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KANT- STUDIEN
PHILOSOPHISCHE
ZEITSCHRIFT (
UNTER MITWIRKUNG VON
E. ADICKES J. E. CREIGHTON R. EUCKEN
' UNTERSTÜTZUNG DER „KANT- GESELLSCHAFT"
P. MENZER A. RIEHL
HERAUSGEGEBEN VON
Prof. Dr. HANS VAIHINGER Prof. Dr. MAX FRISCHEISEN-KÖHLER
IN HALLE IN HALLE
UND f
Prof. Dr. ARTHUR LIEBERT Q \
IN BERLIN ^ ^ yS\ A 3
SECHSUNDZWANZIGSTER BAND
BERLIN
VERLAG VON REUTHER & REICHARD
1921
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I
Alle Rechte vorbehalten.
Dieteriohsche Universitäts-Riuhdrnckerei (W. Fr. Kaestner) in Göttingen.
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INHALT.
Seite
Knnts „Programm" der Aufklärung aus dem Jahre
1784. Von Gisbert Beyerhaus l
Die Methodik des pädagogischen Denkens. Von
Theodor Litt 17
Politik und Idealismus. Von Hermann Herrigel 52
Zur Psychologie der Weltanschauungen. Von Jonas
Cohn 74
Die Lorentz- Kontraktion. Von M. v. Laue 91
Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen
Physik? Von Moritz Schlick 96
Philosophie und Leben. Von Max Frischeisen-Köhler 112
Benno Erdmann als Historiker der Philosophie. Von
Else Wentscher 139
Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström. Von
Reinhold Gei jer . . . . . 151
Kants Opus postumum nach Erich Adickes. Von
HermannSchneider 165
Die „Materie" in Kants Tugendlehre und der Forma-
lismus der kritischen Ethik. Von Georg Anderson 289
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori
bei Kant. Von Constanze Friedmann . . . . 312
Genie und Tragik. Von Ottomar Wichmann . . . 351
Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich? Von
Anna Tumarkin 390
Die Aufgaben der Aesthetik. Von Charlotte Bühl er 403
Zum Problem der Philosophiegeschichte. Von Julius
Stenzel 416
Die Verwechslungen von „Beschreibungsmittei" und
„Beschreibungsobjekt" in der Einsteinschen spe-
ziellen und allgemeinen Relativitätstheorie. Von
Oskar Kraus 454
Seite
Besprechungen:
Erkenntnistheorie und Logik.
Berg, Ernst, Das Problem der Kausalität. Von WaltherRauschen-
b erger 174
Bloch, Werner, Einführung in die Relativitätstheorie. Von M. Schlick 174
Driesch, Hans, Logische Studien über Entwicklung. Von Paul Fl as-
kämper 175
Driesch, Hans, Wissen und Denken. Von Josef Wintern itz . . 177
Frost, Walter, Schopenhauer als Erbe Kants in der philosophischen
Seelenanalyse. Von Emil Kraus 180
Oeyser, Joseph, Ueber Wahrheit und Evidenz. Von WilhelmReimer 180
Geyser, Joseph, Eidologie oder Philosophie als Formerkenntnis. Von
R. Kynast 182
Grau, K.J., Grundriß der Logik. Von Artur Buchenau .... 183
Hasse, Heinrich, Das Problem der Gültigkeit in der Philosophie David
Humes. Von Josef Winternitz 184
Höffding, Harald, Der Totalitätsbegriff. Von Kurt Sternberg . . 185
Koppelmann, Wilhelm, Untersuchungen zur Logik der Gegenwart.
II. Teil: Formale Logik. Von Kurt Sternberg 187
Lewin, Kurt, Die Verwandtschaftsbegriffe in Biologie und Physik und
die Darstellung vollständiger Stammbäume. Von Walter Blu-
menfeld 191
Moog, W., Logik, Psychologie und Psychologismus. VonK. F. Endriß 193
Moog, W., Das Verhältnis der Philosophie zu den Einzelwissenschaften.
Von K.F.Endriß 194
Phalen, Adolf, Das Erkenntnisproblem in Hegels Philosophie. Von
Franz Kröner 195
Rauschenberger, Walther, Der kritische Idealismus und seine Wider-
legung. Von Alma von Hartmann 196
Schneider, Ilse, Das Raum-Zeit-Problem bei Kant und Einstein. Von
Josef Winternitz 198
Stapel, Wilhelm, Kants Kritik der reinen Vernunft ins Gemeindeutsche
übersetzt. I. Band. Von Hellmuth Falkenfeld 199
Thalheimer, Alvin, The Meaning of the Terms ,Existence' and ,Reality\
Von Josef Winternitz . ". 199
Wertheimer, Max, Ueber Schlußprozesse im produktiven Denken. Von
Walter Blumenfeld 200
von Uexküll, J., Theoretische Biologie. Von HansDriesch. . . 201
Whitehead, A. N., The Concept of Nature. Von Hans Driesch . 204
Weyl, Hermann, Raum, Zeit, Materie, Vorlesungen über allgemeine
Relativitätstheorie. Von M. Schlick 205
Wundt, Wilhelm, Logik. 1. Band: Allgemeine Logik und Erkenntnis-
theorie. Von Arthur Liebert . 207
Ziehen, Theodor, Lehrbuch der Logik auf positivistischer Grundlage
mit Berücksichtigung der Geschichte der Logik. Von Wilhelm
Koppelmann 208
^r
Einleitungen in die Philosophie.
Wundt, Wilhelm, System der Philosophie. Von Arthur Liebe rt . 487
Jerusalem, Wilhelm, Einleitung in die Philosophie. Von Josef
Winternitz 488
Rausch, Alfred, Elemente der Philosophie. Von Paleikat . . . . 490
Alte und mittelalterliche Philosophie.
Ueberweg-Praechter, Grundriß der Geschichte der Philosophie. 1. Teil :
Das Altertum. Von Arthur Liebert 490
Wichmann. Ottomar, Piaton und Kant. Von Julius Stenzel . . 494
Apelt, Otto, Piatons Briefe. Von Ernst Hoffmann 495
Aristoteles, Kategorien (des Organon erster Teil) (Rolf es)
Perihermenias oder Lehre vom Satz (des Organon zweiter Teil)
(Rolfes). Von Ottomar Wichmann 496
Wittmann, Michael, Die Ethik des Aristoteles. Von B. W. Switalski 497
Ehrle, Franz, Grundsätzliches zur Charakteristik der neueren und
neuesten Scholastik. Von Friedrich Kreis 498
Wundt, Max, Plotin. Von Fritz Heinemann . 499
Selbstanzeigen :
Apel, Max, Einführung in Kants Kritik der reinen Vernunft .... 221
Birnbaum, Karl, Psychopathologische Dokumente 212
Feldkeller, Paul, Ethik für Deutsche . 213
Fischer, Ludwig, 1) Wirklichkeit, Wahrheit und Wissen. 2) Das Voll-
wirkliche und das Als Ob 213
von Lippa, Lazar, Der Aufstieg von Kant zu Goethe 215
Mezger, Edmund, Sein und Sollen im Recht 215
Schlemmer, Hans, Die religiöse Persönlichkeit in der Erziehung . .216
Schneider, Hermann, Metaphysik als exakte Wissenschaft. Heft 3 :
Die Lehre vom Handeln 217
Van der Vaart Smit, H. W., Die Evolutions-Theorie 218
Benjamin, Walter, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik 219
Alvardes, Friedrich, Rassen- und Artbildung . 501
Hofmann, Paul, Die Antinomie im Problem der Gültigkeit .... 501
Hof mann, Paul, Eigengesetz oder Pflichtgebot 502
Ludowici, August, Die Pflugschar 503
Meurer, Waldemar, Ist Wissenschaft überhaupt möglich ? . . . . 504
Wiesner, Johann, Die Freiheit des menschlichen Willens 504
Wenzel, Johannes, Zum „Untergang des Abendlandes" 505
Mitteilungen:
Richard Falckenberg f . Von Hermann Leser 220
Otto Willmann f. Von B. W. Switalski 224
Rudolf Euckens Lebenserinnerungen. Von Georg Frebold . 226
Philosophie und höhere Schule. Von OttoFreitag 230
Vorbereitender oder systematischer Unterricht in der Philosophie.
Von Felix Behrend 251
Aufruf, Solger-Kollegnachrichten betreffend 260
Ein Druckfehler in Kants Kritik der Urteilskraft. Von Kulimann 506
Preisaufgabe: Kant und Litauen 506
Kant- Gesellschaft:
An die Mitglieder der Kant-Oesellschafl (Jahresbericht) 261
An die Mitglieder der Kant-Gesellschaft (Betrifft Bezahlung des Beitrages
für 1921) 269
Zur siebenten (Jubiläums)-Preisaufgabe 269
Ortsgruppe Basel 270
Ortsgruppe Halle 271
Ortsgruppe Hannover 273
Ortsgruppe Karlsruhe i. Baden 274
Dr. Amrheins „Kants Lehre vom Bewußtsein überhaupt" 278
Zum achten Preisausschreiben der Kant-Gesellschaft 278
Neuangemeldete Jahres-Mitglieder für 1921. 1. Ergänzungsliste . . . 279
Ortsgruppe Hannover 508
Ortsgruppe Meersburg a. Bodensee 510
Ortsgruppe Berlin 511
Vergünstigungen beim Bezug von Büchern (Adickes) 512
XVII. Jahresbericht 1920: Einnahmen und Ausgaben ....... 513
Neuangemeldete Jahres-Mitglieder für 1921 : 2. Ergänzungsliste . . . 517
Neue Dauermitglieder , 523
Register:
1. Sachregister 525
2. Personenregister 529
3. Besprochene Kantische Schriften 531
4. Verzeichnis der Verfasser besprochener Neuerscheinungen . . 532
5. Verzeichnis der Mitarbeiter 532
X
Kants »Programm* der Aufklärung aus
dem Jahre 1784 ').
Von JDr. Gisbert Beyerhans,
Privatdozent an der Universität Bonn.
Angesichts des Unvermögens der Orthodoxie, zn einer tendenz-
freien Würdigung ihrer Todfeindin zu gelangen; angesichts der
Zersplitterung der Aufklärungsstreiter bei Verkündigung ihrer
Kriegsziele mitten im Gefecht, war es eine Tat, als Kant am
30. September 1784 nun auch seinerseits sich entschloß, die Lebens-
frage seiner Generation: Was ist Aufklärung? zu beantworten.
Alles vereint sich scheinbar, um diesem Dokument eine überragende
Bedeutung zu sichern : die Sprache des Khapsoden, die hohe Warte
des dem eigentlichen Parteikampf entrückten Philosophen, der
sittliche Wahrheitsmut eines von geistiger Freiheit kündenden
Propheten. ,Auf klärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner
selbstverschuldeten Unmündigkeit . . . Sapere aude! Habe Mut,
dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahl-
spruch der Aufklärung'. Wer kennt sie nicht, jene stolzen, viel
zitierten Worte! Sie sind uns zur klassischen Formet des Allge-
meinbegriffs geworden, der tausend ungesehen fließende Fäden zu
einem anschaulichen Ganzen zusammenwebt.
Daß Kants Definition uns dazu geworden ist, diesen Prozeß
wird der Historiker zu allererst in seiner inneren Notwendigkeit
begreifen. Aber da ihm — nach dem Wort seines Meisters —
jede Mediatisierung des Früheren zu Gunsten des Späteren von
Natur aus widerstrebt, darf er zunächst einmal verlangen, daß
Kants ,Programm' der Aufklärung nicht nach einzelnen blendenden
Zitaten, sondern nach dem Ganzen seines Aufsatzes von 1784 ge-
würdigt werde.
Diese Aufgabe freilich umfaßt einen Komplex von schwierigen
Einzelfragen, deren Lösung weder die zünftige Kantforschung
1) Umgeformt aus einer akademischen Antrittsrede.
Kantstudien. XXVI.
2 Gisbert Beyerhaus,
noch die Ideengeschichte bisher in Angriff genommen hat. So
seltsam es klingt: von Kants sämtlichen Schriften ist die , Beant-
wortung der Frage: Was ist Aufklärung?', soweit ich sehe, viel-
leicht am stiefmütterlichsten behandelt worden1). Lohnte es sich
etwa nicht? Fast scheint es so, als hätten die den Anfang be-
herrschende, leicht zitierbare Definition und der beinahe unkantisch
einfache Stil von einem eindringenderen Studium abgeschreckt.
Und doch brauchen wir bloß die Frage der Entstehungsgeschichte
aufzuwerfen, um vor dem sehr ernsthaften Problem zu stehen:
welche Gründe Kant gerade damals bewogen haben mögen, das
Thema publizistisch zu erörtern. War es ein bloßes Reaktions-
bedürfnis^), das ihn veranlaßte, im Jahrzehnt der drei Kritiken
aus dem Äther reiner Begriffe herabzusteigen und bei einer , Tages-
frage' zu verweilen? Dann stünden wir bestenfalls vor dem Zu-
fallsprodukt einer glücklichen Mußestunde. Oder handelt es sich
vielmehr um die reife Frucht eines Denkers, der sich im Sommer
1798, vor seinen Tischgästen, in fast vermessenem Überschwang
zum Bildungswert der Zeitgeschichte bekannte: ,Ich finde keine
Geschichte lehrreicher als diejenige, die ich täglich in den Zeitungen
lese. Hier kann ich sehen, wie alles kommt, vorbereitet
wird, sich entwickelt'. Niemand wird in diesem Ausspruch
und den Zusammenhängen, denen er entstammt3), den Atem poli-
tischer Leidenschaft verkennen, der seit dem Jahre 1789 durch die
Schriften der deutschen Dichter und Denker weht. Und nichts
liegt mir ferner, als den Einfluß der französischen Revolution zu
unterschätzen, nachdem Karl Vorländers wertvolle Arbeiten4)
die unauflösliche Verflechtung dieses Erlebnisses mit Kants poli-
tischen Anschauungen sicher gestellt haben. Alle späteren Ver-
suche, sich der Gewalt der Tatsachen durch naive Verachtung
historischer Fragestellungen zu verschließen5), haben ja nur aufs
1) Die bekannten Darstellungen von Kants Stellung zur Politik, F. W.
Schubert (1838) und L. Friedländer (1876), behandeln im wesentlichen die
spätere Zeit und begnügen sich hier mit mehr oder weniger umfangreichen Zitaten.
2) Vgl. Menzer, Paul: Kants Lehre von der Entwicklung in Natur und
Geschichte. (Berlin 1911) 280 f.
3) Vgl. die höchst interessanten Angaben aus dem Tagebuch des badischen
Pfarrers und späteren Theologieprofessors Johann Friedrich Abegg bei Vor-
länder: Kant als Poliker in Zeitschrift ,März< 1913, Jg. 7 Heft 10, S. 222.
4) Kant und Marx. Tübingen 1911; Kants Stellung zur französischen Re-
volution in Philosoph. Abh. zu Cohens 70. Geburtstag. Berlin 1912.
5) Gegen Weiß fei d, M.: Kants Gesellschaftslehre. Diss. phil. Bern 1907,
Kants ,Programm' der Aufklärung aus dem Jahre 1784. 3
neue bewiesen, daß eine selbstgenugsame Hermeneutik den Denker
in Wahrheit zum jBegriffskrüppel* macht.
Aber es wäre m. E. genau so verfehlt, Kant als Politiker
nun schon deshalb aus bloßem Revolutionsenthusiasmus zu erklären.
Einmal ist der Zusammenhang mit ßousseaus ideologischem Uto-
pismus viel älter als das Erlebnis von 1789. Vor allem wächst
bereits in den ,Reflexionen zur Anthropologie', die den siebziger
Jahren angehören, aus der Greschichtsphilosophie eine ganze Reihe
von konkreten politischen Forderungen hervor1). Eine Tatsache,
die für die Entstehungszeit der drei Kritiken ganz und gar nicht
auf politische Indolenz schließen läßt. Somit gilt es methodisch,
auch für die vorrevolutionäre Periode auf die Erkenntnis zurück-
zugehen, daß das Produkt des Denkens sich nur als Produkt des
Lebens begreifen läßt. Diese Einsicht eröffnet dem Verständnis
unseres Aufsatzes neue Ausblicke und Möglichkeiten, sobald wir
uns die geistige Situation des Jahres 1784 flüchtig vergegen-
wärtigen.
Das königliche Grestirn ist im Verbleichen begriffen. Schon
, steigt von der andern Seite des Horizonts die Nacht* mit allen
ihren Grespenstern wieder empor'2). Und auch der inneren Ent-
wicklung nach sind die Morgenstunden der deutschen Aufklärung
längst vorüber. Nicht nur, daß das Feuer der ersten Liebe er-
kaltet, der Glaube an die Durchsetzungsmöglichkeit des Vernunft-
reiches vom Zweifel erschüttert ist. Die notdürftig hergestellte
Einheitsfront des deutschen Rationalismus zeigt sich um die Wende
der 80er Jahre in weitgehender Zersetzung begriffen3). Während
der Fragmentenstreit den Kampf um die Geltung des Christentums
überhaupt eröffnet und den kirchentreuen Modernismus eines Semler
in seinen Grundfesten bedroht, suchen die Starken, um Bahrdts
Glaubensbekenntnis geschart, das Erbe an sich zu reißen. Gleich-
zeitig erklingt aus Lessings ,Erziehung des Menschengeschlechts*
die Ahnung einer rein geistigen Zukunftsreligion, die hoch über
S. 2 ff. Vgl. dem gegenüber die treffenden Bemerkungen von H. Zwingmann:
Kants Staatslehre in Hist. Zeitschr. 112 (1914), S. 547.
1) Vgl. Menzer, a.a.O., S. 268 f.
2) Für das Anwachsen des Mystizismus und des Aberglaubens während der
letzten Regierungsjahre Friedrichs II. vgl. Frank, G. : Gesch. d. prot. Theologie
T. III (Leipz. 1875) 190 ff. und Plessings Brief an Kant (1784 März 15), W. W.
Akad. Ausg. Bd. 10, 349 f.
3) Vgl. das wertvolle Kapitel VII bei Zscharnack, Leop.: Lessing und
Semler (Gießen 1913), 316 ff.
1*
4 Gisbert Beyer haus,
alles Bekenntnismäßige, selbst das Christentum hinausweist. Im
Jahre 1781 wird durch die Vernunftkritik, ohne daß es der Theo-
logie zunächst zum Bewußtsein käme, allen dogmatischen Gottes-
beweisen der Boden entzogen. Und 1783 wirft die Auseinander-
setzung über Lessings Spinozismus für die Eingeweihten bereits
ihren ,romantisch-reaktionären' Schatten voraus x).
Unter dieser äußeren und inneren Konstellation ergreift Kant
in der ,Berlinischen Monatsschrift', dem führenden Organ der Gre-
dicke und Biester2), das Wort und zwar zur Klarstellung eines
Problems, das noch immer ebenso sehr persönliche Angelegenheit
des einzelnen wie Lebensinteresse des Staates war. Der Privat-
charakter dieses Pronunciamento ist .von den Zeitgenossen wohl
kaum angezweifelt worden. Um so mehr dürfen wir den offiziösen
Unterton heraushören, wenn wir die Geistesfreiheit des preußischen
Staates geradezu aus dem Wesen des Absolutismus abgeleitet sehen.
In welchem Umfange Kant sich zum Sprachrohr eines Regierungs-
standpunkts gemacht hat, wird uns noch beschäftigen. Aber schon
die Tatsache, daß wir damit rechnen müssen, zwingt dazu, unsern
Aufsatz von der gleichzeitigen ,Idee zu einer allgemeinen Geschichte
in weltbürgerlicher Absicht' (1784) energisch abzurücken. Die ge-
schichtsphilosophische Selbstbesinnung, die im Schlußabschnitt
hervorbricht, die Frage : ,Leben wir jetzt in einem aufgeklärten
Zeitalter' oder ,in einem Zeitalter der Aufklärung?' darf also
keineswegs im Sinne Kuno Fischers3) mißbraucht werden und
zur Bestimmung der literarischen Gattung des Aufsatzes im
Ganzen dienen. Nichts kann uns sein Verständnis sicherer ver-
bauen als eine vorschnelle geschichtsphilosophische Einstellung.
Denn es handelt sich im Grunde — das ist stark zu betonen —
um eine staatspolitische Schrift. Unser Urteil über den Gehalt
haben wir also nicht an den universalgeschichtlichen Perspektiven
des 18. Jahrhunderts, sei es Rousseau oder Iselin, sondern nach
rückwärts an den politischen Traktaten Spinozas und Lockes, nach
1) Vgl. Mauthner, Fritz: Jacobis Spinoza- Büchlein in Bibl. d. Philosophen
Bd. 2 (München 1912) X11I; XVIII.
2) Vgl. die gute Übersicht bei Hay, Jos.: Staat, Volk und Weltbürgertum
in der Berlinischen Monatsschrift . . . (1783—96). Berlin 1913, dazu Fromm,
Emil: Kant und die preußische Censur (Hbg. u. Lpzg. 1894) 12 ff.
3) Geschichte der neueren Philosophie Bd. V5 (Heidelberg 1910) 239 ff. Mit
Recht wird dagegen die ,BeantwortuDg' von dem ,wichtigsten geschichtsphilosophi-
schen Aufsatz' scharf abgegrenzt von Menzer a. a. 0. S. 267 f.
Kants ,Programm' der Aufklärung aus dem Jahre 1784. 5
vorwärts an Wilhelm von Humboldts ,Ideen' von 1792 zu orien-
tieren.
Nachdem wir uns die sog. Einleitungsfragen (die Frage nach
der äußeren und inneren Veranlassung sowie der literarischen
Gattung) wenigstens als Problem vergegenwärtigt haben, gilt es
Struktur und Tendenz unseres Aufsatzes auf dem Wege einer Ana-
lyse zu erschließen. Anhebend mit den volltönenden Akkorden
einer sprachgewaltigen Definition weiß Kant den Leser gleich mit
den ersten Sätzen auf die Hohe zu führen. Mit welchem Triumph-
gefühl blickten nicht die vulgären Aufklärer vom Schlage Mendels-
sohn, Creuz und Eberhard auf die vorangegangenen Jahrhunderte
der katholischen und protestantischen Scholastik herab! Und wie
verstanden es die Söhne des , erleuchteten' Zeitalters, gerade sich
als die wahren , Selbstdenker' herauszustreichen! Das Wort selbst-
verschuldet' zerreißt unerbittlich die Schleier dieses Wahns.
Gegenüber jener Intoleranz, die schon in ihrer Selbstzufriedenheit
die Todfeindin jeder fortschreitenden Erkenntnis ist, wird die
Schuldfrage des Obskurantismus neu gestellt und zu einer Ge-
samtschuld des Menschengeschlechts vertieft. Wie Montesquieu
die Staatsform des Despotismus psychologisch zu erklären ver-
sucht aus der Furcht, genauer dem Mangel an Selbstachtung derer,
die sich das Joch gefallen lassen (Esprit des lois III, 9), so findet
Kant auch die geistige Knechtschaft wurzelnd in der Faulheit
und Feigheit des Menschen. Sie gehören deshalb in erster Lmie
auf die Anklagebank : nicht die alten kirchlichen Mächte *), nicht
der moderne absolute Staat, wenn sich auch beide den Hang zur
, süßen Tyrannei' Jahrhunderte lang zu nutze gemacht haben!
Wenn die Aufklärung nach Kant auf Selbstdenken beruht, so
ist im Gegensatz zu Eberhard und Mendelssohn von vornherein
klar, daß sie niemals bestehen kann in einer bloßen Summe von
fertigen Lehrbegriffen — mögen diese an sich noch so richtig und
freigeistig sein. Sie läßt sich auch nicht einfach durch Ver-
1) Wie sie soeben noch durch Karl Leonhard Rein hold, einen ^ent-
sprungenen Jesuitenzögling, ganz ausschließlich für die Knebelung des mensch-
lichen Geistes verantwortlich gemacht worden waren. Vgl. dessen Abhandlung:
Die Wissenschaften vor und nach ihrer Säkularisation, Teutscher Merkur 1784
III, dazu Wahl, Hans: Geschichte des Teutschen Merkur. A. u. d. T. Palaestra
Bd. 127 (Berlin 1914) 193 f. Daß Kants Aufsatz jede antihierarchische Spitze ver-
meidet, erklärt sich gewiß einmal aus seiner protestantischen Grandstellung, bildet
jedoch zugleich eins der stärksten Kriterien für seine Neuorientierung des über-
lieferten Begriffs der Aufklärung.
6 Gisbert Beyerhaus,
tauschung der überlieferten falschen Meinungen mit neuen besseren
gewinnen. Aufklärung ist überhaupt nicht dogmatisches Wissen,
sondern eine ethische »Maxime', in ihrer Vollendung eine ethische
Qualität. Über ihren Wert entscheidet rein formal das Maß von
Autonomie, das die Eroberung einer Erkenntnis bestimmt. Damit
ist einerseits die Seltenheit und Mühseligkeit ,wahrer' Aufklärung
gegeben, andrerseits die beschränkte Möglichkeit zu positiver Mit-
arbeit des Staates, sobald er seinerseits solche Ideale zu realisieren
strebt. Jede gewaltsame Aufpfropfung von neuen Begriffen, und
wenn es die höchsten wären, ist ethisch wertlos für die Beteiligten.
Denn das hieße ja neue Vorurteile an Stelle der alten setzen!
Nur der harte und steile Weg der Erziehung, dem isolierten In-
dividuum fast unerreichbar, kann eine Gemeinschaft befähigen,
Satzungen und Formeln, ,die Fußschellen einer immerwährenden
Unmündigkeit' allmählich von sich abzuschütteln. Durch lang-
same, fortschreitende Reform, nicht durch den Umsturz der staat-
lichen Ordnung. ,Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein
Abfall von persönlichem Despotismus und gewinnsüchtiger oder
herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der
Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden,
ebensowohl als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen
Haufens dienen' !
Die positive Mitarbeit des Staates bei diesem geistigen ,Er-
mannungsprozeß' *) kann nur bestehen in der Beförderung des
Selbstdenkens, d. h. staatsrechtlich gesprochen in der Gewährung
und Sicherung einer ,staats freien Sphäre'2). Wie aber verträgt
sich diese Freiheit mit der staatlichen Souveränität? Ist die
geistige Freiheit abhängig von der politischen Verfassung? Ist
sie überhaupt denkbar ohne ein ,wohldiszipliniertes', starkes ,Heer'
als des Bürgen der öffentlichen Ruhe? Damit tritt eine Front-
verschiebung, man darf sagen, ein Frontwechsel ein. Und wir
stehen vor einem zweiten, wesentlich nüchterneren Thema, [einem
, Versuch, die Grenzen der^, Wirksamkeit des Staates zn bestimmen.'
Auf drei Schauplätzen sieht Kant sein Prinzip der individuellen
Vernunftautonomie mit der Staatsautorität zusammenprallen: im
Militärwesen, in der Finanzverwaltung und in der Kirche. ,Von
allen Seiten höre ich rufen: „Räsonniert nicht!" Der Offizier
sagt: Räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: Rä-
1) S. Kuno Fischer a. a. 0. S. 241.
2) Jellinek, G.: Das Recht des modernen Staates Bd. P (1905) 320 ff.
Kants ^Programm' der Aufklärung aus dem Jahre 1784. 7
sonniert nicht, sondern bezahlt ! Der Geistliche : Räsonniert nicht,
sondern glaubt! Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: R,ä-
sonniert, so viel ihr wollt und worüber ihr wollt, aber gehorcht!'
Es hätte wahrlich dieses Hinweises nicht bedurft, um uns die ,tiefe
innere Beziehung' *) dieser Staatsanschauung zu dem frideriziani-
schen Preußen vor Augen zu führen. Und es ist deshalb müssig
zu untersuchen, ob sich die Einheit des preußischen Staates in den
genannten drei Funktionen auch wirklich konzentriert. Genug,
daß sie in Form einer Abbreviatur die Zwangsnatur des Staates
an typischen Beispielen veranschaulichen. Wir haben deshalb
lediglich zu fragen, wie Kant die Spannung zwischen den unver-
letzbaren Ordnungen des Staates und den Forderungen der Ver-
nunft überwindet. Er hilft sich bekanntlich mit einem Kompromiß-
verfahren, mit der Unterscheidung zwischen öffentlichem und Pri-
vatgebrauch der Vernunft. Damit strömt unaufhaltsam das Wasser
in den Feuer wein. Auf seinem bürgerlichen Posten nämlich ist
der einzelne durch die Gehorsamspflicht verbunden, die sanktio-
nierte Richtschnur seines Wirkens (Kommandobefehle, Gesetze,
Symbole, Katechismen) unverbrüchlich zu halten. Denn so lautet
nach Kant sein Anstellungsvertrag. Wir begreifen daher die etwas
kleinlaute Versicherung: jener amtliche Vernunftgebrauch — im
Gegensatz zum gewöhnlichen Sprachgefühl als ein ,Privatgebrauch'
bezeichnet — dürfe also ,Öfters sehr enge eingeschränkt sein'.
Dem steht der Vernunftgebrauch des Beamten gegenüber, sofern
er als Forscher und Gelehrter vor das Forum der Öffentlichkeit
tritt. Als solcher hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf, seine
Meinung zu sagen und das Publikum durch freimütige Kritik für
Verbesserungen reif zu machen. In seinem publizistischen Wirken
steht der Beamte gleichsam in eines höheren Herrn Pflicht, er
gehört der , Weltbürgergesellschaft' an.
Bei aller theologischen Unbefangenheit ist sich Kant von vorn-
herein darüber klar, daß der Konflikt zwischen dem ,Eecht der
Aufklärung' und der ,Erfüllung der Amtspflichten' 2) den prote-
stantischen Geistlichen mit besonderer Schärfe trifft. Nicht als
ob der Zwiespalt zwischen ,Person' und ,Amt', das böse Erbe der
lutherischen Ethik 3) , an irgend eine Berufskategorie gebunden
1) Vgl. Bauch, B.: Vom Begriff der Nation in Kantstudien 21 (1017) 150f.
2) Kuno Fischer a. a. 0. S. 243.
3) T r o e 1 1 s c h , E. : Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen.
A. u. d. T. Ges. Schriften I (1912), 500 f.
8 Gisbert Beyerhaus,
wäre. Aber für keinen Diener der öffentlichen Ordnung war beides,
Lehrautorität und Verfassungsnorm, gleich schwankend geworden
wie für den sog. geistlichen , Vormund des Volkes'. Und während
die Juristen gerade jetzt an dem , Allgemeinen Preußischen Land-
recht' (Erster Teil 1784) einen Führer fanden, welcher eins war
mit dem Geist der Zeit, sahen sich die protestantischen Kirchen-
lehrer noch immer auf die ehrwürdigen .Denkmäler ihrer Glaubens-
freiheit' *) vereidigt.
Der Vorstoß der Lüdke und Büsching (1767 und 1770) zur
offiziellen Abschaffung der symbolischen Bücher hatte bekanntlich
mit einer Niederlage der Radikalen geendet2). Aber der Kampf
selbst war noch längst nicht abgeblasen! Eine weitausgreifende
Publizistik verstand es, ihn mit geistigen Waffen weiterzuführen
und in die kirchlichen Körperschaften, ja in die Gemeinden zu
tragen. Am Krefelder Eeligionsprozeß (1775 — 1777) sehen wir nur
allzu klar, wie jede Heterodoxie kirchenpolitisch unvermeid-
lich fortschreiten mußte zum Angriff auf dies Schibboleth des
alten Glaubens 3). Wir begreifen aber auch, was es damals be-
deutete, wenn der ,Philosoph des Protestantismus' das amtliche
Wirken des Pfarrers von der vertraglichen Verpflichtung auf die
symbolischen Bücher abhängig machte ; wenn er den Diener am
Wort auf die bestimmte theologische Fassung festnageln wollte,
welche die einzelnen Glaubenslehren in der mehr oder weniger
zufälligen Kodifizierung des territorialen Kirchenregiments, in foro
humano gefunden haben.
Eine eidliche Verpflichtung auf die Unveränderlichkeit be-
stimmter Glaubensstatuten ist darin freilich nicht einbeschlossen.
Im Gegenteil ! Ein solcher Kontrakt käme dem Verzicht auf jede
weitere Aufklärung gleich. Ein Verbrechen wider die mensch-
liche Natur, deren ursprüngliche Bestimmung ja gerade im Fort-
schreiten besteht! Ein derartiger Entschluß, dessen Ergebnis so-
fort null und nichtig wäre, kann daher weder von einer Kirchen-
1) Vgl. [Brück, Engelbert vom]: Etwas über den Werth der Symbolen
zur Beförderung der Toleranz . . . Deutschland [= Frankfurt a. M. : Fleischer]
1777, 8. 12.
2) Vgl. Frank a. a. 0. III, 123. Eine kritische Verarbeitung der weit-
schichtigen Streitschriftenliteratur wäre dringend wünschenswert.
3) Sie hierüber meine in Vorbereitung befindliche Publikation ,Quellen zur
Geschichte der Aufklärung am Rhein im 18. Jahrhundert'. Bd. 1 : Die weltlichen
Territorien.
Kants ,Programm' der Aufklärung aus dem Jahre 1784. 9
Versammlung geleistet, noch von den weltlichen Machthabern ge-
fordert werden — selbst in der Form von Reichstagen und feier-
lichsten Friedensschlüssen nicht!
Dessen ungeachtet bleibt die formaljuristische Bindung auf die
symbolischen Bücher bestehen. Oder war es ein Weg ins Freie,
wenn Kant dem einzelnen Geistlichen anheimstellte, sich mit der
kaum verhüllten reservatio mentalis zu trösten : im Amt wirke er
nun einmal als .Geschäftsträger der Kirche', der nicht seine Über-
zeugung, sondern 'nach der Vorschrift und im Namen eines andern'
lehre? War es noch vereinbar mit den Pflichten intellektueller
Redlichkeit — sogar im Sinn des 18. Jahrhunderts — , wenn Kant
den Kompromiß empfahl: selbst Glaubenssatz ungen, die er ,nicht
mit voller Überzeugung unterschreiben würde', ließen sich amtlich
sehr wohl vortragen, 'weil es doch nicht ganz unmöglich' wäre,
,daß darin Wahrheit verborgen läge, auf alle Fälle aber nichts
der inneren Religion Widersprechendes darin angetroffen wird' ?
Den Weisen von Königsberg, den Kritiker und Befreier, auf
einmal als Bundesgenossen eines J. R. A. Piderit, als Wegbereiter
eines Wöllner zu sehen, wirkt peinlich und befremdend zugleich.
Letzteres um so mehr, als die ,Kr. d. pr. V.' (1788) speziell die
Abhandlung ,Über den Gemeinspruch' (1793) jede Unterscheidung
von Theorie und Praxis auf ethischem Gebiet aus den Angeln
heben sollte. Und wenn auch Wöllner sein polizeistaatliches Pro-
gramm ganz unabhängig von unserm Aufsatze entwickelt haben
mag1), welche seltsame Paradoxie, um in Kants Sprache zu reden,
daß das vornehmste Opfer der Reaktion den Berliner Glaubens-
zuchtmeistern so gefährliche Waffen und Argumente geliefert hat !
Es ist also keine müssige Parallelenjägerei, wenn wir hier einmal
nach den Quellen fragen und zu den tiefer wurzelnden Erfahrungen
des Lebens hinabsteigen.
Die geistige Entwicklung Königsbergs bis zum Jahre 1763 ist
uns von Benno Erdmann2) ebenso eindringend wie glänzend ge-
schildert worden. Der Einfluß des Pietismus auf Kants Auffassung
des religiösen Lebens — bis in den Gegensatz von ,Kirchentum
1) Eine Abhängigkeit des Wöllnerschen Religionsediktes § 8 von Kants ,Be-
antwortung' ist m. E. nicTit anzunehmen. Ähnlichkeiten der Denkweise liegen
freilich vor. Aber sie lassen sich gerade so gut daraus erklären, daß gewisse
Grundanschauungen durch die Verteidiger der Symbole, insbes. die Kirchenjuristen
zur Scheidemünze geworden waren.
2) Martin Knutzen und seine Zeit. Leipz. 1876.
10 Gisbert Beyerhaus,
und Pfaffentum' hinein — steht hiernach außer Zweifel. Ebenso
wenig darf man aber die Regungen aufklärerischer Art übersehen,
die dem Nährboden der preußischen Hauptstadt entstammen. Das
hohe Lied eines pantheistischen Rationalismus. Chr. Gabr. Fischers
, Vernünftige Gedanken von der Natur . . .' (1743) J) , verhallten
freilich wie die Stimme eines Predigers in der Wüste in der noch
immer rein pietistischen Stadt. Um so lebhafter sollten dafür
zwei Religionsprozesse, dreißig Jahre später, die Macht des geist-
lichen Despotismus wie die Pflichten der Staatsaufklärung Kant
zum Bewußtsein bringen. Der erste, 1775, ist an den Namen
seines theologischen Kollegen Johann August Starck2) geknüpft;
der zweite, 1783, an den des bekannten Gielsdorfer Pfarrers Joh.
Heinrich Schulz 3), dessen 'Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre
für alle Menschen ohne Unterschied der Religion' von Kant, im
,Räsonnirenden Bücherverzeichnis' gleichen Jahres, einer zwar kri-
tischen, aber höchst wohlwollenden Besprechung gewürdigt worden
war. Der Gegenstand der Anklage kann hier im einzelnen nicht
geschildert werden. Es genügt festzustellen, daß beide Male re-
ligionsgeschichtliche bezw. theologisch- spekulative Sätze das Konsi-
storium zum Einschreiten veranlaßt haben: im Eall Starck der
Angriff auf den religiösen Monopolgedanken des Judentums und
das Bekenntnis zu einem religiös-universalen Theismus; im Fall
Schulz die Annahme eines fatalistischen Determinismus. Um so
wichtiger sind uns dagegen die lapidaren Reskripte, mit denen
der Freiherr von Zedlitz der Verfolgungssucht der Orthodoxie die
Spitze brach. Der Chef des geistlichen Departements, Kants
glühender Verehrer, war offenbar ganz erfüllt von der Gewalt der
Entdeckung, die einst in Semler — bei jenem denkwürdigen Tisch-
gespräch 4) mit dem Kanzler von Wolf und Voltaire — aufgeblitzt
war. Denn er plante nichts Geringeres als jene wissenschaftlich
fließende Abgrenzung von Religion und Theologie zur praktischen
Norm der geistlichen Amtsführung zu erheben. Und so fällte er
beide Male ein fast gleich lautendes Urteil : als Beamter habe der
Geistliche zu lehren, was ,zum gemeinen christlichen Gebrauch
1) S. ebend. S. 41 ff.
2) Über Starcks Persönlichkeit und Schriften vgl. A. D. Biogr. 35, 465
(Tschacker t) u. Meusel: Das gelehrte Teutschland Bd. 7, 617 f.
3) Über Schulz vgl. Vorländer in Philos. Bibl. Bd. 471 (1913) S. XLVIff.
4) Vgl. Dilthey, W.: Das Erlebnis und die Dichtung. 4. Aufl. (Leipzig
1913) 104.
Kants ,Programm' der Aufklärung aus dem Jahre 1784. 11
gehört.' In Dingen dagegen, welche die Religion nicht ausmachen,
sondern das gelehrte theologische Wissen betreffen, sei er frei und
habe sich allein vor der Öffentlichkeit zu verantworten. Die Auf-
sicht des Konsistoriums könne sich hiernach nur darauf erstrecken,
'ob er seine Gemeinde im Guten festhalte und nicht wankend
mache . . . ; auch ob sein Wandel diesem Zweck entspreche* *).
Das besagte: theoretisch ein formales Festhalten an der lehramt-
lichen Kontrolle des Staates als einer Schutzwehr gegen geistlichen
Fanatismus; praktisch weitherzige Toleranz im Vertrauen auf die
pädagogische Reife des einzelnen Pfarrers. In beidem ein getreues
Spiegelbild des friderizianischen aufgeklärten Absolutismus hat
die Entscheidung des Freiherrn von Zedlitz die Richtung der
preußischen Kirchenpolitik bis zum Wöllnerschen Edikte bestimmt.
Sie hat auch Kants Abhandlung vorangeleuchtet, die ,damit ihren
offiziösen Charakter erweist. Nicht als ob sie geradezu als ,Staats-
schrift' zu bezeichnen wäre wie Spinozas Politischer Traktat!
Schon die leichtgeschürzte Form des Zeitungsartikels und die Rück-
sicht auf ein breiteres, wenn auch gelehrtes Publikum verbieten
es, die ,Beantwortung' allzu nahe an solche Parallelen heranzu-
rücken. Ein offiziöses Gepräge eignet ihr gleichwohl, insofern der
Verfasser die Politik des ihm eng befreundeten herrschenden
Kultusministers publizistisch zu rechtfertigen unternimmt oder
wenigstens zu stützen vermeint.
Ich darf zum Schlüsse den Blick noch einmal auf das Ganze
zurücklenken. Zunächst nach der negativen Seite. Als Kant
Ende 1784 seine Beantwortung' schrieb, hat er der weitverzweigten
Aufklärungsbewegung das Programm weder liefern wollen noch
liefern können. Schon deshalb nicht, weil die Aufklärung in
Deutschland — nur sie kommt überhaupt in Frage — bereits in
1) S. die Beilagen. Daß die dort wiedergegebenen Reskripte Kant wirklich
vorgelegen haben, obwohl eine Verbreitung durch den Druck sich auf Grund der
bisherigen Nachforschungen erst 1792 nachweisen läßt, steht wohl außer Zweifel.
Im Fall Starck ist eine Einweihung in den Verlauf des Verfahrens bei dem engen
Zusammenhang des akademischen Lehrkörpers ohne weiteres wahrscheinlich. Kants
Interesse an der Neubesetzung der ,vornehmsten geistlichen Stelle im Lande' er-
hellt aus seinem Briefe an Campe (1777 Okt. 31), W. W. Akad. Ausg. Bd. 10, 202.
Im Fall Schulz dagegen dürfte Joh. Erich Biester, der Sekretär des Freiherrn
von Zedlitz, die Orientierung besorgt haben. Außerdem wäre an eine Übermitt-
lung durch Reisende zu denken, die wie der junge Ettner die Beziehung zwischen
Berlin und Königsberg hergestellt haben.
12 Giaberl I» eye rhu u b .
ihr ,allerssch waches und lebensfeindliches Stadium' ') getreten war,
ja aus mancher Wunde blutend am Boden lag. Auch die Ver-
legenheitsformel, die Karl Vorländer2) prägt, ist in ihrer Un-
klarheit nur geeignet, den Tatbestand zu verwirren. Was in aller
Welt soll es heißen, Kants Beantwortung' habe ,dem nach ihr
benannten Zeitalter gewissermaßen nachträglich das Pro-
gramm gemacht'? Selbst wenn es in der Jugend der Bewegung
zu einer Formulierung der Kriegsziele nicht gekommen wäre, wie
hätte ein posthumes Programm die Geister sammeln und führen
können? Sollen wir dagegen aus den angeführten Worten ledig-
lich die Meinung herauslesen, das Zeitalter Friedrichs habe hier
die empirisch-historische Abstraktion seines Wesens erfahren, so
wäre erst recht darauf hinzuweisen, daß Kants nachträgliche
Wesensbestimmung den klassischen Vertretern der deutschen Auf-
klärung niemals als Programm gegolten hat. Es ergibt sich also,
daß die Aufklärung wie jedes geschichtliche Lebensprinzip auf
verschiedenem Boden verschiedene Früchte trägt. Damit wird
auch die Richtung gewiesen, in der wir die bleibende positive
Bedeutung der Abhandlung von 1784 zu suchen haben.
Um es kurz zu formulieren : wiewohl in ihrer Tendenz gegen
die Aufklärung gerichtet, bildet sie dennoch eine wertvolle, vor
allem aber höchst individuelle Ausstrahlung der späten friderizia-
nischen Staats auf klärung. Indem Kant den überkommenen Betriff
(Durchschnittstypus: Eberhard - Mendelssohn) durch die Grundge-
danken seiner noch unveröffentlichten3) Ethik (Autonomie, For-
malismus) unterbaut, wird derselbe in seinem Wesen zerstört. Die
Ausgestaltung zu einer ethischen , Maxime* bezeichnet eine voll-
ständige Umdeutung: gewiß, einen Schutz des einzelnen vor der
Verflachung der Aufklärerei, aber vor allem auch eine Sicherung
des Staates gegen alle ernsthaften Folgerungen des Naturrechts.
Der Appell an die heiligen Rechte der Menschheit, der in Rousseau-
scher Deklamation ertönt, darf nicht darüber täuschen, daß die
, staatsfreie Sphäre', um in der Sprache Jellineks zu reden, über-
aus eng bemessen ist. Kein revolutionäres, kein ständisches Wider-
standsrecht ! Nur eine vorsichtig verklausulierte Preßfreiheit sichert
dem innerpolitischen Reformeifer seinen Schauplatz der Betätigung.
1) Vgl. Kj eilen, R.: Die Ideen von 1914 (deutsch, Leipz. 1915) 8.
2) Immanuel Kants Leben (Leipzig 1911) 119.
3) Zur Chronologie der Entstehung der ,Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten* vgl. Menzer a. a. 0. S. 424 Anm. 200.
Kants ,Programm' der Aufklärung aus dem Jahre 1784. 13
So erfüllt sich an Kants ,Aufklärung' im Jahre 1784 das Wort
Lagardes über die ,K,eligion' : erst nachdem sie ,gezähmt, das heißt,
zum Spielzeug geworden ist, findet sie Duldung in der Welt.'
Einen besonderen Prüfstein bieten die ,Religionssachen'. Wie
sie schon rein äußerlich, in der Ökonomie der Darstellung, ein
Drittel des Ganzen in Anspruch nehmen, so werden sie auch sach-
lich zum konstitutiven Merkmal der Aufklärung gesetzt: die Un-
mündigkeit auf religiösem Gebiet ist ,die schädlichste . . . und . . .
entehrendste unter allen' ! Hier nimmt Kant, wie wir sahen, die
kirchenpolitischen Grundsätze des Freiherrn von Zedlitz in sich
auf, um darauf das ,einzige Palladium der Volksrechte' — so heißt
es 1793 — zu gründen. Erst dadurch, daß Kant in seinem Syste-
matisierungsbedürfnis die Kategorien des preußischen Kultus-
ministers mit der Rechtsgiltigkeit der evangelischen Bekenntnis-
schriften verquickt, gewinnt seine Position eine neue, fast entgegen-
gesetzte Tragweite. Eine Abgrenzung, die ganz offensichtlich
dazu dienen sollte, den Pfarrer als Gelehrten von der Vormund-
schaft seines Konsistoriums zu befreien, wird durch Konstruktion
eines Anstellnugsvertrages in eine so starre Bindung verwandelt,
daß sich sofort das Bedürfnis geltend macht, sie sophistisch zu
lockern. Selbst eine synodale bezw. klassikale Vertretung der
Kirche ermangelt des Eechts zu einer selbständigen Umbildung
des Kirchen- und Religionswesens. Sie bringe ihre ,Vorschläge
vor den Thron' ! Der Monarch wird entscheiden. Auch auf reli-
giösem Gebiet gilt also der Grundsatz des Absolutismus: alles
für das Volk, nichts durch das Volk ! Das bedeutet praktisch den
Bankrott der Aufklärung als kirchenpolitischen Faktors *). Es ist
1) Bezeichnend hierfür ist zumal die Tatsache, daß Kants Standpunkt die
sog. Autonomie der Einzelgemeinde schroff verneint. Wie stark jener Gedanke
z. B. im niederrheinischen Calvinismus — wahrscheinlich unter mennonitischem
Einfluß — bereits zur kirchenpolitischen Forderung zugespitzt war, zeigt wiederum
der mehrfach erwähnte Streit um die Geltung der Symbole in den 70 er Jahren.
Auch hier läßt Kuno Fischer (a.a.O. S. 244) jede tiefere Fragestellung ver-
missen, wenn er meint: Kant habe den Geistlichen ,nach protestantischer Art
nicht als Organ einerWeltkirche, sondern alsLehrereinerGemeinde
betrachtet' (teilweise von mir gesperrt). Soll das heißen, Kant habe in dem protest.
Geistlichen ein , Organ' der Einzelgemeinde gesehen? Man kann kaum daran
denken, daß Kuno Fischer Kants Auffassung vom Wesen des Geistlichen und
dessen königlich preußischem Amtscharakter so völlig verkannt haben sollte. Bleibt
also nur die zweite Auffassung übrig, wonach ,Lehrer einer Gemeinde' lediglich
den Schauplatz des geistlichen Wirkens bezeichnen soll. Dann aber ist nicht
14 Gisbert Beyerhaus,
nicht Aufgabe des Historikers, einen solchen Standpunkt zu kriti-
sieren. Wir haben uns einfach abzufinden mit der Tatsache, daß
Kant 1784 eine ,Politik des konservativen Fortschritts' vertrat.
Das heißt: er fand — wie später Disraeli — einen ,neuen Aus-
druck, der den Geist der Zeit umfaßte, aber den zerstörerischen
Forderungen des Umsturzes widersprach' *).
Beilagen.
1. Ministerialerlaß des Geistlichen Departements an
die ostpreußische Regierung. Berlin 1776 April 11.
Gedruckt in: Zur Vertheidigung des Prediger Herrn Schulz
zu Gielsdorf Wilkendorf und Hirschfelde geschrieben Von dem
Criminal-Rath Amelang. o. 0. 1792. S. 49 f. Das von mir benutzte
Exemplar der U. B. Bonn [Sign. Ab 1890] umfaßt XXXII + 252 -f
XXII +264 Seiten 8°.
Fr., König etc.
Euer allerunterthänigster Bericht vom 25ten Martii c. ist zu
seiner Zeit hier eingelaufen, womit ihr die Vorstellung des dortigen
Consistorii nebst den demselben beigelegt gewesenen und hierbei
in originali zurückkommenden Anmerkungen wegen einer von dem
dortigen Ober-Hofprediger D. Stark unter dem Titel: ,Hephä-
stion'2) durch den Druck bekannt gemachten Schrift zu Unserer
Entscheidung eingesandt habt. Eine Vorstellung, die so wie diese,
mit so viel persönlichen Beleidigungen angefüllt ist, verdienet
schon an sich keine Bemerkung. Wäre aber auch die ganze An-
klage anders abgefaßt : so würde sie doch nicht von der Art sein,
daß es der Verfügung bedürfte, die das Consistorium sich hat ein-
fallen lassen in Vorschlag zu bringen. Sie betrifft theils Meinungen,
die dem ,Hephästion' durch Folgerungen angedichtet worden, theils
Widersprüche, die der Verfasser vor dem Publiko verantworten
mag, theils Urtheile über das Maaß der Erkenntnisse der Israeliten,
einzusehen, warum ein Organ der Weltkirche nicht zugleich Lehrer einer Ge-
meinde sein kann.
1) Vgl. Schmitz, Oskar A. H.: Die Kunst der Politik. 3. Aufl. (München
1916) 158.
2) Hephästion. Königsberg. G. L. Härtung 1775. 2, 188 S. 8°. Eine ein-
dringende Besprechung der behandelten Probleme sowie der dadurch entfesselten
Polemik findet sich bei G. F. Seiler [Hrsg.]: Gemeinnützige Betrachtung der
neuesten Schriften . . . Erlangen 1776. Beylage. St. 3. S. 233—248.
Kants Programm' der Aufklärung aus dem Jahre 1784. 15
welche mehr für das gelehrte theologische "Wissen, als zum ge-
meinen christlichen Gebrauch gehören. Es wird dem Doktor Stark
zugetrauet, daß er beides in seinen öffentlichen Religionsvorträgen
werde zu unterscheiden wissen, und so thut er seinem Amte als
Prediger genüge. Ihr habt hiernach das dortige Consistorium zu
bescheiden ...
Berlin, den Uten April 1776. Ad Mandatum
v. Zedlitz.
2. Ministerialerlaß des Geistlichen Departements an
das ostpreußische Consistorium.
Berlin 1776 April 11
Gedruckt a. a. 0. S. 50 f.
Friedrich, König etc.
Aus Eurer bei Unserer ostpreußischen Regierung eingereichten
und von dieser abschriftlich anhero eingesandten Vorstellung vom
14. Nov. p.a) haben Wir mit Befremden ersehen, daß ihr darin
euch mit so vieler Heftigkeit gegen den dortigen Ober-Hofprediger
Doktor Stark, in Ansehung der von ihm unter dem Titel: He-
phästion herausgegebenen Schrift ausgedrückt habt, ohne zu be-
denken, daß das sich durchaus nicht mit eurem vorgegebenen Eifer
für die Bewahrung der reinen Lehre reimet b). Ihr werdet nun
zwar über die in eurer Vorstellung enthaltenen Sachen selbst von
Unserer obgedachten Regierung beschieden werden. Wir können
euch aber Unser Misfallen über euer geäußertes Betragen nicht
verhalten, und wollen euch zu künftiger mehrerer Mäßigkeit und
Behutsamkeit hiermit anweisen.
Berlin, den Uten April 76. Ad Mandatum t
v. Zedlitz.
3. Ministerialerlaß des Geistlichen Departements an
das kurmärkische Ober-Consistorium.
Berlin 1783 Dezember 12.
Gedruckt Amelang S. 227 f. als Beilage B. Ob die Sperrungen
von Amelang als Hrsg. oder von Zedlitz herrühren, ließe sich erst
nach Prüfung des Originals entscheiden.
Friedrich, König etc. Unsern etc. Es hat der Prediger Schulz
zu Grielsdorf sein neuerlich herausgegebenes Buch: »Versuch einer
a) Druck: ,c'. b) Druck: ,räumet'.
16 Gisbert Beyer haus, Kants ,Programml der Aufklärung etc.
Anleitung zur Sittenlehre', als den Gegenstand eures Uns nebst
seinen acclusis sub dato des 4ten huj. zugekommenen Berichts,
ohne alle Rücksicht auf irgend eine Religion, wie dessen Inhalt
und schon der Titel besaget, geschrieben, und als Schriftsteller
die wider ihn deshalb angestellte Rüge nicht verdienet, welche
Wir euch daher gänzlich niederzuschlagen befehlen.
Gegen das Publikum, für welches das Buch seyn soll, mag
der Verfasser die darin enthaltene philosophisch- spekulativen Sätze
vertheidigen, zu deren Prüfung und Beurtheilung aber Leute, die
seine Gemeinde ausmachen, nicht aufgelegt sind, auch keinen Beruf
haben. Diese aber im Guten festzuerhalten und nicht
wankend zu machen, auch ob des Endes ihr Seelsorger,
als Lehrer der Religion, seine Gemeinde zu gutge-
sinnten Menschen zu bilden, ihren Willen aufs Gute
zu lenken, ihre Neigungen und Empfindungen zu ver-
edeln sich angelegen seyn lasse, und ob sein Wandel
diesem Zweck entspreche, sind die eigentlichen
Dinge, worauf Ihr als ein den Predigern und Ge-
meinden vorgesetztes geistliches Collegium zu sehen
habt.
Es würde dagegen, insofern in Ansehung alles dessen dem
. . . Schulz kein Vorwurf gemacht, vielmehr daß er es an anderm
Keinem ermangeln lasse allgemein versichert wird, eine jetzige
Untersuchung über das Wissen in Dingen, welche die Re-
ligion nicht ausmachen, das Gute, das derselbe bisher in
seinen Gemeinden gestiftet hat stören , und findet sich überhaupt
keine Veranlassung, hier andere Grundsätze anzunehmen, als nach
welchen schon ehemals, bei Gelegenheit des vom Hofprediger
Stark zu Königsberg in Anno 1775 herausgegebenen , Hephästion',
eine gleichmäßige Äußerung Unseres ostpreußischen Consistorii als
Enre jetzige auf eben diese Art ex concluso Unseres Ober- Consi-
storii entschieden worden. Dem Prediger Schulz lassen Wir
übrigens seine unschickliche Schreibart gegen Euch verweisen . . .
Berlin, den 12ten Dezember 1783. A.S.L.
Zedlitz.
Die Methodik des pädagogischen Denkens.
Von Dr. Theodor Litt, Professor an der Universität Leipzig.
Obwohl seit einiger Zeit die Einwände gegen die Möglichkeit
der Pädagogik als einer wissenschaftlich auszubauenden Theorie
seltener geworden sind und die wachsende, an vielen Stellen zweifel-
los erfolgreiche Betriebsamkeit innerhalb ihres Problemkreises die
gegen sie erhobenen Bedenken am wirksamsten zu entkräften ge-
eignet ist, so erscheint doch die Lage der pädagogischen Wissen-
schaft, unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet, auch
heute noch als sehr zweifelhaft und bedroht. Bis zum Augenblick
ist man nämlich fern von jeder Übereinstimmung darüber, welcher
Art die Methodik des Denkens sei, die den wissenschaftlichen Cha-
rakter der Pädagogik ausmache. Sicherlich sind auch im Bereich
anderer Disziplinen, deren Wissenschaftlichkeit über jedem Zweifel
steht, methodische Differenzen nichts weniger als selten, aber hier
bewegen sich doch die Auseinandersetzungen immer auf dem Boden
gewisser allseitig anerkannter Voraussetzungen: hingegen in dem
pädagogischen Methodenstreit geht der Riß bis in die letzten Fun-
damente hinein. Die Verfahrungsweisen, die gegenwärtig in An-
wendung kommen, wo man sich um wissenschaftliche Klärung pä-
dagogischer Fragen bemüht, sind vielfach so grundverschieden, daß
die Vertreter der einen Forschungsrichtung denen der anderen
geradezu die Wissenschaftlichkeit glauben abstreiten zu müssen.
So lange aber die Dinge so liegen, wird die Pädagogik auf der
einen Seite den Einbrüchen eines wilden Dilettantismus, auf der
anderen Seite den Anfechtungen ihrer wissenschaftlichen Legiti-
mität immer wieder ausgesetzt sein. Die folgenden Ausführungen
möchten einer Klärung der methodischen Grundvoraussetzungen
dienen1); sie werden nur dann einer Lösung des Problems näher
1) Anregungen verdankt der Verfasser insbesondere folgenden Arbeiten:
M. Frischeisen-Köhler, Pädagogik und Ethik (Archiv für Pädagogik, I, 1,
KantstDdicn. XXVI. 2
18 Theodor Litt,
führen, wenn es gelingt, in den Eigentümlichkeiten des pädago-
gischen Denkens selbst die Gründe aufzudecken, die es bis jetzt
zur Aufhellung des methodischen Charakters nicht haben kommen
lassen: ohne diesen Nachweis würde immer wieder der Zweifel
Nahrung finden, ob denn nicht die bis heute bestehende Unklarheit
den Beweis dafür bilde, daß in Wahrheit eine Durchbildung des
pädagogischen Denkens im Sinne echter wissenschaftlicher Me-
thodik unmöglich sei.
Wir gehen aus von den Grundtatsachen, auf die immer wieder
hingewiesen zu werden pflegt, wenn die Möglichkeit einer päda-
gogischen Wissenschaft in Frage gestellt wird. Man beruft sich
einmal auf die Irrationalität alles in vollem Sinne des Wortes
erzieherischen Denkens und Wirkens, auf den intuitiven Cha-
rakter des Denkprozesses, in dem der Erzieher sich das Wesen
des zu Erziehenden erschließe, auf das persönliche Moment,
auf dem die Echtheit und Tiefe des erzieherischen Einflusses be-
ruhe; in alledem handle es sich um eine Auswirkung des Lebens,
die in ihrer unberechenbaren Einmaligkeit der wissenschaftlichen
Methodik unzugänglich sei. Erziehung sei nun einmal, so heißt
es dann mit Vorliebe, eine Kunst, und diese Kunst sei durch
wissenschaftliche Belehrung nicht zu fördern, geschweige denn zu
ersetzen. Auf der anderen Seite wird betont, daß an jeder päda-
gogischen Gedankenbildung ihre Abhängigkeit von der besonderen
kulturellen Umwelt, ihre historische Bedingtheit unschwer
nachzuweisen sei, und dieser Zusammenhang müsse den Aufstel-
lungen des pädagogischen Denkens für immer den Geltungswert
der Wissenschaft, als welche einer dem Augenblick überlegenen
Wahrheit zustrebe, entziehen.
Historische und persönliche Erfahrung machen es uns zweifel-
los unmöglich, die Sachverhalte, die den beiden Einwänden zu
Grunde liegen, zu bestreiten. Nach einem natürlichen System'
der Pädagogik zu suchen kommt ein Geschlecht, das durch die
Schule des historischen Denkens gegangen ist, nicht mehr in Ver-
suchung. Fraglich bleibt nur, ob, wer diese Sachverhalte aner-
kennt, sich auch der Folgerung anschließen muß, daß mit ihnen
die Möglichkeit einer pädagogischen Theorie aufgehoben sei. Vor-
sichtiger ist unfraglich die Folgerung, daß durch jene Feststel-
*
S. 21); Über die Grenzen der Erziehung (Zeitschr. f. pädag. Psychologie -1912,
S. 507); Philosophie und Pädagogik (Kantstudien 1917, S. 27). R. Hönigs-
wald, Über die Grundlagen der Pädagogik, München 1918.
Die Methodik des pädagogischen Denkens. 19
lungen nicht sowohl jeder Theorie, als vielmehr nur einer solchen
Theorie der Boden entzogen sei, in der für jene Tatbestände kein
Baum wäre. Offen bleibt dagegen die Frage, ob nicht eine pä-
dagogische Theorie denkbar ist, die den Zusammenhang der päda-
gogischen Gedankenbildung mit dem irrationalen Kern der Per-
sönlichkeit und der kulturellen Gesamtlage als wesentliches Moment
umfaßt und in methodischer Besonnenheit in das Ganze ihrer Über-
legungen einsetzt.
Daß solches wenigstens denkbar ist, lehrt schon ein Blick auf
die menschliche Betätigungsform, der jene beliebte Aus drucks weise
das erzieherische Wirken ohne weiteres gleichsetzt: die Kunst.
Das philosophische, psychologische, historische Denken hat sich
durch den irrationalen Charakter des künstlerischen Schaffens
nicht abhalten lassen, sich um eine Theorie der ästhetischen Werte,
des ästhetischen Verhaltens, der ästhetischen Gesamtentwicklung
zu bemühen. Die Kulturerscheinung Kunst ist seit langem Gegen-
stand einer denkenden Bearbeitung, der die Wissenschaftlichkeit
abzustreiten niemandem in den Sinn kommt. Freilich wird gegen
den Versuch, die Zulässigkeit einer pädagogischen Theorie durch
diese Parallele zu erweisen, sofort eingewandt werden, daß diese
der Kunst zugeordneten Disziplinen zu ihrem Gegenstand in einem
ganz anderen Verhältnis ständen als die Pädagogik zu dem ihrigen :
sie seien der Kunst als einer Tatsache, einem Phänomen der
Kultur Wirklichkeit zugewandt; ihr theoretischer Charakter liege
darin begründet, daß sie lediglich die Kunst, so wie sie von ihnen
in der kulturellen Erfahrung vorgefunden werde, zu deuten und
zu verstehen bestrebt seien; ferne liege ihnen dagegen das Unter-
fangen, die Kunst als Praxis auf Grund ihrer Einsichten zu
normieren, zu leiten, wie denn ja auch der künstlerisch Produzie-
rende seinerseits jede Beeinflussung durch eine ästhetische Theorie
gerade im Interesse der Unmittelbarkeit seines Schaffens ablehnen
müsse. In gleichem Umfange , d. h. als theoretische Erforschung
eines tatsächlich bestehenden Kulturphänomens sei
auch Pädagogik unanfechtbar: aber in Wahrheit wolle ja die Pä-
dagogik als Wissenschaft nicht nur dies, sie wolle viel mehr leisten,
nämlich auf der Grundlage ihrer Erkenntnisse in die Praxis der
Erziehung hineinwirken; sie wolle der Tätigkeit des Erziehers
selbst Lehren erteilen, Wege weisen, Ziele setzen, und das bedeute
in Wahrheit dasselbe, wie wenn die Ästhetik dem Künstler in
seinem Schaffen Ratschläge aufdrängen wollte.
2*
20 Theodor Litt,
In der Tat trifft dieser Einwand den Nerv des pädagogischen
Denkens. Zwar hat anch die Pädagogik einen bestimmten Kreis
von vorgefundenen Tatsachen der Wirklichkeit zum Gegenstand,
eben die Wirklichkeit derjenigen Vorgänge und Leistungen, die
den Inbegriff der Erziehung ausmachen, aber sie betrachtet diese
Erscheinungen nicht lediglich, um sie so, wie sie ihr vorliegen,
zu verstehen und zu deuten, sondern um aus ihrer gedanklichen
Verarbeitung Nutzen zu ziehen für die Praxis der Erziehung
selbst. Sie will und soll sein die Theorie eines Handelns.
Diese Seite ihres Verfahrens wird durch den Hinweis auf die theo-
retische Bearbeitung der Kunst nicht legitimiert. Im Gegenteil:
ist die erzieherische Praxis eine Kunst, so wird der Erzieher mit
demselben Recht sich das Hineinreden einer Theorie verbitten, mit
dem der Künstler die Katschläge der Ästhetik von sich weisen
würde.
Es hängt also alles weitere ab von der Frage, ob Erziehung
im Vollsinne des Wortes eine Kunst „ist". Nun gehört die Pa-
rallele von künstlerischem und erzieherischem Tun zu denjenigen,
die wertvolle Aufschlüsse für die verglichenen Objekte spenden,
die aber immer dann in die Irre führen müssen, wenn der Ver-
gleich zur Gleichsetzung wird. Wirkliche Förderung bringt
ein solcher Vergleich immer nur dann, wenn mit voller Klarheit
die Grenzen bestimmt werden, bis zu denen er berechtigt ist,
jenseits deren er ohne unzulässige Vermischung der verglichenen
Dinge nicht durchgeführt werden kann. Was macht das Tun des
Erziehers demjenigen des Künstlers vergleichbar? Beide haben,
allgemein gesprochen, einen „Stoff" vor sich, den sie „bearbeiten"
mit der Absicht, ihm eine gewisse „Form" zu geben1). Nun setzt
aber das formende Tun des Erziehers wie das des Künstlers ein
bestimmtes Wissen um die Eigenart des zu bearbeitenden Stoffs
1) Es sei nicht unerwähnt, daß dem in diesem Zusammenhang unentbehr-
lichen Begriffspaar „Stoff-Form" wieder ein Vergleich zu Grunde liegt, dem gegen-
über die gleiche Vorsicht am Platz ist, wie gegenüber der Parallele Kunst -Er-
ziehung. Der Begriff der „Form" ist in dieser Verwendung bestimmt, die innere
Einheit in der Mannigfaltigkeit zum Ausdruck zu bringen, die das
„Werk" des Erziehers wie das des Künstlers aufweisen soll. Es wird sich weiter
unten zeigen, daß und wie sich dieser Begriff im Bereich der erzieherischen Wirk-
lichkeit modifiziert. Hier muß er einstweilen vorausgesetzt werden, damit es über-
haupt möglich sei, das relative Recht der Parallele zwischen Kunst und Erziehung
zw bestimmen.
Die Methodik des pädagogischen Denkens. 21
voraus. Insofern ist zweifellos ein Erkenntnismäßiges, ein im
weitesten Sinne^ ,Theoretisches' auch auf der Seite des künstle-
rischen Schaffens im Spiele. Welehen Umfang und welche Bedeu-
tung hat aber nun dieses "Wissen beim Künstler einerseits, beim
Erzieher andererseits? Der Künstler bedarf desjenigen Wissens
um die Beschaffenheit seines Stoffes, das ihm die technischen
Möglichkeiten der Stoff bearbeitung erschließt : innerhalb dieser ge-
wußten Möglichkeiten aber ist sein Formwille frei und unbeschränkt.
Der Marmorblock, die Leinwand, die Farbe, das Sprachmaterial u. s. f.
— alles dieses schließt natürlich bestimmte unabänderliche Bedin-
gungen des künstlerischen Schaffens in sich, mit denen der Produ-
zierende vertraut sein muß; aber es enthält in seiner gegebenen
Beschaffenheit keinen Hinweis auf die Form, die durch die künst-
lerische Tat an und in ihm sich realisieren wird. Und das ist ja
auch nicht anders möglich: es ist ja gar nicht der Stoff in seiner
vorgefundenen Beschaffenheit, als Bestandteil der Wirklichkeit,
dem das Bemühen des Künstlers zugewandt ist, sondern diesen
Stoff gilt es gerade der Wirklichkeitssphäre, die ihn zunächst ein-
schließt, zu entheben und durch die künstlerische Form zum Bestand-
teil einer Welt des schönen Scheins zu läutern; diejenigen Bestimmt-
heiten, die ihn zum Grlied dieser Welt machen, sind gerade nicht
diejenigen, die ihm als einem Bestandteil der realen Welt zukommen.
Darum sind hier Kenntnis des Stoffs und Bestimmung der Form
im wesentlichen unabhängig voneinander, sie liegen in zwei ver-
schiedenen Dimensionen des Denkens. Wie steht es aber auf der
Seite des pädagogischen Handelns? Auch hier ist eine Kenntnis
der Beschaffenheit des „Stoffs" im Hinblick auf die technischen
Bedingungen notwendig, unter denen das pädagogische Handeln
von außen her ansetzt — aber diese Kenntnis würde nicht im ent-
ferntesten ausreichen, damit es überhaupt zu einem erzieherischen
Handeln komme. Denn die Form, zu der das pädagogische Ob-
jekt durch das erzieherische Wirken geführt werden soll, wird
nicht unabhängig von dessen realer Beschaffenheit rein von außen
her bestimmt, sondern sie muß in ihm selbst zwar nicht gegeben,
aber doch angelegt sein; die Disposition zu ihr gehört zu den-
jenigen Bestimmtheiten, die dem „Stoff* schon an sich, vor dem
Einsetzen der erzieherischen Arbeit, zukommen, und nur durch
Anknüpfen an diese inneren Bestimmtheiten kann das erzieherische
Handeln die erstrebte Form realisieren. Verbleibt doch auch hier
der Stoff, ungleich dem vom Künstler gestalteten, in der Wirk-
22 Theodor Litt,
lichkeitssphäre, der er von Anbeginn angehörte, ja, das was das
pädagogische Handeln aus ihm macht, das ist eben seine eigene
höchste Wirklichkeit. Darin ist es begründet, daß dasjenige
Wissen um die Beschaffenheit des „Stoffs", dessen das erzieherische
Tun bedarf, nicht etwa nur auf die äußerlich technischen Möglich-
keiten Bezug hat, sondern vor allem auch diejenigen Bestimmt-
heiten des Stoffs einschließt, die auf die Möglichkeit der Formung
hindeuten, Kenntnis des Stoffs und Bestimmung der Form sind
hier ganz und gar aneinander gebunden, sie müssen sich recht
eigentlich durchdringen. Also hat das Wissen um die Eigenart
des Stoffs auf der Seite des Erziehers einen ganz anderen Um-
fang und eine ganz andere Bedeutung als auf der Seite des Künst-
lers. Soll ihm die Formung seines Stoffs gelingen, so muß er
mehr von der qualitativen Beschaffenheit dieses Stoffs wissen, muß
er sich sorglicher dieser Beschaffenheit anpassen, als dem Künstler
gegenüber seinem Stoff zugemutet wird. Eben deshalb hat auch
die Rede von „Stoff", „Material", „Objekt", die ganz unanfechtbar
ist, wo künstlerisches Schaffen in Frage steht, etwas Anstößiges,
sobald sie auf erzieherisches Wirken angewandt wird: sie nimmt
dem Gegenstand der Erziehungsarbeit das Eigenrecht, die innere
Bestimmung, mit dem er dem erzieherischen Bemühen gegenüber-
steht, und gibt dem gestaltenden Willen des erziehenden Subjekts
zu viel.
Die damit aufgewiesene wesenhafte Unterschiedenheit des er-
zieherischen und des künstlerischen Tuns läßt offenbar werden,
aus welchem Grunde die Funktion der Theorie rim Bereiche der
erzieherischen Wirklichkeit eine andere ist und sein muß, als in
der Sphäre des künstlerischen Schaffens. Der Erzieher hat, um
wirken zu können, mehr „Theorie" nötig als der Künstler; die Er-
kenntnis ist für ihn nicht die nachträgliche Durchleuchtung eines
Tuns, das ohne sie eben so gut, ja vielleicht noch besser sein Werk
vollbrachte, sondern ein unentbehrliches Moment in seinem Wirken
selbst. Und wenn die Theorie der Erziehung weit über solche
Fragestellungen hinausgeht, die denjenigen der ästhetischen Theorie
vergleichbar wären, so gibt sie damit nicht einem unberechtigten
Ausdehnungsbedürfnis Folge, sondern sie gehorcht den immanenten
Notwendigkeiten der Wirklichkeitssphäre, die ihren Gegenstand
bildet. Pädagogik muß immer wieder darnach streben, Theorie
eines Handelns zu werden, weil das Stück Lebenspraxis, dem sie
zugewandt ist, nach einer solchen Theorie verlangt — wie umge-
Die Methode des pädagogischen Denkens. 23
kehrt die Theorie der Kunst kaum in Versuchung kommt, von sich
aus eine entsprechende Funktion zu usurpieren, weil das von ihr
erforschte Stück Kulturwirklichkeit nicht eine solche Leistung von
ihr erwartet.
Wer also, um das Bemühen um eine Theorie der Erziehung
als überflüssig, wo nicht gar dem erzieherischen Wirken ab-
träglich zu erweisen, sich auf das theoriefreie Schaffen des Künst-
lers beruft, der will zwei Wirkensformen identifizieren, die sich
gerade in ihrem Verhältnis zur Erkenntnis wesentlich von ein-
ander unterscheiden. Aber freilich ist damit, daß das Bedürfnis
nach einer theoretischen Grundlegung in irgend einem Bezirk des
Lebens sich regt, noch nichts darüber ausgemacht, ob dieses Be-
dürfnis mit wissenschaftlichen Mitteln zu befriedigen möglich sei.
Rückt die erzieherische Praxis im Licht unserer Erwägungen merk-
lich von der künstlerischen Wirkenssphäre ab, so tritt sie damit
nicht notwendig in den Herrschaftsbereich des wissenschaftlichen
Denkens ein. Nicht als ob sie deshalb, weil sie Theorie eines Han-
delns ist, notwendig aus dieser Sphäre ausgeschlossen wäre ! Denn
das System der Wissenschaften schließt eine Reihe von Disziplinen
ein, deren methodische Eigenart eben darin begründet ist, daß sie
als Theorie einem Handeln zu dienen bestimmt sind. Es sind die
angewandten Wissenschaften. Hat es sich gezeigt, daß
das erzieherische Tun nach gewissen Erkenntnisgrundlagen verlangt,
und ist das Bedürfnis rege geworden, diese Grundlagen im Sinne
wirklicher Wissenschaft durchzubilden, so ist es ein naheliegender
Gedanke, daß der damit erstrebten Theorie ein Platz inmitten der
„angewandten Wissenschaften" gebühre, und es würde, wenn sie
wirklich in ihren Kreis gehörte, der Zweifel an der Wissenschaft-
lichkeit dieser Theorie verstummen müssen. In der Tat ist denn
auch in mannigfachen Formulierungen der pädagogischen Theorie
dieser methodische Charakter zugesprochen worden, hat man sie
als „angewandte Psychologie", „angewandte Philosophie", „ange-
wandte Ethik" u. ä. bezeichnet. Es erhellt, daß, falls diese Auf-
fassung im Rechte wäre, gerade diejenigen Momente des erziehe-
rischen Wirkens, auf die der Vergleich von Kunst und Erziehung
den Nachdruck legte, als nebensächlich oder gar entbehrlich in
den Hintergrund treten würden. Es sind zwei polar entgegenge-
setzte Deutungen des Erziehungs Vorgangs, die sich hier gegenüber-
24 Theodor Litt,
stehen. Wir unsererseits werden, wie wir die Gleichsetzung von
Erziehung und Kunst nicht unbesehen hinnahmen, auch diese me-
thodische Festlegung auf ihren Rechtsgrund zu prüfen haben.
Damit dies möglich sei, müssen wir die Struktur der „ange-
wandten Wissenschaft" in allgemeiner Form zu bestimmen suchen.
An welcher Stelle tritt uns diese Struktur am deutlichsten vor
Augen? Das „Handeln" des Menschen, dem die angewandten
Wissenschaften "dienen sollen, läßt sich nach verschiedenen Ge-
sichtspunkten klassifizieren. Da wir es hier mit der Erziehung
zu tun haben, mit einem Handeln, das seinem Wesen nach ge-
richtet ist auf den Zusammenhang der menschlich-gesellschaftlich-
geschichtlichen, d.i. der geistigen Welt, so sehen wir uns durch
den sachlichen Zusammenhang hingewiesen auf diejenige Einteilung,
die .dieser kulturellen Wirklichkeit gegenüberstellt die „ natürliche u
Welt (wobei das erkenntnistheoretische Recht dieser Scheidung
für uns hier nicht in Frage steht). So dürfen wir auch scheiden
ein menschliches Handeln, das sich auf die „Natur" in diesem
bestimmten Sinne, und ein solches, das sich auf die „menschliche"
Welt in dem entsprechenden Sinne richtet. Und wir werden die
Frage, ob und in welchem Umfange das letztere auf eine „ange-
wandte Wissenschaft" begründet werden könne, am sichersten
entscheiden können, wenn wir zunächst im Bereich des ersteren
über das Verhältnis zwischen menschlichem Handeln und wissen-
schaftlicher Grundlegung Klarheit gewonnen haben. Denn eben
hier prägt sich die methodische Struktur dieses Verhältnisses in
durchsichtigster Klarheit aus.
Bekanntlich bezeichnen wir das menschliche Handeln im Be-
reich der äußeren Natur, das sich auf wissenschaftliche Erkenntnis
stützt, als Technik. Jede einzelne Technik hat zur Grundlage
einen Komplex von allgemeinen Sätzen, nach denen sich das prak-
tische Vorgehen richtet: die Technologie des fraglichen Ge-
biets. Diese Sätze sind ihrerseits gegründet auf wissenschaftliche
Tatsachenforschung; sie fußen auf den Ergebnissen der Natur-
wissenschaft. Zu jeder Technologie gehört eine rein theore-
tische „Grundwissenschaft", wie wir sie der Kürze halber nennen
wollen, bzw. eine Mehrheit solcher Grundwissenschaften. Es
werden also in der Technologie die Ergebnisse des naturwissen-
schaftlichen Forschens „angewandt", d. h. unter dem Gesichts-
punkt des durch die betreffende Technik zu realisierenden Zwecks
aus dem Ganzen wissenschaftlicher Erkenntnis ausgelesen und zu-
Die Methodik des pädagogischen Denkens. 25
sammengestellt. So steht die Leistung jeder Technologie unter
der Herrschaft des Zweckbegriffs: ihre Aufgabe ist es, zu einem
gegebenen Zweck die Mittel zu bestimmen. Wie kommt es
nun, daß diese Aufgabe so unmittelbar durch „Anwendung" wissen-
schaftlicher Forschungsergebnisse gelöst werden kann? Das Ver-.
hältnis Mittel - Zweck , das die Struktur jeder Technologie be-
stimmt, ist seinem sachlichen Gehalt nach kein anderes als das
Verhältnis Ursache - Wirkung , das allen Aussagen der „Grund-
wissenschaften" zu Grunde liegt. Daß a ein geeignetes Mittel
ist, den Zweck b zu realisieren, ergibt sich aus der Erfahrung,
daß die Ursache a regelmäßig die Wirkung b nach sich zieht.
Jede Mittelbestimmung fußt auf der Feststellung von Kausalzu-
sammenhängen in Gesetzes form. Solche Zusammenhänge mit der
Sicherheit zu ermitteln, deren Ausdruck eben das Gesetz ist, wird
erst da möglich, wo der Mensch die gegebene komplexe Natur-
wirklichkeit in eine Mannigfaltigkeit letzter Elementarstoffe
und Elementar kräfte auflöst. Sache der Technologie ist es
nur, zu untersuchen, welche unter den ermittelten Zusammenhängen
anzuwenden sind und in welcher-Weise sie anzuwenden sind, damit
der gewünschte Effekt herausspringe. Daraus ergibt sich: die
technologische Denkleistung ist stets und notwendig beschränkt
auf vorgefundene Stoffe, Kräfte, Eigenschaften, Verhaltungs-
weisen der „Natur". Niemals kann das technische Handeln der
Natur Eigenschaften und Verhaltungsweisen aufnötigen, die ihr
nicht an sich schon zu eigen wären. Eben darum ist die Fest-
stellung dessen, was ist, unerläßliche Vorbedingung für jedes tech-
nische Vorgehen. Technik ist Anpassung an die Natur, nicht, wie
so oft behauptet, ihre Überwindung; Das Überraschende tech-
nischer Erfindungen und Leistungen darf uns nicht darüber hinweg-
täuschen, daß hier immer wieder Vorgefundenes kombiniert, nicht
etwa Niedagewesenes durch einen Schöpfungsakt hervorgerufen
ist. Und wiederum ist es gerade jene Auflösung der komplexen
Naturerscheinungen in letzte Elemente, auf der der Reichtum der
dem technischen Denken sich bietenden Kombinationsmöglichkeiten
beruht.
Aber damit ist das Wesen der Technologie doch nur von
einer Seite her beleuchtet. Der Erkenntnisse, die die Naturwissen-
schaft der „Anwendung" zur Verfügung stellt, sind in Wahrheit
unzählige. Zwischen diesen Erkenntnissen gibt es für die reine
Tatsachenforschung keinen W e r t unterschied : für sie liegt alles
26 Theodor Litt,
das, was die natürliche Wirklichkeit enthält, ohne jede Wertbe-
tonung gleichgültig nebeneinander. Die Technologie hingegen tritt
in einer ganz anderen Haltung dem Ganzen der natürlichen Wirk-
lichkeit gegenüber. Für sie hat aus dem Gesamtgehalt dieser
Wirklichkeit nur das ein Interesse, was zu dem durch sie zu rea-
lisierenden Zweck in Beziehung steht: nach seiner Maßgabe wählt
sie aus den durch die Forschung erarbeiteten Erkenntnissen aus.
Wenn die rein erkennende Wissenschaft nur sagt, daß stets und
überall, wenn a geschieht, b die Wirkung ist, so sagt die Techno-
logie, daß, wenn b erstrebt wird, a sein soll. Wie man sieht,
ist diese Accentuierung unter dem Zweckgesichtspunkt etwas, was
der Natur an sich völlig fremd ist; deshalb kann, ja muß die Er-
forschung dieser Natur von solchen Zweckerwägungen völlig ab-
sehen. In Wahrheit entstammt ja auch der Zweck, der für die
Sätze der Technologie den beherrschenden Gesichtspunkt bildet,
einer ganz anderen Sphäre: er entstammt dem Inneren des
Menschen ; seine lebendig empfundenen Bedürfnisse, Wünsche, Stre-
bungen sind es, aus denen sich alle Zweckvorstellungen heraus-
klären. Diesen Sinn hatte es, wenn wir den jeder Technologie
übergeordneten Zweck als einen ihr „gegebenen" bezeichneten: sie
hat diesen Zweck weder zu bestimmen noch auch zu erörtern,
denn die Wirklichkeitssphäre, auf die sich ihre Sätze beziehen, ist
eine durchaus äußerliche gegenüber der Erlebniswelt, der alle
Zwecksetzungen angehören. Alles technische Handeln beruht auf
diesem Gegenüber eines Inneren, das solche Zweckvorstellungen
erzeugt, und eines Äußeren, daß das Material zur Befriedigung
dieser Zwecke zur Verfügung stellt1). Und eben dieses Gegen-
über bedingt und ermöglicht die reinliche Scheidung einer Denk-
tätigkeit, die unter Absehen von allen Zweckerwägungen sich
die reine, interesselose Erforschung der äußeren Wirklichkeit zur
Aufgabe macht, und einer von Zweckvorstellungen geleiteten Be-
arbeitung des so gewonnenen Erkenntnismaterials. Ja, es hat sich
gezeigt, daß jene Ablösung der lediglich feststellenden Natur er-
forschung von allen Zweckvorstellungen in Wahrheit den mensch-
lichen Zwecken am dienlichsten ist: denn ein großer Teil der
1) Auch hier steht die erkenntnistheoretische Gültigkeit dieses Dualismus
einer äußeren und einer inneren Wirklichkeitssphäre nicht zur Erörterung. Wie
auch immer dieses Verhältnis im Lichte einer erkenntnistheoretischen Kritik sich
abwandeln mag, hier genügt die Feststellung, daß das „technische" Denken und
Handeln diese Scheidung als gegeben voraussetzt.
Die Methodik des pädagogischen Denkens. 27
naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, die für die Technik von un-
schätzbarstem Werte waren, ist gefunden worden auf dem Weg
einer forschenden Arbeit, der jeder Gedanke an praktische Ver-
wertung ferne lag, und wäre vielleicht nie gefunden worden, wenn
der Gedanke an mögliche Verwertung für die Denkarbeit leitend
gewesen wäre.
Es scheiden sich demnach im Gesamtbereich der von uns über-
schauten Vorgänge von einander: eine feststellende Betätigung
des Menschen, d. i. die rein erkennende Forschung, eine zweck-
setzende Betätigung, das ist die gedankliche Klärung seiner
lebendigen Bedürfnisse, und, zwischen beiden in der Mitte stehend,
eine mittelbestimmende Betätigung, d.i. die Anwendung des
dort Festgestellten im Dienste des hier Erstrebten. Der Begriff
„angewandte Wissenschaft" erfüllt sich hier durch die Tatsache,
daß die Technologie wissenschaftliche Sätze, die unabhängig von
den für sie leitenden Zwecksetzungen gewonnen sind, als fertige
Ergebnisse übernimmt und kombinierend verwertet1).
Nachdem wir die Struktur der „angewandten Wissensschaft"
an dem Beispiel des Handelns gegenüber der Natur geklärt haben,
fragen wir uns , ob die Wirklichkeitszusammenhänge , innerhalb
deren die erziehende Tätigkeit sich bewegt, eine Übertragung
dieser Struktur gestatten. Daß dies der Fall sei, möchte man
unbedenklich annehmen, wenn man sieht, .wie häufig sich Rede-
wendungen von der Art finden, daß Pädagogik die „Technologie
der Erziehung und des Unterrichts", die „Technik der Kultur",
die „zur Ethik gehörige Technik" sei. Doch muß schon ein Um-
stand Bedenken erwecken. Die Gegenüberstellung eines „Innen"
und eines „Außen", auf der die reinliche Scheidung der verschie-
denen gedanklichen Operationen beruhte, wird hier schon deshalb
fraglich, weil zwar die „Zwecke" der Erziehung, genau so wie
die für das technische Vorgehen maßgebenden, der inneren Welt
des erlebenden Menschen entstammen, das Objekt aber, an und in
dem sie zu realisieren sind, keineswegs ein „draußen" liegendes Ma-
terial darstellt, vielmehr als Leibseelenwesen, als psychophysische
Lebenseinheit, ebensowohl der inneren wie der äußeren Welt
angehört, besser gesagt, durch seine Daseinsweise diesen Gegensatz
1) Es kann hier nicht im Einzelnen ausgeführt werden, daß dieses grund-
sätzliche Verhältnis sich auch dann nicht ändert, wenn derselbe Mensch es ist,
der den Zweck setzt und durch Naturerforschung die Mittel feststellt.
28 Theodor Litt,
übergreift, wo nicht gar in sich anfhebt. Die Dimension der
Wirklichkeit, die alle Zwecksetzungen aus sich erzeugt, erstreckt
sich gleichsam in das Objekt hinein und bleibt ihm nicht äußer-
lich ; oder auch umgekehrt : die Dimension der Wirklichkeit, inner-
halb deren der Zweck realisiert werden soll, erstreckt sich bis in
das zwecksetzende Subjekt hinein. Ja, wenn man erwägt, daß
Erziehung, obzwar auf das leiblich - seelische Ganze gerichtet,
doch schließlich die Krönung ihres Werks im Inneren, in der Aus-
gestaltung der Persönlichkeit findet, so zeigt sich, daß im vollsten
Gegensatz zu dem Dualismus der Wirklichkeitssphären, der die voll-
kommenste Ausgestaltung des Typus der angewandten Wissenschaft
gestattet, hier umgekehrt gerade das Zusammenfallen der die Zwecke
erzeugenden und der im Sinne dieser Zwecke zu „bearbeitenden"
Wirklichkeitssphäre *) für die Wirkensform entscheidend ist.
Dieser zunächst in grundsätzlicher Allgemeinheit ausgespro-
chene Satz bewahrheitet sich, sobald wir ihn mit den wesentlichen
Momenten des erzieherischen Wirkungszusammenhangs zusammen-
halten. Kann angesichts dieses Wirkungszusammenhangs einmal
die Vorstellung sich behaupten, daß der Praktiker der Erziehung
als bloßer Techniker, der Theoretiker der Erziehung als bloßer
Technologe den für sein Denken und Handeln maßgebenden Zweck
von außen her, als eine für ihn über jeder Erörterung stehende
Aufgabe empfange, daß er desgleichen das für ihn notwendige
Wissen von der Beschaffenheit seines Objekts als zubereitete, durch
ihn lediglich „anzuwendende" Ergebnisse von anderen Wissens-
kreisen übernehme? Kann ferner angesichts dieses Wirkungszu-
sammenhangs die Meinung Bestand haben, daß der Zögling als
bloßes Material im Dienste von Zwecken, die auch für ihn von
außen her gesetzt wären, bearbeitet werden müsse? Auf die
letzte Frage haben frühere Ausführungen bereits die Antwort ge-
geben. Dieselben inneren Formkräfte, die gegen die Gleichsetzung
von Erziehung und Kunst Einspruch erhoben, weil der künstle-
rische Formwille allzu souverän mit seinem Stoff schaltet, lehnen
sich auch gegen eine Bearbeitung im Dienste eines von außen her-
kommenden Zwecks auf; hier wie dort würde dem Eigenrecht des
zu Erziehenden Gewalt angetan werden. Auch hier macht sich
die Tatsache geltend, daß im Objekt selbst bestimmte Möglich-
keiten angelegt sind, die in sich den Hinweis auf „ Zwecke" ent-
1) Vgl. u. S. 49.
Die Methodik des pädagogischen Denkens. 29
halten; und die für die Praxis leitende Zwecksetznng kann nur
dann als eine wahrhaft erzieherische gelten, wenn sie diese eigenen
Zweckrichtnngen im Objekt anerkennt und für sich zum wenigsten
mitbestimmend sein läßt. Allein dieser Umstand eröffnet uns
schon den Blick in Wirklichkeitszusammenhänge, denen die gedank-
lichen Operationen der Theorie nicht gerecht werden können, es
sei denn, daß das für die Struktur der „angewandten Wissenschaft"
maßgebende Schema durchbrochen wird. Denn offenbar müssen
hier zwecksetzende und feststellende Betätigung in eine innere
Verbindung treten, die dort nicht nur unnötig, sondern geradezu
unmöglich war. Sobald der Akt der Zwecksetzung erfolgt nicht
etwa lediglich aus den im Subjekt selbst empfundenen Bedürf-
nissen heraus, sondern im Hinblick auf die im „Material" selbst
angelegten Zweckrichtungen, ist er auch nicht mehr durchführbar
in völliger Ablösung vom Akt der „Feststellung". Denn nur eine
solche kann Aufschluß geben über das, was im Material selbst an
inneren Gerichtetheiten enthalten ist.
Aber selbst zugegeben, daß das Verhältnis zwischen zweck-
setzender und feststellender Betätigung sich hier so verschieben
muß, wäre es dann nicht immer noch möglich, daß auf der Grund-
lage der Ergebnisse, zu denen das geforderte Zusammenwirken
jener beiden führen würde, eine Technologie des erziehenden Han-
delns sich aufbaute, deren Regeln dann die Praxis leiten könnten ?
Dieser Gedanke ist nicht nur praktisch undurchführbar, er erweist
sich auch, richtig durchdacht, als sinnwidrig. Das Ineinandergreifen
der in dem zuerst betrachteten Fall wohlgeschiedenen zwei Betä-
tigungen, der zwecksetzenden und der feststellenden, muß notwendig
auch die dritte, die dort vermittelnd zwischen ihnen stand, in Mit-
leidenschaft ziehen, so sehr in Mitleidenschaft ziehen, daß sie das,
was sie war, zu sein aufhört. Es kann ja auch gar nicht anders
sein, weil da, wo eine innere Verbindung bereits hergestellt ist,
eine auf Vermittlung gerichtete Funktion nichts mehr zu tun
findet, ja in Wahrheit unmöglich wird. Eine solche hat ihr Wesen
in jener uneingeschränkten Freiheit des Wählens und Kombinierens
unter den gegebenen Elementen: diese aber ist wiederum nur da
möglich, wo das Material an sich noch nicht auf Zwecke hin ge-
richtet, nicht schon selbst unter Zweckgesichtspunkten zusammen-
geschlossen ist. Hier aber findet, so sahen wir, der Zweckgedanke
seine Ansatzpunkte in dem „Material" selbst schon vor, und damit
stellt sich, gleichsam über den Kopf jeder denkbaren vermittelnden
30 Theodor Litt,
Theorie hinweg, eine innere Verbindung her zwischen dem Zweck-
gedanken im Subjekt und den Zweckgerichtetheiten im Objekt, eine
Verbindung, die der vermittelnden Theorie ihre Bewegungsfreiheit
völlig unterbindet. Es ist ein leicht zu durchschauender Wesens-
zusammenhang, in dem es begründet liegt, daß das Walten des
Zweckgedankens auf der Seite des „Materials " gleichbedeutend ist
mit dem Aasschluß jeder Technologie. Sowohl die Theorie der
Erziehung im Allgemeinen als auch die Praxis der Erziehung im
Besondern findet ihr Material nicht als ein Nebeneinander heraus -
analysierter letzter Elemente vor, deren Verbindung ihre Sache
wäre, sondern ihr Material bietet sich selbst schon als Kombi-
nation, ja als äußere komplexe Gesamterscheinung dar; die in ihr
gegebene Zusammenordnung der „Elemente" bildet den Ausgangs-
punkt jedes erzieherischen Tuns. Der Mensch überhaupt, mit dem
es eine allgemeine Theorie der Erziehung zu tun hat, der einzelne
Mensch, dem die Praxis der Erziehung gegenübersteht, sie sind ja
doch Gebilde von denkbarster Kompliziertheit des Gesamtauf bans.
Eben weil das Objekt der Erziehung in solchem Sinne schon Kom-
bination, d. h. Zusammenordnung eines Mannigfaltigen ist, kann es
so, wie es ist, unter den Zweckgedanken gestellt werden; ein-
fachen und letzten Elementen gegenüber würde dieser fremd und
äußerlich sein. Und der gleiche Komplexcharakter des pädago-
gischen Objekts ist es nun auch, der jene uneingeschränkte Will-
kür der Kombination ausschließt, die das Wesen des technologischen
Denkens ausmacht.
Schon durch diese Erwägungen erweist sich jede Möglichkeit
einer frei die Mittel bestimmenden Technologie als aufgehoben —
und dies, obwohl unsere bisherige Erörterung sich noch begrifflicher
Instrumente bedient hat, die sich dem Begriffsapparat des tech-
nologischen Denkens mehr anpassen, als mit der Natur des Gegen-
standes sich verträgt. Denn irrig ist in Wahrheit die „mecha-
nistische" Auffassung, die in dem Menschen überhaupt bzw. dem
einzelnen Menschen eine „Kombination", ein Aggregat von elemen-
taren Stoffen und Kräften sehen will, von denen ein jeder bzw.
eine jede auch in einer Unzahl anderer Verbindungen sich fände;
abzulehnen ist die mechanistische Vergewaltigung des Lebens, die
in dem Individuum nichts anderes findet als einen „Schnittpunkt
allgemeiner Gesetze". Dem psychophysischen Lebewesen eignet
eine innere Einheit, Ganzheit, Geschlossenheit, die sich von jeder
Art äußerlicher Zusammenfügung wesenhaft unterscheidet — wie
Die Methodik des pädagogischen Denkens. 31
auch immer wir diese Einheit bezeichnen mögen. Es ist in allen
Teilen durchwaltet von einem zentralen Lebensprinzip, welches
wir oben anzudeuten versuchten, wenn wir von der „Form" re-
deten, die im Objekt des erzieherischen Tuns angelegt sei. Wenn
aber demnach das Ganze,* mit dem Theorie und Praxis der Erzie-
hung sich beschäftigen, mehr ist, etwas ganz anderes ist als eine
Kombination von Elementen, von denen ein jedes herausanalysiert
und für sich erforscht werden könnte, dann muß vollends jeder
Gedanke an eine Technologie, als welche doch zum mindesten das
Vorhandensein solcher Elemente voraussetzt, hinfällig werden.
Zusammen mit einer selbständigen zwecksetzenden und einer selb-
ständigen feststellenden Funktion schwindet auch eine selbstän-
dige mittelbestimmende Betätigung. Der Wirklicheitszusammen-
hang, in den die Praxis der Erziehung hineingehört, den die Theorie
der Erziehung erforscht, ist so strukturiert, daß er die dualistische
Scheidung der Wirklichkeitssphären und die mit ihr korrelative
Scheidung der gedanklichen Operationen, diese Scheidungen, auf
denen die methodische Eigenart der Technologie beruht, in sich
aufhebt. Sei das Verhältnis der gedanklichen Operationen, durch
welche eine Theorie der Erziehung zustande kommt, welches es
wolle, keinesfalls kann es sich dem Schema einfügen, in dem eine
Technologie ihren Platz hat.
3.
Die Form einer Technologie kann also die Theorie der Erzie-
hung unter keinen Umständen annehmen. Es fragt sich aber, ob
sie damit zugleich auch dem Charakter einer „angewandten Wissen-
schaft" entsagt. Die Technologie ist das Korrelat zu der Gruppe
von „feststellenden" Naturwissenschaften, deren Leistungen gipfeln
in der exakten Formulierung von Gesetzen der kausalen Verknüp-
fung elementarer Vorgänge. Ermäßigt man die Ansprüche von
Exaktheit, denen die letztern genügen, und die Ansprüche von
vorberechnender Sicherheit des Handelns, die durch die erstere
befriedigt werden, so scheint es nicht ausgeschlossen, daß eine auf
die komplexen Erscheinungen gerichtete und eben deshalb minder
exakte Wissenschaft von theoretischem Charakter Erkenntnisse zu
Tage förderte, aus denen eine auf eben diese komplexen Gebilde
sich richtende Praxis Nutzen ziehen könnte. Damit wäre dann
der Ort bezeichnet für eine Theorie , die in methodischer Gründ-
lichkeit die Möglichkeiten und Regeln dieser Nutzung zu unter-
32 Theodor Litt,
suchen hätte — und nichts würde dazu berechtigen, einer solchen
Theorie den Namen einer „ angewandten Wissenschaft" vorzuent-
halten, wie es denn ja auch unter den anerkannten angewandten
Wissenschaften keineswegs an solchen fehlt, die der Exaktheit
einer Technologie ziemlich ferne bleiben. Angenommen, eine so
geartete Theorie der Erziehung wäre möglich, welches würde der
Gegenstand der Grundwissenschaft sein, deren Ergebnisse sie an-
zuwenden hätte?
Es scheint, daß unsere bisherigen Darlegungen bereits einen
Ausblick auf die Eigenart dieser Grundwissenschaft eröffnen. Ob
es die formende Freiheit der künstlerischen Gestaltung oder die
kombinierende Freiheit der technischen Konstruktion von dem Ob-
jekt der Erziehung fernzuhalten galt, jedesmal hatten wir hinzu-
weisen auf die in diesem selbst eingeschlossenen Formkräfte, über
welche keine äußere Einwirkung sich hinwegsetzen dürfe, ohne
auf das Prädikat „Erziehung" Verzicht zu leisten. Diese Form-
kräfte aber kommen dem Objekt der Erziehung deshalb zu, weil
es ein Lebendiges ist. Als Grundlage für eine Theorie der
Erziehung scheint brauchbar nur eine solche Wissenschaft, deren
Gegenstand eben dieses Leben ist; nur ihr, so scheint es, kann die
eigentümliche innere Einheit, die die Mannigfaltigkeit der am pä-
dagogischen Objekt vorgefundenen Eigenschaften und Funktionen
zur „Form" zusammenschließt, nur ihr die in dieser Form zu Tage
tretende Zweckgerichtetheit sich offenbaren; nur sie scheint die
„Feststellungen" zu versprechen, die nicht nur über die Beschaffen-
heit des Objekts, wie es ist, sondern auch über die Möglichkeiten
zweckvoller Ausgestaltung Aufschluß geben. Und eine solche theo-
retische Grundlegung würde sich in ihrer Grundrichtung zusammen-
finden mit einer seit Rousseau geläufigen und gerade dem heutigen
Zeitbewußtsein besonders naheliegenden Auffassung des Erziehungs-
werks : die jugendliche Seele ein organisches Lebewesen mit eigenen,
angeborenen Werdetrieben, und der Erzieher der Pfleger, der Gärtner,
der Züchter, der berufen ist, der in diesem Lebewesen angelegten
Form durch seine sorgende, schützende, entwickelnde Mühe zu
einer möglichst vollkommenen Entfaltung zu verhelfen. Es ist
eine Auffassung, die, wie offensichtlich, jede dem innern Lebens-
trieb des Objekts widerstreitende Einwirkung von vorne herein
abweist.
Wollen wir über Wesen und Methode einer solchen Wissen-
schaft von der leiblich - seelischen Lebensentfaltung Klarheit ge-
Die Methodik des pädagogischen Denkens. 33
winnen, dann wird es wiederum unumgänglich sein, das Recht
jener analogisierenden Vorstellungen zu prüfen, die unausbleiblich
in jeden Versuch, solche Klarheit zu gewinnen, hineinspielen. Auch
hier pflegt der Vergleich oft zur Gleichsetzung zu werden. Nun
tun wir sicherlich Recht daran, der psychophysischen Einheit des
Erziehungsobjekts eine innere Angelegtheit zuzuschreiben, wie sie
der biologischen Einheit des Organismus zukommt: nur müssen
wir uns fragen, wie sich auf jener und auf dieser Seite die „An-
lage" zu dem verhält, was sich als „lebendige Form" späterhin
aus ihr heraus entwickelt. Im Keimplasma ist die künftige Form
des Organismus in allem Wesentlichen eindeutig vorgezeichnet;
aus dem Samenkorn etwa wird, wo und wann auch immer es zum
Keimen gebracht werden mag, nur ein Exemplar der morpholo-
gisch so und so bestimmten Gattung hervorgehen. Entsprechendes
gilt auch für die leibliche Seite der Leibseeleneinheit Mensch —
gilt es auch für die innere? Ist auch die Form des seelischen
Seins ähnlich durch die Anlage vorherbestimmt? Man denke sich
ein und dasselbe Menschenwesen mit einer so und so gearteten
„Anlage" in seiner Entwicklung hineingestellt in eine Mannigfal-
tigkeit von menschlichen, gesellschaftlichen, kulturellen Umwelten :
es würde nie und nimmer in jedem der hier angenommenen Fälle
zu einer und derselben Persönlichkeit heranwachsen. Denn das,
was wir im weitesten Sinne „Umwelt" nennen, hat keineswegs für
den biologischen und für den seelisch-geistigen Entwicklungsprozeß
die gleiche Bedeutung. Für das Werden des Organismus liefert
die Umwelt, abgesehen von rein äußerlichen Einwirkungen physi-
kalischer Art, bloß die „Nahrung". Nun sind zwar Maß und Art
dieser Zufuhr zweifellos mitbestimmend für das Maß, die Üppig-
keit bzw. Dürftigkeit der Entfaltung : aber auf die Formgestaltung
selbst sind sie ohne jeden Einfluß. Denn der Organismus arbeitet
im Stoffwechselprozeß alles, was von außen her in seinen Lebens-
prozeß eintritt, in seine eigene Form hinein, es ist für ihn nicht
mehr als Material. Für die seelische Entwicklung hingegen bietet
die Umwelt eine Reihe von „Stoffen", die gerade nur dann dem
Entwicklungsprozeß dienen können, wenn sie als das, was sie
selbst an sich sind oder, besser gesagt, bedeuten, erhalten
bleiben und wirken : es sind sachliche Gehalte, ideelle Gültigkeiten,
s'eien es nun solche wissenschaftlicher, künstlerischer, sittlicher,
religiöser Art, die selbst schon ihre Form haben und nur durch
ihre eigene Geformtheit für den Formungsprozeß der Seele bedeut-
Ktintstadion. XXVI. 3
34 Theodor Litt,
sam werden. Die übliche Rede von der „geistigen Nahrung" ist
irreführend, weil sie auf der Seite des seelischen Werdens dieselbe
einseitige Assimilation durch den Lebensprozeß voraussetzt wie sie
auf der Seite des organischen Wachstums zweifellos vorliegt. Die
Unzulässigkeit dieser Parallele erhellt aus dem Umstand, daß auf
dem Boden der seelischen Wirklichkeit die Begriffe Stoff und
Form unbedenklich ihre Stelle vertauschen können: hier darf man
ebensowohl bildlich sagen, daß die Seele die in sie einströmenden
Gehalte forme, d. h. nach ihrem eigenen Wachstumsprinzip neu-
erzeuge, wie auch daß sie durch diese geformt werde, d. h. ihre
an sich gestaltlosen Werdetriebe an ihnen und durch sie kläre und
vergegenständliche. Hier wirkt das, was im Innern angelegt ist,
und das, was von außen her an das Ich herantritt, in einer Weise
ineinander, für die es außerhalb dieser Dimension des Seins keinerlei
Analogie gibt. In der Eigenart dieses doppelseitigen Formungs-
vorgangs liegt es begründet, daß jeder Versuch, sich von der Art
und dem Inhalt der für die seelische Entwicklung maßgebenden
Disposition, von der qualitativen Besonderheit der in ihr beschlos-
senen Tendenzen eine Vorstellungen machen, schlechthin sinn-
widrig ist *) ; denn zur Form kann sich diese Disposition erst durch
ihr Zusammentreten mit den ideellen Gehalten entwickeln, die die
kulturelle Umwelt an sie heranbringt. Diese Umwelt aber ist
eben nicht eine bestimmte, sondern es sind ihrer unzählige denk-
bar, von denen jede ihre besonderen ideellen Gehalte dem For-
mungsprozeß zur Verfügung stellen würde. In diesem Sinne ist
also jede seelische Gesamtdisposition voll „unbegrenzter Möglich-
keiten" ; sie weiß nichts von jener Eindeutigkeit der Determination,
die dem biologischen Keim eignet. Darum ist auch die Parallele,
die im Gegensatz zu den vorher kritisierten uns einen tieferen
Einblick in das Wesen des Erziehungsvorgangs zu versprechen
schien, die Parallele von seelischem und organischem Werden, von
erziehender und züchtender Tätigkeit, als nur halbwahre Analogie
abzulehnen. Sie führt uns ebenso wenig in den Kern des Problems
hinein, wie der Vergleich mit dem Tun des Künstlers und des
Technikers. Und zwar ist es sehr lehrreich, daß sie aus genau
dem entgegengesetzten Grunde abzuweisen ist, wie die beiden
zuerst behandelten. Gegen diese mußten wir Einspruch erheben,
weil sie dem Gegenstand der Erziehung zu wenig Eigenrecht
1) W. Stern, Die menschliche Persönlichkeit. Leipzig 1918. S. 80.
Die Methodik des pädagogischen Denkens. 35
ließen: jene verbietet sich gerade deshalb, weil sie dem Gegen-
stand zu viel an Eigenbestimmtheit gibt und die erziehende Funk-
tion allzusehr auf bloßes Pflegen und Fördern immanenter Zweck-
richtungen beschränkt. Der Erzieher hat weniger Freiheit der
Gestaltung als der Künstler, weniger Willkür der Zusammen-
ordnung als der Techniker — aber er hat mehr Spielraum der
„ Bildung " als der Züchter.
4.
Gibt es also eine theoretische Wissenschaft von der leiblich-
seelischen Lebens entfaltung, wie wir sie als „Grundwissenschaft"
für eine „ angewandte Wissenschaft" von der Erziehung postu-
lieren mußten, so wird diese von vorne herein die Irrungen ver-
meiden müssen, denen eine biologisierende Auffassung dieses Pro-
zesses notwendig verfällt. Ja, sie wird diese Auffassung gerade
dann am entschiedensten von sich weisen müssen, wenn sie als
Grundlage für eine Theorie des erzieherischen Tuns brauchbar
sein soll. Denn jener von uns andeutungsweise geschilderte Vor-
gang, in dem seelisches Leben und sachliche Gehalte sich durch-
wirken, jener Vorgang, der so ganz und gar jedes Vergleiches
mit dem biologischen Prozeß spottet, er ist ja gerade der für das
Kulturphänomen Erziehung fundamentale. Jene reinen Sachgehalte
nämlich, an und in denen der Formungsprozeß der Seele sich voll-
zieht, sie treten ja nicht wie selbsttätig aus ihrer ideellen Sphäre
heraus und an das zu entwickelnde Subjekt heran, sondern sie
müssen durch einen Prozeß persönlicher Übertragung von Mensch
zu Mensch immer von neuem aktualisiert werden, und dieser Prozeß
der Übertragung heißt, sobald er mit einem Mindestmaß von Be-
wußtheit vollzogen wird — Erziehung. Für den Sinn, ja für die
Möglichkeit der Erziehung ist gerade der Sachverhalt notwendige
Bedingung, den die Durchführung des biologischen Vergleichs un-
kenntlich macht. Nur deshalb gibt es Erziehung, weil die Seele
nicht eindeutig präformiert ist, sondern erst in der Auseinander-
setzung mit ideellen Gehalten sich gestaltet, und nur darum gibt
es seelische Entwicklung, weil es Erziehung, d.h. persönliche
Übertragung ideeller Gehalte von Mensch zu Mensch gibt. Die
postulierte Wissenschaft von dem seelischen Entfaltungsprozeß
würde demnach ihren Gegenstand nur dann erschöpfen, ja sie
würde ihn überhaupt nur dann wirklich erfassen, wenn sie das
seelische Werden nicht als einen lediglich im geschlossenen Kreis
3*
36 Theodor Litt,
der Einzelseele sich vollendenden Vorgang — vergleichbar dem
in sich zurücklaufenden organischen Wachstumsprozeß — zu ver-
stehen suchte, vielmehr dieses Werden erfaßte in seiner Durch-
dringung und Verschränkung mit den von außen her erfolgenden
Einwirkungen, die in ihrer höchsten Form „Erziehung" heißen.
Und gerade mit dieser durch den Gegenstand erforderten Weite
der Fragestellung müßte sie, so möchte es scheinen, sich besonders
geeignet machen, einer Theorie des erzieherischen Tuns als Grund-
lage zu dienen.
Wie aber, wenn gerade diese von uns als unerläßlich ent-
wickelte Problemstellung der „Grundwissenschaft" sie zu der ihr
zugedachten Funktion untauglich machen sollte? Erinnern wir
uns doch, welcher Zusammenhang uns zu dieser Fixierung der
unserer Grundwissenschaft zukommenden Fragestellungen geführt
hatte! Wir haben eine Praxis, genannt Erziehung. Wir suchen
eine Theorie, geeignet, dieser Praxis Richtlinien zu geben, und
glauben dieser Theorie einen wissenschaftlichen Wert nur dann
verbürgen zu können, wenn sie den methodischen Charakter einer
„angewandten Wissenschaft" besitzt. Wir suchen den Problem-
gehalt der rein theoretischen „Grundwissenschaft", auf der diese
„angewandte Wissenschaft" zu fußen hätte, zu bestimmen und
finden als wesentlichen Bestandteil dieses Gehalts — das Phänomen
Erziehung, also diejenige Praxis als Tatsache, die als Auf-
gabe in eben dieser Theorie ihre letzte Grundlage erhalten sollte.
Nun fragen wir uns: kann und darf eine Grundwissenschaft, auf
der eine angewandte Wissenschaft aufgebaut werden soll, zum
Gegenstand der Erforschung haben eben diejenige Praxis, der die
Sätze dieser angewandten Wissenschaft Regeln vorschreiben sollen?
Offenbar würde auf diese Weise ein heilloser Zirkel entstehen.
Denn die rein theoretische Betrachtung dürfte bei dem Versuch,
das Wesen der Praxis als eines gegebenen Stücks Wirklichkeit zu
verstehen, die in der angewandten Wissenschaft ausgesprochenen
Regeln des Handelns, die doch auch einen Teil dieser Wirklichkeit
bilden, nicht aus der Betrachtung ausschließen, müßte sie vielmehr
als zu dem zu untersuchenden Tatbestand gehörig, d. h. als für
die Betrachtung „gegeben" ansehen — während dann später die
„angewandte Wissenschaft" die in der Grundwissenschaft voraus-
gesetzten Regeln aus dieser selbst abzuleiten hätte! Oder aber:
wenn die Grundwissenschaft die in der angewandten Wissenschaft
ausgesprochenen Regeln nicht in den Kreis der zu deutenden
Die Methodik des pädagogischen Denkens. 37
Tatbestände aufnähme, so wäre es unerfindlich, wie eine „Anwen-
dung" der in der Grundwissenschaft gewonnenen Erkenntnisse auf
diese Regeln führen sollte. Kurzum — wie wir es auch wenden
mögen, das ganze Verhältnis „Grundwissenschaft — angewandte
Wissenschaft — Praxis" ist mit dem Tatbestand und der Aufgabe
der Erziehung nicht zusammenzubringen. Sinnvoller Weise hat
jede Grundwissenschaft an dem Objekt der Praxis ihr Problem,
nicht an der Praxis selbst; die angewandte Wissenschaft leitet
aus der Kenntnis des Objekts, die sie der Grundwissenschaft ent-
nimmt, die Regeln des Handelns ab, und die Praxis verfährt diesen
Regeln gemäß. Weil dem Gegenstand der postulierten pädagogi-
schen Grundwissenschaft der Tatbestand der Praxis gleichsam in-
häriert, und zwar nicht als äußere Zutat, sondern als wesentliches
Moment seiner selbst, darum gibt es keine rein theoretische Grund-
wissenschaft der Pädagogik, deren Ergebnisse von einer ange-
wandten Wissenschaft übernommen und zu Regeln des Handelns
ausgemünzt werden könnten: vielmehr erstreckt sich das
Problem Erziehung durch alle Schichten der hier in
Betracht kommenden Erwägungen und Untersuchungen
derart hindurch, daß die theoretische Auffassung des Tatbe-
standes „Erziehung" einerseits, die praktische Stellungnahme zu
den Aufgaben der Erziehung andererseits gleichsam sekundäre Aus-
gestaltungen einer Grundeinstellung zum Problem „Erziehung*
überhaupt sind, die über dem Gegensatz von Theorie und Praxis,
Tatsachenerforschung und Zielsetzung steht. Hier baut sich nicht
eines als Folgerung, Anwendung u. dgl. auf dem anderen auf, son-
dern alles entspringt aus demselben Zentralpunkt heraus. So
scheitert der Versuch, die Theorie der Erziehung auf einer
Wissenschaft von den komplexen Erscheinungen der seelischen
Entwicklung aufzubauen, an derselben allumfassenden Einheit der
geistigen Welt, die auch jede technologische Behandlung des Er-
ziehungsproblems ausschließt.
Für das Ausgeführte kann es keine treffendere und gleich-
zeitig naheliegendere Illustration geben als — unsere eigenen Aus-
führungen. Inwiefern bilden sie eine solche? Der Vorgänge, die
eine menschliche Seele in sich schließt, sind unendlich viele und
unendlich mannigfaltige ; desgleichen sind die von Mensch zu Mensch
spielenden Einwirkungen an Zahl und Gehalt unerschöpflich. Im
Innern des Subjekts bilden jene und diese zusammen ein Erlebnis-
ganzes, das in seiner Geschlossenheit, in der Kontinuität seiner
38 Theodor Litt,
Übergänge jeder Zerlegung in Teile, Elemente u. dgl. Widerstand
leistet; hier wird jedes, auch das scheinbar belangloseste Einzel-
erlebnis, als Beitrag zur inneren Formung gleichsam in das Ganze
eingeschmolzen. Wollte eine Wissenschaft von der Erziehung
ihren Gegenstand in der Gesamtheit dieser Vorgänge suchen,
sie würde im Unendlichen verfließen und jeder sachlichen und me-
thodischen Bestimmtheit verlustig gehen ; sie muß ihr Objekt enger
begrenzen, um überhaupt Wissenschaft sein zu können. Nun aber
zeigt sich eben: der Inbegriff von Vorgängen, dem der Name Er-
ziehung zukommen könnte, grenzt sich keineswegs in dem Sinne
innerhalb jener Kontinuität der Erlebniswelt ab, wie etwa die
äußere Welt ihre Stoffe und Kräfte von einander scheidet. Man
kann nicht ein Phänomen „Erziehung" als wohlumschriebenen Tat-
bestand einfach so durch bloße Feststellung aus der inneren Wirk-
lichkeit ablösen, wie man das Phänomen „Magnetismus" oder „Elek-
trizität" aus der natürlichen Wirklichkeit heraushebt. Ja, wie
wir sehen werden, steht dieses Phänomen auch hinter den anderen
Forschungs Objekten der geistigen Welt an gegenständlicher
Bestimmtheit um ein Beträchtliches zurück. Mehr als alle Natur-
wissenschaften, mehr auch als die anderen Geisteswissenschaften
muß deshalb eine Theorie der Erziehung, um überhaupt zu einem
faßbaren Objekt zu gelangen, auswählend, scheidend, abstufend in
das Erlebnisganze der inneren Welt hineingreifen, und bei diesem
Vorgehen muß sie Kriterien anwenden, die gegenüber jener Kon-
tinuität als etwas von außen Herangebrachtes erscheinen, deren
Anwendung immer etwas von Gewaltsamkeit an sich hat. Diese
Auswahl und Abgrenzung setzt aber wiederum voraus, daß der
Betrachter den Vorgang der Erziehung im Sinne einer Aufgabe,
im Zeichen einer Idee deutet und versteht. M. a. W. : was Er-
ziehung ist, kann nur der „feststellen", der schon eine gewisse
Vorstellung davon hat, was Erziehung soll. So haben auch wir,
wenn wir in der Entwicklung innerer Form auf dem Wege der
Durchdringung mit ideellen Gehalten das wesentlichste Moment
jedes Erziehungsvorgangs fanden, bereits eine bestimmte Deutung
des Sinns der Erziehung, eine bestimmte Auffassung der Erzie-
hungsaufgabe zu Grunde gelegt, die weder die einzig vertretene
noch die einzig mögliche ist. Wir sehen also: die praktischen
Tendenzen, die eigentlich erst innerhalb der „angewandten Wissen-
schaft" zu Worte kommen dürften, sind in Wahrheit unentbehr-
lich, damit die „Grundwissenschaft" überhaupt ihren Gegenstand
Die Methodik des pädagogischen Denkens. 39
konstituieren könne. Das Sein der Erziehung kann überhaupt
erst im Ausblick auf ihr Sollen erfaßt werden. Das will nicht
heißen, daß die Möglichkeit, Erziehung als Tatsache zu erfassen,
gebunden sei an das Bekenntnis zu einem bestimmten, inhaltlich
im Einzelnen ausgeführten Ideal des erzieherischen Tuns — es be-
sagt nur dies, daß eine gewisse allgemeine Grundauffassung vom
kulturellen Beruf der Erziehung überhaupt, die für die Konkreti-
sierung im Einzelnen noch weiten Spielraum läßt, notwendige Vor-
aussetzung für das Erfassen der Erziehung als Tatsache ist. Und
nun umgekehrt: so wenig es möglich ist, das Sein der Erziehung
auch nur im allgemeinsten Sinne unabhängig von einer bestimmten
Auffassung ihres Sollens zu ergreifen, so wenig kann ein Vorgehen
in Frage kommen, das über das Sollen der Erziehung entscheiden
wollte, ohne die Wirklichkeitszusammenhänge ins Auge zu fassen,
die für die Realisierungsmöglichkeiten jedes erzieherischen Ideals
bestimmend sind. Es wäre widersinnig, von außen her Zielvor-
stellungen an eine Wirklichkeit heranzubringen, deren eigene le-
bendige Kräfte doch schließlich allein das Ideal in die Wirklich-
keit überführen können. Es muß also jede Erwägung des Sollens
in engster Verbindung mit der Auffassung des Seins voranschreiten.
So haben auch wir, wenn wir in der Übertragung ideeller Gehalte
von Mensch zu Mensch den Beruf des erzieherischen Tuns erblickten,
dem eine Auffassung der Kultur Wirklichkeit zu Grunde gelegt, die
in eben dieser Übertragung das strukturelle Grundmotiv im Aufbau
der Kulturwirklichkeit erblickt. Mithin hat sich in dem von uns
entwickelten Gedankengang ganz unmittelbar das Ergebnis be-
währt, in das er einmündete : daß, wo immer der menschliche Geist
es mit dem Problem der Erziehung zu tun hat, niemals eine Auf-
fassung dessen, was ist, und eine Bestimmung dessen, was sein soll,
von außen zusammentreten und in den vermittelnden Sätzen einer
„angewandten Wissenschaft" ihre Verbindung suchen, vielmehr
Seinserfassung und Sollensbestimmung ganz unmittelbar aus einer
Wurzel derart hervorwachsen, daß für das Vermittlungswerk einer
„angewandten Wissenschaft" weder Bedürfnis noch Möglichkeit vor-
liegt. Sogar die Auffassung und Redeweise, die beide in „Wechsel-
beziehung" stehen läßt, ist noch zu äußerlich, weil sie doch immer
noch die Annahme einer ursprünglichen, gleichsam substantiellen
Scheidung und erst nachträglich eingetretenen Verbindung beider
Seiten in sich schließt.
40 Theodor Litt,
5.
Wir haben die eigentümlich wurzelhafte Verbindung des rein
theoretischen und des praktischen Elements hier zunächst aufge-
wiesen im Bereich der letzten und allgemeinsten Betrachtungen,
die sich im Hinblick auf das Problem der Erziehung überhaupt
entwickeln lassen; es waren Betrachtungen, die, eben weil sie die
prinzipielle Struktur der für das erzieherische Denken maßgebenden
Zusammenhänge ergründen wollten, von jeder Rücksicht auf eine
besondere, historisch begrenzte Erziehungs Wirklichkeit und von
jeder konkreten Ausgestaltung des erzieherischen Ideals grund-
sätzlich absahen. Wie weit wir aber auch von diesen allgemein-
sten Grundlagen her in der Richtung auf eine immer stärkere Kon-
kretisierung des allgemeinen Schemas fortschreiten mögen, immer
werden wir das gleiche Verhältnis sich wiederholen sehen. Wir
tuen, statt der stufenweisen Erfüllung des allgemeinen Schemas
nachzugehen, die sich mit dem Eintritt in einen bestimmten Kultur-
kreis, eine bestimmte Epoche, ein bestimmtes Volk u. s. f. ergibt,
gleich den Schritt bis zu der vollständigen Konkretisierung der
Erziehungsaufgabe, wie sie überall da vorliegt, wo ein bestimmter
Erzieher einem bestimmten Zögling gegenübertritt. Sehen wir hier
den oben entwickelten Zusammenhang sich abermals bewähren, so
wird die Annahme nicht zu kühn sein, daß er auch für die in der
Mitte liegenden Stufen Gültigkeit habe. Jeder Erzieher wird
naturgemäß vor allem einmal sich zu vergewissern streben, was
der Zögling ist, und wird alle erzieherischen Pläne und Maß-
nahmen zurückhalten, bis er dieses seines Seins kundig geworden
ist. Also auch hier zunächst ein Bemühen um eine rein „theore-
tische" Auffassung des Erziehungsobjekts, aus deren Ergebnis dann
— möchte man meinen — die Folgerungen für die erzieherische
Praxis abzuleiten wären. Nun ist ersichtlich, daß dieses Erkenntnis-
bemühen des Erziehers sich vor allem einmal auf die in dem Zög-
ling gegebenen Anlagen, das Wort in umfassendstem Sinne ver-
standen, richten muß, denn an diese müssen ja die erzieherischen
Maßnahmen ansetzen. Nun stößt aber die „Feststellung" vorhan-
dener Dispositionen überall da, wo es sich um seelisch - geistiges
Sein handelt, auf eine eigentümliche Schwierigkeit, deren Grund
bereits oben angedeutet wurde. Der Gärtner, der Züchter kann
an der Hand von dem, was sein Objekt ist, an der Hand seiner
gegebenen Beschaffenheit, die Anlage eindeutig „feststellen" : er
weiß, daß dieses Samenkorn, dieser Schößling, dieses Ei u. s. f. in
Die Methodik des pädagogischen Denkens. 41
sich die Determinanten vereinigt, in denen der so und so be-
stimmte Typus, und nur er, präformiert ist. Dem Erzieher gibt
sein Objekt in der gegenwärtig vorhandenen Beschaffenheit zu
einer entsprechenden Feststellung garnicht die Möglichkeit, weil
die Anlage als Anlage von einer grenzenlosen Unbestimmtheit
und Vieldeutigkeit ist: sie trägt ja nicht in sich selbst alle Be-
dingungen, von denen das Formwerden der Lebenseinheit abhängt,
vielmehr kann sie erst im Zusammenwirken mit den in Zukunft,
von außen her an sie herantretenden ideellen Gehalten aus sich
eine Form hervorgehen lassen; welcher Art diese Gehalte sein
werden, darüber sagt die Anlage nichts aus. Die Anlage wird
also erst dann ein Gegenstand möglicher Vorstellungen und Aus-
sagen über sie, wenn sie — aufhört, bloße Anlage zu sein, und so
lange sie wirklich bloße Anlage ist, läßt sich rein aus dem gegen-
wärtigen Befunde nicht über sie „feststellen". Dieser Sachverhalt
muß den Erzieher, wenn er das, was sein Zögling hinsichtlich
seiner Anlage ist, feststellen will, in eine Schwierigkeit bringen,
die unlösbar wäre, wenn — er eben nicht Erzieher wäre. Denn
als solcher ist er gar nicht genötigt mit einer unbegrenzten und
deshalb unvorstellbaren Vielheit möglicher künftiger Formungsein-
einflüsse zu rechnen: vielmehr ist ja gerade er es, der, so weit
Erzieherwille reichen kann, darüber entscheiden soll, welche ideellen
Gehalte in den Formungsprozeß eintreten sollen. Ein eigentüm-
licher Zusammenhang: um sich die Anlage irgendwie vorstellen zu
können, muß er, über den gegenwärtigen Augenblick hinausgrei-
fend, ihre der Zukunft angehörige Durchdringung mit ideellen Ge-
halten in den Bereich seines Blickes hineinziehen — und dieser
Vorblick ist nur deshalb mehr als rein willkürliche Phantasie, weil
sein Wollen auf die Gestaltung dieser Zukunft Einfluß hat. Die
Anlage kommt für den Erzieher nur in Betracht als Anlage für
etwas, nämlich für die Gesamtheit von kulturellen Wertgehalten,
die überhaupt im Bereich seines erzieherischen Denkens liegen.
Damit tritt aber an Stelle der, objektiv betrachtet, unendlichen
Mannigfaltigkeit möglicher Anlagedeterminationen eine begrenzte
Zahl von in Betracht zu ziehenden Formungen; und eben diese
Beschränkung macht es dann auch möglich , daß sich klare
Vorstellungen über die Anlage des Zöglings bilden. Diese Be-
schränkung und diese Klarheit ist, wie ersichtlich, erreicht nicht
durch ein bloßes Hinsehen auf das, was der Zögling ist, sondern
auf das, was aus ihm werden kann oder vielmehr im Sinn der
42 Theodor Litt,
Erziehung aus ihm werden soll. Die in Betracht gezogenen Er-
ziehungsziele geben die Ordnungsprinzipien ab, nach denen das
Sein des Zöglings, das an sich grenzenloser Fortentwicklung fähige,
aufgefaßt wird: die Gesichtspunkte, die für die Erziehungs praxi s
bestimmend sind, sind auch da nicht auszuscheiden, wo das Objekt
der Erziehung rein als das, was es ist, vermeintlich unter völ-
ligem Absehen von allen praktischen Tendenzen bestimmt wer-
den soll.
Nun aber umgekehrt : sind die Ideen von dem, was geschehen
soll, richtunggebend in der Auffassung dessen, was ist, so kann
es nicht bei diesem einseitigen Verhältnis sein Bewenden haben.
Denn welchem Erzieher könnte es in den Sinn kommen, bei der
Herausklärung der Erziehungsziele abzusehen von dem vorliegenden
Befund, den ihm der Zögling vor Augen stellt. Denn einmal kann
eine Verfolgung sämtlicher überhaupt im Gesichtskreis des Er-
ziehers liegenden Bildungsmöglichkeiten nicht in Betracht kommen,
wenn ein konkreter Mensch zu erziehen ist; es bedarf also schon
unter rein quantitativem Gesichtspunkt einer Auswahl unter
den dem Erzieher vertrauten Bildungsrichtungen, und nichts an-
deres kann für diese Auswahl maßgebend sein als der Zögling,
wie er ist, d. h. als was er sich bei einem entweder nur gedachten
oder auch probeweise ausgeführten Hineinstellen in die verschie-
denen Wertrichtungen erweist. Und vor allem sieht wirkliche
Erziehung es nicht darauf ab, in dem Zögling nur den Träger
einer Vielheit von äußerlich zusammengeordneten, in abstrakter
Allgemeinheit gedachten Werttendenzen herauszubilden, vielmehr
arbeitet sie hin auf ein konkretes Lebensganzes, daß alle ein-
zelnen Richtungen des Bildungsprozesses durchdringt, zum Zentrum
der Persönlichkeit in Beziehung setzt und so statt äußerer Zusammen-
ordnung wirklich innere Form erwirkt. Erst wenn die auf die
zukünftige seelische Entfaltung des Zöglings gerichteten Einzel-
vorstellungen sich zusammenschließen zum Bilde eines teleologi-
schen Ganzen, erst dann bewährt sich jene eigentümliche erziehe-
rische Phantasie, die alle auf Einzelfähigkeiten und Einzelfertig-
keiten gerichtete Geschäftigkeit hinter sich läßt. Und gerade die
eigentümliche Schöpferkraft dieser Phantasie, die ein Ganzes er-
schaut, das nicht ist, sondern erst werden soll, und es dabei doch
erschaut in dem, was ist, gerade sie ist es, die jenem Vergleich
des erzieherischen und des künstlerischen Tuns doch schließlich
ein höheres Recht gibt, als es dem Vergleich mit dem technischen
Die Methodik des pädagogischen Denkens. 43
Verfahren zugesprochen werden kann. Wie aber soll nun dieses
konkrete Leitbild, das dem Grestaltungswillen des Erziehers
vor anleuchtet, anders sich formen als eben im Hinblick auf das,
was der Zögling nun einmal ist, auf seine „Individualität" wie sie
in anschaulicher Lebendigkeit vor ihm steht — so daß, wenn dieses
Sein nur im Ausblick auf das Sollen vorstellig werden konnte, so
doch umgekehrt das Sollen nur im Anschluß an das Sein sich zu
konkreter Bestimmtheit herausklären kann. So stehen auch hier
Seinserfassung und Sollensbestimmung in „Wechselwirkung". Und
auch hier läßt der gewählte Ausdruck noch allzuviel des Tren-
nenden bestehen. Nicht so ist der Zusammenhang zu denken, daß
hier ein Bild dessen, was ist, dort ein Bild dessen, was werden
soll, sich gegenüberständen und nun im Hin und Her, bei fort-
dauernder Geschiedenheit, die Züge sich klärten und bereicherten.
Vielmehr ist das, was wir hier um der Deutlichkeit des Gedankens
willen zu zwei geschiedenen Bildern mußten auseinandertreten
lassen, zu denken als ein Strom lebendigen Werdens, von Einst
zum Jetzt und vom Jetzt zum Dereinst sich weitertragend, ein
Strom, durch den nun das Denken gleichsam zwei Querschnitte
legt, bemüht, des Jetzt mit dem in ihm eingeschlossenen Einst
und des Dereinst mit dem in ihm fortwirkenden Jetzt je für
sich habhaft zu werden, dieses Jetzt, das ja in Wahrheit die-
selbe über das Nacheinander der Zeitfolge übergreifende Lebens-
ganzheit ist, die auch in dem Dereinst ihre Überlegenheit über
jede bloße Succession erweisen wird. Der Erzieher sieht das, was
ist, nicht in punktueller Zusammengezogenheit, sondern als Bewe-
gung, hervorgehend aus dem, was war, und hinstrebend zu dem,
was da werden soll, und er sieht das, was werden soll, in un-
mittelbarem Hervorwachsen aus dem was ist. Alle sprachlich-
begrifflichen Distinktionen sind unzulänglich, dieses so ganz und
gar unmechanische Verhältnis deckend wiederzugeben1).
Wir verzichten, wie gesagt darauf, das behandelte Verhältnis
durch alle Stufen hindurch zu verfolgen, die zwischen den letzten
und allgemeinsten Strukturverhältnissen des erzieherischen Wir-
kungszusammenhangs überhaupt und dem Einzelfall der konkreten
Erziehungswirklichkeit liegen. Wir würden, wenn wir es täten,
1) Verwandte Gedanken schon bei W. v. Humboldt (s. E. Spranger,
W.v.Humboldt und die Humanitätsidee, Berlin 1909. S. 205 ff.), in G. Simmeis
„Lebensphilosophie" (Lebensanschauung, München 1918), bei M. Sehe ler (Zur
Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle, Halle 1913, S. 53 ff.).
44 Theodor Litt,
zu zeigen haben, daß das Ganze von Kulturtendenzen, welches im
Einzelfall für den Erzieher den Umkreis der in Betracht zu zie-
henden Bildungsmöglichkeiten, also dem Inbegriff des für ihn lei-
tenden Sollens bestimmt, auch seinerseits nicht etwa als System
von abstrakt allgemeinen Forderungen aufzufassen ist, vielmehr
ebenfalls einen durchaus konkreten Gehalt aufweist, und daß es
diesen Gehalt einem umfassenden Prozeß verdankt, dessen Verlauf
in allen Teilen eben dieselbe Wechselbezogenheit von Seinserfas-
sung und Sollensbestimmung zum Grundmotiv hat — und so fort
durch alle Stufen fortschreitender Allgemeinheit hindurch bis zu
dem universalen Strukturzusammenhang, von dessen abstraktiver
Herausstellung wir ausgingen *). Im Zusammenhang dieser Betrach-
tung würde auch die Rede von der „historischen Bedingtheit"
jedes Erziehungsgedankens auf ihren richtigen Sinn und ihr rich-
tiges Maß zurückgeführt werden.
6.
Auf welcher Stufe der Abstraktion wir also auch das päda-
gogische Denken betrachten mögen, wie sorgsam wir auch die ihm
immanente Methodik herausstellen mögen, immer wieder erweist
es sich als durchaus entgegengesetzt dem geistigen Verfahren, das
den Typus der „angewandten Wissenschaft" entstehen läßt. Für
dieses ist Voraussetzung die reinliche Scheidung einer lediglich
betrachtenden und einer auf Ziele gerichteten Haltung des Geistes ;
hier ist die geläufige Scheidung von Theorie und Praxis Ausdruck
des wirklichen Sachverhalts. Im erzieherischen Denken tritt uns
dagegen ein geistiges Gesamtverhalten entgegen, das mit seinen
tiefsten Wurzeln unter diesen Gegensatz von Theorie und Praxis
hinabgreift und sich erst in einer höheren Schicht in diese zwei
Verhaltensformen zerlegt, ohne indessen auch innerhalb von ihr
diese wurzelhafte Verbundenheit ganz in Vergessenheit bringen
zu können. Weil das menschliche Denken und Handeln ganz
vorzugsweise ein Außenweltdenken und Außenwelthandeln ist,
darum ist es durchaus begreiflich, daß diese erst sekundäre Schei-
1) Gegenstand einer besonderen Untersuchung wird die Frage sein, in wel-
cher methodischen Form sich die der Pädagogik unentbehrlichen Ergebnisse ge-
wisser wirklich „feststellenden" Disziplinen (etwa der erklärenden Psychologie,
der Soziologie) diesem so ganz andersartigen Aufbau einordnen. Vgl. zum letzten
überhaupt meine Skizze „Pädagogik" in: „Die Kultur der Gegenwart", Bd. Syste-
matische Philosophie2.
Die Methodik des pädagogischen Denkens. 45
düng vielfach als eine ebenso in die Tiefe hinabgehende galt und
gilt, wie sie es für das technische Verhalten tatsächlich ist, daß
man also auch hier Theorie und Praxis, feststellende Betrachtung
des „Materials" und Aufstellung der auf seine Behandlung bezüg-
lichen Regeln, säuberlich auseinanderhalten zu können, ja zu müssen
meinte. Die Geschichte des pädagogischen Denkens ist eine fort-
laufende Illustration der Schwierigkeiten, in die man sich mit dieser
vermeintlich selbstverständlichen Voraussetzung verwickelt. Ob
man von der reinen Betrachtung der Erziehungswirklichkeit oder
von der Aufstellung rein idealer Ziele ausging, immer wieder wollte
es nicht gelingen, Idee und Wirklichkeit, Sein und Sollen ohne
Vergewaltigung der einen oder der anderen Seite zusammenzu-
bringen; immer wieder sah man sich genötigt, da ideell zu werten,
wo man lediglich die Wirklichkeit zu betrachten meinte, da An-
leihen bei der Wirklichkeit zu machen, wo man rein ideell zu
konstruieren gedachte. Was Wunder, daß man sich vergeblich
mühte, das nachträglich zu vereinen, was man anfangs, dem wahren
Verhältnis entgegen, auseinandergerissen hatte. Dies aussichtslose
Ringen wird erst dann ein Ende nehmen, wenn die pädagogische
Theorie sich entschließt, den Sachverhalt, den sie sich selbst zu-
meist verhehlt, nur um sich einem durchaus einseitigen Ideal von
Wissenschaftlichkeit angleichen zu können, nicht nur offen einge-
steht, sondern auch mit Bewußtsein recht eigentlich zur Grundlage
ihrer Methodik macht1). Nur damit wird sie sich gegen dilettan-
tischen Mißbrauch und erkenntniskritischen Zweifel schützen können,
denen gerade jene Unklarheit der methodischen Grundlagen immer
wieder Einbruchsstellen und Angriffspunkte verschafft.
Eine solche Gewissensprüfung aber vermag nun einen Nutzen
zu stiften, der nicht der pädagogischen Wissenschaft allein zu
gute kommen würde. An ihrem Schicksal haben mehr Disziplinen
Anteil, als auf den ersten Blick scheinen könnte. Ist erziehe-
risches Denken nur möglich auf Grund eines ursprünglichen Inein-
ander von theoretischem Auffassen und praktischem Stellungnehmen,
so besagt dies im Grunde nichts anderes, als daß jede, auch die
mit aller methodischen Überlegung aufgebaute pädagogische Theorie,
ein Werk von durchaus persönlichem Charakter sein muß.
Damit haben unsere methodischen Erwägungen uns auf eben die
1) Verwandte Gedanken in E. Troeltschs kulturphilosophischen For-
schungen. S. bes.: Über Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge. Histor.
Zeitschrift. 116. Bd. S. 1 ff.
46 Theodor Litt,
Grundtatsache geführt, die den Gegnern einer pädagogischen Theorie
als ihr stärkstes Argument galt, auf den irrationalen Kern
des pädagogischen Denkens. Nur besagt uns dieses „irrational"
hier nicht die Verneinung jeder auf Auffassung des Objekts
gerichteten geistigen Betätigung : es soll nur den Grenzstrich
ziehen gegen jede „Feststellung", deren „theoretischer" Charakter
gleichbedeutend ist mit dem Ausschluß jedes persönlichen Elements
aus dem Ergebnis der Feststellung. Wer ein auf Seinserfassung
gerichtetes Verhalten gleichsetzt mit einer Feststellung so unper-
sönlichen Charakters, der erhebt ein Erkenntnisideal zu alleiniger
Gültigkeit, dem in Wahrheit nur die Naturwissenschaften genügen
können, das also keineswegs nur der pädagogischen Wissenschaft
unerreichbar ist. Eine solche Verabsolutierung des naturwissen-
schaftlichen Erkenntnisideals ist nur möglich auf Grund einer ge-
wissen Zweideutigkeit, die dem Begriff „Feststellung" gleich man-
chen ihm sinnverwandten anhaftet. Ein naives Denken ist immer
geneigt, zu meinen, diejenige Leistung, der diese Bezeichnung zu-
kommt, bestehe in der Wiedergabe des Ganzen der Wirklich-
keit, so wie sie an sich, unabhängig von jeder Beziehung auf
ein Subjekt, zu denken ist. Zu Grunde liegt diesem Glauben
die Vorstellung, daß, wenn es in einem Akt des Erkennens die
Subjektivität der erkennenden Persönlichkeit völlig auszuschalten
gelingt, folgeweise das Ergebnis „rein objektiv" im Sinne einer
deckenden Wiederholung des Seienden sein müsse. Ein Weniger
an Subjektivität setzt sich nach dieser Auffassung automatisch um
in ein Mehr an objektiver Wirklichkeitserkenntnis; ist demnach
der Anteil der Subjektivität auf den Nullpunkt herabgedrückt, so
ist für das Denkergebnis jeder Abzug am Vollgehalt der ob-
jektiven Wirklichkeit beseitigt. Aber so liegt die Sache eben
ganz und gar nicht. Zu der „Ausschaltung" auf der Seite der
auffassenden Persönlichkeit steht in Korrelation nicht ein Zuwachs,
sondern ein genau entsprechender Abzug auf der Seite des aufzufas-
senden Objekts. Es waltet ein Wechselverhältnis zwischen der ledig-
lich „feststellenden" Funktion des Subjekts und der Reduktion der
Wirklichkeit auf das Feststellbare. Konzentriert sich die
Persönlichkeit auf die rein feststellende Betätigung , was gleich-
bedeutend ist mit der zeitweiligen Suspension aller anderen Betä-
tigungsweisen des Ichs, so wird auf der Seite des Objekts alles
das unsichtbar, was sich seinem Wesen nach gegen eine Feststel-
lung solcher Art sträubt, und übrig bleibt nur das dieser Auffas-
Die Methodik des pädagogischen Denkens. 47
sung Angemessene, dessen "Wesen am deutlichsten repräsentiert
wird durch das exakt Berechenbare. Auf beiden Seiten also
ein Absehen von dem Vollgehalt der Wirklichkeit bzw. des Er-
lebens. Und zwar kann es zur Durchführung dieser Reduktion
nicht kommen ohne einen Akt des Willens im Subjekt: sein
Werk ist die Konzentration des Subjekts auf die feststellende
Funktion und das korrelative Sichherausheben des Feststellbaren
am Objekt. Nun führt aber ein eigentümlicher Zusammenhang
dazu, daß diese persönliche Bedingtheit der unpersönlichen Fest-
stellungstätigkeit dem Blick nur allzu leicht sich entzieht. Zu-
nächst läßt nämlich die auf beiden Seiten erfolgende Reduktion
den realen Zusammenhang unsichtbar werden, der die Persönlich-
keit als lebendiges Ganzes mit dem Ganzen der noch nicht künst-
lich reduzierten Gesamt Wirklichkeit verbindet: weder kann dieser
Zusammenhang in Erscheinung treten in der lediglich feststellenden
Funktion des Subjekts als solcher, denn diese ist ja gerade mit
der Auslöschung des lebendigen Gesamtgehalts der psychophysischen
Lebenseinheit gleichbedeutend, noch auch kann er sich dem Blick
darbieten in dem als „feststellbar" herausgeschälten Teil der Ge-
samtwirklichkeit, denn in diesem ist gerade für die allverknüpfenden
Lebensverbindungen kein Raum, besser gesagt : die Methoden dieser
Feststellung sind so geartet, daß sie diese Zusammenhänge zer-
schneiden, folglich unbemerklich machen müssen 1). Schon dieses
wie von zwei Seiten her gleichzeitig erfolgende Abbrechen der
Brücken, die Person und Welt verbinden, hat die Wirkung, das
die funktionale Zusammengehörigkeit der persönlichen Einstellung
im Subjekt und der sachlichen Erscheinung des Objekts zurück-
tritt hinter einem scheinbaren Gegenüber von zwei völlig ge-
schiedenen, unabhängig voneinander bestehenden Parteien. Dieser
Eindruck wird aber verstärkt und scheinbar bestätigt durch ein
zweites. Eine Einsicht, die gerade unter gewollter Auslöschung
der Gesamtpersönlichkeit zustande gekommen ist, gewinnt dadurch
einen Charakter von überindividueller Allgemeingültigkeit, der eben
mit den Worten „Feststellung", „Objektivität" u. ä. gekennzeichnet
wird. Ihr Inhalt scheint dem Subjekt als etwas von ihm gänzlich
1) Die Schwierigkeiten, die sich den Bemühungen um eine sichere Methodik
von Biologie und (erklärender) Psychologie entgegenstellen, liegen begründet
in der an dieser Stelle bemerklichen Mittelstellung zwischen einer exakt-gesetzlich
„feststellenden" Naturwissenschaft einerseits und einer auf persönlichem Ver-
stehen beruhenden Auffassung der geistigen Welt andererseits.
48 Theodor Litt,
Unabhängiges, lediglich fertig Vorgefundenes gegenüberzustehen;
Subjekt und Objekt erscheinen auch im Lichte dieser Betrachtung
als zwei Parteien, von denen jede auch ohne das Bestehen der
anderen das wäre, was sie ist; der Akt der Feststellung gilt als
bloße Abspiegelung dessen, was als Objekt vorgefunden ist, im
Subjekt; es scheidet sich ein „Inneres" und ein „Äußeres". Dieser
Eindruck verstärkt sich um so mehr, als die Früchte, die das
technische Verfahren aus dieser denkenden Bearbeitung des Wirk-
lichen zieht, diese aufs glänzendste bestätigen und rechtfertigen.
So kommt es, daß überall da, wo nicht die Reflexion sich auf den
Denkakt als solchen richtet, das durch die Naturwissenschaften
geübte Verfahren als einzig wissenschaftliche „Feststellung" gilt,
und zwar im Sinne einer deckenden Wiedergabe des Wirklichen,
wie es an sich ist. In Wahrheit würde der menschliche Geist,
wenn er nur Feststellungen von diesem methodischen Charakter
als Wissenschaft anerkennen wollte, der Wissenschaft grundsätz-
lich weite Sphären der Wirklichkeit verschließen, er würde einer
geregelten Erkenntnis der nicht in solchem Sinne „feststellbaren"
Wirklichkeitsinhalte von vorneherein entsagen. Wie unhaltbar eine
solche Position ist, davon kann ihr Verteidiger dann am wirksam-
sten überführt werden, wenn man ihm zeigt, daß er, solange er
auf seiner Behauptung besteht, sich selbst die Erkenntnis des-
jenigen Tatbestandes verbietet, durch den Feststellungen der von
ihm einzig als wissenschaftlich anerkannten Art überhaupt erst
möglich werden. Denn jene innere Einstellung des Subjekts, welche
Voraussetzung aller naturwissenschaftlichen Feststellungen ist, jener
Willensakt, der zu der korrelativen Reduktion auf der Subjekt-
und Objektseite führt, er kann seinerseits natürlich nicht wieder
Gegenstand einer eben solchen „Feststellung" werden, kann nicht
durch die Methodik des Denkens, die er selbst hervorbringt, nach
rückwärts hin erklärt werden. Selbst wenn für das menschliche
Denken von allen Betätigungen des Geistes nur diejenige Interesse
hätte, die naturwissenschaftliche Erkenntnisse hervorbringt, selbst
dann müßte es sich entschließen, wenigstens an dieser Stelle eine
Denkmethodik von nicht naturwissenschaftlicher Art anzuwenden,
mithin als wissenschaftlich anzuerkennen. Es würde sogar noch
einen Schritt weiter gehen und sich dazu verstehen müssen, neben
der feststellenden auch die technische und zu ihrer Erklärung
weiterhin auch die zwecksetzende Betätigung in den Kreis
seiner Betrachtung zu ziehen, denn es würde sich erweisen, daß
Die Methodik des pädagogischen Denkens. 49
die Herausbildung einer feststellenden Funktion nicht rein aus
sich, sondern unter dem Druck der lebendigen Bedürfnisse erfolgt
ist, die sich in der zwecksetzenden Funktion zur Bewußtheit
klären und in der technischen Funktion ihre Befriedigung suchen.
Und es würde sich schließlich bei alledem zeigen, daß jede dieser
Einzelbetätigungen samt den sie hervortreibenden Motiven schließ-
lich doch nur aus dem Ganzen der Persönlichkeit heraus erfaßt,
gedeutet, verstanden werden kann. Damit wäre dann schließlich
auch einer Denkmethodik, die sich nicht nur auf die Person in
ihrer feststellenden Funktion, sondern in der Ganzheit ihrer Be-
tätigungen, in ihrer vollentfalteten Totalität richtet, das Daseins-
recht im Reiche der Wissenschaft erstritten, gleichzeitig aber auch
erwiesen, daß diese Denkmethodik sich von derjenigen, die sich
die Feststellung von Beschaffenheiten und Verhaltungsweisen der
„äußeren" Natur zum Ziele setzt, grundsätzlich unterscheiden muß,,
weil ihr Gegenstand jenseits der Scheidungen liegt, die das Gegen-
über von Außen und Innen und damit die Möglichkeit einer Me-
thodik des Feststellens bedingen. Niemals kann die Persönlichkeit
erfaßt werden, wenn man sie in ein bloßes „Gegenüber" gebannt,
zu einem „Äußeren" hat werden lassen; kann doch jenes Gegen-
über nur durch ein Verhalten erzeugt werden, das auf der Subjekt-
seite die Gesamtpersönlichkeit hinter einer Einzelfunktion zurück-
treten läßt, auf der Objektseite jede „Ganzheit" durch Reduktion
auf das Berechenbare zerstört, eben damit aber auch jede über
den Gegensatz von Subjekt und Objekt übergreifende Verbunden-
heit austilgt. In alledem liegen die Dinge für das Denken, das
das Ganze der Persönlichkeit zu erfassen trachtet, genau entgegen-
gesetzt: sein Objekt ist nicht ein durch Abstraktion auf das Be-
rechenbare Zusammengeschrumpftes, sondern lebendige Ganzheit
in allen ihren Wirkensrichtungen und Selbstoffenbarungen ; es findet
zu ihr, eben als zu einem Ganzen, den Zugang nicht die Betätigung
einer isolierten Einzelfunktion, sondern nur die Totalbetätigung
der Persönlichkeit, die im „Verstehen" alle jene Wirkungsrich-
tungen in sich anklingen läßt; und endlich ist solcher seelischer
Widerhall nur deshalb möglich, weil und insoweit „Subjekt" und
„Objekt" nicht in gewollter Scheidung einander gegenüberstehen,
vielmehr als Glieder einem und demselben Wirkungszusammenhang,
derselben übergreifenden Kulturtotalität eingeordnet, in Wahrheit
also garnicht Subjekt und Objekt in dem Sinne sind, wie die „fest-
stellbare" Natur und ihr Erforscher. So begreiflich also bei der
Kantstudien XXVI. 4
50 Theodor Litt,
Außenweltrichtung unseres Denkens die Neigung sein mag, das
Erkenntnisideal, dem die Naturwissenschaften nachstreben, als das
einzig gültige zu proklamieren, sie stellt uns in Wahrheit yor die
Alternative, entweder die Welt des seelisch-geistigen Lebens für
unzugänglich jedem wissenschaftlichen Bemühen zu erklären, damit
aber u. a. auch die auf naturwissenschaftliche Erkenntnis gerichtete
Betätigung des Geistes zu einem unfaßlichen Mysterium werden
zu lassen, oder aber diese Welt solchen Methoden zu unterwerfen,
die sie nicht zu bemeistern tauglich sind.
Wie wir sehen, erweist sich das Problem der pädagogischen
Methodik als ein Spezialfall der geisteswissenschaftlichen Methodik
überhaupt. Und zwar spitzt sich dieses Problem im Bereich der päda-
gogischen Fragestellung in einer ebenso eigentümlichen wie lehr-
reichen Weise zu, seine inneren Schwierigkeiten treten hier besonders
eindrucksvoll hervor. Der Grund dieser Erscheinung ist, wenn ich
recht sehe, dieser. Die Pädagogik ist unter den Geisteswissenschaften
diejenige, deren Objekt in ausgesprochenstem Sinne der „inneren"
Sphäre angehört. Natürlich sind alle Geisteswissenschaften auf
diese Sphäre gerichtet, aber ihre Untersuchungen nehmen doch ihren
Ausgang, finden immer einen gegenständlichen Halt und sachliche
Umgrenzung an den Taten, Werken, Objektivationen, die in ihrer
beharrenden Gegebenheit den Sondergehalt der einzelnen Geistes-
wissenschaften deutlich, bestimmen. Durch diese relativ „äußer-
liche" Festgelegtheit haben sie alle in gewissem Maße und ge-
wissem Sinne etwas an sich von der Art von Objektivität, die
den Feststellungen der naturwissenschaftlichen Forschung eignet.
Einzig Pädagogik entbehrt jedes sachlichen Anhalts solcher Art,
weil ihr „Werk" ja letzten Grundes in jener inneren Welt als
solcher liegt, geformtes Seelentum ist. Sicherlich sind auch für
sie alle jene Objektivationen des Kulturprozesses nichts weniger
als gleichgültig, aber nicht eine bestimmte Klasse von ihnen, son-
dern sie alle insgesamt, und sie alle nicht etwa an sich, um ihres
Sachgehalts willen, sondern in ihrer Bezogenheit auf das über
alle sachlichen Scheidungen hinweggreifende Lebensganze der sich
entfaltenden Kultur, dem sie dient. Sie zieht von allen Sachge-
bieten her gleichsam Strahlen in das Zentrum hinein, innerhalb
dessen alle sachlichen Bestimmtheiten sich in einen universalen
Werdeprozeß hinein verflüssigen. Eben dieses Fehlen fester Grenz-
linien war auch bestimmend für den Gang, den unsere Untersu-
chung genommen hat. Statt ganz unmittelbar auf die Bestimmung
Die Methodik des pädagogischen Denkens. 51
des pädagogischen Denkens loszugehen, hatten wir die verschie-
denen Bilder zu prüfen, deren Sprache und Denken sich bedienen,
um das in sich Unfaßliche in den Kreis des Vorstellbaren hinein-
zuziehen. Indem wir dann von allen diesen Vergleichen dasjenige
abstreiften, was das Gesuchte zu verfälschen geeignet war, näherten
wir uns von verschiedenen Seiten her indirekt dem, was rein an
sich für den Begriff nie erreichbar ist.
So erklärt es sich, daß Pädagogik in der Tat die objektiv am
wenigsten festgelegte, die unexakteste unter den Greistes Wissen-
schaften ist. Deshalb ist aber auch gerade sie durch den Versuch,
das Ideal naturwissenschaftlich-exakter Feststellungsmethoden den
Geisteswissenschaften aufzudrängen, so sehr bedroht wie keine
andere. Ist ihr Bestand und ihre Fortentwicklung in Frage gestellt
auf der einen Seite durch das Ansinnen, sich einer Methodik von
naturwissenschaftlicher Art unterwerfen zu lassen — und ihre Be-
handlung als „angewandte Wissenschaft" kommt auf diese For-
derung hinaus — auf der anderen Seite durch die Lehre, sie sei
überhaupt keine Wissenschaft, so ist dies nichts anderes als die
oben formulierte Alternative, vor die man die Geisteswissenschaften
überhaupt zu stellen liebt, hier in größter Entschiedenheit ausge-
sprochen, weil die Pädagogik die methodische Sonderart der Geistes-
wissenschaften mit schroffster Einseitigkeit ans Licht stellt. Daß
sie dies tut, das hat seinen tiefsten Grund darin, daß in ihr als
der Theorie eines Handelns die mehr als theoretischen Inter-
essen, die auf dieser Seite des globus intellectualis in Wahrheit
die herrschenden sind, sich zu größter Klarheit herausarbeiten.
Genau so, wie die „Feststellungen" des naturwissenschaftlichen
Denkens nach ihrer Entstehungsweise und ihrem Recht uns dann
am kenntlichsten werden, wenn das Licht des technologischen Den-
kens auf sie fällt, so werden uns die tiefsten Motive des „Schauens",
das höchste Leistung der Geisteswissenschaften ist, erst dann offen-
bar, wenn wir es zu dem gestaltenden Willen der Pädagogik
in Beziehung setzen.
4*
Politik und Idealismus.
Von Hermann Herrigel.
Die Fragestellung, von der die folgende Abhandlung ausgeht :
„Ist idealistische Politik möglich?" ist angeregt durch Natorps
neues Buch „ Sozialidealismus " . Sozialidealismus bedeutet die Frucht-
barmachung des Idealismus für das soziale Leben. Der Inhalt
des Buches ist zugleich politisch, pädagogisch und philosophisch,
denn es erstrebt eine Erneuerung der ganzen politischen Gestal-
tung des Volkes durch soziale Erziehung und gründet die soziale
Erziehung auf einen radikal durchgeführten Idealismus. Natorp
entwirft das Bild einer nicht politisch, d. h. von oben her, son-
dern genossenschaftlich, d. h. von unten her aufgebauten sozialen
Gemeinschaft, deren Bestand allein auf der freiwilligen Leistung
aller Einzelnen für das Ganze beruht. Die Menschen dazu vor-
zubereiten ist die Aufgabe der sozialen Erziehung. Erziehen darf
aber nicht heißen, den Menschen zu einem bestimmten, vorgesetzten
Ziele hinzuziehen, ihm bestimmte Wahrheiten und Gesinnungen
beizubringen, sondern ihn gerade umgekehrt aus aller Bestimmt-
heit durch endliche Dinge (der heutigen Politik und Wirtschaft)
zurückzuziehen, ihn zum eigenen Selbst, zum Ursprung, der vor
aller Bestimmtheit liegt und aus dem erst alle Bestimmtheit fließt,
zu führen. Erziehung soll „nur Hinweis sein, das Gesuchte bei
sich selber zu suchen, es aus den Tiefen der Selbstbesinnung zu
schöpfen". Ihr Ziel ist, die Masse aufzulösen und „das Volk von
Genies" zu verwirklichen, so daß die Individualkräfte sich nicht
mehr gegenseitig binden, nicht mehr „ihren Druck auf den Punkt
des Aufeinanderpralls richten", sondern zum freien Auswirken
kommen und „einem bleibenden Friedenszustand gemeinsam be-
wußt zustreben". Diese idealistische Grundlegung der Erziehung
ist aber von Natorp nicht bloß als eine rückwärtsschauende Theorie
gedacht, die sich selber genügt, sondern sie soll verwirklicht
werden, sie soll den vorwärtsweisenden Plan abgeben für den
Hermann Herrigel, Politik und Idealismus. 53
neuen politischen „ Aufbau der Menschengemeinschaft in Wirtschaft,
Staat und Erziehung". Damit erst ist der Sinn des Sozialidea-
lismus erfüllt. Natorp sagt in der Einleitung seines Buches:
„Ein gesunder Idealismus darf nicht in die Weiten lebensferner
„„Ideen"" Jiinausschweifen, er muß mitten im Leben, im härtesten
Leben der ringenden Menschheit heimisch werden. Idealismus . . .
bedeutet das kühne Wagnis radikaler Umkehr und Erneuerung
aus innerstem Lebensquell". Ist aber der Idealismus überhaupt
einer solchen Anwendung auf die Praxis fähig? Kann das Ideal-
bild des genossenschaftlichen Staates, wie es sich aus der Durch-
dringung des Sozialismus mit dem idealistischen Grundsatz der
Autonomie des Geistes ergibt, verwirklicht werden, oder schließt
es nicht Voraussetzungen ein, die seine Verwirklichung unmöglich
machen? Die Erörterung dieser Fragen, die sich auf das Ver-
hältnis der drei Elemente des Buches zueinander beziehen, ist von
um so größerer Bedeutung, weil sie selbstverständlich Scheinendes
in Angriff nehmen.
Die Besonderheit des Transzendental-Idealismus, um den es
sich hier nur handelt, liegt darin, daß er die Einheit nicht mehr
wie das Mittelalter als höchste, über der Wirklichkeit stehende
und sie umfassende Realität denkt, sondern als der Wirklickkeit
zugrunde liegend, und daß ihm die Einheit nicht mehr gegeben,
sondern problematisch geworden und ins Unendliche gerückt ist.
Dieser Idealismus, der das Denken der letzten Jahrhunderte be-
herrscht, geht hervor aus der nominalistischen Wendung des Uni-
versalienstreites und steckt schon in der Formel „universalia post
rem". Die substanzielle Einheit der mittelalterlichen Welt ist
zerbrochen, der Mensch entdeckt zugleich in ganz neuer Weise
die Fülle der Diesseitigkeit, der Wirklichkeit: damit ist schon
das neue Problem der gesetzmäßigen Einheit der Wirklichkeit
gestellt. Damit aber, daß die Einheit überhaupt problematisch
wird, ist sie ins Unendliche gerückt. Sie ist nicht mehr die uni-
versale Hülle, die die ganze Welt zusammenhält, und in der alle
Einzelheiten, auch der Mensch selber ihren planmäßigen, festen,
in der göttlichen Weltordnung vorgesehenen Ort haben, sondern
sie wird nun selber immanent und im Innern des Menschen ge-
sucht. Denn der Unendlichkeit gegenüber erwacht im Menschen
das mystische Selbstbewußtsein des Individualismus, das seinen
ersten Ausdruck bei Eckehart gefunden hat. Durch dieses Subjekt
der „intensiven Unendlichkeit", das in den folgenden Jahrhun-
54 Hermann Herrigel,
derten des neuen Idealismus alle philosophischen Probleme auf
sich gezogen hat, hängen der Idealismus und der Individualismus
innerlich aufs engste zusammen. Der Individualismus ist die Form,
in der der Idealismus aktiv und praktisch wird. Zunächst freilich
ist der idealistische Grundsatz, daß die Wirklichkeit nicht ein
regelloses Chaos sei, sondern daß ihr eine Gesetzmäßigkeit zu-
grunde liege, kein praktischer, sondern ein Postulat des Denkens,
einer reflektierenden Einstellung auf die Wirklichkeit. Dieser
reflektierende Idealismus ist „Kritik", das heißt „hinaus über das
bloße Verstehen der Sache, das Verstehen dieses Verstehens selbst
aus seinen eigenen tiefsten Gründen, den Gesetzen des Logos" ;
da er dem Gebiete des Verstehens, nicht des Bildens und Handelns
angehört, geht sein Weg vom Verstandenen, d. h. der Wirklich-
keit, zu den Vernunftgesetzen des Verstehens. Diese sind ent-
weder konstitutiv wie die Kategorien, oder regulativ wie die
Ideen, aber nicht praktisch im Sinne einer zu verwirklichenden
Aufgabe. Auch die „Kritik der praktischen Vernunft" hat es
weder mit der Frage praktischer Ziele, noch auch der Verwirk-
lichung eines Idealzustandes (der „Glückseligkeit") zu tun, sondern
„lediglich mit der Vernunftbedingung (conditio sine qua non) der
letzteren, nicht mit einem Erwerbmittel derselben". Von diesem
Idealismus aus, der nur eine Erkenntnis der Vernunftbedingungen,
d. h. der transzendentalen Prinzipien ist, bedarf es einer völligen
Umkehrung, um ihn zum Prinzip praktischer Aufgaben zu machen.
Diese Umkehrung war aber unausbleiblich und notwendig, wollte
der Idealismus nicht eine weltflüchtige Theorie bleiben, und sie
wurde auch tatsächlich schon von der Reformation vollzogen. Sie
macht die transzendentalen Vernunft bedingungen zu den Prin-
zipien der ethischen Haltung des Individuums und stellt die
Forderung auf, sie psychisch zu verwirklichen. Diese Herein-
ziehung der transzendentalen Prinzipien in das psychologisch-
empirische Subjekt ist aber das Hauptstück der individualistischen
Subj ektauif assung.
Der eigentliche Sinn des Individualismus ist die Einheit des
Transzendentalen und des Psychologischen. Sie bedeutet, daß die
Form, d. h. das Vernunftgemäße im weitesten Sinne, unmittelbare
Funktion des Lebens selber ist, so daß also alle Gesetzlichkeit
schon in der niedersten Einheit des Lebens, im Augenblick, liegt.
Das Gesetz besitzt kein selbständiges Eigendasein, sondern ist nur
in dem Augenblick selber da, in welchem es sich auch inhaltlich
Politik und Idealismus. 55
differenziert. Damit ist zwischen der Materie des Gesetzes und
der Form der Gesetzlichkeit jeder Unterschied (der die kantische
Ethik völlig beherrscht) aufgehoben, denn das Gesetz ist nichts
mehr außer der reinen Funktion des Lebens. Das bedeutet aber,
daß alle Gesetzlichkeit überhaupt formaler Natur sein muß, und
damit ist es grundsätzlich ausgeschlossen, daß dem Individuum
irgend eine inhaltbestimmte Forderung von außen her gegenüber-
tritt. Die Inhaltsbestimmtheit der formalen Gesetzlichkeit fließt
vielmehr aus dem Leben selber und kann daher niemals im Wider-
spruch stehen zum Gewissen. Der Individualismus leugnet also
keineswegs eine Gesetzlichkeit überhaupt, er erhebt nicht den
Anspruch auf Freiheit im Sinne unbeschränkter subjektiver Will-
kür, sondern er leugnet nur den Gegensatz zwischen der Gesetz-
lichkeit und der Lebenstotalität, zwischen einem allgemeinen
Gesetz und dem individuellen Lebenslauf. Die individualistische
Freiheit verlangt nur Raum für die ungehemmte Entfaltung der
dem Individuum als solchem zugehörigen und sein Wesen aus-
machenden Gesetzmäßigkeit, des „individuellen Gesetzes". Diese
Forderung ist aber nur die logische Folgerung aus dem formalen
d. h. inhaltsleeren Charakter des individuellen Gesetzes. Denn
wenn es inhaltlich irgendwie vorbestimmt wäre, und wenn damit
seine unendliche Auswirkungsmöglichkeit an irgend einer Stelle
eine grundsätzliche Grenze hätte, so würde das ein allgemeines,
jenseits des Individuums bestehendes, transzendentes Gesetz vor-
aussetzen, so daß das individuelle Gesetz in Wahrheit kein Gesetz,
sondern nur ein Satz des transzendenten Gesetzes wäre. Indivi-
dualismus bedeutet also, daß das individuelle Gesetz das einzige
Gesetz überhaupt ist, d. h. daß alle überhaupt mögliche Gesetz-
mäßigkeit dem Individuum immanent, somit transzendental, nicht
transzendent ist. Nur so kann die Wirklichkeit eine freie
Schöpfung des Individuums sein. Die Umkehrung des eben ge-
nannten Satzes besagt ferner, daß das Individuum seinem Wesen
nach reine Gesetzmäßigkeit ist, d. h. alle seine Lebensäußerungen
notwendige Funktionen des individuellen Gesetzes sind. Das ist
der Ausdruck der vollen Identität des transzendentalen und des
psychologischen Subjekts. Auch das liegt im Begriff des indivi-
duellen Gesetzes selber schon, denn wenn keine überindividuelle
allgemeine Gesetzmäßigkeit vorhanden ist, ist gar kein Kriterium
denkbar, nach welchem ein Widerspruch zwischen dem individuellen
Gesetz und dem individuellen Lebensablauf aufgefunden und er-
56 Hermann Herrigel,
kannt werden könnte. Diesem Urteil liegt daher immer der Fehler
zugrunde, daß das individuelle Gesetz zum über individuellen ver-
allgemeinert wird. Es sind also letzten Endes zwei Sätze, die
das Wesen des Individualismus, der Einheit von Individuum und
Gesetzlichkeit, ausmachen: Das Individuum ist reine Gesetzlich-
keit, und: Alle Gesetzlichkeit ist individuell.
Der geschichtliche Ursprung dieser Theorie des Individualismus
ist in dem Geniebegriff Kants zu suchen. „Genie ist die angebo-
rene Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst
die Regel gibt". Die Kunst setzt Regeln voraus, aber da es kein
Begriff, keine allgemeine Regel sein kann, „so muß die Natur
im Subjekte (und durch die Stimmung der Vermögen desselben)
der Kunst die Regel geben, d. i. die schöne Kunst ist nur als
Produkt des Genies möglich". Hier kommt also zur bestimmenden
und reflektierenden Urteilskraft ein Drittes hinzu, das überhaupt
nicht Urteilskraft, sondern schöpferische Kraft ist, denn die Kunst
ist das Gebiet, in dem der Gegensatz zwischen dem Besonderen
und Allgemeinen, der Freiheit und Notwendigkeit aufgehoben ist.
Das Genie, die Einheit des transzendentalen und des psychologi-
schen Subjekts, hat aber bei Kant nur hier seine Stelle. Er
kennt kein wissenschaftliches Genie und — was hier vor allem in
Betracht kommt — er ist weit entfernt, dem Menschen für das
Gebiet des praktischen Handelns, der Verwirklichung, moralisches
Genie zuzuschreiben. „Die völlige Angemessenheit des Willens
zum moralischen Gesetze ist Heiligkeit, eine Vollkommenheit, deren
kein vernünftiges Wesen der Sinnen weit, in keinem Zeitpunkt
seines Daseins, fähig ist. — Die sittliche Stufe, worauf der Mensch
(aller unserer Einsicht nach auch jedes vernünftige Geschöpf) steht,
ist Achtung fürs moralische Gesetz. Ein moralischer Zustand,
darin er jedesmal sein kann, ist Tugend, d. i. moralische Gesinnung
im Kampfe, nicht Heiligkeit im vermeinten Besitze einer völligen
Reinigkeit der Gesinnungen des Willens". Da die Nachfolger
Kants diese Einschränkung des Geniebegriffs fallen ließen, ist,
wie Cassirer sagt, „Kants Lehre vom Genie der historische Aus-
gangspunkt für alle jene romantisch-spekulativen Fortbildungen
des Geniebegriffs geworden, in denen der produktiven ästhetischen
Einbildungskraft eine schlechthin weit- und wirklichkeitserzeugende
Bedeutung zugeschrieben wurde".
Das trifft den Kern des praktischen Idealismus, der vom In-
dividuum aus die Verwirklichung der Autonomie des Geistes und
Politik und Idealismus. 57
die geistige Durchdringung des praktischen Lebens erwartet.
Dieser individualistische Geist unserer Zeit findet seinen Ausdruck
weniger theoretisch in den direkt ausgesprochenen Zielsetzungen
und Programmen, als methodisch darin, daß er dem ganzen Denken
und Wollen zugrunde liegt. Denn unser ganzes geistiges Leben
kennt in seiner vollkommenen Desorganisation und nach dem Ver-
lust jeglicher Autorität als den einzigen sicheren Grund nur noch
das Erlebnis und es weiß keinen andern Ausweg aus seinen Nöten
als die „Unmittelbarkeit" und „Sachlichkeit" des Erlebens, die indi-
viduelle Wahrhaftigkeit, die reine Selbsttätigkeit, die volle Be-
freiung der Kräfte des Individuums. Die Jugendbewegung und
alles was damit zusammenhängt, überhaupt alle jene Reform- und
Erneuerungsbestrebungen, die vor allem auf einen neuen Aufbau
der Gemeinschaft gerichtet sind, sind im Grunde individualistisch
und, so verschieden sie übrigens unter sich in Weg und Ziel sein
mögen, sie sind alle darin einig, daß nur aus dem Individuum
d. h. „aus innerstem Lebensquell" eine Erneuerung des Lebens
und der Gemeinschaft möglich sei. Sie kommen von dem indivi-
dualistischen Postulat nicht los, obwohl ihr Ziel über den Indivi-
dualismus hinausgesteckt ist ; denn Gremeinschaft bedeutet Bindung
des Individuums. Ihnen schwebt aber eine Gemeinschaft vor, die
ganz auf „innerer Wahrhaftigkeit" beruhen, also nie als starre
Form in Gegensatz zum flüssigen Erlebnis treten, sondern in
jedem Augenblick vom freien Willen des Einzelnen getragen sein
soll. Daher sind sie auch nicht über die Gründung unzähliger
sektenhafter Bünde hinausgekommen, denn die Sekte ist die eigent-
liche Form der individualistischen Gemeinschaft. Dieser Indivi-
dualismus beherrscht in pazifistischen und revolutionären Pro-
grammen, in den proudhonistisch-anarchistischen Genossenschafts -
idealen, im Rätegedanken, in dem Schlagwort des „Aufbaus von
unten" selbst die Politik. Ja man darf wohl allgemein sagen,
daß soweit die Bürgerlichen und „Geistigen" überhaupt ein posi-
tives Verhältnis zur Revolution gefunden haben, der Grund ihrer
revolutionären Gesinnung in einem individualistisch aufgefaßten
Idealismus zu suchen ist. Wie tief unser ganzes Leben in allen
Gebieten methodisch von den individualistischen Grundgedanken
durchdrungen ist, könnte nur ein vollständiger Überblick zeigen.
Es sei nur noch hingewiesen auf den analytischen Psychologismus,
der die vorherrschende Denkmethode, nicht nur der heutigen
Philosophie, sondern auch der Geschichtschreibung und Biographie,
58 Hermann Herrigel,
auch in der Literatur und Kunst ist und der nur darin seinen
Grund und Sinn hat, daß er auf der unausgesprochenen Voraus-
setzung beruht, daß die Erlebnisse nicht bloß empirisch-psycho-
logische Tatsachen sind, sondern daß in ihnen die Gesetzlichkeit
des Geistes unmittelbar sich auswirkt und erkennbar wird.
Der großen Bedeutung gegenüber, die der Individualismus
daher heute gerade auch für die praktischen Fragen besitzt, ist
es notwendig, einmal grundsätzlich die Frage aufzuwerfen nach
seiner Leistungsfähigkeit für die Verwirklichung idealistischer
Forderungen, das heißt nach seinen Grenzen. Unter der idealisti-
schen Forderung soll hier nicht bloß die Verwirklichung eines
reinen Idealzustandes verstanden werden, sondern jede Zielsetzung,
die irgendwie auf eine, wenn auch nur teil- und schrittweise,
„Verbesserung" des Bestehenden ausgeht. Verbesserung bedeutet
immer die Überwindung einer sachlichen oder persönlichen Ge-
gensätzlichkeit, die Herstellung eines Friedenszustandes, einer
„Einheit", ob es sich um den Arbeitsfrieden oder um Schulreform
oder um den Aufbau der Familie handelt. Wie das alles sein
müßte, wissen wir sehr genau; an Programmen und Theorien
fehlt es uns wahrlich nicht. Der Individualismus erwartet die
Erfüllung dieser Forderungen immer vom freien Willen des Ein-
zelnen. Zu den politischen Mitteln der Organisation „von oben
her" hat er (und die Erfahrung gibt ihm darin Recht) alles Zu-
trauen verloren und so hält er grundsätzlich nur das für gesichert,
was unmittelbar lebendig ist und auf der Einsicht und dem Ver-
antwortungsgefühl aller Einzelnen beruht. Er hält eine Ordnung
des ganzen Lebens nicht nur für erstrebenswert, sondern auch für
möglich, die niemals zur Form erstarrt, sondern in der Gesinnung
dauernd lebendig bleibt, und glaubt, daß nur auf diese Weise
Forderungen geistiger Natur sich in die Wirklichkeit umsetzen
lassen. Unsere Frage ist nun nicht darauf gerichtet, aus welchen
er fahrungs mäßigen, psychologischen Gründen diese Forderungen
in der Wirklichkeit noch nicht erfüllt worden sind, sondern ob
dieses Zurückbleiben nur ein empirisches, durch zufällige geschicht-
liche Gründe bedingtes ist oder ob die Erfüllung der idealistischen
Forderung aus wesentlichen Gründen unmöglich ist. Wir be-
gnügen uns nicht mit dem Gemeinspruch: „Das mag in der
Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis" ; wir dürfen
nicht dem Glauben nur einen Unglauben gegenüberstellen, sondern
es handelt sich für uns darum, aus dem Wesen des Individualismus
Politik und Idealismus. 59
die grundsätzliche, theoretische Grenze seines möglichen Bereiches
in der Praxis einzusehen. Da alle idealistischen Forderungen als
Einheitsforderungen auf die Verwirklichung der Herrschaft des
Geistes hinzielen, wird zu fragen sein, ob die Autonomie des
Geistes nur durch die wirkliche, psychologische Autonomie des
Individuums möglich ist, oder ob die Verwirklichung nicht ge-
rade umgekehrt die Überwindung des Individualismus voraussetzt.
Da die letzte idealistische Einheitsforderung in der Praxis der
Aufbau der menschlichen Gemeinschaft ist, so fällt unsere Frage
zusammen mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen Indivi-
duum und Gemeinschaft. Bedeutet Autonomie des Geistes im
praktischen Leben den Primat des Individuums (wie der idealisti-
sche Individualismus will) oder den Primat der Gemeinschaft?
Mit dieser Problemstellung kehren wir zum Sozialidealismus
Natorps zurück. Daraus ergibt sich nun die anfangs zurück-
gestellte Frage nach dem Verhältnis des philosophischen Gehaltes
des Buches zu seinem politisch-pädagogischen. Der innere Zu-
sammenhang zwischen Idealismus und Individualismus in dem ge-
nossenschaftlichen Staat ist nach den letzten Ausführungen ganz
klar, denn die Voraussetzung und Forderung der Freiwilligkeit
der Individuen im Dienste der Gesamtheit ist die unmittelbare
Folgerung aus dem idealistischen Grundsatz, daß alles Äußere von
innen her begründet sein muß. Der individualistische Charakter
dieses Gemeinwesens liegt aber nicht allein darin, daß es sich
organisch von den Individuen her aufbaut, sondern die innere
Struktur des ganzen Gemeinwesens entspricht vollkommen den
beiden Sätzen, die die Analyse des Individualismus ergab: Die
absolute Freiwilligkeit besagt, daß die einzelnen Glieder reine
Gesetzlichkeit sind, und das Fehlen einer mit Zwangsgewalt aus-
gestatteten selbständigen politischen Zentrale, daß alle Gesetz-
lichkeit bei den einzelnen Gliedern liegt. In sich ist das Ideal-
bild, das Natorp entwirft, von vollkommener innerer Folgerichtig-
keit und Geschlossenheit, aber was vermag ein solches Idealbild
für die praktische Politik zu bedeuten? „Jede ernsthafte Theorie
muß heute den Weg zur Praxis finden, sonst hat sie verspielt".
Der eigentliche Sinn dieses Buches ist auch die Verwirklichung
des Ideales, seine Umsetzung in die Praxis. Wir dürfen daher
nicht innerhalb des ideellen Kreises stehen bleiben, sondern müssen
nach der Möglichkeit seiner Verwirklichung fragen: Ist es grund-
sätzlich möglich, den Friedenszustand des genossenschaftlichen
60 Hermann Herrigel,
Staates durch rein erzieherische Mittel, das heißt durch „ Wollen
machen", durch die Befreiung des individuellen Willens, durch
seine „Rücklenkung auf den reinen Grund-willen", herbeizuführen
oder nur (wenn auch nicht ausschließlich) durch politische Zwangs-
mittel? Diese Frage nach dem Verhältnis von Erziehung und
Politik ist die Grundfrage des praktischen Idealismus einerseits
und der Politik andererseits.
Die ideelle Möglichkeit des genossenschaftlichen Staates hat
ihren tiefsten Grund in dem Glauben an eine absolute Harmonie
aller Gegensätze. In dieser Einheit, die hinter jeder Gegensätz-
lichkeit steht, findet nicht allein der Gegensatz zwischen einzelnen
Individuen und Individuum und Gesamtheit, sondern auch der
zwischen Theorie und Praxis überhaupt seine Lösung, so daß
durch sie die praktische Verwirklichung nicht bloß möglich, son-
dern gefordert wird. Der absoluten Einheit des Geistes ent-
spricht auf der Subjektseite die reine geistige Aktivität der
Individuität. Sie ist das Subjekt der Freiwilligkeit, die die Ge-
nossenschaft zu einem Organismus von geistigen, gleichgerichteten
Kräften macht und den Kampf von aktiven und Trägheitskräften,
von Geist und Ungeist ausschließt. Allein ihre volle Auflösung
findet die Gegensätzlichkeit erst in der absoluten Einheit der
dritten Stufe des Dreischrittes, in welchem der Geist von der
potentiellen Unendlichkeit der Null über die Gegensätzlichkeit
aufsteigt zur erfüllten und absoluten Unendlichkeit. Die Konti-
nuität dieses Weges hat aber einen Bruch, denn der Übergang
von der zweiten Stufe zur dritten muß erkauft werden um den
Verlust der endlichen Bestimmtheit d. h. der Inhaltlichkeit des
Gegensatzes. Es ist schließlich nicht mehr der Gegensatz zwischen
konkreten Gliedern mit seinem besondern, einmaligen Inhalt, der
in der absoluten Einheit aufgehoben ist, sondern die letzte, nur
noch formale Gegensätzlichkeit zwischen (reist und Ungeist über-
haupt. Was kann also diese Lösung in der Leerheit des Formalen
für die konkreten Gegensätze des praktischen Lebens anderes be-
deuten, als nur das Postulat, daß alle Gegensätzlichkeit im abso-
luten Unendlichen ein Ende finden muß, da doch beim Übergang
von der zweiten zur dritten Stufe, von der Gegensätzlichkeit
zur Einheit, gerade diejenigen^ Strukturelemente der zweiten
Stufe, die die Gegensätzlichkeit ausmachen, verschwinden! Die
absolute Einheit kann also jedenfalls für die Praxis nicht die
Bedeutung einer Regel haben, nach der im einzelnen Fall ver-
Politik und Idealismus. 61
fahren werden kann. Noch deutlicher wird dieser Sprung zwischen
den Stufen auf der Subjektseite. Die absolute Einheit der Gegen-
sätze liegt jenseits des Endlichen, das Reich des Endlichen aber
ist als das der Gegensätzlichkeit definiert. Das Subjekt der Ein-
heit und der Gegensätzlichkeit ist .daher nicht identisch. Das
Subjekt des Stufengangs ist, wie Natorp ausdrücklich sagt, „nicht
das bloß gedachte universale (Kants „ „transzendentales" ") Subjekt;
dieses hat bloß methodische, nicht reale Bedeutung. Der ganze
beschriebene Stufengang hätte gar keinen Sinn im reinen An-sich
des All-lebens; aber dieses ist ja, für das wirkliche Bewußtsein,
nur die obere, ideale Grenze. — Also gilt der Stufengang nur
im Zwischenreich, der (das? d. V.) allein überhaupt eine Entwick-
lung, wie des Gehalts, so der Ichbeziehung kennt. — Reales Be-
wußtsein ist also nur zu denken als Gegenverhältnis wenigstens
„eines (nicht bloß idealen) Ich und eines (nicht bloß idealen) Du".
Damit ist der Unterschied zwischen dem transzendentalen und
dem psychologischen Subjekt ganz klar gezogen und es ist damit
zugestanden, daß die Einheit nicht für das reale, psychologische,
sondern nur für das ideale Subjekt gilt. Die Individuität ist nur
transzendentales Subjekt der reinen Einheit, der „Genossenschaft",
allgemein der dritten Stufe und darf nicht in die reale Welt der
zweiten Stufe hereingezogen werden, wie es mit dem psychologi-
schen Begriff der Freiwilligkeit geschieht. Das psychologische
empirische Subjekt ist aus dem Bereich der absoluten Einheit
ebenso ausgeschlossen wie aus dem Bezirk der „Heiligkeit". Die
Einheit gehört ihm nur als seine „obere, ideale Grenze" zu, als
seine unendliche Aufgabe, der es sich wohl nähern, die es aber
nie verwirklichen kann. Da der Mensch also zwar immer Gegen-
sätze überwinden, aber nicht aus der Gegensätzlichkeit überhaupt
heraustreten kann, ist dieses „nie" keine empirische, sondern eine
wesentliche Grenzbestimmung. Das psychologische Subjekt ist
nicht reine geistige Aktivität und reine Gesetzlichkeit, wie der
Individualismus fordert, sondern das der Einheit in ihm Wider-
strebende, das seine Mangelhaftigkeit, seinen „Fragmentcharakter"
ausmacht, gehört mit zu seinem unverlierbaren Wesen.
Der Individualismus macht aber den Fehler, daß er sich über
diesen Gegensatz zwischen dem transzendentalen Subjekt seiner
idealen Forderungen und dem psychologischen Subjekt hinweg-
setzt. Paul Ernst nennt das zutreffend die „idealistische Gewalt-
tat". Der Grund dieses Fehlers liegt schon im Ursprung des
62 Hermann Herrigel,
Individualismus selber, denn das Transzendentale wird schon durch
die Rückwendung auf die Praxis umgedeutet zur psychologischen
Aktivität, d. h. zur Freiwilligkeit und „Gesinnung". Der Indi-
vidualismus ist also letzten Endes ein umgekehrter Psychologis-
mus, denn während dieser psychologische Vorgänge zu transzen-
dentalen Prinzipien macht, macht jener transzendentale Prinzipien
zu psychologischen Fähigkeiten. Diese Unklarheit bleibt ihm
immer anhaften; sie tritt deutlich zutage im Lebensbegriff Sim-
meis, der zwischen einem metaphysischen und einem vitalen Sinne
schwankt. Einmal sagt er: „Wie es einen weitesten Begriff des
Guten gibt, der Gutes und Böses in deren relativem Sinne ein-
schließt, einen weitesten Begriff des Schönen, der den Gegensatz
von Schönem und Häßlichem in sich befaßt, so ist das Leben in
dem absoluten Sinne etwas, was sich selbst im relativen Sinne
und seinen Gegensatz, zu dem es und der zu ihm eben relativ ist,
einschließt, oder sich zu ihnen als seinen empirischen Phänomenen
auseinanderfaltet". Und an anderer Stelle: „Darum ist jeder
Lebensaugenblick, jedes Sich -Verhalten und Handeln das ganze
Leben; dieses ist nicht eine Totalität für sich, der das einzelne
Handeln in ideeller Abgetrenntheit gegenüberstünde ". Dieser
inneren Schwierigkeit des Individualismus ist auch Natorp nicht
entgangen, wenn er die Verwirklichung seines Planes fordert und
doch das reale Subjekt als das wesentlich gegensätzliche bestimmt,
oder wenn er seinen politisch gedachten Plan an anderer Stelle
nur als regulative Idee verstanden wissen will: „Andererseits
wäre es ein glattes, leicht zu berichtigendes Verkennen jedenfalls
des von uns vertretenen, „„kritischen"" Rationalismus, wenn die
von ihm angestrebte Begründung im allgemeinen Gesetze der Idee
als Konstruktion aus einem allgemeinen Ideal der Vernunft, das
heißt konstitutiv („„transzendent"") und nicht lediglich im Sinne
der regulativen Methodik der Idee („„transzendental"") gedeutet
würde".
Die reine, formale und inhaltleere Idee, die im Unendlichen
liegt, kann für den Menschen, seinem „moralischen Zustande"
gemäß, nicht praktische Aufgabe der Verwirklichung sein, sondern
nur der transzendentale, konstitutive oder regulative, Grund seiner
Wirklichkeit. Wird die praktisch- sittliche Aufgabe des Menschen
ins Unendliche gerückt, so wird damit ein Subjekt gefordert und
vorausgesetzt, das reine Gesetzlichkeit ist, da nur die reine Ge-
setzlichkeit ins Unendliche vorzudringen vermag. Der Mensch
Politik und Idealismus. 63
aber vermag nur endliche Aufgaben zu verwirklichen. Damit ist
nicht der Idealismus, sondern nur der idealistische Individualismus
abgelehnt und das Problem des Finitismus gestellt. Vielleicht
hat auch Kant dem Menschen noch zu viel zugestanden, wenn er
ihm die Achtung vor dem formalen Sittengesetz als seine Tugend
zuwies; denn damit ist die inhaltliche Bestimmung des formalen
Sollens, auf die alles ankommt, dem individuellen Gewissen jedes
Einzelnen überlassen. Um das Sollen immer richtig zu deuten,
d. h. die praktischen Gegensätze zur Einheit führen zu können,
ist von ihm nicht allein die in jedem Augenblick verwirklichte
volle Einheit von Sein und Sollen, sondern auch eine unausge-
setzte, nie ermüdende Gewissenswachheit verlangt. Damit ist
dem Menschen eine Verantwortung für das Unendliche aufgeladen,
der der empirische Mensch nicht gewachsen ist.
Das letzte Ergebnis läßt sich auch ganz kurz und einfach so
ausdrücken, daß das individualistische Subjekt wohl Forderung,
aber nicht Voraussetzung sein kann, während der Idealismus beides
vertauscht und unbesehen seine transzendentale Voraussetzung
zur Forderung, seine Forderung zur psychologischen Voraussetzung
macht ; und zwar zur Voraussetzung der Verwirklichung von Auf-
gaben, die außerhalb des individualistischen Bereiches liegen. Der
transzendentale Idealismus kann ja nur vermittels des Individua-
lismus sich auf die Praxis beziehen, denn die methodische Richtung
des idealistischen Denkens: „von innen nach außen" setzt an sich
schon ein dynamisches, schöpferisches Individuum, griechisch Ato-
mon, an den Anfang. Eine rein logische Entwicklung des ato-
mistischen Gedankenganges, auf die sich auch Natorp zustimmend
bezieht, gibt Arthur Bonus in seinem Gespräch „Der Physiker;
Eine Phantasie".
Das atomistische Denken hat aber in sich eine Schranke, da
im Atom wohl eine ins Unendliche gehende Energie liegen kann,
aber kein Prinzip der Begrenzung ihrer Auswirkung, d. h. der
Zielsetzung. Die Atomtheorie erfüllt alle Ansprüche eines Den-
kens, das nur auf die Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten gerichtet
ist, aber sie versagt, wo es sich um das Konkrete, um die be-
grenzte Gestalt handelt. Es wäre denkbar, daß sie die Gesetz-
mäßigkeit der chemisch-physiologischen Vorgänge im lebendigen
Organismus vollkommen erklären könnte ; sie wird aber niemals
etwas darüber aussagen können, warum etwa zwei Pflanzen, in
denen sich dieselben Gesetzmäßigkeiten abspielen, verschiedene
64 Hermann Herrigel,
Gestalt haben. Und das gilt nicht bloß für die organische Ge-
stalt, sondern für jede Begrenzung des gesetzmäßigen Ablaufes.
Es leuchtet ohne weiteres ein, daß das Atom mit der bestimmten
Gestalt irgend eines Gegenstandes nichts zu tun hat, daß beide
grundsätzlich inkommensurabel sind und daß hier neben dem un-
endlichen Prinzip der Atomistik ein anderes Prinzip wirksam ist,
das Prinzip des Konkreten. Das alles ist nichts Neues, aber es
mußte hier daran erinnert werden, da auch in der Gemeinschaft
das Prinzip des Konkreten steckt. Die Gemeinschaft ist nicht
atomistisch-individualistisch zu verstehen ; sie ist keine Funktion
der individualistischen Energien, sondern ihre Begrenzung.
Das Prinzip des infinitesimalen Denkens, d. h. des Denkens
mit atomistisCh-unendlichen Größen ist die Ersetzung des stati-
schen endlichen Substanzbegriffes durch den dynamischen Funk-
tionsbegriff. Es liegt schon im Begriff des Unendlichen, daß die
Funktionen nur Richtungsbestimmtheiten sind und daß sie in ihrer
Richtung beharren. Das gilt auch von den individualistischen
Energien. Ihre Richtung ist gegeben durch die idealistische For-
derung, die Gegensätzlichkeit, die im Wesen des empirischen
Menschen liegt, in einer Einheit aufzulösen. Der Charakter dieser
Forderung ist also der einer unendlichen Aufgabe. Das bedeutet,
daß die beiden Grund-Sätze des Individualismus, die wir fanden,
niemals zur psychologischen Voraussetzung werden können, weil
die in ihnen enthaltene Forderung unerfüllbar ist. Sie müssen
also, wenn sie auf das psychologische Subjekt übertragen werden,
eingeschränkt werden: Der Mensch ist nicht reine Gesetzlichkeit,
das heißt: Sein und Sollen sind in seinem "Wesen keine gegebene
Einheit, sondern Gesetzlichkeit liegt in ihm nur als grundsätz-
liche Möglichkeit, Dissonanzen zu überwinden. Da ferner diese
Möglichkeit nie ganz erfüllt ist, ist auch nicht alle Gesetzlichkeit
individuell, sondern es muß eine Gesetzlichkeit vorhanden sein,
deren Bestand unabhängig vom Individuum und überindividuell
ist. Wir können dasselbe konkret ausdrücken, indem wir sagen:
Der Mensch hat die Möglichkeit, eine teilweise Harmonie seiner
inneren Gegensätze zu finden. Diese Möglichkeit ist aber erfüllt,
wenn ihm das auch nur ein einziges Mal gelingt; die Aussage
über die bloße Möglichkeit darf nicht übergehen in die empirische
oder gar apodiktische Aussage, daß alle Menschen zu einer reinen
Harmonie gelangen könnten oder müßten. Es ist wohl „ein ganz
gewisser Schluß, daß aus jedem Individuum, wäre es nur erst
Politik und Idealismus. 65
bis zum Letzten, Innersten erschlossen, die eine unendliche, gött-
liche Kraft hervorleuchten müßte", aber diese Bedingung ist un-
erfüllbar. Die grundsätzliche Möglichkeit ist eine transzendentale
Aussage, die Voraussetzung ihrer Erfüllung dagegen gehört dem
Gebiet des Empirisch-Psychologischen an. Wenn aber das indivi-
dualistische Ideal für den Menschen nur als grundsätzliche Möglich-
keit vorhanden ist, so ist es auch nur eine Angelegenheit des
Einzelmenschen, des isolierten Individuums, das sich selbst genügt
und soweit es sich selbst genügt. Zu einer überindividuellen An-
gelegenheit könnte der Individualismus nur dann werden, wenn
alle Menschen die ideale Forderung gleichmäßig erfüllen würden.
Natorp schreibt: „Der Rückgang auf den Grund der Bildung ist
zugleich auch Rückgang auf den Grund der Gemeinschaft". Nur
wenn alle Individuen zum „gemeinsamen Grund", d. h. zur In-
dividuität gelangen würden, würden sie eine Gemeinschaft bilden.
Dann wäre die psychologische Grundlage vorhanden, für den
genossenschaftlichen Aufbau der Gemeinschaft, in der alle Gegen-
sätzlichkeit durch den freiwilligen Dienst aller am Ganzen über-
wunden würde. Alle Kräfte, die jetzt im Endlichen, d. h. in der
Gegensätzlichkeit gebunden sind, werden in diesem wirklich ge-
wordenen „Volk von Genies", im „Staate der Gleichen" befreit
sein und vor der absoluten Einheit werden alle einander gleich
sein. Die „Koinzidenz von Freiheit und Gleichheit" aber bedeutet,
daß jeder „das Seine" treiben wird. Das, lehrt Plato, ist die
Gerechtigkeit. Sie ist der reine Zusammenklang der Willen, der
keiner zwangsmäßigen Mittel bedarf, sondern sich dauernd selber
erneuert. Dann wird, wie Natorp sagt, „Erziehung nichts mehr
von Zwang bedeuten, sie wird nicht mehr ein Ziehen sein zu
einem draußen gelegenen Ziel; ihre Führung wird nichts mehr
von seelischer Vergewaltigung, nichts von Suggestion einschließen,
kaum von Mentor schaft ; es wird auch nicht der Mahner von
draußen nur sein Amt übertragen auf den Mahner von innen, den
er Gewissen nennt und sich vorstellt wie einen finsteren Tyrannen,
der nur zu richten, zu strafen und in Banden zu schlagen, aber
nicht zu befreien weiß. Sondern Liebe und brüderliches Verstehen
wird alle Furcht austreiben, die echte Brüderlichkeit vor der
gleichen Not wird uns befreien zur edlen Gleichheit wechselseitiger
Hilfsbereitschaft, und in solch brüderlicher Gleichheit, gleicher
Brüderlichkeit wird ein jeder sich frei wissen von sich selbst und
vom andern; denn jeder wird den andern so frei wissen wollen,
Kantstudien XXVI 5
66 Hermann Herrigel,
wie er selbst ist, er ist ja sein Bruder ; er wird sich selbst befreit
fühlen, indem er dem andern zu seiner Freiheit hilft, denn nichts
befreit so wie Befreien des andern". Diese Gemeinschaft ist aber
die der Blumen auf dem Felde. Sie ist nicht der Friede nach
dem Krieg; sie schließt keine überwundenen Gegensätze ein, denn
es ist in ihr nichts mehr zu überwinden; das ist gewissermaßen
alles schon vorher abgemacht, so daß die Gemeinschaft selber
gänzlich konfliktlos ist. Gegensätzlichkeit ist Gegensätzlichkeit
empirischer Willenstendenzen ; fallen die Gegensätze weg, so fallen
auch die WiUen weg : so ist sie auch gänzlich willenlos. Sie ist
ein reines Nebeneinander gleichgerichteter Individuen, deren Willen
nicht auf Endliches gerichtet ist und sich daher erst im Unend-
lichen schneidet.
Kann eine solche Gemeinschaft überhaupt als Ziel und Auf-
gabe der Verwirklichung aufgesteUt werden? Diese Frage be-
zieht sich jetzt nicht mehr auf die Möglichkeit der Verwirklichung,
sondern darauf, was dieses Ziel für die praktischen, täglichen Auf-
gaben bedeuten kann. Trifft dieses Ziel ihren Kern oder geht es
daran vorbei ? Das ist die Grundfrage der Politik : Ist eine idea-
listische Politik möglich? und die Grundfrage des Idealismus: Ist
ein praktischer, politischer Idealismus möglich? Idealismus und
Politik müssen sich gegenseitig aneinander bewähren. Politik ist
die Einfriedung endlicher Gegensätzlichkeiten mit endlichen Mitteln.
Der eigentliche Sinn des genossenschaftlichen Staates der Gerech-
tigkeit ist aber der, die Politik, d. h. die Anwendung von äußeren,
ungeistigen Zwangsmitteln, auszuschalten, weil sie der Gerechtig-
keit widerspricht, und den poHtischen Frieden durch den Frieden
der Gesinnung, der Friedfertigkeit zu ersetzen. Gerechtigkeit ist
die Gleichheit aller vor dem Unendlichen. Mit politischen end-
lichen Mitteln läßt sich also der Zustand der Gerechtigkeit nicht
verwirklichen.
Allein die Gesinnungsgemeinschaft kann auch nicht als un-
endliche Aufgabe die Aufgabe der Erziehung, d. h. der Befreiung
des reinen Willens sein. Denn die Befreiung verlangt die Ab-
schaffung aller Mittel zwangsmäßiger Willensunterdrückung, die
zur Sicherung der sozialen Ordnung notwendig sind, solange das
Ideal der Gerechtigkeit noch nicht voll verwirklicht ist. Da aber
dieses Ideal als unendliche Aufgabe nie verwirklicht werden kann,
so kann auch die Politik nie vollständig durch Erziehung ersetzt
werden. Menschliche Gemeinschaft ist nur entweder durch politi-
Politik und Idealismus. 67
sehe Zwangsmittel oder durch die reine ungetrübte Freiwilligkeit
aller Glieder möglich. Es ist aber nicht möglich, auf politische
Mittel zu verzichten, solange die Gesinnungsgrundlage psycholo-
gisch nicht verwirklicht ist, da sonst ein Zwischenzustand ent-
steht; der Staat, der allen Zwang beseitigen und sich auf die
Erziehung verlassen wollte, würde rettungslos in völlige Anarchie
geraten. Also ist menschliche Gemeinschaft nicht möglich ohne
Politik. Die politische Aufgabe des genossenschaftlichen Staates
ist schon als Aufgabe falsch gestellt.
Das bis jetzt gewonnene Ergebnis ist das, daß der genossen-
schaftliche Staat des Ideal-Sozialismus, der auf politische Zwangs-
mittel verzichtet und sich organisch von unten her auf der Gresin-
nungsgrundlage der Individuen aufbaut, nicht bloß ein in weiten
Fernen liegendes, aber doch sinnvolles und mögliches Ziel ist, son-
dern daß er grundsätzlich unmöglich ist, weil er als reale psycho-
logische Grundlage die transzendentale Idee des Individualismus
voraussetzt. Das Persönlichkeitsideal des Individualismus ist eine
grundsätzliche Möglichkeit und daher Aufgabe nur für den Ein-
zelnen; da es aber von keinem einzigen, geschweige von allen
Menschen voll verwirklicht wird, ist es keine mögliche Grundlage
für den Aufbau der Gemeinschaft. Alle bisherigen Umwege des
Gedankenganges waren nur zu dem Zwecke notwendig, die Un-
möglichkeit der individualistischen Gemeinschaft nicht bloß als
Erfahrung zu behaupten, sondern theoretisch, schon in der Frage-
stellung, zu beweisen. Etwas beweisen heißt es in den Zusammen-
hang eines Ganzen einstellen. Das Ganze ist das Verhältnis des
transzendentalen und des psychologischen Subjektes ; der sprin-
gende Punkt des Beweises ist der Nachweis, daß der Individua-
lismus nur Sinn hat in Bezug auf den Einzelmenschen, daß er
für das Uberindividuelle nichts bedeutet, und daß nicht alle Ge-
setzlichkeit individuelle Gesetzlichkeit ist. Das führte dazu, —
gegenüber dem individualistischen Sozialismus unserer Zeit und
gegenüber allen aus dem Individualismus entspringenden, pazifisti-
schen Hoffnungen auf die Möglichkeit einer „Welt ohne Politik" —
die Notwendigkeit der Politik zu behaupten.
Was ist nun aber das Wesen des Politischen? Das Bereich
der Politik ist ganz allgemein das des Uberindividuellen. Zur
Politik gehören einmal die statischen Elemente der staatlichen
Ordnung überhaupt, die unbewegliche, die Individuen vergewalti-
gende Form des Staates, und weiterhin die Mittel der Aufrecht-
68 Hermann Herrigel,
erhaltung dieser Ordnung. Es ist zu beachten, daß beim politi-
schen Aufbau die statischen Elemente des beharrenden Zustandes
und die dynamischen der Zwangsausübung auseinandertreten, wäh-
rend der genossenschaftliche Aufbau in seiner Dynamik beides
vereinigt und auf die überindividuelle Statik verzichtet. Ebenso
wie theoretisch ein rein dynamisches Gemeinwesen denkbar ist,
läßt sich auch eine in sich geschlossene Theorie einer rein stati-
schen Gemeinschaft aufstellen. Der grundsätzliche Unterschied
zwischen beiden besteht darin, daß im dynamischen Gremeinwesen
das Primäre die individuellen Kräfte sind, während die formale
Struktur in sich keinen selbständigen Bestand hat, sondern sich
in jedem Augenblick verändert und nach dem jeweiligen Verhältnis
der Kräfte neu gestaltet. Dagegen beruht der Bestand des stati-
schen Systems vollständig auf der Eigengesetzlichkeit, der inneren
Konstruktion der für sich bestehenden Form, durch die den In-
dividuen ihre Stelle im Ganzen angewiesen und der Spielraum
ihres Willens bestimmt ist. Die dynamische Gemeinschaft ver-
langt also die dauernde Aktivität, die statische die Passivität der
Individuen. In jener sind die lebendigen Individualkräfte die Be-
dingung der Erhaltung, in dieser zerstörende Auflehnung gegen
die überindividuelle Form. Form ist dem Individuum gegenüber
dasjenige, worin das Individuelle aufgehoben ist, eine übergeord-
nete Einheit, innerhalb welcher die Individuen nur gleichartige
Teile sind. Über der Gesamtheit der Individuen steht ein abso-
lutes d. h. von den Individuen losgelöstes Gesetz, das jedem seine
Funktion im Ganzen vorschreibt, ebenso wie der Baumeister die
innere Dynamik von tragenden und getragenen Teilen des Bau-
werkes ordnet. Daher ist die Bedingung der Möglichkeit der
dynamischen Gemeinschaft die Freiheit der Glieder, die Bedingung
der statischen Gemeinschaft der zwingende .und die Individuen
unterdrückende Wille des Gesetzgebers. Wenn diese Bedingung
erfüllt ist, hat das statische Gemeinwesen in sich dieselbe Sicher-
heit wie die dynamische Gemeinschaft der freien Individualkräfte.
Aber diese Bedingung ist empirisch ebenso unmöglich wie der
Individualismus und die Übertragung dieser Theorie auf die Wirk-
lichkeit macht denselben Fehler des Übertritts aus der transzen-
dentalen Sphäre in die psychologische wie der Sozialidealismus.
Es steht mit dem gegensätzlichen Wesen des Menschen im selben
Widerspruch, ihn zur reinen Passivität zu unterdrücken wie reine
Aktivität von ihm zu fordern. Die falsche Voraussetzung des
Politik und Idealismus. 69
Sozialidealismus ist nicht nur die, daß der Mensch gut, sondern
daß er nur gut ist, die des Sozialmechanismus dagegen, daß er
nur böse ist. Die Theorie des Sozialmechanismus sollte indessen
nur die politischen Kräfte in ihrer Reinheit zeigen. Im genossen-
schaftlichen Staat, in der reinen Demokratie, die auf der gleichen
Aktivität aller Bürger beruht, ist jeder Bürger in gleicher Weise
politisches Subjekt. Damit fällt der politische Gegensatz zwischen
der Zentralbehörde als der Trägerin der Macht und den Einzelnen,
die dem Druck der Macht ausgesetzt sind, weg; die Überwindung
dieses Gegensatzes zwischen Machtsubjekt und Machtobjekt ist das
letzte Ziel der pazifistischen Bestrebungen der Abschaffung der
Politik. Umgekehrt ist im mechanischen Staat, der auf der Passi-
vität seiner Glieder beruht, und die gesamte politische Aktivität
in einem Gegenpunkt vereinigt, der Gegensatz zwischen der Obrig-
keit und den Untertanen aufs schärfste ausgebildet. Das innere
Problem der Demokratie ist es, den stets vorhandenen Rest von
Passivität durch Erziehung auszugleichen, das des Obrigkeitstaates
dagegen, die Aktivität zu bekämpfen. Hier kommen daher die
spezifisch politischen Mittel zu ihrer reinsten Ausbildung. Der
Kampf zweier entgegengesetzter Kräfte ist der eigentliche Ort
der Politik. Politik ist daher ihrem Wesen nach Machtpolitik.
Politik ist ungeistig, sie kennt nur physisch- vitale Kräfte und nur
mechanische Mittel ihrer Führung und Bewältigung. Erziehung
dagegen ist Menschenführung mit geistigen Mitteln.
Es ist ausdrücklich zu bemerken, (um auch etwa nur mögliche
Mißverständnisse von vornherein abzuwehren), daß es sich hier nur
um grundsätzliche Erkenntnisse handelt und daß damit keineswegs
ein machtpolitisches Ideal vertreten werden soll. Damit würde
derselbe theoretische Fehler gemacht, um dessen Widerlegung diese
Ausführungen bemüht sind. Sie sind in doppelter Weise gegen
die Verquickung von Politik und Idealismus gerichtet, sowohl
gegen die Realpolitiker, die das Recht durch die Machtverhältnisse
bestimmen wollen, als auch gegen die idealistischen Politiker, die
sich durch ihre Forderungen den Blick für die realen Voraus-
setzungen trüben lassen.
Das letzthin Entscheidende ist vielmehr das, daß weder das
genossenschaftlich-demokratisch-föderalistische, noch das zentralisti-
sche Staatsideal politisch möglich ist. Dabei , handelt es sich aber
nicht mehr bloß um die Unmöglichkeit der praktischen Verwirk-
lichung eines Zieles, das seinem Wesen nach unendliche Aufgabe
70 Hermann Herrigel,
ist, sondern nm eine falsche Stellung des politischen Grund-
problems. Politik fassen wir hier so weit, daß ihre eigentliche
Aufgabe ganz allgemein die Verwirklichung der menschlichen
Gemeinschaft ist, gleichviel um welche Gemeinschaft es sich dabei
handelt, um die Ehe, um den Verein, um die Kirche oder um den
Staat. Verwirklichung ist ihrem Wesen nach eine endliche Auf-
gabe ; unendliche Möglichkeiten reichen aber praktisch nicht aus
für eine endliche Aufgabe, sie erfordert vielmehr ein eigenes
Prinzip, das die unendlichen, d. h. ins Unendliche strebenden
Kräfte zusammenschließt und begrenzt. Das politische Problem
ist daher das des Finitismus. Der Idealismus stellt die Frage
nach der absoluten Einheit aller Gegensätzlichkeit, nach der Ein-
heit „überhaupt". Jede Frage nach einem Überhaupt ist aber nur
eine methodische, keine des Ziels. Die absolute Einheit ist als
unendliche ein problematisches Postulat, das nur im Transzenden-
talen „wirklich" ist. Sie ist selber nicht zu verwirklichen, son-
dern ist nur die transzendentale Bedingung aller verwirklichten
Einheiten des Endlichen. Die politische Einheit muß aber ver-
wirklicht werden und sie kann nur eine begrenzte und begren-
zende Einheit endlicher psychologischer und nicht transzendentaler
Subjekte, d. h. reiner Individuen sein. Als solche hat sie aber
eine andere innere Struktur als die absolute Einheit, denn sie
hebt die Gegensätzlichkeit nicht völlig auf, sondern vereinigt
Gegensätze in sich, die als solche voll erhalten bleiben. Damit
ist das politische Problem der G-emeinschaft gegeben. Der Sozial-
idealismus geht daran vorbei, weil er es schon als gelöst voraus-
setzt. Dieses Problem ist kein methodisches, sondern ein inhalt-
liches ; keines der „Grund-richtung" des Willens, sondern der
Willenseinschränkung und -bestimmung durch ein vorher gegebenes
und feststehendes Ziel. Es muß die realen Gegensätze der psy-
chologischen "Willenstendenzen, aktiver und passiver Kräfte, in
ihrer vollen Schärfe anerkennen, um sie in einer friedlichen Ein-
heit zu versöhnen, nein nur zusammenzuhalten. Reale Gegensätze
können an sich nur gegeneinander kämpfen, sie vermögen aber
auf keine "Weise ihre Einheit aus sich zu erzeugen. Die politische
Gemeinschaftsbildung besteht darin, sie auf einen konkreten Punkt
zu vereinigen ; nicht aber wie der Sozialidealismus will, sie gleich-
zurichten, so daß sie in vollkommener Parallelität jeden Angriffs-
punkt verlieren. Menschliche Gemeinschaft ist nur möglich in
einer endlichen, unabhängig vom Willen der Individuen bestehenden
Politik und Idealismus. 71
Gemeinschaftsform. Das ist eine unabweisliche Folgerung unserer
Ausführungen, durch die alle individualistischen Gemeinschafts-
theorien endgültig widerlegt sein sollten.
Damit ist die allgemeine politische Aufgabe gewonnen, aber
es bleibt noch die Frage, wie die Gemeinschaftsform beschaffen
sein muß. Auch dafür gilt, daß nicht eine absolute Einheit schon
vorausgesetzt und auf Grund der Voraussetzung gefordert werden
darf, sondern daß die reale innere Struktur der Aufgabe die Lö-
sung bestimmen muß. Unter „Struktur" ist die besondere Art
der zu bewältigenden Gegensätzlichkeit zu verstehen, doch ohne
ihren jeweiligen psychologischen Inhalt. Die Gemeinschaftsform
darf weder eine allgemeine Eiuheitsform sein, die die Struktur
unberücksichtigt läßt, noch darf sie die bloße Funktion der empi-
rischen Willenstendenzen sein. Wie der Begriff der Struktur
zwischen dem Transzendentalen und dem Psychologischen, zwischen
der reinen Form und der Lebensbewegtheit des Augenblicks liegt,
so ist die konkrete politische Aufgabe, das rechte Verhältnis zu
finden für die Formelemente und die empirischen Kräfte. Form
allein macht keine Gemeinschaft aus, weil ihr die Füllung fehlt;
die psychologischen Kräfte sind aus sich unfähig, eine Gemein-
schaft zu bilden, weil sie sich nicht begrenzen können, und weil
sie, jede für sich, nicht die gemeinsame Form finden können. Die
Form braucht für ihren Bestand den Gemeinschaftswillen, die
Willenstendenzen brauchen für ihre Befriedung die Gemeinschafts-
form. Die Form ist das passive, der Wille das aktive Element
der Gemeinschaft. Vor der Form sind alle gleich, in ihrem Willen
sind alle frei: die Gemeinschaft ist nicht die Koinzidenz von
Freiheit und Gleichheit, sondern ihre gegenseitige Erfüllung und
Begrenzung. Die politische Aufgabe ist daher das richtige Ver-
hältnis von Freiheit und Gleichheit.
Da die politische Problemstellung hier grundsätzlich von der
realen Struktur der Aufgabe abhängig gemacht worden ist, so
könnte es scheinen, daß damit die Möglichkeit der Verwirklichung
„idealistischer" Ziele in der Politik überhaupt bestritten und somit
eine rein realistische Politik gefordert sei. Das ist aber nicht
der Fall. Realistisch ist eine Politik dann, wenn ihre Zielsetzung
ausschließlich durch die psychologisch-empirischen Inhalte bestimmt
ist, während hier nur gefordert wurde, daß die psychologischen
Kräfte als solche, ohne ihren Inhalt, in die politische Aufgaben-
stellung eingesetzt werden. Andererseits ist der Idealismus nur
72 Hermann Herrigel,
soweit abgelehnt worden, als transzendentale Bedingungen in
psychologische Forderungen und Voraussetzungen, und damit psy-
chologische Kräfte in idealistische umgedeutet wurden, wie es
im Sozial-Idealismus geschieht. Der Individualismus erwies sich
als unfähig, idealistische Ziele politisch zu verwirklichen, weil er
seinem Wesen nach nur ein persönliches Vollkommenheitsideal
darstellt, und, da dieses nicht- von allen gleichmäßig erreicht
werden kann, ideale Ziele nicht über das Individuum hinaus
zur Geltung zu bringen vermag. Die Möglichkeit der Verwirk-
lichung idealistischer Forderungen im politischen System liegt
daher nicht im Individuum, sondern in der Gemeinschaftsform.
Erziehung und Politik sind an sich nur Methoden der Menschen-
führung, mit denen noch kein Ziel gegeben ist. Die individua-
listische Erziehung lehnt ein von vornherein feststehendes Ziel
überhaupt ab und sieht ihre Aufgabe darin, das psychologi-
sche Subjekt aus seiner Gegensätzlichkeit zum transzendentalen
Quellpunkt des Geistes, zur Individuität zurückzuführen, da alle
geistigen Ziele potentiell in der Individuität angelegt sind und
nur erschlossen werden müssen. Allein selbst wenn das psycho-
logische Subjekt zum transzendentalen sublimiert werden könnte,
wäre damit noch nicht die Möglichkeit der Verwirklichung des
Geistigen gegeben, da Verwirklichung Gestaltung, d. h. Begren-
zung, Verendlichung bedeutet. Das ist nur möglich in einer über-
individuellen Gemeinschaftsform, die die individuellen Energien
nicht völlig unterdrückt, sondern sie nur auf ein gemeinsames
Ziel vereinigt. Die Gemeinschaft ist indessen an sich noch kein
geistiges Ziel. Denn wenn die Gemeinschaftsform Selbstzweck
ist wie im „weltlichen Staat", dann ist der Staat nur eine Or-
ganisation seiner vitalen Einzelkräfte zu einem einheitlichen
Machtsubjekt und seine Politik ist notwendigerweise reine Macht-
politik. Daran ändert es nichts, wenn der Staat, wie Treitschke
gegenüber Macchiavelli fordert, seine Macht verwendet „für die
höchsten Güter der Menschheit", denn geistige Politik in diesem
Sinne gibt es nicht ; sie ist nach innen Mechanisierung, nach außen
Individualismus. Die einzige Möglichkeit der politischen Verwirk-
lichung idealer Aufgaben ist vielmehr die, daß die Gemeinschafts-
form selber die Idee in sich aufnimmt, so daß die auf die Er-
haltung der Form gerichteten Kräfte durch sie hindurch und
durch ihre Vermittlung auf die ideale Aufgabe gerichtet werden.
Das führt nun zum Letzten: Die Gemeinschaftsform muß, um
Politik und Idealismus. 73
nicht nur ein mechanisches System zu sein, einen geistigen Inhalt
haben. Das heißt, sie muß „Autorität" sein. Autorität läßt sich
nicht mit Gewalt einsetzen und mit politischen Mitteln erhalten;
Autorität steht aber auch ihrem Wesen nach über den indivi-
duellen psychologischen Subjekten; sie ist nicht eine Funktion
ihres Gemein willens, sondern die Einzel willen schließen sich zum
Gemeinwillen zusammen, indem sie ihr dienen. Nur die Autorität
ist gemeinschaftbildend. 4
Zur Psychologie der Weltanschauungen1).
Von Jona» Colin.
Das Werk von Jaspers bietet der nachprüfenden Betrachtung
eine Mehrheit von Ansichten. Es enthält im Kerne ein Haupt-
stück verstehender Psychologie, eine nachfühlende Schilderung der
Weltanschauungen als des Ausdrucks und der Lebensformen be-
stimmter geistiger Typen. Aber mit dieser mehr deskriptiven
Aufgabe begnügt sich Jaspers nicht; er geht von den offen lie-
genden Weltanschauungen zurück auf die sich in ihnen auswir-
kenden Kräfte, die er mit bemerkenswerter Fortbildung kantischer
Lehren „Ideen" nennt, und auf das unfaßbare „Leben", das alles
trägt und erzeugt. Als kritischer Denker erstrebt er dann Ver-
ständnis seines eigenen Tuns ; daher enthält das Buch Beiträge zu
der Analyse des Verstehens, das die Methode seines Forschens
bildet, und der Dialektik, mit deren Hilfe seine Darstellung sich
des „Lebens" zu bemächtigen sucht. Dieses Bemühen um Erkenntnis
und Einordnung seiner Arbeit beschränkt sich aber, wie billig,
nicht auf den Weg, sondern wendet sich auch den Zielen zu. Er
bemüht sich, seine Aufgabe als wertfreie Betrachtung der Welt-
anschauungen abzugrenzen gegen die „prophetische" Philosophie,
die Weltanschauung geben will, und ihr im Ganzen der Psycho-
logie und zum Granzen der Philosophie ihre Stelle anzuweisen. Je
nach der Seite, von der aus man das Werk ansieht, verschiebt sich
die relative Wichtigkeit der Teile; man gerät in Gefahr, Wesent-
liches zu übersehen und die Bedeutung des Werkes ungenügend
zu würdigen. Daher seien im Folgenden die vier genannten An-
sichten nacheinander vorgeführt.
Die leitende Idee des Buches ist die eines geordneten Systems,
1) Jaspers, Karl, Psychologie der Weltanschauungen. Berlin, Julius
Springer, 1919, XII u. 428 S. Die Besprechung wurde geschrieben, ehe Hein-
rich Rickert's Abhandlung: Psychologie der Weltanschauungen und Philosophie
der Werte (Logos IX, 1, 1920) und dessen Buch: Philosophie des Lebens, Tü-
bingen 1920 erschienen war. Es war daher leider nicht möglich, diese Arbeiten
zu berücksichtigen.
Jonas Cohn, Zur Psychologie der Weltanschauungen. 75
eines „Kosmos der Weltanschauungen" (22). Eine Aufgabe, die
sich schon Dilthey stellte, wird in umfassenderer Art zu lösen ge-
sucht. Unter „ Weltanschauung u versteht dabei J. kein nur contem-
platives Verhalten, sie ist vielmehr das Ganze aus Wissen, Wer-
tungen, Impulsen, in dem sich „das Letzte und das Totale des
Menschen sowohl subjektiv als Erlebnis und Kraft und Gesinnung
wie objektiv als gegenständlich gestaltete Welt" darstellt (1).
Eine Weltanschauung kann nun dem Menschen selbstverständlich
gegeben sein, er kann schlicht in ihr leben, wie das in gebundenen
Zeiten und Kulturen die Regel ist. Von diesem Auftreten der
Weltanschauungen, das nur sozialpsychologisch, nicht individual-
psychologisch zu begreifen ist, will J. nicht reden. Erst wo die
überlieferten Bindungen, Beschränkungen, Heimaten (alles was J.
„Gehäuse" nennt) sich auflösen, tritt das Leben ein, das Gegen-
stand einer Weltanschauungspsychologie des Individuums sein kann
(248). Dabei zeigt sich das Leben, die „Idee" der Weltanschauung,
nur in wenigen Fällen ganz ursprünglich, stark, echt; um jede
dieser „substantiellen" Weltanschauungen als Zentrum gruppieren
sich verwandte aber verkümmerte Gestalten (27). Zu ihnen ge-
hören die „unechten" Formen. Das Unechte ist „nicht Un Wirklich-
keit aber Wirkungslosigkeit, nicht Lüge aber gleichsam organische
Verlogenheit" \32). Schwindet die lebendige Einheit von Form
und Gehalt, so entstehen „formalisierte" Gestalten, in der Kunst
z. B. die Artistik. Den differenzierten Formen stehen vorbereitend
oder begleitend undifferenzierte zur Seite. Endlich kann an Stelle
der lebendigen Weltanschauung die bloße Formel gesetzt werden,
der Fanatiker behauptet starr sein Credo. J. geht überall von
den echten, lebendigen, differenzierten Gestalten aus, sucht dann
von ihnen aus die Prozesse der Verkümmerung zu verstehen.
Als Leitfaden in der Mannigfaltigkeit der Weltanschauungen
und als Einteilungsprinzip dient das Urphänomen der Subjekt-Ob-
jekt-Spaltung (22). Subjekt, Objekt und die Beziehung zwischen
ihnen sind aber nicht feste Gebilde, sondern nehmen sehr verschie-
dene Gestalten und Bedeutungen an, die in einander übergehen
oder sich gegen einander abgrenzen. Von der Subjektseite her
gesehen sind die Weltanschauungen „Einstellungen", von der Objekt-
seite her „Weltbilder". Aber das sind bloß Elemente — in das
Zentrum gelangt man erst mit der Betrachtung der „Geistestypen"
„die umfassend Weltbilder und Einstellungen in sich schließen, die
nicht unmittelbar zu vergegenwärtigen sind, wie alle jene Elemente,
76 Jonas Cohn,
sondern vielmehr nnr als Bewegnngsprozesse, als Totalitäten, denen
eine treibende Kraft zu Grunde liegt" (39). Die Darstellung
dieser Grundlagen, das allgemeine Schema, ist der Gegenstand
dieses Buches. Eine vollständige Psychologie der Weltanschauungen
würde außerdem noch zwei Teile umfassen ; der zweite Teil müßte
diese Kategorien in die einzelnen Gebiete verfolgen, in die Werk-
sphäre (z. B. : Wissenschaft, Metaphysik, Kunst, Religion), in die
Persönlichkeitssphäre (z.B.: das Ethische, der Lebenstil, die Ge-
schlechtsliebe), in die Sozialsphäre (z. B.: das Politische). Der
dritte Teil endlich, der konkreteste würde auf Grund der in den
beiden ersten gewonnenen Begriffe die einzelnen Persönlichkeiten,
Völker, Zeitalter, Zustände analysieren. Bier hätte Systematik
keinen Sinn, Monographien müßten an ihre Stelle treten (40).
Bei der Einteilung der Einstellungen wie der Weltbilder wird
in einer an Schelling'sche Schemata gemahnenden Art von neuem
der Gegensatz von Subjekt und Objekt verwendet. Diesen Gegen-
satz vereinigt dann eine dritte Form in eigentümlicher Weise. So
entstehen gegenständliche, selbstreflektierte und enthusiastische
Einstellungen, sinnlich-räumliche, seelisch-kulturelle und metaphy-
sische Weltbilder. Die dritte Form sucht dabei stets die zwei
ersten zu vereinigen, kann das aber nicht in einermfestem Gebilde,
sondern nur in lebendiger Bewegung leisten ; dieseT>ynamik führt
notwendig zu den Geistestypen als Ganzen, in denen sich die
lebendigen Kräfte oder „Ideen" offenbaren.
Der begrenzte Raum dieser Zeitschrift zwingt mich, die
Analyse auf die Geistestypen zu beschränken. Zu ihrem Ver-
ständnis aber ist es nötig, sich über die Wertungen begrifflich
zu orientieren. „In den Wertungen, die die Kräfte des Lebens
sind, ist etwas Letztes gegeben. Warum jemand werten solle, ist
auf keine Weise etwa objektiv zu begründen. Der Mensch tut es,
sofern er lebt; er kann sich seine Wertungen klären, sie formu-
lieren, objektivieren, aber erst müssen sie da sein und erfahren
werden" (190). Am Werte unterscheidet J. (191) den „Wertträger"
und den „Wertakzent". Der Wertakzent hat gegensätzlichen Cha-
rakter, tritt als Forderung an das Subjekt heran und gewinnt
mannigfaltige Gestalten je nach dem Organ, an das er sich wendet,
(Gefühl, Urteil, Wille) sowie nach seinem eigenen qualitativen
Charakter (Lust, gesund, schön, richtig u. s. f.). Infolge dieser
Verschiedenheit der Wertakzente und infolge der realen Eigen-
schaften der Wertträger entstehen Kollisionen der Werte, deren
Zur Psychologie der Weltanschauungen. 77
Entscheidungen sich in Rangordnungen der Werte objektivieren (192).
In den Wert-Kollisionen, aber nicht nur in ihnen, erscheint das
Leben ebenso als Wertvernichtung wie als Wertschöpfung. Diese
Wertvernichtung wird in unzähligen Situationen erfahren, die als
einzelne zufällig sein mögen, doch aber ihrer Gattung nach mit
dem Menschsein notwendig verknüpft sind. Sie treten an den
Grenzen unseres Daseins auf, darum nennt J. sie Grenz Situa-
tionen (202). Ihnen gegenüber verzweifelt der Mensch, falls er
nicht — wie durchaus die Regel ist — irgendwo seinen Halt hat.
Welches dieser Halt ist, das ist der charakteristische Ausdruck
der in dem Menschen lebendigen Kräfte. Daß die Grenzsituationen,
obzwar im einzelnen Fall vielleicht überwindlich, doch notwendig
wiederkehren, darin zeigt sich die „ antinomische Struktur"
der Welt (203). „Reale Gegensätze sind Antinomien, wenn sie als
etwas Letztes aufgefaßt werden, das vom Standpunkt des Wertens
aus als wesentlich und fragwürdig erscheint, und wenn die Exi-
stenz als im Letzten in Gegensätze entzweit gefaßt wird, so daß
alles einzelne Dasein nur dann besteht, wenn diese gegensätz-
lichen Kräfte oder Erscheinungen sich zusammenfinden" (205). Diese
Antinomien sind „völlig evidente Realitäten, in denen wir leib-
haftig existieren". Sie setzen das Erkennen, dessen Grenze sie
bilden, zugleich in Bewegung. Dagegen ist es der Tod des Er-
kennens, wenn man fertig formulierte Antinomien als Erkenntnis
ansieht. Das Erkennen lebt nur in konkretem Fortschreiten und
erfährt die Antinomien nur in diesem Fortschreiten (209). Die
Antinomien können den Menschen zerstören, sie können von ihm
umgangen werden („er drückt sich um sie herum") oder er kann
in ihnen Kraft gewinnen, sein Einheitswille kann eine Synthese
erreichen. Aber : „Die Synthese der Antinomien existiert nur als
lebendiger Akt, unendlich und rätselhaft für den Lebendigen und
unendlich auch für die Analyse, die der Betrachtende daran ver-
sucht. Die Synthese ist bloße Spielerei, wenn sie intellektuell in
Formeln geschieht" (213).
Alle Grenzsituationen werden als Leiden erlebt. Der Re-
flexion bleibt die antinomische Struktur, somit das Leiden, das
Letzte, während das Positive, die Lust, dem aktiven Leben zuge-
hört, nur durch Appell an das Leben erreichbar ist (219). Auf
das Leiden reagiert der Mensch im einzelnen entweder so, daß er
es als vermeidbar, oder so, daß er es als endgültig auffaßt. Das
erste geschieht, wenn er dem Leiden ausweicht oder sich durch
78 Jonas Colin,
endliches, technisches Tun aus dem Leiden hinausreißt oder es be-
kämpft in der (im einzelnen Falle oft berechtigten, im Ganzen un-
möglichen) Hoffnung es besiegen zu können, oder endlich indem
er es in ein Gutes umformt, sei es im Ressentiment, dem die eigene
Unwertigkeit als das Höhere erscheint, sei es in der Rechtferti-
gung eigenen Glückes, wo das Leid anderer zur Strafe wird (221 f.)
Diesen Formen des Optimismus steht nicht nur der Pessimismus
sondern auch eine beide ablehnende Lebendigkeit gegenüber (219 f.).
Die Grenzsituationen zeigen die Lage des Menschen als antino-
misch, und dieser Tatsache entspricht der sich immer wiederholende
Prozeß seines Lebens. Er sucht gegenüber dem Zerstörenden
einen Halt, der zu einem festen „Gehäuse" wird. In ihm lebt er
selbstverständlich, bis die bewußte Erfahrung der Grenzsituationen
eine grenzenlose Dialektik der Reflexion erzeugt. Dadurch wird
das Gehäuse aufgelöst, aber: „daß der Mensch lebt und nicht zu
Grunde geht, ist daran sichtbar, daß er im Auflösungsprozeß des
alten Gehäuses gleichzeitig neue Gehäuse oder Ansätze
dazu baut" »Der Prozeß dieses Nachaußensetzens ist
das Leben selbst" (249). Wird dies gewußt, so kann der letzte
Halt im unendlichen Prozesse des Lebens selbst gesucht werden.
So entstehen drei Grundstrebungen: ein Drang „in unendlicher
Verantwortung, lebendigem Wachsen und Schaffen zu erfahren,
was das Dasein sßi, und es darin zugleich selbst mit zu gestalten",
ein Drang ins Nichts und ein Drang ins Gehäuse. Jede dieser
Strebungen ergibt, wenn sie herrscht, eine Reihe von Geistestypen,
die J. schildert unter den Titeln: Skeptizismus und Nihilismus,
der Halt im Begrenzten, der Halt im Unendlichen. Es fällt zu-
nächst auf, daß die negativen Richtungen vorangestellt werden,
während sie doch von der Auflösung der Gehäuse leben — aber
die Reihenfolge rechtfertigt sich aus der Einschränkung auf indivi-
duelle Weltanschauungen, in der J. sich seine Aufgabe stellt. Denn
solche entstehen erst, wenn der Auflösungsprozeß sich in einer
Gesellschaft verallgemeinert.
Vollständiger Nihilismus kann im Leben nicht existieren;
so lange der Mensch lebt, wird immer noch irgend etwas als positiv
festgehalten, etwa das nackte Dasein einer sinnlosen Realität vom
praktischen Materialisten, der alle Werte negiert (Wertnihilismus),
der Wert und Sinn vom Buddhisten, der die Realität als wert-
widrig verwirft (Seinsnihilismus) (252 f.). Die konkreten Gestalten
unterscheiden sich danach, ob der Mensch sich gegen den Nihilismus
Zur Psychologie der Weltanschauungen. 79
wehrt, dessen er nicht Herr werden kann, oder ob er mit dem Nihilismus
eins geworden, in ihm als in seinem Element existiert (257).
Der Halt im Gehäuse kann unmittelbar, naiv sein oder —
als Selbsterhaltung gegen den drohenden Nihilismus — willkürlich
gewählt. Auch im zweiten Falle kann der Mensch wirklich im
Gehäuse leben, ohne darüber zu reflektieren, aber er behält im In-
stinkt Angst vor der Reflexion. Die gewachsenen Gehäuse des
Naiven bilden sich um, sie sind lebendig, die gewählten des Flücht-
lings sind fertig, mechanisch, tot (270). Diese zweite Form, die
hier ja allein betrachtet wird, ist bei aller inhaltlichen Verschieden-
heit der Gehäuse, zusammengehalten durch den Rationalismus.
„Der Rationalismus ist der Geistes typus, der im Begrenzten und
Begrenzbaren, im Fixierbaren und Endlichen verharrt, der mit
dem Verstände alles faßt und darüber nichts mehr sieht" (271).
Er überwindet sich selbst, nicht durch bequemen Verzicht auf das
Begreifen, sondern indem er sich bis zum Äußersten erweitert und
dabei seine Eigenschaften und Grenzen erkennt (272). In das
echte Leben des Geistes gehen Auflösungsprozesse und Gehäuse
ein, es ist aber selbst unbeschreiblich ; denn alles Leben ist unend-
lich. Das gilt vom Leben des Leibes gegenüber jeder, auch der
kompliziertesten Maschine und ebenso vom Geiste im Gegensatze
zur bloßen Endlosigkeit chaotischen Seelenlebens und zu der End-
losigkeit oder Begrenztheit seiner einzelnen Produkte und Erschei-
nungen (289). Von solchem echten geistigen Leben können wir
nur reden, wo eine Richtung der Bewegung in die Unendlichkeit
führt. Auch die Freiheit des Geistes ist immer nur werdend,
wachsend, nie vollendet da; sie erscheint, wo ein Sinn nicht als
äußere Pflicht aufgenommen wird, sondern aus dem konkreten Ge-
halt der Seele und der bestimmten Lage aufleuchtet. „Frei sein,
heißt, aus der Totalität existieren; die Totalität aber
soll erst werden" (292). Der Prozeß des Geistes hat irratio-
nale Wendepunkte, an denen, wenn auch nach langer Vorbereitung,
Erwägung ein entscheidender Entschluß aus Instinkt oder Ein-
gebung heraus gefaßt wird (294 f.). Im Gegensatze zu* der im
Letzten immer relativen Erkenntnis tritt dabei der unbeweisbare
Glauben an den letzten Sinn in irgend einer Form auf. Auch der
Glaube in dieser tieferen Bedeutung des "Wortes gehört erst dem
Geiste an, der gegenüber den Gefahren des Negativismus und der
Verengung in erstarrten Gehäusen seinen Halt im Unendlichen
sucht. „Mit dem Glauben ist dialektischer Fluß, unendliche Pro-
80 Jonas Cohn,
blematik, Verzweiflung und Angst verbünden, weil allem Leben
des Geistes die nihilistischen Bewegungen ein Element und immer
eine Möglichkeit sind. Die Ungeistigkeit kann sich objektiv sicher
in absoluten Gehäusen fühlen. Der Geist kann in der Angst der
Bewegung nur kraft des Glaubens existieren" (298). Der Geist
„macht fortwährend die Bewegung zur Klarheit und Durchsichtig-
keit in der Subjekt- Objekt Spaltung — dieser Klarheitsdrang ist
seine Feindschaft gegen alles Dunkle, Schwärmerische, das im
Qualm der Undurchsichtigkeit sich wohl fühlt — aber er hat doch
zum Ausgangspunkt, wie zum Ende das Mystische" (305). Der
Geist wird nun zuerst betrachtet als auf dem schmalen Grate
zwischen Gegensätzen wandelnd. Auf diesem Grate erscheinen als
Synthesen die Gestalten des Geistes, die Ideen sind, der Realist,
Romantiker, Heilige (381 ff.) — von einander verschieden durch die
Art der Realität, in der sie leben. Unter den Gegensätzen sind
die wichtigsten der zwischen Chaos und Form und der zwischen
Vereinzelung und Allgemeinheit. Zwischen Chaos und verfestigter,
erstarrter Form gibt es ein Drittes. Man erkennt dies im Denken,
wenn man das Problem der Konsequenz stellt. Der Denker soll
konsequent sein, das Kompromiß ist eine Schwäche. Gehäuse
schafft nur der konsequente Denker. Aber wenn die Gehäuse sich
lösen, dann entstehen irrationalistische, fragende, erregende Philo-
sophen. Das Resultat eines solchen Umschmelzungsprozesses ist
eine antinomische Synthese. „Es ist keine formallogische Synthese,
die ein Kompromiß ist, sondern eine psychologische, die einen
neuen Ausdruck für Prinzipien findet," . . . (312). Frühere Wider-
sprüche werden nun nicht mehr erlebt, dafür aber neue ; denn die
Antinomien bleiben bestehen. Es- gibt also dreierlei: das Ver-
fahren logischer Konsequenz, das chaotische Neben- und Nachein-
ander der Widersprüche und die Umschmelzung in den Prinzipien.
Diesen drei Verhaltungsweisen entsprechen 3 Menschentypen: der
chaotische, der konsequente und der dämonische Mensch. Der Be-
griff des „Dämonischen" ist dabei so erweitert, daß auch Jesus
unter ihn fällt. Ich habe den Eindruck, daß bei der sehr fesselnden
Schilderung des Dämonischen zwei Typen nicht genug geschieden
werden: der dämonisch Getriebene, dem es nirgends Ruhe läßt,
der sich im Fortbilden aufzehrt, den seine Kraft beherrscht
(Kleist, Nietzsche) und der in tiefer Klarheit Schaffende, der
seinen Dämon beherrscht und im Weiterschreiten Qual und Glück
findet, (Lionardo, Goethe, Kant — und wenn man ihn hier nennen
Zur Psychologie der Weltanschauungen. 81
darf: Jesus). Im ersten ist tlas Errungene nur Richtung, Apho-
rismus, Ausdruck, einzeln-fragmentarisches Gebilde, im zweiten
wird es zur lebendigen Gestalt. Natürlich gibt es Übergänge, ja
vielleicht gehört jedes Genie des zweiten Typs teilweise auch dem
ersten an, sei es in den Anfängen (Goethe), sei es gegen Ende
seines Laufs (Michelangelo), wie auch die Größten der ersten Art
mit einzelnen Gebilden in die zweite hinüberreichen. Wohl kann
man mit Jaspers auch Kants Werke „riesenhafte Fragmente" (317)
nennen, aber sie sind es doch in anderem Sinne und Stile als die
Nietzsches. Das dämonische Leben soll nun in großen Philosophien
als Lehre erfaßt werden. Hegels System, das hier das entschei-
dende Beispiel bietet, scheitert, wo es mehr als Betrachtung sein will.
Denn um das Leben zu fassen, muß es das Leben abgeschlossen denken
— wird Kontemplation, verantwortungsloser Quietismus (328).
Um den Konflikt zwischen dem Individuum (dem Selbst) und
dem Allgemeinen zu verstehen und die Geistestypen, die in Kampf
und Synthese sich ausdrücken, zu kennzeichnen, werden die ver-
schiedenen Arten des Allgemeinen sorgsam unterschieden. Ich
kann hier auf diese gehaltreichen Ausführungen nur hinweisen.
Das Problem des Selbst hat Kierkegaard am tiefsten erfaßt;
seine Sätze stellt J. systematisch zusammen (370 ff.).
Alles Leben des Geistes enthält als Leben Irrationales, dem
von der Subjekt-Objekt-Spaltung noch ungeteilten Erlebnisstrome
Angehöriges. Dies Ungespaltene, das auch ganz banale Erlebnisse
umfaßt, deckt sich mit dem Mystischen im weitesten Sinne dieses
Wortes (388). In unserem Seelenleben gibt es einen Prozeß von
unklarer Gemütserfüllung zu klarer Vergegenständlichung (389),
alles vollkommen Vergegenständlichte ist uns bequemer Besitz, damit
aber auch tot und langweilig (390). Zu mystischen im engeren,
höheren Sinne werden Erlebnisse ohne Subjekt -Objekt- Spaltung
erst dadurch, daß sie der Lebensgrund sind, auf das gesamte Seelen-
leben wirken (393). Diese im engeren Sinne mystischen Erlebnisse
können nun eine dreifache Rolle spielen : 1. Drang zum Mystischen,
weil es als solches spezifische Befriedigung gibt, Mystik im engeren
Sinne ; Gefahr sich im Ausruhen abzustumpfen, in asketische Tech-
niken zu verlieren, kulturlos zu werden. 2. Drang vom Mystischen
fort, das als* Schwärmerei abgelehnt wird. Endloses Denken, Han-
deln, Schaffen in der gegenständlichen Welt. Positivismus. Gefahr,
das Mystische ganz zu verlieren. 3. Synthese beider Tendenzen:
aus dem Mystischen geht der Drang zum Gegenständlichen und
KantsUdien. IXTI. ö
82 Jonas Cohn,
kehrt immer zu neuem Mystischen zurück" . . . „Durch die Un-
endlichkeit des gegenständlichen Tuns, Denkens, Schaffens wird in
fortschreitender Spirale der Kreis immer weiter, das Mystische
immer neu, immer tiefer, als Ausgang weiterer Gegenständlichkeit
(Entfaltung der Idee)" (394). Die Ausbildung des ersten Typs zur Welt-
anschauung läßt sich an P 1 o t i n , die des dritten an K a n t darstellen.
Überblickt man den Umkreis der in dem Buche geschilderten
Gestalten, so fällt bei allem Reichtum, die große Einengung gegen-
über Hegels Phänomenologie des Geistes auf. Es fehlen ja alle
„naiven" Weltanschauungen, alle, die im „wachsenden Gehäuse"
einfach leben. Eng damit zusammen hängt eine zweite Ein-
schränkung der Aufgabe : J. verzichtet darauf, die Weltanschau-
ungen als wirkende Mächte in den Seelen derer zu verfolgen, die
sie nicht original hervorbringen. Man kann, seiner Ausdrucksweise
nahe bleibend sagen: die Weltanschauungen werden von ihm nur
soweit betrachtet, wie sie Ausdruck der Kräfte und Ideen sind,
nicht soweit sie selbst als kraftbegabte Wesen fortwirken und sich
in ihrer Wirksamkeit wandeln. Nun ist solche Beschränkung zu-
nächst einfach festzustellen ; denn jeder Autor hat das Recht
sein Thema abzugrenzen. Doch fragt sich, ob die Abgrenzung
nicht trennt, was sich nur vereint verstehen läßt. Jeder der
großen Schöpfer einer Weltanschauung steht unter dem Einfluß
älterer Gestalten ; ohne den Prozeß der Aufnahme und Umbildung
des Überkommenen zu verfolgen, kann man das Werden der Welt-
anschauungen nicht vollständig begreifen. Wenn dabei der Schöpfe-
rische überzeugt ist, in einer überlieferten Weltanschauung zu
leben (und das ist z. B. jeder, der sich als Christ fühlt), dann
bleibt auch der höchst Differenzierte (Kierkegaard z. B. oder Pascal)
noch irgendwie „naiv". Es ist daher unmöglich, den schöpferischen
Menschen ganz zu verstehen, wenn man nicht das naive Wachstum
und, was davon untrennbar ist, das Weiterwirken der Weltan-
schauungen verfolgt. J. ist zu geneigt, Originalität und Echtheit
gleich zu setzen, an anderen Stellen (343, 359) Echtheit mit Weite
und Klarheit des Blickes zu verwechseln. Aber es gibt „echte"
Jünger, denen „Treue die Person wahrt", ebenso wie es echte
Dürftigkeit gibt, die gar nicht Fülle sein will, und Undifferenziert-
heit, die sich im Unklaren, Verworrenen echt auslebt. Wenn es
auch eine Psychologie der Weltanschauungen nur auf dem Stand-
punkt des modernen, hochreflektierten Bewußtseins geben kann, so
bedeutet das doch nicht, daß dieses Bewußtsein der einzige Gegen-
Zur Psj»chologie der "Weltanschauungen. 83
•
stand einer solchen Psychologie ist. Von hier aus kann man füg-
lich auch in der überwiegenden Benutzung Nietzsches und bes.
Kierkegaards eine gewisse Einseitigkeit sehen; denn so groß
Kierkegaard als Psychologe ist, sein Gegenstand ist ausschließlich
der moderne Mensch. Im übrigen ist es keines der geringsten
Verdienste des Werkes, daß Kierkegaards psychologische Einsichten
aus dem religiösen und künstlerischen Zusammenhange gelöst und
in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung erschlossen werden.
Über die verstehend-beschreibende Psychologie der Weltan-
schauungen geht J. in seiner Ideenlehre zu einer verstehenden Er-
klärung fort. Er deutet dafür Kants Gedanken in eigenartiger
Weise und bildet sie weiter (im „Anhang"). Die Idee hat ihr Wesen
in der Totalität und Unbedingtheit. Von dem Ganzen her gewinnt
J. eine neue Ordnung der Ideen (413); denn dieses Ganze kann
entweder ein Ganzes von Erfahrungsrichtungen oder ein Ganzes
von Erfahrungsinhalten sein. So entstehen zwei Klassen von Ideen.
Der ersten, den Ganzheiten von Erfahrungsrichtungen gehören zu :
Mechanismus, Organismus und Seele. Mit der dritten dieser Ideen
hat sich Kant nicht genauer beschäftigt. J. sieht in der Idee
der Seele eine ganze Reihe von Ideen, neben Mechanismus und Or-
ganismus, die auch hier auftreten, zwei neue Formen: „die Idee
des Ganzen der erlebten und erlebbaren Phänomene oder die Idee
des Bewußtseins und vor allem die Idee des Ganzen der ver-
ständlichen Zusammenhänge, oder die Idee der Persönlichkeit"
(417). Unter den Ideen vom Ganzen des Erfahrungsinhaltes be-
handelt J. nur die des Einzeldings als einer Unendlichkeit näher.
Diese Idee läßt sich auch auf die Persönlichkeit anwenden, so daß
neben der Idee der Persönlichkeit als Erfahrungsrichtung eine
zweite Idee der einzelnen konkreten Persönlichkeit erscheint (419).
Man kann Ideen nur dadurch erfassen, daß man in ihnen lebt,
theoretische also nur im Leben des Verstandes. „Der Verstand
steht zwischen zwei Irrationalitäten, ohne die er leer ist, die aber
ohne ihn nichts sind. Er ist hingewandt auf die Breite der An-
schaulichkeit des Materialen und bewegt von den Kräften der Ideen.
Das Anschauliche geht als Irrationales über den Verstand hinaus,
aber wird von seinen Begriffen umfaßt. Die Ideen gehen über
den Verstand hinaus, indem sie seine Grenze, ihn selber umfassen ;
seine Begriffe können die Ideen nicht einfangen, sondern nur auf
sie hinzeigen" (420). Abweichend vom Kantischen Sprachgebrauch
faßt J. alles, was nicht Verstand ist, als Anschauung zusammen
6*
84 Jonas Colin, .
und unterscheidet dann eine materiale, stoffgebende Anschauung
von einer ideenhaften, Kraft und Bewegung gebenden, die nur er-
lebt, nicht erfaßt werden kann. Die Ideen haben drei, von Kant
nicht scharf getrennte Bedeutungen, eine methodologische, eine
psychologische, eine metaphysische. Von der ersten als der be-
kanntesten, braucht kaum weiter geredet zu werden. Als psy-
chische Kräfte geben die Ideen der Wissenschaft Richtung und
Tiefe. Sie sind, wie Kant ausführt, oft wirksam, ohne erkannt zu
sein. J. sagt (422): „Es ist merkwürdig, daß wir in der Wissen-
schaft volle Durchsichtigkeit und Klarheit wollen und daß doch,
wenn diese bis zum Letzten vorhanden ist, unser Interesse er-
lahmt. Wir wollen Klarheit, aber wir wollen, daß sie der teil-
weise Ausdruck einer Idee sei. Diese Idee ist in der wissenschaft-
lichen Leistung als das Dunkel vorhanden, das ebenso sehr ver-
ständnislosen Angriffen ausgesetzt wie Bedingung ihrer produktiven
Wirkung ist". Die objektive, metaphysische Bedeutung der
Ideen wird durch den negativen Aufbau der transzendentalen
Dialektik verhüllt, in Nebensatz und Anhang verwiesen. Aber
man könnte sich ebensowohl einen positiven Aufbau der Dialektik
denken, der das Negative in den Anhang bannte (425). Die lo-
gische richtunggebende (regulative) Bedeutung der Idee ist ihre
Auswirkung, nicht ihr Wesen. Zu den Ideen verhalten sich die
Weltanschauungen als Äußerungen, sie sind daher, sobald man sie
formuliert, nichts Letztes, bleiben relativ. Die Ideen „als das
Letzte, könnten als das Absolute bezeichnet werden (wenn auch
nur für den Kreis der Betrachtung), sie sind das Leben selbst, das
nie ganz und gar äußerlich, objektiv wird, wenn auch immer dahin
drängt« (25).
Die Beziehung von „Idee" und „Leben", die hier angedeutet
ist, hat J. nirgends genau bestimmt. Geht man in Richtung seiner
Gedanken weiter, so entdeckt man ein verwickeltes Netzwerk von
Beziehungen, die sich in zwei Gruppen ordnen: Leben selbst ist
für das theoretische Bewußtsein „Idee" und Idee ist Leben des
Geistes, d. h. zum Selbstbewußtsein strebendes Leben. Nimmt
man den letzten Ausdruck ernst, dann sieht man in allem Leben
(mit Schelling) die „Idee" wirksam — die Natur wird als lebendige
zur „Odyssee des Geistes". Von Schelling unterscheidet sich J.
durch seinen bewußteren Irrationalismus : es wird anerkannt, daß
eine streng begriffliche Darstellung oder gar ein logischer Beweis
hier nicht möglich ist. Aber von anderen Irrationalisten hebt sich
f
Zur Psychologie der Weltanschauungen. 85
J. dadurch ab, daß er die Notwendigkeit der Ratio, die Pflicht, so
weit möglich Klarheit ins Dunkel zu bringen, erkennt. Bei einer
ganzen Reibe von einander unabhängiger Denker finden sich heute
Ansätze zu einer ihrer selbst nicht ganz sicheren Metaphysik des
Lebens. Sie tritt bei Spengler mit der Geste der Genialität
auf, bei J., der durch Lask's und Husserl's Schule gegangen
ist, mit kritischer Scheu. Gr. Simmel, der einer Erkenntnis des
Lebens bisher vielleicht am nächsten gekommen ist, hat in seinem
Vortrag „Der Konflikt der modernen Kultur" (München und Leipzig
1918) auch die geistesgeschichtliche Erkenntnis dieser Strömung
am meisten gefördert. Man wundert sich, daß Simmel in J.'s Buche
nicht genannt wird.
Da J.'s Haltung bei aller Hinneigung zur Metaphysik kritisch
bleibt, sucht er sich über die Art und Tragweite der angewandten
Erkenntnismittel Rechenschaft zu geben und sich innerhalb der
Grenzen zu halten, die sie ihm auszufüllen erlauben, nur daß die
Grenzen des Erkennens ihm nicht Grenzen des Lebens bedeuten
und daß das Erkennen selbst, da von Ideen geleitet, einen uner-
kannten Lebensgrund in sich trägt. Mittel des Erkennens von
Weltanschauungen ist wesentlich der Prozeß, den man „verstehen"
nennt, und um dessen Aufhellung seit Dilthey die Denker be-
müht sind, trotz aller feinen Bemerkungen noch ohne vollen Er-
folg. Verstehen ist nur möglich auf Grund eigener Erfahrung.
Unsere weltanschauliche Erfahrung aber ist ein Bewegungsprozeß.
Nur weil wir und solange wir in dieser Bewegung leben, können
wir Psychologie der Weltanschauungen treiben. Ist uns alles fest
geworden, dann besteht kein Interesse mehr dafür, es sei denn als
für eine Psychologie der Täuschungen (7). Da verstehende Er-
kenntnis aus eigenem Erleben stammt, ist sie nur nacherlebbar,
nicht beweisbar (13). Die Grenzen der Geltung dieses Satzes hätte
J. finden müssen, wenn er untersucht hätte, wie sich die Einsicht
in sachliche Zusammenhänge zum Verstehen verhält. Er hätte
Anlaß dazu gehabt, da er von dem, was Max Weber einmal
„rationales Verstehen" genannt hat, vielfach Gebrauch macht, z. B.
überall da, wo er die Antinomik der menschlichen Lage, das Un-
genügende jedes festen Gehäuses heranzieht.
Häufiger als auf die Theorie des Verstehens geht J. auf die
Dialektik als auf ein Mittel der Darstellung des Lebens ein. Die
Dreiteilungen, die das Werk beherrschen, sollen nicht etwa Ent-
wicklungsreihen sein, sodaß es mit der Thesis anfinge, mit der
86 . Jonas Colin,
Synthesis ende. „Vielmehr ist es ein Herumgehen um ein Ganzes,
das erst in Gegensätzen, dann selbst ins Auge gefaßt wird. Man
könnte ebensogut sagen, das Ganze stehe am Anfang und der
Gegensatz der beiden ersten Teile entfalte sich daraus".... „Das
Greifbare liegt immer im ersten und zweiten Teil, hier liegen die
faktischen, sichtbaren Mannigfaltigkeiten, das Dritte ist das Dunkle"
(26/7). Die dialektische Folge ist eine bloße Ordnung der Begriffe,
kein System des Lebens und Daseins selbst. Die Dialektik gibt
dem Denken vor allem die „Bildung" (69), d. h. sie ist unfähig
Erkenntnisse zu schaffen, weiß aber die Zusammenhänge der Be-
griffe darzustellen und damit die Erkenntnisse für die Person
fruchtbar zu machen. Aus dieser Umgrenzung folgt J.'s Stellung-
nahme zu Hegel. Er gibt zu, Wesentliches von ihm gelernt zu
haben; aber da die Synthese dunkel bleibt, so behält die einfach
antinomische Struktur, wie Kant sie dargelegt hat, neben der syn-
thetischen Form ihr Eigenrecht. Damit hängt dann eng zusammen
die Ablehnung von Hegels These, daß Denken und Sein eines sei ;
dialektisches Denken umkreist nur die Anschaulichkeiten. Indem
Hegel die Idee in der Dialektik objektiviert, tötet er sie (326).
Wo Hegel bloße Betrachtung gibt, ist er ungemein fruchtbar, wo
er als „prophetischer" Philosoph Weltanschauung lehren will, ver-
sagt er. Seine Lehre ist nicht schöpferisch, sondern findet sich
rechtfertigend mit dem ab, was durch andere Wirklichkeit ge-
worden ist, wird „kontemplativer, verantwortungsloser Quietismus".
Darum wurde diese Philosophie vom Leben ausgestoßen.
Zwei Sätze, die sich aus J.'s Stellungnahme zur Dialektik
entwickeln lassen, sind richtig und fruchtbar: 1. das dialektische
Denken allein hat die Mittel, den Lebensprozeß des Geistes dar-
zustellen. 2. Der Formalismus der Dialektik ist ebenso wenig
wie irgend ein anderer Formalismus fähig, aus sich heraus Ein-
sichten zu erzeugen. Freilich, dieser zweite Satz, als negativer,
bedarf der positiven Ergänzung: es ist die Bedeutung sowohl der
immanenten Dialektik wie der Selbsterkenntnis der Dialektik für
das Erkennen zu entwickeln. Der erste Satz enthält dazu nur
die Anweisung. Wenn J. sagt, daß die Dialektik um das schaffende
Leben des Geistes nur herumgeht, so ist das erstlich ein bloßes
Bild, dessen Wahrheitsgehalt zu entwickeln wäre, und zweitens
erschöpft es die Bedeutung der Dialektik ganz gewiß nicht.
J. selbst hat an manchen Stellen durchaus nicht dialektisch
genug gedacht, so nimmt er z. B. die Auflösung der Gehäuse viel
Zur Psychologie der Weltanschauungen. 87
zu wörtlich — als blieben etwa nur die Materialien übrig, während
in Wahrheit gerade der Bauplan sich in umgebildeter Form erhält,
solange überhaupt noch Kontinuität des Einzellebens oder der
Kultur besteht. Ja Auflösung befreit zugleich wesentlichen Gehalt.
Jeder in einer Dialektik vorkommende Begriff ist dialektisch zu
behandeln. Eine Theorie der Dialektik hätte unter anderem das
zu erweisen und durchzuführen. Sie hätte neben der Hegel' sehen
auch andere Formen der Dialektik zu untersuchen. Auch ohne
daß eine solche Theorie vorliegt, könnte z. B. von Schleiermacher
für die Psychologie der Weltanschauungen vieles gelernt werden.
Am meisten leidet darunter, daß J. die Dialektik nur unter-
geordnet verwendet, die Selbsterkenntnis seines eigenen Tuns und
seiner Stellung in der Wissenschaft. J. behauptet immer wieder,
daß er lediglich wertungsfreie Betrachtung erstrebt. Er grenzt
seine Aufgabe, Weltanschauungen zu verstehen, bescheiden ab
gegen das Ausbilden einer Weltanschauung, das Sache der „prophe-
tischen Philosophie" ist, und er verwahrt sich mit dem ganzen
Stolze strenger, resignierter Wissenschaftlichkeit dagegen, mit den
unechten Surrogaten einer prophetischen Philosophie verwechselt
zu werden, die man heute überall herumbietet. Dem gegenüber
sind der Psychologie (auch der verstehenden) die Werte lediglich
Gegenstand. Natürlich soll das nicht bedeuten, daß der Psycho-
loge als Mensch sich des Wertens enthält — so wenig etwa der
Botaniker als Gärtner Unkraut und Gartenblume gleich behandelt.
Aber die Fälle des Botanikers und des Psychologen liegen nicht
gleich : dem Botaniker ist die Pfllanze ein gesonderter Gegenstand,
den er mit einer von jedem erlernbaren Methodik untersucht, der
verstehende Psychologe erkennt mit seinem ganzen Leben — der
Reichtum nachfühlenden Verstehens hängt von dem Reichtum des
Eigenlebens ab. J. übersieht diesen Einwand nicht, er bemerkt auch,
daß gewisse Wertungen sich schwer ausschalten lassen (z. B. S. 154).
Daß z. B. das Leben gegenüber der „Unlebendigkeit", die „echten"
Gestalten gegenüber den „unechten" durch einen positiven Wert
hervorgehoben sind, weiß J. natürlich (vgl. bes. 280). Aber J.'s
wertende Stellungnahme reicht viel weiter. Ganz deutlich strebt
er einer Weltanschauung zu, die in der vollen, gestaltenden Lebendig-
keit das Wesentliche sieht. „Es gibt zwischem dem Nihilismus
und dem Gehäuse, zwischen dem Chaos und der Form ein Leben
aus dem Ganzen und Unendlichen, das nicht kompromißlerisch,
halb und wesenlos ist" (308). Er weiß, daß die bloße Bejahung
88 Jonas Cohn,
des Lebens, des Dämonischen diese Weltanschauung noch nicht
gibt (329) — aber welchen Sinn hat diese Bejahung als den des
Willens zu einer solchen Weltanschauung? Ja an mehreren Stellen
zeigt J. das volle Bewußtsein der Bedeutung, die die Psychologie
der Weltanschauungen für die Erringung einer Weltanschauung
aus wahrhafter Anschauung des Lebendigen besitzt. So heißt es
einmal von der psychologischen Betrachtung, sie sieht in der Kraft
des Gehäusebaus Kraft des Lebens und damit das Wesentliche.
„Sie weiß, daß sie selbst leicht ein Faktor im Auflösungsprozeß
ist, d. h. aber ein notwendiger Faktor im Leben, damit es immer
wieder zur Entfaltung komme, und d. h. eine Kraft der Auflösung,
der schließlich gerade nur die unechten Gehäusefabrikate oder die
überlebten Versteinerungen und die kraftlosen, lebenslosen Menschen
anheimfallen, wie die Bakterien sich aller Leichen aber nicht der
lebendigen Leiber bemächtigen. Sie darf erkennen, daß sie zwar
ihrem Wesen nach selbst unschöpferisch ist, daß sie aber im Dienst
des wachsenden Lebens steht, dem ein Schaden durch sie zuzu-
fügen unmöglich ist" (249 f.). Aber J. will nicht sehen, daß seine
Wertung des Lebens keineswegs nur gelegentlich mitschwingt,
sondern die Gestalt seines Buches bestimmt. Ein Mensch, der
überzeugt ist, daß sei es eine bestimmte gegebene Form (z. B. die
des Katholizismus), sei es das Leben in fester Form überhaupt das
Rechte und Wahre ist, würde nie von „Gehäusen" reden, die auf-
gelöst und umgebildet werden. Wer das Leben negiert, wie
Buddha oder Schopenhauer, wird alle Erkenntnis des Lebens nur
als Mittel ansehen, sich vom Leben abzukehren. Es ist auffallend,
wie gering der Raum ist, den J. den negierenden Geisteshaltungen
widmet. Die strenge Abkehr Buddhas wird nur gestreift, die
realistische Verzweiflung Bahnsens gar nicht erwähnt. Auch die
Ausschaltung der naiven Formen gewinnt so eine andere Bedeu-
tung als die ihr Jaspers geben will: sie stehen noch diesseits des
entscheidenden Prozesses. Es könnte scheinen, dies seien nur
Mängel der Durchführung seines Planes. Aber daran wird man
irre, wenn man J. mit Hegel vergleicht. Hegel hat in seiner
Phänomenologie ausgesprochen das Ziel, die höchste Stufe des Be-
wußtseins zu erreichen auf dem Wege des Durchgangs durch die
ganze Entwicklung des Geistes. Dabei kommt jedes Entwicklung-
stadium in seiner Eigenart zu Recht ; es ist die Aufgabe des Philo-
sophen, sich ganz mit dieser Gestalt zu vereinigen, um sie aus sich
selbst heraus zu überwinden. J. will jede Gestalt nur betrachten
Zur Psychologie der Weltanschauungen. 89
— und dabei drängt er viele Gestalten ganz in den Hintergrund
zugunsten weniger, die sich als Näherungen an ein ihm selbstver-
ständliches Ziel auffassen lassen. Es zeigt sich: die unterdrückte
uneingestandene Wertung ist viel schädlicher für die Reinheit der
Betrachtung als die eingestandene. Also, könnte man folgern,
handelt es sich darum, die Wertungen, die uneingestanden bei J.
zugrunde liegen, ans Licht zu ziehen, um sie unschädlich zu machen,
dann aber die wertungsfreie Betrachtung so rein wie möglich durch-
zuführen. Man muß so folgern, wenn man J.'s Auffassung des
Wertes beibehält: daß der Wert nur ein Akzent ist, der auf die
Sache gesetzt wird (119), daß also die Sache ohne den Wert die
gleiche bleibt. Gewiß gibt es Fälle, auf die diese Beschreibung
in großer Annäherung zutrifft. Ich lege keinen Wert auf die
Schönheit der Menschen, obwohl ich diese Schönheit als solche sehe
— ich lerne es, auf den Besitz von Geld Wert zu legen, obwohl
mir Greld nach wie vor Mittel z. B. der Unabhängigkeit oder der
Macht bleibt, kein Eigenwert wird. Aber man erkennt an solchen
Beispielen, daß hinter der Schicht, in der „Wertakzente" äußerlich
aufgesetzt werden, eine andere liegt, in der die einem Verhalten,
einer Sache, einer Person immanenten Werte gesehen werden. Der
Begriff „ Leben Ä, mindestens in dem Sinne, in dem J. ihn braucht,
ist in sich selbst werthaltig. Wer den Wert des Lebens negiert,
der weigert nicht einem gleichgesehenen Leben einen Wertakzent,
sondern er hat gar nicht den Begriff „Leben", den J. voraussetzt.
Wir können nur aus einem Wertganzen heraus verstehen; wir
verstehen um so besser je vollständiger in sich, je geklärter dies
Wertganze ist. Die Ausschaltung der Wertungen behält ihr Recht
überall da, wo eine vereinzelte Untersuchung über Tatbestände
geführt werden soll. Der Einfluß einer Geistesrichtung, die Macht
eines Volkes, der Erfolg einer wirtschaftlichen Bewegung soll fest-
gestellt werden ganz unabhängig davon, wie wir uns wertend dazu
stellen. Solchen Aufgaben gegenüber ist als unschädlich zu ver-
nachlässigen, was an Werten schon in der Abgrenzung der Tat-
bestände steckt — denn diese wird nicht untersucht und kann
praktisch als zugestanden betrachtet werden. In der verstehenden
Psychologie kann zwar nicht jeder Wert ausgeschaltet werden,
wohl aber in begrenzender Betrachtung jeder über die gerade zu
verstehende Gestalt hinausweisende Wert. Aber das ist dann be-
wußte Vereinzelung — und es ließe sich wohl zeigen, daß diese
immanente Betrachtung, indem sie das ganze innere und äußere
90 Jonas Cohn, Zur Psychologie der Weltanschauungen.
Verhalten der Stufe nachlebt und seine Konsequenzen zieht, auf
die Grenzen, die übersehenen, negierten Werte führen müßte. Die
Trennung der Werte von den Tatbeständen, so notwendig sie für
bestimmte Aufgaben der Praxis und der sich spezialisierenden Er-
kenntnis ist, muß doch, wie jede Trennung, vorläufig bleiben und
durch eine vollständigere Besinnung auf die Verbundenheit der
Getrennten überwunden werden.
An einzelnen Orten seines Werkes nähert sich J. der echt
philosophischen Haltung, so überall wo er an Stelle eines ab-
strakten Begriffes des Psychischen einen lebensvollen setzen will
(z. B. 307 Anm.). Meist aber ist eine bestimmte philosophische
Anschauung nur als unbewußt treibende Kraft, als latente Idee,
wenn man «das Wort in seinem Sinne gebraucht, wirksam. Durch
den recht schiefen Ausdruck „prophetische Philosophie" — denn
was hat Descartes, Leibniz oder Kant mit „Prophetie" in irgend
einem Sinne zu tun? — verhüllt er sich die Zusammenhänge
zwischen- dem was er Betrachtung und dem was er Weltanschauung
nennt. Die verschiedenen Mängel des Werkes hängen eng zu-
sammen : weil J. vor der Pforte der Philosophie stehen bleiben
will, während Philosophie in ihm lebt, verengt sich ihm durch un-
bewußte Wertung am falschen Platze das Bereich der Betrachtung.
Weil er das Dogma von der Unmöglichkeit wissenschaftlicher Ent-
scheidung über Werte festhält, statt die Dialektik dieses Verhält-
nisses zu wissen, setzt er vorläufige Trennungen als endgültig und
kann zugleich den Wert nur als „Wertakzent" fassen, sich so den
Zugang zur echten Wertlehre verriegelnd. Das „Leben" und die
„Dialektik" bleiben unverbunden — statt, daß die Dialektik als
Leben des Denkens und das geistige Leben als denkendes erfaßt
wird — so daß als die Wahrheit der Einheit von Sein und Denken
bei Hegel sich die Idee einer Einheit beider zeigen kann.
J. hätte sehr leicht ein viel einwandfreieres Buch schreiben
können : er hätte nur unter Verzicht auf die Erörterung der metho-
dischen Fragen, der wissenschaftstheoretischen Prinzipien und der
philosophischen Grundlagen einfach seine systematisch gegliederten
Schilderungen zu geben brauchen. Es ist zu rühmen, daß er das
nicht getan hat. Denn erst durch die anfechtbaren Teile wächst
das Werk hinein in die große Geistesbewegung der Zeit, nimmt
es, besser gesagt, Teil an der Arbeit, die für Gegenwart und Zu-
kunft nötig ist.
Die Lorentz-Kontraktion.
Von M. v. Lane.
Bei den vielen, sehr zu begrüßenden Versuchen der Philo-
sophen von Fach, zur Relativitätstheorie Einsteinscher Prägung
Stellung zu nehmen, begegnet man fast immer einem merkwürdigen
Mißverständnis hinsichtlich der Rolle der Lorentz-Kontraktion. Es
erklärt sich aus der Art, wie die Theorie zu dem Schluß auf diese
Verkürzung gelangt, und findet seine besondere Stütze in dem
Wortlaut eines berühmten Vortrags von Minkowski; denn danach
ist die Lorentz - Kontraktion in der Relativitätstheorie „ rein
ein Geschenk von oben". Wir hätten daraufhin eigentlich eine
weit strengere Beurteilung der Theorie gerade von philosophischer
Seite erwartet, ja geradezu ihre Ablehnung wegen mangelnder
Wissenschaftlichkeit. Denn „ein Geschenk von oben", was ist das
anderes als ein neuer Ausdruck für „ein Wunder"? Zum Glück
ist hier nur der angeführte Wortlaut, nicht die Theorie selbst zu
bemängeln. Und dies möchten wir zur Klärung des Sachverhalts
auch einmal an einer dem philosophischen Leser zugänglichen Stelle
näher ausführen.
Wir haben es dabei zunächst nur mit der beschränkten Relativi-
tätstheorie zu tun, der zufolge eine Gruppe von Koordinaten-
systemen für die Physik gleichberechtigt ist, die sich aus einander
mittels der bekannten Lorentz-Transformation der Raum- und Zeit-
koordinaten ableiten lassen. Sind K und K' zwei solche Systeme,
und ruht in K' ein Körper, an dem irgend eine zur Bewegungs-
richtung von K' gegen K parallele Abmessung (gegeben durch zwei
Marken an dem Körper) die Länge 1° bezogen auf K' hat, so hat
dieselbe Abmessung bezogen auf K eine Länge kleiner als 1°. Das
ergibt sich durch einen einfachen mathematischen Schluß aus jenen
Transformationsgleichungen. Da sich nun die Zustände des Körpers
gegenüber K und K' lediglich durch die Geschwindigkeit unter-
92 M. v. Laue,
scheiden, welche er gegen K, nicht aber gegen K' besitzt, so heißt das:
Ein Körper, den wir von der Ruhe aus in Bewegung bringen,
zieht sich dabei in der Bewegungsrichtung zusammen. Sofern das
Relativitätsprinzip, wie es sich in der Lorentz-Transformation aus-
spricht, in der Wirklichkeit gilt, müssen alle Körper dies Ver-
halten zeigen.
Was an dieser Schlußweise Manchem unbefriedigend scheint,
ist, daß sie für die Verkürzung nur einen Erkenntnisgrund angibt,
nicht aber eine Ursache; sie folgt nicht dem kausalen Zusammen-
hang der Wirklichkeit. Bevor wir diese Lücke auszufüllen suchen,
wollen wir aber doch betonen, daß ein solches Abweichen des Ge-
dankenganges von der kausalen Verkettung nichts ungewöhnliches
in der Physik ist. Im Gregenteil beruht gerade bei den umfassendsten
Naturgesetzen ihr Wert für die Wissenschaft darauf, daß sie uns
der Mühe entheben, den oftmals wenig übersichtlichen Kausalreihen
der Natur in allen Einzelheiten nachzugehen. Schließen wir z. B.
aus dem Energieprinzip, daß die Vereinigung
2#2+02 = 2£20
dieselbe Summe aus Wärme und Arbeit liefert, ob sie sich unter
Explosion der Grase in der kalorimetrischen Bombe oder im galva-
nischen Element unter Lieferung elektrischen Stroms vollzieht,
so sagen wir dabei auch sehr wenig über das Spiel der Atome aus,
welches beide Male zum gleichen energetischen Endergebnis führt.
Und derartige Beispiele lassen sich auch beim zweiten Hauptsatz,
beim Satz von der Erhaltung der Bewegungsgröße usw. leicht in
großer Zahl geben. Wird aber der kausale Zusammenhang auch
nicht aufgezeigt, so bleibt doch die Forderung selbstverständlich
zu Recht bestehen, daß es vielleicht erst bei weiterem Fortschritt
der Wissenschaft, aber doch grundsätzlich möglich ist, ihm in allen
Einzelheiten nachzugehen. Und diese Forderung müssen wir auch
im Falle der Lorentz-Kontraktion durchaus aufrecht erhalten.
Wir können sie auch leicht erfüllen, wenn wir uns darüber
klar werden, was für die ältere Physik einschließlich der be-
schränkten Relativitätstheorie ein Bezugssystem darstellt. Man
knüpft dabei am besten wohl an die Frage an, wie denn eins der
berechtigten Systeme dieser Theorie aufzufinden ist. (Haben wir
erst eins, so verhilft uns die Lorentz-Transformation zu den an-
deren.) Und das macht wohl am klarsten ein Gedankenversuch,
den L. Lange beschrieben hat. Man untersuche die Bewegung von
drei freien keinen Kräften unterworfenen Körpern, die von einem
Die Lorentz-Kontraktion. 93
Punkt ausgehen, in irgend einem beliebigen Bezugssystem. Sind
ihre Bahnen in diesem System gerade Linien, so ist das System
ein berechtigtes, ein „Inertialsystem". Dieses System ist danach
ein durch Beobachtung festzustellender physikalischer Gegenstand,
und wenn sich jemand noch an der praktischen Unausführbarkeit
jenes Gedankenversuches stoßen sollte, so verweisen wir einfach
auf das Vorgehen der Astronomen, welche sich für die Theorie
der Planetenbewegung ein passendes, d. h. für die Anwendung der
mechanischen und Gravitationsgesetze passendes Koordinatensystem
aus der Planetenbewegung selbst gesucht und nach allgemeiner
Überzeugung mit großer Genauigkeit gefunden haben. Und genau
so gut wie irgend ein anderer durch Beobachtung festzustellender,
also physikalisch wirklicher Gegenstand vermag dies System als.
Ursache physikalische Wirkungen auszuüben.
Zu dieser Ansicht mußte sich schon die Newtonsche Dynamik
bekennen. Und in der Tat kommt alles, was sie über die Zentri-
fugalkräfte (und Ähnliches) in einem rotierenden System zu sagen
wußte, auf diese Anerkennung hinaus. Wir wollen hier aber lieber
ein Beispiel aus der Elektrodynamik heranziehen, welche sich ob-
wohl älter als die beschränkte Relativitätstheorie, unverändert in
diese hat aufnehmen lassen.
Das Beispiel sei so einfach, wie möglich. Zwei elektrische
Punktladungen ruhen zunächst in einem berechtigten System und
üben dabei die bekannte Coulombsche Kraft auf einander aus. Wir
bringen sie auf eine gemeinsame, nach Richtung und Größe un-
veränderliche Geschwindigkeit gegen dasselbe System bei unver-
ändertem Abstand von einander. Aus den elektrodynamischen
Gleichungen läßt sich leicht entnehmen, daß sich die Kraft zwischen
ihnen verändert hat.
Was ist die Ursache der Veränderung? An ihrer Lage und
Bewegung gegen einander hat sich nichts geändert, sondern einzig
allein an ihrem Verhältnis zu dem Bezugssystem. Und nur dies
Bezugssystem kommt somit als Ursache für die Kraftänderung in
Betracht. Das ist nach dem oben gesagten auch nicht weiter ver-
wunderlich. Und wenn man vor der Relativitätstheorie diesen Schluß
wohl nicht in dieser Form gezogen hätte, so lag das nur daran,
daß man früherdas Bezugssystem zum „Äther" materialisierte. Mit
der Vorstellung eines körperhaften Äthers aber hat die Relativitäts-
theorie aufgeräumt.
Nun kehren wir zu dem Körper zurück, der im System K
94 M. v. Laue,
zunächst ruht, dann aber eine Bewegung gegen K erhält. Seine
Gestalt ist das Ergebnis des Gleichgewichts, welches sich zwischen
den vom Atom zu Atom (dies Wort im weitesten Sinn gebraucht,
also unter Einschluß von Elektronen und Ahnlichem) wirkenden
Kräften einstellt. Setzen wir den Körper bei unveränderter Ge-
stalt, also bei der alten Lage der Atome gegen einander in Bewe-
gung, so können sich diese Kräfte ebenso gut verändern, wie in
dem obigen Beispiel die Kräfte zwischen den Ladungen. Sie brauchten
darum noch nicht elektromagnetischer Natur zu sein. Die Folge
wird sein, daß die alte Gestalt des Körpers keinem Gleichgewicht
mehr entspricht, daß wir im Gegenteil zu ihrer Erhaltung einen
äußeren Zwang anwenden müssen. Fehlt dieser Zwang, wie man
es bei der Erörterung über die Lorentz-Kontraktion annimmt, so
muß sich die Gestalt ändern. Wie, das läßt die jetzige Überlegung
erst dann angeben, wenn man die Veränderungen der Kräfte kennt.
Sind sie elektromagnetischer Natur, so sagt ein von H. A. Lorentz
bewiesener Satz, daß gerade die Lorentz-Kontraktion herauskommt.
Will man diese Voraussetzung nicht einführen, so weiß man zu
wenig von ihnen, um einen solchen Schluß unabhängig von der
Relativitätstheorie durchzuführen. Hier, wo beim jetzigen Stande
unserer Kenntnisse die Möglichkeit fehlt, die Kausalreihe unab-
hängig vom Relativitätsprinzip zu verfolgen, greift eben das Re-
lativitätsprinzip helfend ein ; es lehrt uns, daß immer dieselbe Ver-
kürzung auftreten muß.
Gewiß kann die Dynamik, welche sich aus dem Relativitäts-
prinzip entwickelt hat, nun auch den ursächlichen Zusammenhang
vollständig erklären. Doch ist damit nichts Neues gewonnen. Man
holt dabei nur aus ihr heraus, was man vorher implizite in sie
hineingesteckt hat. Der Unterschied gegenüber der Elektrodynamik,
welche dasselbe unabhängig vom Relativitätsprinzip leistet, ist
aber kein grundsätzlicher, sondern liegt allein in dem jetzigen
Stande der physikalischen Forschung. Wir haben eben in der
Elektrizitätslehre weit vollständigere und genauere Kenntnisse, als
in der Mechanik.
Bisher haben wir nur von der beschränkten Relativitätstheorie
gesprochen. Die allgemeine leugnet das Dasein von Koordinaten-
systemen, welche die Vorzugsstellung eines Inertialsystems von
sich aus haben. Der Langesche Versuch müßte ergebnislos bleiben,
könnte man alle außer den Probekörpern fortschaffen. Nur weil
in dem astronomischen Koordinatensystem jene großen Massen des
Die Lorentz-Kontraktion. 95
Fixsternhimmels im Großen und Ganzen ruhen, hat es etwas vor
den anderen voraus. Dennoch verändert das die oben vertretene
Auffassung der Lorentz-Kontraktion nur unwesentlich. Denn es
gibt jetzt an jeder Stelle des Raumes einen anderen im Prinzip
meßbaren, also physikalisch wirklichen Gegenstand, nämlich den
Tensor der Maßbestimmung mit seinen zehn Komponenten» Sind
diese im Allgemeinen auch von Ort zu Ort und von Zeitpunkt zu
Zeitpunkt veränderlich, so lassen sie sich doch in Spielräumen,
welche für einen physikalischen Versuch nach Raum und Zeit voll-
ständig ausreichen, durch geeignete Wahl der Koordinaten auf
jene besonders einfachen Werte transformieren (± 1 oder 0), welche
nach der beschränkten Relativitätstheorie überall herrschen sollten.
So erhalten deren berechtigte Systeme auch hier, freilich mit räum-
lichen und zeitlichen Beschränkungen, eine allerdings nicht mehr
ursprüngliche, sondern abgeleitete Realität. Aber damit wird
die oben auseinandergesetzte Auffassung der Lorentz-Kontraktion
eigentlich nicht verändert, sondern nur vertieft.
Kritizistische oder empiristische Deutung
der neuen Physik?
Bemerkungen zn Ernst Cassirers Buch „Zur Einst einschen
Relativitätstheorie u .
Von Moritz Schlick.
Ein unverwischbarer, unveräußerlicher Charakterzug der kriti-
schen Philosophie ist ihre Verwurzelung in der exakten Wissen-
schaft. Wie Kant selbst nach wohlbegründeter (besonders von
Cohen verfochtener) Meinung mit seiner Erkenntniskritik das Ziel
einer philosophischen Rechtfertigung der Newtonschen Natur-
prinzipien verfolgte, so streben die neukantischen Schulen danach,
die Wahrheit der kritischen Grundgedanken dadurch zu beweisen,
daß sie ihre Brauchbarkeit und Fruchtbarkeit auch für die Physik
der neuen Zeit darzutun suchen. Es wurde dem Neukantianismus
nicht schwer, mit der Entwicklung der Naturwissenschaft Schritt
zu halten, als sie von der mechanischen zur energetischen und
schließlich zur elektrodynamischen Weltansicht überging — ist
aber seine Kraft und Elastizität auch groß genug, um den Sprung
mitzumachen, durch den die Physik sich in unsern Tagen auf eine
neue Bahn begab? Ich glaubte diese Frage verneinen zu müssen
zu einer Zeit, als nur ganz wenige Versuche vorlagen, die Spe-
zielle Relativitätstheorie dem kritizistischen Standpunkt zu assi-
milieren, und als die Allgemeine Theorie überhaupt noch nicht
abgeschlossen war. Es schien mir, daß die zu einer philosophischen
Aufklärung und Rechtfertigung jener Theorie nötigen Prinzipien
viel eher aus der empiristischen als aus der Kantschen Erkenntnis-
theorie entnommen werden können *) ; und auch bei späteren Ge-
legenheiten fand ich keine Veranlassung, diesen Standpunkt auf-
1) Die philosophische Bedeutung des Kelativitätsprinzips , Zeitschrift für
Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 159.
Moritz Schlick, Kritizist. oder empirist. Deutung d. neuen Physik? 97
zugeben, zumal die bald darauf glücklich vollendete Allgemeine
Theorie einem Gedanken zum Siege verhalf, der auf extrem em-
piristischem Boden (nämlich im Positivismus Machs) erwachsen war.
Aber bei der Bedeutung und Schwierigkeit der Frage ist es
Pflicht, die Sachlage 'bei jedem ernsten Anlaß erneut zu prüfen.
Einen solchen Anlaß stellt das Erscheinen des Buches von Ernst
Cassirer *) dar, und so folge ich gern der Aufforderung der Schrift-
leitung der Kantstudien, dem Problem an der Hand dieses Buches
eine neue Untersuchung zu widmen, die freilich aus äußeren Gründen
nur in ganz kurzer Fassung gegeben werden kann.
Cassirer hat sich in seiner Schrift den Nachweis zum Ziel
gesetzt, daß die philosophischen Grundlagen der Relativitätstheorie
nur im Bereiche des Kritizismus gefunden werden können, genauer
in derjenigen Form der kritischen Ansicht, die er gern als logi-
schen Idealismus bezeichnet. Er stellt sich die Aufgabe, durch
erkenntnistheoretische Analyse zu entscheiden, „ob die Theorie in
ihrem Ursprung und ihrer Entwicklung als Beleg und Zeugnis
für den kritischen oder als Zeugnis für den sensualis tischen
Erfahrungsbegriff zu gelten hat" (S. 26).
Angesichts dieser Formulierung müssen sich aber sogleich
Bedenken erheben : Ist das Problem wirklich auf diese Alternative
zurückführbar ? gilt hier ein tertium non datur ? Sicherlich gibt
es einen Empirismus, der vom Sensualismus verschieden ist und
sich auf ihn nicht reduzieren läßt — das ist historisch wie sach-
lich leicht ersichtlich. Wenn also gezeigt wird (und das ist wohl
nicht schwer), daß die Relativitätstheorie aus rein sensualistischen
Prämissen nicht zu verstehen ist, so wird hierdurch allein weder
die Notwendigkeit noch auch die Zulässigkeit der kritizis tischen
Interpretation der Theorie bewiesen, es sei denn, man faßte den
Begriff des logischen Idealismus so weit, daß jene Alternative
eben erlaubt wird. Dann aber schwebt er in Gefahr, seine ent-
schiedene Färbung und damit seinen philosophischen Wert zu ver-
lieren, die heterogensten Meinungen würden sich in ihm vereinigen
lassen. An einigen Stellen scheint Cassirer in der Tat zu so all-
gemeinen Formulierungen zu neigen, daß die Abgrenzung seines
Kritizismus undeutlich zu werden droht. Wir müssen den Grenz-
linien nachzugehen suchen.
1) Ernst Cassirer, Zur Einsteinschen Relativitätstheorie, Erkenntnistheore-
tische Betrachtungen, Berlin 1921.
Kantstudien. XXYL 7
98 Moritz Schlick.
Um eine feste Grundlage für die folgenden Betrachtungen
herzustellen, muß ich mit wenigen Worten sagen, welche unent-
behrlichen Merkmale ich mir mit dem Begriff des Kritizismus
verknüpft denke. Eine solche Festlegung ist durchaus nötig für
jede Diskussion über die Verträglichkeit der Relativitätstheorie
mit der kritischen Erkenntnislehre, denn nur auf diese Weise wird
das störende Hineinspielen der Fragen der Kant-Interpretation
vermieden; die Diskussion bleibt solange unergiebig, als jeder sich
des nicht ungewöhnlichen Arguments bedienen kann, der andere
lege eben die Kantsche Meinung nicht richtig aus.
Folgendes also sei vorausgeschickt. Alle exakte Wissenschaft,
deren philosophische Rechtfertigung unzweifelhaft das erste Ziel
der von Kant begründeten Erkenntnislehre bildet, beruht auf
Beobachtungen und Messungen. Bloße Empfindungen und Wahr-
nehmungen sind aber noch nicht Beobachtungen und Messungen,
sondern sie werden es erst dadurch, daß sie geordnet und inter-
pretiert werden. Die Bildung der physikalischen Gegenstands-
begriffe setzt also fraglos bestimmte Prinzipien der Ordnung und
Interpretation voraus. Das Wesentliche des kritischen Gedankens
sehe ich nun in der Behauptung, daß jene konstitutiven Prinzipien
synthetische Urteile a priori seien, wobei zum Begriff des
Apriori das Merkmal der Apodiktizität. (der allgemeinen, not-
wendigen, unumgänglichen Geltung) unabtrennbar gehört. — Ich
bin zwar überzeugt, mit dieser Erklärung Kants eigene Meinung
richtig zu treffen, aber selbst wenn weder er noch seine Anhänger
dieser Art von Kritizismus je gehuldigt hätten, bliebe ja die sach-
liche Richtigkeit oder Falschheit der folgenden Aufstellungen
davon ganz unberührt, und auf diese allein kommt es bei einer
Untersuchung an, die sich auf das Systematische, nicht auf das
Historische richtet.
Die wichtigste Folgerung aus der eben entwickelten Ansicht
ist, daß ein Denker, der die Unentbehrlichkeit konstitutiver Prin-
zipien zur wissenschaftlichen Erfahrung überhaupt einsieht, des-
wegen noch nicht als Kritizist bezeichnet werden darf. Ein Empi-
rist kann z. B. sehr wohl das Vorhandensein solcher Prinzipien
anerkennen ; er wird nur leugnen, daß sie synthetisch und a priori
im oben bezeichneten Sinne sind.
Cassirer erkennt, daß „Empirismus und Idealismus sich in
bestimmten Voraussetzungen begegnen. Beide gestehen hier der
Erfahrung die entscheidende Rolle zu — und beide lehren anderer-
Kritizistische oder empiristiache Deutung der neuen Physik? 99
seits, daß jede exakte Messung allgemeine empirische Gesetze
voraussetzt" (S. 94 f.). Aber indem er sich dann der dringenden
Frage zuwendet, „wie wir zu jenen Gesetzen, auf denen die Mög-
lichkeit aller empirischen Messung beruht, gelangen und welche
Art der Geltung . . . wir ihnen zugestehen" (S. 95), stellt er dem
Kritizismus nur die sensualistische Ansicht unter dem Namen des
„strengen" Positivismus gegenüber. Mit vollem Recht verurteilt
•er den von Mach gelegentlich unternommenen Versuch, selbst
analytisch - mathematische Gesetze gleich Dingen zu behandeln,
„deren Eigenschaften man durch unmittelbare Wahrnehmung ab-
lesen kann" (S. 95) — jedoch damit ist nicht der logische Idea-
lismus bewiesen, sondern nur der Sensualismus widerlegt. Zwischen
beiden bleibt die empiristische Ansicht stehen, nach welcher jene
konstitutiven Prinzipien entweder Hypothesen oder Konven-
tionen sind; im ersten Falle sind sie nicht a priori (denn es
mangelt ihnen die Apodiktizität), im zweiten sind sie nicht syn-
thetisch. Wie steht es mit dem Nachweis, daß die Grundsätze
der Einsteinschen Physik nicht diesen Charakter tragen, sondern
als synthetische Sätze a priori anzusprechen seien?
Kant selbst rechnete, wie gar nicht zu bezweifeln ist, zu den
gegenstandskonstituierenden synthetischen Prinzipien a priori die
Axiome der euklidischen Geometrie und der Galileischen Kine-
matik. Und die Mehrzahl der Kantianer hat auch nach der
mathematischen Entdeckung der nichteuklidischen Geometrien an
der' euklidischen Naturauffassung als der einzig möglichen fest-
gehalten, indem sie (sehr deutlich z. B. Kiehl und Hönigswald)
erklärten, der euklidischen Geometrie komme in der Tat die von
Kant ihr zugeschriebene anschauliche Notwendigkeit zu, wäh-
rend die andern Geometrien nur begriffliche Denkbarkeit besäßen,
die ja der Kantschen Lehre nicht widerstreitet.
Nun ist die Spezielle Eelativitätstheorie mit den Sätzen der
Galileischen Kinematik, die Allgemeine außerdem noch mit den
Ratzen Euklids unvereinbar. Wer die Einsteinsche Theorie an-
nimmt, muß die Lehre Kants in ihrer ursprünglichen Form ab-
lehnen ; man muß, wie auch Cassirer mehrfach betont, einen Schritt
über Kant hinaus tun. Aber darauf kommt es uns hier garnicht
an. Der Kritizismus, wie er oben definiert wurde, könnte dessen-
ungeachtet der neuen Theorie gegenüber sich behaupten und be-
währen, ja noch größere Triumphe feiern; dazu wäre nur nötig,
daß die letzten Grundlagen der Theorie sich eben als synthetische
100 Moritz Schlick,
Sätze von schlechthin notwendiger Geltung für alle Erfahrung
enthüllten. Welches sind diese Sätze?
Denn das ist wohl zu beachten: wer die Behauptung des
Kritizismus aufstellt, der muß, sollen wir ihm Glauben schenken,
die Prinzipien a priori auch wirklich angeben, die den festen
Grund aller exakten Wissenschaft bilden müssen. Für die Transzen-
dentalphilosophie, sagt Cassirer mit Recht (S. 78), sind Raum und
Zeit nicht Dinge, sondern „Erkenntnisquellen". Es muß also eine
Angabe der Erkenntnisse gefordert werden, deren Quelle z. B. der
Raum ist. Der kritische Idealist muß sie mit derselben Bestimmt-
heit und Deutlichkeit bezeichnen, mit der Kant auf die zu seiner
Zeit einzig bekannte und anerkannte Geometrie und „allgemeine
Bewegungslehre" hinweisen konnte. Alle die, welche die Rela-
tivitätstheorie vom Kantschen Standpunkt aus beurteilt haben,
wiesen darauf hin, daß es sich in ihr um die empirische (d. h.
hier: durch physikalische Methoden gemessene Zeit) und um den
empirischen Raum handelt, und sie stellen ihnen die Kantsche
„reine Anschauung" von Raum und Zeit gegenüber als dasjenige,
was jene empirischen Konstruktionen erst möglich macht und folg-
lich von jedem Fortschritt der Physik, der immer nur das Empiri-
sche betreffen kann, schlechthin unberührt bleiben muß. Durch
diese Wendung wird die Problemlage nicht geändert, sondern nur
anders ausgedrückt, denn die reine Anschauung ist eben die Er-
kenntnisquelle jener Grundsätze a priori, deren man zur Kon-
struktion der empirischen Zeit und des empirischen Raums bedarf,
für manche ist sie einfach ein zusammenfassender Terminus für
den Inbegriff jener Grundsätze selbst; in jedem Falle kann die
Existenz eines „reinen Raumes" und einer „reinen Zeit" überhaupt
nur dadurch erwiesen werden, daß man das System der dazu-
gehörigen synthetisch-apriorischen Grundsätze tatsächlich aufzeigt
oder wenigstens eine eindeutige Anweisung gibt, wie es zu finden
ist. Es kann nicht genug betont werden, daß ein Anhänger der
kritischen Philosophie sich nur durch Vorweisung eines solchen Ur-
teilssystems legitimieren kann. Jeder Versuch, Einstein mit Kant
zu versöhnen, muß in der Relativitätslehre synthetisch-apriorische
Prinzipien aufdecken; sonst ist er von vornherein als gescheitert
zu betrachten, weil er nicht einmal zu der richtigen Problem-
stellung vorgedrungen ist.
Cassirer sieht das Problem natürlich in seiner richtigen Be-
deutung, und an zwei Orten seines Buches scheint er eine nähere
Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? 101
Bestimmung des Inhaltes der vom logischen Idealismus behaup-
teten reinen Anschauung zu geben. An der ersten Stelle (S. 84)
erblickt er ihn in dem Begriff der Koinzidenz der „ "Weltpunkte ",
auf welche die Allgemeine Relativitätstheorie bekanntlich alle
Naturgesetze zurückführt. Aber ich glaube, daß gerade diese
„Koinzidenz" sich garnicht als bloßer Inbegriff und Knotenpunkt
apriorischer Sätze auffassen läßt, sondern zunächst durchaus Re-
präsentant eines psychologischen Erlebnisses des Zusammen-
fallens ist, so wie etwa das Wort „gelb" ein einfaches nicht mehr
definierbares Farberlebnis bezeichnet. Nur so vermag sie die von
der Theorie ihr zugewiesene Vermittlerrolle zwischen Realität
und naturwissenschaftlich - begrifflicher Konstruktion zu spielen.
Mit andern Worten: wir haben eine empirische Anschauung
vor uns1).
Eine zweite Antwort auf die Frage, was denn an synthetisch-
apriorischen Sätzen über den Raum jetzt noch übrig bleibe, gibt
Cassirer S. 101, wo er sagt: „Denn das ,Apriori' des Raumes . . .
schließt . . . keine Behauptung über eine bestimmte einzelne
Struktur des Raumes in sich, sondern geht nur auf jene Funktion
der ,Räumlichkeit überhaupt', die sich 'schon in dem allgemeinen
Begriff des Linienelements als solchen — ganz abgesehen von
seiner näheren Bestimmung — ausdrückte". Diese Formulierung,
die aussagen will, daß es überhaupt so etwas wie ein Linien-
element in der Naturbeschreibung geben müsse, kann jedoch kaum
befriedigen. Denn welcher Axiomenkomplex ist es, der in jener
Behauptung beschlossen sein soll? Die Axiome der Stetigkeit
können es nicht sein, denn die schon von Riemann ins Auge ge-
faßte Möglichkeit diskontinuierlicher Raumbestimmungen ist durch
die moderne Quantentheorie in greifbare Nähe gerückt worden.
Und welche andern Axiome man auch wählen möge : es ist nicht
einzusehen, warum gerade sie die allein notwendige Raumstruktur
konstituieren sollen, da doch andere von nicht geringerer „Evi-
denz" dem Fortschritt der Physik zum Opfer fielen.
Hier erscheint jede inhaltliche Behauptung, so allgemein sie
auch sein möge, schon zu speziell, und es ist durchaus konsequent,
wenn man auf die Frage, welches denn nun die letzten syntheti-
schen Grundsätze a priori aller Naturwissenschaft sind, die Ant-
1) Dies ist auch der eigentliche Sinn meiner Ausführungen in „Raum und
Zeit«, 3. Aufl. 1920, S. 83.
102 Moritz Schlick
wort erteilt (die ich einer freundlichen brieflichen Mitteilung
Cassirers entnehme): „eigentlich nur der Gedanke der ,Einheit
der Natur' d. h. der Gesetzlichkeit der Erfahrung überhaupt, oder
vielleicht kürzer der ,Eindeutigkeit der Zuordnung' u. Damit
scheint mir aber die Gefahr unentfliehbar hereingebrochen zu sein,
die ich oben als unvermeidliche Folge einer zu großen Umfangs-
weitung des kritischen Gedankens bezeichnete. Denn nun dürfte
es nicht mehr möglich sein, jemals eine physikalische Theorie als
Bestätigung der kritizistischen Philosophie anzusprechen: diese
müßte vielmehr mit jeder Theorie, sofern sie nur die Bedingungen
der Wissenschaftlichkeit erfüllt, in gleicher Weise und ohne die
Möglichkeit einer Selektion vereinbar sein. Einheitliche Natur-
gesetzlichkeit ist sicherlich die conditio sine qua non der Wissen-
schaft, weil, wie Cassirer selbst sagt (S. 45), „der allgemeine Ge-
danke der Invarianz und Eindeutigkeit ... in irgend einer Form
in jeder Theorie der Natur wiederkehren muß". Auch für den
Empiristen sind, wie Cassirer (S. 95) anerkennt, die Gesetze „das
eigentlich Bleibende und Substantielle", auch der Empirist glaubt
an die Einheit der Natur, an die Gesetzlichkeit aller Erfahrung,
nur meint er, daß sich ihre Gültigkeit, ihre objektive Notwendig-
keit durch keine transzendentale Deduktion oder sonstwie erweisen
lasse. Hier kann sich der Kritizist auf keine physikalische Theorie
berufen, denn jede beweist durch ihre Bewährung in der Erfah-
rung nur die tatsächliche, nicht die notwendige Geltung des Satzes
von der Einheit der Natur.
Wie ein roter Faden zieht sich durch Cassirers Buch der mit
den glänzendsten Mitteln überlegener philosophisch -historischer
Kultur geführte Nachweis, daß die Eelativitätstheorie dem in der
Entwicklung der exakten Wissenschaft von Piaton bis heute immer
richtungweisenden Ideal nicht etwa widerspricht, sondern im
Gegenteil seine zur Zeit vollkommenste Erfüllung darstellt; daß
die von ihr statuierte Relativität der Maßbestimmungen keineswegs
einen Verzicht auf streng eindeutige objektive Gesetzmäßigkeit
bedeutet, sondern im Gegenteil der Weg ist, zu allgemeinsten
Gesetzen zu gelangen und letzte Invarianten aufzudecken. Ein
neuerer Aufsatz Cassirers (im Dezemberheft der Neuen Rundschau)
ist im wesentlichen dem gleichen Nachweis gewidmet. So not-
wendig und verdienstlich es war, durch solche Ausführungen
naheliegenden laienhaften Mißverständnissen der Einsteinschen
Theorie entgegenzutreten und sie in den gebührenden Abstand
Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? 103
von jedem sophistischen „Relativismus" skeptischer Färbung zu
rücken, so wird damit doch nur bestätigt, daß die Relativitäts-
lehre, weil sie eben eine wissenschaftliche Theorie ist, natürlich
eine Auf Stellung, nicht eine Auf hebung allgemeinster, objektiv
gültiger Gesetze bedeutet. Das Einsteinsche Weltbild läßt die
Einheit der Natur vollkommener hervortreten als das Newtonsche,
aber nicht, weil es dem kritischen Gedanken gemäßer wäre, son-
dern weil es, schon am physikalischen Erkenntnisbegriff gemessen
und noch unabhängig von der letzten philosophischen Interpre-
tation, eine höhere Erkenntnisstufe darstellt.
Die Frage, ob dem von Cassirer so tief durchdachten logi-
schen Idealismus der Nachweis der Richtigkeit der Behauptung
gelungen sei, daß nur auf dem Boden der kritizistischen Er-
kenntnislehre die Relativitätstheorie sich philosophisch begründen
und rechtfertigen lasse — diese Frage vermögen wir nach dem
Vorangehenden gerade in bezug auf den entscheidenden Punkt
nicht zu bejahen : die Lehre von den synthetischen Urteilen a priori
als den konstruktiven Prinzipien der exakten Naturwissenschaft
erfährt durch die neue Theorie keine unzweideutige Bestätigung.
Cassirers Darlegungen scheinen mir keine überzeugende Anweisung
zu geben, wie die Wunde geheilt werden kann, die der ursprüng-
lichen Kantschen Ansicht durch den Umsturz der Euklidischen
Physik geschlagen ist. Aber damit ist noch nicht gesagt, daß
das Verhältnis zwischen Transzendentalphilosophie und Relativitäts-
theorie nun überhaupt als ein rein negatives erwiesen wäre; an
andern Punkten könnten bedeutsame Berührungen beider Gedanken-
kreise stattfinden, wichtige Gemeinsamkeiten sich offenbaren.
Es liegt überaus nahe, in der kritischen Lehre von der
Idealität des Raumes und der Zeit eine enge natürliche Ver-
wandtschaft mit den Gedanken der Relativitätstheorie zu .suchen.
Man hat in der Tat die Wesenlosigkeit, die den Raum der Ein-
steinschen Naturlehre vor dem starren Raum Newtons (und ebenso
die Zeit) auszuzeichnen scheint, als eine willkommene Bestätigung
der Kantschen Philosophie betrachtet. Auch Cassirer vertritt
diese Auffassung. Im Anschluß an meine Bemerkung, daß nach
der allgemeinen Relativitätstheorie nur einer unauflöslichen Ein-
heit von Raum, Zeit und Stoff noch das Prädikat der Wirklichkeit
zukomme (Raum und Zeit S. 67), meint er, diese Einsicht gehöre
„zu den Grundlehran des kritischen Idealismus selbst" (S. 93); und
ferner: „die ideelle Trennung des reinen Raumes und der reinen
104 Moritz Schlick,
Zeit von den Dingen (genauer von den empirischen Erscheinungen)
duldet nicht nur, sondern fordert geradezu ihre empirische ,TJnion' "
(S. 94). Dies letztere ist freilich richtig, denn Raum und Zeit
sind als Formen der Anschauung von dem in ihnen geformten
Stoff ebenso wenig trennbar, wie umgekehrt der Stoff ohne eine
Form sein kann. Aber die von der Relativitätstheorie behauptete
,Union', die ich durch jene Bemerkung zu treffen suchte, ist eine
viel innigere als die Einheit von Stoff und Form, über welche
die Transzendentalphilosophie nirgends hinausgegangen ist. Wenn
daher Cassirer fortfährt: „Diese Union hat die allgemeine Rela-
tivitätstheorie in einem neuen Sinne bewährt und erwiesen . . .",
so ist der Ton durchaus auf das Wort neu zu legen. Dieses
Neue wird gänzlich verkannt von E. Sellien1), welcher sagt:
„Für die tatsächliche Bestimmung von Raum und Zeit in der
Erfahrung gehören Raum, Zeit und Körper zusammen. Dieser
Satz ist keine Errungenschaft der Einsteinschen Theorie, wie
Schlick mit so viel Emphase behauptet, er ist längst bekannt,
und widerlegt Kants Lehre von der reinen Zeit durchaus nicht,
weil er sie garnicht berührt". Es ist jedoch ein schlechthin fun-
damentales Mißverständnis der Allgemeinen Relativitätstheorie,
wenn man glaubt, meine oben erwähnte Bemerkung so auffassen
zu dürfen, als solle in ihr nur negativ die Sonder existenz von
Zeit und Raum gegenüber der Materie (und umgekehrt) geleugnet
werden — das wäre freilich eine längst bekannte Trivialität.
Sondern die gegenseitige Abhängigkeit von Raum, Zeit und Materie
geht in der Einsteinschen Theorie viel tiefer; nach ihr ist es
z. B. unmöglich, von den Abmessungen einer Raumgestalt ohne
Rücksicht auf die Art ihrer materiellen Erfüllung zu sprechen.
Daß die Raumlehre in dieser Weise zum Zweige der Physik
wird, verdient allerdings mit großer Emphase hervorgehoben zu
werden. Nur Riemann hat diesen G-edanken mit völliger Klar-
heit vorweggenommen; dem Kritizismus lag er nicht bloß fern2),
1) Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Relativitätstheorie, Kieler Dis-
sertation, 1919, S. 37; auch als Ergänzungsheft 48 der „Kantstudien" erschienen.
2) Man hat zwar auch in diesem Punkte Kant zum Vorläufer Einsteins
erklären wollen. Auf Grund einiger Bemerkungen in Kants erster Schrift „Ge-
danken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte" sagt Ilse Schneider
(Das Raum-Zeitproblem bei Kant und Einstein, Berlin 1921, S. 70): „Kant weist
also als erster auf den Zusammenhang von Geometrie und Physik, speziell Gra-
vitation, hin". Aber Kants Versuch, die Dreidimensionalität des Raumes mit der
Formel des Newtonschen Gravitationsgesetzes in Beziehung zu bringen, bedeutet
Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? 105
sondern er scheint ihm zu widersprechen, weil er es unmöglich
macht, Raum und Zeit als bloße Formen in dem bisherigen Sinne
aufzufassen, deren Gesetze von ihrem Inhalt unabhängig zu be-
handeln sind. Wenn Einstein von der Durchführung der allge-
meinen Relativität bemerkt hat, sie nehme dem Raum und der
Zeit „den letzten Rest physikalischer Gegenständlichkeit", so
glaubt Cassirer, „daß die Theorie hierin nur dem Standpunkt des
kritischen Idealismus die bestimmteste Anwendung und jDurch-
führung innerhalb der empirischen Wissenschaft selbst verschafft"
(S. 79). Legen wir aber — wie es Cassirer (S. 13) mit Recht als
erste Aufgabe des Erkenntnistheoretikers fordert — den Sinn des
Terminus „physikalische Gegenständlichkeit" restlos klar, so stoßen
wir wieder auf das eben geschilderte Ergebnis, dem die Lehre
von der Idealität von Zeit und Raum nur nach seiner negativen
Seite hin gerecht zu werden vermag: es zeigt sich nämlich, daß
mit der „Gegenständlichkeit" dem Raum und der Zeit zwar jede
irgendwie beschaffene Unabhängigkeit von der Materie abgesprochen
wird, daß aber der Rest, der dann vom physikalisch Räumlichen
und Zeitlichen übrig bleibt, im Verein mit der Materie sich auch
derselben Realität erfreut wie diese. Einstein selbst hat gelegent-
lich ausgesprochen, daß der physikalische Raum auch nach der
Allgemeinen Relativitätstheorie Realität habe, nur keine selbstän-
dige. Das Räumliche und Zeitliche erhalten also einen Sinn, in
dem sie nicht mehr bloß als ,Formen' in der gewohnten Bedeutung
angesehen werden dürfen, sondern sie gehören jetzt zu den phy-
sikalischen Bestimmungsstücken der Körper ; die ,Metrikc bedeutet
nicht etwa bloß eine mathematische Messung des physikalisch
Realen, sondern drückt selbst dessen Vorhandensein aus. Raum
und Materie treten eben, wie Cassirer es durchaus treffend aus-
drückt, „nicht mehr als verschiedene Klassen physikalischer Ob-
jektbegriffe auf" (S. 61). Wenn man also der Meinung ist, die
Einsteinsche Physik weise „in dieser Hinsicht weniger Wider-
sprüche zur kantischen transzendentalen Ästhetik auf, als irgend
eine frühere Physik" *), so scheint mir darin eine Verkennung der
nichts weniger als eine Vorahnung der Vereinigung von Geometrie und Physik
im erkenntnistheoretischen Sinne, hat vielmehr gar nichts damit zu tun. Mit
ähnlichem Rechte könnte man hier auf die Cartesianische Identifizierung von
Substanz und Ausdehnung hinweisen, die auch Cassirer erwähnt (S. 60), ohne daß
er aber ihre wahre Bedeutung übertriebe.
1) Ilse Schneider, 1. c. S. 65.
106 Moritz Schlick,
positiven Seite der Einsteinschen Raum- und Zeitlehre zu liegen.
Es wäre auch verwunderlich, wenn die Kantsche Erkenntnistheorie
in so deutlichem Widerspruch stehen sollte zur Newtonschen
Naturlehre, deren philosophische Rechtfertigung eines ihrer vor-
nehmsten Ziele war. —
Mag aber auch die rechte Würdigung der allgemeinsten Re-
lativität (Kovarianz gegenüber beliebigen Substitutionen in der
Sprache der Theorie) von kritizistischen Prinzipien aus schlecht
gelingen : vielleicht könnten sie doch insofern einen tragfähigen
Unterbau Einsteinscher Lehren liefern, als sie wenigstens zu dem
Grundsatz der Relativität aller Bewegungen (Kovarianz gegen-
über einer bestimmten Gruppe von Substitutionen) in einem günstigen
Verhältnis stehen. Natürlich ist von einem philosophischen System
nicht zu verlangen, daß es diesen Grundsatz als Theorie durch-
führe, wohl aber kann er sich aus ihm als unentbehrliches Postulat
ergeben. Ist auch dies noch zu viel gefordert, so darf man zum
allermindesten erwarten, daß jener Grundsatz, nachdem er von
anderer Seite einmal aufgestellt war, sofort als kongenial erkannt
und von dem System mit größter Energie angeeignet werde. Tat-
sächlich wäre der Kritizismus hierzu aus seinen Prämissen heraus
sehr wohl imstande gewesen; dennoch hat er in seinen historischen
Erscheinungsformen von den eben aufgestellten Forderungen keine
erfüllt. Es war vielmehr der Positivist Mach, der das allgemeine
Relativitätsprinzip zuerst mit Nachdruck zu einem Postulat der
Naturbeschreibung erhob. Er verlangte — und zwar wirklich
aus philosophischen Gründen — eine solche Formulierung der
Naturgesetze, daß z. B. die Rotation der Erde gegen die Fixsterne
mit gleichem Recht als eine entgegengesetzte Drehung des Stern-
himmels um die Erde aufgefaßt werden könnte. Um Kants Stel-
lung zu diesem Gedanken kennen zu lernen — der ja zu seiner
Zeit genau so möglich war — lese man die Metaphysischen An-
fangsgründe der Naturwissenschaften, wo er im I. Hauptstück in
der Anmerkung zum Grundsatz I, und im IV. Hauptstück im
Lehrsatz 2 und der Allgemeinen Anmerkung zur Phänomenologie
das Problem bespricht. Er fühlt dort (wie Leibniz, Huyghens
und andere) durchaus das Bedürfnis, die Relativität aller Be-
wegung aufrecht zu erhalten. Während aber Newton erkannte,
daß dies mit seiner Mechanik unvereinbar sei und für sie folge-
richtig (vermutlich nicht ganz leichten Herzens) die absolute Be-
wegung postulierte, sucht Kant dadurch nach einem Ausweg, daß
Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? 107
er neben den Gegensatz der relativen und absoluten denjenigen
der „wahren" und „scheinbaren" Bewegung setzte!1).
Cassirer hat bereits in „Substanzbegriff und Funktionsbegriff"
(1910) die Frage der Eelativität der Rotation behandelt (S. 230 ff.).
Es ist höchst bemerkenswert, mit welchem Scharfsinn er schon
damals die Konsequenzen der Machschen Auffassung überblickte.
Er sagt nämlich (1. c. 246) : „Die positivistischen Bedenken gegen
den ,reinen' Raum und die ,reine' Zeit beweisen daher nichts,
weil sie zu viel beweisen würden: sie müßten, konsequent zu
Ende gedacht, auch jede Darstellung physisch gegebener Körper
in einem geometrischen System, in welchem es feste Lagen und
Entfernungen gibt, verwehren". Hier und in den der zitierten
Stelle vorhergehenden Entwicklungen werden also vom kritizisti-
schen Gesichtspunkte aus im wesentlichen gerade die Konsequenzen
verworfen, zu denen sich die Naturwissenschaft jetzt gezwungen
sieht.
Gewiß hat Cassirer Recht mit seiner Meinung, daß die Be-
stätigung der Machschen Relativitätsbehauptung für sich noch
keinen zwingenden Beweis für die Notwendigkeit einer empiristi-
schen Interpretation der Einsteinschen Theorie liefere (S. 97) —
aber ein höchst bedeutsames Indizium bleibt sie doch. Und zwar,
wie ich glaube, kein trügerisches. Denn das erkenntnistheoretische
Motiv, das Mach und Einstein (sei es mit Recht pder Unrecht)
zu dem Postulat der Relativität aller Bewegungen führte, war
der Satz, daß Unterschiede des Wirklichen nur dort
angenommen werden dürfen, wo Unterschiede im
prinzipiell Erfahrbaren vorliegen. Diese fundamentale
Regel ist öfters ausgesprochen worden, auch von Metaphysikern
wie Leibniz, bei dem sie gleich in zwei Gestalten erscheint, näm-
lich als principium identitatis indiscernibilium und als principe de
Tobservabilite (in letzterer Form führt es auch Cassirer S. 37 an) ;
aber von der Aufstellung bis zum konsequenten Festhalten und
Durchführen der Regel ist noch ein großer Schritt. Wird der
Grundsatz jedoch in seiner wahrhaft fundamentalen Bedeutung
erkannt und gewürdigt, so läßt er sich, wie ich glaube, zum
obersten Prinzip aller empiristischen Philosophie erheben, zur
1) Ilse Schneider (l. c. S. 14) zitiert die entsprechende Kantstelle beifällig,
■weil sie Kant als Gegner der absoluten Bewegung erscheinen läßt, aber sie yer-
gißt, daß jene Unterscheidungen gerade vom Standpunkt der Relativitätstheorie
eine Ungeheuerlichkeit darstellen.
108 Moritz Schlick,
letzten Richtschnur, die bei der Stellungnahme zu jeder Einzel-
frage maßgebend sein muß, und deren unerbittliche Anwendung
auf alle Spezialprobleme ein Verfahren von höchster Fruchtbarkeit
darstellt. Ist diese Auffassung richtig, so wäre damit allerdings
der Zusammenhang der Relativitätslehre mit der empiristischen
Erkenntnistheorie als ein innerlicher, streng sachlicher, als nicht
bloß äußerer und zufälliger erkannt.
Im letzten Kapitel seines Buches betont Cassirer mit Nach-
druck, daß der Raum und die Zeit der Relativitätstheorie eben
Raum und Zeit der Physik sind, nicht der Wirklichkeit schlecht-
hin, sodaß ihnen etwa der Raum und die Zeit der Psychologie
als etwas gänzlich Heterogenes gegenüberstehen. Es ist in der
Tat von größter Wichtigkeit, sich stets darüber klar zu sein, daß
man von Raum und Zeit in völlig verschiedenen Bedeutungen
reden kann — am wichtigsten gerade auch für den, dem es
schließlich auf die Erkenntnis des Zusammenhanges dieser ver-
schiedenen Bedeutungen ankommt. Wenn ich an andern Stellen1)
den psychologischen Raum (und die Zeit) als das rein Anschauliche
dem physikalischen als einer rein begrifflichen Konstruktion gegen-
überstellte, so war ich mir wohl bewußt, daß die „Anschauung"
bei Kant in einer ganz andern Weise abgegrenzt wird. In diesem
Punkte bin ich von einer Reihe von Kritikern mißverstanden
worden. Cassirer erklärt2) Kants reine Anschauung als eine be-
stimmte „Methode der Objektivierung": das ist sie freilich auch,
aber ihr Wesen erschöpft sich nicht darin. Gewiß wollte Kant
alles Psychologische aus ihr entfernen - — aber ich werde mich
niemals überzeugen können, daß es ihm gelungen ist. Denn es
kann eben nicht gelingen3) ohne die Anwendung der einzigen
Methode, die das rein Begriffliche der Geometrie vom Psycholo-
gisch-Anschaulichen zu trennen ermöglicht : das ist die Methode
der impliziten Definition, die erst in der modernen Mathematik
ausgebildet wurde4). Ohne sie ist es nicht einmal möglich, die
Idee eines reinen Begriffs zu fassen und in seiner Ablösung von
allen psychologischen Momenten zu verstehen. Kants reiner An-
schauungsraum enthält also notwendig solche Momente, sie geben
dem Raumbegriff den Inhalt, ohne den er für Kant „leer" wäre.
1) „Raum und Zeit" 3, S. 81, „Allgemeine Erkenntnislehre", S. 301.
2) S. 123, 124, Anmerkung.
3) Wie sich z. B. aus den Ausführungen Selliens (1. c. S. 40) erkennen läßt.
4) Vgl. „Allgemeine Erkenntnislehre", S. 30 ff.
Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? 109
Sein Raum ist ihm zwar identisch mit dem Raum Newtons (dies
ist auch die Meinung Cassirers, die ich stets geteilt habe ; Sellien *)
jedoch, den Cassirer sonst zustimmend zitiert, scheint ihr zu
widersprechen), aber der Newtonsche Raum ist auch bei ihm eben ein
anschaulicher, noch nicht gereinigt von den Elementen, die wir noch
als psychologisch bezeichnen müssen. So ist Kants reine An-
schauung — wie es auch durchaus der verbreiteten Meinung von
Raum und Zeit entspricht — ein Mittelding zwischen rein Begriff-
lichem und psychologisch Anschaulichem; und da ich es für eins
der wichtigsten Ergebnisse der modernen Theorie der exakten
Wissenschaft halte (in diesem Punkte hat sich Henri Poincare
besonders große philosophische Verdienste erworben), daß es solch
eine Mischung, solch ein Mittelding eben nicht gibt, so mußte
ich einerseits die Existenz einer reinen Anschauung im Sinne
Kants leugnen (Allgem. Erkenntnislehre, S. 302) und durfte von
einer Vermengung des physischen Raumbegriffs mit seinen sinn-
lichen Repräsentanten sprechen (Raum und Zeit, S. 83) ; anderer-
seits mußte ich erklären, daß in der Lehre von den bloß subjek-
tiven Anschauungsformen eben insofern ein richtiger Kern zu
finden ist, als sie noch von psychologischen Momenten nicht ganz
entblößt sind. Diese Ansichten vermag ich also nicht aufzugeben.
Die Verfolgung des Bedeutungswandels der Termini Raum
und Zeit durch die verschiedenen Gebiete des Geisteslebens gibt
Cassirer Gelegenheit, seine Betrachtung der Relativitätslehre groß-
zügig in umfassendere Zusammenhänge einzuordnen und außer dem
Lichte der speziellen Erkenntniskritik auch die Strahlen der syste-
matischen Philosophie auf sie zu richten. So schließt das Buch
mit einem Umblick, dessen Weite der Höhe des eingenommenen
Standpunktes entspricht. Wir scheiden mit dem Eindruck, daß
dieser Standpunkt über die Region des eigentlichen Kritizismus doch
schon hinausliegt, und daß es Cassirer nur hierdurch gelang, der
Relativitätstheorie philosophisch in dem Maße gerecht zu werden,
wie es in dem geistvollen und gedankenreichen Buche geschieht.
Gern willfahre ich der Aufforderung der Leitung der Kant-
studien, bei dieser Gelegenheit noch über zwei andere Bücher zur
Einsteinschen Lehre kurz zu berichten, denn es handelt sich um
1) 1. c. S. 16. Dort ist von der Zeit die Rede; Tom Raum aber gelten die
Argumente in gleicher Weise.
110 Moritz Schlick,
Schriften, von denen zu sprechen sich lohnt. Die erste, verfaßt
von Max Born1), gibt eine glänzende, ausführliche Darstellung
der Einsteinschen Lehre vom Standpunkt des Physikers aus. Sie
füllt in überaus trefflicher Weise eine sehr fühlbare Lücke der
Einstein -Literatur, denn während die bis dahin vorhandenen
gemeinverständlichen Einführungen in die Theorie bei der Be-
sprechung ihrer physikalischen Grundbegriffe sich auf das not-
wendigste beschränkten, erscheint die Theorie in dem Bornschen
Buche zum ersten Mal nicht von ihrem natürlichen Hintergrunde
abgelöst, sondern es wird gerade auf ihre Einordnung in das
System der Physik großes Gewicht gelegt, klar treten die Zu-
zuammenhänge hervor, aus denen sie in Wirklichkeit erwachsen
ist. Für den Nichtphysiker ist es von höchstem Werte, in diese
Zusammenhänge eingeweiht zu werden, denn durch sie führt der
naturgemäße Weg zum Verständnis. Born ebnet diesen Weg nicht
nur durch Vermeidung aller höheren Mathematik, sondern selbst
Logarithmen und trigonometrische Funktionen kommen nicht vor.
Die Hauptsache aber ist: das Buch ist durch und durch das Werk
eines philosophischen Kopfes. Das zeigt sich nicht etwa darin,
daß Born den Gang seiner Darstellung durch philosophische Deu-
tungen und Abschweifungen unterbräche, sondern in der Höhe der
Gesichtspunkte, die den Aufbau bestimmen, und in der tiefen
Besinnung, die aus der Behandlung des Gegenstandes überall her-
vorleuchtet. Es zeigt sich ferner vor allem in der kurzen philo-
sophischen Einleitung, die geradezu klassisch anmutet in der
Wärme und der Prägnanz, mit der sie den Grundgedanken vor-
trägt: daß das Absolute nur im Umkreis des Subjektiven zu
finden ist, und daß der denkende Geist in die Sphäre der objek-
tiven Geltung nur vordringen kann, indem er das Absolute opfert,
um Erkenntnis des Relativen dafür einzutauschen. Fürwahr eine
fundamentale Einsicht, die nicht nur in der theoretischen Wissen-
schaft offenbar wird, sondern nach meiner Überzeugung sich auch
in der praktischen Philosophie bewährt.
Die zweite Schrift ist das Büchlein „Relativitätstheorie und
Erkenntnis a priori" von Hans R eichen bach (Berlin 1920). Es
stellt zweifellos einen großen Fortschritt in der logischen Deutung
der Einsteinschen Lehre dar. Reichenbach leuchtet durch eine
1) Die Relativitätstheorie Einsteins und ihre physikalischen Grundlagen ge-
meinverständlich dargestellt, mit 129 Abbildungen und einem Porträt. Springer,
Berlin 1920.
Kritizistische oder empiristische Deutung der neuen Physik? 111
Art axiomatischer Methode in sehr scharfsinnigen und selbstän-
digen Ausführungen in die logischen Grundlagen der Relativitäts-
theorie hinein und liefert dabei durch Aufdeckung gewisser ver-
steckterer Prinzipien (er spricht z. B. von einem „Prinzip des
approximierbaren Ideals ", einem „Prinzip der normalen Induktion"
usw.) einen wertvollen Beitrag zur Logik der exakten Wissen-
schaft überhaupt. Er gelangt zu dem Resultat, daß Einsteins
Theorie mit der ursprünglichen Kantschen Lehre nicht vereinbar
sei, und er nimmt eine solche Umbildung des Aprioribegriffs vor,
daß die Relativitätstheorie ihm nicht mehr widerspricht und, wie
er meint, der wichtigste Grundgedanke der Kantschen Philosophie
aufrecht erhalten bleibt. Diesen Grundgedanken glaubt er nämlich
in der Einsicht zu finden, daß jede Erkenntnis nur durch die logi-
sche Voraussetzung gewisser Prinzipien möglich wird, die ihren
Gegenstand überhaupt erst konstituieren. Solche Prinzipien nennt
er a priori, läßt aber das Merkmal der Apodiktizität fallen; sie
sind also nicht notwendig, und fortschreitende Erfahrung kann
Anlaß zu ihrer Modifikation geben. „Apriori bedeutet: vor der
Erkenntnis, aber nicht : für alle Zeit, und nicht : unabhängig von
der Erfahrung" (S. 100). Nach dem oben (S. 98) Gesagten scheint
mir der Boden des Kritizismus damit vollständig verlassen zu
sein; und Reichenbachs Prinzipien a priori würde ich als Kon-
ventionen im Sinne Poincares bezeichnen. Die Terminologie des
Verfassers kann ich also nicht gutheißen, aber sachlich stimme
ich in den meisten wesentlichen Ergebnissen durchaus mit ihm
überein. Selbst in den Fragen, in bezug auf welche er in der
Schrift gegen mich Stellung nimmt, bestejit in Wahrheit keine
tiefgehende Verschiedenheit der Meinungen, wie eine briefliche
Erläuterung beider Standpunkte nachträglich ergeben hat. Aber
auch für den, der diesen Standpunkten fern steht, ist das Büchlein
wertvoll, denn eine philosophische Leistung, die sich durch Ori-
ginalität, Klarheit und Schärfe der Gedankenführung so auszeichnet
wie die vorliegende, muß dem Leser auch dann Genuß und Vorteil
bieten, wenn sie ihn zum Widerspruch anregt.
Philosophie und Leben.
Bemerkungen zu Heinrich Rickerts Buch: „Die Philosophie des
Lebens".
Von Max Frischeisen - Köhler.
Seitdem Dilthey und Eucken, Nietzsche und Simmel
dem Begriff des Lebens, den die zeitweise Vorherrschaft der bio-
logischen Denkweise fast ausschließlich auf die organischen Er-
scheinungen eingeschränkt hatte, den vollen Sinn wieder zurück-
gegeben haben, den er bereits bei H e r d e r undGroethe, Fichte
und den romantischen Denkern erreicht hatte, erheben sich allent-
halben Ansätze zu einer „Philosophie des Lebens", die trotz der
Vielfältigkeit der Tendenzen gemeinsame Grundzüge erkennen
lassen. Schon der Wortgebrauch und die nächsten Formulierungen
sind kennzeichnend. Das „Leben" und das „Erlebnis", das „Er-
leben" und das „Ausleben" erfreuen sich einer außerordentlichen
Beliebtheit. Über den „Sinn und Wert des Lebens", über „Er-
kennen und Leben" handeln zwei vielgelesene Werke von Eucken.
In einer „Lebensanschauung" hat Simmel vier Kapitel einer
„Metaphysik des Lebens" gegeben. Und schon wagen sich wieder
„Beiträge zu einer Philosophie des Lebens" hervor, wie einst,
da Karl Philipp Moritz solche herausgab, und es sind
sogar schon Vorlesungen über Lebensphilosophie gehalten worden,
deren Ankündigung unwillkürlich die Erinnerung an Friedrich
Schlegels „Vorlesungen über die Philosophie des Lebens" wach-
ruft. Diese Bewegung findet sich keineswegs nur in Deutschland.
Auch das Ausland bietet bemerkenswerte Parallelen, von denen
bei uns der französische Philosoph des Lebens, HenryBergson,
neben Gruyau am bekanntesten ist.
Die streng wissenschaftliche Philosophie, ob sie von Kant
oder von dem exakten Positivismus ausgeht, hat sich nun ihr
gegenüber bisher wesentlich ablehnend verhalten. Insbesondere
Philosophie und Leben. 113
hat der Neukantianismus in seinen verschiedenen Fraktionen eine
schroff abweisende Haltung eingenommen. Aber natürlich genügt
es auf die Datier nicht, die unter dem vieldeutigen Namen der
Lebensphilosophie sich einigenden Tendenzen nur durch stolzes
Schweigen zu ignorieren oder als Dilettantismus oder als „Psy-
chologismus" zu diskreditieren. Es ist daher zu begrüßen, daß
der Führer der südwestdeutschen Philosophenschule, Heinrich
Rickert1), sich zu einer Auseinandersetzung entschlossen hat,
welche unter Absehung von bloß historischen Schilderungen eine
grundsätzliche „Darstellung und Kritik der philosophischen Mode-
strömungen unserer Zeit" gibt. Damit ist das Problem einer Phi-
losophie des Lebens prinzipiell gestellt. Wie Ricke rts Buch ur-
sprünglich als Teil einer „allgemeinen Grundlegung der Philosophie"
das von ihm bereits seit längerem erwartete „ System der Philoso-
phie" einleiten sollte, beschränkt es sich nicht auf eine Einzelkritik,
sondern entwickelt mit der begrifflichen Klarheit, die alle Arbeiten
dieses Denkers auszeichnet, die Grundfrage in solcher Allgemein-
heit, daß seine Ausführungen fortan den Mittelpunkt der weiteren
Diskussionen bilden werden.
1.
Ich gebe zunächst eine Übersicht über Rick er ts Gedanken-
gang im engen Anschluß an seine Formulierungen.
Das erste, was eine Kritik der Lebensphilosophie festzustellen
hat, ist nach ihm, daß der moderne Lebensbegriff in der Regel zu
unbestimmt ist, um ohne genauere Determination das Fundament
einer wissenschaftlichen Philosophie zu bilden. Für die Wissen-
schaft ist vor allem die Auseinandersetzung von zwei prinzipiell
verschiedenen Begriffen des Lebens wichtig, von denen der eine eine
sehr umfassende Bedeutung hat, der andere dagegen sich auf einen
engeren Kreis von Lebenserscheinungen beschränkt. Jener geht
auf das Unmittelbare, Anschauliche, Intuitive im Gegensatz zum
Begriff, dieser auf das Organische, das Vitale, das Leben im
Gegensatz zum Toten. Charakteristisch für unsere Zeit ist, daß
in dem vieldeutigen Modeschlagwort sich intuitionistische und bio-
logistische Momente mischen. Aber ihre reinliche Trennung ist
für jede prinzipielle Auseinandersetzung Bedingung. Zunächst
1) Heinrich Rickert: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und
Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit. Tübingen 1920.
Kantstudien XXVI. 8
114 Max Fri8cheisen-Kö hier,
freilich reicht auch schon der unbestimmte Lebensbegriff aus, um
den Charakter der L^ebensphilosophie unserer Zeit nach einigen
allgemeinen Zügen angeben zu können. Sie wird darauf ausgehen,
mit dem Begriff des Lebens allein die gesamte Welt- und Lebens-
anschauung aufzubauen. Sie erklärt das Leben für das eigent-
liche Wesen des Weltalls und macht es zugleich zum Organon
seiner Erfassung. Es ist der Standpunkt der Lebensimmanenz,
der grundsätzlich kein Anderes oder kein Jenseits des Lebens
kennt, sondern das Leben nur am Leben mißt. Auf ihm soll das
Leben selber aus dem Leben heraus ohne Hilfe unserer Begriffe
philosophieren. Damit ist nicht nur ein Antiintellektualismus oder
ein Irrationalismus, sondern vor allem die Ablehnung jeder Form
eines Systems gefordert. Die Welt verstanden als Allleben paßt
in kein festes System hinein. Das lebendige Denken soll die
Statik des Systems ablösen und uns damit von jeder starren und
tötenden Systematik erlösen.
Aber diese summarische Charakteristik ist reichlich allgemein.
Sobald wir uns den einzelnen Vertretern der Lebensphilosophie
zuwenden, wird deutlich, daß entweder die intuitionistische Ten-
denz (wie etwa bei Dilthey, Simmel und Scheler) oder die
biologistische Tendenz (wie etwa bei Nietzsche und Bergs on)
vorherrscht. Die Kritik wird daher zunächst die Tragweite dieser
beiden Tendenzen, sofern sie den Rang philosophischer Prinzipien
beanspruchen, einzeln prüfen.
Was heißt „Erleben" und was sind „Erlebnisse", aus denen
allein eine Philosophie des Lebens sich aufbauen will? Versteht
man erstens unter Erlebnis alles Wissen und Erfahren von Etwas,
meint man also, daß alles Denken eines Denkbaren notwendig
Erlebnis sei, dann wird der Lebensbegriff völlig leer; denn ein
Wort, das jedes Denken eines jeden denkbaren Etwas bezeichnen
soll, verliert notwendig die prägnante Bedeutung. Eine solche
Terminologie, die nur die Neubenennung eines Sachverhaltes ist,
der für jede Art von Denken gilt, reicht daher in keiner Weise
hin, überhaupt irgend einen philosophischen Standpunkt abzu-
grenzen. Schränkt man Erleben in etwas engerer Fassung ein
auf „Gegeben" oder auch „Bewußt sein", so ergibt sich für eine
Philosophie, die bei dem Gregebenen oder Bewußten stehen bleibt,
der Standpunkt der Immanenz oder der reinen Erfahrung; aber
ein Fundament für eine Philosophie des Lebens in irgend einer
eigentümlichen Bedeutung gewährt dasselbe nicht.
Philosophie und Leben. 115
Identifiziert man zweitens das Erlebnis mit dem Unmittel-
baren, Ursprünglichen, d. h. den anschaulichen Lebensinhalten, in-
dem man dabei von jeder, insbesondere jeder begrifflichen Form
absieht, um das reine ungetrübte, unentstellte Leben in purer
Intuition zu erfassen, so erhält man zwar einen charakteristischen
und wohl abgrenzbaren Standpunkt der Betrachtung, der sich
aber zu einer Philosophie, die Wissenschaft sein will, nicht ent-
wickeln läßt. Denn je konsequenter man das Leben als reinen
Inhalt der Anschauung im Gegensatz zu jeder Verstandesform zu
erfassen sucht, um so mehr entfernt man sich damit vom wissen-
schaftlichen Denken überhaupt. So richtig es ist, daß die Philo-
sophie Inhalte braucht, und daß alle Inhalte, die wir begrifflich
formen wollen, auch anschaulich erlebt sein müssen, so richtig ist
auch, daß das bloß anschaulich intuitive Erleben der Inhalte für
sich noch keine Philosophie ist. Irgend welche Verstandesformen
bleiben unentbehrlich. Eine Philosophie, die auf sie wirklich ver-
zichten würde, könnte überhaupt nicht in sinnvollen Sätzen zum
Ausdruck gebracht werden. Absolute Formlosigkeit macht die
Wissenschaft nicht lebendig, sondern tötet sie. Und auch das ist
unmöglich, die Formen des Lebens, die nicht entbehrt werden
können, in das Leben selbst hinein zu ziehen. Denn Lebensformen,
d. h. Formen, die nur Leben sind, gibt es nicht. Lebendig ist
allein der Lebensinhalt. Erstreben wir eine Wissenschaft vom
Leben, so brauchen wir feste unlebendige Lebensformen, da andern-
falls von einem lebendigen, sich verändernden Leben überhaupt
nicht die Rede sein könnte. Weil es Veränderung gibt, sind die
Formen p&&&. Veränderung unveränderlich. Die Welt als Ganzes
ist nicht lebendig, sondern das Leben in der Welt ist lebendig.
Es gibt Leben im All, aber das All selbst ist nicht Leben.
Nun kann aber drittens das Erlebnis noch enger und be-
stimmter als das Erlebte verstanden werden, das für uns beson-
ders wesentlich, bedeutungsvoll, d. h. das mit einem Wert ver-
knüpft ist. Damit werden die Erlebnisse in prägnanter Bedeutung
aus der unübersehbaren Fülle sonst gleichgültiger Erlebnis inhalte
herausgehoben. Aber diese Heraushebung ist rein subjektiv und
individuell. Eine Philosophie, welche die wertvollen Erlebnisse
zum Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Weltbetrachtung er-
heben will, muß in allgemeiner, überindividueller, notwendiger und
mitteilbarer Weise die geforderte Scheidung unter den Erlebnissen
vollziehen. Ohne ein solches allgemeingültiges Prinzip der Aus-
8*
116 Max Frischeisen-Köhler,
wähl gibt es keine Wissenschaft und daher können wir mit dem
bloßen Erleben, auch wenn wir es anf die bedeutungsvollen In-
halte einschränken, nicht zum Aufbau einer Philosophie des Lebens
kommen. Wie immer wir also auch den intuitionistischen Lebens-
begriff verstehen : das Ergebnis ist das gleiche. Eine Philosophie,
die mit ihm allein auszukommen sucht, entbehrt der festen ord-
nenden Form gegenüber der verwirrenden Fülle der Inhalte, die
allein Wissenschaft ermöglicht. Ihr Prinzip ist das der Prinzipien-
losigkeit. Philosophie als ein theoretisches Nachdenken über die
Welt kann das Ziel, sie begrifflich zu beherrschen, sie zu organi-
sieren und eindeutig zu bestimmen, niemals zu Gunsten einer Hin-
gabe an den Anschauungsgehalt preisgeben, wenn sie sich nicht
selber aufgeben will. Das bloße Erleben des Lebens ist noch
kein Erkennen desselben. Der Dualismus von Leben und Begriff
ist niemals aufzuheben. „Als Forscher haben wir das Leben be-
grifflich zu beherrschen und zu befestigen und müssen daher aus
der bloß lebendigen Lebenszappelei heraus zur systematischen
Weltordnung".
Gegenüber der intuitionistischen Tendenz besitzt nun die b i o-
logistische von vornherein die große Überlegenheit, daß sie ein
klares, in der Wissenschaft von den Organismen bereits entwickeltes
Formprinzip besitzt. Ob es für die Begründung einer Philosophie
des Lebens ausreicht, wird davon abhängen, ob man von den or-
ganischen Lebensformen aus Formen und Normen für alles Leben
und schließlich für die Welt gewinnen kann. Es ist der natura-
listische Evolutionismus, der dies bejaht. Für die Gegenwart
kommt vor allem seine neuere antidarwinistische Ausprägung in
Betracht, die die aus der englischen Nationalökonomie stammenden
Gesichtspunkte der Selektion und Anpassung, die mechanische Ten-
denz und das Ideal der Lebensökonomie zurücktreten läßt, dafür
vielmehr das Organische dynamisch als schöpferische Entwicklung
auffaßt, als Wachstum und immer neue Kraftentfaltung, als Akti-
vität und Machtsteigerung, die keiner Ruhelage zustrebt, sondern
im heroischen Kampf und dem Aufsteigen der Vitalität selbst
ihren Sinn hat. Aber wie immer die biologischen Begriffe des
näheren bestimmt sein mögen: eine nur mit ihnen arbeitende Phi-
losophie kann nicht den Anspruch einer universalen Erkenntnis
der realen Welt erheben. Denn die Biologie beschränkt sich
ihrem Wesen nach auf einen Teil des Weltganzen und nur dieser
Beschränkung verdankt sie ihr festes Formprinzip. Der Biolo-
Philosophie und Leben. 117
gismus als Philosophie erhebt dagegen den Teil zum Ganzen und
verwickelt damit sich notwendigerweise in all die Schwierigkeiten,
die jedem spezialistischen Universalismus, der aus einem Teil das
Ganze erklären will, unvermeidlich sind. Auch kann sich der
Biologismus nicht darauf berufen, daß er, zumal wenn er die me-
chanisierende Lebensinterpretation ablehnt, wenigstens in der Be-
trachtung des Organischen das Leben in seiner unmittelbaren Rea-
lität erkenne und er daher wohl die biologischen Kategorien zu
Weltallkategorien erweitern dürfe, um durch diese das Wesen der
Wirklichkeit in der ganzen Welt zu erfassen. Denn mag es auch
sein, daß die moderne Biologie dem Leben näher als ein abstrakter
Mechanismus steht, so ist sie als eine Wissenschaft doch immer
auf Begriffe des Verstandes angewiesen. Auch die Biologie besitzt
wie jede Naturwissenschaft eine Lebensferne, um überhaupt als
Wissenschaft möglich zu sein. Es ist ihr daher ebenso wenig
möglich, den Kern der Welt in seinem begrifflich noch nicht be-
arbeiteten Ansichsein zu ergreifen, wie der Physik oder der Chemie.
Nur die Ungeklärtheit gewisser Begriffe, die der moderne Biolo-
gismus benutzt, kann den Schein vortäuschen, daß wir es in ihnen
nicht auch mit Produkten logischer Theorienbildung zu tun haben.
Die biologistische Lebensphilosophie besitzt somit nicht ein
besonderes Realitätsprinzip, das sie auch nur analogisch zum
Prinzip einer Welterklärung erheben könnte. Sie besitzt aber
auch kein Wertprinzip, das zur wissenschaftlichen Grundlegung
einer Lebensanschauung dienen könnte. Denn auch ihr fehlt jedes
Prinzip der Auswahl, um in der Fülle des Lebens sinnvolles und
sinnloses Leben von einander zu scheiden. In dem Maße, in dem
sie als objektive Forschung die anthropomorphistischen Schätzungen
und wertteleologischen Begriffsbildungen ausscheidet, entschwindet
ihr die Möglichkeit, Normen für die Lebensgestaltung aufzustellen.
Das teleologische Moment, das die Biologie in der Organismen weit
anerkennt, ist noch kein wertteleologisches Moment. Die Begriffe
von Entwicklung und Entartung, vom aufsteigenden und vom
niedergehenden Leben, von Gesundheit und Krankheit, bilden vom
biologischen Standpunkt aus keinen Wertgegensatz. Auch die
bloße Lebendigkeit ist für sich betrachtet wertindifferent. Und
der Satz, daß der Sinn des Lebens das Leben selber sei, ist ein-
fach sinnlos. Die biologischen Begriffe sind mit allen Kultur-
werten verträglich und daher zur Begründung von keinem von
ihnen brauchbar. Nur insofern Leben Bedingung aller Kultur ist,
118 Max Frischeisen-Köhler,
kann ihm ein Bedingungswert zugesprochen werden. Auf ihn läßt
sich aber kein Biologismus als Weltanschauung stützen. Auch
wenn wir Lebendigkeit im Sinn von Lebenssteigerung und Macht-
entfaltung verstehen, ist die bloße Lebendigkeit nicht deswegen
schon erstrebenswert. Und ebenso ist das Preisen des „Willens
zur Macht" ohne jedes theoretische Fundament; es ist ein reiner
Akt der Willkür. So kommt der Biologismus, wenn er nicht
durch eine Erschleichung Werte ohne Begründung in das Leben
hineinsieht, über ein Wertchaos nicht hinaus und vermag die phi-
losophische Aufgabe, den Wertkosmos herauszuarbeiten, prinzipiell
nicht zu lösen.
Am allerwenigsten kann aber vom Biologismus aus, wie das
die moderne Lebensphilosophie nur zu gern tut, das System und
der Wille zum System abgelehnt werden. Von einem außer wissen-
schaftlichen Standpunkt aus ist der Kampf gegen das System ver-
ständlich und unwiderleglich. Stützt er sich aber auf theoretische
Gründe, so verwickelt er sich in einen unheilvollen Selbstwider-
spruch. Denn die Ablehnung jedes Systems hebt zugleich jede
Möglichkeit einer reinen Theorie, auch einer biologischen Theorie,
auf. Es hilft auch nichts, dem philosophischen Denken zwar eine
gewisse Systematik als Ordnungsschemata der Auffassung zuzu-
gestehen, die aber als beweglich und veränderlich nicht einmal
die Tendenz haben dürfen, sich zu einem starren System zu ver-
festigen. Der Gegensatz zwischen Systematik und System ist
undurchführbar. Es genügt für die reine Betrachtung, zumal wenn
sie wie in der Philosophie universal sein soll, nicht, daß ein Ma-
terial überhaupt irgendwie geordnet wird. Man muß vielmehr als
theoretischer Mensch die eine Ordnung für richtiger als die andere
halten und diese Überzeugung setzt voraus, daß es schließlich eine
und nur eine Ordnung gibt. Sie mag uns zwar unbekannt sein,
aber wir müssen sie als die wahre Ordnung voraussetzen, der sich
allmählich anzunähern das Ziel aller wissenschaftlichen Ordnungs-
versuche bildet. Das System ist nicht ein „Gehäuse", in dem der
Philosoph aus Not oder Angst einen Halt sucht, das aber das
fortschreitende Leben wieder sprengt und abwirft, sondern die
leitende Idee jeder Weltanschauung, die Wissenschaft sein will.
Daher darf der theoretische Mensch, falls_ er sich selbst versteht,
nur für eine Weltanschauung Partei ergreifen, innerhalb welcher
die reine Theorie einen Sinn hat.
Aus alledem folgt, daß der Lebensmonismus in jeder Weise
Philosophie und Leben. 119
ein unhaltbares Unternehmen ist. Ob wir das Leben intuitiv er-
fassen oder ob wir biologisch vorgehen: immer müssen wir das
Leben, wenn wir philosophierend es erkennen wollen, zu etwas
Anderem, das nicht Leben ist, in Beziehung setzen. Nur ein
Denken, das das Eine wie das Andere umspannt und in dieser
Dualität das Wesen der Welt erfaßt, kann wahrhaft universell
werden. Die Philosophie des bloßen Lebens dagegen kann zwar
Ausdruck einer Lebensstimmung sein, aber zu einem positiven
Aufbau vermag sie nicht zu gelangen. Ihre Bedeutung liegt daher
zu allen Zeiten, wann immer sie aufgetreten ist, vornehmlich in
einer Reaktion gegen einen einseitigen .Rationalismus. Insofern
sie die Besinnung auf die anschauliche und lebendige Unmittelbar-
keit des Lebens fordert, bereitet sie eine Einsicht in die Grenzen
des bloßen Verstandeswissens vor. Sie lehrt das Unberechenbare,
das Irrationale sehen, das es doch auch gibt. Sie bringt dem
wissenschaftlichen Menschen neues Material zur begrifflichen Bear-
beitung zum Bewußtsein. Und indem sie besonders das Indivi-
duelle, die fortschreitende Entwicklung, den Tatcharakter des leben-
digen Lebens betont, bildet sie gegenüber dem konservativen
Prinzip der Stabilität, das dem mathematisch orientierten Denken
nahe liegt, ein heilsames Gegengewicht. Und endlich rückt sie
mit dem Begriff des Lebens auch den des Wertes in den Vorder-
grund des Interesses. Da lebendiges Leben immer zugleich wer-
tendes Leben sein wird, führt das Lebensproblem notwendig zum
Wertproblem. Gestaltet sich aber die Lebensphilosophie zur Wert-
lehre aus und versteht sie das Wesen der zeitlosen theoretischen
Wertgeltung, so durchbricht sie das Prinzip der reinen Lebens-
immanenz und bereitet damit den Weg zu einer wahren Philo-
sophie des Lebens vor, die sich nur auf Grund eines Systems der
Werte erreichen läßt.
So führt die Kritik der Lebensphilosophie, indem sie ihre
Grenzen feststellt, zu dem Ausblick auf eine notwendige Aufgabe,
die aus ihr erwächst. Die Auseinandersetzung ist nicht nur ne-
gativ. Echte Kritik verneint niemals nur, sondern scheidet ledig-
lich das Unhaltbare von dem Richtigen. Daher kann und darf
sie der Lebensphilosophie unserer Zeit nicht jede positive Bedeu-
tung für die Wissenschaft absprechen wollen. Sie wird vielmehr
zu erkennen haben, wo in der Modeströmung die Ansatzpunkte
liegen, an welche die Philosophie anknüpfen kann.
120 Max Frischeisen-Köhler,
2.
Rickerts G-edankengang ist klar und geschlossen. Der
Hauptzweck, dem seine Schrift dienen soll, ist, zu zeigen, daß
man beim Philosophieren über das Leben mit dem Leben allein
nicht auskommt. Dieser Nachweis ist, so will mir scheinen,
vollgültig erbracht. Gerade weil ich in manchen Einzelheiten
Ricke rt nicht zu folgen vermag und seine Ausführungen in ver-
schiedener Hinsicht der Ergänzung für bedürftig und fähig halte,
möchte ich zunächst die volle Übereinstimmung mit der wichtigsten
These seiner Schrift unterstreichen. Und wenn aus Gründen der
Sache es stets Philosophie schwerer als andere Wissenschaften haben
wird, ihren Charakter als Wissenschaft zu behaupten, wenn gerade
die Intuition jederzeit eine gefährliche Einbruchsstelle für dunkle
Erleuchtungen aller Art und der nie erlöschenden mythenbildenden
Triebe bezeichnet, so dürfte eine so scharfe und temperamentvolle
Ermahnung zu logischer Zucht und Verantwortlichkeit, wie sie hier
gegeben ist, immer wieder, zumal auch in der Gegenwart, ganz
besonders angebracht und verdienstvoll sein.
Fraglich erscheint mir dagegen, ob Rickerts scharfsinnige
Erörterungen das durch die Lebensphilosophie gestellte Problem
in seinem gesamten Umfange umfassen und erschöpfen. Freilich
kommt es ihm in erster Linie auf Überwindung einer „Modeströ-
mung" an. Aber gerade die Energie, mit der er diese Überwin-
dung zu einer großzügigen und einheitlichen philosophischen Aus-
einandersetzung von grundsätzlicher Bedeutung erhebt, fordert
dazu auf, über die zweifellosen Unzulänglichkeiten der fraglichen
Lebensphilosophie den prinzipiellen Sinn ihres Unternehmens nach
den Intentionen ihrer wirklich führenden Vertreter zu bestimmen.
Die Auseinandersetzung mit ihr wird dann am fruchtbarsten sein,
wenn sie an ihre stärksten Seiten anknüpft.
Und da scheint mir zunächst die allgemeine Kennzeichnung,
welche Rickert von der zeitgenössischen Lebensphilosophie gibt,
nicht allen gedanklichen Motiven, welche sich in ihr verbinden,
gerecht zu werden oder sie doch nicht in dem Umfang, den gerade
eine systematische Klärung erheischt, zu würdigen. Wollen wirk-
lich ihre namhaftesten Vertreter beim Philosophieren über das
Leben allein mit dem Leben auskommen? Von Nietzsche mag
hier ganz abgesehen werden, zumal Rickert ihn zwar für einen
geistreichen Schriftsteller erklärt, aber nicht zu den großen Phi-
losophen zu rechnen vermag. Aber gilt jene Formel auch nur für
Philosophie und Leben. 121
Bergson? In der Schrift, in welcher Bergson am ausführ-
lichsten über seine Methode Rechenschaft ablegt, in der „Einfüh-
rung in die Metaphysik" wird zwar die Rekonstruktion des be-
weglichen, allein durch einen intuitiven Akt zu erfassenden Wirk-
lichen durch feste Begriffe des Verstandes und ihre Kombina-
tionen abgelehnt, aber dafür ausdrücklich die Bildung von Be-
griffen gefordert, die verschieden von den gewöhnlichen, geschmei-
dig, beweglich, fast flüssig sind, um immer bereit zu sein, sich
den flüchtigen Formen der Intuition anzubilden. Des näheren wird
auf das Vorbild des Infinitesimalkalküls verwiesen, der prinzipiell
darauf ausgeht, dem Fertigen das Werdende zu substituieren.
Und dementsprechend wird für die Metaphysik gefordert, „quali-
tative Differenzierungen und Integrier ungen" auszuführen. Man
mag über dieses Vorhaben urteilen wie man will, aber man wird
nicht verkennen können, daß mit ihm eine theoretische Aufgabe
gestellt wird, die besonderer und gründlicher Prüfung wert ist.
Ahnlich verhält es sich aber auch mit Dilthey. Selbst
wenn man sich nur auf die bisher veröffentlichten Schriften stützt
(wesentliche Ergänzungen und Fortführungen aus der späteren
Zeit sind noch ungedruckt), dürfte die Behauptung, daß er auch
als Philosoph Historiker geblieben sei und der Geschichte seine
philosophischen Prinzipien entnehmen wollte, kaum berechtigt sein.
Schon seine Abhängigkeit von dem Positivismus , welche seine
Frühzeit kennzeichnet, und die ihm später eine Fessel geblieben
ist, läßt dieses Urteil fraglich erscheinen. Gewiß, seine persön-
lichste Anlage führte ihn wieder und immer wieder zur Geschichte,
deren grenzenlosen Reichtum mitfühlend zu verstehen und darzu-
stellen das Glück seines eigensten Schaffens war. Aber als Phi-
losoph hat er, wie man auch über seine eigenen philosophischen
Leistungen denken mag, nicht vor der Geschichte kapituliert. Das
vielverbreitete Mißverständnis hierüber ist zum Teil wohl dadurch
verschuldet, daß man vielleicht zu ausschließlich nur an seinen
Versuch zu einer allgemeinen Weltanschauungslehre denkt. Dem-
gegenüber ist zu betonen, daß Dilthey (wie er es z. B. in seiner
Abhandlung über das Wesen der Philosophie in der „Kultur der
Gegenwart" ausgeführt hat) Logik und Erkenntnistheorie als die
grundlegende Arbeit der Philosophie und als Ergänzung dazu
Philosophie als das System der immanenten Lebenswerte und das
der gegenständlichen Wirkungswerte als selbständige und dauernde
Aufgabe anerkannt hat. „Die Geschichte der Philosophie", so
122 Max Frischeisen-Köhler,
faßt er das Verhältnis von Historie nnd System zusammen, „über-
liefert der systematischen philosophischen Arbeit die drei Probleme
der Grundlegung, der Begründung und Zusammenfassung der Einzel-
wissenschaften und die Aufgabe der Auseinandersetzung mit dem
nie zur Ruhe zu bringenden Bedürfnis letzter Besinnung über Sein,
Grund, Wert, Zweck und deren Zusammenhang in der Weltan-
schauung, gleichviel in welcher Form und Richtung diese Ausein-
andersetzung stattfindet". Freilich, die Möglichkeit eine Weltan-
schauung mit den Mitteln der Wissenschaft als ein allgemeingül-
tiges System zu entwickeln, hat er immer bestritten. Hier wurde
ihm die geschichtliche Einsicht in die unvermeidliche Relativität
und Vergänglichkeit der metaphysischen Systeme (und nur um
diese, nicht um das System im Sinn der methodischen Grundlegung
der Kultur handelt es sich dabei) zum wichtigsten Instrument, um
die von der Erkenntniskritik des 18. Jahrhunderts von Kant
und dem Positivismus vollzogene Auflösung der Metaphysik zu
ihrer endgültigen Widerlegung fortzuführen. Daß sich hierbei ein
Widerspruch zwischen den schaffenden Geistern und dem geschicht-
lichen Bewußtsein ergibt, entging ihm#so wenig, daß er geradezu
diesen Widerspruch als „das eigenste still getragene Leiden der
gegenwärtigen Philosophie" bezeichnete. Und wenn er nun dazu
fortschritt, seine historische Phänomenologie der Metaphysik zu
einer Typenlehre der Weltanschauungen auszubilden, so wollte er
doch nicht nur, einem bloßen Instinkt folgend, diese friedlich neben
einander stellen. Indem er vielmehr bemüht war, in diesen Typen
eine spezifische Struktur aufzudecken, in ihrer Mannigfaltigkeit
ein durchgreifendes Bildungsgesetz nachzuweisen, strebte er, auch
wenn er dabei über psychologische Einkleidungen nicht hinauskam,
einer Art von Kategorienlehre des metaphysischen Bewußtseins
zu, die, wenigstens als Aufgabe, als eine nicht unwesentliche Vor-
bereitung zu einer „Logik der Philosophie" angesehen werden
kann. Angenommen selbst, daß seine eigenen Untersuchungen
(vielleicht gerade weil er tiefer als die meisten auch das partielle
und unveräußerliche Recht der nur relativ gültigen großen Welt-
ansichten zu würdigen vermochte) nicht zum systematischen Ab-
schluß gelangt sind ; angenommen weiter, daß möglicherweise seine
systematische Kraft zur Auflösung dieser Aufgabe überhaupt nicht
ausreichte; angenommen endlich, daß die psychologische Formu-
lierung den auch logischen Sinn seines Unternehmens überdeckte
(obwohl gerade Dilthey das aus polemischen Gründen nur zu
Philosophie und Leben. 123
gern zitierte Schreckgespenst einer rein naturwissenschaftlichen
Psychologie, die lediglich Kausalprozesse ohne Sinnbezug statuieren
soll, immer bekämpft hat): so genügt das alles doch nicht, um
ihm ohne Einschränkung die „Weltanschauung des Historismus",
die vom Prinzip der Prinzipienlosigkeit beherrscht sei und daher
sowohl antiphilosophisch als auch lebensvernichtend wirke, zuzu-
schreiben. Eben darum trifft auch der von Rick er t mit Zu-
stimmung zitierte Hinweis Husserls darauf, daß das geschicht-
liche Denken über die Wahrheit oder die Unwahrheit eines Ge-
dankens nichts entscheiden könne und somit in der Philosophie
ebensowenig maßgebend sei wie in der Mathematik, Dilthey nicht.
Philosophie als Weltanschauung ist eben nicht Mathematik, son-
dern das ist ja gerade die These, auf welche Diltheys Überle-
gungen abzielen, daß die metaphysischen Gedanken über das
Verhältnis von Seele und Welt, von Wert und Sein und über den
letzten Zusammenhang des Ganzen im Gegensatz zu den Wahr-
heiten der Mathematik, die wie die Erkenntnisse aller Sonder-
wissenschaften nur auf einen Teilinhalt, auf ein abstrakt isoliertes
Gegenstandsgebiet gehen und eben darum zur Allgemeingültigkeit
gebracht werden können, eine Totalität zum Ausdruck bringen
wollen, die wir wohl durch Denken in ihre Elemente zerlegen,
deren Einheit wir aber aus diesen Elementen nicht durch bloßes
Denken gewinnen können. Metaphysik als eine dem großen Kunst-
werk verwandte synthetische Schöpfung enthält daher auch immer
etwas von Offenbarung und von Erfahrungen, die nur dem metaphy-
sisch veranlagten Gemüt zugänglich sind, und ist immer auch Er-
gebnis einer freien verantwortlichen Entscheidung, einer persönlichen
Tat, die zugleich über alle Theorie hin ausgreifende Forderungen der
Lebens- und Zukunftsgestaltung enthält. Dieses ewige durch
seine Wissenschaftsform allein nicht erfaßbare metaphysische Be-
wußtsein der Person, das sich in der Behandlung blos intellek-
tueller Probleme nicht erschöpft, gewinnt Gestalt und Form aller-
dings nur in der Geschichte. Zu welchen Leistungen dieses meta-
physische Bewußtsein sich zu erheben vermag, ist daher nach
Dilthey nur ihr, nicht einer vorgreifenden abstrakten Theorie,
zu entnehmen. Und indem seine Weltanschauungslehre auf die
Mannigfaltigkeit der geschichtlich hervorgetretenen und immer
wiederkehrenden Typen der weltanschaulichen Bildungen hinweist,
möchte sie, und das ist ihre positive Wendung, uns sowohl hinter
den Systemen die Grundformen der nach ihrem Gehalt erfaßten
124 Max Frischeisen-Köhler,
Weltanschauungen, wie auch die Mehrseitigkeit des Weltganzen
sehen lassen, das bisher noch jedem Versuch, es in der Einheit
eines widerspruchsfreien Systems darzustellen, gespottet hat:
woraus denn erst die ganze Verantwortlichkeit einer wahrhaft
charaktervollen metaphysischen Neuschöpfung unter den Bedin-
gungen unseres Wissens erhellt.
Nun betont zwar Rick er t immer wieder, daß es sich ihm
nur um weitverbreitete Gedanken, nicht um einzelne Denkerper-
sönlichkeiten und deren zureichende Charakteristik handele. Seine
Argumentation gegen den Historismus als Weltanschauung wird
daher davon nicht berührt, ob nun gerade Dilthey mit Recht
als Repräsentant dieser Denkweise hingestellt wird. Aber unab-
hängig davon scheint mir auch die Auswahl der getroffenen Ge-
danken, die gewiß bei Ricke rt nicht prinzipienlos ist, nicht so
getroffen, daß alle wichtigen für die Lebensphilosophie der Gegen-
wart kennzeichnenden Gesichtspunkte zu hinreichender Berücksich-
tigung gelangen. Wie Rick er t selbst zugibt, ist bei einer Unter-
suchung über Recht und Bedeutung der Intuition als Erkenntnis-
quelle in erster Linie Husserls Phänomenologie zu nennen. Denn
sie fordert mit einem Radikalismus und einer logischen Schärfe
wie keine andere Schule der Gegenwart das unmittelbare Sehen,
das Sehen überhaupt als originär gebendes Bewußtsein, als die
letzte Rechtsquelle aller vernünftigen Behauptungen, die Wesens-
schau des vor allem theoretisierenden Denken selbst Gegebenen
oder zur Gegebenheit zu Bringenden als Grundlage der Philo-
sophie, sofern sie strenge Wissenschaft sein will. Indem von ihr
alle indirekten symbolisierenden und mathematisierenden Methoden,
der ganze Apparat von Schlüssen und Beweisen zurückgestellt
werden und die wissenschaftliche Arbeit der Philosophie auf eine
Sphäre direkter Intuition gewiesen wird, in der in schauender
Haltung Gegebenes erfaßt und zur Explikation gebracht werden
soll, wäre vorzüglich an dieser Phänomenologie, deren methodische
Eigenart von ihrem Begründer bereits eingehend entwickelt und
dargestellt worden ist, Sinn und Grenzen der Intuition überhaupt
zu prüfen. Gerade weil Husserl die Behauptung, daß Philo-
sophie überhaupt noch keine Wissenschaft sei, ja als Wissenschaft
nicht einmal einen Anfang genommen habe, mit der äußersten
Schroffheit und Schärfe vertritt, da nach ihm allein die Phäno-
menologie das Feld der echten Vernunftkritik eröffnet und die
Methodik kollektiver Arbeitsleistung im Sinn wahrer auf zeitlose
Philosophie und Leben. 125
Wahrheiten gerichteten Forschung gewährt, liegt es am nächsten,
von der phänomenologischen Position ans, auch wenn sie in ur-
sprünglicher Intention nicht der Lebensphilosophie dienen sollte/
das Problem des unmittelbar schauenden Verständnisses und der
begrifflichen Bearbeitung des Erschauten aufzurollen. Rick er t
begnügt sich indessen mit der Feststellung, daß durch bloße Wesens-
schau vereinzelter Phänomene der theoretische Kosmos nicht ge-
wonnen werden kann und nach den bisherigen Publikationen
Husserls die systematischen Gesichtspunkte für den Aufbau des
Ganzen noch nicht erkennbar sind. Im übrigen geht er aber auf
das Problem der Phänomenologie nicht ein. Dies ist deswegen um
so mehr zu bedauern, als Husserl dem Begriff der Anschauung
und Intuition eine Ausweitung gibt, die über die von Rickert
berücksichtigten Begriffsbestimmungen noch hinausgreift. Der Be-
griff der Anschauung verführt, wie er zunächst dem optisch-sinn-
lichen Gebiet entnommen worden ist, nur zu leicht dazu, ihn auf
den Sinn einer unmittelbaren Erfassung von Wirklichkeiten zu
beziehen. Aber in Husserls Begriff der Wesensschau wird
grundsätzlich diese Beziehung aufgehoben und die intuitive Erfas-
sung von daseinsfreien Gegebenheiten gelehrt. Durch die von
Husserl vorgeschlagene scharfe Scheidung von Tatsachen Wissen-
schaften und eidetischen Wissenschaften könnte aber gerade die
Lebensphilosophie eine methodologische Fortbildung erhalten, deren
Bedeutung nicht davon abhängt, ob etwa die Anwendung, die
Scheler von ihr gemacht hat, und gegen den sich Rickert mit
besonderem Nachdruck wendet, zureichend ist oder nicht.
Ebenso ist auffallend, daß Eucken keine besondere Berück-
sichtigung erfährt. Rickert rechnet ihn nicht zu den Lebens-
philosophen im engeren Sinn. Er meint, daß bei ihm die engste
Fühlung mit der klassischen deutschen Philosophie grundwesent-
lich ist; und wollte man den Lebensbegriff so umfassend nehmen,
daß auch Euckens „Geistesleben" darunter fällt, dann würde
das Schlagwort jede greifbare und prägnante Bedeutung verlieren.
