,  281,  284 
Metaphysik     1  ff,      129  f., 

179  f.,  190,194,201,213, 

219  ff,   224,  229  f.,   236, 

239,  268  f.,  271  ff,   283, 

293,  384,  412  ff.,  433  ff., 

452 
Methode  15ff,  42, 59ff,  466f. 


Modalität  298  ff. 
Möglichkeit  325  f. 
Monade  282,  284 
Moral  114,  139,  221,  227, 

281,  384 
Morphologie  1 13ff.,  228, 235 
Mystik  129,  290,  310,  416, 

457 
Mythus  399  ff. 

Natur  31,  44  f.,  46  f.,  52, 
69,77,  139,  143  ff.,  166ff., 
195,  286,  444,  450,  N. 
u.  Freiheit  10,  25,  30, 
36,  N.  u.  Geschichte  102ff., 
132,  N.  u.  Verstand  16, 
N.alismus  2,  134,  273, 
292,  308,  462,  N.gesetze 
lllf.,435,  N.philosophie 
31,45,N.rechtl61, 169ff, 
N.wissenschaft  2, 16,  31, 
61  ff,  77  ff.,  86  ff.,  101, 
105,  111,  130,  167,  184, 
189,  265  ff.,  292,  308  f., 
328,  411,  435,  450,  N. 
zustand  166  ff. 

Neukantianismus  3,  102, 
132,  135,  212  ff.,  268, 
281,  317,  452,  497 

Nominalismus  89f.,  288,  308 

Normen  197,  208  ff,  213  ff., 
225  ff.,  374 

Objekt  30,  317  f.,  446  ff., 
457  ff.,  503,  O.ivismus 
179,  O.ivität  3,  37,  43, 
280,  282 

Ontogenie  271  f. 

Ontologismus   10,  35,  442 

Organismus  30,  55,  86  ff., 
104  f.,  126 

Pantheismus  416,  453,  457, 

460 
Parallelismus,  psychophysi- 

scher  193 
Pessimismus  136,  167,  440 
Phänomenologie   292,  455, 

496,  Hegels  Ph.  23,  36ff. 
Philosophie  .1,    119,    385, 

408,    idealistische    4  f., 

Ph.  u.  Politik  225,   Ph. 

und    Rechtswissenschaft 

216f. 
Physik    31,    46,    55,    106, 

114  ff.,    124,     276,    337, 

387  ff,  496 
Politik    218  f.,    224,    225, 

234 


Positivismus  2,  174,  185, 
273,  281,  432,  434  ff., 
496  ff. 

Psychologie  62,  267 f.,  270, 
281,  317,  431,  experi- 
mentelle 106  f.,  morpho- 
logische 187  ff. 

Psychologismus  11,  107, 
129,  179  f.,  233 

Qualität  298  ff. 
Quantität  298  ff.,  336 

Rationalismus  179,  240, 
411,  432  f.,  435 

Raum  131,  133  f.,  231,  234, 
379,  387  ff.,  510 

Reales  57,  Realismus  201  f., 
295,  496  ff,  Realität  10, 
43  f.,  57,  190,  197,  280, 
284,  Real  wissenschaf t290 

Recht  145,  149,  158  ff., 
169  ff,  205  ff.,  384,  R.s- 
philosophie  202  ff. 

Rehmke-Gesellschaft  240  f. 

Relation  61,  82,  288ff, 
371  f.,  499,  512  f.,  R.s- 
theorie  61,  83 

Relatives  28,  Relativismus 
213,  398,  403,  406,  409, 
Relativität  369 ff.,  Rela- 
tivitätstheorie 64,  74, 
128,  234,  369  ff. 

Religion  35, 49,  124, 196  ff., 
279,  384,  400,  410. 426  ff., 
442 ff.,  446  ff,  R.sphilo- 
sophie  196  ff.,  446  ff. 

Romantik  135,  426  ff. 

Schematismus  d.  r.  Ver- 
standesbegriffe 16 

Schopenhauer-  Gesellschaft 
229,  neue  deutsche  235 

Seele  61,  193,  231  f. 