Aber diese Bestimmung und Begrenzung scheint einigermaßen will-
kürlich. Es ist nicht einzusehen, warum die biologistische Lebens-
philosophie, die durch ihre Bezugnahme auf einen bestimmten Teil-
inhalt der Welt charakterisiert ist, einen Vorrang in der Be-
handlung vor jener philosophischen Richtung haben sollte, welche
von einem anderen Teil der Welt, nämlich dem geistesgeschicht-
lichen Leben des Menschen ihren Ausgang und ihre Erfüllung
126 Max Frisch eiseD-Köhler,
nimmt. Systematisch angesehen, ist diese letztere Richtung zweifel-
los viel bedeutsamer als der Biologismus auch in seiner neueren
Ausprägung, über den man ebenso wie über den älteren eigentlich
getrost die Akten schließen könnte. Denn schon der Begriff der
Anschauung erfährt durch Eucken wiederum nach einer anderen
Richtung hin eine entscheidende Erweiterung. Für ihn steht (wie
er etwa in „Erkennen und Leben" ausführt) nicht Anschauung
eines Tatbestandes, sondern Werdenlassen eines Lebens, Miterleben
der Wirklichkeit von Grund aus in Frage. Was gewöhnlich An-
schauung heißt, erscheint ihm viel zu passiv. Seine Forderung
einer inneren Bewältigung und vollen Durchleuchtung des Auf-
stiegs zu wirklichkeitsbildendem Schaffen, die uns von der bloßen
Abhängigkeit von den Eindrücken auf den Menschen frei macht,
weist ersichtlich im geschichtlichen und ideellen Zusammenhang
auf den Begriff der intellektuellen Anschauung, wie ihn Fichte
entwickelt hat, zurück. Es ist bezeichnend, daß Rackert, wo
er die intellektuelle Anschauung erwähnt, sie nur im Sinne der
Mystik versteht und von dieser überdies meint, daß sie in der
Modephilosophie keine Rolle spielt. Die intellektuelle Anschauung
dagegen, welche Fichte als „Faktum des Bewußtseins" und als
den „einzigen festen Standpunkt für alle Philosophie" ansah, geht
nach seiner ausdrücklichen Erklärung (z. B. Zweite Einleitung in
die Wissenschaftslehre) gar nicht auf ein Sein, sondern auf ein
Handeln. Sie ist ein unmittelbares, aber kein sinnliches Bewußt-
sein. Und zwar das Bewußtsein eines produktiven Tuns, nämlich
von den schöpferischen Tathandlungen des Bewußtseins. Wovon
die Wissenschaftslehre ausgeht (so heißt es sodann einmal- in der
Abhandlung „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche
Weltregierung"), läßt sich daher nicht begreifen noch durch Begriffe
mitteilen, sondern nur unmittelbar anschauen; wer diese An-
schauung nicht hat, für den bleibt die Wissenschaftslehre notwendig
grundlos und lediglich formal und mit ihm kann dieses System
schlechterdings nichts anfangen. Indem Eucken diesen aktivi-
stischen Sinn der Anschauung grundsätzlich wieder herstellt und
von ihm aus entwickelt, „was den wirklichen Philosophen von dem
mit Philosophie befaßten Gelehrten unterscheidet", der nur über
die Dinge von außen her reflektiert, und indem er weiter fordert,
daß das Gesamtbild, auf das unser Streben geht, nicht außerhalb
sondern innerhalb des Denkens entstehe, ja es erst überhaupt her-
zustellen sei, entwickelt er eine innere Verbindung von Denken
Philosophie und Leben. 127
und Leben, die das Logische nicht ausschaltet, aber streng auf
den Lebenskomplex bezieht, der im Bereich des Menschen als eine
eigene Welt erzeugt wird und ihm aus den Bewegungen des eigenen
Lebens zugeht. Hier ist, so scheint mir, der Anspruch einer auf
die innere Anschauung des Lebens gestützten Lebensmetaphysik
erhoben, deren methodische Möglichkeit bei einer Prüfung der
Lebensphilosophie nicht umgangen werden kann.
Aber selbst, wenn man deren Ausprägung in der Form, die
ihr Eucken gegeben hat, nicht für zureichend hält, erscheint die
Berücksichtigung aller Versuche, vom Begriff des Geistes aus den
des Lebens zu vertiefen, in besonderem Maße darum erforderlich,
weil durch den Begriff des Geistes das Philosophieren über das
Leben vielleicht gerade die Ergänzung durch das „Andere", das
jedenfalls der Begriff des Lebens in seinem biologischen Sinn
nicht gewährt und dessen Unentbehrlichkeit für die Philosophie
Rick er t nachgewiesen hat, erhalten kann. Dies fortschreitend
immer deutlicher erkannt und herausgearbeitet zu haben, macht,
wie mir scheint, vor allem die Bedeutung Simmeis aus. Auch
Ricke rt schätzt Simmel von allen modernen Philosophen des
Lebens am höchsten und wiederholt geht er auf seine Darlegungen
ein. Aber ich weiß nicht, ob seine Auseinandersetzung mit Simmeis
metaphysischem Lebensbegriff diesen nach seinem ganzen Gehalt
erschöpft. Rickert spitzt seine Ausführung auf den Nachweis
zu, daß Simmeis anscheinend so paradoxe Lehre von der „Im-
manenz der Transzendenz" rein wissenschaftlich nicht durchzu-
führen ist, weil sie uns an die Grenzen des Logischen, d. h. des
widerspruchslos Denkbaren bringt. Und diese Grenzen können
wir nicht überschreiten. Aber Rickert berücksichtigt dabei vor-
wiegend nur die Antinomie von Leben und Form, von Kontinuität
und Grenze, von unendlichem Strömen und Individualität. Wich-
tiger aber erscheint mir der Versuch Simmeis, in seinen Begriff
von Leben den Bezug auf die Idee, die Setzung ideeller Inhalte
und Welten hineinzunehmen, durch welche das Leben, sein Wesen
radikal ändernd, von der Stufe der Vitalexistenz zu der des Geistes
sich erhebt. Es sind dies Gedankengänge, die unmittelbar an die
Setzung des Nichtichs durch das Ich im Ich erinnern und die
jedenfalls durch den Hinweis auf gewisse formal-logische Schwierig-
keiten ihrer Darstellung nicht zu erledigen sind. Hier berühren
wir letzte Fragen. Und ob es nun möglich ist, sie theoretisch
abschließend zu beantworten: es ist doch bezeichnend, daß von
128 Max Frischeisen-Köhler,
einer ursprünglich biologistischen Leben sphilosophie ans folgerecht
der Anschluß an die große deutsche idealistische Tradition ge-
wonnen werden kann. Eben deshalb darf sine Kritik der Lebens-
philosophie sich nicht nur auf ihre biologistische Ausprägung mit
einigen Ausblicken auf weitergreifende Bemühungen intuitionistischer
Art begnügen, sondern ist doch wohl verpflichtet, das Problem der
Lebensphilosophie so allgemein zu fassen, daß es das der Philo-
sophie des geistigen Lebens mit umspannt.
Daher wäre es auch von besonderem Interesse gewesen, nä-
heres über die Stellungnahme Rick er ts zu der durch Troeltsch
angebahnten Geschichtsphilosophie zu erfahren. Bekanntlich stand
Troeltsch zeitweilig dem Gedankenkreis der südwestdeutschen
Philosophenschule nahe. Aber ihre Geltungslehre genügte seiner
auch von Dilthey beeinflußten Auffassung der geistigen Welt
nicht. So streng Troeltsch an den methodischen Forderungen
echter Wissenschaftlichkeit festhält, so wenig er geneigt ist, dem
bloßen Erleben sich zu überlassen, so entschieden tritt er jedem
das Leben und die Fülle der Geschichte vergewaltigenden Ratio-
nalismus entgegen und für das Leben im Ganzen, Beweglichen,
Schöpferischen und zwar im Erkennen wie in der Verantwort-
lichkeit persönlicher Entscheidung und Tat ein. Deutlich zeichnen
sich auch schon in seinen letzten Arbeiten die Umrisse einer
Kategorienlehre des geistigen Lebens ab, welche der Forderung
Diltheys nach einer „Kritik der historischen Vernunft" eine
tiefere Erfüllung versprechen, als Dilthey sie zu geben ver-
mocht hat, und die über die formale Logik der Geschichtswissen-
schaften und die abstrakte Wertlehre der südwestdeutschen Schule
unmittelbar auf Probleme einer Lebensphilosophie gerichtet ist.
Nach alledem möchte der Kreis dieser doch weiter zu ziehen
sein, als ihn Rick er t, indem er sie nur als Modeströmung wür-
digt, beschreibt. Wenn man das aber tut, dann gewinnt die Frage
nach der positiven Bedeutung, die der Lebensphilosophie für den
Aufbau der systematischen Philosophie zukommen kann, eine Be-
leuchtung, die, wie mir scheint, über Rickerts Entscheidung
hinausführt. Wie hier abzugrenzen ist und die Verteilung der
Gewichte zu erfolgen hat, das hängt vor allem davon ab, worin
der Charakter der systematischen Philosophie, genauer worin ihre
spezifische Aufgabe erblickt wird. Rick er t kennzeichnet nun
das Wesen der Philosophie als einer Universalwissenschaft im
Unterschied von den Spezial Wissenschaften durch vier Momente.
Philosophie und Leben. 129
Die Philosophie ist die Wissenschaft, die das Ganze der Welt zu
ihrem Gegenstand macht und also Begriffe für das Weltall zu
entwickeln hat, so daß sich dieses in ihnen als eine Einheit dar-
stellt. Aber zur Wissenschaft vom Weltall wird sie nur, wenn
sie auch den ganzen Menschen und sein Verhältnis zur Welt mit-
umfaßt und den Sinn des Menschenlebens deutet, der nur durch
eine Kenntnis der Werte gewonnen werden kann, die ihm Sinn
verleihen. Um das Weltganze ferner zu denken, müssen wir es
so denken, daß es alle zeitlichen Weltteile und damit zugleich die
Zeit selber umfaßt. Das Weltganze kann nicht in der Zeit sein,
sondern umgekehrt: die Zeit ist im Weltganzen. Infolgedessen
wird für die Universalwissenschaft auch das Verhältnis zum Zeit-
losen oder Ewigen ein Problem. Soll endlich die Philosophie Wissen-
schaft vom All sein, so muß sie einen streng systematischen Cha-
rakter tragen, d. h. all ihre verschiedenen Begriffe und Urteile
zu Gliedern eines einheitlich geordneten Gedanken - Ganzen zu-
sammenschließen. Wie die Wirklichkeit uns zuerst gegenübertritt,
bevor wir sie systematisch begreifen, ist sie überhaupt noch keine
Welt, sondern eine Anhäufung von Bruchstücken oder ein Chaos.
Die Philosophie aber hat die Welt in ihrer Totalität als Kosmos
zu erfassen und nur durch das System kommt sie vom theore-
tischen Chaos zum theoretisch begriffenen Kosmos. Denn Begriffe,
die nicht Glieder eines Systems sind, beziehen sich nur auf Teile,
und so lange es kein System gibt, fällt daher die Welt für uns
in ihre Teile auseinander. Zusammengefaßt: „Die Philosophie
sucht in Form eines Systems nach einer Weltanschauung, die so-
wohl die Zeitanschauung als auch die Lebensanschauung umfaßt
und so das zeitliche Leben im Zusammenhang mit dem über-
zeitlichen Wesen des Weltalls verstehen lehrt. Mehr kann sie
nicht wollen und auf weniger darf sie als universale Betrachtung
sich wenigstens der Absicht nach nicht beschränken".
Es ist nun aber charakteristisch, daß diese Aufgabenbestim-
mung in den abschließenden positiven Andeutungen eine wesent-
liche, ja grundlegende Einschränkung erfährt. Indem darauf hin-
gewiesen wird, daß die Wirklichkeit heute in allen ihren Teilen
von den Einzelwissenschaften als Material der Forschung beansprucht
wird, daher die Erkenntnis der Wirklichkeitstotalität eine Auf-
gabe ist, an der die Einzelwissenschaften in ihrer Gesamtheit
dauernd zu arbeiten haben, also ein Unternehmen, das sie mit
einem Schlage zu Ende führen wollte, von vornherein sinnlos
Kantstudien. XXVI. 9
130 Max Frischeisen-Köhler,
ist, ergibt sich, daß Philosophie universale Wirklichkeitserkenntnis
nur noch in dem Sinn erstreben kann, daß sie über die letzten
Ziele alles Wirklichkeitserkennens Klarheit zu schaffen sucht. So
verwandeln sich ihr die universalen Wissenschaftsprobleme in theo-
retische Wertfragen, der Begriff des Wirklichkeitsganzen in eine
Erkenntnisaufgabe, ihre Universalität in die Forderung, die von
der Gesamtheit der Einzeldisziplinen zu erarbeitenden Erkenntnisse
in ihrem theoretischen Sinn und in ihren letzten umfassenden
Zielen als ein einheitliches Ganzes zu deuten. Damit wandelt sich
aber zugleich auch der Standpunkt der Kritik. Während zunächst
Philosophie als eine Universalwissenschaft vorausgesetzt wurde,
welche das G-anze der Welt zu ihrem Gegenstand macht, wird
jetzt der Anspruch dahin ermäßigt, daß sie das Wirklichkeits-
ganze nicht unmittelbar, sondern mittelbar, so weit die Wissen-
schaft es als Ganzes überhaupt zu erfassen vermag, zu begreifen
hat. Wäre sogleich dieser engere, der kritische Begriff der
Philosophie zu Grunde gelegt worden, dann hätte sich ersichtlich
die Auseinandersetzung mit der Lebensphilosophie, sofern sie un-
mittelbar das Wirkliche zu erfassen oder das Ganze nach einem
ausgezeichneten Teilinhalt zu deuten versucht, offenbar wesentlich
vereinfachen lassen, da alsdann jeder Versuch, die Totalität des
Seins direkt zu erkennen, ob er sich nun der Intuition oder bio-
logischer Analogien bedient oder nicht, von vorn herein gerichtet
erscheint. Hält man dagegen den Begriff der Philosophie als
universaler Wissenschaft vom Weltganzen überhaupt für disku-
tabel, dann reicht die gegebene Kritik nicht aus, um den Anspruch
einer Lebensphilosophie, welche nicht sowohl vom Organischen als
vom Geistesleben etwa im Sinn von Eucken und Simmel aus-
geht, prinzipiell abzuweisen. Die große Bedeutung, welche dieser
Wechsel des Standpunktes für die Beurteilung der Lebensphilosophie
besitzt, zeigt sich darin, daß, wenn wir die kopernikanische Drehung
in ihrer ganzen Tragweite vollziehen und dementsprechend Philo-
sophie nur als Kulturkritik im Sinn einer erweiterten Erkenntnis-
kritik gelten lassen, der Beitrag, den die Lebensphilosophie für
den positiven Aufbau zu leisten vermag, von Rick er t offenbar
zu hoch eingeschätzt wird; suchen wir dagegen von der koperni-
kanischen Drehung wieder zu einer Philosophie der Welt zurück-
zukehren oder wenigstens jene durch eine solche, d. h. durch eine
Weltanschauung zu ergänzen, dann scheint ihr möglicher Beitrag
wiederum zu gering bemessen.
Philosophie und Leben. 131
Wenn Rickert für die geschichtliche Entwicklung der Phi-
losophie eine Art Rhythmus festzustellen sucht, wonach (natürlich
lediglich für die Durchschnittserscheinungen und im allgemeinen)
das Schema einer Abfolge von Scholastik, Verstandesaufklärung
und naturalistischer Reaktion die den großen schöpferischen System-
bildungen folgende geistige Bewegung kennzeichnet und wenn er
hierbei die modernen Geistesströmungen der letzten Phase dieses
Schemas unterordnet, nur daß, was im 18. Jahrhundert „Natur"
hieß, jetzt mit Vorliebe „Leben" genannt wird: so mag dies mit
gewissem Vorbehalt zutreffend sein. Aber es ist nicht ersichtlich,
welche positive Bereicherung eine rein kritische Philosophie, die
ihrer Aufgabe und ihrer Grenzen sich bewußt bleibt, von einer
solchen Reaktion zu erwarten hat. In den Einzelgebieten der
Kultur, in deren geschichtlicher Entwicklung ein analoger Rhyth-
mus zu erkennen ist, verhält es sich freilich anders. Besonders
deutlich ist das in Religion und Kunst. Wenn die ersten Gene-
rationen einer religiös oder künstlerisch schöpferischen Epoche
dahingegangen sind, wenn neben die von ursprünglichem Enthu-
siasmus ergriffenen Träger einer neuen Bewegung die zahlreichen
Jünger und Nachfolger treten, die das Erworbene lehrhaft über-
nehmen, weiter bilden und weiter geben, tritt allemal eine Erstar-
rung und Verarmung ein. Die unmittelbar aus dem erregten Ge-
mütsgrunde fließende Religiosität macht einer Religion der Tra-
dition, der Sitten, des Gesetzes, der Dogmenbildung Platz, die
Wirklichkeitsauffassung und -darstellung der genialen Phantasie
weicht einer festen Formensprache, Konvention und ästhetischer
Regelgebung. An die Stelle der Schöpfungen primärer Ordnung,
die aus unmittelbaren Quellen des Lebens fließen, treten Produkte
einer sekundären Ordnung, die reflexiv und reflektierend auf jene
bezogen sind und ihren Gehalt durch deren Faktum, wie es sich
vor allem in ihren äußeren Erscheinungsformen erfassen und über-
mitteln läßt, empfangen. Es ist das Schicksal des doppelten Evan-
geliums, das in vielfacher Abwandlung im einzelnen mit einer er-
staunlichen Regelmäßigkeit überall wiederzukehren scheint. Die
Folge ist, daß ebenso regelmäßig über kurz oder lang eine Reaktion
einsetzt, ein Protest gegen die Scholastik und die Konvention und
«in Ruf zur Rückkehr zur Ursprünglichkeit und zur Natur. Und
das will allerdings hier eine neue Wegbereitung, eine wahrhafte
Erweiterung, bisweilen eine vollkommen umgestaltende Bewegung
besagen. Etwas ähnliches gilt aber auch für die positive Wissen-
9*
132 Max Fri seh eisen-K öhler,
Schaft. Freilich läßt gerade die enge Beziehung, die zwischen
Theorie und Erfahrung zumal in Physik und Chemie erreicht ist,
die unauflösliche Verbindung, in welcher hier Forschung und Spe-
kulation sich gefunden haben, diese Schwankungen in der Ent-
wicklung einigermaßen zurücktreten. Aber ganz verschwunden
sind sie auch hier nicht, nur daß sie sich hier mehr als eine Gegen-
sätzlichkeit der Richtungen, die unter Umständen gleichzeitig
nebeneinander bestehen können, denn als ein Rhythmus in der
Aufeinanderfolge geltend machen. Deutlicher erkennbar ist ein
solcher in den biologischen und vor allem in den historischen
Wissenschaften, wo Gesamtauffassungen geschichtlicher Epochen,
etwa des Hellenentums, der jüdisch- christlichen Religionsentwick-
lung, des Mittelalters, die zeitweise dogmatische Geltung erlangt
haben, durch ein neu einsetzendes und erweitertes Quellenstudium
fast stoßartig erschüttert werden. Es handelt sich hierbei nicht
nur um die unvermeidliche Revision und Fortbildung von Hypo-
thesen auf Grund der fortschreitenden Erfahrung, sondern, wenn
auch in abgeschwächtem Maße, um einen ähnlichen Wechsel in der
Einstellung, um eine Reaktion gegen eine zur Dogmatik erstar-
rende Theorie durch eine entschiedene Hingabe an die Quellen
selbst und eine neu aus ihnen schöpfende Anschauung.
So ist für Religion, Kunst und positive Wissenschaft ohne
weiteres ersichtlich, welch eine gewaltige Bedeutung die „natu-
ralistische Reaktion" für die Erweiterung des geistigen Horizontes,
für die Erschließung neuer Seiten und Zusammenhänge, welche
bisher verborgen oder durch ein autoritativ gewordenes System
von Formen verdeckt waren, für den Durchbruch zu neuen Wegen
des gestaltenden und schaffenden Geistes besitzt. Hier wird wirk-
lich neues Material im weitesten Sinne des Wortes zu Tage ge-
fördert, das die Enge einer geltenden Dogmatik sprengt und uns
die Wirklichkeit umfassender und reicher sehen läßt. Aber die
kritische Philosophie, die ihrerseits auf jede Art von Wirklichkeits-
erkenntnis verzichtet und sich lediglich auf die Besinnung und
Bestimmung nur der allgemeinsten Erkenntnisziele beschränkt,
kann davon unmittelbar keine Förderung erwarten. Und" auch
mittelbar scheint ein Gewinn nur in Frage kommen zu können,
falls sie sich, was ja zweifelsohne Tatsache gewesen ist, allzu ein-
seitig auf eine spezielle, vielleicht gar eine zeitgeschichtlich be-
dingte Form der Wirklichkeitserkenntnis, wie etwa die Newtonsche
Naturwissenschaft, bezog und darüber andere Erkenntnisweisen,
Philosophie und Leben. 133
wie etwa die biologische oder die historische allzu sehr in den
Hintergrand treten ließ. Hat aber die kritische Philosophie ihre
Fragestellung auf alle Gebiete der Kultur ausgedehnt, dann kann
grundsätzlich eine periodische Erweiterung des jeweiligen Mate-
riales für ihre Probleme und die Rechtfertigung der konstitutiven
Bedingungen, welche Erkenntnis (im erfahrungswissenschaftlichen
Sinn des Wortes) und ihre Gegenstände überhaupt ermöglichen,
nicht mehr beeinträchtigen oder sachlich weiter bringen. Der ver-
änderliche Faktor der Kulturentwicklung wird für sie nur so weit
in Betracht kommen, als sie in der Veränderung die von aller
Veränderung unabhängigen, aber sie in gesetzmäßiger Richtung
beherrschenden Prinzipien wieder und wieder aufweist. Die Phi-
losophie als Erkenntnis- und Kulturkritik bringt ihrerseits das
Neue, das eine Rückkehr zur Natur oder zum Leben aufdeckt,
nicht selber unter Begriffe, da sie dies ein für allemal den Einzel-
wissenschaften überlassen hat. Und daß und wie unter Begriffe
zu bringen ist, das hat sie, sofern ihr überhaupt die Auflösung
ihrer Aufgabe gelungen ist, bereits geleistet. So bliebe allenfalls
nur noch die Erinnerung, daß die Welt unendlich viel mehr ist
als das, was restlos in die Begriffe des Verstandes eingeht, die
Warnung vor einem Panlogismus, der das Logische für die Sub-
stanz der Welt selber und nicht nur für das hält, womit man die
Welt denkt. Aber eine wahrhaft kritische Philosophie bedarf
hierzu des Hinweises auf das lebendige Leben, das stets irrational
ist, nicht. Und im übrigen läßt sich mit diesem Hinweis schlechter-
dings nichts anfangen, da er nur zu schweigender Mystik, aber
nicht zu irgend welchen Aussagen über dieses irrationale Leben,
die ja sofort eine erkennt aismäßige , den Einzelwissenschaften an-
heimfallende begriffliche Bearbeitung bedeuten würden, führt.
Freilich, wenn wir die kopernikanische Drehung nicht mit-
machen oder wenigstens zur Gewinnung einer Weltanschauung
(wodurch die Arbeit der Erkenntnistheorie keineswegs aufgehoben
wird) wieder rückgängig zu machen suchen, wenn wir Philosophie
nicht nur als Erkenntniskritik, sondern zugleich auch in dem vor-
kritischen Sinn als Universal Wissenschaft von der Welt anerkennen,
dann ändert sich die ganze Sachlage. Dann kann, auch wenn die
Philosophie an der Herrschaft des Logischen über die Welt fest-
hält, eine durch Rückkehr zur Unmittelbarkeit der Natur oder
des Lebens für sie von einer ebenso fundamentalen Wichtigkeit
wie für die einzelnen Kulturgebiete werden, sofern durch diese
134 Max Frischeisen-Köhler,
Rückkehr zumal im engsten Bund mit der forschenden Wissen-
schaft uns eine Seite an dem Wirklichen aufgeschlossen wird, die
bisher noch nicht gesehen und gewürdigt war. Ja, in diesem
Zusammenhang gewinnt gerade gegenwärtig die Lebensphiloso-
phie, mag sie nun überdies eine Modeströmung sein oder nicht,
eine ganz einzigartige Bedeutung. Denn von allem abgesehen,
was ihre verschiedenen Richtungen im einzelnen an neuen Er-
kenntnissen und Aufschlüssen darbieten wollen: darin stimmen
sie, wie weit sie sonst auch differieren mögen, überein, daß sie
wiederum der Welt sich unmittelbar, dem Objekt aller Erkenntnis
und nicht nur der Erkenntnis des Objektes, zuwenden. In dieser
Hinsicht ist ihre gemeinsame Frontstellung in der Ablehnung einer
bloß kritisch verfahrenden Philosophie klar und unverkennbar. Ihr
geht es in erster Linie um Durchbrechung der auf Erkennen des
Erkennens eingeschränkten kritischen Haltung. Sie will an die
Sachen selbst heran. Ein ungeheurer Hunger nach Wirklichkeit
treibt sie vorwärts. Und sie ist allerdings von der Überzeugung
geleitet, daß das unmittelbar Gegebene kein bloßes „Erlebnisge-
wühl", kein bloßes „ Chaos u ist, das allein durch die Begriffe des
darüber reflektierenden Verstandes zur Bestimmtheit gebracht und
zum Kosmos erhoben werden kann. Behauptungen dieser Art er-
scheinen ihr vielmehr von vornherein eine dogmatische und über-
dies unbeweisbare und unhaltbare Prämisse zu sein. Gewiß kämpft
sie dabei einen Kampf nach zwei Fronten. Indem sie gegen den
Kritizismus wie einst Schelling „den Durchbruch aus dem Netz
des subjektiven Bewußtseins in das offene Feld der objektiven
Wirklichkeit" unternimmt, wendet sie sich zugleich gegen jede
Art von offener oder verkappter materialistischer Metaphysik und
gegen eine einseitige mechanische Weltvorstellung, die etwa den
Anspruch auf die allein zureichende Wirklichkeitserkenntnis er-
hebt. Aber systematisch angesehen ist diese Auseinandersetzung
mit einem Feind, der für die kritische Philosophie als ernsthafter
Gegner schon längst nicht mehr in Betracht kommt, sehr viel we-
niger wichtig als die Auseinandersetzung mit eben dem Kritizis-
mus und allem „formalen" Idealismus. Dieser Anspruch begründet
eine Bedeutung der Lebensphilosophie, deren prinzipielle Trag-
weite aus Rickerts Darlegungen nicht erhellt. Wie unzuläng-
lich und unfertig noch alles in dieser Bewegung sein mag, sie
selber beginnt doch allenthalben, die bisher feste Position des
Kritizismus zu erschüttern. Es ist die ernsteste philosophische
Philosophie und Leben. 135
Frage der Gegenwart, wie weit derselbe sie zu halten und zu
sichern vermag. Denn zugleich ist unverkennbar, daß der Kriti-
zismus selber in ein kritisches Stadium eingetreten ist. Erwägt
man, um nur einige Beispiele herauszugreifen, die Entwicklung
etwa von Troeltsch oder betrachtet man die immer deutlicher
hervortretende Wendung des Marburger Neukantianismus zu einer
Metaphysik in Annäherung an Hegel, für welche auch die letzte
überraschende und noch nicht abgeschlossene Entwicklung Natorps
als ein bedeutungsvolles Symptom angezogen werden darf, so ist
offenbar, daß wenigstens in den führenden Eichtungen des mo-
dernen Kritizismus eine Krisis bevorsteht, wenn sie nicht schon
offen ausgebrochen ist. Alles spricht dafür, daß wir uns in einer
ähnlichen geschichtlichen Lage wie zu jener Zeit befinden, da das
kantische System, das jeder Art von Dogmatismus ein Ende be-
reiten wollte, selber der Ausgangspunkt für die größte Entwick-
lung der Metaphysik, welche die neuere Zeit kennt, geworden ist.
Und nun begegnet sich mit dieser immanenten durch die Verschär-
fung und Vertiefung der eigenen Voraussetzungen des Kritizismus
eingeleiteten Bewegung die Lebensphilosophie, die mit leidenschaft-
lichem Pathos eine neue Axendrehung der gesamten philosophischen
Einstellung fordert. Auch hierin tritt eine eigentümliche Ähn-
lichkeit mit jener Epoche hervor. Denn es ist kaum zweifelhaft,
daß es, wie schon die historische Abhängigkeit der modernen
Lebensphilosophen von dem deutschen spekulativen Idealismus er-
weist, verwandte Mächte sind, die heut wie einst den Kritizismus
bedrohen und einer Philosophie der Welt, die aus wirklicher An-
schauung der Welt entspringt und die Fesseln des formalen Idea-
lismus wie einer mechanisch-naturalistischen Weltinterpretation zu
sprengen sucht, sich zuwenden. Hier liegt, wie mir scheint, das
eigentliche Problem, das die Lebensphilosophie unserer Tage uns
stellt, und hierin, in der Neuforderung einer Revision der Frage-
stellung wie der Prinzipien des Kritizismus, ihre wichtige Bedeu-
tung. Die Lebensphilosophie mag eine Modeströmung sein; aber
sie ist doch zugleich ein Anzeichen für ein tiefes Sehnen unserer
Zeit nach einer inhaltlichen, sachlichen Auffassung des Wirk-
lichen, dem weder die positivistische noch die kritizistische Zu-
rückhaltung, bei aller Anerkennung des sittlichen Idealismus,
der namentlich auch in letzterer sich bekundet, Genüge gewährt.
Mag sie noch so sehr irren, wenn sie zu ungeduldig auf bloße
Intuitionen sich stützt und zu vorschnell in einigen nichtmecha-
136 Max Frischeisen-Köhler
nischen Analogien die zureichenden Symbole für das, was unser
Herz wiederum aus den Dingen herauszuhören beginnt, zu finden
glaubt. Aber sie ist doch ein Versuch und ein erstes Wagnis
zu neuer Fahrt auf dem unendlichen Meer, das die kleine Insel
der selbstgenügsamen sicheren, allgemeingültigen, logisch-formalen
Erkenntnisse umbrandet. Wird der Kritizismus stark genug
sein, diesem stürmischen Begehren nach neuer Welterfahrung und
Welt Vertiefung gegenüber die von ihm als unverrückbar behaup-
teten Erkenntnisgrenzen aufrecht zu halten? Oder wird er elastisch
genug sein, um auch diese Wendung in sich aufzunehmen, ja viel-
leicht mit dem so außerordentlich verfeinerten Rüstzeug seiner
Methodik zu leiten und gegen den Überschwang und die unver-
kennbaren Gefahren des Dilettantismus zu schützen? Hier ent-
springen Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die jedem, dem Phi-
losophie mehr als eine bloß scharfsinnige Gedankenleistung, näm-
lich eine Herzenssache ist, die Seele erfüllen.
Ist doch auch noch gar nicht abzusehen, ob nicht eben da-
durch der Begriff von System, der als das formale Merkmal
der Philosophie in diesen Überlegungen eine so entscheidende Rolle
spielt, eine wesentliche Änderung und Umgestaltung erfährt. Nur
andeutungsweise mag dieser Punkt zum Schluß noch gestreift
werden. Indem Ricke rt die Unentbehrlichkeit der Form des
Systems für die wissenschaftliche Philosophie betont, hebt er zu-
gleich hervor, daß jeder Philosophie des Lebens notwendig die
Form des Systems fehlen muß. Aber was heißt System? Die
Angabe, daß es ein geordnetes Ganzes von Begriffen sei, ist nicht
gerade sehr aufklärend und jedenfalls nicht zureichend. Es ist
sehr merkwürdig, daß wir, wo in der Gegenwart so viel über die
Bedeutung des Systemgedankens geredet wird, eine einigermaßen
erschöpfende Untersuchung auch nur der in der Geschichte bisher
vorliegenden Systemformen noch nicht besitzen. Eine solche Unter-
suchung , die ebenfalls eine wichtige Aufgabe einer künftigen
„Logik der Philosophie" ist, wird eine ganze Mannigfaltigkeit von
Systemformen zu scheiden haben. Sie wird zunächst die äußer-
liche systematische Darstellung, die stets ein Produkt des nach-
träglich reflektierenden Verstandes und daher vorzüglichstes Ge-
schäft des schulmäßigen Betriebes ist, von dem inneren systema-
tischen Geist zu trennen haben, der das Gefüge einer Weltansicht
mit zwingender Konsequenz auch dann durchdringen und gestalten
kann, wenn diese bisher noch niemals in formal korrekter und
Philosophie und Leben. 137
logisch befriedigender Weise zur Darstellung gebracht worden ist.
Es könnte sein, daß in sehr speziellen, gar nicht auf ein System
abzielenden Untersuchungen, wie etwa in denen von Galilei,
mehr von systematischem Geist als in einem ausgeführten System
der Philosophie auch von Rang, wie es etwa das von Hobbes
ist, lebt. Und weiter genügt ein Blick auf Piaton und Plotin,
Descartes und Leibniz, Hegel und Spencer, um zu sehen,
daß die Idee des Systems so wenig wie der Begriff irgend einer
Form unabhängig von der Materie, die es gestalten und darstellen
soll, bestimmt werden kann. Endlich greift fast unvermeidlich ein
Werturteil über das, was man für den Charakter des „wahren"
oder „echten" Systems hält, ein. Aber man wird sich hüten
müssen, die besondere Systemform, die man selber für die allein
richtige hält, als Kriterium für den Systemwert philosophischer
Lehren überhaupt zu fordern. So lange alle diese Dinge nicht
hinreichend geklärt sind, kann die allgemeine Behauptung, daß
jeder Philosophie des Lebens notwendig die Form des Systems
fehlen muß, nicht ohne weiteres als zu Recht bestehend angesehen
werden.
Immerhin mag, um wenigstens die hier auftretenden Schwie-
rigkeiten anzudeuten, auf das Beispiel von Hegel hingewiesen
werden. Niemand hat schärfer als Hegel in der berühmten Vor-
rede zu der Phänomenologie des Geistes betont, daß „die wahre
Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert, allein das wissenschaft-
liche System derselben sein kann". Und indem er sich vorgesetzt
hat, daran mitzuarbeiten, daß die Philosophie der Form der
Wissenschaft näher komme, indem er fordert, die Anstrengung
des Begriffs auf sich zu nehmen, lehnt er, wie man weiß, jedes
unmittelbare Wissen des Absoluten, die Ekstase, das bloße Ahnen,
das prophetische Reden, die Begeisterung, die wie aus der Pistole
mit dem absoluten Wissen unmittelbar anfängt, schroff ab. Und
doch kann man, wie Rick er t ausdrücklich gelegentlich zugibt,
den jungen Hegel zu den Lebensphilosophen rechnen und eben
von der Phänomenologie erklärt er, daß sie Gemeinsames mit den
Modetendenzen zeigt. Es will ja auch in der Tat dieses System
das Sein als lebendige Substanz, als sich entwickelnden Geist, als
Entfaltung zum organischen Ganzen und in seiner Totalität, als in-
neres Leben und Selbstbewegung des Daseins, als Ich oder das
Werden überhaupt, d. h. die Substanz wesentlich als Subjekt er-
fassen. Freilich bedarf es zu seiner Durchführung als Wissenschaft
138 Max Frischeisen-Köhler, Philosophie und Leben.
einer Logik, welche weder die formale Logik, noch die Logik der
Einzelwissenschaften, noch die transzendentale Logik ist. Die Idee
des Systems realisiert sich für Hegel in der dialektischen Selbst-
bewegung der Begriffe. Man mag nun alle Einwände, die gegen
Hegels dialektische Methode und namentlich gegen ihre Ausar-
tungen in seiner Schule erhoben worden sind, von vornherein zu-
geben. Daß durch sie zum mindesten ein Problem ersten Ranges
gestellt ist, das noch keineswegs als erledigt und abgetan betrachtet
werden kann, dürfte kaum einem Zweifel unterliegen. Wiederum
ist bezeichnend, daß die moderne Lebensphilosophie von den ver-
schiedensten Seiten aus wie unwillkürlich sich zu den Aufgaben
einer dialektischen Logik fortgeführt sieht.
Das heißt nicht, daß wir, wie Rickert es als möglich er-
klärt, heute erst durch den Hegelianismus hindurchmüssen, ehe
wir uns wieder zum selbständigen Philosophieren entschließen.
Mit Recht betont Ricker t, daß ein Aufnehmen der Heg eischen
Ideen für sich allein ebenso wenig befriedigen könnte, wie die
Wiedererweckung irgend eines andern Denkers der Vergangenheit.
Aber wenn er hervorhebt, daß auf jeden Fall für die zeitlosen
Probleme aus Hegel mehr zu lernen sei als aus Zarathustra, so
gilt das nicht nur im Gegensatz, sondern auch im Sinn einer posi-
tiven Fortführung der Lebensphilosophie. Denn Hegel war zu-
gleich ein Philosoph des Lebens, nämlich des geistig -geschicht-
lichen Lebens und ein systematischer Denker und allein schon
sein Beispiel beweist, daß die Lebensphilosophie, als „das in Ge-
danken gefaßte Bewußtsein ihrer Zeit" begriffen, nicht wesensnot-
wendig antisystematisch sein müsse. —
Alle diese Bemerkungen schmälern natürlich das große Ver-
dienst, das Rickerts Kampfesschrift sich erworben hat, nicht
im geringsten. Sie möchten nur dazu anregen, die weitere Dis-
kussion auf eine etwas breitere Basis zu stellen und damit die
Probleme, um die es sich handelt, in ihrem vollen Umfang her-
vortreten zu lassen.
Benno Erdmann als Historiker der
Philosophie.
Von Else Wentscher (Bonn a./Rh.).
Am 7. Januar ist Benno Erdmann, mitten her ans ans um-
fassender Tätigkeit, von uns gegangen. Wir Schüler hatten gehofft,
ihm zu seinem 70. Geburtstag am 30. Mai die Blätter zu überreichen,
in denen wir eine "Würdigung seiner Lehre versuchen wollten; jetzt
bleibt uns nur, sie trauernd seinem Gedächtnis zu weihen. Die
Fülle der Arbeiten, die wir Benno Erdmann verdanken, gehört
den Gebieten der Psychologie, der Logik und der Geschichte der
Philosophie an; Prof. E. Becher wird im 'Archiv für die gesamte
Psychologie' über das erste Gebiet berichten; für die Logik darf
ich auf einen demnächst in den Kant-St. erscheinenden Artikel von
Dr. Rieffert verweisen; mir sei gestattet, auf Erdmanns Arbeiten aus
dem Gebiet der Geschichte der Philosophie einzugehen. Der vor
allem charakteristische Zug dieser seiner Forschung ist wohl die abso-
lute Objektivität, die kein Zurechtrücken der Probleme, keine vor-
gefaßte Meinung kennt, die mit äußerster, auch die kleinsten Züge
erwägender Gründlichkeit dem Gegenstand gerecht zu werden
sucht. Damit aber verbindet er den genialen Blick, der — ge-
stützt auf umfassendste Geschichtskenntnis — die historischen Ab-
hängigkeitsbeziehungen durchschaut und die Persönlichkeiten der
Philosophen hineinstellt in die großen Gedanken- und Kulturzu-
sammenhänge, denen sie entstammen. Erdmann hat von dieser
seiner Methode der Geschichtsforschung mehrfach Rechenschaft
gegeben1): weil Philosophie die wissenschaftliche Gesamt- Auffassung
des Wirklichen ist, so spiegelt sich in jeder ihrer Perioden der
gesamte Wissensbestand, ebenso wie das sittliche und religiöse
1) Vgl. Archiv f. Gesch. d. Phil. Bd. VII p. 342 ff. Ferner das Vorwort zu
Erdmanns Ausgabe von Kants 'Prolegomena' und die Einleitung in das von Erd-
aoann herausgegebene Tagebuch Berkeleys (Abh. der preuß. Akademie 1919).
140 Else WeDtscher,
Bewußtsein der Zeit. Darum muß der Forscher in dem Lehr-
bestand eines philosophischen Systems verschiedene Problemlagen
unterscheiden: 1) eine Reihe von Voraussetzungen, die unbesehen
aufgenommen und fest gehalten werden; durch sie ist das System
in die breite Schicht der allgemeinen Überlieferung ein-
gebettet. — Dazu kommt 2) eine Problem-Schicht, die der Philo-
soph auf Grund kritischer Prüfung akzeptiert, sie entstammt der
zeitgenössischen philosophischen und ein zel wissenschaftlichen Er-
kenntnis und schließlich der gesamten Kultur der Zeit. Die
3. Problemlage bilden diejenigen Fragen, die der Philosoph selb-
ständig weiter führt; diese geben dem System die Höhenlage im
Verhältnis zu den andern Systemen. Ist es Sache des historischen
Taktes, diese Probleme im Einzelnen zu scheiden, so muß der
Forscher aber noch andere Gesichtspunkte bei der Unters achung
der philosophischen Systeme anlegen: er muß sie ansehen als sich
entwickelnde Ganze, und er hat diese Entwicklung festzu-
stellen; wird doch 'ein Philosoph, wie jedes andere Objekt der
Geschichte historisch nicht charakterisiert durch die reifste Aus-
bildung, die er seinen Gedanken hat geben können, sondern durch
die Entwicklungsgeschichte, die ihn zu derselben geführt hat'.
Wir werden sehen, wie Erdmann diese methodologischen Forde-
rungen in seiner eignen Geschichtsforschung in vollem Maß erfüllt.
Aber er leistet mehr, als ihm selbst bewußt wird; er vergißt über
der Auffindung der Entwicklungsbedingungen und der großen
historischen Zusammenhänge, die wir bei einem Denker feststellen
müssen, das Beste nicht : er sucht die Persönlichkeiten in ihrem
eigensten Wesen intuitiv zu erfassen, und es ist ihm wie we-
nigen gegeben, eines Menschen innerste Seele zu fühlen und, was
er erforscht oder innerlich erschaut, in glänzender, lebensvoller
Darstellung in Wort oder Schrift zu formulieren. — In dieser
Vereinigung von Objektivität, umfassendem historischem Erkennen,
tief dringendem Forschen und intuitivem Blick beruhte der eigen-
artige Genuß, den seine historischen Vorlesungen und Seminar-
stunden boten. — Aber der Gesichtspunkte, die wir für Erdmanns
historische Forschung maßgebend finden, sind noch mehr: er
sieht die Aufgabe der Philosophie - Geschichte darin , 'die kausale
Entwicklung der philosophischen Probleme und ihrer Lösungsver-:
suche zu reproduzieren', und in dem Wechsel der philosophischen
Systeme den Fortgang zu Höherem zu erkennen. Darum fordert
er als notwendige Vorarbeit für die allgemeine Geschichte der
Benno Erdmann als Historiker der Philosophie. 141
Philosophie Monographieen über die Entwicklungsgeschichte der
einzelnen Probleme; darum hat er in seinen Vorlesungen stets
eine solche Problem-Entwicklung erkennen lassen, ebenso gibt er
in seinen Schriften vielfach sehr wertvolle Andeutungen in dieser
Richtung, so z. B. Arch. f. Gesch. d. Phil. VII p. 527 ff. die leitende
Idee für die Entwicklung des Kausalproblems von der Scholastik
bis zu Hume und Kant. Aus dem Allen ergibt sich ferner, daß
Benno Erdmann Geschichte niemals nur mit rückwärts gerich-
tetem Interesse betreibt, sondern in lebendigster Fühlung mit den
philosophischen Problemen und ihrer Bedeutung für Leben und
Wissenschaft. Auch der Historiker läßt stets den selbst von den
Problemen lebhaft ergriffenen Philosophen deutlich erkennen. —
Aus dieser ganzen Einstellung ergibt sich ihm ferner als einzig
berechtigter Standpunkt der Kritik innerhalb der Philosophie-
Geschichte derjenige der immanenten Kritik; es gilt nicht, so
zeigt er oft, Widersprüche so schroff wie möglich darzustellen,
oder sie gar von unsrer eignen Zeit aus hinein zu sehen, sondern
begreiflich zu machen, wie dieselben innerhalb jener zeitlichen
Bedingungen zu Denknotwendigkeiten werden mußten.
Im Mittelpunkt der historischen Untersuchungen Erdmanns
steht Kant, dem er weit mehr als ein Menschenalter hindurch
die hingehendste Arbeit gewidmet hat. So erforscht bereits die
Dissertation des 22 jährigen 'die Stellung des Dinges an sich in
Kants Ästhetik und Analytik', und seine erste größere Schrift
'Martin Knutzen und seine Zeit' (Lpz. 1876) gibt neben einem
Beitrag zur Geschichte der Wolffschen Schule einen solchen zur
Entwicklungsgeschichte Kants. Das Buch schildert das
geistige Milieu, aus dem Kant hervorgegangen, den Pietismus und
die ebenso schwer wiegende Macht der Leibniz- Wolffschen Schule,
deren hervorragendes Glied Kants Lehrer Knutzen war. Es läßt
uns — eine glänzende Erfüllung der von seinem Vf. erhobenen
methodischen Forderungen — die Problemlage unterscheiden, die
Kant vorfand und die Antriebe, die ihm ihre Überwindung not-
dig machten, und es legt den Grundstein zur Entwicklungsge-
schichte Kants, die Erdmann dann in den Einleitungen zu seiner
Ausgabe der 'Prolegomena', sowie zu den aus Kants Nachlaß von
ihm erschlossenen zwei Bänden 'Reflexionen' eingehend fortsetzt.
Diese Studien stellen auf Grund tief dringender Interpretation,
unter Heranziehung der Briefe und Reflexionen, den Werdegang
des Kritizismus fest: steht das Denken Kants bis zum Jahre 1760
142 Else Wentscher,
fast völlig unter dem Einfluß des Leibniz-Wolffschen Dogmatismus,
so bewirken von da ab seine eignen Untersuchungen über die
Prinzipien unseres Erkennens, ferner Crusius' Polemik gegen Wolff,
Newtons Grundlegung der mechanischen Naturauffassung und die
englisch-französische Aufklärung eine Änderung seiner Gedanken,
in der Richtung eines 'kritischen Empirismus'. Im Jahre 69 aber
erlebt er, nach seinem eignen Urteil, eine neue 'Umkippung'; den
inneren Anlaß dazu erblickt Erdmann in dem damals in Kant auf-
tauchenden Antinomieen -Problem, das ihn schließlich zum
transzendentalen Idealismus führt. Eingehend wird auch
das Verhältnis von Hume und Kant von Erdmann erwogen !) und
festgestellt, daß die Kritik des Kausal- und des Existenzbegriffes,
die wir in Kants vorkritischen Schriften finden, völlig unabhängig
von Hume ist, daß dessen Schriften vielmehr erst für ihn wirksam
werden, nachdem er selbst die Grundgedanken des transzenden-
talen Idealismus gewonnen hat, nachdem also in seinem eignen
selbständigen Geist die Problemlage geschaffen war, in der ein
solcher Einfluß für ihn fruchtbar werden konnte. Dann aber hat
dieser Einfluß Humes auch Kants Übergang zum Kritizismus
bewirkt, indem er ihn sicher machte, daß die Kategorieen keinen
andern Gebrauch zur Erkenntnis haben als ihre Anwendung auf
Erfahrung. — Im Jahr 1878 gab Erdmann zum ersten Mal die
'Kritik der reinen Vernunft' heraus. Diese seine Herausgabe der
"Werke 2) und der Reflexionen bieten wiederum ein charakteristisches
Bild von der vielseitigen Leistung des Gelehrten: ist die Er-
schließung des Textes das Resultat äußerster philologischer Sorg-
falt, so spiegelt sich in den ausführlichen Einleitungen, ebenso
wie in seinem Buch 'Kants Kritizismus in der 1. und 2. Auflage
der Kritik der reinen Vernunft' (Lpz. 1878) der geniale, alle Zu-
sammenhänge überschauende Historiker, der alle die Forderungen,
die er an die Methode erhebt, glänzend erfüllt. Wir verstehen
aus dem vo^ ihm entworfenen Zeitbild, wie die Kritik ihren
ersten Lesern als ein 'vollkommen inkommensurables Buch' er-
scheinen mußte; wir erleben, wie — infolge der Kontroverse
über Lessings Spinozismus — Spinoza erst damals in Deutschland
bekannt wird, und wie darum die Wirksamkeit der Philosophie
1) s. auch E.s Artikel 'Hume und Kant um 1762'. Arch. f. Gesch. d. Phil.
Bd. 1. 1888.
2) Im Jahre 1884 hat er auch die 'Kritik der Urteüskraft' herausgegeben
und eingeleitet.
Benno Erdmann als Historiker der Philosophie. 143
Kants vielfach vermischt ist mit den aus Spinoza stammenden An-
trieben (Schelling), und wir überzeugen uns, wie in den 'Prolego-
mena' eine zweifache Redaktion vorliegt , die beide entstanden
sind auf Grund der Aufnahme und der ersten Rezension, die
Kants Hauptwerk gefunden hatte1). In Rücksicht auf die zeit-
geschichtliche Problemlage gibt Erdmann eine eingehende Analyse
der Kritik der reinen Vernunft; sie zeigt, unterstützt durch Briefe
und Aufzeichnungen, daß der kritische Gedanke, die Grenzbe-
stimmung unseres Erkennens durch das Gebiet möglicher Erfah-
rung, für den Philosophen selbst den Schwerpunkt seines Systems
bildet (vergl. auch die Einleitung des Herausgebers zur Krit. d.
Urteilskraft). — In der Akademie- Ausgabe der Werke Kants hat
Benno Erdmann die 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft,
die erste, sofern sie von jener abweicht, und die 'Prolegomena'
herausgegeben. —
Mit zwei tief durchdachten Kant gewidmeten Untersuchungen
hat er uns noch in den letzten Jahren beschenkt : die eine bietet
eine 'Kritik der Problemlage in Kants transzendentaler Deduktion
der Kategorieen' 2), die andere sucht, 'die Idee von Kants Kritik
der reinen Vernunft' herauszuschälen. Das Problem der transzen-
dentalen Deduktion, so zeigt Erdmann, hängt an den Kate-
gorieen. Noch in der Dissertation von 1770 hatte Kant ange-
nommen, daß unsere Verstandesbegriffe die Dinge erfassen, wie
sie an sich sind. Im Brief an M. Hertz vom Februar 72 aber wirft
er die Frage auf: wodurch werden uns denn jene Dinge gegeben,
wenn nicht durch die Art, wie sie uns affizieren? Und wenn
unsere intellektualen Vorstellungen auf unserer inneren Tätigkeit
beruhen, woher kommt dann ihre Übereinstimmung mit Gegen-
ständen, die doch dadurch nicht etwa hervorgebracht werden?
Hier haben wir also das Kategorieen - Problem in statu nascendi.
Seine Lösung aber ist in den verschiedenen Redaktionen, in denen
sie vorliegt, stets dieselbe: die Dinge an sich werden durch die
Kategorieen zwar als Gegenstände gedacht, aber nicht er-
kannt, weil unser Erkennen auf das gegebene Mannigfaltige der
Sinne angewiesen und somit an die Grenzen der Erfahrung ge-
bunden ist. — Wiederum macht Erdmann diesen Gedankengang
1) Vergl. auch B. Erdmann, 'Historische Untersuchungen über Kants Pro-
legomena'. Halle 1904.
2) Sitzungsberichte der Preußischen Akademie 1915.
3) Abhandlungen der Preußischen Akademie 1917.
144 Else Wentschet,
des Philosophen verständlich, indem er die historischen Vor-
aussetzungen aufsucht, die sich darin bekunden: es ist zunächst
die Überzeugung, daß das Mannigfaltige der Sinnlichkeit unab-
hängig von der Synthesis des Verstandes gegeben sei, daß uns
somit Gegenstände erscheinen können, ohne sich notwendig
auf Verstandesfunktionen zu beziehen. Da die transzendentale
Ästhetik aber erwiesen hatte, daß unsere Anschauungen nichts als
Vorstellungen von Erscheinungen sind, so ist dieses Ergebnis,
also der transzendentale Idealismus, die erste Voraus-
setzung der Deduktion. Daraus aber ergibt sich sofort als zweite
eine realistische Voraussetzung: aus dem Begriff einer Er-
scheinung folgt, daß ihr etwas entsprechen müsse, was erscheint,
es folgt somit das Vorhandensein von für uns freilich unerkenn-
baren Dingen an sich. Ja es bleibt für Kant Voraussetzung,
daß die Beziehung der Erscheinungen zu den Dingen an sich als
kausale zu deuten sei. — Eine dritte Voraussetzung der transzen-
dentalen Deduktion ist die tief in Kants Denken wurzelnde ra-
tional-metaphysische Überzeugung, daß unsrer ratio apriorische
Bedingungen eigen seien, die das Seiende als solches erfassen-
Stammt dieser Gedanke aus der Leibniz - "Wölfischen Metaphysik,
so wird die Überlieferung doch bei Kant dahin modifiziert, daß
wir nur im reinen Denken die Dinge an sich erfassen , wäh-
rend unser Erkennen durch die Anschauung und Erfahrung be-
grenzt ist. Durch diese Scheidung von Erkennen und Denken
überwindet Kant den Rationalismus also nur für das erstere und
somit nicht völlig; vielmehr liegt seinem Kritizismus des Erken-
nens ein Dogmatismus des reinen Denkens zu Grunde,
der ihn nicht zweifeln läßt an der Existenz einer intelligiblen
Welt von Substanzen. Eine vierte sachliche Voraussetzung der
transzendentalen Deduktion ist die metaphysische Deduktion,
die gegründet ist auf den Gedanken, daß der Verstand durch eben
die Handlung, in der er verschiedenen Vorstellungen in einem Urteil
Einheit gibt, auch die allen Urteilen vorausgehende einheitliche
Synthesis unsrer Vorstellungen zu Gegenständen überhaupt
erst möglich macht. — Die letzte Voraussetzung aber ist eine
methodologische: seine transzendentale Methode, die
beeinflußt ist vom Logismus der Leibniz-Wolffschen Schule, und
die im Gegensatz steht zum Psychologismus der Engländer. —
Alle diese Voraussetzungen der transzendentalen Deduktion zeigen,
daß in ihr die uralten philosophischen Gegensätze des Eationa-
Benno Erdmann als Historiker der Philosophie. 145
lismus und Empirismus vereint sind. Aber Kant bietet nicht,
wie etwa die Aufklärung, eine eklektische Verbindung beider
Gedankengänge, sondern eine originale Synthese, in der die
philosophischen Systeme Glied für Glied in der Tiefe aufgewühlt
und zu einem einheitlichen Ganzen verbunden werden. Auf diesem
Wege hat Kant die Aufklärung überwunden. —
In einer im Jahr 1917 erschienenen Akademie-Abhandlung sucht
Erdmann 'die Idee von Kants Kritik der reinen Vernunft', in tief
eindringender Analyse heraus zu schälen. Er folgt dabei dem Wink,
den Kant uns in der 'Architektonik der reinen Vernunft' gegeben
hat, die gestaltende Idee eines Systems aus seinem Aufbau, aus
der als Einheit gedachten Form des Ganzen zu suchen. Aus
dieser Auffassung der 'Idee' eines Werkes ergibt sich, daß sie nur
in einem solchen Gedanken gesucht werden kann, der das Lehr-
gebäude durchgängig gestaltet, und der für alle seine Teile
maßgebend ist. An diesem Maßstab gemessen,, scheiden drei Auf-
fassungen aus, die wiederholt als Idee der Kritik der reinen Ver-
nunft in Anspruch genommen worden sind: 1) die Frage 'wie sind
synthetische Urteile a priori möglich?' Denn sie ist im Ver-
hältnis zum Ganzen der Vernunftkritik untergeordnet. Darum
fällt aber auch 2) der häufig dafür in Anspruch genommene Ver-
gleich, in dem Kant seine Revolution des Denkens der Tat des
Kopernikus gleichstellt, als solche durchgehende Idee weg; denn
er hat — trotz alles Treffenden des Bildes — für den Aufbau
des Ganzen zu wenig Bedeutung. Diese kommt dagegen dem
Grundgedanken der transzendentalen Logik zu, er ist
bestimmt lediglich von der reinen Vernunft selbst, denn er
sucht nur die apriorischen Prinzipien auf. Zur Seele des gesamten
Schematismus aber wird in allen drei Kritiken die Kategorieen-
Tafel, die für den Aufbau der Analytik wie der Dialektik maß-
gebend wird. Und hinzukommt die ethische Bestimmung der
reinen Vernunft, wonach die Ethik der letzte Zweck der Meta-
physik, und der Kritizismus somit die Grundlage für den Ausbau
der Ethik ist. Dieser Aufbau des Ganzen zeigt also, daß die
'reine Vernunf ' mit nichts als mit sich selbst beschäftigt ist' ; er
erweist, daß die transzendentale Dialektik das eingehend spezia-
lisierte, kritisch gegen die dogmatische Metaphysik gerichtete Er-
gebnis der Analytik ist; aber er zeigt sie außerdem ergänzt,
und zwar spekulativ durch die Vernunft-Ideen und praktisch durch
den Hinweis auf den letzten ethischenZweck aller Metaphysik.
KantstudieD. XXVI. 10
146 Else Wentscher.
— Haben wir so das Schema der transzendentalen Logik gewonnen,
so müssen wir, um dasjenige des Gesamt Werkes zu finden, auch
das Schema der transzendentalen Ästhetik berücksichtigen. Auch
dieses zeigt die reine Vernunft als mit sich selbst beschäftigt;
denn auch die Ästhetik sucht die apriorischen Bestandteile unseres
Erkennens auf, und ihr Ergebnis, der transzendentale Idealismus,
bildet den allein möglichen Boden für die transzendentale Logik,
nämlich für die Deduktion der Kategorieen, die 'der syste-
matisch und entwicklungsgeschichtlich bedeutsamste Teil' des Kri-
tizismus ist. Ihr Prinzip, daß die Kategorieen 'als Bedingung der
Möglichkeit der Erfahrung erkannt werden müssen', macht die
in ihr liegende Theorie der Erfahrung zum Grundgedanken
der Vernunfterkenntnis a priori. — Das Gesamtschema
der Kritik bestätigt somit die Erklärung Kants, daß sie der 'Idee
der systematischen Einheit der reinen Vernunft in synthetischer
Konstruktion entnommen ist und auf die Kritik der reinen Ver-
nunft abzielt. Lediglich in einer genaueren Bestimmung
dieser Kritik, ihres Objekts und ihrer Methode haben wir
demnach die Idee des Werks zu suchen' (p. 56). Und wir
dürfen — nach Allem — sagen, daß diese Idee in dem auf der
Grundlage des transzendentalen Idealismus geführten Beweis liegt,
'daß der spekulative Erkenntnisgebrauch der Vernunft, der sich
in der Idee der Metaphysik realisiert, niemals weiter als
bis zu den Grenzen möglicher Erfahrung reicht'. —
Erdmann beleuchtet auch hier wieder das Neue der Leistungen
Kants, indem er es einstellt in den großen historischen Zusammen-
hang : die Scheidung der beiden Stämme unsres Erkennens in Spon-
taneität und Rezeptivität geht zurück bis in die Anfänge der abend-
ländischen Philosophie; eigentümlich für Kant aber ist innerhalb
dieser Scheidung, daß auch die Rezeptivität, die Sinnlichkeit,
aprioristische Momente enthält. Kants intelligibles Apriori,
also dasjenige der Spontaneität, ist ein Glied der Lehre von den
angeborenen Ideen, die bis auf Piatos avd[ivr]öig zurückgeht. Inso-
fern gehört Kants Kritizismus in die Richtung eines 'genetischen
Rationalismus' hinein. Von dem überlieferten Rationalismus aber
scheidet ihn die metaphysische Zurückhaltung; sie verbietet ihm,
irgendwelche angeborenen Erkenntnis -Inhalte anzunehmen; nur
angeborene Formen des Anschauens und Denkens kennt er. —
Wenn wir Benno Erdmanns Kant-Forschung überschauen, so
finden wir sie durch alle die Züge ausgezeichnet, die wir ihren
Benno Erdmann als Historiker der Philosophie. 147
Urheber selbst von einer fruchtbaren Behandlung der Philosophie-
Geschichte fordern sahen; sein Name wird in der deutschen For-
schung mit dem Kants dauernd verbunden bleiben. Aber Erd-
manns historische Studien gelten auch noch andern Geöieten, wie
wir leider nur noch andeutend erwähnen dürfen. In dem von ihm
mitbegründeten 'Archiv für Geschichte der Phil.' hat er längere
Zeit den Jahresbericht über die historische Literatur geschrieben;
diese Arbeiten, die vielfach mehr den Charakter von selbständigen
Artikeln als von Referaten bewahren, haben bleibenden wissen-
schaftlichen Wert1); denn Erdmann hat niemals nur kritisiert,
sondern er hat auch da, wo er (zuweilen scharf!) absprach, immer
zugleich gezeigt, wie die verfehlte Aufgabe gelöst werden müßte.
In diesem Zusammenhang hat er besonders dem englischen Empi-
rismus oft sein Interesse gewidmet, so hat er (Archiv II) gezeigt,
daß Locke zwar auf Descartes beständig polemisch Rücksicht
nimmt, daß im übrigen aber seine Gedanken mehr den positiven
Einflüssen entstammen, die von Baco und Hobbes, sowie von
Galilei und Newton auf ihn übergegangen sind. Dem Empiristen,
der Erdmann vor allem kongenial war, Berkeley, hat er noch in
den letzten Jahren hingebende Arbeit gewidmet, indem er sein
Tagebuch aufs neue erschlossen, herausgegeben und eindringlich
erläutert hat 2). Auch diese Darstellung von Berkeleys Philosophie
im Lichte seines wissenschaftlichen Tagebuchs zeigt uns Erdmanns
Forschergaben noch einmal deutlich: die ins Einzelste gehende
philologische Sorgfalt — den historischen Weitblick, der den Denker
und die Probleme im Zusammenhang der objektiven Entwicklung
darstellt und das tief eindringende Verständnis, das uns die Seele
dieses feinsinnigsten Engländers erschließt und uns für ihn ge-
winnt. Erdmann zeigt, daß die leitenden Ideen des wissenschaft-
lichen Tagebuchs von Berkeley wurzeln in einer religiös moti-
vierten Umdeutung der empiristischen Lehren Lockes ; er läßt uns
in diesen Gedanken die Reaktion gegen den Rationalismus der Spät-
Scholastik innerhalb der neueren Philosophie erkennen, die das
ganze 17. Jahrhundert durchzieht, und er weist vordeutend auf die
Gedankenkette hin, die Berkeleys kritische Reflexionen zum Kausal-
problem, zum Substanz- und Existenzbegriff verknüpft mit der
1) Dringend erwünscht wäre eine Herausgabe von Benno Erdmanns 'kleinen
Schriften !'.
2) Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1919.
10*
148 Else Wentscher,
Kritik von Hume. Als innersten Anteil seines Denkens aber er-
weist auch das Tagebuch: das christlich - religiöse Bewußtsein;
darum erinnert Berkeley auch in diesem Licht an Denker wie
Pascal unä Malebranche. — Auch zu Descartes, Leibniz und Spi-
noza hat Erdmann, im Archiv wie in Einzel-UntersuchuDgen, wert-
volle Aufschlüsse gegeben1). Immer wieder zeigt er die Bezie-
hungen auf, die die neuere Philosophie verbindet mit dem Funda-
ment, aus dem sie hervorgegangen, der Scholastik, und anderer-
seits mit den seit Ende des 16. Jahrhunderts aufblühenden Me-
thoden exakter Forschung. —
Aber nicht nur auf die Beziehungen zur Vergangenheit weist
Erdmann hin; in lebendiger Darstellung zeigt er auch die Wege,
die von den großen philosophischen Systemen zu unserer Gegen-
wart führen. So stellt er in den mitten im Krieg in der Akademie
gesprochenen 'Gedächtnisworten auf Leibniz' uns das Versöhnliche
dieses Genius vor Augen, der in allen Wirrnissen und Enttäuschungen
seines Lebens den Glauben an das Gute in der Menschheit hochgehalten
hat, und dem es innerste Überzeugung war, daß nicht Streit und
Haß, sondern Versöhnung der unvermeidlichen Gegensätze der
Vater aller Dinge ist. Und eingehend erörtert er wiederum vor
allem (in der 'Kritik der Problemlage in Kants transzendentaler
Deduktion') die kritische Stellung, die wir auf Grund modernen
Erkennens zu Kant einnehmen. Was uns vor allem von ihm trennt,
ist die Tatsache, daß Kant dem uns heut beherrschenden Entwick-
lungsgedanken noch völlig fernsteht. Denn unannehmbar wird
aus diesem Grunde für uns die Voraussetzung, daß es ein sinnen-
freies Denken, eine 'reine Spontaneität', eine nicht letzlich aus Er-
fahrung abzuleitende apriorische Bedingung der Erfahrung über-
haupt geben könne. Und damit fällt die weitere Voraussetzung
Kants dahin, daß unser Erkennen sich aus zwei nicht auf ein-
ander zurückführbaren Stammen aufbaue, und mit dieser zugleich
die Scheidung in eine sinnliche und eine intelligible Welt.
Unannehmbar ist von Kants Gedanken für uns ferner die Voraus-
setzung, daß wir im reinen Denken das Seiende an sich erfassen ;
wir haben darin eine aus der Überlieferung stammende 'metaphy-
sische Resterscheinung' zu erblicken. Trennend steht zwischen
1) Vergl. auch : B. Erdmann, 'Betrachtungen über die Deutung und Wertung
der Lehre Spinozas'. (Genethliakon Berlin 1910.)
Ders.: 'Gedächtnisworte auf Leibniz'. Sitzg.-Berichte der Preuß. Akademie 1916.
Benno Erdrnann als Historiker der Philosophie. 149
Kant und uns auch das Moment, daß er die Mitwirkung der
Außenwelt an der Bildung unseres Intellekts nicht genügend
anerkennt; er betrachtet sie zwar als 'Gelegenheitsursache' für
das Eintreten der Funktionen der Synthesis, aber auf die Frage:
1 woher stammt der spezielle Inhalt unserer Empfindungen?' weiß
er nur die Antwort: aus der intelligiblen Kausalität der Dinge
an sich, die doch andrerseits unerkennbar sein sollen. So versagt
Kants Kritizismus bei dem Versuch, die objektiven Bedingungen
begreiflich zu machen, die die allgemeinen subjektiven Bedingt-
heiten unsres Erkennens zu dem Bestand unsrer Erfahrung formen.
— Und welche Stellung haben wir, vom Gesichtspunkt modernen
Erkennens aus, zu Kants Ethik einzunehmen ? Benno Erdmann
gibt darüber Rechenschaft in dem Akademie- Vortrag : 'Kants Ethik
und der moderne PflichtbegrifF *) : Kants Erhebung des sittlichen
Bewußtseins in ein 'Reich des Absoluten' dürfen wir nur als den
gedankentiefen Versuch auffassen, das Idealbild einer vollkom-
menen Sittlichkeit 'in die Realität einer absoluten Wirklichkeit'
zu verwandeln. Aber wir müssen uns bewußt bleiben, daß das
Sittengesetz nicht aus der intelligiblen Eigenart der Vernunft
überhaupt stammt, sondern aus der psychologischen Natur des
Menschen, aus unserm Gemeinschaftsbewußtsein. Demgemäß haben
wir den guten Willen, den wir mit Kant als Verkörperung der
Sittlichkeit ansehen, inhaltlich zu bestimmen; und wir müssen
ihn fassen als einen Willen, der zu jedem möglichen sittlichen
Zweck angemessen ist. Als solchen aber können wir wiederum
nur einen Zweck ansehen, der der sozialen Gemeinschaft dient,
der sie stärkt und sittlich hebt. So müssen wir an die Stelle
der von Kant gemeinten und nicht erreichbaren absoluten Ver-
bindlichkeit des Pflichtbegriffes, die erfahrungsmäßig bedingte
setzen, die in der Einschränkung auf unsre empirische Natur und
die soziale Gemeinschaft gegeben ist. Und wir müssen ferner,
wie schon Schleiermacher gezeigt hat, dem zu allgemein gefaßten
Pflichtbegriff Kants ein individualistisches Moment einfügen;
denn die Pflicht bindet jeden nach Maßgabe seiner Eigenart. —
Unser modernes Erkennen ist aber endlich von Kant geschieden
durch die Gewißheit, daß Neigung und Pflicht nicht in so schroffem
Gegensatz stehen, wie er gemeint; denn unsre sozialen Gefühle
1) Deutsche Rundschau 1917. August-Heft. — Vergl. auch die Rede bei der
Säkular-Feier : 'Immanuel Kant'. Bonn 1904.
150 ElseWentscher, Benno Erdmann als Historiker der Philosophie.
sind nicht die geschworenen Gegner, sondern wenn sie richtig ge-
leitet sind, die natürliche Basis des sittlichen Bewußtseins. Mit
diesen Modifikationen gewinnen wir die dem Wissen nnd Fühlen der
Gegenwart entsprechende Fassung für Kants Idee der Sittlichkeit,
den Pflichtbegriff. — Hat Benno Erdmanns historische Forschung
uns ein allseitig fundiertes lebensvolles Bild von Kants Philosophie
und seiner überragenden Persönlichkeit gezeichnet, so hat er, am
Schluß dieser Lebensarbeit — gleichsam als Vermächtnis — uns
auch die Wege gewiesen, die uns heut, trotz alles Trennenden,
doch wieder zu Kant hinführen.
Zur Erinnerung
an Christopher Jacob Boström1).
Von Beinhold Geijer (üppsala).
Am 22. März 1866 starb als emeritierter Professor der bei
weitem berühmteste und einzige schulbildende Philosoph Schwedens.
Zahlreiche pietätvolle Schüler haben die philosophische Welt- und
Lebensanschauung ihres Lehrers vom akademischen Katheder oder
auch sonst in Wort und Schrift vertreten und weiter verbreitet.
Auch haben sie BostrÖmsche Gesichtspunkte, Gredanken und An-
deutungen mehr oder weniger frei und selbständig, daher bis-
weilen voneinander etwas abweichend, weiter entwickelt und sie
auf so verschiedene und anscheinend peripherische Gebiete wie
die kirchlich - dogmatische Theologie, die positive Rechtswissen-
schaft und die praktische Politik angewandt. Ja, sogar Dichter
vom Range eines Viktor Rydberg und C. D. af Wirsen haben
sich von dem hohen Flug und dem weiten Horizont der Boström-
schen Gedankenwelt ergreifen und beeinflussen lassen. Der Bo-
strömianismus (im weitesten Sinne) hat schon über zwei Menschen-
alter hindurch einen mitwirkenden, ja auf seine Art bestimmenden
Faktor im schwedischen Kulturleben gebildet. Oder wenigstens,
um nicht zu viel zu sagen, einen starken Einschlag in der höheren
1) Der Aufsatz ist 1916 ursprünglich für die schwedische Zeitschrift „Ord
och Bild" geschrieben worden, wo auch 1897 zur Hundertjahrfeier des Geburts-
tages des Philosophen, 1. Januar 1797, ein ähnlicher Nachruf von Allen Vanne'rus
erschienen war. Diese gekürzte Übertragung ist 1917 von H. Trau, Bremen,
sprachlich und von D. Mahnke, Stade, sachlich bearbeitet worden. Das schwe-
dische Original enthält mehrere interessante Abbildungen von Boström, seinem
Geburtshaus in Pitea, seinen Wohnungen und seinem Grabmal in Uppsala, die
hier leider nicht wiedergegeben werden können.
152 Rcinhold Geijt r.
geistigen Bildung des schwedischen Volkes. Und ich will hinzu-
fügen, dieser Einschlag besteht noch jetzt und dürfte erst nach
langer Zeit, wenn überhaupt je, seine Aktualität und Bedeutung
verlieren, obschon er natürlich nicht mehr dieselbe dominierende
Rolle spielen kann wie in der Glanzperiode der „Boströmschen
Schule" kurz nach des Meisters Tod.
Von seinem philosophischen System hat Boström uns keine
vollständige und im einzelnen ausgeführte Gesamtdarstellung
schriftlich hinterlassen. Von ihm selbst im Druck herausgegeben
ist nur folgendes: 1) Ein später auch selbständig erschienener
Lexikonartikel „C. J. Boström och hans filosofi" ; 2) eine Reihe
lateinischer Dissertationen, von denen die ungleich wichtigste seine
Professorarbeit vom Jahre 1841 ist: „De notionibus religionis
sapientiae ac virtutis earumque inter se nexu", sowie einige ur-
sprünglich ebenfalls zu Disputationsthemen für philosophische
Kandidaten bestimmte „Satser om lag och lagstiftning" (Sätze
über Gesetz und Gesetzgebung); 3) schematische „Grundlinier tili
den philosophiska statslärans propaedeutik", „Gr. tili den philo-
sophiska statsläran", „Gr. tili den phil. civilrätten" (Grundlinien
zum phil. Zivilrecht), bestimmt für den Gebrauch seiner Hörer;
4) Rezensionen und kleinere Aufsätze in Zeitschriften über reli-
giöse und politische Fragen, sowie zwei stark polemische, aufsehen-
erregende Broschüren über ähnliche Themen: „Anmärkningar om
helvetesläran" (Anmerkungen zur Lehre von der Hölle, „unsern
Theologen und Pastoren ernsthaft vorzuhalten", 1864) und „Aro
Rikets Ständer berättigade att för Svenska Folket besluta och
fastställa det nu hvilande sä kallade representations förslaget?"
(Sind die Reichsstände berechtigt, für das schwedische Volk den
jetzt vorliegenden sogenannten Repräsentations Vorschlag zu be-
schließen und festzustellen ? — 1865.)
In die von H. Edfeldt und G. J. Keijser in drei umfangreichen
Bänden herausgegebenen „Skrifter af Christopher Jacob Boström"
sind aus seinem literarischen Nachlaß außer den erwähnten auch
„Grundlinier tili philosophiens propaedeutik, tili philosophiska
reügionsläran" und „tili philosophiska criminalrätten" sowie ein
„Schema av philosophiens historia" mit aufgenommen. Und später
sind ältere und jüngere Nachschriften von Boströms Vorlesungen
über Religionsphilosophie und Ethik besonders herausgegeben
worden1).
1) 1916 hat Gustaf Klingberg in den Schriften des „K. humanistiska veten-
Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström. 153
So zersplittert und schematisch formuliert, wie Boströms
Philosophie zunächst vorliegt, könnte es scheinen, als ob man
hier nicht von einem philosophischen „System" reden dürfte,
sondern höchstens von Entwürfen zu einem solchen. Und doch
zeigt sich bald bei einem nicht gar zu oberflächlichen Studium
von Boströms Schriften, daß diese sämtlich von denselben Ge-
sichtspunkten, letzten Voraussetzungen und höchsten Intentionen
beherrscht werden und stets die gleichen Grundgedanken, nur von
verschiedenen Seiten, beleuchten. Und wenn wir freilich kein
gleichmäßig durchgearbeitetes, abgeschlossenes Ganzes bekommen
haben (wo finden wir überhaupt ein solches? Stückwerk ist
jeder philosophische Gedankenbau wie alle andern menschlichen
Schöpfungen), so können wir doch ohne Übertreibung sagen, daß
wir hier dem in einfachem, großem Stil entworfenen Grundriß
einer wie aus einem Guß geformten Welt- und Lebensanschauung
gegenüberstehen.
IL
Die allgemeine Art von Boströms Philosophie pflegt man nach
seinem eigenen Vorgange als Idealismus zu bezeichnen. Und ihren
eigentümlichen Charakter, ihre „difFerentia specifica" im Unter-
schied von anderen geschichtlich gegebenen Formen des Idealismus,
hat er selbst durch die Benennung als rationalistischen oder kürzer
„rationellen Idealismus" angegeben. Allein beide Worte sind
schon längst abgenutzt, daher zu schwebend und nichtssagend,
um allein für sich genommen noch als wissenschaftliche Termini
brauchbar zu sein.
Im gewöhnlichen Leben verwendet man das Wort Idealismus
meist in praktischer oder, allgemeiner, axiologischer Bedeutung.
In der Philosophie dagegen gebraucht man es rein theoretisch
zur Bezeichnung einer ontologischen Grundanschauung über „das
wirklich und wesentlich Seiende", über das „An sich" im Gegen-
satz zur „sinnlichen Erscheinungswelt". Im weitesten Sinne ver-
steht man unter ontologischem Idealismus jeden Immaterialismus,
der die raumerfüllende Körperlichkeit als Phänomen einer un-
körperlichen Wirklichkeit betrachtet. Diese Negation kann nun
auf zwei Weisen mit positivem Inhalt erfüllt werden. Der
objektive Idealismus wird typisch dargestellt durch Piatons
ßkaps förbund" die letzten „föreläsningar i etik" nach seinen (Klingbergs) eigenen,
sehr vollständigen Aufzeichnungen herausgegeben.
154 Reinhold Geijer,
Ideenlehre, wie diese gewöhnlich aufgefaßt wird. Danach ist das
wahrhaft nnd wesentlich Seiende eine Welt zeitloser Gedanken-
dinge, ein „hypostasiertes" System nnsinnlicher Begriffsinhalte,
während die räumlich-zeitlichen Sinnendinge für bloße „Schatten-
bilder" der ewigen Ideen erklärt werden. Auch Hegels „Pan-
logismus", nach dem der letzte Grund und das innerste Wesen
des Weltgeschehens ein sich mit dialektischer Notwendigkeit ent-
wickelnder Gedankenprozeß ist, gehört hierher. Der subjektive
Idealismus dagegen, der erst in der neueren Philosophie un-
zweideutig hervorgetreten ist, könnte auch Panpsychismus oder
Spiritualismus, noch besser Mentalismus oder Personalismus ge-
nannt werden. Er geht aus von unserm Selbstbewußtsein, dem
Ich als dem einheitlichen Subjekt aller seiner Wahrnehmungen
und Gedanken, Gefühle und Willensäußerungen, und mündet in die
Überzeugung aus, daß es re Vera nichts geben kann als eine An-
zahl ähnlicher Subjekte und Geister, die zu einander in rein inner-
lichen oder geistigen Beziehungen stehen, daß also alles Körperliche
und Leblose als solches nur Erscheinung dieser Geisteswelt in und
für unsern endlichen Geist, nur unsere „Idee" (in erweitertem
Sinne, d. h. unser Vorstellungsinhalt) sein kann. Der Mentalismus
hat seine klassische Formung in Leibnizens „Monadenlehre" er-
halten. Er begegnet uns weniger allseitig, aber in einer be-
stimmten Hinsicht weiter ausgeführt wieder in Berkeleys Polemik
gegen jeden Ganz- oder Halbmaterialismus. Und eine Art des
Mentalismus, nämlich radikaler Phänomenalismus, ist auch Kants
sog. kritischer oder transzendentaler Idealismus, dessen eigentlicher
Kern die Lehre von Zeit und Raum als apriorischen Formen
unserer sinnlichen Anschauung ohne jede transzendente (oder trans-
subjektive) Anwendbarkeit ist.
Hiermit sind nun auch Boströms nächste Gesinnungsgenossen,
besonders in Deutschland, erwähnt, zugleich die einzigen Philo-
sophen (außer Piaton sowie seinen schwedischen Lehrern Biberg
und Grubbe), auf die er sich nach Überwindung seiner schellin-
gisierenden Jugendperiode noch beruft und mit denen er sich
kritisch auseinandersetzt. Seine unverkennbare Verwandtschaft
mit Leibniz hat er öfters betont. Auf Kants Lehre von der
„transzendentalen Idealität" oder bloß phänomenalen Bedeutung
und Gültigkeit des' Baumes und der Zeit verweist er wiederholt.
Und den bei weitem wichtigsten seiner vielen „Beweise für die
absolute Notwendigkeit und Wahrheit des Idealismus" baut er
Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström. 155
auf den Berkeleyschen Satz : esse est percipi, nur seinerseits hin-
zufügend: et vice versa.
„Att vara är att förnimmas och att förnimmas är att vara;
bügge uttrycken hava samma betydelse och omfattning" — d. h.
Sein ist Vorgestellt- werden (im allerweitesten Sinne dieses Wortes)
und umgekehrt; beide Ausdrücke haben dieselbe Bedeutung und
denselben Umfang — so lautet schon § 4 in Boströms Grundlinien
zur Propädeutik der philosophischen Staatslehre. Sein und Vor-
gestellt-werden, will er sagen, sind äquipollente Begriffe, wenn
man beide in voller Allgemeinheit nimmt. Dies ist ihm ganz
selbstverständlich, denn alles Seiende muß für jemanden sein,
wenn nicht für sich selbst, so wenigstens für einen andern;
„Für -jemanden -Sein" aber ist dasselbe wie Von -jemandem -Vor-
gestellt-werden ; und auch umgekehrt, alles irgendwie, klarer oder
dunkler, Vorgestellte (perceptum) ist eo ipso auch gleichermaßen
für den Vorstellenden (percipientem), sei es nun für seine Sinne,
seine Erinnerung, seine Phantasie oder seinen Verstand, und wäre
es auch nur als eine abstrakte Denkmöglichkeit oder, in Herbarts
Terminologie, als „unter die Schwelle des Bewußtseins Gesunkenes".
Denn alles das sind ja nur verschiedene, höhere oder niedere
Formen dessen, was man im Schwedischen unter der gemeinsamen,
zugleich aktivischen und passivischen Benennung „förnimmande",
lateinisch percipere oder percipi, deutsch „Vorstellung im weitesten
Sinne" zusammenfaßt. Bei Boström hat also das Wort percipi
einen viel größeren Umfang als bei Berkeley, der nur nach dem
esse körperlicher Dinge fragte und dieses für eine Mannigfaltigkeit
von Sinneswahrnehmungen oder Sensationskomplexen erklärte.
In Boströms Axiom über die Identität von Sein und Vor-
gestellt-werden (das Vannerus offenbar mit dem „archimedischen
Punkte" des Systems meint) liegt implicite die Voraussetzung
eines vorstellenden Subjekts. Jede (konkret und individuell be-
stimmte) Wirklichkeit besteht aus vorstellenden (perzipierenden)
Wesen und ihrem Vorstellungsinhalt, oder schlechtweg aus „Gei-
stern und ihren Vorstellungen". (In der lateinischen Disser-
tation „De notionibus religionis etc." verteidigt Boström ausführ-
lich die Lehre de unitate perceptionis et percepti ; z. B. in Buch 2,
Kap. 2: „etenim hoc nos urgemus et contendimus, nihil quidquam
esse et percipi praeter mentem et perceptionem, vel potius nihil
esse et percipi, quod non sit perceptio; nam et mens ipsa sibi
156 Rein hold GMjex,
perceptio est".) *). Wieder an andern Stellen läßt Boström die
wahre Wirklichkeit aus einer unendlichen Mannigfaltigkeit von
mehr oder minder vollkommnen „Formen des Lebens und Selbst-
bewußtseins" bestehen — auch zwei äquipollenten Begriffen,
die sich nach Boström „nicht mehr von einander unterscheiden
als z. B. das Licht vom Leuchten oder die Kraft von der Wir-
kung". Er nimmt nämlich einerseits das Wort „Selbstbewußtsein"
oder „conscientia" in so weitem Sinne, daß es nicht nur das
aktuelle Bewußtsein von sich selbst (conscientia sibi sui), sondern
das gemeinsame Prinzip oder erste und einfachste Ingredienz alles,
auch des unbewußten oder „unterbewußten" Vorstellungs-, und
somit alles psychischen Lebens überhaupt 2) umfaßt. Und anderer-
seits erkennt er kein anderes Leben an als das innere, geistige
oder psychische Leben. Denn, so argumentiert er, zwar
äußert sich das Leben in der Erscheinungswelt immer als spon-
tane Bewegung oder überhaupt Tätigkeit, aber dabei ist das
Wesentliche- nicht die Bewegung oder Veränderlichkeit, sondern
die Spontaneität oder Selbständigkeit der Veränderung; jede
Selbständigkeit aber setzt notwendig ein „Selbst" oder ein „Ich"
voraus. Ausdrücklich definiert er den Idealismus als „die Form
der Philosophie, die das Absolute als Idee, d. h. geistig, und in
seiner höchsten Form als Geist, faßt und die körperlichen
Dinge als Erscheinungen des Geistigen ansieht". Damit dürfte
klar genug bezeugt sein, daß Boströms ontologische Grund-
anschauung als Spiritualismus oder Mentalismus bezeichnet
werden muß.
1) Wenn Boström wirklich — was ich bezweifle — den subjektiven Per-
zeptions- (resp. Wahrnehmungs- oder Denk-) Akt und dessen objektive Inhalts-
bestimmtheit hätte vorbehaltlos identifizieren und beides für synonym erklären
wollen, so wäre das recht übereilt und logisch unhaltbar gewesen. Zumindest
könnte es durch Operation mit einer latenten „quaternio terminorum" zu irre-
führenden Schlußfolgerungen verwandt werden. Vgl. meine Schrift „Filosofiens
historiska huvudformer. I. Skiida världsförklaringar", Uppsala 1916, S. 136—144.
2) Wenn Boström dieses psychische Leben gewöhnlich nur aus Vorstellungen
oder Perzeptionen bestehen läßt, so mag dies zwar von einer intellektuellen Ein-
seitigkeit zeugen, tatsächlich sind darin aber Gefühle und Willensäußerungen ein-
begriffen. Die ersteren werden von B. (in einer psychologisch freilich recht
unbefriedigenden Weise) als „dunkle Vorstellungen" definiert. Und schon in der
eben erwähnten lateinischen Dissertation wird an der betreffenden Stelle (Buch 1,
Kap. 3) beiläufig angedeutet, unsere „perceptiones" könnten auch „praeterea
determinatae" sein, u. a. als „volitiones et cupiditates et actiones".
Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström. 157
Hiergegen bedeutet es wenig, wenn er bestimmt allen „sog.
subjektiven Idealismus" abgelehnt hat. Denn in diesen Terminus
legte er wie Kant den Sinn hinein, daß „alles, was wir wahr-
nehmen, nur als eigene Fiktion des Geistes anzusehen sei", und
bezog sich dabei wie Kant in erster Linie auf Berkeley, dessen
einseitigen Idealismus sie beide mit oder ohne Grund als einen
zum theoretischen Egoismus oder Solipsismus neigenden Illusio-
nismus deuteten. Aber auch Kants eigenen „kritischen Idealismus"
findet Boström unausgereift, insofern dieser mit seiner Rede von
dem (theoretisch) unerkennbaren „Ding an sich" bei einem meta-
physischen Agnostizismus landet. Boström dagegen will gel-
tend machen, daß alles, was von uns wahrgenommen oder gedacht,
kurz, was überhaupt vorgestellt wird und insofern „in unserm
Geiste ist", nicht bloß „an sich", sondern „an und für sich" sein,
demnach von sich selbst wahrgenommen oder gedacht werden und
ein höheres oder niederes Maß eigenen, von unserm endlichen
Bewußtsein unabhängigen „Lebens oder Selbstbewußtseins" haben
muß. Er faßt also Kants „Welt der Dinge an sich" positiv
als eine in sich zusammenhängende, dem endlichen Menschengeist
zugleich transzendente und immanente Geisterwelt. Dieser
sein Standpunkt ist über jede einseitig subjektive oder agnostisch
negative Form des Idealismus prinzipiell ebenso erhaben wie über
den ausschließlich objektiven Gedankengang, der mit oder ohne
Grund in Piatons Ideenlehre *) hineingelegt wird. Und als eine
solche höhere Synthese dieser geschichtlich gegebenen Einseitig-
keiten dürfte Boström mit einem gewissen Rechte seine eigene
Philosophie „den absoluten Idealismus" nennen. Auf sein Ver-
hältnis zu Piaton werden wir noch einmal zurückkommen. Ehe
ich aber weitergehe, kann ich nicht unterlassen, daran zu erinnern,
daß Boström in seiner Leugnung auch der bloßen Denkbarkeit
einer absolut tr ans subjektiven Wirklichkeit einen ebenso energi-
schen Vorgänger in dem schwedischen Philosophen Prof. Benjamin
Höijer gehabt hat, der darüber folgende denkwürdigen Worte
geäußert hat: „Was ist eine Realität, die es nicht für eine In-
1) Eine solche rein objektive Deutung von Piatons Philosophie deckt aber
„nicht den ganzen, reichen Inhalt des Gedankenlebens dieses weitumfassenden
Geistes, das sich in seiner ununterbrochen fortschreitenden Entwicklung auch in
andern als den zuerst eingeschlagenen Bahnen bewegt". Vgl. meine Schrift
„Piaton, Biberg och Boström", (Schriften des Boströmbundes, Nr. 42, auch ge-
druckt in meinem erwähnten Buche „Skiida världsförklaringar", S. 21—31).
158 Reinhold Geijer,
telligenz, für mich oder für irgend ein Ich, ist? Vergebens würde
ich mit dem feinsten Abstraktionsvermögen mein Möglichstes tnn,
um eine solche Wirklichkeit zu denken. Wenn ich glaubte, diesen
widersinnigen Begriff gefaßt und alle Gedanken von mir selbst
oder sonst einem perzipierenden (förnimmande) Wesen abgesondert
zu haben, wenn ich alle Dinge ihrer Prädikate oder Eigenschaften
entkleidete, die ihr Verhältnis zu mir als Perzipierendem be-
zeichnen, so könnte ich die Wirklichkeit doch nicht anders denken
denn als eine Möglichkeit, angeschaut zu werden, sobald eine
Intelligenz hinzukäme. Ist nun aber diese Möglichkeit selbst eine
Perzeption und kann nicht ohne eine Intelligenz gedacht werden,
so ist klar, daß ich niemals von dem Ich loskommen kann j ich
nehme mein Ich fort und will doch als Zuschauer sehen, wie es
dann aussehen wird!"
Nachdem ich bisher die allgemeine Art des idealistischen
Grundzuges in Boströms Philosophie auseinandergesetzt und zu-
gleich in historische Beleuchtung gestellt habe, will ich jetzt
erklären, warum er seine Philosophie insbesondere als „ratio-
nellen Idealismus" charakterisiert hat. Meinerseits möchte ich
dafür lieber sagen „äternistischen Idealismus". Rationalismus
(nicht in erkenntnistheoretischer, sondern in ontologischer und
metaphysischer Bedeutung) nennt man nämlich in Schweden jede
Philosophie, die das wirklich Seiende nicht nur als unkörperlich
— als Idee, Geist oder Geisterwelt — auffaßt, sondern auch sub
specie aeternitatis, d. h. als erhaben über Zeit und Zeitbestimmt-
heit, und insofern als rein vernünftig, d. h. von aller sinn-
lichen Existenz artverschieden. Und bei Boström hat nun dieser
Rationalismus (oder Aternismus) seinen prägnantesten Ausdruck
bekommen, wenn er in seiner „rationellen Theologie" lehrt, daß
die endlichen Geister in letzter Instanz realiter identisch mit den
ewigen Ideen des persönlichen Gottes sind. „Ursprünglich und
in des Wortes eigentlicher Bedeutung", heißt es im § 41 seiner
Grundlinien zur Propädeutik der philos. Staatslehre, „gibt es
nichts anderes als die unendliche Vernunft und ihren Inhalt, d. h.
nichts als Gott und seine ewigen Ideen, die alle auch ein Sein
besitzen als selbst lebende und selbstbewußte, somit als (im wei-
testen Sinne) vorstellende oder vernünftige Wesen". Gottes in
zeitloser Aktualität ruhende (subjektive) modi cogitandi, seine
ewigen Gedanken oder Ideen, die ebenso absolut klar und deutlich
sind, wie intuitiv, dem Inhalt nach konkret und individuell bestimmt,
Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström. 159
sind eben Gedanken oder Ideen von Subjekten oder Geistern,
die vollkommnere oder unvollkommnere (zeitliche) Vorstellungen
besitzen und also relativ selbständig sind. In dieser Weise möchte
ich am liebsten die knapp formulierte Lehre, daß die Ideen Gottes
„selbst vorstellende Wesen" sind, umdeuten. Denn nur so, indem
die anfängliche, wenigstens formal-logische Distinktion, welche B.
selbst nicht immer beachtet, vielmehr (in seinen lateinischen
Dissertationen) zu verwischen gesucht hat, festgehalten und
klar durchgeführt wird, lassen sich einerseits alle Ideen Gottes
als solche absolut vollkommen nennen und andererseits die vielen
relativen und endlichen Geister, der ursprügliche Inhalt dieser
göttlichen Gedanken, als ewiges Erkenntnisobjekt des allwis-
senden Gottes denken, — um somit den sonst unversöhnlichen
Streit zwischen Edfeldt und Nyblaeus über „die Ideenlehre"
ihres gemeinsamen Meisters zu schlichten1). Dabei versteht sich
von selbst, daß diese endlichen Geister, sobald sie „in und von
Gott gedacht werden", alle volle und wahre Wirklichkeit besitzen,
die man überhaupt einem Wesen zuschreiben kann , das nicht
Gott oder das ens realissimum selbst ist. Hierdurch wird die
schon aus andern Gründen verwerfliche Annahme einer zeitlichen
Schöpfung überflüssig. Der Gegensatz zwischen essentia und exi-
stentia ist überwunden, und damit fällt die Forderung eines „com-
plementum possibilitatis" fort, die wegen dieses, vermeintlichen
Gegensatzes von der Leibniz-Wolffschen Schule gestellt worden ist.
Boström betont sodann den Gedanken, daß „die unendliche
Vernunft und deren Inhalt" ein in sich geschlossenes und voll-
ständiges „System" — nach dem allgemeinen Schema: „alles in
allem" — ist, und sucht diesen Gedanken durchzuführen, indem
er das Zahlensystem als Bild benutzt. Es ist also im großen und
ganzen das platonische Ideensystem, dem er expressis verbis
sozusagen in dem Selbstbewußtsein des persönlichen Gottes seinen
„metaphysischen Platz" anweist. Eben dadurch wird diese Ideen-
welt ausdrücklich in eine organisch in sich zusammenhängende
Geistes- oder Geisterwelt oder besser gesagt in ein Reich der
1) Vgl. Skiida världsförklaringar, S. 138 ff. Hier habe ich auch einige andre
dunkle und strittige Punkte in Boströms Philosophie beleuchtet, z. B. die Frage
nach der Möglichkeit, eine zeitliche Wirklichkeit zeitlos aufzufassen, ferner
Boströms Stellung zu der Frage, inwiefern und in welchem Sinne der unendliche
Gott „sub specie aeternitatis" als ein nicht nur vorstellendes, sondern auch füh-
lendes und wollendes Wesen gedacht werden kann.
160 Reinhold Geijer,
Persönlichkeit verwandelt. Deshalb hat Boström nicht nötig, mit
Leibniz von einer „prästabilierten Harmonie" oder sonst einer
Erklärung der Wechselwirkung und Übereinstimmung der „end-
lichen Substanzen" „mediante Deo" zu sprechen.
Über die Art, wie Boström aus seiner Ideenlehre die meta-
physische Erklärung der tatsächlichen Sinnenwelt ableitet, will
ich nur einige Hauptpunkte hervorheben. Alle Ideen des unend-
lichen Gottes sind als solche gleich absolut vollkommen. Als
selbst lebende und vorstellende Wesen jedoch sind sie endlich und
müssen deshalb sich selbst und die Ideenwelt in verschiedenem
Grade inadäquat oder unrichtig auffassen. Diese Auffassung ist
Phänomen, freilich im Unterschied von bloß zufälligem Schein
ein „phaenomenon bene fundatum", insofern es einerseits in dem
wesentlich Seienden und andrerseits in der ursprünglichen und
unvermeidlichen Unvollkommenheit des Auffassenden ausreichend
begründet ist. Eigentlich hat jedes endliche Subjekt seine beson-
dere Erscheinungswelt, jedoch haben mehrere, die zu einer Gruppe
mit gleichem Grundtypus gehören, auch eine gemeinsame Erschei-
nungswelt. Unsere jetzige Erscheinungswelt wenigstens hat da-
durch ein eigentümliches Gepräge, daß sie an Raum und Zeit
gebunden ist, die Boström mit Kant als apriorische Anschauungs-
formen der menschlichen Gattung auffaßt. Aber wenn auch der
Mensch in einer räumlich-zeitlichen Welt lebt, so besitzt er doch
daneben ein unauslöschliches Bewußtsein von einer andern, höheren
Welt, die von jeder Zeit- und Raumbestimmtheit unabhängig ist.
Und nur durch diesen unsinnlichen oder vernünftigen Lebensinhalt,
der sich zunächst als dunkle Ahnung, als Gefühl oder Instinkt
bemerkbar macht, ist der Mensch realiter ein vernünftiges
Wesen, eine Persönlichkeit in höherem und eigentlicherem
Sinne, wenn auch nicht in demselben höchsten Sinne wie die ab-
solute Gottheitsperson.
Ich will jetzt dem theoretischen Teile nur noch einige kurze
Schlußbemerkungen über Boströms innerste Intentionen oder seine
eigentlichen und tiefsten Überzeugungen hinzufügen, um diese dann
durch seine praktische Philosophie erst in das rechte Licht zu
stellen. Das ganze philosophische System Boströms beruht
wesentlich auf dem Persönlichkeitsbegriff in dieses Wortes
eben angedeuteter höherer und höchster Bedeutung; dieser Begriff
ist das dem Systeme eigentümliche und es einheitlich zusammen-
haltende Realprinzip. Heißt es doch im § 13 seiner mehrfach
Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström. 161
erwähnten Grundl. zur Prop. der phil. Staatslehre: Streng ge-
nommen „hat die wahre Philosophie mir vernünftige Wesen" oder
Personen „zum Gegenstand und kann von den sinnlichen oder
materiellen, den natürlichen Dingen nur insofern handeln, als sie
bloße Phänomene für endliche vernünftige Wesen sin#a. Damit
hängt eng zusammen, daß seine philosophische Welterklärung —
im Gegensatz zu dem „Universalismus" und abstrakten Pantheismus
der großen deutschen idealistischen Systeme (Fichtes, Schellings
und Hegels) — ausgeprägt individualistisch und infolgedessen
theis tisch ist, d. h. die aktuell selbstbewußte Persönlichkeit
des einheitlichen, letzten Weltgrundes verteidigt. Noch genauer
müßte man seine Anschauung Panentheismus nennen; denn
einerseits wird Gott als überall mit- und gegenwärtigseiend ge-
dacht, vor allem im eigenen innersten Innern des Menschengeistes,
andrerseits wird betont, daß im allerinnersten wir selbst und alle
andern endlichen Lebewesen „in ihm leben, weben und sind" 1).
In seiner „rationellen Anthropologie" sucht Boström
den oben definierten Unterschied zwischen einem sinnlichen und
vernünftigen Lebensinhalt im praktischen und ethischen Gebiete
ebenso durchzuführen wie im theoretischen. Indes darf man diesen
Gegensatz zwischen Sinnlichkeit und Vernunft nicht rein dualistisch
auffassen, denn er existiert nach B. nur für das endliche Be-
wußtsein. Alle Sinnlichkeit ist ja Erscheinung einer unsinnlichen
Wirklichkeit, die einzig und allein die wahre ist. Dies zu be-
achten ist besonders wichtig innerhalb der Ethik, denn nur so
wird es uns möglich verständlich zu machen, wie das Sittengesetz
nicht die Unterdrückung und Vernichtung der Sinnlichkeit, son-
dern ihre Umgestaltung und Veredlung fordert, damit sie als
Organ und Mittel eines vernünftigen Lebens dienen kann. So
bekommt Boströms Sittenlehre einen konkreten und individualisti-
schen Charakter, im wesentlichen Gegensatz zu dem abstrakt for-
malistischen und negativ rigoristischen Zug der Kantischen, an
die sie sich sonst in mehrfacher Hinsicht anschließt. Besonders
aber wird der individuelle Charakter der Sittlichkeit dadurch
hervorgehoben, daß sie in so innige Verbindung mit der Reli-
giosität gebracht und als ein Leben in rein persönlichem Ver-
1) Eine nähere Auseinandersetzung über den Begriff des Panentheismus und
seine Anwendung auf Boström s. „Skiida världsförklaringar", S. 89—95, 102—4
und 111 ff. Vgl. auch J. Ljunghoff; Chr. J. Boström, Sverges Piaton; Uppsala
1916, eine besonders in religiöser Hinsicht verdienstvolle Monographie.
Kantstudien. XXVI. 11
162 Reinbold Geijer,
hältnis zu anderen Personen aufgefaßt wird. Wie Kant leitet
auch Boström die verpflichtende Kraft des Sittengesetzes aus dem
eigenen unsinnlichen Wesen des Menschen her ; aber jeder Mensch
ist ja im Grunde eine individuell bestimmte Gottesidee und hat
folglich sein „wahres Leben" in Gott und in der Verbindung mit
dessen übrigen lebendigen Ideen. Darum muß jeder einzelne
Mensch danach streben, auch für sich selbst das zu werden und
zu bleiben, was er von Ewigkeit her in oder für Gott ist, oder
m. a. W. seine ewige Idee (die sein „kategorischer Imperativ" ist)
zu verwirklichen, so weit es schon hier in der Zeit möglich ist.
Und nur so kann er das höchste Gut, die ewige Seligkeit, ge-
winnen. Für die Menschheit als Ganzes wird als das höchste
und letzte Ziel die Arbeit am Reiche Gottes aufgestellt, das voll-
ständig erst dann verwirklicht ist, wenn jeder endliche Geist in
seiner Entwicklung zu dem Grade der Vollendung gelangt, der
ihm durch sein „ewiges Maß" bestimmt ist.
Es bleibt noch übrig, etwas über Boströms philosophische
Gesellschaftslehre zu sagen. Diese ist wohl der originellste
Teil des Systems, wenn sie auch in ihrer allgemeinen Tendenz
mit der Krause-Ahrensschen verwandt ist und wie diese manche
Berührungspunkte mit Hegels „Philosophie des objektiven Geistes"
und mit der ganzen „historischen Schule" in der politischen
und juristischen Literatur des 19. Jahrh. besitzt. Eine Gesell-
schaft muß nach Boström streng unterschieden werden von einer
willkürlichen Vereinigung. Erstere ist nicht nur ein lebendiger
Organismus, dessen Organe die Menschen sind, sie ist, so meint
er, gerade so wie jeder einzelne Mensch in seiner Wahrheit, eine
göttliche, selbst persönliche Idee. Als solche muß sie auch ihre
eigentümliche Erscheinungswelt haben, von deren Beschaffenheit
wir indes nichts Bestimmtes wissen können. Doch ist diese Idee
für uns faßbar und hat für uns Bedeutung als Norm und Ziel
unserer eigenen, freien, praktischen Tätigkeit. In dieser Weise
macht sie sich in unserem Gewissen geltend und wirkt äußerlich
durch ihren Repräsentanten in unserer Erscheinungswelt. Als
eine solche „praktische Idee" ist jede Gesellschaft der Grand be-
sonderer Pflichten und Rechte, die wir sonst nicht haben würden.
Die Gesellschaft muß deshalb im Grunde selbst persönlich sein;
denn nur ein übergeordneter vernünftiger Wille kann einem freien
Willen Pflichten und Rechte geben. Die so aufgefaßten Gesell-
schaften nennt B. „moralische Personen" und teilt sie ein in pri-
Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström. * 163
vate und öffentliche. Die ersteren (deren unterste die Familie
und deren höchste das Volk ist) wirken für Ziele, die mit dem
eigenen unmittelbaren Ziele des Individuums gleichartig sind. Sie
wirken alle für sittliche Kultur, nur in verschiedenen Richtungen
und auf immer höherer Stufe. Dieser Wirksamkeit aber der
menschlichen Individuen und der privaten Gesellschaften soll die
öffentliche Gesellschaft, d. h. in erster Linie der einzelne Staat,
(sodann aber indirekt auch ein umfassenderes Staatssystem und
/ ein leider noch in allzu nebelhafter Ferne schwebendes, die ganze
Menschheit umfassendes „System der Staatssysteme") eine ver-
nünftige Form geben. Diese vernünftige Form ist das objektive
Recht, das zwei Momente in sich birgt, nämlich die Selbständig-
keit und die systematische Ordnung; deshalb hat der Staat nicht
nur die Rechtsgrenzen zu bestimmen und aufrecht zu erhalten,
sondern eine ebenso wesentliche Aufgabe ist die Organisation der
Kulturarbeit. — Um den beschränkten Raum dieser Zeitschrift
nicht übermäßig in Anspruch zu nehmen, breche ich hier ab und
bemerke nur noch, daß einer der kritischsten Punkte in ßoströms
Staatslehre (außer der seiner Liebe zur schwedischen Vergangen-
heit entsprungenen Verteidigung der alten Vierständerepräsentation
als „der einzig vernünftigen" Form der Volksvertretung) die eben
gestreifte Dualität zwischen Volk und Staat als toto genere ver-
schiedenen Gesellschaften ist.
Zuletzt nur noch einige Worte über Boströms historische
Stellung und Bedeutung. Vannerus hat in „Ord och bild" 1897
darauf hingewiesen, daß Boströms System einen integrierenden
Teil in der Weiterentwicklung der spekulativen Philosophie bilde,
die von Kant ausgegangen sei und in den großen idealistischen
Systemen Fichtes, Schellings und Hegels ihren ersten Niederschlag
gefunden habe; sie bringe zugleich den spekulativen Idealismus,
der sich seit den Tagen Piatons wie ein roter Faden durch die
Kulturentwicklung hindurchgezogen habe, zu einem prinzipiellen Ab-
schluß. Es darf daneben aber nicht vergessen werden, daß Boström
auch in engem Zusammenhang mit seinen persönlichen Lehrern
Biberg und Grubbe und indirekt wenigstens mit deren älteren
schwedischen Zeitgenossen und Lehrern Boethius und Höijer stand 1).
1) Ob und wieweit B. von E. G. Geijer beeinflußt worden ist, bleibt eine
oftene Frage. Nyblaeus ist geneigt sie zu verneinen. Indes begann G. seine be-
rühmten Vorlesungen über „die Geschichte des Menschen" in demselben Jahre,
in dem B. seine Professorarbeit „De notionibus religionis etc." schrieb.
11*
164 Reinhold Geijer, Zur Erinnerung an Christopher Jacob Boström.
In den Schriften dieser in ihrer Art bedeutenden schwedi-
schen Philosophen finden sich schon fast alle leitenden Gesichts-
punkte und Grundgedanken von Boströms Philosophie ausgesprochen,
nur zerstreuter und weniger scharf fixiert als bei ihrem Schüler,
der ihnen in der Fähigkeit zu weitumfassenden Synthesen und
genialer Systematik überlegen ist. Bei seiner philosophischen
Gedankenarbeit hat Boström also schon eine ganz bestimmte
und ausgebildete einheimische Tradition weiterführen können.
Sein philosophisches System bildet eine prägnante Kodifizie-
rung, wenn ich mich so ausdrücken darf, und Vervollständigung
dieser nationalen Tradition, das ausgereifte Resultat der Arbeit
nicht nur des Meisters selbst, sondern auch seiner in derselben
Richtung kontinuierlich fortschreitenden Vorgänger1). Und darin
liegt, wie mir scheint, in geschichtlicher und vaterländischer
Hinsicht zwar nicht seine einzige, aber doch seine hauptsächliche
Bedeutung. Boströms Weltanschauung wird aus diesem Grunde
auch im Nationalbewußtsein seines Volkes immer fortleben, zwar
nicht als selbstgenügsames, orthodoxes Dogma, aber doch als
lebenskräftiges Ferment des ganzen schwedischen Geisteslebens.
1) In Svensk filesofi, historik von E. Geijer (Schriften des Boströmbundes,
Nr. 36) sind die Urteile, die hier in größter Allgemeinheit gefällt werden, mit
einem meines Erachtens ausreichenden Material historischer Einzelangaben belegt
und erhärtet.
Kants Opus postumum
nach
Erich Adickes. Kants Opus postumum, dargestellt und beurteilt.
Kantstudien, Ergänzungsheft 50. Reuther & Reichard, Berlin 1920.
XX und 855 Seiten. Mk. 50.—
von Hermann Schneider, Professor an der Universität Leipzig.
Bei der Ausarbeitung einer Schrift über „Kant als Natur-
wissenschaftler" trat der Verfasser auch an Kants „nachgelassenes
Werk" heran, in der Hoffnung, „binnen kurzem auf etwa dreißig
Seiten seinen wesentlichen Inhalt", so weit er naturwissenschaftlich
war, „zusammenfassen zu können". Aus der beabsichtigten kurzen
Beschäftigung mit dem Werk ist eine jahrelange, mühevolle Ar-
beit geworden, deren erste reife Frucht in einer „Darstellung
und Beurteilung des Werkes" im Umfang von über fünfzig Druck-
bogen vorliegt ; der Verfasser fordert, als „unerläßliche Pflicht der
Pietät" gegen Kant, eine „baldige, unverkürzte, streng wissen-
schaftliche Gesamtausgabe" des „nachgelassenen Werkes".
Man kann die Frage aufwerfen, ob es gerechtfertigt sei, eine
Darstellung und Beurteilung in diesem Umfang der geforderten
Ausgabe voranzuschicken ; ich glaube, daß dies in diesem Fall das
einzig richtige Verfahren war. Kants „nachgelassenes Werk" ist
ein formloser Haufen von Entwürfen und Bemerkungen aus den
letzten Lebensjahren des großen Denkers; Kant selbst schwankte,
ob er anordnen sollte, die Stücke zu veröffentlichen oder sie
zu verbrennen; die Nachlaßordner fanden sie „der Redaktion nicht
fähig". Später entspann sich ein Kampf um den Wert des Werkes;
trotz begeisterter Verkünder seines einzigartigen Wertes, wie
A. Krause, und ausgedehnten Veröffentlichungen daraus (R. Reicke),
trotz der immer steigenden Flut der Arbeiten über Kant, schreckten
die Formlosigkeit und der Gegenstand des Werkes, der eher der
Physik, als der Philosophie anzugehören schien, dazu die unver-
kennbaren Zeichen der Altersschwäche in einigen Blättern, die
166 Hermann Schne/ider,
gerade philosophischen Inhalts waren, die Fachkreise zurück. Es
galt, die gestaltlose Masse zu formen, erst durch eine äußere, zeit-
liche Ordnung der Teile, nach philologischen Merkmalen, dann
innerlich durch den Nachweis, daß hier wertvolle Gedanken zu
Kants kritischer und naturwissenschaftlicher Arbeit versteckt
lagen, die sich im Anschluß an frühere Werke gebildet hatten
und in den Entwürfen weiter entwickelten. Das Werk mußte
aufgeschlossen werden, so daß es zu weiterer Beschäftigung lockte
— das war nur durch eine zusammenhängende Darstellung, nicht
durch eine Herausgabe mit wissenschaftlichem Apparat möglich.
Und wer die einzigartige Verbindung von philosophischer, natur-
wissenschaftlicher und philologischer Veranlagung besaß, die zur
Gewinnung des nachgelassenen Werkes für die Wissenschaft er-
forderlich war, wer die Kenntnisse aus vielerlei Arbeitsgebieten
erworben hatte und sie in den Dienst dieser Aufgabe stellte, dem
verlieh die Größe und Eigenart der schöpferischen Formarbeit, die
weit über die gewöhnliche Herausgebertätigkeit hinausragt, ein
volles Recht, selbständig aufzutreten.
Unsere „Darstellung und Beurteilung" von Kants nachge-
lassenem Werk ist in vier, sehr ungleich lange Teile geteilt.
Der erste Teil, eine geschichtliche Einleitung, stellt
die bisherigen Schicksale des Werkes kurz und kritisch dar, eine
Tragikomödie der Wertung einer Handschrift, bei der scharfe
Schlaglichter auf allerlei Menschlichkeiten spekulativer Litteraten
und fachbeflissener Gelehrten fallen; A. Krauses Verdienste um
das Werk werden gebührend hervorgehoben.
Der zweite Teil bringt die philologische Einleitung,
in der die äußere zeitliche Ordnung der Stücke des Manuskripts,
in meisterhafter Kleinarbeit durchgeführt, ihre Begründung findet.
Von entscheidender Bedeutung für die Forderung einer Herausgabe
des Werkes ist hier der Nachweis, daß ein zusammenhängender
Entwurf (der sogenannte „ Oktav entwürfe ) des Werkes, in dem
bereits alle Hauptfragen erörtert werden, mit Sicherheit 1796
entstanden ist, in einer Zeit, zu der Kant noch durchaus rüstig,
jedenfalls nicht altersschwach war. Daran schließen sich 13 Ent-
würfe auf Foliobogen, die sich über die Jahre 1797 — 1803 an-
näherungsweise verteilen lassen.
Die eigentliche Darstellung und Beurteilung des nachgelassenen
Werkes enthalten Teil III und IV, die 5/e des Buches einnehmen.
Der „vorwiegend naturwissenschaftliche und naturphilosophische
Kants Opus postumum. 167
Teil der Op. p." ist im 3. Teil behandelt; Kant hat an ihm von
1796 bis zum Beginn des Jahres 1800 gearbeitet; so geht er mit
Recht in der Darstellung dem „metaphysisch- erkenntnistheoretischen
Teil des Op. p." voran, der 1800 — 1803 entstanden ist und im
2. Teil behandelt wird.
Die Wissenschaft „vom Übergänge von den metaphysischen
Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" (so sollte das
nachgelassene Werk ursprünglich heißen) war bestimmt eine Lücke
zu füllen, die der Systematiker Kant in der Transszendentalphilo-
sophie beim Ausbau entdeckt zu haben glaubte : sie sollte den
Schlußstein des Systems bilden und die metaphysische Begründung
der Physik als strenge, systematische Wissenschaft vollenden.
Nicht nur den allgemeinen Begriff einer Materie überhaupt, sondern
auch sämtliche mögliche Arten der bewegenden Kräfte meinte er
der bloßen Form nach, a priori, bestimmen und erschöpfend dar-
stellen zu können. So sehen wir ihn in den »Entwürfen zunächst
durch systematische Betrachtung des Begriffs der Bewegung eine
Reihe zweigliedriger Entgegensetzungen von Kräften empirisch
aufstellen, dann diese zu seinem bewährten Mittel zur Auffindung
apriorischer Elemente, dem Kategorienschema, in Beziehung setzen,
bis er zu einem „Elementar System der bewegenden Kräfte", erklärt
durch eine umfassende Ätherthecrie, gesichert durch die Kategorien-
tafel, gelangt.
Die „Metaphysik der körperlichen Natur", die er 1786 ab-
geschlossen hatte, sollte dadurch zunächst nicht als unabgeschlossen
erklärt werden ; nur ein Brückenschlag zwischen Metaphysik und
Physik sollte vorgenommen werden; eine „Architektonik der
Naturforschung", ein Fachwerk der Begriffe, noch besser der
„G-emeinörter der Naturforschung", eine Klassifikation vom „For-
malen der Verknüpfung" und der „Totalität der Wissenschaft"
aus sollte die Aufgabe der neuen Wissenschaft sein. In der Tat
war aber der Rahmen der „Metaphysik der körperlichen Natur"
durch das neue Unternehmen gesprengt; die bewegenden Kräfte
sollten der Bewußtseinssystematik unterworfen, aus der Kategorien-
tafel vollständig abgeleitet werden; neue apriorische Erkenntnisse
sollten eingeführt und als unentbehrlich erwiesen werden, nachdem
die alten feierlich als nicht erweiterungsfähig und durchaus voll-
ständig erklärt waren.
Das war nur möglich, wenn der Grund des kritischen Gebäudes
erweitert, die transscendentale Deduktion der Möglichkeit der
168 Hermann Schneider.
Erfahrung nachgeprüft und den neuen Bedürfnissen angepaßt wurde.
August 1799— April 1800 hat Kant „in vielfach wiederholten,
schwer verständlichen Gedankengängen" daran gearbeitet. „Sie
laufen, kurz zusammengefaßt, darauf hinaus, daß einerseits eine
apriorische und darum erschöpfende Übersicht über die allgemeinsten
Eigenschaften und Arten der unsere Sinne affizierenden bewegenden
Kräfte der Materie und der von ihnen ausgehenden Bewegungen
deshalb möglich ist, weil die letzteren uns nur dadurch wahrnehm-
bar werden, daß sie in uns gewisse körperliche Gegenwirkungen
(Bewegungen) auslösen, die ebenso wie die Wahrnehmungen selbst
der Systematik unseres Bewußtseins, d. h. den Kategorialfunktionen
unterliegen. Man braucht also nur diese Wahrnehmungen und
Gegenbewegungen in ein apriorisches System zu bringen, und trifft
damit zugleich auch die bewegenden Kräfte der Materie überhaupt.
Andererseits läßt sich auch ein apriorisches System der allge-
meinsten materiellen Eigenschaften gewinnen : eine jede von ihnen
ist Wirkung eines bekannten durch je eine der synthetischen Funk-
tionen des Ich an sich hervorgebrachten Kombination bewegender
Kräfte ; eine jede solche Kombination ruft in unserem empirischen
Ich (unserem Ich als Erscheinung) eine gewisse Summe von Emp-
findungen hervor, an denen wieder dieselbe (jedesmal verschiedene)
Art der synthetischen Funktionen sich betätigen muß, um sie in
bestimmter Weise zu objektivieren und uns auf Grund davon am
betreffenden Erfahrungsgegenstand die entsprechende allgemeinste
materielle Eigenschaft erleben zu lassen ; die letzteren unterliegen
also ebenso wie die synthetischen Funktionen, denen sie ihr Dasein
verdanken, der Bewußtseinssystematik unseres Ich und lassen sich
deshalb gemäß dem Kategorienschema vollzählig und mit absoluter
Sicherheit bestimmen."
„Es tritt hier eine bedeutsame Weiterentwicklung der Lehre
von der Synthesis zutage: Kant behauptet nunmehr, daß unsere
synthetischen Bewußtseinsfunktionen als transscendentale Bedin-
gungen nicht nur das Objekt-Sein überhaupt, d. h. die Vereinigung
der Kräfte zu Kräftekomplexen bezw. die Vergegenständlichung
der Empfindungen bestimmen, sondern auch das So-Dasein der
Kräftekomplexe bezw. Erfahrungsgegenstände, d. h. ihre Ausstat-
tung mit gewissen allgemeinsten materiellen Eigenschaften."
„Der ganzen neuen transscendentalen Deduktion liegt die im
Op. p. auch sonst konsequent durchgeführte Auffassung zugrunde,
daß dasjenige, was unsere Sinne affiziert und worauf wir mit
Kants Opus postumum. 169
unseren Empfindungen- Wahrnehmungen reagieren, nicht in etwas
Bewußtseins-Transscendentem (Dingen an sich) zu suchen ist, son-
dern vielmehr in den empirischen "materiellen Objekten und ihren
bewegenden Kräften. Diese empirischen Objekte müssen natürlich
als ihrer sekundären Sinnesqualitäten, die ja nichts anderes als
unsere räumlich geordneten und vergegenständlichten Wahrneh-
mungen sind, entkleidet gedacht werden. Was übrig bleibt, ist
gemäß Kants dynamischer Theorie der Materie als eine Summe
von Kraftzentren zu denken, die, mit solchen und solchen Kräften
ausgerüstet, in bestimmter Weise im Raum verteilt und vermöge
der apriorischen synthetischen Funktionen der transscendentalen
Apperzeption unseres Ich an sich zu körperlichen Einheiten (Kräfte-
komplexen) verbunden sind. Sie stellen die Art dar, wie auf
Grund einer Affektion des Ich an sich durch die Dinge an sich
diese und ihre räum- und zeitlosen, rein innerlichen Verhältnisse
jenem erscheinen. Die empirischen Objekte sind meinem empirischen
Ich gleichgeordnet und stehen mit ihm in Wechselwirkung, beide
sind Teile der Erscheinungswelt des Ich an sich."
„Unser Ich wird also in doppelter Weise affiziert: durch Dinge
an sich und durch Erscheinungen. Und die synthetischen Funk-
tionen betätigen sich gleichfalls in doppelter Weise: erstens an
dem durch Affektion seitens der Dinge an sich dem Ich an sich
gegebenen Inhalt, der sich unter ihrer Einwirkung zu Kräfte-
komplexen ordnet, zweitens an den durch Affektion seitens der
letzteren im empirischen Ich hervorgerufenen Empfindungen, die
unter ihrer Einwirkung zu Erfahrungsgegenständen verbunden
werden." (Adickes. S. 237— 239.)
Ich glaube, diese Ausführungen über die neue transscendentale
Deduktion wörtlich anführen zu sollen, nicht nur weil sie wohl den
Kern des nachgelassenen Werkes in philosophischer Hinsicht ent-
halten, in der knappsten und doch inhaltreichsten Fassung, die
nur durch eine langjährige Beschäftigung mit dem Werk zu ge-
winnen war, sondern auch deshalb, weil der Verfasser in der Lehre
von der doppelten Affektion unseres Ich, wie er sie hier kurz
darstellt, den Schlüssel zu Kants Erkenntnistheorie gefunden zu
haben glaubt ; eine demnächst erscheinende Schrift soll das Problem
ausführlich behandeln.
Für die weitere Entwicklung des „nachgelassenen Werkes"
kommt die Affektion des Ich besonders als Selbstaffektion in Be-
tracht; „nicht darin, daß das Subjekt vom Objekt (per receptivi-
170 Hermann Schneider,
tatem) affiziert wird, sondern daß es sich selbst (per spontaneitatem)
affiziert, besteht die Möglichkeit des Überganges von den M. A.
d. N. zur Physik" ; und allgemeiner: „der Akt, durch welchen das
Subjekt sich selbst in der Wahrnehmung affiziert, enthält das
Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung."
Die Selbstaffektion des Ich ist eine Affektion des empirischen
Ich durch das Ich an sich, die wieder doppelt ist; einmal „setzt"
das Ich an sich dem empirischen Ich die einzelnen Vorstellungen,
d. h. es führt seinen an sich zeitlosen Inhalt in die Form der Zeit
über; zweitens werden die so „gegebenen" Vorstellungen unter
eine Apperzeption gebracht, geordnet und zur Bewußtseinseinheit
verschmolzen. Die Lehre von der ersten Art der Selbstaffektion,
von der Abhängigkeit der Wahrnehmungen und Gegenbewegungen
von der Bewußtseins Systematik, ist verhältnismäßig weit ausge-
führt ; drei Typen dieser Art lassen sich in den Entwürfen unter-
scheiden; und die Möglichkeit, apriorische Systeme der Wahr-
nehmungsarten und bewegenden Kräfte aufzustellen, wird stark
betont. Weniger entwickelt erscheint im Vergleich die Lehre von
der zweiten Art der Selbstaffektion, damit die Möglichkeit eines
apriorischen Systems der Haupteigenschaften der Materie und
materiellen Gegenstände.
Die neue transscendentale Deduktion gab einesteils der Wissen-
schaft vom Übergänge die feste Grundlage, andernteils führte sie
zu einer Durchsicht der früher gewonnenen Anschauungen von den
Grundlagen der Erfahrung unter dem Gesichtswinkel dieser Wissen-
schaft. Der Schlußstein des großen Baus sollte gelegt werden; es
war natürlich, dabei das Ganze nochmals zu überblicken: dabei
bot sich eine Möglichkeit, allerlei Einwürfen von Schülern, die zu
neuen Formeln geführt hatten, zu begegnen, ihre teilweise Be-
rechtigung anzuerkennen und allerlei Gefahren für die Transscen-
dentalphilosophie, die von dieser Seite her drohten, zu bannen;
sehr fein weist der Verfasser darauf hin, daß vielleicht für den
alten Denker auch die Jahrhundertwende bei der Absicht, sein
System abzuschließen und seine Schule geeinigt zurückzulassen,
eine Rolle spielte.
Kant war weit entfernt von dem Wunsche, sein Lebenswerk
in den Grundlagen zu ändern; alles Grundlegende sollte unver-
ändert gelten; da ihm aber die Einstellung auf die Wissenschaft
„vom Übergange" eine Stelle bot, von der aus er manche Formeln,
besonders Fichtes, als berechtigt gelten lassen konnte, nahm er die
Kants Opus postumum. 171
Gelegenheit wahr ; die Teile seiner Lebensarbeit, an die die Jungen
angeknüpft hatten, waren ja sein Werk, wie die, die sie bekämpften;
ihre inneren Notwendigkeiten fühlte er, wie die Schüler ; hatte er
früher der Logik der eigenen theoretischen Ergebnisse an be-
stimmten Stellen Halt geboten, weil sein Tatsachensinn oder die
Rücksicht auf die Gottes- und Sittenlehre vorherrschten, so fiel
jetzt durch die fertigen früheren Werke, die zur Wirkung ge-
kommen waren, durch die besondere Einstellung der „Übergangs-
wissenschaft" und durch sein Alter manche Hemmung weg; er
durfte in der Darstellung nur Logiker, Systematiker sein, besonders
in seinen Entwürfen, die nur der Klärung vor sich selbst dienen
sollten.
So überschaut er seine Lehre von Raum und Zeit, findet aber
keinen Grund, an ihr etwas zu ändern. In der Lehre vom Ding
an sich kann er zugeben, daß Dinge an sich nur zur lückenlosen,
streng logischen Einteilung der Erfahrung und zur Erklärung der
Möglichkeit synthetischer Urteile a priori unentbehrlich gehören,
daß sie zwar gedacht werden müssen, aber ganz leer, nur „ Ge-
dankendinge" seien, daß über ihr Dasein und die Affektion durch
sie nichts ausgesagt werden kann — theoretisch wenigstens; jeder-
mann wußte ja, daß er von ihrem Dasein und ihrer Erkennbarkeit
wissenschaftlich fest überzeugt sein durfte, daß die Kritik der
praktischen Vernunft ohne sie unmöglich war ; aber hier- kam ja
nur die systematische Geschlossenheit der Theorie, die Spontaneität
des Ich, nicht die Praxis, die Gottes- und Sittenlehre in Frage.
In der Lehre von der Selbstaffektion des Ich kann er beinahe mit
Fichte sagen: „Das Ich setzt sich selbst"; er kann die „Selbst-
setzung" als Tatsache ausführlich erörtern, eine ganze Reihe von
Bedeutungen in scharfsinnigen Unterscheidungen berühren; das Ich
„setzt sich", indem es sich selbst zu seinem Gegenstand macht,
nach seinen formalen Erkenntnisbedingungen oder nach seinem
Bewußtseinsinhalt, als Empfindungen und Wahrnehmungen und
als ganze Erfahrungswelt; es. „macht sich selbst", als Gestalter
seiner Erfahrung und seiner wirklichen Persönlichkeit ; wir können
ja nur das verstehen, was wir selbst machen können. Indem er
so die „Selbstsetzung" zugibt, ihre Bedeutung und ihren Tatsachen-
gehalt logisch vielseitiger herausarbeitet, als seine Schüler, kann
er deren dogmatischen Idealismus, wie ihre Skepsis umso schärfer
ablehnen.
In den letzten Jahren (Dezember 1800 — April 1803), die Kant,
172 Hermann Schneider,
immer stärker behindert durch Altersbeschwerden, an dem nach-
gelassenen Werk arbeitet, wird die Wissenschaft „vom Übergange"
ein bloßer Teil eines „Systems der Transscendentalphilosophie".
Für dies ist Kant bemüht, einen allgemeinverständlichen, möglichst
deutschen Titel zu finden; in Dutzenden von Fassungsversuchen
treten bald „Gott, Welt und Mensch", bald „die reine Philosophie"
(gelegentlich auch als „Wissenschaftslehre") stärker hervor. Dann
beschäftigt ihn die Bestimmung des Wesens der Trans scendental-
philosophie, besonders im Verhältnis zur Metaphysik, zuletzt mit
dem Ergebnis, daß im höchsten Begriff beide eins sein müssen.
Die Lehre von der Selbstsetzung wird auf die Entwicklung der
Ideen aus der reinen Vernunft und auf die freie, sittliche Per-
sönlichkeit ausgedehnt. Endlich wird der Gottesbegriff die Haupt-
sorge des alten Denkers ; er der sein Lebenswerk immer als einen
Gottesdienst angesehen hatte, beendet es in Gottesanschauung;
ein ganz reiner Gottesbegriff, nur auf den kategorischen Imperativ
gestellt, ist die letzte Frucht seiner wissenschaftlichen Arbeit;
von Gottes Dasein ist dabei nicht die Rede; das steht ihm un-
erschütterlich fest.
Ich habe versucht, die Darstellung von Kants nachgelassenem
Werk (möglichst mit den Worten des Darstellers) kurz zusammen-
zufassen; auf die Beurteilung einzugehen, verbietet leider der
Raummangel; schon die Darstellung der Darstellung mußte bei
einem Werk dieser Art in dieser Kürze unzulänglich bleiben. Ich
bin zufrieden, wenn es mir gelungen ist, einige Umrisse des philo-
sophischen Gehaltes sichtbar zu machen und ein Gefühl für den
reichen Inhalt und die Bedeutung des Werkes, wie für die Größe
der Leistung des Darstellers zu wecken. Kants nachgelassenes
Werk wird die Wissenschaft lange beschäftigen; die Philosophie
wird seinen Erkenntnisgehalt zu untersuchen haben, an sich und
im Zusammenhang mit Kants Lebensarbeit und den Fortbildungen
derselben durch seine Schüler; die Individualpsychologie findet in
ihm Stoff zur Lehre von der Arbeitsweise des Genies als Denker,
von seinem Kampf mit dem Alter und seinem Verfall ; die Physik
wird sich heute, wo die Lehre vom Äther wieder in vollen Fluß
gekommen ist, vielleicht mit Kants Athertheorie fruchtbringend
auseinandersetzen ; wie Kants ganze kritische Philosophie (besonders
als Erkenntnistheorie) als eine Reihe von neuen metaphysischen
und einzel wissenschaftlichen, psychologischen und entwicklungs-
wissenschaftlichen, Keimen gefaßt werden kann, die er formal in
Kants Opus postumum. 173
eine Einheit zwingt, so kann man im nachgelassenen "Werk Keime
zur Psychophysik und Hirnphysiologie (Gegenbewegungen), sowie
zu einer Wissenschaftslehre zwischen Metaphysik und Einzel-
wissenschaften finden. „Kants Vermächtnis an Mit- und Nachwelt u
„baldmöglichst in würdiger Gestalt erscheinen zu lassen" ist, auch
in unserer Zeit des Elendes, eine „unerläßliche Pfjicht" ; möchte
sich der Verfasser unserer „Darstellung und Beurteilung", der
uns diese Pflicht bewiesen hat, bereit finden lassen, die immer
noch sehr schwierige Herausgabe des Werkes zu übernehmen, die
er allein in vollkommener Weise zustande bringen kann.
Besprechungen.
Erkenntnistheorie und Logik.
Berg, Ernst. Das Problem der Kausalität. Berlin: Simion 1920.
101 S. gr. 8°. (Bibliothek für Philosophie, hrsg. von L. Stein, Bd. 19.)
Verfasser will an Stelle von getrennten Dingen, die auf unbegreifliche
Weise auf einander einwirken (Kausalität), eine Welt-Einheit setzen, die
gesetzmäßigen Veränderungen unterliegt. Verfasser ist also strenger Deter-
minist. Sein Kampf gegen das Kausalitätsgesetz erscheint deshalb nicht recht
verständlich. Kausalität und Gesetzmäßigkeit wurden bisher stets als gleichbe-
deutend angesehen. Will Verfasser dies nicht anerkennen, so hat er die Pflicht,
eine neue Definition der Gesetzmäßigkeit zu geben.
Betrachtet man alles Einzelne als Ausfluß der metaphysischen Substanz,
so erscheint die Einwirkung eines Dinges auf das andere auch nicht so unbe-
greifbar, wie dem Verfasser. Die Kausalität regelt dann die an der Substanz
vor sich gehenden Veränderungen. Sie ist das Band, das alle Einzelerscheinungen
umschließt.
Die völlige Leugnung der Selbständigkeit der Individuen, ihre Gleichsetzung
mit einem Teil der Welt- Einheit , erregt auch Bedenken in ethischer Hinsicht.
Tatsächlich wird das Individuum nicht als Teil der Welt betrachtet, sondern als
Entelechie, die für ihr Handeln verantwortlich ist. Daraus, daß etwas notwendig
geschieht, folgt noch nicht, daß es ethisch berechtigt ist, wie Verfasser S. 93
seiner Schrift ausführt. Verfasser erkennt als Vorgänger in seiner Weltansicht
nur Nietzsche an. Ihm schwebt anscheinend folgende Stelle1) vor: „Ursache und
Wirkung: eine solche Zweiheit gibt es wahrscheinlich nie — in Wahrheit steht
ein Continuum vor uns. . . . Ein Intellekt, der Ursache und Wirkung als Con-
tinuum . . . der den Fluß des Geschehens sähe — würde den Begriff Ursache und
Wirkung verwerfen und alle Bedingtheit leugnen". Man wird aber darauf er-
widern müssen, daß ein Kampf gegen das Kausalitätsgesetz so lange verfehlt ist,
als wir tatsächlich gezwungen sind, nach dieser Kategorie zu denken. Auch der
Begriff des Gesetzes, den Verfasser an Stelle der Kausalität setzen will, fordert,
daß das Naturgeschehen in diskrete Akte zerlegt wird, ohne die ein Begreifen
der Natur nicht möglich ist. Trotz dieser prinzipiellen Bedenken spricht aus der
Schrift ein origineller Denker, und diese ist wert, gelesen zu werden.
Frankfurt a. M. Walther Rauschenberger.
Bloch, Werner, Einführung in die Relativitätstheorie. Aus
Natur- und Geisteswelt Bd. 618. B. G. Teubner, Lpzg. u. Berlin, 1918. 100 Seiten.
Von den leicht verständlichen Darstellungen der Relativitätstheorie ist das
Büchlein von Bloch eine der besten. Inhaltlich sind seine Ausführungen bis
in jede Einzelheit vollkommen korrekt, der Leser hat an der Schrift also einen
absolut zuverlässigen Führer ; formal zeichnet sie sich in Stil und Gedankenaufbau
durch große Klarheit aus, sie ist daher auch ein angenehmer Führer,
der die bequemsten Wege zum Ziel zu finden weiß. Bloch trifft durchaus den
richtigen Grad und Ton der Popularität, er hat keine Scheu vor einfachen ma-
1) Fröhliche Wissenschaft (Taschen-Ausgabe), S. 180.
Besprechungen (Berg — Driesch). 175
thematischen Formeln und umgeht leichte Rechnungen nicht, die aber jedem ver-
ständlich sein müssen, der die Prima einer höheren Lehranstalt besucht hat.
Die systematische Darstellung des Büchleins beschränkt sich auf die „Spezielle"
Relativitätstheorie, nur die letzten zehn Seiten handeln von der „Allgemeinen"
Theorie und geben nur die charakteristischsten Züge davon wieder. Diese Selbst-
beschränkung des Verfassers möchte man bedauern wegen der außerordentlichen
physikalischen und philosophischen Wichtigkeit der Sache, zumal eine eingehen-
dere Schilderung auch in gemeinverständlicher Form ganz wohl möglich ist, wie
Einsteins eigene populäre Darstellung des Gegenstandes beweist und wie auch der
Referent in seiner Schrift über Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik ge-
zeigt zu haben hofft. Der Verfasser geht auf die philosophische Bedeutung der
speziellen Theorie in einem kurzen Absatz besonders ein und weist dabei sehr
richtig auf die doppelte Bedeutung des Wortes „Zeit" hin. Man dürfe den Zeit-
begriff des Physikers und des Philosophen nicht miteinander verwechseln, da sie
ganz verschiedene Dinge seien. Nur würde man hier, glaube ich, statt Philosoph
wohl genauer Psychologe sagen; dem Philosophen fällt vielmehr die Aufgabe zu,
den psychologischen und den physikalischen Zeitbegriff mit gleicher Vorurteils-
losigkeit zu untersuchen und beide miteinander in Einklang zu bringen. Diese
Aufgabe scheint mir freilich durch den Satz des Verfassers: „Die Philosophie
sucht .... nach Merkmalen der Zeit a priori" (S. 84) nicht erschöpfend
zum Ausdruck gebracht zu sein.
Noch einmal sei das kleine Buch als eine wirklich leicht verständliche und
nach Form und Inhalt vortreffliche Einführung in die Spezielle Relativitätstheorie
empfohlen.
Rostock. M. Schlick.
Driesch, Hans, LogischeStudien über Entwicklung. (Sitzungsber.
d. Heidelberger Akad. d. Wiss., Heidelberg 1918, Verlag von Carl Winter.) 70 S.
In dieser neuen Arbeit D.'s wird ein besonderer Ausschnitt aus der „Natur-
ordnungslehre" dargestellt, der manches in der „Ordnungslehre" (Jena 1912), „Wirk-
lichkeitslehre" (Leipzig 1917) und anderswo Gesagte in äußerst fruchtbarer Weise
ergänzt und neu formuliert. Die für die Arbeiten dieses Autors so charakteri-
stische begriffliche Schärfe und vorsichtige Art des Denkens, die streng scheidet
zwischen sicher Wißbarem und nur Vermutbarem, bei letzterem aber alle in be-
tracht kommenden Möglichkeiten sorgfältig erwägt, zeichnet auch diese Arbeit
aus und macht sie zu einem hervorragenden intellektuellen Genuß.
Im ersten Teil der Arbeit erörtert der Verf. die rein logische („naturlogische")
Seite des Entwicklungsbegriffs. Unter Entwicklung im weitesten Sinne (für
den allein er das deutsche Wort gebraucht) versteht er „die Reihe der Verände-
rungen eines als dasselbe ganze geltenden Dinges oder Dingkomplexes, durch
welche es oder er aus einem weniger mannigfaltigen in einen mannigfaltigeren
Zustand überführt wird". Es kann nun dreierlei Arten von Entwicklung geben.
Zunächst Kumulation ( regellose Mannigfaltigkeitserhöhung , bei der jeder
Mannigfaltigkeitszuwachs des sich entwickelnden Ganzen zurückführbar ist auf
einzelne äußere Vorgänge; sie bewirkt „äußerlich Ganzes"), dann Evolution
{regelhafte Mannigfaltigkeitserhöhung; sie bewirkt „Wesensganzes"). Evolution
kann wieder sein maschinell, wenn eine „Maschine", d.h. ein räumliches System
materieller Kräfte ihr zugrunde liegt, oder nichtmaschinell, wenn letzteres
nicht zutrifft.
Bei der nichtmaschinellen Evolution, der philosophisch interessantesten Ent-
wicklungsform muß die Logik die Annahme eines nichtmateriellen Faktors, einer
Entelechie fordern. Streng genommen kann nun hierbei nicht von einer Entwick-
lung des materiellen Systems (denn nur an ihm entwickelt sich etwas), aber auch
nicht von einer Entwicklung der Entelechie (denn die bleibt ihrem Wesen nach
dieselbe), gesprochen werden. „Nur mit Rücksicht auf ihr Wirken auf die Ma-
terie" entwickelt sie sich: die Entelechie entwickelt sich nicht ihrer essentia,
sondern ihrem actu nach. Metaphysik oder „Wirklichkeitslehre", wie D. sagt,
könnte vielleicht anderes behaupten, sie könnte ein „se faire" des Immateriellen
176 Besprechungen (Driesch).
annehmen (Bergson); aber das ist unentscheidbar. Echte Epigenesis gibt es
also für die Logik nicht, sondern nur Evolution, wenn auch nicht notwendig raum-
haft vorgebildete, maschinelle Evolution; denn echte Epigenesis wäre Mannigfal-
tigkeitserhöhung eines Systems ohne Gründe.
Nachdem nun noch einige bedeutsame Probleme, die sich an die nichtma-
schinelle Evolution anschließen (der Organismus und die Zeit, Kausalität und Ent-
wicklung u. a.) erörtert sind, geht D. im zweiten Teil seiner Arbeit zu der Frage
der „empirischen Erfüllung" über, d. h. er fragt, ob und wo die verschiedenen
Formen der Entwicklung in der Natur verwirklicht sind und vor allem, an welchen
Kriterien wir erkennen, ob es sich um Kumulation, maschinelle oder nichtmaschi-
nelle Entwicklung haudelt. Und gerade die Erörterung dieser Kriterien ist vom
Verf. mit bewunderungswürdiger gedanklicher Schärfe herausgearbeitet. Die wich-
tigsten Ergebnisse sind die folgenden.
Kumulation ist leicht zu erkennen. Sie ist überall dort vorhanden, „wo
sich bei einer Entwicklung einzelne Zuwüchse an Mannigfaltigkeit auf ein-
zelne Geschehnisse, welche das sich als dasselbe entwickelnde Ding oder
Dinggefüge von außen her trafen, zurückführen lassen. Wo das nicht der Fall
ist, besteht Evolution". Außer diesem negativen Kennzeichen für Evolution
(maschinelle und nichtmaschinelle) bestehen nun aber noch zwei positive : 1) Vor-
handensein des betreffenden Entwicklungssystems in vielen Exemplaren und 2) Re-
gulation. (Das erste Kennzeichen erlaubt in seiner Allgemeinheit allerdings erst
die Wahrscheinlichkeitsannahme der Evolution, während das zweite ein sicheres
Kennzeichen dafür ist.)
Zwischen den beiden Formen der Evolution (maschineller und nichtmaschi-
neller) zu entscheiden, ist schwerer, wenn nicht eine „Maschine" als zugrunde-
liegend direkt nachgewiesen werden kann, was praktisch in der Naturwissenschaft
wohl nie zu erreichen ist. Auf das Gegebensein eines nichtmaschinellen Evolutions-
systems kann dann erst, aber muß dann auch geschlossen werden auf grund des
Nachweises, daß gewisse Verhaltungs weisen des sich entwickelnden Dinges den
gesetzmäßigen Folgen irgendeiner Maschine überhaupt, d. h. all dem, was aus dem
Vorhandensein irgendeiner Maschine „geometrisch-kinetisch" ableitbar ist, wider-
sprechen. Was maschinell erklärbar sein soll, muß materiell vorgesehen gedacht
werden können, muß „grundsätzlich Resultante materieller Konstellationen sein
können".
Es sind nun zweifellos Regulationen überhaupt an einer Maschine denkbar.
Immer aber muß es sich um bestimmte Regulationen auf bestimmte Stö-
rungen des Betriebes oder des Baus (Wegnahme von Teilen) handeln ; undenk-
bar sind jedenfalls Regulationen auf beliebige Störungen hin (Wiederbildung
beliebig großer und beliebig gestalteter weggenommener Teile oder gar harmo-
nische Umbildung des nach beliebiger Verstümmelung zurückbleibenden Restes zu
einem verkleinerten Ganzen u. a.).
Weitere Kriterien ergeben sich nun bei der Untersuchung der Herkunft der
Systeme. D. kommt dabei zu dem Schluß, daß es maschinell undenkbar ist, „daß
ein System , selbst aus einem „Keim" erstanden , erst einen ~ Urkeim" und dann
durch Teilung desselben Keime produziert, welche zur Bildung von Systemen,
welche dem ursprünglichen System gleich gebaut sind, fähig sind".
Nachdem in einer überaus durchsichtigen und gut gegliederten „tabella-
rischen Uebersicht" noch einmal die an einem System überhaupt, die an einer
Maschine denkbaren und die an einer Maschine nicht denkbaren Fälle von Regu-
lation zusammengefaßt worden sind, wird zum Schluß die Frage nach der „Er-
füllung", nach der Verwirklichung der nichtmaschinellen Evolutionsform in der
Natur beantwortet.
Daß das Naturganze nicht als Evolution betrachtet werden kann, daß „der
höchste Wunsch der Logik: das ordnungsmonistische Ideal" nicht erfüllbar ist,
wird festgestellt. Auch für das Anorganische gilt das Gleiche. Nur Kumulationen
sind festzustellen (Flüsse, Gebirge u. s. w.). Die interessante Frage, ob es nicht
wenigstens gewisse Ganzheitszüge im Unbelebten gebe, wird gestreift.
Im Reiche des Organischen ist nun aber der sichere Nachweis erbracht
Besprechungen (Driesch). 177
(durch die bekannten Forschungen D.'s selbst), daß es hier nichtmaschinelle Evo-
lution gibt, wenigstens beim organischen Einzelwesen : die hier festgestellten Fälle
von Regulationen zeigen die Kriterien, die eine maschinelle Erklärung unmöglich
machen.
Schwieriger ist die Frage bei der Gesamtheit der Lebewesen : Ist Phylogenie
Kumulation oder Evolution ? Eine sichere Entscheidung ist deshalb ausgeschlossen,
weil die beiden Kriterien der Evolution (Vorhandensein vieler Fälle und Regu-
lation) hier nicht angewendet werden können, das erste nicht, weil es Phylogenie
nur einmal gibt, das zweite nicht, weil eine Regulation bei der Unbekanntheit
des Entwicklungszieles nicht erkannt werden kann. Was sich aber hier wenig-
stens vermutungshaft beibringen läßt, ist vom Verfasser zusammengestellt worden.
Fortpflanzung, fremddienstliche Zweckmäßigkeit (Becher), gewisse morphologisch-
systematische Züge werden als Anzeichen für den ganzheitlichen Charakter
der Gesamtheit der Lebewesen betrachtet, die Unmöglichkeit, die Phylogenese mit
Zufall (darwinistisch oder lamarckistisch) zu erklären als Anzeichen für den evo-
lutiven (also nicht kumulativen) Charakter derselben.
Noch schwieriger liegen die Dinge bei der Menschheitsgeschichte. Auch
hier können wir uns aus ähnlichen Gründen nur in Vermutungen bewegen. Das
sittliche Bewußtsein, die Heterogonie der Zwecke u. a. sprechen für den ganzheit-
lichen Charakter der menschlichen Gemeinschaft. Jedenfalls kann nach D. Ge-
schichte nur unter dem Gesichtspunkte der Entwicklung logisch bearbeitet werden.
Die von Windelband und Rickert vertretene Beziehung der historischen Tatsachen
auf Werte hat „nur die Methodik und Struktur der Geschichtsschreibung,
aber nicht die letzte logische und metaphysische Verarbeitung des eigentlichen
geschichtlichen Gegenstandes im Auge".
Wichtige Erörterungen über den Begriff der Möglichkeit, des Verhältnisses
von Person und Ueberperson (ein mit Phylogenie und Geschichte auftretendes,
sehr wichtiges Problem) u. a. beschließen die gedankenreiche Arbeit.
München. Dr. Paul Fla s kam per.
.Driesch, Hans, o. ö. Professor an der Universität in Köln, Wissen und
Denken. Ein Prolegomenon zu aller Philosophie. Verlag von Emmanuel Reinicke.
Leipzig 1919. 148 S.
In dieser kleinen Schrift behandelt Driesch in systematischem Zusammen-
hange und als Selbstzweck, was er schon in seinen größeren philosophischen
Werken (so in der -Ordnungslehre" unter dem Titel einer „Selbstbestimmungs-
lehre") zur Grundlegung seines Systems entwickelt hat. Der Gedanke, daß in
der Weise, wie ich um etwas weiß, nichts von Aktivität, von einem Tun des Ich
steckt, wird konsequent durchgeführt und von diesem Ausgang der Ansatzpunkt
für alle weitergehenden Denk - Setzungen aufgewiesen. Der „Urtatbestand", das
Cartesische cogito, wird so formuliert: „Ich habe bewußt und zugleich meines
Habens bewußt eine geordnete Fülle des Etwas" (S. 8). Dabei wird betont, daß
das „dreieinige" „Urgeheimnis" nichts von Ding und Eigenschaft, von vielen „Ich",
von Allgemeingültigkeit, von „Bewußtsein überhaupt", von Spontaneität und Rezep-
tivität enthält. Diese Begriffe sind erst an späterer Stelle, auf dein Boden be-
sonderer Wissenschaften (Psychologie und Metaphysik) im Rahmen des Ich-Gehabten
aufzuweisen. Der Ausdruck „ich habe" für die Bewußtseinsbeziehung, der den
Gegensatz zur Tätigkeit markieren soll, ist von Rehmke entlehnt, im „metho-
dischen Solipsismus" als Ausgang weiß sich der Verf. mit Volkelt einig. Daß
das Gehabte unmittelbar „mit Ordnungszeichen durchsetzt" gehabt wird (nicht
etwa erst Ordnung durch Ich-Tätigkeit in ein „Chaos der Empfindungen" hinein-
gebracht wird), gibt die Grundlage für die „Ordnungslehre" als „Lehre von dem
Ordnungszeichen am Etwas als unmittelbar gehabtem Etwas". Eine Lehre von
Ordnungszeichen, von Gegenständen, sofern sie in Ordnung gesetzt werden, ent-
steht deshalb, weil der „Vorwunsch" des Ich, das Etwas restlos als „in Ord-
nung" zu schauen derart, „daß es trotz seiner vielleicht bestehenden Mannigfal-
tigkeit ein Ganzes ist, und zwar in jeder Beziehung", (das „ordnungsmonistische
Kautstudien XXVI. 12
178 Besprechungen (Dricsch).
Ideal") unerfüllbar ist. Für die „Sonder-Ordnungszeichen" d. h. die Ordnung be-
dingenden unzerlegbaren Bedeutungen (Beispiele: dieses, solches, bezogen, Zahl,
neben, die Grade, die Parallele, grün, Lust — die Unzerlegbarkeit wird man hier
wohl zumindest bei den Parallelen bezweifeln dürfen) ist der Unterschied von
Anschaulich und Unanschaulich unwesentlich, da beides in der gleichen Weise
schlicht „gehabt" ist, nicht das eine gelitten, das andere getan. Das Urteil wird
als „besondere, in ihrer Besonderheit festgehaltene und gesetzte Beziehung", der
Schluß als eine, ausdrücklich als eine gesetzte, Beziehung zwischen Beziehungen
gefaßt. Da aber alles „Gehabte" zugleich ein Gesetztes sein soll, so glaubt Dr.
damit den Unterschied zwischen Vorstellung und Urteil zu Gunsten des Urteils
aufgehoben. Die Redeweise von einem „Sein" der gehabten Gegenstände wird
als irreführend abgelehnt, im Rahmen der Ordnungslehre, spezialisiere sie sich
nun als Logik oder Mathematik, handelt es sich nur um ich-gehabte Gegenstände,
ohne daß diese Ich - Bezogenheit ausdrücklich hervorgehoben wird. Was das
selbständige „Sein" der Gegenstände, der Mathematik z. B., vortäuscht, das sind
die Ordnungszeichen des „Erledigt-seins" und der „Identität". Das Charakte-
ristische der philosophischen Einstellung ist, daß sie das „ich habe" immer im
Auge behält.
Vom zeitlosen „ich habe" führt die Zeit zu Natur und Seele. Unter dem
Gehabten findet sich Solches mit „Damals-Zeichen" (Erinnertes), nach früher und
später in eine eindimensionale Reihe geordnet. Zu sagen „ich hatte", wäre un-
genau; denn Ich in der Vergangenheits-Form ist als „mein Selbst" ein nur Ge-
habtes, niemals wie das Ich im „Ich habe" erlebt. Aus der Punkt-Reihe der
Damalszeichen wird durch Uebertragung des mathematischen Stetigkeits-Begriffes
die stetige Zeitlinie. „Beharrlich" oder „dauernd" ist, was, selbst stetig, in der
stetigen Zeit steht. „Werden" ist „ein Anderssein an einem Beharrlichen in Zu-
ordnung zur stetigen Zeitreihe". Natur entsteht, wenn ich mir die Aufgabe
stelle, die zunächst zusammenhanglosen „Etwas -Inhalte", das „gehabte Es" in
sich zu verknüpfen derart, „daß es in gewisser Hinsicht als das mit sich sel-
bige verharrt oder in der Zeit dauert und in anderer Hinsicht sich verändert
oder wird". So wird Natur definiert als „die Gesamtheit aller derjenigen durch
unmittelbar gehabte Inhalte gemeinten mittelbaren Gegenstände, welche in sich
Geschlossenheit des Seins und Werdens besitzt und sich verhält, als ob sie
selbständig für sioh bestünde" (S. 42). Im Begriff der „Seele", von dem sich
kaum etwas Positives aussagen läßt — sie steht dauernd in der Zeit, erschöpft
sich nicht im Haben und Gehabt-haben, sondern enthält auch „Unbewußtes", aber
nicht Naturhaftes — sieht Dr. einen für die Psychologie unentbehrlichen Ord-
nungsbegriff. Hier erst gewinnen die Begriffe Bedeutung, die vom Ich verbannt
sind: Seelenvermögen, Tätigkeit, Leiden, Wissen als potentieller Besitz u. s. w.
Die Tatsache des Wissenserwerbes und Irrtums wird vom Standpunkt des schlichten
Habens ohne Ich-Tätigkeit so erklärt : Wenn ich ein zuerst für A Gehaltenes her-
nach als B erkenne, so ist nicht mehr gegeben als zwei Setzungen, von denen die
zweite einen gewissen Ton der „Erledigung" trägt, ein gewisses unanschauliches
Zeichen, welches bedeutet, daß „mein Selbst" vordem A geschaut hatte, das an-
gesichts der Setzung B aber nicht alles „in Ordnung" ist. (Im Beispiele vom
Mann und Baumstamm S. 62 scheint eine sinnstörende Verwechslung unterlaufen
zu sein.) „Irren" ist also kein tätig erlebter Inhalt, sondern ein Wissen um ein
Kennzeichen an einem früher von meinem Selbst gehabten Inhalt, nämlich um die
Nicht-Endgültigkeit des für endgültig Gehaltenen.
Die durchaus unverbesserbaren „Urordnungszeichen" sind die Kategorien
(wie: dieses, solches, verschieden, so viel). Dagegen sind die „Naturordnungs-
begriffe" (wie: Ding-Eigenschaft, Ursache- Wirkung), wenn auch praktisch unver-
besserlich, doch nicht letzte Kategorien wegen ihrer Zusammengesetztheit. Sie
gelten „praktisch apriori" „sobald die Bedeutungen von ihnen selbst und von Natur
überhaupt ... erfaßt worden sind und sobald »geglaubt« wird, daß Natur
nicht plötzlich chaotisch werde" (S. 75). (Das scheint mir eine Inkon-
sequenz; wenn Natur eben das ist, was unter dem Gesichtspunkt des geordneten
Zusammenhanges mit gewissen der gehabten Inhalte gemeint wird, kann sie ihrem
Besprechungen (Driesch). 179
Begriffe nach gar nicht chaotisch werden.) Sie sind auch nicht Voraussetzungen
der Möglichkeit der Erfahrung, sofern das „ordnungs-monistische Ideal" denkbar
bleibt, sondern sie sind nur „für unsere Erfahrung, angesichts unseres Gege-
benen" unerläßlich. Von den Natur-Kategorien unterscheiden sich die empirischen
Naturbegriffe durch ihre ausdrücklich zugegebene Verbesserbarkeit, die sich aus
der Forderung ergibt, daß Natur ein Zusammenhang und, was über sie ausgesagt
wird, zu einander passend und so „setzungs-sparsam" wie möglich sein soll.
Denn es ist sparsamer zu sagen: „Ich habe mich geirrt" als „Das Naturwirk-
liche hat sich in seinem Sosein geändert" (S. 79).
Um mehr an Endgültigkeit mit Rücksicht auf Ordnung zu erzielen, darf
man „die gleichsam" für sich bestehenden Natur- und Seelenbestandteile ein
wirklich für sich Bestehendes anzeigen" lassen. Diese „Wirklichkeits-Tönung"
ist das Charakteristische der Metaphysik. Doch bleibt alle Metaphysik ich-gehabt
und muß alle Erfahrungs-Inhalte als ich-gehabte benutzen. Während den ord-
nungshaften Bedeutungsbegriffen oder Bedeutungskomplexen „schlichte Endgültig-
keit" jenseits aller Kriterien zukommt und „Richtigkeit" bei Natur- und Seelen-
wirklichem an die Kriterien der Widerspruchslosigkeit und größt-möglichen Ein-
fachheit gebunden ist, glaubt Dr. „echte Wahrheit" nur mit Beziehung auf das
Wirkliche der Metaphysik definieren zu können: „Wahr ist ein einen wirk-
lichen Gegenstand meinender bewußtgehabter Inhalt, wenn und insofern seine
Bestandteile den Kennzeichen des Gemeinten entsprechen" (115). Dafür aber gibt
es kein Kriterium!
Eine eingehende Würdigung dieser Gedanken wäre nur im Zusammenhange
mit den systematischen Werken des Verf., vor allem der Ordnungs- und Wirk-
lichkeitslehre, möglich, da man den Wert einer Grundlegung am besten daran
erkennt, was auf diesem Grunde errichtet wird. Hier seien nur einige grund-
sätzliche Bemerkungen gestattet. Wenn die Lehre vom „Bewußtsein überhaupt"
als metaphysisch zu Gunsten des „kritischen vorläufigen Solipsismus" so scharf
abgelehnt wird, so wäre es doch nötig genauer anzugeben, wodurch sich das
Ich vom „Bewußtsein überhaupt" unterscheidet, als es durch die Erklärung : „Ich
ist — nun eben »Ich« ; wer nicht weiß, was das heißt, dem ist nicht zu helfen"
(S. 9) geschieht. Wenn ausdrücklich gesagt wird, daß „Ich" in keinem Gegensatz
zum „Du" zu nehmen ist, und wenn es so scharf von „mein Selbst" geschieden
wird, so ist damit doch der Boden des Sol i p s ismus verlassen. Ob man übrigens
das erkenntnistheoretische Subjekt lieber „Ich" oder „Bewußtsein" nennt, ist wohl
nicht mehr als ein Wortstreit. Wesentlich dagegen ist die Frage, ob zur Bedeu-
tung „Natur" die bloß „gleichsam selbständige", die „alsob"-Existenz gehört.
Wenn wir, wie doch bei solchen phänomenologischen Analysen zu verlangen ist,
das Gegebene schlechthin hinnehmen, dann werden wir in der Annahme von be-
wegten und wirkenden Körpern im Räume kaum etwas von „als ob" und „gleich-
sam" finden, sondern die Natur wird schlechthin als „wirklich" gedacht. Das
feststellen heißt nicht die Metaphysik des naiven Realismus für endgültig er-
klären, sondern in der empirischen Wirklichkeit trotz ihrer Ich-Bezogenheit, trotz-
dem sie nur „Zusammenhang mit der Wahrnehmung nach Gesetzen der Erfah-
rung" bedeutet, die einzige Wirklichkeit sehen, von der wir über die Bewußtseins-
wirklichkeit hinaus sinnvoll sprechen können. Das heißt die Idee einer noch
wirklicheren Wirklichkeit, die Kennzeichen, besitzt, „welche nicht im eigentlichen
Sinne ich-gehabt werden können, obwohl sie vielleicht auch, aber in mir unzu-
gänglicher Form, gehabt d. h. gewußt werden" (S. 135) als eine prinzipiell nicht
zu bestätigende transzendierende Hypothese ablehnen. Schließlich sei noch bemerkt,
daß der Unterschied zwischen bloßer Vorstellung und setzendem Urteil nicht da-
durch aufgehoben wird, daß sich mit der Vorstellung die Setzung des Bewußt-
seinsaktes, nicht ihres Gegenstandes verbunden, findet. Bedeutsam erscheint, was
.zum Schluß noch einmal hervorgehoben werden soll, die Lehre Dr., daß die
Bewußtseinsbeziehung keine Tätigkeit ist, sondern ein schlichtes „Haben und
daß Ordnung im „Gehabten" vorgefunden, nicht erst an einen formlosen Stoff
herangebracht wird.
Charlottenburg. Dr. Josef Winternitz.
12*
180 Besprechungen (Frost — Geyser).
Frost, Walter, Universitätsprofessor in Bonn, Schopenhauer als Erbe
Kants in der philosophischen Seelenanalyse. Nachweis einer empi-
rischen Anwendbarkeit der transzendentalen Methode. Bonn 1918, Univ.-Druckerei
und Verlag Carl Georgi.
Der Verf. glaubt einige Umdeutungen an Kants Begriff des Transzenden-
talen vornehmen zu müssen. Er meint, man würde großen Philosophen nicht
gerecht, wenn man sich nur an die Hauptbaulinien ihres Systems halte. Man
müsse von den Künstlern eine freiere Art erlernen, philosophische Systeme zu
deuten. Als Beispiele werden Wagner und Goethe herangezogen. Um die Wissen-
schaftlichkeit der Philosophie bemühte Denker werden Frost hierin wohl kaum
zustimmen. Es handelt sich für den Verfasser um gewisse feinere psychologische
Reflexionen Kants und ihre Deutung im Zusammenhang des apriorischen Geistes-
lebens. Als Beispiel dient zunächst die Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Hier
begnügt sich Kant nicht damit, als das beherrschende Einheitsprinzip des Aesthe-
tischen die apriorische Urteilskraft aufzuzeigen, sondern sein Interesse geht auch
noch dahin, zu „untersuchen, in welchem Verhältnis das ästhetische Fühlen zu
allen anderen Seelenkräften steht" (S. 13 u. 14). Und zwar nicht nur um die
systematische Ordnung handelt es sich, sondern um das organische Lebensver-
hältnis dieser Beziehungen. An anderer Stelle formuliert der Verfasser: „Es
handelt sich um das Verhältnis des Ich zu seinen apriorischen Prinzipien, um
das transzendentale Leben der Seele in ihren verschiedenen Funktionen" (S. 19/20).
In derselben Problemrichtung liegt bei Kant der Begriff des Erhabenen, das aprio-
rische Gefühl der Achtung sowie die Postulate der praktischen Vernunft. Weiter
werden einige entsprechenden Analysen Schopenhauers angeführt, seine Reflexionen
über das Weinen und seine Theorie der Willensverneinung. Aber bei Kant und
Schopenhauer fehlt eine hinreichende Legitimation und systematische Einstellung
dieser Art von Seelenanalysen. Der Verfasser hält diese Methode für ein Mitt-
leres zwischen der rational-transzendentalen Methode und der empirisch-psycho-
logischen Methode. — Es fehlt der Arbeit eine tiefere und wissenschaftlich-exakte
Fassung des Transzendentalbegriffs. Die transzendentale Methode, wie sie z. B.
von Cohen in überzeugender Klarheit herausgearbeitet worden ist, schließt die
Bezogenheit des Apriori auf die Erfahrung eo ipso in sich, auf alle Erfahrung,
auch auf die des Seelenlebens. Der Verf. müht sich in seinen etwas losen Gedanken-
gängen vor allem um zwei Problemgruppen, die von der wissenschaftlichen Kant-
philosophie bereits seit einiger Zeit scharf und klar herausgearbeitet worden sind;
einmal das Problem der Transzendentalpsychologie, einer die apriorischen Funk-
tionen der Psyche eruierenden und systematisierenden Subjektslogik (vgl. dazu
Natorps „Allgemeine Psychologie"); und dann das Problem der Realisierung des
Apriori im zeitbestimmten psychologischen Individualleben (vgl. dazu Münch „Er-
lebnis und Geltung"). Diesen methodisch tief bohrenden Arbeiten gegenüber bringt
das vorliegende Heftchen nichts wesentlich Neues, jedoch sind die diesbezüglichen
Hinweise auf transzendentalpsychologische Ansätze bei Kant dankenswert.
Heidelberg. Dr. Emil Kraus.
Geyser, Joseph, Dr., o. ö. Professor der Philosophie an der Universität Frei-
burg i. B., Ueber Wahrheit und Evidenz. 8°. (VIII u. 98 S.) Freiburg
1918, Herdersche Verlagshandlung. Mk. 3.20.
Das Wort Evidenz gehört zu denjenigen, die von manchen Philosophen gern
durch Anführungsstriche ausgezeichnet werden. Man empfindet allgemein, daß er
zu den wichtigsten, aber auch zugleich fragwürdigsten Begriffen der theoretischen
Philosophie gehört, ohne doch meist die Folgerung daraus zu ziehen, seine grund-
legende Stellung im System der Erkenntnistheorie allererst zu untersuchen. Nir-
gend begegnet man so vielen Vorurteilen als diesem Begriffe gegenüber. Nur in
einem verhältnismäßig kleinen Kreise, nämlich bei Brentano und seinen Schülern,
bei Marty, Meinong, Kastil u. a., besonders aber Husserl ist man ihm näher nach-
gegangen. — Geyser nun, der schon in seiner Psychologie und in seiner Logik,
sowie den „Alten und neuen Wegen" sich mehrfach mit dem Problem auseinander-
Besprechungen (Geyser). 181
gesetzt hat, sucht in diesem Schriftchen die fundamentale Bedeutung der Evidenz
tür die Erkenntnistheorie zu zeigen. Er steht, um es vorwegzunehmen, dem
Standpunkt der Phänomenologie sehr nahe und kommt auch nicht wesentlich
darüber hinaus. Er sieht die Ursache der herrschenden Irrtümer und Mißdeu-
tungen vor allem, — mit Recht — in der Verkennuug und Vermischung ihres
doppelten, logischen und psychologischen Charakters. Es steht fest, daß die Evi-
denz, obzwar sie auf die Subjektsbeziehungen des Denkens geht, dennoch ein
echter Begriff der Logik ist und der eigentlich logischen Behandlung unterliegt.
Bekanntlich haben ihm neuere Autoren (Rüssel, Kynast) das Daseinsrecht in der
Logik abgesprochen. Dennoch besteht er dort zu Recht. Dies hat seinen Grund
darin, daß diese Subjektsbeziehungen der Denkformen nicht einfach und tatsächlich
neben ihrer logisch-gegenständlichen Beziehung herlaufen, sondern eine notwendige
Folge derselben sind, also mit ihm in einem sachlichen Zusammenhang stehen
und daher aus ihm a priori erkannt werden können. So ist z. B. die Wahrheit
an sich eine gegenständliche Bestimmtheit des Urteilssinnes. Das Subjekt nun
nimmt zu dieser Gegenständlichkeit Stellung in dem Akte des Fürwahrhaltens.
Während die Wahrheit oder Falschheit eines Urteilsinhaltes unabhängig von diesem
Fürwahrhalten ist, müssen zu dem Akte des Fürwahrhaltens Akte des Begründens
hinzutreten. Diese finden sich in der „Evidenz". Die logische Evidenz ist nicht
identisch mit dem Akte des Fürwahrhaltens, mit dem er so oft in dem Begriff
der Gewißheit vermengt wird, sondern mit dem Grunde, der diesen Akt logisch
rechtfertigt. In der Tat erweist sich auch in der geschichtlich-literarischen Ent-
wicklung — auf die übrigens G., gemäß dem Charakter seiner Schrift nirgend
Bezug nimmt, der Evidenzbegriff zumeist äquivalent mit dem der sachlichen Be-
gründung. Für den Logiker aber kommen nur diese, inneren und wesensmäßigen
Zusammenhänge der Begründung in Betracht, die Lehren darüber bilden eine
deduktiv- apriorische Disziplin und sind „alles andere als Psychologie". Im be-
sondern findet nun G. die Bestimmung der Evidenz naturgemäß aus derjenigen
der Wahrheit. Diese lautet: „Die Wahrheit eines Urteils ist darin gelegen, daß
es dem Gegenstande einen Sachverhalt zuschreibt, den es an diesem tatsächlich
gibt". Das Evidenz wirkende Moment liegt in der „Tatsächlichkeit". „Die Evi-
denz besteht darin, daß der vom Urteilsakt intendierte gegenständliche Sachverhalt
in seinem eigenen Selbst diesem Akte gegenwärtig ist. Hier haben wir die Grund-
these des phänomenologischen Intuitionismus und Objektivismus aller Richtungen,
nämlich die Berufung auf „Gegebenheit", durch welche sie überall psychologische
Elemente in sich aufzunehmen scheinen. In der Evidenz sehen alle diese Denker
ein „Schauen", „Erfassen" usw. von Sachverhalten in Gegenständen. Dieses
beruht darauf, daß der dem Sachverhalt gegenwärtige (immanente) Sachverhalt
mit dem intendierten gegenständlichen Sachverhalt eins und identisch sein d. h.
daß er in diesem bestehen soll. Die „Leibhaftigkeit" des Sachverhaltes ist das
entscheidende Kriterium. — Leider bleibt nun Geyser, so weit er auch den Begriff
sonst verfolgt, bei diesem Ergebnis stehen, ohne die logischen und erkenntnis-
theoretischen Bedingungen und Voraussetzungen dieser Zusammenhänge näher zu
zergliedern, und hierin besteht für mich der Mangel der Schrift. Bekanntlich
liegen in diesem Begriff der „Gegebenheit" eine Fülle von Schwierigkeiten, an die
der logizistische Gegner des Intuitionisraus sich zu halten pflegt. Andrerseits
führt die Anerkennung der Gegebenheitsvoraussetzung der Evidenz zu Folgerungen,
die von allergrößtem Einfluß sind auf die erkenntnistheoretische Gesamtanschauung
überhaupt. Wenige kurze Hinweise mögen genügen. Alle Berufung auf Gegeben-
heit in der Evidenz ist hinfällig, sofern nicht zugleich für das Soseinsurteil die
Bestimmtheit der Gegebenheit mit vorausgesetzt wird! Dieser Annahme wider-
spricht z. B. der objektive Idealismus in der Form des Marburger Methodenabso-
lutismus, welcher ja die „Bestimmtheit" des Gegenstandes verwandelt in eine Auf-
gabe der bloßen Denkbestimmung der Gegenstände. Wirklich ist in diesem System
weder sachlich noch historisch ein Platz für die Evidenz zu zeigen. Nur an
einem Punkte weist auch die Evidenztheorie hin auf den unendlichen Prozeß -
Charakter der Wahrheit, nämlich insofern die Gegenstände hier als Correlate
schöpferischer Intentionen gedacht sind und als solche in funktioneller Beziehung
182 x Besprechungen (Gey&er).
zu Akten stehen, deren Vollzug niemals gänzlich vollziehbar erscheint. Nun besteht
die Gegebenheit „bloßer Begriffe" in der völlig eindeutigen Einordnung in dieses
System der begrifflichen Intentionen, das seinerseits nicht realisierbar, eine Fiktion,
besser ein Ideal ist. Muß die Evidenz, um eine objektive, absolute und endgül-
tige zu sein, verankert werden in dieser idealen allumfassenden Systematik, so
wird sie selber, um mit Schmidkunz zu reden, „nur im Unendlichen vollziehbar",
sie ist selber ein „Ideal". Damit ist dem wilden Intuitionismus, der der Methode
spottet, der Boden entzogen ! Die Systematik nun beruhte auf der formalen Iden-
tität der durch gleiche Akte gleich bestimmten Urteilssinne. In dieser formale»
Identität kann sich die auf letzte Gegebenheiten stützende Begründung der Evi-
denz nicht erschöpfen, sondern muß zu einer synthetischen ihre Zuflucht nehmen,
die die Möglichkeit einer Uebereinstimmung und Identität zwischen Intention und
Gegebenheit überhaupt und prinzipiell erklärt. Diese letzte Voraussetzung liegt
in der postulierten Identität des Bewußtseins, dem Akt und Gegebenheit als Rea-
litäten angehören: die Identität zwischen Akt und Sinn ist dadurch bedingt, daß
sie beide „Stücke" eines identischen Bewußtseins sind. — Wie schwerwiegend und
folgenreich also die Stellung zum Evidenzproblem ist, wird man schon aus diesem
Wenigen ersehen. Wahrhaft ist sie das Schiboleth in dem erkenntnistheoretischen
Parteienkampf. Von dieser Tragweite gibt auch das Werk von Geyser eine Vor-
stellung und so kann es für so manche ein kräftiger und wirksamer Stachel er-
kenntnisphilosophischer Erregung sein. Es bietet im einzelnen eine Fundgrube
reicher Belehrung, die sich besonders bezieht auf das Verhältnis der Evidenz zu
dem psychologischen Begriff des Erlebnisses, der Gewißheit, dem Problem der
Grade der Evidenz, der Subjektivität oder Objektivität der Evidenz der Wahr-
nehmung und der Grundsätze u. a. In der Reinlichkeit der Trennung psycholo-
gischer und logisch-erkenntnistheoretiscber Methoden und Gesichtspunkte liegt ein
Hauptvorzug der Schrift.
Berlin. Wilhelm Reimer.
Geyser, Joseph, Dr., o. ö. Professor a. d. Universität Freiburg i. B., Eido-
logie oder Philosophie als Formerkenntnis. Verlag Herder & Co.
Freiburg i. B., 1921, 51 S.
Das erkenntnistheoretisch prinzipielle und darum schon am Anfang in der
Philosophiegeschichte heimische Begriffspaar Form-Materie wird in diesem „phi-
losophischen Programm" zum beherrschenden Gesichtspunkt für die Bestimmung
des Umkreises philosophischer Probleme überhaupt gemacht. Diese Bestimmung
des Gegenstandes der Philosophie geht von der „Urtatsache" der „Bewußtseins-
bezogenheit des Subjekts auf Objekte" aus, dem Cartesischen Prinzip dabei eine
Wendung auf die Mannigfaltigkeit der bewußten Objekte gebend ; die im Rahmen
der aristotelischen Unterscheidung zwischen tätiger und leidender Vernunft ge-
führte Analyse dringt zu einer näheren Fixierung dieser Bewußtseinsbezogenheit
vor, indem der Einheit des Bewußtseins nicht nur die Mannigfaltigkeit der Ob-
jekte, sondern auch eine Mannigfaltigkeit des Bewußtseins von den Objekten
gegenübergestellt wird. Eine Entwicklung paralleler Gedanken aus dem Carte-
sischen Prinzip findet sich übrigens schon bei Leibniz, Philos. Schriften, ed. Ger-
hardt, IV, S. 357. Da der Begriff des bloßen Etwas beiden Mannigfaltigkeits-
reihen gemeinsam und von ihnen vorauszusetzen ist, sowie bestimmten Formprin-
zipien genügen muß, um giltiger Begriff zu sein, wird die F o r m kraft ihrer Ver-
flechtung logischer und phänomenologischer Gesetzlichkeit zum Prinzip aller Er-
kenntnis erhoben. Dieser Formbegriff umfaßt daher nicht nur die logischen Vor-
aussetzungen jedes Begriffs, das bloß Begriffliche an ihm, sondern auch die
Gesamtheit aller vermöge der Beziehung aufs Bewußtsein bestimmten Inhalts-
momente. Infolgedessen muß der Verf. seinem Formbegriff als Materie ein
Unbestimmtes, erst zu Bestimmendes im „vollkommen nackten Etwas" entsprechen
lassen. Schon der Ausdruck weist hier in die sachliche Nähe des Urmaterials
und der formgebenden Kategorie E. Lasks, der die Logik phänomenologisch be-
handelt hat.
Besprechungen (Geyser — Grau). 183
Geformte Materie, also Erkanntes, kann nun wiederum Materie für eine
weitere, hinzutretende Formung werden, sodaß sich in einem erkannten Gegen-
stande ein ganzes System von Forderungen entdecken läßt; und damit entfaltet
sich das Problem der „Struktur" des Gegenstandes. Die Bestimmung dieser
Struktur, als gesetzmäßiges Verhältnis der allgemeinen Formen des Bewußtseins
zueinander in der Gegenstandserkenntnis, ist die Aufgabe der Eidologie, die daher
mit der Gegenstandslogik zusammenfiele, wenn es erlaubt wäre, diesen phänome-
nologisch gefärbten Formbegriff mit dem logischen gleichzusetzen. Die logisch
primären dieser Formen sind die Urformen des Seins, des Wahren, des Guten
u. s. w. ; aus ihnen entstehen durch „Funktionsbesonderung" die Kategorien, die
also nicht auf den Erfahrungsgegenstand eingeschränkt bleiben, weil diesem,
logisch koordiniert, die Gegenstände der anderen Urformen an die Seite treten.
Die Arbeit, die dem phänomenologischen Ideenkreise Husserls und seiner
Schüler nahesteht, spiegelt die bisher ungeklärte Stellung der phänomenologischen
Grundbegriffe zum Geltungsbegriff als dem Grundbegriff der Logik wieder. Daher
könnte m. E. eine genauere Durchführung des obigen Programms nicht auf eine
scharfe Sonderung des Geltungsproblems, in seiner ganzen Weite als Problem der
Geltungsformen der gesamten Bedeutungsmannigfaltigkeit gefaßt, von der Bezogen-
heit der Bedeutungsmannigfaltigkeit auf ein sie erfassendes Bewußtsein verzichten.
Erwähnt sei noch, daß die Herbartsche Eidolologie von ganz anderen Voraus-
setzungen ausgeht und in der Analyse des Ichbegriffs auch zu einem völlig ver-
schiedenen Ziele, einer metaphysischen Fundierung der Psychologie, zu gelangen
sucht.
Breslau. R. Kynast.
Grau, K., J., Grundriß der Logik (Aus Natur und Geisteswelt 637. Bdch.).
Teubner. Leipzig 1918. 140 S. 1.50 Mk.
Dieser „Grundriß" verfolgt wesentlich pädagogische Zwecke. Es handelte
sich darum, den Schülern und Studenten, sowie dem philosophisch Interessierten
überhaupt einen kurzen, brauchbaren Leitfaden in die Hand zu geben, der ihn
über die Hauptfragen der Logik orientiert. Vollständigkeit war nicht beabsich-
tigt, auch bei dem geringen Umfang nicht zu erreichen. Es kommt dem Verfasser
weniger darauf an zu untersuchen als darzustellen, weniger darauf, Probleme zu
lösen als zu zeigen, wie aus gegebenen Lösungsversuchen neue Probleme ent-
stehen. Der Verfasser lehnt sich stark an die Untersuchungen von Benno Erd-
mann an, dessen Standpunkt er selbst wohl am nächsten steht, ist aber mit Erfolg
bemüht, die verschiedenen z. Zt. mit einander streitenden Richtungen der Logik
(die formale, die metaphysische nnd erkenntnistheoretische, psych ologisierende,
mathematische, Inhalts- und Umfangs-Logik, induktive und deduktive Logik) zu
Worte kommen zu lassen. Die Einleitung beschäftigt sich mit der Stellung der
Logik im System der Philosophie, mit Begriff und Aufgabe der Logik und mit
den geschichtlichen Voraussetzungen der neueren Logik. Die Darstellung selbst
zerfällt in zwei Teile (I. Logische Elementarlehre, II. Logische Methodenlehre).
Teil I behandelt in der üblichen Weise die Lehre vom Begriff, vom Urteil und
vom Schlußverfahren, Teil II stellt zunächst das wissenschaftliche Untersuchungs-
verfahren, dann das wissenschaftliche Beweisverfahren dar. Auf Einzelnes einzu-
gehen hat keinen Zweck, da eine solche Auseinandersetzung zu sehr durch den
eigenen Standpunkt beeinflußt ist. Als Beispiel sei erwähnt das Verhältnis von
Frage und Urteil (S. 68 f.), wo man auch umgekehrt wie der Verfasser behaupten
kann, daß das Urteil die Frage voraussetzt. Jedes Urteil ist eine fertige Aus-
sage, die als solche das Problem (= die Frage) voraussetzt. Natürlich ließen
sich auch manche der gebrachten Beispiele kritisieren, aber man tut gut, nach
dem Ganzen zu urteilen und dieses ist als wohlgelungen anzusehen. Es ist eine
solide Arbeit, die hier vorliegt, die den Zwecken der bekannten Sammlung wohl
entspricht. Bei den Literaturangaben ist zu bemängeln, daß alle möglichen Ar-
beiten zweiten Ranges genau angeführt werden, während es unter der Ueberschrift
„Zum System der Logik" heißt: „Paul Natorp in mehreren Schriften". Das Werk
184 Besprechungen (Grau — Hasse).
Natorps „Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften Leipzig 1910*
hätte augeführt werden müssen.
Berlin. Artur Buchenau.
Hasse , Heinrich , Privatdozent an der Universität Frankfurt a. M. , Das
Problem der Gültigkeit in der Philosophie David Ilumes. Ein
kritischer Beitrag zur Geschichte der Erkenntnistheorie. München 1919, Verlag:
Ernst Reinhardt. 192 S. 12,90 Mk.
Eine historisch-kritische Untersuchung, die der Behandlung eines einzelnen
Problems im Rahmen eines bestimmten Systems nachgeht, hat, wie Verf. ein-
leitend bemerkt, nur dort eine Berechtigung, wo dem Problem gemäß den Grund-
sätzen dieser Philosophie eine gewisse Selbständigkeit und feste Bedeutung zu-
kommt. Daß das für das Gültigkeitsproblem im Rahmen des Humeschen Denkens
gilt, scheint mir noch nicht erwiesen, wenn gezeigt wird, daß sich innerhalb der
durchaus deskriptiv - psychologisch gemeinten Aufstellungen Humes allenthalben
nicht nur Urteile über Gültigkeit und Ungültigkeit finden — das ist ja bei dem
skeptischesten Denker unvermeidlich, wenn er nicht die Konsequenz völliger &rogif
zieht — , sondern auch Aufstellungen von Kriterien der Berechtigung. Denn trotz-
dem fehlt bei Hume, wie Verf. selbst betont (S. 17), völlig die Erkenntnis der
eigenartigen, von allen Tatsachenfragen unabhängigen Bedeutung der Gültigkeits-
frage. Daraus folgt aber, daß weder für die Behandlung dieses Problems die
Humesche Philosophie, noch für das Verständnis dieser Philosophie die Behand-
lung dieses Problems der richtige Ausgangspunkt ist. Dagegen treten bei einer
solchen Hervorhebung der positiven Aufstellungen Humes die Schwächen und
Mängel seiner Leistung, deren Bedeutung ja in der Anregung, nicht in der Beant-
wortung von Fragen in erster Reihe gelegen ist, deutlich hervor. So liefert die
gründliche Arbeit Hasses trotz der Vorbehalte, die ich machen zu müssen glaubte,
einen wertvollen Beitrag zur Kritik des Humeschen Skeptizismus.
Hasse gibt eine kurze Darstellung aller erkenntnistheoretischen Lehren
des Treatise und des Essay und prüft die in ihnen enthaltenen Kriterien unter
einem an R. Richter und H. Cornelius orientierten Gesichtspunkt. Hier sei nur
das Wesentlichste hervorgehoben.
Wenn Hume zunächst die Berechtigung der Ideen untersucht, so ist damit
verkannt, was schon Aristoteles wußte, daß von Richtigkeit und Unrichtigkeit
erst beim Urteil die Rede sein kann. Aus dem „Fundamentalsatz", daß alle Vor-
stellungen aus unmittelbaren Eindrücken (impressions) stammen, wird die lo-
gische Regel abgeleitet, alle Vorstellungen dadurch zu prüfen, daß wir nach den
Eindrücken fragen, aus denen sie stammen, und diejenigen als fiktiv auszuschalten,
bei denen wir solche legitimierende Eindrücke nicht finden können. Hasse zeigt,
daß hier unvermerkt anstelle des genetischen Zusammenhanges, der doch, wenn
der Fundamentalsatz richtig ist, ausnahmslos für jede Vorstellung, und sei sie
noch so verworren und fiktiv, gegeben sein müßte, die repräsentative Beziehung
tritt. Die Vorstellungen vertreten Eindrücke und sind bedeutungslos, wo sich
dieser bedeutungshafte Zusammenhang mit den Eindrücken nicht aufweisen läßt.
Das ist der eigentliche erkenntnistheoretische Sinn des Humeschen Gedankens,
der aber von ihm nicht zur Klarheit gebracht wird, weil er ihn eben nicht von
dem psychologisch-genetischen Grundsatz sondert.
Die unbedingte Geltung der apriorischen Sätze (relations of ideas) soll auf
der Unvorstellbarkeit des Gegenteils beruhen. Was bedeutet diese Unmöglichkeit
des Vorstellens, wenn Notwendigkeit nichts weiter ist als ein gewohnheitsmäßiger
Zusammenhang? Darauf bleibt uns Hume ebenso die Antwort schuldig wie auf
die Frage nach der Gültigkeit der Erfahrungserkenntnis, die doch das Haupt-
thema des Essay bildet. Wir finden hier nur die Theorie der Entstehung der
Kausalurteile durch Gewohnheit. Die logischen Bedenken dagegen werden damit
beschwichtigt, daß der Instinkt sicherer führe als die Vernunft. Freilich ist
dieser absolut alogische Standpunkt schon verlassen, wenn daneben von der Prü-
fung der Berechtigung von Erwartungen durch vernünftige Wahrscheinlichkeits-
erwägungen gesprochen wird.
Besprechungen (Hasse — Höffding). 185
Die Ansichten Humes über die Urteile, die das Erfahrbare überschreiten,
sind auch nicht eindeutig und widerspruchsfrei. Sie werden zwar im allgemeinen
als völlig außer dem Bereich unserer Erkenntnis liegend abgelehnt, andere Stellen
hinwieder geben die Analogie zur Erfahrung als Kriterium der Berechtigung
solcher metaphysischer Hypothesen an.
Nach all dem kann die Lektüre von Hasses Buch insbesondere den zeitge-
nössischen Denkern empfohlen werden, die* in der philosophischen Entwicklung
von Hume über Kant einen Rückschritt sehen und eine positivistische Erkenntnis-
lehre mit dem Motto: „Zurück zu Hume!" begründen wollen.
Charlottenburg. Dr. Josef Winternitz.
Höffding, Harald, DerTotalitäts begriff. Eine erkenntnistheoretische
Untersuchung^Leipzig 1917, Verlag von 0. R. Reisland). 126 S. 3,20 Mk.
„Die Wurzel des Erkenntnisproblems liegt in dem Umstände, daß die Wahr-
heit .... ein Ganzes sein muß". Dieser Gedanke ist sowohl die Grundlage wie
auch die Quintessenz der Studie Höffdings. Der „gemeinsame Typus alles Ge-
dankenlebens .... kann allgemein als eine Totalitätsbildung bezeichnet werden*1.
Ebendas zeigt Höffding an der Hand von den verschiedenen Kategoriengruppen
und damit auch von den diversen Wissenschaftsgebieten.
„Schon die fundamentalen Kategorien", so führt der Autor aus, „fordern
von allem, das erkannt werden soll, daß es mit einem anderen zusammengefaßt
und diesem gegenüber als kontinuierlich oder diskontinuierlich und als ähnlich
oder verschieden aufgefaßt werden könne". Das Nachdenken, „das mit Analyse
anfängt", hat zur Voraussetzung „ein unmittelbar Gegebenes", bei dem bereits
„das Gesetz der Synthese in Geltung" ist, also eine Totalität, deren Analyse zu
neuen Totalitätsbildungen führt.
Bei dieser Analyse treten nächst den fundamentalen die formalen Kategorien
in Aktion. Sie stehen also gleichfalls unter dem Gesichtspunkt der Totalität und
damit auch die Wissenschaftgebiete der Logik und Mathematik. „Begriff, Urteil
und Schluß bezeichnen verschiedene Formen und Grade logischer Totalität".
Gerade auch der Gesetzesbegriff, der in der modernen Forschung an die Stelle
des Klassenbegriffs getreten ist, zeigt seinen Totalitätscharakter ganz unverkennbar.
Er ist insofern ein typischer Individualb egriff, als er das Gesetz der zu ihm ge-
hörigen konkreten Individualbegriffe enthält, und er ist folglich dadurch charak-
terisiert, daß er „sich zu den entsprechenden konkreten Individualb egriffen nicht
wie eine Art zu ihren Individuen, sondern wie ein Ganzes zu seinen Teilen ver-
hält". Auch Raum und Zeit sind „keine bloßen Allgemeinbegriffe", sondern
typische Individualbegriffe. Das Wahrheitskriterium dieses formalen Denkens in
der reinen Logik und Mathematik ist — negativ gefaßt — der Widerspruch ; von
ihm kann aber nur die Rede sein, wenn „die einander widersprechenden Glieder
zu einer versuchten Totalitätsbildung zusammengehalten werdend Wird das Kri-
terium positiv als Identität verstanden, so offenbart sich nicht minder die Tota-
litätsnatur des Gedanklichen ; denn die Identitätsfunktion des Denkens liegt gerade
darin, daß durch Substitution und Elimination neue Totalitäten geschaffen werden,
etwa durch den Uebergang vom Grund zur Folge. „Grund und Folgen (z. B. eine
Reihenbildung und die neuen, aus ihr folgenden Verhältnisse) machen eine logische
Totalität aus".
Werden nun „qualitative und sukzessive Verschiedenheiten auf dem Wege
der Analogie unter logische und mathematische Gesichtspunkte gestellt" und nach
dem Verhältnis von Grund und Folge aufgefaßt, so liegt Kausalität vor. Wir
kommen damit zu den realen Kategorien. Ursache und Wirkung sind „Glieder
einer realen Gedankentotalität". Vor allem zeigt sich das Totalitätswesen der
Kausalbestimmung darin, daß das einzelne Kausalverhältnis nur durch Einglie-
derung in einen übergeordneten Kausalzusammenhang verstanden werden kann.
Es kommt darauf an, einerseits „das Verhältnis zwischen den Gliedern einer und
derselben Kausalreihe zu finden" und sodann „das Verhältnis zwischen den ver-
schiedenen Kausalreihen, die zusammen das Resultat bestimmen, zu analysieren".
186 Besprechungen (Höffding).
Noch mehr als in der mathematischen Naturwissenschaft, an die man bei diesen
Ausführungen über das Kausalproblem in erster Linie denken könnte, erweist der
Totalitätsbegriff seine Fruchtbarkeit in der biologischen Naturwissenschaft sowie
in der Psychologie und Soziologie; hier konkretisiert sich die allgemeine Tota-
litätstendenz des Denkens zu einer speziellen Kategorie der Totalität. Nur als
Totalitäten können der Organismus, die Persönlichkeit und die Gemeinschaft be-
griffen werden. Es stehen sich hier*der Mechanismus und der Vitalismus in der
Biologie, der Assoziationismus und der Spiritualismus in der Psychologie, der
Individualismus und der Sozialismus in der Soziologie gegenüber, nämlich je
nachdem man die Totalität aus ihren Elementen oder die Elemente aus der Tota-
lität erklären will. Einzig „ist es die Gesetzeserkenntnis, soweit eine solche
möglich ist, die über die streitenden Auffassungen hinausführen kann" ; denn „auf
dem sozialen wie auf dem psychologischen und dem biologischen Gebiete gilt es,
das Gesetz, oder richtiger die Gesetze, mittels welcher ein Totalzusammenhang
als solcher hervortritt, zu finden".
Wenn nun gefragt wird, ob die Voraussetzungen für die Entstehung und
Erhaltung einer Totalität vorhanden, ob die vorliegenden Umstände hierfür günstig
oder ungünstig sind, so stellt sich der Wertgesichtspunkt ein. Der Totalitäts-
begriff kommt damit in engste Berührung auch mit der Kategorie des Wertes
und folglich mit der Ethik, Geschichtsphilosophie u. s. w. In allen diesen Diszi-
plinen, ja, überhaupt kann von Werten einzig gesprochen werden im Hinblick auf
eine Totalität und ihre Bedingungen.
Es gibt „für jede Totalität einen Gegensatz zwischen Wert und Wirklich-
keit, indem die inneren Elemente und die äußeren Umstände ihr Bestehen ent-
weder stützen oder hemmen können", sowie einen solchen „zwischen Einheit und
Mannigfaltigkeit", und die Bestimmung dieser Gegensätze stellt „die positive Seite
der Untersuchung einer Totalität" dar; die negative liegt darin, daß jedwede
Totalität nur „durch ihr Verhältnis zu einem von ihr selbst Verschiedenen" fest-
gelegt zu werden vermag. Der letztere Umstand bewirkt es, daß eine absolute
Totalität nicht aufgefunden werden kann, und der Totalitätsbegriff ist, von hier
aus gesehen, ein Grenzbegriff. „Ein absoluter Abschluß würde den eigenen Ge-
setzen des Gedankens widersprechen" ; jede Kategorie ist „eine ,Idee* in kan-
tischer Bedeutung des Wortes, d. h. ein Gedanke, der stets neue Aufgaben stellt
und in keiner Anschauung und in keinem abgeschlossenen Begriffe dargestellt
werden kann, .... ein Arbeitsgedanke, der nur insoweit vorliegende Aufgaben
löst, daß er zugleich auf neue Aufgaben hinweist".
Mit dieser Auffassung der Erkenntnis als einer unendlichen Aufgabe steht
Höffding offensichtlich auf neukantischem Boden. Ueberhaupt ist sein Verhältnis
zum Kritizismus modernster Prägung ein recht nahes. In diesem hat der System-
begriff mehr und mehr eine entscheidende Bedeutung gewonnen, so zum Beispiel
ganz besonders in Arthur Lieberts Werken. Höffdings Totalitätsbegriff zielt aber
letzten Endes auf gar nichts anderes ab als auf den Systembegriff; die totalitäts-
bildende Tendenz des Denkens ist in der Sprache der kritischen Erkenntnistheorie
die systematisierende Funktion der Vernunft.
Freilich ist der Unterschied im tiefsten Grunde wohl doch mehr als ein
bloß terminologischer. In der Erkenntnislehre des Kritizismus bezeichnet das
System den Gegensatz zum Ganzen; es handelt sich um den Gegensatz zwischen
logischer Apriorität und psychologischer Aposteriorität. Die logische Einheit der
Erkenntnis ist eine apriorische; sie beruht auf der grundlegenden Einheit des
die Elemente korrelativ und damit als Systemglieder verknüpfenden Prinzips. Die
psychologische Einheit der Erkenntnis ist hingegen eine aposteriorische; sie
liegt in der nachträglichen Verbindung der den psychischen Totalprozeß des
Denkens zusammensetzenden elementaren Partialprozesse. Wie stark nun auch
die logisch-erkenntnistheoretischen Impulse bei Höffding fraglos sind, so will es
dennoch scheinen, als ob es sich für ihn weniger um die logische Erkenntnis-
funktion als um den psychischen Denkprozeß handele, und von hier aus wird es
denn auch verständlich, warum bei ihm an die Stelle des Systembegriffs der der
Totalität tritt.
Besprechungen (Höffding — Koppelmann). 187
In dieser Hinsicht sind seine Ausführungen über das Verhältnis von Psycho-
logie und Erkenntnistheorie sehr interessant. Zwar sagt er, man könne „aus der
Psychologie keine Erkenntnistheorie deduzieren", es „entwickele sich der erkenntnis-
theoretische Gesichtspunkt allmählich zur Selbständigkeit" ; aber er hält an einem
„Anfangspunkte" fest, der „psychologisch" ist „oder . . . auf einem der Psycho-
logie und der Erkenntnistheorie gemeinsamen Gebiete" liegt. Er lehrt den Zu-
sammenhang von Psychologie und Erkenntnistheorie im Hinblick darauf, daß „das
wissenschaftliche Denken" nur „eine durch bestimmte Aufgaben bedingte besondere
Ausformung" des „gewöhnlichen menschlichen Bewußtseinslebens" ist. Darum
erklärt er auch : „Die Frage nach dem ersten Anfang der Wissenschaft fällt weg",
und er behauptet: „Es kann schwierig sein, zwischen Anschauen und Urteil eine
scharfe Grenze zu ziehen". Psychologisch ist das ganz gewiß richtig; aber in
logischer Hinsicht kann und muß „zwischen Anschauen und Urteil eine scharfe
Grenze" gezogen und damit auch der „erste Anfang der Wissenschaft" bezeichnet
werden.
Aus dem psychologistischen Einschlag erklärt sich auch Höffdings Unter-
scheidung zwischen formaler und realer Wahrheit sowie die Auffassung, daß die
letztere eine bloße Analogie zu jener sei.
Endlich hängt damit auch noch eine Schwierigkeit zusammen, die sich an
den Begriff des „unmittelbar Gegebenen" bei flöffding knüpft. Dieser meint, daß
man „schon im unmittelbar Gegebenen .... die Gesetze und Formen, die der
Arbeit des Nachdenkens zugrunde liegen, spüren" könne. Ja, er sagt sogar, „auf
dem organischen, dem psychischen und dem sozialen Gebiete" finde man „unmittelbar
gegebene Totalitäten", sei die Totalität „ein vorliegendes Erlebnis", handele es
sich um Erlebnisse, „die von Anfang an, aller denkenden Bearbeitung voraus,
mit dem Gepräge der Totalität hervorträten und nicht nötig hätten", ihr
„Gesetz von dem Gedanken zu borgen". — So zeigt sich auch hier die Verwandt-
schaft zwischen psychologistischen Tendenzen und einer ontologistischen Meta-
physik !
Allein neben den großen positiven Werten, die Höffdings Studie eigen sind
und zum Teil durch ihre vorangegangene Analyse ins Licht getreten sein dürften,
sind es nicht zum mindesten auch gerade solche Schwierigkeiten, die ungemein
anregend wirken ; denn diese Schwierigkeiten sind keine anderen als die , mit
denen die Philosophie von jeher kämpft und um deren Ueberwindung sich die
gesamte philosophische Forschung unserer Tage müht. Mit dieser steht Höffding
in engster Berührung; seine Auseinandersetzungen mit Cohen, Heinrich Maier,
Rickert, Driesch, Bergson u. s. w. machen die Schrift höchst interessant und for-
dern zu intensivster Mitarbeit auf.
Berlin- Wilmersdorf. Kurt Sternberg.
Koppelmann, Wilhelm, Professor an der Westfälischen Wilhelms - Univer-
sität in Münster i. W. Untersuchungen zur Logik der Gegenwart.
II. Teil : Formale Logik. (Berlin 1918, Verlag von Reuther & Reichard). 4dl S.
Nachdem in den „Kantstudien" Bd. XXIII, Heft 1, S. 128/135 der erste
Teil von K.'s groß angelegtem Werk zur Anzeige gelangt war, liegt nunmehr
auch der zweite zur Besprechung vor. Mehr noch als in jenem anderen Bande,
der erkenntnistheoretischer Natur ist und die allgemeinen Prinzipien der Er-
kenntnis entwickelt, treten naturgemäß die Vorzüge und auch die Schwächen der
K.'schen Untersuchungen in diesem Band hervor, der die Lehre von der An-
wendung jener allgemeinen Prinzipien in den einzelnen Wissenschaften als for-
male Logik bringt.
Diese bestimmt K. in der ausführlichen Einleitung zu seinen Betrach-
tungen „als die Lehre von den formalen Gesetzen und Mitteln resp. Bedingungen
des Gedankenaustausches". Um den gedanklichen Verkehr soll es sich also
handeln, um die „Formen der richtigen, klaren und einfachen Mitteilung des Ge-
dachten". Man weiß, wie große Zweifel an dem Charakter, ja, an der Existenz-
berechtigung der formalen Logik, die Kant noch ohne Bedenken als selbstrer-
188 Besprechungen (Koppelmann).
standlich hinnahm, sich bei der modernen Fortbildung des Kantischen Kritizismus
ergeben haben ; man sieht nun aber auch, auf welche Weise K. die formale Logik
zu retten strebt. Sie ist ihm nicht die Wissenschaft vom Gedachten, von der
Erkenntnis; denn dann würde sie unweigerlich mit der Erkenntnistheorie zu-
sammenfallen, wie es sich denn ja in Wirklichkeit wohl auch verhalt. Mit der
Uebermittlung der Erkenntnisse soll sie sich nach K. befassen. Dadurch wird
zwar ihre Bedeutung als eine besondere, wenn auch methodisch von der Er-
kenntnislehre abhängige Disziplin sichergestellt; zugleich will es aber scheinen,
als ginge sie damit ihres reinen theoretischen und folglich auch ihres spezifisch
philosophischen Charakters verlustig. Schon im ersten Band des K.'schen Werkes
ist ein starker pragmatistischer Einschlag ganz unverkennbar; er zeigt sich inso-
fern, als die Erkenntnis unter dem Gesichtspunkt betrachtet wird, daß sie die
Wirklichkeit berechenbar machen und auf diese Weise die Orientierung in ihr
ermöglichen solle. Hieraus erklärt es sich, und es ist nur konsequent, daß nun
auch im zweiten Bande das Problem aus dem Bereich des Theoretisch-Methodi-
schen in den des Praktisch-Normativen verpflanzt wird, daß an die Stelle des
Problems der reinen Erkenntnis das der Mitteilung von Erkenntnissen tritt.
Diese geschieht vor allem durch die Sprache, und so nimmt K. die Sprache
als hauptsächliches Werkzeug des wissenschaftlichen Verkehrs in seine Definition
der formalen Logik auf: „Die formale Logik in dem soeben entwickelten Sinne
hat es mit den Gesetzen oder, wenn wir uns noch unzweideutiger ausdrücken
wollen, mit den Normen des durch die Sprache vermittelten Gedankenaustausches
zu tun". Diese Definition darf aber nicht zu eng gefaßt werden ; außer
dem sprachlichen berücksichtigt K. auch den ideographischen Ausdruck der Ge-
danken. Es finden sich bei ihm ebenso interessante wie lehrreiche Meditationen
über Evolution und Bedeutung von Ideographie und Sprache, besonders in ihrem
Verhältnis zur Logik. Allein man darf trotz K.'s Versuches einer scharfen Grenz-
absteckung zwischen Logik und Sprachwissenschaft Zweifel darein setzen, ob es
ihm gelungen ist, beide hinreichend auseinanderzuhalten. Zwar wirft er aus-
drücklich den Logikern vor, daß sie „von des Aristoteles Zeiten an bis in die
Gegenwart hinein mit wenigen Ausnahmen viel zu sehr an der Sprachform geklebt
haben", und sein Bestreben, diesen Fehler zu vermeiden, ist unverkennbar und
im einzelnen gewiß auch oft von Erfolg gekrönt; allein er sollte einmal in Er-
wägung ziehen, ob nicht im Prinzip er, der „unter Urteil die sprachliche oder
ideographische Formulierung eines Gedankens resp. einer Erkenntnis" versteht,
der „das Urteil . . . aus Wörtern oder ideographischen Zeichen zusammengesetzt"
sein läßt, der Gefahr einer Verquickung von Logik und Grammatik mehr erlegen
ist als beispielsweise Kant, in bezug auf den er die ebenso seltsame wie unbe-
rechtigte Behauptung aufstellt, daß er „die sprachliche Form der Urteile zur
Ableitung seiner Kategorientafel, die sprachliche Form der Schlüsse zur Ableitung
seines Systems der transzendentalen Ideen in Beziehung brachte".
Indem K., wie soeben dargelegt, im Urteil eine Zusammensetzung von Wörtern
sieht, muß er die Lehre vom Begriff der vom Urteil voranstellen ; denn die Wörter
können und dürfen natürlich erst zusammengesetzt werden, nachdem über ihre
Bedeutungen, über die durch sie ausgedrückten Begriffe, Klarheit geschaffen ist.
Es ist bekannt, daß sich neuerdings — sofern nicht die völlige Gleichwertigkeit
von Begriff und Urteil proklamiert wird — in steigendem Rtaße die Tendenz
durchgesetzt hat, das Schwergewicht auf die Urteilslehre zu legen, und zwar so-
wohl von Seiten der kritischen wie auch von Seiten der psycho logistischen Logik.
K. will davon nichts wissen. Was er in dieser Absicht vorbringt, ist gegenüber
den Motiven, welche die psychologistische Logik veranlassen, die Urteilslehre in
den Mittelpunkt zu stellen, durchaus überzeugend ; aber die Gründe, aus denen die
Logik des Kritizismus sich entschlossen hat, das Urteil dem Begriff gleich- resp.
überzuordnen, werden dadurch keineswegs entkräftet, auch nicht durch die dies-
bezüglichen Ausführungen an einer späteren Stelle.
Bevor K. aber noch an die Lehre vom Begriff herantritt, entwickelt er zu-
nächst einmal in seinem ersten Kapitel „die obersten Gesetze des Gedanken-
verkehrs." Es handelt sich um die bekannten „Denkgesetze", die jedoch von
Besprechungen (Koppelmann). 189
ihm nicht als Formen der Erkenntnis, sondern der Erkenntnisübermittlung ver-
standen werden. So lautet bei ihm das Identitätsprinzip: „Beim Gedanken-
austausch müssen die BedeutuDgen, welche die Beteiligten mit den Wörtern oder
ideographischen Zeichen bez. mit den gebräuchlichen sprachlichen oder ideo-
graphischen Formulierungen verbinden, identisch sein und bleiben". Auf das
„Bleiben" legt K. einen ganz besonderen Wert : „Durch den Zusatz „und bleiben"
soll angedeutet werden, daß die Wortbedeutungen resp. Begriffe nicht allein nicht
verändert, sondern auch nicht erweitert werden dürfen." Es ist gewiß richtig,
daß jede Erweiterung des Begriffsinhalts „durch den individuell völlig verschie-
denen Fortschritt der Erkenntnis ausgeschlossen" ist und sein muß ; es gibt aber
nicht nur einen subjektiven, sondern auch einen objektiven Fortschritt der Er-
kenntnis. Wäre sich K. des in objektivem Sinne verstandenen unendlichen Pro-
gressus, der dem Wesen der Erkenntnis eignet, ihres Prozeßcharakters hinreichend
bewußt geworden, so würde er gesehen haben, daß die objektbestimmende Identität
sich mit einer objektiven Erweiterung des bestimmenden Begriffs sehr wohl ver-
trägt, daß sie überhaupt nicht eine bloße Form der Erkenntnisübertragung, son-
dern ein Grundgesetz der Erkenntnis selbst ist.
Wie dem Prinzip der Identität, so dürfte K. auch dem des Widerspruchs
nicht ganz gerecht werden. Um „Widersprüche in unseren Aussagen", nicht um
solche in der Erkenntnis selbst handelt es sich hier für K. Sie brauchen
„durchaus nicht immer in unlogischem Denken ihren Grund zu haben, sie können
auch aus nachlässiger oder ungeschickter Handhabung der Ausdrucksmittel, die
uns zur Verfügung stehen, entspringen. Die Widersprüche, welche auch bei be-
deutenden Denkern gar nicht so selten sind, müssen gewiß zum großen Teil gerade
hierauf zurückgeführt werden." Die Widersprüche, die sich bei großen Geistern
— z. B. bei Kant, auf den sich K. in diesem Zusammenhang bezieht — aus der
eigentümlichen Struktur der Probleme, aus der immanenten Problematik des Gegen-
ständlichen ergeben, die treibende Kraft des Widerspruchs beim Aufbau des
Gegenständlichen selbst läßt K. unberührt.
Auch die Sätze vom ausgeschlossenen Dritten und vom zureichenden Grunde
werden von ihm nicht als Fundamentalgesetze der Erkenntnis resp. Objektivität,
sondern als bloße Normen des geistigen Verkehrs betrachtet. Immerhin wird
man seine in Verbindung mit dem letzten Satz auftretenden Ausführungen gegen
die psychologistische Evidenzlehre nur voll und ganz unterschreiben können.
Nach der Erörterung der genannten vier Gesetze wird im zweiten Kapitel
das Augenmerk auf „die Hauptklassen der Wortbedeutungen" gerichtet. Es
werden zuerst die „Wörter für Kategorien" behandelt. Kategorien sind — immer
nach K. — dadurch kenntlich, daß sie niemals als echte Prädikate gebraucht
werden können; denn sie geben keine Antworten, dienen vielmehr der Stellung
von Fragen und Problemen. Es werden Sinnes- und Verstandeskategorien von-
einander unterschieden. Die ersteren (Farbe, Geruch usw.) beziehen sich auf die
sinnlichen Wahrnehmungen und bleiben in der Sphäre der Subjektivität; die
letzteren (Lage, Dauer, Ursache usw.) dienen dem Aufbau der objektiven Wirk-
lichkeit aus den gegebenen sinnlichen Wahrnehmungen resp. Wahrnehmungs-
ordnungen. Die Lösung der von den Sinneskategorien bezeichneten Aufgaben
wird durch die „Wörter für sinnlich Wahrgenommenes" (für die einzelnen Farben,
Gerüche usw.) versucht, welche keine eigentliche Erkenntnis enthalten und ver-
mitteln; die Lösung der von den Verstandeskategorien bezeichneten Aufgaben
wird durch die „Begriffe" (zur Bestimmung der Lage, Dauer, Ursache usw.) ge-
leistet, welche allein wahre Erkenntnis liefern und mitteilen.
.Diese K.'s gesamte Untersuchungen beherrschende Unterscheidung erscheint
aber als nicht unbedenklich. Der Festlegung von sinnlichen Wahrnehmungen
dient alles logisch- wissenschaftliche Verhalten; selbst die abstraktesten Begriffe,
wie wenig sie auch aus der sinnlichen Wahrnehmung stammen, stehen doch in
einem Verhältnis zu ihr, soll ihnen überhaupt Bedeutung zukommen. Andererseits
geht es nicht an, den wissenschaftlichen Konstituierungen der Farben, Gerüche
usw. die begriffliche Dignität abzusprechen. Gewiß sind auf diesem Boden viel-
fach noch nicht Begriffe von befriedigender wissenschaftlicher Exaktheit erreicht
190 Besprechungen (Koppelmann).
worden; allein man ist immerhin auf dem Wege dazu oder strebt doch zum
mindesten dahin. K. dürfte dem Wissenschaftscharakter der modernen Psychologie
nicht ganz gerecht werden.
Das Gleiche gilt hinsichtlich des Wissenschaftscharakters ven Zoologie und
Botanik in Anbetracht dessen, was K. über „gemischte Wortbedeutungen" oder
„Halbbegriffe" ausführt. Als solche Gebilde sieht er an „auf dem Gebiete der
Zoologie und Botanik zahlreiche Wortbedeutungen, bei denen freilich auch ein
Begriff, etwa Vogel oder Säugetier, zugrunde liegt, der dann aber durch die Ver-
wendung von bloßen Sinnesqualitäten spezialisiert worden ist." Es mag richtig
sein, „daß Buche und Eiche, Fichte und Kiefer, Pferd und Esel, Ziege und Anti-
lope von den meisten Menschen durch die sinnlich wahrgenommenen Formen
voneinander unterschieden werden"; das bezieht sich aber nur auf die psychische
Entstehung der betreffenden Vorstellungen. Diese scheint K., der an anderer
Stelle Psychologie und Logik scharf zu sondern strebt, hier nicht genügend von
der logischen Bedeutung der betreffenden Begriffe fau trennen. Pferd und Esel
im Sinne der Wissenschaft sind als gesetzliche Zusammenhänge gewisser Merk-
male doch echte Begriffe! Im Uebrigen liegt die Sache ja wohl so, daß etwas
entweder ein Begriff ist oder nicht, und die K.'schen „Halbbegriffe" dürften gegen
den — richtig aufgefaßten — Satz vom ausgeschlossenen Dritten verstoßen.
Als letzte Klasse der Wortbedeutungen werden die „Bezeichnungen für
Einzelobjekte (Eigennamen und Stoffnamen)" genannt, wobei sich u. a. eine an-
regende Auseinandersetzung mit Rickerts Theorie der individualisierenden Be-
griffsbildung auf historischem Gebiete findet. Auch zu diesen Ausführungen über
die Eigen- und Stoffnamen ließen sich allerlei Anmerkungen machen, die aber mit
Rücksicht auf den zur Verfügung stehenden Raum — leider — unterdrückt
werden müssen.
Statt dessen mag sich die Betrachtung dem dritten und vierten Ka-
pitel zuwenden, deren Thema „die Begriffsbildung" ist. Zunächst werden die
„Begriffe zur Unterscheidung und Vergleichung" erörtert, nämlich die Zahl-, die
Maß- und — interessanter Weise auch — die Münzbegriffe, sodann die „Begriffe
zum räumlichen Aufbau der Wirklichkeit", d. h. die der Lage, Gestalt und Größe
resp. der Lage-, Gestalts- und Größenverhältnisse. Von der Begriffsbildung in
der Mathematik (Arithmetik und Geometrie) richtet sich die Untersuchung zu
der in der mathematischen Naturwissenschaft (Chemie und Physik); es handelt
sich um die „Begriffe zum zeitlichen Aufbau der Wirklichkeit", um die zur Be-
stimmung von Zeitlage, Zeitgestalt und Zeitgröße. Schließlich folgen die „Be-
griffe zum teleologischen Aufbau der Wirklichkeit", Begriffe der Biologie, Medizin,
Psychologie, Rechtswissenschaft, Ethik, Theologie, aus der „Welt der Technik
und überhaupt dessen, was die Menschen planmäßig und willkürlich schaffen"
(Uhr, Luftschiff) sowie von „menschlichen Einrichtungen und Veranstaltungen"
(Aktiengesellschaft, vor allem Staat). Durchweg wird höchst verdienstlich die
„Selbständigkeit oder Autonomie der Begriffsbildung" stark betont; durchweg
wird aber auch leider nicht minder stark das Ziel der Begriffsbildung aus-
schließlich als ein „denkökonomisches" angesprochen, ihre Aufgabe einzig darein
gesetzt, die Wirklichkeit zwecks Ermöglichuug praktischer Orientierung in ihr
„berechenbar" zu machen. Ob man bei einer solchen biologistisch-pragmatistischen
Einstellung überhaupt von „Selbständigkeit oder Autonomie der Begriffsbildung"
sprechen kann und darf, mag dahingestellt bleiben.
Immerhin: die Spontaneität der Begriffsbildung wird in entschiedener Weise
verfochten, und im fünften Kapitel, das eine „Auseinandersetzung mit anderen
Thoorien der Begriffsbildung" bringt, findet sich eine prachtvolle Abrechnung mit
den empiristischen Abstraktionslehren. Sie stellt das Glanzstück des K.'schen
Buches dar. Wesentlich schwächer und nur wenig überzeugend sind aber K.'s
Einwände gegen die Marburger und Badener Schule, welche sich auf die Stellung
dieser Schulen zu dem Problem des Verhältnisses von Begriff und Urteil einer-
seits und zu dem Problem einer möglichen Begriffserweiterung andererseits be-
ziehen. Es ist davon im vorigen bereits gesprochen worden.
An die Untersuchung der Begriffe schließt sich im sechsten Kapitel die
Besprechungen (Koppelmann — Lewin). 191
von „Frage und Urteil" an. Diese Zusammenstellung hat ihren Grund darin,
daß nach K. „das Urteil als Ausdruck einer Erkenntnis stets als Antwort auf
eine Frage aufgefaßt werden kann,"
Als erste von drei Hauptgruppen der Urteile stellt K. die analytischen Ur-
teile heraus. Seine Auffassung dieser muß Bedenken erregen. Wenn er sagt:
„Die Fragen, nach denen die echten analytischen Urteile orientiert sind, laufen
sämtlich darauf hinaus, welche Bedeutung in der Psyche des Urteilenden mit
einem Ausdruck verbunden sei", wenn er meint, daß es sich bei den analytischen
Urteilen „um die Angabe der Bedeutung handelt, welche von dem urteilenden
Subjekt selbst mit dem betreffenden Worte verbunden wird", so wird das logisch-
objektive Problem offensichtlich ins Psychologisch-Subjektive hinübergespielt.
Auch die K.'schen „Wahrnehmungsurteile" bergen Schwierigkeiten in sich,
nämlich alle die Schwierigkeiten, die von Kants Gegenüberstellung der Wahr-
nehmungs- und Erfahrungsurteile her bekannt sind. Der Zweifel, der im vorigen
in bezug auf K.'s Unterscheidumg zwischen Sinnes- und Verstandeskategorien resp.
zwischen Wörtern für sinnlich Wahrgenommenes und Begriffen geäußert wurde,
bezieht sich naturgemäß auch auf die Unterscheidung zwischen Wahrnehmungs-
und Erkenntnisurteilen.
Diese bilden nach K. die dritte Urteilsklasse. Bei ihnen müssen die apriori-
schen (die mathematischen usw.) und die aposteriorischen (die empirischen Einzel-
urteile nebst ihren Zusammensetzungen und die empirischen Allgemeinurteile)
voneinander gesondert werden.
Im Anschluß an die soeben geschilderte Urteilseinteilung werden im sie-
benten Kapitel „Begründung und Beweis" der Urteile behandelt. Hierbei ver-
dient volle Zustimmung der Standpunkt K.'s, daß alle Urteile, selbst „die Axiome
der Euklidischen Geometrie", begründet werden können und müssen; auch wird
es vielen aus dem Herzen gesprochen sein, wenn er den syllogistischen Figuren-
kram wie noch „so manches andere in der traditionellen Logik" als bloße
„Spielerei" bezeichnet.
So fehlt es in dem auf jeden Fall beachtenswerten K.'schen Werke trotz
manchem, woran Ausstellungen vom Standpunkt wahrhaft kritischer Logik aus
unvermeidlich sind, nicht an solchem, das man freudig begrüßen kann. Zu den
bereits genannten Vorzügen im einzelnen gesellen * sich andere, die durch das
Ganze gehen. Die schon bei der Anzeige des ersten Bandes rühmend anerkannte
Weite des von K. beherrschten Gesichtsfeldes tritt in diesem zweiten Bande
beinahe noch mehr hervor; selbst die Geschichtswissenschaft, deren Ignorierung
in der Besprechung des ersten Teils mit Bedauern konstatiert wurde, ist jetzt
doch wenigstens in der vorher erwähnten Auseinandersetzung mit Rickert berück-
sichtigt worden. — Die durchgängige Klarheit und Anschaulichkeit der mit vielen
einfacheren Beispielen ausgestatteten Darlegungen ist ein weiterer Vorzug des
Buches. Seine Brauchbarkeit für den, der Fühlung mit der modernen Logik zu
gewinnen strebt, wird noch dadurch erhöht, daß bei der Erörterung verschiedener
Fragen die gegensätzlichen Antworten, die man auf sie gegeben hat, einander
gegenübergestellt werden. Überhaupt ist daran festzuhalten, daß der Wert des
Werkes mehr in der instruktiven Aufrollung und Entwicklung der Probleme liegt
als in dem Weg, den K. zu ihrer Lösung einschlägt, oder gar als in den von
ihm beigebrachten Lösungen.
Berlin- Wilmersdorf. Kurt Sternberg.
Lewin, Knrt, Privatdozent an der Universität Berlin. Die Verwandt-
schaftsbegriffe in Biologie und Physik und die Darstellung
vollständiger Stammbäume. Abhandlungen zur theoretischen Biologie,
herausgegeben von Dr. Julius Schaxel. Heft 5. Berlin , Verlag Gebr. Bornträger.
1920. 34 S.
Das Heftchen ist ein Teil einer noch zu veröffentlichenden größeren „wissen-
schaftstheoretisch vergleichenden" Arbeit. Was ihm eine mit dem geringen Um-
fang kontrastierende und, wie wir glauben, erhebliche Bedeutung für die Logik,
192 Besprechungen (Lewin).
besonders die Kategorienlehre, verleiht, ist nicht nur die Forderung einer ver-
gleichenden Wissenschaftstheorie ; dieser Gedanke ist auch anderweitig schon
ausgesprochen worden und liegt heute gewissermaßen „in der Luft". Das wesent-
liche Moment erblicken wir in der nachdrücklich vertretenen methodischen For-
derung, daß nicht ohne weiteres gleichlautende Begriffe verschiedener Wissen-
schaften wegen ihrer äußeren Aehnlichkeit als „wissenschaftstheoretisch
äquivalent" angesehen werden dürfen, sondern daß der Grundsatz der ver-
gleichenden Morphologie entsprechende Anwendung finden muß, nach dem nur
„homologe" Objekte in Parallele gezogen werden dürfen. Diese Homologie,
diese Aequivalenz ist in jedem Falle durch sorgfältige Untersuchung nachzu-
weisen. Wie diese Forderung zu verstehen ist, wird nun in sehr scharfsinniger
Weise an einer Untersuchung der Verwandtschaftsbegriffe in Physik und Biologie
dargelegt, wobei in die Physik auch die Chemie einbegriffen wird. Nur die
Grundgedanken seien kurz hervorgehoben:
In der Chemie wird als Verwandtschaft einmal die Affinität oder „Fähigkeit
zur Vereinigung", zweitens die Aehnlichkeit des Verhaltens unter verschiedenen
Bedingungen, die „Eigenschaftsähnlichkeit", bezeichnet. Ein Beispiel der 1. Art
bilden etwa Chlor und Wasserstoff, eines der 2. Art Chlor und Brom. Beide
Begriffe fallen keineswegs zusammen : Stark affine Stoffe sind sogar in der Regel
eigenschaftsunähnlich.
In der Biologie gibt es dagegen vier verschiedene Verwandtschaftsbegriffe, von
denen nur zwei wissenschaftstheoretisch den beiden chemischen äquivalent sind;
diese beiden stellen Ausprägungen der „Eigenschaftsbeziehung" dar. Organismen
gelten als verwandt, 1) „wenn sie selbst oder ihre Geschlechtsprodukte sich zur
Bildung neuer Organismen real vereinigen" können (Vereinigungsfähigkeit), und
2) wenn sie gleiche oder ähnliche Eigenschaften haben, einem gleichen oder ähn-
lichen „Typus" angehören. In einer interessanten, den Kernpunkt der gegen-
wärtigen Diskussion über den Darwinismus berührenden Untersuchung wird ge-
zeigt, daß in enger Uebereinstimmung mit der Chemie biologisch eine „Typen-
verwandtschaft" anzusetzen ist, die unabhängig von der tatsächlichen, geschicht-
lichen Entwicklung ist und systematischen Charakter hat. Bei einem so
zu fordernden „ideellen Stammbaum", der „nicht nur die zufällig entstandenen,
sondern die überhaupt möglichen Organismen umfassen" müßte, handelt es sich
also nicht darum, daß die geschichtliche Entwicklung gerade diesen bestimmten
Verlauf genommen hat, sondern in „Aequivalenz" zur „Ableitbarkeit" von Ver-
bindungen oder Elementen in der Chemie darum, daß eine ideelle begriffliche
Ableitung möglich ist. Es ergibt sich also ein „natürliches System", das mit
dem phylogenetischen nicht identisch ist oder wenigstens zu sein braucht. Ueber
seine Durchführbarkeit wird der Fortgang der Biologie entscheiden müssen.
Außer diesen beiden Begriffen finden sich in der Biologie noch andere, in
denen Verwandtschaft als „Existentialbeziehung" gefaßt wird. Für diese sind
die bei den vorgenannten Begriffen wesentlichen Gleichheiten oder Unähnlich-
keiten des Verhaltens oder der Entwicklung gleichgültig. Solche Beziehung kann
zwischen Gebilden bestehen, die entweder aus einander hervorgegangen sind oder
aber gemeinsame Vorfahren oder Nachkommen besitzen. Im letzteren Falle ist
weiter zu unterscheiden zwischen „Gattenschaft" (Connubialverwandtschaft) und
„Blutsverwandtschaft" (consanguinitas). Diesem entspricht in Physik und Chemie
keine äquivalente Beziehung. Unter einander sind sie durch verschiedene Arten
von Existentialreihen gekennzeichnet, an denen die grundlegende Verschiedenheit
von Biologie und Geschichte zu Tage tritt. Aus der Verkennung dieser Tatsache
ergibt sich die Erklärung für die Unvollkommenheit aller bisherigen Stammtafeln
und der Vorschlag einer „chronologischen Stammtafel", über deren Wert und
wissenschaftliche Zweckmäßigkeit aber nicht die Philosophie, sondern die Biologie
zu entscheiden haben wird.
Dresden. Privatdozent Dr. Walter Blumenfeld.
Besprechungen (Moog). 193
Moog, W., Privatdozent an der Univ. Greifswald, „Logik, Psychologie
und Psychologismus". Halle a. S., (Max Niemeyer) 1920. VIII + 306 S.
Der I. Teil dieses Werks ist stellenweise anders und noch unerweitert im
Archiv f. d. ges. Psychologie Bd. 37 (1918), Heft 4 erschienen, der andere Teil
ist dreimal so stark. Beide Teile gehören wie kritische mit positiven Aufstellungen
zusammen (2). Wie M. schon in einem Aufsatz der Kant-Studien (23. Jahrg. 1918,
Einheit und Zahl, S. 302 f.) als sein Hauptaugenmerk „das System als das pri-
märe, apriorische Einheitsprinzip" (136) heraustreten läßt, so ist auch das vor-
liegende Werk „wissenschaftssystematisch" gerichtet.
Der I. Teil zeigt, wie die moderne Philosophie bei der Auseinandersetzung
mit zentralen Fragen zu einer Zweiteilung versucht ist : die derjenigen entspricht,
welche alle philosophischen Strömungen den zwei Gruppen: Idealismus (Kritizis-
mus) und Realismus (Positivismus) zuordnen läßt (1) und sich im Besonderen —
namentlich seit Aufschwung des Kantianismus einer- und der Naturwissenschaft
anderseits — in der Gegenüberstellung von Logik und Psychologie bekundet (2):
so spricht Kant von psychologiefreier Logik und einer angewandten mit psycho-
logischen Prinzipien (4); so sieht sich M. insbesondere angesichts der Unter-
scheidung philosophischer von empirischer Psychologie bei Lipps und Natorp zur
wissenschaftssystematischen Frage veranlaßt: was die Glieder solcher Unter-
scheidung mehr als den Namen gemein hätten (45, 58, 245), und ob nicht das
philosophische Glied nicht nur keine eigentliche Psychologie mehr, sondern
geradezu Logik oder doch durch diese ersetzbar sei und zwar zu Gunsten um-
fassenderer Einheit (46, 59), ebenso fragt M., ob Cohen nicht aus unzulänglicher
begrifflicher Darstellung doppelt Abschluß suche (55), und betont z. B. gegen
Natorp, daß die Logik auch als Abschluß gelten kann (58), mit Aufstellung
einer „allgemeinen Psychologie" indes das Philosophische das Psychologische
verdränge (60), wie Lipps seine „Psychologie als Grundwissenschaft" zu trans-
zendentaler Logik mache (46). Umgekehrt verleite der Name Psychologie, auf
Umfassenderes übertragen, zu Psychologismus (45). Als ein Verdienst Cohens
wird erwähnt, daß sich von der transzendentalen Methode aus der Psychologismus
zu einem System der Erkenntnis außerstande zeige (53). Als Fortschritt Natorps
über Lipps hinaus wird hingestellt, daß bei Lipps die Psychologie „grundlegend"
auftrete, nicht mehr aber bei Natorp (58). Metaphysizierender Psychologismus
wird u. a. bei Husserl (34), Lipps (43, 48) und Natorp (59) konstatiert. Indem
Psychologismus mit Rehmke als metaphysisch verhüllter Dualismus gefaßt wird
(73), erscheint Rickert schon im Ansatz einer Transzendenz als in psycholo-
gistischer Selbstverwicklung befangen (63) ... ja selbst Kants Lehre von „Syn-
thesis" und Unterscheidung von „analytischen und synthetischen Urteilen", da
„Synthesis" doch irgendwie eine „innere Tätigkeit des Bewußtseins" voraus-
setze (74). Auch Wundts Heranziehung von Genetischem wird als solche für
Psychologismus erkannt (71). Immerhin läßt der I. Teil annehmen, daß sich die
moderne Logik zur Anerkennung der Durchschlagskraft des Psychologismus-
Vorwurfs durchgerungen hat (36).
Der II. Teil verwirft materiale wie formale Einteilungsgründe für Wissen-
schaften und gliedert diese teleologisch - systematisch (137, 142). „Die Wissen-
schaften ordnen sich . . . nach logischen Bestimmtheitsstufen" (143). „Wenn man
die Gegenstände" der obersten, philosophischen „Wissenschaftssphäre > ideale <
nennt, so" ist doch „ihr . . Sein . . nichts Existentiales, sondern . . der systematische
Geltungszusammenhang, in den sie eingeordnet sind" (144). Die Verbindung
/.wischen ihr und den „Einzelwissenschaften . . stellt die Mathematik her" (148),
material - systematisch : die Psychologie (236, 275). Die „Geisteswissenschaften"
erscheinen als „Subjekt - petal" (161), die „Naturwissenschaften": als „subjekt-
fugal" (162). — „Es bestehen keine primären konstitutiven Beziehungen von der
Psychologie zur Logik" (274, 154); doch kann „bei der Eruierung des einzelnen
Praktischen und Normativen die psychologische Beziehung von Nutzen sein" (277),
und damit mittelbar auch die Logik in ihrem faktischen Aufbau gefördert werden,
. . selbst experimentelle . . Denkpsychologie darf nicht als unnütz bezeichnet
Kant stndien. XXVI. 13
194 Besprechungen (Moog — Moog).
werden (allerdings wird man über den engen Bezirk wie ihn z. B. die Külpe'sche
Schule bearbeitet, hinauszukommen suchen müssen)".
Bei allem Logismus wird doch Logizismus zurückgewiesen (27, 34, 43, 52,
78, 135, 216), . . ja der Psychologismus von mancher Kritik zunächst entlastet,
um hinterher triftiger widerlegt zu werden. So zeigt sich, daß es ein zweifel-
hafter Diens't an der Logik ist, ihr mit Husserl alle Logizität zuzuweisen und
so in der Psychologie etwa nur Relativität, Anthropologismus anzutreffen; viel-
mehr wird dadurch die Verwandtschaft zwischen Logischem und Realem verkannt
(15, 53, 54). „Die Natur wäre nicht Natur, noch die Gesetzmäßigkeit der Natur
Gesetzmäßigkeit, wenn sie nicht als solche logisch wären" (203). „Nicht einmal
das Empirische könnte als Empirisches bestimmt werden, wenn es nur Empirisches
und nicht auch Logisches wäre" (260). So steht die Logik auch über den Gegen-
sätzen zwischen Subjekt und Objekt (144), Materie und Form (208), richtig und
unrichtig (226), empirisch und ideal; theoretisch und praktisch; allgemein, beson-
ders und Abstraktionstheorie (233), reflektiert und unreflektiert (266). Die Er-
kenntnistheorie wird mit Fug der Logik eingeordnet (65, 231): beachtenswert
sind hierüber insbesondere die Bemerkungen zur Abbildtheorie (81, 286). Die
logische Grundlegung ist autonom, insbesondere gegenüber den psychischen Akten
(59), da sie darin, mit Kant zu reden, nicht „entspringt", obzwar „anhebt" (258).
Zu wünschen wäre eine Untersuchung dieser Autonomie z. B. mit Rücksicht auf
Rehmkes „Grundwissenschaft" und Ziehens „Gignomenologie". — Rezensent er-
blickt unter wenigen Vorbehalten in dem Werke einen unübergehbaren Markstein
des Psychologismusstreits, und hofft, daß Forschungs- wie Darstellungsarbeit durch
denktechnische Vervollkommnung mathematisch -logischer Hilfsmittel immer ex-
akter, einstimmiger in der Richtung führt, wie sie die Worte bezeichnen: „im
Denken des Erlebbaren liegt das Ziel der Philosophie, nicht im Denken des
Erlebbaren" (59).
Stuttgart. Dr. K. F. Endriß.
Moog, W., Privatdozent an der Univ. Greifswald. Das Verhältnis der
Philosophie zu den Einzeiwissenschaf ten. Halle a. S., (Max Niemeyer)
1919. 24 S.
Im Gegensatz z. B. zu Külpe und Ostwald ist die Philosophie für M. keine
vorbereitende und von Einzelwissenschaften eng abhängige Zusammenfassung (12,
11, 15), oder Wissenschaft als ihr Objekt voraussetzende Riehl'sche „Wissen-
schaftslehre" (16), noch > kritische Ergänzung < im empiristischen Sinne Machs
(12), harmonisierende Induktion wie bei Wundt und Külpe (13, 14), oder metho-
disch veränderte Fortführung von Wirklichkeitsproblemen wie bei Rickert (17);
sondern — abgesehen von vorstufenmäßiger Weltanschauung — Wissenschaft
(23, 24). „Wissenschaft wird in ihrem Wesen nicht durch das empirische Ma-
terial bestimmt", sondern vom System aus (14). Diesen Wesenszug hat die Philo-
sophie sonach nicht voraus ; auch besteht ebendeswegen kein methodischer Unter-
schied, wie ihn Rickert auf Wert- und Sinnprobleme stützt, denn metaphysische
Probleme „sind in gleicher Weise Erkenntnisprobleme" (17). Obwohl M., Rickert
und Boutroux z. B. in Vergleich ziehend, bei Husserl Philosophie > als strenge
Wissenschaft < unterstrichen sieht; bezweifelter doch auch die „Hinlänglichkeit"
phänomenologischer Methode (24). — „Philosophie braucht die Beziehung zum
Leben nicht zu lockern" (24). Die geschichtliche Entfaltung der Philosophie
kommt übersichtlich und lebendig zur Darstellung (6 — 20), was die Schrift —
zumal mannigfache Beziehungen zu Einzelberufen betont werden — für Seminar-
zwecke empfehlen dürfte. „Noch weiß z. B. der Jurist vielfach nicht, wie sehr
seine Wissenschaft nicht nur auf philosophischen Grundlagen ruht, sondern auch
. . philosophischer Erkenntnis bedarf": „bei der Gesetzesauslegung und Urteils-
formulierung ist . . oft spezielle logisch- wissenschaftliche Erkenntnis nötig" (21).
Mit Fug wird hervorgehoben, daß die Philosophie . . insbesondere die Mathe-
matische Logik nicht auf mathematischen Voraussetzungen beruhen kann, sondern
die Mathematik philosophische Grundlagen benötigt (19). „Die Einzelwissen-
Besprechungen (Moog — Phalen). 195
■Schäften können aus inneren, objektiven Gründen nicht für sich dastehen" (15). —
„Einzelnes und Allgemeines sind relativ, die Philosophie aber geht auf das letzte
Allgemeine" (16), und „diese Beziehung ist in ihrer reinsten Form die logisch
ableitende der allgemeinen Logik" (17). „Eine Begründung . . kann das Einzelne
nur durch Allgemeines empfangen", durch die „Idee der Erkenntnis", „das logische
Prius vor den Einzelwissenschaften" (15). „Eine solche allgemeine Wissenschafts-
lehre muß Logik und Methodologie der Wissenschaftlichkeit überhaupt sein,
. . die Prinzipien aller Erkenntnis enthalten . ." und zwar nicht bloß formal, wie
z. B. Zeller die Methodologie von inhaltlichen Voraussetzungen trennen will (16).
— Bequeme Lesbarkeit macht die Schrift zu einem geeigneten Uebergang auf
M.'s schwierigeres Werk „Logik, Psychologie und Psychologismus."
Stuttgart. Dr. K. F. Endriß.
Phalen, Adolf, Professor an der Universität Uppsala, Das Erkenntnis-
problem in Hegels Philosophie, Inaugural-Dissertation. Uppsala 1912.
Akad. Buchdruckerei. 458 S. Preis zur Zeit 8,25 schwed. Kronen.
Wenn der Weg von Kant über Fichte zu Hegel der Ausdruck einer mit
immanenter logischer Notwendigkeit fortschreitenden Entwicklung der Kantischen
Lehre ist (siehe : Liebert, Wie ist krit. Philosophie überhaupt möglich ? S. 33),
dann könnte es sein, daß auch die heutige deutsche Philosophie, fünfzig Jahre
nach dem „Zurück zu Kant", wieder nahe bei Hegel steht. Darum muß die Ab-
sicht zeitgemäß sein, den Nerv dieses Fortgangs von Kant zu Hegel herauszu-
präparieren, zumal wenn sie sich mit dem Gedanken verbindet, diesen ganzen
Prozeß zwar als in sich konsequent, seine Voraussetzungen aber als verfehlt
nachzuweisen. Diesen Versuch hat der schwedische Forscher in vorliegendem
geistvollen Werk gemacht, welches in der Hegelforschung u. E. einen Höhepunkt
darstellt 1).
Phalen erbringt zuerst einen Beweis (S. 15 — 136) für seine Grundannahme,
daß das Hauptproblem Hegels das erkenntnistheoretische ist, daß alle wichtigeren
Begriffe bei Hegel erkenntnistheoretisch charakterisiert sind und daß sein Ge-
dankengang nur die konsequente Entwicklung der Voraussetzungen ist, die von
vornherein im Erkenntnisproblem, wie dieses schon Kant gestellt hat, liegen.
Dieses Problem wird (S. 7) als „die Frage nach der Möglichkeit für das Subjekt,
seine Uebereinstimmung mit etwas von ihm unabhängigem Objektiven zu wissen"
formuliert, und es werden sowohl die Kantische (Wie kann Erkenntnis objektive
Gültigkeit haben?) als auch die Hegel'sche (Wie ist Erkenntnis des „Dinges an
sich" möglich?) Fassung desselben auf obigen allgemeinen Ausdruck reduziert.
Phale'n ermittelt aus den Bedingungen des Problems, daß von diesem bei Hegel
verschiedene Auffassungen vorliegen müssen : eine, die das Problem nur als „pro-
pädeutisch", eine andere, die es als „der Wissenschaft angehörig" faßt. Zugleich
wird klar, daß die ganze Methode Hegels — als eine solche der „Subjekt- Objek-
tivität" — eben eine Methode nur zur Lösung dss Erkenntnisproblems sein kann,
wie auch, daß für Hegel selbst sein Hauptproblem notgedrungen sowohl das er-
kenntnistheoretische ist als auch nicht ist. Da es nun Phale'n auch gelingt, den
Erkenntnisgegensatz als in den wichtigsten Trilogien der Hegel'schen Logik
hervortretend nachzuweisen (S. 184—227), so kann er nun von seiner Grund-
annahme aus eine wirkliche Erklärung des ganzen Systems versuchen (S. 293—389),
welche die Hegel'sche Philosophie nicht einfach als Nest von Widersprüchen und
Hegel selbst als „logisch Schwachsinnigen" behandelt, sondern die inneren Motive
bloßlegt, welche genau zu der dialektischen Entwicklung führen mußten, die Hegel
nur furchtlos und folgerichtig durchgeführt hat. Alle die ständig wiederkehrenden
Doppelgedanken und Zweideutigkeiten, welche die Verzweiflung aller Kommen-
tatoren bilden und denen gegenüber die Kritik sich bisher darauf beschränkt hat,
sie einfach zu konstatieren, enthüllen sich in Phalön's Interpretation als voll-
1) Insbesondere seien die Bearbeiter der Hegelpreisaufgabe auf das Buch
hingewiesen.
13*
196 Besprechungen (Phaldn — Rauschenberger).
kommen konsequent, indem nämlich gezeigt wird, wie man mit Hegel' s Voraus-
setzungen nicht, ohne sich zu widersprechen, seine Entwicklungen leugnen kann
(S. 241). Als die letzte Quelle des Irrtums in diesem ganzen Fortgang erscheint
der Subjektivismus in Form einer letzten Annahme, „daß das Subjekt nur sich
selbst auflassen kann" (S. 335). Das Erkenntnisproblem aber hat eben von vorn-
herein eine solche Struktur — basierend auf dieser letzten Annahme — , daß ein
jeder, der es sich stellt und in seiner Behandlung desselben nicht von allem An-
fang an. zur Einsicht in die Unmöglichkeit der Voraussetzungen gelangt, aus
denen überhaupt das Problem hervorgeht, den ganzen Gedankengang, welcher
schließlich zur Dialektik führt, annehmen muß und ihn nicht, ohne mit sich in
Widerspruch zu geraten, leugnen kann. Wje man sieht, ist Phalen's Behauptung
ziemlich weitgehend und sehr geeignet, dem gegenwärtigen Gang der Philosophie
zu Hegel hin Schwierigkeiten zu machen; erscheint doch der ganze Kantische
Standpunkt mitbetroffen (S. 250—262). Von hier aus zeigt sich auch erst der
Untertitel, den Phalen seinem Buche gibt : „Die Erkenntniskritik als Metaphysik"
im richtigen Licht. Sowohl in der Kantischen Fassung des Erkenntnisproblems
in der Analytik (Wie können subjektive Bedingungen des Denkens objektive
Gültigkeit haben?), wie auch in den verschiedenen Fassungen der Neukantianer
soll nach Phalen implicit ausgesprochen sein, daß die Einheit des Bewußtseins
schließlich eins sein soll mit der des Objekts und umgekehrt, soll eine Erklärung
liegen, wie etwas von dem Bewußtsein Unabhängiges möglich ist oder bewußt
werden kann. Daraus ergibt sich: „Soll das Objekt aus dem Subjekt erklärt
werden, so setzt man voraus, daß es ein Problem ist, wie es überhaupt etwas
von dem Bewußtsein Unabhängiges geben kann. Dies ist aber nur dann ein
Problem, wenn man meint, daß das, was aufgefaßt wird, eben von dem Bewußt-
sein abhängig ist". Das Problem, das Kant durch seine Analyse lösen will, läuft
dann, wie Phale'n meint, auf die, nur vom Standpunkt des Subjektivismus aus
sinnvolle Frage hinaus, wie die Auffassung des vom Subjekt Unabhängigen möglich
ist, mit anderen Worten: auf die Forderung, mit Hilfe einer konstruierenden
Methode (S. 393) aus dem Subjekt das Objekt und damit den ganzen Inhalt der
Erkenntnis herzuleiten (S. 349). Kant freilich hat diese extremen Folgerungen
niemals gezogen. Hegel aber führten sie zu seiner Methode der „Subjekt-Objek-
tivität" mit allen dialektischen Konsequenzen. Es liegt also schon auf dem
transzendentalphilosophischen Standpunkt, insofern dieser vom Subjekt als dem
einzig Unmittelbar gegebenen, dem Einzigen, das unabhängig von anderen (S. 292)
aufgefaßt werden kann, ausgeht, die innere Notwendigkeit vor, daß das erkenntnis-
theoretische Problem Kant's in das metaphysisch-kosmologische Fichte's, Schelling's
und Hegel's umschlägt.
Es ist unmöglich, von dem reichen philosophischen Inhalt dieses Buches,
welches in den letzten Kapiteln auch den persönlichen Entwicklungsgang Hegels
und ebenso die ganze Hegelliteratur in die Betrachtung einbezieht, in kurzen
Worten einen Begriff zu geben. Der Verfasser hofft, binnen kurzem auf die
Philosophie Phalen's näher eingehen zu können. Jedenfalls wäre es sehr zu
wünschen, daß dieses, an deutscher Philosophie genährte Werk des ausländischen
Verfassers auch in Deutschland die gebührende Beachtung fände.
Innermanzing, Niederösterreich. Franz Kröner.
Rauschenberger, Walter, Dr. jur., Der kritische Idealismus und
seine Widerlegung. Quelle und Meyer, Leipzig, 1918. 108 Seiten.
Der kritische oder transzendentale Idealismus erfährt eine immer stärker
werdende Opposition. Das Buch von Dr. Walter Rauschenberger „Der kritische
Idealismus und seine Widerlegung" steht fast ganz auf dem Boden des transzen-
dentalen Realismus, diesem bis vor kurzem noch so wenig beachteten Standpunkt
E. v. Hartmann's«, und versucht, von dieser Ebene aus Sturm zu laufen gegen das
starke Bollwerk des Kant'schen Standpunktes, der bis jetzt vielen noch als un-
bezwinglich galt.
Zunächst sucht der Verf. die von Kant festgehaltene Idealität der Zeit als
Besprechungen (Rauschenberger). 197
aus einseitiger Beweisführung herrührend nachzuweisen. Auch ihm ist eine
unzeitliche Tätigkeit ein Widerspruch in sich. Kant hat sich aber schon damals
dem Urteil „einsehender Männer", die im Wechsel unserer eigenen Vorstellungen,
also in der Veränderung etwas wirkliches erblickten, verschlossen und ist bei
seiner Behauptung, daß das Bewußtsein die Zeit aus sich erzeuge, geblieben.
Danach könnte es keine Zeiträume geben, in denen keine Subjekte des Erkennens
vorhanden sind. Unsere Auffassung vergangener Zeiten gehöre bereits zur phä-
nomenalen Betrachtungsweise. Aber wenn man diesen Phänomenalismus weiter
denkt, so kommt man zu dem Ergebnis, daß subjektlose Zeiten niemals existiert
haben können. Die ganze mathematische Naturwissenschaft würde zusammen-
stürzen, wenn man diese Konsequenz ernst nimmt.
Rauschenberger gibt selbstverständlich zu, daß unser Bewußtsein das einzige
absolut gewisse sei und bleibe, daß wir uns aber das Tor zu den feinsten Er-
kenntnissen verschließen würden, wenn wir auf dieser engen Erfahrungsbasis
•stehen blieben, „wenn das positivistische Erkenntnisprinzip der Weisheit letzter
Schluß wäre". Um nicht vollständig in Skeptizismus zu versinken, bedarf es der
Anerkennung der Wahrscheinlichkeit neben der Gewißheit, und die „Ethik der
Erkenntnis" legt uns die Verpflichtung auf, den Umfang unserer Erkenntnis nach
allen Seiten zu erweitern, um zu positiven, aufbauenden Resultaten zu gelangen,
selbst auf die Gefahr hin, daß diese nicht den Anspruch auf apodiktische Ge-
wisheit erheben können. Eine Wahrscheinlichkeit, die der Gewißheit nahe kommt,
ist von ebenso großem Werte wie die Gewißheit selbst, die ja nur in den aller-
seltensten Fällen, wenn überhaupt, gewährleistet wird: wir handeln und leben
nur auf Wahrscheinlichkeiten hin, die wir aber vorläufig als . Gewißheiten be-
handeln wie z. B. die Meinung, daß wir am nächsten Tage noch am Leben sein
werden. Hartmann war wohl der erste Denker, der den Anspruch der Geltung der
Wahrscheinlichkeit auf philosophischem Gebiet erhob, damit allen Anfeindungen
der Positivisten und Idealisten, die nur in der apodiktischen Gewißheit die Ehre
der Wissenschaft gewahrt sehen, einen festen Schild entgegenstreckend. Ich be-
grüße es mit Freuden, daß jetzt von allen Seiten sich die Stimmen mehren, die
auch hier auf seine Seite treten.
Wir können, so meint Rauschenberger, uns vielleicht noch die ganze ma-
terielle Welt als unser eigenes Vorstellungserzeugnis vorstellen, nicht aber die
Bewußtseinsvorgänge anderer Subjekte, die nur als etwas durchaus von uns ver-
schiedenes, in das wir keine Einsicht haben, erscheinen, worüber uns auch das
Prinzip der Phänomenalität nicht hinweghilft. Die Kategorien Kants haben alle
eine Beziehung zur Zeit, sind also auch nicht ideal, da die Zeit nicht ideal ist.
Alle Bestimmungen der Dinge an sich sind nicht nur an das Subjekt geknüpft,
sondern haben auch transzendentale Gültigkeit. Wäre es anders, wäre das Sein
der Dinge raumlos und zeitlos, gäbe es dort weder Einheit noch Vielheit, weder
Kausalität noch Substanz, so hätte es allerdings nichts mehr mit uns gemein.
R. ist aber garnicht der Ansicht, daß Kant das Ding an sich als eine bloße
Idee betrachtet habe ; Kant hat im Streit gegen Fichte diese Auffassung mit
vollem Bewußtsein zurückgewiesen und sagt in der Kritik d. r. Vernunft, daß es
ungereimt sei, von Erscheinung zu reden, ohne die Existenz eines Dinges anzu-
nehmen, das da erscheint. Auch Hartmann rechnet Kant zu den Vorgängern
seines transzendentalen Realismus; von Kant stammt sogar diese Bezeichnung.
Kant nimmt für die körperlichen Dinge an sich, die er allerdings nur dem Daß
nach für erkennbar hält, während bei den Geistern auch das Was erkennbar sei,
transzendente Kausalität an , damit ist aber schon der reine Idealismus auf-
gegeben.
Den reinen Logikern gegenüber betont R. das von der Marburger Schule
so streng verpönte psychologische Moment bei Kant. Das Subjekt ist eine psy-
chische Realität, die Behauptung Kants, daß Raum und Zeit Anschauungsformen
des Subjekts seien, ist ein psychologischer Gesichtspunkt; die Vermischung der
psychischen und logischen Betrachtungsweise ist Psychologismus, ebenso die Ab-
rückung des Dinges au sich von allen humanen Denkformen, die damit also rein
auf das psychische Gebiet verwiesen werden.
198 Besprechungen (Rauschenberger — Schneider).
Es wird sich jetzt nur noch ein Streit zwischen Unterarten des transzen-
dentalen Realismus abspielen können, aber die Existenz der Dinge an sich und
ihre realen Beziehungen zum Bewußtsein werden nicht mehr geleugnet werden
können. Damit "aber ist der kritische oder transzendale Idealismus in der Wurzel
gebrochen.
Berlin. Alma von Hartmann.
Schneider, Ilse, Dr., Das Raum-Zeit-Problem bei Kant und
Einstein. Berlin, Julius Springer 1921. 75 S. 12 Mk.
Von den nun schon ziemlich zahlreichen Untersuchungen über das Verhältnis
der Kant'schen Philosophie zur Relativitätstheorie unterscheidet sich die kleine
mit großer Klarheit und Sachkenntnis geschriebene Schrift dadurch, daß sie den
historischen Kant mit dem lebendigen Einstein vergleicht und nicht dem einen
zu Liebe aus dem andern einen Popanz macht. Nach einer kurzen Wiedergabe
der Raum-Zeit-Lehre Newtons werden Kants Anschauungen über Raum, Zeit und
Bewegung dargestellt, und zwar nicht nur, wie es gewöhnlich geschieht, nach der
„Kr. d. r. V.", sondern auch nach den vorkantischen Schriften und vor allem
nach den „metaphysischen Anfangsgründen". In der sehr prägnanten Darstellung
der Einstein'schen Theorie ist ein Punkt gebührend hervorgehoben, der meist
beim Uebergang von der speziellen zur verallgemeinerten Theorie nicht genügend
klargestellt wird, nämlich, daß die Eigenzeitdifferenz in benachbarten Weltpunkten
nach der allgemeinen Theorie genau in derselben Weise mit Maßstäben und
Uhren meßbar ist wie. in der speziellen Theorie (S. 46 f.).
Für den Vergleich der Kant'schen und der Einstein'schen Raum-Zeit-Lehre
sind zwei Probleme von entscheidender Bedeutung; 1) Das der absoluten Be-
wegung und des absoluten Raumes, 2) das der Geltung der euklidischen Geo-
metrie. Die Verf. legt allen Nachdruck darauf, daß Kant's „absoluter Raum4*
von dem Newton'schen wesentlich verschieden ist und nur dieser, nicht jener
durch die Relativitätstheorie eliminiert wird. Das trifft gewiß zu, wenn wir uns
an die Erklärung der „Phänomenologie" halten: „Der absolute Raum ist also an
sich nichts und gar kein Objekt, sondern bedeutet nur einen jeden anderen rela-
tiven Raum, den ich mir außer dem gegebenen jederzeit denken kann." Wenn
aber Kant trotz der Leugnung des absoluten Raumes als einer empirisch auf-
weisbaren oder an irgend welchen Wirkungen erkennbaren Realität die durch
Zentrifugalkräfte ausgezeichnete Kreisbewegung zwar nicht als „absolute" von
der „relativen", aber doch als „wirkliche" von der „scheinbaren" Bewegung
unterscheidet, so scheint es mir doch etwas zu viel gesagt, daß er sich „über
diesen Punkt vollkommen klar gewesen" ist (S. 13). Es ist doch gewiß nicht
bedeutungslos, daß Kant an einer Stelle, die die Verf. als entschiedene Ablehnung
der absoluten Bewegung anführt, wo der absolute Raum „kein Gegenstand der
Erfahrung und überall nichts" genannt wird, nicht die Bewegung überhaupt,
sondern „die geradlinigte Bewegung ohne Beziehung auf irgend etwas Em-
pirisches, das ist absolute Bewegung" für „schlechterdings unmöglich" erklärt.
Das Paradoxe in Newton's Deutung der Trägheitskräfte sah Kant freilich, und
wäre gewiß nicht damit einverstanden gewesen, wenn man nun, nachdem die
Auflösung dieses Paradoxons der Physik gelungen ist, philosophische Einwendungen
zu Gunsten der „absoluten" Bewegung mit seiner Autorität decken will.
So bemerkenswert die Stellen aus den vorkritischen Schriften sind (S. 69 f.),
in denen Kant von der Möglichkeit spricht, daß die geometrischen Gesetze,
speziell die Dimensionenzahl, von physikalischen Gesetzmäßigkeiten abhängen
könnten, so ist doch die Annahme der apriorischen Geltung der geometrischen
Axiome für die empirische Welt, die der transzendentalen Aesthetik zu Grunde
liegt und durch sie erklärt werden soll, grundsätzlich verschieden von Einstein's
Auffassung, wonach die Geometrie nur so weit a priori gewiß ist, als sie nicht
von wirklichen Körpern handelt, und, soweit sie von wirklichen Körpern handelt,
nur die Wahrscheinlichkeit aller Erfahrungserkenntnis beanspruchen kann. Doch
betont die Verf. (S. 67/68) mit Recht, daß die unbedingte Geltung der euklidischen
Besprechungen (Schneider — Stapel — Thalheimer). 199
Axiome als synthetischer Sätze a priori nicht das Fundament ist, auf dem das
ganze System ruht und mit dem es steht und fällt (wie es nach der Darstellung
der „Prolegomena" scheinen könnte). Freilich bricht noch ein zweiter Pfeiler
zusammen, wenn die Schwierigkeit der 1. Autonomie, die durch den kritischen
Idealismus überwunden werden sollte, in Einstein's kosmologischer Hypothese, die
in zwei Schlußabschnitten einleuchtend auseinandergesetzt wird, ihre Lösung
findet. Das Endergebnis der Untersuchung stimmt mit dem Cassirer's überein,
(dessen Buch über die Kelativitätstheorie erst nach Abschluß der Arbeit er-
schienen ist) : Es gibt keinen unlösbaren Widerspruch zwischen Kantischer Philo-
sophie und Relativitätstheorie. Wie immer man sich zu dieser Frage stellen
möge, man wird in der gründlichen und klaren Schrift einen wertvollen Beitrag
zu ihrer Lösung sehen müssen.
Charlottenburg. Dr. Josef Winternitz.
Stapel, Wilhelm, Dr., Eants Kritik der reinen Vernunft ins
Gemeindeutsche übersetzt, 1. Band (Die Vorreden von 1781 und 1787
und die Lehre von Raum und Zeit [transzendentale Aesthetik]). Verlag des
Deutschen Volkstums. Hamburg 1919. 190 S. geh. 7 Mk., geb. 9 Mk.
Diese „Uebersetzung" Kants bekennt selbst, daß sie nicht der Wissenschaft,
sondern Kant und unseren Gebildeten dienen will. In ihr steckt eine tiefe Liebe
zu Kant und ein energischer Wille, ihn denen nahezubringen, die zwar nicht
seinen Stil, wohl aber seine Gedanken zu verstehen imstande sind. Immerhin
hat eine solche „Uebersetzung" ihre Gefahren. Kant ist nämlich gar kein un-
deutlicher Schriftsteller, seine Gedanken sind deutlich in seinen Sätzen nieder-
gelegt; wenn man sich die Mühe gibt, ihn zu verstehen, gibt es im ganzen Kant
kaum einen Satz, der nicht einen eindeutigen Gedanken enthielte. Unklar ist
höchstens die Form der Sätze, ihre Gliederung in sich. Eine „Uebersetzung"
(wenn man überhaupt dies verwegene Wort gelten lassen will) dürfte sich also
höchstens an die Form und Gliederung der Sätze wagen, um ihr allzuverstricktes
Ineinander für den ungeschulten Blick übersehbar auszubreiten. Stapel aber
ändert nicht bloß die Form der Sätze, sondern kommentiert auch die Ge-
danken, indem er neue eigene Sätze einschiebt, die notwendigerweise nicht mehr
als Uebersetzung Kants, sondern nur als subjektive Erläuterung seiner Gedanken
gelten können. So ist der S. 15 — 17 der Stapeischen Schrift reichende Absatz
nichts als eine populäre und die feinsten Kantischen Gedanken durchaus ver-
einseitigende und verflachende Darstellung, die zwar einen Teil dessen ungefähr
richtig wiedergibt, was Kant gemeint hat, aber gerade dem Differenzierten und
dem Logik und Psychologie hier noch ungetrennt umfassenden Stand-
punkte des Denkers nicht gerecht wird. Es heißt aber nicht, Kant übersetzen,
wenn man all die Schwierigkeiten und logischen Tiefen, die doch keine logischen
Undeutlichkeiten sind, verneint zu Gunsten einer zwar sehr leicht verständlichen
aber einseitigen Betrachtung.
Charlottenburg. HellmuthFalkenfeld.
Thalheimer, Alvin, The Meaning of the Terms 'Existence' and
'Reality'. A Dissertation submitted to the Board of University Studies of the
John Hopkins University. Baltimore 1918. 116 S.
Der Verfasser begründet die Notwendigkeit einer Definition des Begriffes
„Existenz" (der Ausdruck „Realität" wird synonym gebraucht) damit, daß dieses
Wort im Laufe der philosophischen Entwicklung in den verschiedensten Bedeu-
tungen gebraucht worden sei. Im Anschluß an F. Brentano erklärt er die
meisten Urteile als Aussagen von Existenz, die sonach gar keinen bestimmten
Sinn hätten, solange wir diesen Begriff nicht präzisierten. Der Bedeutungswandel
soll durch einen historischen Ueberblick nachgewiesen werden, der zeigt, wie bald
das Dauernde, bald das sinnlich Wahrnehmbare, bald das, was in Beziehungen
steht, einem geordneten Zusammenhang angehört, als das allein Existierende an-
200 Besprechungen (Thalheimer — Wertheimer).
gesehen wurde. Mir scheint aber dadurch nicht erwiesen, daß man das Verschiedene,
das man für wirklich hält, auch in verschiedenem Sinne für wirklich halten
müsse. Thalheimers Kritik beschränkt sich darauf, die Unbestimmtheit des Exi-
stenz-Begriffes in allen diesen Anwendungen hervorzuheben. Die eigentliche
Schwierigkeit aber sieht er in dem Problem des ontologischen Beweises. Er
meint, man dürfe Existenz nicht durch irgendwelche Qualitäten A, ß, C definieren,
weil wir sonst irgend einen Begriff mit diesen Merkmalen ausgestattet denken
und so das Reich des Existierenden beliebig vermehren könnten. Bestände diese
Schwierigkeit, so ließe sie sich durch keine Definition von Existenz wegschaffen
— können wir doch den Begriff' eines „existierenden Zentauren" bilden, wie immer
Existenz definiert sein möge — , sie besteht aber gar nicht, wie wir seit Kant's
Kritik wissen. Daß ein existierender Zentaur existiert, d. h. daß ein Zentaur
existiert, wenn er existiert, ist eine analytische Wahrheit, aber ob ein solcher
existierender Zentaur existiert, darüber läßt sich aus dem Begriff des „exi-
stierenden Zentauren" so wenig entnehmen wie aus dem Begriff des Zentauren
selbst, von dem er gar nicht verschieden ist. Th. aber glaubt, daß hier nur die
Bezugnahme auf das Moment des Glaubens hilft, und gelangt so zu folgender
sonderbaren Definition. Zur Existenz gehört 1) eine bestimmte Stelle in Zeit
und Raum; 2) unter den Subjekten, welche das Ding zum Gegenstand des Be-
wußtseins haben, muß es mehr geben, welche daran glauben, als welche nicht
daran glauben. Damit glaubt er aber noch nicht die Schwierigkeit des „wirk-
lichen Zentauren" vermieden und fügt hinzu 3) i c h muß daran glauben ! Durch
die Bestimmug 2) soll der Protagoräische Subjektivismus vermieden werden. Zum
Schluß wird betont, daß es von unserem Belieben abhängt, wie wir Existenz ^de-
finieren, daß wir also in diesem Sinne die Wirklichkeit nach unserem Belieben
bevölkern können und daß die Entscheidung der Hauptfragen der Philosophie
Realismus oder Idealismus, Existenz des Dings an sich usw. von dieser willkürlich
zu wählenden Definition abhängt. Es wird sich also empfehlen, die Definition
des Verf. anzunehmen, da sich dann die größten Welträtsel durch einen einfachen
Glaubensakt und ein Referendum mit absoluter Majorität entscheiden lassen.
Charlottenburg. Dr. Josef Winternitz.
Wertheimer, Max, Privatdozent a. d. Universität Berlin, Ueber Schluß-
prozesse im produktiven Denken. Vereinigung wissenschaftlicher Ver-
leger, Berlin u. Leipzig 1920. 22 S. Preis 3,60 Mk.
Als Anmerkungen zum modus barbara bezeichnet W. seine Abhandlung, die
als Festgabe zu Stumpfs 70. Geburtstag gedacht ist. Er zeigt, daß die Schlüsse
dieses modus, die die Schullogik mit dem unsterblichen Beispiel vom sterblichen
Cajus in den Ruf großer Banalität gebracht hat, im praktischen und wissenschaft-
lichen Denken häufig einen erheblichen Fortschritt der Erkenntnis in sich bergen,
und untersucht die Bedingungen, unter denen dieser Fall eintritt, wo also eine
petitio principii garnicht bewußt wird oder werden kann. Besonders einfach ist
die Sachlage, wenn im Obersatz keine „Erkenntnis" sondern eine (mehr oder we-
niger willkürliche) „Bestimmung" (Gesetz, Verordnung, Nominaldefinition) auftritt.
Der Obersatz gilt allgemein, ohne daß die conclusio konstatiert ist. Insofern
bedeutet ihr Vollzug einen Fortschritt im Denken. In der Rechtswissenschaft,
besonders in der Urteilsfindung, tritt diese Form normal auf. Etwas anders liegt
der Fall häufig im geschichtlichen Denken. Es komme etwa den Mitgliedern
einer bestimmten Gruppe ein bestimmtes Merkmal o. dgl. zu. Auf Grund einer
bis dahin unbekannten Quelle erweist sich plötzlich S als zu dieser Gruppe gehörig.
Demzufolge rückt seine Handlungsweise, sein Charakter urplötzlich in völlig andere
Beleuchtung, es entsteht eine „Umzentrierung" des geschichtlichen Bildes. Gerade
diese Umzentrierung, dies „Einschnappen" ist offenbar psychologisch sehr inter-
essant und häufig scharf zu beobachten. W. zeigt es an einer ganzen Reihe auch
mathematischer Beispiele, die sehr geschickt ausgewählt sind. Geometrische Fi-
guren, algebraische Ausdrücke werden durch einen „Kunstgriff" in einer von der
Norm abweichenden Weise aufgefaßt : der Kreis als Polygon mit unendlich vielen
Besprechungen (Wertheimer — Uexküll). 201
Seiten, eine unendliche Reihe als Summe oder Differenz zweier bekannter Reihen,
auf die dann bekannte Obersätze Anwendung finden. Die so erfolgende Umzen-
trierung ist aber offenbar nicht beliebig, sondern steht bereits unter ganz be-
stimmten Gesichtspunkten, durch die der Gegenstand in seiner Struktur ver-
ändert erscheint, u. zw. derart, daß sich nun wissenschaftlich fruchtbare Aufschlüsse
über diese Struktur gewinnen lassen. In der Herstellung solcher „sinnvoll gefor-
derter Brücken" liegt der Wert des Mittelbegriffs für das produktive Denken;
sie sind oft bereits durch die richtige Fragestellung bezeichnet, die damit
ihre theoretische Würdigung erfährt.
Die Abhandlung ist in einem von der üblichen trockenen Darstellung solcher
Probleme auffallend abweichenden, fast feuilletonistischen Stil geschrieben, der
«die Lektüre sehr anziehend und anregend macht. Wer nicht nur auf die „Geltungs-
logik" eingeschworen ist, die der Verf. witzig als eine „Logik für den lieben
Gott" bezeichnet, wird an dem geistvollen Schriftchen seine Freude haben.
Dresden. Privatdozent Dr. Walter Blumenfeld.
Uexküll, J. von, Theoretische Biologie. Berlin, Gebr. Paetel, 1920,
260 Seiten, Preis geh. 20 Mk., geb. 27 Mk.
Ein neues Buch Uexkülls erinnert mich jedesmal an das Wort des alten
Schieiden, daß die Botanik die Lehre von den Pflanzen und nicht die Lehre
von den Büchern über die Pflanzen sei. Uexküll ist „originell", und zwar im
wahrsten Sinne des Wortes und nicht nur so obenhin und unbestimmt gemeint:
er geht stets von der origo, vom Ursprung alles Naturwissens aus, nämlich vom
Gegenstand, dem er sich schlicht schauend hingibt; nicht gibt es für ihn
Schulen, Lehrmeinungen, Dogmen. Daher hat er uns immer etwas Bedeutsames
zu sagen und wirkt befruchtend auch da, wo man ihm vielleicht nicht folgen kann.
Sein neues Werk ist wieder so recht eines „ab origine". Versuchen wir,
seinen wesentlichen Inhalt, mit einigen kritischen Bemerkungen untermischt, kurz
darzustellen.
Uexküll will auf Kantischem Boden stehen. Er faßt Kant aber durch-
aus psychologisch und streng subjektivistisch, was er unseres Erachtens für seine
biologischen Zwecke allerdings darf, denn man kann Kant auch so fassen. In
den drei ersten Abschnitten wird von Raum, Zeit und Inhaltsqualitäten
gehandelt. Raumesdata sind uns die durch Haut und Auge vermittelten Lokal-
zeichen und die durch Muskelempfindungen (besser: Gelenkempfindungen?)
vermittelten Richtungszeichen, von denen stets zwei einem Lokalzeichen
zugeordnet sind, welche aber auch ohne Beziehung auf diese gegeben sein können.
Es ergibt sich weiter die Richtungsebene und der Raum als Gesetz.
Das Atom ist Lokalzeichen und Sinnesqualität; er nennt es materialen Punkt.
Die Möglichkeit anderer subjektiver Räume für Tiere wird zugegeben; vielleicht
haben sie weniger als drei Richtungsebenen. Den Raumeszeichen schließen sich
die Momentzeichen an; alle diese Zeichen zusammen geben die Ordnungs-
qualitäten. Der Reichtum eines Weltbildes, hängt ab von der Zahl der inhalt-
lich bewußt erlebten „Zeichen" aller Art. Bedeutsam für alles folgende ist der
Begriff der Melodie im weitesten Sinne als der gesetzlichen Reihe der Richtungs-
zeichen , und derjenigen der Symphonie als ihrer gesetzlichen Gemeinsam-
keit.
Für die Biologie gibt es so viele Welten wie es Subjekte gibt.
Merkzeichen ist eine eben als solche unterscheidbare Inhaltsqualität,
am Dinge entspricht ihr das Merkmal. Jede fremde Umwelt baut sich für uns
aus unseren Merkzeichen auf, da andere Merkzeichen uns ja nicht zugänglich
sind. Merk weit ist die Summe alier einem Tiere zugänglichen Merkzeichen
des Beobachters, Wirkungswelt die Summe der Merkmale (des Beobachters),
auf die es wirken kann. Nicht alles, was für uns Merkmalsträger ist, ist das für
das Tier.
Ich kann also nur von einer Umwelt, aber nicht von einer „Erscheinungs-
welt" des Tieres reden, da ich seine Qualitäten nicht kenne; denn, wie gesagt,
202 Besprechungen (Uexküll).
ich kenne ja nicht des Tieres Merkzeichen, sondern kann nur wissen, welche von
meinen Merkmalen in seiner Umwelt eine Rolle spielen.
Abschnitt 4 handelt von „Gegenstand und Lebewesen". Der qualitätslose
Atomismus wird abgelehnt (vgl. oben die Definition des Atoms), „sekundäre" und
„primäre" Qualitäten sind von gleichem Range. Große Bedeutung wird Kants
Lehre vom „Schematismus", in psychologischer Formung, beigelegt; es gibt nach
U. auch Raumschemata. Das antizipierte Schema ist Voraussetzung der "Wahr-
nehmung un-d der Handlung. Falsche Schemata, welche falsche „Melodien" zur
Folge haben, spielen oft, z. B. in der Dämmerung eine Rolle. (Hier sehr viel
gutes Einzelne.)
Gegenstände sollen solche „Objekte" heißen, deren Bauart durch bloße
Kausalität nicht verständlich wird, also z. B. „Gebrauchsgegenstände". Die
Leistungen der letzteren nun sind bloße „Gegenleistungen", kennen wir doch ihre
Hauptfunktion und können sie auf Grund dieser einteilen. Anders bei den Lebe-
wesen als „Gegenständen". Hier kann nicht nach der Funktion, sondern muß
auf Grund der Morphologie eingeteilt werden; diese aber ist rätselhaft und
nicht aus der Analogie zu technischen Gegenständen herzuleiten. Funktional
ist im Lebendigen alles gleich vollkommen, aber der Mannigfaltigkeit nach
gibt es doch „höhere" und „niedere" Formen. Die Funktionen müssen analysiert
werden; aber darum ist nicht ein Tier ein Reflexbündel; übermaschinelle
Fähigkeiten kommen dazu. Das Protoplasma setzt hier ein ; es macht maschi-
nelle Apparate und löst sie auf (Pseudopodien der Amoebe, Verdauungsapparat,
der Infusorien). Alles ist Epigenese.
Der Physiologe untersucht die Zwangsläufigkeit, der Biologe die
Planmäßigkeit der Lebewesen.
Die Welt der Lebewesen (Kap. V): Merkwelt eines Tieres ist die
Summe seiner Merkmale; bei Ausübung der Steuerung bildet es seine Innen-
welt, die Summe seiner Wirkungen ist seine Wirkungswelt. Merkwelt und
Wirkungswelt sind die Umwelt.
Das Funktionsleben gliedert sich in Kreise (Heimat, Nahrung, Feind, Ge-
schlecht); die einzelnen Kreise sind besonderen oder mehreren Sinnesorganen
zugleich zugeordnet. Für Schwämme ist z. B. Chemisches und Mechanisches „das-
selbe" Merkmal, nämlich „schädlich". „Merkmal" ist nicht gleich Reiz, sondern
wird erst aus den Antworten des Tieres erschlossen. Die Nervenerregung ist
überall gleich, die Person des Nerven bestimmt den Reiz — [hier können wir
Bedenken nicht unterdrücken]. Oft wirken Formumrisse als besondere Reize z. B.
bei Feinden; in solchem Falle ist im Zentralorgan ein „anatomisches Schema"
anzunehmen, das mehrere sensible Nerven zu höherer Einheit zusammenfaßt. Eine
räumliche Merkwelt kommt so zu Stande. Aber das Gefüge des Zentralsystems
ist nicht fest, sondern wird vom Protoplasma reguliert, wenigstens bei der echten
Handlung. Hier greift eine „objektiv wirkende Regel" , nämlich eben die Hand-
lungsregel, ein. Man mag sie mit dem Ref. „Psychoid" nennen, ohne aber ent-
scheiden zu können, ob sich eine fremde Apperzeption hier als „Naturfaktor"
äußert. Wichtig ist der Begriff der Vernichtung des Merkmals z.B. im Ge-
schlechtskreis, wie denn z. B. die Gottesanbeterin das Männchen nach der Kopu-
lation auffrißt: der Geschlechtskreis macht dem Nahrungskreis Platz.
Vollkommenheit ist nicht Allmacht, sondern hur lückenlose Ausnützung der
Mittel. Man sollte nicht von „Zweckmäßigkeit, sondern von Weisheit oder
Harmonie reden.
Abschnitt VI behandelt die E ntstehung der Lebewesen. Ein schon be-
stehendes Gefüge ist nach der Funktionsregel mechanisch tätig. Aber die
Entstehungsregel tritt dazu ; durch die Experimente des Ref. sei ihr selbstän-
diges Dasein erwiesen: im Keim ist kein „Gefüge", sondern die Regel.
Wichtig ist die Lehre von den „Zeichen" für Entstehung und für Leistung.
So ist z. B. eine Fuge ein Zeichen für die Entstehungsregel an Werken der
Technik, Faserdehnung ein Leistungszeichen an einem Bogen; organisch sind die
sieben Halswirbel bei allen Säugern Entstehungs-, die Knochenstruktur aber
Leistungszeichen.
Besprechungen (Uexküll). 203
Die Mosaik- und die chemische Theorie der Formbildung werden alle beide
abgelehnt. Mendel habe den Nichtmechanismus des Organischen schon be-
gründet. Das „Gen" gilt als „durch Impulse aktiviertes Ferment", Impuls aber
ist der „unräumliche Veranlasser räumlicher Vorgänge". Bei Entstehung des
Organismus ist „eine Einheit vorhanden, die nach einer autonomen Regel das
Geschehen beherrscht". Das Dasein des Gefüges hemmt dann die Gefügs-
bildung. Vom ,kritischen Punkt' an folgt das Wachsen statt der Entstehungs-
der Funktionsregel.
Alle Planmäßigkeit entsteht durch „Subjekte": der Keim ist ein Subjekt,
die Entwicklungsstadien bestehen aus Subjekten aber sind keine, das Ende ist
wieder Subjekt.
Aus dem sehr bedeutsamen 7 ten, von der Art handelnden Abschnitt greifen
wir nur das Wesentlichste heraus. Phaeno- und Genotypus werden nach Johannsen
unterschieden. Sodann wird das Wort ,Entwicklung' sehr eingehend erörtert:
Es darf nur „Auswickeln" bedeuten; dann gilt es aber höchstens von der Bildung
von Kassen aus Arten, aber nicht von der Ontogenie, welche ja Epigenese ist und
bei der die Faltenbildung zunimmt, während sie bei einer „Ent"-wicklung abnehmen
müßte; die Ontogenie möchte eher „Ver-"wicklung heißen. Bei Betrachtung der
Phylogenie gilt es sich vor allem klar zu werden, daß es keine unfertigen Arten
gibt (es gibt nur unfertige Individuen). Steigerung der Mannigfaltigkeit
ist das Hauptkennzeichen der Stammesgeschichte. Vielleicht entstehen in ihr
keine neuen Gene, sondern es wechselt nur die „Melodie der Impulsfolge" derart,
daß anfangs nicht alle Gene benutzt wurden; vielleicht verliert auch allmählich
das Klavier Tasten. Nur material stammen also die Säuger von Fischen ab.
Warum ändert sich die Melodie? Wir wissen das nicht. Der Verf. meint, der
Lamarekismus denke sich den phylogenetischen Prozeß wohl ähnlich wie er, doch
sei dieser zu anthropomorph.
Endlich Teil VIII: Die Planmäßigkeit. Lediglich bei den Reflexen be-
steht nur eine Betriebsregel, bei allen anderen organischen Bewegungen kommt
Gefüge bildung dazu. Die eingehende Erörterung von Reflex, Instinkt, plastischer
und Erfahrungs-handlung ist im Buche selbst nachzulesen. Wo greifen die
Handlungs-impulse ein, die formativen taten das ja bei den Genen? Die Ant-
wort ist : im Protoplasma des Zentralorgans. Das Nervenprotoplasma verhält sich
wie eine Amoebe. Ist doch übrigens schon die Zellteilung nicht mechanisch er-
klärbar; sie kann nicht auf einem „Gefüge" beruhen, da sich dieses ja selbst
teilen müßte; auch würde eine Maschine sich abnutzen.
Die Baufolge ist nie im Material gegeben. Der innere Rhythmus kennt die
Gesetzlichkeit der Welt, welche das Tier psychologisch nicht kennt — das eben
ist „Weisheit". Man sollte nicht von Anpassung, sondern von Einpassung
reden; sie entsteht nach innerem Plan, nicht von außen aufgezwungen und nicht
allmählich. Der Gesichtspunkt von „Versuch und Irrtum" paßt nie und nimmer
auf Formentstehung.
Endlich trägt Uexküll auch noch kurz seine Staatstheorie'vor, die wir
aus anderen Schriften von ihm kennen. Von den Produktions-, Tausch-, Steuerungs-,
Sinnes- und Handlungs„organen" des Staates wird geredet. Volk (Freiheit, Gleich-
heit, Brüderlichkeit) und Staat (Zwang, Ungleichheit, Unterordnung) werden scharf
geschieden.
Warum, so fragt unser Autor endlich,. hat Kant keine „Kritik der Willens-
kraft" geschrieben? Weil wir von dieser nichts wissen, denn von Willensim-
pulsen erfahren wir nichts. —
Eine Kritik im Ganzen kann es nicht geben, wo der Berichterstatter in
allem Wesentlichen mit dem Verfasser geht. Höften wir, daß Uexkülls schönes
Werk eine recht weite Verbreitung bei Biologen und bei Philosophen findet;
beide können es brauchen, auch diese, denn auch bei ihnen ist, in neukantischem
Gewände, der dogmatische Mechanismus immer noch weit verbreitet und hemmt
jede einheitliche "Weltauffassung. Und auch Belehrung über das Lebendige über-
haupt können viele Philosophen gut gebrauchen; so ein Wissen obenhin genügt
eben zur philosophischen Bewältigung der Lebensprobleme nicht ; was dabei heraus-
204 Besprechungen (Uexküll — Whitehead).
kommt oder vielmehr nicht herauskommt, sehen wir ungefähr jedes Jahr einmal
wieder.
Was das Aeußere des Buches angeht, so dürfte für eine zweite Auflage ein
die wesentlichsten Begriffe berücksichtigendes Register und ein breiter angelegtes
Inhaltsverzeichnis erwünscht sein.
Hans Driesch (Cöln).
Whitehead, A. N., The Concept of Nature, Tarner. Lectures delivered in
Trinity College, November 1919. Cambridge, University Press, 1920. X u. 202 Seiten,
Preis 14 Sh.
Dieses Werk bietet eine durch Einstein angeregte, aber von seinen Aus-
führungen unabhängige allgemeine Relativitätstheorie. Die Geschwin-
digkeit des Lichts als solche spielt keine ausgezeichnete Rolle in ihr, obwohl die
bekannte Invariante c eine wichtige Rolle in ihr spielt als Beziehung zwischen
Raumeinheit und Zeiteinheit, und der Raum wird euklidisch gefaßt.
Das Buch ist voll von eigenem Denken und, schon allein wegen der Menge
der neu definierten Begriffe, nicht leicht kurz darzustellen. Man liest am besten
die zusammenfassenden Abschnitte VIII und IX, welche selbständige Vorträge
neben den Tarner Lectures wiedergeben, zuerst.
Natur wird, unseres Erachtens gar zu einfach, definiert als das, was wir
„bei der Wahrnehmung durch unsere Sinne beobachten" ; freilich wird sie dann
für sich behandelt, ohne Beziehung auf ihr Wahrgenommensein. Weil das der
Fall sein soll, wird der Unterschied zwischen „subjektiven" sekundären und „ob-
jektiven" primären Qualitäten abgelehnt als falsche „bifurcation of nature"; als
falsche „theory of psychic addition". Alle Qualitäten sind objektiv; wo rot ist,
da ist auch ein bestimmtes rein raumzeitliches Ereignis, so müsse es heißen
(unseres Erachtens mit Recht).
Von Aristoteles, der überhaupt nach Ansicht des Verfassers, die wir
zwar nicht teilen, dem Plato durch die geringere Flüssigkeit seiner Begriffe
nachsteht, stamme letzthin das übliche Streben nach Auffindung einer Substanz,
d. h. einer Materie in Zeit und Raum, ^iese Lehre von den „bits of matter" in
Raum und Zeit sei zu ersetzen durch eine Relationstheorie dieser beiden. Die
wahren Relata seien Geschehnisse (events), Raum und Zeit seien Abstrak-
tionen davon. Vom event ist der Ausgang zu nehmen.
Der Begriff Raum erwächst aus den wechselseitigen Beziehungen der Ge-
schehnisse in dem einen Geschehnis: ,die Gesamtheit der gegenwärtigen Natur*.
Gleiches gilt von der Zeit. Die events nämlich haben passage und duration; es
gibt verschiedene f amilies of duration und daher verschiedeneZeitsysteme.
Ein moment (im Gegensatz zur duration) ist „all nature in an instant" ; zwei Mo-
mente begrenzen eine duration. Zeit ist in der Natur, nicht Natur in der Zeit.
Von großer Bedeutung wird der Begriff des instantanen Raumes und der Succession
solcher Räume.
Also nicht, wie die alte Lehre will, das Momentan-präsente ist die Urausgangs-
tatsache, sondern dieses : „something is going on than-there" — (das ist gleichsam
des Referenten Formel Jetzt-Hier-So ins Bergs on sehe übersetzt; übrigens
betont der Verfasser diese Verwandtschaft mit Bergs on). Ein objeet sei eigent-
lich „out of time".
Das wichtige und schwierige Kapitel IV muß man selbst lesen. Hier ersteht
der Begriff der Parallele, und zwar zunächst für die Zeit, dann, und zwar in
euklidischem Sinne, für den Raum, wie denn überhaupt alle Raumesordnung von
Zeitordnung herstammt.
Räume also sind abstrahiert aus den facts der Natur, den events. Nun kann
freilich Bewegung kein fact sein, wenn nicht auch Ruhe es ist ; so gibt es denn
also auch absolute position, aber jeweils einem bestimmten Zeitsystem zugeordnet.
Kongruenz ergibt sich in euklidischer Form. Immer wieder wird die Ausgangs-
frage betont ; „Was ist es, dessen wir bei unserer Sinneswahrnehmung von Natur
gewahr werden (that we are aware of)" ?. Was dem einen ein Punkt ist, ist dem
Besprechungen (Whitehead — Weyl). 205
anderen eine Linie. Ein physisches öbject ist die Tiabitual occurrence of a cerlain
set of sense objects in one Situation.
Zeit und Raum sind also nur Ausdrucksmittel für die Beziehungen zwischen
den Geschehnissen. Die Welt läßt sich zwar in event particles zerlegen, ist aber
nicht aus diesen aufgebaut. Event particles sind points of instantaneous space.
Es gibt unbestimmt viele {indefinite) diskordante Zeitordnungen. Eine wesentliche
Abweichung von Einstein bedeutet die Einführung des Begriffs eines zwischen
den event particles bestehenden impetus.
Das eigentlich Präsente ist also die duration. Die Größe c besagt, daß
Zeit und Raum really comparable sind; sie bestimmt, wie schon gesagt, die Be-
ziehung zwischen den Zeit- und Raum-einheiten. Aber das Licht spielt keine
andere Rolle dabei als etwa der Ton.
Man darf Whiteheads interessantes Werk eine phänomenologisch (oder
gar psychologisch) gegründete Physik nennen. Am bedenklichsten erscheint uns
die allzu rasche Definition des Begriffs Natur , von der wir im Eingange redeten.
Auch können wir die duration, wenn das Wort „Verlauf" bedeuten soll, durchaus
nicht als Urgegebenes ansehen; ich habe bewußt eine ungeheure Mannigfaltigkeit
des In- und An -einander der Inhalte, aber keine Mannigfaltigkeit des Nach-
einander. Das Nach-einander, also auch die duration, ist, wie uns scheint, eine
sehr zusammengesetzte Konstruktion. Diese Einwände nehmen aber dem scharf-
sinnigen Buche Whiteheads nichts von seiner großen Anregung für Physiker
und Philosophen.
Hans Driesch (Cöln).
Weyl, Hermann, Raum, Zeit, Materie, Vorlesungen über allgemeine
Relativitätstheorie. Berlin, 1918. Verlag von Julius Springer. VIII u. 234 S.
14 Mark.
Weyl hat recht, wenn er das Vorwort seines Buches mit den Worten be-
ginnt: „Mit der Einsteinschen Relativitätstheorie hat das menschliche Denken
über den Kosmos eine neue Stufe erklommen." Die Theorie ist in der Tat von
so großer philosophischer Tragweite, daß ein Erkenntnistheoretiker, und vollends
ein Naturphilosph, der ihren Sinn nicht restlos erfaßt hätte, als für seine Auf-
gabe ganz unzulänglich ausgerüstet anzusehen wäre. Deshalb muß jedes Mittel,
das in die Tiefe jener großartigen Theorie hineinführt, den Fachgenossen mit
aller Dringlichkeit empfohlen werden. Weyl's Buch ist ein solches Mittel, und
wer es zu lesen versteht, wird diesem Führer mit dem größten Genuß und Nutzen
folgen. Der Verfasser steht durchaus über seiner Materie; sein Werk ist das
erste zusammenfassende Lehrbuch über den Gegenstand. Es behandelt ihn
in erster Linie vom Standpunkt des Mathematikers und bringt dadurch die for-
male Schönheit und die Systematik des Aufbaus der Theorie am besten zur
Geltung. Aber auch in physikalischer Hinsicht überschaut der Leser überall die
weitesten Horizonte.
Uns aber ist das wesentlichste: die ganze Darstellung ist von echt philo-
sophischem Geiste getragen. An den Anfang und ans Ende des Buches stellt
der Autor sogar einige spezifisch philosophische Ausführungen; freilich möchte
er mir in ihnen, wo er frei schwebend den exakt-wissenschaftlichen Boden ver-
läßt, weniger glücklich erscheinen. In der Einleitung gibt er einige erkenntnis-
theoretische Erörterungen in lebendigem Stil und in Husserl'scher Terminologie,
woraus aber nicht zu schließen ist, daß Husserl's Philosophie in irgend einem be-
sonders innigen Verhältnis zur Relativitätstheorie stände. Weyl kommt auch in
der Folge nicht darauf zurück. — In den Schlußbemerkungen stellt er als ein
wichtiges Resultat der Untersuchungen hin: „Die Physik handelt garnicht von
dem Materiellen, Inhaltlichen der Wirklichkeit, sondern, was sie erkennt, ist
lediglich deren formale Verfassung". Diesem Satze wird man insofern
zustimmen können, als jede echte Erkenntnis es in bestimmtem Sinne nur mit
Formalem zu tun hat, indem sie Beziehungen zwischen Wirklichkeitselementen
aufdeckt, nicht aber Wirkliches unmittelbar kennen lehrt, wie das Erleben, die
206 Besprechungen (Weyl).
Anschauung es tut. Man wird aber jenem Satze widersprechen müssen, wenn
der Begriff des Formalen so ausgelegt wird, wie Weyl es gleich darauf zu tun
scheint, indem er die Physik mit der formalen Logik vergleicht und meint,
daß jene sich zum Reich der Wirklichkeit verhalte wie diese zum Reich der
Wahrheit : „Ihre Gesetze werden ebenso wenig in der Wirklichkeit jemals verletzt,
wie es Wahrheiten gibt, die mit der Logik nicht im Einklang sind: aber über
das Inhaltlich -Wesentliche dieser Wirklichkeit machen sie nichts aus. . . ." Wie
läßt sich das vereinen mit der Tatsache, daß die Physik nicht reine Mathematik,
sondern eine empirische Wissenschaft ist, daß also jeder ihrer Sätze — und
natürlich auch die Relativitätstheorie — durch die Erfahrung bestätigt werden
muß und durch sie widerlegt werden kann? Ich möchte glauben, daß Weyl nicht
das hat sagen wollen, was man aus diesem Schlüsse seines Buches bei wörtlicher
Interpretation herauslesen müßte, sondern daß ihm nur die Wahrheit vorschwebte,
daß die Physik lediglich Relationen zum Gegenstande hat, nicht absolute Gegeben-
heiten wie das anschauliche Erlebnis. Das ist aber nicht ein Mangel der phy-
sikalischen Methode, sondern es gilt m. E. letzten Endes von jedem Erkennen,
weil es so im Begriff und Wesen der Erkenntnis überhaupt liegt.
Diese wenigen Bedenken bezüglich der Formulierung sind aber auch das
Einzige, was ich gegen Weyl's Darstellung zu erinnern hätte: der wichtigste
philosophische Gehalt steckt doch in seiner Behandlung des eigentlichen Themas,
aus der uns die allgemeinsten Prinzipien der Mathematik und Physik klar und
groß als erkenntnistheoretische Wahrheiten entgegentreten — denn allgemeinste
Physik, wie überhaupt allgemeinste Wissenschaft, ist schon Erkenntnis-
theorie.
Einzelne wohl gesicherte Ergebnisse der Philosophie der Mathematik finden
bei Weyl eine überaus treffliche Darstellung. So vor allem die Wahrheit, daß
die Geometrie in keiner Weise das anschauliche Wesen des Raumes zu erfassen
und zu erschöpfen vermag. Der Raum der Geometrie ist eine begriffliche Kon-
struktion (ein dreidimensionales Größengebiet), die zur exakten Beschreibung un-
zählig vieler erdenkbarer Gebilde dienen kann — Weyl greift als solche u. a.
heraus: „Lösungssysteme linearer Gleichungen", „Gasgemische" usf., und der „an-
schauliche Raum" ist nur eins von diesen Beispielen, die Geometrie stellt nur
eine ihnen allen gemeinsame Ordnung dar: „von dem, was den Raum der An-
schauung zu dem macht, was er ist in seiner ganzen Besonderheit und was er
nicht teilt mit . . . „Gasgemischen" und „Lösungssystemen linearer Gleichungen",
enthält die Geometrie nichts" (S. 23). Da also der Raum der Geometrie schlechthin
unanschaulich ist, so kann niemals irgend eine Geometrie, sei sie euklidisch
oder nichteuklidisch, Anspruch auf absolut einzige Geltung für den Raum unserer
Anschauung machen.
Um der Sache willen sei die Bemerkung gestattet, daß eben hierdurch der
öfters gehörte, auch von V. Henry in den Kantstudien (XXIII, S. 351 ff., Be-
sprechung meiner Schrift über „Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik")
gegen die Relativität der Raumbestimmungen erhobene Einwand seine Erledigung
findet. Nach diesem Einwand soll die Anschauung uns doch eine bestimmte
Geometrie als die allein richtige aufzwingen müssen, obwohl die Erfahrung
dies nicht tue. — Darüber muß man sich auf jeden Fall klar sein: wer an eine
(durch die Anschauung zwangsläufig bestimmte) Geometrie glaubt, muß die All-
gemeine Relativitätstheorie verwerfen, weil die letztere die Verwendung ver-
schiedener geometrischer Maßbestimmungen in der Natur schlechthin fordert,
und er muß die Konsequenzen tragen. Es geht nicht an, zu sagen, man stehe
als Physiker auf dem Boden der Allgemeinen Relativitätstheorie, lehne aber als
Philosoph oder als Mathematiker die geometrische Relativität des Raumes ab,
denn sie ist integrierender Bestandteil der Einstein'schen Theorie, und die ist
entweder wahr oder falsch. Das Erkennen ist nur eines. Jede echte Erkenntnis
ist als solche allgemeingültig, aus welcher Einzelwissenschaft sie auch stamme,
und wenn die Physik eine Wahrheit über Raum und Zeit findet, so gilt sie auch
für den Geisteswissenschaftler. Verbindet letzterer mit den Worten Raum und
Zeit (nicht mit den Begriffen, wie Henry a.a.O. S. 354 sagt) einen andern
Besprechungen (Weyl — Wundt). 207
Sinn, etwa den des Anschaulichen, so kann das wohl Anlaß zu Mißverständnissen
geben, aber sachlich nichts ändern. Weil die Geometrie im modernen Sinne über
das anschaulich Räumliche überhaupt nichts aussagt, haben Psychologie und
Geisteswissenschaften hier völlig freie Hand; deshalb kann aber auch die An-
schauung (nicht bloß die Erfahrung) dem geometrischen Raum, welchen die
Physik benutzt, keinerlei Gesetze aufzwingen. Ich hatte diesen Schluß im letzten
Kapitel der oben erwähnten Schrift (S. 55 der ersten, S. 81 der dritten Auflage)
gezogen; Henry hat seine Kritik nur an die Ausführungen der ersten Kapitel
angeschlossen.
Wir wollen aus dieser Abschweifung die Lehre ziehen, den philosophischen
Gehalt der relativitätstheoretischen Sätze nicht deshalb zu unterschätzen, weil sie
den Einzelwissenschaften der Mathematik und Physik entstammen, sondern sie
im Gegenteil recht zu studieren, damit ihre Weltanschauung bildende Kraft sich
voll auswirken kann. Sie, werden von Weyl in wahrhaft souveräner Weise vor-
geführt und begründet. Seine Darstellung, wie schon der Titel seines Werks,
läßt trefflich hervortreten, daß die moderne exakte Wissenschaft nicht bloß die
Begriffe von Raum und Zeit gänzlich modifiziert, sondern auch, was weniger be-
kannt ist, nicht minder den Begriff der Materie. In Zukunft wird keine Natur-
philosophie ihrer Aufgabe gerecht werden können, die nicht auch diese Seite der
neuen Ergebnisse voll berücksichtigt und Rechenschaft zu geben sucht von jenen
noch dunkelen Verhältnissen, die Weyl sehr schön auseinandersetzt in seinen
Darlegungen über die Beziehung zwischen „Materie" und „Feld", über den Gegen-
satz von „Substanzphysik" und „Feldphysik". Um zu feigen, mit welcher Kühn-
heit auch exaktes Denken sich in der Relativitätstheorie zu Höhen erhebt, die
den mutigsten Metaphysiker schwindeln machen könnten, will ich noch einige
Sätze aus dem letzten Kapitel zitieren (S. 220): „. . . es kann also prinzipiell
geschehen, daß ich jetzt künftige Ereignisse miterlebe, die zum Teil erst eine
Wirkung meiner künftigen Entschlüsse und Handlungen sind. Auch ist es nicht
ausgeschlossen, daß ... die Weltlinie meines Leibes in die Nähe eines Welt-
punktes zurückkehrt, den sie schon einmal passierte. Daraus würde dann ein
radikaleres Doppelgängertum resultieren, als je ein E. T. A. Hoffmann aus-
gedacht hat."
Weyl's Buch stellt hohe Anforderungen an den Leser. An mathematischen
Kenntnissen setzt es zwar nicht viel voraus, nur das gewöhnliche Handwerkszeug
der höheren Analysis, denn ein großer Vorzug des Werkes besteht gerade darin,
daß die zur Beherrschung der Theorie nötigen komplizierteren mathematischen
Hilfsmittel alle erst im Buche selbst abgeleitet werden; jedoch in hohem Maße
wird vom Leser die Fähigkeit verlangt, mathematischen Gedankengängen ab-
straktester Natur zu folgen. Wer sie mitbringt, wird unter allen Umständen aus
dem Buche sehr vieles lernen und hohen philosophischen Gewinn davontragen1).
Rostock. M. Schlick.
Wundt, Wilhelm, Logik. Eine Untersuchung der Prinzipien der
Erkenntnis und der Methoden wissenschaftlicher Forschung.
3 Bände. 1. Band: Allgemeine Logik und Erkenntnistheorie. 4. neubearbeitete
Auflage. Stuttgart 1919, Verlag von Ferdinand Enke. 654 Seiten, br. 30 Mk.;
geb. 36 Mk. (+ 10 % Sortiments-Aufschlag).
Fast überwältigt steht man vor dem Umfang des Lebenswerkes, das sich an
Wundts Namen knüpft. Wohl wahr, daß seinen Büchern eine letzte, aufwühlende
Tiefe fehlt, daß der Pulsschlag aufbohrenden Grübelns in ihnen nicht spürbar ist,
daß sie dem Auge nicht neue Welten von ungeahnter Weite eröffnen: trotzdem
bleibt noch genug, um unsere volle Bewunderung für sie wachzurufen. Nicht
nur die Zahl der von Wundt bemeisterten Gebiete und demgemäß auch die Zahl
1) Anmerkung bei der Korrektur. Seit dies Referat (vor mehr als zwei
Jahren) geschrieben wurde, hat Weyls Buch seine Anziehungskraft auf die Leser
schon in drei neuen Auflagen bewährt.
208 Besprechungen (Wundt — Ziehen).?
seiner Bücher, von denen fast jedes viele Hunderte von Seiten umfaßt, sondern
auch die Kraft und Klarheit, die logische Disziplin und Umsicht, die Sicherheit
und technische Reinheit seiner Untersuchungen nötigen gleichermaßen zur Be-
wunderung. Wie muß ein Geist organisiert sein, über welche Arbeitsökonomie
muß er verfügen, um derartige Leistungen hervorzubringen.
Nun hat uns seine bis in das Greisenalter unverwelkliche Arbeitsfrische
eine Neubearbeitung des 1. Bandes seiner Logik geschenkt. Das Vorwort trägt
das Datum: Januar 1919. Gestorben ist Wundt Anfang September 1920. Kein
Zeichen schwächer werdender Kraft des beinahe achtzigjährigen Gelehrten macht
sich in dem umfangreichen Buche geltend. Da es sich um ein in der philo-
sophischen Welt längst eingebürgertes Grundwerk handelt, seien hier nur seine
Leitgedanken ganz knapp wiedergegeben. Aufgebaut sind die Untersuchungen
nicht im Anschluß an die logische Tradition, die nur hin und wieder heran-
gezogen und benutzt worden ist, sondern ihre Grundlagen liefern „das lebendige
Zeugnis des Denkens in der Sprache sowie die gesicherten und erfolgreichen Me-
thoden des Erkennens in der wissenschaftlichen Forschung" (S. V). „Neben der
Aufzeigung der tatsächlich von dem wissenschaftlichen Denken geübten Gesetze
des Erkennes bat sich das vorliegende Werk die Aufgabe gestellt, jene von den
positiven, insonderheit den exakten Wissenschaften stillschweigend angenommene
Erkenntnistheorie in ihrer logischen Eigentümlichkeit zu entwickeln und zu be-
gründen" (S. VII). Von zwei einflußreichen Richtungen in der neueren Logik
unterscheidet es sich besonders deutlich : Von John Stuart Mills empiristisch-
psychologistischer Logik, die auf einer „ziemlich oberflächlichen Assoziationspsycho-
logie" beruht, und von Franz Brentanos und seiner Schule (Husserl) tho-
mistisch gefärbter, also eine Erneuerung des scholastischen Schematismus be-
fördernder Logik als reiner Begriffswissenschaft. Gegenüber der empiristisch-
psychologistischen Logik vertritt Wundt den Standpunkt, daß „während die Psy-
chologie uns lehrt, wie sich der Verlauf unserer Gedanken wirklich vollzieht",
die Logik festzustellen habe, „wie er sich vollziehen soll, damit er zu wissen-
schaftlichen Erkenntnissen führe" (S. 1). Hiernach ist ihm die Logik eine nor-
mative Wissenschaft, ähnlich der Ethik. Gegenüber der formalistischen Rich-
tung Bolzanos betont er, daß es unerläßlich sei, die in dem Betrieb der Wissen-
schaften in Anwendung befindlichen allgemeinen Erkenntnisprinzipien und die in
der wissenschaftlichen Forschung tatsächlich befolgten Verfahrungs weisen genau
zu berücksichtigen. Aus diesem Grunde müssen auch die Gesetze des logischen
Denkens, sollen sie nicht als gegebene, unerklärbare Tatsachen gelten, bei ihrem
Ursprung in der inneren Erfahrung aufgesucht werden. So hat die wissenschaft-
liche Logik nach Wundts Ueberzeugung folgende Teile: 1) Darstellung der
logischen Normen; 2) eine psychologische Entwicklungsgeschichte des Denkens;
3) eine Untersuchung der Grundlagen und Bedingungen der Erkenntnis; 4) eine
Analyse der logischen Methoden wissenschaftlicher Forschung. Die durch diese
Angaben bezeichneten theoretischen Grundforderungen finden nun in dem Werke
eine bis aufs Einzelne gehende, weitausgespannte, von unerschütterlicher
wissenschaftlicher Ruhe und Bestimmtheit getragene Erfüllung. Es beruht auf
einer verblüffenden Beherrschung des ganzen Kreises der wissenschaftlichen Er-
kenntnis, deren Grundlagen und Methoden in seltener Vollständigkeit aufgedeckt
und in ihrer logischen Bedeutung und praktischen Geltung zu klarer Entwicklung
gebracht werden.
Berlin. Arthur Lieber t.
Ziehen, Th., Dr., o. ö. Professor an der Universität Halle, Lehrbuch der
Logik auf positivistischer Grundlage mit Berücksichtigung
der Geschichte der Logik. Bonn 1920, A.Marcus und E.Webers Verlag.
VIII u. 866 S. br. 47,50 Mk., geb. in Ganzleinen 55,50 Mk., in Halbfranz. 59,50 Mk.
Im 1. Teil seines umfangreichen Werkes bietet Ziehen nach einleitenden
Bemerkungen über die Aufgabe der Logik eine „allgemeine Geschichte" derselben
(S. 17—240), welche, wenn auch nicht ganz lückenlos, so doch in weitestem Um-
Besprechungen (Ziehen). 209
fange die neueste Literatur berücksichtigt. Im 2. Teil folgt dann eine „Er-
kenntnistheoretische, psychologische, sprachliche und mathematische Grundlegung
der Logik". Was zunächst die erkenntnistheoretische Grundlegung betrifft, so
hat die Erkenntnislehre oder „Gignomenologie", wie Z. sie nennt, die Aufgabe,
„das Gegebene und seine Veränderungen" (wozu auch die Denkvorgänge gehören)
„nach Aehnlichkeiten zu ordnen und dadurch zu den allgemeinen Klassen und
Gesetzen des Gegebenen zu gelangen. Die Logik hat an den Ergebnissen dieser
gignomenologischen Untersuchungen insoweit ein wesentliches Interesse, als die
Abgrenzung ihres eigenen Gegenstandes, des Denkens, zu diesen Ergebnissen
gehören muß, wofern das Denken überhaupt ein besonderer, abgegrenzter Gegen-
stand ist". Freilich sind diese Ergebnisse fast in jeder Beziehung strittig und
„nicht einmal über die Formulierung der Grundfrage besteht irgendwelche Einig-
keit". Trotzdem hat die Logik die Pflicht und das Recht, eine erkenntnis-
theoretische Grundlegung ihres Gegenstandes zu „versuchen". Diese kann freilich
nur in dem Sinn eine Grundlegung sein, „daß sie für die Gesetze der Logik er-
kenntnistheoretische Gesichtspunkte aufstellt, welche für die Deutung der
logischen Gesetze grundlegend sein können", nicht in dem, daß sie die Gesetze
der Logik von erkenntnistheoretischen Sätzen abhängig macht.
Ziehen will nun so verfahren, daß er „aus der Geschichte der Philosophie
die wichtigsten bisher aufgestellten erkenntnistheoretischen Abgrenzungen des
Denkens kritisch zusammenstellt und dann unter allen Vorbehalten und
ohne Bindung einer bestimmten den Vorzug gibt".
Die wichtigsten erkenntnistheoretischen Standpunkte sind nach ihm der
psychophysische Dualismus, der „Egotismus", der Idealismus, der Phänomenalismus,
der Logizismus und endlich sein eigener, der „Binomismus". Dieser bestreitet,
daß die Gegenüberstellung „psychisch-materiell" berechtigt sei, leugnet im Gegen-
satz zum „Egotismus", daß ein universales Ich oder individuelle Ichs als be-
sondere Wirklichkeiten irgendwie existieren, behauptet dem Phänomenalismus
gegenüber, daß die Zerlegung des Gegebenen in unerkennbare Dinge an sich und
apriorische Anschauungs- und Denkformen nicht zulässig sei, will vielmehr nur
zwei Hauptarten gesetzlicher Beziehungen im Gegebenen anerkennen, die Kausal-
gesetze und die „Parallelgesetze", welche letzteren sich im einfachsten Falle z. B.
auf „die Zuordnung einer bestimmten Sinnes qualität zu einer bestimmten Hirn-
rindenerregung" beziehen. Unter die Parallelgesetze fällt aber nicht nur das
Empfinden, sondern auch das gesamte Denken, denn auch bei diesem handle es
sich „um Rückwirkungen von Rindenelementen".
Auf Ziehens Kritik der gegnerischen Standpunkte oder auf seine eigene
extrem empiristische Erkenntnislehre (vgl. z. B. S. 257 die sonderbare Wider-
legung des Kantischen a priori) im einzelnen einzugehen ist um so weniger nötig,
als er S. 261 nochmals „nachdrücklich" betont, „daß die Lehren der formalen
Logik auch unabhängig von diesem oder jenem erkenntnistheoretischen Standpunkt
als solche zu recht bestehen, und daß die erkenntnistheoretische Grundlegung
im wesentlichen nur die Stellung der logischen Lehren im Gesamtsystem der Philo-
sophie betrifft".
Die „Psychologische Grundlegung" wird eingeleitet durch die Bemerkung,
daß die Psychologie für die Logik unentbehrlich sei, weil alle Untersuchungen
der letzteren „von den tatsächlich gegebenen Denkvorgängen des einzelnen Indi-
viduums, also psychologischen Vorgängen, ausgehen". Die psychologische Grund-
legung verfolge daher den Zweck, „die sichergestellten Untersuchungsergebnisse
der Psychologie bezüglich der Denkvorgänge zusammenzustellen, soweit sie für die
Logik in Betracht kommen". Stark eingeschränkt wird die Bedeutung der dann
folgenden Ausführungen durch die Feststellung, „daß keineswegs Uebereinstimmung
besteht über dasjenige, was als sichergestelltes Untersuchungsergebnis der Psycho-
logie betrachtet werden kann. Je weiter wir uns von der Psychologie der
Empfindungen entfernen und der Psychologie der Vorstellungen und Denkvor-
gänge nähern, um so größer wird der Zwiespalt der Meinungen".
Ziehen will selbstverständlich allenthalben seine eigene Ansicht zugrunde
legen, aber doch auch die abweichenden Auffassungen anderer Forscher berück-
Kautsmdion XXVI. 14
210 Besprechungen (Ziehen).
sichtigen. Ich hebe zunächst hervor, was er über „Generalisation", d. i. Bildung
von Allgemeinvorstellungen sagt. Sie besteht darin, „daß mehr oder weniger
zahlreiche individuelle Erinnerungsbilder auf Grund von Aehnlichkeit in einer
ganz besonderen Weise zu einer Einheit zusammengefaßt werden. So bilde ich
z. B. aus den Erinnerungsbildern vieler einzelner Fahrräder die Allgemeinvor-
stellung (Generalvorstellung) Fahrrad". Im Verfolg der Erörterung spricht Z.
dann auch von einer „Allgemeinvorstellung Wasserstoffatom", wobei unklar bleibt,
inwieweit dieselbe auf „Erinnerungsbilder" zurückgehen soll. Meines Erachtens
besitzen solche Allgemeinvorstellungen, auch wenn sie — was nicht unbestritten
ist — wirklich vorhanden sind, nicht die „grundlegende Bedeutung für einen
großen Teil der Logik", die ihnen von Ziehen und anderen zugeschrieben wird.
Denn mit der Bildung der Begriffe, welche hier in erster Linie in Betracht
kommen würden, haben diese Allgemeinvorstellungen jedenfalls wenig zu tun.
Angenommen, das Kind hätte durch irgendwie geartete Zusammenfassung von
hundert Erinnerungsbildern verschiedener Uhren eine Allgemeinvorstellung ge-
bildet, so hätte es für den Begriff Uhr (Instrument zum Messen der Zeit)
noch nicht die mindeste Grundlage. Wenn es dagegen auch nur bei einer ein-
zigen Uhr den Zweck „begriffen" hat, so besitzt es mit einem Schlage den Begriff
Uhr und ist imstande, ihn auf die dem Aussehen nach verschiedenartigsten Uhren,
Taschenuhren, Wanduhren, Turmuhren, ja selbst auf Sonnen- und Sanduhren anzu-
wenden, obwohl nicht einzusehen ist, wie von diesen allen eine auf Erinnerungs-
bildern beruhende zusammenfassende „Allgemeinvorstellung" möglich sein sollte.
Auch für die logischen Urteile gibt es, wie Ziehen in Uebereinstimmung
mit anderen Forschern meint, eine psychologische Grundlage, nämlich die „Ideen-
assoziation". Er unterscheidet zwei Formen derselben, die „disparate Ideen-
assoziation" und die „Urteilsassoziation". „Wenn jemand in mir z. B. durch
Zuruf die Vorstellung Kose weckt und mir fällt Frühling ein, so handelt es sich
um eine disparate Assoziation. Wenn ich auf denselben Zuruf hin denke: die
Rose blüht im Frühling, so liegt eine Urteilsassoziation vor". Zwischen beiden
finden sich zwar in der Praxis mannigfache Uebergänge, aber prinzipiell sind sie
doch leicht zu unterscheiden. „Bei der disparaten Vorstellungsfolge > Rose . . .
rot < verknüpft keine der drei Differenzierungsfunktionen die Vorstellungen Rose
und rot, und insbesondere steht es mir frei, die Rose als an einem Orte und zu
einer Zeit und das Rot als an einem anderen Orte und zu einer anderen Zeit
befindlich zu denken ; bei dem Urteil > die Rose ist rot < werden die Vorstellungen
Rose und rot durch die Differenzierungsfunktionen mit einander verbunden, indem
das rot auf Rose irgendwie bezogen wird, und insbesondere werden Rose und
rot als an demselben Ort und zu derselben Zeit befindlich gedacht". Die „Diffe-
renzierungsfunktionen", von denen hier die Rede ist, sind nach S. 344 die ana-
lytische, die synthetische und die vergleichende.
Diese Neigung, der logischen Urteilslehre eine psychologische Grundlegung
zu geben, oder, worauf es im Grunde hinausläuft, auch das logische Urteil in
Abhängigkeit von psychomechanischen Prozessen zu bringen, führt m. E. schon
darum zu Schwierigkeiten, weil die logischen Urteile, mit denen die Wissenschaften
operieren, Begriffe voraussetzen und die in den Wissenschaften verwendeten Be-
griffe, wie oben schon angedeutet wurde, nicht auf psychomechanischem Wege
entstehen können. Den näheren Nachweis habe ich im 3., 4. und 5. Kapitel des
2. Bandes meiner Untersuchungen zur Logik geliefert, wo die Begriffssysteme
der wichtigsten Wissenschaften im einzelnen untersucht worden sind. Wir werden
nach meiner Ueberzeugung in den wichtigsten Fragen der Logik niemals zu-
sammenkommen, solange die Logiker ihre Deduktionen nicht auf die Praxis der
Wissenschaften beziehen. Aehnliche Bedenken habe ich gegen den Versuch
Ziehens, der Lehre vom Schluß einen psychologischen Unterbau zu geben. Die
Einmischung psychologischer Gesichtspunkte wirkt verwirrend.
In den beiden folgenden Kapiteln, der „sprachlichen" und der „mathe-
matischen" Grundlegung der Logik (S. 402—416) behandelt Z. kurz die Be-
ziehungen zwischen Sprechen und Denken, das Problem einer logischen Ideal-
sprache und den Grundgedanken der mathematischen (algebraischen) Logik.
Besprechungen (Ziehen). 211
Nach diesen vorbereitenden Untersuchungen kommt Z. im 3. Teil zur Sache
selbst und zwar mit einer „autochthonen Grundlegung der Logik". Es handelt
sich dabei darum, „auf dem Boden der erkenntnistheoretischen und psycholo-
gischen Grundlegung eine dem speziellen Ziel der Logik angepaßte allgemeine
Grundlage für die spezifisch logischen Untersuchungen zu gewinnen". Diese
haben es mit der formalen Richtigkeit der Denkakte zu tun. Als Kriterium
für dieselbe genügt nicht die innere Widerspruchslosigkeit. Die Quelle des
formal unrichtigen Denkens erblickt Z. in der durch die Veränderlichkeit der
Vorstellungen ermöglichten Vorstellungs Verwechslung oder „Alienation". „Die
sog. Quaternio terminorum, ein logischer Fehler, der in der Verwendung eines
Terminus in doppelter Bedeutung besteht, kann daher geradezu als ein-
fachstes Paradigma für alle Unrichtigkeiten der Denkakte
überhaupt gelten".
Dieser Gefahr der „Alienation" zu begegnen hilft der Logik das „logische
Identitätsprinzip". Es gibt nach Z. auch ein „gignomenologisches Identitäts-
gesetz", welches darin besteht, daß es unmöglich ist, zu denken und zugleich
nicht zu denken. Insoweit kann man von einer „Eindeutigkeit des psychischen
Geschehens, speziell des Denkens" sprechen.
Ueber dieses psychologische Gesetz geht die Logik, um sich vor der Gefahr
der „Alienation" zu schützen, hinaus, indem sie „zu der tatsächlichen momen-
tanen Eindeutigkeit die ideale Annahme einer dauernden Eindeutigkeit, d.h.
Unveränderlichkeit" hinzufügt, d. i. „den veränderlichen tatsächlichen Ding-
vorstellungen unveränderlich gedachte logische Vorstellungen" gegenüberstellt.
„Jedem Gegenstand ordnen wir auf Grund des neuen Prinzips ein oder , wenn
entsprechende materiale Grundlagen vorhanden sind, mehrere unveränderliche
A.'s (Gesamtvorstellungen, desgl. Merkmal-, Gattungsvorstellungen) zu". Diese
eindeutigen „Idealvorstellungen" nennt Z. dann „Normalvorstellungen" oder auch
Begriffe.
Im 1. Kapitel des 4. Teils wendet sich Z. sodann einer näheren Ausführung
der Begriffslehre zu. Sie enthält im einzelnen treffende Bemerkungen, ohne daß
man im Ganzen viel Neues erfährt. Dasselbe gilt von der Lehre vom Urteil,
welches er zusammenfassend definiert als „ein wenigstens zwei Begriffe (Normal-
vorstellungen) enthaltendes psychisches Gebilde, dessen Begriffe durch Differen-
zierungsfunktionen konstant verknüpft und speziell bezüglich ihrer Individual-
koeffizienten in konstanter Weise als vollständig oder partiell sich deckend ge-
dacht werden, und das sowohl als ein sukzessiver Prozeß wie als ein fertiges
Ergebnis aufgesetzt werden kann".
Zusammenfassend möchte ich Ziehens Werk als ein bemerkenswertes
Beispiel einer psychologistisch gerichteten Behandlung der Logik bezeichnen.
Der wissenschaftliche Wert des Buches beruht m. E. hauptsächlich auf den
sorgfältigen historischen Nachweisen, die sich keineswegs auf die im 1. Teil
gebotene, die älteren geschichtlichen Darstellungen in dankenswerter Weise
ergänzende „allgemeine Geschichte der Logik" beschränken, sondern auch den
einzelnen Kapiteln angefügt sind. Wenn man über literarische Fragen Belehrung
sucht, wird man sie, durch die ausführlichen Register unterstützt, in den meisten
Fällen in dem Ziehen'schen Werke finden.
Münster. Wilhelm Koppel mann.
14*
Selbstanzeigen.
Apel, Max, Dr., Einführung in Kants Kritik der reinen Ver-
nunft. 72 Seiten. 4 Mk. u. Sortimentszuschlag. Volksschulbuch - Verlag Char-
lottenburg. —
Das Büchlein enthält Stellen aus der Vorrede zur 1. u. 2. Auflage, der Einlei-
tung, der transzendentalen Aesthetik und der transzendentalen Deduktion nebst
ausführlicher Erläuterung. Das Heft will so eine Einführung in das Studium der
kritischen Philosophie geben und kann als Ersatz meines vergriffenen Kommentars
zu Kants Prolegomenen dienen. Dr. Max Apel.
Birnbaum, Karl, Psychopathologische Dokumente. Selbstbekenntnisse
und Fremdzeugnisse aus dem seelischen Grenzlande. Berlin, Verlag J. Springer 1920.
Die vielgestaltigen Beziehungen des Pathologischen — pathologisch nicht
nur in dem engen Alltagssinne der Geisteskrankheit — zu den Erscheinungen des
geistigen und kulturellen Lebens haben zwar von jeher aufs stärkste das Interesse
gefesselt, sind aber wirklich gründlich bisher nur insoweit gewürdigt worden, als
sie sich auf die Minder werte, die Verfallserscheinungen: Selbstmord, Vagabun-
dage, Prostitution, Verbrechen usw. erstrecken. Ihr Gegenpol: die menschlich
reizvolleren und kulturell bedeutsameren Zusammenhänge mit den seelischen II o c h-
werten wurden teils glatt vernachlässigt, teils wie in dem Lombrososchen Schlag-
wort von „Genie und Irrsinn" viel zu grobschlächtig erfaßt und bearbeitet, als
daß die gerade hier vorliegende Kompliziertheit des Zusammenspiels, die Fülle
beziehungsreicher Nüanzen und die Subtilität der daran geknüpften Problemstel-
lungen voll zur Geltung kommen konnte. .
Die Psychopathologischen Dokumente versuchen hier ein neues Fundament
zu schaffen, dessen weiterer Ausbau vielleicht einmal wird übersehen lassen, mit
welchem Formenreichtum das Pathologische in alle geistigen Lebens- und Kultur-
sphären — künstlerische, religiöse, weltanschauliche usw. — ausstrahlt, und mit
welcher Vielgestaltigkeit es sie beeinflußt. Sie bieten zunächst ein einwandfreies
Material dar, indem sie, stets auf die Quellen zurückgreifend, aus Lebensurkunden
aller Art : aus Tagbüchern, Briefen, Memoiren u. dgl. allenthalben aus dem in-
neren und äußeren Leben überragender Menschen herausholen, was irgend welche
Beziehungen zum Abnormen aufweist. Sie ordnen dann weiter die so gewonnenen
psychopathologischen Erscheinungen derart, daß ihre fließenden Uebergänge, ihre
äußeren Analogien und inneren Zugehörigkeiten zu jenen Hochwerten von selbst
sich herausheben und herausschälen. Was sich gegen die hierbei geübte Auffas-
sung und Verwertung des heiklen Begriffs des Pathologischen prinzipiell ein-
wenden läßt, darauf einzugehen, ist hier nicht der Ort. Nur das eine sei aus-
drücklich gesagt: die von Laien dem Irrenarzte so oft vorgeworfene Neigung zur
Identifizierung von überragender Persönlichkeit und Leistung mit Geisteskrankheit
liegt der Arbeit sowohl der Tendenz wie dem Ergebnis nach völlig fern. Aufgabe
und Ziel, wenn auch nur andeutungsweise erreicht, geht vielmehr dahin, durch die
vom Pathologischen gegebenen Sondergesichtspunkte gewisse bisher ungenügend
beachtete und berücksichtigte bedeutsame Wesensseiten im geistigen Wertbereiche
charakteristisch herauszuheben. In diesem Sinne fallen beispielsweise bezeich-
nende Schlaglichter auf die Psychologie des schauspielerischen, des dichterischen
Schaffens, der schöpferischen Leistung überhaupt, auf Inspiration, religiöse Kon-
version, Prophetie usw., ebenso wie Persönlichkeitstypen von kulturellem Wert
und Eigenprägung : der Abenteurer, der Fanatiker, der Erotiker, der Heilige, der
moderne Dekadent von hier aus in psychologisch neuartiger Beleuchtung er-
scheinen. Indem so nach E. Th. Hoffmanns Worten „die Natur grade beim Ab-
normen Blicke vergönnt in ihre schauerlichste Tiefe", läßt sie zugleich erkennen,
daß jene allgemein vertretene Anschauung, die Jodl in die Worte gefaßt hat:
„Vom Pathologischen aus gelangt man nie zum Großen, sondern immer nur zum
Kleinen, nie zum Unsterblichen, sondern immer nur zum Vergänglichen", in mehr
als einer Hinsicht revisionsbedürftig ist. K. Birnbaum.
Selbstanzeigen (Birnbaum — Fischer). 213
Feldkeller, Paul, Dr., Ethik für Deutsche. Gotha 1921, Friedrich Andreas
Perthes. 61 S.
Verfasser ist überzeugt, daß Eckehart und Kant, Fichte und Nietzsche die-
selbe Ethik verkünden und nur verschiedene Begriffssysteme, verschiedene Koor-
dinatengitter an ein und dieselbe Sache anlegen. An die Stelle der positiven
Gebotsethik setzt er darum die „negative Ethik", den Monotheismus der Einen,
namenlosen, durch keinen Begriff faßbaren Tugend, an Stelle der üblichen Integral-
ethik (der Ethik der „letzten Schritte") eine Kants und Fichtes „rigoristische"
Intentionen weiterbildende Differentialethik, an die Stelle der modernen zweideutig
schillernden Sozialethik eine Führerethik. Durch dialektische Weiterbildung des
Autonomiegedankens und des radikalen Formalismus gelangt diese Ethik (ebenso
wie der konsequent durchgeführte Freirechtsgedanke, siehe England) zu einer der
jesuitischen in allem entgegengesetzten Kasuistik — womit sich dann der schrauben-
förmig rotierende globus intellectualis wiederum einmal um volle 360° gedreht hätte.
Schönwalde (Mark). Paul Feldkeller.
Fischer, Ludwig:, Dr. phil., 1) Wirklichkeit, Wahrheit und Wissen.
Berlin 1919, E. S. Mittler & Sohn. VIII u. 199 S. 15 Mk.
2) Das Vollwirkliche und das Alsob. Berlin 1921, E. S. Mittler &
Sohn. VIII u. 102 S. 15 Mk.
Die Aufgabe der Philosophie als Wissenschaft der reinen Vernunft ist nach
Kant zweifach: 1) ein System aller Begriffe und Grundsätze zu geben, die sich
auf Gegenstände überhaupt beziehen ; 2j ein begriffliches System alles Gege-
benen zu entwickeln. — Das erste System wäre eine Ordnung der Allgemein-
begriffe, die auf einer vollständigen „Zergliederung aller Begriffe mit allem was
daraus gefolgert werden kann" beruht. Diese Ordnung müßte die volle Bedeutung
jener Begriffe und alle ihre wechselseitigen Beziehungen nach einheitlichem Leit-
gedanken aufdecken. — Das zweite dagegen, das System alles Gegebenen, wäre
eine „Physiologie der reinen Vernunft", d. i. eine „rationale Naturbetrachtung".
Kant hat diese Doppelaufgabe selbst nicht mehr gelöst, wenngleich er viel
nach der Lösung getastet hat bis zu seinem Ende. Die Kritik der reinen Ver-
nunft sollte nur eine „Vorbereitung" sein zum ersten Teil der Aufgabe, und
sollte anstelle der vollständigen Zergliederung und Klarstellung nur eine „Her-
zählung aller Stammbegriffe" geben. Kant bediente sich dabei einer etwas ver-
wickelten psychologischen Grundanschauung, die er ungeprüft übernehmen durfte,
da sie ihm nur zum Auffinden der Begriffe dienen sollte. Er wies aber selbst
schon darauf hin, daß den verschiedenen von ihm vorausgesetzten Vermögen der
Erkenntnis eine gemeinsame Wurzel wohl zukommen werde, die aufzusuchen aber
zur Lösung seiner beschränkteren Aufgabe nicht nötig war. Eine vollständige
Aufdeckung und Zergliederung aller Stammbegriffe unseres Denkens muß sich von
der Kantschen Systematik der Aufzählung offenbar frei machen und muß zu einer
höheren Einheit zu führen suchen.
Mein Buch „Wirklichkeit, Wahrheit und Wissen" will nun eine Lösung des
oben angeführten ersten Teils der Kantschen Aufgabe liefern. Das andere Buch
„Das Vollwirkliche und das Alsob" dagegen gibt die Grundlage und einen kurzen
Umriß für die Lösung des zweiten Teils.
Das Ergebnis des ersten Buchs kann ich hier nur bildlich andeuten als die
Aufdeckung eines weiten allgemein-begrifflichen Felds, das von einem Netz von
Beziehungsfäden durchzogen ist, das die vielfältigsten Verbindungen zwischen den
einzelnen Knotenpunkten herstellt. Damit sind die wechselseitigen Beziehungen
der Stammbegriffe nach allen Richtungen hin klargestellt und alle denkbaren Um-
formungen und alle Folgerungen, die man daraus ziehen könnte, werden unmittelbar
an die Hand gegeben. Das ist also eine allgemeine begriffliche Ordnung
unseres Denkens, oder, da dieses sich immer nur auf „Erfahrung" beziehen
kann: allgemeine begriffliche Ordnung unserer Erfahrung.
Jenes Begriffsnetz kann man nun von den verschiedensten Ausgangspunkten
durchwandern und bekommt dann ganz verschiedene Ansichten und Ordnungsweisen,
die je nach Wahl des Ausgangspunkts mehr oder weniger einfach und übersichtlich
214 Selbstanzeigen (Fischer).
sein können. Als günstigster Ausgangspunkt, als eine Art „Ordnungspol", in
dem alle Fäden zusammen laufen, von dem aus sich daher alle Beziehungen am
klarsten und einfachsten überblicken lassen, ergibt sich ein ganz allgemeiner Ur-
begriff, dessen Form sich in allen Knotenpunkten des Netzes wiederspiegelt. Das
von diesem Punkt aus gesehene Gesamtbild nenne ich die natürliche begriff-
liche Ordnung unserer Erfahrung.
In dieses umfassende Gesamtbild nun gehen die Ergebnisse der Kantschen
Kritik restlos und ungezwungen ein, abgesehen natürlich von der besonderen Fär-
bung, die sie bei Kant durch sein heuristisches psychologisches Leitgebilde be-
kommen, dessen tieferer Sinn sich nun ebenfalls offenbart. Im Schlußkapitel
gebe ich einen schematischen Ueberblick über das ganze Netz, und es zeigt sich
dabei (wenn wir im Bilde bleiben wollen), daß die Kategorien Kants nicht selbst
Knotenpunkte des Netzes, sondern vom Ordnungspol auslaufende Hauptblickrich-
tungen oder Beziehungsfäden sind, die das ganze Begriffsfeld in Gruppen teilen.
Es zeigt sich aber weiterhin, daß die verschiedenen Ordnungen, die* man
bekommt, je nachdem man das Netz vom einen oder andern Ausgangspunkt
durchwandert, und die man als verschiedene Transformationen derselben
Grundordnung auffassen kann, ganz verschiedenen Weltanschauungen entsprechen.
Ich habe das im ersten Buch nur andeutungsweise, im zweiten aber zum Schluß
etwas ausführlicher gezeigt. Man hat in den philosophischen „Systemen" oft
einen irrationalen Anteil zu erkennen geglaubt, um dessen willen sie von der
Philosophie als strenger Wissenschaft auszuschließen und dem Gebiet der Ge-
schichte und der Psychologie zu überweisen seien. Dieser Anteil läßt sich nun-
mehr zum weitaus größten Teil als rational nachweisen und man kann es unter
gewissen Vorbehalten als eine lösbare Aufgabe der Philosophie als Wissenschaft
ansehen, jedem philosophischen System seine genaue Stellung im Gesamtbild der
natürlichen Ordnung anzuweisen. Viele Hauptzüge verschiedener Systeme, die
sonst sich zu widersprechen oder unvergleichbar zu sein scheinen, kommen dabei
fast restlos zur Deckung miteinander.
In meinem zweiten Buch gebe ich nun ein ausführlicheres Beispiel einer
solchen Betrachtung der natürlichen begrifflichen Ordnung von einem vom Ord-
nungspol verschiedenen Ausgangspunkt; und zwar wähle ich einen grade ent-
gegengesetzt liegenden Standpunkt, — den „Gegenpol" könnte man ihn nennen;
und das neue Bild der Zusammenhänge nenne ich ein Kehrbild. Es entspricht
dem Sinne nach dem, was Kant als zweiten Teil aufstellt: seiner rationalen Natur-
betrachtung.
Grundbegriff des Kehrbilds ist das „Vollwirkliche". Ich entwickle zunächst
diesen Begriff ausführlich und zeige sein Verhältnis zum Ordnungspol. Das Voll-
wirkliche ist verwandt dem Kantschen Ding an sich. Es ist ein Randbegriff, den
wir seiner allgemeinen Form nach noch erfassen, aber nicht mehr mit Erfahrungs-
stoff erfüllen können. Wir können ohne ihn zwar nicht auskommen ; aber jeder
Versuch, ihn anschaulich zu erfüllen, führt zu einer unvollendbaren Stufenleiter
bedingter Formen: Als ob- Formen. Vollwirklichkeit und Alsob bilden ein Paar
sich wechselseitig bedingender und ergänzender Begriffe, die erst durch ihre
Gegenüberstellung ihre wahre Bedeutung vollständig offenbaren.
Der Vollwirklichkeitsbegriff wurzelt in dem Netz der Allgemeinbegriffe, das
ich im ersten Buch entwickelte. Andrerseits aber ist er auch unlösbar verwachsen
mit den Grundbegriffen der Naturwissenschaft. Er erscheint dort als das, was
die Naturwissenschaft durch eine fortschreitende nie vollendbare Kette von Bildern
als das hinter allen Erscheinungen Stehende herauszustellen und als letztes mög-
liches Erkenntnisziel zji erringen sucht. Die Klarstellung dieses Begriffs nach
seiner allgemeinen Bedeutung und das sich dann auf ihm als Ausgangsbegriff
aufbauende Weltbild führt zu einer Ordnung der Grundbegriffe der Naturwissen-
schaft.
Ludwig Fischer.
Selbstanzeigen (von Lippa — Mezger). 215
Ton Lippa, Lazar, Geheimer Regierungsrat, Der Aufstieg von Kant
zu Goethe. Die Philosophie und Naturbegründung des geistigen Weltbildes.
Berlin, E. S. Mittler & Sohn. 1921.
Das Buch ist die Frucht zehnjähriger Arbeit. Ich wollte eine Widerlegung
der Sozialdemokratie schreiben, überzeugte mich aber, daß sie ganz dem wissen-
schaftlichen Weltbilde entspricht, sich aus ihm in sorgfältiger und gewissenhafter
Begründung folgerichtig entwickelt hat. Das wissenschaftliche Weltbild wird von
der herrschenden Philosophie getragen. Um mit der Wurzel zu beginnen, ent-
schloß ich mich zu einem Neuaufbau der Philosophie. Für die Grundlegung bot
sich mir das Geschehen. Es ist frühere und gegenwärtige Tätigkeit, und alle
Tätigkeit ist gedacht und Denken. Das Körperliche ist dabei die Form, zu und
in der sich Denken und Tätigkeit bestimmen. Alles Tun hat einen Täter. Andrer-
seits ist das Geschehen eine offensichtliche Ordnung und Einheit. Also eine Phi-
losophie der Uebereinstimmung nach den Gesetzen der Tätigkeit und mit dem
Denken als Wegweiser zum geistigen Weltbild.
Der Haupttitel rechtfertigt sich: 1. Los von Kant, weg von seinem bildne-
rischen zu Goethes gegenständlichem Denken, von der Gebundenheit an die Be-
wußtseinsbildung, wie sie für die Wissenschaft, die Lehre der Sachlichkeit zu-
treffend ist, zur Goetheschen Augenwahrheit, seinem Naturschauen, das von solcher
Beschränkung auf das Erscheinungsgemäße frei, zur vollen Bewertung des Geistigen
gelangt, der Festlegung des Seins auf das körperliche Dasein entgeht und der
Philosophie die nötige Weite gibt. 2. Auf den Schultern Kants von der aufs
Verstandesgebiet beschränkten Wissenschaftsstufe des Denkens empor zu seiner
Goetheschen Stufe, zur Allzügigkeit Goethes, zur Erfassung aller, auch der geistigen
Werte. Kants Postulate weisen den Weg. Das Leben fordert den Fortschritt
von der Verstandeskühle Kants zur Begeisterung und Herzenswärme Goethes,
dessen große philosophische Bedeutung mehr herausgestellt wird, als es bisher
geschehen ist.
Meinen Zweck glaube ich erreicht, das wissenschaftliche Weltbild nebst
Abstammungs- oder Entwicklungslehre und Lyells Erdentwicklung — alles schöne
Gedanken, aber ihre Durchführung durchdenken, heißt sie fallen lassen — zerstört
zu haben. Das geistige Weltbild kann nur Voraussetzungen und Umrisse geben.
Wenn ich auch die Gottesbeweise durch einen neuen, den autologischen oder Selb-
ständigkeitsbeweis verstärkt habe, es bleibt ohne eigentliche Inhaltgebung. Das
Bedürfnis danach weist auf die religiösen Geltungen hin. Die Philosophie steht
als Ursprungsforschung und Quellenschätzung zwischen der Vordergrundschau der
Wissenschaft und der Offenbarungsgeltung der Theologie. Meine Philosophie ist
nicht die des Christentums und kann es grundsätzlich nicht sein, aber sie ist die
Philosophie zum Christentum. Und das ist uns bitter nötig, darum rechtfertigt
sich die Widmung auf dem Titelblatt: Dem deutschen Volke zu seiner Wieder-
aufrichtung. Lazar von Lippa.
Mezger, Edmund, Dr. jur., Staatsanwalt und Privatdozent, Sein und
Sollen im Recht. Tübingen, bei J. C.B.Mohr (Paul Siebeck), 1920. (106 Seiten.)
Untersucht wird die Frage, ob und inwieweit aus dem „Sein" das „Sollen"
des Rechts folgt.
Der Erste Abschnitt behandelt den subjektiven Ausgangspunkt
des rechtlichen Sollen s. Der „einfache Subjektivismus" (I), der im „Rechts-
gefühl" den letzten Maßstab des „richtigen Rechts" erblickt oder mit Radbruch
und Kantor owicz im „rechtsphilosophischen Relativismus" endigt, wird abge-
lehnt. Eingehende Besprechung erfährt der „kritische Subjektivismus" (II), wie
er auf neukantischer Grundlage von Rudolf Stammler in umfassender
Lebensarbeit als ein Gebäude von imposanter Großartigkeit errichtet worden ist.
Stammler hat nach Ansicht des Verfassers die Notwendigkeit einer „kritischen"
Grundlegung der Rechtslehre abschließend und überzeugend dargetan. Dies gilt
zunächst von Stammlers „Rechtsbegriff" als dem obersten Bestimmungsgrund des
„seienden" Rechts. Seine „Rechtsidee" dagegen, der Leitstern des „Seinsollenden",
216 Selbstanzeigen (Mezger— Schlemmer).
des „richtigen" Rechts, leidet an einer ungerechtfertigten Uebertragung der Er-
kenntnispostulate auf das Wollen (25—28) und führt damit zu einer unhaltbaren
„Logisierung der Werte" (30—32).
Der Zweite Abschnitt bespricht den objektiven Ausgangspunkt
des rechtlichen Sollen s. Verf. unterscheidet drei Formen des Objektivismus.
Der „kulturelle Objektivismus" (I) sucht im Anschluß an Hegel die Ableitung
des rechtlichen Sollens aus objektiv gegebenen Kulturwerten. Er ist der Stand-
punkt der historischen Rechtsschule. In seinem Mangel an erkenntniskritischer
Schärfe führt er zur Preisgabe der sittlichen Autonomie (37) und damit — auch
in der Form, die ihm V. Liszt gegeben hat — zu einer „Philosophie der inneren
Haltlosigkeit" (4C). Der „materialistische Objektivismus" (II), der nur die „ma-
teriellen" Faktoren oder mit Karl Marx nur das „materielle" Streben des Menschen
als maßgebend anerkennen will, ist ebenfalls ganz „unkritisch": er ist sehr „wäh-
lerisch" in seinen Motiven, verschleiert aber eben diese grundlegende Tatsache
der Wahl, der „Zwecksetzung" (56). Konsequenter ist deshalb der „naturalistische
Objektivismus" (III), etwa derjenige von Herbert Spencer. Er bemüht sich —
hierin umfassender als die beiden anderen Formen des Objektivismus — , die G e-
samtheit der gegebenen Natur seinen Betrachtungen zu Grunde zu legen und
gelangt damit nahe an die Wahrheit. Aber auch er übersieht, daß in der Ge-
samtheit des Geschehens einer Tatsache die logische Priorität vor allen andern
Tatsachen zukommt: der menschlichen Zwecksetzung (64).
Der Dritte Abschnitt versucht den eigenen Aufbau des recht-
lichen Sollens. Der „Ausgangspunkt" (I) des Verf. ist ein subjektiv-
kritischer. Für das „Erkennen" gilt ihm als „relatives Apriori" die Notwen-
digkeit durchgängiger Kausalbetrachtuug, für das „Wollen" der Primat teleolo-
gischer Zwecksetzung. Der „Endzweck des Rechts" (II) ist trotz der hohen Be-
deutung, die das Rechtsgefühl für das praktische Rechtsleben besitzt, ein ratio-
naler. Verf. findet ihn in Annäherung an v. Jhering in der „sozialen Lebens-
erhaltung und Lebens ent wicklung" als dem obersten Zweck alles Rechts
(79). Die „Verwirklichung dieses Endzwecks" (llt) geschieht im erkennenden
Erfassen der „sozialen Gesetze", deren Bestehen Vesf. gegen die wider sie gerich-
teten Angriffe nachzuweisen sucht (81 ff). Das „Wesen des Sozialen" (IV) wird
in der „Wechselwirkung", in der „Verbindung" der Individuen unter Ableitung
dieser Denkform aus der Kategorie der Kausalität gefunden. „Individualismus
und Sozialismus" (V) stellen keine grundsätzlichen, unerreichbaren Gegensätze
dar: im Individuum liegt alles Leben der „Gesellschaft" beschlossen, aber in der
„Anpassung" an das soziale Ganze, in der „Vereinigung" der Einzelnen zur
Rechtsgemeinschaft vollzieht sich erst die Vollendung. Die „Praxis des richtigen
Rechts" (VI) lehrt in Anklängen an die Theorie des Naturrechts die Schöpfung
neuen Rechts aus der Erforschung des psychisch-sozialen Wesens des Menschen.
Wie die Neuschöpfung des Rechts ist aber auch die „Auslegung" geltender Rechts-
normen, also die Jurisprudenz im eigentlichen Sinne, da sie niemals lediglich Be-
stehendes wiedergeben kann, verwiesen auf die „Lehre vom richtigen Recht".
Tübingen. E. Mezger.
-,
Schlemmer, Hans, Studienrat, Die religiöse Persönlichkeit in der
Erziehung. (Eine religionsphilosophisch-pädagogische Untersuchung.) Band III
der Philosophisch-pädagogischen Bibliothek. Verlegt bei der Mundus-Verlagsanstalt
G. m. b. H., Charlottenburg. 1919. 68 S.
Soll die Bedeutung der religiösen Persönlichkeit in der Erziehung klargelegt
werden, so handelt es sich zunächst darum, festzustellen, welche systematisch-
prinzipielle Bedeutung der Religion in der Struktur des menschlichen Geistes
zukommt. Diese religionsphilosophische Untersuchung macht den ersten Teil
meiner Schrift aus, worauf dann in einem zweiten Kapitel die konstitutiven Züge
der religiösen Persönlichkeit aufgezeigt werden. Nunmehr entfaltet sich das
Problem nach zwei Seiten hin. Wie wird eine religiöse Persönlichkeit gebildet?
und: Welche Rolle spielt eine religiöse Persönlichkeit bei der Bildung anderer?
Selbstanzeigen (Schlemmer — Schneider). 217
Die Lösung beider Fragen fußt natürlich ganz auf der im Eingang gegebenen
Wesensbestimmung der Religion und des homo religiosus, führt dann aber weiter
auch in die praktischen Fragen der Möglichkeiten, Wege und Faktoren religiöser
Erziehung, des religiösen Einschlags der Jugendbewegung u. s. w. Alles natürlich
in gedrängtester Kürze, aber so, daß überall die grundlegenden prinzipiellen Ge-
sichtspunkte möglichst heraustreten.
Charlottenburg. Hans Schlemmer.
Schneider, Hermann, a.o. Professor an der Universität Leipzig, Metaphysik
alsexakteWissenschaft. Heft 3 : Die Lehre vom Handeln. Leipzig, Felix
Meiner (in dessen Verlag auch Heft 1 und 2 übergegangen sind) 1921. 164 Seiten.
Zur „Lehre von der Gegebenheit" (angezeigt: Heft 1 K.-St. XXIV, 4, Seite 412 *) ;
Heft 2 K.-St. XXV, 2/3, Seite 291) tritt als zweiter Hauptteil der Metaphysik die
„Lehre vom Handeln".
Auch sie besteht aus vier Erfahrungstatsachen (No. 5—8) und den Folgen
daraus für's richtige Handeln und Bearbeiten allgemein. Die Tatsachen sind, daß
der Mensch Zwecke setzt (5), daß er Befriedigung, eigene und die anderer Men-
schen erstrebt (6), daß er frei ist (7) und daß er ausdenkt und ausführt (8); aus
ihnen folgen für's richtige Handeln allgemein die Merkmale der Richtigkeit all-
gemein, Zweckgemäßheit und Befriedigendheit, die Freiheit, richtig oder unrichtig
zu handeln, so wie die Stücke des richtigen Handelns, richtig Ausdenken und
richtig Ausführen, und deren Verhältnis ; für's richtige Bearbeiten allgemein ergibt
sich, daß es „richtiges Ausdenken" und frei ist, daß es in einer Auswahl wesent-
licher Züge aus dem Gegenstand vom Zweck aus besteht und auf Befriedigung
der Menschen abzielt.
• Wie die „Gegebenheitslehre" im Inhalt Kants „Kritik der reinen Vernunft"
entspricht, so behandelt die „Lehre vom Handeln" die Fragen der „Kritik der
praktischen Vernunft", also namentlich die der Willensfreiheit (Tatsache 7) und
des Sittlichen (Tatsache 8). Ich glaube, nachgewiesen zu haben, daß die Freiheit
des Menschen eine einfache Tatsache unserer inneren Erfahrung ist, so daß die
Annahme einer besonderen Art von „Forderungstatsachen" (Postulaten der prak-
tischen Vernunft) für sie unnötig wird; der Zwang des deterministischen Dogmas
hält einer genauen Bestimmung des Tatbestands der Freiheit und einer strengen
Kritik seiner Beweise nicht Stand. Kants Sittenlehre erfährt eine neue Beleuch-
tung, bei der besonders die scharfe Scheidung von Güter- und Sittenlehre als
entscheidende Großtat hervortritt; wie sich aber seine Begründung der exakten
Einzelwissenschaften (Mathematik und Physik) aus metaphysischen Tatsachen nicht
aufrechterhalten ließ, sondern in der „Gegebenheitslehre" eine Sonderung der
metaphysischen und einzelwissenschaftlichen Grundbegriffe vorgenommen werden
mußte, so läßt sich Sittenlehre nicht aus metaphysischen Tatsachen ableiten ; 'Ethik
und Mstaphysik haben nichts miteinander gemein. Wenn die Trennung streng
und richtig durchgeführt ist, lassen sich metaphysische Tatsachen, die durch die
Beimischung der Ethik unterdrückt waren, wie die des Zwecks, voll und rein
herausarbeiten ; auch die Lehre von Theorie und Praxis und vom Vorrang (Primat)
der einen oder anderen, bei Kant nur berührt, kommt zur Entwicklung; das
„theoretische Verhalten" zerlegt sich in zwei Inhalte, die verschiedenen metaphy-
sischen Tatsachen, der 1. und 5. (zwecklose Hingabe an den Gegenstand) und der
8. (richtiges Ausdenken, bestimmt richtiges Ausführen), zugehören.
Mit diesem 3. Heft ist mein Werk über Metaphysik (es ist 500 Seiten stark
geworden) vollendet; eine Zusammenfassung seines Inhalts, der Folgen aus allen
acht Tatsachen der Metaphysik, beschließt den Band.
„So lang es Menschen gibt, sind sie bemüht gewesen und werden sie bemüht
sein, „richtig allgemein zu handeln", d. h. ihre Zwecke zu erreichen und sich und
1) Ich benutze die Gelegenheit, einen sinnstörenden Druckfehler in Zeile 25
dieser Anzeige von Heft 1 zu verbessern: in Tatsache 1 muß „anschaulich-
bestimmt" stehen, nicht „ausdrücklich-bestimmt".
218 .Selbstanzeigen (Schneider — Van der Vaart Smit).
andere Menschen zu befriedigen, und „richtig allgemein zu bearbeiten", d. h. den
Gegenstand der menschlichen Erfahrung kennen zu lernen, um ihn zu nützen.
Das ist dem Menschen, schon als kleines Kind und als Tiermensch, so selbstver-
ständlich, daß er das „richtige Handeln und Bearbeiten allgemein" übt, ohne zu
bemerken, daß hier etwas zu lernen oder zu lehren ist. Seine ganze Aufmerk-
samkeit gilt dem „besonderen richtigen Handeln und Bearbeiten", den einzelnen
Zwecken und Befriedigungen, den Einzelwissenschaften und Künsten. Diese bilden
sich aus und werden als wertvoller Besitz bewußt; eine Wissenschaft „vom rich-
tigen Handeln und Bearbeiten allgemein" gibt es nicht, nur Wissenschaften von
Gott, Natur und Seele, vom güterlichen und vom sittlichen richtigen Handeln.
Ganz langsam erst wird durch den Kampf um Glauben und Wissen, durch das
Versagen der Einzelwissenschaften in bestimmten Fragen, die sie behandeln, ob-
gleich sie sie nichts angehen, und bei Versuchen, zur Gesamtübersicht der Er-
fahrung (System) zu kommen, klar, daß hier ein Arbeitsgebiet für eine eigene
und strenge Wissenschaft abzugrenzen und zu bestellen ist.
Die Uebung des richtigen Handelns und Bearbeitens allgemein ist das älteste
und wichtigste menschliche Tun, die Grundlage für alle Erfolge, ja für das bloße
Leben des Menschen; die Wissenschaft davon ist die jüngste (letztfertige) und
strengste (weil meist-erprobte) von allen Wissenschaften, die oberste im System,
als die vom Allgemeinsten des menschlichen Handelns, die die Gesamtübersicht
unserer Erfahrung (formal) krönt und abschließt.
Ich denke, daß es mir gelungen ist, in zwanzigjähriger Arbeit, die wissen-
schaftliche Metaphysik, die strenge Erfahrungswissenschaft vom richtigen Handeln
und Bearbeiten allgemein, erstmals ganz und in sich geschlossen hinzustellen und
dadurch ihre Selbständigkeit und Daseinsberechtigung wissenschaftlich vollends
zu erweisen.
Leipzig. Hermann Schneider.
Van der Vaart Smit, H. W., Dr. theol. an der Freien Universität zu Amster-
dam-Holland, „Die Evolutions-Theorie". 1921. 60 Seiten.
Diese Kritik der Evolutionstheorie nimmt ihren Ausgang von der Philosophie
Hermann Lotzes und sucht eine wirkliche „Lebens-Philosophie" zu geben
gegenüber der dürren Rationalistik der Evolutions- Theoretiker.
Die Schrift teilt sich in drei Teile je nach dem Gebiet der Evolutionstheorie
a) Natur, b) Geschichte, c) Religion. Diese Dreiteilung erinnert an die
Einteilung Lotzes im Mikrokosmus und zielt hin auf den Anschluß an die
kalvinistische Theologie Hollands.
Der Verfasser will insbesondere den Gedanken der „Praeformation" (teil-
weise, soweit er das Logische betrhTt, in Anschluß an Hans Driesch), geltend
machen gegenüber den „Diesseitigkeitsbestrebungen" der IJvolutionisten und sucht
mit diesem Gedanken fortzuschreiten zu einer „Transcendental-Ideologie".
Die Schrift ist verfaßt in holländischer Sprache. Ihr Verfasser ist in Hol-
land der Vertreter der Lotzeschen Philosophie und schrieb im Jahre 1917 eine
Doktor-Arbeit über: „Die Naturphilosophie und der Theismus" (171 Seiten), in
welcher er zum ersten Mal seine „Ideologie" zu entwickeln suchte. Diese „Ideo-
logie" teilte sich in a) Ontologie, b) Aetiologie, c) Teleologie und hat in breiten
Kreisen Interesse erweckt. In den Kriegsjahren hat 0. Loewe (Wesel) das Buch
ins Deutsche übersetzt (bis jetzt aber noch nicht verlegt). Seitdem hat der Ver-
fasser fortwährend diese Transcendental-Ideologie vertreten in Polemiken mit
mehreren neo - Kantianistischen Gelehrten in Holland; er behauptet, daß die Ge-
dankenlinie Augustinus-Leibniz-Lotze die richtige Protestantische Linie
gibt gegenüber der aristotelisch - thomistisch - römischen Philosophie. Jedoch man
bleibe nicht bei Lotze stehen. Lotze gibt reiche Anregungen, aber kein end-
gültiges System, dessen Ausbau zur Transcendental-Ideologie eine aussichtsreiche
Aufgabe bildet.
Das oben erwähnte Büchlein über „Evolutions- Theorie" deutet einige dieser
Perspektiven an.
Selbstanzeigen (Van der Vaart Smit — Benjamin). 219
In Süd -Afrika hatten — ganz unerwartet — diese Gedanken bereits Auf-
nahme und Verständnis gefunden. Die „Evolutions-Theorie" wird schon jetzt —
einen Monat nach Erscheinung — ins Afrikanische übersetzt.
Zu bedauern ist, daß obwohl die holländische Philosophie von der deutschen
Philosophie gründlich Kenntnis nimmt, die Beziehungen der deutschen Philosophie
zur holländischen nur sehr oberflächlich sind. Auch die Kant-Gesellschaft, welche
in den letzten Jahren viele Mitglieder in Holland gewonnen hat, hat diese Bezie-
hungen bis jetzt noch nicht vertiefen können. Hoffentlich ändern sich durch den
bevorstehenden Besuch von Prof. Dr. Liebert in Holland diese Verhältnisse, zum
mindesten soweit die Kant-Gesellschaft in Frage kommt, hoffentlich auch anderweitig.
's Graveland-Holland. Dr. H. W. van der Vaart Smit.
Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deut-
schen Romantik. Neue Berner Abhandlungen zur Philosophie und ihrer
Geschichte, herausgegeben von Richard Herbertz. Bd. 5. Bern 1920, Verlag von
A. Francke.
Der Gegenstand der Arbeit ist der romantische Begriff der Kunstkritik, dar-
gestellt im Lichte eines metahistorischen d. h. absolut gestellten Problems. Dieses
Problem lautet: welchen Erkenntniswert besitzt für die Theorie der Kunst der
Begriff ihrer Idee einerseits, der ihres Ideals andrerseits? Unter Idee wird in
diesem Zusammenhang das a priori einer Methode verstanden, ihr entspricht
dann das Ideal als das a priori des zugeordneten Gehalts". Das genante Problem
selbst kann in der vorliegenden Arbeit nicht eigentlich erörtert werden, es taucht
vielmehr erst im Schlußkapitel auf. In einer Vergleichung des Goethe'schen
Begriffs des Ideals (oder Urphänomens) mit dem romantischen der Idee sucht
dieses die reinste Sinnbeziehung des philosophie-geschichtlichen Verlaufs auf jenes
metahistorich gestellte Problem klarzulegen. Es heißt da: „Die Frage des Ver-
hältnisses der Goethe'schen und der romantischen Kunsttheorie fällt zusammen
mit der Frage des Verhältnisses des reinen Inhalts zur reinen Form. In diese
Sphäre ist die angesichts des Einzelwerkes oft irreführend gestellte und dort
niemals genau zu lösende Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt zu
erheben. Denn diese sind nicht Substrate am empirischen Gebilde, sondern
relative Unterscheidungen an ihm, auf Grund notwendiger reiner Unter-
scheidungen der Kunstphilosophie getroffen. Die Idee der Kunst ist die Idee
ihrer Form, wie ihr Ideal das Ideal ihres Inhalts ist. Die systematische Grund-
frage der Kunstphilosophie läßt sich also auch als die Frage nach dem Ver-
hältnis von Idee und Ideal der Kunst formulieren".
Natur und Kunst sind Kontinuen der Reflexion, Reflexionsmedien. Daher
ist „die romantische Theorie des Kunstwerks die Theorie seiner Form. Denn
die begrenzende Natur der Form haben die Romantiker mit der Begrenztheit
jeder endlichen Reflexion identifiziert und durch diese einzige Erwägung den
Begriff des Kunstwerks innerhalb ihrer Anschauungswelt determiniert". Von
dieser Erkenntnis aus wird die Exposition ihrer wichtigsten kunsttheoretischen
Begriffe, der Ironie, des Werks, der Kritik unternommen. Für die letztere ergibt
sich als Aufgabe die Auslösung und Darstellung der Reflexion über das Werk
in diesem selbst. Unter der Voraussetzung nämlich, daß das Kunstwerk ein
gleich lebendiges Zentrum der Reflexion ist, erscheint eine Potenzierung dieser
Reflexion, welche die Romantiker zugleich als die gesteigerte Selbsterkenntnis
des Reflektierenden auffassen, als möglich. Dieser Sachverhalt begründet ihre
Theorie der Kritik, welche sich demnach von der heutigen depravierten und
richtungslosen Praxis der Kunstkritik nicht nur durch ein hohes Niveau, sondern
zugleich durch methodische Besinnung unterscheidet. Diese erlaubt, wie im Ver-
lauf der Darstellung sich zeigt, durchaus eindeutige Merkmale für die echte
Kritik aufzustellen. Eine Analyse der romantischen Theorie der Prosa stellt
den Zusammenhang her, in welchem die Schätzung des Romans als des Gipfels
der Poesie mit der hohen Ausbildung der Kritik, zugleich mit bedeutungsvollen
Tendenzen der gegenwärtigen Literatur steht und führt durch die Darstellung
der Prosa als der „Idee der Poesie" zu dem Schlußkapitel „die frühromantische
Kunstkritik und Goethe" über. Walter Benjamin.
Mitteilungen.
Richard Falckenberg -f.
Von Hermann Leser-Erlangen.
In der Stille der letzten Herbstferien ist der geschätzte Lehrer an der
Erlanger Universität und bekannte Verfasser der vielbenutzten, im In- und
Auslaud gelesenen „Geschichte der neueren Philosophie" Richard Falcken-
berg plötzlich heimgegangen. In seinem geliebten Jena, das der Geist
unserer Klassiker umschwebt, ist er am 28. September vorigen Jahres im
fast vollendeten 69. Lebensjahre gestorben; und dort haben wir ihn auf
dem hochgelegenen Friedhofe zur letzten Ruhestätte begleitet.
Die erhebende Trauerfeier, zu der sich ein auserlesener Kreis von
Freunden und Verehrern des Verstorbenen eingefunden hatte, konnte bei
aller Wehmut des Scheidens kein herbes Gefühl aufkommen lassen. Sie
war seinem Wunsche und seiner Angabe gemäß vom Zauber der Töne, die
er selbst in Theorie und in großem pianistischen Können beherrscht hatte,
umsponnen und so in das verklärende Licht der Schönheit gerückt wie die
Berge ringsum, auf denen das milde durchsichtige Licht der scheidenden
Herbstsonne lag.
Die Feier war das Symbol seines Lebens und Sterbens. Beides zum
Kunstwerk zu gestalten, entsprang einem unmittelbaren Drange seines Wesens,
und das Ideal der Euthanasie schwebte ihm ausgesprochenermaßen noch in
seiner Todesstunde vor. Zwei Genien hatten ihn durchs Leben geleitet.
Beiden war er so ergeben, daß sie zeitweilig mit einander streiten konnten,
als es sich um die Berufswahl handelte. Er entschied sich für die philo-
sophische Laufbahn, ohne dem künstlerischen Genius untreu zu werden.
Nur um so reiner konnte er ihm huldigen; und dankbar blickte er in
seiner Todesstunde auf beide zurück.
Von Jena war er ausgegangen, und gern kehrte er in den Ferien
dahin zurück, mit dem dortigen Idealismus und mit seinem Lehrer Eucken
in Freundschaft verbunden. Geboren am 23. Dezember 1851 in Magde-
burg, kam er nach Absolvierung des Gymnasiums in Dessau 1872 als
Studiosus nach Jena, wo er von dem im gleichen Jahre nach Heidelberg
gehenden Kuno Fischer für die Philosophie und für ihre geschichtliche Ge-
stalt gewonnen wurde und Fortlage hörte und außerordentlich schätzen
lernte. Nachdem er seine philosophischen Studien in Leipzig, Halle, Er-
langen und Göttingen fortgesetzt und an der letztgenannten Universität
starke Eindrücke von Lotze erhalten hatte, kehrte er nach Jena zurück,
promovierte hier 1877 und habilitierte sich drei Jahre später mit seiner Ar-
beit über Nikolaus Cusanus (erschienen 1880). Seit 1886 Herausgeber der
Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, wurde er nach Er-
Mitteilungen. 221
scheinen seines Geschichtswerkes zum a. o. Professor ernannt und erhielt
zwei Jahre später gleichzeitig einen Ruf nach Erlangen und Dorpat. Er
nahm den ersteren an und begann seine fruchtbare Lehrtätigkeit mit der
1890 erschienenen Antrittsrede „Ueber die gegenwärtige Lage der Philo-
sophie".
Er war in erster Linie Lehrer und alles, auch die schriftstellerische
Produktion, ordnete sich seinem philosophischen Lehrberufe unter. Ich
erinnere noch an seine Herausgabe von „Frommanns Klassiker der Philo-
sophie" (seit 1896), an seinen Aufsatz über „Euckens Kampf gegen den
Naturalismus" (aus der Luitpold-Festschrift von 1901) und vor allem an
sein „Hilfsbuch zur Geschichte der (deutschen) Philosophie seit Kant"
(2. Aufl. 1907). Ein philosophischer Führer der akademischen Jugend
wollte er sein und ist er vielen geworden. Es gibt verschiedene Wege
der philosophischen Führung, und es ist schon viel über den besten de-
battiert worden. Falckenberg beschreitet den Weg der Geschichte,
gangbar gerade bei der Philosophie. Und gerade auf diesem Wege konnte
ihm der künstlerische Genius die Hand reichen, und er verhalf ihm zu
jener Klarheit und Abrundung, die seine Schriften wie seinen Vortrag aus-
zeichneten. Wie im klassischen Griechentum war es bei ihm das ästhe-
tische Element, das alles erleuchtete und verklärte, die Schwere des Stoffes
milderte, ihn darstellungs- und aneignungsfähig machte, ihm das Grelle
und Herbe nahm.
Aber ohne ihn zu verwaschen ! Die künstlerische Abklärung war vor
allem das Zeichen eigener persönlicher Verarbeitung, die aber der wissen-
schaftlichen Exaktheit und Akribie durchaus nicht im Wege stand. Sein
Hauptwerk zeigt es deutlich. Und dabei hatte er einen feinen Instinkt
für das spezifisch Philosophische an der Philosophie, das zu allem Wissen-
schaftlichen und Wissenschaftsmethodologischen hinzukommen muß, soll
dieses bei all seiner sonstigen Bedeutsamkeit dem Vorwurf philosophischer
Unerheblichkeit entgehen. Auf dieses spezifisch Philosophische zielte er in
seiner Weise, wenn er sagte, daß die großen philosophischen Systeme
„ihre letzte Wurzel im Affekt haben", daß sie „in höchster Instanz Sache
des Glaubens, des Gefühls, des Entschlusses sind". Mag in dieser Würdi-
gung zugleich etwas von der kühlen skeptischen Reserve stecken, die einen
echten Zug des Historikers ausmacht, der nicht handelt, sondern betrachtet
und sich der Relativität aller menschlichen Gebilde bewußt ist; es lag
darin doch auch der Sinn für den eigentlich philosophischen Geist.
Falckenberg fühlte die Ebbe, die bei aller Regsamkeit seit der Hochflut
des deutsch-klassischen Idealismus eingetreten, und blickte als Historiker
nach den wenigen nach-hegelschen „weit in die Lande schauenden Türmen"
aus. (Aus der 1904 gehaltenen Gedächtnisrede „Kant und das Jahrhundert".)
Noch bezeichnender spricht er von „wenigen Berggipfeln, vom Abendrot
des deutschen Idealismus verschönt, und zugleich Boten und Bürgen einer
neuen Aera mit bescheideneren Zielen aber solideren Methoden". Und
daß er in Lotze den größten dieser Berggipfel sah und ein Werk über ihn
begonnen hat (nur im ersten biographischen Teil erschienen 1901), ist
nur historische Gerechtigkeit und rückt seine eigene Auffassung über die
Aufgaben der Philosophie in gutes Licht.
222 Mitteilungen.
Er hatte gewiß auch einen Blick für das Dionysische, wie es etwa
in Fichte atmete. Er selber aber war keine impulsive, sondern eine
ausgesprochen ästhetisch-kontemplative Natur. In ihm ist nichts von den
Gespanntheiten, wie sie in jenem Denker auftreten und den deutsch-
klassischen Genius etwa W. von Humboldts ablösen. Vielmehr wie dieser
eine rein betrachtende, ästhethisch verarbeitende und dadurch sich selbst
gestaltende Natur. Der vom platonischen Eros verklärte Blick auf die
Fülle der historischen Gestalten war sein Erbteil.
In seinem Verhältnis zur Berufsarbeit kommt dieses Apollinische seiner
Natur rein zum Ausdruck. Ich habe keinen philosophischen Lehrer kennen
gelernt, der mit solch innerster Freude und begeisterter Anteilnahme an
seinem Dozentenberufe hing, aber wie ein ausübender Künstler erst in den
Saal trat, nachdem er den Stoff nicht nur dem Inhalt, sondern auch der
Form nach bis ins Einzelnste durchgearbeitet und vollkommen gemeistert
hatte. Am Ringen mit den Problemen ließ er darum den Hörer weniger
teilnehmen. lieber die Art des philosophischen Lehrens läßt sich wiederum
vieles hin und wider sagen, und die Falckenbergsche paßt nicht für jeden.
Aber er hat vielen das Tor der Philosophie geöffnet.
Seine Lehrart hängt also mit dem in ihm verkörperten klassisch-har-
monischen Persönlichkeitsideal zusammen. Der Schriftsteller, sagte ich,
dient dem Lehrer. Und der Lehrer vollendet sich im Ganzen der Persön-
lichkeit, ist nichts für sich, sondern soll ein natürlich-ungezwungener Aus-
druck von dieser sein. Falckenberg wirkte schließlich und eigentlich durch
das, was er war. Wenn er nie vor dem Hörer erschien, bevor er seinen»
Stoffe die abgeklärteste Form verliehen hatte, so war eben für ihn die
künstlerische Abklärung der Philosopheme ein Zeichen wenn nicht ihrer
Wahrheit, so zum mindesten der eigenen persönlichen Besitzergreifung, die
Garantie des eigenen Sieges im wissenschaftlichen — und sittlichen —
Kampf mit dem Stoffe. Von diesem Kampfe läßt er, wie gesagt, so gut
wie gar nichts merken. Aber was dadurch vielleicht an Anregungen und
Impulsen für den philosophischen Schüler verloren geht, wird ersetzt durch
jenes Fluidum, das von einer ganzen Persönlichkeit ausgeht, alle ihre
Aeußerungen verklärt und ihnen den Stempel schlichtester Wahrhaftigkeit
und Sachlichkeit aufdrückt. In gespannteren Zeiten als es die sogenannten
klassischen sind, oder gar in solch verworrenen wie der heutigen, wo man
aus dem Gröbsten erst wieder aufbauen muß und wo es so viel nach außen
zu tun gibt, da mag es besonders nahe liegen, zuerst darauf zu sehen,
was einer leistet, für objektive Zwecke und Güter schafft. Zur Würdi-
gung von Persönlichkeiten wie derjenigen Falkenbergs muß die erste Frage
sein, was er selber war. Denn dadurch vor allem, durch sein abgeklärtes
persönliches Sein wollte und konnte er recht eigentlich wirken.
Gerade darum scheint er die Musik nicht zum Beruf erwählt zu haben.
Um ihr, wie schon von anderer Seite bemerkt worden ist, die Treue ganz
rein bewahren zu können. Konnte er sie doch so vor allen empirischen
Nöten und Nötigungen, vor jeder Forciertheit und jedem äußeren Muß
bewahren.
Der entsprechenden Gefahr des philosophischen Berufes konnte
er nur entgehen durch die Bildung der eigenen philosophischen Persönlich-
Mitteilungen. 223
keit und innerhalb der Berufsausübung durch Fernhaltung alles Nichtge-
mäßen. Und eben darin war er groß. Durch das persönliche Sein zu
wirken, das ist zweifellos der idealste Weg des Wirkens. Er verhindert,
falsche Pfade im Berufe einzuschlagen. Falckenberg gehört zu den feinen
Geistern, die sich nicht erst auf ihre Schranken besinnen müssen, weil sie
eben jenem stillen Wirken huldigen, das aus dem harmonisch gesättigten
Sein quillt.