Sein  40 f.,  180  f.,  191,  280, 
370  f.,  442  f.,  S.u.  Denken 
15,  17,  451,  S.  u.  Sollen 
172,  206  f. 

Selbstbewußtsein  19,  31, 
38,  236     ■ 

Sensualismus  10,  285,  288 

Sinnlichkeit  16,  156  f. 

Sittengesetz  139  ff,  197, 
Sittlichkeit  167,  228 

Skeptizismus  20, 117  f.,  406 

Solipsismus  133,  289 

Sollen  21,  145,  155,  156  ff., 
172,  206  f. 

Sozialismus  184ff,  203,  223f. 


544 


Register. 


Soziologie  185,  187,  196, 
205  ff.,  211  ff.,  225  ff.,  267, 
286,  288 

Sprachwissenschaft  232  f., 
287  ff. 

Staat  35,  150  ff.,  165  ff., 
205  ff.,  239  f.,  273  f.,  S.s- 
philosophie  165  ff.,  202  ff. 

Strukturwissenschaft  59  ff. 

Subjekt  9, 13,  28,  33, 303  ff., 
372  ff.,  446  ff,  457  ff.,  S. 
ivismus  179,  225,  228, 
369,S.ivität3,37,43,354f. 

Substanz  34,  38,  282,  442 

Synthesis  15,  28,  33  ff.,  38, 
300  f.,  306,  310,  468 

Teleologie  30,  234  f. 
Theodizee  35,  199 
Theologie  62,  196  ff,  21 
Transzendentalismus    3, 
Transzendentalphiloso- 
phie 7,  53 


Transzendentes  2,  Tran- 
szendenz 18,  509 

Unbedingtes  27  f.,  30, 446  ff. 
Unendlichkeit  20,  121,  195, 

305,  425 
Unsterblichkeit  198  f. 
Urteil  29,  60,  181,  298  ff, 

370  ff,  507  f. 

Vernunft  4,  11  f.,  24,  49  f., 
141,  149,  238,  V.einheit 
26  f.,  V.recht  161,  163 

Vitalismus  231,  235,  273 

Völkerpsychologie     107, 
187  ff.,  400 

Völkerrecht  215  ff. 

Wahrheit  4,  9,  74,  118, 
180,  182,  238,  369  ff.,  380 

Wahrnehmung  9  f.,  60,  382, 
515  f. 

Wärme  328  ff. 


Weltanschauung  179,  412, 
504 

Wert  3  f.,  61  f.,  65,  68  ff., 
105,  125,  191,  225  ff., 
277,  280,  296,  384  f., 
W.philosophie  196 

Widerspruch,  Satz  des  W.s 
317 

Wille  14,  148  f.,  152  f., 
159  f.,  171  ff. 

Wirklichkeit  3,  8  f.,  11, 
18  f.,  21,  31,  37,  45,  47  f., 
61,  70  ff.,  197,  280,  382, 
433,  459 

Wissenschaft  2,  18  f.,  25, 
54,  59  ff..  191,  232  f., 
432  f.,  W.slehre  22  f. 

Zeit  63  f.,  131,  133,  234, 
387  ff.,  508.  510  f. 

Zweck  226,  235,  Z.mäßig- 
keit  17,  27. 


2.   Personenregister. 


Adler,  Max  223 
Alexander  109 
Alexejew  141,  148 
Aenesidem  18 
Althusius  142,  160, 

169 
Aristoteles  10, 109ff., 

130,188,211,308, 

316f.,  319,  397 
Arnoldt,  E.  341, 343, 

347,  367  . 
Augustin  112,  451 

Baader,  Fr.  H.  348 
Bacon  190,  308,  328, 

352  f.,  358,  365 
Bahnsen  236  f. 
Bain  192 

Bär,  K.  E.  v.  272 
Barth  447 
Barth,  P.  185 
Batbie  210 
Bauer,  0.  223 
Bäumler,  A.  126,134 
Becher,  E.  286 
Beck  18 
Below,  v.  296 
Bergmann  313 
Bergson  129  ff.,  190, 

267,  269,  291 


Berkeley    10  f.,   89, 

308,  358,  398 
Bernini  385 
Bernoulli,  D.   362  f. 
Bernstein,  Ed.  186, 

223 
Berthold,  G.  356, 363 
Bertram,  E.  405 
Binder,  Jul.  213, 
Bismarckl28[215f. 
Black,  J.  345,  347 
Boerhaave,  H.  332, 

334,  350,  366 
Böhme,  Jak.  47 
Bois  -  Reymond,    du 

335,  363 
Bolland,  G.  J.  236  f. 
Bolzano  374,  380 
Bordenave  365 
Bourguin  142 
Boutmy,  E.  188 
Boyle  356  ff. 
Bruno,  Giordano  442 
Buckle  185,  273  f. 
Buddha  190 
Campanella  203 
Cantor,  M.  391 
Cardanus,  H.  308 
Cartesius  s.  Des- 

cartes 


Cassirer,E.7ff.,398 
Cat,  le  340,  366 
Chätelet,    Marquise 

de  334  f. 
Cohen,  H.  117,  139, 

185,302,406,417 
Comtell2, 123, 187, 

266,  296,  432 
Cornelius,  H.    180, 

517 
Cosimo  v.  Medici  416 
Couturat  70 
Crawford  344  ff. 
Crequy,  Graf  de  334 
Croce,  B.  269 
Crusius,  Ch.  A. 

338  ff.,  366 

Dante  109 

Darwin,  Ch.  86  ff., 
123,  190,  226,  275 

Davy,  H.  365  f. 

Delbos,  V.  138 

Descartes  10, 280  ff., 
309,328,334,353f., 
410,  442,  451. 

Deussen  235 

Diels,  H,  420 

Dietzgen  185  f. 

Dilthey,W.180,184, 


197,239,268,289, 

415 
Diodoros  Kronos  325 
Doß,  A.  L.  v.  229 
Dreyfuß- Brisac  141, 

147  f. 
Driesch,H.236,266, 

271ff„289,291,293 
Dukmeyer,Fr.363f. 

Eberhard,  J.P.341ff. 
Einstein  394  ff, 
Engels,    G.    184  ff., 

187,  224  f. 
Erdmann,  B.  315 
Erxleben,  J.  Ch.  P. 

343  f.,  366  [390  f. 
Euklid  115,  378, 
Euler,  L.  334,  336  f., 

361,  364,  366 

Faiguet  142 

Fermat  65 

Fester  154 

Fichte  8, 19  ff.,  29  f., 
44,  103  f.,  138  ff, 
154  ff,  181,  188, 
202  f.,  232,  296, 
300,  308  f.,  317, 
321,  385 


Register. 


545 


Fichte,  J.  H.  202  f., 

221 
Fiese,  Lozeran  de 
Fouillee  187  f.  [334 
Franz  v.  Assisi  427 
Frazer,  A.  C.  358 
Friedrich  d.  Gr.  128 
Frischeisen-Köhler 

197 

Galen  188 
Galilei  111,  392,450 
Gassendi  328  ff. 
Gauß  93 

Gebhardt,  C.  229 
Gehler,  J.S.T.  349  ff. 
Gerhardt,  C.  J.  361 
Gierkel42,160,169, 

176,  189 
Girardin,Saint-Marc 

142 
Goethe  8,  46  f.,  55, 

109  f.,  308,  384  f., 

399,  420,  443 
Gogarten  447 
Gottl,  v.  269,  291 
Greef,  de  187 
Gren,  Fr.  A.  C.  348 
Grimm,  Jak.  277 
Großmann,  C.  229 
Guizot  295 
Gundolf  443 
Gwinner,  W.  v.  235 

Häckel  235 
Hackert,  Ph.  385 
Hamberger,  G.  E. 