So ist er durchaus fern geblieben jener Sphäre des bloßen Scheins,
den Rousseau in seiner grotesken Gestalt gezeichnet hat, fern von allem
Glänzenden und Schimmernden, allem Künstlichen und Gezwungenen. In
der -Erinnerung steht er vor uns in der Schönheit seiner edlen Natur, deren
stilles Wirken keine eigenmächtige Willkür unterbrach. Auf dieses stille
Wirken muß man achten, will man ihn voll würdigen.
Das mag darum nur einem möglich sein, dem es, wie mir, vergönnt
gewesen ist, ihm persönlich näher zu treten und vor allem im Hause
Falckenberg lange Jahre ein- und auszugehen und auch an dessen Freuden
und Sorgen persönlicher teilzunehmen. Denn der Blick gerade in seine
Familie rundet sein Bild, vor allem hinsichtlich des rein Menschlichen seiner
Persönlichkeit, in schönster Weise ab. Gerade bei ihm kam erst hier
neben der stillen feinen Gelehrtenpersönlichkeit und dem feinsinnigen
Künstler der Mensch, durch jene Seiten verklärt, zur vollen Erscheinung.
Gerade hier konnte man sehen, wie wirklich über seinem Leben neben
dem Genius der Philosophie der reine bezaubernde Hauch der Kunst und
vor allem der Musik schwebte und es verschönte. Gerade in der wunder-
baren Lebenseinheit seiner Familie zeigte sich dieser Geist des Haus-
herrn in bestem Lichte. Von allen Gliedern strahlte die künstlerische
Abgeklärtheit seines Wesens eigentümlich, aber immer harmonisch wieder;
alles aber auf dem Grunde tiefer, weiter, frommer Herzlichkeit. Wer
davon kosten durfte, wie ich zum letztenmale noch kurz vor seiner Ab-
reise nach Jena, wo ihn bald der Tod ereilen sollte, der wird herzlich
bedauern, dass ihm diese reine Gestalt nicht mehr begegnen wird.
Aber er wird ihn selber glücklich preisen. Das Leben ist ihm nichts
Wesentliches schuldig geblieben. Sonnig verlief sein Berufsleben in Schrift-
steller- und in Lehrtätigkeit. Sonnig bis zuletzt war sein Familienleben.
Wohl zogen zeitweilig drohende Wolken hinter seinem Hause auf. Aber
alle wichen schließlich wieder strahlendem Sonnenschein, und seine drei
Söhne kehrten gesund und ehrengeschmückt aus dem Felde zurück.
Aber gerade in solchen kritischen Zeiten, wie sie wiederholt über seinem
Hause lagen, habe ich ihn vorbildlich groß gesehen. Vor allem in der
freien Beherzigung des Wortes: Seid dankbar in allen Dingen! Wie er
einst in besonders schwerer Stunde zu mir sagte: was ihm an Erfüllung
seiner nächsten dringendsten Wünsche noch beschert werden möchte, werde
er von jetzt ab als ein Gnadengeschenk empfangen, — so betrachtete er
schließlich alles Gute, das ihm in seinem Leben zu teil geworden, als
Geschenk. Und eben darum ist ihm das Leben nichts schuldig ge-
blieben. Eben deshalb, weil er ihm das Größte zu entnehmen gelernt
hatte, das überhaupt aus ihm zu holen ist: jene idealen Lebenswerte —
224 Mitteilungen.
nnd zugleich jene innere Freiheit und Selbstbescheidung gegenüber dem
Leben, bei aller dankbaren Hingabe^ an dasselbe.
Und schließlich: still und groß ist er gegangen, mit jener heiteren
Ruhe des Weisen, der die Lebensgüter dankbar genießt und auf die ge-
nossenen und auch auf das, was ihm selbst zu wirken vergönnt gewesen,
dankbar zurückblickt, weil er das alles irgendwie in seinen dauernden
höheren Besitz verwandelt hat; der aber über dem allen auch gelernt hat,
den Fuß nur leicht aufzusetzen, und darum bereit und fähig ist, auch die
letzte Seite seines Lebensbuches still und dankbar umzuschlagen.
Eine klassisch-apollinische Natur in der Tat bis in seine letzten Atem-
züge hinein. Und es scheint, als ob ein besonderer Sinn und eine innere
Gerechtigkeit darin liege, daß es ihm vergönnt gewesen ist, in seinem
letzten Semester noch einmal mit ungetrübter Freude gerade über die Ge-
schichte der griechischen Philosophie zu lesen: als ob er sich hier
doch am meisten heimisch gefühlt habe, in diesen klaren Linien reinen
Menschentums, wie wir sie nur bei solcher historischen Entfernung zeichnen
können. Das klassische Griechentum, nimmt es sich nicht still und bleich
aus gegen den mächtigen Pulsschlag der Gegenwart? Jedenfalls aber zeigt
es sich für unseren durch die Distanz frei gewordenen Blick gereinigt von
allen Schlacken und Verworrenheiten des Tages und zeigt uns die ideale
geistige Menschlichkeit in ihren lapidaren Zügen. Sie heißen Sachlichkeit,
Objektivität, die ihrerseits von ideellen Notwendigkeiten zehren, vom reinen
Hauche des Unbedingten berührt sind. Was ist in dieser verzerrten Gegen-
wart, in dieser Zeit spekulativer Ermattung und empirischer Zerfahrenheit
nötiger, als uns zurückzufinden und vor allem unsere akademische Jugend
immer wieder zurückzuführen zu den Quellen, aus denen schon unser
klassisch- deutscher Genius den Mut des reinen — und schließlich auch
willensstarken Lebens getrunken hat!
Otto Willmann -f.
Am 1. Juli v. J. ist der katholische Philosoph und Pädagoge Otto
Willmann in Leitmeritz gestorben. Mit ihm ist einer der markantesten
Persönlichkeiten innerhalb der katholischen Geisteswelt aus dem Leben ge-
schieden, ein Mann, dessen hohe Bedeutung als führender Pädagoge weit
über den Kreis seiner Schüler und Glaubensgenossen hinaus anerkannt wird.
Am 24. April 1839 in Lissa i. Posen geboren und ebendort auf dem
Comenius- Gymnasium vorgebildet hat er seine Studien auf den Universi-
täten Breslau (1857 — 59) und Berlin (1859 — 1863, hier besonders von
Trendelenburg beeinflußt) vollendet. W. hat lange gerungen, ehe es ihm
gelang, eine gefestigte Welt- und Lebensauffassung sich zu erwerben.
Ernstes geistiges Streben und ein geradezu erstaunlicher Betätigungseifer
zeichnen ihn von Jugend an aus. Vorübergehend sucht er sich am kanti-
schen Kritizismus zu orientieren. Entscheidend wird er aber erst von
Herbarts Pädagogik beeinflußt.
Seine erste öffentliche Wirksamkeit zeigt ihn uns bei der praktischen
Ausübung des Erzieherberufs am Zillerschen Seminar und an Barths Er-
Mitteilungen. 225
Ziehungsinstitut (1863 — 68). Im Jahre 1868 wird er an das neugegründete
Wiener Pädagogium berufen, wo er fast 5 Jahre neben Dittes wirkte. Im
Jahre 1872 erhält er die Professur für Pädagogik an der Prager Univer-
sität. Hier gründete er im Jahre 1876 das von ihm musterhaft geleitete
pädagogische Universitätsseminar. Seit 1910 lebte er, zurückgezogen, aber
keineswegs wissenschaftlich untätig, in Leitmeritz im Ruhestand.
"W. ist, wie erwähnt, Herbartschüler, aber er ist mehr als das, er ge-
hörte zu den geistvollsten Fortbildnern der Herbartschen Pädagogik, denen
es zu verdanken ist, daß die fruchtbaren Anregungen des Begründers einer
wissenschaftlichen Pädagogik, von ihren Mängeln und Einseitigkeiten be-
freit, heute noch unter uns lebendig sind. Er gibt sich dabei als durchaus
selbständiger Denker zu erkennen. Mit einem ausgeprägten Sinn für ge-
schichtliche und soziologische Beziehungen begabt fühlt er sich bald von.
der philosophischen Grundlegung der Herbartschen Pädagogik unbefriedigt.
In der ersten Zeit seiner Prager Lehrtätigkeit bereitet sich dann jene für
sein Leben so bedeutsame Wandlung vor, die ihn über Leibniz in der
aristotelisch-thomistischen Philosophie die lange vergeblich gesuchte
geschlossene Weltauffassung finden ließ. Seitdem trat er immer entschie-
dener als begeisterter Vertreter einer von christlichem Geiste beseelten
Philosophie auf. Viel Aufsehen erregte in dieser Beziehung die z. T. recht
temperamentvoll geschriebene dreibändige „Geschichte des Idealismus"
(1894/97; neue Aufl. 1907), die als kühner Versuch einer großzügigen
Synthese bleibenden Wert behält, so wenig an manchen Stellen die Be-
handlung der Einzelheiten befriedigen mag.
Sein Meisterwerk ist die (erstlich 1882 erschienene) „Didaktik als
Bildungslehre nach ihren Beziehungen zur Sozialforschung und zur Ge-
schichte der Pädagogik" (4. Aufl. 1909). Was Gediegenheit des Inhalts,
Reife und Abgeklärtheit des Urteils und Geschlossenheit der Form anbe-
trifft, hält dieses Werk jeden Vergleich aus. Noch heute wird es jeder
pädagogisch Interessierte mit reichem Nutzen studieren. Frei von jeder
störenden Polemik wird hier das Bildungsproblem historisch und systematisch
so erschöpfend dargestellt, daß es für viele unter den neueren Pädagogen
eine dankbar benutzte Fundgrube pädagogischen Wissens geworden ist, —
auch für solche, die es unterlassen, sich ausdrücklich auf ihre Quelle zu
berufen !
Von der Fülle seiner übrigen Veröffentlichungen, in denen er seine
reiche Lebenserfahrung weiteren Kreisen in anziehender Form bis in die
letzten Lebensjahre hinein darbot, seien hier nur noch die Schrift „Ari-
stoteles als Pädagog und Didaktiker" (1909, in der von Lehmann heraus-
gegebenen Sammlung „Die großen Erzieher") und die Neuherausgabe von
Herbarts Pädagogischen Schriften (3. Aufl. 1913 f.) erwähnt.
Der hohe Rang, den er als Pädagoge, besonders in katholischen Kreisen,
sich errang, gibt sich auch darin kund, daß bei der Herausgabe des „Lexikon
der Pädagogik" durch Koloff es einfach selbstverständlich war, dieses kühn
unternommene und inzwischen durchaus geglückte Unternehmen mit Will-
manns Namen zu decken.
Nun ist dieser Altmeister wissenschaftlicher Pädagogik heimgegangen.
Sein geistiger Einfluß wird aber hoffentlich jetzt erst, da viele seiner
Kantetudien XXVI. 15 «
226 Mitteilungen.
Schüler selbst zu Ansehen gelangt sind, voll zur Geltung kommen. Den
z. T. recht überstürzten Reformversuchen moderner Pädagogik wäre jeden-
falls eine starke Dosis Willmannscher Besonnenheit und Gründlichkeit sehr
heilsam !
Braunsberg, Ostpr. B. W. Switalski.
Rudolf Euckens Lebenserinnerungen *).
Von Dr. Georg Frebold in Hannover.
Zu den vielen Lebenserinnerungen, die uns die jüngste Zeit von Feld-
herrn und Diplomaten bescheerte, gesellen sich nun auch die Erinnerungen
zweier der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart. Wilhelm Wundt
vollendete kurz vor seinem Tode das Bild seines Lebens in „Erlebtes und
Erkanntes", Rudolf Eucken faßt soeben die Erinnerungen seines Lebens
zu einem Stück deutschen Lebens zusammen. Daß gerade jetzt, wo das
Streben unseres Volkes so arg gelähmt scheint, die Mitarbeiter an des
einstigen Reiches Herrlichkeit ihre Erinnerungen uns schenken, scheint uns
mehr als ein bloßes Vergnügen am Erzählen vom eignen Werden und
Kämpfen, vom eignen Wirken und Schaffen. Eucken kennzeichnet treffend
sein neuestes Werk als ein Stück deutschen Lebens. Diese Bezeichnung
gebührt allen Lebenserinnerungen der letzten Zeit, denn sie führt uns in
der Tat in den tiefsten Sinn dieser Selbstbiographien. Ihr tiefster Sinn
aber liegt in der Bedeutung, die sie für unsere gegenwärtige Jugend haben.
Sie, deren Streben vorwiegend noch Pietät vor der geschichtlichen Größe
der Vergangenheit besitzt, mag sich das Lebensschaffen dieser Großen
ständig vor Augen halten, um mit kraftvollem Idealismus und aufrichtigem
Wollen an der Wiedererstarkung unseres Volkes mitzuarbeiten. „Dem
Alter zur Ehre, der Jugend zur Lehre". Darin liegt die doppelte Be-
deutung aller dieser Lebenserinnerungen.
Das Schaffen und Wirken eines Philosophen ist anderer Art wie das
der Feldherrn und Diplomaten. Es äußert sich nicht in handgreiflichen
Taten heroischer Art, es ist weit mehr ein kraftvolles und einheitliches
Wirken in der Sphäre geistigen Lebens als der Grundlage unseres Denkens
und Handelns. Am eigentümlichsten offenbart sich das in Euckens ge-
samten Bestrebungen. Viele können kein sonderliches Verhältnis zu seiner
Leistung gewinnen, können ihn nicht verstehen, da sein philosophisches
Schaffen so sehr von aller schulmäßigen Philosophie sich abhebt. Jede
Philosophie hat ihr eigenes Grundproblem, von dem sie ausgeht und von
dem aus sie alles Weitere in mehr oder weniger energischer Besinnung
entwickelt. In einem Falle spielt die verstandesmäßige Durchdringung der
Wirklichkeit die Hauptrolle, ein anderer sieht im religiösen Licht die
Lösung der Daseinsrätsel und einem dritten gar erscheint der gesamte
Lebensprozeß, nicht diese oder jene besondere Seite an ihm, als sicherster
Ausgangspunkt. Die letztere Art der Philosophie aber gewinnt dadurch
1) Rudolf Eucken, Lebenserinnerungen. Ein Stück deutschen
Lebens. Verlag K. F. Koehler, Leipzig 1920. V, 127 Seiten.
Mitteilungen. 227
einen umfassenden Charakter, daß der Lebensprozeß als schöpferische Tätig-
keit, als Selbsttätigkeit erscheint, die alle Gebiete des menschlichen Lebens
durchdringt. Das Verhältnis von Mensch und Welt erhält nun nicht mehr
seinen Sinn von der alleinigen überragenden Fähigkeit des Denkens her,
die Welt entwickelt sich nicht lediglich im Denken, sondern vor allem
aus der Selbsttätigkeit des Menschen. Alle Selbsttätigkeit aber ist per-
sönlicher Art, sie ist durchgängig ethisch orientiert; damit aber steht die
Welt nicht als beziehungsloses Objekt uns gegenüber, sondern alles erhält
erst durch unser Schaffen einen Sinn und Wert. Das hat zunächst den
Anschein eines Subjektivismus; in Wahrheit aber liegt die Sache so, daß
das Subjekt nur eine Stufe eines umfassenderen Lebens, des Geisteslebens,
darstellt; der Mensch ist die Stufe, auf der dieses in eigentümlicher Tätig-
keit auf das Ganze der Welt wirkt. Gewiß erscheint in solcher Stellung
des Menschen eine Bevorzugung, aber eine solche, die ihre Berechtigung
vom Ganzen des Geisteslebens her erweisen kann, die Bevorzugung ist un-
verdiente Gnade. Das ist in kurzen Worten der Ausgangspunkt der Philo-
sophie Euckens.
Nun würden an sich solche Ueberzeugungen noch nicht wesentlich
weiterführen, gewännen sie nicht eine besondere Bedeutung gerade im
Ganzen der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart. Als tief innerlich
veranlagter Philosoph tritt Eucken an alle Leistungen unserer Kultur heran,
sie prüfend und wägend nach ihrem Gehalt für das persönliche Leben der
Menschen. Der Anfang seiner Tätigkeit und auch ein großer Teil seines
späteren Schaffens fällt in jene Zeit materialistischer und positivistischer
Bestrebungen, die der Epoche zwischen 1860 und 1890 ein so eigentüm-
liches Diesseitsgepräge geben. In solcher Lage entwickeln sich Eucken
schwere Probleme. Eine reichhaltige Vergangenheit, die dem Menschen
eine gewisse Sonderstellung zuerkannte, wirkt in diese Kultur bloßer äußer-
licher Leistung hinein. Mit solcher Vergangenheit grundsätzlich brechen,
wäre pietätlos, wenn nicht überhaupt eine unmögliche Forderung; anderer-
seits enthalten die neuen Kulturleistungen viel Bedeutsames, das sich
schlechterdings nicht bei Seite schieben läßt. Der hierin liegende Wider-
spruch verdichtet sich für Eucken zu dem einen Hauptproblem : Wie können
wir ganz moderne Menschen, Menschen der Gegenwart sein, ohne ein tief-
inneres Verhältnis zu allem Großen der Vergangenheit aufzugeben? Es
ist letztlich der Gegensatz von Natur und Geschichte, der dieser Frage
zu Grunde liegt, der aber einen besonderen Sinn im Lichte einer vornehm-
lich ethisch orientierten Lebens anschauung erhält. Die Frage aber wird
gestellt von einem, dem die Geschichte die eigentliche Sphäre menschlichen
Wirkens ist.
Jedoch fordert solche Frage zunächst eine energische Besinnung über
das, was die Leistungen der Gegenwart an grundlegenden Elementen auf-
zuweisen haben. Sie fordert eine kritische historisch-systematische Erörte-
rung der philosophischen Grundbegriffe. So entstehen als Euckens erste
größere Schriften die „Geschichte und Kritik der Grundbegriffe der Gegen-
wart" (1878) (später unter dem Titel „Geistige Strömungen der Gegen-
wart") und die „Geschichte der philosophischen Terminologie" (1879). In
der Erörterung solcher Einzelprobleme wird der eigene Standpunkt geklärt
15*
228 Mitteilungen.
und befestigt und schon 1885 wird in den „Prolegomena zu Forschungen
über die Einheit des Geisteslebens" ein methodologischer Vorläufer zu einer
umfassenden systematischen größeren Arbeit geschaffen. 1888 erscheint
dann das systematische Hauptwerk in der Gestalt der „Einheit des Geistes-
lebens in Bewußtsein und Tat der Menschheit". Aber wie sehr auch das
hier behanflelte Hauptproblem von großer Bedeutung für eine weitere
Oeffentlichkeit ist, es ist doch seiner strengen Fassung nach zunächst für
den engeren Kreis der Philosophen bestimmt. Aber selbst hier findet es
infolge des Vorwiegens antimetaphysischer Strömungen nicht die gebührende
Beachtung. Nur Paul Natorp und Rudolf Seydel erkennen die hohe Be-
deutung des Euckenschen Strebens. Mehr Erfolg schien eine historische
Darstellung des Lebensproblems zu versprechen, 1890 erscheinen „Die
Lebensanschauungen der großen Denker", die sich rasch einen großen
Freundeskreis im In- und Auslande gewinnen; gegenwärtig liegt die 15.
und 16. Auflage vor. Die Zeiten wandten sich und so konnte auch eine
neue Grundlegung der Lebensanschauung in zugänglicherer Sprache die
Beachtung weiterer Kreise erhoffen: „Der Kampf um einen geistigen Lebens-
inhalt" (1896). Es. hat diese Schrift zunächst auch nur Beachtung in
einem kleineren Kreise gefunden, aber bald ist sie weiter vorgedrungen
und hat Euckens Philosqphie in der Schätzung weiterer Kreise zu be-
gründen geholfen.
Was aber im Rahmen seiner Ueberzeugungen besonderes Interesse
beanspruchte, war die Religion. Auch sie war in den Strudel naturalisti-
scher und positivistischer StrömuDgen hineingezogen und ihres inneren Ge-
haltes für viele Menschen beraubt. Worauf ihr Anspruch auf Wahrheit
beruhe und wie er zu begründen sei, das erforderte eine größere Unter-
suchung im „Wahrheitsgehalt der Religion" (1901); sie und Hermann
Siebecks „Lehrbuch der Religionsphilosophie" sind neben den Arbeiten von
Troeltsch wohl die bedeutendsten religionsphilosophischen LeistuDgen der
letzten 50 Jahre. Der Wahrheitsgehalt der Religion wird zu einer Apo-
logie aller Religion, zu einer Apologie des Christentums. Daß aber alle
Anerkennung des Christentums nicht auch schwere Schädigungen in seiner
historischen Gestaltung übersieht, dafür zeugt diese sowie die spätere
kleinere Schrift „Können wir noch Christen sein?" (1911). Seine Stellung
zum Christentum faßt Eucken in die Worte zusammen: „Unsere Frage
war, ob wir heute noch Christen sein können? Unsere Antwort ist, daß
wir es nicht nur können, sondern sein müssen. Aber wir können es nur,
wenn das Christentum als eine mitten im Fluß befindliche weltgeschicht-
liche Bewegung anerkannt, wenn es aus der kirchlichen Erstarrung aufge-
rüttelt und auf eine breitere Grundlage gestellt wird. Hier also liegt die
Aufgabe der Zeit und die Hoffnung der Zukunft".
Euckens Streben wurde bekannter, namentlich im Auslande, weniger
in Deutschland. Vor allem in Amerika, den nordischen Ländern, Frank-
reich, weiterhin dann in Indien, China und Japan fand es lebhaften Wider-
hall. Solche größere Anerkennung im Auslande ist wohl der Grund für
den Vorwurf, daß Eucken mehr mit dem Auslande als mit seinem eigenen
Volke sympathisiere. Aber die Anerkennung des Auslandes hat ihn auch
uns schätzen gelehrt und solcher Umweg über das Ausland erweckt dann
Mitteilungen. 229
leicht den Eindruck, als sei Euckens Streben mehr auf das Ausland als
auf das eigene Volk gerichtet. Nur Oberflächlichkeit vermag so zu ur-
teilen. Als eine für weitere Kreise berechnete systematische Darstellung
folgten dann die „Grundlinien einer neuen Lebensanschauung" (1907) und
das kürzere „Der Sinn und Wert des Lebens" (1908). Namentlich das
Letztere ist in weite Kreise gedrungen. Philosophische Hauptprobleme
erfahren eine leichtverständliche Erörterung 1908 in der „Einführung in
eine Philosophie des Geisteslebens" (jetzt unter dem Titel „Einführung in
die Hauptfragen der Philosophie" 1920).
Schon bald, nachdem auch die eigentlichen Vertreter der Philosophie
sich ernsthaft mit Euckens Bestrebungen beschäftigt hatten, wurde bei aller
Schätzung seiner Leistung der Wunsch nach einer, näheren erkenntnistheo-
retischen Grundlegung . seiner Philosophie laut. Zu solcher Forderung
drängte namentlich das Vordringen des Pragmatismus, sodaß sich alle
einzelnen Probleme um die Hauptfrage nach dem Verhältnis von Leben
und Erkennen verdichteten. Kurz vor seiner Amerikareise 1912 erschienen
die Voruntersuchungen hierzu in der kleineren Schrift „Erkennen und
Leben". Wesentlich vertieft und auf weit größerer Grundlage unternommen
wurden dann die Untersuchungen in dem 1918 erschienenen Werk „Mensch
und Welt. Eine Philosophie des Lebens". Bei aller Verwandtschaft mit
dem Pragmatismus zeigen Euckens Ueberzeugungen doch so gewaltige
Unterschiede im Vergleich zu diesen, daß eine Einreihung Euckens in den
Pragmatismus grundsätzlich nicht gerechtfertigt ist. Der Pragmatismus
erweist die Wahrheit des Denkens von seiner rationellen Anwendung im
täglichen Leben her; was' sich nützlich und förderlich zeigt, das kann erst
volle AVahrheit beanspruchen. Bei Eucken gibt es wohl eine Wahrheit
des Denkens, aber sie erhält erst vom Ganzen des Geisteslebens her eine
ausschlaggebende Bedeutung. Nicht das ist wahr, was sich nützlich er-
weist, sondern nur das, was das Wirken eines höheren Lebens offenbart.
Das ist zwar keine Absage an jegliches Erkennen, aber es ist eine Ver-
schiebung des Hauptproblems der Philosophie von ihm in den Bereich ur-
sprünglichen Lebens. Es ist kein Kampf gegen den Intellektualismus über-
haupt, sondern ein Kampf gegen seinen Anspruch, alles, auch das Irra-
tionale von sich aus völlig begreifen zu können, ohne Rücksicht auf die
lebendige Persönlichkeit zu nehmen.
Das aber ist in der Tat Euckens größte Bedeutung, daß er mit allem
Nachdruck eine ethische Orientierung unserer Lebensanschauung fordert.
Das macht ihn zum Fichte unserer Zeit (vgl. sein „Zur Sammlung der
Geister" 1913) und zum Erneuerer eines hoffnungsfreudigen Idealismus
des Lebens. Alles das aber hindert nicht, ihn als treuen Hüter von
Idealen einer großen Vergangenheit zu schätzen, ja, auf seine Hauptfrage
die Antwort zu geben, daß ein moderner Mensch daran kenntlich ist, daß
er im Ganzen seines Lebens in Geschichte und Gegenwart steht.
Lebenserinnerungen kann man nicht kritisieren, sie können nur ein
Erlebnis für den Leser werden. Ob dabei solch Erlebnis nachhaltig wirkt,
ob es zu einer Offenbarung wird, das bemißt sich ganz nach dem inneren
-Gehalt der wirkenden Persönlichkeit. Und da meinen wir allerdings, daß
in diesen Lebenserinnerungen eine volle und ganze Persönlichkeit sich gibt,
230 Mitteilungen.
energisch in der Konzentration der Arbeit wie in der Einheitlichkeit der
Ueberzeugung. Kein Wort aber vermöchte besser den Sinn dieses Schaffens
und Lebens wiederzugeben als das des psalmistischen Sängers : „Und wenn's
köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen".
, Philosophie und Schule.
(Zum Problem der philosophischen Propädeutik.)
Auf Grund vielfacher Anregungen aus dem Kreise unserer Mitglieder,
besonders aus demjenigen des höheren Lehrerstandes, veranstaltete die Geschäfts-
führung der Kant- Gesellschaft am Sonnabend, den 15. Januar 1921, einen
Diskussionsabend in den Räumen der Berliner Universität, der von etwa 500
Teilnehmern besucht war. Referate hatten die Herren Studienräte Dr. Otto
Freitag und Dr. Felix Behrend, sowie Herr Universitätsprofessor Dr. Eduard
Spranger freundlichst übernommen. Von diesen Berichten, an die sich eine
sehr lebhafte Aussprache anschloß, veröffentlichen wir in Folgendem die
Darlegungen von Herrn Dr. Freitag und Herrn Dr. Behrend.
Philosophie und höhere Schule.
Von Studienrat Dr. Otto Freitag.
Ich habe den Auftrag, über das Verhältnis von Philosophie und
höherer Schule den einleitenden Bericht zu geben, der bei der Kürze der
gestellten Frist nur in ganz allgemeinen Linien gehalten sein kann. Es
kommt mir daher weniger darauf an, Neues zu diesem Gegenstande zu
sagen ; das ist fast kaum möglich bei der Fülle der Literatur, sondern ich
möchte möglichst viele Seiten des weitschichtigen Themas als Grundlage
für die Aussprache berühren.
Für die Neugestaltung des Lehrplanes der höheren Schulen ist die
Frage des philosophischen Unterrichts zweifellos eine der wichtigsten und
brennendsten. Gleichzeitig ist sie sicherlich die verwickeltste und schwie-
rigste. Je mehr man sich in dieses Problem vertieft, um so schwieriger
erscheint es, und fast möchte man an einer befriedigenden Lösung ver-
zweifeln. Wenn es heißt, welche Philosophie man habe, hänge davon ab,
was für ein Mensch man sei, so gilt das Wort wohl auch für die Stellung
des einzelnen zu der Frage der philosophischen Propädeutik. Welche Form
des Philosophieunterrichts an höheren Schulen man für richtig hält, hängt
auch wohl davon ab, was für ein Mensch man ist.
Wie ist der gegenwärtige Stand des philosophischen Unterrichts auf
den allgemeinbildenden höheren Schulen? Ausgangspunkt unserer Betrach-
tung müssen die zur Zeit geltenden Lehrpläne in Preußen sein. Seit den
Lehrplänen von 1891 ist Philosophie als Pflichtfach aus dem Lehrplan
verschwunden. In den jetzt geltenden Lehrplänen von 1901 wird sie in
Verbindung mit dem deutschen Unterricht dem Ermessen der einzelnen
Anstalten anheim gestellt. Bei den Lehraufgaben für den deutschen Unter-
Mitteilungen. 231
rieht heißt der letzte Absatz: „Wünschenswert erscheint eine in engen
Grenzen zu haltende Behandlung der Hauptpunkte der Logik und der
empirischen Psychologie." In den methodischen Bemerkungen für das
Deutsche: „Die Prosalektüre soll zumal auf der Oberstufe den Stoff für die
Erörterung wichtiger allgemeiner Begriffe bieten. Durch zweckmäßig ge-
leitetes Lesen dieser Art wird die philosophische Propädeutik, deren Auf-
nahme in den Lehrplan der Prima an sich wünschenswert ist, wirksam
unterstützt, da aber, wo die Verhältnisse ihre Aufnahme nicht ermöglichen,
wenigstens einigermaßen ersetzt werden können. Aufgabe solcher Unter-
weisung ist es, die Befähigung für die logische und spekulative Auffassung
der Dinge zu stärken und dem Bedürfnisse der Zeit, die Ergebnisse der
verschiedensten Wissenszweige zu einer Gesamtanschauung zu verbinden,
in einer der Fassungskraft der Schüler entsprechenden Form entgegenzu-
kommen. Zu wünschen ist, daß zur Förderung dieser Aufgabe auch die
Vertreter der übrigen wissenschaftlichen Lehrfächer beitragen." Einen wesent-
lichen Schritt weiter gehen die Lehrpläne - für das höhere Mädchenschul-
wesen von 1908. Sie schreiben für die Studienanstalt im Rahmen des
deutschen Unterrichts philosophische Propädeutik vor, mit besonderen
Stunden für Logik, psychologische Betrachtungsweise und eine hierauf sich
gründende Beurteilung ethischer Probleme an der Hand ausgewählter Lek-
türe. Als Ziel wird bezeichnet: „das sehr lebhafte Interesse an den Vor-
gängen des Innenlebens zu befriedigen, die intellektuellen Bedürfnisse an-
zuregen, Mittel zur intelellektuellen Selbstzucht zu geben, Verständnis für
philosophische Fragen und Aufgaben anzubahnen."
Durch die letzten Knabenschullehrpläne ist also der philosophische
Unterricht freigestellt. Eine Stichprobe durch Ueberprüfung der Pro-
gramme von etwa 50 preußischen und hessischen Vollanstalten aus dem
Jahre 1914 ergab, daß Philosophie in keinem erwähnt war. In Sachsen
und Baden lagen die Verhältnisse etwas günstiger, in Sachsen war Philo-
sophie in etwa einem Viertel der Programme vertreten, meist in Verbindung
mit dem deutschen Unterricht, vereinzelt als Sonderfach mit einer Wochen-
stunde entweder in beiden oder einer Prima. Der Unterricht beschränkte
sich meist auf Logik und Psychologie, war bisweilen auch anderen philo-
sophischen Fragen erkenntnistheoretischer, metaphysischer und ethischer
Natur gewidmet.
Fragt man, ob die gegenwärtig geltende Lehrverfassung demnach das
Verhältnis von Philosophie und höherer Schule befriedigend regelt, so muß
mit einem klaren Nein geantwortet werden. Diese Erkenntnis kommt auch
in der starken Gegenbewegung zum Ausdruck, die sofort nach dem Aus-
scheiden der Philosophie aus dem höheren Schulunterricht einsetzt und auf
ihre Wiedereinführung hinarbeitet. Diese Bewegung hat in den letzten
Jahren immer stärkere Formen angenommen. Die letzten Jahrzehnte bringen
eine außerordentlich reiche Literatur zur Propädeutik - Frage. Mehrfach
haben die Direktoren-Konferenzen, Philologenversammlungen, die Tagung
der Naturforscher und Aerzte sich mit der Frage beschäftigt, Männer, die
in der Wissenschaft und der Welt der Schule gleich gute Namen haben,
wie Ziegler und Paulsen haben ihre warnende Stimme erhoben und dringend
die Wiedereinführung der Philosophie verlangt, ferner Rehmke, Eucken,
Mitteilungen,
Otto Braun, von Schulmännern besonders Alfred Rausch, Otto Weißenfela,
Alfred Biese, Friedrich Neubauer. Rudolf Lehmann hat dem Gegenstande
seine besondere Liebe gewidmet. Ich möchte es hier nicht unterlassen,
den Dank an den Mann abzustatten, der in mühevoller Arbeit einen großen
Abschnitt dieser weitverzweigten Literatur gesammelt und kritisch gesichtet
hat, und der damit für alle, die an diesem Gegenstande arbeiten, außer-
ordentlich wertvolle Vorarbeit geleistet hat — Hans Schmidkunz.
Die letzte bedeutungsvolle Stellungnahme des gesamten höheren Lehrer-
standes liegt vor in den Ergebnissen der Kasseler Tagung des Vereins-
verbandes akademischer Lehrer Deutschlands vom 1. Dezember 1919. In
den Leitsätzen zur Neugestaltung des Schulwesens hieß es: „Es ist dafür
Sorge zu tragen, daß in keiner Schule auf der Oberstufe Einführung in
die philosophische Denkweise fehlt. Spätestens in der Oberprima ist in
2 Stunden philosophische Propädeutik zu lehren." In der endgültig ange-
nommenen Fassung heißt es dagegen nur: „In keiner höheren Schule darf
auf der Oberstufe Einführung in die philosophische Denkweise fehlen. "
Die besonderen Propädeutik-Stunden sind als Forderung also fallen ge-
lassen.
Dagegen fordert der Verbandstag des Vereins für 4eu*sche Bildung
in seiner letzten Tagung von 1920 für die deutsche Oberschule (deutsches
Gymnasium) 2 Stunden für Philosophie in den beiden Oberklassen.
Für unser Thema wird also zunächst zu fragen sein: Aus welchen
Gründen muß philosophischer Unterricht überhaupt auf höheren Schulen
wieder eingeführt werden? Daran wird sich die 2. Frage schließen: Wie
soll der philosophische Unterricht gestaltet werden, welches sollen seine
Ziele und sein Umfang sein, welches seine Stoffe und Methoden?
Eine klare Stellungnahme zu diesen Fragen ist m. E. ganz unab-
trennbar von der Frage nach den wechselvollen Schicksalen, die der Pro-
pädeutik-Unterricht im Verlauf der Geschichte des höheren Unterrichts
bisher gehabt hat. Im 18. Jahrhundert teilt sich die Schule und die philo-
sophische Fakultät der Universität in die Vermittlung der allgemeinen Bil-
dung, die als Unterbau für das Fachstudium dienen soll. Sie ist neben
mathematischer, naturwissenschaftlicher und sprachlich-historischer Richtung
auch wesentlich philosophischer Natur. Im Schulunterricht der Oberstufe
kommen vor: Metaphysik, Ontologie, natürliche Theologie, Logik, Psy-
chologie, Ethik, Naturrecht, Politik, Rhetorik. Am Anfang des 19. Jahr-
hunderts wird durch die Schaffung des neuhumanistischen Gymnasiums die
allgemeine Bildung von der Universität so ziemlich ganz auf die Schule
verlegt, sodaß auf der Universität regelmäßig gleich das Fachstudium beginnt.
In dem Lehrplanentwurf des neuhumanistischen Gymnasiums von 1816 durch
Süvern ist der philosophische Unterricht gänzlich fallen gelassen und
damit die Philosophie aus der Allgemeinbildung ausgeschaltet. Unter dem
Einflüsse Hegels wird 1825 der Propädeutik- Unterricht in der Philosophie
und zwar in Logik und Psychologie allerdings nicht zur Pflicht gemacht, aber
doch als im Grunde unerläßliche Aufgabe bezeichnet. Nach einer Be-
stimmung des Jahres 1835 ist der Unterricht vom Mathematiklehrer zu
geben. Der Wiesesche Lehrplan von 1856 rät, philosophische Propädeutik
nicht als selbständiges Fach anzusetzen, sondern die Logik mit dem deut-
Mitteilungen. 233
sehen Unterricht zu verbinden. 1862 wird durch Verfügung vor ungebühr-
licher Vernachlässigung gewarnt, die Aufnahme eines Vermerkes im Abi-
turientenzeugnis über die Aneignung der Elemente der Logik und Psycho-
logie angeordnet. Der Lehrplan von 1882 betont zwar die Notwendigkeit,
zugleich aber auch die Schwierigkeit des Unterrichts und die Seltenheit
seines Gelingens. Es wird den einzelnen Anstalten anheimgegeben, ob das
Fach weitergelehrt werden solle. Der Lehrplan von 1891 läßt die philo-
sophische Propädeutik als „oft recht unfruchtbar betriebene Lehraufgabe"
gänzlich fallen. Damit ist der völlige Niedergang in Preußen erreicht.
Mit dem Lehrplan von 1901 beginnt bereits wieder der Aufstieg. Das
Bild während der letzten hundert Jahre ist also folgendes: Hatte man die
philosophische Propädeutik eingeführt, so schob man sie bei Seite. Hatte
man sie bei Seite geschoben, so fühlte man wieder ihre Unentbehrlichkeit.
.Wir sehen, sie ist das Schmerzenskind des höheren Unterrichts. Daher
stammt auch die skeptische Stimmung ihr gegenüber. Soll man es auf
Grund der trüben Erfahrungen in den letzten hundert Jahren nicht ein-
fach bei dem gegenwärtigen Verfahren belassen? Aber diese wechselvollen
Schicksale des philosophischen Unterrichts sind letzten Endes bedingt durch
den Wandel und Wechsel der geistigen Strömungen und die veränderte
Stellung der Philosophie im Geistesleben der Nation überhaupt. Erst diese
geschichtlichen Tatsachen bieten den Schlüssel für das Verständnis der
Schicksale, die der Philosophie-Unterricht gehabt hat, und erst von ihnen
aus gewinnen wir auch gleichzeitig Maßstäbe und Richtungspunkte für die
gegenwärtige Propädeutik-Frage.
Das 16. und 17. Jahrhundert hatte eine Schul - Philosophie in der
aristotelischen, das* 18. in der Wolffischen. Kant bedeutet den Wendepunkt
in der Geschichte der philosophischen Propädeutik. Seit Kants Revolution
gab ' es kein anerkanntes Schulsystem mehr. Damit hat die Philosophie
ihre schulmäßige Lehr- und Lernbarkeit verloren. Der Neuhumanismus
glaubt in seinem Bildungsideal einen vollgültigen Ersatz für die Philo-
sophie bieten zu können. Daß die großen spekulativen Systeme im ersten
Drittel des 19. Jahrhunderts nicht für den Schulunterricht geeignet seien,
hielten auch ihre eigenen Urheber für ausgemacht, z. B. Hegel und Herbart.
Wohl aber glaubte man, daß Logik und Psychologie zwei geeignete Schul-
disziplinen seien, um den Schüler für das systematische Studium, womit
der Universitäts Unterricht beginne, reif zu machen. Man glaubte so den
Weg gefunden zu haben, auf der Schule die Abgründe der neuen Philo-
sophie vermieden zu haben und doch ein gut Stück Philosophie geben zu
können, von wo aus der Schüler nun auf der Universität in das Studium
der großen spekulativen Systeme einlaufen könne. In den dreißiger Jahren
erfolgte der große Zusammenbruch der Spekulation, es beginnt die Periode
des Niederganges der deutschen Philosophie, die etwa das zweite Drittel
des Jahrhunderts erfüllt. Die Universitäts-Philosophie verzichtet auf un-
mittelbare Erfassung des J^ebens und seiner Probleme und ist meist histo-
risch-kritische Wissenschaft. Hand in Hand damit geht der glänzende1
Aufschwung der Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften. Das
allgemeine Interesse der Gebildeten wendet sich diesen zu. Die Philosophie
verfällt in Verachtung. Im Volke greift eine materialistische Weltanschauung
234 Mitteilungen.
und völlige Gleichgültigkeit gegenüber den philosophischen Fragen Platz.
In dieser Zeit fristete nun der Propädeutik-Unterricht in Logik und Psy-
chologie ein kümmerliches Dasein. Woher sollte auch den Lehrern, die
unter diesen Verhältnissen ihre Ausbildung genossen hatten und meistens
Fachphilologen waren, das lebendige Interesse kommen? Der Propädeutik-
Unterricht war mit dem deutschen Unterricht verbunden und wurde meist
auf die Logik beschränkt. Die lateinischen Elementa logices Aristoteleae
Trendelenburgs, 1836 erschienen und oft wieder aufgelegt, bildeten im all-
gemeinen die Grundlage des Propädeutik-Unterrichtes. Dieser beschränkte
sich vielfach ganz im philologischen Sinne auf Uebersetzen und Inter-
pretation der Trendelenburgs chen Elementa.
Daß diese Art des Philosophie-Betriebes völlig unzulänglich war und
in keiner Weise geeignet, tieferes nachhaltigeres Interesse zu erwecken,
daß er wohl meist die Form grauenvoller Oede angenommen hat, ist ohne
weiteres klar. Die Erinnerung an diese Form des Philosophie-Unterrichts
ist es nun wohl, durch die sich die Abneigung gegen einen besonderen
philosophischen Unterricht erklärt.
Wie hat sich nun aber seitdem die allgemeine Lage der Philosophie
überhaupt gestaltet? Mit dem letzten Drittel des Jahrhunderts beginnt
sie sich von ihrem Niedergang zu erholen, und es folgt der stetig wach-
sende Anstieg der philosophischen Bewegung bis in unsere Tage.
Eine außerordentlich rege literarische Produktion hat sich entfaltet,
auf allen Teilgebieten herrscht reichstes Leben, philosophische Werke
werden wieder gelesen, die Hörsäle haben sich gefüllt, die philosophischen
Vorträge finden das lebhafte Interesse in allen Kreisen, und die philo-
sophischen Gesellschaften wachsen beständig an Teilnehmerzahl.
In der Volkshochschulbewegung bahnt sich die Philosophie mutig ihren
Weg. Kurz, ein völliger Umschwung in der Schätzung der Philosophie
hat sich vollzogen. Es geht ein tiefes Suchen und Sehnen nach Philo-
sophie durch unsere Zeit, so daß es wohl den Anschein hat, als ständen
wir am Beginn eines philosophischen Zeitalters.
Welches ist nun die wesentliche Gesamtrichtung dieser philosophischen
Bewegung der Gegenwart? Mit einem Wort, die Philosophie will wieder
Wissenschaft vom Ganzen, will Weltanschauung sein. Ueberall regt sich
der Drang, über die „positivistischen Grenzpfähle" hinauszuschauen, das
Streben nach einer Deutung des physischen Weltbildes durch einen ver-
ständlichen Sinn ist erwacht. Es ist der tief im Wesen der menschlichen
Seele selbst gesetzte, unausrottbare metaphysische Trieb, der so alt ist wie
die Menschheit, der sich gegenwärtig wieder mit aller Stärke regt. „Der
Einheitstrieb der menschlichen Vernunft", sagt Wundt, „ist es, der sich
nicht genügen lassen will, das Einzelne zu erkennen und innerhalb der
beschränkten Sphäre, der es zunächst angehört, mit anderem einzelnen in
Beziehung zu setzen, sondern der zu einer Weltanschauung gelangen möchte,
in der die getrennten oder nur lose verbundenen Bruchstücke unseres
Wissens zu einem Ganzen geeint sind. Ferner ist für die moderne philo-
sophische Bewegung charakteristisch der Zug zu den Werten.
In seiner eigenen Brust findet der Mensch eine zweite Welt, eine
Welt der Zwecke und Ziele, Ideale und Werte. Er will wieder wissen,
Mitteilungen. 235
was die Welt für ihn bedeutet, was das Leben für einen Wert hat und
was er tun soll, um es wertvoll zu machen. In diesem Sinne wird Welt-
anschauung zu einem gegliederten System geltender Lebenswerte.
Die neue philosophische Bewegung ist z. T. aus den Einzelwissen-
schaften selbst hervorgewachsen, aus Physik und Mathematik, Physiologie
und Biologie,( Geschichte und Sprachwissenschaft. Ueberall macht sich das
steigende Bedürfnis der Spezialwissenschaften nach philosophischer Klärung
ihrer Grundbegriffe und Voraussetzungen, sowie das Verlangen nach einer
Synthese und Ausdeutung der Ergebnisse geltend.
Freilich eins steht dabei fest : die Zeit schrankenloser Spekulation is.t
für die die wissenschaftliche Philosophie für immer vorbei. Der Zusammen-
bruch der deutschen Naturphilosophie im 19. Jahrhundert hat für immer
den Beweis erbracht, daß es hoffnungslos ist, abseits von dem, was die
moderne Wissenschaft mit ihren exakten Methoden von der Natur erkannt
hat, irgend etwas über das Wesen der Welt zu ergründen. Ausgangspunkt
aller wissenschaftlichen Philosophie liegt fortan in den Ergebnissen der
Einzelwissenschaften, und auf ihnen haben alle Versuche eines Weltverständ-
nisses aufzubauen. Will man die Hauptrichtung der modernen philosophi-
schen Bewegung unter gewisse einigende Formeln fassen, so könrite man
sagen, sie ist einerseits Prüfung der Voraussetzungen und Methoden der
Einzelwissenschaften, also Wissenschaftslehre. Andererseits sieht sie ihre
Aufgabe in der Zusammenfassung unserer Einzelerkenntnisse zu einer die
Forderungen des Verstandes und die Bedürfnisse des Gemütes befriedigenden
Welt- und Lebensanschauung, ist also Weltweisheit im ursprünglichen Sinne.
Diese Aufgabe, die Welt und das Leben in seiner Ganzheit zu erfassen,
wie es im wirklichen Erleben gegeben ist, kann keine Einzelwissenschaft
leisten, denn deren Arbeitsweise zerlegt die Gesamtheit des Wirklichen
künstlich in seine einzelnen Teile, sie erfaßt nur einen bestimmten Aus-
schnitt des Wirklichen und kann nicht zu einer Gesamtanschauung ge-
langen. Die begriffliche Ueberschau über das Ganze leistet nur die Philo-
sophie. Die Untersuchung über den Geltungsanspruch von Idealen und
Lebenswerten ist ebenfalls eine lediglich philosophische Aufgabe.
Diese philosophische Bewegung ist ja nicht auf die zunftmäßige Wissen-
schaft beschränkt, sondern eine bis in die tiefsten Tiefen der gesamten
Volksseele sich hinabzweigende Erscheinung, sie steigt aus den letzten
Gründen der Gesamtkultur unserer Zeit empor.
Wo liegen ihre Ursachen? Auf den ersten Rausch über die Errungen-
schaften in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft ist der große Rück-
schlag erfolgt. Die objektive Kultur hat in immer rastloserer Arbeit der
Einzeldisziplinen, in immer sich potenzierender Verzweigung und Speziali-
sierung Formen angenommen, die den Einzelmenschen zu erdrücken drohen.
Angstvoll steht er vor diesem Uebermaß aufgehäufter Empirie, die er
geistig nicht mehr zu bewältigen vermag. Eine Ueberfülle sich wider-
streitender Gedankenmassen strömt auf den Einzelnen ein. Der Einzel-
mensch sieht Welt und Kultur nur in einem bestimmten Ausschnitt, in
besonderer Einstellung, wie sie durch seinen Beruf, seinen Lebenskreis, seine
Wissenschaft bedingt sind. So liegt es im Wesen dieser modernen arbeits-
teiligen Kultur, daß sie den Einzelmenschen und die soziale Gemeinschaft
236 Mitteilungen.
Braseinanderreißt, Di«' einzelnen Gruppen der geistig auseinanderfaltenden
Volksgemeinschaft verstehen sich kaum noch. Die Hinwendung zur Philo-
sophie ist die Reaktion der Persönlichkeit gegen das Ueherflutetwerden mit
geistigen Stoffmassen. Die Angst vor dem Unverbundenen , Chaotischen
treibt zur Vereinheitlichung, zur begrifflichen Durchdringung und Zurück -
führung auf letzte einfache Linien und Prinzipien. Diese Arbeit zu leisten,
ist wesentlich Aufgabe der Philosophie.
In diese Luge hat der Weltkrieg und die ungeheure soziale Erschütte-
rung zweifellos eine ganz außerordentliche Verschärfung gebracht. Die
Not der Seele hat sich vielfach zur Unerträglichkeit gesteigert. Scheinbar
unzerstörbare Lebensüberzeugungen sind entwurzelt, die tragenden Pfeiler
so mancher "Weltanschauung zerbrochen. Ebenso wie der staatliche und
wirtschaftliche wankt auch der geistige Grund, auf dem wir standen. Das
Gefüge der Einzelseele lockert sich wie das der sozialen Gemeinschaft.
Unter allgemeiner Erschütterung und brausendem Beifall bezeichnete Adolt
von Harnack auf der Reichsschul-Konferenz als die eine von den zwei
Aufgaben, die sich jeder in diesen schweren Tagen stellen sollte: Wie
komme ich zu einer einheitlichen Weltanschauung? und als zweite: Die
Liebe, die so umfassend ist wie das menschliche Leben und so tief, wie
die menschliche Not.
So ergibt sich also als eine der wichtigsten Aufgaben unseres Geistes-
lebens für die Zukunft die Forderung nach Zusammenfassung und geistiger
Durchdringung der objektiven Kultur, nach Vereinheitlichung und Verinner-
lichung, Schaffung von Normen und Lebensüberzeugungen, Erziehung zur
Persönlichkeit mit wissenschaftlich begründeter Lebens- und Weltanschauung.
Die Funktion, die diese Arbeit leistet, ist das philosophische Denken. Da-
mit ist die Sonderaufgabe der Philosophie, ihre Notwendigkeit und Be-
rechtigung gegenüber den Einzelwissenschaften bestimmt und der Philo-
sophie' wieder ihr bevorzugter Platz unter den Wissenschaften zugewiesen.
Ziehen wir nunmehr die Verbindungslinien von diesen Gedankenreihen
zu unserem Thema Philosophie und Schule. Lamprecht äußert sich einmal
über das Verhältnis von Schule und Gesamtkultur: „Die Schulgeschichte
ist nur zu verstehen an der Hand der Bildungsideale. Dabei folgt die
Schule im allgemeinen diesen Idealen, sobald sie aus unbewußten Tiefen
her in der Gesamtkultur zum Ausdruck zu gelangen beginnen, doch trägt
im weiteren Verlaufe sie dazu bei, diese Ideale zu erfassen, zu gestalten,
und wird damit auch selbst im eigentlichen Sinne ein Moment des Fort-
schritts und der Kultur."
Es ergeben sich aus dem Bisherigen mehrere Folgerungen: 1. Der
gesamte Aufstieg der philosophischen Bewegung verlangt, daß ihm die
Schule in ihrem Betriebe Rechnung trägt und philosophische Bildung in
ihre Organisation aufnimmt. Es geht nicht mehr an, daß diese wesentliche
Seite der objektiven Kultur in den Bilduugsfächern der Schule überhaupt
nicht zum Ausdruck kommt. 2. Der Charakter" dieser Bewegung ist gänz-
lich veränderter Natur gegenüber der Struktur jener Zeit, in denen Logik
und Psychologie den Charakter der herkömmlichen philosophischen Pro-
pädeutik auf der Schule annahmen und der philosophische Schul-Unterrichf
in Mißkredit kam. Die Voraussetzungen von damals treffen heute nicht
Mitteilungen. . \ 237
mehr zu. Das Mißtrauen gegenüber der Philosophie ist nicht mehr be-
rechtigt. 3. Der Gesamtcharakter der gegenwärtigen philosophischen Bewegung
selbst muß die Wege zeigen, die ein philosophischer Schulunterricht zu
gehen hat. Er muß die Richtung auf die Weltanschauungsfragen haben und
aus den wissenschaftlichen Schulfächern hervorwachsen.
Die höhere Schule von heute ist im allgemeinen ein getreues Abbild
der Verworrenheit und Zerrissenheit, wie sie die gesamte Kultur bietet.
Ein vielerlei von Lehrfächern und Stoffen beherrscht den Lehrplan. Vor-
wiegend ist das stoffliche und enzyklopädische Interesse, der Gesichtspunkt
der Fachdisziplin. Jedes einzelne Wissensgebiet arbeitet auf der Schule
nur auf die Sonderziele und mit den Sondermethoden seines Faches, sodaß
im Kopfe des Schülers ein Wirrwar von verschiedenen Wissensfragmenten
entsteht. Die Vertiefung und Durchdringung, die Verknüpfung des Ge-
samtwissens bleibt die Schule im allgemeinen schuldig.
Auf die schweren Schäden, die sich daraus für den gesamten 'Bildungs-
stand ergeben, hat Friedrich Paulsen oft und beredt hingewiesen. Auf
der Hochschule wenden sich die meisten sogleich dem Fachstudium zu. Nur
einen Bruchteil führt die Universität in das philosophische Denken ein.
Sollen alle die andern ohne jede Berührung mit der Philosophie bleiben ?
Die Folge der jetzigen Schulverfassung ist doch, daß der großen Mehrzahl
all unserer Gebildeten ein ungemein wichtiges Stück deutschen Geisteslebens
für immer verschlossen bleibt. Der Mangel an Orientierung über die letzten
Fragen der Wirklichkeit und des Lebens ist ganz erstaunlich für den, der
einmal den Blick auf diese Dinge lenkt. Obwohl der größte Teil unserer
Gebildeten dem Inhalt der geltenden religiösen Weltanschauung innerlich
entfremdet ist, machen doch die allerwenigsten den Versuch, etwas gedank-
lich Begründetes an die Stelle zu setzen, und so entsteht jene Zusammen-
han gslosigkeit des Denkens über die letzten Ziele des menschlichen Lebens,
wie sie charakteristisch für unsere Zeit ist. Bloße Gedankenlosigkeit, sich
vornehm gebärdender Skeptizismus, oberflächlicher Materialismus oder Her-
einfallen auf krauseste Theosophie und verschwommene Metaphysik sind
teilweise die Folgen der Hilflosigkeit, in der die Schule den Schüler läßt.
Hat die Schule hier nicht die heilige Verpflichtung, helfend einzugreifen,
zu klären und dahin zu führen, was man verständigerweise überhaupt
fragen darf?
Die Forderung nach Wiedereinführung der Philosophie läßt sich auch
noch durch eine psychologische Erwägung stützen. Wie steht im allge-
meinen der Schüler der Oberklassen zu Fragen philosophischer Natur? Es
ist eine unbestrittene Tatsache, daß diesem Lebensalter ein besonderes
intellektuelles Verlangen und ein starker metaphysischer Drang innewohnt,
der sich stürmisch auf die letzten Fragen des Daseins richtet. Der jugend-
liche Geist wird in diesen Jahren von quälenden Fragen und Zweifeln hin
und her geworfen. Es beginnt die persönliche Auseinandersetzung mit den
bisher autoritativ hingenommenen geistigen Mächten: Familie, Gesellschaft,
Staat, Religion. Das Erkenntnisstreben dieser Lebensjahre hat etwas Reines
und ist noch unberührt von den niederziehenden Tendenzen praktischer
Natur, die im späteren Leben diesen Drang oft zum Ersticken bringen.
Dieser Weltanschauungstrieb findet in den offiziellen Schulfächern mit Aus-
238 Mitteilungen.
nähme des Religionsunterrichtes zweifellos nicht die genügende Befriedigung,
sondern diese erfolgt größtenteils außerhalb des Rahmens der Schule und
wird zum Teil aus trüben Quellen genährt. Schon Paulsen hat behauptet,
daß der „Haeckelismus" unserer Primaner die natürliche Folge unserer
Lehrverfassung sei.
So kommt das natürliche Bedürfnis dieses Lebensalters der Philosophie
entgegen wie kaum einem andern Fach. Es gilt daher nur, in der rich-
tigen "Weise anzuknüpfen.
Zwei Richtungen treten in der Propädeutikliteratur der letzten Jahr-
zehnte hervor. Die eine glaubt, von besonderen Lehrplanstunden absehen
zu können. Sie will philosophische Durchdringung und philosophischen
Geist in allen Unterrichtsfächern. Es ist die Forderung nach Philosophie
im Unterricht, die „immanente" Propädeutik, die in jedem einzelnen Unter-
richtsfach die in ihm liegenden philosophischen Elemente aufzeigt und
fruchtbar macht, sodaß also der ganze höhere Unterricht in philosophischem
Geiste erteilt werden soll und die philosophischen Belehrungen in den einzelnen
Unterrichtsfächern stattfinden sollen. Das „occasionalistische Prinzip" hat es
Vaihinger genannt. Die andere Richtung verlangt daneben noch einen be-
sonderen Unterricht in der Philosophie mit eigenen Lehrplanstunden. Fast
übereinstimmend , treten zwei Wochenstunden in den beiden Primen als
Forderung auf. Diese Richtung tritt in der letzten Zeit immer stärker in
den Vordergrund.
Fragen wir uns, welche praktischen Folgen die erste Forderung,
die sich auf Philosophie im Unterricht beschränkt, in Wirklichkeit haben
dürfte. Natürlich ist die Verwirklichung dieser Forderung auf das
Innigste zu wünschen. Erst auf der Philosophie im Unterricht kann
ein besonderer Unterricht in der Philosophie wirksam aufbauen. Diese
Forderung richtet sich aber an die Gesamtheit aller Lehrer, ihren Unter-
richt in philosophischem Sinne zu geben. Die Propädeutik - Frage wird
damit zur Frage der Lehrervorbildung. Nun wird aber doch wohl niemand
glauben, daß die Mehrzahl der älteren Lehrergeneration auf Grund ihrer
philosophischen Vorbildung, wie sie aus den bisherigen Prüfungsanforde-
rungen sich ergab, imstande sei, einen derartigen philosophisch gerichteten
Fachunterricht zu erteilen. Die neue Prüfungsordnung von 1916 bedeutet
darin allerdings schon einen bedeutenden Schritt nach vorwärts, insofern
sie den Schwerpunkt der philosophischen Universitätsbildung in die Rich-
tung auf die philosophischen Grundlagen der einzelnen Fachdisziplinen
legt. Diese neue Prüfungsordnung ist bereits ein Ergebnis des Geistes
der Zeit, der Hinwendung von bloßer Stoffaneignung zur Prüfung der Vor-
aussetzungen unserer Einzelkenntnisse, dem Versuch, diese zu systemati-
sieren, d. h. zur Bildung der Weltanschauung.
Einstweilen wird man aber bei nüchterner Wirklichkeitsbetrachtung
auf die Frage: Welche Aenderung des jetzt bestehenden Zustandes würde
die Beschränkung auf das Prinzip der Philosophie im Unterricht herbei-
führen ? einfach antworten können : So gut wie gar keine. Der philosophisch
interessierte Lehrer macht schon von selber alle philosophischen Elemente
seines Faches fruchtbar, für den nicht philosophisch interessierten Lehrer
— und das ist einstweilen doch wohl noch die Mehrzahl — werden
Mitteilungen. 239
alle dahingehenden Mahnungen ziemlich ergebnislos bleiben. Er wird sein
Fach so weitertreiben, wie er es bisher getan hat. Man kann nicht plötz-
lich durch Verordnungen der Gesamtheit der Lehrer philosophisches Inter-
esse einpflanzen.
Ferner entzieht es sich so ziemlich jeder Kontrolle, wie weit die philo-
sophische Durchdringung des Einzelfaches in der Tat geschieht. Somit
wird es bei der Beschränkung auf die Philosophie im Unterricht im großen
und ganzen bei dem bisherigen Zustande verbleiben.
Zu streifen ist noch eine dritte Möglichkeit, die Einfügung der philo-
sophischen Propädeutik in den Rahmen des deutschen Unterrichts. Diese
Personalunion hat sich nicht bewährt. Die Stundenzahl für den deutschen
Unterricht ist an sich schon viel zu knapp bemessen. Werden diesem,
wie es jetzt an den Mädchenstudienanstalten der Fall ist, jährlich ein paar
Wochen genommen, um während dieser Zeit lehrplangemäß die Logik und
Psychologie abzufertigen, so geht das einerseits auf Kosten der ganz anders-
artigen Ziele des deutschen Unteirichts, anderseits kann es dem Ansehen
der Logik und Psychologie nur schaden. Der innere Grund dieser Ver-
bindung ist nicht einzusehen. Organischer wäre dann die Verbindung der
Logik und Psychologie wegen der viel stärkeren Anknüpfungsmöglichkeiten
mit dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht. Also die Ver-
bindung eines besonderen Propädeutikunterrichts mit dem deutschen Unter-
richt ist als echter Notbehelf abzulehnen.
Sollen vielmehr in absehbarer Zeit irgend welche greifbaren Ergebnisse
in Erscheinung treten, so scheint ein besonderer philosophischer Unterricht
unumgänglich nötig, und zwar sind 2 Wochenstunden in den beiden obersten
Klassen die angemessene Forderung, da bekanntlich ein Fach mit nur einer
Wochenstunde wirkungslos bleibt1).
Diese Forderung wird nun wahrscheinlich auf einem Teilgebiet des
höheren Schulwesens demnächst zur Wirklichkeit werden. Bekanntlich hat
die Reichsschulkonferenz der Schaffung einer vierten Form der höheren
Schule zugestimmt — es ist die deutsche Oberschule, das „deutsche Gym-
nasium" sagte man auch wohl, — die vorwiegend auf das Bildungsgüt der
deutschen Kultur gestellt werden soll. An dieser Schulgattung wird aller
Voraussicht nach Philosophie mit eigenen Stunden, etwa 1 — 2 Wochen-
stunden in den beiden Oberklassen, vertreten sein; daneben werden noch
wahlfreie philosophische Arbeitsgemeinschaften bestehen.
Damit werden unsere heutigen Beratungen in den Bereich größter
Wirklichkeitsnähe gerückt. Wir können heute wertvolle praktische Vorarbeit
für die Lehrplangestaltung leisten, und t die zweckmäßigste Einstellung für
die Aussprache ist wohl die: Wie können wir den philosophischen Unter-
richt in der richtigen Weise ausgestalten, wenn ihm etwa 1 — 2 Stunden
in den beiden Oberklassen zur Verfügung stehen?
1) Es haben von außerdeutschen Ländern besonderen philosophischen Unter-
richt :
Oesterreich 2 Wochenstunden in den beiden obersten Klassen, Ungarn 3
Stunden in der letzten Klasse, Rußland desgleichen 1 Stunde, Italien 3 Stunden,
Frankreich 6 Stunden im letzten Schuljahr. Die Angaben beruhen auf Baumeisters
Handbuch des Erziehungs- und Unterrichtswesens.
240 Mitteilungen.
Wir betreten damit Neuland. In der Literatur des Gegenstandes
herrscht über die Frage nach dem Inhalt des philosophischen Unterrichts
der lebhafteste Streit der Meinungen. Es gibt wohl kaum einen Vorschlag,
der nicht ebenso warm empfohlen wie lebhaft bekämpft; worden wäre.
Nun wird zwar bei dem philosophischen Unterricht weniger der Stoff
ausschlaggebend sein, sondern der Erfolg des Unterrichts wird, wie im
Keligions- und deutschen Unterricht, fast ganz von der Persönlichkeit des
Lehrers abhängen. Jeder philosophische Unterricht wird von vornherein
unfruchtbar bleiben, wenn er nicht von einer für die Sache besonders be-
geisterten Persönlichkeit erteilt wird. Andrerseits: jeder philosophische
Unterricht, und sei es die Syllogistik der Elementarlogik, wird seine Früchte
tragen unter den Händen eines begeisterten Lehrers.
Aus Mangel an geeigneten Lehrern ging in den 80 er Jahren der
philosophische Unterricht ein. Jetzt liegen die Verhältnisse ganz wesent-
lich günstiger. Derartige Lehrer sind jetzt zweifellos genug vorhanden.
Selbst eine Doppelanstalt würde für ihre höchstenfalls 8 Pflichtstunden und
vielleicht noch 6 wahlfreien Stunden doch nur einen geeigneten Philosophie-
lehrer auf etwa 25 Lehrer der Anstalt benötigen. Dieser wird sich immer
finden lassen. Also suche man das Stoffgebiet nicht allzu ängstlich zu
umgrenzen. Man habe hier einmal etwas Vertrauen zu der Lehrerpersön-
lichkeit und- lasse ihm möglichste Freiheit.
Ferner ist zu bedenken, daß die gegenwärtige philosophische Lage
kein geklärtes Bild bietet. Die Auffassungen über den Begriff der Philo-
sophie sind nicht einheitlich. Daher erscheint es für den Schulunterricht
ratsam, ihm einstweilen keine* zu festen Bindungen zu geben und ihm zu-
nächst möglichste Freiheit zu lassen, seine Wege und Formen erst zu
suchen. Er wird sich am lebensvollsten entfalten, wenn er der allgemeinen
Entwicklungsrichtung der philosophischen Zeitbewegung folgt. —
Es liegt ferner im Charakter der Philosophie, daß sie der Einordnung
in das feste Schema eines ins einzelne gehenden Lehrplans widerstrebt.
Bei der Weite ihres Gebietes, dem losen Zusammenhang ihrer Sonderfächer
scheint es nicht angängig, allzu bindende Anordnungen über die Auswahl
der zu behandelnden Fragen zu treffen.
Es ist natürlich für den Lehrer eine unmögliche Forderung, daß er
in allen Gebieten der Philosophie in gleicherweise auf der Höhe der
Forschung stehe. Das können wir bei der Vielheit unserer Lehrfächer
und der Fülle der Stoffmassen, die wir zu bewältigen haben, einfach nicht.
Aber es wird auch dem Charakter gerade des philosophischen Unterrichts
kaum schädlich sein, wenn der Lehrer selbst nicht als ein vollkommen
Fertiger sondern mehr als ehrlich Mitstrebender erscheint.
Immerhin werden wir versuchen müssen, uns über die allgemeine Rich-
tung klar zu werden, die der philosophische Schulunterricht einzuschlagen
hat. Welche Wege sind möglich?
Vielleicht dient eine kurze Besinnung über den Charakter der höheren
Schule zu einer klareren Stellungnahme.
Die höhere Schule hat ein mehrfaches Gesicht. Sie ist 1. gelehrte
Schule. Als solche will sie für den Unterricht der Hochschule reif machen,
d. h. sie will ein gewisses Maß von Kenntnissen als Vorbereitung für
Mitteilungen. 241
einzelne Hochsclmlfächer vermitteln und gleichzeitig in die wissenschaft-
liche Arbeitsweise einführen durch selbständige Erarbeitung von Erkennt-
nissen.
Sie will zweitens ihre Zöglinge unmittelbar zum Verständnis der sie
umgebenden objektiven Kultur führen und sie zur verständnisvollen Mit-
arbeit an ihr befähigen. Man könnte dies Ziel vielleicht als ein soziolo-
gisches bezeichnen.
Ein drittes Ziel ist mehr psychologischer Art: Heranbildung zur Per-
sönlichkeit, in der alle Kräfte des Geistes, Gemüts und Willens zur Ent-
faltung gebracht werden sollen.
Das zweite und dritte Ziel sind durchaus Eigenziele der Schule und
unabhängig von der Blickeinstellung auf die Universität.
Ob man seinen Blick mehr auf das erste oder auf die beiden zweiten
Ziele richtet, das scheint von wesentlichem Einfluß auf die Stellung zu
sein, die man zu dem philosophischen Schulunterricht einnimmt.
Zwei verschiedene Blickeinstellungen sind hier möglich. Die eine
sieht die Frage des philosophischen Schulunterrichts mehr von der Uni-
versität her, mit den Augen des Fachphilosophen, mit dem Blick auf das
System der philosophischen Universitätsfächer und die Philosophie als
Wissenschaft. So wird man den philosophischen Schulunterricht in erster
Linie als Vorbereitung für die Universitätsphilosophie betrachten. Dann
ist sie eben Propädeutik *).
Legt man aber das Schwergewicht auf die beiden letzten Eigenziele
der höheren Schule, so erscheint damit die Frage des philosophischen Schul-
unterrichts in einem andern Licht. Dieser ist dann vorwiegend: 1. Hin-
führung zu der objektiven Gegebenheit der Philosophie als bedeutsamer
Seite der Gesamtkultur, 2. Mittel zur Bildung der Persönlichkeit.
Für die erstere Einstellung liegt es nahe, das Schema der Universtäts-
philosophie mit ihren durch die Arbeitsteilung bedingten Sonderdisziplinen
allzu formalistisch zu übernehmen und der Schule sozusagen ein verkleinertes
Schema der Universitätsphilosophie von oben her aufzusetzen.
Aus dieser Blickrichtung stammt der Weg der herkömmlichen Propä-
deutik, die ihre Aufgabe darin sah, in zwei Sonderfächern, Logik und em-
pirischer Psychologie, eine bestimmte Anzahl fester Ergebnisse und ein
gewisses Maß positiven Wissens zu übermitteln. Dazu scheinen allerdings
diese mehr als Vorhöfe und Außenwerke der Philosophie zu bezeichnenden
Disziplinen am ehesten geeignet. Auf diese Weise schneidet man aus dem
Verband der philosophischen Sonderfächer der Hochschule zwei heraus und
verlegt sie auf die Schule. Dort wären sie zwei neue systematische Fächer
zu den schon allzuvielen, mit neuen- Lern- und Stoffanforderungen. Sie
1) Ich möchte mich gegen dies unschöne Wort wenden. Es ist üblich ge-
worden, dasselbe für jede Art philosophischen Unterrichts auf der Schule zu ge-
brauchen. Wir treiben doch auf der Schule Geschichte, Deutsch, Religion, be-
handeln damit die gleichen Gegenstände wie die Universität. Aber wir nennen
doch die Lektüre des Faust auf der Schule nicht germanistische Propädeutik, die
Behandlung des Johannesevangeliums nicht theologische Propädeutik. Also sagen
wir doch lieber philosophischer Schulunterricht oder Unterricht in der Philosophie.
Kantstudien. XXVI. 16
242 Mitteilungen.
standen dort als etwas Unverbundenes mit den übrigen Fächern und als
etwas Unverbundenes unter sich.
Es gibt auch heute noch gewichtige Stimmen, die sich für den philo-
sophischen Schulunterricht in ähnlichem Sinne einsetzen; diese betonen vor
allem das Schulmäßige und Erlernbare, das, wo von man sich nachher über-
zeugen kann, ob es auch gehörig „sitzt".
Es liegt natürlich nahe, hier den Blick auf die österreichischen Ver-
hältnisse zu richten, auf dessen Gymnasien seit 1849 ein auf Herbart
zurückzuführender Propädeutik-Unterricht besteht, mit 2 Wochenstunden in
den beiden obersten Klassen, in denen Logik und Psychologie als besondere
Unterrichtsfächer betrieben werden. Fragen der Weltanschauung sollen
nicht behandelt werden.
Über die Erfolge des österreichischen Weges sind die Meinungen geteilt ;
es läßt sich kein klares Bild darüber gewinnen. R. Lehmann rühmt ihn.
Vaihinger steht auf Grund mündlicher Information ihm sehr skeptisch ge-
genüber. Höfler antwortete auf dem 85. Naturforscher- und Arztetag auf
die Frage nach dem Erfolg, daß neben ausgezeichneten Ergebnissen auch völlige
Mißerfolge ständen. Was Meinong in seinem Buch „Philosophische Wissen-
schaft und ihre Propädeutik" berichtet — es stammt allerdings schon aus
dem Jahre 1885 — klingt äußerst trübe.
In der neueren reichsdeutschen Propädeutikbewegung ist eine über-
wiegende Abneigung gegen das Beschreiten des österreichischen Weges und
gegen die Wiederaufnahme des früheren herkömmlichen auf Logik und
Psychologie eingeschränkten philosophischen Unterrichtes festzustellen.
Diese Aufgabestellung muß nach den vorausgehenden allgemeinen Er-
wägungen als zu eng und einseitig bezeichnet werden.
Bei der Beschränkung auf Logik und Psychologie würde der Schüler
das Gefühl der Enttäuschung haben. Der philosophische Kurs würde grade
dann zu Ende sein, wenn er das Wesentlichste erst erwartet. Beide Dis-
ziplinen geben auf Fragen der Weltanschauung keine Antwort. Die Logik
liegt an sich nicht im Bereich der geistigen Bedürfnisse des Schülers. Die
Psychologie begegnet zweifellos seinem Interesse, aber die moderne empirische
Psychologie ist doch als Naturbeschreibung der seelischen Phänomene nicht
mehr eine eigentlich philosophische Disziplin. Sie wird im allgemeinen
bereits als selbständige Wissenschaft betrachtet, die sich aus dem Verbände
der Philosophie gelöst hat und sich gewöhnt hat, in ihrer Arbeitsweise die
eigentlich philosophischen Probleme im ganzen zu ignorieren. Sie trägt
in ihrer physiologisch-experimentellen Sichtung mehr den Charakter einer
naturwissenschaftlichen Einzel disziplin. Alles ist in ihr noch im Fluß und
Werden. Die Problemstellungen verschieben sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt.
Die verschiedenen Richtungen stehen sich bekämpfend einander gegenüber.
Somit scheint eine allzu weitgehende Beschäftigung mit der Psychologie
nicht besonders geeignet' für die Einführung in das speziell philosophische
Denken.
Das Klarheitsbedürfnis des Schülers ist vielmehr zunächst auf die
Fragen der Weltanschauung gerichtet, auf die Fragen nach dem Sinn und
Wert des Lebens, dem Wesen der Welt, nach Gott, Freiheit, Unsterblich-
keit, dem Wesen der Seele, der Frage nach Gut und Böse. Es sind in
Mitteilungen. 243
der Hauptsache metaphysische und ethische Fragen im weitesten Sinne, die
ihn bewegen. Dag philosophische Ziel der Schule muß daher die Bichtung
haben, in diesen Fragen dem Schüler zur wissenschaftlichen Klärung zu
verhelfen, sodaß er dahin gelangt, wissenschaftliche Gedankengänge von un-
wissenschaftlichen zu unterscheiden, zu erkennen, was überhaupt Gegenstand
wissenschaftlicher Fragestellung sein kann und was sich einer solchen entzieht,
und ihn dahin zu führen, in den verschiedenen weltanschaulichen Strömungen
der Zeit sich einigermaßen zurecht zu finden und selbständig Stellung zunehmen .
Der wesentliche Unterschied zwischen dem Inhalt des herkömmlichen
Propädeutik-Unterrichts und den neuen Wegen, die einzuschlagen sind,
wird also sein, daß wir das, was früher den alleinigen Gegenstand aus-
machte, Logik und Psychologie, zwar nicht ganz fallen lassen, ihm aber
eine untergeordnete Stellung anweisen.
Es müssen vielmehr die Teile der Philosophie in erster Linie berück-
sichtigt werden, auf die sich das natürliche Erkenntnisstreben richtet. Die
Philosophie muß mit ihrem ganzen Gebiete im Unterrichtsplan vertreten
sein. Es kann sich dabei naturgemäß nur um Grundfragen handeln, und
jedes verwirrende Vielerlei muß vermieden werden. Ihrem Erziehungsziel
entsprechend wird die Schule das Schwergewicht auf die Fragen der Le-
bensführung legen können. Die Vorbedingung für die wissenschaftliche
Behandlung der Weltanschauungsfragen bilden erkenntnis-theoretische Be-
sinnungen.
In dieser Auffassung wird das philosophische Ziel der Schule mehr
von unten her gesehen, aus dem Organismus der Schule und den geistigen
Bedürfnissen des Schülers heraus, mit der Blickeinstellung auf das oben
gekennzeichnete zweite und dritte Ziel der höheren Schule. Der philo-
sophische Unterricht ist in diesem Falle weniger Propädeutik, sondern
Abschluss und Krönung des gesamten Schulunterrichts.
Bei dieser Auffassung des philosophischen Unterrichts können alle
Schulfächer zur Anbahnung der philosophischen Fragestellung und Betrach-
tungsweise wirksamste Vorarbeit leisten. Wie in der großen Welt der
Wissenschaften die Einzelwissenschaften überall in philosophische Frage-
stellungen ausmünden, so zahlreich wachsen auch in den einzelnen Schul-
fächern die philosophischen Fragestellungen hervor. Es ist in der Literatur
bereits eine Fülle vortrefflicher Arbeit geleistet worden, die philosophischen
Elemente der einzelnen Schulfächer herauszuarbeiten.
Der mathematisch-naturwissenschaftliche Unterricht führt vielfach zu
den Fragen der Erkenntnistheorie, Methodenlehre, Naturphilosophie und
Metaphysik. Um nur einiges anzuführen, was auf eine philosophische
Klärung hindeutet: Kraft, Bewegung, Substanz und Materie, Naturgesetz,
Kausalität, Axiom, Hypothese, Fiktion, Erkennbarkeit der Außenwelt, Ver-
hältnis von Glauben und Wissen u. s.w.
Aus der Biologie erwachsen die Fragen nach dem Begriff des Lebens
dem Wesen des Bewußtseins, dem Verhältnis von Leib und Seele, Kausa-
lität und Zweckmäßigkeit, Vitalismus und Mechanismus.
Die Lektüre im deutschen Unterricht führt allenthalben zu Fragen
ethischer, ästhetischer, metaphysischer Natur. Die Fragen nach Freiheit
16*
244 Mitteilungen.
und Schicksal, Gut und Böse, das ganze Wertproblem erwächst aus dem
Unterricht.
Der Geschichtsunterricht führt auf Schritt und Tritt zu letzten philo-
sophischen Fragen, wie nach Zufall und Notwendigkeit, dem Sinn des
Lebens und weltgeschichtlichen Geschehens überhaupt, dem Begriff des
historischen Gesetzes, dem Verhältnis von Individuum und Masse, dem
Wesen des Staates, des Rechtes u. s. w.
Wenn so der einzelne Fachunterricht die in ihm liegenden philoso-
phischen Elemente richtig auswertet, führen auf diesem Wege alle Schul-
fächer an die tiefsten philosophischen Rätselfragen heran, und es wird
offenbar, das keine Einzelwissenschaft ausreichend ist, eine wahre Geistes-
bildung zu begründen, sondern daß philosophische Betrachtungsweise er-
gänzend hinzutreten muß, die das Gegengewicht gegen das Stoffwissen der
Einzelfächer bildet und zur Durchdringung und Vereinheitlichung desselben führt.
Nicht ein besonderes Fach unter Fächern soll also der philosophische
Unterricht werden; sein Ziel ist nicht in erster Linie, ein Gebiet neuen
Stoffwissens und abfragbarer Kenntnisse zu schaffen. Auf diesem Wege
würde kein inneres Leben erzielt werden, und dem Unterricht würde die
Gefahr der Verflachung drohen. Jede Verstiegenheit der Zielsetzung in
dieser Hinsicht kann nur schädlich sein.
Was erzielt werden soll, ist vielmehr eine gewisse Stellungnahme zu
den Tatsachen, eine Gesamtrichtung des Denkens, die Getrenntes vereinigt,
Wesentliches von Unwesentlichem scheidet, das Allgemeine im Einzelnen
sucht, zu überschauendem und umfassendem Denken anleitet und das Tat-
sächliche auf seinen Wertgehalt untersucht.
Der philosophische Unterricht soll innerhalb der Vielgestaltigkeit des
Lehrplans das einheitschaffende Gebiet sein, indem er einerseits auf allen
Wissensgebieten dieselben Gesetze des Bewußtseins als geltend aufzeigt,
anderseits das Streben erweckt, die Ergebnisse der verschiedenen Wissens-
zweige zu einheitlichen Anschauungen zu verknüpfen. Er soll unter voller
Achtung vor den Tatsachen die inneren Zusammenhänge aller Wissen-
schaften und Kulturtätigkeiten aufdecken und den Zögling die Verflochten-
heit seines eignen Daseins in diese Zusammenhänge wirkungsvoll erleben
lassen. Er soll zur Einsicht führen, daß Erkennen in Problemen endet,
künstlerisches Genießen in ruhevollem Schauen, Religion in Glaubensge-
wißheit, aber alle drei Wege dem gleichen Streben nach Ganzheit
entspringen. Er darf bei diesem theoretisch-intellektuellen Ziel nicht stehen
bleiben, sondern soll über bloße Wirklichkeitserklärung hinaus Rieht- und
Zielpunkte für Wollen und Handeln schaffen und zu grundlegenden Lebens-
werten führen.
Eine Weltanschauung zu geben, wie es auch wohl bisweilen von dem
philosophischen Unterricht gefordert wird, ist nicht Sache des Schulunterrichts.
Was bedeutet überhaupt Weltanschauung? Sie ist doch kein fertiges
Schema, das sich mühelos und systematisch überliefern läßt. Sondern
Weltanschauung bedeutet für den Einzelnen eine unendliche Aufgabe.
Sie steht nicht am Ende der Schule, sondern am Ende des Lebens, ist
nichts Fertiges, sondern ein stetig Werdendes, eine innere Bewegung. Eine
Weltanschauung hat der einfache Mann aus dem Volke so gut wie der Philo-
Mitteilungen. 245
sopli, dem es gelingt, sie zum geschlossenen System auszubauen. Der
Unterschied der Weltanschauungen besteht nur in der Folgerichtigkeit und
Weite der Begründungszusammenhänge, in der Ausgleichung der Wider-
sprüche, in der Wissenschaftlichkeit des Denkens. Je mehr die Zahl der
letzten unbewußten Voraussetzungen und Wertungen, auf denen jede Welt-
anschauung aufbaut, in das helle Licht begrifflicher Klarheit gerückt wird,
das heißt, je philosophischer wir denken, umso mehr wird die Weltan-
schauung an Weite und Tiefe gewinnen, umso mehr wird sie sich dem
Ideal wissenschaftlicher Geschlossenheit nähern. Der Begriff der rein lo-
gischen Wahrheit ist auf den Begriff der Weltanschauung überhaupt nicht
anwendbar, da die Lebensanschauung kein rein intellektuelles Gebilde ist,
sondern durchsetzt mit einer Reihe von irrationalen Elementen, die sich
aus der Verschlungenheit der lebendigen Natur des Menschen ergeben.
Das also wird das bescheidene Ziel der Schule sein, dem Zögling das
Bewußtsein von der Größe der Aufgabe zu wecken, die im Begriff Welt-
anschauung liegt, die Richtung dahin anzubahnen und das geistige Rüstzeug
dafür etwas zu verstärken. Was erreicht werden soll, ist die "Erweckung
des Eros, eine gewisse intellektuelle Haltung des Geistes, der Typus des
suchenden, fragenden Menschen, der grade im Alltäglichen die tiefen Rätsel
sieht. Es sollen dem Zögling die Wege gewiesen werden, wie er von den
gröberen Gestaltungen seines Weltbildes zu verfeinerten Bildungen auf-
steigen kann, er soll neue Wertgebiete erleben und eine Ahnung erhalten
von der „Seligkeit des Erkennenden".
Selbst bei mehrjährigem Unterricht kann es sich nur um Berührung
mit der philosophischen Gedankenwelt handeln. Der Unterricht wird seine
Aufgabe am besten erfüllt haben, wenn er den Zögling mit dem lebhaften
Verlangen nach tieferem Eindringen entläßt.
Wie soll nun für den besonderen philosophischen Unterricht die Aus-
wahl aus der unendlichen Fülle des Stoffes getroffen werden ? Soll ver-
sucht werden, mehr einen möglichst großen Umkreis von Problemen in
einer gewissen Systematik zu durchmessen, oder soll auf derartige Voll-
ständigkeit von vornherein verzichtet werden und der Schwerpunkt auf die
Behandlung einzelner Probleme und die Besonderheit philosophischer Denk-
weise gelegt werden?
In der neueren Propädeutik-Literatur sind zwei der bedeutendsten
Lösungsversuche typisch für diese beiden Einstellungen.
Alfred Rausch macht in seinem soeben in vierter Auflage erschienenen
Lehrbuch „Elemente der Philosophie" (Halle a. d. Saale, Waisenhans 1920)
den großzügigen Versuch, eine wirkliche Schulphilosophie zu begründen,
die lediglich auf dem Wissenstoff der Schule aufbaut und von hier aus das
gesamte Kulturleben nach philosophischen Gesichtspunkten zu einer Ge-
samtanschauung zusammenschließt. Er sagt im Vorwort: „Wie konnte man
nur in unserer Zeit die große Bedeutung einer Gesamtanschauung für die
geistige und sittliche Bildung so ganz übersehen ! Wenn alle die Erkennt-
nisse und Erfahrungen des Jugendlichen über Weltgeschehen und Welt-
werte als unausgeglichene Bruchstücke in seiner Seele verbleiben, so muß
daraus Unklarheit und Hilflosigkeit entstehen. Wer dem Lehrling die
Gesamtanschauung vorenthält, der treibt ihn mit schwerem Gepäck den
246 Mitteilungen.
Bergpfad hinan, versagt ihm aber den lohnenden Ausblick von der Höhe
auf das weite Land". Rausch gliedert sein Werk in drei Teile: Natur,
Kultur und Bildung, und in ganz freier Verarbeitung werden die Haupt-
fragen, die wir sonst in den philosophischen Einzelgebieten anzutreffen ge-
wohnt sind, zu einem lebensvollen Ganzen verbunden, in klarer, ruhig flie-
ßender Darstellung, mit einer Fülle anschaulicher Beispiele.
Den zweiten Weg geht das vor Jahresfrist erschienene Buch von
Lambeck „Philosophische Propädeutik". (Verlag B. G. Teubner Leipzig
und Berlin 1919). Es verzichtet auf systematische Vollständigkeit. Der
Versuch einer systematischen Unterweisung erscheint dem Herausgeber auf
Grund seiner Erfahrungen unfruchtbar. Das Buch ist die Durchführung
des okkasionalistischen Prinzips. Von bewährten Fachmännern werden im
Anschluß an einzelne Unterrichtsfächer philosophische Einzelprobleme be-
handelt. Der Zweck des Buches ist in erster Linie, zum philosophischen
Denken selbst zu erziehen.
Aber beide Wege können wohl nicht als die volle Lösung der Frage
für einen besonderen Unterricht, der sich über mehrere Jahre erstercken
würde, angesehen werden. Der eine Weg hat zu sehr nur die systematische
Geschlossenheit im Auge, dem andern fehlt doch wohl wieder der genügende
systematische Zusammenhang.
Erst die Verbindung beider Prinzipien erscheint als der gangbare Weg.
„Die Philosophie läßt sich nicht erlernen, sondern nur das Philo-
sophieren", sagt Kant. Das auf Breite und Vollständigkeit angelegte Ver-
fahren wird zwar eine gewisse Übersicht über Umfang und Inhalt der
Philosophie vermitteln, aber nicht eigentlich philosophieren lehren.
Die Methode des philosophischen Denkens selbst kann nur erzeugt
werden, indem mit voller Kraft des Nachdenkens einem Einzelproblem in
tief eindringender Behandlung bis in seine letzten Verzweigungen nachge-
gangen wird. Auf dieser Seite muß das Schwergewicht des Unterrichts
liegen. Dabei wird nur ein verhältnismäßig kleiner Kreis philosophischer
Fragen zur Behandlung gelangen hönnen.
Daneben aber wird das auf Klarheit und Ordnung gerichtete Streben
des Geistes eine gewisse Überschau verlangen, die zwischen den behandelten
Einzelproblemen größere Zusammenhänge historischer und systematischer
Art herstellt, philosophische Grundbegriffe sammelt, über Umfang und In-
halt der philosophischen Gebiete, ihre Hauptfragen und deren Lösungen mehr
im Sinne einer Orientierung in großen Zügen Aufschlus gibt. Dieses Ord-
nungsschema, an sich ein unabweisbares Bedürfnis, darf aber nicht zum
alleinigen Gegenstand des Unterrichts werden, da dieser dadurch leicht
Gefahr laufen würde, zum bloßen Leitfadenwissen zu verflachen. Für dieses
Ordnungsschema scheint am ehesten die Form geeignet, die wir als Ein-
führung oder Einleitung in die Philosophie zu bezeichnen gewohnt sind.
Sie kommt doch am ersten den Bedürfnissen des gebildeten Laien ent-
gegen. Davon zeugt die erfreulich große Zahl der vorhandenen guten
wissenschaftlichen Einleitungen in die Philosophie, die wir besitzen.
Ein recht überzeugendes Schema für die Auswahl der Fragen aus
dem philosophischen Gesamtstoff, über die wir dem Schüler zu einer klareren
Auffassung zu verhelfen verpflichtet sind, hat Friedrich Neubauer gegeben.
Mitteilungen. 247
Er will behandelt wissen: 1) Das Rätsel unserer Seele: Worin besteht ihre
Tätigkeit, wie verhält sie sich zu der des Leibes. 2) Das Eätsel des Er-
kennens: Wie vollzieht es sich, und wo liegen seine Grenzen? 3) Das
Eätsel dieser Welt im ganzen: Wie ist sie aufzufassen, welches ist der
letzte Sinn des Seins ? 4) Das Rätsel unserer Pflicht : Was sollen wir tun,
was ist Gut, was ist Böse? — Nach diesem Schema wäre also etwa ele-
mentare Psychologie, das Wichtigste aus der Logik, Fragen der Erkennt-
nistheorie und Metaphysik, sowie Grundfragen der Ethik zu erörtern.
Die 4. Frage engt jedoch das Gebiet der philosophischen Fächer zu
sehr ein. Es wäre vielleicht besser zu fragen: Wie verhält sich der Mensch
sinnvoll in dem Ganzen der Welt? Damit würden auch Fragen aus
weiteren philosophischen Fächern, z. B. der Geschichtsphilosophie, deren An-
knüpfungsmöglichkeiten im Schulunterricht besonders groß sind, ferner der
Soziologie, der Rechts- und Staatsphilosophie u. s. w. in den Umkreis der
möglichen Behandlungsgegenstände miteinbezogen sein.
Der Schulunterricht in der Logik ist oft als völlig überflüssig be-
zeichnet und verspottet worden. Man darf dem wohl nicht zustimmen.
Erinnern wir uns der Zielsetzung der höheren Schule als gelehrte Schule
mit der Einführung in wissenschaftliche Arbeitsweise. Fast der ganze
Schulunterricht, richtig gehandhabt, ist in den meisten Fächern angewandte
Logik. Eine Schule, die zur Erkenntnis anleiten soll, hat auch die Pflicht,
die Wege der Erkenntnisgewinnung nicht nur einzuschlagen, sondern diese
Wege selbst aufzuzeigen und bewußt zu machen. Das ergibt die Not-
wendigkeit, gewisse Punkte der Logik und Methodenlehre zu behandeln,
wobei wohl der Schwerpunkt auf die Methodenlehre zu legen ist. Diese
Belehrungen werden sich ohne großen Zeitaufwand meist im Rahmen der
Einzelfächer anbringen lassen, da es sich vielfach nur darum handelt, den
Schüler zu einer Umstellung des Blickes zu veranlassen, zu einer bewußten
Reflektion auf längst Geübtes, wie z. B. das Verhältnis von Inhalt und
Umfang der Begriffe, Induktion und Deduktion und ähnliches.
Eine ausgezeichnete Lösung, die Methodenlehre aus den Schulfächern
hervorwachsen zu lassen, hat Schulte-Tigges gegeben in seinem Buch:
„Philosophische Propädeutik auf naturwissenschaftlicher Grundlage".
Die Belehrungen aus dem Gebiet der empirischen Psychologie werden
sich entsprechend dem noch unfertigen Stande der Wissenschaft auf mög-
lichst Feststehendes zu beschränken haben. Das wesentlichste Ziel wird
sein, daß der Blick auf das eigne Innere gerichtet und der Zögling ange-
leitet wird, die eignen innern Erscheinungen verständnisvoll zu beobachten,
zu beschreiben, zu analysieren, sie in Gruppen zu bringen und gewisse
Gemeinsamkeiten aufzufinden. Er soll neben dem sinnlich Wahrnehmbaren
der äußeren Erfahrung auch den Bereich der inneren Erfahrung als ein
Gefüge und eine Ordnung erkennen lernen.
Während die wissenschaftliche Psychologie bisher in der Erforschung
der einfacheren seelischen Tatsachen ihre stärkste Durcharbeitung erfahren
hat, wird der Schulunterricht, mit den vorhandenen Bedürfnissen des Schülers
rechnend, mehr den bedeutungsvolleren höheren und zusammengesetzten
Erscheinungen des Seelenlebens zugewandt sein müssen.
Hier bietet sich ein fruchtbares Feld zur Klärung der psychologischen
248 Mitteilungen.
Begriffe, die auch im Leben des Schülers von besonderer Bedeutung sind,
wie Wille, Motiv, Handlung, Gewöhnung, Charakter, Gedächtnis, Aufmerk-
samkeit und ähnliches mehr.
Diese psychologischen Belehrungen erscheinen wohl geeignet, dem
Dilettantismus mit psychologischen Begriffen zu steuern und ferner auch
wirksame Antriebe für das eigene vernunftgemäße Handeln und die Aus-
gestaltung der Lebensführung erwachsen zu lassen.
Es wäre natürlich auch möglich, statt der systematischen Übersicht
einen Gang durch die Geschichte der Philosophie dem Schulunterricht zu-
grunde zu legen, indem man besonders bedeutsame Systeme in ihren Grund-
gedanken in geschichtlicher Abfolge darstellt. Auch dieser Weg hat warme
Fürsprecher gefunden, z. B Vaihinger und Rehmke. Überwiegend wird er
jedoch mit guten Gründen abgelehnt. Es erscheint wohl zweckmäßig,
philosophiegeschichtliche Betrachtungen nicht an den Anfang zu stellen.
Sie werden vielmehr den notwendigen zusammenfassenden Abschluß des
philosophischen Schulunterrichts bilden müssen, als Ergänzung zu dem Bilde
der allgemeinen Kultur- und Geistesgeschichte, das die sprachlich-geschicht-
lichen Fächer ergeben.
Von besonderer Bedeutung ist die Erziehung zur philosophischen
Fragestellung. Das von dieser wesentlich der Fortschritt der wissenschaft-
lichen Erkenntnis abhängt, muß. der Schüler sehen lernen. Auf Klarheit
und bestimmte Fragestellung muß daher stets größtes Gewicht gelegt werden.
Jeder philosophische Gedankengang, dessen Problem nicht im Ge-
dankenkreise des Schülers liegt, wird im allgemeinen wirkungslos an seinem
Denken vorübergleiten. Aus dem Erfahrungskreise des Zöglings und seinen
geistigen Bedürfnissen heraus muß daher der Unterrichtsstoff entwickelt
werden und zunächst das zu behandelnde Problem in voller Stärke lebendig
gemacht werden.
Als Unterrichtsform ist daher die Übermittlung von fertigen Ergeb-
nissen in zusammenhängendem Vortrag ungeeignet. Vielmehr ist das Lehr-
gespräch mit induktivem Verfahren, bei dem der Schüler das Entstehen
des Problems selber miterlebt, die natürlich gegebene Unterrichtsweise.
Haupterfordernis jedes philosophischen Unterrichts muß es sein, daß der be-
handelte Stoff zur vollen gedanklichen Erfassung und inneren Aneignung
gebracht wird. Hält man an diesem Grundsatz fest, so wird dabei am
besten den Gefahren der Verwirrung, Verstiegenheit und Unbescheidenheit
vorgebeugt.
Ob der Unterricht hauptsächlich in der freien Behandlung philoso-
phischer Fragen sich bewegen, oder ob in der Kegel die Lektüre philo-
sophischer Schriftsteller Grundlage und Ausgangspunkt bilden soll, wird
sich nicht bindend festlegen lassen, da diese Frage zu sehr von der be-
sonderen Veranlagung des Lehrers abhängen wird. Zweckmäßig wird die
Verbindung beider Verfahren sein, indem zunächst in freier Behandlung das
Problem lebendig gemacht wird und vorläufige Lösungsmöglichkeiten ge-
funden werden. Daran kann sich dann die Lektüre einer klassischen Dar-
stellung des betreffenden Problems anschließen.
Gewichtige Gründe sprechen dafür, die Lektüre philosophischer Quellen
zu einem wesentlichen Bestandteil des Unterrichts zu machen:
Mitteilungen. 249
Selber denken lernt der Anfänger zunächst am besten an einem Stoffe,
der vollendeter Gedanke ist. Durch das unmittelbare Eindringen in die
Gedankenarbeit der großen Denkerpersönlichkeit selbst entzündet sich am
ehesten die Freude an der Erkenntnis und die eigne philosophische Geistes-
haltung. Die Schärfe der Begriffsbildung, Tiefe und Klarheit der Gedanken,
die Durchsichtigkeit und Weite der Begründungszusammenhänge, die
zwingende Kraft der Beweisführung, die Architektonik des Aufbaus — alles
das entfaltet sich am besten an der Lektüre einer wertvollen philosophischen
Schrift.
Ferner: Nur derjenige Gedankenstoff wird im Zögling haften, den er
sich durch Selbsttätigkeit erworben hat. Verwickeitere Gedankengänge
wird er sich nur durch mühsames und wiederholtes Erarbeiten des Inhaltes
einer philosophischen Quelle zu eigen machen können. Durch die Be-
zwingung der Schwierigkeiten wird er die echte Freude geistiger Arbeits-
leistung und eignen Könnens empfinden. Hier verknüpft sich der Gedanke
der Lektüre mit dem des Arbeitsunterrichts. Durch Abstufung der Schwie-
rigkeiten in der Auswahl der Lektüre können die Anforderungen an Denk-
und Willensenergie zu höchsten Graden gesteigert werden.
Diesem Unterrichtsziel vermag ein lediglich freies Unterrichtsverfahren
nicht in gleicher Weise gerecht zu werden. Hier liegt leicht die Gefahr
vor, schweifender Verallgemeinerung zu verfallen und in gröberen Umriss-
linien stecken zu bleiben.
Man kann also besonders wertvolle, nicht allzu schwierige Schriften
ganz oder teilweise lesen. Oder es kann als Grundlage für die Lektüre
wohl auch ein Lesebuch dienen. Wir haben deren mehrere, die gut ge-
eignet sind. Bekannt ist das historisch geordnete von Dessoir-Menzer, das
Proben aus 17 Philosophen gibt, von Plato bis Lotze. Es wäre ferner
zu nennen: Gille, der Lesestücke zu den einzelnen philosophischen Dis-
ziplinen, hauptsächlich moderner Autoren bietet. Recht gut ist ferner
Bastian Schmid, dessen Stoffauswahl vor allem nach den im Schulunterricht
auftauchenden Problemen getroffen ist. Er bringt auch neuere Autoren,
z. B. Riehl, Wundt, Liebmann, Sigwart, Du-Bois-Reymond. Gut beurteilt
wird G. Budde, der mehr historisch vorgeht und eine sorgfältige Auswahl
aus der neueren Philosophie bietet. Soeben sind in den volkstümlich-wissen-
schaftlichen Lehr- und Lernbüchern der Humboldt-Hochschule von Max
Apel drei Bändchen philosophischer Lesebücher erschienen, deren Auswahl
für den Anfangsunterricht gut geeignet ist und die sich durch ihren billigen
Preis empfehlen. Es möge auch noch hingewiesen werden auf die im
Entstehen begriffene Sammlung „Wege zur Philosophie" (Vandenhoeck &
Ruprecht, Göttingen), die in Einzeldarstellungen bestimmte philosophische
Grundfragen behandelt, z. B. A. Messer: die Willensfreiheit; König: die
Materie; W. Kinkel, Idealismus und Realismus: R. EilJler: Leib und Seele.
Diese Bändchen haben den ausgesprochenen Zweck, nicht fertige Resultate
zu bieten, sondern den Laien in das philosophische Denken einzuführen.
Einige von ihnen werden eine geeignete Grundlage für den philosophischen
Anfangsunterricht sein können. Ich habe mit ihnen praktische Versuche
gemacht und glaube, sie für diesen Zweck empfehlen zu können.
Noch von einer ganz anderen Seite her erhebt sich die Forderung
250 Mitteilungen.
nach philosophischer Lektüre. Der Glaube an den alleinigen Wert mancher
Bildungsgüter unserer höheren Schulen ist nicht mehr so allgemein wie im
vergangenen Jahrhundert. Wenn wir uns die Frage stellen, wie wir unser
Volk in diesen schweren Zeiten zur Verinnerlichung und vertiefter Bildung,
fuhren sollen, so ist die Antwort eine Forderung: Wie bringen wir mög-
lichst alle die Quellen zum Fließen, die in den großen Gedankenschöpfungen
mnserer Denker noch verborgen sind. Noch liegt hier ein Stoff von un-
endlichem Reichtum fast ungenützt bereit. An dieser Stelle besteht ein
schwerer Mangel unseres bisherigen Schulwesens. Kaum ein deutscher
Philosoph kommt auf der Schule zu Wort. In dem von der Schule ver-
mittelten Bilde der geisteswissenschaftlichen Entwicklung bleibt die Aus-
prägung in der Philosophie trotz ihrer außerordentlichen Bedeutung für
die Gesamtkultur fast völlig fehlen.
Wir müssen in viel erhöhterem Maße die Geisteskräfte deutschen
Wesens lebendig machen und aus der Gedankenwelt unserer Denker das
für die Schule Geeignete aussichten. Wenn wir unsere Schüler in die
Tiefe deutschen Wesens und Fühlens hineinführen wollen, so können wir
an den Schöpfungen unserer Philosophen nicht mehr vorbeigehen. Kant,
Fichte, Schleiermacher, Schopenhauer, Fechner, Lotze u. s. w. dürfen den
Gebildeten nicht nur inhaltlose Namen bleiben. So werden wir den Zögling
auch von dieser Seite her das besondere Wesen des deutschen Geistes er-
fassen lehren als den Geist wahrheitsucheri sehen, faustischen Ringens.
Wer es erprobt hat, welches Erlebnis die Lektüre von dem radikalen
Zweifel des Descartes bei den Schülern hervorzurufen imstande ist, welche
reine Freude die messerscharfe Subtilität Humescher Gedankengänge, welche
Ehrfurcht vor der Macht des Gedankens ein Stück aus Kant erzeugen
kann, der wird das tiefe, schöpferische Leben dieses Unterrichts, seine
Bedeutung für die Erhöhung und Befestigung der geistigen Persönlichkeit
voll würdigen können.
Fragt man zusammenfassend, was der philosophische Unterricht im
Rahmen der übrigen Schulfächer zu leisten vermag, so kann man ihn
wohl als eine Art Krönung derselben bezeichnen.
Die Philosophie ist besonders geeignet, entsprechend dem gelehrten
Ziele der Schule, ein echt wissenschaftliches Verhalten zu erzeugen: Sehn-
sucht nach theoretischer Erfassung der Welt.
Sie führt am tiefsten in die Zusammenhänge der objektiven Kultur,
in das Reich des Sinnes, der Bedeutungen und Werte.
Sie vermag endlich durch ihre gesinnungbildende Kraft in besonderer
Weise dem Ziel der Persönlichkeitsbildung zu dienen. Denn in ihr ver-
einigen sich höchste Ausprägung des theoretischen Verhaltens mit den
tiefsten Bedürfnissen des Gemütes und starken Antrieben für den Willen
im Sinne innerer Formung und erhöhter Lebensführung.
Benutzte Literatur.
H. Schmidkunz, Philos. Propädeutik in neuester Literatur. (Bibliographie
der gesamten Propädeutikliteratur von 1912 — 1916).
R. Eucken, "Was sollte zur Hebung philosophischer Bildung geschehen?
Mitteillungen. 251
Gesammelte Aufsätze zur Philosophie und Lehensanschauung. Leipzig
1903 S. 217 ff.
Otto Braun, Zum Bildungsproblem. Leipzig 1911.
H. Vaihinger, Philosophie in der Staatsprüfung. 1905.
A. Rausch, Elemente der Philosophie. 4. Aufl. Halle a. S. 1920.
A. v. Meinong, Über philosophische Wissenschaft und ihre Propädeutik.
Wien 1885.
A. Rausch, Philos. Propädeutik. In „Ziehen und Weißenfels, Handbuch
für Lehrer höherer Schulen". Leipzig, Teubner 1905.
W. Moog, Der philosophisch vertiefte Unterricht. Jahrbuch des Vereins
für wissenschaftliche Pädagogik, Bd. 45. 1913.
R. Lehmann, Wege und Ziele der philos. Propädeutik. Sammlungen und
Abhandlungen aus dem Gebiet der pädagogischen Psychologie, 8. Bd.
I. Heft. Berlin 1911.
R. Lehmann, Die Philosophie als Gipfel des Unterrichts, in „Erziehung
und Unterricht" 2. Aufl. Berlin 1912.
C. Siegel, Methodik des Unterrichts in der philos. Propädeutik. Wien 1913.
Instruktionen für den Unterricht an Gymnasien in Österreich. Wien 1900.
Fr. Paulsen in Reins Encyklopädischem Handbuch Bd. 6 unter „Philos.
Propädeutik".
Verhandlungen der preußischen Direktorenversammlungen von Sachsen,
Pommern und der Rheinprovinz 1903. Bd. 64. 65. 66.
B. Schmid, Philos. Lesebuch. Leipzig, Verlag Teubner 1906.
Frischeisen-Köhler, Moderne Philosophie. Ein Lesebuch zur Einführung in
ihre Standpunkte und Probleme. Stuttgart 1907.
C. Zimmermann, Über den Unterricht in philos. Propädeutik. Jahrbuch
des Vereins für wissenschaftliche Pädagogik. Bd. 46. 1914.
W. Wundt, Metaphysik. In „Hinneberg, die Kultur der Gegenwart I. 6.
Systematische Philosophie".
Ziertmann, Philosophische Propädeutik. In „W. Rein, Deutsche Schuler-
ziehung" Bd. I S. 115 ff. München 1907.
P. Lorentz, Grenzboten 1913. S. 365 ff.
Lambeck, Lehrbuch der philos. Propädeutik. Leipzig und Berlin, Verlag
Teubner, 1919.
O. Weißenfels, Kernfragen des höheren Unterrichts. Neue Folge 1901 — 03.
Fr. Neubauer, Die Erziehungsaufgabe des philosophischen Unterrichts. Zeit-
schrift für den deutschen Unterricht. 33. Jahrgang. Heft 1/2.
Fr. Gagelmann und P. Hoffmann : Entwurf eines Lehrplanes für die deutsche
Oberschule. Deutsche Erziehung, Heft 15. Union Deutsche Verlags-
gesellschaft 1920.
Vorbereitender oder systematischer Unterricht in der
Philosophie.
Von Dr. Felix B ehrend- Charlottenburg.
Für den Unterricht in der Philosophie an den höheren Schulen er-
scheint mir die Frage sekundär, ob besondere Unterrichtsstunden in der
252 Mitteilungen.
Philosophie das Richtige sind, oder philosophische Vertiefung des Unter-
richte. Auch die Anhänger eines besonderen Unterrichts werden zugeben
müssen, daß die wenigen Stunden, die zur Verfügung stehen können, ver-
einzelt dastehen würden, wenn sie nicht durch den übrigen Unterricht ge-
stützt werden, und die Anhänger der philosophischen Vertiefung des einzel-
wissenschaftlichen Unterrichts werden nichts besonderes dagegen einwenden,
wenn einige Stunden ganz philosophischer Arbeit gewidmet werden, wenn
sie nur die Gewähr haben, daß dies in zweckmäßiger Weise geschieht.
Übrigens sind bisher auch andere Wege beschritten, nämlich freie Be-
sprechungen außerhalb des Unterrichts, besondere wahlfreie Kurse, Unter-
haltungen auf Spaziergängen u.s.w. und gerade diese Wege erweisen sich
nach meinen Erfahrungen als besonders fruchtbar, weil sie geeignet sind,
sich den besonderen Bedürfnissen des einzelnen Schülers anzupassen.
Viel wichtiger ist die Frage nach dem Ziel des philosophischen Unter-
richts, die ich so formuliert habe: Vorbereitender oder systematischer Unter-
richt? Propädeutik heißt doch Vorschulung, sei es nun theoretische oder
praktische und diese Tendenz hat bisher den Unterricht in der Philosophie
auch in den Schulen, in denen er als Pflichtfach eingeführt ist, beherrscht.
Wenn neuerdings sich Bestrebungen nach systematischem Unterricht in den
Vordergrund drängen, so entspricht das der typischen Erscheinung, die wir
bei Gestaltung des Lehrgangs der höheren Schulen finden, daß jedes Fach
die innere Neigung hat sich zum Selbstzweck zu machen. So wird jetzt
unter anderem auch Unterricht in der Staatsbürgerkunde, der Kunstgeschichte,
der Hygiene, der Geologie, u.s.w. gefordert und diese Bestrebungen drohen
überhaupt den Rahmen der höheren Schule zu zersprengen; ein anderes
aber ist das Eindringen eines neuen Stoffgebiets, ein anderes die wohlberechtigte
Forderung,- vorhandene Lehrgebiete unter neuen methodischen Gesichts-
punkten zu betrachten.
Die Anhänger des systematischen Unterrichts sehen als Hauptziel die
Erziehung des Menschen zu einer geschlossenen Weltanschauung an. Das
geht also weit hinaus über die Aufgabe, einen stärkeren Zusammenhang
zwischen den einzelnen Unterrichtsgegenständen der höheren Schule zu
schaffen. Mit der unbestrittenen Tatsache, daß die Schüler vom 14. bis
zum 18. Lebensjahre in ihrer Mehrzahl großes Interesse an allen Welt-
anschauungsfragen haben, sich in innerem Ringen mit sich selbst, mit ihrer
Bestimmung, mit ihren Lebensaufgaben, mit dem Sinn des Lebens befinden,
und daß es eine spezifische Eigentümlichkeit dieser jugendlichen Epoche
ist, mit diesen Problemen zu ringen, wird in Zusammenhang gebracht, daß
dies Streben der Jugend der Sehnsucht unserer ganzen Zeit nach Philo-
sophie und Metaphysik entspricht. Es wird auf die Zerrissenheit unserer
Zeit, auf die Problematik die gerade uns umgibt, hingewiesen und daraus
geschlossen, daß besonders die wissenschaftlich gerichtete Schule die Aufgabe
hat, auf eine wissenschaftlich vertiefte Weltanschauung hinzuwirken, damit
die jungen Menschen nicht jeder Modeströmung und dem Zauber origineller
Persönlichkeiten unterliegen, denen es mehr auf geistreiche als richtige
Ideen ankommt. Es wird ferner betont, welcher Gegensatz zwischen der
kirchlich geformten Religiosität und den Ergebnissen der Wissenschaft
bestehe und daß das höchste Ziel jeder wissenschaftlichen Schule sein
Mitteilungen. 253
müsse, dem Menschen einen klaren Lebensweg, seinem Handeln Festigkeit
und Stetigkeit zu verleihen. Dies Ziel sei aber nur durch eine wissen-
schaftliche Einführung in die großen Weltanschauungsfragen und Probleme
erreichbar, nicht durch gelegentliche Einwirkungen und gelegentliche Be-
sprechungen (Freitag, die deutsche Oberschule).
Dieser Auffassung liegt eine Reihe von Behauptungen zu Grunde, die
dringend der Klärung bedürfen. Der Trieb der Schüler nach innerer
Klarheit ist ihrem Lebensalter eigentümlich. Mit der Pubertät beginnt die
kritische Zeit der Selbstbesinnung ; aber man darf diese Tatsache nicht so
ausdeuten, daß es auch auf dieser Altersstufe möglich wäre, Klarheit und
Geschlossenheit der Anschauungen zu erreichen und daß diese Entwicklung
mit dem 18. Lebensjahre sich auch nur vorläufig abschließen ließe. Beruf,
Berufsleben, Stellung im sozialen Leben, Freundschaft und Liebe bringen
ständig neue Anstöße zum Wechsel der Lebensauffassung. Es kann sein,
daß ein Schüler, der in vollständig geschlossener religiöser Weltanschauung
groß geworden ist, skeptischen Tendenzen erliegt und umgekehrt. Jedes
große Erlebnis kann die Weltanschauung umstoßen. Man denke an welt-
geschichtliche bekannte Vorgänge, wie wir sie aus dem Leben Luthers kennen,
oder an die Lebensweisheit der katholischen Kirche, die sehr wohl weiß,
weshalb sie ihre künftigen Geistlichen in Seminaren erzieht. Die reife und
abgeschlossene Weltanschauung bildet sich besonders bei den wissenschaft-
lich gebildeten Schichten später, und dieser Prozeß läßt sich nicht künstlich
in eine frühere Zeit verlegen. Im übrigen bleibt selbstverständlich der
Bildungsprozeß stets offen und ist unendliche Aufgabe.
Eine weitere Frage ist die, ob das systematische philosophische Denken
allen Schülern zugänglich ist. Hier spielt bei der Beurteilung schon der
systematische Standpunkt eine Rolle. Verläßt man die etwas vage Defini-
tion der Aufgabe der Philosophie, daß das einzelwissenschaftliche Wissen
zu einer Gesamt an schauung zusammengeschmolzen werden soll, und be-
trachtet man z. B. nach der Auffassung der Marburger oder der Bade-
ner neukantischen Schule die Philosophie als Theorie der Theorie, so
ergibt sich, daß sie einen besonderen Grad der Abstraktion voraussetzt,
der nicht jedem gegeben ist. Nehmen wir doch alle die spezifisch mathe-
matische oder sprachliche Begabung an, die nicht bei allen Schülern in
gleichem Maß vorhanden ist, und ob gerade die philosophische Begabung
weit verbreitet und allgemein ist, darf auf Grund der Tatsache, daß von
den Akademikern so viele sich gar nicht an solche Dinge heranwagen,
füglich bezweifelt werden.
Schließlich muß darauf eingegangen werden, welche Folgen sich für
unsere Betrachtung aus der Tatsache ergeben, daß das deutsche Volk eine
einheitliche Weltanschauung nicht besitzt. Die Weltanschauung, die Herr
Freitag uns vorgetragen hat, ist in allen Einzelheiten die einer bestimmten
Gruppe und so selbstverständlich es ist, daß er sie für die einzig richtige
ansehen muß, so wenig kann man verkennen, daß diese Ansicht von weiten
Kreisen nicht geteilt wird. ' Wenn man sich aber darauf beschränkt, ge-
wissermaßen die Grundstimmung des Unterrichts festzulegen und die indi-
viduelle Färbung dem einzelnen Lehrer zu überlassen, so fragt sich immer
noch, ob dies bei der Zerrissenheit des deutschen Volkes möglich ist.
254 Mitteilungen.
Richert hat in besonders feiner und eindringender "Weise die Bildungsein-
heit des deutschen Volkes im deutschen Idealismus, insbesondere in der
Philosophie Kants verankern wollen. (Richert, die deutsche Bildungseinheit
und die höhere Schule. Mohr, Tübingen 1920.) Doch wenn man auch zugeben kann,
daß der deutsche Katholizismus stark durch die deutsche Bildungsgeschichte
und die deutsche Philosophie beeinflußt ist, und eine gewisse Überordnung
des Toleranzgedankens auch bei ihm zu spüren ist, so wäre es ein Irrtum,
wenn man annehmen wollte, daß die führenden katholischen Pädagogen
auf philosophische Propädeutik im Geiste Willmanns verzichten wollten.
Übrigens lehnt ja auch Fr. W. Förster in unglaublich schroffer Form die
Kantische Philosophie ab. Wie nun, wenn in protestantischen Schulen die
Philosophie Kants, in katholischen das System des Neuthomismus vorge-
tragen und eingeprägt würde? Mit solcher Festlegung würde der Unter-
richt sich so dogmatisch verengern, daß er seinen Zweck verfehlen würde,
eine selbständige Meinungsbildung zu unterstützen und die Schüler würden
auch diesen dogmatischen Charakter bald erkennen und die vorgetragene
Anschauung als eine neue mit den vielen andern bei Seite stellen. Will
man aber bei Ausgestaltung des Lehrplans für einen systematischen philo-
sophischen Unterricht an den höheren Schulen dieser Szylla entgehen, ver-
fällt man leicht der Charybdis des Eklektizismus und damit der Verwässe-
rung. Je verschwommener der Begriff Weltanschauung genommen wird,
desto mehr besteht diese Gefahr. Riehl hat in einem Vortrag über wissen-
schaftliche und nichtwissenschaftliche Philosophie sehr treffend hervorge-
hoben, daß die Weltanschauung auch durch große einzelwissenschaftliche
Entdeckungen, wie etwa die des Kopernikus oder die Darwins wesentlich
beeinflußt werden kann, und es entsteht leicht im philosophischen Unterricht
eine Vermischung von Elementen der verschiedenen Wissenschaften und der
verschiedenen philosophischen Systeme, die einem exakten philosophischen
Denken durchaus nicht förderlich ist. Wenn ich dies behaupte, so muß
ich mein Urteil auf Grund der mir bekannten Ansätze zum philosophischen
Unterricht fällen und da erscheint mir besonders charakteristisch das Buch
von Rausch „Elemente der Philosophie". Was sollen wir davon erwarten,
wenn der Verfasser im größten Teil des Buches Dinge behandelt, die
weit ausführlicher in den anderen Lehrstunden bereits besprochen sind und
der Schüler nicht mehr weiß, was Philosophie, was Wissenschaft ist. Da
wäre es doch fruchtbarer, einige Kapitel aus den klassischen Werken mit
den Schülern zu besprechen, an deren Tendenz der Verfasser anschließt aus
Herder oder aus Lotzes „Mikrokosmos". Nun nehme man noch hinzu, daß
fast auf jeder Seite, die sich mit wirklichen philosophischen Problemen
beschäftigt, Anschauungen vorgetragen werden, die nicht wissenschaftliches
Allgemeingut sind. Gewiß kann man sich auf Aristoteles und andere be-
rufen, wenn man von letzten unbeweisbaren Axiomen spricht, gewiß kann
man auch viel zu Gunsten der Abstraktionstheorie der Begriffsbildung
sagen, aber wie muß es wirken, wenn diese Lehren in einem gedruckten
Buch in die Hand des Schülers gegeben werden, der gewohnt ist, in seinen
Lehrbüchern allgemein Anerkanntes zu finden? Und wenn gar, wie dies
im Vorwort einer älteren Auflage des Rausch'schen Buches steht, der
Schüler Kapitel dieses Buches studieren soll, die dann in der Unterrichts-
Mitteilungen. 255
stunde besprochen werden, wird er sich da noch selbstständig entwickeln,
wenn wir doch schon sehen, daß auch im Hochschulunterricht der in Mar-
burg Studierende Neukantianer, in Greifs wald Rehmkeschtiler, in Leipzig
Wundtschüler wurde?
Ebenso fragwürdig erscheint eine systematische Einführung in die
Geschichte der Philosophie. Wenn man bedenkt, daß zum Studium Kants
für Begabte mindestens eine 4 stündige Vorlesung und ein bis zwei Uebungen
notwendig erscheinen, wie soll es wirken, wenn ein kurzer Abriß in wenigen
Stunden von Piaton bis Eucken führt (Budde, die großen Denker der
Menschheit, Schriften des Schillerbundes, Bd. 4. Ziemsen, Berlin) oder eine
Uebersicht über Logik, Psychologie, Ethik und Aesthetik oder gar beides,
wie wir es in Lehrplänen für die neue deutsche Oberschule lesen können?
Sagt Schmidkunz nicht mit Recht daß sich darin weniger die Auffassung
einer fachgerechten Beherrschung der Philosophie ausspricht, sondern mehr
eine Sammlung von Ansichten „statt von Einsichten"? „Ein Bedürfnis
mühelos reich zu werden" mit einer Erholung von dem „ mühsamen Schritt
für Schritt gehen" ?
Diese encyklopädische Behandlung der Philosophie widerspricht dem
wissenschaftlichen Charakter der höheren Schule und erzeugt nur den Schein
einer einheitlichen Weltanschauung, während im Geiste des Schülers die
Bausteine unbehauen neben dem schönen Bild des Einheitsbaus liegen
bleiben, das der Lehrer ihm vor Augen stellt.
Dieser Auffassung steht eine engumrissene andere gegenüber, die in
sicherer Selbstbeschränkung einen Elementarunterricht in der Philosophie
vorsieht, wobei unter Elementen der Philosophie etwas Aehnliches zu ver-
stehen ist wie unter dem Begriff der Elementarmathematik. Als solche
Elemente galten bisher: Logik und Psychologie. Für sie sprechen nach
Schmidkunz 1) daß sie am besten lehr- und lernbar sinö^ möglichst un-
abhängig von subjektiven Schwankungen und von fast ebenso festem Ge-
füge, wie die übrigen Lehrfächer, übersichtlich leicht faßlich; 2) daß sie
nicht andere Teile der Philosophie voraussetzen, sondern ein wirklicher
Unterbau, ein Werkzeug des philosophischen Studiums sind.
Diese exaktere Fassung des Ziels des philosophischen Unterrichts hat
zweifellos viel für sich, und einer zu engen Auffassung könnte nach
Schmidkunz dadurch Rechnung getragen werden, daß weitere Probleme aus
der Erkenntnislehre, Ethik und Aesthetik diesem Unterricht angegliedert werden
könnten. Was Schmidkunz für Logik und Psychologie geltend macht,
ist in gewissem Grade richtig. Lehrbücher, wie die Logik von Höfler oder
die kleine Psychologie von Buchenau sind wesentlich exakter als allgemeine
Sammelwerke für die Schule, insbesondere, wenn man nicht allzuweit über
die Lehre von den Sinnesempfindungen und die Beschreibung der elementaren
seelischen Erscheinungen, andererseits über die formale Logik hinausgeht.
Sobald man tiefer geht, sind allerdings auch hier die philosophischen Ge-
gensätze sehr groß, insbesondere wird erörtert werden müssen, ob das
analytische Denken, um in Kantischer Schulsprache zu reden, das heißt
eine Darstellung des Denkens, das bereits gefundene Erkenntnisse in syste-
matisch durchsichtiger Form gibt, so stark betont werden darf, vor dem
256 Mitteilungen.
synthetischen Denken, das dem methodischen Forschen zu Grunde liegt
und daher in der Schule im Vordergrund steht.
Mag ein solcher Unterricht in der Hand geeigneter Lehrer an sich
wertvoll sein und sich auf gute Unterrichtserfolge berufen können, so kann
dies nicht ausschlaggebend sein, da scließlich jeder wissenschaftliche Unterricht
bis zu einem gewissen Grade fruchtbar sein wird.
Gegen ihn spricht, daß er die Vorbereitung zum philosophischen
Denken zu eng faßt, daß er die Bedürfnisse des Schülers und die aus dem
Unterricht in den Einzelfächern, Religion, Deutsch, Geschichte, Mathematik
und Naturkunde herauswachsenden Probleme nicht ausreichend und nicht
im geeigneten Moment berücksichtigt, ferner daß die systematische Zu-
sammenstellung, wenn die einzelnen Gesichtspunkte nicht schon im anderen
Unterricht besprochen sind, eine neue Stoffbelastung bilden, und daß oben-
drein ein großer Teil des Stoffes, wie die Darstellung der Begriffe durch
Kreise und der Lehre von den Schlüssen veraltet anmutet.
Entscheidend scheint mir aber, daß ein zusammenhängendes, sich über
ein Jahr erstreckendes Verbleiben im Abstrakten trotz aller belebenden
Beispiele trocken und eintönig wird und doch niemals so tief in die Sache
geht, als wenn diese oder jene logische und psychologische Frage in voller
Breite zur Vertiefung eines konkreten sachlichen Problems erörtert wird.
Ich erlaube mir daher die folgende Formulierung für das Ziel eines
vorbereitenden philosophischen Unterrichts: Schulung in begrifflich scharfer
Fassung von Problemen, Erziehung zu einer exakten Auffassung und Be-
handlung derselben, Hinführung auf den Unterschied fachmännischer und
populärwissenschaftlicher Philosophie, Hinweis auf die Schwierigkeiten und
die mühsame begriffliche Arbeit. Und zu diesem formalen methodischen
Ziel kommt die Erweckung lebendigen Interesses, Verständnis für die welt-
geschichtliche Bedeutung großer philosophischer Gedanken, Achtung vor
der Geistesleistung großer Genies. Diese vorsichtige Heranführung wird die
beste Vorbereitung für eine spätere intensive, nicht oberflächliche Beschäf-
tigung mit Philosophie bilden. Es ist selbstverständlich, daß auch bei
dieser Auffassung ein gewisser Grad von Dogmatismus unvermeidlich ist.
Denn jeder philosophische Unterricht, der Sinn haben soll, muß die Mög-
lichkeit und den Wert philosophischer Einsicht voraussetzen und ebenso
daran festhalten, daß die Kulturgebiete, die die Schule dem Schüler nahe-
bringt, Religion, Wissenschaft, Kunst u.s.w. Wertgebiete sind, die eine er-
kennbare Gesetzmäßigkeit haben.
Die Erfüllung dieses Ziels verlangt, daß spätestens von den mittleren
Klassen an, an die Probleme angeknüpft wird, die sich aus dem wissenschaft-
lichen Unterricht ergeben und zwar da, wo die Ein sieht in die sach-
lichen Probleme durch die philosophische Betrachtung ver-
tieft wird. Ein paar Beispiele aus dem mathematischen und physi-
kalischen Unterricht mögen erläutern, wie der philosophisch gesinnte Lehrer
geradezu innerlich genötigt wird, die behandelten Stoffe durch logische oder
psychologische Betrachtungen durchsichtiger und damit verständlicher zu
machen, sodaß die philosophische Erörterung kein Anhängsel ist, sondern
als mit zur Sache gehörig betrachtet wird.
Beginnen wir zum Beispiel mit dem mathematischen Unterricht in der
Mitteilungen. 257
Quarta. Spätestens bei der Durchnahme der Kongruenzsätze wird man
genötigt den Unterschied von Definition und Lehrsatz durchzusprechen,
weil der Schüler sonst den eigentlichen Sinn dafür nicht einsieht, weshalb
man die Kongruenzsätze beweisen muß. Nach dieser logischen Scheidung
kann man den Sachverhalt in folgende einfache Form kleiden: Kongruenz
bedeutet, daß Dreiecke in allen sechs Stücken übereinstimmen, die Kon-
gruenzsätze bedeuten, daß, wenn Dreiecke in bestimmten drei Stücken über-
einstimmen, sich beweisen läßt, daß sie auch in den übrigen 3 Stücken
übereinstimmen müssen. Oder es soll bei Besprechung von harmonischen
Punkten der Begriff der äußeren Teilung klar gemacht werden. Man
spricht hier in der Mathematik gewöhnlich von Begriffser Weiterung und der
gleiche logische Prozeß kommt sehr häufig vor, so bei Erweiterung des
Zahlbegriffs und bei der allmählichen Herausarbeitung des Begriffes der
trigonometrischen Funktionen, die von der anschaulichen Definition am
rechtwinkligen Dreieck ausgeht und bis zur allgemeinsten algebraischen
durch unendliche Reihen führt. Man erklärt zunächst den Sinn des Ge-
brauchs von "Worten in übertragener Bedeutung (Einsicht u.s.w.) und führt
dann aus, wenn ich ein Brot teilen will, sodaß Stullen entstehen sollen, so
muß ich mit dem Messer das Brot durchschneiden; führe ich das Messer
außen vorbei, so entstehen keine Teile, wenn ich aber auf einer Strecke
innen und außen einen Punkt annehme, so stimmt das Ergebnis insofern
überein, als Teilstrecken entstehen, die einen Endpunkt in dem Teilpunkt
haben, und deren anderen Endpunkt einer der Endpunkte der ursprüng-
lichen Strecke bildet. Wir können beides unter diesem gemeinsamen Ge-
sichtspunkt zusammenfassen und dem neuen Oberbegriff in übertragenem
Sinn auch den Namen Teilung geben. Der gleiche logische Prozeß ist
von Höfler in seiner Physik in einer ganzen Reihe von Abschnitten durch-
geführt, um den Sinn des Begriffs Energie klar zu machen.
Bei Einführung in die ersten Formeln der Algebra ist man häufig
genötigt, auf die Anschauung zu verweisen. Damit der Schüler dies ver-
steht, ist der Unterschied von Anschauen und Denken zu erläutern. Nehmen
wir z. B. die Ableitung von um. an = am+n, so verweisen wir zunächst auf
bestimmte Zahlen, und die einzelnen Faktoren werden dann entweder durch
die Schriftzeichen oder andere Symbole räumlich veranschaulicht.
Andere Beispiele wird jeder, der den Unterricht kennt, in großer Zahl
geben, ich erinnere noch an einen hübschen Aufsatz von Laßwitz „Gerade
und krumm" wo der Prozeß der Zusammenfassung von Einzelgestalten zu
einem Oberbegriff mittels des Prinzips der Kontinuität dargestellt wird, ein
Prozeß, der die gemeinsame Definition der Kegelschnitte mittelst des Durch-
gangs durch das unendliche Große durchsichtig macht und auch für die
Durchnahme des Differentials oder der Zenonischen Sophismen, die gele-
gentlich der unendlichen geometrischen Reihen besprochen zu werden pflegen,
seine Bedeutung hat.
Mit der gleichen inneren Notwendigkeit treten im mathematischen,
wie physikalischen Unterricht psychologische Betrachtungen auf, mit denen
man nicht auf einen besonderen philosophischen Unterricht warten kann.
Ich meine nicht die physiologische und psychologische Betrachtung der Sinnes-
organe, die sich allerdings leicht als besonderer Abschnitt in Biologie oder
Kantstndien XXVT. 17
258 Mitteilungen.
Physik anschließen kann, sondern nehme als Beispiel die Einführung in die
Wärmelehre. Da muß folgendes herausgearbeitet werden. Bis vor wenigen
Jahrhunderten war man auf die unbestimmten Aussagen der Sinnesempfindungen
angewiesen mit ihren Unvollkommenheiten, der Relativität, der stufenförmigen
Skala mit den wenigen Angaben von sehr heiß über lauwarm bis sehr kalt,
und der Grenzen, an denen die Empfindungen in Schmerz übergehen,
während durch das Gesetz der Ausdehnung der Körper sich eine stetige
Reihe von meßbaren Temperaturen ergibt. (Besonders schön dargestellt bei
Maxwell, Theorie der Wärme, vergl. auch Höfler, Physik S. 251). Dazu
kommen Sinnestäuschungen im mathematischen Unterricht u.s.f.
Diese Beispiele würden sich leicht vermehren lassen. Der philosophisch
gesinnte Lehrer wird es sich nicht nehmen lassen, den mathematischen
Unterricht an vielen Stellen durch philosophische Erörterungen zu vertiefen
und hat dazu viel mehr Zeit zur Verfügung, als ein besonderer Unterricht
bieten kann. Klassifikationen z. B. der Vierecke, Urteile, Schlüsse z. B.
der hypothetische Schluß, der bei der Formulierung „wenn — so" eine
treffliche Übung für Quartaner ist, um Voraussetzung und Behauptung
zu trennen, die logische Bedeutung der Axiome und der Aufbau der Mathe-
matik nötigen fast dazu. Der Unterschied zwischen mathematischer und
physikalischer Gesetzmäßigkeit muß in dem Augenblick erörtert werden,
wo physikalische Ausarbeitungen geschrieben werden, weil man sonst vom
Beweise des Ohm'schen Gesetzes oder von der Berechnung spezifischen Wärme
lesen muß. Ich verzichte darauf Beispiele aus den übrigen Unterrichtsfächern
zu bringen, die ich nicht so gut kenne und ebenso auf die Problemstellungen,
die sich aus dem Verhältnis der Einzel Wissenschaften zueinander und zur
Philosophie ergeben, da das Material in der philosophischen Propädeutik,
die von Lambeck herausgegeben ist, in vorzüglicher Weise zusammengestellt
ist, und auch die methodische Seite von Lambeck im Vorwort und der Ein-
leitung hinreichend beleuchtet ist. Ich habe eben gerade die Seite betont,
von deren gewissenhafter Durchführung schließlich der Enderfolg jeden
philosophischen Unterrichts mir abhängig zu sein scheint.
Ganz besonders geeignet" ist ferner zur Erreichung des oben gegebenen
Zwecks des philosophischen Unterrichts die Lektüre von Original werken.
Die Bindung an ein philosophisches Lesebuch möchte ich ablehnen; der
Zwang, eine bestimmte Anzahl Stücke zu lesen und damit eine gewisse
historische Übersicht zu geben, sodaß womöglich auch hier jedes Jahr das-
selbe gelesen wird, die Schüler sich Notizen machen, Handbücher zur Inter-
pretation entstehen, der Inhalt abgefragt wird und ähnliches würde dem
gewünschten Zweck nicht entsprechen. Der Lehrer muß die Lesestücke
aussuchen, die gerade den Eindruck auf den Schüler machen, den er
wünscht, z. B. Stellen, die geeignet sind, sittliche Wärme und Begeisterung
hervorzurufen oder- Nachdenken darüber, daß es sittliche Gesetzmäßigkeit
gibt. Hierher gehören etwa die berühmten Stellen im Spinoza „Ich werde
die menschlichen Handlungen und Triebe ebenso betrachten, als wenn es
die Untersuchung mit Linien, Flächen und Körpern zu tun hätte" oder im
Platonischen Kriton und die bekannte Stelle aus dem Staat, wo Trasymachus
die Gerechtigkeit als das dem Stärkeren zuträgliche erklärt. Zur Erkennt-
nislehre nenne ich nur die Stelle aus dem Menon oder etwa bei Leibniz
Mitteilungen. 259
die schöne Auseinandersetzung über seine Auffassung von Idee im Gegen-
satz zu der Lockes, die an der Idee des Tausendecks auseinandergesetzt wird.
Es wäre schon viel gewonnen, wenn nur ein einziges Buch einmal
gründlich behandelt würde. Etwa sehr zeitgemäß sind Fichte's Reden an
die deutsche Nation; Der Grad der Abstraktheit, die weltgeschichtliche
Tragweite und die sittliche Wirkung, die sich durch diese Lektüre erzielen
lassen, lassen es besonders geeignet erscheinen. Oder wenn an die von
den Schülern gelesenen Bücher, etwa Häckels Welträtsel angeknüpft würde,
um unbarmherzig die Schwächen desselben zu zeigen; oder an Nietzsche,
um die Schüler zum Bekenntnis zu nötigen, daß sie ihn doch nicht voll-
ständig verstehen, wenn sie ihn allein lesen; die unzeitgemäßen Betrach-
tungen sind übrigens gerade wieder sehr zeitgemäß.
Mir erscheint hier als das Wesentliche, daß die Schüler gezwungen
werden, die gelesenen Stellen Wort für Wort zu verstehen. Es wird
hoffentlich bald als Allgemeingut gelten, daß diese Form der Erziehung
zur Exaktheit weit wertvoller ist, als jede abgeleitete Übersicht über die
Geschichte der Philosophie.
Es kann natürlich noch mehr erreicht werden, wenn der deutsche
Unterricht mit Stellen aus Schiller, Herder etc. und der fremdsprachliche
mit Piaton, Rousseau und Humelektüre die Sache unterstützte.
Mit diesen Andeutungen mag es genug sein. Nur zwei Gesichtspunkte
möchte ich zum Schluß noch hervorheben, die wir nicht aus den Augen
verlieren dürfen, wenn wir dem philosophischem Denken Heimatrecht in
der Schule geben wollen. Erstens: Die Stärke des Schülers ist die, daß
er sich noch unbefangen und nicht zu stark mit historischem Ballast ver-
sehen unmittelbar mit den Problemen beschäftigt; sobald er das erste Kolleg
über Geschichte der Philosophie gehört hat, tritt leicht an die Stelle des
lebendigen Interesses an der Sache selbst der Sport am Lösen von Buch-
problemen, etwa an der Aufgabe, wer Recht hat, Kant oder Hume und
diese Buchprobleme werden gar nicht mit den wirklichen den Menschen
interessierenden Problemen in Beziehung gebracht. Es geht dann ähnlich
wie es mir im mathematischen Unterricht manchmal geht, wenn ich von
Meridianen und dem Äquator rede und der Schüler erstaunt aufhorcht, daß
das Kreise sind und daher in 180 Grad eingeteilt werden. In einer Zeit,
wo der Schüler noch nicht gezwungen ist, eine Übersicht über die ganze
Philosophie zu haben, kann man abwarten, bis die Probleme selbst in
seinem Gesichtskreis auftauchen. Ich erinnere mich noch ganz genau,
wie ich als Student das erste Mal auf das Problem der Kritik der reinen
Vernunft stieß, bevor ich von Kants Lehre das geringste wußte, nämlich
als im Kolleg über Mechanik gelehrt wurde, daß der erste Differential-
quotient des Weges nach der Zeit die Geschwindigkeit, der zweite die Be-
schleunigung ist, dachte ich staunend das erste Mal darüber nach, wie es
möglich ist, daß diese komplizierten Begriffe fn der wirklichen Natur vor-
kommen. Und erst da war denn auch der Augenblick für ein Studium
Kants gekommen.
Und zweitens: Lassen wir dem Lehrer in diesem Unterricht Freiheit;
nötigen wir ihm nicht einen Lehrplan auf, der ihn hindert, das was er für
richtig hält, zu bringen, sondern ihn nötigt dogmatisch vorzutragen, wo-
17*
260 Mitteilungen.
möglich nach dem Lesebuch in Unterprima Stück 1 bis 20 und in der
Oberprima Stück 21 bis 40 durchzunehmen und dann, da es ein besonderes
Unterrichtsfach ist, auswendig lernen zu lassen, und abzufragen und danach
zu zensieren. Dann würden wir dem Unterricht das Beste nehmen.
Aufruf
Solger-Kollegnachschriften betreffend.
"Wer im Besitze solcher Nachschriften sein sollte, wird höflichst gebeten,
mir dieses gütigst mitzuteilen.
Hellmuth Burgert
Freiburg i. Br., Immentalstr. 7.
Januar 1921,
An die Mitglieder
der Kant-Gesellschaft.
Vorbemerkungen.
1) Sofortige Einsendung des Jahresbeitrages dringend
erwünscht.
2) Möglichst grosse Erhöhung des Jahresbeitrages drin-
gend erbeten.
3) Angabe des Absenders in recht deutlicher Hand-
schrift unerlässlich.
1.
Auch über die Entwicklung des vergangenen Jahres 1920 —
es ist das 17. Jahr des Bestehens der Kant-Gesellschaft — kann
ein sehr günstiger Bericht erstattet werden. Der Mitgliederkreis
hat sich in außerordentlichem Umfang vergrößert. Traten der
Gesellschaft im Jahre 1918 bereits 324 neue Jahresmitglieder bei,
stieg diese Zahl im Jahre 1919 auf 578, so beträgt die Zahl der
im Jahre 1920 neu eingetretenen Jahresmitglieder (Mindestbeitrag
Mk. 20, — ) nicht weniger als 792. Auch die Zahl der Dauer-Mit-
glieder (Mindestbeitrag Mk. 400,—) hat sich wesentlich erhöht;
sie beträgt gegenwärtig 83. Die Gesamtzahl der Jahres- und Dauer-
mitglieder belief sich am Schluß des Jahres 1920 auf 2427 Mit-
glieder. Somit hat sich die Gesellschaft zu der größten philo-
sophischen Organisation der Erde entwickelt.
Die Gründe für diesen Aufschwung liegen wohl zunächst in
der intensiven, für das geistige Leben der Gegenwart bezeich-
nenden Erneuerung und Erstarkung der philosophischen Interessen
überhaupt ; ferner in dem Umstand, daß wir trotz aller aus den Zeit-
verhältnissen sich ergebenden Schwierigkeiten unsere Bestrebungen
und Leistungen nicht nur in der gleichen Höhe zu halten, sondern
auch zu steigern und in unparteilicher Weise in den Dienst aller
ernsthaften philosophischen Richtungen zu stellen unausgesetzt
bedacht waren ; endlich aber und nicht zuletzt in der tatkräftigen
und erfolgreichen Mitarbeit einer grossen Zahl unserer
262 Kant-Gesellsci.aft.
Mitglieder und Freunde. Diese überaus wichtige und dankens-
werte Mitarbeit bestand außer mannigfachen Anregungen und Vor-
schlägen zur Erweiterung unserer Arbeiten vor allem in der Ge-
winnung zahlreicher neuer Mitglieder. Jene Persönlichkeiten, die
uns auf diese Weise zur Seite standen, haben sich damit nicht nur
um die Kant - Gesellschaft , sondern auch um die Förderung des
philosophischen Lebens überhaupt ein Verdienst erworben.
a. Wir konnten unseren Mitgliedern die üblichen vier Hefte
der Kant-Studien (Band XXV) zustellen und zwar in dem an-
sehnlichen Umfange von 31 Druckbogen, d. h. etwa 500 Seiten.
b. Ferner erhielten unsere Mitglieder im vergangenen Jahr
wieder drei Ergänzungshefte, u. z. Nr. 49 : „Moses Mendelssohn
im Urteil seiner Zeitgenossen" (92 Seiten) von Dr. Beate Berwin*)j
Nr. 50: „Kants Opus postumum" dargestellt und beurteilt (855 Seiten)
von Professor Dr. Erich Adickes**); Nr. 51: „Das Möglichkeits-
problem der Kritik der reinen Vernunft, der modernen Phaenomeno-
logie und der Gegenstandstheorie" (64 Seiten) von Dr. Baumgardt.
c. Sowohl in Berlin als auch in den anderen Ortsgruppen
fanden regelmäßige und außerordentlich gut besuchte Vortrags-
veranstaltungen statt. Vgl. Berichte Kant-Studien, Bd. XXV.
d. Die Organisation von Ortsgruppen hat eine wesentliche
Ergänzung erfahren. Neue Ortsgruppen : Dresden, Leipzig, Königs-
berg i. Pr., Stuttgart; vgl. Berichte Kant-Studien, Band XXV.
Die weitere GründuDg von Ortsgruppen ist ins Auge gefaßt
bzw. bereits eingeleitet. Über alle diese Veranstaltungen wird
regelmäßig in den Kant-Studien berichtet. Es werden dort auch die
Namen und Adressen der Ortsleiter angegeben, damit sich die be-
treffenden Interessenten mit ihnen in Verbindung setzen können,
e. Unseren Mitgliedern wurden folgende zwei Vorträge zu-
gestellt: Nr. 24: „Religionsphilosophie der Kultur"; zwei Entwürfe
von Professor Dr. Gustav Radbruch und Privatdozent Dr. Paul
Tillich (52 Seiten)*); Nr. 25: „Zur kritischen Grundlegung der
Psychologie" von Privatdozent Dr. Walter Blumenfeld (72 S.).
*) Vgl. die Anmerkung *) S. 263. **) Die Zustellung dieses umfangreichen
und bedeutsamen Werkes konnte zu einem wesentlich ermäßigten Preise nur an die-
jenigen Mitglieder, die auf Grund eines Kundschreibens auf den Bezug des Werkes
ausdrücklich subskribiert hatten, erfolgen. Wegen der neuen Zustellungsbedin-
gungen vgl. S. 264 der vorliegenden Mitteilungen.
Kant-Gesellschaft. 263
Der buchhändlerische Wert der genannten Zustellungen übersteigt beträchtlich
die Höhe des Jahresbeitrages:
Kantstudien 1920, Band XXV = 12.— Mk.
3 Ergänzungshefte (Nr. 49, 50, 51) = 61.— „
2 Vorträge (Nr. 24, 25) =' 6.80 „
79.80 Mk.
Voraussichtlich sind alle diese Sendungen in den Besitz unserer Mitglieder
gelangt. Anderenfalls bitten wir an den stellvertretenden Geschäftsführer Liebert
eine entsprechende Mitteilung zu richten*). —
f. Im vergangenen Jahre konnte endlich — nach einer Pause
von sechs Jahren — wieder eine allgemeine Mitgliederversamm-
lung (Generalversammlung) abgehalten werden (am 29. und
30. Mai 1920). Über die wissenschaftlichen und künstlerischen Dar-
bietungen und den Besuch derselben ist in Kant- Studien, Band XXV,
Heft 4 ein eingehender Bericht erstattet worden.
3.
Unsere Mitglieder genießen folgende Vergünstigungen:
a) „Kants Opus postumum, dargestellt und beur-
teilt" von Professor Dr. Erich A dick es**). Im Frühjahr 1920
ist dieses Werk unseres Mitgliedes Professor Dr. Erich A dick es
von der Universität Tübingen: „Kants Opus postumum, dargestellt
und beurteilt" als Ergänzungsheft 50 erschienen**). Adickes hat
in mehr als 47s jähriger Arbeit das ganze nachgelassene Manuskript
(auch den bisher ungedruckten Teil) durchforscht. Es ist ihm dabei
gelungen, 14 verschiedene Entwürfe festzustellen und genau zu da-
tieren. Der älteste stammt aus der Zeit um 1796, also aus einer
Zeit, in der Kant noch ganz frei von Senilitätserscheinungen war.
Am jüngsten Entwurf, der das ursprünglich geplante rein natur-
philosophische Werk (Übergang von den Metaph. Anfangsgr. der
Naturwissenschaft zur Physik) zu einem System der Transcendental-
philosophie erweitern wollte, hat Kant bis zuletzt gearbeitet. Erst
*) Zu unserem Bedauern konnte sowohl das Ergänzungsheft Nr. 49 von Dr.
B. Berwin, als auch das Vortragsheft Nr. 24 von Prof. Dr. Radbruch und Dr.
P. Tillich einer Zahl derjenigen Mitglieder, die ihren Jahresbeitrag erst in der
2. Hälfte des Jahres eingeschickt haben, oder die der Kant-Gesellschaft überhaupt
erst in den letzten Monaten beigetreten sind, nicht mehr zugestellt werden. Diese
beiden Veröffentlichungen waren bereits zu Beginn des Jahres 1920 hergestellt worden,
als sich noch nicht übersehen ließ, daß unser Mitgliederbestand einen so außer-
ordentlichen Zuwachs erfahren würde. Ein Teil der neuen Mitglieder ist durch
die Zustellung anderer — älterer — Veröffentlichungen entschädigt worden.
**) Vgl. Anmerkung **) auf Seite 262 dieser Mitteilungen.
264 Kant-Gesellschaft.
durch diesen Nachweis der Zusammengehörigkeit der einzelnen
Entwürfe und ihre feste Datierung ist die Grundlage für eine
wirklich wissenschaftliche Darstellung und Beurteilung des Opus
pustumuni geschaffen.
Fertigstellung und Veröffentlichung des Werkes sind dadurch
möglich geworden, daß Freunde der Wissenschaft und der Kant-
Gesellschaft einmalig größere Summen gestiftet und außerdem etwa
850 Mitglieder der Kant - Gesellschaft auf das Werk subskribiert
haben. Es kostet bei einem Umfang von 855 Seiten im Buchhandel
50 Mark. Mitgliedern der Kant- Gesellschaft wird es zu dem er-
mäßigten Preis von 25 Mark ausschließlich der Verpackungs- und
Portospesen geliefert werden. Die Versendung des Werkes an die
inländischen Mitglieder erfolgt der Einfachheit halber unter Nach-
nahme. Für ausländische Mitglieder, die das Werk zu erhalten
wünschen, kommt wegen des ungünstigen Standes der Mark ein
Verpackungs- und Portoaufschlag von 25 Mk. hinzu. Interessenten
mögen, am einfachsten bei Zahlung des Jahresbeitrages durch eine
Angabe auf dem Abschnitt der Zahlkarte, einen diesbezüglichen
Wunsch dem stellv. Geschäftsführer Liebert übermitteln.
b) Der Verlag von Felix Meiner in Leipzig teilt mit, daß das
soeben erschienene Heft 4 des zweiten Bandes der „Annalen
der Philosophie" auf Wunsch von den Mitgliedern der Kant-
Gesellschaft zu dem Vorzugspreise von 5 Mk. (statt eines Laden-
preises von 8 Mk.) bezogen werden kann. Das Heft wurde von
den Herausgebern der „Annalen" (Hans Vaihinger und Raymund
Schmidt) ausdrücklich der Kant-Gesellschaft „zum Dank
für die den Freunden der Philosophie des Als-Ob am 29. Mai 1920
zu Halle gebotene Gastfreundschaft" gewidmet. Es ist insofern
für die Mitglieder der Kant - Gesellschaft von besonderem Wert,
als es ausführliche Berichte über die Vortragsveranstaltungen bei
Gelegenheit der letzten Generalversammlung der Kant-
Gesellschaft enthält. Außerdem bringt es den Vortrag von
Prof. Julius Schultz: „Die Fiktion vom Universum als
Maschine und die Korrelation des Geschehens", eine
Arbeit von Geh.-Rat Vaihinger: „Ist die Philosophie des
Als-Ob Skeptizismus?" und die Bedingungen zweier Preis-
aufgaben zum Abdruck:
1) „Die Rolle der Fiktionen in der Erkenntnistheorie von
Friedrich Nietzsche" (Preis 3000 Mk.).
2) „Das Verhältnis der Einsteinschen Relativitätslehre zur
Kant-Gesellschaft. 265
Philosophie der Gegenwart mit besonderer Rücksicht auf die Philo-
sophie des Als-Ob". (Preis 5000 Mk.).
Die Mitglieder der Kant - Gesellschaf t können das Heft zum
Vorzugspreise durch jede Buchhandlung (die dann den Namen des
betreffenden Mitgliedes dem Verlag mitzuteilen hat) oder auch
direkt vom Verlag der „Annalen", Felix Meiner, Leipzig, Kürze-
ste. 8, Postscheck Leipzig Nr. 9886, beziehen.
4.
a) Die „Kant-Studien" werden auch in dem neuen Jahrgang
eine Reihe wertvoller systematischer und historischer Aufsätze aus
der Feder bekannter Vertreter der verschiedensten philosophischen
Standpunkte und Richtungen veröffentlichen.
b) Auch für die Fortsetzung der Reihe der „Ergänzungs-
hefte" ist bereits Sorge getragen. Folgende interessante Arbeiten
werden unsern Mitgliedern zugestellt we*rden:
1) Nr. 52: Dr. Konrad Wiederhold: „Wertbegriff und Wert-
philosophie" (86 Seiten; bereits fertiggestellt).
2) Nr. 53: Privatdozent Dr. Oskar Ewald: „Welche wirklichen
Fortschritte hat die Metaphysik seit Hegels und Herbarts
Zeiten in Deutschland gemacht?" Gekrönte Preisschrift der
ersten Carl Güttier - Preisaufgabe der Kant - Gesellschaft (68
Seiten; bereits fertiggestellt).
3) Nr. 54: Professor Dr. Albert Goedeckemeyer, o. ö. Pro-
fessor an der Universität Königsberg : „Kants Lebensanschau-
ung" (etwa 100 Seiten; befindet sich im Druck).
Um Mißverständnisse zu verhindern und entbehrliche Inanspruchnahmen nach
Möglichkeit auszuschließen, machen wir wiederum darauf aufmerksam, daß aus-
schließlich Professor Dr. Max Frischeisen-Köhler (Halle, Mozartstr. 24)
die Entscheidung über die Annahme von Aufsätzen und Abhandlungen für die
Kant-Studien und für die Ergänzungshefte hat, während Prof. Dr. Liebert über
dasjenige entscheidet, was sich auf die Abteilung: „Besprechungen neuer Bücher
sowie allgemeine wissenschaftliche Mitteilungen" bezieht. Wir bitten diejenigen
unter den Mitgliedern der Kant-Gesellschaft, die zu den Mitarbeitern
der Kant-Studien gehören, von dieser Anordnung Kenntnis nehmen und
ihre Anfragen bezw. Einsendungen dementsprechend einrichten zu wollen.
Bei Zuschriften an Prof. Dr. Liebert sind die letztgenannten redaktionellen
Angelegenheiten streng zu scheiden von den Angelegenheiten der Geschäftsführung.
Diese beidefi Gebiete sind völlig getrennt voneinander, sie sind nur durch eine
zufällige Personalunion bis auf weiteres miteinander verknüpft. Und sie sind ohne
jeden Einfluß aufeinander.
Professor Vaihinger, der wie bisher der Schriftleitung der Kant-Studien an-
gehört, hat sich in dieser nur eine beratende Stimme vorbehalten. An ihn sind
daher Zusendungen in Angelegenheiten der Redaktion in keinem Falle zu richten.
266 Kant-Gesellschaft.
c) An neuen Vortragsheften werden den Mitgliedern geliefert :
1) Nr. 26: Professor Dr. Heinrich Scholz, o. ö. Professor an
der Universität Kiel: „Die Bedeutung der Hegeischen Philo-
sophie" (64 Seiten; bereits fertiggestellt), versendet mit Kant-
Studien XXV, Heft 4.
2) Nr. 27: Professor Dr. Alfred Vierkandt, Professor an der
Universität Berlin: „Der Dualismus in der modernen Welt-
anschauung" (in Vorbereitung).
d. In allen unseren Ortsgruppen werden im Jahre 1921 von
führenden Gelehrten Vorträge über die verschiedensten wissen-
schaftlichen Themen gehalten werden. In der Mehrzahl der Fälle
wird sich eine allgemeine Aussprache anschließen. Soweit in unseren
Ortsgruppen Arbeitsgemeinschaften und seminaristische Übungen
eingerichtet sind, wird diese Einrichtung beibehalten und sinngemäß
ausgebaut werden. Den Mitgliedern geht seitens der Leitung der
Ortsgruppen regelmäßig eine Ankündigung zu. Mitglieder, die in
der Nähe von Ortsgruppen wohnen, wollen, falls sie von den be-
treffenden Veranstaltungen Kenntnis zu erhalten wünschen, einen
diesbezüglichen Wunsch an die Leitung der nächsten Ortsgruppe
richten. Die Namen und Adressen der Ortsgruppenleiter werden
regelmäßig in den „Kant-Studien" angegeben.
e. Der Ablieferungstermin für die noch laufende siebente,
die sogen. Jubiläums -Preisaufgabe ist, wie auch in der Prease
bekannt gemacht wurde, auf den 22. April 1921 festgesetzt worden.
Das Thema lautet: „Der Einfluß Kants und der von ihm ausgehenden
deutschen idealistischen Philosophie auf die Männer der Reform-
und Erhebungszeit". Die Preise sind 1500 Mk., bzw. 1000 Mk., bzw.
500 Mk. (vorbehaltlich einer Erhöhung) ; Preisrichter sind die Herren
Professoren: Max Lenz-Hamburg, Friedrich Meinecke-Berlin, Eduard
Spranger-Berlin.
Ferner teilen wir auch hier nochmals mit, was gleichfalls
durch die Tageszeitungen u. s. w. bekannt gemacht wurde, daß der
Ablieferungstermin für das achte Preisausschreiben (2. Carl Güttler-
Preisaufgabe) unter Zustimmung des Herrn Preisstifters und der
drei Preisrichter (der Professoren Ernst von Aster, Erich Adickes,
Max Frischeisen-Köhler) auf den 22. April 1921 festgesetzt wurde.
Das Thema lautet: „Kritische Geschichte des Neu - Kantianismus
von seiner Entstehung bis zur Gegenwart". Der erste Preis be-
trägt 1500 Mk., der zweite 1000 Mk.
f. Die allgemeine Mitgliederversammlung (Generalver-
sammlung) des Jahres 1921 wird voraussichtlich in der Pfingst-
Kant-Gesellschaft. 267
woche dieses Jahres — 17. — 21. Mai — abgehalten werden. Wir
planen für diese Veranstaltung wiederum einen wesentlichen Aus-
bau. Vortragende: Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Ernst Troeltsch-
Berlin: „Die Logik des Begriffes der historischen Entwicklung";
Geh. Reg.-Kat Prof.- Dr. Theodor Ziehen -Halle: „Zum Begriff
und zur Methodik der Geschichtsphilosophie". Mit anschließender
Aussprache. Ferner ist auch die Aufführung eines platoni-
schen Dialoges durch Berufsschauspieler unter Hinzuziehung
von Studenten der Universität Halle ins Auge gefaßt. Allen unseren
Mitgliedern wird zur Zeit eine genaue Einladung zugehen. Wir
hoffen, im Laufe der Zeit die Generalversammlungen der Kant-
Gesellschaft zu einem allgemeinen philosophischen Kon-
greß auszubauen, auf dem Anhänger aller philosophischen Rich-
tungen vertreten sind. (Generalversammlung laut Beschluss
des Verwaltungsausschusses auf 1922 verschoben).
5.
Unser Mitgliederstand hat sich, wie schon eingangs erwähnt,
dem Vorjahre gegenüber in bedeutendem Maße gehoben. Diesen
erfreulichen Aufschwung verdanken wir außer unseren literarischen
Darbietungen sowie unseren Vortragsveranstaltungen wesentlich der
Mitarbeit und der Werbetätigkeit der Mitglieder
selbst, die so liebenswürdig waren, uns neue Mitglieder zu-
zuführen bzw. den Geschäftsführern Adressen von
Interessenten anzugeben. Daher liegt auch dieser Sendung
wieder ein entsprechendes Formular bei, um dessen ausgiebige
Benutzung dringend gebeten wird. Wir erstreben die Erweite-
rung unseres Mitgliederkreises in erster Linie, um das Maß unserer
Leistungen zu vergrößern, manchen, schon lange gehegten wissen-
schaftlichen Plan auch ausführen und die Kant-Gesellschaft immer
mehr zu einer umfassenden Organisation und zu einem Sammel-
punkt des ganzen philosophischen Lebens ausgestalten zu können.
Für sämtliche Jahres-Mitglieder liegt die neue Mitgliedskarte
bei, sowie eine Postscheck - Zahlkarte. Diese Zahlkarte dient für
die Einzahlung des Beitrages (mindestens Mk. 20. — ) an die Bank;
Adresse : Deutsche Bank, Depositenkasse W, Berlin W. 15, Uhland-
straße 57, Conto Liebert (Kantgesellschaft) unter Postscheckkonto
1023. Um recht baldige Zahlung der Beiträge wird sehr gebeten.
Wegen der außerordentlichen Erhöhung aller Kosten für die
Herstellung und Versendung unserer Veröffentlichungen und für
die Durchführung unserer Bestrebungen wiederholen wir unsere
dringliche Bitte um eine freiwillige Heraufsetzung des Jahres-
268 Kant-Gesellschaft.
beitrages. Eine größere Reihe von Mitgliedern hat ihren Jahres-
beitrag erfreulicherweise in recht erheblichem Maße erhöht (nicht
wenige auf 50.—, 100.— und 200.— Mk.). Wir bitten auch die-
jenigen Mitglieder, die ihren Jahresbeitrag bereits eingesendet
haben, eine solche Erhöhung vorzunehmen. Denn nur bei
einer ansehnlichen Vermehrung unserer Einnahmen sind wir an-
gesichts der schwierigen Zeitverhältnisse imstande, den Umfang
unserer Bestrebungen und Arbeiten aufrechtzuhalten und ihn wo-
möglich in der erforderlichen Weise zu erweitern.
Dem gebotenen Zweck der Vermehrung unserer Einnahmen
dient auch die Schaffung eines besonderen „Förderer -Fonds".
In diesen Fonds kommen auch einmalige größere Spenden, die zu
diesem Zweck gegeben werden. Solche Mäzene , die zu diesem
Fonds mindestens 400 Mk. beitragen, werden lebenslängliche Mit-
glieder der Kant - Gesellschaft mit dauernden Bezugsrechten auf
alle unsere Veröffentlichungen. Wir gebrauchen ihn dringend zur
Verwirklichung wichtiger wissenschaftlicher Pläne. Aus diesem
Grunde bitten wir unsere Freunde und die Gönner der Gesellschaft,
uns bei der weiteren Erhöhung des Fonds tatkräftig zu unter-
stützen und wirtschaftlich günstig gestellte und für die Philo-
sophie sich interessierende Persönlichkeiten aus ihrem Bekannten-
kreise zu Beiträgen zu diesem Fonds zu veranlassen.
Um Verzögerungen, doppelte Kosten, mühsame und zeitrau-
bende Nachforschungen bei der Zustellung unserer Veröffentlichungen
oder Verluste derselben zu verhüten, bitten wir unsere Mitglieder
dringlichst, jede Adressenänderung, und sei es die gering-
fügigste, anf dem Abschnitt der Zahlkarte, der von der Bank der
Geschäftsführung zugestellt wird, deutlich zu vermerken und sie
auch zu anderer Zeit sofort dem stellvertr. Geschäftsführer
Lieb er t mitzuteilen.
Halle und Berlin,
Januar 1921. Dte Geschäftsführung:
Geh. Eeg.-Rat Prof. Dr. H. Vaihinger.
Prof. Dr. Arthur Lieb er t, Berlin W.15, Fasanenstr. 48.
N.B. Wir bitten unsere Mitglieder dringend, etwaige Be-
stellungen auf Veröffentlichungen der Kant - Gesellschaft nicht
an den stellv. Geschäftsführer zu richten, um dessen Belastung
mit Arbeiten nicht noch mehr zu erhöhen, sondern direkt an
unsere Verlagsbuchhandlung ßeuther & Reichard , Berlin W 35,
Derfflingerstr, 19a, jedoch unter Hinweis auf ihre Mitgliedschaft.
Kant-Gesellschaft. 269
Kant-Gesellschaft.
An die Mitglieder der Kant-Gesellschaft
(Betrifft Bezahlung des Beitrages für 1921).
Im Namen der Geschäftsführung richtet der Unter-
zeichnete an diejenigen Mitglieder, die den Jahresbeitrag
für 1921 noch nicht eingezahlt haben, folgende dringliche
Bitte:
1. diesen Jahresbeitrag möglichst umgehend einzusenden ;
2. eine möglichst grosse Erhöhung des Jahresbeitrages
vorzunehmen ;
3. den Namen recht deutlich zu schreiben, auch die ge-
nauere Adresse hinzuzufügen. Es kommt oft vor, dass
der Name ganz unleserlich geschrieben wird, bisweilen
auch völlig fortbleibt, sodass der Geschäftsführung da-
raus ebenso grosse als unnötige Umstände erwachsen.
Sämtlichen Mitgliedern ist vor mehreren Wochen eine
Zahlkarte zugestellt worden, durch die die Einzahlung er-
folgen kann. Denjenigen Mitgliedern, die diese Zahlkarte
nicht zur Hand haben sollten, teilen wir mit, dass die Ein-
zahlung erfolgen kann an:
Deutsche Bank, Depositenkasse W, Berlin W. 15,
Uhlandstr. 57, Zahlkartenkonto Nr. 1023.
Es ist aber unerlässlich, recht deutlich anzugeben, dass
die Einzahlung für das „Konto der Kant-Gesellschaft" be-
stimmt ist, damit kostspielige und zeitraubende Rückfragen
vermieden werden.
Die Geschäftsführung:
i.A.: Lieb er t.
Zur siebenten (Jubiläums)-Preisaufgabe.
Im Oktober 1913 schrieb die Kant-Gesellschaft ihre siebente (Jubi-
Iäum8)-Preisaufgabe aus über das Thema:
„Der Einfluß Kants und der von ihm ausgehenden deutschen idealistischen
Philosophie auf die Männer der Beform- und Erhebungszeit",
bei einer Dotierung von 1500Mk. für die beste, von 1000 Mk. für die
270 Kant-Gesellschaft.
zweitbeste und von 500 Mk. für die drittbeste Bearbeitung. Die dazu
nötigen Summen sind uns damals von den verschiedensten Seiten gestiftet
worden.
Nach mehrfacher, durch die . kriegerischen Verhältnisse bedingten Ver-
schiebung des Ablieferungstermins teilten wir dann mit (Kantstudien Band
XXII, Heft 1—3, Seite 204), daß das endgültige Datum erst später be-
kannt gegeben würde.
Im Einverständnis mit den 3 Preisrichtern, den Herren Professoren
Max Lenz, Hamburg, Friedrich Meinecke, Berlin, Eduard Spranger, Berlin,
gaben wir in Band XXIV, Heft 3, Seite 360 bekannt, daß das Datum
für die Ablieferung der Arbeiten für jene Preisaufgabe auf den 22. April
1921 angesetzt worden ist.
Es sind nun 3 Bewerbungsschriften eingeliefert worden;
1. Motto: »Das Zeitalter kann nur durch den Geist geheilt und gekräftigt
werden11. E. M. Arndt. 120 Seiten, Folio Handschrift.
2. Motto: »Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein ganzes strahlendes
Sonnensystem auf einmal.u Jean Paul. 179 Seiten. Quart Handschrift.
3. Motto: »Zur Form.'1 91 Seiten. Folio Maschinenschrift.
Diese Bewerbungsschriften sind nunmehr der Preisrichtern übergeben
worden. Als Preisrichter sind folgende Gelehrte gestellt:
Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Lenz, Hamburg,
Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Meinecke in Berlin,
Prof. Dr. Spranger, Berlin.
Das Ergebnis der Konkurrenz wird spätestens bei der nächsten Gene-
ralversammlung der Kant-Gesellschaft Pfingsten 1922 mitgeteilt werden,
und wird sowohl durch die „Kantstudien", als durch die gelesensten Tages-
zeitungen bekannt gemacht werden.
Anfang Mai 1921.
Die Geschäftsführung der Kantgesellschaft
Vaihinger. Liebert.
Ortsgruppe der Kantgesellschaft Basel.
Bericht über das Vereinsjahr 1919/20.
In den Jahren 1916 — 18 hatten sich in Basel etwa ein Dutzend
Mitglieder der K.-G. angeschlossen. Allmählich kam der Gedanke auf,
man wolle sich zu einer Ortsgruppe zusammenschließen. Diese Absicht,
die durch mehrmahlige persönliche Anwesenheit Prof. Lieberts kräftig unter-
stützt und gefördert wurde, verwirklichte sich im Herbste 1919. Mitte
Oktober fand die konstituierende Sitzung statt. Her Prof. Joel übernahm
den Vorsitz ; ihm wurde ein geschäftsführender Ausschuß beigegeben, damit
er selbst nicht mit den Verwaltungsgeschäften belastet sei.
Der ungünstigen Zeitumstände halber verzichteten wir zunächst auf
eine öffentliche Veranstaltung und versandten im Dezember 1919 ca. 100
Cirkulare, die zum Beitritt einluden und die Ziele der K.-G. sowie der
Ortsgruppe darlegten. Der Erfolg war erfreulich; im Laufe des ersten
Vereinsjahres konnten wir ca. 70 Mitglieder gewinnen. Wir hielten im'
Kant-Gesellschaft. 271
Jahre 1920 sieben Sitzungen mit Vorträgen ab: am 10. II. 1920 spraclt
Herr Prof. Heinzelmann über die „Religionsphilosophische Arbeit der
Windelband'schen Schule", und am 12. März Herr Priv.-Dozent Dr. v. Ols-
hausen über die Frage: „Ist Spinoza Mystiker?" Den ersten Vortrag im
S.-S. 1920 hielt Herr Dr. P. Ph. Hoffmann (Dresden) über „Die Weltan-
schauung Indiens". Auch für die nächsten Sitzungen ließen sich auswärtige
Gelehrte gewinnen: am 10. VI. sprach Herr Prof. Medicus (Zürich) über
„Gewissen und Gemeinschaft in der kantischen und nachkantischen Philo-
sophie" (gedruckt in den Nummern 1259, 1265, 1272 und 1278 der Neuen
Zürcher Zeitung 1920), am 25. VI. Herr Prof. F. Brie (Freiburg i. Br.)
„Ueber aesthe tische Weltanschauung" und am 11. X. Herr Prof. Liebert
(Berlin) über „Das Problem der Wahrheit". Endlich hielt Herr Prof.
Matthies (Basel) ein ausführliches Referat über die „Relativitätstheorie".
Der Besuch der Vorträge, an die sich stets Diskussionen anschlössen,
kann mit 30 — 100 Teilnehmern als relativ gut bezeichnet werden, wenn
man bedenkt, daß wir, um z. Zt. noch Mißdeutungen einer Propaganda in
den Zeitungen zu vermeiden, stets nur persönlich durch Karten einluden.
Zur Deckung der Unkosten (Portoauslagen, Drucklegung des Zirkulars
und der Einladungskarten, Honorare an auswärtige Referenten etc.) hat ein
hochherziger Spender, der unbekannt bleiben will, eine ansehnliche Summe
gestiftet. Außerdem haben wir im 1. Vereins jähr von den Mitgliedern der
Ortsgruppe, die nicht der Berliner Hauptgesellschaft angehören, einen Bei-
trag von 3 Fr. erhoben j von jetzt an soll er bei allen Mitgliedern einge-
zogen werden.
Ich glaube, die Basler Ortsgruppe hat sich trotz mancher ungünstigen
Verhältnisse konsolidiert. Es gilt nun noch weitere Kreise zu gewinnen,
damit wir wirklich, wie es im Zirkular heißt, ein „Sammelpunkt für die
vielerlei philosophischen Interessen Basels" werden.
Für den geschäftsführenden Ausschuß des Vereinsjahres 1919/20:
Peter Thurneysen,
z.Zt. in Sahen (Kt. Graubünden).
Ortsgruppe Halle.
Bei dem mächtig aufblühenden Interesse für Weltanschauungsfragen
und den damit zusammentagenden mannigfaltigen philosophischen Bestre-
bungen unserer Zeit besteht die Absicht, wie in Berlin, Hamburg, Kiel,
München, Basel, Breslau, Dresden, Leipzig u. a. auch in Halle einen
Sammelpunkt aller dieser Richtungen durch Begründung einer Ortsgruppe
der Kantgesellschaft zu schaffen. Der Name Kant bedeutet dabei
die Aufforderung zu vertiefter philosophischer Arbeit jeglicher Art. Ver-
treter der verschiedensten philosophischen Anschauungen sollen zu Worte
kommen und in Vorträgen und Diskussionsabenden sich zu gemeinsamer
Arbeit vereinigen.
Zu diesem Zwecke gedenkt die Leitung der Ortsgruppe die ver-
schiedenen Gebiete der Wissenschaft, der Lebens- und
Kulturfragen in philosophischen Vorträgen mit anschließen-
der Diskussion behandeln zu lassen. Falls das Bedürfnis vor-
272 Kant-Gesellschaft.
banden ist, wird Herr Dr. Wich mann in Abständen von je 14 Tagen
einfachere philosophische Aussprachen und Uebungen über verabredete Texte
(abends 8^2 Uhr) abhalten. Wer an diesen Uebungen teilzunehmen wünscht,
wird gebeten, sich schriftlich oder am ersten Vortragsabende bei Herrn
Dr. Wichmann persönlich zu melden.
Die Vorträge werden im allgemeinen in den akademischen Monaten
(Mai — Juli und November — Februar) gehalten werden. Der Eintrittspreis
in den Einzel vortragen beträgt 2. — Mk. (Am Eröffnungsabend ist der
Eintritt frei). Mitglieder der Kantgesellsch af t und Mitglieder
der Hallenser Ortsgruppe haben zu allen Vorträgen freien
Zutritt.
Anmeldungen zur Ortsgruppe sind unter Entrichtung von
8. — Mk. Jahresbeitrag (für Studierende 5. — Mk.) zu richten an den Vor-
sitzenden Privatdozent Dr. Ottomar Wichmann, Halle, Herderstraße 10.
Dieser ist auch gern erbötig, den Beitritt zur Kantgesellschaft zu
vermitteln. Für den letzteren Zweck kann man sich auch direkt an Prof.
Dr. A. Liebert, Berlin W. 15, Fasanenstr. 48 wenden. (Beitrag 20. — Mk.,
dafür: die „Kantstudien", wissenschaftliche Zeitschrift von jährlich 4 Heften
und die Ergänzungshefte zu den Kantstudien, sowie Vorträge und Neu-
drucke).
Alle Freunde der Philosophie sind gebeten, durch ihren Beitritt, sei
es zur Ortsgruppe, sei es zur Kantgesellschaft ihr Interesse an unseren
Bestrebungen zu bekunden und durch Verbreitung unserer Gedanken und
Absichten mitzuarbeiten an dem Ziel einer wechselseitigen Befruchtung und
Förderung aller geistigen Richtungen und Weltanschauungen.
Geh. Reg. -Rat Prof. Dr. Wilhelm Fries, Prof. Dr. P. Menzer, z. Zt.
Rektor d. Univ., Prof. Dr. Max Frischeisen-Köhler, Geh. Ober-
Reg.-Rat Dr. Meyer, Kurator d. Univ., Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Ger-
hard, Generaldirektor Dr. W. Scheithauer, Geh. Kommerzienrat Dr.
phil. Dr med. H. Lehmann, Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. H. Vai hinger,
Paul Lehmann, Verlagsbuchhändler, Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Th. Ziehen,
Privatdozent Dr. Ottomar Wichmann (Vorsitzender der Ortsgruppe).
Erster Abend.
Im Auditorium IX, Universitäts-Hauptgebäude.
Freitag, den 4. Februar 1921, 8 Uhr.
1. Eröffnungsvortrag Sr. Magn. Prof. Dr. P. Menzer; Die Persön-
lichkeit Immanuel Kants.
2. Dr. Ottomar Wichmann: Das philosophische Bedürfnis
der Gegenwart.
3. Diskussion.
Zweiter Abend.
Im Auditorium maximum.
Donnerstag, den 24. Februar 1921, 8 Uhr.
1. Vortrag des Herrn Prof. Dr. Max Frischeisen-Köhler: Das
Problem des Irrationalen.
2. Diskussion.
Kant-Gesellschaft. 273
Als weitere Veranstaltungen sind in Aussicht genommen :
Vortrag des Herrn Geh. Reg. -Rat Prof. Dr. Mie: Das Wesen der
Materie.
„ „ „ Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Th. Ziehen: Grundpro-
bleme der Erkenntnistheorie.
„ „ „ Dr. Raymund Schmidt-Leipzig: Der Wahrheits-
begriff in der Philosophie des Als-Ob.
„ „ Prof. Dr. Hellmuth Wolff: Die Fiktionen in
der St aats Wissenschaft.
„ ' „ „ Privatdozent Dr. Wolf gang Liepe: Hölderlins
Stellung zum Kritizismus im Spiegel seiner
Dichtungen.
„ „ „ Studienrat Haas: Oswald Spengler und die
Grundfragen der Geschichtsphilosophie.
„ „ „ Privatdozent Dr. Ottomar Wichmann: Hellenen-
tum und Piatonismus.
„ ,, „ Privatdozent Dr. Thurnwald: Grundfragen der
Völkerpsychologie.
Es ist ferner eine Diskussion über die verschiedenen höheren Schul-
gattungen geplant, im Anschluß an drei Vorträge, die den Weltan-
schauungsgehalt der einzelnen Schularten behandeln.
1. Die Oberrealschule. Studienrat R. Walckling.
2. Das Gymnasium. Privatdozent Dr. 0. Wichmann.
3. Das Realgymnasium. (Es sind noch Verhandlungen mit einem aus-
wärtigen Pädagogen im Gange).
Ueber religionsphilosophische Themen zu sprechen haben zugesagt
Geh. Konsistorialrat Prof. Dr. Lütgert. — Ueber ein kulturphilosophisch-
pädagogisches Thema Prof. Dr. Litt -Leipzig. — Ueber andere noch nicht
bestimmte Themen Geh. Reg. -Rat Prof. Joh. Volkelt- Leipzig und Prof.
Dr. Bergmann -Leipzig.
Alle Anfragen, Angebote und Hinweise sind zu richten an Privatdozent
Dr. Wichmann, Halle, Herderstr. 10.
Ortsgruppe Hannover.
Gründung.
Am 8. März d. J. ist auch in Hannover eine Ortsgruppe gegründet
worden. Deren Arbeit beginnt im Herbst. Die Sitzungen und Vorträge
sollen alljährlich in die Monate September bis April gelegt werden.
Die bei der Gründungssitzung anwesenden Mitglieder der Hauptge-
sellschaft stimmten den vom unterzeichneten Einberufer skizzierten Ziel-
gedanken zu. Diese decken sich im Wesentlichen mit denen der bereits
bestehenden Ortsgruppen, die auch das Vorbild für den äußeren Rahmen
der Verwirklichung dieser Pläne lieferten (Diskussionsabende und öffentl.
Vorträge). Danach sollen sich die Ziele abgrenzen gegen die der Volks-
hochschulen und des am Ort befindlichen Euckenbundes. Natürlich ist ein
Kantatudien XXVI. 18
274 Kant-Gesellschaft.
reibungsloses Nebeneinanderarbeiten mit diesen Bestrebungen erwünscht.
Während aber diese in erster Linie auf die Erziehung breiter Massen und
eine sittliche und intellektuelle Lebensumgestaltung abzielen, will die Orts-
gruppe eine durchaus wissenschaftliche Gesellschaft sein, deren Pfleg'e
der Theorie gilt.
Als Arbeitsgegenstände kommen sämtliche Wissens- und Lebens-
gebiete in Frage, soweit sie philosophischer Art sind. Darin liegt schon,
daß nicht nur an strenge Fachphilosophie gedacht sein kann, sondern an
alle Grenzgebiete, ja schließlich an alle wissenschaftlichen Gegenstandsge-
biete nach ihrer grundbegrifflichen Seite hin. Dabei soll versucht werden,
immer mehrere hintereinanderliegende Veranstaltungen um einen Ideen-
komplex zu gruppieren, z. B. um Spenglers Buch (etwa : Spenglers Auf-
fassung von der Physik, desgl. von der Mathematik, von der Kunst, von
der Musik, von der Kultur, vom Bewußtsein, von der Seele, von der Ge-
schichte, von der Keligion, speziell vom Christentum, vom Staat usw.) oder
um Husserls Phänomenologie oder um die Frage der Durchdringung der
Schulfächer mit philosophischem Geiste u. a.
Geplant sind Kurse zur Einführung in die philosophische Proble-
matik, die sich über mehrere Semester in systematischem Aufbau erstrecken
sollen mit dem Endziel, vorzubereiten auf eine verständnisvolle Teilnahme
an den Diskussionsabenden.
Die Durchführung der Pläne erfordert Geld. Wir bitten, kapital-
kräftige Kreise für unsere Bestrebungen zu erwärmen. Erfreulich ist, daß
die Mitgliederwerbung unter der Hand Erfolge hatte. Von 17 Mitgliedern
aus Stadt Hannover bei der Gründung stieg die Zahl sofort damals auf
mehr als 30, ohne daß eine größere Veranstaltung bislang stattgefunden
hat. Der Jahresbeitrag für die, die nur Mitglieder der O.-G. sind, ist auf
12 Mk., für Studenten auf 8 Mk. festgesetzt.
Die Zusammenkünfte zu Diskussionsabenden sollen möglichst
jeden ersten Dienstag der Monate September bis April sein. Das Nähere
besagt eine besondere Einladung. Auskunft erteilt: Studienrat Grimme.
Anschrift: Hannover - Laatzen, Lindenplatz 10. Telefonisch zu erreichen
während der Schulzeit unter No. 7320 (Oberrealschule am Clevertor).
Ortsgruppe Karlsruhe i. Baden.
Aus kleinen Anfängen ist unsere Ortsgruppe, über deren Gründung,
erste Sitzungen und Vorträge im Jahre 1919 in Bd. 25 der „Kantstudien"
(S. 75 f.) berichtet wurde, zu einer stattlichen Vereinigung herangewachsen,
die hoffen darf, ihr Ziel zu erreichen : zum Sammelpunkt der philosophischen
Bestrebungen unserer Stadt zu werden. Sie sucht die Aufgabe zu ver-
wirklichen, einerseits durch öffentliche Vorträge, anderseits durch die Ver-
anstaltung wissenschaftlicher Abende, bei denen eine gemeinsame Lektüre
von Klassikern der Philosophie vorgenommen wird oder Referate mit an-
schließender Diskussion über bestimmte Probleme gehalten werden, um nun
im Einzelnen in die eigentliche philosophische Arbeit einzufuhren, aber
auch im Anschluß an Vorträge einen Gedankenaustausch über Fragen
gegenwärtiger Forschung unter Fachgenossen herbeizuführen.
Kant-Gesellschaft. 275
Die im Jahre 1919 mit einem einführenden Vortrag von Dr. E. Un-
gerer begonnenen Uebungen über Kants „Prolegomena" wurden 1920 fort-
gesetzt; am 14. I. behandelte Prof. Dr. H. Leininger-Karlsruhe die Frage:
„Wie ist reine Mathematik möglich?", am 10. III, sprach K. Herrmann-
Karlsruhe über: „Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?", am 14. IV.
Dr. E. Kraus-Heidelberg über: „Wie ist Metaphysik möglich?". Am
28. I. 20 hielt Dr. Kraus eine öffentlichen Vortrag über den „System-
gedanken in der Philosophie".
Am 12. Mai 1920 fand die erste Jahresversammlung statt, wo der
Unterzeichnete zum 1. Vorsitzenden und Geschäftsleiter, Dr. Kraus-Heidel-
berg als auswärtiges Mitglied des Vorstandes gewählt wurde. Der Jahres-
beitrag für Mitglieder der Hauptgesellschaft wurde auf 3 Mk., für andere
Ortsgruppenmitglieder auf 1 0 Mk. festgesetzt.
Im Sommer 1920 fanden zwei weitere wissenschaftliche Sitzungen im
Anschluß an Kants „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürger-
licher Absicht" statt, bei denen am 22. VI. Prof. A. Kreuzer-Karlsruhe
über „Mensch und Gesellschaft. Eine Einführung in Kants Geschichts-
philosophie" und Dr. E. Ungerer über „Kants Teleologie" sprachen, am
14. VH. Prof. Dr. H. Kinkel-Karlsruhe über den „Völkerbund" als Ziel
der Geschichte".
Im Winterhalbjahr fanden im Großen Rathaussaal (mit einer Aus-
nahme) die folgenden öffentlichen Vorträge statt, die durchweg gut (etwa
200 Zuhörer), die an zweiter Stelle genannten sogar glänzend (etwa 500
Zuhörer) besucht waren:
Prof. Dr. A. Liebert-Berlin : „August Strindberg, seine Weltanschauung,
seine Kunst" am 16. X. 20.
Prof. Dr. C. Boehm-Karlsruhe : „Einführung in die Theorie der Re-
lativität. I. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Einsteinschen
Theorie" am 7. XII. 20.
II. „Die mathematischen Grundlagen der Theorie in elementarer Be-
handlung" am 14. XII. 20 (dieser zweite Vortrag im Großen Maschinen-
bauhörsaal der Techn. Hochschule).
Prof. Dr. A. Drews - Karlsruhe : „Der Monismus E. v. Hartmanns"
am 14. I. 21.
Ernst Krieck-Mannheim : „Erziehung" am 27. IV. 21.
Die drei ersten wissenschaftlichen Abende galten der Besprechung der
„neueren Entwicklung der Theorie der Materie" : am 27. X. 20 sprach
Prof. Dr. A. Reis -Karlsruhe über den „Aufbau der Materie (Atome Mo-
lekeln, Kristalle)", am 3. XI. über den „Mechanismus physikalischer und
chemischer Vorgänge (eine Einführung in die Quantentheorie)" ; am 14. XI.
behandelte Prof. Dr. A. v. Antropoff-Karlsruhe die Frage : „Ist die Exi-
stenz der Atome bewiesen?"
An den drei folgenden wissenschaftlichen Abenden wurden im An-
schluß an Descartes' „Discours de la methode" Referate und Besprechungen
abgehalten, wobei am 22. XII. 19 Dr. E. Kraus-Heidelberg über das „er-
kenntnistheoretische Grundproblem bei Descartes", am 4. II. 20 Prof.
A. Kreuzer-Karlsruhe über das „metaphysische Grundproblem bei Descartes",
am 9. II. Prof. Dr. H. Leininger-Karlsruhe über „die Naturphilosophie und
18*
276 Kant-Gesellschaft.
Psychologie Descartes'" und Prof. Dr. E. TJngerer über „das System der
Descartes'schen Philosophie" sprachen.
Zwei weitere Abende galten Oswald Spenglers „Untergang des Abend-
lands", wobei am 23. II. Prof. Dr. A. Fr. Raif -Karlsruhe in „die Grundge-
danken des Spenglerschen Werks" einführte, während am 2. III. Prof. Dr.
K. Schück-Karlsruhe eine „Kritik der Spenglerschen Geschichtsphilosophie"
gab. Am 13. IV. sprach Prof. Dr. E. TJngerer über „Teleologie und
Vitalismus in der Biologie der Gegenwart", am 11. V. Dr. E. Kraus-
Heidelberg über „Husserls Phänomenologie".
Seit Gründung der Ortsgruppe am 18. Oktober 1919 haben also
acht öffentliche Vorträge und sechzehn wissenschaftliche Abende statt-
gefunden, mit welch letzteren stets eine meist sehr rege Diskussion ver-
bunden war. Die wissenschaftlichen Abende fanden bis Juli 1920 im
mineralogisch -geologischen Hörsaal der Technischen Hochschule, von da ab
im Hörsaal II des Chemischen Instituts der Technischen Hochschule statt,
wofür wir den Direktoren, Prof. Dr. Paulcke, Prof. Dr. Bredig und Prof.
Dr. Pfeifer herzlichen Dank schulden.
In erfreulichster Weise stieg unsere Mitgliederzahl. Gab es zur Zeit
der Gründung der Karlsruher Ortsgruppe in Karlsruhe und den Nachbar-
städten 8 Mitglieder, so zählt unsere Ortsgruppe jetzt insgesamt 152 Mit-
glieder. Den Hauptaufschwung brachte die Ankündigung der Veran-
staltungen für das Winterhalbjahr 1920/21.
Ebenso günslig entwickelten sich die finanziellen Verhältnisse der
Ortsgruppe.
I. Vom Juli 1919—12. Mai 1920.
Ausgaben : Einnahmen :
Zeitungsanzeigen . . 533,40 Mk. Beiträge der Hauptge-
Saalmiete 162,50 „ Seilschaft .... 781,26 Mk.
Kundschreiben . . . 81,50 „ Mitgliederbeiträge . . 145, — „
Schreibpapier, Um- Eintrittsgeld bei Vor-
schläge, Porto . . 65,70 „ trägen 136, — „
Rednerauslagen ... 28, — „ 1062,26 Mk.
Hausmeister und Saal-
diener 31, — „
Schreibhilfe , . . . 20,— „
Sonstiges 1, — „
923,19 Mk.
Es blieb wohl ein Ueberschuß von 139,07 Mk.; aber von den 1062,26 Mk.
Einnahmen hatte die an Mitgliederzahl noch geringe Ortsgruppe nur
281 Mk. selbst aufgebracht. Die schon erwähnte Erhöhung der Beiträge
und das Winterprogramm schufen gründliche Besserung. Die diesmalige
Jahresabrechnung gestaltet sich folgendermaßen:
Kant-Gesellschaft.
277
II. Vom 12. V. 1920—25. V. 1921.
Ausgaben Einnahmen
Zeitungsanzeigen . . 696,55 Mk. Mitgliederbeiträge 1920 1131, — Mk.
Saalmiete 598, — „ Mitgliederbeiträge 1921 55, — ,,
Rundschreiben . . . 112,60 „ Eintrittsgeld bei Vor-
Schreibpapier, Um- trägen 1824, — „
schlage, Porto . . 125, — „ Eigene Einnahmen der
Rednerauslagen . . . 24,— „ Ortsgruppe . . . 3010, — Mk.
Hausmeister und Saal- Zuschuß der Hauptge-
diener 164,— „ Seilschaft .... 300,— „
Schreibhilfe und Vor- 3310 jtt"
tragskasse. 60,- „ Uebert vom letzten
Kosten des Scheck- Geschäftsjahr. . . 139,07,,
kontos 22,42 „ J „, ' "
Mitgliedskarten . . . 34,- „ 3449>07 Mk-
Sonstiges 45,30 „
1881,87 Mk.
Es bleibt also ein Uebertrag von 1567,20 Mk. ins neue Geschäftsjahr,
wovon 1377,03 Mk. auf dem Scheckkonto (26373 Karlsruhe) stehen, sodaß
die Ortsgruppe einigermaßen beruhigt den allerdings dauernd sich stei-
gernden Ausgaben für ihre Vorträge und wissenschaftlichen Abende im
kommenden Jahr entgegensehen kann.
Am 25. V. 21 fand die 2. Jahresversammlung statt, wo nach einem
Arbeits- und Kassenbericht des Vorsitzenden ihm nach dem Antrag von
Prof. A. Kistner, der die Rechnungsführung geprüft und in Ordnung ge-
funden hatte, hierfür Entlastung erteilt wurde. Weiterhin genehmigte die
Versammlung das vom Vorsitzenden vorgeschlagene Arbeits- und Vortrags-
programm für den kommenden Winter. Zu öffentlichen Vorträgen sind
gewonnen: Prof. Dr. C. Boehm-Karlsruhe, Prof. Dr. H. Driesch-Cöln, Prof.
Dr. W. Hellpach-Karlsruhe, Prof. Dr. K. Joel-Basel, Graf H. Keyserling-
Darmstadt, Prof. Dr. A. Liebert-Berlin. Weiter wird an drei Abenden
Heunes „Untersuchung über den menschlichen Verstand" besprochen werden ;
ferner sind vier geschichtsphilosophische Abende, Vorträge über Kants Kos-
mogonie, Machs Positivismus, über Wertphilosophie, über die Geschichte
der pädagogischen Ideen und über die Rolle der Geschichte in der Biologie
vorgesehen, alle Redner, auch für diese wissenschaftlichen Sitzungen, sind
bereits gewonnen.
Das Geschäftsjahr wird künftig mit dem Kalenderjahr zusammenfallen,
die Beiträge für 1921 Anfang Juli, für 1922 im Januar erhoben werden,
wo auch die nächste Jahresversammlung stattfinden soll. Der jährliche
Ortsgruppenbeitrag für Mitglieder der Hauptgesellschaft beträgt 5 Mk.,
Beikarten für je ein Familienmitglied 3 Mk., der Jahresbeitrag der übrigen
Ortsgruppenmitglieder 10 Mk., Beikarten 5 Mk„ Jahreskarten für Studenten.
Primaner und Seminaristen der beiden obersten Kurse 8 Mk. Der Eintritt
zu allen Veranstaltungen ist für Mitglieder frei; doch können einmal im
Jahr bei einem besonders kostspieligen Vortrag halbe Eintrittspreise er-
hoben werden.
278 Kant-Gesellschaft.
Es wurde ein dreigliedriger geschäftsführendar Ausschuß eingesetzt
und die Aufgaben seiner Mitglieder festgelegt. Die einstimmige Wahl
ergab als Vorsitzenden Prof. Dr. E. Ungerer-Karlsruhe, Maxaustr. 29,
als Schriführer Prof. Dr. K. Schück-Karlsruhe, Klauprechtstr. 32, als
Rechner Prof. A. Kistner-Karlsruhe, Stefanienstr. 8 (Postscheckkonto
26373 Karlsruhe). Geschäftsstelle ist die Metzlersche Buchhandlung ("W.
Hoffmann), Karlstr. 13.
Karlsruhe. Dr. E. Ungerer.
Dr. Amrheins „Kants Lehre vom Bewußtsein überhaupt".
Von dem vor Jahresfrist frühverstorbenen Seminardirektor Dr. Hans
Amrhein erschien 1908 als Ergänzungsheft Nr. 10 zu den „Kantstudien"
folgende Schrift „Kants Lehre vom Bewußtsein überhaupt und ihre Weiter-
bildung bis auf die Gegenwart" (VIII und 210 S.). Diese Schrift ist eine
Dissersation, die aus einer von mir gestellten Preisaufgabe der philosophi-
schen Fakultät der Universität Halle hervorgegangen war. Dieses Buch
ist vergriffen. Da ich durch ein Versehen mein eigenes einziges Exemplar
gelegentlich verschenkt habe, so suche ich auf diesem Wege ein Exemplar
zu erwerben, und bitte Mitglieder der Kantgesellschaft oder andere Besitzer
des Buches, die seiner nicht mehr bedürfen, mir ihr Exemplar preiswert
abzutreten. Ich bitte um Mitteilungen nach Halle, Reichardtstr. 15.
Halle, den 1. Februar 1921. Prof. Dr. H. Vaihinger.
Zum achten Preisausschreiben der Kant-Gesellschaft
Zweite Karl Güttler-Preisaufgabe.
Am 22. April 1921 lief die Frist ab, welche zur Bearbeitung der
zweiten Karl Güttler-Preisaufgabe gestellt war.
Da bis zu diesem Zeitpunkt keine Arbeit eingelaufen war, so wird
auf Grund der Zustimmung des Herrn Preisstifters, des Herrn Professor
Dr. Karl Gut tler- München, und der drei Preisrichter der Ablieferungs-
termin auf den
22. April 1923
festgesetzt.
Das Thema lautet: „Kritische Geschichte des Neu-Kantianismus von seiner
Entstehung bis zur Gegenwart".
Es sind zwei Preise ausgesetzt: Der erste Preis beträgt 1500 Mk.r
der zweite 1000 Mk.
Das Preisrichterkollegium besteht aus den Herren
Professor Dr. Erich A dickes in Tübingen,
Professor Dr. Max Frischeisen-Köhler in Halle,
Professor Dr. Ernst von Aster in Gießen.
Alle näheren, für die Bearbeitung und Ablieferung maßgebenden Be-
stimmungen sind unentgeltlich erhältlich von dem stellv. Geschäftsführer
Professor Dr. Arthur Liebert, Berlin W. 15, Fasanenstr. 48.
Die Geschäftsführung der Kant-Gesellschaft
Vaihinger. Liebert.
Kant-Gesellschaft. 279
Kant-Gesellschaft.
Neuangemeldete Mitglieder für 1921.
Ergänzungsliste 1: Januar— Mai 1921.
A.
cand. jur. Karl Abenheimer, Heidelberg, Moltkestr. 11.
Dr. Achelis, Leipzig, Fockestr. 51.
Josef Adler, i. Fa. Strauß'sche Buchhandlung, Frankfurt a. M., Zeil 104.
stud. phil. Hans Aengeneyndt, Halle a. d. Saale, Kaiserstr. 21.
Hildegard Albrinus, Halle a. Saale , Ziethenstr. 18.
Professor Dr. Angersbach, Weilburg a. d. Lahn, Bismarckstraße.
stud. jur. Friedrich Anhalt, Berlin-Niederschönweide, Berlinerstr. 59.
Geh. Medizinalrat Professor Dr. G. Anton, Halle a. d. Saale, Julius Kühnstr. 6a.
Graf Ar co, Berlin-Tempelhof, Albrechtstr. 49—50.
Freiherr Oskar von Arnim, Schloß Wiepersdorf , Post Reinsdorf i. d. Mark.
Verlagsbuchhändler Heinrich Auerbach, München, Maximilian str. 33.
B.
Studienrat G. Bader, Denkendorf, Württemberg.
Dr. M. H. Baege, Unterstaatssekretär z. D., Berlin-Rahnsdorf-Mühle, Seestr. 16.
stud. phil. Siegfried Baer, Heidelberg, Schiffergasse 6.
Dr. Marga Baganz, Berlin S 59, Müllenhoffstr. 13.
Bahnert, Dresden, Wartburgstr. 20.
Geh. Reg.-Rat Friedrich von Balz, Stuttgart, Dillmannstr.
stud. phü. Fritz Bamberger, Berlin N. 4, Wöhlertstr. 1.
Toni Barda, Berlin-Oberschönweide, Edisonstr. 29.
Lehrer Alfons Bartelt, Schömberg i. Schles.
Professor Baus er, Nagold, Württemberg.
Studienrat Erwin Becker, Oranienburg, Königsallee 22.
Lehrer Becherer, Werbelin bei Zschorkau, Bezirk Halle a. d. Saale.
Lehrer Becke, Halle a. d. Saale, Yorkstr. 70.
Toska Becker, Halle a. d. Saale, Zwingerstr. 5.
Ruth Behrens, Buchholz-Friedewald bei Dresden, Hermannstr. 63 d.
Dr. Walter Benjamin, Berlin-Grunewald, Delbrückstr. 23.
Felicitas Benisch, Dresden-A. Tierärztliche Hochschule, Physiologisches In-
stitut.
Professor Dr. Berkenbusch, Hannover-Kleefeld, Kaulbachstr. 15.
stud. phil. Erna Berlowitz, Berlin-Halensee, Joachim-Friedrichstr. 34.
Dr. Betzendörfer, Tübingen, Klosterberg 2.
Oberarzt Dr. Birnbaum, Berlin NW., Lessingstr. 10.
WillyBlankenfeldt, Halle a. d. Saale, Viktoriaplatz 5.
stud. phil. Konstantin Blaßtzück, Halle a. d. Saale, Marienstr. 28.
Dr. Edmund Blau, Wien II, Große Schiffgasse 30.
Tierarzt Boeck, Neuteich, Freistaat Danzig.
280 Kant-Gesellschaft
Sekundarlehrer Eugen Böckli, Bülach, Schweiz.
Dr. H. Bohlen, München, Karlsplatz 17a.
Seminarlehrer Böhme, Petershagen a. d. Weser, Westfalen.
Dr. W. Böhme, Dresden, Müller- Bersetstr. 38.
Max Bohmig, Dresden- A., Blasewitzerstr. 21.
Reg.-Baumeister Walter Bolz, Berlin-Charlottenburg, Dernburgstr. 4.
Justizrat Dr. Julius Bondi, Dresden-A., Gellertstr. 3.
Frau Hildegard von Borries, Berlin-Lichtenberg, Magdalenenstr. 2, b. Belitz
F. Bornkessel, Berlin- Wilmersdorf, Nassauischestr. 35.
Professor Dr. Boruttau, Professor a. d. Universität Berlin, Berlin-Grunewald,
Trabenestr. 19.
Dr. E. L. Boss, Nürnberg, Glockenhofstr. 32.
Dr. phil. Paul Bössneck, Leipzig, Schwägeichenstr. 1.
Lehrerin Christine Bourbeck, Dornum, Kreis Norden, Ostfriesland.
Dr. Karl Brauch, Mannheim, 0. 7. 1.
Professor Dr. N. Braunshausen, Luxemburg, Victor Hugo Avenue 31.
W. von Bredow, Charlottenburg, Niebuhrstr. 67.
Dr. Carlo Blavet de Briga, Turin, Italien, Via Maia Vittoria 52.
Lehrer Otto Brinkmann, Köpenik bei Berlin, Spreestr. 2.
Justizrat Dr. Julius Brodnitz, Berlin W 62, Schillstr. 9.
Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Robert Brück, Dresden-A., Schnorrstr. 88.
Apotheker Alexander Buchner, Stettin, Kurfürstenstr. 3.
Frau Bück er, DresdenA., Mosenstr. 15.
G. Buckwitz, München, Karlstr. 5.
cand. theol. Otto Bückmann, Elberfeld, Augustastr. 34.
Frau Dr. Charlotte Bühler, Privatdozentin der Philosophie, Dresden-A.,
Zelleschestr. 20.
Dr. Friedrich Bülow, Leipzig, Dösenerweg 12.
Dr. Friedrich Bulthaupt, Bremen-Schwachhausen, Albersstr. 16.
Dr. Siegfried Burgstaller, Berlin-Schöneberg, Bozenerstr. 4.
stud. rer. pol. W. Büttner, Kiel, Samwerstr. 29.
Dr. Alfred Caroli, Mannheim, Max Josephstr. 5.
Studienrat Max Carstenn, Göttingen, Wilhelm Weberstr. 14.
Professor Dr. Carsun Chang, Peking, China, z. Z. Jena, Erfurterstr. 74.
Otto Christmann, Berlin W 30, Nollendorfstr. 17.
stud. phil. Walter Clauss, Halle a.d. Saale, Bugenhagenstr. 12.
Marcus Cohn, Hamburg, Johnsallee 36.
Martin Cohn, Berlin-Schlachtensee, Albrechtstr. 6.
Professor Dr. Confucio Cotti, Torino, Italien, Via Baretti 36.
Fabrikbesitzer Eugen Czarka, Berlin NW 23, Altonaerstr. 37.
D.
Dipl.-Ing. Karl Daimler, Halle a. d. Saale, Marienstr. 22.
Professor Dr. Daur, Baden-Baden.
Dr. Hugo Debrunner, Berlin-Groß-Lichterfelde-West, Weddigenweg 30.
Dr. Max Deri, Berlin W 50, Spichernstr. 19.
Rudolf Dimpfel, Leipzig, Talstr. 17.
Frau Dr. med. Dorothea Dietrich, Dresden-A., Albrechtstr. 5.
Dr. Dietrich, Bitterfeld, Werk Neustaßfurt.
Zahnarzt Hans Dietsch, Dresden-N., Hauptstr. 34.
Frau Dr. Dirks en, Breyning per Borkop, Dänemark, Aandsvageanstalten.
Provinzialschulrat Geh. Reg.-Rat Ernst Doblin, Berlin-Steglitz, Martinstr. 7.
Buchhändler Bernhard Do mm es, Dresden-Blasewitz, Friedrich- Auguststr. 33.
Dr. Franz Dornseiff, Lörrach i. Baden.
Paul Drees, Petershagen a. d. Weser.
Kant-Gesellschaft. 281
cand. med. E. Dubrowitsch, Gießen a. d. Lahn, Bleichstr. 8.
Prof. Dr. Karl Durand, Mannheim, Waldparkstr. 27.
Fräulein stud. phil. Durst, Dresden-A., Fürstenstr. 18.
Dr. J. J. L. Duyvendall, Lektor a. d. Universität Leiden, Leiden, Holland,
Wasstraat 33.
E.
S. Ehrlich, Halle a. d. Saale, Gr. Märkerstr. 3.
Hauptlehrer A. Eichler, Halle a. d. Saale, Bollbergerweg 71.
Oberstabsarzt a.D. Dr. Einecke r, Dresden-A., Hübnerstr. 26.
stud. phil. Walter Eisen, Gießen, Steinstr. 90 bei Prof, Hüter.
Frau Dr. Elkisch, Berlin W 15, Sächsischestr. 2.
cand. rer. pol. Georg Elsasser, Würzburg, Sieboldstr. 21/22.
Marianne Elsässer, Stuttgart, Gymnasiumstr. 28.
Dr. Emmerich, Kiel, Wilhelminenstr. 26.
Dr. V. Engelhardt, Berlin- Friedenau, Taunusstr. 13.
Prof. Dr. Max Epstein, Berlin W 15, Kurfürstendamm 26a.
Professor Dr. K. 0. Erdmann, Dresden-A., Reichenbachstr. 61.
Dr. Es s wein, München, Keplerstr. 1/0.
Studienrat Dr. Max Faerber, Berlin-Charlottenburg, Danckelmannstr. 35.
Professor Dr. Otto Fanta, Prag I, starom. nam 21.
Dr. Leo Feuchtwange r, München, Liebigstr. 37.
Studienrat Fritz Feurig, Dresden-A., Moltkeplatz 1.
Ingenieur Franz Feix, Reichenbach .i. Böhmen, Siebenhäuserstr. 204.
cand. phil. Ewald Fiedler, Berlin- Wilmersdorf, Lauenburgerstr. 15.
Friedrich Fiedler, Halle a. d. Saale, Dieskauerstr. 16.
stud. phil. Gerhard Fiedler, Halle a. d. Saale, Moritz Zwingerstr. 10.
Lehrer Walter Reinhardt Finken, Rheydt, Rhlnd., Schloßstr. 66.
Walter Findeisen, Dresden-N., Kronenstr. 19.
Alfred Fischer, Hannover-Linden, Jacobstr. 10.
Hugo Fischer, Dresden-N., Jägerstr. 35.
Dr. Flechsig, Zschopau bei Dresden, Königstr.
Martin Flesch, Heidelberg, Rohrbacherstr. 9.
Amtsgerichtsrat Dr. Gerhard Förster, Dresden-Blasewitz, Sommerstr. 18.
Frau Dr. Else Franc ke, Leipzig, Humboldstr. 9.
Otto Freitag, Niedersedlitz bei Dresden, Gartenstr. 20.
Landgerichtsrat Alfred Frey, Rohrbach b. Heidelberg, Panoramastr.
Fräulein Dr. Marie Luise Fritze, Altenburg, S.-A., Am Anger 4.
Professor Ludwig Fröbel, Villingen i. Baden, Klosterring 6.
Lehrer Friedrich Fröde, Dresden-A., Schlüterstr. 46.
Dr. Fröhlich, Hirschberg i. Schlesien, Kaiser Friedrichstr. 4.
Seminarlehrer Hans Fuchs, Waldau in Ostpreußen.
G.
stud. Friedrich Gabel, Fischhausen, Bahnhofsstraße.
Dr. Richard Gätschenberger, Lohr a. Main.
Oberstudiendirektor Professor Dr. Gehmlich, Zwickau i. Sa., Lehrerseminar.
Professor Dr. Hans Gehrig, Dresden-A., Liebigstr. 18.
Dr. Ing. A. Gellhorn, Halle a. d. Saale , Heinrichstr. 4.
Hedwig Gerhard, Mannheim, Rosengartenstr. 7.
Rechtsanwalt Dr. Gillis, Breslau 3, Freiburgerstr. 34.
cand. med. Walter Glose, Halle a. d. Saale, Lauren tiusstr. 1.
stud. phil. Willi Göber, Halle a. d. Saale, Krukenbergstr. 10.
282 Kant-Gesellschaf;.
Bankier Erich Goldschmidt, Berlin-Grunewald, Königs- Allee 64.
Dr. Edler von Goutta, Halle a. d. Saale, Wettinerstr. 13.
Rabbiner Dr. Grabowski, Barmen, Augustastr. 9.
Dr. Walter Graetzer, Rechtsanwalt und Notar, Hirschberg i. Schlesien.
Dr. med. Grauhorn, Kiel, Chirurgische Klinik.
Paul A. G rem ml er, Hannover, Collinstr. 3.
Dr. R. Grimm, Hamburg, Kielartallee 16, bei Dräger.
Fräulein Dr. Margarete Gfollmus, Heiligengrabe bei Techow i. d. Priegnitz.
Heinz Grunewald, Weißenfels a. d. Saale, Langendorferstr. 49.
Privatdozent Dr. Georg Gurwitsch, a. d. Universität Petersburg, Berlin-Char-
lottenburg, Fritschestr. 56.
Dr. med. M. J. Gutmann, München , Maximilianstr. 33.
H.
Studienrat Haas, Halle a. d. Saale. Germarstr. 6.
Margarete Haase, Berlin-Zehlendorf, Potsdamerstr. 47.
Luise Habricht, München, Maximilianstr. 3.
Paul Hahmann, Halle a. d. Saale, Pfännerhöhe 35.
Dr. Julius Hanauer, Berlin, Neue Grünstr. 40.
Staatsanwaltschaftsrat Härtel, Dresden-N., Radebergerstr. 34.
Regierungsamtmann Dr. Carl Hast, Dresden-N., Albrechtstr. 1.
Fräulein Charlotte Haun, bei Frau Ehrlich, Berlin NO 18, Bardelebenstr. 5.
Dr. Hausheer, Berlin-Großlichterfelde-West, Weddigenweg 30.
stud. jur. Lothar Hecht, Breslau, Gartenstr. 31 bei Frau Fuchs.
cand. phil. Oskar Hein, Berlin NW 87, Jagowstr. 30.
stud. phil. Karl Heinrich, Braunsberg i. Ostpr., Priesterseminar.
Dr. Ernst Heller, München, Trogerstr. 17a.
Dr. Heller, Kiel, Forstweg 42.
Dr. Marie Hendel, Eberswalde, Schicklerstr. 6.
stud. phil. H. Hermann, Leipzig, Thomasiusstr. 26.
Privatdozent Lic. Rudolf Hermann, Breslau, Sternstr. 38.
Oberlehrer Friedrich Wilhelm Herrmann, Dresden, Bischofsweg 112.
Mathilde Hess, Halle a. d. Saale, Hermannstr. 33.
stud. phil. Herbert Hirschberg, Heidelberg, Klingentor 16.
Professor Dr. Hoff mann, Kiel, Reventlowallee 12.
Oberlehrer Dr. E. Hollweg, Oldenburg, Kastanienallee 51*
Studienrat Dr. Höltorf, Bremerhaven, Bogenstr. 13.
Dr. Hormuth, Kiel, Kirchenstr. 7a.
Dr. August Horneffer, München-Solln, Dittlerstr. 5.
Studienrat Anna Horwicz, Gelsenkirchen, Ueckendorferstr. 163.
Dr. Georg Hübner, Dresden-N., Schillerstr. 25.
Fritz Hunger, Dresden-A., Bellingrathstr. 4.
Fräulein Margarete Hunger, Dresden-A., Lennästr. 2.
Reichsbankinspektor Theodor Hütter, Berlin S 14, Stallschreiberstr. 3.
Dr. Wilhelm Israel, Berlin- W., Lützow-Ufer 1.
Professor Dr. K. Ito, Berlin-Charlottenburg, ßerlinerstr. 103.
Hans Iwant, Halle a. d. Saale, Wilhelmstr. 10.
Anne Jacob, Frankfurt a. M., Passavantstr. 8.
stud. phil. W. Jahnke, Halle a. d. Saale, Neue Promenade 1 a.
Dr. med. Hans Janke, Berlin SW 11, Anhaltstr. 8.
Rechtsanwalt Dr. Curt Jansen, Berlin SO 36, Plesserstr. 36.
Kant-Gesellschaft. 283
Professor Dr. Karl Jaspers, o. ö. Professor in Heidelberg, Handschuhsheimer-
landstr. 38.
Geh. Medizinalrat Professor Dr. P. Jensen, Göttingen, Wilhelm Weberstr. 39.
K.
stud. mus. Erich Kahn, Königstein i. Taunus, Pinglerstr. 1.
Studienreferendar Alexander Kakuschke, Breslau 16, Sternstr. 79.
Walter Kammerichs, Rheydt i. Rhlnd., Friedhofstr. 43.
Dr. Erwin Kamptner, Wien IV, Schönburgstr. 11.
cand. rer. pol. Ernst Kaufmann, Mannheim, B. 6. 1.
Annie F. Kern per, Hamburg, Sophienterrasse 9.
Justizrat Dr. Kemperich, Dortmund.
Studienrat Dr. Kerll, Hannover-Linden, Deisterstr. 6.
Margarete Kessner, Berlin SO 36, Lausitzerstr. 47.
Dr. R. Kiba, Berlin- Wilmersdorf, Mainzerstr. 12.
Arno Kirchner, Leipzig-Schleusnig, Könneritzstr. 41.
Gerichtsreferendar Otto Kleinrath, Hannover, Podbielskistr. 16.
stud. phil. Wilhelm Klemm, Halle a. d. Saale, Reilstr. 89a.
Oberstleutnant a.D. stud. phil. Paul Klette, Breslau, Kaiser Wilhelmstr. 158.
Eduard Klopfleisch, Dresden-N., Strehlauerstr. 52.
Dr. Conrad Knobloch, Breslau, Lothringerstr. 7.
H. Knüpf er, Halle a. d. Saale, Blumentalstr. 29.
Oberregierungsbaurat Koch, Dresden-N., König Albrechtstr. 18.
stud. med. Annemarie Köhler, Leipzig, Eichendorffstr. 31.
Rechtsanwalt Hans Kohlmann, Dresden-A., Seestr. 19.
Dr. Marie von Kohoutek, Berlin-Grunewald, Charlottenbrunnerstr. 6.
Z. J. Kook, Jerusalem, Palästina.
Dr. R. J. Kortmulder, Rotterdam, Holland, Crooswyksche Singel 23a.
Lieschen Kötteritzsch, Merseburg a. d. Saale, Gotthardtstr. 21.
Lehrerin Th. Kramm, Berlin-Neukölln, Reinholdstr. 8.
Rechtsanwalt Dr. Georg Krapf, Dresden-A., Marschallstr. 39.
Professor Dr. Oskar Kraus, o. ö. Professor a. d. Universität Prag, Havlicek-
platz 8.
Otto Kroger, Haale i. Holstein, Post Todenbüttel.
Dipl.-Ing. W. Kropp, Dozent a. Polytechnikum, Cöthen i. Anhalt, Aribertstr. 15.
Horst Kretschmann-Winckelmann, Berlin W 15, Kurfürstendamm 126.
Professor Dr. Josef Krug, Wien 18, Peter Jordanstr. 96.
Professor Dr. Fritz Kühner, Eisenach, Wernickstr. 15.
stud. ehem. Albrecht Kümmel, Halle a. d. Saale, Uhlandstr. 18.
Johannes Kupfer, Geithain.
A. Lange, Berlin W., Schaperstr. 4.
Oberlehrer Dr. Johannes Lange, Bremen, Osterdeich 107a.
Lehrer W. Lange, Potsdam, Waisenstr. 36.
Rabbiner Dr. Ch. Lauer, Biel, Schweiz.
Lektor Dr. Lavoipiere, Halle a. d. Saale, Wielandstr. 12.
Franz Leclercq, Leipzig, Robert Schumannstr. 12.
Walter Lebenstein, Issum, bei Geldern.
Fritz Levinger, Berlin W, Pragerstr. 29.
cand. jur. Victor Leysieffer, Leipzig, Hardenbergstr. 49.
Milda Lieberwirth, Borsdorf bei Leipzig, König Albertstr. 10.
stud. phil. Adalbert Liebster, Leipzig-Co., Windscheidstr. 34.
cand. med. Erich Lindemann, Gießen, Loebershof 6.
Referendar Kurt Lindemann, Berlin-Dahlem, Parkstr. 6.
Lehrer F. Lindhorst, Hannover, Friedastr. 151.
Dr. Alexander Loehl, Leipzig, Mozartstr. 2.
284 Kant-Gesellschaft.
Dr. A. Lörcher, Studienrat, Halle a. d. Saale, Friedrichstr. 16.
Dr. Erich Loewenthal, Berlin-Halensee, Johann Georgstr. 11.
cand. phil. Margarete Lubowski, Berlin W 62, Kleiststr. 29.
Privatdozent Dr. Paul Luchtenberg, Lennep, Rheinland, Schillerstr. 22.
m. ,
Rechtsanwalt Dr. Diedrich Maase, Düsseldorf, Steinstr. 3.
stud. phil. Paul Maennchen, Zwickau i. Sa., Ludwig Richterstr. 13.
Lehrer Alwin Mai, Dresden-A., Hindenburgstr. 7.
cand. med. Fritz Mainzer, Frankfurt a. M., Arndtstr. 1.
Rechtsanwalt Dr. Fritz Mangold, Hamburg, Maria Luisenstr. 94.
Postsekretär Johannas Märker, Dresden-Strehlen , Robert Kochstr. 1.
cand. phil. J. Marschak, Heidelberg, Blumenthalstr. 24.
Studienrat Dr. Martini, Dresden-Blasewitz, Seidnitzerstr. 9.
Dr. Johannes Marx, Budapest 5, Rudolfter. 6.
Heinrich Mehlich, Dölau, Bez. Halle.
Dr. Friedrich Meier, Dresden, Leipzigerstr. 136.
Postsekretär Bruno Mende, Dresden-N., Großenhainerstr. 129.
Geh. Schulrat Menke-Glückert, Dresden-A., Holbeinstr. 16.
stud. phil. Gustav Mensching, Hannover, Hainhölzerstr. 24.
stud. theol. Paul Meusers, Viersen i. Rheinland.
Dipl.-Ing. Hugo Meyer, Altona, Eimsbüttelerstr. 60.
Landrichter Dr. Edmund M.ezger, Privatdozent, Tübingen, Hölderlinstr. 52.
Hildegard Michaelis, Berlin-Charlottenburg, Soorstr. 37a.
Distriktsarzt Dr. Max Mielck, Dresden-A., Kesselsdorf erstr. 81.
Dr. phil. Julius Miesler, Wien III, Weißgärberlände 40.
Seminaroberlehrer Dr. Albert Milkner, Dresden-A., Bienertstr. 36.
Anna Antonie Möderl, Krailling-Planegg bei München, Margaretenstr. 37b.
stud. phil. Karl Möller, München, Neureutherstr. 29.
A. Morgenroth, Hamburg, Beneckestr. 22.
Professor Dr. Erich Mosch, Berlin W 30, Eisenacherstr. 96.
Hana Mühring, Lehrerin, Geestemünde, Schleusenstr. 3.
Studienrat Gerhard Müller, Berlin S 61, Baerwaldstr. 8.
Rektor Paul Müller, Berlin, Schönhauser Allee 166.
Präsident Müller, Kiel, Forstweg 26.
Direktor F. Münch, Theologisches Studienstift, Straßburg i. E., Thomasstaden Ib.
N.
Hildegard Naumann, Halle a. d. Saale, Seebenerstr. 9.
Professor Dr. Curt Needon, Dresden-A., Friedrich Wilhelmstr. 84.
Dr. Neukirch, Celle, Brückenstr. 10.
stud. phil. Otto Neuling, Hannover, Lörchenstr. 17.
Studiendirektor Dr. Robert Neumann, Berlin NW., Bochumerstr. i.
Nevermann, Kiel, Hospitalstr. 25.
Pfarrer Niewerth, Halle a. d. Saale, Am Kirchtor 20.
stud. phil. Hermann Noack, Hamburg, Tesdorpfstr. 9.
cand. theol. Georg Noth, Loben bei Holzdorf, Bezirk Halle.
0.
cand. phil. Ludwig Oppenheimer, Berlin-Lichterfelde, Weddigenweg 44c.
stud. jur. Hans J. von Oertzen, Halle a. d. Saale, Magdeburgerstr. 31.
Pfarrer Hans Ording, Asak per Tistedalen, Norwegen.
M. Osinga, Leiden, Holland, Rapenburg 60.
Fräulein Mathilde Otersen, Leipzig, Gottschedstr. 2.
Doris Otto, Dresden-Blasewitz, Marschall- Allee 10.
Lehrer Fritz Otto, Berlin-Neukölln, Herfurtstr. 33.
Kant-Gesellschaft. 285
Heinrich Pabst, Hannover, Haltenhoffstr. 3.
Privatdozent Dr. Palyi, München, Mandlstr. 10a.
Professor Dr. Pankow, Düsseldorf, Königsallee 19.
Dr. phil. Käthe Pariser, Berlin W., Kurfürstenstr. 59.
Rechtsanwalt C. Paul, Dresden-A., George-Bährstr. 4.
Professor Dr. R. Pauli, a. o. Prof. a. d. Univ. München, Kufsteiner Platz 4.
Studienrat F. Pehe, Berlin- Charlottenburg, Fredericiastr. 14.
Professor Dr. Petersen, a.o. Professor Heidelberg, Zähringerstr. 51.
cand. med. Ernst Petzold, Leipzig, Talstr. 27.
Professor Dr. Josef Petzold, Berlin-Spandau, Wröhmänneratr. 6.
stud. phil. Reinhold Pfeil, Marburg a. d. Lahn, Wettergasse 1.
Studienrat Martin Philipp, Pirna, Elbe, Bahnhofstr. 6.
Dr. Leo Polak, Privatdozent a. d. Universität Amsterdam, Holland, Keizers-
gracht 687.
H. W. Potonie, Berlin-Lichterfelde-West, Potsdamerstr. 37.
Dr. Robert Potonie*, Berlin W 30, Nollendorfstr. 31—32.
stud. theol. Herbert Propp, Rostock, Kröpelinerstr. 11.
Lehrer Walter Przioda, Dresden-Grimma, Hepkestr. 18.
Ingenieur Dr. Martin Radt, Hermsdorf i. Sa.-Altenburg.
Ernst Ranft, Dresden-A., Katharinenstr. 21.
Ingenieur Gustav Rauch, Hamburg, Stadthausstr. 3.
Oberbahnhofsvorsteher Arthur Raue, Dresden-A., Prinzeß-Luisenstr. 8.
Lehrer Recke, Halle a. d. Saale, Yorkstr. 70.
Dr. Fr. Reichert, Heidelberg, Ziegelhäuser Landstr. 45.
cand. jur. Hans Reif, Leipzig, Kaiserin Augustastr. 57.
Lehramtsassessor Georg Reimheer, Lollar, Kreis Gießen.
cand. ehem. H. Reinhold, Halle a. d. Saale, Ludwig Wuchererstr. 56.
stud. phil. Albert Reps, Leipzig, Dufourstr. 11.
Dr. W. Rettich, Lauterberg i. Harz.
Pfarrer Ribstein, Oos, bei Baden-Baden.
Lehrerin Else Riedel, Frankfurt a. M.-Eschersheim, Landgraf -Philippstr. 3.
cand. phil. S. Ries er, Laupheim, Württemberg, Kapellenstr. 23.
Freiherr von Ripperda, Fischhausen i. Ostpreußen.
Studienrat C. Roebling, Berlin-Steglitz, Schloßstr. 17.
Landgerichtsrat Rogge, Memel, Sandkrug.
Studieninspektor Rohkohl, Naumburg a. Queis, Evang. Predigerseminar.
stud. phil. Ernst Rose, Leipzig, Fockestr. 11.
stud. phil. Edgar Rosenau, Frankfurt a. M., Wolfsgangstr. 90.
Fräulein Studienrat Roseno, Berlin-Charlottenburg, Mommsenstr. 20.
Dr. med. Curt Rößler, Dresden-A., Pragerstr. 27.
Fräulein Wera Rostocil, Berlin-Lichterfelde-West, Knesebeckstr. 9.
S. Rutmann, Berlin NW 52, Alt-Moabit 109.
S.
cand. jur. Max Sachs, Berlin W, Nürnbergerplatz 4."
Paul Sachse, Weißenfels a. d. Saale, Langendorferstr. 49.
Orchan Sadeddin, Gießen, Neuenbaue 22.
Lotte Salomon, Berlin NW 52, Werftstr. 8.
Dr. Salzberg, Hamburg, Hansastr. 47.
cand. jur. Rudolf Samson, München, Leopoldstr. 64.
Dr. med. Max Seber, Dresden-A., Teutoburgstr. 3.
Professor Dr. Erich Seeberg, Königsberg i. Pr., Krugstr. 1.
Professor Dr. Anton Seibt, Wien 18, Dittesgasse 2.
286 Kant-Gesellschaft.
Rechtsanwalt Dr. Julius Seligsohn, Berlin W 15, Kurfürstendamm 23.
Frau Berta Seiinge r, Leipzig, Keilstr. 3.
Dr. E. Senn, Alzey, Weinruf str. 57.
Generalagent Paul Serauky, Halle a. d. Saale, Schmerstr. 4.
Hofprediger Konsistorialrat Liz. theol. Dr.phil. Siedel, Dresden-N., Hospitalstr. 2B.
Dr. Magnus Sieras, Hamburg, Hammersteindamm 52.
Erna Silbermann, Frankfurt a. M., Vesenstr. 7.
Professor Freiherr Hans von Soden, Breslau, Hedwigstr. 38.
Bernhard Graf zu Solms-Laubach, Laubach i. Oberhessen.
Gotthard Sonnenfeld, Berlin W, Potsdamerstr. 39— 39a.
Dr. med. Oskar Sprinz, Berlin-Schöneberg, Bayerischer Platz 9.
Frau Dr. med. Johanna Suppes, Dresden- A., Pragerstr. 40.
Sch.
Lehrer Schallenberg, Eisenach, Petersberg 36.
stud. phil. Herbert Schaller, Leipzig, Dösenerweg 16.
Wilhelm Schaunhorst, Bremen, Martinistr. 2.
Studienassessor Schecker, Sondershausen, Kyffhäuserstr. 18.
Gustav Scheibe, Spandau, Neuendorf erstr. 94.
Dipl.-Ing. Elias Schein, Erfurt, Gustav Adolf str. 17.
Generaldirektor Dr. Scheithauer, Halle a. d. Saale, Königstr. 9.
stud. theol. Erich Schick, Tübingen, Nauklerstr. 41.
Privatdozent Dr. Otto Schilling, Dresden-Strehlen, Residenzstr 9.
Oberbaurat Kurt Schindler, Dresden-A., Berlinerstr. 65.
cand. jur. Karl Schlemmer, Greifs wald, Domstr. 23.
Albin Schmidt, Dresden-Hellerau, Breiteweg 50.
Geh. Reg.-Rat Eduard Schmidt, Berlin- Friedenau, Wilhelhmshöherstr. 3.
stud. phil. Hermann Schmidt, Leipzig, Gohliserstr. 16.
Studienrat Jacques Schmidt, Schriftsteller, Datteln i. Westf.
Oskar Schmorl, i. Fa. Schmorl & von Seefeld Nachf., Hannover, Bahnhof str. 14.
Privatdozent Dr. Paul Schnabel, Halle a. d. Saale, Friedrichstr. 70.
stud. germ. Gerhard Schneider, Dresden, Schumannstr. 66.
Postsekretär Schneider, Dresden-A., Pohlandstr. 23.
Dr. med. Rudolf Schneider, Meißen a. d. Elbe,
cand. theol. Hermann Schneller, Tübingen, Wunzgasse 6.
Dr. Schole, Kiel, Fährstr. 8.
Dr. I. Schöner, Dresden-A., Hindenburgstr. 13.
Studienreferendar Kurt Schoppe, Paderborn, Benhauserstr. 1.
stud. theol. D. Schott, Berlin-Charlottenburg, Königsweg 25.
Dr. Arthur Schroers, Hamburg, Schanzenstr. 6.
Pastor Lic. Schultz, Hamdorf Kr. Rendsburg.
Studienassessor Fr. Schulze, Leipzig-Co., Elisenstr. 150, Lehrerseminar.
Fräulein Margarete Schumann, Dresden-N., Katharinenstr. 21.
Fräulein Emilie Schüssler, Leipzig, Kaistr. 1.
Dr. Schuster, Kiel, Jaegersberg 26.
Referendar a. D. Schwartz, Halle a. d. Saale, Ludwig Wuchererstr. 73a.
Friedrich Schwickerath, Cöln-Bickendorf, Herbigstr. 13.
Dr. Schwinkowski, Kustos am Staatl. Münz-Kabinett, Dresden-A., Stephanien-
straße 37.
St.
stud. theol. J. A. Steenbakkeer, Morilyan-Loysen, Utrecht, Holland, Schweden
van der Kolkstraat 19bis.
cand. rer. pol. Fritz Stein, Schweinfurt, Schultestr. 42.
Lehrer 0. Steinert, Schadewalde bei Marklissa, Schlesien.
Studienrat Steinhoff, Hannover-Linden, Davenstedterstr. 24.
Lehrer Otto Stelzer, Dresden-A., Töplerstr. 6.
Kant-Gesellschaft. 287
Lehrerin Gertrud Stern, Chemnitz, Königstr. 26.
Frau Maria Stern, Rheydt, Bezirk Düsseldorf, Friedrich Wilhelmstr. 156.
stud. jur. et cam. Kurt Stern, Karlsruhe i. Baden, Erbprinzenstr. 11.
cand. jur. Rudolf Stocks, Halle a. d. Saale, Friedrichstr. 41.
Dr. Clara Strack, Berlin- Wilmersdorf, Güntzelstr. 32.
Regierungsrat von Strauß und Torney, Stade, Hannover, Bahnhofstr. 1.
Karl Streit, Dresden- A., Striesenerstr. 21.
Dr. med. Walter Stromeyer, München, Prinz Ludwigstr. 7.
T.
Dr. Johannes Teichmann, Breslau, Klosterstr. 58.
Univ.-Professor Dr. Otto Tesar, Königsberg i. Pr., Tragheimer Gartenstr. 6.
Dr. Alvin Thalheime r, Baltimore U.S.A. 2400 Entaw Place.
Studienrat Adalbert Theel, Spandau b. Berlin, Augustaufer 15.
Wilhelm Thies, Karlsruhe i. B., Kriegsstr. 93.
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Dr. med. A. T h ü m e r, Berlin-Karlshorst, Gundelfingerstr. 43.
Kurt Tikotin, Berlin SW 47, Möckernstr. 92.
Studienrat Eckehard Tilsner, Berlin- Weißensee, Elsasserstr. 58.
cand. theo!. D. Tromp, Utrecht, Holland, 38 Kromme Nieuwe Gracht.
ü.
Dr. Otto Uebel, Mannheim, B. 6. 20.
Rechtsanwalt Dr. Rudolf Uni ig, Dresden- A., Johannisstr. 17.
Ingenieur Johann Ueltzen, Bremen, Bülowstr. 15a.
V.
Pastor Dr. Vahldieck, Halle a. d. Saale, Neue Promenade 3.
Postdirektor Vietze, Naumburg a. d. Saale, Lepsiusstr. 25.
Ingenieur Georg Villwock, Berlin-Charlottenburg, Knesebeckstr. 5.
Fräulein Gertrud Vogel, Halle a. d. Saale, Krukenbergstr. 5.
Dr. Vogel er, Kiel, Holtenauerstr. 8.
Professor D. Dr. H. G. Voigt, Halle a. d. Saale, Viktoriastr. 1.
cand. theol. H. de Vos, Leiden, Holland, Hovigracht 94.
w.
Studienrat Dr. phil. Dora Wagner, Dresden 18, Löscherstr. 18.
stud. phil. Hans Georg Freiherr von Wangenheim-Winterstein, Heidel-
berg, Neue Schloßstr. 26.
Direktor Wann er, Hannover, Zentralstr. 22.
Pfarrer Dr. Warmuth, Dresden-Strehlem , Wasastr. 16.
stud. phil. Erich Wege, Halle a. d. Saale, Große Steinstr. 35.
stud. theol. Walter Weigel, Breslau, Michaelisstr. 52.
Generalarzt Oberregierungs-Medizinalrat Dr. Wilhelm Weigert, Dresden-N.,
• Jaegerstr. 17.
stud. phil. Gerhard Weiler, Berlin- Charlottenburg, Nußbaumallee 34.
Studienrat Otto Weißler, Eilenberg, Nordring 24.
Hans Wendt, Halle a. d. Saale, Franckesche Stiftungen, Eingang 6.
stud. phil. Hans Wenke, Berlin-Pankow, Mühlenstr. 15.
Ingenieur Jakob Werner, Berlin-Charlottenburg, Helmholtzstr. 31.
Professor Richard Werner, Potsdam, Wilhelmplatz 3.
Dr. Wernich, Kiel, Düvelsbeckerweg 7.
cand. jur. Eva Wernick, Staaken bei Berlin, Königstr. 93.
Rudolf Wertheim, Hamburg, Halleschestr. 6.
Professor Dr. Richard Wickert, Dresden, Trinitatisstr. 35.
288 Kant-Gesellschaft.
stud. phil. A. Wilentschuk, Berlin-Charlottenburg, Wielandstr. 4.
Mittelschullehrer W. Wilke, Weißwasser in d. Oberlausitz, Karlstr. 1.
Lotte Willner, Berlin, Nürnbergerstr. 3.
cand. phil. Klara Willrich, Heidelberg, Bahnhofstr. 43.
M. Windmüller, Rheda, Bez. Minden.
cand. jur. Emanuel Winternitz, Wien, Böcklinstr. 49.
stud. phil. Erich Wohlfahrt, Leipzig, Sebastian Bachstr. 29.
Postsekretär Walter Wohlfarth, Dresden- A., Marschallstr. 46.
Frau Pauline Wohlgemuth, Berlin W 15, Meinekestr. 2.
Clara Woitschack, Berlin-Lankwitz, Viktoriastr. 6.
stud. theol. Friedrich Wolffhardt, Hof a. d. Saale, Wilhelmstr. 48.
Dr. Heinrich F. Wolf, New-York, U.S.A. 161 West 86th street.
Studienrat Dr. Georg Wolff, Hannover, Siemensstr. 4.
Justizrat Dr. Otto Wolff, Altona, Große Bergstr. 266.
Dr. Woltemas, Solingen, Körnerstr. 52.
Y.
Chou Yüan-ping, Schanghai, China, Burkill Road 24, Paulin Hospital.
z.
Lehrer Robert Zander, Schönberg i. Schles., Kreis Landeshut.
Hauptmann a. D. E. Zimmermann, Berlin W 30, Rosenheimerst. 27.
Dr. Reginald Zimmermann, Berlin W 30, Nollendorfstr. 28.
Paul Zombeck, Dortmund, Wenkerstr. 14.
Institute.
Berlin: Volkshochschule Groß-Berlin, Berlin NW., Georgenstr. 34 — 36.
Mailand: Societa di studi filosofici e religiosi, Mailand, Italien, Via Borgonuova26.
/*
1*
Die „Materie" in Kants Tugendlehre und
der Formalismus der kritischen Ethik.1)
Von Dr. phil. Georg Anderson.
Es ist wohl allgemein anerkannt, daß Kant in Grdlg. und
Kr. d. pr. V. die kritische Ethik in ihren Grundzügen endgültig
niedergelegt habe; und dementsprechend pflegt man im Anschluß
an diese beiden Werke die Kantische als die formale Gfesinnungs-
ethik darzustellen, aus deren Prinzip aller „Zweck" als „Materie"
verbannt werden müsse. Der Formalismus gilt geradezu als der
entscheidende Punkt, in dem man Kants Ethik angreift und ver-
teidigt.
Nun ist es aber seltsam und sollte doch zu denken geben,
daß der Alte Kant, im Begriffe das doktrinale Geschäft auszu-
führen, keineswegs auf jene ehemals gelegten Fundamente mühelos
das ethische System aufsetzt, sondern in seiner M. d. S. von neuem
zu einer ethischen Prinzipienlehre ausholt. Man sollte vielleicht
erwarten, er werde an seine Lehre von der Tugend als „oberstem
Gut" (V, 110) anknüpfend die einzelnen Gebote anzugeben suchen,
die sich aus dem „einigen" Sittengesetz entwickeln lassen und mit
deren Verwirklichung wir uns auf das „höchste Gut" als das, ob-
zwar in dieser Welt nicht erreichbare, Ziel hinbewegen. Statt
dessen zeigt Kant sich bemüht, eine Tugendlehre im Unterschied
gegen die Rechtslehre mit Hilfe des völlig neuen und überraschenden
Lehrbegriffs vom objektiven Zweck durchzuführen. Die Ethik als
reine Tugendlehre soll objektive Zwecklehre sein.
1) Kant wird zitiert nach dem Wortlaut der Vorländerschen Ausgabe (Phi-
los. Bibl.), dazu in Klammern die Band- und Seitenzahlen der Akadem. Ausgabe.
Abkürzungen im Text : Kr. d. r. V. = Kritik der reinen Vernunft. Kr. d. pr.
V. = Kritik der praktischen Vernunft. Grdlg. = Grundlegung zur Metaphysik
der Sitten. M. d. S. = Metaphysik der Sitten.
Kantstudien. XXYL 19
290 Georg Anderson,
Man hat diesem höchst auffallenden Tatbestand bisher keines-
wegs genügend Rechnung getragen. Mag immer der Eindruck
des Alterswerkes vielfach befremdlich sein und nicht wenig Ver-
legenheiten bereiten, so geht es weder an, nur das anscheinend
Unverfängliche, was mühelos zu den beiden früheren ethischen
Haupts chriften passen will, herauszugreifen noch die Ausführungen
des Alten Kant mißbilligend für geringwertig und nebensächlich
zu erklären. Wir halten die Sache vielmehr für wichtig genug,
einmal genauer den Gedankengehalt der M. d. S. und sein Ver-
hältnis zu der formalistischen „kritischen" Ethik zu untersuchen,
wie sie uns durch Grdlg. und Kr. d. pr. V. repräsentiert wird.
Überblicken wir zunächst den Gedankenfortschritt in den für
unsere Frage entscheidenden Abschnitten I — XI der Einleitung
zu den metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre.
Abschnitt I zeigt, warum eine Ethik ohne den Begriff des
Zwecks nicht auskommen kann, sondern zu dem Begriff eines
Zweckes, der an sich selbst Pflicht ist, gedrängt wird. Er weist
nach, daß dieser Begriff keinen Widerspruch enthält und wirft
schließlich die Frage auf, wie ein solcher Zweck möglich sei.
II liefert noch nicht den Nachweis der objektiven Realität
dieses neu eingeführten Begriffes; sondern erörtert, welches der
beiden denkbaren Arten des Verhältnisses von Zweck und Pflicht
das für die Ethik allein mögliche sei, und begründet die Benennung
der Zwecke, die zugleich Pflichten sind, als Tugendpflichten.
Erst III gibt den Grund an, sich einen solchen Zweck zu
„denken". Es muß solche Zwecke „geben", weil der Akt der
Zwecksetzung, als praktisches Prinzip genommen, bereits das
Pflichtprinzip in sich schließt, und weil die freien Handlungen,
die ebenso wie alle andern Handlungen nicht zwecklos gedacht
werden können, nur Zwecke dieser besonderen Art haben können.
IV endlich teilt inhaltlich die Zwecke mit, die zu haben Pflicht
ist: „Sie sind: Eigene Vollkommenheit — fremde Glückseligkeit".
V ist eine Erläuterung des Inhaltes dieser Begriffe.
VI bringt einen bedeutenden Fortschritt der Erkenntnis: die
grundsätzliche Leistung des Zweckbegriffs für das Verhältnis der
Ethik zur Rechtslehre innerhalb der allgemeinen Sittenlehre. Der
bloß formale Pflichtbegriff der allgemeinen Sittenlehre nämlich
läßt die Maximen inhaltlich ganz unbestimmt und enthält nur die
negativ-einschränkende Bedingung ihrer Qualifikation zum Gesetz,
Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 291
welcher Bedingung ebenso die Rechtspflichten entsprechen müssen.
Erst der Begriff des Zwecks, der zugleich Pflicht ist, konstituiert
die Ethik als Gesetzgebung an die Maximen der Handlungen,
welches allein aus dem formalen Pflichtgedanken heraus nicht zu
bewerkstelligen wäre.
VII zieht aus dieser Einsicht eine wichtige Konsequenz: Die
Ethik gibt Gesetze nicht wie das Recht für die Handlungen, son-
dern für die Maximen der Handlungen. Ihre Pflichten sind daher
von weiter, die Rechtspflichten von enger Verbindlichkeit. „Es
wird aber unter einer weiten Pflicht nicht eine Erlaubnis zu Aus-
nahmen von der Maxime der Handlungen, sondern nur die der
Einschränkung einer Pflichtmaxime durch die andere .... ver-
standen, wodurch in der Tat das Feld für die Tugendpraxis er-
weitert wird". „Unvollkommen" also ist hier die Verbindlichkeit
zur Handlung, nicht etwa zur Maxime der Handlung.
VIII charakterisiert dann die in IV genannten Tugendpflichten,
eigne Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit, als weite Pflichten
d. h. als Gesetze für die Maxime der Handlungen.
IX bringt zunächst "Wiederholungen. Die Tugendpflicht wird
nochmals definiert als die Verbindlichkeit zu der Maxime „des
Zwecks der Handlungen, der zugleich Pflicht ist, d. i. desjenigen
(des Materiale), was man sich zum Zwecke machen soll".
Sodann nennt er das oberste Prinzip der Tugendlehre: „Handle
nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein
allgemeines Gesetz sein kann", erläutert dessen Inhalt: „den
Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen" und gibt für
diesen Grundsatz eine Deduktion aus der reinen praktischen Ver-
nunft.
X vergleicht die apriorische Synthese von Pflicht und Zweck
in dem eben deduzierten Prinzip der Tugendpflicht mit dem ana-
lytischen Prinzip der Rechtslehre und nennt als höchsten unbe-
dingten Zweck der reinen praktischen Vernunft die Tugend als
ihren eigenen Zweck und Lohn, d. h. die „innere moralisch-prakti-
sche Vollkommenheit" (VI, 387). '
Mit einem Schema der Tugendpflichten, das sie ihrer materialen
und formalen Beschaffenheit nach und als innere und äußere unter-
scheidet, beschließt XI diesen Gedankengang.
Hinzuweisen ist nur noch auf den engeren inneren Zusammen-
hang zwischen den Abschnitten III und IX. Jener entdeckt zu-
erst die apriorische Begriffsverknüpfung von Zweck und Pflicht
19*
292 Georg Anderson,
und entwickelt so den Begriff des kategorischen Imperativs, dessen
Realität durch die Deduktion von IX gerechtfertigt wird. Inso-
fern kann man jene als die metaphysische, diese aber als die
transcendentale Deduktion des Prinzips der Tugendpflicht ansehen.
Wir können nunmehr versuchen, die über diese Abschnitte
verstreute Lehre vom objektiven Zweck in systematischer Zusam-
menfassung darzustellen.
Ausgegangen sei von der Verknüpfung der Begriffe Handlung
und Zweck. Handlungen müssen „jederzeit einen Zweck enthalten"
(VI, 397), es kann „keine Handlung zwecklos sein" (VI, 385). Nun
gibt es aber subjektive und objektive Zwecke. Die ersteren, die „jeder-
mann bat", sind solche, „die der Mensch sich nach sinnlichen An-
trieben seiner Natur macht" (VI, 385, 389). Die objektiven sind die
Zwecke, die „sich jedermann dazu machen soll" oder „Gegenstände
der freien Willkür unter ihren Gesetzen . . . ., welche er [der
Mensch] sich zum Zweck machen soll". Die reine Ethik aber
setzt den subjektiven Zwecken, die auf Neigungen beruhen und
der Pflicht zuwider sein können, als Gegengewicht die objektiven
entgegen und kann die Sittlichkeit nur verwirklichen dadurch, daß
sie jene diesen unterordnet. So wird der objektive zum morali-
schen Zweck, der a priori gegeben sein muß; oder — was das-
selbe besagt — in ihm erhalten die Begriffe Zweck und Pflicht
eine feste Verbindung a priori. Diese ist folgendermaßen vorzu-
stellen :
Der Pflichtbegriff ist an sich schon der Begriff von einer Nö-
tigung und zwar von einem Selbstzwang der freien Willkür durchs
Gesetz (VI, 379). Der Zweck aber bedeutet einen „Gegenstand
der freien Willkür, dessen Vorstellung diese zu einer Handlung
bestimmt, wodurch jener hervorgebracht wird" (VI, 384). Daß
man ihn hat, ist nicht etwa Wirkung der Natur, sondern davon,
daß man sich den Gegenstand der Willkür selbst zum Zweck ge-
macht hat. Jede Zwecksetzung ist ein Akt der Freiheit des han-
delnden Subjekts und „ein praktisches Prinzip, welches nicht die
Mittel (mithin nicht bedingt), sondern den Zweck selbst (folglich
unbedingt) gebietet", sonach „ein kategorischer Imperativ der
reinen praktischen Vernunft, mithin ein solcher, der einen Pflicht-
begriff mit dem eines Zweckes überhaupt verbindet" (VI, 385).
Man verdeutliche sich diese reichlich abstrakten Sätze vor-
läufig an folgendem Beispiel:
Wer sich die Wahrhaftigkeit aus kluger Berechnung zum
Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 293
Vorsatz macht, der macht sie nicht zum Zweck, sondern zum Mittel,
mit dessen Hilfe er irgendeinen anderen Zweck zu erreichen hofft.
Die Wahrhaftigkeit kann sich zum Zweck machen nur, wer sich
unbedingt an sie bindet, oder wer sich ihr verpflichtet weiß. Der
Akt dieser Zwecksetzung also verbindet mit dem Begriffe des
Zweckes den der Pflicht. Die reine praktische Vernunft aber,
die a priori diese beiden Begriffe miteinander verknüpft, ist da-
durch zugleich als das Vermögen der Zwecke überhaupt erkannt.
Der nächste Schritt, der jetzt zu tun ist, besteht in dem
Nachweis, daß es auch „einen solchen Zweck und einen ihm kor-
respondierenden kategorischen Imperativ geben" muß. Er gründet
sich auf das Faktum, daß es freie Handlungen gibt, und auf die
Erkenntnis, daß auch zu diesen wie zu allen Handlungen notwendig
Objekte oder Zwecke gehören müssen. Gäbe es nun nur Zwecke
die immer nur wieder als Mittel zu andern Zwecken in Betracht
kämen, so hätte die praktische Vernunft garnichts kategorisch zu
gebieten. Wenn es also überhaupt eine Sittenlehre geben soll, so
muß es auch Zwecke für freie Handlungen geben, die kategorisch
geboten werden können. Sonach müssen einige Zwecke „zugleich
(d. i. ihrem Begriffe nach) Pflichten" sein. Dieses aber sind die
Zwecke der reinen praktischen Vernunft; und die Ethik ist das
System derselben. Der Begriff der Tugendpflicht ist damit auf-
gestellt, sein Sinn erläutert, objektive Realität ihm gesichert. Es
bleibt noch das oberste Prinzip der Ethik oder Tugendlehre in
Form eines kategorischen Imperativs auszusprechen. Der Grund-
satz der allgemeinen Sittenlehre „Handle so, daß die Maxime deiner
Handlung ein allgemeines Gesetz werden könne", enthält nur eine
conditio sine qua non, der sich alle Maximen unterwerfen müssen,
aber kein wirkliches Gresetz für den Inhalt der Maximen. Auch
die dem Zweck der Handlung gegenüber völlig indifferenten Rechts-
pflichten müssen dem formalen Prinzip, der Tauglichkeit der Maxime
zum allgemeinen Gesetz, genügen. Das Prinzip der Tugendpflichten
hingegen muß außerdem und außer dem Begriff des Selbstzwanges
einen Zweck angeben, welchen wir haben sollen. Dieser erst ordnet
sich die subjektiven Zwecke unter, setzt sich als Materie aus Ver-
nunft der Materie aus sinnlichen Antrieben entgegen und gibt da-
durch für die Maxime ein positives Gesetz. Er kann es also erst
zum positiven Gesetz machen, eine zum allgemeinen Gesetz taug-
liche Maxime zu haben. Demnach lautet das oberste Prinzip der
Tugendlehre: „Handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu
294 Georg Anderson,
haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann". In ihm
ist der formale Pflichtgedanke mit dem materialen Zweckgedanken
verbunden.
Für diesen Grundsatz der Ethik, von dem wir bisher erst
wissen, wie er beschaffen sein muß , bedarf es endlich noch einer
transcendentalen Deduktion aus der reinen praktischen Vernunft
als dem Vermögen der Zwecke überhaupt, da er in seiner Eigen-
schaft als ein kategorischer Imperativ keinen Beweis verstattet.
"Wird die reine praktische Vernuft als Bedingung der mög-
lichen Zwecke überhaupt gefaßt, so kann „im Verhältnis des Men-
schen zu sich selbst und anderen Zweck sein" lediglich das, was
vor ihr Zweck ist. Ihrem Begriffe zufolge kann sie dann also
keinem möglichen Zwecke gegenüber gleichgiltig und unbeteiligt
bleiben, sondern sie muß vermittelst dieser Zwecke auch wirklich
die Maximen zu Handlungen bestimmen, oder sie ist nicht „prak-
tische Vernunft". „Die reine Vernunft aber kann a priori keine
Zwecke gebieten, als nur sofern sie solche zugleich als Pflicht an-
kündigt, welche Pflicht alsdann Tugendpflicht heißt a. Das Prinzip
der Tugendpflicht ist damit deduziert. Es richtet die Maxime des
handelnden Subjekts auf bestimmte Inhalte d. h. auf objektive
Zwecke, die, weil sie von der reinen praktischen Vernunft gesetzt
sind, auch in der ebenfalls aus dieser entspringenden rationalen
Form d. i. der gesetzgebenden Form der Maxime gewollt werden
müssen, die der kategorische Imperativ beschreibt und fordert.
Es ist demnach ein Gesetz nur für die Maximen, nicht für die
Handlungen, und läßt es unbestimmt, „wie und wieviel durch die
Handlung zu dem Zweck, der zugleich Pflicht ist, gewirkt werden
solle", es gebietet „weite" Pflichten.
Indessen 'nun erhebt sich die Frage, wie wir von dem allge-
meinen obersten Prinzip der Tugendlehre zu den einzelnen inhalt-
lich bestimmten Tugendpflichten gelangen? Kant gibt dafür einen
Fingerzeig, indem er nach Formulierung des Tugendpflichtprinzips
erklärt (VI, 395): „Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl
sich selbst als anderen Zweck, und es ist nicht genug, daß er
weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt
ist (dabei er doch, gegen sie auch indifferent sein kann), sondern
den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen, ist an sich
selbst des Menschen Pflicht". Der Begriff des Menschen also ist
es, deutlicher die rationale Idee der Menschheit zum Unterschiede
von der Tierheit (cf. VI, 392), woraus sich die einzelnen Zwecke
Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 295
ergeben müssen, die als Pflichten geboten werden können. Indem
aber der Mensch sowohl sich selbst als auch jeden anderen Men-
schen sich als seinen Zweck zu denken verbunden ist, ergeben sich
als Hauptarten die Pflichten der Selbstliebe und der Nächstenliebe
oder mit anderen Worten die Pflichten, sich die eigne Vollkom-
menheit und die fremde Glückseligkeit zum Zweck zu machen.
Allein so neu auch diese „Lehre vom objektiven Zweck" inner-
halb der Kantischen Ethik erscheint, und so unzweifelhaft sie erst
aus der Notwendigkeit entstanden und verständlich ist, die Tu-
gendlehre gegen die Rechtslehre im Ganzen der allgemeinen Moral
klar abzugrenzen; ganz ohne Vorgang in der Grdlg. ist sie nicht.
Auch hier ist ein Begriff des objektiven Zweckes aufgestellt.
Unter „Zweck" zunächst versteht Kant in der Grdlg. „das,
was dem Willen zum objektiven Grunde seiner Selbstbestimmung
dient" (IV, 427); „und dieser, wenn er durch bloße Vernunft ge-
geben wird, muß für alle vernünftigen Wesen gleich gelten". Die
objektiven Zwecke also beruhen auf „objektiven Gründen des
Wollens" oder „Bewegungsgründen", welche für jedes vernünftige
Wesen gelten. Im Gegensatz zu ihnen gibt es auch „subjektive
Zwecke". Diese beruhen auf subjektiven Gründen des Begehrens
oder „Triebfedern" ; es sind die Zwecke oder Objekte, die die
Vielheit der Materie des Willens ausmachen oder die Inhalte, die
willkürlich und beliebig die Maximen haben; die materialen und
relativen Zwecke, die lediglich für uns als Wirkungen unserer
Handlungen Wert haben. Sie können demnach bloß hypothetische
Imperativen begründen.
Die objektiven Zwecke dagegen müssen absoluten Wert haben
und sind vorzustellen als Dinge, „deren Dasein an sich selbst
Zweck ist". Was aber Zweck an sich selbst ist, das muß not-
wendig auch Zweck für jedermann sein, kann also ein objektives
Prinzip des Willens ausmachen oder zum allgemeinen praktischen
Gesetze dienen. An die Stelle solch eines objektiven Zweckes
kann kein anderer Zweck gesetzt werden ; er kann nie zum bloßen
Mittel werden. Dann aber liegt „in ihm und nur in ihm allein
der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs".
Damit wäre der Begriff des objektiven Zwecks entwickelt;
sein Schwerpunkt liegt darauf, daß er Grund des kategorischen
Imperativs sein soll. Es bleibt nun seine objektive Realität zu
sichern. Das geschieht durch den Hinweis (IV, 428): „der Mensch
und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an
296 Georg Anderson,
sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für
diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf
sich selbst als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten
Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden". Oder
an andrer Stelle (IV, 429): „die vernünftige Natur existiert als
Zweck an sich selbst".
Und nun ist es möglich, den kategorischen Imperativ zu for-
mulieren, den dieses objektive Prinzip — der objektive Zweck —
begründet, „woraus als einem obersten praktischen Grunde alle
Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können". Er lautet:
„Handle so, daß du die Menschen sowohl in deiner Person als in
77 '
der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, nie-
mals bloß als Mittel brauchst". Wir erblicken den objektiven
Zweck, der diesem kategorischen Imperativ zugrunde liegt, die
Menschheit als Zweck an sich selbst, nicht etwa de facto bei allen
Menschen wirksam, kennen ihn nicht aus Erfahrung und entlehnen
ihn nicht daher. Er muß vielmehr „aus reiner Vernunft ent-
springen", und es gehört zu seinem Wesen, daß ihn alle vernünf-
tigen Wesen haben sollen, und zwar als Gesetz, das die „oberste
einschränkende Bedingung aller subjektiven Zwecke" ausmacht.
Dieser von der vernünftigen Natur sich selbst gesetzte Zweck
kann als die „Materie" des guten Willens bezeichnet werden d. h.
des Willens, dessen Maxime sich selbst nicht widerstreiten darf
und von der Erreichung dieses oder jenes Zweckes abstrahieren
muß. Er ist also kein vom Subjekt „zu bewirkender", sondern
ein „selbständiger Zweck", nur negativ zu denken, und dahin an-
zugeben, daß ihm niemals zuwidergehandelt werden darf. Das
Subjekt aller möglichen Zwecke, das vernünftige Wesen selbst, ist
demnach die einzige und allgemeinste Bedingung der Freiheit der
Handlungen ihrer Materie nach, insofern es „jederzeit zugleich
als Zweck in jedem Wollen geschätzt werden muß".
Schließlich umfaßt das „Reich der Zwecke" alle diese Subjekte
als Zwecke an sich selbst und die eignen Zwecke, die ein jedes
sich selbst setzen mag — „ein Ganzes aller Zwecke in systemati-
scher Verknüpfung" ; wobei von dem persönlichen Unterschiede
der vernünftigen Wesen und dem Inhalt ihrer Privatzwecke ab-
gesehen wird. In dieser „Ordnung der Zwecke", der wir als
Glieder angehören müssen, können wir uns durch gemeinschaftliche
objektive Gesetze verbunden d. h. unter sittlichen Gesetzen denken.
Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 297
Insoweit kann man von einer „Lehre vom objektiven Zweck"
bereits in der Grdlg. sprechen.
Wir können nunmehr zu einem Vergleich übergehen, um darauf
das Verhältnis von M. d. S. und Grdlg. zu bestimmen.
Die Anklänge bieten sich offen genug dar. In beiden Werken
liegt die grundsätzliche Unterscheidung vor zwischen subjektiven
und objektiven Zwecken ; in beiden werden die Begriffe objektiver
Zweck und praktisches Gesetz als a priori zusammengehörig vor-
gestellt, die in irgendeinem Sinne einander „korrespondieren" d. h.
sich gegenseitig fordern. In beiden ist von einem alle objektiven
Zwecke zusammenfassenden „Reich" oder „System" die Rede, das
die reine Vernunft hervorbringen muß. In der Grdlg. wie in der
M. d. S. endlich ist es die Menschheit ihrer Idee nach d. h. als ver-
nünftige Natur, die dem Willen zur Vorschrift dient.
Aber freilich: so nahe sich mitunter die beiden Werke zu
kommen scheinen, und so stark sie auf einanderhin tendieren mögen,
sie kommen nicht recht zur Deckung. Die gleichen Begriffe werden
wohl gebraucht, aber nicht in genau demselben Sinn. Und gerade
an der entscheidenden Stelle hat Kant Differenzen gelassen, ohne
selbst auf irgend welche Ausgleichungsmöglichkeiten hinzuweisen.
Da muß zunächst eine Merkwürdigkeit der Terminologie her-
vorgehoben werden, die zu Mißverständnissen Anlaß geben kann.
Der Begriff des subjektiven Zweckes ist nirgends eindeutig und
einwandfrei bestimmt. Den Angaben der Grdlg. zufolge müssen
unter subjektiven Zwecken die nicht durch die bloße Vernunft
gegebenen Zwecke verstanden werden, die nicht für alle, sondern
bloß für das einzelne Subjekt gelten, seine „Privatzwecke". Sie
„sind" nicht etwa, sondern sie „beruhen" auf Triebfedern, d.h.
subjektiven Gründen des Begehrens. Wie aber können sie dann
noch ihrem Zweckcharakter streng definitionsgemäß entsprechen
und dem Willen, der als Gesetzesvermögen charakterisiert wurde,
„zum objektiven Grunde seiner Selbstbestimmung" dienen? Ent-
weder wir müssen uns das Paradoxon gefallen lassen, daß sich
der Wille durch letztlich aus der Sinnlichkeit hergenommene
Zwecke selbst, aber heteronom zum Handeln bestimmt, und zwischen
Selbstbestimmung und Selbstgesetzgebung einen Unterschied an-
nehmen, den Kant selbst nie gemacht hat; oder feststellen, daß
Kant einen Artbegriff einführt, der zu seinem Gattungsbegriff
nicht paßt bezw. nicht streng als solcher gemeint ist. Dann aber
298 Georg Anderson,
bleibt als eigentlicher „Zweck" einzig der objektive übrig, der als
Zweck an sich selbst, weil als Subjekt aller Zwecke, existiert.
Nicht besser verhält es sich in der M. d. S. Hier erscheint
der subjektive Zweck entweder als etwas, was jeder schlechtweg
„hat", als der sinnlich bedingte Inhalt jeder empirischen Handlung
— oder andrerseits als das, was der Mensch sich nach sinnlichen
Antrieben seiner Natur erst selbst zum Zweck macht, wenn auch
die Neigungen ihn dazu verleiten. Bald sieht es aus, als reduziere
er sich auf den sinnlichen Antrieb, bald wieder als müsse er aus
einem Vermögen der Wahl entspringen. In seiner Eigenschaft
als Zweck müßte er selbstgesetzt sein vermöge eines Aktes der
Freiheit (cf. VI, 381). Dann wäre jedoch schon jede beliebige
Zwecksetzung eine sittliche Handlung, weil sie einen „kategori-
schen Imperativ" in sich schlösse (cf. VI, 385). Dann müßte auch
die freie Willkür als das Vermögen, sich für oder gegen das Ver-
nunftgesetz zu entscheiden, aufgefaßt werden (cf. VI, 226). Davon
aber will Kant nichts wissen. Er bestimmt zwar die menschliche
als freie Willkür, insofern sie von der Sinnlichkeit her „afficiert",
dabei aber durch Vernunft bestimmbar ist (cf. VI, 213/214). Er
definiert jedoch ausdrücklich die Freiheit der Willkür negativ als
„jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe",
positiv als „das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst
praktisch zu sein". Wiederum also befindet sich der Artbegriff
nicht in Übereinstimmung mit dem Gattungsbegriff ; und es ist
mit dem „Zweck überhaupt" — sogar in so wichtigen Abschnitten
wie III und IX der Einleitung zur Tugendlehre — doch nur der
„objektive Zweck" gemeint, wie sehr auch der Wortlaut z.B. in
dem Satze (VI, 385) „. . . so ist es . . . . nicht eine Wirkung der
Natur, irgendeinen Zweck der Handlungen zu haben" sich auf den
allgemeinen Zweckbegriff zu beziehen scheint.
Abgesehen von dieser Unklarheit im Zweckbegriff jedoch meinen
Grdlg. und M. d. S. unter dem „objektiven Zweck" keineswegs das
gleiche. Die Grdlg. kennt ihn lediglich als Bestimmungsgrund des
Willens. Sie benutzt das Subjekt, weil es als Selbstzweck exi-
stiert, erklärtermaßen nur als negativ- einschränkende Bedingung,
als Grund, nicht als Gegenstand eines Gesetzes ; als etwas, dem
nicht zuwidergehandelt werden darf, aber nicht als etwas, das
oder dessen Idee durch die Handlungen verwirklicht werden sollte.
Nur schüchtern deutet sich eine Erweiterung des objektiven Zweck-
begriffs an da, wo unter Ausschluß aller subjektiven die von den
Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 299
vernünftigen Wesen als solchen sich selbst gesetzten eignen Zwecke
in das „Reich der Zwecke" anfgenommen werden. Im übrigen
aber sieht die Grdlg. sogar die von der Vernunft gegebenen Zwecke,
insofern sie als mögliche Wirkung gedacht sind, für heteronom an
und will alle Objekte, die dem Willen zum Grunde gelegt werden,
um ihr die Regel vorzuschreiben, von der sittlichen Willensbestim-
mung ausschließen (cf. IV, 444). Sie sucht den Begriff des objek-
tiven Zweckes bloß formal zu verwenden, bleibt bei dem „jeder-
zeit" und „zugleich" und „niemals bloß als Mittel" stehen und
vermeidet es, die „Materie" des Willens anders denn negativ zu
bestimmen.
Nicht so die M. d. S. Sie unterscheidet klar den Willen als
G-esetzesvermögen oder die praktische Vernunft, die es mit den
Handlungen gar nicht zu tun hat, von der Willkür, dem Vermögen
zu Maximen. Und ihre objektiven Zwecke sind „Gegenstände"
für die Willkür oder genauer für die freie Willkür, Materie der
von dieser gewollten freien Handlungen, zu denen das Subjekt
kraft eines Aktes der Freiheit oder aus reiner praktischer Ver-
nunft kommt. Auf ihre Verwirklichung ist es gerade abgesehen.
„Wenn von der dem Menschen überhaupt (eigentlich der Mensch-
heit) zugehörigen Vollkommenheit gesagt wird: daß sie sich zum
Zweck zu machen an sich selbst Pflicht sei, so muß sie in dem-
jenigen gesetzt werden, was Wirkung von seiner Tat sein kann,
nicht was bloß Geschenk ist, das er der Natur verdanken muß ;
denn sonst wäre sie nicht Pflicht. Sie kann also nichts anderes
sein als Kultur seines Vermögens (oder der Naturanlage), in wel-
chem der Verstand, als Vermögen der Begriffe, mithin auch deren,
die auf Pflicht gehen, das oberste ist, zugleich aber auch seines
Willens (sittlicher Denkungsart) , aller Pflicht überhaupt ein Ge-
nüge zu tun" (VI, 386/87).
So treten sich denn Grdlg. und M. d. S. als Repräsentanten
zweier entgegengesetzter Richtungen gegenüber : der formale Aprio-
rismus der Grdlg. ist am prägnantesten ausgesprochen in dem
Satze (IV, 444) : „Es mag nun das Objekt vermittelst der Neigung,
wie beim Prinzip der eigenen Glückseligkeit, oder vermittelst der
auf Gegenstände unseres möglichen Wollens überhaupt gerichteten
Vernunft im Prinzip der Vollkommenheit den Willen bestimmen,
so bestimmt sich der Wille niemals unmittelbar selbst durch die
Vorstellung der Handlung, sondern nur durch die Triebfeder,
welche die vorausgesehene Wirkung der Handlung auf den Willen
300 Georg Anderson,
hat: ich soll etwas tun, darum weil ich etwas anderes will ..."
Der materiale Apriorismus der M. d. S. aber wird dem gegenüber
proklamiert in Worten wie (VI, 380): „Die Ethik gibt noch eine
Materie (einen Gegenstand der freien Willkür) einen Zweck der
reinen Vernunft, der zugleich als objektiv-notwendiger Zweck d. i.
für den Menschen als Pflicht vorgestellt wird, an die Hand".
Die Frage nach dem Verhältnis der M. d. S. zur Grdlg. er-
weitert sich damit ganz von selbst zu der grundsätzlichen nach
Sinn, Recht und Grenzen des Formalismus in Kants Ethik.
Vergegenwärtigen wir uns vorerst nochmals, welch eigentüm-
lich verwirrenden Eindruck der Wechsel von formaler und mate-
rialer Betrachtung hervorruft. Die Ethik tritt auf als „materiale"
Disziplin, die im Gegensatz zur Logik „es mit bestimmten Gegen-
ständen und den Gesetzen zu tun hat, denen sie unterworfen sind"
(IV, 387). Aber schon wird alle „Materie" als dem Wesen der
Sittlichkeit zuwider aus ihr entfernt.
Kaum ist nun mit Hilfe des Prinzips der Autonomie eine rein
formale Gesinnungsethik aufgerichtet, da wird die Ethik neuer-
dings im Sinne einer Tugendlehre als objektive Zwecklehre auf-
gestellt unter Berufung darauf, daß nur in solcher Gestalt innere
Gesetzgebung verbürgt werden könne (cf. VI, 239). Sie steht nun
also wieder als „materiale" Wissenschaft, diesmal an der Seite
der formalen Rechtslehre, erscheint jedoch neben dieser eigentlich
vielmehr als formal, insofern sie mit ihren „weiten" Pflichten nur
die Maxime der Zwecke gebietet, während die engen Pflichten des
Rechts auf die bestimmten Handlungen selbst gehen. Ferner: un-
terscheidet Kant in der M. d. S. zwar ausdrücklich die ethische
Pflicht einerseits, die „bloß das Förmliche der sittlichen Willens-
bestimmung" betrifft „z. B. daß die pflichtmäßige Handlung auch
aus Pflicht geschehen müsse", und andrerseits die Tugendpflicht,
die sich auf „einen gewissen Zweck (Materie, Objekt der Willkür)"
bezieht (cf. VI, 383) ; verkündet dann aber (cf. VI, 396) als höchsten
unbedingten Zweck der reinen praktischen Vernunft („der aber
immer noch Pflicht ist"), mithin als Tugendpflicht, die Forderung,
„daß die Tugend ihr eigner Zweck und bei dem Verdienst, das
sie um den Menschen hat, auch ihr eigner Lohn sei" und zählt
dann auch unter den Tugendpflichten die der „ Lauterkeit der
Pflichtgesinnung" auf, „da das Gesetz für sich allein Triebfeder
ist und die Handlungen nicht bloß pflichtmäßig, sondern auch aus
Pflicht geschehen" (cf. VI, 387 und 446).
Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 301
Nach alledem kann die M. d. S. nicht etwa mit der Feststel-
lung abgetan werden, daß sie den früher vertretenen Formalismus
leider aufgibt ; sondern es muß vielmehr gefragt werden, inwieweit
der Gegensatz von Form und Materie geeignet ist, als Gesichts-
punkt auf das eigentümliche Gebiet der Ethik angewendet zu
werden und wieweit Kant sich mit Erfolg seiner bedient hat.
Danach erst ließe sich ein Urteil über die Stellung der M. d. S. in
Kants Ethik rechtfertigen.
Der konsequente Formalismus verlegt den sittlichen Wert in
das Wie des Handelns, in die Gesinnung, die sich in der gesetz-
gebenden Form des Wollens kundgibt. Darum muß er auf spezi-
fisch sittliche Inhalte verzichten. Für ihn bleibt es unbeantwort-
bar, wie es kommt, daß diese Form des Willens materiale Inhalte
findet, mit welchen sie sich und zwar vorzugsweise verbinden kann.
Ihn kümmert nur, wie das Gesetz, das weiter nichts als diese
reine Form gebietet, auf das handelnde Subjekt Einfluß gewinnen,
wie der objektive zum subjektiven Bestimmungsgrunde werden
mag. Und dies Problem hat Kant auch ganz folgerichtig dadurch
zu lösen versucht, daß er die Achtung als ein „ durch einen Ver-
nunftbegriff selbstgewirktes Gefühl" konstruiert und durch sie das
Sittengesetz zur Tiebfeder im Subjekt werden läßt (IV, 401). Sie
ist nicht das Gefühlsmedium, vermittelst dessen das Gesetz Ein-
gang in den Willen bekommt — dann bestimmte ja das Gesetz
den Willen nicht mehr unmittelbar — , „sondern sie ist die Sitt-
lichkeit selbst, subjektiv als Triebfeder betrachtet, indem die reine
praktische Vernunft, dadurch daß sie der Selbstliebe im Gegen-
satze mit ihr alle Ansprüche abschlägt, dem Gesetze, das jetzt
allein Einfluß hat, Ansehen verschafft" (V, 76). Das ist aber auch
das Äußerste, was ein strenger Formalismus zu erreichen vermag.
Mag er damit nun alle Anforderungen einer Ethik erfüllen können
oder nicht, für ihn als Formalismus genügt in der Tat der „ein-
zige" kategorische Imperativ, den ich mir bloß zu denken brauche
um sofort zu wissen, was er enthalte: nämlich die Allgemeinheit
eines Gesetzes überhaupt und die Gemäßheit der Maxime der Hand-
lung dazu (cf. IV, 421) ; m. a. W. sein formaler Charakter ist sein
ganzer Inhalt, oder es ist kein rein formales Gesetz mehr.
Zweifellos hat Kant diesen Standpunkt intendiert, ebenso
zweifellos aber ist es ihm nicht geglückt, denselben strikte durch-
zuführen, weil er eben unmöglich die Materie als das positiv nicht
zu Bestimmende ein für alle Mal auf sich beruhen lassen konnte.
302 Georg Anderson,
Er versucht in der Grdlg. einerseits, dem „Zweck" einen formalen
Sinn abzugewinnen, andrerseits aus der Form heraus doch wieder
zur Materie zu gelangen. Indem er dem Terminus „Zweck" will-
kürlich den Sinn eines Bestimmungsgrundes für eine formale Ge-
setzgebung des Willens beilegt, indem er ein formales Gesetz will-
kürlich „ Zweck" nennt, geraten alle seine Darlegungen , die mit
Sem Zweckvorzug des vernünftigen Wesens in Zusammenhang
stehen, unvermeidlich in zweideutiges Schwanken. Er bringt es
geradezu fertig zu definieren (IV, 427): „Praktische Prinzipien
sind formal, wenn sie von allen subjektiven Zwecken abstrahieren;
sie sind aber material, wenn sie diese mithin gewisse Triebfedern
zu Grunde legen". Als wenn sich „objektive Zwecke" ohne Auf-
hebung ihres Zweckcharakters zu etwas Formalem verflüchtigen
ließen und dann doch wieder mit ihrer Hilfe materiale Inhalte zu
gewinnen wären. Als eine glatte Durchbrechung des Formalismus
ist zu bezeichnen die Art, wie beim dritten und vierten Beispiel
zur II. Formel des Sittengesetzes trotz des vorher eigens negativ-
formal interpretierten Prinzips der Menschheit als Zwecks an sich
selbst ganz unvermittelt die positiv-materialen Pflichten zur eignen
Vollkommenheit und fremden Glückseligkeit namhaft gemacht
werden. Wozu erst soviel Aufhebens von dem Formalismus, wenn
nachher die ihn begründenden begrifflichen Unterschiede doch wieder
durcheinander geworfen werden dürfen, wenn es gestattet sein
soll, das Subjekt, das nur als Zweck an sich selbst existiert,
mit dem Subjekt zu vertauschen, das zum Gegenstand des Willens
gemacht wird; und wenn jene rein negative Begrenzung beliebiger
Materie, unversehens oder bestenfalls durch die leere Ausflucht
eines gewissermaßen kontinuierlichen Übergangs, in die positive
Setzung eines bestimmten Gegenstandes als Zwecks verwandelt
werden soll. Nur „was die Art der Verbindlichkeit (nicht das Ob-
jekt ihrer Handlung) betrifft" (IV, 424) dürfen die Imperativen
der Pflicht aus ihrem „einigen" Prinzip abgeleitet werden; kurz
aus der bloßen Form des Gesetzes lassen sich inhaltlich speziali-
sierte Imperative als solche nicht entwickeln, sofern sie nicht etwa
vorher stillschweigend und unzulässigerweise schon hineingedacht
waren. Das hier vorliegende sachliche Problem konnte Kant gar-
nicht einwandfrei bewältigen, solange er den Unterschied zwischen
empirischer und rationaler Materie nicht entdeckt hatte und daher
die Eeinheit der Sittlichkeit für allein in der Form garantiert,
von der Materie als solcher her aber für bedroht ansehen mußte.
Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 303
In der M. d. S. gewahren wir denn auch nichts mehr von dieser
Unsicherheit in der Auffassung des Zweckbegriffs. Hier hält Kant
einerseits an dem sachlich berechtigten Motiv, das in den einsei-
tigen Formalismus hineingedrängt hatte, durchaus fest (VI, 376/77) :
„. . . kein moralisches Prinzip gründet sich in der Tat . . . auf
irgend ein Gefühl, sondern ist wirklich nichts anderes als dunkel-
gedachte Metaphysik, die jedem Menschen in seiner Vernunftanlage
beiwohnt . . . geht man von diesem Grundsätze ab und fängt vom
pathologischen oder dem rein- ästhetischen oder auch von dem mo-
ralischen Gefühl (dem subjektiv-praktischen statt des objektiven)
d. i. von der Materie des Willens, dem Zweck, nicht von der Form
desselben d. i. dem Gesetz an, um von da aus die Pflichten zu
bestimmen : so finden freilich keine metaphysischen Anfangsgründe
der Tugendlehre statt; denn Gefühl, wodurch es immer erregt
werden mag, ist jederzeit physisch". Andrerseits aber macht er
von der rationalen Idee der Menschheit als Zweck an sich selbst
nun offen nnd mit voller Entschiedenheit den materialen Gebrauch ;
den Mangel jener formal gemeinten II. Formel der Grdlg. heben
dabei die Worte „dabei er [der Mensch] doch gegen sie [die an-
deren und sich selbst] auch indifferent sein kann" deutlich hervor
(VI, 395). Er setzt an die Stelle des Subjekts, dem niemals zu-
widergehandelt werden darf, positiv das Subjekt, dessen Kultur
nach allen Richtungen hin befördert werden soll. So kommt er
zu all den Zwecken, die a priori von der reinen praktischen Ver-
nunft gegeben sein müssen. Diese aber gibt ihre Inhalte nicht
anders denn in der Form der Pflicht. Damit erst ist das Ver-
hältnis von Pflicht und Zweck, Form und Materie, prinzipiell und
endgiltig ins reine gebracht; und es entfällt nun wirklich alle
Versuchung, die einzelnen Pflichtgebote ihrem Inhalt nach offen
oder versteckt aus dem formalen Sittengesetz herleiten zu wollen.
So wird z. B. der kategorische Imperativ der Tugendlehre neu
und selbständig aus der reinen praktischen Vernunft deduziert;
und auch all die anderen Imperative, auf die die Rechts- und Tu-
gendpflichten gebracht werden, folgen nicht aus dem obersten
Grundsatze der allgemeinen Sittenlehre, wie man wohl ursprüng-
lich vermuten sollte, sondern lassen sich unter jenen nur sub-
sumieren, sofern er „überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit
sei" (VI, 225) und lediglich eine conditio sine qua non bedeutet.
Aus dem Begriff des kategorischen Imperativs geht weder das
System der Metaphysik der Sitten hervor, noch das der ethisch-
304 Georg Anderson,
praktischen Vernunft. Die Ethik wird vielmehr als Zwecklehre
nach dem schematischen Fachwerk logischer Distinktionen und
Gruppierungsgesichtspunkte hingestellt. Wenn aber wirklich der
Akt der Zwecksetzung den Pflichtbegriff mit dem eines Zweckes
überhaupt verbindet, dann muß man wenigstens von dem einen
aus auf den andern hingelangen können. Und in der Tat beschreibt
Kant dies Verhältnis von Pflicht und Zweck folgendermaßen (VI,
382): „man kann sich das Verhältnis des Zwecks zur Pflicht auf
zweierlei Art denken: entweder von dem Zwecke ausgehend die
Maxime der pflichtmäßigen Handlungen, oder umgekehrt, von dieser
anhebend, den Zweck ausfindig zu machen, der zugleich Pflicht
ist Die Ethik aber . . . kann nicht von den Zwecken aus-
gehen, die der Mensch sich setzen mag, und danach über seine zu
nehmenden Maximen, d. i. über seine Pflicht verfügen ; denn das
wären empirische Gründe der Maximen, die keinen Pflichtbegriff
abgeben, als welcher (das kategorische Sollen) in der reinen Ver-
nunft allein seine Wurzel hat; wie denn auch, wenn die Maximen
nach jenen Zwecken (welche alle selbstsüchtig sind) genommen
werden sollten, vom Pflichtgefühl eigentlich garnicht die Rede
sein könnte. — Also wird in der Ethik der Pflichtbegriff auf
Zwecke leiten und die Maximen in Ansehung der Zwecke, die wir
uns setzen sollen nach moralischen Grundsätzen begründen müssen".
Von „Ableitung" aus dem Pflichtbegriff ist in diesen vorsichtigen
Wendungen nicht die Rede; wohl aber ist dieser das negative
Kriterium der Unterscheidung der rationalen von der empirischen
„Materie". Nur was Pflicht sein kann, was in die Form des
Pflichtbegriffs eingeht, kann als objektiver Zweck gelten, der
Pflichtbegriff daher auf diese Zwecke hinleiten.
Unser Vergleich von Grdlg. und M. d. S. zeigt wohl deutlich
genug, daß der Formalismus, weil zur Lösung aller den Ethiker
beschäftigenden Aufgaben unzulänglich, Kant unmöglich genügen
konnte. Man mag beliebige Handlungen auf ihre Maxime bringen
und diese sodann auf ihre Tauglichkeit zum allgemeinen Gesetz
prüfen, tatsächlich wird die Widerspruchslosigkeit des Wollens in
ihr ja garnicht an ihrer reinen Form, allein für sich betrachtet,
sondern doch immer im Hinblick auf die in ihr gewollten Inhalte
erkannt. Diese müssen so beschaffen sein, daß sie sich mit der
gesetzgebenden Form überhaupt vertragen; auf sie kommt es also
mindestens ebenso an wie auf diese. Und weiter: niemals ist die
gesetzgebende Form, weil sie eben nur eine conditio sine qua non,
Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 305
ein negatives Kriterium ist, die schlechthinnige Garantie für den
sittlichen Charakter des Wollens, wie die Rechtspflichten beweisen
und z. B. auch der Vorsatz , aus Klugheit wahrhaftig zu sein.
Zwar ist in diesem letzteren das Wollen völlig widerspruchsfrei
der Form nach, sodaß ich meine Maxime als allgemeines G-esetz
wollen kann; und dennoch erkenne ich dieses Wollen als nicht-
sittlich daran, daß hier ein beliebiger Zweck zwar in der Form
der Pflicht, der Zweck hingegen, der seinem Begriffe nach Pflicht
ist, zwar gewollt, aber nicht als Zweck, wie ihm zukommt, son-
dern nur als Mittel gewollt wird. Der Zweck selber also, der
seinem Wesen nach um seiner selbst willen gesetzt zu werden
verlangt, gibt uns hier erst die letzte Gewähr für die Sittlichkeit
unseres Wollens. Und vollends, wenn wirklich dem handelnden
Subjekt in der Ethik bestimmte sittliche Werte vorgestellt und
als Normen vorgeschrieben werden sollen, so gilt es nicht, Form
und Materie wie zwei feindliche Prinzipien auseinander zu reißen,
sondern zu der Synthese von beiden zu gelangen, welche allein
dem Sinn dieser Begriffe entspricht. Dieses aber ist die eigen-
tümliche systematische Leistung eben der M. d. S. Das muß ge-
würdigt werden und ist höher zu veranschlagen als die Tatsache,
daß sie sich mit den formalistischen Aufstellungen in Grdlg. und
Kr. d. pr. V. nicht deckt.
Als das Form und Materie vereinigende höhere Prinzip dient
hier die reine praktische Vernunft, zur Bewerkstelligung der Syn-
these selbst aber der Begriff des objektiven Zwecks, den sie so-
wohl aufstellt als realisiert. Denn dieser Begriff bedeutet einen
von der bloßen Vernunft aufgegebenen Zweck, der seinem Begriffe
zufolge nur durch die zum allgemeinen Gesetz taugliche Maxime
vom handelnden Subjekt sich selbst unmittelbar und autonom ge-
setzt werden kann. Andernfalls er weder Zweck, noch von der
Vernunft gegeben, noch Pflicht wäre. In dem Begriffe dieses
Zweckes, der an sich selbst d. h. seinem Begriffe nach Pflicht ist,
ist das Autonomie-Prinzip schon mitgedacht. Zwecksetzung und
Selbstgesetzgebung sind identisch geworden. Der Inhalt involviert
also die Qualifikation der zugehörigen Maxime zum Gesetz. In
dieser Zwecksetzung verschmäht die reine praktische Vernunft
alle Vermittlung der Neigungen und gibt der Willkür mit dem
Gegenstande zugleich ein allgemeines praktisches Gesetz. Der
oberste Grundsatz aber der Tugendlehre könnte, da Zweck und
Maxime sich wechselseitig in dieser Weise fordern, auch formuliert
Kantstudien. XXVI. 20
306 Georg Anderson,
werden: setze dir die Zwecke, die an sich Pflicht sind. Form
bleibt auch jetzt Form , Materie Materie. Aber es wäre sinnlos,
-noch an Verletzung des formalen Sittlichkeitsprinzips zu denken.
Wir sind hinter die Gegensätze von Materie und Form, Zweck
und Pflicht, mittelbarer und unmittelbarer Willensbestimmung zu-
rückgegangen, dahin, von wo aus die sittliche Gesinnung und der
Inhalt des Handelns zugleich und gleicherweise autonom bestimmt
werden. Die Sittlichkeit in ihrer Reinheit ist nun gesichert, wenn
nur die reine Vernunft praktisch ist. Mag sie die Gesinnung vor-
schreiben, aus der heraus allein Zwecke gesetzt werden sollen,
oder die Zwecke, die allein in solcher Gesinnung gesetzt werden
können. Sie garantiert die Untrennbarkeit von solcher Materie
und solcher Form.
Die Ethik ist aber demgemäß sowohl Pflichten- als Zwecklehre.
Sie gibt formal an, wie gewollt werden soll, und material, was
gewollt werden soll; die Maxime, nach der, und die rationalen
Inhalte, die allein in ihr gewollt werden dürfen. Sie hat eine
formale und materiale Betrachtung, die sich beide nicht ausschließen,
sondern gegenseitig auf einander beziehen und ergänzen müssen;
und es ist für sie kein Rätsel mehr, woher die Inhalte kommen
können, die dem seiner Form nach als widerspruchsfrei und all-
gemein gesetzgebend bestimmten Willen als Gegenstände vorge-
stellt werden. Verliert damit der Gegensatz von Form und Ma-
terie seine konstitutive Bedeutung für die Ethik, so kann man
urteilen, daß die M. d. S. zu ihren Vorgängern eine sachlich not-
wendige Ergänzung bringt und Ansätzen, die aus dem Wesen der
Sache heraus bereits in jenen verstohlen und tastend gemacht
wurden, zu der ihnen zukommenden Beachtung verhilft. So be-
trachtet aber, läßt sich das Alterswerk mit jenen anderen, die
auch nicht als fertig und in jeder Hinsicht abgeschlossen gelten
dürfen, letztlich zu einem einheitlichen Gesamtbilde zusammen-
schließen. Ja wir stehen nicht an , von einer Entwicklung der
Kantischen Ethik auch innerhalb der kritischen Epoche zu sprechen,
und wollen uns eines Satzes erinnern, der sich bereits in der Kr.
d. r. V. findet (III, 520): „Dagegen würden reine praktische Ge-
setze, deren Zweck durch die Vernunft völlig a priori gegeben
ist und die nicht empirisch-bedingt, sondern schlechthin gebieten,
Produkte der reinen Vernunft sein. Dergleichen aber sind die
moralischen Gesetze, mithin gehören diese allein zum praktischen
Gebrauche der reinen Vernunft und erlauben einen Kanon".
Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Pormalismus d. krit. Ethik. 307
An der Lehre vom objektiven Zweck sei nur noch eine Kon-
sequenz hervorgehoben, die sie letzten Endes in sich birgt: es
gibt spezifisch-sittliche Inhalte; und sie erfordern die ganz beson-
ders darauf eingestellte Aufmerksamkeit des philosophischen Ethi-
kers. Es geht nicht an, das Wesen des Sittlichen in einem Außer-
sittlichen zu , suchen wie in dem logischen Kriterium der Wider-
spruchslosigkeit des Willens. Die gesetzgebende Form der Maxime
kann nicht der Grund dafür sein, daß Inhalte wie Treue oder
Wahrhaftigkeit als „sittlich" bezeichnet werden müssen. Umge-
kehrt : die zum Gesetz taugliche Maxime muß mit jenen „Zwecken"
verbunden werden, weil sie sittlich sind. Die Herkunft solcher
„Materie" aus der reinen praktischen Vernunft mag allenfalls aus
dieser Form der Maxime erschließbar und beweisbar sein; sie ist,
wie gesagt, eine conditio sine qua non, aber nicht positiv das
Wesensprinzip des Sittlichen. Jedenfalls deutet die M. d. S. mit
ihrer Lehre vom objektiven Zweck hin auf Fragestellungen der
Phänomenologie. Es muß innerhalb der Ethik als Ganzem eine
Disziplin geben, die die spezifisch-sittlichen Gehalte in einer eigens
darauf gerichteten Besinnung erfaßt und hinstellt, und eine andere,
welche auf Grund jener Einsichten Normen für das sittliche Urteil
und Verhalten ausspricht. Eine Kritik der Kantischen Ethik aber
hätte sich keineswegs bloß mit dem Formalismus auseinanderzu-
setzen, sondern auch zu erwägen, ob Kant die „Materie" in der
M. d. S. ausreichend charakterisiert hat, ob es z. B. genügt, nach
dem Leitfaden des rationalen Begriffs der Menschheit „Zwecke"
der reinen praktischen Vernunft zu bestimmen.
Ist sonach die eingangs gestellte Frage im Wesentlichen be-
antwortet, so bleibt diese Lehre vom objektiven Zweck doch zu
ergänzen durch eine kurze Betrachtung der mehrfach gelegentlich
gestreiften Lehre vom kategorischen Imperativ, die mit ihr zu-
gleich in der M. d. S. eine Erweiterung erfährt. Grdlg. und Kr.
d. pr. V. haben einzig und allein die Begründung der reinen Ethik
im spezifischen Sinne im Auge. Wenigstens ist in ihnen — so all-
gemein sie sich auch als Wissenschaft von den Freiheitsgesetzen
auszugeben scheinen — , von äußerer Freiheit, ihren Gesetzen und
juridischer Gesetzgebung wie in der M. d. S. nie die Rede. Ihren
Pflichtimperativ entwickeln sie, wie immer er schließlich auch for-
muliert werden mag, durchaus im Hinblick auf die eigentliche
Ethik und zwar im Sinne des Formalismus, mit dem die Autonomie
20*
308 Georg Anderson,
hier als unzertrennlich vorgestellt wird, d. h. als Ausdruck für die
bloße Form des sittlichen Wollens oder der Moralität. So ver-
schieden die mannigfachen Formulierungen des kategorischen
Imperativs, um die sich die Grdlg. so eifrig bemüht, zunächst
vielleicht anmuten mögen, sie alle sollen nichts anderes darstellen,
als Variationen ein- und desselben Gedankens. Sie sollen sämtlich
nur das Sittlichkeitsprinzip, die Autonomie, von den verschiedensten
Seiten her beleuchten und erfassen und das Sittengesetz der An-
schauung und dem Gefühl näher bringen, im Interesse seiner Ver-
wirklichung. Die „ethische Gesetzgebung", um die es sich hier
also handelt, besteht aus dem einen Pflichtprinzip, aus welchem
alle speziellen Pflichten, „was die Art der Verbindlichkeit betrifft"
(IV, 424) vollständig aufgestellt werden, und mehr noch : sogar in-
haltlich entwickelt werden müßten, wenn es nur ohne „Materie"
ginge, und wenn sich diese aus der Form hervorzaubern ließe ; —
denn auch die hypothetischen Imperative lassen sich doch, „was
die Art der Verbindlichkeit betrifft" sämtlich aus dem einen
Prinzip: wer einen Zweck will, muß auch die Mittel wollen, auf-
stellen, obzwar sie nicht inhaltlich daraus ableitbar sind.
Indem Kant dagegen in der M. d. S. die ganze praktische Ge-
setzgebung, das System der äußeren wie inneren Freiheitsgesetze
zum Gegenstande macht, indem er außerdem den Zweck als Materie
in die ethisch-praktische Gesetzgebung aufnimmt, bedarf er einer
Mehrzahl verschiedenartiger kategorischer Imperative, sogar inner-
halb der Ethik ; diese aber stehen nicht mehr im Verhältnis der
Ableitbarkeit auseinander, sondern nur im logischen Verhältnis der
Über- und Unterordnung, also des Allgemeinen zum Besonderen.
Der fruchtbare Begriff des kategorischen Imperativs überhaupt ist
damit nicht aufgegeben; er steht mit dem Formalismus und fällt
mit ihm ebensowenig wie der Autonomiegedanke. Er verträgt sich
nicht nur mit dem Begriff der objektiven Zwecksetzung, sondern
ist mit ihm a priori gesetzt und einerlei. Er bleibt wie bisher
die ratio cognoscendi unserer Freiheit, das Wahrzeichen der Au-
tonomie, die Form für die Freiheitsgesetze und verstattet keinen
Beweis, sondern muß aus der reinen praktischen Vernunft dedu-
ziert werden. Die reine praktische Vernunft aber läßt kategorische
Imperative zu, soviel als sie verschieden geartete Pflichten gebietet.
So entspricht denn dem Gattungsbegriff der Pflicht überhaupt
jener „oberste Grandsatz der Sittenlehre", sodann aber sind den
Hauptarten, den Rechts- und Tugendpflichten ihre besonderen For-
Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 309
mein zugeordnet und deren Unterarten wiederum, wobei nicht
selten an die Imperative der Wolffschen Schule erinnert wird.
Im Besonderen bestätigt der Vergleich diese allgemeine Dar-
legung. Der oberste Grundsatz der Sittenlehre „Handle so, daß
die Maxime deiner Handlung ein allgemeines Gesetz werden könne"
(M. d. S. VI, 389) deckt sich zwar mit dem „Grundgesetz der
reinen praktischen Vernunft" : „Handle so, daß die Maxime deines
Willens jeder Zeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetz-
gebung gelten könne" (Kr. d. pr. V., V, 30). Beide sprechen ledig-
lich die Qualifikation der Maxime zum Gresetz in allgemeinster
Form aus und enthalten eine rein formale Bedingung, „das for-
male Prinzip der Pflicht" (IV, 389). Mehr aber besagt die Formel
der Grdlg. (IV, 421): „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch
die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz
werde" oder: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung
durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte".
Sie ist spezieller, insofern sie das Gesetz als an den eignen Willen
gerichtet zeigt. Jene begreifen unter sich alle Pflichten, auch die
Rechtspflichten; diese nur die „ethischen Pflichten". Die Grdlg. also
formuliert allein das allgemeinste Gesetz der „inneren Gesetzgebung".
Denn ob ich meine Maxime zum allgemeinen praktischen Ge-
setz erhebe oder mir ein solches zur Maxime mache, beide Male
fällt durch meinen Willen das objektive Gesetz mit dem subjek-
tiven Grundsatz und, wenn ich entsprechend handle, der objektive
Bestimmungsgrund mit dem subjektiven des Willens zusammen.
Indem ich mich an die gesetzgebende Form der Maxime binde,
wird das Gesetz oder die Idee der Pflicht Triebfeder, ich handle
aus Pflicht, und die Handlung bekommt Moralität anstatt Legalität.
Der kategorische Imperativ der Grdlg. ist also genau die Formel
für das, was die M. d. S. „ethische Pflicht" nennt und als
das „Förmliche der sittlichen Willensbestimmung" von der „mate-
rialen" Tugendpflicht unterscheidet. Die ethische Pflicht ist in
der Tat die Forderung der reinen .Tugendgesinnung und macht
die formale Bedingung alles ethischen Verhaltens überhaupt aus.
Als solche muß sie denn auch in allen Tugendhandlungen mitver-
wirklicht, in allen wie immer inhaltlich bestimmten Tugendpflichten
eo ipso mitgedacht sein, deren sittlichen Charakter mitkonstituie-
rend. Denn alle die Zwecke, die zugleich Pflichten sind, müssen
um ihrer selbst willen gewollt werden; oder mit anderen Worten
sie sind als Pflichten Zwecke und als Gesetze Triebfedern.
310 Georg Anderson,
Betrachtet man jedoch die reine Tugendgesinnung nicht bloß
formal, sondern auch material, so gehört sie zum Inhalt des ob-
jektiven Zwecks der Vollkommenheit und kann als Tugendpflicht
der Lauterkeit, die man in sich festigen und kultivieren müsse,
geboten werden. Die „ethische Pflicht" ist mithin eine einzige und
die Tugendpflichten allein ermöglichen die Einteilung der Ethik.
Die Lehre der Grdlg. vom kategorischen Imperativ ist in der M. d. S.
ihres ausschließlich formalen Charakters entkleidet; ihr Pflicht-
prinzip ist als das formale Grundgesetz der ethischen inneren
Gesetzgebung bestehen geblieben und wird durch die materialen
Sittengesetze zu dem System der inneren Freiheitsgesetze ergänzt.
Abschließend kommen wir zu folgendem Ergebnis : es ist zwar
befremdlich, daß Kant bei der Umbildung seiner Gedanken sich
nicht selbst mit seinem früheren Standpunkt ausdrücklich ausein-
andersetzt und den Schritt vom formalen zum materialen A priori
nicht ganz unmißverständlich präzisiert. Die Erkenntnis der hier
aufgedeckten Gedankenentwickelung kann daher nicht wie eine
reife Frucht vom Baum gepflückt werden, sondern liegt sogar
eigentümlich versteckt in schwerfälligen Perioden, in Abschnitten,
die durch ihre unfertige Komposition und unübersichtliche Anord-
nung nicht wenig verwirren. Wer dieses durchaus nicht lichtvolle
Alterswerk -erstmalig oder nur flüchtig betrachtet, mag wohl
zweifeln, ob es wirklich von demselben Kant verfaßt sei, den er
aus Grdlg. und Kr. d. pr. V. zu kennen glaubt; und nichts wäre
leichter, als auf einzelnen ihm entnommenen Sätzen fußend, seine
Unvereinbarkeit mit der „kritischen" Ethik zu behaupten. Trotz
alledem konnten wir zeigen, daß diese Umbildung der Ge-
danken eine im Wesen des Gegenstandsgebietes gegründete Not-
wendigkeit war. Diese liegt einmal in der aus dem formalen
praktischen Prinzip der reinen Vernunft „nach welchem die bloße
Form einer durch unsere Maximen möglichen allgemeinen Gesetz-
gebung den obersten und unmittelbaren , Bestimmungsgrund des
Willens ausmachen muß" (V, 41) — gar nicht zu bewerkstelligenden
Aufgabe einer Ethik als spezialisierten Pflichtenlehre. Und sie
liegt zweitens in der Forderung, gegenüber der Rechtslehre, die
nur äußerer Gesetze fähig ist, eine innere Gesetzgebung zu ermög-
lichen, welches geschieht allein durch Gesetze an die Maximen, die
sich auf irgend welche materialen Inhalte müssen richten können.
Wer jedoch in dieser Wendung zur apriorischen Materie einen
Rückschritt erblicken wollte, der hätte die Überlegenheit des
Die „Materie" in Kants Tugendlehre u. d. Formalismus d. krit. Ethik. 311
konsequenten Formalismus — der inkonsequente kann auf unser
Interesse keinen Anspruch machen — zur Bewältigung der den
Ethiker angehenden Probleme überzeugend darzutun.
Die Meinung endlich, Kants Ethik sei ein fertiges Gebilde,
durch ein Kennwort z. B. „Formalismus" hinreichend zu charak-
terisieren und etwa aus der Grdlg. bereits deutlich zu erkennen,
wäre entschieden abzulehnen. Kants Ethik ist ganz im Gregenteil
ein Ringen von verschiedenen Tendenzen und mit recht verschie-
denen Problemen, das in den uns vorliegenden drei Hauptwerken
noch nicht zu völlig abschließender Klarheit gediehen ist. Sonst
hätten die Ergebnisse müheloser ausgesprochen, und untereinander
in ein deutlicheres Verhältnis gesetzt werden können. Ein zu-
treffendes Bild von dieser Ethik Kants als G-anzem, derart, daß
Verschiedenartiges weder mit gar zu großer Selbstverständlichkeit
einander zugesellt noch mit überrascher Energie beiseitegesetzt
ist , läßt sich nur gewinnen , wenn man diese drei Werke ver-
gleicht und dann nicht gegeneinander ausspielt, sondern aus ihnen
gemeinsam die Summe zieht, wobei darauf Wert zu legen ist, daß
jede dieser Hauptschriften ihre spezielle Aufgabe lösen will. Die
Grdlg. „ist . . . nichts mehr als die Aufsuchung und Festsetzung
des obersten Prinzips der Moralität, welche allein ein in seiner
Absicht ganzes und von aller anderen sittlichen Untersuchung ab-
zusonderndes Geschäft ausmacht" (IV, 392). Die Kr. d. pr.V. „soll
bloß dartun, daß es eine reine praktische Vernunft gebe, und
kritisiert in dieser Absicht ihr ganzes praktisches Vermögen"
(V, 3). Das führt sie zu näherem Eingehen auf die Idee der
Freiheit und den Zusammenhang von Moral, Religion und spekula-
tiver Metaphysik, wobei sie hinsichtlich der spezifisch-ethischen
Fragen zu der Grdlg. kaum etwas wesentlich Neues hinzu-
bringt. Die M. d. S. endlich besorgt das doktrinale Geschäft, dem
die Vorläufer propädeutisch die Bahn frei machen sollen, und
strebt zu dem System, nicht nur, indem sie dessen äußerlich-
schematisches Gefüge hinstellt und ausfüllt, sondern auch von innen
her ; nicht mehr unter dem allzustarken Zwang von Gesichtspunkten,
die anderswoher stammen, sondern organisch, wie es die Eigenart
ihres Gegenstandsgebietes nahelegt.
Der „Alte Kant" aber ist zu würdigen nicht allein nach dem,
was er zu voller Klarheit zu erheben vermocht hat, sondern nicht
minder nach den Richtungen, in die seine Gedanken weisen.
Psychologische Momente in der Ableitung
des Apriori bei Kant.
Versuch einer Versöhnung von Transzendentalismus und kritischem
Psychologismus.
Von Dr. Constanze Friedmann.
Einleitung.
Zwischen Kant selbst und den Darstellungen der Kantischen
Philosophie, den Kommentatoren Kants, scheint eine Lücke zu
klaffen, ein ungelöster Rest zurückzubleiben, der wohl daher
rühren mag, daß strenge Kantianer wie der vorbildliche Kant-
Interpret Kuno Fischer und die sogenannten Neu-Kantianer Cohen,
Natorp und Andere nicht ganz dem großen Genius Kants ge-
recht werden, indem sie das Kantische System nur von einem
Gesichtspunkt aus darstellen (allerdings von dem, von Kant
selbst an vielen Stellen ausdrücklich hervorgehobenen), während sie
die vielen Strömungen, die daneben herlaufen und sich schließlich
mit dem Hauptstrom vereinigen, als „unkantisch" außer Acht
lassen. Dadurch werden aber zwei Richtungen der Philosophie,
die beide von Kant ihren Ausgangspunkt nehmen, in einen schroffen
Gegensatz gebracht; dieser kann vielleicht überwunden werden
durch Berücksichtigung der verschiedenen Strömungen des Kanti-
schen Systems sowie der historischen Bedingtheit desselben, aus der
Kants Gedankengänge wohl befreit werden müssen, wenn es sich
darum handelt, das noch für unsere Zeit Fruchtbare seiner Philosophie
auf uns wirken zu lassen. Die ganze neuere nachkantische Philo-
sophie läßt sich in zwei Gruppen bringen — bei aller Verschieden-
heit der Systeme, die dann zu einer Gruppe vereinigt werden
müssen, — wenn man die Bedeutung, die die verschiedenen Systeme
dem Entwicklungsprinzip bei Bestimmung des Apriori zumessen,
zum Einteilungsgrund wählt. Es sind dann bei dieser Gruppierung
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 313
Namen und Systeme, die in den Darstellungen der G-eschichte der
Philosophie immer zusammen genannt zu werden pflegen, auf die
beiden Gruppen verteilt und andererseits Systeme in einer Gruppe
vereinigt, die auf den ersten Blick sehr divergent erscheinen. —
Die Berechtigung der hier vollzogenen Gruppierung wird sich aus
der Darstellung selbst ergeben.
Ich fasse also die transzendental - idealistischen Philosophien
auf der einen Seite zusammen und stelle ihnen gegenüber die
kritisch-psychologistischen Systeme. I. Für die Transzendentalisten
ist charakteristisch, daß sie ein ewiges, unwandelbares, in un-
serer Vernunft begründetes und letzten Endes immer auf Trans-
szendenz hinweisendes Apriori als Voraussetzung unserer wissen-
schaftlichen Erfahrung annehmen, das nicht „geworden" ist, sich
im Lauf der Zeit nicht entwickelt haben kann. Sie lehnen daher
das Entwicklungsprinzip zur Aufdeckung des Apriori ab, da dieses
schon eine Reihe anderer logischer Voraussetzungen in sich trage.
Die Vertreter dieser philosophischen Systeme, für die die Namen
Cohen, Natorp, Windelband *), in verwandtem Sinne Sickert kenn-
zeichnend sind, beanspruchen allein in strengem Sinne „Kantianer"
zu sein und berufen sich vor allem in Hinblick auf die Methode
auf Kant, der ja bekanntlich das methodologische Problem in den
Vordergrund seiner Philosophie gerückt hat : „Sie (die reine speku-
lative Vernunft) ist ein Traktat von der Methode, nicht ein Sy-
stem der Wissenschaften selbst" 2). Die kritische Methode , bei
der es sich, wie Windelband ausdrücklich hervorhebt, „um Be-
gründung, nicht um Ursprung der Vorstellungen, um einen neuen
Begriff von Apriorität, nicht um psychologische Priorität handle" 3),
ist bei Kant in der Einleitung zur 2. Ausgabe der Kr. d. r. V.
scharf charakterisiert in der Fragestellung: „Wie sind synthe-
tische Urteile a priori möglich", die spezifiziert wird in die
Fragen: „wie ist reine Mathematik möglich, wie ist reine Natur-
wissenschaft möglich?" „Von diesen Wissenschaften, da sie wirk-
lich gegeben sind, läßt sich nun wohl geziemend fragen, wie sie
möglich sind; denn daß sie möglich sein müssen, wird durch
1) Windelbands Standpunkt unterscheidet sich darin von dem der Neukan-
tianer, daß er von einem System notwendig geltender Werte aus (des Wahren,
Guten, Schönen) die logisch notwendigen Voraussetzungen dieser Werte auf-
decken will.
2) Vorr. z. Kr. d. r. V. 2. Ausg. G. Reimer, Berlin 1904.
3) Windelband: Präl. 2. Ausg. S. 320.
314 Constanze Friedmann,
ihre Wirklichkeit bewiesen." *) — Die Transzendentalsten wollen
also aus dem logisch -objektiven Begriff der Erfahrung heraus —
wobei für „Erfahrung" allgemeine und notwendige Erkenntnis zu
setzen ist — durch die Frage nach den Bedingungen ihrer Möglich-
keit, also der Möglichkeit der Mathematik und Naturwissenschaft,
die notwendigen Voraussetzungen, das transzendentale Apriori,
aufdecken, wobei dieses dann rückläufig die Geltung der tatsächlich
existierenden Wissenschaften begründen soll. — II. Der kritische
Psychologismus nimmt an, daß das Apriori — das sind hier sowohl
die Voraussetzungen unserer gewöhnlichen Wahnehmungen und
Vorstellungen wie auch die unserer wissenschaftlichen Erfahrungen —
„geworden" sei, sich in einem Ausleseprozeß gemäß dem Prinzip
der Lebenserhaltung, als unsere psycho -physische Organisation
herausgebildet habe, auf der #ann die wissenschaftlichen Voraus-
setzungen beruhen, die sich ihrerseits wieder durch dauernde An-
passung der Gedanken an die Tatsachen, durch Aufhebung von
Widersprüchen (Vitaldifferenzen) infolge des allem Organischen
wesentlichen Okonomieprinzips weiter entwickeln. Laas prägt für
diese Auffassung, daß alle Wahrnehmungen und Vorstellungen keine
„Wesen an sich" seien, sondern nur für uns gelten, da sie sich
eben auf unsere psycho - physische Organisation beziehen, den Be-
griff des Korrelativismus. „Objekte sind unmittelbar nur bekannt
als Gegenstände, Inhalte eines Bewußtseins, cui objecta sunt, und
Inhalte nur als Beziehungszentren, als der Schauplatz oder die
Unterlage von Wahrnehmungs-(Vorstellungs-)Inhalten, quibus sub-
jecta sunt; die uns unmittelbar gekannten Objekte und Subjekte
sind keine , Wesen an sich', sie beide existieren nur miteinander,
sie entstehen und bestehen miteinander, sind aneinander gebunden" 2).
Und sehr klar präzisiert Simmel den Gedanken, daß unsere Er-
kenntnisbegriffe, die unsere wissenschaftliche Erfahrung gewähr-
leisten, selbst in dauernder Entwicklung sich befinden: „Mögen in
jedem Augenblick auch apriorische Normen die Erfahrung beherr-
schen, warum sollen nicht auch sie, die doch unsere Naturerklärung
bildend, von der anderen Seite gesehen, selbst natürliche Wirklich-
keiten sind, eine Entwicklung zeigen, deren kontinuierlicher Fluß
sie in keinem Augenblick zu einem systematischen Abschluß kommen
läßt?"3) — Die Resultate unserer wissenschaftlichen Erfahrungen
1) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 40.
2) Laas: Idealismus u. Positivismus. I. Bd. S. 282.
3) Simmel : Kant. S. 23.
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 315
werden aber in dem Maße, in dem die Erkenntnisbegriffe bewußt zu
Werkzeugen der Forschung werden, allmählich immer unabhängiger
von unserer psycho - physischen Organisation dadurch, daß die Er-
kenntnisbegriffe im Laufe der Entwicklung der Wissenschaften unter
dem Zwang des Ökonomieprinzips einer immer weitergehenden Reini-
gung und Säuberung von den ihnen ursprünglich stark inhärierenden
anthropopathischen Elementen unterzogen werden *) 2). — Nach dem
hier zur Charakterisierung gewählten Einteilungsprinzip können also
unter die Gruppe der kritisch-psychologistischen Philosophien fol-
gende Systeme zusammengefaßt werden: der Empiriokritizismus
(Avenarius, Mach) der neuere Positivismus (Laas, Jodl) und die
unter den Begriff Transzendentalpsychologismus zusammenzufassende
Auffassung und Weiterbildung der Kantischen Philosophie im Sinne
von Fries, Bona Meyer, Fr. A. Lange, Otto Liebmann. — Der
Charakterisierung des Apriori entspricht bei dieser Gruppe auch
die Art seiner Aufdeckung. Sie bedient dich der sogenannten psy-
chogenetischen Methode, die mit Hilfe der Psychologie das in der
Erfahrung Gegebene in letzte Elemente, Empfindungen — die nur
Abstraktionen darstellen — analysiert und wissenschaftliche Er-
fahrung aus diesen dann aufbaut, vermittelst der Gesetze der As-
soziation, des Interesses, der Hemmung, der Abstraktion, die mit
dem Ökonomieprinzip auf das tiefer liegende Gresetz der Lebens-
erhaltung zurückweisen. In den Dienst der Psychologie tritt dann
auch Ethnologie und Biologie. — Laas hat diese Methode der
transzendentalen gegenübergestellt: „Die psych ogenetische Methode
begnügt sich nicht damit bei den verschiedenen Prinzipien und
Axiomen deren tatsächliches Gelten zu statuieren, sondern hierüber
hinaus forscht sie nach der Grenese jenes Greltens". Mit dieser
Fassung der psychogenetischen Methode deckt sich aber auch
teilweise die Absicht von Fr. A. Lange und seinen Anhängern,
die das Entstehen des transzendentalen Apriori aufzeigen wollen.
Daher ich den Transzendentalpsychologismus in diese evolutioni-
stisch orientierte Gruppe miteinbegreife. — Gegen den Vorwurf
von Windelband, daß die Einbeziehung des Apriori in die psycho-
gen etische Untersuchung „den hoffnungslosen Versuch darstelle,
durch eine empirische Theorie dasjenige zu begründen, was selbst
1) Vergl. hierzu Mach: Erkenntnis u. Irrtum. S. 147.
2) Avenarius: Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des
kleinsten Kraftmaßes. S. 37.
316 Constanze Friedmann,
die Voraussetzung jeder Theorie bildet" *) muß geltend gemacht
werden, daß ebenso wie der Logiker sich keines Widerspruchs
schuldig macht, wenn er die logischen Gesetze seinen logischen
Untersuchungen zugrunde legt, so auch der Erkenntnistheoretiker
die Berechtigung besitzt, mittelst der Prinzipien und Axiome, die
er bei anderen voraussetzen und selbst anwenden muß, deren Ent-
steh e n in Kulturgeschichte und Psychologie nachzuweisen. — Es ist
interessant zu beobachten, daß, wenn Kant als Vermittler von Dogma-
tismus (Rationalismus) und Epirismus (Sensualismus) gelten kann,
indem er die Einseitigkeiten der beiden großen Richtungen in seinem
Kritizismus überwindet, die von ihm ihren Ausgang nehmenden
Philosophien sich wieder nach diesen beiden Seiten gabeln, nur
daß beide Teile von ihm gelernt haben. Auf einer höheren Stufe
der Entwicklung kehrt hier der alte Gegensatz von Piatonismus
und Antiplatonismus wieder2).
Ich will nun in vorliegender Untersuchung an der Hand der
wesentlichsten Stellen der Kr. d. r. V., im Einzelnen an der Ab-
leitung der Anschauungsformen Raum und Zeit, der transzenden-
talen Einheit der Apperzeption, der produktiven Einbildungskraft
nnd des Schemas, weiter an der Ableitung der Kategorie der Kau-
salität und der auf ihr beruhenden zweiten Analogie der Erfahrung
nachweisen, daß Kant bei der Ableitung des Apriori nicht immer
streng an der von ihm geschaffenen kritischen Methode festhält
und daß daher der auf anderem als transzendentalem Wege ge-
fundene apriorische Faktor der Erkenntnis nicht als transzen-
dental geltend gemacht werden kann. An dieser Inkonsequenz
Kants scheinen mir zwei Faktoren in gleichem Maße schuld zu
sein und einander zu durchdringen. 1. Der, den ich als historische
Bedingtheit des Kantischen Systems bezeichnen möchte und der
darin seinen Ausdruck findet, daß Kant insofern rationalistisch
und dogmatisch bleibt, als er „den rationalistischen Ausgangs-
punkt" 3) beibehält und „die Existenz der reinen Vernunft im
weiteren Sinne, d. h. apriorischer Bestandteil des Erkennens, we-
niger ein Problem als eine Voraussetzung ist"4). 2. Wirkt das
Erlebnis, die psychologische Introspektion bei Aufdeckung des
Apriori bestimmend mit, indem Kant den Teil der Bewußtseins-
1) Windelband : Präl. 2. Ausg. S. 332.
2) Vergl. die von Laas in „Ideal, u. Pos." durchgeführten Schematisier ungen.
3) Vergl. Vaihingers Com. I. Bd. S. 6.
4) Ebenda S. 32.
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 317
phänomene, der im Erlebnis mit psychologischer Notwendigkeit
und Allgemeinheit auftritt, für das logische in der Vernunft be-
gründete Apriori, das die Bedingung notwendiger und allgemeiner
Erkenntnis bilde, ansieht. Hierzu wird er durch die rationalistisch-
dogmatische Voraussetzung der E x i s t e n z der reinen Vernunft als
eines Inventars apriorischer Formen und Kategorien verführt,
weshalb ich dieser historischen Bedingtheit des Kantischen Systems
gegenüber eine kritische Stellungsnahme für erforderlich halte. In
dieser Untersuchung soll also der Nachweis geführt werden, daß
Kant Ergebnisse, die ihm aus dem Erlebnis, aus tiefster Betrach-
tung des Aktes des Wahrnehmens und Vorstellens fließen, als Ant-
wort auf die transzendentale Fragestellung: nach der Möglichkeit
der Erfahrung, nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori,
spezifiziert: nach der Möglichkeit der reinen Mathematik und der
reinen Naturwissenschaft, benützt. Die psychologische Notwendig-
keit und Allgemeinheit, mit der im Erlebnis ein Teil desselben
ausgestattet ist, wird hier weiter zurückgeführt werden auf kinä-
sthetische Elemente, die den von Kant nicht analysierten An-
schauungsformen und Kategorien zugrundeliegen und auf die eigen-
tümliche Urerlebnis - Tatsache, daß die den Kinästhesien entstam-
menden Daten als Unmittelbarstes, als Subjekt gegenüber allem1
anderen nur Objektivem erlebt werden. So wird aus meiner Dar-
legung hervorgehen, daß in den von Kant als Bedingungen aller
Erfahrung aufgestellten reinen Anschauungsformen und Kategorien
noch anthropopathische Elemente enthalten sind und daß gerade
diese für die Aufdeckung des Apriori maßgebend waren. — Und
so wird letzten Endes die Aufdeckung des theoretischen Apriori
aus einem Erlebnis herfließen, ähnlich wie die letzte meta-
physische Verankerung des ganzen Kantischen Systems im Begriff
der transzendentalen Freiheit auf ein Erlebnis zurückgeht,
nämlich auf das erlebte Sollen, die erlebte Willens-
freiheit; nach Kants eigenen Worten ist „das moralische Gesetz
die Bedingung, unter der wir uns allererst der Freiheit bewußt
werden können". „(Das moralische Gesetz ist die ratio cognoscendi
für die Freiheit — diese die ratio essendi des moralischen Gesetzes)" 1).
Zur Vermeidung jedes Mißverständnisses will ich hier noch
ausdrücklich betonen, daß ich also nicht in das von Biebl an den
Auslegern und Kritikern Kants gerügte „psychologische Vorurteil" 2)
1) Vorr. z. Kr. d. pr. V. S. 5 Anm.
2) Riehl : Kritizismus. 2. Ausg. S. 380.
318 Constanze Friedmann,
verfalle. Es liegt mir fern zu behaupten, Kant habe durchwegs
untersucht, wie Vorstellungen psychologisch Zustandekommen, (auch
dieser Gedankengang findet sich in der „Kritik" und es wird an
entsprechender Stelle darauf verwiesen werden) er habe also „die
kritische Philosophie auf Psychologie gegründet" ; bewußt und ab-
sichtlich hat er dies natürlich nicht getan. Hier sollen nur die
Erlebnismomente aufgezeigt werden, die zu einer Verquickung von
transzendentaler mit psychologischer Methode bei Ableitung des
Apriori geführt haben.
So wird meine Darlegung des Kantischen Gedankenganges
auch den Weg zu einer Versöhnung von Transzendentalismus und
kritischem Psychologismus bahnen, indem sie zeigen wird, daß Kant
selbst neben der transzendentalen Methode immer die psychologische
benützt und daß er die Ergebnisse beider unbewußt mit einander
verquickt.
Jerusalem vertritt in seinem Werke: „Der kritische Idealis-
mus und die reine Logik" eine der meinen in den Grundzügen
verwandte Auffassung Kants, die er durch Aufzählung verschiedener
Briefstellen aus Kant zu bekräftigen unternimmt. So sucht er
nachzuweisen, daß dieser „die introspektive Arbeit geleistet hat . . .
durch ein Versenken in die eigene Tätigkeit einsehen zu lernen,
wie unser Verstand tatsächlich vorgehe, wenn er von grundlegenden
Begriffen wie etwa Substanz und Kausalität Gebrauch mache" 1).
Und an anderer Stelle „wenn also Kant die reine Spontaneität,
die Tat des reinen Ich durch seine tiefeindringende introspektive
Tätigkeit gefunden zu haben glaubte, so konnte er auf dem Boden
der intellektualistischen Psychologie seiner Zeit gar nicht anders,
als diese Spontaneität für das reine Denken halten. Er glaubte
somit bis zur tiefsten Wurzel des reinen Denkens vorgedrungen
zu sein"2). — Auch Bona Meyer ist in seinem Werke „Kants
Psychologie" bemüht, durch eine Zusammenstellung aller in Kants
Briefen und Hauptstellen enthaltenen Äußerungen nachzuweisen,
daß Kant selbst im Grunde die psychologische Natur der Ent-
deckung des apriorischen Tatbestandes nicht verkannt habe. Als
zwingendsten Beleg führt er folgende Stelle aus Kant an : „Die Durch-
forschung unseres Erkenntnisbestandes war eine Sache der analy-
sierenden und reflektierenden Selbstbeobachtung und konnte auf
keinem anderen als diesem psychologischen Wege zum Ziel gelangen".
1) Jerusalem: S. 12.
2) Jerusalem: Der kritische Idealismus und die reine Logik. S. 15.
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 319
Auf eine ausführliche Gegenüberstellung der 1. u. 2. Ausgabe
der Kr. d. r. V. muß ich im Rahmen dieser Ausführungen verzichten,
wiewohl sie sehr instruktiv wäre, da die Aufdeckung des Apriori
aus dem Erlebnis heraus, vermittelst der Introspektion, uns klarer und
unverhüllter in der 1. Ausgabe der Kritik entgegentritt als in der
2., in der die transzendentale Problemstellung in den Vordergrund
gerückt ist. Im Einzelnen wird an entsprechender Stelle auf die
Verschiedenheiten der beiden Ausgaben verwiesen werden.
I.
Transzendentale Ästhetik.
Ableitung der reinen Anschauungsform Raum.
Entsprechend der Aufgabe, die ich mir in der Einleitung ge-
stellt habe, will ich durch Diskussion der Raumargumente der
transzendentalen Ästhetik zu zeigen versuchen, daß die Beweise
für die Apriorität des Raumes nicht transzendental geführt werden,
was insbesondere durch Vergleich mit der 1. Ausg. der „Kritik"
klar wird. Eerner will ich die Verquickung der transzendentalen
mit der psychologisch - introspektiven Methode bis zum letzten
Motiv dieser Verquickung, bis zum Erlebnis der Allgemeinheit und
Notwendigkeit eines Teiles der Erfahrungstatsachen, zurückverfolgen.
Ich beginne der leichteren Übersichtlichkeit wegen mit der Dis-
kussion des zweiten Raumarguments der transzendentalen Ästhetik ;
die Berechtigung hierfür wird unmittelbar aus dem Gange der
Untersuchung einzusehen sein.
Die Behauptung des zweiten Raumarguments lautet: „Der
Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren
Anschauungen zugrunde liegt u. Das Beweisargument besteht in
der Nichthinwegdenkbarkeit des Raumes: „Man kann sich
niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob
man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände
darin angetroffen werden". Dies möchte ich nun folgendermaßen
erörtern. Es besteht hier, nach meiner Ansicht, eine Verwechs-
lung von Abstraktions- mit Vorstellnngsmöglichkeit.
Das einheitliche Erlebnis des räumlich bestimmten Gegenstandes,
das wir einzig und allein tatsächlich haben, kann infolge der Va-
riabilität der einzelnen Elemente desselben, sehr leicht analysiert
werden in Farbe, Licht und Form oder Raum, wobei wir dann
zum Zwecke wissenschaftlicher Betrachtung nur eines dieser Ele-
320 Constanze Friedmann
mente ins Auge fassen und von den beiden anderen abstrahieren,
ohne daß auch wirklich eines dieser Elemente allein vorgestellt
werden könnte1). Bei Kant nun bildet die Vorstellungs-
unmöglichkeit des Nichtseins des Raumes das Beweis-
argument für seine Apriorität. Hierin liegt nun inbegriffen, daß
Kant den Raum allein — ohne darin enthaltene Gegenstände —
für eine Vorstellungsmöglichkeit2) hält, während dieser nur ein
Abstraktionsprodukt darstellt: Kant also Abstraktions- mit Vor-
stellungsmöglichkeit verwechselt. Weiter ist zu fragen, warum —
wenn schon eine Verwechslung von Abstraktions- mit Vorstellungs-
möglichkeit vorliegt — nicht auch das zweite Abstraktionsprodukt
(die Gegenstände) als allein vorstellbar angesehen wird, warum
also gerade die Nichtvorstellbarkeit des Nichtseins des Raums für
Kant so evident ist. Hier scheint mir nun das Motiv dafür ein
psychologisch - introspektives zu sein, nämlich in der nicht weiter
zu analysierenden Erlebnis - Tatsache der Subjektivität der den
Kinästhesien entstammenden Daten zu bestehen. Die Raum-
anschauung bei Kant, die „nichthin wegdenkbar" sein, die „schon
zum Grunde liegen" soll, ist eben unsere entwickelte Raum-
anschauung, die neben den ursprünglichen Raumempfindungen As-
soziate von Bewegungs- und Gleichgewichtsempfindungen enthält.
Für die hier vertretene Ansicht ist also die Alternative : Empiris-
mus oder Nativismus — gar nicht von Belang, da auch der Nati-
vismus nicht leugnet, daß Kinästhesien die entwickelte Raum-
anschauung mitkonstituieren 3).
Es erscheint demnach verständlich, daß Kant die Raum-
anschauung, die er durch Elimination „der Gegenstände u er-
halten und nicht weiter analysiert hat, infolge der sie mitkonsti-
tuierenden kinästhetischen Elemente als subjektive Anschauungsform
betrachtet. Das Erlebnis der Subjektivität tritt hier mit
einem so starken psychologischen Zwang auf, daß die
psychologische Notwendigkeit mit der logischen ver-
wechselt wird.
Die Trennung in Form und Inhalt, die bei Kant als petitio
1) Vergl. Jodl: Psychologie. 1. Bd. S. 371.
2) In den Antizipationen der Wahrnehmung erklärt Kant, daß leerer Raum
und leere Zeit niemals ein Gegenstand möglicher Erfahrungen sein können, was
mit den Ausführungen der transzendentalen Ästhetik in Widerspruch steht.
3) Vergl. Stöhr: Psychologie. S. 215.
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori hei Kant. 321
principii charakterisiert werden muß und die — wie noch zu zeigen
sein wird — die unausgesprochene *) Voraussetzung für das erste
Beweisargument bildet, findet ihr psychologisches Motiv in dem-
selben Erlebnis, eben darin, daß ein Teil der Bewußtseinstatsachen
als hinwegdenkbar, als nicht zum Ich gehörend, erlebt wird, wäh-
rend der andere Teil, der in sich kinästhetische Elemente enthält,
als fester Kern, als Unmittelbarstes, zum Subjekt Gehörendes,
aufgefaßt wird. — Damit wäre auch ein in der menschlichen Natur
(Konstitution) begründetes psychologisches Motiv für die durch
die ganze Geschichte der Philosophie sich hindurchziehende Trennung
in Form und Inhalt, Subjekt und Objekt gegeben. Diese Trennung
wird von Stöhr auf „Sprachzwang" zurückgeführt, während ich
glaube, daß umgekehrt die Gliederung des Satzes in grammati-
kalisches Subjekt und Prädikat auf diesem Urerlebnis beruht.
Der Schlußsatz des zweiten Raumargumentes: „Er wird also
als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen und nicht
als eine von ihnen abhängende Bestimmung angesehen und ist eine
Vorstellung a priori, die notwendigerweise äußeren Erscheinungen
zum Grunde liegt" — verdankt also letzten Endes dem psycho-
logischen Erlebnis seine Begründung.
Ich komme nun zur Diskussion des ersten Raumarguments. ^Tcf'
Die Behauptung desselben lautet: „Der Raum ist kein empirischer rl,ö.A»ä
Begriff, der von äußeren Erfahrungen abgezogen werden kann". uJ&nA \
Der Beweis für diese Behauptung liegt in den Worten: „Denn ^ ^
damit gewisse Empfindungen auf etwas außer mir bezogen werden
(d. i. auf etwas in einem anderen Orte des Raumes, als darin ich
mich befinde), imgleichen damit ich sie als außer und nebenein-
ander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen
Orten vorstellen könne, dazu muß die Vorstellung des Raumes
schon zum Grunde liegen". Nun ist zu fragen, was dieser Beweis
eigentlich besage und die Antwort muß dahin gehen, daß hier die
Priorität der Raumvorstellung vor jeder wirklichen Wahr-
nehmung wieder nur behauptet wird und daß diese Behauptung
ihr Beweisargument nur in der schon früher vollzogenen Trennung
in Form und Inhalt2) besitze. Es handelt sich hier also einerseits
nur um eine anthropologisch-psychologische 3) Apriorität des Raumes,
1) Vergl. Vaihinger: Kommentar. 2. Bd. S. 165.
2) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 50.
3) Vergl. oben S. 318 u. Vaihinger: Kommentar. 2. Bd. S. 176.
Kantstudien. XXVI. 21
322 Constanze Friedmann,
anderseits wird die Trennung in Form und Inhalt „als eine außer-
ordentlich wichtige aber latent bleibende Prämisse benützt" 1).
Die Trennung in Form und Inhalt wurde aber auf ein Er-
lebnis2) zurückgeführt, dessen Evidenz Kant dazu verführt, nicht
zu merken, daß er hier eine petitio prineipii begeht. — Der Schluß-
satz des 1. Raumarguments lautet dann: „Demnach kann die Vor-
stellung des Raumes nicht aus dem Verhältnis der äußeren Er-
scheinung durch Erfahrung erborgt sein, sondern diese äußere
Erfahrung ist selbst nur durch gedachte Vorstellung allererst
möglich". Hier ist nun zu betonen, daß in den meisten Dar-
stellungen3) der Kantischen Philosophie die zweite Hälfte des
Schlußsatzes: „sondern diese äußere Erfahrung ist selbst nur durch
gedachte Vorstellung allererst möglich" als Beweisargument für
die Apriorität des Raumes aufgefaßt wird. Aber abgesehen davon,
daß es sich hier nicht um einen Beweisgrund, sondern schon um
den Schlußsatz handelt, ist auch das Prinzip der Möglichkeit der
Erfahrung aus folgendem von Vaihinger4) sehr gut formulierten
Grunde auf diese Stelle nicht anwendbar u : „Daß jene späteren Be-
deutungen des Prinzips der Möglichkeit der Erfahrung nicht auf
die Ästhetik, und also speziell nicht auf diese erste Stelle, in
welcher der Ausdruck auftritt, übertragbar sind, lehrt ja schon
folgende einfache Betrachtung. Sowohl in der Analytik der Be-
griffe als in der der Grundsätze hat 'Erfahrung' eine ganz
andere Bedeutung als hier; nämlich jene stringente Bedeutung —
streng gesetzmäßiger Zusammenhang der Einzeldinge. Aber davon
ist hier in der Ästhetik noch ,gar nicht die Rede. Es ist ja die
stets wiederholte Lehre Kants, daß jener strenge Zusammenhang
= Erfahrung erst den kategorialen Funktionen verdankt werde,
nicht aber schon den Anschauungsformen. Diese bringen mit dem
Empfindungsmaterial zusammen erst die Wahrnehmung hervor,
noch nicht die gesetzmäßige Erfahrung. Schon aus diesen Gründen
ist es gänzlich unberechtigt, jene späteren Bedeutungen des Prin-
zips der Möglichkeit der Erfahrung in die Ästhetik herüberzutragen;
denn wenn hier davon die Rede ist, daß 'die äußere Erfahrung nur
durch die Raum vor Stellung allererst möglich sei', so ist dabei die
1) Vaihinger: Kommentar. 2. Bd. S. 165.
2) Vergl. oben S. 321.
3) Vergl. Vorländer : Gesch. d. Philos. 2. Bd. S. 193.
4) Vaihinger: Kommentar. 2. Bd. S. 175.
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 323
Erfahrung nicht im stringenten Sinne gemeint, sondern hier ist
Erfahrung ebensoviel wie Wahrnehmung".
Durch Berücksichtigung der 1. Ausg. der Kritik wird es nun
ganz klar, daß die in der metaphysischen Erörterung des Begriffes
vom Raum — die Überschrift ist in der 1. Ausg. noch nicht vor-
handen — nicht transzendental (aus der Möglichkeit der Mathe-
matik), sondern, wie gezeigt, psychologisch - introspektiv abge-
leitete Apriorität des Raumes ihrerseits das Fundament der
Mathematik abgibt. Das 3. Raumargument der 1. Ausg. lautet:
„. . . Auf diese Notwendigkeit a priori gründet sich die apodik-
tische Gewißheit aller geometrischen Grundsätze und die Möglich-
keit ihrer Konstruktionen a priori usw". Hier ist also von trans-
zendentaler Fragestellung, nach den Bedingungen der Möglichkeit
Mer Mathematik, deren Tatsächlichkeit erwiesen sei, gar nicht die
Rede. Die Apodiktizität der Mathematik ist hier nicht der
Ausgangrpunkt der Untersuchung, sondern das Ergebnis1)
und gründet sich auf die Notwendigkeit der Apriorität des Raumes,
die aber nur — wie gezeigt wurde — eine psychologische ist.
In der 2. Ausg. der Kr. d. r. V. ist nun die transzendentale Ab-
leitung der Apriorität des Raumes in dem hier eingefügten Kapitel
„Transzendentale Erörterung des Begriffes vom Raum" anschei-
nend unabhängig von der „metaphysischen" vollzogen. Auf
die transzendentale Frage, nach der Art der Vorstellung des Rau-
mes als Bedingung der Möglichkeit der Geometrie, als einer Wissen-
schaft, welche die Eigenschaften desselben „synthetisch und doch
a priori" bestimmt, wird die Antwort gegeben: der Raum müsse
„apriorische Anschauung" sein. Und der letzte Absatz dieses
Kapitels lautet dann: „Also macht allein unsere Erklärung die
Möglichkeit der Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis
a priori begreiflich. Eine jede Erklärungsart, die dieses nicht-
liefert, wenn sie gleich dem Anscheine nach mit ihr einige Ähn-
lichkeit hätte, kann an diesen Kennzeichen am sichersten von ihr
unterschieden werden". Daß auch hier die schon bewiesene Raum-
theorie nachträglich zur Fundierung der Mathematik benützt wird2),
ist wohl eine nicht abzuweisende Auffassung, wenn dies auch in
der 2. Ausg. nicht so offenkundig geschieht wie in der ersten.
Das Ergebnis dieser Darlegung ist also, daß trotz der An-
1) Vergl. Vaihinger: Kommentar. 2. Bd. S. 337.
2) Ebenda S. 338.
21*
324 Constanze Friedmann,
fassung des Problems von zwei Seiten in der zweiten Ansgabe —
nämlich sowohl von der synthetischen und der analytischen als
anch von der psychologischen nnd transzendentalen — der ur-
sprüngliche Gedankengang (der synthetisch-psychologische) der
maßgebende bleibt und daß so die psychologisch abgeleitete
Apriorität des Raumes die Basis der Möglichkeit der Geometrie
bildet1).
Weiter ist noch zu zeigen, daß dieser Verquickung von trans-
szendentaler mit psychologischer Methode bei der Ableitung der
Apriorität des Raumes parallel geht die Identifikation unserer
entwickelten Raumanschauung mit dem euklidischen Raumbegriff.
— Dem Beweise, daß der Raum (der der Geometrie zugrunde-
liegende) Anschauung und nicht Begriff sei, sind ja bekanntlich
das 3. und 4. Raumargument der transzendentalen Ästhetik der
2. Ausgabe der Kritik gewidmet. — Diese Identifikation war für
Kant noch möglich, weil er nur die euklidische Geometrie kannte,
deren Sätze für den euklidischen dreidimensionalen Raum gelten.
Dieser entspricht aber unserer entwickelten Raumanschauung und
infolgedessen können in ihr die Sätze der euklidischen Geometrie
anschaulich gemacht werden. Stöhr2) sagt: „Der physiologische
Sehraum wird durch Kinästhesien nicht optisch zum euklidischen
gestaltet, wohl aber ausgedeutet", was ich so auffassen möchte:
wir haben optisch keinen dreidimensionalen homogenen Raum, fak-
tisch aber, als Bewußtseinsphänomen haben wir durch Assoziate
von Tast-, Bewegungs- und Gleichgewichtsempfindungen mii dem
ursprünglich physiologischen „relie vierten" Sehraum einen drei-
dimensionalen Raum, der begrifflich erfaßt, zum euklidischen
wird. — Kant wurde nun durch die noch nahe Beziehung
des euklidischen Raumbegriffes zu unserer entwickelten Raum-
anschauung, die er ja nicht weiter analysiert, vor allem durch
die Dreidimensionalität beider dazu verführt, sie zu iden-
tifizieren und so die psychologische Notwendigkeit, mit
der sich die Raumanschauung kundtut, als logische Voraus-
setzung, als Bedingung der Geometrie, hinzustellen. So allein wird
es für ihn möglich, das Resultat der metaphysischen Erörterung
des Begriffs vom Raum als Antwort auf die transzendentale Frage»
1) Auch der Beschluß der transzendentalen Ästhetik, der die transzendentale
Problemstellung resp. — Lösung in den Vordergrund rückt, — sowie die diesem
vorangehenden Absätze II, III, IV sind Zugabe der 2. Ausgabe.
2) Stöhr: Psychol. S. 219.
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 325
nach der Art der Vorstellung des Raumes, als Bedingung der
Möglichkeit der Geometrie, zu benützen. Hierin zeigt sich auch
die historische Beschränkung x) der transzendentalen Methode.
Wären zur Zeit Kants die nichteuklidischen G-eometrien bekannt
gewesen, so hätte er den euklidischen Raum niemals als alleinige
Voraussetzung der Geometrie aufstellen können. So wäre er aber
vor der Identifikation von Raumbegriff, als Voraussetzung einer
Wissenschaft, mit psychologisch gegebener, entwickelter Rauman-
schauung und den aus dieser Gleichsetzung sich ergebenden Kon-
sequenzen bewahrt geblieben.
Ableitung der reinen Anschauungsform Zeit.
Der Gedankengang des ersten Teiles dieses Abschnitts ist
ähnlich dem des vorhergehenden. Statt ihn also ausführlich dar-
zulegen, berufe ich mich auf das daselbst Gesagte und beschränke
mich hier auf das Wesentlichste.
Das 1. Zeitargument ist parallel dem 1. Raumargument gebaut.
Das dort Ausgeführte gilt in analoger Weise auch hier. Wieder
handelt es sich nur um eine Priorität — hier der Zeit vor der
tatsächlichen Vorstellung des Zugleich- und Aufeinanderfolgens.
Das Beweisargument „Denn das Zugleichsein oder Aufeinander-
folgen würde selbst nicht in die Wahrnehmung kommen, wenn
die Vorstellung der Zeit nicht a priori zum. Grunde läge", beruht
auch hier auf der als „petitio principii" eingeführten Trennung in
Form und Inhalt, die — wie schon ausgeführt — auf ein Erlebnis
zurückgeht. Der Schlußsatz gibt nochmals „eine erläuternde Be-
schreibung des Beweisarguments" 2).
Das zweite Zeitargument — wobei vorläufig das der 1. Aus-
gabe berücksichtigt werden soll — ist ebenfalls parallel dem
2. Raumargument gebaut. Auf die Fassung desselben in der
2. Ausgabe werde ich noch zurückkommen.
Den Beweisgrund für den Schlußsatz — conclusio — „die
Zeit ist also a priori gegeben" — bildet die Nichthinweg-
denkbarkeit der Zeit, ihre absolute Notwendigkeit, also ein
psychologisch - introspektives Motiv: „Diese (die Erscheinungen)
können insgesamt wegfallen, aber sie selbst (die Zeit) kann nicht
aufgehoben werden". Hier sind wieder die zwei Momente zu be-
1) Vergl. MaxScheler: Die transzendentale und die psychologische Methode.
2) Vergl. Vaihinger : Kommentar. 2. Bd. S. 368.
326 Constanze Friedmann,
achten: 1. die Verwechslung von Abstraktions- mit Vorstellungs-
möglichkeit und 2. die Behauptung der Nichteliminierbarkeit
nur des einen Abstraktionsproduktes, der Zeit. Daß es sich bei
Kant um eine Verwechslung von Abstraktions- mit Vorstellungs-
möglichkeit handelt, wird dadurch kar, daß die Vorstellung einer
leeren Zeit eine Unmöglichkeit darstellt. „Würde es möglich sein,
das Bewußtsein von allen Inhalten und Veränderungen zu entleeren,
so würde die Wahrnehmung der Zeit verschwinden; niemals aber
die Wahrnehmung einer leeren Zeit entstehen" ').
Durch Abstraktion von den qualitativ differenten Inhalten
gelangen wir zum Begriff einer leeren Zeit, der aber ab-
solut nicht identisch ist mit der Vorstellung einer leeren Zeit, wie
überhaupt Zeitbegriff und Zeitvorstellung auseinandergehalten
werden müssen. — Das, was wir erleben, sind immer nur zeitlich
bestimmte Erscheinungen d. h. gleichzeitige oder aufeinanderfolgende
Bewußtseinsinhalte. Wird von den Inhalten möglichst abstrahiert,
so hat es den Anschein, als ob die Zeitvorstellung allein übrig
bliebe. In Wirklichkeit sind in diesen Zuständen „des Zwielichts
unseres Bewußtseins" — nach einem Terminus von Wundt —
immer noch unbestimmte, nicht mehr eliminierbare Inhalte ge-
geben: der Schlag unseres Herzens, unser Atmen, die Schwan-
kungen unserer Aufmerksamkeit, Fragmente von Worten und
Sätzen, die durch den Kopf gehen2). An diesen rhythmischen
Prozessen nun hängt unser entwickeltes Zeitbewußtsein, die Zeit-
vorstellung3),'wie wir sie erleben. Sie läßt sich in ursprüngliche
Zeitempfindungen, Spannungs- und Vitalempfindungen auflösen,
die auf den periodischen, vitalen und motorischen Prozessen der
Aufmerksamkeitsschwankungen beruhen. Da diese Inhalte nun
einerseits sehr unbestimmt sind und nicht deutlich zu Bewußtsein
kommen, anderseits gar nicht eliminierbar, so hat Kant sie nicht
mehr als Inhalte aufgefaßt, sondern er glaubte in diesem
Stadium der Abstraktion von bestimmten Inhalten, schon^bei
1) Jodl: Psychol. 2. Bd. S. 170.
2) Vergl. hierzu James : Psychol. S. 282 und Mach : Erk. u. Irrtum u. Anal,
d. Empfindungen.
3) Ich gebrauche synonym: Zeitbewußtsein, psychologische Zeit, Zeitvor-
stellung, Zeitanschauung, Dauer. Zeitvorstellung schließt eigentlich auch die vor-
gestellte Zeit in sich. Hier ist dieser Bedeutungsunterschied vernachlässigt, weil
bei Kant Zeitvorstellung gleichbedeutend mit Zeitanschauung gebraucht ist. — Zum
Begriff „Dauer" vergl. ßergson: „Zeit u. Freiheit", „Schöpferische Entwicklung".
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 327
der Vorstellung der Zeit als solcher angelangt zu sein.
Gerade die psychologische Notwendigkeit aber, mit der diese
vitalen und motorischen Prozesse sich im subjektiven Erlebnis
spiegeln, hat Kant die Sicherheit gegeben, von der Vorstellung
der Zeit, für die er diese nicht weiter analysierten Erlebnisse
nahm, zu sagen, daß sie selbst nicht aufgehoben werden könne, „ob
man ganz wohl die Erscheinungen aus der Zeit wegnehmen kann" .
In der 2. Ausgabe ist das 2. Zeitargument nicht ganz parallel
dem 2. Raumargument gebaut. Durch den Einsatz „als die Be-
dingung ihrer Möglichkeit" ist die absolute Notwendigkeit ganz
in die relative verwandelt. Kant ist hier wie überall in der
2. Ausgabe viel vorsichtiger; er verfährt strenger transzendental,
„hat aber durch diesen Zusatz den eigentlichen ßeweisnerv ge-
tötet" *). Man sieht auch hier, daß die Aufdeckung des Apriori
aus dem Erlebnis, also die psychologische Motivation die ur-
sprüngliche war und daß die transzendentale nachträgliche Ein-
kleidung das ganze Argument seiner Beweiskraft beraubt.
Das 3. Zeitargument, das in der 1. und 2. Ausgabe der „Kri-
tik" gleichlautet, ist parallel gebaut dem 3. Raumargument der
1. Ausgabe. Hier wird aus der Apriorität der Zeitvorstellung, —
die aber, wie gezeigt, nur psychologisch im 1. und 2. Zeitargument
deduziert wurde — die Apodiktizität der Zeitaxiome abgeleitet.
Auch hier muß also gelten, was an entsprechender Stelle in
analoger Weise schon von der Apodiktizität der Geometrie gesagt
wurde, daß die Apodiktizität der Zeitaxiome nichteinAusgangs-
punkt, sondern ein Ergebnis sei2). In dem erst in der
2. Ausgabe eingefügten Kapitel „Transzendentale Erörterung des
Begriffs der Zeit" beruft sich Kant auf Nr. 3 der metaphysischen
Erörterung, wodurch es also ganz klar wird, — worauf schon bei
Besprechung der transzendentalen Erörterung des Begriffs vom
Raum hingewiesen wurde — , daß Kant in der transzendentalen
Erörterung das Ergebnis der metaphysischen verwendet, die Zeit
also nicht transzendental („Also erklärt unser Zeitbegriff
die Möglichkeit so vieler synthetischer Erkenntnis a priori, als
die allgemeine Bewegungslehre, die nicht wenig fruchtbar ist, dar-
legt"), als Voraussetzung der Bewegungslehre deduziert, sondern
psychologisch-introspektiv aufgedeckt wurde, hier also eine
1) Vergl. Vaihinger : Kommentar. 2. Bd. S. 370.
2) Vergl. oben S. 324.
328 Constanze Friedmann,
Verquickung von transzendentaler mit psychologischer Methode
vorliegt.
Dieser geht wieder parallel die Identifikation der von
Kant nicht weiter analysierten Zeitvorstellung, der Zeit als Er-
lebnis, der Dauer — mit der Zeit als Begriff, die die Voraus-
setzung der Mechanik bildet, mit der objektiv metrischen Zeit. —
Dem Beweis, daß die Zeit (die der Bewegungslehre zugrunde-
liegende) nicht Begriff, sondern Anschauung sei, sind ja bekanntlich
das 4. und 5. Zeitargument gewidmet. — Die metrische Zeit hat
sich aus dem Zeitbewußtsein heraus entwickelt. Mach sagt: „Ohne
Zweifel liegt in der Verwendung dieser Mittel (all der periodischen
Vorgänge, die im Organismus reichlich vertreten sind) der Anfang
der physikalischen Chronometrie" 1). Im Altertum soll die sub-
jektiv-psychologische Zeit direkt zur Zeitmessung benützt worden
sein. So erzählt der Diener Ataxerxes in Hebbels „Herodes und
Mariamne", daß er am Hof des Satrapen Uhr gewesen sei. — Der
zwanzigjährige Galilei fand das Gesetz: die Quadratwurzeln aus
den Pendellängen verhalten sich wie die Schwingungsdauern, in-
dem er die Schwingungsdauer von an langen Ketten schwingenden
Kirchenampeln mit seinen Pulsschlägen verglich2). — Die me-
trische Zeit also, die auf der Zeitvorstellung beruht und sich
aus ihr entwickelt hat, ist Voraussetzung der Mechanik. Sie wird
durch Vergleichung physikalischer Vorgänge untereinander mittelst
des Raumvikariates gewonnen. Nur durch die Identifikation der
Zeitvorstellung mit der metrischen Zeit wird es für Kant möglich,
das Ergebnis der metaphysischen Erörterung als Antwort auf die
transzendentale Frage, nach der apriorischen Bedingung der Be-
wegungslehre, zu benützen, d. h. die psychologisch aufgedeckte Zeit-
vorstellung als Voraussetzung der Möglichkeit der Bewegungslehre
aufzustellen.
Die Identifikation von Zeitanschauung mit Zeitbegriff kommt
aber noch an anderer Stelle zum Ausdruck, dort, wo Kant die
Phänomenalität unserer inneren Zustände darauf gründet, daß „wir
die Zeit, die doch gar kein Gegenstand äußerer Anschauung ist,
uns nicht anders vorstellig machen können, als unter dem Bilde
einer Linie, sofern wir sie ziehen, ohne welche Darstellungsart
wir die Einheit ihrer Abmessung gar nicht erkennen könnten, un-
gleichen, daß wir die Bestimmung der Zeitlänge, oder auch der
1) Mach : Erk. u. Irrtum. S. 422.
2) E. Lecher: Lehrbuch der Physik. S. 36.
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 329
Zeitstellen für alle inneren Wahrnehmungen immer von dem her-
nehmen müssen, was uns äußere Dinge Veränderliches darstellen,
folglich die Bestimmungen des innern Sinns gerade auf dieselbe
Art wie Erscheinungen in der Zeit ordnen müssen, wie wir die
der äußeren Sinne im Räume ordnen usw. " *). Erst hierin erblickt
er die innere Berechtigung der Lehre, daß „wir uns selbst nur so
anschauen wie wir innerlich von uns selbst affiziert werden", d. h.
daß wir „unser eigenes Subjekt nur als Erscheinung, nicht aber
nach dem, was es an sich selbst ist" erkennen, während er sie
als Folge aus der Trennung in Form und Inhalt in der transzen-
dentalen Ästhetik noch als „widersprechend" empfand, als „das
Paradoxe, was jedermann bei der Exposition der Form des innern
Sinns auffallen mußte" 2). Es ist aber nach dem Vorhergesagten
klar, daß der hier als Beweis für die Phänomenalität der inneren
Zustände angeführten Projizierbarkeit der Zeit in den Raum eine
unbewußte Verquickung von Zeitanschauung mit Zeitbegriff zu-
grundeliegt, da diese ebenso wie die Behauptung, daß die Gerade als
Symbol der Zeit vorgestellt werden könne, nur für die metrische
homogene Zeit, den Zeitbegriff Geltung hat, während die psycho-
logische Zeit, die Zeitanschauung, „die Form des innern Sinns, die
das Verhältnis der Vorstellungen in unserem inneren Zustand be-
stimmt", die heterogene, untrennbar von den Bewußtseinsinhalten
ein für alle Male mit diesen verschwindende Zeit nicht als Linie vor-
gestellt und abgemessen werden kann. — Daß Kant in der Geraden
ein adäquates Symbol der Zeitanschauung erblickt, hat vielleicht
auch darin seine psychologische Wurzel, daß diesem Symbol —
wie bei Besprechung der produktiven Einbildungskraft noch aus-
geführt werden wird — eine motorische Reaktion mit der sub-
jektiven Erlebnisseite des Spontaneitätsgefühls zugrunde liegt und
daß hierin eine innere Verwandtschaft mit der psychologischen Not-
wendigkeit der Zeitanschauung, die auf die uneliminierbaren rhyth-
mischen vitalen Prozesse zurückgeführt wurde, erlebt wird. — So
führt die unbewußte Identifikation von Zeitanschauung und Zeit-
begriff Kant zu verhängnisvollen Konsequenzen, indem die hierauf
beruhende Lehre von der Phänomenalität des eigenen Selbst das
Kant'sche System in Widersprüche verwickelt, die nur durch die
Sprengung seiner Grenzen aufgelöst werden können. Das Problem
1) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 122.
2) Ebenda S. 120.
330 Constanze Friedmann,
der Freiheit wird innerhalb des konsequenten Kantischen Kriti-
zismus unlösbar ; ihre Lösung und Erfüllung kann die Freiheit nur
in einem intelligiblen Reich finden.
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Bergson von einem ganz
anderen Ausgangspunkte. Er sagt: „Kants Irrtum bestand darin,
daß er die Zeit als ein homogenes Medium auffaßte" und so die
„Dauer" mit] dem Zeit begriff identifizierte — infolgedessen „die
symbolische Repräsentation des Ich mit dem Ick selbst" *). Damit
werde aber unser in der Dauer verfließendes, sich organisierendes
Ich zu einem Phantom-Ich, die psychischen Tatsachen könnten nur
erfaßt werden, indem sie nebeneinander gereiht und von einander
geschieden werden, innerhalb ihrer müßte dann aber dieselbe Kau-
salität herrschen wie in den äußeren Erscheinungen, weshalb die
Freiheit, für die es hier keinen Platz geben könne, in ein intelli-
gibles Ich gerettet werden müsse. — So kommt denn Bergson
vom Begriff der Dauer aus zum gleichen Ergebnis wie wir, die
wir von der Verquickung transzendentaler mit psychologischer
Methode bei Kant ausgehend, die Identifikation der heterogenen,
diskreten Zeit, der Zeitanschauung" mit der homogenen, kontinuier-
lichen, verräumlichten Zeit, dem Zeitbegriff nachgewiesen haben.
II.
Transzendentale Analytik.
Die metaphysische Deduktion der Kategorien, ihre Aufdeckung
an der Hand der Urteilstafel, will ich hier übergehen. Sie wird
damit motiviert, daß der Verstand, der mittels seiner Formen
Ordnung des Mannigfaltigen „Erfahrung" zustande bringe, die
Urteilsformen der formalen Logik konstituiere. Ich wende mich
der transzendentalen Deduktion der Kategorien zu, die diese als
Bedingungen der Erfahrung nachweisen, ihr „quid iuris" erweisen
will. „Die Möglichkeit einer Verbindung überhaupt" sei ein Aktus
der Spontaneität der Vorstellungskraft. Die Kategorie setze schon
Verbindung und Einheit voraus2). „Also müssen wir diese Ein-
heit noch höher suchen, nämlich in demj eiligen, was selbst den
Grund der Einheit verschiedener Begriffe in Urteilen, mithin die
Möglichkeit des Verstandes sogar in seinem logischen Gebrauche
enthält." Diese letzte Einheit, auf die die Kategorien als auf ihre
1) Bergson: Zeit u. Freiheit. S. 182.
2) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 108.
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 331
Basis zurückweisen, ist die ursprünglich - synthetische Einheit der
Apperzeption.
Die transzendentale Einheit der Apperzeption.
Nirgends wird es so klar, daß Kants Transzendentalismus
letzten Endes im ursprünglichen Erlebnis gipfelt, wie an dem
höchsten entscheidendsten Punkte seiner theoretischen Philosophie,
bei der ursprünglich - synthetischen Einheit der Apperzeption. So
wie das erlebte Sollen die Voraussetzung für das Bewußtwerden
der Freiheit bildet und somit den Ankerpunkt für die Auflösung
der Antinomien und den Aufbau einer Metaphysik als eines Po-
stulatensystems, so bildet das Erlebnis der Spontaneität und Ak-
tualität die Grundlage der transzendentalen Einheit der Apper-
zeption. Allerdings kann hier die Verquickung von transzenden-
taler mit psychologischer Methode nicht so scharf nachgewiesen
werden wie dies in den vorhergehenden Kapiteln geschah; dennoch
ist es für denjenigen, der sich in das Wesen der transzenden-
talen Apperzeption versenkt, besonders evident, daß Kant hier
aus dem Erlebnis geschöpft hat. Die analytische Einheit der
Apperzeption, die darin bestehen soll, daß die in der Anschauung
gegebenen Vorstellungen als mir zugehörend, als die meinen
aufgefaßt werden „ist nur unter der Voraussetzung der synthe-
tischen möglich". Es genügt noch nicht, daß ich jede Vor-
stellung mit Bewußtsein begleite, da das empirische Bewußtsein
an sich zerstreut ist und ohne Beziehung auf die Identität des
Subjektes, sondern erst dadurch, daß ich eine Vorstellung zu der
anderen hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewußt bin,
wird die Beziehung auf die Identität des Subjekts geschaffen. Der
„Aktus der Spontaneität" also, der sich in der Vorstellung des
„Ich denke ..." kundgibt, schafft die Einheit des Selbstbewußt-
seins. Kant sagt: „. . . Der Gedanke, diese in der Anschau-
ung gegebenen Vorstellungen gehören mir insgesamt zu, heißt
demnach soviel, als ich vereinige, sie in einem Selbstbewußtsein
oder kann sie wenigstens darin vereinigen usw.". Während
in der empirischen Apperzeption Vorstellungen mit Bewußtsein
begleitet werden, wird in der transzendentalen Apperzeption die
Apperzeptionstätigkeit selbst apperzipiert oder sie
muß zumindest apperzipiert werden können. Dies die Be-
deutung des „Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten
können".
332 Constanze Friedmann,
Es handelt sich also für uns darum zu begreifen, was diese reine
Spontaneität, dieses „Ich denke ..." seinem innersten Wesen nach
ist und den Beweggrund aufzudecken, der Kant dazu veranlaßt,
hierin „die Voraussetzung der Möglichkeit einer Verbindung über-
haupt", die letzte Voraussetzung für die Möglichkeit der Er-
kenntnis durch Kategorien zu erblicken. Wenn wir, um dies fest-
zustellen, in analogiam zu unserer Kritik der Raum- und Zeit-
anschauung hier vorgehend > zunächst im gegebenen komplexen
Bewußtseins Vorgang von den Vorstellungen abstrahieren, so bleibt
etwas im Bewußtsein zurück, das vorstellt, das Verbindungen her-
stellt; dem Objekt steht das Subjekt gegenüber und dieses erfassen
wir als unser empirisches Ich. Gehen wir nun aber auf dem Wege
der Abstraktion weiter, so gelangen wir schließlich zu einem aller
Inhalte entleerten Ich, von dem wir kaum etwas auszusagen ver-
möchten ; dennoch hat geradediesesletzteBand der wechseln-
den Bewußtseinsinhalte für uns vollste Realität; je weniger wir von
diesem Ich wissen, umso intensiver fühlen, erleben wir
es. Das, was wir hier erleben, ist das Gefühl unserer
eigenen Spontaneität und Aktualität, das Minimum des
empirischen Ich, das inhaltlich unbestimmbar ist und immer dort
vorhanden, wo ein Ich sich noch a]s Ich begreift. — Die psycho-
logische Notwendigkeit, mit der dieses latente Aktionsgefühl
erlebt wird, ist für Kant bestimmend, darin das logische,
transzendentale Ich zu erblicken.
Wir wissen auch, daß bei vollständiger Hingabe an das Objekt
dieses latente Aktionsgefühl schwindet und daß dann die Vorstellungen
nicht mehr als zum Ich gehörende aufgefaßt werden, der Zustand
des Sichverlierens, des Sichvergessens, der Extase eintritt. Hier
wäre nach Kant, infolge des Verlustes der ursprünglich - syntheti-
schen Einheit der Apperzeption, auch die analytische Einheit der-
selben aufgehoben, während, wie die Ergebnisse der psycho-patho-
logischen Forschungen in einwandfreier Weise kundtun, in diesen und
ähnlichen parapsychologischen1) und pathologischen Fällen durch
Ausfall des Gefühls der Spontaneität das normale Selbst-
bewußtsein einfach verschwunden ist. Dieses, im gesunden Seelen-
leben, immer bewußt oder unbewußt erlebte Minimum des empiri-
schen Ich kann (subjektiv) als Komplex von Organ- und kinästhe ti-
schen Empfindungen und deren Kontinuität, (objektiv) als Motilität
1) Vergl. Dessoir: Vom Jenseits der Seele.
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 333
oder Reaktionsfähigkeit begriffen werden. Dort, wo diese Konti-
nuität durch Veränderung von Organempfindungen durchbrochen ist,
treten dann die geschilderten Phänomene wie auch die der sogenannten
Depersonalisation, des Doppelbewußtseins usw. auf. Hierauf kann
im Rahmen dieser Ausführungen nicht näher eingegangen werden,
ebensowenig auf die verschiedenen Formen von Apraxie, die alle auf
Störungen der normalen Motilität und der Kinästhesien zurückzu-
führen sind. Ich habe diese Fälle nur erwähnt alsBeleg dafür, daß
das Erlebnis der Aktualität und Spontaneität die größte Bedeutung für
unser Selbstbewußtsein besitzt, wodurch klar werden soll, daß die
erlebte Spontaneität, die in der Vorstellung des „Ich denke . . ."
ihren Ausdruck findet, für Kant eine so große Evidenz erhält. —
Es soll noch kurz darauf hingewiesen werden, daß die Reak-
tion mit ihrer subjektiven Seite: der erlebten Aktivität und Spon-
taneität die Grundlage für die Einprägung in das Gedächtnis und
für das Wiedererkennen bildet. Bergson führt in „Gedächtnis und
Materie" x) diesbezügliche Experimente an. Hiemit wäre auch für
die 1. Ausgabe der Kr. d. r. V., in der die verschiedenen Stufen
des Erkennens psychologisch aufgelöst werden als: Apprehension,
Reproduktion in der Einbildung und Rekognition im Begriff das
Motiv, eine transzendentale Voraussetzung zu diesem empirischen
Bewußtseinsprozeß zu postulieren, als erlebtes Aktionsgefühl
dargetan.
Produktive Einbildungskraft und Schema.
Vorerst eine Bemerkung über den Zusammenhang und Gang
der „Kritik", die für diese Ausführungen von Belang ist. Die
transzendentale Deduktion der Kategorien scheint mir im Gegen-
satz zu Kuno Fischer nicht in dem gleichnamigen Kapitel der
„Analytik der Begriffe" erschöpft zu sein. Die Rechtfertigung
der Kategorien besteht bekanntlich darin, daß sie „von Seiten des
Verstandes die Gründe der Möglichkeit aller Erfahrung überhaupt
enthalten", daß sie „den Erscheinungen, mithin der Natur, als In-
begriff aller Erscheinungen, Gesetze a priori vorschreiben", d. h.
1) Bergson führt S. 80 aus, daß Versuchspersonen, die eine bestimmte Silbe
aussprechen mußten, während man ihnen für kurze Zeit Worte zeigte, sich diese
nicht einprägen konnten, weil sie gehindert waren, die nötigen Artikulations-
bewegungen auszuführen. S. 84 Der Seelenblinde erkennt Gegenstände, die ihm
gezeigt werden, nicht wieder, obgleich kein Ausfall früherer Taterinnerungen vor-
handen ist.
334 Constanze Fried mann,
aber, daß die Grundsätze, die das System der Natur ausmachen,
„welches vor aller empirischen Naturerkenntnis vorhergeht, diese
zuerst möglich macht und daher die eigentliche, allgemeine und
reine Naturwissenschaft genannt werden kann . . . aus reinen Ver-
standesbegriffen a priori herfließen". — Die Tatsache der Grund-
sätze "also bildet die Rechtfertigung der Kategorien und gehört zu
ihrer transzendentalen Deduktion, wenn diese auch äußerlich schon vor-
her abgeschlossen erscheint. — Damit es aber zu Grundsätzen kommen
könne, bedarf es einer Versöhnung der diskreten, scheinbar unver-
einbaren Elemente : des Verstandes und der Sinnlichkeit, der Kate-
gorien und der Erscheinungen. Diese Brücke vom rein Intellek-
tualen zum rein Sinnlichen wird durch die produktive Einbildungs-
kraft mittelst der Zeitanschauung gebaut, die das transzendentale
Schema liefert. So gehört also der Schematismus, der die An-
wendbarkeit der Kategorien auf Erscheinungen dartut, meiner
Auffassung nach, noch zur transzendentalen Deduktion der Kate-
gorien, während nach Kuno Fischer die Anwendbarkeit oder Un-
anwendbarkeit der Kategorien ihre bereits „bewiesene Geltung"
gar nicht beeinflussen kann1). — Es soll also noch an der pro-
duktiven Einbildungskraft und dem transzendentalen Schema ge-
zeigt werden, daß auch hier Erlebnismomente deren Evidenz be-
gründen, ebenso wie dies bei der transzendentalen Einheit der
Apperzeption der Fall war.
Neben der transzendentalen Einheit der Apperzeption, welche
eine Verstandesverbindung a priori darstellt, (synthesis intellec-
tualis) ist nach Kant noch eine zweite Synthesis des Mannigfaltigen,
der sinnlichen Anschauung a priori möglich und notwendig, die
„figürliche Synthesis" (synthesis speciosa). „. . . ihre (der pro-
duktiven Einbildungskraft) Synthesis ist eine Ausübung der Spon-
taneität, welche bestimmend und nicht wie der Sinn bloß bestimm-
bar ist, mithin a priori den Sinn seiner Form nach der Einheit
der Apperzeption gemäß bestimmen kann usw."
In einer Anmerkung, die von größter Wichtigkeit für das
Verständnis dieser Stelle ist, sagt Kant2): „Bewegung eines Ob-
jekts im Räume gehört nicht in eine reine Wissenschaft, folglich
auch nicht in die Geometrie, weil, daß etwas beweglich sei, nicht
a priori, sondern nur durch Erfahrung erkannt werden kann.
1) Kuno Fischer : Gesch. d. Philos. Bd. 3. S. 377.
2) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 121 Anm.
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 335
Aber Bewegung als Beschreibung eines Raumes ist ein reiner
Aktus der sukzessiven Synthesis des Mannigfaltigen in der äußeren
Anschauung überhaupt durch produktive Einbildungskraft und ge-
hört nicht allein zur Geometrie, sondern sogar zur Transzendental-
philosophie". Und man könnte sagen, daß der Text des § 24 der
Kr. d. r. Vern. eher eine Erläuterung dieser Anmerkung darstelle
als daß das Umgekehrte der Fall wäre. „Bewegung als Handlung
des Subjekts ... als Beschreibung: eines Raumes" ist für Kant die
Tat der produktiven Einbildungskraft, die Spontaneität, die eine
„Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste An-
wendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegen-
stände der uns möglichen Anschauung" ist. Diese Spontaneität
nun gibt sich in Kants eigenen Worten in folgendem kund : „Wir
können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen,
keinen Zirkel denken, ohne ihn zu beschreiben, die drei Abmessungen
des Raumes gar nicht vorstellen, ohne aus demselben Punkte drei
Linien senkrecht auf einander zu setzen und selbst die Zeit nicht *),
ohne indem wir im Ziehen einer geraden Linie (die die äußerlich
figürliche Vorstellung der Zeit sein soll) bloß auf die Handlung
der Synthesis des Mannigfaltigen, dadurch wir den inneren Sinn
sukzessiv bestimmen, und dadurch auf die Sukzession dieser Be-
stimmung in demselben Acht haben usw.". Hier ist nun der Punkt,
wo mit Klarheit das Motiv zutage tritt, von dem in diesen Aus-
führungen wiederholt behauptet wurde, daß es verstecktermaßen
eine so bedeutende Rolle in der Ableitung des Apriori bei Kant
spielt. Daß wir, wenn wir uns eine Linie denken sollen, sie in
Gedanken ziehen müssen, besagt nichts anderes, als daß der Be-
griff einer Linie stets von einer Bewegungvorstellung
begleitet ist oder — da es ein aus der Psychologie bekanntes
Fakum ist, daß Bewegungsvorstellungen die Tendenz haben in Be-
wegungen überzugehen — daß mit dem Begriffe einer Linie eine
wirkliche motorische Reaktion mit den damit verbun-
denen kiji ästhetischen Empfindungen gegeben ist. Noch
stärker kann diese Auffassung betont werden durch den Hinweis
auf die Theorie Stöhrs, für den nur durch die Bewegung der Er-
zeugung der Geraden der Begriff derselben zustande kommt, d. h.
„das Begreifen an der Bewegung, nicht die Bewegung am Begreifen" 2)
1) Vergl. oben über die Ableitung der reinen Anschanungsform Zeit.
2) Vergl. Stöhr: Psychologie. S. 333.
336 Constanze Friedmann,
hängt. Das also, was Kant als Tat eines transzendentalen Ver-
mögens, als „reinen Aktns der sukzessiven Synthesis des Mannig-
faltigen in der äußeren Anschauung" auffaßt, enthüllt sich uns als
eine begriffsbildende motorische Reaktion mit ihrer subjektiven
Erlebnisseite: dem Gefühl der Aktualität und Spontaneität, das
sich mit psychologischer Notwendigkeit und Evidenz kundgibt.