331  f.,  366 
Hamilton  315 
Hartmann,  Ed.  v. 
201  f.,  236f.,  269, 
271 
Hartmann,  L.M.  270 
Haym  194,  426 
Haymann  147,  154, 

165,  173 
Hegel  4,  7  f.,  13,  19, 
21  ff.,  31  ff,  103  f., 
116,122,126,150, 
182  ff.,  187  f.,  190, 
194,209,218,221, 
229,     238,     267, 
269  ff,   291,   296, 
300,308,386,414, 
442,  453  f. 
Hensel,  P.  212,  421 
Heraklit  122,  124  f. 
Herbart  236,288, 304 
Herder  3,  188  f. 


Hobbes  167  ff.,  177, 

353  ff,  442 
Höffding  139 
Hofmann,  P.  179  ff. 
Hölderlin  420 
Hönigswald,  R.  118 
Hooke,  R.  358  ff. 
Humboldt,  W.v.  203, 

420  ff.  [301 

Hume  89,  139,  269 
Husserl  214,  496 
Hutcheson  139 
Huyghens  397 

Jacobi  3,  18 
Janet,  P.  142 
Jellinek,  G.  150, 
Jennings  192  [161  f. 
Jerusalem  313,  315, 

317,  326 
Johannsen,W.94,98 
Justi,  J.H.G.V.  364 

Kant  2  ff,  7  f.,  11  ff., 
24  ff,  30,  33, 35  f., 
41,  46,  48,  52  f., 
58,  86,  91,  97  f., 
103  f.,  109  f.,  117, 
124, 132  ff.,  138  ff., 
157  f.,  160,  164, 
168, 179, 185, 188, 
192,194,198,202f., 
211ff.,221f.,229f., 
232ff.,237ff.,239f., 
271,281,283,285, 
298  ff.,  328  f.,  339, 
341,  343  ff.,  347, 
366  ff,  390, 417  ff., 
451,  513 
Karsten,  W.  J.  G. 

347  f. 
Kästner  345 
Kautsky  223 
Kelles-Kranz  185 
Kelsen,  H.  213  ff. 
Kemmerich,  M.  128, 
Kepler  185        [135 
Kerner,  A.  v.  Mari- 

laun  99 
Keyserling,  GrafH. 

229  f. 
Kirchhoff  496 
Kistiakowski  152 
Kratzenstein,  Ch.  G. 

365 
Krüger,  J.G.  338, 366 
Külpe   496  ff,    502, 
506 


Lamprecht  271, 

273  f.,  278  f. 
Lange,  F.  A.  185,434 
Lange,  L.  397  f. 
Laplace  348 
Lask,E.,236,299f., 

304,  313,  324  ff. 
Lasson,  A.  215 
Lavoisier  348 
Leibniz8,  16  f.,  117, 
141, 195, 230, 239, 
282  f.,  289,  308 f., 
325,   361  f.,   373, 
Leist,B.W.210[410 
Lemery  330 
Leonhardi,  J.  G.  365 
Leroy-Beaulieu  188 
Lesage,  G.  L.  362 
Lessing  373      [344 
Lichtenberg,  G.  C. 
Liebert,A.4,17,122, 

129,  134  f. 
Liepmann,  M.    154, 
Linne"  99,  226  [162 
Lippmann,  E.  0.  v. 

229 
Locke  353,  355  f. 
Lomonsow,  M.  363  f. 
Lorenz,  F.  A.  365 
Lotze  239,  268,  271, 
298,301,304,312, 
314,  318  ff,    323, 
369ff.,375ff.,380, 
433 
Luc,  J.A.  de  345,347 

Mach  185,  270,  398, 

496 
Macquer,  P.  J.  365 
Maier,  H.  266 
Maimon  18  f. 
Malebranche  283, 
Mansion,P.391[289 
Marcks,  E.  240 
Marx    184  ff.,    190, 

224  f.,  454 
Masaryk  185 
Maupertuis  235 
Medicus,F.  156,158, 
Meinecke  278  f.  [202 
Mendel,  G.  96 
Menschukin,   B.  N. 
Menzer,  P.  289  [363 
Meyer,  A.  0.  240 
Michelangelo  385 
Michelson  234 
Mill,  J.  St.  90,  315 
Minkowski  64,  395  f. 
Mockrauer,  W.  229 


Mohammed  427 
Molesworth  354  f. 
Morley  142 
Morus,  Th.  203 
Müller,   Kanzler  v. 