Es erhellt aus dem Vorhergehenden, daß wir auch die Evi-
denz des Schemas, „des transzendentalen Produktes der Einbildungs-
kraft", das durch seine sowohl intellektuelle als auch sinnliche Be-
schaffenheit die Anwendung der Kategorien auf Erscheinungen
ermöglichen soll, in analoger Weise wie die der transzendentalen
Einbildungskraft selbst, auf Motilität und Aktionsgefühle zurück-
führen können. Daher will ich hier nur ganz kurz das Schema
der Sukzession erörtern. „So bringt der Verstand", sagt Kant,
„sogar den Begriff der Sukzession zuerst hervor, indem er den
inneren Sinn affiziert". Wir haben schon bei Besprechung der
Ableitung der reinen Anschauungsform Zeit darauf hingewiesen,
daß Tatsache des Erlebens immer nur gleichzeitige oder auf ein-
ander folgende Bewußtseinszustände seien, wobei wir hier nur
letztere zu berücksichtigen haben. „Eine Sukzession von Bewußt-
seinszuständen an und für sich ist aber noch kein Sukzessions-
bewußtsein" l). Dieses besteht in der Vorausnahme, ♦Erwar-
tung solcher Ereignisse, die wir als anderen sukzedierend erlebt
haben und die dann auftritt, wenn die ersten Ereignisse in Er-
scheinung treten. Mit dem Auftreten einer ErscheinuDg A ist eine
Erwartung, Vorausnahme, Bereitschaft auf eine Erscheinung B
unmittelbar verknüpft, der eine motorische Reaktion, verbunden
mit der von der Vorstellung A noch nicht „dissoziierten" Vor-
stellung B2), zugrunde liegt. Hieraus leitet sich also der Begriff
der Sukzession ab, der die unmittelbare Provenienz aus dem Er-
lebnis in psychologischer Notwendigkeit kundtut, die wiederum
von Kant als reine Spontaneität des Verstandes gedeutet wird.
Die Spontaneität, die nach Kant „eine und dieselbe ist ...,
welche dort unter dem Namen der Einbildungskraft, hier des
Verstandes Verbindung in das Mannigfaltige der Anschauung
hineinbringt" 3), wurde demnach darauf zurückgeführt, daß sowohl
1) James : Psychol. S. 286.
2) Vergl. Stöhr : Psychol. S. 367.
3) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 126.
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 337
der produktiven Einbildungskraft und dem Schema wie auch der
transzendentalen Einheit der Apperzeption Spontaneitätsgefühle
zugrundeliegen, die deren unmittelbare Evidenz begründen.
Die Kategorie der Kausalität und die J2. Analogie der Erfahrung.
Nachdem wir den Begriff der Sukzession auf sein psycholo-
gisches Fundament zurückgeführt haben, wollen wir nun endlich
zur Erörterung der Kategorie der Kausalität und der 2. Analogie
der Erfahrung übergehen. — Das Kant' sehe System ist trotz der
vielen Widersprüche, die in ihm liegen und der Voraussetzungen,
die oft das zu Beweisende vorwegnehmen oder vielleicht gerade
infolge dieser Unvollkommenheiten und auch der historischen Be-
dingtheiten desselben — ein so geschlossenes Ganzes, daß es un-
endlich schwer ist, eine Bresche zu schlagen und bis zum innersten
Teil dieser Festung vorzudringen, deren Mauern, Türme und Tore
die grandiose Architektonik der sich gegenseitig stützenden Begriffe
und Gedanken darstellt. In dieses innerste Herz der Kantischen
Philosophie aber gilt es einzudringen, wenn wir daran gehen wollen,
die Kategorie der Kausalität und die auf ihr beruhende 2. Ana-
logie der Erfahrung kritisch zu betrachten.
Hier laufen alle Gedankengänge, alle von verschiedenen Aus-
gangspunkten kommenden Fragestellungen des Kantischen Systems
zusammen und von hier aus gehen sie wieder in die verschieden-
sten Richtungen auseinander.
Bekanntlich war es der schwere Angriff, den David Hume
auf die Metaphysik machte, indem er behauptete, daß der Begriff
der Verknüpfung der Ursache und Wirkung zu Unrecht als von der
Vernunft erzeugt, als a priori gedacht, dargestellt werde, der den
Kantischen Untersuchungen „im Felde der spekulativen Philosophie
. . . eine ganz . . . andere Richtung" gab, Kant „aus dem dogma-
tischen Schlummer erweckte" 1). Und weiter ist bekannt, daß
Kant versuchte, „ob sich nicht Humes Einwarf allgemein vorstellen
ließe" und daß er bald fand: „daß der Begriff der Verknüpfung
der Ursache und Wirkung bei weitem nicht der einzige sei, durch
den der Verstand a priori, sich Verknüpfungen der Dinge denkt,
vielmehr, daß Metaphysik ganz und gar daraus bestehe". So er-
weiterte sich denn für Kant die Frage nach der Möglichkeit einer
Metaphysik, die durch den Hume'schen Zweifel angeregt war, zu
einer ganz neuen Wissenschaft, die den Umfang und die Grenzen
1) Prol. S. 13.
Kantstudien XXVL 22
338 Constanze Friedmann,
des reinen Vernnnftvermögens bestimmen sollte. Und das Ergebnis
ist : die Einschränkung apriorischer Erkenntnisse auf Erscheinungen,
damit verbunden die Verneinung der Möglichkeit einer Metaphysik
als der Wissenschaft von den Dingen an sich, dagegen ihre Rettung
als eines Systems des Glaubens. —
Daß es apriorische Erkenntnisse geben müsse, stand für Kant fest,
war ihm durch die Dignität der Mathematik und Naturwissenschaft
verbürgt. Hierin liegt seine eingangs besprochene historische
Bedingtheit, das Festhalten am rationalistischen Ausgangspunkt.
Gerade das Experiment, das Galilei und Toricelli zuerst anwandten,
ist für Kant ein Beweis, daß „die Vernunft nur das einsieht, was
sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt, daß sie mit Prinzipien
ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur
nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich von
ihr allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse ; denn sonst
hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte
Beobachtungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen,
welches doch die Vernunft sucht und bedarf" *). Die Grundsätze
sind „die beständigen Gesetze", welche vorangehen müssen, welche
nach der Kopernikanischen Wendung „die Natur, als Inbegriff der
Erscheinungen, erst möglich machen". — Für eine nicht auf dem
Boden des Rationalismus stehende Auffassung ist es nicht einzu-
sehen, warum derartige Grundsätze, Prinzipien, mittels derer Fragen
an die Natur gestellt werden, aus reiner Vernunft entspringen
müssen, warum sie nicht, im Laufe der Entwicklung selbst ge-
wordene, heuristische Prinzipien sein können. — Eine weitere
Voraussetzung liegt darin, daß nach Kant die Gesetze des
empirischen Seins den Gesetzen des logischen Denkens entsprechen
müssen, daß also der Verstand, der durch seine synthetische Einheit
die Erfahrung zustande bringt, derselbe ist, der vermittelst der ana-
lytischen Einheit die Urteilsformen konstituiert, m. a. W. die logi-
schen Formen ontologische Bedeutung besitzen müssen. — Auf
diese Voraussetzung gründet sich die metaphysische Deduktion der
Kategorien aus der Urteilstafel, während die transzendentale De-
duktion derselben (die in dem Nachweis besteht, daß nur durch die
Kategorien und die aus ihnen fließenden Grundsätze „Erfahrung"^
möglich sei, welche aber gewährleistet ist durch die Tatsache der
Mathematik und reinen Naturwissenschaft) die Voraussetzung in
1) Vorr. z. Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 10.
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 339
sich trägt, daß es apriorische Vernunftfaktoren sein müssen, die —
im Zusammentreffen mit den aposteriorischen Elementen — „Er-
fahrung", „allgemeine und notwendige Erkenntnisse" zustande
bringen. — So haben wir denn in der doppelten Deduktion der
Kategorien die Voraussetzung nachgewiesen, die im dogmatischen
Glauben an apriorische Erkenntnisbestandteile besteht und auf die
sich letzten Endes die (metaphysisch: aus der Urteilstafel, trans-
zendental: aus dem Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung ab-
geleitete) Apriorität des transzendentalen Faktors der Erkenntnis
gründet.
Der Kritizismus besteht demnach nicht insofern in einer Über-
windung des Dogmatismus, daß er fragen würde, o b es apriorische
Erkenntnisse geben könne — ihre Existenz steht für Kant außer
Zweifel — sondern nur insofern er die Machtvollkommenheit der
apriorischen Erkenntnisse auf Erscheinungen restringiert, die Meta-
physik als die Wissenschaft von den Dingen an sich negiert. —
Die Kategorie der Kausalität, deren Verleumdung von Seiten Humes
als „Bastard der Einbildungskraft, beschwängert durch Erfahrung"
den Anstoß zur theoretischen Philosophie Kants gegeben hat, bildet
nicht nur den Zentralpunkt der transzendentalen Analytik, sondern
auch den Punkt, wo die theoretische Philosophie, an der Grenze
des Erkennens angelangt, in praktischen Glauben umschlägt. Und
zwar leistet die Kategorie der Kausalität hier einen doppelten
Dienst. Erstens dient sie per nefas zur Einführung des Dinges
an sich als Ursache der Erscheinung, der transzendentalen Affektion,
wenn auch nur als eines „noumenon im negativen Verstände", eines
Grenzbegriffes, eines unbestimmten X. Zweitens aber wird in der
Auflösung der 3. Antinomie das Gesetz der Kausalität als nur
giltig im Reiche der Erscheinungen dargelegt, während für die
Dinge an sich die Freiheit gelten muß, die als praktische Idee
unser Handeln bestimmen soll. So führt die theoretische Philo-
sophie, ihren Ausgangspunkt von der Begründung der Kausalität
als einer apriorischen Kategorie nehmend, zur Negation der Meta-
physik als Wissenschaft, zu ihrer Wiederaufrichtung als Glaubens-
system. „Ich mußte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz
zu bekommen", sagt Kant in der Vorrede zur Kr. d. r. V.
In die nähere Besprechung der Kategorie der Kausalität und
der zweiten Analogie der Erfahrung nun eingehend, ist also vor-
erst zu sagen: der eine der beiden sich gegenseitig oft durch-
dringenden Faktoren, von denen zu Beginn dieser Ausführungen
22*
340 Constanze Frieämann,
gesagt wurde, daß sie an den Inkonsequenzen des Kantischen Sy-
stems Schuld tragen (nämlich: die historische Bedingtheit des
Kantischen Denkens, die im Festhalten am rationalistischen Aus-
gangspunkt besteht, im Glauben, daß nur Erkenntnisse aus reiner
Vernunft oder doch zumindest Erkenntnisse, deren ein Bestandteil
aus reiner Vernunft entspringt — allgemeine und notwendige Er-
kenntnisse sein können, wie sie in Mathematik und Naturwissen-
schaft vorliegen) wurde als stillschweigende Voraussetzung der
ganzen Kantischen theoretischen Philosophie und insbesondere der
transzendentalen Analytik nachgewiesen.
Gemäß dieser Voraussetzung entsteht aus dem Wahrnehmungs-
urteil, „der logischen Verknüpfung von Wahrnehmungen in einem
denkenden Subjekt", erst durch das Hinzukommen von „besonderen,
im Verstand ursprünglich erzeugten Begriffen . . . das Erfahrungs-
urteil" 1). Objektive Gültigkeit und notwendige Allgemeinheit sind
Wechselbegriffe, deren ersterer auf die Allgemeingiltigkeit der em-
pirischen Urteile zurückgeht, „die, wie gesagt, niemals auf empiri-
schen, ja überhaupt sinnlichen Bedingungen, sondern auf einem reinen
Verstandesbegriffe beruht" 2). Und in transzendentaler Fassung aus-
gedrückt, ist: „Erfahrung", „Erkenntnis" nur möglich, wenn Er-
scheinungen unter reine apriorische Verstandesbegriffe subsumiert
werden. •— Daß es sich bei den Analogien der Erfahrung nicht
um direkte Subsumption der Erscheinungen unter Kategorien,
sondern um Subsumption unter deren Schemata handelt, ist für
den allgemeinen Gesichtspunkt, den es hier vor allem klarzulegen
gilt, irrelevant. — „Also ist nur dadurch, daß wir die Folge der
Erscheinungen, mithin alle Veränderung dem Gesetze der Kausalität
unterwerfen , selbst Erfahrung , d. i. empirische Erkenntnis von
denselben, möglich; mithin sind sie selbst als Gegenstände der Er-
fahrung nur nach eben dem Gesetze möglich3). „Der Hume'sche
Angriff auf das Gesetz der Kausalität, daß es ein propter hoc
dort statuiere, wo ein häufiges post hoc durch Erfahrung gegeben
sei und damit nur einer inneren subjektiven Nötigung nachkomme,
wird von Kant durch den Nachweis widerlegt, daß ein objektives
post hoc erst durch Voraussetzung einer Regel, nach der die Er-
scheinungen notwendig aufeinander folgen, möglich wird. Von der
1) Prol. S. 78.
2) Ebenda.
3) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 168.
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 341
Frage nach der Berechtigung ausgehend, die in der Apprehension
jederzeit sukzessiv gegebenen Vorstellungen objektiv einander suk-
zedieren zu lassen, kommt Kant zum Resultat, daß „ . . . es immer
in Rücksicht auf eine Regel, nach welcher die Erscheinungen in
ihrer Folge, d. i. soweit sie geschehen, durch die vorigen Zustände
bestimmt sind, . . . geschieht, . . . daß ich meine subjektive Syn-
thesis (Apprehension) objektiv mache, und nur lediglich unter
dieser Voraussetzung allein ist selbst die Erfahrung von etwas,
was geschieht, möglich" 1). Die 2. Analogie der Erfahrung in der
1. Ausgabe lautend: „Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt
etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt" — ist also ein
regulatives apriorisches Prinzip, allerdings nur im empirischen Ge-
brauch. Den Nachweis dafür will Kant durch Beispiele erbringen.
„Es kommt also darauf an, im Beispiele zu zeigen, daß wir niemals,
selbst in der Erfahrung, die Folge (einer Begebenheit, da etwas
geschieht, was vorher nicht war) dem Objekt beilegen und sie von
der subjektiven unserer Apprehension unterscheiden, als wenn eine
Regel zum Grunde liegt, die uns nötigt, diese Ordnung der Wahr-
nehmungen viel mehr als eine andere zu beobachten, ja daß diese Nö-
tigung es eigentlich sei, was die Vorstellung einer Sukzession im
Objekt allererst möglich macht"2).
Wir werden also vorerst zu zeigen haben, daß Kant die Auf-
gabe, die er sich gestellt hat, keineswegs löst, da er in den Bei-
spielen niemals bis zu einer Regel vordringt, welche dazu be-
rechtigen würde, die subjektiv sukzessive Apprehension objektiv
zu machen, sondern daß es sich hier immer nur um eine anderswo-
her gewonnene Kenntnis des sachlichen Zusammenhanges
handelt, die also für den. betreffenden Fall a priori ist, dies aber
nicht in dem strengen Sinne des Wortes, da sie doch ihrerseits aus
Erfahrung stammt.
Wir wissen, daß ein flußabwärts treibendes Schiff zuerst
im Ober- und dann im Unterlauf des Flusses als „Wahrnehmungs-
möglichkeit" existiert und geben infolgedessen unserer subjektiven
Apprehension objektive Giltigkeit. Die Sukzession in der subjek-
tiven Apprehension muß keineswegs immer parallel gehen der
objektiven Folge der Erscheinungen; immer ist es nur die Kenntnis
des sachlichen Zusammenhanges, die über Übereinstimmung oder
Nichtübereinstimmung derselben aufklärt. — Ein interessantes, von
1) Kr. d. r.V. 2. Ausg. S. 171.
2) Ebenda.
342 Constanze Friedmann,
Mach in anderem Zusammenhange angeführtes Beispiel, ist folgendes.
In der „Analyse der Empfindungen" heißt es: „Es ist bekannt, daß
ein optischer Eindruck, der physisch später entsteht, unter Um-
ständen dennoch früher erscheinen kann. Es kommt z. B. vor, daß
der Chirurg beim Aderlassen zuerst das Blut austreten und dann
den Schnepper einschlagen sieht" *). Die objektive Folge : Ein-
schlagen des Schneppers — Blutaustritt, kann also nicht durch
die subjektive Apprehensioh bestimmt werden, sondern nur gemäß
der Kenntnis des sachlichen Zusammenhanges. Von einem Apriori
kann hier nur in dem Sinne gesprochen werden, in dem Kant selbst
in der Einl. z. Kr. d. r. V. seinemApriori ein Apriori in nicht
stringent er Bedeutung gegenüberstellt, nämlich: „nicht unmittelbar
aus der Erfahrung, sondern aus einer allgemeinen Regel, die wir
gleichwohl selbst doch aus der Erfahrung entlehnt haben". Er
führt an, daß man von jemand, der das Fundament seines Hauses
untergräbt, sagen wird: „Er konnte es a priori wissen, daß es
einfallen würde, d. i. er durfte nicht auf die Erfahrung, daß es
wirklich einfiele, warten. . . . Allein" fügt Kant hinzu, „gänzlich
a priori konnte er dieses doch nicht wissen, denn daß die Körper
schwer sind und daher, wenn ihnen die Stütze entzogen wird,
fallen, mußte ihm doch zuvor durch Erfahrung bekannt werden".
Und genau dasselbe läßt sich auf alle von Kant selbst als Beleg
für die transzendentale Deduktion und gleichzeitig als Widerlegung
der Hume'schen Theorie des Kausalitätsgesetzes angeführten Bei-
spiele sagen. Die subjektiv sukzessive Apprehension
wird objektiv durch die für den betreffenden Fall a
priori gegebene Kenntnis des sachlichen Zusammen-
hanges.
Auch inbezug auf das Beispiel von der Stubenwärme, deren
„Ursache der Ofen" ist und inbezug auf das vom „Grübchen im
Kissen, . . . dessen . . . Ursache die Kugel" ist, muß gesagt werden,
daß die Nichtumkehrbärkeit des Abhängigkeitsverhält-
nisses der Erscheinungen, auf die hier „die objektive Suk-
zession in der Zeit" reduziert ist 2), (da es sich doch eben um gleich-
zeitige Erscheinungen handelt) auf der für den betreffenden
Fall a priori (aber dennoch aus Erfahrung) gegebenen Kenntnis
des sachlichen Zusammenhanges beruht. Im ersten Beispiele wissen
wir, daß das Feuer im Ofen einen Raum erwärmt und ebenso wissen
1) Mach: Anal, der Empfindungen. S. 195.
2) Worauf noch zurückzukommen ist.
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 343
wir im zweiten, daß das Kesistenzvermögen des Kissens ein ge-
ringeres ist als das Gewicht der Kugel und daß aus dieser Prä-
misse — zusammen mit dem allgemeinen Gesetz von der gleichen
Aktion und Reaktion der Kräfte — der Schluß folgt: also wird
die Kugel einen Druck ausüben, der größer ist als der Gegendruck
des Polsters.
So haben wir also durch Analyse dieser Beispiele gezeigt,
daß Kant garnicht bis zu einem transzendental apriorischen Prinzip,
das aller Erfahrung vorhergehen müsse, damit aus subjektiv suk-
zessiver Apprehension objektive Folge der Erscheinungen werden
könne, vorgedrungen ist, sondern daß es sich in diesen Beispielen
vielmehr immer nur um eine jeweils schon gegebene Kenntnis des
sachlichen Zusammenhanges handelt, die die Übereinstimmung oder
Nichtübereinstimmung der subjektiv sukzessiven Apprehension mit
der objektiven Folge der Erscheinungen (resp. die Nichtumkehrbar-
keit des Abhängigkeitsverhältnisses derselben) bestimmt.
Wollen wir aber im Sinne Kants fragen, wie die Kenntnis
eines sachlichen Zusammenhanges möglich sei, ob hier nicht aprio-
rische Yerstandesgesetze als Voraussetzung vorhergehen müßten,
so kommen wir zu dem Ergebnis : Voraussetzung für eine Wissen-
schaft und Erkenntnis ist die Annahme der Konstanz und des
Zusammenhanges der Erscheinungen, welche Formulierung im we-
sentlichen dem allgemein für die Analogien der Erfahrung gel-
tenden Prinzip („Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer
notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich") ent-
spricht. Die Frage würde sich also dahin zuspitzen, ob dieses
letzte allgemeine Prinzip, um allgemeine Notwendigkeit und ob-
jektive Giltigkeit zu garantieren, aus reiner Vernunft stammen
müsse. Und da werden wir sagen, daß eine Bejahung nur durch
die oben besprochene rationalistische Voraussetzung motiviert sei,
während für unsere Auffassung die Konstanz und der Zusammen-
hang der Erscheinungen ein, biologisch (in dem Streben nach Sta-
bilität) und psychologisch (im Assoziationsmechanismus) fundiertes, im
Laufe der Entwicklung gewonnenes, • für die Forschung unentbehr-
liches, heuristisches Prinzip darstellt. Paulsen neigt auch hinsicht-
lich des Kant'schen Kausalitätsgesetzes letzterer Auffassung zu:
„. . . Freilich ist es dann nicht ein schlechthin notwendiges und
allgemeines Gesetz, sondern wie alle Naturgesetze, ein bloß prä-
sumtiv allgemein giltiger Satz". Und an anderer Stelle: „Und so
das Gesetz der Kausalität überhaupt : es ist die letzte axiomatische
344 Constanze Friodmann,
Voraussetzung, womit die Wissenschaft an ihr Werk geht, aber
nicht ein starres Aprioribesitztum, sondern in der Arbeit an ge-
gebenem Material gebildet, was denn im Grunde auch Kants An-
schauung ist, nur daß die Angst vor dem Skeptizismus Humes ihn
hindert, es so auszusprechen" x). Die Rettung vor dem „bodenlosen
Skeptizismus" erschien aber Kant in der Gestalt eines rationali-
stischen — wenn auch begrenzten — Dogmatismus; dies eben die
historische Schranke seines Denkens.
Daß wir an Stelle des Kausalitätsgesetzes „die Konstanz und
den Zusammenhang der Erscheinungen" als letzte Voraussetzung
der Wissenschaft postulierten — als Voraussetzung der Erfahrung
im Sinne der Kenntnis eines sachlichen Zusammenhanges, die allein
dazu berechtigt, die subjektiv sukzessive Apprehension als objektive
Folge der Erscheinungen aufzustellen, hat darin seinen Grund, daß
letztere Formulierung genauer ist als das Kausalitätsgesetz, dem
„Unvollständigkeit, Unbestimmtheit und Einseitigkeit" 2) anhaftet.
Schon Kant gibt zu, daß sich hier eine „Bedenklichkeit" äußert,
„die gehoben werden muß. Der Satz der Kausalverknüpfung unter
den Erscheinungen ist in unserer Formel auf die Reihenfolge der-
selben eingeschränkt, da es sich doch bei dem Gebrauch derselben
findet, daß er auah auf ihre Begleitung passe und Ursache und
Wirkung zugleich sein könne" 3J. So haben wir schon an den
früher erörterten Beispielen gesehen, daß die Sukzession in der
Zeit, für die allein ja das Kausalgesetz gelten soll, auf die Nicht-
umkehrbarkeit einer Abhängigkeitsbeziehung von
gleichzeitigen Erscheinungen reduziert wird. Kant
sagt: „Die Zeit zwischen der Kausalität der Ursache und deren
unmittelbaren Wirkung kann verschwindend (sie also zugleich) sein,
aber das Verhältnis der einen zur anderen bleibt doch immer der
Zeit nach bestimmbar ... ich unterscheide doch beide durch das
Zeitverhältnis der dynamischen Verknüpfung beider"4), was aber
nichts anderes als die Nichtumkehrbarkeit der Abhängigkeits-
beziehung beinhaltet. — Immer können wir sehen, daß eine Kau-
salitätsbeziehung zweier Erscheinungen, die für das praktische
Leben ausreichend sein mag, aus dem sie ja auch ihr Dasein ab-
leitet, für wissenschaftliche Zwecke höchst ungenau ist und sich
1) Paulsen : Kant. S. 206.
2) Mach : Anal, der Empfindungen. S. 76.
3) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 175.
4) Ebenda.
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 345
in Abhängigkeitsbeziehungen der einzelnen Faktoren von einander,
die durch Analyse der noch komplexen Erscheinungen (Ursache —
Wirkung) gewonnen werden, auflösen läßt. Das Kausalitätsgesetz
wird also durch den Funktionalzusammenhang ersetzt. „Alle genau
und klar erkannten Abhängigkeiten lassen sich als gegenseitige
Simultanbeziehungen ansehen ?, sagt Mach1). Die Nichtumkehrbar-
keit im Abhängigkeitsverhältnis zweier Erscheinungen findet be-
kanntlich darin ihren Ausdruck, daß die eine der beiden Erschei-
nungen als unabhängig Variable, die andere als abhängig Variable
dargestellt wird.
Hier ist noch zu bemerken: Nach Kant wird das Wahr-
nehmungsurteil, wie oben schon erwähnt, erst durch Anwendung
einer Kategorie zum Erfahrungsurteil. Die „Erfahrungsurteile"
lassen aber in ihrer Form eine Analogie mit menschlichen Hand-
lungen erkennen. Kant selbst führt in den ,Prolegomena' als
„leichter einzusehendes Beispiel", um den Gegensatz von Er-
fahrungsurteil und Wahrnehmungsurteil darzutun, folgendes an:
„Wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm. Dieses
Urteil ist ein bloßes Wahrnehmungsurteil und enthält keine Not-
wendigkeit; ich mag dieses noch so oft und andere auch noch so
oft wahrgenommen haben. Die Wahrnehmungen finden sich nur
gewöhnlich so verbunden. Sage ich aber: die Sonne erwärmt den
Stein, so kommt über die Wahrnehmung noch der Verstandes-
begriff der Ursache hinzu, der mit dem Begriff des Sonnenscheines
den der Wärme notwendig verknüpft und das synthetische Urteil
wird notwendig allgemeingiltig, folglich objektiv und aus einer
Wahrnehmung in Erfahrung verwandelt". Die Notwendigkeit, von
der hier gesprochen wird, ist aber eine, Kant aus dem Erlebnis
des Wirkens bekannte, eine psychologische Notwendig-
keit, die mit der logischen Notwendigkeit einer apriori-
schen Voraussetzung verquickt wird. Wäre das psychologische
Erlebnis nicht ein unbewußtes Motiv der hier statuierten Not-
wendigkeit, so wäre nicht einzusehen, warum das Urteil „wenn die
Sonne den Stein erwärmt, so wird er warm" nicht dieselbe ob-
jektive Geltung und notwendige Allgemeinheit besitzen sollte, wie
das Urteil „die Sonne erwärmt den Stein". Auch im ersten Fall
ist eine Voraussetzung vorhanden, die in der Aufstellung der
Abhängigkeitsbeziehung besteht; also handelt es sich auch hier
1) Anal, der Empfindungen. S. 75.
346 Constanze Friedniann,
nicht nur um ein Wahrnehmungsurteil. Diese Voraussetzung
haben wir aber als die der Konstanz und des Zusammenhanges
der Erscheinungen aufgezeigt, in die das von anthropopathi-
schen Elementen gesäuberte Kausalitätsgesetz übergeht. Not-
wendiger Zusammenhang der Erscheinungen ist eine logische Vor-
aussetzung der Erkenntnis und der Wissenschaft, Notwendigkeit auf
Grund eines „Bewirkens" aber enthält das im Handeln erlebte
Kraftgefühl, auf das die Wirkung in der Zeit folgt ; psychologische
und logische Notwendigkeit sind da miteinander verschmolzen.
In diese Auffassung des Kausalitätsgesetzes spielt aber auch
die in einem früheren Kapitel besprochene Identifikation von Zeit-
anschauung und Zeitbegriff hinein. Es ist klar, daß die nach
Analogie menschlicher Handlungen aufgefaßten Abhängigkeitsbe-
ziehungen der Erscheinungen nur in dem Schema der Sukzession
in der Zeit realisierbar gedacht werden können. Nur in der
psychologischen Zeit, der verfließenden Dauer, kann das Wirken
vor sich gehen. Infolgedessen erblickt Kant selbst in der Be-
ziehung gleichzeitiger Erscheinungen ein „Zeitverhältnis dynami-
scher Verknüpfung". Die auf ein Nichts reduzierbare Zeit aber
(vergl. oben S. 328) ist eine ganz andere Zeit als die psychologische,
erlebte Zeitanschaung, es ist nämlich die metrische Zeit, die auf
Raummessung beruht. Und so ist es nur die Identifikation von Zeit-
anschauung und Zeitbegriff, die Kant dazu veranlaßt, die simul-
tanen Abhängigkeitsbeziehungen in eine „dynamische Verknüpfung
in der Zeit" aufzulösen.
So haben wir denn 1. nachgewiesen, daß die dogmatisch-ratio-
nalistische Voraussetzung, daß nur Erkenntnisse aus reiner Ver-
nunft (resp. bei denen ein Faktor aus reiner Vernunft stammt) der
Dignität der Mathematik und Naturwissenschaft entsprechen können,
in der metaphysischen und transzendentalen Deduktion der Kate-
gorien enthalten ist ; 2. haben wir durch Diskussion der Beispiele,
die Kant anführt, um dar zutun, daß ein objektives post hoc nur
durch Anwendung einer Regel, des Kausalitätsgesetzes, möglich
sei, gezeigt, daß Kant keineswegs bis zu einem letzten transzen-
dentalen, apriorischen Prinzip in diesen vordringt; 3. haben wir
im Sinne Kants die Frage stellend, nach einer letzten Voraus-
setzung für die Möglichkeit der Erkenntnis und der Wissenschaft :
das biologisch und psychologisch fundierte, heuristische Prinzip
der Konstanz und des Zusammenhanges der Erscheinungen ge-
wonnen, das wir an Stelle des Kausalitätsgesetzes setzten, wegen
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 347
seiner größeren Genauigkeit und Präzision; 4. haben wir zu zeigen
versucht, daß der Begriff der Notwendigkeit, den das Kausalitäts-
gesetz enthält, auf einem psychologischen, aus dem Erlebnis des
Handelns, Wirkens stammenden, Motiv beruht und daß so die psy-
chologische Notwendigkeit mit der logischen transzendentalen Not-
wendigkeit verschmilzt und 5. und letztens haben wir darauf hin-
gewiesen , daß die früher besprochene Identifikation von Zeit-
anschauung und Zeitbegriff auch in die Kantische Auffassung des
Kausalitätsgesetzes eingeht.
Während bei der Ableitung von Eaum und Zeit wie auch bei der
der transzendentalen Einheit des Selbstbewußtseins und der produk-
tiven Einbildungskraft die Erlebnismomente immer durch die trans-
szendentale Deduktion hindurchschimmern und so leicht aufgedeckt
werden konnten, ist die Ableitung der Grundsätze, von denen hier
nur die 2. Analogie der Erfahrung eine eingehende Besprechung
erfuhr, so sehr in das Kantische System eingebaut, daß die psycho-
logischen Momente, die auch hier wirksam sind, nur mühsam zum
Vorschein gebracht werden konnten. Die Überzeugung Kants, daß
das Kausalitätsgesetz, entgegen der Behauptung Hum es, einen Apriori-
besitz darstelle, ist letzten Endes — abgesehen von den vorerst er-
örterten Motiven — in der erlebten Spontaneität des Handelns
und Denkens gegründet, auf die, als letzte Quelle, wir die transzenden-
tale Einheit des Selbstbewußtseins ebenso wie den kategorischen Im-
perativ zurückgeführt haben. — Darin, daß der Forscher im Experiment
Fragen an die Natur stellt, „Gesetze a priori" postuliert, die verifi-
ziert werden sollen, sieht Kant ja den Beleg seiner Theorien. Daß
diese Fragen als Hypothesen gestellt werden, die ihrerseits
durch Intuition des Forschers inbezug auf die maßgebenden
Faktoren einer komplexen Erscheinung bedingt sind — entspricht
unserer heutigen Auffassung, aber nicht dem Kantischen Denken.
In der Spontaneität des Forschers, der Zusammenhänge schafft
(als Hypothesen), unter die er die Erscheinungen subsumiert (als
Verifikation durch das Experiment), erblickt Kant die apriorische
Tätigkeit des Verstandes, der durch seine Spontaneität „der Natur
ihre Gesetze vorschreibt".
Schluß.
Von zwei Seiten wurde in vorliegender Schrift eine Kritik
und Neubeleuchtung der Kantischen Philosophie versucht. Einer-
seits sollte das psychologische Erlebnis aufgedeckt werden in der
348 Constanze Friedmann,
Kolle, die es bei Ableitung des Apriori verhülltermaßen spielt,
andererseits sollte die historische Bedingtheit des Kantischen Den-
kens, soweit durch sie Voraussetzungen in die Deduktionen ein-
dringen, klargelegt werden. Daß diese beiden Momente sich gegen-
seitig oft durchdringen, wurde schon an anderer Stelle hervor-
gehoben und in der Ableitung der Grundsätze wurde auf letzteres
Moment größeres Gewicht gelegt.
Zum Schlüsse möchte ich noch ein Bekenntnis ablegen. Oft
und oft hatte ich während dieser Arbeit das Gefühl, daß es eine
Pietätslosigkeit sei, den Widersprüchen, unausgesprochenen Vor-
aussetzungen und historischen Bedingtheiten im System des größten
philosophischen Genius nachzuspüren. Bei der Lektüre der Kr. d.
r. V., insbesondere aber der Prolegomena verließ mich immer wieder
der kritische Verstand und ich stand im Banne dieses ungeheuren
Geistes, dessen Überzeugungskraft hinreißend wird, wenn er den
Ton ruhiger abstrakt sachlicher Darlegung verlassend, in seher-
hafter Sprache zu reden beginnt. Nur der Umstand, daß dies
eigentlich selten bei Kant der Fall ist und daß eine große Gedanken-
arbeit dazu gehört, den vielfach verschlungenen Pfaden seines Sy-
stems zu folgen, macht es erklärlich, daß er unter seinen un-
zähligen Verehrern keine Proselyten gemacht, sondern sich diese
zu ebenso vielen Kritikern erzogen hat.
Aus der Verquickung von transzendentaler und psychologischer
Methode bei Kant, die in der vorliegenden Untersuchung im Ein-
zelnen nachgewiesen wurde, folgt aber — wie in der Einleitung
schon angedeutet — daß es möglich, ja notwendig sei, den
scharfen Gegensatz von Transzendentalismus und kritischem Psy-
chologismus zu überbrücken.
Einerseits muß der Transzendentalismus, der sich von Kant
als dem Begründer der kritischen Methode herleitet, anerkennen,
daß Kant selbst das Apriori nicht immer transzendental aufgedeckt
hat, daß er — geleitet von Erlebnismomenten, die in Anschauungs-
formen und Kategorien enthalten sind, oft als logisch-notwendige
Voraussetzung einer Wissenschaft ein psychologisches Apriori
benützt oder einen nur für eine bestimmte Zeit als Apriori dieser
Wissenschaft geltenden Begriff. (Ich verweise insbesondere auf
meine Darstellung der Raumanschauung.)
Andererseits muß der Transzendentalismus, will er strenger
als Kant selbst verfahren, die Konsequenzen seiner Methode ziehen,
die ihn aber in unlösliche Widersprüche verwickeln. — Nur durch
Psychologische Momente in der Ableitung des Apriori bei Kant. 349
seine unbewußte Inkonsequenz ist Kant den inneren Widersprüchen
der transzendentalen Methode entgangen. — Die beiden Grund-
auf gaben, die Kant mittelst der kritischen Methode erfüllen will,
kann sie ihrem Wesen nach nicht leisten. Bei Kant sind sie,
wie folgt, formuliert: I. „Ich verstehe aber unter einer trans-
szendentalen Erörterung die Erklärung eines Begriffs als eines
Prinzips, woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkennt-
nisse a priori eingesehen werden kann. Zu dieser Absicht wird
erfordert 1. daß wirklich derlei Erkenntnisse aus dem gegebenen
Begriffe herfließen 2. daß diese Erkenntnisse nur unter der Vor-
aussetzung einer gegebenen Erklärungsart dieses Begriffs möglich
sind" *). IL „Was nun die1 Gewißheit betrifft, so habe ich mir
selbst das Urteil gesprochen: daß es in dieser Art von Betrach-
tungen auf keine Weise erlaubt sei zu meinen, und daß alles, was
darin einer Hypothese nur ähnlich sieht, verbotene Ware sei, die
auch für den geringsten Preis nicht feilstehen darf, sondern sobald
sie entdeckt wird, beschlagen werden muß"2).
Das regressive Verfahren, zu einer gegebenen Wissenschaft
die Voraussetzungen ihrer Möglichkeit zu suchen, kann sich nur
auf die logische Anordnung der Ergebnisse der Wissen-
schaft beziehen, ohne daß damit gesagt wäre, daß diese apriori-
schen Voraussetzungen auch bei Entstehung dieser Wissenschaft
maßgebend waren. Damit wird aber, wie Max Scheler in „Die
transzendentale und psychologische Methode" nachweist, der
Erkenntnisprozeß in ganz unnötiger Weise verdoppelt. Der
Schluß von gegebenen Sätzen — so hier von den mathematischen
und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen — auf die Voraus-
setzungen ihrer Möglichkeit, kann nur mögliche Voraussetzungen
liefern, also sind die gefundenen Prämissen nur Hypo-
thesen8). Und weiters können die mittels des regressiven Ver-
fahrens aufgedeckten Voraussetzungen einer Wissenschaft nur für
ein bestimmtes Entwicklungsstadium derselben Geltung
beanspruchen. (Vergl. meine Ausführungen über den euklidischen
Raumbegriff bei Kant.) — Die transzendentale Methode — kon-
sequent durchgeführt — kann also nur Hypothesen liefern, die
sich auf die logische Anordnung der Ergebnisse der Wissenschaften
1) Kr. d. r. V. 2. Ausg. S. 54.
2) Vorr. z. Kr. d. r. V. 1. Ausg.
3) Vergl. Sigwart : Logik. 2. Bd. S. 292.
350 ConstanzeFriedmann, Psychologische Momente i n d er Ableitung usw .
beziehen und zwar nur auf ein bestimmtes Entwicklungsstadium
derselben.
Da sich nun der Transzendentalismus damit nicht begnügen
kann, muß er — um die „wirklich notwendigen Voraussetzungen" *)
der Wissenschaften aufzudecken — die regressiv aufgesuchten
apriorischen Erkenntnisbegriffe bis zu ihren "Wurzeln, bis in die
Mentalität des Menschen hinein, in seine Organisation, zurückver-
folgen. Damit beschreitet er aber den von Fr. A. Lange gewiesenen
Weg der transzendentalpsychologischen Methode, die
das Entstehen des Apriori selbst aufdecken will. Während die
psychogene tische Methode auf progressivem Wege verfolgt,
wie sich aus dem gewöhnlichen Ablauf der Vorstellungen durch
Assoziation und Abstraktion die präzisen Werkzeuge der Forschung
herausbilden, muß die zur transzendentalpsychologischen erweiterte
transzendentale Methode regressiv bis zur Psyche des Menschen
fortschreiten. Die bei Kant unbewußte Korrektur und
Ergänzung der transzendentalen Methode von Seiten
des Erlebnisses muß also zu einem bewußten Zurück-
greifen auf die Quellen der Erkenntnisbegriffe — der
Deduktion des logischen Apriori aus der psychologi-
schen Konstitution — ausgebaut werden.
1) Vergl. oben S. 349.
Genie und Tragik.
Von Dr. Ottomar Wiclimann, Privatdoz. d. Philos a. d. Univ. Halle.
Making . . . we fooles of nature
So horridly to shake our disposition
With thoughts beyond the reaches of our soules.
Hamlet, I, 4.39.
I. Die Problematik der Freiheitsidee.
Kaum ein Gebiet — außer vielleicht dem politischen — ist
wohl so geeignet, die Dialektik des Begriffs der Freiheit zu zeigen,
wie die Erscheinung des Tragischen; die Dialektik, d. h. das not-
wendige Zusammenbrechen der klarsten und sichersten Aufstellungen,
wobei dennoch das Recht des Begriffs bewahrt bleibt. Beim Tra-
gischen springt der Zwiespalt der begrifflichen Auffassung dadurch
schon in die Augen, daß man sein Wesen einerseits in der
Freiheit, andererseits in der Notwendigkeit fand; das
Postulat einer Synthese ergiebt dann Schellings Satz: es müsse
im Tragischen die Identität von Notwendigkeit und Freiheit liegen.
Schelling hat mit das Geistvollste über Tragik überhaupt ge-
schrieben. Aber seine Voraussetzungen sind uns heute fremd. Trotz-
dem bin ich überzeugt, daß tatsächlich aus den beiden Begriffen
der Freiheit und Notwendigkeit das entscheidende Verständnis für
das Wesen des Tragischen entspringt, und ferner, daß aus Kanti-
schen Gesichtspunkten — ethischen wie ästhetischen — die Lösung
sich ergibt : Auch die folgenden Ausführungen werden meiner Mei-
nung nach, gerade wo sie von Kant abweichen, diesen durch die
Ausnahme bestätigen, d. h. die unabsehbare Entwicklungsfähigkeit
und Gestaltungskraft seiner Grundgedanken beweisen.
Ohne weiteres ist die Notwendigkeit, die im Handeln des
tragischen Helden sich ausprägt, augenfällig. Blind, unaufhaltsam
geht er seinem Untergang entgegen. Was andere tun, ihn zu
retten, was er selbst einmal nach dieser Richtung unternehmen
mag, was der Zufall an günstigen Momenten ihm in den Weg
352 Ott omar Wichmann,
wirft — eg dient nur, um die hier vorwaltende starre und uner-
bittliche Notwendigkeit noch deutlicher zu machen. Dieser Zng,
nirgends ganz fehlend, in einigen der anerkanntesten Tragödien
wie dem Ödipus Rex und der Braut von Messina mächtig sich
äußernd, ist bekanntlich zeitweise (etwa 1809 — 1825) in der „Schick-
salstragödie" zur Modesache und dementsprechend übertrieben und
verzerrt worden. So hat auch Leopold Ziegler in seinen ge-
dankenvollen Ausführungen „Zur Metaphysik des Tragischen" *),
in der Notwendigkeit einen Grundzug des Tragischen gesehen: In
dem Zusammenhang verschiedener Willensrichtungen, die alle, so-
lange sie in einem gegenseitig abgestuften Verhältnis stehen, zweck-
voll und berechtigt sind, wird eine zum Selbstzweck. Ohne Rück-
sicht auf die Bedingtheit ihrer Geltung im Rahmen einer weiteren
zweckvollen Ordnung wird sie für sich als unbedingt genommen
und gewinnt so, im Mißverhältnis zu allen anderen, eine aufs
äußerste gesteigerte und übertriebene Intensität, eine starre, un-
lösbare Eigenmächtigkeit und Rücksichtslosigkeit, aus der sich un-
ausbleiblich der Zusammenstoß mit anderen berechtigten Bestre-
bungen und der Untergang ergibt. Ziegler bestreitet dabei folge-
richtig die Freiheit des tragischen Menschen. Frei ist nach ihm
der Mensch bei seinen sittlichen Entscheidungen im Gegen-
satz zum Tier und seinem blinden Trieb. Aber diese menschliche
Freiheit hat der tragische Mensch verloren, er ist nicht mehr frei,
die Entscheidungswahl steht ihm nicht mehr zu. Ziegler ist folge-
richtig genug, die so sich ergebende Übereinstimmung der tra-
gischen Persönlichkeit mit dem Tier zuzugeben, und — wie bei
E. v. Hartmann — wird aus diesem Gedankengang das Tragische
als die blinde Notwendigkeit zum Weltgesetz überhaupt: auch in
tieferen Lebewesen, sogar in der einzelnen Dynamide äußert sich
solche tragische Überspannung der Willensintensität, wobei dann
freilich die Tragik des Tieres 'und der Natur als unter sittlich
zu nehmen ist, die des Menschen als ü b e r sittlich, indem es eine
Beziehung aufs Metaphysische und Göttliche gewinnt. — Es liegt
auf der Hand, wie in diesen Ausführungen das Ausschlaggebende
der Zug der Notwendigkeit im Tragischen ist, genau wie in Hebbels
Auffassung2), der in der mit dem Wesen des Menschen notwendig
gegebenen Willensüberspannung das Wesen des Tragischen sieht, und
1) Leopold Ziegler, Zur Metaphysik des Tragischen. Leipzig 1902.
2) In „Mein Wort zum Drama" und im Vorwort zu „Maria Magdalena".
Genie und Tragik. 353
auch bei Max Scheler *), wenn er vom Tragischen spricht als von einem
„wesentlichen Moment im Universum selbst", von dem „schweren,
kühlen Hauch, der von diesen Dingen selbst ausgeht", von der
„Abwälzung des Furchtbaren auf den Kosmos als Wesen".
So unverkennbar dieser Zug der Notwendigkeit im Handeln
des tragischen Helden ist, so unvermeidlich es für eine Theorie des
Tragischen ist, Ursprung und Wesen dieser Notwendigkeit deutlich
zu machen und zu erklären, so soll doch die folgende Untersuchung
vom genau entgegengesetzten Pol ihren Ausgang nehmen : von der
Auffassung, die den Grundzug im Handeln des tragischen
Helden in seiner Freiheit erblickt. Dabei wird sich, so
denke ich, gerade aus dem Begriff der Freiheit und aus seiner
Problematik schärfer und unverkennbarer das Wesen derjenigen
Notwendigkeit ergeben, die in dem tragischen Handeln sich
äußert. Wir werden — aus ganz entgegengesetzter Richtung — , die
Aufstellungen Hebbels, Zieglers, Schelers bestätigt und verdeut-
licht finden. Zum Leitsatz der Untersuchung mag uns dabei eine
Äußerung Goethes in der Rede „Zu Shakespeares Namenstag" (von
1771) dienen, die das Wesen des Tragischen als Freiheit hinstellt
und, wie wir sehen werden, ein Höchstes anschaulicher Formulierung
des hier vorliegenden Sachverhalts bedeutet: „Shakespeares
. . Plane sind . . keine Plane; aber seine Stücke drehen
sich alle um den geheimen Punkt (den noch kein Phi-
losoph gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigen-
tümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit un-
seres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen
zusammenstößt"2). Was Gundolf3), der diese Stelle anführt,
daran tadelt — daß nämlich darin eine Kennzeichnung nicht
der eigentlich Shakespeareschen , sondern der Tragik überhaupt
liege — , ist richtig; es macht aber diesen Satz nur wertvoller:
wir werden sehen, daß dasjenige, was hier als das eigentlich Tra-
gische gekennzeichnet ist, in so mächtiger Form außer bei Shake-
speare nur noch vielleicht bei Goethe selbst und bei Homer sich
findet.
Auf den Freiheitsgedanken in der eigentümlich Kantischen
Fassung hat zunächst dessen getreuer Schüler, Friedrich Schiller,
1) Max Scheler, „Zum Phänomen des Tragischen", im „Umsturz der Werte"
I, S. 237 ff.
2) Cottasche Ausg. 1885 Bd. VIII, S. 773.
3) Friedrich Gundolf, Goethe, 1917. S. 111.
Kautstadieu XXVI. 23
354 Ottomar Wichtoann,
seine bedeutsamen Ausführungen über das Wesen des Tragischen *)
aufgebaut. So heißt es in der Abhandlung „Über das Pathetische" :
„Das erste Gesetz der tragischen Kunst war Darstellung der lei-
denden Natur. Das zweite ist Darstellung des moralischen Wider-
standes gegen das Leiden" . . . Von dem Menschen wird schlechter-
dings ein moralischer Widerstand gegen das Leiden gefordert,
durch den allein sich das Prinzip der Freiheit in ihm : die Intelli-
genz, kenntlich macht. Damit ist aufs deutlichste als Gegenstand
des Tragischen die Darstellung der Freiheit hingestellt, und zwar
der im Kantischen Sinne als moralisch verstandenen Freiheit. Das
gilt nach Schiller auch für die Fälle, wo wir zwar keinen moralischen
Zweck der Handlung erkennen können, wie wenn z. B. Peregrinus
Proteus durch seine Selbstverbrennung in Olympia die Pflicht der
Selbsterhaltung verletzt: trotzdem befriedigt uns diese Handlung,
weil sie wenigstens die Fähigkeit zum Moralischen beweist. Ebenso
bezeichnet Schiller in der Abhandlung „Über den Grund ..." die
Tragödie als „diejenige Dichtungsart, welche uns die moralische
Lust in vorzüglichem Grade gewährt . . ihr Gebiet umfaßt alle
möglichen Fälle, in der irgend eine Naturzweckmäßigkeit einer
moralischen oder auch eine moralische Zweckmäßigkeit der anderen,
die höher ist, aufgeopfert wird". Mit dieser Begründung der tra-
gischen Wirkung auf dem moralischen Wohlgefallen stimmt es
überein, wenn die höchste Steigerung dieser tragischen Wirkung
darin gesehen wird, daß man „sich in die Ahnung oder lieber in
ein deutliches Bewußtsein einer teleologischen Verknüpfung der
Dinge, einer erhabenen Ordnung, eines gütigen Willens verliert".
Eine unmittelbare Hindeutung auf die Kantische Philosophie, auf
die aus dieser quellende Weltanschauung als den darzustellenden
Gegenstand liegt dann in den Worten: „Die neuere Kunst,
welche den Vorteil genießt, von einer geläuterten
Philosophie einen reineren Stoff zu empfangen, ist es
aufbehalten, auch die höchste Forderung zu erfüllen,
und so die ganze moralische Würde der Kunst zu ent-
falten".
So wenig nun die hohe Bedeutsamkeit dieser Gedanken bestritten
werden soll, so mächtig darin der Dichter der Jungfrau von Or-
leans und des Teil den besten Schwung seiner eigenen Dichtung
gezeichnet hat — so muß doch verschiedenes diese Bestimmung
1) „Über das Pathetische", „Über den Grund des Vergnügens an tragischen
Gegenständen". „Über die trag. Kunst".
Genie und Tragik. 355
des Tragischen in hohem Maße zweifelhaft machen. Sie wider-
spricht zunächst der Kantischen Ästhetik, die ausdrücklich das
ästhetische Wohlgefallen vom moralischen unterscheidet. Auch
das Gefühl des Erhabenen fällt durchaus nicht mit dem hier
von Schiller beschriebenen Wohlgefällen an der moralischen Ord-
nung zusammen, sondern es wird erregt, wenn das Schauerliche,
Formlose und Überwältigende durch den Gegensatz unser eigenes
moralisches Selbstbewußtsein weckt. Aber weiter ! Eine der mäch-
tigsten Tragödien ist der erste Teil des Faust, und diese Persön-
lichkeit, die der Hoffnung und dem Glauben flucht und, im Gegen-
satz zu früheren weicheren Gefühlen alles zerreißt, was mit innigen
und teueren Banden das Herz gefesselt hielt, zeigt ganz unleugbar,
welch hinreißende Wirkung auch das Antimoralische, die Unbe-
dingtheit des Wesens ausüben kann, die, um frei zu sein, auch das
Heiligste und Ehrwürdigste zersprengt. Und wenn man zur Not
auch dies noch, da ja Kraft des Willens und die Möglichkeit zur
Moralität bewiesen werde, unter das moralische Wohlgefallen rechnen
wollte, so kann man dagegen noch die Gestalten Romeos und
namentlich Werthers anführen, die im höchsten Grade tragisch
sind und wo trotzdem auch von dieser Kraft des Willens keine
Rede ist. Auch Werther bedeutet ein Höchstes an Persönlichkeit.
Noch im späteren Alter hat Goethe dieser Gestalt nachgerufen:
„Du gingst voraus und hast nicht viel verloren".
Aus all dem geht hervor, daß die Sache so einfach nicht liegt,
wie sie Schiller in seiner Theorie über das Tragische dargestellt
hat. Schiller hat das, wie der berühmte Briefwechsel mit Goethe
über den Faust von 1797 deutlich zeigt, selbst durchgefühlt1).
Er tut nachdenkliche Äußerungen über die „symbolische Bedeut-
samkeit", die „philosophischen und poetischen Anforderungen an
den Faust", ohne daß sich das, was er meint und richtig andeutet,
unter die Begriffe der Kantischen Philosophie, wie er sie verstand,
hätte fassen lassen.
Scheler spricht, gerade beim Problem des Tragischen, von der
„allzu kurzsichtigen Kantischen Ethik". Ich möchte diese Ethik
lieber allzu weitsichtig nennen : Sie faßt das fernste, unbedingteste
Ziel, den allerletzten Inhalt der Freiheit ins Auge und hat ihn
mit dem „unbedingten Gebot" für alle Ewigkeit fest umrissen.
Dabei aber „übersieht" sie — einzelne Äußerungen, namentlich in
1) Vgl. namentlich den Brief vom 23. Juni 1797 (Insel-Ausg. 1912 S. 347).
23*
356 Ottomar Wichmann,
der „Religion" abgerechnet, die auch hier das Wesentliche be-
rühren — , daß im gewöhnlichen Dasein das echteste Streben nach
Freiheit und Persönlichkeit in unendlichen Fällen zur allerschärfsten
Verneinung des Moralischen führt. Freiheit ist die Verneinung
der Bedingtheit, ist Un- Bedingtheit, das hat Kant selbst in be-
wunderungswerter Schärfe in seiner „Grdl. z. Met. d.jSitten" heraus-
gearbeitet. Dieses Unbedingtseinwollen aber äußert sich oft genug
in der leidenschaftlichsten Ablehnung derjenigen Bedingtheit, die
durch Jugenderinnerung und Erziehung mit der Persönlichkeit am
festesten verwachsen ist: in Ablehnung der Sittlichkeit und der
mit ihr verbundenen und sie stützenden Vorstellungen. Über diese
Unbedingtheit, dieses Freiheitsstreben, das Piaton, Fichte und
Hegel machtvoll veranschaulicht haben, sieht die Kantische Ethik
hinaus l). Wer aber ins Leben schaut und in die Dichtung, der
sieht, daß diese Art Freiheitsstreben in ganz besonderem Maße
die Tragik des Lebens ausmacht : die Persönlichkeits wertung, die
nur in der Verneinung des Sittlichen, im „Ubermenschentum" (ein
Ausdruck, über dessen Mißbrauch wir nicht vergessen dürfen, daß
er auch bei Goethe vorliegt) den höchsten Persönlichkeitswert, die
Freiheit sieht. „Die menschliche Vernunft strebt rastlos nach
dem Unbedingt-Notwendigen und sieht sich genötigt, es anzu-
nehmen, ohne es sich doch begreiflich machen zu können". Diese
ewig wahren Worte der „Grundlegung" bezeichnen auch für die
antimoralische Wertung den Sachverhalt. Unbedingtheit der Ver-
neinung ist denn auch in der Geistesgeschichte oft genug zum In-
halt des Freiheitsgedankens geworden. Die hinreißend gezeichnete
Gestalt des Kallikles im Platonischen Gorgias erneuert sich in der
gleich hinreißenden Weise Friedrich Nietzsche in Lehre und Leben.
Und schon vor Nietzsche herrscht in den Romantikern, in Tieck
und Friedrich Schlegel, derselbe Geist, der in der Verneinung des
Sittlichen, in der ungeheuerlichen Auflehnung gegen das Heilige,
Größe und geistige Bedeutung erblickt. „Was du unternimmst",
schreibt Fr. Schlegel seinem Bruder, „handle groß, und wenns
nicht gelingt, bleibe fest stehn! Du wirst dann eine glorreiche
Gelegenheit haben, Gott zu »verachten!" In seinem Romane Lu-
cinde findet diese Auffassung dichterischen Ausdruck, ebenso wie
in Tiecks John Lovell, der manchmal „statt seiner stillen Gebete
1) S. meine Vergleichung der Kantisehen und Platonischen Ethik in „Piaton
und Kant", Weidmann, 1920, Kap. III.
Genie und Tragik. 357
Gott mit den gräßlichsten Flüchen lästerte und darüber weinte
und es doch nicht lassen konnte" . . . „Mein Wille und meine
Empfindung sträubte sich dagegen, und doch gewährte mir dieser
Zustand wieder innige "Wollust". Somit führt der dichterische
Stoff selbst mitten in die Dialektik des Freiheitsbegriffs hinein.
Auch diesen Romantikern mit ihrem Ideal der Ironie ist „Frei-
heit" das, was sie darstellen wollen, aber Freiheit in einem dem
Kantischen und Schillerschen schnurstracks entgegengesetzten
Sinne. Freiheit ist Unbedingtheit, der Gregens atz gegen
jede irgend wie geartete Abhängigkeit. So bekommt
das Ideal der Persönlichkeit hier einen durchaus ver-
neinenden Sinn. Die Verneinung dessen, was beim Menschen
die innigste „Bindung" (lat. = religio) seines Wesens ausmacht,
wird zum Maßstab für menschliche Größe und Persönlichkeit. Eine
Denkweise, die, in der Romantik hervorbrechend, in Nietzsche ihren
mächtigsten Propheten gefunden hat, die aber auch sonst durch-
aus zu einem geistigen Grundzug des Zeitalters geworden ist und
sich demgemäß in zahlreichen Dichtwerken äußert: Von Byrons
Manfred bis auf Strindbergs „Beichte eines Toren" wie in Gerhard
Hauptmanns „Versunkener Glocke" und Ibsens „Peer Gynt" finden
wir diesen Zug gesuchter und manchmal erquälter Verneinung
wieder, zu schweigen von der Unzahl mehr oder minder geschmack-
loser Erzeugnisse, die auf jeder Seite mit Stolz zeigen : sie haben
gelernt, daß man so und so gottlos sein muß, daß man so und so
das Sittliche verneinen muß, um sich und seinen Helden die erfor-
derlichen Voraussetzungen für Größe und geistige Bedeutung zu
geben.
Gerade damit aber, daß man diese Grundtendenz
aufzeigt, ist sie aber auch vom künstlerischen Stand-
punkt aus gerichtet. Wenn man die Absicht merkt, wird man
verstimmt, und nirgends mehr als in der Kunst. Es braucht aber
nicht einmal Absicht zu sein; wenn nur deutlich wird, daß eine solche
Tendenz beherrschend zu Grunde liegt, so ist der künstlerische
Genuß aufs allerempfindlichste beeinträchtigt. Man bezeichnet solchen
dem Ganzen zu Grunde liegenden Gedanken gern als die Idee des
Ganzen und es ist lehrreich zu sehen, wie Goethe gerade in dieser
Beziehung gegen Schiller ankämpft. Für Goethe ist es erstes Er-
fordernis der Kunst, daß man „aus der Idee herauskommt". Es
ist für den Kunsttheoretiker spaßhaft, wie er Eckermann (29. Okt.
1823) ziemlich dringlich diesen Befehl gibt, wie er ein andermal
358 Ottom ar Wichmann,
(23. März 1829) ausführt, es sei bei Schiller der Fehler gewesen,
daß er von der Idee ausging und nur manchmal „das Objektive
zu fassen" wußte, wie er selbst, Goethe „nur immer zu tuntf hatte,
„daß ich feststand und seine wie meine Sachen von solchen Ein-
flüssen freihielt und schützte". Noch bezeichnender ist, was er
(6. Mai 1827) auf die Frage nach der Idee des Tasso antwortet:
„Idee?" sagte Goethe, „daß ich nicht wüßte ... Da kommen sie
und fragen, welche Idee ich in meinem Faust zu verkörpern ge-
sucht ? Als ob ich das selber wüßte und aussprechen könnte ! . . .
Es war im ganzen . . . nicht meine Art, als Poet nach Verkör-
perung von etwas Abstraktem zu streben . . . Das einzige Pro-
dukt von größerem Umfange, wo ich mir bewußt bin, nach Dar-
stellung einer durchgehenden Idee gearbeitet zu haben, wären
etwa meine Wahlverwandtschaften. Der Roman ist dadurch für
den Verstand faßlich geworden ; aber ich will nicht sagen, daß er
dadurch besser geworden wäre ! Vielmehr bin ich der Meinung : j e
inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher
eine poetische Produktion, desto besser!" Es liegt auf
der Hand, wie in diesen Ausführungen des poetischen Genies die
Grundgedanken der Kantischen Ästhetik ihre Bestätigung findea:
Der ästhetische Genuß beruht darauf, daß Einbildungskraft und Ver-
stand in ein leichtes Spiel versetzt werden. Weder darf ein düsterer,
verworrener Stoff vorliegen, der sich überhaupt nur durch schwere,
geistige Arbeit bewältigen läßt, noch darf der Verstand von vorn-
herein die Regel und das 'Entstehungsgesetz des Gegenstandes
überschauen, so daß dann von einen Entdecken und Auffinden des
Wesentlichen an der Sache keine Rede mehr wäre. Diese Freude
am Gegenstand muß aber eine objektive sein; es muß diese Lust
für jeden allgemeingültig gelten. Es muß demnach unter allen
Umständen ausgeschlossen sein, daß jemals dieses Bildungsgesetz
des Gegenstandes vollständig begrifflich erfaßt wird, denn dann
wäre sofort das leichte Spiel, das den ästhetischen Genuß aus-
macht, für denjenigen vorbei, der die Regel von vornherein be-
griffen hat. Ein aus solcher abstrakten Regel, solcher „Idee"
heraus geschaffenes Kunstwerk mag einen Sekundaner begeistern:
weil er noch nicht fähig ist, die Regel und die Gewolltheit des
Ganzen zu überschauen, liegt für ihn die Entdeckerfreude in
leichtem Spiele unverkennbar vor. Aber bei dem Gereiften ist
die Sache wesentlich anders. Unendlichkeit und Unabsehbarkeit
des Gegenstandes, die Unmöglichkeit, jemals ihn in einer Regel
Genie und Tragik. 359
ganz zu erfassen, ist somit unabweisbares Erfordernis des Kunst-
werkes. „Je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher
eine poetische Produktion, desto besser". Daß sein Genießen ein
solch objektives, nur auf Grund der unabsehbaren Unendlichkeit
des Gegenstandes, seiner wirklichen „Schönheit" mögliches Ge-
nießen sei, beansprucht jeder, der eben auf künstlerisches Urteil
Anspruch macht. Er erhebt diesen Anspruch, vielleicht ohne ihm
Worte leiben zu können, dadurch, daß er tödlich verletzt ist, wenn
man da, wo er bewundert, den Wert ablehnt, d. h. die Allgemein-
gültigkeit bestreitet. Jedermann scheut es, da zu bewundern wo
vielleicht andere lächelnd die Entstehungsregel überschauen, so
daß gewisse Leute nur dadurch den Wert ihres persönlichen Urteils
zu hüten imstande sind, daß sie es sich zum Grundsatz machen,
nichts mehr schön zu finden. Hier liegt das hohe Geheimnis der
Blasiertheit, für den Überschauenden lächerlich genug und doch
ein Zeugnis dafür, wie sehr der Vorwurf, nicht objektiv zu ge-
nießen, empfunden und also die Idee eines objektiven Genießens
gekannt wird. Unumgängliche und peinlichst beobachtete Vor-
schrift für den künstlerisch Genießenden und den künstlerisch
Produzierenden (die alle durchaus fühlen und die vor allem die-
jenigen peinlich beobachten, die beides nicht recht können und
doch wollen), ist daher, sich jenseits allen irgend wie erfaßbaren
Norm zu halten oder, mit Goethe zu reden, „das Objektive zu
fassen". Eine solche Jenseitigkeit hinter alle Regel zum Stil zu
erheben, ist daher die Grundtendenz der romantischen „Ironie",
liegt aber genau so im modernen Expressionismus vor, womit
freilich jederzeit auch die Gefahr gegeben ist, daß nun solche
Verneinungstendenz zur überschaubaren und lächerlichen Ent-
stehungsregel wird. Die Kunst hat stets das Recht, die Vorschrift
zu durchbrechen, sie muß es sogar, wenn sie höchste Kunst sein
will. Aber wehe, wenn diese Durchbrechung der Regel als peinlich
beobachteter Grundsatz durchblitzt. Es gibt nichts Ärgerlicheres
als die Pedanterie des Negativfsmus. — Vor diesem ehernen
Gesetz der Schönheit bricht die edle und achtenswerte
Schillersche Theorie zusammen, die für die moderne Kunst
darin einen Vorzug sieht, daß sie von einer geläuterten Philo-
sophie den Stoff und das Wesen der Menschenwürde gelernt hat.
Es bricht aber auch die gegen sich selbst wütende
Verneinung zusammen, die glaubt, in der Losreißung vom
sittlichen Gesetze und der damit zusammenhängenden Vorstellungen
360 Ottomar Wichmann,
den höchsten Menschenwert erkannt zu haben und danach gestaltet.
Ergreifend bezeugt dies das leidenschaftliche Eifern, das sich bei
Nietzsche gegen Goethe findet, in dessen ruhiger Klarheit eine
Kritik seines so schwer erkämpften Menschheitsideals lag, eine
Stimmung, die in den bitteren und ungerechten Hohn ausklingt:
An Goethe:
Das Unvergängliche
Ist nur dein Gleichnis!
Gott, der Verfängliche,
Ist Dichter-Erschleichnis
Weltrad, das rollende
Streift Ziel auf Ziel,
Not — nennts der Grollende,
Der Narr nennts — Spiel
Welt-Spiel, das herrische
Mischt Sein und Schein.
Das Ewig-Närrische
Mischt uns — hinein!1)
IL Freiheit als Unbedingt h'e it.
Wir gingen aus von der Goetheschen Formulierung und ver-
suchten in der Freiheit, dem „Eigentümlichen unserer Idee, der
prätendierten Freiheit unseres Wollens", das Wesen des Tragischen
zu sehen. Es ist unleugbar, daß diese Formulierung nach dem
bisherigen Gedankengang in Gefahr steht, ihren Sinn zu verlieren.
Wir sahen, wie die Schillersche Theorie auf dem Gedanken der
moralischen Freiheit das Tragische begründen will und daß diesem
Gedanken an dem Aufbau der Persönlichkeit eine große Bedeutung
zukommt, ist unverkennbar. Man braucht nur an die Gestalt des
Brutus bei Shakespeare zu erinnern. Aber auch der Gedanke des
Ubermenschentums, der die Freiheit in der Aufhebung gegen das
Sittengesetz sieht, hat im Faust allererste tragische Bedeutung.
Man kann nun versucht sein, die Freiheit darin zu sehen, daß
überhaupt der menschliche Wille seine Kraft beweist, wie das ja
auch Schiller andeutet, wenn er ausführt, es käme nicht auf die
Richtung, sondern nur auf die Kraft des Willens an, und ebenso
Nietzsche, wenn er gelegentlich Brutus, der den liebsten Freund
1) Bd. V, S. 349.
Genie und Tragik. 361
opfert, trotz seiner moralischen Haltung für ein Persönlichkeits-
ideal erklärt. Aber dagegen sprechen gebieterisch Gestalten
wie Werther, Tasso, Hamlet, die durch auffallende Schwäche des
Willens gekennzeichnet und doch im allerhöchsten Sinne tragisch
sind. Es fragt sich mithin, ob es tatsächlich möglich sein wird,
das Wesen des Tragischen in dieser ganzen Breite durch den Be-
griff der Freiheit zu erfassen, und was in diesem Falle der Sinn
der Freiheit ist.
Meiner Meinung nach kommen wir diesem höchsten Sinn der
Freiheit näher, wenn wir uns auf den Standpunkt der gewöhn-
lichen, unphilosophischen und ungekünstelten Lebensbetrachtung
stellen : Wenn wir davon sprechen, daß etwa in Bach, Shakespeare,
Beethoven, Goethe ein Höchstmaß an „Freiheit" des Wesens zum
Ausdruck kommt, so ist uns vollständig klar, daß damit ein
durchaus verständlicher Vorzug ihres Wesens gemeint ist, und
daß Freiheit in diesem Sinne ein Höchstmaß an Persönlichkeit be-
deutet. Es fragt sich nur, ob dieser uns vorschwebende Sinn be-
grifflich sich erfassen und bestimmen läßt und wie er sich be-
stimmen läßt. Es kommt bei solcher Freiheit nicht unbedingt auf
das Sittliche an, obwohl es in einzelnen Fällen dazu gehört, es
kommt auch nicht nur auf die Einsicht und die Vorurteilslosigkeit
an. Eine starr dogmatisch beschränkte Natur wie Luther zeigt
diese Freiheit in ausnehmendem Maße. Ebensowenig ist der genau
geregelte Zusammenhang, die klare Übereinstimmung der Wesens-
äußerungen entscheidend, im Gegenteil, in vielen Fällen gehört
zu solchen Gestalten gerade das ungeregelte Hervorbrechen der
schärfsten Gegensätze. Wie Heine von Luther sagt: „... er hatte
etwas Ursprüngliches, Unbegreifliches, Mirakulöses, wie wir es
bei allen providentiellen Männern finden, etwas Schauerlich-Naives,
etwas Tölpelhaft-Kluges, "etwas Erhaben-Borniertes, etwas Unbe-
zwingbar-Dämonisches" (Briefe über Deutschland, I. Buch).
Was hier in so mächtiger Weise als Wesen der Persönlichkeit
geschildert wird, diese Freiheit, die nicht im Sinne Kants und
Schillers moralisch zu fassen ist, die aber noch viel weniger
durch das Antimoralische Nietzsches getroffen wird, kann man in
seiner vollen Bedeutung erst erfassen, wenn man bedenkt, in
welchem Maße das gewöhnliche Leben, das Kultur-
leben des gewöhnlichen Menschen Unfreiheit ist. Die
dogmatische Gebundenheit vergangener Zeitalter zu erkennen fällt
uns nicht schwer, und wir staunen, in welchem Maße die großen
362 Otto mar Wieb mann,
Persönlichkeiten darüber stehen. Vollends klar kann aber erst
werden, was solche Freiheit zu bedeuten hat, wenn man bedenkt,
in welchem Maße jede Kultur dogmatisch gebunden ist, und oft
die am meisten, die am allerfreiesten zu sein glauben. Und zwar
ist es, so widersinnig diese Formulierung zunächst
klingen mag, die Idee der Freiheit, woraus diese Un-
freiheit entspringt. Ob der Mensch wirklich frei ist oder
nicht, ob Freiheit überhaupt möglich ist — gleichgültig! Der
Mensch will frei sein und deshalb glaubt er frei zu sein. Was
heißt das? Es heißt, daß der Mensch in dem, was den höchsten
Bestimmungsgrund seines Handelns ausmacht, in dem Grundsatze,
der Lehre oder der Gesinnung, die für sein Leben die entscheidende
und ausschlaggebende Bedeutung hat, frei zu sein glaubt: daß er
die Regel und die Vorschriften, die er für sich bindend anerkennt,
für allgemeingültig und selbstverständlich ansieht, für das Gesetz
und den Inbegriff des Menschentums überhaupt. So beruht die
furchtbare Macht der Ideen auf der Fiktion der Freiheit. Weil
der Mensch frei sein will, muß er das, worin er unfrei
ist, für den Ausdruck und Inbegriff der Freiheit
nehmen. Dem Jesuiten ist das katholische Dogma, dem Bolschewisten
der Kommunismus Ausdruck aller menschlichen Freiheit. Nur der
ist ihnen „frei", der ihre Einsicht teilt, und da sie höchsten Menschen-
wert zu bieten glauben, scheuen sie sich nicht, das Allgemeingültige
und für alle Menschen Heilsame, wenn's not tut, mit Feuer und
Schwert auszubreiten. In derselben Weise sieht aber jeder in die
sein Dasein bedingenden Lebensverhältnisse die Freiheit und All-
gemeingültigkeit hinein. Sie trachten alle nach dem Guten, d. h.
dem von ihrem Standpunkt aus unbedingt Wertvollen und handeln
also nach der Idee des Guten, sagt Piaton. „Die menschliche Ver-
nunft strebt rastlos nach dem Unbedingt-Notwendigen und sieht
sich genötigt, es anzunehmen" sagt Kant. Auf dem Durchsetzen
solcher unbedingten Ideen, die für allgemeingültig genommen
werden; beruht alle Entstehung der in sich geschlossenen Kul-
turen1). Freilich kann daraus, daß das Individuum in diesen
herrschenden Vorstellungskreis die Unbedingtheit hineinsieht, auch
die Sprengung dieser Vorstellungskreise hervorgehen : Wenn näm-
1) Ich habe diesen Gedanken der Wirksamkeit der Idee als Fiktion in meiner
Broschüre „Phüosophie und Politik", Halle, 1920 entwickelt und in dem Bändchen
„Die Scholastiker" Rösl & Comp. München 1921 für einem bestimmten Zeittraum
durchgeführt.
Genie und Tragik. 363
lieh die Idee eines Unbedingten in dem Individuum so stark ist,
daß es das, was an dem herrschenden Vorstellungskreise nicht
damit übereinstimmt, ablehnt und zu bekämpfen wagt. Hebbel1)
hat den mächtigen Gedanken einer historischen Tragödie in diesem
Sinne gehabt, in der das Höchstmaß an Freiheit und Persönlich-
keit, die in solchem Durchbrechen der Idee sich äußern muß, den
Gegenstand zu bilden hätte. Er fordert eine großartige Darstellung
der wenigen Charaktere, die die Jahrhunderte, ja die Jahrtausende,
als organische Übergangspunkte vermitteln, und die zuweilen, wie
z. B. Luther, „mit den Ideen, deren individueller Träger sie sind,
selbst in Konflikt geraten, weil sie vor den anfangs ungeahnten
Konsequenzen derselben zu schaudern beginnen." Das ist Hegelisch
gesprochen, es liegt aber darin die ganz reale Tatsache ausge-
sprochen, daß das Leben des gewöhnlichen Menschen in aller-
stärkstem Maße Bedingtheit und Unfreiheit bedeutet, und daß
höchste Persönlichkeit diesen verneinenden Sinn der
Freiheit hat, nicht in solch allgemeiner Bedingtheit
befangen zu sein und in Fühlen, Denken und Wollen
darüber zu stehen.
Den hier vorliegenden geistigen Zusammenhang überschaut
man am besten, wenn man verfolgt, was Hermann Türck 2) als den
„genialen Menschen0 beschreiht. Mit vollem Rechte stellt hier Türck
Gestalten wie Christus und Napoleon nebeneinander und stellt zu
ihnen Faust und Hamlet. Um das diesen Naturen Wesentliche zu
beschreiben, geht er davon aus, daß sie in ihrem Fühlen und Wollen
von Furcht und Hoffnung nicht bestimmt, d. h. daß sie frei und
objektiv sind. Die Darstellung entwickelt im allgemeinen diesen
Grundcharakter der Objektivität durchaus richtig und
gibt für das, was wir hier verfolgen, eine höchst brauchbare Ver-
anschaulichung. Nur eins fehlt dabei für die begriffliche Erfassung.
Weil Türck nicht die Unfreiheit des gewöhnlichen Menschen als
eine, eben aus der Idee der Freiheit und der Einbildung der Freiheit
fließende Unfreiheit erkannt hat, ist bei ihm auch nicht genügend
hervorgekehrt, daß das Wesen des genialen und des tragischen
Menschen, der übereinstimmende Zug in all den geschilderten Ge-
stalten, eine Verneinung ist. Es wird beispielsweise an Hamlet im
Gegensatz zu Laertes die Objektivität seines Wesens in dem Sinne
1) Mein Wort z. Drama S. 48/49.
2) Hermann Türck, Der geniale Mensch, Borngräber, 10. Aufl.; II. Türck,
Faust, Hamlet, Christus. v
364 Ottomar Wichmann,
entwickelt, daß er nicht der augenblicklichen Stimmung Untertan
sei, sondern immer den allgemeinen Gesichtspunkt im Auge habe.
Dadurch wird in die Gestalt Hamlets ein völlig falscher Zug ge-
bracht : der wilde Unmut, der ihn in der Grabszene hinreißt, wäre
dann unmöglich. Auch will Türck das Unentschlossene und Zögernde
in Hamlets Charakter mit dem Hinweis widerlegen, daß er, wenn
sein „Schicksal ruft, sich stark wie der nemeische Löwe" fühlt und
in persönlicher Gefahr bei der .Meerfahrt mit höchster Tatkraft
handelt. Alles das ist ganz richtig, aber daneben ist Hamlet doch
der Grübler und Träumer; nicht nur er selbst beklagt seine
Schwäche und Tatenlosigkeit, sonder auch der Geist erscheint ihm
zum zweiten Male, um den „abgestumpften Vorsatz" zu schärfen.
Für unsere Bestimmung des tragischen und genialen Menschen
gilt dagegen, daß dieser allerdings objektiv und frei ist, aber
daß dies nur eine verneinende Bestimmung ist: die Unfreiheit
und Befangenheit in bestimmten Ideen und Vorurteilen, die die
Kultur ausmachen und die die Kultur einem jeden aufer-
legt, der durch Furcht und Hoffnung, durch die Sorge um sein
liebes Leben und die Freude an Hab und Gut in diese Kultur
verstrickt ist, diese Unfreiheit ist eine solche Persönlichkeit los,
und deshalb ist sie unbegreiflich frei. Aber darum bleibt die
große Persönlichkeit doch vollständig und in jeder Hinsicht Mensch :
Voll Furcht und Hoffnung (Hamlet spricht selbst von seiner Furcht
bei der Seefahrt), voll Leidenschaft und voll Zögern. Nur steht
in all dem, in Fehlern und Vorzügen, in Tatkraft und Lässigkeit,
eine solche Natur außerhalb desjenigen Zusammenhanges von Ab-
hängigkeiten, der beim gewöhnlichen Menschen sein ganzes Wesen
letzten Endes entscheidend bestimmt. Man muß also, um es noch
einmal zu wiederholen, um das Wesen dieser tragischen und ge-
nialen Naturen zu verstehen, die furchtbare und unbezwingliche
Macht der Unfreiheit erkannt haben, die das Leben dadurch auf-
erlegt, daß es die Menschen nötigt, bestimmte Lebensanschauungen
und Lebensnormen als Ausdruck der Freiheit, d. h. als unbedingt
und allgemein gültig anzunehmen. Sie legt damit den Menschen
eine ganz genau bestimmte Befangenheit auf, in der große sittliche
und intellektuelle Wahrheiten enthalten sein mögen, die aber den-
noch innerhalb dieser Wahrheiten dogmatisch bindet. Die höchste
Freiheit der Persönlichkeit nun, die geniale und die tragische
Persönlichkeit, hat den Vorzug außerhalb dieses Netzes von Irrtum
zu stehen, unmittelbar in seinem Fühlen, Wollen und Handeln zu
Genie und Tragik. 365
sein. So kann man z. B. voll anerkennen, daß das Deutschtum ein
hohes Maß sittlicher und geistiger Einstellung bedeutet. Dennoch
aber legt es eine bestimmte Befangenheit auf, bewirkt es, daß
die, welche in diesem Kulturkreis bedingt sind, ganz bestimmte
Tatsachen nicht sehen können. Innerhalb dieses Lebenskreises sind
daher Gestalten wie Heine, Lasalle, Marx und Nietzsche nur da-
durch, daß sie aus dieser Befangenheit und dem damit notwendig
verbundenen Irrtum heraustreten, genial : Sie sehen klar vor Augen,
was andere trotz alles Denkens nie erarbeiten können und so haben
Heine1) und Lasalle und namentlich Nietzsche Ausblicke in unge-
messene Weiten 1). Der Umstand, daß Türck dies letzte begriffliche
Wesen der Genialität nicht klar geworden ist, hat auch bewirkt,
daß er Nietzsche so ungerecht beurteilt. Mag man über ihn oder
seinen Wert denken, wie man will, Genialität wird ihm niemand
bestreiten können. — Das Höchstmaß an Freiheit also, welches
den genialen und den tragischen Menschen ausmacht, liegt darin,
daß er von derjenigen Unfreiheit frei ist, der der gewöhnliche
Mensch dadurch unterliegt, daß er seine Bedingtheit für Freiheit,
daß er das, wovon er abhängig ist, für den Ausdruck der Freiheit
und mithin für allgemeingültig halten muß. Ziegler nennt den ge-
wöhnlichen Menschen in seiner sittlichen Selbstbestimmung frei und
ihm gegenüber den tragischen Menschen unfrei! — Es ist genau
ungekehrt. Der gewöhnliche Mensch ist unfrei, geht in allem seinem
Fühlen, Wollen und Erkennen an der Kette der Grundbestimmt-
heiten seines Zeitalters und seines Lebenskreises. Wir sehen das
bei jedem verflossenen Zeitalter, wir sehen es nur bei unserem
eigenen nicht, wie wir die Bewegung des Wagens nicht sehen, in
dem wir eingeschlossen sind. Die Menschen sind unfrei im Wollen
und Begehren : Sie wollen und begehren immer nur nach der Regel
des Erlaubten und Befohlenen. Und wo sie anscheinend einmal
etwas Unerlaubtes wollen und begehren, da ist eben gerade der
herrschende Liberalismus der Lebensanschauung das geheime Ge-
setz ihres Handelns. Der Studio, der sich betrinkt, der Lebemann,
der durchgeht, so sehr sie ihrem eigenen Begehren zu folgen
glauben, sie tanzen doch nach der Pfeife der Lebensanschauung
eines gewissen Liberalismus, der solch „Sich-ausleben" zur pein-
lichen Vorschrift macht. Wer nur einen geringen psychologischen
1) Heine namentlich in den viel zu wenig gelesenen „Brufen über Deutsch-
land", wo er das Deutschtum hinreißend veranschaulicht und verherrlicht hat, die
für unsere Betrachtung wertvollstes Material bieten (s. o. S. 361).
366 Ottomar Wichmann,
Blick hat, der sieht, in wie vielen Fällen ganz anders geartete
Naturen sich geradezu abmartern, eine gewisse vorgeschriebene
und konventionelle Forschheit mitzumachen. Wenn man nicht so
begehrt, ist man kein ganzer Kerl — diese herrschende Ansicht
ist hier der letzte Grund des eingebildet freien Begehrens. Ebenso
unfrei ist das Fühlen: So und so fühlt man richtig, in der Liebe,
der Kunst, vor der und der Art des Fühlens hat man allgemein
Respekt, das und das Gefühl hält man für den Ausdruck der Frei-
heit und für allgemeingültig. Und der gewöhnliche Mensch ist denn
auch nach dieser Vorschrift „frei" und fühlt dementsprechend. Un-
frei ist vor allen Dingen sein Erkennen. Das und das ist Wahrheit,
und wehe! wer dagegen spricht! Die eigenen Gedanken, die dem
Menschen wohl ursprünglich kommen mögen und sich äußern wollen,
treffen auf unbegreiflichen, unüberwindlichen Widerstand. Wenn
er sein Innerstes äußert, stößt er wieder und wieder wie auf eine
Stahlwand. Und weil er Anerkennung braucht, weil Furcht und
Hoffnung im Rahmen dieses Lebenskreises ihn letztlich bestimmen,
deshalb muß er schließlich seine Gedanken anpassen und ver-
kümmern. Was vor Augen liegt, sieht er nicht und darf er nicht
sehen. Ganz klar liegt das vor uns etwa für das Mittelalter.
Man achte darauf, wie etwa für einen so freien Intellekt wie
Abälard schließlich der allerdogmatischste Standpunkt zur zweiten
Natur wird (vgl. die Briefe an Heloise!). Für unsere Zeit da-
gegen wollen wir es nicht zugeben und überlegen nicht, daß wir
dies eben so unsichtbare wie Unzerreißbare Netz nur deshalb nicht
sehen, weil wir es nicht sehen dürfen. Es macht für die Tat-
sache dieser Unfreiheit nichts aus, ob man nicht an die Bewegung
der Erde glauben darf, wenn man nicht von Wissenschaft und
Lehrfreiheit ausgestoßen sein will, oder ob man genötigt wird,
Urzeugung und Evolutionismus als Wahrheit anzunehmen, wenn
man als wissenschaftlich zurechnungsfähig gelten will. Es ist für
die Sache gleichgültig, ob das Anathema unter der Formel des
unchristlichen Wesens oder unter der Formel des „reaktionären
Standpunktes" das Verdammungsurteil ausspricht. Diese furchtbare
Unfreiheit ihres eigenen Zeitalters hat allen großen — d. h. in der
dargestellten Weise freien — Geistern immer furchtbar deutlich
vor Augen gestanden. Bei Piaton und Schopenhauer tritt sie
mächtig hervor, hier mag noch die schneidend scharfe und treffende
Formulierung angeführt werden, die Fichte dieser Tatsache ge-
geben hat: „Sie können nicht anders, als jene sie be-
Genie und Tragik. , 367
schämende Überzeugung von einem Höheren im Men-
schen, und alle Erscheinungen, die diese Erscheinung
bestätigen wollen, wütend anfeinden; sie müssen alles
mögliche tun, um diese Erscheinungen von sich abzu-
halten und sie zu unterdrücken. Sie kämpfen für ihr
Leben, für die eigenste und innerste Wurzel ihres
Lebens, für die Möglichkeit, sich selber zu ertragen.
Aller Fanatismus und alle wütenden Äußerungen des-
selben ist vom Anfange der Welt an bis zu diesemTag,
ausgegangen von dem Prinzip: wenn die Gegner Recht
hätten, so wäre ich ja ein armseliger Mensch"1).
Schon in dem bisherigen Ergebnis, in der Freiheit der großen,
der tragischen und genialen Persönlichkeit von der überall herr-
schenden und nirgends erkannten Unfreiheit — da sie ja sich selbst
für Freiheit halten muß — liegt eine Lösung der zu Beginn ge-
fundenen Schwierigkeiten: daß man von einem einheitlichen Sinn
der Freiheit reden soll, die dennoch weder durch die moralische
noch durch die antimoralische Auffassung zu erfassen ist. Wenn
dabei nur etwas im höchsten Maße Widerspruchsvolles übrig zu
bleiben schien, so antworten wir jetzt: Jawohl! Persönlichkeit
im höchsten Sinne ist keine nach Yorschriften abgezirkelte Haltung,
sondern ist gerade gekennzeichnet durch das jähe und über-
mächtige Hervorbrechen widersprechender Regungen. Das den
beiden Gestalten Hamlets und Fausts so ist, braucht nicht breit
ausgeführt zu werden, für Luther können wir auf die Darstellung
Heinrich Heines und neuerdings auf die von Ricarda Huch2) ver-
weisen. Die große Persönlichkeit ist ganz ein Mensch wie wir,
voll Liebe, Haß, Begehren, Glauben, Denken, Zögern und Übereilung,
je nachdem. Nicht in einer dieser Grundarten menschlicher We-
sensäußerung liegt ihr Kennzeichen, sondern darin, daß sie in all
diesen Wesensäußerungen frei ist. Es liegt darin eine für den
gewöhnlichen Menschen, der ja seine eigene Unfreiheit nicht sehen
darf und kann, unbegreifliche Unmittelbarkeit; es ist etwas bei
diesen Persönlichkeiten ganz anderes als bei ihm, und obwohl er
es nicht zu begreifen vermag, fühlt er doch, daß hier das Höchste
liegt, was es für unser Geschlecht gibt. Um es kurz auszudrücken :
Wer in solchem Sinne frei sein soll, muß mit dem Leben fertig
sein, er muß einmal mit allem, was sonst den Willen des Menschen
1) Anweis. z. sei. Leb., S. 426.
2) Luthers Glaube, Leipzig 191G.
0 1 1 o m a I AVichmann,
bindet und zwingt, abgeschlossen haben, wenn er dem feinen und
unbewußten Zwange des Lebens entgehen soll. Die inneren Ge-
walten, der heiße Drang, sein "Wesen auszuprägen und keine Puppe
zu sein, der Drang nach Freiheit muß einmal so stark geworden
sein, daß ihm demgegenüber das ganze Leben als „ekel, schal und
unersprießlich" erschien. Ihre merklichste Ausprägung findet diese
Einstellung zum Leben in dem Gedanken des Selbstmords. Auch
hier wieder genügt der Hinweis auf Faust, Hamlet, Werther, aber
auch auf Bismarcks Selbstgeständnis in den „Gedanken und Er-
innerungen" (Nikolsburg). Es gilt das von Goethes mächtigster
und fruchtbarster Zeit selbst: denn der Dichter, der höchste Per-
sönlickeit und höchste Freiheit darstellen soll, muß selbst diese
Feuerprobe durchgemacht haben — sonst könnte er ja diese Frei-
heit nicht sehen, weil er sie nicht sehen dürfte. Jede große und
geniale Persönlichkeit ist hart am Abgrund vorbeigegangen; das
Schicksal derjenigen Naturen aber, die aus dem Wesen dieser
Freiheit heraus dem Untergang verfallen und ihm verfallen müssen
ist Gegenstand des Tragischen.
Denn aus der Freiheit, die wir als das Wesen des Tragischen
gekennzeichnet haben, ergibt sich nun auch der Zug der
Notwendigkeit, den man von anderer Seite her — und mit
Recht — als der Erscheinung des Tragischen eigentümlich und wesent-
lich festgestellt hat. Wir sahen das erste Kennzeichen der tragi-
schen Persönlichkeit (und damit der genialen, denn jede geniale Per-
sönlichkeit ist aus den genannten Gründen tragisch) darin, daß sie
mit dem Leben fertig sind, daß in ihren letzten Entscheidungen
sie außerhalb dieser Rücksichten und der damit verbundenen Ab-
hängigkeiten stehen. In dieser Freiheit liegt die Notwendigkeit
des Unterganges. Denn wer keine Rücksicht mehr nimmt auf die
Dinge, die ihm in den Weg treten, wer sein Leben und die Be-
dingungen des Lebens „keiner Nadel wert" achtet, der muß an-
stoßen. Eine Vermeidung des Unterganges „ist so wenig denkbar,
als ein Blinder ohne Hilfe einen verschlungenen Pfad sicher durch-
wandelt, den sein Fuß noch nie betreten hat" (Ziegler). Solche
Unmittelbarkeit des Wesens bewährt in hellster freudigster Form
Held Siegfried, dessen lichte Natur, ohne Rücksicht auf Feind-
schaft und Arglist des Lebens sich auswirkend, dieser notwendig
verfallen muß. So muß gerade die höchste Freiheit und ihre
Äußerung vom Standpunkt des Lebens als blindeste Notwerdigkeit
erscheinen. Dem Betrachter ist es unfaßbar, daß man auf diese
Genie und Tragik. 369
oder jene Gefahr, auf diese ohne jene Rücksicht nicht achtet, er
muß dies als furchtbarste Notwendigkeit ansehen, was Ausdruck
höchster Freiheit ist. Wenn Ziegler den gewöhnlichen Menschen
frei, den tragischen Menschen unfrei nennt, so hat er, vom Stand-
punkt des Lebens aus, völlig recht. Der gewöhnliche Mensch
merkt oder fühlt, wie er seine Grundsätze, sein Denken und Fühlen
gestalten muß, um in den Zusammenhängen des Lebens sich zu
erhalten, er richtet nach diesen Rücksichten sein Denken, Fühlen
und Wollen ein und weiß sich in solcher Bedingtheit frei von den
Gefahren, die ihm bei der Überschreitung drohen würden. Doch
ist diese Freiheit immer nur eine relative, eine Freiheit inner-
halb dieser Bedingtheit. Der wahrhaft freie Mensch aber ver-
neint diese Bedingtheit als Ganzes, sein Denken, Fühlen und
Wollen ist mithin ursprünglich, unmittelbar, eigen, ist frei — aber
dabei geht ihm der Schutz verloren, den solche Unfreiheit dem
armseligen Leben gibt. Aus solcher Unfreiheit, die eine Freiheit,
und solcher Freiheit, die eine Unfreiheit sein kann, muß man die
Rätsel und „Widersprüche" der Gestalt Hamlets verstehen. Er,
der einmal, wenn ihn „sein Schicksal ruft", sich stark wie der
nemeische Löwe fühlt, der im Einzelfall höchste Tatkraft bewährt
und ungerührt Rosenkranz und Güldenstern als „schlechtere Natur"
in den Tod schickt, ist andererseits ein Spiel seiner Laune und
verrät, durch Laertes' Prahlerei gereizt, sein ganzes sorglich ver-
stecktes Wesen, er schiebt aus unverständlichen Bedenken und
grüblerischer Haltlosigkeit die notwendige Tat immer wieder auf
und geht schließlich in die von dem rührigen Gegner gelegte
Schlinge. Das ist eine Abhängigkeit von Launen und Zufällen,
die nur bei der durch die Unbedingtheit der freien Natur gegebenen
Achtlosigkeit gegen das Leben möglich ist. Beim gewöhnlichen
Menschen würde die Todesangst, die Sorge um das liebe Leben,
nötigenfalls auch das Hochgefühl moralischen Selbstbewußtseins
(das an Laertes so glänzend ironisch veranschaulicht ist) derartige
Bedenken und Stimmungen schnell beseitigen. Der gewöhnliche
Mensch ist für eine solche Unfreiheit, wie sie Hamlet
zeigt, — nicht frei genug, d.h. es ist eine gröbere, plumpere,
das ganze Wesen nach einem bestimmten Schema umgestaltende Un-
freiheit da, die diese feinere und doch furchtbar zwingende Unfreiheit
nicht zur Geltung kommen läßt. Solche im eigenen Wesen begründete
und mithin freie Unfreiheit offenbart an den Hamlet, Tasso,
Werther und Egmont dennoch ein Höchstes an Persönlichkeit. —
Kant Studien. XXVI. 24
370 Ottomar Wichmann,
Die großen, und daher tragischen Gestalten der Geschichte tragen
denselben Zug. Der Glaube an den eigener Stern, den wir bei
Alexander wie bei Cäsar1) und Napoleon so deutlich ausgeprägt
finden, ist nur der Ausdruck dieser Unbedingtheit, d. h. des Außer-
halb-der-Lebensbedingtheit-Stehens. Sie glauben an ihren Stern,
weil sie vor sich selbst einen Anhalt haben müssen, um sich selbst
in der Mißachtung aller Rücksichten zu verstehen. Dieser Glaube
bleibt dabei schwebend, bildlich; das erste an ihnen ist das Han-
deln, ihr Sich-selbst- verstehen- wollen ist nur ein untergeordnetes,
nachträgliches Bedürfnis, das mit einem schnell und sorglos hin-
geworfenen Bilde befriedigt wird. Eine flüchtige Veranschaulichung
des Übersinnlichen, weiter nichts ist es, wenn Cäsar seinem Fähr-
mann zuruft, furchtlos zu sein: er trage Cäsar und sein Glück,
wenn Napoleon seinen Offizieren, die mit tausend frivolen Gründen
das Dasein Gottes bestritten haben, den gestirnten Himmel zeigt
und sie fragt, wer all das gemacht habe. Da diese Mißachtung
aller Rücksichten die größte Stärke solcher freien und unbedingten
Naturen ist, — denn die Menschen folgen fassungslos, wenn sie so
alle Notwendigkeit ihrer Lebensanschauung durchbrochen sehen —
kann die kühne Achtlosigkeit der großen Führer zur bewußten
Absicht und zum Fehler werden. So kommt bei Cäsar und Frie-
drich das oft unüberlegt kühne Handeln zustande, bei Cäsar Ilerda,
Durazzo und Alexandria, bei Friedrich Kollin und Hochkirch.
Solche Durchbrechung und Nichtachtung aller vernünftigen Rück-
sicht erscheint dem gewöhnlichen Menschen als Wahnsinn, solch
Verhalten ist von diesem Standpunkt aus Wahnsinn 2). So hat es
Hamlet gar nicht nötig, sich wahnsinnig zu stellen, obwohl er an-
fangs dies als Absicht ausspricht. In solchem Maße trägt diese
Unbedingtheit und Freiheit das Gepräge des Entrücktseins an sich,
daß der junge Goethe diesen selben Eindruck hervorrief. „Er ist
damals Jacobi als ein Besessener erschienen, dem es fast in keinem
Falle gestattet sei, willkürlich zu handeln" (Dilthey).
Wir haben damit die Freiheit, die das Tragische ausmacht.
Keine konstruierte, moralisch ausgeklügelte oder auch antimo-
ralisch er quälte Freiheit, sondern die einmal in süßer Liebe aus-
1) Mommsen, Rom. G. Bd. III, S. 463 : „Es war auch in Cäsars Rationalismus
ein Punkt, wo er mit dem Mystizismus gewissermaßen sich berührte".
2) Vgl. Schopenhauer, „Die Welt als Wille u. V." B. III. S. 224—225, der
das Wesentliche zum Ausdruck bringt, während Lombroso nur meist unwesent-
liche Einzelheiten zusammenträgt.
Genie und Tragik. 371
strahlende, einmal in mächtigem Heldentum erglänzende, einmal
in schauerlicher, grauenhafter Tat ausbrechende Unbedingtheit und
Unmittelbarkeit des Wesens, die vor allem die Shakespeareschen
Dichtungen erfüllt. Aus der Fülle der Beispiele, den vielbehan-
delten Romeo, Hamlet, Heinrich IV., sei hier nur hingewiesen auf
die Gestalt Suffolks in König Heinrich VI. Er ist die verkörperte
Gewissenlosigkeit, um die Königstochter sich zu gewinnen, ver-
kuppelt er sie seinem König, ermordet seine Gregner, gibt den
Vorteil seines Landes preis. Und doch liegt darin Freiheit und
Unbedingtheit. Die Szene, wo er um Margareta wirbt1), ist hin-
reißend durch die Unmittelbarkeit und Innigkeit seiner Liebe.
Mächtiger noch zeigt seine Persönlichkeit sich in seiner Todes -
szene2): der unbeugsame Trotz und Stolz der Herrennatur, die
lieber stirbt als vor einem Knechte sich zu erniedrigen. So reißt
Shakespeare auch den, der es begrifflich nicht zu fassen vermag,
an den „geheimen Punkt", wo das Ursprüngliche der Persönlickeit,
diese wie ein Glanz über allen Gestalten liegenden Freiheitlichkeit
des Wesens, überwältigend vorbricht:
„Unbändig schwelgt ein Geist in ihrer Mitten,
Und durch die Roheit spür' ich edle Sitten".
III. Mythisierung.
Wir haben die Erscheinung der Tragik, der freien und un-
bedingten Persönlichkeit, unter einem Gesichtspunkt betrachtet,
der diese Gabe bis zu einem gewissen Grade zu etwas Natürlichem
und Verständlichem macht. Daß tatsächlich das Leben fortwährend
bemüht ist, das Eigenste der Persönlichkeit abzuschleifen und zu
verkehren, daß man infolgedessen dadurch, daß man mit dem Leben
fertig ist, die fruchtbarsten Kräfte des Innern erst entbindet,
ist eine verständliche Tatsache." Wir müssen nun aber einen
Schritt weiter tun : ■ denn es fragt sich, ob nicht auch wir in dem,
was uns das allerselbstverständlichste erscheint, in unserer Auf-
fassung der Welt als eines natürlichen, in sich geschlossenen Ge-
schehens, noch in einer solchen Unfreiheit stehen, sodaß diesem,
unserem natürlichen Verstehen sich die Wahrheit und die Freiheit
garnicht erschließen kann. Während die Freiheit bisher immer
1) Heinrich VI., 1. Teil; V, 3.
2) Heinrich VI., 2. Teil; IV, 1.
24*
372 Ottomar Wichmann,
noch ein natürliches Hinausragen über das .Gewöhnliche war, muß
nunmehr eine weitere Stufe betrachtet werden: ob es nicht ein
Hinausragen über allen natürlichen und begreiflichen Zusammen-
hang überhaupt bedeutet. Wir suchen also ein Verständnis für etwas,
das nicht nur über das Verständnis einer bestimmten Menschen-
gruppe und Lebensweise hinausliegt, sondern wollen verstehen,
was über das menschliche und mithin unser eigenes Verständnis
hinausliegt. Wir müssen damit etwas Ähnliches vollziehen wie
der Mathematiker, wenn er von der Bildung des Differenzen-
quotienten einer Kurve, wo das Verhältnis der Koordinaten klar
sichtbar ist, übergeht zum Differenz ialquotienten, wo alle An-
schauung aufhört und er Größenverhältnisse behandelt, die jenseits
aller möglichen Anschauung liegen. Ein ähnliches sich-über-sich-
selbst-hinaus-Versetzen gilt es auch hier. Muß doch das Schöne,
wenn es wirklich durch Belebung der Erkentniskräfte allgemein-
gültig gefallen soll, jenseits aller Regeln und Formulierungen
stehen. Es ist also durch die Idee des Schönen ein solch Jenseits
auch der uns gewissesten Regeln und Gesetze gefordert. Es ist
die Grundlehre der Schopenhauerschen Ästhetik, auf die wir damit
stoßen : all unser natürliches, von Zeit, Raum und Kausalität aus-
gehendes Erkennen ist befangen, ist uns diktiert vom „Willen",
d. h. von Leid und Lust und unserem leiblichen Dasein. Zur
Wahrheit kommen wir nur durch die geniale, d. h. objektive, frei-
heitliche und unbedingte Erkenntnis, die deshalb stets auf ein
Wesenhaftes außerhalb der Naturbedingtheit sich richtet. Drasti-
scher drückt das Shakespeare aus; er nennt uns „Narren der
Natur", die wir, wenn ein solch Wesenhaftes vor uns hintritt,
„furchtbarlich uns schütteln mit Gedanken, die unsere Seele nicht
ergreifen kann" und von „Dingen zwischen Himmel und Erde"
spricht, von denen keine Schulweisheit jemals sich etwas träumen
läßt. — Wir kommen also zur Frage : Wenn Freiheit als ein Jen-
seits alles natürlichen Verständnisses den Gegenstand der höchsten
Dichtkunst bildet, wie ist dann dem Dichter eine Veranschaulichung
möglich? Die Antwort ist, daß der Dichter auch hier das scheinbar
Unmögliche möglich macht auf dieselbe Art, wie von jeher die
Menschheit dasjenige, was außerhalb aller Berechenbarkeit und
Begreifbarkeit lag, sich begreiflich gemacht hat. Verstehen
und begreifen heißt aus Beziehungen und Zusammen-
hängen ableiten. Wo nun das Wesen einer Erschei-
nung, die begriffen werden soll, eben dadurch gekenn-
Grenie und Tragik. 373
zeichnet ist, daß es außerhalb aller natürlichen und
faßbaren Zusammenhänge steht, daß es unbedingt und
frei ist, da werden diese Beziehungen eben in ein
Jenseits verlegt, das außerhalb unseres sinnlichen
Erkenntnisvermögens liegt. Wenn ein Meister auftrat
und eine Lehre verkündigte, die über alles bisher Dagewesene
hinausstrahlte wie die Sonne über Kerzenlicht, wenn er für die
Lehre Marter und Tod auf sich nahm, so lag damit eine Erschei-
nung vor, die man nach allem, was bisher und überhaupt sichere
Regel in der Beurteilung von Menschen und ihren Handlungen war,
hinausging. All dem was sonst an Handlungen, großen und kleinen,
schlechten und guten, aus Sitte, aus Furcht und Hoffnung, aus sitt-
lichen Idealen hervorgegangen war und hervorging, was also ver-
ständlich und erklärbar war, ließ dieses Handeln sich nicht ein-
ordnen. Für die Menschen, die in diesem unbegreiflichen Handeln
und dieser Lehre ihr Höchstes sahen und sehen mußten, die es
am allerdringlichsten verstehen wollten und doch aus sinnlichen Zu-
sammenhängen nicht verstehen konnten, erwuchs daher eine Welt
übersinnlicher Zusammenhänge, eine Glaubenswelt von solcher
Leuchtkraft, daß ihr gegenüber die. gegebene natürliche Welt für
lange Jahrhunderte nur ein schattenhaftes Dasein führte. Die
Freiheit, wie sie in Christus erschienen, war erste und gewisseste
Wahrheit und alles andere nur wahr, soweit es damit überein-
stimmte. So mußten denn die übersinnlichen Zusammenhänge, die
man zum Verständnis dieser ersten und ursprünglichsten Wahrheit
annahm, für alle Wahrheit auf Erden den Maßstab abgeben.
Unbewußt wie die Mythologie des Volkes, schafft der Genius
des Dichters. Das Höchste, was er erschaut und darstellt, ist die
Unbedingtheit und Freiheit menschlichen Wesens. Was unver-
meidliche Bedingung zur Verständlichmachung und Veranschau-
lichung dieser Unbedingtheit ist, die Beziehungsetzung dieser Hand-
lungen zu einem Jenseitigen, Übersinnlichen, ist auch ihm Wahr-
heit. Wie sogar der geniale Mensch bei allem Rationalismus eine
Mystik braucht, sei es auch nur, um sich selbst zu verstehen (s. o.
S. 370, Anm. 1), so braucht der Dichter zur.Darstellung des Höchsten,
was seinen Gegenstand bildet, das Hineinragen des Übersinnlichen
und wird sich niemals scheuen, es anzuwenden. So führt Theodor
Storm im Schimmelreiter Hauke Haien als eine in seinem Lebens -
kreise unbedingte Persönlichkeit vor. Mit seinem unbeirrbaren
wissenschaftlich-technischen Streben, seiner vollständigen Kälte
374 Ottomar Wich mann,
gegenüber der Sorte Lebensgenuß und behaglicher Abhängigkeit,
die das Dasein seiner Dorfgenossen ausmachte, mit seinen mäch-
tigen Leistungen und seiner schroffen Herrennatur, bedeutet Hauke
Haien für diese Menschen ein Unbedingtes, ein Unfaßbares und
Freiheitliches, ein Jenseits des für sie Natürlichen und Selbstver-
ständlichen. Darum ist er in diesem Lebenskreise tragisch und
muß untergehen, denn ihr Haß gegen ihn ist zielsicher und unbe-
irrbar folgerichtig. Er darf nicht recht haben, weil sonst das,
was ihnen Freiheit und notwendig anzuerkennendes Gesetz ist,
nicht wahr wäre. Sie werden ihn verfolgen, und wenn er sie mit
Wohltaten überschüttet, denn er hat sie in dem gekränkt, worin
der Mensch am tiefsten getroffen wird. Er hat gegen die Lebens-
anschauung verstoßen, nach der sie ihres Eigenwertes sich bewußt
sind, die sie brauchen, um sich selbst „ertragen" zu können. Zu-
gleich aber wollen und müssen sie dies — aus den für sie natür-
lichen und selbstverständlichen Lebensverhältnissen heraus unbe-
greifliche — Wesen verstehen. So wird er zum „Schimmelreiter",
wird in einem dämonischen Zusammenhang erblickt. — Wollte
nun der Dichter uns ausführlich auseinandersetzen, daß Hauke
Haien ein ganz vernünftiger und garnicht besonderer Mensch war
nnd daß dieser Aberglaube sich bei seinen beschränkten Dorfge-
nossen ganz natürlich einstellen mußte — so hätten wir eine ra-
tionalistische Abhandlung, und das Packendste an der Geschichte
ginge verloren. Wollte er' umgekehrt uns den tatsächlichen Ein-
fluß der bösen Geister breit vorführen, so hätten wir eine elende
Spuk- und Geistergeschichte und noch weniger eine Dichtung.
Darum bewegt sich die Darstellung in dem Vorstellungsbereich,
daß zwar die Dörfler eine abergläubische, dumme Gesellschaft sind,
daß sie aber, wenn sie Hauke Haiens Werk zu einem übersinn-
lichen Zusammenhang in Beziehung setzen, einen wahren Zug an
ihm treffen, eben die Persönlichkeit im höchsten Grade, das Tra-
gische. Wir wissen es vom ersten bis zum letzten Augenblick
selber nicht, ob die Gestalt des Schimmelreiters etwas Dämonisches
hat : die Erzählung beginnt damit, daß dem einsamen Deich- Wander er
in der Sturmnacht die Erscheinung des Reiters tatsächlich be-
gegnet ; das Pferdegerippe auf der Hallig, das man in Mondschein-
nächten als Schimmel umherlaufen sah, ist tatsächlich verschwunden,
nachdem Hauke Haien den Schimmel ins Haus gebracht hat, und
er selbst schildert seiner Frau das Dämonische im Auftreten des
Verkäufers. Wir stehen damit bei dem Grundgesetz dieser Dar-
Genie und Tragik. 375
Stellung des Tragischen. Um das Höchste der Persönlichkeit, die
Freiheit, als volle Jenseitigkeit hinter aller natürlichen Erklärbar-
keit, darzustellen, wird das Übersinnliche ohne Scheu herangezogen,
aber nur schwebend, unfaßbar und ohne irgend welche theologische
Beschränktheit: denn das "Wesentliche bleibt immer, das „Eigentüm-
liche unseres Ich", die Freiheit der Persönlichkeit darzustellen1).
Die drei größten Dichtungen der Menscheit, der Faust, der
Hamlet und die Ilias tragen diesen Zug im ausgeprägtesten Maße :
Die Wesensart des Helden ist das Grundthema; dieser in seiner
Denkart und die daraus sich notwendig ergebenden Handlungen
sind eigentlicher Gegenstand der Dichtung ; aber eben diese Schilde-
rung des Übermenschen macht ein Herbeirufen und Hineinberufen
1) Ich stimme daher zunächst mit Volkelt (Ästh. d. Tragischen, S. 418) völlig
überein, wenn er sagt: „Die übernatürlichen Ereignisse müssen einen faßbaren,
natürlich menschlichen Sinn haben, wenn ihre Tragik und überhaupt ihr dichte-
rischer Wert nicht stark herabgesetzt werden soll". Nur kann ich mich damit
nicht einverstanden erklären, daß „die moderne Weltanschauung", wie sie Volkelt
versteht, „das Element" sei, „in dem allein das Tragische seine ungeheuer kraft-
volle und folgerichtige Entwicklung finden kann". Denn Volkelt faßt die „mo-
derne Weltanschauung" so, daß für sie alles Transzendente etwas „Verletzendes",
etwas „Zurückgebliebenes und Rückschrittliches" (S. 417) darstellt. Mir scheint
da unter „moderner Weltanschauung" doch allzusehr eine antimetaphysische Ein-
stellung bezeichnet zu sein, die als alleinberechtigt — wie es in dem Ausdruck
„moderne Weltanschauung" liegt — hinzustellen, ich am allerwenigsten in der
Kunst ein Recht sehe. Im folgenden wird von Ilias, Hamlet, Faust die Rede sein,
aber ist nicht auch Storm selbst ein Beweis, der wahrhaftig auf „moderner" Welt-
anschauung im Sinne Volkelts stand, der im „Schimmelreiter" selbst gegen den
Aberglauben polemisiert und doch durch die Gewalt der Stoffe ins Metaphysische
hingerissen wird. Wenn Lipps, den Volkelt selbst anführt, sagt, daß „der Dichter
gut daran tue, die Weltanschauung, die er als Mensch besitzt, möglichst für sich
zu behalten", so besteht das zu vollem Recht, aber nicht nur für jede theologisch-
metaphysische, sondern auch für die naturalistisch-antimetaphysische Weltanschauung.
Was vom Dichter zu verlangen ist, ist Realismus, d. h. Objektivität. Wenn Volkelt
ganz richtig als das Thema der Tragödie hinstellt, „was es heiße, ein Mensch zu
sein" (S. 39), so ist eben noch die Frage, ob nicht das tiefste Wesen des Menschen-
tums, sein Streben nach Freiheit und Unbedingtheit, in einer Tiefe liegt, die sich
einer antimetaphysischen Weltanschauung garnicht erschließen kann und sich nur
metaphysisch versinnbildlichend darstellen läßt. Die organische und wesent-
liche Verknüpftheit, welche infolge der Eigenart der Freiheitsidee das Tragische
mit dem Übersinnlichen verbindet, kommt in Volkelts Darstellung zu kurz. Dieser
unzweifelhaft metaphysische Gehalt der Tragik macht die tiefe Wahrheit der
idealistischen Theorien (vgl. Volkelt, S. 2G— 29) aus, er tritt bei Ziegler und Scheler
neu hervor, und wir werden im folgenden noch einen gewichtigen Zeugen dafür
anzuführen haben: Goethe in seiner Lehre vom „Dämonischen".
376 Ottomar Wichmann,
eines Göttlichen, Übersinnlichen in die Handlung notwendig. Beim
Faust kann hier auf die ausgezeichneten Darstellungen und Aus-
führungen E. Th. Vischers *) verwiesen werden. Ohne irgend welche
philosophische oder metaphysische Voraussetzungen kommt doch
auch Vischer dazu, das Streben Fausts als ein Freiheitsstreben zu
kennzeichnen, weil es ein Unendlichkeitsstreben, wir sagen ein
Unbedingtheitsstreben, ist. „Der Menschengeist als teilhaftig des
Unendlichen heißt frei, wenn vom Streben, vom Vorwärtswollen,
vom Greifen, vom Übergreifen über Gegebenes, über Schranken
die Rede ist" (S. 335). Da dies Streben nach Unbedingtheit aber
immer nur verneinen kann, da es dem Menschen, der nur Endliches
findet, immer nur bei allem Endlichen die Untreue ins Herz legt,
so ist dies Streben, gerade in seiner Reinheit, ziellos und sinnlos.
„Es ist ein leerer Freiheits begriff, der ihm vorschwebt. Streben
nach Nichts und allem ist eigentlich Unsinn, dieser Unsinn ist
seine Meinung". Der Freiheitsbegriff, der höchste Wertbegriff für
Menschentum und Persönlichkeit, muß eben leer sein, denn wenn
nicht Freiheit und Unbedingtheit den Sittlichkeitsgedanken, das
allgemeingültige und unbedingte Gebot, in ganzer Reinheit er-
greift, so bleibt nur Verneinung von allem und jedem. Das ist
das Los des Menschentums, in solchem Streben nach Persönlich-
keit und Freiheit, das jeden einmal erfaßt, schließlich ins Leere
zu greifen; für gewöhnlich ist das unausbleibliche Ende, daß der
Mensch irgend etwas, irgend einen Glauben, ein Behagen, eine
Tätigkeit als Inhalt der Freiheit nimmt, daß er in irgend etwas
Würde und Allgemeingültigkeit hineinsieht. Daß solch ein Hin-
fallen ans Bedingte das notwendige Ende alles Menschheitsstrebens
sei, daß auch Faust diesem Schicksal verfallen und daß er aus dem
Nichts des Freiheitsgedankens und der ewigen Unbefriedigung
schließlich hinsinken müsse, das besagt die triumphierend sichere Wette
des Mephistopheles mit Gott. Das Bewußtsein der Unbedingtheit
seines Wesens gibt umgekehrt Faust die Sicherheit bei dem Abschluß
seines Vertrages. Diese Unbedingtheit ist ein Jenseits von Gut und
Böse : Mit all dem, was sein Leben an weichen innigen Bindungen,
an „Religion" enthielt, hat Faust in den großen Fluch gebrochen
und seine erste Vorschrift ist forthin, ihn „mit der Moral in Frieden
zu lassen". Ein Jenseits hinter aller Regel also, die sein Wesen unter
moralischen Vorschriften einbegreifen will, aber ebenso auch ein
1) E. Th. Vischer, Goethes Faust2, 1920.
Genie und Tragik. 377
3 enseits von Böse : die peinliche Gewolltheit des Bösen, um nicht gut
zu sein, die Nietzschesche und romantische Schärfe der Verneinung
des Sittlichen, die in solcher Verletzung des Heiligen etwas Großes
wähnt und dem durch den Bombast des Lästerns Ausdruck gibt
— sie fehlt bei Faust gänzlich. Er geht zu keinem Weibe, wo
er die Peitsche mitnehmen muß, sondern er geht zu Gretchen,
und was diese zu dem „besten Mann" zieht, ist das Widerklingen
alles Hohen und Edeln aus seinem unmittelbaren Gefühl. Ein
Jenseits also wirklich von Gut und Böse, nicht ein Böse, um nicht
gut zu sein, darin liegt die Unbedingtheit seines Wesens. Weil
er einmal — in der Selbstmord- und Fluchszene — mit dem
Leben abgeschlossen hat, spottet sein Wesen aller Regeln des
Moralischen und Antimoralischen, unter die man sie begreifen
möchte. Es ist Freiheit, unmittelbares Hervorbrechen aus einem
unerkennbaren Grunde. Diese Freiheit aber wird nicht durch
philosophische Deklamationen veranschaulicht, sondern dichterisch,
d. h. so, wie sich dem Auge der Menschenkinder das Unerfaßbare
der Persönlichkeit, das doch ihr „höchstes Glück" ausmacht, ver-
körpert: durch Verlegung in eine jenseitige Bedingtheit, durch Be-
ziehungnahme auf ein Überirdisches, die freilich, da sie ja nur ver-
anschaulichen soll, schwebend und unbegreiflich bleibt. Wenn Faust
das Wesen der Unfreiheit in irgendwelchem Beharren sieht: „wie
ich beharre, bin ich Knecht, ob dein was frag' ich oder wessen",
so bemerkt Vischer (S. 262) mit vollem Recht, daß damit die Vor-
stellung von „Hölle und Teufel einstürzt". Aber das Merkmal
dieser echt dichterischen Metaphysizierung ist eben, daß niemals
ein durchgeführter, übersinnlicher Zusammenhang vorliegt, sondern
daß diese Zusammenhänge blitzartig, als plötzliche Ausblicke, auf-
leuchten. Namentlich zeigt das die Gestalt Mephistos und ihr
Verhältnis zur Gottheit. Auch Mephisto ist, gerade in seinen
Widersprüchen, durchaus Mensch. Die Macht der Gemeinheit weiß
ganz wohl, daß sie den Edlen nie durch banale, „abgeschmackte
Vergnügungen" fassen kann, und so ist es die Betonung des Frei-
heitlichen, Unbedingten, der Spott, daß er den „braunen Saft in
jener Nacht nicht ausgetrunken", wodurch Mephistopheles Faust
in seine Netze zieht; aber als^ diesem dann auch in der Leiden-
schaft seine Unbedingtheit bleibt, als er „in seinem tragisch ra-
senden Wollen ein Idealist" ist, „der alles oder nichts will" *),
1) Vischer, a. a. 0. S. 328.
37S Ottomar Wichmann,
da ist es gerade er, der Verführer, der diese Unbedingtheit be-
kämpft, ist er es, der „dämpft und kühlt" und wird ein „teuflischer
Prediger der Einsicht in die menschlichen Schranken und des Sich-
fügens in die Bedingtheit der Erfahrungswelt" 1). So wie hier
der Teufel die Vernunft vertritt ( — und mit Recht, denn in diesem
Falle ist die Vernunft gemeiner als die Raserei), so „stiebt" über-
haupt „Mephistopheles in tausend Mephistopheles auseinander".
Er der so oft als Vertreter behaglich-freier Lebensanschauung er-
scheint, sodaß seine Worte — von der „grauen Theorie" und dem
„Kerl der spekulieret" — noch heute als deren Ausdruck gang
und gäbe sind2), dessen humorvolle Entrüstung über den Pfaffen
uns den größten Spaß macht, erscheint vor Gretchens reinem Blick
als grauenhaft dämonische Macht, vor Fausts Gewissensqualen als
den Abgrund der Gemeinheit, in der letzten Szene endlich, als es
ums Entscheidende geht, als Gretchens reiner und geläuterter
Wille, von den ewigen Mächten unterstützt, ihm den Faust zu
entreißen droht, da „brüllt" in dem „Her zu mir!" „das höllische
Raubtier aus ihm" und verkörpert sich in ihm aller Inbegriff des
Entsetzlichen. Wie aber verträgt sich diese Wesensart des Teufels
mit dem humorvoll behaglichen Verhältnis zur Gottheit, dem der
Schalk nichts weniger als verhaßt ist? — Das Übersinnliche, als
Verkörperung des Unbedingten, soll und darf eben nicht restlos
erfaßbar sein ; tausend Gedanken und Gesetze soll es ausstrahlen,
durch keine darf es erschöpft werden. „So wie die Dinge nun
liegen, müssen wir das vom Dichter selbst in Gang gesetzte Denken
allemal in dem Moment schnell parieren, wo es die neben ihm
bestehende Illusion des Mythischen sprengen will" 4). Was hier
an Faust ausgeführt wurde, das „Zwielicht" der Darstellung
(Vischer), wodurch das Unendliche und sonst Undarstellbare der
Persönlichkeit veranschaulicht wird, liegt in ganz besonderen Maße
vor bei Shakespeare. Es ist bei ihm ein stehender Zug, und die
von Lessing5) gerühmte Natürlichkeit des Shakespeareschen Ge-
spenster beruht weniger auf „gewissen Handgriffen" und äußeren
Umständen, als auf der inneren Begründung : Weil bei Shakespeare
sich alles „um den geheimen Punkt" dreht, „das Eigentümliche
unseres Ich, die prätendierte" — d. h. die ideell beanspruchte —
„Freiheit unseres Wollens", die durch das Übersinnliche veran-
1) Vischer, a. a. 0. S. 237. 2) S. 345. 3) S. 382. 4) S. 257.
5) Hamb. Dramat., 11. Stück, 5. Juni 1767.
Genie und Tragik. 379
schaulicht wird, so wird unaufhörlich und aufs lebhafteste die Ein-
bildungskraft nach der Richtung solcher übersinnlichen Beziehungen
angeregt: wir „Narren der Natur" werden durch die Urgründe
menschlichen Wesens und Wollens, die der Dichter vor uns auf-
reißt, so „furchtbar lieh mit Gedanken geschüttelt, die uns're Seele
nicht ergreifen kann", daß wir bei Hamlet, bei Macbeth, bei der
Jungfrau von Orleans, bei Richard III. und Brutus das Eingreifen
des Übersinnlichen als etwas Selbstverständliches 'empfinden.
Als einen tatsächlichen, real gegebenen Zug menschlichen
Wesens hat diesen von uns gekennzeichneten Inbegriff von Freiheit,
Persönlichkeit und Genialität Goethe hingestellt und es ist be-
zeichnend, daß er durch den Namen des Dämonischen diese Be-
ziehung auf ein Übersinnliches, das doch ungreifbar und schwebend
bleiben soll, in den Vordergrund stellt. Eckermann erzählt l) wie
Goethe „von jener geheimen problematischen Gewalt" spricht, die
alle empfinden, die kein Philosoph erklärt und über die der Religiöse
sich mit einem tröstlichen Wort hinaushilft. Das Dämonische
bezeichnet nach Goethe diejenigen menschlichen Fähigkeiten und
Leistungen, für die ein Verständnis, d. h. eine Ableitung und Er-
klärung aus natürlichen Zusammenhängen nicht möglich ist: „Das
Dämonische ist dasjenige, was durch Verstand und Vernunft nicht
aufzulösen ist" 2), es tritt in Persönlichkeiten wie Napoleon auf,
ferner findet er es in den Begebenheiten, und zwar „in# allen, die
wir durch Verstand und Vernunft nicht aufzulösen vermögen".
„In der Poesie" ferner „ist durchaus etwas Dämonisches und zwar
vorzüglich in der unbewußten, bei der aller Verstand und alle
Vernunft zu kurz kommt, und die daher auch so über alle Begriffe
wirkt. Wenn aber dann Eckermann fragt8), ob das Dämonische
auch in die Idee des Göttlichen eingehe, so ist damit für Goethe
dasjenige, was nur flüchtige, veranschaulichende Verbildlichung eines
Unbedingten und Unfaßbaren am Menschentum bedeutet, schon zu
sehr festgelegt, und er antwortet : „Liebes Kind, was wissen wir
denn von der Idee des Göttlichen und was wollen denn unsere
engen Begriffe vom höchsten Wesen sagen?" Eckermann bezeichnet
dann selbst4) die Eigenart dieser Veranschaulichung eines Jen-
seitigen, das im Menschen sich äußert und das Höchste im Men-
schentum ausmacht: „Goethe nennt dies unaussprechliche
1) Eckermann, Gespräche mit Goethe 28. II. 1831.
2) 2. III. 1831.
3) 8. III. 31. 4) 28. II. 1837.
380 Ottomar Wichmann,
Welt- und Lebensrätsel das Dämonische und indem er
sein Wesen bezeichnet, fühlen wir, daß es so ist, und
es kommt uns vor als würden vor gewissen Hinter-
gründen unseres Lebens die Vorhänge weggezogen.
Wir glauben weiter und deutlicher zu sehen, werden aber bald
gewahr, daß der G-egenstand zu groß und mannigfaltig ist, und
daß unsere Augen nur bis zu einer gewissen Grenze reichen".
IV. Antike und moderne Tragik.
Wir fanden als einen Ausdruck der im Tragischen liegenden
Unbedingtheit, der jenseits aller Ableitbar keit aus natürlichen Be-
ziehungen liegenden Persönlichkeit, die Mythisierung dieser Per-
sönlichkeit, die aber immer ebenso schwebend und ungreifbar
bleibt. Es ist in diesem Zusammenhang belehrend, die Eigen-
tümlichkeit der modernen und der antiken Tragik zu
betrachten.
Ein entscheidender Unterschied der neueren Kultur von der
hellenischen ist, daß diese von einer dogmatisch fest begründeten
Metaphysik ihren Ausgang nahm. Damit scheint zunächst jede
Ausdrucksmöglichkeit für jenes Übersinnliche und Freiheitliche im
Menschen aufgehoben. Und doch hat sich der unüberwindliche
Drang, das *zu veranschaulichen gewußt, was dem Menschen das
höchste Glück, trotz aller Himmelsfreuden und Strafen ist. Das
freie Spiel der ßeziehungsetzung zu übersinnlichen Mächten war
abgeschnitten, aber eine G-estalt hatte man doch neben dem ehern
geschlossenen Himmel, deren Wirkung man in dem Unbegreiflichen
der Persönlichkeit ansetzen konnte: das war der Teufel. Und so
liegt darin, daß man in Deutschland einen Albert den Großen und
Dr. Faust mit den Teufel in Verbindung bringt, nichts weniger
als eine Herabsetzung. Es ist nur der Grundtrieb nach einer Aus-
gestaltung der jenseits aller Regel, jenseits auch des kirchlichen
Gut und Böse liegenden Persönlichkeit, der sich hier äußert. Wie
meisterhaft Goethe diesen Grundzug deutschen Wesens wieder auf-
genommen hat, braucht nach dem Vorangegangenen nicht näher
ausgeführt zu werden1).
1) Ich verweise auch hier wieder auf Hr. Heines „Briefe über Deutschland",
der diesen Sachverhalt ausgezeichnet darlegt, davon spricht, daß die alten Götter
und Geister in Deutschland noch lange nicht tot seien und einmal mächtige Auf-
erstehung feiern würden. Auch Spenglers Geschichtsphilosophie schwebt derartiges
Genie und Tragik. 381
Beim Hellenen liegen die Dinge ganz anders. Die strenge
Sonderung und Systematisierung des Metaphysischen fehlt hier
vollständig und so gestaltet sich die Persönlichkeitsidee viel leichter
und unmittelbarer zu einer Beziehung aufs Übersinnliche aus, das
Hereinragen des Göttlichen in das Leben ist gar nichts so voll-
ständig Außerordentliches, sondern eine Gregebenheit des Lebens.
Die Unbedingtheit der Natur, wie wir sie oben an einer Gestalt
wie Suffolk schilderten (S. 371), diese überragenden Herrenmenschen,
die für die gewöhnliche Natur ein Unbegreifliches darstellen und
denen sie sich bewundernd beugt, werden für den Hellenen ohne
weiteres zu „göttlichen" oder „dämonischen" Menschen. Ich kann
hier auf meine Schrift: „Piatons Lehre vom Instinkt und Genie"1)
verweisen, wo ich gezeigt habe, wie Piaton als „göttliche" oder
„dämonische" Männer alle diejenigen bezeichnet, in deren Leistungen
und Taten ein Geniales und Unberechenbares zum Ausdruck kommt,
und zugleich auf diese Denkweise als eine allgemein -hellenische
hingewiesen habe. Die Übereinstimmung dieser Anschauungsweise
mit dem, was er selbst als „dämonisch" kennzeichnet, hat übrigens
Goethe selbst betont, wenn er sagt : „Dämonische Wesen solcher
Art rechneten die Griechen unter die Halbgötter" 2). Dieser Zug
hat sich im Laufe der griechischen Geschichte nur verstärkt: es
wird nun Modesache, große oder groß sein wollende oder sollende
Männer zu Heroen oder Göttersöhnen zu machen, wie Alexander
d. Große, Lysander u, a., ein hellenistischer Zug, den dann das
römische Kaisertum übernimmt. In ursprünglichster dichterischer
Kraft zeigt sich diese Gestaltung der unbedingten Persönlichkeit
bei Homer.
Der Zorn des Übergewaltigen, der in Liebe und Haß, in
Leiden und Taten über alles menschliche Maß hinausragt, ein Un-
bedingtes darstellt unter den Kriegern, die in Trojas Ebene lagern,
der „Zorn der Peliden" ist das Thema der Ilias. So sehr man die
mit warmer Herzlichkeit geschilderten Gestalten, die ergreifenden
Szenen zwischen Hektor und Andromache empfinden mag, die
dichterisch größte Gestalt ist Achilleus, das Grundthema ist das
Rasen des Übermenschen und wer diese Gestalt und ihre Tragik
vor. Daß dieser Trieb zu einem Jenseits über der Kirchenlehre auch in der
Scholastik sich äußert, habe ich in meinen „Scholastikern" bei Duns Scotus und
den Mystikern betont.
1) Kantstudien, Ergänzungsheft 40, Berlin 1917.
2) Eckermann, 2. III 1831.
182 Ottomar Wichmai) u,
ablehnt, der weist damit den Entwurf des Dichters als Ganzes
zurück. Man muß diese Gestalt mit all ihrer schneidenden Härte
hinnehmen, muß — so furchtbar das klingt — mit ihr fühlen
können, wenn sie für den Knaben Lybaon, der um sein blühendes
Leben weint, nur insofern Mitgefühl hat, daß sie ihn zur Unbe-
dingtheit und Mannhaftigkeit auch gegenüber dem Tode aufruft:
„Also, mein Freund, stirb' auch du!" Man muß für solche schnei-
dend harte Größe des Übermenschentums, die über die Häupter
der Mitmenschen wegschreitet und für alles, was zur eigenen Un-
bedingtheit sich nicht aufschwingen kann, nur Fußtritte und Ver-
achtung hat, Verständnis haben, muß — es hilft alles nichts! —
den Achilleus verstehen, wenn er dem röchelnden Hektor seine
Bitte um Ehrung im Tode kurz abschlägt. Hier gilt, was Goethe
in der Shakespeare- Rede1) sagt: „Er führt uns durch die ganze
Welt, aber wir schwachen und verzärtelten Menschen rufen, so oft
uns eine fremde Heuschrecke begegnet: 0 Herr, er will mich
fressen!" Wenn Schiller aus einem idealen Glauben heraus seine
Jungfrau von Orleans zu einer ganz ähnlich geschilderten Härte
führt, so verstehen wir das, aber die Persönlichkeitsidee Homers
ist größer, die am Helden eine solche Unbedingtheit auch gegenüber
der weichen Rührung haben will und sie nicht aus religiösen
Ideen, sondern aus den Tiefen der Persönlichkeit entspringen läßt.
Daß Achilleus schließlich doch der rührenden Klage des Priamos
den Leichnam herausgibt, ist kein Einwand, denn eine eigentliche
Willensbeeinflussung — und nur diese wäre eine Bedingtheit und
Unfreiheit seines Wesens — findet durch die Rührung nicht statt :
die Sache ist entschieden, ehe Priamos kommt ; Zeus, dem die Götter
schon tagelang in den Ohren liegen, doch den Frevel nicht zu
dulden, hat dem Achilleus ganz höflich, gewissermaßen wie seines-
gleichen, sagen lassen, er möchte doch den Leichnam heraus-
geben.
Denn die Veranschaulichung der übergewaltigen Persönlich-
keit, der Freiheit und Unbedingtheit, d. h. der menschlichen Un-
ableitbarkeit ihres Handelns, geschieht auch hier durch Beziehung
auf ein Übersinnliches. Das zeigt schon die mächtige Eingangs-
szene. Agamemnon, der Unglückskönig, hat dem Achilleus Be-
leidigungen entgegengeschleudert, die dieser unmöglich dulden kann.
Bleich und starr haftet der Blick der Achäer auf ihm. Bei jedem
1) S. o. S. 353.
• Genie und Tragik. 383
andern, auch bei Agamemnon, würde der Gedanke, was sie an-
richten könnten, den furchtbarsten Ausbruch des Zornes hemmen.
Beim Peliden ist das anders, der ist in Zorn und Haß unbedingt.
Jeder weiß, daß wenn er freundlich und gelassen ist, er es nur
ist, weil er sich mäßigt. „Hemmungen" gibt es für ihn nicht;
wenn er seinem Zorn freien Lauf läßt, muß dieser zerstörend
wirken wie ein Sturzbach. Das ist das „Gefährliche" in ihm wie
ebenso in Hamlet *), worin diese unbedingten Naturen sich vor sich
fürchten. Und dieses furchtbarste, der Zorn des Übermenschen,
scheint unvermeidlich, Achilleus zieht das Schwert — da tritt
etwas Wunderbares ein: er zögert einen Augenblick und steckt
das Schwert in die Scheide. Was war hier geschehen? Daß kein
Bedenken, keine Besorgnis ihn hatte abhalten können, weiß jeder.
Wie kann man dies Handeln „verstehen", d. h. seine Beweggründe
ausfindig machen? Sie können es nur dadurch, daß sie diese Be-
ziehungen in einem Jenseits suchen: In dem Augenblick, wo
Achilleus zögerte, müssen die Götter selbst erbebt sein, muß Hera
mit Athena gesprochen haben und diese den Achilleus um Mäßigung
gebeten haben. Und das weitere Thema ist nun das Hereinbrechen
dieses Übermächtigen, irdisch Unbegreiflichen, des Zornes des
Achilleus in die irdische und kleinliche Welt. Ein psychologisches
Thema sozusagen ursprünglich, aber dieses begreift, da es sich um
die Seele eines Übergewaltigen handelt, Glück und Leid von
Staaten und Völkern, begreift die ganze Götterwelt und Himmel
und Erde ein. Aus dem schimmernden Palaste rufen die Tränen des
Beleidigten die Meeresgöttin empor, die Ströme Skamander und
Simoeis brausen unmutig auf, wollen « den rasenden Überwillen
nicht dulden und sind doch ohnmächtig, denn das heiße Element
des Hephaistos tilgt die göttlichen Stromgewalten. Das ergreifend
warme und edle Heldentum Hektors muß erliegen : es ist Bedingt-
heit gegenüber dem Göttersohn, und das Herrentum des Überge-
waltigen hat Recht. Es ist nach alledem kein Zufall, daß der
Name des „Tragischen", dem hellenischen Weihespiel entnommen,
zum Ausdruck für den höchsten, unbedingten und ideellen Per-
sönlichkeitswert geworden ist. Ist doch eben dem Hellenen alle
höchste, geniale Äußerung der Persönlichkeit „dämonisch" und
„Denn ob ich schon nicht jäh und heftig bin,
So ist doch was Gefährliches in mir,
Das ich zu schaun dir rate! ...u (V, 1).
384 Ottomar Wichmann, 4
„göttlich", und stellen, doch eben seine Götter dieses herrisch un-
bedingte Hinausragen über jede irdische Beschränkung dar. Bis
zu einem gewissen Grade tritt ja, wie oben berührt wurde, dieser
Zug schon in dem Bilde hervor, das der Goethesche Faust von
der Gottheit gibt. Ein Zug des Jovialen und Lustigen ist hier
sogar in den katholischen Himmel getragen, ein Herrgott, der ge-
mütlich mit dem Teufel selbst plaudert. Während dies aber bei
der Goetheschen Gottheit nur einen Hauch über der unberührten
Majestät ausmacht, ist dieser Zug ganz anders bei den Homerischen
Göttern ausgeprägt, bei denen keine Rede davon ist, daß sie sich
„das Lachen abgewöhnt" hätten. Unerfaßbarkeit, ein Jenseits von
Gut und Böse, damit ist ihr "Wesen getroffen. Gebunden an enge
Grenzen, an die sittlichen Gesetze, deren Überschreitung schwere
Strafe nach sich zieht, steht der Mensch diesen Göttern gegenüber.
Wo sie ihm erscheinen, sind sie ganz Majestät. Das wüste Ge-
zücht der Freier ist den Göttern verhaßt und muß vergehen.
Wenn man aber meint, durch sittlichen Gehalt das Wesen der
Götter zu erschöpfen, so irrt man gewaltig, denn in tollster Laune
spotten diese Götter aller Würde, lachen „homerisch", zanken,
betrügen und bestehlen sich und haben die lockersten Liebeshändel.
Von Xenophones bis Piaton hat sich das sittliche Bewußtsein der
großen Denker empört gegen diese Götterwelt gewandt. Was
tut's? Die Götter sind nicht zur Moral erfunden, sondern was
unter Freiheit und Persönlichkeit erschaut und verlangt wird, das
gestalten Dichter und Volk zu mächtigen Heroen und heldischen
Handlungen, in denen, was aus eigener Bedingtheit nicht erklär-
lich und begreiflich ist, in eine jenseitige Welt voll Macht und
Glanz gestellt wird. Damit ist nicht Roheit und Widersittlich-
keit zum Ideal erhoben: auch die Gestalt des Achilleus ist für
alles Warme und Edle offen, und auch diese Götter weit hält das
moralische Gesetz aufrecht. Aber zugleich soll doch bei dem
Helden und bei der Gottheit diese Sittlichkeit etwas anderes, soll
Freiheit sein und ihr Wesen muß ein Jenseits wie von Böse,
so auch von Gut ausmachen. Es ist bezeichnend, daß Athena, die
Göttin des freien Blickes und der hohen Tat, die Helferin des
Achilleus und Odysseus und Rächerin des Freierfrevels, es ist,
die den Hektor, um ihrem Liebling „Ruhm zu bereiten", auf „sata-
nische" Weise betrügt.
Genie und Tragik. 385
Man könnte nach dem bisherigen auf den Gedanken kommen,
es sei nach dieser Auffassung des Tragischen die griechische Tra-
gödie der Höchstpunkt der TagÖdie überhaupt, etwa nach der
Auffassang Hebbels, der die Antigone allen andern Tragödien
voranstellt. Doch liegt die Öache, wenn man genau zusieht, ge-
rade umgekehrt. Allerdings verkörpert die hellenische Mythologie
in ausgeprägtestem Maße das „Tragische" am Menschen. Dieses
Jenseitige, Freiheitliche in der menschlichen Natur, das durch ein
Göttliches veranschaulicht wird, ist dem Griechen nicht, wie heut
uns, etwas kaum Glaubliches, sondern diese Eigentümlichkeit
menschlichen Wesens ist ihm etwas durchaus Gegebenes, wovon
er wie von einer Tatsache redet, an der niemand ernstlich zweifelt.
Aber gerade deshalb, weil ihm dies Hineinragen des Göttlichen
eine ganz geläufige Vorstellung ist, gerade deshalb bekommt diese
Darstellung solchen Übermenschen- und Heroentums etwas Stereo-
types, das nicht zum Vorteil der Tragödie ausschlägt. Die Freiheit
im Menschen, das Tragische, ist eben etwas so Unfaßbares, daß es
durch keine bestimmte Gestaltungsart wiedergegeben werden kann ;
das höchste Geschenk der Musen läßt sich nicht weitergeben, auch
bei den Griechen nicht. Nur dann ist die Götter weit, das Über-
sinnliche, der echte Ausdruck für das Höchste im Menschen, die
Unbedingtheit seines Wesens, wenn die Hauptsache der Dar-
stellung immer die Freiheit, das Metaphysische im Menschen
bleibt, das nötigenfalls sich leicht und schnell, verschwebend und
ungreifbar, auswächst zu einer leichten und luftigen Geister- oder
Götterwelt. Das ist in vollkommenster Weise geboten bei Homer.
Bei Sophokles aber steht es anders ; wohl sind hier die Götter noch
dieselben wie bei Homer: Athena ist im Ajax ebenso betrügerisch
und grausam und über Ödipus und seinem Geschlecht liegt eine
ungerechte, feindliche Götter weit. Aber während bei Homer die
im höchsten Sinne tragischen, überragenden Persönlichkeiten da
sind, aus deren Wesen diese Götterwelt ihre Begründung hat,
fehlen sie bei SophoMes. Damit soll der Gestalt der Antigone
nicht der tragische Gehalt abgesprochen werden. Aber er ist ein
anderer und paßt nicht zu diesen Göttergestalten. Wohl erringt
Antigone die Freiheit, indem sie das Sittengebot als das Unbe-
dingte ansieht und in der Ergreifung dieses höchsten Gebotes
ihrem Wesen Unbedingtheit erwächst. Aber dafür hat Sophokles
keine göttliche Veranschaulichung. Wie ungleich mächtiger ist
hier die Gestaltungskraft Goethes, bei dem ebenfalls Gretchen
Kantstndien. XXVI. 25
3S6 Ottomar Wiehmann,
durch Hinwerfen an das Sittliche Freiheit und Unbedingtheit
ihrer Persönlichkeit gewinnt und durch den kurzen Ruf einer
Stimme „Ist gerettet lu blitzartig der übersinnliche Zusammenhang
hereinleuchtet. Somit liegt gerade in dieser Götterwelt, die bei
den Tragikern schon Überlieferung, nicht mehr lebendiges Sich-
bilden und Wachsen ist, die Schwäche der griechischen Tra-
gödie1). Es ist nicht mehr die Freude an dem Herrischen, Ge-
waltigen, was durch die Tragödien wirkt, sondern als dunkle,
grausame Macjit liegt es feindlich über den Menschen. Am we-
nigsten gilt das noch von dem genialsten der drei Tragiker, von
Aischylos. Indem er große sittliche Ideen in den Göttern ver-
körpert sein läßt, bleibt bei ihm diese Götterwelt in gewissem Grade
flüssig: Wenn er seinen „Zeus" nur so nennt, wenn und wie es ihm
lieb sein mag2), so liegt darin eine großartige Freiheit gegenüber
dem Mythischen, und in den „Persern" gelingt es ihm sogar, in groß-
zügiger Weise das „Dämonische in den Geschehnissen", wie Goethe
sagen würde, zum Ausdruck zu bringen. In Sprache und Aufbau
— z. B. dem Erscheinen des Geistes des Darius 3) und in der er-
schütternden tragischen Ironie im Agamemnon4) — liegt etwas
Shakespearesches. Aber diese Linie wird von Sophokles verlassen :
Er stellt nicht mehr heroische sondern menschliche Tragik dar,
und das gibt, da diese Menschen doch immer noch Heroen sind,
schon bei Sophokles der ganzen Handlung etwas Beengendes. Am
stärksten äußert sich das' dann bei Euripides. Während Aischylos
den Einklang zwischen Leben und Übersinnlichem dadurch zu
schaffen sucht, daß er die großen Taten seines Volkes ins Über-
sinnliche hinaufreißt, will Euripides diesen Ausgleich schaffen, in-
dem er die Heroen ins Irdische herunterzieht. Es ist darüber von
Aristophanes bis Mommsen 5) genug gesagt worden, und ein längeres
Verweilen ist unnötig.
So ergibt sich gerade aus dem Vergleich mit der
antiken Tragödie der Vorzug und das Wesen der mo-
dernen. Mommsen hat vollständig recht, wenn er sagt, daß
Sophokles vor Shakespeare zurücktreten muß. Die moderne Tra-
gödie hat es an sich unendlich viel schwerer, ihren höchsten Gegen-
stand, das Methaphysische im Menschen, das Unbedingte und Irra-
tionale darzustellen, weil ihr keine überlieferte mythologische Aus-
1) Vgl. dazu Volkelt, Ästh. des Tragischen, S. 406 ff.
2) Agam. v. 160. 3) Pers. v. 681. 4) Agam. r. 921 ff.
5) Mommsen, Rom. Gesch. I, S. 910—913.
Genie und Tragik. 387
gestaltung dieses im höchsten Sinne Persönlichen gegeben ist. Aber
wenn es ihr gelingt, diesen tiefsten Kern alles Menschlichen durch
Hereinbeziehung eines Jenseits zu veranschaulichen, so bleiben die
übersinnlichen Bildungen dafür auch flüssig und schwebend, in
jedem Augenblick zum besonderen Zweck sich neugestaltend, wie
das Vischer so klar an Faust ausführt, während die antike Tra-
gödie im wesentlichen doch eine „Redaktion der Mythologie"
darstellt (Mommsen). Über dem modernen Geist lastet das kirch-
liche und neuerdings das naturalistische Dogma; aber wenn die
dichterische Kraft einmal diesen ehernen Himmel durchstößt, so
findet sie nicht das luftige Gedränge der antiken Göttergestalten,
das, zur Überlieferung geworden, die antike Tragödie beengte,
sondern der Raum ist leer und der Mythos kann frei und spielend
sich entfalten.
V. Ausblick.
Es fehlt hier an Raum, um den bisherigen Ausführungen die
Ergänzung zu geben, deren sie natürlich bedürfen: es wurde ent-
wickelt, wie der Dichter die Freiheit darstellt ; um aber ein volles
Bild des Tragischen zu gewinnen, ist auch nötig auszuführen, wie
der Dichter die Unfreiheit darstellt. Wir sahen, wie der tra-
gische Mensch, die Persönlichkeit im höchsten Sinne, in seiner
Freiheit zugleich unfrei ist, nämlich vom gewöhnlichen Leben aus
betrachtet. Zum Tragischen gehört aber auch, wie der gewöhn-
liche Mensch trotz seiner Unfreiheit und seiner Bedingtheit frei
sein will, wie er den Bestimmungsgrund seines Handelns, um sich
frei zu fühlen, ins Unbedingte erhebt und gerade dadurch seine
Unfreiheit unentrinnbar macht. Hier tut sich das Gebiet auf, wo
die Hebbelsche Anschauungsweise vom Tragischen berechtigt ist:
daß mit jedem Einzelwillen die Überspannung des Willens gegeben
ist. Weil der Mensch unter der Idee der Freiheit — oder Un-
bedingtheit oder Allgemeingültigkeit — - handelt, und deshalb die
Denkweise, das Gesetz, welches den Bestimmungsgrund seines
Handelns ausmacht, für unbedingt gültig halten muß, entspringt
auch auf dieser Stufe die Notwendigkeit aus der tragischen Frei-
heit. Auch hier bietet wieder Shakespeare das Höchste : wenn
Cassius von Brutus sagt :
25*
388 Ottoinar Wichmann,
„Gut, Brutus, du bist edel! doch ich sehe,
Dein löbliches Gemüt kann seiner Art
Entwendet werden — —
war ich Brutus nun, er Cassius,
Er sollte mich nicht lenken!"
Aber auch König Heinrich VI, und am machtvollsten wohl König
Lear und Macbeth zeigen diesen Zug. Namentlich bei dem letzten
erzeugt dieses an Wahnsinn grenzende Festhalten der einmal er-
wählten Handlungsweise, die Unerfaßbarkeit der Handlung die
auch in diesem Falle natürliche Hinaus Verlegung ihrer Bedingt-
heit in einen übersinnlichen Zusammenhang. Aber auch bei der
Gestalt Hektors liegt dies starre und letzten Endes sinnlose Fest-
halten an dem einmal Erwählten vor : an der unbeirrbaren Ritter-
lichkeit seines Wesens *), die er doch, wie der alte vernünftige
Horaz schon gesehen hat2), dem infamen Paris gegenüber nur
einmal über Bord zu werfen brauchte, um alles in Ordnung zu
bringen und Volk und Vaterland wirksamer zu befreien als duich
alles Heldentum. Auch sei hier noch kurz darauf hingewiesen,
daß auch die schon oft bemerkte Verwandtschaft des Komischen
mit dem Tragischen aus solcher am unpassenden Ort sich äußern-
den Unbedingtheit des Wesens entspringt. Das gilt von den Ge-
stalten Charles Dickens', wie vom Don Quixote und vom Unkel
Bräsig. Alle wahrhaft komischen Gestalten sind tragisch, d. h.
sie tragen eine solche Unbedingtheit des Wesens in sich, die zwar
in diesen Fällen nicht zum Untergang, aber zu immer wiederholten
Anstößen führen muß.
Und so liegt denn in dem Ausspruch Goethes über Shakespeare
der ganze ideelle Sachverhalt, der das Wesen des Tragischen aus-
macht: „ Seine Pläne sind keine Pläne". Sehr recht! Denn jedes
bewußte Konstruieren und Aufbauen, jeder „Plan", den man sollte
merken können, widerspricht der Idee des objektiven Kunstwerks.
„Aber seine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt, . . .
in dem das Eigentümliche unseres Ich, die prätendierte Freiheit
unseres Wollens mit dem notwendigen Gange des Ganzen zu-
sammenstößt". Die prätendierte, d. h. die beanspruchte oder die
ideell geforderte Freiheit macht das Eigentümliche unseres Ich
1) II. B. VI, 444.
iitsl pdd'ov fyfisvciL icd'Xog
2) Horaz, Epist. I, 2.
Genie und Tragik. 389
aus. Entweder es liegt eine wirkliche Unendlichkeit des Persön-
lichen, eine Unbedingtheit des Wesens vor, — dann erschauen wir
das Höchste der Persönlichkeit, was Piaton und Goethe das Dä-
monische nennen. Oder aber, der Mensch will frei sein und nimmt
deshalb die Begrenzung und Bedingtheit seines Wesens als das
Unbedingte und Allgemeingültige, er setzt alle seine Kraft und
sein Leben daran, diese durchzusetzen und muß so sich selbst zer-
stören. Darin liegt das Zusammenfallen von Freiheit und Not-
wendigkeit im Tragischen, daß, je mehr der Mensch frei ist oder
frei sein will, desto mehr diese Unabwendbarkeit des Untergangs
in seinem Schicksal sich ausprägt. Daß die Freiheit in diesem
Leben so vernichtet werden muß und daß sie trotzdem das Höchste
für das Menschengeschlecht ausmacht, darin liegt die Objektivität,
die das Auge des Dichters erschaut. Nicht wo irgend eine Art
Theologie oder irgend eine liberale Lebensanschauung eine Ver-
söhnung schafft, liegt die ideelle Art des Tragischen, sondern da,
wo das Leben geschildert ist: Kühl vernichtend, schneidend wie
blanker Stahl, und wo dennoch der Mensch dagegen sich auflehnt
und ein eigner bleibt: an dem „geheimen Punkt ... wo das Eigen-
tümliche unseres Ich, die prätendierte Freiheit unseres Wollens
mit dem notwendigen Grange des Granzen zusammenstößt".
Wie ist Psychologie als Wissenschaft
möglich.
Von Anna Tumarkin, Prof. an der Universität Bern.
Fragen wir nach dem besonderen Gegenstand, den die Psycho-
logie zn behandeln hat, nach dem Psychischen, als einer besonderen
Form der Wirklichkeit, so tritt nns das uralte ewige Rätsel vom
Leben entgegen, das sich dem Menschen seit den ersten Anfängen
seiner philosophischen Entwicklung immer von Neuem aufdrängt.
Scheinbar so selbstverständlich, das am unmittelbarsten Ge-
gebene, erscheint doch das Leben völlig problematisch, unfaßbar,
sobald wir es begrifflich fixieren wollen. Wie sollen wir es in
unserer dem begrifflichen Denken angepaßten Sprache formulieren,
da es selber nicht begrifflich, sondern unmittelbar gegeben ist?
Wie sollen wir es auch nur in schweigender Betrachtung für uns
selbst fixieren, da das flüchtige Leben unserer Betrachtung nicht
stille steht und in dem Augenblick, wo wir seine lebendige Flut
halten wollen, uns entschwindet. Gerade das, was man am Leben
im Gegensatz zu aller vermittelnden Erkenntnis preist, seine Un-
mittelbarkeit, verliert sich vor dem aufmerksamen Blick der Selbs't-
betrachtung. Ich will mein Gefühl beobachten, aber was ich er-
fasse ist nicht mehr mein ursprüngliches, unbefangenes Gefühl
selbst. Und weil sich das Psychische aller Fixierung entzieht,
gibt es auch streng genommen keine innere Wahrnehmung des
Psychischen, wie es eine äußere Wahrnehmung des räumlich und
zeitlich fixierbaren außerpsychischen Geschehens gibt.
Diese Ungreifbarkeit des unmittelbaren Erlebens ist es, was
die feinsten Psychologen als die größte Schwierigkeit empfinden,
die dem psychologischen Forschen in den Weg tritt. Am ein-
dringlichsten hat diese Empfindung in unserer Zeit Bergson zum
Ausdruck gebracht.
Anna Tumarkin, Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich. 391
Und doch sind wir auf die Erkenntnis des Psychischen an-
gewiesen, des fremden wie des eigenen. Das Znsammenleben mit
den Anderen, wie das Bewußtsein der Kontinuität des eigenen
Lebens wären unmöglich, wenn wir das Psychische nicht als
solches erkennen könnten. Es gibt tatsächlich eine Erkenntnis
des Psychischen, und wir müssen uns nur Rechenschaft geben,
worin sie besteht und worauf sie beruht. Es gibt allerdings keine
besondere innere Wahrnehmung des einzelnen, isolierten Erlebens,
wohl aber gibt es ein Verstehen des gesamten psychischen Zu-
sammenhanges, in den sich das einzelne Erleben einordnet, und
aus dem heraus es sich auch verstehen läßt. Vergebens jage ich
dem einzelnen Lebenselement nach: was isolierbar ist, ist nicht
mehr psychisch, subjektiv, sondern nur das gegenständliche Korrelat
eines Psychischen. Aber der ganze seelische Zusammenhang ist
mir verständlich, und aus ihm heraus wird mir auch das Einzelne
wieder lebendig, verständlich. Nur aus dem Zusammenhang heraus
gibt es ein Verstehen des Psychischen ; wie es überhaupt ein Ver-
stehen nur vom Zusammenhang oder aus einem Zusammenhang heraus
gibt, nie von einem Einzelnen für sich genommen. Wir verstehen
einen Satz oder eine Rechnung, nicht den Buchstaben oder die
Zahl; verstehen können wir nur, was sich aus einander ableiten
läßt. /
Bei dem Psychischen, dessen einzelne Erscheinung wir außer-
halb ihres Zusammenhangs gar nicht fixieren können, sind wir be-
sonders darauf angewiesen, sie aus dem Zusammenhang heraus zu
verstehen, in den sie sich einordnet, so daß wenn sie auch selber
entschwindet, ihre Stelle im Zusammenhang fixiert werden kann,
wie die fliehende Bewegung fixiert wird in der durchlaufenen
Linie.
Daher kommt auch dem Verstehen des Einzelnen aus dem Zu-
sammenhang heraus bei der Betrachtung des Psychischen eine ganz
andere Bedeutung zu, als bei der Betrachtung der Außenwelt,
deren einzelne Gegenstände wir zwar auch nur -aus dem allge-
meinen Zusammenhang des Naturgeschehens erklären, daneben
aber auch für sich, isoliert vom allgemeinen Zusammenhang denken
können. Beim Psychischen aber gibt es überhaupt keine Erkenntnis
außerhalb des Zusammenhangs, keine Erkenntnis des Psychischen,
die nicht ein Verstehen aus dem Zusammenhang heraus wäre.
Nur im Zusammenhang läßt sich das Einzelne, als psychisch, über-
haupt fassen ; außerhalb dieses Zusammenhangs verflüchtigt es sich
392 Anna Tumarkin,
in seiner Subjektivität und verhüllt sich hinter den gegenständ-
lichen Bewußtseinsinhalten.
Darum erscheint es als methodischer Grundfehler aller an der
Naturwissenschaft orientierten Psychologie, daß sie von den Ele-
menten des Seelenlebens ausgeht, um von da aufzusteigen zu
höheren Funktionen; denn durch bloße Zusammensetzung psychi-
scher Elemente läßt sich kein psychischer Zusammenhang in der
Art gewinnen, wie man zur Erkenntnis eines körperlichen Ganzen
gelangt durch sukzessive Betrachtung seiner Teile. Es ist das große
Verdienst Wilhelm Diltheys um die Psychologie, daß er auf die
Ursprünglichkeit des seelischen Zusammenhanges hinwies, von dem
alles psychologische Verstehen auszugehen habe; für diese Er-
kenntnis des Seelenlebens aus seinem ursprünglichen Zusammen-
hang heraus hat er den Begriff „Verstehen" in Anspruch ge-
nommen im Gegensatz zum „Erklären" des Natur geschehens, dem
wir durch Hypothesenbildung den Zusammenhang erst unterlegen
müssen.
Die terminologische Unterscheidung scheint mir nicht be-
rechtigt; denn Verstehen (von Verstand) ist der allgemeinere Be-
griff, unter den die Erkenntnis eines jeden Zusammenhangs fällt,
des psychischen Zusammenhangs nicht mehr, als des empirischen
Zusammenhangs des Naturgeschehens oder des a priori deduzier-
baren Zusammenhangs der Ideen; aber von der Eigenart des Zu-
sammenhangs hängt auch die Besonderheit des entsprechenden
Verstehens ab. Und so führt die Frage der psychologischen Er-
kenntnis zur Frage nach der Eigenart des psychischen Zusammen-
hangs.
Es ist ein realer Zusammenhang: nicht bloß das negative
Prinzip der logischen Widerspruchslosigkeit , auch nicht das for-
male Prinzip der transzendentalen Einheit der Apperzeption, das
jenseits des empirischen Reichtums und der individuellen Unter-
schiede des psychischen Lebens bleibt, sondern der wirkliche Zu-
sammenhang des konkreten Lebens in allen seinen Modifikationen.
Und da liegt es nahe, den psychischen Zusammenhang als einen
Ausschnitt aus dem allgemeinen Zusammenhang des Naturgeschehens
zu verstehen, ihn einzureihen in den großen Kausalzusammenhang,
den die positive Forschung mit Hilfe der Mathematik immer fester
zu sichern strebt, und so die psychologische Forschung teilhaftig
zu machen der Gewißheit positiver Wissenschaft: es soll die Be-
Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich. 393
trachtung der flüchtigen Erscheinungen des psychischen Lebens
dadurch auf einen festen Boden gestellt werden, daß man sie in
kausalen Zusammenhang bringt mit greifbaren und meßbaren Er-
scheinungen der Außenwelt.
Wenn aber Wundt, der kritischste unter den Vertretern dieser
an der Naturwissenschaft orientierten Psychologie, schließlich zum
Eesultate kommt, daß das Gesetz der psychischen Kausalität,
causa aequat effectum, sich nicht auf das psychische Gebiet über-
tragen lasse, so erscheint damit die ganze Einreihung des Psy-
chischen in den allgemeinen Kausalzusammenhang des Natur-
geschehens von recht illusorischem Wert für das Verstehen des
ersteren, denn zum Verstehen des Naturgeschehens führt die kau-
sale Betrachtung nur dadurch, daß man annimmt, die Wirkung
gleiche der Ursache und lasse sich aus ihr ableiten. Durch diese
Annahme der Gleichheit von Ursache und Wirkung sucht die
Naturwissenschaft einen Ersatz für die absolute Notwendigkeit
des rein begrifflichen Zusammenhangs. Ohne sie gäbe es nur eine
gewohnheitsmäßige Verknüpfung des Nacheinander, aber keine
Einsicht in die Notwendigkeit des Durcheinander, und damit auch
kein Verstehen der Wirkung aus ihrer Ursache. Die ganze Be-
deutung der Mathematik für die Naturwissenschaft beruht darauf,
daß sie die Gleichung herstellt zwischen Ursache und Wirkung.
Eine solche mathematisch bestimmbare Gleichung läßt sich aber
zwischen der psychischen Wirkung und ihrer Ursache nicht her-
stellen: die physische Ursache der psychischen Wirkung ist von
der letzteren ihrem Wesem nach verschieden, ihr völlig inkommen-
surabel; und die psychische Ursache läßt sich ebenfalls in kein
genau bestimmbares Verhältnis zu ihrer Wirkung bringen, weil
sich beide der mathematischen Bestimmung entziehen. Selbst
wenn wir innerhalb des psychischen Zusammenhanges bleiben und
nicht hinübergreifen in die wesensverschiedene Sphäre des phy-
sischen Geschehens, erscheint so die kausale Erklärung des Psy-
chischen fraglich; im besten Fall bleibt die Psychologie in bezug
auf kausale Erklärung hinter der exakten Wissenschaft zurück,
einem Ziele nachstrebend, das sie doch nie erreichen kann.
Und da müssen wir uns fragen, ob denn die kausale Erklärung,
die innerhalb der Naturwissenschaft dank der mathematishen Be-
stimmbarkeit der Naturerscheinungen durchführbar und daher auch
methodisch berechtigt ist, auch innerhalb der Psychologie, wo sie
doch nie die Vollkommenheit exakter wissenschaftlicher Erklärung
394 Anna Tumarkin,
erreichen kann, dieselbe Berechtigung habe. Von unserer Be-
trachtung der Aussenwelt her sind wir so gewohnt, das Wirkliche
in einen kausalen Zusammenhang zu bringen, daß es uns ganz
natürlich erscheint, auch den psychischen Zusammenhang als einen
kausalen zu fassen. Ist das aber nicht eine unberechtigte Über-
tragung der wissenschaftlich geprüften und gesicherten Methode
der Naturbetrachtung auf das Gebiet der Psychologie, deren Me-
thode doch ihrem Gegenstande angepaßt sein sollte? Den physi-
schen Zusammenhang können wir nur als einen kausalen verstehen,
d. h. ihn als eine Aufeinanderfolge von zeitlich fixierten Erschei-
nungen denken, deren Notwendigkeit durch quantitatives Be-
stimmen dieser aufeinander folgenden Erscheinungen gesichert wird.
Für den psychischen Zusammenhang aber, ganz abgesehen davon,
daß die genaue quantitative Bestimmung hier versagt, ist die zeit-
liche Aufeinanderfolge überhaupt nicht wesentlich. Ein Zusammen-
hang z. B., wie der zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und
dem mit ihr verbundenen Gefühl der "Wahrheit, ist überhaupt
nicht zeitlich zu fassen; wie die meisten eigentlichen psychischen
Zusammenhänge, ist er außerzeitlich und insofern auch nicht unter
das Gesetz der Kausalität fallend, das die eigentliche Aufeinander-
folge voraussetzt.
Es kann das Psychische unter Umständen, insofern es in der
Zeit verläuft, auch in einen kausalen Zusammenhang gebracht
werden, aber dieser Kausalzusammenhang, dem nie die strenge
Demonstrierbarkeit der mathematisch- naturwissenschaftlichen Er-
klärung zukommen wird, setzt, auch wo er bloß plausibel ist,
bereits einen anderen rein psychischen Zusammenhang voraus,
der selbst nicht mehr kausal zu verstehen ist: wenn wir ein Ge-
fühl der Befriedigung erklären sollen durch die vorausgegangene
wissenschaftliche Betätigung, so müssen wir den außerzeitlichen
Zusammenhang zwischen Gefühl und Erkenntnis bereits verstanden I
haben.
Das ursprüngliche Prinzip des psychologischen Verstehens
kann die Kausalität nicht bilden. Diese Einsicht hatte Dilthey
zu seinem Kampf gegen die auf Hypothesenbildung beruhende
erklärende Psychologie getrieben. Was er dem kausalen Zu-
sammenhang, als dem Prinzip der erklärenden Psychologie ent-
gegensetzt, ist der im unmittelbaren Erleben gegebene Struktur-
zusammenhang, von dem die beschreibende und zergliedernde Psy-
chologie auszugehen habe. Wir verstehen das Leben, weil es
Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich. 395
nicht nur um uns, sondern auch in uns selber strömt und atmet;
das unmittelbare eigene Erleben wird uns zum Schlüssel alles
Psychischen, das wir nach Analogie des eigenen Lebenszusammen-
hanges, durch Einfühlung, würden wir heute sagen, in uns lebendig
werden lassen.
Und Dilthey selbst verstand es, wie kaum ein Anderer, einen
fremden seelischen Zusammenhang wieder lebendig zu machen.
Mit unvergleichlicher, einzigartiger Kunst ließ er Gestalten der
Vergangenheit vor uns erstehen, daß man das Gefühl hatte, es sei
nichts mehr zwischen ihnen und uns, die Schranken individueller
Form fielen hin, und hüllenlos sah man die Seelen vor sich. Wer
die Methode des einfühlenden Verstehens an Dilthey selbst beob-
achtet hat, konnte sich dem Zauber dieser Meschenbeschwörung
kaum entziehen. Aber mitten in aller Bewunderung mußte man
sich sagen: das ist seine Gabe, die Gabe einer wunderbar im-
pressionablen und auf Grund der Impressionabilität divinatorischen
Natur; aber eine sichere, übertragbare, allgemein mitteilbare Me-
thode ist es nicht; wie ja auch Dilthey selber von seiner be-
schreibenden Psychologie zugibt, daß sie „immer etwas von dem
lebendigen künstlerischen Prozeß des Verstehens" behält. (Ideen
z. e. beschr. und zergliedernden Psychol.", Sitzungsber. d. Berl.
Akad. d. Wiss. 1894, S. 1345). Was Dilthey uns zeigt, lebt in
uns, löst eine Dynamik des seelischen Erlebens aus, wie sie nie
durch verstandesmäßige Konstruktionen ausgelöst werden kann.
Aber daß das, was in uns so lebendig wird, dem fremden Erleben
wirklich entspricht, dafür haben wir keine Gewähr: es ist Dil-
they's Hölderlin, Novalis, junger Hegel, was jetzt in uns lebt,
wie des Künstlers Gestalten so intensiv in uns leben, daß wir
darüber die Geschichte, die dem Künstler das Motiv geliefert hat,
vergessen. Und so wunderbar wirksam dieses gefühlsmäßig nach-
schaffende oder vielmehr neuschaffende Verstehen ist, was sich
ihm erschließt, ist nicht der fremde Lebenszusammenhang, wie er
für sich genommen ist, sondern wie er sich in dem unsrigen spiegelt.
Denn, wie es Dilthey wieder selber zugibt, nach Analogie mit
dem eigenen unmittelbar erlebten Zusammenhang läßt sich der
fremde Zusammenhang überhaupt nur unter der Voraussetzung
allgemeiner Verwandtschaft des menschlichen Seelenlebens ver-
stehen, und „dasjenige an einem fremden Seelenleben, was von
diesem eigenen Inneren nicht bloß quantitativ abweicht oder durch
Abwesenheit von etwas, das im eigenen Inneren vorhanden ist,
396 Anna Tumarkin,
sich unterscheidet, kann von uns schlechterdings nicht ergänzt
werden". (Ibid. S. 1369).
Das gilt vor Allem von jenen psychischen Erscheinungen, die
so verschieden sind von dem, was der normale Mensch als den
eigenen seelischen Zusammenhang in sich erlebt, daß wir sie als
pathologisch bezeichnen; ihnen gegenüber versagt das einfühlende
Verstehen prinzipiell, und selbst der impressionabelste Beobachter
kann sie, vorausgesetzt daß er selber normal ist, durch Einfühlung
nicht verstehen. Wir wissen, daß ein Anormaler Wahnideen hat
und kennen vielleicht ihren Inhalt, aber für uns ist es Wahn,
für ihn — Wirklichkeit. Da findet die Einfühlung ihre Grenze;
der Unterschied zwischen unserem und seinem psychischen Zu-
sammenhang ist zu groß, als daß der eine sich ohne Vergewalti-
gung dem anderen unterlegen ließe. Dilthey selbst hat zwar
sein einfühlendes Verstehen auch an diesen Erscheinungen ver-
sucht; selbst systematisch philosophische Fragen, wie die nach
dem Wesen unseres Wirklichkeitsglaubens, hat er aus der Seele
von Geisteskranken mit ihren verschiedenen Formen des Realitäts-
gefühls zu denken und lösen versucht; es gibt kaum ein Werk
der philosophischen Literatur, das uns so nahe an den Rand des
Irrsinns führt, wie Dilthey' s Akademieabhandlung über den Grund
unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt.
Aber solche Impressionabilität gegenüber den Geisteskranken,
bei der man selber den festen geistigen Boden verliert, wird man
nicht als Verstehen der Geisteskrankheit bezeichnen können ;
jedenfalls darf das Verstehen, das der Psychiater braucht, das
ihm die Überlegenheit gegenüber dem Kranken geben soll, statt
ihn selber in seinem seelischen Gleichgewicht zu gefährden, nicht
auf den schwankenden Boden der Einfühlung gestellt werden.
Ein Verstehen des Psychischen ist aber hier dringend nötig,
dringender, vielleicht, noch, als gegenüber dem Normalen, der
auch ohne unser Verstehen sich selber im Leben zurechtfindet.
Den dringenden Forderungen gegenüber, die da an unser Ver-
stehen des Psychischen gestellt werden, können wir es nicht
darauf ankommen lassen, ob eine ferne Zukunft eine sichere
wissenschaftliche Methode der psychologischen Forschung finden
werde, können uns nicht dabei beruhigen, daß die Psychologie,
vielleicht, überhaupt keine Wissenschaft ist, sondern nur eine un-
verantwortliche Kunst, die nur besonders begabten divinatorischen
Naturen, mit einem besonderen psychologischen Takt zugänglich
Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich. 397
ist. Es muß eine objektive Methode psychologischen Verstehens
gefunden werden, die Not des Lebens duldet hier keine metho-
dische Unsicherheit und verlangt gebieterisch, daß die Psychologie
als Wissenschaft gestaltet werde.
Und der Psychiatrie schließen sich in dieser Forderung an
die Geschichte und die Geisteswissenschaften, die nicht die ganze
Sphäre des Psychischen der Willkür des genialen Erratens preis-
geben können und ebenso, wie die Psychiatrie, von der Psycho-
logie verlangen müssen, daß diese sich auf eine wissenschaftlich
gegründete Methode und auf objektive Prinzipien aufbaue.
Solche wissenschaftliche Methode der psychologischen For-
schung setzt aber, da das Verstehen des Psychischen nur aus
dem Zusammenhang heraus möglich ist, voraus, daß der Zusammen-
hang, aus dem das Psychische verstanden werden soll, nicht selber
bloß als ein subjektiver, unmittelbar gegebener erlebt, sondern
daß er in seiner Notwendigkeit auch objektiv verstanden werde ; in
Dilthey's Sprache zu reden, es genügt nicht, daß der Strom des
Lebens in uns selber fließt, wir müssen ihn auch in Beziehung
bringen können zu festen Punkten, von denen aus sich seine Flut
bestimmen ließe, zu bleibenden Ufern, die den Strom zusammen-
halten. -Die Kausalität kann aber dieses bestimmende Prinzip
des objektiven psychologischen Verstehens nicht sein; der Zu-
sammenhang, aus dem heraus wir alles Psychische verstehen
sollen, kann nicht ein Kausalzusammenhang sein. Und wäre die
Kausalität die einzige Form alles objektiven Verstehens der Wirk-
lichkeit, gäbe es keinen wirklichen nach objektiven Prinzipien
faßbaren Zusammenhang, als den kausalen, so ständen wir in bezug
auf die Psychologie vor einem unlösbaren Dilemma: entweder die
einzig wissenschaftliche kausale Betrachtungsweise, aber nur in
unvollkommener Weise auf das Psychische anwendbar, so daß die
Psychologie immer dazu verurteilt bleibt, ohnmächtig der Natur-
wissenschaft nachzuhinken, oder aber eine selbständige, der Eigen-
art des Psychischen angepaßte Betrachtungsweise, aber dafür un-
wissenschaftlich, auf die unberechenbare und unverantwortliche
Kunst der Einfühlung angewiesen.
Aus diesem Dilemma hilft uns nur die Einsicht, daß die Er-
hebung der Kausalität zum einzigen Prinzip aller objektiven
Wirklichkeitserkenntnis ein aus einseitiger Orientierung an der
Naturwissenschaft erwachsenes Vorurteil ist. So gut wie der
kausale Zusammenhang des zeitlichen Geschehens, kann auch ein
398 Anna Tumarkin
außerzeitlicher, sinnvoller Zusammenhang Gegenstand objektiven
Verstehens sein. Einen solchen sinnvollen Zusammenhang stellt
auch das psychische Leben dar; freilich, was es von den anderen
Formen des sinnvollen Zusammenhangs unterscheidet, nicht einen
bloß ideellen Zusammenhang, wie es etwa der mathematische ist,
sondern einen wirklichen sinnvollen Zusammenhang; aber das ist
eben die nicht weiter abzuleitende Eigenart des Psychischen, daß
es einen sinnvollen wirklichen Zusammenhang bedeutet.
Und einen sinnvollen wirklichen Zusammenhang verstehen wir
nicht aus seiner Ursache, sondern aus seinem Zweck. Damit ist
nicht ein Zweck gemeint, der dem Leben willkürlich vorgesetzt
wäre, sondern der Zweck, den das Leben selber sucht, als Wille
zum Leben, zur Erhaltung des Lebens. Das Leben aber, das es
da zu erhalten gilt, ist ein bewußtes, und, als solches, kann es
sich selbst nicht erhalten, ohne die objektive Einheit des Bewußt-
seins zu wahren. Der Wille zum seelischen Leben ist immer
Wille zur Objektivität seiner Lebensinhalte. Warum das so ist,
ist eine ebenso müssige Frage, wie die, warum es kein Subjekt
ohne Objekt gibt, oder wie die nach dem Ursprung des Bewußt-
seins. Psychisches Leben ist ein immerwährender Kampf um die
objektive Einheit des Bewußtseins, d. h. um dessen sinnvollen Zu-
sammenhang. Nichts-wird uns als psychisch bewußt, tritt als Er-
lebnis in die Sphäre des Bewußtseins, was nicht in Beziehung
steht zu diesem Zweck unseres Lebens. Dieser Lebenszweck be-
stimmt den Inhalt des Erlebens, er vollzieht die Auswahl der
Lebensinhalte, er ist das schöpferische Prinzip des Lebens. Sinn-
widriges duldet das Bewußtsein nicht, es deutet es um, sodaß die
Sinnwidrigkeit verschwindet, oder es sperrt sich dagegen; Sinn-
leeres wird wohl eine Zeit lang als Ballast mitgeschleppt, aber,
wenn es sich dauernd sträubt gegen die Einreihung in einen sinn-
vollen Zusammenhang, über Bord geworfen. Nur was Anschluß
findet an den einheitlichen sinnvollen Zusammenhang des Bewußt-
seins, hat Bestand.
Das Seelenleben ist Sinnsuchen; marche a l'esprit hat es
Bergson . genannt, und als ein Chaos, das Kosmos werden will,
definiert es Bickert. Vom Standpunkt unseres Problems drücken
wir denselben Tatbestand so aus, daß wir den psychischen Zu-
sammenhang, der den Gegenstand der Psychologie als Wissenschaft
bilden soll, fassen als einen Zweckzusammenhang und alles Psy-
chische aus seinem Zweckzusammenhang heraus zu verstehen
Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich. 399
suchen. Wie das Kausalitätsprinzip das ursprüngliche, eigentüm-
liche Prinzip der Erklärung des physischen Geschehens ist, so
erscheint uns das Zweckprinzip als das ursprüngliche, eigentüm-
liche Prinzip des psychologischen Verstehens; während innerhalb
der Psychologie die Kausalität ebenso als ein übertragenes Prinzip
erscheint, wie innerhalb der Naturerklärung das Zweckprinzip.
Auch die Naturerklärung greift zum Zweckbegriff, wo die
Kausalität nicht ausreicht, um den Zusammenhang des an den
betrachteten Erscheinungen gegebenen Mannigfaltigen zu ver-
stehen, bei der Betrachtung der organischen Natur; und sie
glaubt sich dazu berechtigt, weil sie in der natürlichen Anpassung
der organischen Wesen an die vorhandenen Daseinsbedingungen
ein Analogon zu bewußtem Zweckwirken findet. Die Psychologie
aber findet in ihrem Gegenstand nicht bloß Zweckmäßigheit, d. h.
Analogie zu bewußtem Zweck wirken, sondern auch dieses bewußte
Zweckwirken selbst. Denn psychisches Leben ist Zweckbewußtsein,
d. h. nicht bloß Fähigkeit, sondern auch Wille zur Anpassung, zur
Selbsterhaltung und zwar zu einer Selbsterhaltung, die auch ob-
jektive Bewußtseinsinhalte, mithin objektive Zwecke, Aufgaben
umfaßt: psychisches Leben ist Zwecksetzung, und aus seiner Ziel-
strebigkeit verstehen wir alle seine Funktionen.
Ein Psychisches verstehen, heißt die Rolle erkennen, die es
in dem allgemeinen Zweckzusammenhang des Lebens spielt, im
Dienste jener objektiven Einheit, die herzustellen und zu wahren
alles Leben unablässig strebt. Jedes Erleben ist ein Ausgleich
zwischen dem erworbenen seelischen Zusammenhang und dem neu
hinzukommenden Eindruck, ein Kampf um das seelische Gleich-
gewicht. Je darnach, ob wir an . sein greifbares Resultat, den
neugewonnenen gegenständlichen Inhalt, denken oder an die durch
ihn ausgelöste bewegende Kraft, oder an das allgemeine Bewußt-
sein des Gleichgewichtszustandes, sprechen wir von Erkennen,
Wollen oder Fühlen. Die objektive Einheit des Bewußtseins
bleibt das Ziel, von dem aus wir alle diese Erscheinungen des
Seelenlebens verstehen.
Derselbe Zweck des Lebens, die Selbsterhaltung, führt unter
verschiedenen Bedingungen auch zu verschiedenen Modifikationen
des Lebenswillens: in der unbegrenzten Mannigfaltigkeit psy-
chischer Individuen eine ebenso unabsehbare Mannigfaltigkeit ein-
ander ablösender Entwickelungsformen. Derselbe Zweck der
Selbsterhaltung erscheint als das bestimmende Prinzip unendlich
400 Anna Tumarkin,
vieler von Augenblick zu Augenbick sich verschiebender Zweck-
zusammenhänge. Und die Psychologie sieht sich dieser unend-
lichen Mannigfaltigkeit von Zweckzusammenhängen und ihren Ver-
schiebungen gegenüber. Das ist ihr Gegenstand. Was ihr die
Möglichkeit gibt, sich in dieser Mannigfaltigkeit zurechtzufinden,
ist die Richtung aller dieser Formen des Lebenswillens auf einen
objektiven Bewußtseinsinhalt.
Die Objektivität des Bewußtseinsinhalts, der in seiner Ob-
jektivität uns allen gemeinsam ist, der objektive gemeinsame
Kulturzusammenhang, an den unser Aller geistiges Leben einen
Anschluß sucht, schlägt die Brücke über alle individuellen Ver-
schiedenheiten von einem seelischen Zweckzusammenhang zum
anderen. Als geistige Wesen bleiben wir nicht isolierte, jedes
Verständnisses für einander entbehrende Individuen, sondern wir
finden uns in der Einheit objektiver Ziele, die unser Bewußtsein
als an sich gültig und insofern allen gemeinsam erkennt. In dieser
Einheit objektiver Ziele haben wir die einzige feste Grundlage
für das gegenseitige Verstehen und durch sie sind wir auch dem
Zufall und der Unsicherheit der subjektiven Einfühlung entrückt.
Auch wo die Einfühlung, als natürliches Band der Gemeinschaft,
versagt, bleibt dieses geistige Band der Einheit der objektiven
Aufgaben bestehen.
Und von diesen objektiven Aufgaben aus, wie sie das Ziel
der Kulturgemeinschaft bilden, vermag auch die Psychologie das
Lebensziel und den Zweckzusammenhang der einzelnen Individuen zu
verstehen. In dem Einzelmenschen erblickt sie einen Träger dieser
Aufgaben, die von ihm als Zweck seines individuellen Strebens
aufgenommen werden und eine je nach seinen Anlagen und seinen
Lebensbedingungen bestimmte Lösung finden. Den individuellen
Zweckzusammenhang sucht sie als eine Modifikation der objektiven
Einheit geistiger Aufgaben zu verstehen: warum, aus welcher
Nötigung des Lebens, hat die allgemeine, objektive Aufgabe in
dem bestimmten Fall gerade diese Modifikation erfahren? An ob-
jektiven Aufgaben findet so die Psychologie den festen Maßstab
zur Beurteilung der subjektiven Zwecke des Menschen; als Wissen-
schaft von den seelischen Zweckzusammenhängen, ihren Verschie-
bungen und Entwickelungen , muß sie sich an geistigen Aufgaben
orientieren, die zu erkennen der eigentliche Kern der Philosophie
ist. Und wie die Psychologie des normalen Lebens, so bedarf
auch diejenige des anormalen Lebens der Richtschnur der ob-
Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich. 401
jektiven Aufgaben; schon der Unterschied zwischen normal und
anormal setzt den Begriff der Norm voraus. Die Richtung auf
Aufgaben, auf objektive Ziele behält auch der Anormale; denn
ohne diese Tendenz gibt es überhaupt kein Bewußtsein, kein Seelen-
leben; aber was er als objektives Ziel erkennt und erstrebt, ist
unter dem Druck unüberwindlicher Entwickelungsstörungen so-
weit abgewichen von dem, was das unbelastete, sich frei ent-
faltende Bewußtsein sich zum Ziele setzt, daß eine sachliche Ver-
ständigung mit ihm nicht mehr möglich ist.
Ein Zweckzusammenhang ist das psychische Leben des Anor-
malen so gut, wie das des Normalen, wenn auch ein verschobener
Zweckzusammenhang. Nicht nur behält der Kranke — mit ge-
wissen Ausnahmen — seinen Willen zur Anpassung, sondern er
vollzieht auch wirklich eine Anpassung, die unter Umständen in
ihrer Art viel bewundernswerter ist, als die des normalen Men-
schen: eine Anpassung, die für ihn vielleicht in dem Augenblick,
wo wir ihn für krank erklären, eine Gesundung bedeutet: durch
die Verschiebung des Zweckzusammenhangs ist für den Kranken
eine neue Möglichkeit des Lebens geschaffen worden, während
sonst für ihn das Leben unerträglich wäre. Aber diese An-
passung entsprechend den subjektiven Lebensbedürfnissen des
Individuums bedeutet zugleich, da sie auf Kosten der objektiven
Aufgaben geschieht, eine Isolierung von der Gemeinschaft. So
erscheint die geistige Krankheit als das Produkt einer Aus-
einandersetzung zwischen dem Willen zur individuellen Selbst-
erhaltung und dem Willen zur Objektivität des Bewußtseins-
inhalts, zwischen dem subjektiven und dem objektiven Zweck des
Lebens, deren harmonischen Ausgleich der Kranke aus inneren
oder äußeren Gründen nicht mehr zu finden vermag. Einen
Kranken verstehen heißt darnach , den Ausgang dieser Aus-
einandersetzung erkennen, aber auch erkennen, was den Kranken
gerade zu diesem Ausgang getrieben hat. Ein Wahnsystem ver-
stehen heißt nicht sich gefühlsmäßig hineinversenken, sondern
verstehen, warum gerade dieser Wahn für den Kranken zur
Lebensnotwendigkeit wurde, als Rettung, als Flucht aus der un-
erträglichen Wirklichkeit, warum der Zweck der individuellen
Selbsterhaltung für ihn es notwendig machte, das Bild der Wirk-
lichkeit in solcher Weise zu verfälschen.
So brauchen wir, um das normale, wie das anormale Leben
zu verstehen, Normen; wir brauchen objektive Aufgaben, um die
Kanfctndien. XXVI. 26
402 Anna Tu markin, Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich.
subjektiven Zwecke des geradgewachsenen, wie des verkrümmten
seelischen Lebens zu verstehen.
Und insofern die objektiven Aufgaben im letzten Grunde
durch die Philosophie bestimmt werden, kann man sagen, daß die
Psychologie sich methodisch an der Philosophie orientieren muß,
wenn sie nicht darauf angewiesen bleiben will, die Naturwissen-
schaft nachzuahmen, ohne je deren Exaktheit erreichen zu können,
und auf der anderen Seite sich doch über die wunderbare, aber
unverantwortliche Kunst der Einfühlung erheben will zur syste-
matischen Wissenschaft.
Die Aufgaben der Ästhetik.
Antrittsvorlesung an der Technischen Hochschule Dresden.
Von Privatdozentin Dr. Charlotte Bühler.
In einem seiner bewunderungswürdig geschriebenen geistvollen
Aufsätze *) hat Wilhelm Dilthey drei Epochen moderner Ästhetik
konstruiert, wie sie sich seit dem 17. Jahrhundert entwickelt hat.
Die rationale Ästhetik des L e i b n i z , die in innerer Notwendig-
keit aus seinem genialen metaphysischen System hervorgeht, findet
in Dilthey einen ihrer Größe gewachsenen Interpreten. Der Greist
jener strengen Ordnung und Regel, der die französische Klassik
beherrscht, erhält in der metaphysischen Weltauffassung des Leib-
niz Rechtfertigung und tiefen Sinn. Der logische Charakter
der ästhetischen Form, Einheit im Mannigfaltigen, Gesetz-
lichkeit des Aufbaus, Regel, Maß, Rhythmus, die Ordnung selbst
ist Grund des ästhetischen Gefallens. „Von der Ordnung kommt
alle Schönheit her und die Schönheit erweckt Liebe", dies sagt
Leibniz. Mit vollem Recht hält Dilthey den Gedanken der Ge-
setzlichkeit im Kunstwerk fest. Es gibt Gesetze im Schaffen
des Künstlers, im Aufbau des Kunstwerks und im Wirken auf den
Beschauer, und wie Dilthey in richtiger Voraussicht sagt, gilt es
nur, die allgemeingültigen Regeln, die aus der Natur der Sache
fließen, vom historisch Variablen im Geschmack zu sondern.
Ein zweiter bedeutsamer Umkreis von Fragen, durch die eng-
lische Ästhetik des 18. Jahrhunderts erschlossen, führt bis zu
Fechners „Vorschule der Ästhetik" und zur modernen experimen-
tellen Analyse des ästhetischen Eindrucks. Die schottischen und
englischen Ästhetiker, denen in Deutschland und Frankreich Gleich-
strebende zur Seite träten, untersuchten in sorgsamen Analysen
die Beschaffenheit der Kunstwerke auf ihre Wirkung hin. Am
berühmtesten war in England das seit 1762 erschienene Werk von
1) Die drei Epochen der modernen Ästhetik und ihre heutige Aufgabe.
Dtsche. Rundschau Bd. 72. 1892.
26*
404 Charlotte Bühler,
Home „Grundsätze der Kritik"; die Einzeluntersuchungen von
Lessing, von Diderot sind bekannt, mit der großen Menge
der anderen Namen will ich hier nicht aufhalten. Das Ent-
scheidende ist, daß diesen Philosophen und Kritikern, die den Ge-
schmack und die Ursachen der Kunstwirkungen nun im einzelnen
untersuchten, zum ersten Mal auch die große und schwere Frage
nach der Allgemeingültigkeit des Geschmacks und der
ästhetischen Wissenschaft aufging. Home sprach vom Standard
of taste, als er sich an diesen schwierigen Problemkreis wagte,
der heute wieder einen Mittelpunkt ästhetischer Problemstellung
bildet. Während man vorher allgemein über die ästhetische Form,
über die Aufgaben des Künstlers, auch über die Schönheit und
die Aufgaben der einzelnen Künste debattiert hatte, ging einem
jetzt, als man es unternahm, die Wirkungsweisen einzelner Kunst-
werke zu analysieren, erst auf, wie verschieden der Geschmack,
wie verschieden das Werturteil ist, nnd man wurde zweifelhaft,
wie weit im Grunde überhaupt von allgemeingültigen Regeln,
von objektivem Werturteil, objektiver Erkenntnis die Rede sein
könne. Die Fragen haben durch Kants Genie ihre erste Lösung
erfahren. Diese psychologische Analyse und experimentelle Me-
thode von Home bis Fechner gelangte mit ihren Mitteln zu
keinem objektiven Maßstab ihrer Feststellungen, sie führte zu
wichtigen Einsichten in die Gründe des Geschmacks, zeigte auf,
was gefällt und was mißfällt, aber wie weit diese Einsichten all-
gemeingültig und verbindlich seien, vermochte sie niemals aus-
zumachen.
Nach Dilthey verlangte sie direkt die Ergänzung durch die
dritte Methode, die sich in einer dritten Epoche der Ästhetik tat-
sächlich einstellte, nämlich durch die historische Methode, die
im 19. Jahrhundert ausgebildet wurde. Durch Kant wurde das
Genie für die Nachfolger in den Mittelpunkt der ästhetischen Be-
trachtung gerückt. Denn da es einen objektiven Wertmaßstab,
eine tatsächliche Allgemeingültigkeit auf ästhetischem Gebiet nach
Kant nicht gibt, da nach Kant das Genie der Kunst die Regel vor-
schreibt und schafft, so wandten sich nun aller Augen der Betrachtung
dieses schaffenden Geistes, der Zergliederung des schöpferischen ästh-
etischen Vermögens zu, und es folgen die zahllosen Erörterungen in
der deutschen Ästhetik des vorigen Jahrhunderts über das Genie und
sein Schaffen, über das Verhältnis des schaffenden Geistes zur
Natur, über das Bewußte und Unbewußte im Schaffen des Geistes
Die Aufgaben der Ästhetik. 405
usw., all diese Erörterungen, die bei Sehe Hing und Hegel,
Solger und Vischer, Schopenhauer und Hartmann doch
schließlich nirgends über prinzipielle Untersuchungen hinaus zu
wirklich fruchtbaren und geprüften Einzelerkenntnissen führten.
Es wird mit Recht von Dilthey betont, wie sehr fördernd
neben diesen spekulativen Gedankengängen eine so ins einzelne
und Tatsächliche hineingehende, seinerzeit nicht entsprechend ge-
würdigte Arbeit wie Sempers Werk über den Stil war, und wie
überhaupt in Deutschland schon seit Schiller und Goethe,
Hebbel und Ludwig bedeutende ästhetische [Anregungen von
den theoretischen Überlegungen großer Künstler über ihr Schaffen
msgingen.
An diesem Punkt steht nun Dilthey. An diesem Punkt die
rbeit aufzunehmen schien ihm vor allen anderen Dingen erforder-
ten. Und so ging denn von ihm eine starke Fülle von Anre-
gungen in der Richtung der Analyse des künstlerischen Schaffens
aus. Unter den Jüngeren hatte Meumann ähnliche Tendenzen.
Aber Dilthey pflegte diese Analyse des künstlerischen Schaffens
noch aus einem anderen Gedanken heraus. Während ihm die ex-
perimentelle Ästhetik ungeeignet und unfähig schien, mehr als
eine Sammlung verschiedenartigster Wirkungsweisen aufzufinden,
glaubt er mit der historisch und individuell vorgehenden Analyse
einzelner Künstlerpersönlichkeiten und -leistungen zum Verständnis
der Einheit des Kunstwerks zu gelangen, die die Ästhetik sucht
und fordert. Er sieht diese Einheit nicht in objektiven G-esetzen,
sondern in der Individualität des Stiles, der künstlerischen Persön-
lichkeit, die sie schafft. Es ist der Fortschritt, den Meumann
über Dilthey hinaus macht, daß er die Objektivität der Kunstge-
setze jenseits dieser subjektiven Bedingungen vermutet und über
Dilthey hinaus eine Ergänzung der psychologischen Ästhetik durch
eine normative Ästhetik fordert, deren Gesetze er im wesentlichen
wie auch Lipps und Volk elt aus dem ästetischen Erleben heraus «
folgern zu können glaubt. Die Normen sind als Umkehrungen
psychologischer Erlebnisanalysen gedacht. Die Mannigfaltigkeit
der Inangriffnahme ästhetischer Probleme war erstaunlich. Es
tritt eine Fülle kunstpsychologischer Arbeitsansätze zutage, in
denen die verschiedensten Momente am Kunstschaffen und Kunst-
genießen aufgesucht wurden. Nur flüchtig seien hier Groos und
Külpe, Lipps und W i t a s e k genannt. Gleichzeitig suchte Jonas
Cohn von Wertgesichtspunkten aus der Struktur des Kunstwerks
406 Charlotte Buhle r,
habhaft zu werden nnd brachte Max Dessoir uns die grund-
legende systematische Trennung von Ästhetik und allgemeiner Kunst-
wissenschaft mit einer Fülle feinsinniger Analysen.
Dieser Reichtum ästhetischer Untersuchungen einerseits und
die überaus schnelle Wandlung der fortschreitenden Kunst mit der
aller wissenschaftlichen Ästhetik abholden Künstlerschaft anderer-
seits hat uns heute vor eine Mannigfaltigkeit von Methoden und
Ansichten gestellt, die vielen unentwirrbar und anderen nur nach
Art des gordischen Knotens durch Gewalttat zu lösen scheint.
Diese Leute verlangen zurück von aller irreführenden Psychologie
zur spekulativen Ästhetik des 19. Jahrhunderts. Ihnen stehen
unheilbare Psychologisten verständnislos gegenüber. Die theo-
retisierenden Künstler gehen ihre eigenen Wege, das Publikum
verhält sich indifferent. In dieser Situation sich einen Weg zu
bahnen, ist gewiß unendlich mühevoll, doch muß es gelingen, wenn
man unbeirrt durch Psychologismus und Spekulation oder durch
einseitige Kunstliebhabereien die Gesetze ausschließlich aus der
Natur des Gegenstandes zu entnehmen sucht.
Zunächst gilt es, sich über die Aufgaben, die man seiner
Wissenschaft stellt, völlig klar zu werden. Sodann muß man sich
fragen, wieweit man verbindlich und allgemeingültig diese Auf-
gaben zu lösen imstande ist. Und schließlich gilt es, die geeig-
neten Mittel und Wege zum Ziel sich aufzusuchen.
Schon was die allgemeinen Aufgaben der Ästhetik anbelangt,
herrscht noch in unseren Tagen keine ungetrübte Klarheit. Zwar
daß die Ästhetik es irgendwie mit der Kunst und mit dem Schönen
zu tun habe, hat sich von selbst ergeben, aber daß beide Gegen-
stände nicht identisch sind, hat sich erst im Laufe der Zeit immer
mehr herausgestellt. So haben Fiedler und Dessoir, Spitzer
und Utitz auf eine getrennte Behandlung der rein ästhetischen und
der kunstwissenschaftlichen Fragen gedrungen, und man muß hoffen,
daß diese der Systematik förderliche Arbeitsteilung sich allmählich
durchsetzt. Hier hat die reine Ästhetik die Modifikationen des
Schönen in Natur und Kunst zu untersuchen, während die einzelnen
Künste und das Problem der Kunst von der allgemeinen Kunst-
wissenschaft durchforscht werden. Daß beide Teildisziplinen aufs
engste verbunden und aufeinander angewiesen sind, sollte man nicht
betonen müssen, es ist klar. Die für uns wesentliche Bedeutung der
Aufgabenteilung wird uns indes erst in späterem Zusammenhang ein-
leuchtend aufgehen. Einstweilen mögen die von Spitzer bis Utitz
Die Aufgaben der Ästhetik. 407
vorgebrachten wichtigen Argumente, daß einerseits das Kunstwerk
nicht nur und nicht immer schön, daß andererseits das Schöne
nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Natur aufzufinden
sei, genügen.
Fragen wir uns nun einmal ganz primitiv: was soll denn an
der Kunst und den Künsten erforscht werden? Es sind nicht
wenige, die sagen : Kunst muß erlebt und gefühlt werden, und alle
theoretische Diskussion darüber ist Unfug. Gerade sie übersehen
aber völlig, daß die Kunsttheorie, weit entfernt davon, bloße ver-
ständnislose Willkür zu sein, in erster Linie stets ein inneres Be-
dürfnis der Schaffenden, der großen Künstler selber war. Es ist
ganz irrig zu behaupten, daß große Kunst sieb stets unmittelbar
und kampflos durchsetzt. Ausführliche Überlegungen über Ziele
und Technik haben gerade das Schaffen aller großen Künstler vor-
bereitet und geleitet und haben ihren Werken Verständnis und
richtige Aufnahme beim Publikum gesichert. Die gleiche An-
sicht faßt Dilthey in folgenden Sätzen zusammen1): „Die ästhe-
tische Erörterung steigert die Stellung der Kunst in der Gesell-
schaft, und sie belebt den arbeitenden Künstler. In einem
solchen lebendigen Milieu arbeiteten die Künstler der griechischen
Zeit und der Renaissance, Corneille, Racine und Moliere, Schiller
und Goethe. In der Zeit ihrer höchsten künstlerischen Anstren-
gungen finden wir Schiller und Goethe ganz umgeben von einer
solchen sie tragenden ästhetischen Lebendigkeit der Nation, von
Kritik, ästhetischem Urteil und lebhafter Debatte. Die ganze Ge-
schichte der Kunst und der Dichtung zeigt, wie das nachdenkliche
Erfassen von Funktionen und Gesetzen der Kunst die Bedeutung
und die idealen Ziele derselben im Bewußtsein erhält, während die
niederen Instinkte der menschlichen Natur sie beständig herab-
ziehen möchten". .
Und die Aufgabe der Poetik — wir können allgemeiner sagen:
der Kunstwissenschaft — welche sich aus ihrer lebendigen Bziehung
zur Kunstübung ergibt, formuliert Dilthey in folgenden Fragen:
„kann sie allgemeingültige Gesetze gewinnen, welche als Regeln
des Schaffens und als Normen der Kritik brauchbar sind? Und
wie verhält sich die Technik einer gegebenen Zeit und Nation zu
diesen allgemeinen Regeln? Wie überwinden wir doch die auf
1) „Die Einbildungskraft des Dichters". Philos. Aufsätze Ed. Zeller zum
50 jährigen Doktorjubüäum gewidmet. Lpz. 1887.
40g Charlotte Bit hl er,
allen Geisteswissenschaften lastende Schwierigkeit, allgemeingültige
Sätze abzuleiten aus den inneren Erfahrungen, die so persönlich
beschränkt, so unbestimmt, so zusammengesetzt und doch unzer-
legbar sind? Die*alte Aufgabe der Poetik tritt hier wieder auf,
und es fragt sich, ob sie nun durch die Hilfsmittel, welche uns
die Erweiterung des wissenschaftlichen Gesichtskreises zur Verfü-
gung stellt, gelöst werden könne. Und zwar gestatten die em-
pirischen und technischen Gesichtspunkte der Gegenwart, daß wir
von der Poetik und den nebengeordneten ästhetischen Einzelwissen-
schaften zu einer allgemeinen Ästhetik aufsteigen.
Auch unter einem zweiten Gesichtspunkt ist eine Poetik ein
unabweisbares Bedürfnis der Gegenwart geworden. Die unüber-
sehbare Masse dichterischer Werke aller Völker muß für die
Zwecke des lebendigen Genusses, der historischen Kausalerkenntnis
und der pädagogischen Praxis geordnet, dem Werte nach taxiert
und für das Studium des Menschen sowie der Geschichte ausge-
nutzt werden. Diese Aufgabe kann nur gelöst werden, wenn neben
die Geschichte der schönen Literatur eine generelle Wissenschaft
der Elemente und Gesetze tritt, auf deren Grundlage sich Dich-
tungen aufbauen".
„Eine generelle Wissenschaft der Elemente und Gesetze, auf
deren Grundlage sich Dichtungen, sich Kunstwerke aufbauen",
diese klare Formel enthält die Aufgabe der Kunstpsychologie
die seit dem 18. Jahrhundert den Ausgangspunkt aller ästhetischen
Tatsachenforschung gebildet hat — - wie aber gewinnen wir „Nor-
men der Kritik", Wertmaßstäbe?
Das ist die brennende Frage der allgemeinen Kunstwissenschaft,
die zweite Frage in unserm Programm, das Hauptbedürfnis, das
uns vom Kunsterleben aufscheucht und forttreibt zur Kunstwissen-
schaft. Gibt es objektive Wertmaßstäbe für die Kunstbetrachtung?
Hier gilt es nun sorgfältiger als bisher geschehen den Tatbestand
zu untersuchen.
Wer mit Hume einen Standard of taste, Gesetze des Ge-
schmacks, Kriterien der Beurteilung von Kunstwerken suchte, hatte
stets mit der Gegnerschaft der vielen Leute zu rechnen, die im
Geschmack eine persönliche Angelegenheit des einzelnen erblickten.
De gustibus non est disputandum, über den Geschmack läßt sich
nicht streiten, sagt schon das Sprichwort. Trotzdem ist die Rede
vom . guten Geschmack und vom schlechten Geschmack geläufig.
Und jeder Kunstkritiker erhebt den Anspruch, in der wertenden
Die Aufgaben der Ästhetik. 409
Beurteilung eines Kunstwerks kompetent zu sein. Mit welchem
Rechtsgrund, mit welchen Kriterien? Historische Kenntnisse, ein
gesander Geschmack oder Instinkt, wie man auch- wohl sagt,
Übung im Vergleichen und schnellen "Überschauen sind meistens
die einzigen Ausweise des jeweiligen Beurteilers. Zwar werden
auch Gründe angeführt. Aber diese Gründe lassen sich niemals
auf Regeln bringen, sondern stützen sich gewöhnlich auf gewisse
Geschmackstendenzen der Zeit. Es wäre interessant, die Bühnen-
kritik im Hinblick auf die Kriterien, die sie verwendet, einmal
durchzuarbeiten. Man wird gewöhnlich auf Zeitströmungen in An-
erkennung und Verwerfung stoßen. So läßt sich, um nur ein
Beispiel zu nennen, im Augenblick gerade ein scharfes Auge auf
den Intellektualismus feststellen. Gelegentlich ist unklarste Mystik
erwünschter als durchsichtige Zusammenhänge. Das sind so Zeit-
strömungen. Trotzdem wird der Unvoreingenommene nicht leugnen
können zu bemerken, das gewisse Ideale zu allen Zeiten festge-
halten wurden und offenbar mehr darstellen als den flüchtigen Ge-
schmack einer Epoche, oder weniger Individuen. Schon in der
Verifizierung von Urteilen liegt etwas Objektives. Unvermerkt
treten still und sicher allmählich die großen Erscheinungen aus
der Masse der modischen Ware heraus, jene großen Kunst-Erschei-
nungen, die irgendwie mit dem Ganzen unseres Lebens zusammen-
hängen, die über den Augenblick hinaus Symbolwert behalten und
allgemein menschlich bedeutsam bleiben. Auf die Dauer verleiht
selten das Machtwort der Kritik, noch die Bevorzugung der Massen,
noch der Zufall des günstigen Augenblicks, sondern der eigene
Ewigkeitswert den Ruhm und die Geltung, und so müssen also doch
wohl objektive Merkmale einer irgendwie begründeten wahren Be-
deutung und Wer thaftigkeit aufzufinden sein. Irgendwelche Eigen-
schaften des Kunstwerks müssen es doch sein, die ihm über den
momentanen Streit der Meinungen hinaus Geltung oder Vergessen
eintragen. Nur wenig davon wird im Erleben des Beurteilers
aktuell und wenig im historischen Erforschen aller Zusammenhänge
ersichtlich. Gewiß, der Reichtum und die Tiefe des Eindrucks
ganz großer Werke ist unmittelbar, und doch täuscht ein er-
schütterndes Zeitproblem, eine blendende Sinnenerscheinung tat-
sächlich doch oft über die Nachhaltigkeit und Tiefe des Eindrucks-
vollen. Kurzum, selbst kultivierter Geschmack und echtes Stil-
gefühl, Erlebnisfrische und Erlebnistiefe — Fähigkeiten, die selten
vereint auftreten — garantieren noch nicht ein Werturteil, das vor
410 rharlotte Btilfler,
der Zeit besteht. Der „Gemeinsinn", den Kant voraussetzt, um
ein vorbildliches Urteil fällen zu können, existiert in dieser
Form nicht.
Dagegen muß ein anderer Weg uns dem Ziele näher bringen.
Wenn ich mich nicht täusche, ist dieser Gedankengang bereits in
Kant angelegt. Nach Kant gibt es zwar keine objektiven, d. h.
bei ihm keine in der Natur des Gegenstandes begründeten, Bedin-
gungen des Geschmacks, aber doch auch herrscht keine Regellosig-
keit und absolute Willkür im Sinne individuellen Beliebens. Viel-
mehr nimmt er ganz richtig subjektive Bedingungen des Geschmacks-
urteils an, das heißt bei ihm: Bedingungen die in der Natur des
menschlichen Subjekts, also unseres Seelenlebens überhaupt begrün-
det sind. Man muß sich hüten, Kants Begriff der Subjektivität mit
individueller Willkür und Zufälligkeit gleichzusetzen, wie man heute
vielfach den Begriff subjektiv gebraucht. Subjektiv ist bei Kant das
vom menschlichen Subjekt bedingte und zwar regelhaft durch seine
Struktur Bedingte. Also fern von aller Willkür des einzelnen
gibt es eine Regelhaftigkeit der Bewertung auf Grund der allge-
mein menschlichen Struktur der Psyche, einen subjektiven Rechts-
grund nach Kant; Kant wird nicht müde zu betonen, daß diesem
Geschmacksurteil kein Privatgefühl, sondern ein Gemeinsinn, eine
jedermann notwendige Idee zugrunde liege, daß es nicht prinzipien-
los, sondern mit Notwendigkeit gefällt werde — er will es also
mit Recht der individuellen Willkür entreißen und ihm einen ersten
Grad von Notwenigkeit geben, den wir nach heutiger Sprechweise
bereits objektiv nennen. — Nun sieht Kant aber gleich, daß die
Gesetzmäßigkeit des Geschmacks auch eine Gesetzmäßigkeit des
Schaffens voraussetzen würde, während er doch zunächst die Ein-
bildungskraft für absolut frei hält. Aus diesem Widerspruch findet
er keine uns befriedigende Lösung. Wenn wir hier aber ansetzen
und der neuen Forschung nachgehen, so finden wir, daß faktisch
jene von Kant angenommene absolute Freiheit der Einbildungs-
kraft gar nicht besteht, daß vielmehr auch das produktive
Schaffen nach ganz bestimmten Gesetzen abläuft , die wir be-
reits überschauen *). Mit der Gesetzmäßigkeit auch des Schaffens
ist die Antinomie, der Widerspruch gelöst, wir finden nun für das
1) Vgl. 0. Selz, Die Gesetze der produktiven Tätigkeit. Arch. f. d. ges. Ps.
Bd. 27. 1913, 0. Kroh, Eidetiker unter deutschen Dichtern. Zeitschr. f. Psych.
85. 1920. Eigene Arbeiten d. Verf. werden noch veröffentlicht.
Die Aufgaben der Ästhetik. 411
Geschmacksurteil auch jene höhere Objektivität in Kants Sinne
garantiert, d. h. die Struktur, der Aufbau des Kunstwerks selbst
ist gesetzmäßig und bedingt gesetzmäßige Wirkungen. Indessen
ist der Aufbau des Kunstwerks so kompliziert, die Wirkung durch
so zahlreiche Komponenten beeinträchtigt, daß dem einfachen Er-
leben und der unpsychologischen primitiven Analyse die Gesetz-
mäßigkeiten nicht sogleich sichtbar werden. Mich dünkt, daß es
zur Zeit der Alchemie mit den Naturwissenschaften nicht anders
stand. Zur Erforschung von Gesetzen im Kunstwerk ist mehr er-
forderlich als die lebhafte Freude und Genußfähigkeit und das Be-
dürfnis nach Kunst. Es ist vom Altertum an immer wieder ver-
sucht worden, die Bedingungen und Gesetze höchster Kunst auf
Formeln und Regeln zu bringen, und noch bei Kant und nach
Kant besteht das Bedürfnis, in irgend einem Prinzip der Grund-
bedingung habhaft zu werden. Hierzu muß erstens gesagt werden,
daß eine derartige Reduktion auf ein einziges Grundprinzip gerade
das, worauf es ankommt, die Vielgestaltigkeit der Bedingungen,
unzulänglich vereinfacht, und zweitens sowohl dieses Bestreben
wie auch das Material, das man benutzte, die Ursache extremer
Einseitigkeiten wurde. Man war entweder einseitig an klassischer
Kunst orientiert und entnahm ihr Regeln, die der Entwicklung
nicht standhielten. Oder wo man wie seit Hegel etwa mehrere
Kunstepochen zu gründe legte, verfuhr man schematiseh und nahm
die komplizierten fertigen Kunstgebilde, die als individuelle Ganze
zunächst natürlich mehr Unterschiede als Ähnlichkeiten präsentierten.
Die innere Gleichheit der Struktur großer Werke erschließt sich
erst der genauen Analyse. Um schnell verständlich zu machen,
was gemeint ist, weise ich auf Wölfflins „Kunstgeschichtliche
Grundbegriffe" hin, die einen Vorstoß in der gemeinten Richtung
bedeuten. Bei Wölfflin sind einige Prinzipien herausanalysiert,
die von theoretisch ungleichwertigen, aber höchst wichtigen Ge-
sichtspunkten das Problem der Kunstgestalt anpacken. Nur an-
deutungsweise sei mir vergönnt, durch eine kurze Analyse zu
exemplifizieren, wie das Gesetzmäßige und Gleiche an den ver-
schiedensten Kunstwerken aufzufinden sei und naturgemäß die ge-
setzmäßig gleiche Wirkung bedingt.
Ich wähle ein krasses und einfaches Beispiel. Seit Lessings
„Hamburgischer Dramaturgie" sind wir gewöhnt, in der franzö-
sischen und englischen Bühne nur schärfste Gegensätze zu erblicken.
Und in der Tat was könnte dem unmittelbaren Gefühl und allem
412 Charlotte Bühler,
Wissen historischer Verläufe zunächst wohl sinnloser erscheinen
als die Zusammenstellung von Shakespeare und der franzö-
sischen Klassik ! Was haben zwei Gestalten, — sagen wir einmal
Moliere's Geizhals und Shakespeare'« Shylock im „Kaufmann
von Venedig" überhaupt noch gemeinsam, außer daß sie zwei Hals-
abschneider grausamster Sorte sind? Nichts, so scheint es. Trotz-
dem wollen wir sie einmal zusammenhalten. Erwägen wir alle
Verschiedenheiten. Moliere's avare, das Sammelbecken sämtlicher
Attribute, die dem Typus des Geizhalzes in seiner langen drama-
tischen Laufbahn je glücklichen Griffs verliehen wurden, ein Kon-
zentration sfeld unangenehmster und lächerlicher Beigaben, die jenes
Laster begleiten, ein Geizhals so raffinierter Konstruktion, daß
sicher kein möglicher Zug dem Typus hinzuzusetzen bliebe. Die-
sem vollendetsten Egoisten, dem auch die Liebe nur Besitzer-
greifung mit sparsamsten Mitteln ist, steht in Shylock ein Typ ge-
genüber, der zwar nicht minder extrem, nicht minder gewalttätig
und doch von ganz anderem Holze geschnitzt ist. Moliere malt
den Geizhals schlechthin und mit allen Mitteln und Ausweisen,
eine internationale Seelenstruktur, — Shylock dagegen ist der
geizige Jude, dessen individuelles, zum Typischen nur gesteigertes
Bild in einer einzigen Vision geschaut scheint. Erschreckender,
drohender wirkt diese totaler geschaute Gestalt des Shylock.
Und die Handlung. Bei Moliere haben wir eine ganze An-
zahl paralleler Verläufe, die sich ebenso wie alle charakterisierenden
Taten des Helden um den Mittelpunkt herumgruppieren: die hoff-
nungslose Liebe von Harpagon's Tochter zum besitzlosen Jüngling,
die hoffnungslose Liebe von Harpagon's Sohn zum armen Mädchen.
Der Liebhaber der Tochter tritt zum Geizhals in Beziehung, indem er
ihn schmeichelnd zu gewinnen trachtet ; die Erwählte des Sohnes wird
vom Geizhals selbst geliebt und begehrt. Zum Mittelpunkt hin und
vom Mittelpunkt her bewegen sich diese wie alle anderen Gestalten
und Vorgänge. Angefangen von der das Tun des Alten kontra-
stierenden Generosität des Sohnes gipfelt schließlich alles Tun der
andern in Kontrast und Abwehr zur Mittelfigur, die trotz des
harmlosen Endes als jämmerlicher, gemeiner und geprellter Schuft
entblößt steht. Ganz im Gegensatz zu dieser konzentrischen Be-
wegung der streng geschlossenen Form des Franzosen herrscht
nun im „Kaufmann von Venedig" die bei Shakespeare bekannte
Freiheit des Baus. Der Episoden scheint gar kein Ende. Von der
Geldanleihe beim Juden bis zn den Kästchenwahlen bei Porzia
Die Aufgaben der Ästhetik. 413
scheint sich die Handlung immer weiter von ihrem Mittelpunkt zu
entfernen. In der Bewerbung der unglücklichen Freier um Porzia
wie in der Verlobung des Kammerkätzchens mit Graziano scheint
schon jeder Zusammenhang mit dem eigentlichen Zentrum gelöst.
— Bis räumlich und geistig die Reise wieder zurückgeht und mit
dem verkleideten Auftreten der Frauen als Advokaten in Shylocks
Rechtssache der Ring geschlossen wird, das Ende zum Anfang zu-
rückkehrt. Wie Shylock selbst von größerem, wenn man will,
auch primitiverem "Wurf ist als der umfassend durchdachte avare
des Franzosen, so ist auch das kontrastierende Gegenspiel der
generösen Wagelust über das Beispiel der eigenen Tochter des
Juden hinaus zu einem großen gesammelten Gegensatz vereinigt
worden, der in Modifikationen beim Kaufherrn, bei den Brautwerbern,
bei der Braut selbst hervortritt.
Und doch ist das Merkwürdige, daß die ungeheure Verschieden-
heit des Aufbaus und der Gefühlswirkung beider Komödien von
unserm vereinheitlichenden zusammenfassenden Denken zu einem
gleichen zentralisierenden Querschnitt gebracht wird. Aus den
weiten Räumen der Shakespeareschen Episodik zurückgekehrt wird
in der Gerichtsszene der Querschnitt gemacht, der uns Überschau
und Zusammenschau gibt wie nur je in dem Endbild der stets
konzentrisch ruhenden Gruppe bei Moliere. Die Gerichtsszene
zeigt uns Shylock isoliert, gedemütigt und entthront, der Gewalt
beraubt, die er wie Harpagon bislang drohend besaß, und dieser
Querschnitt zeigt uns zugleich die Verkettung der Zentralfigur
mit allen anderen. Diese Zusammenfassbarkeit, die dem gestalt-
erfassenden Denken in irgend einer noch unbekannten Vereinigung
mit der Anschauung geboten wird, ist das, was man bislang „Idee"
genannt hat, was aber nur von Mißverstehenden für ein abstraktes
Gedankending gehalten wurde. Es ist eine der Strukturforderungen
beim Kunstgenießen, eine vom individuellen Geschmack ganz un-
abhängig auftretende Funktion, ein Bedürfnis, das, oftmals miß-
verstanden und zu einem äußerlichen Prinzip herabgesunken, aber
doch zu keinen Zeiten ernstlich verleugnet wurde.
Nur als eine Ergänzung sei angedeutet, wie wir uns mit
diesem Prinzip der Einheit mit Wölfflins Bildanalyse in Einklang
befinden. Wölfflin hat unter seinen Grundbegriffen auch jenes
eine Paar, das hierher gehört : vielheitliche Einheit und einheitliche
Einheit. Ein Gegensatzbeispiel ist Dürer und Rembrandt.
Während auf Dürerschen Bildern jeder einzelne Gegenstand für
11 1 Charlotte Bühler.
sich zu betrachten klar und selbständig hervortritt, wird bei Rem-
brandt das einzelne nur als Teil dem Ganzen eingebaut und ent-
behrt durchaus jeder Eigenbedeutung. Ein Lichtfleck vereinigt
und zentralisiert. Das Entscheidende für uns ist aber, daß auch
die Vielheit bei Dürer trotz Selbständigkeit aller Teile auf ein
Zentrum bezogen, zu einer Einheit zusammentritt.
Diese Einheit ist eine der notwendigen Gestaltbestandteile des
Kunstwerks. Denn das Kunstwerk ist Gestalt im psychologisch
exakten Sinn. Die psychologischen Grundbedingungen der Gestalt
überhaupt lassen sich auch als seine Existenzbedingungen nach-
weisen, zu ihnen kommen spezifische Bedingungen der Kunstgestalt
hinzu. 'Beide Gruppen ergeben kontrollierbare Bedingungen von
Kunstsein und Kunstwert, aus denen nur ein Beispiel heraus-
gegriffen wurde.
Dies ist nun das Bild, das wir von der Kunstwissenschaft,
wie sie zu fordern ist, gewonnen haben: eine Kunstpsychologie
muß ihre Grundlage bilden, und auf dem Fundament wird sich das
System der Kunst werte erheben. Frühere Ästhetik hielt es ihrer
Dignität für angemessen, aus ihrer Kenntnis des Schönen Vor-
schriften für den schaffenden Künstler zu folgern. Künftige Tat-
sachenkenntnis wird sich begnügen, statt mit Normen die Zukunft
einzuengen, das Geschaffene mit objektiven Maßstäben zu über-
schauen und in umfassenden Wertsystemen seiner Mannigfaltigkeit,
des Reichtums der uns geschenkten Kunstwerte, gerecht zu werden.
Haben wir so die Aufgaben der Kunstwissenschaft umschrieben,
so bleibt uns als letztes die genaue Bestimmung der reinen
Ästhetik.
Die Untersuchungen über das Schöne, das Erhabene, das Ko-
mische, Tragische und die übrigen ästhetischen Kategorien sind
von jeher gesondert von den einzelnen kunstwissenschaftlichen
Fragen aufgetreten und waren in bisheriger Ermangelung einer
Wertlehre der Kunst einstweilen der eigentliche philosophische
Kern der ästhetischen Erörterungen. Ganz mit Unrecht. Genau
wie die einzelnen Kunstwerte sind die Modalitäten dem Kunster-
leben entnommen, das Schöne, das Erhabene, das Unschöne und
Häßliche finden wir stückweise auf im Erlebnis von Kunst und
Natur, und keine metaphysische Konstruktion konnte es uns vor
dem Erleben geben. Als Schiller etwa die Kategorien des Na-
iven und Sentimentalischen aufstellte, entnahm er sie zunächst dem
unmittelbaren Erleben. Je genauer dieses studiert und beschrieben
Die Aufgaben der Ästhetik. 415
werden kann, desto klarer treten immer differenziertere Kategorien
hervor, die im ästhetischen Erleben gegeben sind: das Rührende
und Sentimentale, das Spannende und Aufregende und die sämt-
lichen Modifikationen des Schönen, als da sind: das Hübsche, An-
mutige, Liebliche usw.
Aber auch hier in der reinen Ästhetik sind die philosophischen
Aufgaben mit der psychologischen Analyse nur fundiert, nicht
erschöpft. Auch hier liefert die Beschreibung nur das Material.
Auf der Grundlage der beschreibenden Tatsachenforschung erhebt
sich die ästhetische Typenlehre. Indem das Gemeinsame und
Grundlegende im Erlebnis des Schönen, Komischen oder was es
sei, aufgesucht wird, gelangt man zu ästhetischen Typen. Hier
handelt es sich nicht um Werte und Wertdifferenzen wie in der
Kunst, sondern um die ästhetischen Erlebnismöglichkeiten und um
ihre systematische Zusammenstellung, um die typische Struktur der
ästhetischen Erlebnisweisen.
Ich fasse zusammen. Die gesamte Ästhetik zerfällt uns in
zwei Untersuchungsgebiete, in die Untersuchung der Kunst einer-
seits und der ästhetischen Erlebnis weisen in Kunst und Natur
andererseits. Wir nennen mit den Vorgängern diese Teile: all-
gemeine Kunstwissenschaft und reine Ästhetik. Jedes
der beiden Gebiete umfaßt nun seinerseits einen doppelten Kreis
von Aufgaben. Eine Kunstpsychologie fundiert die allgemeine
Kunstwissenschaft und befaßt sich mit der Analyse des Kunst-
schaffens, des Kunstgenießens und vor allem mit dem Aufbau des
Kunstwerks selbst, der Kunstgestalt. Auf der Kunstpsychologie
erhebt sich das System der Kunstwerte. Die allgemeine Ästhetik
ist in gleicher Weise fundiert von einer Psychologie der ästheti-
schen Grunderlebnisse und gipfelt in einem System der ästhetischen
Typen. Also Kunstpsychologie und Lehre von den Kunstwerten,
psychologische Ästhetik und ästhetische Typenlehre wird das künf-
tige System der gesamten Ästhetik zu umfassen haben. Beginnen
wir da, wo die Aufgaben warten, am Fundament, das nicht solide
genug werden kann, wenn es den philosophischen Aufbau tragen soll.
Zum Problem der Philosophiegeschichte
Ein methodologischer Versuch.
Von Dr. Julius Stenxel.
Die Überschrift bedarf einer Erläuterung. Es ist zu sagen,
in welchem Sinne die Geschichte der Philosophie ein Problem ge-
nannt wird. Nicht weil sie im gewöhnlichen Sinne des Wortes in
ihrem faktischen Betriebe heute „problematisch" geworden wäre.
Grabe es selbst Erscheinungen im heutigen Betriebe der Philosophie-
geschichte, die zu dieser Auffassung berechtigten, so könnten sie
doch nur die Veranlassung sein, sich auf das ganze sachliche
„Problem" aller Philosophiegeschichte überhaupt zu besinnen. Daß
es ein solches Problem gibt im eigentlichen Sinne einer vorgelegten
zu lösenden Aufgabe, auch diese Formulierung läßt noch zwei
Auffassungen zu; die eine von vornherein auszuschließen ist der
Zweck des zweiten Titels. Nicht im entferntesten handelt es sich
um die Frage, die etwa ein antiker Autor so fassen würde: Wie
muß man Geschichte schreiben? Nicht also um Methodik, sondern
um Methodologie, um den Logos der Methode handelt es sich in
dem kritischen Sinne, Erfahrung aus ihren Bedingungen zu ver-
stehen. Die Erfahrung ist hier die reiche philosophiegeschichtliche
Arbeit von eigenartiger Prägung, die unsere Zeit geleistet hat.
Ihre oft sich scheinbar widersprechenden Tendenzen aus der Sache
heraus zu verstehen, in ihrer Notwendigkeit zu begreifen, ist
unsere Aufgabe. Diese Einstellung enthält in sich die ideale For-
derung, möglichst auf Kritik im populären Sinne, auf individuelle
Werturteile zu verzichten; im Gegenteil ergibt sich aus dem „Ver-
stehen" ein Lernen wollen und -können aus allen Richtungen, wenn
irgend eine sachliche Bedeutung auch einseitiger Bestrebungen sich
aus dem Wesen der Wissenschaft — hier der Philosophiegeschiche
— aufzeigen läßt.
Julius Stenzel, Zum Problem der Philosophiegeschichte. 417
Erster Teil.
I.
Wie sich Philosophie zur Geschichte der Philosophie verhalte,
das ist die Kernfrage unserer ganzen Untersuchung, eine Frage,
die in verschiedenen Richtungen gefaßt werden kann. Fast aus-
nahmslos wird sie mit dem Blick auf die Philosophie in dem fol-
genden Sinne gestellt: läßt sich Philosophie als Wissenschaft
streng von Philosophiegeschichte absondern ? Mit anderen Worten :
gibt es Philosophie als Wissenschaft völlig losgelöst oder lösbar
von ihrer Geschichte — ähnlich wie der Mathematiker grundsätz-
lich ohne Kenntnis seiner Greschichte sein wissenschaftliches Werk
betreiben kann ? Man sieht, diese Frage ist ebenso sehr eine Frage
nach dem Wesen der Philosophie überhaupt wie nach dem Wesen
der Philosophiegeschichte, und sie ist demnach nicht ohne weiteres
zu beantworten. Exponiert kann sie zunächst durch die Aufstellung
zweier Grenzfälle werden, zwischen denen die Wahrheit notwendig
liegen muß. Einmal könnte das Verhältnis der Philosophie zu ihrer
Geschichte grundsätzlich dasselbe sein wie bei den Einzelwissen-
schaften; der Wissenschaftscharakter der Philosophie wäre kein
anderer als der der Mathematik, Physik usw.; die historische
Wissenschaft von der Philosophie stünde demnach in einem ebenso
losen Verhältnis zu dieser selbst. Zwar erforderte die Philosophie-
geschichte die Kenntnis der sachlichen Inhalte des philosophischen
Systems, wie die Geschichte der Mathematik nur bei Kenntnis der
mathematischen Probleme geschrieben werden kann; umgekehrt
aber könne die Philosophie ihrer Geschichte völlig entraten. Die
Methode der Philosophiegeschichte wäre in keinem anderen Sinne
Objekt der philosophischen Methodenlehre als jede andere histo-
rische Einzeldisziplin.
Die andere Meinung bestreitet gerade diesen Wissenschafts-
charakter der Philosophie nach Art und Muster der Einzeldis-
ziplinen; die Philosophie könne auch nie zu diesem Grade von
Exaktheit gelangen; sie bleibe dauernd ein subjektives Gebilde:
Weltanschauung, bestimmt durch die Eigenart, die angeborene
oder von der Umgebung, Bildung, Vertrautheit mit der oder jener
Einzelwissenschaft abhängige Individualität des Philosophen; bei
früheren Philosophen wäre auch der Stand der Einzelwissenschaft
von bestimmendem Einfluß. Philosophie könne nichts anderes
tun, als die vorhandenen Philosopheme beschreiben, die möglichen
Typen der Weltanschauung historisch oder psychologisch registrieren.
Kantstudion. XXVI 27
418 Julius Stenzel,
Bestenfalls könne man gewissen Einzeldisziplinen, der Logik, der
Psychologie — wenn man diese letztere nicht überhaupt den Na-
turwissenschaften hinzuzurechnen habe — einen gewissen Bestand
objektiver Erkenntnis zubilligen, die nach Art der Einzelwissen-
schaften einen Fortschritt, einen sich mehrenden Bestand an Ein-
sicht darstellen; die Philosophie als Ganzes könne auf diesen
Wissenschaftscharakter keinen Anspruch machen; Philosophie sei
eben mit ihrer Geschichte letzten Endes identisch.
Zwischen diesen beiden Extremen müssen sich alle Möglich-
keiten der Auffassung unterbringen lassen. Auf eine Widerlegung
des Historismus und des mit ihm zusammenhängenden, hier zu-
nächst unwesentlichen Psychologismus, durch den Nachweis des
Wissenschaftscharakters der Philosophie muß im Rahmen dieser
Untersuchung verzichtet werden1). Etwas könnte allerdings für
diese Auffassung zu sprechen scheinen : die bunte Mannigfaltigkeit
der Standpunkte und Richtungen innerhalb der Philosophie, die in
der Geschichte und im philosophischen Leben der Gegenwart sich
widersprechen.
Diese Tatsache ist gewichtig genug, um sich auch auf den
Standpunkt des anderen Poles : Philosophie strenge Wissenschaft
vom Charakter der Einzelwissenschaften, nicht unbedingt zu stellen.
Nicht nach dem Muster etwa der Mathematik darf die Philosophie
sich ihren Wahrheitsbegriff formen, wenn sie nicht unendlich weit
hinter ihm zurückbleiben und anstatt der erstrebten Allgemein-
gültigkeit sich mit der Exklusivität einer Sekte, die den Stand-
punkt einer Schule für den allein möglichen gelten läßt, begnügen
will; ihren besonderen Wahrheits- und Wissenschaftsbegriff muß
die Philosophie so fassen, daß von ihm aus das Phänomen ihrer
scheinbaren Vielgestaltigkeit eine Erklärung findet — nicht aus
der Schwäche der menschlichen Natur, sondern aus der eigenar-
tigen Struktur der philosophischen Aufgabe. Von dieser darf von
vornherein der bestimmende Zusammenhang vorausgenommen und
vorausgesetzt werden, daß im Gegensatz zu den besonderen Me-
thoden und Aufgaben der Einzel Wissenschaften Philosophie in ir-
1) Der Historismus und Psychologismus ist von jedem Standpunkt, der in
irgend einem Sinne kritizistisch ist, ebenso unannehmbar wie von dem der Phä-
nomenologie; vgl. die mit großem Verständnis für die in der Weltanschauungs-
philosophie sich auswirkenden Werte geschriebene Programmschrift Husserls im
Logos Bd. 1, 191-0/11 S. 289 Philosophie als strenge Wissenschaft. Über die
innere Beziehung der Philosophie zu ihrer Geschichte s. u. S. 451 ff.
Zum Problem der Philosophiegeschichte. 419
gend einem Sinne sicherlich ein allgemeineres, alle Wissenschaften
gleichmäßig angehendes Ziel sich stecken muß. Damit ist natürlich
ganz und gar nicht das auf früheren Stufen der Welt erkennt nis
möglich scheinende Umspannen aller Wissenschaften in ihrer eigent-
lichen Durchführung oder auch nur eine eklektische Berücksich-
tigung von deren Ergebnissen gemeint. Vielmehr hat sich ein
ganz anderer systematischer Wissenschaftsbegriff herausgebildet,
der zugleich den Anspruch einer allgemeinen Beziehung auf alle
Wissenschaften und den einer streng begrenzten wissenschaftlichen
Sonderaufgabe der Philosophie zu erfüllen verspricht. Dieser mo-
derne Wissenschaftsbegriff der Philosophie umspannt gleichmäßig
die Probleme des Historismus und seines Gegenbildes „Philosophie
als strenge Wissenschaft" und ist demnach, wie oben gezeigt, für
das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte von grundle-
gender Bedeutung. Mit diesem neuen Systembegriff hängen die
verschiedenen Arten der Stellungnahme zur Frage der Philosophie-
geschichte zusammen, und um sie in ihrer grundsätzlichen Ab-
hängigkeit von ihm zu verstehen, muß dieser Systemgedanke mit
einigen Strichen umrissen werden. Es wird sich dabei die für un-
seren Zusammenhang wesentliche Tatsache ergeben, daß die schein-
bar bunte Mannigfaltigkeit von Richtungen und Systemansätzen
doch eine einheitliche Grandtendenz erkennen läßt
II.
Es war oben bereits der Systemgedanke der modernen Phi-
losophie negativ dahin bestimmt worden, daß er nichts mit den
Ergebnissen der einzelnen Wissenschaften zu tun habe. Geriete
er in irgend welche Abhängigkeit davon, so wäre die Philosophie
eine unmittelbare Funktion der Einzelwissenschaft; sie wäre eine
eklektische und notwendig dilettantische Encyklopädie, und sie
schlüge dem Charakter der heutigen Wissenschaft, der auf ein-
dringender Differenzierung beruht, geradezu ins Gesicht. Nicht
um die Endergebnisse, auch nicht um die Voraussetzungen im Sinne
materialer Bestimmtheit, sondern um die spezifische Gegebenheits-
weise des Gegenstandes der einzelnen Wissenschaften, der sich in
ihrer Methode formt, bemüht sich die moderne Philosophie.
Die Begriffsbestimmung der Philosophie als Einheit dieser for-
malen Voraussetzungen der Wissenschaft könnte zunächst noch zu eng
erscheinen. Zwar wird die Philosophie die Beziehung zu den wissen-
schaftlichen Gegenständen nicht verleugnen dürfen; die Frage ist
27*
420 Julius Stenzel,
aber, ob ihr Bereich nicht weiter sich erstrecke, ob nicht eine
Fülle außerwissenschaftlicber Gegenstände: Sittlichkeit, Kunst,
Religion, schließlich der Gegenstand des allgemeinsten, die Welt
vorfindenden Bewußtseins, also das Sein schlechthin, hinzunehmen
wäre, ja ob nicht an diesen Objekten die eigentliche Aufgabe der
Philosophie sich erfüllen müsse ; dann umfaßte also der oben ge-
gebene Begriff der Philosophie nur einen Teil von ihr, den man
als Methodenlehre abgrenzen müßte. Bei näherem Zusehen er-
weist sich diese Trennung freilich als undurchführbar. Die Ab-
grenzung der Kompetenzen von Wissenschaft, Kunst, Sittlichkeit
und Religion, also die kritische Frage nach den Grenzen der je-
weiligen Geltungssphäre der besonderen Gebiete und Methoden,
diese Aufgabe der Philosophie umfaßt auch zugleich jene scheinbar
allgemeinere. Die ideale, systematische Einheit dessen, was als
Wert oder Wissen Gültigkeit beansprucht, dies ist auch der Sinn
der allgemeinen Gegenstandstheorie. Einen allgemeinen Gegen-
stand schlechthin, dessen einfaches metaphysisches Sein die Philo-
sophie zu begreifen hätte, gibt es nicht; er gliedert sich für jede
methodische Betrachtung in die differenzierten Weisen des Be-
wußtseins und ihrer gegenständlichen Entsprechungen, und nur als
die diese Differenzierungen voraussetzende Einheit des Bewußt-
seins überhaupt kann der Gegenstand schlechthin erfaßt werden.
Wir nehmen also die Frage wieder auf: Ist mit einem System
der methodischen Voraussetzungen der Wissenschaften der Umfang
der Philosophie in irgend einem Sinne bezeichnet? Bedarf dieses
System nicht, abgesehen von den angedeuteten grundsätzlich an-
deren Einstellungsmöglichkeiten in seiner eigenen Richtung noch
der inhaltlichen Erweiterung? Ohne Zweifel muß ausdrücklich
bezeichnet werden, was alles mitgemeint ist, wenn von den Wissen-
schaften gesprochen wird. Dazu gehört vor allem das Gebiet des
Ethischen, Ästhetischen und Religiösen; inwiefern auch diese Ge-
biete in einer wissenschaftlichen Formung zur Philosophie in eine
analoge Beziehung treten können wie die anderen Einzelwissen-
schaften, das wird ohne weiteres klar, wenn die strenge Aus-
sonderung aller Einzelinhalte wissenschaftlicher Forschung aus
dem Kreise philosophischer Betrachtung als Sinn jenes Philosophie-
begriffes festgehalten wird. Man könnte sagen : die gesamte Arbeit
von Wissenschaft, Kunst und Religion, kurz der Inhalt der
Kultur im weitesten Sinne, wird von der Philosophie in seiner
Bestimmtheit hingenommen als Antwort, als Erfüllung von Fragen.
Zum Problem der Philosophiegeschichte. 421
Diese Fragen zu formulieren, sie als „Probleme" im alten eigent-
lichen Sinne zu lösender Aufgaben zu fassen und aus einer Einheit
als vollständiges System zu begreifen, das wäre dann der rechte
Sinn jener philosophischen Kritik. Nur bedarf dann die Beziehung
auf die oben gegebene Formulierung: die Philosophie handle von
dem Apriori der Wissenschaften angesichts dieser empirisch klin-
genden Fassung noch eines erläuternden Wortes. Es steht dann
die Philosophie zur Erfahrung der Kultur in demselben Verhältnis
wie zur Erfahrung überhaupt. Nur an der Erfahrung kann das
denkende Bewußtsein sich über die konstitutiven Züge jeglicher
Synthesis klar werden; nur an ihr kann es die Frage begreifen,
die durch die jeweilig antwortende Kulturerfahrung nicht endgültig
erledigt ist, sondern deren Fortgang bestimmt hat und in freier
Entwicklung immer bestimmen wird. Denn diese Frage muß die
Philosophie methodisch stellen. Es muß die Methode der
Wissenschaft daraus ersichtlich sein — wieder nicht die Gültigkeit
von einzelnen Urteilen, sondern die Form der Gültigkeit überhaupt,
wie sie etwa aus der Form des historischen, mathematischen Ge-
genstandes entspringt. Denn das ist letzten Endes der entschei-
dende Unterschied innerhalb aller Wissenschaften, aller Arten von
Bewußtseinsinhalten, welche Form der Gültigkeit, welche Geltung
ihnen zugeschrieben werden kann; sofern sie überhaupt als Fak-
toren der Kultur aufgefaßt werden, müssen sie aus der Sphäre
bloßen subjektiven Erlebens heraus in irgend einer Form der Ob-
jektivität aufgefaßt werden; und selbst für den Fall, daß auch
noch in anderen Formen vom Bewußtsein Objektivität aufgefaßt
werden könnte, das Moment des „für alle Geltenden" als des ein-
fachen Ausdrucks übersubjektiver Wirklichkeit, wird darin in ir-
gend einem Sinne beschlossen sein müssen. Jedenfalls ist es mög-
lich, von dieser Seite her das System aller Grundbezüge mensch-
lichen Bewußtseins aufzubauen: als ein geordnetes Reich von Prob-
lemen, Fragen, auf die das Kulturbewußtsein die Antwort gibt —
immer gegeben hat, solange Philosophie besteht. Diese kritische
Auffassung der philosophischen Aufgabe liegt letzten Endes auch
der historischen Form der Kantischen Philosophie zu Grunde.
Freilich verschlingen sich bei ihm mit eigentlich kritischen, auf
Begründung des Wissenschaftsbegriff abzielenden Motiven noch
mannigfaltige andere, mit deren Herauslösung die wichtigsten
systematischen Klärungen der Neueren in sachlichem Zusammen-
hange stehen. Wie weit die Ansätze einer psychologischen und
422 Julius Stenzel,
phänomenologischen Betrachtung bei Kant lediglich als Trü-
bungen des reinen kritischen Gedankens ausgeschieden werden
müssen, wie weit sie selbständiger Weiterführung fähig und
zu einer wesentlichen Um- oder Ausgestaltung des kritischen Ge-
dankens berufen sind, dies läuft letzten Endes auf die Grund-
frage hinaus, ob neben dem wissenschaftlichen Bewußtsein ein
anderer s faßbar ist, ob grundsätzlich ohne irgend welche Zu-
ordnung zu dem in Geltungsbeziehungen sich selbst begründen-
den „wissenden" Bewußtsein sich Inhalte erfassen und „beschreiben"
lassen. Die Entscheidung dieser Frage ist die wesentliche Aufgabe
der Philosophie der Gegenwart.
III.
Daß eine Problemstellung wie die Kantische, aus der heraus
die Philosophie als das System gestellter und überhaupt möglicher
Probleme aufgefaßt werden kann, zu dem die jeweiligen Kultur-
inhalte als sich stets entwickelnde und erweiternde Antworten
erscheinen, für die Beurteilung der Geschichte der Philosophie als
der früheren Versuche, die jeweilige Kultur in einem Bewußtsein
zu vereinigen, eine Fülle neuer Gesichtspunkte erschließen konnte
und mußte, erscheint uns heute ganz selbstverständlich. Ordnen sich
doch die noch so widersprechenden Meinungen der Philosophen,
jenes scheinbare „Theater menschlicher Beschränktheit und Irr-
tümer", zu einer Reihe von Versuchen, für notwendige, bestimmte
Fragen die Antwort zu finden, die der jeweiligen Kultur entsprach.
Mögen diese Antworten auf, die Frage des Substanzproblems, der
Freiheit, der Sittlichkeit, noch so widerspruchsvoll und absurd er-
scheinen, es läßt sich von dieser kritischen Auffassung aus doch
ein Sinn in allem finden, wenn man weiß, daß das philosophische
Denken etwas gemeint hat, was spezifisch philosophisches Problem
ist. Sobald einmal die Richtung gebende, immanente Aufgabe des
Denkens als solche erfaßt ist, gibt sie für die Stufen des Sichbe-
wußtwerdens über die Frage einen Maßstab ab. Das Fehlen oder
Zurücktreten gewisser Probleme andererseits gibt uns die Möglich-
keit, ganz andere Systeme mit ganz anderer Schwerpunktslage zu
verstehen — kurz, alles das, was wir heute problemgeschichtliche
Forschung nennen, scheint uns gegeben, sobald einmal das, dessen
Geschichte nun zu schreiben wäre, das Problem als Inbegriff der
Philosophie erkannt ist. Doch der noch heute und wohl immer
wirkende, weil sachlich begründete Antagonismus zwischen dem
Zum Problem der Philosophiegeschichte. 423
zeitlosen Problem und der an das Medium der Zeit gebundenen
Geschichte — erst heute als „das Problem" der Philosophiege-
schichte erkannt — verhinderte hier zuerst eine wirklich kritische
Verwertung des kantischen Gedankens.
Das oben vorläufig angedeutete Prinzip problemhistorischer
Betrachtung soll gleich an einem Beispiel erläutert werden. Das
Problem des Historischen überhaupt war mit der kantischen Tat
zunächst nicht mit umspannt. Die rücksichtslose Einseitigkeit,
mit der Kant das unveräußerliche Recht der Philosophie auf All-
gemeingültigkeit betonte, machte ihn gleichgültig gegen irgend
welche relativierenden — historischen oder psychologischen — Ge-
sichtspunkte. Darin lag seine, das Zeitalter der Auflklärung er-
füllende Genialität, daß er den Gedanken des Apriori in den
Mittelpunkt der Philosophie gründete, als das Herz, das alle Teile
mit spezifischer Lebensenergie versorgt: Philosophie mag sich
stellen, wie sie will, sie kann sich selbst in ihrer sichtbaren Form
als menschliche, von Menschen betriebene Wissenschaft noch so
bescheiden psychologischer Betrachtung unterstellen, das Recht
der Vernunft auf sich selbst zu vertreten bleibt ihre Aufgabe.
Das vergröbernde dogmatische Mißverständnis dieser Tendenz, gegen
das doch Kant, eben weil es nahe liegt, sich eigentlich noch radi-
kaler ausgesprochen hat als^gegen die relativistische Skepsis, äußerte
sich bei seinen Anhängern daher sofort auf historischem Gebiet.
Hatte Brucker alle Philosopheme unmittelbar mit den Konse-
quenzen ausgestattet, die sie im System Wolffischer Metaphysik
gehabt hätten, so mißt Tennemann ganz äußerlich alle früheren
Philosophen am System Kants. Über die Auffassung, die Kant
selbst von der Philosophiegeschichte hatte, soll später im Zusammen-
hang mit der Marburger Schule gesprochen werden, die diesen An-
regungen sich im wesentlichen angeschlossen hat.
Eine wissenschaftliche Geschichte der Philosophie begründet
erst Hegel. Man pflegt, ohne Zweifel mit gewissem Recht, ihn
als den zu bezeichnen, der das Historische überhaupt in seiner
Bedeutung erkannt hat. Freilich wächst das Historische — bei
Kant nicht im Gegensatz zum Systematischen erfaßt, sondern ein-
fach ausfallend — bei Hegel aus dieser Verdrängung heraus tief
in das Philosophische hinein. Es tritt, nur aus der durch Kant
bezeichneten Situation verständlich, ein höchst eigenartiger Aus-
gleich beider Gedankenreihen ein. Das Philosophische wird histo-
424 Julius st enzel,
risch, und umgekehrt. Auf unser Problem angewandt: Die Ge-
schichte der Philosophie wird wissenschaftlich und „sogar zur
Wissenschaft der Philosophie der Hauptsache nachu (Hegel Werke
XIII, 17, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie).
Die Entwicklung der Philosophie und der Kultur überhaupt
wird bei Hegel zur Entfaltung eines objektiven Geistes. „Der
Geist ist aber nicht nur als ein einzelnes, endliches Bewußtsein,
sondern als in sich allgemeiner, konkreter Geist. Diese konkrete
Allgemeinheit aber befaßt alle die entwickelten Weisen und Seiten,
in denen er sich der Idee gemäß Gegenstand ist und wird. So
ist sein denkendes Sicherfassen zugleich die von der entwickelten,
totalen Wirklichkeit erfüllte Fortschreitung, — eine Fortschreitung,
die nicht das Denken eines Individuums durchläuft, und sich in
einem einzelnen Bewußtsein darstellt, sondern als der in dem
Reichtum seiner Gestaltung, in der Weltgeschichte sich darstellende
allgemeine Geist" ; 1. c. 46 f.
Hegel ist also nicht auf die Aufeinanderfolge historischer In-
dividuen eingestellt, sondern auf die zeitliche Entfaltung eines
Weltbewußtseins ; gewiß meint er mit dieser Entfaltung des Welt-
bewußtseins niemals etwas anderes als die dialektische Entwick-
lung; aber dialektisch im kritischen Sinne ist eine „Entwicklung"
doch nur, sofern ich von dem (freilich^Paktisch unlösbaren) in die
Zeit Eingebettetsein absehe, die Geltungszusammenhänge des dia-
lektischen Prozesses als quaestio iuris ausdrücklich von der quaestio
facti logisch ablöse. Diese Ablösung erfolgt in der wissenschaft-
lichen Arbeit des 19. Jahrhunderts dadurch, daß das Moment des
Zeitlichen im- empirischen Sinne im Historischen immer größere
Selbständigkeit erlangt. Für den rückschauenden Blick ist Hegels
Aufnahme des Zeitlich- Historischen in das kritische System das
Aufleuchten einer berechtigten Gedankenreihe; aber wenn Hegel
1. c. 43 behauptet, „daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Phi-
losophie in der Geschichte dieselbe ist, als die Aufeinanderfolge in
der logischen Ableitung der Begriffsbestimmungen der Idee", so
liegt die große Gefahr vor, die historische Entwicklung einem vor-
gefaßten System — mag dieses auch bereits im Hinblick auf die
Geschichte konzipiert sein — zuliebe mit Gewalt umzupressen,
eine Gefahr, die bei der angedeuteten Korrelativität an sich nicht
notwendig einzutreten braucht, der Hegel aber doch in der Durch-
führung oft genug unterlegen ist.
Zum Problem der Philosophiegeschichte. 425
Wenn wir dagegen das uns als richtig scheinende kritische
Verfahren davon abzuheben versuchen, so beruht es auf* einer
größeren Betonung des Zeitlich- Historischen. Die Idee der Ent-
wicklungsstufe — hier z. B. Hegels — ist das Ziel, das mit Zu-
hilfenahme systematischer Erwägungen erstrebt wurde ; diese Idee
ist aber zunächst eine Hypothesis, die erst an der historischen Er-
fahrung sich zu bewähren hat, und die im Fortschritt der Er-
kenntnis steter Korrektur ausgesetzt bleibt. So gewiß eine blinde
historische Empirie, der das Auge für das Problem, die zu Grunde
liegende sachliche Frage fehlt, einer Erscheinung von solcher
Kompliziertheit wie einem philosophischen System gegenüber ver-
sagen müßte und tatsächlich sich „dem ideenlosen Auge nur ein
bloßer Haufe von Meinungen darbieten würde", (Hegel I.e. 44), so
verzichtet historische Forschung im heutigen Sinne grundsätzlich
darauf, ein hinter der historischen Erfahrung tatsächlich wirksames,
diese konstituierendes Prinzip zu erfassen; sie begnügt sich, die
Geschichte reguliert zu finden von gewissen wertbezogenen Ent-
wicyungsgedanken, die sie natürlich „hineinlegt", in dem vollen
Bewußtsein dieser methodischen Teleologie überzeugt, sich der
theoretisch unerschöpflichen historischen Realität nur asymptotisch
nähern zu können. Dem gegenüber ist Hegels Methode das Proto-
typon einer „metaphysischen Teleologie1' (Rickert, Die Grenzen
der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung l, 454 ff.), auch auf dem
Gebiete der Philosophiegeschichte, wo sachlich der Hegeische
Standpunkt aus der Natur des Gegenstandes noch am meisten be-
rechtigt ist. Denn das verdient immer wieder hervorgehoben zu
werden : bei aller Konstruktion bewährt Hegel gerade dort, wo er
in der Geschichte Marksteine findet und nach ihnen seine dialek-
tischen Stufen sichtlich orientiert, einen genialen Blick für die
historische Einzelheit *).
So hat zwar die wesenhafte Wirklichkeit des Historischen auf
Hegels Denken gewirkt und sein System aufs stärkste beeinflußt,
ohne in ihm ihren klarbestimmten logischen Ort zu erhalten. Darum
wird seine philosophiegeschichtliche Leistung trotz ihrer glänzenden
Ansätze — wie fruchtbar bleibt gerade hier seine Stufenfolge von
1) Man vergleiche z. B. Charakterisierungen wie die der platonischen Sub-
jektivität in der Einleitung seiner Vorlesungen über die Geschichte der Philo-
sophie S. 68 oder die Warnung davor (S. 57), die alten Philosophen „in unsere
Form der Reflexion umzuprägen".
426 Julius Stenzel,
Thesis, Antithesis und Synthesis, freilich als heuristisches Prinzip ! -
gerade in seiner Schule im Historischen überwunden. Ed. Zeller,
Joh. Ed. Erdmann und Kuno Fischer begründen im Gegensatz dazu
eine rein historische Philosophiegeschichte unter so starker Zurück-
drängung des sj'stematischen Elementes, daß diese Antithesis
die Synthesis ihrerseits in den letzten Jahrzehnten und damit das
bewußte Zurückgreifen auf das modifizierte Prinzip Hegels zur
Folge hatte.
IV.
Bei Kant und bei Hegel war das Historische mit allen seinen
Nachbarproblemen des Individuellen und Psychologischen noch nicht
zu voller Wirksamkeit gelangt, sodaß hier wesentliche Züge der
gesamten Wirklichkeit verdrängt, in anderen, ihrem Wesen nicht
adäquaten Formen sich ausgewirkt hatten. So war es bei Hegel
weder Psychologie noch Geschichte im eigentlichen vollen Sinne;
beide Wissenschaften mußten die ihnen zugeordneten Seiten der
Realität erst für sich entwickeln, ehe sie in das System der^Phi-
losophie eingeordet werden konnten, eine Aufgabe, an der jetzt
noch immer neue Schwierigkeiten in das wissenschaftliche Bewußt-
sein treten. Es ist nur natürlich, daß beide Wissenschaften, in
dem Bestreben, Realität spekulationsfrei zu erfassen, auf die Me-
thode verfielen, die bisher in der Erfassung der Realität die
größten Erfolge erzielt hatte, auf die naturwissenschaftliche. Zwar
merkte man wohl, daß die Realität des Historischen und Psycho-
logischen nicht ohne weiteres mit der der mathematischen Natur-
wissenschaft gleichzusetzen wäre, daß also die Methoden erweitert,
umgestaltet werden müßten, aber der Typus der mathematischen
Naturwissenschaft schien doch weiter das Ideal einer auf die gegebene
Wirklichkeit angewandten Wissenschaft. Die klare Gegenüber-
stellung einer erklärenden und beschreibenden Psychologie war
noch nicht erfolgt, ebensowenig die Grenze der naturwissenschaft-
lichen Methode erkannt. Das wichtigste Moment war, da man
von den materialistischen Ausartungen des Positivismus hier füg-
lich absehen kann, der stete Rückhalt, den die naturwissenschaft-
liche Orientierung an Kant selbst immer wieder finden mußte,
wenn sie über ihre Methode sich kritische Rechenschaft geben wollte.
Die Stärke von Kants Idealismus beruhte gerade darauf, daß
er das Reich der Natur von „Interpolationen" (Dilthey) des Ide-
alen grundsätzlich freihielt und eine unbeschränkte Geltung der
Zum Problem der Philosophiegeschichte. 427
Naturgesetze schlechthin lehrte. Daß er mit dieser unbeschränkten
Geltung gerade ihren ideellen Ursprung aus dem Verstände in
Verbindung brachte, weil die Erfahrung niemals Allgemeingültig-
keit ergeben könne, das konnte eine spätere Generation um so
eher übersehen, als nach seiner höchsten Anspannung in Fichte,
Schelling und Hegel das idealistische Pathos verklang, aus dem
heraus Kant die Antithese der praktischen und theoretischen Ver-
nunft absichtlich in die schärfste, die Wurzeln von Vernunft und
Verstand berührende Fassung gebracht hatte. Für Kant wogen
die Grundtatsachen des sittlichen Lebens gerade in der Idealität,
die er ihnen gab und in der er sie vor jedem Zweifel für immer
geschützt zu haben glaubte, so schwer, daß sie dem Gedanken der
allgemeinsten Naturgesetzlichkeit im Reiche der Erscheinung die
Wage hielten.
Wie nahe diese Schwierigkeit dem Mittelpunkt des kritischen
Gedankens liegen muß, zeigen gerade die Divergenzen der ver-
schiedenen Richtungen, in denen sich das Streben „zurück zu Kant"
in der Mitte des 19. Jahrhunderts auswirkte. Bezeichnenderweise
ist es der Geschichtsschreiber des Materialismus, der neben ge-
bildeten Naturforschern wie Helmholtz zuert wieder auf die Be-
deutung Kants nachdrücklich hinwies. Aber Lange ist weit von
dem Primat der praktischen Vernunft entfernt, für ihn ist die
kritische Methode im wesentlichen die Begründung der mathematisch-
physikalischen Naturwissenschaft; und über dieses Ziel ist die
Marburger Schule zwar fortgeschritten, aber doch im wesentlichen
an ihm orientiert geblieben. Auch sie also versuchte nicht, die
bedeutenden Ansätze, die zur adäquaten Erfassung der nichtnatur-
wissenschaftlichen Realität, also des Individuellen, Psychologischen
und Historischen vorlagen, in das eigentlich kritische System hin-
einzuziehen. Sie blieb damit der Kantischen Philosophie auch in
einem vielleicht nur historisch bedingten Sinne treuer als die süd-
westdeutsche Richtung des Idealismus,; ihre Tendenz ist tatsächlich
„zurück" zu Kant. Dieser Umstand ist wichtig für beider Ver-
hältnis zum Problem der Philosophiegeschichte. Den Standpunkt
der südwestdeutschen Richtung hat am schärfsten Rickert in den
„Grenzen der naturwissenschaftlichen BegrifFsbildung" zum Aus-
druck gebracht. Hier wird das Sonderrecht des historischen Ge-
genstandes ausdrücklich begründet. Und zwar ist das Ziel der
historischen BegrifFsbildung das Individuum im Gegensatz zu dem
naturwissenschaftlichen Gegenstand, der nur Sonderfall eines all-
428 Julia« Stefieel,
gemeineren Gesetzes ist. In der Feststellung des historischen
Individuums spielt ein weiterer, für das moderne philosophische
Bewußtsein charakteristischer Begriff eine entscheidende Rolle, der
des Wertes. Wert ist immer auf ein persönliches Bewußtsein
bezogen, das ihn erlebt; zugleich ist untrennbar überindividuelle
Geltung mit ihm gesetzt, Tätigkeit des Bewußtseins, ein wesent-
liches Motiv des Kritizismus, erhält durch die ausdrückliche Be-
ziehung auf ein individuell wertendes Bewußtsein einen neuen,
einfachen Sinn, weist aber zugleich über den rein psychologischen
Vorgang hinaus in das Bereich objektiver Geltung. Eine neue
Form der Bewußtheit spricht sich in ihm aus, die andererseits eine
Anknüpfung gerade an die Motive des Kantischen Idealismus ge-
stattet, die in der mathematisierenden Wendung unrettbar ver-
loren gehen müssen. Eine kritische Synthese des Wert-, Wahr-
heits- und Wirklichkeitsbegriffes, auf die im einzelnen hier nicht
eingegangen werden kann, gestattete den Gedanken Kants vom
Primat der praktischen Vernunft neu zu begründen; Rickerts
System der Werte wird der letzte Ausdruck dieser Auffassung
von Philosophie.
Schon aus diesen kurzen Andeutungen ist die Stellung der
südwestdeutschen Richtung zur Philosophiegeschichte zu erschließen.
Einmal kommt hier die scharfe Erfassung des Historischen als des
Individuellen zur Geltung. Auch die Philosophiegeschichte, sofern
sie Geschichte ist, muß die individuelle, einmalige Konkretion des
Historischen zur Anschauung bringen. Sie muß daher als eine
„exakt historische Disziplin behandelt werden wie jeder sonstige
Teil der Geschichte" (Windelband, Festschrift für Kuno Fischer,
543). Inhaltlich muß diese formale Überzeugung vom Wesen der
Philosophiegeschichte noch bestätigt werden durch das sehr viel
freiere Verhältnis zu Kant, das sich aus der Erkenntnis ergibt,
in einem so wesentlichen Punkte wie der Wertung des Historischen
weit über Kant hinausgehen zu müssen. Die sich allmählich immer
mehr klärende Theorie des Historischen, die schließlich in Rickerts
„Grenzen" gipfelte, führte insoweit bereits zu einer vollen Er-
fassung der Eigenart des philosophiegeschichtlichen Gegenstandes,
als- Windelband von vornherein die philosophische Seite dieser
historischen Aufgabe ausdrücklich betonte, die er als „die Ge-
schichte der Probleme und der zu ihrer Lösung erzeugten Begriffe"
formulierte (Gesch. d. Philos. 2 1900, Prospekt z. 1. Lief. d. 1.
Aufl. III). Doch so klar Windelband das Doppelgesicht der Phi-
Zum Problem der Philosophiegeschichte. 429
losophiegeschichte, das philosophische und das historische, erkannt
hat, so gründlich er sich die einzelnen Seiten der historischen Be-
dingtheit der Philosophie (etwa in der Einleitung des eben zitierten
Werkes) gegenwärtig hielt, so hoch seine Darstellungen im ge-
samten Umkreis philosophiegeschichtlicher Leistungen dastehen, so
hat er doch methodologisch nur die eine Seite möglicher Forschung,
die Problemgeschichte, begründet.
Seine * Arbeit und die der gesamten problemgeschichtlichen
Forschung muß als eine methodische Antwort auf die Frage durch-
aus anerkannt werden: Inwiefern ist Philosophiegeschichte philo-
sophische Wissenschaft? Hier scheint das Historische, als gegeben
vorausgesetzt zu werden. Eine zweite Frage, nach den allgemeinen
historischen Voraussetzungen, den Quellen der Philosophie — be-
sonders der alten — ist durch die philologische Forschung beant-
wortet, die ihre eigentliche Aufgabe methodisch immer klarer und
sicherer erfaßt. Aber das Problem der Philosophiegeschichte führt
notwendig auf die dritte Frage : Wie kann diese Wissenschaft so-
wohl den wissenschaftlichen Ansprüchen der Philosophie als zu-
gleich denen der Geschichte genügen? Diese Vereinigung liegt
tatsächlich vor, wo immer in eigentlich philosophischen Angelegen-
heiten historische Gewißheit intendiert ist, worauf ja problemhi-
storische Forschung grundsätzlich gar nicht gerichtet zu sein braucht.
Diese Absicht liegt sämtlichen Arbeiten der Marburger Schule
zu Grunde. Man mag den Ergebnissen der Marburger For-
schung noch, so sehr diesen Doppelcharakter des Historischen und
Philosophischen absprechen, — daß sie inhaltlich und formal die
philosophiehistorische Forschung um neue Fragen bereichert hat,
daß man nun und nimmermehr durch Ignorierung, sondern nur
durch Überwindung ihrer Leistung weiterkommen kann, dies soll
auch hier ausdrücklich begründet werden.
Hinter dem philosophischen Bemühen Cohens und seiner Nach-
folger steht immer die ausdrückliche Frage: wie gelange ich zu
dem Sinn, dem wahren Sinn des früheren Philosophen? Hier ist
— zum ersten Male — ausdrücklich die Aufgabe in ihrer ganzen
Schwere gesehen, das festzustellen, was von Hegel an bis Windel-
band ohne weiteres für erreichbar durch den einfachen Willen zur
historischen Einstellung gehalten wurde, nämlich jenen historischen
Ursinn „wie es gewesen war", die schlichte Frage nach dem
Tatsächlichen. So wenig die Arbeit Cohens in seinen ersten
Werken den Namen der Kantphilologie verdient, so bewußt er mit
43<> Julius Stenzel ,
der Kantischen Forderung, nicht Philosophie, sondern Philosophieren
zu lehren , ernst machte und an die reine Herausbildung der
kritischen Methode, wie er sie verstand, sein ganzes Bemühen von
vornherein setzte, so sicher ist andererseits, daß er zunächst die
klare Erkenntnis dessen, was Kant eigentlich gemeint hätte, also
eine Aufgabe der Philosophiegeschichte als historischer Wissen-
schaft, in engster Verbindung mit diesem Bestreben auffaßte, und
die gleichen Absichten leiteten ihn und seine Nachfolger bei ihren
Deutungen der griechischen Philosophie, speziell Piatons.
Welches sind nun die prinzipiellen Voraussetzungen, unter
denen in spezifisch philosophischen Dingen historische
Gewißheit erreicht werden kann? Nach dem — freilich in der
Durchführung mannigfaltig modifizierten — Prinzip der Marburger
Schule bedarf es für die Interpretation jedes Philosophen grund-
sätzlich keines anderen Weges, das Historische festzustellen, als
— nicht problemgeschichtlich — sondern unmittelbar problemhaft
es zu durchdenken. So sagt Cohen, Plat. Ideenlehre u. d. Mathe-
matik, Marburg 1879,6: „Denn das ist ja eine füglich anerkannte
Sache, daß es in letzter Instanz kein anderes zureichend objektives
Kriterium gibt für die Beurteilung des Echten, des Reifen, des
Hauptsächlichen, ja beinahe muß man sagen, des Ernsthaft Ge-
meinten in Piaton, als die eigene wissenschaftliche Subjektivität,
als die erkenntnistheoretische Einsicht, über die ein jeglicher zu
verfügen hat". Hier kann sich die Marburger Schule auf Kant
selbst berufen, der Kr. d. r. V. 2, 371 Anm. den Grundsatz aufstellt,
„daß es gar nichts Ungewöhnliches sei, sowohl im gemeinen Ge-
spräche als in Schriften, durch die Vergleichung der Gedanken,
welche ein Verfasser über seinen Gegenstand äußert, ihn sogar
besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, indem er seinen
Begriff nicht genugsam bestimmte, und dadurch bisweilen seiner
eigenen Absicht entgegen redete oder auch dachte".
Durch die Forschung der Marburger Schule, die ihre an der
Geschichte der modernen Philosophie gewonnene Methode auch an
die griechische Philosophie — mit unleugbarem Erfolge — heran-
brachte, ist eine neue Situation geschaffen worden, deren Unklar-
heit am besten durch Wilamowitz' Piaton hervortritt. Wilamo-
witz arbeitet in der für unsere ganze Frage überaus wesentlichen
Einleitung mit einem doppelten Philosophiebegriff : Philosophie als
Theorie und Philosophie als etwas anderes, als Inbegriff der Per-
sönlichkeit Piatons; es ist schon in der Einleitung zu merken,
Zum Problem der Philo Sophiegeschichte. 431
daß die Trennung sich schwer durchführen läßt. Was sich von
der ersten Art der Philosophie an Piaton findet, das überläßt
Wilamowitz den Philosophen ; ihm schwebt ohne Zweifel die Mar-
burger Methode vor, wenn er davon spricht, daß die Philosophen
„mit besonders erfreulichem Erfolge selbständige Parallelerschei-
nungen beobachten" (S. 3). Höchst charakteristisch für diesen Be-
griff der Philosophie ist das Bedauern, weder „Logik noch Mathe-
matik, Astronomie und Physiologie genug zu verstehen, um den
Inhalt seiner Lehrschriften auszuschöpfen und zu beurteilen" (ebenda).
Wilamowitz wendet den Philosophiebegriff ins einseitig Logisch-
Technische, um jene „für Piaton wertvolle" Philosophie, die ihm
zugänglich ist, nach Umfang und Bedeutung hervortreten zu lassen.
Der Grund ist klar, und hier liegt gerade die große grundsätzliche
Bedeutung des Wilamowitzschen Buches für unsere Frage: Wila-
mowitz muß anerkennen, daß nur der über wesentliche Züge der
Philosophie Piatons ein Urteil hat, der Philosophie als besondere
Wissenschaft versteht; vielleicht ohne es zu wissen erkennt er
gerade durch die Nebeneinanderstellung von Logik und Mathe-
matik eine alte Forderung Cohens wörtlich an, daß man an die
Geschichte der Philosophie die Kenntnis ihres Systems genau so
heranbringen müsse wie die der Mathematik an die Geschichte der
Mathematik. Die nicht hoch genug zu bewertende Arbeit, die für
die Erkenntnis mindestens der griechischen Philosophie Philologie
als Kulturgeschichte leisten kann, insofern auch der Philosoph mit
dem Boden der gesamten Kultur seiner Zeit durch tausend Wur-
zeln verbunden ist, zeigt das bedeutende Werk Wilamowitzens
ebenso klar, wie es in der Anlage und Durchführung jener Spaltung
des Philosopbiebegriffs die ganze Problematik der Philosophiege-
schichte ins helle Licht setzt. Und zu dieser Problematik, zu der
Frage nach dem Sinn dieser „Arbeitsteilung" zwischen Historie
und Philosophie steht, wie auch die Position von Wilamowitz
zeigt, der Marburger Gedanke in engster Beziehung. Denn mit
dem Erfolge, „selbständige Parallelerscheinungen zu Piaton beob-
achtet zu haben", ist Natorps Absicht wirklich nicht erschöpft;
auch er will Piaton „selbst" erfassen, durch jenes philosophische
Erzeugen des Sinnes.
Zweiter Teil.
I.
Die radikale Forderung Cohens nach Gleichsetzung dessen,
was dem Betrachter richtig scheint und was deshalb des früheren
432 Julius Steuzel,
Philosophen Meinung ist, soweit sie „ernst gemeint" ist, setzt sich
zwar über andre wesentliche Züge der historischen Begriffsbildung
hinweg; sie hat aber scharf und einseitig und deshalb wirksam
einen bedeutsamen Punkt herausgehoben: daß auch in der Ge-
schichte das Philosophische nicht vorliegt als irgend etwas einfach
Abzulesendes; daß es erst entsteht, indem man es versteht, es
„erzeugt", wie alle Geschichte erst durch die Auswahl, durch die
Beziehung auf einen Wert, unter dem der Gegenstand im be-
stimmten Sinne Bedeutung hat, zustande kommt.
Diese erste Seite historischer Begriffsbildung ist nun für unsere
Zwecke genauer zu betrachten. Zunächst schließt der Ausdruck
„Wertauslese" immernoch nicht deutlich genug den Gedanken aus,
es handle sich darum, aus irgendwie fertigen, nur äußerst zahl-
reichen, daher etwas unübersichtlichen Gegenständen die Auswahl
zu treffen. Dann hätte auch die Methode der Marburger Philo-
sophiegeschichte damit nichts zu tun. In Wahrheit ist aber eine
historische Tatsache, welcher Art auch immer*, gar nicht denkbar
außerhalb des Zusammenhangs, der ihr erst irgend einen Sinn,
irgend eine Bedeutung verleiht. Wenn der Historiker sagt : Dieser
kleine, bisher übersehene Zug ist von größter „Bedeutung" für die
Beurteilung, so kann diese allgemeinverständliche, häufige Bemer-
kung am einfachsten zeigen, was unter der historischen Wertbe-
ziehung gemeint ist; es ist die Auffassung des Einzelnen in einem
sinnvollen Zusammenhang, außerhalb dessen es eben als „bedeu-
tungslos" übersehen wird. Auf die äußere Abgrenzung des Gegen-
standes ist daher auch in unserem Falle in dem Sinne weniger
Wert zu legen, daß man das, was Philosophie ihrem äußeren Um-
fange nach ist, in jedem Falle gegenwärtig haben müsse ; sondern
viel wichtiger ist es, im einzelnen Falle unter einer sinnvollen
Einheitsbeziehung eine Reihe von „Tatsachen" allererst zu ent-
decken, die außerhalb dieses Zusammenhanges „nichts bedeuten",
nun aber durch ihre Einordnung „Wert" erhalten haben und da-
durch erst ins wissenschaftliche Bewußtsein gehoben sind. Wie
wichtig dieses Ausbilden der apperzipierenden Organe gerade zur
Herausstellung des philosophischen Sinnes irgendwelcher geschicht-
licher Denkmäler ist, das ergibt sich aus dem formalen Charakter
des Philosophischen, das nicht in einem Was, sondern in dem Wie
der Betrachtung sich erst von anderen Prinzipien der Auswahl
unterscheidet. So werden gerade in der Philosophiegeschichte die
Möglichkeiten der Auswahl in jenem schöpferisch-kritischen, nicht
Zum Problem der Philosophiegeschichte. 433
äußerlich scheidenden Sinne unzählige sein ; je nach dem Inhalte, der
Struktur der philosophischen Methode, die sich der Betrachter ge-
bildet hat, wird diese oder jene Motivreihe an einem Philosophen ins
Licht gesetzt werden und eine neue Bedeutung gewinnen. Immer ist
es der neue Sinn, wie er in einem systematischen Zusammenhang
sich bildet, der den spezifischen Wertgesichtspunkt philosophie-
historischer Forschung darstellt — das Systematische allein kann
das formende Prinzip auch der Geschichte sein.
Dieses Ergebnis wird im folgenden noch genauer begründet
werden; zunächst aber muß ein dieser Anschauung diametral ent-
gegengesetzter Einwand erledigt werden, zu dem auch wieder die
Marburger Philosophiegeschichte, die der Ausgangspunkt dieser
Betrachtungen war, Veranlassung gibt. Ist es nicht verkehrt, ein
„bestimmtes System" der historischen Betrachtung zu Grunde zu
legen ? Führt das nicht umgekehrt notwendig zu einer Verarmung
des historisch Gegebenen, indem es einen Zug auf Kosten der anderen
an dem Bilde übermäßig hervorhebt, andere ungebührlich in den
Hintergrund drängt und so das historische Bild verfälscht? Ist
das nicht der Vorzug einer „rein" historisch- philologischen Philo-
sophiegeschichte, diese Gefahr zu vermeiden und der Problemge-
schichte die eigentliche philosophische Betrachtung der Geschichte
zu überlassen, die aus der bedenklichen Not der willkürlichen Aus-
wahl eine Tugend macht und bewußt nur eine Reihe, ein Prob-
lem in seiner Geschichte verfolgen will, ohne sich um die anderen
Züge zu kümmern, die dadurch in den Hintergrund geraten ? Der
Gang unserer Untersuchung, die nach dem spezifischen Auswahl-
und Formungsprinzip der Philosophiegeschichte fragt, erfordert
nicht minder wie dieser Einwand eine Analyse des Begriffs der
Interpretation; denn die Aufgabe der philologischen Arbeit der
Philosophie — oder der philosophischen der Philologie — kann
nur die Erklärung und Deutung des philosophischen Werkes sein.
Eine allgemeinere Betrachtung des Verstehens geschriebenen Wortes
überhaupt wird zeigen, daß das Verstehen innerhalb der Philo-
sophiegeschichte dem Übersetzen seiner Struktur nach nahesteht.
Es sei noch einmal an den Anlaß dieses Exkurses erinnert, an die
Behauptung, daß der Vorzug rein philologischer Betrachtung in
dem Fehlen eines bewußten Systems bestünde.
Übersetzen heißt Elemente eines bestimmten Sinnzusammen-
hangs durch andere ersetzen, sodaß derselbe Sinnzusammenhang
Kantstudien. XXVI. 28
434 Julius Stenzel,
gewahrt bleibt1). Von den einfachsten Vorgängen dieser Art ab-
gesehen, wird die Schwierigkeit stets damit beginnen, daß die ein-
zelnen Sinnträger, die Worte, sich nicht einfach für einander ein-
setzen lassen; man wird, um dem Sinne „treu" zu bleiben, „frei"
übersetzen müssen. Oft ist die Möglichkeit des wortwörtlichen
Übersetzens, die die einzelnen Worte an sich zulassen würden, des-
halb nicht vorhanden, weil offenbar dies Wort „hier" etwas anderes
bedeute. D. h. schon bei einfachen Gedanken schieben sich die
Bedeutungen der Worte zurecht nach dem an die zu deutenden
Worte herangebrachten Sinnzusammenhang, der von einem Teil
als sicher angenommener „Bedeutungen" geleitet, in dem Bewußt-
sein des Deutenden durch eine Antizipation entsteht; es besteht
die doppelte Möglichkeit, daß diese ersten Bedeutungen schon falsch
waren oder daß diese richtig, aber der Zusammenhang falsch war
— es können auch beide Fehler zusammentreffen. Man kann
den Fehler merken, wenn an einer anderen Stelle ein Wort in
einer sicher ganz anderen Bedeutung erscheint, und diese vorher
nicht bedachte Möglichkeit in jenen Zusammenhang einen neuen
Sinn bringt — oder wie man sich weitere Complexionen aus-
malen mag, psychologische Vorgänge, die natürlich dem, der
sich um den Sinn eines Werkes bemüht, im Einzelnen gar nicht
bewußt zu werden brauchen. Für jeden Zusammenhang, der sich
über die Sphäre unmittelbar selbstverständlicher Gegenstände er-
hebt, spielen also beim Übersetzen durchaus nicht ohne weiteres
eindeutige Bewußtseinszusammenhänge, die der Deutende heran-
bringt, eine wesentliche Rolle. Nun läßt sich jedes Verstehen
eines in Worte gefaßten Sinnzusammenhanges nach dem Typus
des Übersetzens betrachten, insofern es sich in allen Fällen um
Herstellung eines eigenen Bewußtseinszusammenhangs auf Grund
eines fremden handelt. Verstehe ich etwas in einer Sprache ohne
„übersetzen" zu müssen, in der Muttersprache oder einer mir voll-
ständig geläufigen, so wäre dies analog dem Vorgang beim wort-
wörtlichen Übersetzen : es entstehen sofort in mir dieselben Bedeu-
tungs- und Sinneseinheiten. Lese ich z. B. als Deutscher ein mir
zunächst nicht ganz verständliches Goethesches Gedicht, so kann
der — ich glaube sehr seltene — Fäll vorliegen, daß ich von vorn-
herein die Worte in dem Bedeutungsgehalt Goethes auffasse, nur
seine Sinnessynthese nicht vollziehen kann. Meines Erachtens wird
1) Vgl. Honigs wald, Prinzipienfragen der Denkpsychologie, Berlin, Reuther
u. Reichardt 1913, 42.
Zum Problem der Philosophiegeschichte. 435
aber in der weit überwiegenden Zahl der Fälle die Bedeutung
einzelner Worte eine andere sein als ich zunächst heranbringe —
denn darin liegt ein wesentlicher Zug des Dichterischen — , und
ich werde diese erst aus dem antizipierten Zusammenhange richtig
verstehen; es kam also auf einen dem Übersetzen ganz analogen
Vorgang heraus, aus dem Sinn eines antizipierten Zusammenhanges
einige mir zunächst unbekannte Bedeutungs träger mit neuer Be-
deutung zu erfüllen. Denken wir uns nun einen philosophischen
Zusammenhang, etwa in griechischer Sprache die so vieldeutigen
Worte Psyche Doxa Episteme, so ist sicher eine Antizipation be-
stimmter Art notwendig, um diese Vorstellungen in einem Bewußt-
sein zu vereinigen. Daß hier beim Verstehen eines griechischen
Philosophen der denkpsychologische Vorgang nur graduell von dem
eines in „unserer" Sprache Schreibenden verschieden ist, lehrt wohl
die Unmöglichkeit, eine einzelne Seite Kant, Hegel oder Fichte
für sich zu interpretieren. Daß auch hier die Erfüllung der ein-
zelnen Termini mit einem klaren Inhalt nicht die unwichtigste
Aufgabe des Verständnisses ist, daß nur aus der „Ahndung des
Ganzen" (Schleiermacher) das Einzelne begriffen werden kann,
wird selbstverständlich durch die Tatsache nicht erschüttert, daß
das Ganze auch aus den Teilen wieder klarer verständlich wird;
es kommt hier ja nur auf das stete Einwirken einer übergreifenden
Synthesis an, die aus den Teilen, die zunächst allein ins Bewußtsein
treten, niemals abgelesen, sondern nur in einer Eigentätigkeit des
Verstehenden erzeugt werden kann.
Schon an dieser Stelle könnte durch eine naheliegende Über-
legung ein Zugang zu dem philosophischen Problem der Philoso-
phiegeschichte gefunden werden. Denn wie anders kann der Sinn
gerade eines irgendwie philosophischen Zusammenhanges ergänzt
werden als aus dem, was dem Betrachter wahr erscheint, also aus
seiner systematischen Einsicht, und es wird für den, der auf dem
Standpunkt Cohens steht, sein oben zitiertes Wort sich bereits an
dem historisch -philosophischen Einzelurteil bestätigen, daß die
„eigene erkenntnistheoretische Einsicht" an der Herausstellung des
historischen Sinnes wesentlich beteiligt ist. Doch seien diese Ge-
danken ebenso wie die nicht minder naheliegende Auffassung phi-
losophischen Verstehens als des Übersetzens eines Sinnes mittels
anderer, durch den jeweiligen systematischen Bestand der Philo-
sophie bestimmter Begriffe hier zurückgestellt. Denn noch darf
die Abwehrstellung gegen die Meinung nicht aufgegeben werden,
28*
436 Julius Sftenzel,
es wäre vorteilhafter, ohne ein „System" den Sinn eines Philo-
sophen intuitiv zu erfassen, sich in die fremde Gedankenwelt ein-
zufühlen oder wie sonst dieser Vorgang bezeichnet werden mag.
Da eine Einheitsbeziehung in ihrer Entfaltung, die Ergänzung
eines durch irgend welche Umstände Lückenhaften1) in den sel-
tensten Fällen mittels diskursiver Erwägungen bewußt erschlossen
wird, sondern eher durch einen phantasiemäßigen Akt zu Stande
kommt, so kann diese Antizipation der Einheit aus zunächst un-
vollständig erfaßten Elementen Intuition genannt werden. Freilich
ist die stete Übertragbarkeit dieser Intuition ins Diskursive etwas,
das bei wissenschaftlichem Verstehen im Gegensatz zum künst-
lerischen stets der Idee nach gefordert ist. Daß dies nun gerade
bei philosophischem Verstehen besonders notwendig ist, wird kaum
bestritten werden können. Die Rechenschaft über die Bewußt-
seinszusammenhänge, so töricht es wäre, sie als Vorbedingung des
Verstehens eines Goetheschen Gedichtes hinzustellen — selbst bei
sogenannter Ideendichtung, die eben deshalb nicht Begriffs-
dichtung heißt — ist doch stets aufgegeben, sobald ich etwas phi-
losophisch zu verstehen trachte; mögen auch die tatsächlichen
Denk Vorgänge in beiden Fällen zunächst analoge Struktur auf-
weisen. Wer deshalb etwa an einer Stelle eines platonischen
Dialoges Eidos oder Doxa irgendwie zu „verstehen" behauptet, ist
verpflichtet, darüber Rechenschaft zu geben, in welchen Denkzu-
sammenhang er es einordnet. Es will ja auch niemand damit sich
begnügen zu sagen: „ich fühle genau, was es bedeutet, es ergibt
sich ja aus dem Zusammenhang". Und bei jedem der Termini,
die etwa in der vorsokratischen Philosophie vorkommen, kompliziert
sich die Frage einmal durch die fragmentarische Überlieferung
und dann durch die Entfernung vom heutigen Allgemeinbewußtsein.
Trotzdem „versteht" jeder die mehrdeutigen Ausdrücke kq%yj xCvqöLg
Atom Zweck Grund aus einem systemartigen Einheitszusammen-
hang heraus, mag er es wissen oder nicht Je unbefangener er
glaubt, kein „System" zu haben, desto größer ist die Gefahr der
Mißdeutung, weil er ohne weiteres die Bedeutungen, die in ihm
bereitliegen, den zu verstehenden Sinnesträgern substituiert, weil
er sich der Mehrdeutigkeit, der Bedeutungsfülle gar nicht be-
wußt ist. „Systematisch" nenne ich auch diesen naiven Stand-
punkt, weil es unmöglich ist, die Bedeutungen Abstrakt Kon-
kret Realität Idealität Ursache Zweck anders zu begreifen als
1) Simmel, Logos VII, 128.
Zum Problem der Philosophiegeschichte. 437
aus einem System, das das Verhältnis dieser Begriffe gegenseitig
bestimmt. Wer „kein System hat", unterliegt ohne es zu merken
unserm empiristischen Zeitbewußtsein; wer keine philosophische
Schulung hat, der ist nicht im Stande, sich überhaupt einen anderen
Seins begriff vorzustellen, der etwa zwischen den Begriffen Ab-
strakt und Konkret völlig neue Beziehungen ermöglicht, als die
einer empiristischen Abstraktionslogik; daran hängt aber nicht
etwa bloß die Möglichkeit, sich bei Piaton über die übliche Alter-
native: Sein als Copula, Sein als Existieren zu erheben, sondern
an dem Eingehen auf den sich stets modifizierenden Seinsbegriff
hängt doch tatsächlich das Verständnis Kants und Hegels nicht
minder wie das des Parmenides oder Aristoteles *). Gerade in
dem Begriff, den man am unbewußtesten gebraucht, dem Ist, auf
das zu reflektieren einem zuletzt einfällt, ist man am engsten an
ein System gebunden, das dem Denken zu Grunde liegt und an
dem man alle ihm begegnenden Sinnesbeziehungen mißt und nach
ihm sie „versteht". Wieder bedarf eine psychologische Voraus-
setzung dieser Erwägungen eines erläuternden Wortes. Es muß
ausdrücklich die oben aufgestellte Behauptung, daß jene Ergänzung
lückenhafter Bedeutungs zusammenhänge auf dem intuitiv antizi-
pierten Sinn des Ganzen beruht, dahin erweitert werden, daß auch
so komplizierten psychischen Einheiten, wie es ein allgemeinster
Seinsbegriff ist, ein unbewußtes Analogon entsprechen könne, für
das wieder wegen seiner Phantasienähe der Ausdruck Intuition
gewählt sei, das aber durch seine, wenigstens intendierte, Über-
tragbarkeit in ein bewußtes Bedeutungs System vor ähnlichen Ge-
bilden ausgezeichnet ist. Es macht hierbei nichts aus, wenn bei
dem Versuche, dieses unbewußte System zu diskursiver Bewußt-
heit zu erheben, es sich herausstellen sollte, das ihm ein wider-
spruchsloser Sinn nicht innewohnt, daß es also den logischen An-
sprüchen auf objektive Geltung durchaus nicht genügt. Ja, die
Erfahrung gewisser Diskussionen im Leben und in der Wissen-
schaft zeigt, daß dieser Prozeß durchaus nicht immer zur Zer-
1) Ein sehr interessantes Beispiel dafür, wie das Verständnis eines Philo-
>phen von dem Seinsbegriff abhängt, den man ihm unterlegt, ist die Beurteilung
ss aristotelischen Seinsbegriffs durch Natorp ; er will ihm aus bestimmten Gründen
einen anderen als den gröbsten empiristischen Seinsbegriff nicht zugestehen, um
liesen von dem eigenen — Natorps und Piatons — abzuheben und die Verkennung
'latons durch seinen Schüler recht kraß darzustellen (vgl. Jäger, Studien zur
Intstehungsgeschichte der aristotelischen Metaphysik, 73).
438 Julius Stenzel
Störung jener unbewußten Einheit zu führen braucht, daß also
deren intuitive Form durchaus psychologische Realität besitzt.
Es handelt sich bisher um die tatsächlichen Grenzen des Ver-
stehens bei bestem Willen des Subjekts, die als psychologische
Realitäten aufzuzeigen waren und von den logischen Gebilden der
Wahrheit oder des Irrtums, des Geltens oder Nichtgel tens bewußt
abgehoben waren. Sobald jedoch von der Frage, ob dem ver-
stehenden Subjekt diese oder jene Möglichkeit der Verknüpfung
überhaupt „einfallen" kann oder nicht, zu der weiteren fortge-
schritten wird, ob die verstehende Verknüpfung den wahren
Sinn trifft, so müssen Kriterien zu dem Sinn hinzutreten, die ihn
als wahr determinieren können; der mögliche Sinn muß sich als ob-
jektiv notwendig darstellen. So streng diese beiden Weisen
der Bewußtheit logisch zu scheiden sind, durch die übergreifende
Bedeutung des Sinnbegriffs sind beide Weisen soweit parallel zu
denken, daß alles, was von Sinnbeziehungen ausgesagt werden kann,
auch von dem objektiven Sinn, von der Wahrheit gilt. Wie das
irgendwie sinnvolle Ganze von einem Satze bis zu umfassenderen \
Bedeutungszusammenhängen durch im Bewußtsein des Verstehenden |
bereitliegende Antizipationen aus den Elementen sich aufbaute, so
ist schließlich auch die unter den möglichen Verknüpf ungs weisen
als notwendig erweisbare Deutung — korrespondierend der wahren
Bedeutung — im wissenschaftlichen Prozeß der Erkenntnis auch
als bloßer Sinn möglich, solange die Kriterien der Wahrheit nicht
aktuell bewußt sind. Dieses Stadium ist auch nach der erken-
nenden Erfassung der Kriterien möglich, ja es wird sogar die
Regel sein, daß das wissenschaftliche Bewußtsein, auch ohne actu-
aliter die Kriterien gegenwärtig zu haben, aus Antizipationen den
wahren Sinn deutend erkennt. Mit anderen Worten, auch für
das Zustandekommen, wenn auch nicht für den Gehalt der
Wahrheit ist analog dem oben Geschilderten eine Intuition an-
zusetzen, die aber in noch viel höherem Grade bereit ist, jeder-
zeit in die aktuelle Form der Bewußtheit des Grundes überzugehen
als jene früher beschriebenen psychologischen Vorgänge. Das
Wesen dieser Intuition ist die stete Bereitschaft in systematische
Begrifflichkeit überzugehen; wieweit diese Bereitschaft im beson- ]
deren aktualisiert wird und aktualisiert werden kann, das ist eine
Frage für sich. Sollte jedenfalls die mit dem Wesen der Wissen- I
schaff, aufgegebene Begrifflichkeit, die urteilsmäßige Beziehung auf
Kriterien, nicht restlos möglich sein, so käme dieser Intuition
Zum Problem der Philosophiegeschichte. 489
freilich eine über das Erkenntnispsychologische hinausreichende,
nicht nur sinnvolle, sondern sinn geben de Bedeutung zu. Doch
diese Frage bleibt dabin gestellt; zunächst soll die Methode der
Philosophiegeschichte betrachtet werden, die durch ausdrückliche
Besinnung auf die Kriterien philosophischer Wahrheit die auf-
fassenden Organe auszubilden, die antizipierenden Sinneszusammen-
hänge zu wirklich systematischer Bewußtheit zu erheben sucht.
Ihr, der problemgeschichtlichen Methode, kommt für die Konsti-
tuierung des Gegenstandes der Philosophiegeschichte im Sinne hi-
storischer Begriffsbildung ein hervorragender Anteil zu; diesen zu
bestimmen und abzugrenzen ist die Aufgabe der folgenden Er-
örterungen.
II.
Der Systembegriff, der der Betrachtung zu Grunde gelegt
wurde, zeigte sich gerade in seiner formalen Natur bedeutsam für
die Geschichte der Philosophie. Philosophie als Wissenschaft ist
das System der Probleme: also, könnte man schließen, ist Philo-
sophiegeschichte, wenigstens nach ihrer philosophischen Seite we-
sentlich Problemgeschichte. Zuerst seien ihre Erscheinungsformen
kurz beschrieben. Zwei Arten hat die Erfahrung der Wissen-
schaft gezeitigt : Geschichte des Einzelproblems und Geschichte der
Problemzusammenhänge. Die Grenze ist fließend, eine Geschichte
des Erkenntnisproblems ist eine Geschichte der Philosophie auf
der Grundlage eines scharf ausgeprägten Systembegriffs, und sie
nähert sich methodisch den Darstellungen der Philosophiegeschichte,
die ohne ihr Gebiet nach dieser Seite ausdrücklich zu beschränken,
Philosophiegesenichte unter „problemgeschichtliche und systema-
tische" Gesichtspunkte stellen. Diese Erscheinung ist in der Sache,
dem Wesen der Philosophie tief begründet. Wer sich die Aufgabe
stellt, das Problem der Substanz, der Kausalität historisch darzu-
stellen, ist stets gehalten, erst das Problem, die Frage, um die es
sich handelt, als solche zu explizieren. Jede solche Erörterung
weist aber auf das Ganze der Erkenntnis hin; es muß zunächst
gegen Nachbarprobleme abgegrenzt, diese selbst aber irgendwie
bestimmt werden. Selbstverständlich ist es nicht nötig, explizite
jeder derartigen Monographie ein System der Philosophie voraus-
zuschicken. Es gibt aber in der heutigen Philosophie wie in den
anderen Wissenschaften gewisse festliegende Begriffe, systematische
Abbreviaturen, die einen bestimmten sachlichen Bedeutungsinhalt
440 Julius Stenzel,
eindeutig repräsentieren. Mit solchen Begriffen, die für den Kun-
digen sofort bestimmte systematische Einordnungen vollziehen,
muß tatsächlich jedes einzelne Problem in dem System der Prob-
leme überhaupt verankert werden, wenn es eindeutig bestimmt
sein soll. Erst dann kann die Geschichte eines Problems darge-
stellt werden. Wer Problemgeschichte treibt, der will ja gerade
nicht das fertige System der Probleme vorführen, sondern eben
seine Geschichte, die in ihrem Verlauf alle diese Probleme heraus-
bildete, aber gerade dafür ist der Systemgedanke, wie er im Be-
wußtsein antizipiert ist, Voraussetzung. Gewiß wird der Zweck
einer derartigen Untersuchung sein, an der historischen Betrach-
tung, an dem inhaltlichen Reichtum der Lösungen, die in verschie-
denem Zusammenhange mit anderen Problemen der eigentlich unter-
suchten Frage zu Teil wurden, diese selbst tiefer zu erfassen, den
Rahmen der ursprünglichen Themastellung erweiternd zu erfüllen ;
doch von dem Rahmen hängt eben der Reichtum dessen, was in
die historische Erfahrung überhaupt eingeht, wesentlich ab; die
volle systematische Klarheit über die Stelle des Problems im
Ganzen der Philosophie, seine Zuordnung und Abgrenzung von
den benachbarten Problemen befähigt erst, das Problem in den
Verschlingungen zu erkennen, in denen es in der Geschichte auf-
tritt, es aus diesen Verdunkelungen herauszulösen, und den Anteil
zu bestimmen, den der einzelne Philosoph an der allmählichen
Klärung der Sache, an der Entwicklung der Wahrheit beanspruchen
kann. Dies zeigt die unersetzliche Bedeutung der Problemge-
schichte für das Zustandekommen aller Philosophiege'schichte; in
der Problemgeschichte ist der Wert, nach dem aus der Vielfältig-
keit alles dessen, was an Material möglicher philosophiegeschicht-
licher Forschung in der Geschichte bereitliegt, der spezifische Ge-
genstand ausgewählt und geformt wird, unmittelbar sichtbar und
und er muß ihr stets gegenwärtig sein, sie muß stets „philoso-
phisch" bleiben. Sie stellt lediglich das Verfahren auf höherer
Stufe dar, das allem auf irgend einen Sinn gerichteten Verstehen
überhaupt eignet : aus antizipierten allgemeineren Zusammenhängen
die Elemente der Erfahrung zu einem Ganzen zu fügen, nur daß
hier dieser antizipierte Zusammenhang aus der Form deutender
Sinneserfassung in die bewußte Form des systematischen Denkens
hinübergetreten ist.
Demnach ist unzweifelhaft die problemhistorische Einstellung
die Voraussetzung aller philosophiegeschichtlichen Forschung und
Zum Problem der Philosopkiegeschichte. 441
niemals ist bisher solche zustandegekommen, ohne daß sie in irgend
einer Vorform gegenwärtig war. Deshalb ist sie die älteste Form
der Philosophiegeschichte; die Ansätze dieser Wissenschaft bei
Piaton im Phaidon und Sophistes bemühen sich durchaus um die
sachliche Bedeutung eines Problems, im Phaidon um den Begriff
der Ursache, im Sophistes um die Einheit oder Mehrheit der
Prinzipien. Wo Aristoteles sich um historische Fragen kümmert,
ist es das Problem, das den Zusammenhang abgibt, niemals die
Individualität eines Philosophen. Freilich war diese Beschränkung
der Antike keine selbstgewählte, methodische Einstellung, sondern
sie entsprang aus der eigentümlichen Stellung des Altertums zum
Historischen und Individuellen überhaupt; denn diese Seiten der
Wirklichkeit blieben für das damalige theoretische Bewußtsein im
Hintergrunde. Die moderne Problemgeschichte dagegen entspringt
dem bewußten Willen, die Wahrheit zu suchen in ihrer geschicht-
lichen Entwicklung, als deren Ergebnis das philosophische Bewußt-
sein sich fühlt. Gegenüber der in solchen Fragen unbewußt und
naiv rationalistischen Antike hat die moderne Philosophie diese
Methode herausgebildet aus der Einsicht in das Wesen des philo-
sophischen Wahrheitsbegriffes, der keine bequeme Relativierung,
keinen Historismus zuläßt, aber die Geschichte als die Erfahrung
begreift, ohne die jedes Denken notwendig verarmen muß, an der
es sich allererst über seinen eigenen Sinn und Inhalt klar werden
und zum Selbstbewußtsein gelangen kann. Doch wie weit kann
dieser philosophische Wahrheitsbegriff als Auswahlprinzip den Be-
dingungen der Geschichte genügen?
Je größer der Anteil angenommen wird, der ihm bei der wert-
bestimmten Auslese dessen, was philosophisch in der Geschichte
ist, zukommt, desto geringer wird notwendig das, was ohne ihn
durch sogenannte rein philologisch-historische Methode an philo-
sophischem Gehalt der Geschichte apperzipiert werden kann. Wird
von der tatsächlichen inneren Durchdringung historischer, philo-
logischer und philosophischer Betrachtungweise, durch die allein
auf philosophiehistorischem Gebiete Ergebnisse möglich 'sind, die
eben im wissenschaftlichen Sinne zugleich philosophisch und histo-
risch sind, abgesehen, wird also die Leistung jeder Methode
logisch gesondert betrachtet, so müßte die Problemgeschichte auch
das Historische, das sie als G e s c h i c h t e der Probleme notwendig
enthält, aus sich erzeugen, da alles, was außerhalb ihrer Me-
thode gefunden wird, streng genommen in das Gebiet des Philo-
442 Julius Stenzel,
sophischen gar nicht hineinreicht. Kann sie das? Dies ist unter
der angenommenen grundsätzlichen Scheidung nun zu untersuchen.
Nicht um die tatsächliche wissenschaftliche Arbeit, die sich Prob-
lemgeschichte nennt, und deren Ergebnisse handelt es sich dabei,
sondern um die Frage, ob nicht in aller problemhistorischen For-
schung grundsätzlich das Historische irgendwie mindestens als still-
schweigende Voraussetzung gegenwärtig ist.
Mit der Feststellung des Wertes, auf den die Auswahl des
Historischen bezogen bleibt, ist nämlich noch nicht ohne weiteres
der individuelle Charakter des historischen Gegenstandes gegeben,
von dem gerade der Unterschied naturwissenschaftlicher und his-
torischer Begriffsbildung und der Sinn spezifisch historischer Ent-
wicklung abhängt. Doch was kann innerhalb der Problemgeschichte
überhaupt als individueller Charakter des Gegenstandes bezeichnet
werden? Die umfassende Aufgabe, das Ganze eines individuellen
Systems aus seinen gesamten geistigen Wurzeln zu begreifen und
den philosophischen Bios darzustellen, sie darf der Problem-
geschichte erst garnicht gestellt werden, weil sie ihr grundsätzlich
entgegengesetzt ist, indem sie Geschichte der Gedanken, nicht der
Denker schreiben will. Aber wenn sie Geschichte der Prob-
leme sein will, muß sie diese beziehungsweise ihre Lösungen —
eine für die Philosophie der Sache nach unwesentliche Scheidung
— in ihrer historischen Entwicklung zeigen; sie muß notwendig
Stufen annehmen, und sie hat bisher noch nicht darauf verzichtet,
diese an Namen der Philosophen zu knüpfen. Verzichtete sie darauf,
würde sie nur Möglichkeiten der Problematik dialektisch ausein-
ander entwickeln, ohne sie mit historischen Konkretionen zu ver-
binden, so würde sie zwar immer noch philosophische Arbeit leisten,
hätte aber aufgehört, Geschichte zu sein. Als solche muß die
Problemgeschichte notwendig in Beziehung bleiben mit der Form
und dem Grade der Bewußtheit, in der die Probleme in der Ge-
schichte in Individuen (auch ganze Epochen sind als solche anzu-
sehen) hervorgetreten sind. Der Wahrheitsbegriff der Philosophie,
der aus der Idee des Systems der Probleme an die historische Aus-
sage herangebracht wird und deren Sinn zu bestimmen geeignet
ist, ist grundsätzlich aus sich heraus nicht im Stande, die Klar-
heit und Unklarheit, in der ein Problem auf einer geschichtlichen
Stufe anzusetzen ist, zu bestimmen. Wie der mögliche Sinn der
Aussage eines Philosophen durch die problemgeschichtliche Ein-
stellung an der Hand des systematischen Wahrheitsbegriffes eine
Zum Problem der Philosophiegeschichte. 443
Determinierung erfuhr, sozusagen auf eine [Koordinate bezogen
wurde, so bedarf dieser Sinn nun nach einer anderen Seite einer
weiteren D et erminier ung. Dazu müßte die Problemgeschichte
grundsätzlich aus der Linie ihrer eigenen Denkbewegung heraus-
treten. Auf der ihr spezifisch eigentümlichen Linie bleiben die
Möglichkeiten der Klarheit des Problems, wie weit der Philosoph
tatsächlich sich der Wahrheit bewußt ist, stets fließend; denn das
Hinblicken von einem Philosophen auf den andern, die Verbin-
dung zwischen den Philosophen, ist gerade der Nerv dieser Be-
trachtungsweise. Je konsequenter der Problemhistoriker den ei-
gentlichen Grundgedanken einer Geschichte der Probleme erfaßt,
desto klarer ist er sich über diesen Sachverhalt. Denn das Be-
wußtsein, daß die eigentlich historische Arbeit im engeren Sinne
in einer anderen Einstellung erfolgt, gibt ihm erst die Freiheit,
die sachlichen Konsequenzen einer an ihre geschichtliche Bedingt-
heit gebundenen Aussage herauszuarbeiten und dadurch auch ihre
historischen Folgen verständlich zu machen. In dieser Freiheit,
mitzuphilosophieren und den früheren Denker nach- und weiterzu-
denken, entsteht erst die eigentümliche Selbstbewegung dieser Ge-
schichte, die von der historischen Gegebenheit ausgehend sich doch
nicht an sie bindet. Abgesehen von dem hohen didaktischen Wert
einer solchen Betrachtungsweise kann auch nur aus dieser Freiheit
die rückwirkende historische Wirkung entstehen. Durch schein-
bar rücksichtsloses Weiterdenken der Probleme bis zu den äußer-
sten, modernsten Konsequenzen ergeben sich oft wieder die über-
raschendsten Bezüge auf andere historische Tatsachen, von denen
die Betrachtung gar nicht ausgegangen war, die unmittelbar er-
schöpfend zu deuten, Schwierigkeiten gemacht hätte1). Die Re-
duktion auf die den historischen Bedingungen entsprechende Be-
wußtheitsstufe ist nach der Vorarbeit der Problemgeschichte durch-
aus möglich. Welches aber ist der Maßstab für die jeweilige Be-
wußtheit des Problems, die zweite Koordinate neben der Problem-
geschichte, an der die historische Wahrheit der Philosophiege-
schichte gemessen werden kann?'
1) Das Buch Hönigswalds über die „Philosophie des Altertums" (München
1917) bietet dafür die merkwürdigsten Beispiele; gerade dort, wo er scheinbar am
weitesten geht in der Ausspinnung sachlicher Konsequenzen, in der Urteilslehre
der Kyniker, ergeben sich Anknüpfungspunkte an spätplatonische Probleme. Auch
Einstellungen, die in der Art ihrer Bewußtheit der antiken Philosophie vollstän-
dig fernliegen, können doch wesentliche sachliche Bezüge in ein neues Licht
stellen, z. B. die phänomenologisch«'.
444 Julius S t e n z e 1 ,
III.
Die Lösung dieser historischen Aufgabe der Philosophiege-
schichte auf dem Wege irgend einer unmittelbaren Erfassung der
Aussagen früherer Philosophen in nichtphilosophischen Methoden
zu erwarten, ist nach dem Entwickelten ausgeschlossen. Nur aus
dem Begriff der Philosophie, aus dem Ganzen ihrer Probleme, nur
durch eine Wendung über die Einstellung der Problemgeschichte
hinaus kann auch dieses Ziel erreicht werden, wenn es überhaupt
im Bereich des Philosophischen liegen soll. Ja es wird hier der
Systemgedanke der Philosophie noch in einer anderen Weise als
in der Problemgeschichte gegenwärtig sein müssen.
Es sei noch einmal von der Grundfrage, dem Verstehen der
Aussage eines früheren Philosophen ausgegangen, die Problemge-
schichte habe bereits ihre Einordnung der Aussage in einen Pro-
blemzusammenhang vollzogen, und es handle sich darum, festzu-
stellen, wie weit die Konsequenzen dieser Aussage, die sich aus
der systematischen Struktur des Problems ergeben, dem Philo-
sophen zum Bewußtsein gekommen sind, wie weit die logische
Leistung der Begriffe sich in dem Denker bereits aus der Mög-
lichkeit zur Wirklichkeit entwickelt hat. Niemals ist ein anderer
Weg für die Beurteilung dieser historischen Wirklichkeit, d. h.
Wirksamkeit der Begriffe beschritten worden als der, zu prüfen,
ob die Konsequenzen, die ein Problem für uns hat, sich mit an-
deren Aussagen des Philosophen vertragen. Widersprechen einige
der Folgerungen unzweideutigen Aussagen des Philosophen, so ist
anzunehmen, daß sie ihm nicht zu Bewußtsein gekommen sind,
wenigstens nicht die Bedeutung gehabt haben, die nach unserer
Ansicht ihnen gebührt, sie sind nicht wirksam geworden. Nicht
also ist der einzelnen Aussage der gesuchte Grad der Klarheit
abzulesen, sondern nur in dem Zusammenhang weiterer Aussagen
ist darüber Aufschluß zu gewinnen. An welchen Kriterien wird
nun der Widerspruch gemessen? Nur derselbe systematische
Wahrheitsbegriff, der die Urteile der Problemgeschichte bestimmt,
kann auch diese Beurteilung leiten. Die gegenseitige Vergleichung
der Aussagen, die gegenseitige Korrektur ihrer Deutungen weist
auf die Idee hin, jenes frühere Bewußtsein in seiner Gesamtheit
als ein widerspruchsloses System aufzufassen. Dieses System wird
durch Denkschritte erschlossen, die vom Systemgedanken des Ver-
stehenden geleitet sind, aber es ist nicht das System dieses Ver-
stehenden selbst, es ist ein historisches, d. h. in seiner historischen
Zum Problem der Philosophiegeschichte. 445
Konkretion einzigartiges Individuum, ein immanenter Zusammen-
hang der Gedanken, der jedem einzelnen bestimmten Sinn gibt,
mag das System als solches ausgeführt vorliegen oder nicht. Nun
beruht nach dem modernen Systemgedanken der Zusammenhang
der Probleme auf ihrer kritischen Sonder ung, wie sie die Ent-
wicklung des philosophischen Denkens, d. h. die Aufwicklung ge-
bundener Komplexe mit sich gebracht hat. Diese Sonderung aber
bestand früher nicht in derselben Weise ; wie wir heute Probleme
trennen in erkenntnistheoretische und metaphysische, ethische und
ästhetische, so wurden sie früher nicht getrennt; um so weniger,
je mehr sich die Betrachtung den Zeiten mythischer „Gebunden-
heit" (Dilthey) nähert. Der Sinn der Philosophiegeschichte steht
und fällt mit dem Gedanken, daß die Summe der Probleme stets
irgendwie gegenwärtig ist; daß aus dieser Summe das Eine oder
das Andere sich ans Bewußtsein ringt, aber das Niclrb-Gegen-
wärtige auch durch sein Fehlen das Gegenwärtige bestimmt und
zu seiner Formung beiträgt. Zum Teil noch in ursprünglicher
Verbundenheit tauchen die Probleme empor, hemmen, fördern sich
gegenseitig in ihren Konsequenzen, drängen sich in den Vorder-
grund, werden durch andere abgelöst — eine unendliche Mannig-
faltigkeit von Verbindungen ergibt sich, die aber alle auf einen
allgemeineren Systembegriff bezogen werden müssen, wenn sie in
unser Bewußtsein eingehen und überhaupt verstanden werden sollen.
Eine unerschöpfliche Aufgabe, systematische Möglichkeiten als solche
zu begreifen, eröffnet sich unter diesem Gesichtspunkt des Systems,
das in der Anordnung und Sonderung der Probleme individuell,
in der zu Grunde liegenden Idee der Geisteseinheit und -ganzheit
allgemeingültig ist. Die individuellen Systeme1), jedes als Einheit
begriffen, d. h. in einem Bewußtsein vereinigt gedacht, stellen dem-
nach den Umfang und Inhalt alles dessen dar, was bei den ein-
zelnen Philosophen als bewußt anzusetzen ist, sie beantworten
demnach auch die Einzelfragen, die die Problemgeschichte offen-
lassen mußte. Zu der einen Koordinate der problemgeschichtlichen
Entwicklung ergibt sich nun in dem System des jeweiligen Philo-
sophen die zweite, an der der Bewußtheitsgrad des einzelnen Prob-
1) Ich wiederhole, daß ich unter System lediglich den Zusammenhang ver-
stehe, dessen Teile durch das Ganze bestimmt sind. Ich meine daher, daß jedes
Problem Abgrenzung und Bestimmung nur von der Idee eines solchen Systems
erhalten kann, ein solches also immer anzusetzen ist, sofern das Problem in sich
bestimmt ist.
446 Julius-Stenzel,
lems einen festen Maßstab erhält. Zusammengefaßt entsprechen
diesen Systemen als der Summe dessen, was den einzelnen Philo-
sophen gültig war, ebensoviele Formen von Bewußtheit; denn das
ist die Eigenschaft alles Psychischen, daß jeder Teilinhalt jeden
anderen modifiziert1). Was so zusammengefaßt der systematische
Bewußseinsinhalt eines Philosophen ist, das allein möchte ich seine
philosophische Individualität im Sinne der Philosophiegescbichte
nennen.
IV.
Der Sinn dieser neuen, auf historische Konkretion eingestellten
Aufgabe der Philosophiegeschichte wird im Einzelnen deutlich
werden, wenn ihre doppelte Leistung, die historische und philo-
sophische, nun beschrieben werden wird. Daß die Philosophiege-
schichte ihren historischen Gegenstand erst damit erhält, ergab
bereits die Abgrenzung des Anteils, den die Problemgeschichte an
dessen Erzeugung hat. Kraft der problemgeschichtlichen Komponente,
ohne die Philosophiegeschichte nicht denkbar ist, wird der Ge-
genstand der Philosophiegeschichte überhaupt abgegrenzt aus der
Fülle des Historischen als philosophischer; kraft der anderen Wen-
dung auf die historische Individualität im Sinne der Einzigkeit
erhält die Philosophie g eschichte ihren Gegenstand als historisch
1) Ohne' in eine speziellere Methodik der Philosophiegeschichte, die den
Rahmen dieser Abhandlung überschreiten würde, einzutreten, sei ein Punkt kurz
berührt. Es liegt nahe, die ganz verschiedene Wirksamkeit und bewußtseins-
mäßige Wirklichkeit gewisser Probleme und Konsequenzen auf Werte zurückzu-
führen, die in der individuellen Persönlichkeit des Philosophen, an den oder jenen
Bereichen der Kultur haften (s. Kynast, Intuitive Erkenntnis, Breslau 1919, 14 ff.).
So sicher diese Betrachtungsweise die Einseitigkeiten der Systeme vielleicht schlag-
lichtartig zu erhellen geeignet ist, so sicher ist sie doch erst möglich, nachdem durch
eine systematische Besinnung das Vorwiegen der einen oder anderen Gedanken-
reihe erkannt und durch das Messen an dem Maßstab des beurteilenden Subjekts
adäquat beschrieben wurde. Diesen Sachverhalt durch die Beziehung auf eine
andere Wertverteilung zu erklären, ist entweder nur eine Wiederholung des durch
die Einstellung auf das individuelle System bereits Klargelegten, insofern man jede
der Komponenten durch einen spezifischen Wert begleitet sein läßt, oder man
muß für die Störung des Gleichgewichts einen besonderen, überwiegenden Wert
ansetzen. Dadurch hat man grundsätzlich die Möglichkeit einer philosophischen,
d. h. systematischen Erklärung aufgegeben, und gelangt zu einer ganz anderen
Betrachtungsweise, einer „Psychologie der Weltanschaungen", wie sie als eine
selbständige Aufgabe neben der hier geschilderten denkbar und notwendig ist
(vgl. das so betitelte Werk von Jaspers, Berlin, Springer 1919).
Zum Problem der Philosophiegeschichte. 447
gültigen. Sei es die einzelne Lehre, die den Beitrag zur Geschichte
eines Problems darstellt, sei es das Ganze der jeweiligen Philo-
sophie selbst, aus dem heraus dieser Beitrag allein bestimmbar ist,
beides muß auf Grund einer derartigen Betrachtung festgelegt
werden, muß aus der fließenden Bewegung der Problemgeschichte
heraus in seiner spezifischen Bewußtheit fixiert werden. Nicht als
ob nun die Problemgeschichte explizit diese andere Einstellung an
jedem Punkte ihrer spezifischen Arbeit, bei jeder Stufe ihrer Ent-
wicklung vollziehen müßte, aber implizit muß diese die Eigenart
jeder einzelnen Problemlösung erst feststellende Idee des indivi-
duellen Systems gegenwärtig sein ; entweder muß eine so gerichtete
Betrachtung vorausgegangen sein oder sie kann an der als histo-
risch vorausgesetzten Aussage jederzeit bestätigend angestellt
werden. So erst kann die Problemgeschichte ihrem Entwicklungs-
begriff den Charakter der Geschichte geben, wenn die einzelnen
Stufen, nicht zu unbestimmten Vorstufen degradiert l), den Doppel-
sinn historischer Entwicklung erfüllen sollen, zugleich Eigenwert
als Realitäten zu haben und auf einen die Entwicklung bestimmenden
Wert, der im systematischen Wahrheitsbegriff beschlossen ist, be-
zogen zu werden. Diese Wertbeziehung bedeutet aber, solange
die Stufen historischer Einzigartigkeit begriffen werden, keine
Ableitung der Geschichte aus einem hinter ihr liegenden meta-
physischen Prinzip, das in dialektischer Entwicklung unmittelbar
zu erfassen wäre.
Die historische Umstellung der systematischen, an den Prob-
lemen orientierten Betrachtung auf die Erkenntnis des jeweiligen
Systems genügt zwar der Idee nach sich selbst und kann für ihre
Methode von außen keine Stütze erhalten, um so weniger, je
1) Anders die Marburger : Piaton und Kant haben nach ihnen tatsächlich im
tiefsten Sinne nur das geraeint, was heute im Sinne der Marburger Schule kri-
tische Philosophie ist. Daher lernt man kritische Philosophie aus diesen beiden
Philosophen am besten kennen, und höchstens kann man zugeben, daß dunkel und
verworren die anderen Philosophen alle sich um denselben Gedanken herumbe-
wegen, nur immer klarer den wahren Sinn der Philosophie durch ihren Schatten
begrenzend. Nicht die Hegeische Thesis und Antithesis, die beide berechtigt sind
und zusammen erst die nächste Stufe der Klarheit ausbilden helfen, sondern rätsel-
hafte Mißverständnisse, auf individueller Unfähigkeit eines Philosophen beruhend,
verdunkeln auf lange Zeit das Licht, das bereits hell aufgeleuchtet haben kann,
bis die eine, wahre Methode, endlich wieder entdeckt, die Kontinuität der Ent-
wicklung nach der Art eines zu Zeiten unterirdisch fließenden Stromes wieder-
herstellt.
448 Julius S t e n z e 1 ,
stärker in der zu erfassenden Philosophie der Systemgedanke zur
Auswirkung gekommen ist. Sie muß sich jedoch nach einer Hilfe
umsehen in Fällen, wo das zum Nach- und Mitphilosophieren nötige
Material entweder fragmentarisch überliefert ist oder die philoso-
phischen, auf ihren Sinn zu deutenden Aussagen in einer unsyste-
matischen Form vorliegen. Naheliegende Beispiele bietet für beides
die Philosophie des Altertums, doch ist jede sprachliche Einklei-
dung mit unsystematischen Elementen notwendig behaftet, und so
wenig der Gedanke, die philosophischen Begriffe durch feste Zeichen
zu ersetzen, je Aussicht auf Verwirklichung hat, so zeigt doch
diese Absicht am besten, wovon die Rede ist : von allem dem, was
in jedem philosophischen Werk eben nicht eindeutiges Begriffs-
zeichen ist. Die Philosophie als. der Inbegriff des „Geistes", des
Kulturbewußtseins steht daher nach Form und Gehalt mit eben
dieser Kultur, wie sie in Sprache, Kunst, Sitte, Religion, Recht u. s. w.
sich objektiviert hat, in enger Beziehung; aus der lebendigen An-
schauung dieser Kultur kann daher dem Bestreben, sich des Kul-
turbewußtseins einer Zeit zu bemächtigten, eine wesentliche
Klärung und Bestätigung erwachsen. Neben die für die Philo-
sophiegeschichte wichtigste Beziehung zwischen den Philosophen,
neben den Anteil an - der Klärung der Probleme tritt eine äußere
Abhängigkeit, die in der Terminologie sich offenbart *) ; aber durch
die Beziehung der Philosophie zu den Einzelwissenschaften ist auch
deren Terminologie von Einfluß, um so mehr, je enger noch das
Band zwischen den Wissenschaften und der Philosophie ist 2). Frei-
lich bleibt der an dem philosophischen Sinn sich orientierenden
Philosophie auch hier das letzte Wort, da über die jederzeit mög-
lichen, mit dem Gange der begrifflichen Entwicklung unvermeid-
lichen Bedeutungsänderungen und -Differenzierungen doch nur die
systematische Besinnung Aufschluß geben kann, wie sie oben als
das Wesen aller Deutung und Interpretation umrissen wurde
(S. 432). Tiefer in den Gehalt der Philosopheme greift die unmittel-
bare Wirkung der Sprache selbst ein; in den Worten liegen eine
Menge von Bedeutungsverbindxmgen, oft höchst komplizierten
Sinneseinheiten vor, deren Einwirkung ein Philosoph um so stärker
1) Wichtige Einstellungen werden durch einen richtig verstandenen Terminus
erleichtert; vgl. Riehl, Der philosophische Kritizismus, 2. Aufl., S. 15 über den
Sinn „möglicher" Erfahrung.
2) Für die griechische Philosophie ist die Sprache von Mathematik und
Medizin von größter Bedeutung gewesen.
Zum Problem der Philosophiegeschichte. 449
erfährt, je mehr er aus der eigenen Sprache sich erst eine Termi-
nologie aufzubauen sucht, wie es z. B. bei Piaton der Fall ist.
Durch das Medium der Sprache fließt der Charakter eines Volkes
am unmittelbarsten in die Bildung der philosophischen Begriffe
ein, und das Interesse, das die Philosophen von Heraklit an bis
Leibniz und Fichte der Sprache entgegenbrachten, ist danach
wohlbegründet. Mindestens für die alte Philosophie ist daher die
Hilfe der Philologie auch bei der Deutung des philosophischen
Sinnes — von den wesentlichsten Vorarbeiten ganz abgesehen —
nicht zu entbehren ; zeigt diese die verschiedenen Kulturgebiete in
ihrem Zusammenhange, in ihrer ersten Bewußtseinsstufe in Sprache
und Mythus, Kunst und Rhetorik, so liegt gerade bei der hier zu
Grunde gelegten Auffassung der Philosophie deren historische Arbeit
in einer geradlinigen Fortsetzung philologischer Methode, wie dies
ja schon die oben versuchte Analyse der Interpretation andeutete.
Philosophiegeschichte gerät dadurch, in ein eigentümliches Ver-
hältnis zur Kulturgeschichte, das wenigstens an einem Punkte noch
berührt sei, der die Selbständigkeit der philosophiegeschichtlichen
Aufgabe gegenüber der Kulturgeschichte deutlich zum Ausdruck
bringt. Alle Kulturgeschichte stützt sich in erster Linie auf die
irgendwie erhaltenen Erzeugnisse der Kultur, auf die Literatur
und bildende Kunst, auf alle Beste des früheren Lebens. Wir
können diese selbst zum Teil noch betrachten, sie auf uns wirken
lassen, so wie sie — scheinbar — auf die Menschen früherer Zeiten
gewirkt haben. Kulturgeschichte gewinnt damit eine gewisse Ob-
jektivität gegenüber der nur erschlossenen Bewußtheit früherer
Philosophen. Tatsächlich ist der Abstand dessen, was wir und
was frühere Völker als Wirkung dieser objektiven Zeugnisse
empfunden haben, meist viel größer, als man gemeinhin annimmt;
das führt dann zu völlig falschen Perspektiven, unter denen ein
ganz verzerrtes Bild des früheren Kulturbewußtseins entsteht. So
ist z. B. die klassizistische, sentimentale Auffassung des Griechen-
tums entstanden; man hat ohne weiteres den Eindruck, den uns
heute, wo sich Kunst und Religion völlig getrennt haben, grie-
chische Kunstwerke erwecken, dem gleichgesetzt, den die Griechen
damals selber hatten; jene Einheit von Kunst und Religion kann
jedenfalls ein Grund für die Tatsache sein, daß die Griechen Kunst
nur in einem ganz bedingten Sinne überhaupt als Selbstwert
empfanden. Der Niederschlag dieser Anschauungen ist die grie-
chische Kunstphilosophie, z.B. die eigentümlichen Schwer-
Kantstüdicn. XXVI. 29
450 Julius Stenzel,
punktsverschiebungen und Motivdurchkreuzungen, die wir in der
platonischen Philosophie da, wo von Schönheit gesprochen wird,
antreffen; dies zu verstehen, wird immer nicht nur für die Philo-
sophie, sondern für das gesamte Kulturbewußtsein der Griechen
eine wichtige Aufgabe sein.
Aus dieser flüchtigen Andeutung soll nur soviel erhellen, daß
in dem Wechselverhältnis zwischen Kultur- und Philosophiege-
schichte diese nicht nur nehmend ist ; sie ist gebend auch hier ge-
rade durch ihren systematischen Charakter, wie er in diesem
letzten Teil auch für die historische Aufgabe der Philosophie in
besonderer Methode neben der Problemgeschichte entwickelt wurde.
Das Verhältnis beider Methoden zu einander und zum Systemge-
danken überhaupt, damit die philosophische Bedeutung auch jener
„historischen" Philosophiegeschichte soll nun betrachtet werden.
V.
Es kann so scheinen, als sollte mit dem Begriff des indivi--
duellen Systems eine neue Art der Betrachtung empfohlen werden,
die, insofern sie auf dem Grundbegriff des Systematischen, der
Einheit der Probleme beruht, philosophisch — und doch nicht
Problemgeschichte — ist. Dagegen wollte die Herausstellung dieses
Zuges der philosophiehistorischen Forschung nichts anderes be-
deuten als die gedankliche Isolierung einer Einstellung, die neben
der problemhistorischen im engeren Sinne mindestens implicite über-
all gegenwärtig ist, wo Philosophiegeschichte als Wissenschaft,
gleichviel ob von philosophischem oder philologischem Ausgangs-
punkt geleistet wurde. Beide Einstellungen, die systemgeschicht-
liche und die probkmgeschichtliche, bedingen sich gegenseitig, sind
ohne einander unmöglich und ergeben zusammen wie Zettel und
Einschlag erst Philosophiegeschichte als eine Einheit, die zwei
Gattungsbegriffen, dem philosophischen und historischen genügen
kann. Da die Problemgeschichte das tiqoxeqov (pvösi hierbei ist,
insofern ohne sie überhaupt von keinem philosophischen Gegen-
stand gesprochen werden kann, kann man — das ist Sache der
Terminologie — sie im weiteren Sinne alle Philosophiegeschichte
umspannen lassen. Ich ziehe es vor, Problemgeschichte in dem
strengeren Sinne beizubehalten als die Einstellung, die sie als
neues der bloßen Historie gegenüber einführte. Problemgeschichte
in dieser grundsätzlichen Isolierung, d. h. auf die Probleme ein-
gestellt, muß die verschiedenen Stufen irgendwie fixiert erhalten,
sie muß wissen, von welchen historischen Formen des Problems sie
Zum Problem der Philosoplriegeschichte. 451
redet, wenn sie seine Geschichte schreibt; jene andere Erforschung
der Bewußtheit individueller Systeme aber setzt umgekehrt die
gedanklichen Verbindungen voraus, die von der heutigen Problem-
form zu der des früheren Philosophen führen. Beide Einstellungen
beruhen auf dem System — nicht in dem überwundenen Sinne
einer erfüllten Einheit des Wissens, sondern des Fragens, des
Wissens um den Umfang und Inhalt dessen, wonach vernünftig
gefragt werden kann und muß — woraus sich auch erst der
Sinn eines Einzelproblems erfassen läßt, ein Systembegriff, wie
er mit dem der Philosophie gegeben und mit ihr unlösbar
verknüpft ist. Denselben Systembegriff müssen wir, wenn wir
historisch denken, auch jedem wahren Philosophen der Vergangen-
heit zubilligen, und die Summe des ihm bewußten geistigen Le-
bens als eine Einheit zu begreifen suchen. Nur als Wahrheit
ist die Wirklichkeit geistigen Lebens zu erfassen, und nur von
Wahrem können wir lernen. Philosophiegeschichte hat nicht zu
zeigen, daß unsere Philosophie wohl auch falsch ist, weil die frü-
heren es waren, sondern umgekehrt, daß wir nach einer gültigen
Ordnung der Probleme suchen dürfen und müssen, weil in der Ge-
schichte dieses Streben die belebende Triebkraft alles Denkens war,
weil die Wahrheit im sich gegenseitig bedingenden Zusammenhang der
Probleme an jedem großen System sich von einer neuen Seite zeigt.
Nicht weil dieses oder jenes Stück zwischen anderen „falschen" iso-
liert zufällig die Angleichung an ein modernes Philosophem zu ge-
statten scheint, deshalb lohnt sich sein Studium, sondern weil jenes
frühere System als Einheit verstanden die Probleme, die auch unser
Denken bewegen, in einer eigenartigen, uns neuen Beleuchtung und
Abschattung zeigt und so unseren Begriff auch vom einzelnen Pro-
blem in problemhistorischer Betrachtung zu klären und zu be-
reichern gestattet1).
1) Dies scheint mir der entscheidende Gesichtspunkt für den Wert etwa der
Marburger Piatondeutung zu sein: nicht weil sie an Piaton ihren Erkenntnis-
begriff heranbringt, sondern weil sie die ihm ohne Zweifel entsprechenden Züge
Piatons isoliert, ist ihre Leistung, so Bedeutendes sie für die historische Er-
forschung der griechischen Philosophie vollbracht hat, der Idee nach unhistorisch.
Das erkenntnistheoretische Motiv ist stark in Piaton, aber es ist ausbalanziert
mit eigenartigen, durch neue Theorien wieder neu zu apperzipierenden Bezügen,
sodaß ein unendlich reicherer philosophischer Inhalt aus Piaton zu gewinnen ist.
Als Geschichte des Erkenntnisproblems gefaßt aber ist die Marburger Forschung
ein starker Beweis für die oben stets betonte historische Bedeutung der Problem-
geschichte.
29*
452 Julius Stenzel,
Die Fülle des Gedachten, die in der Geschichte vorliegt, liegt
unserem Denken zu Grunde, ob wir es wissen oder nicht. Be-
greifen wir diese Geschichte, so begreifen wir unser Denken, bringen
wir andererseits die in unserem Denken ruhenden Probleme, den
Inhalt unserer Vernunft, uns in systematischer Einheit zu Be-
wußtsein, so schaffen wir uns umgekehrt die Organe, das Denken
der früheren, das unser Bewußtsein bestimmen half, in den inneren,
sachlichen Beziehungen zu dem unseren zu verstehen. Jeder Fort-
schritt in differenzierender Erfassung auf dem einen Gebiete be-
deutet einen gleichen auf dem anderen. Darum ist die Arbeit der
Philosophiegeschichte so wenig jemals abgeschlossen wie die der
Philosophie. Jede Zeit muß die Fülle des Geschichtlichen in ihre
Sprache, in diejenigen Begriffe „übersetzen", die ihrer eigenen
systematischen Differenzierung entsprechen; aber der alte „Text"
wird selbst immer wieder neu, und bisher verborgene Seiten zieht
die neue Sprache ans Licht, die der früheren zu erfassen und aus-
zudrücken nicht möglich war ; leicht kann die Übertragung in neue
Gedanken den Zusammenhang lückenloser darstellen, Widersprüche
verschwinden lassen, das Einzelne leichter zum Ganzen fügen.
Freilich ist auch der umgekehrte Fall möglich, daß das Verständ-
nis für einen Philosophen erschwert ist, daß das wissenschaftliche
Bewußtsein einer Zeit kein Verhältnis zu ihm finden kann; die
Gründe für beide Erscheinungen zu verstehen, bedeutet für jede
Zeit ein wichtiges Stück wissenschaftlicher Selbsterkenntnis.
Diese enge Beziehung der Philosophie zu ihrer Geschichte be-
deutet aber durchaus keinen unsystematischen Relativismus. Ge-
rade durch die Weitung des Horizontes, der nun die Geschichte
des Geistes mit in das gegenwärtige Bewußtsein aufzunehmen
trachtet, wird die zeitliche Beschränktheit der Gesichtspunkte, der
jede Epoche unterworfen ist, überwunden. In jeder Zeit treten
gewisse Seiten möglichen Kulturbewußtseins in den Vordergrund
und modifizieren so das Gesamtbild geistiger Inhalte. So war es
immer, und die verschiedenen Gleichgewichtslagen der Probleme,
die in Thesis, Antithesis und Synthesis in viel reicherer Wechsel-
wirkung stehen, als daß eine Dialektik im Sinne Hegels die Ent-
wicklung je in ein Gesetz fassen könnte, befähigen das rückschau-
ende historische Bewußtsein, sich über die Enge seiner Zeit zu
erheben und den Gedanken eines Ganzen der Philosophie zu fassen,
ein Versuch, der aus dem bloßen Gegenwartsbewußtsein heraus
kaum gelingen kann. Mögen auch die großen Schöpfer ihre Arbeit
Zum Problem der Philosophiegeschichte. 453
stets mit der Geste beginnen, die Bürde des Geschichtlichen bei
ihrem systematischen Geschäft abzuschütteln — die Philosophie ist
doch nicht zu einem ewigen, ihren Fortschritt vereitelnden von
Vornanfangen verurteilt, denn gerade in der Selbstbesinnung des
wirklich schöpferischen Philosophen kommt die Summe des Ge-
schichtlichen, dessen Ergebnis er ist, zum reinsten Ausdruck. So
ist das Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte wesentlich
anders als das der anderen Wissenschaften, z. B. der Mathematik
zu der ihren. —
Gerade wenn die Philosophie das Historische methodisch als
Historisches begreift, ist sie vor jedem Historismus gesichert, denn
das Historische ist nichts, das irgendwie fertig wäre, es besteht
nur für das systematische Bewußtsein; wenn sie andererseits das
Systematische richtig versteht, nicht als bald verdorrendes, dem
Boden der Geschichte entfremdetes Gewächs, sondern mit seinen
historischen Wurzeln, wird sie, anstatt nur ihr eigenes Echo aus
der Geschichte zu hören, das Systematische im Historischen rei-
nigen und bereichern. Dieses wechselseitige Verhältnis von System
und Geschichte lebendig zu erhalten, ist die philosophische Aufgabe
der Philosophiegeschichte. In dem hier beschriebenen Sinne ist sie
eine methodisch abzugrenzende philosophische Disziplin neben der
Problemgeschichte und eine historische neben der Philologie.
Die Verwechslungen von „Beschreibungs-
mittel" und „Beschreibungsobjekt" in der
Einsteinschen speziellen und allgemeinen
Relativitätstheorie.
Von Oskar Kraus, Professor an der Deutschen Universität Prag.
Motto: Denn das Koordinatensystem ist nur Beschreibungs-
mittel und hat nichts zu tun mit den zu beschrei-
benden Gegenständen.
Einstein, Naturwissenschaften 1920, Heft 51.
1. Es gibt Philosophen die den Wahrheitsgehalt einer philo-
sophischen Lehre, z. ß. jener Kants, darnach einschätzen, ob sie
fähig ist einen tragfähigen Unterbau für die Relativitätstheorie
Einsteins abzugeben; so erhaben dünkt sie ihnen über jeden Zweifel
und von so umwälzender erkenntnis theoretischer Bedeutung.
Demgegenüber erkläre ich es als die Pflicht jeder echten und
darum kritischen Philosophie zu prüfen, ob die neu verkündeten
umwälzenden Thesen vor den apriorischen Vernunfterkenntnissen,
vor den verites de raison stand zu halten vermögen, ob die
neue Lehre frei ist von logischen Gebrechen und ob, was in ihr
etwa richtig sein mag, zu so unerhörten Folgerungen zwingt?
In anderen Abhandlungen, so namentlich in meinem Vortrage
„Fiktion und Hypothese in der Einsteinschen Relativitätstheorie"
(Annalen der Philosophie IL Bd., 3. (Sonder)heft) habe ich bereits
Beiträge zur negativen Beantwortung aller dieser Fragen geliefert.
Die folgenden Untersuchungen — obgleich sie unabhängig von
jener Abhandlung verständlich sein sollen — sind dazu bestimmt,
das dort Gesagte zu ergänzen, indem sie den eingehenden Nach-
weis einer Reihe von Fehlschlüssen der neuen Theorie erbringen,
die auf der fortlaufenden Verwechslung von Beschreibungsobjekt
und Beschreibungsmittel und auf ähnlichen Verwirrungen beruhen.
Oskar Kraus, Verwechslungen von Beschreibungsmittel usw. 455
Das Ergebnis ist, daß weder unsere Zeit- noch unsere Raumaxiome
im mindesten verändert werden müssen, daß weder die „Rela-
tivität der Gleichzeitigkeit" noch die „Krümmung des Raumes"
irgend einen Anhaltspunkt in dem empirischem Tatbestande vor-
finden, daß die neue Theorie schlechthin untauglich ist, um einen
tragfähigen Unterbau für irgend eine der von ihr aufgestellten
philosophischen Lehren abzugeben und daß besten Falles
gewissen ihrer Teile ein — vielleicht nicht unbedeutender —
heuristischer Wert zukommen mag, über den die Erfahrung
entscheiden wird1).
2. Einstein geht von einem „Dilemma", einem Widerspruch
aus, der zwischen zwei Sätzen bestehe. Den einen dieser Sätze
nennt er das „klassische Relativitätsprinzip", den anderen das
„Ausbreitungsgesetz des Lichtes im Vacuum". Das klassische
Relativitätsprinzip wird von verschiedenen Autoren verschieden
formuliert; auch bei Einstein selbst finden sich verschiedene
Fassungen. Die eine knüpft an Newton an, der es in den Prin-
zipien der Naturphilosophie als Zusatz V zu den Bewegungs-
gesetzen ausgesprochen hat. Darnach treten a) innerhalb eines
Systems von Körpern, welches mit derselben konstanten Ge-
schwindigkeit geradlinig durch den Raum wandert, infolge
dieser Bewegung keine Kraftwirkungen auf die Körper
dieses Systems auf. Es folgt weiter, b) daß die Kraftwirkungen,
welche die Körper dieses Systems auf einander ausüben nnd die
sich in Beschleunigungen kundgeben, unabhängig sind von der Ge-
schwindigkeit, die dem System als Ganzem zukommt2). Daraus
ergibt sich c), daß jene gleichförmige Bewegung des ganzen Sy-
stems aus den Bewegungs - Vorgängen innerhalb dieses Körper-
spstems nicht erschlossen werden kann. Der sub b) ausgesprochene
Satz ist konform dem von Newton ausgesprochenem Gesetze —
das später das klassische Relativitätsprinzip genannt wurde. Wir
wollen es das Newtonsche Relativitätsgesetz nennen. In
1) Ich verweise zugleich auf die gegnerischen bzw. kritischen Äußerungen
von Physikern wie Lorentz, Gehrcke (insb. Kantstudien XIX) und öfter, Lenard
über Relativitätsprinzip, Äther, Gravitation, Leipzig 1921, Abraham, W. Wien,
Wiechert, Mie, Weinstein, Dingler, Holst, Jakob, Geißler, Isencrahe, Glaser,
Fricke, Reuterdahl u. A.
2) Vgl. Einstein, Gemeinverständl. Darstellung § 5, Freundlich, Die Grund-
lagen der Einsteinschen Gravitationstheorie. Mit einem Vorwort von Albert Ein-
stein, S. 4 u. 5. Born, Die Relativitätstheorie Einsteins S. 50 u. v. a.
456 Oskar Krane,
der Literatur werden alle drei Formulierungen gleicherweise
Relativitätsprinzip geheißen. Es handelt sich hierbei um Natur-
gesetze, d. h. wir sollen durch diese Sätze etwas erfahren über ein
ausnahmsloses Geschehen in der Natur unter gewissen Umständen.
Das sog. Ausbreitungsgesetz des Lichtes besagt, daß das
Licht sich im und relativ zum Äther mit der konstanten Ge-
schwindigkeit c = 300000 km/See. fortpflanze, wobei die Bewe-
gung der Lichtquelle ohne Einfluß sei auf die Lichtgeschwindig-
keit. Der Äther wird als „stillstehend" angenommen und die
Körper durchdringen ihn frei und lassen ihn bei ihrer Bewegung
vollkommen in Ruhe, er nimmt keinen Anteil an ihren Bewegungen.
Das Licht, das von einem solchen Körper system ausstrahlt, gehört
demnach diesem Körpersystem nicht an. So nach der Lorentzschen
Theorie des „ruhenden Äthers u.
Das Relativitätsgesetz bezieht sich nun auf solche Körper-
gesamtheiten, denen eine gemeinschaftliche Translationsgeschwindig-
keit zukommt. Bestehen zwei Systeme, von denen jedes eine,
von der des anderen verschiedene und im Ganzen unabhängige,
gemeinschaftliche Translationsgeschwindigkeit besitzt, so bezieht
sich das Relativitätsgesetz selbstverständlich nur auf die Bewe-
gungen innerhalb jedes dieser beiden Systeme. Das Erdsystem,
(sofern es während einer genügend kleinen Zeit als geradlinig
fortschreitend aufgefaßt werden kann) und das Äthersystem sind
zwei solche Systeme. Eine von der Erde ausgehende Lichtaus-
breitung ist ein Vorgang, der einem anderen Systeme angehört
als jenem, von dem die Lichtquelle getragen wird. Die beiden
Systeme üben jedoch gewisse Wirkungen aufeinander aus: man
denke an das Licht, von dem Goethe sagt: „von Körpern
strömts , die Körper macht es schön , ein Körper hemmts auf
seinem Gange". . . .
Kann nun auch aus den Vorgängen innerhalb eines jeden
der beiden Systeme, gemäß der obigen Folgerung c) aus dem
Relativitätsgesetz eine Translation nicht erschlossen werden, so
doch aus ihrer Wechselwirkung. Das Michelsonexperiment hätte
durch eine Umlagerung der Interferenzstreifen die Bewegung der
Erde relativ zum Äther erkennen lassen sollen. Sie blieb aus;
so, daß man daraus schließen müßte: entweder gehört der Äther
zum selben Systeme, wie die Erde und die auf ihr liegende Licht-
quelle, der Äther wird also, wenigstens in gewisser Ausdehnung
von der Erde mitgenommen, oder die Wirkung der irdischen
Verwechslungen von Beschreibimgsrnittel und Beschreibungsobjekt usw. 457
Lichtquelle auf den Äther ist derart, daß sie die Fortschreitung
des Lichtes in ihrer Geschwindigkeit so beeinflußt, wie es* etwa
nach einer mechanischen Emissionstheorie der Fall wäre: jedes-
falls ergab das Experiment, daß die Erdgeschwindigkeit in die
Lichtgeschwindigkeit einzugehen scheint! (Vgl. hierzu „Fiktion nnd
Hypothese" Anm. 2 zu S. 361.)
Um seine Theorie zu retten, nahm Lorentz an, daß der Arm
des Apparates in der Richtung der Erdbewegung sich um einen
entsprechenden Betrag (Lorentzkontraktion) verkürze und so der
längere Licht weg kompensiert werde. Dadurch wird die Zeit, die
das Licht bei verlängertem Wege braucht, der Zeit im Ruhe-
zustande angeglichen. — Seine Theorie hatte Lorentz gerettet,
aber die ganze Newtonsche Mechanik hierbei verloren : Nach wie
vor soll es sich um zwei Systeme handeln, denn der Äther soll
von der Erde nicht mitgenommen werden; aber die Licht-
geschwindigkeit soll auch nicht von der Geschwindigkeit der Erde,
die die Lichtquelle trägt, beeinflußt sein. Die Erdgeschwindigkeit
soll sich zur Lichtgeschwindigkeit auf keine Weise hinzufügen. —
Die Erklärung durch das Relativitätsgesetz bleibt ausgeschlossen,
weil es sich nicht um ein System handelt, aber auch eine sonstige
Erklärung nach Newtonschen Gesetzen ist versagt — ja die ganze
Newtonsche Mechanik ist gestürzt — denn mit der Annahme, daß
der Apparat sich bei gleichförmiger geradliniger Bewegung in
der Längsrichtung verkürze, verband Lorentz sogleich das allge-
meine Naturgesetz, bei jeglicher derartiger Bewegung eines
Körpers, Atoms, Elektrons finde die Lorentzkontraktion statt.
Eine „neue Mechanik" hätte an die Stelle der Newtonschen zu
treten.
Auch das Relativitätsgesetz gilt daher nicht mehr; die Kon-
traktion erzeugt lediglich den Schein, als ob es gälte. Die Ur-
sache der Kontraktion selbst lag freilich so im Dunkeln, daß
Minkowski sie als ein „Geschenk von oben" bezeichnete. —
Methodisch bedenklich erscheint vielen hierbei, daß die durch
mehr als zwei Jahrhunderte auf unzählige Weise glänzend be-
stätigte mechanische Theorie Newtons aufgegeben werden soll,
um der Annahme Platz zu machen, die ganze Natur sei darauf
angelegt, den Interferenzapparat in so raffinierter Weise zu ver-
fälschen, daß der Schein der Gültigkeit der Newtonschen
Theorie ganz besonders dort erweckt wird, wo Lorentz ihre Un-
gültigkeit entdeckt haben soll. — Denn daran ist kein Zweifel:
458 Oskar Kraus,
mögen die Abweichungen noch so gering sein, hat Lorentz Recht,
so ist das Newtonsche Gebäude erledigt, und die kleinste Ab-
weichung in den Prinzipien nötigt zu vollständigem Umbau aller
Folgerungen.
Wie immer man über die Wahrscheinlichkeit, ja über die
Möglichkeit dieser Hypothese denkt, sie ist jedenfalls der Versuch
einer ursächlichen Erklärung des Michelsonexperimentes.
3. Man findet nun nahezu allgemein die Meinung vor, Einstein
habe durch den Umsturz unserer Zeitauffassung den Michelson-
versuch auf andere Weise aber auch ursächlich erklärt.
Einstein hat jedoch — was ich insbesondere gegen Laue be-
merke — in der Debatte am 8. Januar 1921 in Prag erklärt,
daß seine Theorie „phänomenologisch" sei und einen Verzicht auf
„Kausalerklärung" in sich schließe. In der Tat könnte eine ur-
sächliche Erklärung des Michelsonexperimentes durch eine neue
Theorie über die Zeit nur auf die Weise erfolgen, daß man be-
hauptete, analog wie nach Lorentz eine Längenkontraktion des
in der Bewegungsrichtung der Erde gelegenen Interferometerarmes,
so träte nach Einstein an Stelle dieser Verkürzung eine Dehnung
des reellen Zeitablaufes in diesem Arme ein, die quantitativ der
Lorentzkontraktion entspräche. Ich sage „Zeit Verlaufes" nicht
etwa des „Uhrenganges", denn beim Michelsonexperiment kamen
keine Uhren in Verwendung, die gestatten die Zeit an Uhren-
zeigern abzulesen. Ich sage ferner, daß selbst wenn man eine
solche Hypothese aufstellen wollte, hiermit die Newtonsche Me-
chanik und das Relativitätsgesetz im besondern ebenso gestürzt
wäre, wie nach Lorentz' Kontraktionslehre. — Das Michelson-
experiment würde auch hier nur den Schein erwecken, als ob
das Relativitätsgesetz und die Newtonsche Mechanik gewahrt wäre.
Das zeitliche Moment an den Körpern wäre es, das sich nun in
den Dienst dieser Täuschung stellte. Es könnte keine Rede
davon sein, daß Einstein durch „systematisches Festhalten
an beiden Gesetzen"1) (Relativitätsgesetz und Gesetz der
konstanten Lichtgeschwindigkeit) jenes Dilemma beseitigt habe. —
Doch erübrigen sich weitere Erörterungen über derartige Hypo-
thesen, nicht nur wegen der ausdrücklichen Erklärung Einsteins,
auf Kausalerklärung zu verzichten, sondern vor allem wegen des
Inhaltes seiner Theorie, die in nichts anderem, als in einer eigen-
1) „Gemeinverständl. Darst." § 7, S. 13.
Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 459
tümlichen Verknüpfung von zeitlichen mit räumlichen
Koordinaten (Bestimmungszahlen) besteht.
4. Ich behaupte nun, daß Einstein von einem ganz anderen
Dilemma ausgeht als dem eben behandelten zwischen Relativitäts-
gesetz und Konstanzgesetz, daß er jedoch dieses quid pro quo
nicht bemerkt. Seine Theorie beginnt mit einer Verwechslung.
Dies ergibt sich aus Folgendem: Bei der quantitativen For-
mulierung der Bewegungsgesetze durch Gleichungen bedient man
sich gewisser Gedankengebilde, die man Koordinatensysteme nennt,
als Bezugssysteme und zur analytisch geometrischen Darstellung.
Neben das Newtonsche Relativitätsgesetz — wonach die Größe
der Beschleunigungen, herbeigeführt durch die relativen
Kraftwirkungen der Körper, die einem gleichförmig geradlinig
transferierten Körpersystem angehören, invariant ist gegenüber
dieser Bewegung d. h. unabhängig von der gemeinsamen Trans-
lation dieses Systems (oben Satz a) und b)) — tritt nun ein geo-
metrisch-mathematisches Hilfsgesetz. „Zur Beschrei-
bung der mechanischen Vorgänge" sagt Freundlich a. a. 0. S. 4
„sind alle Bezugssysteme gleichwertig, die geradlinig, gleich-
förmig gegeneinander bewegt sind". — Aber so schreibt neuestens
Einstein (Naturw. 1920) „das Koordinatensystem ist
nur Beschreibungsmittel und hat nichts zu tun
mit den zu beschreibenden Gegenständen".
Daß also gewisse Beschreibungsmittel äquivalent sind für die
Beschreibung der Naturvorgänge, oder daß die Vorgänge und Ge-
setze der Mechanik invariant sind gegen sogenannte Galileitrans-
formationen (gegen gewisse Veränderungen der „Beschreibungs-
mittel") ist zweifellos kein Naturgesetz, sondern ein mathematisches
Gesetz, und zwar ein bloßes mathematisches Hilfsgesetz. Es ist
daher mit dem Newtonschen Relativitätsgesetz nicht zu vermengen,
wird aber meistens und auch von Einstein damit verwechselt. Es
belehrt nicht über die Vorgänge in der Natur, die wir be-
schreibenwollen, sondern über die Äquivalenz der Beschreibungs-
mittel.
Es ist daher auch terminologisch von dem Newtonschen
Relativitätsgesetz als Koordinaten-Äquivalenz-
prinzip zu sondern, um Verwirrungen vorzubeugen. Ich frage
Einstein und seine Anhänger, ob sie die Verschiedenheit des
Newtonschen Relativitätsgesetzes und des Transformations-Äqui-
valenzprinzipes, wie ich sie hier kennzeichne, zugeben oder nicht ?
460 Üskur Kraus,
leb behaupte nun, daß das Kewtonsche Relativitätsgesetz (oben
§ 2 sub a), b) und c) als ein Naturgesetz ausgesprochen ist, das
von den zu beschreibenden körperlichen Dingen der transmentalen
Körperwelt handelt , während das Transformations - Aquivalenz-
prinzip von den geometrisch-mathematischen Beschreibungsmitteln,
von den Koordinatensystemen handelt, also kein Naturgesetz for-
muliert, sondern nur aussagt, daß an dem Ergebnisse der Rech-
nung oder Beschreibung sich bezüglich der Bewegungs - Gesetze
nichts ändert, mag man' sich diese oder jene Koordinatensysteme
relativ zu einander und dem zu beschreibenden Dinge in gerad-
linig gleichförmiger Bewegung begriffen denken. Es ist ein ma-
thematisches Hilfsgesetz, das eine Aussage macht über die mathe-
matische Formulierung von — Naturgesetzen.
5. Es ergibt sich ferner Folgendes: Gemäß dem Transform ations-
Aquivalenzprinzip ändern sich bei der sog. Galileitransformation
die Größen der Geschwindigkeiten und Koordinaten. Invariant
bleiben die Beschleunigungen. Auf S. 8 der gemeinverständlichen
Darstellung führt Einstein dies folgendermaßen aus:
„Es fliege ein Rabe geradlinig und gleichförmig — vom Bahn-
damm aus beurteilt durch die Luft. Dann ist — *- vom fahrenden
Wagen aus beurteilt — die Bewegung des Raben zwar eine Be-
wegung von anderer Geschwindigkeit und anderer Richtung, aber
sie ist ebenfells geradlinig und gleichförmig. Abstrakt ausgedrückt:
Bewegt sich eine Masse m geradlinig und gleichförmig in bezug
auf ein Koordinatensystem K, so bewegt sie sich auch geradlinig
und gleichförmig in bezug auf ein zweites Koordinatensystem K',
falls letzteres in bezug auf K eine gleichförmige Translations-
bewegung ausführt".
Verallgemeinert formuliert er es S. 9: „Ist K' ein in bezug
auf K gleichförmig und drehungsfrei bewegtes Koordinatensystem,
so verläuft das Naturgeschehen in bezug auf K' nach denselben
allgemeinen Gesetzen wie in bezug auf K." Diese Aussage nennen
wir das „Relativitätsprinzip" im engeren Sinne. — Es ist klar,
daß dieses „Relativitätsprinzip" nichts anderes als die Gleich-
wertigkeit (Äquivalenz) der als Beschreibungs mittel benutzten
Koordinatensysteme ausspricht. — Vor allem wichtig ist nun, daß
hier die Rechnung für die Geschwindigkeit des Punktes, dessen
Bewegung studiert wird, veränderliche Maßzahlen relativ zu den
verschieden bewegten Koordinatensystemen ergibt. Hat der Rabe
die Geschwindigkeit c und das Koordinatensystem die Geschwindig-
Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 461
keit v, so bleibt seine Bewegung zwar geradlinig und gleichförmig,
aber ihre Relativ- Gesch. windigkeit ändert sich notwendig ; sie wird
= c — v. — Auf Seite 12 a. a. 0. heißt es nun: „Längs des Bahn-
dammes werde ein Lichtstrahl gesandt, dessen Scheitel sich nach
dem vorigen mit der Geschwindigkeit c relativ zum Bahndamm
fortpflanzt. Auf dem Geleise fahre wieder unser Eisenbahnwagen
mit der Geschwindigkeit v und zwar in derselben Richtung, in der
sich der Lichtstrahl fortpflanzt, aber natürlich viel langsamer.
Wir fragen nach der Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Licht-
strahles relativ zum Wagen, w ist die gesuchte Geschwindigkeit
des Lichtes gegen den Wagen, für welche also gilt w = c — v.
Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Lichtstrahles relativ zum
Wagen ergibt sich also kleiner als c". — Wie man sieht, stimmt
dieses Beispiel völlig mit dem des Raben überein, es ist nur inso-
fern noch vereinfacht, als hier auch die Richtung des Licht-
strahles dieselbe bleibt, wie die des Wagens. Gesetzt, der Zug
fährt sehr langsam und der Rabe fliege rascher, so erhalten
wir auch für die Geschwindigkeit des Raben gegen den Wagen,
wenn c die relative Geschwindigkeit des Raben gegen den Bahn-
damm ist w = c — v.
Es besteht kein Unterschied zwischen den beiden Fällen.
Einstein behandelt die Fälle ungleich. Beim Raben
(§ 5, S. 8) betont er die Übereinstimmung; mit dem Relativitäts-
prinzip (unserem Aquivalenzprinzip) — bei dem Lichte schreibt
er: „das Ergebnis (w = c — v) verstößt gegen das im § 5 dar-
gelegte Relativitätsprinzip. — Das Gesetz der Lichtausbreitung
müßte nämlich nach dem Relativitätsprinzip wie jedes andere
Naturgesetz für den Eisenbahnwagen als Bezugskörper gleich
lauten wie für das Geleise als Bezugskörper; das erscheint nach
unserer Betrachtung unmöglich. Wenn sich jeder Lichtstrahl in
bezug auf den Damm mit der Geschwindigkeit c fortpflanzt, so
scheint deshalb das Lichtausbreitungsgesetz in bezug auf den
Wagen ein anderes sein zu müssen (c — v) im Widerspruch mit
dem Relativitätsprinzip". Ich .behaupte nun, und ersuche um
Widerlegung, daß eine Begriffsverwechslung Einstein und mit ihm
die zahlreichen physikalischen und philosophischen Verfechter
seiner Lehre und erst recht das Laienpublikum der ganzen Welt
perplex gemacht hat. —
Ich frage: sind nach dem „Relativitätsprinzipe" d. h. nach
dem „ Koordinaten- Aquivalenzprinzipe" Relativ- Geschwindigkeiten
462 Oflka r K ri as,
bewegter Dinge — gleichgültig ob Raben oder Lichtpunkte -
invariant oder nicht? Kein Zweifel, sie sind nicht invariant!
Darin besteht ihr Wesen.
Das ist es ja gerade, was das „Relativitätsprinzip" (= Aqui-
valenzprinzip) verlangt: invariant bleiben die Beschleunigungen,
invariant bleibt das Trägheitsgesetz, nicht die Geschwindigkeit!
(„die Bewegung des Raben bleibt geradlinig und gleichförmig
aber von anderer Geschwindigkeit und eventuell anderer Rich-
tung" ! ! § 5). —
Wie also kann Einstein hier von einem Widerspruch, einem
Dilemma zwischen dem Gesetze der Lichtausbreitung und dem
Relativitätsprinzip (= Aquivalenzprinzip) sprechen? Er und seine
Anhänger sind das Opfer einer Begriffsverwechslung.
Die Verwirrung besteht in folgendem: 1. glauben Einstein
und seine Anbänger von dem Newtonschen Relativitäts-
gesetze zu sprechen, wonach die Beschleunigungen, welche die
Kraftwirkungen der Körper aufeinander ausüben, unabhängig sind
von der gleichförmigen Translations - Geschwindigkeit , die dem
Körpersystem als Ganzem zukommt, sprechen aber in Wahrheit
von dem Koordinaten- Aquivalenzprinzip , das nicht von
diesen Körpern, sondern von dem „BeschreibungsmitteF handelt
und gewisse dieser Beschreibungsmittel (nämlich geradlinig und
gleichförmig gegen einander bewegte Koordinatensysteme, die
stets Gedankengebilde sind) als gleichwertig für die Zwecke der
Beschreibung erklärt, so daß Beschleunigungen und geradlinig
gleichförmige Bewegungen als solche, d. h. die Geradlinigkeit und
Gleichförmigkeit invariant bleiben gegenüber diesen Beschreibungs-
mitteln.
2. Die Äquivalenz dieser Beschreibungsmittel Jbesteht nur
gegenüber den Beschleunigungen und den Newtonschen Ge-
setzen, die nur von Beschleunigungen handeln, nicht aber besteht
sie gegenüber den Relativ - Geschwindigkeiten. Einstein aber
fordert von der Lichtgeschwindigkeit, daß sie relativ zu jenen
Koordinatenbewegungen eine Invariante sei.
Diese Forderung widerspricht dem Koordinaten-Aquivalenz-
prinzip, das er „Relativitätsprinzip" nennt. Hier haben wir nun
das „Dilemma" — in ganz neuer Gestalt: einerseits nämlich soll
das Relativitätsprinzip (d. h. Koordinaten- Aquivalenzprinzip) gelten
und somit den gleichförmig geradlinig bewegt gedachten Koor-
dinaten gegenüber zwar die Beschleunigungen invariant, die Re-
Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 463
lativgeschwindigkeiten aber — selbstverständlich — variant sein,
andererseits soll die Geschwindigkeit des Lichtes relativ zu jedem
geradlinig bewegten Koordinatensystem invariant = c sein!
Dieses Dilemma ist kein scheinbarer, sondern ein wirklicher
Widerspruch. Es liegt im Begriffe der Relativgeschwindigkeit,
daß sie relativ zu verschieden bewegten Koordinatensystemen ver-
schieden ist. Aber dieses Dilemma ist von Einstein ge-
s chaf fen.
Sprach man als Gesetz aus, daß die Lichtgeschwindigkeit
konstant = c sei, so war gemeint, sie sei konstant im und relativ
zum Äther. Hiermit ist nicht nur vereinbar, daß sie relativ zu
einem Koordinatensystem, das relativ zum Äther bewegt ist oder
bewegt gedacht wird, eine andere Relativgeschwindigkeit aufweist,
sondern dies ist auch so selbstverständlich, daß hierüber kein Wort
verloren werden dürfte, würde die neu entstandene Verwirrung
nicht hierzu nötigen. Ein Widerspruch zwischen dem richtig for-
mulierten Konstanzgesetz und dem richtig formulierten Äqui-
valenzprinzip ist also gar nicht vorhanden. Aber Einstein formu-
liert vorerst das Konstanzprinzip unrichtig. Er anerkennt einer-
seits, daß die Relativgeschwindigkeit eines grd. gl. transferierten
Beweglichen relativ zu ebensolchen Koordinatensystemen variant
sein muß, z.B. des Raben, er leugnet gleichwohl diese Varianz
bei der Geschwindigkeit des Lichtes relativ zu solchen Koor-
dinatensystemen, indem er sonderbarerweise das Gesetz,
die Lichtausbreitung erfolge mit der Geschwindig-
keit = c, nicht auf den Äther beziehen will, relativ
zu dem es ausgesprochen ist, sondern relativ zu
jedem beliebigen geradlinig und gleichförmig be-
wegten Koordinatensystem, was sich auf die Beschrei-
bungsobjekte bezieht und eine mathematische und physikalische
Widersinnigkeit einschließt. Einstein behauptet daher einerseits : ,
das „Relativitätsprinzip" d. i. das Äquivalenzprinzip,- in welchem
die Varianz der Relativgeschwindigkeit jeglicher Translations-
bewegung enthalten ist, andererseits ein (von ihm erfundenes)
Konstanzprinzip des Lichtes, wonach diese Translationsgeschwindig-
keit invariant sein soll.
6. Bevor wir weitergehen, vergleichen wir die beiden Dilemmen
sub § 2 und sub § 5. Wir bezeichnen sie als I und II.
Das Dilemma (I), das Lorentz beschäftigte, war das zwischen
Newtonschem Relativitätsgesetz und dem Ausbreitungsgesetz des
464
Oskar Kraus,
Lichtes unter Zugrundelegung der Theorie des ruhenden Äthers
und des Mangels eines Einflusses der Bewegung der Lichtquelle
auf die Lichtgeschwindigkeit. — Lorentz erkannte die Unverein-
barkeit beider Sätze und gab das Relativitätsgesetz auf. — Die
Lorentzkontraktion stürzt die alte Mechanik. — Eine reelle Zeit-
dehnung würde — wenn sie nicht apriori absurd wäre — dasselbe
leisten. Es handelt sich hierbei um den Versuch einer Kausal-
erklärung des Michelsonexperimentes.
Das Dilemma Einsteins (II) hat hiermit nichts mehr zu tun.
Nicht das Newtonsche Relativitätsgesetz, das von den Be-
wegungsvorgängen der physischen Dinge handelt, sondern das
Aquivalenzprinzip der Galilei- Transformationen, das sich auf
die Beschreibungsmittel jener Vorgänge bezieht, ist der eine Satz,
und der andere ihm widersprechende ist jener, der die Invarianz
der Varianten Relativgeschwindigkeit des Lichtes gegenüber diesen
als Beschreibungsmittel dienenden geradlinig, gleichförmig trans-
feriert gedachten Koordinatensystemen behauptet. —
Dieses Dilemma (II), welches meist mit dem Dilemma (I) ver-
wechselt wird, behauptet er (§ 7 S. 13 der gemeinverstdl. Darst.)
durch systematisches Festhalten anbeiden Prinzipien
(1. Relativitätsprinzip = Koordinatenäquivalenzprinzip und 2. Kon-
stanzprinzip = Invarianz der Relativgeschwindigkeit des Lichtes)
als scheinbar d. h. nicht vorhanden nachzuweisen. Dieser Nachweis
ist hoffnungslos. Seine eigenen Anhänger bekennen das. So hat
z. B. schon Laue (Die Relativitätstheorie, 4. Auflage, S. 19) durch
Fett- und Sperrdruck hervorgehoben, „daß es nur ein Relativi-
tätsprinzip in der ganzen Physik geben könne, wenn
es diesen Namen wirklich verdienen soll" dieses eine
sei aber eben nicht das der klassischen Mechanik entsprechende
„Galilei sehe u Koordinaten- Aquivalenzprinzip. Dieses ist vielmehr
geopfert! — Ganz analog, wie Lorentz bei seiner Kausal erklärung
durch Längenkontraktion die Newtonsche Mechanik geopfert hat,
ganz analog, wie bei einer Kausalerklärung durch reelle Zeitdehnung
die klassische Mechanik und das Relativitätsgesetz aufgegeben
wäre, ganz analog ist die „der klassischen Mechanik entsprechende
Beschreibungs weise" vermittels der Regel der Galileitransforma-
tionen preisgegeben, wenn die Invarianz der Lichtgeschwindigkeit
gegenüber Koordinatentransformationen „postuliert" wird. —
Keine der 11 Auflagen der Einsteinschen „gemeinverständlichen
Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 465
Darstellung" bat diese unrichtige und verwirrende Behauptung
Einsteins, die außerdem gesperrt gedruckt ist, richtig gestellt.
7. Ich behaupte ferner:
Im klassischen Aquivalenzprinzip (klass. Relativitätsprinzip
genannt) ist die Varianz der Lichtgeschwindigkeit gegenüber
den geradlinig gleichförmig transferiert gedachten Koordinaten-
systemen eingeschlossen, wobei jedoch bisher allgemein stillschwei-
gend die Voraussetzung als selbstverständlich zugrunde ge-
legt wurde, daß die Maßeinheiten der benutzten Beschreibungs-
mittel als unveränderlich angenommen werden müßten.
Will einer daher das klassische Aquivalenz-
prinzip aufr,echt erhalten, so darf er andieserVor-
aussetzung nicht rütteln. Unter Auf rech terhaltung
dieser Voraussetzung ist die Invarianz der Licht-
geschwindigkeit gegenüber einer solchen Koordinatenge-
schwindigkeitsänderung ein unaustilgbarer Widerspruch.
Er ist durch nichts zu beseitigen. —
Was aber tut Einstein ! ? Er geht daran, diesen Widerspruch
unter „systematischemFesthalten an beiden Prinzi-
pien" aufzuheben, indem er die Voraussetzung beseitigt
auf Grund deren die Varianz der Lichtgeschwindigkeit einzig und
allein behauptet wurde, nämlich die Unveränderlichkeit der Maß-
einheiten der benutzten Beschreibungsmittel!
An Stelle dieser selbstverständlichen Voraussetzung führt er
eine andere ein, nämlich die Abhängigkeit der Maßeinheiten für
Zeit und Raum vom Bewegungszustand der betreffenden Beschrei-
bungsmittel ! Hierbei nennt er jene selbstverständliche Voraussetzung,
die er verwirft „Hypothese" (§11 S. 20 der gemeinvefstdl. Darst.).
Unter dieser abgeänderten Voraussetzung ist es ohne weiters mög-
lich die Invarianz der Lichtgeschwindigkeit gegenüber diesen, im
Verhältnis zur Geschwindigkeit verkürzt gedachten, Koordinaten
herzustellen. Aber, so behaupte ich, von einer Aufweisung jenes
Widerspruches als eines scheinbaren kann nicht die Rede sein,
und das Fallenlassen jener Voraussetzung verändert den Begriff
der Maßeinheit von Grund aus.
Nachdem also Einstein erstens das Relativitätsgesetz
Newtons von dem auf die Beschreibungsmittel sich beziehenden
Koordinaten aquivalenzprinzip nicht genügend ge-
schieden hat, behauptet er zweitens, dieses Aquivalenzprinzip, das
er auch „klassisches Relativitätsprinzip" nennt, und das nach allen
Kantstudien. XXVT. 80
466 Oskar Kraus,
Voraussetzungen die Varianz der Lichtgeschwindigkeit gegenüber
den transferiert gedachten Koordinaten fordert, mit der Invarianz
der Lichtgeschwindigkeit relativ zu diesen Koordinaten vereinbar
machen zu können, springt aber von dieser Aufgabe, ohne es zu
merken und merken zu lassen dadurch ab, daß er die wesent-
lichste Voraussetzung dieser Varianz fallen läßt:
die Unveränderlichkeit der Maßeinheiten bei jener gedachten Ko-
ordinatenverschiebung ! Dadurch verschiebt sich das ganze Problem.
Die vollständig neue Aufgabe formuliert Einstein wiederholt im
§ 11 der „gemeinverständlichen Darstellung" :
„Ist eine Relation zwischen Ort und Zeit der einzelnen Er-
eignisse in bezug auf beide Bezugskörper denkbar, derart, daß
jeder Lichtstrahl relativ zum Bahndamm und relativ zum Zug die
Ausbreitungsgeschwindigkeit c besitzt?" und weiter S. 21 „Unser
Problem (!) lautet in exakter Formulierung offenbar folgender-
maßen : Wie groß sind die Werte x', y\ z\ t', eines Ereignisses in
bezug auf K'f wenn die Größen x, y, z, t, in bezug auf K gegeben
sind?" Hiermit ist das Problem der widerspruchslosen Vereinigung
von klassischem Relativitätsprinzip = Äquivalenzprinzip und In-
varianzprinzip aufgegeben, ja als unmöglich zu lösen zugestanden,
denn das Newton- Galileische Koordinatenäquivalenzprinzip (klassi-
sches „Relativitätsprinzip" genannt) behauptet die Äquivalenz,
Gleichwertigkeit im Sinne der gleichen Brauchbarkeit gegenein-
ander gleichförmig geradlinig bewegt gedachter Koordinatensysteme
zur Beschreibung der mechanischen Vorgänge, behauptet die In-
varianz der Beschleunigungsgesetze und insbesondere des Trägheits-
gesetzes jenen Verschiebungen gegenüber, die sich in der soge-
nannten Galileitransformation ausspricht, und was das notwendige
Korrelat dieser Aussage ist : es behauptet die Varianz der Relativ-
geschwindigkeiten aller Bewegungsvorgänge — auch des Lichtes —
gegenüber diesen Koordinatenverschiebungen, stets unter Voraus-
setzung unveränderlicher Maßeinheiten. Die Galileitransformation
ist ein mathematischer Hilfssatz von leicht faßbarer Evidenz.