399 
Münsterberg  188 
Muschenbroek, 

P.  van  333  f.  366 

Napoleon  109,  128 
Natorp  165,224,236, 

406,  416 
Neeff,  F.  68 
Nelson,  L.  216 
Neumann,  C.  279 
Newton  64, 101, 139, 

155,    302,    360  f., 

387  ff. 
Nicolai,  Fr.  665 
Nietzsche  121,  134, 

190,  221,   232  ff, 

385,  400  ff,  415, 
Nohl,  H.  491  [447 
Nollet,J.A.338,350, 

366 
Nowgorodzeff,P.  150 

Oesterreich,  K.  400 
Oettingen,  A.  v.  388 
Otto  199,  455 

Paul,  Jean  203 
Paul,  Herrn.  288  f. 
Philo  235 
Pictet,  M.  A.  348 
Planck  496 
Piaton  9,  58,  109  f., 
116,119,121,136, 
166,188,198,219f., 
234,321,370f.,382, 
385,  406,   415  ff., 
439 
Plotinl08,235f.,416 
Pörner,  K.  W.  365 
Prantl  319 
Prevost,  P.  348,  362 
Priestley  344 
Protagoras  387 
Prüfer,  Ad.  229 
Ptolemaeus  397 
Pyrrhon  387 
Pythagoras  378 

Rachfahl  278 
Radbruch,  G.  170 
Ranke  183, 185, 279, 

295 
Rehmke,  214,  240  f 


546 


Register. 


Keichenbach,  H.  398 
Reinach,  A.  210 
Reinhold  13,  18 
Renouvier,  Ch.  141 
Reuschle,  G.  328 
Rickert60,60ff.,102, 
132,    182,    191  f., 
194,199,211,268f., 
277,279,299,304, 
309,  313  ff.,   317, 
324,  407 
Riehl,  A.  175,  315 
Rosenberger,F  33  lf. 
Rosenkranz  138, 184 
Rosenthal,  O.M.  270 
Rothacker  277 
Rousseau  109, 138ff., 

165  ff.,  203 
Rühlmann,  R.  366 
Rumforo',  Graf  351, 
356,  363,  365  f. 

Saint-Simon  185 
Scheele,  C.  W.  346 
Scheid,  Ch.  L.   362 
Scheler,M.188,236, 

286,  449,  455  f. 
Schelling8,19,29ff., 

39,  46,  269,  271, 

300,  400,  425 
Schiller  44, 420,  424 
Schlegel,  A.W.  425  f. 
Schlegel,  Fr.  426 
Schleiermacher  302, 

314,325,427,449, 

453 


Schlick  374,  398 
Schlözer,   A.  L.    v. 

240 
Schmalenbach  283 
Schmidt,  M.  201  f. 
Scholz,  H.  110,  116, 

123,  449,  455  ff. 
Schopenhauer     110, 

132  f.,    190,    229, 

235,237,274,317. 
Schouten,  A.  398 
Schultz,  Jul.  238  f, 
Schuppe  299,  303, 

311,  323,  325 
Segner,  J.  A.  340, 

366 
Shaftesbury  139. 
Sigwart    298,     301, 

304,      306,      313, 

315ff.,  320,  322ff. 
Silberschlag,    J.   E. 