Einstein „dreht" wie Born (Physik. Zeitschrift XVII. 1916,
S. 53) richtig bemerkt „den Sachverhalt um": er fordert die In-
varianz einer geradlinig-gleichförmigen Relativgeschwindigkeit
— in deren Begriffe als Relativbewegung es liegt variant zu
sein — nämlich die Invarianz der Geschwindigkeit des Lichtes
den Koordinaten gegenüber, die zu ihrer Beschreibung zu dienen
haben — mögen diese Koordinatensysteme mit beliebiger gleich-
Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 467
förmiger Geschwindigkeit gegeneinander verschoben gedacht werden
— und fragt nach den Veränderungen, die sich rechnerisch aus
dieser verlangten Invarianz für die Koordinatenmaßzahlen ergeben.
8. Die Antwort ist in den sogenannten „Lorentztransforma-
tionen" enthalten. Die Galileitransformation beantwortet folgende
Frage : gesetzt die Geschwindigkeit eines Beweglichen, dessen Be-
wegung mit Hilfe von Koordinaten beschrieben wird, beziehe man
zuerst auf das galileische Koordinatensystem K und sodann auf
ein relativ zu jenem in der Richtung der x- Achse geradlinig und
gleichförmig verschobenes K\ welches ist die Rechnungsregel oder
die Relation, nach welcher sich die so verändert zu beziehende
Geschwindigkeit ändert? Hierbei ist die Unveränderlichkeit der
Maßeinheiten als selbstverständlich vorausgesetzt.
Eine fundamental verschiedene Frage beantwortet die „Lorentz-
transformation". Gesetzt 1. die Geschwindigkeit eines Beweg-
lichen, dessen Bewegung mit Hilfe von Koordinaten „beschrieben"
wird, beziehe man zuerst auf ein galileisches Koordinatensystem K
und sodann auf ein relativ zu jenem in der Richtung der x- Achse
geradlinig und gleichförmig verschobenes K', und gesetzt 2. es
werde gefordert, daß die Geschwindigkeit des Beweglichen
Telativ zu den Koordinatensystemen als invariant „beschrieben"
werden solle, welchen quantitativen Veränderungen müssen die
Maßeinheiten der als Beschreibungsmittel dienenden Koordinaten
unterzogen werden?1)
Die Antwort auf die soeben formulierte Frage ist es, die Ein-
stein sucht und erteilt. Im § 14 faßt er den Gedankengang fol^
gendermaßen zusammen: „Die Erfahrung hat zu der Überzeugung
geführt, daß einerseits das Relativitätsprinzip (im engeren Sinne)
gelte und daß andererseits die Ausbreitungsgeschwindigkeit des
Lichtes im Vacuum gleich einer Konstanten c zu setzen sei. Durch
die Vereinigung dieser beiden Postulate ergab sich das Trans-
formationsgesetz für die rechtwinkeligen Koordinaten x, y, #, und
1) Die vorstehenden Ausführungen stützen sich größten Teiles auf die ge-
meinverständliche Darstellung, die „eine möglichst exakte Einsicht" in die Relati-
vitätstheorie vermitteln will. Doch ist es vielleicht nicht überflüssig zu bemerken,
daß nicht nur die „gemeinverständliche Darstellung", sondern auch die Abhand-
lung aus dem Jahre 1905 (Zur Elektrodynamik bewegter Körper) und spätere
Aufsätze dieselhen Irrtümer enthalten. Auch dort glauht Einstein sich auf beide
Prinzipien zu stützen, auf das Relativitätsprinzip und Konstanzprinzip, ohne die
Verwechslungen zu merken, denen er erliegt.
30*
468 Oskar Kraus,
die Zeit t der Ereignisse, welche das Natur geschehen zusammen-
setzen und zwar ergab sich nicht die Galileitransformation sondern
die Lorentztransformation". —
Das was Einstein „Relativitätsprinzip" nennt ist jedoch nichts
anderes als das S. 9. § 5 formulierte rein mathematische Hilfs-
prinzip der Koordinatenäquivalenz — bei vorausgesetzter Unver-
änderlichkeit der Maßeinheiten, und dieses ist, wie wir gesehen
haben, gerade durch die Verwendung der Lorentztransformation
geopfert — es kann „nur ein Relativitätsprinzip" geben, und dieses,
sagt Laue, ist das der Lorentztransformation entsprechende.
Und das sogenannte „Ausbreitungsgesetz des Lichtes" ist aber-
mals nicht der bekannte als Naturgesetz angesehene Satz, der dem
Lichte die konstante Geschwindigkeit = c relativ zum Äther zu-
schreibt, sondern nichts anderes als das Postulat einer Invarianz
der Lichtgeschwindigkeit gegenüber den Beschreibungsmitteln, das
nur durch entsprechende — dem charakterisierten „Relativitäts-
prinzipe" ( Aquivalenzprinzipe ) widersprechende Voraussetzungen
ermöglicht wird. Ungeachtet dieses Sachverhaltes spricht Einstein
von der Aufrechterhaltung beider Prinzipien und von Bedingungen,
welche die Relativitätstheorie den Naturgesetzen vorschreibt!
9. Doch weiter : Niemand kann es einem Menschen verwehren,
sich vorzustellen, daß die Beschreibungsmittel, die fingierten Ko-
ordinaten — und zwar Raum und Zeitkoordinaten — durch Maß-
stäbe und Uhren ersetzt wären. Man kann sich weiter denken,
daß jene Maßstäbe und Uhren eben denjenigen Veränderungen
unterworfen seien, denen eben die Beschreibungsmittel unterworfen
werden müssen, um das postulierte Resultat der Invarianz der
Lichtgeschwindigkeit gegenüber diesen Beschreibungsinstrumenten
zu erhalten. — Dieses Gedankenspiel ist unschädlich, wofern man
nur nicht wähnt, der Natur und den Naturgesetzen hiermit etwas
„vorgeschrieben", oder selbst ein Naturgesetz gefunden zu haben.
— Einstein hat jedoch auch diesen Schritt gewagt. — Ja! die
Maßstäbe und Uhren müssen sich zu diesen durch die Lorentz-
transformation vorgeschriebenen Veränderungen ihrer Einheiten
bequemen. Jener gedankliche Vorgang, der nötig ist, um die In-
varianz der Lichtgeschwindigkeit gegenüber den Beschreibungs-
mitteln herzustellen, jene gedankliche Veränderung, die sich die
Maßeinheiten gefallen lassen müssen, um jenes Postulat zu er-
füllen, sie wird durch einen Sprung von Fiktion zur Hypothese,
zur transmentalen Realität. — So gelangt Einstein von Newtons
Verwechslungen von Besclireibungsrnittel und Beschreibungsobjekt usw. 469
Relativitätsgesetz, das von den Naturdingen handelt, zu einer
Aussage über bloße gedankliche Beschreibungsmittel, und zu einer
Aussage über Meßinstrumente, die einwandfrei wäre, sofern sie nicht
mehr einschlösse als die Regel, nach welcher sich Meßinstrumente
verändern müßten, um ein gewolltes „Meßresultat" (Invarianz der
Lichtgeschwindigkeit ihnen gegenüber) zu ergeben; aber damit
nicht genug, fordert er nun von den Meßinstrumenten, daß sie sich
tatsächlich jenen Regeln gemäß verändern! Daß hierbei der Be-
griff des Meßapparates und der Maßeinheit von Grund aus zerstört
wird, wird von den Relativisten nicht als störend empfunden. —
Und diese Aussage über untauglich gemachte Beschreibungs- und
„Meß"-mittel wird je nach dem zu einer Aussage über das zu be-
schreibende und zu messende gemacht und von den Vorgängen
optischer, elektrischer und schließlich mechanischer Art behauptet,
daß sie tatsächlich diesen Rechnungen gemäß verlaufen; so wird
insbesondere die vermöge variabler Beschreibungsmittel errechnete
Invarianz der Lichtgeschwindigkeit in ein unmögliches Kon-
stanzgesetz umgedeutet. Hiermit ist die herrschende physikali-
sche und philosophische Deutung des Einsteinschen Rechenverfahrens
der speziellen Relativitätstheorie Schritt für Schritt als verfehlt
nachgewiesen.
10. Es liegt in der „speziellen Relativitätstheorie" eingeschlossen,
daß die Zeitkoordinate, die bisher stets als eine von dem Raum-
koordinatensystem unabhängige Variable betrachtet wurde, nun
diesen ihren Charakter verliert. Die Minkowskitheorie hat diesen
Zusammenhang in einer symbolisch-geometrischen Darstellung be-
quem oder „elegant" zum Ausdrucke gebracht und dadurch den
rein mathematischen Charakter der speziellen Relativitätstheorie
noch auffälliger gemacht. Der Wahn, der eine Zeit lang die
Geister soweit gebracht hatte, daß sie ernstlich die Zeit als vierte
Raumdimension auffassen wollten, ist heute bereits zerstoben.
Selbst Laue nennt die Minkowskitheorie nur ein Darstellungsmittel
analytischer Relationen zwischen vier Variablen. Ich zweifle
ebensowenig wie Gehrcke, Lenard u. a., daß die „Relativität der
Gleichzeitigkeit" über kurz oder lang dasselbe Schicksal ereilen
wird, sofern nämlich unter dieser mehr verstanden sein soll, als
jene eben geschilderte Veränderung der Zeitmaße, die man sich einge-
führt denken muß, um der Forderung der Invarianz der Licht-
geschwindigkeit rechnungsmäßig zu genügen; so lange man sich
diese Veränderungen auf die gedachte Zeitkoordinate beschränkt
470 Oskar Kraus,
denkt, ist diese Fiktion ebenso unschädlich, wie wenn man Uhren
fingiert, welche die geforderten Änderungen erleiden, und sich
hierbei seiner Fiktion bewußt bleibt. Die Lorentzsche „Ortszeit"
z. B. war sich ihres fiktiven Charakters bewußt. In dem Augen-
blicke aber, wo man von den wirklichen Uhren und Stäben der-
gleichen Veränderungen behauptet, ist der Sprung von Fiktion zur
Hypothese vollbracht, den ich in meinem Hallenser Vortrage
(Sonderheft der Annalen der Philosophie, Bd. II) genügend gekenn-
zeichnet habe. Vollends aller unmittelbaren Evidenz widersprechend
und ohne den geringsten Anhaltspunkt in der Erfahrung, ist der
weitere Schritt, den die Einsteinphilosophie wagt, Uhrenangaben
und Uhrenabläufe als „Zeit" schlechthin anzusprechen. Die Kom-
petenzüberschreitung des einseitigen Rechen- und Meßverstandes
ist hier so offenkundig, daß ich, trotzdem Philosophen wie Schlick
auch hier Gefolgschaft leisten, an dieser Stelle diese ^stocßaetg slg
iklXo yivog erörtern zu müssen, mich enthoben glaube. Habe ich
oben nachgewiesen, daß es unzulässig ist, gedachte Koordinaten in
wirkliche Uhren zu verwandeln, so brauche ich nicht nachzuweisen,
daß man Gangarten und Zeigerstellungen fingierter oder wirklicher
Uhren nicht für wirkliche Zeit nehmen darf.
11. Es entfallen selbstverständlich alle physikalischen Folge-
rungen aus jener mathematisch hergestellten Invarianz. Das habe ich
bereits hinsichtlich des Michelsonexperimentes an anderem Orte
nachgewiesen. Gesetzt es sei dieses Experiment einwandfrei; so
hat sich, wie gezeigt, prima facie nichts anderes ergeben, als daß
die Erdgeschwindigkeit sich zu der Lichtgeschwindigkeit addiere
— hätte doch sonst nicht Lorentz sagen können, durch eine Emis-
sionstheorie wäre es an und für sich vollkommen erklärbar —
ebenso erklärbar wäre es — an und für sich — durch die Mit-
nahme des Äthers. Werden diese Erklärungsmöglichkeiten als mit
anderen Erfahrungen nicht stimmend zurückgewiesen, so folgt daß
irgendwo in der physikalischen Theorie ein Fehler oder eine Lücke
steckt. Es ist aber klar, daß die Einsteinsche Relativitätstheorie
eine Erklärung des Versuches auf keine Weise liefern würde,
selbst wenn man — posito sed non concesso — sie zuließe. Um
dies einzusehen, vergegenwärtige man sich doch nur, daß beim
Michelsonexperimente weder Zeitkoordinaten beobachtet wurden,
deren Maßeinheiten hätten Veränderungen erleiden können, noch
etwa Uhren an dem Apparate aufgestellt waren, an denen man
hätte Zeigerstellungen ablesen können.
Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 471
Sodann aber erwäge man doch, daß die Lorentzkontraktion,
die angeblich „aus der Einsteintheorie sich ergibt", wie ich eben-
falls bereits in „Fiktion und Hypothese" gezeigt habe, in der Ein-
steinschen Theorie eine „Putativkontraktion" sein muß, (Witte)
die nicht primär an dem bewegten Koordinatensystem K! auf-
treten darf, sondern an dem ruhenden (vgl. Fr. Adler). Mit an-
deren Worten: durch Verknüpfung der Längenmessung mit den
bereits durch Menschenhand entsprechend regulierten Zeitmaßen
erhält man im bewegten System K! vergrößerte, gedehnte Längen-
maße und erst dadurch, daß man mit größerem Längenmaße mißt,
ergeben sich verkleinerte, kontrahierte Längen in dem System K,
und die quantitative Übereinstimmung der Einsteinkontraktion mit
der Lorentzkontraktion erklärt sich durch die quantitativ ent-
sprechende Uhrenregulierung bzw. Zeitmaß Veränderung. Endlich
aber sollen ja alle diese Veränderungen an den Beschreibungs-
und Messungsmitteln ja gar nicht das alte Gesetz von der
Konstanz der Lichtgeschwindigkeit relativ zum Äther aufrecht
erhalten, sondern die Invarianz relativ zu den Beschreibungs-
mitteln. Daher hat schon Einsteins Anhänger Ph. Frank (Ann. der
Naturph. X) erklärt, daß die Kontraktion bei Einstein „keine
wirkliche physikalische ist, sondern auf verschiedenen Messungs-
arten der Entfernung beruht" S. 156 a. a. 0., und neuestens betont
der Relativist Born S. 183 seines Buches über die Relativitäts-
theorie: „Die Kontraktion ist also nur eine Folge der Betrach-
tungsweise, keine Veränderung einer physikalischen Realität, also
fällt sie nicht unter die Begriffe von Ursache und Wirkung". —
Nimmt man hinzu, daß Einstein selbst seine Theorie eine phänomeno-
logische nennt und den Verzicht auf Kausalerklärung — wenig-
stens in Prag — als in der Theorie involviert, ausdrücklich zuge-
geben hat, so muß der Rettungsversuch Laues, der allen Ernstes
Koordinatensystemen „genau so gut, wie irgend einem anderen
durch Beobachtung festzustellenden, also physikalisch wirklichen
Gegenstande" die Ausübung physikalischer Wirkungen zuschreibt
(vgl. den Aufsatz Laues KSt 1921, Heft 1/2!), als Rettungsversuch
einer verlorenen Sache bezeichnet werden. Dies umsomehr als
Einstein selbst sich an anderer Stelle (Naturwissenschaften 1918)
über „humorvolle Kritiker" lustig macht, die ihm zuschreiben wollen,
er mache Koordinatensysteme zu Ursachen. Allerdings habe ich in
den Annalen der Philosophie a. a. 0. auch eine andere Stelle desselben
Artikels zitiert, wo Einstein wiederum das Gegenteil lehrt.
472 Oskar Kraus,
12. Die „allgemeine Relativitätstheorie" Einsteins beginnt mit
einer verwirrenden und unrichtigen Charakterisierung der „spe-
ziellen", Einstein hebt nämlich in seiner Schrift „Die Grundlage
der allgemeinen Relativitätstheorie" mit den Worten an: „Der spe-
ziellen Relativitätstheorie liegt folgendes Postulat zugrunde,
welchem auch die Gralilei-Newtonsche Mechanik Genüge
leistet: „Wird ein Koordinatensystem K so gewählt, daß in bezug
auf dasselbe die physikalischen Gesetze in ihrer einfachsten Form
gelten, so gelten dieselben Gesetze auch in bezug auf jedes andere
Koordinatensystem K', das relativ zu K in gleichförmiger Trans-
lationsbewegung begriffen ist. Dieses Postulat nennen wir „spe-
zielles Relativitätsprinzip". — Mit diesen Sätzen führt Einstein
sich selbst und seine Leser irre. Der Satz spricht nicht das
Einsteinsche spezielle Relativitätsprinzip aus, sondern nichts an-
deres als das klassische Koordinatenäquivalenzprinzip, das stets
unter der stillschweigenden — weil selbstverständlichen Voraus-
setzung der Unveränderlichkeit der Maßeinheiten ausge-
sprochen wurde. Er verschweigt die von Einstein eingeführte
fundamentale Änderung dieser Voraus Setzung! — Ganz
ähnlich sagt die „ gemeinverständliche Darstellung " : „ Für die
physikalische Beschreibung der Natur Vorgänge ist keiner der gerad-
linig, gleichförmig gegeneinander bewegt gedachten Bezugskörper
K, K' vor dem anderen ausgezeichnet". — Auch dieser Satz ent-
spricht völlig der klassischen Mechanik und ihrem Aquivalenz-
prinzip. Einsteins Neuerung kommt in ihm nicht zum Ausdruck x),
auf sie aber kommt alles an ; — wenn nun Einstein das allgemeine
Relativitätsprinzip in der gemeinverständlichen Darstellung S. 42
und 65 dahin formuliert: „Alle Bezugskörper K, K' usw. sind für
die Naturbeschreibung (Formulierung der allgemeinen Naturgesetze)
gleichwertig, welches auch deren Bewegungszustand sein mag",
und S. 66 „alle Gaußschen Koordinatensysteme sind für die Formu-
lierung der allgemeinen Naturgesetze prinzipiell gleichwertig", so
hat er das Postulat aufgestellt, es sei das Koordinatenäquivalenz-
prinzip von der gleichförmigen Translationsbewegung der Koor-
dinaten auf jede beliebige Koordinatenbewegung zu übertragen.
Gesetzt es wäre ihm dies gelungen, so hätte er eine Aussage
über Beschreibungsmittel gemacht, die nach seinen eigenen
1) Manche stimmen der speziellen Relativitätstheorie nur darum zu, weil sie
sie mit dem klassischen Koordinatenäquivalenzprinzip — durch diese Sätze irre
geführt — verwechseln.
Verwechslungen von Besckreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 473
Worten nicht mit den zu beschreibenden Gegenständen verwechselt
werden dürfen, somit könnte von der Formulierung eines Natur-
gesetzes nicht die Rede sein, denn physikalische Gesetze handeln
von den Körpern und nicht von den Koordinaten. Es liegt jedoch,
wie wir gesehen haben, im Begriffe des klassischen Koordinaten-
äquivalenzprinzips, daß es unmöglich gelingen kann.
Im Begriffe des nicht alterierten klassischen Koordinatenäqni-
valenzprinzipes liegt, wie wir gezeigt haben, daß wohl die Ge-
schwindigkeiten variieren, daß aber die Beschleunigungen und die
geradlinig gleichförmige Bewegung als solche invariant bleiben,
wir erhalten die Invarianz des Trägheitsgesetzes und der Newton-
schen Bewegungsgleichungen. Soll daher, was von der Gleich-
wertigkeit gleichförmig transferierter Koordinaten ausgesagt wird,
auch von beliebig bewegt gedachten Koordinaten gelten, so muß
diese Invarianz ohne eine neuerliche Begriffsveränderung gewahrt
werden. Dies ist nicht möglich. Nur dadurch, daß Einstein den
Begriff der geradlinigen gleichförmigen Bewegung, mit dem die
klassische Mechanik arbeitete, ersetzt durch den Begriff der kürzesten
Verbindung zwischen zwei Punkten einer drei bzw. vierdimensio-
nalen gekrümmten Oberflächenwelt, erhält er in der Invarianz des
Linienelementes dieses übereuklidischen Gebildes gegenüber belie-
bigen Gaußschen Koordinaten ein neues invariantes Element ; dieses
Element ist aber nicht das Symbol der Trägheitsbewegung, sondern
einer ungleichförmigen, in diesem Sinne beschleunigten Bewegung
beziehungsweise einer unter dem Einflüsse der Gravitation erfol-
genden Bewegung.
Es kann also nicht die Hede davon sein, daß Einstein das
klassische Koordinatenäquivalenzprinzip (von ihm klassisches
Relativitätsprinzip genannt) von gleichförmig transferierten auf
beliebig bewegte Koordinaten erweitert und in diesem Sinne „ver-
allgemeinert" habe, vielmehr ist die Erweiterung nur postuliert,
und der Schein der Erfüllung des Postulates mit einer Veränderung
des geometrischen Begriffes der Geradlinigkeit und demzufolge mit
einer entsprechenden Abänderung des Begriffes der Trägheits-
bewegung erkauft.
Um noch deutlicher zu sprechen: die allgemeine Relativitäts-
theorie beginnt mit einer begrifflichen Veränderung des
zu Beschreibenden. Die verallgemeinerte Forderung, die Ein-
stein erhebt, die Aufgabe, die er sich stellt : „Gleichwertigkeit be-
liebig bewegter Koordinatensysteme" muß das euklidische Linien-
474 Oskar Kraus,
dement der räumlichen Welt von vornherein durch ein gekrümmtes
„nicht euklidisches" ersetzen — d. h. der Physik werden nun nicht
mehr jene Begriffe zugrunde gelegt, die ihr bisher auf Grund un-
zähliger Erfahrungen stillschweigend zugrunde gelegt wurden. Von
vornherein wird, um dem Postulate scheinbar zu entsprechen, das zn
Beschreibende als ein anderes hingestellt, als es bisher aufgefaßt
wurde. Auf andere Weise kann der Schein einer Äquivalenz der
Beschreibungsmittel nicht hergestellt werden. Die zu beschrei-
bende Realität wird den willkürlich gewählten Be-
schreibungsmitteln „angepaßt" (Freundlich S. 27). Dieses
Anpassungs verfahren ist methodisch unerlaubt. In der speziellen
Theorie läßt Einstein die stillschweigende und selbstverständliche
Voraussetzung der Unveränderlichkeit der Maßeinheiten fallen, in
der allgemeinen verändert er von vornherein den bisher still-
schweigend vorausgesetzten, weil empirisch seit Menschengedenken
bewährten Begriff des dreidimensionalen für sich bestehenden und
ebenen (homogenen) Räumlichen.
13. Um mit beliebigen Graußschen Koordinaten
beschreiben zu können, greift Einstein zu einer fun-
damentalen Veränderung des Beschreibungsobjektes.
Nun kann eine gekrümmte dreidimensionale Mannigfaltigkeit wider-
spruchslos nur gedacht werden als eingebettet einer topoiden
Mannigfaltigkeit von mehr als drei Dimensionen. Einstein behan-
delt seine sphärische Welt wie ein für sich bestehendes Gebilde,
und prägt ihr dadurch den Charakter des Fiktiven und unmöglich
Realisierbaren a priori auf. Die andere Annahme der „Einbettung"
in eine mehrdimensionale Welt wird nicht erörtert und die Frage
bleibt offen, wie man eine derartige Hypothese, die uns in eine
mehr als dreidimensionale Welt (mit unbestimmt vielen Dimensionen
unseres „Körpers") hineinragen läßt, mit der Erfahrung verein-
bar machen kann, die uns nur von drei Dimensionen Kunde
gibt *). Die erste Annahme ist unmittelbar absurd, die zweite zum
mindesten unendlich unwahrscheinlich. — (Vgl. Isencrahe, Zur Ele-
mentaranalyse der Relativitätstheorie, bei Vieweg 1921, S. 63 u. f.
Meißner, phys. Zeitschr. 1921). Wie immer dem sei: Die Hypo-
these einer gekrümmten Welt ist also nicht etwa durch eine em-
pirische Tatsache nahe gelegt, sondern einzig und allein durch
1) Der Einfachheit wegen habe ich in diesem § von der Einführung der
Zeitkoordinate als vierte Koordinate vorläufig abgesehen, ähnlich wie Freund-
lich, S. 22.
Verwechslungen von Beschreibnngsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 475
die Forderung der Gleichwertigkeit der beliebig
bewegten Beschreibungsmittel; ein solches Verfahren
widerstreitet aller induktiven d. h. empirischen Naturforschung.
Aber nur so erklärt es sich, wieso aus einer Forderung betr.
die Äquivalenz von Beschreibungsmitteln eine Forderung über die
Beschaffenheit des Räumlichen, d. i. des physikalisch zu Beschrei-
benden folgen kann.
Die letztere ist einfach das Korrelat der ersteren.
Diese aber ist keine Erfahrungstatsache, sondern eine „Forderung",
ein Postulat und daher auch jene. Es wird nicht gefragt, wie
die Natur beschaffen ist, sondern wie sie sein müßte, um einer
bestimmten sogenannten „Beschreibung" zu entsprechen.
14. Doch nicht genug! — Wir haben bis jetzt nur den einen
Gedanken Einsteins verfolgt, der das allgemeine Relativitätsprinzip
in einer angeblichen Erweiterung des klassischen Koordinatenäqui-
valenzprinzipes bestehen läßt. — Allein so einfach ist die Sache
nicht! — Wenn Einstein erklärt „die spezielle Relativitäts-
theorie weiche von der klassischen Mechanik nicht durch das Re-
lativitätsprinzip ab" (S. 7 der Grundlagen der allg. Relativitäts-
theorie), so haben wir diese Behauptung als eine durchaus irrige
dargetan : wir sahen, daß durch die Invarianz der Lichtgeschwindig-
keit, die nach Einstein den Unterschied von der klassischen Theorie
ausmacht, notwendig die wesentlichste Voraussetzung der letztern,
die Unveränderlichkeit der Maßeinheiten der benutzten Koordinaten-
systeme aufgegeben ist. —
Einsteins allgemeine Relativitätstheorie will die spezielle,
deren wesentlichstes Kennzeichen die Invarianz der Lichtge-
schwindigkeit ist als Spezialfall in sich aufnehmen, also auch die
Modifizierung der wesentlichsten Voraussetzung des klassischen Ko-
ordinatenäquivalenzprinzipes, nämlich der Unveränderlichkeit der
Maßeinheiten; mit anderen Worten: die allgemeine Relativitäts-
theorie nimmt ein Prinzip in sich auf, welches das klassische Ko-
ordinatenäquivalenzprinzip preisgibt. Andererseits — wir setzten
dies soeben auseinander — entspringt sie dem Wunsche ebendas-
selbe Aquivalenzprinzip auf beliebige Koordinatensysteme zu er-
weitern!! Diese Forderung konnte aber nur durch Preisgabe ge-
wisser (euklidischer) Voraussetzungen des klassischen Aquivalenz-
prinzips erfüllt werden, deren Beibehaltung sie als unerfüllbar
erscheinen läßt; die Erfüllung ist also nur eine scheinbare „Er-
weiterung des klassischen Relativitätsprinzipes d. h. Koordinaten-
471)
Oskar Kraus,
äquivalenzprinzipes". Dieses ist vielmehr in doppelter Weise ge-
opfert : 1 . durch die Aufnahme der speziellen Relativitätstheorie,
sofern diese das Invarianzprinzip enthält; 2. sofern die allgemeine
Theorie nicht mehr euklidische Raumbeschaffenheiten beschreibt,
sondern „nichteuklidische", die der bisherigen Physik, demnach auch
der klassischen, fremd waren. Es ist von fundamentaler Wichtig-
keit sich klar zu machen, daß die sogenannte erweiterte oder all-
gemeine Relativitätstheorie weder eine Erweiterung, d. h. Verall-
gemeinerung, des klassischen Äquivalenzprinzipes, (sogenannten
klassischen Relativitätsprinzipes), noch eine Erweiterung der Ein-
steinschen speziellen Relativitätstheorie ist, obgleich sie sich als
beides ausgibt, vielmehr beiden widerspricht *). Daß auch von
einer Erweiterung des Einsteinschen , „speziellen Relativitäts-
prinzipes" nicht gesprochen werden darf, erhellt daraus, daß die
„spezielle" Theorie, solches „beschreibt", was euklidische Raum-
beschaffenheiten aufweist und auch mit derartigen Koordinaten-
gebilden arbeitet, während die „allgemeine" die euklidische Raum-
beschaffenheit des Beschriebenen und des „Beschreibungsmitteis"
opfert. Verallgemeinert ist lediglich das Postulat, d. h. der Wunsch.
Es ist auch ausgeschlossen, daß die „allgemeine" Theorie die „spe-
zielle" als Spezialfall, d. h. wie die Gattung die Spezies unter
sich begriffe. Beide widersprechen einander. Ich weiß wohl, daß die
Relativitätstheoretiker der Feststellung dieses Widerspruches seit
jeher widersprechen. Aber vergeblich.
Das Unvereinbare vereinbar zu machen war schon fruchtloses
Bemühen Einsteins — wir zeigten es — in der „speziellen" Theorie.
Die Kunst, das Widersprechende zu vereinigen, scheitert auch in
der „allgemeinen".
15. Man erlaubt sich zu sagen, die „spezielle" gelte nur im
„unendlich Kleinen". Was für eine Bewandtnis es mit dieser Rede-
weise hat, ersieht man daraus, daß, wie Born sagt (Physikal.
Zeitschr. XVII, 36) „riesige, sogar astronomische Dimensionen"
noch unendlich klein sind — für die Einsteins che Theorie. Es ist
mathematisch erlaubt, endlich Großes als unendlich klein zu fin-
gieren. Einstein will aber Naturwissenschaft treiben und nicht
Mathematik : Die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit soll ein Natur-
gesetz sein. Gibt es nun eine einzige Natur und eine Einheit
des naturwissenschaftlichen Weltbildes oder gibt es zwei Na-
1) Vgl. schon Gehrcke Kantstudien a. a. 0.
Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 477
turen, eine der „speziellen" Theorie und eine der „allgemeinen"?
Eine Natur, in der das Konstanzgesetz gilt, und eine, in der es
nicht gilt? — Entweder die Lichtstrahlen krümmen sich im
Schwerefeld oder sie tun es nicht. — Entscheidet „die Beobach-
tung" zu Gunsten der Krümmung, dann ist es falsch ein Gesetz
der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit zu behaupten, denn in dem
Wesen eines Naturgesetzes liegt die Ausnahmslosigkeit, die Un-
möglichkeit des Ausbleibens eines gewissen Geschehens unter ge-
wissen Umständen. Krümmen sich die Lichtstrahlen im Schwer-
felde, so kann nur behauptet werden, daß ihre Bewegung, sofern
keine äußern Kräfte auf diese Bewegung einwirken, keine Änderung
der Geradlinigkeit und Gleichförmigkeit aufweisen könne. Wo ist
aber dann der angebliche Widerspruch zwischen Konstanzgesetz
und mechanischem Relativitätsgesetz (oben § 2)? Dann gibt es
eben kein Konstanzgesetz der Lichtgeschwindigkeit. Man kann
höchstens sagen: In relativ kleinen Bereichen sei es so, als ob es
gelte; es wird dort als geltend fingiert. Hierbei darf aber unter
„Konstanz" keinesfalls die „Invarianz" verstanden werden!
16. In der speziellen Theorie „postuliert" Einstein, die Maße
sollen als invariant beschreiben, was variabel ist, er verwandelt
Koordinaten in Uhren und in Maßstäbe, und postuliert von diesen
dasselbe. Er verwandelt schließlich das, was wir an unbrauchbar
gewordenen Maßstäben und Uhren ablesen, in Raum und Zeit, ver-
langt von Raum und Zeit, daß sie sich seinen Postulaten fügen.
So wenig aber als diese, so wenig füge ich mich dieser Postulaten-
philosophie.
In der allgemeinen ist Einstein noch kühner. Das verallgemei-
nerte Koordinatenäquivalenzpostulat beugt von vornherein den
Raum unter sein Joch, er kann nur noch als gekrümmter sein
Dasein fristen, hat aber die Genugtuung dem Postulate Einsteins
zu genügen.
Daß auf solchem Boden kein dauerndes Gebäude aufgeführt
werden kann, ist zweifellos. Ob gewisse' seiner Teile werden ver-
wertet werden können, ist eine andere Frage. An anderer Stelle
schien mir die Symbolik einer vierdimensionalen gekrümmten Ober-
flächenwelt, wegen der Parallelität der Unmöglichkeit gleichförmiger
Bewegung in einer ausschließlich von der Gravitation beherrscht
gedachten Welt und der Unmöglichkeit gerader Linien in einem
solchen fiktiven System ausschließlich geodätischer Linien von
heuristischem Werte sein zu können (Annalen der Phil. 1921).
478 Oskar Kraus,
Dieser heuristische Wert würde sich z. B. darin zeigen, daß
Lichtstrahlen in Analogie zur Beschaffenheit geodätischer Linien
in Gravitationsfeldern wirklich — also von wo immer aus mit tadel-
losen Instrumenten beobachtet — eine Ablenkung infolge der Gravi-
tation erfahren müßten — welche Beschaffenheit des Äthers bzw.
der „Strahlen" man auch immer zugrunde legte, — es würde dies
aus der Symbolik der geodätischen Linien ohne weiters sich er-
geben — . Es müßte dann gestattet sein, dasjenige, was im soge-
nannten Lichtstrahl sich periodisch verändert, dem Gravitations-
gesetze zu unterwerfen. — Über die Brauchbarkeit dieser Sym-
bolik wird die Beobachtung und Nachprüfung entscheiden.
Daß eine weitgehende Analogie der Gesetzmäßigkeiten unserer
Erfahrungswelt mit apriorisch-geometrischen Gesetzmäßigkeiten be-
steht, war schon ein dem griechischen Altertum geläufiger Gedanke
und ist neuerdings mehrfach hergehoben worden (A. Haas, Dingler),
vielleicht bleibt hier ein wertvoller Wahrheitskern der „allgemeinen
Relativitätstheorie" ? —
17. Noch auf anderem Wege ergibt sich die Möglichkeit der
sogenannten „allgemeinen Relativitätstheorie" — nach Ausschaltung
der ihr anhaftenden Irrtümer — heuristische Vorteile zusprechen
zu dürfen.
Dadurch, daß man das betrachtete Bewegliche auf Koor-
dinatensysteme bezieht, ist man genötigt von Bewegungsgesetzen
zu sprechen, die nur in bezug auf gewisse Koordinatensysteme
gelten. (Vgl. Einstein S. 8 gemeinverst. Darst. und öfter). Relativ
zur Erde als Bezugssystem beschreiben die Fixsterne Kreis-
bewegungen.
Man hat sich nun bemüht empirisch solche Körper oder Körper-
gesamtheiten oder solche Punkte in der Erfahrungswelt zu finden,
durch die man sich ein Koordinatensystem so gelegt denken kann,
daß mit Beziehung auf dieses System „das Trägheitsgesetz und
die übrigen Bewegungsgesetze exakt gelten". Der Fixsternhimmel
wurde als ein solcher Fundamentalkörper befunden; auf ihn als
Träger eines Koordinatensystems bezogen „gelten die Naturgesetze
möglichst exakt". — D. b. in Newtons Sinne gesprochen, wir
können sicher sein, daß die so bezogenen Bewegungen „wirkliche",
„absolute", nicht „bloß relative d. h. scheinbare" sind. Jenes
Koordinatensystem nennt man Inertialsystem. Einstein spricht
von Galileischem System.
Das Ausschlaggebende ist, daß es empirisch festgestellt,
Verwechslungen von Beschreibungsmittel uud Beschreibungsobjekt usw. 479
jeder Willkür entzogen ist. — Von einem solchen nur empirisch
feststellbaren Inertialsystem geht Einstein in den Grundlagen der
allgemeinen Relativitätstheorie S. 10 aus. „Es sei K'", fährt er fort,
„ein zweites Koordinatensystem, welches relativ zuK in gleich-
förmig beschleunigter Translationsbewegung sei. Relativ zu K'
führte dann eine von anderen hinreichend getrennte Masse eine
beschleunigte Bewegung aus, derart, daß deren Beschleunigung
und Beschleunigungsrichtung von ihrer stofflichen Zusammen-
setzung und ihrem physikalischen Zustande unabhängig ist". D.h.
eine von äußeren Kräften unbeeinflußte Masse, die sich relativ
zu K geradlinig und gleichförmig bewegt, wird relativ zu K' als
beschleunigt bewegt phoronomisch beschrieben werden können.
Nun wissen wir aus dem Koordinatenäquivalenzprinzip der klassi-
schen Mechanik, daß alle gegenüber einem Inertialsystem gerad-
linig und gleichförmig bewegten Koordinatensysteme — aber nur
solche, äquivalent sind zur Beschreibung der mechanischen Vor-
gänge, daß ihnen gegenüber die Beschleunigungen und das Träg-
heitsgesetz invariant bleiben — aber nur ihnen gegenüber. Somit
ist sicher, daß K' ein Inertialsystem unmöglich sein kann, d. h.
daß es als dynamisches Beschreibungsmittel unmöglich mit
einem Inertialsystem äquivalent sein kann.
Einstein aber behauptet, daß K und K' trotzdem „als Bezugs-
systeme für die physikalische Beschreibung gleichberechtigt seien"
(S. 10). Diese Behauptung sucht er damit zu stützen, daß wir
aus der Relativbeschleunigung jener unbeeinflußten Masse gegen-
über K', an und für sich nicht entnehmen können, daß K' kein
Inertialsystem ist.
Man könne mit gleichem Rechte annehmen, daß K' ein Inertial-
system sei, in welchem ein Gravitationsfeld die Beschleunigung der
Masse relativ zu K' bewirke. „Das . mechanische Verhalten der
Körper relativ zu K' ist dasselbe" lehrt Einstein, „wie es gegen-
über Systemen sich der Erfahrung darbietet, die wir als „ruhende"
bezw. als „berechtigte" Systeme anzusehen gewohnt sind"; — dieser
Satz ist irreführend; die phorönomischen kinematischen Bezie-
hungen sind die gleichen; ob das mechanische Verhalten, d.h. die
mechanisch- dynamischen die gleichen sind — das ist nur postuliert
und erst zu beweisen — und gerade dies ist zu beweisen unmög-
lich, weil die Wahl der „berechtigten" Systeme, d. i. der Inertial-
systeme nicht von unserer Willkür abhängt, sondern empirisch
festgestellt ist, durchaus nicht auf „Gewohnheit" beruht, wie
480 Oskar Kraus,
Einstein glaubt. Wahr ist, daß sowohl das System K als das
System K', das heißt sowohl Inertialsysteme als auch solche, die
es nicht sind, für die kinematisch -mathematische Beschreibung
gleichwertig als Bezugssysteme benutzt werden können. Das ist
eine alte Sache — falsch aber ist es, daß sie darum als dyna-
misch-physikalische Beschreibungsmittel äquivalent
sind. Gleichwertigkeit als Bezugspunkt kinemati-
scher-phoronomischer Beschreibung darf nicht mit
Gleichwertigkeit als physikalisch dynamisches Be-
schreibungsmittel verwechselt werden. Bei Benutzung
von K' bleibt vielmehr die Beschleunigung der betrachteten Masse
nicht invariant, sonach ist das verallgemeinerte Aquivalenz-
postulat unerfüllbar.
(An der bereits zitierten Stelle der „allg. Relativitätstheorie"
S. 10 verfällt Einstein in die Verwechslung bezw. Gleichstellung
von „ruhendem" und „berechtigtem" (gleichwertigem) System.
„Ruhend" ist nämlich lediglich ein synonymer Ausdruck für das
im Beschreibenden ruhende Bezugssystem oder das beschreibende
Bezugssystem. Für die kinematische Beschreibung ist nun
jedes im Beschreibenden ruhende Bezugssystem gleichberechtigt ;
weil jede Beziehung richtig beschrieben wird, welches immer der
beiden in Beziehung stehenden Dinge ich zum Fundament und
welches immer ich zum Terminus der Beziehung mache. (Vgl.
Oskar Kraus, „Franz Brentano", mit Beiträgen von Carl Stumpf
und Edmund Husserl, München 1919, S. 26). Bei der dynami-
schen Beschreibung aber heißt ruhendes oder berechtigtes Sy-
stem nichts anderes als Inertialsystem. Von diesen ist aber
empirisch sicher gestellt, daß nicht jedes im Beschreibenden
ruhende Bezugssystem ein Inertialsystem sein kann.
Nicht jedes im Beschreibenden ruhende, in diesem Sinne
berechtigte Bezugssystem ist als ruhendes, d. h. Inertialsystem
oder ihm äquivalentes, gleichberechtigtes, bewegtes zu gebrauchen.
Man einige sich über die Termini ! — Einstein wünscht, daß
jedes im Beschreibenden ruhende Bezugssystem gleichwertig sei
als Beschreibungsmittel der dynamischen Gesetze; diesen Wunsch
nennt er Postulat, nach dem die Natur sich zu richten hat.)
18. Eine andere Frage ist es, ob die von Einstein als „Aqui-
valenzprinzip" bezeichnete1) Inertialfiktion nicht — wie auch
1) Nicht mit unserem Koordinatenäquivalenzprinzip zu verwechselnde.
Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 481
Loren tz (3 Vorträge S. 34) glaubt — einen heuristischen Wert
enthält ?
Soll es möglich sein ein Koordinatensystem, das kein Inertial-
system sein kann, trotzdem, wenn man es als Beschreibungsmittel
benutzt, hinsichtlich relativ zu ihm beschleunigter Vorgänge als
Inertialsystem zu fingieren, so schließt das gewisse physikali-
sche Voraussetzungen in sich, so vor allem, daß auch die Licht-
strahlen den Gesetzen der Trägheit und der Schwere unter-
worfen sind; die Durchführung der Inertialfiktion ist nämlich nur
möglich auf Grundlage bestimmter Hypothesen über die Natur
des Lichtes und der Elektrizität, die auf eine vereinheitlichende
Naturbetrachtung und auf eine Synthese von Emissions- und Un-
dulationstheorie hinweisen. Lichtstrahlen in einem echten Gravi-
tationsfeld müßten abgelenkt werden, — und ihre Geschwindigkeit
ändern — womit das Gesetz der Konstanz der Lichtgeschwindig-
keit aufgegeben wäre, und Licht, das von größeren Massen zu uns
gelangt, müßte eine spektrale Rotverschiebung zeigen, weil dort
die Schwingungsdauer der Lichtquelle reell größer, die Schwingungs-
zahl reell geringer wäre 1). Nur so kann nämlich die Inertialfiktion
auch dem Lichte gegenüber gewahrt werden. Hierüber wird die
Beobachtug entscheiden.
Als Postulat ist das „Einsteinsche Aquivalenzprinzip" un-
erfüllbar, als heuristische „Inertial- und Gravitations-Fik-
tion" könnte es nützlich sein.
Zugleich zeigt sich der logische Zusammenhang der Einstein-
schen Inertialfiktion mit der Einsteinscheu Symbolik der geo-
dätischen Linien. Die Inertialfiktion (von ihm Aquivalenzprinzip
genannt) kann sich nur bewähren, wenn das Licht — und somit
auch die Elektrizität — dem Gravitationsgesetze unterliegt, sie legt
somit den Gedanken einer universellen Herrschaft des Gravitations-
gesetzes nahe. Auf der Annahme dieser Herrschaft aber beruht
die Symbolik des gekrümmten Raumes 2). Vielleicht gelingt es auf
diese Weise aus dem erkenntnistheoretischen Dunkel der Theorie
die physikalisch-heuristisch wertvollen Elemente auszusondern.
19. Noch ein dritter Gedanke Einsteins zielt vielleicht auf etwas
Richtiges. Wer ein Naturgesetz aussprechen will, der will aus-
sagen, daß es schlechthin unmöglich sei, daß unter gewissen Um-
1) Vgl. hierzu insbes. Kopff S. 112—178, Born S. 231, Freundlich S. 63.
2) Vgl. Kantstudien XXV. S. 22 f. u. „Fiktion u. Hypothese" S. 384.
Kantrtudien. XX Tl. 31
482 Oskar Kraus,
ständen ein gewisses X ausbleibe. Die Allgemeinheit, Allgemein-
gültigkeit, Ausnahmslosigkeit gehört zu dem Begriffe eines Natur-
gesetzes. Dadurch aber, daß man das betrachtete Bewegliche auf
Koordinatensysteme bezieht, ist man genötigt von Bewegungs-
gesetzen zu sprechen, die nur in bezug auf gewisse Koordinaten-
systeme gelten. (So Einstein, gemeinverständl. S. 8, § 4). Relativ
zur Erde beschreiben die Fixsterne Kreisbewegungen.
Nur wenn man das im Beschreibenden ruhend gedachte Koor-
dinatensystem, gewöhnlich irreführender Weise schlechthin „ruhen-
des" genannt, in den Fixsternhimmel verlegt, erhält man ein empiri-
sches Inertial System, und entsprechen daher die Naturvorgänge mög-
lichst genau den Newtonschen Bewegungsgesetzen und dem Inertial-
gesetze im besondern. Das Unpassende eines „Gesetzes, das nicht
allgemein gilt" bezw. einer solchen Redeweise hat sich allmählich
fühlbar gemacht. Denn um eine Redeweise f um nichts mehr
handelt es sich. „Das Koordinatensystem" sagt Einstein (Natur-
wissensch. 1920, S. 1010) ist nur Beschreibungsmittel und hat an
sich nichts zu tun mit den zu beschreibenden Gegenständen!"
Sehr richtig ! Zieht man aus diesem Satz die Folgerung, so ergibt
sich erstens, daß — wie es auch Newton getan hat — die Natur-
gesetze ohne Bezugnahme auf Koordinatensysteme — absolut —
zu formulieren sind. Zweitens folgt: Benutzt man als Hilfen
Koordinatensysteme, so muß man unter diesen Beschreibungs-
mitteln die untauglichen beiseite lassen. Tauglich ist aber nur
das Inertialsystem bezw. — unter Berücksichtigung des Koor-
dinatenäquivalenzprinzips — die Inertialsysteme. Statt von
Gesetzen, die nicht allgemein gelten, hätte man von
Koordinatensystemen sprechen sollen, die nicht all-
gemein brauchbar sind. Das sind jene, die nicht Inertial-
systeme sind. Statt die herkömmliche Redeweise abzulegen, sucht
Einstein nach allgemein brauchbaren Koordinatensystemen, nach
der „kovarianten Formulierung der Naturgesetze".
An den Gaußschen Koordinatensystemen glaubt er solche
gleichwertige Beschreibungsmittel gefunden zu haben. Wir haben
soeben (§ 12) gesehen, daß dieses Unternehmen aussichtslos ist. —
Dazu kommt folgendes: Das Trägheitsgesetz, das Newton absolut
ausgesprochen hat, wird von Einstein verändert wiedergegeben
(Naturw. 1920): „Von einander hinreichend entfernte materielle
Punkte bewegen sich geradlinig gleichförmig" — so sagt Einstein
— „vorausgesetzt, daß man die Bewegung auf ein passend be-
Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 483
wegtes Koordinatensystem bezieht und daß man die Zeit passend
formuliert1)." — „Wer empfindet" so fährt er fort, nicht das Pein-
liche einer solchen Formulierung. Den. Nachsatz weglassen aber
bedeutet eine Unredlichkeit". — Ich meine, daß diese Formulierung
darum peinlich ist, weil sie die Newtonsche entstellt und weil sie
eine Zirkeldefinition ist. Denn ein passend gewähltes Koordinaten-
system ist ja eben ein Inertialsystem, d.h. ein solches, „in bezug
worauf das Trägheitsgesetz gilt". — Es ist ferner ein Irrtum,
Allgemeingültigkeit der Naturgesetze mit ihrer kovarianten Ge-
stalt zu verwechseln, d. h. ihr durch die unmögliche Gleichwertig-
keit aller Koordinatensysteme gerecht werden zu wollen.
Die Forderung, daß alle Koordinatensysteme gleichwertig seien
für die dynamische Beschreibung der Naturvorgänge, haben wir
dem empirisch Räumlichen gegenüber als unerfüllbar erkannt. —
Was jedoch diesen Postulaten etwa Richtiges vorschwebt,
scheint mir folgendes zu sein: Schon der Name „allgemeine Rela-
tivitätstheorie" deutet darauf hin, daß der leitende Gedanke die sog.
Relativität aller Bewegung ist. Wir schauen nur relative Bewe-
gungen an, wir können kinematisch, phoronomisch nur Relativ-
bewegungen beschreiben. Es muß daher, meint Einstein,
möglich sein, alle Bewegungen auch dynamisch als
relative zu beschreiben. Diese Aufgabe ist erfüllbar. Denn
eine Bewegung als relative beschreiben , heißt sie als nicht voll-
kommen bestimmte — in allgemeiner Weise beschreiben (vgl.
neben Aloys Müller , insbesondere Franz Brentano Kantstudien
XXV, Angersbach, Das Relativitätsprinzip, Leipzig 1920, S. 8
und neuestens Kopff, Grundzüge der Einsteinschen Relativitäts-
theorie S. 14. 107. 108 u. 189). Da es jedoch im Begriffe der
Relativbewegung liegt, daß mindestens zwei Beschreibungs-
objekte in Frage kommen, so kann man natürlich eine Relativ-
bewegung nicht anders beschreiben als indem man die Abstands-
änderung zweier Körper oder die Änderung der Richtung
ihres Abstandes «oder beides beschreibt. Relativistisch d. h. unbe-
stimmt formuliert müßte m. E. das Trägheitsgesetz so formuliert
werden, daß man sagt: „der Abstand zweier Körper oder eine
vorhandene geradlinige gleichförmige Abstandsveränderung zweier
Körper kann unmöglich eine Änderung erfahren, sofern nicht
1) Newtons Formulierung lautet: Ein jeder Körper verharrt in seinem Zu-
stande der Ruhe oder gleichförmigen Bewegung, „solange er nicht von äußeren
Kräften zu einer Änderung gezwungen wird".
31*
484 Oskar Kraus,
äußere Kräfte auf mindestens einen von diesen beiden Körpern
einwirken". — Das Beschreibungsmittel ist hierbei begrifflich von
den beschriebenen Objekten getrennt. Gesetzt nun, eine kontinuier-
liche Richtungsänderung des zwischen Erde und Fixsternhimmel
(Fixsternhimmel und Erde) bestehenden Abstandes, also eine Re-
lativrotation, werde festgestellt.
Sogleich steht fest, daß diese Richtungsänderung auf ein An-
greifen äußerer • Kräfte gemäß dem „relativierten, d. h. verall-
gemeinerten Trägheitsgesetze" schließen läßt, nur bleibt unbe-
stimmt, ob dieselben an der Erde oder an den Fixsternmassen
angreifen. Will man aber „eine Hypothese über den Sitz der
Bewegung" einführen, so muß man sich fragen, ob bei Benutzung
des so oder so gelegten Koordinatensystems sich das spezielle
Newtonsche Trägheitsgesetz ergibt, ob also eines von ihnen ein
Newtonsches Inertialsystem ist? Denn dieses entscheidet nicht
über relative, sondern über die absolute Bewegung1) der Körper.
Einstein erklärt jedoch eine kausale Hypothese über den
Sitz der Bewegung überhaupt nicht beabsichtigt zu
haben.
Er müßte daher seine Anhänger darauf aufmerksam machen,
daß seine Wendung weder eine ptolemäische noch eine koperni-
kanische ist, weil er eben keine Hypothese über den Sitz der Be-
wegung machen wolle (Naturw. 1918). — Dann müßte er zurück-
nehmen, was er in den Grundlagen der allg. Relativitätstheorie
verkündet hat, daß die fernen Massen und ihre Relativrotation
Deformationsursachen sind. Was Ursache ist, bleibt unbestimmt,
weder daß die fernen Massen allein wirken, noch daß sie mit-
wirken, ist gesagt. Es ist nichts für und nichts gegen Kopernikus
oder Ptolemäus gesagt. Freilich ist diese allgemeine Art der Be-
schreibung, mag sie welche Vorzüge immer besitzen, nicht das letzte
Ziel der Naturforschung, die stets konkrete Kausalforschung ist. Ein-
stein hat in Prag zugegeben, daß seine Theorie den Verzicht auf
Kausalerklärung in sich schließe. Das Allgemeine und Unbestimmte
verlangt nach näherer Determinierung; schon Aloys Müller und
Franz Brentano, wie andere auch, haben erkannt, daß die Be-
schreibung einer Bewegung als bloß relativer eine unvollkommen
bestimmte ist, und daher eine bloß relative Bewegung behaupten,
1) Über diesen Begriff vgl. Kantstudien XXV Brentanos Abhandlung über
„Zeit und Raum"; er ist ohne die Gefäßtheorie des Raumes und der Zeit voll-
ziehbar.
Verwechslungen von Beschreibungsmittel und Beschreibungsobjekt usw. 485
soviel heiße, wie eine unbestimmte Bewegung als wirklich
setzen.
Niemand hat ihre Argumente widerlegt. Dadurch, daß eine
Behauptung immer wieder erhoben wird, dadurch wird sie um
nichts wahrer. —
Wir wissen nicht, was sich in individuo bewegt, wenn wir
nur wissen, daß zwischen Erde und Fixsternhimmel eine Relativ-
rotation stattfindet.
Ein böses Sophisma aber ist es nun, behaupten zu wollen, der
Beobachter bringe die Bestimmtheit hinein, indem er je nach Lage
mit gleichem Rechte die Erde, wie jene fernen Massen als ruhend
oder bewegt betrachten dürfe. Das heißt den Teufel durch Beel-
zebub austreiben und an Stelle der Existenz des Unbestimmten,
den protagoräischen Subjektivismus setzen, wie ihn z. B. Petzold
als höchste Errungenschaft der Philosophie und Einsteins im be-
sondern verkündet. Lehnt Einstein Petzold ab, wie er dies in
Prag ausdrücklich erklärt hat, so bleibt die Frage, ob er meint,
daß Allgemeines, Unbestimmtes existieren könne?
Einstein scheint dies zu glauben. Denn er verkündet, es sei
eine „Binsenwahrheit" (so nach seinem Prager Vortrag), daß es
keine andere als relative Bewegung überhaupt geben könne.
Aber auch die geradlinige gleichförmige Translation bleibt un-
bestimmt, wenn nichts weiter ausgesagt wird, als daß zwei Körper
oder Punkte ihren Abstand relativ zu einander so und so ändern.
Die Beschreibung ist nicht falsch, aber unvollständig. Zugegeben,
wir könnten nicht erkennen, welcher der beiden Körper sich ab-
solut bewegt, so ist doch apriori sicher, daß einer von ihnen oder
beide sich absolut bewegen müssen, daß nicht beide absolut ruhen
können. Die Unmöglichkeit bloß relativer Bewegung steht apriori
fest, ist eine einfache Folge des Satzes des Widerspruchs, wie
der Artikel Brentanos Kantstudien 1920 genügend deutlich ge-
zeigt hat. Newton hat nicht an ihr gezweifelt, obgleich er nur
bei der Rotationsbewegung Kriterien für absolute und relative
Bewegung aufgezeigt hat.
Das Relativitätsgesetz (oben § 1 c) steht hiermit nicht in
Widerspruch, es handelt nur von der Unmöglichkeit, aus Vorgängen
innerhalb eines geradlinig gleichförmig transferierten Systems die
Translation dieses Systems zu erkennen.
Die Unanschaulichkeit der absoluten Bewegung ist ebenso-
wenig ein Beweis gegen ihre Wirklichkeit, wie die Anschaulich-
486 Oskar Kraus, Verwechslungrfn von Beschreibungsmittel usw.
keit der Sinnesqualitäten — der Farben und Töne ein Beweis ist
für ihr transmentale Existenz.
Man muß sich — so mahnt Newton — in der philosophischen
Betrachtung von den Sinneseindrücken befreien, und die Ver-
wechslung der wahren Größen mit ihren Relationen und gewöhn-
lichen Messungen erklärt er als eine Versündigung gegen den
Geist der Philosophie und Mathematik ').
1) Daß auch die vollständig einwandfreie Feststellung der drei Gravitations-
effekte nicht zur Einsteinschen Raum-Zeitauffassung nötigen würde, erklärt Bott-
linger (Jahrbuch der Radioakt 1920, S. 159) unter Hinweis auf Wiechert. —
Die ablehnende erkenntnistheoretische Stellung von Lorentz (drei Vorträge) ist
bekannt. — Desgleichen die von Gehrcke und Lenard : (Gehrcke vgl. insbesondere
Kantstudien XIX, Naturw. 1913, Die Relativitätstheorie, Berlin 1920, „Die Stellung
der Mathematik zur Relativitätstheorie" in den Beitr. zur Philos. des Deutschen
Idealismus 2. Bd. usw.; Lenard, Über Relativitätsprinzip, Äther, Gravitation
Leipzig 1921 in 3. Auflage). Gegnerische bezw. kritische Äußerungen ferner bei
Wiechert, Annalen der Physik 1921 wie schon im Bande „Physik" der Hinne-
bergschen „Kultur der Gegenwart"; ich nenne weiter Abraham, Scientia Bd. XV
1914, W. Wien: Neuere Entwicklung der Physik, Leipzig 1919. Mie, Helge
Holst, Dingler, Geißler, Glaser, Kottier, Fricke, Weinstein, Jacob, Isencrahe,
Reichenbächer. Von Philosophen erinnere ich an Becher, Berg, Bernays, Lip-
sius, Ripke-Kühne, Sellien, Frischeisen-Köhler, Hartmann, Kries. — Bei Isencrahe
begegnen wir dem Versuche einer eingehenden Begriffsanalyse. Die soeben er-
schienene „Mechanik" von Hamel (Teubner 1921) deckt sich vielfach mit meinem
Standpunkt. — Während der Drucklegung dieses Artikels, der im Mai 1921 ab-
geliefert war, erschienen Lenards Abhandlungen „Äther und Uräther" (Verlag
S. Hirzel, Leipzig 1921) und „Fragen der Lichtgeschwindigkeit" (Astr. Nachr.
Bd. 213 Nr. 5107), in denen vermöge einer „Synthese von Undulationstheorie
und Emissionstheorie" (vgl. oben § 16) von all den Erscheinungen quantitative
und qualitative Rechenschaft zu geben versucht wird, die den Anlaß zur Ent-
stehung der „Relativitätstheorie" gebildet haben. Nur auf diese oder ähnliche
Weise wird der Weg zu einer philosophischen Gesundung der Physik gefunden
werden.
Besprechungen.
Einleitungen in die Philosophie.
Wandt, Wilhelm, System der Philosophie. Vierte, umgearbeitete
Auflage. 2 Bände, 1919. Alfred Kröner Verlag in Leipzig. 1. Band: XVI und
436 Seiten; 2. Band: VI u. 304 Seiten. Geheftet 20 Mk., gebunden 25 Mk. und
Teuerungszuschlag.
Alsbald nach der Fertigstellung der neuesten Auflage seiner „Logik" (Ja-
nuar 1919) war es Wundt vergönnt, diese neue Auflage seines „Systems"
nach Erledigung einiger Umarbeitungen und Einfügung einiger Ergänzungen
fertigzustellen (März 1919). Um seinen philosophischen Standpunkt zu ver-
deutlichen und in gewissem Sinne zu rechtfertigen und zu begründen, gibt
er Kenntnis von dem Wege, auf dem er zur Philosophie gelangt ist. Es macht
nach W. „einen Unterschied, wo man anfängt, und wo man aufhört". Da ich
von den Naturwissenschaften ausgegangen und dann durch die Beschäftigung
mit empirischer Psychologie zur Philosophie gekommen bin, so würde es mir un-
möglich erscheinen, anders zu philosophieren als nach einer Methode, die dieser
Folge der Probleme entspricht" (Vorwort IX). Gemäß ihrer geht W. also den
Weg von unten nach oben, den der Induktion, und so ist ihm die Philosophie
nicht das erste ,- sondern das letzte Glied im System der Wissenschaften. Ihren
allgemeinen Zweck erblickt er darin, unsere Einzelerkenntnisse zu einer die Forde-
rungen des Verstandes und die Bedürfnisse des Gemütes befriedigenden Welt-
und Lebensanschauung zusammenzufassen, und ihr Verhältnis zu den Einzelwissen-
schaften bestimmt er darin, daß sie den Tatbestand dieser Wissenschaften rück-
haltlos als die Basis anzuerkennen habe, von der allein sie ausgehen dürfe. So
ergibt sich W.s bekannte Begriffsbestimmung: die Philosophie ist „die allgemeine
Wissenschaft, welche die durch die Einzelwissenschaften vermittelten allgemeinen
Erkenntnisse zu einem widerspruchslosen System zu vereinigen hat." Die Philo-
sophie vermag also ihr Geschäft erst dann zu beginnen, wenn dasjenige der
Einzelwissenschaften bereits bis zu einem gewissen Abschluß gediehen ist. Indem
sie aber die Ergebnisse der Einzelforschung in der angegebenen Weise zusammen-
faßt, tritt sie jenen selbst regulierend und richtunggebend gegenüber.
In diesem doppelten Verhältnis der Philosophie zur Einzelforschung ist
ihr Charakter als wissenschaftliche Philosophie begründet. Ihre erste
Aufgabe gegenüber den Einzelwissenschaften besteht in der Gliederung derselben,
die also nicht neue Wissenschaften zu schaffen, sondern nur die tatsächlich ge-
gebenen Forschungsgebiete zjj ordnen hat.. Diese Einteilung hat folgende Gestalt :
1) Formale oder mathematische Wissenschaften ; 2) Naturwissenschaften; 3) Geistes-
wissenschaften.
Hat aber die Philosophie auch den Inhalt mit der Gesamtheit der Einzel-
wissenschaften gemein, so weicht ihr Standpunkt, von dem aus sie diesen In-
halt betrachtet, insofern von den positiven Wissenschaften ab, als „sie von vorn-
herein den Zusammenhang der Wissensobjekte im Auge hat" (S. 22). Von
hier aus gesehen gliedert sich ihre allgemeine Aufgabe in zwei Hauptprobleme
und in zwei, diesen entsprechenden philosophische Wissenschaften: in die Er-
kenntnislehre und die Prinzipienlehre oder Metaphysik.
488 Besprechungen (Wundt — Jerusalem).
gemeine Erkenntnistheorie, die mit der formalen Logik zusammen die Logik im
weiteren Sinne des Wortes bildet und die Bedingungen, Grenzen und Prinzipien
der Erkenntnis im allgemeinen untersucht, und in die Methodenlehre, die sich
mit den besonderen Gestaltungen dieser Prinzipien innerhalb der verschiedenen
Gebiete wissenschaftlicher Forschung beschäftigt" (S. 23). Die Metaphysik da-
gegen gliedert sich in die Philosophie der Mathematik, der Natur- und der Geistes-
wissenschaften oder — wie W. diese beiden letzten Teile des Systems auch nennt
— in die Naturphilosophie und in die Philosophie des Geistes.
Unter Zugrundelegung dieses Schemas wird nun eine übersicbtliche Darstellung
des Systems der Philosophie geboten. In jeder Zeile merkt man die Hand des
Meisters, verspürt man die außerordentliche Begabung zur logischen Analyse und
Differenzierung, die uneingeschränkte Sicherheit in der vollendeten Beherrschung
des Stoffes und in der diesen Stoff ordnenden Technik. Man sieht sich vor einen
überwältigenden enzyklopädischen Reichtum an Kenntnissen gestellt, und man ge-
wahrt die imposante Arbeit eines architektonisch formenden Verstandes, dem eine
scheinbar nie erlahmende Energie zur Verfügung steht, und der in unbeirrbarer
Sachlichkeit und Ruhe Punkt für Punkt in dem ungeheueren Gebiete der Philo-
sophie zur Untersuchung vornimmt.
Berlin. Arthur Liebert.
Jerusalem, Wilhelm, Professor a. d. Univ. in Wien, Einleitung in die
Philosophie. 7. u. 8. Aufl. Wien und Leipzig, Wilhelm Braumüller 1919.
389 S. Preis 18 Mk.
Die neue Auflage dieser Einleitung, die zu den am meisten gelesenen philo-
sophischen Büchern gehört — die 6. Aufl. war 1918 vergriffen und Uebersetzungen
in 7 Sprachen sind bereits erschienen — unterscheidet sich von den früheren
durch die Umarbeitung und Erweiterung der Abschnitte über Ethik und Soziologie.
Unter dem Eindrucke des Weltkrieges hat J. sein Ideal der Humanität, der Mensch-
heitssolidarität nicht etwa aufgegeben, sondern desto nachdrücklicher als Ziel der
geschichtlichen Entwicklung und ethische Aufgabe hingestellt.
Ich gebe eine kurze Inhaltsübersicht mit besonderer Betonung der originellen
und fruchtbaren soziologischen Betrachtungen.
I. Bedeutung und Stellung der Philosophie. Die Philosophie ist
darum nicht minder eine Wissenschaft, weil sie mehr ist als Wissenschaft. Sie
hat nicht nur die Erfahrung des täglichen Lebens und die Ergebnisse der Wissen-
schaft zu einer einheitlichen Weltanschauung zu vereinigen, sondern auch „den
unermeßlichen Kräften, die uns die Wissenschaft zur Verfügung stellt, die Rich-
tung zu geben und die Ziele zu zeigen" (S. 15).
II. Die propädeutischen Disziplinen. In der empirischen Psycho-
logie sieht J. die Grundlage aller philosophischen Forschung. Das Wesen der
experimentellen Methode, der genetischen und biologischen Betrachtungsweise, der
differentiellen Psychologie wird kurz erläutert. Ebenso werden die Hauptrich-
tungen der Logik aufgezeigt, wobei Verf. gemäß seinem pragmatistisch - psycho-
logistischen Standpunkt freilich nicht der großen von Husserl ausgehenden Re-
naissance der reinen Logik gerecht werden kann, die Möglichkeit einer Phäno-
menologie, die von empirischer Psychologie so weit entfernt ist wie von Meta-
physik nicht einzusehen vermag (S. 40).
III. Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie. Aus ähnlichen
Gründen wird der kritische Idealismus abgelehnt, weil er entweder zum Solipsismus
führe oder eine spiritualistische Metaphysik voraussetze. Dagegen wird einem
„kritischen Realismus" das Wort geredet, der nicht wie der naive glaubt, daß
die Dinge so sind, wie sie erscheinen, sondern sagt, daß sie auch so sind. Die
fruchtbarsten Gedanken für das Verständnis des Ursprungs und der Entwicklung
der Erkenntnis findet J. im Pragmatismus. Es fällt auf, daß J. in diesem Zu-
sammenhang nicht auf den von Avenarius begründeten Empiriokritizismus hin-
weist, der m. E. die biologische Theorie des Erkennens mit ganz anderer wissen-
schaftlichen Gründlichkeit und weit entfernt von jener groben Einstellung auf das
unmittelbare praktische Bedürfnis, die sich bei James und den meisten Pragma-
Besprechungen (Jerusalem). 489
tisten findet, entwickelt hat. Verf. glaubt das Wesen der Erkenntnis in der Ur-
teilsfunktion gefunden zu haben, welche alles Gegebene als Kraftäußerung eines
Kraftzentrums auffaßt. Der Begriff der Wahrheit eines Urteils, die nichts anderes
sein soll als „die Bedingung seiner Verwertbarkeit für die Bestimmung der nötigen
Maßnahmen", gewinnt erst seine Bedeutung, wenn das Denken nicht mehr bloß
unmittelbar praktische Zwecke verfolgt, sondern sozusagen auf Vorrat gedacht
wird. Neben das objektive Kriterium, das sogleich in das tatsächliche Ein-
treffen von Voraussagen umgedeutet wird (so wird schließlich doch Wahrheit auf
Tatsächlichkeit zurückgeführt, als ob wir etwas von Tatsächlichkeit wissen könnten,
wenn wir nicht erst wüßten, was Wahrheit ist), tritt das intersubjektive der Zu-
stimmung der Denkgenossen. Wenn Verf. dem Apriorismus vorwirft, daß er sich
dem historisch-genetischen Verständnis des menschlichen Denkens verschließe, so
ist zu sagen, daß die Untersuchung der Gesetze des Denkens, ohne die es kein
Denken wäre, freilich nur am Denken selbst erfolgen und durch keine empirische
Tatsachenforschung gefördert werden kann, daß das aber durchaus nicht hindert,
die Entwicklung der einzelnen Denkmethoden unter biologischem und soziologischem
Gesichtspunkt zu verfolgen. Zur Soziologie des Erkennens liefert J. einen wert-
vollen Beitrag, indem er zeigt, wie die historische Entwicklung zu einer durch
die soziale Differenzierung bedingten immer weiter gehenden Emanzipation des
denkenden Individuums von den „sozialen Verdichtungen" (das sind geistige Ge-
bilde, die zum Gemeingut einer Gruppe geworden, überpersönliche Autorität an-
nehmen) führt.
IV. Metaphysik oder Ontologie. Nach einer Darstellung der ver-
schiedenen Richtungen des Monismus entscheidet sich Verf. für einen an Wundt,
Bergson und Joel orientierten Dualismus.
V. Wege und Ziele der Aesthetik. Die Aufgabe der Ae., als einer
„Philosophie des Fühlens", wird hauptsächlich in einer Psychologie des ästhetischen
Genießens gesehen und dieses als „eine besondere Art von Funktionslust, die
durch Betrachtung hervorgerufen wird" (171), bestimmt. .
VI. Allgemeine Ethik. Der „Philosophie des Wollens" weist J. außer
der normativen, auf der bisher alles Gewicht gelegen, die historisch-psychologische
Aufgabe zu, die Gesetze der moralischen Beurteilung zu erforschen. In einem
historischen Ueberblick werden sittliche Autonomie und Autarkie, der Gedanke
des Universalismus und der Humanität als das Vermächtnis der bisherigen ethi-
schen E«twicklung aufgewiesen.
VII. Soziologie und Geschichtsphilosophie. Die Aufgaben der
So. werden eingeteilt in „äußere" : Darstellung der Struktur der sozialen Verbände
und „innere": Bestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft.
Die induktiv-naturwissenschaftliche, die biologisch-entwicklungsgeschichtliche, die
psychologisch, anthropologisch, national-ökonomisch fundierte Richtung wird uns
vorgeführt. §44 (S. 286 ff.) formuliert „die soziologischen Grundeinsichten": Die
Menschengruppe ist mehr als die Summe ihrer Mitglieder; alle sozialen Gebilde
haben eine doppelte Funktion, sie sind außer uns und über uns, zugleich aber
auch in uns. So treten uns z. B. die sozialen Gebote als Befehle einer mit der
Macht zu strafen ausgerüsteten Autorität und als Stimme des eigenen Gewissens
entgegen. Der Mensch hat sich vom sozial gebundenen Herdentier allmählich zur
selbständigen Persönlichkeit entwickelt. Die individualistische Entwicklungstendenz
führt aber zum Universalismus und Kosmopolitismus. Denn wenn das selbständige
Denken zum Widerspruch mit der nächsten, engeren Gruppe führt, so weiß sich
der einsame Denker gerade in seiner Vernunft mit ,allen Denkenden einig. Dem
von Kant aufgestellten Ideal der „Menschenwürde" wird das der „Staatenwürde"
an die Seite gestellt und die Forderung erhoben, daß zu dem Gefühl der allge-
mein-menschlichen Solidarität „in uns" eine Menschheitsorganisation „über uns"
die notwendige Ergänzung schaffe.
In dem Abschnitt über Philosophie der Geschichte lernen wir die grund-
legenden Gedanken von Herder, Kant und Hegel kennen. In der ökonomischen
Geschichtsauffassung von Marx und Engels sieht J. ein „heuristisches Prinzip
von allergrößter Bedeutung", glaubt aber nicht, daß sie zur Deutung des gesamten
490 Besprechungen (Jerusalem-*- Rausch — Uebervveg).
historischen Prozesses ausreicht. Gegen Ricker t betont er, daß die Auffassung
der Geschichte als individualisierender Kulturwissenschaft zum Verständnis der
historischen Entwicklung nichts beiträgt und die Auffindung der Gesetze des
historischen Geschehens neben der Darstellung der einzelnen Ereignisse weiter
eine Aufgabe der Wissenschaft bleibt. Die Beziehung zwischen Gesellschaft und
Individuum ist für J. der Kernpunkt des geschichtlichen Geschehens und eine
Synthese von Individualismus und Sozialismus das Ziel der Entwicklung.
Ueberall ist J. bemüht in allen Richtungen das Positive, Wertvolle hervor-
zuheben, ohne darum die klare Stellungnahme von seinem Standpunkte aus ver-
missen zu lassen. Daß trotzdem der dem Verf. so fern liegende kritische Idealis-
mus zu kurz kommt, ist wohl notwendig. Vollkommene Objektivität ist hier gar
nicht möglich und scheint mir gerade für eine solche Einführung gar nicht
wünschenswert, ist doch konsequente Durchführung einer bestimmten Grundauffassung
und scharfe Auseinandersetzung mit abweichenden Richtungen am besten geeignet
in das Wesentliche der Philosophie einzuführen: in ihre unendliche Problematik.
Charlottenburg. Dr. Josef Winternitz.
Rausch, Alfred, Direktor des Friedrichs - Kollegiums in Königsberg, Ele-
mente der Philosophie. 4. Aufl. Halle a. d. S. Verlag der Buchhandlung
des Waisenhauses, 1920. XII und 345 Seiten.
„Ein Lehrbuch für höhere Schulen zur Einführung in die Philosophie" hat
der Verfasser, der selbst Schulmann ist, schaffen wollen, es ist aber mehr ge-
worden, nämlich ein Werk, das, wie kein zweites, geeignet ist, in philosophisches
Denken einzuführen, das vor allem den Studierenden unschätzbare Dienste leisten
kann. Ausgehend von dem geistigen Niveau des Durchschnittsgebildeten führt
das Werk den Leser spielend in alle Gebiete der Philosophie ein. Der etwas
einseitig Wundtische Standpunkt des Verfassers kommt in dem Buche zwar zur
Geltung, dürfte aber seinem Wert als Einleitungswerk keinen Eintrag tun, eben-
sowenig wie die Tatsache, daß einige, für den Anfänger schwierige philosophische
Probleme (z. B. das Problem der Willensfreiheit, S. 328 ff.) nicht erschöpfend be-
handelt sind. Wünschenswert wäre nur eine eingehende Literaturangabe gewesen,
die der Verfasser leider weggelassen hat.
Königsberg i. Pr. Dr. Paleikat.
Alte und mittelalterliche Philosophie.
Ueberweg1, Friedrich, Grundriß der Geschichte der Philosophie.
Erster Teil: Das Altertum. Elfte, vollständig neubearbeitete und stark vermehrte,
mit einem Philosophen- und Literatorenregister versehene Auflage, herausgegeben
von Karl Praechter, ord. Professor der klassischen Philologie an der Universität
Halle. Berlin 1920. Ernst Siegfried Mittler & Sohn. 696 Seiten Text, 300 Seiten
Literaturnachweise und Register.
Der vorliegende Band des zu höchstem wissenschaftlichen Ansehen gelangten
Grundrisses von Ueberweg stellt sich, wie sein Herausgeber, der hervorragende
Vertreter der klassischen Philologie an der Universität Halle, Karl Praechter,
mit Recht angibt, als ein neues Buch dar. Und was P. geleistet hat, dient dazu,
den alten, anerkannten Ruhm dieses Grundrisses nicht bloß zu wahren, sondern
in sehr beträchtlichem Umfange zu mehren. Wir verdanken seiner mit vollendeter
Umsicht, Treue, Sachlichkeit und Zuverlässigkeit durchgeführten Arbeit eine ge-
radezu klassisch zu nennende Leistung, und wenn der , Ueberweg' schon immer
als ein schlechthin unentbehrliches Handbuch für jeden auf dem Gebiete der Ge-
schichte der Philosophie Tätigen galt, so bedingt Praechters neue Bearbeitung
der Geschichte der antiken Philosophie in entscheidender Weise eine sozusagen
potenzierte Unentbehrlichkeit dieses Werkes.
Zunächst seien die hauptsächlichsten Fortschritte der neuen Ausgabe gegen-
über den früheren gekennzeichnet. Daß eine außerordentliche Erweiterung und
Vervollständigung des Literaturverzeichnisses vorgenommen wurde, ist selbstver-
Besprechungöii (Ueberweg). • 491
ständlich; begründen sich doch der Wert und die zahllose Benutzung dieses
Grundrisses auf der einzigartigen Fülle und Sorgfalt der Literaturangaben, sowie
auf der übersichtlichen und geschickten Verteilung und Anordnung derselben.
Steckt hierin ein wesentliches, allerdings vergleichsweise untergeordnetes, durch
regelmäßige Ergänzung des Zettelkastens zu bewältigendes Stück Arbeit, so beruht
dagegen ein sehr bedeutender Vorteil des neuen Buches auf der beträchtlich
größeren Ausführlichkeit der Darstellung. Die früher oft allzu knappen, fast
fragmentarisch anmutenden, thesenartigen Bemerkungen des alten Ueberweg be-
deuteten eine rechte Erschwerung für die Lektüre, da es bei diesem Bestand des
Textes nahezu unmöglich war, ein einheitliches, zusammenfassendes Bild der be-
treffenden philosophischen Systeme zu gewinnen. Gegen diesen Uebelstand ist nun
gründlichst Abhilfe geschaffen und zwar dadurch, daß eine ganze Reihe von Par-
tien überhaupt neu geschrieben wurde. Diese wichtige, aber unvermeidlich ge-
wordene Aenderung kam besonders der Darstellung der Platonischen und nächst
ihr der Hellenistischen Philosophie zugute. Aber bei diesen Umgestaltungen ging
P. immer so zu Werke, daß das Prinzip der ursprünglichen Behandlung gewahrt
blieb, indem es ihm vor allem darauf ankam, fern von jedem besonderen philo-
sophischen Gesichtspunkt und jeder systematisierenden Einstellung dem Bericht
eine möglichst große philologisch - historische Treue zu geben. So ließ er, wie
das für ein Handbuch auch unentbehrlich ist, in weitestem Umfang die Quellen
und ursprünglichen Dokumente selber sprechen. Er bietet uns einen erheblich
vermehrten Strom von Autorenstellen, sodaß man im Material geradezu herum-
schwimmen kann. Welchen eminenten Nutzen dabei Diels' garnicht genug zu prei-
sende Ausgabe der Fragmente der Vorsokratiker für die quellenmäßige Bereiche-
rung der betreffenden Kapitel gewährte, läßt deren Lektüre auf Schritt und Tritt
erkennen. Und diese reiche, wohl fast erschöpfende Bereitstellung des Quellen-
materials — für die nachsokratischen Systeme und Schulen in sehr umfangreichen
Auszügen — läßt die Schwierigkeiten ermessen, die seiner Deutung und Auffassung
entgegenstehen. Man vermag an Hand der Belege einzusehen, warum über erheb-
liche Punkte der alten Philosophie noch keine Uebereinstimmung in der Erfassung
des Sinnes jener Punkte erreicht ist, ja, voraussichtlich nie erreichbar sein wird.
Deshalb liegt ein Hauptreiz des Werkes gerade in der durch seine Eigenart er-
möglichten Einführung in die höchst interessante Problematik der Interpretation
und in die relative Berechtigung der verschiedenen, nicht nur nebeneinander her-
gehenden, sondern oft konträren Deutungen.
Ohne nun die soeben berührten ungewöhnlichen Vorzüge des Werkes auch
nur um einen Grad herabdrücken und ohne auch nur das Geringste von der nach-
drücklich ausgesprochenen Anerkennung und Zustimmung zurücknehmen zu wollen,
seien nun doch einige Momente der Kritik berührt, deren Berücksichtigung zum
Mindesten als Gegenstand der Diskussion der Erwägung wert sein dürfte:
1) Es hängt mit der alten, noch ursprünglich von Ueberweg getroffenen
Einrichtung zusammen, daß die Darstellung nicht eigentlich den Charakter einer
einheitlichen, organisch verlaufenden Behandlung der maßgebenden Probleme trägt.
Gegen die jetzt von Praechter getroffene Einteilung in a) Die vorattische
Philosophie, b) Die attische Philosophie, c) Die hellenistisch-römische Philosophie
wird man nichts einwenden können, wenn man die Eigentümlichkeit des vor-
liegenden Lehrbuches und seinen Zweck im Auge behält. Trotzdem wäre es
wünschenswert, wenn bei der allgemeinen Kennzeichnung der griechischen Philo-
sophie (§ 9 S. 37 — 50) die große Linie der Probleme energischer und systematischer
herausgearbeitet würde. Der außerordentliche Reichtum der Einzelausführungen
und die an sich bewunderungswürdige Ausbreitung des Materials lassen auf der
anderen Seite die deutliche, am besten einem besonderen, zusammenfassenden
Paragraphen zuzuteilende Hervorhebung des Ganges der philosophischen Entwick-
lung empfehlenswert erscheinen. Was in dieser Beziehung in den §§ 10, 26 und
54 a geboten wird, darf nur als eine wertvolle Vorarbeit für eine solche straffere,
die einzelnen Problemzusammenhänge ans Licht hebende Gesamtdarstellung an-
gesehen werden.
2) Ein Mangel ist die gar zu knappe Berücksichtigung der orientalischen
Ü92 * Besprechungen (TJeberweg).
Philosophie; im ganzen nur drei Druckseiten. Hier muß m. E. eine grundsätzliche
Erweiterung vorgenommen werden, zweckmäßigerweise wohl unter Heranziehung
eines zweiten Fachmannes. Was P. zur Begründung dieser Außerachtlassung an-
führt, daß nämlich ein Einfluß der indischen auf die griechische Philosophie kaum
nachweishar ist, rechtfertigt nicht diese weniger als summarische Ahfertigung der
orientalischen Philosophie. Denn abgesehen davon, daß die Frage dieses Ein-
flusses noch recht ungeklärt ist, so stellt die orientalische Spekulation auf alle
Fälle eine selbständige und hochbedeutende philosophische Größe dar, die ein-
gehende Berücksichtigung verdient. Verwiesen sei nur auf das von Hinneberg
bei Teubner herausgegebene ausgezeichnete Sammelwerk: Die Kultur der Gegen-
wart, wo in dem einzigen, der Geschichte der Philosophie gewidmeten Band von
543 Seiten der orientalischen Philosophie etwa 80 Seiten eingeräumt sind, während
der ,Ueberweg' für die Darstellung der Geschichte der Philosophie über vier starke
Bände verfügt.
3) Ein grundsätzliches Bedenken möchte ich gegen die im 1. Paragraphen
gebotene Begriffsbestimmung der Philosophie aussprechen. Ein jeder, der sich
in historischer oder in systematischer Absicht mit der Philosophie beschäftigt,
weiß, wie überaus schwer eine solche Begriffsbestimmung ist. Diese sachlich
höchst beachtenswerte und interessante Schwierigkeit ergibt sich aus der Kompli-
kation und Antinomik im Begriff und in der Struktur der Philosophie. Wenn
aber P. definiert: die Philosophie ist die Wissenschaft der Prinzipien, so ist diese
Bestimmung entschieden zu eng und zu locker. Denn erstens ist der Ausdruck:
Prinzipien schon an sich zu vieldeutig, als daß man ihn ohne Zusatz lassen könnte.
Zweitens ist die Philosophie Wissenschaft von den Prinzipien in einem bestimmten
Sinne, d. h. im Sinne einer bestimmten Erfassungsart dieser Prinzipien auf Grund
einer bestimmten Methode ; und die wenigstens allgemeine Angabe der für die Philo-
sophie charakteristischen Methode ist in einer solchen Begriffsbestimmung unerläßlich.
Drittens genügt jene Begriffsbestimmung auch aus dem Grunde nicht, weil sie die
weltanschauliche Tendenz und Bedeutung* der philosophischen Spekulation, ihr Hin-
streben sowohl zu einer Weisheitslehre und zu einer Lehre von der richtigen
Lebensführung, als auch zur praktischen Bewährung einer solchen Lebensführung
außer Acht läßt. Dabei ist doch dieses Streben gerade für wichtige Perioden
der griechischen Philosophie von entscheidender Bedeutung. Viertens bleibt der
für alle philosophischen Bemühungen grundlegende und wegweisende Gedanke der
Einheit und Systematik der Erkenntnis und Wissenschaften, ihre Zusammenfassung
durch ein übergeordnetes Prinzip in jener Begriffsbestimmung unberücksichtigt.
4) Ich würde für die Milderung jener tadelnden Bemerkungen plaidieren,
die den gewaltigen, von Pr. auch in gewissem Umfang anerkannten Verdiensten
Hegels um die geschichtsphilosophischeErfassung der großen Epochen des Geistes-
lebens der Menschheit zuteil werden (S. 11). Was die Philosophie der Geschichte
Hegel verdankt, ist von so grundlegendem Wert, von so großer Fruchtbarkeit und
Tragweite, daß gewisse Härten dieser Konstruktion mit in Kauf genommen werden
können, weil sie mit zum Wesen jeder Systematik gehören. Daß Hegels „Sche-
matismus viel Unheil gestiftet" habe, erscheint mir gegenüber der positiven Förde-
rung der Geschichtsphilosophie durch jenen Schematismus eine zu absprechende
Kennzeichnung des Tatbestandes (vgl. auch S. 5*). — Im Zusammenhang mit
diesem Hinweis möchte ich für eine Verstärkung der Anerkennung eintreten, die
dem wirklich hervorragenden Werk von Joh. Ed. Erdmann, Grundriß der Gesch.
der Philosophie gewidmet wird (S. 6*) Sehr schön und treffend dagegen ist die
Würdigung der Zellerschen Leistung, deren Vorzüge und Schwächen knapp und
sicher hervorgehoben werden (S. 26*). Ist es nicht aber doch zu viel gesagt,
dem Werk von Zeller „die trefflichste Vereinigung von philosophischer Vertiefung
und kritischem Blick" nachzusagen? Dringt Zeller wirklich bis zu den letzten
Wurzeln des philosophischen Gedankens vor?
5) Eine der beherrschenden Fragen für alle Darstellungen der griechischen
Philosophie bezieht sich auf das Problem der Plato - Interpretation, ein Problem,
das jetzt fast ganz und gar an die Stelle der jahrzehntelang mit der größten
Emsigkeit betriebenen Untersuchung der Echtheit und der Reihenfolge der Pia-
Besprechungen (Ueberweg). 493
tonischen Schriften getreten ist. Es handelt sich um die Entscheidung darüber,
ob der Begriff der Idee mehr im ontologistischen Sinne oder mehr im erkenntnis-
theoretischen und methodologischen Sinne aufzufassen sei. Diese Streitfrage ist
in erster Linie durch P. Natorps Buch: Piatons Ideenlehre, eine Einführung in
den Idealismus (Leipzig 1903) in Fluß gekommen, in dem Natorp mit großartigem
Scharfsinn und in echt philosophisch-dialektischer Methode die logische Bedeutung
der Ideen verficht. Wenn nun Pr. schreibt: „Letzten Endes ist der Grund der
logischen Umdeutung der Ideenlehre" in Bemerkungen zu suchen, die Lotze in
seiner Logik getan hat, so stimmt dieser Hinweis nicht ganz. Denn man kann
einen noch viel bedeutenderen Vertreter der logizistischen Auffassung der Ideen
nennen. Es ist Kant, der zwei Mal und zwar in sehr markanten Ausführungen
jene Umdeutung vorschlägt, in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen
Vernunft und in der kleinen Schrift : Ueber einen neuerdings erhobenen vornehmen
Ton in der Philosophie. — Praechter stellt sich nun im großen und ganzen auf
die Seite der Vertreter der ontologistischen Auffassung (S. 278 ff., 299, 338 und
341). und zwar begründet er seine Entscheidung durch die Berufung auf die
Autorität des Aristoteles. „Ein Hauptindiz gegen Natorps Deutung ist der Bericht
des Aristoteles .... Wenn irgendwo so liegt bei Aristoteles die Entscheidung
der Ideenfrage. Er vertritt uns die mit den veröffentlichten Dialogen parallel
gehende zweite Quelle für die Kenntnis der Lehre Piatons, den mündlichen Unter-
richt. Dieser verdiente vor der schriftlichen Lehrübermittelung den Vorzug, da
er Mißverständnissen weniger ausgesetzt war." Hier stock' ich schon! Weiß
nicht jeder akademische Lehrer aus zahlreichen Erfahrungen, daß auch der Vor-
trag, und selbst der klarste, gegen Mißverständnisse nicht gefeit ist ? Aber weiter :
Wer gibt uns eine hinreichende Bürgschaft dafür, daß gerade Aristoteles in völlig
einwandfreier Weise befähigt war, den Sinn der Ideenlehre adaequat zu begreifen?
Zeigt sich Aristoteles nicht in sehr wichtigen, garnicht zu übersehenden Beziehungen
als ein von dem Platonischen abweichender philosophischer und geistiger Typ?
Man erwäge nur einmal die Verschiedenheit des Interesses beider Philosophen
gegenüber der Mathematik. „Aristoteles kann als das Haupt der Empiristen,
Plato aber der Noologisten angesehen werden", heißt es in der Kritik der reinen
Vernunft. Es ist aber ein Merkmal der Empiristen aller Zeiten und Völker, daß
sie auf Grund ihrer Geisteshaltung ideelle Werte nicht anders als in substan-
tialistischer Weise aufzufassen vermögen, um dann von dieser Auffassung aus eine
Kritik jener Werte zu versuchen. Lockes unzutreffende Charakteristik und
Interpretation der Substanzidee ist dafür ein bezeichnendes Beispiel. Und nun
ist es beachtenswert, daß auch Aristoteles der Philosophie Piatons innerlich als
Kritiker gegenüberstand. Inbezug auf diesen Punkt gibt Pr. selbst eine inter-
essante, die Authentizität der Aristotelischen Darstellungen jedoch stark ein-
schränkende Charakteristik vom Wesen des Stagiriten. „Er — Aristoteles —
berichtet vorzugsweise als Kritiker — nämlich über die früheren Philosopheme —
aber eben deshalb sind auch seine Angaben nicht überall unbedingt zuverlässig,
besonders da er an fremde Lehren den Maßstab seiner eigenen Grundbegriffe
legt" (S. 19). Mit dieser m. E. durchaus zutreffenden kritischen Kennzeichnung
des Aristoteles mindert Pr. aber in recht erheblichem Maße die Zuverlässigkeit
und die Objektivität seines Gewährsmannes. Lotzes, Natorps und vieler Anderer
Platon-Auffassung hat ihren Grund auch nicht in dem „Empfinden moderner Philo-
sophen" (8. 279), sondern in sehr eingehenden Forschungen, die darauf gerichtet
sind, den philosophischen Sinn des Ideenbegriffs herauszuarbeiten im Gegen-
satz zu der doch vorherrschend nur durch Aristoteles gestützten traditionellen
ontologistischen Interpretation, von der man nicht so einfach sagen kann, sie
habe „sich auch unter den neueren Platonerklärern als die herrschende behauptet"
(S. 278). Und wenn Pr. zur Stützung der ontologistischen Ideendeutung darauf
hinweist, daß „die Neigung, Abstraktes plastisch zu verkörpern, tief im griechischen
Wesen wurzelt" (S. 279), so kann man mit Fug auch auf die entgegengesetzte
Fähigkeit der wirklichen Philosophen aufmerksam machen, die dahin geht, ihre
Kraft in der Konstruktion unsinnlich-formaler, rein logischer Gebilde zu betätigen :
die Schöpfung der Mathematik und der formalen Logik sind ein Zeugnis dieser
494 Besprechungen (Uebergweg — Wichinann).
ganz unontologischen Begabung und Tendenz. — Pr. ist übrigens keineswegs blind
für die erkenntnistheoretisch-logische Seite der Ideenlehre, wie einsichtsvolle Be-
merkungen z. B. auf S. 280 und 299 belegen. Da sich aber bei Aristoteles keine
Erkenntnis dieser doch so unendlich wichtigen, ja der eigentlich grundsätzlich be-
deutungsvollen Seite der Ideenlehre findet, so ist die bedingungslose Berufung auf
ihn und sein angeblich adaequates Verständnis des Sinnes der Platonischen Leistung
nicht aufrechtzuerhalten. Ceterum censeo: Die Deutungsschwierigkeiten der Pla-
tonischen Ideenlehre stellen ein Musterbeispiel für die außerordentlichen Schwierig-
keiten der Deutung von Schöpfungen der Geschichte überhaupt dar. Besäßen
wir eine systematisch durchgeführte Hermeneutik, deren Schaffung eine der wich-
tigsten Aufgaben aller philosophischen Theorie und Grundlegung der Geschichte
ist, dann hätten wir diejenigen methodischen Hilfsmittel an der Hand, um eine
Auffassung und Illustration der Ideenlehre Piatons zu erreichen, die aller Ein-
seitigkeit fernstehen.
Die Frage der Plato-Interpretation ist, wenn man sie in ihrem tiefsten philo-
sophischen Grund und Gehalt erfaßt, keine Spezialfrage, auch kein Gegenstand
einer nur philologischen Auseinandersetzung. An ihr läßt sich der immanente
Kampf eines der größten Denker aller Zeiten um den Begriff und Sinn der Idee,
d. h. um den Begriff und Sinn des Geistes und des Philosophierens überhaupt
verdeutlichen. Deshalb wäre es nicht unangebracht, für die Erörterung dieser
Frage, ferner für die Darstellung der verschiedenen, gegeneinander streitenden
Ansichten und für die eigene Stellungnahme ein besonderes Kapitel zu verwenden,
statt diese Dinge nur als Anhang zur Inhaltsangabe des , Gastmahls' zu bringen. 2 —
Wenn Kant — in der Vorrede zur 2. Auflage der Kr. d. rein. Vern. — von
dem „bisher noch nicht erloschenen Geist der Gründlichkeit in Deutschland"
spricht, so kann man in dem Werke Praechters die bewunderungswürdige Fort-
setzung und damit Aufrechterhaltung dieses Geistes erklicken. Es stellt ohne
Zweifel einen Höhepunkt in der wissenschaftlichen Literatur der Gegenwart dar.
Berlin. Arthur Lieber t.
Wichmann, Ottomar, Dr., Privatdozent an der Universität Halle, Piaton
und Kant, eine vergleichende Studie. Weidmannsche Buchhandlung, Berlin
1920. 202 Seiten.
In W.s Buche liegt eine für den Kant- wie den Piatonforscher gleich inter-
essante Behandlung des Themas Piaton und Kant vor, die von der Marburger
Einstellung abweicht und sich ihr in vielen Stücken ausdrücklich entgegenstellt.
Jede Kritik der Marburger Piatondeutung pflegt auf die Züge des Piatonismus
hinzuweisen, die bei der kritizistischen Auffassung völlig ausfallen. Sie innerhalb
der platonischen Gedankenwelt zu sehen ist nicht schwer. W. faßt aber seine
Aufgabe anders; er will die neukantische Deutung mit ihren eigenen Waffen
treffen und eine viel weitergehende Uebereinstimmung zwischen Kant und Piaton
feststellen; er will also implicite die Marburger Kantausdeutung als ebenso unzu-
reichend für Kant wie für Piaton erweisen. Dieses Verfahren hat den Vorteil,
daß die Diskussion in der philosophischen Sphäre bleibt, von der aus die Mar-
burger Deutung allein getroffen werden könnte.
Die Kantauffassung, die W. sich zurechtgelegt hat, legt größeren Wert auf
die praktische Vernunft und die Probleme der Urteilskraft; die Kantische Natur-
philosophie ergibt überraschende Uebereinstimmungen mit Piaton (vgl. das V.
Kapitel W.s); W. argumentiert zwar im wesentlichen mit den drei Kritiken, er
findet aber (S. 196 Anm.: „hier nennt auch Kant" [Piaton Druckfehler] „die
Materie den Raum") „wörtlichere verblüffendere" Anklänge im Opus postumum, in
dem er die seiner Meinung nach wesentlicheren metaphysischen Tendenzen am
reinsten ausgesprochen findet. W. zieht die Parallelen mit einer ausgebreiteten
Belesenheit in Kants und Piatons Schriften; den letzteren sucht er in gründlicher
eingehender Interpretation einen neuen Sinn abzugewinnen. Die Gesamtauffassung
Piatons, zu der er gelangt, ist ein eigentümlicher Agnostizismus. Wenn nach
Dilthey alle Metaphysik von dem Skeptizismus als ihrem Schatten begleitet wird,
Besprechungen (Wichmann — Apelt). 495
so ist W.s Auffassung der Schatten zu der ehrlich metaphysischen Deutung Wila-
mowitz', mit der W. sich eingehend auseinandersetzt. Der Zielpunkt der pla-
tonischen Philosophie ist nach W. (S. 52) „unbedingtes, voraussetzungsloses
Wissen". W. legt aber den höchsten Nachdruck auf die geforderte Rechenschaft
die er in „begrifflichem" Sinne versteht. Dieses Ziel ist nach W. nicht in dem
Prinzip der allgemeinen Gesetzlichkeit erreicht (Marburger), auch nicht uner-
reichbar (Wilamowitz) sondern noch nicht erreicht, aber erreichbar
(S. 45). Indem W. durchgängig die skeptischen Bemerkungen, die Piaton dem
Sokrates in den Mund legt, als maßgebend für Piatons eigene Stellungnahme an-
sieht, interpretiert er aus den Werken der Reifezeit den Gedanken heraus, daß
später einmal eine größere Annäherung an das Ziel begrifflicher Erfassung der
Idee zu fordern ist. Da dies tatsächlich nie erfolgt, auch der im Sophistes und
Parmenidos erfolgende „neue Anlauf, Gewißheit über Sein und Wert zu erlangen,
(S. 144) mit einem unzweideutigen Fehlergebnis" schließt (S. 109), so ist nach W.
die letzte Phase der Entwicklung ein resigniertes Zurückkehren zu der früheren
Position etwa des Phaidon> ein Zurückweichen in die Ausgangsstellung nach ge-
scheiterter Schlacht (S. 145). Im Timaios hat zwar „die Forderung , der Gewiß-
heit ihre Schwungkraft verloren" (171), aber sie bleibt bestehen, und „der reli-
giöse Glaube soll keinen Ersatz bieten für das Xoyov didovai". Hinsichtlich der
als Wissenschaft zweiten Ranges aufgefaßten Naturerklärung setzt W. seine be-
reits früher (Kantstud. Erg.-Heft 40) entwickelten Gedanken fort und vertieft sie
durch interessante Parallelen zur Kritik der Urteilskraft.
Der Wert des Buches liegt in der Fülle neuer Probleme, die es stellt. Durch
W.s Darstellung wird die Frage nach dem Verhältnis von Begriff und Idee, die
Notwendigkeit genauerer Abgrenzung des Psychologischen und Logischen in der
platonischen Intuition (cf. S. 51 Anm. 1) in ihrer ganzen Schwierigkeit fühlbar.
Wenn W. (S. 139) erklärt, daß jeder Begriff, sobald man ihn „rein" auffaßt,
zur Idee und folglich begrifflich nicht erreichbar wird, so sieht man deutlich,
daß in der scheinbaren Resignation Piatons logische Motive auftauchen, die zu
einer weiteren Fassung des „Begriffes" drängen. Hätte W. um den Sinn und das
Wesen des platonischen Logos mit derselben Genauigkeit sich bemüht wie um
den Sinn des „Seins" (S. 113 — 115) — solche Bedeutungsanalysen helfen weiter
und sie allein führen zu einem Verständnis Piatons — so wäre der Sinn seiner
Darstellung noch klarer herausgekommen. So aber nähert sich W. gelegentlich
der Auffassung der Idee als einer Aufgabe, ohne doch die Konsequenzen, die
sich daraus für ihre Bedeutung und für den Seinsbegriff ergeben, zu ziehen.
Merkwürdig ist, daß W. manche sehr ernste Probleme ganz peripherisch be-
handelt, wie die Methexis, die Gemeinschaft der Ideen. Freilich stehen bei W.
die obersten Ideen, das Gute, das Sein so sehr im Vordergrunde, daß alle die
Fragen zurücktreten, die erst mit einer Vielheit der Ideen brennend werden.
Aber die Tatsache, daß eine solche Auffassung sich durchführen läßt, verdient
Beachtung. Ueberhaupt ist alles, was W. behauptet, in einer eingehenden wirk-
lichen Kenntnis Piatons begründet, er versucht, zu interpretieren. Darum
ist auch jeder Anstoß, den man nimmt, ein Fingerzeig auf Tatsachen, die der Er-
klärung bedürfen. Darin sehe ich die Bedeutung des Buches.
Breslau. Julius Stenzel.
Apelt, Otto, Piatons Briefe übersetzt und erläutert. Der Philos. Biblio-
thek Band 173. Leipzig 1918. Verlag von Felix Meiner. 154 S. 8°. 4,40 Mk.
Die Uebersetzung der Briefe Piatons ist schon aus dem Grunde verdienstlich,
weil von den drei bisherigen Uebersetzungen (Schlosser 1795, Müller - Steinhart
1859, Wiegand 1859) die zweite nicht einzeln, die erste und dritte überhaupt
nicht mehr zugänglich ist. Die Einleitung gibt über die Geschichte der Brief-
literatur im Altertum und über die Echtheitsfrage der Piatonbriefe ausführliche
Auskunft. Apelt tritt für die unbedingte Echtheit der Sammlung ein und zwar
mit jenen guten, allgemeinen Erwägungen, die alle, die lernen wollen, in den
letzten Jahren genötigt haben umzulernen. Spezielle neue Argumente bringen
weder die Einleitung noch die reichen, 34 Seiten langen Anmerkungen, aber es
496 Besprechungen (Apelt — Rolfes).
sind genug Stellen bezeichnet, an denen der, der auf positive Echtheitsbeweise
hinauswill, ansetzen kann. Und dieser bedarf es in der Tat! Es ist nicht richtig,
daß der Beweiszwang, wie Apelt meint, nur auf der Seite derer ist, die die Un-
echtheit vertreten. Wer sich in so verdächtiger literarischer Gesellschaft befindet,
wie Briefe es sind, muß sich legitimieren können. Aber das können gewisse Teile
der Sammlung auch. Ich glaube, am schlagendsten ist Ep. VII, 342 f.: Name,
Begriff als Wort, empirisches Abbild, wissenschaftliche Erkenntnis, Idee, so führt
Piaton aus, sind die fünf Punkte, die für jedes Objekt unterschieden werden
müssen. Das ist in leicht verständlicher Form und doch in ganz original durch-
gedachter Fassung die Lehre seiner konstruktiven Dialoge, daß die sinnlichen
Objekte genau die Mitte halten zwischen Nichtsein und Sein, und daß es von
jenen zu diesen eine Reihe von Zwischengliedern gibt. Das kann nur Piaton ge-
schrieben haben, denn im Altertum hat niemand diese seine Lehre recht ver-
standen. — Die Uebersetzung ist von der gleichen musterhaften Klarheit des Aus-
drucks und Gedankens und von derselben Zuverlässigkeit in der Uebertragung wie
alle übrigen Bände des Werkes, das nunmehr in sechzehn Bänden vorliegt.
Berlin-Friedenau. Ernst Hoffmann.
Aristoteles, Kategorien (Des Organon erster Teil). Neu über-
setzt und mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen versehen von Dr.
theol. Eugeu Rolfes. Der philosophischen Bibliothek Bd. 8. Leipzig 1920. Ver-
lag von F. Meiner. 8°. 86 Seiten. Preis broschiert 10 Mk.
Aristoteles, Perihermenias oder Lehre vom Satz. (Des Organon
zweiter Teil.) Neu übersetzt und mit einer Einleitung und erklärenden Anmerkungen
versehen von Dr. theol. Eugen Rolfes. Der philosophischen Bibliothek Band 9.
Leipzig 1920. Verlag von F. Meiner. 8°. 42 S. Brosch. 6,25 Mk.
Mit diesen Uebersetzungen der beiden ersten Teile des aristotelischen Or-
ganon kommt Rolfes sicher einem verbreiteten Bedürfnis entgegen : Werden doch
hierdurch philosophische Werke vermittelt, die für die Beurteilung der ganzen
mittelalterlichen Philosophie von allererster Bedeutung sind. In diesem Sinne ist
es auch wertvoll, daß den Kategorien eine Uebersetzung von Porphyrius Ein-
leitung in die Kategorien vorangeht, in der die für das Mittelalter so ent-
scheidende Formulierung des Universalienproblems sich findet. Die gewiß nicht
einfache Aufgabe, Aristoteles sinngetreu in ein lesbares Deutsch zu übertragen,
hat Rolfes auch hier wieder mit Gründlichkeit und Geschick zu lösen gesucht,
wenn auch einzelne Schwierigkeiten bleiben. Eine solche findet sich z. B. in
Kap. 7 der Kategorien: Im Griechischen wird das Verhältnis zweier korrelativer
Begriffe wie „Flügel" und „Geflügeltes" (zum Flügel gehört ein Geflügeltes und
zum Geflügelten ein Flügel) einfach durch den Genitiv voll ausgedrückt, während
im Deutschen der Genetiv einen solchen Sinn nicht anzeigt. Wenn nun Rolfes
als veranschaulichendes Beispiel solchen korrelativen Verhältnisses übersetzt: „So
ist z. B. der Flügel Flügel des Geflügelten", so ist im Deutschen der Sinn des korre-
lativen Verhältnisses keineswegs zum Ausdruck gebracht. Man könnte im Deutschen
an dieser Stelle ebenso „Flügel des Vogels" sagen, obwohl doch nach Aristoteles
zwischen „Flügel" und „Vogel" ein solch korrelatives Verhältnis nicht besteht.
Es zeigt dies Beispiel, mit welchen Schwierigkeiten die Aristotelesübersetzung zu
kämpfen hat, da im Deutschen ein sprachlicher Ausdruck für das korrelative Ver-
hältnis fehlt. Vielleicht: „So ist z. B. der Flügel Flügel (als Korrelat) zum Ge-
flügelten." Diese Schwierigkeit wiederholt sich in noch stärkerem Maße in Kap. 8
auf S. 56. — In der Uebersetzung des Perihermenias ist auf S. 11 der
Ausdruck „jedes von beidem, was" mindestens sehr mißverständlich, das griechische
d7ioTEQovovv bedeutet „jedesmal das von beidem, was". Auf S. 15 ist Aristoteles'
Wendung: „niemals zu gleicher Zeit noch in Bezug auf dasselbe wahr sein" zu
stark zusammengezogen in „niemals von demselben Subjekte wahr sein". Auf
S. 22 hat uvccyncciov einen falschen Akzent.
Eins freilich darf hier nicht übergangen werden: daß Rolfes in der 16. An-
merkung in den Kategorien (S. 81) eine merkwürdige Auffassung vom „Kantschen
Idealismus" vertritt. Darin, daß Aristoteles das Dasein des Sensiblen unabhängig
Besprechungen (Rolfes — "Wittmann). 497
und vor der Wahrnehmung behauptet, sieht Rolfes eine im Voraus erfolgende
Verurteilung des Kantschen Idealismus. Demgegenüber muß die ziemlich bekannte
Tatsache festgestellt werden, daß 1) Kant dem Raum und der Zeit empi-
rische Realität zuspricht, 2) daß er, selbst soweit er Raum und Zeit als
Form behandelt, dennoch diesem Formalen stets das „Materielle der Emp-
findungen" gegenüberstellt. Während man also nach Rolfes annehmen müßte,
Kant habe den Realgehalt in der Empfindung geleugnet, setzt der Kantische
Formalismus gerade in die Empfindung den Realgehalt. Aehnliche, das
Wesen der Kantischen Philosophie vollständig verkennende Aeußerungen finden
sich übrigens auch in den Anmerkungen Rolfes' zur Metaphysik. (Anm. 9 z.
Buch X: „Kant, der . . . bezüglich der sensiblen Welt unsicher zwischen Realis-
mus und Idealismus hin- und herschwankt", Anm. 28 zum IV. Buch wird schlechthin
vom „Kantschen Subjektivismus" gesprochen".)
Halle. Ottomar Wichmann.
Wittmann, Michael, Prof. d. Philosophie in Eichstätt, Die Ethik des
Aristoteles in ihrer systematischen Einheit und in ihrer geschichtlichen Stel-
lung untersucht. Regensburg 1920 März. 8°. XX u. 355 S.
Die vorliegende Untersuchung kommt einem dringlichen Bedürfnis entgegen.
So groß die Zahl der monographischen Arbeiten über Teile der aristotelischen
Ethik ist, so sehr vermißte man bisher eine eingehende Erforschung der aristote-
lischen Ethik als eines Ganzen und ihr allseitig begründetes Hineinstellen in
die historischen Zusammenhänge, aus denen sie erwachsen ist (V— XIV).
W. unternimmt es nun, den inneren Aufbau der ethischen Gedanken-
welt des Aristoteles klar zur Anschauung zu bringen und dabei Abhängigkeit
wie Originalität der Gedankenführung, ihre geschichtlich bedingte Besonderung
wie den in ihr steckenden allgemein menschlichen Kern herauszuschälen : Ausgehend
von einer durchsichtigen Kennzeichnung der Eigenart antiker Problem-
stellung auf ethischem Gebiete, insbesondere von der Hervorhebung ihres
pragmatischen („praktischen") Charakters weist der Verf. auf den Gedanken des
letzten Zieles als den Kristallisationskern der aristotelischen Bemühungen
auf ethischem Gebiete hin. Die „Glückseligkeit", die als dieses letzte Ziel be-
stimmt wird, hat bei Aristoteles nicht einen eudämonistischen, sondern einen aus-
gesprochen teleologischen, näherhin ethischen Charakter, der seinen
Richtpunkt nicht in dem „höchsten Gut" der platonischen Metaphysik, sondern
in dem immanent bestimmten Lebenszweck findet, wenigstens sofern der ari-
stotelische Gedankengang von rein ethischen Gesichtspunkten geleitet wird.
Die Tugendlehre ist somit der wichtigste Bestandteil der Ethik als Glückselig-
keitslehre, und zwar wird, wenigstens implizite, die sittliche Tugend als spe-
zieller Grund der Glückseligkeit angesehen (S. 1 — 42).
So versteht es sich von selbst, daß der Darstellung der aristotelischen
Tugendlehre der größte Raum zugewiesen wird (S. 43—240): Das Originelle
bei Aristoteles erblickt W. in der Bestimmung, daß die Tugend die vernunft-
gemäße Haltung und Verfassung der Gesamtpersönlichkeit ist. Be-
sonders instruktiv ist die Umgrenzung der Funktion des „ ög&bg Adyog" im Unter-
schied zur n(pQ6vri6igu sowie die überzeugende Herausstellung der für das Verständnis
des aristotelischen Systems wichtigen Mehrdeutigkeit der „(pgdvrioig", die bei A.
nicht nur sittliches Denken, sondern sittliche Gesinnung bedeute (S. 55—97).
Die Zergliederung der Begriffe des „«tovffiov" und der „itQocctQsoig" führt uns in
die vielumstrittene aristotelische Freiheitslehre ein (S. 97 — 143, auf S. 116
Z. 12 v. u. muß es offenbar „unfreiwillig" heißen!). W., der diesem Problem
eine besondere Monographie zu widmen beabsichtigt, stellt sich ganz entschieden
auf den Standpunkt, daß A. sich bewußt gegen den sokratischen Determinismus
gewandt hat und „den Ruhm in Anspruch nehmen" kann, „zum ersten Mal den
Versuch zu einer Definition und Theorie der Willensfreiheit unternommen zu
haben". Bekanntlich hat R. Löning in seinem Buch „Die Zurechnungslehre des
A." (1903) den entgegengesetzten Standpunkt eingenommen. Das Kapitel über
„die Tugend in ihrer Beziehung zum Gefühlsleben" (S. 143—173) bietet dem Verf.
Kantatudien. XXVI. 32
498 Besprechungen (Wittmann — Ehrle).
Gelegenheit, darzutun, wie A. bestrebt ist, den einseitigen sokratischen Intellek-
tualismus zu überwinden, ohne damit einer hedonistischen Auffassung zuzuneigen.
„Der aristotelische Tugendbegriff ist intellektualistisch und ästhetisch zugleich"
(S. 178), und er ist mehr als das, weil beide Momente sich dem obersten Ziele,
der höchsten Vollkommenheit der menschlichen Gesamtnatur, unterordnen (vgl.
S. 181 f.).
Die Darstellung der „besonderen Formen der Tugend" nach A. (S. 183 bis
245), aus der besonders die klärenden Ausführungen über den Gerechtigkeits-
begriff (S. 208 ff.) hervorgehoben sein mögen, zeigen uns den Stagiriten als Ver-
treter einer im Grunde optimistischen Lebensstimmung, die aber gezügelt
und veredelt wird durch die Hervorhebung des Pflichtgedankens und durch
den hellenischen Sinn für Maß und Ordnung.
Ihre Probe hat die aristotelische, wie jede Ethik in der Stellungnahme zum
Lustbegriff zu bestehen. A. hat sich darüber an verschiedenen Stellen und an-
scheinend nicht in übereinstimmender Weise ausgesprochen. Der Verf. sucht
kritisch die einzelnen Abschnitte zu zergliedern (S. 246 — 307) und legt dar, daß
A. seiner grundlegenden Einschätzung der Lust nie untreu geworden ist. Die
scheinbaren Unstimmigkeiten erklären sich aus der verschiedenen Einstellung, die
dem jeweiligen Gedankenzusammenhang entspricht.
In einer Schlussbetrachtung (S. 308—322) sucht W. insbesondere die
schließliche Einmündung der aristotelischen Ethik in intellektualistische Bahnen
(vgl. 315 f.) mit der bisherigen rein ethisch orientierten Gedankenrichtung aus-
zugleichen, was allerdings nach seinem eigenen Eingeständnis nicht vollkommen
gelingt.
Ob in der Tat der aristotelischen Ethik uneingeschränkt der „Charakter
der systematischen Geschlossenheit" zugesprochen werden darf, muß danach wohl
dahingestellt bleiben. Daß es W. gelungen ist, den Willen zum System auch
in den ethischen Schriften des A. als richtunggebend zu erweisen, ist zuzu-
geben. Möge deshalb das klar und gründlich verfaßte Werk, dessen Ziel es ist,
unzweideutig auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Aristoteles auch
für die moderne, im wesentlichen an Kant orientierte Ethik hinzuweisen, die Be-
achtung finden, die es vollauf verdient!
Braunsberg, Ostpr. B. W. Switalski.
Ehrle, Franz S. J., Grundsätzliches zur Charakteristik der
neueren und neuesten Scholastik. (Ergänzungshefte zu den Stimmen
der Zeit. Erste Reihe: Kulturfragen. 6. Heft.) gr. 8°. 32 S. Freiburg i. Brsg.
(Herder) 1918. Preis 1 Mk.
Die Scholastik ist ein historischer Begriff. Hervorgegangen aus einer Ver-
einigung der aristotelischen Philosophie mit dem besonderen Lehrgehalt des
Christentums, gipfelt sie historisch in dem Werke des Thomas von Aquin. Die
historische Entwicklung wird kurz skizziert, ohne über eine ganz allgemeine
Charakterisierung hinauszugehen. Wesentlich ist dem Verfasser die neuere und
neueste Scholastik. Die neuere Scholastik beginnt nach ihm mit dem 16. Jahr-
hundert. Die im Gefolge der Reformation auftretende Reform im Katholizismus
bringt theoretisch ein Zurückgehen auf die Scholastik; ihre Erneuerung trägt
deutliche Spuren des Humanismus an sich. Gekennzeichnet ist sie durch die
Tätigkeit des Dominikanerordens und des neuerstandenen Jesuitenordens, der von
keinerlei Tradition belastet mit einer gewissen Vorurteilslosigkeit an die Probleme
heranging. Die Erneuerung der Scholastik, die als neueste Scholastik gelten kann,
fällt in das ausgehende 19. Jahrhundert, zeitlich etwa zusammen mit der Ent-
stehung des Neukantianismus; sie steht im Zeichen des Rückgangs auf Thomas
von Aquin; doch verlangt sie eine durchaus kritische Sichtung des vorhandenen
Materials und versucht eine Berücksichtigung der gesamten gegenwärtigen Philo-
sophie, vor allem wohl des erkenntnistheoretischen Realismus, wie denn ein Ver-
treter des Thomismus, Grabmann, Külpes Realismus in seinem Verhältnis zur
Scholastik monographisch behandelt hat. Hinweise auf die Literatur ergänzen die
Besprechungen (Ehrle— Wundt). 499
Ausführungen und machen sie zu einer brauchbaren Orientierung für weitere
Kreise, als welche die kleine Schrift auch gedacht ist.
Heidelberg. Friedrich Kreis.
Wundt, Max, Professor an der Universität Jena, P lotin, Studien zur
Geschichte des Neuplatonismus. Erstes Heft. Verlag Alfred Kröner 1919.
Wundts Schrift ist skizzenhafter Art, behandelt Plotins Schrifttum, insbe-
sondere dessen allgemeinen Charakter und die Unterscheidung dreier Zeitabschnitte,
weiter Plotins Verhältnis zu Gallien und endlich Plotins Evangelium. Die Schrift
ist außerordentlich anregend, kann aber, wo keine genaue Kenntnis Plotins vor-
liegt, zu Mißverständnissen führen. Ich möchte aus diesem Grunde meine ab-
weichende Ansicht, die auf eingehender Durchforschung des Materials beruht und
deren genaue Begründung ich an anderer Stelle gebe1), hervorheben.
Plotin ist der systematischste Denker des Altertums und frühen Mittelalters.
Diesen Satz möchte ich der Behauptung Wundts entgegensetzen, daß alle Ver-
suche, ein System des Plotin herauszuarbeiten, dem eigentümlichen Charakter
dieser Schriften unangemessen seien. Bewiesen wird mein Satz dadurch, daß
1) allen Abhandlungen Plotins ein und dieselbe, sich allmählich ausbildende und
dann wieder zurückbildende Reihe von wenigen Grundbegriffen zugrundeliegt, daß
2) die einzelnen Disziplinen wie Aesthetik, Ethik, Kategorienlehre in besonderen
Untersuchungen behandelt werden, daß 3) sogar eine eigene Methode der Ab-
leitung der Begriffe entsteht und daß sich endlich das System tatsächlich auf-
weisen läßt. Das Neue Plotins (Wundt S. 2) liegt darin, daß er das alexandri-
nische Weltschema, welches Gott und Materie durch eine Reihe von Zwischen-
stufen verbindet, im Abstiege die Welt erzeugt, im Aufstieg den Menschen erlöst,
zur Grundlage eines Systemes macht, es dadurch innerlich umgestaltet und eine
Reihe neuer Begriffe in ihm ausbildet. Er ist der philosophische Höhepunkt in
einer von Philo ausgehenden, über tausendjährigen Entwicklung, der größte Denker
des frühen Mittelalters, wenn wir dieses mit der Wende der Zeitrechnung be-
ginnen.
Wenn man das System — wohl gemerkt, das sich entwickelnde, lebendige,
in keinem Augenblick starre System — leugnet, so begibt man sich damit auch
einer genaueren Einsicht in die plotinische Entwicklung. Denn die von W. als
das einzig Mögliche hingestellte Einzelanalyse der Schriften ist Voraussetzung,
aber nicht das Ziel; gerade die von Hegel schon gerügte, häufige Wiederholung
der (scheinbar) gleichen Gedanken erfordert eine zusammenschauende Betrachtung.
Wenn man aber die einzelnen Schriften analysiert, so darf man dabei nicht ohne
weiteres das Resultat Jaegers, daß die aristotelischen Schriften zur Verlesung in
der Schule bestimmte Logoi sind, auf sie übertragen (S. 3). Denn eine ein-
gehende Untersuchung ergibt, daß sich im plotinischen Werk auch Unterredungen
der Schule , ja selbst von Schülern verfaßte Schriften finden ; es braucht
sich keineswegs bei allen um Vorlesungen zu handeln, und wenn es solche sind,
so bleibt die Frage, ob von ihm oder seinen Schülern aufgezeichnet, bestehen. —
Die Unterscheidung dreier Zeitabschnitte ist unzweifelhaft richtig, sie ist schon
von Porphyr empfunden, wenn es auch nicht angeht, den Schnitt zwischen der
zweiten und dritten Periode so zu legen, wie er und W. es tun. Daß die von W.
zugrundegelegte Chronologie nicht stimmt, ersieht man aus der Bemerkung, daß
„die 10 (genauer 9) Jahre, die Zeit von 253—262, das 50.— 59. Lebensjahr des
Plotin bedeuten", und weiter daraus, daß die Jahre 262—68 als 6 Jahre gezählt
werden. Die ganze Darstellung der Entwicklung erscheint aber dadurch in fal-
schem Bild, daß die porphyrische Reihenfolge als die historische zugrunde gelegt
wird, was sie nicht ist, wie sich beweisen läßt. Auch die Charakteristik der
einzelnen Perioden trifft m. E. nicht ganz zu. „Aufs Ganze gesehen", heißt
es S. 28, „ist die erste Periode platonisch gerichtet, die zweite aristotelisch, die
1) Plotin, Forschungen über die plotinische Frage, Plotins Entwicklung und
sein System. Gedruckt mit Unterstützung der Akademie der Wissenschaften in
Wien. Leipzig, Meiner. 1921.
32*
500 Besprechungen (Wundt).
dritte stoisch". Die erste geht sowohl yon Plato wie von den Mysterien aus,
führt aber in dem Begriff des Einen und in dem Willen, die anderen Grund-
begriffe aus ihm abzuleiten, über Plato hinaus. Die zweite ist so wenig aristote-
lisch, daß sie sich mit Aristoteles vielmehr auf das schärfste auseinandersetzt
und nur einzelne seiner Begriffe in völlig umgebildeter Form aufnimmt; sie
steht dem alexandrinischen Weltschema und damit Philo und der Gnosis unend-
lich viel näher, indem sie von beiden angezogen und abgestoßen wird. Die dritt
endlich setzt sich wohl mit stoischen Problemen auseinander, aber ebenso mit
dem Parsismus, der Astrologie und dem Christentum. Wenn im einzelnen ai
die Unterscheidung des unteren und oberen Weges des Aufstieges großer Wei
gelegt wird, so scheint mir das nicht ihrer tatsächlichen Bedeutung zu entsprechei
13 enthält so wenig Plotin eigentümliche Gedanken, daß es sich fast ganz i
stoische und platonische Bestandteile zerlegen läßt und man beim letzten Kapite
füglich an seiner Echtheit zweifeln kann ; man darf es daher wohl kaum als Prc
gramm der plotinischen Schule bezeichnen (S. 12). Daß V 1 älter ist als I
(S. 12) ist ausgeschlossen, da I 3 den Begriff des Einen noch nicht kennt, dei
in V 1 im Mittelpunkt steht. Ferner erscheint mir unbegründet, was S. 15 vor
einem Lehrplan in den ersten Schriften und von der zufälligen Entstehung dei
späteren gesagt wird. Am eingehendsten werden die Schriften der dritten Epoche
besprochen, und diese ist daher am besten charakterisiert.
Das Verhältnis Plotins zu Gallien zur Diskussion gestellt zu haben, ist ei
Hauptverdienst der Schrift. Aber daß der Denker in Platonopolis für den Kaisei
habe Soldaten heranziehen wollen, klingt unglaubwürdig, denn kriegerisch ist seine
Philosophie, die sich nach ekstatischer Vereinigung mit der Gottheit sehnt, nicht
Von der politischen Tugend wird mit Verachtung gesprochen.
Auch daß nach einer Spiegelung von Zeitereignissen in Plotins Schrifttum
gesucht wird, ist neu und anregend. In V 5, 3 kann eine Reminiszenz an Galliens
Jubiläumsfestzug vorliegen, aber die Ausdeutung von I 5, 10 (S. 42) ist nicht
überzeugend. Daß der Kaiser Plotin zum Schreiben veranlaßt habe, erscheint
mir unwahrscheinlich (S. 43), daß sein Ende auf den Zustand der Schule ein-
gewirkt hat, dagegen sehr wohl möglich.
Mit der Auffassung W.s von dem sogenannten Evangelium Plotins werde
ich mich an anderer Stelle auseinandersetzen und möchte hier nur noch auf
Einzelheiten aufmerksam machen. — Die schwer verständlichen Ausdrücke des
Schlusses der vita des Porphyrius nstpulcacc, v%o\kvr\\ici%u<i lni%u§r\\i<txu werden
unter dem Ausdruck „Erklärungen" zusammengefaßt, während man sich fragen
könnte, ob sich nicht Reste von ihnen im überlieferten Werk Plotins finden.
Auch sind die 6%6Xicc in t&v avvovai&v, von denen Amelius 100 Bücher verfaßte,
kaum Erläuterungen der plotinischen Schriften, sondern vielmehr Aufzeichnungen
der Diskussionen, wie sie in der Schule Plotins stattfanden (S. 3).
Alles in allem : das Buch ist sehr interessant und anregend in seinen Frage-
stellungen, besonders auch in der Frage der Verarbeitung und Weitergabe histo-
risch gegebenen Materials durcb Plotin, bedarf aber in seinen Resultaten einer
Nachprüfung.
Berlin. Fritz Heinemann.
Selbstanzeigen.
Alverdes, Dr. Friedrich, Privatdozent an der Universität Halle, Rassen-
und Artbildung. Abhandlungen zur theoretischen Biologie. Herausgeg. von
J. Schaxel. Heft 9. Berlin. Gebr. Bornträger 1921. 118 S.
Innerhalb der Deszendenztheorie ist eine Krisis unverkennbar. Das
Grundprinzip einer stammesgeschichtlichen Fortentwicklung des Tier- und Pflanzen-
reiches ist von der überwiegenden Mehrzahl der Biologen angenommen worden,
aber über kaum eine der spezielleren Fragen hat sich bisher Einhelligkeit der
Autoren erzielen lassen. Ganz besonders bewirkten es die Ergebnisse der neu
emporblühenden Vererbungsforschung, daß die jahrzehntelang in der Ab-
stammungslehre anerkannten Erklärungsprinzipien von einer immer wachsenden
Zahl von Autoren abgelehnt wurden. Unter Berücksichtigung der neuesten Literatur
werden in der vorliegenden Abhandlung die älteren Anschauungen einer Revision
unterzogen; dabei ging das Bestreben dahin, die bisher von der Erblichkeits-
forschung gezeitigten Resultate nicht über Gebühr hoch einzuschätzen, wie dies
heutzutage gelegentlich wohl manchmal geschieht.
Dr. Friedrich Alverdes.
Hof mann, Paul, Dr., Privatdozent a. d. Universität Berlin, DieAntinomie
im Problem der Gültigkeit. Eine kritische Voruntersuchung zur Er-
kenntnistheorie. Vereinigung wissenschaftlicher Verleger. Berlin und Leipzig.
XVI u. 78 S. Gr. 8°. 8 Mk.
Die verschiedene Stellungnahme zu der Frage nacft der Möglichkeit absolut
gültiger Erkenntnis scheidet die erkenntnistheoretischen Standpunkte. Ich suche
die Wurzeln dieser Stellungnahmen bloßzulegen. Der Relativismus geht von der
Grundannahme aus, daß Bewußtsein und Denken (als Erlebnissen) Existenz
zugeschrieben werden müsse und daß es sinnlos sei, über nicht-gedachte Denk-
inhalte etwas aussagen zu wollen ; er sieht deshalb in der Gültigkeit eine Be-
schaffenheit gewisser existenter Ereignisse (oder : eine zwischen solchen bestehende
Beziehung). Der Absolutismus glaubt von Existenz wie von jedem anderen Gegen-
stande nur insofern sprechen zu können, als sie in Urteilen gesetzt und als gültig
begründet werden kann, er denkt also den Begriff der Gültigkeit als logisch kon-
stitutiv für den der Existenz. Aus diesen unvereinbaren Grundeinstellungen, die
einander gegenseitig auch nicht widerlegen können, folgen notwendig die ver-
schiedenen Beantwortungen unserer Frage. Ich lege diesen Zusammenhang in
seinen einzelnen Gliedern dar und zwar führe ich ihn durch für die vier mög-
lichen Typen erkenntnistheoretischer Grundeinstellungen, die auch alle vertreten
werden. Ich frage dann nach dem Recht beider Betrachtungsweisen. Sie ruhen
auf einer Antinomie, die selbst wieder gegründet ist auf die doppelte Möglichkeit,
das Verhältnis von Subjekt und Objekt vorzustellen. Der Objektivismus ordnet
beide in dieselbe Reihe, indem er das Subjekt als ein den andern gleichwertiges
Objekt, als ein „Ding unter Dingen" auffaßt. Der Subjektivismus sieht dagegen
in jedem Objekt eine Gegebenheit (gleichviel ob angeschaute oder gemeinte) des
subjektiven Bewußtseins. Er ordnet die Objekte dem Subjekt (dem Bewußtsein)
unter oder ein. Jede Weltanschauung strebt danach, eine dieser antagonistischen
Betrachtungsweisen unter Ausschließung der andern allein durchzuführen. Eine
volle Konsequenz ist hierin aber unerreichbar, weil nur bei Kombination beider
502 Selbstanzeigen (Hofmann).
das Gegensatzpaar der Begriffe Erkenntnis und Irrtum einen angebbaren Sim
erhält. So muß jede Weltanschauung bewußt oder unbewußt neben der in ihr
vorherrschenden die entgegengesetzte, logisch jener durchaus widersprechende
Grundauffassung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt in irgend einer Weise
mitenthalten. Die Frage, ob diese Notwendigkeit als eine psychologische anzu-
sehen sei, kann nicht eindeutig beantwortet werden, weil sie der gleichen Anti-
nomie entspringt wie das betrachtete Problem selbst. Es gibt deshalb keine
logisch zwingende Entscheidung zwischen den Ansprüchen des Subjektivismus und
Objektivismus und darum auch keine zwischen dem erkenntnistheoretischen Abso-
lutismus und Relativismus ; nur weltanschauungsmäßig können wir zu diesen Fragen
Stellung nehmen. — Auch ein solches, keiner Partei rechtgebendes Untersuchungs-
ergebnis hat Wert. Es führt praktisch zur Vermeidung unfruchtbarer Streitig-
keiten und vertieft unsere theoretische Einsicht in die (logische oder psycholo-
gische) Struktur unseres Denkens. Eine solche Einsicht ist aber nicht nur für
die Logik wertvoll, sondern sie kann auch genutzt werden, um typische Formungen
und Entwicklungsvorgänge, die uns die Geistesgeschichte zeigt, in ihrer Gesetz-
lichkeit begreiflich zu machen.
Dr. Paul Hofmann.
Hofmann, Faul, Dr., Privatdozent a. d. Universität Berlin. Eigengesetz
oder Pflichtgebot? Eine Studie über die Grundlagen ethischer Ueber-
zeugungen. Vereinigung wissenschaftlicher Verleger. Berlin und Leipzig. X u.
118 S. 8°. 6 Mk.
Die für unsere Begriffe von Erkenntnis und Sittlichkeit grundlegenden Ueber-
zeugungen wandeln sich mit den Kulturepochen. Die Gegenwart scheint eine
Ethik zu fordern, in der der innerste Wille der realen, d. i. der individuellen
Person zur letzten Quelle der Wertsetzungen gemacht wird. Kants Autonomie-
prinzip lag auf diesem Wege; einer völlig konsequent individualistischen Ethik
stand aber bisher die Befürchtung im Wege, mit ihr einem schrankenlosen Egois-
mus verfallen zu müssen. Ich bin dagegen überzeugt, daß der individuelle Mensch
in der Besinnung auf den eigensten innersten Willen alles finden und begründen
kann, was sein Urteil als echt ethische oder gute Regungen bestimmen muß. Um
aber die Bahn zu einer individualistischen Ethik frei zu machen, konnte ich nur
versuchen, ihre Möglichkeit und grundsätzliche Durchführbarkeit zu zeigen, indem
ich die verschiedenen letzten Grundlegungen ethischer Wertsetzungen überhaupt
untersuchte. Das ethische Urphaenoraen ist der sittliche Konflikt, d. i. die eigen-
tümliche Tatsache, daß wir dem eigenen Wollen das sittliche Urteil gegenüber-
stellen; die Erklärung der Möglichkeit dieses Erlebnisses und der Maßstab der
Entscheidung durch das sittliche Urteil charakterisiert die verschiedenen Stand-
punkte. Nun ist uns der Mensch in zweifacher Weise gegeben, als ein außer
mir stehendes Objekt: als ein „Du" und in der Innenansicht als „Ich". Sehe
ich den Menschen als „Du", so beobachte ich in ihm ein bestimmtes Handeln,
das ich mir erkläre aus einer ihm natürlichen Willensanlage, dies Handeln nun
beurteile ich, der Beobachter, als sittlich oder unsittlich. Da der äußere Beob-
achter nie die Motivation sondern stets nur den Erfolg des Wollens sieht, so
charakterisiert er die ursprüngliche Anlage des Beobachteten als ein Streben nach
gewissen Erfolgen, und sucht auch die Brechung dieser ursprünglichen Willens-
richtung durch das sittliche Urteil aus einem Erfolgstreben zu begreifen. In jedem
Falle ist wie der ursprüngliche Wille, so auch der Gegenwille und die sittliche
Entscheidung durch Erfolgserwägungen bestimmt. Die herrschenden Formen dieser
Erfolgsethik sehen nun in der ihrer Meinung nach ursprünglich auf individuellen
Lustgewinn gerichteten Anlage des Menschen das widersittliche Prinzip und in
dem Streben nach überindividuellem Wohl, dessen psychologische Möglichkeit in
verschiedener Weise erklärt wird, das Sittliche. — Betrachten wir dagegen das
sittliche Subjekt vom Ichstandpunkt, so sind uns die ethischen Konflikte ohne den
Umweg über Erfolgsbetrachtungen unmittelbar gegeben. Auch in dieser „Ge-
sinnungsethik" wird das Widersittliche herkömmlicher Weise aus der Natur des
Individuums abgeleitet. Nun besteht m. E. die Möglichkeit, diese Herkunftstheorie
Selbstanzeigen (Hofmann — Ludowici.) 503
gewissermaßen umzukehren, nämlich mit einer individualistischen Gesinnungsethik
(„Persönlichkeitsethik") gerade in dem Sittlichen das dem realen Individuum Eigene
zu sehen, während man das Widersittliche aus oberflächlicheren, d. h. dem eigenen
innersten Wesen weniger entsprechenden Regungen ableitet. — Die zwischen
beiden Standpunkten entscheidende Frage würde also sein: ist der Kern des Ich
individuell oder überindividuell? Die Streitfrage bleibt also unentscheidbar, nur
können wir anmerken, daß auch der Subjektivismus den Kern des Ich wenn auch
als „nicht-mehr-individuell" so doch nicht als „überindividuell" bezeichnen dürfte.
So erscheint eine Persönlichkeitsethik theoretisch möglich ; kann aber von ihr aus
der soziale Charakter unserer praktischen Sittlichkeit begründet werden? — Der
grundsätzliche Individualismus hindert hieran keineswegs, denn das innerste Wesen
des Einzelnen kann gattungsmäßige Züge aufweisen. Daß man aber auf den
Willen des Individuums eine soziale Moral meist nicht glaubt gründen zu können,
beruht auf dem Vorurteil, daß der (in zu hohem Maße als „teleologisch organi-
siert" gedachte) Wille rein aus sich selbst nur nach eigener Lust oder eigenem
Vorteil streben könne. Eine unvoreingenommene Betrachtung der Erlebnisse der
Liebe kann eines besseren belehren. Und die auf das innerste der eigenen An-
lage reflektierende Selbstbesinnung wird eben die Liebe als zum tiefsten Wesen
unserer Anlage gehörig erkennen. Liebe aber ist „Befriedigung über das Glück
(oder Wohl) des Andern."
Dr. Paul Hofmann.
Ludowici, August, Die Pflugschar. Philosophie des Gegensatzes.
280 Seiten, München 1921. Preis 25 Mk. Verlag F. Brinkmann.
Nur allzuhäufig findet man, daß eine Lehre in der Wissenschaft mit einem
Zwiespalt abschließt; am häufigsten leider in der Philosophie. Dieser Zustand
birgt einen Widerspruch in sich. Es gibt daher keine vornehmere Aufgabe, als
diesen Widerspruch auszugleichen. Von diesem Gedanken ist die vorliegende
Arbeit durchdrungen und insofern ist sie eigentlich eine Fortsetzung meines frü-
heren Werkes „Spiel und Widerspiel" oder ein Versuch, die unvermeidlichen Ge-
gensätze zu überbrücken..
Im ersten Buch wird an der Sprache dargetan, daß der Gegensatz schon
mit ihr gegeben ist; denn die Sprache ist ja nur der Niederschlag des Denkens.
Nur weil wir vergleichend denken, kommt der Gegensatz in die Sprache. Hier
setzt der Kampf ein zwischen real und ideal, wahr und falsch, gut und böse.
Von diesem Kampfe handelt das zweite Buch. Es zeigt, daß der Mensch diesem
Zwiste überhaupt nicht entgehen kann und daß dieser den Denkern im Altertum die
gleiche Mühe verursacht hat. Sie suchten deshalb nach einem Dritten, um die
Gegensätze zu überbrücken. Plato fand im mikton den Mittler zwischen peras und
apeiron, Descartes's Mittler war die Ausdehnung bei dem Gegensatz Ruhe—Be-
wegung. Damit dieser Vorgang klar veranschaulicht ist, wird meine Formel an-
gewendet: ein senkrechter Strich für die positive und ein wagrechter Strich für
die negative Seite. Das, was beide verbindet erhält die Zusammensetzung beider
Striche, das Kreuz. Es ist der gesuchte Mittler. Dadurch erhält die goethesche
Polarität und Steigerung eine völlig neue Auslegung. Hiervon handeln das dritte
und vierte Buch. Auf dieser Höhe angelangt versucht nunmehr das fünfte Buch
die Ergebnisse in einer Lehre zusammenzufassen. Wird die Lehre richtig an-
gewandt, dann können wir in Zukunft nicht mehr aneinander vorbeireden. Der
große Zwiespalt, der von je die besten Geister trennt, rührt davon her, daß stets
falsch entgegengesetzt wurde. An der polarisch geordneten Natur hat sich das
menschliche Denken emporgerichtet und auf diese Weise wurde die Sprache selbst
polarisch geordnet. Wird diesem Wink der Natur gefolgt, dann besteht Hoffnung
auch in der Wissenschaft grobe Zwiste zu vermeiden, dann steht auch kein Rela-
tives für sich da ohne ein Absolutes, keine Freiheit ohne Notwendigkeit. Beide
Seiten sind gleichwertig, wenn der Mittler richtig ausgleicht. Der Gegensatz er-
hält organisches Gepräge und wird zum Wegweiser durch den Irrgarten mensch-
licher Verkehrtheiten.
August Ludowici.
B04 Selbstanzeigen (Maurer— Wiesner).
Waldeinar Meurer, Ist Wissenschaft überhaupt möglich? Felix
Meiner, Leipzig 1920. VIII u. 279 S.
Der Ausführung im einzelnen geht die Aufstellung des Wissenschaftsproblems
voran : Alles, was jemals ausgesagt werden kann, kann nur in einer Wiss jnschaft
und als Wissenschaft behauptet werden, wenn es feststehen soll ; die Entscheidung
über seine Berechtigung ist also abhängig von der Entscheidung über die Mög-
lichkeit der Wissenschaft. Wissenschaft ist ein Inhalt, mit dem der Anspruch
gegeben ist, daß er ausschließlich und allein gültig ist, und daß ihm auch ein
Sein außerhalb der Wissenschaft zukommt. Eine allgemeine Untersuchung über
die Möglichkeit eines solchen Inhaltes muß daher jeder besonderen Wissenschaft
vorangehen.
Eine vorbereitende Erörterung betrifft den kritischen Realismus (Bechers),
von dem versucht wird zu zeigen, daß es für ihn keine theoretische Rechtferti-
gung gibt, ebensowenig der Hinweis auf die Lebensnotwendigkeit etwas besagt.
Der Hauptteil geht von dem Begriff des Wisssenschaftserlebnisses
aus : jede Wissenschaft ist psychische Wirklichkeit und etwas Logisches. Demnach
teilt sich die Untersuchung in zwei Teile.
1. Eine Wissenschaft kann nicht alleingültig sein, weil sie als psychisches
Gebilde stets mit Gefühlen verbunden ist, stets subjektiv bleibt. Denn das Ge-
fühlsleben ist in jeder Wissenschaft von entscheidender Bedeutung. Gefühle be-
einflussen das Wissen und jede Wissenschaft steht mit ganz bestimmtem Gefühls-
leben, ethischen und künstlerischen Bewertungen zusammen, so daß sie wegen
dieser psychischen Wirklichkeit nichts ist außerhalb des seelischen Lebens. Eine
ausführliche Auseinandersetzung mit dem neukantischen Begriff des Logos (Lie-
bert) folgt diesem ersten Teile. — Wegen der psychischen Wirklichkeit aller Wis-
senschaften und ihrer unzertrennlichen Verbindung mit dem Gefühlsleben müssen
sog. Wissenschaften und theoretische Ausführungen, welche nur subjektiv befrie-
digen, auf einen Hauptnenner gebracht werden: Einsichten und Einsichtszusam-
menhänge d. h. Bewußtseinsinhalte, denen der Charakter zukommt, daß ihr Inhalt
auch sagt, was ein Sein außer dem Wissen besitzt.
2. Der zweite Teil urftersucht die logische Seite des Wissenschaftserleb-
nisses. Da jeder Inhalt so, wie er ist, ursprünglich ist, kann er nicht gerecht-
fertigt werden. Die Ausführung dieses Bedenkens ist doppelt. Zuerst wird der
Inhalt als Ganzes genommen und nacheinander gezeigt: was unter dem Begriffe
„Einsicht" zu verstehen ist, daß jeder Gegenstand nur Einsicht ist, daß jede ein-
zelne Einsicht nur Glied eines Wissenzusammenhanges ist, daß das isolierte Urteil
nicht mehr in Betracht kommt, daß Beobachtung nichts lehrt, daß Widerspruchs -
losigkeit keine Rechtfertigung bedeuten kann, und endlich daß aller Beweis Zirkel
oder Erschleichung ist. Die zweite Untersuchung geht dann von einer neuen
Gliederung einer Wissenschaft aus: in Grundeinsichten und abhängige Einsichten.
Grundeinsichten sind logisch nicht von anderen Einsichten abhängig, aber alles
andere Wissen ist es von ihnen, so daß die Verschiedenheit der Wissenschaften
nur Ausdruck der Verschiedenheit der Grundeinsichten ist. Alles, was von der
Ursprünglichkeit der Wissenschaften gesagt wurde, gilt im besonderen von ihnen,
dem Nerv einer jeden Wissenschaft, und so ist jede Anschauung und jede empiri-
sche Tatsache es nur im Lichte einer Grundeinsicht, woraus unmittelbar folgt:
Erfahrung, Tatsachen lehren nichts.
Die Erörterung des Wissenschaftserlebnisses führt dann zu dem Wissen-
schaftsbedenken: die im Begriffe Wissenschaft aufgestellten Forderungen der Al-
leingültigkeit, daß sie an keinen Ort, an keine Zeit, an keine bestimmte Person
gebunden ist, und der Berechtigung, auch ein Sein wiedergeben, was außerhalb
der Wissenschaft besteht, können unmöglich erfüllt werden ; Wissenschaft ist also
unmöglich.
Waldemar Meurer.
Wiesuer, Johann, Die Freiheit des menschlichen Willens. Ver-
lag Wilhelm Braumüller, Wien-Leipzig.
„Philosophie für's Volk". Damit ist der Inhalt der Broschüre wohl am besten
Selbstanzeigen (Wiesner). 505
gekennzeichnet. Jede Philosophie und ihre Lehre sollen eine Schulung sein für
kritisches Denken, eine Waffe im Kampfe gegen suggestiv-autoritären Mißbrauch
und eine Verkünderin neuer Menschheitsziele.
Trotz all ihrer enormen Leistungen ist die deutsche Philosophie den breiten
Schichten ihres Volkes in dieser Hinsicht sehr viel schuldig geblieben. Sie paßte
sich nämlich niemals dem Verständnishorizont breiterer Volksschichten an, und
sie blieb daher volksfremd und das Volk seinerseits verblieb unphilosophisch,
resp. unkritisch und in weiterer Folge davon politisch unbeholfen, das Opfer jedes
suggestiven Mißbrauchs. — Das deutsche Volk braucht, und zwar heute mehr
denn je, reifes kritisches Erkennen und das können ihm nur seine Philosophen
bieten, daher „Philosophie für's Volk". — Meine Broschüre behandelt das Problem
der Willensfreiheit in diesem Sinne, und wenn auch manche Fachphilosophen die
schlichte, kunstlose Art der Behandlung vielleicht als anstößig empfinden sollten,
so denke ich doch, daß sie als Hilfsmittel für kritische Schulung nicht ohne
Nutzen bleiben wird.
Johann Wiesner.
Dr. Johannes Wenzel, Zum „Untergang des Abendlandes". Der
„Skeptiker" und „Pessimist" Spengler ein Verteidiger der Reli-
gion. Verlag Bon's Buchhandlung (Inh. Günther Letzsch) Königsberg i. Pr.
Preis Mk. 6.— ord., Mk. 4.20. 56 Seiten.
Nach einer Einleitung (§ 1), die scharf den scheinbar relativistischen Skepti-
zismus und Pessimismus heraushebt, wird gezeigt, daß die Grundidee der Spengler-
schen Philosophie eine ganz andere ist, als die Kritik bisher angenommen hat.
Die Untersuchung, die sich zur Aufgabe stellt, den religiösen Charakter der
Spenglerschen Gedankenwelt nachzuweisen, verfährt sozusagen zentripetal, d. h.
derart, daß zunächst indirekte Anzeichen (§ 2 u. 3) für eine religiöse Ein-
stellung zur Sprache kommen. Hierbei ist besonders einerseits der überaus
scharfe Angriff gegen die Wissenschaft, den Intellekt und den Zeitgeist zu be-
achten, andrerseits dem gegenüber die überaus große Sympathie und Vorliebe für
alles, was Religion und Religiosität anbetrifft. Spengler tritt als Apologet auf
für die historischen Religionen, besonders für das Christentum.
Es schließt sich dann in der Untersuchung daran der Versuch eines di-
rekten Beweises (§ 4, 5, 6), der in Problemstellung, Methode und Weltanschauung
Spenglers wesentliche Züge religiöser Art aufdeckt! Das Ziel Spenglers, wie
die Problemstellung zeigt, ist Ueberwindung des mechanistischen durch den reli-
giösen Weltaspekt. Seine Methode erweist sich als die der religiösen Metaphysik,
es ist die gläubige Intuition und Vision!
In seiner Kulturseelentheorie wird der Religion der erste Rang zugebilligt!
Der Schicksalsgedanke — das Schicksal ist bei Spengler die absolute Gottheit
jenseits aller anthropomorphen Gottesvorstellungen — , der das ganze Buch be-
herrscht und auf dem auch die Kulturenlehre aufgebaut ist, bietet in dieser Hin-
sicht den stärksten Beweisgrund. Somit wird ersichtlich, daß der Vorwurf des
Skeptizismus und Pessimismus unbegründet erscheinen muß und daß auch Spenglers
Relativismus nicht das ist, was man für gewöhnlich darunter versteht, sondern
ein „ethischer Blick". Zum Schluß (§ 7) wird noch der Versuch gemacht, Spenglers
Religiosität religionsphilosophisch einzuordnen. Er muß der Gruppe der Mystiker
zugerechnet werden.
Dr. Johannes Wenzel.
Mitteilungen.
Ein Druckfehler in Kants Kritik der Urteilskraft.
Bei der Sichtung des juristischen und philosophischen literarischen
Nachlasses1) meines im Jahre 1916 gefallenen Sohnes, des Referendars
Georg Kulimann, fand ich jüngst den Hinweis auf einen, in der Kritik
der Urteilskraft enthaltenen, bisher unbemerkt gebliebenen Druckfehler.
Im § 4 zweiter Absatz, letzter Satz:
Das "Wohlgefallen am Schönen muß von der Reflexion über
einen Gegenstand, die zu irgend einem Begriff (unbestimmt welchem)
führt, abhängen und unterscheidet sich dadurch auch vom Ange-
nehmen, welches ganz auf der Empfindung beruht,
muß es statt der Worte „am Schönen" heißen „am Guten". Andernfalls
wiederspräche der Satz allem, was Kant über den Begriffsunterschied
zwischen Gutem und Schönem unmittelbar vorher ausgeführt hat. Er stünde
aber auch nicht im Einklang mit den unmittelbar anschließenden Aus-
führungen, in welchen der Unterschied zwischen dem Guten (nicht dem
Schönen) und dem Angenehmen wieder aufgenommen und bis zum Schluß
des Paragraphen besprochen wird.
Der Druckfehler findet sich in allen Ausgaben, der Urschrift wie den
späteren Einzel- und Gesamtausgaben mit einziger Ausnahme — worauf
mich ein Freund aufmerksam macht — der Ausgabe von Kehrbach (Re-
clam). Diese, welche ein Abdruck der Ausgabe von 1790 ist, führt aber
die Abänderung weder in den Fußnoten, welche sonst jede kleine Variante
anmerken, noch in dem beigefügten Verzeichnis der Textveränderungen an.
Sie scheint Kehrbach selbst ebenso unbekannt geblieben zu sein, wie sie
bisher in der wissenschaftlichen Oeffentlichkeit nicht bemerkt worden ist.
Es handelt sich sonach, wie man annehmen muß, wieder um einen Druck-
fehler. So hat ein Druckfehler den anderen korrigiert. Man sieht, auch
Druckfehler haben ihre Schicksale.
Justizrat Kuli mann -Wiesbaden.
Preisaufgabe: Kant und Litauen.
In dem soeben erschienenen ersten Heft der litauischen philosophischen
Zeitschrift „Logos" ist folgende Preisaufgabe ausgeschrieben (S. 128), deren
Begründung und Bedingungen in deutscher Uebersetzung lauten:
1) Aus ihm wird demnächst eine Sammlung von Prolegomena-Druckfehlern im
Verlag von H. Staadt in Wiesbaden erscheinen.
Mitteilungen. 507
Preisaufgabe über das Thema:
„Kants Verhältnis zum Litauertum".
Bereits seit einem Jahrhundert oder schon länger tauchen, in der
litauischen Literatur (Broschüren, Tages- und Fachzeitungen) hier und da
mancherlei Behauptungen über Kants Litauertum auf. So heißt es, daß
Kant litauischer Herkunft und der litauischen Sprache mächtig gewesen
sei, daß er die litauischen Volkslieder (Dainos) geliebt, ja sogar zu Hause
litauisch gesprochen habe, da seine Muttersprache Litauisch gewesen sei.
Und vor zwei Monaten brachte die Tageszeitung „Lietura" (Kr. 170,
3. VIII. 1921) eine Nachricht, daß Frau Stase Paskeviciene aus Pelesiai,
Kreis Rasecniai, 75 Jahre alt, bei der „Gesellschaft zur Verschönerung
Litauens" um. die Erlaubnis nachgesucht habe, in Kaunas vor der Garnison-
kirche dem „Immanuel Kant, dem Weltphilosophen litauischer Herkunft"
ein Denkmal zu setzen.
Unsere nächsten westlichen Nachbarn indessen, die Kant als den
Mann ihrer Nation par excellence rühmen, erwähnen nirgends sein Litauer-
tum, ja sie haben sich wahrscheinlich nie etwas davon träumen lassen.
Zur Klärung dieser Frage und um so der Wahrheit einen Dienst zu
leisten, setzt die Schriftleitung unserer Zeitschrift gelegentlich des Heran-
nahens von Kants zweihundertstem Geburtstag einen Preis von 10 000
(zehntausend) Mark aus für die beste Bearbeitung des Themas
»Kants Verhältnis zum Litauertum",
in der diese Frage entsprechend den strengsten Forderungen wissenschaft-
licher Kritik allseitig geklärt wird.
Für den Wettbewerb sind folgende Bedingungen gestellt: die Arbeit
darf litauisch, deutsch, russisch, französisch, englisch oder italienisch abge-
faßt sein ; nur Schreibmaschine ; keine Angabe des Verfassernamens, sondern
nur einer Devise; der Name des Verfassers ist zugleich mit der Arbeit in
verschlossenem Umschlag abzugeben, der durch die Devise kenntlich ge-
macht ist. Späteste Frist für Einreichung der Arbeiten ist der 1. Januar
1924. Die Arbeiten sind an unsere Schriftleitung oder an den Dekan der
philosophischen Fakultät der litauischen Universität zu richten. Ueber
ihre Bewertung entscheidet eine Kommission von drei Mitgliedern, von
denen je eins durch die Schriftleitung des „Logos" und die philosophische
Fakultät bestimmt wird; das dritte ist der jeweilige Dekan der philoso-
phischen Fakultät. Das Urteil dieser Kommission wird von der philoso-
phischen Fakultät der litauischen Universität an Kants zweihundertstem
Geburtstag, dem 24. April 1924, bekannt gegeben.
Wenn von allen eingereichten Arbeiten keine des ganzen Preises würdig
sein sollte, so kann, nach dem Urteil der Kommission, ein Teil des
Preises zuerkannt werden. Der Verfasser der mit einem Preise gekrönten
Arbeit behält alle Rechte auf sein Werk. Die Schriftleitung.
608 Kant-Geseilsehaft.
Kant-Gesellschaft.
Ortsgruppe Hannover.
Die hannoverschen Mitglieder der Kant-Gesellschaft, der größten philo-
sophischen Gesellschaft der Erde, haben beschlossen, durch Gründung einer
Ortsgruppe einen Sammelpunkt für die philosophischen Interessen Hannovers
zu schaffen. Dabei wird durch Voranstellung des Namens Kant nicht etwa
die Festlegung auf ein bestimmtes philosophisches Bekenntnis, sondern
lediglich die Aufforderung zu vertiefter Arbeit jeglicher Art ausgesprochen.
Vertreter aller philosophischen Richtungen sollen sich in Vorträgen und
Diskussionen zu gemeinsamer Arbeit vereinigen.
Das Ziel dieser Arbeit grenzt sich ab gegen das der Volkshochschulen
und des hiesigen Euckenbundes. Ein reibungsloses Nebeneinanderarbeiten
mit diesen Bestrebungen ist natürlich erwünscht. Aber während diese in
erster Linie auf die notwendige Erziehung breiter Massen und eine sittliche
und intellektuelle Lebensumgestaltung abzielen, will die Ortsgruppe eine
durchaus wissenschaftliche Gesellschaft sein, deren Pflege der zweckfreien
Erkenntnis gilt.
Als Arbeitsgegenstände kommen sämtliche Wissens- und Lebensgebiete
in Frage, soweit sie philosophischer Art sind. Es ist also nicht nur an
strenge Fachphilosophie gedacht, sondern an alle Grenzgebiete, ja schließlich
an alle wissenschaftlichen Gegenstandsgebiete nach ihrer grundbegrifflichen
Seite hin. Dabei soll versucht werden, immer mehrere hintereinander-
liegende Veranstaltungen um einen Ideenkomplex zu gruppieren.
Die Arbeit wird sich gliedern in die Veranstaltung allgemein zugäng-
licher Vorträge und in die Einrichtung von Vortrags- und Diskussions-
abenden, die nur unsern Mitgliedern und eingeführten Gästen offenstehen.
Die Mitgliedschaft wird erworben durch Beitritt zur Hauptgesellschaft
oder zur Ortsgruppe. Sie berechtigt dazu, an allen Veranstaltungen zumeist
ohne Eintrittsgeld teilzunehmen. Mitglied kann jeder philosophisch Inter-
essierte werden entweder gegen Entrichtung des Ortsgruppenbeitrags von
12 Mk (Studenten 8 Mk.) an Herrn Studienrat Grimme (Hanno ver-Laatzen,
Lindenplatz 10) oder an die Buchhandlung Schmorl & von Seefeld Nachf.,
oder aber gegen Zahlung des Jahresbeitrags für die Hauptgesellschaft, der
mindestens 25 Mk. beträgt, an den Geschäftsführer der Hauptgesellschaft,
Prof. Dr. Arthur Liebert, Berlin W 15, Fasanenstraße 48. Mitglieder der
Hauptgesellschaft sind ohne weitere Zahlung auch Mitglieder der Ortsgruppe ;
sie genießen aber diesen gegenüber den freien Bezug sämtlicher Schriften
der Kant-Gesellschaft, also der etwa 500 Seiten starken „Kant- Studien",
der „Ergänzungshefte", der „philosophischen Vorträge", der „Neudrucke
seltener philosophischer Werke" u a.
Kant-Gesellschaft. 509
Die hiesige Geschäftsstelle hat für alle Mitglieder im 1. Stock ihrer
Buchhandlung ein Lesezimmer eröffnet, in dem philosophische Neuerschei-
nungen zur Einsicht ausliegen.
Im kommenden Winter plant die ' Ortsgruppe
I. 0 öffentliche Vorträge
über die Frage:
Kulturuntergang oder Kulturerneuerung?
Es werden sprechen:
1. Prof. Dr. Arthur Liebert.
Berlin: „Die Philosophie und die geistige Krise der Gegen-
wart". (Anfang November.)
2. Prof. Dr. H. Timerding, Technische Hochschule, Braunschweig:
„Der Sinn der Technik". (Ende November.)
3. Universitäts-Professor Dr. Max Scheler, Köln: „Sinn und Grenzen
der Vergänglichkeit im geschichtlichen Leben (Das alte und das
werdende Europa)". (Anfang Dezember.)
4 Prof. Martin Havenstein, Grunewald: „Autorität und Freiheit in
der Erziehung zum deutschen Menschen". (Mitte Dezember.)
Max Scheler wird am Tage nach dem öffentlichen Vortrage im engeren
Kreise über die Frage sprechen: Gibt es eine absolute Gotteserkenntnis
(Eine positive Möglichkeit der Metaphysik)? Die hiesige Geschäftsstelle
vermittelt auch Nichtmitgliedern eine Einlaßkarte. Auch Arthur Liebert
hoffen wir für eine Aussprache im engeren Kreise am Tage nach seinem
öffentlichen Vortrag zu gewinnen.
Wir haben uns mit den „Freunden evangelischer Freiheit" bei aller
gedanklichen Selbständigkeit der beiderseitigen Vereinigungen dahin ver-
ständigt, daß sie ebenfalls Vorträge über dieselbe Gesamtfrage veranstalten.
Bei ihnen werden sprechen nach Weihnachten:
Universitäts-Prof . Dr. Hermann Nohl, Göttingen (Kunst) ; Priv.-Doz.
Dr. P. Tillich, Berlin (Religion); Pastor Dörries, Hannover (Er-
neuerung der Kirche) und Pastor Chappuzeau, Hannover.
Plakate und Zeitungen werden nähere Mitteilungen bringen.
Für Frühjahr 1922 hat der Kant-Gesellschaft außerdem einen Vortrag
zugesagt: Universitäts-Professor Dr. Oskar Walzel, Bonn:
„Der Wandel des Lebensgefühls in der Dichtung der letzten Jahrzehnte".
H. Mitgliederabende.
Diese finden von Oktober bis April monatlich einmal statt und werden
Spenglers Ideen gewidmet sein. Es werden die einleitenden Referate zu
den Diskussionen geben die Herren:
Dr. phil. G. Frebold . . . über Spenglers Gesamtwerk.
Dr. phil. H. Havemann . . über Spenglers Auffassung der Kunst;.
Prof. Heyn über Spenglers Auffassung des Christentums.
Studienrat Dr. Hoffmann . . über Spenglers Auffassung der Mathematik.
Prorektor Mehlhase . . . über Spenglers Auffassung der Religion.
Studienrat Dr. Meltzer . . über Spenglers Auffassung der Antike.
Buchhändler Schmorl . . . über Spenglers Leben.
Studienrat Dr. Scherwatzky . über Spenglers Auffassung der Musik.
510 Kant-Gesellschaft.
Prof. Dr. Stammler . . über Spengler und die deutsche Literatur.
Oberstudienrat Dr. Wolf . über Spengler und Goethe.
„ „ über Spengler und die Staatsidee.
Die Mitglieder erhalten besondere Einladungen. Außerdem werden
die Zeitungen unter der Rubrik „Vorträge, Veranstaltungen, Vereine usw."
einen Hinweis bringen.
Alle Freunde der Philosophie werden gebeten, durch ihren Beitritt
ihre Teilnahme zu bekunden, die Bestrebungen durch Stiftung größerer
Summen zu unterstützen und diesen Aufruf weiterzuverbreiten. •
Die Ortsgruppe Hannover der Kant-Gesellschaft:
Dr. Berkenbusch, Dr. Linckelmann,
Studienrat. Justizrat.
Adolf Grimme, Studienrat Dr. Scherwatzky,
an der Oberrealschule am Clevertor. Studienrat.
Prof. Dr. Kunze, Oskar Schmorl, Buchhändler,
Direktor d. vorm. Kgl. u. Prov.-Bibliothek. Schriftführer der Ortsgruppe ;
Bahnhofstraße 14.
Ortsgruppe Meersburg a. Bodensee.
Wir sind wiederum in der erfreulichen Lage, von der Gründung einer
neuen Ortsgruppe Mitteilung machen zu können. Dem Kreis der bereits
bestehenden Ortsgruppen hat sich nämlich eine solche in dem entzückenden
Städtchen Meers bürg am Bodensee zugesellt. Daß di ese Gründung
möglich wurde, ist dem tatkräftigen Bemühen, der Umsicht und der leben-
digen Liebe für die Philosophie des Herrn Pfarrer Adolf Seeger zu
verdanken, dem es gelungen ist, an der Stätte seiner Wirksamkeit eine
beträchtliche Anzahl philosophisch interessierter Persönlichkeiten zu ver-
einen. Es ist uns ein Bedürfnis, Herrn Pfarrer Seeger auch an dieser
Stelle den nachdrücklichsten Dank für alles das auszusprechen, was er für
die Kant-Gesellschaft und für die Hebung des philosophischen Lebens be-
reits getan hat und zu tun im Begriff ist.
Eröffnet wurde die neue Ortsgruppe am 1. Oktober 1921 in dem
stattlichen Bau des Lehrerseminars in Meersburg, dessen Leiter, Herr Di-
rektor Dr. Boos, die Räume seiner Anstalt in der liebenswürdigsten Weise
zur Verfügung gestellt hatte. Auch in Zukunft wird es das verständnis-
volle Entgegenkommen von Herrn Direktor Dr. Boos ermöglichen, die Ver-
anstaltungen der Ortsgruppe in dem Lehrerseminar abzuhalten. Den Er-
öffnungsvortrag hielt der stellvertr. Geschäftsführer Prof. Liebe rt, der
sich gerade auf der Eeise aus der Schweiz in der Nähe des Bodensees
befand, über das Thema: „Die Philosophie im Geistesleben der
Gegenwart". An diesen ersten Vortrag schloß sich am 3. Oktober
gleich ein zweiter, ebenfalls von Liebert gehaltener Vortrag über „Der
Begriff der Philosophie" an. War der erste Vortrag schon von
etwa 60 Teilnehmern besucht, so hatten sich zu dem zweiten Vortrag be-
reits über 120 Besucher eingefunden.
Kant-Gesellschaft. 511
Sowohl Herr Pfarrer Seeger als Herr Fritz Mauthner, der be-
kannte, in der wissenschaftlichen "Welt so angesehene Verfasser des grund-
legenden dreibändigen Werkes: „Beiträge zu einer Kritik der Sprache",
des geistvollen „Wörterbuches der Philosophie" und des großen, gleich-
falls dreibändigen Werkes: „Der Atheismus und seine Geschichte im Abend-
lande" werden durch Abhaltung seminaristischer Uebungen und durch die
Leitung philosophischer Arbeitsgemeinschaften die Ortsgruppe unterstützen
und deren Zwecke fördern. Wir begrüßen die Mitarbeit von Herrn Fritz
Mauthner, der sich mit ungeminderter Kraft in dem Idyll des „Glaser-
häusles" bei Meersburg dem Abschluß seiner sprachkritischen Untersuchungen
widmet, mit Freude und Genugtuung. Es sind ferner Schritte eingeleitet
zur Verbindung der Ortsgruppe Meersburg mit dem nahen Konstanz, wo
gleichfalls die Gründung einer Ortsgruppe in Aussicht genommen ist.
Die Geschäftsführung der Kant-Gesellschaft.
Ortsgruppe Berlin.
Vortragsveranstaltung.
9. Bericht.
Im Jahre 1921 sind in der Berliner Abteilung der Kant-Gesellschaft
folgende Vorträge gehalten worden:
Nr. 75: Studienrat Dr. Freitag-Berlin, Studienrat Dr. Behrendt-
Berlin, Univ.-Prof. Dr. Sprang er- Berlin sprachen am 15. Januar
1921 über: „Philosophie und Schule".
Nr. 76: Privatdozent Dr. Brinkmann -Berlin sprach am 24. Februar
1921 über: „Soziologie und Staatswissenschaft".
Nr. 77: Professor Dr. J. M. Verweyen-Bonn sprach am 10. März 1921
über: „Beziehungen zwischen mittelalterlicher und neuzeitlicher Er-
kenntnislehre".
Nr. 78: Dr. Kurt Sternberg-Berlin sprach am 14. April 1921 über:
„Die philosophischen Grundlagen in Spenglers »Untergang des Abend-
landes«".
Nr. 79: Dr. Fritz Heinemann-Berlin sprach am 2. Juni 1921 über:
„Der Neuplatonismus der deutschen Philosophie".
Nr. 80: Professor Dr. Franz Eulenburg- Berlin sprach am 11. No-
vember 1921 über: „Gibt es historische Gesetze"?
Nr. 81: Privatdozent Dr. Siegfried Marck -Breslau sprach am 16. De-
zember 1921 über: „Hegelianismus und Marxismus".
512 Kant-Gesellschaft.
Vergünstigungen beim Bezug von Büchern.
Die Mitglieder der Kant - Gesellschaft erhalten auf folgende
Bücher Vergünstigungen:
a) Erich Adickes , o. ö. Professor an der Universität Tübingen,
„Untersuchungen zu Kants physischer Geographie"
(1911. Gr. 8°. VIII und 344 Seiten) zu 8 Mk. statt 20 Mk.
Lädenpreis.
b) Derselbe, „Kants Ansichten über Geschichte und Bau
der Erde« (1911. Gr. 8°. VIII und 207 S.) zu 4 Mk. statt
9.20 Mk. Ladenpreis.
Mitglieder, die von diesen Vergünstigungen Gebrauch machen
wollen, wollen sich mittels eines einfachen Hinweises auf ihre Mit-
gliedschaft direkt an den Verlag von Paul Siebeck (J. C.B.Mohr)
in Tübingen wenden (nicht an die Geschäftsführung der Kant-
Gesellschaft). Der Verlag wird dann sofort die Zusendung — der
Einfachheit halber unter Nachnahme — vornehmen.
Die Geschäftsführung der Kant-Gesellschaft,
i. A. Liebert.
Kant-Gesellschaft.
513
XVII. Jahresbericht 1920 ').
I. Einnahmen.
8.
9.
Uebertrag aus dem Jahre 1919
Jahresbeiträge: 19202)
Jahresbeiträge: Nachzahlungen für frühere Jahre .
Zinsen der Kant-Stiftung (durch die Universitäts-
kasse Halle a. S.)
Bankzinsen in Halle u. Berlin aus verschiedenen Kontos
Einnahmen durch den Verkauf von Veröffentlichungen:
a) Ergänzungshefte: 236.95 Mk. ,]
b) Vorträge: 1705.03 „ [
c) Neudrucke: 640.32 „ )
Zuschuß von Dr. Beate Berwin zur Herstellung des Er-
gänzungsheftes Nr. 49
Zuschuß von Dr. D. Baumgardt zur Herstellung des
Ergänzungsheftes Nr. 51
Beisteuer seitens verschiedener Mitglieder zur Her-
stellung des Ergänzungsheftes Nr- 53 (Ewald):
a) Carl Helle- Braunschweig = 500 Mk.
b) H. Holzner-Berlin = 50 „
c) Geh.-Eat Harries-Berlin = 1000 „
d) Rechtsanwalt Kahn-München = 2000 „
e) Victor Altmann-Berlin = 500 „
f) Generaldirektor Vögler-Berlin
500
Uebertrag Mk.
492
62693
280
1606
1889
2582
2335
3640
4550
80069
04
27
32
24
30
65
30
12
1) Diese Zusammenstellung der Einnahmen und Ausgaben des Geschäfts-
jahres 1920 ist auf dem Kuratorium der Universität Halle a. S. rechnerisch nach-
geprüft und dann von dem Verwaltungsausschuß der Kant-Gesellschaft auf Grund
der Vorlegung aller Belegpapiere genehmigt worden. — Die endgültige Genehmi-
gung dieser Abrechnung und die Entlastung der Geschäftsführung bleibt der
nächsten allgemeinen Mitgliederversammlung vorbehalten.
Die Geschäftsführung der Kant- Gesellschaft.
Vaihinger. Liebert.
2) Bei diesem Posten ist zugleich die große Zahl freiwilliger Erhöhungen
des Jahresbeitrages berücksichtigt, zu denen sich viele Mitglieder, einem dring-
lichen Ersuchen seitens der Geschäftsführung freundlichst entsprechend, ohne
weiteres bereit gefunden haben. Wir ergreifen die Gelegenheit, den betreffenden
Mitgliedern für ihre besondere Unterstützung hierdurch den aufrichtigsten und
nachdrücklichsten Dank abzustatten.
Die Geschäftsführung.
Vaihinger. Liebert.
Kantstndien. XXYI. 33
:.M
Kant-Gesellsclialt.
Uebertrag Mk.
10. Zuschuß von Dr. W. Blumenfeld zur Herstellung des
Vortrages Nr. 25
11. Spende von Wemer Daitz in Harburg
12. Spende von Dr. Georg Frebold in Hannover
13. Spende von Privatdozent Dr. Geißler in Eisenach .
14. Spende von Dr. Jungmann in Basel
15. Spende von Prof. Kohnstamm in Amsterdam
16. Spende von Loewenthal & Levy in Berlin . . . .
17. Spende von Robert Marko wski in Halle
18. Spende von Justus Meyer in Zandvoort
19. Spende von Direktor Dr. Starke in Kopenhagen
20. Spende der Familie des verstorbenen Ehrenmitgliedes
der Kant-Gesellschaft: Dr. Walter Simon-Königsberg .
21. Spende von Fabrikant Ewald Schultze-Berlin-Lankwitz
22. Spende von Paul Ternstrand in Upsala
23. Spende von Dr. Hans Wendland in Berlin ....
24. Spenden in geringerer Höhe durch verschiedene Mit-
glieder1)
25. Einnahmen durch den Kauf einzelner Veröffentlichungen
seitens mehrerer Mitglieder, besonders des Ergänzungs-
heftes 50 (Adickes)
26. Einnahmen durch nachträgliche Gutschrift für früher
bezahlte Verpackung der Papierballen. Verpackung ist
jetzt an die Lieferstellen des Papiers für die Veröffent-
lichungen der Kant-Gesellschaft zurückgeschickt worden .
27. Einnahmen durch die Preiserhöhung der Veröffent-
lichungen der Kant-Gesellschaft
Uebertrag Mk. [ 87641 75
80069
1200
100
100
100
100
100
400
400
300
248
1000
100
100
300
1232
1327
217
247
12
23
25
35
80
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
10.
17.
18.
10.
1) Es haben
Flaischlen
Geißler
Frau Schmidt
Riese
Dioyer
Metzuer
Drexler
Gerhard
Westerby
Eklimd
Zimmermann
Mahnke
Bornschein
Rusch
Damm
Eisner
Kloth
Paßkönig
Manasse
solche Spenden gestiftet:
5,— 20. Dzialas 50 —
2,— 21. Leibl 30,—
10,— 22. Stadtbibliothek
50,— Danzig 20,—
2,— 23. Katz 50,—
5,— 24. Kallweit 5 —
80,— 25. Martin Meyer 30,—
45,65 26. Jacoby 20,50
21,— 27. Fischer 30,—
32,50 28. Linckelmann 20,—
- 29. Kohrs 10,—
- 30. Kehrl 30,—
- 31. Pöckel 40.—
- 32. Rohrbeck 50,—
33. Regensburger 4, —
34. Stadtbücherei
10 — Charlottenburg 20 —
30 — 35. Witte 20 —
50,— 36. Spemarm 30,—
37. Klippel 20,—
38. Univ.-Bibliothek
Tübingen 20,—
39. Seidler 3,90
40. Metz 20,—
41. Hasserl 30 —
42. Metzner 20 —
43. Jaensch 25 —
44. Döring 40, —
45. Paleikat 20,—
46. Bittorf 19,70
47. Eßlen 40,—
48. Staudinger 10,—
49. Ackermann 30,—
50. Petsch 5,—
51. Wimmer 40,—
52. Hiller 10 —
53. Pohl 50,—
54. Kleinecke 20 —
Kant-Gesellschaft.
515
Uebertrag Mk.
28. Einnahmen aus dem Kapital des Fördererfonds; ent-
nommen zur Deckung des Unterschusses und zum Aus-
gleich zwischen den Einnahmen und Ausgaben des Jahres
1920 n . . . . .
Gesamteinnahmen Mk.
II. Ausgaben,
1.
Honorare an die Mitarbeiter (Autoren der Kant-Studien,
Leiter der Ortsgruppen etc.) .
7083
35167
86
2.
3.
Kant-Studien: Gesamtherstellungskosten: Papier, Satz,
Druck, Umschlag, Broschur . . . . . . . . .
Drei Ergänzungs hefte: Satz, Druck, Papier, Bro-
78
schur, Redaktion usw.
a) Nr. 49 (Berwin) = 2815,
65 2) \ .
b) Nr. 50 (Adickes) == 1900,
der Kosten bestritten
— 3) (Anteil; Rest j
durch Mäzene und f
4.
Subskriptions - Beiträge
glieder)
c) Nr. 51 (Baumgardt) = 4017
Zwei Vorträge: Satz, Druck,
daktion usw.
seitens 878 Mit- /
,-4) )
Papier, Broschur, Re-
8732
65
a) Nr. 24 (Radbruch-Tillich) =
b) Nr. 25 (Blumenfeld)
= 2590.90 |5
= 6436.83 i }
9027
73
Uebertrag Mk. |[ 60012J02
1) Nach den Bestimmungen der „Förderer" werden die Mittel des „Förderer-
fonds" der Geschäftsführung zur Verfügung gestellt zur Ermöglichung der Zwecke
der Kant-Gesellschaft ; die Geschäftsführung ist verpflichtet, über die Verwendung
dem Verwaltungsausschuß und der Allgemeinen Mitglieder- Versammlung Rechen-
schaft abzulegen. — Die Einrichtung dieses Fördererfonds ist auf Grund eines
Berichtes seitens der Geschäftsführung vom Vewaltungsausschuß der Kant-Gesell-
schaft genehmigt worden (26. Januar 1920). Vgl. Kant-Studien, Band XXV, Heft 1
S. 84 ff. — Ueber die Höhe dieses Fonds und über die demselben zugeführten
Beträge wird regelmäßig in den Kant-Studien Bericht erstattet.
Vaihingen" Lieber t.
2) Vgl. Nr. 7 der Einnahmen: Zuschuß der Verfasserin: 2335,65 Mk.
3) Die Gesamtherstellungskosten nebst Versendungskosten und Ausfuhrbe-
willigungen dieses sehr stattlichen Werkes beliefen sich auf 22140,65 Mk. Der
Hauptteil dieses Betrages wurde dadurch gedeckt, daß eine Reihe von wissenschaft-
lichen Instituten und von Mäzenen die Summe von 6000 Mk. zur Verfügung
stellten, ferner dadurch, daß 878 Mitglieder sogleich auf das Werk subskribierten.
4) Vgl. Nr. 8 der Einnahmen: Zuschuß des Verfassers: 3640,30 Mk.
5) Vgl. Nr. 10 der Einnahmen: Zuschuß des Verfassers: 1200 Mk.
33*
516
Kant-Gesellschaft.
b.
t .
8.
10.
11.
12.
Ueb ertrag Mk.
des verstorbenen Ehrenmit-
in Königsberg; Kant - Studien
Beigabe eines Bildes
gliedes Dr. Walter Simon
XXV, Heft 2—3
Versendungskosten für die Veröffentlichungen
der Kant - Gesellschaften (Generalversendungen): Kant-
Studien; Ergänzungshefte und Vorträge: Porti, Ver-
packungspappen, Bindfaden
Frachtkosten, bes. für den Verkehr usw. mit der Buch-
druckerei u. a. Porti für Fracht der Papierballen an die
Druckereien für Herstellung der Veröffentlichungen . .
Verschiedene Drucksachen: Neujahrsmitteilungen,
verschiedene Prospekte und Rundschreiben an die Mit-
glieder und an die Presse ; Auskunfts- und Werbematerial,
Interessentenformulare, Eintrittskarten zu den Vorträgen,
Mitgliedskarten; Drucksachen für die Generalversammlung
1920; Postkarten, Ankündigungen von Preisaufgaben,
Mahnbriefe , Satzungen ; Zirkulare über die Veröffent-
lichungen der Kant-Gesellschaft usw. .
Repräsentationsausgaben und Reisen des stell-
vertr. Geschäftsführers nach Halle und nach anderen Städten
zur Begründung verschiedener Ortsgruppen, sowie der Schrift-
leiter der Kant - Studien ; verschiedener Redner zu Vor-
trägen usw
Beiträge an wissenschaftliche Gesellschaften und Unter-
nehmungen
Verschiedenes: Zustellungs- und Einziehungsgebühren
für die Jahresbeiträge; Buchbinderarbeiten; Abonnement
auf Deutsche Literatur-Zeitung; Beschaffung verschiedener
Zeitschriften und Rezensionsexemplare für die Kant- Studien;
Aktenpapier, Briefbogen, Umschläge, Tinte, Federn, Blei-
stifte; Packmaterial, Bindfaden ; Briefwage; Gummistempel;
Klammern, Telegramme; Versicherungsmarken für die Se-
kretärin; Gebühren für Ortskrankenkasse; Durchschlag-
und Kohlepapier ; Farbbänder; Veranstaltung der Vorträge ;
Reparaturen an den Schreibmaschinen ; Bankaufbewahrungs-
gebühren für Manuskripte; Kontobücher für die Mitglieder-
listen; Anmeldegebühren bei der Reichswirtschaftsstelle
für die Auslandssendungen; Formulare für Auslandssen-
dungen; Nachnahmekarten, Zahlkarten; Veranstaltung der
Generalversammlung 1920 etc
Lieferung früherer Jahrgänge der Kant-Studien,
Ergänzungshefte, Vorträge, Neudrucke an Universitäts-
seminare und an einige Mitglieder
Uebertrag Mk.
60012
764
11730
2725
3579
2831
149
7923 38
02
40
70
20
40
957
90672 35
25
Kant-Gesellschaft.
517
V6.
14.
15.
16.
17.
18.
Uebertrag Mk.
Zuschüsse für die Ortsgruppen in Hamburg, Königsberg,
Leipzig, München, Münster, Stuttgart für Herstellung der
Einladungsschreiben zur Gründung; der Eintrittskarten,
für Saalmiete usw
Schreibhilfe: a) Vaihinger = 656,10 )
b) Frischeisen-Köhler = 512,50 >
c) Liebert = 3992,50 )
Porto-Ausgaben:
a) Vaihinger = 1020 Nummern = 268,20 )
b) Frischeisen-Köhler = 240 „ == 151,70 [
c) Liebert = 18779 „ = 3683,10 ]
Fernsprecher: Anlage (Hinterlegung von 1000 Mk.
für den Apparat) und Gebühren
Entschädigung für den stell v. Geschäftsführer Prof. Liebert
Entschädigung für den Assistenten
Gesamtausgaben Mk
11434445
Kant-Gesellschaft.
Neuangemeldete Mitglieder für 1921.
Ergänzungsliste 2: Juni— Dezember 1921.
I. Jahresmitglieder.
A.
stud. phil. Ilse Abraham, Berlin W 50, Achenbachstr. 3.
cand. phil. Adolf Ackermann, Gießen, Westanlage 58.
Wilhelm Ahrens, Zschortau b. Leipzig, Pfarrhaus.
Dr. Paul Altenberg, Berlin-Schöneberg, Hauptstr. 48.
Dr. An d er h üb, Cöln- Lindenthal, Dürenerstr. 236.
Dr. Georg Anderson, Halle a. d. Saale, Friedrichstr. 59.
Hannah Arendt, Königsberg i. Pr., Busoldstr. 6.
Justizrat Georg Aronsohn, Berlin- Wilmersdorf, Kaiserallee 26.
Ministerialrat Professor Dr. Apelt, Dresden-N., Hospitalstr. 10b.
KarlAuf'mkolk, Hagen i. Westf., Potthofstr. 40.
B.
Pfarrvikar Ludwig Badstübner, Dresden-Löbtau, Walbritzstr. 16.
L. Ballhorn, Halle a. d. Saale, Kirchnerstr. 21.
cand. med. Hans Bargou, Tübingen, Keplerstr. 9, bei Vatters.
Paul Barth, Leipzig-Schönefeld, Scheumannstr. lc.
Btud. jur. Ernst Barthel, Halle a. d. Saale, Zapfenstr. 21.
Taubstummenlehrer W. J. Bechinger, Meersburg a. Bodensee.
5J8 Kant-Gesellschaft.
cand. phil. Heinrich Becker, Berlin-Steglitz, Belfortstr. 13a.
Dr. Theodor Becker, München, Elisabethstr. 29.
stud. med. Cl. Beckmann, Gießen a. d. Lahn, Hoffmannstr. 3.
Richard Benjamin, Rheydt i. Rhlnd., Kaiserstr. 60.
Studienassesor Ferdinand Bergenthal, Hamm i. Westf., Nassauerstr. 10.
Dorothea Bicke, Hannover, Alte Döhrenerstr. 85.
Seminar-Prorektor Ludwig Blatter, Ottweiler, Saargebiet, Friedrichstr. 5.
Apotheker Friedrich Blochberger, Leipzig, Südstr. 16.
Dr. Kurt Blumenfeld, Berlin-Wilmersdorf, Rüdesheimerplatz 7.
Dr. Karl Bock, Königsberg i. Pr., Moltkestr. 5.
E. Böckmann, Cöln-Lindenthal, Theresienstr. 18.
stud. phil. Felix Böhme, Leipzig- Dölitz, Bornaischestr. 176.
Rektor Emil Böiger, Göteborg, Schweden, Oere Djupedalegatan 9.
Referendar Walter Böse, Berlin-Lichterfelde, Luisenstr. 18.
Carla Böttcher, Berlin-Charlottenburg, Berlinerstr. 93.
William Boettcher, Berlin N 4, Borsigstr. 5.
stud. math. Hermann Brandt, Tübingen, Bursagasse 2.
Dr. Friedrich Braun, i. Fa. Braunsche Hof buchdruckerei, Karlsruhe i. Baden,
Karlfriedrichstr. 14.
Studienrat Dr. Brink, Hannover- Waldheim, Ottostr. 3.
Rechtsanwalt Hans Brückner, Löbau i. Sa.
Gerard Slotemaker de Bruine, Utrecht, Holland, Dondersstraat 11.
Fr. Burgdorf, Magdeburg, Gustav Adolfstr. 24.
C.
Redakteur Josef Cavallier, Budapest, Ungarn, I Lovas-ut. 8.
Dr. Chemnitz, Visselhövede, Provinz Hannover.
stud. phil. Chi-kui Chung, Berlin-Charlottenburg, Leibnizstr. 82, bei Frau Spieß.
Dr. jur. A. Claus, Sondershausen, Thüringen, Elisabethstr. 9.
Bettina Cohn p. A. Kirstein, Berlin W, Bendlerstr. 17.
D.
stud. theol. Carl Damour, Göttingen, Rosdorferweg 19a.
Bibliothekar Leonhard Dal, Stockholm, Adv. Nobelbibliothek.
Studienrat Dammann, Dessau, Joachim Ernststr. 18.
Dr. Dänzer-Vanotti, Karlsruhe i. B., Vincentiusstr. 4.
Professor Walter Dierenbach, Freiburg i. Br., Belfortstr. 26.
Reallehrer Hermann Dietrich, Meersburg a. Bodensee, Taubstummenanstalt.
Lehrer Hans Di Um er, Hannover, Strohmeyerstr. 2.
stud. phil. Alfons Diwo, Heidelberg, Ladenburgerstr. 60.
Prokurist Christian Dohle, Cöln-Klettenberg, Nassestr. 26.
Dr. Joseph Drexler, Shanghai, China, Weihaiwei Road 95.
A. Driessen, Rotterdam, Holland, Gelderschestraat 4a.
Frau Dryander, Halle a. d. Saale, Friedrichstr. IIa.
E.
stud. phil. Herrn. Chr. Eberle, Darmstadt, Heidelbergerstr. 129.
Reallehrer Wilhelm Eck, Meersburg a. Bodensee.
Dr. Walter Eckstein, Wien IV, Kandlglasse 6.
Professor Dr. Rudolf Ehrmann, Berlin W 15, Kurfürstendamm 18—49.
Dr. Hugo Eichert, Ludwigsburg i. Wttmbg. Kaiserstr. 7.
stud. phil. Fritz Ephraim, Heidelberg, Landfriedstr. 14 bei Singhoff.
Frl. Dr. M. E r 1 e r , Leipzig, Ranstädter Steinweg 40 III.
C. C. van Essen, Utrecht, Holland, Catharynesingel 93 bis
Professor Dr. Karl Essl, Aussig, Tschechoslo vakei, Mozartstr. IIa.
cand. phil. J. C. B. Eykmann, Amsterdam, Holland, J. W. Brouwerstraat 40.
Kant-Gesellschaft. 519
F.
Lehrer Jakoh Faber, Offenbach, Rheinland.
Studienassessor Walter Fabian, Breslau V, Rehdigerstr. 28.
Dr. Robert Faesi, Zollikon, Schweiz.
stud. theol. F au sei, Tübingen, Klosterberg 8.
Prof. D. Dr. Joseph Feldmann, Paderborn, Phil, theol. Akademie.
Kaplan F erber, Püttlingen a. d. Saar.
Dr. Wilhelm Flitner, Jena, Forstweg 23.
cand. phil. Alfred Franken feld, Göttingen, Lotzestr. 41.
Professor Dr. Paul Frankl, Halle a. d. Saale, Neuwerk 19.
Privatdozent Dr. Walther Freymann, Dorpat, Estland, Petersburgerstr. 36.
G.
Gerson Gervai,' Eichwalde bei Berlin.
Dr. H. Giltay, den Haag, Holland, 45 van Imhoffstraat.
Helmuth von Gizycki, Berlin-Charlottenburg, Mommsenstr. 71.
Dr. Ludwig Goldschmidt, Cassel, IJohenzollernstr. 10.
Dr. jur. Kurt Graeven, Berlin-Friedenau, Bismarckstr. 11.
Dr. Marie Grosche, Hannover, Emilienstr. 4.
stud. jur. Ernst Grumach, Königsberg i. Pr., Vorder-Roßgarten 47.
Professor Grund el, Karlsruhe, Westendstr. 9.
Professor Dr. Alfred Günther, Heidelberg, Bergstr. 13.
Rektor John Gustavson, Klippan, Schweden.
Dr. Otto v. Gyssling, General d. Art., München, Barerstr. 24.
H.
P. J. de Haan, Utrecht, Holland, Parkstraat 45.
Studienassessorin Else Habering, Königsberg i. Pr., Herbartstr. 8.
Dipl.-Ing. Walter Hänig, Dresden-A., Feldgasse 16.
Lehrerin Johanna Hartmann, Stuttgart-Untertürkheim, Urbanstr. 78.
Studienrat Rudolf Hartmann, Grimma, Sachsen, Schröderstr. 3.
Kapellmeister Karl Hauptmann, Graz, Oesterreich, Attemsgasse 8.
Studienassessor Dr. Hans Havemann, Hannover, Stephansplatz 6.
Walther Hecker, Leipzig-R., Oststr. 521.
Felix Heinemann, Luzern, Schweiz, Haldenstr. 53.
Gertrud Helbing, Aschersleben, Lange Reihe 15.
stud. phil. Margarete Henze, Göttingen, Schildweg 23.
stud. math. Lehrer Willy Hermecke, Magdeburg, Duvigneaustr. 16.
Landgerichtsdirektor Dr. Hertz, Frankfurt a. Main, Lichtensteinstr. 2.
Professor E. Heyn. Hannover, Bödeckerstr. 15.
Dr. Konstantin Hilpert, Berlin-Wilmersdorf, Brabanterstr. 22.
Studienrat Margarete Hippke, Königsberg i. Pr., Hermann-Allee 2.
Frau Tilly Hoffmann, Jena, Fuchsturmweg 18.
cand. theol. Friedrich Hofmann, Tübingen, Neuestr. 4.
Referendar Dr. Rudolf Hoffnung, Berlin W 62, Lützowplatz 4 bei Landau.
stud. math. Helmut Hole, Tübingen, Deutsches Institut für ärztliche Mission.
Dr. Ernst Honold, Villingen i. Baden, Marktplatz.
i, j.
stud. phil. Gerhard Jacob, Leipzig, Bismarckstr. 2.
stud. Hans Jacob, Witzenhausen a. d. Werra, Bezirk Cassel, Mündenerstr. 402.
Frau E. Jansen, Meersburg a. Bodensee.
Referendar Otto Joseph, Berlin W 15, Kurfürstendamm 37.
Geheimer Finanzrat Dr. Jost, Berlin W 15, Düsseldorferstr. 47.
stud. theol. Carl Jung, Tübingen, Münzgasse 12.
K.
stud. rer. pol. Ernst Kah, Freiburg i. Br., Scheffelstr. 59.
Fritz Karsch, Marburg a. d. Lahn, Wcißenburgstr. 32.
520 Kant-Gesellschaft.
Botho Kehr, Landwirt, Pabstorf, Braunschweig.
Studienrat P. Kittel, Zittau, Dornspachstr. 2.
P. Klantke, Shanghai, China, Medizin- u. Ingenieurschule Weihaiwei Road 9'>
Wilhelm Klees, Hamburg 15, i. Firma Wilhelm Klees & Co.
Privatdozent Dr. Richard Koch, Frankfurt a. Main, Savignystr. 8.
Dr. K. Kof, Jena, Oberer Philosophenweg 2.
Albert Köhler, Prokurist, München, Ismaningerstr. 56.
cand. theol. W. Koehn, Tornow bei Hohenfinow, Marl:.
cand. phil. Hans Kohn, Prag, Tschecho-Slowakei, Rudolfava 15.
Lehrer Hans Köhler, Berlin N. 31, Ruppinerstr. 231.
Albert Köllges, Dohr, Post Mülfort, Dohrerstr. 320.
Hans Költzsch, Leipzig, Arndtstr. 68.
Elisabeth Koste r, Magdeburg, W, Arndtstr. 11.
Dr. phil. Alexander Koyre, Bergzabern, Pfalz, Eisbrünnerweg bei Dr. Conrad.
Lehrerin Hanna Kramer, Wegeleben, üstharz, Zuckerfabrik.
cand. rer. pol. Heinz Krapoth, Mülheim-Ruhr, Broich, Rheinl., Wilhelminenstr. 31.
Wilhelm Kratz, Münster i. Westf., Melchersstr. 41.
cand. ing. Willy Kriz, Zellerfeld i. Harz, Bergstr. 163.
Dr. Hans Krüger, Hannover, Ubbenstr. 19.
stud. phil. Wilhelm Krüger, Marburg a. d. Lahn, Hofstadt 18.
Gymnasiallehrer Werner Kürsteiner, Bern, Schweiz, Wabernstr. 22.
Hans Ulrich Kuss, Sondershausen, Thür., Possenweg 2b.
Pfarrer H. Kuttter, Beggingen, Schweiz bei Schaffhausen.
Lehrer Lampersdörfer, Cadolzburg, bei Fürth.
Referendar Fritz Landsberger, Berlin-Schöneberg, Salzburgerstr. 16.
Studienrat Fritz Laue, Friedrichshagen b. Berlin, Scharneweberstr. 101.
Dipl.-Ing. Friedrich Lechner, Wien III, Apostelgasse 12.
Ernst Levy, Cassel, Kölnischestr. 86.
cand. phil. Hans Lichtenstein, Heidelberg, Schillerstr. 31 bei Schirmer.
Geh. Reg.-Rat F. List, Berlin W. 63, Landgrafenstr. 4.
Lic. theol. Olof Ljngren, Gotheburg, Schweden, Olivedalsgadan 19.
Dr. Arthur Loewenherz, Mariampol, Litauen, Hebräisches Gymnasium.
stud. phil. Kurt Loewenstein, Hamburg 30, Eppendorferweg 150.
Julius Loewenstein, Breslau 13, Augustastr. 63.
Studienrat Reinhard Lorenz, Borna bei Leipzig, Seminar.
Oberstudiendirektor Professor Dr. Wilhelm Lorey, Leipzig, Fockestr. 7.
Pfarrer G. Ludwig, Dießbach bei Büren, Schweiz.
M.
Studienrat Dr. H. Marre, Gladbeck i. Westf., Babnhofstr. 4.
cand. phil. Fritz Marti, Bern, Schweiz, Brunnadernstr. 42.
Professor Dr. Theodor Marx, Heidelberg, Schröderstr. 47.
Staatsanwalt Dr. May, Darmstadt.
Professor Dr. Meltzer, Hannover, Meterstr. 42.
Prof. Dr. Rudolf Menzel, Aussig, Böhmen, Dr. Weitsstr. 4.
Dr. phil. Margarete Merleker, Berlin W 57, An der Apostelkirche 1.
stud. phil. Fritz Metz, Cassel, Martinsplatz.
Amtsgerichtsrat Dr. Theodor Metz, Heppenheim a. d. Bergstraße.
stud. phil. M i s g r y 1 1 , Neckarsteinach bei Heidelberg.
Vermessungsdirektor M. Moldenhajier, Benneckenstein, Harz.
Studienassessor Robert Monje", Heppenheim a. d. Bergstraße, Liebigstr. 6.
stud. ing. H. Mönkemeyer, Hannover, Am Grasweg 7.
Oberlandesgerichtsrat Müller, Dresden- A., Wartburgstr. 2.
Privatdozent Dr. Aloys Müller, Buschdorf b. Bonn.
Rechtsanwalt Ernst Müller, Hannover, Ferdinand Walbrechtstr. 18.
Studienassessor Georg Müller, Cassel, Grüner Weg 33.
Kant-Gesellschaft. 521
cand. jur. Wilhelm Müller, Greifswald i. Pommern, Fischstr. 19.
Pfarrer K. Müller von Hagen, Barmen, Mühlenweg 12.
Graf Münster, stud. jur., Leipzig, Talstr. 31.
Lehrer Rudolf Murtfeld, Hannover-Buchholz, Weidetorstr. 44.
Professor Dr. W. Nausester, Templin, Uckermark, Prenzlauerchaussee 30.
Geh. Studienrat Direktor Dr. F. Neubauer, Frankfurt a. M., Hansa- Allee 27.
cand. jur. Franz Neumann, Frankfurt a. M., Westendstr. 103.
Karl zur Nie den, Berlin-Reinickendorf-Ost, Raschdorffstr. 1.
Pater M. Niehues, Professor der Philosophie, Düsseldorf, Herzogstr. 17.
cand. phil. M. A. Nolda, Rostock, Moltkestr. 20.
Dr. Willy Nußbaum, Berlin W., Grunewaldstr. 55.
0.
Reallehrer Karl Oechsle, Meersburg, Bodensee, Taubstummenanstalt,
stud. med. Hanna Oppenheim, Frankfurt a. M.
P.
Dr. Alessandro Passerin d'Entreves, Turin, Italien, Corso Vittorio Ema-
nuele 5.
Studienassessor Walter Peter, Zittau i. S., Schillerstr. 16.
Lehrerin Marie Peters, Hannover, Callinstr. 6.
cand. phil. Edgar Pfankuch, Berlin-Steglitz, Schildhornstr. 16.
Taubstummlehrer Friedrich Pfefferle, Meersburg, Bodensee.
Frau Dr. M. Po hie, Frankfurt a. M., Schwarzwaldstr. 82.
Fräulein Professor Dr. CarolaProskauer, Karlsruhe i. B., Weinbrennerstr. 38.
ß.
Professor Dr. A. F. Raif, Karlsruhe i. Baden, Karlstr. 89.
Studienrat Franz Rauschen, Paderborn, Bahnhofstr. 3.
Dr. L. Reiche, Schwerin a. d. Warthe.
Realschuldirektor Dr. Ludwig Roesel, Leipzig, Georgiring 5.
Studienreferendar Erich Rogier, Breslau 10, Moltkestr. 8.
Justizrat Dr. Römisch, Dresden-Strehlen, Residenzstr. 36 b.
Anne Rosenbusch, Heidelberg, Grabengasse 18.
Dr. med. Alfred Rosenthal, Frankfurt a. M., Holbeinplatz 26.
Frau Dr. Rosenthal, Frankfurt a. M., Sophienstr. 22.
Erich Rüping, Bochum, Hernerstr. 253.
Studienreferendar Heinrich Rüping, Bochum, Hernerstr. 253.
S.
Prof. Dr. H. S a i 1 e r , Freiburg i. Br., Zasiusstr. 32.
Dr. phil. I. E. Salomaa, Järvenpää, Finnland.
br. William M. Salt er, Silver Lake, New-Hampshire, U.S.A.
G. W. Sayffaerth, Cöln-Lindenthal, Gleuelerstr. 96.
cand. phil. Günter Schab, Halle a. Saale, Jacobstr. 60.
Dr. Alfred Seidel, Heidelberg, Untere Neckarstr. 68.
Georg Seidler, Braunschweig, Leonhardstr. 2.
Professor Dr. Julius Seyfried, Karlsruhe i. Baden, Friedenstr. 17.
Studienrat Dr. Bruno Siburg, Düsseldorf, Speldorferstr. 2.
Waldemar Sobottke, Königsberg i. Pr., Schindekopstr.. 26 bei Franz Strü-
wecker.
Sanitätsrat Dr. Ludwig Spanier, Hannover.
Dr. J. van der Spek, den Dolder, Holland, Doldersche Weg 60.
Otto Splitter i. Firma: Brüggemann y Cie., Popotla D. F. in Mexiko.
522 Kant-Gesellschaft.
Sch.
«aiul. phil. Franz Schabram, Braunsberg i. Ostpr., Collegienstr. 2.
l>r. 1!. Schlesinger, Hannover, Emilienstr. 4.
Regierungspräsident Schleusener, Potsdam.
Walter Schlitzberger, Berlin W 50, Regensburgerstr. 32.
Professor Dr. Schmied-Kowarzik, Dorpat, Estland, Teichstr. 19.
Karl Theodor Schmidt, Frankfurt a. M., Darmstädterlandstr. 197.
stud. theol. Victor Schmidt, Utrecht, Holland, Hugo de Grootstr. 42.
Gerichtsreferendar Dr. Wilhelm Schmidt, Dortmund, Westfalendamm 4.
Oberingenieur S c h o 1 z , Cöln-Lindenthal, Landgrafenstr. 68.
stud. phil. Walter Scholz, Berlin N. 113, Carmen Sylvastr. 22 1V.
stud. phil. Karl Schönewolf, Cassel, Obere Königstr. 30.
Oberlehrer Oskar Schröder, Dresden-Laubegast, Bismarckstr. 10.
Dr. Wilhelm Schröder, Hannover, Wedekindstr. 5.
Lehrer Fritz Schulze, Hannover, Birkenstr. 8.
L. J. Schutte, Hilversum, Holland, Stationsstraat 13.
Studienrat Dr. R. Schwarz, Hannover, Ubbenstr. 9.
St.
Apotheker Alfred Stahl, Völpke, Kreis Neuhaidersleben.
Hauptmann a.D. Steigertahl, Groß-Salza bei Magdeburg, Burghof 1.
Lilly Stettier, Frankfurt a. M. , Weserstr. 1.
Studienrat Dr. Bruno Strauß, Berlin NW. 87, Wullenweberstr. 8.
A. Strohbusch, Damme, Westhavelland.
Frl. Carmen Stubenrauch, Berlin- Wilmersdorf, Rüdesheimerplatz 3.
T.
Theodor Tagger, Ischl, Oesterreich, Brennerstr. 3.
Fritz Teichmüller, Nordhausen a. Harz, Eichendorffstr. 2.
Landgerichtsdirektor Thiel, Dresden-A, Ludwig Richsterstr. 8.
stud. phil. Karl Thieme, Basel, Schweiz, Socinstr. 2.
Seminar-Prorektor Lebrecht Thomas, Waldau i. Ostpr.
(r. Tippe, Hannover, Steinmetzstr. 21a.
Studienrat von Thünen, Hannover, Callinstr. 25.
Dr. Hilde Treschen, Leipzig, Kronprinzstr. 701.
Dr. Dimitry Tschizewski, Heidelberg, Moltkestr. 10.
u.
Dr. ing. Henry Ulrich, Mexico D. F. 3a de Revillagigedo.
Frau Professor Agnes Unden, Upsala, Schweden.
Georg Urdang, Berlin NW, Lessingstr. 37.
cand. theol. Heinz Urig, München, Kaiserstr. 71.
V.
stud. theol. C. M. Veenhuysen, Utrecht, Holland, Willem Barentzstraat 83.
w.
Wagner, Halle a. d. Saale, Gr. Brauhausstr. 12.
Lektor Lic. theol. Gustaf Walli, Göteborg, Schweden, Plantagegatan 11.
Reallehrer Leo Wannenmacher, Meersburg, Bodensee.
Studienrat Dr. Reinhard Wegener, Magdeburg, Kl. Münzstr. 6.
Dr. Ernst Weinwurm, Wien III, Löwengasse 2.
cand. phil. Felix Wen gh off er, Königsberg i. Pr., Steindamm 27—29, Pen-
sionat Klein.
Frl. Adele Wesche, Hamburg, Bramfelderstr. 84.
Kant-Gesellschaft. 523
Attache Hans Winter, Bern, Schweiz, Oesterreichische Gesandtschaft, Sul-
genauweg.
Frau G. Wittkower, Berlin NW, Hansaufer 8.
Frau E. Witzel, Tübingen, Poststr. 4.
Realgymnasialdirektor Professor Dr. Wolf, Hannover-Linden, Falkenstr. 11.
J. R. Wolfens berger, Utrecht, Holland, Oorspronkspark 5.
Studienassessor Hellmut Wohlenberg, Kloster Wennigsen am Deister.
Lehrer Wulf, Theessen, Bez. Magdeburg.
z.
Günther Ziegler, Halle a. d. Saale, Zwingerstr. 13.
Pfarrer Zuckschwerdt, Groß-Salze, Bezirk Calde, Saale, Kirchstr. 15.
Institute.
Amsterdam: Vereinigung für Philosophie ; Schriftführer Dr. Albert S t e e n-
bergen, Amsterdam, Holland, Prinsengracht 810.
Hannover, Leibniz- Akademie ; Volkstümliche Hochschulkurse, Hannover, Goethe-
straße 2 a.
Herrnhut i. Schles. : Theologisches Seminar, Direktor Professor Dr. Theophil
Steinmann.
II. Dauermitglieder ab Januar 1921.
A.
stud. theol. B. J. A r i s , Groningen, Holland, Gedempte Boterdiep 7 a.
B.
Ingenieur G. Baeumlin, Luzern, Schweiz, Hertensteinstr. 52.
cand. phil. et theol. Em. Behrens, Rögle, Schweden.
Privatdozent Dr. I. Benrubi, Genf, Schweiz, Avenue Luzerna 11.
Dr. G. A. van den Bergh van Eisingha, Amersfoort, Holland.
Dr. Ludwig Binswanger, Kreuzungen, Schweiz, Kuranstalt Bellevue.
Prof. Dr. G. Bohnenblust, Genf, Schweiz, Avenue des Vollandes 2.
Frithiof Brandt, Stengaarden, Dänemark.
Prof. Dr. N. Braunshausen, Luxemburg, Avenue Victor Hugo 31.
Dr. J. R. Buisman, Utrecht, Holland, Mulderstraat 5.
D.
cand. theol. J o h. D i p p e 1 , Groningen, Holland, Zuidersingelstr. 27.
E.
Hugo Eggeling, Leipzig-Reudnitz, Johannesallee 4.
Dr. B. K. Engel, Berlin-Zehlendorf, Potsdamerstr. 47 — 48.
Pfarrer Max Gerber, Langenthai, Kanton Bern, Schweiz.
Dr. Louis Glatt, Zürich, Schweiz, City Hotel.
Dr. Th. Goedewaagen, Blaricum, Holland, Kerklaan 03.
Dr. Gerhard Güttier, Reichenstein i. Schi.
H.
Max Hamlet, Hamburg, Schlüterstr. 52.
Prof, Dr. J. Hausheer, Zürich, Schweiz, Bergheimstr. 10.
Dr. Hans H e g g , Bern, Schweiz, Kirchenfcldstr. 78.
r.
Max Isaac, Hamburg, Mittelweg 107.
Prof. Dr. K. Ito, Charlottenburg, Berlinerstr. 103.
524 Kant-Gesellschaft.
Prof. Dr. Malte Jacobsson, Göteborg, Schweden, Aschebergsgantan 36.
Prof. Dr. Karl Jesinghaus, Parana, Argentinien.
K.
Legationsrat a. D. W. v. Krause, Schloß Bendeleben bei Sondershausen.
Prof. Dr. Victor Kuhr, Kopenhagen, Dänemark, Gyldenlovesgatan 10.
Privatdozent Dr. Reinhold Kynast, Breslau, Arletiusstr. 7.
L.
Alfred Lisser, Hamburg, Neuer Wall 10.
M.
cand. phil. F. Marescot, Haag, Holland, Javastraat 69.
Rechtsanwalt Hans Marquardt, Berlin NW., Lessingstr. 35.
Pfarrer Dr. Georg Merkel, Nürnberg, Pfarrgasse 5.
Justus Meyer, Zandfoort, Holland, Zandfoortsche Laan 30.
Dr. Job. Müller, Danzig, Lastadie 2.
Ing. W. A. Th. Müller-Neuhaus, Berlin NW., Kronprinzen Ufer 23.
P.
Prof. Dr. Adolf Phalen, üpsala, Schweden, Salag 29a.
cand. phil. J. Poortmann, Groningen, Holland, Helperbrink 12.
R.
Prof. Dr. A. Rademacher, Bonn, Argelanderstr. 1.
Heinrich Reuber, Bernitt, Mecklbg.
S.
Privatdozent Dr. Martin Simmen, Luzern, Schweiz, Loewenplatz 11.
Schuldirektor A. Sjögren, Smedjebacken, Schweden.
Prof. Dr. Norman Kemp Smith, Edinburg. Schottland, Universität.
Seh.
Prof. Dr. Paul Schölten, Amsterdam, Holland, Waldeck Pyrmontlaan 17.
St.
Dr. Melchior Stechow, Berlin-Dahlem, Goßlerstr. 14.
Dr. Arthur Stein, Burgdorf bei Bern, Schweiz, Pestalozzistr. 51.
Friedr. Freiherr v. Stromer-Reichenbach, Konstanz, Baden, Kauzleistr. 4.
T.
Fabrikdirektor Dr. Georg Teply, Zürich-Seebach, Schweiz.
stud. theol. L. H. W. Theunissen, Utrecht, Holland, Ouade Gracht 189 bis.
Dr. med. A. Tiedemann, Celle, Mühlenstr. 23.
V.
Dr. H. W. van der Vaart Smit, s'Graveland, Holland.
Dr. Carl Vering, Hamburg, Holzdamm S.
Regierungs- u. Baurat Karl Verlohr, Fulda, Heinrichstr. 16.
Dr. D. Th. V ollen weid er, Jegensdorf, Kanton Bern, Schweiz.
w.
A. C. Wageningen, Hilversum, Holland, Middenweg 16.
Kristian Wester by, Kopenhagen, Thorwaldsenvey 12.
z.
Prof. Dr. Paul Ziert mann, Berlin-Steglitz, Breitestr. 32.
Absolutes 137, 149, Abso-
lutismus 13, 501
Abstraktion 190, 194, 3 19 f.,
326, 437
Affektion des Ich n. Kant
169 f., 339
Agnostizismus 157, 494
Akt des Willens 47, Akti-
vität 60 ff., 68, 177
Allgemeines 485, A.es und
Einzelnes 195, A.heit44,
341, 345, A.gültigkeit 48,
123, 177, 341, 387, 404,
418
Als-Ob 213
Analogien der Erfahrung
316, 337 ff.
Analyse 185, Analytik,
transzendentale 145, 330,
339 f.
Anschauung 83, 113, 115,
126, 144, 154, 206 f., em-
pirischelOO,intellektuelle
126, reine 100, 108 f.,
Formen der A. 104 f. 160,
316 ff., 319 ff.
Antinomien 77, 80, 127, 142,
331, 410, 501, Antinomik
85
Antizipation 434 ff.
Apodiktizität98ff., 111, 327
Apperzeption 316, 331 ff.,
392
Apprehension 341 ff.
Apriori 98 ff., 111, 145 f.,
154, 160, 167, 175, 180,
186, 191, 1981,209,294,
312ff., 421, 423, A.smus
489, formaler 299, mate-
rialer 300
Ästhetik 19 f., 56, 180, 355,
358, 372, 403 ff., 489, ex-
perimentelle 405, tran-
szendentale 105, 144, 146,
198, 212, 319 ff.
Atome 63 f., 94, 201,
Atomistik 64
Register.
1. Sachregister.
Aufgabe 36, 38, 61 f., 495,
unendliche 186, A.n der
Ästhetik 403 ff.
Aufklärung 1 ff., 142, 145,
423
Autonomie 6, 12 f., 56, 59,
190, 194, 300, 305, 307,
489
Axiome, geometrische 99,
101, 198 f.
Bedeutung 434 f.
Begriff 83, 108, 113, 126,
136, 139, 181 f., 185,188,
206,210,213,495, B. des
Lebens 127, B. des Raums
321,B.d.Zeit326ff.,B.u.
Leben 1 16 ff., B.sbildung
190
Beschreibungsmittel u. Be-
schreibungsobjekt 454 ff.
Bewegung 106 f., 198, 455 ff.,
483 ff.
Bewußtsein 83 f., 88, 124,
168, 177, 179, 182, 197,
331, 391, 398 f., 501,
metaphysisches 122, sitt-
liches 149, B. überhaupt
177, B.sinhalte 400
Bezugssystem 93, 480
Bildung 35, 65, 86
Binomismus 209
Biologie 47, 116 f., 186,191 f.,
201 f., 315
Chemie 117, 132, 190, 192
Christentum 3 f., 82, 215,
228, 500, 505
Dämonisches 80, 88, 375,
379, 381
Deduktion 102, metaphysi-
sche 330, transzendentale
143 f., 146, 148, 167 ff.,
212, 294, 330, 333
Denken 144, 208 ff., 213,
227, 501, atomistisches
63, pädagogisches 17 ff.,
44, produktives 200 f., D.
u. Sein 86, 90, Denkge-
setze 188 f.
Dialektik 74, 78, 85 ff., 90,
138, 196, 351, 452, tran-
szendentale 84, 145, 493
Ding an sich 143 f., 157,
171, 195, 197, 200, 338 f.
Dogmatismus 135, 142, 144,
316, 339, 344
Dynamik 68, 94, D. des see-
lischen Erlebens 395
Eidologie 185
Eigengesetz 502 f.
Einbildungskraft, produk-
tive 316, 333 ff., 339, 358
Einheit 53, 56, 58, 146, 193,
451, systematische 420,
E. der Apperzeption 316,
330 ff., 392, E. desBewußt-
sein 182, 398 f., E. der
Erkenntnis 186, E. des
Endlichen 70, E. d.Gegen-
sätze 61, E. des Geistes
60, E. der Mannigfaltig-
keit 20, E. der Natur
102 f., E. des Selbstbe-
wußtseins 347, E. von
Denken und Sein 90, E.
von Form und Gehalt 75,
E. von Sein u. Sollen 63.
Einteilung d. Wissenschaf-
ten 193 f., 487
Einzelnes u.Allgemeinesl95
Einzelwissenschaften 129,
133, E. und Philosophie
194 f., 417 ff., 487
Elektrizitätslehre 94, Elek-
trodynamik 93, Elektro-
nen 94
Empfindung 98, 169, 171,
177, 209, 497
Empirismus 94 ff., 142, 144,
147, 316, 320, Empirio-
kritizismus 315
Register.
. E.prinzip 92
Entwicklung 148, 175 f.,
203, 215, 312, 424 f.
Erfahrung 58, 98, 102,132,
142 f., 144, 146,171,180,
184 f., 206 f., 316, 322,
330, 333 ff., 421, E.sur-
teile 191, 345
Erkennen 77, 143 f., 207,
E. u. Leben 85, Erkennt-
nis 23, 63, 79, 111, 142,
186, 188f., 197, 200, 207f.,
3 16 f., 338, 340, 488 f.,
502, Erkenntniskritik 96,
1 09, 488, Erkenntnislehre
209, 487, Erkenntnis-
problem 195 f., 451, Er-
kenntnistheorie 121, 169,
174 ff., 243, 488
Erleben 112 ff., 395, Erleb-
nis 37 f., 57, 112 ff.
Erscheinung 144, 169, 333,
336, 338 ff. •
Erziehung 3, 6, 18 ff., 35 ff.,
65 f., soziale 52
Ethik 12, 27, 145, 149, 186,
190, 197, 208, 213, 355,
489, 502 f, angewandte
23, aristotelische 497 f.,
kritische 283 ff.
Evidenz 101, 180f., 189, 336
Evolution 176, E.stheorie
218 f.
Exaktheit 31, 417
Existenz 142, 199 f., 501
Fiktion 362, 468, 470 f., 481
Finitismus 63, 70
Form 32 f., 68, 71,105, 127,
154, 163, F. u. Gehalt 75,
F. u. Inhalt 320 ff., F. u.
Materie 182 f., 194, 305ff,
F.U.Stoff 20 f., 34, 104,
Formalismus 12, 86, ethi-
scher F.alismus 289 ff.
Freiheit 6, 32, 65f.,71,217,
292, 298ff., 317, 330 f.,
356 ff., 360 ff., F.U.Not-
wendigkeit 351 ff., Frei-
willigkeit 60 ff.
Ganzes 28, 31, 46, 49, 83
Gegebenes 134, 181, 187,
209, 217, Gegebenheits-
lehre 217
Gegensatz 61, 64, 70, Gegen-
sätzlichkeit 66
Gegenstand 143, 178, 183,
202,299, 358, G. der Pä-
dagogik 20, G. der Psy-
chologie 390 ff., G. der
Wissenschaft 38
Geist 56, 59, 88, 127, 156 f.,
448, objektiver 162, 424,
G.esleben 125, 130, 227,
G.estypen 76 ff., G.es Wis-
senschaften 38, 50 f., 193,
397, 487
Geltung 183, 184
Gemeinschaft 6, 57, 66 ff.,
70 ff., 177, 401, soziale
149
Genie 56, 404, G. u. Tragik
351 ff.
Geometrie 99, 104 f., 108,
190 f., 198, 206, 323 ff.,
334
Gerechtigkeit 65 f.
Geschichte 121, 177, 191,
218, 397, 426, 453, 489 f.,
492, G. der Philosophie
121, 139 ff., 416 ff,
G.sphilosophie 186, 489,
G.sschreibung 57
Geschmack 404, 410 f.
Gesellschaft 162 f., 489
Gesetz 31, 54f., 56, 102 f.,
105, 198, 208, 300 ff., 334,
338, 340, 387, 458, aprio-
risches 347, empirisches
99, ethisches 293, indi-
viduelles 55, G.lichkeit 56,
61 f., 64, 102, 182, 403,
495, G.mäßigkeit 55, 63,
102, 174, 198, 41
(Gesinnung 62, 300 f., 497,
502 f.
Gignomenoiogie 194, 209
Gott 158 f., 163, 172, 218,
G.esbeweise 4, 215, G.es-
lehre 171
Gravitationsgesetz 93, 104,
477
Grund, zureichender 189,
Grundsätze 338, 348,
Grundwissenschaft d. Pä-
dagogik 32, 35 ff.
Gültigkeit 184, 501 f.
Gute 495, 506
Handeln 20, 24, 31, 37, 44,
51, 126, 217, ethisches
291 ff., praktisches 56
Heterogonie der Zwecke 177
Historie 122, Historismus
123 f., 418
Hypothese 99, 347, 349, 465,
468, 470 f., 481, 484
Ich 127, 154, 156, L(
177, 179, 183
Ideal 59, 219, individuali-
stisches 65, I. der Ge-
rechtigkeit 65
Idealismus 52 ff., 51»,
135, 156 f., 193,200,209,
221, 426 ff, 496, abso-
luter 155, 157, äternisti-
scher 158, dogmatischer
171, kritischer 105, 154,
157, 196 ff., 199, logischer
97, 101, 103, objektiver
153, 181, rationeller 153,
158, subjektiver 154, 157,
transzendentalerl42,154,
Idealität von Raum und
Zeit 103, 154
Idee 38, 45, 62, 74 f., 82 ff.,
90, 127, 154, 159 f., 162,
197,219, 358 f., 425,495,
praktische 163, transzen-
dentale 67, 1. der Freiheit
362 f., 387,1. der Sittlich-
keit 150, 1.beiHume 184f.,
I.nlehre83, 154,160,493
Identität 178, 189, 211
Immanenz 114 f.
Immaterialismusl53, Imma-
terielles 175
Imperativ, kategorischer
293 ff.
Individualismus 53 ff., 59 ff.,
186, 216, 490, Individua-
lität 43, 446, Individuität
60,61, Individuum 6, 54ff.,
163, 174, 401, 489 f.
Inertialfiktion 480 f., Iner-
tialsystem 93 f., 480
Inhalt 115, 1.u.Form 320 ff.
Invarianz 466 f., 469 ff., 477
Intuition 18, 113, 124, 130/
436, 438, I.ismus 181 f.
Ironie, romantische 359, tra-
gische 386
Irrationales 81, 83, Irra-
tionalismus 84, Irratio-
nalität 18, 83
Kant-Gesellschaft 219, 230,
260 ff., 508 ff.
Kategorien 122, 142f., 145f.,
168,178, 183, 185 f., 189,
197, 3 16 ff., 330, 333 ff.,
338 f., aristotelische 496,
K.lehre 121, 128, 192
Kausalerklärung 458, Kau-
salproblem 141 f., 184 ff.,
Kausalität 142, 149, 174,
Register.
527
184 f., 21G, 316, 337 ff.,
392 ff., 396 f., psychische
393 f.
Kirche 6 ff, 13, 70
Koinzidenz der Weltpunkte
101
Konstanz 477, K.gesetz 463,
469
Kontinuität 60, 127, 390
Koordinatensystem 482
Körper, physikalische 91 ff.,
105, 455 ff.
Kritik, der historischen Ver-
nunft 128, Kritizismus
96 ff., 134 ff., 142, 145 f.,
149, 193, 224, 316, 330,
339
Kultur 50, 133, 420 f., 424,
448 f., 505, K.bewußtsein
421,448f.,K.gemeinschaft
400, K.wirklichkeit 19, 23,
39
Kunst 18 ff., 34, 56, 131 f.,
219, 358 ff, 403 ff., 420,
449, K.psychologie 408,
414 f., K.wissenschaft
406 f., 414 f.
Leben 30, 32, 55, 74 f. ,78 f.,
112 ff., 156, psychisches
156, 398 ff., L. desGeistes
81, L.U.Begriff 116, L.
u. Idee 84 f., L. u. Philo-
sophie 1 12ff, L.sanschau-
ung 227, 487, L.sbegriff
62, 112 ff., L.sganzes42,
50, L.sganzheit 43, L.s-
philosophie 112 ff., 218,
L.stotalität 55
Logik 121, 139, 171, 174ff.,
231, 241 ff., formale 138,
188, 330, 493, normative
208, transzendentale 138,
145 f., L. der Philosophie
122, 136, L.U.Ethik 300,
Logismus 144, 194, Logi-
zismus 194, 209, Logos
495
Lorentz-Kontraktion 91 ff.
Marburger Schule 190, 197,
423, 427, 429f., 447, 494f.
Material 29 f., M.ismus 78,
237, Materie 55, 104 f.,
137, 194, 205 ff., M. in
Ethik 289 ff., M.u.Form
182 f.
Mathematik 123, 178, 185,
193 f., 206 f., 217, 313,
317, 323, 338, 340, 346,
392 f., 453, 486, 493
Maxime 6, 12, 291 ff.
Mechanik 94, 457, 472, Me-
chanismus 83
Menschu.Welt 227, Mensch-
heit 12
Metaphysik 107, 121 ff.,
134 f., 144ff.? 167, 173,
175, 177, 179, 196, 207,
217 f., 237, 243,303,311,
331, 337 ff., 423, 487 ff.,
494, 497, 505, M. d. Le-
bens 112
Methode, dialektische 138,
empirische 180, psycho-
logische 318, 348ff., 394ff.,
transzendentale 180, 318,
348 f., M.d. Wissenschaft
207 f., Methodik des pä-
dagogischenDenkens 17ff
Mittel u. Zweck 25, 27, 293
Mittelalter 53, 366
Moral 311, 384, M.ität 308,
311
Mystik 80 ff., 126, 133, 373,
Nationalökonomie 116 f.
Natur 24 f., 49, 84, 102 f.,
131, 133, 178, 194, 204,
218 f., 333 f., 338, 352,
426, 457 ff., 481, N.ge-
schehen 392 f., N.gesetz
101 f., 106,343,457,478,
481ff.,N.philosophie207,
218, 243, 455 ff., N. Wis-
senschaft 24, 31, 47, 96,
101 f., 117, 167,186,190,
193, 197, 214, 233, 313,
317,338,340, 346, 426 f,
487, N.wissenschaft und
Psychologie 392 ff.
Negativismus 79, 359
Neukantianismus 96, 113,
135, 186,215,255, 312 f.
Nihilismus 78 f.
Normen 41, 117, 208, ästhe-
tische 407 f.
Notwendigkeit 327, 336,347,
368 ff., logische u. psy-
chologische 345, N. und
Freiheit 351 ff.
Objekt 37, 46 ff., 75 f., 161,
194, 202, 227, pädago-
gisches 21 f., 0. der Er-
ziehung 30 f., 0. u. Sub-
jekt 321, 501, O.ivismus
181, 501, O.ivität 47, 50,
363, 398, 401, 410
Ontogenese 203, Ontologie
218
Ordnungslehre 175, 177
Organismus 60, 63, 83, 176f .,
186, 202 f., 314
Pädagogik 17 ff., 224 f.
Panentheismus 116 f., Pan-
logismus 133, 154, Pan-
psychismus 154
Personalismus 154, Persön-
lichkeit 46, 49, 83, 160,
356, 360 ff., 367, 371,
375 ff., religiöse 216 f,
Persönlichkeitsideal 67
Pflicht 149 f., 291 f., P.gebot
502 f.
Phänomen 160, P.alismus
154, 209, P.alität 197,
328 f.
Phänomenologie, Diltheys
122, Hegels 88, 137, Hus-
serls 124 f., 181, 418,
Kants 107, 198, 307
Philosophie 57, 116, 121,
129 f., 133, alte u. mittel-
alterliche 490 ff„ ange-
wandte 23, kritische 96,
131, prophetische 74, 87,
90, wissenschaftliche 113,
P. als Wissenschaft 417 f.,
Begriff der P. 492, P. u.
Einzelwissenschaft. 194f.,
P. u. Leben 112 ff., P.u.
Schule230ff.,P.geschichte
140 ff., 416 ff., 490 ff.
Phylogenie 177, 203
Physik 91 ff., 96 ff., 117,
132, 165, 167, 172, 190 ff.,
205ff., 217, 455 ff.
Piatonismus 316, 494
Poetik 407 ff.
Politik 2, 14, P.u.Idealis-
mus 52 ff.
Positivismus 81, 97,99,121f„
193, 315, 426.
Postulate 215, des Denkens
54, der praktischen Ver-
nunft 180
Praxis 19, 36, 44 f, 58 f.,
P. der Erziehung 20, 29 ff.,
P. u. Theorie 9, 217
Primat der praktischen Ver-
nunft 427, der Gemein-
schaft 59, des .Individu-
ums
.Vis;
Register.
principium identitatis in-
discernibilium 107
Prinzipien 106, 338, aprio-
rische 100, 145, ethische
293 ff., konstitutive 99,
praktische 302, transzen-
dentale 62, P.d. Atomistik
64, P. des Konkreten 64
Propädeutik,philosophische
230 ff.
Psychisches 90, 390 ff., Psy-
chologie 87, 108 f., 139,
172, 177f., 180, 183, 186f.,
190, 241 ff, 335, 426, an-
gewandte 23, beschrei-
bende395, empirische231,
erklärende 44, 48, 394,
naturwissenschaftliche
123, verstehende 89, Psy-
chologie d. Weltanschau-
ungen 74 ff., 446, P. als
Wissenschaft 390 ff,
Transzendentalpsycholo-
gie 180, 315 ff, Psycho-
logie u.Logik 193 f., 199,
209
Psychologismus 57, 113,144,
193 f., 197,405, 418, kri-
tischer 312 ff.
Rationalismus 3, 10, 62, 79,
144, 146 f., 158,316,358,'
373
Raum 100 f., 103 ff, 154,
171,175, 185, 198 f., 201,
204 ff., 316, 319 ff., 497
Realismus 179, 193, 200,
498, kritischer 488, tran-
szendentaler 196 ff., Rea-
lität 53, 78, 101, 105, 116,
157, 199 f., 426 f., 468
Recht 163, 215 f., R.slehre
290f.,R.s Wissenschaft 190
Relativismus 103, 452, 501,
rechtsphilosophischer2 15
Relativität 102, 106 f., 194,
R.stheorie 91 ff, 96 ff.,
174 f., 198f.,204ff.,454ff.
Religion 3, 10 f., 13, 131 ff,
161, 216, 228, 311, 420,
505
Revolution 2, 6, 57
Schema 202, 340, 346
Scholastik 131, 141, 147 f.,
381, 498
Schönheit 359, 403, 506
Schule u. Philosophie 230 ff.
Seele 79, 83, 178, 218, 392ff.,
8. u. Welt 123
Sein 39, 43, 45, 63, 123,
126, 137, 155, 215 f., 420,
437, 495 f.
Selbstbewußtsein 93, 154,
156, 159, 347, Selbst-
setzung des Ich 171
Sensualismus 97, 99, 316
Sinnesqualitäten 21, Sinn-
lichkeit 144, 161, 298,
334 ff.
Sittengesetz 63, Sittenlehre
171, 217, 289 ff., Sittlich-
keit 149, 161, 217, 302,
384, 420, 502 f.
Skeptizismus 78, 197, 237,
344, 494, 505
Skeptizismus 78, 197, 237,
344, 494, 505
Solipsismus , methodischer
177, 179
Sollen 39, 43 f., 45, 63, 317,
331, S.u. Sein 215 f., S.s-
bestimmung 43 f.
Sozialidealismus 52 ff., 59
Sozialismus 53, 67, 186,216,
490
Soziologie 44, 186, 489
Spinozismus 4, 412
Spiritualismus 154,156, 186
Spontaneität 146,148, 330ff
335 f., 347
Sprache 188, 210, 448 f., 503
Staat 5 f., 59 f., 66 ff., 72,
158, 163,203, S.sanschau-
ung 7, S.sform 5
Stoff 103 f., S. u. Form 20 ff.,
34
Subjekt 47 ff., 53, 60, 62,
75 f., 169, 181, 191, 197,
292, 298, 303, 331, 340,
410,. ideales 61, psycho-
logisches 55, 61, 70, tran-
szendentales 55, 61, 70,
S.u. Objekt 194, 196, 227.
321, 501, S.ivismus 196,
200, 215, 227, 485, S.ivi-
tät 320, 410
Sukzession 341, 344, 346
Synthesis 99, 144, 168, 185,
331, 334 f.
System 118, 122, 129, 136 f.,
186, 194, 419, 436, 439,
445, 451, 453, natürliches
18, physikalisches 92 f.
Technik 24, 27, 34, 191
Teleologie 218, 428
Theologie 4, 10, 191, 215
Theorie 36, 58 f., 68, 91 f.,
102, 123, T. der Dialektik
87, der Erziehung 22 f.,
29 ff, des Handelns 20,
T. u. Erfahrung 132, T.
u. Praxis 9, 217
Thomismus 488
Totalität 49, 79, 123, 185 f.
Tragik und Genie 351 ff,
Tragödie 354, 363, 375,
386
Transzendental 54, 62 f.,
71, 181, 327, T.idealis-
mus 53, T Ideologie 218,
T.ismus 312 ff., T.philo-
sophie 100, 103, 172, T.-
psychologie 180, 315
Tugend 63, 289 ff, 497 f.,
T.lehre 289 ff, 497 f.
Typen 80, 122, T. der Welt-
anschauung 417, Geistes-
typen 76 f., Typenlehre
122, ästhetische 415
Umwelt 33, 201 f.
Unbedingtheit 83, 356 f.,
360 ff., 376, 387
Unendliches 53, 62 ff, Un-
endlichkeit 53, absolute
60, intensive 53, poten-
tielle 60
Ursache 93, U. u. Wirkung
25, 174, 185, 337, 344,
393 f
Urteil 145, 171, 181, 183f.,
188, 191, 199,210,330f,
489, analytisches 191,
synthetisches 103, 313,
U.skraft 56, 180
Vernunft 7, 54, 145, 159,
305, historische 128, lei-
dende 182, praktische 180,
217, 293 f., 427, reine 146,
213,294, 3 16,. tätige 182,
theoretische 427, V er-
kenntnis 146, V.gesetz
54, V.kritik 125, 145
Verstand 83, 144, 334 f.,
347, 358, V.esbegriffe 143
Verstehen 49, 54, 74, 391 ff.,
434 f., rationales 85
Vorstellung 155 f., 209, 314
Tatsachen 20, 36, 39, 434, Wahrheit 428, 438, 442,
T.forschung 25
Register.
529
W. und Falschheit 181,
W. u. "Wirklichkeit 213.
Wahrnehmung 98, 3 14, W.s-
urteile 191, 345 f.
Welt 77, 123, 129, 227, in-
telligible u. sinnliche 148,
W.anschauung 74 ff.,
122 ff., 133, 194, 207,
234 f., 242 ff, 417, 487,
W.anschauungslehre 121,
194
Wert25f., 76ff.,88f., 117ff,
129. 186, 194, 313, 359,
428, W. u. Sein 123, W.-
auslese 432, W.ung76f.,
88 f.
Wesensschau 124 f.
Widerspruch (Satz d. W.s)
185, 189
Wille 47, 65, 70 f., 149, 180,
295 ff., 398, W.nsfreiheit
217,317,490,497, 504 f.,
Wirklichkeit 20ff., 28, 46,
48, 53 ff., 103, 107, 129,
149, 155 ff., 159, 161, 179,
190, 194,213,428, W.u.
Wert 186, W.ssphäre 28
Wirkung u. Ursache 25, 174,
185, 337, 344, 393 f., W.s-
zusammenhang 28
Wissen 20, 22, 137,178,213
Wissenschaft 26, 29, 48, 87,
102, 116, 122, 124, 129,
132f.,137,194,207,390ff.,
487, 504, exakte 98, 217,
normative 208, W. und
Philosophie 417, W.en,
angewandte 23 f., 27 f., 32,
35, 38 f., 44, 51, Eintei-
lung der W.en 193 f., W.-
lichkeit der Pädagogik
17 ff., W.serlebnis 504,
W.slehre 126, 172, 194
Zeit 100, 103 ff., 154, 160,
171, 175, 178, 185, 198f.,
201, 204 ff., 316, 325 ff,
335, 346 f., 458, 469, 497
Zweck 289 ff., 399, sittlicher
149, Z. w. Mittel 25ff.,
Z mäßigkeit 177, Z.zu-
sammenhang 400 f.
2. Personenregister.
Abulard 366
Abegg, J. Fr. 2
Adickes, E. 165 ff.
Adler, Fr. 471
Amelang 14 f.
Angersbach 483
Aristoteles 182, 184,
188,204,254,437,
441, 493, 496 ff.
Augustin 218
Avenarius 315
Bacon 147
Bauch, B. 7
Becher, E. 139, 177,
486
Behrend, F. 230
Berg 486
Bergson 112, 114,
121,176,187,204,
326, 330, 333, 390,
489
Berkeley 139, 147f.,
154, 157
Beyerhaus, G. 8
Biberg 154, 163
Biester 4, 11
boethius 163
du Bois-Reymond
249
Bolzano 208
Bonus, A. 63
Born, M. 110, 455,
466,471,476,481
Boström, Jac. 151 ff.
Bottlinger 486
Kantstudien XXVI.
Boutroux 194
Braun, 0. 251
Brentano,F. 180,199,
208, 480, 483 ff.
Brück, E. v. 8
Brucker 423
Buchenau, A. 255
Budde, G. 249, 255
Buddha 88
Büsching 9
Cartesius s. Descar-
tes
Cassirer,E.56,96ff,
169
Cohen, Herrn. 2, 96,
180,187,193,312f.,
429 ff, 435
Cohn, Jon. 405
Cornelius, H. 184
Coulomb 93
Creuz 5
Crusius 142
Darwin 177, 254
Descartes 70, 105,
137, 147f., 177,182
Dessoir, M. 249, 332,
406
Diels, H. 491
Dilthey, W. 10, 75-,
85,112,1 14, 121ff,
128, 370, 392,
394ff.,403ff.,426,
445, 494
Dingler 455, 486
Dittes 225
Driesch, H. 187, 218
Duns Scotus 381
Eberhard 5, 12
Eckermann 357, 379,
381
Edfeldt, H. 152, 159
Einstein 91 ff., 96 ff.,
198f.,204ff.,454ff.
Eisler, R. 249
Engels 489
Erdmann,B.9,139ff.,
183
Erdmann, Joh. Ed.
426, 492
Ettner 11
Eucken 125 ff, 130,
226 ff., 250, 255
Euklid 99, 103, 112,
191, 206
Falckenberg, R.
220 ff.
Fechner 250, 403 f.
Fichte 112, 126, 161,
163, 170, 195 ff.,
222, 250, 259, 356,
366, 435, 449
Fiedler 406
Fischer, Chr. G. 10
Fischer, K. 4, 6 f.,
13, 312, 333 f, 428
Förster, F. W. 254
Frank, G. 3, 8, 471
Freitag, 0. 230, 253
Freundlich 455, 459,
474, 481
Friedrichd.Gr.3,12,
14 f.
Fricke 455, 486
Fries 315
Frischeisen - Köhler
17, 251, 486
Fromm, C. 4
Gagelmann, Fr. 251
Galilei 99, 137, 147,
328,338,464,467,
472
Gauß 474, 482
Gehrcke 445, 469,
476, 486
Geijer, E. G. 163
Geißler 455, 486
Gerhardt 182
Gille 249
Glaser 455, 486
Goethe 80 f., 112,
215, 219, 353,
355ff.,360ff, 370,
375 ff, 382, 384 f.,
388f., 407, 434,436
Grabmann 488
Groos, K. 405
Grabbe 154, 162
Hartmann 486
Hartmann, Ed. von
196 f., 352, 405
Hay, Jos. 4
84
530
Register-
Hebbel 352 f., 363,
385, 405
He-;el81f.,86ft.,90,
135, 137 f., 154,
161 f., 195 f., 233,
356, 363, 395, 405,
411, 423 ff., 429,
435,437,447,452,
489, 492, 499
Heine 361, 365, 367,
380
Helmholtz 427
Henry, V. 206 f.
Heraklit 449
Herbart 155, »183,
224 f., 233
Herder 112, 254, 259,
489
Hobbes 137, 147
Hoffmann, E. T. A.
207, 212
Hoffmann, P. 251
Höfler, A. 257 f.
Holst 455, 486
Home 404, 408
Homer 375,382,384f.
Hönigswald 18, 99,
434, 442
Humboldt, W. v. 5,
43, 222
Hume 141 f., 148,
184 f., 259, 337,
339 f, 344
Husserl 85, 123 ff.,
180, 193 f., 205,
208, 418, 480
Huyghens 106
Jacobi, F. H. 4, 370
Jäger, W. AV. 437,
499
Jakob 455, 486
James 326, 336, 488
Jaspers, K. 74 ff.,
446
Jellinek, G. 6, 12
Jerusalem 318
Jesus 80 f., 363, 373
Jhering, R. v. 216
Jodl 320, 326
Joel 489
Johannsen 203
Isencrahe 455, 474,
486
Kant lff, 56, 61, 63,
74, 80, 81 ff., 86,1
90,96, 98ff.,103f., !
106, 108 f., 112,!
122, 139, 141 ff.,
144 ff., 149, 154,
157, 160, 163,
165 ff., 180, 185,
187,189,193,195f.,
198 ff., 201, 203,
209, 2 12 ff., 217 ff,
221,233,246,250,
254 f, 259, 289 ff.,
312ff.,351, 353ff.,
362, 404, 408 f.,
421 ff., 426 ff., 435,
437,447,454,489,
493ff.,496ff.,506f.
Kancorowicz 215
Kastil 180
Keijser, G. J. 152
Kierkegaard 81 ff.
Kinkel 249
Küugberg, Gustaf
152 f.
Knutzen, M. 9, 141
König, E. 249
Kopernikus 145, 254,
338, 484
Kopff 481, 483
Kottier 486
Kraus, 0. 480
Krause 165
Kries 486
Kroh, 0. 410
Külpe, 0. 194, 405,
488
Kullmann, H. 506
Kynast 181, 446
Laas 314,f.
Lambeck 246, 251
Lampreclit 236
Lange, F. A. 315, 350
Lange, L. 92, 94
Lask, E. 85, 182
Laßwitz, K. 257
Laue 458, 464, 469,
471
Lecher, E. 328
Lehmann,R. 225,251
Leibniz 90, 106 f.,
137, 141 f., 144,
148,154, 159, 182,
218, 225, 403, 449
Lenard 455, 469,486'
Lessing 3, 4, 142,
378, 404, 411
Liebert, A. 186, 195,
219
Liebmann, 0. 249,
315 [405
Lipps, Th. 193, 375,
Lipsius 486
Ljunghoff, J. 161
Locke 4, 147, 493
Löning, R. 497
Lorentz, H.A. 91 ff.,
455, 457 ff., 463 ff.,
481, 486
Lorentz, P. 251
Lotze, H. 218, 249,
250, 254, 493
Loewe, 0. 218
Luther 361, 363, 367
Lyell 215
Lysander 381
Mach 97, 106 f., 194,
315, 328, 342, 345
Mahnke, D. 151
Maier, H. 187
Malebranche 148
Marty 180
Marx2,216,365,489
Mauthner, F. 4
Maxwell 258
Meinong 180, 242,
251
Meißner 474
Mendel 203
Mendelssohn 5, 12
Menzer, P. 2 ff., 12,
249
Messer, A. 249
Meumann, E. 405
Meusel 10
Meyer, J.B. 315, 318
Michelson 456, 458,
470
Mie 455, 486
Mill, J. St. 208
Minkowski 91, 469
Mommsen370, 386 f.
Moog, W. 193, 251
Moritz, K. Ph. 112
Müller, Aloys 483 f.
Münch, W. 180
Napoleon 363, 370,
379
Natorp 52 ff., 59,
62 ff., 135, 180,
183 f., 193, 228,
312 f., 429, 431,
437, 493 [251
Neubauer, Fr. 246,
Newton 93, 96, 103f.,
106, 109, 142, 147,
198, 455, 457 ff,
472 ff., 478, 482 f.,
485 f.
Nietzsche SO f., 88,
112, 114,120,259,
356 f., 360, 365,
377
Parmenides 437
Pascal 82, 148
Pauisen,Fr.237,251.
343 f.
Petzold 485
Piaton 65, 102, 187,
153, 157, 163, 204.
222,249,255,258f.,
356,362,366,381,
384. 389, 425,
430 f., 436 f., 441,
447, 451, 493 ff.,
503
Plotiu 82, 137, 499 f.
Poincar(3,H.109,lll
Porphyrius496.499f.
Radbruch 215
Rausch, A. 245 f.,
251, 254
Rehmke 177, 193 f.,
248, 255
Reichenbach, H.
110 f.
Reichenbächer 486
Reicke, R. 165
Reinhold, K. L. 5
Rickert,H.74,112ff.,
177, 187, 190 f.,
194,313,425,427.
490
Rieffert 139
Riehl, A. 99, 194,
254, 317, 448
Riemann 101, 104
Ripke-Kühne 486
Roloff 225
Rousseau 3, 4, 12,
259
Rydberg, V. 151
Schaxel, Jul. 191
Scheler, M. 43, 114,
125,325,349,353,
355
Schelling76,84, 134,
143, 162, 165, 196,
405
Schiller 259, 353 ff.,
360 ff., 405, 407,
414
Schlegel, F. 112,356
Schleiermacher 250,
435
Register
531
Bchlick,M. 101, 108f.
Schlosser 495
Schmid, Bast. 249,
251
Schmidkunz 182,250,
255
Schneider, Ilse 104f.,
107
Schopenhauer 88,
180,250,366,371f.,
405
Schulte-Tigges 247
Schulz, Joh. H. 10f.,
Uff.
Seiler, G. F. 14
Sellien,E. 104,108f.,
486
Selz, 0. 410
Shakespeare 353,
360 f., 363, 369,
371, 378, 382 f.,
386 ff., 412 f.
Siegel, C. 251
Sigwart 249, 349
Simmel, G. 43, 85,
112,114,127,130,
314, 436;
Solger 260, 405
Spencer 137, 216
Spengler, 0. 85, 380,
505
Spinoza 4, 11, 142f.,
148, 258
Spitzer 406
Spranger,Ed.43,230
Stammler 215 f.
Starck, J. A. 10 f.,
Uff. '
Stern, W.' 34
Stöhr, A. 320 f., 324,
335 f.
Storm 373 ff.
Strindberg 357
Stumpf, K. 200, 480
Thomas von Aquino
225
Trau, H. 151
Trendelenburg 224
Troeltsch, E. 7, 45,
128, 135
Tschackert 10
Türck, Herrn. 363 ff.
Utitz 406
Vaihinger 238, 248,
251, 316, 321 ff.,
325, 327
Vannerus, Allen 151,
155, 163
Vischer 376 ff., 387,
405
Volkelt 177, 375, 386
Vorländer, K. 2, 10,
12, 289, 322
Weinstein, 455, 486
Weißenfels, 0. 251
Weißfeld, M. 2
Wiechert 455, 486
Wien 455, 486
Wilamowitz 430 f.,
495 [254
Willmann, 0. 224 ff.,
Windelband 177,
313, 315 f., 428 f.
Wirsen, C. D. af 151
Wolf, Kanzler v. 10
Wolff, Chr. Ulf.,
144,159,233,309,
423
Wölfflin 411, 413
Wundt, W. 193 f,
226,234,249,251,
255, 326, 393, 489
Zedlitz,Frhr.v.lOf.,
15 f.
Zeller, Ed. 195, 407,
426, 492
Ziegler, L. 352 f.,
365, 368 f.
Ziehen, Th. 194
Ziertmann 251
Zimmermann, C. 251
3. Besprochene Kantische Schriften.
(In zeitlicher Folge).
Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1749) 104.
Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen 1765/6 249.
De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis 143.
Brief an M. Herz (1772) 143.
Kritik der reinen Vernunft (1. Auflage 1781), 3, 4, 84, 103, 105, 141, 142 ff., 148,
154, 196 f., 198, 202, 212 f., 217, 259, 289, 306, 316, 319 ff., 493.
Rezension von Schulz' Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre (1783) 10.
Prolegomena (1783) 139, 141, 143, 199, 212," 337, 340, 348, 506.
Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) 4.
Was ist Aufklärung? (1784) lff.
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) 289 ff., 356
Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) 106, 169, 198.
Kritik der reinen Vernunft (2. Annage 1787) 142 f., 313 f., 319 ff., 329, 334, 336,
338 f., 340 ff, 348, 430, 494.
Kritik der praktischen Vernunft (1786) 3, 9, 54, 217, 289 ff., 317, 494.
Kritik der Urteilskraft (1790) 3, 56, 143, 180, 404, 410 f., 494, 506.
Ueber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein usw. (1793) !).
Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Tone in der Philosophie (1796) 493.
Metaphysik der Sitten (1797) 289 ff.
Opus postumum 165 ff.
Reflexionen 3, 141.
532
Register,
4. Verzeichnis der Verfasser
besprochener Neuerscheinungen.
Alverdes, F. 501
Apel, M. 212
Apelt, 0. 495 f.
Benjamin, W. 219
Berg, E. 174
Birnbaum, K. 212
Bloch. W. 174 f.
Driesch, H. 177 ff.
Ehrle, Fr. 498 f.
Feldkeller, P. 213
Fischer, L. 213 f.
Fischer, W. 180
Geyser, J. 180 ff.
Grau, K. J. 183 f.
Hasse, H. 184 f.
Höffding, H. 185 f.
Hofmann, P. 501 ff.
Jerusalem, W. 488 ff.
Koppelmann, W. 187 ff.
Lewin, K. 191 f.
Lippa, L. v. 215
Ludowici, A. 503
Meurer, W. 504
Mezger, E. 215 f.
Moog, W. 193 f., 194 f.
Phale'n, A. 195 f.
Praechter, K. 489 ff. ■
Bausch, A. 490
Rauschenb erger, W. 196 ff.
Rolfes, E. 496 f.
Schlemmer, H. 2 16 f.
Schneider, Herrn. 217 f.
Schneider, Ilse 198 f.
Stapel, W. 199
Thalheimer, A. 199 f.
Überweg, Fr. 489 ff.
Uexküll, G. 201 ff.
Vaart, Smit, van der 218 f.
Wenzel, Joh. 505
Wertheim er, M. 200 f.
Weyl, H. 205 ff.
Whitehead, A. N. 204 f.
Wichmann, 0. 494 f.
Wiesner, Joh. 504 f.
Wittmann, M. 497 f.
Wundt, M. 499 f.
Wundt, W. 207 f., 487 f.
Ziehen, Th. 208 ff.
5. Verzeichnis der Mitarbeiter.
Alverdes, Friedr. 501
Anderson, Georg 289—311
Apelt, Max 212
Behrend, Felix 251—260
Benjamin, Walter 219
Beyerhaus, Gisbert 1—6
Birnbaum, Karl 212—213
Blumenfeld, Walter 191 —
192, 200—201
Buchenau, Arthur 183—184
Bühler, Charlotte 403—405
Cohn, Jonas 74—90
Driesch, Hans 201—204,
204—205
Endriß, K. F. 193—194.
194—195
Falkenfeld, Hellmut 199
Feldkeller, Paul 213
Fischer, Ludwig 213—214
Flaskämper, P. 175—177
Frebold, Georg 226—230
Freitag, Otto 230—251
Friedemann, Constanze 312
—350
Frischeisen - Köhler , Max
110—138
Geyer, R. 151—164
Hartmann, Alma v. 196—
198
Heinemann, Fritz 499—500
Herrigel, H. 52—73 .
Hoffmann, Ernst 495—496
Hofmann, Paul 501—503
Koppelmann, W. 208—211
Kraus, Emil 180
Kraus, Oskar 454—486
Kreis, Friedrich 498—499
Kröner, Fr. 195—196
Kulimann 506
Kynast, R. 182—183
Laue, M. v. 91—95
Leser, Herrn. 220—224
Liebert, Artur 207—208,
487—488, 489—494
Lippa, Lazar v. 215
Litt, Th. 17—51
Ludowici, August 503
Meurer, Waldemar 504
Mezger, Edmund 215—216
Paleikat 490
Rauschenberger, W. 174
Reimer, W. 180—182
Schlemmer, Hans 216—217
Schlick, Moritz 96—111,
174—175, 205—207
Schneider, Herrn. 165—173,
217—218
Stenzel, Jul. 416—453, 494
—495
Sternberg, K. 185—187
187—191
Switalski, B. W. 224—226,
497—498
Tumarkin, Anna 390—402
Vaart, Smit, van der, H. W.
218 219
Wentscher, Else 139—150
Wenzel, Job. 505
Wichmann, Ottomar 351 —
389, 496—497
Wiesner, Joh. 504—505
Winternitz, Jos. 177-179,
184—185, 198—199, 199
—200, 488-491
KANT-STUDIEN
PHILOSOPHISCHE
ZEITSCHRIFT
UNTER MITWIRKUNG VON
E. ADICKES J. E. CREIGHTON R. EUCKEN
P. MENZER A. RIEHL
MIT UNTERSTÜTZUNG DER „KANT- GESELLSCHAFT'
HERAUSGEGEBEN VON
Prof. Dr. HANS VAIHINGER Prof. Dr. MAX FRISCHEISEN-KÖHLER
IN HALLE IN HALLE
UND
Prof. Dr. ARTHUR LIEBERT
IN BERLIN
SIEBENUNDZWANZIGSTER BAND
BERLIN
VERLAG VON REUTHER & REICHARD
1922
Alle Rechte vorbehalten
INHALT.
Seite
Kritischer und spekulativer Idealismus. Von Georg
Lasson l
Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. Von
Aloys Müller 59
Der Darwinismus und die logische Struktur des
biologischen Artbegriffs. Von EmilUngerer 86
Die philosophischen Grundlagen in Spenglers „Unter-
gang des Abendlandes". Von Kurt Sternberg . 101
Kant und Fichte als Rousseau -Interpreten. Von
Georg Gurwitsch 138
Grundbegriffe der Rousseauschen Staatsphilosophie.
Von Siegfried Marck . 165
Zur „Antinomie im Problem der Gültigkeit". Von
E.v.Aster 179
Die Logik des historischen Entwicklungsbegriffes.
Von Ernst Troeltsch 265
Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile.
Von Karl Joel 298
Die Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant.
Von Erich Adickes 328
Zur Analysis des Relativitätsbegriffes. Von Heinrich
Scholz . 369
Mythus und Kultur. Von Arthur Liebert .... 399
Die Ueberwindung des Religionsbegriffs in der Re-
ligionsphilosophie. Von Paul Till ich . . . .446
Zur „Als Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. Von
Emil Utitz 470
Realismus und Positivismus. Von Ernst von Aster 496
Besprechungen :
/. Geschichtsphilosophie.
Hegel, O. W. F., Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte
(Lasson). Von Franz Rosenzweig 188
Adler, Max, Marx als Denker.
Derselbe, Engels als Denker. Von Hermann Broch . . . 184
Seite
Brandenburg, Erich, Die materialistische Geschichtsauffassung. Von
J osef Winternitz 186
Barth, Paul, Die Philosophie der Geschichte als Soziologie. Von
Arthur Liebert 187
Hurwicz, Elias, Die Seelen der Völker. Von Ludwig Marcuse . 187
Jaensch, E. R., Die Friedensfrage im Zusammenhang mit Bildungs-
und Kulturproblemen der Gegenwart. Von A. Vierkandt . . 189
Lessing, Th., Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen.
Derselbe, Die verfluchte Kultur. Von FriedrichSeifert . . . . 190
Möller -Freienfels, Richard, Philosophie der Individualität. Von
Julius Schultz 191
Schul ze-Soelde, Walther, Geschichte als Wissenschaft. Von Kurt
Sternberg 194
Schuck, Karl, Spenglers Geschichtsphilosophie. Von Emil Kraus . 195
//. Religionsphilosophie.
Bruhn, Wilhelm, Der Vernunftcharakter der Religion. Von Heinrich
Scholz 196
Scholz, Heinrich, Der Unsterblichkeitsgedanke als philosophisches
Problem. Von Richard Müller-Freienfels 198
Enckendorff , Marie Luise, Über das Religiöse. Von Alfred Vier-
kandt 199
Steffes, J. P., Eduard von Hartmanns Religionsphilosophie des Unbe-
wußten. Von August Messer 201
///. Rechtsphilosophie und Staatsphilosophie.
Fichte, Joh. Gottl., Rechtslehre (Hans Schulz). Von Siegfried
Berger 202
Dokumente der Menschlichkeit, Bd. 1—10. Von WillyMoog. . 203
Bendix, Ludwig, Die Neuordnung des Strafverfahrens. Von P. Tillich 203
Brinkmann, Carl, Versuch einer Gesellschaftswissenschaft. Von Alfred
Baeumler 205
Brodmann, E., Recht und Gewalt. Von AlfredPagel 207
Holldack, F., Grenzen der Erkenntnis ausländischen Rechts. Von
Albert Pagel 208
Israel, Walter, Zur wissenschaftlichen Fortbildung des Sozialismus.
Von Kurt Sternberg 211
Fränkel, Richard, Der Sinn des Rechts. Von AlbertPagel. . . 212
Kaufmann, Erich, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie. Von
Albert Pagel 212
Kelsen, Hans, Das Problem der Souveränität und die Theorie des
Völkerrechtes. Von Adolf Merkl 215
Koppelmann, W., Einführung in die Politik. Von Margarete
Calinich 218
Latte, Kurt, Heiliges Recht. Von O. Wich mann 219
Siegel, Carl, Piaton und Sokrates. Von O. Wich mann 219
Metzger, Wilhelm, Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des
deutschen Idealismus. Von Alfred Vierkandt 220
Seite
Stammler, Rudolf, Sozialismus und Christentum. Von Karl Vor-
länder 223
Unger, Erich, Politik und Metaphysik. Von Adolf Caspary. . . 224
Wichmann, Ottomar, Philosophie und Politik. Von Maximilian
Abich 225
Wilbrandt, Robert, Oekonomie. Von AdolfLöwe . . . .. . 225
Selbstanzeigen :
Schopenhauer-Gesellschaft, Zehntes Jahrbuch 1921 229
Baeumler, Alfred, Hegels Aesthetik 229
Feld kell er, Paul, Graf Keyserlings Erkenntnis weg zum Übersinnlichen 229
Guastella, Cosmo, Le ragioni del fenomenismo 230
Marquardt Hans, Der Mechanismus der Seele 231
Messer, A., Erläuterungen zu Nietzsches Zarathustra 232
Pos, H. J., Zur Logik der Sprachwissenschaft 232
Reininger, Robert, Friedrich Nietzsches Kampf um den Sinn des
Lebens 233
Richter, Gustav, Kritik der Relativitätstheorie Einsteins 234
Stern berg, Kurt, Die politischen Theorien 234
Ungerer, Emil, Die Teleologie Kants und ihre Bedeutung für die
Logik der Biologie 234
Neue deutsche Schopenhauer-Gesellschaft, Gründungsbuch ... 235
Heinemann, Fritz, Plotin 235
Lehmann, Gerhard, Über die Setzung „Individualitätskonstante" und
ihre erkenntnistheoretisch-metaphysische Verwertung 236
Mitteilungen:
Professor Bolland f in Leyden am 11. Februar 1922. Von G. A.
van den Bergh van Eysinga 237
Julius Schultz zum sechzigsten Geburtstag. Von R. Müller-
Freienfels 233
Kants Ethik und der preußische Staat. Von Arthur Liebe rt. 239
I. Preisausschreiben der Johannes Rehmke-Gesellschaft .... 240
Kant- Gesellschaft:
Landesgruppe Holland 242
Ortsgruppe Karlsruhe 243
Ortsgruppe Königsberg 245
Ortsgruppe Heidelberg 246
Ortsgruppe Baden-Baden 246
Ortsgruppe Konstanz 247
Ortsgruppe Meersburg 247
Kantstudien Band VIII-XIV, XVI und XVII gesucht! 247
An die Mitglieder der Kant-Gesellschaft 248
Neuangemeldete Mitglieder für 1922: Liste I 255
Bericht über die Generalversammlung in Halle am 7. und 8. Juni 1922 518
XVIII. Jahresbericht 1921 : Einnahmen und Ausgaben 521
Siebente (Jubiläums-) Preisaufgabe: Urteile der Preisrichter .... 524
Seite
Akademie für Philosophie in Erlangen 528
Ortsgruppe Tübingen 529
Ortsgruppe München 530
Ortsgruppe Heidelberg 530
Ortsgruppe Erlangen-Nürnberg-Fürth 531
Preisänderung (Annalen der Philosophie) 531
Zehntes Preisausschreiben .- Personalismus und Idealismus 532
An die Mitglieder der Kant - Gesellschaft : Betrifft Nachzahlung zum
Jahresbeitrag 1922 535
Neue Jahresmitglieder: Ergänzungsliste II: Juni-September 1922 ... 536
Register:
1. Sachregister 542
2. Personenregister 544
3. Besprochene Kantische Schriften 547
4. Verzeichnis der Verfasser besprochener Neuerscheinungen . . 547
5. Verzeichnis der Mitarbeiter 548
Kritischer und spekulativer Idealismus,
Von Dr. phil. (h. c.) Georg Lasson.
Für den gegenwärtigen Stand der philosophischen Arbeit in
Deutschland ist nichts so bezeichnend wie das immer stärker her-
vortretende Verlangen nach irgend einer Art von metaphysischer
Systematik. Eine gleichsam unwiderstehliche Gewalt, die tiefer
als das intellektuelle Räsonnement in das innere Leben des Men-
schen eingreift, treibt den Geist der Zeit auf die Suche nach über-
empirischer Wirklichkeit. Was auf dem Gebiete der gebildeten
und der ungebildeten Vorstelluug die seltsamsten Phantastereien
erzeugt und die rückständigsten Wahngebilde neubelebt, das bringt
sich innerhab der methodischen Wissenschaft des Gedankens in
dem Bewußtsein zum Ausdruck, daß der heute durchweg befolgten
philosophischen Methode bei all ihrem formalen Scharfsinn oder
gerade wegen ihres bloß scharfsinnigen Formalismus ein Mangel
anhafte, den es zu beseitigen gelte. Nun wäre es durchaus ver-
hängnisvoll, wenn diese Beseitigung von einem andern Standpunkt
aus versucht werden sollte als von dem letzten, den die Philo-
sophie in ihrer bisherigen Ausbildung glücklich erreicht hat; der
Hinweis auf die Blüte zuchtlosen Aberglaubens in der Gesellschaft
unserer Tage muß zur dringenden Warnung dienen, daß sich das
Denken, weil ihm an der gegenwärtigen Gestalt der philosophischen
Wissenschaft etwas fehlt, nicht auf längst überwundene Vor-
stellungen zurückziehe. Andererseits ist jener Rückfall in den
Aberglauben ja gerade dadurch zu erklären, daß ein ursprüng-
liches Bedürfnis des Gemütes, dem die Zeitbildung keine legitime
Nahrung zu bieten vermocht hat, sich mit Ungestüm eigenmächtige
Befriedigung sucht, und man darf sicher voraussetzen, daß sobald
die ernsthafte Wissenschaft in Vernunft und Freiheit ihren eigenen
Mangel zu ergänzen, ihre durch lange Gewöhnung an das Weiter-
arbeiten in bestimmter Richtung erworbene Einseitigkeit zu über-
Kantstadion. XXVII. 1
2 Georg Lasson,
winden verstehen wird, jener Schaum der Willkürlichkeit und
Abenteuerlichkeit aas dem gärenden Moste des Gemütslebens aus-
geschieden werden und nur der Drang nacli einem Leben im Lichte
der Wahrheit übrig bleiben wird. Damit ist der Wissenschaft
eine große Aufgabe gestellt, die aber nicht von außen ihr diktiert,
sondern durch die Notwendigkeit ihres eigenen Fortschreitens in
ihr selbst hervorgerufen wird und von da aus auf das Gesamt-
bewußtsein der Zeit einwirkt. Denn freilich ist die Wissenschaft
kein vereinzeltes Faktum, das von dem großen Strome des wirk-
lichen Lebens abgesperrt bleiben könnte; aus der Quelle der Er-
kenntnis, die sie sprudeln läßt, empfängt dieser Strom die wich-
tigsten Zuflüsse, und wenn ihre Quelle einmal spärlich oder trübe
rinnt, so leidet darunter das Gedeihen der Menschheit überhaupt.
Jahrzehntelang galt es bei den Philosophen als ausgemacht,
daß es mit der Metaphysik ein für allemal zu Ende sei; wer in
ihr noch ein berechtigtes Moment des wissenschaftlichen Denkens
sah, galt für eine Art Fossil aus gänzlich begrabener Vergangen-
heit. Jetzt regt sich überall das Empfinden, daß die Wissenschaft
ohne Metaphysik unvollständig sei und in ihr die Synthese finden
müsse, auf die sich heute der Geist wieder richtet, nachdem er
lange sich an der Analyse hat genügen lassen. Die Katastrophe
des Weltkrieges hat einem Zeitalter den Untergang gebracht, das
durch die Hingebung des Geistes an die Außenwelt charakterisiert
war. Mit dem platten Materialismus und Mechanismns hat es be-
gonnen; er war die nächste Auskunft, wo sich das Bewußtsein
von dem sogenannten Realen beherrschen ließ und sich in ihm
zerstreute. Unmöglich aber konnte der Gedanke, der von Natur
die Freiheit in sich trägt, auf dieser Stufe stehen bleiben; schon
die Evolutionstheorie, die eben deshalb mit allgemeiner Begeiste-
rung aufgenommen wurde, brachte in die bloße Geistlosigkeit einen
Schimmer höherer Vernünftigkeit hinein, obwohl man sie ängstlich
vor jedem Anklang an Teleologie und Jdeenentwicklung zu schützen
suchte. Den Retter vor dem Versinken in den Naturalismus fand
das Denken dann in Kant; für die damalige Situation war es das
Angemessene, daß er von der Seite aufgefaßt wurde, nach der er
einesteils die Möglichkeit der Naturwissenschaft und andernteils
die Unmöglichkeit einer rein verstandesmäßigen Erkenntnis des
Transzendenten zu beweisen unternommen hat. Ein kritischer
Positivismus und Agnostizismus wurde ausgebildet, der dann durch
das Geltenlassen von Gemütswerten noch einer Welt der sub-
Kritischer und spekulativer Idealismus. 3
jektiven Ideale neben der Welt der exakten Erkenntnis Raum
gab; die Philosophie des „Als ob" ist der letzte konsequente Aus-
gang dieser Entwicklung. Indes ließ die Zwiespältigkeit dieses
Standpunktes ein Beruhen bei dieser Auffassung der Kantischen
Lehre nicht zu. Der Neukantianismus geht über die Scheidung
von Objektivität und Subjektivität zurück zu der Kantischen
Grundanschauung, die zwischen beiden eine unlösliche Korrelation
feststellt und zwar so, daß überhaupt nur durch die Erkenntnis
und in der Erkenntnis etwas objektiv ist. Hierdurch verringert
sich der Abstand zwischen der Erkenntnis der empirischen Be-
wußtseinsinhalte und den Werten idealer Natur. Diese erscheinen
als zu einer Objektivität der Kultur gehörig, die selbstverständlich
nur durch die Vernunfttätigkeit möglich, ja nichts anderes als
Vernunfttätigkeit selbst ist, jene haben keinerlei von der Er-
kenntnis verschiedenes Sein, sondern sind nichts als Geltungs-
urteile. Das einzige Objektive, das so der Philosophie übrig bleibt,
ist die Vernunfttätigkeit, das Erkennen selbst, und die einzige
Aufgabe der- Philosophie ist die Selbstbestimmung dieses Erkennens,
für das es keinen anderen Inhalt gibt als seine eigene Tätigkeit.
So entsteht ein äußerst folgerichtiger Logismus, die Anschauung
eines in sich geschlossenen Ganzen intellektueller Tätigkeit, die
indes nach dem transzendentalen Prinzip des Kritizismus darauf
beschränkt bleibt, die Erfahrungsmöglichkeiten zu bestimmen oder
einem ursprünglich Bestimmungslosen zur erkenntnismäßigen Form
zu verhelfen. Man würde sehr unrecht tun, wenn man nicht an-
erkennen wollte, daß in diesem Neukantianismus tatsächlich eine
Weiterbildung des kritischen Idealismus über seine geschichtlich
erste Erscheinungsform in Kant selber vorliegt. Vielleicht darf
man sogar sagen, daß hierüber hinaus es ein Weitergehen in der-
selben Richtung nicht mehr gibt. Die Aufgabe wäre fesselnd genug
zu zeigen, wie diese extreme Zuspitzung des Transzendentalismus
mit der Gestalt der Bildung zusammenpaßt, die dem jetzt zu Ende
gegangenen Zeitalter sein Gepräge gegeben hat. Uns liegt eine
andere Aufgabe ob. Nicht bloß* von außen verstärkt sich der
Widerspruch gegen diesen abstrakten Logismus; von ihm selbst
aus bereitet sich eine Umkehr zur Versöhnung mit dem Leben
der Wirklichkeit vor, von dem er sich tatsächlich allzuweit ent-
fernt hatte. Ist es doch ungefähr der Standpunkt, wie ihn Herder
und Jacobi irrtümlicherweise Kant selber zugeschrieben haben,
der Standpunkt einer Isolierung der Philosophie, der von der
l*
4 Georg Lasson,
ganzen Welt nichts übrig läßt als abstrakte Beziehungen von
Denkakten, ohne doch diese Denkakte anders begreiflich machen
zu können als durch die Voraussetzung eines nicht weiter zu be-
stimmenden Anlasses für eben diese Denkakte. Aber grade dieser
vollständige Ausbau der Theorie trägt das Mittel zur Heilung
ihres Schadens in sich selbst. Es läßt sich der Schritt gar nicht
umgehen, durch den der Wert zu einem Moment der vernünftigen
Wirklichkeit, die Geltung zur Wahrheit im konkreten System
des Wissens wird. Die Art, wie Artur Liebert durch die
Untersuchung der Voraussetzungen der kritischen Philosophie den
Weg zu einer neuen kritischen Metaphysik zu bahnen unternimmt,
ist ein klarer Beweis dafür, daß im Neukantianismus eine Neu-
orientierung sich vollzieht.
In gewissem Sinne wiederholt sich damit die Bewegung, die
vor nunmehr fünf Vierteljahrhunderten stattgefunden hat, der
Fortschritt vom kritischen zum spekulativen Idealismus, der Weg
von Kant zu Hegel; und es ist gewiß kein Zufall, daß, nachdem
der Name Hegels weit länger als ein Menschenalter hindurch in
der deutschen Philosophie kaum noch genannt wurde, man heut
überall der Bezugnahme auf ihn begegnet. Immerhin darf der
große Unterschied zwischen der philosophischen Situation der
Gegenwart und der Blütezeit des deutschen Idealismus nicht
übersehen werden. Damals hat, mit Kant angefangen, der durch-
aus ein Führer zu neuen Zielen war, eine Reihe bahnbrechender
Genien dem Geiste der Zeit das Losungswort gegeben und ihn
damit gleichsam über sich selbst emporgehoben. Damals sind,
wenn auch durch Schranken des zeitgeschichtlichen Horizontes in
der Durchführung vielfach gehemmt, die bleibenden Grundgedanken
und beherrschenden Begriffe des Idealismus der reinen Vernunft
und der Autonomie des selbstbewußten Geistes herausgearbeitet
und formuliert worden. Damals machte der denkende Geist in
wenigen Jahren eine Entwickelung durch, die ein Programm für
Jahrhunderte in sich, birgt. Heute muß die Philosophie mühsam
darum kämpfen, die ihr gebührende Stellung im Geistesleben der
Zeit wiederzugewinnen, die sie während des verflossenen Zeitalters
an die sogenannten exakten Wissenschaften verloren hatte, und
noch ist kein Denker von dem Kaliber aufgetaucht, daß er das
Bewußtsein seiner Zeit auf die Hohe der inneren Freiheit und
Klarheit emporreißen könnte, von der es lange herabgeglitten ist.
Heute gilt es, die von jenen großen Lehrern uns überkommenen
Kritischer und spekulativer Idealismus. 5
Prinzipien sorgfältig auffassen, prüfen, durch- und weiterbilden
und geduldig warten, ob und wann etwa die denkende Vernunft
in ihrer Selbstbetrachtung noch hinter diese Prinzipien wird zurück-
gehen und eine noch tiefere Grundlegung ihrer eigenen Organisation
wird finden können. Heute sieht sich das Denken auf den Weg einer
langsamen, durch die Vergangenheit bestimmten Weiterarbeit an den
Aufgaben gewiesen, die frühere schöpferische Zeiten ihm gestellt
haben, und muß sich bescheiden in den Fluß einer Entwickelung
einreihen, der das Stichwort schon vor etlichen Menschenaltern
gegeben worden ist. Dafür ist dann freilich auch vom wissen-
schaftlichen Gesichtspunkte ein wichtiger Vorteil auf Seiten der
heutigen philosophischen Arbeit zu buchen. Wir stehen zeitlich
jenen Anfängen der neuen philosophischen Betrachtungsweise jetzt
fern genug, um sie unbefangen nach ihrer geschichtlichen Bedingt-
heit sowohl wie nach ihrem bleibenden Wahrheitsgehalt beurteilen
zu können. Wenn den Chorführern der deutschen idealistischen
Philosophie in den ersten Generationen ihrer Schüler fast durch-
weg nur Epigonen entstanden, die von ihren Meistern die Formel
entlehnten, um sie bestenfalls in geistreichem Räsonnement auf
den mannigfachsten Stoff anzuwenden, so liegt darin der beste
Beweis, um wie viel die ursprünglichen G-edankenschöpfungen jener
Großen über die Schranken ihrer Zeit hinwegragten. Nachdem
sich inzwischen die Zeiten zweimal gänzlich gewandelt haben,
nachdem die erste, unmittelbare Gestalt jener idealistischen Philo-
sophie von dem lebendigen G-eiste verlassen worden ist und als
ein Denkmal der Vergangenheit dasteht, dem unser Nachdenken
erst wieder Leben einflößen muß, sind wir auch eigentlich erst in
den Stand gesetzt, uns mit freiem Verständnis an diese Philo-
sophie heranzumachen, in sie einzugehen, ihre letzten Motive und
den ihren geschichtlichen Ablauf beherrschenden Begriff zu er-
fassen. Wenn also jetzt der Weg vom kritischen zum spekulativen
Idealismus wieder sollte zurückgelegt werden, so wäre das eine
Wiederholung gleichsam in zweiter Potenz, eine Wiederholung mit
dem Bewußtsein, daß, und mit der Einsicht, warum und wieweit
es eine Wiederholung ist und sein muß.
Die Aufgabe, diese beiden Standpunkte zu vergleichen, läßt
sich demnach nicht dadurch erschöpfend lösen, daß man nur den
Hergang ihres ersten geschichtlichen Auftretens betrachtet und
an der Form Kritik übt, in der sie damals gegeneinander sich er-
hoben und abgegrenzt haben. Es kommt darauf an, den prin-
6 Georg Lasson,
zipiellen Unterschied ans Licht zu heben, der sie gleichzeitig trennt
und eint und der, aller geschichtlichen Abwandlangen ungeachtet,
unverändert derselbe bleibt. Daß dafür der Rückgang auf die
gleichsam klassische Zeit ihrer Ausbildung unerläßlich ist, versteht
sich von selbst; ohnehin aber kann man heute sich zu jener Ver-
gangenheit gar nicht anders hinwenden als ausgerüstet mit dem
Begriffs vorrate, in dem man durch die gegenwärtigen philosophi-
schen Methoden heimisch gemacht worden ist. Der hier sich
zeigenden doppelten Gefahr, in die früheren Theoreme moderne
Beziehungen hineinzuinterpretieren oder das heutige Denken an
die Schemata vergangener Gedankenrichtungen zu binden, entgeht
nur der, dem es gelingt, sich denkend über die zeitlichen Bedingt-
heiten sowohl von damals wie von jetzt zu erheben und die Seele,
den lebendigen Begriff zu erfassen, der sich in den verwandten
Denkweisen verschiedener Zeiten verschiedenartig verkörpert.
Naturgemäß wird auch da noch sich ein Unterschied, wenn nicht
in dem endlichen Ergebnisse selbst, aber doch in dem Ausgangs-
punkte, von dem man sich ihm nähert, und in dem Wege be-
merklich machen, auf dem man es erreicht, je nachdem man nämlich
selber gewöhnt gewesen ist, in den Gedankenreihen des einen
oder des andern Standpunktes sich zu bewegen. In dieser Hin-
sicht hat es heute der Denker, der aus dem Lager des kritischen
Idealismus stammt, leichter, Gehör zu finden, als wer von je an
die Gesichtspunkte des spekulativen Idealismus sich zu eigen ge-
macht hat. Jenem werden zur Zeit die meisten Hörer und Leser
mit willigem Vertrauen entgegenkommen, weil sie mit ihm den
gleichen Gedankenansatz haben, während ihnen die Anschauungs-
weise, die der spekulative Idealist bei dem besten Willen, auf die
Denkart der andern Seite einzugehen, doch niemals ganz verleugnen
kann, von vornherein befremdlich und sogar abstoßend erscheinen
wird. Bedenkt man vollends, daß, sobald auf die tiefsten Funda-
mente, auf die entscheidenden Differenzen zwischen beiden Stand-
punkten zurückgegangen wird, Gegensätze hervortreten, die nicht
von heut und gestern stammen, sondern die Probleme des philoso-
phischen Denkens von jeher gewesen sind, so tritt dem Versuch
einer Verständigung noch eine weitere Schwierigkeit in den Weg.
Es scheint nämlich, daß über diese letzten Unterschiede nichts
Neues mehr gesagt werden könne ; sie sind längst nach allen Seiten
erörtert worden, und von beiden Standpunkten aus hat man ihren
Sinn, ihr Verhältnis zu einander, ihre geschichtlichen und gedank-
Kritischer und spekulativer Idealismus. 7
liehen Verbindungen und Entgegensetzungen in aller Sorgfalt aus-
einandergelegt. Das gilt ebenso von der Darstellung des Weges
von Kant zu Hegel, wie von der prinzipiellen Darstellung der
Transzendentalphilosopbie und des absoluten Idealismus. So lautet
denn, wenn aus dem einen Lager wieder einmal eine solche Dar-
stellung hervorgeht, die Antwort aus dem andern, daß sie keine
neuen Gesichtspunkte bringe, und die Replik darauf beschwert
sich, daß die Gegenseite immer wieder ihre längst widerlegten
Argumente vortrage. Mit diesem gegenseitigen Vorwurf aber,
daß der andere beständig zurück nur komme auf sein erstes Wort,
wenn man Vernunft gesprochen stundenlang, ist natürlich nichts
ausgelichtet. Der Weg zur Verständigung zwischen beiden Lagern
kann nur in dem einen Umstände gefunden werden, daß nicht von
der Gegenseite her, sondern durch immanenten Fortschritt inner-
halb der eigenen Denkweise der Anstoß gegeben wird, den eigenen
Standpunkt zu revidieren und sich dadurch dem andern zu nähern.
Da gegenwärtig im Lager des kritischen Idealismus ein solcher
Revisionsprozeß vor sich geht, so wird dem Vertreter des speku-
lativen Idealismus um so mehr die Bescheidenheit geziemen, nicht
durch rechthaberisches Auftrumpfen diese Bewegung zu stören,
sondern sich auf den Versuch zu beschränken, wie er Mißverständ-
nisse, die eine Annäherung erschweren, aus dem Wege räumen
und den Ausgleich der Gegensätze durch ihre möglichst klare
Formulierung von seiner AufTassungsweise aus fördern könne.
Die folgenden Betrachtungen möchten in diesem Sinne ver-
standen werden. Sie sind veranlaßt worden durch das Er-
scheinen des dritten Bandes von Ernst Cassirers ausgezeich-
netem Werke über die Geschichte des Erkenntnisproblems 1). Eine
Besprechung des Buches, die seinem reichen Inhalte auch nur an-
nähernd gerecht werden wollte, würde einen Umfang annehmen
müssen, der sie selbst zu einem Buch aufschwellen würde. Mit
einer bloßen Lobpreisung der Sorgfalt und Klarheit, des liebevollen
Eingehens und nachfühlenden Verständnisses, womit der Verfasser
die bunte Reihe der von ihm betrachteten Systematiker dem
heutigen Denken nahebringt, würde ihm nicht gedient sein. Den
besten Beweis für den Wert seines Buches wird die Tatsache
1) Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissen-
schaft unserer Zeit. 3. Bd. Die nachkantischen Systeme. Berlin 1920, Bruno
Cassirer.
8 Georg Lasson,
liefern, daß es Gelegenheit zu fruchtbarer Diskussion bietet; un(
wenn wir zum Thema dieser Diskussion die Frage nach dem Vei
hältnis zwischen kritischem und spekulativem Idealismus wählei
so glauben wir damit das Problem aufgegriffen zu haben, das
ebensowohl in dem Mittelpunkte des Cassirerschen Buches wie der
wissenschaftlichen Bemühungen seines Verfassers überhaupt steht.
Denn für ihn vor allem ist das Bestreben bezeichnend, unter
grundsätzlichem Verharren auf dem Standpunkt der kritischen
Philosophie den Ertrag der Geisteskultur festzuhalten und weiter
auszubauen, den wir den großen Vertretern des spekulativen
Idealismus verdanken. Es wäre zu viel gesagt, wollte man seine
Denkweise nach bekanntem Muster so bezeichnen: mit dem Kopf
ein Kantianer, mit dem Herzen ein Fichteaner, wenn nicht gar
ein Hegelianer; aber daß sein Herz Goethe gehört, und daß in
Goethe nicht bloß Leibniz mit Spinoza, sondern auch Kant mit
Schelling und Hegel in ganz wunderbarer Integration verschmolzen
erscheinen, das wird man wohl behaupten und von daher das
Interesse Cassirers für den spekulativen Idealismus herleiten
dürfen. Da er in seinem Buche die historische Darstellung mit
prinzipieller Auseinandersetzung regelmäßig verbindet und sogar
am Schlüsse seiner Schilderung des Hegeischen Systems einen
besondern Abschnitt bringt, der von „dem kritischen und dem
absoluten Idealismus" handelt, so ermöglicht das Eingehen auf
dies Buch die Erörterung des Themas in seiner ganzen Bedeutung.
Jedoch wird die Rücksicht auf den Kaum uns dazu nötigen, aus
der Fülle der einzelnen Punkte, die der Erörterung wert wären,
nur einige herauszugreifen, die uns besonders dazu geeignet
scheinen, Kopf und Herz in Rücksicht auf den spekulativen
Idealismus zu versöhnen.
Es handelt sich für uns um zwei Formen des Idealismus, d. h.
um zwei eng verwandte Denkweisen, deren Verschiedenheit eben
darum so scharf hervortritt, weil sie sich so außerordentlich nahe
stehen. Das Gemeinsame der beiden aber ist diejenige Stellung
des wissenschaftlichen Denkens, die der tatsächlichen Stellung des
Menschen in seiner Welt am genauesten entspricht. Der Mensch
ist, weil er denkendes Wesen ist, an sich oder von Natur Idealist,
auch wenn er es selbst nicht weiß. Es gibt für ihn ohne die Ver-
mittelung seines Innern keinerlei Wirklichkeit; daß er sich von
dem allen unterscheidet, dessen er sich bewußt ist, auch von sich
selber, und dieses alles immer in Beziehung auf sich sieht und
Kritischer und spekulativer Idealismus. 9
empfindet, macht ideell beständig die ganze Welt von ihm ab-
hängig, wie stark er auch reell von ihr abzuhängen scheint.
Infolgedessen ist insbesondere das theoretische Verhalten des
Menschen als solches idealistisch, und alle Philosophie, sie mag
eine Richtung haben, welche sie wolle, ist deshalb, weil sie das
scheinbar selbständige Objekt mit dem Verstände sich unterwirft
und denkend erfaßt, Idealismus schlechthin. Auch der philo-
sophische Materialismus kommt davon nicht los, Idealismus zu
sein; er gibt eine gedankliche Konstruktion der Wirklichkeit,
und wenn er meint, die Wirklichkeit nur aufzunehmen, wie sie an
sich ist, so fügt er ihr eben doch bereits durch dies Aufnehmen
eine Beziehung zu dem denkenden Subjekt hinzu und übersetzt sie
aus einer Sphäre des bloßen Daseins in die Sphäre des Gedacht-
werdens. Dem Denken konnte, sobald es anfing, sich auf sich zu
besinnen, dies Verhältnis nicht lange verborgen bleiben; innerhalb
der Philosophie hat sich von früh an als diejenige, die schließlich
den entscheidenden Antrieb zu der Fortbildung auch aller andern
neben ihr bestehenden Richtungen in sich trägt, der philosophische
Idealismus entwickelt. Ganz im allgemeinen ist er als die An-
schauung zu bezeichnen, die als das Wirkliche, das Wahre, das
Geltende, das Wertbetonte — man mag die verschiedenen Aus-
drücke zunächst freigeben — dasjenige erkennt, was der sinnlichen
Wahrnehmung, der Erfahrung einer Außenwelt unzugänglich ist,
Bestimmungen des menschlichen Inneren, Inhalte des Denkens, der
Tätigkeit des Subjekts, die als bleibende Formen, erhaltende
Gründe, leitende Zwecke an dem Wechsel der raumzeitlichen Er-
scheinung nicht teilnehmen. Es ist das unsterbliche Verdienst der
Antike, diese Inhalte in ihrer nächsten einfachen Bestimmtheit ans
Licht gestellt und formuliert zu haben; sie hat den objektiven
Idealismus geschaffen, dessen Hauptproblem die Frage bildet : was
tist das Wahre ? Es liegt aber auf der Hand, daß davon die andere
Frage nicht zu trennen ist: welches ist der Weg zu dem Wahren?
Wenn Plato in eingehenden Untersuchungen die Wahrnehmung,
die Vorstellung, die richtige Meinung nicht als wissenschaftlich
zureichende Mittel zur Wahrheitserkenntnis gelten läßt und das
begriffliche Denken als den einzigen Weg zum wahren Wissen er-
weist, so treibt er bereits Erkenntniskritik; diese also ist nicht
das Privileg des kritischen Idealismus. Wenn Plato ferner von
den Philosophen erklärt, daß sie sich im Sterben üben und aus
der Welt der Erscheinungen abscheiden, um das Wahre zu erfassen,
10 Georg Lasson,
so vertritt er bereits einen Standpunkt, der das Erkennen transzen-
dental bestimmt als von Bedingungen ausgehend, die in ihm selber
liegen und alle Erfahrung erst möglich machen ; auch der transzen-
dentale Gesichtspunkt ist nicht erst im kritischen Idealismus auf-
getaucht. Und wenn dann Aristoteles den Gegenstand der äußeren
Erfahrung analysiert und als die beiden Momente, die ihn kon-
stituieren, die Materie und die Form bezeichnet, die die Idee dieser
Materie ist, so hat er damit die Erfahrung schon als das geistige
Setzen einer Beziehung zwischen zwei für sich allein nirgend ge-
gebenen oder möglichen Faktoren bestimmt. Es ist demnach zu
sagen, daß in dem objektiven Idealismus der kritische bereits als
ein noch nicht zur Selbständigkeit herausgebildetes Moment vor-
handen ist.
Erst im Gefolge der Reformation tritt eine grundlegende
Weiterbildung des Idealismus dadurch ein, daß sich das denkende
Ich als das Prinzip der Selbstgewißheit und den Zentralpunkt des
gesamten Bewußtseinsinhaltes erfaßt. Das Cartesische cogito, ergo
sum erweckt zuerst einen Ontologismus , der die antike Meta-
physik in eine Weltanschauung des aufgeklärten und vernünftigen
Bewußtseins übersetzt, und wird dann zur Grundlage eines sub-
jektiven Idealismus, dem nichts als die Tatsache des Bewußt-
seins selbst gewiß ist. Die Welt ist die Welt unserer Wahr-
nehmungen; außerhalb unserer Wahrnehmungen von einer ma-
teriellen Welt zu reden hat keinen Sinn: die „Dinge" existieren
nur im wahrnehmenden Geiste. Mit diesem subjektiven Idealismus
könnte der absolute zusammenzufallen scheinen, wenn nicht der
Ausgangspunkt, die Wahrnehmung, selbst nicht das reine, durch
sich selbst bestimmte, sondern vielmehr das zufällige, natürlich
bestimmte Subjekt voraussetzte; man kann ja um deswillen Ber-
keley auch unter die Sensualisten rechnen. Die Analyse der Er-
fahrung führt nun aber zu der Erkenntnis, daß die Welt unserer
Wahrnehmungen gar nicht durch die einzelnen Wahrnehmungen
ihre Gestalt erhält, sondern durch die Formen, in denen der
denkende Geist diese Wahrnehmungen miteinander verknüpft.
Hier ist der Wendepunkt des philosophischen Denkens der neuen
Zeit erreicht. Denn von dieser Erkenntnis aus fällt einerseits
jede Möglichkeit hin, eine Realität der Außenwelt gesondert von
der Aktivität des Bewußtseins festzuhalten, und eröffnet sich
andererseits der Weg, Außenwelt und Innenwelt, Natur und Frei-
heit in den vernünftigen Zusammenhang einer einheitlichen geistigen
Kritischer und spekulativer Idealismus. 11
Produktion hineinzustellen. ' Den Nachweis des ersten Satzes hat
Hume geliefert: die Kategorien gehören unserm Verstände, nicht
den Dingen an; also ist die Welt, wie wir sie uns vorstellen,
eine durch unsere Verstandesformen erzeugte fable convenue. Man
kann in den Dingen, deren Eindrücke auf uns die Wahrnehmungen
hervorrufen, keine Kausalität nachweisen, denn die Kausalität ist
unsere Vorstellungsart; deshalb ist es gänzlich ungewiß, ob die
Welt unserer Wahrnehmungen irgend etwas mit der Welt der
Dinge gemein hat. Bei dieser Schlußfolgerung widerfährt freilich
Hume das Mißgeschick, daß er die Kausalität, deren objektive
Gültigkeit er bestreitet, gerade an der entscheidenden Stelle selbst
muß gelten lassen; er müßte ganz wie Berkely im subjektiven
Idealismus stehen bleiben, wenn er nicht die Perzeptionen und
Sensationen als verursacht durgh äußere Einwirkungen auffaßte.
So ruht sein Empirismus auf einem offenkundigen Selbstwider-
spruch; es wird hier unausweichlich klar, daß eine Zweiteilung in
eine Welt der Dinge und in eine Welt des Bewußtseins in dem
Augenblick unmöglich geworden ist, wo die kategoriale Form
jeder Erkenntnis, auch der empirischen außer Zweifel steht.
Die Philosophie ist damit auf dem Punkte angekommen, sich
ihres eigentlichen Charakters bewußt zu werden; haben wir oben
bemerkt, daß sie ihrem Wesen nach Idealismus sei, so wird nun
dies ihr Wesen auch zu ihrer Tat. Hierin liegt die epoche-
machende Bedeutung der Kantischen Philosophie ; Kant erhebt die
Idee der Philosophie zur lebendigen Substanz seines Systems und
macht mit der Erkenntnis ernst, daß das vernünftige Subjekt, das
denkende Ich der Schöpfer der Wirklichkeit, daß bereits die Welt
der äußeren Erfahrung eine Welt des G-eistes und daß die Freiheit
die fundamentale Bestimmung der Vernunft ist. Das ist, könnte
man sagen, absoluter Idealismus; wenn zwischen diesem und
dem Kritizismus dennoch eine scharfe Trennungslinie gezogen
wird, so liegt der Grund dafür jedenfalls nicht in einer ver-
schiedenen Stellung dieser beiden Richtungen zu den Metboden
des vorkritischen Denkens. Es ist einfach ein sachlicher Irrtum,
wenn man dem absoluten Idealismus vorwerfen möchte, er sei in
den Dogmatismus der ontologischen Metaphysik zurückgefallen.
Daß während seiner Ausbildung sein Prinzip nicht gleich in allen
Beziehungen rein durchgeführt worden ist, besagt so wenig gegen
das Prinzip, wie die mannigfachen Residuen von Psychologismus
und Empirismus bei Kant etwas gegen dessen kopernikanische Tat
12 Georg Lasson,
besagen. Der absolute Idealismus ist mit dem kritischen völlig
eins, soweit es den Unterschied von den übrigen philosophischen
Standpunkten gilt, die dem Leben des Geistes irgend eine ding-
liche, geistfremde Wirklichkeit vorausschicken und es davon ab-
hängig sein lassen. Er ist selbst mit Bewußtsein kritisch und
bemängelt an dem Kritizismus nur, daß dieser nicht zum Bewußt-
sein davon kommt, daß an sich auch er bereits absoluter Idealis-
mus ist. Was also die beiden Standpunkte trennt, ist eine imma-
nente Verschiedenheit, eine Unähnlichkeit von Geschwistern. Es
handelt sich allein um die Beantwortung der Frage: wie weit
kann die Vernunft durch ibr Denken in der Erkenntnis ihrer
selbst kommen? Während hier der kritische Idealismus eine nie
ganz aufzuhebende Schranke statuiert und die Vernunft an eine
ihr unentbehrliche und von ihr nicht überwindbare Gegebenheit,
ein mit ihr zugleich gesetztes Irrationales und eine ihr natur-
notwendig anhaftende Mehrheit von Anlagen und Vermögen bindet,
will der absolute Idealismus den Gedanken der Spontaneität der
Vernunft bis zu Ende denken und behauptet das Recht einer Ver-
nunftphilosophie, für die alle scheinbare Gegebenheit und alles
scheinbar Irrationale als freie Setzung des Geistes erkannt wird,
der sich selbst und alles andere produziert. Die Kritik der Ver-
nunft, die dieser absolute Idealismus übt, bleibt also nicht bei
dem Feststellen von Schranken stehen, sondern wendet sich auch
kritisch diesem Feststellen zu und findet den Grund dafür in der
Selbsttätigkeit des Geistes, der, indem er sich selber Schranken
zieht, über diese Schranken bereits hinaus und ihr eigner Schöpfer
ist. Weil das Denken so das Ganze aller Erkenntnisse und Be-
wußtseinsinhalte in einem aus seiner eigenen Vernünftigkeit und
Freiheit erzeugten vernünftigen Zusammenhange schaut, der durch
sich selbst klar und in dem sich die Vernunft selbst durchsichtig
ist, trägt diese Form des philosophischen Idealismus den Namen
des spekulativen Idealismus. Dieser behauptet von sich, daß
er die rechtmäßige Durchführung des von Kant aufgedeckten
Prinzips darstelle, daß also der Weg vom kritischen zum speku-
lativen Idealismus der notwendige Weg des vernünftigen Denkens
sei. Der Kritizismus hinwiederum gibt heute, im Bückblick auf
die geschichtliche Entwickelung, ohne weiteres zu, daß dieser Weg
freilich einmal gemacht werden mußte und auch in seiner Weise
die Philosophie mannigfach gefördert hat, sieht aber doch in ihm
ein Abenteuer des Gedankens, eine Hybris der menschlichen Ver-
Kritischer und spekulativer Idealismus. 13
nunft, die deshalb seinerzeit mit kläglichem Zusammenbruch ge-
straft worden und zu stets erneutem Scheitern auf ewig verdammt
sei. Lange schien dies Urteil das endgültige zu sein; die Gegen-
wart zeigt, daß eine Nachprüfung unerläßlich ist. Sehen wir zu,
welches Material Cassirer dafür beibringt.
Wir greifen zunächst eine Reihe von Bemerkungen heraus, in
denen Cassirer sehr nachdrücklich den ursprünglichen Kantianismus
als noch unfertig charakterisiert. Ganz im Sinne echter geschicht-
licher Auffassung sagt er (S. 2): „Der Zerfall des kritischen Systems
in seine einzelnen verschiedenartigen Elemente bedeutet zugleich die
Vorbedingung und den Anfang eines neuen Verständnisses seines
begrifflichen Aufbaus" und bezeichnet als die Gruppe von Be-
griffen, in denen das Problem des kritischen Systems sich aus-
drückt und die deshalb der weiteren Bearbeitung durch die nach-
kantischen Systeme anheimfallen mußten, die Begriffe des Dinges
an sich, der synthetischen Einheit, des Gegensatzes von Form und
Materie und des Verhältnisses von Allgemeinem und Besonderem
innerhalb der Erkenntnis. In diesen Begriffen und Problemen
liege ein intellektuelles Bezugsystem vor, auf das alle charak-
teristischen und entscheidenden Einzelbestimmungen in den Lehren
der maßgebenden Denker von Reinhold bis Hegel hinweisen (S. 3).
Wenn sich wohl zu diesen Begriffen und Problemen noch manche
nicht minder fundamentale würden hinzufügen lassen, die durch
die kantische Lehre noch nicht zur Klarheit gebracht worden
waren, so darf man Cassirer ohne weiteres beistimmen, daß die
von ihm genannten in der Tat den kritischen Punkt innerhalb des
Kritizismus betreffen; sie können in dem einen Problem eines ur-
sprünglichen und durchgängigen Dualismus zusammengefaßt werden.
Ereilich erhebt sich dann auch sofort die Frage, worauf eigentlich
Kants Absicht gegangen sei, auf die Überwindung dieses Dualis-
mus, den er aus der zeitgenössischen Philosophie übernommen hatte,
durch seine Einordnung unter die Einheit des autonomen denkenden
Subjekts, oder auf die Neubegründung des Dualismus, den er der
dogmatischen Metaphysik entgegenstellte, durch das Festhalten an
dem Phänomen der sinnlichen Erfahrung. Dass er zur Abwehr
des Dogmatismus sich immer wieder dem fruchtbaren Bathos der
Erfahrung zugeneigt hat, ist gewiß unbestritten. Aber ebenso-
wenig läßt sich verkennen, daß er über die ursprüngliche Ent-
gegensetzung der in der Erfahrung vorgefundenen Elemente hinaus
einer Synthese zugestrebt hat, die mehr bedeutete als die bloß
14 Georg Lasson,
formal logische Korrelation dieser Elemente im Denkprozeß. Er
ist zu dieser Synthese durch eine Erweiterung des Erfahrungs-
begriffs gelangt, den er aus der Sphäre der sinnlichen auf die der
sittlichen Erfahrung ausdehnte, und man sollte endlich aufhören
das wegzuleugnen, was er selbst offen erklärt hat, daß ihm die
kritische Analyse der Bedingungen einer möglichen sinnlichen
Erfahrung ausdrücklich dazu hat dienen sollen, die Unbedingtheit
der praktischen Vernunft, die Selbstgewißheit des moralischen
Willens festzustellen und eine Wirklichkeit der inneren Erfahrung
zu erweisen, in die sich die Welt der äußeren Erfahrung einzu-
gliedern hat. Die praktische Freiheit wird durch Erfahrung als
eine Kausalität der Vernunft in Bestimmung des Willens erkannt
(Kr. d. r. V. 2. Aufl., S. 81); dem bestirnten Himmel über mir
tritt das moralische Gesetz in mir als Erfahrungstatsache zur
Seite. Diese Tatsache aber ermöglicht nun vermittelst des Be-
griffs der Autonomie die konkrete Synthese von Phänomenen und
Noumenen.
Die Tendenz Kants auf den einheitlichen Aufbau der Er-
kenntnis aus ihrer eigenen Gesetzlichkeit bezeichnet Cassirer als
den Kern der Vernunftkritik. Rückhaltlos gib£ er zu, daß die
ersten Abschnitte der Kritik der reinen Vernunft den Sachverhalt,
den Kant aufzudecken beabsichtigt, „noch nirgends in voller Klar-
heit hervortreten lassen" (S. 7). Auch die Darstellung in den
Prolegomena gibt er einfach preis (S. 9). Er betont, daß sich in
Kants Stil „der Kampf zwischen der neuen logischen Begriffsansicht
und der empirischen Dingansicht, fortsetzt und darin seinen deut-
lichsten Ausdruck erhält" (S. 5). Den Ausdruck „Anlagen" für
die Voraussetzungen der Form aller Erkenntnis, den Ausdruck
„Affektion durch die Dinge an sich" für die Voraussetzungen zu
materialer Begriffsbestimmung nennt er Symbole für das Problem
des Kritizismus, nicht Lösungen. Er meint, daß auf dem Boden
der transzendentalen Ästhetik „das Ding einstweilen nur als ein
unbegriffener Rest erscheinen muß, der für das Wissen zurück-
bleibt". Das Gemüt und die Dinge an sich treten hier als abso-
lute, für sich bestehende Potenzen auf; „die originale und tiefere
Frage, wie sich die Welt der Erfahrung als ein einheitliches
Ganzes des Sinnes und der Erkenntnis konstituiert", bleibt noch
verdeckt (S. 7). Erst mit der transzendentalen Logik tritt der
kantische Gedanke klar zutage ; indem die Bestimmung der Gegen-
ständlichkeit schlechthin kategorialen Charakter erhält, „scheint es
s
Kritischer und spekulativer Idealismus. 15
jetzt freilich, als habe die Vernunftkritik hier in dem Ziel, zu
dem sie jetzt gelangt, ihren eigenen Anfang zunichte gemacht"
(S. 8). Das heißt, es ist in der Tat aus dem Dualismus
von Sein und Denken ein monistischer Idealismus
der logischen Beziehungssysteme von Gedanken-
bestimmungen geworden; was ihn von dem Gipfelpunkte
des absoluten Idealismus , dem „Sicbselbsterkennen im absoluten
Anderssein" noch trennt, ist nur der Umstand, daß die Beziehung
in der Form der Eeflexion ursprünglich entgegengesetzter Mo-
mente aufgefaßt und also das Denken mit einer von ihm nicht
auflösbaren Gregebenheit belastet wird.
Daß der Kantianismus zu solcher idealistischen Einheitslebre
hintreibt, erläutert Cassirer ferner sehr interessant an der kri-
tischen Auffassung des aposteriorischen Urteils. Er weist nach,
daß, da die Kategorien die notwendige Bedingung aller möglichen
Wahrnehmungen sind, die empirische Tatsache selbst in dem, was
gerade ihren eigentümlichen Sachcharakter ausmacht, durch nichts
anderes konstituiert wird als durch jenes reine Geltungsmoment,
das im Gedanken der apriorischen Synthesis festgehalten ist (S. 10).
Aus dem besondern Dialekte der Schule in die geläufigeren Aus-
drücke des überlieferten philosophischen Sprachgebrauches über-
setzt, besagen diese Worte, daß die vollständige Form der Er-
kenntnis nicht im Urteil, sondern im Schlüsse zu finden ist und
daß jedem besondern Erfahrungsurteil immer bereits ein Vernunft-
schluß zugrunde liegt, der überhaupt eine Erkenntnis erst möglich
macht. Es zeigt sich hier der einheitliche Erkenntnisgrund, der
Boden einer synthetischen Vernunfttätigkeit, die, wie Cassirer
sagt, zwischen den gegensätzlichen Bedeutungsmomenten, dem Not-
wendigen und dem Zufälligen, dem Allgemeinen und dem Einzelnen,
dem Gesetze und der Tatsache, die wesentliche Verknüpfung be-
wirkt, ohne die Gegensätze, die isoliert nicht bestehen können,
aufzulösen (S. 10). So entsteht für die kritische Betrachtung der
Grundgegensätze „stets die Doppelaufgabe: eine unlösliche Korre-
lation zwischen Bestimmungen zu schaffen, ohne sie ihrem Begriffe
nach in einander aufgehen zu lassen" (S. 11). Merkwürdigerweise
hat Cassirer nicht gesehen, daß er hiermit das Wesen der viel-
berufenen dialektischen Methode genau beschrieben hat. Die
kritische Methode ist tatsächlich ihrem Wesen nach
dialektische Methode; was sie von deren reiner Ausbildung
und bewußter Übung noch trennt, ist nur der Umstand, daß sie
16 Georg Lasson,
vorstellungsmäßig die reinen Gedankenbestimmungen selbst wieder
in der Weise einander repellierender Einzeldinge auffaßt und den
Sinn der Identität des Unterschiedenen oder den Begriff der über-
greifenden geistigen Einheit nicht erreicht. Ihre Dialektik bleibt
deshalb in Reflexionsbestimmungen stecken und kommt nicht zu
einer lebendigen Systematik des Allgemeinen und Besonderen.
Diesen Mangel bat Cassirer treffend hervorgehoben. Der
Schematismus der reinen Verstandesbegriffe, durch den die Kritik
der reinen Vernunft das Verhältnis des Allgemeinen und des Be-
sonderen neu zu bestimmen versucht, mag zwar, wie er sagt, ein
Nebeneinanderwirken von Sinnlichkeit und Verstand allenfalls ver-
ständlich machen, ist aber nicht imstande, die innere wesentliche
Heterogenität zwischen beiden zu versöhnen, sondern verschärft
sie vielmehr (S. 11). Die hier gestellte Aufgabe, der Gedanke,
auf den die Lehre vom Schematismus hinzielt, hat die entscheidende
Ergänzung und Erfüllung erst in der Kritik der Urteilskraft ge-
funden. Sie fragt, wie Cassirer meint, nach dem Grund und dem
transzendentalen Rechte der Besonderung der Verstandesgesetze
selbst (S. 12) ; das bedeutet nichts anderes, als daß sie an die Auf-
gabe herantritt, die den Begriff der Vernunftkritik erst vollendet,
nämlich den kritischen Standpunkt selbst zu kritisieren und aus
der Analyse der Erfahrung zu dem System des Erfabrbaren vor-
zudringen. Die Angemessenheit der Natur für unsern Verstand
setzt als Bedingung für alle empirische Forschung den Grundsatz
einer bis ins einzelnste durchgehenden Zweckmäßigkeit, eines ver-
nünftigen, gesetzlichen Zusammenhanges der ganzen Erfahrnngs-
welt voraus, in dem sich das auf einer Stufe als zufällig Er-
scheinende auf einer höheren Stufe als vernünftig bestimmt, sich
als Bestandteil eines Systems verständlich machen läßt. Hier ist
eine Einheit der Idee erreicht, und dieser Fortschritt ist zustande-
gekommen, als „Kant das konkrete Prinzip der Einzelforschung
selbst auszusprechen suchte und andererseits im Problem der or-
ganischen Zweckformen einen neuen und sicheren Begriff der Natur
gewann" (S. 14 f.). Die Erfahrung wird jetzt nicht mehr lediglich
als mathematische Naturwissenschaft aufgefaßt, und mit dem Ge-
danken eines „intellectus archetypus, eines göttlichen Verstandes,
der als schöpferisches, zwecktätiges Prinzip den Weltzusammen-
hang in seinen verschiedenen Ordnungen einheitlich gestaltet, lebt
nicht nur der Leibnizische Begriff der Harmonie wieder auf, sondern
öffnet sich aufs neue eine Erkenntnis weise, die, als solche nicht
Kritischer und spekulativer Idealismus. 17
vom Einzelnen zum Ganzen, sondern von der Idee des G-anzen
zum Einzelnen fortschreitet". „Das Zweckprinzip bleibt bei Kant
selbst nicht auf den Gedanken der formalen Zweckmäßigkeit be-
schränkt, sondern es erweitert sich zu der Idee eines absoluten
Endzwecks, in welchem die beiden Gebiete der Natur und der
Freiheit ihren letzten Zusammenhang finden sollen. Hier hat daher
die immanente Entwickelung der kritischen Methodik selbst zu
einem Punkte geführt, an dem sie über sich selbst gleichsam
hinauswächst" (S. 15). Wir haben uns hier ganz auf die Wieder-
gabe der Cassirerschen Äußerungen beschränkt, um es recht deutlich
zu machen, wie an diesem Punkte Cassirer selbst im Kantianismus
den absoluten Idealismus aufdeckt. Ein Hinweis auf die Methoden-
lehre in der Kritik der reinen Vernunft und auf den ganzen Tenor
der Kritik der praktischen Vernunft würde außerdem klarstellen,
daß die in der Kritik* der Urteilskraft entfaltete Anschauung nicht
ein späteres Accidens zu Kants ursprünglicher Philosophie, sondern
von jeher das Ziel gewesen ist, dem sein gesamtes kritisches Be-
streben gegolten hat. Die Bemerkung Arthur Lieberts, daß die
kritische Methode Kants dazu bestimmt gewesen sei, der Leib-
nizischen Metaphysik die methodische Begründung zu liefern, dürfte
demnach wohl das Richtige treffen.
Für den kritischen Idealismus in der Form, die er durch Kant
erhalten hat, wird durch die Cassirersche Darstellung unser Satz
erhärtet, daß er seinem Wesen nach absoluter Idealismus ist ; was
ihn von dem absoluten Idealismus seiner Nachlolger trennt, ist
nur der Umstand, daß er in dem idealen Zusammenhange von
Denken und Sein wohl das eine Moment festhält, wonach dieser
Zusammenhang eine notwendige und vernünftige Forderung des
menschlichen Denkens ist, das andere aber bei Seite läßt, wonach
die Möglichkeit einer solchen Forderung in nichts anderem be-
gründet sein kann als in der Bestimmung, die sich der denkende
Geist selber gibt. Daß also der Geist allein als der Grund zu
fassen ist, der Sein und Denken als seine eigenen Momente pro-
duziert und in dem Sein und Denken deshalb identisch sind, diesen
Schluß weigert sich der Kritizismus zu ziehen. Gefühlsmäßig ist
es die Scheu vor einem Eückfall in den Dogmatismus, was ihn
hindert, diesen Begriff der obersten Einheit, zu dem er sich ge-
führt sieht, ernsthaft auch zum obersten Prinzip der systematischen
Erkenntnis zu machen; er läßt ihn als einen „Grenzbegriff", als eine
Idee stehen, auf die der Verstand wohl hinauskommt, bei der er
Kantatudion. XXVII. 2
18 Georg Lasso n,
aber schon außer sich und bei der es ihm darum nicht geheuer ist.
Verstandesmäßig ist es die abstrakte Fassung des Gegensatzes
von Erfahrungsinhalt und Transzendenz, weswegen der Kritizismus,
obwohl er selber fortwährend den Nachweis der Abhängigkeit der
Erfahrung von überempirischen Bestimmungen führt, die Bestim-
mung des absoluten Geistes vermeidet und hier tatsächlich sich
die Schranke des „Als ob" zieht. Wenn Cassirer mit Recht sagt,
daß es nicht das Interesse der Transzendenz gewesen sei, wodurch
das Denken über diese Stellungnahme vorwärts getrieben wurde,
so muß man zufügen, daß gerade umgekehrt der Kritizismus dies
Interesse der Transzendenz gewahrt, sie als ein isoliertes und un-
zugängliches Abstraktum festgehalten hat, wogegen der spekula-
tive Idealismus ihr diesen Schein der Selbständigkeit abzustreifen
und sie als ein Moment in der Totalität der geistigen Wirklich-
keit immanent zu fassen, die gesamte Diesseitigkeit mit ihr zu
versöhnen unternommen hat. Was ihn dazu trieb, war in der Tat
nicht das Interesse eines ontologischen oder gar außerphilosophi-
schen, religiösen Dogmatismus, sondern um mit Cassirer zu sprechen,
„das Interesse an der systematischen Gestaltung der Erfahrung
selbst, das eine Erweiterung der Befugnisse des Denkens, eine
tiefere Gestaltung des Verhältnisses des Allgemeinen und Beson-
dern fordert" (S. 16). Deshalb rühmt Cassirer den nachkantischen
Lehren als eines ihrer wesentlichen geschichtlichen Verdienste
nach, daß sie den Problemkreis Kants und der kritischen Philo-
sophie erweitert haben, und meint: „Auch wenn man die neuen
Antworten, die hier gegeben werden, als ungenügend und als vor-
eilige dogmatische Entscheidungen ansieht, so wird man sich doch
den neuen und wichtigen Fragen, die hier geprägt worden sind,
nicht auf die Dauer entziehen können" (S. VII).
Wir können für unsern Zweck die Betrachtungen übergehen,
die Cassirer den Kantianern Reinhold, Beck und Maimon und den
Antikantianern Jacobi und Aenesidem gewidmet hat. An den
fruchtbaren Kern der Kantischen Lehre rührt von ihnen am
nächsten Maimon heran, der dem Neukantianismus besonders
darum interessant sein muß, weil er zur Aufstellung der kriti-
schen Position sich der Analogien aus der Mathematik bedient
hat. Gerade deshalb aber ist es nicht zu verwundern, daß er
trotz der kongenialen Erfassung des kantischen Erkenntnisproblems
und trotz der Neigung, es im Sinne der Kritik der Urteilskraft
zu lösen (S. 94 ff.), doch bei der Idee einer Wissenschaft ankommt,
Kritischer und spekulativer Idealismus. 19
die von dem Wirklichen immer getrennt bleibt (S. 102 f.), und bei
der Idee einer Wahrheit, die nicht beansprucht, systematisch,
notwendig und allgemeingültig zu sein (S. 125). Denn das Eigen-
tümliche der Mathematik besteht gerade darin, daß die Einheit,
die in ihr maßgebend ist, die Einheit der Funktion, eine Beziehung
zwischen zwei einander an sich fremden Elementen bedeutet, denen
sie als ein von außen auferlegtes Gesetz übergeordnet ist, und daß
der Infinitesimalbegriff, mit dem die Spannung zwischen Diskon-
tinuität und Kontinuität überwunden werden soll, nur zu einer
unendlichen Annäherung führt, die mit unendlichem Getrennt-
bleiben gleichbedeutend ist. So beweist schon der Gebrauch der
mathematischen Analogien die im gründe skeptische Stellung Mai-
mons zum Erkenntnisproblem ; Cassirer findet ihre tiefere Begrün-
dung darin, daß Maimon einseitig nur die Kritik der reinen Ver-
nunft berücksichtigt habe und „von der systematischen Weiter-
führung und Fortbildung, die der Grundgedanke in Kants Ethik
und Ästhetik erfährt, so gut wie unberührt" geblieben sei (S. 121).
Das ist nun bei den drei großen Vertretern des spekulativen
Idealismus, bei Fichte, Schelling und Hegel vollkommen anders.
Ganz richtig erklärt Cassirer, daß Fi cht es Philosophie auf Kants
Freiheitslehre beruhe, „deren Geltung sie schon mit der ersten
Frage, die sie sich stellt, voraussetzt" (S. 131). In dem Grund-
akte dieser Freiheit, dem Sichselbstsetzen des vernünftigen Ich
ist alles Wissen verankert; alle Inhalte des Bewußtseins, alle Ob-
jekte der Natur sind jenem Selbstbewußtsein gegenüber sekundär.
Darum aber hat die Reflexion hier verspielt, die zwischen der Ma-
terie der Erfahrung und den reinen Form Verhältnissen , die sie
durchdringen sollen, hin und her pendelt, ohne „die Kluft zwischen
den allgemeinen Formgesetzen und der besonderen Bestimmtheit,
in der sie sich uns in den Gegenständen der Erfahrung darstellen",
jemals schließen zu können (S. 130 u. 134). Das peccatum originale
dieser Reflexion wird freilich hier von Cassirer nicht aufgedeckt,
aber in dem von Fichte zuerst rein erfaßten Begriff des ver-
nünftigen Selbstbewußtseins ist es überwunden : die Reflexion
reflektiert nicht auf sich selbst und wird nicht gewahr, daß sie
bei all ihren Operationen schlechterdings innerhalb des Kreises
ihrer eigenen Begriffe bleibt, daß es sich um lauter Probleme des
begrifflichen Denkens handelt, die gar nichts mit einer jenseits'
des Denkens liegenden Gegebenheit zu tun haben können, sondern
in dem logischen Verhalten der Selbsttätigkeit des Ich liegen;
2*
20 Georg Lasson,
das Allgemeine sowohl wie das Einzelne, die Vielheit und die
Einheit, ja die Materie selbst und die Gegebenheit — es sind alles
Gedankenbestimmungen, Begriffe, und erst wenn das Denken sie
als solche sich zum Bewußtsein gebracht und nach all ihren Be-
ziehungen und Zusammenhängen durchgedacht hat, ist es befugt,
etwas darüber auszusagen, was sie etwa außerdem, daß sie seine
Begriffe sind, sonst noch sein könnten. Damit stellt sich in dem
Ich, das sich selbst setzt und seines gesamten Bewußtseinsinhaltes
als seiner eigenen Bestimmungen bewußt ist, die „vollendete Un-
endlichkeit" dar, die dem Skeptizismus als ein Widerspruch er-
scheint (S. 131), die aber die einzige wahre Unendlichkeit ist;
denn eine unvollendete Unendlichkeit ist eben Endlichkeit, besten-
falls eine aus und über sich selbst hinausweisende oder -strebende
Endlichkeit. Das Wesen der Reflexion liegt gerade darin, daß sie
an diese „falsche" Unendlichkeit gebunden ist, deren Sphäre die
Welt der Erscheinungen und des Entgegensetzens von Materie
und Form bildet. Es ist ganz selbstverständlich, daß sich das
Denken, so lange es innerhalb dieser Sphäre sich hält, immer auf
die unvollendete Unendlichkeit gewiesen sieht ; in dem Augenblick,
wo es hinter diese Gegebenheiten auf ihren und seinen einheit-
lichen Grund zurückgeht, auf den Begriff des autonomen Ich, hat
es die wahre, in sich geschlossene Unendlichkeit gefunden.
Naturgemäß fehlt noch viel daran, daß Fichte im einzelnen
diesem von ihm ergriffenen Prinzip gerecht werde. Cassirer rechnet
es ihm zu besonderem Lobe an, daß ihm „die Identität nicht so-
wohl der gegebene Ausgangspunkt als vielmehr der geforderte
Endpunkt der Gesamtbewegung" ist (S. 136). Dies Lob ist in dem
Sinne berechtigt, daß die Identität nicht als eine „leere formale
Einerleiheit" gefaßt werden darf (S. 137); dem widerspricht ja ihr
Begriff selbst, da zur Identität notwendig die Verschiedenheit ge-
hört. Aber es darf doch nicht übersehen werden, daß auch die
Bestimmung der Identität als einer erst herzustellenden solange
abstrakt und einseitig bleibt, solange man damit die Wirklichkeit
der Identität verneinen will. Die Aufgabe, die Identität herzu-
stellen, führt die Frage nach ihrer Möglichkeit mit sich; die Auf-
gabe selbt würde nicht möglich sein, wenn die Identität nicht dem
Begriffe nach, als leitender Gedanke oder als Zweck etwa vor-
handen und gegeben wäre. Oder man muß sagen: die „geforderte"
Identität ist bereits auch Identität; das Ich könnte an ihre Her-
stellung nicht einmal denken, wenn es sie nicht als seine Bestim-
Kritischer und spekulativer Idealismus. 21
mung in sich trüge. Das Sollen setzt „Notwendigkeit für die
freie Vernunft" voraus ; man mag es ins Endlose formierend denken,
so liegt ihm doch die einfache Wirklichkeit des daseienden Ver-
nunftzweckes und also eine ursprüngliche Identität zugrunde.
Für Fichte dagegen wird es verhängnisvoll, daß er den ersten
Fortschritt von dem Ich, das sich selbst setzt, zu der Mannig-
faltigkeit seiner Bestimmungen nicht rein aus dem Begriffe des
Ich heraus vollziehen kann; die Art, wie er Ich und Nichtich im
Ich einander gegenüberstellt, geschieht wieder in der Form der
Reflexion, und die vorstellungsmäßige Aushilfe der Redeweise von
einer „Teilbarkeit" des Ich und des Nichtich ist davon die not-
wendige Folge. Man darf die Absicht Fichtes, zur inneren Ein-
heit der Vernunftanschauung zu gelangen, und seine steten Ver-
sicherungen, daß er diese Einheit meine und ausspreche, nicht mit
der Ausführung dieser Absicht verwechseln, die ihm nie völlig ge-
lungen ist. Er findet von dem Ich als dem absoluten Subjekte zu
dem endlichen Ich so wenig die methodisch tragbare Brücke wie
von der sinnlichen Welt zur intelligibeln. Sein großer Gedanke,
daß im Anfange die Tat ist, setzt sich nicht zu der Totalität eines
allumfassenden geistigen Organismus um, weil ihm die Reflexions-
bestimmungen des Handelns, das Sollen und seine Materie, als ur-
sprüngliche Gegensätze dazwischen kommen. Das methodische
Ergebnis ist deshalb bei ihm, daß die Freiheit nicht ist, weil sie
immer nur sein soll, und damit steht er gegen sich selbst und
seine tiefste Intuition in einem Widerspruch, dessen Qual er selbst
deutlich empfunden und den zu überwinden er immer neue Formen
des Ausdruckes seiner Meinung gesucht hat.
Dessen ungeachtet ist es bewundernswert, mit welcher Treff-
sicherheit er eine Anzahl von Grundlinien gezogen hat, die für
den spekulativen Idealismus von entscheidender Bedeutung sind.
Man kann aus Cassirers Darstellung erkennen, in wie vielen
Punkten Hegel einfach die Erkenntnisse Fichte's hat übernehmen
dürfen. „Ohne Selbstbewußtsein ist überhaupt kein Bewußtsein"
(S. 137); dem Formalismus der kritischen Untersuchungen gegen-
über, die, weil sie sich auf die Möglichkeit des Erfahrungswissens
beschränken und nur die Beziehung zwischen Bewußtsein und
Gegenstand betrachten, den Einheits- und Beharrungspunkt des
Ich bis zu dem Maße aus den Augen verlieren können, daß ihnen
das Ich zu einem bloßen Schnittpunkte von Beziehungsrichtungen
wird, hebt der spekulative Idealismus die Tatsache hervor, daß
22 Georg Lasson,
die sinnliche Erfahrung nur einen einzelnen Bestandteil der Be-
wußtheit ausmacht, dem die geistige Selbstbestimmung übergeordnet
ist. Er macht deshalb das autonome Subjekt zum Ausgangspunkt
und sieht in dem Bewußtsein eine Bestimmung des Selbstbewußt-
seins, darin zweifellos dem Kantischen Gedanken sich anschließend,
der „das Bewußtsein meiner selbst als die ursprüngliche Apper-
ception" das „transzendentale Bewußtsein" nennt, auf das alles
empirische Bewußtsein sich notwendig bezieht, und der hinzufügt,
daß „die bloße Vorstellung Ich" das transzendentale Bewußtsein
sei (Kr. d. r. V. 1. Aufl., S. 117). — Daß das Wissen System, nicht
Aggregat sein müsse (S. 137), daß die Wissenschaftslehre das zum
Wissen von sich selbst, zur Herrschaft über sich selbst gekommene
Wissen sei (S. 138), sind Sätze, die fast in denselben Worten
von Hegel wiederholt worden sind. Auch die merkwürdige Wen-
dung, daß schließlich man die Wissenschaftslehre gar nicht hat,
sondern daß man sie ist und zu ihr geworden sein muß (S. 139),
die Fichte später in der Form wiederholt, daß das Wissen in sich
und durch sich ein absolutes Ende finde, in dem es wissend zu
seinem absoluten Ursprung komme, dem Nichtwissen alles Beson-
deren (S. 176), kehrt bei Hegel in der Ausführung wieder, daß
das absolute Wissen zur Unmittelbarkeit wird. „Jedes besondere
Wissen, jedes Wissen von Etwas verwirklicht", wie Cassirer den
Fichte'schen Gedanken wiedergibt, „den universellen Wissens-
charakter, so daß er sich an und in ihm vollständig erfassen läßt
(S. 141) u ; mit dieser Begründung alles einzelnen Denkens in dem
allgemeinen Begriffe der Vernunft, von dem jeder besondere Be-
griff ein Moment ist, hat Fichte den Standpunkt der bloßen Re-
flexion überwunden, den er z. B. in dem Satze dargestellt hat:
„Begreifen heißt ein Denken an ein anderes anknüpfen, das erstere
vermittelst des letzteren denken. Wo eine solche Vermittelung
möglich ist, da ist nicht Freiheit, sondern Mechanismus" (S. 135).
Daraus erklärt sich auch, daß bei ihm ein außerordentlicher Fort-
schritt in der bewußten Handhabung der dialektischen Methode zu
bemerken ist. — Den Zusammenhang der Grundgestaltungen des
Bewußtseins, wie Empfindung, Anschauung, Einbildungskraft,
Urteil sieht Fichte, wie Cassirer richtig ausführt, darin, daß sie
als die Phasen eines Fortschrittes von Gebundenheit zur Freiheit
auftreten. Cassirer sagt dazu: „Die echte und wahrhafte Ge-
schichte des Geistes ist . . . die Aufweisung des notwendigen Stufen-
ganges, der von dem ersten tatsächlichen Zustande der Gebunden-
Kritischer und spekulativer Idealismus. 23
heit des Ich bis zum höchsten Wissen von seiner wesentlichen
Freiheit führt" (S. 156). Wer aber könnte verkennen, daß hier
das Thema der Hegeischen Phänomenologie in voller Klarheit an-
gegeben ist? Fügen wir hier noch das Wort bei: „Das Wissen kann
sich nicht erzeugen, ohne sich schon zu haben, und es kann sich
nicht für sich und als Wissen haben, ohne sich zu erzeugen" und
Cassirers Anmerkung: „Die Wissenschaftslehre erklärt somit in
einem Schlage und aus einem Prinzip sich selbst und ihren Gegen-
stand; das absolute Wissen ist selbst die Selbstvollziehung und
Selbsterkenntnis des absoluten Wissens als solchen" (S. 185), so
scheint es in der Tat, als habe man bei Fichte schon sämtliche
Ingredienzien des spekulativen Idealismus bei einander.
Das ist auch in gewissem Sinne richtig, nämlich der Intention
Fichte's nach. Systematisch hat er hinter dieser Intention zurück-
bleiben müssen, weil ihm, wie oben schon gesagt wurde, die dua-
listische Reflexion doch immer noch in die Quere kommt. Doch
muß man sich hüten, diese Unzulänglichkeit dem spekulativen
Idealismus als solchem zur Last zu legen, der in der Fichte'schen
Philosophie seinen ersten Flug unternommen hat. Auch Cassirer
hat in seiner abschließenden Kritik des Fichte'schen Systems sich
nicht an dessen Besonderheiten gehalten, sondern hat seinen Wider-
spruch gegen dasselbe geradezu auf seinen spekulativen Charakter
im allgemeinen gegründet. Es tritt in diesem Widerspruch der
prinzipielle Gegensatz des kritischen und des spekulativen Idealis-
mus rein ans Licht. Sehen wir, ob er so unüberwindlich ist, wie
ihn Cassirer empfindet.
Was er der Fichte'schen Philosophie vorwirft, ist der Ge-
brauch, den sie von dem Begriff des Absoluten macht. Die
Metaphysik Fichte's steht und fällt, wie er sagt, „mit dem Ge-
danken des schlechthin einheitlichen und eben deshalb schlechthin
bestimmungslosen Absoluten" (S. 206). Hier wäre zur Erläuterung
gleich beizufügen, daß natürlich das Absolute nur insoweit be-
stimmungslos heißen darf, als es keinerlei Bestimmung von außen
unterliegt; die Inhaltsbestimmung, die Fichte dem Absoluten gibt,
ist nach Cassirer die, daß es in einem Tun und Leben bestehe
(S. 208) : also ist es ein stetes Sichselbstbestimmen, ein „ruhiges
Sein und Bestehen", das zugleich „actus purus", ein reines Sich-
selbstsetzen und -erfassen ist (S. 187). Mindestens der Absicht
nach hat Fichte also das Absolute bereits als den absoluten Geist
begriffen, so wie er für den spekulativen Idealismus die zentrale
24 Georg Lasson,
Idee bildet. Wenn es aber bei Fichte noch schwierig scheint, den
Weg von der absoluten Einheit zur Vielheit zu finden, so ist
damit nicht gesagt, daß dies überhaupt ein ungangbarer oder ver-
botener Weg sei. Darauf aber kommt nun Cassirers Widerspruch
hinaus ; was er an Fichte tadelt, ist nicht eine besondere Schwäche
in seinem Verfahren, sondern das Verfahren überhaupt, aus dem
Begriff einer obersten Einheit die mannigfachen Bestimmungen
dieser Einheit zu deduzieren. „Nicht wie von der Erscheinung
des Vielen zum Gedanken und zur Idee des Einen, sondern wie
von dem an und für sich seienden Einen zum Vielen zu gelangen
ist, lautet nunmehr die eigentliche spekulative Grundfrage" (S. 206).
Daß diese Frage überhaupt gestellt wird, darin sieht Cassirer
die entscheidende Peripetie des kantischen Idealismus und den
Punkt, [weswegen die nachkantische Spekulation überhaupt zu
verurteilen sei. n
Man könnte demgegenüber zunächst sich auf die Neigung be-
rufen, die Cassirer für das mathematische Verfahren hat, und
könnte fragen, ob für die philosophische Methode nicht erlaubt
sein dürfe, was bei jeder Rechnung geboten scheint, nämlich daß
man die Probe macht und den Weg, den man in der einen Rich-
tung zurückgelegt hat, nun auch in der andern geht. Gesetzt,
es gäbe in dem Erkennen einen Weg, auf dem man ausschließlich
von dem Bedingten und Mannigfaltigen zu dem Unbedingten und
Einen aufsteigen könnte, so wäre geradezu die einzige Möglichkeit,
ihn als richtig zu erweisen, die, daß man ihn auch rückwärts
mache und vom Unbedingten und Einen bei dem Bedingten und
Mannigfaltigen anlange. Vielleicht könnte man sich dafür auch
auf Kant selbst berufen, der als das, was die Vernunft in dem
ganzen Umfang der Verstandeserkenntnisse zustande zu bringen
sucht, ausdrücklich den Zusammenhang der Erkenntnis aus einem
Prinzip bezeichnet und darunter ein „Ganzes der Erkenntnis" ver-
steht, „welches vor der bestimmten Erkenntnis der Teile vorher-
geht und die Bedingungen enthält, jedem Teile seine Stelle und
Verhältnis zu den übrigen a priori zu bestimmen". Wenn er aber
in diesem Zusammenhange von den „Vernunftbegriffen" redet, die
„nicht aus der Natur geschöpft werden", und bemerkt: „vielmehr
befragen wir die Natur nach [d. h. nach dem Maßstabe von] diesen
Ideen und halten unsere Erkenntnis für mangelhaft, so lange sie
denselben nicht adäquat ist" (Kr. d. r. V., 2. Aufl., S. 673), so
leuchtet vielmehr ein, daß er ein ausschließlich induktives Er-
Kritischer und spekulativer Idealismus. 25
kennen gar nicht gelten läßt, sondern überall im Denken zugleich
die Bewegung vom Allgemeinen zum Besonderen wie die vom Be-
sonderen zum Allgemeinen erkennt. Dann aber ist vollends eine
Darstellung des Erkenntnisprozesses, die das Besondere zum
alleinigen Ausgangspunkte nimmt und das Allgemeine rein als
das Endergebnis des Prozesses aufweisen will, einseitig und falsch
und fordert die Ergänzung durch die entgegengesetzte Methode,
die vom Allgemeinen ausgeht und aus ihm zum Besondern hin-
führt. Erst in der Vereinigung beider Darstellungsformen kann
die Wissenschaft dem von ihr selbst festgestellten Tatbestande
gerecht werden, daß niemals das Besondere ohne das Allgemeine,
das Unbedingte ohne das Bedingte denkbar und erkennbar ist."
Der Forderung der philosophischen Systematik wird deshalb die Me-
thode am vollkommensten entsprechen, die bei jeder Einzelerkenntnis
ebenso wie bei dem Begriff des Wissens überhaupt diese lebendige
Bewegung, dieses Hin und Her vom Vielen zum Einen, vom Apo-
steriorischen zum Apriorischen unda umgekehrt wiederzuspiegeln
versteht. Und man wird es als höchst unerheblich ansehen dürfen,
welches von beiden Momenten dabei zuerst herangenommen wird,
da notwendig jedes von beiden ebenso als Ausgangs- wie als End-
punkt der Betrachtung wird dargestellt werden müssen. Daß Kant
selbst eine solche Methode vorgeschwebt und er ein vollkommen
einheitliches System der philosophischen Erkenntnis zum Ziele
gehabt hat, ist offenbar. Er sagt zwar, daß die Philosophie zwei
Gegenstände habe, Natur und Freiheit, aber er erklärt zugleich,
daß sie das Natur- und das Sittengesetz „anfangs in zwei beson-
deren, zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System" ent-
halte (ebd. S. 868). Dies einzige System auszuführen ist ihm
nicht vergönnt gewesen; der Gedanke daran scheint ihn bis in
seine spätesten Jahre verfolgt zu haben. Dieser Gedanke aber
setzt jedenfalls einen „Vernunftbegriff" voraus, der, nicht aus der
Erfahrung geschöpft, die Einheit beider Sphären konstituiert und
den Maßstab bildet, nach dem beide zusammen befragt werden
müssen zum Zwecke der Prüfung, ob wir von ihnen eine adäquate
Erkenntnis haben. Damit wäre jenes Eine und Unbedingte gesetzt,
das nicht als Negation des Vielen und Bedingten dieses zurück-
stößt , sondern es als seine Momente und konkrete Selbstbe-
stimmungen in sich schließt. Wohingegen der bloß historische
Umstand, daß Kant durch sein Festhalten an der ursprünglichen
Scheidung von Natur und Freiheit daran gehindert worden ist,
26 Georg Lassoü,
auf der Grundlage jener höchsten Einheit ein System der abso-
luten Idee zu entwickeln, den Geist seiner Lehre ganz unberührt
läßt.
Wir haben hier, wo rein prinzipiell das Recht des spekulativen
Begriffs des Absoluten erörtert werden soll, uns genauer auf
Kantische Sätze einlassen müssen, weil Cassirer die Debatte ein-
fach durch Berufung auf Kant entscheiden will. Daß er an diesem
Kernpunkte der Diskussion sich auf ein Zitat aus Kant zurück-
zieht , ist ein interessanter Beweis dafür , wie fest der Neu-
kantianismus, trotz aller Umbildungs versuche der kritischen Sätze
im einzelnen, sich an die Autorität Kants klammert. Aber gerade
hier reicht das avtbg scpa nicht zu; denn es erhebt sich sofort die
Frage nach der richtigen Interpretation Kants, und unsere obigen
Hinweise dürften wohl genügen, um auch eine von der Cassirer'-
schen wesentlich abweichende Auffassung der Kantischen Gedanken
möglich erscheinen zu lassen. Cassirer führt Äußerungen Kants
an, die unserem Zitat über Vernunfteinheit und Vernunftbegriffe
unmittelbar vorhergehen und erklären, daß niemals durch die
transzendentalen Ideen Begriffe gewisser Gegenstände gegeben
werden. Er rühmt die meisterhafte Prägnanz und Klarheit, mit
der hier der Kritiker der reinen Vernunft die Illusion aufdeckt,
als ob „die Linien, in denen der Verstand seine Begriffe von Ob-
jekten, nach Reihen von Bedingungen verknüpft, zu einem ge-
wissen einheitlichen Ziele richtet, von einem Gegenstande selbst
ausschössen, der außer dem Felde empirisch möglicher Erkenntnis
läge" (S. 208). Die Illusion, gegen die sich Kant wendet, ist, wie
der Wortlaut seiner Sätze klar ergibt, die Meinung, es könne in
der Sphäre der gegenständlichen Reflexion, die bedingte und der
empirischen Erkenntnis gegebene Gegenstände vor sich hat, zu
einem unbedingten Gegenstande fortgeschritten werden. Diese
Meinung wird kein spekulativer Idealist vertreten ; keiner wird
die barbarische Vorstellung hegen, das Absolute, Gott, sei „ein
gewisser Gegenstand". Nun aber hat Kant selbst deutlich genug
erwiesen, daß die Sphäre der gegenständlichen Reflexion es über-
haupt nur mit Erscheinungen zu tun habe und diese ganze Ver-
standeserkenntnis in einem Systeme der Vernunft wurzele, dessen
Prinzip die Autonomie des Ich, des vernünftigen, denkenden und
wollenden Selbstbewußtseins ist. Es wäre in der Tat eine folgen-
schwere Illusion, wollte man diese höhere, über die empirische
Erkenntnis hinübergreifende Sphäre gerade da vergessen, wo die
Kritischer und spekulativer Idealismus. 27
sich kritisierende Erkenntnis unausweichlich auf sie hingeführt
wird, und wollte man behaupten, weil die Reflexion im unendlichen
Progreß vom Einzelnen zum Einzelnen niemals das konkret All-
gemeine erreiche, sei dieses überhaupt unerreichbar.
Kant hat jedenfalls diese Illusion nicht geteilt ; er hat dem
empirischen, endlichen Erkennen mit voller Klarheit das logische
Erkennen aus der Vernunfteinheit entgegen gestellt. Daß diese
Entgegenstellung selbst noch eine Folge des Gebundenseins an die
endliche Reflexion ist, daß man Verstand und Vernunft so ab-
strakt, wie Kant es tut, nicht scheiden kann, und daß wegen
dieser abstrakten Scheidung die Vernunft bei Kant zuerst in
einen unhaltbaren Gegensatz gegen die Wirklichkeit zu geraten
scheint, den er erst hintennach durch den Begriff der Zweck-
mäßigkeit der in der Natur immanenten Vernunft überwindet,
das wollen wir nur erwähnen, um nicht in den Verdacht zu
kommen, als wüßten wir es nicht; das Eingehen darauf würde uns
vom Thema zu weit abführen. Nur darauf muß hingewiesen
werden, daß sich Kant, indem er an das System der Erfahrung
geht, ehe er das System der Logik entwickelt hat, von Anfang
an in eine Schwierigkeit verstrickt hat, die nicht einmal so sehr
ihm selbst wie seinen Schülern verhängnisvoll geworden ist. Wäh-
rend er sich der kategorialen Natur des Denkens vollkommen be-
wußt ist, hält er sich bei seiner Analyse der Erkenntnis an diejenige
Form der Denktätigkeit, die durch den Gegensatz von Bewußtsein
und Gegenstand schon bestimmt ist, und findet von der Vorstellung
einer aus beiden gemischten Erfahrung nur mühsam und unvoll-
kommen den Weg zu der gedanklichen Grundlage aller möglichen
Erfahrung. Das tritt gerade an der Art hervor, in der er an der
von Cassirer zitierten Stelle die Idee des Absoluten behandelt.
Er hat gezeigt, wie der Verstand von der Verknüpfung bedingter
Gegenstände zu der Idee eines Unbedingten fortgetrieben wird,
das entsprechend der Schlußform, mit der, und der Reihe der „Be-
griffe von Objekten", an denen er zu ihm aufsteigt, eine bestimmte
Gestalt annimmt und je nachdem als Seelenidee, Weltidee, Gottes-
idee bestimmt wird. Dann aber erklärt er abschließend es für
eine Illusion, jene Idee des Absoluten für mehr als einen focus
imaginarius zu halten und sie als einen Gegenstand zu betrachten.
Nun ist das Merkwürdige, daß er selbst weit davon entfernt ist,
Seele, Welt und Gott bloß als focos imaginarios gelten zu lassen ;
nur der Weg, auf dem er den Verstand zu diesen Ideen gelangen
28 Georg Lasson,
läßt, erscheint ihm unfähig, zu einer inhaltsvolleren Bestimmung
dieser „Grenzbegriffe" zu führen, womit er vollkommen recht hat.
Mit diesem Wege nämlich stimmt es in keinem Punkte. Das Ab-
solute ist ebensowenig ein Gegenstand wie ein Grenzbegriff, der,
wie Cassirer sagt, erst „entsteht, indem wir den Gebrauch des
Verstandes und einzelner seiner Kategorien von jeder Bedingtheit
und Schranke, die ihm innerhalb eines bestimmten Gebietes der
Erfahrung anhaften, befreien und ihn ins Unbedingte erweitern"
(S. 207). "Wenn das mehr sein soll als eine psychologische Be-
schreibung, dann ist es der sonderbarste circulus vitiosus. Er
setzt voraus, daß „wir" — gemeint ist doch das vernünftig
denkende Subjekt — den Begriff des Bedingten gefaßt haben
sollen ohne den Begriff des Unbedingten und daß dann in uns der
Begriff des Unbedingten entstehen soll, in dem wir den des Be-
dingten „ins Unbedingte" erweitern. Wie könnten wir aber von
einer Bedingtheit und Schranke, die unserm Verstandesgebrauch
und seinen Kategorien anhaften, etwas wissen, wie könnten wir
das bestimmte Gebiet der Erfahrung als die Sphäre der Bedingt-
heit und Endlichkeit ansehen, wenn wir nicht den Begriff des Un-
bedingten mit dem des Endlichen zugleich besäßen? Es ist nichts als
eine Täuschung der empirischen Reflexion, wenn man sich vor-
stellt, durch Betrachtung bedingter Gegenstände gelange man
zu der Idee des Unbedingten; man kann keinen Gegenstand und
keine Verstandesbestimmung als bedingt bezeichnen, wenn man
nicht den Begriff der Bedingtheit ebenso wie der Unbedingtheit
darauf anwendet. Das Unbedingte und das Bedingte, das Absolute
und das Relative sind Kategorien genau so gut wie die wenigen,
die Kant auf seine Kategorientafel gesetzt und von denen er ge-
meint hat, daß sie alle ursprünglich reinen Begriffe der Synthesis
ausmachten. Der zufällige Ausgangspunkt, den er für ihre Auf-
stellung genommen hat, ist ihm zum Hindernis für ein in sich ge-
gründetes umfassendes logisches System geworden. Sobald aber
das Denken den Boden eines solchen Systems gewonnen hat, in
dem die innere Zusammengehörigkeit des Einen und des Vielen,
des Endlichen und des Unendlichen, der Wirklichkeit und der
Vernunft, des Aposteriori und des Apriori aus dem Zentralbegriffe
der Freiheit des sich selbst bestimmenden Geistes sich ergibt, ist
der Vorwurf Cassirers ohne jede Kraft, daß die Spekulation allen
sicheren Boden verliere, wenn sie, um das Absolute desto sicherer
zu ergreifen, den Zusammenhang und die Relation des Absoluten
Kritischer und spekulativer Idealismus. 29
mit der Wissens- und Willenswelt abbreche (S. 209). Wie könnte
denn um alles in der Welt die Spekulation so närrisch sein, das
zu versuchen? Wenn bei Fichte sich Äußerungen finden sollten,
die man dahin deuten müßte, dann wäre damit nur bewiesen, daß
er in einseitiger Übertreibung seines Prinzips sich von seinen
eigenen Grundlagen irrtümlich entfernt habe. Aber den speku-
lativen Idealismus als solchen, der seinen Namen gerade von dem
Zusammenschauen des Mannigfaltigen und Entgegengesetzten hat,
kann man mit einer solchen Anklage keineswegs belasten. Gewiß
läßt sich die „Notwendigkeit für das Eine, sich in das Viele zu
zerspalten, die Notwendigkeit für Gott, zur Welt zu werden, aus
seinem eigenen Grund nicht mehr begreiflich machen" (S. 210),
wenn das Eine ein Ding, Gott ein alles Relative von sich aus-
schließendes höchstes Wesen ist. Aber wenn doch die kritische
Philosophie, die Tätigkeit der denkenden Vernunft, die sich selbst
kritisch durchdenkt, als den Ertrag der Prüfung des gesamten
von der Vernunft vorgefundenen Bewußtseinsinhaltes, als das Re-
sultat, auf das notwendig das Denken, das sich selber denkt,
geführt wird, den Begriff des sich selbst setzenden Ich, des Geistes
gewinnt, der actus purus und schöpferisches Subjekt ist, dann hat
dieses Eine in sich seinen eigenen Grund, aus dem sich die Notwendig-
keit, die zugleich die höchste Freiheit ist, die Notwendigkeit seiner
steten Systole zur Einheit und Diastole zum Universum sehr wohl
begreift. Sagt man, das Denken steige von der Welt der Mannig-
faltigkeit zu diesem Begriff auf, so kann man ebensogut sagen,
er steige im Denken zu dieser Welt hernieder; indem die Ver-
nunft das höchste Prinzip als die Freiheit und die Versöhnung
(Identität, Liebe) bestimmt, faßt sie es nicht als einen Grenz-
begriff, was ohnehin wider den Begriff des Absoluten streitet, —
denn woran sollte das Absolute seine Grenze haben? — sondern
als die Totalität, aus der die Deduktion zu dem Vielen herab
genau denselben Weg geht wie die Induktion zu dem Einen
hinauf. Oder vielmehr, es sind überhaupt gar nicht zwei Wege,
sondern es ist das Sich entfalten des Begriffes, ein stetes Ineinander
des geistigen Lebens, das mit dem Besondern das Allgemeine und
mit dem Allgemeinen das Besondere setzt, ein Urteilen, das
gleichzeitig aus dem Schlüsse der Vernunft hervorgeht und wieder
in dem Vernunftschlusse mündet.
Diese Anschauung der Totalität ist es, was Schellings
Denkweise beherrscht. Cassirer weist sehr treffend nach, wie
30 Georg Lasson,
genau sich der Standpunkt Schellings an den von Kant und Fichte
anschließt. „Die logische Grundlegung des Kritizismus erscheint
als ein Moment der Vorbereitung für das kritische System der
Teleologie, für die Analyse des Zweckgedankens und der Probleme
des Organismus" (S. 226). Der Inhalt der Kritik der Urteilskraft
wird in der Anschauung beibehalten, daß die Natur ein Analogon
der Freiheit darstellt; aber über das „antithetische Verhältnis"
von Natur und Geist ist das Schellingsche Denken hinausgegangen,
da „die Natur selbst nichts anderes als eine Stufe in der Ent-
wicklung und Selbstrealisierung des Geistes bedeuten soll" (S. 225).
Nun haben wir oben schon gesehen, wie bei Kant selbst die Ten-
denz auf die Aufhebung jenes antithetischen Verhältnisses ge-
richtet ist. Und auf den Punkt, von dem aus die Vereinigung
der beiden Systeme von Gesetz und Freiheit allein möglich ist,
der, bei Kant deutlich sichtbar, von Fichte als Prinzip seiner
Lehre ausgesprochen worden ist, stellt sich mit Bewußtsein auch
Schelling, wenn er den treibenden Gedanken der ganzen nach-
kantischen Fortbildung des Idealismus in den Worten aufdeckt:
„Wenn man sich an die Idee der Autonomie gehalten hätte, die
Kant selbst als Prinzip seiner praktischen Philosophie aufgestellt
hat, so hätte man leicht gefunden, daß diese Idee in seinem System
der Punkt ist, durch welchen theoretische und praktische Philo-
sophie zusammenhängen und daß in ihr eigentlich schon die ur-
sprüngliche Synthesis theoretischer und praktischer Philosophie
ausgedrückt ist". So bestätigt sich für Schelling die Fichtesche
Anschauung, daß, was wir Objekt nennen, nur das Produkt und
der .Reflex eines ursprünglichen Tuns ist (S. 219), und daß zu-
gleich die Handlung, in der das Ich sich selbst aus absoluter Kau-
salität setzt und weiß, der Quell und die einzige, unmittelbar
gewisse Rechtfertigung für den Gedanken des Unbedingten ist
(S. 220). Die Frage, wie der Gedanke zu der Wirklichkeit komme,
ist müssig; denn es gibt keine andere Wirklichkeit als die, die
er in sich selbst hat und ist (S. 239). Mit diesem Gedanken, den
Schelling seinem System des transzendentalen Idealismus zugrunde-
legt, hat er das Prinzip des spekulativen Idealismus, der ja not-
wendig Identitätsphilosophie ist, so rein ausgesprochen, wie es
auch Hegel nur je gekonnt hat.
Was nun Schellings eigentümliche Leistung für die Identitäts-
philosophie betrifft, so brauchen wir für unsern Zweck nicht ge-
nauer darauf einzugehen, weil zu allem, was daran haltbar ist,
Kritischer und spekulativer Idealismus. 31
Hegel erst die vollendende wissenschaftliche Durcharbeitung hinzu-
gefügt hat. Damit wird die fast unheimliche Genialität Schellings,
in der eine beinahe grenzenlose B-ezeptivität mit der Grabe ver-
bunden war, alles Aufgenommene in das lebendige G-anze der
großen ihn beseelenden Anschauung einzufügen, in keiner Weise
herabgesetzt. Man kann sogar eine logische Notwendigkeit darin
finden, daß, wenn das Denken die Identität als den Sinn der
Wirklichkeit erfassen sollte, ihm diese Identität erst als inner-
liche Anschauung gewiß werden mußte, ehe es diese Anschauung
in kritisch Schritt vor Schritt sichernder Methode zum freien
Begriff ausgestaltete. Daß die Geisteskultur seiner Zeit der
Schellingschen Anschauung außerordentlich viel verdankt und daß
sie fruchtbare Anregungen auch für die Folgezeit in sich ent-
halten hat, steht für den unparteiischen Betrachter außer Frage.
Wie sehr auch seine Naturphilosophie sich „in ein willkürliches
und phantastisches Analogiespiel verlieren" mag (S. 238), so er-
kennt doch Cassirer an, daß Schelling durch seine Kritik an den
hypothetischen „Grundstoffen" der zeitgenössischen Physik und
Chemie in der Tat auch den empirischen Fortschritt dieser Wissen-
schaften gefördert und durch die zentrale Stellung, die er dem
elektrischen Phänomen gegeben, dem elektrodynamischen Begriff
der Materie vorgearbeitet habe (S. 237). Freilich das Wichtigere
ist doch, daß er auf dem Felde der Philosophie selbst den Natur-
begrifF vertieft hat. Die Natur, von der er handelt, ist nicht die
Natur der mathematischen Naturwissenschaft, die Abstraktion
eines für sich bestehenden mechanischen Zusammenhanges, der ab-
gesondert vom Geiste, ja sogar baar des Lebens vorgestellt wird.
Der ganze Ingrimm, mit dem Fichte der Natur gegenübersteht,
schreibt sich ja davon her, daß er sie von diesem Gesichtspunkte
aus betrachtet. Für Schelling dagegen ist die Natur das Uni-
versum, das in jedem seiner Bestandteile Leben und der Schau-
platz und das Werkzeug des Geistes ist, die" lebendige Natur, da
Gott den Menschen schuf hinein. Die Natur hört so auf, ein
isolierter Bestandteil der Wirklichkeit zu sein, und wird zu einem
durchgängigen Momente der Wirklichkeit, zu dem Ansich, das
ebenso dem Geiste selbst zukommt — muß man doch auch von der
Natur des Geistes sprechen — wie den Bestimmtheiten, in denen
er sich und die er in sich vorfindet. Die Einheit aber von Natur
und Geist stellt sich als ein Prozeß, eine stete Entwickelung aus
dem Ansich zum Leben des Selbstbewußtseins und der Freiheit
32 Georg Lasson,
dar. Daß Schelling diesen Prozeß nicht methodisch zu entwickeln
vermocht hat, daß ihm Natur und Geist zwei Pole geblieben sind,
die sich nur in einem Indifferenten, in einem Absoluten einigen,
bei dem gerade dem Denken der Begriff ausgeht, daß er deshalb
den Weg von dem Absoluten zu der Erscheinungswelt nicht mehr
findet und in einen platonisierenden Dualismus zurückfällt, um
schließlich ebenso das Absolute wie die Erscheinungswelt als irra-
tionale Wesenheiten anzusehen und so die Philosophie zur Ro-
mantik hinüberzuführen, der das Unvernünftige für das höchste
Prinzip und für die eigentliche Wahrheit gilt, das hat in der Tat
seinen Grund in dem Umstände, den Cassirer richtig hervorhebt,
daß er „die Vermittelung des Begriffs verschmäht" hat (S. 283).
Eben deswegen aber wäre es falsch zu sagen, die Identitäts-
philosophie oder der spekulative Idealismus vermöge die prokla-
mierte Vernunft einheit nicht herzustellen, wenn eben nur das Un-
vermögen Schellings nachgewiesen ist, sich der Methode zu be-
dienen, auf der doch der Idealismus als solcher beruht, der Me-
thode der begrifflichen Entwickelung. Wenn deshalb Cassirer
apodiktisch erklärt, daß sich die Kluft zwischen Ideenwelt und
Sinnenwelt im reinen konstruktiven Denken selbst und kraft des-
selben nicht schließen lasse, und fortfährt: „der Panlogismus hat
hier sein Ende erreicht, die absolute Vernunft trifft auf ein
schlechthin Irrationales, daß sie weder ablehnen, noch aus sich
verstehen und begründen kann" (S. 271), so begeht er eine zu
schnelle Verallgemeinerung. Nicht die absolute Vernunft, sondern
das Schellingsche Nachdenken ist; auf jenes Irrationale getroffen,
und es bleibt durchaus die Frage bestehen, ob eine dem Prinzip
des Panlogismus getreuere Methode nicht auch diese Kluft zu
schließen vermögen würde.
Hegel hat seiner Methode diese Leistung zugetraut; er hat
sich nicht mit der bloßen Versicherung ihrer Fähigkeit dazu be-
gnügt, sondern hat in unendlicher Mühe sowohl die Welt der
reinen Begriffe wie die Welt des konkreten Daseins aus und nach
dem Prinzip dieser seiner Methode zu einem System des Begriffes,
zu einem Wissen des Geistes von sich selbst — zum Sichselbst-
erkennen im absoluten Anderssein — zu entwickeln gesucht. Zur
Beurteilung seines Werkes muß man deshalb zwei Fragen sorg-
fältig auseinanderhalten, erstens die, ob sein Prinzip vor dem
Forum des methodischen Denkens bestehen kann, und zweitens
die, wieweit er imstande gewesen ist, dies Prinzip an dem kon-
Kritischer und spekulativer Idealismus. 33
kreten Stoffe rein und mit vollkommenem Gelingen durchzuführen.
Es liegt auf der Hand, daß, selbst wenn man die erste Frage be-
jaht, man bei der zweiten Frage mit Notwendigkeit zu den
stärksten Vorbehalten sich wird gedrängt sehen müssen. Denn die
Aufgabe, den unendlichen Stoff der Erscheinung nach allen ihren
Besonderheiten wissenschaftlich zu begreifen, ist nicht nur niemals
von einem einzelnen Denker, sondern auch von dem philosophischen
Denken der gesamten Menschheit nicht eher zu lösen, als bis etwa
der ewige Wechsel der Erscheinung zum Stillstande würde ge-
kommen, also dem Erkennen nichts mehr würde übrig geblieben
sein. Gesetzt also, der Vorwurf, mit dem Cassirer seine Dar-
stellung Hegels schließt, bestände zurecht, daß nämlich Hegel „in
der Geistesphilosophie das Ideelle an das Faktische, in der Natur-
philosophie das Faktische an das Ideelle verloren habe" (S. 377), so
würde damit zunächst nur gesagt sein, daß er in der' Ausführung
seines Prinzips hinter der Konzeption zurückgeblieben sei, die ihn
geleitet hat; inwiefern das die Schuld der Konzeption und des
Prinzips und nicht vielmehr einfach der allem Menschlichen an-
haftenden Unvollkommenheit sei, darüber wäre noch gar nichts
ausgemacht.
Das Prinzip nun, in dem das Hegeische Denken wurzelt und
von dem seine Methode unzweideutig bestimmt wird, hat er nicht
erst in der Auseinandersetzung mit seinen philosophischen Zeit-
genossen und in dem Bestreben gefunden, die bei ihnen entdeckten
Unklarheiten oder Unzulänglichkeiten zu verbessern ; es hat längst
sein Bewußtsein gestaltet, ehe er es sich selbst zum wissenschaft-
lichen Begriff entwickelt hat, und es hat ihm vom Beginn seines
philosophischen Nachdenkens an selbst über die nächst verwandten
Denker seiner Zeit eine Überlegenheit gegeben, deren er sich auch
als bescheiden Lernender immer bewußt gewesen ist. Es ist für
Cassirers Darstellung schade, daß sie den Begriff, von dem Hegels
Denken ebenso getragen wird, wie es ihn offenbart, nicht zum
Ausgangspunkte nimmt, ja, ihn durchweg zurücktreten läßt, den
Begriff des absoluten Geistes. "Was Cassirer am nächsten
interessiert, ist eben der Vergleich Hegels mit Kant; darum be-
ginnt er die Betrachtung Hegels mit einem Abschnitt über den
Begriff der Synthesis bei Kant und Hegel, und es ist verständlich,
daß er von diesem Gesichtspunkte aus wohl bis zu dem Hegeischen
Begriffe des Ich, der Persönlichkeit, des Subjektes gelangt, das in
sich als Einzelnes die Einheit des Allgemeinen und des Besonderen
Kantstudion XXVII. 3
34 Georg Lasson,
darstellt und dadurch die Objektivität konstituiert. Damit ist
zweifellos Hegels Meinung richtig wiedergegeben; aber die Syn-
thesis, die seinem Geiste die ursprüngliche und grundlegende ist,
wird dadurch noch nicht erreicht : sie tritt erst in den Sätzen ans
Licht, das Wahre sei nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als
Subjekt aufzufassen; oder die Substanz sei wesentlich Subjekt, die
Bestimmung des Absoluten als Geist sei der erhabenste Begriff und
der der neueren Zeit und ihrer Religion angehöre, und die Wirk-
lichkeit des Begriffs des Absoluten, das Subjekt ist, sei die Selbst-
bewegung. Mit diesem Prinzip ist die Methode der Philosophie
zugleich gegeben, die das Wahre nicht bloß als ein System, sondern
als ein sich aus sich selbst durch die Selbstbewegung seiner Glieder
entfaltendes System betrachtet und also der subjektiven Zutaten
sich enthält, um den Begriff sich selbst von einer seiner Bestim-
mungen zur 'andern forttreiben zu sehen, bis er wieder, durch die
Freiheit seines eigenen Selbstbewußtseins oder durch das Bewußt-
sein seiner Gültigkeit bereichert, in seinen Anfang zurückkehrt.
Sehr mit Recht bemerkt Cassirer , daß in der kantischen
Philosophie die Richtung auf eine solche Gestalt der Metaphysik
bestanden hat, deren „Ziel in dem vollständigen Begriff von der
Organisation des Geistes selbst" lag (S.v285). Er erkennt dem-
gemäß auch an, daß die dialektische Methode in streng kontinuier-
licher Entwicklung aus den für die gesamte nachkantische Philo-
sophie gemeinsamen Prämissen hergeleitet sei (S. 305). So erscheint
in gleichem Maße das Prinzip wie die Methode Hegels als der Ab-
schluß und die Vollendung des in der kantischen Lehre zum ersten
Ausdrucke gekommenen Idealismus des vernünftigen Selbstbewußt-
seins, und eben wegen dieser Grundlage seiner Philosophie, die
schlechthin auf der transzendentalen Anschauung beruht, das Ab-
solute in die Subjektivität verlegt und den Satz ausspricht, daß
der Geist höher ist als die Natur, steht er gegen die gesamte
vorkantische Philosophie auf einem Boden mit Kant. Nur möchten
wir bezweifeln, ob man mit Cassirer der vorkantischen Metaphysik
in Bausch und Bogen, statt bloß den kleinen Geistern des nach-
leibnizischen Dogmatismus, den Vorwurf machen könne, sie habe, um
ihre Aufgabe zu erfüllen, ein „Wissen von den absoluten Dingen"
sein müssen, die „als schlechthin äußere in einem transzendenten
Bezirk jenseits des Geistes bestehen" ; der ontologische Gedanke,
der nichts als seinsnotwendig anerkennt, als was denknotwendig
ist, trennt offenbar das Sein keineswegs äußerlich von dem Geiste,
Kritischer und spekulativer Idealismus. 35
sondern spricht nur in unbefangener Weise den Begriff eben der
Identität von Denken und Sein aus, den erst die von dem Gesichts-
punkte des Kritizismus ausgehende Philosophie sich in methodischer
Vermittelung zum beherrschenden Leitsatz machen konnte. Daß
nichts diesen Begriff in dem Bewußtsein der Menschheit so wirksam
belebt hat wie die Gottesidee der Offenbarungsreligion, erhellt
von selbst; sie ist deshalb auch der Boden gewesen für die be-
wußte Ausprägung des Ontologismus. Zugleich hat auf diesem
Boden der religiösen Kultur auch der Begriff des absoluten Greis t es
früher als in der Philosophie seine Ausgestaltung erfahren. Von
der religiösen Grundlage seines persönlichen Bewußtseins her ist
auch Hegel die Anschauung des absoluten Geistes aufgegangen;
Cassirer hat ganz richtig empfunden, daß die Religion für Hegel
das Moment der Wirklichkeit ist, aus dem er seinen Begriff des
Absoluten gewinnt. Aber es ist nicht so, daß sich ihm die drei
Kantischen Absoluta, „wie sie im Geiste der Erkenntnis, in dem
der Sittlichkeit und in dem der Kunst festgestellt sind", etwa
hinterher erst in das eine Absolutum der Religion zusammenfassen
(S. 290), sondern dieses steht als beherrschendes Prinzip und
leitender G-edanke ihm bereits in Form der Intuition fest, wenn
er daran geht, die Erscheinungen der geschichtlichen Geistes-
kultur zu untersuchen, denen ja seine frühesten Studien gegolten
haben.
Daß Cassirer auf diese zentrale Stellung der Religion in der
Hegeischen Gedankenwelt aufmerksam macht, ist um so verdienst-
licher, als bei der Neubelebung des Interesses für Hegel, die wir
zur Zeit beobachten können, bisher das Hauptgewicht meist auf
Hegels Stellung zum Staat und zur Geschichte gelegt wird. Ihm
selbst war die religiöse Idee selbst in der Staats- und Geschichts-
auffassung das Bestimmende: der Staat beruht auf Religion, die
Geschichte ist Theodizee. Das ist Hegels Auffassung immer ge-
wesen und geblieben; man wird sagen dürfen, daß er sich damit
von der letzten Absicht Kants keineswegs entfernt hat. Denn
was Cassirer meint, daß im Unterschiede von Kant das Problem
der Synthesis und der synthetischen Einheit durch Hegel von dem
Boden der reinen Erkenntnis auf denjenigen des konkreten geistigen
Lebens in der Totalität seiner Äusserungen versetzt wird (S. 291),
das trifft doch nur zu, wenn man von der ganzen Arbeit Kants
ausschließlich seine Kritik aller möglichen sinnlichen Erfahrung
betrachtet. Cassirer hat aber selbst als den wahrhaften Abschluß
3*
36 Georg Lasson,
des Objektivitätsproblems der kritischen Philosophie die Synthese
bezeichnet, die Kant in der Kritik der Urteilskraft erreicht, den
Standpunkt, auf dem die Idee der Natur selbst unter dem Gesichts-
punkte der Freiheit, die Idee der Freiheit selbst unter dem Ge-
sichtspunkte der Natur erscheint (S. 288). In seiner Religionslehre
wie in seinen Betrachtungen über die Probleme der Weltgeschichte
hat Kant, der systematisch diesen Standpunkt an dem gesamten
Erfahrungsstoff zu bewähren nicht mehr vermocht hat, die frucht-
barsten Ansätze zu solcher Arbeit geliefert, die es über jeden
Zweifel erheben, daß er nicht gemeint war, die Synthesis in dem
luftleeren Räume der abstrakten Erkenntnistheorie eingesperrt zu
halten, sondern sie als konkrete Erscheinung in der "Wirklichkeit
aufzuweisen beabsichtigt hat. Gerade in ihren Gedanken hin-
sichtlich dieser so zu sagen angewandten Synthesis befinden sich
Kant und Hegel vielfach in vollkommener Übereinstimmung.
Was Hegels Größe ausmacht, das ist das erstaunliche Gleich-
gewicht zwischen der Gabe der Intuition und der Sorgfalt des
methodischen Denkens, zwischen dem Interesse an dem Leben und
an der Wirklichkeit und dem rastlosen Bohren der Abstraktion
nach dem geistigen Quell alles Daseins. Dieses Gleichgewicht
drückt sich gleichsam symbolisch darin aus, daß er in seinen zwei
grundlegenden Werken, in der Phänomenologie und in der später
zur Enzyklopädie ergänzten Logik, sein System von zwei ganz
verschiedenen Ausgangspunkten aufbaut* Daß etwa die Phäno-
menologie als ein propädeutisches Werk gedacht gewesen wäre,
ist ein noch immer viel verbreiteter Irrtum. Sie ist nur für Leser
geschrieben, die bereits in dem Gedankenkreise der Identitäts-
philosophie heimisch und in der Dialektik des Begriffs geübt sind.
Auch daß sie ein früheres Stadium seiner Philosophie darstelle
als seine Logik, trifft nicht zu. Durch die vor sechs Jahren er-
folgte Drucklegung seines ersten Systems ist es nun urkundlich
bezeugt, daß die Phänomenologie bereits die Hegeische Logik in
ihrer Eigenart voraussetzt. Cassirer hat auf jene Logik von 1802
leider nicht Bezug genommen ; sie ist gerade für den Neukantianer
besonders interessant, da sie den ersten Teil, dem Hegel später
die Überschrift „das Sein" gibt, mit dem Titel „die einfache Be-
ziehung" bezeichnet und den beiden andern, nachher „das Wesen"
und „der Begriff" benannten Teilen die Namen „das Verhältnis"
und „Proportion'4 gibt. Wie weit auch dieser erste Entwurf seiner
Logik an genauer Durchbildung hinter dem späteren Werke zurück-
Kritischer und spekulativer Idealismus. 37
bleiben mag, nicht bloß die Methode ist dort bereits vollkommen
klar und bewußt ausgearbeitet, auch alle leitenden Gesichtspunkte
finden sich schon vor. Vergleicht man die Phänomenologie mit
jener ersten Logik Hegels, so wird der Titel, den er anfangs für
die Phänomenologie gewählt und erst nacb Abfassung seiner be-
rühmten Vorrede durch ihren jetzigen ersetzt hat, erst ganz ver-
ständlich; er hatte sie die „Wissenschaft von der Erfahrung des
Bewußtseins" genannt und hat also, während er in der Logik die
reinen Gedankenbestimmungen entwickelt, die jeder Erfahrung
zugrunde liegen, hier zeigen wollen, wie sich diese Bestimmungen
in der Erfahrung selbst verwirklichen. Dem kantischen Kritizismus
haftet der ursprüngliche Mangel an, daß er mit der Frage der
Erkenntnistheorie nach den Bedingungen, unter denen Erfahrung
überhaupt möglich ist, gleich von vorn herein die zwei zunächst
disparaten Elemente des abstrakten Denkens und des empirischen
Bewußtseins zusammenwirft und deshalb gerade bewirkt, daß sie
sich beständig fliehen und nie zur vollen Einheit gelangen. Hegel
ist über diesen Mangel dadurch hinweggekommen, daß er das
logische Fundament des Bewußtseins für sich entwickelt, die Natur
der reinen Wesenheiten darstellt, die über den Unterschied von
Subjektivität und Objektivität hinübergreifend, als die reinen Ge-
danken das Leben des Geistes und die gesamte Welt der Wirk-
lichkeit konstituieren. Auf diesem Fundamente hat er das System
der Subjekt-Objektivität errichtet und hat darum auch über die
bloße Kritik der Erfahrung hinaus die Erfahrung selbst nach
ihrer wirklichen Erscheinung und nach ihrer geistigen Wahrheit
darstellen können als das Zusichselbstkommen des Geistes in dem
Bewußtsein des Subjekts. Diese Aufgabe hat er sich in der Phäno-
menologie gestellt; er will zeigen, wie dem Bewußtsein des Subjekts
der Geist innewohnt und in der Entwickelung, die es als denkendes
und wollendes Selbstbewußtsein durchmacht, sich zur Erscheinung
der geistigen Welt vollendet. Hegels Ausgangspunkt ist hier die
ursprüngliche Synthese, mit der auch die kritische Philosophie be-
ginnt, das Subjekt der sinnlichen Erfahrung. Den Ausgangspunkt
der Logik könnte man dem gegenüber als die einfache These be-
zeichnen, die nur erst abstrakte Wahrheit hat, die reinen Gedanken-
bestimmungen, durch deren Selbstbewegung die Welt der Gegen-
sätze und das Reich der Versöhnung oder der Geist in seiner
Totalität sich entfaltet. Das Hegeische Denken hat so vor dem
Kritizismus folgenden Vorsprung. Dieser geht einseitig von der
38 Georg Lasson,
Synthese, d. h. im gründe von der Antithese aus, für die er stets
die Synthese sucht, ohne sich darüber klar zu werden, daß ohne
eine vorausliegende These selbst eine Antithesis nicht möglich
wäre; denn Gegensätze sind sich eben immer in irgend einem
Etwas entgegengesetzt. Hegel dagegen geht auf dies Etwas, auf
den Grund zurück, der die Gegensätze möglich macht, nämlich auf
den seine eigenen Bestimmungen setzenden und entfaltenden Geist.