344  f. 
Simmeil  23, 190, 199, 

268,309,407,417  f., 

453 
Sokrates    109,    190, 

219  f.,  385 
Somlö,  F.  216 
Spencer    112,     187, 

269,  288,  296 
Spengler,O.73,101ff., 

190,  195  f.,  309 
Spinoza  8, 238, 282  f., 

309,  417,  442  f. 
Spranger  286,   415, 

421 


Stahl  142,  215 

Stammler  152,  165, 
174,  177,  185, 
210  f.,  213,  216 

Steinwehr,  W.  B. 
A.  v.  330 

Stern,  W.  414 

Stirner  237 

Strauß,    D.  F.  431 

Strindberg  128 

Stromer-Reichen- 
bach, Fr.  t.  128, 
135 

Swedenborg  58 

Sybel  287,  292,  294 

Tacitus  188 
Taine  273  f.,  284 
Timerding,  E.   394 
Tönnies,  F.  354 
Treitschke  183,  292 
Trendelenburg  319 
Troeltsch,    E.     68, 

122  f.,    187,    444, 

449 

Überweg  303,  305 

Vaihinger236,261ff., 
302,  312,  315,  326, 
399,  470,  493,  495 

Vischer,F.Th.399f., 
404,  430,  432 

Volkelt,  J.  400, 496  ff. 

Voltaire  109,  145, 
334  ff. 


Vorländer    138,  185 
Vries,  de  96,  99 

Wackenroder   423  f. 
Wagner,  R.  123, 128, 

229 
Weber,  Max  225 
Weininger  132 
Wellhausen  279 
Wenzel,  M.  208 
Werner,    G.  F.  365 
Whewell  90 
Wiesner,  J.  v.  271  f. 
Wilamowitz  220 
Wilke,  Jh.  C.  345  f. 
Winckelmann     385, 

420 
Windelband  83, 102, 

182,  299  ff.,  303  f., 

309,    313,    315  f., 

324 
Winkler,  J.H.  340 f., 

366 
Wolfers,  J.  Ph.  388 
Wolff,  Chr.  141,  300, 

317,    319  f.,    325, 

331,  366 
Wundt,W.188,268f., 

299,    302,    312  ff., 

320,  327,  400 

Xenophon  219 
Xenopol  268  f.,  291 


3.   Besprochene  Kantische  Schriften. 

(In  zeitlicher  Folge.) 

De  igne  (1755)  328,  345,  366  ff. 

Beobachtungen  über  das  Gefühl  des  Schönen  und  des  Erhabenen  (1763)  138  ff. 

Rezension  v.  Silberschlags  Theorie  der  am  23.  Juli  1762  ersch.  Feuerkugel  (1764)  344. 

Nachricht  von  der  Einrichtung  seiner  Vorlesungen  1765/6  139  f. 

Kritik  der  reinen  Vernunft  (1.  Aufl.  1781,  2.  Aufl.  1787)   14,  16  ff.,  22,  24  f.,  41, 

52  f.,  91  f.,  192,  202,  214,  235,  238,  298  ff.,  451,  513. 
Prolegomena  (1783)  13  f.,  305,  311. 

Idee  zu  einer  allgemeinen  Geschichte  in  weltbürgerlicher  Absicht  (1784)  142  ff. 
Was  ist  Aufklärung?  (1784)  240. 
Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten  (1785)  221. 
Mutmaßlicher  Anfang  der  Menschengeschichte  (1785)  142  f.,  144. 
Metaphysische  Anfangsgründe  der  Naturwissenschaft  (1786)  233. 
Kritik  der  praktischen  Vernunft  (1788)  17,  202  f.,  221. 


Register. 


547 


Kritik  der  Urteilskraft  (1790)  16  ff.,  30,  36,  235,  300. 

Über  den  Gemeinspruch:  Das  mag  in  der  Theorie  richtig  sein  usw.  (1793)  143, 

149  f. 
Zum  ewigen  Frieden  (1795)  143,  149,  203. 
Metaphysik  der  Sitten  (1797)  143,  149  ff.,  222. 
Über  ein  vermeintes  Recht,  aus  Menschenliebe  zu  lügen  (1797)  149. 
Anthropologie  (1798)  143  f. 
Reflexionen  142  ff,  339. 