Natürlich wird es hier auch klar, daß Thesis und Synthesis iden-
tisch sind, daß diese nur die konkrete Verwirklichung jener ist,
so daß Anfang und Ende der Entwickelung so zusammenfallen
wie der gewollte und der erreichte Zweck. Ebenso klar ist es
deshalb, daß dem Kritizismus auch jener einfache Grund, die an-
fängliche These nicht fehlt; er hat sie in derjenigen Synthesis,
die er als wirklich und ursprünglich anschaut, in dem vernünftigen
Selbstbewußtsein, dem autonomen Ich, und gelangt sogar von da
aus neuerdings bis zu einem Logismus, der dem Hegeischen außer-
ordentlich ähnlich scheint. Aber er will es nicht wahr haben,
daß er damit zu dem Einheitsprinzip vorgedrungen ist, das den
Gegensatz produziert, zu der These, die sich durch die Antithesis
zur Synthesis vollendet, sondern er haftet fest an der Antithese
und sieht zwar die Bewegung ihrer Vermittelung, aber nicht den
unbewegten Beweger, den Geist in der bleibenden Organisation
seines vernünftigen Wesens, wie er „vor der Erschaffung der
Natur und eines endlichen Geistes ist". Dabei aber beschäftigt
er sich unablässig mit diesem ersten Prinzip ; denn die reinen Ge-
dankenbestimmungen sind der feste und unveränderliche Maßstab
seiner kritischen Denktätigkeit, übrigens ein Beweis dafür, daß
der Begriff der Substanz durch den der Funktion nicht „ersetzt",
d. h. beseitigt, sondern vielmehr bestimmt wird. Und so ergibt
es sich hier aufs neue, daß der kritische Idealismus an sich abso-
luter Idealismus ist, nur ohne selbst sich dessen bewußt zu sein.
Damit sind wir dann noch einmal daraufgewiesen, prinzipiell
den Vergleich zwischen kritischem und absolutem Idealismus zu
ziehen, wie es Cassirer am Schlüsse seiner sehr eingehenden
Wiedergabe der Gedankenentwickelung in Hegels Phänomenologie
und Logik unternommen hat. Cassirer meint, das System Hegels
habe „den geschichtlichen Beweis für. die Unlösbarkeit der Pro-
bleme" geliefert, „mit denen schon Hegels Ausgangspunkt und
Fragestellung die Philosophie belastet" (S. 366). Dieser Satz
klingt an sich einigermaßen überraschend; denn man müßte aus
Kritischer und spekulativer Idealismus. 39
ihm schließen, daß es gewisse Ausgangspunkte und Fragestellungen
gebe, deren sich die Philosophie zu entschlagen habe, weil sie auf
unlösbare Probleme führen. Es könnte dann immerhin als ein ge-
schichtliches Verdienst gelten, wenn ein Denker einmal solche
Probleme aufgeworfen hat ; aber nachdem er an ihrer Lösung ge-
scheitert ist, scheint es der Philosophie gebühren zu sollen, daß
sie von ihnen als von rebus iudicatis sich lernhalte und sie auf
sich beruhen lasse. Das ist nun freilich eine Auffassung, die sich
mit dem Begriffe der Philosophie ebensowenig reimt wie mit deren
tatsächlichem Verhalten. Das philosophische Denken läßt sich
keine Grenzpfähle stecken, und wenn es sie sich selbst steckt, so
hat es damit schon die Grenze überwunden ; denn es kann sie
nicht ziehen, ohne diesseits und jenseits von ihr Bescheid zu
wissen. Und deshalb legt die Philosophie niemals ein Problem als
unlösbar beiseite; entweder sie führt den methodischen Beweis,
daß es an sich unlösbar sei, und dann hat es aufgehört, ein Pro-
blem zu sein, und seine Lösung ist gelungen in dem Nachweise,
daß nur der Schein eines Problems vorgelegen habe; oder aber
das Problem wird dauernd als ein solches empfunden, und dann
genügt kein geschichtlicher Hinweis auf einen mißglückten Ver-
such, es zu lösen, sondern der denkende Geist macht sich immer
aufs neue daran, die Wahrheit zu begreifen, die ihm in Form des
Problems entgegentritt. Cassirer hat selbst den Nachweis geführt,
wie mit innerer Notwendigkeit aus dem Standpunkte des Kriti-
zismus die Fragestellungen der nachkantischen Philosophie sich
ergeben haben. Es' sind also sachlich notwendige Fragestellungen,
und man kann sie nicht deshalb abweisen, weil sie die Philosophie
mit Problemen belasten, die man für unlösbar erklärt, und noch
weniger, weil man meint, daß Hegel seinerzeit sie nicht be-
friedigend beantwortet habe.
Nun ist weiter die Frage, wieweit überhaupt die Vorwürfe
berechtigt sind, die der Arbeit Hegels im einzelnen gemacht werden.
Daß er die Sache nicht für alle Zeiten endgiltig ins Reine ge-
bracht hat, versteht sich von selbst; ob aber die Mängel seiner
Darstellung so grob sind und seiner Methode selbst so kraß ent-
gegenstehen, wie man häufig annimmt, ist doch sehr zweifelhaft.
Es ist vieles von dem, was ihm zum Vorwurf gemacht wird, reines
Mißverständnis. Schon Schelling hat, wie Cassirer erwähnt (S. 281),
gegen Hegels Logik den seitdem immer wieder erhobenen Ein-
spruch geltend gemacht, daß, wenn man mit dem reinen abstrakten
40 Georg Lasson,
Begriff des Seins anfange, man zu inhaltlicheren Bestimmungen
nur durch Erschleichung und Supponierung eines Seienden gelangt,
eines letzten Subjektes des dialektischen Prozesses, das sich in
ihm und durch ihn entfaltet. Cassirer selbst faßt die Dialektik
bei Hegel so, daß für sie das Absolute nicht mehr den unmittel-
baren Anfang der Philosophie, sondern ihr Ende, nicht mehr ihre
Voraussetzung, sondern ihr Resultat bedeute (S. 303). Aber in
seiner Kritik der Hegeischen Logik erklärt er selbst, daß dieses
Resultat schon in jeder Phase des Prozesses, in jedem neuen Über-
gänge als das eigentlich bestimmende und vorwärtstreibende Prin-
zip wirke (S. 367). So wird es wohl ein Irrtum sein, wenn man
Hegels Methode dahin auslegt, er fange mit dem absolut Leeren,
dem Sein an, das mit dem Nichts identisch ist, und lasse dieses
sich durch Selbstbewegung bis zum Begriffe der Totalität erweitern,
einem schlappen Beutel gleich, den man aufbläst, bis er platzt.
Cassirer meint: „nach der Grundvoraussetzung Hegels soll jedes
einmal gesetzte Moment sich selbst negieren und durch diesen
Widerspruch das Denken zu einem andern und höhern hinaus-
treiben" (S. 366). Abgesehen davon, daß die Art der Entgegensetzung
der einzelnen sich gegenseitig fordernden Gedankenbestimmungen in
den verschiedenen Sphären des Logischen nicht die gleiche und
also die bloße Negation bei weitem nicht für den dialektischen
Prozeß im ganzen charakteristisch ist, so spricht doch Cassirer
selbst von dem „gesetzten Moment". Ja, wovon ist es denn Mo-
ment, und wodurch wird es denn gesetzt? Es ist doch offenbar,
daß die Totalität und zwar die Totalität als Geist bereits voraus-
gegeben ist, wenn man von gesetzten Momenten redet. In der Tat
ist für alles Philosophieren Hegels die ursprüngliche Identität, die
keinen mittelbaren Beweis zuläßt (S. 302), die unbedingte Grund-
lage; das cogito, ergo sum, ist der Punkt des unmittelbaren Wissens,
von dem es keinen Regreß zu einem ihm vorausliegenden Prinzip
geben kann, und alles Beweisen in der Philosophie bedeutet nur
das Aufzeigen des notwendigen systematischen Zusammenhanges,
den dies Prinzip fordert und herstellt. Es gibt darum für Hegel
auch keinen eigentlichen Anfang in der Philosophie; sie ist ein in
sich geschlossener Kreis, mit dessen Betrachtung das denkende
Subjekt an jedem beliebigen Punkte müßte anfangen können und
sich nur nach Zweckmäßigkeitsgründen für diesen oder jenen An-
fang entscheiden wird. Auch der Anfang mit der Logik ist der
Anfang mit einem Momente des Granzen und insofern ebenso zu-
Kritischer und spekulativer Idealismus. 41
fällig, wie wenn in der Phänomenologie mit dem natürlichen Be-
wußtsein angefangen wird. Nur weil das Logische das übergrei-
fende Moment, sowohl eine besondere, als auch die allgemeine Weise
der absoluten Idee ist (S. 363), erscheint Hegel der Anfang mit
der Logik besonders zweckmäßig. Aber immer handelt es sich
hier um die Dar stellungs form, und dieser liegt die Idee selbst
voraus. Kein Teil der Philosophie und kein einzelner Begriff der
Logik kann für sich allein gedacht oder entwickelt werden; das
Ganze liegt ihm zugrunde, trägt und bestimmt ihn. Das philo-
sophische Denken ist Nachdenken; es saugt sich das Wahre, das
Konkrete nicht aus den Pfoten der Abstraktion und klaubt nicht
aus dem Begriffe des leeren Seins und des reinen Nichts die Fülle
der göttlichen Gesichte heraus, sondern es hat den ganzen Reich-
tum des lebendigen Bewußtseins und der wissenschaftlichen Er-
kenntnisse vor sich, es trägt die Anschauung der geistigen Totalität
und das Bewußtsein seiner schöpferischen Freiheit in sich, und es
gestaltet sich auf grund dieser seiner vernünftigen Bestimmtheit
seine Welt zum begriffenen System, sich selbst zum absoluten
Wissen, zum focus realis des absoluten Geistes.
Die Art, wie Hegel Sein, Nichts und Werden dialektisch an-
ander, ganz deutlich nicht auseinander, entwickelt, gilt gewöhnlich
als das eigentliche Merkmal seiner Philosophie überhaupt. Wie
man Kant auf die transzendentale Ästhetik festbindet, so sieht
man in dem ersten Kapitel der Hegeischen Logik den ganzen
Hegel und schlägt vor Verwunderung über den Einfall, das leere
Sein zum Fundament des Universums zu machen, die Hände über
dem Kopf zusammen. Cassirer hat selbstverständlich mit diesem
Verhalten nichts gemein. Er weiß, daß Hegel seine Logik nicht bloß
damit anfängt, zu sagen, das leere Sein sei mit dem Nichts iden-
tisch, sondern daß diesem besonderen Satze der allgemeine voraus-
liegt, das Sein und das Denken sei identisch. So ist für Hegel
das Sein Gedanke, das Nichts Gedanke, das Werden Gedanke, und
er bringt nicht drei disparate Dinge gewaltsam zueinander, sondern
er zeigt auf, wie diese drei Gedankenbestimmungen durch das
innere Leben des sie produzierenden Begriffes miteinander in Zu-
sammenhang stehen. Ganz richtig sagt deshalb Cassirer: „daß
Sein und Nichts identisch sind, kann gar nicht anders als vom
Werden her deutlich gemacht werden" (S. 366). Natürlich, das
„Umschlagen" der einen Gedankenbestimmung in die andere ließe
sich nicht aufzeigen, wenn sie nicht sämtlich dem Denken in ihrer
42 Georg Lasson,
besonderen Bestimmtheit bereits bekannt wären. Daß aber nnn,
wie Cassirer meint, dieser Gesichtspunkt dem Prinzip der dialek-
tischen Methode nicht entspräche (S. 367), trifft keineswegs zu.
Anch für die dialektische Methode ist das philosophische Denken
kein Konstruieren ins Blaue hinein, und der Gedanke des Systems
steht ihr fest, wenn sie die Beziehung seiner Glieder sich entfalten
läßt. Ohnehin besteht diese Beziehung durchaus nicht bloß in dem
„Umschlagen" eines Begriffes in den andern, wie es bei jenen
ersten abstraktesten Begriffen der Fall ist; sie nimmt im Fort-
gange zu konkreteren Bestimmungen die Form einer immer tieferen
Zusammengehörigkeit an, bis die ideale Einheit der Momente des
gedanklichen Organismus erreicht ist. Das ist natürlich ohne die
vorausgehende Anschauung dieses Organismus gar nicht möglich.
Darum ist es nur eine Seite der Hegeischen Methode, die Cassirer
mit dem Satz ausdrückt: „Das Absolute soll wesentlich Resultat
sein, also erst am Ende des Gesamtprozesses heraustreten" (S. 367).
Hegel selbst zeigt beständig auf, daß ebenso das Absolute das
erste Prinzip und daß der gesamte Verlauf der Entwicklung nichts
als das Hervortreten der im Absoluten enthaltenen und darin sich
entfaltenden Bestimmungen sei; und es geht wirklich nicht an,
dieses Moment der Betrachtung als eine Preisgabe seines dialek-
tischen Prinzips aufzufassen. Vielmehr ist „das Prinzip des Fort-
schritts, das ihn durch die gesamte Reihe der untergeordneten
Momente bis zur höchsten Idee hinaufführt" (S. 366), eben nur die
eine Seite in seiner Darstellung der logischen Idee, und das Prinzip
der Totalität, die sich die Bestimmungen der einzelnen Momente gibt,
ist die andere, mindestens ebenso wichtige Seite. Das „Nachein-
ander der Momente" ist in der Logik natürlich eine vollkommen
zeitlose Aufeinanderfolge, und insofern wird man sagen können,
daß sich das Absolute in einem ewigen Nun nach der Fülle seiner
Bestimmungen durchsichtig ist, während das denkende Subjekt im
diskursiven Denken nicht alles zu gleicher Zeit präsent haben
kann. Aber das bedeutet nicht, daß die begriffliche Entwickelung
nichts als der „Fortgang einer bloß subjektiven Reflexion" sei.
Hegel behauptet ja nicht, daß die Selbstbewegung des Begriffs, zu
deren Darstellung der Denker natürlich Zeit braucht, eine zeit-
liche Bewegung sei; er will „die reinen Gedanken, den sein Wesen
denkenden Geist" darstellen, von denen er sagt: „ihre Selbstbe-
wegung ist ihr geistiges Leben". Dieses geistige Leben ist zeitlos
und „wesentlich itzt". Das subjektive Denken aber, das dieser
Kritischer und spekulativer Idealismus. 43
Selbstbewegung nachdenkt, stellt den objektiven Gang der Sache
dar, indem es sich dazu erzieht, die wesentlichen Zusammenhänge
jener Gedankenbestimmungen aufzufassen, wonach die eine mit
innerer Notwendigkeit zu der andern führt, sich in ihr aufhebt
und wiederfindet usf. Den Gegensatz dazu bildet dann die sub-
jektive Reflexion, die aus irgendwelchem partikularen Interesse
ein paar beliebige Einzelbestimmungen aufrafft und in dem Raisonne-
ment, das sich an sie hält, über einseitige Abstraktionen nicht
hinauskommt. Sorgfältiger als Hegel kann man sich nicht be-
mühen, diesen Fehler zu vermeiden: was an seiner Darstellung
des objektiven Ganges der Sache notwendig subjektiv, Angelegen-
heit des Zuschauers bleibt, ist nur das zeitliche Aufzählen; die
gedankliche Sukzession der Momente sucht er rein aus deren
eigenem Charakter zu entwickeln. Ereilich versteht er unter dieser
Sukzession nicht einen in einer Richtung geradlinig verlaufenden
Fortschritt, sondern eher das Hin- und Her wandeln der „Mütter" :
„Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ew'ge Unterhal-
tung". Es bleibt immer merkwürdig, daß man ihm seine eignen
Worte nicht glauben will. Er beschreibt selbst das Wahre mit
den Worten : es sei ein bacchantischer Taumel, an dem kein Glied
nicht trunken ist, und zugleich die einfache und durchsichtige Ruhe.
Und dennoch meint Cassirer, daß bei Hegel schließlich die Be-
wegung auf die Seite des Subjekts und die Ruhe auf die Seite
des Gegenstandes falle und Denken und Sein in offenbarem Dualis-
mus auseinandertreten (S. 368).
Die Erklärung dafür, wie Cassirer auf diesen Vorwurf ge-
kommen ist, den eigentlich jeder Satz bei Hegel widerlegt, ist
darin zu finden, daß er die immanenten Geltungsunterschiede über-
sieht, die zwischen den verschiedenen Gebieten des denkenden Be-
wußtseins bestehen. Was für die Sphäre der zeitlosen Beziehungen
der reinen Begriffe gilt, die über die Trennung von Objektivität
und Subjektivität erhoben sind, das hat nicht ohne weiteres die
gleiche Geltung für die Sphären, in denen sich der Gegensatz
zwischen Bewußtsein und Gegenstand auswirkt. Als allgemeines
Moment ist das Logische selbstverständlich auch in diesen Sphären
wirksam und gegenwärtig; aber als besonderes Moment steht es
gleichzeitig ihnen beiden in eigenartiger Bestimmtheit gegenüber.
Der Gedanke konstruiert von dem Logischen über die Natur zum
Geiste einen dialektischen Fortschritt; aber dieser Fortschritt ist
ein andrer als der in der Realität, einfach weil das Logische ja nicht
44 Georg Lasson,
am Anfange, nicht vor der Realität steht, sondern sie als ihr ein-
einheitlicher Bestimmungsgrund von Anfang bis zu Ende durchdringt.
Während so jene drei Sphären in ihrer Einheit eine in sich befrie-
digte und — wenn man die Zeitvorstellung einmal dabei will gelten
lassen — in jedem Augenblick vollendete Totalität bilden, den
„seligen Gott", zeigt jede von ihnen in ihrer dialektischen Ver-
schiedenheit sich als eine besondere Bestimmtheit des Ganzen mit
einer ihr eigenen Bewegung. Unter diesem Gesichtspunkt er-
ledigt sich auch der immer wieder gegen Hegel erhobene Vorwurf
wegen des Überganges von der logischen Idee zur Natur: die
Idee entläßt sich frei in ihr Gegenteil. Das darf man ebensowenig
für die Sprache des Mythos halten, wie wenn Fichte sagt: das
Ich setzt das Nichtich, oder Schiller : es ist der Geist, der sich
den Körper baut. Hegel redet hier von logischen Beziehungen
der Begriffe, nicht von Dingen der Wahrnehmung. Wenn man
von dem Logischen als der ersten Sphäre des Systems beginnt,
dann erscheint die Natur als seine Entäußerung, der Geist als
seine Verwirklichung. Setzt man die Natur als die erste Sphäre,
so enthüllt sich in ihr das Logische als ihr Einheitsprinzip, die
Seele dieses organischen Ganzen, und der Geist als ihr Ziel und
beherrschender Zweck. Geht man von dem Geiste aus, so erfaßt
sich dieser in dem Logischen nach seinem an sich seienden Wesen
und in der Natur als in dem von ihm gesetzten Mittel seiner uni-
versalen Selbstdarstellung nach seinem unterschiedenen Fürsichsein.
Keiner dieser drei Aspekte des Systems ist für sich* allein das
ganze System; jeder hat einen Schein von Abstraktion an sich,
den erst ihre spekulative Zusammenfassung beseitigt. Darum aber
kann man auch nicht, wie es Cassirer tut, einfach den letzten Ab-
schnitt der Enzyklopädie, die Geschichte der Philosophie, als das
Ende der Bewegung bezeichnen, die in der Logik anfängt (S. 368).
Als zeitlos dialektischer Prozeß ist die Bewegung vom Begriff des
bloßen Seins bis zum Begriff des sich selbst begreifenden Wissens
wohl anzusehen; wenn aber auf den Fortschritt im subjektiven
Geiste reflektiert wird, wie es Cassirer hier tut, dann handelt es sich
um eine in der besonderen Sphäre der geistigen Kultur verlaufende
Bewegung, und die beginnt mit dem Begriffe des natürlichen Be-
wußtseins, um bis zum absoluten Wissen fortzuschreiten. So kann
man auch nicht folgern, daß für Hegel das Absolute die Gestalt
eines einzelnen geschichtlichen Zustandes, nämlich seiner geschicht-
lichen Gegenwart habe annehmen müssen. Es ist richtig, daß Hegel
Kritischer und spekulativer Idealismus. 45
„die jetzige Zeit auf dem Standpunkt angelangt sieht, wo das
endliche Selbstbewußtsein mit dem absoluten sich in begrifflicher
Erkenntnis eins setzt". Er bietet seinen Schülern die Befriedigung,
daß in seiner Philosophie, die ja „ihre Zeit, in Gedanken gefaßt"
sein will, der Kampf zwischen den Abstraktionen der Unendlich-
keit und der Endlichkeit aufhört, der noch in der dualistischen
Reflexion seiner unmittelbaren Vorgänger zur schärfsten Ausprä-
gung gekommen ist. Aber wenn er meint, daß „für jetzt" die
Reihe der geistigen Gestaltungen geschlossen sei, bemerkt er doch
gleichzeitig, daß eine neue Epoche in der Welt eingesetzt habe.
So kann man ihm nicht schuld geben, daß er die Weltentwicklung
mit dem Erscheinen seines Systems aufhören lasse, um so weniger,
als sich bei ihm zahlreiche Äußerungen finden, die auf weiteren
Fortschritt und auf später zu vollbringende Lösungen von „Knoten"
hinweisen, an denen der Weltgeist in der Gegenwart steht. Jeden-
falls berechtigt der Umstand, daß er den Gesamtertrag der bis-
herigen Geistesgeschichte als die bisher vom Weltgeist erreichte
höchste Stufe der Entwickelung ansieht, nicht zu dem Vorwurf,
er habe „ein Einzelnes und Zufälliges zum Absoluten erhoben"
(S. 369); eher würde zutreffen, daß er in jedem klassischen philo-
sophischen System, weil es das zum Begriff gestaltete Selbstbe-
wußtsein einer ganzen Zeit und damit ein ewig gültiges Moment
der Totalität ist, die Weltentwickelung zur Ruhe kommen sieht.
So erklärt denn freilich Hegel nicht dies oder jenes jeweilig er-
reichte und bestimmte Wirkliche (S. 369), sondern alles Wirkliche
schlechthin für vernünftig; darin eine „Gefahr" zu sehen, ist nur
dann möglich, wenn man das Faktische und das Ideelle als zwei
getrennte und nie wirklich zu vereinbarende Dinge betrachtet.
Aber daß diese Betrachtung richtig sei, müßte erst bewiesen werden.
Den deutlichsten Beweis dafür, daß Hegels Methode in der
Ausführung notwendig scheitern muß, glaubt Cassirer in der
Hegeischen Naturphilosophie erbracht zu sehen. Nun ist aber
das Merkwürdige, daß Hegel, wo er über den Erscheinungskomplex
redet, den die mathematische Naturwissenschaft mit dem Namen
Natur bezeichnet, äußerst vernünftige, dieser Wissenschaft durch-
aus verständnisvoll gerecht werdende Ansichten vorträgt. Cassirer
weist selbst auf Hegels Ausführungen in der Logik über eine
„Mathematik der Natur" hin und erkennt an, daß für Hegels Auf-
fassung der Prinzipienlehre der mathematisch - physikalischen Er-
kenntnis dort „wichtige und fruchtbare Bestimmungen" gegeben
46 Georg Lasson,
seien (S. 342). Aber freilich erschöpft sich für Hegel der Natur-
begriff nicht in der Hypothese Natur, wie sie von der mathe-
matischen Physik ihren Berechnungen zugrunde gelegt wird. Und
daraus wird man ihm wieder keinen Vorwurf machen dürfen ; gibt
doch Cassirer selbst zu, daß bereits bei Kant sich „der Wirklich-
keitsbegriff der mathematischen Naturwissenschaft als eine freilich
notwendige und in ihrer Geltung unantastbare Abstraktion" er-
weise (S. 288), womit dann schon ausgesprochen ist, daß über den
Umfang ihrer Greltung nur die Philosophie entscheiden kann. Denn
deren Aufgabe ist es ja gerade, die Abstraktionen, von denen die
verschiedenen Einzelwissenschaften ausgehen müssen, weil sie eben
Einzelwissenschaften sind, in dem konkreten System des sich
wissenden Geistes aufzuheben. Auch ist es nicht weiter zu ver-
wundern, daß für Hegel gerade der Begriff, von dem die mathe-
matische Physik grundsätzlich abstrahiert, im Vordergrunde seiner
Naturanschauung steht, nämlich der Begriff des Lebens. Ein großes
Lebendiges ist ihm die Natur; darin steht er mit Goethe und
Schelling völlig auf dem gleichen Boden ; aber ernstlicher als beide
faßt er die Aufgabe an, die geistige Organisation dieses Lebens
methodisch aufzuzeigen. Nun ist es gewiß sehr leicht, über Einzel-
heiten der Hegeischen Naturdeutung zu spotten, und es ist ohne
weiteres zuzugeben, daß er nicht bloß durch die außerordentliche
Mangelhaftigkeit des empirischen Stoffes, den ihm die damalige
Naturforschung lieferte, sondern auch durch ein übertriebenes Be-
mühen, die zufälligen Einzelheiten der Erscheinung in bestimmte
begriffliche Gestalt zu fassen, auf Irrwege geführt worden ist.
Damit aber ist noch durchaus nicht gesagt, weder daß die Anlage
seiner Naturphilosophie im ganzen verfehlt, noch daß ihre Durch-
führung in den Hauptpunkten ein Mißgriff sei. Man muß sich
nur gegenwärtig halten, was Hegels Absicht war. Er befand sich
der Schellingschen Naturphilosophie gegenüber, mit deren Grund-
gedanken, in der Natur eine vernünftige Organisation, ein zum
Geiste hindrängendes und aus dem Geiste geborenes Leben zu be-
greifen, er gänzlich übereinstimmte. Dagegen warf er ihr vor,
daß sie anstelle des Begriffs ein unlebendiges Schema setze und
statt die Gestaltungen der Natur in ihrer Eigenart zu erkennen,
sie durch die Subsumtion unter eine Anzahl von B-eflexionsbe-
stimmungen wie Polarität, Magnetismus, Elektrizität, Sensibilität
usf. gerade ihres individuellen Gepräges beraube. Deshalb war es
sein Bestreben, den Sinn und die Grliederung der verschiedenen
Kritischer und spekulativer Idealismus. 47
Gestaltungen der Natur in ihrer Unterschiedenheit zu erfassen.
Der Vorstellung ist solches Verfahren im Einzelnen durchaus ge-
läufig; Löwe und Bär, Palme und Eiche unterscheiden wir, um
ganz triviale Beispiele zu geben, ohne weiteres nach rein ideellen
Gesichtspunkten, und wenn wir uns genauer beobachten, so be-
merken wir auch, daß wir sehr viel weniger hochstehende Gattungen
im Naturleben durch ganz klare geistige Bestimmungen von ein-
ander sondern und miteinander verbinden. Dies vorstellungsmäßige
Verhalten wird von Hegel zum methodischen Verfahren erhoben
und dadurch vor dem Denken gerechtfertigt, daß alle Sphären des
natürlichen Daseins in ihrer individuellen Bestimmtheit als Glieder
eines großen geistigen Zusammenhanges aufgewiesen werden, aus
dem dieselbe Vernunft herausleuchtet, die sich in den reinen Ge-
dankenbestimmungen der Logik wie in den geschichtlichen Schöp-
fungen des selbstbewußten Geistes entfaltet. Die Wirklichkeit,
das Wahre sieht Hegel nirgends in der Abstraktion; ihm ist es
stets um das Individuelle zu tun, in dem sich das Faktische und
das Ideelle unlösbar in eins verschmolzen zeigen. Das Einzelne
ist ihm das Allgemeine, und das Sinnliche ist ihm das Geistige.
Was ist denn auch an dem, was man faktisch nennt, das Faktische,
wenn nicht die Bestimmtheit, die ihm im Unterschiede von allem
anderen als seine ideelle Eigenart zukommt? Wenn Hegel die
Natur unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, so kann man ihm
nicht vorwerfen, daß er das Faktische an das Ideelle verloren
habe. — Die Verwandtschaft übrigens seiner Naturauffassung mit
der Goetheschen, die sich beide Männer mehrfach freudig bezeugt
haben, wird dadurch nicht verneint, daß Goethe einmal im Jahre
1812 an einem aus dem Zusammenhange gerissenen Zitat aus der
Vorrede zur Phänomenologie (nicht, wie Cassirer meint, aus der
Logik), das er auf dem Titelblatte eitles Buches von Troxler als
Motto fand, starken Anstoß genommen hat (S. 375) ; ein aufklärender
Brief von Seebeck hat ihn schnell beruhigt, und er hat erklärt:
„Hegel ist bei mir entsühnt" (vgl. Kuno Fischer, Hegel, 2. Aufl.
S. 1207).
Ohne weiteres zuzugeben ist, daß die Hegeische Naturphilo-
sophie eine Disziplin ist, an die der Kritizismus kaum gedacht
hat; in ihr erneuert sich die Betrachtungsweise Jakob Boehmes,
die dem rationalistischen Drange zur Mechanisierung und Ent-
gotterung der Natur immer ärgerlich sein wird. Deshalb ist es
wohl zu begreifen, daß nichts an Hegels System so kräftig per-
48 Georg Lasson,
horresziert wird wie seine Naturphilosophie, obwohl sie nichts
anderes unternimmt, als daß sie den kritischen Gedanken, den
Sinnbezug der Gegebenheiten verständlich zu machen, auf das
Gebiet des Naturlebens anwendet. Merkwürdiger dagegen ist es,
daß sich der Kritizismus auch gegen die Geschichtsphilosophie
Hegels ablehnend verhält; denn hier findet sich nicht nur bereits
bei Kant selbst die prinzipielle Wegbereitung, sondern auch, was
Cassirer selbst über diese Disziplin sagt, steht in voller Überein-
stimmung mit den Gesichtspunkten, von denen Hegel sich leiten
läßt. Cassirer stellt der Geschichtsphilosophie die Aufgabe, „Prin-
zipien und Richtlinien des geistigen Lebens aufzustellen, das im
übrigen seinem eigenen unendlichen Fortgang überlassen bleibt"
(S. 369); worin hier ein Gegensatz gegen die Hegeische Auffassung
der geschichtlichen Wirklichkeit liegen soll, ist nicht zu erkennen.
Denn es kann doch nicht gemeint sein, daß die Prinzipien und
Richtlinien anders woher gewonnen werden könnten als aus dem
sorgfältigen Eingehen auf die Tatsachen jener Wirklichkeit. Der
faktische Verlauf und der wirkliche Inhalt des geistigen Lebens
muß genau beobachtet werden, wenn man seine Prinzipien er-
mitteln, Ausgangspunkt und Ziel der Bewegung muß denkend fest-
gestellt werden, wenn man ihre Richtlinien angeben soll. Der
Gedanke muß also aus der Einzelheit den allgemeinen Sinn er-
faßt, er muß die Idee oder den Gesamtgehalt des ganzen Verlaufes
„vorweggenommen" haben, wenn er überhaupt ihn vernünftig be-
urteilen will. So hat es schon Kant gehalten bei seinem Versuch
zum philosophischen Verständnis der Weltgeschichte; so hält es
jeder Transzendentalphilosoph, wenn er über Themen der geschicht-
lichen Geisteskultur handelt, und anders hat es auch Hegel nicht
gemacht. Alle wollen sie die „konstitutive Regel" finden, die das
Ganze beherrscht und bildet (S. 373); natürlich ist damit auch
gesagt, das Ganze sei, bereits vor seinem Ablauf oder unbeschadet
seines unendlichen Verlaufes in der Zeit, dem Denken schon vor-
ausgegeben, und das Einzelne müsse, um als dem Ganzen zuge-
hörig gelten zu können, als Verkörperung der konstitutiven Regel,
als eine Gestaltung des dem Ganzen innewohnenden Begriffes sich
wirklich erweisen lassen. Ebenso sind der kritische und der absolute
Idealismus darin ganz einig, daß sie den Inhalt des praktischen,
religiösen, ästhetischen Bewußtseins nicht durch einen andern „er-
setzen" wollen; es ist nichts als ein glattes Mißverständnis, das
von Cassirer leider wiederholt wird, daß bei Hegel die Kunst und
Kritischer uod spekulativer Idealismus. 49
die Religion „nur in dem Sinne begründet würden, daß sie zugleich
erledigt werden und ihre autonome und selbständige Geltung ver-
lieren, um dem eignen Systemzweck untergeordnet und eingefügt
zu werden" (S. 372). Man kann die Tendenz der Hegeischen Philo-
sophie gar nicht besser charakterisieren als mit dem, was Cassirer
als die Methode der kritischen Philosophie bezeichnet: „die Einheit
der Vernunft in ihren verschiedenen Grundrichtungen im Aufbau
und in der Gestaltung der wissenschaftlichen, der künstlerischen,
der sittlichen und der religiösen "Welt als solche zu erweisen"
(S. 373); das ist genau der Sinn des Hegelianismus. Das beherr-
schende und umfassende Prinzip, das Cassirer unter dem Namen
des „eignen Systemzwecks" bei Hegel ablehnt, das erkennt er hier
unter dem Namen „Einheit der Vernunft" ausdrücklich an. Die
Aufgabe nun, diese Einheit zu erweisen, ist offenbar nicht anders
lösbar, als wenn gezeigt wird, daß und warum in der Vernunft
jene verschiedenen Grundrichtungen begründet sind und wie sie
tatsächlich zur lebendigen Einheit des sich als freie Totalität er-
fassenden Geistes zusammengehen. Daß diese Totalität, die Einheit
der Vernunft, über jedes ihrer Momente übergreift und dabei, in
der Form des absoluten Wissens, selbst als abschließendes oder
bekrönendes Moment erscheint, ist die eine Seite der Sache; daß
Hegel sie, der systematischen Art seines Denkens gemäß, der
andern Seite gegenüber, wonach jedes der Momente selbst auch
die Totalität und eine Form der absoluten Wahrheit ist, nicht
vernachlässigt hat, dürfte man ihm kaum zum Tadel rechnen.
Ganz im Gegensatze zu solchem Tadel, der den Vorwurf der Ver-
einerleiung und Negation der Besonderheit enthält, wird Hegel
gleichzeitig deswegen getadelt, daß er die Mannigfaltigkeit der
Kulturformen und des Kulturbesitzes „bis in die letzten Einzel-
heiten" aus der Vernunft habe ableiten wollen (S. 373); davon ist
in Hegels Werken nichts zu finden, da vielmehr Hegel das Beiher-
spielende und Nebensächliche sehr klar in seinem Unterschiede
von dem Wesentlichen und Bedeutenden erfassen lehrt. Es blieb
anderen, die durchaus nicht auf Hegels Bahnen wandeln, vorbe-
halten, die Allongeperücken oder die doppelte Buchführung aus
dem Begriff der jeweiligen Kultureinheit, der sie angehören, zu
deduzieren. Doch müssen wir das bei Cassirer unberührt geblie-
bene Problem des Zufalls, der vom Begriffe zwar umgrenzten, aber
in sich freigelassenen Sphäre des Akzidentellen , hier beiseite
lassen, um nicht ins Uferlose zu geraten. Hegel denkt nicht daran,
Kantstudien. XXVII. 4
60 Georg Lasson,
das Zufällige, das man gern das rein Faktische nennt, zu leugnen;
aber er will es an den ihm gebührenden Platz im System der
Vernunft stellen und es also begreifen. Dies System in seiner
inneren Lebendigkeit wiederzuspiegeln , ist die Arbeit der dia-
lektischen Methode, die deshalb die Einheit genau so stark betont
wie die Verschiedenheit. Daß Hegel den methodischen Gegensatz
zwischen der Form und der Materie der Erkenntnis, zwischen
dem Allgemeinen und dem Besonderen, dem Empirischen und Ra-
tionalen, dem Vernünftigen und Wirklichen beseitigt habe (S. 377),
trifft so wenig zu, daß vielmehr das Gregenteil richtig ist: keiner
hat mit der gleichen Sorgfalt wie er diese Begriffe in ihrer eigen-
tümlichen Bestimmtheit herauszuarbeiten gewußt. Freilich aber
hat er auch gewußt, daß sie in der Einheit der Vernunft, in dem
Wahren und dem Wirklichen niemals getrennt vorkommen. Wenn
er sie alle als Momente aufweist, die in abstrakter Isolierung ge-
nommen, nicht nur sich selbst widerlegen, sondern ihr korrelates
Moment als in ihnen selbst enthalten erkennen lassen, wenn er
also die Identität des Verschiedenen zeigt , so erklärt er damit
die „Trennungen des Verstandes" wohl für überwunden, aber nicht
im mindesten für „nichtig" (S. 377) ; gibt es doch, wie man immer
wiederholen zu müssen scheint, keine Identität, wo nicht Ver-
schiedene sind. Der Widerspruch des Kritizismus gegen Hegel
und damit gegen den absoluten Idealismus kommt immer auf den-
selben Punkt hinaus, daß Hegel Ernst damit gemacht hat, die
Einheit der Vernunft, den Begriff des autonomen Subjekts, wie sie
von Kant zum methodischen Prinzip erhoben worden sind, als zu-
reichenden Grund für das System des gesamten Bewußtseinsinhaltes
zu erweisen. Daß er grundsätzlich, nicht etwa in Einzelheiten,
mit diesem Unternehmen gescheitert sei, läßt sich, wie wir gesehen
haben, an dem Bestände seiner Lehren nicht nachweisen; was man
gegen sie einwendet, ist schließlich vielmehr die prinzipielle, prä-
judizierende Behauptung, dem menschlichen Denken sei eine der-
artige systematische Erkenntnis versagt. Die Frage bleibt zu
erwägen, ob diese Behauptung stichhaltig sei.
Wir sind damit zu dem letzten Punkte gekommen, den wir
noch zu erörtern haben. Es handelt sich darum, diejenigen Sätze
zu prüfen, die der Kritizismus als sein besonderes Erkenntnisgut
dem spekulativen Idealismus gegenüber festhält und durch die er
sich ihm überlegen fühlt. Es wird zu untersuchen sein, wie weit
diese Sätze tatsächlich den spekulativen Idealismus widerlegen,
Kritischer und spekulativer Idealismus. 51
oder wie weit etwa sie selbst durch Entwicklung der in ihnen
enthaltenen Bestimmungen auf ihn als ihre eigene Konsequenz
hinführen, d. h. wie weit der kritische Idealismus nicht kritisch,
genug ist.
Am bestimmtesten finden wir den Standpunkt des Kritizismus
bei Cassirer in folgenden Worten ausgesprochen: „Die Erfahrung
und das System der synthetischen Grundsätze, auf dem sie ihrer
Möglichkeit nach beruht, kann nicht mehr von etwas anderem,
Höheren abgeleitet und aus ihm, als einer Vernunft höherer Art,
gerechtfertigt werden" (S. 371). Es wird hier also dem Denken
ein höchstes Gegebenes, ein letztes Absolutes gezeigt, über das
ihm kein Rückgang zu einem übergeordneten Prinzip mehr offen-
steht. Nun stocken wir aber sogleich, da wir nicht ein, sondern
zwei sehr verschiedene absolute Daten genannt sehen, erstens die
Erfahrung und zweitens das System der synthetischen Grundsätze,
auf dem sie beruht; und da man doch kaum zwei Absolute zu
gleicher Zeit wird behaupten wollen, so bleibt zu fragen, woran
nun das Denken als an das höchste Prinzip sich zu halten habe,
an dieses System oder an jene Erfahrung. Sollte darauf geant-
wortet werden, die beiden ließen sich eben nicht von einander
trennen, man müsse sie in ihrer notwendigen Beziehung, in ihrer
inneren Einheit auffassen, dann ist schon erwiesen, daß tatsächlich
das Höchste weder die Erfahrung noch das System von Grund-
sätzen, sondern vielmehr die Notwendigkeit sei, mit der sie auf-
einander bezogen, die Einheit, in der sie enthalten sind. Diese
Notwendigkeit und Einheit wäre dann aber gerade jene Vernunft
höherer Art, von der doch, wie Cassirer meint, der Kritizismus
nichts darf wissen wollen. Damit wäre dann auch die Unzuläng-
lichkeit des Erkenntniszieles erwiesen, das ihm Cassirer zuschreibt,
wenn er sagt, die einzige Notwendigkeit, die hier gesucht wird,
sei die. Notwendigkeit in der Erfahrung, nicht die Notwendigkeit
der Erfahrung selbst. Denn wenn doch nach den Bedingungen
der möglichen Erfahrung gefragt werden soll, so heißt das: was
muß notwendig vorhanden sein, damit Erfahrung möglich sei?
Und bei dieser Frage handelt es sich offenbar um die denknot-
wendige Deduktion der Erfahrung als solcher aus den durch den
denkenden Geist geforderten Voraussetzungen ; die abstrakte Unter-
scheidung zwischen „möglich" und „notwendig", wie sie hier der
Kritizist macht, hat ihre Geltung nur innerhalb der Vorstellungs-
sphäre von sinnlichen Gegenständen und erweist sich, wo es sich
52 Georg Lasson,
um die wissenschaftliche Erörterung der Begriffe handelt, der
inneren Dialektik der geistigen Wirklichkeit gegenüber unzu-
reichend. In dem System der Gedankenbestimmungen, durch die
dem Geiste die Erkenntnis möglich wird, muß der Erfahrung ihr
notwendiger Platz nachgewiesen werden, es sei denn, daß man
der reinen Vernunft die Autonomie, die Kant ihr vindiziert hat,
wieder entziehen will. Es zeigt sich hier wieder, welch ein
Hindernis für die konsequente Durchbildung der kritischen Philo-
sophie darin liegt, daß Kant am Anfang seiner Kritik der reinen
Vernunft sich nicht auf seinen eignen, sondern auf den Stand-
punkt gestellt hat, den er aufzulösen beabsichtigte. Die Annahme,
als ob es keine andere als sinnliche Erfahrung gebe und alle Er-
kenntnis durch diese Erfahrung begrenzt sei, hat er durch den
Hinweis auf die Erfahrung der Freiheit des Ich und auf die Er-
kenntnis der reinen Vernunft von sich selber und von ihrer Be-
griffswelt klar widerlegt; wenn er mit großer Hartnäckigkeit die
Naturerkenntnis auf das durch die Bedingungen der äußeren Er-
fahrung im Felde der bloßen Erscheinung festgehaltene Wissen
beschränkt, so tut er das, um den Weg zur Erkenntnis der Ver-
nunfteinheit und des Systems der geistigen Zwecke von jeder em-
pirischen Bindung freizuhalten. Es ist ganz gegen die philosophische
Intention Kants, wenn man mit Berufung auf ihn die Erkenntnis
ausschließlich in der Sphäre der sinnlichen Erfahrung sucht. Statt
des Grund- und Ecksteins, auf dem sich die Philosophie der Neu-
zeit aufbaut, des Satzes: ich denke, mithin so bin ich, stellt man
den Satz auf: ich erfahre, mithin so bin ich. Aber man beachtet
nicht, daß damit nur gesagt wird : ich denke mich als Erfahrungen
machend; denn die Erfahrung ist ein im Denken erfaßtes und vor
dem Denken zu rechtfertigendes Phänomen. Sagt man dagegen,
daß die Erfahrung nicht mehr von etwas Höherem abgeleitet
werden könne, so erklärt man sie für das Absolute, dem Denken
als Gesetz Aufgelegte und von ihm gehorsam Anzuerkennende.
„Da liegt der Fels, man muß ihn liegen lassen; zuschanden haben
wir uns schon gedacht u. Das aber ist dogmatischer Empirismus,
nicht kritischer Idealismus.
Die sinnliche Erfahrung kann sowenig Ausgangspunkt und
Richtschnur für das Denken sein, daß im Gegenteil sie als solche
nur durch das Denken zur Geltung kommen kann. Ob etwas,
wovon versichert wird, es sei eine Erfahrung, wirklich eine Erfah-
rung ist, kann immer nur die Philosophie entscheiden. Vorgestellt
Kritischer und spekulativer Idealismus. 53
werden kann es immer als eine Erfahrung; aber darnm ist es als
solche noch nicht erwiesen. Deshalb kann auch nur die Philosophie
den Begriff der Erfahrung, seinen Geltungsbereich und sein Ver-
hältnis zu den andern Momenten der Erkenntnis entwickeln; oder
vielmehr dieser Begriff wird selbst vor dem philosophischen Denken
sich als ein Moment erweisen, das isoliert gar nicht bestehen kann,
sondern im organischen Zusammenhange des begreifenden Wissens
selbst eine Durchgangsstufe bedeutet. Cassirer meint, die kantische
Kritik habe keine Antwort auf die Frage, „wie die Momente, aus
denen die Erkenntnis als Ganzes besteht, in ihrer Verschmelzung
den primitiven Inhalt der Erfahrung aus sich hervorgebracht
haben". Denn das einzige Datum, auf das sich das Begreifen und
"Wissen stützt, sei eben die notwendige Bezogenheit dieser Mo-
mente (S. 7). Aber daß sie notwendig bezogen sind, schließt ihre
notwendige Unterscheidung in sich ein; sie sind sich also für den
Gedanken ebenso „ursprünglich fremd" wie untrennbar „zusammen-
gehörig", und gerade hier tut sich das Problem für die Philosophie
auf, das der Kritizismus dadurch nicht beseitigt, daß er einfach
die Dualität von Stoff und Form der Erkenntnis als die Bedingung
des Erfahrungswissens proklamiert. Cassirer gibt freilich zu, daß
auch Kants kritische Theorie „in der transzendentalen Einheit der
Apperzeption einen höchsten Einheitsbegriff besitze, auf den sich
alle Elemente der Erkenntnis, die Formen der Sinnlichkeit wie
die Kategorien des reinen Verstandes gleichmäßig beziehen"
(S. 371), meint aber, daß von diesem, wie Kant sagt, höchsten
Punkte, an den sich die Transzendentalphilosophie anknüpfen läßt,
niemals die Vielheit der Formen deduktiv hergeleitet werde. Wie-
weit Kant das begrifflich und methodisch für ungangbar gehalten,
wieweit nur er es nicht mehr auszuführen vermocht hat, darüber
brauchen wir hier nicht zu reden; im Vorigen ist ja die Sprache
schon darauf gekommen. Wenn aber Cassirer in einer Weise, die
als Modifikation der alten Anlagentheorie erscheint, eine oberste
Einheitsfunktion der Vernunft mit der Begründung ablehnt, daß
sich „die Einheit der Apperzeption als ein Ineinander verschiedener
Erkenntnisfunktionen darstellt, von denen keine die erste und keine
die letzte ist, weil sie sich alle korrelativ durchdringen" (S. 371),
so wäre daran zu erinnern, daß er gerade nur die eine Funktion
übersehen hat, die er und alles philosophische Denken beständig
übt, die Funktion nämlich, mit der jenes gegenseitige Sichdurch-
dringen der verschiedenen Erkenntnisfunktionen erkannt wird. Diese
54 Georg Lasson,
wird man doch wohl als die umfassende und alle übrigen be-
stimmende ansehen müssen.
So wenig also die Erfahrung selbst für den absoluten Aus-
gangspunkt der Philosophie wird gelten können, so wenig auch
das System der synthetischen Grundsätze, auf denen sie ihrer Mög-
lichkeit nach beruht ; denn über beiden muß notwendig eine sie be-
gründende höhere Einheit gedacht werden. Zwar meint Cassirer:
„die Einheit der wissenschaftlichen Erfahrung ist das Ganze, das
aus seinen Teilen nicht aufgebaut zu werden braucht", das „zu-
nächst nur als faktische Einheit, als das Faktum der Wissenschaft
gegeben" sei, und spricht von ihm als „dieser reinen Mannigfaltig-
keit der Grundformen der Erkenntnis, die nur als einfache Tat-
sächlichkeit aufgewiesen werden kann" (S. 370). Aber es scheint
doch zweifelhaft, ob diese Vorstellungen vor der nüchternen Be-
trachtung der Wirklichkeit, geschweige vor dem kritischen Be-
griffe bestehen können. Das Faktum der Wissenschaft ist weder
als ein Ganzes, noch als ein Einheitliches gegeben, sondern als
eine schier unübersehbare Menge der disparatesten Wissenschaften.
Ihre Verschiedenheit ist so groß, daß man für die zunächst rein
empirisch aufgenommenen Gattungen der Wissenschaft sogar ver-
schiedene Logiken konstruiert, die Logik der Naturwissenschaft
von der Logik der Historie unterscheidet, wobei dann drittens
noch eine Logik der sich selbst erkennenden Vernunft übrig bleibt.
Daß also eine Mannigfaltigkeit der Grundformen der Erkenntnis
tatsächlich aufgewiesen werden kann, würde danach zutreffen ; mit
welchem Rechte sie als „reine" Mannigfaltigkeit zu bezeichnen
wäre und woher sie als ein Ganzes zu gelten hätte, bleibt aber
völlig dunkel, solange man nur auf das Faktum der Wissenschaft
reflektiert. Die einzige Einheit, die sich da feststellen läßt, ist
das Prinzip einer Beziehung zwischen Bewußtsein und Gegenstand;
aber dies Prinzip kann man nicht das Ganze der Wissenschaft
oder der Erkenntnis oder der Erfahrung nennen. Die Synthese,
die der Wirklichkeit wie dem Gedanken den Charakter der To-
talität, der konkreten Einheit gibt, kann niemals in einem bloßen
Prinzip, einem abstrakten Gesetz, einer formalen Beziehung, son-
dern nur in dem schöpferischen Subjekte gefunden werden, das
sich selbst und sein Anderes zugleich setzt, trennt und eint; der
Kritizismus mag sich dagegen sträuben, aber er kann es nicht
widerlegen, daß von seinen Prämissen aus der Fortschritt not-
wendig zu dem absoluten Idealismus führt.
Kritischer und spekulativer Idealismus. 55
Fragt man sich, weshalb der Kritizismus sich gegen diese
Konsequenz sträubt, so bleibt die einzige Erklärung dafür die,
daß sich das Denken von der in ihm selbst empirisch vorgefundenen
Trennung zwischen Bewußtsein und Gegenstand nicht losmacht. Es
findet zwar in sich auch die Identität und kann es nicht leugnen,
daß der Gredanke selbst die Einheit von Sein und Denken ist;
aber es kann sich zu dem Wagnis nicht entschließen, seiner eigenen
Freiheit und Souveränität sich zu bedienen und sich von jeder
andern Bestimmtheit freizuhalten, als die es sich selbst gibt. Und
dabei ist doch dieses . Wagnis in jedem kritischen Akte der reinen
Vernunft schon enthalten. Weil aber das Denken auf die ihm
vertraute Dualität nicht verzichten will, so gelangt es auch, wo
es die Einheitsfunktion bestimmen möchte, immer nur bis zu Be-
stimmungen, die den unversöhnten Dualismus noch in sich tragen
wie Beziehung, Gesetz, Prinzip, Bedingung, Regel, Grundsatz, wo
ganz deutlich eine Polarität zwischen dem Allgemeinen und dem
Einzelnen festgehalten wird, die beide zu unwirklichen Abstrak-
tionen macht. Insbesondere ist es die Meinung, daß die Vernunft,
weil sie der Inbegriff des Allgemeingiltigen und Notwendigen ist,
im Aufstellen von Gesetzen und im Aufzeigen gesetzlicher Zu-
sammenhänge sich erschöpfe. Selbst die Hegeische Auffassung
meint Cassirer so ausdrücken zu können, daß ihm das Objekt als
der Ausdruck und die Zusammenfassung von Gesetzen gelte, die
das Wesen des Geistes selbst und seiner Funktionen ausmache
(S. 288). Aber man müßte das Wort „Gesetz" schon in so er-
weitertem Sinne brauchen, daß von seiner eigentümlichen Bedeu-
tung nichts mehr übrig bleibt, wenn man die Vernunft und Wirk-
lichkeit, wie der absolute Idealismus sie versteht, als ein gesetz-
mäßiges Kompositum annehmen wollte. Der Dichter darf, wenn
er auf die geprägte Form hinweist, die lebend sich entwickelt, von
dem „Gesetze" sprechen, „wonach du angetreten". Der methodische
Denker wird hinzufügen, daß dies Gesetz vielmehr als die Idee
bezeichnet werden müsse, die das innere Leben des Individuums aus-
macht, während unter dem Ausdrucke Gesetz ein gegen das Indi-
viduelle gleichgiltiges Allgemeines verstanden werden muß. Des-
halb \ erschwindet die Vorstellung des Gesetzes, die für die mathe-
matische Physik in der Tat alles bedeutet, bereits bei der An-
schauung des Organismus, und macht dem immanenten Zwecke,
der Seele, dem Begriffe der Einheit von Form und Inhalt Platz.
Goethe hat diese höhere Notwendigkeit, der es übrigens sehr gleich-
56 G-eorgLasson,
giltig sein kann, ob man sie logisch oder metaphysisch nennt, rein
erfaßt, wenn er sagt : „was ist das Allgemeine? — der einzelne Fall."
Und erst wenn die Vernunft als das Vermögen erkannt ist, die
Notwendigkeit des Begriffs, die Lebendigkeit der Idee, nicht aber
nur die Notwendigkeit der gesetzlichen Beziehung und das Schema
der regulativen Prinzipien zu entwickeln, ist der Standpunkt der
reinen, von jeder Fremdherrschaft befreiten Vernunft erreicht.
Daß der Kritizismus gerade in seinen modernen Gestaltungen
diesem Ziele sich fortschreitend nähert, wer wollte das verkennen?
Immerhin zieht er sich noch immer selbst die Schranke mit seiner
Hypothese eines ursprünglich der Vernunft entgegenstehenden und
ihr bei aller Annäherung doch zuletzt immer fremdbleibenden Mo-
mentes, einer „Materie der Erkenntnis" oder eines „Materials, das
die Erkenntnis vor sich hat" (S. 365), von dem er zwar zugibt,
daß es „sich durch die Formen der Erkenntnis als begreiflich er-
weist", aber zugleich behauptet, daß es „wenn es in diesen Formen
faßbar ist, doch niemals vollständig aus ihnen abgeleitet werden
kann" (S. 365). Diese Behauptung wird man getrost als reinen
Dogmatismus bezeichnen können, dessen Härte nur dadurch ge-
mildert wird, daß der ganze Gegensatz von Materie und Formen
der Erkenntnis rein fiktiv ist, weil die Materie selbst in jedem Falle
bereits ein Begriff, d. h. eine Form der Erkenntnis ist. Wie oft
hat man sich gegen die Ungerechtigkeit des Vorwurfs erregt ver-
wahrt, den Hegel der Erkenntnistheorie macht, daß sie die Er-
kenntnis als ein Operieren mit Instrumenten ansehe, mit deren
Hilfe das Denken sich des gegen sie ursprünglich indifferenten
Gegenstandes bemächtigen wolle. Und wird dieser Vorwurf nicht
durch solche abstrakte Unterscheidung zwischen einer Materie der
Erkenntnis und den Formen, die sie wohl begreiflich, aber niemals
vollständig in ihrer Notwendigkeit erkennbar machen können, di-
rekt bestätigt? Gewiß, der Kritizismus hütet sich heute, von dem
Ding an sich, oder gar von den Dingen an sich zu sprechen, und
hat das hypothetische Etwas, das er außer dem Geiste, von dem
offenbar alle „Formen" der Sinnlichkeit herstammen, noch behaupten
zu müssen glaubt, auf den Begriff der Unbestimmtheit selbst re-
duziert. Aber eben diesen Begriff will er der bestimmenden Macht
des Begriffs entzogen und als ein Unnahbares und Absolutes fest-
gehalten wissen; es ist von selbst klar, daß von dieser Grundvor-
aussetzung aus er jedes System der Identität von vornherein als
durch den unaufhebbaren Dualismus zwischen Form und Materie
Kritischer und spekulativer Idealismus. 57
zur Unfruchtbarkeit verurteilt ansehen muß. Aber der Fehler
liegt in dieser Grundvoraussetzung; denn vielmehr wird das Unter-
nehmen, mit allem Scharfsinn des vernünftigen Denkens die Ra-
tionalität des Daseins eines schlechthin Irrationalen erweisen, also
im selben Atemzuge behaupten zu wollen, das Irrationale sei
rational und es sei doch nichts als schlechthin irrational, immer
unfruchtbar bleiben müssen. Solch ein metaphysisches Irrationales
paßt in den konsequent durchgeführten kritischen Idealismus nicht
hinein.
i Gewiß, der Kritizismus stellt das Irrationale nur als den un-
bestimmten Anfang an die unterste Stelle des geistigen Lebens
und^ kommt dem absoluten Idealismus ganz nahe in der Vorstellung
einer Idealisierung des Realen, die mit der Realisierung des Idealen
identisch ist. Aber indem er dem Realen eine Basis gibt, die
das Geistige, Ideale schlechthin ausschließt, hält er nicht bloß dem
naturalistischen Empirismus eine Hintertür offen, der sich auf dem
Boden der Naturwissenschaft für unangreifbar hält und sich gegen
die andern Wissenschaften souverän gebärdet, sondern er fordert
auch förmlich dazu auf, im System des Idealismus das Irrationale
zu stärkerer Geltung zu bringen. Denn schließlich liegt es in dem
Wesen der Idee selbst, daß sie da, wo sie angefangen hat, auch
wieder endet; und so stellt sich das Irrationale notgedrungen da
wieder ein, wo der Kritizismus die Summe seiner Arbeit zieht und
das Verhältnis der Bezugssysteme feststellt, die er entfaltet hat.
Da ergibt sich denn, daß jenseits der an die sinnliche Erfahrung
geknüpften Urteile sich Gebiete von geistigen Inhalten befinden,
über deren Wirklichkeit und Wahrheit das methodische Denken
nichts entscheiden kann ; sie bleiben gerade darum irrational, weil
ihnen der Ansatz einer irrationalen Materie fehlt, an den der Kri-
tizismus alle Erkenntnisfunktionen gebunden hält. Die Sphären
also, in denen der Geist wesentlich bei sich selber und in seiner
Freiheit ist, vor allem die Sphäre des Glaubens und der Religion,
bleiben, auch wenn sie formell logisch sich systematisieren lassen,
doch nach ihrem Grunde und Gehalte dem vernünftigen Denken
unzugänglich und stehen als selbständige Sphären neben ihm. Dieser
Standpunkt empfahl sich den Kindern des nun zu Ende gehenden
Zeitalters, weil er ihnen erlaubte, sich gegen die höchsten Lebens-
fragen indifferent zu stellen, jedem einzelnen zu überlassen, was
er etwa von den überirdischen Realitäten denken mochte, und sich
ein gutes Gewissen zu machen, wenn sie sich möglichst außer Be-
58 Georg Lasson, Kritischer und spekulativer Idealismus.
rührung mit dem Gottesgedanken und dem Leben der Frömmigkeit
hielten. Heute bietet er denen eine bequeme Handhabe, die positiv
sich dem Irrationalen als dem Üb er vernünftigen zuwenden und unter
Verachtung von Vernunft und Wissenschaft in die Bahnen Sweden-
borgs und Cagliostros, in die Praxis der Yoga oder der exercitia
spiritualia wieder einlenken. In philosophischer Methodik nimmt
diese Bewegung die Form an, daß sie die Rückkehr hinter Kant
zu Plato, die Abkehr vom Denken zum Erlebnis fordert. Das
Gefühl der Unbefriedigtheit, das die Menschen aus der Freiheit
der Gedanken in solche vorstellungsmäßige Unklarheit zurückfallen
läßt, vermag der Kritizismus als solcher nicht zu bannen; denn
er erhebt gerade die Unmöglichkeit der Befriedigung zum Prinzip.
Aber in ihm selbst lebt der Drang des Gedankens, der nicht rück-
wärts, sondern vorwärts weist. Der Weg, den er öffnet, führt
nicht hinter Kant und den kritischen Idealismus zurück, sondern
mit ihm und über ihn hinaus vorwärts zu dem absoluten Idealismus
der reinen und darum ebenso kritischen wie spekulativen Vernunft.
In ihm erschließt sich dem methodisch denkenden Geiste sein Ur-
quell und seine Heimat, in ihm ist er zur Freiheit und zum Ge-
nüsse seiner selbst gelangt, in ihm erfaßt er sich selbst als das
begriffene und das begreifende Universum.
Strukturwissenschaft
und Kulturwissenschaft.
Von Privatdozent Dr. Aloys Müller, Bonn.
Das Problem, das die folgenden Ausführungen mit Rücksicht
auf seine Gestaltung in den Wissenschaften anfassen wollen, ist
das Problem des Verhältnisses von Gegenstand und
Methode.
Die Methode, mit deren Hilfe eine Wissenschaft den Nachweis
der Geltung ihrer Erkenntnisse führt, ist ohne Zweifel typisch
für diese und nur für diese Wissenschaft. Die Wissenschaft kann
deshalb durch sie charakterisiert werden. Aber der Logiker möchte
gern tiefer schauen und möchte wissen, worin die Verschiedenheit
der Methoden ihren Grund hat. Sie kann nun auf l nichts anderem
beruhen als auf der Verschiedenheit der Gegenstände. Eine Me-
thode allein ist ein Unding, ein in die Luft zu bauendes Haus;
sie ist immer nur mit Rücksicht auf einen Gegenstand. Der
Gegenstand wählt sich gleichsam die Methode aus. Ob eine Me-
thode angewandt werden kann, hängt von der Beschaffenheit des
Gegenstandes ab. Die Methode ist vom Gegenstand bedingt.
Man verdeckt dieses Verhältnis, wenn man sagt, das Ziel
einer Wissenschaft bestimme die Methode. Als ob das Ziel etwas
Willkürliches gegenüber dem Gegenstand sei, das man nach
Belieben wechseln könne! Das Ziel ist selbst vom Gegenstand
bestimmt. Einem Gegenstandsbereich gegenüber gibt es nur ein
Ziel, das, wenn man überhaupt Wissenschaft will, vom Gegenstand
gefordert und durch die Methode erreicht wird.
Kann das Verhältnis von Gegenstand und Methode nun nicht
anders sein, als wie wir es eben beschrieben haben, dann muß es
logisch möglich sein, eine Umgrenzung der Wissenschaften vom
materialen Standpunkt aus zu geben. Dann kann eine Wissen-
schaft nicht ausschließlich vom formalen Gesichtspunkt aus ver-
60 Aloys Müller,
standen werden, nicht einmal primär von ihm aus; das primäre
Moment, das sie charakterisiert, ist vielmehr ihr Gegenstand, das
sekundäre ist die Methode. Dann ist es auch unmöglich, daß zwei
Wissenschaften denselben Gegenstand haben und sich nur formal
unterscheiden.
Unser Problem stellt uns deshalb vor zwei Aufgaben. Wir
müssen erstens versuchen, die Wissenschaften von den Gegen-
ständen her zu scheiden. Wir müssen zweitens zeigen, wie
die typischen Methoden der Wissenschaften von ihren Gegen-
ständen bedingt sind. Wenn unsere Untersuchungen also auch
aus dem Gedankenkreise Rickerts herausgewachsen sind, so gehen
sie doch zunächst insofern über ihn hinaus, als sie sich auf die
Gesamtheit der Wissenschaften beziehen. Daß sie dann fernerhin
Umprägungen nötig machen, ist dem weiter nicht verwunderlich,
der weiß, daß auch die wissenschaftlichen Gedanken an sich nichts
sind, sondern immer nur etwas inbezug auf die Wahrheit, der sie
dienen.
I. Die Strukturwissenschaften.
Wir wollen unter Gegenstand alles verstehen, was Subjekt
eines Urteils werden kann, und das auch nur, insofern es Subjekt
eines Urteils ist. Allen Gegenständen, denen die Hauptarbeit der
Wissenschaften gewidmet ist, legen wir Wirklichkeit bei und lassen
sie sich durch die Form ihrer Wirklichkeit unterscheiden;
von den nichtwirklichen Gegenständen sprechen wir weiter nicht.
Dann zerfällt die Gesamtheit der (wirklichen) Gegenstände in drei
Klassen: die sinnlichen, die übersinnlichen und die unsinnlichen
Gegenstände.
Als sinnliche Gegenstände bezeichnen wir alle Gegenstände
der tatsächlichen oder möglichen Wahrnehmung und Erfahrung.
Hierher gehört also zunächst das, das wir durch unsere Sinne und
ihre Erweiterung, die Instrumente, wahrnehmen können. Ferner
die psychischen Vorgänge, die ja auch Gegenstände der Erfahrung
sind. Aber auch alles das müssen wir mitzählen, was zwar nur
hypothetisch angenommen, aber als zu derselben Wirklichkeit dieser
Gegenstände gehörig betrachtet wird, z. B. Atome, Elektronen,
Erbmasse, das unbewußte Psychische. Alle sinnlichen Gegenstände
besitzen die Wirklichkeitsform des zeitlichen realen Seins.
Zu den übersinnlichen Gegenständen rechnen wir solche, zu
deren Annahme man, von den sinnlichen Gegenständen ausgehend,
durch Schlüsse kommen kann, die der Erfahrung zu ihrer Deutung
Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft 61
unterlegt werden, die selbst aber prinzipiell niemals Gegenstände
der Erfahrung sein können. Als Beispiele nenne ich das Ding an
sich, die Seele, die absoluten Raumfaktoren. Die Wirklichkeitsform
dieser Gegenstände bedürfte noch der genaueren Erforschung.
Die unsinnlichen Gegenstände zerfallen in zwei scharf ge-
schiedene Klassen, die lediglich durch* den Gegensatz zu den beiden
bereits genannten Klassen zusammengehalten werden, die man aber
vielleicht besser als zwei selbständige daneben setzte. Zu der
ersten zählen wir Gegenstände wie die mathematischen (Zahl,
Linie, Fläche, euklidischer Raum usw.). Auch die Relationen ge-
hören dazu. Ihre Wirklichkeitsform ist das zeitlose ideale Sein.
Den zweiten Bereich der unsinnlichen Gegenstände bilden die
Werte, d. h. alle die Gegenstände, von denen man kein Sein, son-
dern ein Gelten aussagen muß. Ihre Wirklichkeitsform ist also
das zeitlose Gelten.
Wir lassen es dahingestellt, ob unsere Einteilung der (wirk-
lichen) Gegenstände vollständig ist.
Man sieht also, wie sich die gesamte Gegenstandswelt in ein-
zelne Bereiche auseinanderlegen läßt, die durch ihre Wirklichkeits-
form fest umrissen sind. Dadurch lassen sich den Bereichen
Wissenschaften zuordnen. Auf zwei Dinge ist dabei wohl zu
achten. Es kann zunächst im Laufe der Geschichte aus praktischen
Gründen vom Material her eine Unterteilung der Gegenstände eines
Bereiches erfolgen, so daß eine Wissenschaft in mehrere Einzel-
wissenschaften zerfällt, die sich aber zu einer großen Wissenschaft
zusammenfügen. Ein bekanntes Beispiel bietet die Naturwissen-
schaft. Es ist aber auch möglich, daß eine Wirklichkeitsform
spezialisiert wird, so daß auf diese Weise mehrere Wissenschaften
entstehen, die natürlich auch miteinander verwandt sind. So ist
es z. B. mit der Mathematik und der Relationstheorie. Dann ver-
hält sich die eine Wissenschaft zur anderen wie ein besonderer
Fall zum allgemeinen ; der besondere Fall tritt ein, wenn die Gegen-
stände des allgemeinen gewissen Bedingungen unterworfen sind.
So hätten wir denn nun schon der Gegenstandstheorie als
der Wissenschaft, die die Gegenstände im allgemeinen untersucht,
ferner der Mathematik und der Relationstheorie ihre Plätze an-
gewiesen.
Der Naturwissenschaft teilen wir den Bereich der sinnlichen
Gegenstände zu. Jetzt verstehen wir vom Gegenstand her,
daß die Naturwissenschaft phänomenologisch arbeiten muß, daß sie
62 Aloys Müller,
erkenntnistheoretisch neutral ist1). Sie fragt sich nicht, was das
Physische und Psychische im Grunde seien, ob beides eins oder
beides verschieden ist, in welchem Sinne eins oder in welchem
Sinne verschieden. Würde sie so fragen, so würde sie in den Be-
reich der übersinnlichen Gegenstände hinübergreifen, der einer
anderen Wissenschaft zufällt. Jetzt verstehen wir ferner vom
Gegenstand her, daß die Psychologie auch eine Naturwissen-
schaft ist. Das Psychische besitzt dieselbe Wirklichkeitsform zeit-
lichen realen Seins wie das Physische, und deshalb, weil das
so ist, muß die Psychologie dieselben allgemeinen Methoden
brauchen wie die sonstigen Naturwissenschaften.
Der Philosophie fallen die Gebiete der übersinnlichen Gegen-
stände und der absoluten Werte zu. Der Platz der Theologie
richtet sich nach der logischen Bestimmung ihres Gegenstandes,
die die verschiedensten Formen angenommen hat.
Es ist ohne weiteres verständlich, daß sich in der Praxis
auch Mischgebiete herausgebildet haben, die Gegenstände verschie-
dener Bereiche zusammenfassen. Als solche Mischgebiete werden
sich wohl in der Hauptsache die Gegenstände der Gesellschafts-
wissenschaften, der Pädagogik u. a. auffassen lassen. Dabei
ist aber erstens zu beachten, daß man das Wissenschaftliche des
rein theoretischen Denkens von dem Praktischen der Normen sorg-
fältig scheidet, und zweitens, daß das im folgenden Abschnitt zu
besprechende Historische gleichfalls in solche Mischgebiete ein-
gehen kann.
Unsere Bemerkungen sollen alles eher sein als eine logische
Charakteristik der einzelnen Wissenschaften; die ist heute bei
zahlreichen Wissenschaften noch kaum versucht. Sie wollen nur
deutlich machen, daß es eine Gruppe von Wissenschaften gibt, die
ihren Gegenständen in derselben allgemeinen Weise gegenüber-
stehen. Alle die Wissenschaften, die wir durch diese Ausein-
anderlegung der Gegenstandswelt finden können, haben die Auf-
gabe, die Beschaffenheit, die Struktur ihres Gegenstandes zu
erforschen. Es ist gar keine andere Aufgabe für sie erfindlich,
sie ist die einzig mögliche, und in ihr sind sie alle einig. Wenn
sie nun aber wirklich Wissenschaften sein wollen, dürfen sie sich
1) Ueber den phänomenologischen Standpunkt der Naturwissenschaft vgl. mein
demnächst bei Fr. Vieweg & Sohn (Braunschweig) erscheinendes Buch „Die philo-
sophischen Probleme der Einsteinschen Relativitätstheorie", erster Abschnitt.
Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft 63
nicht damit begnügen, soweit es ihnen möglich ist, mit photo-
graphischer Trene Einzelheiten neben Einzelheiten zu setzen,
sondern müssen versuchen, Allgemeines über ihre Gegenstände
auszusagen. Darum nennen wir sie Strukturwissenschaften
und bezeichnen ihre Methode als generalisierend.
Später wird uns klar werden, wodurch die logische Struktur
dieser Gegenstände die generalisierende Methode möglich macht
und erfordert.
IL Das Irrationale und die historischen Wissenschaften.
Überblickt man dieses Wissenschaftssystem, so sieht man mit
einiger Überraschung, daß die historischen Wissenschaften im
weitesten Sinne und nur sie darin fehlen.
Wie kommt das? Haben wir die Ganzheit des Gegenstands-
gebietes noch nicht erschöpft? Wir haben es in der Tat nicht.
Aber nicht in dem Sinne, als ob sich neben die genannten Be-
reiche noch ein anderer lege, so wie auf einer Landkarte neben
einigen Ländern andere liegen; auch nicht in dem Sinne, als ob
man noch eine Ganzheit eines Gegenstandsbereichs als eigenen
Gegenstand aufstellen könnte (wie wir das schon getan haben), so
wie man Europa im allgemeinen neben seinen Ländern betrachten
kann. Das alles ist prinzipiell erledigt. Sondern die Ganzheit
unseres Gebietes wird überdeckt von einem anders gearteten
Gegenstandsbereich, so wie wenn ich über eine politische Karte
von Europa die geographische oder die tiergeographische oder die
Karte der Religionsformen drucke.
Wie ist dieses neue Gegenstandsgebiet logisch zu charakte-
risieren? An welchen Punkten hängt es mit dem ersten zusammen?
Wie erwächst es gleichsam aus dem ersten? Denn daß es irgend-
wie damit zusammenhängen muß, ist uns klar; sonst wäre die
Täuschung, als hätten wir bereits das ganze Gegenstandsgebiet
restlos erfaßt, nicht so groß gewesen.
Wenn wir unser bisher betrachtetes Gegenstandsgebiet einmal
genau besehen, so erkennen wir, daß es mit dem Begriffe der
Struktur logisch noch nicht vollständig allgemein charakterisiert
ist. Denn die sinnlichen Gegenstände stehen in der Zeit, und
deshalb müssen wir als zweiten Begriff den des Zustandes hin-
zunehmen. Der sinnliche Gegenstandsbereich hat nicht nur eine
Struktur, sondern auch Zustände.
Zustand hat stets Bezug auf Zeit. Von Zustand können wir
64 Aloye Müller,
nur da sprechen, wo es den einen und den anderen Zustand geben
kann, wo die Zustände wechseln. Wir sagen nur dann, ein Be-
reich habe einen Zustand, wenn es auch noch andere Zustände
für ihn gibt. Ist das aber nicht der Fall, so ist alles, was der
Zustandsbegriff besagt, ohne Rest im Strukturbegriff enthalten.
Wir fragen nun weiter : Ist der Zustand des sinnlichen Gegen-
standsbereiches in jedem Augenblick nur von seiner Struktur ab-
hängig? Ist der Zustand in jedem Augenblick rational ver-
ständlich oder gibt es auch Irrationales darin? Ist das Be-
sondere ganz vom Allgemeinen aus abzuleiten?
Wir überlegen uns zunächst einen Augenblick, daß der Zu-
stand auch von der Struktur abhängig ist. Die Naturwissenschaft
stellt zwar allgemeine Gesetze auf, die ein Teil der Struktur
sind, aber nach diesen allgemeinen Gesetzen geht eben der zeit-
liche Ablauf auch vor sich. Ja im größten Teil der sinnlichen
Gegenstandswelt geht der Ablauf nur danach vor sich. «Seinen
schärfsten Ausdruck hat das in der Minkowskiwelt der Relativitäts-
theorie gefunden. Wäre indes der Zustand ganz von der
Struktur abhängig, dann gäbe es außer den Struktur-
wissenschaf ten keine weiteren Wissenschaften mehr.
Er ist aber nicht ganz davon abhängig, es gibt Irrationales im
Zustand, also solches, was von den Strukturwissenschaften nicht
erfaßt werden kann.
Worauf beruht dieses Irrationale?
Es beruht erstens auf dem Charakter des sinnlichen Gegen-
standsbereiches. Die sinnliche Welt ist unerschöpflich oder unüber-
sehbar. Dadurch kennt zunächst die Naturwissenschaft nicht alle
Gesetze und hat so niemals die Mittel in der Hand, um den Zu-
stand zu bestimmen. Aber selbst wenn sie diese Mittel besäße,
wäre es ihr dennoch unmöglich. Denn um die Zustände in der
Vergangenheit oder Zukunft zu bestimmen, muß man nicht nur
alle Gesetze wissen, sondern auch einen Zustand kennen. So
genügt z. B. die Kenntnis des Newtons chen Gravitationsgesetzes
allein nicht, um die Konstellationen in unserem Sonnensystem
für beliebige Zeitpunkte zu bestimmen, seine absolute Gültigkeit,
die Geschlossenheit des Sonnensystems und die klassische Mechanik
vorausgesetzt ; sondern dazu muß man irgend einen Anfangszustand
kennen, von dem aus man rechnet. Einen solchen Zustand der
sinnlichen Welt zu bestimmen, ist aber wegen der Unübersehbar-
keit dieser Welt unmöglich.
.
Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 65
Würden wir aber zweitens auch diese Unmöglichkeit weg-
nehmen, so wäre der Zustand doch nicht ganz von der Struktur
abhängig, und zwar deshalb nicht, weil der Zustand der
sinnlichen Welt mitbestimmt ist von den anderen
Gegenstandsbereichen. Muß ich das beweisen, was wir tag-
täglich selbst erleben, wenn wir nur hinsehen wollen? Ich wähle
ein grobes Beispiel. Nehmen wir an, nach längerem Suchen fände
ein in sehr bescheidenen Verhältnissen lebender Mathematiker den
Beweis für den großen Fermatschen Satz ; theoretisch gesprochen:
wir nehmen an, ein Sinnzusammenhang, als dessen letztes Glied
der Sinn des Fermatschen Satzes erscheint, knüpfe sich an gewisse
psychische Vorgänge in einem menschlichen Kopfe. Was sind die
Folgen ? Er wird seinen Beweis veröffentlichen und der Göttinger
Gesellschaft der Wissenschaften einsenden. Er erhält die Wolfs-
kehlstiftung, bekommt möglicherweise einen Ruf als Universitäts-
professor und kann sich nun in anderen Lebensformen einrichten.
Zahlreiche Artikel und Schriften erscheinen zu dem Ereignis. Setz-
maschinen, Buchbinder, Post werden dadurch in Bewegung gesetzt.
Das läßt sich noch eine Weile so ausspinnen. Uns soll es nur ein
Bild davon geben, wie im Ablauf der psychischen Welt direkt der
Bereich der Werte durch den Sinn des Urteils, indirekt durch
diesen Sinn die sonstigen Gegenstandsbereiche mitwirken, wie
dann durch Vermittlung des psychischen Bereiches alles das auf
den Ablauf in der physischen Welt Einfluß hat. Wir verstehen
dieses Bild erst ganz richtig, wenn wir noch darauf achten, daß
wir im voraus nicht wissen und nicht wissen können, mit welchen
Werten und zu welchem Zeitpunkte das Reich der Werte sich mit
dem Reiche der psychischen Gegenstände berührt.
Ich will nicht noch auf das viel umstrittene Freiheitsproblem
eingehen. Wer eine Willensfreiheit annimmt, wird ein weiteres
irrationales Moment im Zustand finden. Aber mir scheint, daß
dieses Moment schon in dem zuletzt genannten Irrationalen logisch
mit enthalten ist. Denn die Freiheit äußert sich primär im An-
erkennungsakt eines geltenden Sinnes; ein Wollen ohne vorauf-
gegangene Erkenntnis kann unter keinen Umständen frei genannt
werden.
Wir sehen also, daß der Zustand der sinnlichen Welt von der
Naturwissenschaft nicht ganz erfaßt werden kann. Wir können
deshalb, vom materialen Gesichtspunkte ausgehend,
auf die Notwendigkeit einer Wissenschaft schließen, die hier
Kantstodien. XXVH. 5
66 Aloys Müller,
ergänzend eintritt. Das darf natürlich nicht so verstanden werden,
als ob sie das Irrationale rational mache. Das ist prinzipiell un-
möglich. Sie erfaßt den von der Struktur nicht ganz bestimmten
Zustand auf die einzige noch mögliche "Weise, indem sie seinen
Wechsel in der Zeit beschreibt. Nur auf diese Weise geht
das Irrationale in die Wissenschaft ein. Versteht man demnach
unter Irrationalem alles das, was die Strukturwissenschaften nicht
erfassen können, so beruht die Möglichkeit der histori-
schen Wissenschaften auf der Irrationalität des Zu-
standes der Welt. Wäre diese Irrationalität nicht vorhanden,
so gäbe es keine Geschichtswissenschaft.
Wir wollen uns nun zunächst die beiden Arten des Irratio-
nalen etwas genauer ansehen. Das erste Irrationale ist tatsäch-
lich vorhanden und wird sicherlich niemals ganz verschwinden.
Aber es schrumpft gleichsam immer mehr ein, soweit es uns über-
haupt interessiert, weil wir die Struktur der sinnlichen Welt stets
besser kennen lernen. Prinzipiell, wenn man also an den Ab-
schluß der Wissenschaft denkt, ist dieses Irrationale für die
Naturwissenschaft nicht vorhanden. Es ist ein relatives Irra-
tionale 1). Das ist bei dem zweiten anders. Es besteht offensicht-
lich auch prinzipiell für die Naturwissenschaft, es ist ein abso-
lutes Irrationale.
Der besondere, von der Naturwissenschaft nur teilweise zu be-
stimmende Ablauf der Welt ist also ein Gegenstandsgebiet eigener
Art, das sich dem uns schon bekannten Gegenstandsgebiet über-
lagert. Es fällt mit dem Gebiete der sinnlichen Gegenstände über-
all dort zusammen, wo der Ablauf prinzipiell wenigstens von der
Naturwissenschaft erfaßt werden kann. An allen anderen Stellen
hebt es sich gleichsam darüber empor. Die zusammenfallenden
Stellen wollen wir Koinzidenzen nennen.
1) Die relative Irrationalität deckt sich hier, wo wir nur von der Natur-
wissenschaft sprechen, mit der Rickertschen Irrationalität, die in der extensiven
und intensiven Unübersehbarkeit liegt. Man kann den Begriff selbstverständlich
auch auf andere Gegenstandsgebiete ausdehnen. Alles, was man gewöhnlich irra-
tional nennt, ist nur relativ irrational. Nicht als ob wir das jemals ganz erkannten.
Ein unerkannter Rest bleibt uns Menschen immer; insofern ist es unerkennbar.
Aber wir erhalten immer neue Erkenntnisse darüber. Unsere Erkenntnis des
relativen Irrationalen verhält sich zur vollen Erkenntnis wie die Asymptote zur
Kurve ; sie nähert sich ihr, ohne sie jemals zu erreichen. Unsere Erkenntnis
des absoluten Irrationalen verhält sich zur vollen Erkenntnis wie eine Parallele
zur Achse; sie besitzt von ihr stets denselben Abstand.
Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 67
Die Koinzidenzen scheiden als Gegenstand der
historischen Wissenschaften aus. Es gibt unter ihnen
manche, die wir tatsächlich historisch behandeln müssen, z. B.
die Entwicklungsgeschichte der Organismen. Aber das ist nur ein
prinzipiell wenigstens vorläufiges Müssen, ein vorläufiger Er-
satz für die strukturwissenschaftliche Behandlung.
Je weiter die Naturwissenschaft fortschreitet, desto mehr schwindet
der historische Ersatz, desto mehr relativ Irrationales wird weg-
geschafft. Es ist nicht prinzipiell unmöglich, daß die Entwicklungs-
geschichte der Organismen einmal ganz strukturwissenschaftlich
dargestellt wird, wenn wir auch sicher sind, daß hier das histo-
rische Ersatzmittel niemals ausscheiden wird. Aber als Gregenstand
der historischen Wissenschaften kann das relativ Irrationale nicht
in Betracht kommen, weil es eben prinzipiell Gegenstand der
Naturwissenschaft ist.
Als Gregenstand der Geschichtswissenschaften bleibt also das
absolute Irrationale übrig, d. h. der von den Werten mitbestimmte
individuelle Ablauf des Geschehens. Die prinzipiell histo-
rischen Wissenschaften müssen sich deshalb auf
Menschheitsgeschichte beschränken; alles übrige ist nur
vorläufig historisch. So verstehen wir vom Gegenstande her, wie
nur die Geschichte von Menschlichem Geschichte ist.
Welches ist der Gegenstandscharakter des Gegenstandes der
historischen Wissenschaften? Er hat sicherlich das zeitliche Sein.
Es ist aber gut, sich zu erinnern, daß zeitlich Seiendes und Histo-
risches durchaus nicht identisch sind. Soweit der Ablauf in der
Struktur miterfaßt ist oder werden kann, ist er nicht historisch.
Daß und in welchem Sinne der Gegenstand heterogen ist, werden
wir später hören. Was ihn von allen anderen Gegenständen unter-
scheidet, ist die Irrationalität. Alle anderen Gegenstandsgebiete
haben die Kategorie der Eationalität, d. h. der Erfaßbarkeit durch
allgemeine Erkenntnis, nur das Gebiet der Geschichtswissenschaften
nicht. #
Ist nicht die Kausalität auch eine Kategorie des Gegenstands-
bereiches der Geschichtswissenschaft? Sickert unterscheidet be-
kanntlich gesetzmäßige Kausalität und individuelle Kausalität, die
also nicht gesetzmäßig ist, und findet die letztere im historischen
Geschehen. Nun ist hier die gesetzmäßige Kausalität ohne Zweifel
auszuschließen. Trotzdem gibt es ein Wirken im Gegenstands-
bereich der Geschichtswissenschaften, aber dieses Wirken ist nicht
5*
68 Aloys Müller,
kausal. Daß nämlich die Werte in der sinnlichen Welt wirken
und ihren Ablauf ändern, ist eine tagtäglich festzustellende Tat-
sache. Aber sie können nicht als Grlieder einer Kausalreihe gedacht
werden, weil sie dann als psychische Grlieder gefaßt werden müßten.
Wie sie wirken, ist ein Geheimnis l). Hier ragt etwas Neues
in die kausale Notwendigkeit herein, etwas, das von ihr nicht mit-
gefaßt und von ihr aus nicht verstanden werden kann, und gerade
dieses Eingreifen des Neuen konstituiert die Geschichte als Gegen-
stand einer eigenen Wissenschaft. Damit glaube ich auch den
Gedanken Neeffs2) gerecht geworden zu sein. Wenn er mit dem
Worte „Originalität" den Neuheitscharakter am historischen Ge-
schehen bezeichnen will, so hätte ich gleichfalls nichts einzuwenden.
Nur bleiben wir mit dem Gegensatz „Kausalität— Originalität"
innerhalb der Grenzen der empirischen Wissenschaften. Wenn
wir einmal das Irrationale als begründendes Moment der Geschichte
erkannt haben, kann das Originale ohne die Fessel jenes Gegen-
satzes als Charakterbezeichnung dienen. Auf diese Weise läßt
sich nun auch ganz klar machen, daß durch das Individuelle allein
der Sinn der Geschichte noch nicht gegeben ist. Sonst müßte jeder
Ablauf, auch der ganz in der Struktur erfaßte, historischer Gegen-
stand sein ; denn jeder Gegenstand einer absolut-heterogenen
Wirklichkeit ist ein Individuum. Nur das originale Individuelle
kommt in Betracht, also das individuelle Geschehen, in dem durch
das Wirken der Werte etwas Neues gegenüber dem reinen Kausal-
geschehen steckt. Wir können deshalb kurz als Gegenstand der
historischen Wissenschaften den original-individuellen Ablauf der
Welt nennen. Historisches Geschehen ist danach jenes Geschehen,
das im naturwissenschaftlichen Sinne als Exemplar einer Gattung
nicht ganz verstanden werden kann.
Wir vermögen nun auch die Frage von Troeltsch3) zu be-
antworten: „Sind das wirklich nur zweierlei Betrachtungsweisen
desselben Objektes oder sind das nicht doch Teilungen innerhalb
der Objekte, die zum einen Teil dem ersten und zum anderen dem
zweiten Efklärungsprinzip unterliegen?" Kickert4) hatte ja be-
1) Vergl. darüber meine Schrift „Wahrheit und Wirklichkeit", S. 56 ff., 1913.
Damals hatte ich den Wertbegriff noch nicht in seiner vollen Reinheit erfaßt.
2) Fr. Neeff, Kausalität und Originalität, 1918.
3) E. Troeltsch, Gesammelte Schriften, 2, 720, 1913.
4) H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung 2,
S. 224, 1913.
Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 69
hauptet: Die empirische Wirklichkeit „wird Natur, wenn wir sie
betrachten mit Rücksicht auf das Allgemeine, sie wird Geschichte,
wenn wir sie betrachten mit Rücksicht auf das Besondere und
Individuelle." Es ist aber in der Tat nicht ein Gegenstand, der
von verschiedenen Gesichtspunkten aus geschaut wird. Schon für
Rickert selber trifft das nicht genau zu; denn er muß die "Wirk-
lichkeit als wertfrei ansehen, um den Gegenstand der Natur-
wissenschaft zu erhalten, die wert behaftete Wirklichkeit ist
ihm aber Gegenstand der Geschichtswissenschaft.' Wir können
noch sorgfältiger scheiden. Gegenstand der Naturwissenschaft ist
die sinnliche Wirklichkeit und demnach auch ihr zeitlicher Ablauf,
soweit er rational ist. Gegenstand der Geschichtswissenschaft ist
der original-individuelle Ablauf.
Wir wollen zum Schlüsse noch ein Bild bringen, das den
Gegenstand des naturwissenschaftlichen und des historischen Ab-
laufes zu veranschaulichen vermag. Unter einer Brücke fließt ein
Fluß. Von der innern Wölbung des Brückenbogens aus gehen
eine Anzahl von Eisengittern bis dicht über die Oberfläche des
Wassers. Wo die Oberfläche ruhig ist, berührt das Wasser das
Gitter nicht. Aber bald hier, bald dort wirft sie eine kleine Welle,
und diese Welle trifft einen Stab des Gitters. Wenn auch nur
eine einzige Welle ein einziges Mal einen Gitter stab berührt, so
ist von diesem Augenblicke an der Zustand des Flusses hinter der
Berührungsstelle anders, als er sein würde, wenn die Berührung
nicht stattgefunden hätte. Für den makrokosmischen Beobachter
freilich nicht, aber für den mikrokosmischen. Der Fluß ist der
Ablauf des Geschehens. Die Gitterstäbe sind die Werte. Die
Berührungen eines Stabes durch eine Welle bedeuten die Zeitpunkte,
wo ein Wert an psychischen Ablauf geknüpft wird und damit als
wirkendes, wenn auch nicht kausal wirkendes Glied in den Ablauf
des Geschehens eintritt und ihn ändert. Für den makrokosmischen
Beobachter des Ganzen der Naturwelt verschwindet das, für ihn
gibt es keine Geschichte. Aber der mikrokosmische Beobachter
sieht an den Punkten der Naturwelt, wo es erkennende Wesen
gibt, Geschichte. So erscheint die Geschichte wie winzige Kräuse-
lungen auf einem gewaltigen Strome, und doch ringt sich in ihr
der Sinn der Welt erst zur Bewußtheit durch.
70 Aloys Müller,
III. Heterogeneität und Homogeneität.
Wir haben unsere erste Aufgabe, die Wissenschaften von den
Gegenständen her zu bestimmen, gelöst, soweit es in den Grenzen
dieser kleinen Skizze möglich ist. Unsere zweite Aufgabe ist, zu
zeigen, wie die allgemeinen Methoden von den Gegenständen be-
dingt sind. Zu dem Ende müssen wir vorher die Begriffe der Hetero-
geneität und der Homogeneität genauer analysieren.
Um eine kurze Terminologie für diesen und die folgenden
Abschnitte zu gewinnen, knüpfen wir an einen Begriff der Logistik
an. Nach der Logistik bestimmt jede Satzfunktion1) eine Klasse
oder Menge, d. h. die Gesamtheit der Werte, die sie bestätigen. Wir
wollen die Klasse auch Umfang nennen. Umfang ist also die Menge
der Subjekte, die durch eine Satzfunktion bestimmt wird. Unter
Inhalt verstehen wir nun die Menge aller Prädikate, die von dem
durch eine Satzfunktion festgesetzten Umfang gelten. Auch jeder
einzelne Gegenstand, d. h. ein solcher, der nicht durch
Klassenbildung entstanden ist, bildet einen Umfang, zu dem
ein Inhalt gehört. Alle Prädikate, die einen Inhalt bilden, nennen
wir die Teile dieses Inhalts. Ein Prädikat kann also gleichzeitig
Inhalt und Inhaltsteil sein. Inhaltsteile sind auseinander ableitbar,
sie stehen in notwendiger Verknüpfung — oder nicht. Im ersten
Falle heißen sie gleichartige oder unechte Teile, im zweiten un-
gleichartige oder echte Teile. Temperatur und Größe eines Körpers
sind unechte, Größe und spezifisches Gewicht sind echte Teile.
Wir wollen nun zunächst an zwei Beispielen die Merkmale
der Heterogeneität und der Homogeneität aufweisen.
Als erstes Beispiel nehmen wir die sinnliche Wirklichkeit.
Wenn wir sie heterogen nennen, so wollen wir damit zwei Momente
hervorheben: erstens hat jeder ihrer Gegenstände einen unüber-
sehbaren Inhalt, zweitens ist jeder ihrer Gegenstände ein Um-
fang, zu dem ein anderer Inhalt gehört. Dieses letztere Merk-
mal beruht auf dem ersteren. Wäre der Inhalt jedes Gegenstandes
nicht unübersehbar, dann wäre die Wahrscheinlichkeit größer, daß
es absolut gleiche Gegenstände gebe. Der Heterogeneität der sinn-
lichen Wirklichkeit ist nun aber eine Homogeneität übergelagert.
Wenn auch jeder Umfang einen anderen Inhalt besitzt, so haben
diese Inhalte doch unechte Teile. Die Folge davon ist, daß man
1) Vergl. Couturat in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften,
1, 150, 1912.
Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 71
Gegenstände mit gemeinsamen Teilen findet, daß also doch
auch eine gewisse Homogeneität in der sinnlichen Wirklichkeit
herrscht. Man stellt z. B. fest, daß immer dann, wenn man die
Temperatur eines beliebigen Körpers um denselben Betrag wachsen
läßt, auch die Größe des Körpers um einen bestimmten Betrag
wächst. Alle diese Körper (Gegenstände) haben als gemeinsames
Prädikat ihres Inhaltes also diesen Zusammenhang zwischen Größe
und Temperatur.
An zweiter Stelle betrachten wir die Wirklichkeit der mathe-
matischen Gegenstände. In ihr gibt es absolut gleiche Gegen-
stände x), d. h. nicht jeder ihrer Gegenstände ist ein Umfang, zu
dem ein anderer Inhalt gehört. Die mathematische Wirklichkeit
kennt auch keine unübersehbaren Inhalte. Die Beschreibung, die
die Mathematik von einem ihrer Gegenstände gibt, ist notwendig
und hinreichend, um diesen Gegenstand mit allen seinen Besonder-
heiten zu bestimmen. Daß in dieser Wirklichkeit Inhalte mit ge-
meinsamen Teilen bestehen, braucht wohl nicht eigens hervorgehoben
zu werden.
Die beiden Merkmale der Übersehbarkeit (bzw.
Unübersehbar keit) und der Andersartigkeit be-
stimmen durch ihre verschiedenen Kombinationen
die Typen der Heter ogeneität und der Homogenei-
tät. Die Andersartigkeit hat rein formal zwei Grenzfälle : erstens
den Fall, wo keine gemeinsamen Teile vorhanden sind, zweitens
den Fall, wo alle Teile gemeinsam sind. Dazwischen liegen die
möglichen anderen Fälle. Wir wollen nun nicht durch Kombination
alle Typen ableiten, die rein formal möglich sind. Einige davon
sind vom inhaltlichen Standpunkte aus in sich unmöglich. So der
Fall, daß keine gemeinsamen Teile vorhanden sind ; denn wenigstens
den einen Teil, daß sie Inhalte sind, haben alle Inhalte. Übrigens
lassen sich auch die formal abgeleiteten Kombinationen nach an-
deren Gesichtspunkten noch unterteilen.
Als die wichtigsten Kombinationen sehen wir die folgenden
vier an.
Eine Wirklichkeit besitzt absolute Heterogeneität,
wenn jeder ihrer Gegenstände ein Umfang ist, zu dem ein anderer
1) Vgl. dazu H. Rickert, Das Eine, die Einheit und die Eins, Logos, ,2, 26,
1911/12 und meine demnächst erscheinende Schrift „Der Gegenstand der Mathe-
matik mit besonderer Beziehung auf die Relativitätstheorie".
72 Aloys Müller,
und unübersehbarer Inhalt gehört, und die Inhalte gemeinsame
Teile haben. Wie wir wissen, ist die sinnliche Wirklichkeit ein
Beispiel für diesen Typus.
Eine Wirklichkeit besitzt relative Heterogeneität,
wenn jeder ihrer Gegenstände ein Umfang ist, zu dem ein anderer
und übersehbarer Inhalt gehört und die Inhalte gemeinsame Teile
haben. Die Wirklichkeit der Werte hat u. a. diese Heterogeneität.
Eine Wirklichkeit besitzt absolute Homogeneität,
wenn jeder ihrer Gegenstände ein Umfang ist, zu dem derselbe
Inhalt gehört und dieser Inhalt ein Minimum ist. Ein Beispiel
ist das nur homogene Medium1).
Eine Wirklichkeit besitzt relative Homogeneität,
wenn jeder ihrer Gegenstände ein Umfang ist, zu dem nicht
immer ein anderer und immer ein übersehbarer Inhalt gehört, und
die Inhalte gemeinsame Teile haben. Wir haben bereits die Wirk-
lichkeit der mathematischen Gegenstände als zu diesem Typus
gehörig erkannt.
Schließlich bemerken wir noch, daß, wenn eine Wirklichkeit
lediglich einen einzigen Gegenstand besitzt, dieser Gegenstand von
der Heterogeneität nur das Merkmal der Ubersehbarkeit (bzw.
Unübersehbarkeit), und die Homogeneität nur insofern haben kann,
als man seine Inhaltsteile als Gegenstände ansieht.
Wir wollen nun an den drei Beispielen der Geschichtswissen-
schaft, der Naturwissenschaft und der Mathematik das Heraus-
wachsen der besonderen Formen der allgemeinen Methoden
aus dem Gegenstande studieren. Dabei verstehen wir unter all-
gemeiner Methode die Art des Erkenntnisstrebens, die durch das
Ziel einer Wissenschaft oder durch das Verhältnis der Erkennt-
nisse zum Gegenstand charakterisiert ist.
IV. Die allgemeine Methode der Geschichtswissenschaften.
Gegenstand der Geschichtswissenschaften ist, wie wir wissen,
jdas Original-Individuelle, d. h. der Ablauf des Geschehens, soweit
er von Werten mitbestimmt ist. Daraus ergibt sich die Unmög-
lichkeit einer Anwendung der generalisierenden Methode in der
Geschichtswissenschaft. Das ist ja gerade das begriffliche Merkmal
des Irrationalen, daß man es nicht generalisierend fassen kann.
Es gibt also keine allgemeinen historischen Erkenntnisse über den
1) Siehe den vorhin zitierten Aufsatz Rickerts.
Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 73
historischen Gegenstand. Da Gesetze anch allgemeine Erkennt-
nisse darstellen, so gibt es auch keine historischen Ge-
setze.
Gewiß ergeben sich durch das gleichmäßige Verhalten der
Menschen gewisse Regelmäßigkeiten, gewisse Typen von Erschei-
nungen in der Geschichte. Das sind aber keine historischen Ge-
setze, sondern massenpsychologische Regelmäßigkeiten. Je mehr
es sich um Massenvorgänge handelt, desto deutlicher heben sich
solche Typen heraus, desto mehr tritt die Wirkung des Irratio-
nalen zurück und das rein naturwissenschaftlich zu erfassende
Geschehen in den Vordergrund. Am reinsten offenbart sich das
Original -Individuelle in den Persönlichkeiten, und um so voll-
kommener, je höher die Persönlichkeit über das allgemein Mensch-
liche hinauswächst. Die Geschichte ist ein wundersames Gewebe
von Irrationalem und Rationalem, dessen Fäden ganz zu verfolgen
menschlichen Augen für immer versagt bleibt. Aber begrifflich
müssen diese Dinge auseinandergehalten werden; historisches Ge-
schehen ist nur das original-individuelle Geschehen.
Am häufigsten wird unter den typischen Erscheinungen der
Geschichte der Organismentyp auftreten, d.h. das Aufblühen
und Absterben eines Gebildes. Er ist ja der auffallendste Typ
alles Lebendigen im naturwissenschaftlich zu erfassenden Geschehen
und bestimmt dadurch auch bis zu einer gewissen Grenze den Ab-
lauf des historischen Geschehens. Die ausschließliche Einstellung
auf diesen Typ charakterisiert die Auffassung der Geschichtswissen-
schaft von Spengler1). Er dehnt diesen Typ so weit aus, daß er
erstens das Eintreten der "Werte in die Wirklichkeit, das Irratio-
nale, und zweitens sogar die Geltung der Werte mitumfaßt, und
das ist der Grund, warum wir ihm hier einige Worte widmen
müssen. Beides ist falsch, und nur von diesen beiden Gesichts-
punkten aus läßt sich aus seinen Gedanken das Richtige heraus-
schälen. Das Eintreten der Werte in die sinnliche Wirklichkeit
ist nun einmal irrational. Freilich schafft das naturwissenschaft-
lich zu erfassende Geschehen Dispositionen und bildet dadurch
mitunter Regelmäßigkeiten, aber nicht der Zeitpunkt des Ein-
tretens, nicht der Umfang und Inhalt der Werte und darum auch
nicht die Folgen lassen sich strukturgesetzlich ableiten. Spengler
versucht dies auch gar nicht, sondern er überträgt einfach einen
1) 0. Spengler, Der Untergang des Abendlandes. I. Bd. 11.— 14. Aufl. 1920.
74 Aloys Müller,
in seinen Grenzen wohlgesicherten Typ anf alles Geschehen, und
sieht nicht ein, daß diese Übertragung nur dann gerechtfertigt
wäre, wenn er nachweisen könnte, daß auch das Irrationale ge-
setzmäßig zu verstehen ist. Daher finden sich in seinem Buche
neben richtigen Charakterisierungen völlig falsche. Man denke
z. B. bei seiner Behauptung vom Niedergang der abendländischen
Wissenschaft an die Physik, die wohl niemals in so tiefgreifenden,
fruchtbaren und folgereichen Gedankenkreisen gestanden hat, wie
sie heute die Relativitätstheorie und die Forschungen über das
Innere der Atome bilden. Diese ganze Auffassung wird aber erst
möglich durch die zweite Verallgemeinerung, in der Spengler den
Organismentyp auch auf die Geltung der Werte ausdehnt. Er
sieht den eigenartigen Gegenstandscharakter der Werte nicht.
Für ihn gibt es keine allgemeingültige, absolute Wahrheit 1). Er
ist extremer Relativist und nur dadurch wird es ihm möglich, die
Werte formell in den Gegenstandsbereich des naturwissenschaftlich
zu erfassenden Ablaufes einzustellen und seinen Typen zu unter-
werfen. Hier muß man ansetzen, wenn man seine Theorie der
Geschichtswissenschaft an ihrer tiefsten und zugleich wundesten
Stelle angreifen will. Schwer wird die Überwindung nicht, wenn
es auch sicher ist, daß das Feuerwerk der letzten Konsequenzen
der Theorie noch lange blenden wird. Man könnte zeigen, wie
der Satz „Es gibt keine ewigen Wahrheiten" sich selbst wider-
spricht; er mag richtig oder unrichtig sein, immer folgt daraus,
daß es doch solche Wahrheiten gibt. Man fragt sich voll Er-
staunen, wie es Spengler möglich macht, einen Standpunkt über
den Kulturen zu gewinnen. Seine Theorie ist ja auch ein Er-
zeugnis abendländischer Wissenschaft. Wenn nun alle Wahrheit
und Wissenschaft nur für einen bestimmten Kulturkreis gilt, dann
auch offenbar die seinige. Glänzender hat noch nie jemand in der
Wissenschaft seine eigenen Gedanken selber widerlegt, als Spengler
es getan hat.
Wir halten also an der negativen Erkenntnis fest, daß die
Geschichtswissenschaft keine Gesetzeswissenschaft sein kann. Wie
erfaßt nun die Geschichte ihren Gegenstand, wenn sie es nicht
generalisierend tut? Auch an dem original-individuellen Ablauf
läßt sich vieles generalisierend betrachten. Aber das muß sie der
Strukturwissenschaft überlassen. Was den Gegenstand zu ihrem
1) a. a. 0. S. 34, S. 58, S. 65.
Strukturwissenechaft und Kulturwissenschaft. 75
Gegenstand macht, ist nicht dieses Allgemeine, das der Gegen-
stand sogar mit Gegenständen gemeinsam haben
kann, die überhaupt nichts Historisches besitzen,
sondern es ist das Besondere, das Individuelle, das, was ihn von
den anderen unterscheidet, das, was wegen der Irrationalität eben
gar nicht anders denn als Individuelles verstanden und erfaßt
werden kann. Die Geschichtswissenschaft muß also, wenn sie
ihren Gegenstand erfassen will, auch abstrahieren, nur
nicht in dem Sinne der Naturwissenschaft. Die Naturwissenschaft
sieht vom Individuellen ab und behält das Allgemeine, die Ge-
schichtswissenschaft sieht vom Allgemeinen ab und behält das
Individuelle. Dort ist die generalisierende Abstraktion,
hier die individualisierende Abstraktion die Methode.
Aber wohlverstanden: nicht bei allem individuellen Geschehen
macht die Geschichtswissenschaft das so, sondern nur bei dem
original-individuellen.
Die Wirklichkeit des Original-Individuellen besitzt absolute
Heterogeneität. Die vollständige Darstellung dieser Wirklichkeit
ist für die Geschichtswissenschaft deshalb unmöglich. Gibt es
aber hier keine Scheidung in Wesentliches und Unwesentliches?
Ohne Zweifel kann man sie machen. Wenn ich in diesem Augen-
blicke vom Schreibtisch aufstehen und zufällig sehen würde, daß
ein Buch meiner Bibliothek nicht an seinem richtigen Platze ist
und dadurch späteres Suchen erschwert wird, so würde ich es
richtig einstellen. Dieses Geschehen wäre ein historisches Ge-
schehen, aber es wäre der Geschichtswissenschaft höchst gleich-
gültig. Wie trennt nun die Geschichtswissenschaft das Wesent-
liche vom Unwesentlichen? Hier hilft ihr im Grunde dasselbe
Moment, das ihr Gegenstandsgebiet überhaupt herstellt, das Irra-
tionale. Das Eintreten der Werte in die sinnliche Wirklichkeit
stellt etwas Neues in die Naturwelt hinein, es schafft langsam
Gebilde, die ohne es nicht da wären, es macht eben, daß das histo-
rische Geschehen auch von Werten gelenkt wird. Es ist die
Ursache, daß wir nicht nur Natur, sondern auch Kultur haben.
Historisch wesentlich nennt die Geschichtswissenschaft nun das,
was nicht für ein Individuum, sondern für mehr oder weniger große
Gemeinsamkeiten von Menschen bedeutsam ist, mit anderen Worten,
was Beziehung auf Kulturgüter hat.
Die allgemeine Methode der Geschichtswissenschaft ist also
zweifach. Das Irrationale zwingt sie zur individualisie-
76 Aloys Müller.
renden Abstraktion, zum Abheben des Individuellen von dem
strukturgesetzlich nicht ganz erfaßbaren Ablauf; die absolute
Heterogeneität zwingt sie zur isolierenden Abstraktion,
zum Scheiden des historisch Wesentlichen vom Unwesentlichen.
Die individualisierende Methode der historischen Wissenschafton
ist nicht das, genaue Gegenstück zu der generalisierenden der
Strukturwissenschaften. Denn während die generalisierende Me-
thode schon dort, wo es nötig ist, die Heterogeneität überwindet
und das Wesentliche heraushebt, tut die individualisierende Methode
das nicht, und zwar aus dem einfachen Grunde nicht, weil das
Individuelle eben der Ausdruck der Heterogeneität ist. Sie muß
deshalb eine Ergänzung durch eine andere Methode, die isolierende,
bekommen, die das Wesentliche vom Unwesentlichen trennt. Es
ist also nicht der Begriff der Kultur, der das historische Geschehen
charakterisiert und der die individualisierende Abstraktion nötig
und möglich macht, sondern das alles schafft das Irrationale. Aber
in der vom Irrationalen bestimmten historischen Wirklichkeit hilft
der Kulturbegriff die absolute Heterogeneität überwinden, macht
also die Geschichtswissenschaft als Wissenschaft möglich. Weil
nun aber das Eintreten der Werte in die sinnliche Wirklichkeit
die Kultur hervorbringt, beruht letzten Endes auch diese Mög-
lichkeit auf dem Dasein des Irrationalen. So sind beide Methoden
vom Gegenstand her bestimmt, und auch von diesem Standpunkte
aus wird das logische Wesen der Geschichtswissenschaften richtig
bezeichnet, wenn man sie Kulturwissenschaften nennt.
Noch ein Wort über die besondere Form, die die individua-
lisierende Methode annimmt. Weil die Geschichtswissenschaft es
mit dem original-individuellen Ablauf des Geschehens zu tun hat,
die Induktion aber das bleibende Homogene erfassen will, so kennt
die Geschichtswissenschaft eine Induktion im eigentlichen Sinne
nicht. Es gibt also empirische Wissenschaft ohne Induktion. Weil
nun aber die Vergangenheit vom Historiker nur in winzigem Aus-
maße unmittelbar erlebt ist, so kann die Geschichtswissenschaft
zu ihr nur in den Zeugnissen der Vergangenheit in Beziehung
treten: sie muß als individualisierende Wissenschaft Zeugnis-
wissenschaft sein.
Somit haben wir den Rickertschen Gegensatz „Naturwissen-
schaft und Kulturwissenschaft" erweitert in den Gegensatz
„Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft", und
zwar in zwingender Folgerichtigkeit aus dem Versuche heraus,
Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 77
die Wissenschaften vom Gegenstände her zu bestimmen. Mir
scheint zunächst, daß Struktur ganz gut das ausdrückt, was hier
im Gegensatz zur Kultur gemeint ist und was Natur im engeren
Rahmen bezeichnet. Struktur bedeutet zunächst das Ungemachte,
Selbstgewachsene, das natürlich Seiende im Gegensatz zum Ge-
pflegten, Geschaffenen der Kultur. Man spricht kaum von der
Struktur einer Statue, wohl aber von der Struktur des Marmors.
Und wenn das Wort einmal von Kulturdingen gebraucht wird,
da meint es in der Regel Strukturwissenschaftliches, das ja mit
allen Kulturdingen verknüpft ist. Struktur bezeichnet zweitens
das Ruhende, das zeitlos Seiende im Gegensatz zum zeitlich Ab-
laufenden der Kulturerscheinungen. Das Begriffspaar Struktur —
Kultur behält hier auch dieselbe Aufgabe wie das Rickertsche
Paar. Der Begriff Kultur ist auch hier das, was die Geschichts-
wissenschaft als Wissenschaft begründet, indem es die Hetero-
geneität ihres Gegenstandsbereiches überwinden hilft. Natur ist
bei Rickert mit Gesetz untrennbar verbunden: Wo Natur, da
Gesetz. Weil nun das Gesetz als Erfassung des Homogenen die
Heterogeneität des sinnlichen Gegenstandsbereiches überwindet
und so die Naturwissenschaft als Wissenschaft möglich macht, ist
die Gegenüberstellung Natur — Kultur gestattet. Damit weist aber
dieser Gegensatz schon über sich selbst hinaus. Denn in allen
Gegenstandsgebieten mit Ausnahme des historischen gibt es Ge-
setze. Wo Struktur ist, da ist Gesetz, und, so können wir hin-
zufügen, wo Gesetz ist, da ist Struktur. Der Gegensatz Struktur —
Kultur hat demnach denselben logischen Typus wie der engere
Rickertsche Gegensatz Natur — Kultur, und somit bietet sich der
Strukturbegriff als eine selbstverständlich verblaßte, aber doch
treffende Erweiterung des Naturbegriffes zum Gebrauche in der
Wissenschaftstheorie an.
V. Die allgemeine Methode der Naturwissenschaft.
Wir haben schon angedeutet, daß die allgemeine Methode der
Naturwissenschaft (die das ausdrückt, was den Methoden der
Strukturwissenschaft gemeinsam ist) generalisierend ist und auf
dem Dasein von Homogenem beruht. Die generalisierende Methode
nimmt nun in der Naturwissenschaft die besondere Form der In-
duktion an. Wir dürfen aber, um das richtig zu verstehen, eine
wichtige Unterscheidung nicht aus den Augen lassen. Die Gene-
ralisationen der Naturwissenschaft werden erreicht nicht nur
78 Aloys Müller,
auf dem Wege der Induktion, sondern auch durch Deduktion,
Vergleich, Analogie, Intuition usw. Aber gerechtfertigt
werden sie ausschließlich durch die Induktion. Die auf irgend eine
Weise gefundene Bestätigung in der Erfahrung ist der einzige
legitime Weg, auf dem letzten Endes die Geltung der natur-
wissenschaftlichen Generalisationen erwiesen wird.
Wir zerlegen unsere Ableitung der Induktion aus dem Gegen-
standscharakter der sinnlichen Wirklichkeit in zwei Teile. An
erster Stelle zeigen wir, wie sich aus der Struktur dieser Wirk-
lichkeit die sogenannte Inhalt- Umfang-Relation (I-U-R) ergibt,
an zweiter Stelle, wie die I-TJ-R eine notwendige Bedingung der
Induktion ist. Der Zusammenhang, den wir hier beschreiben, ist
von Zilsel1) aufgewiesen worden. Wir ändern seine Darstellung
ein wenig ab.
Man kann mehrere oder alle Gegenstände derselben Art zu
einer Klasse zusammenfassen und nennt sie dann Glieder der
Klasse. Im ersten Falle sprechen wir von immanenter Klassen-
bildung und interessieren uns im folgenden nur für sie. Jede
Klasse kann wieder als ein Gegenstand mit einem Inhalt be-
trachtet werden. Es ist nur von vornherein nicht klar, was wir
unter dem Inhalt einer Klasse verstehen sollen. An und für sich
kann man zweierlei damit meinen: entweder faßt man alle In-
haltsteile der Glieder zusammen oder nur diejenigen, die den
Gliedern gemeinsam sind. Das erstere ist aber wegen der Hete-
rogeneität der sinnlichen Wirklichkeit ausgeschlossen. So bleibt
das zweite allein übrig. Um seine Rechtmäßigkeit einzusehen,
braucht man nur zu überlegen, daß die gemeinsamen Inhaltsteile
der Glieder ja alle Teile sind, die die Klasse als ein Gegen-
stand besitzt.
Wir fragen uns nun, wie sich Inhalt und Umfang bei imma-
nenter Klassenbildung zu einander verhalten.
Wenn ich zu einem einzelnen Gegenstande Ii Ui einen zweiten
I2 U2 hinzufüge, so entsteht eine Klasse (Ii Ui I2 U2) als neuer
Gegenstand, dessen Umfang man mit Ui -f U2, dessen Inhalt man
aber, weil er nur die gemeinsamen Teile faßt, mit L I2 be-
zeichnen kann.
Ist, wenn wir unser Augenmerk auf die Anzahl der Inhalts-
teile richten, Ii I2 größer, gleich oder kleiner als Ii ?
1) E. Zilsel, Das Anwendungsproblem, 1916.
Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 79
Es kann nicht größer sein. Denn wenn selbst I2 größer als
Ii ist, so kann doch, weil Ii L ja die g e m e i n s a m e n Teile be-
deutet, Ii I2 höchstens gleich Ii sein.
Ii L kann aber auch nicht gleich Ii sein. Ein Merkmal der
Heterogeneität ist ja die Andersartigkeit, die besagt, daß jeder
Inhalt auch Teile hat, die andere Inhalte nicht haben. Ii hat also
auch andere Teile als L. Da nun Ii I2 die gemeinsamen Teile
bedeutet, kann es nicht gleich Ii sein, sondern muß kleiner sein
als Ii.
Fügen wir nun zu (Ii Ui I2 U2) einen weiteren Gegenstand
L Us hinzu, so können wir diese Betrachtung mit dem gleichen
Ergebnis wiederholen. Das Ergebnis hat also allgemeine Geltung.
Gehen wir umgekehrt von der Klasse aus und lassen Glieder weg,
so nimmt der Inhalt ab. Es ergibt sich also schließlich die
I-U-B,: Mit wachsendem Umfang nimmt der Inhalt ab und um-
gekehrt.
Betrifft die Inhaltsabnahme nun alle Teile in der gleichen
Weise? Sie tut das nicht. Denn da es in der sinnlichen Wirk-
lichkeit auch unechte Teile gibt, die bei Gegenständen derselben
Art zahlreiche gemeinsame Teile erzeugen, so werden offensicht-
lich die echten Teile in erster Linie von der Inhaltsabnahme be-
troffen. Was nun aber hier die der Heterogeneität überlagerte
Homogeneität tut, das kann ich bei immanenter Klassenbildung mit
Absicht bei echten Teilen tun, nämlich einen echten Teil so fest-
halten, daß die Inhaltsabnäbme ihn nicht betrifft. Wenn ich z. B.
eine elastische Kugel oft unter dem Winkel von 30° wider eine feste
Wand stoßen lasse, dann habe ich unter den unendlich vielen
Gegenständen „Stoß der elastischen Kugel wider die feste Wand"
diejenigen wirklich erzeugt, die den echten Inhaltsteil „unter dem
Winkel von 300tf besitzen. Anstatt zu sagen, daß man einen In-
haltsteil festhalte, kann man also auch sagen, man wähle aus einer
Klasse Individuen unter einem bestimmten Gesichtspunkte aus,
und diesen Gesichtspunkt liefert eben der festgehaltene Inhaltsteil.
Um nun zu sehen, wie die Induktion auf der I-U-ß beruht,
nehmen wir das Beispiel von vorhin. Ich lasse eine elastische
Kugel beliebig oft wider eine feste Wand stoßen und wähle dann
unter all den Gegenständen dieser Klasse diejenigen mit dem
echten Inhalts teil „unter dem Winkel von 30° u aus. Dann wird
sich zeigen, daß bei den ausgewählten Gegenständen stets außer
diesem Teil noch ein weiterer Teil konstant geblieben ist, nämlich
80 Aloys Müller,
das „Abprallen unter dem Winkel von 300a. Es treten also kon-
stante Verknüpfungen von Inhaltsteilen auf. Weil nun nach der
I-U-R die echten Teile in erster Linie von der Inhaltsabnahme
betroffen werden, so müssen wir schließen, daß der festgehaltene
Teil gar kein echter Teil ist, sondern mit dem anderen notwendig
verknüpft ist. Wir schließen demnach auf Grund der I-U-R von
der Konstanz einer Verknüpfung auf die Notwendigkeit, und das
ist der Typus jedes Induktionsschlusses. Wende ich die I-U-R
noch öfter auf die genannte Gegenstandsklasse an, so ergibt das
schließlich den allgemeinen Satz, daß das Abprallen stets unter
demselben Winkel wie das Aufprallen geschieht.. Wir sehen, daß
jede Induktion ein System von immanenten Klassen-
bildungen mit festgehaltenen Inhaltsteilen enthält.
Sicher ist also nach dieser Analyse, daß jede Induktion auf
der I-U-R beruht ; es fragt sich nur, ob sie darauf beruhen muß,
ob also die I-U-R eine notwendige Bedingung der Induktion ist.
Wir wollen einmal annehmen, die I-U-R gelte nicht. Was würde
die Folge sein? Dann müßten außer den notwendigen Verknüp-
fungen noch andere auftreten, die zufällig sind, und es wäre uns
unmöglich, die zufälligen von den notwendigen zu unterscheiden.
Wenn ich, um bei dem genannten Beispiel zu bleiben, die Kugel
unter dem Winkel von 30° mit verschiedenen Geschwindigkeiten
vi, V2, vs . . . vn aufprallen ließe, so würde sich etwa ergeben, daß
das Abprallen stets unter dem Winkel von 30° mit der gleichen
Geschwindigkeit V3 erfolgt, so daß also dann der eine festgehaltene
Inhalts teil „Stoß unter 30° u mit den beiden Inhaltsteileh „Abprall
unter 30° a und „Abprall mit der Geschwindigkeit vs" verknüpft
erschiene. Die Induktion wäre in diesem Falle ausgeschlossen.
Daraus folgt, daß die Induktion die I-U-R notwendig voraussetzt.
Da nun aber die I-U-R, wie wir sahen, nur bei der bestimmten
Struktur der sinnlichen Wirklichkeit vorhanden ist, so ergibt sich,
daß die Induktion bei dieser und nur bei dieser Struktur einer
Wirklichkeit möglich ist, daß sie die Methode ist, die diese Struktur
sich aus allen Methoden auswählt.
Um nicht mißverstanden zu werden, möchte ich noch betonen,
daß die I-U-R durchaus nicht die einzige Bedingung der In-
duktion ist. Sie hilft die konstanten Verknüpfungen finden. Der
Schluß von der Konstanz auf die Notwendigkeit aber muß eigens
logisch gerechtfertigt werden. Das geht nun über die Grenze
hinaus, die wir uns gezogen haben. Es genügt für unsere Aufgabe,
Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 81
wenn wir erkannt haben, daß die I-U-R eine notwendige Be-
dingung der Induktion ist.
VI. Die allgemeine Methode der Mathematik.
Auch die Mathematik generalisiert (aber ohne Abstraktion).
Diese Behauptung mag auf den ersten Blick Verwunderung er-
regen und Widerspruch wachrufen. Bei genauerem Zusehen er-
weist sie sich aber als richtig. Die Mathematik generalisiert schon,
wenn sie Buchstaben für Zahlen setzt. Sie faßt die Gleichungen
der verschiedenen Kegelschnitte in der allgemeinen Kegelschnitts-
gleichung zusammen. Sie begnügt sich nicht damit, beliebige
Primzahlen rechnerisch zu erhalten, sondern sucht allgemeine Ge-
setze der Verteilung der Primzahlen. Sie stellt allgemeine Sätze
über die Wurzeln von Gleichungen auf. Sie versucht ganze Ge-
biete einheitlich zu verstehen, z. B. vom Gruppenbegriff aus die
euklidische Geometrie oder die Gleichungen in der Galoisschen
Theorie. Kurz, sie forscht immer nach allgemeinen Standpunkten,
die das Besondere einschließen und von wo aus es sich infolge-
dessen erfassen läßt.
Auch zu den mathematischen Generalisationen führen die
verschiedensten Methoden, Induktion, Deduktion, Analogie, der
Instinkt, den jeder echte Forscher hat. Aber die einzige Methode,
durch die die mathematischen Generalisationen bewiesen werden,
ist die Deduktion.
Wir führen nun den Beweis dafür, daß die Generalisation vom
Gegenstande der Mathematik gefordert wird, und zwar in der
eigenartigen Form, in der sie hier auftritt, auf indirektem Wege.
Wir werden erstens sehen, daß die Struktur des mathematischen
Gegenstandsbereiches die Induktion ausschließt. Die Deduktion
bleibt also als einziges legitimes Beweismittel übrig; die Deduktion
führt aber zur Generalisation oder setzt sie voraus. Wir werden
zweitens erkennen, wie der absolut sichere Charakter der mathe-
matischen Deduktion gleichfalls auf jener Struktur beruht.
Die Struktur des Wirklichkeitsbereiches der mathematischen
Gegenstände ist so, daß in ihm die Andersartigkeit zum Teil, die
Unübersehbarkeit ganz geschwunden ist. Nehmen wir zunächst den
Fall, daß zwei absolut gleiche Gegenstände zu einer Klasse ver-
einigt werden, so ist offenbar der ganze Inhalt jedes Gegenstandes
der gemeinsame Inhalt. Er bleibt konstant, so viele von den ab-
Kantstudien. XXVII. 6
g2 Aloys Müller,
solut gleichen Gegenständen wir auch hinzunehmen. Hier gilt
also jedenfalls die I-U-R nicht.
Fassen wir nun zwei mathematische Gegenstände mit ver-
schiedenem Inhalt zusammen, z. B. die Zahlen 5 und 7 oder zwei
Ellipsen, so tritt im allgemeinen gleich mit diesem Schritte
der Klassenbildung schon die Konstanz des Inhaltes ein; der In-
halt ist jetzt, weil er nicht unübersehbar ist, bereits zusammen-
geschrumpft auf das, was allen Gliedern der Klasse gemeinsam
ist. Es kann natürlich durch Zufall vorkommen, daß die Konstanz
noch nicht gleich beim ersten Schritt vorhanden ist, wenn ich z. B.
zwei Ellipsen nehme, deren kleine Achsen gleich sind. Aber solche
Zufälligkeiten müssen außer Betracht bleiben. Die I-U-R verlangt
einen bei jeder Umfangszunahme abnehmenden Inhalt. Sie gilt
also auch im vorliegenden Falle nicht.
Das Nichtbestehen der I-U-R im mathematischen Gegenstands-
gebiet läßt sich auch indirekt beweisen. Wir hörten im vorigen
Abschnitt, daß, wenn die I-U-R nicht gilt, zufällige Konstanzen
auftreten müssen und wir außerstande sind, zufällige von not-
wendigen zu unterscheiden. Dieser Zustand liegt nun tatsächlich
im mathematischen Gebiete vor. Daß z. B. der Ausdruck x2 -f- x + 41
eine Primzahl ist, ist eine für viele Fälle zufällig auftretende
Verknüpfung; sie ist aber nicht notwendig, denn für x = 40 ist
sie z. B. falsch. Ob ferner der Satz, daß jede gerade Zahl sich
als die Summe zweier Primzahlen darstellen läßt, notwendig gilt
oder nur zufällig für die bis jetzt untersuchten geraden Zahlen,
wissen wir nicht.
Wir sehen also, daß die I-U-R im Bereiche der mathematischen
Gegenstände nicht besteht. Weil sie aber eine notwendige
Bedingung der Induktion ist, kennt die Mathema-
tik auch keine Induktion. Wir wollen nur einen Augen-
blick darauf aufmerken, daß die Mathematik die I-U-R sozusagen
in ihr Gegenteil verkehrt. Wenn nämlich ihre Generalisationen
Aussagen über Relationen zwischen homogen-quantitativen Gegen-
ständen sind, so enthalten diese Aussagen nicht die gemein-
samen Inhaltsteile der Gegenstände, sondern alle Inhaltsteile.
Die Ellipsengleichung enthält alle Besonderheiten aller Ellipsen,
die Kegelschnittsgleichung alle Besonderheiten aller Kegelschnitte,
die Gleichung der Flächen zweiter Ordnung alle Besonderheiten
aller Flächen zweiter Ordnung usw.
Man könnte unseren Beweis dafür, daß die Deduktion von der
Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 83
Struktur des mathematischen Gegenstandsbereiehes gefordert wird,
deshalb noch nicht für geschlossen halten, weil doch die sog. voll-
ständige Induktion in der Mathematik möglich sei. Hier muß
man unterscheiden. Wenn man mit Windelband *) den Schluß vom
universalen auf das generelle Urteil als vollständige Induktion
bezeichnet, so ist, wie Windelband selbst bemerkt, kein Unterschied
von der eigentlichen Induktion vorhanden. Jener Schluß ist aber
in der Mathematik unmöglich. Denn in ihr ist jedes universale
Urteil zugleich ein generelles, weil alle möglichen, d. h. wider-
spruchsfreien Gegenstände des mathematischen Bereiches wirklich
sind. In allen anderen Fällen ist die sog. vollständige Induktion
überhaupt keine Induktion.
Es erübrigt noch ein Wort über den absolut sicheren Cha-
rakter der mathematischen Deduktion. Worauf er beruht, können
wir auf indirekte Weise folgendermaßen finden. Wir suchen die
Wissenschaften, die die gleiche Gewißheit wie die Mathematik er-
geben und lesen dann die Übereinstimmungen zwischen ihren
Gegenständen ab. Es gibt nun nur eine einzige Wissenschaft von
derselben Gewißheit, die Relationstheorie; die mathematische
Naturwissenschaft kommt nicht in Betracht, weil sie ihre Gewiß-
heit ja nur von der Mathematik hat. Mathematik und Relations-
theorie stimmen nun darin überein und unterscheiden sich dadurch
von allen anderen Wissenschaften, daß sie sich mit homogenen
Gegenständen beschäftigen. Auf der Homogeneität ihres Gegen-
standsbereiches beruht also die Gewißheit der Mathematik2).
VII. Allgemeine Resultate.
Da es sich in den vorstehenden Ausführungen zum Teil um
einen ersten Versuch handelt, in das Wesen gewisser Zusammen-
hänge einzudringen, und ich die großen Linien nicht durch vieles
Beiwerk überdecken mochte, habe ich möglichste Kürze angestrebt.
Dadurch sind vielleicht mehr Probleme aufgegeben als gelöst worden.
Trotzdem sind wir in der Lage, auch etwas Allgemeines über unser
Hauptproblem des Verhältnisses von Gegenstand und Methode ab-
zuheben.
1) Windelband in der Enzyklopädie der pliilos. Wissenschaften, 1, 40, 1912.
2) Eingehenderes über die Probleme dieses Abschnittes und vor allem über
ihre gegenstandstheoretische Grundlage in meiner beim III. Abschnitt zitierten
Schrift über den Gegenstand der Mathematik.
6*
84 Aloys Müller,
Dieses Verhältnis stellt sich etwa so dar. Der allgemeine
Charakter der Methode einer "Wissenschaft hängt davon ab, ob
für sie die Gegenstände ihres Bereiches nnr heterogen oder auch
homogen sind. Besitzt das Gegenstandsgebiet einer Wissenschaft
auch Homogeneität, die nicht ausschließlich von der Gegenstands-
theorie erfaßt wird, so ist die Generalisation möglich und nötig.
Weil das in den Gegenstandsgebieten der Strukturwissenschaften
der Fall ist, läßt sich ihre Methode allgemein als generalisierend
(nicht immer durch Abstraktion) charakterisieren. Daß die histo-
rischen Wissenschaften trotz der homogenen Bestandteile ihres
Gegenstandsgebietes nicht generalisieren, liegt daran, daß diese
homogenen Teile von der Naturwissenschaft und der Gegenstands-
theorie schon erfaßt werden. Der besondere Charakter, den
die generalisierende Methode einer Wissenschaft annimmt, ist durch
das Maß bestimmt, in dem das Heterogene vom Homogenen durch-
herrscht wird.
Wir lassen die Frage offen, ob das Begriffspaar heterogen-
homogen ausreicht, um auf allen Gegenstandsgebieten den Zu-
sammenhang zwischen Gegenstand und Methode aufzuweisen.
Noch zwei Bemerkungen zum Schluß.
Zunächst läßt die Abhängigkeit der Methode vom Gegenstande
der Persönlichkeit des Forschers einen großen Spiel-
raum. Der Gegenstand eines Gebietes verlangt nur eine bestimmte
allgemeine Methode der Rechtfertigung. Wie diese Methode
im einzelnen Falle gehandhabt und ausgebaut wird, ist Sache des
Forschers. Ein Vergleich kann das verdeutlichen: wenn jemand
sich einen Anzug aussucht, so verlangt seine Gestalt einen zu ihr
passenden Anzug; aber der Stoff, die Farbe, der Schnitt usw.
können beliebig ausgewählt werden. Fast ganz Sache des For-
schers ist die Axt und Weise, wie er die Wahrheiten seiner Wissen-
schaften findet; dabei kommt es übrigens weniger auf die Me-
thode, sondern mehr auf die Problemstellung an.
Nachdem ich schon in den einleitenden Worten angedeutet
habe, daß unsere Überlegungen zwar ihre Wurzel in Rickertschen
Gedankenkreisen haben, aber nicht nur über sie hinauswachsen,
sondern sie auch manchmal durchbrechen, möchte ich endlich, um
Mißverständnisse bei solchen, die die Rickertschen Gedanken noch
immer nicht verstehen können, auszuschließen, die hauptsächlichsten
Gegensätze zu Rickert — und nur diese — noch kurz zusammen-
stellen.
Strukturwissenschaft und Kulturwissenschaft. 85
1) Nach Rickert können -zwei Wissenschaften denselben Gegen-
stand haben und sich nur durch ihre Methode unterscheiden; das
ist für ihn z. B. der Fall bei Naturwissenschaft und Geschichts-
wissenschaft. Ich bin der Ansicht, daß jede Wissenschaft einen
ihr und nur ihr eigentümlichen Gegenstand besitzt und daß von
diesem Gegenstande her die allgemeine Methode der Wissenschaft
und ihre besondere Form bestimmt sind. Nur von diesem Stand-
punkt aus ist die Verschiedenheit der Methoden zu verstehen und
zu begründen, wie ich praktisch an drei Beispielen gezeigt habe.
Wir sehen also bei Rickert eine Überschätzung der Methode und
eine Unters chätzung des Gegenstandes, die vermutlich mit seiner
Erkenntnistheorie zusammenhängen.
2) Als Gegenstand der Geschichtswissenschaft haben wir aus
dem Gegenstandssystem abgeleitet den original-individuellen Ab-
lauf des sinnlichen Geschehens, während ßickert ihn in der sinn-
lichen Wirklichkeit selbst erblickt. Für uns ergibt sich so ohne
weiteres, daß nur Menschheitsgeschichte Geschichte ist, und manche
der von Rickert sog. Mischformen unter den Wissenschaften, wie
z. B. die Biologie, machen uns keine Schwierigkeit mehr.
3) Rickert stellt die generalisierende Abstraktion als Methode
der Naturwissenschaft und die individualisierende Abstraktion als
Methode der Geschichtswissenschaft in genaue Parallele. Aber
dieser Parallelismus besteht nicht. Denn die individualisierende
Methode leistet nicht alles das auf ihrem Gegenstandsgebiet, was
die generalisierende auf dem ihren leistet, sondern nur einen Teil
davon. Den anderen Teil — die Überwindung der Heterogeneität
des Gebietes — übernimmt bei der Geschichtswissenschaft die
isolierende Abstraktion. —
Alle unsere Überlegungen bewegen sich außerhalb der erkennt-
nistheoretischen Sphäre. Wie sie sich in das Transzendental-
problem einfügen, mag eine spätere Arbeit zeigen.
Nachschrift bei der Korrektur. Kurz vor der Kor-
rektur erschien die 3. und 4. Auflage von Rickerts Buch „Die Grenzen
der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung", die dem Gegenstand
sein Recht geben soll. Ich kenne sie bis jetzt nicht, hätte sie aber
auch nicht mehr berücksichtigen können.
Der Darwinismus und die logische Struktur
des biologischen Artbegriffs1).
Von Privatdozent Dr. Emil Unserer, Karlsruhe.
Mit wieviel Recht man auch die Naturwissenschaft, die von
der Erfahrung ausgeht und ihrer Bestimmung sich widmet, eine
Tatsachenwissenschaft nennt, wie treffend man sie, die
feste Formen des Geschehens und des Soseins sucht, als Gesetzes-
wissenschaft kennzeichnet: wo wir irgend größere Abschnitte
ihrer Geschichte im Zusammenhang überschauen, sehen wir ihre
Fragestellung, ihr Arbeitsverfahren und ihre Ergebnisse bedingt
durch große Theorien. Sie sind es, die ganzen Zeiträumen der
"Wissensgeschichte ihr Gepräge geben. Als kühne Ideen weisen
sie nach einem Ziele, zu dem sogleich eine Schar von Hypothesen
nach mancherlei Plänen Wege zu zeigen versucht, auf denen erst
die Forschung dann jene Gesetze findet, durch die sie Tatsachen
bestimmt.
So ist die Biologie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts —
fast bis in ihre letzten Auszweigungen — bedingt durch jenes
Theorien- und Hypothesengebilde, das man als Darwinismus
bezeichnet, und das in seinem wesentlichen Grundstock auch wirk-
lich Charles Darwins Werk war. Wenn man von allem Beiwerk
absieht, so enthält seine Lehre zwei Hauptbestandteile, die man
unter Anhängern und Gegnern früh scharf geschieden hat: die
1) Literatur angaben über die sachliche Seite der behandelten Fragen, die
den Text dieser kurzen Ausführungen zu stark belasten würden, finden sich in
meiner als Heft 14 von J. Schaxels „Abhandlungen zur theoretischen Biologie" (1921)
erscheinenden Arbeit „Die Teleologie Kants und ihre Bedeutung für die Logik der
Biologie", wo die hier dargestellten Probleme unter anderen Gesichtspunkten er-
örtert werden. Dort wird auch der Erblichkeitsbegriff des Neodarwinismus und des
Neolamarckismus berücksichtigt, sowie zu Stadlers Auffassung des Darwinismus
in seiner Schrift über „Kants Teleologie" (1874) Stellung genommen.
Emil TTngerer, Der Darwinismus u. d. log. Struktur d. biol. Artbegriffs. 87
Lehre von der Abstammung der Lebewesen, von ihrem ge-
netischen Zusammenhang, die ihre vielgestaltige Mannigfaltigkeit
auf ihre Geschichte zurückführt, ihre Herkunft von eintachsten
Organismen auf den im biologischen System vorgezeichneten (in
Vergangenheit oder Gegenwart verwirklichten) Zwischenstufen be-
hauptet, — und die Lehre von der Entstehung dieser Ge-
samtheit von Lebewesen durch ununterbrochene Variabi-
lität unter Ausmerzung aller „nich tan gepaßten" Organismen im
Kampf ums Dasein, die Lehre von der natürlichen Selektion. Beiden
Teilen zugleich verdankt der Darwinismus seinen unerhörten Sieges-
zug weit über die Grenzen der Biologie hinaus. Im Abstammungs-
gedanken erhielt die uralte Entwicklungsidee neue Gestalt, der
sich kein geschichtlich aufzufassendes Geschehen entziehen konnte.
Durch die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl wurde der seltsam
gesetzmäßige Bau der Organismen und das verwickelte Getriebe
des organischen Geschehens — welch beide man in vor auf gehenden
Zeitaltern der Biologie ohne Zielstrebigkeit, ohne Verwendung der
Zweckidee meist nicht zu erklären gehofft hatte — zurückgeführt
auf die sich von selbst ergebende Auslese zufälliger Treffer nach
Wahrscheinlichkeitsregeln, und damit schien das Gebiet des Le-
bens der Gesetzmäßigkeit einer rein mechanischen Kausalität unter-
worfen zu werden, die man gerade als Ziel aller anorganischen
Wissenschaften anzusehen gelernt hatte, und so eine überwälti-
gende Einheit des Weltbildes gewährleistet zu sein. Geschicht-
liches Denken auf Grund der Entwicklungsidee und
mechanistische Weltauffassung mit allgemeinen Ge-
setzen und Zufälligkeit alles Besonderen: diesen beiden
methodischen Grundstimmungen fügte der Darwinismus- sich ein,
und sie bereichernd und befestigend, als ihre Einheit im Gebiet
der Biologie, erfocht er seine Siege.
Der Abstammungsgedanke hat sich gegen anfänglichen
Widerstand fast unbestritten durchgesetzt, trotzdem er im Ganzen
nicht nur unbewiesen, sondern auch unbeweisbar, im Einzelnen
günstigenfalls wahrscheinlich zu mächen ist. Die sogenannten „Be-
weise" der Abstammungslehre haben im allgemeinen die Form, daß
eine Menge von Tatsachen, die sonst einfach hinzunehmen sind,
eine neue Bedeutung erlangen, als teilweise „erklärt" erscheinen,
wenn man einen genetischen Zusammenhang zwischen verschieden-
gearteten Lebewesen annimmt. So dienen vor allem die Tatsachen
der mannigfach abgestuften systematischen Verwandtschaft, d. h.
88 Emil Ungerer,
die verschiedenen Grade der Übereinstimmung der Lebewesen in
stofflicher und organisatorischer Beziehung, in der Aufeinander-
folge ihrer Formbildung und im Ablauf der Lebensvorgänge als
ein Anzeichen der Wahrscheinlichkeit jener Umbildung, die all-
mähliche Steigerung der Unterschiede in diesen Merkmalen syste-
matischer Verwandtschaft mit der Vergrößerung der räumlichen
und zeitlichen Entfernung der Lebewesen voneinander als ein an-
deres. Eine Bestätigung der Abstammungslehre im Einzelnen
müßte ferner durch die Nachprüfung ihrer notwendigen Voraus-
setzung, nämlich durch den Nachweis der erblichen Umbildung
einer Form von Lebewesen in eine andere erbracht werden, ob-
wohl auf diesem Wege nur die unerläßliche Bedingung jener Lehre,
nicht ihre Ausdehnung auf das Ganze der lebenden Natur nach-
zuweisen ist. Sehr wesentlich ist freilich, daß auf beiden Wegen
die Abstammungslehre auch nicht widerlegt werden kann. Das
Fehlen vermuteter Verwandtschaftsbeziehungen zeigt höchstens,
daß man sie an falscher Stelle gesucht hat und könnte bei weiter
Ausdehnung etwa die Sonderhypothese des monophyletischen Stamm-
baums zu Fall bringen; mißglückte Umbildungsexperimente sind
nicht beweiskräftig, da die erforderlichen Bedingungen nicht her-
gestellt sein können und außerdem der Erdgeschichte größere Zeit-
räume zur Verfügung stehen als dem experimentierenden Menschen.
Die nirgends widerlegte und nicht widerlegbare Annahme einer
echten Fortpflanzungsverwandtschaft der Lebewesen, die viele,
sonst schlechtweg hinzunehmende Tatsachen in einheitliche Be-
leuchtung rückte und dem Bestreben entgegenkam, das Seiende
als ein Gewordenes und Werdendes zu begreifen, mußte auch den
entschiedensten Zweiflern mindestens als wahrscheinliche Hypo-
these gelten.
Ganz anders war von vornherein die Stellung der Selek-
tionshypothese. Sie mußte experimentell unmittelbar nachge-
prüft werden können und mußte überall durchführbar sein, sollte
sie wirklich die „Erklärung" der Abstammung enthalten. Gegen
sie richteten sich von Anfang an die stärksten Angriffe, und ob-
gleich der Sachverhalt heute im Wesentlichen klargelegt scheint,
wird auch in der Gegenwart noch heftig um sie gestritten. Ihre
Gegner kommen — so verschiedenartig ihre Einwände im einzelnen
sind — methodisch von zwei verschiedenen Seiten: die einen suchen
aufzudecken, was alles die Selektion nicht leisten kann, wenn
sie besteht; die anderen suchen zu zeigen, daß sie in der von
Der Darwinismus u. die logische Struktur des biologischen Artbegriffs. 89
Darwin vorausgesetzten Weise in der Natur überhaupt nicht
bestehe.
Dabei wird diese Lehre von der natürlichen Zuchtwahl als
ein bequem auswechselbares Glied innerhalb des „Darwinismus"
behandelt, als eine unter einer Reihe möglicher Hypothesen zur
kausalen Erklärung der „Abstammung". Diese verbreitete An-
schauung bedarf einer erheblichen Vertiefung, die auf die Grund-
begriffe der Darwinschen Lehre zurückgehen muß. Diese war
viel mehr als ein bloßer Versuch, den längst von anderen ausge-
sprochenen Gedanken eines genetischen Zusammenhangs der Lebe-
wesen allgemein durchzusetzen und zu seiner Erklärung eine neue
Hypothese (eben die Zuchtwahllehre) zu ersinnen. Sie stellte auch
abgesehen von der Deutung der systematischen Verwandtschaft
als eines Erzeugungszusammenhangs eine von Grund aus neue
Auffassung der biologischen Systematik dar, die im vorangegan-
genen Zeitalter der idealistischen Morphologie zu einer vermeintlich
klassischen Durchbildung gereift war.
Der große Naturforscher Darwin zeigte sich darin, daß er
sich nicht damit begnügte, den morphologischen Verwandtschafts-
begriff jener alten Systematik einfach in den genetischen zu über-
setzen und so im „Stammbaum" die Grundlage des Systems zu er-
blicken, wie das nachher der größte Teil seiner Anhänger tat, die
in dieser neuen Beleuchtung auch die alten Erkenntnisse für neue
hielten, sondern daß er den Gedanken der Abstammung bis in die
letzten Folgerungen zu Ende dachte und dadurch zu Voraus-
setzungen gelangte, deren Naturtatsächlichkeit er nun an einem
ungeheuren Beobachtungsmaterial nachzuweisen suchte. In seinem
Gedankengebäude ist die Zuchtwahllehre nicht einfach auswechsel-
bar, denn sie ist eine Folgerung aus der Verknüpfung dieser letzten
Voraussetzungen der Möglichkeit einer Abstammung, wie Darwin
sie durch logische Zergliederung gefunden und durch tausendfältige
Beobachtung bestätigt zu haben glaubte, mit der weiteren durch
ebenso vielfache Beobachtung beglaubigten Tatsache des „Daseins-
kampfes", d. h. des Untergangs aller Lebewesen, die ihren Lebens-
bedingungen nicht gewachsen sind.
Den von Darwin aufgestellten Voraussetzungen der Möglich-
keit einer genetischen Verknüpfung von Lebewesen mit verschie-
dener systematischer Stellung liegt eine Kritik der System-
begriffe zugrunde, die durchaus nominalistisch gerichtet
ist. Ganz im Geiste Berkeleys, Humes und der englischen Asso-
90 Emil Ungerer,
ziationspsychologen werden Allgemeinbegriffe der Biologie wie
Gattung (Genus), Art (Spezies), Rasse (Varietät) als bloße Namen
für eine unabgrenzbare Gesamtheit von Individuen aufgefaßt. Das
Gegebene sind die Individuen, alle mehr oder minder untereinander
verschieden, verschieden auch als Nachkommen desselben Indivi-
duums. Gesamtheiten von Individuen, die sich in nicht allzustark
abweichenden Merkmalen unterscheiden, welche überdies bei ihren
Nachkommen vorwiegend nicht festgehalten werden, heißen Varie-
täten ; Varietäten mit strengerer „Erblichkeit" heißen Arten : beides
also ineinander übergehende Klassenbegriffe (Abstraktionen
erster Stufe). Ahnliche Arten werden unter einem Namen als
Gattungen zusammengefaßt (Abstraktionen zweiter Stufe). Die
Bemühungen um den Wesens begriff der biologischen Art oder
Spezies, wie überhaupt der biologischen Klassifikationsstufen, die
noch kurz zuvor auf englischem Boden zu der interessanten Aus-
einandersetzung zwischen Whewell und John Stuart Mill geführt
hatten, werden als sinnlos abgelehnt durch die Feststellung, daß
es einen solchen Wesensbegriff gar nicht gebe: die Bezeichnung
der Lebewesen nach Arten ist ihm bloße Konvention. Zwei
Grundeigentümlichkeiten von ähnlicher Struktur haften dem Or-
ganismus an und daher auch allen Klassen von Organismen: sie
sind nach den verschiedensten Richtungen hin und innerhalb der
beobachteten Grenzen in jedem denkbaren Quantum veränder-
lich, und die der Änderung unterworfenen Merkmale sind in
allen möglichen Graden vom völligen Fehlen bei den Nachkommen
bis zur vollkommenen Übertragung auf alle Deszendenten erblich.
Variabilität und Heredität, Veränderlichkeit und Erblichkeit sind
stetige Eigenschaften: zwischen gegebenen Grenzen einer Ver-
änderung (Variation) ist kein Grad der Ausprägung denkbar, der
nicht auftreten könnte, und ebenso wird die Übertragung einer
Veränderung auf die Nachkommen als keine diskret abgestufte
gedacht, wie dies schon Darwins Wendung von der „strength
of hereditary tendency" zeigt. Das ausnahmsweise Vorkommen
plötzlicher erheblicher Abweichungen, von „Sprüngen", wird nicht
geleugnet, aber es bleibt Ausnahme; von erheblicher Bedeutung
für den Vorgang der Artbildung sind allein die kleinen , allseits
stetigen Variationen, unter denen die den Außenbedingungen am
besten gemäßen zur Fortpflanzung gelangen, während die übrigen
im Daseinskampf zugrunde gehen.
Der Darwinismus u. die logische Struktur des biologischen Artbegriffs. 91
Fassen wir das Ergebnis der Darwinschen Kritik der System-
begriffe nochmals zusammen:
Damit ein Abstammungszusammenhang zwischen der Gesamt-
heit der verschiedenen Lebewesen möglich sei, darf es nicht erblich
feste Arten geben, d. h. Lebewesen, die einen bestimmten Typus
in ihrer Organisation wesenhaft ausprägen. Vielmehr unterscheiden
sich die Nachkommen eines Organismus — oder zweier getrennt-
geschlechtlicher Organismen — stets mehr oder minder unterein-
ander und von den Erzeugern, und diese Veränderungen werden
unter den Nachkommen aus den folgenden Generationen wiederum
mehr oder minder stark festgehalten, wobei eine Eigenschaft bei
der Wiederholung in der Nachkommenfolge immer „fester", d. h.
in höherem Grade erblich wird. Die Abgrenzung von Varietäten
oder Arten ist Sache bloßer Konvention : ihr Kriterium, genügend
deutliche Unterscheidbarkeit und genügend lange Dauer der Erb-
lichkeit, ist durch menschliche Willkür festgelegt. Die teleologische
Zuordnung einiger der regellos nach allen Eichtungen gehenden
Änderungen zu bestimmten Außenbedingungen, inbezug auf die
sie mehr oder minder „angepaßt" erscheinen, hat eine Auslese nach
bestimmter Richtung zur Folge, sodaß die so ausgezeichneten In-
dividuen zur Fortpflanzung gelangen. Dadurch kommt eine „fort-
schreitende" Entwicklung zu allmählich fest werdenden neuen
„Arten" zustande. Allseitige und stetige Variabilität soll unter
den zahllosen „ Nieten a die wenigen „Treffer" gewährleisten, die
zu Stufen einer Höherentwicklung und Neubildung werden können.
Die der Veränderlichkeit entzogenen, ein für allemal durch Ver-
erbung festgehaltenen Merkmale erscheinen dann als diejenigen der
obersten Systemkategorien, der Klassen, Ordnungen und etwa noch
Familien; etwas schon, wenn auch noch selten variabel sind die
der Gattung, stärker veränderlich die der Spezies, ganz im Flusse
die der Rasse.
Damit genügt Darwin eben den Bedingungen, die Kant —
in der Kr. d. r. V., im „Anhang zur transzendentalen Dialektik"
— als Grundvoraussetzungen derKlassifikation über-
haupt festgestellt hat. Von den drei dort entwickelten Klassi-
fikationsprinzipien fordert das der Einheit oder Homogenität „Gleich-
artigkeit des Mannigfaltigen unter höheren Gattungen" und spricht
damit in einem den Stufenbau der Einteilung aller Lebewesen und
innerhalb jeder Stufe die Gleichwertigkeit aller ihrer Einzigkeiten
aus, d. h. den Gattungs- und den Klassencharakter der Systembe-
92 Emil Ungerer,
griffe. Durch das Prinzip der Mannigfaltigkeit oder Spezifikation
wird die völlige Gleichheit zwischen den Einzigkeiten jeder Klasse
verneint zugunsten ihrer Mannigfaltigkeit: kein Klassenbegriff
soll an sich der letzte sein, es soll keine infimae species, keine
untersten Arten geben. Und als Ergänzung postuliert das Prinzip
der Verwandtschaft oder Kontinuität — wie so häufig bei Kant
als dritter Schritt aus der Vereinigung der beiden anderen her-
vorgehend — einen kontinuierlichen Übergang von einer jeden Art
zu jeder anderen durch stetiges Wachstum ihrer Verschiedenheiten :
es soll „zwischen" zwei Arten immer noch andere geben bezw.
geben können, die geringere Grade der Verschiedenheit von einer
jener Arten zeigen, als diese untereinander. Mit dieser Behauptung
der Unmöglichkeit unterster oder letzter Arten und mit der For-
derung beliebig fortsetzbarer Einschaltung neuer Arten „zwischen"
gegebene will Kant Voraussetzungen aller Systematik, aller Art-
begrifflichkeit überhaupt — von Dingen und Vorgängen, von allem
gesetzlich Verknüpf baren — aufzeigen, ohne besondere Bezie-
hung zu den Lebewesen als Naturgegenständen, die nach seiner
Überzeugung (wenigstens noch in der Kr. d. r. V.) ganz im Linn£-
schen Sinne in der Natur als unveränderliche ohne Übergang
voneinander getrennte Arten ein „quantum discretum" ausmachen
sollen: denn ihm bleiben jene Forderungen Denkforderungen.
Mag die Naturgegebenheit immerhin Unstetigkeit zeigen, — als
Naturmögliches bedeutende, einem System einordenbare Begriffe
müssen wir die Klassen ihrer Gegenstände jenen Stetigkeitsforde-
rungen unterworfen denken, die keinen Klassenbegriff als untersten
und keinen Artunterschied als letzten gelten läßt.
Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß die Darwinsche Kon-
struktion des Artbegriffs von der Kants Ansicht gegenüber neuen
Voraussetzung ausging, jene beiden letzten Kantischen Forde-
rungen für das Denken seien durch die Naturgegeben-
heit restlos erfüllt. Die nach allen Seiten hin erfolgenden
beliebig kleinen Variationen genügen dem Prinzip der Kontinuität,
nach dem keine zwei naturgegebenen Arten als die einander an
sich nächsten anzusehen sind ; die Annahme einer gradhaft abstuf-
baren Erblichkeit läßt keine naturgegebene Art als „unterste"
schlechthin erscheinen und erfüllt so die Forderung des Mannig-
faltigkeitsprinzips. Den von Kant so tief erfaßten Gegensatz
dieser beiden Prinzipien zum ersten der Homogenität, welches
Einheit der Mannigfaltigkeit innerhalb jeder Stufe, echten Klassen-
Der Darwinismus u. die logische Struktur des biologischen Artbegriffs. 93
Charakter der Gattungsbegriffe verlangt, ein Gegensatz, der für
Kant nur durch einen unendlichen Prozeß der „Bestimmung" aus-
gleichbar gedacht werden kann, weil in ihm die nur für einen
intellectus archetypus vollendbare Idee des Systems zum Ausdruck
kommt, diesen Gegensatz beseitigt Darwin dadurch, daß er das
logische Recht solcher Artbegriffe leugnet, daß er sie als strenge
Begriffe von angebbarem Inhalt und Geltungsbereich nicht aner-
kennt, sondern als „Konventionen" betrachtet, als willkürliche
Festsetzungen, wie sie alle „Einheiten" stetig abgestufter Mannig-
faltigkeiten, alle Größenmaße der Längen, Flächen und Volumina,
der Farben, Töne, Gewichte, Temperaturen usw. darstellen.
Diese Leugnung der strengen Geltung des ersten Kantischen
Prinzips zusammen mit der Anerkennung der beiden anderen für
die naturgegebenen Organismen, diese Lehre von der Stetigkeit
der Variation und Erblichkeit hält Darwin für die notwendigen
begrifflichen Voraussetzungen des Gedankens einer Stammesent-
wicklung. Daraus ergibt sich die grundsätzliche Frage-
stellung sowohl der logischen Untersuchung wie der
Tatsachenforschung gegenüber diesem „Darwinismus"
i. e. S., die wesentlich tiefer angreift als die zahllosen scharf-
sinnigen Möglichkeitserwägungen in den Erörterungen über die
Bedeutung des „struggle for life" für die Artenentwicklung.
„Sind wirklich stetige, in gradweiser Abstufung festgehaltene
Änderungen der Lebewesen die notwendige Voraussetzung des
Abstammungsgedankens?" — so lautet das logische Problem;
dem sachlichen läßt sich die Form geben: „Was spricht bei
den mit exakten Forschungsmethoden untersuchten Lebewesen für
und gegen solche stetige Erblichkeit stetiger Variationen?"
Stellen wir zunächst fest, was sich beim heutigen Stand der
Untersuchungen über die zweite Frage sagen läßt.
Zunächst besteht kein Zweifel über das Vorkommen ste-
tiger Variationen. Genügend große Gesamtheiten ähnlicher
Organismen einer Art, einer Rasse, auch von Nachkommen eines
Organismus zeigen inbezug auf eine Reihe von Merkmalen Ände-
rungen, die sich meist so um einen „Mittelwert" der Ausbildung
des betreffenden Merkmals anordnen, daß kleine Abweichungen von
ihm häufig sind, während größere nach dem Grade des Unterschieds
immer seltener auftreten. Dies läßt sich am besten durch Varia-
tionskurven veranschaulichen, die mehr oder weniger genau der
Gauß'schen Wahrscheinlichkeitsfunktion entsprechen, sodaß die
94 Emil Ungerer,
Zahlen der (in der Natur als diskrete gegebenen oder aus einer
kontinuierlichen Menge ausgesonderten) Größenklassen von Ab-
weichungen durch den Grenzwert der Koeffizienten der Entwick-
lung des Binoms (a + b)n für sehr große n mit guter Annäherung
ausgedrückt werden. Nun handelt es sich vor allem darum, ob
der Grad der Abweichung vom Mittelwert auf die Nachkommen
übertragen wird, ob er erblich ist. Dann nur ist die Voraus-
setzung der Lehre von der natürlichen Zuchtwahl erfüllt. Zunächst
ergab die Selektion extremer Varianten aus beliebigen naturgege-
benen Gesamtheiten von Lebewesen, etwa die Verwendung der
schwersten Samen, die aus einem Bohnenfeld geerntet wurden, zur
Aufzucht neuer Bohnen, wenn man sie durch mehrere Generationen
immer wieder durchführte, 'wirklich eine Verschiebung des Mittel-
werts des betreffenden Merkmals bei den jeweiligen Nachkommen,
hier also eine Erhöhung des durchschnittlichen Samengewichts. Es
ist das große Verdienst des dänischen Botanikers W. Johannsen,
die vermeintliche Beweiskraft dieses Ergebnisses für Darwins Vor-
aussetzung zerstört zu haben. Er zeigte, daß der Versuch ganz
anders ausfällt, wenn man statt von einer Menge beliebiger Pflanzen
unbekannter Herkunft (von einer „Population") ausgeht von einzelnen
selbstbefruchtenden Pflanzen, die man vor Fremdbestäubung schützt
und deren Nachkommen man in gleicher Weise behandelt. Die Selek-
tion in solchen „reinen Linien" ergibt zwar gleichfalls jene eingipfligen
Variationskurven, aber der Mittelwert liegt auch bei den Nachkommen
der extremsten Varianten stets an derselben Stelle, wie bei denen
der ursprünglichen Mittelwertsvariante. Die Selektion in reinen
Linien bleibt daher ohne jeden Erfolg. Daß die hier fehlende Mittel-
wertsverschiebung bei Selektion in Populationen auftritt, konnte
Johannsen überzeugend auf das Vorhandensein erblich verschie-
dener Rassen in jenen zufällig zusammengesetzten Mengen von
Organismen zurückführen. Die Ergebnisse Johannsens über das
Fehlen der Erblichkeit der Varianten bei Selektion in „reinen
Linien" (bezw. in „Klonen", d. h. in der Generationenfolge vege-
tativ sich vermehrender Organismen) wurden von ihm und anderen
auch an einer Reihe anderer Pflanzen, an höheren Tieren wie an
Protozoen und an Bakterien bestätigt. Da die Randvariationen
benachbarter reiner Linien sich häufig überdecken (transgredierende
Variation) , so können äußerlich durchaus gleiche Individuen
erblich verschiedenen Sippen angehören. Von zwei äußerlich glei-
chen „Varianten", die in derselben Weise von der „Norm" einer
Der Darwinismus u. die logische Struktur des biologischen Artbegriffs. 95
Art abweichen, kann die erste diese Eigenschaft auf ihre Nach-
kommen übertragen, die andere nicht. Es zeigen eben die Ab-
kömmlinge aus reinen Linien in ihrer Gesamtheit ebenso das Bild
einer Variationskurve wie die Bestandteile von Populationen, ob-
gleich diese Kurve im letzten Falle häufig mehrgipflig oder sonst
unregelmäßig erscheint. Aufklärung über die Bedeutung der nicht-
erblichen Variation, die man als Modifikation oder Fluktuation
bezeichnet, brachten die Experimente der Formphysiologie, vor
allem die Forschungen des Botanikers Georg Klebs. Er zeigte,
daß die Ausbildung der „ Merkmale" mit bestimmten Außenbedin-
gungen in gesetzmäßiger Beziehung steht, und daß man beliebig
gestaltete Variationskurven durch bestimmt geregelte Außenbe-
dingungen (Feuchtigkeit, Luft, Wärme, Nährstoffe usw.) erzielen
kann. In vielen Fällen ist diese Beziehung eine streng quantita-
tive. Ebenso wichtig wie seine Versuchsergebnisse sind die Fol-
gerungen, die er daraus für die Festlegung des Erblichkeits- und
Artbegriffs gezogen hat. Nicht eine feste „Norm", wie sie etwa
der „Mittelwert" von Variationskurven darstellt, ist Gegenstand
der erblichen Übertragung, der gegenüber die „Modifikationen" als
in geringerem Grade vererbte „Abweichungen" erscheinen, sondern
erblich ist die Fähigkeit, auf bestimmte äußere Be-
dingungen in bestimmter Weise, z. B. durch eine bestimmte
Formbildung, zu reagieren. Erbgut eines Organismus sind alle
seine Formbildungsmöglichkeiten (Potenzen), die in ganz bestimmter
gesetzmäßiger Zuordnung zu quantitativ abgestuften Außenbedin-
gungen stehen; einer Art gehören alle Organismen an, die das
gleiche Verhältnis von Potenzen und Außenfaktoren zeigen, die in
dieser fest definierbaren Weise Isoreagenten sind. Nicht eine
Summe von „Merkmalen" (Formen, Farben usw.) machen darnach
das Wesen der „Art" aus, sondern eine durch Versuche möglichst
genau quantitativ festzulegende Funktion (im mathematischen
Sinne) von Reaktionen des Organismus auf der einen Seite und
von Vorgängen in seiner Umgebung, d. h. von Beziehungen des
verhältnismäßig einfach zusammengesetzten „Mediums" auf der an-
dern. Die Außenbedingungen stellen bei dieser Betrachtung im
allgemeinen die unabhängigen, die Lebensreaktionen die abhängigen
Variabein dar. Zu einer Art wie zum Erbgut eines Indivi-
duums gehört also der ganze Umkreis der Variation, und In-
dividuen gehören verschiedenen Arten an, wenn die Ausbildung
96 Emil Ungerer,
ihrer „Merkmale" in verschiedener Beziehung zur Quan-
tität der Außenbedingungen steht.
Tritt uns hier die Erblichkeit als ein festes, gesetz-
mäßiges Verhältnis der Formbildung zu ihren Bedingungen ent-
gegen, so zeigten die überraschenden Ergebnisse eines anderen
Zweigs der modernen Biologie, nämlich der Bastardforschung,
daß auch aus der experimentellen Untersuchung der Kreuzung ver-
schiedener Organismen keinerlei Anhaltspunkte für die Darwin-
sche Voraussetzung einer größeren oder geringeren Erblichkeit
von beliebiger Stärke sich ergab, sondern Regeln einer festen, sich
gleichartig über viele Generationen erstreckenden Übertragung
von „Erbeinheiten". Seit der Wiederentdeckung der schon 1865
von dem Brünner Abt Gregor Mendel nachgewiesenen Vererbungs-
regeln im Jahre 1900 durch Correns, Tschermak und de Vries hat
die gemeinsame Arbeit von Botanikern und Zoologen aller Kultur-
länder eine Fülle von Gesetzmäßigkeiten zutage gefördert , deren
einfachste Grundlinien feststehen, während die Aufhellung der
verwickeiteren Verhältnisse noch im Gange ist. Auch hier ergab
sich, daß nicht „Außenmerkmale", unmittelbar sichtbare Eigen-
schaften als solche „vererbt" werden, sondern daß ihnen „Erbein-
heiten" („Gene") zugrunde liegen, die meist unabhängig vonein-
ander auf die Nachkommen übertragen werden (zuweilen auch ganz
oder teilweise „gekoppelt" erscheinen), die mit den „Potenzen",
den elementaren Reaktionsfähigkeiten der Formphysiologie und
Variationsforschung identisch sind. Die Zahlenregeln der Vertei-
lung dieser Erbeinheiten auf die aus der Kreuzung verschiedener
Eltern hervorgehenden Nachkommen braucht uns hier so wenig
zu beschäftigen wie die Aufstellung der „Erbformeln" der genauer
erforschten Sippen oder die Beziehungen der Gene zu gewissen
Kernbestandteilen der Keimzellen. Wesentlich dagegen ist die
Tatsache, daß noch aus einem anderen Grunde als dem oben er-
wähnten zwei gleichaussehende, ja sogar zwei gleich auf die Außen-
bedingungen reagierende Individuen erbungleich, verschieden
in ihren Potenzen sein können. Wegen der Tatsache der Domi-
nanz, d. h. des Überwiegens der vom einen Elter überkommenen
Erbeinheit gegenüber der abweichenden des anderen kann nämlich
ein Bastard (ein „heterozygoter" Organismus) von der dominie-
renden Eiterform und allen ihr gleichen erbreinen Individuen
(„homozygoten" Organismen) in ihren Eigenschaften nicht
unterschieden werden. Erst aus der Beschaffenheit ihrer Nach-
Der Darwinismus u. die logische Struktur des biologischen Artbegriffs. 97
kommen (soweit sie durch Selbstbefruchtung oder durch Kreu-
zung mit Individuen von bekannter erblicher Struktur erzeugt
werden) ist diese Verschiedenheit der Erbformel erkennbar. So
muß denn der Versuch, von seiten der experimentellen Vererbungs-
forschung her die „Art" als die Gesamtheit erbgleicher
Individuen zu definieren, ausgehen von homozygoten, d.h.
inbezug auf alle Gene erbreinen Individuen, setzt also die sorg-
fältige Prüfung der untersuchten Sippen durch zahlreiche Kreu-
zungen (und womöglich Selbstbefruchtungen) voraus, die durch
eine Eeihe von Generationen hindurch unter genau einzuhaltenden
Versuchsbedingungen fortgesetzt werden müssen. Soviel auf diesem
Gebiete noch zu erforschen bleibt, so notwendig ferner auch die
Ausdehnung der hier gewonnenen systematischen Begriffe auf He-
terozygoten ist : von außerordentlicher Tragweite ist die Tatsache,
daß man durch das Zusammenarbeiten verschiedener Forschungs-
zweige der Biologie zu der Möglichkeit gelangt ist, unterste
Arten erbgleicher Individuen zu definieren und die
Zugehörigkeit von Organismen zu einer solchen Art experimentell
festzustellen, ohne daß man etwa bei den Individuen selbst als
der letzten Einheit angelangt wäre. „Unterste Arten", das heißt
aber, Arten, die nur Klassen- und nicht auch Gattungscharakter
haben, die nicht wieder „Arten von Arten" sind.
Sehen wir zu, was aus diesen Ergebnissen der Naturforschung
bezüglich der Darwinschen Begriffe und der Kantischen Forde-
rungen folgt, und wie es angesichts dieser Folgerungen um die
Voraussetzungen der Abstammungslehre steht.
Die Natur tat sächlichkeit unterster Arten von strenger Erblich-
keit, deren allseitige und stetige Variationen zum Gesetz der Art
selbst gehören, sodaß sich die Nachkommen der untereinander ver-
schiedensten Abweichungen unter gleichen Bedingungen gleich ver-
halten, sind mit Darwins Auffassung vom Wesen der biologischen
Art durchaus unvereinbar. Selektion der Varianten dieser ste-
tigen Veränderlichkeit, der Modifikationen, kann keine Wirkung
auf die Umbildung der Organismen haben, weil sie die Beschaffen-
heit der Nachkommen nicht beeinflußt. Eine natürliche Zuchtwahl
kann der Kampf ums Dasein nur ausüben durch Auslese der schon
vorhandenen erblich verschiedenen Arten, die freilich hierdurch
keine Änderung im Grad der Erblichkeit erfahren, nicht „fester"
werden, weil Erblichkeit keine stetige Eigenschaft, sondern ein
gesetzmäßiges Verhalten darstellt, das nicht nach beliebigen Stärke-
Kantstudien. XXVII. 7
98 Emil Ungerer,
graden abstuf bar ist. Ob auf die „untersten Arten", die wir
Kants zweitem Prinzip zum Trotz annehmen müssen, sein drittes
Prinzip der Kontinuität Anwendung findet, wie Johannsens Er-
gebnisse mit seinen quantitativ verschiedenen „reinen Linien" mit
übergreifender Veränderlichkeit es nahe legen könnten, d. h. ob
es zwischen zwei benachbarten Elementararten noch beliebig
viele Arten geben kann, ob die „Mittelwerte" benachbarter reiner
Linien beliebig nahe liegen können, läßt sich heute noch nicht
endgültig entscheiden. Es ist nicht auszuschließen, daß wir noch
genötigt sein könnten, einen letzten Unterschied von bestimmbarer
Größe zwischen den Reaktionsnormen benachbarter Elementararten
anzunehmen oder z. B. auch anzunehmen, daß zwar Elementararten
innerhalb einer „Sammelart" (etwa vieler Linn£'scher Arten) sich
stetig anordnen lassen, während Sammelarten untereinander sich
grundsätzlich durch erhebliche und in der Natur unausfüllbare
Unterschiede trennen.
Es ist eben durchaus nicht selbstverständlich, daß die von
Kant aufgestellte Stetigkeitsforderung, die im Bereich der Zahlen
und des Raumes wie der Sinnes qualitäten oder reinen Solchheiten
unausweichlich ist, in den Ansatz mit aufgenommen werden muß,
durch den die Naturwissenschaft ihren Gegenstand bestimmt. Hat
doch auch die Materientheorie durch die Annahme letzter Arten
von Urdingen und durch die andere einer Unstetigkeit der Natur-
vorgänge Erfolge von größter Tragweite erzielt, während der Aus-
gang von einer Kontinuität der Materie hierzu keinerlei Hand-
haben bot. Denn die für eine Reihe von Stoffen geglückte Fest-
stellung, daß es kleinere Teile vom Charakter eines chemischen
Elements als sein größenmäßig bestimmbares Atom nicht gibt, der
Versuch der gegenwärtigen Naturforschung, mit der Annahme
zweier Klassen gleicher Urdinge, der negativen Elektronen und
der positiven Wasserstoffkerne? auszukommen, verstoßen ebenso
gegen die Kantischen Prinzipien wie die Voraussetzung der Planck-
schen Quantentheorie, daß die Energieabgabe schwingender Atome
nicht stetig, sondern sprungweise erfolgt, sodaß das Verhältnis
von Energiequantum und Schwingungszahl, das Wirkungsquantum,
konstant ist. Sie verstoßen freilich nur dann gegen jene zwei
Prinzipien Kants, wenn diese mehr bedeuten sollen als Aussagen
über bloße Denk bar k ei t, wenn sie als Forderungen für Natur-
möglichkeit ausgelegt werden. Es ist von großer Bedeutung,
daran festzuhalten, daß Ordnungsformen, die für bloße Setzungen
Der Darwinismus u. die logische Struktur des biologischen Artbegriffs. 99
zwingende Geltung als Denkmöglichkeiten besitzen, keineswegs
ohne weiteres Ordnungsformen der Naturtatsächlichkeit darstellen.
Inwiefern sie dies tun, muß an Hand der Gregebenheit besonders
untersucht werden.
Mit der Preisgabe der stetigen Erblichkeit stetiger Varia-
tionen, die Darwin für die unerläßliche Bedingung der Möglichkeit
der stammesgeschichtlichen Entwicklung der Lebewesen gehalten
hatte, verlor auch die Selektionshypothese erheblich an Wert. Sie
konnte die Umwandlung einer Art in eine andere nicht mehr er-
klären, wenn sie das Bestehen der auszuwählenden Art schon vor-
aussetzen mußte. Damit steht die Biologie vor der Frage, ob die
neue Fassung des Vererbungs- und Artbegriffs überhaupt noch als
mögliche Voraussetzung der Abstammungslehre gelten kann, ob,
paradox gesprochen, Artkonstanz und Artenumwandlung sich ver-
einen lassen. Soweit sich übersehen läßt, gibt es nur zwei mög-
liche Auswege. Entweder man nimmt an, daß von Anfang an
sämtliche jemals in Organismen verwirklichten Erbeinheiten oder
Gene vorhanden und über die vorauszusetzenden Urorganismen
völlig ungeordnet so verteilt waren, daß nur ganz wenige von
ihnen sich in einfachen Formbildungen äußern konnten und die
ganze spätere Mannigfaltigkeit durch ihre Vereinigung infolge der
geschlechtlichen Fortpflanzung allmählich möglich wurde. Dann
gibt es zwar genetische Verwandtschaft und Stammbaum, aber
keine echte „Entwicklung", sondern nur einen Wechsel von Gen-
Verkettungen, der dem Austausch der Elemente im Auf- und Abbau
der chemischen Verbindungen entspricht. Diese Anschauung, in
der Gegenwart wohl nur von dem holländischen Botaniker J. P. Lotsy
vertreten, der damit einen Gedanken des Österreichers A. Kerner
von Marilaun aufgriff, ist einstweilen nicht mehr als eine kühne
Hypothese, die nur auf die Tatsächlichkeit des Auftretens neuer
Formen, der sogenannten „Kombinationen", in den den Mendel-
schen Regeln unterworfenen Kreuzungen sich stützt. Oder man
setzt voraus, daß unter bestimmten Bedingungen eine Änderung
der Reaktionsnorm einer Art eintreten, eine sprunghafte Wand-
lung ihrer erblichen Fähigkeiten, eine „Mutation" stattfinden kann.
Dann ist die Geschichte der Lebewesen eine wirkliche Entwick-
lung, ein Entstehen neuer Potenzen, eine Umbildung in zahllosen
Einzelschritten. Das Musterbeispiel des Schöpfers dieser Muta-
tionstheorie, des holländischen Botanikers H. de Vries, die von
ihm eingehend untersuchte Oenothera Lamarckiana, scheint nach
100 EmilTJngerer, Der Darwinismus u. d. log. Struktur d. biol. Artbegriffs.
neueren Untersuchungen wegen ihrer verwickelten Erb lichkeits Ver-
hältnisse zur endgültigen Entscheidung dieser Frage nicht geeignet
zu sein. Das sprunghafte Auftreten neuer erblicher Formen ohne
Zwischenstufen ist aber durch ein umfangreiches Tatsachenmaterial
belegt. Freilich sind gerade die sichersten Fälle großenteils „Ver-
lustmutanten", d. h. solche neuen Arten sind vielfach ärmer an
Mannigfaltigkeit der Formbildung als ihre Mutterarten, sodaß sie
nur für die Tatsache der Mutation, nicht aber für deren Ausrei-
chen zur Erklärung der Entstehung der Organismenwelt zeugen
können. Auch steht der Mutationstheorie noch die Schwierigkeit
im Wege, daß sie noch in keinem Falle eindeutig die Bedingungen
für das Eintreten der Mutation, der erblichen Änderung der Re-
aktionsnorm zu bestimmen vermag.
So ist denn in der Gegenwart gerade die Grundfrage der Ab-
stammungslehre wieder vollständig im Flusse. Das Lebenswerk
Darwins war der erste großartige Versuch, die begrifflichen Vor-
aussetzungen zu ihrer Lösung zu schaffen und deren Berechtigung
durch eine gewaltige Tatsachenfülle zu belegen. Seine Lehre war
die nächstliegende , von ihrem Schöpfer mit unerbittlicher Folge-
richtigkeit durchgeführte Hypothese und damit eine notwendige
Stufe der Wissens entwicklung. Die größere Strecke bis zum Ziel
liegt noch vor uns. Auf der erfolgreichen Zusammenarbeit experi-
menteller und logischer Forschung, die in den letzten Jahrzehnten
die inneren Schwierigkeiten dieses ersten Lösnngs Versuchs aufge-
deckt hat, ruht die Hoffnung einer glücklichen Bewältigung der
von Darwin der Biologie gestellten Aufgabe.
Die philosophischen Grundlagen in
Spenglers „Untergang des Abendlandes"1).
Von Dr. Kurt Sternberg, Berlin.
1. Es hieße Eulen nach Athen tragen, wollte man rühmend
auf die Verdienste hinweisen, welche sich die Philosophie der
letzten Jahrzehnte, speziell die neukantische, um die methodi-
sche Grundlegung der Naturwissenschaften erworben hat. Man
darf geradezu behaupten, daß in dieser Hinsicht ein gewisser Ab-
schluß erreicht worden ist oder doch wenigstens erreicht worden
war. Wohl sind die jüngsten, vor allem durch die moderne Rela-
tivitätstheorie bewirkten Fortschritte auf naturwissenschaftlichem
Grebiet imstande, der Naturphilosophie entscheidende Anregungen
zu geben ; aber es bedurfte eben einer Wandlung des naturwissen-
schaftlichen Weltbilds, um für die Naturphilosophie neue Aufgaben
zu gewinnen, und die philosophische Begründung des alten — sagen
wir: des Newtonschen Weltbilds — war doch im wesentlichen
vollendet.
Anders verhielt und verhält es sich auf geschichtsphilosophi-
schem Boden. Gerade das 19. — das sogenannte historische —
Jahrhundert hat einen ungeheuren Fortschritt der Geschichtswis-
senschaften gezeitigt, und hieraus erwuchs der Philosophie die
Pflicht zu einer methodischen Grundlegung der Geschichtswissen-
schaften. Diese Pflicht wurde um so ernster, je mehr auf der
einen Seite die historische Forschung sich entwickelte und je mehr
auf der anderen Seite die moderne Philosophie, vor allem die
1) Die folgenden Ausführungen sind der erweiterte Abdruck eines Vortrages,
der am 14. April 1921 in der Berliner Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft gehalten
wurde. Der Vortrag berücksichtigte und verwirklichte die Anregungen, die die
Schriftleitung in ihrem Zusatz zu der Besprechung des Buches von Spengler
durch Prof. Schuck in Kant-Studien Bd. XXV, Heft 2—3 S. 265 gegeben hatte.
Die Schriftleitung.
102 Kurt Sternberg,
neukantische, ihr Interesse der Naturwissenschaft widmete.
Wohl kam es in der Richtung auf die philosophische Durchdrin-
gung der geschichtlichen Wirklichkeit zu wertvollen Leistungen,
auch innerhalb des Neukantianismus, sofern man diesen in
einem weiteren Sinne nimmt und auch die B a d e n e r Schule Win-
delbands undRickerts zu ihm rechnet. Allein man war noch
lange nicht am Ende, und nach wie vor blieb der Versuch einer
philosophischen Konstruktion des geschichtlichen Lebens eine der
wichtigsten, ja, vielleicht die wichtigste Obliegenheit der Philo-
sophie unserer Zeit. Es mußte für die Geschichtsphilosophie das
erreicht werden, was für die Naturphilosophie bereits erreicht
worden war.
Das war die Problemlage, als Spenglers so großes Aufsehen
erregendes Buch „Der Untergang des Abendlandes" erschien, und
diese Problemlage erklärt sowohl das Erscheinen des Spengler-
schen Werks sowie das Aufsehen, welches es erregt. Nun ent-
steht die Frage, ob durch Spengler eine Veränderung der ge-
schilderten Problemlage herbeigeführt worden ist, d. h. ob er uns
die ersehnte Geschichtsphilosophie großen Stils gegeben oder doch
wenigstens einen förderlichen Beitrag zu ihr geliefert hat.
2. Was Spengler will, entspricht durchaus der Forderung
der Gegenwart, um deren Erfüllung sich auch so mancher andere
Geschichtsphilosoph bemüht hat und bemüht. Es handelt sich
darum, die Sphäre des geschichtlichen Lebens in ihrer Eigenart,
in ihrer Autonomie, herauszustellen, und diese Herausstellung kann
nur unternommen werden, indem man das Verhältnis von Geschichte
und Natur bestimmt, indem man beide voneinander abhebt und
streng umgrenzt. Hiermit soll nicht gesagt sein, daß eine Be-
schränkung auf die Differenz von Geschichte und Natur notwendig
oder auch nur möglich wäre ; die Einheit der Vernunft verlangt
vielmehr, daß neben und über allen Differenzen die letztliche Ein-
heit von geschichts- und naturwissenschaftlicher Erkenntnis auf-
gewiesen wird. Allein den methodischen Ausgangspunkt wird
freilich der Unterschied zwischen Geschichte und Natur zu bilden
haben, und Spengler wird nicht müde, diesen Unterschied aufs
stärkste zu betonen. Immer wieder hebt er hervor, daß die Ge-
schichte „im Gegensatz zur Natur", daß „die Welt als Geschichte,
aus ihrem Gegensatz, der Welt als Natur, begriffen" werden müsse.
Besonders interessant ist folgende Stelle: „Der Mensch ist als
Element und Träger der Welt nicht nur Glied der Natur, sondern
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 103
auch Glied der Geschichte, eines zweiten Kosmos, von anderer
Ordnung und anderem Gehalte, der von der gesamten Metaphysik
zugunsten des ersten vernachlässigt worden ist".
Die letzte Bemerkung Spenglers über die Vernachlässigung
der geschichtlichen Welt durch die Philosophie ist keineswegs eine
beiläufige, isolierte; auch anderswo wird von der „Morphologie
der Natur" als „bisher dem einzigen Thema der Philosophie" ge-
sprochen. Diese Behauptung läßt sich gewiß nicht aufrecht halten.
Wohl ist es richtig, und es ist dies mit speziellem Bezug auf die
letzten Jahrzehnte auch im vorigen ausdrücklich hervorgehoben
worden, daß die Philosophie vielfach vorwiegend der Natur Beach-
tung geschenkt hat. Der — Spengler unbekannte — Grund
hierfür ist darin zu suchen, daß die Philosophie sich um ihrer
eigenen Wissenschaftlichkeit willen znnächst an den Naturwissen-
schaften als den methodisch am weitesten fortgeschrittenen Wis-
senschaften orientieren mußte. Daß aber niemals das Reich des
Historischen in seiner Eigengesetzlichkeit und Verschiedenheit von
der Natur gewürdigt worden wäre, wird man weder für die Ge-
genwart zugeben können, wenn man die modernen, dem histori-
schen Naturalismus entgegengesetzten geschichtsphilosophischen
Bemühungen vor Spengler kennt, noch für die Vergangenheit,
wenn man sich der Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus
von Kant über Fichte bis zu Hegel erinnert. Man mag über
diese klassische Geschichtsphilosophie Deutschlands denken, wie
man will : keinesfalls kann man leugnen, daß hier und gerade hier
der Versuch gemacht worden ist, eine von der Natur unabhängige
geistig-geschichtliche Welt zu konstruieren, und diese Konstruktion
wurde nur dadurch möglich, daß Kant die Idee der Freiheit als
ihr methodisches Grundprinzip aufgestellt hatte. Wenn Spengler
dennoch meint, erst durch ihn sei das Problem der Geschichte im
Unterschied zu dem der Natur entwickelt worden, so ist dies einer
jener zahlreichen, völlig unbegründeten Prioritätsansprüche, von
welchen sein Werk durchsetzt ist.
Allein nicht die Priorität ist sachlich das Entscheidende, son-
dern die Fassung, die Spengler dem Verhältnis von Geschichte
und Natur gibt. Da er die Geschichtsphilosophie des deutschen
Idealismus ignoriert, so ist es von vornherein klar, daß trotz seiner
ständigen Betonung des Gegensatzes zwischen Geschichte und Natur
bei ihm von einem durchgreifenden, prinzipiellen Gegensatz gar
keine Rede sein kann ; denn ein solcher liegt nur vor, die geschieht-
104 Kurt Sternberg,
liehe Welt kann von der Natur nur als unabhängig gedacht wer-
den, wenn sie unter dem Gesichtspunkt der Freiheit gedacht wird,
wie dies von seiten Kants, Fichte s und Hegels geschah. Es
vermag und braucht in diesem Zusammenhang nicht ausgemacht
zu werden, ob die auf dem Grunde der Freiheitsidee ruhende prin-
zipielle Entgegensetzung von Geschichte und Natur richtig und
notwendig ist oder nicht. Spengler jedenfalls wünscht einen
prinzipiellen Gegensatz zwischen Geschichte und Natur zu kon-
struieren; aber er beraubt sich selbst der Möglichkeit, der imma-
nenten Voraussetzungen einer solchen Konstruktion, indem er das
methodische Rüstzeug der Geschichtsphilosophie des deutschen
Idealismus unbenutzt läßt.
3. Dies zeigt sich, sobald man danach fragt, worin nun
eigentlich Spengler den Gegensatz von Geschichte und Natur
erblickt. Er lehrt, „die Polarität von Geschichte und Natur" sei
die „von lebendiger und toter Natur". Daß auf diesem Wege ein
grundlegender Unterschied zwischen Geschichte und Natur nicht
statuiert werden kann, leuchtet ohne weiteres ein; denn auch die
lebendige Natur, zu der die Geschichte in Beziehung gesetzt wird,
ist doch wohl Natur. Die Geschichtswissenschaft wird so zu einer
Naturwissenschaft und zwar zu einer Wissenschaft von der or-
ganischen Natur, die Biologie zu ihrem logischen Fundament, und
das geschieht, obwohl für Spenler „die Biologie nach Gehalt
und Methode unsre schwächste Wissenschaft" ist. Es gehört dies
zu den mancherlei methodischen Unbegreiflichkeiten in dem Speng-
lerschen Werk.
Also die Geschichte ist Spengler zufolge ein Teil des or-
ganischen Lebens. Leben und Geschichte haben ist hiernach ein
und dasselbe. Spengler hebt ausdrücklich hervor, daß auch
jeder Grashalm, jedes Insekt eine Geschichte hat. Man sollte auf
Grund dessen erwarten, daß Spengler nichts ferner liegt als
die Auffassung der Geschichte unter dem Gesichtspunkt der Kul-
tur ; allein gerade die Kultur wird ihm — oder vielmehr richtiger :
gerade die Kulturen werden ihm zu den Trägern des geschicht-
lichen Lebens, zu der „eigentlichen Substanz der Weltgeschichte".
Dies wird freilich nur dadurch möglich, daß er, der den Gegensatz
von Geschichte , d. h. geschichtlicher Kultur, und Natur dauernd
betont, in der Kultur nichts als ein Stück Natur sieht, ein Stück
der lebendigen Natur. „Kulturen sind Organismen", heißt es bei
Spengler; an anderer Stelle werden sie sogar noch spezieller
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 105
als Pflanzen bezeichnet: „Kulturen sind Pflanzen". Diese Ver-
gleichung wird bis ins einzelne ausgeführt: „Wie Blätter, Blüten,
Zweige, Früchte in Tracht, Form und Haltung ein Pflanzendasein
zum Ausdruck bringen, so tun es die ethischen, mathematischen,
politischen, wirtschaftlichen Bildungen im Dasein einer Kultur".
Gegen diese biologische Betrachtungsweise der Kulturen läßt
sich an sich nichts sagen; es kommt nur darauf an, daß man sich
ihrer Grenzen bewußt ist. Der Grashalm und das Insekt sind
Organismen und die Kulturen nach Spengler auch. Läßt sich
aber von dem Organismus einer Kultur nicht mehr und nichts an-
deres sagen als von dem eines Grashalms und Insektes? Die
Frage stellen heißt sie bejahen. Was ist denn nun das, was den
Organismus der Kulturindividuen von dem des Grashalms und des
Insektes sowie jedes sonstigen Naturindividuums unterscheidet?
Die Antwort mag lauten, wie sie wolle: sie kann jedenfalls nicht
mehr der Biologie entnommen werden. Gerade weil die Kultur -
und die Naturorganismen vom biologischen Standpunkt aus, also
als Organismen, einander gleich sind, vermag die Verschiedenheit
von Kultur und Natur, die Selbständigkeit, die Eigenart der Kul-
tur, nicht durch die Biologie begreiflich gemacht zu werden. Diese
weiß als eine Naturwissenschaft nichts von Werten; wir aber
wissen heute längst, daß dem Kulturbegriff die Beziehung auf
Werte immanent ist, auf die Werte des Wahren, Guten und
Schönen. Diese Werte finden sich zwar im Leben; aber sie wur-
zeln nicht in ihm, sie stehen zu ihm vielmehr oft in einem Ver-
hältnis der Spannung und Reibung. Ebendarum kann die Kultur
nicht restlos und in ihrer spezifischen Geltung als Kultur über-
haupt nicht auf das Leben gegründet, biologisch erfaßt werden.
Die Biologie ist folglich, da nach Spengler die Kulturen
der Gegenstand der Geschichte sind, zwar ein, aber nicht das ein-
zige methodische Fundament der Geschichte, nicht einmal das
hauptsächliche, nämlich nicht das, welches die Geschichte in ihrer
eigentlichen, in ihrer autonomen Bedeutung als Geschichte konsti-
tuiert. Vorausgesetzt, daß man überhaupt von der Geschichte
eines Grashalms und Insektes reden kann, so ergibt sich das Pro-
blem: Was macht die Geschichte der Kulturen zu der Geschichte
der Kulturen und damit zu dem, was wir in Wahrheit unter Ge-
schichte verstehen im Unterschied von der Geschichte eines Gras-
halms und Insektes? Man verriegelt sich den Zugang zum Ge-
scbichtsbegrifF ganz ebenso wie den Zugang zu dem mit dem Ge-
106 Kurt Sternberg,
Schichtsbegriff — auch nach Spengler — unzertrennlich ver-
bundenen Kulturbegriff, wenn man die Geschichte und die Kultur
nur ganz allgemein als Organismen anspricht und nicht in ihrem
spezifischen Geltungs werte würdigt, wenn man in den geschicht-
lichen Kulturindividuen nichts als Lebewesen sieht.
4. Diese Lebewesen sollen nun eine Seele haben. Nach
Spengler liegt jeder Kultur ein bestimmtes Seelentum zugrunde;
ja, eine Kultur ist ihm zufolge nichts anderes als ein bestimmtes
Seelentum. An einer Stelle, an welcher er von Kultur redet, setzt
er zur Erläuterung dieses Ausdrucks hinter ihn in Klammern das
Wort Seele. So ist ihm „sichtliche Geschichte" — als die Ge-
schichte der Kulturen — „Ausdruck, Zeichen, formgewordenes
Seelentum". Alle Teile eines Kultur Organismus : Religion, Kunst,
Wirtschaft, Recht usw. sind danach als Symbole einer ganz ge-
wissen Psyche zu verstehen; in der Einheit dieser Psyche liegt
die Einheit der betreffenden Kultur.
Auch gegen eine solche kulturpsychologische ßetrachtungsart
ist an und für sich nichts einzuwenden ; nur ist es wiederum nötig,
die ihr gesetzten Schranken zu beachten. Gewiß darf jede Kultur
als Ausdruck eines eigen- und einzigartigen Seelentums angesehen
werden ; aber es kann und muß noch mehr in ihr erblickt werden.
Jede Kultur repräsentiert zugleich einen ganz bestimmten Wert
bezw. einen ganz bestimmten Inbegriff von Werten, und hierdurch
wird sie überhaupt erst zur Kultur. Sonst würde sie eine bloße
Naturerscheinung sein und bleiben, deren prinzipieller Unterschied
von allen anderen Naturerscheinungen nicht angegeben zu werden
vermag. Hier liegt die Grenze für jedwede Kulturpsychologie,
wenigstens für jedwede naturalistische, d. h. für eine solche, welche
Kultur und Seele ausschließlich im Sinne eines Naturproduktes
nimmt.
Dies tut Spengler, und es muß das umsomehr hervorgehoben
werden, als er sich immer wieder bemüßigt fühlt, die Schale seines
Zorns und Spottes über die moderne naturwissenschaftliche Psy-
chologie auszugießen. Er lehnt eine Psychologie ab, deren Begriffe
„aus der Vorstellungsweise der Naturwissenschaft" stammen, deren
Objekt „in der Tat ein Stück verkappter Physik" ist; er spricht
vom „platten Handwerk der experimentellen Psychologie", von
ihren „albernsten Methoden". Nun, experimentelle Psychologie
findet man in dem Spenglerschen Werke freilich nicht; man
kann aber auch auf dem Pfade der naturwissenschaftlich orien-
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 107
tierten Psychologie wandeln, ohne experimenteller Psychologe zu
sein, und bei Spengler ist das der Fall. Gerade er hat darum
am wenigsten das Recht, sich gegen die naturwissenschaftliche
Psychologie zu wenden.
Wie naturalistisch seine eigene Psychologie ist, geht schon
daraus hervor, daß er die Geburt aller Kulturseelen „aus dem
Schöße einer mütterlichen Landschaft" lehrt, „an die jede von
ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist*. Eine
jegliche Kultur = Seele „erblüht auf dem Boden einer genau ab-
grenzbaren Landschaft, an die sie pflanzenhaft gebunden bleibt".
Noch naturalistischer — man möchte beinahe sagen: materialisti-
scher — kann keine Psychologie sein!
Spenglers psychologischer Naturalismus wurzelt in seiner
biologischen Grundeinstellung, in dem Umstand, daß er das Leben
zum Zentralbegriff seiner Philosophie macht. Das Leben ist uns
in der Form von Erlebnissen gegeben; diese sind die Manifesta-
tionen des Lebens. Es ist somit von Spenglers Voraussetzungen
aus nur konsequent, wenn er die Geschichte als den „Inbegriff
des einmaligen wirklichen Erlebens" definiert, wenn er sagt: „Er-
lebtes ist Geschehenes, ist Geschichte". Der Psychologismus ist
mit dem Biologismus ebenso unzertrennlich verknüpft wie die
naturwissenschaftliche Psychologie mit der Biologie. Walter
Blumenfeld hat in einem Vortrag, den er in der Berliner Ab-
teilung der Kant- Gesellschaft hielt, die Beziehungen zwischen
naturwissenschaftlicher Psychologie und Biologie in überzeugender
Weise klargelegt; er hat gezeigt, daß jene in dieser logisch ver-
ankert ist, daß die allgemeine Biologie sich zur naturwissenschaft-
lichen Psychologie spezialisiert, konkretisiert1). Von hier aus
wird es verständlich, daß neben der Biologie eine naturalistische
Psychologie, daß die Biologie als naturalistische Psychologie im
Mittelpunkt der Geschichtsphilosophie Spenglers steht.
5. Der Psychologie und Biologie entnimmt er das methodi-
sche Mittel zur Bewältigung der geschichtsphilosophischen Pro-
bleme. Seine Methode ist letzten Endes keine andere als eine
der in der modernen Völkerpsychologie verwendeten, nämlich die
der Entwicklungsvergleichung. Freilich ist bei ihm das Objekt
der Vergleichung ein verschiedenes, nämlich nicht bloß einzelne
1) Blumenfeld, Zur kritischen Grundlegung der Psychologie (Philosophi-
sche Vorträge der Kant-Gesellschaft Nr. 25; Berlin 1920).
108 Kurt Sternberg,
Kulturgebiete wie Sitte, Recht, Religion usw., sondern die — als
selbständige Organismen verstandenen — Kulturen in ihrer Ge-
samtheit resp. die ihnen zugrunde liegenden Seelen. Die Kultur-
seelen sollen in ihren Entwicklungs Stadien miteinander verglichen
werden.
Spengler nennt seine Methode der Entwicklungsvergleichung
die morphologische. Man kennt die Morphologie aus der Biologie ;
sie ist die Lehre von den die Gestalt und ihre Entwicklung be-
stimmenden Gesetzen. Spengler überträgt nun in konsequenter
Verfolgung seines Biologismus die Morphologie aus der Biologie
auf die Geschichte. Es sollen durch Vergleichung die für die
Kultur- bzw. Seelengestalten und ihre Entwicklung charakteristi-
schen Strukturformen aufgedeckt und auf diese Weise nicht vage
Analogien, sondern sichere, eindeutig festgelegte Homologien ge-
wonnen werden. Auch diese Termini spielen bekanntlich in der
Biologie eine große Rolle. Die Analogie bezeichnet in der Bio-
logie die Gleichwertigkeit der Verrichtung, des Gebrauchs, die
Homologie hingegen eine solche der Struktur, des Baus. Struk-
turelle Gleichwertigkeiten, also Homologien, soll nun die Geschichts-
philosophie zu finden trachten. Sie kann es Spengler zufolge;
denn der Organismus jedweder Kultur = Seele zeigt — immer nach
Spengler — dieselbe Struktur. Er wird geboren, wächst und
blüht, gelangt zur Reife, um dann zu verfallen und schließlich ab-
zusterben. Es gibt bei ihm Frühling, Sommer, Herbst und Winter ;
das sind die Stadien : Kindheit, Jugend, Männlichkeit und Greisen-
tum. Alles kommt darauf an, die Entwicklungsphase und inner-
halb ihrer den Platz zu bestimmen, den ein historisches Faktum
oder Individuum einnimmt. Historische Fakta oder Individuen
der mannigfachen Kulturen sind homolog, sofern sie innerhalb
ihrer Kultur an der gleichen Stelle stehen. Aus dem Begriff der
Homologie folgen die Begriffe der Gleichzeitigkeit und des Zeit-
genossen. Gleichzeitig sind „zwei geschichtliche Fakta, die, jedes
in seiner Kultur, in genau derselben — relativen — Lage ein-
treten und also eine genau entsprechende Bedeutung haben"; als
Zeitgenossen müssen Individuen angesprochen werden, welche „Glie-
der derselben geistigen Stufe verschiedener Kulturen" sind. Gleich-
zeitig geschieht die mystisch-visionäre Ausgestaltung des Welt-
bilds zu Beginn einer jungen Kultur; Plotin, den Spengler
der von ihm neu eingeführten, das gesamte erste Jahrtausend un-
serer Zeitrechnung beherrschenden arabischen Kultur zurechnet,
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 109
und Dante, der zu unserer das zweite nachchristliche Jahrtausend
umfassenden abendländischen Kultur gehört, sind somit Zeitgenossen.
Gleichzeitig sind die Epochen der Jonik und des Barock. Poly-
let, der Schöpfer des Kanons der antiken Plastik, und Jo-
ann Sebastian Bach, der Schöpfer des Kanons der abend-
ländischen kontrapunktischen Musik, sind Zeitgenossen; sie legen
ie strenge Form der spezifischen Kunst ihrer Kultur fest. Gleich-
seitig erfolgt in jeder Kultur ihr Übergang zur Zivilisation, d. h.
su ihrem letzten Stadium, wo die schöpferische Kraft der Seele
ibnimmt und schließlich ganz verloren geht, wo sie nicht mehr
die Tiefe, sondern in die Breite, nach der Ausdehnung, strebt,
wo der Organismus zum Mechanismus erstarrt, wo die organische,
organisierende Seele zum mechanischen, mechanisierenden Geiste
wird. Die Sophisten und Sokrates auf der einen, Voltaire
und Rousseau auf der anderen Seite stehen an der Schwelle
der Zivilisation; sie sind also Zeitgenossen. Dies sind ferner
Alexander der Große und Napoleon, bei denen die für alle
Zivilisation charakteristische Tendenz zur Breite, zur Expansion,
zum ersten Male auf politischem Gebiet in die Erscheinung tritt.
Dagegen sind Cäsar und Napoleon, die man auch oft zusam-
menstellt, keine Zeitgenossen; denn Cäsar gehört einer späteren
Stufe der Zivilisation an als Napoleon, der mit Alexander
an ihrem Anfang steht. Daher sind nur Alexander und Na-
poleon homologe, also innerlich dasselbe bedeutende, strukturell
gleichwertige Phänomene; Cäsar und Napoleon sind hingegen
bloß analoge, hinsichtlich ihrer äußeren Betätigung bis zu einem
gewissen Grade ähnliche Phänomene.
Es ist nicht zu verkennen, daß Spenglers Argumentation
etwas Bestechendes an sich hat, und man kann auch nicht leugnen,
daß ihm mit Hilfe dieser Argumentation vielfach überraschende
Vergleichungen von großer Kühnheit und Neuheit gelangen sind,
die stark zum Nachdenken anregen. Allein die methodischen
Grenzen und Schwächen der Spenglerschen Position liegen
für den, der sie unter logischem Gesichtspunkt betrachtet, auf
der Hand.
Zunächst einmal ist die Unsicherheit bemerkenswert, die sich
bei Spenglers Vergleichungen zeigt. Es ist unter Spengler-
schen Voraussetzungen gewiß richtig, daß — im ganzen gesehen
— Plato und Aristoteles auf der einen, Goethe und Kant
auf der anderen Seite Zeitgenossen sind. Dennoch bleibt es pein-
110 Kurt Sternberg,
lieh, daß im einzelnen bisweilen Plato und G-oethe als die
großen Vertreter der Intuition sowie Aristoteles und Kant
als die großen Systematiker, bisweilen aber auch Plato und
Kant zusammengestellt werden. Noch peinlicher ist es, daß zwar
in der Regel Aristoteles und Kant als die Vollender der
systematischen Philosophie ihrer Kulturen miteinander verglichen
werden, daß aber an einer Stelle auch einmal Schopenhauer
als „letzter großer Systematiker" der abendländischen Philosophie
bezeichnet wird. Damit würde Schopenhauer zu einem Zeit-
genossen des Aristoteles werden, derselbe Schopenhauer,
der sonst als morphologisch gleichwertig mitEpikur, also einem
der Begründer der nacharistotelischen Philosophie, ange-
sprochen wird. Dies kommt daher, daß es, wie auch Heinrich
Scholz in seiner Broschüre über Spengler ausführt *), bei die-
sem trotz der hierauf bezüglichen Darlegungen an einem objektiven
Prinzip fehlt, auf Grund dessen im besonderen Falle eindeutig
bestimmt werden könnte, ob zwei Erscheinungen wahrhaft homolog
oder bloß analog sind. Das kann nach Spengler gar nicht er-
kannt, sondern nur „gefühlt, erlebt, geschaut" werden, und wie
sonst noch die Lieblingstermini der Spenglerschen Methodik
lauten.
Überdies ist zu erwägen, ob auf dem Wege Spenglers über-
haupt jemals wirkliche Homologien gefunden werden können oder
ob wir nicht vielmehr mit Notwendigkeit auf die Bildung von
Analogien beschränkt bleiben. Der Ausgangspunkt Spenglers
ist die Auffassung der Kulturen als Organismen. Diese Auffassang
ist aber eine rein analogische. Zwar heißt es bei Spengler, wie
wir bereits wissen, einmal: „Kulturen sind Organismen" und ein
anderes Mal: „Kulturen sind Pflanzen", wobei das Wort „Sind"
bei der zweiten Stelle von Spengler selbst durch Sperrdruck
noch besonders hervorgehoben worden ist. Allein eine solche Be-
hauptung steht logisch auf demselben Niveau wie die bekannte
materialistische, daß Empfindungen Nervenbewegungen sind. Wie
Empfindungen Empfindungen und Nervenbewegungen Nervenbewe-
gungen sind, so sind Organismen Organismen resp. Pflanzen Pflanzen
und Kulturen Kulturen. Allerdings kann ich diese als Organis-
men, also nach Analogie mit den Organismen betrachten; aber
1) Scholz, Zum „Untergang" des Abendlandes. Eine Auseinandersetzung
mit Oswald Spengler S. 59 (2. Aufl., Berlin 1921).
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 111
das Ergebnis eines solchen analogiscben Verfahrens vermag immer
nur eine Analogie zu sein. Spengler selbst erklärt einmal
gleich zu Anfang seines Werkes: „Das Mittel, lebendige Formen
zu verstehen, ist die Analogie". Nun wohl: ist es die Analogie,
so ist es eben nicht die Homologie, d. h. eine ßedeutungsgleichheit
in strengem Gesetzessinne.
Man weiß ans der Logik, mit welchen Schwierigkeiten die
Analogieschlüsse zu kämpfen haben, daß sie alle in höherem oder
geringerem Grade fragwürdig sind. Ihr Produkt ist höchstens
nur eine mehr oder weniger unbestimmte Generalisation , niemals
ein bestimmtes Gesetz. Es liegt gewiß eine nicht uninteressante
Nuance vor, wenn Spengler nicht mehr wie vielfach die bis-
herige Philosophie die gesamte Menschheit, die Gesellschaft, ein
Volk oder eine abgegrenzte Kulturerscheinung, z. B. die bildende
Kunst oder noch spezieller die deutsche Romantik, sondern die
einzelnen Kulturen in ein analogisches Verhältnis zu den Orga-
nismen setzt und auf sie seine Generalisationen bezieht; allein
unter prinzipiellem Gesichtspunkt ist es ein und dasselbe. Es
bleibt sich in logischer Hinsicht gleich, ob ich von Geburt, Blüte,
Reife und Verfall einer einzelnen Kulturerscheinung oder einer
ganzen Kultur spreche und ob ich von einer Kultur oder von
einem Volk resp. der Menschheit den Durchgang durch die Stadien
der Kindheit, der Jugend, der Männlichkeit und des Greisentums
behaupte. Spenglers analogische Generalisationen unterscheiden
sich vom methodischen Gesichtspunkt aus keineswegs von den-
jenigen, welche aus der bisherigen Geschichtsphilosophie bekannt
geworden sind, sofern diese generalisierende Tendenzen verfolgte.
Hier wie dort handelt es sich um mehr oder weniger unsichere
Generalisationen, nicht aber um sichere Gesetze.
Diese können, wie wir seit Galilei und der Begründung der
modernen Naturforschung wissen, niemals durch Generalisation,
sondern nur durch Analyse eines Einzelfalls gefunden werden.
Indem Spengler durch generalisierende Abstraktion Gesetze zu
gewinnen trachtet, zeigt er, daß . er — trotzdem das alte Grie-
chenland, wie wir sehen werden, nach seiner Meinung völlig tot
ist — noch ganz auf dem von keinem Fortschritt der neuzeitlichen
Logik berührten Standpunkt der aristotelischen Induktion
steht.
Freilich: die Gesetze bei Galilei und in der modernen Natur-
wissenschaft sind Naturgesetze. Allein Spengler selbst hebt
112 Kurt Sternberg,
ausdrücklich hervor, daß alle Gesetze Naturgesetze sind: „Es
gibt nur Naturgesetze". Da mutet es nun höchst sonderbar an,
daß Spengler, der von dem Gegensatz zwischen Natur und Ge-
schichte ausgeht und ihn immer wieder betont, nach Gesetzen des
geschichtlichen Lebens sucht, obwohl diese Gesetze seiner eigenen
Überzeugung nach ausschließlich Naturgesetze sein können. Dies
heißt denn doch wohl die methodische Verwirrung bis auf die
Spitze treiben! Zwar würde Spengler seinerseits bestreiten,
daß er historische Gesetze zu entdecken sucht; aber was bedeutet
es, wenn man strukturelle Gleichwertigkeiten aufweisen, wenn
man von der Analogie die Homologie als strenge Bedeutungsäqui-
valenz, wenn man vor allem die geschichtliche Zukunft berechnen
will?
Spenglers Werk beginnt mit dem Satze: „In diesem Buche
wird zum ersten Male der Versuch gewagt, Geschichte vorauszu-
bestimmen". Was den in diesen Worten zum Ausdruck gelan-
genden Prioritätsanspruch betrifft, so wird er durch den bloßen
Hinweis auf Comte und Spencer erledigt, die gleichfalls „Ge-
schichte vorauszubestimmen" trachteten. Ja, schon der erste und
älteste Geschichtsphilosoph großen Stils, der heilige Augustin,
strebte danach, indem er seine Geschichtskonstruktion keineswegs
auf die — Augustinische — Gegenwart beschränkte, sondern
bis zum jüngsten Tag und sogar darüber hinaus führte. Aber
auch hier kommt es letzten Endes nicht auf die Priorität, sondern
auf die Sache an.
Diese liegt in dem Versuch, Geschichte vorauszubestimmen.
Soll eine solche Vorausbestimmung nicht eine bloße Spekulation
sein, so muß sie sich offenbar auf die Erkenntnis von Gesetzlich-
keiten gründen, ganz wie die Vorausbestimmung von Naturtat-
sachen. An keiner anderen Stelle tritt der — Spengler selbst
völlig unbewußte — prinzipielle Naturalismus seiner Geschichts-
betrachtung so klar zutage wie ebenhier.
Es wird aber nicht bloß ganz allgemein versucht, Geschichte
vorauszubestimmen; es wird der spezielle Versuch gemacht, den
Untergang des Abendlandes vorauszubestimmen. Dieser Versuch
wird Von Spengler nur gemacht, er kann von ihm nur gemacht
werden, weil er die Strukturgesetzlichkeit der abendländischen
Kultur genau zu kennen meint und nicht bloß der abendländischen,
sondern auch der anderen Kulturen ; denn gerade auf Grund ihrer
Vergleich ung erscheint ihm der Untergang des Abendlandes als
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 113
ein notwendiges Phänomen. Nun haben wir im vorigen gesehen,
daß die auf der Basis der Spenglerschen Morphologie vorge-
nommenen Vergleichungen immer nur zur Aufstellung analogischer
Verhältnisse, niemals zur Statuierung gesetzlicher Beziehungen
führen. In der Tat: was Spengler beibringt, um uns den Ver-
fall der abendländischen Kultur glaubhaft zu machen, sind nichts
als Analogien, allerdings zum Teil recht interessante. Diese Ana-
logien lassen vieles in einem ganz neuen Licht erscheinen, und
durch sie hat sich Spengler zweifelsohne ein Verdienst erworben.
Immerhin sind Analogien keine Gesetze. Notwendigkeit haben
aber nur diese, und es kann somit keine Rede davon sein, daß
Spengler den Tod unserer Kultur, noch dazu für die Zeit um
das Jahr 2000, nachgewiesen hätte. Sollten ein solcher Nachweis
und überhaupt eine historische Vorausbestimmung nicht etwa schon
im Prinzip unmöglich sein: auf dem Fundament von Spenglers
Morphologie sind sie jedenfalls nicht möglich.
6. Diese Morphologie macht nun noch eine Voraussetzung,
die ihrer entscheidenden Bedeutung wegen besonders betrachtet
werden muß. Sie erblickt in einer Kultur nicht bloß einen Orga-
nismus, sondern einen solchen von absoluter Selbständigkeit. Diese
Voraussetzung folgt aus dem Wesen der morphologischen Methode
an sich keineswegs; die Morphologie, wie sie in der Biologie ver-
wendet wird, macht sie nicht. Der biologische Organismus wird
durchaus als abhängig gedacht von seinen Vorfahren sowie son-
stigen Einflüssen und zwar nicht bloß rein äußerlich, mit Rück-
sicht auf seine Gestalt, sondern auch innerlich, in seelischer Hin-
sicht. Von hier aus gesehen, lag für Spengler kein zwingender
Grund vor, bei seiner Übertragung des Organismus begriffs auf die
Kulturen diesen totale Selbständigkeit zuzuschreiben. Immerhin
kann man Spenglers Motiv verstehen: Je mehr und je strenger
die verschiedenen Kulturen voneinander abgegrenzt sind, um so
klarer und reiner kann ihre von Spengler angenommene struk-
tive Gesetzlichkeit hervortreten, um so leichter wird die nach
Spengler mögliche Vorausbestimmung ihres Schicksals, insbe-
sondere des Untergangs der abendländischen Kultur.
Darum stellt Spengler also eine radikale Trennung der
Kulturen her. Ihm zufolge liegt jeder von ihnen — wir wissen
es bereits — ein eigen- und einzigartiges Seelen tum zugrunde, und
alle einzelnen Erscheinungen innerhalb einer Kultur sind ein Aus-
druck, Symbole dieses eigen- und einzigartigen Seelentums. Mag
Kautstudien XXVn. 8
114 Kurt Sternberg,
eine Kultur — immer nach Spengler — sich auch äußerlich die
Formen einer anderen aneignen, so erfüllt sie diese doch mit einem
völlig neuen inneren, seelischen Gehalt. Es besteht, sieht man
von der „Oberfläche" ab, kein Zusammenhang zwischen den ver-
schiedenen Kulturen; die eine wurzelt niemals in der anderen, die
eine setzt die andere nicht voraus. „Im Phänomen der einzelnen,
aufeinander folgenden, nebeneinander aufwachsenden, sich berüh-
renden, überschattenden, erdrückenden Kulturen erschöpft sich der
Grehalt aller Historie".
Demselben relativistischen Standpunkt, den Spengler gegen-
über den Kulturen in ihrer Gesamtheit einnimmt, unterstellt er
nun natürlich auch die einzelnen Kulturgebiete. Gerade in philo-
sophischen Kreisen könnte man der Auffassung sein, daß dieser
Relativismus in bezug auf die Philosophie bereits durch einen
Blick auf ihre Entwicklungsgeschichte widerlegt würde; denn die
Philosophie der abendländischen Kultur — diese stets im Speng-
lerschen, d. h. ausschließlich das zweite nachchristliche Jahr-
tausend umfassenden Sinne verstanden — ist bekanntlich ohne die
antike Philosophie nicht begreiflich, gar nicht denkbar. Spengler
ist anderer Meinung: „Jede Philosophie ist ein Ausdruck ihrer
und nur ihrer Zeit". „Es gibt keine Philosophie überhaupt".
Und wie es — immer nach Spengler — keine Philosophie über-
haupt gibt, so gibt es auch sonst keine Wissenschaft, zum Bei-
spiel keine Mathematik überhaupt: „Es gibt keine Mathematik,
es gibt nur Mathematiken". Ebenso gibt es keine Physik, sondern
„nur einzelne, auftauchende und schwindende Physiken innerhalb
einzelner Kulturen". Die moderne Mechanik mit ihrem Geltungs-
anspruch ist nichts als „eine die Struktur des westeuropäischen
Geistes bezeichnende Illusion".
Wie es auf wissenschaftlichem Gebiete steht, so auch auf
moralischem: „Es gibt so viele Moralen, als es Kulturen gibt";
mithin gibt es „keine allgemein menschliche Ethik".
Entsprechendes gilt von der Kunst bzw. den Künsten. „Die
Malerei — das gibt es nicht". „Malerei ist nur ein Wort".
„Ebenso ist Musik ein vages Wort". Die Kunst „der freistehenden
griechischen Statue, des Kontrapunkts, des byzantinischen fron-
talen Porträts, des perspektivischen Ölgemäldes : Jede dieser Künste
ist ein Organismus für sich, ohne Vorgänger und Nachfolger, wenn
man vom Äußerlichsten absieht". Darum gibt es „keine Geschichte
der Kunst, der Architektur, der Musik, des Dramas"; es sind
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 115
„diese Gesamtgeschichten lediglich eine äußerliche. Summierung
einer Anzahl von Einzelphänomenen, von Sonderkünsten . . . , die
nichts als den Namen und einiges der handwerklichen Tecknik
gemein haben".
„Nichts als den Namen"; schon gut, aber immerhin den Namen!
Wie kommt das? Worauf beruht es, daß wir sowohl die Fresko-
malerei Griechenlands als auch die perspektivische Ölmalerei der
Neuzeit als Malerei, sowohl die antike Musik — sie mag im übrigen
so primitiv gedacht werden wie nur möglich — als auch die mo-
derne kontrapunktische Musik als Musik bezeichnen? Es müssen
hier wie dort gewisse grundlegende Voraussetzungen logischer
Natur vorhanden sein, welche allein es ermöglichen, dann aber
auch dazu verpflichten, von Malerei bezw. Musik zu sprechen.
Malerei und Musik sind eben nicht bloße „Namen", bloße „Worte",
noch dazu „vage Worte" ; es handelt sich vielmehr um streng de-
finierte Begriffe. Diese Begriffe stellen — wie sämtliche Begriffe —
Geltungszusammenhänge dar; sie enthalten — gleich allen Be-
griffen — in sich ein System formaler Bedingungen, die erfüllt
sein müssen, wenn ein Objekt durch sie bestimmt werden soll.
Diese formalen Bedingungen hat das Objekt der antiken Ma-
lerei und Musik genau so zu erfüllen wie das der abendländischen,
damit es als Objekt der Malerei und Musik begriffen werden kann
und muß, mögen antike und abendländische Malerei und Musik
inhaltlich auch noch so sehr voneinander verschieden sein. Das
System der formalen Bedingungen, der Geltungszusammenhang,
stellt die Einheit der Malerei und der Musik, überhaupt der Kunst
her und gestattet, ja, gebietet es uns, von der Malerei, der
Musik, der Kunst zu reden.
Das System der formalen Bedingungen, der Geltungszusam-
menhang, gestattet und gebietet es uns auch, von der Moral zu
reden. Gewiß: „es gibt so viele Moralen, als es Kulturen gibt";
aber diese verschiedenen Moralen sind immerhin Moralen. Der
Begriff der Moralen setzt doch wohl den der Moral voraus!
Ebenso setzt der Begriff der Physiken, Mathematiken,
Philosophien doch wohl den Begriff der Physik, Mathe-
matik, Philosophie voraus. Fraglos besteht zwischen der
dynamischen Physik der Neuzeit und der statischen des Altertums
ein großer Unterschied, derselbe Unterschied wie zwischen der
infinitesimalen Mathematik der Neuzeit und der euklidischen
des Altertums. Allein dieses Unterschiedes ungeachtet, handelt
8*
116 Kurt Sternberg,
es sich beidemal um Physik resp. Mathematik, und dieser Umstand
erfordert, daß beidemal ein Inbegriff von Momenten vorliegt, die
das jeweilige Objekt in seinem physikalischen resp. mathematischen
Geltungswerte, die den Geltungswert von Physik resp. Mathematik
konstituieren. Und inbetreff der Philosophie ist es nickt anders.
Allerdings ist jede Philosophie ein Ausdruck ihrer Zeit. Das führte
schon Plato als Entschuldigung für die Irrlehren der Sophisten
an, und von Hegel stammt das schöne und tiefe Wort: „Eine
Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken erfaßt". Aber Hegel dachte
gar nicht daran, der verschiedenen Philosophien wegen den ein-
heitlichen Philosophiebegriff aufzuheben; denn er wußte, daß in
ihnen allen trotz ihrer inhaltlichen Verschiedenheit dieselben
formalen Elemente wirksam sind, die Elemente, welche die ver-
schiedenen Philosophien zur Philosophie machen und somit den
Begriff der Philosophie selbst begründen.
Die Wirksamkeit der formalen Elemente, der logischen Voraus-
setzungen und Bedingungen, welche den Grund legen zu den Be-
griffen Wissenschaft, Moral und Kunst, garantiert die Einheit auf
den genannten Kulturgebieten. Diese formale Einheit bildet den
absoluten Faktor in den relativen Inhalten; sie stellt die von
Spengler so völlig verkannte * Kontinuität her. Die Kontinuität
in der Wissenschaft, Moral und Kunst — sie bedeutet aber die
Kontinuität in der Kultur überhaupt; denn die wissenschaftliche,
die — im weitesten Sinne verstandene, also auch Recht, Religion
usw. in sich begreifende — moralische und die künstlerische Kultur
umfassen den gesamten Bereich der menschlichen Kultur.
„Was ist nun von der monadologischen Struktur der welt-
geschichtlichen Kulturen zu halten?", fragt Heinrich Scholz
in seiner Auseinandersetzung mit Spengler, und er fährt fort:
„Unsere Antwort darf kurz sein. Sie lautet so : Soweit sich dieser
Strukturgedanke mit dem Kontinuitätsprinzip verträgt , ist er
gut" 1). Hiermit ist die Stellung gekennzeichnet, die unter logi-
schem Aspekt allein diesem Problem gegenüber eingenommen werden
kann.
Relativität und Kontinuität schließen einander keineswegs aus.
Die Kontinuität ist stets eine solche im Relativen; der Begriff
der Kontinuität fordert 3omit den der Relativität als sein Korrelat.
Umgekehrt verlangt auch dieser jenen zu seiner Ergänzung. Das
1) Scholz, 1. e. S. 48.
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 117
Relative hat nur Sinn nnd Bedeutung in Beziehung auf ein Abso-
lutes, das in ihm kontinuierlich fortwirkt. Dieses Absolute, welches
kontinuierlich fortwirkt — es ist nichts anderes als das Denken,
die Erkenntnis selbst. Gewiß: alles Gedachte, alles Erkannte ist
relativ; daß aber alles Relative in der Einheit des Denkens, der
Erkenntnis, wurzelt, in logischem Sinne aus ihr hervorgeht, dies
besagt das Prinzip der Kontinuität. Darum ist es von Leibniz
und von Kant vertreten worden, und über seine methodische Be-
deutung sollte zum mindesten seit Hermann Cohen kein Zweifel
mehr möglich sein. Das Urteil der Kontinuität ist das Urteil des
Ursprungs, des logischen Ursprungs aus dem Denken, wie es sich
am klarsten in der mathematischen Infinitesimal- Analysis offenbart.
Hätte sich Spengler, der diese ständig im Munde führt, ihren
wahren methodischen Sinn und Gebalt vergegenwärtigt, so würde
er sich auch Sinn und Gehalt des Kontinuitätsprinzips vergegen-
wärtigt und nicht alle Kontinuität bestritten haben.
Nicht dies ist der Fehler Spenglers, daß er die Relativität
aller Kultur auf das stärkste betont und aufzuzeigen strebt. Dies
ist sogar ein Verdienst von ihm, und er hat in der Unterscheidung
der verschiedenen Kulturen, in ihrer Abhebung voneinander, Be-
deutsames geleistet. Daß er aber die Relativität in relativisti-
schem Sinne interpretiert, ausbeutet, darin liegt der Fehler. Et-
was anderes ist es, die Relativität, etwas anderes, den Relativis-
mus zu vertreten; jene ist im Gegensatz zu diesem mit dem un-
entbehrlichen Kontinuitätsgedanken durchaus verträglich.
7. Dieser ist aber unentbehrlich, weil er und nur er uns das
Verständnis fremder Kulturen ermöglicht. Wäre zwischen den
verschiedenen Kulturen keine Kontinuität vorhanden, so würde es
keine Übergänge geben, keine Brücken, die von der einen zur an-
deren führen, und es würde somit unmöglich sein, die eine von
der anderen aus zu erfassen, zu begreifen. Die völlige Leugnung
der Kontinuität würde also den völligen Skeptizismus im Gefolge
haben.
Spengler zeigt unverkennbar Neigung, diese Konsequenz zu
ziehen. Er selbst bezeichnet seinen Standpunkt als Skeptizismus,
als „historisch-psychologischen Skeptizismus". Sollte es wirklich
nötig sein, die in der Philosophie längst erkannte theoretische
Widersinnigkeit des Skeptizismus noch einmal nachzuweisen? Ge-
ringes Nachdenken führt zu der Einsicht, daß letzten Endes nicht
das Denken im Zweifel, sondern der Zweifel im. Denken wurzelt.
118 Kurt Sternberg,
"Wir verdanken Richard Hönigswald eine wertvolle Studie
über den Zweifel *). In ihr wird seine ungemein große methodische
Fruchtbarkeit gekennzeichnet; in ihr werden aber auch seine
Grenzen abgesteckt. Diese Grenzen ergeben sich daraus, daß der
Zweifel — als ein Denken — die Denkgesetze zu seiner Bedin-
gung hat, an sie mithin nicht heranreicht. So wird zwar die
Skepsis gerechtfertigt, welche den Hebel aller Forschung bildet,
zugleich aber der Skeptizismus ad absurdum geführt. Das
letztere ist in der Tat nicht schwer ! Der Skeptizismus will eine
Theorie sein, aber eine solche, die alle Theorie unmöglich macht;
der Skeptizismus will eine Erkenntnis vermitteln, aber eine solche,
die alle Erkenntnis aufhebt; der Skeptizismus will Wahrheit •
geben, aber eine solche, die alle Wahrheit leugnet. Dieser innere
Widerspruch, der dem Skeptizismus anhaftet, ist seit langem auf-
gedeckt worden; man sollte meinen, daß er auch Spengler be-
kannt geworden sei. Allein das Gregenteil ist der Fall; er macht
sich bei ihm in seinem ganzen Ausmaß, in seiner vollen Schärfe
geltend.
Auf der einen Seite setzt Spenglers Methode der morpho-
logischen Vergleichung doch wohl das Verständnis des zu Ver-
gleichenden voraus, nämlich der Kulturen resp. der ihnen zugrunde
liegenden Seelen. So erscheint es ihm denn als die Aufgabe seiner
Morphologie, „das Weltgefühl nicht nur der eigenen, sondern das
aller Seelen zu durchdringen, in denen große Möglichkeiten über-
haupt bisher erschienen und deren Verkörperung im Bereiche des
Wirklichen die einzelnen Kulturen sind." In diesem Sinne sucht
er den Charakter der verschiedenen Kulturseelen festzulegen. So
bestimmt er die antike Kulturseele als die apollinische. Man
kennt diesen Terminus von Friedrich Nietzsche her. Die
apollinische — es ist die auf das Maß, auf das Begrenzte gerich-
tete Seele. Ihr gegenüber ist die des Abendlandes im zweiten
nachchristlichen Jahrtausend die faustische; es eignet ihr Fausts
Sehnsucht nach dem Unendlichen, Grenzenlosen, Fausts Wille zur
Macht. "So wird mithin die Möglichkeit einer Erfassung der
mannigfachen Kulturseelen von Spengler angenommen, und von
dieser Möglichkeit leben die meisten Ausführungen in seinem Werke.
Nichtsdestoweniger leugnet er auf der anderen Seite wieder-
holt und mit Entschiedenheit, daß einer Kultur das Verständnis
1) Hönigswald, Die Skepsis in Philosophie und Wissenschaft (Göttingen
1914).
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes." 119
einer anderen möglich sei. Ausdrücklich wird erklärt, daß jede
Kulturerscheinung Symbol eines Seelentums, Zeichen eines „Welt-
gefühls" ist, „das nur zu Menschen einer einzigen Kultur redet."
Deshalb handelte resp. handelt es sich nach Spengler um eine
bloße „Illusion", wenn wir die Antike zu verstehen glaubten resp.
glauben: „Wir haben in unser Bild von den Griechen und Römern
jedesmal das hineingelegt, hineingefühlt, was wir in der Tiefe
der eigenen Seele entbehrten oder erhofften."
Das ist ja nun wohl richtig. Jeder Epoche erscheint die An-
tike anders; jede macht sich von ihr ein anderes Bild, ein anderes
Ideal. Aber ist ein anderes Verständnis etwa kein Verständ-
nis ? Vielleicht versteht niemand von uns Heutigen die Philosophie
Pia tos so, wie die Griechen und vor allem Plato selbst und
seine Zeitgenossen sie verstanden haben; allein daraus folgt nicht,
daß wir sie überhaupt nicht verstehen. Spengler hat schon
ganz Recht mit seinem vorher angeführten Satze, daß jede Philo-
sophie ein Ausdruck ihrer Zeit ist; er hat jedoch Unrecht, wenn
er hinzufügt: „und nur ihrer Zeit." Der Philosophie ist neben
dem zeitlichen noch ein überzeitlicher Faktor immanent, der in
allem Zeitlichen kontinuierlich fortwirkt, und dieser überzeitliche
Faktor ermöglicht auch anderen Zeiten ein — wenn auch anderes
— Verständnis der Philosophie einer Zeit. Was von der Philo-
sophie gilt, das gilt auch von sämtlichen übrigen Kulturerschei-
nungen. Gewiß: ein griechisches Drama, eine griechische Statue
hat vielleicht, sogar vermutlich in einem Griechen ein anderes
Gefühl der Schönheit ausgelöst als in uns Jetzigen; immerhin:
ein Gefühl der Schönheit ist es nach wie vor, welches ausgelöst
wird. Das ist nur begreiflich bei der Annahme gewisser Bedin-
gungen, Gültigkeiten, die in der Antike vorlagen und auch in der
Moderne nicht verloren gegangen sind, gar nicht verloren gehen
können, weil sie von allem Zeitlichen unabhängig sind. Wir
kommen somit zu dem Schlüsse: Jede Kulturerscheinung ist ein
Ausdruck, ein Symbol eines bestimmten Seelentums ; aber sie ist
nicht bloß der Ausdruck, nicht bloß das Symbol einer Psyche.
Und was sie mehr ist: das konstituiert den Begriff der Kultur
selbst, ist darum in allen Kulturen wirksam und ermöglicht es
der einen, die andere — wenn auch auf ihre Weise — zu ver-
stehen.
8. Es heißt einmal bei Spengler: „Weil Gegensätze sich
berühren, weil sie auf ein vielleicht Gemeinsames in der letzten
120 Kurt Sternberg,
Tiefe der Existenz verweisen, finden wir in der abendländischen,
faustischen Seele jenes sehnsüchtige Suchen nach dem Ideal der
apollinischen, die sie allein von allen anderen begriffen und um
die Kraft ihrer Hingabe an die sinnlich-reine Gegenwart beneidet
hat." Diese Stelle, an der übrigens plötzlich zugegeben wird, daß
die abendländisch-faustische Seele die griechisch- apollinische „be-
griffen" hat, enthält einen sehr fruchtbaren Gedanken, den
Spengler nur leider nicht zu Ende gedacht hat. Er sagt, daß
„Gegensätze sich berühren" und „ auf ein vielleicht Gemeinsames . . .
verweisen." Allerdings: bei jeder Vergleichung wird logisch ein
einheitliches Prinzip vorausgesetzt, auf Grund dessen verglichen
wird, eine höhere Einheit , innerhalb derer die Vergleichung statt-
findet. Ebendas bedeutet das Prinzip der Kontinuität ; diese ist die
Einheit im Verschiedenen, im Gegensätzlichen. Mögen zwei Objekte
auch noch so verschieden, entgegengesetzt, sein: es muß eine kon-
tinuierliche Einheit zwischen ihnen gedacht werden, da sonst ihre
Verschiedenheit, ihr Gegensatz, gar nicht gedacht werden könnte.
So muß denn auch zwischen den nach Spengler entgegenge-
setzten Seelen der abendländisch-faustischen und der antik-apolli-
nischen Kultur eine kontinuierliche Einheit gedacht werden; sie
müssen „auf ein vielleicht Gemeinsames in der letzten Tiefe der
Existenz verweisen."
Wenn dem aber so ist, dann können das Apollinische und das
Faustische einander nicht bloß entgegengesetzt, nicht schlecht-
hin fremd sein, dann muß das Apollinische auch in der Kultur
des Abendlandes und das Faustische in der der Antike wirksam
sein. Hiermit ist gegeben, daß weder die Kategorie des Apolli-
nischen zur Bestimmung der antiken noch die des Faustischen —
wenigstens wenn sie in Spenglers Sinne genommen wird — zur
Bestimmung der abendländischen Kultur ausreichend ist.
Trotzdem soll durchaus zugestanden werden, daß Spengler
mit Hilfe dieser Kategorien Beträchtliches gelungen ist. Durch
sie ist so manche Kulturerscheinung in ganz anderer Weise als
zuvor dem Verständnis erschlossen worden. Spenglers Schilde-
rung der antiken und der abendländischen Kultur — und nicht
nur dieser beiden — macht den eigentlichen Wert seines Werkes aus.
Nichtsdestoweniger sind diese Kulturschilderungen einseitig.
Sie kehren stets bloß einen, vielleicht manchmal den entschei-
denden, jedenfalls aber nicht alle Gesichtspunkte hervor. Wenn
Spengler, der die Kultur als Ganzes atomisiert, bei der Fest-
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 121
legung der einzelnen Kulturen nach Einheit trachtet, so ist das
gewiß berechtigt ; aber er hätte Einheit nicht mit Einfachheit ver-
wechseln sollen. Eine Einheit kann zusammengesetzt, ein Gebilde
von höchst komplizierter Struktur sein, und Kulturen sind zu-
sammengesetzte Einheiten, Grebilde von höchst komplizierter
Struktur.
Gerade der bei ihm so beliebte Begriff des Faustischen hätte
Spengler die Augen öffnen können. Bekanntlich sagt Faust
von sich, daß zwei Seelen in seiner Brust wohnen. Nur die eine
ist die nordisch-germanische, die ins Unendliche, Grenzenlose stre-
bende; die andere aber, die ihn an das endliche, begrenzte Dies-
seits kettet, ist die, welche Spengler als die apollinische be-
zeichnet. Ja, sogar noch eine dritte Seele, die religiös -christliche,
wohnt in der Brust des Faust, den der Klang der Osterglocken
von dem beabsichtigten Selbstmord zurückhält. Hätte Spengler
dies beachtet, so würde er den Begriff des Faustischen nicht in
unzulässiger Weise verengt haben, so würde seine Bestimmung
der okzidentalen Kultur durch diesen Begriff ganz erheblich frucht-
barer gewesen, ganz erheblich tiefer gegangen sein. Er würde
entdeckt haben, daß der abendländischen Kultur des zweiten nach-
christlichen Jahrtausends — schon sofern sie als faustisch charak-
terisiert wird — nicht bloß eine, sondern verschiedene Seelen zu-
grunde liegen, und diese Erkenntnis würde ihn zu der Frage ge-
führt haben, ob nicht vielleicht auch der antiken Kultur noch
mehr als nur jene apollinische Seele immanent ist.
Der junge Nietzsche stellte neben das Apollinische das
Dionysische. Er war hier schon sehr viel weiter als Spengler,
dem das Dionysische in der griechischen Kultur nichts als ein
bloßer Auflehnungsversuch gegen das Apollinische, nichts als eine
mehr oder minder unwesentliche Gegenbewegung ist. Dem Dio-
nysischen eignet ganz unverkennbar ein Zug zum Unendlichen,
und dieser Zug muß sich auch in den einzelnen Erscheinungen der
griechischen Kultur — wenigstens in einem gewissen Sinne und
bis zu einem gewissen Grade — nachweisen lassen. Bei Speng-
ler freilich heißt es in bezug auf das antike Seelenbild, wie es
speziell von Plato gemalt worden ist: „Nichts deutet auf ein
Unendlichkeitsbedürfnis hin." Aber was besagt es, wenn der
platonischen Lehre zufolge die Dinge die Ideen nie erreichen,
obwohl sie ewig danach streben? Die ganze Tragik des Lebens,
die ganze Problematik der Kultur gelangt hier zum Ausdruck,
122 Kurt Sternberg,
und diese Tragik, diese Problematik, ist von den Griechen erfaßt
worden, seitdem die Pythagoreer ihre Tafel der Gegensätze
aufstellten und Heraklit den Kampf als den Vater aller Dinge
bezeichnete.
Die Problematik, die das Wesen der Kultur überhaupt aus-
macht, ist in der antiken Kultur erkannt worden und konnte
ihr nur erkannt werden, weil sie in ihr wirksam war, und sie \s\
in der abendländischen Kultur des zweiten Jahrtausends unsere]
Zeitrechnung womöglich noch tiefer erkannt worden, weil sie in
ihr womöglich noch mehr wirksam war bzw. ist. Es ist der groß-
artige Grundgedanke, von dem die Hegeische Dialektik getragei
wird, daß alles geistig-geschichtliche Leben sich in Gegensätzen
vollzieht, vollziehen muß, und dieser Gedanke bewährt und be-
wahrt seine prinzipielle methodische Bedeutung, mag er in ein-
zelnen Ausführungen Hegels auch oft genug zu „ Ab strusi täten*
— um mit Spengler zu reden — geführt haben. Der dialek-
tische, der Gesichtspunkt der Problematik, ist für das Verständnis
der Kultur in unseren Tagen vornehmlich von Arthur Liebe H
fruchtbar gemacht worden, der als den Grundgegensatz in allei
Kultur den zwischen dem griechischen und dem jüdisch-christ-
liehen Ideal anspricht, wobei beide Ideale nicht als historische
Fakta, sondern als überzeitliche Wertgegensätze verstanden werdei
müssen1). Hier wird also das jüdisch-christliche Ideal genannt,
dessen von Spengler nur ganz ungenügend gewürdigte Bedeu-
tung für die abendländische Kultur auch von Goetz Briefs be-
tont worden ist 2). Man sieht jetzt, wie unzureichend die Bestim-
mung der abendländischen Kultur durch die Kategorie des Fau-
stischen ist, wenn sie nicht in dem vorher bezeichneten weiterei
Sinne genommen wird, sondern ausschließlich in dem engen Sinne
Spenglers, dem zufolge das Faustische einzig das germanische
Unendlichkeitsstreben ist. Ernst Troeltsch hat schon |
Recht, wenn er drei Grundbestandteile unserer Kultur unterscheidet,
nämlich den religiös-christlichen, den nordisch-germanischen unc
den humanistisch-antiken, und wenn er in der Verschlingung diese]
drei Faktoren die eigentümliche, die schwere Problematik unsere]
Leuchter"; Darmstadt 1919).
2) Briefs, Untergang des Abendlandes, Christentum und Sozialismus. Eine
Auseinandersetzung mit Oswald Spengler (Freiburg i. Br. 1920).
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers n Untergang d. Abendlandes". 123
Zeit sieht1), die übrigens von Georg Simmel in einer kleinen,
gehaltreichen, noch kurz vor seinem Tode erschienenen Studie
durch verschiedene Einzelbeispiele beleuchtet worden ist2). Diese
Problematik unserer Zeit wird, aber nur begreiflich, wenn man
das kontinuierliche Fortwirken des religiös-christlichen, des nor-
disch-germanischen und des humanistisch- antiken Moments aner-
kennt, und so offenbart sich uns das Kontinuitätsprinzip als die
Bedingung für das Verständnis nicht bloß fremder Kulturen, son-
dern auch unserer eigenen Kultur.
9. Was setzt nun eigentlich Spengler an die Stelle des
Kontinuitätsprinzips? Es ist ein Prinzip, das man mit Heinrich
Scholz als das der Kohärenz bezeichnen kann3). Diese wird
freilich bei Spengler selbst letztlich zur Koinzidenz.
Jede Kultur bringt doch nach ihm ein ganz gewisses Seelen-
tum zum Ausdruck, und durch die Beziehung auf dieses Seelentum
erhalten die verschiedenen Kulturgebiete ihren Zusammenhang.
Keines von ihnen ist isoliert, für sich zu begreifen, sondern nur
im Konnex mit allen anderen; denn sie sind sämtlich Symbole
einer Seele. "Wenn diese sich in den uns schon bekannten Sta-
dien entwickelt, so entwickeln sich eben alle die kulturellen
Phänomene, in denen sich die Seele verkörpert; die Entwicklung
des einen ist unlöslich verknüpft mit der der ganzen übrigen.
Also nicht nur die Erscheinungen einer bestimmten Kultur im
allgemeinen, auch die einer bestimmten Kulturstufe im besonderen
sind unzertrennlich miteinander verbunden.
Das ist nun freilich nicht ganz neu. Vor allem hat Comte
den inneren Zusammenhang der verschiedenen Kulturgebiete be-
tont und hervorgehoben, daß einer Veränderung in dem einen
stets eine solche in allen anderen entspricht. Dennoch ist dieser
gewiß höchst fruchtbare Gedanke wohl noch nie mit einer solchen
Kraft vertreten und in einem solchen Umfang durchgeführt worden
wie von Spengler.
Allein Spengler hat ihn maßlos übertrieben. Wenn er mit
Rücksicht darauf, daß RichardWagners „ Ring des Nibelungen"
sowie „Tristan und Isolde" einerseits und Darwins Hauptwerk
andererseits ungefähr gleichzeitig entstanden sind, die Behauptung
1) Troeltsch, Deutsche Bildung (in dem Sammelwerk „Der Leuchter" ;
Darmstadt 1919).
2) Simmel, Der Konflikt der modernen Kultur (München u. Leipzig 1918).
3) Scholz, 1. c. S. 14f.
124
Kurt Sternberg,
aufstellt, der dritte Akt von „Siegfried* und nun gar „Tristan
und Isolde" enthielten „die Musik zur geschlechtlichen Zuchtwahl",
so kann man nur sagen: „difficile est satiram non scribere".
Spengler hat in gewissem Sinne schon ganz Eecht, wenn er er-
klärt: „Griechische Musik steht der griechischen Plastik tausend-
mal näher als der Kunst Palestrinas," aber nur in gewissem
Sinne ; denn als Musik gehört die griechische Musik wohl doch zu
„der Kunst Palestrinas". Zwar befindet sich die Musik alle-
mal in nahem Zusammenhang mit der bildenden Kunst; allein sie
ist keine bildende Kunst, wie Spengler schlechtweg meint.
Darum ist sein Satz: „Watteau gehört zu Coup er in und Ph.
Em. Bach" freilich richtig; aber wenn er hinzufügt: „nicht zu
Raffael", so geht er offenbar zu weit. Dasselbe trifft zu, wenn
er die Mathematik zur Kunst und die Kunst zur Mathematik, die
Physik zur Religion und die Religion zur Physik macht.
Die berühmten Worte Kants, daß es nicht Vermehrung,
sondern Verunstaltung der Wissenschaften ist, wenn man ihre
Grenzen ineinanderlaufen läßt, sie gelten nicht bloß vom ^wissen-
schaftlichen, sondern von all den verschiedenen Kulturgebieten.
Sollen diese miteinander verknüpft werden, so werden sie in ihrer
Verschiedenheit vorausgesetzt; verschieden voneinander sind sie
aber nur dann, wenn ein jegliches eine in sich geschlossene, streng
abgegrenzte Einheit bildet. Ist dies der Fall, so ist es auch mög-
lich, die kontinuierliche Entwicklung auf jedem dieser Kulturge-
biete für sich darzustellen, ihre geschichtliche Entwicklung geson-
dert als eine kontinuierliche zu begreifen. Dies muß sogar ge-
schehen, bevor die mannigfachen parallelen Entwicklungen in ihrer
Parallelität verstanden werden können, bevor die Kohärenz dieser
Entwicklungen eingesehen zu werden vermag. Die Kohärenz, die
niemals wie bei Spengler zur Koinzidenz ausarten darf, hat
somit die Kontinuität zu ihrer logischen Bedingung, und die Pa-
role lautet nicht : Kohärenz oder Kontinuität, sondern : Kohärenz
und Kontinuität.
10. Fragt man nach dem Grunde, aus welchem Spengler
die Kontinuität nicht gelten lassen will, so erkennt man leicht,
daß es die Furcht ist, es könnte mit der Kontinuität zugleich ein
Sinn oder gar ein Zweck anerkannt werden. Das aber ist es,
wovor sich Spengler scheut. Die Kulturen „wachsen in einer
erhabenen Zwecklosigkeit auf, wie die Blumen auf dem Felde,"
so heißt es bei Spengler. Er weist einmal darauf hin, He-
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 125
raklit habe das Werden „mit dem Spiel eines Knaben verglichen,
der Sandhaufen auftürmt und wieder zerstört." Genau so wie
der spielende Knabe Heraklits macht es — zwar nicht die Ge-
schichte, wohl aber — Spengler mit den Kulturen; er türmt
sie auf und zerstört sie wieder, ohne Sinn, ohne Zweck.
Nun hat Spengler gewiß ganz Recht, wenn er sich gegen
eine Behandlung der Geschichte unter dem Einfluß subjektiver
Ideale wendet, sofern sie den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit
erhebt und sich nicht darauf beschränkt, ein rein persönlicher
Standpunkt zu sein; denn es ist in der Tat „eine völlig unhalt-
bare Manier, Weltgeschichte zu deuten, indem man seiner politi-
schen, religiösen oder sozialen Überzeugung die Zügel schießen"
läßt. Allein darf die Geschichte wissenschaftlich auch nicht unter
dem Aspekt eines subjektiven Sinnes und Zweckes betrachtet
werden, so darf sie es doch wohl unter dem eines objektiven
Sinnes und Zweckes, und sie muß es sogar, soll sie überhaupt be-
greiflich sein. Dieser objektive Sinn und Zweck der Geschichte
können aber in nichts anderes gesetzt werden als in die Idee der
Kulturmenschheit. Spengler selbst spricht die Weltgeschichte
nicht nur gelegentlich, sondern wiederholt als die „Gesamtge-
schichte des höheren Menschentums" an. Freilich findet sich ein-
mal auf derselben Seite, auf welcher von der „Geschichte des hö-
heren Menschentums" die Rede ist, die Behauptung : „Die Mensch-
heit ist ein leeres Wort", und diese Behauptung steht allerdings
der Spenglerschen Geschichtsauffassung näher als der Begriff
einer „Gesamtgeschichte des höheren Menschentums". Hätte
Spengler an diesem Begriff festgehalten und ihn in seine letzten
Konsequenzen zerlegt, so dürfte seine Geschichtsphilosophie we-
sentlich fruchtbarer ausgefallen sein. Die „Gesamtgeschichte des
höheren Menschentums" — das ist die Geschichte der Kultur-
menschheit, d. h. der Menschheit in der Beziehung auf die ewigen
Kulturwerte des Wahren, Guten und Schönen. Diese Geschichte
braucht durchaus nicht als ein Fortschritt in der Richtung auf
irgendwelche subjektiven und angeblich endgültigen Ziele an-
gesehen zu werden, und sie darf es in wissenschaftlicher Hinsicht
auch gar nicht; wohl aber darf und muß sie verstanden werden
als eine einheitliche Gesetzlichkeit unter dem Gesichtspunkt der
objektiven Kulturideen. Die Einheit dieser Ideen, dieser kul-
turellen Werte, konstituiert die Einheit und damit den Sinn der
Menschheit und folglich auch ihrer Geschichte. Wir werden uns
126 Kurt Sternberg,
daher die folgenden Worte aus einer Abhandlung zu eigen machen,
in der sich Alfred Bäumler u. a. auch mit Spengler ausein-
andersetzt: „Das sinnlose Bild der in ihren Kreisen sich zu Tode
drehenden ,Kulturen' verschwindet. An seine Stelle tritt die alte,
aber gereinigte Vorstellung der einen, in sinnvoller Bewegung be-
griffenen (nicht fortschreitenden') Menschheit. Es ist eine mannig-
fach gebrochene Bewegung — aber es ist jedenfalls Bewegung in
einem Granzen, nicht sinnloses Drehen im Kreise"1). Sinnvolle,
wenn auch mannigfach gebrochene Bewegung in einem Ganzen —
ebendas besagt der Gedanke der historischen Kontinuität.
11. Von dem Kontinuitätsgedanken aus ergibt sich nun auch
die Bedeutung, in der allein vom Untergang des Abendlandes,
überhaupt von Untergängen der Kulturen geredet werden kann.
Spengler spricht vom Untergang der abendländischen Kultur,
weil er in ihr einen Organismus sieht, der geboren wird und reift,
verfällt und stirbt. Nun ist das zwar nichts als ein bloßes Bild,
wie im vorigen dargetan worden ist; aber es ist schon viel ge-
wonnen, wenn dieses Bild wirklich ausgeführt wird, wobei man
freilich nicht immer nur mit Spengler an den pflanzlichen Or-
ganismus zu denken hat. Der tierisch-menschliche Organismus
stirbt; aber er braucht darum nickt völlig unterzugehen. Wenn
er sich fortpflanzt, dann erhält er sich in seinen Nachkommen
und zwar nicht bloß den äußeren Formen, sondern auch der inne-
ren Seele nach. So brauchen auch Kulturen nicht völlig unter-
zugehen; auch sie erhalten sich in ihren Nachkommen, d. h. in
den nachkommenden Kulturen, und zwar auch nicht bloß den
äußeren Formen nach, wie Spengler meint, sondern auch der
inneren Seele nach. Ja, Kulturen können dem Kontinuitäts-
prinzip zufolge gar nicht völlig untergehen; ihre Aufhebung
kann immer nur eine solche im Hegeischen Sinne sein. Sie er-
halten sich in den folgenden Kulturen und wirken fort, weil der
Begriff der Kultur selbst sich erhält. So vermag von einem ab-
soluten, totalen Untergang in der von Spengler gewollten Weise
gar keine Rede zu sein.
Um ihn dennoch behaupten, um den Untergang des Abend-
landes nicht bloß voraussagen, sondern sogar genau vorausberechnen
zu- können, genügt es nicht, in den Kulturen Organismen zu er-
blicken ; man muß diesen Organismen vielmehr eine ein für allemal
1) Bau ml er, Metaphysik und Geschichte (in der Zeitschrift „Die neue
Rundschau« XXXI. Jahrgang Heft 10 vom Oktober 1920) S. 1128 f.
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 127
feststehende, von vornherein bekannte Lebenszeit zuschreiben.
Durch den Begriff des Organismus wird solches nicht gefordert.
Tierisch-menschliche"" Organismen erreichen ein sehr verschiedenes
Lebensalter, das zum Teil von äußeren Einflüssen abhängig ist.
Yon allen äußeren Einflüssen schließt Spengler seine Kultur-
organismen freilich geradezu hermetisch ab, und nur darum kann
er ihnen eine a priori bestimmte, im voraus berechenbare Lebens-
dauer beimessen. Diese legt er auf tausend Jahre fest.
Um nun das Dogma von der tausendjährigen Dauer der Kul-
turen aufrecht halten zu können, muß Spengler zu allen mög-
lichen und unmöglichen Mitteln greifen. Wenn er die Entstehung
der antiken Kultur auf die Zeit um das Jahr 1000 v. Chr. ansetzt,
so hat das vielleicht Sinn; wenn er behauptet, daß die antike —
wohlgemerkt: die antike, nicht die griechische — Kultur vom 4.
vorchristlichen Jahrhundert an in ständigem, sich stetig steigern-
dem Verfall begriffen ist, so braucht und vermag das durchaus
nicht jeder zuzugestehen; wenn er endlich die antike Kultur beim
Auftreten Jesu für total erloschen, vollkommen abgestorben aus-
gibt, so ist das kaum noch ernst zu nehmen. Er bringt dies nur
fertig durch die bereits berührte Erfindung einer das ganze erste
nachchristliche Jahrtausend umfassenden arabischen Kultur. Auf
diese Weise gelingt es ihm, die gesamten spätantiken Kulturer-
scheinungen seit Christi Geburt, also die philosophischen, religiösen,
künstlerischen usw., nicht mehr als antike anzusprechen, sondern
eben der neuen arabischen Kultur einzugliedern. Er hat sich hier
offenbar durch den Einfluß täuschen lassen, den in der Tat der
Orient damals auf den hellenisch-römischen Kulturkreis ausgeübt
hat. Dieser Einfluß reicht aber nicht dazu aus, um der Antike
einfach den Lebensfaden abzuschneiden und um das Jahr 1 eine
völlig neue Kultur beginnen zu lassen, die nur darum als die
arabische bezeichnet wird, weil viele Jahrhunderte später die
Araber ihren großen Siegeszug angetreten haben.
Wie zu der Zeit von Christi Geburt das orientalische Moment
für die Gestaltung der europäischen Kultur von Bedeutung wurde,
so das nordisch-germanische Moment um das Jahr 1000 n. Chr.
Allein auch dies reicht nicht dazu aus, um unter Preisgabe aller
Kontinuität die Entstehung einer gänzlich neuen, nämlich unserer
abendländischen Kultur zu behaupten. Um nun den Tod dieser
unserer abendländischen Kultur für die Zeit um das Jahr 2000
vorausbestimmen zu können, muß Spengler sie schon seit langem
128 Kurt Sternberg,
in Verfall begriffen sehen. Nach ihm haben die moderne Philo-
sophie und Mathematik ihre schöpferische Fähigkeit endgültig ein-
gebüßt, Entropielehre und Relativitätstheorie sind „Symbole des
Niedergangs", ebenso Ibsen und Strindberg sowie Richard
Wagner. Man kann hierüber verschiedener Meinung sein, und
eine Auseinandersetzung würde unfruchtbar bleiben. Was soll
man aber dazu sagen, wenn Spengler bereits ein Phänomen der
Zersetzung unserer Kultur darin erblickt, daß „die Musik Beet-
hovens die große Form der Instrumentalmusik des 18. Jahrhun-
derts zerstört" habe, weil schon Beethoven „dem großen Stil
nicht mehr gewachsen" gewesen sei? Hier rächt sich das man-
gelnde Verständnis, welches Spengler dem vorher entwickelten
Begriff der Problematik entgegenbringt. Hätte er für ihn Ver-
ständnis, so würde er gesehen haben, daß das titanische Ringen
Beethovens, welches — wie zum Beispiel im Schlußsatz der
9. Sinfonie — nicht nur die hergebrachte Form sprengt, sondern
nahezu alle Form überhaupt zu sprengen droht, keineswegs bloß
ein Zeichen der Zerstörung, sondern zugleich kraftvollen Aufbaues
ist, daß es keineswegs bloß etwas Negatives, sondern zugleich et-
was Positives bedeutet.
Es ist also Spengler nicht gelungen, und es konnte ihm
auch nicht gelingen, nachzuweisen, daß die Lebensdauer der Kul-
turen tausend Jahre beträgt. Dieser Gedanke erinnert sehr an
den des tausendjährigen Reiches, an die aus dem Altertum be-
kannten Spekulationen über das Weltjahr. Die mystische Zahlen-
symbolik der — nach Spengler schon so lange vollkommen toten
— Pythagoreer erlebt hier, wenn auch in veränderter Form,
eine Wiederauferstehung und nicht bloß hier, sondern bei allen,
die — wie Max Kemmerich und Friedrich von Stromer-
Reichenbach — durch Aufdeckung okkulter Zahlbeziehungen,
angeblicher periodischer Rhythmen bzw. rhythmisch gegliederter
Perioden Geschichte vorauszubestimmen, die Zukunft „exakt" zu
berechnen suchen. Nicht nur jede Kultur, so meint Spengler,
auch „jede^ ihrer notwendigen Phasen hat eine bestimmte, immer
gleiche, immer mit dem Nachdruck eines Symbols wiederkehrende
Dauer." In diesem Sinne macht er „auf den Abstand der drei
punischen Kriege und auf die ebenfalls rein rhythmisch zu begrei-
fende Reihe des spanischen Erbfolgekrieges, der Kriege Friedrichs
des Großen, Napoleons, Bismarcks und des Weltkriegs aufmerk-
sam." Er fragt: „Was bedeutet die in allen Kulturen herrschende
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 129
50 jährige Periode im Rhythmus des politischen, geistigen, künst-
lerischen Werdens?" Hier sieht er eine „Welt geheimnisvollster
Zusammenhänge", und er erklärt:. „Die Dauer einer Generation —
gleichviel von was für Wesen — ist ein Wert von beinahe mysti-
scher Bedeutung." Allerdings, um Mystik handelt es sich, um
mystische Metaphysik!
12. Spengler, der angesichts seines Strebens, die historische
Zukunft zu berechnen, zweifellos stark naturalistisch eingestellt
ist, hat dennoch ein überaus inniges Verhältnis zur Metaphysik.
Der Grund hierfür liegt in der psychologisch-biologischen Funda-
mentierung seiner Philosophie. Man kann es immer wieder bei
psychologisch-biologisch orientierten Denkern — so auch bei Berg -
son — beobachten, wie der psychologisch-biologische Ausgangs-
punkt zu einem metaphysischen Ende führt. Arthur Liebert
hat in einer wertvollen Untersuchung die Relation zwischen dem
Psychologismus und Biologismus einerseits und der Metaphysik,
zum mindesten einer ontologistischen, d. h. auf das Sein bezogenen,
verdinglichenden Metaphysik andererseits klargelegt. Er hat ge-
zeigt, wie alle ontologistische Metaphysik auf die unzulässige Ver-
dinglichung von Erlebnissen, von psychischen Vorstellungen, zu-
rückgeht1). Die Spenglersche Metaphysik ist ein Schulbeispiel
für die Richtigkeit von Lieberts Theorie.
Spengler verdinglicht nicht bloß einzelne seelische Erleb-
nisse ; er verdinglicht das Erlebnis der Seele selbst. Seine Kultur-
seelen sind nicht das, was sie unter logisch- wissenschaftlichem
Aspekt allein sein dürften, nämlich Begriffe, Kategorien, metho-
dische Prinzipien, um eine Anzahl zusammenhängender, zusammen- '
gehöriger Erscheinungen als Einheit zu begreifen; sie sind Gege-
benheiten, Wesenheiten, Dinge. Wenn sie, wie zum Beispiel die
arabische Kulturseele, durch den überragenden Einfluß einer an-
deren Kultur in ihrer Entwicklung beeinträchtigt werden — was
nach Aufhebung des Kontinuitätsprinzips eigentlich gar nicht mög-
lich sein sollte — , so holen sie das Versäumte mit doppelter Kraft
und in beschleunigtem Tempo nach. Sie sind auch eifersüchtig:
„Es scheint, daß die Seele alter Kulturen in ihren letzten Ver-
feinerungen und sterbend wie eifersüchtig auf ihr eigenstes Eigen-
tum, ihren Gehalt an Eorm . . . ist." Stirbt eine Kultur, d. h.
wird sie zur Zivilisation, so hat „die Seele sich fortgestohlen", so
1) Liebert, Das Problem der Geltung (2. Aufl.; Leipzig 1920).
Kantstudien XXVII. 9
130 Kurt Sternberg,
kehrt sie ins „Urseelentum" zurück. Die Seelen sind nämlich
ewig. Ihre „Gestalt bedarf keiner Wirklichkeit, um zu sein. Sie
entsteht und vergeht nicht." Darum bezeichnet Spengler die
Kulturseelen als „reine Formen"; darum spricht er auch von „un-
geborenen Formen" eines Seelentums. Damit sind wir glücklich
wieder bei den substantiellen Formen, bei den Entitäten einer
längst überwundenen ontologistischen Metaphysik angelangt. Die
Entelechie des alten — angeblich so vollkommen toten — Ari-
stoteles ist zu frischem Leben erwacht, allerdings ohne das
Moment, welches methodisch ihren Gehalt und ihre Rechtfertigung
ausmacht, nämlich ohne das teleologische. Aristoteles gehörte
einer Kultur an, der Spengler einen apollinisch- statischen Cha-
rakter zuschreibt, und wenn er die aristotelischen Formsub-
stanzen in seiner Metaphysik erneuert, so ist diese eine apollinisch-
statische. Hat er nun aber damit Recht, daß die abendländische
Kultur eine faustisch- dynamische ist, so fällt der Abendländer
Spengler mit seiner apollinisch-statischen Metaphysik aus dem
Rahmen der faustisch-dynamischen Kultur des Abendlands heraus.
In den „reinen Formen" und „Gestalten" glaubt Spengler
des Lebens selbst, an sich, habhaft zu werden. Es liegt auf der
Hand, daß er damit das Leben nicht mehr im Sinne der wissen-
schaftlichen Biologie nimmt, aus der doch seine Methode der mor-
phologischen Vergleichung stammt. Auch dies ist eine Beobach-
tung, die man sehr oft bei den von der Biologie ausgehenden
Philosophen machen kann, daß sie dazu gelangen, dem Leben eine
ganz andere Bedeutung zu geben als die, welche es. in der Bio-
logie hat. Bei Spengler tritt an die Stelle des biologischen
Lebensbegriffs ein davon sehr verschiedener — oder vielmehr rich-
tiger: das Leben selbst in seiner Unmittelbarkeit. Die Biologie
hat es mit. dem erkannten, begriffenen Leben zu tun; Spengler
will — gleich Bergs on — das Leben als solches erfassen ohne
die Vermittlung, ohne den Umweg des Begriffs. Das soll durch
Intuition, durch das Gefühl geschehen.
Die Sphäre des Gefühls ist die der Kunst, und so wird der
Historiker, wenigstens der philosophische, der Geschichtsphilosoph,
für Spengler zum Künstler. „Dichten und Geschichtsforschung
sind verwandt," sagt er; „über Geschichte soll man dichten".
Nur der Künstler und der Historiker nur als Künstler wird mit
dem Leben eins, mit diesem Leben, das nichts anderes als das
Schicksal ist.
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 131
Und das Schicksal? „Schicksal ist das Wort für eine nicht
zu beschreibende innere Gewißheit." Wie heißt es doch im
„Faust"? „Wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten
Zeit sich ein." Schicksal hat Spengler zufolge nichts mit Kau-
salität zu tun, umsomehr aber diese mit jenem; denn Kausalität
ist „erstarrtes Schicksal".
Ganz ebenso ist — immer nach Spengler — Raum „er-
starrte Zeit". Die Zeit — das ist dasselbe wie das Schicksal, das
Leben in seinem ständigen, ewigen Flusse. Darum kann die echte
Zeit nicht begriffen, gemessen, sondern nur gefühlt, erlebt werden.
Spengler stellt dem physikalischen Begriff der gemessenen Zeit
die gefühlte, erlebte Zeit gegenüber, genau wie Bergson, und
die Geringschätzung, mit der Spengler auf Bergson herab-
blickt, ist in Anbetracht ihrer großen methodischen Verwandt-
schaft nicht so recht verständlich.
„Zeit ist ein Wort, um etwas Unbegreifliches anzudeuten,"
sagt Spengler. Seine hier latent, an anderer Stelle aber auch
offen geäußerte Klage über die Unzulänglichkeit des sprachlichen
Ausdrucks zur adäquaten Darstellung innerer Erlebnisse und Ge-
fühle ist bei Romantikern oft anzutreffen. Romantiker ist Speng-
ler trotz aller naturalistischen Tendenzen durch und durch, und
er selbst widerlegt auf das beste seine — übrigens kaum glaub-
liche — Behauptung, daß die Gegenwart „von aller Romantik
endgültig geschieden ist. " Wer kennt nicht aus der romantischen
Philosophie die Methode der unmittelbaren Anschauung, der er-
lebnis- und gefühlsmäßigen Erfassung von etwas, was angeblich
durch das begriffliche Denken nicht erreicht wird ? Die typischen
Züge der romantischen Geisteshaltung — sie finden sich bei
Spengler sämtlich, nicht zum mindesten auch jene Grenzver-
wischungen, jenes Ineinanderfließen der Formen, wodurch die Ro-
mantik von jeher charakterisiert wird. Sogar jener Grundgegen-
satz zwischen Geschichte und Natur, auf dem die ganze Geschichts-
philosophie Spenglers beruht, wird von ihm aufgehoben und
zwar nicht bloß in der praktischen Ausführung, worauf ja im
vorigen bereits hingewiesen worden ist, sondern selbst in der
Theorie. Nach Spengler bezieht sich die Geschichtsbetrachtung
auf das Werden, die Naturwissenschaft auf das Gewordene. Da
nun ihm zufolge in jedem Weltbild sich sowohl Momente des
Werdens wie auch solche des Gewordenen finden, so daß es sich
immer nur um ein Mehr oder Weniger des einen oder des anderen
9*
132 Kurt Sternberg,
Faktors handelt, besteht zwischen Geschichte nnd Natnr überhaupt
kein qualitativer, genereller Unterschied mehr, sondern bloß noch
ein quantitativer, gradueller. Damit wird die Autonomie sowohl
der geschichtlichen wie der Natursphäre vernichtet. Genau so
wird, wie wir gesehen haben, die Autonomie der sämtlichen Kul-
turgebiete vernichtet; denn sie fallen sämtlich letzten Endes zu-
sammen als schemenhafte, wesenlose Symbole irgendeines Seelen-
tums.
Man darf wohl sagen, daß alle die Gefahren und Mängel, die
Heinrich Rickert in einem unlängst erschienenen Werke der
„Philosophie des Lebens" nachsagt1), bei Spengler in poten-
zierter Form, in einem bis ins Ungeheuerliche gesteigerten Maß
zutage treten.
13. Es leuchtet ohne weiteres ein, wie Spengler in Anbe-
tracht seiner romantisch-symbolistisch- mystischen Geisteshaltung
der kritischen Philosophie Kants gegenübersteht. Spenglers
Verhältnis zu Kant — das ist ein Kapitel für sich, welches hier
nicht mehr erschöpfend behandelt, sondern nur noch angedeutet
werden kann.
Dabei geht man am besten von der Behauptung Spenglers
aus, „der einzige ernste Versuch" einer Wiederbelebung Kants
finde sich in — Weiningers „Geschlecht und Charakter". Den
Neukantianismus ignoriert Spengler also völlig. Freilich,
es handelt sich hier ja um „Professorenphilosophie der Philosophie-
professoren", die Spengler im Anschluß an Schopenhauer
gründlich verachtet. Vielleicht würden aber seine zahlreichen Be-
merkungen über Kant den Kern der Sache besser getroffen haben,
hätte er die neukantische „Professorenphilosophie" mehr ge-
würdigt.
Wenn man das Leben unmittelbar erfassen zu können glaubt,
so wird man natürlich sagen, daß Kants „zopfige Formeln", daß
seine „Abstraktionen" sowie überhaupt die der systematischen
Philosophen „das Leben . . . nicht zu berühren vermochten." Wer
sich mit jugendlicher Schwärmerei zu einem Leben an sich aufzu-
schwingen vermag, dem muß der auf methodische Klarheit und
Sauberkeit und darum überall auf begriffliche Formung und Ord-
nung bedachte Kant als der „ewige Greis" erscheinen. Begriffen
werden kann nach Spengler nur die Natur, nicht das Leben und
1) Rickert, Die Philosophie des Lebens (Tübingen 1920).
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 133
somit nicht die Geschichte, welche Leben ist. Deshalb ist es
durchaus eine Konsequenz der Voraussetzungen Spenglers,
wenn er erklärt, Kant habe sein Interesse ausschließlich der
Natur zugewandt. Hat denn nicht aber gerade Kant durch die
Aufstellung der Freiheitsidee die Möglichkeit einer Welt wahren
geistig-geschichtlichen Lebens, einer Welt der Kultur, überhaupt
erst erschlossen? Schon durch den Hinweis auf die Freiheitsidee
als das Kantische Moralprinzip erledigt sich auch der Vorwurf
Spenglers, daß das Weltbild Kants, der die Ethik als die
Lehre von dem das Gute wollenden und auch die Ästhetik als die
Lehre von dem das Schöne fühlenden Menschen neubegründet hat,
nicht „die Ausstrahlung des ganzen Menschen", sondern „nur
die des erkennenden ist." Um die Erkenntnis handelt es sich
allerdings stets bei Kant; denn aus ihrem Bereiche kommt man
ohne logisches Salto mortale nicht heraus, und der ganze Mensch
kann immer nur der erkannte sein in einer Philosophie, die
Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt. Freilich soll umgekehrt
der erkannte Mensch der ganze sein, und er ist es auch bei
Kant; denn Gegenstand der Erkenntnis ist ihm keineswegs bloß
der erkennende, d. h. das Wahre denkende Mensch, sondern auch
der das Gute wollende und der das Schöne fühlende.
Neben den allgemeinen Mißverständnissen Spenglers in be-
zug auf Kant stehen nun zahlreiche besondere. Wer die Zeit
fühlen und erleben will, vermag wohl der Kantischen Frage
nach der Bedeutung der Zeit als eines wissenschaftkonstituierenden
Faktors nicht gerecht zu werden, und wer die Zeit zum Raum
„erstarren" läßt, wer diesen als „erstarrte Zeit" ausgibt und er-
klärt, der echte Raum könne „weniger verstanden" als vielmehr
nur gefühlt, „geahnt" werden, dem muß wohl das begriffliche,
dafür aber auch begreifliche „Raumproblem der kritischen Philo-
sophie" als ganz ungemein „dürftig" erscheinen. Spengler ver-
fehlt das Kantische Raumproblem bereits als Problem; denn
sonst würde er nicht der Meinung sein, daß nach Kant die An-
schauungsform „alle Dinge erst schafft". So spricht er auch
von dem „kosmischen Solipsismus, der Kants Vernunftkritik zu-
grunde liegt." Hier offenbart sich jenes subjekti vis tische Mißver-
ständnis Kants, das durch Schopenhauer beinahe sakrosankt
geworden ist; es zeigt sich der Einfluß Schopenhauers, dem
134 Kurt Sternberg,
Spengler überhaupt sehr nahesteht, wie Alfred Bäumler ge-
zeigt hat1).
Außer zu Schopenhauer unterhält Spengler — schon
als Kritiker der Kultur, speziell der Dekadenz — die innigsten
Beziehungen zu Nietzsche, und auch dieser hat so manches bei-
getragen zu der irrigen Auslegung Kants durch Spengler.
Der Geist von Nietzsches Machtphilosophie wirkt auf Speng-
ler, wenn er erklärt, die Kantische Lehre vom Raum als der
Anschauungsform „bedeute einen Herrschaftsanspruch der Seele
über das Fremde, u sie wolle „die Welt ,als Erscheinung' den
Machtansprüchen des erkennenden Ich unterwerfen," und wenn er
in den kategorischen Imperativ den — allerdings nicht individua-
listischen, sondern sozialistischen — Willen zur Macht hineinver-
legt.
Dies alles beweist, wie wenig Spengler sich über den Kan-
tischen Begriff der Form klargeworden ist. Nach seiner Mei-
nung sind die Formen der Anschauung und des Denkens von
Kant im Sinne des „Angeborenseins" genommen worden. Er ver-
mag sich eben nicht über den psychologischen Ausgangspunkt zu
erheben und in die Sphäre reiner logischer Geltung vorzudringen.
Das zeigt sich nicht zum wenigsten, wenn der alle Grenzen ver-
wischende Romantiker auch die Grenze zwischen dem Äpriori und
Aposteriori aufhebt, beide ineinanderlaufen läßt und „den schwan-
kenden Grad" der Allgemeingültigkeit behauptet. Spengler
weiß nichts vom Geltungsproblem, diesem Grundproblem des Kri-
tizismus; der Ontologist weiß nur etwas vom Seinsproblem.
14. Dem Sein gegenüber sind zwei Einstellungen möglich : die
naturalistische, die sich an das natürliche Sein hält, und die ro-
mantisch-symbolistische, die auf die Erfassung eines übernatür-
lichen Seins ausgeht und in allem natürlichen bloßes Symbol eines
übernatürlichen Seins erblickt. Spengler kennt nur diese
beiden Einstellungen ; aber er kennt sie beide. Naturalismus und
romantischer Symbolismus gehen bei ihm ständig mit- und durch-
einander.
Hierin ist er nun freilich ein Kind seiner, unserer Zeit. Ar-
thur Liebert hat die Entwicklung geschildert, welche unsere
Kultur in den letzten Jahrzehnten genommen hat, und er hat ge-
zeigt, wie diese Entwicklung beherrscht wird von dem Kampf
1) Bäumler, 1. c. S. 1114f. und S. 1120ff.
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 135
zwischen einem aufs Nene andringenden Romantizismus und Sym-
bolismus auf der einen und einem allmählich immer mehr zurück-
gedrängten, aber keineswegs ganz aufgegebenen Naturalismus auf
der anderen Seite 1). Dieser Kampf hat bekanntlich in der Kunst
zu jener Bewegung geführt, die man als Expressionismus bezeich-
net. Der Expressionismus will die Grefühle und Erlebnisse der
Seele zu unmittelbarem Ausdruck bringen. Das will auch Speng-
ler, für den die Kulturerscheinungen doch nichts als ein Aus-
druck, Symbol eines bestimmten Seelentumes sind. Mit dem
Spenglerschen Werk hat der — im weiteren Sinne verstan-
dene — Expressionismus einen gewaltigen Vorstoß auf das Grebiet
der Philosophie unternommen. Allein hiermit ist jenes Werk noch
nicht erschöpfend gekennzeichnet. Wir haben gesehen, daß sich
in ihm neben den Zügen eines romantisch-symbolistischen Expres-
sionismus auch eine stark ausgeprägte naturalistische Tendenz
findet, und erst das, erst diese Verquickung von Naturalismus
und Romantik, macht Spenglers Buch zu einem typischen Buche
unserer Zeit. Aus ihr und nur aus ihr erklärt sich die Bemühung
Spenglers sowie der vorhin genannten Max Kemmerich und
Friedrich von Stromer-Reichenbach, auf dem Wege
einer mystischen Romantik ein rein naturalistisches Ziel zu ver-
folgen: die Vorausberechnung der historischen Zukunft.
Unsere Zeit ist eine solche des Übergangs. Es muß und es
wird ihr gelingen, sich von jenem ungesunden Hin- und Herpen-
deln zwischen Naturalismus und Romantik zu befreien. Ebendies
wird allmählich auch zu der dringlichsten Aufgabe für die Philo-
sophie der G-egenwart. Sie kann aber nicht dadurch gelöst werden,
daß man den einen oder den anderen Faktor in den Schwerpunkt
rückt, daß man sich für den Naturalismus oder für die Romantik
entscheidet. Die Problemlage selbst muß überwunden werden!
Naturalismus und Romantik liegen trotz aller scheinbaren und
auch wirklichen Gegensätzlichkeit auf derselben Ebene; beide sind
in unkritischer Weise ontologistisch, auf das Sein eingestellt.
Demgegenüber werden wir, sollen die Leistungen Kants und des
Neukantianismus nicht vergeblich gewesen sein, wiederum die
kritische Geltungsfrage aufzurollen haben; wir werden uns an
das halten müssen, was man bei Spengler am schmerzlichsten
1) Lieb er t, August Strindberg. Seine Weltanschauung und seine Kunst
(Berlin 1920) S. 29 ff. und S. 123 ff.
136 Kurt Sternberg,
vermißt, an das platonische Xöyov didövcu, d.h. wir werden
danach streben müssen, uns vor uns selbst auf das Genaueste
Rechenschaft abzulegen über die Geltung der methodischen Grund-
lagen unseres Philosophierens. So und nur so können wir von
Naturalismus und romantischem Mystizismus loskommen!
15. Indem wir von ihnen loskommen, werden wir zugleich
von dem trostlosen Fatalismus loskommen, der bei Spengler so-
wohl aus der naturalistischen wie auch aus der mystisch-roman-
tischen, keineswegs aber aus einer kritischen Quelle gespeist wird
und der ihn veranlaßt, das Abendland unrettbar dem Untergang
verfallen zu sehen. Jawohl, es gibt ein Schicksal. Allein dieses
Schicksal ist in und durch uns selbst; es wird, indem wir es ge-
stalten.
Im vorigen ist gezeigt worden, daß Spengler ein wissen-
schaftlicher Nachweis vom Untergang des Abendlandes nicht ge-
lungen ist. Dennoch mag sein Pessimismus berechtigt sein; wir
wissen es nicht. Jedoch selbst in diesem Falle ist zu beachten,
daß — wie dargelegt worden ist — auf Grund des Gedankens
der historischen Kontinuität nicht von einem absoluten, sondern
immer nur von einem relativen Untergang die Rede sein kann.
Wie sich die griechische Kultur trotz Spengler bis auf den
heutigen Tag erhalten hat, so wird sich auch unsere Kultur er-
halten in allem, was in ihr wertvoll und fruchtbar ist. Sie mög-
lichst wertvoll und fruchtbar werden zu lassen, das hat unser
aller Aufgabe zu sein. Durch Fatalismus und Pessimismus kann
diese Aufgabe gewiß nicht erfüllt werden; denn sie führen zu
einem Quietismus, der letzten Endes Selbstmord bedeutet1). Nein,
1) In einer nach Niederschrift der obigen Zeilen veröffentlichten Abhandlung
„Pessimismus"? (Schriftenreihe der Preußischen Jahrbücher Nr. 4; Berlin 1921)
wendet sich Spengler gegen die Kennzeichnung seines Standpunkts als eines
pessimistischen, indem er darauf hinweist, daß er doch dem heutigen Abendländer
eine Aufgabe stelle, nämlich die — nach ihm einzig mögliche — , die angebrochene
Zivilisation bewußt zur größten Entfaltung zubringen. Allein Spenglers Aus-
führungen bieten nicht die mindeste Veranlassung, von den im Text gegebenen
Darlegungen irgendetwas zurückzunehmen. Selbstverständlich ist derjenige ein
Pessimist, welcher den „Untergang" des Abendlandes lehrt. Daran wird auch
nichts geändert, wenn Spengler in seiner Abhandlung erklärt, er meine den
Untergang im Sinne der Vollendung. Die Vollendung der abendländischen Kultur
bedeutet für Spengler nicht ihr Emporreifen, ihren Aufstieg zur Höhe, sondern
ihren Abstieg von dieser, ihren Verfall. Ebenhierin liegt sein Pessimismus, mit
dem ein gewisser Quietismus unzertrennlich verknüpft ist. Wohl ist Spengler
Die philosoph. Grundlagen in Spenglers „Untergang d. Abendlandes". 137
die Aufgabe kann nur erfüllt werden durch zielbewußte und plan-
volle Arbeit an der Steigerung der Kultur, durch jene
Beschäftigung, die nie ermattet,
Die langsam schafft, doch nie zerstört,
Die zu dem Bau der Ewigkeiten
Zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht,
Doch von der großen Schuld der Zeiten
Minuten, Tage, Jahre streicht.
nicht insofern Quietist, als er uns zu beschaulicher Betrachtung einlädt; er ver-
langt von uns im Gegenteil energisches Handeln. Allein er schreibt diesem Han-
deln nicht die Fähigkeit zu, unserer Kultur zum — nach ihm längst unwider-
ruflich erloschenen — Glänze zu verhelfen. Gegen ihren Niedergang können wir
Spengler zufolge nichts mehr unternehmen. In dieser — wahrlich entschei-
denden — Hinsicht bleibt uns also nichts übrig, als die Hände in den Schoß zu
legen, und das ist unzweifelhaft auch eine Art von Quietismus.
Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten.
Von Privatdozent Dr. Georg <*nr witsch (Petersburg).
Die innigsten Beziehungen zwischen Kant und Rousseau sind
allgemein bekannt *). Daß aber Kant in einer ganzen Reihe von
schwerwiegenden Äußerungen eine höchst interessante und eigen-
artige, von der herkömmlichen Auffassung gänzlich abweichende
Interpretation der Rousseauschen Gedankenwelt gegeben hat,
ist so viel wie unbeachtet geblieben. Dasselbe gilt auch von
J. Gr. Fichte, um so mehr, da hier auch der Einfluß Rousseaus
wenig Aufmerksamkeit auf sich lenkte.
Die Aufgabe vorliegender Abhandlung ist diese Lücke zu
füllen und Rechenschaft über Kants und Fichtes Interpretation
der Rousseauschen Theorie zu geben.
9
1.
Zum ersten Male äußerte sich Kant über die Gedankenwelt
Rousseaus in den „Bemerkungen" 2) zu den „Beobachtungen über
das Gefühl des Schönen und Erhabenen" (1763). Er spricht in
diesem vorkritischen Jugendwerke, wie allgemein bekannt, mit der
größten Begeisterung von Rousseau: „Der erste Eindruck, den ein
Leser . . . von den Schriften Rousseaus bekommt, ist, daß er eine
ungemeine Scharfsinnigkeit des Geistes, einen edlen Schwung des
Genius und eine gefühls volle Seele in einem so hohen Grade an-
trifft, als vielleicht niemals irgend ein Schriftsteller, von welchem
Zeitalter oder von welchem Volke es auch sei, vereint besessen
haben mag". Und weiter : „Rousseau hat mich zurecht gebracht. Ich
1) Ausführliche Literaturangabe und Zusammenfassung ihres Ergebnisses bei
V. Delbos, „Essai sur la formation de la philosophie pratique de Kant", 1903,
S. 115—129, 101—106. Vgl. neustens Vorländer, Kant und Rousseau. (Neue
Zeit, 1919, Nr. 20 ff.)
2) Zuerst veröffentlicht in der Ausgabe von Kants Werke von Rosenkranz
und Schubert, XI B. I Abt., 1842; nach dieser Ausgabe werden die unten fol-
genden Zitate angeführt.
Georg Gurwitsch, Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 139
lerne die Menschen ehren"1). Die Lehre von der Menschen-
würde ist nach Kants Auffassung der Grundpfeiler des Rousseau-
schen Systems. „Rousseau entdeckte", sagt Kant, „zu allererst
unter der Mannigfaltigkeit der menschlich angenommenen Gestalten
die tief verborgene Natur des Menschen und das versteckte Gesetz,
nach welchem die Vorsehung durch seine Beobachtung gerecht-
fertigt wird" 2). Diese Natur und dieses Gesetz bilden die Welt
des Sittlichen3). „Die größte Angelegenheit des Menschen ist zu
wissen, was man sein muß, um ein Mensch zu sein" 4) — formuliert
Kant die neue ethische Problemstellung, die er aus den Werken
Rousseaus herauslas. Und er vergleicht Rousseau mit Newton 5).
Der viel verschmähte Genfer Bürger ist für den um seine Welt-
anschauung ringenden Kant ein Newton der Moral ! So wie Newton
zu allererst die Ordnung in der Welt der Naturerscheinungen fest-
gestellt hatte, ist es Rousseau nach Kantischer Meinung gelungen,
die Gesetzmäßigkeit der moralischen Welt aufzudecken6). Wenn
man bedenkt, welch' eine grundlegende Bedeutung für Kants theo-
retische Philosophie das System Newton's hatte, das in den Augen
des Königsbergers mit der Naturwissenschaft überhaupt zusammen-
fiel7), so wird man ganz besonders auf diesen Vergleich aufmerksam.
Rousseau wird allgemein als ein Philosoph des moralischen
Gefühls dargestellt8). Dann wäre zwischen ihm und den eng-
lischen Moralisten Hutscheson, Shaftesbury und Hume kein erheb-
licher Unterschied zu finden. Warum denn sieht Kant gerade in
Rousseau den Newton der moralischen Welt? Kant kann hier
nicht anders verstanden werden9), als daß er zwischen Rousseau
1) ibid, S. 240.
2) ibid, S. 248.
3) Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen 1763, S. 217,
Band II, „Kants gesammelte Schriften", herausgegeben von der Preußischen Aka-
demie der Wissenschaften, I. Abteilung.
4) „Bemerkungen", S. 239, 241.
5) ibid, S. 248.
6) ibidem.
7) Vgl. dazu die Ausführungen Cohens in „Kants Theorie der Erfahrung",
II. Aufl. S. 24—26, 55 ff.
8) Auch Hoeffding, der am entschiedensten Rousseaus Einfluß auf die Kantische
Ethik hervorhebt (vgl. Hoeffding, „Rousseau und seine Philosophie" 1897, S. 121,
Anmerkung, und den Aufsatz in Kantstudien, B. II, „Rousseaus Einfluß auf die
definitive Form der Kantischen Ethik"), charakterisiert trotzdem seinen morali-
schen Standpunkt als den des Gefühls. Vgl. op. cit. S. 114—116.
9) Vgl. auch Kants „Nachricht" von der Einrichtung seiner Vorlesungen, in
140 Georg Gurwitsch,
und den Engländern einen grundlegenden Unterschied erblickt.
Worin lag denn dieser Unterschied? — das ist die erste Frage,
auf die die Rousseau-Interpretation antworten muß, wenn sie auf
die Winke Kants aufmerksam werden will. Auf diesen Unter-
schied hat Kant schon in seinen „Beobachtungen über das Gefühl
des Schönen und Erhabenen" hingewiesen. Kant legt hier im be-
wußten Gegensatze zur englischen Moralphilosophie dar, daß die
empirischen Neigungen, wie Mitleid und Gefälligkeit, nicht zur
Begründung der Moral ausreichen. „Demnach kann wahre Tugend",
führt hier Kant aus, „nur auf Grundsätze gepropft werden,
welche je allgemeiner sie sind, desto erhabener und edler wird
sie. Diese Grundsätze sind nicht spekulative Regeln, sondern das
Bewußtsein eines Gefühls, das in jedem menschlichen Busen
lebt .... Ich glaube, ich fasse alles zusammen, wenn ich sage:
es sei das Gefühl der Schönheit und der Würde der mensch-
lichen Natur" l). Die angeführten Worte Kants sind eine präzise
Wiedergabe der Ausführungen Rousseaus in den „Bekenntnissen
des savoyardischen Vikars". „La justice et bonte", lesen wir dort,
„ne sont point de mots abstraits . . . formet par l'entendement,
mais de vöritables affections de l'äme, eclairees par la raison" 2).
„Trop souvent la raison nous trompe, nous n'avons que trop acquis
le droit de la recuser: mais la conscience ne trompe jamais; eile
est le vrait guide de l'homme" 8). Und diese „conscience", als
Quelle der moralischen Gewißheit, unabhängig und ebenbürtig der
theoretischen Vernunft, wird von Rousseau als überempirisches
Prinzip klar und deutlich, allerdings aber mit den Mitteln der
kartesianischen Metaphysik, dem empirischen „sentiment" der eng-
lischen Gefühlsphilosophen gegenübergestellt: „La conscience", sagt
Rousseau, „est la voix de l'äme"4), und die Seele, nach dem
III. Artikel der Bekenntnisse, ist eine inmaterielle Substanz, als
überempirisches, unbedingtes Prinzip in seiner vorkritischen, meta-
physischen Dinghaftigkeit. „L'action de l'äme sur le corps est
l'äbime de la philosophie" 5) sagt einmal Rousseau ganz in karte-
dem Wintersemester-Halbjahre 1765—66, wo die Engländer ausdrücklich erwähnt
werden.
1) Beobachtungen .... II B, op. cit. S. 217.
2) Emile, Livre IV, e'dition des oeuvres dans un volume de Sautelet, Ver-
diere, Dupont et Roret, 1826, S. 204.
3) ibid, S. 224. 4) ibidem.
5) Ursprüngl. Eedaktion des „Contr. Soc", aus dem Nachlaß veröffentlicht,
Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 141
sisch - okkasionalis tischer Art. „Conscience ! Conscience ! u ruft er
aus: „instinct divin, l'immortelle et Celeste voix, guide assure d'un
etre ignorant et borne, mais intelligent et libre, juge infaillible
du bien et du mal . . ." 1). Wenn man diese Äußerungen Rosseaus
mit den oben angeführten hindeutenden Worten Kants zusammen-
stellt, so wird ohne weiteres klar, daß Rousseau im scharfen Gegen-
satze zu der englischen Moral philosophie nicht das empirische Ge-
fühl, sondern ein metaphysisches Prinzip zum Ausgangspunkt seiner
Ethik machte. Es war das innere Gefühl, aber von allen empi-
rischen Inhalten gereinigt und zum Unbedingten emporgehoben —
ethische Intuition von der Vernunft geklärt (eclair^e par la raison)
— eine vorkritische praktische Vernunft, eine autonome Quelle
der sittlichen Gewißheit.
Das war das grundlegend Neue, das Bahnbrechende, das ein
Kant aus den Werken Rousseaus mit Enthusiasmus herauslas.
Um mit Kant zu reden: die Moral, die auf „allgemeinen Grund-
sätzen" (nicht auf dem vagen Sentiment der Engländer) gegründet
ist, welche aus dem „Bewußtsein eines Gefühls" des Erhabenen
(deutsche ungelungene Uebersetzung der „ conscience a) und nicht
aus der theoretischen Vernunft, die ohnmächtig in moralischen
Dingen ist (also gegen den Intellektualismus der Aufklärung über-
haupt, und Leibniz-Wolf im besonderen) hervorgeht, und dessen
Inhalt das Prinzip der menschlichen Würde ist. Rousseau hat
als erster die Welt des reinen sittlichen Sollens entdeckt und die
Lehre der autonomen Moral der intellektualistischen Aufklärung
gegenübergestellt. — Das war der prinzipielle Standpunkt der
Kantischen Rousseau-Interpretation, den der große Königsberger
schon in seiner vorkritischen Periode formuliert und, wie wir
weiter sehen werden, für immer festgehalten hat.
Wir haben nun über die Kantische Interpretation der einzelnen
Lehren Rousseaus und ihres systematischen Zusammenhanges zu
berichten, die die konkrete Durchführung dieser prinzipiellen Grund-
auffassung enthält. — Rousseaus Lehre wird immer als eine An-
zuerst von Alexejew (1887), und dann von Dreyfuß - Brisac (1896), 22. S. des
Manuskriptes.
1) Emile IV, 226 S.
2) Der einzige, so viel ich sehe, der in der neueren Literatur auf den prin-
zipiellen Gegensatz zwischen „sentiment" und „conscience" bei Rousseau aufmerk-
sam wurde, ist Charles Renouvier gewesen, vgl. seine „Esquisse d'une Classifi-
cation systematique de doctrines philosophiques" in der „Critique religieuse".
142 Georg Gurwitsch,
häufung von widerstreitenden Behauptungen dargelegt. Der
Anarchist und Individualist Rousseau vom „Discours sur l'in^ga-
litöa und vom „Emile" soll nichts Gemeinsames mit dem Verehrer
des Staatsgedankens und Absolutisten des „Contr. Soc." haben1).
Im „Contrat Social" selbst soll Rousseaus Gedanke immer zwischen
dem Individualismus und Absolutismus schwanken2). Ist es denn
überhaupt möglich , von der Gedankenwelt Rousseaus , als von
einem Ganzen zu reden? Kant erkennt das Vorhandensein von
scheinbaren Widersprüchen im Gedankengange Rousseaus gerne
an. Aber er sucht diese Widersprüche durch ein tiefes Eindringen
in die Gedankenwelt Rousseaus aufzuheben, er ist überzeugt, daß
Rousseau sich nur „dem Scheine nach widerspricht". „. . . Die
Befremdung an seltsamen und widersinnigen Meinungen (Rousseaus),
die demjenigen was allgemein gangbar so sehr entgegen gehen"8),
sucht Kant schon in den „Reflexionen zur Anthropologie von den
70 und 80 Jahren" zu heben; er gibt sich hier Mühe „die drei
paradoxe Sätze des Rousseau: 1) von dem Schaden der Kultur
(durch Wissenschaften), 2) von dem Schaden der bürgerlichen Ver-
fassung (durch Ungleichheit), 3) vom Schaden durch künstliche
Methode der Erziehung"4) gemeinverständlich zu interpretieren.
In dem „Mutmaßlichen Anfange der Mensch engeschichten" (1785),
also schon in der kritischen Periode, wird das Problem der
Rousseau-Interpretation klar und tief als die Aufgabe formuliert:
„die so oft gemißdeuteten, dem Scheine nach einander widerstrei-
tenden Behauptungen des berühmten J. J. Rousseau unter sich und
mit der Vernunft in Einstimmung zu bringen" 5). Also stellt sich
Kant auf den Standpunkt der Einheit der Gedankenwelt Rousseaus.
Er sieht in seinen Werken ein folgerichtiges System. Von den
Reflexionen zur Anthropologie der 70 er und 80 er Jahre, über die
kulturphilosophischen Schriften : „Ideen zur allgemeinen Geschichte
1) So Faguet in „Revue de deux Mondes" 15. Sept. 1909, Bourguin,
Les deux tendences de Rousseau (Revue mätaphysique et morale, 1912, mafy
Espinace (Revue internationale de Fenseigrement 1895), von den älteren Schrift-
stellern Morley, Saint-Marc Girardin und der Russe Tschitscherin.
2) So Gierke, Joh. Althusius, III. Aufl. 116—117, 347. Rebm, Geschichte
der Staatsrechtswissenschaften S. 259, Landmann, Der Souveränitätsbegriff.
S. 124. 127-130, von den älteren P. Janet, Stahl und Mohl.
3) „Bemerkungen", op. cit. S. 240.
4) Handschriftlicher Nachlaß, B. II, 2, Ausgabe der preußisch. Akademie
der Wissensch., III. Abt., S. 889.
5) Kants Schriften, B. VIII op. cit. S. 116.
Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 14:3
in weltbürgerlicher Absicht" und dem „Mutmaßlichen Anfang der
Menschengeschichte" zu den rechtsphilosophischen Werken : „Theorie
und Praxis", „Zum ewigen Frieden" und den „Metaphysischen An-
fangsgründen der Rechtslehre" und zur endgültigen Redaktion der
„Anthropologie" wickelt sich immer derselbe Faden dieser Rousseau-
Interpretation ab.
In den „Reflexionen" stellt Kant die Frage, ob Rousseau wirk-
lich behauptet habe, daß „der wilde Zustand besser sei, als der
gesittete" x) und daß „es nötig sei, in die Wälder zurückzukehren" 2).
Er lehnt diese Auffassung von Rousseaus Gedanken entschieden
ab. Die „ganze Absicht des Rousseau ist, den Menschen durch
Kunst dahin zu bringen, daß er alle Vorteile der Kultur mit allen
Vorteilen des Naturzustandes vereinigen könne. Rousseau will
nicht, daß man in den Naturzustand zurückgehen, sondern dahin
zurücksehen soll"3). Aber was heißt es, „alle Vorteile der Kultur
mit allen Vorteilen der Natur vereinigen" ? Kants Antwort lautet :
„den moralischen Zustand" erreichen. In den Reflexionen zur
Anthropologie der 70 er Jahre legt Kant den Inhalt von Rousseaus
Dissertationen von „dem Schaden der Wissenschaften" und von
der „Ungleichheit der Menschen" mit folgenden Worten dar: „Der
natürliche Zustand ist in der Idee ein goldenes Zeitalter, das der
Rohigkeit und Unwissenheit. Aber der Mensch kann sich darin
nicht erhalten und geht aus dem Stande der Natur, ohne noch eine
Idee von der sittlichen Ordnung zu haben, und so entwickeln sich
. . . die Kenntnisse, aus ihnen die Begierden und Bedürfnisse,
mit diesen das Elend entspringt. Er wird cultiviert. . . . Nun
bedarf er moralisiert zu werden und dann erreicht er seine
Bestimmung. — Der Naturmensch stimmt alsdann mit dem Ver-
nunftmenschen. Aber nur die Spezies erreicht sie" 4). In den
letzten drei Sätzen zieht Kant zu seiner Auslegung des Inhaltes
der Dissertationen den „Contr. Soc." und den „Emile" herbei, die
er auch auf der nächsten Seite ausdrücklich erwähnt5). — In den
„Ideen zur allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht"
(1784) formuliert Kant seine Auffassung von Rousseaus Endabsicht
in noch klarerer Weise: „Wir sind in hohem Grade durch Kunst
und Wissenschaft cultiviert. . . . Aber uns für moralisiert zu
1) Handschrift! Nachlaß, op. cit S. 778 B. II, 2.
2) ibid, S. 783. 3) ibid, S. 890.
4) ibid, S. 8ß8. 5) ibid, S. 890.
144 Georg Gurwitsch,
halten, daran fehlt noch sehr viel" *) . . . „Ehe dieser letzte Schritt
geschehen, . . . erduldet die menschliche Natur die härtesten Übel,
unter dem betrüglichen Anschein äußerer Wohlfahrt" . . . und
„Rousseau hatte so unrecht nicht, wenn er den Zustand der Wilden
vorzog, sobald man nämlich diese letzte Stufe, die unsere
Gattung noch zu ersteigen hat (NB. die der sittlichen Ordnung)
wegläßt"2). Rousseau hat diese letzte Stufe weggelassen, als
er seine zwei Dissertationen schrieb, aber das war nur die Me-
thode der Kritik an der intellektualistischen Kultur der Aufklärung.
In seinem „Contr. Soc." und „Emile" behandelt er die Frage, wie
dem Elend durch „Kunst" abzuhelfen sei, und antwortet: durch
Gründung einer bürgerlichen Verfassung, die auf sittlicher Ord-
nung fußt, und den Menschen von der Tierheit zur moralischen
Person erhebt. Nun wird die Lösung, die Kant dem Problem der
Einheit der Gedankenwelt Rousseaus in dem „Mutmaßlichen An-
fange der Menschengeschichte" gibt, ganz klar und verständlich:
„In seiner Schrift über den Einfluß der Wissenschaften und über
die Ungleichkeit der Menschen", sagt hier Kant von Rousseau, „zeigt
er ganz richtig den unvermeidlichen Widerstreit der Kultur mit
der Natur des menschlichen Geschlechts, als einer physischen
Gattung, in welcher jedes Individuum seine Bestimmung ganz er-
reichen sollte ; in seinem Emile aber, seinem Gesellschaftlichen Kon-
trakte und anderen Schriften, sucht er wieder das schwere Problem
aufzulösen: wie die Cultur fortgehen müsse, um die Anlagen der
Menschheit als einer sittlichen Gattung zu ihrer Bestimmung
gehörig zu entwickeln bis vollkommene Kunst wieder Natur.
wird : Als welches das letzte Ziel der sittlichen Bestimmung der
Menschengattung ist" 3). Und in seinem letzten Greisen- Werke —
in der „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" (1798) faßt Kant
das ganze Ergebnis seiner Interpretation der Rousseauschen Kultur-
philosophie in folgenden abschließenden Bemerkungen zusammen:
„Man darf eben nicht die hypochondrische Schilderung, die Rousseau
von dem Menschengeschlecht macht, das aus dem Naturzustande her-
auszugehen wagt, für Anpreisung wieder dahinein und in die Wälder
zurückzukehren, als dessen wirkliche Meinung annehmen. ......
Seine drei Schriften von dem Schaden, den 1. der Ausgang aus
der Natur in die Cultur unserer Gattung, durch Schwächung
1) Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 7. Satz,
Band VIII, op. cit. S. 26. 2) ibid, S. 26.
3) Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, op. cit. B. VIII, S. 116— 118.
Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 145
unserer Kraft ; 2. Die Civilisierung durch Ungleichheit und wechsel-
seitige Unterdrückung, 3. Die vermeinte Moralisierung durch natur-
widrige Erziehung und Mißbildung der Denkungsart angerichtet
hat: — diese drei Schriften, sage ich . . ., sollten nur seinem
Sozialkontrakt, seinem Emile, und seinem Savoyardi-
schen Vicar zum Leitfaden dienen aus dem Irrsal der
Übel sich herauszufinden, womit sich unsere Gattung
durch ihre eigene Schuld umgeben hat"1).
Diesen Deutungen Kants scheint es mir angemessen, einige
sich hierauf beziehende Zitate aus Rousseau beizufügen. Rousseau
lehnt selbst mit der größten Energie die Meinung ab, als ob er
im „Discours sur rinegalite"" die Notwendigkeit der Rechtsgemein-
schaft negiert hätte. In einem Briefe an Voltaire vom 18. Aug. 1856,
der auf dessen verbissene Angriffe antwortet, schreibt er : n Vous
avez qualifie de livre contre le genre humain un ecrit ou je plai-
dais la cause du genre humain contre lui meme, . . . car je mon-
trait aux hommes comment ils faisaient leurs malheurs eux-memes,
et par consequent comment ils les pouvaient eviter" 2). Und in
der ursprünglichen Redaktion des „Contr. Soc." heißt es noch
klarer: „ Quoique (les hommes) deviennent malheureux et
me*schants en devenant sociables, . . . loin de penser qu'il n'y
aii ni vertu, ni bonheur pour nous, . . . par de nouvelles asso-
ciations, corrigeons s'il se peut, le defaut de l'association generale.
Montrons . . . dans l'art perfectionne* la reparation des maux, que
l'art commence fit ä la nature" 3). Und diese perfektionierte Kunst
besteht, wie Rousseau es schon gelegentlich im „Discours sur l'ine'-
galite" ausspricht, in dem Aufbau einer neuen Rechtsordnung, die
auf den Regeln des Sollens, des natürlichen Rechts gegründet wird,
„regles que la raison est . . . force" de re'tablir sur d'autre fonde-
ment (als im Naturzustande, wo der Instinkt vorherrscht), quand
par ses developpements successifs, elles est venue a bout d'^touffer
la nature" 4). Rousseau stellt, ganz im Sinne der Kantischen Deu-
tung, im „Contr. Soc." den ideellen bürgerlichen Zustand, als den
der sittlichen Ordnung , des ethischen Sollens , der Mechanik der
Instinkte im Naturzustande gegenüber. Im 8. Kap. des I. Buches
lesen wir: „Ce passage de l'e'tat de nature ä T^tat civil produit
1) Anthropologie, op. cit., B VII, S. 326—327.
2) Oeuvres completes, op. cit., S. 1386.
3) Ursprüngliche Redaktion, S. 10—11 des Manuskriptes.
4) Discours sur l'ine'galittf, ddition Lahure, I. Band, S. 81.
Kantetudien XXVII. 10
146
Georg Gurwitsch,
dans Thomme un changement tres remarquable en substituant dans
sa conduite la justice a l'instinct et donnant a ses actions la
moralitö qui leur manqnait auparavant. C'est alors seulement
que la voix du devoir succ^dant ä 1'impulsion physique et le droit
k l'appetit, Thomme . . . se voit force" ... de consulter sa raison,
avant d'ecouter ses penschants". . . . „La Constitution de l'homme
(s'altöre) . . . , a l'existence physique et independante ... (se sub-
stitue) . . . une existence partielle et morale" l). „. . . Ce que
l'homme perd . . . c'est la liberte" naturelle, ce qu'il gagne, c'est la
liberte" civile"-*). „. . . il ... fait qu'un behänge avantageux
. . . de sa force, que d'autre pouvaient surmonter, contre un
droit que l'union social rend invincible" 3). Und diese neu er-
worbene civile Freiheit, die Rousseau als moralische mit großer
Klarheit der natürlichen Freiheit, die nur Unabhängigkeit einer
Kraft von der anderen bedeutet, gegenüberstellt, wird von ihm
als sittliche Autonomie verstanden. „On pourrait . . . aj outer ä
l'acquis de l'ätat civil la liberte" morale, qui seul rend l'homme
vraiment maitre de lui; car 1'impulsion du seul appätit est £scla-
vage et l'obeissance ä la loi qu'on s'est prescrite est liberte^ 4)«
Diese Autonomie wird nach Rousseaus Lehre durch die Unter-
werfung des Einzelnen unter die „volonte generale" erzeugt. Es
entsteht also die Frage: was ist „volonte generale"? Bevor wir
aber auf die Antwort Kants auf diese Frage eingehen (und Kant
hat wirklich eine Antwort gegeben), möchte ich noch die Auf-
merksamkeit auf eine grundlegende Unterscheidung hinlenken, die
Rousseau mit der größten Schärfe seines Denkens, nicht aber des
Ausdrucks, macht. Sie steht nämlich in unmittelbarer Beziehung
zur Kantischen Interpretation des Rousseauschen Systems und
gewährt den klarsten Einblick in seinen Gedankengang. — So
wie zwei Arten der Freiheit, unterscheidet Rousseau auch zwei
Arten des natürlichen Rechts: das instinktive, natürliche Recht
des Naturzustandes, das mit der Kraft zusammenfällt, und das
wahrhafte moralische Naturrecht — das Vernunft recht, das
nur im bürgerlichen Zustande Geltung erlangt, und seine Quelle
in der „volonte* generale" hat. In der ursprünglichen Redaktion
des „Contr. Soc.a ist diese Unterscheidung5) ausdrücklich ausge-
1) Contr. Soc. L. II, C. VII.
3) ibid, L. II, C. IV.
2) Contr. Soc. L. I, C. VIII.
4) ibid, L. I, C. VIII.
5) Ausführliche Darlegung dieser vorhin unbeachtet gebliebenen Lehre
Rousseaus habe ich in meiner Monographie „Rousseau und die Erklärung der
Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 147
sprochen: „Proteges par la socie*te* dont nous sommes membres . . .
nous sommes portös . . . ä en user avec les autres hommes ... et
de cette disposition . . . naissent les rögles du droit raisonne*
different du droit naturel proprement dit, qui n'est fonde* que sur
un sentiment vrai, mais tres vague et souvent etouffe* pur Tamour
de nous meme" 1). „C'est ainsi que se forment en nous les pr^miers
notions distincts du juste et de l'injuste. Le plus grand avantage
qui resulte . . . de la loi . . . (Texpression de la volonte* generale)
. . . est de nous montrer clairement le vrai fondement de la ju-
stice et du droit naturel (c'est a dire du droit naturel raisonne*)" 2).
Und in seiner anonymen Abhandlung im XI. Bande der „Enzyklo-
pädie" — „Droit Naturel" s), weist Rousseau mit der größten Klarheit
Rechte. Idee der unveräußerlichen Rechte des Einzelnen in der politischen
Theorie Rousseaus", Petersburg 1918 (russisch), S. 23—51, zu geben versucht.
1) Ursprüngliche Redaktion des Cont. Soc, op. cit., S. 66 des Manuskripts.
2) ibid, S. 66-67.
3) Ich rechne diesen anonymen Artikel Rousseaus Werken an aus folgenden
Gründen. Außer der allgemeinen Ähnlichkeit der hier entwickelten Lehren mit
Rousseaus Ansichten (worauf schon Dreyfuss-Brisac in seiner „Einleitung zur
Ausgabe des Contr. Soc." 1896 S. XI, aufmerksam wurde und Zustimmung von
Chinz, Revue historique de la France t. XIV, und Haymann, Rousseaus Sozial-
philosophie, S. 81—82, Anm. 3, fand) ist es mir gelungen, die textuelle Iden-
tität einer Reihe von Sätzen dieses Artikels mit dem Wortlaut der ursprüng-
lichen Redaktion des „Contr. Soc." festzustellen. Wir lesen:
Im Artikel „Droit naturel": In der ursprünglichen Redaktion:
„. . .Ou porterons nous cette question? „. . . Le philosophe me renverra par
Ou?
Devant le genre humain; c'est Devant le genre humain . .., ä
ä lui seul qu'il appartient de la qui seul il appartient de deci-
de'cider parce que le bien de der parce que le plus grand bien
tous est la seul passion qu'il ait de tous est la seul passion qu'il
(VI -384) ait« (S.d.M. 7—8)
C'est ä la volonte" gänärale que C'est, me dira-t-il, a la vo-
l'individu doit s'adresser pour lontö gdnärale que l'individu
savoir jus^qu'oü il doit etre hom- doit s'adresser pour savoir jus-
me, citoyen, pere, enfant et qu'oü il doit etre homme, citoyen,
quand il lui convient de vivre sujet, pere, enfant et quand il
et de mourir. (VII— 384) lui convient de vivre et de mou-
rir (ibid.)
. . . Vous resterez convaincu : . . . 2. Que la volonte' generale soit
Que la volonte* gdndral est dans dans chaque individu un acte
chaque individu un acte pure pure de l'entendement, qui rai-
de l'entendement, qui raisonne sonne dans la silence de passions
. 10*
148
Georg Gurwitsch,
auf die „volonte* g^nörale" als die Quelle dieses vernünftigen Na-
turrechtes hin. „Parce que la volonte* ge* neurale est toujours bonne,
eile n'a jamais trompe*. Vous avez le droit naturel le plus
sacre* a tout ce que vous est point conteste* . . . (par eile)" *)."
„Ainsi la cause du droit naturel se plaide pardevant l'humanite*
... et cette consideration de la volonte* ge*ne*rale est la regle de
la conduite". Und im Traktat „L'e*conomie politique" heißt es:
„Cette volonte* g6*ne*rale est ... la regle du juste et de l'injuste
. . . C'est cette vois cöleste qui dicte ä chaque citoyen , les pre*-
ceptes de la raison publique 3) . . . Also sieht Rousseau ganz unbe-
streitbar in der volonte* ge*ne*rale die Quelle des natürlichen Ver-
nunftsrechtes. Was soll denn die volonte* ge*ne*rale in seinem
System bedeuten? Nun wird Kants Antwort auf diese Frage be-
sonders interessant und wichtig.
„Der allgemeine a priori vereinigte Volkswille", mit welchem
Terminus Kant in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechts-
dans lasilence des passions, sur sur ce que l'homme peut exiger
ce que l'homme peut exiger de de son semblable et sur ce que
son semblable et sur ce que son son semblable est en droit d'exi-
s'emblable peut exiger de lui ger de lui, nul n'en disconvien-
(IX— 385) dra. (ibid. 8)
Je sens que je porte l'epouvante
et letrouble aumilieu del'espece
humaine, dit l'homme independant . . .,
mais il faut que je soit malheur-
eux, ou que je fasse le malheur
des autres, et personne ne m'est
plus eher que moi. (ibid. 6)
Je sens que1 je porte l'epou-
vante et le trouble au milieu de
l'espece humaine, mais il faut
ou que je sois malheureux, ou
que je fasse le malheur des au-
tres, et personne ne m'est plus
eher que je me le sui ä moi meme
(III— 383).
Wenn man die angeführten Zitate vergleicht, so wird ihre wörtliche Iden-
tität unzweifelhaft; und da die Ursprüngliche Redaktion bis 1887 im Manuskript
geblieben ist und sie von allen Forschern (vgl. Dreyfuss-Brisac, op. cit, S. IX
und Alexejew, Etüden über Rousseau, B. II, S. 5—7) zur Periode vor 1755
(die Zeit des Erscheinens des XI. Bandes der Enzyklopädie) gerechnet wird, so
läßt sich mit Sicherheit behaupten: 1) daß die zitierten Sätze der Abhandlung
„Droit Naturel" aus der „Ursprünglichen Redaktion" des „Contr. Soc.fa entlehnt
sind, 2) daß dieses nur der Verfasser der „UrsprünglichenJEtedaktion" selbst machen
konnte, da sie ungedruckt geblieben ist und 3) daß also Rousseau der Autor
dieses Artikels ist. Vgl. zur ausführlicheren Begründung, meine Arbeit „Rous-
seau ", S. 49—80.
1) Droit Naturel VII, op. cit, S. 384. 2) ibid. IX, op. cit., S. 385.
. 3) Economie politique I, Oeuvres completes, S. 313, 314, 315.
Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 149
lehre" die Rousseausche volonte* gene"ral" übersetzt, wird schon in
der „Theorie und Praxis" (1793) als Synthese zwischen Freiheit
und Gleichheit definiert: „Eigentlich kommen", sagt Kant hier,
„um diesen Begriff auszumachen, die Begriffe der äußeren Frei-
heit, Gleichheit und Einheit des Willens aller zusammen"1).
Und im Aufsatze „Über ein vermeintliches Recht, aus Menschen-
liebe zu lügen" (1797) wird der Inhalt der „volonte* genäral" als
„vereinigte(r) Wille aller nach dem Prinzip der Gleichheit, ohne
welche keine Freiheit von jedermann statthaben würde" 2) bestimmt.
Dieser synthetische „a priori gegebene allgemeine Wille" ist es,
der, wie es im „Traktat zum ewigen Frieden" (1795) erklärt wird,
„gerade allein was unter Menschen Rechtens ist bestimmt", „welch'
(letzteres) als der Ausspruch des allgemeinen Willens nur ein ein-
ziges sein kann . . . und die Form Rechtens nicht die Materie oder
das Objekt, worin ich ein Recht habe, betrifft" s). „Der allgemeine
vereinigte Volkswille — der übereinstimmende und vereinigte Wille
aller, sofern ein jeder über alle, und alle über jeden ebendasselbe
beschließen" 4) ist, wie es einmal Kant mit Bezug auf das Problem
der Strafe ausspricht: „in jedem die reine rechtlich-ge-
setzgebende Vernunft (homo noumenon)" 5), die dem empi-
rischen homo phaenomenon gegenübersteht. Darum nennt auch
Kant diesen Willen den „vereinigten, a priori aus der Vernunft
abstammenden Volkswillen"6), oder im Sinne des eigenen
Kantischen Systems eine Idee: „Es ist eine bloße Idee der Ver-
nunft, die aber ihre unbezweifelte (praktische) Realität hat: näm-
lich jeden Gesetzgeber zu verbinden, daß er seine Gesetze so gebe,
als sie aus dem vereinigten Willen eines ganzen Volkes haben
entspringen können " 7). „Man nennt dieses Grundgesetz, das
nur aus dem allgemein vereinigten Volkswillen entspringen kann,
den ursprünglichen Vertrag" 8), ... (der) „keineswegs als ein Fak-
tum vorauszusetzen nötig ist, ja als ein solcher garnicht möglich
1) „Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt
aber nicht für die Praxis", op. cit. B. VIII, S. 295.
2) op. cit. B. VIII, S. 429.
3) Zum ewigen Frieden, Anbang I, op. cit. B. VIII, S. 378.
4) Theorie und Praxis, II. Abschnitt, op. cit. B. VIII, S. 292.
5) Die Metaphysik der Sitten, I. Teil, Rechtslehre, § 49, allgemeine An-
merkung, E., op. cit, B. VI, S. 335.
6) ibid, § 51, S. 338.
7) Theorie und Praxis, B. VIII op. cit., S. 297.
8) ibid, S. 295.
150 Georg Gurwitsch,
ist" ... „sondern nnr als Vernnnftprinzip zur Beurteilung aller
rechtlichen Verfassung überhaupt" *) (Geltung hat). —
Die Unterwerfung unter den synthetischen a priori vereinigten,
in jedem die reine rechtlich- gesetzgebende Vernunft darstellenden all-
gemeinen Willen, die den Inhalt des Gesellschaftsvertrages ausmacht
und zum bürgerlichen Zustande hinleitet, kann selbstverständlich nur
zur Begründung der wahren Freiheit des Einzelnen führen. Der
allgemeine Wille ist ja nur Synthese zwischen Freiheit und Gleich-
heit. Kant drückt dies Ergebnis seiner Deutung der politischen
Theorie Eousseaus, die der von Benjamin Konstan2) eingeleiteten
und zuletzt von Jellinek8) formulierten Auffassung scharf ent-
gegengesetzt ist, in folgenden Worten aus: „Man kann nicht sagen :
der . . . Mensch im Staate habe ein Tteil seiner angeborenen äußeren
Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde ge-
setzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt
in einer gesetzlichen Abhängigkeit, in einem rechtlichen Zustande
unvermindert wieder zu finden, weil diese Abhängigkeit aus seinem
eigenen gesetzgebenden Willen entspringt" 4). Die Unterwerfung
unter den synthetisch a priori vereinigten Willen erzeugt „die
gesetzliche Freiheit, die bürgerliche Gleichheit und die bürgerliche
Selbständigkeit" 5). Und diese Rechte, die „nicht sowohl Gesetze
(sind), die der schon errichtete Staat gibt, sondern nach denen
allein eine Staatserrichtung nach reinen Vernunftprinzipien des
äußeren Menschenrechtes überhaupt möglich ist" 6), sind, wie
Kant es ausdrücklich in der „Theorie und Praxis" ausspricht, „un-
verlierbare Rechte gegenüber dem Staatsoberhaupt" 7). So erzeugt
die Einsetzung der absoluten Herrschaft des apriorischen synthe-
tisch vereinigten Gesamt willens „den Staat in der Idee, wie er
1) ibid, S. 297.
2) B. Constant, Cours de politique constitutionnel (1818—1820), Edition
Laboulay, 1861, B. I, S. 10, 128—129, B. II, S. 537, 549.
3) Jellinek: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1895, S. 6.
4) Metaphys. Anfangsgründe der Rechtslehre, S. 47, op. cit., B. VI, S. 315 — 316.
5) ibid, S. 46, S. 314; „Theorie und Praxis", B. VIII op. cit. S, 290—295.
6) Theorie und Praxis, B. VIII S. 290.
7) ibid, S. 303. Allerdings spricht ihnen Kant im entschiedenen Unter-
schiede zu Rousseau (vgl. unten S. 153) den Zwangscharakter ab und erblickt
das „einzige Palladium der Volksrechte in der Freiheit der Feder" (304). Über
den Grund dieser Schwankungen in der politischen Lehre Kants vgl. die tief-
dringenden Ausführungen von Prof. P. Nowgorodzeff. Die politischen Theo-
rien Kants und Hegels, Moskau 1902 (russisch), S. 126—146.
Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 151
nach reinen Rechtsprinzipien sein soll" 1), wo „das Gesetz selbst-
herrschend ist und an keiner besonderen Person hängt" 2). Nach
Kants kritischer Auffassung ist dies die ewig unerreichbare Auf-
gabe, zu der ein jeder Staat streben soll; nach Rousseaus meta-
physischer Theorie — die einzig rechtmäßige Form des in Wirklich-
keit zu begründenden Staates. — Jedenfalls können aber, wie wir
gleich sehen werden, Kants Sätze als präzise Wiedergabe und
Interpretation der politischen Theorie Rousseaus angesehen werden,
wenn auch in der Formulierung der selbständige rechtsphiloso-
phische Standpunkt Kants zu fühlen ist, so daß der eigene Kan-
tische Aufbau von seiner Rousseau-Interpretation auseinanderzu-
halten ist. Umsomehr wird es hier angemessen erscheinen, Rousseau
selbst sprechen zu lassen.
Kant deutet die „volente generale", die in der Rousseau-
Literatur immer wieder als Durchschnittswille mit dem empi-
rischen Volkswillen vermengt wird, als ein überempirisches
Prinzip in seiner Allgemeingültigkeit. Diese Auffassung stimmt
ganz und gar mit dem Wortlaute des „Contr. Soc." überein.
„La volonte generale" lesen wir hier: „est toujours constante,
inalteralbe et pure" „eile est indes tructible" „(Si) la
volonte generale devient muette . . . s'ensuit-il de la (qu'elle)
soit an6*antie ? Non" 4). . Sie bleibt immer rein und unverändert
(eile est la meme) 5). Sie untersteht nicht dem empirischen Wechsel
der Dinge, da sie überhaupt über die empirische Wirklichkeit
emporgehoben ist; gerade darum ist die „volonte" generale toujours
droite" und „eile ne peut pas errer" 6). Rousseau unterscheidet
im Begriffe der Staatsgewalt zwei Elemente: die ideelle „volonte"
generale" und die reelle „force publique", die mit der „delibe*-
ration publique" zusammenfällt 7). „II y a ... dans l'£tat une
force commune qui le soutient, une volonte" generale, qui dirige cette
force, et c'est l'application de l'une ä l'autre, qui constitue la sou-
verainete^ 8). Und diese zwei Elemente liegen in der denkbar größten
Entfernung, wie es Rousseau in einem vorhin schon erwähnten Zitat
ganz kartesisch ausdrückt: „Comme dans la Constitution de l'homme
l'action de Tarne *sur le corps est Täbime de la philosophie, de
1) Met. Auf. d. Rechtslehre, § 45, op. cit. B. VI, S. 313.
2) ibid, § 52, S. 341. 3) Contr. Soc. L. IV, C. I. 4) ibid, L. IV, C. I.
5) ibid, L. II, C. II. 6) ibid, L. II, C. III.
7) Vgl. darüber ausführlich in meiner Arbeit „Rousseau ..." S. 56-59.
8) Ursprüngliche Redaktion des „Contr. Soc", op. cit. S. 20 des Manuskripts.
152 Georg Gurwitsch,
meme Taction de la volonte generale sur la force publique est
1'äbime de la politique dans la Constitution de l'£tat" l). Wir sehen,
die „volonte g^nörale" ist für Rousseau eine metaphysische Sub-
stanz im vorkritischen Sinne, keine regulative Idee nach Kantischer
Weise. Sie ist aber ganz unzweifelhaft ein rein ideelles, über-
empirisches Prinzip, kein empirischer Durchschnitts wille 2). Um
so mehr, als Rousseau in der „volonte g£n£rale" die Quelle des
ewigen Vernunftsrechts erblickte. „Le droit naturel ne change
pas" lesen wir in dem gleichnamigen Artikel der Enzyklopädie:
„puisque il est toujours relative ä la volonte generale" 8). — Und
dieses überempirische ideelle Prinzip, das als „volonte" generale"
bezeichnet wird, fällt im Grunde bei Rousseau mit der individuellen
conscience zusammen, oder richtiger gesagt, die „volonte* generale"
ist eine Richtung der „conscience", seine abstract-rechtliche Seite.
Rousseau spricht es selbst gelegentlich aus, indem er den Begriff
der Tugend — „vertu", das eine Mal durch das Übereinstimmen
der Handlung mit der „conscience", das andere Mal mit der „vo-
lonte generale", definiert 4). Und dann wird die volonte* generale
mit der größten Klarheit von Rousseau als überempirischer Be-
standteil des individuellenWollens hingestellt; die „volonte*
g£n6rale" wird nicht dem individuellen Willen, sondern dem
Privatwillen, also seinem empirischen Element, das bei jedem
Menschen ein anderes ist, gegenübergestellt: „Chaque individu
peut . . . avoir une volonte* particuliere contraire ou dissemblable
ä la volonte" generale qu'il a . . ." 5). „Que la volonte* generale
. . . soit dans chaque individu un acte pure de
l'en t end em ent , qui raisonne dans la silence
de ses passions . . . nul n'en disconviendra" 6). „Volonte
generale" ist abstrakte überempirische Wesenheit eines jeden
Individuums, die bei allen die gleiche ist. — Nun verstehen wir,
warum die Unterordnung unter die volonte generale zur indivi-
1) Ursprüngl. Red. des „Contr. Soc" op. cit. S. 22 des Manuskripts.
2) So viel ich sehe, waren Kistiakowski (Gesellschaft und Einzelwesen
1899, S. 156—157) und Stammler („Notion et portde de la volonte generale
chez J. J. Rousseau", Revue Metaphysique, Mai 1912, S. 383—389) die einzigen
in der modernen Literatur, die den ideellen Charakter der volonte* generale»
emporhoben. Vgl. „Rousseau ..." S. 51—80.
3) Droit naturel, IX. op. cit., S. 385.
4) Emile, IV., op. cit., S. 227 und Economie politique, op. cit., S. 316.
5) Contr. Soc, L. I, C. VII.
6) Ursprüngliche Redaktion des Contr. Soc, op. cit., des Manuskripts.
Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. l 153
duellen Freiheit und Gleichheit führt, eine Synthesis der beiden
erzeugt1). Es ist eine Unterwerfung unter sein eigenes und bei
allen gleiches vernünftig - moralisches Wesen, also Autonomie; so
werden die unveräußerlichen natürlichen Vernunftrechte von Ein-
zelnen errungen, die nur jetzt, im Staatszustande, zur Geltung
kommen, aus der „volonte generale" emporquellend. Die unbe-
dingte Veräußerung aller Eechte von Seiten des Individuums, als
conditio sine qua non des Gesellschaftsvertrages, stellt sich als
bloßes Absagen von Instinkten zu Gunsten des natürlichen Ver-
nunftsrechts heraus, dessen Hauptinhalt die individuelle Freiheit
ist. Es ist ein Erringen, nicht ein Absagen von unveräußerlichen
Menschenrechten 2). — Und statt des Absolutismus des empirischen
Volkswillens haben wir in Rousseaus Konstruktion die Herrschaft,
die Souveränität des Vernunftsrechts, als unbedingte Voraussetzung
des Bestehens des Staates selbst ; wenn die empirische delib^ration
publique nicht mehr mit der metaphysischen „volonte* generale"
übereinstimmt, so wird nach Rousseaus Lehre, im Unterschiede zu
Kant, der Staat aufgelöst, da keine rechtmäßige Gewalt mehr
vorhanden ist und die Individuen in den Naturzustand zurück-
fallen3). Das Individuum und seine unveräußerlichen Vorrechte,
in der Substanz der* „volonte* generale" symbolisiert, sind das ein-
zige Ziel, zu dem Rousseaus politisches Denken hinstrebt4). —
Wir sehen: Kants Interpretation der Rousseauschen Lehre
von der volonte g£ne"rale 5) im Zusammenhange mit seiner Deutung
1) Über diese Synthese vergleiche man Ausführungen in „Rousseau . . .",
S. 97—100.
2) In der Abhandlung „De Päconomie politique" (1755), schon nach der „Ur-
sprünglichen Redaktion" verfaßt, werden einzelne unveräußerliche Menschenrechte
formuliert, die aus der „volonte generale" emporgehen (Ec. polit. II, 317, S. 316,
I, 314), und von der Regierung wird gefordert „de respecter les droits in-
violables de tous les membres de l'e'tat". Diese ihre Pflicht wird so streng
verstanden, daß Rousseau hinzufügt : „c'ette Convention (der Staat) serait dissoute
par le droit, s'il perissait dans l'e'tat un seul citoyen qu'on eut pu secourir, si
l'on en retenait un seul en prison et s'il se perdait und seul proces avec une in-
justice evidente (Ec. pol. II, S. 316). Ausführlicher, in meiner Arbeit „Rousseau . . ."
S. 37—41, und über Eigentumsrecht und Religionsfreiheit, ibid, S. 80—95.
3) Contr. Soc. L. IV, C. II und Economie Politique II, 316.
4) Vgl. meine Arbeit „Rousseau . . ." (S. 75—78), wo ich als Rousseaus End-
absicht die Lehre von der Souveränität der unveräußerlichen Rechte des Ein-
zelnen zu bezeichnen versuchte.
5) Es ist hervorzuheben, daß in einem Punkte Kants und Rousseaus An-
sichten über die „volonte' ge'ne'rale" sich entschieden scheiden. Der Metaphysiker
154 Georg Gurwitsch,
der Kultarphilosophie des Genfers, kann zu einer ganz neuen, von
der Tradition stark abweichenden Auffassung dessen politischer
Theorie führen, die als ein durchaus konsequentes System sich dar-
legen läßt.
2.
Wenn wir uns nun zu Fichte, diesem offenherzigen Bewunderer
der französischen Revolution wenden, um ihn über seine Auffassung
des Systems Rousseaus zu befragen, so kommen vorerst selbstver-
ständlich seine politischen Jugendschriften in Betracht: „Zurück-
f orderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas" und „Bei-
trag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die franzö-
sische Revolution" (1793), beide vor den ersten rechtsphilosophischen
Publikationen Kants in der Schweiz erschienen. Der „Beitrag",
der den stärksten Einfluß von Rousseau bezeugt1), enthält fol-
gende allgemeine Erklärung über den Genfer Bürger, den Fichte
zum Stammvater des deutschen Idealismus erhebt: „Rousseau ...
(der unseren Weg ging) . . . verfuhr viel zu schonend mit euch ihr
Empiriker, das war sein Fehler. Man wird noch ganz anders mit
euch reden. Unter euren Augen, und ich kann es zu eurer Be-
schämung hinzusetzen . . . durch Rousseau geweckt, hat
der menschliche Geist ein Werk vollendet, das ihr für
Rousseau ist von der glücklichen Harmonie zwischen Gerechtigkeit und Vorteil
überzeugt, darum verbindet er ohne Bedenken seine ideelle volonte" generale mit
dem „allgemeinen Interesse". Diese Verbindung, die metaphysisch fundiert ist,
kann aber keineswegs zur utilitaristischen Ausdeutung der volonte" generale führen
(wie es immer in der Literatur geschieht, und auch in den neueren sonst scharf-
sinnigen Werken von Fr. Haymann (Rousseaus Sozialphilosophie 1899, S. 166,
152, 175) und M. Liepmann (Die Rechtsphilosophie Rousseaus, S. 115—118)
wiederholt wird). Außer dem vorhin gesagten kann noch auf die Worte Rousseaus
verwiesen werden: „le droit ne se plit point aux passions des hommes" (Emile,
V Partie, S. 295) und seine Erklärung im Anfange des „Contr. Soc": er wolle
verbinden „ce que le droit permet, avec ce que 1'interSt prescrit" (L. I, C. I);
also hält er doch die beiden klar auseinander. — Der Kritizist Kant hat nur die
Brücke vernichtet, die der metaphysische Glaube Rousseaus zwischen der ideellen
„volonte generale" und dem empirischen Interesse geschlagen hatte.
1) Über den Einfluß, den Rousseau auf Fichte ausübte, vergleiche besonders
die Ausführungen von Fester, Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie
1890, Kap. V. — Völlig unbegründet ist die Behauptung Streckers, Die An-
fänge von Fichtes Staatsphilosophie 1917, „daß man aus Fichtes Werken nicht
den Eindruck gewinnt, als ob er sich besonders gründlich mit ihm (Rousseau)
auseinandergesetzt habe" (S. 31). Das Entgegengesetzte scheint mir das richtige
zu sein, wie aus den folgenden Ausführungen klar werden soll.
Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 155
das Unmöglichste aller Unmöglichkeit würdet erklärt haben, wenn
ihr fähig gewesen wäret, die Idee desselben zu fassen : er hat sich
selbst ausgemessen" 1). Fichte spricht im „Beitrag" auch sehr klar
aus, worin eigentlich die bahnbrechende Tat Rousseaus bestand : Rous-
seau hat zuerst das Reich des reinen sittlichen Sollens entdeckt, die
Autonomie der sittlichen Welt festgestellt. So erklärt Fichte, er
habe die Ansichten eines gewissen Herrn Rehrbergs zu bekämpfen,
„der durchgängig aus dem, was geschieht, auf das schließt, was
geschehen soll; der alles wieder verwirrt, was Rousseau
und seine Nachfolger (also Kant) auseinandergesetzt
haben und hier auseinandergesetzt (wird)"2). Und wirklich ent-
wickelt der jugendliche Fichte, mit der ihm eigenen Macht seiner
tiefen Einfältigkeit, im Anfange des „Beitrags"3) die Lehre vom
reinen Sollen mit so einer Schärfe und Präzision des Ausdruckes,
wie es Rousseau und selbst Kant nicht gegönnt war. Und dieser
glühende Prediger des reinen Sollens sieht gerade in Rousseau
den Stammvater seiner Lehre. —
Es ist bezeichnend für Fichtes Auslegung des Begriffs „con-
science" bei Rousseau, daß er im Gewissen (deutsche Übersetzung
der conscience) die Quelle der sittlichen Gesetzgebung erkennt.
„Das Gesetz, heißt es im „Beitrag" : das nur für freie Hand-
lungen gilt . . . und daher Sittengesetz genannt wird , wird im
Gewissen geäußert" 4) , und das Reich des sittlichen Sollens ist
das „Gebiet des Gewissens a 5). Hier wird die Rousseausche Ter-
minologie der Kantischen vorgezogen. Daß die „conscience" —
„das Gewissen" des Genfers, als reine Quelle des sittlichen Sollens,
als über empirisches Prinzip, nicht als vages empirisches Gefühl,
interpretiert wird, ist offenkundig6). Auch für Fichte, wie für
Kant war Rousseau der Newton der Moral.
Über das Problem der scheinbaren Kulturfeindschaft bei Rousseau
handelt Fichte in den „Vorlesungen über die Bestimmung des Ge-
lehrten" (1794), nämlich in der 5. Vorlesung betitelt: „Prüfung
der Rousseauschen Behauptungen über den Einfluß der Künste
und Wissenschaften auf das Wohl der Menschheit". Trotz der
1) Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische
Revolution, II. Auflage, Zürich 1844, S. 32—33.
2) op. cit., S. 50. 3) op. cit, S. 11—17.
4) op. cit, S. 17. 5) op. cit., S. 110—112.
6) Auch in „Der Bestimmung des Menschen" wird das „Gewissen" zur
Quelle der sittlichen Welt erhoben, Ausg. Medicus, B. III, S. 354 ff.
156
Georg Gurwitsch,
bemerkbaren Abkühlung der Begeisterung für den Genfer1), wird
Rousseau hier als „einer der größten Männer seines Jahrhunderts u
bezeichnet. „Friede sei über seiner Asche, ruft Fichte aus: und
Segen über seinen Namen. — Er hat gewirkt. Er hat Feuer
in manche Seele gegossen, die weiterführte, was er
anfing" *). Aber zwischen Rousseaus Ansichten und seinen eigenen
Behauptungen, daß „die Bestimmung der Menschheit gesetzt ist
in dem beständigen Fortgange der Kultur und der gleichförmigen
Entwicklung aller ihrer Anlagen und Bedürfnisse" 3), konstatiert
Fichte einen Widerspruch, den er doch aufzuheben verspricht :
„Wir werden den Widerspruch lösen, wir werden Rousseau
besser verstehen, als er sich selbst verstand und wir
werden ihn in vollkommener Übereinstmmung mit
sich selbst und mit uns antreffen"4). Nämlich, „Rousseau
hatte sich ein Bild von der Welt und besonders von dem gelehrten
Stande entworfen, wie sie sein sollten" 5). Mit diesem Standpunkte
des Sollens „kam er in die größere Welt . . . und wie ward
ihm, als er Welt und Gelehrte sah, wie sie wirklich waren.
Er sah, zu einer fürchterlichen Höhe gestiegen — Menschen ohne
Ahnung ihrer hohen Würde ... sah, wie sie in Befriedigung
. . . niederer Sinnlichkeit nicht Recht und Unrecht, nicht Heiliges
noch Unheiliges achteten; (folgt entrüstete, mit Rousseau über-
einstimmende Schilderung der Laster des Zeitalters). — Das
alles sah er und sein hochgespanntes und so getäuschtes Ge-
fühl empörte sich. Mit tiefem Unwillen strafte er sein Zeitalter" 6).
Die Negation der Kultur in den Dissertationen war also die
Methode einer ethischen Kritik und Beurteilung der positiven
Kultnr, die Betätigung des Standpunktes des Sollens. „Die Sinn-
lichkeit herrschte, das war die Quelle des Übels; nur diese Herr-
schaft der Sinnlichkeit wollte er (Rousseau) aufgehoben wissen" 7).
1) Sie war durch das Fortschreiten Fichtes zu einem selbständigen Stand-
punkt verursacht, der immer weiter vom Rousseauschen Individualismus abwich,
und nach 1798 — 1800 zur synthetischen Konstruktion der konkreten Wertgemein-
schaft führte. Das Urteil über Rousseau wurde bei Fichte daher immer strenger
(vgl. z. B. die „Grundlage des Naturrechts" (1796), die „Grundzüge des gegen-
wärtigen Zeitalters" 1806 und etwa „die Staatslehre" (1813) aus dem Nachlasse).
Der Unterschied der Bewertung rührt aber nicht an der Einheit der Fichteschen
Rousseau-Interpretation.
2) Fichtes Werke in Auswahl, herausgegeben von Fr. Medicus, I. Bd., S. 272.
3) ibid, S. 263—264. 4) ibid, S. 265. 5) ibid, S. 266.
6) ibid, S. 266—267. 7) ibid, S. 268.
Kant und Fichte als Kousseau-Interpreten. 157
„Rousseau wollte nicht, fährt Fichte fort, in Absicht der geistigen
Ausbildung, sondern bloß in Absicht der Unabhängigkeit von den
Bedürfnissen der Sinnlichkeit den Menschen in den Naturstand
zurückversetzen", „er nahm (dabei) unvermerkt an, daß sie schon
aus demselben herausgetreten sein und den ganzen Weg der Bil-
dung durchlaufen haben"1). — Rousseaus „Fehlschluß" besteht
darin, daß er die „Sinnlichkeit überhaupt tötet. Daher Rousseaus
Naturstand". „Rousseau vergißt, daß die Menschheit diesem Zu-
stande nur durch Sorge, Mühe und Arbeit sich nähern kann und
soll"2). „Vor uns also liegt, was Rousseau unter dem
Namen des Naturstandes ... hinter uns setzte"1) ...
„Rousseau schildert die Vernunft in der Ruhe, aber nicht im
Kampfe; er schwächt die Sinnlichkeit statt die Vernunft zu stär-
ken" 3). „Hierin fehlt Rousseau ... er fühlt stark das Elend der
Menschen; aber er fühlt weit weniger seine eigene Kraft, dem-
selben abzuhelfen" 3). Er hat noch nicht erkannt, darin liegt sein
Hauptfehler, daß „Handeln! Handeln!, das ist, wozu wir da sind" 4).
— Diese Kritik, die Fichte an der Rousseauschen Theorie übt,
differiert nicht, wie es im ersten Augenblick scheinen mag, mit
der Kantischen Rousseau-Interpretation. Fichte versteht es ganz
genau, wie aus seinem „Beitrage" hervorgeht, daß Natur bei Rousseau
im positiven Ausbau seines Systems, also im„Contr. Soc." und „Emile",
mit dem Reiche des sittlichen Sollens, des vernünftigen Natur-
rechts zusammenfällt. Fichte übt nur Kritik an der Methode,
die Rousseau benutzt, um die intellektualistische Kultur der Auf-
klärung zu beurteilen: das Bezugnehmen auf den einfältigen, in-
stinktiven Naturzustand, die Wildheit, als Wertmesser der histo-
risch gegebenen Kultur. Schon Kant hat dieser Methode Rousseaus
seine eigene gegenübergestellt: er nannte das Verfahren des Genfers
„synthetisch, weil er vom natürlichen Menschen anfange, während
ich (Kant) analytisch verfahre und vom gesitteten Menschen aus-
gehe" 5). Dieser Unterschied der Methoden wird von Fichte mit
desto größerer Energie emporgehoben, als er im Begriffe stand,
seine Ethik des Handelns, die nicht nur über Rousseau, sondern
auch über Kant hinausging, auszuarbeiten. Daß aber dieser Unter-
schied des Verfahrens eben ein rein methodischer war, dafür ist
das beste Zeichen, daß Fichte, als er in den „Grundzügen des
1) ibid, S. 270. 2) ibid, S. 271.
3) ibid, S. 273. 4) ibid, S. 272.
5) Bemerkungen . . . op. cit., S. 220.
158 Georg Gurwitsch,
gegenwärtigen Zeitalters" von der Rechtsphilosophie zur Geschichts-
philosophie sich wandte, zur „synthetischen Methode" Rousseaus
zurückkehrte; er unterscheidet hier ganz im Sinne des Genfers
5 Epochen in der Geschichte der menschlichen Gattung: angefangen
von der Epoche der Unschuld, wo „die Vernunft wirkt als dunkler
Instinkt", durch die Epoche der Befreiung von der gebietenden
Autorität unmittelbar und mittelbar von der Vernunft überhaupt
— dem Zustand der vollendeten Sündhaftigkeit", zur „Epoche
der Vernunft - Weisheit, dem Stande der vollendeten Rechtferti-
gung" '). — Jedenfalls berührt der Unterschied der Methoden nicht
das Endergebnis der Rousseauschen Kritik der Kultur, die klar,
so gut von Fichte, wie von Kant, als bahnbrechende Entdeckung
der Selbständigkeit der ethischen Welt (in der Negation der Allein-
herrschaft der theoretischen Vernunft symbolisiert), erfaßt wird.
Es wurde schon erwähnt, daß der „Beitrag" die Lehren des
„Contr. Soc." unter der Kategorie des reinen Sollens interpretiere.
So wird die Lehre vom ursprünglichen Vertrage selbst ausgelegt.
Fichte führt diesbezüglich folgendes aus, sich gegen Rehrberg
wendend: „Es sei (wird von Rehrberg behauptet) seit Rousseau
gesagt und wieder gesagt worden, daß alle bürgerliche Gesell-
schaft sich der Zeit nach auf einem Vertrag gründet, meint ein
neuer Naturrechtslehrer : aber ich wünsche zu wissen, gegen welchen
Riesen diese Lanze eingelegt ist. Wenigstens sagt Rousseau
das nicht. — Man muß auf seinen Gesellschafts vertrag einen sehr
flüchtigen Streifzug gemacht haben, um das in ihm zu finden . . .
Rousseau sucht im ganzen Buche nach dem Rechte, nicht
nach der Tatsache" 2). Mit welch' einer Tiefe und Präzision
hier Fichte Rousseau versteht, wird besonders klar, wenn man
folgende Äußerungen Rousseaus in Betracht zieht, die die nur un-
längst bekannt gewordene (1887) ursprüngliche Redaktion des „Contr.
Soc." enthält: „Dans la multitudes d'aggregations . . . il n'y a . . .
pas une qui ... ait £te (form6) selon . . . (la maniere) que j'£tablis.
Mais je cherche le droit et la raison et ne dispute pas
de faits"8). Wir sehen, Fichte ist so tief in die Gedankenwelt
Rousseaus eingedrungen, daß er, ohne es zu wissen, sogar wörtlich
die gleiche Formulierung des Sinnes der Vertragstheorie Rousseaus
1) Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters 1806. Erste Vorlesung, der
Ausgabe von Medicus IV. Band, S. 405.
2) „Beitrag", op. cit., S. 43—44 und Anmerkung.
3) Ursprüngliche Redaktion, op. cit., S. 24 des Manuskripts.
Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 159
gab, wie der Genfer selbst. Desto belehrender für die Rousseau-
Forschung müssen Fichtes einzelne Deutungen der politischen
Theorie des Genfers werden, und vor allem, der grundlegenden
Lehre von der „volonte generale".
Die „Grundlage des Naturrechts" (1796 — 97) enthält eine aus-
führliche Auslegung dieses Hauptbegriffes der Rousseauschen Rechts-
philosophie. „Wie kann", wirft Fichte hier, das Grundproblem
des „Contr. Soc." formulierend, die Frage auf: „die Freiheit eines
Einzelnen, die nach dem Rechtsgesetze nur durch die Freiheit aller
begrenzt ist, mit der notwendigen Bedingung des Rechtsgesetzes —
der gänzlichen und ohne jeden Vorbehalt geschehenden Veräußerung
der Macht und des Rechtsurteils jeder Person — in Vereinigung ge-
bracht werden" *). Und er antwortet, sich ausdrücklich auf Rousseau
berufend 2), mit dem Hinweis, daß diese Unterwerfung nicht unter
die Willkür des empirischen „allgemeinen Willens (volonte de tous),
sondern unter den „gemeinsamen Willen (volonte generale) (S. 262),
den „apriorischen Willen des Rechts" erfolgt. „Der aufgestellte
"Widerspruch ist gehoben, wenn . . . ich mich nicht der veränder-
lichen Willkür eines Menschen, sondern einem unabänderlichen
festgesetzten Willen (unterwerfe) und zwar ... da das Gesetz so
ist, (wie) ich selbst nach der Regel des Rechts es geben müßte . . .
meinem eigenen unveränderlichen Willen, den ich
notwendig haben müßte, wenn ich gerecht bin und
also überhaupt Rechte haben soll"8). Also ist der „ge-
meinsame Wille" — das volonte ge*ne*rale in Fichtescher Deutung
— das „Wollen des Rechts"4), als der bei allen Individuen
gleiche Bestandteil ihres Wollens — „das einzig mögliche daher,
worüber ihr Wille sich vereinigt"5). „Wenn eine Million Menschen
beisammen sind, so mag wohl jeder Einzelne für sich selbst soviel
Freiheit wollen, als nur immer möglich ist. Aber man ver-
einige den Willen aller in einen Begriff, als einen
Willen, so teilt derselbe die Summe der möglichen Freiheit zvl
gleichen Teilen; er geht darauf, daß alle miteinander frei seien,
daß daher die Freiheit eines jeden beschränkt sei
durch die Freiheit aller übrigen" — „Rousseaus volonte*
gön^rale, deren Unterschied von der volonte* des tous keineswegs
so gar unbegreiflich ist" 6), fügt Fichte in der Anmerkung an. —
1) Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, op.
cit., B. II, S. 105—106. 2) ibid, S. 110, 262. 3) ibid, S. 108.
4) ibid, S. 110. 5) ibid, S. 110—111. 6) ibid, S. 110.
160 Georg Gurwitsch,
Wir sehen, die Fichtesche Interpretation der volonte generale
stimmt mit der Kantischen überein, nur daß die Formulierang
sich näher dem Rousseauschen Gedankengange hält, als es bei
Kant geschah. Durch diese Präzision der Wiedergabe erhält Fichte
die Möglichkeit, den Unterschied der „volonte* ge*n£rale" und „vo-
lonte* des tous" zur Klarheit zu bringen, und so die berüchtigte
Dunkelheit der Rousseauschen Lehre über die Summierung der
Einzel willen l) , aufzuklären. „Alle einzelnen", erklärt Fichte
Rousseaus Gedanken, „wollen jeder soviel als möglich für sich be-
halten und allen übrigen so wenig wie möglich lassen; aber eben
darum, weil dieser Wille unter sich streitig ist, hebt das Wider-
streitende sich gegenseitig auf, und das, was als letztes Resultat
bleibt, ist, daß jeder haben solle, was ihm zukommt. Wenn zwei
Leute im Handel miteinander begriffen sind, so mag man immer
annehmen, daß jeder den anderen bevorteilen will; da aber keiner
von beiden der Bevorteilte sein will, so vernichtet sich dieser Teil
ihres Wollens gegenseitig und ihr gemeinsamer Wille ist
der, daß jeder erhalte was recht sei"2). Also das Resultat
der Summierung ist nicht ein empirischer Wille, der aus summierten
Teilen besteht, sondern das apriorische, bei allen Beteiligten gleiche
Wollen des Rechts, das, durch das gegenseitige Vernichten der
empirischen Bestandteile des individuellen Willens, in ihrer Rein-
heit und Klarheit hervortritt3).
So ist nach Fichtes Auffassung die „volonte generale" ein
unveränderliches apriorisches Wollen des Rechts, das eine Syn-
thesis zwischen der Freiheit eines jeden und der Gleichheit aller
erzeugt. Kann demnach die erforderte Unterwerfung unter die
„volente generale" zur Beeinträchtigung der Freiheitsr echte führen?
Fichtes Antwort, die auch hier mit der Kantischen zusammenfällt,
wenn auch viel schärfer formuliert, ist von vornherein klar. „Weit
entfernt", führt hier Fichte aus, in die Tiefen des Rousseauschen
Denkens eindringend, „durch diese Unterwerfung meine Rechte zu
1) Contr. Soc. L. II, C, III: „II y a souvent bien de la dififärence entre la
volonte* de tous et la volonte" generale, . . . mais otez de ces memes volontes les
plus et les moins qui s'entre-ditruisent, reste pour somme de differences la vo-
lonte" generale". Sogar ein so tiefer Forscher in der Geschichte der Rechtsphilo-
sophie, wie 0. v. Gierke, deutet dieses Zitat im Sinne der Lehre vom „Durch-
schnittswillen", des arithmetischen Mittels der empirischen Willensäußerungen aus,
vgl. Gierke, Johannes Althusius, III. Aufl. 1913, S. 203.
2) Grundlage des Naturrechts, op. cit., S. 110—111, Anmerkung.
3) Vgl. m. Arb. „Rousseau . . .", S. 62—67.
Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten. 161
verlieren, erhalte ich sie erst, indem ich erst durch sie äußere,
daß ich die Bedingung, unter welcher allein jemand Eechte hat,
erfülle" '). Wie wir uns erinnern, unterscheidet Rousseau zwischen
dem vor staatlichen „droit naturel" instinctif, das mit der Macht
zusammenfällt, und dem vernünftigen Naturecht, dem wahrhaften
Recht, das aus der volonte' generale hervorgeht. Als Vorbedingung
der Geltung des Vernunftsrechts muß die volonte* g£n£rale herr-
schen, also der Staat gegründet sein. Diesen neuen Gedanken
Rousseaus 2) prägt Fichte vollständig aus. „Es ist", sagt er (die
Lehre Rousseaus klar erfassend) . . . „gar kein Naturrecht (denn
das droit naturel instinctif des Genfers ist eigentlich kein Recht,
wie wir wissen), d. h. es ist kein rechtliches Verhältnis zwischen
Menschen möglich, außer in einem Gemeinwesen und unter posi-
tiven Gesetzen" s). ... „Keiner kann bei einem Staatsvertrage
etwas zubringen und es geben, denn er hat nichts vor diesem
Vertrage. Weit entfernt sonach , daß dieser Vertrag sich mit
Geben anfangen sollte, hebt er an von Erhalten" 4). Diesen Worten
würde Rousseau unbedingt zustimmen, da es gerade seine Mei-
nung war, daß erst im bürgerlichen Zustande die unveräußerlichen
Vernunftsrechte der Menschen erzeugt werden5). Das ist, wie
wir schon sahen, die logische Folge der Rousseauschen Lehre über
die zwei Arten des Naturrechts. „11 est si faut", lesen wir direkt
zur Bestätigung dieser Deutung in einem bereits vorerwähnten
Zitat des „Contr. Soc": „que dans le contrat social ily ait de
la part de particuliers aucune renonciation veritable
. . . qu'au lieux d'une alieanation ils n'on fait qu'un eschange avan-
tageu de leur force, contre un droit, que Tunion social
rend invincible" 6). r
Fichte hat die größere Klarheit in der Darlegung dieses Ge-
dankens erreicht, indem er den verwirrenden Begriff des instink-
tiven Naturrechts fortließ. Im Grunde war er bei Rousseau auf
1) Grundlage des Naturrechts I, op. cit., B. II, S. 108.
2) Vgl. meine Arbeit „Rousseau ...", S. 29—35, 48—51, 77—78, 91—94;.
96—97.
3) Grundlage I, op. cit, S; 152.
4) ibid, II, S. 208.
5) In meiner Schrift habe ich gerade auf dieser Lehre des Genfers fußend,.
Rousseau gegen Jellinek (Die Erklärung der Menschenrechte, 1896, S. 6 ff.) zu«,
verteidigen versucht.
6) Contr. Soc, L. II, C. IV.
Kantstudien. XXVU. 11
162 Georg Gurwitsch,
einer terminologischen Zweideutigkeit gebaut 1). Wenn daher Fichte,
sich Rousseau gegenüberstellend, bemerkt: „Rousseau behauptet
unbedingt, ein jeder gibt sich ganz. Dies kommt daher: Rousseau
nimmt ein Eigentumsrecht an vor dem Staats vertrage" 2), so kann
dies nur die Terminologie, nicht den Sinn der Lehre des Genfers
betreffen. Rousseau weiß es ganz genau, daß das Eigentumsrecht,
wie jedes andere Recht im normativen Sinne nur im Staat be-
steht; und gerade bezüglich des Eigentumes formuliert er es auch
dem Ausdrucke nach sehr deutlich: „H faut bien distinguer . . .
la possesion qui n'est que l'effet de force, de la propriöte* . . .
Ce que l'homme perd par le contrat social c'est un droit
illimite' ä tous ce qui le tente et qu'il peut atteindre, ce qu'il
gagne . . . c'est la pro priese* de tout ce qu'il possede" 3). Also
sind eigentlich Fichtes Ausführungen eine genaue Wiedergabe des
Rousseauschen Gedankenganges, nur von der terminologischen
Unklarheit befreit, gegen die sich Fichtes Kritik wendet. Rous-
seau muß das Verdienst zugesprochen werden, als erster erkannt
zu haben, daß das Vernunftrecht sich nur im bürgerlichen Zu-
stande realisiert, wo es erst zur Geltung kommt, also kein vor-
gemeinschaftlicher Begriff ist. Und Fichte hat diesen Gedanken
endgültig ins Klare gebracht.
Gerade auf dieser Idee fußt Rousseaus eigentümliche Be-
gründung der Menschenrechte, die ein Meister von der Größe
Jellineks verkannt hatte. Die Menschenrechte werden nach Rous-
seaus Lehre, wie es schon erwähnt wurde, im Staate durch die Vor-
herrschaft der volonte generale geboren, — des vernünftig-ethischen
Elementes des individuellen Wollens eines jeden Bürgers. Ihre
Grundlage ist die Menschenwürde, die sich nur nach der Unter-
werfung aller Instinkte unter dieses ideelle Prinzip behauptet und
zur Entfaltung kommt. Der Staat wird zur rechtmäßigen Insti-
tution nur durch die unbedingte Vorherrschaft des Vernunftrechtes.
Wenn der Mehrheits willen nicht mehr mit der „volonte* generale"
übereinstimmt, so gibt es nach Rousseau auch keinen Staat mehr,
keine Rechtsgewalt, sondern nur Vergewaltigung rein faktischer
1) Vgl. darüber meine Ausführungen in „Rousseau ", S. 41—51.
2) Grundlage des Naturrechts, II, op. cit., S. 208.
3) Contr. Soc, L. I, C. VIII u. IX. Anderer Meinung ist Liepmann (op.
cit., S. 124), der ein vorstaatliches Eigentumsrecht bei Rousseau annimmt. Vgl.
meine Auseinandersetzung mit ihm in „Rousseau ", S. 91 — 94.
Kant und Fichte als Eousseau-Interpreten. 163
Art1). Und da der Hauptinhalt des Vernunftsrechtes, nach
Rousseau, die individuelle Freiheit ist, so ist die Souveränität der
individuellen Freiheitsrechte die Grundidee seiner politischen Theorie.
Und dieses gerade hat Fichte mit klarem Blicke aus den Werken
Rousseaus herausgelesen. Gerade in der Zeit seiner größten Be-
geisterung für Rousseau schrieb er seine flammende Lobrede für
die unveräußerlichen Menschenrechte : „Zurückforderung der Denk-
freiheit von den Fürsten Europas" (1793), und im „Beitrage" und
der „Grundlage" werden immer mit größter Energie die Menschen-
rechte unter ausdrücklicher Berufung auf Rousseau verteidigt.
Die französische Revolution, von der Fichte auch durch den Terror
nicht abgeschreckt wurde, erscheint ihm als „ein reiches Gemälde
über den großen Text: Menschenrecht und Menschenwert2). Die
Grundlage der Menschenrechte ist Menschenwürde. „Der Mensch
hat ein Recht zu den Bedingungen, unter denen allein er pflicht-
mäßig handeln kann. Solche Rechte sind nie aufzugeben, sie sind
unveräußerlich" 3). Also „es ist ewige menschliche und göttliche
Wahrheit, daß es unveräußerliche Menschenrechte gibt, und daß
die Denkfreiheit darunter gehört"4). Und der einzige Zweck des
Staates ist, nach Fichtes Ansicht, in dieser Anfangsperiode, die
ganz mit Rousseau übereinstimmt, das Geltendmachen dieser Men-
schenrechte, die „Kultur zur Freiheit" der Person5). Es kann
keine Veräußerung der Freiheit stattfinden. „Nein, Mensch, du
durftest es nicht versprechen; du hast das Recht nicht, auf deine
Menschheit Verzicht zu tun; dein Versprechen ist rechtswidrig,
mithin rechtsohnmächtig"6); — aus diesen Worten des „Beitrags",
die eine genaue Wiedergabe des berühmten Satzes Rousseaus
(„Renocer a ca liberte c'est renoncer a sa qualite d'homme . . . une
teile renonciation est incompatible avec la nature de l'homme; et
c'est oter toute moralite a ses actions, que d'oter toute liberte a
sa volonte") 7) sind, werden von Fichte alle Konsequenzen gezogen,
und ein System der Menschenrechte errichtet, das auch das System
Rousseaus in seinem eigentlichen Gedankengange war. Eine neue
1) Siehe oben S. 153 (Anm. 2).
2) Beitrag, op. cit., Vorwort, S. VIII.
3) Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bis-
her unterdrückten (1793). J. G. Fichtes sämtliche Werke, Berlin 1845, Bd. VI,
S. 12.
4) ibid, S. 19. 5) Beitrag op. cit., S. 70, 73, 77.
6) ibid, S. 73. 7) Contr. Soc, L. I, C. IV.
11*
164 Georg Gurwitsch, Kant und Fichte als Rousseau-Interpreten.
Theorie der Menschenrechte, die im Staate erzeugt werden und
durch die Vorherrschaft der individuellen volonte* gänörale zur
Geltung kommen1). Fichte hat die individualistische Grundidee
des „Contr. Soc.a, die in der Synthese zwischen individueller Frei-
heit und Gleichheit gipfelt, klar zum Vorschein gebracht, und so
das Hauptmotiv des Rousseauschen politischen Denkens aufgeklärt. —
Wenn wir jetzt das Endresultat unserer Ausführungen zu-
sammenfassen, so scheint uns bewiesen, daß Kant und Fichte tiefe
und bedeutungsvolle Auslegungen der Rousseauschen Theorie
brachten, die in voller Übereinstimmung mit dem Texte der Werke
des Genfers stehen, und als Wegweiser zur weiteren Rousseau-
Forschung, als unentbehrlich betrachtet werden müssen. Die Kant-
Fichtesche Interpretation gibt die Möglichkeit, die Theorie Rous-
seaus, trotz aller scheinbaren Wiedersprüche, als ein folgerichtiges
einheitliches Ganzes zu begreifen, und ihren Zusammenhang mit
der Geschichte des deutschen klassischen Idealismus, also ihre
historische Bedeutung, zu erkennen.
1) Siehe oben S. 153 Anmerkung.
Grundbegriffe der Rousseauschen
Staatsphilosophie.
Von Privatdozent Dr. Siegfried ÜKarck, Breslau.
I.
Der Sinn der Rousseauschen Staatsphilosophie ist von jeher
der Gegenstand lebhafter Streitfragen gewesen. In das Gewirr
vulgärer Auffassungen, in denen Rousseau bald als Staatsabsolutist,
bald als Utilitarist oder als Utopist anerkannt, bezw. bekämpft
wurde, hat erst die problemgeschichtliche Herausarbeitung kri-
tischer Motive bei Rousseau vom Boden der neukantianischen
Rechtsphilosophie aus Klarheit gebracht. Es ist das Verdienst
Stammlers, Haymanns und Natorps, das Rousseau -Problem auf
eine neue Grundlage gestellt zu haben. Sie überwanden ins-
besondere endgültig die genetische Auffassung des Gesellschafts-
vertrages gemäß dem klaren Sinne der Rousseauschen Problem-
stellung. Trotz oder gerade infolge dieser grundlegenden metho-
dischen Einstellung bleibt die Analyse des Ineinanders kritischer
und dogmatischer Gedankengänge bei Rousseau stets aufs neue für
die problemgeschichtliche Forschung anziehend.
Der kritische, nicht genetische Sinn der Rousseauschen Frage-
stellung im Contrat social steht schon nach dessen Eingangssätzen
außer Zweifel. Eine spekulative Hypothese über die Entstehung
des staatlichen Zusammenlebens zu geben lehnt Rousseau dort ab,
er stellt vielmehr die quaestio iuris des Staates in der Frage nach
der Vereinbarkeit des staatlichen Zwanges mit der natürlichen
Freiheit des einzelnen. Der rechtlich- staatliche Zwang soll geprüft
und legitimiert werden, jedoch der Maßstab dieser Rechtfertigung,
der Begriff der natürlichen Freiheit, scheint die Möglichkeit kri-
tischer Lösung des Problems von vornherein dogmatisch zu ge-
fährden. Scheint doch mit dem Begriff der „natürlichen Freiheit"
166 Siegfried Marck,
der spekulative Gedanke des Nat Urzustandes den Eckstein der
Rousseauschen Staatsphilosophie zu bilden, auch wenn er nicht
mehr als Ausgangspunkt für die Entstehung der Gesellschaft ver-
wandt wird. Auch die kritische Frage nach der Rechtfertigung
des Staates scheint an die ganze Problematik des Naturzustandes
gebunden. Die Abgrenzung des Rousseauschen „Naturzustandes"
gegenüber den möglichen Bedeutungen dieses Begriffes und seine
Beziehung zur „natürlichen Freiheit" bilden eine grundlegende
Voraussetzung des Verständnisses der Rousseauschen Staatsphilo-
sophie. In enger logischer Verknüpfung mit dem Gedanken des
Vertrages geht der Begriff des Naturzustandes durch die Staats -
Philosophie und hat neben dem Sinn der Hypothese bald die
Bedeutung der Kategorie, bald die der Fiktion. Mit der
methodischen Erfassung des Gesellschaftsbegriffs ist auch der Be-
griff des Naturzustandes charakterisiert, der den Gegenbegriff der
Gesellschaft bedeutet. Bei einer genetischen Ableitung ist der
Begriff des Naturzustandes eine Hypothese über ein gesellschafts-
loses Verhalten, mit der die Grenze der gesellschaftlichen Er-
fahrung überschritten wird. Wo hingegen die Frage nach der
logischen Möglichkeit der Gesellschaft gestellt wird und ihre kate-
gorialen Bedingungen aufgewiesen werden, hat auch der Begriff
des Naturzustandes kategorialen Charakter. Denn soll er einen
methodischen Sinn in der transzendentalen Frage nach der Möglich-
keit der Gesellschaft besitzen, so kann er dies nicht als deren
schlechthin negative Setzung, als der Gedanke des gesellschaft-
lichen Chaos, vielmehr muß er den methodologischen Ansatzpunkt
zur Konstituierung des Gesellschaftsbegriffes bilden. Der Natur-
zustand ist als Gegensatz des Gesellschaftsbegriffes, platonisch
gesprochen, nicht das ovx ov sondern das fti) bv der Gesellschaft,
d. h. nicht ihre schlechthinnige Negation, ihr Nichtsein, sondern
ihr Noch-nicht-sein als Ansatzpunkt ihrer Konsti-
tuierung. Der Begriff des Naturzustandes in der Rolle einer
Fiktion tritt mit seinem möglichen logisch - kategorialen Sinn auf
eine Seite, während der Sinn der Hypothese auf der andern Seite
steht. Auch in der Fiktion wird im Gegensatz zur genetischen
Hypothese über ein Faktum ein Zustand mit schöpferischer Phan-
tasie gesetzt, ein Naturzustand „erdichtet". Soll die wissenschaft-
liche Fiktion sich von willkürlicher oder ästhetischer Phantasie
unterscheiden, so muß sie als wissenschaftspädagogische Verdeut-
lichung eines auch unabhängig von ihr geltenden Begriffes auf
Grundbegriffe der Rousseauschen Staatsphilosophie. 167
diesen als ihre methodische Grundlage zurückweisen. Der Natur-
zustand als Fiktion kann also nur den wissenschaftlichen Sinn
einer Veranschaulichung der „apriorischen Vernunftidee" Natur-
zustand besitzen, die Fiktion muß in jenem methodologischen An-
satzpunkte für die Kategorien der Gesellschaft objektive Fundie-
rung haben. Vom kategorialen resp. fiktiven Sinne des Naturzu-
standes aus kann infolge der Unabtrennbarkeit von Ergebnis und
methodischem Ansatzpunkte der Staatsbegriff einer Staatsphiloso-
phie abgelesen werden.
So hat z. B. auch bei H o b b e s der Naturzustand kategorial-
fiktive und nicht Hypothesenbedeutung. Seinem Naturzustand
als Kriegszustand entspricht der auf bloße Übermacht des Sou-
veräns gegründete staatliche Frieden, der Zustand des ,Nichtkrieges',
wie man ihn im zwischenstaatlichen Leben bezeichnet hat. In
formaler Hinsicht ist für den B/ousse au sehen Naturzustand
seine kategoriale Bedeutung festzuhalten, zu der sich auch bei
ihm Elemente der Fiktionsbedeutung gesellen. Seinem materialen
Sinne nach aber enthält der Rousseausche Naturzustand ein über
den sonstigen Gedanken des Naturzustandes hinausgehendes Ele-
ment. Eousseaus ,Natur' ist ja nicht die Natur der Naturwissen-
schaft, sein Naturbegriff ist vielmehr romantisch nicht bloß im
vulgären, sondern im philosophischen Sinne dieses "Wortes, insofern
er die Synthesis zweier heterogener Elemente, eben der Natur
der Naturwissenschaft und der wahrhaften Menschlichkeit oder
der Kultur in sich darstellen will. Unter ethischen Gesichtspunkten
ist die Forderung der Naturrückkehr sowohl sittlicher Imperativ
wie Streben zu leidensfreier Idylle. Von dieser romantisch ver-
klärten Natur aus, die allein auch Kultur ist, kommt Rousseau in
seiner sozialphilosophischen Erstlingsschrift ,Discours sur l'origine
de rinegalite" parmi les hommes' zu völliger Ablehnung der Ge-
sellschaft, zu radikalem sozialphilosophischem Pessimismus. Die
Gesellschaft ist ihm das Stadium des Abfalls aus der natürlichen
Vollkommenheit. Hinsichtlich dieses Standpunktes ist der „Contrat
social" kritisch auch gegenüber .dem Naturzustande. Nicht mehr
stimmungsmäßig verworfen, sondern kritisch gerechtfertigt soll der
Staat im Contrat social werden. Seine Notwendigkeit gegenüber
dem Naturzustande wird damit anerkannt. Im Gegensatz zur
früheren idyllischen Verklärung der Natur werden Sittlichkeit und
Gerechtigkeit menschlicher Handlungen nunmehr erst in den Über-
gang zum bürgerlichen Zustand verlegt: ,Ce passage de T£tat de
168 Siegfried Marck,
nature a Fötat civile produit dans 1'homme un changement tres-
remarquable, en substituant dans sa conduite la justice a l'instinct,
et donnant ä ses actions la moraHte" qui leur manquait aupara-
vant',1). Indessen macht sich auch das übernaturalistische Element
des Rousseauschen Naturbegriffs hier von neuem geltend, wenn
die sittliche Freiheit als natürliche bezeichnet wird. Das kultur-
indifferente Moment des Naturbegriffs kommt in derjenigen Fas-
sung des Naturzustandes zum Ausdruck, mit dem der bürgerliche
Zustand brechen muß und in dessen Charakteristik Rousseau mit
Hobbes verwandte Züge aufweist. Das Kulturelement dagegen
des Naturbegriffes erhält sich im Gedanken der natürlichen Frei-
heit', die den Maßstab für die Deduktion der bürgerlichen Ord-
nung bildet. In Rousseaus Staatsbegriff spiegelt sich also die
Doppeldeutigkeit seines Naturgedankens: dem naturalistisch ver-
standenen Naturzustand entspricht eine utilitaristisch-eudämonisti-
sche Fassung des Begriffs vom Sozialverein. ,Je suppose les
hommes parvenus ä ce point ou les obstacles qui nuisent a leur
conversation dans l'e*tat de nature Temportent par leur resistance
sur les forces que chaque individu peut employer pour se main-
tenir dans cet e"tat. Alors cet £tat primitif ne peut plus subsister ;
et le genre humain perirait s'il ne changeait sa maniere d'etre* 2).
Diese Fassung aber wird zurückgedrängt durch Rousseaus ethisch-
idealistischen Staatsbegriff, in dem der romantische Naturbegriff
durch Entlassung seines idealistisch-kulturellen Ele-
ments seinen Gewinn trägt. Hier erhält das ne libre den Sinn
einer eingeborenen sittlichen Freiheit, auf der die Menschenwürde
beruht : ,Renoncer ä sa libert£, c'est renoncer a sa qualite d'homme,
aux droits de l'humanit6, meme ä ses devoirs' 8). Dieser Rousseau-
sche Freiheitsbegriff liegt in der Richtung des Kantischen Auto-
nomiegedankens und hebt sich scharf ab von der anarchischen
Willkürfreiheit des Hobbesschen natürlichen Kriegszustandes. Die
anarchische Freiheit des Hobbes muß ganz in der bürgerlichen
Freiheit verschwinden, sie muß restlos gegen die bürgerliche Frei-
heit veräußert werden. Rousseaus natürliche Freiheit bleibt in
der bürgerlichen Freiheit als deren unveräußerlicher Maßstab, dem
jene zu genügen hat, erhalten. Diese Funktion der natürlichen
Freiheit ist nicht nur von der Problematik des dogmatischen Be-
1) Du Contrat Social (Petits Chefs-D'Oeuvre de J.-J. Rousseau, Paris 1886)
I, 8 S. 164.
2) a. a. 0. I, 6 S. 160. 3) a. a. 0. I, 4 S. 156.
Grundbegriffe der Rousseauschen Staatsphilosophie. 169
griffs Naturzustand* befreit, sondern erhebt sich auch über dessen
kritische Fassung als Grenzbegriff. An die Stelle des Naturzu-
standes tritt jetzt das Naturrecht, dessen Sinn der eines
sittlich-vernünftigen, eines ,richtigen* Rechtes ist. Die natürliche
Freiheit des einzelnen ist der Ausdruck der Menschheit im Indi-
viduum, ist sittlich- vernünftige Freiheit; die Vereinbarkeit des
staatlichen Zwanges mit der natürlichen Freiheit bedeutet die
Rechtfertigung jedes positiven Rechtes vor dem richtigen Rechte.
II.
Die Vereinbarkeit von Unterordnung und natürlicher Freiheit
ergibt sich für Rousseau bekanntlich durch die Möglichkeit der
Zurückführung des Staates auf einen Urvertrag als seine logische
Bedingung. Eine mit der natürlichen Freiheit des einzelnen ver-
einbare Autorität des Staates muß von den Unterstellten freiwillig,
d. h. in ihrer Rolle als ursprünglich freie Kontrahenten anerkannt
werden können. Der den Staat konstituierende Vertrag tritt in
parallelen Bedeutungen zu seinem Gegenbegriff Naturzustand auf,
als Hypothese, als Kategorie oder als Fiktion. Sofern der Ver-
trag den aus der Sphäre des positiven Rechtes stammenden Akt
bezeichnet, drängt sich bei ihm der fiktive Charakter in den Vorder-
grund, demgegenüber das Ergebnis des Aktes den kategorialen
Sinn dartellt, auf den die Fiktion zurückweist. Ebenso wie im
Begriff des Naturzustandes spiegeln sich im Vertragsgedanken die
verschiedenen Grundeinstellungen dem Staate gegenüber: utilita-
ristische und idealistische.
Unter diesen Gesichtspunkten ist eine Gegenüberstellung der
Rousseauschen Vertragstheorie zu der des Hobbes klärend. Beiden
gemeinsam ist der nicht als Hypothese auf ein Faktum zielende,
sondern fiktive Charakter des Vertrages, beide verbindet —
darauf hat besonders Gierke1) aufmerksam gemacht — gegenüber
andern Vertragstheorien ein vertragstheoretischer Monismus. An
die Stelle der zwei Verträge früherer Theorien: 1. Bildung einer
Gesellschaft durch Vereinigung (Unionsvertrag) und 2. Einsetzung
einer staatlichen Herrschaft durch vertragsmäßige Unterwerfung
(Subjektions vertrag) wird bei beiden Denkern ein Staatsvertrag
gesetzt, nun aber mit dem grundlegenden Unterschiede, daß Hobbes
den Vereinigungsvertrag im Herrschaftsvertrage, Rousseau den
1) Otto v. Gierke: Joh. Althusius . . . Breslau 1913.
170 Siegfried Marck,
Herrschaftsvertrag im Vereinigungs vertrage aufhebt. Bei Hobbes
nämlich schließen den fingierten Vertrag empirische Subjekte
untereinander zu Gunsten eines Herrschers, bei Rousseau da-
gegen wird der Vertrag zwischen den einzelnen und der Ge-
samtheit geschlossen. Dieser Unterschied führt bei Rousseau
zu einer Umbildung des Vertragsgedankens, der sich bei ihm in
demselben Maße von dem des Hobbes entfernt wie sein Begriff
der natürlichen Freiheit vom Hobbesschen Naturzustande. Bei
Hobbes soll der fingierte Vertrag zwischen den empirischen ego-
istischen Einzelnen das Staatsrecht begründen, er müßte bereits
ein Recht voraussetzen, das mit dem Grundsatze „pacta sunt ser-
vanda u Verträge als bindend normiert. Für den Hobbesschen Ver-
trag gilt, was Radbruch1) in seiner geistreichen Analyse gegen-
über dem Vertragsgedanken überhaupt herausarbeiten will : soll
jener Zirkel vermieden werden, so muß hinter den Vertrag auf das
ihn psychologisch begründende Vertragsinteresse der einzelnen
an der wechselseitigen Beschränkung des Eigentums als gesell-
schaftsfundierend zurückgegangen werden. So weit wie Rousseau
mit dem Hobbesschen Naturzustand in seiner Staatsphilosophie ar-
beitet; weist auch sein Vertragsbegriff auf die Heteronomie ego-
istischer Vertragsinteressen. Bereits aber der Gedanke eines Ver-
trages zwischen einzelnen und der Gesamtheit deutet auf eine
Form des Vertragsgedankens hin, in der sich wiederum der Be-
griff der natürlichen Freiheit geltend macht und die durch das
erwähnte Zirkelargument nicht angreifbar erscheint. Rousseaus
natürlich freie Subjekte stehen in keinem Kriegszustande mitein-
ander, der die Fiktion eines Friedensschlusses unter ihnen recht-
fertigen könnte. Einem sittlich vernünftigen Rechte unterstellt,
sind sie vielmehr von vornherein in einer Beziehung der Verträg-
lichkeit*. Denn die sittlich - vernünftige Freiheit des einen hat
keine mögliche Interessenkollision mit der Freiheit des andern.
Sie bilden von vornherein eine Gesamtheit, deren Bedingung das
Vernunftrecht als das ,Zusammenbestehen der Freiheit eines jeden
mit der des andern', kantisch geredet, ist. Mit der Umwandlung
des Begriffs Naturzustand* in den eines Natur rechtes (Vernunft-
rechtes) erhält auch der Begriff des Vertrages die bloße Funktion
einer Symbolisierung vernunftrechtlicher Beziehungen.
Der Rousseausche Vertrag setzt im Gegensatz zu dem zwischen
1) Gustav Radbruch: Grundzüge der Rechtsphilosophie. Leipzig 1914.
Grundbegriffe der Rousseauschen Staatsphilosophie. 171
empirischen Subjekten kein höheres ,Natur'-Recht über sich voraus,
weil er selbst das ,Naturrecht' definiert, das jedem positiven Recht
als logische Bedingung vorangeht. Er wird nicht im Naturzustand',
sondern innerhalb des Naturrechtes geschlossen. Damit aber tritt
der fiktive Vertrags Schluß zu Gunsten des rein logischen Ver-
tragsresultates im Sinne des Sichvertragens oder der Vereinbar-
keit der vernünftigen Freiheit des einen mit der des andern als
Bedingung staatlicher Ordnung immer mehr zurück. Auch der
Vertrag wird wie die natürliche Freiheit zum vernunftrechtlichen
Maßstabe des positiven Rechts. Die Bürger eines Staates stehen
zueinander in dem wechselseitigen Verhältnis, das durch den Ge-
danken des Ur Vertrages adäquat symbolisiert wird. Es hat auch
nur fiktive Bedeutung, wenn von dem Vertragsschluß zwischen
den einzelnen und einer Gesamtheit gesprochen wird, vielmehr
stellen die einzelnen kraft der zwischen ihnen waltenden Bezie-
hungen von vornherein eine Gesamtheit dar. Der endgültige Sinn
des Vertragssymboles spricht nur die reine Idee einer Rechtsord-
nung aus, den Gedanken des Vernunfrechtes als Bedingung jedes
empirisch-positiven Rechtes. Von den natürlichen Subjekten aber
fordert die naturrechtliche Freiheit Unterordnung, die Gesamtheit
der einzelnen hat sich der reinen Idee der ,Rechtsgemeinschaftf
als ihrer Bedingung zu unterstellen. So bedeutet für die empiri-
schen Subjekte der Gedanke des Rechts die Unterordnung eines
jeden unter die Idee der eigenen Freiheit, damit unter die Frei-
heit der andern und durch sie unter die Freiheit der Gesamheit.
In Rousseaus Sprache: der Untertan in jedem Bürger wird frei
durch seine Unterordnung unter sich selbst und den andern als
Souverän und dadurch unter die Souveränität der Gesamtheit.
Von dem richtig verstandenen Sinne des Urvertrags aus kann
die aus ihm resultierende Rousseau sehe volonte* g^närale nunmehr
als die reine und allgemeingültige Idee des Staates
bezeichnet werden. Rousseaus allgemeiner Wille ist der allge-
mein gültige und richtige Wille der Rechtsordnung. Die volonte"
gön^rale bedeutet den Inbegriff von Normen, die in der Idee der
Rechtsordnung gesetzt sind, sie ist der Ausdruck für die in der
rechtlichen Ordnung geforderte Zusammenfassung freier Persön-
lichkeiten zu einer ob j ektiv- notwendigen Gesamtheit. Volonte
gön^rale ist Gesamtheitswille überhaupt als Form jedes em-
pirischen Gesamtheitswillens, ist nur in demselben Sinne , Wille',
wie das erkenntnistheoretische Bewußtsein überhaupt Bewußtsein
172 Siegfried Marck,
ist. Ein Staatsbewußtsein überhaupt konstituiert jener Begriff
der Gesamtheit als Träger der normativen Bedingungen, die einen
empirischen Staat erst möglich machen. Nicht empirische einzelne
waren die Kontrahenten des Rousseauschen ;Ur Vertrages , sondern
die frei,.geborenena Individuen sind von vornherein als Rechtssub-
jekte zu denken. Als ihr Inbegriff faßt die volonte* g6ne"rale sie
zur Gesamtheit zusammen als den reinen Begriff des Staates stellt
sie damit die reine Idee der Souveränität dar. Der allgemein-
gültige Gesamtwille ist seinem Begriffe nach stets richtig und
kann nicht irren. In Rousseaus Satze: ,Der Souverän ist immer
was er sein soll' ist daher die Definition des objektiven Normcha-
rakters der volonte generale gegeben. Zweifel an der Richtigkeit
der Souveränitätsidee wäre eine staatsphilosophische Parallele zum
logischen Zweifel am Begriffe der Wahrheit oder mit einem reli-
gionsphilosophischen Vergleich: eine Spannung zwischen Sein und
Sollen kann es bei der volonte* generale ebensowenig geben wie
in einem göttlichen Willen. Die unbedingte Geltung der Idee der
volonte* g£n£rale ist nicht gleichbedeutend mit dem positiv staats-
rechtlichen Satze: ,Der König kann nicht Unrecht haben' oder
mit der Formel der Volkssouveränität: ,Das Volk kann nicht
irren'. Denn in der volonte* generale handelt es sich eben nicht
um den Souverän im Sinne eines positiven Rechtes, sondern um
die reine regulative Idee der Souveränität, nicht um einen tat-
sächlichen Gesetzgeber im Staate, sondern um den Begriff des
Staates überhaupt. Rousseau hat zwar den Terminus volonte* ge-
nerale ebenso für die allgemeingültige Idee der Souveränität als
Form jeder empirischen wie für den empirischen Souverän' selbst
verwandt, dem Sinne des Zusammenhangs nach hat er jedoch die
volonte generale als Souveränität im Sinne des richtigen Rechtes
erfaßt und sie als Bedingung positiv-rechtlicher Souveränität er-
kannt. Nach dem Recht oder Unrecht eines empirischen Souveräns
kann überhaupt erst unter der Voraussetzung und im Namen des
allgemeingültigen Maßstabes der reinen Souveränität gefragt werden.
Die Deduktion eines Souveräns im Sinne des positiven Staatsrechts
ist eine weitere Aufgabe, die sich der Rousseauschen Staatsphilo-
sophie stellt und die den Begriff der volonte g£n6rale zur Vor-
aussetzung hat.
III.
Ehe Rousseaus Versuch einer Deduktion auch des positiv
rechtlichen Souveräns in der Lehre von der Volks Souveränität be-
Grundzüge der Rousseauschen Staatsphilosophie. 173
trachtet wird, sei die Problematik der Beziehung seiner Idee des
Rechts zum positiven Recht angedeutet. Es ist oft auf Rousseaus
theoretischen Radikalismus hingewiesen worden, der schlechthin
kein positives Recht und keinen empirischen Staat als solche an-
erkennt, in denen die Bedingungen des Urvertrages nicht erfüllt
sind. Ein Recht der Sklaverei etwa enthält nach Rousseau einen
logischen Widerspruch und kann daher niemals als Recht bezeichnet
werden, auch wenn es tatsächlich in Geltung gestanden hat; gegen-
über dem französischen Staate des ancien regime, der für Rousseau
nicht der Idee des Staates entspricht, bedeutet die Revolution
keinen Rechtsbruch. Gegen diesen Radikalismas Rousseaus haben
sich von jeher die Angriffe des positiven Rechts gerichtet. Auch
der Vertreter der kritizistischen Rousseau- Auffassung Haymann1)
hat zwar in seiner Darstellung Rousseaus mit aller Schärfe den
Anspruch des Contrat social nicht ein bloßes Ideal von Recht und
Staat, sondern in der Rechtsidee zugleich die Kategorien jedes
Rechtsstaates darzustellen, hervorgehoben, in seiner Kritik Rous-
seaus hat er jedoch diesen Anspruch abgewiesen und die Rousseau-
sche Staatstheorie doch nur auf die Rolle einer regulativen Idee
für den Staat beschränken wollen. Demgegenüber ist die logische
Eigenart des zur praktischen Philosophie gehörenden Geltungsge-
bietes ,Recht' hervorzuheben, der gemäß die regulative Idee hier
zugleich die Funktion einer konstitutiven Bedingung besitzt. Wie
in aller praktischen Philosophie tritt die Bedingung seiner Ob-
jektivität hier in der Eorm der Forderung auf, deren ,Erfüllung'
allein in der Annäherung an diese Forderung, in der ,Richtung'
nach ihr hin gelegen ist. So gewiß also die Idee des nichtigen'
Rechts lediglich eine ,Richtung' in der Satzung des Rechts be-
deutet, so gewiß ist Rousseaus Anspruch, in seinem regulativen
Begriffe der volonte* generale zugleich die konstitutive Form jedes
empirischen Gesamtwillens aufzustellen, gerechtfertigt. Ein dar-
über hinausgehender Versuch der Deduktion bestimmter Rechts-
inhalte aus der allgemeingültigen Rechtsidee ist geradezu als
Widerspruch zum regulativen Prinzip unmöglich. Der Gedanke
des Urvertrages vermag nur seiner Idee widersprechende Rechts-
inhalte wie in der Tat ein Recht der Sklaverei auszuschalten, nicht
anzugeben, welche Inhalte des positiven Rechts der richtigen Rechts-
idee adäquat sind. Es ist ein positivistischer Begriff des Rechts,
1) Franz Haymann: J.-J. Rousseaus Staatsphilosophie. Leipzig 1898.
174 Siegfried Marck,
nicht der Begriff des positiven Rechts, von dem aus Haymann zur
restlosen Identifikation der Geltungsart des positiven Rechtes mit
seinem tatsächlichen Beobachtetwerden und zur Ablehnung des Rous-
seauschen Anspruches gelangt. Dieser Positivismus reißt positives
Recht und richtiges Recht vollständig auseinander. Bei seiner
konsequenten Durchführung kann auch von keiner regulativen
Rolle des richtigen Rechtes mehr die Rede sein, auch für dessen
regulative Funktion müssen Recht und positives Recht unter dem
gemeinsamen Begriffe ,Recht' zusammengefaßt werden können. Dies
ist nicht möglich, wenn die Geltungsart des positiven Rechtes ganz
alogische Geltung ist, vielmehr muß zur Zusammenfaßbarkeit des
positiven und des richtigen Rechtes im positiven Recht die Gel-
tungsart des richtigen Rechtes inbegriffen sein. Und in der Tat
verbinden sich in der Geltungsweise des positiven Rechtes der
Paktor der Durchsetzbarkeit, des Sich-Geltung-verschaffen-könnens
mit dem rechtslogischen Geltungsbegriff, wie er im richtigen Recht
in Reinheit zum Ausdruck kommt. Einem empiristischen Begriffe
des positiven Rechtes stände das Ideal eines guten Rechts nicht
einmal als Vernunftidee, sondern als Schöpfung willkürlicher Phan-
tasie gegenüber1).
IV.
Aus der vom Urvertrag gewonnenen Idee der volonte" gene-
rale sucht Rousseau den Souverän des positiven Staatsrechts, den
Träger der Hoheit des empirischen Staates, zu deduzieren. Dieser
Souverän im Staate ist das Volk und Rousseaus Lehre die konse-
quenteste Durchbildung des alten Gedankens der Volkssouveränität.
Das souveräne Volk ist der empirische Träger der reinen
Staatssouveränität, der trotz der Gleichsetzung mit der volonte
generale, wie sie aus manchen Wendungen hervorzugehen scheint,
1) Dieser Gesichtspunkt zur Verteidigung der konstitutiven Bolle des Rechts-
ideals bei Rousseau gilt auch gegenüber Stammlers Einwand gegen ihn, daß er
die drei zu trennenden Fragen der Rechtsphilosophie 1. was ist Recht? 2. worauf
beruht die Verbindlichkeit des Rechts? und 3. was ist das richtige Recht? in
einer Problemstellung und -Lösung zusammenfasse. Ohne in diesem Zusammen-
hange auf diese letzten rechtsphilosophischen Fragen eingehen zu können, sei
auf die Unablösbarkeit des formalen Rechtsbegriffs, auf den Stammlers erste Frage
antworten will, von dem Geltungsbegriff der zweiten Frage hingewiesen und auf
die Unmöglichkeit im formalen Rechtsbegriffe etwas der Idee des richtigen Rechtes,
dem Gegenstand der dritten Frage, Widersprechendes zu setzen. (Rudolf Stammler :
Die Lehre von dem richtigen Rechte. Berlin 1902. 3. Abschn., IV).
Grundbegriffe der Kousseauschen Staatsphilosophie. 175
im Zusammenhange des Rousseauschen Denkens von dieser be-
grifflich zu trennen ist. Denn von der volonte generale wird mit
Eecht ihre schlechthinnige Unfehlbarkeit behauptet, vom Volke
jedoch heißt es, daß es zwar stets den richtigen Willen besitzt,
daß ihm die Einsicht aber in seinen eigenen Willen infolge Irre-
führung mangeln kann. Dem Volke steht als alleinigem, unteil-
barem und unveräußerlichem Souverän die stets direkt, nicht durch
Repräsentation auszuübende Funktion der Gesetzgebung zu. Volks-
souveränität und ihre Darstellung in der gesetzgebenden Gewalt
— und nur in dieser — werden von Rousseau direkt aus der Idee
der volonte generale herzuleiten gesucht. Es handelt sich, in
Rousseaus Lehre von der Volkssouveränität um den Versuch einer
Deduktion der Republik. Bei seiner scharfen Trennung von
Souveränität und Regierung braucht diese durchaus nicht mit de-
mokratischer Republik zusammenzufallen, sondern sie kann auch
aristokratische, ja auch Republik mit monarchischer' Spitze, d. h.
alleiniger Exekutivgewalt eines Präsidenten, sein. Diese auch von
Kants Autorität gestützte Deduktion der republikanischen Staats-
form muß — soweit der rationalistische Standpunkt der Vernunft-
deduktion gegenüber der Staatsform, (nicht der Regierungsform)
den Rousseau mit Energie vertritt, anzuerkennen ist — als geglückt
bezeichnet werden. Volonte* g£n£rale — das ist der Nerv der De-
duktion — bedeutet rechtlich-staatliche Allgemeingültigkeit. Sie
ist aufs deutlichste geschieden von der volonte* de tous als der
Summe der nicht-staatsbürgerlichen Partikularwillen. Eun ist zwar
das allen Einzelwillen logisch vorangehende apriori in seiner All-
gemeingültigkeit und seinem Charakter als Kategorie niemals durch
ein induktives Abstraktionsverfahren aus den noch ungeformten
Sonderwillen zu gewinnen, dennoch aber schließt die Allgemeingültig-
keit des Staatswillens die Allheit der nun nicht mehr partikulären
sondern staatsbürgerlichen Willen in sich ein. M. a. W. :
die kategoriale Allgemeinheit oder Allgemeingültigkeit der volonte
generale ist stets bezogen auf die quantitative Allgemeinheit
oder Allheit der einzelnen staatsbürgerlichen Willen. Auch hier
gilt das Wort aus Riehls Kritizismus, daß Verallgemeinerung nicht
zur Allgemeingültigkeit, Allgemeingültigkeit aber zur Allgemein-
heit führt. Ein empirischer Gesamtheitswille kann nur dort
anerkannt werden, wo die Allheit der citoyens in der Bildung des
Gesamtwillens zum Ausdruck gelangt, jeder Staatsbürger an der
Gesetzgebung in gleicher Weise Anteil erhält. Anders gewendet:
176 Siegfried Marck,
der positiv rechtliche Träger der Staatssouveränität oder die Idee
der Rechtsgesamtheit kann nur die empirische Gesamtheit, das
Volk, sein. Ein Akt der Souveränität ist ein Beschluß der Ge-
samtheit über die Gesamtheit, denn auch der Gegenstand des An-
spruch auf Allgemeingültigkeit erhebenden Gesetzes muß allgemein
sein, muß die Gesamtheit betreffen. Kein formeller Ausschluß
eines Staatsbürgers bei dem Zustandekommen des Gesetzes und
kein formeller Ausschluß eines Staatsbürgers durch das Gesetz
ist möglich, keine Entrechtung eines Trägers der Gesetzgebung
(souverain), kein Ausnahmegesetz gegen ein Objekt der Gesetzge-
bung (sujet). Ein antirepublikanischer Denker wie Gierke hat sich
der zwingenden Kraft der Idee der Volkssouvränität durch die
metaphysische Idee einer realen Staatspersönlichkeit zu entziehen
gesucht. Die Unterscheidung von Staatssouveränität und Organ-
souveränität ist für diesen Denker nicht die logische der regula-
tiven zum richtigen Recht gehörenden Idee des Staates von dem
positiv rechtlichen Staate und seiner gesetzgebenden Gewalt, viel-
mehr ist die „lebendige" Staatspersönlichkeit durch die Organe der
Souveränität stets auch in der empirischen Gesetzgebung wirksam.
Man kann bei dieser Theorie allerdings der Konsequenz einer po-
sitiv rechtlichen Gesetzgebung durch die empirische Gesamtheit
ausweichen, kann den positiv rechtlichen Souverän in die zwei Or-
gane des Monarchen und des Volkes zerlegen, die bei Wahrung
der Einheit der Souveränität gleichsam zu den zwei Attributen
der Einen Staatssubstanz werden — damit aber ist der kritisch-
regulative Sinn des Begriffs Staatssouveränität völlig verloren ge-
gangen.
Mit der Einführung der Volkssouveränität sind ' jedoch die
Schwierigkeiten einer der Idee der volonte generale adäquaten
Gesetzgebung für Rousseau noch keineswegs erschöpft. Das Volk
ist als empirischer Träger der Souveränität gefunden, nunmehr
aber gilt es den Volkswillen selbst aus den empirischen Einzel-
willen zu konstruieren. Diese bleiben der irrationale Rest der
Analyse, ihr Egoismus das spröde Material, in dem der empirische
Gesetzgeber arbeiten muß und auf das auch die staatsphilosophi-
sche Konstruktion zuletzt stößt. Jedes Gesetz ist eine Willens-
kundgebung des souveränen Volkes, aber wie unterscheidet sich
das Volk unverwechselbar von einer heterogenen Masse? Wie
ist die empirische Gesamtheit, die der reinen Rechtsidee der Ge-
samtheit zwar nie adäquat sein kann, aber sich ihr annähern soll.
Grundbegriffe der Rousseauschen Staatsphilosophie. 177
aus den zerstreuten Einzelwillen zu gewinnen? Wenn das Volk
spricht, kommt ein Gesetz zu stände, wie aber löst man dieser
von der Hobbesschen multitudo zu unterscheidenden juristischen
Person des , Volkes4 die Zunge? Welches Abstimmungsverfahren
garantiert, daß das Volk gesprochen hat? Die formale Forderung
einer Abstimmung aller Staatsbürger garantiert nicht den Inhalt
des Volks willens als Resultat der Abstimmung. Das souveräne
Volk mag nunmehr im Sinne des positiven, nicht des richtigen
Staatsrechtes niemals irren, wohl aber können die Abstimmenden
oder eine Gruppe von ihnen sich irrtümlich als ,Volk* ausgeben.
Kein Verfahren scheint zu garantieren, daß sich in der Abstimmung
tatsächlich das Volk dargestellt hat.* Für die Technik der positiven
Gesetzgebung stellt vielmehr der Begriff des Volkes ebenso ein
regulatives Prinzip dar wie die volonte* generale für den Begriff
des positiven Rechtes. Auch beim Übergang von der Volkssou-
veränität zum Majoritätsprinzip kann es immer nur eine an-
nähernde Lösung geben. Rousseau hat den Blick für die Schwierig-
keiten dieses Überganges, er umgibt die Methode der Abstimmung
und das Majoritätsprinzip mit einer Reihe staatsrechtlicher Kau-
telen, und diese hätten ihn gegen den Vorwurf schützen sollen,
theoretischer Vertreter eines Majoritätsdespotismus zu sein, der
den kritischen Unterschied von volonte* generale und volonte de
tous nivelliere. Neben unkritischen und unvollziehbaren Begriffen
wie dem eines Durchschnittswillens aus der Summa differenter
Einzelwillen steht sein großartiger Versuch die Abstimmung als
staatsrechtliches Experiment zu denken, d. h. im präzisen Sinne
als Antwort] auf eine richtig gestellte Frage nach dem Gesamt-
willen zu fassen. Dieses Experiment will er von einem Auspro-
bieren des Kräfteverhältnisses der partikularen Willen scharf ge-
trennt sehen. Von jedem Abstimmenden fordert der Staatsgedanke,
daß er restlos auf die ihm vorgelegte Frage nach dem Staatsin-
teresse, daß er als Staatsbürger antworte. Die Stimme des Sonder-
interesses müßte nach dem regulativen Sinne der Abstimmung aus-
geschaltet werden. Eine praktisch-technische Handhabe zur Kon-
struktion eines Volks willens vermögen diese vernunftrechtlichen
Forderungen natürlich in keiner Weise zu bieten, sie können nur
als regulative Idee den abstimmenden Staatsbürger leiten , als
Staatsbürger zu stimmen, d. h. an das Gemeinwohl zu denken.
Stammler hat gegenüber diesem letzten Begriffe und seiner eu-
dämonis tischen Mißdeutung mit Recht das Motiv des sozialen Ideals
Kantstudien. XXYIL 12
178 Siegfried Marck, Grundbegriffe d. Rousseauschen Staatsphilosophie.
in ihm hervorgehoben. Anf tatsächliche Abstimmungsergebnisse ange-
wandt, hat die Auffassung der Abstimmung als methodisch einwand-
freies staatsrechtliches Experiment nur den Wert einer Fiktion,
ebenso wie die Geltung des Willens der Majorität als Wille der Ge-
samtheit nur eine Fiktion, und zwar eine Fiktion niederer Stufe be-
deutet, die nur in technischen, nicht mehr in rechtlichen Gesichts-
punkten fundiert ist. Die Inhalte des empirischen Gesamtwillens
und das zu ihrer Feststellung unumgängliche Majoritätsprinzip
bilden so die eigentliche Grenze, bis zu der eine unter dem Ge-
sichtspunkte des richtigen Rechts stehende staatsphilosophische
Analyse im Sinne Rousseaus überhaupt vordringen kann. Positive
Gesetzesinhalte kann solche Analyse niemals als richtig kenn-
zeichnen, nur durch Aufstellung formal-regulativer Prinzipien das
negative Kriterium für rechtswidrige darstellen. Positives Recht
und historische Staaten kann die Rechts- und Staatsphilosophie,
auch wenn sie so weit wie bei Rousseau vordringt, nicht dedu-
zieren, und ihre regulativen Vernunftprinzipien bilden daher auch
kein Prinzip der historischen Betrachtung von Staat und Recht.
Die Bildung der Inhalte des Gesamtwillens und damit des positiven
Rechts erfolgt in politischen Macht- und Wirtschaftskämpfen. Diese
zu erkennen überläßt die Staatsphilosophie der Geschichte. Eine
Theorie für die historische Entstehung von Recht und Staat, für das
tatsächliche Herausringen eines Gesamtheitswillens aus den Kämpfen
der Individuen, Parteien und Klassen bildet die eigentümliche
Schranke der Staatsphilosophie in ihrer Problemstellung. An dem
Punkte, an dem die Rolle der , Wirtschaft' gegenüber dem ,Recht'
einsetzt und mit ihr die praktische gegenüber der ,richtigen' Po-
litik muß Rousseaus philosophische Lehre vom Staate wie jede
andre Halt machen.
Zur „Antinomie im Problem der
Gültigkeit".
Von E. v. Aster, Gießen.
Der Berliner Philosoph Paul Hof mann hat seinem großen
Werk über „die antithetische Struktur des Bewußtseins " (Berlin
1914) eine kurze erkenntnistheoretische Skizze folgen lassen („Die
Antinomie im Problem der Gültigkeit. Eine kritische
Voruntersuchung zur Erkenntnistheorie". Berlin 1921. 77 S.), die
dieselbe Grundtendenz wie das größere Buch verfolgt, die erkenntnis-
theoretische Einstellung aber deutlicher hervortreten läßt. Hof-
mann macht einen Versuch, von dem man voraussehen konnte, daß
er einmal gemacht werden würde: er sucht den Gegensatz von
„Logismus" und „Psychologismus" in der modernen Erkenntnis-
theorie als eine unauflösbare] Antinomie, die im Wesen der Er-
kenntnis gründet und ihren zwei Seiten entspricht, darzustellen.
Es ist der Gegensatz zweier prinzipiell gleichberechter Weltan-
schauungsmotive (Objektivismus und Subjektivismus), der sich darin
äußert, daß man die eine oder die andre Seite zum Ausgangspunkt
wählt, jeder ist an sich berechtigt und möglich, aber von keinem
beider Standpunkte aus ist es möglich, den andern zu widerlegen.
Durch den Kampf zwischen Rationalismus und Empirismus wurde
die vor-Kantische Metaphysik zerstört, Kant glaubte in der „Er-
kenntnistheorie" einen Inbegriff streng und allgemein giltiger,
wissenschaftlich beweisbarer Gedanken, wenn auch ohne metaphy-
sische Brauchbarkeit, aus dem Zusammenbruch der Metaphysik
retten zu können. Nun tritt derselbe Gegensatz, der die Meta-
physik als Wissenschaft zerstörte, in der Erkenntnistheorie wieder
zu Tage. Philosophie ist ohne „Weltanschauung" nicht möglich,
in Dingen der Weltanschauung aber gibt es von Anfang verschie-
dene Möglichkeiten, zwischen denen nicht mehr wissenschaftlich
entschieden werden kann, zwischen denen man „wählen" muß. Zur
12*
180 E. v. Aster,
Philosophie in diesem Sinne gehört nicht nur Metaphysik, sondern
auch Erkenntnistheorie, deren letzte Gegensätze daher nicht ent-
schieden, sondern nur verstanden werden können. Nicht rein
historisch verstanden, als Produkte geschichtlicher Bedingungen,
sondern durch Herausarbeitung der hier letzt-möglichen Typen
und ihrer gedanklichen und außergedanklichen Motive. Es ist
der Geist Wilhelm Diltheys, der in dieser Auffassung der Phi-
losophie und ihrer Geschichte erkennbar wird.
Der „Logismus", wie ihn Hofmann faßt, setzt das Bestehen
einer (schaubaren oder denkbaren) absoluten Wahrheit jenseits
von Raum, Zeit und Individuum voraus; alles „Sein" ist für ihn
abhängig von dieser Idee der Wahrheit, ihrem Bestehen, ihrer
Gültigkeit, denn „sein" bedeutet: in einem gültigen Existential-
urteil gesetzt sein. Der „Psychologismus" erklärt umgekehrt die
Wahrheit als eine Beziehung zwischen Seiendem, als Übereinstim-
mung von Denkinhalten und realen Dingen, oder, im Phänomena-
lismus, von Bewußtseinsinhalten miteinander (Erwartungen und
Wahrnehmungen) und behauptet daher, daß es nur eine relative,
von wechselndem Seiendem abhängige Wahrheit gebe: Die Anti-
nomie ist unauflöslich, weil es gleich berechtigt und gleich unver-
meidlich ist, das Sein als Setzung des Bewußtseins und daher den
Begriff des Seins nur sinnvoll als Inhalt einer gültigen Erkenntnis
aufzufassen, wie umgekehrt Erkenntnis als existenten Denkakt an-
zusehen.
Es sei mir nun im Folgenden gestattet, diesen Ausführungen
Hofmanns einige kurze kritische Bemerkungen hinzuzufügend Es
geschieht das zugleich in Verteidigung des eignen Standpunktes,
da H. mich gelegentlich als Vertreter des „Psychologismus" phä-
nomenalistischer Richtung nennt. (Ob diese Bezeichnung für
mich und für H. Cornelius, als dessen Schüler ich mich fühle, in
jeder Hinsicht zutrifft, ist eine Frage untergeordneterer Bedeutung).
H. gebraucht bezeichnender Weise die beiden Begriffe „Be-
wußtsein" und „Erkenntnis" als gleichbedeutend; so können
wir seiner Meinung nach wie bei der Erkenntnis so beim Bewußt-
sein nicht nur in Worten, sondern in der Sache zwischen der Er-
kenntnis und dem was erkannt wurde, scheiden. Hier hätte ich
zunächst Einspruch zu erheben. Der Begriff des Bewußtseins oder
des unmittelbar Gegebenen ist meiner Meinung nach ein Begriff,
der über den Gegensatz des Seins und der Erkenntnis hinausliegt
und in Bezug auf den wir jene Scheidung nur in nachträglicher
Zur „Antinomie im Problem der Gültigkeit". 181
Übertragung und Analogisierung vornehmen können. Anders ge-
sagt: das unmittelbare Erleben oder Gegebensein ist kein Exi«
stentialurteil. In jedem Existentialurteil wird ein bestimmtes
„Was", das also dem Existentialurteil, oder dessen Was-Erkenntnis
der Erkenntnis seiner Existenz logisch vorhergeht, für existierend
gesetzt. Im unmittelbaren Erleben oder Gegebensein aber wird
eben nicht etwa ein vorgegebenes „Was" (ein rot, ein hart, ein
Lustgefühl nicht einmal ein „dies") als existierend erkannt. Eben-
sowenig wird im unmittelbaren Erleben ein vorgegebenes „was"
als ein bestimmtes „was", als ein „solches" erkannt: sondern jedes
„was" (einschließlich des bloßen „dies") entsteht erst im unmittel-
baren Gegebensein. (Mit Fichte könnte man sagen, das Bewußt-
sein sei eine Tathandlung, keine Tatsache). Halte ich dann dies
inhaltlich bestimmte Etwas als einen solchen Inhalt fest, dann
kann ich, diesen gewonnenen Denkinhalt rückbeziehend auf das
Gegebene, das Bewußtseinserlebnis, in dem er entstand und es mit
demselben identifizierend das Urteil fällen: das Erlebte sei
„dies" oder ein solches (in weitergehender logisch vorausgesetzter
Vergleichung, es sei ein „rot" etc.), und ebenso umgekehrt : „dies"
oder „rot" sei gegeben, existiere als gegeben. Genauer freilich
muß eben dieses Urteil schon anders lauten; nämlich: dieser In-
halt ist jetzt und er ist mir gegeben oder er existiert jetzt und
in meinem Bewußtsein. Denn indem ich das „Was" von dem Er-
lebnis unterscheide, kann ich jetzt bereits diesen Inhalt auch als
nicht existierend, nämlich zu einer andern Zeit oder in einem an-
dern Bewußtsein nicht existierend vorstellen. Das „Sein", das
durch jene das Existentialurteil ermöglichende Scheidung im Be-
wußtsein entsteht, entsteht sofort als ein Sein verschiedener Sphären
oder Seinsweisen, als gegenwärtiges, vergangenes, zukünftiges, als
Sein meines und eines fremden Bewußtseins; denn mit der Schei-
dung des Erlebnisses und seines „was" sind sofort jene weiteren
Möglichkeiten, dies was als existierend zu beurteilen, gesetzt.
Ohne diese Scheidung in Erlebnis und Inhalt des Erlebnisses in
jene zwei Bestandteile, die als identisch gesetzt werden, kann
nicht sinnvoller Weise von einem Urteil, speziell auch nicht von
einem Existentialurteil gesprochen werden. Zugleich ist es auch
hier erst möglich sinnvoller Weise die Frage nach der „Wahr-
heit" zu stellen (die sich jedoch in diesem Fall unmittelbar und
evident bejahend beantwortet, das Erlebnis und das „Was" des
Erlebnisses werden selbst als identisch erlebt): nicht das un-
182 E. v. Aster, Zur „Antinomie im Problem der Gültigkeit".
mittelbar Gregebene ist „wahr" — das gäbe keinen Sinn — sondern
daß es diesen Inhalt hat, ein „dies" ist oder daß „dies" gegeben
ist, ist wahr. Aber mußte nicht der Bewußtseinsinhalt selbst da-
sein und so-sein, ehe sein „was " und das Erlebtsein dieses „Was"
geschieden werden konnte? Diese Frage ist zweideutig: der Ur-
teilende identifiziert das „Was" mit dem Erlebnis, behauptet
also schlechthin, daß es eben dies „was" ist, das erlebt wurde und
das Erlebnis ein solches Erlebnis . Darum wird doch das Urteil
erst sinnvoll von jener Scheidung aus und für den, der sie voll-
zieht, genau so, wie jene Frage erst hier sinnvoll wird. Noch
genauer muß ich von jener vollzogenen Scheidung aus gesprochen
sagen : der Bewußtseinsinhalt mußte als mein und mein jetziges
Erlebnis „dasein". Gleichwohl setzt nicht das unmittelbar Gre-
gebene als solches Zeit und fremdes Bewußtsein etwa voraus, son-
dern die Zeit und das fremde Bewußtsein entstehen erst für das
Wissen dessen, der jene Unterscheidungen vollzieht (Zukunft ist
die in der Weise der Erwartung, Vergangenheit die in der Weise
der Erinnerung vorgestellte Wasgegebenheit). Nehme ich meinen
Standpunkt vor allen jenen Unterscheidungen, so ist das Bewußt-
sein, das unmittelbar Gregebene weder seiend, noch nicht seiend,
weder jetzt noch zu anderer Zeit, wie ein ganz allein für sich
gesetzter Punkt im Raum weder ruht noch sich bewegt.
Das Bewußtsein, von dem der „Psychologist" ausgehen muß,
erinnert so an das „Bewußtsein überhaupt" der Windelband-Rickert-
schule, von dem es sich aber dadurch unterscheidet, daß es positiv
beurteilt, d. h. von dem Standpunkt der Trennung von Erlebnis
und „Was" des Erlebnisses aus gesehen sofort zum individuellen
jetzigen Bewußtsein wird, so wie das reine „Sein" Hegels beur-
teilt sofort zum „Werden" wird. Es erinnert aber auch an die
„Wahrheit", die der Logismus nach H. als Letztes voraussetzen
muß. denn damit das Wort „Wahrheit" nicht eine leere Worthülse
ist oder bleibt, muß auch der Logist das, was er mit jenem Wort
meint, irgendwie selbst erfassen, also sich („phänomenologisch) zur
„Selbstgegebenheit" bringen. Damit wird die Wahrheit ein un-
mittelbar Gregebenes.
Auch vom logistischen Standpunkt aus lassen sich gegen H.
eine Reihe von Einwänden erheben. Auf sie näher einzugehen
ist indessen nicht meine Aufgabe.
Besprechungen.
I. Geschichtsphilosophie.
Hegel, G. W. F., Vorlesungen über die Philosophie der Welt-
geschichte. Vollständig neue, auf Grund des aufbehaltenen handschriftlichen
Materials besorgte Ausgabe von Georg- Lasson. Hierzu als Einleitung: Hegel
als Geschichtsphilosoph von Georg Lasson. Verlag F. Meiner, Leipzig.
Der fleißige Hegelforscher Georg Lasson hat uns mit einer Neuausgabe
der Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte beschenkt. In vier, die
Einleitung des Herausgebers mitgerechnet fünf, Bänden liegt sie vollendet vor.
Schon ist von dem Lassonschen Einleitungsband die zweite Auflage notwendig
geworden. Das Interesse an Hegel scheint noch im Wachsen. Lasson weiß ihm
zu dienen, als Herausgeber wie als Erklärer.
Vollkommen richtig erfaßt der Herausgeber den Augenblick, wenn er — hier
wie in allen seinen Ausgaben — nicht auf die letzte philologische Genauigkeit
ausgeht, sondern sich sein Ziel näher steckt. Er weiß, daß für eine „Akademie-
ausgabe" heut die Zeit noch nicht gekommen ist. Erst muß die 0 Öffentlichkeit
sich noch ganz anders, als es bisher der Fall ist, wieder für Hegel interessieren,
ehe den großen wissenschaftlichen Körperschaften zugemutet werden kann, hier
eine Pflicht zu sehen. Bis dahin sind Ausgaben wie die Lassonschen gerade das
Richtige. Sie halten die Mitte zwischen dem Verlangen des Lesers nach Hand-
lichkeit und Lesbarkeit und der Forderung des Forschers nach Ausbreitung des
gesamten, für den ursprünglichen Textbestand wichtigen Ueberlieferungsstoffs.
Wenn von Lasson immerhin jenes Verlangen noch wesentlich vollständiger be-
friedigt wird als diese Forderung, so entspricht das ebenfalls nur dem Umstand,
daß der philosophische Gelehrte im allgemeinen jenem Pol des reinen Lesers näher
stehen muß als dem des reinen Forschers; philosophisches Verständnis erschließt
sich viel eher dem heiteren Blick des gemächlich von Blatt zu Blatt fortwan-
dernden Lesers als dem ängstlich unter gerunzelter Stirn über die Zeile gebeugten
bewaffneten Auge des Philologen.
Lasson der Erklärer unterzieht sich. in seinem Einleitungsband der schweren
Aufgabe, „Hegel als Geschichtsphilosoph" und — bezeichnend für die Eigenart
Hegelscher Systematik — damit zugleich Hegel als Philosophen überhaupt, dem
Publikum von heute nahe zu bringen in einer Sprache, die dem Philosophen selber
verwandter ist als dem Publikum, das in ihn eingeführt werden soll. Kein Zweifel,
daß gerade der Geschichtsphilosoph sich solchem Unterfangen vergleichsweise noch
am gefügigsten erweist, gefügiger als etwa (um gleich die extrem ungünstigen
Fälle zu nennen) der Logiker oder der Naturphilosoph, aber selbst auch ge-
fügiger als etwa der Staatsphilosoph. Denn von Hegels Geschichtsphilosophie
führt bis dicht an die Gegenwart heran ein ununterbrochener Strom wissenschaft-
licher Tradition, bezeichnet etwa durch die Namen Rankes und Treitschkes, ein
Strom, der dicht hinter Hegel zwar eine entschiedene Abbiegung erfahren hat,
der aber nicht wie die anderen Ströme seiner Philosophie schon wenige Jahrzehnte
nach seinem Tod unter der Erde verschwunden, wenn nicht gar versickert war.
So konnte Lasson die Aufgabe, die er sich offenbar gestellt, Hegel hegelsch reden
184 Besprechungen (Hegel— Adler).
zu lassen, gelingen. Wer Lassons Einleitung auf sich wirken läßt, kann aus ihr
ein wohlgerundetes Bild des großen Denkers gewinnen.
Darf ich gleichwohl ein Bedenken äußern? Es ist mehr grundsätzlicher
Natur, — doch nicht bloß grundsätzlicher. Gewiß gehört zu aller geschichtlichen
Darstellung Liebe. Aber so wie es nicht die höchste Liebe ist, die sich mit
ihrem Gegenstand identifiziert, sondern wie es höhere Liebe ist, zu lieben, was
man sich nicht gleicher Art weiß, wie — mit einem Wort — die Kluft und das
Gefühl der Kluft erst der Liebe den vollen Krafteinsatz und den stärksten Flügel-
schlag abnötigt, so, meine ich, müßte dennoch aus einem größeren und vor allem
aus einem empfundeneren Abstand das Bild gewaltiger, die Farben leuchtender,
die Umrisse kühner sich gegen den Himmel abzeichnen. Es ist ja doch kein Zu-
fall, daß unter den drei bedeutenden biographischen Versuchen — Rosenkranz,
Haym, Dilthey — der Haymsche, bei dem in der Liebe des Erkennenden ein
starkes Stück Haß mitschwingt, der weitaus lebendigste und lebenskräftigste ge-
worden ist, so lebendig, daß selbst die starken Verzeichnungen, die er enthält,
hier wenig stören; wie wir im Werk des malerischen Genius anatomische Un-
richtigkeiten übersehen, die auf dem Gemälde des Akademikers uns unerträglich
sein müßten. Lasson selber hat jenen Abstand vielleicht mehr, als er zugeben
möchte; in der Schlußzeile seiner Einleitung — vom Gott der Geschichte, „der
zugleich der Vater jedes einzelnen Ich ist" (Seite 177) — steckt das, was er weiß
und was Hegel nicht gewußt hat, jedenfalls nicht so gewußt hat, daß dies Wissen
den Aufbau seiner Philosophie bestimmt hätte. Von hier aus , von diesem seinen
Wissen aus, müßte sich noch ein andres Bild Hegels zeichnen lassen, als uns
Lasson, bisher wenigstens, gegeben hat. Vielleicht, daß er es noch gibt, und
wenn nicht er, dann ein andrer. Vorläufig aber seien wir ihm dankbar für das,
was er gibt. Für viele wird es heute gerade das sein, was sie brauchen.
Frankfurt a. Main. Dr. Franz Rosenzweig.
Adler, Dr. Max, Professor a. d. Universität Wien, Marx als Denker.
2. umgearbeit. Auflage. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung, Wien. 1921. VIII
u. 159 Seiten. Engels als Denker. Verlagsgenossenschaft „Freiheit", Berlin
1921. VIII und 79 Seiten.
In diesen beiden Veröffentlichungen, deren zweite zum 100. Geburtstage En-
gels erschienen ist, hat Max Adler die Resultate seiner früheren Arbeiten über
die philosophischen Grundlagen des Marxistischen Sozialismus zu summarisch-
klarem Ueberblick zusammengefaßt. Das, was er im Vorwort zu seinen „Marxisti-
schen Problemen" gesagt hat, gilt auch für diese Untersuchungen: sie wollen
keine Marx-Philologie geben und sind auch keine, vor allem deswegen, weil sie
sich nicht auf den speziellen Vorwurf beschränken, sondern diesen im Gesamtzu-
sammenhang des Geistigen sehen und bearbeiten, solcherart sowohl für das engere
als das weitere Gebiet zu aufschlußreichen Ergebnissen gelangend. Auf dem Boden
des neukantischen Kritizismus stehend, sucht Adler den philosophischen Gehalt
der sozialistischen Einstellung — darin bekundet sich eben das Nicht-Philologische
seiner Forschung — vor allem in der methodologischen Orientierung ihrer Theorie.
Denn jeder Erkenntnisfortschritt ist es nur darum, weil er zugleich Fortschritt
der methodischen, idealistischen Hypothesen-Bildung auf Basis des Datums der
Erfahrung ist. Der Nachweis für die Geltung dieses Postulates im Bereich der
Naturwissenschaften wurde zu einem der tragenden Eckpfeiler der neukantischen
Bewegung; Adler, welcher immer mit Entschiedenheit für die Unität der natur-
und geisteswissenschaftlichen Erkenntnis eingetreten ist, beansprucht dieses Postulat
folgerichtig auch für die geisteswissenschaftliche Methode, die sich ihm eben in
der Marx's verkörpert. Es ist außerordentlich instruktiv, wie er jenen Nachweis
hier in der Analyse der Hegeischen Dialektik und Logik gründet, die ihm ent-
gegen der landläufigen Ansicht und durchaus zutreffend keineswegs eine gewaltige,
solipsistische Konstruktion darstellt, vielmehr in ihrer „Dialektik des Realen" die
Aufforderung ihm enthüllt, zum Datum der Erfahrung Kants zurückzukehren.
Akzeptiert man diese sehr begründete Auffassung Adlers über die Hegeische
Philosophie, so zeigt sich diese nicht nur als Vorläufer und Wegweiser für die
Besprechungen (Adler). 185
weitere Entwicklung des Idealismus, sondern sie stellt auch die empirischen
Wissenschaften mit allen Nachdruck in jene Richtung ein, welche schon Kant
für sie gefordert hatte, nämlich in die ausschließliche Blickrichtung auf das Ob-
jekt ihrer Erkenntnis. Die Forschergeneration nach Hegel, welche eigentümlicher-
weise durchwegs vermeinte, Hegel „überwunden" zu haben, verdankte ihre empi-
rische Gewissenhaftigkeit und Präzision sicherlich zum Großteil der Hegeischen
Logik, durch deren Schule sie gegangen ist. Wir sehen dies in gleicher Weise
bei Ranke und Mommsen als bei Marx und Engels, in einiger Entfernung auch
in den religionspsychologischen Forschungen Feuerbachs.
Im gewissen Sinne scheint Hegel damit dem Positivismus den Weg bereitet
zu haben, denn die Einstellung auf das Objekt ist unverkennbar eine positivistische,
ist ja selbst Kant in seiner Einstellung auf sein Objekt, das das Phänomen des
Denkens überhaupt ist, ein Positivist im weitesten Verständnis zu nennen. Es ist
daher nicht verwunderlich, daß Marx den positivistischen Anregungen, die er bei-
spielsweise von Saint-Simon erfahren hat, sich gerne öffnete. Was ihn aber über
die allgemeine positivistische Arbeitsweise in den Geisteswissenschaften, etwa der
Buckles, hinausführte, war jener philosophische Blick aufs Ganze und die be-
wußte, prinzipielle Herausstellung der neuen Methode, die jeden großen Denker,
es sei bloß Kepler oder Newton angeführt, auszeichnete. Sozialismus als Logik
vom „vergesellschafteten Menschen" ist, wie Kelles-Kranz formulierte, kein „Dogma"
sondern eine „Forschungsmethode" und diese neue und durchaus idealistische
Arbeitshypothese zum wirkenden Agens der Soziologie gemacht zu haben, ist die
Tat Marx's.
Es ist nun allerdings die Frage, ob die idealistische Grundtendenz einer
positivistischen Arbeitsmethode auch schon die Berechtigung gibt, den „Inhalt"
solcher Arbeit als Philosophie anzuerkennen. Soziologie und Geschichtsphilosophie
laufen so eng ineinander, daß es immer nahe liegt, es sei auf Barth verwiesen,
die beiden zu identifizieren, und daß die materialistische Geschichtsauffassung viel-
fach als „die" Geschichtsphilosophie schlechthin gilt, ist bekannt. Es muß nicht
neuerdings betont werden, welche Gefahren der philosophische Positivismus für
die reine Philosophie in sich birgt, so vielfältig seine Erscheinungsformen sind,
seien diese nun psychologistisch-energetisch, pragmatistisch oder sonstwie gefärbt,
sie enthalten als letzte Möglichkeit doch immer die Gefahr eines groben Materia-
lismus. Für Marx besteht diese in doppelter Beziehung. Denn erstens ist sein
und Engels Verhältnis zu Feuerbach in diesem Sinne auszudeuten, ebenso seine
Bejahung Dietzgens als „Philosophen der Sozialdemokratie" ; andererseits, wenn
auch nur rein äußerlich, verleitet das Wort „Materialistische Geschichtsauffassung"
leichthin dazu, diese mit dem naturalistischen Materialismus zu verwechseln. Adler
sucht nun, in einer ausgezeichneten und tiefgründigen Polemik gegen Stammler
— in der vorliegenden Broschüre nur auszugsweise — diesen drohenden Vorwurf
gegen Marx zu entkräften und, eben auf Grund der idealistischen Reinheit der
methodischen Prinzipien in der Marxistischen Einstellung, auch deren logische
und philosophische Reinheit nachzuweisen. Eine wesentliche Unterstützung findet
er dabei in dem ethischen Gehalt, der dem Sozialismus innewohnt und jedenfalls
über den des Positivismus hinausgeht und der auch anderen Kantianern, wie Lange,
Cohen, Staudinger, Woltmann, Vorländer Anlaß gegeben hat, die innere Verbin-
dung zwischen Kant und Marx, resp. Engels aufzusuchen. Daß die materialistische
Geschichtsauffassung mit naturalistischem Materialismus nicht in einen Topf ge-
worfen werden darf, kann daher, und vor allem in Ansehung der scharfen Unter-
suchungen Adlers als ausgemacht gelten. Hingegen darf deren positivistische
Tendenz, wie wir glauben, nicht übersehen werden. Schon Masaryk reklamierte
Marx als Positivisten, und Adler selber hat in einer schönen Studie über Marx
und einen so positivistischen Denker wie Mach es war, die geistige Verwandt-
schaft dieser beiden Männer hervorgehoben. Die Folgerungen, welche aus diesem
Tatbestande zu ziehen wären, gehen aber über den Rahmen dieser bescheidenen
Besprechung weit hinaus.
In einer Zeit, in welcher „Marxismus" allzuoft zum Schlagwort herabge-
zogen wird, bestenfalls zu einer „Ueberzeugung", die wie jede politische nicht
186 Besprechungen (Adler — Brandenburg).
mehr von sich weiß, als daß sie „respektiert" werden will, und yor einer Popu-
larisierung, die, wenn es hoch geht, den Sozialismus in eine sozusagen philoso-
phische Verbindung mit Darwinismus und Dietzgenismus bringt, erscheint es als
ein tieferes, menschliches und wissenschaftliches Verdienst der Adlerschen For-
schungen, immer wieder auf das rein Geistige der Quelle hingewiesen zu haben
und sie aufzudecken.
Teesdorf. Hermann Broch.
Brandenburg, Erich, o. ö. Professor an der Universität Leipzig, Die ma-
terialistische Geschichtsauffassung. Ihr Wesen und ihre Wandlungen.
Verlag von Quelle und Meyer in Leipzig. 1920. 66 S. Preis geb. 3 Mk.
Die kleine Schrift des Historikers der Leipziger Universität, aus einer Rek-
toratsrede hervorgegangen, gibt zunächst eine prägnante Darstellung des ökono-
mischen Materialismus und weist die naheliegenden Mißverständnisse, auf denen
die üblichen Einwände beruhen, zurück, die Verwechslung mit dem philosophi-
schen Materialismus, mit dem Fatalismus usw. Die kritische Stellungnahme des
Verf. ist in dem Abschnitt „Unzulänglichkeit der Naturfaktoren zur Erklärung
der Entwicklungsrichtung. Lebensnotdurft und Lebensverbesserung". (S. 39 ff.)
enthalten und richtet sich gegen die beiden Kernpunkte der marxistischen Theorie,
gegen die Auffassung, daß das ständige Anwachsen der Produktivkräfte, weiterer
Erklärung nicht bedürftig, die Grundlage der Erklärung der ganzen gesellschaft-
lichen Entwicklung bildet und daß der politische, juristische, ideologische „Ueber-
bau" durch die jeweiligen ökonomischen Verhältnisse und die durch sie bewirkte
Klassenteilung bestimmt ist. Verf. sieht in dem Bedürfnis nach Lebensverbesse-
rung eine Triebkraft der ökonomischen Entwicklung und meint, daß weder die
Richtung dieses Bedürfnisses, noch die Art seiner Befriedigung durch die Pro-
duktionsverhältnisse eindeutig bestimmt sei. „Oder kann jemand im Ernst be-
haupten", fragt er, „daß im 15. Jahrhundert nur die Erfindung der Buchdrucker-
kunst, im 19. nur die der Eisenbahnen und des Telegraphen die westeuropäische
Gesellschaft vor dem Untergange hätte retten können?" Wo es eine Wahl gebe,
da hänge die Entscheidung schließlich von der seelischen Beschaffenheit der be-
treffenden Menschengruppe ab. „Verschiedene Gruppen könnten durch eine lange
Reihe in verschiedener Richtung verlaufender Entscheidungen von dem gleichen
Ausgangspunkte her im Laufe der Zeit zu ganz von einander abweichenden Zu-
ständen gelangen". Ebenso könnten im allgemeinen bei einem bestimmten Sta-
dium der Produktivkräfte die Menschen auch bei anderen Produktionsverhältnissen,
Klassenbildungen, Staats- oder Denkformen leben als den tatsächlich verwirk-
lichten, wenn auch vielleicht schlechter und unvollkommener. Somit verbürge der
Zwang der Lebensnotdurft nicht die Eindeutigkeit des historischen Geschehens.
Die Schlußkapitel zeigen, wie einzelne Sozialisten, Bernstein u. a., die Theorie
weitergebildet haben, um diesen Schwierigkeiten gerecht zu werden. Man könnte
hier allerdings ebenso gut wie von einer „Fortbildung", vom Aufgeben des Marxis-
mus sprechen. Denn was bleibt mehr übrig als ein selbstverständlicher Gemein-
platz, wenn man in den ökonomischen Verhältnissen lediglich Bedingungen oder
Schranken des gesellschaftlichen Lebens sieht und in der materialistischen Ge-
schichtsauffassung ein heuristisches Prinzip, daß neben den anderen Kräften auch
die ökonomischen zu berücksichtigen rät. Gegen Max Adlers Versuch, die Ein-
deutigkeit der Entwicklung durch einen ideellen Faktor, „die Idee der sozialen
Gemeinschaft" zu begründen, meint Verf. wohl mit Recht, daß sich die ausschlag-
gebende Wirksamkeit dieses Faktors kaum nachweisen ließe.
Mir scheinen die vom Verf. mit so viel Nachdruck vorgebrachten Einwände
nicht gerade unwiderleglich. Klimatische und ökonomische Verhältnisse, die die
Anspannung aller Kräfte in Kampf ums Dasein verlangen, — und beides fällt
unter den Begriff der Produktionsbedingungen — zwingen dazu, sich jede nach
dem Stand der Naturerkenntnis mögliche technische Verbesserung zu nutze zu
machen. Gewiß haben Buchdruckerkunst, Eisenbahn und Telegraph die westeu-
ropäische Gesellschaft nicht „gerettet"; aber sobald einmal diese Einrichtungen
»ach dem Stand der Kenntnisse möglich waren, war es so unwahrscheinlich, daß
Besprechungen (Brandenburg — Barth — Hurwicz). 187
man sie ungenützt ließ, wie daß ein Goldstück unberührt auf einer belebten Strecke
liegen bleibt. Auch ist leicht zu erkennen, daß die Bedürfnisse, die durch jene
Erfindungen befriedigt wurden, unmittelbar aus den Verhältnissen der Warenpro-
duktion, als Produktion für den Markt entsprangen. Die Bestimmtheit des „Ueber-
baus" durch die Produktionsverhältnisse ist deshalb schwer zu prüfen, weil nicht
leicht abzugrenzen ist, was zu diesem „Ueberbau" gehört, muß man sich doch,
wie auch der Verf. meint, davor hüten, „diesen Grundsatz zu eng oder pedantisch
zu fassen, zu viel Einzelheiten des Verfassungs- oder Geisteslebens auf diese Art
erklären zu wollen". (S. 17). Immerhin ist es wohl nicht unbillig, von einem
Historiker, der die Möglichkeit verschiedener Klassenbildung usw. bei gleichen
Produktionsverhältnissen behauptet, konkrete Beispiele dafür zu verlangen. Die
Bemerkung (S. 19), daß die Theorie von Marx und Engels nicht aus Hegels Phi-
losophie erwachsen, im Keime kaum mit ihr verwandt sei, sondern „sich nur
eines Stückes dieser Philosophie als eines brauchbaren logischen Hilfsmittels be-
dient" habe, scheint mir gegenüber der sonst in der Regel (so neuerdings wieder
von E. Tröltsch in der „Hist. Zeitschrift" (1919) vertretenen Anschauung das
Richtige zu treffen.
Prag. Josef Winternitz.
Barth, Paul, Dr., ord. Honorarprofessor an der Universität Leipzig. Die
Philosophie der Geschichte als Soziologie. Erster Teil: Grundle-
gung und kritische Uebersicht. 3. und 4. wiederum durchgesehene und erweiterte
Auflage. 1922. Leipzig. 0. R. Reisland. 870 Seiten. Br. Mk. 90.— ; geb. 105.—.
Obwohl in Kant-Studien, Band XXII (1917), Heft 3 S. 329—340 dem Werke
Barths ein eingehender Bericht nebst genauer Würdigung gewidmet worden ist,
obwohl ferner die neue Auflage von der früheren, die zur Besprechung gelangt
war, nur in geringem Maße abweicht, sei dennoch an dieser Stelle nochmals auf
jenes Werk und auf das Erscheinen der 3. und 4. Auflage mit nachdrücklicher
Empfehlung aufmerksam gemacht. Denn es handelt sich um eine Leistung von
hervorragender Qualität. Ihr Hauptwert besteht in dem etwa 700 Seiten umfas-
senden historisch-kritischen Teil, der in mustergültiger Klarheit und Zuverlässig-
keit wohl alle ernstlich in Betracht kommenden Typen der Geschichtsphilosophie,
vor allem die soziologischen Ausprägungen derselben, zur ausführlichen Darstel-
lung bringt. Wir lernen sowohl die „intellektualistische Soziologie" (Comte, De
Greef u. a.), ferner die „biologische Soziologie" (besonders Herbert Spencer, Fouille'e
u. a.), als auch die „voluntaristische Soziologie" (Tönnies, Ward, Giddings u. a.)
kennen. Unter dem Titel: „Die einseitigen Geschichtsauffassungen" werden die
„individualistische und die kollektivistische", die „anthropogeographische", die
„ethnologische", die „kulturgeschichtliche", die „politische", die „ökonomische",
endlich die „ideologische" Geschichtsauffassung besprochen.
Barths meisterhafte Stoffbeherrschung und unbedingte Sachlichkeit in allen
Angaben, ferner die ebenso geschickte wie lehrreiche Zusammenfassung und An-
ordnung des ungeheuren Materials an vorhandenen geschichtsphilosophischen Theo-
rien haben uns ein Werk geschenkt, das man ein Lehrbuch der Hauptformen
der Geschichtsphilosophie im wahrsten Sinne nennen kann. Es läßt sich seinem
Wesen und Wert nach mit den Neubearbeitungen des alten 'Ueberweg' vergleichen
und mit diesen auf eine und dieselbe Stufe stellen. Das Beste, was man ihm
nachsagen kann, läßt sich wohl so aussprechen : Für jeden, der sich mit vollem
Vertrauen mit der Geschichte der Geschichtsphilosophie beschäftigen will, ist
Barths Buch eine Unentbehrlichkeit.
Berlin. Arthur Liebert.
' Hurwicz, Elias, Die Seelen der Völker. Ihre Eigenart und Bedeutung
im Völkerleben. Ideen zu einer Völkerpsychologie. Verlag Friedrich Andreas
Perthes A.-G., Gotha. Preis Mk. 6.—
Dieses Werk ist auf dem Boden der morphologischen Psychologie gewachsen.
Es gehört zur großen Reihe derjenigen modernen Arbeiten, die jenseits einer
188 Besprechungen (Hurwicz).
atomistisch-synthetischen und experimentierenden, wie einer konstruktiv-metaphy-
sischen Psychologie die Fülle seelischer (individueller wie überindividueller) Ge-
stalten phänomenologisch erkennen wollen. Vor allem ist es Hurwicz aber um
die Methodik dieses Erkennens zu tun, sein Werk ist vorwiegend erkenntnistheo-
retisch.
Doch ist das erkenntnistheoretische Interesse immerhin erst das eine Motiv.
Es könnte allein die Wahl eines so komplizierten Objektes wie die Völkerver-
schiedenheit nicht erklären ; denn die Erkenntnistheorie wird gut tun, erst einmal
die Methodik der Biographie zu erklären, bevor sie ernstlich die Aprioris in der
Erkenntnis überindividueller Lebensformen heraus zu analysieren versucht. Das
andere Motiv ist das Interesse am Gegenstand, wie es vor allem durch den
Weltkrieg mit seinen Völkerproblemen und ihrer unzulänglichen Lösung hervor-
gerufen worden ist. So sind denn auch die erkenntnistheoretischen Erörterungen
reichlich durchzogen von Beispielen völkerpsychologischer Erkenntnis.
Die Geschichte der Völkerpsychologie zeigt, daß diese sich als wissenschaft-
liche Disziplin erst in unseren Tagen konstituieren will. Im griechisch-römischen
Altertum finden sich wohl bei Plato und Aristoteles, bei Strabo und Plinius, bei
Cäsar und Tacitus, bei Hippokrat und Galen gelegentlich völkerpsychologische
Apercus. Doch „eine breite und systematische Abhandlung der Völkerpsychologie
hinterläßt uns das Altertum doch nicht". Der Stand der Völkerpsychologie im
Mittelalter ist für uns dunkel. Von einigen Arbeiten an der Schwelle der Neuzeit
abgesehen, setzt dann die bahnbrechende Inangriffnahme der Völkerpsychologie
mit Herder ein, Kant fördert sie in seiner Anthropologie, und im Gefolge des phi-
losophisch deduzierten Nationalitätsbegriffs bei Fichte strömen völkerpsycholo-
gische Erkenntnisse in die Gedankenmasse des klassischen Idealismus ein. Hegel
und die von ihm abhängige historische Schule waren dann von Natur diesen Pro-
blemen zugekehrt ; doch hat die historische Schule wegen ihres mystischen Begriffs
des Volksgeistes hier wenig geleistet; Lazarus, Steinthal und Wundt, die man
gemeinhin als die modernen Begründer und stärksten Förderer der Völkerpsy-
chologie bezeichnet, haben nur die allen Völkern gemeinsamen psychischen Er-
scheinungen, aber nicht ihre Sonderarten erforscht. .Ein reiches Material gerade
für diese Charakterdifferenzen ist verstreut in Beobachtungen von Essaiisten,
Dichtern und Politikern. Es ist der Wert des Werkes von Hurwicz, daß sein
Buch aus einer umfassenden Kenntnis der einschlägigen deutschen, englischen,
französischen und russischen Literatur herausgewachsen ist. Da er aber seine
Charakterisierung der verschiedenen Völker fast ausschließlich dieser Literatur
(Fouille'e, Leroy-Beaulieu, Emile Boutmy, Münsterberg, Scheler, Nötzel usw.) ent-
nimmt, so wollen wir uns allein auf die Kennzeichnung seiner erkenntnistheore-
tischen und methodologischen Ausführungen beschränken.
Es gilt hier zunächst, überhaupt einmal den Gegenstand der Völkerpsycho-
logie, den Volkscharakter zu konstituieren. Verschiedene Einwände stellen die
Anerkennung seiner Existenz in Frage. Die Mannigfaltigkeit psychischer Gestalten
innerhalb eines Volkes, die Verschiedenheit der Individuen, Klassen, Berufe, Lo-
kaleinheiten soll den übergreifenden Begriff einer Volkseinheit sprengen. Doch
vergißt dieser Einwurf, daß mit der Behauptung der Einheit des Volkscharakters
noch nicht die psychische Identität aller seiner Angehörigen behauptet wird, und
daß dieses Phänomen der Ueber-Einheit, der Einheit über Einheiten ein Urphä-
nomen der geschichtlichen Welt darstellt.
Es genügt aber nicht, diese Einheit in eine mystische Begriffsatmosphäre
einzunebeln, sondern es müssen präzis und möglichst erschöpfend die diese Volks-
Einheit bewirkenden Motive aufgesucht werden. Da sind die physikalisch-geo-
graphischen Einflüsse: Luft, Licht, Temperatur, Boden. Allerdings ist hier —
wie die Literatur zeigt — die Gefahr der Ueberschätzung recht groß, und oft
verdecken schöngeistige, vage Analogien zwischen materieller Gegebenheit und
seelischem Charakter echte Erkenntnisse durch Ueb jrspannung des Vergleichs.
Diese physikalisch-geographischen Einflüsse sind nur ein die Einheit formendes
Element neben andern; der psychophysische Volkstypus wird weiterhin gebildet
durch die verschiedensten Arten von Assimilation: durch Symbiose, durch Staat-
Besprechungen (Hurwicz — Jaensch). 189
liehe, die Einheit prägende Erziehung, durch gemeinsame Existenzbedingungen
und vor allem durch das Schicksal einer gemeinsamen Vergangenheit. Die affek-
tive Beschaffenheit repräsentiert das charakterologische Merkmal, durch das sich
auch alle anderen Merkmale des Volkscharakters enthüllen. Alle anderen Merk-
male — bis auf die geistige Disposition. Es ist der vorsichtig analysierenden
Art dieses Buches durchaus angemessen, die geistige Eigenart als unableitbar und
selbständig hinzunehmen und so metaphysischen Konstruktionen zwar aus dem
Wege zu gehen, zugleich aber auch vor dem irrationellen Kern sich zu bescheiden,
ohne zu gewaltsamer Auflösung zu drängen. So kommt man über den Dualismus
von objektiver und subjektiver Gesetzlichkeit auch hier nicht hinaus. Die Seele
der Völker ist, ebenso wie die Seele des Einzelnen, „gleichsam die Kesultante
eines Kräftekomplexes". Jeder Versuch, die Seele einseitig aus sich selbst oder
ebenso einseitig aus seiner Umwelt zu erklären, muß scheitern.
Welches sind nun die Methoden, die Völkerseele zu erkennen? Die sta-
tistische Methode liefert vor allem in der Kriminalstatistik reichliches Material.
Die Beobachtung kann durch Massenbilder, auf belebten Plätzen und in kritischen
Momenten, oft entscheidenden Einblick gewinnen. Die rechtspsychologische For-
schung hat in Männern wie Jhering, Gierke, Kohler, die sprachpsychologische
Forschung durch Studium der Synonima, durch Vergleich der abstrakten und kon-
kreten Vokabeln, der Phonetik und der unübersetzbaren Worte verschiedener
Sprachen völkerpsychologische Erkenntnisse gewonnen.
Die Psychologie der Philosophie, der Wissenschaft und der Künste eines
Volkes bietet weitere Möglichkeiten zur Erkenntnis seiner Eigenart. Doch darf
„nur solchen Erscheinungen charakterologischer Wert beigemessen werden, die
sich in einen einheitlichen seelischen Strukturzusammenhang einreihen lassen".
Neben all diesen Erkenntniswegen läuft ebenbürtig parallel einher der Erkenntnis-
weg der Intuition, er führt erst zu jenen differenzierten Distinctionen, die allein
fähig sind, Seelen begrifflich auszudrücken.
Die Völkerpsychologie — das sagt ein Nachwort — steht im Dienste eines
Ethos : sie soll erkennen, um anzuerkennen. Sie soll jene Humanität im Völker-
verkehr fördern, die Herder, den Stifter der völkerpsychologischen Wissenschaft,
und seinen Kreis beseelt hat. Man mag über diese ethische Mission, die H. der
Völkerpsychologie zuteilt, skeptisch denken. Gleichviel: die theoretis che Auf-
gabe der Völkerpsychologie ist ein Teil jener gewaltigen Aufgabe unserer Zeit:
alle seelischen Gestalten unserer Welt im Begriff einzufangen.
Berlin. Ludwig Marcus e.
Jaensch, E. R., o. ö. Professor an der Universität Marburg, DieFriedens-
frage im Zusammenhang mit Bildungs- und Kulturproblemen
der Gegenwart. (Wissenschaft und Leben, herausgegeben von Prof. Dr. E.
R. Jaensch in Marburg. Heft 1). Leipzig. 1919. Verlag von Johann Ambrosius
Barth. 16 S. 0.80 Mk.
Zur Förderung der Friedensbewegung würde es wesentlich beitragen, wenn
die Ueberzeugung von der Möglichkeit der Erfindung neuer furchtbarer Vernich-
tungsmittel, die selbst schwache Völker mit Erfolg handhaben können, und zu
diesem Zweck diejenige von der Möglichkeit überhaupt, völlig Neues (im Sinne
der schöpferischen Entwicklung) zu erfinden, in weiten Kreisen ausgebreitet würde.
Aber die Naturforscher, die dazu am meisten berufen sind, entziehen sich über-
wiegend dieser Aufgabe, teils weil der. Beschäftigung mit den Naturwissenschaften
vorwiegend eine innere Abkehr vom Leben zu Grunde liegt, teils wegen ihrer über-
wiegenden positivistischen Grundhaltung. — So der Vf., dessen stark rationalisti-
scher Gedankengang dem wesentlichen Zusammenhang zwischen Friedensfrage und
modernen Kulturproblemen m. E. nicht gerecht wird.
Berlin. A. Vierkandt.
190 Besprechungen (Lessing).
Lessing, Th., Dr., Privatdozent an der Technischen Hochschule in Hannover,
Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. C. H. Becksche Verlags-
buchhandlung Oskar Beck, München. 1919. 299 S.
Derselbe: Die verfluchte Kultur. Im gleichen Verlag 1921. 45 S.
Die Forderung, mit der L.s geschichtstheoretisches Buch schließt: „ein Buch,
das in Tagen, wo Geschichte alle Herzen erfüllt, von Geschichte befreien will,
darf nicht selbst historisch beurteilt werden" (298), ist in dem vorliegenden Fall
umso weniger akzeptabel, als gerade L.s Anschauungen im stärksten Maße selbst
Ausdruck sind der geistigen Situation der Zeit. Der Stimmung nach stehen
sie in der Nähe von Spenglers Kulturskepsis: Schatten des Untergangs, Ah-
nungen vom „Erkalten der Erde", von unaufhaltsamem Verfall und Auflösung,
demgegenüber einmal der zeitgemäße Glaube an das „ex Oriente lux", zum andern
die postulierte Notwendigkeit einer radikalen Desillusionierung in Bezug auf alles,
was Geschichte heißt — diese Züge bestimmen die Physiognomie des Buches.
Sachlich genommen liegt die Grundauffassung in der Richtung einer Metaphysik
des Irrationalen, in der sich Schopenhauersche und Nietzschesche Anfänge ins
20. Jahrhundert kontinuieren.
Die beste Einführung in L.s Gedanken gibt die kleine (2 Jahre nach dem
größeren, mit dem Strindbergpreis ausgezeichneten Werk erschienene) Broschüre.
Hier kommt der beherrschende Dualismus von Geist und Leben am stärksten
zum Ausdruck. L.s ganze Ausführungen variieren das Doppelthema: Sehnsucht
nach dem alogischen, nur erlebnismäßig zu gewinnenden Urgrund des „Leben-
digen" (in dem seit Nietzsche, Bergson, Simmel geläufigen emphatischen Sinn) —
Kampf, Haß und Verachtung gegen das „notgeborene Widerspiel des Lebens",
gegen dessen „Ueb ermächtiger" Geist. Die als Höchstes gefeierte Idee des Le-
bens freilich — und darin offenbart sich das unkritisch Dogmatische der grund-
legenden Konzeption — wird nur als abstraktes Ethos wirksam; unter dem Titel
„Leben" wird nur die allgemeine Vitalität, das unmittelbare und bewußtlose „Ele-
mentarischflutende" überhaupt herausgearbeitet. Dieses dumpfe und gänzlich be-
griffslose Substrat erscheint als Träger aller Realität; einer Realität freilich, die
stark an jene absolute Indifferenz erinnert, die einst von Hegel als die Nacht, in
der alle Kühe schwarz sind, bezeichnet wurde. Da sich über ein solches meta-
physisch Erstes systematisch nicht viel sagen läßt, treten faktisch die polemisch
destruierenden Ausführungen stark in den Vordergrund. In dem Verhältnis von
Leben und Geist liegen keinerlei positive Möglichkeiten beschlossen. Alle Tätig-
keit der ratio ist lebensf eindlich; vernünftige Formung vergiftet und entseelt
die kostbare Irrationalität des Lebendigen. „Der sicherste Totschläger des Le-
bens ist der Begriff" (24). Kultur aber bedeutet für diesen erneuerten Rous-
seauismus nichts anderes als die Gesamtheit aller aus dieser Lebensvergewaltigung
erstehenden Wertformen, wobei zwischen Kultur- und Zivilisationserscheinungen
keinerlei Unterschied gemacht wird: Kultur ist „die ganze Welt menschheits-
steigernder Sachwerte, von Dynamo, Turbine, Eisenbahn, Dampfschiff angefangen
bis zu den höchsten Leistungen der Kunst und Wissenschaft" (20). Das Baco-
nische Erkenntnisideal „Wissen ist Macht" erscheint schlechthin als „das Ideal,
darin die ganze Geschichte des Abendlandes wurzelt" (24). Solche Voraussetzungen
ermöglichen die These, daß für alles Ueble, für allen Schmerz, für alle Schrecken
und Sinnlosigkeiten des Kulturdaseins dem „Raubtier Geist" die Schuld zufalle;
solche Voraussetzungen erklären auch die ungewöhnliche Auffassung bestimmter
geschichtlicher Persönlichkeiten: Sokrates, Buddha und Christus sind die ersten
Verführer zum Geist, Hegel, Darwin und Marx die letzten großen „Truggeister"
und „Köpfeverwüster" des Abendlandes. „Ihr Werk ist: die Kultur. Ihr Werk:
der Fluch der Kultur" (39). Bei dieser Polemik gegen große Ahnen gerät L.s
an sich schon extrem subjektiver Vortrag zuweilen bis hart an die Grenze des
Möglichen (die „tollhäuslerische Annahme" des Hegeischen „Historismus"!).
Die „Wandlung von Erlebnis in Geschichte zu belauschen" (12) ist das Ziel
des geschichtstheoretischen Hauptwerks. L. wünscht hier „den ersten entschie-
denen Versuch zu einer historischen Kategorienlehre darzubieten" (5). Diese
Besprechungen (Lessing— Müller-Freienfels). 191
Kategorienlehre wird aber zu einer Negation der historischen Kategorien; die
eigentliche Aufgabe der beiden ersten Hauptteile (Erkenntniskritik und Psycho-
logie der Geschichte) bildet die Zerstörung der „Legende" von der Geschichte
als Wissenschaft. Völlig verkehrt erscheint H. Rick er ts Definition der Ge-
schichte als Wir klichk ei ts Wissenschaft; denn geschichtliches Erkennen formt
die ursprüngliche Lebensgrundlage ebenso gewaltsam um wie das naturwissen-
schaftliche Erkennen. Alles Urteilen über Geschichte ist eine logificatio post
festum an der Hand fertiger Normen und Wertmaßstäbe. Es gibt in Wahrheit
keine Einheit, keine immanenten Ziele, keine Entwicklung, überhaupt keine „ge-
nerellen Instanzen" in der Geschichte. Alles dies sind Unterstellungen der Ver-
nunft ; denn in der geschichtlichen Materie selbst ist keine Vernunft. Diese Ver-
nunftlosigkeit des geschichtlichen Lebens sucht L. durch eine ausgedehnte Erör-
terung der historischen Zufälle darzutun; die Wesenlosigkeit der „generellen
Instanzen" aber wird zu begründen versucht durch eine stellenweise an Lamettries
zynische Lehre von „Hunger und Liebe" erinnernde psycho-physiologische Erklä-
rung aus Wunsch und Willen, aus grober menschlicher Notdurft und Betäubungs-
bedürfnis. Geschichtliche Ideale sind „Notausgänge des Lebens", sind Fiktionen,
die an die brutale und sinnlose Realität herangetragen werden. Es „brennt . . .
hinter den historischen Idealen nie etwas anderes als die aufsummierte Selbstsucht
und aufsummierte Dummheit vieler Einzelnen. Hinter jeder Ansicht Absicht,
hinter jeder Einsicht Notdurft" (22). — Der dritte Teil (Geschichte als Ideal)
sucht nach solchem Negativismus dennoch einen Weg, auf dem Geschichte möglich
wird, zu erschließen. Hier kehrt sich plötzlich das bisher als gänzlich unfruchtbar
erkannte Verhältnis von Sein und Wert um. Die als Wissenschaft verpönte
Geschichte muß zur „umdichtenden Willenschaft" erhoben werden. Nur
durch bewußte Umgestaltung der facta bruta nach Maßgabe bestimmter Wertzu-
sammenhänge entsteht das Bild einer geschichtlichen Welt, das innere Berechti-
gung besitzt. Die Weltgeschichte wird also zum „Weltgedicht", zur „Hüterin des
schönen Scheins" gegenüber der „unheiligen ernüchternden Erkenntnis unseres
Wissens" (273) und die „rein illusionäre Natur der Geschichte (wird) grade der
Geschichte unverwelklicher Ruhmestitel" (233). Die Geschichte darf „den er-
kennenden und daher wahnfreien Geist nicht dulden! Ihre Macht ist die Macht
des Wähnens" (271). Eine Entscheidung zwischen den mannigfachen möglichen
„Baugedanken" der Geschichte ist Sache des persönlichen Erlebens. L. selbst
stellt von allen Lebensdeutungen die epikuräische und die buddhistische am höchsten.
Der beschränkte Raum verbietet eine eingehende kritische Würdigung. Das
logisch nicht völlig geklärte Verhältnis zwischen dem illusionären dritten Teil
und den wahnfreien ersten Abschnitten mag aus der referierenden Wiedergabe
schon hervorgegangen sein. Besonders bemerkt sei ein — leider nicht durchge-
führter — Gedanke: die in einem besonderen Kapitel versuchte Bestimmung der
Geschichte als „allgemeiner Gestaltenkunde", als „universaler Charakterologie".
Hier liegt, insofern die logisch entscheidenden Begriffe der „Individualität" und
des historisch Konkreten angedeutet sind, in den übrigen theoretischen Zusammen-
hang eingelassen ein systematisch fruchtbarer Keim.
München. Friedrich Seifert.
Mttller-Frelenfels, Richard, Philosophie; derlndividualität. Leipzig.
Meiner 1921. XII u. 272 S.
Um eine bedeutsame Philosophie der Individualität zu schreiben, muß der
Philosoph selber eine bedeutsame Individualität sein. Als solcher hat sich R.
M.-F. durch eine Reihe feiner psychologischer und ästhetischer Schriften erwiesen.
In seinem neuen Werke erfliegt er noch höhere Höhen.
Am Eingang seiner — wie jeder echten — Philosophie steht das Erkenntnis-
problem. Was heißt Erkennen? Formung von Inhalten. Also: Gestaltung eines
Chaos von Empfindungen zum durchdenkbaren Kosmos ; Erhebung von subjektiven
192 Besprechungen (Miiller-Freienfels).
Eindrücken zu objektiver Gültigkeit; doch auch, und dies ist die andere Seite
des Vergeistigens : Abtötung des Lebendigen und Konservierung des Ewigbeweg-
lichen durch kategoriale Gifte. Von hier aus nun scheiden sich die Denkertypen.
Die Rationalisten betonen die Form des Erkennens; immer einseitiger und ein-
seitiger; bis im äußersten Falle das „Gegebene", will sagen, das Tatsächliche,
Einzigartige, Unauflösliche zur bloßen „Aufgabe" sich verflüchtigt; und da schreibt
denn zuletzt Kant übers Marburger Tor: „Begriffe ohne Anschauung sind leer".
Die Irrationalisten dagegen neigen dazu, das allgemeingültige Gesetz in bloße
Konvention aufzuweichen und zuletzt sogar noch die Kategorien selber als Fäl-
schungen der Wirklichkeit, als Idole und Fetischismen beiseite zu schieben; bis
sie ganz am Ende vor der Realität des unmittelbaren Erlebens verstummen müßten,
wenn sie recht konsequent sein wollten; denn „Anschauungen ohne Begriffe sind
blind". Zu diesen extremen „Lebensphilosophen", besser „Erlebensphilosophen"
nun, die jüngst Rickerts schneidige Kritik traf, gehört unser Autor nicht; aber
immer doch zur zweiten Gruppe von Erkenntnistheoretikern, zu den „Irrationa-
listen" also. (Man vergleiche auch seine schöne Untersuchung über „Rationales
und irrationales Erkennen" in den „Annalen der Philosophie", II). Ihm ist das
Sein vor dem Denken (S. 97) ; denn schöpferisch kann niemals die Vernunft sein ;
schöpferisch ist immer nur das Irrationale (S. 86 f.; 171); und die letzten Gründe
aller Erkenntnis sind ihrem Wesen nach individuell, also eben nicht von vorne-
herein allgemeingültig (177). Lächerlich ist das bekannte Argument der Logisten
gegen diese Ansicht: sie schließe ein, daß eben auch sie selber nicht allgemein-
gültig sei; denn: „Die Relativisten behaupten ja gar nicht, eine absolute Er-
kenntnis erbracht zu haben, sondern auch ihr allgemeinster Satz, daß alle Er-
kenntnis relativ sei, meint natürlich alle menschliche Erkenntnis, besagt also,
daß auch in jenem allgemeinsten Satze die Relation auf die menschliche Er-
kenntnis stecke" (176 f.).
Wer nun mit dem Vf. einerseits die Denkformen für notwendige Instrumente
aller ersinnlichen Erkenntnis hält, anderseits aber sich weigert, aus ihnen nach
rationalistischen Rezepten das Sein hervorgehen zu lassen, dem bleibt nichts
übrig, als sie nach psychologistischer oder biologistischer Methode aus dem irra-
tionalen Seelenleben abzuleiten. Dies nun tut der Vf. in dem glänzenden Ab-
schnitt von der Rationalisierung des Vernunftfreien (S. 85 ff.). Aus Probierbewe-
gungen und der mnemischen Tendenz, nützliche Aktionen zu wiederholen („Trial
and error": Bain und Jennings), lassen sich zweckmäßige Gewohnheiten er-
klären (S. 95; 100 ff.); solche werden vererbt (S. 103) oder durch Nachahmung
fortgepflanzt (S. 88) ; zu ihnen gehören nun auch die logischen Verfahrungs weisen
(S. 94f.). Der soziale Verkehr aber macht die Varianten ausgleichende „zwischen-
individuelle Rationalisierung" nötig (S. 91) und erzwingt sie, wo es erforderlich
wird, durch Erziehung (S. 105 ff.). „Die Rationalisierung geschieht zunächst überall
ohne Ratio" (S. 96). Hat sich nun aber das psychische Wesen mit Vernünftig-
keit einmal bewehrt, so wendet es diese Riesenwaffe wider alles Irrationale an,
bearbeitet solches, macht es sich dadurch mundgerecht. Die „Rationalisierung"
in einem andern Sinne des Wortes tritt ein: die begriffliche Erfassung des sonst
Ungreifbaren. Und um die Fülle alles Einmaligen, Höchstpersönlichen, Immer-
wechselnden, das im Erleben keine Grenzen und keine Normen kennt (S. 36 — 81),
nun dennoch zu packen und zu verstehen, dazu tragen wir eine besondere Kate-
gorie in uns: die Individualität. Als „eine der Grundformen der denkenden
Verarbeitung des Erkenntnismaterials" (S. 202) ist sie das unumgängliche Mittel,
in den Wirrwarr des unmittelbaren Erlebens Ordnung zu bringen. Der Vf. ver-
gleicht sie mit anderen Kategorien ihrer Gruppe und findet sie schließlich als
eigenartigen Urbegriff (S. 203—208) ; am ehesten ließe sie sich mit dem Begriffe
der „Form" identifizieren ; allein, sie enthält im Gegensatz zu diesem die Voraus-
setzung der Zeitlichkeit (S. 200) ; ist „geprägte Form, die lebend sich entwickelt"
(S. 206); „Entwicklung" also ist ihr notwendiges Korrelat (S. 36 ff.).
Ohne die so definierte Kategorie nun ließe sich lebendiges Geschehen über-
haupt nicht auffassen; ein Gestöber unzusammenhängender Sensationen wäre es,
was vom Ich, merkwürdige Wechselbilder, was vom Mitmenschen, vom Tier, von
Besprechungen (Müller-Freienfels). 193
der Pflanze übrig bliebe. So darf man behaupten, daß das Individuum als solches
recht eigentlich erst durch die Denkform der Individualität entsteht, die es aus
den Strudeln des Urerlebens herausgestaltet. Im Fortgange dieser Gestaltung aber
begegnet ihr, was auch anderen Kategorien geschieht, wenn sie auf besondere
Probleme angewendet werden: sie splittert sich in Antinomien auf und erscheint
dann in einander widersprechenden Fiktionen. Da finden wir für psychologische
Zwecke oft die Erdichtung einer substantiellen „Seele" (S. 20; 118 f.), eines „Kernes"
der Persönlichkeit (S. 121) bequem; und dann wieder individualisieren wir in der
Geschichte gerne umfassende „Normalsubjektivitäten" (S. 68, 111, 125 f., 130, 230 ff.).
Wir verlegen das letzte Geheimnis der menschlichen Handlungen in angeblich
dauerhafte Charaktere, die wir nach angeblich feststehenden „Typen" einteilen
(S. 132 ff.) — um dann wieder ein von außen einwirkendes „Schicksal" alles Tun
und Leiden entscheiden zu lassen (136). Lauter Fiktionen ; aber genug, sie helfen
uns zur Herausarbeitung des „Individuums" aus dem völlig Irrationalen, also Un-
zugänglichen, höchstens durch „Einfühlung" zu Erahnenden (S. 61, 123, 209, 219).
Doch halt ! Geraten wir da nicht in einen Zirkel ? Aus ' den Bedürfnissen
der höheren Lebewesen, insonderheit der Menschen, also doch biologisch charak-
terisierter Individuen, soll das Denken und mit ihm die Kategorie der Individu-
alität samt ihren Auszweigungen entsprossen sein; und diese Kategorie soll nun
wieder das Individuum schaffen? Wie verträgt sich das? Mit dieser Frage be-
treten wir metaphysischen Boden. Es verträgt sich unter folgender Annahme
(S. 210): ein Irrationales, Unerkennbares, nur im Drange des Augenblicks blind
Erfahrbares, ein X, treibt das Denken aus sich heraus; und das Denken stellt
dieses X als eine Summe von Individuen vor. Individuum ist demnach Erschei-
nung; und die dahinter stehende letzte Realität, das geheimnisvolle X — ist das
„Leben" (S. 201,213); Leben wird somit zur wahren „Individualitas individuans"
(S. 197 ff., 218). Das einzelne Ich verliert ihm gegenüber seine Suveränität; es
fehlt ihm ja an genauer Abgrenzung gegen die Umwelt (S. 65 ff., 221 ff., 230);
es ist fast beliebig spaltbar (S. 54 ff.); als geschlossene Einheit tritt es keines-
wegs von vornherein auf; eher als Aufgabe hohen Menschentums läßt sich die
„Persönlichkeit" bezeichnen (S. 64). Auch stellt sich das individualisierte Leben
im einzelnen Ich keineswegs eindeutig dar; vielmehr kommen da sieben verschie-
dene Erscheinungsweisen in Betracht (S. 11 ff.): das Momentan-Ich, der Leib, die
fiktive Seele, das „Mein", das Innenbild, das Außenbild, die Objektivierung im
Wirken. Man sieht, das Individuum als solches ist Phänomen; in seinem Leibe
sowohl wie in seinem Bewußtsein spiegelt sich ein „Drittes", eben das Leben
(S. 199, 213).
„Ein Drittes" — ist diese Konstruktion nötig? Gerät der metaphysische
Aufbau nicht gefälliger, wenn wir statt der Vokabel „Leben" die andere als
gleichbedeutend setzen : „Seele" ? Dann würden wir die bewußten Erlebnisse als
besondere, hochkomplizierte Zustände des Dinges an sich auffassen ; und dieses er-
schiene unsern Sinnen als Leib. Soweit nun brauchte die Aenderung noch keine
der Ansichten des Vf. wesentlich zu modifizieren; nur die Polemik gegen den
psychophysischen Parallelismus (S. 214) würde gegenstandslos. Aber es steckt
freilich hinter der Ausdrucksweise des Vf. mehr als nur der Ausdruck. Der
Parallelismus nämlich hängt logisch fest mit der mechanistischen Weltauffassung
zusammen ; diese nun würde sich mit des Vf. Voraussetzungen an sich vortrefflich
vertragen ; zumal seine psychologische Methode — wie er etwa nützliche Instinkte aus
Probierbewegungen ableitet (S. 95) oder den Willen zum bloßen Bewußtseinsbe-
gleiter einer Bedürfnisbefriedigung macht (S. 145) — mutet schulgerecht mecha-
nistisch an ; auch gibt er zu, daß die Mechanistik theoretisch nicht zu widerlegen
sei (S. 258). Allein genug, sie ist ihm einmal zuwider — weil sie ihm allzu ra-
tional und maschinenmäßig vorkommt; und verwirft er sie, dann freilich muß er
seinen Phänomenalismus wohl oder übel formulieren, wie er tut. Vielleicht zeigt
sich hier ein gewisser Konflikt zwischen Denkantrieben und ästhetischem Geschmack ?
Aber wenn schon : was täte das ? Auch Konflikt ist Leben, und nur aus leben-
digem Leben keimt echte Philosophie. Dadurch aber hebt sich Richard Müller-
Freienfels so hoch über die meisten, die sich heute Philosophen nennen: daß er
Kftntstndien. XX VII. 13
194 Besprechungen (Müller-Freienfels — Schulze-Soelde).
seine tiefen und starken Gedanken mit seinem Blute, nicht mit Wörtern nährt.
Deshalb regt er mit jedem Satze an, sei es zu lebhafter Beistimmung (wie durch-
weg den Ref.), sei es meinethalben auch zum Widerspruch. Daher auch funkelt
sein Stil und erquickt zugleich durch lautere Klarheit. Kurzum, wir haben eine
ungewöhnliche Leistung vielseitigen und gediegenen Denkens vor uns : niemand
wird an dem Buche vorbeigehen dürfen.
Berlin. Julius Schultz.
Schulze-Soelde, Walther, Dr., Geschichte als Wissenschaft. Berlin
1917. Verlag Reuther und Reichard. 93 S.
Nicht um die Geschichte an sich, sondern um die Erkenntnis der Geschichte
handelt es sich in der vorliegenden Untersuchung. Zur Erörterung gelangt die
den berühmten Kantischen nachgebildete Frage, wie Geschichtswissenschaft mög-
lich ist. Diese Frage kann nach Schulze-Soelde weder in einer rein formallogischen
Begriffsbildungslehre auf die Art Rickerts beantwortet werden, noch durch eine
Betrachtung, die sich ausschließlich an den gegenständlichen Inhalt wendet. Auf
die Beziehung zwischen Form und Inhalt kommt es dem Jünger Kants an.
Allerdings stellt Kant selbst — immer dem Autor zufolge — diese Bezie-
hung für das Gebiet des Historischen noch nicht zur Diskussion. Die Kantische
Geschichtsphilosophie ist nicht kritisch; es sind in ihr eine metaphysische und
eine ethische Epoche zu unterscheiden. Die Metaphysik kommt bei der Be-
gründung der historischen Erkenntnis für den streng wissenschaftlichen Kritizismus
nicht in Betracht, aber auch nicht die die Sache in den Bereich des Praktischen
hinüberspielende Ethik. Nicht eine Ethik, sondern eine Theorie der Geschichte
muß gegeben werden. Das tut Kant nicht, der, wo seine Geschichtsphilosophie
nicht metaphysisch oder ethisch orientiert ist, das Problem der Geschichte in
das der Natur auflöst. Sein Verdienst ist die Schöpfung und Durchführung der
kritischen Methodik in bezug auf den Naturgegenstand; was nun not tut, das ist
die Anwendung, die Uebertragung der kritischen Methodik auf den eigenartigen
historischen Gegenstand.
Die Auffindung dieses ist die Leistung Hegels ; von ihm wird das Bewußtsein
als Gegenstand der Geschichte entdeckt, die Vernunft, deren Begriff allerdings so weit
zu fassen ist, daß auch die Unvernunft darunter fällt. Freilich verfährt Hegel dog-
matisch, ontologistisch. Er nimmt nicht die vom kritischen Standpunkt aus un-
entbehrliche Trennung zwischen Ichbewußtsein und Gegenstandsbewußtsein vor,
zwischen der erkennenden Vernunft des Historikers und der zu erkennenden Ver-
nunft als dem Gegenstand der Historie; die Vernunft wird bei ihm zur Vernunft
an sich. Wenn Kant dem spezifischen Charakter des inhaltlichen Momentes am
Geschichtsbegriff nicht gerecht wird, so ist das bei Hegel hinsichtlich der for-
malen Struktur des Geschichtsbegriffs der Fall. Hieraus resultiert die Notwendig-
keit einer Synthese von Kant und Hegel.
Es kommt also alles auf die Einsicht an, daß der Kernpunkt das Wechsel-
spiel zwischen Ich- und Gegenstandsbewußtsein ist, die Beziehung zwischen der
die Geschichte erkennenden und der sie machenden Vernunft. Ebendadurch, daß
das Bewußtsein, die Vernunft, nicht bloß das Subjekt, sondern zugleich das Ob-
jekt der Erkenntnis darstellt, unterscheidet sich die historische von der Natur-
erkenntnis. In bezug auf die Natur handelt es sich darum, das noch nicht Be-
wußte in der Erkenntnis, durch sie, zum Bewußtsein zu erheben; in bezug auf
die Geschichte hingegen ergibt sich die Aufgabe, das bereits Bewußte zu erfassen,
nachzubilden, zu erneuern. Das von dem Historiker zu bearbeitende Material ist
im Unterschied zu dem des Naturwissenschaftlers kein sinnliches, sondern ein
intelligibles. Wohl geht auch der Historiker von sinnlichen Daten aus; denn das
die Geschichte schaffende Bewußtsein findet seinen Niederschlag in Taten, Lei-
stungen, welche einen Ausbruch des Bewußtseins in die sinnliche Aeußerlichkeit
bedeuten. Allein nicht das Sinnliche als solches, sondern die ihm immanente Be-
deutung, die ihm zugrunde liegende Vernunft, ist der eigentliche Gegenstand der
Geschichte.
Daraus folgt dann weiter, daß der Kausalzusammenhang in der Geschichte
Besprechuugen (Schulze-Soelde — Schuck). 195
ein anderer ist als der in der Natur. Wenn das Historische aus der Vernunft
hervorgeht, für die doch die Spontaneität kennzeichnend ist, so gibt es in der
Geschichte im Gegensatz zur Natur nicht eine Kausalität der Gesetzlichkeit, son-
dern eine solche der — nicht in ethisch-praktischem, sondern in theoretischem
Sinne verstandenen — Freiheit. Der Gesetzesbegriff bezieht sich nur auf das sich
regelmäßig Wiederholende, mithin auf die Natur; für die Geschichte aber gilt
Leibniz' principium identitatis indiscernibilium und damit die Freiheit. —
Eine kritische Würdigung dieser Darlegungen würde sich vor allem auf
folgende vier Fragen zu richten haben: 1. auf die, ob in einer auf die Heraus-
schälung des logisch-kritischen Geltungsproblems so ernsthaft bedachten Unter-
suchung die häufige Verwendung der unter Umständen irreführenden Termini Ich,
Bewußtsein, Subjekt und Objekt zweckmäßig ist; 2. auf die erheblich wichtigere
Frage, ob mit der von Schulze-Soelde an der Kantischen Geschichtsphilosophie
geübten Kritik schon das letzte Wort gesprochen ist; 3. auf die noch sehr viel
wichtigere Frage, ob wirklich das Entscheidende für den Gesetzesgedanken der
Gedanke der Regelmäßigkeit ist, ob ferner jedes Gesetz ein Naturgesetz ist und
folglich der Freiheits- und der Gesetzesbegriff sich ohne weiteres ausschließen,
so daß der letztere in der Tat für die Geschichtswissenschaft gar nicht in Betracht
käme; 4. auf die vielleicht bedeutungsvollste Frage, ob ohne jedwede Beziehung
auf die Idee der Kultur der Gegenstand der Geschichtswissenschaft erschöpfend
bestimmt und von dem der Naturwissenschaft hinreichend abgegrenzt werden kann.
Die soeben aufgeworfenen Fragen vermögen an diesem Orte nur gestellt, nicht
beantwortet zu werden. Nur dies sei noch gesagt, daß Schulze-Soeldes Arbeit eine
von echt kritischer Gesinnung getragene und ganz ungemein scharfsinnige ist.
Berlin- Wilmersdorf. Kurt Sternberg.
Schuck, Karl, Professor in Karlsruhe, Spenglers Geschichtsphilo-
sophie. Eine Kritik. G. Braunsche Hofbuchdruckerei und Verlagsanstalt Karls-
ruhe B. 1921. 39 Seiten.
Schucks Schrift verdient unter der nach und nach ziemlich angewachsenen
Spengler -Literatur besondere Beachtung. Im Gegensatz zu anderen Schriften,
die sich mit einzelnen Thesen, Auffassungen und Deutungen Spenglers befassen,
die ethisch, religiös oder kulturpolitisch zu ihm Stellung nehmen, ihn bejahen oder
verneinen, versucht Seh. zum erstenmal eine prinzipielle philosophische Gesamt-
kritik an den Grundbegriffen der Spenglerschen Geschichtsphilosophie bezw. Ge-
schichtsdeutung. Nur wer sich die Mühe gemacht hat, Spengler wirklich durch-
zuarbeiten, wer seine faszinierende und verwirrende Diktion kennt, wird die
Leistung der Sch.schen Arbeit zu schätzen wissen. Wenn Seh. den Anspruch er-
hebt, eine erschöpfende Kritik, die nicht nur beurteilt, sondern auch versteht, zu
geben, so kann das m. E. nur für die Fragestellung und Problemandeutung, nicht
aber für die Durchführung gelten. Im Verhältnis zur Größe und Tiefe der ange-
schnittenen Probleme ist Sch.s Kritik zu knapp und negativ ausgefallen.
Seh. gibt zu, daß die historischen Einzelheiten, das geschichtliche Material,
das Spengler für seinen Kulturbegriff und sein schicksalmäßiges Entwicklungs-
schema verwendet, auf Schritt und Tritt Fehler und Willkürlichkeiten aufweist.
Wenn Seh. auch recht hat, daß alle Anschauungen über solche Einzelheiten nur
relativ sind, so hat er doch nicht recht, wenn er meint, daß eine genaue Kritik
der Einzelheiten nicht nötig sei, da der Schwerpunkt der Entscheidung von den
Prinzipien her zu treffen ist. Die Willkürlichkeiten dieses Materials können
Grenzen erreichen, welche die Wissenschaftlichkeit dieser ganzen Geschichts-
philosophie in Frage stellen. M. E. wird diese Grenze von Spengler sehr oft er-
reicht und überschritten. Wenn es z. B. nicht richtig ist, daß der griechische
Geist den Begriff des Unendlichen nicht gekannt hat, so fällt doch die gesamte
Geschichtskonstruktion des „faustischen" Abendlandes im Gegensatz zum nur plastisch
denkenden Hellenentum. Was bleibt dann übrig ? ... S. 1 1 seiner Schrift stellt
Seh. eine Reihe wichtiger Fragen, ob die seelische Zuständlichkeit allen Individuen
desselben Kulturkreises gemeinsam ist, ob es Ausnahmen gibt, ob Individuen an-
derer Völker und Kulturkreise an dieser seelischen Zuständlichkeit auch teilhaben
13*
196 Besprechungen (Schuck — Bruhn).
können. Seh. erledigt sie damit, daß durch sie die eigentlich metaphysische Grund-
lage des Kulturbegriffes nicht berührt werde. Und doch ist das der Fall, denn
die ganze mögliche Bedeutung und Geltung der Hypothese „Kulturseele" steht
und fällt mit der Beantwortung dieser Fragen. Denn wenn diese Kulturseele
nicht allen Individuen des Kulturkreises gemeinsam ist, wenn sie hinausreicht in
andere Kultursphären, wenn diese Kontinuität Formen erreicht, die den ganzen
Sinn des Begriffes qualitativ ändern, was bleibt dann von der ganzen Konzeption
noch übrig? Seh. lehnt Spenglers metaphysischen Kulturbegriff ab, weil er will-
kürliche Deutungen zuläßt und die Entwicklung in ein Zwangsschema preßt, in
das sie nicht gepreßt werden kann. Allerdings glaubt er, daß auch manches für
Spengler spricht, so die Erscheinungen der kulturellen Hochblüten, „die sich jeden-
falls nicht immer rein kausal erklären lassen", sondern wo wirklich die Herrschaft
bestimmter Ideen durchgeführt ist. Zunächst ist diese „Herrschaft bestimmter
Ideen" ein recht problematischer Begriff der Geschichtsphilosophie, der noch drin-
gend der Klärung bedarf und dann: muß man denn metaphysische Kulturseelen
annehmen, wenn man nicht Kausalitätstheoretiker sein will? Seh. selbst erkennt
in der eigentlichen philosophischen Kritik, die sich ja von der historischen nur
ganz künstlich trennen läßt, daß sich hier das Problem einer historischen Gesetz-
mäßigkeit im Gegensatz zur kausalen und biologischen erhebt. Aber an diesem
Punkt, wo nun das Positive der Kritik einzusetzen hätte, begnügt sich Seh. mit
Aufstellung einer „noetischen" Gesetzmäßigkeit, die nur angedeutet und daher
unklar bleibt. Hier hätte eine Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie
der Wertphilosophen, mit der ökonomischen Geschichtsauffassung und mit der
heutigen Soziologie einsetzen müssen. Ein Gedankensprung Sch.s sei hier kurz
noch angemerkt. Seh. tadelt in Spengler mit vollem Recht eine einseitig psy-
chologistische Geschichtsauffassung. So Seite 21; Seite 31 kommt dann die
plötzliche Behauptung: „Der einseitige erkenntnistheoretische Subjek-
tivismus Spenglers ist das Produkt gewisser Formen des Neukantianismus, die in
immanenz- und geltungsphilosophischen Einseitigkeiten befangen sind und die
Dinge an sich — als vorkantisch — glauben leugnen zu müssen." Es geht doch
nicht an, psychologistische Geschichtsauffassung mit erkenntnistheoretischem Sub-
jektivismus zu identifizieren, ganz abgesehen davon, daß Erkenntnistheorie die
weitaus schwächste Seite Spenglers ist.
So wertvoll die kritischen Fragestellungen Seh s im einzelnen sind, die Funda-
mentalfrage wird nicht gestellt. Spengler will Weltbildschöpfer sein, will Gesamt-
erkenntnis geben, die Zukunft vorausbestimmen. Es ist zu fragen, kann das noch
Aufgabe einer Philosophie sein, die Wissenschaft sein will? Wer den transzen-
dentalen Grundgedanken des kantischen Kritizismus verstanden hat, wird das ver-
neinen müssen. Die kritische Philosophie, die jene metaphysischen Türme haßt,
um die gemeiniglich viel Wind ist, steckt sich bescheidenere Ziele, das andere
überläßt sie der Kunst, die keine strenge logische Rechenschaftslegung erheischt.
Heidelberg. Dr. Emil Kraus.
IL Religionsphilosophie.
Bruhn, Wilhelm, Dr., Privatdozent an der Universität Kiel, Der Ver-
nunftcharakter der Religion. Leipzig. 1921. Verlag von Felix Meiner.
283 Seiten.
„Es genügt nicht, daß heutzutage weithin das Interesse an den irrationalen
Erlebenstatsächlichkeiten erwacht ist. . . . Vielmehr ist die Aufmerksamkeit darauf
zu lenken, daß hier ein für den wissenschaftlichen Standpunkt ganz unerhörter
Anspruch erhoben wird, den es logisch nachzuprüfen gilt. Besonders die Theo-
logie, welche doch in besonderem Maße die rationale Wissenschaft von einem
Irrationalen sein will, darf sich nicht daran genügen lassen, das letztere als ihr
Schoßkind umherzutragen und sich in seiner Eigenwilligkeit zu sonnen, sondern
hat die Pflicht, die Tatsächlichkeit als Anspruch aufzufassen und als Problem dem
Logos zur Feststellung des Vernunftcharakters zu überantworten."
Besprechungen (Bruhn). 197
Mit diesen Worten hat der Verfasser die Prohlemlage seines Werkes nach
meinem Urteil so zutreffend formuliert, daß ich sie voranstelle, obschon sie in seiner
Arbeit selbst erst an einer verhältnismäßig recht späten Stelle (S. 163 f.) erscheinen.
Die ersten anderthalbhundert Seiten, die dieser Formulierung vorangehen, sind
ausgefüllt mit kritikreichen Erörterungen des Wirklichkeits- und des Geltungs-
begriffs und der Konstruktion der drei Geltungsreihen des Nurbewußten, des
Ueberbewußten und des Auchbewußten. Unter dem Nurbewußten ist das Erlebte,
unter dem Ueberbewußten das Normative, unter dem Auchbewußten das mit dem
Bewußtsein der Normativität, folglich des transsubjektiven Forderungscharakters
Erlebte zu verstehen. Es kann übrigens sein, daß damit die Meinung des Ver-
fassers noch nicht ganz zutreffend charakterisiert ist. Aber ich müßte S. 62— 66
ausschreiben, um dem Leser das zur Nachprüfung erforderliche Material vorzu-
legen, und würde mich selbst doch nicht deutlicher ausdrücken können, als es so-
eben versuchsweise geschehen ist. Vielleicht geht meine Unsicherheit auch darauf
zurück, daß hier im Text nicht alles so klar ist, wie es wünschenswert wäre.
Gegen die Identifizierung des Normativen mit dem Ueberbewußten würde ich z. B.
sehr ernste Bedenken anzumelden haben.
Die Analysis der „Geltung des Auchbewußten" führt den Verf. anfangs in
die nächste Nähe Frischeisen-Köhlers, dem das Verdienst zugesprochen
wird, „das psychologische Erleben Diltheys zu einem kritischen Empirismus des
Irrationalen durchgebildet zu haben" (S. 177). Schließlich aber drängen ihn kriti-
sche Bedenken (S. 190 ff.), deren Wiedergabe ohne eine eingehende Interpretation
des für meine Begriffe recht schwierigen Textes nicht möglich sein würde und
daher an dieser Stelle unterbleiben muß, auch über Frischeisen-Köhler hinaus zu
folgender Position, die ich im Interesse einer treuen Berichterstattung in des Ver-
fassers eigener Formulierung hier einsetze:
A) „Das menschliche Bewußtsein, für gewöhnlich in der Knechtschaft der
Dinge von Erscheinung sich zu Erscheinung spinnend, erfaßt sich in den Augen-
blicken der Selbstbesinnung ohne weiteres als die Dauer im Wechsel, den festen
Punkt in der Erscheinungen Flucht" (S. 196).
B) Dieses unantastbare „Ichheitsfaktum" ist der wissenschaftlich geltende
Beweis dafür:
„1. Daß das subjektiv-individuelle Bewußtsein das reale Sein umschließt; und
zwar ... als das Transsubjektive, in welchem das schlechthin Unabhängige gegen-
über der subjektiven Empirie und damit der gesuchte Halt im Flusse der Er-
scheinungen gegeben ist;
2. Daß diese Realität als ein unmittelbarer Besitz in einer irrationalen Be-
wußtseinsfunktion des Habens gegeben ist, d.h. nicht als ein Erkennen und
Wissen, nicht als Gedanke, Begriff, Postulat oder seelische Zuständlichkeit, son-
dern als ein mit dem Bewußtsein auf eine nicht aufzudeckende Weise organisch
und innig verbundenes Selbstleben, daher von nicht zu überbietender Unmittelbar-
keit und Gewißheit.
3. ... Auch das Erleben des Schönen, des Sittengesetzes und der Gottheit
beansprucht die Geltung einer transsubjektiven Realität. ... Da nun einer dieser
Inhalte, nämlich das Ichbewußtsein, seinen Realitätscharakter erwiesen hat, so
folgt daraus, daß auch die Realität der anderen für wissenschaftlich erwiesen
gelten muß, sofern diese die gleichen Kriterien der Irrationalität und Unmittelbar-
keit aufzuweisen haben. Damit ist das Erlebnis des Künstlers, des Sittlichen, des
Frommen wissenschaftlich unterbaut" (S. 249 f.).
Was insbesondere die Religion betrifft, so befindet sie sich, „sofern sie nichts
anderes sein will, als eine bestimmte seelische Form des Realerlebens, in Ueber-
einstimmung mit der Wissenschaft, und ihre subjektive Gewißheit hat objektive
Geltung zu beanspruchen. Damit ist der Vernunftcharakter der Reli-
gion erwiesen" (S. 259).
Das ist er unstreitig, wenn anders der Glaube an das bewußtseinsunabhän-
gige Dasein der Substrate gewisser Erlebnisinhalte ein Vernunftglaube ist, und
— wenn die Religion so anspruchslos wird, sich als eine bestimmte seelische Form
des Realerlebens charakterisieren zu lassen. Vielleicht hängt es mit meiner theo-
198 Besprechungen (Bruhn — Scholz).
logischen Herkunft, vielleicht mit einem andern Vorurteil zusammen, daß es mir
nicht gelingen will, die wirkliche Religion, die so anspruchsvoll ist, daß sie den
Menschen mit unerbittlicher Strenge vor die Gottesfrage stellt, in dieser Cha-
rakteristik wiederzuerkennen.
Aber darin irre ich wohl nicht, daß es unmöglich ist, die Religion mit
dem Verfasser der vorliegenden Untersuchung in einem Atemzuge als ein Gott-
haben und — für das wissenschaftliche Urteil — als eine bestimmte seelische
Form des Realerlebens zu charakterisieren. Es muß vielmehr unter allen Um-
ständen heißen: Religion, im Licht der Erkenntnis gesehen und an den Maß-
stäben empirischer Existentialurteile gemessen, ein Wirklichkeitsbewußtsein von
transzendentem Inhalt, folglich von größter Fragwürdigkeit. Dann aber
ist ihr Vernunftcharakter jedenfalls nicht auf einem Wege erweisbar, dessen Be-
weiskraft darauf beruht, daß an der entscheidenden Stelle der Transzendenz-
charakter gestrichen und die ihm kategorisch unterworfene Religion zu einer
neutralisierten seelischen Form des Realerlebens herabgestimmt wird.
Auch ist mir nicht recht klar geworden, warum der Verfasser für diesen
Beweis noch einen besonderen Unterbau in Gestalt einer schwer zu durch-
schauenden Lehre von der Konstanz des Ich geliefert hat. Ich bin geneigt, diesen
Unterbau auch deshalb für entbehrlich zu halten, weil es mir nicht gelungen ist,
mit der Idee eines Ich, das sich selbst in seiner Konstanz als etwas Transsubjek-
tives erlebt, einen bestimmten Begriff zu verbinden.
Endlich möchte ich nicht verschweigen, daß ich mir bei dem Geltungs-
charakter des Wirklichen, von dem in diesem Buch unablässig die Rede ist, auch
nichts Bestimmtes zu denken vermag. Geltung ist etwas, was den Urteilen zu-
kommt und mit ihrem Wahrsein zusammenfällt. Was Geltung sonst noch be-
deuten könnte, und was insbesondere dem Wirklichen widerfährt, dadurch daß
ihm eine bestimmte Geltung oder ein besonderer Geltungscharakter zugeschrieben
wird, scheint mir noch immer so dunkel zu sein, daß ich diesen Begriff lieber gar
nicht gebrauchen, als an einer Stelle verwenden würde, wo deutliche Begriffe am
nötigsten sind.
Kiel. Heinrich Scholz.
Scholz, Heinrich, o. ö. Professor a. d. Universität Kiel, Der Unsterb-
lichkeitsgedanke als philosophischesProblem. Berlin. 1920. Reuther
und Reichard. 96 S.
Bewußt den Namen eines Metaphysikers nicht fürchtend, rührt der Ver-
fasser an jenen dunkeln Vorhang, der uns die Aussicht über das Grab hinaus
verschließt. Der Tod, allen Positivisten, Materialisten und ihren Geistesverwandten
eine gleichgültige Sache oder höchstens ein Aergernis, wird ihm zum Problem,
und mit kritischer Wage prüft er die Versuche, die vor ihm unternommen sind,
den Tod, das scheinbar Negativste, umzuwerten in ein Positives. Auf Grund um-
fassender Belesenheit stellt Scholz mit vollendeter Klarheit die einzelnen Lösungen
einander gegenüber, alle Möglichkeiten abwägend, um sich zuletzt jener Meinung
anzuschließen, die im Tode nicht einen Untergang, sondern einen üebergang zu
höheren Lebensformen von unsichtbarer, aber persönlicher Beschaffenheit sieht,
so daß jenseits der Grabesnacht der Morgenstern der Unsterblichkeit aufleuchtet.
Nachdem in kurzem Kapitel Piatons Begründung und Kants Kritik der Unsterb-
lichkeitsbeweise besprochen sind, erörtert der Verfasser wieder in trefflicher
Nebeneinanderstellung die Umformungen, die der Unsterblichkeitsgedanke in alter
und neuer Zeit gefunden hat. Besonders wertvoll erscheint mir die Erörterung
des Begriffs des Ewigen Lebens.
Im Schlußabsatz endlich spricht Scholz über die Grundlagen und den Ge-
halt des Unsterblichkeitsglaubens, hier seine persönliche Stellung offenbarend. Er
bezeichnet sein Verfahren als ein „argumentierendes" Denken, das er zwar vom
„demonstrierenden" der exakten Wissenschaft unterscheidet, darum jedoch keines-
wegs als „phantasierend" angesprochen wissen will. So geht er eingestandener-
maßen nicht auf Unsterblichkeitsbeweise, sondern nur auf Begründungen des
Unsterblichkeitsglaubens aus. Und zwar findet er dessen Grundlagen in dem
Besprechungen (Scholz — Enckendorff). 199
Erlebnis der Unzerstörbarkeit des Geistes und der Kraft und ferner in sekun-
dären Motiven wie dem Glauben an eine sittliche Weltordnung, an einen Sinn der
Geschichte, dem Gedanken der Vollendung. Scholz schließt damit, daß der Un-
sterblichkeitsglaube in dem Sinne, in dem er philosophisches Problem werden
kann, der auf den Erlebnissen und Spekulationen hochstehender und hochgesinnter
Menschen auf ruhende Glaube an die Ewigkeit des persönlichen Geistes sei.
Das Büchlein ist wertvoll und klärend, selbst wenn man, wie ich selbst, der
Meinung ist, daß der hier vorausgesetzte Begriff der Persönlichkeit oder der In-
dividualität zunächst seinerseits als Problem gefaßt werden müßte. Das schließt
aber nicht aus, daß man innerhalb des gezogenen Rahmens mit Vergnügen den
lichtvollen Erörterungen des Verfassers folgt, die in seiner kürlich erschienenen
wertvollen „Religionsphilosophie" noch bedeutsame Ergänzungen finden.
|Berlin-Halensee. Richard Müller-Freienfels.
Enckendorff, Marie Luise, Ueber das Religiöse. München und Leipzig,
1919. Verlag von Duncker & Humblot. 180 Seiten.
Das Buch handelt, wie schon der Titel vermuten läßt, nicht von den ver-
schiedenen Religionen sondern von der Religion. Das ersteKapitel behandelt
das Wesen der Religion im engeren Sinne. Vf. erblickt es in einer spezifischen
inneren Haltung, die ein Urphänomen ist und daher nicht weiter zergliedert, son-
dern auf die nur hingewiesen und die nur angedeutet oder durch Vergleiche und
Gegenüberstellungen gekennzeichnet werden kann. Die entwickelte Auffassung
stimmt wesentlich überein mit derjenigen Ottos in seinem Buch über „das Heilige" :
in der religiösen Verfassung läßt der Mensch die Erfahrungswelt vollständig
hinter sich und steht einem unbedingt Ueberlegenen und Erhabenen gegenüber
mit Gefühlen im Sinne der eigenen Nichtigkeit, des Grauens und der unbedingten
Unterwerfung und Verehrung. Daneben klingt eine andere Gedankenreihe an, bei
der man an das erste Kapitel in Simmeis hinterlassenem Werk „Lebensanschauung
(vier metaphysische Kapitel)" denken mag: in der religiösen Verfassung bewegt
sich der Mensch ganz und gar in jener spezifischen Welt des Geistes (Erhebungs-
welt), die der Welt der Nützlichkeit (Anpassungswelt) gegenüber, auf die das
animalische Leben beschränkt ist, eine spezifische Eigenschaft des Menschen aus-
macht. Von dieser „echten Religion" ist für unsere Auffassung streng zu unter-
scheiden eine „unechte Religion": bei dieser dringt in die höhere Welt wieder
die niedere Welt mit ihren Nützlichkeitsinteressen ein und sucht das Göttliche in
den Dienst menschlicher Zwecke zu ziehen und wendet überhaupt die Vorstellungen
der Erfahrungswelt auf das Göttliche an. Beide Formen der Religion sind jedoch
nur dem Wesen nach zu scheiden; in der Wirklichkeit des religiösen Lebens
vermengen sie sich unentwirrbar.
Das zweiteKapitel behandelt den tiefen Unterschied zwischen dem reli-
giösen Erlebnis und seinem Niederschlag im Dogma, oder anders ausgedrückt
zwischen dem religiösen Erlebnis und seiner Rationalisierung. Freiheit z. B. als
religiöses Erlebnis (bekanntlich auch als Erlebnis schlechtweg, d. h. auch abge-
sehen vom religiösen Einschlag) ist etwas ganz anderes als das metaphysische
Dogma vom freien Willen. Ebenso ist es mit der Allmacht Gottes: „Macht, All-
mächtigkeit ist Macht über vorhandene Potenzen. Allmächtigkeit ist Allmächtig-
keit über . . . Allmächtigkeit schlechthin ohne jenes „über" . . . hebt sich auf,
kann nicht gedacht werden. Man kann sie ins Absolute nicht transponieren . . .
die absolute Kausalität ist nicht Allmacht. Sie aber wird gefolgert aus dem reli-
giösen Erlebnis Allmacht" (S. 46) ... „es ist kein Gesetz, daß das, was wir sind
und erleben . . . logisch einwandfrei ausgedrückt werden müßte. — Die Schwierig-
keiten der Theodizee fallen hierunter" (S. 48). (Zu den letzten Beispielen ist frei-
lich zu bemerken, daß die Unmöglichkeit einer Theodizee wesentlich auch aus Tat-
beständen herrührt, die die älteren Weltanschauungen im allgemeinen nicht be-
achtet und nicht gewürdigt haben). Alle derartigen theoretisch-metaphysischen
Fragen, sagt Vf. mit Recht (S. 49), sind keine religiösen Fragen : „Sie sind Fragen
des religiösen Menschen, insoweit er nicht religiös ist." Bei den religiösen Erleb-
nissen selbst handelt es sich um unbestreitbare Tatsachen, bei ihren rationalen
200 Besprechungen (Enckendorff).
Objektivierungen dagegen um Lehren mit unauflöslichen Widersprüchen. Ein
tiefer Sinn und Gehalt kommt nur in der ersten Reihe zum Ausdruck, während
die zweite Reihe durchweg Trugprobleme gezeitigt hat. Den neueren psycholo-
gischen Anschauungen gemäß könnte man hier auch von einem Gegensatz sprechen
zwischen Tiefengebilden und ihrem oberflächenhaften rationalen Ueberbau; und
es ist charakteristisch für unsere Zeit, daß das Verständnis für jene Tiefengebilde
selbst zum großen Teil bei uns verschüttet ist.
Das dritte Kapitel handelt vom Christentum: es übt Kritik an den
empirischen christlichen Religionen oder Kirchen und deckt deren Gebrochenheit
auf. Der Gott des Christentums ist weitabgewandt und läßt die sinnlich-irdische
Seite des Lebens in der religiösen Welt nicht zu ihrem Rechte kommen. Das
Christentum hat nicht vermocht, dieses Gebiet des Lebens zu vergöttlichen. Ent-
weder kommt es überhaupt nicht zu seinem Rechte oder es sucht sich selbst sein
Recht in naturalistischer Weise auf Kosten der Religion. Stellenweise hat Vf. er-
greifende Wendungen für diesen Gedanken gefunden. So S. 103. „Es schien er-
reicht, daß der Mensch mit dem Scheitel die Sterne berührte. Allerdings: sowie
er mit Füßen die Erde wieder berühren wollte, reichte er nicht mehr hinauf,
sondern war nur auf der Erde, vom Himmel abgetrennt, wie er dort von der Erde
abgetrennt war. Uns fehlt immer noch der Gott, der uns auf Erden gründet und
im Himmel hält." Im ganzen aber bewegt sich das Kapitel in Wiederholungen,
die teilweise auch stilistisch nicht einwandfrei ausgefallen sind.
Am schwächsten ist wohl das letzte Kapitel geraten. Es handelt vom
religionslosen Leben der Gegenwart, indem es Kritik übt am Utilitarismus und Po-
sitivismus und deren innere Unmöglichkeit aufdecken will. Stellenweise schlägt
die Verfasserin auch hier ergreifende Töne an. „In der menschlichen Art liegt
es, daß er seine gerade menschlichen Fähigkeiten gebrauchen kann zu einer bloßen
Parodie auf das Animalische. Der Mensch kann sich dem Gestrudel seiner Triebe
überlassen und das Sichereignen mit Reflexion begleiten . . . und hat der Mensch
es gar zu einem Maße von Geistigkeit gebracht und kann er sich dennoch nicht
festhalten, ... so übergießt seine Geistigkeit diesen Prozeß mit einem Schimmer,
der ihn zehnfach schauerlich, zehnfach demütigend macht. . . . Die Feinheiten der
Kultur, die die feinsten Schleier zieht, begleiten den Menschen grotesk und scheuß-
lich auf dem Abwärtswege" (S. 120). — „Jene Unterscheidung von den Vielen
und den Wenigen ist das hochmütigste und gedankenloseste Wort. . . . Die massa
perditionis ist in Jedem von uns — die Sinnlosigkeit. . . . Jeder Mensch ist nur
die Möglichkeit zu einem Menschen und die Möglichkeit wird nur in Augenblicken
zur Wirklichkeit. Nach diesen Augenblicken zählt der Mensch" (S. 138). Im ganzen
ermüdet das Kapitel aber durch seine fortgesetzten Wiederholungen, und man
vermißt hier besonders jede Fühlung mit der vorhandenen Literatur. Wer dächte
z. B. bei der eben zuerst angeführten Stelle nicht an die bekannte Unterscheidung
von Kultur und Zivilisation?
Die Form der Darstellung fordert zur Kritik heraus. Der Stil ist
an vielen Stellen nachlässig. Häufig sind Einwortsätze, gleichsam bloße Ueber-
schriften. An vielen Stellen hat der Stil einen halblyrischen Charakter; stellen-
weise fällt er auch in den Ton der Predigt. Die Darstellung bewegt sich oft in
einer Reihe von Wiederholungen eines Gedankens, die äußerlich an musikalische
Variationen erinnern, aber ohne deren Gehalt und Berechtigung zu besitzen. Sie
ist auch gesättigt mit biblischen Reminiszenzen. Dazwischen tauchen lange Aus-
züge aus religionsgeschichtlichen Werken auf. Was den Inhalt anbetrifft, so ist
von einer planmäßigen Entwicklung der Gedanken, einer geordneten Disposition
nirgend die Rede. Erst recht fehlt, wie schon angedeutet, jede Stellungnahme zu
der vorhandenen Literatur. Man möge das Buch einmal mit Ottos Buch über
„das Heilige" vergleichen, das zum Teil denselben Gegenstand behandelt, um den
Unterschied zwischen einer planmäßigen wissenschaftlichen Darstellung und ihrem
Gegenteil voll zu würdigen. Man hat den Eindruck, daß hier eine erste Nieder-
»chrift von aufgetauchten Gedanken (die Verfasserin hat wirklich Gedanken), Ge-
fühlsergüssen und Auszügen vorliegt, die dann unbearbeitet zum Verleger ge-
wandert ist. Wer aber über so viel Tiefe und Innerlichkeit verfügt, wie sie aus
Besprechungen (Enckendorff— Steffes). 201
diesem Buche spricht, bei dem darf man wohl auch die Fähigkeit voraussetzen,
seine Gefühle und Gedanken klar zu gestalten, so wie dies nicht nur jeder Ge-
lehrte, sondern auch jeder echte Künstler vollbringt.
Berlin. Alfred Vier k an dt.
Steffes, J. P., Dr. theol. et phil., Privatdozent an der Universität Münster,
Eduard von Hartmanns Religionsphilosophie des Unbewußten.
Auf der Grundlage seiner induktiven Metaphysik dargestellt und kritisch ge-
würdigt. Ein Beitrag zur Auseinandersetzung zwischen theistischer und monisti-
scher Weltanschauung. Mit Druckerlaubnis des hochwürdigsten Herrn Bischofs von
Rottenburg. Mergentheim. 1921. Karl Ohlingers Verlag. XII und 575 Seiten.
SO Mark.
Das Werk behandelt zunächst dieerkenntnistheoretischenVoraus-
setzungen, dann — weit ausführlicher — die induktive Metaphysik
Hartmanns als Grundlage seiner Religionsphilosophie, endlich diese Religions-
philosophie nach ihrem historischen und systematischen Teil. Der letz-
tere gliedert sich wieder in Religionspsychologie, Religionsmetaphysik und Reli-
gionsethik.
Die Gliederung des gewaltigen Stoffes ist sachlich zutreffend, klar und über-
sichtlich; die Darstellung schlicht, verständlich1) und nüchtern. Schreibt schon
Hartmann im allgemeinen einen trockenen Gelehrtenstil, so kann man sich denken,
daß diese möglichst knappe Wiedergabe seiner Gedanken oft an die Ausdauer des
Lesers hohe Anforderungen stellt.
Obwohl der Verfasser sichtlich bemüht ist, sich möglichst knapp und präg-
nant auszudrücken, hat sein Werk doch recht erheblichen Umfang gewonnen, weil
er mit einem wahrhaft rührenden Eifer aus dem außerordentlich reichen Schrift-
tum Hartmanns das Einschlägige zusammengetragen hat, und weil er Schritt für
Schritt auf die Darstellung immer die Kritik folgen läßt.
So steckt unendlich viel Gelehrtenfleiß in dem Werke. Dazu bekennt der
Verfasser in der Vorrede, er habe die Drucklegung „unter Einsatz schwerster
persönlicher Opfer" durchgeführt.
Mir drängt sich angesichts des Werkes die Frage auf: sind wirklich alle
diese Opfer an Mühe, Zeit und Geld ausreichend begründet? Ist wirklich Hart-
manns Religionsmetaphysik ihrem Gehalt nach oder durch ihre Wirkungen so be-
deutend, daß es sich für einen Vertreter der katholischen Weltanschauung der
Mühe lohnte, sich heute noch so ausführlich mit ihm abzugeben, nachdem sich
schon — abgesehen von anderen — Hermann Schell eingehend mit ihm ausein-
ander gesetzt hatte!
Wollte man aber schon eine Erneuerung dieser (freilich sehr einseitigen)
Diskussion, so hätte doch wohl bei dem systematischen Charakter von Hartmanns
Denken eine Darstellung und kritische Zerstörung der erkenntnistheoretischen und
metaphysischen Fundamente des ganzen Baues seiner Religionsphilosophie genügt,
um das Gebäude zum Einsturz zu bringen. Daß wir durch alle Stockwerke und
Zimmer ausnahmslos hindurchgeführt werden und daß uns immer wieder gesagt
wird, was darin sich befindet und was daran sich aussetzen läßt, das erscheint
wirklich entbehrlich.
Aber vielleicht erklärt sich das übergroße Interesse der Vertreter der neu-
scholastischen Philosophie für Hartmann durch das Gefühl der -— trotz aller Ver-
schiedenheit — bestehenden nahen Verwandtschaft.
Daß Steffes Hartmanns erkenntnistheoretischem Standpunkt die Bezeichnung
des „kritischen Realismus" verweigert, scheint mir sachlich nicht ausreichend be-
gründet. Denn wenn auch Hartmann seinen Standpunkt selbst als „transzendentalen"
Realismus bezeichnet, so scheint mir doch dafür auch der Name des kritischen
Realismus gleich gut zu passen2).
1) Nur bisweilen wird durch das Streben nach Kürze die Verständlichkeit
etwas gefährdet.
2) Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die vortreffliche Monographie
von Martin Schmidt, „Die Behandlung des erkenntnistheoretischen Idealismus
202 Besprechungen (Steffes — Fichte).
Wenn ich nun aber auch diesem kritischen oder transzendentalen Realismus
grundsätzlich zustimme1), so vermag ich doch nicht die Zuversicht zu teilen, mit
der Ed. v. Hartmann nicht minder wie sein Kritiker Steffes die metaphysischen
Probleme, insbesondere die Fragen nach dem Dasein und dem Wesen Gottes und
seinem Verhältnis zu der Welt, mit Bestimmtheit zu entscheiden in Anspruch
nehmen. Steffes kommt dabei freilich zu ganz anderen Ergebnissen als Hartmann ;
seine Polemik ist immer sachlich, aber er hat insofern leichtes Spiel, als sein
Gegner tot ist. Lebte er noch, so würde der scharfsinnige und gewandte Dialek-
tiker wohl seinem Kritiker nicht die Wahlstatt überlassen.
Wir haben hier jenen „Kampfplatz" vor uns, von dem Kant witzig bemerkt,
daß daselbst „jeder Teil die Oberhand behält, der die Erlaubnis hat, den Angriff
zu tun und derjenige gewiß unterliegt, der bloß verteidigungsweise zu verfahren
genötigt ist. Daher auch richtige Ritter, sie mögen sich für die gute oder schlimme
Sache verbürgen, sicher sind, den Siegerkranz davon zu tragen, wenn sie nur da-
für sorgen, daß sie den letzten Angriff zu tun das Vorrecht haben und nicht ver-
bunden sind, einen neuen Anfall des Gegners auszuhalten" (Kritik d. r. V.
Reclam 351).
Wenn wir so mit Kant gegenüber jenen endlosen metaphysischen Streitig-
keiten kritische Zurückhaltung uns auferlegen, so können wir freilich uns auch
Kants Lösung, den Vernunftglauben in Gestalt der „Postulate", nicht zu eigen
machen. Aber wir müssen diese Lehre Kants doch in Schutz nehmen gegenüber
der Verkennung, die ihr bei Steffes begegnet. Dieser schreibt (S. 4): „Religion
und Wissenschaft können nach kantischer Auffassung in schärfster Form kon-
trastieren. Von der Religion darf indes nie die Wahrheitsfrage abgetrennt, nie
ihr Anspruch auf absolute Geltung mit bloßer Probabilität unterbaut werden."
Es ist unverständlich, wie Steffes diese Behauptung aufstellen kann, da er
doch gerade vorher (S. 3) zutreffend bemerkt hat, daß Kant „die sichere wissen-
schaftliche Erkenntnis auf das Gebiet der Erfahrung eingeengt und damit einer
transzendenten Metaphysik den Boden entzogen habe." Eben dadurch, daß er das
metaphysische Schein-„Wissen" „aufhob", hat er doch „für den Glauben Platz
bekommen" und dafür gesorgt, daß Wissen und Glauben nicht „kontrastieren"
können. Solchen Widerstreit zu verhüten, dient endlich noch die Lehre vom Primat
der praktischen Vernunft (Kr. d. pr. V. Reclam 146).
Indem aber Kant seine Glaubenssätze als „Postulate" bezeichnet, hat er
nicht den Anspruch auf Wahrheit und absolute Geltung für sie aufgegeben, nicht
sich mit „bloßer Probabilität" begnügt. Er definiert seinen Begriff des „Postulats
der reinen praktischen Vernunft" als „einen theoretischen, als solchen aber nicht
erweislichen Satz, sofern er einem a priori unbedingt geltenden praktischen Ge-
setze unzertrennlich anhängt" (Kr. d. r. V. S. 14). Als theoretische Sätze wollen
die Postulate natürlich gültig, d. h. wahr sein, und sofern sie a priori geltenden
Gesetzen „unzertrennlich" anhangen, kommt ihnen nach Kant deren absolute
Geltung und nicht bloß „Probabilität" zu.
Gießen. August Messer.
III. Rechtsphilosophie und Staatsphilosophie.
Fichte, Jon. Gottl., Rechtslehre. Vorgetragen von Ostern bis Mi-
chaelis 1812. Nach der Handschrift herausgegeben von Hans Schulz. Verlag
von Felix Meiner in Leipzig. 1920. VI, 176 S. Geh. 8 Mk., geb. 12 Mk.
Die Rechtslehre 1812 ist für die Entwicklung der Fichteschen Gedanken-
welt besonders wichtig (vergl. Medicus, Zeitschr. f. Völkerrecht Bd. 11). Sie war
bisher nur im Erstdruck im zweiten Band der Nachlaßschriften (1834) zugäng-
lich. Dort hat J. H. Fichte eine Textbearbeitung auf Grund der Kolleghand-
bei Ed. v. Hartmann" (Berlin 1918. Ergänzungsheft der Kantstudien Nr. 43). Sie
ist leider, wie es scheint, Steffes unbekannt geblieben.
1) Vgl. meine „Einführung in die Erkenntnistheorie". 2. Aufl. Leipzig
1921. Meiner.
Besprechungen (Fichte— Bendix). 203
schrift seines Vaters veröffentlicht. Die Neuausgabe von Schulz geht auf die
im Berliner Nachlaß befindliche Originalhandschrift zurück, die alles andere,
als einen druckreifen Text bietet. J. G. Fichte hat nach seiner Gewohnheit bei
der Vorbereitung für das Kolleg Stichworte, Satzfragmente und Hinweise auf
sein gedrucktes „Naturrecht" notiert. Aus diesen fragmentarischen Aufzeich-
nungen schuf der Sohn seine Textbearbeitung. Schulz hat sie abgedruckt, um
eine fortlaufende Lektüre zu ermöglichen, dabei aber durch ein genaues Zeichen-
system den Urtext der Handschrift kenntlich gemacht, sodaß der Leser jeder-
zeit in der Lage ist, die zuweilen eine Interpretation bedeutende stilistische
Bearbeitung des Sohnes am Urtexte nachzuprüfen. Ungenaue Lesungen des
Sohnes, unleserliche Worte, die genaue ursprüngliche Einteilung der Hand-
schrift und solche Stellen der Bearbeitung von J. H. F., die auf dem gedruckten
Naturrecht beruhen, hat Schulz in einem sorgfältigen Variantenapparat kennt-
lich gemacht. Die Neuausgabe zeigt die große Dringlichkeit und Schwierigkeit
einer Revision aller von J. H. F. edierten Schriften und ist eine wichtige Vor-
arbeit für eine Gesamtausgabe. — Das Register ist hinsichtlich der philo-
sophischen Fachausdrücke etwas lückenhaft.
Merseburg a. S. Siegfried Berger.
Dokumente der Menschlichkeit, Band 1: Joh. G. Fichte, Die Re-
publik der Deutschen. Band 2: Thomas Morus, Utopia. Band 3: Jo-
nathan Swift, Attacken. Band 4: Jean Paul, Friedenspredigt. Band 5:
J. J. Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag. Band 6: Thomas Campa-
nella, Der Sonnenstaat. Band 7: Imm. Kant, Zum ewigen Frieden.
Band 8: Joh. G. Fichte, Neue Welt. Band 9: W. v. Humboldt, Die
Grenzen des Staates. Band 10: Louis Blanc, Organisation der Ar-
beit. München, Wien, Zürich. 1919. Dreiländerverlag.
Die Sammlung bietet eine geschickt ausgewählte Zusammenstellung von
kurzen Auszügen aus Schriften, die für das geschichtliche und philosophische
Verständnis moderner sozialistischer Ideen von Bedeutung sind. Es ist ja durch-
aus notwendig, gerade die philosophischen Grundlagen des Sozialismus kritisch
zu prüfen und die mancherlei Fäden bloßzulegen, die von der Philosophie aus
zu sozialistischen Lehren geführt haben. Die Herausgeber der vorliegenden
Bändchen haben ihre Auswahl großenteils recht sachkundig getroffen. Sie lassen
mit Recht die Autoren selbst zu Wort kommen und geben nur jeweils in einem
kurzen Nachwort einige, meist sachliche Bemerkungen, in denen sich nur ge-
legentlich ihre eigene sozialistische Tendenz verrät. Fichte wird als glühender
„Revolutionär", als „Führer des Sozialismus" gepriesen, eine Auffassung, die bei
schärferer philosophischer Bestimmung von Fichtes Lehren 'doch nicht stand-
hält. Aus Kant sind in Bd. 7 nicht nur Stücke aus dem Traktat zum ewigen
Frieden abgedruckt, sondern auch Abschnitte ethischen Inhalts aus anderen
Schriften (so die berühmte Apostrophe an die Pflicht und der Schlußabschnitt
aus der Kr. d. pr. V.). Von W. von Humboldts „Ideen zu einem Versuch, die
Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen", werden in Band 9 die drei
ersten Kapitel gegeben. Man sieht aus der ganzen Reihe der ausgewählten
Schriftsteller jedenfalls, daß die Sammlung erfreulicherweise nicht eng im
Rahmen sozialistischer Theorie gehalten ist. Die dünnen Bändchen sind zur
einführenden Orientierung über Staats- und sozialphilosophische Ansichten durch-
aus brauchbar.
Greifs wald. Privatdozent Dr. Willy Moog.
Bendix, Ludwig, Dr. jur., Die Neuordnung des Strafverfahrens.
Berlin und Leipzig. 1921. Verlag von Dr. Walter Rotschild. 400 Seiten.
Unter obigem Titel mit dem Untertitel: „Gegenvorschläge zu den drei
Regierungsvorlagen von 1920" hat Dr. Bendix ein Buch erscheinen lassen, für
das eine rechtsphilosophische Besprechung durchaus erforderlich erscheint. Denn
es sind philosophische Grundsätze, auf die der Verfasser seine Kritik gründet
und seine Gegenvorschläge aufbaut.
204 Besprechungen (Bendix).
In einer kurzen einleitenden Erörterung über „die erkenntnistheoretischen
Grundlagen der Rechtsfindung und die Strafprozeßreform4' werden die Voraus-
setzungen angedeutet, deren anschauliche Erfüllung die Einzelbehandlung der
GeselzesvorBchläge ergibt. Die naiv-realistische Voraussetzung des rechtlichen
Erkenntnisvorganges wird einer scharfen und überzeugenden Kritik unterworfen.
Es gibt keine eindeutigen Tatsachen. Das Ding — auch als rechtlicher Tat-
bestand — ist in seinem An-Sich unerfaßbar, es ist eine Aufgabe der Rechts-
findung, die gemeinsam von den Parteien zu lösen ist, aber keine Wirklichkeit,
die abgesehen von dem Rechtsverfahren Bestand hätte.
Dieser Gedanke, der zunächst ganz neukantisch klingt, ist von prinzipieller
Bedeutsamkeit, gerade weil er über die neukantische Stellung hinausführt. Mag
es in der Sphäre des Theoretischen angängig sein, das An-Sich in die Unend-
lichkeit der Erkenntnisaufgabe aufzulösen, in der Sphäre des kulturellen Lebens
ist das jedenfalls nicht möglich; denn hier handelt es sich darum, Lebenswirk-
lichkeiten zu schaffen, die ihrem Sinne nach abgeschlossen sind. Eine rechts-
gültige strafrichterliche Entscheidung schafft für den Betroffenen und für die
Gesellschaft eine Realität, für die der Gedanke unendlicher Annäherung an eine
ideale Richtigkeit völlig bedeutungslos ist. Ein solcher Gedanke würde höch-
stens zum Stachel werden, der zu immer neuen Verfahren, zum Zweck größerer
Annäherung an das Ideal treiben und eine gesellschaftliche und psychische Be-
ruhigung, einen Rechtsfrieden, nie eintreten lassen würde, d. h. aber, der voraus-
gesetzte Gedanke der unendlichen Annäherung wäre genau so lebensunmöglich,
wie der naive Realismus denkunmöglich ist.
Die Relativität jeder richterlichen Entscheidung kann also nicht dieses
bedeuten, daß die Entscheidung einer idealen Richtigkeit gegenüber unvoll-
kommen, mehr oder minder angenähert ist, sondern sie muß etwas völlig an-
deres, durchaus Positives besagen. Relativität ist kein quantitativer, sondern
ein qualitativer Begriff. Die Rechtsentscheidung ist eine freie Schöpfung des
Richters, und ihre Gültigkeit beruht auf der Leben schaffenden Kraft, mit der
sie in überzeugender Weise den Rechtsunfrieden in Rechtsfrieden verwandelt.
Daß sie diese Kraft nur haben kann, weil in die irrational-konkrete Lebendig-
keit des einzelnen Falles zugleich die rational-abstrakte Geltung des allgemeinen
Rechtsbewußtseins, wie es in dem Gesetz niedergelegt ist, eingegangen ist, ist
selbstverständlich und unterscheidet Schöpfung von Willkür. Aber eben das ist
das Entscheidende, daß diese rational-abstrakten Elemente nicht selbständig sind
und aus einer unantastbaren Lebensjen seitigkeit das Leben vergewaltigen. Darin
unterscheidet sich Schöpfung von Mechanismus.
Die Kürze der erkenntnistheoretischen Grundlegung hindert im Buche ein
näheres Eingehen auf diese Probleme. Daß aber die hier gegebene Deutung
dem Sinne des Verfassers gemäß ist, dafür spricht seine Einführung des Stand-
punktbegriffs und sein Hinweis auf die Art, wie der Verfasser dieser Zeilen
diesen Begriff in dem Vortrag Nr. 24 der Kantgesellschaft über „die Idee einer
Theologie der Kultur" eingeführt hat. In der Theologie, sofern sie als norma-
tive Religionsphilosophie betrachtet wird, wie überhaupt in jeder normativen
Kulturwissenschaft liegen die Dinge ganz analog. Die Normierung ist weder
Willkür noch Deduktion. Sie ist eine eigentümliche Einheit von rationalen
Denk- und irrationalen Lebenselementen, die wir „Schöpfung" nennen, weil sie
das Seinshafte, das in sich Wahre und Ueberzeugende des Lebendigen hat. Die
Bendixsche Auffassung der Rechtsfindung führt also über die Erkenntnistheorie
hinaus zu einem höchst bedeutsamen Begriff der Kulturphilosophie.
Die Strafprozeßreform selbst wird von Bendix in den umfassenden Rahmen
staatspolitischer Gedankengänge hineingestellt. Von philosophischem Interesse
ist dabei, wie er die „obrigkeitliche", staatsautoritative Auffassung in direkten
Zusammenhang bringt mit der abstrakt-rationalistischen Deutung der Rechts-
tatsachen, und umgekehrt die volksstaatliche Auffassung mit dem lebendig
schöpferischen Sinn der Rechtsfindung. Zu beanstanden ist nur, wenn die erste
Richtung als „Mittelalter" bezeichnet wird. Es entspricht das ja der allge-
meinen, noch immer herrschenden Auffassung des Mittelalters. Wer aber mit
Bendix im besten Sinne des Mittelalters die Uebernahme der wichtigsten Rechts-
Besprechungen (Bendix — Brinkmann). 205
funktionen durch Verbände und Kommunen verlangt, darf das aufklärerische
Scheltwort nicht mitsprechen. Was er bekämpft, ist ja nicht Mittelalter, son-
dern der aus der Auflösung des Mittelalters sich entwickelnde abstrakte Ab-
solutismus von Kirche, Staat, Kabinett, Beamtentum, Militär usw., die Zeit der
Abstraktion, Zentralisation und Mechanisierung, die unmittelbar in die rationale
Aufklärung überging und erst durch die Entstehung der liberalen Idee — in-
folge Scheiterns des Staatsabsolutismus in der englischen ^Revolution — einge-
schränkt wurde. Es wäre wünschenswert, daß auch die strafprozeßlichen Pro-
bleme einmal in den Zusammenhang dieser geschichtsphilosophischen Betrachtung
gestellt würden; es würden dann viele Forderungen der Gegenwart in positi-
verem Verhältnis zur Vergangenheit erscheinen, als es jetzt vielfach der Fall
ist. Und das ist überzeugender als die bloße Antithese.
Auf die Einzelforderungen, in denen die Konsequenzen der philosophischen
Grundstellung gezogen werden, können wir nicht eingehen. Nicht Forderungen
an sich, wie Wählbarkeit der Eichter, Gleichstellung von Berufs- und Laien-
richtern (rationales und irrationales Element), radikale Durchführung der Auf-
fassung des Strafprozesses als Parteiprozeß, Beschränkung der staatsanwalt-
lichen Kechte, wenn möglich ihr Wegfall überhaupt, Erweiterung der Privat-
klage, Beteiligung der Laienrichter bei der Eechtsrügeinstanz usw., nicht diese
z. T. ganz neuen, z. T. auch sonst erhobenen Forderungen machen in erster
Linie die Bedeutsamkeit des Buches aus, sondern der strenge Zusammenhang,
in dem sie mit dem philosophischen Grundproblem stehen; und es wäre ein
vorläufiger großer Erfolg, wenn die Gegner der Forderungen sich überhaupt ein-
mal in die Arena der grundsätzlichen philosophischen Debatte dieser Probleme
begeben würden.
Berlin. Privatdozent Dr. P. Till ich.
Brinkmann, Carl, Dr., Professor an der Universität Berlin, Versuch
einer Gesellschaftswissenschaft. München und Leipzig. 1919. Verlag von
Duncker & Humblot. 138 S.
Die Studie, die durch eine ausgesprochene stilistische Eleganz gekenn-
zeichnet ist, behandelt auf einem bestimmten Arbeitsgebiet das, was man philo-
sophisch das Problem des Konkreten nennt. Ausschließlich mit den philoso-
phischen Grundlagen der vorliegenden Schrift haben wir im folgenden zu tun.
Brinkmann sucht den Weg zu dem konkreten Gebilde, das zwischen Indi-
viduum und Staat liegt, historisch formuliert: den Weg zwischen deutscher und
westeuropäischer Soziologie. Das „gesellschaftliche Kontinuum", heute „bei uns
fast zum subjektivsten aller wissenschaftlichen Arbeitsbegriffe geworden", soll
zur Bestimmtheit gebracht werden. Hier wären nun zwei verschiedene Wege
möglich. Es kann der Begriff der Gesellschaft erörtert und systematisch ab-
gegrenzt, oder der Inhalt des Individuum und Staat vermittelnden „Zwischen-
gebiets" geordnet angegeben werden. Brinkmann zieht es mehr zur inhaltlichen
Beschreibung als philosophischen Ergründung. Seine Handhabung der Beispiele
erinnert manchmal an Simmel, für den Brinkmann gegen den der Tendenz nach
zu „philosophischen" Othmar Spann Partei nimmt.
Die Soziologie steht nach Brinkmann zwischen der Philosophie und der
besonderen Erfahrung. Sie liefert also, kantisch zu reden, das Schema für
die Anwendung der Philosophie auf die gesellschaftliche Erfahrung. Brinkmann
deutet die Probleme nur mehr an, als daß er sie löste, das Ergebnis seines Buches
liegt weniger in einem Satz, als in der Art, wie sein Neues zwischen den
Extremen gesucht wird. Es ist daher schwer, von den Prinzipien dieses Buches
zu reden ; das Prinzip ist gleichsam ein persönliches. Die Auffassung des Autors
ist mehr aus Negationen und Verwahrungen zu erraten, als daß sie in be-
stimmten Begriffen dargeboten würde. Der Grundeinstellung nach neigt der
Verfasser offenbar stärker als er zugeben will der westeuropäischen Behandlung
der Soziologie zu. Es kommt ihm vor allem auf die Abgrenzung des soziologi-
schen Arbeitsgebietes von der Kechts- und Geschichtsphilosophie, kurz, dem,
was man Kulturwissenschaft nennt, an. Daher wendet er sich gegen die deut-
206 Besprechungen (Brinkmann).
sehe Anschauung von der Bedeutung des gewöhnlich sogenannten Kulturellen und
Geistigen in der Gesollschaft, und drückt seine Vermittlungsabsicht auch so
aus: „Der meinetwegen reichlich flache Zivilisationsbegriff der Engländer und
Franzosen ist wenigstens ein Anfang wissenschaftlicher Erkenntnis, wenn auch
in der Kegel ohne Ende, der „deutsche" Kulturbegriff ist nur ein Ende, sei es
das Ende überwissenschaftlicher Gewißheit, aber ohne den Anfang, der wissen-
schaftlich nicht mehr entbehrt werden kann" (55). In dieser Aufnahme des west-
europäischen Zivilisationsbegriffes als eines Mittels soziologischer Erkenntnis
liegt ein glücklicher Gedanke. Es wäre sehr zu begrüßen, wenn wir aus der
Alternative „Zivilisation" und „Kultur" oder „Gesellschaft" und „Staat" einmal
heraus kämen und durch Isolierung der in diesen Begriffen enthaltenen Ge-
dankenmotive zu Methodenbegriffen gelangten, die dem Konkreten näherzu-
rücken gestatteten. — Was Brinkmann positiv versucht, einen „Aufbau der Ge-
sellschaft aus ihren physiologischen Fundamenten und ihrem rechtlich-sitt-
lichen Ueberbau" ist der Tendenz nach mit dem ausgleichenden Verfahren
Kjellens verwandt. Wie dieser zwischen „Leben" und „Recht" so will Brink-
mann zwischen „naturhafter Bindung" und „sittlicher Norragebung" vermitteln
und zeigen, daß jene ihre Gesetze höher herauf, diese ihre Ansprüche tiefer
hinunter in die sozialen Bildungen erstreckt „als die bequeme Dämmerung einer
anscheinenden Gesetzlosigkeit gewöhnlich annehmen läßt" (79). In Physis und
Nomos „die ehernen Züge menschlicher Gleichheit zu bewahren" ist die Auf-
gabe der Gesellschaft. Diese ist, kurz gesagt, ein „Gebilde von Macht und
Recht." Die Frage, wodurch sich dieses Gebilde von dem gewiß ebenso zu
definierenden Staate unterscheidet, hat Brinkmann nicht eigens beantwortet.
Es gälte die eigentümliche nebenstaatliche Macht, deren Träger die Gesellschaft
ist, näher zu bestimmen. Daß die „staatsgegnerische oder mindestens staats-
freiere Soziologie der westeuropäischen Aufklärung ein kräftiges Eigenleben der
Gesellschaftswissenschaft begründet hat" ist, wie Brinkmann bemerkt, nicht zum
wenigsten dem tieferen Verständnis Westeuropas für diejenigen Mächte, die
neben dem Staate sich entfalten, zu verdanken.
Dem Gegensatz von Macht und Recht liegt schließlich der allgemein philo-
sophische des Seins und desSollens zugrunde. Die westeuropäische Soziologie
ist allzu „monistisch" ausschließlich vom Sein, wie die deutsche zu gern aus-
schließlich vom Sollen ausgegangen. Indem er zwischen diesen beiden Rich-
tungen zu vermitteln sucht, folgt Brinkmann dem Zuge der deutschen Philo-
sophie der Gegenwart, deren Erkenntnisziel das Konkrete bildet, und ist somit
deutscher als er glaubt. Die Eigenart seiner Position wird aus den Sätzen
deutlich, die ich nicht anders als wörtlich anführen kann, weil sie nach Form
und Inhalt den Versuch ausgezeichnet charakterisieren. „Während sich der
englische Positivismus umsonst damit schmeichelte, das Sollen durch irgendeine
geheimnisvolle Gesellschaftsentwicklung aus dem Sein hervorgehen zu lassen,
mühte sich der nachkantische Idealismus ebenso vergeblich darum, den Wider-
streit beider in einer nicht minder geheimnisvollen Idealität aufzuheben. In
der ersten Anschauung spiegelte sich gleichsam die Zufriedenheit bürgerlicher
Herrscherklassen mit einer von der Wirtschaftstatsache geleiteten Sozialordnung,
in der zweiten die des alten Obrigkeitsstaats mit der Unterwerfung des Gesell-
schaftsdaseins unter seinen Machtwillen. Keine von beiden wird die schlichte
Beobachtung und das grundsätzliche Denken auf die Dauer befriedigen können.
Wohl gibt die Erkenntnis der Rechtsnorm in ihrer mit jedem sozialen Ge-
schehen unmittelbar mitgesetzten Allgegenwart und Unausweichlichkeit dem
soziologischen Objekt in Wahrheit erst jene Einheitlichkeit, letzte Verständlich-
keit und optimistische Gewähr, auf die sowohl der positivistische Fortschritts-
gedanke wie die idealistische Entfaltungstheorie hinzielen. Aber das liegt
weder, wie der eine will, an der stetigen Normwerdung des Seins, noch, wie
der andere meint, an der systematischen Inkarnation der Norm. Es handelt
sich vielmehr dabei ganz einfach um einen labilen Gleichgewichtszustand ohne
a priori bestimmbare Richtungen und Durchschnittswerte, deren Eigenstes ge-
rade verfehlt wird, wenn man diese Bestimmung ausschließlich von einer seiner
beiden Kräftegruppen aus vorzunehmen sucht" (97 f.). — Die Lösung des hier
Besprechungen (Brinkmann — Brodmann). 207
aufgerollten Problems des Konkreten in einem „labilen Gleichgewichtszustand
ohne a priori bestimmbare Eichtungen und Durchschnittswerte" zu suchen, darf
wohl durch Simmeis Art zu philosophieren bestimmt angesehen werden. Die
Konstatierung eines labilen Gleichgewichtszustandes zwischen Sein und Norm
bietet uns statt eines Begriffes ein Bild. Ueber dieser bildlichen Fixierung
des Verhältnisses und einer Bestimmung „ausschließlich von einer der beiden
Kräftegruppen aus" liegt erst die eigentliche Aufgabe, die in der begrifflichen
Definition des Verhältnisses von Macht und Eecht in der gesellschaftlichen
Wirklichkeit (wenn man die Gesellschaft schon einmal durch Macht und Eecht
bestimmen will) liegt. So sehr der „Wirklichkeitssinn" zu schätzen ist, der aus
Brinkmanns Studie spricht, so sehr muß doch vor der Unter Schätzung des be-
grifflichen Moments gewarnt werden. Wenn der Begriff in einer wirklichkeits-
fremden „angeblich idealistischen Kultur -Soziologie" inhaltlich als sozialer
„Geist" und dergl. eine zu große Bolle spielt, so folgt daraus noch nicht, daß
er zur systematischen Verarbeitung wirklichkeitsnäherer Grundkonzeptionen ent-
behrlich ist. Mit bloßem Wirklichkeitssinn ist die Gesellschaftswissenschaft
nicht zu begründen. Es gibt keine Systematik ohne Begriffe. Das weiß auch
Brinkmann selber, da er geneigt ist, die Soziologie systematisch sehr hoch,
noch über die Geschichtsphilosophie zu stellen. „Wenn sich der moderne Ee-
lativismus abgewöhnt haben wird, auf prinzipielle soziale Fragen geschichtliche
Antworten zu geben, wird vielleicht einmal umgekehrt die große Frage des
,Sinns', der letzten Erklärbarkeit der Geschichte ihre Beantwortung in der
Lehre von der Gesellschaft erfahren" (106). So wertvoll das Drängen des Ver-
fassers auf eine konkrete Wissenschaft von der Gesellschaft ist, so beweist
doch die soeben angeführte Stelle, daß er der Erkenntnis nicht genugtut, daß
die Gesellschaftswissenschaft immer nur einen durch systematische Voraus-
setzung abgegrenzten Ausschnitt aus dem umfassenden Leben darbietet, das
wir geschichtlich nennen, und daß die Soziologie daher niemals der Geschichte
ihre Ziele nennen kann.
Die anregungsreiche Studie Brinkmanns stellt sich mitten in den Kampf
um die Herausarbeitung derjenigen Wirklichkeiten, welche die rein naturwissen-
schaftlich oder allzu „idealistisch" orientierte Philosophie bisher vernachlässigt
hat. Ich führe nur noch den treffenden Satz an, mit welchem Brinkmann gegen
die herkömmliche Art, gesellschaftlich-konkrete Dinge „von oben" zu behandeln
nachdrücklich Protest erhebt. „Eben weil man für das Verständnis der höchsten
gesellschaftlichen Bildungen noch weniger Vorkenntnis oder sogar noch mehr
„Vorurteilslosigkeit" nötig zu haben meint, als für das Leben in der kleinsten
seiner Zellen, wagt man es jeden Augenblick, Volkscharaktere zu beurteilen
oder Massenstimmungen zu schätzen nach Anhalten, wonach Hinz und Kunz zu
behandeln schon die bürgerliche oder strafrechtliche Verantwortung ver-
böte" (31).
Nürnberg. Dr. Alfred Baeumler.
Brodmann, E., Eecht und Gewalt. Berlin und Leipzig. 1921. Vereini-
gung wissenschaftlicher Verleger, Berlin. 114 S. 20 Mark.
Verfasser — ein hochgestellter Eichter — gehört zu den Praktikern, die
das Eecht nicht nur in den Paragraphen der Satzungen suchen oder ängstlich
der Uebung nachspüren. Der Wert der vorliegenden Arbeit liegt u. E. in der
treffenden Kritik von Gumplowicz' und Somlos verkehrtem Staatsbegriff sowie
darin, daß sich Verf. zum Eecht aus der „Natur der Sache" bekennt. Leider
verbietet der Eaum, auf Einzelheiten einzugehen. Sonst würde über den u. E.
nicht gelungenen Versuch des Verf., zu einer kritisch geläuterten Imperativen-
lehre zu gelangen, sowie über das von ihm keineswegs geklärte Verhältnis von
„Macht" und „Gewalt" (erstere stehe auch der Sitte zu Gebote, letztere sei als
direkter Zwang dem Eechto wesentlich), manches zu sagen sein.
Verf. erkennt an, daß das Eecht eine Gewaltanwendung im Dienste der
Vernunft bedeute. Aber worin besteht die Eechts Vernunft — wenn sie nach
dem Zeugnis des Verf. zwar das Widersittliche regelmäßig ausschlioßt, ohne
208 Besprechungen (Brodmann — Holldack).
jedoch positiv mit dem Sittlichen notwendigerweise zusammenzufallen? Eigen-
artig berührt es, daß der Verf. (dessen Ausführungen über den „Gesamtwillen"
ins Soziologisch -Metaphysische führen)1) eine eigentliche Eechtsphilosophie
nicht gelten lassen will (vergl. z.B. S.85ff.), weil ein einheitliches Kriterium
der Kechtsbewertung nach seiner Ansicht nicht ausfindig gemacht werden
könne. Dennoch stellt er S. 86 das Prinzip auf, „daß Zwang nur insoweit herr-
schen soll, als es nach den gegebenen Verhältnissen unbedingt erforderlich er-
scheint." Eichtig. Nur darf dieses Prinzip nicht in dem Sinne mißverstanden
werden, als ob die äußere Freiheit Selbstzweck sei. Also ist dieses Prinzip
nur negativ. Wenn Verf. aber jedes positive Prinzip richtiger Politik (S. 86)
leugnet („alles weitere ist empirisch und Aufgabe der Politik" sie!), so verliert
jenes von ihm anerkannte negative Prinzip jeden Wert. Es bleibt inhaltlich
ohne jede Erfüllung. Welches ist das entscheidende teleologische Kriterium
dafür, daß „Zwang unter den gegebenen Verhältnissen unbedingt erforderlich
erscheint"?
Berlin. Dr. Alfred Pagel.
Holldack, F., Dr., ord. Prof. an der Techn. Hochschule Dresden, Grenzen
der Erkenntnis ausländischen Eechts. Leipzig 1919, Verlag von Felix
Meiner. 292 S. Preis brosch. 66 Mark.
Das vorliegende Buch bedeutet eine tiefgreifende und wahrhaft gründliche,
weit über das im Titel des Buches angegebene Thema hinaus förderliche Arbeit,
die alle Schwierigkeiten der Erkenntnis geltenden Eechts auf Grund reichen
Wissens und mit ungemeinem kritischen Scharfblick bloßlegt — ohne darum zu
einem unfruchtbaren Skeptizismus zu gelangen.
Wie wir die Gesetze der eigenen Sprache oft erst durch das Studium
fremder Sprachen verstehen lernen, so gilt dies mutatis mutandis auch auf dem
Gebiete des Eechts. Dies wird durch H.s Untersuchungen zur Gewißheit er-
hoben. Sie nehmen ihren Ausgangspunkt von einer speziellen Interpretations-
frage und ihrer Geschichte (Seefahrt — § 16 BGB., Seereise — § 2251 BGB.).
— Verf. konstatiert eine interessante Parallelentwicklung im französischen
Eecht. Sie betrifft den terminus „navir" oder „bäteau de mer". Dieser in seinen
rechtspraktischen Folgerungen sehr bedeutsame terminus hat in der französi-
schen und in der belgischen Eechtsinterpretation und -praxis einen ganz ver-
schiedenen Sinn angenommen, obwohl das diesbezügliche Gesetz in beiden Staaten
den gleichen Wortlaut hat. Die Zuweisung eines Schiffes zu den Meerfahrzeugen,
von der die Anwendung des Seehandelsrechts ahhängt, geschieht in dem einen
Lande nach konstruktiven Merkmalen, d. h. nach der baulichen Eignung des
Schiffes für die Meerfahrt, in dem anderen nach wirtschaftlichen Merkmalen,
d. h. nach der Absicht des Besitzers, das Schiff zur Meerfahrt zu benutzen (in
einigen Urteilen auch nach der Ausfertigung einer rechtlichen Urkunde durch
den Besitzer). Sogar Urteilsbegründungen gleichen Wortlauts führen in beiden
Ländern zu ganz verschiedenen Konsequenzen, indem mit dem einzelnen terminus
ein ganz verschiedener Sinn verbunden wird.
Diese höchst interessante Erscheinung veranlaßt nun den Verfasser zu
folgender theoretischer Untersuchung. Er geht von der Norm aus und stellt
ihr den Sachverhalt der Eechtswirklichkeit gegenüber. Die wechselweise Ee-
lation von Norm und Eechtswirklichkeit wird so erstmals einer exakt wissen-
schaftlichen Aufklärung entgegengeführt. Und es ergibt sich, daß die Kon-
kretisierung des kodifizierten Eechts keineswegs nur von dem ursprünglich ge-
meinten, d. h. zu einer einzelnen Zeit den Inhalt einer Vorschrift bildenden, mit
den Worten des Gesetzes zu verbindenden Sinne abhängig ist, sondern noch von
1) Ueber den vom Verf. S. 103 betonten „Blankettwillen" vgl. u. a. meine
Beiträge zur philosophischen Eechtslehre, Berlin, Tetzlaff. 1914, S. 66, 70. Hier
wird neu aufzubauen sein. — Vgl. übrigens wegen der Schwierigkeiten der
Imperativenlehre daselbst S. 72 ff.; hierzu freilich Max Wenzel, Juristische Grund-
probleme I: Der Begriff des Gesetzes usw., S. 86 Anm. 1— S. 88.
Besprechungen (Holldack). 209
einem anderen Faktor emotionaler Art, den Verf. als „Eechtswirklichkeit" be-
zeichnet. Alle Kechtswirklichkeit ist, als kulturbedeutsames, historisches Ge-
schehen (wie Verf. auf Eickerts Forschungen weiterbauend lehrt), „einmalig",
ein Akt volksschöpferischer, aus ursprünglich dunklem, keineswegs in der Denk-
tätigkeit, sondern im Gefühl wurzelndem Wertempfinden hervorgehend und da-
her nicht restlos in einem logischen Schema ausdrückbar. Eben darum aber,
weil die Kechtswirklichkeit einmalig ist, führt sie nicht zu starren Normen,
sondern bewirkt sie, über diese allemal hinausweisend, unmerkliche Aenderungen
des ursprünglichen Sinnes der gesetzlichen Vorschriften vornehmend. Solche
neuschöpferische Interpretation wird umso leichter von statten gehen, je freier
die gesetzlichen Generalisationen der Fülle rechtlich erheblicher Einzelvorkommnisse
gegenüberstehen. Daher die „Weltgeltung" des entwickelten römischen Eechts
und des code civil. Die mannigfachste „Kechtswirklichkeit" konnte hier als Er-
füllung der allgemeinen Normen auf grund schon bestehenden Kechts zur Geltung
gelangen, oder, wie H. sagt, „normgerecht", mit dem intellektuellen Faktor
der Eeehtsgeltung in Einklang gebracht werden. Eine, wie H. meint, auf „ari-
stotelisch-hellenistischem" Vorurteil beruhende Dogmatik mußte hier versagen,
weil ihr die unzutreffende Annahme konstanter Inhalte der jeweils vorliegen-
den, vermeintlich abschließbar mittels bloßer formallogischer Interpretation zu
ermittelnden Kegelung verhängnisvoll wurde. Deshalb sei dieser Eechtsposi-
tivismus kein wahrer Fortschritt gegenüber Natur- und „Vernunftrecht". Hier
wie dort liege echter Dogmatismus vor — Ueberschätzung reiner Denktätig-
keit, Uebersehen des emotionalen Faktors wahrer Eechtsgeltung. Dieser Irr-
tum macht es begreiflich, daß man zu völliger Verkennung des Wesens auch
der vergleichenden Eechtswissenschaft gelangte. Man schloß aus der Gleich-
heit der Formulierung von Normen in verschiedenen Eechten auf eine innere
Üebereinstimmung der normerlullenden Bewertungen — beruhend auf gleicher
Denktätigkeit oder in Hegelscher Weise darauf, daß alles Eecht eine Stufe auf
dem Wege zur absoluten Vernünftigkeit in Selbstbewegung des Logos sei. Voraus-
setzung und Ziel der universalen Eechtsgeschichte und Eechtswissenschaft glaubte
man in der Idee eines Weltrechts finden zu sollen, dem alle Kulturrechte in
ihren gemeinsamen Grundzügen zuzustreben schienen. Verf. tritt dieser Ansicht
aufs schärfste entgegen, weil sie die Verschiedenheit der „Eechtswirklichkeit",
d. h. die Einmaligkeit jeweiligen Kulturlebens und Erlebens mit seinen für jedes
Land und Volk sehr verschiedenen Bedingungen vollkommen außer acht lasse.
Die denk- und sprachpsychologische Forschung zeige uns überdies, wie dasselbe
Wort den mannigfaltigsten Bedeutungsdifferenzierungen unterworfen ist und
deshalb Ausdruck der verschiedensten Bewertungen werden kann, die sich von
vornherein garnicht übersehen lassen. Die Idee eines Weltrechts bleibt daher
ein Gedanke, dessen Erfüllung in der Wirklichkeit des Lebens der Natur der
Sache nach ausgeschlossen ist.
Damit ist auch die Hauptschwierigkeit der Erkenntnis ausländischen Eechts
bloßgelegt, und es ergibt sich ein geringerer Grad der Sicherheit, keineswegs
eine völlige Unmöglichkeit, ausländisches Eecht (d. h. ausländische Eechtswirk-
lichkeit) — durch Einfühlung — inhaltlich festzustellen1).
Darf Eechtsordnung (Inbegriff formulierter Normen) und Eechtsein (Eechts-
wirklichkeit) nicht verwechselt werden, so kann von einer eigentlichen Ee-
zeption fremden Eechts nur da gesprochen werden, wo ganze Wertstellungen
eines Volkes durch das andere übernommen werden, wo also, wie H. sagt, eine
Eenaissance vorliegt (S. 101). Davon zu scheiden ist die bloße Uebernahme
einer fremden „Eechtsordnung", d. h. des intellektuellen Gerüsts fremden
Eechts - wie dies in dem von H. bearbeiteten Falle für die Annahme des
französischen Eechts in Belgien zutrifft (vgl. auch das bekannte Verhältnis un-
serer Pr. V.-U. vom 31. 1. 1850 zu der belgischen Verfassung — loi belgique;
1) Was die praktische Wichtigkeit dieser Feststellung anlangt, so sei für
juristisch nicht genügend orientierte Leser bemerkt, daß das einheimische sog.
„Normenkollisionsrecht" in zahlreichen Fällen die Anwendung fremden „mate-
riellen" Eechts vorschreibt.
Kantstudion. XXVII. 14
210 Besprechungen (Ilolldack).
Batbie, traite thoorique et pratique du droit public et administrativ 2 ed. Paris
1855, III p. 127 sv., Arndt, Die Verf.-Urk. f. d. Preuß. Staat, 3. Aufl., 1894,
S. 26 ff.).
Die grundsätzliche Untersuchung des Verf. findet im II. Teil des Buches
ihre praktische Bestätigung. Es zeigt sich hier in der Tat, mit welchen
Schwierigkeiten die Feststellung ausländischen Kechts und ausländischen Rechts-
lebens und -erlebens verbunden ist. Verf. bringt in diesem IL Teile eine mit
wahrhaft philologischer Akribie gearbeitete, kritische Geschichte der einschlä-
gigen Gesetzgebung und Rechtsprechung. Das gesamte Material ist liier in
bewunderungswürdiger Vollständigkeit verarbeitet; die mannigfach verschlun-
genen Pfade der Entwickelung deckt Verf. restlos auf. Interessant ist es, zu
sehen, wie oft eine plötzliche Abkehr vom Bisherigen, ein Umbiegen des erst
eingenommenen Standpunkts, z. T. geradezu ein Rückgang zu scheinbar längst
aufgegebener Anschauung stattfindet, ja wie sich der Standpunktwechsel inner-
halb einer und derselben richterlichen Dezision und Deduktion vollzieht. Der
angesponnene Faden wird plötzlich fallen gelassen — eine neue Motivation
greift modifizierend ein und führt von dem ursprünglichen Gedankengang ab.
So z. B. Einwirkung sozialpolitischer Erwägungen (Arbeiterschutz, Unfallgesetz-
gebung) als Motiv von Umdeutungen, die zu der sozialpolitisch wünschenswerten
Subsumtion führen.
Die Darlegungen des Verf. sind nach Methode und Ergebnis zweifellos
höchster Beachtung wert; besonders gilt dies auch von der Ablehnung des Ver-
suchs, durch Abstraktion scheinbar gemeinsamer Einzelzüge mehrerer Rechte
ein Weltrecht zu gewinnen. Der abgewiesene Standpunkt würde die Natur des
Allgemeinen in der Tat völlig verkennen. Das rechtlich Allgemeine ist der
logisch-normative Sinn, der mit gewissen sozialen Tatbeständen ohne wei-
teres gesetzt ist, die erst hierdurch zu rechtlichen werden und ihrem recht-
lichen Sinn zufolge ihr Recht bereits in sich tragen1). Dieser Sinn ist es, der
die sog. juristische Konstruktion ermöglicht, die ihrerseits nicht bloß zusammen-
fassender Natur ist, sondern juristisch inhaltliche und inhaltbestimmende Be-
deutung hat. Kein Gesetzbuch kann an diesem ursprünglichen Sinne der recht-
lichen Tatbestände vorübergehen, es muß diese Tatbestände mit ihrem Sinne
annehmen, kann sie aber auch, um irgendwie verfolgter Gerechtigkeitsziele willen
verwerfen, bezw. ihren ursprünglichen Sinn für das positive Recht durch positive
„Bestimmung" modifizieren und ausgestalten („aliquid addere vel detrahere":
fr. 6 pr. Dig. 1,1). Mit fast immer zielsicherem Blick haben die römischen Ju-
risten diese „naturalis ratio" in den rechtlichen Tatbeständen herauszuarbeiten
verstanden — und hierauf beruht die von H. treffend hervorgehobene „zeitlose
Geltung römischen Rechtseins4', die, wie H. zeigt, dazu führen muß, daß der
Rechtsunterricht sich zu den Wurzeln seiner Kraft im römischen Recht wieder
zurückfindet, womit zugleich durch Wiederherstellung der Pandekten Vor-
lesung dem Postulat geschichtlicher Besinnung Genüge getan würde. Wenn
H. das Ueberwiegen des „Formalen" über das „Materiale" beim römischen Recht
betont und wenn er, beiläufig bemerkt, daß es im Wesen der Sache begründet
sei, wenn die „Kritik der juristischen Vernunft" nur ein Jurist „gemeinen
Rechts"2) (Stammler) zu liefern vermochte, so ist dies wiederum eine höchst
treffende Beobachtung. Aber es muß davor gewarnt werden, in logisch und
sachlich unzulässiger Umkehrung dieses Sachverhalts den „Formalismus" der
Stammlerschen Rechtstheorie mit der bedingenden Rechts inhaltlichkeit zu
verwechseln, die in den rechtlichen Tatbeständen selber als deren Sinn und
teleologischer Gehalt (unabhängig von jeder positiven Regelung) gesetzt ist.
Die römischen Juristen betätigen hier nicht bloß eine „Methode", ein „Ver-
1) Treffend Dernburg, Pand., 7. Aufl., Bd. I § 38 ad 2; in ontologischer
Hypostasierung (aber den Grundgedanken gut erfassend) Rein ach, Die apriori-
schen Grundlagen des bürgerlichen Rechts, Husserls Jb., 1913, S. A., vgl. dort,
S. 162, 163, über die Umbiegung der richtigen Erkenntnis ins Sozial psycho-
logische durch Burkh. Wilh. Leist.
2) Pandektenrecht.
Besprechungen (Holldack-Israel). 211
fahren", eine „Art und Weise" des Erkennens. Vielmehr handelt es sich bei
dem Ablesen der Eechtsfolge aus dem vorliegenden Material rechtlicher Tat-
bestände um einen Sachverhalt, der in dem St.schen „Formalismus" nicht recht
zur Geltung gelangt- Auch H. läßt die phänomenologische Seite des
Problems der Kechtsgeltung etwas stark zurücktreten — freilich aus einem an-
deren Motive als einem solchen, das einem Zurückgreifen auf den Formalismus
Stammlers entspringen würde. Für H. handelt es sich darum, die „Bechts-
wirkliehkeit", die Tatsächlichkeit des zur Durchführung kommenden „Rechts"
in ihren psychologischen Hauptmomenten zu erfassen. Zu diesem Behufe
knüpft H. nicht an Stammler, sondern an die Wertlehre Eickerts an. H.
ist aber durch seine psychologische Einstellung nicht etwa einem völligen
Ueber8ehen der logischen Seite des Geltungsproblems zum Opfer gefallen, wie
seine Ausführungen S. 27 ff., 91 ff. und sonst zeigen, und er ist ebenfalls weit
entfernt davon, Psychologist zu sein (auch der „versteckte Psychologismus"
des Eickertschen Wahrheitsbegriffs ist bei H. vermieden).
Einzelne Inzidenzpunkte werden vielleicht noch einer anderen Auffassung
zugänglich sein, ohne daß man genötigt wäre, in der Hauptsache in Gegensatz
zu H. zu treten. So ist meines Erachtens die These von der „logischen Ge-
schlossenheit'' des Eechts mit der von H. treffend gelehrten Unabschließbarkeit
des Materials und der „Eechtswirklichkeit" logisch wohl vereinbar und erleidet
durch die Erkenntnis der dogmatischen Verwechselung materialer Wahrheit und
Wissenschaft mit der Kodifizierbarkeit lediglich formaler Logik keinerlei Modi-
fikation. Dann würde der Vorwurf dieser Verwechselung und des Versuchs,
metaphysische Ergebnisse aus bloßen Schlußfolgerungen zu gewinnen, nicht zu
richten sein gegen die Lehre von der Lückenlosigkeit des gerade darum für Er-
füllungen im Speziellen in unendlicher Aufgegebenheit offenen normativen Sy-
stems, wie es durch „eine Rechtsordnung" dargestellt wird.
Uebrigens fällt auch wohl dem Stagiriten der von H. gerügte Irrtum nicht
zur Last1). Mag man aber auch immerhin bezüglich solcher Inzidenzpunkte der
H.schen Untersuchung die Darstellung vielleicht noch ergänzen und berichtigen
können, dies ändert nichts an der großen. Bedeutung, die dem Werk als Ganzem
zukommt — und wir müssen dankbar bekennen und anerkennen, daß der Verf.
die Gabe besitzt, einen positiven Eechtsstoff nach jeder Eichtung hin, d. h. so-
wohl im rechtsgeschichtlich-philologischen wie im juristisch-systematischen Sinne
restlos zu meistern und darüber hinaus zu allgemeinster Besinnung über die
tief liegenden Problemzusammenhänge vorzudringen. So konnte er sich das Ver-
dienst erwerben, der Wissenschaft, wo sie am problemreichsten und unweg-
samsten uns entgegentritt, festes Land und sicheren Boden erobert zu haben.
Berlin-Halensee. Dr. Albert Pagel.
Israel, Walter, Zur wissenschaftlichen Fortbildung 4des So-
zialismus. Eine erkenntnistheoretische Studie. Verlag Gesellschaft
und Erziehung. Berlin-Fichtenau. 1921. 33 S.
Diese Schrift des sich selbst zur „Marburger Schule" zählenden Autors
sucht eine kritische Grundlegung des wissenschaftlichen Sozialismus zu geben.
Gemäß den Kantischen Fragen nach der Möglichkeit von Mathematik, Natur-
wissenschaft und Metaphysik fragt Israel nach der Möglichkeit des Sozialismus
als Wissenschaft. Hierbei nimmt er den Sozialismus nicht etwa in parteipoli-
tischem Sinne bezw. als bloße Wirtschaftsordnung, sondern in seiner allge-
meinsten sittlich-kulturellen Bedeutung. Sozialismus ist für ihn die Idee der
sittlichen Gesellschaft, wissenschaftlicher Sozialismus die wissenschaftliche Lehre
von dieser Idee und ihrer Durchführung. Das Kriterium für die Wissenschaft-
lichkeit des Sozialismus sieht der Verfasser in der Beziehung auf das geschicht-
1) Aristoteles lehrt vielmehr in der Nikom. Ethik gerade umgekehrt, daß
der auf den Durchschnitt der Fälle (inl Ttluarov) zugeschnittene Spruch des
Gesetzgebers steter Berichtigung und Ergänzung im Sinne der „Billigkeit" (rö
iitMxsg) fähig und bedürftig ist.
14*
212 Besprechungen (Israel — Fränkel — Kaufmann).
liehe Lehen der Menschheit, während ihm zufolge der utopische Sozialismus
dieser Beziehung ermangelt. Die sozialistische Idee ist für Israel die Hypo-
thesis, welche das auf Erkenntnis der sittlichen Gestaltung der Gesellschaft
ausgehende Denken an die historische Wirklichkeit heranbringt und durch diese
verifizieren läßt. Damit tritt in den Mittelpunkt der Begriff der geschichtlichen
Kontinuität; die ständige Wahrung dieser wird so zur fundamentalen metho-
dischen Maxime des wissenschaftlichen Sozialismus. Zudem ist sich Israel
durchaus darüber im klaren, daß die Idee des Sozialismus — wie jedwede
Idee — eine unendliche Aufgabe ist, etwas, was immer wieder erstrebt werden
soll, aber nie voll und ganz zu erreichen ist.
Berlin-Wilmersdorf. Dr. Kurt Sternberg.
Fränkel, Richard, Der Sinn des Kechts. Langensalza. 1921. Wendt u.
Klauwell. „Die Bücher der Zeit" Nr. 20. 32 S.
Eine volkstümliche Darlegung über des Kechtes Wesen und Werden, die
dem Stande der Wissenschaft ungefähr entspricht und zur Belehrung und An-
regung des Laien nicht ungeeignet ist.
Berlin. Dr. Albert Pagel.
Kaufmann, Erich, o. ö. Professor an der Universität Bonn, Kritik der
neukantischen Rechtsphilosophie. Eine Betrachtung über die Bezie-
hungen zwischen Philosophie und Rechtswissenschaft. Tübingen. 1921. J. C. B.
Mohr. 102 S. 8°.
Verf., dessen z. T. vorzügliche, jedenfalls aber stets eindringende und
fördernde Untersuchungen zur allgemeinen Rechtslehre und insbesondere zur
Staats- und Völkerrechtstheorio wenigstens dem juristisch orientierten Leser
bereits bekannt sind, sucht sich in dieser Arbeit durch Auseinandersetzung mit
dem Neukantianismus in der Rechtsphilosophie den Weg zu systematischem
Neuaufbau zu ebnen. Die Arbeit ist Paul Hensel gewidmet, dem der Verf.
nach seiner Mitteilung seine ersten, philosophischen Anregungen verdankt —
wie denn Kaufmann bekennt, daß er in seinen philosophischen Bestrebungen
vom Neukantianismus ausgegangen sei, jedoch alsbald das Unbefriedigende dieser
Philosophie empfunden habe. Er äußert sich darüber auf S. VI folgendermaßen:
„Der metaphysikfreie, abstrakte Formalismus und der transzendentale Ratio-
nalismus und Intellektualismus, der die neukantische Philosophie charakterisiert,
hätte mich zwar als Juristen auf ihm verwandte Erscheinungen der damals
herrschenden rechtswissenschaftlichen Methodik führen können. Aber auf der
einen Seite hatte das bewußt entstofflichende, von dem Anschaubaren und Er-
lebbaren entfernende Denken der Neukantianer, das über die ethischen, poli-
tischen, sozialen und kulturellen Probleme der Gegenwart hinweg nach den
reinen Formen des transzendentalen Denkens strebt, in mir einen ungeheuren
Anschauungs- und Stoffhunger erweckt, der mich in die Gefilde der rechts-
und staatswissenschaftlichen, geschichtlichen und politischen Forschung und
Praxis trieb, vermutlich letztlich aus einem — freilich dem neukantischen ent-
gegengesetzten — philosophischen Bedürfnis: wer philosophiert, muß auch mög-
lichst viel wissen, gesehen, erlebt haben, über was er philosophieren kann; sonst
wird die Philosophie zu einer unfruchtbaren Spezialwissensehaft, die selbst-
genugsam, aber unbeeinflußt und nicht beeinflussend, ein kathederhaftes Schatten-
dasein im letzten verstaubten Winkel der universitas literarum und der Zeit
führt. Und auf der anderen Seite glaubte ich, die Unfruchtbarkeit der herrschen-
den rechtswissenschaftlichen Methodik, je mehr ich mich mit den Problemen
des sozialen, politischen und geschichtlichen Lebens beschäftigte, um so klarer
erkennen zu müssen. Die sog. rein juristische Methode hatte die Rechtswissen-
schaft in eine ähnliche, von den Realitäten des gesellschaftlichen und politischen
Lebens isolierte unfruchtbare Selbstgenügsamkeit geführt, unter deren wissen-
schaftlichen und soziologischen Auswirkungen wir heute zu leiden haben."
Verf. sucht die Rückkehr zu Kant als einen Akt der Rezeption darzu-
stellen, bei der das Beste von Kants Philosophie sich verflüchtigt habe. Dieser
Besprechungen (Kaufmann). 213
Gedanke ist eines der leitenden Motive der Schrift des Verfassers. Kaufmann
beklagt, daß unserer Zeit eine echte Metaphysik fehle. Der Neukantianismus
sei weder willens noch fähig, eine solche zu schaffen. Er habe durch das er-
kenntnistheoretische Vorurteil der Wissenschaft eine Bahn gewiesen, die zum
Kelativi8mus und Empirismus führen müsse. Zwar sei es nicht möglich, die
großartige Metaphysik Kants, seine Lehre von der noumenalen Sphäre wieder zu
neuem Leben zu erwecken, in der der Philosoph Sittlichkeit und Recht fest
verankert habe. Aber es gehe doch nicht an, auf jeden metaphysischen Halt
zu verzichten und, anstatt dem wahren Sein der Dinge auf den Grund zu
gehen, die logisch gebotene Art und Weise der Stellungnahme zu den
Dingen als das angeblich Wesentliche zu betonen, um das wirklich Wesentliche
in nachträglicher Hinzufügung zu den methodischen Postulaten schlecht und
recht irgendwie in Beziehung zu setzen. Die Folge dieser Einseitigkeit sei eine
«inseitig normative Rechtsbetrachtung mit ihrer destruktiven Tendenz gegen-
über den irrationalen Mächten, den Realitäten, denen man mit dem Versuche,
sie in bloße rechtliche Relationen aufzulösen, Gewalt antue. Dieser Versuch sei
nicht minder willkürlich wie das unphilosophische Beginnen derjenigen, die
lediglich kausale Zusammenhänge anerkennen wollen. Es sei eben ein Grund-
fehler, die gesamte Wirklichkeit in eine einzige Dimension projizieren zu wollen.
Das Recht dürfe weder allein als Macht noch als bloße Norm, sondern es müsse
im Sinne von Norm und Macht zugleich verstanden werden. Nur so sei eine
allseitige Erkenntnis möglich. Entscheidende Sachverhalte wie Staat, Vertrag
usw. seien nicht bald soziologische, bald juristische, sondern mit sich identi-
sche Tatbestände, welche nicht die Soziologie oder Jurisprudenz, jede in ihrer
Weise verschieden, erzeuge. Daher könne wohl vorläufig und hypothetisch von
einem bestimmten Gesichtspunkte aus an die Erscheinungen der sozialen Welt
herangetreten werden. Aber bei solchen vorläufigen Bestimmungen dürfe es
nicht bleiben.
Gegen die Stammler sehe Lehre erhebt Verf. den Vorwurf, daß Stammler
der den ,, Stoff" gestaltenden Norm die bloße „Form" untergeschoben und hier-
durch sowohl das Recht wie die Wirtschaft „denaturiert" habe. Der Stammler-
sche Begriff des Rechts und die Stammlerschen „Kategorien" seien — wie
Binder dargetan habe — „empirische Allgemeinbegriffe". Das „soziale Ideal"
sei 1. ein lediglich negatives, 2. ein bloß moralisches Prinzip. Sein Gesamt-
urteil über Stammler faßt der Verf. S. 20 dahin zusammen: „Es sind allerlei
disieeta membra des Kantischen Bauwerks aus ihren tektonischen Zusammen-
hängen herausgerissen, beschnitten, behauen und transformiert, und dann ist
aus ihnen ein ganz neues Gebäude errichtet worden, das nicht auf festen Funda-
menten ruht, sondern in den luftleeren Raum hineingebaut ist."
Kaufmann hat wenigstens die Lehre Stammlers vom sozialen Ideal bereits
früher in der Schrift: „Das Wesen des Völkerrechts und die clausula rebus sie
stantibus usw." S. 149 mit denselben Gründen wie in der gegenwärtigen Schrift
abzuweisen gesucht. Wir sind der Meinung, daß Kaufmanns Kritik in diesem
Punkte doch sicherlich zu scharf ist, da Stammler ja tatsächlich (freilich
im Widerspruch mit seinem logisch-methodologischen Ausgangspunkt) sich nicht
mit einem bloß negativen Kriterium oder gar einer bloßen Methode begnügt,
auch einen durchaus nicht bloß für das Innenleben der Einzelperson brauch-
baren Grundsatz aufstellt, sondern im Gegenteil in den Sätzen des Achtens
und Teilnehmens eminent soziale Inhalte zur Geltung bringt. Ueberhaupt
wird der Verf. Stammler insofern nicht ganz gerecht, als Kaufmann übersieht,
daß bei Stammler ein Kern unverlierbar richtiger Grundeinsichten vorhanden
ist, deren Preisgabe nach der Ueberzeugung des Referenten einen Rückschritt
der Rechtsphilosophie bedeuten würde. Es ist nicht möglich, dies im Rahmen
einer kurzen Besprechung beweisend auszuführen.
Kaufmann wendet sich sodann — S. 20, 21 ff. — dem „radikalsten Ver-
such, auf neukantischer Grundlage den reinen Rechtsformalismus durchzu-
führen", nämlich den Arbeiten Kelsens zu. Verf. zeigt hier, daß mit Kelsens
„reinem Sollen" nicht auszulangen ist. Kelsen kommt, wie Kaufmann ausführt,
auf dem Wege verfehlter Abstraktionstheorie zu einem „inhaltsleeren Allge-
214 Besprechungen (Kaufmann).
meinbegriff" (S. 21). Verf. zeigt, zu welchen Konsequenzen die „Eindiraensiona-
litiit" bloß normativer Betrachtung des öffentlichen Rechts bei Kelsen führe, der
den eigenartigen Versuch mache, seinem metaphysischen Logizismus durch Hin-
zuziehung des Mach sehen Prinzips der Denkökonomie den empirischen Stoff
anzupassen, um schließlich anzuerkennen, daß das Völkerrecht „zwar nicht jede
faktische Macht als Kechtsmacht zu etablieren bemüht ist, aber doch nur eine
bestimmte faktische Macht als Rechtsmacht gelten lassen will." Dies
zeige, daß ohne soziologischen Unterbau die Rechtslehre ihren Halt verliere.
Als Verdienst Kelsen s erkennt Verf. an, „daß er alle jene Umkippungen aus
dem bloß Formalen in die empirischen Substruktionen schonungslos und mit
einer kritischen Schärfe, die ihresgleichen in unserer juristischen Literatur nicht
hat, daß er alle die ,Halbwahrheiten' als solche erkannt und aufgedeckt hat."
Kaufmann nennt ihn den „Meister des Rechtsformalismus, der die anderen
meistert" (S. 79). „Der Unterschied von Kelsen und den anderen besteht nur
darin, daß diese bereits in den unteren Regionen ohne erkennbaren Grund bald
hier, bald da, bald mehr, bald weniger, systemlos, ins bloß Faktische umkippen,
während Kelsen das nur auf der letzten und obersten Stufe tut" (S. 80).
Eingehende Erörterungen widmet der Verf. (S. 35 ff.) der südwestdeutschen
Philosophenschule. Er charakterisiert ihre Bedeutung für die Jurisprudenz und
stellt den gewaltigen Einfluß dar, den die Schule in methodologischer Hinsicht
auf die Rechtswissenschaft unserer Tage geübt hat. Verf. sucht zu zeigen, daß
auch die südwestdeutsche Schule einen Abfall von Kant bedeute. Damit wäre
sachlich über den Wert oder Unwert der Leistung dieser Schule freilich nichts
gesagt. Es ist für jede Philosophie, die als Wissenschaft wird auftreten können,
selbstverständlich, daß sie an Kant anknüpfen muß. Aber es ist ebenso selbst-
verständlich, daß wir bei Kant nicht stehen bleiben können. Gibt man zu, daß
der wahre Kant mit dem historischen Kant nicht schlechthin identisch gesetzt
zu werden braucht, so ist nicht bewiesen, daß durch Preisgabe der Dingansich-
lehre und der metaphysischen Auflösung der dritten Antinomie der wahre Kant
aufgegeben sei. Es wäre also eine tiefergehende Erörterung darüber erforderlich,
inwieweit die Kantische Lehre, als systematische Potenz genommen, trotz der
angedeuteten durchgreifenden Veränderungen gegenüber dem historischen Kant
zum Aufbau einer neuen Philosophie zu führen und deren Gehalt zu bilden
vermöchte. Daß für Kant die erkenntniskritische Aufgabe nur die allerdings
entscheidende Vorbereitung zu einer Metaphysik darstellen sollte, ist freilich
unbezweifelbar. Aber es fragt sich, ob die metaphysische Position, zu der Kant
selbst gelangt ist, und ob gerade die Ausführung der erkenntniskritischen Vor-
bereitung, die für den historischen Kant charakteristisch ist, nicht einer erheb-
lichen Umgestaltung fähig und bedürftig sei, die um des kritischen Grund-
gedankens willen in seiner Gegensätzlichkeit zum relativistischen Empirismus
wie zum rationalistischen Dogmatismus anderseits, der mit Hilfe bloß formaler
Logik von beliebigen (dogmatischen) Prämissen aus Beliebiges zu beweisen ver-
mag, dennoch den Namen der Kantischen Philosophie durchaus zu rechtfertigen
vermöchte. Jedenfalls kann man sich in einem Punkte mit dem Verf. einig er-
klären: die Herabsetzung der Philosophie zur bloßen Erkenntnislehre, ja zu
einer bloßen Methode ist von dem unsererseits betonten kritischen Grundge-
danken himmelweit verschieden. Sie ist nicht nur unkantisch, sondern auch
sachlich unzulässig. Es wäre nun die Aufgabe, diesem Punkt in allgemein-
philosophischer Untersuchung nachzugehen. Bedeutsame Ansätze hierzu liegen
in der modernen Phaenomenologie Husserls vor. Ferner wären anderseits
Rehmkes Ueberlegungen heranzuziehen. Indes hat sich der Verf. in der vor-
liegenden Schrift, wie er expressis verbis S. VII und VIII hervorhebt, nicht die
Aufgabe gestellt, eine eigene positive Darlegung zu geben, wenn auch seinem
kritischen Unternehmen selbstverständlich der eigene positive Standpunkt des
Verf. als Voraussetzung zugrunde gelegt ist — eine fruchtbare Kritik kann ja
überhaupt niemals bloß negativ sein, sie bedarf allemal der eigenen Einsicht
des Kritikers in die Sache selber. Aber der Verf; hat sich in dieser Beziehung
zunächst geflissentlich Zurückhaltung auferlegen wollen. So begnügt er sich
damit, das seiner Meinung nach Fragmentarische und Lückenhafte auch der süd-
Besprechungen (Kaufmann — Kelsen). 215
westdeutschen Gesamtansieht andeutungsweise aufzuzeigen. Hieran schließt sich
eine kurze Würdigung der reehtsphilosophisehen Darlegungen Binders, der
nach eigenem Zeugnis der südwestdeutschen Schule zugerechnet sein will. Auch
ihm gegenüber hebt der Verf. in beachtlicher Weise hervor, daß Binder für
seine Rechtslehre die Kantische Philosophie nicht in Anspruch nehmen dürfe
(S. 48 ff). Ferner versucht der Verf. seine eigene Lehre, die heftige Bekämpfung
in der Literatur gefunden hat, gegen das Mißverständnis in Schutz zu nehmen,
als han<lele es sich ihm um bloßen Machtkultus. Er habe stets lediglich die
Erkenntnis zur Geltung bringen wollen, daß das Recht Norm und Macht in
prästabilierter Harmonie fordere. Mit einem interessanten problemgeschichtlichen
Rück- und Ausblick iindet die Arbeit ihren Abschluß.
Des Verf. Stellungnahme erinnert zum Teil an die Rechtsphilosophie des
unvergeßlichen Adolf Lasson, in der aristotelische Elemente mit einem abge-
klärten Hegelianismus und der Ideenwelt Stahls sich verbanden. Auch mag
auf Lassons Berliner Festvortrag zum Klöjährigen Todestage Kants hingewiesen
sein, da hier Kants metaphysische Intentionen treffend gewürdigt worden sind.
Eine Erwähnung Lassons wäre immerhin nicht unwillkommen gewesen. Wenn
der Verf. allerdings die von Lasson gezogene Konsequenz hinsichtlich des Völker-
rechts nicht teilt, sondern gerade hier einen dem Richtigen sehr viel näher
kommenden Standpunkt als Lasson einnimmt (vgl. vorläufig meinen Aufsatz:
„Zur Rechtsnatur des Völkerrechts" Ztschr. f. pos. Philos. Bd. 2 Heft 3 und 4,
1914, S. 197 ff.), so schließt diese freilich durchgreifende Abweichung doch ander-
seits eine nicht unerhebliche Verwandtschaft in den politisch-philosophischen
Grundanschauungen Lassons und Kaufmanns keineswegs aus.
Auffallend ist es, daß der Verf. die gründliche Schrift Wielikowskis: „Die
Neukantianer in der Rechtsphilosophie" (München 1914) übergeht. Abgesehen
von der Identität des Themas münden Wielikowskis Gedankengänge in eine
ähnliche Tendenz zugunsten einer metaphysisch-soziologischen Lehre aus wie
Kaufmanns Darlegungen.
Kaufmanns Schrift ist in vielen Punkten recht beachtenswert, auch für den,
der sich, wie Ref., trotz mancher Uebereinstimmung in der kritischen Stellung-
nahme zum Neukantianismus die positive Ausführung der philosophischen Lehre
anders denkt, als es der Ansicht des Verf. entsprechen möchte.
Berlin. Dr. Albert Pagel.
Kelsen, Hans, o. ö. Universitätsprofessor in Wien, Das Problem der
Souveränität und die Theorie des Völkerrechtes. Beitrag zu einer
reinen Recht sichre. Tübingen. 1920. Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).
320 S.
Der Philosoph empfängt vom heutigen Stande der Rechtswissenschaft unter
Umständen den Eindruck, daß sie sich noch in einem vorwissenschaftlichen
Stadium, etwa in der Verfassung der vorkantischen Naturwissenschaft
befinde: dies trotz der ununterbrochenen Versuche der jüngsten, zum guten Teil
philosophisch interessierten und orientierten Juristengeneration, mit der großen
übrigen, dicht um die Philosophie als zentrale Disziplin gruppierten Wissen-
schal tsgemeinde engere Fühlung zu gewinnon. Aber auch der Jurist kann sich
des nicht ganz unbegründeten Eindruckes nicht erwehren, daß die Philosophie
der Jurisprudenz fremder als anderen Einzelwissenschaften gegenüberstünde, daß
die Philosophen, in deren Kreise ja in immer stärkerem Maße das Problem der
Jurisprudenz Beachtung findet, gerade diesor Spezialwissenschaft zum Unter-
schied»' von fast allen anderen nicht recht gerecht zu werden vermögen. Was
gegenüber jeder anderen Spezialdiszipün geradezu ausgeschlossen wäre, trifft
nämlieh gerado gegenüber der Jurisprudenz zu: daß infolge einer relativ un-
klaren Vorstellung über das rechtliche Material, infolge — begreiflicher-
weise, ja geradezu notwendig-unzulänglicher Beherrschung der rechtlichen
Erfahrung mitunter geradezu der Gegen ■ tauet der Jurisprudenz verfohlt
wird. Der selbst dem gebildeten Nichtjuristen zur Verfügung stehende Schatz
216 Besprechungen (Kelsen).
von Rechtsnormen, auf Grund dessen der Rechtsbegriff unbedenklich bestimmt
wird, ist ja in der Regel nicht größer als beispielsweise die Erfahrung eines
Nichtzoologen von der Fauna, der etwa die Gruppe der Haustiere mit dem Tier-
reich einfach gleichsetzen würde. Eine derart begrenzte zoologische Erfahrung
müßte wohl ebenfalls eine darauf aufgebaute zoologische Wissenschaft desorien-
tieren. So erklärt sich denn auch meines Erachtens zum Teile, wenn auch nicht
restlos, die immer wieder vorgenommene Verwechselung der Rechtsordnung mit
der Moralordnung, die Einbeziehung des Rechtssystemes in ein höheres ethisches
System aus der Tatsache, daß die Gruppe von Rechtsnormen, die sich inhalt-
lich (nicht auch, weil einem anderen Systeme angehörig, formell), mit den
Normen einer Moralordnung decken, die geläufigsten, bekanntesten sind; es
sind dies der Großteil der strafrechtlichen und ein Teil der zivilrechtlichen
Vorschriften. Mit den etwa sonst noch bekannten, vermeintlich nicht allzu zahl-
reichen Rechtsnormen, die an sich moralisch irrelevant erscheinen, pflegt man
sich wohl in der Erwägung abzufinden, daß sie nur Mittel zu dem ethischen
Zwecke des Rechtes und daß sie im Gegensatz zu jenen für jede Rechtsordnung
wesentlichen Normen einen unwesentlichen Bestandteil der Rechtsordnung dar-
stellen. Eine solche Deutung würde aber tatsächlich einen überragenden
Teil des gegebenen, nur eben zum größeren Teile unbekannten Rechtsnormen-
materiales mißdeuten. Nur an einem außerrechtlichen Maße gemessen, erscheint
der eine, und zwar im besonderen der moralisch irrelevante Teil der Rechts-
ordnung als bloßes Mittel für den Zweck des anderen Teiles, und nur vom
Standpunkt eines außerrechtlichen Wertes kann man zwischen wesentlichen und
unwesentlichen Bestandteilen der Rechtsordnung unterscheiden. An spezifischem
Rechtswert sind die inhaltlich verschiedensten, auch die zahllosen
moralisch irrelevanten Rechtsnormen einander gleich; der materiell
mit einer Moralnorm zusammenfallende Strafrechtssatz „Du sollst nicht töten"
oder die Zivilrechtsnorm : „pacta sunt servanda" haben keinen anderen, insbe-
sondere keinen höheren Rechtswert als die einfache Verwaltungsvorschrift rechts
oder links zu fahren oder etwa die Polizeivorschriften über das Meldewesen. Es
sei nur die Feststellung gestattet, daß die Jurisprudenz ebenso eine beson-
dere, von jedem anderen Wertsystem unabhängige Wertkategorie zum Gegen-
stande hat wio z. B. die Aesthetik oder die Grammatik.
Mit diesem kurzen Exkurse sollte nur in aller Kürze angedeutet werden,
daß die im übrigen außerordentlich dankenswerten und lehrreichen Exkurse
philosophischer Autoren in das Gebiet jener abseits gelegenen, fast vergleichs-
losen Spezialdisziplin, die wir in der Jurisprudenz zu erblicken haben, dargetan
zu haben scheinen, daß die Einordnung der Rechtswissenschaft in das
System der Wissenschaften im allgemeinen, der Brückenschlag zwischen
Jurisprudenz und Philosophie im besonderen, von juristischer Seite vorge-
nommen werden muß, weil nur hier die für ein solches Beginnen unerläßliche
eindringliche Vertrautheit mit dem positiven Rechte zu erwarten ist. Und
es muß in philosophischen Kreisen anerkannt, zu diesem Zwecke aber allerdings
erst bekannt werden, daß sich eine Reihe von Schriften juristischer Autoren,
allen voran Rudolf Stammlers, ferner Julius Binders, Leonard Nelsons,
Felix Somlos, insbesondere aber Hans Kelsen s und neuestens Fritz Sanders
— die Liste macht auf Vollständigkeit keinen Anspruch! — jenem selbstver-
ständlichen, von anderen Disziplinen schon längst erreichten Ziele beträchtlich
angenähert haben.
Was insbesondere die Rechtslehre Hans Kelsens betrifft, so ist sie, ab-
gesehen von zahlreichen, rechtstheoretischen Einzelproblemen zugewandten Mo-
nographien, in den beiden Hauptwerken „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre"
(Tübingen 1911. Verlag J. C. ß. Mohr, 709 S.) und „Das Problem der Sou-
veränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer reinen Rechts-
lehre" (derselbe Verlag 1920. 320 S.) niedergelegt l). Was die Rechtslehre Hans
1) Für eine nähere Orientierung über Kelsens Rechtstheorie vergl. meine
in Band 41 Heft 2 des Archivs des öffentlichen Rechts (Tübingen) erschienene
Abhandlung über Hans Kelsens System einer reinen Rechtstheorie.
i
Besprechungen (Kelsen). 217
Kelsens, namentlich in ihrer im zweiten Werke gewonnenen vervollkommneten
Gestalt, vom philosophischen Standpunkt bemerkenswert macht, ist die selbst-
verständliche, in Juristenkreisen aber vor kurzem wohl noch unerhörte Tat-
sache, daß sie die bewußte und beabsichtigte Anwendung des philosophischen
Systemgedankens auf die Eechtswissenschaft darstellt. Im Gegensatz zu
dem in den ,. Hauptproblemen" gewonnenen einzelstaatlichen Rechts-
systeme gelangt nun Kelsen in seinem neuesten Werke zu einem die sämt-
lichen Einzelstaatsordnungen als Teilordnungen umfassenden Weltrechtssy-
steme. Freilich behauptet Kelsen nicht die Ausschließlichkeit dieser Konstruk-
tion des positiven Rechts, sondern gibt auch die Möglichkeit einer auf den
Einzelstaat abgestellten Rechtskonstruktion zu. Aber auch bei dieser Konstruk-
tion müssen die Völkerrechtsordnung und die übrigen Staatsrechtsordnungen
gleichwohl in den Systemzusammenhang der zum Ausgangspunkt genommenen
und zur Universalordnung erhobenen Einzelstaatsordnung eingeordnet, als deren
Teilordnungen gedeutet werden: denn niemals kann das einheitliche Rechts-
material — wie ihm in der herrschenden Rechtswissenschaft nur noch zu häufig
widerfährt — auf eine Mehrzahl von einander als unabhängig und zugleich
gleichgeordnet gedachter Systeme verstreut werden. — Es wäre, wie nur neben-
bei bemerkt sei, ein Mißverständnis von Kelsens Aufstellungen, wenn man die
von ihm behauptete Möglichkeit einer doppelten oder mehrfachen Deutung des
gesamten Rechtsmaterials mit der bisherigen Annahme des Bestandes mehrerer
Rechtssysteme verwechseln würde, die erst in ihrer Summierung die gesamte
Rechtserfahrung erschöpfen. Kelsen wollte, wenn wir ihn recht verstehen,
nur den Dualismus einander ergänzender, nicht den einander ausschließender
Rechtssysteme überwinden.
Abschließend betrachtet Kelsen die Ergebnisse seines Werkes sub specie
der großen Weltanschauungsgegensätze (S. 314 ff.). Die einzelstaatliche
Konstruktion der Rechtsordnung, oder, wie sich Kelsen ausdrückt, die Theorie
vom Primat des Staates, ist verhältnismäßig individualistisch-subjek-
tivistisch, und sie ist der wissenschaftliche Mantel des Imperialismus.
Die völkerrechtliche, weltrechtliche oder weltstaatliche Konstruktion der Rechts-
ordnung, mit Kelsens Ausdruck: die Theorie vom Primat des Völkerrechtes,
entspringt kollektivistischem, objektivistischem Denken, und sie ist
die rechtstheoretische Grundlage des Kulturideals des Pazifismus. Kelsens
Werk, mit dessen Einzelheiten man sich nicht restlos zu identifizieren braucht,
das aber als Ganzes zum Bedeutendsten gehört, was das Schrifttum über Recht
und Staat hervorgebracht hat, läßt erkenntnismäßig die Wahl zwischen den
beiden angedeuteten grundsätzlichen rechtstheoretischen Positionen offen.
Willensmäß'ig ergreift aber unser Autor sehr entschieden Partei, indem seine
im übrigen hinreißend geschriebene Schrift, die Grenzen der Rechtstheorie
an diesem Punkt bereits überschreitend, in eine ethische Apotheose des
Primates der Völkerrechtsordnung ausklingt.
An Einzelergebnissen der Schrift sei nur mit der gebotenen Kürze die
Parallele zwischen Jurisprudenz und Theologie (S. 21) hervorgehoben,
worüber sich bereits in Kelsens Monographie über Staatsunrecht (in Grünhuts
Zeitschrift für das private und öffentliche Recht der Gegenwart, Jahrgang 1913)
Vorbemerkungen finden. — Von nicht bloß rechtstheoretischera Wert sind ferner
auch die aus Anlaß der Konfrontation der Völkerrechts- und Staatsrechtsord-
nung angestellten grundlegenden Untersuchungen über das mögliche logische
Verhältnis mehrerer Normsysteme (S. 102 - 120).
In der Vorrede bittet Kelsen „eine philosophische Kritik um Nachsicht",
da er „als Jurist, nicht als Berufsphiloaoph" und für Juristen schreibe, denen
die strenge Sprache reiner Erkenntnis nicht geläufig sei, weshalb er an einen
unwissenschaftlichen Sprachgebrauch anknüpfen müsse, um sich überhaupt ver-
ständlich zu machen. Man darf erwarten, daß nicht bloß die Terminologie
des besprochenen Werkes, sondern selbst die in ihm entwickelte Rechtstheorie
auch vor dem Forum philosophischer Kritik in Ehren bestehen kann.
Wien. Prof. Dr. Adolf Merkl.
218 Besprechungen (Koppelmann).
Kitppclmiinii, W., Dr. phil., ord. Honorarprofessor an der Universität Münster,
Einführung in die Politik. Bonn und Leipzig. 1920. 274 S.
Der Verfasser will in seinem Buch eine theoretische Grundlegung für die
Aufgaben der Praxis geben. In Verfolgung dieses Ziels sucht er zunächst nach
der im Wesen des Staats begründeten Grundaufgabo desselben, und prüft dann
an diesem umfassenden Zweck des Staats die Forderungen, die man zu stellen
hat an die Form des äußeren und inneren Staatsgofüges und an die Wirksam-
keit des Staats, nämlich an die Gesetzgebung.
Nach Durchprüfung der Hauptstaatsformen, die wir bis auf unsere Zeit
im geschichtlichen Leben wirksam gesellen haben, und nach Darlegung der Lehren
über Enstehung, Zweck und Wert des Staates an sich, die die Geistesgeschichte
bisher gezeitigt hat, kommt er zur Aufstellung seiner eigenen, kurzen Formel
über Wesen und Aufgabe des Staats: der Staat ist eine Organisation zum
Zweck der Sicherung des Friedens im Innern und zum Schutze gegen äußere
Angriffe Er befindet sich mit dieser Formel in der Nähe von W. v. Humboldt,
wie dieser in seinen ersten staatspolitischen Schriften sich ausspricht. Alle
Aufgaben, die nun bei steigender Zivilisation in den Wirkungsbereich des
Staats gefallen sind, werden an jener Grundbestimmung geprüft. Es zeigt sifh
da, daß es eigentlich kein Gebiet des Lebens gibt, weder irgend ein theore-
tisches, noch ein praktisches, das nicht unter diesem Gesichtspunkt irgendwie
auch in die Interessensphäre des Staats fallen müßte. Insbesondere erweist es
sich, daß die, in dieser Hinsicht viel umstrittenen, Gebiete der Religion und
der Ethik unlösbar sind, sowohl aus dem Wirken des Staats als auch, eben
darum, aus seiner Fürsorge. Das Wie bleibt nur Gegenstand sowohl des theore-
tischen Forschens als auch des praktischen Erweisens. Auch die Frage nach
der Größe und der Macht des Staats und nach seiner wirtschaftlichen Be-
tätigung muß ihre grundlegende Lösung finden an der oben dargelegten Formel.
Folgt man im allgemeinen den Darlegungen des Verfassers mit Zustimmung,
und gibt man ihm zu, daß fast das ganze Seins- und Wirkensbereich des Staats
seine Umgrenzung finden könnte an der von ihm aufgestellten Formel, so möchte
man doch das so schwer zu fassende Wesen „Staat" und die Beziehungen von
Staat und Mensch tiefer begründen, als es der Verfasser unternimmt.
Wir denken an die Grundlegung, die Hegel diesem Verhältnis gibt. Zu-
nächst ist der Staat der Ausdruck des Geistes einer bestimmten Volksgemein-
schaft. Eben aus dem besonderen Geist jedes Volkes muß dieses sich, wenn es
überhaupt begabt und reif genug dazu ist, seine eigene Form des Staats schaffen.
Parallelen mit früheren historischen Gebilden, und der Vergleich mit anderen
gleichzeitigen Staatsbildungen können daher nur bedingte Geltung haben. Das
sagt der Verfasser auch, allein er sucht nicht nach der Idee, die dem deutschen
Staatswesen zugrunde liegt und die alle seine Beziehungen durchwalten muß.
Diese Idee wäre nach Hegel, daß der Staat die Verkörperung der sitt-
lichen Idee sein soll, die ein Volk beherrscht. Da nach ihm diese sittliche Idee
Ausdruck findet in der Religion eines Volkes, so muß darum (nicht aus Gründen
der inneren Sicherheit) der Staat ein religiöser sein, oder er ist überhaupt noch
nicht Staat. Da Kunst und Wissenschaft, in anderer Weise, auch ein Ausdruck
der Religion sind, so rührt es daher, daß der Staat durchdrungen sein muß
von Kunst, Religion und Wissenschaft, oder, anders ausgedrückt, daß das leben-
dige, handelnde Leben des Staats alle diese Gebiete durchfluten muß, die Form,
in der das geschieht, ist in der Geschichte wandelbar, sie ist immer neu zu
entwickeln und zu gestalten nach der Freiheit, die ein Volk gewonnen hat, und
hier heißt Freiheit die Entwicklung zur Einheit des sittlichen Willens der Ge-
samtheit, der sich im Staat verkörpert. Als Grundidee der Personen, die den
Staat bilden, möchten wir Hegels Theorie der großen Männer hinstellen.
Sie handeln mit ihrer ganzen Kraft und Umsicht für ihre Lebenszwecke,
aber, weil ihr Charakter groß und ihre Einsicht bedeutend ist, so erweitern sich
ihre eigenen Zwecke zu den Zwecken des Ganzen. Sich selbst dienend, dienen
sie dem Staat und meist; über den Staat hinaus, der Menschheit.
Von hier aus löst sich die Frage nach der Haltung des Staates in der
inneren und äußeren Politik, denn auch der Staat ist mehr noch als eine Or-
Besprechungen (Koppelmann— Latte — Siegel). 219
ganisation, er ist eine Persönlichkeit. Er muß mit höchster Kraft die Zwecke
verfolgen, die sein eigenes Leben zur vollen Entfaltung bringen. Hat dieses
Leben einen sittlichen Wert, so ist seine Durchsetzung sittlich, auch wo sie
scheinbar fremde Rechte beeinträchtigt, und — dies ist nicht zu übersehen —
sie wird in solchem Falle immer auf im Grunde sittlichem Wege geschehen.
Wir möchten glauben, daß von einer solchen einheitlichen Auffassung des
Staatswesens, nach Wegräumung der Hemmungen, die in einer vergangenen
Epoche die freie und rege Betätigung am Staatswesen zurückhielten und hin-
derten, neue Kräfte der Staatsbildung sich regen würden, und daß aus diesen
Kräften heraus sich die fruchtbare Gestaltung aller Einzelbeziehungen zwischen
dem Staat, wie er sich in seiner Verfassung darste.lt, und zwischen allen Lebens-
gebieten, die von ihm berührt werden müssen, bilden läßt.
Idee und Gestaltung in Raum und Zeit werden immer weit von einander
abweichen, aber von der Stärke der Idee wird die Schönheit der Gestaltungen
(was in diesem Falle ihre Freiheit und Zweckerfülltheit heißt) abhängen.
Berlin. Dr. Margarete Calinich.
Latte, Kurt, Dr. phil., Heiliges Recht. Untersuchungen zur Ge-
schichte der sakralen Rechtsformen in Griechenland. Tübingen. 1920.
8°. 116 Seiten. Preis geheftet 14 Mark und 75% Teuerungszuschlag.
In einer philologisch sorgfältigen, dabei faßlich und übersichtlich geschrie-
benen Darstellung zeigt Latte im Bereiche des griechischen Rechtslebens den
Einfluß religiöser Vorstellungen. Die Rechtssatzung sucht „die ethischen Forde-
rungen zu verwirklichen, ... die man als unbedingt verpflichtend und deshalb
als göttlich empfand", sie folgt dabei „dem Wandel der Anschauungen". Ur-
sprünglich steht der Glaube an das Göttliche so fest und greifbar im Gemüte
des Menschen, daß in der Nötigung zur Eidleistung, wodurch der Schuldige
sich den Göttern überantwortet, schon der Strafvollzug liegt. Diese Rechts-
auffassung zeigt sich besonders in den älteren Zeiten im Verfahren (I. Kap.), in
den Strafen (II. Kap.) und den Rechtsgeschäften (III. Kap.). Darum treten, na-
mentlich in Athen, mit dem Erstarken der staatlichen Gewalt, diese sakralen
Formen zurück, ohne doch sich ganz zu verlieren. Ja, im Ausgange des Alter-
tums gewinnen sie entsprechend der langsam aber sicher aus dem Grunde der
Volksseele anschwellenden metaphysisch-religiösen Einstellung von neuem an
Bedeutung und bereiten das Kirchenrecht vor, das nun, in genauer Fassung aus-
gearbeitet, jene alten Anregungen verwirklicht. — Die Arbeit ist für die ge-
scbichtsphilosophische Betrachtung nicht unergiebig. Sie weist auf einem ganz
anders gearteten Gebiete die Strömungen nach, die auch in der eigentlichen
Philosophie der Zeit sich äußern. Ueberall beweist der Verfasser ein für all-
gemein geistesgeschichtliche Fragen offenes und geschultes Auge. AVünschens-
wert wäre es für den Philosophen gewesen, wenn er die geistesgeschichtliche
Skizze, die er in seinem Rückblick (S. 112—113) gibt, zu einem besonderen Ka-
pitel ausgestaltet hätte. Gerade in allgemeinen Aeußerungen über das Altertum
wird heute so viel gesündigt, daß jedes zugleich fachmännische und philo-
sophisch einsichtige Urteil zu begrüßen ist.
Halle a. S. Privatdozent Dr. 0. Wich mann.
Siegel, Carl, o. ö. Professor an der Universität Czernowitz, Piaton und
Sokrates. Leipzig. 1920. Verlag von F. Meiner. 8°. 106 Seiten. Preis 10 Mark.
Ein einheitlicher Erklärungsgrund, ein „Uni versal Schlüssel" zum Ver-
ständnis Piatons muß gefunden werden, denn „nur insofern man eben diesen
Standpunkt bejaht, ist man von der Philosophie Platons, resp der Metaphysik
Piatons zu sprechen berechtigt." Diesen Schlüssel sieht Siegel in der These:
„Platons Metaphysik stellt den Vorsuch dar, des Sokratos Persön-
lichkeit, Wirken, Leben und Sterbon philosophisch zu orkläron und
zu rechtfertigen" (S. 5). Deshalb versucht zunächst Siegel unter Benutzung
von Xonophon „als Quelle für Sokrates" (I. Kap.), das „Bild der sokratischon
Persönlichkeit" (II. Kap.) zu gowinnen. Er sieht den Kernpunkt von Sokrates
220 Besprechungen (Siegel — Metzger).
Wirken in einem aufs Gemeinwohl gerichteten, sozialen Militarismus, und wenn
aus solcher „Militärmoral4' sein freiwilliger Tod nicht verständlich erscheint, so
ist wohl anzunehmen, daß Sokrates sein Vertrauen auf die gute Sache gelegt
habe, dann aber, als er seine Täuschung erkannte, mag wohl die Erfahrung „den
letzten Kest von Liebe zum Leben ihm genommen haben." Eine wirkliche Lehre
hat nach Siegel bei Sokrates nicht vorgelegen. „Nicht seine Lehre findet" bei
Piaton „ihre Fortsetzung oder Umgestaltung", sondern Piatons Problemstellung
ist: „Wie ist ein solches Phänomen, wie die Sokratität, möglich und verständ-
lich." „Sokrates übliche philosophiegeschichtliche Stellung wäre nicht berech-
tigt, wenn er nicht einen Piaton gefunden hätte." — Ich finde, hier ist die un-
mittelbare philosophische Anregung, die Sokrates gegeben hat, doch zu gering
bewertet. Zwar keine Lehre, aber eine allerdings schwer faßbare Problemstellung
hat Sokrates gegeben, und außer Piaton gehen doch, um nur die bedeutendsten
zu nennen, auch die kynische und kyrenaische Schule auf ihn zurück.
Die weitere Ausführung will nun „Sokrates als Problem der Platonischen
Philosophie" (III. K.) in dem Sinne nachweisen, daß überall da, wo es sich
um einen weiteren Fortschritt in der platonischen Metaphysik
handelt, Sokrates im Mittelpunkt stehe. So seien z.B. Laches, Kratylos,
Euthydera und Menexemos ohne diese Zentralstellung des Sokrates und es fehle
hier auch ein konstruktiver Ertrag. Dasselbe soll nun aber auch von Staat
und Theätet gelten. Wir lernen nach Siegel in ihnen nicht Sokrates „von
irgend welcher speziellen Seite her kennen", und andererseits ist „keines der
beiden Werke konstruktiv im eigentlichen Sinne des Wortes, d. h. ist Ausdruck
der eben gemachten Entdeckung eines neuen Elementes und Bausteines für das
metaphysische Gebäude" (S. 39). — Man ist versucht, für den Staat beides, für
den Theätet eines von beiden zu bestreiten. Denn um von vielen anderen abzu-
sehen, worin der Staat aufbauend im allerhöchsten Sinne ist, so ist die zentrale
Erörterung der Idee des Guten der metaphysische Eckstein des ganzen meta-
physischen Gebäudes und diese Aufstellung ist in höchst persönlicher Weise
an Sokrates und seine persönliche Meinung geknöpft (506 DE ff.). Andererseits
ist es m. E. nicht angängig, dem Theätet den wirklich konstruktiven Gehalt
daraufhin abzusprechen, daß in ihm „die Ideenlehre z. B. explicite überhaupt
nicht hervortritt" (S. 40). Man braucht demgegenüber nur auf die Lehre von
den Urbestandteilen und vom Nichtseienden hinzuweisen. Gerade weil er über
die Ideenlehre hinausgeht, ist dieser Dialog für Piatons Erkenntnistheorie und
Metaphysik so wichtig. Wie künstlich die Hereinbeziehung der Persönlichkeit
des Sokrates gelegentlich wird, zeigt die Behauptung, daß man beim Timaios,
„noch ein letztes Mal von unserer Grundhypothese Gebrauch machend", sagen
könnte, „unser Dialog wolle die Frage beantworten: Wie muß die Natur ge-
dacht werden, in der ein Mensch wie Sokrates auftreten konnte?" In Staat und
Theätet die volle Einbeziehung der sokratischen Persönlichkeit bestreiten, im
Timaios, — der allerdings von metaphysischem Gehalte strotzt — , sie aufrecht
erhalten wollen, das erscheint gewagt. Siegel hätte besser getan, einfach den
Zusammenhang der metaphysischen Aufstellungen mit der Ausdeutung der so-
kratischen Persönlichkeit zu verfolgen. Er hätte dann, wenn auch keinen „Uni-
versalschlüssel", doch einen äußerst wichtigen und anregenden Ge-
sichtspunkt entwickelt, und seine feinsinnigen und lesenswerten Ausführungen
nicht durch die Gewaltsamkeit solcher Deutungen beeinträchtigt. — Aus dem
Schlußteil (V.), der die Chronologie behandelt, sei noch erwähnt, daß auch Siegel
aus sachlichen Gesichtspunkten zu einer Stellung desPhädrus nach dem
Menon und vor dem Symposion kommt. Ich halte diese Ansetzung im Gegen-
satz zu der aus Ueberschätzung der Anamnesislehre hervorgegangenen Ansetzung
bei Wilamowitz (nach dem Staat) für die einzig richtige, setze allerdings nicht
mit Siegel vor, sondern nach dem Phädon.
Halle a. Saale. Privatdozent Dr. 0. Wichmann.
Metzger, Wilhelm, Dr. phil., weiland Privatdozent an der Universität
Leipzig, Gesellschaft, Recht und Staat in der Ethik des deutschen
Idealismus. Mit einer Einleitung: Prolegomena zu einer Theorie und Ge-
Besprechungen (Metzger). 221
schichte der sozialen Werte. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Dr. Ernst
Bergmann, a. o. Professor an der Universität Leipzig. Heidelberg. 1917. Carl
Winters Universitätsbuchhandlung. V11I und 345 Seiten.
Das Buch behandelt nach einer systematischen Einleitung die Ethik, Ge-
sellschafts-, Rechts- und Staatsphilosophie Kants, Fichtes, der Romantik und
(in einem Bruchstück) Hegels. Der Schwerpunkt liegt, abgesehen von der in
ihrem Grundgedanken gehaltvollen, aber leider skizzenhaften Einleitung, in der
Behandlung der praktischen Philosophie Kants. Hier entwickelt der Vf. eine
neue und glückliche Aulfassung der Kantischen Theorie. Der Bericht soll sich
demgemäß auf diese ersten beiden Abschnitte beschränken und sie dafür etwas
ausführlicher behandeln.
1. Die Einleitung behandelt unter anderem die Bedeutung der gesell-
schaftlichen Grundverhältnisse für den Inhalt der jeweiligen Ethik. Mit Recht
weist Vf. darauf hin, daß jedem Grundverhältnis eine besondere Ethik ent-
spricht, und daß jede menschliche Gesellschaft jede diese Formen nebeneinander
ausgebildet hat. Solcher Grundverhältnisse unterscheidet M. drei: das Gemein-
schafts-, das Rechts- und das Gewaltverhältnis, denen er eine Liebes-, eine
Rechts- und eine Gewaltethik entsprechen läßt. Zunächst, wie gesagt, bestehen
diese nebeneinander, jede giltig für ihr besonderes Lebensgebiet. Tatsächlich
beharren sie doch nicht in dieser Gleichberechtigung, sondern je nach der
Persönlichkeit wird jeweilen eine von ihnen bei einem Denker dominieren, wie
z. B. bei Nietzsche die Gewaltethik. Auch verschiedene Zeitalter sind hierin
verschieden. Nach M. sind heute nicht nur die Kriegswerte einem starken „sitt-
lichen Verdacht- und Widerwillen ausgesetzt, sondern auch die Liebeswerte,
Hingabe und Pietät stehen vielleicht nicht mehr in so hohem Preise wie in
naiveren Zeitläuften; dagegen sind die Bürgerwerte Korrektheit, Arbeit und
Beruf, Pünktlichkeit, Einhaltung von Pflicht und Recht, sicher niemals so tief
und allgemein dem Wertbewußtsein eingegraben gewesen, wie im heute bürger-
lich-industriellen Europa und Amerika" (S. 20). In Wirklichkeit ist hier freilich
Gewalt mit Macht verwechselt, genauer gesagt, nicht unterschieden zwischen
geregeltem und ungeregeltem Machtgebrauch; es ist nämlich das Gewaltver-
hältnis, obwohl mit dem Machtverhältnis eng verwandt, doch von ihm zu unter-
scheiden. Tatsächlich unterscheiden wir in der Soziologie vier Grundverhält-
nisse: Gemeinschaft, Rechtsverhältnis, Kampf- und Machtverhältnis. Das bloße
Gewaltverhältnis dagegen ist ein Verhältnis für sich, das außerhalb der ^ge-
sellschaftlichen" Grundverhältnisse steht. 2. Wie Nietzsche der klassische Ver-
treter der Kampf- und Machtmoral oder die christliche Moral der typische Aus-
druck einer Gemeinschaftsmoral, ebenso ist Kant der klassische Vertreter der
Rechtsmoral. Auch in der Ethik schweben ihm durchweg Rechtsverhältnisse
vor, und ihr letzter Sinn kommt auf die Forderung hinaus, das menschliche Zu-
sammenleben überall auf Rechtsverhältnisse aufzubauen; das ist der Grundge-
danke des langen und gehaltvollen Abschnittes über Kant. Bei der Analyse
seiner Ethik ist M., können wir sagen, von dem Bestrehen geleitet, hinter den
formalen Eigentümlichkeiten seiner Lehre, die zunächst als das ausschließlich
Eigentümliche seines Systems erscheinen, gewisse inhaltliche Besonderheiten
zu erkennen, bei denen sich dann insbesondere enge Beziehungen der Kantschen
Moral zum' Rechtsverhältnis ergeben. M. beginnt mit der Unterscheidung
zwischen der subjektiven und der objektiven Seite der Kantschen Ethik. Die
subjektive Seite wird bezeichnet durch Begriffe wie „Vernunft", „Pflicht",
„Autonomie" usw. Als objektive Eigentümlichkeit tritt uns zunächst das logi-
sche Prinzip der Allgemeinheit, der Rationalität und Gesetzlichkeit entgegen;
dahinter aber das teleologische Prinzip der Menschheit, vermöge dessen
jedes vernünftige Wesen als Zweck an sich selbst anerkannt und mit der
Achtung, die seiner Würde gebührt, behandelt werden soll. Schon in der Grund-
legung der Metaphysik der Sitten und noch auffälliger in der Kritik hat Kant
freilich die reine logische Fassung vor der teleologischen geflissentlich bevor-
zugt. — M. betont weiterhin, daß Kant berechtigt war, sein Moralprinzip als
ein formales den raaterialen Prinzipien der Glückseligkeit und der Vollkommen-
heit entgegenzustellen: ein höchstes Gut zu suchen, lehnt seine Ethik ausdrück-
222 Besprochungen (Metzger).
lieh ab, sich damit begnügend, den menschlichen Dingen, so wie sie sind, eine
gewisse Form und Ordnung zu geben. Von einer Kulturethik ist bei ihm nicht
die Rede. Indem Kant alle anderen Motive des sittlichen Handelns als das
strenge Pflichtbewußtsein ausdrücklich ablehnt, insbesondere^ auch Liebe, Be-
geisterung, Religiosität nicht als vollwertige sittliche Triebfedern gelten läßt,
so bedeutet das auch in sachlicher Hinsicht eine bestimmte Einschränkung
seines ethischen Lebensideals. „Kants ethische Gesinnung, die man aber durch-
aus nicht für die einzig mögliche Sittlichkeit halten darf, ist ganz eigentlich
die Rechtlichkeit, d. h. diejenige Haltung, welche mit gleichsam wissensrhaft-
licher Objektivität allen menschlichen Dingen ihr Recht widerfahren läßt."
Gegenüber der Liebesethik wie der naturalistischen Kampf- und Machtethik ist
„selten oder niemals so rein und vor allem so ideal, aber auch so einseitig" die
Rechtsethik vertreten worden wie von Kant. Das „Recht der Menschen, dieser
Augapfel Gottes", ist für ihn der Kern aller Sittlichkeit. Menschenliebe er-
scheint ihm im Grunde nur als eine „moralische Schwärmerei". Jeder Macht-
wille aber, der sich eines Rechtsbruchs schuldig macht, jede Handlung des Not-
standes, z. B. die Notlüge, erscheint Kant ungeachtet aller Dringlichkeit der
Antriebe grundsätzlich wegen ihrer Verletzung der Rechts- und Moralordnung
als ein schweres Unrecht.
M. betont dabei, daß diese Stellung Kants nicht nur durch eine gewisse
Einseitigkeit, sondern auch durch positive Kräfte, vor allem durch eine fast
religiöse Begeisterung für das „Recht der Menschen" bestimmt war. Er scheint
mir dabei freilich in der Schätzung der Kantschen Ethik, für die er sich im
Prinzip in zutreffender Weise auf die grundlegende Bedeutung des Rechtes für
das moderne Wirtschafts- und Gesellschaftsleben überhaupt beruft, doch zu
weit zu gehen. Dagegen trifft es gewiß zu, wenn M. in origineller Weise die
Eigenart der Kantschen Ethik mit gewissen Bewegungen seiner Zeit in Zu-
sammenhang bringt, nämlich mit dem Kampf gegen die feudale Gesellschafts-
ordnung und dem Drängen auf eine neue „demokratische" Gesellschaftsordnung,
die -den naturrechtlichen Forderungen der Freiheit und Gleichheit entsprechen
sollte. Patriarchalisches Wohlwollen und allgemeine Menschenliebe versuchten
damals vergeblich, die Schäden der alten Gesellschaftsordnung auszubessern:
darauf sei Kants Verurteilung der bloßen Menschenliebe und ihre Zurückstellung
hinter die Erfüllung der strengen Rechtspflichten zurückzuführen. Als große
Aufgabe der Zeit habe ihm mehr unbewußt als bewußt eine Reform der Ge-
sellschaftsordnung vorgeschwebt, die die Rechte unter den Menschen anders
verteilen sollte. Für ihre Durchführung aber war eine Gesinnung erforderlich,
die das Recht zum Angelpunkt der Sittlichkeit macht.
In den Einzelausführungen bekennt sich M. zunächst ebenfalls zu der An-
schauung, daß die Formel des kategorischen Imperativs keine eigentliche Er-
kenntnisquelle für das sittliche Urteil bedeutet, sondern mehr einen didakti-
schen Wert hat, indem sie uns den betreffenden Tatbestand gleichsam unter
einem Vergrößerungsglase zeigt. — Bei der Durchführung der Sittenlehre hat
Kant sich nicht auf die eigentlichen Rechtswerte beschränkt, sondern auch den
„höheren" Lebenswerten, der Liebe und „Teilnelmmng", wie auch der Voll-
kommenheit eine Position im Reiche der Werte zugestanden. Darin liegt, sagt
M. wohl mit Recht, eine Unfolgerichtigkeit, sofern die sittlichen Aufgaben der
letzteren Art sich Jogischer Weise aus dem Kantschen Moralprinzip nicht ab-
leiten lassen, indem sie sowohl dem Prinzip der Allgemeinheit und Rationalität
als dem der (bloßen) Menschenwürde zuwiderlaufen. Die ganze Charakteristik
der Moralgebote als Gebote von unbedingt allgemeinem und notwendigem, da-
her a priori angebbarem Charakter paßt eben nur auf die sogenannten „voll-
kommenen" Pflichten. — Es entspricht dem hier angedeuteten Gegensatz einiger-
maßen, wenn Kant in der Metaphysik der Sitten dem Gebiet der Rechtspfiichten
die „Form" zuweist, für die irrationalen Tugendpüichten aber die Termini „Ma-
terie" und „Zweck" verwertet.
Berlin. Alfred Vierkandt.
Besprechungen (Stammler). 223
St ammler, Rudolf, o. ö. Professor an der Universität Berlin, Sozialismus
und Christentum. Erörterungen zu den Grundbegriffen und Grundsätzen der
Sozialwissenschaft. Leipzig*. 1920. Verlag von Felix Meiner. Geheftet 18,75 Mark,
gebunden 25 Mk. VII und 171 Seiten.
Rudolf Stammler hat durch sein bedeutsames, von den einen lebhaft be-
grüßtes, von den andern scharf angegriffenes Werk „Wirtschaft und Recht
nach der materialistischen Geschichtsauffassung", das 1914 in dritter Auflage
erschienen ist, schon vor beinahe einem Vierteljahrhundert (1896) in den Kampf
um die theoretische Grundlegung des Sozialismus wirkungsvoll eingegriffen. Wir
haben seine Leistung damals in einem Sonderaufsatz unter dem Titel ,.Eine
Sozialphilosophie auf Kantischer Grundlage" in den „Kantstudien" (I. 197 ff.)
gewürdigt und haben auch in unserer „Geschichte der Philosophie (Bd. II
§72.3) ausführlich darauf hingewiesen. Ebenso auf seine rechtsphilosopliische
Ergänzung jenes sozialphilosnpuischen Werks in der „Lehre vom richtigen
Recht" (1902); wozu dann 1911 noch die umfassende „Theorie der Rechtswissen-
schaft" trat. Wir dürfen uns daher in der Besprechung der jetzt veröffent-
lichten kleineren Schrift kurz fassen.
Denn Stammler hat, wie zu erwarten war, in allen wesentlichen — und als
das Wesentliche betrachtet er mit Recht auch in der Sozialphilosophie, mit Kant
und dem Kritizismus, die geübte Methode — seinen Standpunkt von 1896 bei-
behalten, wenn auch die Art der Darstellung, auf 164 Kleinoktavseiten, eine
populärere und gedrängtere ist. Leicht freilich schreibt er niemals, und die Zu-
hörer seiner Vorträge im „Apologetischen Seminar" zu Wernigerode Oktober
1919, aus denen die Schrift hervorgegangen ist, werden sich schon haben an-
strengen müssen, um seinen Gedankengängen zu folgen, die gleich mit ziemlich
abstrakten Themen einsetzen, während die dazwischen eingeschalteten histo-
rischen Partien, z. B. Abschnitt 13: „Zur Geschichte der sozialistischen Be-
strebungen, die Geschichte der sozialen Theorien (Abschnitt II), die Uebersicht
über christlich-sozialistische Versuche (S. 74, 89) u. a., trotz ihrer sehr ge-
drängten Zusammenfassung, den Fachmann wie den Laien in gleicher Weise
anziehen werden.
Das eigentlich Neue, wovon in den früheren Werken des Verfassers, we-
nigstens unserer Erinnerung nach, nichts zu finden war, ist die Wertung des
Christentums im Verhältnis zum Sozialismus. Und hier scheint mir doch
bei dem das Gefühlsleben sonst gern und mit Recht aus der Wissenschaft aus-
schließenden Verfasser das Gefühl, die persönliche Ueberzeugung einigermaßen
mitzusprechen und ihn zu günstig für das Christentum, zu ungünstig für den
Sozialismus zu stimmen. Gewiß wird auch der denkende Sozialist die sozialisti-
sche Wirtschaft immer nur als bedingtes Mittel zu einem unbedingten, unend-
lichen Zweck (vgl. S. III, 161) auffassen. Aber gerade weil wir mit Stammler
das soziale Ideal als „richtenden Plan" (S. 96), als „gedachten Blickpunkt"
(S. 132) auffassen, vermögen wir auch dem Christentum nicht jene Ausnahme-
stellung zuzubilligen, die in dem Satze Stammlers liegt: „Wer immer als Be-
rater und Helfer in den Geisteskampf unserer Tage eintreten mag, der kann vor
sich selbst nur dann bestehen, wenn er versucht, den unverlierbaren Gehalt des
Christentums in die Sprech- und Denkart des nach Weltanschauung Ringenden
zu übertragen" (S. 161 ohen). Andererseits wird der Sozialismus unterschätzt,
wenn der Verfasser meint: „diejenigen würden aus dem Felde des Irrtums nicht
herauskommen", die da meinten, daß „durch den Sozialismus ein neues Problem
für des Menschen Geist und Gemüt aufgeworfen worden sei" (S. 155). Der frü-
here Stammler würde auch kaum von dem „stieren Hin^tarren" auf die Ver-
gesellschaftung der Produktionsmittel, von „sklavischer Abhängigkeit von diesem
begrenzten Mittel", von dem „hohlen Schlagwort" der Sozialisierung (S. 144) ge-
sprochen und selbst im Vergleich (zürn Christentum) den wirtschaftlichen So-
zialismus nicht mit einer „Eisenbahnverkehrsordnuug" (S. 162) gleichgesetzt
haben1). Mir scheint, daß in dieser Hinsicht Stammler an Tiefe wie an Höhe
1) Stammler hätte auch, da er die Schriften von Max Adler, 0. Bauer, E.
Bernstein, Kautsky, Labiola, Renner u. a. kennt, auf sie nicht das in anderem
224 Besprechungen (Stammler-Unger).
der Auffassung hinter dem „Sozial-Idealisraus" seines Freundes Paul Natorp
zurückgeblieben ist.
Das hindert uns jedoch nicht anzuerkennen, daß im übrigen Stammlers
Buch nicht bloß eine Fülle wertvollster Einzelbemerkungen in sich birgt, son-
dern namentlich auch die sozialwissenschaftlichen Grundbegriffe mit jener ziel-
sicheren Methode bearbeitet, die aus seinen größeren Werken bekannt ist.
Münster i. M. Karl Vorländer.
Unger, Erich, Politik und Metaphysik. Erste Veröffentlichung der
Theorie: Versuche zu philosophischer Politik. Berlin. 1921. Verlag David. 58 S.
5 Mk. und Sortimenterzuschlag.
Das Thema probandum der Arbeit ist: Jede nicht metaphysisch fundierte
Politik ist notwendig Katastropbenpolitik. Dieser Satz kann aber nur verstanden
werden auf Grund einer neuen Bestimmung des Begriffs „Metaphysik". Es gibt
nämlich nach U. zwei Arten des Fortschritts in der Erkenntnis: die eine hat
innerhalb einer bestimmten Erfahrungsstruktur statt; — hierunter fallen die
Fortschritte der Naturwissenschaften, die bis ins Unendliche gehend immer
unterhalb der von der Transzendentalphilosopbie festgestellten „reinen" Natur-
gesetze bleiben. Die zweite Art des Fortschritts aber ist eine Erfahrung, die
ihrer Struktur nach neu ist, die ein Fortschritt gegenüber dem — in seiner
Struktur erfaßten — Ganzen der gegebenen Erfahrung ist. Und diese — zu-
nächst nur begrifflich mögliche — Art der Erkenntnis ist nach U. Metaphysik.
So daß er dem alten Begriff der spekulativen Metaphysik den einer erfahrbaren
gegenüberstellt. Dieser Bereich der erfahrbaren Metaphysik wird nun bei U.
durch das psychophysiologische Problem bezeichnet. Denn als dessen Lösung
läßt Verf. keinerlei Theorie über das gegebene Verhältnis von Körper und Geist
zu, fordert vielmehr eine unmittelbar anschauliche Erkenntnis der faktischen
Wurzel des psychophysiologischen Zusammenhangs. Und eine solche ist aller-
dings im strukturellen Bereich der gegebenen Erfahrung nicht zu vollziehen;
sie verlangt vielmehr, wie Verf. mit Kecht sagt, eine Erweiterung der Erkenntnis
in ganz anderer Richtung, als sonst eine Erweiterung der empirischen Erkenntnis
gewonnen wird. Denn ihr steht derjenige Bereich der Sinnlichkeit in Frage, der
die gewöhnliche Empirie (Material) ermöglicht.
Auf dem Wege dieser Steigerung des Bewußtseins soll nun nach U. auch
die politische Problematik ihre Lösung finden. Denn die politischen Katastrophen
sind — wie Verf. nachweist — darin begründest, daß die politische Wirklichkeit
den von der Theorie ausgehenden Gestaltungsversuchen immer schon um ein
Stück voraus ist: die Theorie greift nie an die natürlichen Grundlagen der
politischen Wirklichkeit, greift nie die Tatsache der Koexistenz einer Vielheit
von Menschen an der Wurzel an; sie steht der Vielheit als einer Summe von
Einzelexistenzen gegenüber, — begreift sie aber nicht aus der Struktur der
Einzelindividuen als deren notwendige Existenzform. Das aber sucht U. zu be-
weisen: daß die Realität der Gesamtheit physische und psychische Erscheinung
am Einzelnen ist. Als solche wahrnehmbar aber freilich nur in dem erwähnten,
von U. postulierten Stadium des gesteigerten Bewußtseins.
Durch diese Einschränkung werden nun zwar die von U. aus seiner^ Grund-
these gezogenen positiven Konsequenzen in Frage gestellt, — solange nicht die
Anschauung, deren Möglichkeit er selbst als unerläßlich bezeichnet, de facto
vorliegt. Trotzdem aber kommt der Arbeit gleich große praktische wie theore-
tische Bedeutung zu: praktische, weil sie, wie uns scheint, den Beweis für das
disjunktive Urteil erbracht hat: entweder das psychophysiologische Problem wird
in der angedeuteten Weise gelöst oder die politischen Katastrophen dauern not-
wendig bis in alle Ewigkeit; theoretische wegen der Aufstellung des Begriffs
einer erfahrbaren Metaphysik und der Vindizierung einer naturhaften ontologi-
schen Grundlage der Politik, ohne in den Fehler des Empirismus zu verfallen.
Berlin. Dr. Adolf Caspary.
Zusammenhange gehaltene Wort Cunows anwenden dürfen. Die sozialistische Lite-
ratur über materialistische Geschichtsauffassung beschränke sich auf bloße Agi-
tationsbroschüren oder Popularisationen Marx-Engelscher Schriften (S. 59).
Besprechungen (Wichmann — Wilbrandt). 225
Wichmann, Ottomar, Dr. phil., Privatdozent an der Universität Halle,
Philosophie und Politik. Halle (Saale 1920). Verlag von Max Niemeyer.
16 Seiten.
In der vorliegenden kleinen Arbeit, die als Antrittsvorlesung an der Uni-
versität Halle diente, sucht Verf. die Beziehungen der Philosophie zur Politik,
die Wirkung philosophischer Gedanken auf die Gestaltung politischer Verhält-
nisse an geschichtlichen Beispielen aufzuweisen und in ihrem Werte klarzulegen.
Gegenüber den Behauptungen der materialistischen Geschichtsauffassung, wie
sie in den kanonischen Schriften der Sozialdemokratie, bei Marx und Engels vor-
liegt, zeigt er, daß es nicht nur materielle — in diesem Falle also wirtschaft-
liche — Ursachen waren, die zu den verschiedenen Formen und Stufen histo-
rischen Geschehens geführt haben, sondern stets gedankliche Motive, philoso-
phische Ideen, deren charakteristisches Merkmal gerade in dem Gegensatz gegen
jede Art materieller Bedingtheit, in ihrer „Unbedingtheit" liegt. Der Nachweis
hierfür wird u. a. an dem Einfluß der christlichen Idee und ihren Ausprägungen
in den verschiedenen christlichen Sekten bis auf die Hussiten und Bilderstürmer
auf den Gang der Geschichte geführt. In der Menschheitsidee im umfassendsten
Sinne sieht Wichmann nun die „einzige Möglichkeit, eine Staatsidee zu schaffen,
die dem deutschen Geiste gerecht wird." Das Schriftchen bietet trotz seines
geringen Umfanges gerade unserer Zeit genug des Anregenden.
Berlin-Wilmersdorf. Maximilian Ab ich.
Wilbrandt, Kobert, o. ö. Professor an der Universität Tübingen, Oeko-
nomie. Ideen zu einer Philosophie und Soziologie der Wirt-
schaft. Tübingen. 1920. Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 152 Seiten.
Zu dem seit etwa 15 Jahren währenden Streit über die wissenschaftliche
Methode der Nationalökonomie nimmt nunmehr Wilbrandt mit der ganzen Leiden-
schaftlichkeit eines von seiner Berufung durchdrungenen Forschers das Wort.
Max Webers temperamentvolle Angriffe auf die Werturteile in der nationalökono-
misehen Wissenschaft und die sich daran knüpfenden Auseinandersetzungen des
Vereins für Sozialpolitik einerseits, der politischen Gegner des Kathedersozialismus
andererseits, haben die Frage nach der Aufgabe der ökonomischen Forschung in
den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gerückt. Ist die Wirt-
schaftswissenschaft eine normative Wissenschaft oder hat sie sich mit der Deskrip-
tion der Tatsachen zu begnügen?
In dem ersten Teil seines Buches, welcher „Ideen zu einer Philosophie der
Wirtschaft" enthält, sucht Wilbrandt nach einer neuen, allgemeingültigen Norm
für die ökonomischen Werturteile. Mit Max Weber weist er die Ansprüche der
Ethik, diese Normen zu geben, als Subjektivismus zurück. Aus dem Grundprinzip
der Wirtschaft selbst soll die Norm für die nationalökonomische Wertung er-
schlossen werden. Dieses Grundprinzip der Wirtschaft ist das allgemeine Be-
mühen, für künftiges Wollen die Mittel bereitzustellen. Damit wird die National-
ökonomie bestimmt als eine Wissenschaft ausschließlich von den Mitteln irgend-
welcher Zwecke, deren Bestimmung nicht Aufgabe der ökonomischen Forschung
ist. Die abzugebenden Werturteile stellen sich damit als hypothetische Wert-
urteile dar, die nur unter bestimmten vorausgesetzten Wertungen oder Bestre-
bungen gelten. Wilbrandt sagt nun (S. 18): „Eine solche rein hypothetische Be-
wertungsmöglichkeit ist auch durch das Oekonomische gegeben. Von allen son-
stigen Wertungen und Bestrebungen abstrahierend kann man ein System objek-
tiver Werturteile schaffen, wenn man von der einen Voraussetzung ausgeht, daß
gewirtschaftet werde: was für die Wirtschaft zweckdienlich, also wirtschaftlich
oder ökonomisch ist, das ist unter diesem Gesichtspunkte gut oder wertvoll." Und
(Seite 22): „Abstrahiert wird vorläufig noch von aller Besonderheit der Einzel-
form, welche die Wirtschaft in der Gesellschaft annehmen kann; nur daß über-
haupt eine Gesellschaft da sei, daß irgend welche Beziehungen zwischen den
Menschen eine Gesellschaft bilden, wie sie von fortschreitender Oekonomie in
immer steigendem Maße gefordert wird, ist vorausgesetzt. . . . Die Wirtschaftlich-
keit vertritt das Gemeinsame Aller, also der Gesellschaft. Denn eben das Ab-
Kantatndien XXVII. 15
226 Besprechungen (Wilbrandt).
strahieren vom Subjektiven der persönlichen Zwecke, Werte usw. läßt uns das für
Alle Vorteilhafte, weil für je de Wirtschaft Fördernde, also das für die Gesell-
schaft allein Maßgebende, in der Wirtschaftlichkeit finden."
Nach solcher Festlegung einer nach Wilbrandts Meinung ausschließlich aus
seiner oben genannten Definition des Prinzips der Wirtschaft abgeleiteten for-
malen und abstrakten Norm wird nun die Oekonomie der Produktion im einzelnen
untersucht, d. h. die Normen für die Anwendung der einzelnen Produktionsmittel
bestimmt. Für die Verwendung der Arbeit in der Produktion gilt die Norm:
möglichste Arbeitsersparnis im allgemeinen, sowie eine möglichste Ersparnis an
den einzelnen Elementen des dabei vor sich gehenden Aufwandes an inneren
Gütern. Für ihre gesellschaftliche Anwendung folgt daraus die „Wiedervereinigung
verschiedener Arbeit in derselben Hand auf Grundlage der dies erst ermöglichenden
äußeren Feinheit der Arbeitsteilung" (Seite 43), sowie eine möglichst weitgehende
Anwendung der Technik. Das Grundgesetz der organischen Produktion, d. h. der
Anwendung der Naturkräfte, heißt für die Landwirtschaft „als ihr Eigenstes und
Besonderes nicht Arbeitsersparnis, sondern Bodenausnutzung" (S. 54), während
die maßgebende Norm der industriellen Produktion ist: „Ersatz sonst fehlender
und arbeitsbelastender organischer durch massenhaft vorhandene und arbeits-
sparende anorganischer Natur" (Seite 58).
Auch die Gesetze der Konsumption leitet Wilbrandt aus seiner oben ge-
wonnenen abstrakten Norm ab. Es ergibt sich ihm in der Bevölkerungsfrage, daß
sowohl zu viel wie zu wenig Konsumenten ihre Zwecke nur mit einem gesteigerten
Aufwand an inneren Gütern erreichen (S. 67). Für die Oekonomie der Bedürfnisse
folgt daraus optimale quantitative Begrenzung und qualitative Auswahl der Mittel
zur Erreichung der Zwecke mit besonderem Hinblick auf eine dadurch erreichte
optimale Steigerung der Leistungsfähigkeit für die Produktion. Damit aber nicht
„auf der einen Seite eine Einschränkung unter das Lebensminimum, die Leistungs-
fähigkeit untergrabend, die Regel ist, auf der anderen dagegen ein Uebermaß,
daß die entferntesten Befriedigungen noch mit raffiniertem, ungeheurem Aufwand
anstrebt" (S. 82), muß der Bedarf eine bestimmte Verteilung der Güter zur Grund-
lage bekommen nach der Formel: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach
seinen Bedürfnissen" (S. 87). Dieses Ideal, . . . das aus den Prämissen allgemeiner
Oekonomie . . . abgeleitet (S. 87) ist, erfordert schließlich eine Umgestaltung der
gesellschaftlichen Beziehungen mit dem Ziele:. Friede durch Selbstbeschränkung
des Individuums auf seine ökonomisch berechtigten Zwecke.
Der zweite Teil des Werkes, der Ideen zu einer Soziologie der Wirtschaft
enthält, bringt die „Konkretisierung abstrakter Oekonomie in den Gesellschafts-
formen oder -stufen, in denen allein sie geschichtlich auftritt und allmählich zur
Entwicklung gelangt ... Es handelt sich um Formen und Arten wie bei Linne
und zugleich um Entstehung der Arten, um Entwicklung der einen aus der an-
deren, wie bei Darwin" (S. 101). Wilbrandt findet vier solcher Stufen, die sich
ihm einmal als historische Aufeinanderfolge, zugleich aber auch als eine Art
Selbstentfaltung des ökonomischen Prinzips zu immer größerer Vollkommenheit
darstellen. Von der mehr oder weniger auf Gewalt beruhenden Stufe der Allein-
wirtschaft steigt die Entwicklung zu der, äußere und innere Güter besser nutzen-
den, immer noch aber mit schlechter Oekonomie der Verteilung behafteten Tausch-
wirtschaft auf, deren Mangel die demokratische Organisation der Gemeinwirtschaft
unter Führung der Unterklasse überwindet, um selbst erst als Hingabewirtschaft,
alle Motive des Eigennutzes abstreifend, in reiner Verwirklichung des Gemein-
schaftsgedankens zu voller Oekonomie zu gelangen. —
Die Kritik der Wilbrandtschen Darlegungen hat von seiner Definition des
Wirtschaftsbegriffes auszugehen. Durchaus zutreffend bestimmt er die National-
ökonomie als die Wissenschaft von den Mitteln unter Ablehnung willkürlicher
Zwecknutzung. Folgerichtig ergibt sich daraus der hypothetische Charakter aller
ökonomischen Werturteile. Dann hat es aber keinen logischen Sinn, wenn Wil-
brandt „das Oekonomische" als allgemein gültigen Zweck und damit als Grund-
lage für die Verwandlung des hypothetischen Werturteiles in ein kategorisches
postuliert. Wer untersuchen will, was „überhaupt der Wirtschaft" entspricht,
Besprechungen (Wilbrandt). 227
kommt besten Falles zu leeren analytischen Urteilen von der Art, wie sie oben
über die Oekonomie der Bevölkerung ausgesprochen werden. Gerade W.s metho-
dischem Ausgangspunkt entspricht es, daß erst durch Einfügung konkreter natür-
licher Produktionsbedingungen sich inhaltlich bestimmte Normen für die Oeko-
nomie der Produktion aufstellen lassen.
Dieser unausweichliche logische Zwang zeigt sich denn auch überall wirk-
sam, wo W. zu inhaltlich fixierten Normen kommt. Er beginnt den Abschnitt über
Menschenökonomie (S. 33) mit der Bemerkung, daß er sich nunmehr zu den
inneren Gütern wende, „zu denen in uns selbst, in den Wirtschaftenden von heute
und morgen, oder ganz allgemein in den Menschen." Da er im weiteren Verlaufe
von den Wirtschaftenden von heute und morgen und also gerade nicht ganz all-
gemein von den Menschen redet, kommt er durchaus folgerichtig zu der Forde-
rung einer möglichst rationellen Verwertung der Menschenkraft, die für eine mit
Ueberfluß an Sklaven arbeitende Plantagenwirtschaft gewiß nicht gilt. Ebenso
steht es mit den ökonomischen Normen für die Arbeit und ihre Organisation, so-
wie für die gegenüber der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion auf-
gestellten Thesen. Ueberall sind die konkreten, natürlichen Bedingungen der
gegenwärtigen Gesellschaft in den „von allen Konkreten der Einzelwirklichkeit
abstrahierenden" (S. 21) Begriff der Wirtschaft hineingedacht.
Auf keinem anderen Wege sind die für die Verteilung und die Organisation
der Gesellschaft aufgestellten Normen gefunden. Ihre Konkretisierung aus dem
formalen Prinzip der Wirtschaftlichkeit kann nur durch Zugrundelegung eines
inhaltlich bestimmten Rechtszustandes oder einer konkreten Wirtschaftsmoral der
betreffenden Gesellschaft erreicht werden. Hier legt Wilbrandt aber nicht den in
der ihn umgebenden Wirklichkeit geltenden rechtlichen und moralischen Tat-
bestand zugrunde, sondern einen nach den Maßstäben sozialer Ethik geforderten.
Anders könnte er nicht sagen (S. 22), daß die Wirtschaftlichkeit das für alle
Vorteilhafte, also das für die Gesellschaft allein Maßgebende darstelle. In einer
auf Gewalt und Ausbeutung aufgebauten Gesellschaft ist das für die Gesellschaft
allein Maßgebende gewiß nicht das für alle Vorteilhafte. Wenn Wilbrandt aus der
ökonomischen Norm die Ablehnung einer Verteilungsordnung mit Ausbeutung ab-
leitet, so schiebt er den aus keinem formalen Prinzip ableitbaren Zweck einer
gerechten Verteilung in den seiner Behauptung nach „aus den Prämissen all-
gemeiner Oekonomie" gefundenen Verteilungsbegriff hinein.
Bei den Ergebnissen dieses ersten, der Absicht nach rein philosophischen
Teiles ist also keineswegs von aller konkreten Gestaltung (S. 99) abstrahiert
worden. Auch hat die Gesellschaft dabei „nicht im Hintergrunde gestanden"
(S. 99), sondern die natürlichen Voraussetzungen des gegenwärtigen abendländi-
schen Gesellschaftszustandes haben sich in das Bewußtsein des Betrachters ein-
geschlichen, gewertet an dem Maßstab einer sozialen Ethik, oder in Wilbrandts
Terminologie : der erste Teil seines Buches stellt nicht eine Philosophie der Wirt-
schaft, sondern die Darlegung der Struktur einer bestimmten historischen Stufe,
nämlich der Hingabewirtschaft, dar, angewendet auf die natürlichen Produktions-
bedingungen der gegenwärtigen Gesellschaft.
In der Darstellung der Wirtschaftsstufen des zweiten Teiles gibt Wilbrandt
eine sehr fruchtbare Skizze zu einer Morphologie der Wirtschaftsformen. Wenn
er freilich die von ihm angeführten konkreten Gebilde einmal als historische Ent-
wicklungsreihe, zugleich aber als sinnvolle Entfaltung des ökonomischen Prinzips
auffaßt, so ist die Struktur dieser Wirtschaftsform noch nicht in ihrer letzten
Reinheit bloßgelegt. In diesen vier Stufen ist jeweilig eine bestimmte natürliche
Entwicklungshöhe der Menschheit mit einer bestimmten Gesellschaftsmoral zu
einem Sozialgebilde verschmolzen. Der Charakter einer notwendigen histori-
schen Entwicklung kommt aber nur dem einen Gestaltungsprinzip, nämlich der
Entfaltung der natürlichen Bedingungen der Menschheit, zu. Im Sinne einer
historischen Aufeinanderfolge sind die Gesellschaftsmoralen zufällig. Es ist
durchaus denkbar, daß die drei wesentlichen Typen der Gesellschaftsmoral: Ge-
waltmoral, Vertragsmoral, Gemeinschaftsmoral, mit jeder natürlichen Entwicklungs-
stufe ein historisch wirkliches Gesellschaftsgebilde gestalten können. So haben
15*
228 Besprechungen (Wilbrandt).
neuere ethnologische Forschungen ergeben, daß gewisse Urvölker auf primitivster
natürlicher Entwicklungsstufe mit einer höchstentwickelten Gemeinschaftsmoral
einen gesellschaftlichen Zustand verwirklichen, der den Wilbrandtschen Forde-
rungen der Hingabewirtschaft weit mehr entspricht, als er dies selbst für die
Urzustände annimmt. Die vier von Wilbrandt aufgewiesenen Stufen stellen die
Entwicklungsstufen der abendländischen Menschheit in geschichtlicher Zeit dar.
Diese haben aber, nicht zuletzt im Hinblick auf die minimale Zeitspanne, die un-
sere geschichtliche Erkenntnis überschaut verglichen mit der tatsächlichen Ent-
wicklung menschlicher Gesellschaftsbildungen, keine so typische Bedeutung, daß
sie als die allein denkbaren dargestellt werden dürften. Vielmehr wird es die
Aufgabe einer Morphologie der Wirtschaftsformen sein, alle möglichen idealen
Typen von Sozialgebilden auf ihre inneren Strukturzusammenhänge zu unter-
suchen. Nur dies kann auch die Aufgabe des von Wilbrandt am Schlüsse seines
Buches angekündigten allgemeinen Systems der Oekonomie sein. Das vorliegende
Buch leistet auf diesem gänzlich unbeackerten Boden ausgezeichnete Vorarbeit.
Insbesondere gibt der erste Teil, so wenig er die gestellte Aufgabe einer formalen
Philosophie der Wirtschaft löst, *eine ausgezeichnete Klarlegung der Struktur-
zusammenhänge einer Gemeinschaftswirtschaft. Auch kann Wilbrandts Leistung,
gegenüber dem alle sonstigen Auseinandersetzungen beherrschenden Gesichtspunkt
der Tauschwirtschaft die Möglichkeit einer davon ganz unabhängigen Betrachtung
anderer Wirtschaftsformen unter einem mehr als historischen Interesse klargelegt
zn haben, garnicht hoch genug angeschlagen werden. Er hat damit auch für die
soziologische Grundlegung des sozialistischen Gedankensystems überaus Wichtiges
geleistet.
Der Methodenstreit der Nationalökonomie aber kann gerade von dem rich-
tigen Ausgangspunkt Wilbrandts aus nur so gelöst werden, daß die gültigen
außerökonomischen Ziele für die ökonomische Wissenschaft von den Mitteln
dort gefunden werden, wo der Maßstab alles praktischen Handelns zu suchen ist :
in den Geboten der Sittlichkeit. Die bei dem gegenwärtigen Stand der ethischen
Auffassung in der Philosophie drohende Gefahr des Subjektivismus zu überwinden,
liegt allerdings nicht im Machtbereiche der ökonomischen Forschung.
Berlin. Dr. Adolf Löwe.
Selbstanzeigen.
Schopenhauer -Gesellschaft, Zehntes Jahrbuch 1921. Carl Winters
Universitätsbuchhandlung, Heidelberg. IV u. 177 Seiten. Preis 30 Mk»
Das Buch enthält: Hans Zint, „Schopenhauers Philosophie des doppelten
Bewußtseins"; Carl Gebhardt, „Schopenhauer und die Eomantik"; Hans
Taub, „Adam Ludwig von Doß. Zu seinem 100. Geburtstag (15. Februar 1920)"
(enthält bisher unveröffentlichte Briefstellen und Aphorismen dieses in seiner
Bescheidenheit niemals mit Publikationen hervorgetretenen Schopenhauer-Jün-
gers); Constantin Großmann, „Die Kossaksche Eezension" (teilt Kossaks
auf Grund Schopenbauerscher Gedanken über die Oper an Eichard Wagner
geübte Kritik im Wortlaut mit); Franz Mockrauer, „Zur Biographie Arthur
Schopenhauers. (Vermischte kleine Beiträge auf Grund neuen urkundlichen Ma-
terials.)"; Edmund 0. von Lippmann, „Aus Schopenhauers letzten Lebens-
jahren"; Arthur Prüfer, „Arthur Schopenhauers Abhandlung 'Transzenden-
tale Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Ein-
zelnen4, im Lichte der Weltanschauung Bichard Wagners (,Was nützt diese Er-
kenntnis?')"; Franz Eiedinger, „Dennoch oder Demnach?"; Eudolf
Borch, „Nachträge zur Schopenhauer-Bibliographie für die Jahre 1913 — 1918"
und „Schopenhauer-Bibliographie für das Jahr 1919"; ferner Mitteilungen
und Mitgliederverzeichnis der Schopenhauer-Gesellschaft; beige-
fügt ist das Faksimile zweier Seiten aus Schopenhauers Handexemplar von
Hegels „Encyklopädie", 2. Aufl. 1827, mit Eandglossen.
Schopenhauer-Gesellschaft.
Baeumler, Alfred, Hegels Aesthetik. Unter einheitlichem Gesichts-
punkte ausgewählt; eingeleitet und mit verbindendem Texte versehen. München.
1922. C. H. Beck'sche Verlagshandlung Oskar Beck. 249 S.
Die Auswahl macht den Versuch, den Gehalt der Hegel'schen Aesthetik
unabhängig von ihrer, durch die dialektische Methode bestimmten äußerlichen
Systematik herauszustellen. ' Sie folgt daher nicht dem Gange der Vorlesungen,
sondern stellt nach sachlichen Gesichtspunkten das zusammen, was innerlich
zusammengehört. Der Nachdruck ist auf den reichen geschichts-philosophischen
Ertrag der Hegel'schen Aesthetik gelegt. Als Höhepunkt erscheint nicht die
(veraltete) Systematik der Künste, sondern eine Philosophie der Geschichte
der Kunst. — Die einzelnen Stücke werden, vor allem in dem Teil, der die
Metaphysik der Kunst behandelt, durch überleitende Zwischensätze des Heraus-
gebers verbunden. Dieser Teil kann als eine Art Einführung in die Logik der
Idee gelten. Besonderen Wert wurde auf die Herausarbeitung des Zusammen-
hangs der Kunstphilosophie Hegels mit Schillers Aesthetik gelegt. In der Ein-
leitung wird die Geschichte der Begriffe „klassisch" und „romantisch" („sym-
bolisch") angedeutet und die Bedeutung der Hegel'schen Aesthetik für die Gegen-
wart entwickelt. Dem Verhältnis von Kunst, Eeligion und Philosophie ist ein
eigener Abschnitt gewidmet.
Nürnberg. Dr. Alfred Baeumler
Feldkeller, Paul, Dr., Graf Keyserlings Erkenntnisweg zum Übersinnlichen.
Die Erkenntnisgrundlagen des „Eeisetagebuches eines Philosophen". OttoEeichl,
Darmstadt. 1922. 191 Seiten.
Das Buch ruht auf dem festen Grunde der Kantischen Vernunftkritik, na-
mentlich auf der fundamentalen Einsicht, daß unser wissenschaftliches („hoch-
europäisches") Denken zur Gewinnung metaphysischer Erkenntnis weder direkt
noch indirekt tauglich ist, daß aber gleichwohl die metaphysische Gewißheit
ein, obwohl von der abendländischen Philosophie nicht legitimiertes, tatsäch-
230 Selbstanzeigen (Feldkeller— Guastella).
liches Dasein führt. Kant war der erste Metaphysiker ohne Metaphysik. Seit
ihm führt das tiefste Wissen, dessen der Mensen fähig ist, im Abendlande eine
wilde, illegitime, ungeregelte, ja abenteuerliche Existenz. Das ist ein unhalt-
barer Zustand, wenn man bedenkt, daß Kant nur dem hocheuropäischen Denk-
dialekte das Eecht absprach, über metaphysische Dinge etwas zu bestimmen (ja
nicht, sie zu leugnen!), andere Denkdialekte aber gar nicht untersuchte. Hat
er darum auch die berühmte Frage : „Wie ist Metaphysik als Wissenschaft
möglich,?" endgültig und für alle Zeiten beantwortet, so doch bei weitem nicht
die andere Frage, wie die unleugbar vorhandene metaphysische Gewißheit über-
haupt möglich sei und gedacht werden müsse. Denn als Menschen und Philo-
sophen erblicken wir in dieser Gewißheit unser kostbarstes und wertvollstes,
aber noch von keiner Philosophie legitimiertes d. h. transzendental begründetes
Besitztum.
Diese Arbeit leisten zu helfen, ist die Aufgabe dieses Buches : es enthält
die Grundzüge einer erkenntniskritischen Logik der philosophischen Me-
taphysik. Das philosophisch-metaphysische Denken wird vom ästhetischen
wie religiösen, namentlich aber vom wissenschaftlichen Denken genau unter-
schieden und die herrschende Begriffslogik zugunsten der Intentionslogik ab-
gelöst.
Durch diese Zurückverlegung der absoluten Geltung, Widerspruchslosigkeit,
Autonomie und Apriorität der Gedanken von den manifesten Begriffen in die
Intentionen (Begriffsseelen) wird sowohl dem Kritizismus genug getan, wie dem
Relativismus gesteuert, als auch eine beachtenswerte Gedankenstruktur, wie sie
in Graf Keyserlings „Reisetagebuch eines Philosophen" vorliegt, zu richtigem
philosophischem Verständnis gebracht und ihr geschichtlicher Zusammenhang
mit der klassischen deutschen Philosophie aufgezeigt. Daß die neue metaphy-
sische Denkweise im Gegensatz zum Orient und zu aller modernen Aestheterei
die hellenisch-deutsche Errungenschaft der strengen Zucht des Denkens nicht
nur voll und ganz wahrt, sondern nachdrücklichst betont, in diesem Nachweise
wolle man eine der Haupt ab sichten des Verfassers erblicken.
Schönwalde (Mark). Paul Feldkeller.
Guastella, Cosmo, Professor an der Universität Palermo, Le ragioni
del fenomenismo. Volume primo. (Die Gründe des Phänomenismus. Erster
Band). E. Priulla editore. Palermo. 1921.
Das Motto des Buches ist der Leibnizsche Satz: „Es ist ein großes
Wissen, zu erkennen, was man weiß". Seine Aufgabe ist, den Phänomenismus
zu begründen. D. h. die Lehre, wonach man keine andere Existenz behaupten
kann als diejenige der Phänomene (d.h. der Erfahrung) und daß es keine an-
dere Wissenschaft gibt als diejenige der Gesetze derselben. Dasselbe enthält
die Darstellung der allgemeinen Typen, auf welche die verschiedenen metha-
physischen Systeme der Geschichte der Philosophie zurückgeführt werden, und
gleichzeitig deren Kritik, sowie die Kritik der metaphysischen Denkweise über-
haupt. Diese Kritik sucht hauptsächlich zwei Punkte ins Licht zu setzen:
erstens, daß die Pseudo-Idee und der Widerspruch das Element der Metaphysik
sind, und zweitens, daß die metaphysischen Systeme aller Beweise ermangeln,
sowie auf gewissen trügerischen inneren Augenscheinlichkeiten (idola tribus)
begründet sind, deren psychische Entstehungsprozesse studiert werden, sowie
diejenigen, wodurch sie die verschiedenen metaphysischen Täuschungen hervor-
rufen (idola theatri). Der allgemeine Prozeß, wodurch diese inneren trügerischen
Augenscheinlichkeiten hervorgebracht werden, ist die Tendenz, alle Erscheinungen
und alle unsere Ideen über diese Erscheinungen denjenigen Erscheinungen und
Ideen gleichzusetzen, welche uns am meisten vertraut sind. Dieser Prozeß gibt zu
täuschenden Ergebnissen Anlaß, wenn die Erfahrung, worauf er sich gründet,
obgleich die vertrauteste, doch nicht allgemein und dauernd ist.
Das Buch ist in drei Teile geteilt, deren jedem ein Band entspricht. Bis
jetzt ist nur der erste Band erschienen; der zweite und dritte sind jedoch
schon im Druck.
Selbstanzeigen (Guastella — Marquardt). 231
Der erste Teil enthält drei Abschnitte. Der erste Abschnitt hat als Auf-
gabe, die fundamentalen Prinzipien des Empirismus zu begründen. Diese Prin-
zipien sind wesentlich folgende : Alle unsere Kenntnisse gehen aus der Er-
fahrung hervor; die Sätze, welche an und für sich evident (und deshalb a
priori) erscheinen, entsprechen unserer gewöhnlichsten Erfahrung. Die Evidenz
ist kein Kriterium der Wahrheit; und die syllogistische Deduktion kann keinen
wirklichen Fortschritt des Denkens bilden. Nur durch die Induktion schreitet
das Denken fort.
Der zweite Abschnitt handelt von der Causalität (und deshalb von der Er-
klärung) im metaphysischen und wissenschaftlichen Sinne. Die Causalität im
wissenschaftlichen, d. h. empirischen Sinne ist nichts anderes, als eine unver-
änderliche Succession. Doch unser spontaner Causalitätsbegriff, worauf die me-
taphysische Erklärung 'begründet ist, ist nicht der wissenschaftliche; nach
diesem spontanen Causalitätsbegriff soll nämlich die Fähigkeit der Ursache
die Wirkung hervorzubringen an und für sich evident sein und nicht einfach
eine Tatsache der Erfahrung. Psychologischer Ursprung und allgemeine Kritik
dieses Begriffs. Prüfung der verschiedenen Typen der methaphysischen Er-
klärung , welche aus diesem spontanen Causalitätsbegriff hervorgehen , sowie
der Lehre, wonach es Ursachen in diesem letzten Sinne gibt, dieselben jedoch
unerkennbare sind.
Der dritte Abschnitt handelt von dem Ursprung und Inhalt der Eaum-
begriffe. Der Tast- und der Muskelsinn geben uns an und für sich keine Vor-
stellung des Eaumes (d. h. des Kaumes, welchen wir als objektiv betrachten).
Die Vorstellung des Eaumes, welche uns unsere anderen Sinne als der Gesichts-
sinn geben, sind nichts als Eingebungen (suggestioni) von Gesichtsvorstellungen
durch eine aus der Erfahrung gebildete Assoziation. Die Ausdehnung und alle
Eaumverhältnisse sind unmittelbare Produkte der Gesichtserapfindung und keine
Ergebnisse von psychischen Prozessen. Ursachen (im wissenschaftlichen Sinne)
der Wahrnehmung der dritten Dimension.
Die Frage des Ursprungs und des Inhalts des Eaumbegriffs ist eine un-
entbehrliche Einleitung zu derjenigen über die äußere Welt, welche letztere
den Hauptinhalt des Buches bildet.
Palermo. Cosmo Guastella.
Marquardt, Hans, Der Mechanismus der Seele. Verlag von Theodor
Dittmann, Neumünster. 1921. 158 Seiten.
Der Titel des Buches darf nicht dazu verleiten, es für eine Wiederholung
der sog. mechanistischen Lebensauffassung zu halten. Im Grunde ist der Ge-
gensatz zwischen Mechanismus und Vitalismus ein Streit um Worte. Ist es
unfaßbar, daß das lebende Wesen eine bestimmte „Veranlagung" auf die Welt
mitbringt, aus der seine Individualität zwangsläufig erwächst, so ist es ebenso
unverständlich, daß es einen „Lebenstrieb" besitzt, der zu zweckmäßiger Le-
bensführung, Arterhaltung und Höherentwicklung veranlaßt. Aus beiden Auf-
fassungen folgt mit gleichem logischen Zwang die Notwendigkeit alles Ge-
schehens und damit die Unmöglichkeit freier Willensbestimmung.
Faßt man dies Problem der Probleme scharf ins Auge, so lautet die Frage :
Ist das Tun des lebenden Wesens dem Gesetz der Kausalität unterworfen oder
nicht? — Die Verneinung scheint unserem Denken und Forschen jede Grund-
lage zu nehmen, die Bejahung unserem Empfinden und der Ordnung unseres
Zusammenlebens. Ganz klar ist das Problem nur von der unerbittlichen Logik
Kant's erfaßt worden. Da er die Geltung des Kausalitätsgesetzes nicht in
Zweifel ziehen, andererseits der mit ihm unvereinbaren Freiheit der Willens-
bestiramung sich nicht verschließen kann, knüpft er den Menschen (nicht auch
das Tier) mit einem unsichtbaren Faden an eine andere Welt, in der die Kau-
salität nicht gilt. Ein Ausweg aus dem Dilemma auf dem Boden unserer vom
Kausalitätsgesetz regierten Welt ist bisher nicht gefunden.
Um ihn zu finden, muß man sich klar machen, welche besonderen Folge-
rungen für das lebende Wesen sich aus dem Gesetz von Ursache und Wirkung
ergeben ; denn Wirkungen sind abhängig von der Art des Stoffes, in dem sie
232 Selbstanzeigen (Marquardt — Pos).
ausgelöst werden. Die ihn von allen anderen Körpern unterscheidende Eigen-
schaft des lebenden Wesens besteht in seinem Vorstellungswesen. Es ist nur
so zu erklären, das im lebenden Protoplasma Reaktionen ausgelöst werden, die
Bewußtsein vermitteln. Reaktionen dieser Art sind nicht wunderbarer als un-
endlich viele andere, uns unfaßbare Geschehnisse physikalischer, chemischer,
vegetativer oder animalischer Natur.
Die Bewußtseinsvorgänge befähigen das lebende "Wesen zu denken, zu ur-
teilen, zu wägen. Wenn diese Kraft nicht den Erfolg haben könnte, auch zur
Wahl d. i. zur Ausführung des Urteils zn führen, so würde sie wirkungslos sein.
Mithin ergibt sich gerade aus dem Gesetz der Wirkungsnotwendigkeit einer
jeden Ursache, daß ein Wägevermögen je nach seiner Art und Stärke Wahlver-
mögen werden muß. Unscharfe Vorstellungen bleiben wirkungsschwach. Die
scharfen verdichten sich zum Urteil, gestalten sich zum Willen ; häufiger erlebte
fixieren sich zu Vorstellungsgewohnheiten (Charakter und Temperament).
Größere und geringere Schärfe der Bewußtseinsreaktionen auf den ver-
schiedenen Denkgebieten bewirken partielle Stärke bew. Schwäche des Wäge-
und damit des Wahlvermögens, in der Art wie im Individuum. Das sieht so
aus, als ob das Handeln nur zum Teil von Einsicht und anderen geistigen
Kräften geleitet werde, im übrigen von tierischen Trieben und seelischen In-
stinkten. Aber solche Auffassung von neben und gegen einander wirkenden
Seelenfunktionen, die zudem nicht scharf von einander abzugrenzen sind, ist
im höchsten Grade unökonomisch, jedenfalls unbeweisbar. Die einfachste Lösung
ist immer die wahrscheinlichste. Sie ist stark verdeckt worden, weil die im
doppelten Sinn obersten Erscheinungen des Vorstellungslebens wie Vernunft,
Gewissen, Kunst etc. vorwiegend hervortreten und zur Erklärung aus sich
selbst verlockten. Aufdecken läßt sich der ursprüngliche Zusammenhang nur,
wenn man ganz unten anfängt und von der biologischen Bestimmung der alier-
einfachsten Lebensvorgänge ausgeht.
Messer, A., Erläuterungen zu Nietzsches Zarathustra. Stuttgart,
Verlag Strecker und Schröder. 1922. 170 S. 10 Mk.
In diesem Commentar soll der philosophische Gehalt des Werkes her-
ausgearbeitet werden. Es ergibt sich dabei die innigste Verwandtschaft
von Nietzsches ethischen Grundanschauungen mit dem ethischen
Idealismus eines Kant und Fichte.
Besonderer Nachdruck ist daraufgelegt, den Gedankenzusammenhang
der einzelnen Abschnitte und besonders auch die inneren Beziehungen
zwischen den beiden Grundlehren, der vom „Übermenschen" und
der von „der ewigen Wiederkehr", klar zu stellen. Es ergibt sich dabei,
daß diese nicht — wie man häufig angenommen hat — isoliert und unvermittelt
neben einander stehen und so die philosophische und künstlerische Einheit des
Werkes bedrohen. Die Lehre von der ewigen Wiederkehr wird vielmehr als der
symbolische Ausdruck für das ewig sich gleich bleibende Wesen des Lebens
Dieses Leben mit all seinem Niederziehenden, in all seiner Hoffnungs-
losigkeit (ewiger Wiederkunft auch der „kleinen Menschen") zu ertragen, das
fordert eine seelische Stärke, die nur der aufbringen kann, den die Idee des
„Übermenschen" innerlich bezwungen hat.
Gießen. August Messer.
Pos, H. J., Dr., Zur Logik der Sprachwissenschaft. Heidelberg
1922. Carl Winter'sche Buchhandlung. Beiträge zur Philosophie Nr. 8. 191 S.
Die Schrift wurde im Sommer des vorigen Jahres in Heidelberg als Disser-
tation eingereicht. Sie versucht die Gesichtspunkte der neueren Logik und Er-
kenntnistheorie für eine Untersuchung der Grundbegriffe und Voraussetzungen
der Sprachwissenschaft fruchtbar zu machen. Dabei wird der Gedanke zugrunde
gelegt, daß eine Analyse der logischen Grundlagen der Erkenntnis eines Gegen-
standes durch die Struktur desselben in eigentümlicher Weise mitbestimmt
wird. Die Einleitung versucht das Recht erkenntnistheoretisch-logischer Be-
Selbstanzeigen (Pos — Reininger). 233
sinnung für die Sprachwissenschaft, die bis heute hauptsächlich empirische
Wissenschaft ist, mit Hinweis auf Kant's Grundlegung der Naturwissenschaft
zu begründen.
Das Kapitel: Gegenstand und Methode beginnt dem in der Einleitung
vorgetragenen Programm gemäß mit einer Analyse der logischen Grundmomente
am Gegenstand: Sprache, der sich als ein mehrfach-gegliederter, in Schichten
auseinanderfallender erweist. Außerdem stellt sich heraus, daß jeder sprach-
liche Gegenstand an ein dahinterstehendes Psychologisches „sich anlehnt". Die
ganze Struktur unserer Erkenntnis sprachlicher Tatsachen erscheint dadurch
bedingt.
Die nächsten Kapitel: „Systematik" und „Entwicklung" handeln von den
beiden sich ergänzenden Grundgesichtspunkten oder -auffassungsweisen, die wir
dem Gegenstand: Sprache gegenüber anwenden können: dem Normativ-Kon-
struktiven und dem genetischen. Es wird versucht darzutun, daß Sprach-
wissenschaft nicht reine Wirklichkeitswissenschaft sein kann, sondern in jedem
Laut-Bedeutungsverhältnis ein Geltungsmoment zu erblicken hat. In weiterem
Sinne stellt sich rein-psychologische Erfassung der sprachlichen Entwicklungen
ohne Hinzunahme irgendwelcher nicht-psychologischen (logischen, objektiven)
Momente als Unmöglichkeit heraus. Der Psychologismus hat in der historischen
Sprachwissenschaft nicht das letzte Wort. An der Analyse des Bedeutungs-
wandels wird gezeigt, wie sich subjekti vierende (normative) und objektivierende
(genetische) Betrachtung ergänzen. Es arbeitet jedes sprach theoretische Urteil
mit einem „irrealen Subjekt", dem aber doch wieder ein psychologisches Korrelat
nicht fehlt. Der Akt des sinnvollen Sprechens und Verstehens wird gedeutet,
als „Stellungnahme zu Werten". Demnach ist die Erkenntnisleistung der Er-
fassung der sprachlichen Tatsachen in ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge ' schon
eine Objektivierung, hinter die zum eigentlichen Akt des Bewußtseins zurück-
gegangen werden muß. Die „Ursprungsfrage" erscheint hierdurch in anderer
Beleuchtung: restloses Verstehen aus zeitlicher Aufeinanderfolge ist bei diesem
Gegenstand nicht möglich. Jeder historische Sprachprozeß kann nur zugleich
im Hinblick auf seine „prospektive" Entwicklungstendenz vollständig erfaßt
werden.
Amsterdam. Dr. H. J. Pos.
Reininger, Robert, o. ö. Professor an der Universität Wien, Friedrich
Nietzsches Kampf um den Sinn des Lebens. Der Ertrag seiner Philo-
sophie für die Ethik. Wien und Leipzig. Wilhelm Braumüller. 1922. 197 S.
Aus der Vorrede : Meine Absicht ist nicht, eine ausführliche und allseitige
Darstellung von Nietzsches Leben und Lehre zu geben. An vortrefflichen Werken
dieser Art, welche auch strengeren wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, ist
kein Mangel. Was mir aber noch lange nicht in zureichendem Maße geleistet
erscheint, ist eine kritische Wertung dieses Gedankensystems in systematischer
Hinsicht. Nietzsche ist aber bis nun der letzte Philosoph, dessen Wirken, über
die Sphäre der Wissenschaft und den Kreis der Schulen hinausgreifend, ja sie
überspringend zu einer Lebensmacht geworden ist. Über ihn endlich Klarheit
zu gewinnen und ihm gegenüber einen Standpunkt sicherer Stellungnahme zu
erobern, ist gerade wissenschaftliche Pflicht. Wenn ich mir in dieser Hinsicht
ausschließlich als Ziel setze, Nietzsches Ethik in ihren Motiven und letzten
Folgerungen durchzudenken, so verkenne ich dabei nicht, daß der ethische Ge-
sichtspunkt für sich allein noch keineswegs den ganzen Reichtum der von ihm
hinterlassenen Gedanken und Probleme ausschöpft. Auch der Psychologie, Er-
kenntnistheorie, Ästhetik und nicht zuletzt der Kulturphilosophie harren hier
noch mannigfache Aufgaben, wenn ich auch nicht die weitverbreitete Meinung
teilen kann, daß in dieser letzteren der Schwerpunkt von Nietzsches Bedeutung
zu suchen sei. Aber der ethische Gesichtspunkt scheint mir am tiefsten in das
Zentrum seiner Denkerpersönlichkeit hineinzuführen und auf diese wird eben
zuletzt jedes Verstehen dieser persönlichsten aller Philosophien zurückgehen
müssen. Die Natur meiner Aufgabe bringt es mit sich, daß das systematische
Interesse überall das rein historische überwiegt. Nicht um eine Würdigung
234 Selbstanzeigen (Reininger — Ungerer).
der Person Nietzsches ist es mir zu tun, sondern um die Herausstellung und
Fruchtbarmachung dessen, was seine Lehre an wertvollen Ansatzpunkten für
eine Ethik der Zukunft enthält. Mein Thema in kürzester Formulierung lautet
also: Was kann die Ethik von Nietzsche lernen?
Richter, Gustav, Dr., Bozen, Kritik der Kelativitätstheorie Ein-
steins. Verlag 0. Hillmann, Leipzig. 17 S.
Dem Michelsohn-Versuch stelle ich das spektralanalytische Experiment
gegenüber, mit welchem sich nachweisen läßt, ob sich die Erde einem bestimmten
Sterne nähert oder sich von ihm entfernt. Dies beweist, daß die Lichtge-
schwindigkeit im ersten Fall sich vergrößert, im zweiten verringert. Das
Michelsohn-Experiment müßte anders ausfallen, wenn es das Licht der Sterne
untersuchen würde.
Die Ableitung der Kelativität der Zeit beruht auf einen logischen Trug-
schluß, indem der subjektive Beobachtungsfehler bei der Beobachtung gleich-
zeitiger Ereignisse von verschiedenen bewegten Systemen aus auf Grund des
aus dem Michelsohn-Versuch abgeleiteten Gesetzes von der konstanten Licht-
geschwindigkeit zu einem realen Zeitunterschied gemacht wird, obwohl das
Gesetz der konstanten Lichtgeschwindigkeit eine Differenz der Beobachtungen
auf beiden Systemen ausschließe. Die Relativität der Zeit wird ad absurdum
geführt, weil sie sich selbst aufhebt,
Ich versuche die vierdimensionale Eaumzeit ohne die Relativität der Zeit
anschaulich zu machen und führe die rechnerischen Erfolge der Einsteinstheorie
darauf zurück, daß mit der Annahme gebrochen wird, als ob jede Bewegung
aus sich heraus in alle Ewigkeit gleichgerichtet und gleichschnell bleiben würde,
wenn sie nicht gestört wird. Vielmehr ist jegliche Bewegung die Komponente
meiner Kräfte: Ich kann keinen Körper abstoßen, der nicht angezogen wird.
Denn ohne Anziehung hätte er keine Schwere, keine Maße, keine Trägheit.
Nicht nur der geworfene Stein fällt wieder zur Erde zurück, sondern jede Be-
wegung hat das Bestreben zu ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren. Das nennt
Einstein: die Welt ist endlich und jede Bewegung kehrt in sich zurück.
Sternberg, Kurt, Die politischen Theorien. Berlin. 1922. Verlag
Siegfried Seemann.
Mein Buch verfolgt die Entwicklung der politischen Theorien von den
griechischen Sophisten bis zur Gegenwart und zwar in steter Beziehung auf
die gesamte Kulturentwicklung. Es wendet sich weder ausschließlich noch auch
nur in erster Linie an „Fachphilosophen", sondern an den weiten Kreis der
philosophisch, speziell staatsphilosophisch Interessierten. Originalität in stoff-
licher Hinsicht ist nicht vorhanden, wurde auch nicht angestrebt ; es handelt
sich vielmehr nur um den Versuch, das zu verbinden, was an sich an vielen
verschiedenen Stellen zerstreut vorliegt und nur mehr oder minder mühsam zu-
sammengestellt werden kann. Eine gewisse — wenn auch nur relative — Ori-
ginalität bedeutet freilich die strenge Durchführung eines ganz bestimmten
Standpunktes bei der Kritik. Geraeint ist nicht etwa irgendein parteipolitischer,
sondern mein wissenschaftlich-philosophischer Standpunkt. Dieser ist der des
kritischen Idealismus, wie er im Altertum von Plato, in der Neuzeit vor allem
von Kant vertreten worden ist.
Berlin. Kurt Sternberg.
Ungerer, Emil, Dr., Privatdozent a. d. Technischen Hochschule Karlsruhe,
Die Teleologie Kants und ihre Bedeutung für die Logik der Bio-
logie. Abhandlungen zur theoretischen Biologie hgg. v. Prof. Dr. J. Schaxel.
Heft 14. Berlin. Verlag von Gebr. Bornträger, Berlin. 1922. 135 S.
Alle Bemühungen um das Lebensproblem während des 19. Jahrhunderts
setzen die grundlegenden Bestimmungen der Kritik der Urteilskraft voraus,
knüpfen bewußt oder ungewollt an sie an. Die vorliegende Arbeit will die für
die Logik der Biologie dauernd wertvollen Ergebnisse dieses Kantischen Werks
herausarbeiten und ihre Weiterentwicklung zur Bewältigung der Gegenwarts-
fragen anbahnen. Hierher gehört vor allem die Untersuchung der Bedeutung
Selbstanzeigen (Ungerer — Heinemann). 235
des Systemgedankens in der Biologie für den Variations-, Vererbungs- und Art-
begriff, für das Gefüge der Lebewesen und für die Abstammungshypothese, sowie
der Nachweis der beherrschenden Eolle des von Kant klar erfaßten Ganzheit-
begriffs für die Darstellung und Erklärung der Lebensformen und des Lebens-
geschehens. Die logischen und tatsächlichen Grundlagen der Eigenformenlehre
und der Funktionsformenlehre in der Morphologie, des ganzheitbezogenen Ge-
schehens in der Physiologie sowie der Mechanismus-Vitalismusfrage werden be-
handelt. Kants eigener Standpunkt wird im Gegensatz zur herkömmlichen Auf-
fassung als der eines metaphysischen Vitalismus gekennzeichnet.
Darüber hinaus sucht die Arbeit darzutun, auf welche Weise die von Kant
gewollte formale Einheit der dritten Kritik durch das Prinzip der reflektierenden
Urteilskraft hergestellt wird. Sie zeigt diesen Zusammenhang der verschiedenen
Zweckideen aber nur auf, um ihn durch die Erkenntnis der zugrunde liegenden
psychologischen Fiktion wieder zu zerstören und die verschiedene Struktur der
jeweils gegebenen Zweck- und Ganzheitbegriffe bezw. die verschiedenen regio-
nalen Stufen der Ganzheitkategorie aufzuzeigen. Dabei werden u. a. drei ver-
schiedene Bedeutungen der Begriffe „subjektiv" und „objektiv" bei Kant festgestellt.
Dr. E. Ungerer.
Neue deutsche Schopenhauer -Gesellschaft, Gründungsbuch. Preis
Mk. 15.-.
Dieses Gründungsbuch enthält folgende Aufsätze:
a) G. F. Wagner-: „Zur Entstehungsgeschichte der Kritik der reinen Ver-
nunft". Diese Arbeit, eine Einführung in den Transzendentalidealismus Kants und
seines Vorgängers Maupertuis, in gekürzter Form zum ersten Male erschienen
im Jahrbuche der Schopenhauer-Gesellschaft 1912, hat in ihrer nun vorliegenden
endgiltigen Gestalt durch Angliederung einer Übersetzung der Briefe des Mau-
pertuis und durch Mithineinbeziehung des Briefwechsels Wagners mit Wilhelm
von Gwinner an Wert und an Bedeutung noch gewonnen. (Die für diese Arbeit
hochwichtige Quellenschrift: Maupertuis „Sur l'origine des langues et la signi-
fication des mots" wird in Übersetzung und im Urtext veröffentlicht in der
zweiten Publikation 1922 der Neuen deutschen Schopenhauer-Gesellschaft.) Diese
Abhandlung bietet Blicke in die geistige Werkstatt Kants, wodurch Kant uns
nicht allein wissenschaftlich, sondern auch menschlich näher rückt, b) einen
Aufsatz über die in Kant-Studien XXV, Heft 4 geführte Polemik \ über die
Deußensche und Weißsche Schopenhauerausgabe, c) Ernst Häckel und Schopen-
hauer: Kritische Bemerkungen zu der Forderung Bindings und Hoches „der
Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens", d) Aus Schopenhauers poli-
tischer Lehre, e) Schopenhauer und die deutsch gläubige Gemeinschaft, f) Über-
setzung von Bruchstücken aus Deußens „Outlines on Indian Philosophy" mit
Kommentar.
Heinemann, Fritz, Dr., Privatdozent an der Universität Frankfurt a. M.,
Plotin, Forschungen über die plotinische Frage, Plotins Entwick-
lung und sein System. Gedruckt mit Unterstützung der Wiener Akad. d.
Wiss. Meiner. 1921. 65 Mk.
Heute würde sich mir die meinem Buche zugrunde liegende Gesamtkonzep-
tion in folgenden Umrissen darstellen : eine vergleichende Philosophiegeschichte.
Die griechische Philosophie nur eine Ausgestaltung des antiken Geistes, in
ihrer Eigentümlichkeit scharf hervortretend gegen die anderen Geistesformen
jener Zeit und in lebendiger Wechselwirkung mit ihnen stehend. Seit dem
dritten vorchristlichen Jahrhundert aus hellenistischen, iranischen, jüdischen,
indischen Quellen ein neues Zeitalter heraufsteigend, das der Gnosis l). In diesem
der Neuplatonisraus einer der Höhepunkte, sein Weltbild auf die exakteste
Formel bringend. Neben ihm ein christlicher, ein eigentlich gnostischer, ein
jüdischer Strom. Dann das Mittelalter (Hereinwachsen des arabischen, des
1) So wird die These der Arbeit korrigiert, die mit Philo das Mittelalter
beginnt, indem zugleich das Kichtige jener Ansicht, die Aufhobung der Isolie-
rung der spätantiken und der frühchristlichen Philosophie erhalten wird.
236 Selbstanzeigen (Heinemann — Lebmann).
jüdischen und der christlichen Völker in die Kultur des Abendlandes). Und
endlich die Neuzeit als ein lebendiges Nebeneinander von einer Reihe nationaler
Ströme. Der Neuplatonismus also der eine Brennpunkt des Zeitalters der
Gnosis, in sich nicht nur die Strahlen der griechischen, sondern wahrscheinlich
auch der außergriechischen Kulturen des Altertums sammelnd und dann weit
durch das Mittelalter hindurch, bis in die Neuzeit, vor allem in die deutsche
Philosophie und da bis in die Romantik, ja bis zu Eduard von Hartmann und
bis in die Gegenwart (Natorp, Lask, Scheler) strahlend. Das ist die Grund-
konzeption, die aber innerhalb des Buches nicht in allen Einzelheiten durch-
geführt werden konnte.
An exakter Einzelforschung bringt das Buch zunächst eine kritische Grund-
legung : einen Beweis, daß die überlieferte Reihenfolge, die man für eine chrono-
logische hielt, keine solche ist, daß eine Reihe von Büchern unecht ist, andere
nur Diskussionen innerhalb der Schule darstellen oder solche enthalten, weiter
einen Versuch, die Mitarbeit der Schule, insbesondere des Porphyrius und Ame-
lius zu erweisen und abzugrenzen. Auf diese Einsichten und einen exakten
Ordnungsversuch der Schriften baut sich eine Darstellung der Entwicklung
Plotins unter Hervorhebung der Hauptbegriffe auf.
Die Darstellung des außerordentlich geschlossenen Systems, die neben
Grundlegung und Entwicklung als dritter Teil tritt, unterscheidet Systemteile,
die sich vorzugsweise im Abstieg bewegen und solche, die vor allem aufsteigend
sind (in gewissem Sinne spiegelt ein jeder das Ganze wieder). Der Umschwung
vom Abstieg zum Aufstieg vollzieht sich in der Religionsphilosophie, die hier
wohl zum ersten Mal eine eingehende Darstellung findet; auch die Erkenntnis-
lehre dürfte in dieser Form früher nicht gesehen sein. — Plotin verkörpert
eine typische Weltansicht, die man alexandrinisches Weltschema nennen kann,
mit einer philosophischen Kraft wie sonst keiner, zweitens verbindet er mit der
intellektuellen Potenz eine seltene moralisch-religiös-ästhetische Reinheit, drittens
hat er trotz seiner sonstigen historischen Gebundenheit ein unmittelbares Ver-
hältnis zu den sachlichen Problemen, das ihn den großen Metaphysikern bei-
gesellt.
Frankfurt a. Main. Fritz Heinemann.
Lehmann, Gerhard, Dr., Ueber die Setzung „Individualit äts konstante"
und ihre erkenntnistheoretisch-metaphysische Verwertung. Eine Untersuchung über
das Wesen des Individuums. Berlin 1922 bei Emil Ebering.
Nach zwei Richtungen hin bedarf es einer gründlichen Bearbeitung des
Fundamentes der Logik: einmal gilt es, die Logik mit den Forderungen der
Realwissenschaft in Einklang zu setzen und sodann müssen die logischen Axiome
selbst auf ihren metalogischen Schall hin geprüft werden. Die vorliegende Arbeit
unternimmt das letztere, nachdem Vaihinger u. a. dargetan haben, daß die Ge-
setze und die Methoden der Einzelwissenschaften keineswegs eine einfache „An-
wendung" reiner Logik darstellen, sondern daß in ihnen weit mehr Irrationales
oder gar Widersprechendes enthalten ist, als es „eigentlich" erlaubt sein sollte.
Die „Setzung Individualitätskonstante" ist ein Hilfsmittel des Denkens, eine Fik-
tion, die es gestattet, das Individuum logisch zu charakterisieren als Einheit von
Begriff und Urteil : insofern handelt es sich auch in vorliegender Arbeit um einen
Beitrag zur „angewandten" Logik. Daß aber das so fundierte „Individuum" als
vor dem Forum reiner Logik unhaltbares Denkgebilde fallen muß, das führt von
selbst in das Gebiet der Metalogik.
Denn es gilt nunmehr den „Schall" des Identitätssatzes aufzuzeigen. Und
hier wird in durchweg neuen Gedankengängen darzustellen versucht, daß die
Einzigkeit des „Einen" den überlogischen Kern des Identitätssatzes ausmacht, daß
das Wissen um diese Einzigkeit den vorobjektivierten Ausdruck des Selbst-
bewußtseins darstellt, daß das Identitätsproblem in das Ichproblem mündet. Die
schwierigen Gedankengänge der Schrift werden erleichtert durch Kontroversen mit
Vaihinger, Driesch, Hartmann, Hegel, Bahnsen und Herbart. Es muß hervor-
gehoben werden, daß die Auseinandersetzung mit Vaihinger allein eine Lücke in
Selbstanzeigen (Lehmann). 237
der Literatur über die Als-Ob-Philosophie ' ausfüllt. Die Hervorhebung der Be-
deutung Bahnsens für die gegenwärtige Philosopie, ebenso wie die Rechtfertigung
der philosophischen Bedeutung Stirners wird zur vertieften Auffassung beider
Denker beitragen.
Die vorliegende Schrift hat einen doppelten Sinn: es ist eine Monographie
über das Wesen des Individuums, soweit Logik hierüber zu urteilen in der Lage
ist, und sie ist im Systementwurf: Erkenntnistheorie, Wertelehre und Metaphysik
müssen ihr Teil beisteuern zur Errichtung einer LehrevondenEgomorphismen,
deren nähere Ausarbeitung ferneren Schriften überlassen bleiben muß.
Mitteilungen.
Professor Bolland,
f in Leyden am 11. Februar 1922.
Gerardus Johannes Petrus Josephus Bolland wurde als Sohn eines
niedrigen Polizeibeamten am 9. Juni 1854 in Groningen geboren und hat
in seiner Jugend die für einen vom Missionsdrang brennenden Knaben
widerwärtigsten Arbeiten verrichten müssen. Schließlich an einer Volks-
schule tätig, erhielt er die Gelegenheit, sich den Wissenschaften zuzu-
wenden, bald erreichte er die angesehene Stellung eines Lehrers der eng-
lischen Sprache am Gymnasium in Batavia (1882). Er konnte dieses
Stellungsangebot nicht abschlagen, obwohl Kern und Cosyn, seine Gönner,
den Wunsch hegten, daß er auf Grund seiner ganz besonderen sprach-
wissenschaftlichen Begabung bei Professor Sie v er s in Jena seinen Doktor
machen würde, um die an der Universität Groningen neu zu gründende
Professur der englischen Sprache übernehmen zu können. In Batavia lenkte
ein Kollege dann seine Aufmerksamkeit auf Schultzes Philosophie der
Naturwissenschaft, und dieses Buch ist es gewesen, durch das Bolland
sich seiner philosophischen Veranlagung erst recht bewußt geworden ist.
Er fing jetzt an, Kant, Schopenhauer und von Hartmann zu studieren; vor
allem war er für die Philosophie des Unbewußten begeistert.
Am 19. Sept. 1896 hielt der Autodidakt seine Antrittsvorlesung als
Philosophieprofessor an der Universität Leyden; er sprach über „Verände-
rung und Zeit". Durch ihn kam die Begeisterung für das philosophische
Studium in die weitesten Kreise; er suchte die Königin der Wissen-
schaften wenigstens in ihren Grundzügen den Gebildeten zugänglich zu
machen, und keine Mühe war ihm zu groß, um die Philosophie im edelsten
Sinne des Wortes zu popularisieren. Dieser Drang, Prediger der Wahrheit
zu sein, hat ihm dann mancherlei Enttäuschung gebracht. Dennoch ist der
Einfluß, den er direkt und indirekt auf das geistige Leben Hollands und
auf die holländische Sprache geübt hat, nicht leicht zu überschätzen.
In seinen ersten kleineren philosophischen Arbeiten, die er noch in
Indien verfaßte, erscheint er ganz als Hartmannianer ; während eines Ur-
laubs hat er Eduard von Hartmann in Groß-Lichterfelde bei Berlin be-
sucht und war dessen Gast. Als er jedoch seine Professur antrat, hatte er
seinen Hartmannianismus bereits aufgegeben; denn seine kritische Kraft
war zu groß, um ihn bei einem Standpunkt festzuhalten.
^15S
Mitteilungen.
Seit 1897 vertiefte er sich in Hegels Werke, hier fand er die Me-
thode, welche den Bedürfnissen seines Denkens entsprach. Gerade diesen
Wendepunkt in seiner Entwicklung habe ich als Hörer seiner Vorlesungen
mitgemacht. Bei der Lektüre von Spinozas Ethik und Kants Kritik der
reinen Vernunft zeigte er uns, wie die Substanz Spinozas durch den
Kantischen Kritizismus hindurch zum Hegeischen Begriff kommen mußte.
Er sah ein, daß das Verkennen der Wahrheit, daß das Ich in der Wirk-
lichkeit und die Wirklichkeit im Ich denkt, die Wurzel aller Einwürfe
gegen den sogenannten absoluten Idealismus ist. Nichts läßt sich halten;
alles ist relativ; dann aber ist die Relativität das Absolute; in aller Rela-
tivität offenbart sich das Absolute, das nicht irgendwo außerhalb des Rela-
tiven gesucht werden kann. Das wahre Unendliche, das unendliche Wahre
ist das Unendliche, das in aller Endlichkeit wiederzufinden ist und zu sich
selbst kommt. Nur im Begriff ist Wahrheit, und wer vernünftig begreift,
verzichtet auf den regressus in infinitum der üblichen Erklärungswut.
In seiner deutsch verfaßten Schrift „Alte Vernunft und neuer Ver-
stand" (Leyden 1902) hat Bolland den Unterschied Hegelscher und
Hartmannscher Lehre auseinandergesetzt und die traditionelle Ansicht end-
gültig widerlegt, daß Hegel die Natur in aprioristischer Weise dedu-
zieren gewollt hat. Seine Hauptarbeit ist „ZuivereRede" (= reine
Vernunft), ein Buch, das in der dritten vermehrten Auflage etwa 1400
Seiten zählt. Vom Hegeischen Buchstaben hat er sich gelöst, ohne den
Hegeischen Geist zu verleugnen. Das Buch lag seinen oft außerordentlich
temperamentvoll gestalteten Vorlesungen zugrunde, die er auch außerhalb
Leydens in Utrecht, Amsterdam, Haag, Delft und Rotterdam hielt. Es
enthält die enzyklopädische Behandlung der Kategorien jeder Wissenschaft.
Sein Collegium Logicum wurde einmal stenographiert, es ist ein
glänzendes Zeugnis eindringlichster philosophischer Darstellungskunst. Um
die Wissenschaft hat Bolland sich ferner verdient gemacht durch die
Uebersetzung mancher Werke von Hegel und Hegelschülern. Alle diese
Ausgaben hat er durch gründliche Anmerkungen bereichert.
Die Wahrheit war seine einzige Leidenschaft.
Santpoort. Dr. G. A. van den Bergh van Eysinga.
Julius Schultz
zum sechzigsten Geburtstag.
Am 16. April 1922 feierte in Berlin Julius Schultz den 60. Geburts-
tag. Er ist den Lesern der Kantstudien durch manchen wertvollen Beitrag,
den Mitgliedern der Berliner Ortsgruppe insbesondere auch als Redner und
eifriger Debatter bestens bekannt. Leider sind die Werke des abseits aller
Schulen still seines Weges gehenden Denkers bisher nicht so sehr in die
breite Oeffentlichkeit gedrungen, wie sie es nach ihrem Gehalt und ihrer
künstlerischen Darstellung verdienten. Denn es sei hier bemerkt, daß es
nicht viele Denker heute gibt, die sich an Selbständigkeit des Denkens
und Weite des Ausblicks mit Schultz vergleichen dürfen, vielleicht aber
keinen, der mit solcher Souveränität wie er mit den Problemen gleichsam
zu spielen vermag, ohne je im geringsten ins Spielerische oder Effekt-
Mitteilungen. 239
suchende zu verfallen. Gerade wegen seiner bei aller Selbständigkeit doch
ungeheuer ausgebreiteten Vielseitigkeit der wissenschaftlichen Beziehungen
ist es nicht leicht, ihn mit einem einzigen Schlagwort zu kennzeichnen.
J. Schultz selbst nennt sich Kantianer, und er ist es auch, freilich in
einem bewußt dem logistischen Neukantianismus entgegengesetzten Sinne.
Am besten wäre seine Richtung noch durch die Namen F. A. Lange und
Vaihinger zu kennzeichnen, obwohl ihn auch mit diesen nur Verwandtschaft,
nicht Abhängigkeit verbindet. Sein erkenntnistheoretischer Standpunkt ist
vor allem in den beiden Büchern „Psychologie der Axiome" (1899)
und „Die drei Welten der Erkenntnistheorie" 1908) begründet
(beide, wie alle früheren Werke von Schultz im Verlag Vandenhoeck &
Ruprecht, Göttingen, erschienen). Besonders das erste Buch gibt eine
glänzende logische Grundlegung der Mathematik und der Naturwissen-
schaften. In zwei weiteren Werken hat Schultz dann auf diesen Funda-
menten weiter gebaut. Eine Wissenschaftslehre der anorganischen Natur-
forschung gibt das Buch: „Die Bilder von der Materie" (1905), der
organischen Natur das Werk: „Die Maschinentheorie des Lebens"
(1909). Besonders das zweite dieser Bücher, das noch durch die Schrift:
„Die Grundfiktionen der Biologie" (Bornträger, 1920) in wertvoller Weise
ergänzt wird, erscheint mir als eine der hervorragendsten Leistungen der
neueren Philosophie. Es vertritt, in lebhaftester Diskussion mit dem Neu-
vitalismus, eine mechanistische Weltanschauung, die aber nichts mit der
Nüchternheit, die sonst leicht dieser Denkrichtung anhaftet, gemein hat,
sondern in höchst eigenartiger Weise die große Tradition von Leibniz und
Lotze fortsetzt und den Mechanismus zu einer fast poetisch anmutenden
Metaphysik ausweitet, ohne je das wissenschaftliche Fundament zu ver-
lassen. Denn Schultz ist, wie so viele Philosophen, zugleich Dichter, nicht
nur innerhalb seiner Philosophie, auch neben ihr in selbständigen Werken,
und an mehreren großen Bühnen hat man mit Erfolg seine Dramen ge-
spielt. Alle diejenigen die ihn näher kennen, aber verehren außer dem
Philosophen und Dichter vor allem den liebenswürdigen und gütigen
Menschen in Julius Schultz, dem noch ein langes und reiches Wirken be-
schieden sein möge!
Berlin-Halensee. Dr. R. Müller-Freienfels.
Kants Ethik und der preußische Staat.
WilhelmDiltheys geistvolle Anregungen und großzügige, zum Teil
großartige Untersuchungen waren es vor allem, die die Aufmerksamkeit
und die Interessen der geisteswissenschaftlichen Forschung auf die Er-
gründung und Kennzeichnung der für die Entstehung eines philosophischen
Systems maßgebenden Faktoren gelenkt haben. Wertvolle Arbeiten sind
aus dieser Forschungsrichtung hervorgegangen. Dennoch fehlt noch viel
daran, um von einer abgeschlossenen Erkenntnis der Voraussetzungen der
Hauptsysteme der Philosophie sprechen zu können. Auch diejenigen Be-
dingungen, auf denen sich der verwickelte Bau des Kantischen Kritizismus
erhebt, sind noch keineswegs in ihrer Gesamtheit, in ihrem Charakter, in
ihrer Herkunft erfaßt und durchschaut.
In die Reihe der hierher gehörigen Untersuchungen greift auch mit
einer kurzen, aber eindrucksvollen Abhandlung Professor Dr. Arnold
240 MitteilimgeD.
Oskar Meyer, der Historiker der Kieler Universität ein. Sie trägt den
Titel: „Kants Ethik und der preußische Staat" und gehört zu den Bei-
trägen, die Erich Marcks zum 60. Geburtstag in einer Festschrift gewidmet
wurden (erschienen unter dem Gesamttitel „Vom staatlichen Werden und
Wesen" bei J. G. Cotta Nachf., Stuttgart und Berlin. 1921). Meyers Haupt-
frage lautet: Wurzelt Kants Ethik im Geiste des altpreußischen Staates?
Seine Antwort fällt aber in einem verneinenden Sinne aus. Er hebt mit
sicherem Griff die Hauptzüge jener Ethik hervor, wobei es angenehm be-
rührt, daß er im Gegensatz zu der üblichen Einseitigkeit sich nicht auf
die erste Formulierung des kategorischen Imperativs bezieht und beschränkt,
sondern in den Mittelpunkt seiner Darlegungen jene Formulierung stellt,
deren Gegenstand die Idee der sittlichen Autonomie und der Würde des
Menschen bildet. Auf der anderen Seite entwickelt er in knappen An-
deutungen die Grundform des frederizianischen Staates, vor allem weist er
auf jene Theorie hin, die das Wesen desselben durch den Vergleich mit
einer Maschine am schärfsten verdeutlicht. Im Sinne dieses mechanistischen
Rationalismus hatte August Ludwig von Schlözer in seinem berühmten
Lehrbuch: „Allgemeines Statsrecht und Statsverfassungslere (Göttingen.
1793) den Souverän geradezu „ Maschinen directeur" nennen können. „Der
Stat ist eine Erfindung: Menschen machten sie zu ihrem Wol, wie sie
Brand-Cassen usw. erfanden. Die instruktivste Art, Statslere abzuhandeln,
ist, wenn man den Stat als eine künstliche, überaus zusammengesetzte Ma-
schine, die zu einem bestimmten Zwecke gehen soll, behandelt."
Kant aber fordert, „den Menschen, der nun mehr als Maschine
ist, seiner Würde gemäß zu behandeln." So nicht nur in seinen großen
ethischen Schriften, sondern auch in dem kleinen Aufsatz: „Was ist Auf-
klärung?" „Die Würde der Menschheit in uns" ist der leitende Gedanke,
sagt Meyer, zu dem alle Erwägungen und Entscheidungen der Kantischen
Sittenlehre immer wieder zurücklenken. „In ihr," so faßt er seine Aus-
führungen zusammen, „liegt jenes Allerheiligste, das von Anbeginn ge-
schaute, persönlich erlebte Ziel der Kantischen Ethik. Nicht aus dem
Geiste des preußischen Staates oder irgend eines Staates überhaupt ist
diese Ethik geboren — sie ist reine Frucht des im Aufblick zur Antike
gefundenen deutschen Humanitätsideals. Kant steht auf demselben Boden,
auf dem das Bildungsideal der deutschen Klassiker erwachsen ist, der treue
Sohn des Zeitalters, das im Menschheitsgedanken seinen Polarstern sah."
Arthur Liebert.
I. Preisausschreiben der Johannes-Rehmke-Gesellschaft
(Vereinigung für grundwissenschaftliche Philosophie).
In dankenswerter Weise sind der Johannes-Rehmke-Gesellschaft von
ihren Mitgliedern, den Herren Dr. Julius Eßlen und Karl Eßlen in
Luxemburg (Stadt) 3000 Mark für ein Preisausschreiben zur Verfügung
gestellt worden.
Die Preisaufgabe lautet:
Grundwissenschaft und Beligionswissenschaß.
Erläuterung: Es soll untersucht werden, ob und, bejahendenfalls,
inwiefern die grundwissenschaftliche Philosophie Johannes Eehmkes der
Mitteilungen. 241
systematischen Religionswissenschaft neue Möglichkeiten öffnet. Dabei sind
insbesondere zwei Aufgaben ins Auge zu fassen:
1. ob die grundwissenschaftliche Betrachtung einen grundsätzlich neuen
Ansatz der Religionswissenschaft ermöglicht, wenn ja, wie dieser
Ansatz zu bestimmen und wie von ihm aus der Aufgabenkreis der
Religionswissenschaft zu umschreiben und zu begrenzen ist (me-
thodischer Teil),
2. wie sich vom grundwissenschaftlichen Standort das "Wirklichkeits-
problem der Religion darbietet und inwieweit eine Möglichkeit
seiner Lösung gefunden werden kann.
Die Frage der religiösen Gemeinschaftsbildung soll im wesentlichen
außerhalb des Rahmens der Untersuchung bleiben.
Die Bewerbungsarbeiten sind, in deutscher Sprache abgefaßt,
deutlich leserlich hergestellt, mit Rand und Seitenzahlen versehen, „einge-
schrieben" bis zum 31. Dezember 1922 an den Geschäftsführer der Gesell-
schaft Dr. J. E. Heyde, Stettin, Deutsche Straße 34, einzusenden.
Jede Bewerbungsschrift muß ein Kennwort tragen. Dasselbe Kennwort muß
die Aufschrift eines beigelegten verschlossenen Briefumschlages sein, der
die Angabe des Namens und der Anschrift des Verfassers enthält. Das
Preisurteil wird spätestens am 1. Juni 1923 verkündet werden.
Preisrichter sind die Herren:
1. Kaufmann Dr. Julius Eßlen (Luxemburg),
2. Ober Studiendirektor Dr. Hermann Hegenwald (Bielefeld),
3. Geheimer Regierungsrat Professor Dr. Johannes Rehmke
(Greifswald),
4. Pfarrer Dr. Friedrich Karl Schumann (Triberg-Baden).
Die Preisrichter können nach freiem Ermessen bestimmen, ob die
Summe von 3000 Mk. ungeteilt einer Arbeit zukommen oder an mehrere
Arbeiten nach Maßgabe ihres Wertes verteilt werden soll. Die Entscheidung
wird in unserer Zeitschrift „Grundwissenschaft" veröffentlicht. Der
Vorstand hat das Recht, aber nicht die Pflicht, preisgekrönte Arbeiten als
Abhandlungen in der „Grundwissenschaft" oder als Sonderveröffentlichung
in Druck zu geben. Die nicht preisgekrönten Arbeiten werden einschließ-
lich der ungeöffneten Kennwortbriefe am 31. Dezember 1923 vernichtet,
wofern ihre Verfasser unter Nennung ihres Namens und Wohnortes sie
nicht vorher zurückfordern.
Auf Wunsch werden Abzüge dieses Preisausschreibens unentgeltlich
vom Geschäftsführer der Gesellschaft Dr. J. E. Heyde, Stettin, Deutsche
Straße 34, versandt.
Kolberg und Stettin, im Dezember 1921.
I. A. des
Vorstandes der Johan nes-Rehmke-Gesellschaft:
Dr. Hochfeld, Vorsitzender. Dr. Heyde, Geschäftsführer.
Kantstudien XXVII. 16
Kant-Gesellschaft.
Landesgruppe Holland.'
Den regen Bemühungen einer Anzahl für die Kant-Gesellschaft leb-
haft interessierter holländischer Mitglieder ist es zu verdanken, daß anläßlich
einer Vortragsreise von Professor Dr. Liebert, zu der dieser von einer Reihe
großer wissenschaftlicher Gesellschaften eingeladen worden war, eine LandeS-
gruppe Holland begründet werden konnte. Dadurch hat sowohl die
Kant- Gesellschaft in ihrer Allgemeinheit als auch unsere Organisation der
Ortsgruppen einen sehr bedeutsamen Ausbau erfahren.
Die Eröffnungssitzung und die anschließenden Vorträge, zu denen eine
stattliche Anzahl von Mitgliedern erschienen war, fanden am 14. und 15.
Dezember 1921 in der „Internationalen Schule für Philosophie" in Amers-
foort statt. Der Ausschuß dieser Schule hatte die Räume in gastfreund-
lichster Weise zur Verfügung gestellt.
Zwei volle Tage konnten die Teilnehmer in der in einem "Wald reizend
gelegenen, mit Arbeits- und Schlafzimmern aufs beste ausgestatteten Inter-
nationalen Schule verbringen. Ihrem großzügigen und von vollem Unter-
stützungswillen beseelten Ausschuß sei auch noch an dieser Stelle der ver-
bindlichste Dank ausgesprochen.
Professor Dr. Liebert sprach über: „Die Krisis im Geistes-
leben der Gegenwart";
Professor Dr. Kohnstainm, o. Prof. für theoretische Physik an der
Universität Amsterdam über „Kants Begriff der Autonomie";
Priv.-Doz. Dr. Polak von der Universität Amsterdam über „Kant
als geistiger Kopernikus."
An alle drei Vorträge schloß sich eine lebhafte Aussprache, die, gleich
den beiden ausgezeichneten Vorträgen der beiden holländischen Gelehrten,
aus liebenswürdiger Rücksicht für den anwesenden stellvertretenden Ge-
schäftsführer in deutscher Sprache geführt wurde.
Der geschäftsführende Ausschuß setzt sich aus folgenden Herren zu-
sammen :
Prof. Dr. H. Y. Groenewegen, Prof. an der Universität Amsterdam,
Rembrandtlaan 28, Huis ter Heide, als Vorsitzenden; Dr. H. W. Van
derVaartSmit, 's Graveland, Schriftführer und Schatzmeister; Dr. G.
A. Van den Bergh van Eysinga, Santpoort; Dr. E. E. Eckstein,
Haag; Prof. Dr. B. J. H. Ovink, Prof. an der Universität Utrecht;
Dr. Leo Polak, Priv.-Dozent an der Universität Amsterdam.
Wir knüpfen an die Begründung der Landesgruppe Holland, die durch
die Tatkraft und das Interesse unserer Mitglieder ins Leben gerufen ist,
die besten Hoffnungen für einen weiteren Ausbau unserer Gesellschaft.
Kant-Gesellschaft. 243
Im Anschluß an die obige Mitteilung über die Gründung der „Landes-
gruppe Holland" können wir folgendes berichten:
Die erste Versammlung dieser „Landesgruppe" fand am 6. März 1922
in Amsterdam statt. Bei dieser Versammlung wurden die Satzungen der
„Landesgruppe" festgelegt, und der in dem vorhergehenden Bericht ge-
nannte Ausschuß definitiv gewählt.
Ferner wurde die Sammlung einer einmaligen Notspende für die
Kant-Gesellschaft beschlossen. Der Hauptzweck dieser Notspende, deren
Verteilung dem Ermessen der beiden Geschäftsführer anheimgegeben wird,
besteht hauptsächlich in der Unterstützung solcher Gelehrter, die durch die
Not der Zeit in wirtschaftliche Bedrängnisse geraten sind. An diese Samm-
lung für die Notspende wird sich die „Niederländisch-Deutsche Vereinigung"
anschließen (über das Ergebnis der Sammlung wird seinerzeit in den
„Kant- Studien" Mitteilung gemacht werden).
Außerdem wurde auf dieser Versammlung die Einberufung einer
„Sommerkonferenz" für den September beschlossen. Die Mitglieder der
Landesgruppe Holland werden gebeten, dem Ausschuß ihre Vorschläge in-
bezug auf Vorträge und einzuladende Redner so bald als möglich mitzu-
teilen. Als Vortragende kommen sowohl holländische als auch nicht-
holländische Eedner in Betracht, wie denn auch sämtliche Mitglieder der
Kant-Gesellschaft zur Teilnahme an dieser Sommerkonferenz eingeladen sind.
Nähere Auskunft erteilt der Ausschuß.
Der Ausschuß wird dann noch die Entscheidung darüber treffen, wo
diese Sommerkonferenz tagen wird, wahrscheinlich in der „Internationalen
Schule für Philosophie" in Amersfoort, deren Käume wiederum in der gast-
freundlichsten Weise vom Vorstand für den genannten Zweck zur Ver-
fügung gestellt werden.
Als Ehren- Vorsitzender der Landesgruppe Holland wurde vom Aus-
schuß das Ehrenmitglied der Kant-Gesellschaft Herr Professor Dr. Georg
Heymans, o. Professor an der Universität Groningen erwählt, der diese
Wahl auch annahm.
Endlich richtete die Versammlung an die Schriftführung der „Kant-
Studien" den Antrag, in der genannten Zeitschrift eine besondere Rubrik
zur Besprechung der philosophischen Literatur Hollands einzurichten. (Die
Schriftleitung wird natürlich diesem berechtigten Wunsch gern entsprechen ;
es sind bereits Schritte eingeleitet worden, um eine solche Eubrik zu
schaffen).
Die Geschäftsführung der Kant-Gesellschaft
Prof. Dr. Vaihinger, Prof. Dr. Liebert.
Ortsgruppe Karlsruhe.
Die Entwicklung der Ortsgruppe darf sehr erfreulich genannt werden.
Die Mitgliederzahl erhöhte sich seit der zweiten Jahresversammlung am
25. Mai 1921 (s. Bericht in den Kantstudien. XXVI S. 274 ff.) bis
zur dritten Jahresversammlung am 18. Januar 1922 von 152 auf 189.
Die Zahl der zur Ortsgruppe gehörenden Mitglieder der Hauptgesellschaft
stieg im selben Verhältnis. Einen Kassenvorrat von 1567,20 Mk. und Ein-
16*
244 Kant-Gesellschaft.
nahmen von 2238,50 Mk., zusammen 3805,70 Mk. stehen Ausgaben in
Höhe von 2163,53 Mk. gegenüber, so daß der neue Vermögensstand
1642,17 Mk. beträgt.
Auf der Jahresversammlung am 18. 1. 22 wurden die vom Vorstand
vorgeschlagenen Satzungen nebst der Geschäftsordnung für den Vorstand
einstimmig angenommen. Ferner wurde bestimmt, daß für 1922 (Kalender-
jahr) jedes Mitglied der Ortsgruppe 20 Mk. (für jede Beikarte 15 Mk.) be-
zahlt; Mitglieder, die auch der Hauptgesellschaft angehören, zahlen an die
Ortsgruppe 15 Mk., für jede Beikarte 10 Mk. ; Studenten und Seminaristen
10 Mk. Nach Entlastung des Rechners wurde der Vorstand einstimmig
wiedergewählt. Er besteht aus dem Vorsitzenden Privatdozent Prof. Dr.
E. Ungerer, Maxaustr. 29, dem Schriftführer Professor Dr. K. Schuck,
Klauprechtstr. 32 und dem Rechner Prof. A. Kistner, Stefanienstr. 8. Ge-
schäftsstelle ist die Metzlersche Buchhandlung, Karlstr. 13. Postscheckkonto
der Ortsgruppe: Karlsruhe 26 373.
Während des W.-S. bis zur Jahresversammlung wurden folgende Vor-
träge gehalten:
1. Prof. Dr. A. Liebert-Berlin: Die Krisis im Geistesleben
der Gegenwart; am 10. X. 21 (öffentlich);
2. Prof. Dr. H. Driesch- Leipzig: Leib und Seele; am 18. X. 21
(öffentlich).
Drei wissenschaftliche Abende über Humes „Untersuchung
über den menschlichen Verstand":
3. Priv.-Doz. Prof. Dr. E. Ungerer -Karlsruhe: Die Aufgabe
der Philosophie und deren psychologische Grund-
legung bei Hume am 9. XI. 21;
4. Direktor Dr. K. 0 1 1 - Karlsruhe : Erfahrung und Erkenntnis;
am 23. XL 21;
5. Prof. Dr. A. Fr. Raif- Karlsruhe: Die Kritik des Kausal-
problems; am 7. XII. 21; — — —
6. Prof. Dr. ~W. Hellpach-Karlsruhe: Die Aufgaben der Phi-
losophie in der Wiedervergeistigung unserer Beruf s -
bildung; am 14. XH. 21 (öffentlich);
7. Prof. Dr. K. S c h ü c k - Karlsruhe : Ein Besuch bei Rabin-
dranath Tagore; am 18. I. 22 (bei der Jahresversammlung).
Im nächsten halben Jahr werden folgende Vorträge gehalten:
Nr. 1. Freitag, 3. Febr., Prof. Dr. C. Boehm: Begriffsbildung;
öffentlich (Festsitzung zu Ehren des 60. Geburtstages David
Huberts);
„ 2. Mittwoch, 22. Febr., Prof. A. Kreuzer: Wertphilosophie;
„ 3. Sonntag, 12. März, Prof. Dr. W. Koehler-Berlin: Ueber For-
schungen an Menschenaffen (mit kinematographischen Vor-
führungen); öffentlich;
„ 4. Mittwoch, 22. März, Priv.-Doz. Prof. Dr. Fr. Schnabel: Die
historische Ideenlehre;
„ 5. Mittwoch, 5. April, Dr. E. K r a u s - Heidelberg : Die materia-
listische Geschichtstheorie;
Kant-Gesellschaft. 245
Nr. 6. Mittwoch, 26. April, Prof. Dr. H. Kinkel: Die Geschichts-
philosophie des Positivismus;
„ 7. Mittwoch, 10. Mai, Frl. Dr. E. Sturm: Ueber Th. Lessings
„Sinngebung des Sinnlosen."
Für den Winter stehen Vorträge von Prof. Dr. L ieb er t- Berlin, Prof.
Dr. Joel -Basel und Graf H. Keyserling-Darmstadt in Aussicht. Mit-
glieder der Ortsgruppe haben zu allen Veranstaltungen (mit Ausnahme et-
waiger sehr kostspieliger Vorträge) freien Zutritt.
Privatdozent Dr. E. Ungerer.
Königsberger Ortsgruppe der Kantgesellschaft.
Berieht über das Geschäftsjahr 1920/21.
Ueber die Gründung der Ortsgruppe wurde in Bd. 25 Seite 478 der
Kantstudien berichtet. Sie ist mit über 100 Mitgliedern zu einer statt-
lichen Vereinigung angewachsen und hat inzwischen ihr erstes Arbeitsjahr
hinter sich.
Bei den öffentlichen Sitzungen wurden folgende Vorträge gehalten:
27. X. 20. Univ.-Prof. Dr. Kowalewski: Spenglers Kantkritik;
1. XEE. 20. Studienassessor Dr. Paleikat: Kants Religionsphilo-
sophie (an diesen Vortrag schloß sich eine Lesestunde über
Kants Aufsatz : „Was istAufklärung?" Die Leitung hatte
Prof. Dr. Kowalewski);
,19.1.21. Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Sauer: Die moderne Philo-
sophie des Lebens;
23. II 21. Studienrat Prof. Dr. Schöndörf f er: Kant über Lüge und
Selbstmord;
16. III. 21. Akademieprofessor Heinrich Wolff: Kant und die bil-
dende Kunst (gedruckt im Sonntagsblatt der Königsberger
Hartungschen Zeitung Nr. 143, 153, 165);
27. IV. 21. Univ.-Prof. Lic. Dr. Kust: Ist Kants Ethik ergänzungs-
bedürftig?
Im Oktober 1921 fand die Neuwahl des Vorstandes statt. Die Aemter
blieben wie bisher besetzt, nur der 1. Vorsitzende wechselte. An Stelle des
Univ.-Professors Dr. Kowalewski trat Univ.-Prof. Dr. med. et phil. Ach.
Da er erst nach Weihnachten die Geschäfte übernehmen kann, wird er bis
dahin durch Prof. Dr. Schöndörffer vertreten.
Für die nächsten Versammlungen sind u. a. folgende Vorträge in Aus-
sicht genommen:
Studienassessorin Dr. Gertrud Rosenthal: Kants Pädagogik;
Studienrat Dr. Paleikat: Die Religionsphilosophie des Neu-
kantianismus;
Univ.-Prof. Dr. Goedeckemeyer: Nietzsches Wertlehre:
Univ.-Prof. Dr. Ach: Kant und der Okkultismus;
Univ.-Prof. Lic. Dr. Rust: Kant als der Philosoph des Prote-
stantismus:
246 Kant-Gesellschaft,
Studienrat Dr. Schmitt: Ueber den Zufall;
Amtsgerichtsrat TVarda: Mitteilungen über Kants Bibliothek.
Anmeldungen zur Ortsgruppe und Anfragen richte man an den Schrift-
führer, Studienrat Dr. Schmitt, Oberteichufer 16.
Königsberg i. Pr., im Dezember 1921.
Ortsgruppe Heidelberg.
Dem regen Interesse und den tatkräftigen Bemühungen unseres Mit-
gliedes und Mitarbeiters, Dr. Emil Kraus, ist es gelungen, wieder eine
sehr wertvolle Erweiterung unseres Ortsgruppenkreises zu erreichen durch
Gründung einer Ortsgruppe Heidelberg.
Geheimrat Prof. Dr. Heinrich Rick er t, Ehrenvorsitzender;
Dr. Emil Kraus, Häußerstr. 32, 1. Vorsitzender;
Dr. Karl Bosch, Bismarckstr. 19, 2. Vorsitzender;
Fritz Reuse h, Moltkestr. 10, Schriftführer und Kassierer.
Ferner wurde für das Semester 1922 folgendes Arbeitsprogramm auf-
gestellt :
Arbeitsprogramm.
I. Diskussionsabende. „Philosophische Gegenwartsfragen".
Am 2. Febr. Dr. E. Kraus: „Das Kategorienproblem und das
System der Philosophie";
„ 2. März Dr. Kreis: „Erkenntnistheoretische und systema-
tische Begründung des "Wertbegriffs";
„ 6. April Dr. R. K. Goldschmit: „Das Ichproblem im mo-
dernen Drama" ;
„ 4. Mai Dr. Ungerer-Karlsruhe: „Aus der Philosophie des
Organischen".
II. Oeffentliche Vorträge. Ende Februar wird wahrscheinlich Prof.
Hellpach-Karlsruhe über: „Die Philosophie und dieWieder-
vergeistigung der Berufe" hier sprechen.
Sämtliche Diskussionsabende finden abends 8 Uhr im Hörsaal des
geographischen Instituts (Seminariengebäude) statt. Die Veranstaltungen der
Kant-Gesellschaft sowie event. Aenderungen des Programms sind jeweils
am schwarzen Brett der Universität sowie im Schaufenster der Buchhand-
lung Hönicke, Hauptstraße 79, angeschlagen. Anmeldungen und Anfragen
sind zu richten an den Schriftführer Fritz Keusch, Moltkestraße 10.
Ortsgruppe Baden-Baden,
Auf Grund einer dankenswerten Anregung des von regem Interesse
für die Philosophie erfüllten Herrn Wirklichen Geheimrats Richard von
Chelius hat sich im Dezember 1921 in Baden-Baden eine Ortsgruppe
der Kant-Gesellschaft gebildet, der sich bereits eine Anzahl neuer Mit-
glieder angeschlossen hat. Es ist zu erwarten, daß durch diese Ortsgruppe,
die in engerer Fühlung mit der Ortsgruppe Karlsruhe arbeiten wird, die
Interessen der Kant- Gesellschaft eine wesentliche Förderung erfahren werden.
Kant-Gesellschaft. 247
Den Vorsitz hat in liebenswürdigster "Weise Herr Geheimrat von
Chelius übernommen, Schriftführer ist Herr Dr. med. et phil. Bern-
hard Beizer, Baden-Baden, Luisenstr. 26.
Ortsgruppe in Konstanz am Bodensee.
Unsere Mitglieder in Konstanz haben sich zu einer Ortsgruppe zu-
sammengeschlossen, die sich bereits in einer lebhaften Entwicklung be-
findet. Eröffnet wurde die Ortsgruppe durch einen ungemein zahlreich be-
suchten Vortrag des stellv. Geschäftsführers Prof. Liebert, der über „Die
geistige Krisis der Gegenwart" sprach.
Im Sinne der Bestrebungen der Kant-Gesellschaft sieht der Arbeitsplan
der neuen Ortsgruppe eine dreifache Betätigung vor: Außer regelmäßigen
Diskussionsabenden, die nur für Mitglieder berechnet sind, ist eine größere
Reihe öffentlicher Vorträge vorgesehen, für die sich bereits eine Anzahl
bekannter TJniversitätsdozenten und Gelehrten in dankenswerter Weise zur
Verfügung gestellt hat. Drittens endlich sollen kleinere Arbeitsgemein-
schaften gebildet werden, die sich die Durchdringung eines Teilproblems
zur Aufgabe machen.
Geschäftsstelle ist die „Bücherstube" in Konstanz, an die sich alle
Interessenten wenden wollen.
Ortsgruppe Meersburg.
Ueber Winter 1921 — 22 las die Ortsgruppe in wöchentlichen Sitzungen
zur Einführung in die Kantische Philosophie, als Grundlage für jede
weitere wissenschaftliche Arbeit, Kants Prolegomena. Den Abschluß dieser
Arbeit bildete ein Zyklus von drei Vorträgen über die: „Grundzüge der
Philosophie Kants", die Herr Prof. Dr. A. Liebert hier in einem größeren
Kreise hielt, und die er dann noch im engen Kreise der Ortsgruppe ver-
tiefte und erläuterte. Bis zu den Sommerferien sollen noch besonders die
ethischen und geschichtsphilosophischen Schriften Kants gelesen werden, um
dann hauptsächlich die neuere und neueste Philosophie und ihre Strömungen
und Bestrebungen kennen zu lernen.
Kantstudien
Band VIII— XIV, sowie Band XVI und XVII gesucht!
Da ich vor Jahresfrist mit Rücksicht auf meine fast völlige Erblindung
und aus finanziellen Gründen meine ganze Bibliothek verkaufen mußte, und
da ich infolgedessen kein vollständiges Exemplar der ganzen Serie der
Kantstudien mehr besitze, so muß ich jetzt für die von Herrn Dr Ray-
mund Schmidt zu besorgende zweite Auflage meines Kantkommentars und
für die damit verbundene Vollendung desselben die mir jetzt fehlenden
Bände der Kantstudien beschaffen. Es sind dies die Bände VIII — XIV
sowie XVI und XVII. Ich bitte um Angebote zu mäßigem Preise ent-
weder für alle gesuchten Bände oder für einzelne Bände.
Halle a. S., Reichartsr. 15, Prof. Dr. H. Vaihingen
den 25. April 1922.
Januar 1922.
An die Mitglieder
der Kant-Gesellschaft.
Vorbemerkungen.
1) Sofortige Einsendung des Jahresbeitrages dringend
erwünscht.
2) Möglichst grosse Erhöhung des Jahresbeitrages drin-
gend erbeten.
3) Angabe des Absenders in recht deutlicher Hand-
schrift unerlässlich.
4) Zur Verminderung der ständig wachsenden Verwal-
tungsunkosten werden unsere Mitglieder gebeten, bei An-
fragen an die Geschäftsführung Rückporto beilegen zu
wollen.
1.
Auch im vergangenen Jahre 1921 — dem 18. Jahr des Be-
stehens der Kant -Gesellschaft — hat diese sich sehr günstig
weiter entwickelt. So traten der Gesellschaft nicht weniger als
783 Jahresmitglieder bei. Ebenso hat sich die Zahl der Dauer-
und Förderer - Mitglieder (Durchschnittsbeitrag Mk. 1000, — ) von
83 auf 160 erhöht. Die Gesamtzahl der Mitglieder belief sich am
Schluß des Jahres 1921 auf über 3000 Mitglieder. Damit hat die
Gesellschaft ihren Platz als größte philosophische Organisation der
Erde behauptet.
Die Gründe für diesen Aufschwung liegen wohl zunächst in
der intensiven, für das geistige Leben der Gegenwart bezeich-
nenden Erneuerung und Erstarkung der philosophischen Interessen
überhaupt ; ferner in dem Umstand, daß wir trotz aller aus den Zeit-
verhältnissen sich ergebenden Schwierigkeiten unsere Bestrebungen
und Leistungen nicht nur in der gleichen Höhe zu halten, sondern
auch zu steigern und in unparteilicher Weise in den Dienst aller
ernsthaften philosophischen Richtungen zu stellen unausgesetzt
bedacht waren ; endlich aber und nicht zuletzt in der tatkräftigen
und erfolgreichen Mitarbeit einer grossen Zahl unserer
Kant-Gesellschaft. 249
Mitglieder und Freunde. Diese überaus wichtige und dankens-
werte Mitarbeit bestand außer mannigfachen Anregungen und Vor-
schlägen zur Erweiterung unserer Arbeiten vor allem in der Ge-
winnung zahlreicher neuer Mitglieder. Jene Persönlichkeiten, die
uns auf diese Weise zur Seite standen, haben sich damit nicht nur
um die Kant - Gesellschaft , sondern auch um die Förderung des
philosophischen Lebens überhaupt ein Verdienst erworben.
2.
a. Wir konnten unseren Mitgliedern die üblichen vier Hefte
der Kant-Studien (in 2 Doppelheften) zustellen und zwar in dem
Umfange von nicht weniger als 34 Druckbogen (d. h. 532 Seiten).
b. Ferner erhielten unsere Mitglieder drei Ergänzungshefte,
u. z. die Hefte: Nr. 52: „Wertbegriff und Wertphilosophie" (85 S.)
von Dr. Konrad Wiederhold1); Nr. 53: „Welche wirklichen
Fortschritte hat die Metaphysik seit Hegels und Herbarts Zeiten
in Deutschland gemacht?" (67 S.) von Dr. Oskar Ewald; Nr. 54:
„Kants Lebensanschauung in ihren Grundzügen" (92 S.) von Prof.
Dr. Albert Groedeckemeyer.
c. In allen unseren zahlreichen Ortsgruppen fanden regel-
mäßige und außerordentlich gut besuchte Vortragsveranstal-
tungen statt. Vgl. Berichte Kant-Studien, Bd. XXVI.
d. Die Organisation von Ortsgruppen hat eine wesentliche
Ergänzung erfahren. Neue Ortsgruppen: Landesgruppe Holland;
Ortsgruppe Utrecht; Halle, Hannover, Meersburg a. Bodensee,
Baden-Baden, vgl. Berichte Kant-Studien, Band XXVI.
Die weitere Gründung von Ortsgruppen ist ins Auge gefaßt
bzw. bereits eingeleitet. Über alle diese Veranstaltungen wird
regelmäßig in den Kant-Studien berichtet. Es werden dort auch die
Namen und Adressen der Ortsleiter angegeben, damit sich die be-
treffenden Interessenten ' mit ihnen in Verbindung setzen können.
e. Unseren Mitgliedern wurde ferner ein Vortrag zugestellt:
Nr. 26 : „Die Bedeutung der Hegeischen Philosophie für das philo-
phische Denken der Gegenwart" (60 S.) von Prof. D. Dr. Hein-
rich Scholz.
1) Zu unserem Bedauern konnten die Ergänzungshefte Nr. 52 und 53 einer
Anzahl von Mitgliedern, die ihren Jahresbeitrag erst in der 2. Hälfte des Jahres
eingeschickt haben, oder die der Kant-Gesellschaft überhaupt erst in den letzten
Monaten beigetreten sind, nicht mehr zugestellt werden, da durch den unerwartet
großen Zuwachs unseres Mitgliederbestandes die beiden Hefte im Laufe des Jahres
vergriffen wurden.
250 Kant-Gesellschaft.
Der buchhändlerische Wert der genannten Zustellungen, deren Preise von der
Kant-Gesellschaft absichtlich außerordentlich niedrig angesetzt worden sind, über-
steigt beträchtlich die Höhe des Jahresbeitrages:
Kantstudien 1921, Band XXVI = 12.— Mk.
3 Ergänzungshefte (Nr. 52, 53, 54) = 34.— „
1 Vortrag (Nr. 26) = 5.— „
51.— Mk.
Voraussichtlich sind alle diese Sendungen in den Besitz unserer Mitglieder
gelangt. Anderenfalls bitten wir an den stellvertretenden Geschäftsführer Liebert
eine entsprechende Mitteilung zu richten. —
, 3.
Unsere Mitglieder genießen folgende Vergünstignngen :
a) „Kants Opus postumum, dargestellt und beur-
teilt" von Professor Dr. Erich Adickes, erschienen im Früh-
jahr 1920 als Ergänzungsheft 50 (855 S.), das im Buchhandel etwa
80 Mark kostet, wird Mitgliedern der Kant-Gresellschaft zu dem
ermäßigten Preis von 50 Mark ausschließlich der Verpackungs-
und Portospesen geliefert. Die Versendung des Werkes an die
inländischen Mitglieder erfolgt der Einfachheit halber unter Nach-
nahme. Für ausländische Mitglieder, die das Werk zu erhalten
wünschen, kommt wegen des ungünstigen Standes der Mark ein
Verpackungs- und Portoaufschlag von 50 Mk. hinzu. Interessenten
mögen, am einfachsten bei Zahlung des Jahresbeitrages durch eine
Angabe auf dem Abschnitt der Zahlkarte, einen diesbezüglichen
Wunsch dem stellv. Geschäftsführer Liebert übermitteln.
b) Der Verlag von Felix Meiner in Leipzig stellt das Heft 4
des zweiten Bandes der „Annalen der Philosophie" auf
Wunsch den Mitgliedern der Kant-Gresellschaft zu dem Vorzugs-
preise von 5 Mk. (statt eines Ladenpreises von 8 Mk.) zu. Das
Heft enthält eine Reihe von Aufsätzen über die „Philosophie des
Als-Ob" von HansVaihinger, so den Vortrag von Professor
Julius Schultz: „Die Fiktion vom Universum als
Maschine und die Korrelation des G-eschehens", eine
Arbeit von Greh.-Rat Vaihingen „Ist die Philosophie des
Als-Ob Skeptizismus?" und die Bedingungen zweier Preis -
aufgaben:
1) „Die Rolle der Fiktionen in der Erkenntnistheorie von
Friedrich Nietzsche" (Preis 3000 Mk.).
2) „Das Verhältnis der Einsteinschen Relativitätslehre zur
Philosophie der Gregenwart mit besonderer Rücksicht auf die Philo-
sophie des Als-Ob". (Preis 5000 Mk.).
Kant-Gesellschaft. 251
Die Mitglieder der Kant - Gesellschaft werden gebeten, ihre
Bestellung direkt an den Verlag der „Annalen", (Felix
Meiner, Leipzig, Kurzestr. 8) zu richten.
c) Unsere Mitglieder erhalten vom Verlag Paul Siebeck
folgende Vergünstigungen :
1) Erich Adickes, o. ö. Prof. a. d. Universität Tübingen, „Unter-
suchungen zu Kants physischer Geographie" (1911.
Gr. 8°. VIII und 344 S.) zu 8 Mk. statt 20 Mk. Ladenpreis.
2) Derselbe, „Kants Ansichten über Geschichte und Bau
der Erde« (1911. Gr. 8°. VIII und 207 S.) zu 4 Mk. statt
9.20 Ladenpreis.
Mitglieder, die von diesen Vergünstigungen Gebrauch machen
wollen, wollen sich mittels eines einfachen Hinweises auf ihre
Mitgliedschaft direkt an den Verlag von Paul Siebeck
(J. C. B. Mohr) in Tübingen wenden (nicht an die Geschäfts-
führung der Kant - Gesellschaft). Der Verlag wird dann sofort
die Zusendung — der Einfachheit halber unter Nachnahme — vor-
nehmen.
4.
a) Die „Kant-Studien" werden auch in dem neuen Jahrgang
eine Reihe wertvoller Aufsätze aus der Feder bekannter Gelehrter
veröffentlichen. Das erste Doppelheft befindet sich bereits im Druck.
b) Auch für die Fortsetzung der „Ergänzungshefte" ist be-
reits Sorge getragen. Folgende interessante Arbeiten werden unsern
Mitgliedern zugestellt werden:
1) Nr. 55: Dr. Gerhard Stammler: „Berkeleys Philosophie
der Mathematik u (72 S. ; bereits fertiggestellt).
2) Nr. 56: Dr. Rudolf Carnap: „Der Raum. Ein Beitrag zur
Wissenschaftslehre a (87 S.j bereits fertiggestellt).
3) Nr. 57: Dr. Karl Mannheim: „Die Strukturanalyse der Er-
kenntnistheorie u (80 S. ; bereits fertiggestellt).
c) Als neues Vortragsheft wird unsern Mitgliedern geliefert:
Nr. 27: Dr. Marck, Privatdozent an der Universität Breslau:
„Hegelianismus und Marxismus".
Um Mißverständnisse zu verhindern und entbehrliche Inanspruchnahmen nach
Möglichkeit auszuschließen, machen wir wiederum darauf aufmerksam, daß aus-
schließlich Professor Dr. Max Frischeisen-Köhler (Halle, Mozartstr. 24)
die Entscheidung über die Annahme von Aufsätzen und Abhandlungen für die
Kant-Studien und für die Ergänzungshefte hat, während Prof. Dr. Liebert über
dasjenige entscheidet, was sich auf die Abteilung: „Besprechungen neuer Bücher
sowie allgemeine wissenschaftliche Mitteilungen" bezieht. Wir bitten diejenigen
252 Kant-Gesellschaft.
unter den Mitgliedern der Kant-Gesellschaft, die zu den Mitarbeitern
der Kant-Studien gehören, von dieser Anordnung Kenntnis nehmen und
ihre Anfragen bezw. Einsendungen dementsprechend einrichten zu wollen.
Bei Zuschriften an Prof. Dr. Liebert sind die letztgenannten redaktionellen
Angelegenheiten streng zu scheiden von den Angelegenheiten der Geschäftsführung.
Diese beiden Gebiete sind völlig getrennt voneinander, sie sind nur durch eine
zufällige Personalunion bis auf weiteres miteinander verknüpft. Und sie sind ohne
jeden Einfluß aufeinander.
Professor Vaihinger, der wie bisher der Schriftleitung der Kant-Studien an-
gehört, hat sich in dieser nur eine beratende Stimme vorbehalten. An ihn sind
daher Zusendungen in Angelegenheiten der Redaktion in keinem Falle zu richten.
d. In allen unseren Ortsgruppen werden im Jahre 1922 von
führenden Gelehrten Vorträge über die verschiedensten wissen-
schaftlichen Themen gehalten werden. In der Mehrzahl der Fälle
wird sich eine allgemeine Ausspräche anschließen. Soweit in unseren
Ortsgruppen Arbeitsgemeinschaften und seminaristische Übungen
eingerichtet sind, wird diese Einrichtung beibehalten und sinngemäß
ausgebaut werden. Den Mitgliedern geht seitens der Leitung der
Ortsgruppen regelmäßig eine Ankündigung zu. Mitglieder, die in
der Nähe von Ortsgruppen wohnen, wollen, falls sie von den be-
treffenden Veranstaltungen Kenntnis zu erhalten wünschen, einen
diesbezüglichen Wunsch an die Leitung der nächsten Ortsgruppe
richten. Die Namen und Adressen der Ortsgruppenleiter werden
regelmäßig in den „Kant-Studien" angegeben.
e. Die allgemeine Mitgliederversammlung (Generalver-
sammlung), die im vergangenen Jahre durch die Ungunst der
Verhältnisse unmöglich gemacht wurde, wird voraussichtlich an
2 Tagen in der Pfingstwoche dieses Jahres abgehalten werden,
also zwischen dem 6. und 11. Juni. Wir planen für diese Ver-
anstaltung wiederum einen wesentlichen Ausbau. Vortragende:
Geh. ßeg.-Rat Prof. Dr. Ernst Troelt seh -Berlin: „Die Logik
des Begriffes der historischen Entwicklung"; Geh. Reg.-Rat Prof.
Dr. Theodor Ziehen -Halle: „Zum Begriff und zur Methodik
der Geschichtsphilosophie". Mit anschließender Aussprache. Bis
zum 22. April 1921 lief die Frist für die Ablieferung der Arbeiten
zur siebenten, sog. Jubiläumsaufgabe: „Der Einfluß Kants und der
von ihm ausgehenden deutschen idealistischen Philosophie auf die
Männer der Reform- und Erhebungszeit". Es waren bis dahin
drei Arbeiten eingelaufen, wie in Kant- Studien XXVI, Heft 1 — 2
S. 270 f. berichtet wurde. Das Urteil der drei Preisrichter, der
Herren Professoren Lenz - Hamburg, Meinecke - Berlin, Spranger-
Kant-Gesellschaft. 253
Berlin wird dann bei der Generalversammking bekannt gegeben, der
verschlossene Briefumschlag, der der Arbeit beiliegt und den Namen
des Verfassers und Preisträgers enthält, durch den Vorsitzenden,
den Kurator der Universität Halle, geöffnet werden. In Ver-
bindung mit der Generalversammlung wird eine Zusammenkunft der
Anhänger und Freunde der Philosophie desAls-Ob stehen.
Allen unseren Mitgliedern wird zur Zeit eine genaue Einladung
zugehen. Wir hoffen, im Laufe der Zeit die Generalversamm-
lungen der Kant-Gesellschaft zu einem allgemeinen philo-
sophischen Kongreß auszubauen, auf dem Anhänger aller
philosophischen Eichtungen vertreten sind.
Unser Mitgliederstand hat sich, wie schon eingangs erwähnt,
dem Vorjahre gegenüber in bedeutendem Maße gehoben. Diesen
erfreulichen Aufschwung verdanken wir außer unseren literarischen
Darbietungen sowie unseren Vortrags Veranstaltungen wesentlich der
Mitarbeit und der Werbetätigkeit der Mitglieder
selbst, die so liebenswürdig waren, uns neue Mitglieder zu-
zuführen bzw. den Geschäftsführern Adressen von
Interessenten anzugeben. Daher liegt auch dieser Sendung
wieder ein entsprechendes Formular bei, um dessen ausgiebige
Benutzung dringend gebeten wird. Wir erstreben die Erweite-
rung unseres Mitgliederkreises in erster Linie, um das Maß unserer
Leistungen zu vergrößern, manchen, schon lange gehegten wissen-
schaftlichen Plan auch ausführen und die Kant- Gesellschaft immer
mehr zu einer umfassenden Organisation und zu einem Sammel-
punkt des ganzen philosophischen Lebens ausgestalten zu können.
Für sämtliche Jahres-Mitglieder liegt die neue Mitgliedskarte
bei, sowie eine Postscheck - Zahlkarte. Diese Zahlkarte dient für
die Einzahlung des Beitrages (mindestens Mk. 20. — ) an die Bank;
Adresse : Deutsche Bank, Depositenkasse W, Berlin W. 15, Uhland-
straße 57, Conto Liebert (Kantgesellschaft) unter Postscheckkonto
1023. Um recht baldige und möglichst stark erhöhte Zahlung
der Beiträge wird sehr gebeten.
Wegen der außerordentlichen Erhöhung aller Kosten für die
Herstellung und Versendung unserer Veröffentlichungen und für die
Durchführung unserer Bestrebungen wiederholen wir unsere dring-
liche Bitte um eine solche freiwillige Heraufsetzung des Jahres-
beitrages. Eine größere Reihe von Mitgliedern hat ihren Jahres-
beitrag erfreulicherweise in recht erheblichem Maße erhöht (nicht
wenige auf 50.—, 100.— und 200.— Mk.). Wir bitten auch die-
254 Kant-Gesellschaft.
jenigen Mitglieder, die ihren Jahresbeitrag bereits eingesendet
haben, eine solche Erhöhung vorzunehmen. Denn nur bei
einer ansehnlichen Vermehrung unserer Einnahmen sind wir an-
gesichts der schwierigen Zeitverhältnisse imstande, den Umfang
unserer Bestrebungen und Arbeiten aufrechtzuhalten und ihn wo-
möglich in der erforderlichen Weise zu erweitern.
Dem gebotenen Zweck der Vermehrung unserer Einnahmen
dient auch die Schaffung eines besonderen „Förderer -Fonds".
In diesen Fonds kommen auch einmalige größere Spenden, die zu
diesem Zweck gegeben werden. Solche Mäzene , die zu diesem
Fonds mindestens 1000 Mk. beitragen, werden lebenslängliche Mit-
glieder der Kant - Gesellschaft mit dauernden Bezugsrechten auf
alle unsere Veröffentlichungen. Wir gebrauchen ihn dringend zur
Verwirklichung wichtiger wissenschaftlicher Pläne. Aus diesem
Grunde bitten wir unsere Freunde und die Gönner der Gesellschaft,
uns bei der weiteren Erhöhung des Fonds tatkräftig zu unter-
stützen und wirtschaftlich günstig gestellte und für die Philo-
sophie sich interessierende Persönlichkeiten aus ihrem Bekannten-
kreise zu Beiträgen zu diesem Fonds zu veranlassen.
Um Verzögerungen, doppelte Kosten, mühsame und zeitrau-
bende Nachforschungen bei der Zustellung unserer Veröffentlichungen
oder Verluste derselben zu verhüten, bitten wir unsere Mitglieder
dringlichst, jede Adressenänderung, und sei es die gering-
fügigste, auf dem Abschnitt der Zahlkarte, der von der Bank der
Geschäftsführung zugestellt wird, deutlich zu vermerken und sie
auch zu anderer Zeit sofort dem stellvertr. Geschäftsführer
Lieb er t mitzuteilen.
Halle und Berlin,
im Januar 1922. Dje Geschäftsführung:
Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. H. Vaihinger.
Prof. Dr. Arthur Liebert, Berlin W.15, Fasanenstr. 48.
KB. Wir bitten unsere Mitglieder dringend, etwaige Be-
stellungen auf Veröffentlichungen der Kant - Gesellschaf t nicht
an den stellv. Geschäftsführer zu richten, um dessen Belastung
mit Arbeiten nicht noch mehr zu erhöhen, sondern direkt an
unsere Verlagsbuchhandlung Rentner & Reichard, Berlin W 35,
Derfflingerstr, 19a, jedoch unter Hinweis auf ihre Mitgliedschaft.
Kant-Gesellschaft.
Neuangemeldete Mitglieder für 1922.
Ergänzungsliste: Januar— Mai 1922.
A.
Dr. phil. Erik Ahlman, Abo, Finnland, Puolalankatu 1.
Landrichter Dr. Rudolf Albert, Hamburg, Mittelweg 143.
Pfarrer Lic. Dr. Karl An er, Berlin-Charlottenburg, Leibnizstr. 42.
Dr. Paul Apel, Zürich, Schweiz, Zollikerstr. 159.
B.
Lehrer Hans Bachmayer, Berlin-Neukölln, Thüringerstr. 19.
Seine Großherzogliche Hoheit Prinz Max von Baden, Schloß Salem in Baden.
Professor Dr. R. Baldus, Karlsruhe i. Baden, Eisenlohrstr. 47.
Frau Regina Barkan, Jena, Schillerstr. 6.
stud. phil. Hans Baron, Berlin 0. 36, Reichenbergerstr. 63.
Pfarrer Johannes Baron, Maribor, S. H. S. Trubarjeva u. 1.
J. Bauer, Erlangen, Henkestr. 12.
Studienrat Dr. Berneburg, Hannover, Oesterleystr. 18.
Professor Dr. 0. Bethe, Danzig, Lastadie 2.
stud. theol. Hugo Bluth, Berlin N. 24, Oranienburgerstr. 76a.
Dr. Traugott Böhme, Direktor der Deutschen Schule, Mexiko, D. F. Colegi*
Aleman Calzade de la Piedad 81.
Privatdozent Dr. S. T. Bok, Amsterdam, Holland, Veerstraat 29.
Ingenieur A. Bölsche, Dortmund-Gartenstadt, Natorpweg 3.
stud. phil. Paul Bondy, Erlangen, Bismarckstr. 17.
Dr. Konrad Bouterwek, München, Widenmayerstr. 39.
C. Brandt, Flensburg, Friesstr. 125.
cand. phil. Klaus Brandt, Berlin NW., Lüneburgerstr. 28.
stud. jur. Leo Bräunlich, Jena, Kaiserin Augustastr. 6.
Dr. med. Brilmayer, Karlsruhe i. Baden, Bunsenstr. 14.
Studienrat Alexander Broecker, Neuenkirchen a. d. Saar, Wellesweilerstr. 178.
Dr. H. J. F. W, Brugmans, Groningen, Holland, Schuitendiep W. Z. 31.
stud. rer. pol. Enno Budde, Neuenkirchen a. d. Saar, Wellesweilerstr. 178.
Dr. h. c. Rose Burger, Göttingen, Nikolausberger Weg 61.
Richard Busse, Halle a. S., Sophienstr. 13.
c.
Justizobersekretär H. Cammann, Hannover, Voßstr. 18.
Architekt J. M. de Casseres, Beverwyk, Holland.
Dr. W. S. Chang, Erlangen, Akademie a. d. Burgberg.
Schriftsteller Dr. Egmont Colerus, Wien XVIII, Dittesgasse 14.