4.  Verzeichnis  der  Verfasser 
besprochener  Neuerscheinungen. 


Adler,  M.  184  ff. 
Barth,  P.  187. 
Bäumler,  A.  229. 
Bendix,  L.  203  ff. 
Brandenburg,  E.  186  f. 
Brinkmann,  C.  205  ff. 
Brodmann,  E.  207  f. 
Bruhn,  W.  196  f. 
Enckendorff,  M.  L.   199  ff. 
Feldkeller,  P.  229  f. 
Fränkel,  R.  212. 
Guastella,  C.  230  f. 
Heinemann,  F.  235  f. 
Holldack,  F.  208  f. 
Hurwicz,  E.  187  ff. 


Jaensch,  E.  R.  189. 
Israel,  W.  211  f. 
Kaufmann,  E.  212  ff. 
Kelsen,  H.  215  ff. 
Koppelmann,  W.  218  f. 
Lasson,  G.  183  f. 
Latte,  K.  219. 
Lehmann,  G.  236  f. 
Lessing,  Th.  190  f. 
Marquardt,  H.  231  f. 
Messer,  A.  232. 
Metzger,  W.  220  ff. 
Müller-Freienfels,  R.  191  ff, 
Pos,  H.  J.  232  f. 
Reininger,  R.  233. 


Richter,  G.  234. 
Scholz,  H.  198  f. 
Schuck,  K.  195  f. 
Schulz,  H.  202  f. 
Schulze-Soelde  W.  194  f. 
Siegel,  C.  219  f. 
Stammler,  R.  223  f. 
Steffes,  J.  P.  201  f. 
Sternberg,  K.  234. 
Unger,  E.  224. 
üngerer,  E.  234  f. 
Wichmann,  0.  225. 
Wilbrandt,  R.  225  ff. 


5.  Verzeichnis  der  Mitarbeiter. 


Adickes,  Erich  328—368. 
Aster,  E.  v.  179—182,  496 

—517. 
Bäumler,   Alfr.   205—207, 

229. 
Berger,  Siegfr.  202—203. 
van  den  Bergh  van  Eysinga, 

G.  A.  237—238. 
Broch,  Herrn.  184—186. 
Calinich,  Margarete  218— 

219. 
Caspary,  Adolf  224. 
Feldkeller,  Paul  229—230. 
Guastella,  Cosmo  230—231. 
Gurwitsch,  Georg  138—164. 
Heinemann,  Fritz  235—236. 
Joel,  Karl  298—327. 
Kraus,  Emil  195—196. 
Lasson,  Georg  1—58. 


Lehmann,     Gerhard     236 

237. 

Liebert,   Arthur   187,  239 

—240,  399-445. 
Löwe,  Adolf  225—228. 
Marck,  Siegfr.  165—178. 
Marcuse,  Ludw.  187—189. 
Marquardt,  Hans  231—232. 
Merkl,  Adolf  215—217. 
Messer,  Aug.  201—202, 232. 
Moog,  Willy  203. 
Müller,  Aloys  59—85. 
Müller  -  Freienfels ,     Rieh. 

193 i99f 

Pagel,    Albert    207—208, 

208—211,  212—215. 
Pos,  H.  J.  232—233. 
Reininger,  Rob.  233—234. 
Richter,  Gustav  234. 


Rosenzweig,  Fr.  183—184. 
Scholz,    Heinr.    196—198, 

369—398. 
Schultz,  Jul.  191—194. 
Seifert,  Friedr.  190—191. 
Sternberg,  Kurt  101—137, 

194—195,211—212,234. 
Tillich,  P.   203—205,   446 

—469. 
Troeltsch,  Ernst  265—297. 
üngerer,    Emil     86—100, 

234—235. 
Utitz,  Emil  470—495. 
Vierkandt,    A.    189,     199 

—201,  220—222. 
Vorländer,  K.  223—224. 
Winternitz,  Jos.  186—187. 
Wichmann,   Ottomar   219, 

219—220. 


Dieterichsche  Universitäts-Buchdruckerei  (W.  Fr.  Kaestner)  in  Göttingen. 


B  Kant-Studien 

2750 

K3 

Bd. 26-27 


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