D.
Landgerichtsrat Dr. Friedrich Darmstädter, Mannheim, L. 2. 1.
stud. phil. Doris Dauber, Kiel, Reventlowallee 18.
256 Kant-Gesellschaft.
stud. theol. H. G. von Deelen, Groningen, Holland, Israelsstraat 61.
Lehrerin Dora Deetken, Gerlachsheim i. Baden, Taubstummenanstalt.
Oberstleutnant a. D. W. von Delius, Berlin NW. 23, Claudiusstr. 3.
Studienrat Diehl, Berlin-Schöneberg, Erfurterstr. 9.
Dr. H. Dooyeweerd, s. Gravenhage, Holland, Regentesselaan 92.
Studienrat Karl Dorbritz, Köslin, Neukleuzerstr. 2.
Lehrer R. Döring, Leipzig-Reudnitz, Nostizstr. 81.
Gutsbesitzer Hans Dorn, Tennenlohe bei Erlangen, Post Eitersdorf.
E.
Bernhard Ebel, Beuthen, Oberschlesien, Bahnhofstr. 31.
Lehramtspraktikant B. Eberhard, Konstanz, Wilhelmstr. 8.
N. A. Elenbaas, Rotterdam, Holland, Achter Donk 12.
Dr. Engel, Berlin W. 8, Budapesterstr. 21.
Studienrat Dr. Susanne Engelmann, Berlin W. 15, Fasanenstr. 58.
cand. phil. August Ernst, Bonn a. Rhein, Baumschulallee 9.
F.
Frau Else Faerber, Berlin-Charlottenburg, Spandauerberg 10—12.
Forstmeister Friedrich Feist, Jestetten i. Baden.
Pastor T. Ferwerda, Amsterdam, Holland, Vondelstraat 166.
Professor Dr. Paul Fischer, Zehlendorf Wannseebahn, Riemeisterstr. 1.
Studienrat Bernhard Fließ, Aschersleben, Reform-Realgymnasium.
Arno Förster, Düsseldorf, Gustav Poensgenstr. 7.
Studienrat Hermann Frings, Bonn a. Rh., Niebuhrstr. 44.
Lektor H. Fritze, Halle a. Saale, Ludwig Wuchererstr. 42.
stud. ehem. Friedrich Freundlich, Lemberg, Polen, Technische Hochschule,
Sapiehygasse.
cand. med. Friedrich Fuchs, Erlangen, Nürnbergerstr. 4nl\2.
Q.
Architekt Heinrich Gehring, Erlangen, Palmstr. 6.
Güterinspektor Geiger, Oberuhldingen, Amt Ueberlingen, Baden.
Julius Giese, Aachen, Maria Theresia- Allee 9.
Landgerichtsrat Moritz Glücksohn, Elberfeld.
F. Goepferich, Konstanz i. Baden, Obermarkt 32.
Frl. Dr. Margaret Goldsmith, Berlin-Halensee, Eisenzahnstr. 65, bei Frau
stud. phil. Gustav Graske, Berlin SW. 47, Katzbachstr. 18. [Levy.
Justizrat Karl Grosch, München, Herzog Wilhelmstr. 7 III.
Professor Dr. Arvid Grotefelt, o. ö. Professor a. d. Universität Helsinki, Finn-
land, Mericatu 1.
H. M. Gruber, Riedheim, Post Zeipheim, Bayern.
H.
Lehrer Karl Habel, Reichenberg i. Böhmen, Brauhofgasse 6.
E. Hackenberg, Düsseldorf, Pfalzstr. 31.
stud. jur. Otto Hänert, Baden-Baden, Gernsbacherstr. 74.
Dr. med. Otto Halasz, Wien XIX, Döblingerhauptstr. 24.
Anton Hall er, Berlin-Friedenau, Kirchstr. 6.
stud. phil. Niels Hansen, Leipzig, Südstr. 96.
Forstmeister Hartnagel, Todtnau i. Baden.
stud. phil. Baron Wolfv. Härder, Erlangen, Luitpoldstr. 48.
Dr. Arnold Hauser, Berlin W., Unter den Linden 62/63, Pension Fritz.
M. A. L. B. S. Z. Hasan, Erlangen, Luitpoldstr. 48.
Schulrat Dr. Hedenus, Erlangen, Puchtaplatz 3.
Studienrat Prof. Dr. Heincke, Königsberg i. Pr., Hinter Tragheim 60.
Frl. Studienrat Dr. Margarete Heine, Königsberg i. Pr., Claudiusstr. 3.
Lehrer Erich Hennecke, Wetter, Ruhr, Märkischestr. 5.
Kant-Gesellschaft. 257
Dr. Eugen Herrigel, Heidelberg, Philosophenweg 6.
Studienrat Dr. Hans Herrmann, Berlin NO. 55, Kurischestr. 13.
Dr. phil. et med. A. Herzberg, Berlin-Tempelhof, Berlinerstr. 56.
Professor Dr. Sergius Hessen, Berlin-Cbarlottenburg, Seesenheimerstr. 28.
Dr. phil. Wilhelm Heuer, Frankfurt a. M., Roßmarkt 1.
Alfred Hinsehe, Oberfrohna, Sachsen, Grenzstr. 1.
Frl. Dr. Hildegard Hoepner, Leipzig, Bleichertstr. 8.
Lehrer Leopold Hoffmann, Weißwasser, Oberlausitz, Bismarckstr.
J. H. van der Hoop, Zenuwarts. Amsterdam, Holland, P. C. Hoofstraat 5.
Forstamtmann Wilhelm Hug. Tiengen, Amt Waldshut i. Baden.
J.
Georg Jacob, Mannheim-Feudenheim, Körnerstr. 53.
Dr. Paul Jacob, Berlin NW., Flatowstr. 7.
Hauptlehrerin Hedwig Jaeger, Erlangen, Puchtaplatz 3.
Lehrer Karl Johannes, Klötze i. d. Altmark, Neustaedterstr. 36.
Dr. Max Jordan, Berlin-Wilmersdorf, Uhlandstr. 126.
Mag. art. JörgenJörgensen, Kopenhagen, Dänemark, Vesterbrogade 61.
Frau Professor Dr. Meta Joerges, Halle a. d. Saale, Seebenerstr. 190.
Studienassessor Dr. Stephan Juergens, Horde i. Westf., Penningskamp 6.
K.
Fabrikbesitzer H. Kaiser, Beichenberg i. Böhmen.
Charlotte Kalimann, Berlin W. 10, Regentenstr. 3.
cand. phil. Myrtill Kaufmann, Tübingen, Nauklerstr. 19.
cand. phil. Wilhelm Keiling, Hamburg, Eppendorferstieg 4.
cand. theol. Otto Kerber, Frankfurt a. M., Niersteinerstr. 14.
Fritz Kisch, Breslau IX, Sternstr. 38.
Professor Dr. R. Kita, Prof. a. d. Univ. Wasseda, Japan, z. Z. Heidelberg, Kron-
prinzenstr. 17.
stud. phil. W. Klapp, München, Kaiserstr. 56.
Lehrer Fritz Klein, Königsberg i. Pr;, Hinterroßgarten 16.
Reg.-Schulrat Kolrep, Magdeburg, Hauswaldtstr. 15.
Ernst Körner, Berlin-Karlshorst, Prinz Joachimstr. 4.
Lehrer Willi Körner, Berlin SW. 61, Johanniterstr. 19.
Prof. Dr. V. A. Koskenniemi, Helsingfors in Finnland, Munksnas Pensionat.
Frau Gertrud Kramer, Bremen, Bürgermeister Smidstr. 1.
Studienrat Dr. Karl Kreiter, Kaiserslautern, Mannheim erstr. 9.
Josef Kreitmaier, Herrenau, Post Gundelthausen i. Bayern.
Ingenieur Alfred Krischke, Bielitz, Polnisch-Schlesien, Bleichstr. 61.
W. Krössin, Berlin-Niederschönhausen, Paul Franckstr. 3.
Studienassessor Werner Kuhrau, Malzkow bei Lupow, Kreis Stolp.
Studienrat W. Kurz, Saarbrücken, Paul Karstenstr. 12.
L.
Studienrat Walter Lag, Köslin, Danzigerstr. 86.
Lehrer Paul Lazar, Wetter a. d. Ruhr, Kaiserstr. 9c.
Richard Lange, Coblenz, Casinostr. 2.
Studienassessor Erwin Lebek, Königstein i. Taunus, Limburgerstr. 23.
Alfred Lehmann, Hagen i. Westf., Kaiserstr. 1.
Mag. phil. Nils Lehmuskoski, Lektor, Helsingfors, Finnland, Puolalankatu 1.
Bruno Leiner, Konstanz, Bodensee, Hofapotheke zum Malhaus.
Dr. Karl Lelbach, Universitätsbibliothekar, Bonn a. Rh., Hohenzollernstr. 17.
Franz Lepinski, Berlin SW, Brandenburgstr. 73.
Ing. Karl Lienhard, Reichenberg i. Böhmen, Altstädterplatz 24.
Lehrer Theodor Lindhorst, Berlin NO. 56, Chodowieckistr. 29.
Dr. Kurt Lisser, Hamburg, Badestr. 47.
Carl Felix Litthauer, Berlin W. 30, Bambergerstr. 22.
Kantetudien XXVII. 17
258 Kant-Gesellschaft.
Landesobersekretär W. Lojek, Düsseldorf, Adersstr. 1.
Redakteur Ad albert Lux, Reichenberg i. Böhmen, Reichenberger Zeitung.
M.
C. Garzön Maceda, Cordoba, Argentinien, Caseros 53.
Lehrer Rudolf Markhoff, Magdeburg, Schönebeckerstr. 93.
Peter Marstrander, Universitätsstipendiat, Kristiania, Norwegen, Under-
haugsveien 13.
Fritz May, Geschäftsführer der Freien Volksbühne, Halle a. S., Delitzscherstr. 16.
Dr. Herbert Mendelssohn-Bartholdy, Erlangen, Burgbergstr. 45.
stud. theol. ev. Johannes Michael, Breslau XIII, Neudorf str. 99.
Prof. Dr. Enrico de Michelis, Turin, Italien, Corso Sommellier 9 bis.
Prof. Wakichi Miyamoto, Prof. d. Phil, am Niigata Katogakko, Niigata, Japan,
Nichi Chata Machi 625.
Lehrerin A. Mosolf, Hannover, Humboldstr. 33.
stud. phil. Albert Müller, Berlin-Halensee, Joachim Friedrich str. 71.
Dr. med. Werner Müller, Dresden, Voglerstr. 18.
N.
Studienrat Walter Naumann, Hoyerswerda, Oberlausitz, Reform Realgymnasium.
Lehrer Bernhard Neke. Berlin-Siemensstadt, Nonnendamm- Allee 88a.
Studienassessor Friedrich Neumann, Berlin-Schöneberg, Salzburgerstr. 2.
Dipl.-Ing. M. Neumann, Düsseldorf, Brehmstr. 16.
Leutnant Konrad Nieschlag, Hannover, Heinrichstr. 61.
Lehrer Carl Nolte, Magdeburg, Südost, Am Krug 2a.
Lehrer Wilhelm Nolte, Berlin NO. 18, Landsberger Allee 29.
0.
Reg.- Assessor Dr. Oehler, Düsseldorf, Grafenberger Allee 86.
P.
Studienrat Dr. Theodor Pelizaeus, Hermsdorf bei Berlin, Neptunstr. 14.
Oberarzt Privatdozent Dr. Eduard Pflaum er, Erlangen, Ratsbergerstr. 10.
stud. theol. Wilhelm Petersen, Rostock, Patriotischer Weg 70.
Privatdozent Dr. Eduard Pflaumer, Erlangen, Rahtsbergerstr. 10.
Rechtsanwalt Dr. J. Picard, Konstanz, Bodensee, Kreuzlingerstr. 68.
Studienassessor Dr. Pies, Saarbrücken, Metzerstr. 84.
Direktorin Margarete Poehlmann, M. d. L., Berlin NW. 23, Bachstr. 3.
Professor Dr. Otto Pommer, Wien XVIII, Eckpergasse 26.
Max Pzibilla S. J., München, Veterinärstr. 9.
Lehrerin Johanna Pößel, Aken-Elbe, Topf erb ergstr. 19.
Q.
Studienassessor Käte Quasebarth, Cöln a. Rh., Titusstr. 4.
Gertrud Quilisch, Freienwalde a. Oder, Wriezenerstr. 3.
B.
Dr. Johannes Radioff, Berlin SW. 68, Lindenstr. 10.
Lehrer Rebbe, Rünthe, Kreis Hamm.
Studienassessor K. Reichel, Breslau, Sonnenstr. 26.
Oberstudienrat Prof. Dr. Hermann Richter, Chemnitz, Kaiserstr. , 54.
Prof. Dr. Otto Rieseberg, Pforzheim, Westliche 28.
stud. phil. J. Ritter, Geesthacht, Heilstätte bei Hamburg.
Wilhelm Roediger, Berlin-Friedenau, Fregestr. 78.
Joseph Roersch, Bonn, Cölnstr. 54.
Realscbuloberlehrer Johannes Rolle, Leipzig-Reudnitz, Oststr. 69.
Elsa Rosenberg, Landau i. Pfalz, üntertorstr. 7.
Kant-Gesellschaft. 259
Adolf Roth, Wien VI, Gumpendorferstr. 118a. *
Wilhelm Rümmelein, Erlangen, Nürnbergerstr. 61.
8.
Hauptlehrer Sachs, Beiningen, Post Blaubeuren.
stud. jur. Georg Samorey, Berlin NO. 55, Immanuelkirchstr. 25.
Dipl.-Ing. C. Siemens, Nürnberg, Labenwolfstr. 15.
Studienrat Heinrich Simon, Sulzbach, Saar, Hauptstr. 13.
Prof. Dr. G i o e 1 e S o 1 a r i , R. Universftä Turin, Italien, Via Maria Vittoria 3.
cand. phil. Spohr, Verden a. d. Aller, Marienstr. 15.
Sch.
cand. phil. Hans Schade, Halle a. S., Bismarckstr. 8.
stud. phil. Fritz Schalk, Wien XII, Schönb runner Allee 26.
Dr. Edgar Schieldrop, Berlin W. 15, Schaperstr. 16 bei Braun.
Lehrerin Ilse Schirmer, Heidelberg, Goethestr. 35.
stud. ehem. Gerhard Schmidt, Stuttgart, Hegelstr. 21.
Georg Schmidt, Hohen-Neuendorf, Nordbahn, Karl Ludwigstr. 2.
stud. theol. Walter Schmidt, Greifswald, Stralsunderstr. 16a b. Brockelmann.
Professor Dr. Franz Josef Schneider, o. ö. Prof. a. d. Univ. Halle a. S., am
Kirchtor 23.
Oberstudiendirektor Professor Dr. Schmidt-Hartlieb, Saarbrücken, Ludwigs-
platz 17.
Dr. med. Berta Schnock, Kiel, Holtenauerstr. 90.
Fabrikbesitzer Kurt Schultheiß, Spardorf bei Erlangen.
Studienrat Johannes Schulz, Berlin NO. 55, Pasteurstr. 44—46.
Lehrer Wilhelm Schulz, Geesthacht, Bezirk Hamburg.
Ferdinand Schüring, Düsseldorf, Gutenbergstr. 15.
Inspektor Schütte, Hannover-Kleefeld, Kantstr. 1.
Studienassessor Schwarz, Altona, Stiftstr. 20.
St.
Studienrat Dr. Martin Stecher, Bautzen i. S., Paulistr. 7.
Kaplan Karl Stein, Ludwigshafen a. Rh., Wredestr. 24.
Frl. M. Stein, Bad Berka bei Weimar, Haus Mirador.
stud. phil. Resi Stein, Hamburg, Tornquiststr. 7.
Prof. Dr. Horst Stephan, o. ö. Prof. a. d. Univ. Halle a. S., Advokatenweg 38.
stud. rer. pol. Mally Stern, Fulda, Edelzellerweg 62.
M. U. Dr. Franz Strauski, Edler v. Greifenfels, Reichenberg i. Böhmen,
Stephans-Hospital, Neustädterplatz 6.
Dr. med. F. Stromeyer, Hannover, Königstr. 42.
T.
Direktor Georg Teply, Zürich-Seebach, Schweiz, Türk.-Macedonische Tobacco
Comp.
Dr. Hermann Theiner, Landgerichtsrat, Neustadt a. T., Böhmen, Bez. Friedland.
T. H. Thung, Berlin S. 14, Prinzenstr. 72.
Dr. Desiderius Tihanyi, Budapest, Ungarn, Lazar utea 13.
Mag. phil. Allan Tornudd, Abö, Finnland, Abö Akademis Bibliothek.
U.
stud. phil. Herbert Ulbricht, Prag, Tschechoslowakei, Karolinental, Vitkowa.
Frau Martha Unger, Berlin W. 50, Pragerstr. 15.
v.
Otto Vasel, Berlin-Schmargendorf, Köseneretr. 11 II.
Dr. P. Vrylandt, Nymwegen, Holland, Verlengde Heselstraat 119.
260 Kant-Gesellschaft.
W.
Lehrer Bernhard Wahl, Uslar in Hannover.
Lehrer E. Wasserthal, Kerkau bei Kallehne, Kreis Osterburg, Altmark.
stud. phil. Erich Wasmund, Heidelberg, Geisbergstr. 17.
Lehrer Max Wehack, Weißwasser, Oberlausitz, Rothenburgerstr.
Anton Weichberger, Wien V, Kohlgasse 51.
Lehrer Paul Weis, Schömberg i. Schlesien, Kreis Landshut.
Rechtsanwalt Dr. Hans Weise, Dresden- A. 19, Kyffhäuserstr. 26 H.
Dr. Robert Welt seh, Charlottenburg, Kaiserdamm 83.
Franz Werner, Wandsbeck bei Hamburg.
Rechtsanwalt Dr. R. Wertheimer, Baden-Baden, Langestr. 55.
Dr. med. Josef Westermann, Köln-Lindenburg, Universitätsklinik.
Studienassessor Walter Wetzel, Plauen i. V., Dobenaustr. 15.
stud. phil. Eva Weydemann, Halle a. S., Blumenthalstr. 25.
Studienassessorin Frieda Wilde, Berlin W. 50, Paussauerstr. 3.
Lehrer Karl Witt, Uslar in Hannover.
Winfried Wolf, Berlin- Wilmersdorf, Brabanterplatz 1.
z.
Professor -Dr. Hugo Zimmermann, Karlsruhe i. Baden, Moltkestr. 1.
Frl. Franziska Zimmerspitz, Krakau, Polen, Wrzesinska 5.
Karl Zink, Leipa, Tschecho-Slovakei, Herrengasse 222.
Institute.
Detmold, Fürst Leopold-Hochschule für Staats- und Wirtschaftswissenschaften.
Florenz, Italien, Biblioteca Filosofica Piazza Del Duomo 8.
Iglau, Tscheschoslowakei, Deutsche Volksbücherei.
Jena, Theologisches Seminar der Universität.
Langenberg i. Rhld., Realgymnasium.
Meersburg a. Bodensee, Lehrerseminar, Direktor Boos.
Meersburg a. Bodensee, Taubstummenanstalt, Lehrerbibliothek.
Wien, Rechtstheoretisches Seminar der Universität, Professor Dr. Hans Kelsen,
Sendungen an Antiquariat Franz Deuticke, Wien I, Helfersdorferstr. 4.
</
'V
Ic
Autotypie von J. G, Huch 6° Co. in Braunschweig
Kantstudien Band XXVII
m
DEM BEGRÜNDER
DER KANT-OESELLSCHAFT UND DER KANT-STUDIEN
HANS VAIHINGER
ZUM 70. GEBURTSTAG
AM 25. SEPTEMBER
1922
VORSTAND UND
VERWALTUNGSAUSSCHUSS DER KANT-OESELLSCHAFT
SCHRIFTLEITUNO DER KANT-STUDIEN
VERLAG DER KANT-STUDIEN
m
Mit der Vollendung seines 70. Lebensjahres scheidet der hoch-
verdiente Begründer der Kant-Studien, Geheimer Regierungsrat
Professor Dr. HANS VAlHINöER aus der Schriftleitung der
Kant-Studien aus.
Mehr als fünfundzwanzig Jahre lang hat er die Kant-Studien,
zuerst als alleiniger Herausgeber, sodann, als seine zunehmende
Augenschwäche ihn mehr und mehr zur Beschränkung seiner
Arbeit zwang, in Gemeinschaft mit anderen Fachgenossen, geleitet.
Die unermüdliche, hingebende, selbstlose und erfolgreiche
Tätigkeit, die Hans Vaihinger den Kant-Studien widmete, hat in
erster Linie dazu beigetragen, ihnen im Lauf der Jahre eine an-
gesehene und führende Stellung in der wissenschaftlichen Welt
zu erwerben.
Indem die Unterzeichneten fortan allein die Leitung der Kant-
Studien übernehmen, glauben sie, Herrn Geheimrat Vaihinger den
dauernden Dank für die Förderung, die das Kant- Studium, die
Geschichtsschreibung der Philosophie und ihre systematische Fort-
bildung in der Gegenwart durch seine Schöpfung erfahren habeni
nicht besser als durch die Widmung des vorliegenden Festheftes
aussprechen zu können.
MAX FRISCHEISEN-KÖHLER ARTHUR LIEBERT
18:
^
Die Logik des historischen Entwickelungs-
begriffes.
Von Ernst Troeltsch.
Neben der Logik des naturwissenschaftlichen, seinerseits wieder
nach der mathematisch-physikalisch-chemischen und der biologischen
Seite geteilten, Erkennens ist die Logik des historischen Erkennens
immer ein eigentümliches Problem gewesen. Der Kern aller histo-
rischen Logik ist nun aber der historische Entwickelungsbegriff,
der mindestens zunächst von den auf anderen Grebieten gebrauchten
EntwickelungsbegrifFen sich wesentlich durch seine unmittelbare
Phantasie-Anschaulichkeit unterscheidet. Da weiterhin an diesen
Entwickelungsbegriff sich alle ethischen und kulturphilosophischen
Probleme anschließen, so ist er zugleich ein Hauptbestandteil aller
G-eschichtsphilosophie und wird von Philosophen wie Historikern
gleicherweise immer neu untersucht und überdacht. Bei der lo-
gischen Natur des Begriffs und der engen Verbindung mit den
allgemeinsten Kulturproblemen ist in diesem Überdenken der Anteil
der Philosophen naturgemäß der stärkere. Ich habe daher in einer
Reihe von Untersuchungen die Begründung und Sinndeutung des
Entwickelungsbegriffes, der bei den Philosophen zumeist in eine Kon-
struktion der Universalgeschichte ausläuft, eingehend untersucht *).
An die Ergebnisse dieser Untersuchungen ist der weitere Gedanken-
gang anzuschließen und zwar zunächst an die Ergebnisse derjenigen
Denker, die in der historischen Entwickelung des Menschentums
eine eigentümliche und besondere Gestaltung und Bedeutung des
Entwickelungsbegriffes sehen. Von der empirischen Historie aus
1) Vgl. Über den Begriff einer historischen Dialektik HZ 1917; Die Dynamik
in der Geschichtsphilosophie des Positivismus, Ergänzungsheft der Kantstudien
1920; Der historische Entwickelungsbegriff in der modernen Geistes- u. Lebens-
philosophie, HZ 1921—22;
266 Ernst Troeltscb,
ist das jedenfalls die zunächst geforderte Einstellung auf das
Problem.
Das Ergebnis von alledem ist daher in erster Linie diese Sonder-
stellung und Sonderbedeutung eines spezifisch historischen
Entwickelungsbegriffes selbst. Er ist erstlich in dem Wesen
des menschlichen Geistes begründet, aus keimhaften Ideen oder Ten-
denzen heraus zu schaffen und deren innere Konsequenzen in der
beständigen Auseinandersetzung mit den geographischen und bio-
logischen Voraussetzungen und mit allerhand zufälligen Kreuzungen
in einer logisch begreiflichen Folge auszuwirken. Er ist zweitens
in der Fähigkeit desselben Geistes begründet, bestimmte dauernde
oder wechselnde, naturhafte oder soziale oder historische Be-
dingungen aufzunehmen und in der Anpassung an sie gleichfalls
Wege einzuschlagen, die durch die Auswirkung einer darin er-
griffenen Richtung den Eindruck eines logisch fortschreitenden
Zusammenhanges machen. Von beiden sich meist irgendwie ver-
bindenden Richtungen aus entsteht das Bild relativ logisch kon-
struierbarer Entwickelungen anfänglicher Tendenzen zu größeren
oder kleineren Werdezusammenhängen. Die innere Logik dieses
Werdens besteht in der beständigen und immer neu einsetzenden,
instinktiven oder bewußten Einordnung bedeutender, massenhafter
und entscheidender Handlungen unter das in diesen Tendenzen
vorschwebende Ziel eines Sinnes oder Zweckes oder Bedeutungs-
zusammenhanges, wobei die Handelnden auch oft durch Konse-
quenzen ihres eigenen Handelns überrascht und die späteren Aus-
wirkungen den ersten Instinkten oft geradezu zu widersprechen
scheinen können1). Hiermit ist auch die Eigentümlichkeit der
historischen Zeit gesetzt, die durch Gedächtnis, Trieb und Ziel-
setzung über Vergangenheit und Zukunft disponiert und im
schöpferischen Augenblick produktiv wird, ebenso der Begriff der
1) Zu diesen in den historischen Tendenzen sich äußernden logischen Zu-
sammenhängen s. vor allem Heinrich Maier, Die Psychologie des emotionalen
Denkens, 1908, der das kognitive und das emotionale Denken unterscheidet. Nur
vom letzteren aus gibt es eine innere Logik der historischen Tendenzen. Wer*
nur eine kognitive Logik anerkennt wie Driesch, der kann historische Entwickelungs-
tendenzen nur wie Comte und Driesch in der Entwickelung der Wissenschaft an-
erkennen und wird dann wie der letztere nur im Wachstum des Wissens, das
dann nebenbei „lust- und wertbetont" sein mag, Wesen und Ziel der Geschichte
sehen. Doch haben beide Denker diesen Standpunkt nicht festhalten können und
eine innere Logik des Affektlebens, der Moral, der Soziabilität, der künstlerischen
Phantasie daneben anerkennen müssen.
Die Logik des historischen Entwickelungsbegriffes. 267
Unbewußten, der gerade das Überschießen der logischen Konsequenzen
über das im aktuellen Bewußtsein Enthaltenen bedeutet. Die Aus-
wirkung der Konsequenzen bildet einen überindividuellen Zusammen-
hang und ist als solcher erst nach Vollendung der Entwickelung ver-
ständlich; aber die Individuen sind dabei nicht das bloße Medium
oder die Stützpunkte, durch die hindurch sich der logische Prozeß
vollzieht, sondern, wie er nur in den Handlungen von durch Vererbung
und Erziehung verknüpften Individuen sich vollzieht, so schließt
er die verschiedengradige Aktivität der Individuen und die Mög-
lichkeit bestimmter Hemmungen oder Beschleunigungen, Abbiegungen
oder Umformungen, Klärungen oder Verwirrungen durch diese ein.
Der EntwickelungsbegrifF in diesem Sinne ist zunächst auf die
Erfassung einzelner, abgeschlossener und quellenmäßig hinreichend
übersehbarer Kreise eingeschränkt. Die allgemein, gern oder un-
gern, vollständig oder unvollständig vollzogene Folge von alledem
ist die Anerkennung, daß die Methode der Erforschung der Ent-
wickelung oder der durch die Individuen hindurchgehenden allge-
meinen Zusammenhänge nicht die den Methoden der Naturwissen-
schaft nachgebildeten Methoden der Experimentalpsychologie, Sozial-
psychologie und Soziologie sein können, die die zwischen einzel-
nen Elementen oder einzelnen Vorgängen sich abspielenden gesetz-
lichen Wirkungsverhältnisse sachen. Es muß eine Methode sein,
die von vorneherein auf das Allgemeine als auf innere Kontinuität,
als flüssige Einheit, als Lebensprinzip oder als Bewegungseinheit
abgestellt ist. Hegels Dialektik und ihr Gegensatz gegen die
Reflexionsphilosophie ist der schärfte Ausdruck für diesen Sach-
verhalt, Bergsons Lehre von der Dauer und der Bewegung der
anschaulichste. Aber der erste reduziert die Logik dieser Be-
wegung auf die allgemeine, ins Metalogische erhobene Bewegung
des* rein theoretischen Denkens, das angeblich die Eealität und
dieses ihr zugleich praktisches Bewegungsgesetz aus sich hervor-
bringen und bestimmen soll. Dem widerspricht jedoch der wirk-
liche Charakter des Geschehens. Hegels Gedanke ist nur der
schärfste und klarste Hinweis auf das Problem, aber nicht seine
Lösung. Umgekehrt zeigt Bergson nur die Flüssigkeit und alles
Einzelne in Leben auflösende Bewegung im Gegensatz gegen die
davon sich abscheidende und niederschlagende tote Materie, aber
keine Möglichkeiten der Gliederung der Bewegung, am aller-
wenigsten gerade auf dem historischen Gebiet. Auch er stellt das
Problem in aller Schärfe und weist auf das Anschauliche hin, das
268 Ernst Troeltsch,
darin liegt und das nur durch Anschauung ergriffen werden kann.
Aber er läßt dann diese Anschauung selber unbestimmt und sieht
mit ihrer Hilfe nichts, was einen inneren Zusammenhang geistigen
Lebens begründen könnte. Dilthey meint mit seinem historischen
Strukturzusammenhang dasselbe. Indem er sich aber darauf ka-
priziert, diesen Strukturzusammenhang mit Hilfe der Psychologie
zu fassen, kommt er in fortwährenden Konflikt mit jeder noch
irgend Psychologie darstellenden Wissenschaft vom Psychischen
oder er verwandelt die Psychologie geradezu in Geschichte und
verliert mit der Psychologie auch jede methodische Grundlage.
Lotze spricht von einer Melodie der historischen Zusammenhänge,
Simmel von Gestalten und beide meinen damit wiederum dasselbe,
versuchen aber gar nicht den Zugang zu solcher Erkenntnis und
damit diese selbst aufzuhellen. Sie weisen das Problem der Meta-
physik zu. Diejenigen, welche wie Kickert, Xenopol, Wundt
zweierlei Kausalitäten, eine naturwissenschaftliche und eine ent-
wickelungs wissenschaftliche oder auch psychologische unterscheiden,
meinen gleichfalls dasselbe, können es aber von einer im Grunde
doch immer der Naturwissenschaft analogen Kausalität aus über-
haupt nur durch starke Inkonsequenzen erreichen1). Es muß also
der Erfassung des Entwickelungsbegriffs eine eigene und selb-
ständige Logik zugrunde liegen, die das Anschauliche mit Ideellem
durchwirkt. Die Neukantianer, deren Theorie von der Erzeugung
des Gegenstandes durch Denken in der Historie vollends uner-
träglich ist, haben doch darin Recht, wenn sie, wie im Natur-
begriff, auch in diesem Anschauen ein logisch - autonomes Element
enthalten wissen wollen. Wie ist nun aber unter diesen Umständen
dieses anschauliche Denken oder denkende Anschauen zu verstehen ?
Ist hier überhaupt mehr als ein bloß praktisch - intuitives, durch
Erfahrung und Vergleichung geschultes und verfeinertes Verfahren
der Historiker selbst festzustellen?
1) Wenn Xenopol, La theorie de l'historie 2 1904 in seinem übrigens sehr
lehrreichen Buche die faits de repetitions und die faits de succession unterscheidet
und den letzteren eine eigentümliche, durch das produktive Wesen der Zeit be-
stimmte Kausalität zuschreibt, so ist diese Produktivität der Zeit und die ihr
zugeschriebene besondere Art der produktiven Individualkausalität eben das Pro-
blem. Nur in diesem letzteren Sinne kann er sagen: La causalite', c'est le seul
bien qui tire les faits de leur isolement et en fait des touts qui acquierent
un charactere plus general, que les e'venements, dont ils se composent, et
qui leur (Du touts) sont subordorne's". Das ist von der Kausalität zuviel ver-
langt. Er ersetzt daher auch den Begriff dieser Kausalität sofort durch den der
series oder tendances, worüber gleich^noch einiges zu sagen ist.
Die Logik des historischen Entwickelungsbegriffes. 269
Diese Frage erinnert uns daran, daß doch nur ein Teil der
geschilderten Denker solche Stellung nimmt. Andere, vor allem
die aus der Schule Spencers Stammenden oder Angeregten erklären,
daß dieses Problem von einer isolierten Betrachtung der mensch-
lichen Geschichte aus unlösbar sei und daß jede Logik eines
Einzelgebietes nur aus einer allgemeinen, das ganze Universum
oder das All des Denkbaren umfassenden logischen Theorie erst
hervorgehen könne 1). Das aber sei in unserem Falle die allge-
meine kosmische Entwickelungstheorie, welche die Logik des für
das Universum geltenden Entwickelungsgedankens nur für dieses
besondere Gebiet genauer bestimme. So denken im Grunde schon
Hegel, Schelling, E. v. Hartmann, Wundt, Xenopol und Bergson.
Bei den drei ersten läuft der Gedanke allerdings darauf hinaus,
die Entwickelung des Universums unter die Formeln der mensch-
lichen Entwickelung zu bringen, bei den drei letzteren umgekehrt
darauf, die menschliche Entwicklung unter die der physikalischen
und biologischen zu bringen. Aber der Gedanke einer kosmi-
schen Entwickelung besteht und sicherlich im allgemeinen nicht zu
Unrecht. Auch ist es logisch verlockend, die menschliche Historie
derart auf eine Logik der Weltentwickelung und damit auf ein
letztes und allgemeinstes logisches Prinzip zu begründen. Das
Verfahren gilt heute vielfach fast für selbstverständlich. Insbe-
sondere die Spencersche und neu-Humesche Schule faßt den Ent-
wickelungsbegriff so allgemein, daß er zu einer Weltformel wird.
Allein bei der genaueren Durchführung solcher Konzeptionen führt
dann doch kein Weg zu den wirklichen Besonderheiten der eigent-
lichen Geschichte d. h. der menschlichen. In Wahrheit ist jener
allgemeine Evolutionsbegriff, soweit er sich von den
1) Charakteristisch Xenopol, S. 124 : Le tout c'est la continuite' de la matiere
et de l'esprit; la partie, c'est le de'veloppement de ce dernier. Pour etre lo-
g i q u e , il faut partir du tout, pour f ormuler les principes qui regissent la partie,
et non conclure par voie d'analogie, du plus petit au plus grand. Im
übrigen ist auch bei Rickert die Tendenz, die individualisierende Logik durch
das ganze Universum hindurch der allgemein-gesetzlichen parallel gehen zu lassen,
in dem gleichen Motiv begründet und kommt mit seiner faktischen Sonderbedeutung
des Individuellen auf dem Boden der menschlichen Geschichte, die Rickert im
Grunde der romantischen Metaphysik und der Praxis des Historikers entnimmt,
vielfach in Konflikt. Im Grunde ist schon Schelling damit vorausgegangen, dem
Hegel und Croce scharf widersprechen, dann vor allem Spencer. Gegen solche
Auflösung der Logik der menschlichen Geschichte in die der kosmischen s. außer-
dem besonders v. Gottl, Die Grenzen der Geschichte 1904.
270 Ernst Troeltsch,
Hegeischen Gedanken gelöst hat, überhaupt kein Entwickelungs-,
sondern ein bloßer Veränderungsbegriff, der die wirkliche Ent-
wicklung, die Entfaltung eines individuellen Ganzen aus eigenen
in seiner Anlage liegenden Triebkräften, mit den bloßen An-
häufungen oder Kumulationen oder Schein-Entwicklungen auf eine
Stufe stellt, der das Beharrende und die Tatsache der Neuent-
stehung oder den Sprang und vor allem die Sonderart des Geistes
und des geistigen Werdens gegenüber den bloßen Assoziationen
und Dissoziationen nicht beachtet, auch Aufstieg und Abstieg,
Gutes und Böses gemeinsam der Entwickelungsformel unterstellt.
Das heißt: das in Wahrheit Entwicklungslose, von rein kausalen,
physikalischen und chemischen Veränderungs- und Verschmelzungs-
formeln Beherrschte zum Wesen der Entwickelung und das, was
echte Entwickelung ist, zum Zufall machen1). Derartige phan-
1) 0. Max Rosenthal, Tendenzen der Entwickelung und Gesetze, Viertel-
jahrsschrift für wiss. Phil, 34, 1910. Die Tendenzen sind hier von vorneherein
lediglich die von der Statistik aufweisbaren Richtungen und sind praktisch-brauch-
bare Formeln für relativ dauernde Reihen von Tatbeständen, die an sich aus den
kausalen Wechselwirkungen fest begrenzbarer kleinster Elemente resultieren, aber
wegen der Kompliziertheit bis in diese letzten Gründe nicht verfolgt werden können. —
Aus der Athmosphäre von Ernst Mach insbesondere stammt L. M. Hartmann, Über
historische Entwickelung. Sechs Vorträge zur Einleitung in eine historische Sozio-
logie, 1905. Hier wird von vorneherein jedes „metaphysische und psychologische Vor-
urteil" ausgeschaltet, also Gott, das Ich, die Freiheit, die Initiative geistiger Kräfte
und jeder Zielgedanke, aus dem immer nur animistische Allgemeinbegriffe als über-
individuelle Zusammenhänge und Vordatierungen der Bewußtseinsanpassung an ge-
gebene Verhältnisse schon in das Geschehen selbst hervorgehen. Alles erklärt sich
aus Kampf ums Dasein, Selektion und Anpassung der körperlichen Vorgänge (samt
der ihnen zugeordneten psychischen Korrelate) aneinander. Entwickelung ist der
tatsächliche Verlauf der Veränderungen und die Richtung, welche dieser faktisch
nimmt. Daß sie tatsächlich in der Richtung auf „fortschreitende Ver-
gesellschaftung, Produktivität und Differenzierung" verläuft, ist
eben darum nicht mehr als reine Tatsache. Verliefe sie umgekehrt zum Chaos
oder zur Zusammenhangslosigkeit, so wäre eben das die „Entwickelung". Nur
deshalb könne es heißen: „In dieser Dreieinigkeit muß der gesamte Inhalt der
historischen Entwickelung verlaufen, während ihre Form durch direkte Anpassung,
und Auslese bedingt ist" S. 62. Durch diese Tatsache oder diesen Zufall erweist
sich die Marxistische Lehre als wesentlich berechtigt. Ideologie, Ziele, Zwecke,
Wünsche, auch die Moral sind Anpassungsformen des Bewußtseins an die bereits
vollzogene Entwickelung und haben auf diese keine Einwirkung. „Die Geschichts-
wissenschaft schleppt zu ihrem Nachteil das menschliche Bewußtsein als schwere
Bürde mit sich" S. 7. „Es ist selbstverständlich, daß die Anhänger dieser Auf-
fassung, die nicht durchaus passend als 'materialistische Geschichtsauffassung'
bezeichnet wird, von den gegnerischen Argumenten, die aus der Psychologie ge-
Die Logik des historischen Entwickelungsbegriffes. 271
tastische und sinnzerstörende Auswirkungen des Entwickelungs-
begriffes sind unmöglich ; will man, einem allgemeinen Eindruck in
der Welt folgend diese Kumulationen trotzdem zur Entwickelung
machen, so ist das nicht durch die diese Gebiete beherrschende
Logik, sondern nur durch metaphysische und religiöse Deutungen
möglich, wie das E. v. Hartmann und Lotze, jeder auf seine Weise,
getan haben. Soll daher schon der historische Entwickelungs-
begriff einem allgemeineren logischen Prinzip unterstellt werden, so
bleibt nur die Biologie übrig. Allein auch hier ist es wieder nur
ein bestimmter Punkt innerhalb ihrer, an dem allein der Entwicke-
lungsbegriff ernstlich in Frage kommt, die Ontogenie, da es bei ihr
allein sich um gesetzlich darstellbare, die individuelle Einheit des
Ganzen hervorbringende und auswirkende Veränderungen handelt.
Der Streit um die rein mechanistische oder vitalistisch-entelechische
wonnen werden, nicht getroffen werden können, wenn ... in sehr vielen Einzel-
fällen nachgewiesen wird, daß bestimmte menschliche Handlungen, welche wirt-
schaftliche Folgen hatten, ganz anders als durch den wirtschaftlichen Zweck, sei
es durch religiösen Fanatismus oder durch nationale Begeisterung oder durch
ethische Ideen motiviert sind. . Alle diese Einwendungen beziehen sich auf
ein Gebiet, das für den Forscher zunächst gar nicht in Betracht
kommt, solange er sich eben mit den menschlichen Handlungen und ihrem Zu-
sammenhang und nicht mit der Motivation d. h. mit der Frage beschäf-
tigt, wie sich die menschlichen Handlungen im Bewußtsein
widerspiegeln . . . Die Motivierung dieser Handlungen ist irrelevant" S. 30 f.
Dieser „Empirismus" scheint mir das volle Gegenteil aller Empirie zu sein. —
Gleichfalls aus Wien stammt das sehr besonnene und kritische Buch des Bota-
nikers J. v. Wiesner, Erschaffung, Entstehung, Entwickelung, 1916, dessen Ergeb-
nisse oben im Text verwertet sind. Für die Sonderart der Geschichte hat freilich
auch er wenig Sinn. Er weist sie von vorneherein der Phylogenie zu und dis-
kutiert sie nur in der Form, die Lamprecht ihr gegeben hat, während er von
Hegel und Schelling meint, „diese Anfänge einer Geschichtsentwickelung hätten
in ihrer zu allgemeinen und zu spekulativen, der tatsächlichen Begründung noch
entbehrenden Fassung keine tieferen Wurzeln geschlagen" 195. Für die Ethik ver-
weist er als etwas ganz Außerhistorisches und Außernaturwissenschaftliches auf
Kant. Jedenfalls hat W. das Verdienst, den Entwickelungsbegriff genau bestimmt
zu haben, indem er diesen als auf eine individuelle Totalität, auf ein nachweisbares
Gesetz der Folge und eine innere Zielstrebigkeit bezogen betrachtet und davon
alles übrige mit Driesch als bloße Veränderung, Kumulation oder Pseudo- Ent-
wickelung unterscheidet, indem er ihn ferner von der sprungweisen Entstehung
als einer innerhalb ihrer und auch sonst stattfindenden wichtigen Erscheinung unter-
scheidet und Entwickelung mit Wiederauflösung unter einen gemeinsamen Begriff
zu fassen warnt. Im übrigen ist sie selber ihm ein bis heut unauflösliches Ge-
heimnis, dem man nur durch Deskription nahe kommen könne und das er durch
Metaphysik nicht wie Driesch auflösen möchte.
272 Ernst Troeltsch,
oder psychovitalistische Auffassung der Ontogenie kann hier auf
sich berohen. Die Hauptsache ist, daß die historischen Entwicke-
lungen nicht der Ontogenie, sondern der Phylogenie analog sind.
Für diese aber, also für die Herausbildung der verschiedenen Arten
aus ontogenetischen Anfängen, ist ein Gesetz bis heute nicht ge-
funden, das wirklich eine Entwickelung bedeutete. Die von der
Biologie ausgehenden Logiker pflegen darum die menschliche Ge-
schichte als Teil und Fortsetzung der Phylogenie zu betrachten
und dann hier begreiflicher Weise noch weniger ein solches Gesetz
zu finden. So glauben Driesch und Wiesner die Geschichte wesent-
lich als bloße Kumulation und Scheinentwickelung, d. h. als Häu-
fung von Veränderungen betrachten zu dürfen, wobei Driesch nur
offen läßt, daß spätere Forschungen vielleicht — etwa im Unter-
bewußten — ein solches Gesetz finden könnten, das den Gesetz-
mäßigkeiten der Ontogenie vergleichbar wäre. Im übrigen ver-
weist er das Problem aus der Logik hinaus in die deren Gesetze
und Inhalte ausdeutende Metaphysik, wo die in der Erfahrung und
ihrer Logik sehr fragliche Bedeutung der historischen Entwickelung
in den Gedanken einer lebensjenseitigen inneren Bewegung des
göttlichen Willens zum Wissen und zur Wissenseinheit, sozusagen
in die Wissens-Biologie des absoluten Ich, aufgenommen wird. Allein
all das ist dann doch — logisch genommen — eine Unterwerfung
der Historie unter die ihr ganz fremdartige Biologie und besonders
unter das für sie in der Tat ganz unmögliche Ideal der Auf-
hellung der Ontogenie, wie sie auf den Arbeiten von K. E. v. Bär
bis heute beruht. Man kann von vorneherein sagen, daß auf diesem
Wege allerdings an die Geschichte nicht heranzukommen ist. Das
Eigentümliche der Historie besteht in dem Auftauchen der Geist-
und Wertwelt und ihren individuellen, reiche Konsequenzen aus
den Ansätzen entfaltenden Auswirkungen, überhaupt in dem logisch-
teleologischen Charakter der die Einzelheiten verbindenden und durch-
waltenden Sinn -Zusammenhänge oder Tendenzen. Darauf bezieht
sich in ihr der Entwickelungsbegriff. Daher schließt er hier auch
Selbständigkeit und Unberechenbarkeit der in diesen Zusammen-
hängen handelnden Individuen und den Kampf wie die engste Ver-
wachsung mit der bloß naturhaften Unterlage des geistigen Lebens
ein. Das alles ist mit der Biologie ganz unvergleichbar und schließt
ganz andere logische Prinzipien ein 1). Gerade dieser Umstand hatte
1) Siehe Hans Driesch „Logische Studien über Entwickelung", Abhh. der
Heidelberger Akad., 1918 und das Problem der Geschichte, Annalen der Natur-
Die Logik des historischen Entwickelungsbegriffes. 273
die älteren, vom modernen Naturalismus weniger gebundenen
Denker dazu geführt, vielmehr umgekehrt, diese, sei es logische,
philos. VII : Zusammenfassungen und Auszüge aus den großen Werken Ordnungs-
lehre 1912, Wirklichkeitslehre 1917 und Philosophie des Organischen 1909, 2. Aufl.
1921. Auch er geht für die Geschichte von der Biologie und innerhalb dieser
von dem einzig klaren Entwickelungsfall, der Ontogenie, aus. Sie bildet den
vierten Fall der logisch möglichen Entwickelungsbegriffe, von denen die drei ersten
mechanische Veränderungen einer zählbaren Mannigfaltigkeit bei Erhaltung des
Ganzen, also Kumulationen, sind, während der vierte ein unräumliches Agens,
die Entelechie, voraussetzt. Ob es in der Phylogenie „eine" Entwickelung gibt,
sei bis heute noch nicht zu sagen, aber möglich. Noch weniger sei das von der
Historie bis jetzt zu sagen, wenn auch nicht unmöglich. Es könnte einmal „eine"
Entwickelung im Unterbewußten noch nachgewiesen werden. Neuerdings ist er
auf dem Gebiete der Wissenschaft und Moral eine solche anzunehmen geneigt;
das setzt dann eine suprapersonale, die persönlichen einbefassende Entelechie
oder ein Psychoid der Menschheit voraus. Von der Historie nimmt er nur Buckle,
Taine und Lamprecht ernst, meint aber, daß auch sie nur Kumulation in der Historie
nachgewiesen hätten, die ein Bestandteil der Phylogenie sei. So kann man natür-
lich niemals zum Verständnis des in der Historie befolgten EntwickelungsbegrifFs
kommen, welches immer die Verdienste des scharfsinnigen Denkers um der Bio-
logie sein mögen. „Es gibt wirklich nichts Evolutionistisches, das sich auf die
Generationen der Menschheit als solche bezöge. Wenigstens ist bis jetzt nichts
nachgewiesen." Evolutionistisch erklärbar seien auch in der Geschichte nur die
Individuen, die geschichtlichen Bildungen aber nur als Kumulationen von derart
erklärbaren Individuen. „Staats- und Rechtsphilosophie im Sinne Hegels ist daher
nur Philosophie zweiter Klasse. Sie verhält sich zur Philosophie der (psycholo-
gisch erklärbaren) Handlung wie Geologie zur Physik und Chemie" Annalen VII
212 f. Das ist trotz aller ontogenetischen Entelechien und Vitalismen in allem
übrigen genau die Stellung des Positivismus. Dem entsprechend schätzt Driesch
den philosophischen Wert der Geschichte als sehr gering ein. Historische Bildung
könne praktisch nützlich sein, retardire aber meistens den Fortschritt. „Aller
wirkliche Fortschritt ist nicht-historisch" 222. „Man kann aus der Geschichte die
größten Persönlichkeiten streichen, die Weltanschauung, die Philosophie wird da-
durch nicht berührt. Die stammt aus der Naturwissenschaft. Von einer philo-
sophischen Gleichwertigkeit der Geschichte und der Naturwissenschaften ist gar
keine Rede" 223. Den Schluß bildet ein scharfer Angriff auf die humanistisch-
historische Bildung, die mit dem „Ewigen" gar nichts zu tun habe, aber auch
nichts mit dem Praktischen. Rickert wird gelobt, weil er wenigstens nichts von
„einer" Entwickelung in der Geschichte wissen will, im übrigen wird sein Buch
als bedenkliche Galvanisierung der überlebten historischen Bildung abgelehnt.
Die späteren Arbeiten zeigen allerdings eine etwas achtungs- und hoffnungsvollere
Betrachtung der Geschichte und preisen Jak. Burckhardts Weltgesch. Betr. als be-
deutendstes geschichtstheoretisches Buch, Wirkl. 332 f. ; der Grund ist Burckhardts
vermeintliche Abneigung gegen Staat und Macht. Damit tritt die Entwickelung des
Wissens als irdische Spur einer in der Menschengeschichte vielleicht wirkenden
suprapersonalen Entwickelungseinheit stärker hervor und nimmt die Geschichte
274 Ernst Troeltsch,
sei es teleologische, Bewegtheit des Geeistes nun ihrerseits zu ver-
allgemeinern und zur Weltformel zu machen oder den so schwie-
rigen Begriff überhaupt nicht der Logik, sondern den kunstvollen
Verknüpfungen der Metaphysik zuzuweisen, die ihn dann aus Ver-
bindungen von Seinserkenntnissen, logischen Regeln und ethischen
Postulaten herstellt. Allein, das erste scheitert an den Natur-
wissenschaften und das zweite stimmt mit der Einfachheit des
praktischen historischen Verfahrens nicht überein, wie das ja auch
von der Metaphysik Drieschs gilt. Der letztere ignoriert die
empirisch - historische Forschung vollständig und hält sich nur an
Taine und Buckle, Lamprecht und Breysig, indem er alle sonstige
Historie für Erbauungsbücher erklärt. Annähernde Entwickelung
gibt es bei ihm nur auf dem Gebiete des Wissens und allenfalls
der Moral, von wo aus er dann gleich in seine Metaphysik des
jenseitigen „Grottes oder Wissensstaates" überspringt. Allein für
wirkliche Empirie liegen die Dinge ganz anders. Die in der Hi-
storie den Entwickelungseinheiten zugrunde liegenden Tendenzen
sind an sich völlig anschaulich und klar und bedürfen und ertragen
keine Erläuterung aus ganz allgemeinen, die entferntesten Dinge
verknüpfenden Spekulationen. Sie geben umgekehrt allen meta-
physischen Annahmen erst ihrerseits die Unterlage und das Material,
wenn man überhaupt zu jenen fortschreiten will. Die Frage ist
wirklich ganz einfach lediglich die, wie diese anschaulich, aus dem
Leben aufgenommenen Bilder zugleich Erkenntnis realer Zusammen-
hänge sein können und nicht bloß subjektiv und praktisch be-
dingte Verkürzungen und Zusammenschauungen. Das ist aber eine
Frage, die sich lediglich von dem Boden der empirisch-historischen,
auf das Menschliche bezogenen Forschung aus lösen läßt.
Damit soll die Möglichkeit, die historische Entwickelung in
eine kosmische einzureihen, an sich gar nicht bestritten werden.
Aber aus dieser Einreihbarkeit ergibt sich nichts für die Logik
des historischen Entwickelungsbegriffes selbst. Die Idee des kos-
auf in die Entwickelung des Geistes zu einer Art Nirvana oder Gottesreich, das
grundsätzlich nicht von dieser Welt ist. Da ergeben sich dann Anklänge an
Schopenhauer, S. Wirkl. 334, 173 ff., 106. Vom Staate heißt es : „Einzelstaat ist
also ein durch den Inhalt gewisser Bücher geregeltes seelisches Verhalten einer
Zahl von Einzelmenschen; sie haben den Inhalt dieser auf sie zurückwirkenden
Bücher so gewollt, wie er ist" 204 ! Man wird dem scharfsinnigen und originellen
Denker nicht zu nahe treten, wenn man sagt, daß ihm die empirisch-historische
Forschung ebenso unbekannt als widerwärtig ist. Nicht umsonst erklärt er seinen
Anschluß an einen Doktrinär wie F. W. Förster.
Die Logik des historischen Entwickehmgsbegriffes. 275
mischen Fortschrittes mag den Weg von der Emporhebung des
organischen Lebens aus dem anorganischen, des menschlichen aus
dem biologischen und des Geistig-Übermenschlichen oder Ewigen aus
dem Bloß-Menschlichen zeigen und entspricht damit sicherlich einem
gewissen Eindruck der Dinge. Aber für die Erkenntnis der Historie
selbst nützt das gar nichts. In ihr erscheint der Fortschritt immer
nur als Glaube und Pflicht des Handelnden zu höherer Erhebung, wo-
durch eben diese Erhebung selbst zu Stande kommt. Aber über den
empirischen Verlauf und den Zusammenhang, vor allem auch über
die jeweils konkret zu schaffenden, aus der bisherigen Entwickelung
zu schöpfenden gegenwärtigen Kultursynthesen selbst ist damit gar
nichts gesagt1). Ebensowenig hilft der Gedanke der bloßen kos-
mischen Kontinuierlichkeit und der Sammlung kleinster Wirkungen
in unendlichen Zeiträumen. Einerlei, wie weit eine solche Konti-
nuierlichkeit auch schon für die außermenschliche Wirklichkeit
lückenlose Geltung hat, in der Historie' ist die Frage, in welchen
Zusammenhängen diese Kontinuierlichkeit konkret sich äußert und
ist ihre Erklärung aus bloßen kausalen Summierungen kleinster
Veränderungen in unendlichen Zeiträumen einfach ausgeschlossen.
Die Frage ist vielmehr bei ihr, worauf die in ihren Tendenzen
und Ideen erkennbare, in logischen Konstruktionen darstellbare Kon-
tinuierlichkeit konkret beruhe und wie man dieser Kontinuierlich-
keit habhaft werde, da sie aus bloßen Summierungen und bloßen
Kausalmethoden nicht zu gewinnen ist2). Ebenso wenig hilft zu
diesem Ziel der Gedanke der Reihenbildung, sei es daß man mit
ihm einfach die in den Tatsachen liegenden Reihen bloß abzubilden
glaubt, sei es daß man sie teleologisch deutet, als ob sie einen Sinn
1) S. Hermann Siebeck, Zur Religionsphilosophie, 1907. Der Titel ist un-
passend. Es sind drei sehr feine Betrachtungen über Fortschritt und Entwickelung,
denen ich zustimme, die aber die Einordnung der konkreten Historie in diese
Gedanken noch ganz frei lassen. Das aber ist erst das eigentliche Problem.
2) S. F. Retzal, Die Zeitforderung in den Entwickelungswissenschaften, An-
nalen der Naturphilosophie I 1902. Er verweist vor allem auf die Geologen
Hutton und Lyell und auf Darwin. Er sieht aber selbst, daß darin kein positives
organisierendes Prinzip enthalten ist, wie es das Leben und die Geschichte ver-
langen, fügt daher den „äußeren Variationen" die „inneren" hinzu, zu denen dann
die „Mutationen" gehören. Er unterscheidet geschichtliche Bewegung
durch äußere Variationen und geschichtliche Entwickelung durch innere und
verlangt für die erstere „kausale Gesetze", für die zweite bloß „empirische".
Dann hätte nach R. der ganze Streit um die Gesetze in der Geschichte keinen
Sinn mehr, S. 340 f.
276 Ernst Troeltsch,
oder Zweck verwirklichten, sei es daß man gar in ihnen die „Evo-
lution" wie eine Kraft d. h. im Grunde wie eine Gottheit sich aus-
wirkend denkt. Es mag ja nahe liegend scheinen, neben den all-
gemeinen die Zeit grundsätzlich aufhebenden Gesetzen der Physik
und Chemie das Universum als Sukzession qualitativer Zuständlich-
keiten zu denken und diese Sukzession in Reihen darzustellen. Aber
ganz abgesehen von den sich daran anschließenden, soeben ange-
deuteten Fragen, sind doch die Reihen des Alters und der Größe
der Gesteine oder Erdschichten oder der biologischen Arten oder
der Lebensalter der Individuen etwas völlig anderes als die Reihe,
die sich etwa in Entstehung und Ausbildung des Kapitalismus mit
allen möglichen Verfilzungen, Knickungen und Neu-Ansätzen dar-
stellt. Oder vielmehr das letztere ist überhaupt keine Reihe, son-
dern eben eine menschlich-historische Entwickelung, die nur nach
den oben entwickelten Grundsätzen sich darstellen läßt. Eine ein-
fache Abbildung und nachträgliche Deutung der empirisch vorfind-
baren, sukzessiven Tatsächlichkeiten liegt hier eben gerade nicht
vor und eben deshalb ist es die Frage, wie ein solches Ent-
wickelungsbild zu verstehen sei, ob es ein logisches Arrangement
oder, wofür es sich zumeist selbst hält, ein aus dem Gang der
Dinge herausgeschauter innerer Zusammenhang sei1).
1) Ganz kindlich Alex Brückner, Über Tatsachenreihen in der Geschichte,
Dorpater Festrede 1886. — Von dem Reihenbegriff aus, den er aus dem Wesen
des Kosmos als Reihe von faits de succession allgemein konstruiert, erfaßt auch
Xenopol den Entwicklungsbegriff. Danach soll streng sukzessionskausal ohne
jede Einmischung von Werten und Zwecken die Reihenfolge der individuellen, sich
immer stärker komplizierenden Tatsachen vom Geschichtsforscher wiedergegeben
werden. Auf einmal aber verwandelt sich die darin sich ausdrückende Evolution
in eine treibende Bewegungskraft, wird hypostasiert zu einer Art Gottheit, die
mit Hilfsmitteln des Mechanismus , des Kampfes ums Dasein, des Milieu usw. ar-
beitet und mit diesen Mitteln den Aufstieg von der anorganischen Welt zur or-
ganischen, von da zum Menschen und von da zum Geist in großen Sprüngen be-
wirkt. In der Geistesgeschichte bewirke die Evolution mit Hilfe der Tendenzen
auf das Wahre, Schöne und Gerechte die Verwirklichung der Ideale der fort-
schrittlichen sozial gesinnten Bourgeoisie als Weltzweck! „On considere Invo-
lution, non plus comme une question de procede ou de methode, mais bien comme
la manifestation d'une force naturelle" 212. In der Entwickelung des Geistes d. h.
in der menschlichen Geschichte benutzt die Evolution die Ideen als Mittel, aber
nicht die flüchtigen und kleinen, sondern „les ide'es les plus Stahles, Celles de
charactere general objectiv. Nous voilä donc arrives, par un raisonnement des
plus rigoureux (!), ä cette importante conclusion que l'evolution de l'humanite se
fait sur le terrain des ide'es generales objectives, ide'es qui donnent naissance ä
Die Logik des historischen Entwickelungsbegriffes. 277
"Wenn derart eine Zurückführung auf allgemeine logische Prin-
zipien der kosmischen Entwicklung zu nichts führt, so scheint es
geraten, sich an die Praxis der Historiker zu halten, die im
Verkehr mit dem Objekt und unter dem Zwang des Objekts die
Anschmiegung der Erkenntnis und der Darstellungsform an den
Muß des Geschehens leichter findet als die logische Theorie. In
der Tat hat es hier die Historie, die heute fast auf jeder Seite
das. Wort „Entwicklung" gebraucht, zu einer sehr feinen Kunst
dieser Anschmiegung gebracht, die auf den verschiedenen Gebieten,
je nachdem es sich um Staat, Wirtschaft, Kunst, Religion, Wissen-
schaft oder Gesellschaft handelt, recht verschiedene Mittel ver-
wendet und jedesmal größte Intimität mit dem Gegenstande ver-
langt. Darin sind die Heimlichkeiten der historischen Disziplinen
begründet, von denen Jakob Grimm gerne redet. Aber dieses Ver-
fahren der Belauschung der historischen Praktiker hat für unsern
Zweck doch nur begrenzte Bedeutung, genau wie das bei analoger
Fragestellung von der naturwissenschaftlichen Praxis gilt 1). Die
von den empirischen Forschern gebrauchten Kategorien stammen
ursprünglich alle selber aus der Philosophie. Sie werden dann in
der Praxis der Forschung empirisiert und verselbständigt, ver-
feinert und verwandelt und vermögen durch gegenseitigen Zu-
sammenhang und fruchtbare Anwendung sich schließlich bis zu
einem gewissen Grade selbst zu tragen, wobei den Naturwissen-
schaften die Mathematik ein festes Rückgrat gibt, das der Historie
fehlt und immer fehlen wird. So hat die Historie sich heute ge-
wiß bis zu einem gewissen Grade verselbständigt. Aber bei allen
Schwierigkeiten und Widersprüchen, allen größeren Synthesen und
Einpassungen in einen Gesamtzusammenhang kommt dann doch der
ursprüngliche philosophische Untergrund zum Vorschein. Bei der
Historie insbesondere ist dieser Untergrund auch in der empirischen
Arbeit recht fühlbar, sobald sie über die Regeln der Quellenkritik
des faits sociaux" 221. — Über Rickerts Ersetzung des Entwickelungsbegriffs
durch den Reihenbegriff s. HZ. 1918. Bei ihm ist die Entwicklung „Wertverwirk-
lichung" in Reihen individual-kausal verbundener Tatsachen. Alles Interesse liegt
dann an der Beziehung der historischen Entwickelungswerte auf die überhisto-
rischen absoluten "Werte.
1) S. dazu das Vorwort zu Rothackers „Einleitung in die Geisteswissen-
schaften" I 1920. Das Buch zeigt aber auch deutlich die Uferlosigkeit eines
solchen Verfahrens: „Vielleicht zeigt ein genialer Logiker dereinst 600 ver-
schiedene wissenschaftliche Zielsetzungen!" S. IV.
Kautfltudien XXVH. 19
278 Ernst Troeltsch,
und der Rekonstruktion der einfachen Tatsachen hinausgeht. Dann
beginnt der geschichtstheoretische Streit, dann zeigen sich die
Unterschiede der nationalen Philosophien, wo in Deutschland die
Organologie, in Frankreich der Soziologismus überall durchblickt ;
dann zeigt sich die Nachwirkung des Naturrechts in fast allen
westeuropäischen und die gründliche Ausrottung des Naturrechts
in fast allen deutschen Darstellungen. Daran hat auch der nach-
spekulative, moderne historische Realismus nichts geändert. Ge-
rade er wirft eine Menge philosophischer Fragen auf, die er aus
sich selber und seiner bloßen Praxis erst recht nicht beantworten
kann. So sind also die Kategorien der Historie und insbesondere
der Entwickelungsbegriff zwar in der selbständig gewordenen
Handhabung bedeutend geklärt und befestigt worden, aber doch
aus dieser allein nicht zu abstrahieren. Es muß immer noch die
selbständige Überlegung des Wesens der historischen Tatsachen-
welt und der historischen Methode hinzukommen. Was hierbei er-
reicht werden kann, ist oben kurz umschrieben worden. Weiter
wird man mit rein logischen Erwägungen wohl überhaupt nicht
kommen können, wenn man gleichzeitig die Ableitung des histo-
rischen Entwickelungsbegriffes aus einer allgemeinen übergeord-
neten Logik der kosmischen Entwickelung und dann etwa gar
noch aus den a priori im Wesen der Logik liegenden Möglich-
keiten für untunlich hält1).
1) Im Lamprechtschen Streit sind diese Grundsätze oft formuliert worden,
besonders klar von Rachfahl, Über die Theorie einer kollektivistischen Geschichts-
wissenschaft, Jahrb. f. Nationalök. u. Statistik, 64, 1897. Inhaltlich geschieht es
im Sinne der oben eingangs formulierten Kategorien. Aber bemerkenswert ist
bei R. die Beschränkung dieser Kategorien auf einen rein empirischen Sinn und
Gebrauch, so lange es sich um „Wissen"^ und „Wissenschaft" handelt. Die wei-
tere Verfolgung dieser Kategorien, insbesondere der aus den Quellen ermittelten
Ideen und Tendenzen, auf tiefere metaphysische und erkenntnistheoretische
Gründe sei Sache der Privatmetaphysik oder „Weltanschauung, welche die per-
sönliche, eigenste Angelegenheit eines jeden ist, in die niemand sjch einzumischen
ein Recht hat" 685! Immerhin: „Welches Gebiet großer psychischer Zusammen-
hänge man auch immer betrachten möge, ob Wirtschaft, Sprache, Sitte, Recht,
Moral, Kunst und Wissenschaft, man wird finden, daß für sie der Zweckbegriff
als immanentes Entwicklungsprinzip anzusehen ist" 667. Ähnlich Preuß. Jahrbb.
84 in einer Besprechung von Lamprechts deutscher Geschichte. — Schärfer sieht
Meinecke, gleichfalls in einer Erwiderung an Lamprecht HZ. 77, 1896, S. 262 —
266, die Notwendigkeit eines Fortganges^ zu den metaphysischen Zusammenhängen.
„Wir sehen in dem Bestreben, eine von allen metaphysischen Voraussetzungen
freie Empirie zu treiben, nur den wunderlichen Versuch über den eigenen Schatten
Die Logik des historischen Entwickelungsbegriffes. 279
In der Tat ist aber auch das hier entspringende Problem
und Interesse gar kein logisches mehr. Vielmehr das ist die
zu springen . . . Der erfahrungsmäßig gegebene Kern des Individuums (den L. an-
erkenne, aber kausal auflösen wolle) ist für uns schlechthin seiner Natur nach
unauflösbar und einheitlich als das innere Heiligtum. Die einzelnen Elemente des-
selben mögen zusammengeflossen sein und allerlei Quellen; daß und wie sie mit
einander verbunden werden, ist zum guten Teil die spontane Tat des apri-
orischen X im Menschen" 265. Ein Minimum solcher Originalität steckt in
jedem. Daher erschließe sich auch die Massenzuständlichkeit und Massenstrebung
nur dem geschulten psychologischen Takt und der Anschauungskunst des er-
fahrenen Historikers und können Ideen und Tendenzen sowohl von Massen als
-von eminenten Persönlichkeiten ausgehen. So oder so bleibe die Quelle aller
Ideen und Tendenzen, die das eigentliche Wesen der Entwickelung bilden, in
jenem X: damit faßt M. seine und Rankes Lehre zusammen. — Ähnlich formu-
liert Voßler die Entwickelung sogar für die Sprache, bei der doch Naturgesetz
und psychologisches Gesetz eine sehr große Rolle spielen : „Sprache als Schöpfung
und Entwickelung", Heidelberg 1905 und „Frankreichs Kultur" 1913. — Für die
Kunstgeschichte s. R-. Hamanns Auseinandersetzung mit Hans Tietzes Buch „Die
Methode der Kunstgeschichte" 1913 in „Monatshefte für Kunstwissenschaft IX,
1916 unter dem Titel „Die Methode der Kunstgeschichte und die allgemeine
Kunstwissenschaft. Während T. sich auf Rickerts individualisierenden Stand-
punkt stellt und in Riegls Kunstwollen einen Rest von Entwicklungstendenzen be-
hält, bildet H. den Begriff der Reihen zu dem einer echten Entwicklung um. „Die
Bedingungen, die ein solcher Einheitsbegriff erfüllen muß, sind die der örtlich-
zeitlichen Kontinuität oder eines Subjektes, das trotz der isoliert und unverbunden
nebeneinander stehenden Werke ein und dasselbe bleibt d. h. ein historisches
Individuum ist und mit einem Begriff bezeichuet werden kann und doch einer
Veränderung fähig ist, die die stetige Veränderung und Differenzierung der ein-
zelnen Werke bedingt und erklärt, während sie zur Einheit verknüpft werden"
28. Das ist in der Kunstgeschichte der Stil. Von da aus läßt sich eine Ent-
wickelungstypik und eine immer größere Zeitspanne umfassende „historische Syste-
matik" (S. 32) gewinnen , vorbehaltlich aller etwaigen Unterbrechungen , Er-
müdungen, Verwirrungen, Stauungen, Revolutionen, Rezeptionen und Endos-
mosen. Es ist eine „logisch sich entwickelnde Komplizierung" von typischen Pe-
rioden und Verläufen, eine „Art organischer Einheit zwischen den Einzeltatsachen"
37 im Gegensatze gegen die auch oft genug vorkommenden bloßen Kumulationen.
Das seien „Gesetze" der Historie, aber eben von denen der Naturwissenschaft
ganz verschiedene Gesetze, denen überdies der wirkliche Verlauf nicht restlos
unterliegt. — Ein klassisches Beispiel der- methodischen Durchführung dieses Ent-
wickelungsbegriffes bieten Wölflin's „Grundbegriffe der Kunstwissenschaft", auch
Carl Neumanns Rembrandt. — Auf religiousgeschichtlichem Gebiet sind ein Bei-
spiel der Entwickelungsforschung die feine Studie von Karl Seil „Die wissen-
schaftlichen Aufgaben einer Geschichte der christlichen Religion, Preuß. Jahrbb. 98,
1899 und die klassischen Untersuchungen Wellhausens, die gerade von der Hypo-
these einer „Entwickelung" der Religion Israels ausgehen.
19*
280 Ernst Troeltsch,
Frage, ob in diesen logischen Mitteln ein bloßes pragmatistisch zu
verstehendes Arrangement der Tatsachen und etwa ein transzen-
dentollogisch zu konstruierendes Erzeugnis des Denkens liege oder
ob damit der reale und wirkliche Zusammenhang erfaßt und er-
schaut werden könne. Für das erstere spricht die ungeheure Um-
formung, die das Material durch diese Begriffe erfährt, für das
zweite das Evidenzgefühl eines wirklich gesehenen Zusammenhangs
und die Abhängigkeit immer mehr sich berichtigender Bilder von
der Einarbeitung in die Tatsachen. Es ist der Streit der Lebens-
Anschauer und der Form-Denker, der hier entsteht und dessen Lö-
sung erst genauere Aussagen über Wesen, Konsequenzen und Aus-
wertungen des Entwickelungsbegriffes ermöglicht. Das aber ist
kein rein logisches Problem mehr und daher vom Boden der Logik
aus auch nicht zu beantworten. Es ist in Wahrheit ein er-
kenntnistheoretisches Problem und nur von der Erkennt-
nistheorie aus zu entscheiden.
Hier ist nun aber von vornherein die unglückselige Verwir-
rung auszuscheiden, die eine solche reinliche Scheidung von em-
pirischer Logik und Erkenntnistheorie unmöglich machen würde,
nämlich die neukantische Lehre von der Erzeugung des Gegen-
standes erst und nur durch das Denken, die Lehre, die statt Logik
und Erkenntnistheorie zu scheiden, sie vielmehr als Transzendental-
logik identifiziert und demgemäß die Realität durch Gültigkeiten,
die Objektivität durch Wertbeziehungen und subjektive Notwen-
digkeiten, die Wirklichkeit durch die sie angeblich erst hervor-
bringenden Methoden ersetzt, die also von den beiden Quellen
aller Gewißheit, der Anschauung und dem Denken, die erste bis auf
ein bedeutungsloses Minimum des vorausgesetzten und gänzlich un-
bekannten oder gar auch noch durch Denken zu erzeugenden Er-
kenntnis-Stoffes austrocknet. Die Logik dient in Wahrheit zur
Ordnung der Erfahrung und zu nichts anderem. Die Frage da-
gegen nach dem Verhältnis der logisch geordneten Erfahrungs-
bilder zur Realität ist ein Problem der Erkenntnistheorie, die sich
stets nur mit dem Verhältnis von Denken und Sein beschäftigt
hat und beschäftigen wird, die aber nicht in eine Lehre von der
Erzeugung des Seins durch eben diese selben logischen Methoden
der Erfahrungsordnung verwandelt werden darf.
Auch hier ist es nützlich, sich des Ausgangs der modernen
Philosophie von der Cartesianischen Bewußtseinslehre zu erinnern.
Solange und wo man mit Descartes von dem festen Standort des
Die Logik des historischen Entwickelungsbegriffes. 281
geschlossenen substanzialen Einzelbewußtseins und innerhalb dessen
wieder von den bewußten Wahrnehmungen und Vorstellungen aus-
geht, bringt man es nur zu apriorischen oder empirischen Ord-
nungsformen einer von außen her gesehenen und lediglich gege-
benen Realität, wobei es in der Wirkung gleichgültig ist, ob man den
so empfangenen und geordneten Wahrnehmungen und Vorstellungen
eine metaphysische Realität noch unterbreitet oder nicht. Sie
bleiben immer etwas Fremdes, sozusagen von außen her Gegebenes,
und die sog. inneren Erfahrungen sind dann nur Produktion alles
dessen, was nicht von außen her durch Körpereinwirkung gegeben
werden kann, aus eigenen Tätigkeiten des bloßen, auf sich gestellten
Subjekts. Die Ordnung kann dann nach apriorischen, auf Mathematik
gestützten Ordnungsprinzipien oder nach bloß empirischen, auf
Regelmäßigkeit gestützten erfolgen; sie bleibt immer Ordnung
von Erfahrungsmaterial. Der körperlichen Natur gegenüber ge-
langt man mit Hilfe der Mathematik leichter zur Festigkeit der
Ordnung, der seelischen Erfahrungswelt gegenüber wird man auf
die Psychologie und psychologisch- genetische Gesetze angewiesen
sein. Da bringt man es naturgemäß nach der einen Seite nur zum
Mechanismus, nach der andern nur zu Kumulationen und Kom-
plexionen. Alle Reihenbildung ist auf beiden Gebieten wirklich
nichts als Aneinanderreihung ohne inneres Band; sofern man ein
solches trotzdem zu besitzen glaubt, muß man ethische, religiöse
oder ästhetische Postulate heranziehen, die sich aber nie innerlich
mit jenen wirklich verbinden können. So steht es denn auch in
der Tat in dem ganzen Positivismus mehr empirischer oder mehr
logischer konstruktiver Art. Die Sache wird aber auch nicht an-
ders, wenn man an Stelle der Cartesianischen denkenden Substanz
das logische Subjekt oder das transzendentale „Bewußtsein über-
haupt" setzt, um den Schwierigkeiten der Ich-Psychologie zu ent-
gehen. Auch von da aus gibt es nur Mechanismus einerseits und
Kumulationen oder Reihenbildungen anderseits, denen man durch
irgend eine Moral oder Werttheorie glauben kann lebendes Blut
einzuflößen, die aber dadurch keine wirkliche innere Bewegung ge-
winnen. Das gilt von Kant selbst und vor allem vom gesamten
Neukantianismus. Dann entsteht jenes fatale Problem, wie weit
die von der Historie behaupteten Entwickelungserkenntnisse ein
wirklicher Lebenszusammenhang der Dinge oder nur ein künst-
liches Produkt logischer Auslese, Verkürzung und Zusammenfassung
des „Erfahrungsmaterials" seien. Ist man aber erst einmal in
282 Ernst Troeltsch,
dieser Klemme, dann ergibt sich als das einfachste der pragma-
tistische Aasweg, anf jede Objektivität überhaupt zn verzichten
und in der Geschichte nur die praktischen Zwecken dienende, mit
allerhand technischen Kunstgriffen vorzunehmende Redaktion un-
serer Erinnerung zu sehen. Das intuitiv - anschauliche Vermögen,
das die Historiker zu besitzen meinen und in ihren Darstellungen
entfalten, wird man dann der Kunst zuweisen und die historische
Darstellung kurzweg als künstlerische Leistung betrachten, ohne
sich Gedanken darüber zu machen, wieso denn der Künstler seiner-
seits zu solchen intuitiven Fähigkeiten komme.
Aber die Cartesianische Wendung kann auch zu andern Er-
gebnissen führen und hat auch zu andern geführt, sobald man den
starren Begriff der denkenden Substanz oder des normstiftenden
Bewußtseins aufgibt und das Ich als Monade faßt , die vermöge
des Unbewußten oder ihrer Identität mit dem Allbewußtsein am
Gesamtgehalte des Wirklichen partizipiert und die „Außenwelt",
die körperliche wie die fremdseelische, vermöge dessen virtuell in
sich trägt, um unter gewissen Bedingungen die vom individuellen
Bewußtsein erlebten Ausschnitte des Alls als eigene Erlebnis- und
Erfahrungswirklichkeit auf das eigene Ich zu beziehen und die
darin liegenden zugleich mitgeschauten Zusammenhänge mit lo-
gischen Mitteln weit über die bewußten Erfahrungen hinaus zu er-
gänzen. Das ist der Weg, den Leibliiz mit seiner Monadenlehre
beschritten hat und der viel ergebnisreicher ist als die verwandte
Lösung des gleichen Problems durch den Substanz- oder Grottes-
begriff Spinozas. Er hat deshalb die die endlichen Geister durch-
strömenden Lebenszusammenhänge als innergöttliche, in der onto-
logischen und teleologischen Einheit des göttlichen Lebens begrün-
dete, kontinuierliche Bewegungen zugleich schauen und denken
können, wenn er auch den Auftrieb allzu eng in der Vollendung
des Wissens und die Kontinuität allzu naturalistisch in der mathe-
matischen Folge der Differentiale gesehen . hat. Die Monade, deren
Vorgeschichte interessant wäre, aber noch nicht geschrieben ist,
bedeutet die Identität des endlichen und unendlichen Geistes bei
Aufrechterhaltung der Endlichkeit und Individualität des letzteren.
Darauf kommt es in diesem Zusammenhange an, nicht auf die bi-
zarr mathematisierende Durchführung und nicht auf die damit
zusammenhängende Fensterlosigkeit der Monade. Darin beruht
aber auch Leibnizens außerordentliche Bedeutung für die Erkennt-
nistheorie und vor allem — ihm selber unbewußt — für das Ver-
Die Logik des historischen Entwiekelungsbegriffes. 283
ständnis der G-eschichte. Etwas anders, aber aus dem gleichen
Motiv hat Malebranche die inneren Verbindungen des Werdens
durch das Kausalprinzip nicht in den empirischen Reihenbildungen,
sondern nur durch Partizipation des endlichen Geistes an der in-
neren Lebenseinheit und -Bewegung des absoluten Geistes finden
können und ganz analog auch die Erkenntnis des Fremdseelischen,
seiner Inhalte, Ziele und Werte nur als „Erkenntnis in Gott" zu
verstehen vermocht. Alle systematischen Lehren über theoretische
und praktische Weltzusammenhänge sind ihm Ausdeutungen der
Erlebnisse durch Erkennen und Verstehen in Gott zu den die Gott-
heit erfüllenden und von uns wenigstens zu ahnenden idees prim-
ordiales *). In beiden Fallen ist die Erkenntnis der sog. Außenwelt
eine Auswertung und Ausdeutung des in den Erlebnissen und ihrem
logischen und praktischen Gehalt repräsentierten Allbewußtseins.
„Nichts ist außen, nichts ist innen", und es ist „Kern der Natur
mitten im Herzen", aber nicht bloß der Körper -Natur, son-
dern der alles Fremdseelische zugleich umfassenden Gottnatur.
Auf dieser Grundlage allein ist der Streit der Lebens- Anschauer
und der Formdenker zu schlichten: die im Angeschauten ent-
haltenen und von dem menschlichen Denken ausgeweiteten und er-
gänzten begrifflichen Formen sind die inneren Zusammenhänge des
göttlichen, die ganze konkrete Wirklichkeit umfassenden Geistes
selbst. Kant hat diese Lehre nur in Gestalt . der allerdings sehr
zopfigen Lehre von der prästabilierten Harmonie gekannt und sie
bei seiner Abneigung gegen die immer in Antinomien verwickelnde
Metaphysik abgelehnt. Er hat sie aber stets als die zweite neben
seiner eigenen Lehre bestehende Alternative behandelt. Und es
ist wohl zu bemerken, daß die nachkantische Spekulation in der
Tat zu dieser zweiten Alternative zurückgekehrt ist, nur eben
nicht im Anschluß an Leibniz, sondern an einen Spinoza, der doch
ein sehr stark mit Leibnizischem Geist durchsetzter Spinoza war.
Im Grunde ist ihr Wesen doch nichts anderes als die Deutung
des endlichen Ich aus dem in ihm erschaubar werdenden und re-
konstruierbaren absoluten Ich oder der Gottheit. Indem dadurch
1) Über den historischen Leibniz s. jetzt Schmalenbach , Leibniz, 1921, der
bei Leibniz die erste Durchbrechung der seit der Antike herrschenden philoso-
phia perennis d.h. des Substanz -Monismus durch einen echten Pluralismus fest-
stellt. Doch kann ich seine Erklärung des Individuellen bei L. nicht billigen.
Über Malebranche wären neue ähnliche Untersuchungen sehr zu wünschen.
284 Ernst Troeltsch,
den Erfahrung sinhalten der körperlichen Naturerfahrung wie der
Durchdringung des Fremdseelischen ein inneres, übergreifendes,
verbindendes und logisch ausdrückbares Leben eingeflößt war,
wurde eine neue, neben dem Mechanismus sehr wohl mögliche
Naturanschauung und vor allem eine tiefe innere Durchdringung
des geschichtlichen Lebens möglich, die sich dementsprechend auch
sofort in einer mächtigen Belebung des geschichtlichen Denkens
und Forschens ausgewirkt hat. Damit steht die deutsche Historie
durch intuitive Erfassung der historischen Bewegung grundsätz-
lich der westeuropäischen und positivistischen gegenüber, die ihrem
Wesen nach nur Reihenbildungen nnd Naturgesetze der Geschichte
suchen kann, bei jedem ernstlichen und historisch bedeutenden Ver-
such der Durchführung aber stets in die Nähe der deutschen Spe-
kulation geraten ist. Dafür sind Taine und Carlyle lehrreiche
Beispiele. Das wesentlich mit französischer Literatur beschäftigte
Buch Xeuopols zeigt deren noch viele andere.
Nicht die Identität von Denken und Sein oder von Natur und
Geist, sondern die wesenhafte Identität der endlichen Geister mit
dem unendlichen Geiste und ebendamit die intuitive Partizipation
an dessen konkretem Gehalt und bewegter Lebenseinheit ist der
Schlüssel zur Lösung unseres Problems. Auf diese Art ver-
mindert sich überhaupt die Last, die die bloße Logik zu tragen
hat, so lange man von solchen Hintergründen absieht, und wird
das, was kunstvolles logisches Produkt und Mache des Menschen
war, zu einer erschaubaren Realität, die zugleich, wie alle Rea-
lität, ganz durchtränkt ist mit Idee, Gesetz und Sinn. Ein reines
Schauen und eine tief bohr ende, alle Erfahr ungs- und Erlebenshin-
weise zusammenraffende Forschung können so in den wirklichen
Realzusammenhang, der damit zugleich tatsächlich und zugleich
ideell durchdrungen ist, in sehr weitem Umfange eindringen. Frei-
lich darf man dann doch mit dieser Identität nicht zuviel beweisen
wollen. Es bleibt ja doch die Monade selbst bestehen und, wenn
sie auch ihr eigenes Wesen im Grunde nur in Gott und darum im
Zusammenhang mit dem Lebensstrom überhaupt erkennt, so bleibt
sie doch ein endliches Wesen und ist ihre Erkenntnis doch nicht
ein bloß quantitativ beschränkter und an den Rändern durch Fol-
gerungen und Ahnungen ergänzter Ausschnitt aus dem göttlichen
Geistesinhalt selbst. Ihre Endlichkeit ist vor allem auch eine
qualitative. Diese zeigt sich in der Abhängigkeit aller solcher
Intuition von der realen Berührung mit der Umgebung unseres
Die Logik des historischen Entwickelungsbegriffes. 285
Körpers, in der Bindung aller Erkenntnisse und Maße an sinnliche
Organe und Bedingungen des Leib-Ichs , in der begrenzten Fähig-
keit menschlicher Logik, Widersprüche und Antinomien zu über-
winden, ja in dem grundsätzlich stets in Antinomien auslaufenden
Charakter des menschlichen Denkens. Die Logik, mit der wir die
Erlebnisse ausdeuten und das Göttliche begrifflich fassen, ist zu-
nächst nur ein Mittel, Täuschungen, Verwirrungen und Zufallsver-
bindungen der Erlebniswirklichkeit und des Alltagsdenkens aufzu-
lösen ; dann ein Mittel, durch Verbindung des Zusammengehörigen
uns an die wirklichen Realzusammenhänge heranzuführen, ohne sie
selbst mit ihren Mitteln des Satzes vom Widerspruch und vom
Grunde endgiltig klären zu können. Sie bleibt in ihrem Stoff
körperlich - organisch und in ihren Mitteln begrifflich - antinomisch
gebunden. Unsere Erkentnis trägt also neben jenem Identitäts-
charakter zugleich einen anthropologischen, und aus diesem Gegen-
satze gibt es überhaupt keinen Ausweg, nur annähernde Lösung.
Hinter allem und am Ende von allem steht die Metalogik, in wel-
cher unsere anthropologisch bedingten logischen Mittel und der
göttliche Lebenszusammenhang auf völlig unbekannte Weise zu-
sammengehen. In der logischen Bearbeitung nähern wir uns einer
reinen Erfassung des göttlichen Lebens- und Ideengehaltes, aber
wir nähern uns nur und bei jedem Schritt weiter zerbrechen wir
in Widersprüchen. Dann ergeben wir uns resigniert dem Sen-
sualismus oder dem Fiktionalismus, wenn wir nicht hoffen mit dem
deutlichsten und schärfsten logischen Zwang, dem mathematischen,
durchzukommen und dann die Wirklichkeit entschlossen mathe-
matisieren, verräumlichen und mechanisieren. Diese sehr verständ-
lichen Gründe sind es, die Kant dazu geführt haben, eine rein
intrasubjektive und erfahrungsimmanente, sich selber tragende Gül-
tigkeitslehre aufzustellen und den Rest als in Antinomien ver-
wickelnde Metaphysik preiszugeben, die Partizipation am gött-
lichen Geiste aber auf das Moralische einzuschränken. Leibniz
selbst hatte alle diese anthropologischen Beschränktheiten auf Ver-
worrenheit und Unklarheit des Denkens, Malebranche sie auf den
Sündenfall abgeschoben. In Wahrheit besteht hier aber ein un-
ausbleiblicher Widerspruch, an dem jede Durchführung der Er-
kenntnistheorie bis zu ihrem letzten Ende bis jetzt gescheitert
ist und immer scheitern wird. Aber bis zu einer, das Objekti-
vitätsbedürfnis grundsätzlich befriedigenden Annäherung an die
Intuition der innergöttlichen Lebensfülle und Lebenszusammen-
286
Ernst Troeltsch,
hänge kann sie gelangen, wobei sie nur immer der Abhängigkeit
aller solcher Intuition von den Gelegenheitsursachen der körper-
lichen Berührung des eigenen Körpers mit seinen Umgebungs-
bestandteilen sowie von der aus der Gesamterfahrung immer be-
stimmte Einzelheiten auslösenden Abstraktion eingedenk bleiben muß.
Diese Gedanken können hier nicht weiter verfolgt werden ;
insbesondere Natur Wahrnehmung, Naturdenken und das Bestehen
der abstrakten Gesetzeslehre neben der qualitativen Fülle leben-
diger Naturanschauung können hier von diesem Standpunkt aus
nicht erläutert werden. Dagegen ist die Bedeutung für die Er-
kenntnistheorie der Geschichte und insbesondere für den Ent-
wicklungsbegriff nachdrücklichst zu betonen. Im Mittelpunkt steht
hier die Frage nach der Erkenntnis des Fremdseelischen, die
die eigentliche Erkenntnistheorie der Geschichte ist, übrigens über-
haupt ein Zentralpunkt aller Philosophie ist, weil auf ihr die
Möglichkeiten und Schwierigkeiten gemeinsamen Denkens und Phi-
losophierens überhaupt beruhen1). Es ist merkwürdigerweise im
Verhältnis zu seiner Bedeutung wenig beachtet worden, fast nur
die Dichter haben ihm eine ernste Aufmerksamkeit gewidmet. Der
Grund dieser geringen Beachtung liegt darin, daß man bezüglich
der elementaren Lebensinhalte von der Gleichartigkeit der mensch-
lichen „Natur" ausging und so annahm, daß die Selbsterkenntnis
zugleich Kenntnis des Menschen überhaupt ist. Manche Histo-
riker haben darauf die Erkenntnistheorie der Geschichte überhaupt
— summarisch genug — begründet. Wenn man Bedenken schöpfte,
dann griff man zur Theorie der „Kongenialität", wonach der Gleiche
den Gleichen verstehe und weshalb der Historiker nur die ihm kon-
genialen Personen und Sachverhalte verstehe, wozu dann die Tat-
sache wenig paßt, daß oft gerade der Haß oder der Kontrast der
persönlichen Anlage der Ausgangspunkt des Verstehens ist oder
daß persönlich schwächliche Menschen intellektuell die historischen
1) In den Mittelpunkt gestellt ist es in Sprangers „Lebensformen" und in
Schelers bekannter Abhandlung Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathie-
gefühle 1913. Die sensualistische Deutung am charakteristischsten bei Becher
„Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften" 1921 ; immerhin hat Becher das Ver-
dienst, das Problem in das Zentrum der Erkenntnistheorie gestellt zu haben, die sonst
immer nur von der Naturerkenntnis handelt. Daß von da aus die Probleme einer
Soziologie der Erkenntnis entspringen, hat wieder Scheler richtig gesehen. Er
beabsichtigt dem ein ganzes Buch zu widmen; Kölner Vierteljahrsheft f. Soz.
Wiss., 1921.
Die Logik des historischen Entwicklungsbegriffes. 287
Katastrophen wunderbar durchdringen können1). Bezüglich der
höheren geistigen Gehalte verließ man sich auf die „ Allgemein-
gültigkeit u des Logischen, Ethischen oder Ästhetischen und glaubte,
daß die überall identische Notwendigkeit der geistigen Selbst-
explikation dieser Gebiete die Gemeinsamkeit des Denkens, Wollens,
Fühlens und das gegenseitige Verständnis der Philosophen genügend
vermittle, wobei, ganz abgesehen von der Fraglichkeit jener All-
gemeingültigkeit, doch der reichliche Anteil der lernenden Hinein-
versetzung in die fremde Subjektivität und die jedesmal psycholo-
gische Eigentümlichkeit des fremden Denkens übersehen oder als
Nebensache behandelt wurde, während es in Wahrheit doch oft
die Hauptsache ist. Das logische oder transzendentale Subjekt ist
überall identisch und scheint dem Verstehen keine Schwierigkeit
zu bieten. Aber in Wirklichkeit ist sein Verhältnis zum psycho-
logischen Subjekt völlig dunkel und sind die Auswirkungen des
transzendentalen Subjekts überall andere 1). Wo man sich das Problem
ausdrücklich stellte, da hat man es zumeist von den Voraussetzungen
eines sensualistischen assoziationistischen Empirismus aus behandelt,
indem man mit der Wahrnehmung fremder Körperbewegungen die
erfahrungsgemäß bei unserm eigenen damit verbundenen psychischen
und geistigen Inhalte in den fremden Körper einlege, und das sah
man dann als den Kern der sog. Einfühlung an. Daß man so im
Grunde nie etwas Neues erführe und immer nur sich selbst wieder-
holte, hat dabei ebenso wenig gestört als die Frage, wieso denn
auf diese Weise gemeinsames Denken und Philosophieren überhaupt
möglich sei. Da die gegenseitige Einwirkung zum großen Teil an
der Sprache, d. h. an sinnlichen Lauten, hängt, so fällt das ganze
Problem zu einem großen Teil in das Gebiet der Sprachwissen-
1) S. o. Sybel, Über die Gesetze des historischen Wissens 1864 S. 14 ff. :
„Nun aber findet bei aller individuellen Verschiedenheit eine gewisse Gleich-
artigkeit, und folglich auch die Möglichkeit eines gegenseitigen Verständnisses
der Menschen statt, eben weil alle menschlichen Wesens sind und von den
gleichen Gesetzen der menschlichen Natur bestimmt sind". Im fol-
genden sind dann diese Gesetze der gemeinsamen und gleichen Natur entscheidend
für die Wissenschaftlichkeit der Historie und diese Gesetze bieten dann weiterhin
dar: „die absolute Gesetzmäßigkeit in der Entwicklung, die gemeinsame
Einheit in dem Bestand der irdischen Dinge", „die Tatsachen nach
ihrem Zusammenhang in Zeit und Raum und Kausalvorstellung" S. 17. Auch
Bernheim beruft sich auf die Gleichheit der — offenbar von der Selbsterkenntnis
aus erfaßten — menschlichen Natur als Erkenntnisgrundlage der Geschichte. Aber
in Wahrheit fängt hier das Problem erst an.
ggg Ernst Troeltsch,
schaft, die deshalb ein Meister wie Hermann Paul nicht von der
Psychologie, sondern von der Soziologie aus behandelt sehen will,
womit im Begriff der Gesellschaft die gegenseitige Erkenntnis des
Fremdseelischen freilich schon vorausgesetzt, aber nicht erleuchtet
ist1). Andere, die tiefer zu greifen für nötig hielten, haben den
1) S. Hermann Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte 41909. Paul stellt,
indem er die Sprache nicht bloß vom Standpunkt des Sprechenden, sondern auch
von dem des Hörenden nimmt, das Problem der Erkenntnis des Fremdseelischen
geradezu in den Mittelpunkt nicht nur der Sprachgeschichte, sondern der Kultur-
entwicklung überhaupt. Er löst das Problem grundsätzlich vom Standpunkt des
geschlossenen Herbartschen Ich und mit Hilfe jenes Sensualismus, der physische
Zeichen einlegend aus den mit deren Analogon verbundenen eigenen Bewußtseins-
komplexen auch beim andern deutet. Daher gibt es für ihn keine Völkerpsychologie,
keinen Gemeingeist und keine Bewußtseinseinheit anders denn als Ergebnis dieser im
physischen Verkehr herangebildeten, ausgebreiteten und immer sinnreicher dem
Physischen assoziierten Bewußtseinskomplexe. Es ist der starrste und extremste
Individualismus, Nominalismus und Sensualismus, der die Auflösung komplexer
Gebilde in feste und einfache Grundelemente und die Rekonstrnktion jener aus
diesen für die Aufgabe der positiven Wissenschaft hält, während das Haften an
unaufgelösten Komplexen das Wesen des populären Denkens sei. Die Frage, wie unter
diesen Umständen die Übertragung fremder Bewußtseinsinhalte auf uns möglich sei,
beantwortet er ganz folgerecht durch die Leugnung jeder solchen Übertragung.
Aller Geistesgehalt sei assoziative Entwicklung rein aus" dem eigenen Bewußtsein
selbst und die Übereinstimmung erkläre sich durch die Gleichartigkeit der mensch-
lichen Natur, die allen Kulturgebieten ursprünglich zu Grunde liege, bei der
Sprache vermöge ihrer unbewußten Produktion aber geblieben sei bis heute. Den
Schein einer Übertragung und realen Gemeinschaft erklärt er durch Unterschei-
dung direkter und indirekter Assoziationen S. 15 f. Das Aufgenommene arbeitet
weiter und assoziiert sich im Aufnehmenden mit weiteren Komplexen, es arbeitet
jetzt direkt statt erst nur indirekt in der Deutung des fremden sinnlichen Zeichens.
Bei neuer Verlautbarung gibt der Fortarbeiter Zeichen, die den jetzt Aufneh-
menden veranlassen, die assoziierten Fortschritte des ersten nachzubilden (!). So
können nach und nach eine Reihe Mittelglieder fortfallen und der Schein unmittel-
baren Verstehens entstehen. Diese Prozesse hellt die Soziologie auf, die über-
haupt überall das Komplexe, Interindividuelle und Überindividuelle entwicklungs-
geschichtlich erklärt. Eine solche Soziologie ist ihm daher überall die theore-
tische Grundlage der historischen Entwicklungswissenschaften. Er möchte sie als
„Prinzipienwissenschaft" an die Stelle der unbrauchbaren Geschichtsphilosophie
als das eigentlich philosophische Element der Historie stellen, ähnlich wie die
Naturwissenschaften mindestens in der Biologie eine solche Prinzipienwissenschaft
der Entwicklung hätten. Da ist unverkennbar Herbart im Übergang zu Spencer,
von welchem letzteren Paul sich allerdings durch die prinzipielle Unterscheidung
allgemeiner, immer wiederkehrender Naturgesetze und individuell kombinierender
d.h. Komplexe schaffender Entwicklungsgesetze unterscheidet. Jedenfalls ist hier
besonders klar, wie eng die grundlegende Theorie über die Erkenntnis des Fremd-
Die Logik des historischen Entwickelungsbegriffes. 289
Menschen mit einem Apriori der verschiedenen Kategorien des
Eremdverständnisses, mit einem Schema der Sinnmöglichkeiten und
Wertmöglichkeiten ausgestattet, das bei der Berührung mit dem
Fremdseelischen aus der unbewußten Potentialität in die Aktua-
lität trete. Da dieses Schema schließlich aus dem unterbewußten
oder überbewußten Wesen des allen gemeinsamen Geistes überhaupt
stammen muß, so führt das zuletzt auf einen gemeinsamen Grund
der Einzelgeister überhaupt. Aber die Bindung an die sinnlichen
Zeichen bleibt bestehen und die Berührung selbst bleibt unerhellt;
vor allem das alle Möglichkeiten schon enthaltende System ist auf
den wichtigsten Fall nicht eingestellt, daß elementar neue Kräfte
aus dem Fremd- Ich in das eigene überströmen1).
Auf dem letztern Wege allein ist vorwärts zu kommen. Er
führt aber dann geradezu zu Sätzen, die denen der Leibnizischen
Monaden- und der Malebrancheschen Partizipationslehre sehr nahe
stehen. Das Fremdseelische kann nur erkannt werden, weil wir
es vermöge unserer Identität mit dem Allbewußtsein anschaulich
in uns selber tragen und es verstehen und empfinden können wie
unser eigenes Leben, indem wir es doch zugleich als ein fremdes,
einer eigenen Monade angehöriges empfinden. Nur so ist vor allem
die eigentliche Begabung des Dichters zu verstehen, etwa auch
ein großer Teil der sogenannten okkultistischen Phänomene, soweit
sie sich experimentell bewähren sollten. Nur so ist auch das Ver-
fahren des Historikers zu verstehen, der gleichfalls hierin seine
besondere Begabung hat, die er Takt, Instinkt und Divination
seelischen mit der besonderen Art der Auffassung der Historie und Entwicklung
zusammenhängen. — Dem entspricht auch bei Paul die allgemeine philosophische
und praktische Einschätzung der Geschichte. Sie bietet ihm wesentlich nur förder-
liche oder warnende Beispiele für rationelle Lebensgestaltung und vor allem ein
retardierendes Mittel gegen revolutionären Doktrinarismus, Das Wesen der Ge-
schichte, 1920. Was für Driesch der Mangel, das ist für*Paul der Vorteil der
Geschichte ; im übrigen sind die Voraussetzungen verwandt. — Auch Driesch geht
in seiner Ordnungslehre oder der die Gesamterfahrung umfassenden Logik vom
strengen Solipsismus aus und behandelt in ihr das Fremdseelische ganz in der sen-
sualistisch-assoziationistischen Weise wie Paul, Wirkl. S. 9, Ordnungsl. 332.
1) S. hierzu Paul Menzer, Persönlichkeit und Philosophie, 1920 mit dem
charakteristischen Motto aus Dilthey : „Der Biograph soll den Menschen sub specie
aeterni erblicken, wie er selbst sich in Momenten fühlt, in welchen zwischen ihm
und der Gottheit alles Hülle, Gewand und Mittel ist. M. meint S. 16 f. : „Für
die letzte Annäherung von Seele zu Seele läßt sich naturgemäß keine eigentlich
methodische Regel angeben" S. 16 und verweist auf das Geheimnis der Kon-
genialität.
290 Ernst Troeltsch,
nennt, wie umgekehrt in der Partizipation an der eigentümlichen
die Natur durch waltenden Gesetzmäßigkeit die Schärfe der jedesmal
auf dieses Ziel hin orientierten Beobachtung die eigentümliche
Begabung des Naturforschers ausmacht. Aber freilich ist nun
alles das von einer phantastischen Mystik freizuhalten. Es bleibt
immerdar bei der Bindung solcher intuitiven Erkenntnis an ein-
fache oder abgeleitete sinnliche Vermittelungen. Nur durch die
Einwirkung von fremden Körpern her und durch körperliche
Wahrnehmung wird diese Intuition aktualisiert. Der häufigste
Fall der Aktualisierung ist Mimik und Sprache. Aber auch Schrift,
Denkmäler, Überreste aller Art können als solche Vermittler
dienen. Es sind die Gelegenheitsursachen, ohne die es solche
Schau nicht gibt; sogar die eventuellen okkultistischen Phänomene
können ihrer nicht entbehren. Weiter bleibt bestehen, daß nach
Begabung und Art des Schauenden, also nach psychologischen Zu-
fälligkeiten das Ergebnis sehr verschieden ist. Die Talente des
Verstehens können durch Übung und Vergleichung gesteigert werden,
aber die Fähigkeiten der Hingebung und Einbohrung in das Fremd-
seelische bleiben auch dann sehr verschieden in der Intensität und
in der Interessenrichtung. Auch die Fähigkeiten der Ergänzung,
Zusammenschau und Durchschau sind verschieden von denen der
scharfen Einzelbeobachtung und strengen Exaktheit. Keine wissen-
schaftliche Erziehung kann das vollständig ausgleichen. Sinnhuber
und Stoffhuber wird es immer geben. Das führt in die unauf hell-
baren Tiefen der Individuation, vermöge deren das Allbewußtsein
in den einzelnen Individuen mit seinem Inhalt und Gesetz ver-
schieden intensiv, extensiv und qualitativ enthalten ist. Auch sind
selbstverständlich Täuschungen und Irrtümer nicht ausgeschlossen,
sowohl in der Deutung der sinnlichen Zeichen und Symbole als
in der Deutung., des aus ihnen hervorleuchtenden, dahinterlie-
genden Zusammenhanges. Darin ist auch die Mithilfe so vieler
intellektueller Hilfsmittel, Ergänzungen, Konstruktionen und Kon-
trollen begründet, die aus tausendfacher Erfahrung hervorgehen
und zu generalisierenden Typen und Schematen oder Auffassungs-
kategorien sich verdichten. Aber letzten Endes liegt die eigent-
liche Überführung und Gewißheit doch immer in einem Gefühl,
schauend das Reale im Einzelnen wie im Zusammenhang erfaßt zu
haben. Es ist Schauen, nicht Erdenken. Aber in dem Geschauten
sind die logischen Zusammenhänge, Kontinuierlichkeiten und Kon-
Die Logik des historischen Entwickelungsbegriffes. 291
struktionen mitgeschaut und mitenthalten1) und werden bei ab-
strakter Fragestellung nur aus ihm herausgelöst, um dann weiter-
hin wieder als Hilfsmittel und Kriterien zu dienen. Darin ist
letztlich die Anschaulichkeit aller Entwicklungsbegriffe, der histo-
rischen insbesondere, also die Anschaulichkeit des Begriffs über-
haupt, begründet, der in keiner Realwissenschaft einen letzten Rest
von Anschaulichkeit austilgen kann, beim seelisch-geistigen, auf
Körperlichkeit begründeten Leben aber sie in besonders hohem Maße
festhält. Die Entwicklungsbegriffe sind also nichts anderes als die
Selbsterfassung der inneren, geschauten und durch die Verwicklungen
miterlebten, werdenden Sinnzusammenhänge des Geschehens selbst
mit all den anthropologischen Einschlägen, Begrenzungen und Kunst-
griffen, vermöge deren sie einer Oberflächenbetrachtung überhaupt
als bloße Kunstgriffe oder als rein logische, aus allerhand Erwä-
gungen zusammengeflickte Gültigkeiten erscheinen können. In
letzter Linie gehen sie auf die innere Bewegung des Weltlebens
selbst zurück und bedeuten in ihrem letzten und tiefsten Grunde
als Einheit von Sein und Sinn, Tatsache und Ideen, Substanz und
Bewegung den eigentlichsten Gegenstand der Metalogik, wie bei
Hegel und Bergson2).
1) Gottl in seiner scharfsinnigen Untersuchung drückt das mehrmals so aus :
„das Erschließen des (spezifisch-historischen) Geschehens hat den Sinn, daß wir
an der Hand jener vernünftigen Erwägung das Geschehen in seinen in-
neren Zusammenhängen durchschauen. In solcher Weise steckt hier
gleichsam die Logik im Geschehen selber. Und danach ist auch das
Verhältnis unsres erkennenden Geistes zum historischen Geschehen beschaffen;
a. a. 0. 51. Die „vernünftige Erwägung" ist die Erfassung des Sinnzusammen-
hanges, die etwas ausgesprochen „Rezeptives" sei 49.
2) Die Eigentümlichkeiten des historischen Begriffs und der historischen
Abstraktion erhalten von hier aus ihre letzte Begründung. Wie weit auch Urteil
und Schluß und innerhalb des letztern Induktion und Deduktion besonders bestimmt
werden, ist eine Frage für sich. Xenopol lehrt auf Grund der Zeit- und Successions-
logik auch besondere Formen der Induktion und Deduktion auf dem Gebiete der
Historie S. 465 ff. Er will lieber von Inferenz als von Syllogismus sprechen. Doch sind
seine Ausführungen zu kurz und dürftig. — Sehr charakteristisch ist, daß auch
Driesch immer wieder diese Doppelheit und die in Elementen nicht fixierbare Art
des Werdens streift. Es zeigt sich hier, daß die SetzungWerden der tiefsten
Ursprünglichkeit des Denkens widerstrebt ; Denken ist ja gerade Festhalten, Setzen.
Doch muß die Ordnungslehre das Werden zulassen. „Ord. 324. Indem die Ordnung
oder Logik bei Driesch auf das bestimmt umgrenzte Festhalten losgeht, gelangt
sie sofort zum Zählen und zu zählbaren Mannigfaltigkeiten, damit zu Arithmetik und
Geometrie. Damit ist der naturwissenschaftliche Charakter aller Logik bei ihm ent-
292 Ernst Troeltsch,
Damit erst kann der Streit der Lebens -Anschauer und der
Formdenker geschlichtet werden. Freilich bleiben ungeheure Schwie-
rigkeiten übrig: wieso es zu jenen Konkretionen des Allbewußt-
seins kommen könne und wie weit sich diese oberhalb und unter-
halb der Menschen erstrecken mögen? wieso es zu der Bindung
dieser Bewußtseinskonkretionen an körperliche "Leiber komme und
jede Schauung durch sinnliche Zeichen vermittelt sein müsse ? wie
das anthropologisch bedingte Denken zugleich eine Erfassung des
Absoluten sein könne? wie Sein und Denken, Tatsächlichkeit und
Sinnziel in diesem eine Lebenseinheit bilden können ? wie die durch
das Wirrsal der Erfahrung an diese Schauung sich herantastende
formale Logik sich zu den innern Einheitsgesetzen des Absoluten
verhalte? wieso unser Leib in die Verknüpfung mit der Leibes-
umgebung die Voraussetzung aller Schauung und doch selber zu-
gleich ein Bestandteil dieser sein könne und müsse? Auf diese
Fragen ist hier nicht zu antworten, abgesehen davon, daß ich es
überhaupt nicht vermöchte. Auch braucht weder die Alltagser-
kenntnis noch die Realwissenschaft bei ihrer praktischen Betäti-
gung auf diese ganze Erkenntnistheorie jedesmal zurückzugehen,
so wenig wie der Mensch zum G-ehen die Gesetze der Statik zu
überlegen braucht. Diese Hinter- und Untergründe wirken ganz
von selbst und umso sicherer, je weniger wir gleichzeitig auf sie
reflektieren. Aber, wo die großen Grund- und Prinzipienfragen
nach Wesen und Gehalt der wissenschaftlichen Arbeit auftauchen,
da muß auf sie zurückgegriffen werden, weil diese nur von ihnen
aus beantwortet werden können, so unabhängig die Praxis im
Einzelnen ist und sein muß1).
schieden und auch die Geschichte gehört ihm zur Naturwissenschaft, 173 Anmkg. Es
bleibt nur die Möglichkeit übrig sie wie die Embryologie auf ein Ganzheitssystem
zu beziehen, das wir aber leider nicht kennen. Ein solches Ganzheitssystem hat
überdies mit Sinn und Wert nichts zu tun, sondern ist ein rein logischen Bedürf-
nissen genügender Ordnungsbegriff, wie die mathematischen und biologischen Be-
griffe auch. Auch hier ist die Vorherrschaft des Naturalismus trotz alles „ Idea-
lismus" entscheidend.
1) So sagt Schmoller „Gedächtnisrede auf Sybel und Treitschke" SBA 1896
S. 6 ; „Es hat nie einen großen Historiker gegeben, der nicht über das Verhältnis
der Gottheit zur Menschengeschichte, über Ursprung und Ziel der historischen Ent-
wicklung, über Fortschritt oder Rückschritt und ihre Ursachen, über die großen
Tendenzen in den innern Veränderungen der Staaten, über ihre Wechselwirkung
unter einander, über die letzten sittlichen und politischen Fragen eine feste Über-
zeugung gehabt hätte". — Über den Übergang von Empirie und Phänomenologie
Die Logik des historischen Entwickelungsbegriffes. 293
Wenn man nur von hier aus die Individualität in ihrem
historisch letzten Sinne verstehen kann, so kann man auch erst
von hier aus den historischen Entwicklungsbegriff bestimmen. Wie
weit etwas ähnliches von den außerhistorischen Entwicklungsbe-
griffen und gar von dem kosmischen Entwicklungsbegriff gelten kann,
ist eine Frage für sich. Jedenfalls sind diese Begriffe, vor allem
natürlich der zweite, abstrakter und konstruierter als der histo-
rische. Dieser letztere beruht in voller Wahrheit auf Intuition
des Fremdseelischen in dem geschilderten Sinne, somit in erster
Linie auf Anschaulichkeit. Erst inj dem Maße, als er aus dieser
Anschaulichkeit konstruktiv den logisch-teleologischen Zusammen-
hang herauslöst, wird er abstrakter, und über je weiteres und je
mittelbareres Material er sich ausdehnt, umso mehr wird auch er
naturgemäß abstrakt, konstruktiv analogiehaft und unanschaulicher.
Daraus ergeben sich wichtige F o 1 g e n in der praktischen
Ausgestaltung des Entwicklungsbegriffes. Er wird
zunächst nur auf geschlossene, anschaulich und real -kausal zu-
sammenhängende, in der Zeit bereits vollendete Geschehens-Grruppen
angewendet werden können, seien es nun Völker und Staaten, Pe-
rioden und Zeitabschnitte oder Entwicklungsstrecken einzelner
Kulturelemente. Er wird umso konkreter, anschaulicher und leben-
diger sein, je reicher das Überlieferungs- d. h. das Zeichenmaterial
ist, und je ernster die Vertiefung in dessen innern Zusammenhang
hineingetrieben wird. Beim Mangel an solchem kann er nicht ge-
funden, beim Überfluß nicht festgehalten werden. Erst wenn Ver-
vollständigung oder Sichtung des Materials in immer neuen An-
läufen erreicht worden ist, wird man eine historische Totalität
entwicklungsgeschichtlich darstellen können, immer beim Darsteller
eine allgemein ausgebreitete und kategorial geordnete Menschen-
und Weltkenntnis d. h. angehäufte und wiederholte Schauungen
vorausgesetzt. Auch so wird etwas Hypothetisches und Kon-
struiertes immer übrig bleiben. Aber wo Stärke und Tiefe der
Anschauung, realer Tatsachensinn und Wahrheitsliebe, kritische
Vorsicht und Fähigkeit der Anschmiegung an das Wirkliche,
Kunst der Zerteilung und Verknüpfung der Fäden zugleich mit-
eingesetzt werden, da wird man ein Bild gewinnen, das in allen
Grenzen anthropologisch - endlicher Bedingtheit doch die im kon-
zur Metaphysik Drieschs Wirklichkeitslehre, mit dem ich in diesem Punkte ganz
übereinstimme; nur muß m. E. die Metaphysik wenigstens in der Historie früher
eingreifen.
Kantstudien. XXVII. 20
294 Ernst Troeltsch,
kreten, absoluten Bewußtsein oder im Allleben sich abspielende
Bewegung und ihren Sinnzusammenhang erfaßt. Es werden in
erster Linie also Einzel -Entwicklungskreise sein, die sich
so ergeben, und die Regel ihrer Darstellung wird sich in Form
empirischer Geschichtslogik so darstellen, wie es oben geschehen ist.
Aber naturgemäß drängen die Einzelkreise zu Verbindungen
und Reihen, die ja überdies real- kausal und anschaulich vorliegen,
die aber nun freilich eine sehr starke umfassende Kraft, sehr tiefe
Einfühlung und viele ergänzende und Lücken überbrückende Hy-
pothesen verlangen. Auf diesem Wege kommt es zur Universal-
geschichte, die die natürliche Vollendung und Krone der
Historie, die zusammenfassende Leistung des Entwicklungsbegriffes
ist. Aber mit der Universalgeschichte hat es nun doch überdies
eine eigene Bewandtnis, die aus dem Wesen dieser ganzen Sachlage
folgt. Sie scheint dem Wesen der Sache nach auf eine Geschichte
der ganzen Menschheit in der Weite des Raumes und der Uner-
meßlichkeit der Zeit hinausgehen und den Zusammenhang sowohl
als einen real-kausalen wie als einen von einheitlicher Sinnentwick-
lung erfüllten ansehen zu müssen. Nun ist aber dieses Ganze
räumlich und auch zeitlich, soweit es bereits vorliegt, nicht zu
übersehen. Auch gehen die vorliegenden großen Hauptgruppen
— abgesehen von vereinzelten Berührungen — weder zu einem
real-kausalen Zusammenhang noch zur Einheitlichkeit des kultu-
rellen Sinnes tatsächlich zusammen. Vor allem aber ist selbst-
verständlich die Zukunft unbekannt und bei deren realen, höchst
verschiedenen Möglichkeiten in der Einheit eines aus der Betrach-
tung des Ganzen geschöpften Sinnes nicht einzubeziehen. Es ist
daher nur natürlich, daß in Zeiten ohne den historischen Sinn und
ohne das harte kritische Realitätsbewußtsein der Gegenwart *) das
auch dort schon erwachende Bedürfnis nach der Universalgeschichte
diese ohne weiteres aus völlig idealen oder abstrakten Zielen ethischer
oder religiöser Art konstruierte, wie es der jüdische Messianisraus,
die christliche Erlösungslehre und das stoische Naturrecht getan
haben. Aus der Historie selbst ist dabei nur insofern geschöpft,
als gewisse Inhalte der eigenen Gegenwart einfach abstrakter
gefaßt und verabsolutiert wurden. Nicht anders steht es mit dem
1) Über dieses herbe und männliche Ethos, das schon die Voraussetzung der
Quellenkritik und Tatsachenfeststellung ist, s. v. Sybel, Gesetze S. 22. Das Gegen-
stück dazu ist etwa die Vorrede von Benz zu der Diederichschen Prachtausgabe
der Legenda Aurea mit ihrer weichlichen und rührseligen Phantastik.
Die Logik des historischen Entwickelungsbegriffes. 295
nächsten Nachfolger der christlichen Universalgeschichte, dem mo-
dernen profanen Naturrecht und natürlichen System, das als Ziel
und Triebkraft des Fortschrittes konstruiert wurde und auch
seinerseits den eigenen gegenwärtigen Kulturstand, den ver-
bürgerlichten und politisierten Individualismus der Renaissance,
verbegrifflichte und verabsolutierte. Nur war jetzt die Einbezie-
hung kritisch untersuchten historischen Stoffes schon sehr viel
reichlicher. Das ideale ethisch -religiöse Ziel und die inzwischen
ungeheuer angewachsene moderne Historie zur Deckung zu bringen
und gerade in dieser Deckung Universalgeschichte und Sinneinheit
der Menschheit zugleich anschaulich zu machen, war dann das
Bestreben der übrigens so völlig verschiedenen Lehren Hegels und
Comtes. Hegel rechnete daher mit einer prinzipiellen Vollendetheit
des Geschichtsprozesses, Comte mit der Berechenbarkeit und Voraus-
sehbarkeit der Zukunft auf Grund historischer Gesetze; nur bei
diesen Voraussetzungen waren ihre Konstruktionen logisch möglich.
Seitdem hat der historische Realismus sehr viel weiter um sich
gegriffen, und die Universalgeschichte ging entweder wieder in
Gestalt der Evolutionslehre oder des Naturrechts auf die alten
abstrakten Zielkonstruktionen der Aufklärung zurück oder sie verfiel
der Skepsis und der Geringschätzung. Die Historiker huldigten der
Geschichte von Einzelkreisen und die universale Entwickelungslehre
flüchtete sich in die systematischen Geisteswissenschaften, und fand
auch dort immer geringere Möglichkeiten der Durchführung.
Soweit die Historiker selbst, wie Ranke und Guizot, der Uni-
versalgeschichte treu blieben, schufen sie sie in "Wahrheit in eine
Entwickelungsgeschichte der mittelmeerisch - europäisch - amerika-
nischen Kultur um. Aber auch bei ihnen war das organisierende
Einheitsprinzip der Entwickelung, so sehr es aus dem Zusammen-
hang der Tatsachen selbst geschöpft werden sollte und geschöpft
wurde, doch von dem Glauben des Besitzes einer gegenwärtigen
Humanität und einer von ihr weiter geleiteten Zukunft bestimmt.
Da Verlauf und Gegenwart selbstverständlich keine schlechthin
einheitliche Sinn-Idee zeigen, mußte die letzte und eigentlichste
Zusammenfassung doch auch bei ihnen aus eigenem Glauben und Be-
jahen und aus antezipierter Weiterent Wickelung gewonnen werden.
Die nun folgenden Erschütterungen der europäischen Humanitäts-
idee, die Ausbreitung des historischen Forschungsfeldes, das Spezia-
listentum, die philosophische und religiöse Skepsis machten aber
auch schließlich diese Art der Universalgeschichte immer sel-
20*
2% Ernst Troeltsch,
tener1). Heute schweigen die eigentlichen Historiker darüber im
Ganzen, die Philosophen klammern sich an Biologie, Darwinismus
oder allgemein idealistische Konstruktionen aus Postulaten oder
sie erneuern naturrechtliche Ideen, die in Westeuropa und vor
allem in Amerika immer sehr stark geblieben sind, oder man kehrt
zu Hegel, Schelling und Fichte, Comte oder Spencer zurück.
Der universalgeschichtlichen Entwicklung ist Sinneinheit und
Sinnbeziehung unentbehrlich. Diese aber ist bei dem unabgeschlos-
senen Verlauf aus rein historischer Kontemplation nicht zu finden.
Diese könnte höchstens eine Fülle historischer Gestalten neben
einander und in mannigfacher Verkettung zeigen. Der Sinn könnte
dann höchstens in dem Reichtum des Anschauens dieser Fülle
menschlicher Möglichkeiten, der Illustration der Humanität, be-
stehen. Es wäre im Grunde nichts anderes als die Kaleidoskop-
und enzyklopädische Bildungsidee ; wenigstens ist das die populäre
Vergröberung jener Kontemplation. Aber das hat für eine in
schweren sozialen Krisen und geistig-religiösen Nöten lebende Welt
den Reiz verloren. Sie kennt und liebt das allgemeine Menschen-
tum nicht mehr, das sich in dieser Fülle von Bildern auseinander-
legen soll. Sie will des eigenen Wesens und Sinnes sicher werden,
die Humanität als führende Zielidee neuen oder gereinigten Menschen-
tums erst finden, und, soweit sie an dem kritisch - wissenschaft-
lichen Geiste festhält, sucht sie aus der Geschichte Erkenntnis für
das Leben. Das ergibt dann eine Universalgeschichte, die organi-
siert ist von der Idee einer gegenwärtigen Kultursynthese aus
und eine gegenwärtige Kultursynthese, die herausgeholt ist aus
dem Entwickelungstrieb unseres geschichtlichen Lebenszusammen-
hanges. In dieser Korrelation besteht darum heute die Geschichts-
philosophie, und die Lösung dieses ihres Problems ist weder ein
1) Interessant ist eine Bemerkung v. Belows „Deutsche Geschichtsschreibung"
S. Ulf. „Wenn wir das konkrete politische Ziel und die (Entwickelungs-)Formel
der spekulativen Philosophie, die uns Hegel bot, als konstruktives Prinzip ver-
werfen, welches bleibt uns dann noch"? Er antwortet durch den Hinweis auf
„Werte, an deren objektive Geltung wir glauben", und von denen wir voraus-
setzen, „daß ein Fortschritt in dem allgemeinen Erkennen und Anerkennen der
Werte zu erreichen ist". „Das Streben nach dem Fortschritt in dem Erkennen
solcher objektiver Kulturwerte in Verbindung mit dem Bewußtsein, daß hier
eine Erkenntnis nur durch immer fortgesetzte S e 1 b s t prüfung, Selbstbesinnung
zu gewinnen ist, wird das zuverlässigste konstruktive Prinzip sein, über das der
Historiker verfügen kann". Dann aber ergibt sich freilich das Problem des Indi-
viduellen.
Die Logik des historischen Entwickelungsbegriffes. 297
phantasiereiches und poetisches Lebensbild noch eine künstliche
logische Erzeugung des Denkens, sondern das Werk eines reinen
Schauens, das alle unterstützenden Hilfsmittel mit schärfstem rea-
listischen Sinn gewissenhaft benützt. Solche Geschichtsphilosophie
verlangt aber eine Zusammendrängung des Gegebenen und einen
Zuschuß des Glaubens an eine im Gegebenen sich offenbarende
göttliche Idee, die alle Universalgeschichte trotz fast unmerklicher
Übergänge von der empirischen Entwickelungsforschung wesentlich
und grundsätzlich unterscheidet. Darum gehört die Universalge-
schichte der Geschichte und Geschichtsphilosophie zugleich und nicht
der bloßen exakten, empirischen Forschung. Sie ist illusionslose
kritische Tatsachenforschung und ent wickelungsgeschichtliche sorg-
samste Konstruktion; denn trotz aller Greuel und Frevel der
Wirklichkeit hält sie die Erkenntnis #es Wirklichen für die
Voraussetzung aller Wahrheit; sie will nicht Dichtung und nicht
apriorisches System sein. Aber sie muß zugleich auch mit einem
Tropfen ethischen Entschlusses und religiösen Glaubens an die im
Wirklichen durchdringenden Ideengehalte gesalbt sein, oder sie ist
überhaupt unmöglich.
Das logische Recht der Kantischen Tafel
der Urteile.
Von Karl Joel, Basel.
Seit fünfzig und menr Jahren erleben wir in der Philosophie
eine mannigfache Erneuerung der Kantischen Lehre ; in merkwür-
digem Gegensatz dazu vollzog sich gleichzeitig eine kritische Zer-
störung der Kantischen Urteilstafel mit solcher Schärfe, daß von
diesem wichtigen, ausgeführtesten Bauteil des Systems wohl kein
Stein mehr auf dem andern steht, weil sie mehr oder minder alle
der modernen Kritik zu Steinen des Anstoßes wurden. Schon
Lotze hatte ja die Kantischen Formulierungen der Urteilsunter-
schiede (außer denen der Relation) stark diskreditiert: die quan-
titativen Unterschiede bezeichneten keinen eigentümlichen „Fort-
schritt der logischen Arbeit"; die Modalitätsunterschiede sollen
„mit dem logischen Gefüge des Urteils in gar keinem Zusammen-
hang stehen". Bei der Qualität heißt es von den affirmativen und
negativen Urteilen: „zwei wesentlich verschiedene Arten des Ur-
teils als solchen begründet dieser Unterschied nicht", und gar im
limitativen Urteil kann Lotze „nur ein widersinniges Erzeugnis
des Schulwitzes finden". Wohl alle Modernen folgen ihm darin,
S ig wart voran, der die Kritik weiterführt: auch „das vernei-
nende Urteil kann nicht als eine dem positiven Urteil gleichbe-
rechtigte und gleich ursprüngliche Species des Urteils betrachtet
werden". Ebenso kann Sigwart die quantitative Einteilung nicht
„als eine richtige erschöpfende betrachten", schon weil das singu-
lare Urteil mit dem particularen und dem allgemeinen „ganz un-
vergleichbar" sei, und es bestehe auch „kein Grund" aus diesen
wieder „besondere Arten des Urteils überhaupt zu machen" ; ja
es sei „eine Gewaltthätigkeit" „von jedem Urteil den Ausweis zu
verlangen, ob es ein particulares oder allgemeines ist". Das „so-
Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile. 299
genannte" particulare Urteil biete einen „durchaus inadäquaten
Ausdruck": „incongruent" dem Gedanken, den es „verhüllt", sei
es „verwirrend" und gehöre „zu den unglücklichsten und unbe-
quemsten Schöpfungen der Logik". Aber auch bei den „soge-
nannten Unterschieden der Modalität" dürfe zunächst das „soge-
nannte" problematische Urteil „nicht als Urteil bezeichnet werden",
und die Lehre, daß es „eine Art des Urteils sei", ist also aufzu-
geben". „Nicht viel glücklicher ist die traditionelle Lehre in ihrer
Unterscheidung des assertorischen und apodiktischen Urteils" ; denn
„das sog. assertorische Urteil ist von dem apodiktischen nicht
wesentlich verschieden". Endlich lasse sich auch die Einteilung
„der sogenannten Relation" in kategorische, hypothetische und
disjunktive nicht „als erschöpfende irgendwie begründen". „Die
ganze Einteilung ist undurchsichtig und unbrauchbar". Und so
zeigt sich \m „Ergebnis" Kants Tafel überhaupt als „mangelhaft"
oder vielmehr: es bleibt von allen 12 Urteilsformen für Sigwart
nur eine: „die kategorische Aussage eines Prädikats von einem
Subjekt". Ebenso scharf geht Schuppe mit der Kantischen Ein-
teilung ins Gericht. Wie er in seinem „Grundriß der Erkenntnis-
theorie und Logik" schon von den analytischen und synthetischen
Urteilen erklärt: „eine wissenschaftliche Einteilung kann es un-
möglich sein", so heißt es da weiter : „die Einteilung der Urteile
nach der Quantität trifft nicht das Urteil als solches". „Auch die
Einteilung nach der Qualität kann der wissenschaftlichen Theorie
nicht genügen". „Die Urteile der Relation (kategorische, hypo-
thetische, disjunktive) und die der Modalität (apodiktische, pro-
blematische, assertorische) unterscheiden sich eigentlich gar nicht".
So bleibt also von der ganzen Kantischen Einteilung wieder nichts
übrig. Nicht ganz so ablehnend und doch auch scharf lautet das
Resultat bei Lask (die Lehre vom Urteil S. 205): „die einzige
im Specificum der Urteilsregion heimische Einteilung ist die nach
der Qualität. Alle übrigen Einteilungen betreffen irgendwie in
die Urteilsregion von auswärts hineinragende Momente". Ahnlich
kennt Rickert (Gegenstand der Erkenntnis 4. u. 5. Aufl. 1921.
S. 158) im Urteilsakt nur die Unterschiede der Bejahung und Ver-
neinung. Auch Wundts „Logik" findet, daß Kants Einteilung
z. T. dem Wesen des Urteils fremde Gesichtspunkte von außen
hereintrage, wie sie auch nicht nach systematischem Prinzip ab-
geleitet sei, sondern den Charakter einer gewissen Zufälligkeit an
sich trage. Nach alledem ist es noch viel, wenn Windelband
300 Karl Joel,
in seinen „Prinzipien der Logik" (Encyclop. d. philos. Wiss. Bd. I)
von den 12 Kantischen Urteilsformen 5 übrig behält, nämlich die
der Relation und die mit der Modalität zu vereinigenden Quali-
tätsformen, von denen natürlich das limitative Urteil abzustreichen
ist. So hat selbst für Windelband „der Leitfaden, den Kant in
der alten „Tafel der Urteile" gefunden zu haben glaubte, sich
zerfasert", und „der Fehler" der transcendentalen Analytik be-
stehe darin, daß diese Tafel „lediglich historisch aufgerafft ist.
Denn die Vierteilung ist in keiner Weise aus dem Wesen des
Urteils abgeleitet und abzuleiten, sondern empirisch aus der Schul-
logik übernommen und in den Trichotomieen symmetrisch zuge-
stutzt" (a.a.O. 34,1).
Es ist eigentlich Entgegengesetztes, das hier Kant vorgeworfen
wird; denn die Trichotomie ist ja gerade nicht „historisch auf-
gerafft", sondern es bleibt eine wesentliche Neuerung, # daß Kant
die dritte Form als „besonderen Actus des Verstandes" selbständig
macht. Um nun bald mit dem letzten Vorwurf zu beginnen, so
ist diese wohl allgemein angegriffene Trichotomie der Urteilsarten
ja zunächst gestützt, allerdings auch gebunden durch die der
Kategorieen, und an dieser Beziehung beider und der darin ge-
suchten prinzipiellen Gemeinsamkeit zwischen formaler und trans-
cendentaler Logik will gerade auch Windelband festhalten (ib.,
doch vgl. dazu Lask a. a. 0. 117). Aber die Bedeutung der Triaden
reicht ja weiter. Eine bloße Künstelei stirbt rasch ab, die Kanti-
sche Trichotomie aber hat sich erstaunlich fruchtbar erwiesen und
ja den ganzen Aufbau der Systeme Fichtes, Schellings und Hegels
bestimmt. Kant selber hat sie bekanntlich am Schluß der Ein-
leitung der Kritik der Urteilskraft aus dem Wesen der apriori-
schen Synthesis (gegenüber der analytischen Dichotomie), also aus
dem Mark seiner Lehre und speziell aus seiner Bestimmung des
Urteils zu rechtfertigen gesucht. Für Kant und seine spekulativen
Nachfolger, also für die baumeisterlichsten deutschen Geister ist
also das Prinzip der Dreiteilung hier innerlich begründet, das den
weniger innerlich und weniger synthetisch gestimmten Modernen
nur als äußere Aufmachung gilt, als willkürliche und gewaltsame
Schematik, ja als zopfige Marotte. Wer nun hier Recht habe, je-
denfalls so leichthin, ja so spöttisch läßt sich diese „innere Form"
der alten Meister nicht abtun. Schließlich sind die antithetischen
Zweiteilungen, die der schon in seiner Erstlingsschrift als prinzi-
pieller Mittler auftretende Kant bei den Analytikern Wolff und
Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile. 301
Hume vor sich hat, auch nicht zufällig und ebensowenig geschützt
gegen den Vorwurf schematischer Künstelei. Auch die überlie-
ferten Zweiteilungen der analytischen und synthetischen wie der
apriorischen und aposteriorischen Urteile hat doch Kant gekreuzt
zu der von ihm entdeckten dritten Klasse der synthetisch-apriori-
schen, und schließlich steckt doch in dieser Entdeckung der ver-
knüpfenden und damit dreiteilig gestaltenden Vernunft der ganze
. Kant.
Wenn aber die dreiteilige Symmetrie der vier Urteilsgruppen
sich nicht schon aus diesem allgemein synthetischen Charakter der
Vernunft erklärt, so ließe sie sich vielleicht sonst aus einer inneren
Verwandtschaft der Gruppen rechtfertigen, die gerade von jenen
Kantkritikern vielfach bemerkt wurde. Sigwart z. B. hat die tradi-
tionellen Quantitätsunterschiede auf solche der Modalität zurück-
geführt (Logik I4 238). Lotze schon brachte das hypothetische
Urteil mit dem particularen wie das disjunktive mit dem allge-
meinen zusammen und fand, daß in diesem das Prädikat dem Sub-
jekt notwendig anhafte, im Einzelurteil nur als zufällige Tatsache,
also assertorisch; dann würde das particulare Urteil, das nur
„einigen" einer Subjektsgattung ein Prädikat zuspricht, es damit
als möglich kennzeichnen. Ferner lassen sich die Urteile der Mo-
dalität mit denen der Relation in eine Verbindung bringen, die
Kant selbst schon z. T. angedeutet hat: das kategorische Urteil
spricht assertorisch, das hypothetische im Sinne einer Möglichkeit,
das disjunktive sagt apodiktisch über eine Allheit aus. Nach alle-
dem würden die kategorischen, assertorischen und singularen Ur-
teile zusammengehen, ebenso die hypothetischen, problematischen
und particularen und wieder die apodiktischen, disjunktiven und
allgemeinen, und wenn nun noch Windelband Recht hätte, daß die
Modalitätsformen mit denen der Qualität schon bei Kant und in
den meisten Behandlungen vielfach durcheinandergehen und sich
auch nicht absondern ließen (a. a. 0. 23) , so wäre der Verwandt-
schaftskreis geschlossen, und über die Gemeinsamkeit der drei-
gliedrigen Struktur der Urteilsklassen dürfte niemand mehr den
Kopf schütteln.
Doch all dies mag und soll als zweifelhaft gelten und kann
wie die vorher genannten Daten für tiefere und weitere Zusam-
menhänge der Trichotomie nichts entscheiden; all dies soll hier
vielmehr nur als Präliminarien dienen und zwar negativer Art
als Warnungssignale, daß man selbst über die Form der Kanti-
302 Karl Joel,
sehen Urteilstafel nicht so leichten Fußes hinwegspringe. Natürlich
soll damit nicht entfernt das Formale bei Kant für sakrosankt
erklärt werden. Wir haben ja aus Vaihingers so gründlichem
Kommentar reichlich gelernt schon in früheren Abschnitten der
Kritik der reinen Vernunft Inconvenienzen zu erkennen, und selbst
Cohens kurzer Kommentar des Werkes findet an Kants Ausdrücken
bei Behandlung der Urteilstafel manches als „schwierig" und „an-
stößig" zu berichtigen (S. 47 ff.). Gewiß ist so Manches an der
Namengebung, an der Aufeinanderfolge und sogar an der Begrün-
dung bei Kant preiszugeben, teils weil dem damals als Lehrer
noch ans Handbuch Gefesselten die alten Termini und sonstigen
traditionellen Formen schwer nachhingen, teils weil sein genialer
Instinkt oft nur ahnte, aber nicht wußte, warum und worin er
Neuerungen brachte, die er deshalb bisweilen nicht bis zur Rein-
heit ihrer Tendenz herausarbeitete. Für das Urteil nun liegt die
wesentliche Neuerung in seiner Umschaltung aus analytischer Statik
in synthetische Dynamik und das heißt in reine Funktion. Nur
weil Kant selber noch darüber hinaus am Inhalt hängend z. B.
das Urteil: alle Körper sind schwer (Newton zu Ehren) für syn-
thetisch erklärt, hat er Schleiermachers Kritik verdient, die ja
den Unterschied des synthetischen und analytischen Urteils ins
Relative aufhebt, da dasselbe Urteil je nach den Umständen beides
sein könne, für den Wissenden analytisch, für den Unwissenden
synthetisch zustande komme. Wenn Wundt dazu einwendet, daß
nach Kant nur solche Urteile analytisch seien, in denen das Prä-
dikat im Subjekt nicht mitgedacht wird, sondern mitgedacht werden
muß, so fällt hier Kant selbst seinem Verteidiger ins Wort ; denn
es heißt da in der Einleitung der Kr. d. r. V. (2. Ausg.): „die
Frage ist nicht, was wir zu dem gegebenen Begriff hinzudenken
sollen, sondern was wir wirklich in ihm denken". Aber Kants
Tendenz ist besser als der hier noch psychologisierende Kant und
behält doch Recht gegen Schleier macher. Denn wie dieselbe Zahl
je nach den Umständen bald durch Addition, bald durch Subtrak-
tion zustande kommen kann und trotzdem beide Rechnungsfunk-
tionen absolut verschieden bleiben, so bleiben es auch die Denk-
funktionen Analyse und Synthese, mögen sie noch so sehr im Denk-
inhalt, den sie wechselnd hervorbringen, zusammentreffen. Ihr
Gegensatz liegt im Denken selbst, das in ihm atmet und selber
nur lebt als wechselnde Entfaltung von Analyse und Synthese.
Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile. 303
Die Kantische Scheidung besteht eben zu Recht nicht für die In-
halte, sondern für die Funktionen, für die Urteilsformen.
Nun aber wirft man gerade der Kantischen Urteilstafel vor,
daß ihre Scheidungen mehr oder minder nur den Urteilsinhalt oder
gar nur den Begriffsinhalt betreffen, nicht die reine Funktion. So
sollen nach Überweg, Schuppe, Windelband u. a. die Kantischen
Unterschiede der Quantität nur den Subjektsbegriff und seinen Um-
fang angehn, nicht aber das Urteil als solches treffen. Doch sol-
cher Einwand läßt sich schon aus der Logik selber zurückschlagen :
kann überhaupt der Umfang des Subjektsbegriffs für das Urteil
etwas Grleichgiltiges sein? Er hängt ja mit dem Inhalt des Be-
griffs schon nach dem Gresetz ihres umgekehrten Verhältnisses im
Wachstum innerlich und notwendig derart zusammen, daß eine
Mehrung des Umfangs sogleich eine Minderung des Inhalts, eine
Minderung des Umfangs eine Mehrung des Inhalts nach sich zieht,
kurz daß der Umfang den Inhalt bedingt und umgekehrt, also
Quantitätsunterschiede des Subjekts Verschiedenheiten der Prä-
dikatssetzung, das heißt der Urteile mit sich bringen. Ginge es
bei Kant wirklich nur um die Zahl der Subjekte, dann hätte er
allerdings richtiger unendlich viele Urteilsunterschiede (für jede
Zahl einen) ansetzen sollen als gerade seine drei, die willkürlich
aufgegriffen scheinen. Doch die quantitativen Urteilsformen sind
eben nicht äußerlich nach der Zahl des Subjekts, sondern innerlich
nach ihrem Funktionscharakter zu bestimmen. Dann erst gewinnen
die Unterschiede Recht und Bedeutung. Ist denn das Urteil „das
Pferd ist ein Huftier" wirklich ein singulares, weil das Subjekt
in der Einzahl steht? Oder wird das allgemeine Urteil „alle
Menschen sind sterblich" dadurch ein Einzelurteil, daß ich es auf
die Form bringe : „jeder Mensch ist sterblich" ? Und ist das all-
gemein ausgedrückte Urteil „die im Wasser lebenden Säugetiere
sind Wale" nicht auch ein particulares Urteil? Es kommt eben
auf die Tendenz, die Leistung, die Zweckfunktion des Urteils an,
die beim allgemeinen Urteil Generalisierung, beim particularen
Spezifizierung ist.
Diese beiden Urteilsarten wurden ja lange vor Kant von den
alten Logikern unterschieden, bei denen schon dieser heute be-
strittene Unterschied sogar über die Urteile hinaus bis in die
feinste Scheidung der Schlußfiguren greift und sich so auch in der
weiteren logischen Verwertung der Urteile rechtfertigt. Anderer-
seits ist er ja schon angelegt in der Subordination der Begriffe,
;ji»4 Karl Joel,
in der alten Scheidung von genns und species. Will man etwa
auch diese Grundscheidung aller Begriffe aufheben? Dann würde
man den Hauptwert der Begriffsbildung gegenüber den unorgani-
sierten Vorstellungen aufheben: die Setzung von Verhältnissen.
In ihr aber besteht ja gerade das Urteil. Wer daher wie Sigwart,
Windelband, Sickert und die Marburger das Urteil als begriffs-
bildend erkennt und es darum dem Begriff vorauszuschicken oder
auch nur inhaltlich möglichst nahezubringen geneigt ist1), muß
die Grrunddifferenz der* Begriffe auch im Urteil angelegt finden.
Man sollte das allgemeine und particulare Urteil richtiger den
Begriffen entsprechend benennen als generelles und spezielles oder,
wie es schon bei Kant heißt, besonderes Urteil, dann würde man
nicht mehr mit Sigwart dieses particulare Urteil als „unglück-
lichste Schöpfung der Logik" beklagen, sondern würde erkennen,
daß jene Differenzierung im Grundwesen des Denkens wurzelt,
das sich als Vergleichen und Unterscheiden entfaltet oder wieder
kantisch zu reden, sowohl den Forderungen der Homogeneität wie
denen der Specifikation zu entsprechen hat. Wollen wir wirklich
mit Windelband (Prinz, d. Logik S. 21), Bickert (G-gstd. d. Erk.
1921 S. 153 ff., Logos III 235 ff.) u.a. wahrhaft modernen Logikern
so die Urteile nach ihren Leistungszwecken als reine Funktionen
verstehen, dann müssen wir die Funktionen der Generalisation und
der Specifikation als allgemeines und besonderes Urteil unterscheiden.
Doch in diese logische Paarung bringt nun die Kantische
Trichotomie einen Störenfried, und als Dritter im Bunde drängt
sich das singulare Urteil hinzu — wie Wundt meint, unter
Hereinmengung eines fremden Gesichtspunkts, da es sonst den all-
gemeinen Urteilen gleichwertig sei. Kant selber erklärt, daß die
alten Logiker dieses Urteil als ausnahmslos gleich den allgemeinen
behandelt hätten. Herbart aber findet, daß dies nur bei bestimmtem
1) So erklärt Sigwart von der Definition als Urteil: sie sei „der Begriff
selbst, nicht etwas vom Begriff Verschiedenes". Bei Windelband heißt es (Prinz,
d. Log. 20 f.): „Begriff ist stets das Ergebnis eines Urteils, das ihn begründet".
„Die logische Struktur des Begriffs ist keine andere als die des Urteils". Riehl
nennt (Philos. Kritic. 1879 II 1. 221) Begriffe „potentielle Urteile", und Schuppe
läßt den Begriff „aus Urteilen bestehen". Rickert erklärt (Zur Lehre v. d. De-
finition 2. Aufl. S. 60) : „Der Begriff ist daher etwas von dem ihn bildenden Ur-
teilen dem logischen Gehalt nach nicht Verschiedenes". Vgl. Weiteres zur Nieder-
reißung der inhaltlichen Schranke zwischen Begriff und Urteil bei Lask, Die Lehre
vom Urteil S. 49 f.
Das logische Kecht der Kantischen Tafel der Urteile. 305
Subjekt zulässig sei, beim unbestimmten dagegen sei das singulare
Urteil als particulares zu behandeln, und, so schließt Überweg,
gehe es überhaupt in den beiden andern Klassen auf. Doch nur
die übliche Formulierung des particularen Subjekts als „einige"
hat solche Zuweisung verschuldet; Aristoteles hatte, weitsichtiger
als seine Nachfolger, das particulare Urteil vom unbestimmten ge-
schieden. Tatsächlich ist das unbestimmte Urteil vielmehr ein un-
fertiges ; das singulare läßt aber zumeist an Bestimmtheit nichts
zu wünschen übrig; auch das particulare kann eine species, eine
Besonderheit zur Bestimmtheit bringen, kann auch die genaue,
beschränkte Zahl der Subjekte angeben, denen das Prädikat zu-
kommt. Andererseits könnte man in der „Unendlichkeit", die
Kant selber in der Erläuterung hier mit der Allgemeinheit gleich-
setzt, auch das allgemeine Urteil in der Zahl unbestimmt finden.
Die Unbestimmtheit taugt also in keiner Weise zu einem Krite-
rium für die Charakteristik quantitativer Urteilsarten.
Neben diesem bloß negativen Kennzeichen, das so versagte,
versuchte man das singulare Urteil als bloß empirisches herabzu-
drücken, bei dem, wie Lotze meint, das Prädikat dem Subjekt
., zufällig" anhafte. Aber spottet derselbe Lotze nicht auch, daß
man bei den Menschen das allgemeine Kennzeichen des aufrechten
Ganges wesentlich findet? Und sehen andere Grattungsmerkmale,
die Aristoteles, Hegel u. a. an den Menschen im Unterschied von
den Tieren bemerken, wie Lachfähigkeit oder Ohrläppchen minder
zufällig und empirisch aus? Empirisch können eben alle Quanti-
täten der Urteile zustande kommen, aber auch alle rational. Eine
quantitative Urteilsform sagt ja als solche noch nichts aus, wie
in ihr das Prädikat dem Subjekt anhafte, ob accidentiell oder
wesenhaft, „zufällig" oder notwendig. Also auch das Kennzeichen
des Empirischen versagt für das singulare Urteil. Immerhin ge-
winnt es doch hier zuerst positive Bedeutung und zwar initiale,
sofern die Erfahrung nun einmal vom Einzelurteil anfangen muß,
um zum allgemeinen fortzuschreiten durch das particulare, das
deshalb Kant (in den Prolegomena) lieber pluratives Urteil nennen
will, um eben den Fortgang von der Einheit durch die Vielheit
zur Allheit kenntlich zu machen, während die Bezeichnung parti-
cular schon die Allheit voraussetze, die durch sie negiert werde.
Übrigens findet auch Sigwart das „plurale" Urteil „auf dem Wege
zu einem allgemeinen", resp. als eigentlich particulares Urteil auf
dem umgekehrten Wege von jenem abwärts. Danach müßte doch
306 Karl Joöl,
auch Sigwart Kants Dreiteilung anerkennen ; denn „auf dem Wege"
ist eben nur das particulare resp. plurale Urteil, von <dem daher
ebenso das singulare wie das allgemeine Urteil zu scheiden wären,
die je nach der Richtung des „Weges" als sein Anfang oder sein
Ziel sich auf tun. Jedenfalls erhält beim Kantischen „Fortgang"
der Erkenntnis so das Einzelurteil unbestreitbar seine berechtigte,
ja notwendige Stelle als Ausgangspunkt der Generalisierung, die
sich da stufenweise in drei wahrlich verschiedenen Geistesakten
vollzieht von der Einzelfeststellung durch das Wiederfinden in
einer Mehrheit zur abschließenden Gesetzesbildung. Sind das wirk-
lich Unterschiede bloß der Subjektsbegriffe und nicht vielmehr
der Akte, der Funktionen, als die eben Kant schärfer als seine
Kritiker die Urteile herausarbeitet und auf denen er die Begriffe
erst „beruhen" läßt? Entsprechen hier die drei Urteilsformen
nicht genau den verschiedenartigen Akten, die Kant als Stadien
der Synthesis unterscheidet : der Apprehension in der Anschauung,
der Reproduktion in der Einbildung, der Rekognition im Begriff?
Doch die Apprehension im Einzelurteil hört ja nicht auf mit
der Entdeckung des ersten Falls, sondern muß fortlaufen in der
Erfassung weiterer Einzelfälle, um plurale oder universale Urteile
bilden zu können. So gewinnt das singulare Urteil über die ini-
tiale hinaus induktive Bedeutung, aber eigentlich auch deduk-
tive, überhaupt systematische Bedeutung; denn die drei Urteils-
arten arbeiten hier schon Gattung, Art und Exemplar heraus.
Oder soll etwa das Exemplar logisch nicht faßbar sein? Dann
würde dem Denken nicht nur die Fülle des Seins sich verschließen,
es würde seinen Grundberuf der Systembildung nicht erfüllen
können, die ebenso wie in den Gattungen die Arten so in den
Arten die Exemplare umfassen will. Und wir denken doch nun
einmal die Exemplare unterschieden von ihren Gattungen und
Arten. Wir denken die Zahl, die aus Einzelheiten besteht und
die Kant doch mit Recht über die bloße Anschauung hinaushob.
In jener oft unbewußten Konsequenz, mit der sich jede große
Lehre stilgemäß ausbaut, geht Kants Herausstellung des singu-
laren Urteils zusammen mit seiner Überwindung des rationalisti-
schen principium identitatis indiscernibilium , das die Einzelheit
mit der Besonderheit einssetzt, das Singulare schon im Speziellen
findet, die Quantität mit der Qualitäts Scheidung, das Sein mit den
Artunterschieden enden läßt, also zwei gleiche Dinge unmöglich
findet und damit die Gleichheit schon zur Identität stempelt. Aber
Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile. 307
ob es zwei gleiche Dinge gibt oder nicht, logisch ist jedenfalls
die Identität von der Gleichheit zu trennen, das heißt die Einzel-
heit von der Besonderheit zu scheiden und damit das Einzelurteil
von dem „besonderen" Urteil. Die Funktionstendenz des Urteils
geht hier auch gerade darauf, Vieles als Gleiches zu behandeln
d. h. als Exemplare einer Species. Wer hier die Sonderleistung
des singularen Urteils leugnet, verleugnet den Wert der Zahl, die
eben viele Einzelheiten aufnimmt, um sie als gleiche Einheiten zu
summieren.
Mit dem Sonderwert des singularen Urteils wäre ferner der
Wert des Beispiels aufgehoben, das ja durch das Einzelne eine
Art oder Gattung, durch den Einzelfall eine Regel anschaulich
macht. So gewinnt das singulare Urteil auch illustrative Be-
deutung; denn das Exemplar kann als Exempel dienen, zumal als
schlagender Fall, als prärogative Instanz im Sinne Bacons ; ja für
das Genie kann sogar das singulare Urteil sich sogleich ins all-
gemeine ausschwingen , kann ein Fall genügen das G-esetz auf-
leuchten zu lassen, wie ja an einem fallenden Apfel Newton das
Gesetz der Schwere, an einer schwingenden Kirche G-alilei das
der Pendelschwingung entdeckt haben soll.
Aber das singulare Urteil kann nicht nur hingebend eingehn
ins universale, sondern auch herausgehen aus ihm, sich kritisch
dagegen stemmen als Ausnahme von der allgemeinen Regel. So
erhält dieses Urteil auch isolierende Bedeutung; denn die Aus-
nahme wird doch ebenso wie die Regel, von der sie abweicht,
nicht im Begriff, sondern im Urteil gefunden und dargelegt. Sig-
wart nimmt da die singularen mit den particularen resp. pluralen
Urteilen zusammen, sofern sie Unterschiede und Ausnahmen am
Allgemeinen hervorheben. Doch die Unterschiede gehören eben
zur Funktion des particularen oder „besonderen" Urteils und können
noch innerhalb der allgemeinen Regel liegen. Die Ausnahme aber
fällt aus ihr heraus, und solche Isolierung kommt am reinsten im
singularen Urteil zum Ausdruck.
So lehrt das singulare Urteil entdecken, aufzählen, veranschau-
lichen und ausscheiden; es bietet der Erkenntnis Ansatz, Zahl,
Beispiel und Ausnahme und dient ihr zu Fortschritt, Exaktheit,
Klarheit und Kritik. Aber zu dieser initialen, induktiven, illustra-
tiven, ja intuitiven und isolatorischen Funktion kommt nun noch
als höhere, geistigere die individualisierende. Schon die
vorher genannten Zwecke lagen z. T. der Antike, noch mehr dem
308 Karl Joel,
Mittelalter ferner und ließen da das singulare Urteil nicht zur
Selbständigkeit aufkommen. Das Interesse, das Aristoteles in
seiner Vielseitigkeit noch an der Induktion und überhaupt am Ein-
zelnen nahm, zeigt sich bei seinen scholastischen Erben mehr oder
minder verschüttet; sie ließen vielmehr wesentlich das Allgemeine
triumphieren im Syllogismus und dagegen schon das „Particulare"
als unvollkommneres, eben bloßes Teilresultat absinken. Weniger
noch als der antike Typensinn vermochte der hoch sich aufwöl-
bende mittelalterliche Universalsinn das Singulare zu fassen. In-
dividuum est ineffabile! Selbst im Nominalismus blieb der hier
nur nach seiner Fassung des Allgemeinen benannte Individualismus
in der Opposition und zog sich ins Irrationale bis zur Skepsis zu-
rück. Der Sinn für das singulare Urteil fordert aber zu seiner
Erweckung den Sinn für das Auffallende, Merkwürdige, Abson-
derliche, wie er etwa in der Hochrenaissance bei dem für die
Naturwissenschaft so anregenden Hieronymus Cardanus geradezu
aufkreischte, fordert weiter den Sinn für das Neue, für die kri-
tisch ausgebildete Induktion, für Gegeninstanzen und schlagende
Fälle, kurz für alles, was Bacon als Begründer neuzeitlichen
Geistes zur bewußten Methode vereinigt, fordert ferner den Sinn
für die Eigenart, wie sie Leibniz in schärferer Erneuerung des
scotistischen Individualismus allerdings erst als Grad des Univer-
salen begreift, dazu noch den Sinn für das repräsentative Beispiel,
an dem Berkeley, der Fanatiker der Einzelvorstellung, der Be-
streiter der Allgemeinvorstellung allein noch Allgemeines erkennt.
Doch all diese sich steigernden Vorstöße der Neuzeit zum
Singularen kamen mehr der Naturwissenschaft zugute. Obgleich
im Individualismus der Renaissance erwacht, trug doch der neu-
zeitliche Geist noch logisch lange die Fesseln der Scholastik, die
neben oder vielmehr unter dem Universalen höchstens noch das
Particulare gnädig duldete. So verdanken wir es der trichotomi-
schen „Marotte" Kants, daß er mit der Sonderstellung, ja Ent-
deckung des singularen Urteils den Geist der Neuzeit erst logisch
zum Siege führte. Allerdings selbst Kants Autonomie, von Fichte
fortgebildet, gab dabei erst das Signal zu einer Individualisierung,
die bei der Frühromantik an Goethe sich orientierte, aber noch
bevor sie zu logischer Ausprägung kam, bald wieder überrauscht
ward vom Kult des Allgemeinen, der bei Hegel zu logischer Mo-
numentalität ausgebaut, dann beim Naturalismus in irrationalen
Massenkult versank und unter der Flagge erst der Naturwissen-
Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile. 309
schaft, später der Sozialwissenschaft alle Erkenntnis nur auf das
allgemeine Gesetz hinzusteuern wußte. Erst die Jahrhundertwende
brachte wieder neue Zeichen herauf, wenn etwa Windelband und
Sickert neben der nomothetisch generalisierenden Naturwissen-
schaft das Eecht der Kulturwissenschaft oder Geschichte als idio-
graphischer oder individualisierender Erkenntnis begründeten und
Simmel zuletzt das „individuelle Gesetz" verkündete. Selbst
Spengler sucht ja die Geschichte als Reich des Einmaligen zu
emanzipieren von der Natur, aber leider auch von der Logik.
Doch wer solchen gestrigen Erkenntnispessimismus und überhaupt
Irrationalismus nicht teilt , sondern mit jenen modernen Denkern
auch für das Individuelle Gesetz und Wissenschaft proklamiert,
muß sie doch wohl im singularen Urteil entfalten und darin dem
Individuellen seine logische Sonderform gönnen — und zwar nicht
nur negativ, wie sie in Spinozas determinatio oder selbst noch
bei der Ausnahme vom Allgemeinen erscheint. Nein, alle drei
Urteilsformen, die universale, particulare und singulare lassen sich
in negativer Funktion fassen als Abstrahieren, Differenzieren und
Isolieren, alle aber auch in positiver Funktion als Generalisieren,
Typisieren und Individualisieren.
Oder soll das Individuelle der logischen Fassung widerstreben,
weil Begriff und Urteil nur auf das Allgemeine gehen? Dann
hätten zwei Jahrtausende schon mit der Zulassung des particularen
Urteils eine halbe Sünde wider den logischen Geist begangen.
Doch wer so urteilt, sündigt selber viel schwerer gegen die Logik ;
denn er verwechselt das Allgemeine und das Allgemeingiltige, das
allein logisch gefordert wird. Das Allgemeingiltige aber braucht
wie Kants Sittengesetz durchaus nicht in einer Allgemeinheit rea-
lisiert zu sein; es gilt, auch wenn es nur einmal, auch wenn es
keinmal erfüllt wird. Das Allgemeingiltige auch als Logisches
ist so wenig an eine Zahl, wie an eine Wirklichkeit gebunden.
Doch darin läge erst das negative Recht ein Allgemeingiltiges
auch vom Individuellen auszusagen. Aber kann man denn auch
am positiven Recht logischer Erfassung der Individualität zweifeln,
da sie doch dem obersten Grundsatz der Logik untersteht, dem
Identitätssatz, ja mehr, da dieser Satz gerade an ihr erlebt wird,
aus ihr erst geschöpft ward? Es ist wieder der Geist der Neu-
zeit, in dem Descartes vom Satz des Eigenbewußtseins als logi-
scher Grundlage sein System aufbaut, in dem noch deutlicher
Leibniz und Fichte den Satz der Identität am Ichbewußtsein ab-
Kantutndien. XXVn. 21
310 Karl Joöl,
lesen. Als evident eben unmittelbar erleben kann jeder die Iden-
tität nur an sich selbst. So wird das singulare Urteil, in dem
allein sich das Eigenbewußtsein als Identitätsbewußtsein aussprechen
kann, nicht nur zu logischer Erfassung berechtigt, sondern ge-
radezu Grundlage logischer Erfassung und zwar als Erfassung
der reinen identischen Einheit, die nun einmal weder particular
noch universal gegeben ist. Dabei bleibt es als Urteil eine Syn-
thesis, da es mehrere Momente zur Einheit bringt, das Selbst als
Subjekt und als Objekt oder das Eigensein in Vergangenheit, Ge-
genwart und Zukunft. Damit gewinnt das singulare Urteil seine
geisteswissenschaftliche Bedeutung und Notwendigkeit, historisch
wie ethisch, descriptiv wie normativ. Der Historiker muß indivi-
dualisieren, charakterisieren, das heißt den Einzelnen nicht nur
als Kuriosum von andern absondern, sondern positiv ausprägen,
aus wechselnden Accidentien sein Wesen herausstellen. Auch das
Singulare ist eben nicht ein blind Gegebenes, Zufälliges, sondern
etwas Wesenhaftes über und hinter seinen einzelnen Erscheinungs-
momenten. In jedem Menschen wohnt eine Idee, ,ist ein inneres
Gesetz, eine logische Forderung als konsequenter Stil angelegt,
auf Erfüllung wartend, und muß vom Beurteiler erst gesucht wer-
den, vom Forscher wie vom Erzieher, der da fordert: bleibe dir
selbst treu und : werde, der du bist. Ja, den Wert des Charakters
entfaltet das singulare Urteil und tut so dieser Zeit wahrlich not
und ist so geradezu berufen für die Erneuerung unserer Kultnr.
Das Einzelurteil aber kennzeichnet eben den Einzelnen nicht
nur als solchen, sondern auch als Eigenen, Selbständigen, kenn-
zeichnet auch die Individualität als Subjektivität und darin als
Totalität. Hierin liegt der wundersame Zusammenhang des sin-
gularen Urteils mit dem universalen, aber zugleich seine notwendige
Unterscheidung sowohl von diesem wie vom particularen Urteil.
Denn das Individuum, das „Unteilbare", darf nicht particular ge-
nommen werden, es ist vielmehr ein Ganzes und doch zugleich ein
Einzelnes, das aber das Ganze nicht etwa nur als pars pro toto
alogisch symbolisiert, sondern das Gesetz des Ganzen selber in
sich tragen und als Mikrokosmos dem Makrokosmos gleich sein
kann. Auch diese Werterkenntnis des Individuellen, das sich mit
dem Universalen füllen kann, ist ja im Beginn der Neuzeit durch-
gebrochen in der Mystik, die heute wieder erneuert nicht bloß
von Freund und Feind im Dunkel des Irrationalen festgehalten,
sondern zur Entfaltung ihres logischen Gehalts hingeführt werden
Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile. 311
sollte. Gegenüber einem äußerlichen Zug zum leeren Allgemeinen
wie gegenüber einem sterilen Spezialismus gilt es heute den Wert
der dritten, der singularen Urteilsbildung und zugleich den or-
ganischen Zusammenhang, das Ineinandergreifen der drei
Urteilsformen zu entwickeln und so erst Kants quantitative Ein-
teilung fruchtbar zu machen. Liegt doch der tiefere Sinn seiner
Dreiteilung darin, daß nun die „Tafel der Urteile" keine „Schul-
tafel" mehr ist, auf der die fertigen Urteile in analytischer Zwei-
teilung starr vis a vis gestellt werden, sondern daß da in den
Urteilsformen als „Akten des Verstandes" das Denken selber in
lebendiger Entwicklung niederschlägt, indem Kant, wie es in den
Prolegomena § 20 heißt, vom Einzelurteil „anhebt" und durch die
Vielheit zur Allheit „fortgeht". Lebendiges bleibt eben nicht
stehen, verharrt nicht im Gegensatz, sondern drängt zum Aus-
gleich und kehrt kreisläufig, doch in immer höherer Bahn als Ent-
wicklung immer wieder zur Einigung mit sich selbst zurück. Das
Denken wie das Leben hebt von der Einheit an, entfaltet sich zur
Vielheit und schließt sich am Ende der Entfaltung doch wieder
zu einer neuen Einheit zusammen, die nun auf höherer Stufe wieder
Vielheit und schließlich Allheit und so eine neue Einheit hervor-
bringt und diesen Kreislauf immer höher ausschwingt. So sind
die Kantischen Urteilsformen nicht starre Klassen, sondern Stufen
des Denkens, „Momente" seiner Entfaltung. Das singulare Urteil
ist der Keim eines durch das particulare entfalteten universalen
und dieses wieder der Keim eines singularen und so einer neuen
Entfaltung. Nur durch die Mehrheit wird die Einheit zur Allheit,
nur durch die Allheit wieder die Mehrheit zur Einheit, nur durch
die Einheit immer wieder die Mehrheit zur Allheit. So bedingen
sich die Kantischen Quantitätsurteile in ihren Unterschieden wie
in ihrem Zusammenhange.
Kaum minder scharf wie gegen Kants Quantitätsformen rich-
tete sich nun die moderne Kritik gegen seine Urteilsscheidung
nach der „Qualität". Gewiß ist hier schon dieser allgemeine Titel
wie der speziellere der „unendlichen" Urteile als mißverständ-
licher, ja unzutreffender Archaismus abzulehnen. Doch wir fragen
ja nicht nach den Namen, sondern den Bedeutungen der Kantischen
Formen. Zunächst rüttelte man hier nun wie bei den quantitativen
Urteilen an einem aristotelischen Erbgut Kants, an der primären
Scheidung der bejahenden und verneinenden Urteile, die allerdings
auch heute noch kräftige Verteidiger findet. Schuppe aber z. B.
21*
312 Karl Joel,
wendet dagegen ein : Ob ich gesund bin oder nicht gesund bin, in
der Lotterie gewonnen oder nicht gewonnen habe, ist zwar ein
sehr wichtiger Unterschied, aber doch nur in praktischer Beziehung.
Aber ist es wirklich auch nur ein praktischer Unterschied, ob die
Erde ein Planet ist oder nicht und ob Bejahung und Verneinung
logisch zu scheiden sind oder nicht? Feiner klingt der Einwant
bei Lotze: die beiden Sätze S ist P und S ist nicht P müssei
genau dieselbe „Verbindung von S und Pu meinen, nur daß ihi
die „Giltigkeit oder Wirklichkeit" vom affirmativen Urteil zuge-
sprochen, vom negativen verweigert werde ; „aber zwei wesentlich
verschiedene Arten des Urteils als solchen begründet dieser Unter-
schied nicht". Hier wird klar, daß Lotze und die ihm folgen, di(
Kantische Urteilsscheidung ablehnen, weil sie unter „Urteil" an-
deres verstehen als Kant, der es als „Funktion", als „Aktus de?
Verstandes" nimmt und bei den quantitativen Urteilen im Unter-
schied der „inneren Giltigkeit" vielmehr von der Größe offenbar
als äußerer Giltigkeit spricht, weil er eben die Giltigkeit in das
Urteil als ihre Setzung einschließt. Seine modernen Kritiker aber
schieben die Setzung der Giltigkeit als „Nebengedanke" (Wundt)
oder „Nebenurteil" (Lotze) aus dem Urteil selber heraus, das ihnen
nur als eine Beziehung von Vorstellungen oder Begriffen, eben
als „Verbindung von S und P" wieder fertig dasteht. "Wer nimmt
hier das Urteil scholastisch starrer, mechanisch äußerlicher — Kant
oder seine Kritiker? Ihnen geht hier sichtlich das Urteil auf in
seinem Inhalt, den sie wieder als Satz an der Wandtafel vor siel
sehen, und neben solchem Urteil als Satzinhalt steht doch das
Kantische Urteil als Setzung zunächst einmal mindestens gleich-
berechtigt da, sodaß Windelband diese Frage der Terminologi(
zuweisen möchte.
Tatsächlich aber führt die unkantische Fassung des Urteils
als bloßen Inhalts ohne Giltigkeitsfunktion zu Schwierigkeiten, y<
zu Widersprüchen. Erst soll das Urteil da sein und dann sol
über seine Giltigkeit ein „Nebenurteil gefällt" werden (Lotze), ein
„Urteil über ein Urteil", wie Sigwart speziell das verneinende
Urteil nennt, ein „sekundäres Urteil", wie Vaihinger es noch
klarer vom „primären Urteil" unterscheidet (Philos. des Als Ob
593). Da zeigt sich doch, daß man „Urteil" in zweierlei ganz
verschiedenem Sinn nimmt und auch braucht und daß man mit
dem Urteil als bloßem Inhalt keinesfalls auskommt, sondern es
wenigstens im „gefällten NebenürteilÄ oder „sekundären" „Urteil;
Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile. 313
über ein Urteil" als Funktion braucht d. h. im Kantischen Sinn.
Das Urteil kann nun einmal nicht aufgehen im Beurteilten, in
seinem Inhalt oder Objekt. Dann müßte man dazu doch wieder
eine Funktion haben, für die es eben Objekt wird und die man
auch wieder nicht anders wie als „Urteil" bezeichnen kann. Wundt
erhebt da gegen Windelband und alle, die wie auch Brentano,
Bergmann, Rickert und Lask mit Recht das Urteil als Richten
nach Ja und Kein verteidigen, den Vorwurf der Verwechslung
einer Reflexion über einen Gegenstand mit dem Gegenstand selbst.
Aber das Urteil ist gerade Reflexion und nicht bloßer Gegenstand,
und gerade die Kritiker Kants begehen hier die Verwechslung,
indem sie Gegenstand und Funktion des Urteils, das Beurteilte
und den Urteilsakt mit demselben Terminus belegen. Windelband
hat gerade zur Vermeidung solcher Verwechslung die Giltigkeits-
setzung als praktisches „Beurteilen" vom „Urteilen" geschieden
mit nicht eben glücklicher Benennung1). Immerhin ist die Schei-
dung notwendig; denn der Akt der Giltigkeitssetzung ist eben
nicht etwas Paralleles zu der „Verbindung von S und P", sondern
etwas ganz Anderes, das man nicht als ein Nebenurteil dazu, als
zweites Urteil über jenes bezeichnen kann; vielmehr gilt es zu
wählen, welches von beiden nun „Urteil" heißen soll. Und da
kann doch wohl keine Frage sein, daß nach dem Sinn des Wortes
die Giltigkeitssetzung, der Akt der Entscheidung Urteil heißen
muß. Der Richter urteilt, und das Urteil richtet.
Was aber soll das Urteil ohne seine Funktion der Entschei-
dung sein? Lask nennt diesen bloßen Urteilsinhalt, der da be-
urteilt wird, Sinnfragment als bloße Unterlage für Bejahung und
Verneinung (vgl. die Lehre vom Urteil 164. 186 f.). Eine bloße
Vorstellung ist es gewiß nicht — darin hat Jerusalem gegen
Brentano Recht. Wohl aber ist es eine Vorstellungsbeziehung
oder Begriffsverbindung, was hier die in Wahrheit vorkantischen
Kritiker Kants schon als „Urteil" ausspielen. Doch sie müssen
weiter Schritt für Schritt zurückweichen; dann wenn dergleichen
schon zum „Urteil" genügen soll, dann müßte auch „Berufsbe-
ratung", „der Löwe von San Marco", „Haus und Hof", „der Hund
mit dem Halsband", „die Tante der Kinder", ja selbst der „braun-
goldene Logarithmus" — dann müßten all diese Vorstellungsbe-
1) Vgl. hier gegen Windelband (Präludien I 29 ff. 6) Sigwarts Antikritik Logik
I 163 ff. * und auch Rickerts Bedenken Ggstd. d. Erk. 1921 S. 151.
314 Karl Joel
Ziehungen schon Urteile sein, ja dann wäre schließlich aller Un-
terschied von Begriff und Urteil aufgehoben; denn jeder Begriff
mit seinen Merkmalen enthält ja schon ein Verhältnis, eine Vor-
stellungsbeziehung. Inhaltlich als Beziehung kann der Begriff mit
dem Urteil völlig übereinstimmen (vgl. oben S. 269). Aber nicht der
Inhalt, erst die Funktion macht das Urteil, das als solche min
destens Bildung oder Entfaltung eines Begriffs ist und damit im
Unterschied von ihm ein Akt, eine geistige Tat, die als Tat allein
richtend und richtbar auftreten d. h. Geltung beanspruchen kann
Selbst das analytische Urteil besteht ja erst in der Funktion der
Begriffsanalyse, die eben mit dem Anspruch auf Gültigkeit das
Prädikat aus dem Begriff entfaltet und so ihm entsprechen läßt.
Wenn Wundt nun gegen Schleiermachers These, daß der allwissende
Geist nur analytische Urteile bilde, einwendet, dieser Geist werd<
überhaupt keine Urteile bilden, so ist doch damit zugestanden, dal
Urteil eben als Entfaltungsakt mehr bedeutet als die bloße Vor
Stellungsbeziehung, die auch der Allwissende hätte. Mit der Ent
deckung der synthetischen Urteile a priori, d. h. der allgemein
giltigen Urteile, die nicht im Begriff angelegt sind, hat Kant noch
deutlicher das Urteil vom Begriff emanzipiert, hat er es als dy
namische Funktion des Geistes entdeckt in Überwindung der alte
logischen Mechanik, die im Urteil wesentlich Begriffe als logisch
Atome zum logischen Molekül „kopulieren" ließ. Wie aber könne:
moderne Logiker, die mit Sigwart den Begriff erst aus dem Urteil
entspringen lassen, es zugleich noch als bloße Begriffskopulierung
ansehen? Der Begriff ist da selber schon durch Kopulierung ge-
gebildet, und das Urteil würde sich von ihm nur dadurch unter-
scheiden, daß es den Begriffsinhalt in einem Satze ausdrückt
Damit würde der Unterschied von Begriff und Urteil in die Gram-
matik gehören und aus der Logik ausscheiden.
Aber drückt nicht auch der Satz meist schon eine Giltigkeit
Bejahung oder Verneinung aus? So findet nun Lotze, um doch
das Urteil als bloße Beziehung noch ohne Anspruch auf Giltigkeit
zu retten, daß der „von Bejahung und Verneinung noch freie Aus
druck der Fragesatz u sei — wieder eine Verschiebung in eine
grammatische Form! Aber auch dieser Ausweg verschließt sich;
denn der Fragesatz ist wohl ein Satz, aber darum noch kein Urteil,
sondern steht noch vor dem Tor als Aufruf zu einem Urteil, das
selber erst in der Antwort gegeben wird1). So liegt eben das
1) Vgl. auch Rickert, Ggstd. d. Erk. 1921, S. 157.
Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile. 315
Urteil erst in der Entscheidung und kann nicht ganz frei sein von
Bejahung oder Verneinung. Gewiß kann man ein Urteil bejahen
oder verneinen, aber daraus folgt natürlich nicht, daß nicht das
beurteilte Urteil selber schon bejahend oder verneinend sein dürfte.
Andererseits folgt daraus nicht, daß dieses Urteil selber wieder
ein früheres als seinen Beurteilungsgegenstand voraussetzte. Sonst
könnte ja das Urteilen niemals anfangen, weil es immer schon ein
Urteil als Material braucht. Man kann daher nicht das Urteil mit
seinem bloßen Material schon einssetzen und den Griltigkeitsan-
spruch nachhinken lassen, sondern muß vielmehr jenes logisch vor-
aussenden und erst mit diesem das Urteil vereinigen. Empirisch
und psychologisch gerichtete Logiker stimmen hierüber mit ratio-
naler denkenden überein. So sagt schon Stuart Mill: „Urteilen
und ein Urteil für wahr halten ist dasselbe", und in diesem Sinne
findet auch Jerusalem „die Wahrheit liegt implicite im Urteilsakte".
So will auch "Windelband nur in der Wahrheitswertung einer Vor-
stellung das Urteil erkennen. Eiehl läßt den „eigentlichen Akt
des Urteilens zu der Vorstellung, über die er ergeht", hinzutreten,
und Sickert erklärt: das Urteil enthalte ein nicht vorstellungs-
mäßiges Moment die Entscheidung über wahr und falsch1).
Doch hier gerade hakt noch eine letzte Kritik an Kant ein.
Sigwart, Hamilton, Wundt, Vaihinger, B. Erdmann, Jerusalem sind
alle weitblickend genug im ursprünglichen Urteil bereits den Gil-
tigkeitsanspruch anzuerkennen, wollen es aber nur als bejahendes
fassen oder, wie Sigwart vorsichtiger sagt, als positives ; denn be-
jahend erscheine es erst neben dem verneinenden Urteil, das aber
stets jenes voraussetze und sich erst über ein mindestens versuchtes
positives Urteil erhebe ; so sei es also kein unmittelbares, sondern
erst ein sekundäres Urteil über ein Urteil und also nicht wie bei
Kant dem bejahenden an Ursprünglichkeit gleichzusetzen. Aber da
das Urteil über ein Urteil sowohl ein bejahendes wie ein vernei-
nendes sein kanu, bleibt eben doch die Kantische Scheidung be-
stehen, und die beiden Urteilsarten stehen sich jedenfalls als
mittelbare gleich ; denn das verneinende Urteil ist nun einmal nicht
nur „Aufhebung eines Urteils" (Sigwart) — dann wäre ja der
Kritiker urteilslos — , sondern selber ein Urteil. Aber niemals ein
unmittelbares, sondern immer erst die Aufhebung eines bejahenden?
1) Vgl. Jerusalem, die Urteilsfunktion S. 181. Windelband Prinz, d. Logik
21. Riehl, Beitr. z. Logik 15 f. Rickert a.a.O. 153 ff.
316 Karl Joel,
Spukt hier nicht doch noch die scholastisch-mechanische Urteils-
deutung als Kopulierung von Begriffen, die dann natürlich erst
positiv da sein muß, ehe sie im negativen Urteil aufgehoben wird?
Doch das Urteil setzt nicht eine „Verbindung" sondern allge-
meiner ein Verhältnis, eine Beziehung, die ursprünglich ebensogut
negativ wie positiv d. h. Trennung wie Verbindung sein kann.
Sigwart spottet zwar darüber, daß die „Kopula", also das Band
auch trennen solle. Aber wer sprach denn hier so prinzipiell von
der „Kopula" und stellte die Bindung von S und P als Urform
des Urteils voran ? Die Scholastik 1). Wenn Sigwart, Wundt u. a.
darauf Wert legen, daß nicht die Bejahung, sondern die Vernei-
nung einen besonderen Ausdruck fordere und sich durch Einschie-
bung eines „nicht" als spätere Form erweise, so zeigt sich wieder,
daß diese modernen Logiker die Urteile gut scholastisch nach
ihrem Ausdruck bestimmen. Kants Leistung ist aber gerade die
völlige, endliche Ablösung der Logik von der Grammatik und
Rhetorik, in deren Bann sie z. T. schon bei Aristoteles steht, ihre
Vergeistigung, ihre Ausgestaltung nach der inneren Form und
Funktion, nach den lebendigen Akten des Geistes, auf die es einem
Kant allein ankommt. Seine heutigen Kritiker aber vollziehen im
Urteil nicht Akte des Geistes, sondern hören und sehen wieder
nur Sätze. Aber bloß sprachlich könnte man ja auch das be-
jahende Urteil negativ ausdrücken und umgekehrt, das Gleiche als
nicht verschieden, das Verschiedene als nicht gleich bezeichnen.
Doch mit solcher äußerlichen Behandlung geht schließlich der Sinn
der Bejahung und Verneinung verloren, die als Verbindung und
Trennung unaustilgbar und gleich ursprünglich im Wesen des
Denkens angelegt sind als seine Grundfunktionen ; denn das Urteil
entscheidet ja nicht nur über Giltigkeit oder Nichtgiltigkeit einer
Verbindung — mit solcher Deutung hat Sigwart natürlich schon
der Verbindung den Vortritt gegeben — , sondern über Giltigkeit
einer Verbindung oder Trennung und entfaltet sich damit un-
mittelbar als Bejahung oder Verneinung.
Es ist auch garnicht abzusehen, warum bei der theoretischen
1) Windelband hat Prinzip d. Log. S. 21—24 mit Recht gegen die Auf-
rollung der ganzen Urteüslehre von der bloßen Satzform S ist P protestiert und
das Urteü als „Behauptung einer Beziehung" bestimmt, wobei auch die Setzung
einer negativen Beziehung irgendwie sachlich in einer Unvereinbarkeit der Ur-
teilselemente begründet und daher das verneinende Urteil nicht erst sekundär als
bloß subjektiver Schutz gegen Irrtum zu nehmen sei.
Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile. 317
Entscheidung des Geistes die Annahme der Ablehnung durchaus
vorausgehen soll, während praktisch beide, Anerkennung und Ver-
werfung wie Anziehung und Abstoßung, Zuneigung und Abneigung,
Loben und Tadeln gleich elementar sich vollziehen und so parallel
im Ausdruck wie Nicken und Schütteln des Kopfes. Ob nicht
bei Sigwart und Wundt die Priorität des bejahenden Urteils statt
aus der freien Aktion des Geistes vielmehr aus der äußeren Gre-
gebenheit des ursprünglichen Urteils, gegen die der Geist nur re-
agiere, also genetisch-positivistisch begründet ist? Jerusalem we-
nigstens macht hier mit verdienstlicher Offenheit der Gegenpartei
den Vorwurf, daß sie sich um die genetische Entwicklung der
Phänomene nicht kümmere. Wenn nun aber nach Schopenhauer
die Unlust der Lust vorangeht und die Philosophie beginnt mit
dem Staunen über die Weltdissonanz, wenn nach Fichte der „An-
stoß" das Bewußtsein weckt, wenn die Logik in dem agonistisch
und antithetisch gestimmten Hellas als Dialektik begründet ward
und Aristoteles den Satz vom Widerspruch prinzipieller als die
Identität herausarbeitete und Chr. Wolff aus jenem die Logik ab-
leitete, so könnte man nach solchen Fingerzeigen eher versucht
sein den Widerspruch und damit das verneinende Urteil dem be-
jahenden vorauszuschicken. Indessen würden wir damit selber
diesen Vortritt mehr psychologisch-genetisch nach dem Erwachen
im Bewußtsein als logisch aus dem Wesen des Denkens begründen.
Wir aber stellen hier mehr die quaestio juris als die quaestio
facti und treiben hier Logik, nicht Psychologie, von der wir jene
so entschieden emanzipieren müssen, wie es ja Husserl und die
Neukantianer bereits getan haben und namentlich für die Urteils-
betrachtung Sickert (im Logos III 230 ff.). Logisch aber behält
ewig Aristoteles Recht, daß jeder Bejahung eine Verneinung ent-
spreche. Das Denken als reiner Akt des Geistes entscheidet im
Urteil für oder gegen, entscheidet sich an der Kreuzung, wo beide
Wege zum Ja oder zum Nein sich vor dem wählenden Geist gleich
nahe und unmittelbar auftun als Gegensätze, die einander bedingen.
Wenn Wundt Recht hat, daß der Satz der Identität der Grund-
satz der bejahenden Urteile, und der Satz des Widerspruchs
der Grundsatz der verneinenden ist, dann fordern sich Bejahung
und Verneinung gegenseitig ebenso wie diese beiden obersten
Grundsätze der Logik. Und es liegt dabei nicht nur im Wesen
des denkenden Subjekts, daß es urteilend entscheidet zwischen Ja
und Nein, sondern auch im Wesen des gedachten Objekts, daß
318 Karl Joel,
seine positiven und negativen Prädikate sich ergänzen. Denn zu
diesem Wesen gehört nicht nur, was es ist, sondern auch, was es
nicht ist, seine Begrenzung und Differenz gegen andere, die im
verneinenden Urteil bestimmt wird.
Wenn endlich jene Kritiker Kants dieses Urteil auch darum
stets an eine vorausgehende Bejahung als ihr Motiv anschließen,
weil sich von jedem Subjekt eine endliche Zahl von Prädikaten
bejahen, aber eine unendliche verneinen ließe, so ist zunächst zu
fragen, ob nicht der Begriff nach Lotze gerade darum ein „lo-
gisches Ideal" heißen muß, weil er auch positiv nie fertig bestimmt
werden kann, und gar wenn manche Logiker den Satz vom ausge-
schlossenen Dritten als Satz der Bestimmbarkeit jedes Gegen-
standes durch jedes Prädikat (positiv oder negativ) formulieren
durften, dann müßte sich für ihn ebenso eine positive wie eine
negative Unendlichkeit auftun. Doch diese Sphäre der verneinenden
Urteile wächst nur so in die leere Unendlichkeit, wenn man bei
den Begriffen, die in ihnen getrennt werden, an disparate denkt,
deren es allerdings unzählige gibt, statt an disjunkte. Dann aber
bedeutet das Nein nicht mehr eine bloße unbestimmte Nichtposi-
tivität, ein bloßes Nicht-Ja, sondern ein Anderes, das auch, we-
nigstens negativ bestimmt ist und mit dem Positiven durch einen
gemeinsamen höheren Begriff irgend eine wenn auch kritische Be-
ziehung hat, irgend eine Vergleichbarkeit oder naheliegende, aber
durch Verneinung abgewiesene Vertauschbarkeit. Und speziell geht
hier die Disjunktion auf einen kontradiktorischen Gegensatz, auf
ein Nein als Gegensatz zum Ja, das eben selber umgekehrt einen
Gegensatz zum Nein darstellt. Disjunkte Begriffe aber bleiben
koordiniert, und auch das disjunktive Urteil zeigt die Hebung, die
Bejahung des einen Gliedes unmittelbar verbunden mit der Sen-
kung, Verneinung des andern, aber auch umgekehrt, zeigt also die
Entscheidung ebenso tollendo ponens wie ponendo tollens. So
zeigen sich auch die bejahende und die verneinende Urteils funktion,
mag psychogenetisch die eine oder die andere vorangehn, doch
logisch durchaus gleichberechtigt und gleich ursprünglich.
Wenn das Kantische Nebeneinander der Affirmation und Ne-
gation teilweise und bedingt Widerspruch fand, so erfuhr die
dritte qualitative Urteilsform wohl bei allen modernen Logikern
unbedingte Verwerfung als „blindes Fenster" der Kantischen Tri-
chotomie, und Lotze fand es sogar „nicht der Mühe wert" über
dieses „widersinnige Erzeugnis des Schulwitzes" „weitläufiger zu
Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile. 319
sein; offenbare Grillen müssen in der Wissenschaft nicht einmal
durch zu sorgfältige Bekämpfung fortgepflanzt werden". Aller-
dings die Bezeichnung dieses beschränkenden Urteils zugleich
als „unendlichen" ist samt ihrer Rechtfertigung bei Kant wieder
eine bedenkliche Zugabe aus seinem Schulsack und stammt, wie
Sigwart sagen darf, aus einer „ungeschickten Übersetzung und
Anwendung des äögiötog11, das Aristoteles wesentlich von Bestand-
teilen des Urteils, übrigens ebenso vom Verbum wie vom nomen
und ebenso vom Subjekt wie vom Prädikat braucht1). Doch ist
hier einzufügen, daß bereits Chr. "Wolf, der zwar wie Aristoteles
und die Scholastik unter den Urteilen nur affirmative und negative
schied, solche Urteile, in denen nicht die Kopula, sondern Subjekt
oder Prädikat mit einer Negation behaftet sind und die nach ihm
verneinend zu sein scheinen, ohne es zu sein, propositiones infinitas
nannte, und andere wie Reimarus folgten ihm darin. Aus seiner
Wölfischen Schulung also empfing Kant schon den „ungeschickten"
Terminus der „unendlichen" Urteile und wenigstens den Anreiz
durch ihn eine Klasse von Urteilen abzusondern, die, wie Herbart
es scharf formuliert, eine verneinende Bestimmung bei sich führen,
ohne selber verneinend zu sein. Danach würde das verneinende
Urteil die sog. Kopula verneinen (S ist nicht P), das limitative
nur Subjekt oder Prädikat: S ist Nicht-P. Ist dies nun wirklich
so unsinnig, wie Lotze es hinstellt? „Wenn Nicht-Mensch alles
bedeutet, was es logisch bedeuten soll, nämlich alles, was nicht
Mensch ist, nicht bloß Tier, Engel, sondern auch Dreieck, Wehmut
und Schwefelsäure, so ist es eine ganz unausführbare Forderung
dies wüste Gremeng des Verschiedenartigsten in eine Vorstellung
zusammenzufassen, die sich dann als Prädikat zu einem Subjekt
hinzufügen ließe". Aber Lotze streitet mit der Leugnung eines
Nicht-P garnicht bloß gegen die* Möglichkeit des unendlichen Ur-
teils, sondern schon gegen die negativer Begriffe und müßte dann
eigentlich die Begriffe Unschuld, Unrecht, ungeduldig, inkonsequent,
unendlich, anorganisch auch als unvollziehbare Vorstellungen ab-
lehnen; er müßte es auch sich selber verbieten hier von Unsinn
zu reden und so sich selber schlagen. Mag nun der „Nichtmensch"
nicht möglich sein, der „Unmensch" ist doch wohl möglich. Der
Fehler des feinen Kantkritikers liegt darin, daß er selber noch
hier durch die Kantische „Unendlichkeit" sich betören ließ und
1) Vgl. Trendelenburg, Elem. Log. Ar. § 5. Prantl, Gesch. d. Logik I 143 f.
320 Karl Joel,
eben wieder die Verneinung als bloße Nichtbejahung statt als
Gegenteil der Bejahung verstand und sie auf das unbestimmte
Verhältnis disparater Begriffe bezog statt auf das bestimmte dis-
junkter und zumal gegensätzlicher. Indem nun Lotze jeden ne-
gativen Begriff, jedes Nicht-P leugnet, zieht er die Verneinung vom
Prädikat auf die Kopula zurück und löst so jedes limitative Urteil
in ein negatives auf. Hat es aber wirklich dieselbe Bedeutung,
wenn ich sage: Geistiges ist nicht materiell (womit ich diese Be-
griffe nur trenne) und: das Geistige ist das Immaterielle (womit
ich es bejahe und bestimme)? Den Satz: das Wahre ist nicht
das Schöne könnte jeder unterschreiben, aber kaum einer den Satz:
das Wahre ist das Unschöne.
Wundt sieht ein, daß es ein Anderes ist, ob die Negation auf
die Kopula fällt oder bloß auf das Prädikat, und scheidet deshalb
unter den negativen Urteilen das „Trennungsurteil" (Blei ist nicht
Silber) und das „negativ-prädizierende" (der Orang-Utan ist im
Gesicht nicht behaart). Aber ist mit diesem zweiten Typus, der
nur das Prädikat verneint, nicht eben jene Sonderform des Urteils
anerkannt, die Kant als „beschränkende" bezeichnet? Gewiß zu
Unrecht auch als „unendliche"; denn Wundt hat Hecht : das Urteil
über den im Gesicht unbehaarten Orang-Utan lautet so bestimmt
wie irgend ein positives. Aber sind darum diese Urteile vom
Typus S ist ein Nicht-P wirklich verneinende? Wundt und schon
Lotze finden dies selbstverständlich. Aber andere wie Sigwart
(Logik I 160 f. 4) und schon Chr. Wolff nennen dieselben Urteile
ebenso selbstverständlich bejahende. Ob nicht an diesem Streite
das verrufene Kantische tertium gaudet? Trotz Lotzes Wider-
spruch sind eben solche Urteile, die das Blei den „anorganischen"
Körpern, das Insekt den „Wirbellosen", die 7 den „ungeraden"
Zahlen zuweisen, nicht nur möglich, sondern systematisch ebenso
notwendig wie die rein positiven, und wenn sie selber nicht rein
positiv sind, so sind sie auch nicht rein negativ, sondern zeigen
die Notwendigkeit mit Kant einen dritten Typus zu unterscheiden.
Doch die Sphäre des beschränkenden Urteils reicht ja viel
weiter, wenn wir nur nicht das an Worten hängende Schuldenken,
sondern das lebendige Denken befragen, das da strotzt von Ur-
teilen wie : der Baum ist nicht ganz drei Meter hoch, dieser Wein
ist nicht so übel, ich tat es unbewußt. Wundt spricht von dem
Dom, dessen Bauzustand je nachdem als vollendet oder als nicht
vollendet oder auch als teilweise vollendet zu bezeichnen wäre.
Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile. 321
Sind ferner das hypothetische und das disjunktive Urteil, die be-
dingungsweise bejahen oder verneinen, wirklich als bejahende oder
verneinende und nicht vielmehr als beschränkende Urteile zu be-
zeichnen? Begreift man nach solchen leicht zu vermehrenden
Beispielen nicht, daß unser wahrhaft Welt und Leben erfassendes
Denken sich nicht im Prokrustesbett der traditionellen logischen
Zweiteilung vergewaltigen läßt, nicht nur Spießruten läuft zwischen
Ja und Nein, sondern zwischen Beiden geradezu schreit nach der
Funktion des beschränkenden Urteils, dessen Notwendigkeit auch
Fichte bezeugt in der logischen Entwicklung des Weltbewußtseins,
wenn er nach der Setzung des Ich und des Nicht-Ich die Setzung
ihrer Teilbarkeit d. h. ihrer gegenseitigen Beschränkung fordert?
Wie Piaton durch die Entdeckung des Mittleren zwischen gut und
böse, Sein und Nichtsein usw. im Symposion, Sophistes etc. erst die
Gefahren der nachwirkenden Sophistik bannte, so hat Kant unser
Geistesleben aus steriler Antithetik erlöst, unser Denken erst zu
fruchtbarer Welterfassung und Lebensformung befähigt oder doch
berechtigt durch das beschränkende Urteil; denn es ist recht
eigentlich das Urteil des Ausgleichs und damit des Aufbaus, der
Entwicklung, die ohne Überwindung der Gegensätze, ohne das
Recht des „Dritten" logisch nicht faßbar wäre.
Über die Relationsurteile dürfen wir uns kurz fassen, zumal
hier der Sturmwind moderner Kritik weniger zu zausen fand.
Lotze wenigstens erkennt in der Kantischen Scheidung des kate-
gorischen, hypothetischen und disjunktiven Urteils die von ihm
gesuchten und behandelten wesentlichen Bestimmtheiten des Ur-
teils. Allerdings auf Kants erste äußerliche Unterscheidung wird
man keinerlei Wert legen : das kategorische Urteil betrachte zwei
Begriffe, das hypothetische zwei Urteile, das disjunktive mehrere
Urteile im Verhältnis zu einander. Natürlich kann aber das kate-
gorische Urteil auch als zusammengesetztes ein Verhältnis mehrerer
Urteile, das disjunktive ebensogut wie das hypothetische auch ein
Verhältnis nur zweier Urteile bieten, und damit fiele die ganze
Unterscheidung zusammen. Weiter liegt hier der Einwand gegen
die Kantische Einteilung nahe, daß sie nur den Ausdruck, nicht
den Gehalt betreffe, da sich die Urteilsformen ineinander ver-
wandeln ließen. Dock zunächst einmal sind dieser Verwandlung
Grenzen gesteckt, und sie findet nur nach einer Richtung freie
Bahn; denn das disjunktive Urteil läßt sich wohl in ein hypothe-
tisches und dieses in ein kategorisches umformen, nicht aber um-
322 Karl Joel,
gekehrt jedes kategorische in ein hypothetisches, jedes hypothe-
tische in ein disjunktives. Dann aber wird selbst in der erlaubten
Richtung mit der Verwandlung ein Teil des Gehalts geopfert und
die Bedeutung des Urteils geändert. Wenn eine vollkommene
Gerechtigkeit da ist, wird der beharrlich Böse bestraft: dieses Ur-
teil behauptet, wie schon Kant selbst lehrt, zwischen bloßen Mög-
lichkeiten ein Verhältnis der Notwendigkeit; in der kategorischen
Fassung aber (die vollkommene Gerechtigkeit bestraft den be-
harrlich Bösen) behauptet es eine Wirklichkeit. Ebenso kann ich
das disjunktive Urteil „die Zeitung liegt entweder im Wohnzimmer
oder im Eßzimmer" gewiß hypothetisch formen: „wenn die Zeitung
nicht im Wohnzimmer liegt, so liegt sie im Eßzimmer". Doch
diese Umschaltong würde natürlich den Suchenden zuerst ins
Wohnzimmer treiben — eine Wirkung, die vom disjunktiven Ur-
teil garnicht beabsichtigt war. So greift die Umformung des Aus-
drucks, soweit sie überhaupt möglich ist, auch den Gehalt der
.Relationsurteile an, deren innere Unterschiede eben bestehen bleiben.
Sigwart, der die Einteilung weder als ursprünglich noch als
erschöpfend begründet findet, räumt zwar ein: Urteile, die be-
stimmten einzelnen Subjekten bestimmte Prädikate zuweisen, lassen
sich nicht hypothetisch umformen; die unbedingt allgemeinen ka-
tegorischen Urteile aber findet er mit hypothetischen „völlig gleich-
bedeutend", da sie nur die notwendige Zusammengehörigkeit des
Prädikats mit dem Subjekt aussagen. Doch der gläubige Grieche,
der kategorisch sagt: alle Götter sind unsterblich, wird zum
Zweifler in der hypothetischen Form: wenn es Götter gibt, sind
sie unsterblich. Es ergibt eben noch keine einfache Gewißheit,
wenn zwei Hypothesen im „Verhältnis von Grund und Folge
stehen" — so nämlich bestimmt Sigwart das hypothetische Urteil.
Es handelt sich eben bei diesem Urteil nicht so sehr um eine
„notwendige Folge", wie er annimmt, sondern, was er gerade be-
streitet, um die Giltigkeit, die bedingte Behauptung des Nach-
satzes, der aber nicht zufällig Hauptsatz ist, während es, wie
Sigwart anerkennt, auf die Giltigkeit des Vordersatzes garnicht
ankommt. Würde wirklich nur die „notwendige Folge" entschei-
dend sein, dann müßten Sätze mit „weil" oder mit „sodaß" gleich
solchen mit „wenn" hypothetische Urteile darstellen. Auf Giltig-
keit allerdings kommt es an, und sie wird eben in den drei Ur-
teilsformen verschieden gesetzt : bei der kategorischen in das Urteil
selbst, bei der hypothetischen in seine Abhängigkeit von einem
Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile. 323
andern Urteil, bei der disjunktiven in die wechselseitige Beziehung
der Urteile. Darum sind die drei Formen nicht nur „ grammatisch
verschiedene Ausdrücke desselben Gedankens" oder nur als ein-
faches und zusammengesetztes Urteil zu scheiden; denn das kate-
gorische Urteil kann ja auch zusammengesetzt sein, und zusammen-
gesetzte Urteile oder Satzverbindungen gibt es neben dem hypo-
thetischen und disjunktiven Urteil, wie Sigwart selber betont,
noch andere genug. Nein, es handelt sich hier wie bei den andern
Urteilsklassen um die Gültigkeit des Urteils, und da bleibt der
Unterschied bestehen, ob es darin selbständig gesetzt wird oder
bedingt oder wechselseitig bedingend und bedingt.
Schärfer und breiter wieder richtete sich die moderne Kritik
gegen die Einteilung nach der Modalität. Dieser leere Name wie
Manches in der Kantischen Erläuterung hier der Urteilsunterschiede
mag wieder fallen, und wenn man sie wieder nur äußerlich, sprach-
lich ablesen zu dürfen glaubt und das problematische, assertorische
und apodiktische Urteil in die drei Formeln zu kleiden pflegt: S
kann P sein, S ist P und S muß P sein, dann könnte Lotze (und
auch Schuppe) Recht behalten, daß sie sich nur nach dem Inhalt
unterscheiden, aber in Bezug auf die logische Haltung, die sie ihm
geben, vollkommen gleichartig seien, z. B. dem Satze „alle Körper
können durch angemessene Kräfte in Bewegung gesetzt werden"
ließen sich alle drei Modalitäten zuschreiben. Trotzdem erklärt
Lotze selber den Satz mit Recht für assertorisch offenbar nach
seiner logischen Geltung. Damit ist doch zugestanden, daß er einem
problematischen oder apodiktischen Satze nicht „vollkommen gleich-
artig" sei, also die Modalitätsunterschiede zu Recht bestehen.
Aber dabei darf gerade der Inhalt so wenig maßgebend sein wie
der Ausdruck; denn man kann ja eine Möglichkeit für notwendig
erklären und eine Notwendigkeit für bloß möglich. „Fritz kann
als junger Mensch unbedingt sich noch entwickeln" ist trotz dem
Möglichkeitsausdruck und -inhalt ein apodiktischer Satz. „Der
morgige Tag ist vielleicht schön" bleibt ein problematischer Satz
wie „alle Menschen müssen sterben" ein assertorischer. Nicht
was, sondern wie geurteilt wird, bestimmt hier die Urteilsform.
Nicht der Satzinhalt, nicht der Satzausdruck, sondern die Setzung
der Giftigkeit entscheidet, also wieder die innere Funktion, der
Akt des Geistes, der diese Urteile darin verschieden abstuft.
Nun aber setzt wieder Sigwarts schärfere Kritik ein und will
diese Unterschiede überhaupt aufheben. Zunächst sei das proble-
324 Karl Joel,
matische Urteil als solches aufzugeben ; denn es fehle ihm das Be-
wußtsein objektiver Giltigkeit, und da es die Vorstellung einer
Synthese noch ohne Entscheidung als Frage oder Vermutung in
der Schwebe halte, sei es nur der Ausdruck der Ungewißheit, nur
der unvollendete Versuch eines Urteils, aber kein Urteil. Wenn
nun Windelband es trotzdem als kritische Indifferenz zwischen
dem bejahenden und verneinenden Urteil festhalten will, so darf
allerdings Sigwart sich weigern, solche ausdrückliche Suspension
der Beurteilung als eine Art der Beurteilung anzuerkennen. Auch
Lask vermag Windelbands problematisches Urteil trotz ähnlicher
Deutung dem bejahenden und verneinenden nicht zu koordinieren,
und ähnlich Bickert1). Grewiß eine bloße Schwebe zwischen Ur-
teilen ist noch kein Urteil. Doch all diese Logiker, ob sie das
problematische Urteil anerkennen oder nicht, fassen es nur ne-
gativ: als Unentschiedenheit oder Indifferenz. Aber ist denn das
problematische Urteil wirklich „nur eine Privation" (Sigwart), nur
ein Urteilsverzicht und sind Zweifel und Frage wirklich schon
problematische Urteile? Der unglückliche Name wieder hat hier
getäuscht; doch das problematische Urteil soll ja, wie auch die
parallele Kategorie bezeugt, über Möglichkeit entscheiden, und
ist deren Setzung wirklich nur etwas Negatives und nicht etwas
höchst Positives ? Wenn Windelband mit Recht das problematische
Urteil in eine Gradation der Urteile nach der Intensität der Ge-
wißheit einstellt2), dann gehört es darum noch nicht wie bei
ihm zwischen Bejahung und Verneinung, die beide gewiß sind, in
den Nullpunkt des Urteils, nein, es liegt über diesem Nullpunkt
wie bei Kant vielmehr in einer Skala unter dem assertorischen
und dem apodiktischen Urteil. Das problematische Urteil bedeutet
eben nicht eine Schwebe, sondern eine Stufe des Urteils. Der
Fragende oder Zweifelnde aber erhebt sich noch garnicht zur
Setzung eines Möglichen, die ihn schon aus der Spannung der
Frage und dem Druck des Zweifels befreien würde und die doch
1) Vgl. Windelband, Straßb. Abhandl. 185 ff. Prinz, d. Logik 26 f. Lask,
die Lehre vom Urteil. 202 f. Rickert, Gstd. d. Erk. 1921. 157 f.
2) Kroman (Logik u. Psychol. S. 35) unterscheidet hier sogar Möglichkeits-,
Wahrscheinlichkeits- und Gewißheitsurteil. Windelband dagegen (Prinz, d. Log.
27) möchte das problematische Urteil als solches der Wahrscheinlichkeit fest-
halten, die er definiert als Behauptung aus unzureichenden Gründen. Wer aber
seine Gründe bloß so negativ als unzureichend taxiert, setzt noch keine Wahr-
scheinlichkeit, die doch wohl mehr enthält als „kritische Indifferenz".
Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile. 325
eine positive Entscheidung bedeutet sowohl gegenüber dem Zweifler,
ob es möglich ist, wie gegenüber dem Leugner, daß es möglich ist.
Was will man hier an den Möglichkeitsurteilen bestreiten?
Ihre besondere psychologische Tatsächlichkeit? Sie ist unbe-
streitbar, aber kommt hier nicht in Frage. Oder ihren Denk-
wert? Das hieße allen Erkenntnisfortschritt durch Hypothesen
und den schöpferischen Wert des konstruierenden planenden Den-
kens leugnen. Oder endlich das logische Recht der „Möglichkeit"?
Chr. Wolff durfte die Philosophie geradezu bestimmen als die
Wissenschaft vom Möglichen als dem Denkbaren im Unterschied
von der erfahrungsmäßigen Wirklichkeit. Gewiß einseitig; aber
das Mögliche gehört zum Denken wie das Notwendige; ja beide
bedingen sich darin, sodaß eine Unmöglichkeit im apodiktischen
Urteil, eine Nichtnotwendigkeit im problematischen dargetan wird,
wie auch Sigwart erkannte, daß die Verneinung der Möglichkeit
auf die Notwendigkeit führe und umgekehrt. Beide aber diffe-
renzieren und orientieren sich auch am Wirklichen. Wer aber
wie Sigwart das problematische Urteil, ja auch das assertorische
aufhebt in das bloße Notwendigkeitsurteil1), geht den Felsenweg
des Diodoros Kronos, jenes megarischen Aristoteleskritikers, dem
alles Mögliche und Wirkliche in die sterile Notwendigkeit des einen
Absoluten versank. Es ist der geistig lähmende Determinismus
des späteren 19. Jahrhunders, der konsequent auch vom Denken
nichts übrig behielt als die kahle Notwendigkeit. Aber schien sie
nicht objektiv gefordert? Haben nicht Sigwart, Schuppe und
schließlich auch Lask Recht, wenn sie die Modalunterschiede auf
das urteilende Subjekt abschoben und so nur für dieses, also
eigentlich nur psychologisch das assertorische und problematische
Urteil als bloße unvollkommenere Gewißheitsgrade zuließen ? Dann
könnte also ein allwissender Geist nur apodiktische Urteile bilden
(wie nach Schleiermacher nur analytische) ? Aber dann müßte man
ihm und dem logischen Denken überhaupt auch die hypothetischen
und disjunktiven Urteile streichen; denn sie sagen ja in ihren
Gliedern bloße Möglichkeiten aus. Dann aber dürfte schließlich
der Allwissende, wie schon Wundt meint, überhaupt keine Urteile
bilden können. Er wäre dann auch kein wollender Geist, kein
Gott, der doch nach Leibniz gerade zwischen Möglichkeiten
1) Ähnlich Schuppe: „ein assertorische Urteile gibt es überhaupt nicht".
„In der Sache ist immer, auch wenn nur Möglichkeit ausgesagt wird, eine Not-
wendigkeit vorhanden".
Kantstudien XXVH. 22
326 Karl J0^1»
die Welt wählt. Kurz, er wäre nur ein starrer Geist, d. h. auch
kein Geist mehr, weil er nicht als solcher sich entfalten, nicht
leben könnte. Solches Denken in starrer Gebundenheit wäre eben
kein Denken mehr, kein lebendiger Akt, kein Urteilen, kein freies
Entscheiden. Denn was ist das Denken ohne die Freiheit der
Abstraktion, die eben in der Setzung von Möglichkeiten besteht ? .
Alles Denken ist nun einmal Akt des Subjekts, aber eines Subjekts,
das sich objektiviert. Hier könnten schon hypothetisches und
disjunktives Urteil die objektive Seite der Möglichkeit erweisen.
Die Möglichkeit überhaupt gibt eine abstrakte Giltigkeit, aus der
erst die Wirklichkeit als^ konkrete Giltigkeit logisch entspringt.
Was wirklich und was notwendig ist, muß erst möglich sein.
Kann so das logische Sonderrecht der Möglichkeit noch zweifelhaft
sein? Und zwar geht hier die Möglichkeit logisch voran als das
Allgemeinere, d. h. aber das problematische Urteil setzt die Gil-
tigkeit noch über den Gedanken, sodaß er in ihrer logischen Sphäre
liegt, ohne schon von ihr speziell ergriffen zu sein; das asserto-
rische Urteil setzt die Giltigkeit schon und nur in den Gedanken
selbst; das apodiktische setzt sie in und über den Gedanken, in
den Zusammenhang des Denkens und leitet so aus der höheren
abstrakten Giltigkeit die spezielle oder konkrete ab. So sind es
Grade der Sicherung des Gedankens im Denken selbst, sofern es
Giltigkeit setzt.
Wir müssen hier abbrechen, obgleich noch Fragen genug an-
drängen. Alle metaphysischen, ontologischen Fragen, ja schon die
eigentlich transzendentalen, wie sie etwa Lask tiefringend erörtert,
mußten draußen bleiben und erst recht die psychogenetischen, die
Jerusalems Buch über die Urteilsfunktion in klarer Entwicklung
aufrollt. Selbst der Zusammenhang der Kantischen Urteilsformen
bleibt noch fraglich und auch ihre Vollständigkeit, die ich aller-
dings vorläufig nur bedroht sehe durch das von Vaihinger in seiner
großen Bedeutung entdeckte fiktive Urteil, das, wie er treffend
zeigt1), von Kant zu Unrecht mit dem problematischen Urteil
vermischt wurde und das eine besondere Erörterung und Ein-
stellung verlangt, weil es nur subjektive Giltigkeit beansprucht
und die objektive gerade ablehnt, die eben sonst die Kantischen
Urteilsformen setzen. Daß sie es tun, ja daß sie in dieser Setzung
bestehen, galt es zu zeigen. Es ist schließlich doch nicht abzu-
1) Philos. des Als Ob S. 163. 167. 593. 5974.
Das logische Recht der Kantischen Tafel der Urteile. 327
sehen, warum z. B. Wundt nur die negativen, problematischen und
apodiktischen Urteile als „Giltigkeitsformen des Urteils u anerkennt,
warum etwa das bejahende nicht ebenso gut über Gültigkeit aus-
sagen soll wie das verneinende, und worin denn das hypothetische
und disjunktive Urteil anders bestehen sollen, als daß sie eben
eine Giftigkeit hypothetisch oder disjunktiv setzen, sie bedingen.
Alle Urteilsformen der Kantischen Tafel sind wesentlich Entschei-
dungen über Griltigkeit und gerade als solche zu unterscheiden *) :
danach ob sie ein Verhältnis giltig setzen (Eealitäts- statt „Qua-
litätsurteile"), in welchem Umfange (Extensitäts- statt „Quan-
titätsurteile"), in welchem Grade (Intensitäts- statt „Modalitäts-
urteile") und in welcher Beziehung (Relationsurteile). Namen
u. a. Äußerlichkeiten der Kantischen Tafel mögen verlöschen; die
Grundzüge sind zu tief eingemeißelt, um sich durch die moderne
Kritik so leicht hinwegwischen zu lassen. Gerade die von ihr
am meisten bestrittenen Urteilsformen wie das singulare, das be-
schränkende und das problematische Urteil sollten hier in ihrer
tieferen, geradezu reformatorischen Bedeutung gezeigt werden und
offenbaren sich als wahre Befreiungen des Geistes aus scholasti-
scher und leider wieder moderner Erstarrung.
Die moderne Kritik hat an der Kantischen Tafel gerüttelt,
weil sie das Urteil nicht im Kantischen Sinn als solches nahm,
sondern teils als Urteilsinhalt, teils als Urteilsaus druck, und da-
nach hat sie die Tafel teils vereinfacht, teils erweitert. Natürlich
wenn man wesentlich den Urteilsinhalt noch scholastisch als bloßes
Verhältnis von S und P betont, so bleibt an solcher logischen
Struktur nicht viel zu differenzieren. Und andererseits wenn man
Urteile wesentlich sprachlich als Sätze versteht, so mag man noch
Frage, Befehl, unbestimmte Urteile, einfache und zusammengesetzte,
benennende, beschreibende, erzählende und noch vielerlei andere
unterscheiden. Nimmt man aber Urteile weder scholastisch noch
rhetorisch, weder innerlich starr noch äußerlich formal, sondern
mit Kant oder doch mit seiner Tendenz, die es hier herauszuschälen
galt, in reiner Funktion, als lebendige Akte des Geistes, als Denk-
entscheidungen, als Setzungen von Giltigkeit, dann hat uns die
Kantische Tafel noch viel fruchtbare Wahrheit zu künden, mag
sich dabei auch wieder das Wort bewähren, daß Kant verstehen
über ihn hinausgehen heißt.
1) Während die Scheidung der analytischen und synthetischen, apriorischen
und aposteriorischen Urteile natürlich ihren Ursprung betrifft.
22*
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon
bis Kant.
Von Erich Adickes, Tübingen.
Die folgenden Seiten verdanken ihre Entstehung einem Werk
über „Kant als Naturwissenschaftler", das unmittelbar vor seinem
Abschluß steht. Sie gehören zwar mehr der Geschichte der Natur-
wissenschaften als der Geschichte der Philosophie an, stehen aber
doch immerhin in enger Beziehung zu dem Großen, nach welchem
diese Zeitschrift benannt ist. Und so mögen sie denn in diesem
Festheft Platz finden. Hat doch auch der Jubilar, dem es gewid-
met ist, einen großen Teil seiner Lebensarbeit in den Dienst Kants
gestellt und sich um die Erforschung von dessen System unbe-
streitbare Verdienste erworben.
Es ist behauptet worden — und zwar auch von Gelehrten, von
denen man eigentlich erwarten sollte, daß sie mit den Verhältnissen
genau bekannt wären1) — , Kant habe in seiner Magister - Disser-
tation : Meditationum quarundam de igne succincta deüneatio (1755)
die moderne mechanische Wärmelehre vorweggenommen. Nichts
kann falscher sein als diese Darstellung. Ihre weite Verbreitung
zwang, der Sache auf den Grund zu gehen, um Kant in wirklich
sachgemäßer Weise in die geschichtliche Entwickelung einordnen
zu können.
Und da zeigte sich, daß schon seit den Anfängen der neueren
Philosophie und Naturwissenschaft, seit Bacon, Gassendi und Des-
eartes, zwei Auffassungen über Wesen und Ursache der Wärme
einander in scharfem Kampf gegenüberstanden: die Einen hielten
die Wärme für einen besonderen Stoff und leiteten aus ihm und
1) Z. B. von G. Keuschle in seinem Aufsatz : Kant und die Naturwissen-
schaft, mit besonderer Rücksicht auf neuere Forschungen, in : Deutsche Viertel-
jahrsschrift 1868, 2. Heft, S. 55 f.
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 329
seinen Bewegungen die Erscheinungen ab, die Andern sahen in
der Wärme nur einen Zustand der Materie und betrachteten sie
als eine innere Bewegung der kleinsten Körperteilchen. Jene be-
zeichne ich als Stoff- oder Substantialitätstheorie, diese als Vibra-
tions- oder Bewegungstheorie. Der zweiten Ansicht brachten die
letzten 80 Jahre den Sieg, die mechanische Wärmetheorie steht
und fällt mit ihr. Aber auch schon im 17. und 18. Jahrhundert
gab es nicht wenige Naturwissenschaftler und Philosophen, die
sich zu ihr bekannten. Freilich, das Gros der Forscher und Ge-
lehrten pflichtete der substantiellen Auffassung der Wärme bei,
vor allem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Sehr begreiflich!
Denn auch die Phänomene des Lichtes, der Elektrizität, des Mag-
netismus, des Verbrennungsprozesses (Phlogiston !) glaubten die
Meisten damals nicht ohne Annahme besonderer Stoffe erklären
zu können.
Auch Kant gehört diesem Gros an, und man vergewaltigt die
Tatsachen, wenn man ihn in die Reihe der Forscher stellt, welche
die Wärme als bloße Bewegung betrachteten und so die moderne
Wärmelehre vorbereiten halfen.
Die wichtigeren Vertreter aus beiden Lagern werde ich dem
Leser im Folgenden vorführen, in möglichster Kürze, und deshalb
überall da, wo genügende Vorarbeiten vorliegen, wegen aller Einzel-
heiten auf diese verweisend.
Ich beginne mit der substantiellen Auffassung.
1. Die Substantialitätstheorie.
Hier ist aus der Zeit der Begründung der neuen Naturwissen-
schaft P. Gassendi, der Erneuerer des antiken Atomismus, zu
nennen. Er nimmt besondere Wärmeatome von sehr kleiner Masse,
runder Figur und sehr schneller Bewegung an, die zwar nicht selbst
warm sind (Wärme ist ja nur subjektive Empfindung), wohl aber
von den sogenannten warmen Körpern emittiert werden, in die
Poren anderer (warm werdender) Körper eindringen, ihre Teile
auseinander treiben, trennen, die Körper ausdehnen, weich machen
oder gar auflösen, die ferner durch eben diese Wirkungen auf
menschliche Leiber die Empfindung der Wärme oder den das Ge-
brannt - Werden begleitenden Schmerz erzeugen. Solange diese
Atome durch irgend welche Hindernisse in den betreffenden Kör-
pern gebunden sind (revinctae cohibentur), sind die letzteren nur
der Möglichkeit nach (eminenter) warm, wie Pfeffer, Holz, Wachs.
330 Erich Adickes,
Acta oder formaliter warm werden sie erst dann genannt, wenn
die in ihnen befindlichen Wärmeatome ihre Freiheit erlangen,
aus ihren Gefängnissen hervorbrechen und auf andere Körper
wirken. Ein solches Hervorbrechen oder Emittiertwerden der
Wärmeatome ans einem Körper setzt entweder das Eindringen
anderer Wärmeatome vorans (wie bei Einwirkung eines Feuers,
das nichts ist als Wärme in besonders hohem Grade, wobei ganze
Haufen von Wärmeatomen aus der Flamme in die Körper über-
gehen) oder eine Erschütterung, sei es der Wärmeatome, die sich
den Körpermolekülen, sei es des ganzen Körpers, die sich den
Wärmeatomen mitteilt. Bewegung hat also Wärme zur Folge
(das Tier schwitzt infolge eiligen Laufens, die Säge wird heiß
infolge der Reibung), aber nur insofern durch sie die Wärmeatome
in Aktivität gebracht werden ; wo letztere fehlen, wie beim Wasser,
kann auch das stärkste Schütteln keine Wärme hervorbringen.
Den besonderen Wärmeatomen entsprechen besondere Kälteatome,
welche von größerer Masse, pyramidaler (tetraedrischer) Form und
langsamerer Bewegung sind. Dringen sie in Flüssigkeiten ein, so
berühren sie sich mit deren Atomen an vielen Punkten, wirken
dadurch wie durch ihre Gestalt und langsamere Bewegung con-
stringierend auf sie ein und verwandeln sie so in feste Körper1).
Lemery jun. veröffentlichte in den Me'moires der Pariser
Akademie für das Jahr 1709 (S. 400 — 418) Conjectures et re'flexions
sur la matiere dn feu ou de la lumiere2), nach denen die Feuer-
materie (die wahre Ursache der Hitze, des Lichtes, der Flüssig-
keit, des Schmelzens) ein flüssiger Körper ist, dessen besondere
Eigenschaften nicht nur von der Geschwindigkeit, sondern nicht
minder von der Gestalt seiner Teile abhängen. Bei der Erwär-
mung dringt sie in die sich ausdehnenden Körper und bleibt dann,
wenn diese sich wieder zusammenziehen, in ihnen gleichsam einge-
kerkert, da ihr nach allen Seiten hin der Ausgang versperrt ist.
Sie wird zwar sehr wahrscheinlich von einer noch viel feineren
Materie, die auch die kleinsten Poren der Körper durchdringt und
allen leeren Raum in der Welt erfüllt, in Bewegung gehalten, doch
kann sie sich meistens, weil diese Bewegung zu gering ist, nicht
1) P. Gassendi: Syntagma philosophicum, II. Pars., 1. Sect., 6. Lib., 6. Cap.
in: Opera omnia 1727, fol. I, 346'ff.
2) Vgl. ebenda Histoire S. 6—8 und die deutsche Übersetzung der „Physi-
schen Abhandlungen" der Pariser Akademie von W. B. A. v. Steinwehr, 1749,
III, 484—506.
Zur Lehre von der "Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 331
ohne fremde Hülfe (Erwärmung, Auflösung des ungelöschten Kalkes
durch Wasser) aus dieser Gefangenschaft befreien. Sie ist es,
die beim Verkalkungsprozeß das Gewicht mancher Metalle ver-
mehrt, die alle entzündlichen Körper entzündlich macht, und die
Sonne scheint nichts anderes als ein sehr großer flammender
Klumpen Feuer- oder Lichtmaterie zu sein.
Chr. Wolff1) nimmt neben der Materie des Lichtes (Himmels-
luft, Äther), der magnetischen, der schwermachenden, der aus-
dehnenden Materie noch eine besondere Wärmematerie (oder das
elementarische Feuer) an, die „sich aus einem Körper in den andern
bewegt, in deren Bewegung die Wärme bestehet". Warm nennen
wir einen Körper, aus dem soviel Wärmematerie austritt, daß sie
in uns bei der Berührung „eine empfindliche Veränderung" hervor-
bringt. Ist ihre Bewegung in einem Körper nur gering oder ganz
gehemmt, so zeigt er nicht die Phänomene der Wärme. Sie treten
aber auf, sobald die Wärmematerie, sei es unmittelbar sei es durch
Vermittlung des Körpers (Schlagen, Reiben usw.), in stärkere Be-
wegung versetzt wird 2). Diese letztere greift dann auch auf die
Körperteilchen selbst über: feste wie flüssige Körper werden aus-
gedehnt, indem die in ihnen vorhandenen Zwischenräume ver-
größert werden, feste Körper werden in flüssige verwandelt, bei
denen die Teilchen, durch die fremde Materie von einander ge-
trennt, einander nicht mehr berühren, geschweige denn an ein-
ander hängen. Feuer ist konzentrierte Wärme, die Sonne ist ein
wirkliches Feuer und brennt rings herum über und über.
Nach G. E. Hambergers Elementa physices (zuerst 1727)
ist das Feuer „congeries corpusculorum subtilissimorum, levissime
cohaerentium. Ergo ut corpus fluidum, et particulas habet sphae-
1) Vernünftige Gedanken von den Würkungen der Natur, 1723, § 71 ff., S. 103 ff.
Allerhand nützliche Versuche, dadurch zu genauer Erkenntnis der Natur und Kunst
der Weg gebähnet wird, 2. Aufl., 1728, II, § 104 ff., S. 287 ff.
2) F. Rosenberger meint in seiner Geschichte der Physik (1884, II, 282),
man sehe durch Wolffs Hypothese von dem an sich nicht warmen Wärmestoff
„schon den Begriff der so lange gebrauchten latenten Wärme durchleuchten". Aber
Rosenberger irrt, wenn er glaubt, hier liege eine Spezialität Wolffs vor. Die
Hypothese, daß der Feuerstoff nur, wenn er stärker bewegt ist, die Wärme-
wirkungen hervorzubringen vermag, galt den Vertretern der Substanzialitätstheorie
durchweg als ausgemachte Sache, und zwar auf Grund der Reibungs-, der Aus-
dehnungserscheinungen und zahlreicher anderer auf eine innige Beziehung zwi-
schen Wärme und Bewegung hindeutenden Tatsachen; die Phänomene der später
sogenannten latenten Wärme hingegen spielten dabei keine Rolle.
332 Erich Adickes
ricasa (3. Aufl., 1741, § 267). Es geht aus heißen Körpern in we-
niger heiße über, durchdringt sie, bringt ihre Partikeln in Be-
wegung, dehnt sie aus und macht sie warm; denn Wärme ist
nichts als (wie immer hervorgebrachte) Bewegung des Feuers in
einem Körper. Diese Bewegung kann durch den Widerstand der
Körperpartikeln, besonders wegen der Cohäsionsanziehung, die sie
auf die Feuerteilchen ausüben, zum Stillstand gebracht werden:
dann erkaltet der Körper, ohne daß Feuerteilchen in anstoßende
Körper übergegangen wären. Bei der Calcination vermehrt das
Feuer das Gewicht der Metalle. Die Sonne ist ein Feuer, und
ihre Strahlen unendliche Ketten (series) von Feuerteilchen. Der
Äther, der den ganzen Himmelsraum und alle Zwischenräume und
Poren in den Körpern erfüllt, ist wahrscheinlich spezifisch schwerer
als das Feuer (§ 251—272, 312, 532—536, 635, 737).
H. Boerhaave handelt in den Elementa chemiae (1732, I,
126 — 422 *)) sehr ausführlich vom Feuer, beweist seine Körperlich-
keit aus seiner Ausdehnung, Beweglichkeit, Undurchdringlichkeit,
und läßt es aus äußerst kleinen, festen (solidissimis), glatten, kugel-
förmigen, unveränderlichen, ganz einfachen, homogenen Teilchen
bestehen, die seit der Schöpfung ihrer Zahl nach weder vermehrt
noch vermindert sind. Es findet demnach keine Umwandlung
anderer Substanzen in Feuer statt, auch nicht beim Verbrennungs-
prozeß. Der Gravitationskraft ist es nicht unterworfen: es ist
also, wenn nicht äußere Ursachen einwirken, im ganzen Universum
überall in gleicher Menge und Kraft verbreitet. Ansammlungen
an einzelnen Punkten geschehen stets auf Kosten der Umgebung,
und die Hauptursache solcher Ansammlungen ist die gegenseitige
Reibung irgendwelcher Körper. Die Feuerteilchen sind immer in
Bewegung, auch in der größten Kälte. Die Intensität der Be-
wegung wächst mit der Hitze und teilt sich auch den Körper-
partikeln mit, daher die Ausdehnung fester und flüssiger Körper,
das Flüssigwerden fester unter dem Einfluß der Wärme, deren
alleinige Ursache stets und überall in. der Bewegung der Feuer-
teilchen zu suchen ist.
Boerhaaves Ausführungen machten durch ihre innere Gediegen-
heit, unterstützt durch den Glanz seines Namens, auf die damalige
Zeit einen großen Eindruck. Boerhaave geht sehr vorsichtig und
1) Deutscher Auszug unter dem Titel: Anfangs - Gründe der Chimie, 1755
S. 54—163.
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 333
methodisch zu Werke, erhebt sich allmählich von Tatsachen und
Experimenten zu allgemeineren Schlußfolgerungen und sucht seiner
Substanzialitätstheorie durch eindringende Erörterung auch der
ihr ungünstigen Phänomene einen möglichst hohen Grad von Über-
zeugungskraft zu verschaffen.
So ist es begreiflich, daß P. van Musschenbroek in der
2. Auflage seiner Elementa physicae (1741; 1. Aufl. 1734) den Ab-
schnitt „De igne" S. 309 mit den Worten beginnt: „De igne adeo
eleganter disseruit Cl. ßoerhavius, ut fere tantum eadem repetere,
pauca addere fas sit" 1). Die Resultate seiner Untersuchungen
faßt er sodann S. 325 ff. übersichtlich dahin zusammen: 1. Ignem
esse corpus, quia spatium occupat, sese extendit ex corpore cale-
facto quaquaversum in alia corpora, vel in spatia : deinde movetur,
cum sese expandit: soliditatem suam repercussione a speculis cau-
sticis ostendit : gravitatem habet ... 2. Constabit ignis e partibus
subtilissimis, cum penetrat in porös quorumcunque corporum, tarn
firmorum, quam fluidorum. 3. Eruntque ejus partes solidissimae,
quia sunt minimae, proinde non multum porosae: forte elasticae.
4. Quae habent superficiem politissimam, haec enim fluit ex facul-
tate penetrandi in omnia corpora usque ad intimum meditullium :
quod fieri non posset, si ignis partes forent hirtae, scabrae, hamo-
sae: summa ignis fluiditas laevem superficium quoque partium de-
monstrat ; obtinetque tantum inter corpuscula figurae sphaeroideae.
5. Est quoque ignis mobilissimus, cum moveat summa rapiditate
reliquorum corporum partes : veluti inprimis patet in foco ustorio-
rum. Corporibus adhaerere potest, äuget enim pondus, et cum iis,
quae volatilia fecit, avolat. 7. Potestque reduci ad quietem, saltem
ad minorem rapiditatem quam ante habebat, veluti haeret in calce
metallorum, aliorumque corporum, ad thermometrum non calen-
tium" 2). „Est ignis ubivis praesens, et in omni corpore, atque
ille, qui in corpore fere quiescebat, vel parum movebatur, tritu
celerrime iterum agitatus a partibus, quae motu vibratorio citissime
contremiscunt, illico suam vim et praesentiam ostendit. . . . Verum
an solo igne, quem in se habuerunt corpora ante tritum, nunc
calent trita? an vero alius ex ambiente spatio accedit, tritu quasi
1) Mit derselben Anerkennung und in ganz ähnlichen Worten spricht Mus-
schenbroek sich auch noch 1762 in seinem Alterswerk: Introductio ad philosophiara
naturalem II 609 aus.
2) Fast wörtlich übereinstimmend in der Introductio II 63G f. In Nr. 3 wird
nach „forte elasticae" noch hinzugefügt: „se mutuo repellentes".
334 Erich Adickes,
in ea attractus? hoc obtinere videtur, quia ignis ex uno corpore
transit in aliud: tum quia, quo densius est corpus, eo diutius ig-
nem retinet, quo rarius est, eo citius eum amittit : ea quae flagrant,
non suo tantum, sed aliunde accepto igne ardent" (S. 335; Intro-
ductio II 650 f.). Auch für Musschenbroek ist das Feuer (ebenso
wie für Boerhaave) ein „corpus sui generis" : eine Umwandlung
anderer Substanzen in Feuer ist er nicht geneigt anzunehmen.
Was wir Wärme in den Körpern nennen, ist also nichts als eine
gewisse Menge bewegter Feuermaterie in den Zwischenräumen
ihrer Teilchen und in den Poren der kleinsten Partikeln, und der
Grrad der Wärme richtet sich nach der Größe jener Menge (S. 351,
350) l),
Für das Jahr 1738 stellte die Pariser Akademie als Preis-
frage das Thema : La nature et la propagation du feu. Veran-
lassung dazu bot vermutlich2) die Schwierigkeit, daß aus dem
kleinsten Funken bei genügender Nahrung ein gewaltiges Feuer
entstehen kann und andererseits doch ein alter, allgemein aner-
kannter Grundsatz besagt, die Wirkung könne nie größer sein als
ihre Ursache ; das Problem war also modern ausgedrückt : die Aus-
breitung des Feuers mit der Erhaltung der Energie in Einklang
zu bringen. Von den etwa 30 einlaufenden Abhandlungen wurden
die von L. Euler, dem Jesuiten Lozeran de Fiese und dem Grafen
von Crequy preisgekrönt, die der Marquise du Chätelet und Vol-
taires ehrenvoll erwähnt und alle fünf im IV. Band des „Recueil
des pieces qui ont remporte les prix de l'academie royale des scien-
ces" (1752, S. 1—219) abgedruckt.
Die Substanzialitätstheorie herrscht in diesen Arbeiten ent-
schieden vor. Nur der Graf von Crequy sieht unter dem Ein-
fluß des Cartesius das Wesen des Feuers in der Bewegung, wandelt
aber auf ganz phantastischen Bahnen, indem er die Quelle der
der Feuer-Bewegung in dem gewaltigen, allgegenwärtigen Doppel-
strom der magnetischen Materie sucht, der durch das ganze Weltall
geht und dessen eigentliche Triebfeder bildet. Das Feuer wird
definiert als die Auflösung der brennbaren Körper durch diesen
1) Nach der Introductio II 673 ist dagegen der Grad der Wärme mitunter
nicht allein von der Menge der Feuermaterie, sondern auch von der Intensität
der inneren Bewegung der körperlichen Teilchen abhängig; denn: „si notabilis
copia ignis agitati corpus ingressa sit, partes corporis ab eo segnius aut celerius
ineipient moveri, conquassari, vibrari."
2) Vgl. Nollet: Lecons de physique experimentale, 1754, IV 189.
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 335
Doppelstrom, der seine Bewegung mitteilt, sobald sieb seinem Streben,
alles zu durchdringen, Hindernisse in den Weg stellen.
Stark phantastisch sind auch die Ansichten des Jesuiten
L. de Fiese. Die elementare Natur des Feuers leugnet er, als
Elementarfeuer könne man höchstens den Äther, die subtile Materie
des Descartes, bezeichnen. Das von der Preisfrage gemeinte sicht-
bare, fühlbare Feuer dagegen betrachtet er als ein aus wesentlichen
oder flüchtigen Salzen, Schwefel, Luft und ätherischer Materie
zusammengesetztes Fluidum, das gewöhnlich mit andern hetero-
genen Substanzen (wäßrigen, erdigen, metallischen Teilchen) ge-
mischt ist, die seine Geschwindigkeit herabsetzen; die Kraft aber,
welche diese Materie belebt und ihr erst die eigentliche Feuer-
Natur verleiht, ist eine sehr heftige Wirbelbewegung aller dieser
Substanzen (S. 27 f., 40).
Die bedeutendste der fünf Abhandlungen ist ohne Zweifel die
Voltaires, der in echt naturwissenschaftlicher Weise nach Art
Boerhaaves von Tatsachen und Experimenten ausgeht. Im wesent-
lichen stimmen seine Ansichten und die der Marquise du Chäte-
let überein. Beide verfaßten ihre Preisarbeiten auf dem Schloß
Cirey, wo Voltaire als Grast seiner Freundin, der Marquise, weilte.
Dort und in einem benachbarten Hüttenwerk machte er seine
Experimente. Die Marquise Schrieb angeblich in 8 Nächten ihre
84 Quartseiten lange Arbeit nieder und bewarb sich ohne Wissen
Voltaires um den Preis *).
Nach Voltaire ist das Feuer (mit dem Licht wesensgleich und
nur in quantitativer Hinsicht von ihm unterschieden) ein Element,
das in allen Grundeigenschaften (Beweglichkeit, Teilbarkeit, Aus-
dehnung, sehr wahrscheinlich auch in der Schwere und noch wahr-
scheinlicher in der Undurchdringlichkeit2)) mit der Materie über-
einkommt. Es ist keiner Wandlung in andere oder aus andern
Substanzen (durch Umlagerung und Bewegung ihrer Teilchen)
fähig: es war also in der Natur stets dieselbe Quantität Feuer
vorhanden. Es besteht aus runden Teilchen, die einfacher und
deshalb auch härter als die aller andern Körper sind; es ist ela-
stisch, von Natur in fortwährender Bewegung, sucht sich nach
1) Vgl. du Bois-Reymond in den Monatsberichten der Berliner Akademie
der Wissenschaften für 1868, S. 48.
2) Die Marquise zweifelt an der Undurchdringlichkeit und noch viel mehr
an der Schwere des Feuers, sie betrachtet es demgemäß als ein Mittelding zwi-
schen Geist, Materie und Raum.
336 Erich Adickes,
allen Seiten gleichmäßig auszubreiten, wirkt auf alle Körper,
nimmt ihre Poren ein, dehnt sie aus, bewegt, verzehrt sie je nach
seiner Quantität und Bewegungsintensität. Nach diesen beiden
Momenten richten sich auch seine Wärme und sein Licht; das
Feuer allein von allen Körpern ist imstande zu erwärmen und zu
leuchten. Alle Körper würden sich durch die zwischen ihren Teilen
wirkende Anziehungskraft zu gleichmäßig harten Massen verdichten,
wenn nicht das Feuer überall in entgegengesetzter Richtung wirkte.
Die innere Bewegung der Körperteilchen kann so wenig Feuer
hervorbringen, daß dieses vielmehr umgekehrt die Ursache der
inneren Bewegung in allen Körpern ist *). Auch jede Elastizität
der Körper stammt von ihm her2), ferner der Aggregatzustand
der Flüssigkeit, und an den Erscheinungen der Elektrizität hat
es ebenfalls hervorragenden Anteil. Der Mensch kann nie Feuer
wirklich hervorbringen, nicht einmal einen Funken, sondern nur
das in den Körpern vorhandene Elementarfeuer entbinden und
ihm zur "Wirksamkeit verhelfen, sei es durch Steigerung seiner
Bewegungsintensität, sei es durch Zufuhr weiteren Feuerstoffes
aus andern Körpern8).
L. Euler schließlich nimmt gleichfalls eine besondere, höchst
feine und elastische Feuermaterie an, die vom Äther, dem Medium
der Lichtstrahlen, durchaus verschieden ist und ihn an Feinheit
und Elastizität etwa in demselben Maße übertrifft wie die Luft
das Wasser. Diese Feuermaterie wird von den Körperteilchen ge-
bunden und in einem Zustand der Kompression erhalten. Feuer
entsteht und greift um sich, sobald die Feuermaterie aus jenem
1) Die Marquise drückt sich teilweise etwas theologischer aus : der Schöpfer
hat der Feuermaterie von vornherein eine gewisse Quantität Bewegung verliehen,
und zwar der (ungeordneten) Bewegung nach allen Richtungen hin, die ihr Wesen
ausmacht. Diese Art der Bewegung teilt sie den Körperpartikelchen mit und
wirkt dadurch der allgemeinen Anziehungskraft und ihrer Tendenz, alles zu einer
kompakten Masse zusammenzuhauen, entgegen; so entspricht sie dem Zweck, zu
dem der Schöpfer sie geschaffen hat, und dient diesem als eine der wichtigsten
Spannkräfte, das Universum zu heieben und zu erhalten. „Le feu est, pour ainsi
dire, Tarne du monde, et le souffle de vie repandu par le Createur sur son ouvrage"
(S. 112 f., 118—120).
2) Die Marquise behauptet S. 141 ff. das Gegenteil.
3) Vgl. ferner auch Voltaire : Elements de la philosophie de Newton, II. Par-
tie, 2. Chap. ; Des singularites de la nature, 32. Chap. ; Dictionnaire philosophique
unter „Feu« (Oeuvres completes de Voltaire, 1879, Bd. 22, S. 446 ff., Bd. 27, S. 178 ff.,
Bd. 19, S. 118 ff.).
Zur Lehre von der "Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 337
Zustand durch äußere Gewalt befreit wird. Diese Befreiung geht
explosionsartig vor sich: bei der Zertrümmerung der Körper-
partikeln durch die Einwirkung der äußeren Gewalt werden die
Moleküle gleichsam wie Projektile nach allen Seiten geschleudert,
und die komprimierte Feuermaterie bricht mit großer Heftigkeit
hervor. So zieht die Zertrümmerung des einen Körperteilchens
die des andern nach sich, und der Prozeß schreitet so lange fort,
als geeignete Partikeln in Gestalt brennbarer Materien (d. h. solcher,
die ein reichliches Maß Feuermaterie in gebundenem Zustande ent-
halten *)) vorhanden sind. So (modern ausgedrückt : durch Umwand-
lung potentieller in aktuelle Energie) erklärt sich also der schein-
bar so geheimnisvolle Vorgang der Ausbreitung des Feuers unter
voller Aufrechterhaltung der Grundsätze, daß die Wirkung stets
der Ursache proportional sein muß und die Quantität der Be-
wegung und der Kräfte nicht vermehrt werden kann. Bis soweit
zeigt Euler sich als unzweideutigen Anhänger der Substanzialitäts-
theorie. Weiterhin aber macht er der Yibrationstheorie starke
Zugeständnisse, indem er (§ 17) die Wärme als eine Bewegung der
kleinsten Körperteilchen definiert. Daß Feuer Wärme hervorbringt,
erklärt er für selbstverständlich, da die Explosion der kompri-
mierten feinen Feuermaterie, worin das (sichtbare und fühlbare)
Feuer besteht, natürlich auch die Körperteilchen in Bewegung
versetzen wird, die keine Feuermaterie in sich gebunden halten.
Umgekehrt muß Wärme Feuererscheinungen hervorbringen, sobald
die innere Bewegung in einem Körper (etwa infolge von Eeibung)
so stark wird, daß dadurch Feuermaterie befreit (zur Explosion
gebracht) wird 2). — Man wird sagen können, daß Euler stark zur
Yibrationstheorie hinneigt und daß ihn zur Annahme einer be-
sondern Feuermaterie nur die Schwierigkeiten drängen, in die sich
die damalige Physik und Chemie bei Erklärung des Verbrennungs-
prozesses verwickelt sah und denen beide Wissenschaften im Grunde
völlig ratlos gegenüberstanden.
1) Neben der Menge der Feuermaterie ist auch noch die Größe des Wider-
standes in Rechnung zu setzen, den der die Feuermaterie enthaltende Körper
durch seine innere Beschaffenheit, seine Lagerungsverhältnisse etc. den auf eine
Befreiung jener Materie ausgehenden äußeren Gewalten entgegensetzt.
2) Anders spricht Euler sich über das Verhältnis von Licht und Wärme
und die beiderseitigen Ursachen in seiner „Nova theoria lucis et colorum" (Opus-
cula varii argumenti, 1746, S. 225 f.) aus. Es würde jedoch zu weit führen, auf
diese Unterschiede näher einzugehen. Vgl. auch u. S. 864 Anm.
338 Ernst Adickes,
In der Theorie der Verbrennung und der Ausbreitung des
Feuers schließt sich der Abbe* J. A. N oll et in seinen Lecons de
physique experimentale IV 187 ff. (1754; zuerst 1743 f.) ganz an
Euler an. Auch setzt er Wärme mit innerer Bewegung der
Körperteilchen gleich, bleibt trotzdem aber überzeugter Anhänger
der Substanzialitätstheorie, indem er als Ursache auch jener Wärme-
bewegung die stets in Bewegung befindliche Feuermaterie be-
trachtet. Die strenge Vibration stheorie hat, wie er meint, über-
haupt keine Anhänger mehr ; wer sie noch aufrecht erhält, schreibt
meistens entweder dem Äther oder „der subtilen Materie" jene innere
Bewegung der Teilchen, worin das Wesen des Feuers bestehen
soll, als ursprüngliche Eigenschaft zu (S. 154 f.). Nach Nollet ist
die Feuermaterie als ein Körper sui generis, mit jener inneren
Bewegung der Teilchen von vornherein behaftet, im Anfang ge-
schaffen; Feuer und Licht, Erwärmung und Leuchten gehen in
gleicher Weise auf sie zurück, nicht minder auch die Erscheinungen
der Elektrizität (S. 155, 182 f.). Auch Nollet spricht von Boer-
haaves Behandlung des Gegenstandes mit der größten Anerkennung,
stimmt ihm im allgemeinen zu, ist sehr, abweichend von ihm, geneigt,
dem Feuer Schwere zuzuschreiben. Es kann nie aufhören, selbst
flüssig zu sein, und ist sehr wahrscheinlich die Hauptursache der
Flüssigkeit auch aller andern Körper. Es ist allgegenwärtig:
an jedem Ort zu jeder Zeit. Seine Teile übertreffen an Feinheit,
Dünne, Härte, Festigkeit, Undurchdringlichkeit alle sonstige Materie.
Nach J. Gr. Krügers Naturlehre (zuerst 1740) ist das Feuer,
die Ursache der Wärme sowohl wie des Lichtes, eine flüssige, un-
gemein leichte Materie, aus kleinen, runden, sehr wenig oder gar
nicht zusammenhängenden Teilchen bestehend, die in die kleinsten
Zwischenräume der Körper eindringen und von deren Partikeln
angezogen werden. Durch Reiben, Hämmern der Körper und
ähnliche Manipulationen werden diese Partikeln in zitternde Be-
wegung versetzt, die sich auch der von ihnen angezogenen Feuer-
materie mitteilt. So entsteht Wärme, die „nichts anders, als
die Gewalt des bewegten Feuers" ist; ihr Grad hängt von der
Masse des Feuers und seiner Bewegungsintensität ab. Die Sonne
ist ein wirkliches Feuer, ihre Strahlen bestehen aus lauter Feuer-
teilchen (3. Aufl., S. 297 ff., 770).
Chr. Aug. Crusius will in seiner „Anleitung über natür-
liche Begebenheiten ordentlich und vorsichtig nachzudenken" (1749)
unter Ausschluß aller Fernwirkungen, sowie aller anziehenden und
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 339
abstoßenden Kräfte, die gesämmten physikalischen Erscheinungen
streng mechanisch erklären. Dabei spielt eine komplizierte Ather-
theorie die Hauptrolle. Es werden zwei Hauptgattungen des Äthers
unterschieden, je nachdem sich seine Teilchen ihrer Figur nach
merklich verändern lassen oder nicht; jede dieser Gattungen kann
wieder „gar viele species infimas unter sich begreifen" (1 395).
Auf den Äther führt Crusius den Zusammenhang der Körper (die
Kohäsionserscheinungen), die Schwere der Körper auf dem Erd-
boden wie die Schwere und Bewegung der Weltkörper zurück, er
ist ferner wesentlich mitbeteiligt an den Phänomenen der Dukti-
lität, Elastizität und Flüssigkeit 1). Die Lichtmaterie besteht aus
elastischen Ätherkügelchen, die ihre Figur nicht merklich verändern
lassen; sie füllt das ganze Weltall und wird von der flüssigen
Feuermaterie (Äther), die den größten Teil der Oberfläche der
Sonne einnimmt, in Bewegung gesetzt (II 1013). Auch das irdische
Feuer ist eine Art von Äther, und zwar ein sehr kompressibler,
elastischer Äther, der, um als Feuer wirken zu können, in einer
gewissen Bewegung sein muß. Feuer befindet sich in den Poren
und kleinen Zwischenräumen aller irdischen Körper, in „Capsula"
von verschiedener Feinheit eingeschlossen, von denen die feinsten
aus Wasserteilchen zu bestehen scheinen ; es strebt beständig nach
einer gleichförmigen Verteilung (II 683 f., 699, 721). Erwärmung
findet statt, wenn der Zusammenhang der Körper so weit ge-
lockert wird, daß die eingeschlossene Feuermaterie sich aus dem
Zustande gewaltsamer Zusammenpressung befreit und in starke
Bewegung gerät. Durch Einwirkung dieser Bewegung auf unseren
Körper wird in uns die Empfindung der Wärme hervorgebracht.
Als Ursachen jener Lockerung kommen vor allem die Sonnen-
strahlen, brennende oder heiße irdische Körper und Reiben in Be-
tracht. Crusius warnt ausdrücklich davor, daß „man das Reiben,
bloß wiefern es Bewegung ist, vor die zureichende Ursache des
Feuers halte, als wodurch man etwas völlig Unbegreifliches und
den Umständen Widerstreitendes sagen würde. . . . Bestünde das
Feuer nur in dem Stande der Bewegung einer jeden Materie; so
müßte es von der Bewegung, welche das Feuer zuerst anzündet, ein
proportionierter Effekt sein. Diese Bewegung aber, weil sie sich
immer in mehr Materie zerstreut, müßte durch den Widerstand
1) Vgl. Kants Werke, Akademie - Ausg., XIV 236 ff., 242 ff., weiterhin als
„A.A." zitiert.
340 Erich Adickes,
beständig schwächer werden , welches doch nicht geschiehet , da
vielmehr das einmal entstandene Feuer immer stärker wird, wenn
es nur nicht an einer bequemen verbrennlichen Materie fehlet."
Woraus zu schließen, daß die Bewegungskraft der beim Feuer be-
wegten Materie von der veranlassenden Ursache des Feuers unab-
hängig ist und letztere nur die Bedeutung eines auslösenden Mo-
mentes haben kann. „Das Reiben verursachet demnach nur Wärme
und Feuer, indem es die in dem Körper schon vorher befindliche
Feuermaterie in den Stand der Wirksamkeit setzet" (II 683 ff.,
705 ff., 713 f.). Die Feuermaterie hat Schwere: sie ist ein gröberer
Äther als die Lichtmaterie; letztere hat keine Schwere, ist viel-
mehr selbst (durch ihre komprimierende und zurücktreibende Wirk-
samkeit) vermutlich die Ursache der Schwere und Kohäsion (II
730 ff.). Übrigens ist nach Crusius auch die elektrische Materie
großenteils Feuer, und auch die Lebensgeister oder den Nerven-
saft denkt er sich als Kügelchen elementarischen Feuers, „welches
in sehr zarte Behältnisse verschlossen ist" (I 612, 639 f.).
Nach le Cat1) setzt alle Wärme einen feinen und durchdrin-
genden Stoff, der in Bewegung ist, voraus.
J. A. Segner erscheint nach seiner Einleitung in die Natur-
Lehre2 1754 S. 258 „die Meinung, daß das reine Feuer eine be-
sondere, und von allen übrigen Körpern verschiedene Materie sei,
der Wahrheit gemäßer", als die entgegengesetzte Ansicht, welche
Wärme und Feuer als Produkte starker innerer Vibration der
kleinsten Körperteilchen betrachtet. Das Feuer ist nicht schwer 2),
ist überall verbreitet und durchdringt alles, vermag aber erst
dann zu wärmen (und zu erleuchten), wenn es in eine gewisse Be-
wegung versetzt und dadurch zur Einwirkung auf andere Körper
fähig gemacht ist.
J. H. Winkler definiert in seinen Anfangsgründen der Physik
(1753) das Feuer als „eine flüssige und unsichtbare Materie, welche
vermögend ist, sowohl die Luft, als alle sichtbare flüssige und feste
Materie auf unserer Erde auszudehnen". Die vom Feuer in einem
1) Vgl. „Des Herrn le Cat Abhandlung von der innern Wärme der Erde
zur Erläuterung ihrer natürlichen Geschichte, welche 1750 der Akademie zu Rouen
vorgelesen ist (Magasin Francois, Janvier 1751)", in: Allgemeines Magazin der
Natur, Kunst und Wissenschaften 1754, Leipzig, IV 74.
2) Die Gewichtszunahme beim Verkalken vonMetallen erklärt er schon dar-
aus, daß „ein Teil der Luft an den Körpern haftet" und ihr Gewicht vermehrt
(S. 259).
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 341
tierischen Körper verursachte und von dem Tier empfundene Aus-
dehnung heißt "Wärme (S. 52). In jeder irdischen Materie ist Feuer
enthalten, jedoch in gebundenem Zustande; dies „verschlossene
Feuer" muß, um den Sinnen kenntlich zu werden, erst, sei es durch
anderes Feuer, sei es durch Reiben, in Bewegung gebracht werden
(S. 56). Daß auch die Lichtmaterie, der Euler'sche Äther, Feuer
sei, erklärt Winkler für wahrscheinlich, doch sei es nicht mit völ-
liger Gewißheit zu behaupten (S. 118 ff.).
Nach J. P. Eberhards Ersten Gründen der Naturlehre
(1753), die Kant lange Jahre als Vorlesungskompendium dienten1),
sind Feuer und Licht zwei flüssige Materien, an deren Körperlich-
keit nicht gezweifelt werden kann, da sie einen Raum einnehmen,
undurchdringlich, teilbar, beweglich sind und in körperlichen Or-
ganen Veränderungen hervorbringen. Beide sind durch das ganze
Weltall ausgebreitet, ihre Teile berühren sich nicht. Doch ist das
Licht noch leichter beweglich und darum noch weit subtiler als
das schon als „höchst subtil" bezeichnete Elementarfeuer. Von
beiden ist noch das Brennbare (Phlogiston) zu unterscheiden: eine
zusammengesetzte Materie, „in welcher sich ungemein viel Ele-
mentarfeuer befindet, welches sich bei Gelegenheit ausbreitet". Das
(Elementar-)Feuer ist elastisch; seine Teile sind unendlich klein,
besitzen, im Gegensatz zu denen des Lichtes, Repulsionskraft und
können also nur durch den Druck einer umgebenden Materie oder
einen ähnlichen äußeren Widerstand beisammen gehalten werden.
Wird in einem Körper (etwa durch Reiben) eine innere Bewegung
der Teile hervorgebracht, so wird das in ihm enthaltene Brenn-
bare befreit, und auch dessen Teilchen werden in schütternde Be-
wegung versetzt, wodurch es dann möglich wird, daß das zwischen
ihnen befindliche Elementarfeuer seine umgebende Rinde sprengt,
sich mit Gewalt ausbreitet, unter Anderm auch in die Zwischen-
räume des menschlichen Körpers eindringt, auf seine Nerven ein-
wirkt und so in uns die Empfindung der Wärme auslöst. Körper,
die nichts Brennbares oder das Brennbare wenigstens nur in sehr
stark gebundener Form enthalten, können trotzdem dieselben Wir-
kungen erzielen, wenn sie durch starke innere Vibration das in
ihnen befindliche Elementarfeuer und das ihrer Umgebung in Be-
wegung versetzen. Ja sogar — und hier macht Eberhard der
Undulationshypothese eine für die Konsequenz seiner Auffassung
1) Vgl. E. Arnoldt : Gesammelte Schriften 1909 V 179, 219.
Kftiitstudion. XXVII. 23
342 Erich Adick es,
sehr bedenkliche Konzession1) — bei unmittelbarer Berührung
eines in seinen Teilen stark vibrierenden Körpers kann in uns die
Wärmeempfindung dadurch hervorgebracht werden, daß diese Teil-
chen direkt (ohne jede Vermittlung einer Feuermaterie !) ihre zit-
ternde Bewegung auf die kleinen elastischen Teilchen unserer
Nerven übertragen; die so ausgelöste Empfindung soll sogar stärker
sein, als in den beiden andern Fällen, da keine Kraft verloren geht,
wie es der Fall ist, wenn die Vibrations-Bewegung zunächst dem
Elementarfeuer und erst von ihm den Nerven mitgeteilt wird2).
Die Ausdehnung der Körper durch die Wärme erklärt sich dar-
aus, daß die in innere Vibration versetzten Körperteilchen mehr
Raum einnehmen als im Zustand der Ruhe und daß in die durch
Vibration erweiterten kleinen Zwischenräume des Körpers Ele-
mentarfeuer eindringt, den Zusammenhang noch mehr lockert, die
Teilchen noch stärker auseinander treibt und so das Einströmen
weiteren Elementarfeuers ermöglicht, das dann wieder dieselben
Wirkungen nach sich zieht (Erste Gründe der Naturlehre 1753
S. 310 ff., Gedanken vom Feuer 1750 S. 23 ff.). Die Sonne scheint
Eberhard „ein äußerst erhitzter Körper zu sein, dessen Teile in
einer sehr heftigen schwingenden Bewegung sind, und daher auf
das Licht wirken" (Erste Gründe S. 656 f.), und in seiner früheren
Schrift (S. 141) ist er geneigt, sie für einen geschmolzenen Gold-
klumpen zu halten: „denn warum sollte es kein Goldklumpen sein,
da doch dieses das edelste Metall ist, und die Sonne in Absicht
auf uns der vortrefflichste Körper des Weltbaus zu sein scheint?"
Hinsichtlich der elektrischen Materie ist es ihm „höchst wahr-
scheinlich", daß sie „nichts als eine Art von Brennbarem ist, das
1) Er ist sich des springenden Punktes in dem Gegensatz der beiden sich
bekämpfenden Theorien überhaupt nicht klar bewußt, wie die folgende Charak-
teristik der verschiedenen Ansichten in seinen „Gedanken vom Feuer und denen
damit verwandten Körpern, dem Licht und der elektrischen Materie" (1750 S. 8)
zeigt: „Einige stellen sich das Feuer als etwas Besonders, als eine eigene Ma-
terie vor, die ein von der übrigen Materie ganz unterschiedenes Wesen besitzt.
Andere glauben, es sei zum Feuer nichts anders nötig, als die Subtilität der
Teile, und die schnelle Bewegung. Jede Materie könne zu Feuer werden, wenn
sie in so kleine Teile aufgelöst würde, die in die kleinsten Zwischenräumlein ein-
dringen könnten, und dabei den gehörigen Grad der Bewegung erhielte."
2) Nach S. 361 f. der „Ersten Gründe der Naturlehre" (1753) „besteht das
Feuer entweder in der schwingenden Bewegung der Teile des Körpers oder in
der Bewegung des Elementarfeuers oder des Lichts." Letzteres wirkt in der
Weise, daß es Elementarfeuer oder Körperteilchen in zitternde Bewegung versetzt.
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 343
aber nur nicht so stark und heftig wirken kann, als das ordent-
liche Brennbare, so zur Erzeugung der Flamme erfordert wird.
Es muß daher teils aus weniger Elementarfeuer bestehen, teils
aber eine feinere Rinde haben, und überhaupt subtiler sein als das
zur Flamme erforderliche (Erste Gründe S. 432 ; Gedanken vom
Feuer S. 167 ff.). Zur Erklärung gewisser Phänomene, z.B. der
Wärmeabnahme bei Vermischung von Wasser mit Salpeter oder
Salmiak, glaubt Eberhard noch eine besondere kaltmachende Ma-
terie annehmen zu müssen, die eine stark zusammenziehende Kraft
ausübt und durch sie die Teile der Körper einander näher bringt,
zugleich aber auch „ durch ihr Anhangen die schwingende Be-
wegung derer Teile und folglich die Ursache der Wärme mindert u
(Erste Gründe S. 417 ff.). In der 3. und 4. Auflage von 1767 und
1774 ist diese Theorie sogar noch weiter ausgedehnt: mit großer
Bestimmtheit wird behauptet (S. 460, 483), daß bei jedem Gefrieren
die Mitwirkung der kaltmachenden Materie nötig sei. Im Übrigen
zeigen diese späteren Auflagen in den uns hier interessierenden
Lehren keine irgendwie wesentlichen Änderungen.
Ich füge gleich noch einige Bemerkungen bei über das Physik-
Kompendium, dessen Kant sich von den 70 er Jahren ab (mit Aus-
nahme des S. S. 1785) bediente1). Es waren J. Ch. P. Erx-
lebens Anfangsgründe der Naturlehre (1772). Hier wird über
die Natur des Feuers im Anschluß an den Abschnitt über die
Wärmeerregung durch Eeiben gesprochen, der mit der Behauptung
schließt: man kenne bisher noch keine Entstehung einer Hitze,
wobei sich nicht körperliche Teilchen an einander rieben. Die
dadurch scheinbar nahgelegte Folgerung, daß Wärme nur in einer
zitternden Bewegung der kleinsten Körperteilchen bestehe, lehnt
Erxleben aber ab, und zwar mit der Begründung, es wäre dann
doch „sonderbar", „daß die lockersten Körper, wie z. B. der luft-
leere Raum, auch eben den Grad der Hitze annehmen, den die be-
nachbarten viel dichtem haben; auch daß alle Körper, selbst die,
welche nur eine schwache Elastizität besitzen, diese feine zitternde
Bewegung durch sich durch so leicht fortpflanzen; da man sonst
erwarten dürfte, daß unelastische Körper sie dämpfen würden, so
wie ein weiches Tuch die zitternde Bewegung einer Glocke, wo-
durch sie schallt, dämpft." Er hält demgemäß die Existenz einer
besondern Feuermaterie, eines Elementarfeuers für sehr wahrschein-
1) Vgl. E. Arnoldt: Gesammelte Schriften 1908 IV 323, 1909 V 242, 281, 300.
23*
344 Erich Adickes,
lieh, das er als „ein höchst feines flüssiges Wesen" schildert, „das
durch die Zwischenräume aller Körper gleichförmig ausgebreitet
ist, und in dessen Zittern die Wärme besteht". Es muß allerwärts
auf der Erde vorhanden sein; um Wärme hervorzubringen, muß
es bewegt werden. Beim Reiben dringt es vielleicht aus der Um-
gebung des geriebenen Körpers in ihn hinein und verursacht so
die Zunahme der Wärme, ohne jedoch das Gewicht in merkbarer
Weise zu vermehren. Möglich aber auch, daß der heiße Körper
überhaupt nicht mehr, sondern nur schneller bewegtes Ele-
mentarfeuer in sich enthält als der kalte. Hinsichtlich des Lichtes
neigt Erxleben der Euler'schen Vibrationshypothese zu. Gegen-
über einer Identifizierung von Licht- und Feuermaterie verhält er
sich skeptisch, die Einerleiheit beider mit der elektrischen Materie
lehnt er ausdrücklich ab (S. 245 ff., 358 ff., 423). In der 2. Auf-
lage von 1777 äußert er sich (S. 420) über den letzten Punkt be-
deutend zurückhaltender, im Übrigen sind seine Ansichten unver-
ändert geblieben. Von der 3. Aufl. (1784) ab gab G. C. Lichten-
berg das Werk heraus. Er läßt Erxlebens Text unverändert, fügt
aber S. 431—443 einen kurzen Abriß der Crawford'schen Theorie
vom Feuer hinzu, an dessen Schluß es heißt: „Vielleicht zeigt uns
dereinst ein künftiger Priestley, daß es, so wie mehrere Luftarten
sind, auch mehrere Feuerarten gibt, die auf verschiedene Weise
gebunden, verbunden und getrennt die Erscheinungen von Phlo-
giston, Feuer, der elektrischen Materien und des Lichts darstellen,
und die , wenn man nicht über Worte streiten will , ebensowenig
alle die Empfindung von Wärme zu erregen brauchen, als alle
Luftarten zum Einatmen dienen" (S. 442 f. ; 4. Aufl. S. 416). In
einer Anmerkung zwecks Empfehlung der Symmer' sehen dualisti-
schen Elektrizitätstheorie (3. Aufl. S. 498; 4. Aufl. S. 475) bemerkt
Lichtenberg: „Das Verbrennen der Körper vernunftmäßig zu er-
klären, hat man ja auch Feuer und Phlogiston mit Vorteil ange-
nommen, wie wenn nun gar hier eben dieses Feuer und Phlogiston,
nur, wie die Luftarten durch Beimischungen verändert, gerade
eben das wären, was wir positive und negative Elektrizität
nennen."
Nach J. E. Silberschlags „Theorie der am 23. Julii 1762
erschienen (!) Feuerkugel" (1764), die Kant am 23. März 1764 in
den Königsbergschen Gelehrten und Politischen Zeitungen sehr an-
erkennend besprach (II2 272 c/d), besteht Wärme in Oszillationen
des alle Körper durchdringenden Äthers. Dessen Teilchen denkt
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 345
Silberschlag sich, ebenso wie die kleinsten Teilchen der Körper,
dynamisch als Wirkungssphären von Kräften, die von einem „dy-
namischen Mittelpunkt" ans einen kleineren oder größeren Um-
kreis mit ihren Wirkungen erfüllen und beherrschen. Ob Wärme
mechanisch (durch Reiben) oder chemisch (durch schnelle, heftige
Auflösung von Körpern) hervorgebracht wird: in beiden Fällen
läßt sich das Bezeichnende des Vorgangs auf eine Erzeugung von
Ätheroszillationen zurückführen. Diese letzteren entstehen ebenso
wie die Oszillationen materieller Teilchen dadurch, daß die dy-
namischen Sphären durch äußere Kraft entweder zusammengedrückt
oder ausgedehnt werden und dann sofort wieder die Freiheit zur
Herstellung des ursprünglichen Zustandes bekommen. Oszillierender
Äther kann seine Erschütterung körperlichen Massen mitteilen,
und umgekehrt können Erschütterungen materieller Teilchen auch
den Äther in Oszillationen versetzen. An den ätherischen Oszil-
lationen sind Heftigkeit (Stärke) und Lebhaftigkeit (Gresch windig-
keit in der Aufeinanderfolge) zu unterscheiden : die erstere ist Ur-
sache der Wärme, die zweite dagegen bringt, sobald sie so groß
wird, daß die Augennerven harmonisch mit oszillieren, die Licht-
empfindung hervor. Funken, Feuer und Flammen haben demge-
mäß ätherische Oszillationen zur Voraussetzung, bei denen ein
großer Grad von Heftigkeit und ein großer Grad von Lebhaftig-
keit vereinigt sind (Silberschlag a. a. 0. S. 3—7, 13—15, 22 f., 27, 43).
Zu derselben Zeit etwa, als Kant seine Meditationes de igne
ausarbeitete, begannen J. Black und J. A. de Luc unabhängig
von einander mit ihren experimentellen Untersuchungen über
Wärmebindung, speziell bei den Prozessen des Schmelzens und
Siedens. De Luc veröffentlichte seine Eesultate 1772 in seinen
Recherches sur les modifications de Tatmosphere, die Blacks wurden
gar erst 1779 durch A. Crawfords Experiences and observations
on animal heat and the inflammation of combustible bodies in wei-
teren Kreisen bekannt. Als Dritter trat Jh. C. Wilke hinzu;
ihm und besonders Crawford ist es eigentlich erst gelungen, die
allgemeine Aufmerksamkeit auf die Phänomene der freien und ge-
bundenen sowie der spezifischen Wärme (Wärmekapazität) zu
lenken. Wilkes erste Veröffentlichung auf diesem Gebiet war
der Aufsatz „Von des Schnees Kälte beim Schmelzen", 1772 in
den Abhandlungen der schwedischen Akademie erschienen, 1776
von Kästner ins Deutsche übersetzt. Crawfords Werk erregte
großes Aufsehen, von dem zahlreiche Besprechungen und Auf-
346 Erich Adickes,
sätze in Journalen zeugten. 1777 machte C. W. Scheele in
seiner „Chemischen Abhandlung von der Luft und dem Feuer u
seine zahlreichen Beobachtungen über die „strahlende Hitze"
(Wärmestrahlung im Gegensatz zur Wärmeleitung) bekannt.
Alle diese Entdeckungen und Beobachtungen schienen der An-
nahme einer besonderen Wärmematerie sehr günstig zu sein, ja!
sogar nur von ihr aus erklärt werden zu können1). So gewinnt
denn gerade in den letzten 30 Jahren des 18. Jahrhunderts die
Substantialitätstheorie noch sehr an Boden und ist in dieser Zeit
fast Alleinherrschern! gewesen. Eintritt und Austritt des Wärme-
stoffs in bezw. aus Körpern dachte man sich nach Art chemischer
Verbindungen und Affinitätsverhältnisse. Daß gebundene Wärme
weder auf das Gefühl noch auf das Thermometer wirkt, also
gleichsam zeitweise verschwindet , erklärte man gern durch den
Hinweis auf analoge Verhältnisse im ungelöschten Kalk oder
ätzenden Laugensalz, die beide durch Sättigung mit fixer Luft
(Kohlensäure) ihre Atzkraft verlieren. Nach Wilkes vorhin ge-
nanntem Aufsatz (S. 107 ff. der deutschen Übersetzung) stimmen
die Gelehrten, so sehr auch ihre Meinungen über „die nächste Ur-
sache der Wärme und Kälte" noch auseinander gehen, doch darin
überein, daß eine feine flüssige Materie dabei im Spiele sei, die
durch ihre Bewegungen, ihren Mangel oder Überfluß alle Phäno-
mene des Feuers hervorbringe. Feste sowohl wie flüssige Körper
ziehen diese Materie an, sie dringt so in deren Zwischenräume und
umgibt die kleinsten Teilchen. Wenn Wasser gefriert, so legen
sich seine Teilchen, die Wilke sich als kleine, dünne, runde Scheib-
chen wie Pfennige denkt, mit ihren platten Oberflächen unmittel-
bar auf einander, und der durch Anziehung gebundene Wärme-
stoff wird herausgepreßt; beim Schmelzen werden die Teilchen
durch den eindringenden Wärmestoff von einander getrieben, und
die so „entblößten Oberflächen" legen auf eine bestimmte Menge
Wärmestoff gleichsam Beschlag, binden ihn durch ihre Attrak-
tion. — Ähnlich der berühmte Geograph T. Bergman in seinem
Vorbericht zu Scheeles „Chemischer Abhandlung von der Luft und
dem Feuer" : „Die Wasserpartikeln ziehen die Materie der Wärme
1) Crawford selbst nimmt allerdings zu den Fragen nach Wesen und Ur-
sache der Wärme (ob besonderer Wärmestoff, ob bloße Vibration) keine entschei-
dende Stellung ein. Doch wurde seine Theorie meistens so aufgefaßt, als setze
sie eine eigene Wärmematerie voraus.
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 347
stark an sich und wenn dieselben mit einer gewissen Menge der-
selben bereichert sind, oder damit umhüllet werden, wird dieses
vereinigte Wesen so leicht beweglich, daß dessen Oberfläche immer
nach horizonteller Lage zu streben scheint ; es hat mit einer feinen
durch Feuer geschmolzenen Erde viele Ähnlichkeit." Beim Auf-
tauen von Eis verliert sich eine bestimmte Wärmemenge und wird
nur darauf verwandt, eine Art Sättigung zu Wege zu bringen,
„meist eben so, als wenn eine Säure durch Sättigung mit Alkali
ihre charakterisierende Eigenschaften auszuüben verhindert wird.
So ist es auch mit ungelöschtem Kalk. Er enthält Wärme, die
aber unwirksam ist, bis daß eine stärkere elektivische Anziehungs-
kraft sie frei und los macht." — Scheele selbst nimmt je ein be-
sonderes materielles Substrat für die gewöhnliche Wärme, für die
strahlende Hitze und für das Licht an. Alle drei bestehen aus
Feuerluft (Sauerstoff) und Phlogiston, einem „wahren Element und
ganz einfachen Principium" ; sie unterscheiden sich nur durch die
Menge des Phlogiston: die gewöhnliche Wärme hat am wenigsten,
das Licht am meisten davon. Die Hitze wird demnach als eine
besondere Säure bezeichnet, als ein sehr zarter, elastischer und
flüssiger Körper, der in die Zwischenräumchen der brennbaren
dringt und ihren Zusammenhang aufhebt1).
De Luc (f 1817) hat in seinem weiteren langen Leben ver-
schiedentliche Wandlungen in seiner Wärmelehre durchgemacht;
nie aber hat er die Auffassung verlassen, daß die Wärme eine be-
sondere Materie sei (vgl. A. A. XIY 484 ff., 504 ff).
W. J. G. Karstens „Anleitung zur gemeinnützlichen Kennt-
nis der Natur" (1783), die Kant im S. S. 1785 seiner Vorlesung
über theoretische Physik zu Grunde legte2), steht ganz auf dem
durch die neuen Entdeckungen bereiteten Boden. Auch Karsten
nimmt eine besondere Feuermaterie an, die er sehr geneigt ist zu
den einfachen Grundstoffen zu zählen, wie er auch das Phlogiston
als einen solchen betrachtet (S. 17, 174 ff.). Er ist der Überzeu-
gung, „daß die Feuermaterie den Gesetzen der Verwandtschaft
und Wahlanziehung eben so, wie andre Stoffe unterworfen sei,
daß sie bald mit diesem, bald mit jenem Stoff eine ähnliche ge-
1) Zu den beiden letzten Absätzen vgl. meine weiteren Ausführungen A. A.
XIV 450—454. Auch Black ist Anhänger der Substanzialitätstheorie ; vgl. E. Mach :
Die Prinzipien der Wärmelehre 1896 S. 159.
2) Vgl. E. Arnoldt: Gesammelte Schriften 1909 V 281.
31S Erich Adickes,
Dane Vereinigung eingehe, wie eine Säure mit dem Laugensalz,
auch bei dieser Vereinigung so gebunden werde, daß sie alsdenn
nicht weiter auf unser Gefühl und auf das Thermometer wirken
könne" (S. 252, 601).
Die Ansicht von der stofflichen Natur der Wärme und des
Feuers finden wir auch inMarats De'couvertes sur le feu, l'elec-
tricite* et la lumiere (1779, deutsch 1783), in seinen Recherches sur
le feu (1780), sodann bei dem späteren Philosophen Fr. X. Baader,
dessen „Probeschrift" : „Vom Wärmestoff, seiner Verteilung, Bin-
dung und Entbindung, vorzüglich beim Brennen der Körper" (1786)
schon im Titel seinen Standpunkt ankündigt (vgl. A. A. XIV 482 f.),
ferner in Fr. A. C. Grens Grundriß der Naturlehre (zuerst 1787),
in seinem Systematischen Handbuch der gesammten Chemie (zu-
erst 1787—1790), seinem Grundriß der Chemie (1796 f.)1)». in
J. Webers Vorlesungen aus der Naturlehre (5. Abhandl. : Über
das Feuer 1788), in M. A. Pictets Essai sur le feu (T. I der
Essais de physique 1790; auch deutsch in demselben Jahr), in
P. Prevosts Recherches physico-mecaniques sur la chaleur (1792).
Lavoisier und de Laplace stellen im Anfang ihrer berühmt
gewordenen Abhandlung über die Wärme in den Memoires der
Pariser Akademie für das Jahr 1780 S. 355 ff. (1784) die beiden
feindlichen Wärmetheorien dar, die Vibrationstheorie besonders
ausführlich und mit vorzüglicher Klarheit. Sie nehmen offiziell
für keine von beiden Partei, da einige Erscheinungen sich nach
ihrer Meinung leichter nach der einen, einige leichter nach der
andern Theorie erklären lassen. Doch drängt sich im Lauf der
Untersuchung die stoffliche Auffassung der Wärme entschieden
vor und erweist sich als die den Gedankenhintergrund der beiden
Forscher beherrschende. Damit steht durchaus in Übereinstim-
mung, daß, als Lavoisier mit seinen Genossen die neue antiphlo-
gistische chemische Nomenklatur schuf, sie für die erschlossene
Ursache der Wärme den Namen calorique (Caloricum) einführten.
Sie selbst betrachteten dies calorique als eine außerordentlich ela-
stische Flüssigkeit, wenn Lavoisier auch in seinem Traite elemen-
taire de chimie (1789 S. 5 f.) da, wo er von der Entstehung der
neuen Terminologie spricht, als besonderen Vorteil des Namens
hervorhebt, daß er zu allen Theorien passe, da er genau genommen
nicht einmal die Voraussetzung, daß der Wärmestoff eine wirklich
1) Über Gren. vgl. A. A. XIV 521—527.
Zur Lehre von der "Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 349
existierende Materie sei, in sich schließe. Die allgemeine Auf-
fassung aber ging entschieden dahin, daß man in dem calorique
gerade so gut einen besonderen chemischen Stoff zu sehen habe,
wie im Sauerstoff, Kohlenstoff, Stickstoff usw., und die deutsche
Übersetzung des neuen Terminus lautete regelmäßig Wärmestoff.
So trug also auch die Reform der Chemie durch Lavoisier das
Ihrige dazu bei, der Stofftheorie zu einem vorläufigen Siege zu
verhelfen.
J. S. T. Grehler faßt in seinem Physikalischen Wörterbuch
(1789 II 208 ff.) die Ansicht seiner Zeit dahin zusammen1), daß
die meisten Naturforscher die Ursache der Wärmeerscheinungen
ganz oder zum Teil von einer eigenen Substanz herleiten, welche
durch die ganze Körperwelt verbreitet und von sehr starker Wir-
kung auf andere Substanzen sein soll. (regen die Theorie, daß
das Feuer „bloß für einen Zustand der Körper, oder für eine nach
gewissen Modifikationen erfolgende Bewegung ihrer feinsten Teile"
zu halten sei, sprechen, wie er meint, entscheidende Gründe, die
er kurz skizziert, mit dem Zusatz : um ihretwillen werde das Da-
sein einer besonderen Feuermaterie „anjetzt mit fast allgemeiner
Übereinstimmung" angenommen. Aber über ihr Wesen und ihre
Wirkungsart sei die Verschiedenheit der Ansichten noch sehr
groß : „Einige halten das Elementarfeuer für nichts anders als
für die Materie des Lichts ; andere unterscheiden es von derselben,
oder sehen doch das Licht als eine eigne neue Modifikation des
Feuerwesens an. Viele haben das, was die Körper entzündlich
oder verbrennlich macht, das sogenannte Phlogiston, für ein in
den Körpern befindliches gebundenes Feuer gehalten, andere aber
haben Feuer und Phlogiston als zween besondere sich entgegenge-
setzte Stoffe, betrachtet. Einige nehmen das Feuer für ein allge-
meines Auflösungsmittel aller Körper an, andere glauben hingegen,
daß dasselbe, um wirksam zu werden, und die Erscheinungen der
Wärme zu. zeigen, selbst eines neuen hinzukommenden Auflösungs-
mittels bedürfe. Diese ungemeine Verschiedenheit der Meinungen
hat ihren natürlichen Grund darin , daß hier die Rede von einer
Ursache ist, die wir nie an sich selbst untersuchen, sondern bloß
1) Ich halte mich bei diesem Werk etwas länger auf und lasse die ent-
scheidenden Stellen in extenso abdrucken, da es einen Niederschlag der damals
herrschenden Theorien darstellt und von der zeitgenössischen Kritik als tüchtige
Leistung allgemein anerkannt wurde.
350 Erich Adickes,
aus ihren Wirkungen beurteilen können. Das einzige nun, was
sich aus diesen mit einiger Gewißheit folgern läßt, ist, daß das
Feuer ein feines, flüssiges, höchst elastisches Wesen sei, das alle
Körper durchdringt, verschiedene Verwandtschaften gegen die-
selben äußert, und in ihnen in verschiedener Menge sowohl, als
auf verschiedene Weise, enthalten sein kann." Im IV. Band des
Wörterbuchs (1791 S. 543 ff.) weist Gehler mit Nachdruck darauf
hin, wie sehr die Untersuchungen über freie, gebundene, spezifische
Wärme dazu beigetragen haben, die Überzeugung von der stoff-
lichen Natur der Wärme allgemein zu verbreiten. Auf den Ge-
danken, die Erscheinungen der Wärme durch bloße Schwingungen
zu erklären, verfiel man nach ihm nur, „ weil man von der Wärme-
erzeugung durch Reiben ausging. Hätte man ehedem die Phäno-
mene der chymischen Vermischungen besser gekannt und zum
Grunde gelegt, so wurden die Erkältungen, wobei sich doch die
Stoffe auch reiben, gleich anfangs auf andere Wege geführt haben.
So hat man auch nie dartun können, daß bei allen Arten der Rei-
bung Wärme entstehe, oder, daß die Wärme im Verhältnisse mit
der Stärke der Reibung sei, usw. Nollets Einwurf (Lecon XIII
Sect. I), daß jede Bewegung abnimmt, wenn sie sich durch größere
Massen verbreitet, dahingegen bei der Entzündung eines Holzstoßes
durch einen Eunken, dem Vibrationssystem zufolge, die Bewegung
wachsen müßte, ist völlig entscheidend. Auch weiß man jetzt,
daß sich die Wärme gar nicht nach den Gesetzen schwingender Be-
wegungen mitteilt, und daß überhaupt aus bloßen Schwingungen
keine befriedigende Erklärung der Erscheinungen hergeleitet werden
kann. Also isj^ es ohne Zweifel notwendig , einen eignen Stoff
der Wärme anzunehmen." Boerhaave meinte, vermittelst dieses
Stoffes die ganzen Wärmeerscheinungen „bloß mechanisch durch
Stoß und Bewegung" erklären zu können. „Seine Lehre vom
Feuer enthält in der Hauptsache alles, was man noch lange nach
ihm über diesen merkwürdigen Stoff vorgetragen hat, bis endlich
neuere Entdeckungen die Begriffe hievon veränderten, und auf
die Vermutung einer chymischen Verbindung des Wärmestoffs mit
den Körpern leiteten." Denn auf Grund der neuen Entdeckungen
Wilkes und Blacks und den auf ihnen beruhenden Begriffen der
freien und gebundenen Wärme zufolge „sieht man jetzt den Wärme-
stoff als etwas an, das sich mit den Körpern nach seiner ver-
schiedenen Verwandtschaft chymisch verbinden , und dadurch die
Wirksamkeit, die es im freien Zustande zeigt, verlieren kann, d. h.
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 351
man betrachtet ihn als ein Auflösungsmittel der Körper. Dies
hat sich nun durch alle bisherige Untersuchungen so wohl be-
stätiget , daß wenige Physiker mehr das Dasein eines eignen
Wärmestoffs bezweifeln werden. Man kann auch eben nicht sagen,
daß dieser Stoff ganz hypothetisch sei, da er sich dem Sinne des
Gefühls auf eine so deutliche Art zu erkennen gibt , die sich
schwerlich für Wirkung irgend einer andern Materie erklären läßt.
Dennoch läßt er sich nicht dem Auge darstellen, in Gefäße ein-
schließen, und unmittelbaren Versuchen unterwerfen." Des Wei-
teren (S. 545 ff.) zeigt Gehler dann, daß der Wärmestoff in seinem
freien Zustand ein äußerst feines elastisches Eluidum sein muß,
das gegen alle Stoffe eine starke Verwandtschaft hat, d. h. ein Be-
streben äußert, sich mit ihnen zu vereinigen. Es ist auf der Erde
überall verbreitet (weshalb es keinen wärmeleeren Raum und keine
absolute Kälte geben kann), stammt nicht aus der Sonne, sondern
ist eine irdische Materie; ihm kommt darum aller Wahrschein-
lichkeit nach auch Schwere und Anziehung zu. Um die Erschei-
nungen der spezifischen Wärme zu erklären, muß man dem Wärme-
stoff nach Art der Chemiker Wahlverwandtschaften beilegen. Er
ist „ein allgemeines Auf lösungsmittel , das, wie alle Menstrua,
durch die wirkliche Verbindung einen Teil seiner Auflösungskraft
verliert, bei völliger Sättigung diese Kraft gar nicht mehr zeigt,
nach der Entbindung aber dieselbe aufs Neue äußert ; i eben so, wie
Säuren durch Verbindung mit Laugensalzen ihre Atzkraft ver-
lieren, und nach der Trennung von selbigen wieder zeigen" (S. 549,
vgl. auch ebenda S. 484).
So schien gegen Ende des 18. Jahrhunderts die Substantiali-
tätstheorie ihren endgültigen Sieg erfochten zu haben. Aber wie
so oft liebte die Geschichte den Zickzack-Kurs : noch in den letzten
Jahren des 18. Jahrhunderts stellte Graf Rumford seine berühmten
Versuche an, die den Anfang vom Ende der Stofftheorie bedeuteten
oder mindestens dem Kampf der beiden feindlichen Lager eine
ganz neue Wendung zu Gunsten der Vibrationstheorie gaben.
Zu dieser und ihren Vertretern wenden wir uns nunmehr.
2. Die Vibrationstheorie.
Im 17. und 18. Jahrhundert waren ihre Anhänger entschieden
in der Minderzahl. Doch hat es von der Renaissance an bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts zu keiner Zeit an bedeutenden Natur-
forschern und Philosophen gefehlt, die sie vertraten. Und hätte
352 Erich Adickes,
man die Stimmen gewogen, nicht gezählt, so würde sich vermutlich
wenigstens um 1700 herum die Wagschale zu ihren Gunsten ge-
senkt haben.
Im II. Buch von Fr. Bacons Novum Organum (Aphorismus
XI ff.) spielt der Begriff der Wärme eine große Rolle : er dient
als Exempel für die Durchführung der neuen von Bacon empfoh-
lenen naturwissenschaftlichen Methode. So wenig diese Methode
taugt , so glücklich ist — ausnahmsweise ! — die Intuition , die
Bacon zu seiner Wärmelehre geführt hat. Aus den beiden Tafeln
der positiven und negativen Instanzen (ähnlicher Fälle, wo Wärme
vorkommt oder fehlt) sowie der dritten, eine Vergleichung dem
Grad nach bringenden Tafel wird zunächst an der Hand eines
Ausschließungsverfahrens unter anderen negativen Resultaten die
Erkenntnis abgeleitet, daß, weil der erwärmende Körper weder
an Gewicht noch Substanz abnimmt, die Erwärmung nicht in
einem Übergang materieller Teilchen bestehen kann, daß ferner
die Wärme, weil sie auch durch bloße Reibung entsteht, kein
selbständiger Stoff sein kann. Vielmehr ergibt sich als positive
Folgerung, daß sie eine Art von Bewegung ist. Nicht als ob
Wärme Bewegung oder Bewegung Wärme erzeuge, obgleich auch
das für einige Fälle zutrifft; sondern: „quod ipsissimus calor, sive
Quidipsum caloris sit motus, et nihil aliud : limitatus tarnen per
differentias." Prima differentia: „quod calor sit motus expansivus,
per quem corpus nititur ad dilatationem sui, et recipiendum se in
majorem sphaeram vel dimensionem, quam prius occupaverat." Se-
cunda differentia: „quod calor sit motus expansivus sive versus
circumferentiam : hac lege tarnen, ut una feratur corpus sursum."
Tertia differentia : ,;ut calor sit motus, non expansivus uniformiter
secundum totum, sed expansivus per particulas minores corporis;
et simul cohibitus, et repulsus , et reverberatus ; adeo ut induat
motum alternativum, et perpetuo trepidantem, et tentantem et ni-
tentem, et ex repercussione irritatum; unde furor ille ignis et
caloris ortum habet. u Quarta differentia : „quod motus ille stimu-
lationis aut penetrationis debeat esse nonnihil rapidus et minime
lentus ; atque fiat etiam per particulas, licet minutas ; tarnen non
ad extremam subtilitatem , sed quasi majusculas." Daraus ergibt
sich hinsichtlich der Wärmeerzeugung der Satz : kann man in
einem Naturkörper eine Bewegung hervorrufen, die darauf aus-
geht ihn zu erweitern und auszudehnen, und kann man diese Be-
wegung so zurückdrängen und gegen sich selbst kehren, daß jene
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 353
Erweiterung nicht gleichmäßig vor sich geht, sondern teilweise
Platz greift, teilweise gehemmt wird, so wird man sich Wärme
erzeugen 1).
Bei Descartes, Hobbes, Locke steht die Wärmetheorie in engem
Zusammenhang mit ihrer Lehre von der Subjektivität der Sinnes-
qualitäten. Descartes erklärt in § 197 f. des IV. Teils seiner Prin-
cipia philosophiae, daß es in der Körperwelt nur Bewegungen ver-
schiedener Art gibt, die unsere Sinnesorgane treffen, von ihnen
zum Gehirn fortgepflanzt werden und dann unserem Geist in Form
von Empfindungen zum Bewußtsein kommen. So entsteht die
Lichtempfindung durch den Druck oder Stoß der kleinen Kugeln
des den Himmelsraum erfüllenden zweiten Elements auf unser
Auge. So ist Wärme nichts anderes als die schnelle Bewegung
(agitatio) der irdischen Teilchen (des dritten Elements), ob sie
nun von der Lichtbewegung oder von sonst einer Ursache her-
rührt. Jedes derartig in Erregung gebrachte irdische Teilchen be-
harrt dann den Naturgesetzen gemäß in seiner Bewegung, bis es
von einer andern Ursache gehemmt wird, und darum dauert die
vom Licht erzeugte Wärme immer noch einige Zeit nach Ent-
fernung des Lichtes. Die von den Sonnenstrahlen getroffenen
irdischen Teilchen bringen ferner die ihnen benachbarten, zu denen
jene Strahlen nicht gelangen, in Bewegung, diese wieder andere,
und so weiter. Auf diese Weise vermag die durch das Sonnen-
licht hervorgebrachte Wärme bis zu den innersten Teilen der
mittlem Erdregion zu dringen. Daß die Wärme fast alle Körper
ausdehnt, rührt daher, daß die irdischen Teilchen, wenn sie von
der Wärme in stärkere Bewegung als gewöhnlich versetzt werden,
wegen ihrer unregelmäßigen Figuren nicht in einem so engen
Raum untergebracht werden können wie im Zustand der Ruhe
oder geringerer Bewegung; der Grad der Ausdehnung richtet sich
nach der Lage und Gestalt der kleinen Teilchen (§ 28—31). Ähn-
lich heißt es im Anfang der Meteora (Kap. I § 7): um das Wesen
der Wärme und Kälte zu begreifen, bedarf man keiner anderen
Annahme, als daß die kleinen Teilchen der von uns berührten
Körper von der subtilen Materie des zweiten Elements oder von
irgend einer andern Ursache in stärkere oder schwächere Be-
wegung als gewöhnlich versetzt werden und dementsprechend auch
heftiger oder sanfter als gewöhnlich auf die kleinen Fasern unserer
1) Baconi Opera omnia. 1694 fol. S. 346—351.
354 Erich Adickes,
Tastorgane treffen: jenes gibt die Empfindung der Wärme, dieses
die der Kälte. Die Erscheinung des Feuers entsteht (nach § 45 f.,
80 des IV. Teils der Principia philosophiae), wenn die irdischen
Teile (das dritte Element) einzeln für sich von den außerordentlich
stürmisch bewegten Teilchen des ersten Elements mitgerissen
werden zu gleich stürmischer Bewegung. Bewegen sie sich, gleich-
falls von einander getrennt, weniger schnell zugleich mit den
Kügelchen des zweiten Elements, so bilden sie das, was wir Luft
nennen. Deren Elastizität ist ganz und gar vom Grad der Wärme,
d. h. also von der Bewegungsintensität der biegsamen kleinen
Teilchen, abhängig, die, je schneller sie bewegt werden, desto mehr
sich ausdehnen und einen um so größeren Raum für ihre Bewegung
erfordern.
Im Anfang seiner Elements of law natural and politic (ed.
F. Tönnies 1889 S. 3 ff. English works ed. Molesworth IV 3 ff.)
und seines Leviathan entwickelt Hobbes ausführlich die Lehre
von der Subjektivität der Sinnesempfindungen, unter denen im
letzteren Werk neben Härte und Weiche auch Wärme und Kälte
als Gefühlsqualitäten *) erscheinen. AJle Empfindungen sind nur
in unserem Bewußtsein. In den Objekten selbst, auch in unserem
Körper, gibt es nur Bewegungen; letztere pflanzen sich zum Ge-
hirn und von da bis zum Herzen fort, und dieses reagirt mit einer
Gegenbewegung, die nach außen strebt und uns deshalb auch als
etwas Äußeres erscheint, d. h. für das Bewußtsein die Form der
Empfindung annimmt. Wärme und Licht sind nach Hobbes eng
verwandt, doch, nicht in der Weise, daß das eine die Ursache des
andern wäre, sondern so, daß beiden dieselbe Ursache, nämlich Be-
wegung in dem leuchtenden oder wärmenden Körper, zu Grunde liegt.
Und zwar entsteht die Lichtempfindung dann, wenn die Bewegung
sich von dem „leuchtenden" Körper aus durch ein Medium in
graden Linien bis zu unserm Auge hin fortgepflanzt, Wärme da-
gegen, wenn die durch das Medium fortgeleitete Bewegung die
kleinsten Teilchen fortwährend ihren Ort unter einander wechseln
läßt, sie gleichsam beständig durch einander wirbelt oder, modern
ausgedrückt, sie in einen Zustand völlig ungeordneter Bewegung
versetzt. Hat der Körper in seinen Teilchen eine solche Bewegung,
daß er zugleich erwärmt und leuchtet, dann entsteht die Er-
1) English works ed. Molesworth III 2 : „qualities as we discern by feeling".
Opera latina ed. Molesworth III 6: „pertinentia ad sensum tactus".
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 355
scheinung des Feuers. Letzteres ist also nicht ein eigenartiger,
selbständiger Stoff, nicht etwas von dem brennenden Holz oder
glühenden Eisen Verschiedenes, sondern das Holz oder Eisen selbst,
nur in einem Zustand besonderer Bewegung. Die Behauptung,
das Feuer sei eine von dem glühenden oder brennenden Körper
verschiedene Substanz, bezeichnet Hobbes als absurd. Auch glaubt
er nicht, daß von der Sonne materielle Teilchen emittiert werden ;
wäre es der Fall, so würde unbegreiflich, warum die Sonne selbst
nicht schon längst aufgezehrt sei (English works ed. by Moles-
worth I 445 ff., VII 25 ff., 117 ff. Opera latina 1362 ff., IV 265 f.,
279, 326 ff.).
Auch für Locke ergibt sich das Wesen der Wärme ohne
weiteres aus der Subjektivität der Sinnes empfindungen. Zu ihnen
und somit zu den bloß sekundären Qualitäten gehört auch die
Wärme, sie muß also in den primären Qualitäten begründet sein.
Größe (Masse), Gestalt und besonders Bewegung werden demgemäß
an verschiedenen Stellen des Essay concerning human understanding
als das bezeichnet, was in der körperlichen realen Welt der rein
subjektiven Wärmeempfindung entspricht und sie in uns hervor-
bringt. So stellt er in B. II Ch. 7 § 4 einen mäßigen Grad
unserer Körperwärme gleich mit einer in gewissen Grenzen ein-
geschränkten Bewegung der unsichtbaren Teile unseres Körpers
„What is sweet, blue or warm, in idea, is but the certain bulk,
figure, and motion of the insensible parts in the bodies themselves,
which we call so" (B. II Ch. 8 § 15, vgl. § 10, 24). Daher die Re-
lativität der Temperaturempfindung. Ist letztere nur eine bestimmte
Art und Intensität der Bewegung in den kleinen Partikeln unserer
Nerven oder Lebensgeister, so wird es verständlich, daß ein und
dasselbe Wasser gleichzeitig der einen Hand warm, der andern
kalt erscheinen kann. Denn wenn die kleinsten Teilchen des
Wassers in stärkerer Bewegung begriffen sind als die unserer
einen Hand, aber in schwächerer als die der andern, so werden sie
jenen einen Zuwachs an Bewegung bringen, diesen aber eine Ver-
minderung und also dort die Empfindung der Wärme, hier die
der Kälte hervorrufen (§ 21). Nach Ch. 16 § 12 des IV. Buches
folgt die Annahme, daß, was wir Hitze und Feuer nennen, in Wirk-
lichkeit eine heftige Bewegung der unwahrnehmbaren kleinsten
Teile des brennenden Gegenstandes sei, als berechtigter Analogie-
schluß aus dem Entstehen der Reibungshitze. Besonders berühmt
geworden und viel zitiert ist folgende Stelle, die (ohne weitere
Q56 Erich A dickes,
Herkunftsangabe, nur als Ausspruch Lockes charakterisiert) J. P.
Joule 1850 als Motto über seine Arbeit On the mechanical equi-
valent of heat (Philosophical Transactions S. 61) setzte, und die
Berthold1) dann in Lockes Elements of natural philosophy (Kap.
XI) auffand: „Heat is a very brisk agitation of the insensible
parts of the object, which produces in us that Sensation, from
whence we denominate the object hot; so what in onr Sensation
is heat, in the object is nothing but motion. This appears by
the way whereby heat is produced; för we see that the rubbing
of a brass nail upon a board will make it very hot, and the axle-
trees of carts and coaches are often hot, and sometimes to a de-
gree, that it sets them on fire, by the rubbing of the nave of the
wheel upon it. On the other side, the utmost degree of cold is
the cessation of that motion of the insensible particles, which to
our touch is heat".
In England zählte die Vibrationstheorie zu Lockes Zeiten eine
Reihe berühmter Namen unter ihren Anhängern. So R. Boyle,
obwohl er das Feuer als einen besondern Körper betrachtete, der
aus kleinsten Teilchen bestehe, die wegen ihrer Kleinheit und Be-
wegungsintensität auch feste Körper, z. B. Glas, zu durchdringen
vermöchten, sich mit andern Körpern, deren Gewicht vermehrend,
verbänden und so verschiedenartige neue zusammengesetzte Körper
hervorbrächten. Auch die bei der Kalzination von Metallen ein-
tretende Gewichtsvermehrung ist Boyle dementsprechend geneigt
auf Zutritt der Feuerteilchen zurückzuführen (The works of R.
Boyle 1772 I 523 f., III 706—730). Für die Wärme dagegen
lehnt Boyle jede Stofftheorie ganz entschieden ab : sie besteht
nach ihm nur in einer starken Agitation der Körpermoleküle, die na-
türlich durch Feuer hervorgebracht werden kann, ebenso gut aber
auch auf irgend eine andere Weise, wie z. B. durch Hämmern von
Eisen oder Silber, ohne deshalb ihren Charakter irgendwie zu ver-
ändern (I 446). Besonders ausführlich entwickelt Boyle seine
Wärmetheorie in der Schrift: Experiments, notes etc., about the
mechanical origin or production of divers particular qualities (zu-
erst 1675), in der 2. Sektion des I. Abschnitts : Of the mechanical
origin of heat and cold (IV 244 ff.). Hier heißt es: The nature
of heat „seems to consist mainly, if not only, in that mechanical
1) Vgl. G. Berthold: Kumford und die mechanische Wärmetheorie 1875
S. 28 f.
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 357
affection of matter we call local motion mechanically modified".
Für diese Modifikation gibt er die Bedingungen an. Erstens
muß die Bewegung der Teile sehr heftig (vehement) sein: durch
diesen Grrad der Rapidität unterscheidet sich die den heißen Körpern
eigne Bewegung von der der bloß flüssigen Körper, denn diese
letzteren, als solche, erfordern auch nicht entfernt eine derartige
Heftigkeit der Bewegung wie die heißen. So bewegen sich die Par-
tikeln des Wassers in seinem gewöhnlichen Zustand so langsam, daß
wir es überhaupt nicht als warm empfinden, obwohl es, um flüssig zu
sein, in fortwährender Molekularbewegung sein muß. Wird aber
das Wasser wirklich heiß, so wächst entsprechend der Zunahme
der Wärme auch die Heftigkeit der Bewegung: das zeigt sich
nicht nur in der stärkeren Affektion unserer Sinnesorgane, sondern
auch in der Bildung zahlreicher kleiner Blasen, im Schmelzen
hineingeworfener Butter und im Aufsteigen von Dämpfen. Kommt
es gar zum Kochen, so wird die heftige, tumultuarische Bewegung
der kleinsten Teilchen noch viel augenscheinlicher und ist dann
von solcher Kraft, daß ein großer Teil der Wassermoleküle, in
der Form von Dampf und Dunst, in die Luft emporsteigt. Die
Heftigkeit der Molekularbewegung sieht man ferner, wenn auf
glühendes Eisen Wassertropfen fallen, vor allem aber am Feuer,
dem heißesten Körper, den wir kennen. Zweitens müssen die
Moleküle sich nach ganz verschiedenen Richtungen bewegen: nach
rechts, links, oben, unten, schief etc. Eine noch so heftige pro-
gressive Bewegung des ganzen Körpers (z. B. von Luft und Wasser
bei starken Winden oder Wasserfällen) erzeugt dagegen keine Wärme,
weil sie der Molekularbewegung nicht den notwendigen Intensitäts-
zuwachs bringt. Drittens müssen die bewegten Partikeln, wenig-
stens in ihrer großen Mehrzahl, so klein sein, daß sie einzeln
nicht wahrgenommen werden können. Wird ein Haufen Sand oder
Staub durch einen Wirbelwind heftig herumgetrieben, so kann
von der spezifischen Wärmebewegung keine Rede sein. Aus dem
Gesagten folgt für Boyle, daß Wärme mechanisch auf so viele
Art erzeugt werden kann, als man die unwahrnehmbaren Teilchen
eines Körpers in eine recht heftige und völlig ungeordnete Be-
wegung zu versetzen vermag. Beispiele dafür gibt er in den auf
S. 246 — 259 dargestellten 28 Experimenten; darunter fehlt selbst-
verständlich das des Schmiedes nicht, der durch schnelles Hämmern
einen Nagel oder ein ähnliches Stück Eisen stark erhitzt. Als
Ursache der Wärme kann hier nichts in Betracht kommen als „the
Kantstudien. XX VU. 24
358 Erich Adickes,
forcible motion of the hammer, which impresses a vehement, and
variously determined agitation of the small parts of the iron".
— An anderer Stelle (III 21) definiert Boyle die Wärme als „the
brisk and confnsed local motion of the minute parts of a body",
III 748 als „a tnmultuary and vehement agitation of the minute
parts of the body, that is said to be hot, and producing also in
the bodies, that it is communicated to, a local motion". Die Rela-
tivität des Wärmegefühls wird von Boyle stark betont, und zwar
ebenso wie nach ihm von Locke und Berkeley *) unter Hinweis auf die
verschiedene Wirkung lauwarmen Wassers auf die verschieden
temperierten Hände eines und desselben Menschen: „Men are wont
to esteem no body hot, but such an one, the agitation of whose
small parts is brisk enough to encrease or surpass that of the
particles of the organ, that touches it ; for if that motion be more
languid in the object, than in the sentient, the body is reputed
cold ; as may appear by this, that if the same person put one of
his hands, when it is hot, and the other when it is cold, into
lakewarm water, that liquor will feel cold to the warm hand,
and warm to the cold" (III 735 f., vgl. III 26). Das Vorhanden-
sein absoluter Ruhe an irgend einem Punkt des Universums ist
Boyle — mit Rücksicht auf die Wärmebewegung in den inneren
Teilchen der Körper — geneigt zu verneinen oder mindestens
stark zu bezweifeln (I 443 — 457) 2).
R. Hook es Wärmetheorie findet sich am ausführlichsten
dargestellt in seiner „Micrographia or some physiological descrip-
tions of minute bodies" (1665) S. 12 f. Alle Flüssigkeit verdankt
nach dieser Stelle die Möglichkeit ihres Aggregatzustandes der
Wärme, und Wärme ist „nothing eise but a very brisk and ve-
hement agitation of the parts of a body". Die letzteren werden
dadurch so unzusammenhängend („loose from one another"), daß
sie sich leicht nach jeder Richtung bewegen und flüssig werden.
Hooke erläutert das durch zwei Beispiele. Man setze eine Schüssel
voll Sand aui* einen in lebhafteste Agitation versetzten und
durch schnelle, stark vibrierende Bewegung erschütterten Körper
1) Vgl. o. S. 355 und Berkeleys Three dialogues between Hylas and Phi-
lonous (Works ed. by A. C. Fräser 1901 I 388, vgl. I 265). Auch Bacon ar-
beitet schon mit demselben Gedanken, nur daß er, wie es scheint, ein und die-
selbe Hand erst kalt sein und dann warm werden läßt (Novum Organum L. II Aph.
XIII Nr. 41 ; Opera omnia 1694 S. 344).
2) Vgl. hinsichtlich seiner Wärmelehre auch noch II 142, III 302, V 13, 27 ff.
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 359
wie einen sehr rasch gedrehten Mühlstein oder ein recht steifes,
heftig oder sehr rasch mit den Trommelstöcken bearbeitetes
Trommelfell, so wird aus der trägen, toten Masse des Sandes eine
vollkommene Flüssigkeit. Macht man ein Loch hinein mit seinem
Finger, so ist es alsbald wieder ausgefüllt und die Oberfläche eben ;
steckt man einen leichten Körper, etwa ein Stück Kork, hinein,
so taucht er sofort wieder auf und schwimmt oben; man kann
keinen schweren Körper, wie ein Stück Blei, auf die Oberfläche
legen, ohne daß er sogleich untersinkt — und das alles nur wegen
der heftigen Agitation des den Sand enthaltenden Gefäßes, wo-
durch» jedes Körnchen eine vibrierende oder tanzende Bewegung be-
kommt, so daß kein schwererer Körper auf dem Sande ruhen
kann, er werde denn auf jeder Seite von einem andern gestützt,
und anderseits der Sand keinen Körper unter sich duldet, der
leichter wäre als er selbst. Dies Beispiel zeigt, wie ein wirklich
schon in kleine Teile zerteilter Körper flüssig wird. Das
zweite Beispiel soll die seltsame auflockernde "Wirkung einer
heftigen schwirrenden oder einer stark und schnell vibrierenden
Bewegung illustrieren, und begreiflich machen, auf welche Weise
die Wärme - Agitation die Teile der festen und harten Körper
so leicht lockert und auflöst: wird in ein Stück Eisen ein Stift
oder Bolzen so fest eingeschoben, daß man ihn mit den Fingern,
obwohl sein Kopf eine genügende Handhabe bietet, auf keine Weise
herausschrauben kann, so braucht man nur das Eisen mit einer
Feile sehr stark zu raspeln, und der Boizen wird sich leicht drehen
und herauslösen lassen. Soweit man auf mechanischem Wege eine
genügend schnelle und starke Bewegung der kleinsten Teilchen
hervorbringen kann, bedarf man keines Aufwandes an Feuerung,
um einen Körper zu schmelzen. Hooke verweist in diesem Zu-
sammenhang auf seine 8. Observation „Of the fiery sparks Struck from
a flint or steel" (S. 44 ff.), aus der hervorgehe, daß man an kleinen
Stahlteilchen die Erscheinungen des Rotglühens, Schmelzens etc.
sowohl durch eine Flamme als durch schnelle und heftige Be-
wegung beim Feuerschlagen hervorbringen könne, was keiner
wunderbar finden werde, der in Betracht ziehe, wie starke Hitze-
grade durch Reiben, Hämmern, Feilen usw. erzeugt werden. Der
Hitzegrad, bei dem feste Körper flüssig werden, ist verschieden.
In einigen Körpern sind die Teilchen so locker gelagert, so wenig
geeignet zu kohärieren, so winzig und klein, daß schon eine sehr
kleine Intensität der (Molekular-) Bewegung sie dauernd im Zu-
24*
360 Erich Adickes,
stand der Flüssigkeit erhält. Andere erfordern weit größere,
oder gar fast unendlich große Intensität (S. 13, 15). Doch ist
Hooke der Meinung, es gebe keinen Körper in der Welt, der
nicht durch irgendeinen Grad von Bewegungsintensität oder Hitze
flüssig gemacht werden könnte. Da alle Körper einen gewissen
Grad von Wärme in sich haben und noch niemals ein absolut
kalter Körper gefunden ist, müssen die kleinsten Teilchen aller
Körper, so fest sie auch seien, stets in vibrierender Bewegung sein.
Sich im großen Theater der Welt einen Körper zu denken, dessen
Moleküle ganz in Ruhe, träge und untätig wären: das wider-
spräche durchaus der großartigen Ökonomie des Universums
(S. 16). Hookes Wärmetheorie spielt auch in der 7. Observation
„Of some phaenomena of glass drops" (S. 33 ff.) eine große Rolle.
S. 37 heißt es: „Heat is a property of a body arising from the
motion or agitation of its parts; and therefore whatever body is
thereby touched must necessarily receive some part of that motion,
whereby its parts will be shaken and agitated, and so by degrees
free and extricate themselves from one another, and each part so
moved does by that motion exert a conatus of protruding and
displacing all the adjacent particles. Thus air included in a vessel,
by being heated will burst it to pieces". Auf das Verhältnis
zwischen Wärme und Licht und das Wesen des Feuers einzugehen,
würde zu weit führen; vgl. darüber S. 55 f., 105. Vgl. ferner The
posthumous works of R. Hooke ed. by E. WaUer 1705 S. 49, 80 f.,
Ulf., 116, 169, 191.
J. Newton tritt mit Bezug auf die Wärme ebenso ent-
schieden für die Vibrationstheorie ein, wie mit Bezug auf das
Licht für die Emissions- und also die Stofftheorie. Wärme und
Licht sind für ihn demgemäß etwas sehr Verschiedenes. Er
spricht sich über ihr Verhältnis in den seiner Optik (1704) an-
gehängten, in den späteren Auflagen stark vermehrten Fragen aus.
Körper und Licht wirken nach Quaestio Vauf einander wechsel-
weise, die Körper auf das Licht: indem sie es aussenden, zurück-
werfen, brechen und beugen, das Licht auf die Körper: indem es
sie erwärmt und die vibrierende Bewegung, in der die Wärme be-
steht, in ihren Teilen erregt. Nach Quaestio VIII senden alle
festen Körper, wenn sie über einen gewissen Grad hinaus erhitzt
sind, infolge der vibrierenden Bewegung ihrer Teilchen Licht aus,
wobei es ganz gleichgültig ist, ob diese Bewegung durch Wärme
entsteht, oder Reibung, oder Stoß, oder Fäulnis, oder eine Vital-
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 361
bewegung oder irgend eine andere Ursache. Feuer ist ein so
stark erhitzter Körper, daß er in reichlicherem Maße Licht aus-
sendet, Flamme ein Dampf oder Rauch oder eine Ausströmung,
wiederum so stark erhitzt, daß sie Licht aussendet ; denn die
Flamme ergreift keinen Körper, der nicht reichlichen Rauch aus-
sendet, und dieser Eauch brennt dann in der Flamme (Quaestio
IX, X). Zur Erklärung der Wärmeleitung im luftleeren Raum1)
bedarf man der Annahme eines die Vibrationen des erwärmenden
Körpers aufnehmenden und weiter verbreitenden Mediums, das viel
feiner, subtiler, elastischer und aktiver sein muß als die Luft und
auch nach deren Vertreibung noch im Vacuum zurückbleibt. Das
Licht wird durch dieses Medium (= Äther) gebrochen und zurück-
geworfen und teilt durch dessen Vibrationen die Wärme den
Körpern mit. Diese Vibrationen bewirken in den warmen Körpern,
daß die Wärme stärker und dauernder wird, und die warmen
Körper teilen ihre Wärme den benachbarten kalten dadurch mit,
daß die Vibrationen jenes Mediums sich von den warmen Körpern
aus in die kalten verbreiten (Quaestio XVIII).
Leibniz, in vielem Newtons Antipode, ist doch gleich ihm
ein Anhänger der Vibrationstheorie, wenn auch die Rolle, die er
den Äther spielen läßt, aus diesem stellenweise fast eine besondere
Feuermaterie macht. Leibniz entwickelt seine Ansichten darüber
in einer seiner ersten Schriften, die er als 25 jähriger 1671 ver-
öffentlichte: Hypothesis physica nova2), in deren erstem Teil
(Theoria motns concreti) es in § 30, 34 heißt : „Lux est motus
aetheris ad sensum rectilineus celerrimus in quodlibet punctum
sensibile circum circa propagatus." Lux est vel primigenia (in
sole) „vel secundo-genita, eaque aut originalis, aut imitata: origi-
nalis est in igne apud nos genito qui fit aethere innumerabilium
bullarum rupturis acervatim disploso 3) ; imitata est in speculis"
etc. „Caloris eadem est causa, quae lucis, solo subtilitatis dis-
crimine. Utrumque et oritur a motu intestino in se redeunte,
subtiliora sui ejaculante, et eum facit. Unde et raritas et con-
gregatio homogeneorum. Contra frigus, quod constringit, oritur
1) „calor exterior trans vacuum defertur."
2) Leibniz: Mathematische Schriften ed. C. J. Gerhardt 1860 II 2 S. 17 ff.
Leibniz: Philosophische Schriften ed. C. J. Gerhardt 1880 IV 177 ff.
3) Also eine ähnliche Anschauungsweise wie bei Euler (oben S. 386 f.) ; vgl.
auch § 40 ff.
362 Erich Adickes,
a motu quodam forti, et recto, sed crasso, unde obtundente, non
penetrante, ac proinde non solvente, sed constringente." Vgl.
§ 56 : Calida motu intestino forti subtiles radios ejaculantur ; aerem
gravi täte sua innitentem rejiciunt ventilantque .... „Lux nihil
aliud, quam rei agitatio intestina, tarn fortis, ut conatus ejus ex-
trorsum tendentes ad quodlibet et ex quolibet puncto sensibili di-
recte et reflexe oculum feriant. Ab agitatione tarn forti, quis ca-
lorem et rarefactionem .... oriri miretur? u Vgl. auch § 4 — 7.
An dieser Wärmetheorie scheint Leibniz auch in späteren Jahren
der Hauptsache nach festgehalten zu haben. In seiner nach-
gelassenen Protogaea (edita a Chr. L. Scheidio 1749 S. 2) leitet
er den Flüssigkeitszustand von der inneren Bewegung und Wärme
ab und setzt hinzu: „Calor motusve intestinus ab igne est, seu
luce, id est tenuissimo spiritu permeante."
Gr. L. Lesage, später bekannt geworden durch seinen Lu-
crece Newtonien (1784) und durch die von seinem Schüler P. Pre-
vost 1818 herausgegebene Physique mecanique, nimmt in seinem
Cours abrege" de physique (1732) eine besondere Licht- und Feuer-
materie an, die Schwere hat, hart und elastisch ist, alle Körper
durchdringt und sich mit ihnen vereinigt, um einen Teil ihrer
Substanz auszumachen, die ferner keine homogene Flüssigkeit ist,
sondern eine Menge heterogener, teilbarer Körper von verschiedener
Masse und daher auch verschiedener Bewegungsgröße und Brechbar-
keit (S. 31ff., 69 ff.). Die Wärme dagegen ist kein Stoff. Als Em-
pfindung ist sie ganz verschieden von ihrer Ursache in den warmen
Körpern. Letztere besteht in einer ungeordneten Bewegung oder
einer Erschütterung (trömoussement) der Moleküle (parties), die
sich den Molekülen anderer Körper bei Berührung mitteilt, einerlei
ob diese Bewegung durch heftige Reibung oder irgend welche
äußere Erschütterung oder die Nachbarschaft eines Feuers oder
Gärung hervorgebracht ist. Alle festen Körper können gemäß den
Erfahrungen mit Brennspiegeln durch starke Hitze flüssig gemacht
werden. Zur Flüssigkeit ist fortwährende Molekularbewegung er^-
forderlich. Körper sind fest nur durch eine Art Gefrieren, und
eine gute Physik muß Wärme und Bewegung, Kälte und Ruhe
als Synonyma brauchen (S. 68—74, 77 f.).
Dan. Bernoulli spricht in seiner, erst in den letzten De-
zennien ihrer vollen Bedeutung nach anerkannten Hydrodynamica
(1738), in der er die moderne kinetische Gastheorie vorweggenommen
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 363
hat1), gegen Schluß der 1. Sekt. (S. 14 f.) auch über das Wesen der
Wärme. Freilich nur kurz, indem er feststellt, daß alle Flüssig-
keiten in innerer Bewegung sind; daß daher- ein hinreichender
Grad von Wärme, die alles in Bewegung bringt (rapit), die meisten
Dinge, seien sie auch noch so fest, flüssig macht; daß ferner in-
folge jener inneren Bewegung die Partikelchen einander nicht
berühren, sondern gleichsam umherfliegen und daher ohne Reibung
auf den geringsten Impuls hin von ihrem Platz weichen, was auf
keinen Fall geschehen würde, wenn die Partikelchen einander be-
rührten, wie in einem Sandhaufen. Je stärker die Wärme, desto
heftiger sei auch die Bewegung der Partikelchen, und durch einen
desto größeren Zwischenraum seien sie von einander getrennt : das
stehe in vollkommener Übereinstimmung mit der Ausdehnung aller
Flüssigkeiten durch Wärmezuwachs und ihrer Zusammenziehung
durch Kälte. Vgl. S. 202: „Constat calorem intendi ubique cres-
cente motu particularum intestino."
Mich. Lomonosow2) veröffentlichte 1750 im I. Bd. der „Novi
Commentarii" der Petersburger Akademie der Wissenschaften (für
die Jahre 1747 und 1748) auf S. 206—229 Meditationes de caloris
et frigoris causa, in denen er die Ansicht vertritt, Wärme und
Feuer bestünden „in motu intestino gyratorio materiae cohaerentis
corporis calidi". Unter materia cohaerens versteht er diejenige,
die sich mit dem ganzen Körper bewegt und im Stoße wirkt,
einerlei ob sie „propria" oder „peregrina" ist (jene z. B. die Teil-
chen des Schwammes, diese: das von ihnen eingezogene Wasser).
Ihr entgegengesetzt ist die einem Strom gleich die Poren des
Körpers durchfließende feine Materie wie der Äther. Von den
möglichen Arten innerer Bewegung : der progressiven, vibrierenden
und gyratorischen, sind die ersten beiden mit Rücksicht vor allem
auf die Kohäsion der Teilchen unmöglich; es bleibt also nur die
Drehung der letzteren um die eigne Axe übrig, die unbeschadet
der Kohäsion vor sich gehen kann, vor allem wenn die Teilchen
kuglig sind. Steigerung dieser inneren Bewegung bedeutet also
1) Vgl. du Bois-Reymond in JPoggendorfs Annalen der Physik und Chemie
1859 Bd. 107 S. 490 ff., G. Berthold: Rumford und die mechanische Wärmetheorie
1875 S. 13 ff., 38 f., R. Rühlmann: Handbuch der mechanischen Wärmetheorie
1885 II 12 ff., 878 ff.
2) Über ihn B. N. Menschutkin in W. Ostwalds Annalen der Naturphilo-
sophie 1905 IV 204—225, ferner Fr. Dukmeyer in den Preuß. Jahrbüchern 191 1
Bd. 146 S. 247—264.
864 Erich Adickes,
Wärmezunahme, ein Maximum beider ist nicht denkbar, da es
keine Bewegungsintensität gibt , im Vergleich mit der nicht eine
noch größere gedacht werden könnte. Verminderung der innern
Bewegung ist gleichbedeutend mit Abkühlung; hört jene völlig
auf, herrscht also absolute Ruhe im Innern eines Körpers, so ist
das Kältemaximum erreicht. Ein solcher nicht mehr überschreit-
barer Grad der Kälte könnte also an sich in der Natur wohl an-
getroffen werden, auf unserer Erde jedoch existiert er nicht, da
keine Flüssigkeit ohne innere Drehbewegung und Wärme möglich
ist, die Luft aber und viele andere Flüssigkeiten noch nicht zum
Gefrieren gebracht sind. Für die Phänomene der Wärmeleitung
und die der Wärmestrahlung bietet Lomonosow verschiedene Er-
klärungsprinzipien. Dort handelt es sich um Übertragung der in-
neren Bewegung von Teilchen zu Teilchen und Körper zu Körper.
Warme Körper kühlen bei der Berührung kalter ab, da die schnel-
lere Bewegung in jenen durch die trägere in diesen verlangsamt
wird; zugleich wirkt aber die erstere auf die letztere beschleu-
nigend zurück, und so werden die kalten Körper erwärmt. Bei
der Wärmestrahlung dagegen übernimmt die außerordentlich feine
Materie des Äthers, durch die alle von wahrnehmbaren Körpern
freien Räume erfüllt sind , die Vermittlung : ihr werden von den
Teilchen des warmen Körpers die Drehbewegungen mitgeteilt, und
sie überträgt dann wieder diese Bewegungen auf entfernte Körper,
so vor allem die Sonnenwärme auf die Erde und die übrigen Pla-
neten. Von diesen Grundsätzen aus erklärt Lomonosow zahlreiche
Wärmephänomene. Außerdem bekämpft er die Annahme eines be-
sonderen Wärmestoffs , ob er nun als Äther oder als Elementar-
feuer bezeichnet werde, mit sehr triftigen Gründen1).
Aus der Zeit nach 1755 nur noch einige kürze Nachrichten!
In J. H. GL v. Justis Geschichte des Erdkörpers (1771) heißt es
S. 39: „Das Feuer ist nichts anders, als eine sehr heftige Bewe-
gung der Materie in ihren kleinsten Teilen", und S. 123 : „Wir
müssen hier wiederholen , daß das Feuer nichts weniger als ein
vor sich bestehendes Wesen, Materie oder Körper sei ; sondern es
ist weiter nichts als die heftigste Bewegung der Materie in ihren
kleinsten Teilen. a
1) L. Euler hat sich nach Dukmeyer (a. a. 0. 254) in einem Brief an Lo-
monosow lobend über die Neuheit und Gründlichkeit seiner Wärmetheorie ausge-
sprochen und die von den Gegnern vorgebrachten Einwände für ungereimt und
unbegründet erklärt. Vgl. auch o. S. 337 Anm.
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 365
P. J. Macquer hält in der 2. Auflage seines Chymischen
Wörterbuchs (übersetzt von J. GL Leonhardi 1781 1 425 ff. II 237 ff.)
das Licht für eine besondere Materie, welche, wenn sie in andere
Körper als Bestandteil eingeht, Phlogiston (Brennbares, gebundenes
Feuer) genannt wird. Die Wärme dagegen betrachtet er als eine
schwingende oder oszillierende Bewegung, deren sowohl die zu-
sammengehäuften Teile der Lichtmaterie als die Bestandteile von
allen und jeden Körpern fähig sind, wenn sie durch einen Stoß
erschüttert werden, mag letzterer vom Lichte oder von irgend
einer andern Ursache (Reiben, Stoßen, Hämmern etc.) herrühren *).
Macquer führt Bacon als Zeuge für diese Vibrationstheorie an und
setzt hinzu: „Auch denken die mehresten neuern Naturforscher so:
jedennoch ist mir keiner bekannt, der diese Gedanken aus einander
gesetzt hätte" (II 238).
Für die Vibrationstheorie treten ferner ein : der Kopenhagener
Physiker Chr. Gr. Kratzenstein in seinen Vorlesungen über die
Experimental- Physik (1758; in der 4. Aufl. von 1781 S. 129 ff.)2),
Bordenave in einem Aufsatz über die Natur des Feuers, aus
Roziers Observations sur la physique etc. übersetzt in L. Crells
Chemischen Annalen 1786 Stück 5 S. 458—465, Gr. Fr. Werner in
seinem Entwurf einer neuen Theorie der anziehenden Kräfte, des
Ethers, der Wärme und des Lichts (1788), F. A. Lorenz in seiner
Chemisch physikalischen Untersuchung des Feuers (1789), A. N.
Scherer in seinen „Nachträgen zu den Grundzügen der neuern
chemischen Theorie" (1796).
Kurz vor dem Schluß des 18. Jahrhunderts setzten sodann
Graf Rumford (Benj. Thompson) und H. Davy mit ihren ent-
scheidenden Experimenten und Untersuchungen ein, die zwar der
Lehre von der stofflichen Natur der Wärme noch keine endgül-
tige Niederlage zu bereiten vermochten — dazu war gerade da-
mals ihre Herrschaft zu fest gegründet — , die aber gegenüber
der feindlichen Festung eine neue unüberwindliche Position er-
1) In der ersten Auflage leiden die betreffenden Ausführungen an großer
Unklarheit. Macquer scheint hier auch noch hinsichtlich der Wärme der Stoff-
theorie zuzuneigen. Vgl. die deutsche Übersetzung: Allgemeine Begriffe der
Chymie nach alphabetischer Ordnung mit Anmerkungen von K. W. Pörner 1768
II 135 ff.
2) Kratzenstein ließ zu Gunsten der Vibrationstheorie und zur Verteidigung
seiner Vorlesungen gegen eine Rezension 1791 auch noch eine besondere kleine
Brochüre erscheinen: Schreiben an Fr. Nicolai über die Lehre vom Feuer.
366 Erich Adickes,
richteten, von der aus mit der Zeit ihr Fall herbeigeführt werden
konnte *).
Kant selbst steht in seiner Magister - Dissertation auf dem
Boden der Substantialitätstheorie : als Träger und Vermittler der
Wärme- und Lichterscheinungen nimmt er einen gemeinsamen ela-
stischen Stoff an, den Äther, der zugleich auch die Ursache der
verschiedenen Aggregatzustände und der Elastizität fester sowohl
wie flüssiger Körper ist. Anderseits macht er der Vibrations-
theorie insofern ein Zugeständnis, als dieser Äther im Zustand der
Rune nicht fähig sein soll, irgendwelche Wärmephänomene hervor-
zubringen, sondern nur im Zustand eines „motus undulatorius s.
vibratorius" : diese seine Bewegung ist eben das, was man Wärme
(sc. objektiv in den Körpern) nennt. Bewegung der Körperteil-
chen selbst kommt also nicht in Betracht, oder tritt doch wenig-
stens nur als ein ganz sekundäres Moment auf, z. B. bei der Aus-
dehnung der Körper, als ein Moment, das nicht für das Wesen der
Wärme selbst, sondern nur für ihre (bezw. des bewegten Wärme-
stoffs) Wirkungen kennzeichnend ist.
Was Kant entwickelt, ist also durchaus nicht etwa eine Ab-
art der Vibrationstheorie, sondern eine ausgesprochene Stofftheorie,
die nur dem unleugbaren Zusammenhang zwischen Wärme und Be-
wegung, wie er vor allem in der Erzeugung von Reibungswärme
klar zutage tritt, dadurch gerecht zu werden sucht, daß sie die
Bewegung des Wärmestoffs als die conditio sine qua non und
als das eigentlich Charakteristische hinstellt. Ähnliche Ansichten
trafen wir bei vielen Vertretern der Stofftheorie, so bei Wolff,
Hamberger, Boerhaave, v. Musschenbroek, Euler, Nollet, Krüger,
Crusius, le Cat, Segner, Winkler, Erxleben. Ja, man kann sagen :
die Wucht der Tatsachen ist so groß, daß jeder Anhänger jeder
Stofftheorie, wie er sie auch im Einzelnen gestalten möge, sich
genötigt sieht, nicht vom ruhenden, sondern vom irgendwie
bewegten Wärmestoff seine spezifischen Wirkungen abzuleiten.
Daß auch Kant das tut, ist also kein Grund, ihn mit der Vi-
brationstheorie in Verbindung zu bringen und als einen Vorläufer
der modernen mechanischen Wärmetheorie zu betrachten. Er ge-
1) Über Rumford und Davy vgl. G. Berthold : Rumford und die mechanische
Wärmetheorie 1875 S. 39 ff., R. Rühlmann : Handbuch der mechanischen Wärme-
theorie 1885 II 886 ff., F. Rosenberger : Geschichte der Physik 1887—90 III 60 ff.
Zur Lehre von der Wärme von Fr. Bacon bis Kant. 367
hört vielmehr dem entgegengesetzten Lager an. Und es ist auch
sonst, wie mein Werk über „Kant als Naturwissenschaftler" aus-
führlich nachweisen wird, kein Grund vorhanden, von den Medi-
tationes de igne viel Aufhebens zu machen. Sie stellen ein ziem-
lich mäßiges Produkt dar, das keinerlei neue durchgreifende Ge-
danken enthält und das auch die Einzelprobleme, die es behandelt,
an keinem Punkt wirklich fördert.
Kants Verdienste um die Naturwissenschaft liegen auf ganz
anderm Gebiet : nicht in seiner Wärme- und Äthertheorie, sondern
vor allem in seiner Kosmogonie, seiner Theorie der Winde und
seiner Lehre von den Faktoren, die verlangsamend oder beschleu-
nigend auf die Erdrotation einwirken, sodann in dem Hinweis auf
die Bedeutung des abfließenden Wassers für die Oberflächengestal-
tung der Erde und in dem Grundgedanken seiner Rassentheorie mit
ihrer starken Betonung der die Vererbung bestimmenden Keime
und natürlichen Anlagen.
Überall da zeigt sich die Größe seines Genies im hellsten
Licht. Er ist zwar weit davon entfernt, ein eigentlich natur-
wissenschaftlicher Geist zu sein: weder liegt ihm die experimen-
telle Betätigung, noch genügen seine mathematischen Kenntnisse
und Fertigkeiten zur mathematischen Behandlung schwierigerer
naturwissenschaftlicher Fragen. Ja, man muß noch weiter gehen
und sagen: trotz reicher Einzelkenntnisse und trotz wiederholter
Vorlesungen über Mathematik und theoretische Physik1) war und
blieb er doch Zeit seines Lebens in naturwissenschaftlichen Dingen
ein Dilettant, und die Schattenseiten eines solchen Dilettantismus
machen sich auch bei ihm nicht selten bemerkbar.
Aber andrerseits ist er ein Dilettant von wahrhaft großem
Genie, ausgezeichnet durch eine ungewöhnliche Verbindung schärf-
sten abstrakten Denkens mit einer ausgesprochenen Gabe der In-
tuition, von ungemeiner Vielseitigkeit der Interessen und einem
Überblick über die verschiedensten Gebiete, um den ihn mancher
Fachgelehrte hätte beneiden können. Und was uns am Genie so
oft entgegentritt , das trifft auch bei Kant zu : er liebt es , auf
einer hohen Warte mit weiter Aussicht zu stehn. Die Ideen waren
seine Leidenschaft, beständig brütete er über ihnen, wie er es selbst
einmal ausdrückt (A. A. X2 397).
1) Jene hat er 14 mal, diese mehr als 20 mal angekündigt. Vgl. E. Arnoldt
Gesammelte Schriften 1909 V 338 f.
368 Erich Adickes, Zur Lehre von der "Wärme von Fr. Bacon bis Kant.
Und so vermochte er, als Ausnahmegeist, trotz seines Dilet-
tantismus, die Naturwissenschaft mit weitumspannenden Ideen und
kühnen Synthesen zu befruchten und neue, überraschende Gesichts-
punkte in sie einzuführen. Seine stark entwickelte analytische
Fähigkeit erlaubte ihm tiefe Blicke in schwer übersehbare und zer-
legbare Verhältnisse, und eine seltene Kraft der Synopsis ließ ihn
weit Getrenntes, scheinbar Zusammenhangsloses zusammenschaun
und in innere Verbindung bringen.
Zur Analysis des Relativitätsbegriffs.
Eine Skizze.
Von Heinrich Scholz, Kiel.
Es gibt ein- und mehrdimensionale Begriffe. Der Relativitäts-
begriff gehört zu den mehrdimensionalen. Die folgende Skizze ist
ein Versuch, ihn nach seinen wichtigsten Dimensionen zu ana-
lysieren.
1.
Wir beginnen mit einem Ausspruch Lotzes. In §318 seiner
Logik stoßen wir auf die schönen "Worte: „Wir alle sind über-
zeugt, in dem Augenblick, in welchem wir den Inhalt einer Wahr-
heit denken, ihn nicht erst geschaffen, sondern nur ihn anerkannt
zu haben. Auch als wir ihn nicht dachten, galt er und wird
gelten, abgetrennt von allem Seienden, von den Dingen sowohl
als von uns, und gleichviel, ob er je in der Wirklichkeit des Seins
eine erscheinende Anwendung findet, oder in der Wirklichkeit des
Gredachtwerdens zum Gegenstand einer Erkenntnis wird. So denken
wir alle von der Wahrheit, sobald wir sie suchen und suchend
vielleicht ihre Unzugänglichkeit für jede wenigstens menschliche
Erkenntnis beklagen. Auch die niemals vorgestellte gilt nicht
minder, als der kleine Teil von ihr, der in unsere Gedanken ein-
geht" (Ausgabe von Misch S. 515).
Was Lotze hiermit sagen will, ist grundsätzlich klar. Er will
den Wahrheitsbegriff, in selbständiger Fortspinnung tiefer und ur-
wüchsiger platonischer Gedanken, gegen den Subjektivismus schützen
und auf die Stufe emporheben, auf der er über alle Relativierungs-
versuche erhaben ist. An dieser Tendenz kann kein Zweifel sein.
Eher schon kann man sich über den genauen Sinn gewisser Einzel-
heiten den Kopf zerbrechen. Was es heißt, daß der Inhalt einer
Wahrheit „in der Wirklichkeit des Seins eine erscheinende An-
wendung findet", ist schwer, vielleicht überhaupt nicht deutlich
zu sagen.
370 Heinrich Scholz,
Aber lassen wir solche Nebensachen bei Seite. Es handelt sich
hier nicht um Fragen der Einkleidung, sondern um den Kern und
die Sache selbst. Es handelt sich um jene Tendenz zur Autonomi-
sierung des Wahrheitsbegriffes, die ganz eindeutig in Lotzes Aus-
spruch hervortritt. Um Mißverständnisse auszuschließen, schicken
wir die ausdrückliche Bemerkung voraus, daß diese Tendenz als solche
auch nach unserer Auffassung nicht Gegenstand der Kritik werden
kann. Sie fällt mit der Ehrfurcht vor der Wahrheit zusammen
und ist der Ausdruck einer intellektuellen Gesinnung, deren Exi-
stenz die Voraussetzung jeder ernsten logischen Analysis bildet.
Um so nachdrücklicher wird die Kritik sein müssen, die wir
an Lotzes Gedankenführung zu üben haben. Er spricht, um es
kurz zu sagen, von Wahrheiten an sich. Er redet von Wahrheiten,
die gelten sollen, auch wenn sie nie und von niemandem gedacht
werden. Er verlegt — so wird man sich ausdrücken dürfen —
geradezu das Wesen der Wahrheit in ihre Unabhängigkeit von
der Tatsache ihres Gedacht- oder Anerkanntwerdens. Wie den
platonischen Ideen ein „Sein" zukommt, das von dem Akt ihres
Erfaßtwerdens ganz unabhängig ist, so verhält es sich nach Lotzes
bekannter Auffassung nicht nur mit jenen viel erörterten Gebilden
der platonischen Spekulation, sondern mit der Wahrheit überhaupt.
Ja, die platonischen Ideen sind nach Lotze bekanntlich nichts an-
deres als die Stellvertreter derjenigen Gebilde, die wir heute als
Wahrheiten bezeichnen, wie andererseits der platonische Seins-
begriff das genaue Äquivalent unseres Geltungsbegriffes sein soll.
Es ist hier nicht der Ort, in eine Kritik der Lotzeschen Plato-
Auffassung einzutreten. Wir begnügen uns vielmehr an dieser
Stelle mit der Andeutung der beiden Hauptgesichtspunkte, die ihre
Ablehnung notwendig machen. Erstens ist die platonische Idee
das Korrelat eines Begriffs, während die Lotzesche Wahrheit in
jedem Falle das Korrelat eines Urteils ist. Zweitens kann sich
das „Sein" der platonischen Ideen schon deshalb nicht in ihrem
Gelten erschöpfen, weil die Geltung einer Idee eine Sache ist, bei
der man sich überhaupt nichts denken kann. Denken kann man
sich nur etwas bei der Geltung eines Urteils über eine Idee;
und wenn man, nachlässig genug, gleichwohl von der Geltung einer
Idee spricht, so meint man tatsächlich stets die Geltung des Ur-
teils über diese Idee. Aber dieses Urteil ist nicht selbst die
Idee, über die im Urteil geurteilt wird, sondern eine Prädikation
der Idee, also etwas, was die Idee immer schon zur Voraussetzung
Zur Analysis des Kelativitätsbegriffs. 371
hat und von dieser logisch durchaus verschieden ist. Ich kann dem
platonischen Urteil, daß es ein an sich Schönes gibt und daß die
schönen Dinge auf Erden nur durch die mystische Gegenwart
dieses an sich Schönen selbst schön werden oder schön sind, Geltung
zuschreiben oder auch nicht. Aber es hat schlechterdings keinen
Sinn, von einer Geltung des an sich Schönen zu sprechen, während
es einen sehr bestimmten Sinn hat, dem an sich Schönen mit Plato
eine übersinnliche Existenz zuzuschreiben.
Eine ganz andere Frage ist es, ob diese Zuschreibung haltbar
ist und wie man sie etwa umformen müßte, um ihr Haltbarkeit zu
verleihen. Aber ganz unabhängig von dieser Frage, die hier nicht
diskutiert werden kann, ist die Tatsache, daß die platonische Rede-
weise vom Fürsichsein der Ideen eine wohlbestimmte Bedeutung
hat, und daß dieses Fürsichsein schon deshalb nicht in ein Lotze-
sches Gelten aufgelöst werden darf, weil dadurch nicht nur der
platonische Sinn, sondern überhaupt jeder deutlich angebbare
Sinn verschwindet. Es ist fast seltsam, daß man das aussprechen
muß, nachdem so viel Scharfsinn und Geisteskraft an den Ausbau
der Lotzeschen Lehre gewendet worden ist; aber der Tatbestand
selbst ist unwidersprechlich, und es bedarf, wie mir scheint, nur
des energischen Versuchs, sich bei der Geltung einer Idee etwas
Bestimmtes denken zu wollen, um entweder einzusehen, daß man
sich nichts dabei denken kann, oder zu finden, daß tatsächlich in
jedem genau geprüften Falle statt der Geltung der Idee vielmehr
die Geltung des Urteils über sie gemeint ist.
Aber wir haben es hier eigentlich nicht mit Lotzes Plato- Auf-
fassung zu tun, sondern mit der Tendenz seiner Wahrheitslehre.
Die Kritik seiner Plato-Interpretation gehört lediglich insofern
hierher, als sie den Geltungsbegriff betrifft. Wir haben gefunden,
daß Lotze diesen Begriff auf die platonischen Ideen in einer Weise
anwendet, die bei aller Hochachtung, die wir ihm schuldig sind,
nur als unklar bezeichnet werden kann. Es ist a priori zu ver-
muten, daß auch der Geltungsbegriff, der das Wesen der Wahr-
heit erleuchten soll, nicht einwandfrei ist.
Diese Vermutung trifft zu. Die durch die Lotzesche Geltungs-
lehre erstrebte Autonomisierung der Wahrheit, ihre Loslösung von
allen Relationen, läßt sich in dieser Form keinesfalls aufrecht er-
halten. Wir zeigen das zunächst durch eine kurze Analyse des
Geltungsbegriffes. Was wollen wir denn eigentlich sagen, wenn
wir einer Wahrheit Geltung zuschreiben? Wenn wir etwas Be-
372 Heinrich Scholz
stimmtes damit ausdrücken wollen, und nicht gedankenlos Worte
gebrauchen, über deren Sinn wir uns selbst im Unklaren sind, so
kann nur eine einzige Absicht in Betracht kommen. Wir können
damit nur sagen wollen, daß diese Wahrheit von jedem urteils-
fähigen Subjekt, das sie vernimmt, anerkannt werden müsse.
Wir wollen damit zum Ausdruck bringen, daß es niemandem frei-
stehe, auch anders zu urteilen, wenn er nicht mit der Wahrheit
spielen oder sich selbst aus der Vernunft heraussetzen will. Das
meinen wir allerdings, wenn wir im strengen und vollen Sinne
des Wortes von der Geltung einer Wahrheit sprechen ; aber keines-
falls meinen wir mehr. Vor allem denken wir nicht daran, von
der Existenz vernehmender und urteilsfähiger Subjekte in diesem
Zusammenhange abzusehen. Im Gregenteil, wir setzen sie auf das
bestimmteste voraus. Ja, wir müssen sie voraussetzen; denn wir
würden von Geltung gar nicht sprechen können, wenn es nicht
vernehmende und urteilsfähige Subjekte gäbe, auf die der Geltungs-
anspruch sich bezieht. Das Gelten ist stets ein Gelten für
jemanden, für ein Subjekt, das imstande ist, den In-
halt dessen, was gelten soll, zu vernehmen. Gäbe es
keine solchen Subjekte, so könnte es auch kein Gelten geben;
denn das Gelten ist schlechthin gleichbedeutend mit der Forde-
rung, anerkannt zu werden, und eine Anerkennung ohne aner-
kennende Subjekte ist ein Unding, das sich durch sich selber er-
ledigt. Der Geltungsbegriff ist mithin ein charakte-
ristischer Relationsbegriff; er hat das Dasein ver-
nehmender und anerkennungsfähiger Subjekte zur
Voraussetzung.
Zu einem ähnlichen Ergebnis führt die Analyse des Wahr-
heitsbegriffes. Was verstehen wir unter Wahrheit? Wenn ich
recht sehe, kommen für eine prinzipielle Erörterung, die auf Neben-
dinge nicht eingehen kann, zwei Grundbedeutungen in Betracht.
Zunächst verstehen wir unter Wahrheit eine Urteilsqualität.
Wahrheit in diesem primären Sinne ist gleichbedeutend mit dem
Merkmal des Wahrseins. In diesem Sinne sprechen wir alle von
der Wahrheit eines Urteils oder Urteilskomplexes, gleichviel,
worauf er sich im übrigen bezieht. Wir können sogar, wenn es
nötig ist, von der Wahrheit einer Wahrheit sprechen. Hier tritt
der Wahrseinscharakter des Wahrheitsbegriffs in seiner primären
Bedeutung besonders greifbar hervor.
Es zeigt sich an dieser Stelle aber auch noch etwas anderes.
Zur Analysis des Kelativitätsbegriffs. 373
Wir würden von der Wahrheit einer Wahrheit nicht sprechen
können, wenn der WahrheitsbegrifF nicht noch eine zweite, sekun-
däre Bedeutung hätte. Unter Wahrheit verstehen wir nicht nur
die Qualität eines Urteils, sondern im erweiterten Sinne auch ein
Urteil von bestimmter Qualität, nämlich der Qualität des Wahr-
seins. Jedes mit der Wahrseinsqualität behaftete Urteil, genauer
jeder Urteilsinhalt, dem das Prädikat des Wahrseins
zukommt, hat in diesem Sinne als Wahrheit zu gelten. Ein Bei-
spiel. Leibnizens berühmte Unterscheidung zwischen verites de
faxt und verites de raison bestätigt unsere Deutung aufs Beste. Es
handelt sich um die Unterscheidung zweier Urteils klassen, genauer
zweier Klassen von Urteilsinhalten, die beide auf das Merkmal
des Wahrseins Anspruch erheben können. Man könnte auch an
Lessings Unterscheidung von zufälligen Geschichts Wahrheiten
und notwendigen Vernunftwahrheiten erinnern, wenn sich bei ge-
nauerer Analyse nicht zeigte, daß die zufälligen Geschichtswahr-
heiten Lessings nur ein aus Gründen dialektischer Symmetrie ge-
wählter, logisch inkorrekter Ausdruck für zufällige Geschichts-
tatsachen sind. An sich können diese zufälligen Geschichts Wahr-
heiten nur als wahrheitsgemäße Aussagen über geschichtliche Tat-
bestände interpretiert werden, die ihrerseits mit dem Charakter
der Zufälligkeit behaftet sind.
Wahrheiten in diesem sekundären Sinne — sekundär, weil auf
einer Erweiterung des primären Wahrheitsbegriffes beruhend —
können jederzeit im Plural vorkommen. Es gibt, wie schon bemerkt
wurde, so viele Wahrheiten, wie es Urteilsinhalte mit dem Merk-
mal des Wahrseins gibt. Vergleichen wir hiermit den primären
Wahrheitsbegriff, so tritt uns seine Eigenart auch sprachlich ent-
gegen. Wahrheit im primären Sinne, also in Identität mit dem
Charakter des Wahrseins, erträgt keinen Plural; sie ist an die
Singularform gebunden.
Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die Bedingungen fest-
zustellen, denen ein Urteil genügen muß, um wahr zu sein. Nicht
einmal darnach kann hier gefragt werden, was wir unter der
Wahrheit eines Urteils eigentlich verstehen. So viel steht fest:
zu den unantastbaren Elementen dieses prädikativen Wahrheits-
begriffes, wie wir ihn kurz nennen können, gehört das Moment der
Anerkennungs Würdigkeit *). Wir könnten statt dessen auch von
1) Hieraus ergibt sich eine wichtige Folgerung. Wenn einerseits die Geltung
(siehe oben S. 372), andrerseits die Wahrheit eines Urteils durch seine Aner-
Kantstudien. XXVU. 25
374 Heinrich Scholz,
Normgemäßheit sprechen. Wir ziehen den Ausdruck „ Anerkennungs-
würdigkeit" vor, weil er einen Irrtum ausschließt, der sich an den
Begriff der Normgemäßheit leicht anhängt und auf dem Umweg
über diesen zu großen Verwirrungen führen kann. Man glaubt, von
Normen sprechen zu dürfen, die gelten, auch wenn sie von nie-
mandem anerkannt werden ; und man schließt aus der Unabhängig-
keit der Norm von der Tatsache ihres Anerkanntwerdens auf die
weitere Unabhängigkeit von der Tatsache ihres Erleb t wer dens.
Hierin, in dieser radikalen Relationslosigkeit, soll sich der soge-
nannte absolute Charakter aller echten Normen offenbaren.
Es sei, daß es wirklich Normen gibt, deren Geltung völlig
unabhängig ist von der Tatsache ihrer praktischen Anerkennung.
Dann werden sie wenigstens theoretisch in irgend einem Umfange
anerkannt sein müssen, um sich als Normen behaupten zu können.
Ganz undenkbar aber sind Normen, die von niemandem vernommen
werden, an niemanden ergehen, und dennoch nicht aufhören, Normen
zu sein.
Selbst um eine Norm übertreten oder auch nur überhören zu
können, muß man sie jedenfalls zuvor vernommen haben. Sonst
wird der ganze Ausdruck sinnlos. Und wenn wir uns fragen, was
es heißt, eine Norm als Norm vernehmen, so wird die Antwort
lauten müssen: es heißt, sie als etwas vernehmen, was der An-
erkennung wert oder, Kantischer gesprochen, der Anerkennung
würdig ist.
Wir haben es in diesem Zusammenhange nur mit den logischen
Normen zu tun. Wenn die Wahrheit eines Urteils auf seiner
logischen Normgemäßheit beruht, so wird sie gleichzeitig irgend-
kennungswürdigkeit definiert werden muß — ob sie sich in ihr erschöpft, ist eine
Frage, die wir hier offen lassen — , so müssen Urteils geltung und Urteils-
wahrheit jedenfalls im Prinzip zusammenfallen. Da nun der Wahrheitsbegriff
unstreitig dem Geltungsbegriff an Faßbarkeit weit überlegen ist und gehaltlose
Spekulationen sich in der Analysis des Wahrheitsbegriffes viel schneller offen-
baren als im Geltungsbegriff, so liegt es im Interesse der Logik, daß die Geltungs-
lehre aus ihrer Isolierung zurückgenommen und in die Wahrheitslehre einge-
schmolzen wird. Die Analysis des Wahrheitsproblems hat unter dem Übergewicht
der Geltungslogik unverhältnismäßig gelitten und könnte sich mit Recht über
einen Mangel an guter Behandlung beklagen. — Eine schöne Ausnahme — die
einzige, die ich kenne — macht in dieser Hinsicht die Erkenntnislehre von Moritz
Schlick. Bolzanos bedeutungsvolle Ansätze — bedeutungsvoll trotz der
scharfen Kritik, die sie durch ihren Absolutismus herausfordern — sind, so weit
ich sehe, von niemandem fortgeführt worden.
Zur Analysis des Relativitätsbegriffs. 375
wie in seiner Anerkennungswürdigkeit bestehen müssen. Sie setzt
also jedenfalls Subjekte voraus, die das Urteil mit seinem Anspruch
auf Anerkennungswürdigkeit vernehmen können und im wünschens-
werten Falle nicht nur vernehmen, sondern sich aneignen. Der
prädikative Wahrheitsbegriff ist also ein unanfechtbarer Relations-
begriff. Er setzt das Dasein eines vernehmenden, urteilsfähigen
Subjektes voraus.
Dasselbe Ergebnis liefert die Analyse des zweiten, judika-
tiven Wahrheitsbegriffes, wie wir ihn kurz nennen wollen. Wahr-
heit im judikativen Sinne soll jeder Urteilsinhalt sein, dem das
Merkmal des Wahrseins zukommt. Analysieren wir diesen Begriff
genauer, so ergibt sich folgendes Resultat. Es ist klar, daß ein
Urteilsinhalt nur dann eine Wahrheit, also Träger des Wahrseins-
merkmals sein kann, wenn er zuvor irgendwie als Urteilsinhalt
existiert. Mit der Aufhebung des denknotwendigen Subjektes ver-
schwindet notwendig auch das Prädikat. Ein nicht existierender
Urteilsinhalt kann schlechterdings keine Wahrheit sein. Ist aber
die Urteilsexistenz die notwendige Voraussetzung dafür, daß es
überhaupt Wahrheiten gibt, so stoßen wir wieder auf das urteils-
erzeugende Subjekt. Der Wahrheitsbegriff ist also auch in seiner
judikativen Funktion ein echter Relationsbegriff. Er setzt nicht
nur, wie der prädikative, das Dasein eines urteils vernehmenden
Subjektes, sondern aueh die Existenz eines urteilserzeugenden
Subjektes voraus.
Die Anwendung auf Lotze ergibt sich von selbst. Lotze
zielt mit seinem schönen Ausspruch auf das Ideal der vollkommenen
Relationslosigkeit. Dieses Ideal vermag der Prüfung an keiner
Stelle standzuhalten. Weder der Begriff der Geltung, noch der
Begriff der prädikativen, noch der der judikativen Wahrheit kann
seines Relationscharakters entkleidet werden, ohne den angebbaren
Sinn zu verlieren, der ihm allein ein logisches Existenzrecht ver-
leiht. Geltung ist stets Greltung für ein urteilendes Subjekt;
Wahrsein stets Wahr sein für ein Subjekt, das den Wahrheitsan-
spruch zuvor vernommen hat oder sich im Besitz eines Wahrheits-
kriteriums befindet ; Wahrheit im inhaltlichen Sinne stets Wahrheit
für ein Subjekt, das den als wahr charakterisierten Urteilsinhalt
entweder erzeugt oder denkend nachgeschaffen hat.
Aber hat Lotze nicht recht, wenn er daran erinnert, daß wir
alle überzeugt sind, in dem Augenblick, in welchem wir den Inhalt
einer Wahrheit denken, ihn nicht erst geschaffen, sondern nur ihn
25*
376 Heinrich Scholz
anerkannt zu haben? Wir fragen zunächst : was ist Inhalt einer
Wahrheit? Es kann nur ein Urteilsinhalt gemeint sein, dem das
Merkmal des Wahrseins zukommt. Prüfen wir diesen Urteilsinhalt
genauer, so werden wir ihn allerdings erst geschaffen haben müssen,
ehe von seiner Wahrheit die Rede sein kann. Es versteht sich,
daß dieses Schaffen kein ursprüngliches- Erzeugen zu sein braucht.
Es kann auch, wie schon angedeutet wurde, ein bloßes Nach-
schaffen sein. Das ändert nichts an der Tatsache, daß hier die
Tätigkeit des Subjekts in einem konstitutiven Sinne gefordert
wird. Wir wiederholen : ein Urteil kann erst wahr sein, wenn es
als Urteil existiert.
Das freilich ist Lotze zuzugeben: mit dem Urteilsinhalt als
solchem wird lediglich die notwendige, aber durchaus noch
nicht die hinreichende Bedingung, wenn ich diese schönen
Begriffe der Mathematik hier einsetzen darf, seines Wahrseins
geschaffen l). Die Wahrheit eines Urteils hängt vielmehr hand-
greiflich von Bedingungen ab, die ihrerseits von der Tatsache
seines Gefälltwerdens ganz unabhängig sind. Aber auch diese
Wahrheitsbedingungen haben, wenn man sie scharf durchdenkt,
das Dasein eines denkenden Subjekts zur Voraussetzung. So wenig
sie durch das Denken allein geschaffen werden — daß auch das
Denken an ihrer Hervorbringung teilnimmt, ja sehr stark beteiligt
sein kann, lehrt ein Blick auf die Axiomensysteme der axiomati-
sierten Wissenschaften — so treten diese Bedingungen doch jeden-
falls erst im Denken und durch das Denken hervor. Sie sind
also allerdings nicht durch das Denken erzeugt — wenigstens
1) Die notwendige Bedingung ist die Möglichkeitsbedingung , d.i. die
Vorausetzung, unter der eine gewisse Folge überhaupt erst eintreten kann. „Wenn
A nicht ist, ist auch B nicht". Die hinreichende Bedingung ist die Voraus-
setzung dafür, daß eine gewisse Folge stets eintritt. „Wenn A ist, muß auch
B sein."
Ist A nur die notwendige Bedingung von B, so ist B mit A noch nicht
notwendig gesetzt. Ist A nur die hinreichende Bedingung von B, so ist A
mit B noch nicht notwendig gesetzt. Ist A die notwendige und hinreichende
Bedingung von B, so sind A und B notwendig zugleich miteinander gesetzt. Das
Verhältnis von A und B ist dann umkehrbar eindeutig (in der Sprache der Mathe-
matik : ein-eindeutig) : Wenn A, dann B ; und wenn B, dann A.
So ist die Stetigkeit einer Kurve an der Stelle x zwar die notwendige,
aber keineswegs die hinreichende Bedingung ihrer Differenzierbarkeit. Hierzu
ist bekanntlich erforderlich, daß nicht nur die Kurve, sondern auch ihre Tan-
gente an der betreifenden Stelle stetig ist.
Zur Analysis des Relativitätsbegriffs. 377
nicht in einer gewissen, uns hier interessierenden Dimension — ;
aber sie sind schlechterdings erst im Denken präsent und setzen
es in diesem Sinne voraus. Ohne Denken keine Denkvoraus-
setzungen, folglich auch keine Wahrheit im Sinne des Wahrseins,
d. i., wie wir hier einmal sagen können, in Übereinstimmung mit
den Voraussetzungen alles sinnvollen Denkens.
L o t z e will offenbar zwei Dinge zugleich zum Ausdruck
bringen. Einmal, daß wir uns dessen bewußt sind, die Wahrheit
einer Wahrheit nicht erst dadurch hervorzubringen, daß wir jene
Wahrheit denken. Zum andern, daß wir die Wahrheit einer Wahr-
heit nicht willkürlich zu erzeugen vermögen. Diese beiden, an
sich durchaus sinnvollen Tendenzen sind aber höchst unglücklich
in einen Satz zusammengedrängt, der in seiner Lotzeschen For-
mulierung keinesfalls aufrecht erhalten werden kann. Was heißt
es denn, daß wir uns bewußt sind, in dem Augenblick, in welchem
wir den Inhalt einer Wahrheit denken, ihn nicht erst geschaffen,
sondern nur ihn anerkannt zu haben? Ihn, nämlich den Inhalt
einer Wahrheit, schaffen wir doch unfraglich in dem Augenblick,
indem wir ihn denken. Was wir nicht schaffen, oder wenigstens
nicht willkürlich schaffen können, ist die Wahrheit des denkend
erschaffenen Urteilsinhaltes selbst. Lotze verwechselt hier offenbar
zwei Dinge: den Urteilsinhalt in Identität mit der „Wahrheit", also
die Wahrheit im judikativen Sinne, und die Wahrheit des Urteils-
inhaltes, also die Wahrheit im prädikativen Sinne. Um sich kor-
rekt auszudrücken, hätte er wenigstens sagen müssen: Wir be-
trachten die Wahrheit eines Urteilsinhaltes als etwas,
was wir nicht willkürlich schaffen können, sondern
was wir unabhängig von aller Willkür denkend er-
leben, so oft wir einen solchen Urteilsinhalt erzeugen.
Der Schatten, der auf diesen Eingangssatz fällt, dehnt sich
auf den ganzen Gedankengang aus. Noch ein zweites Mal spricht
Lotze von dem Inhalt einer Wahrheit, wo er die Wahrheit eines
Urteilsinhaltes meint. Aber auch mit dieser Korrektur hält sein
Ausspruch der Prüfung noch nicht stand. Er lautet mit unserer
Korrektur: „Auch als wir ihn (den Urteilsinhalt mit dem Wahr-
heitsprädikat) nicht dachten, galt sie (nämlich die Wahrheit dieses
Urteilsinhaltes ; Lotze sagt in Folge seiner Verquickung der beiden
Wahrheitsbegriffe: galt er, der Urteilsinhalt mit dem Wahrheits-
prädikat) und wird gelten, abgetrennt von allem Seienden, von
den Dingen sowohl als von uns. Auch die niemals vorgestellte
378
Heinrich Scholz,
Wahrheit gilt nicht minder, als der kleine Teil von ihr, der in
unsere Gedanken eingeht".
Diese Sätze lassen sich nicht aufrecht erhalten. Es ist unmög-
lich, von einem Urteilsinhalt zu sprechen, dessen Wahrheit auch
dann gilt, wenn er von niemandem gedacht wird. Ein ungedachter
Urteilsinhalt ist ein ungedachtes Gedachtes, mithin ein Ding, das
sich selber aufhebt. Was im Sinne des Wahr s eins gelten will,
muß unter allen Umständen zuvor gedacht sein ; es würde sonst
nicht wahr sein können. Diese schlichte, fast triviale Bemerkung
muß hier noch einmal hervorgehoben werden, weil sie eine Grund-
voraussetzung ausspricht, die immer wieder übersehen worden ist.
Also wäre der Pythagoreische Lehrsatz erst dadurch wahr
geworden, daß Pythagoras oder vielmehr der Unbekannte, dessen
Name in der späteren Überlieferung durch den des Pythagoras
verdrängt worden ist, ihn aufgestellt und bewiesen hat? Wir sind
auf diese Gegenfrage gefaßt. Es ist nicht schwer, sie von unseren
Voraussetzungen aus zu beantworten. Selbstverständlich kann die
Wahrheit des pythagoreischen Lehrsatzes nicht von der Person
des Pythagoras oder des eigentlichen Entdeckers, den wir nicht
kennen, abhängen. Sie hängt vielmehr von der sinnvollen Anwen-
dung gewisser Axiome ab, die im Euklid zu finden sind. Aber
er wäre auch heute noch nicht wahr, wenn er nicht irgendwann
einmal aufgestellt und bewiesen worden wäre. Wer das gemacht
hat, ist freilich gleichgültig, und wir haben absichtlich das Bei-
spiel des Pythagoras gewählt, weil wir hier den Entdecker tat-
sächlich nicht kennen. Aber daß diese Entdeckung einmal ge-
schehen ist, ist für die Gültigkeit des Pythagoras allerdings von
entscheidendem Belang. Denn wenn er nicht als Urteilsinhalt
existierte, könnte er schlechterdings auch nicht gelten. Wir
greifen, um uns klar auszudrücken, auf die Unterscheidung von
notwendigen und hinreichenden Gültigkeitsbedingungen zurück.
Dann werden wir Folgendes sagen können: so wenig die Aufstel-
lung und der Beweis dieses Satzes durch irgend einen Geometer
des fünften Jahrhunderts die hinreichende Bedingung seiner
Gültigkeit ist, so sehr ist sie die notwendige Bedingung der-
selben. Und es hat einen guten Sinn zu sagen, daß der Pytha-
goras erst durch seine Entdeckung wahr geworden ist, insofern
er vor dieser nicht existierte, also gar nicht wahr sein konnte.
Wer anders urteilt, muß zu Wahrheiten greifen, die in erhabener
Unabhängigkeit von der Tatsache ihres Gedachtwerdens in irgend
Zur Analysis des Relativitätsbegriffs. 379
einem intelligiblen Raum existieren und irgend wann durch das
menschliche Denken ergriffen werden oder auch nicht. Dies führt
aber, bei aller Sublimierung, die wir als selbstverständlich voraus-
setzen, schließlich auf einen mythischen Wahrheitsbegriff, und
ebenso auf eine Theorie der Erkenntnisgewinnung, die nur als
haptisch bezeichnet werden kann1).
Es ist also jedenfalls ausgeschlossen, mit Lotze zu sagen, auch
die niemals vorgestellte Wahrheit gelte nicht minder, als der
kleine Teil von ihr, der in unsere Gedanken eingeht. Wahrheiten
werden überhaupt nicht vorgestellt, sondern gedacht; aber das ist
hier eine Nebenbemerkung, bei der wir uns nicht aufhalten wollen.
Unser Widerspruch richtet sich vielmehr gegen die ungedachten
Wahrheiten, die dennoch gelten sollen; und zwar, wie es zuvor
heißt, abgetrennt von allem Seienden, von den Dingen sowohl als
von uns. Wir behaupten demgegenüber, und glauben durch unsere
Analyse gezeigt zu haben, daß diesen Wahrheiten die beiden not-
wendigen Bedingungen des Geltens fehlen: das Gedachtwerden
auf der einen und das Vernommenwerden auf der anderen Seite.
Der probehaltige Kern der Lotzeschen Ansicht ist offenbar
der, daß die Geltung einer Wahrheit nicht davon abhängt, von
wem sie gedacht und vernommen wird. Aber es ist gänzlich un-
zulässig, die Geltung einer Wahrheit davon unabhängig zu machen,
daß sie gedacht und vernommen wird. Man schadet einer großen
Sache, wenn man sie in edlem Kampf gegen Ehrfurchtslosigkeit
und Willkür der Beziehungen beraubt, die ihr als notwendige
Existenzbedingungen zukommen.
Der Wahrheits- und ebenso der Geltungsbegriff sind echte
1) Die Renaissance des realistischen Wahrheitsbegriffs ist offenbar durch
das Vordringen des erkenntnistheoretischen Idealismus begünstigt worden. Mit
dem bekannten Bewußtseinsargument hat man sich frei gemacht von den Dingen
an sich — als ob das Bewußtsein schon die hinreichende Bedingung für die
Existenz einer Sache und nicht vielmehr nur die notwendige Bedingung für das
Wissen um ihre Existenz, und als ob der Wirkungszusammenhang der Dinge,
der allen unsern Erfahrungen vorausgeht, nichts wäre, was den Namen der Exi-
stenz verdient. Nachdem man so mit den Dingen an sich die natürliche Bin-
dung des Bewußtseins verloren hat, sucht man sie in den Wahrheiten an sich
wiederzugewinnen. Das heißt: man gibt den Wahrheiten, was den Dingen zu-
kommt, und nimmt den Dingen, was man nach unserer Auffassung vielmehr den
Wahrheiten absprechen muß: das Sein an sich.
Aus diesen Andeutungen geht hervor, daß der im Text vertretene ideali-
stische Wahrheitsbegriff sich sehr wohl mit einer realistischen Erkenntnistheorie
380 Heinrich Scholz,
Relationsbegriffe *). Sie deuten auf einen Relativitätsbegriff hin,
der völlig sui generis ist, und mit dem Subjektivismus, mit dem
er immer wieder verwechselt wird, nicht das Geringste gemein
hat. Wir wollen ihn den erkenntnistheoretischen Relati-
vitätsbegriff nennen. In diesem erkenntnistheoretischen Sinne ist
Relativität gleichbedeutend mit der Abhängigkeit vom Da-
sein eines urteilsfähigen und vernehmenden Subjektes.
Wer diesen Relativcharakter der Wahrheit und Geltung dadurch
sicherstellen will, daß er es vorzieht, von ihrem Relationscha-
rakter zu sprechen, handelt durchaus in unserem Sinne. Vielleicht
gewöhnt man sich auch daran, im adjektivischen Sprachgebrauch
zwischen relativ und relationell (nach Analogie rationell) zu unter-
scheiden. Den Begriffen der Wahrheit und Geltung würde als-
dann kein relativer, sondern ein relationaler Charakter zukommen ;
aber diese gewiß nicht zu unterschätzende Differenzierung darf
keinesfalls dazu verführen, diesen Begriffen das Lotzesche Merkmal
der Relationslosigkeit zu erteilen.
Der erkenntnistheoretische Relativitätsbegriff wird nicht nur
im vorphilosophischen Sprachgebrauch, sondern auch in der philo-
sophischen Analysis fort und fort mit einem anderen verwechselt,
verbinden kann. Realistisch nenne ich jede Erkenntnislehre, die die Autonomie
oder Bewußtseinsunabhängigkeit der Erfahrungsinhalte gegenüber der intellek-
tuellen, durch das Denken geschaffenen Erfahrungs f o r m betont. Ein bewußtseins-
unabhängiger Erfahrungs-, also Bewußtseinsinhalt ist kein Widerspruch in sich
selbst, sobald es sich um dinglicheinhalte handelt, die sich in der Tatsache ihres
Gedacht- oder Erlebtwerdens offenbar nicht erschöpfen.
1) Der scharfsinnige B o I z a n o war einsichtig genug , um seinen „Wahr-
heiten an sich" diesen notwendigen Relationscharakter wenigstens nachträglich
dadurch zu verschaffen, daß er sie dem göttlichen Geiste als Erkenntnisinhalte
zuordnete (Wissenschaftslehre § 19). Die metaphysische Logik Bolzanos ist das
einzige konsequente, folglich annehmbare System einer transzendentalen Wahrheits-
lehre. Sie hat vor der Lotzeschen den Vorzug der Widerspruchslosigkeit , vor
der späteren Geltungslogik auch noch den der Furchtlosigkeit vor dem Meta-
physischen voraus. Alle eigentlichen „Wahrheiten an sich" haben
den intellectus divinus zum denknotwendigen Korrelat. Wer mit
Bolzano von dieser Voraussetzung ausgeht, schafft eine neue Konstellation, über
die nur auf Grund einer fundierten Stellungnahme zur Metaphysik geurteilt werden
kann. Die Kritik des Textes richtet sich lediglich gegen die metaphysisch ent-
wurzelten „Wahrheiten an sich", die in den Gedankengängen der neueren Geltungs-
logik auftreten.
Zur Analysis des Relativitätsbegriffs. 381
der scharf von ihm unterschieden werden muß. Wir können ihn
den perspektivistischen Relativitätsbegriff nennen. Er ver-
dient diesen Namen insofern, als er in seiner allgemeinsten Gestalt
am besten durch den philosophisch erweiterten Begriff der Per-
spektive definiert wird. Gleich dem erkenntnistheoretischen Rela-
tivitätsbegriff hat er das Dasein eines auffassenden und urteils-
fähigen Subjektes zur Voraussetzung. Er enthält also den er-
kenntnistheoretischen Relativitätsbegriff in sich und kann ohne
diesen gar nicht gedacht werden. Aber er greift in seiner eigen-
tümlichen Bedeutung höchst charakteristisch über diesen hinaus.
Denn die Abhängigkeit, die er zum Ausdruck bringt, ist nicht
nur die Abhängigkeit vom Dasein eines auffassenden und urteils-
fähigen Subjektes, sondern die Abhängigkeit von seinem Standort
oder Gesichtskreis; und zwar einem Standort oder Gesichts-
kreis, der dadurch näher gekennzeichnet ist, daß er als ein viel-
fältig wechselnder gedacht wird oder wenigstens gedacht
werden kann.
Die Accente, die auf diesen Bestimmungen liegen, sind für
den perspektivistischen Relativitätsbegriff so wesentlich, daß das
Band, das ihn mit dem erkenntnistheoretischen Relativitätsbegriff
verbindet, im Bewußtsein des urteilenden Subjektes ganz und gar
zurücktreten kann. Es ist hier ähnlich, wie mit dem Begriff des
Menschen in seiner anthropologischen und seiner geschichtswissen-
schaftlichen Bedeutung. Unstreitig setzt der Historiker den an-
thropologischen Begriff des Menschen in seiner Analysis stillschwei-
gend voraus. Aber das, was ihn am Menschen eigentlich inter-
essiert, ist nicht das anthropologische Fundament oder Substrat,
sondern der Inbegriff der Energien, aus denen sich geschichtliches
Leben erzeugt. Dieses Beispiel ist wertvoll; denn es liefert eine
Analogie, die uns einen tieferen Einblick in das Verhältnis der
beiden Relativitätsbegriffe ermöglicht. So gewiß der zweite den
ersten voraussetzt, so wenig wird seine Eigenart durch diesen
Zusammenhang beeinträchtigt. Was auf der einen Seite als Stei-
gerung erscheint, die Ausdehnung der Abhängigkeitsbeziehung auf
Standort und Gesichtskreis, führt auf der anderen zu einer Distanz,
die den perspektivistischen Relativitätsbegriff dem erkenntnistheo-
retischen gegenüber zu voller Selbständigkeit erhebt.
Die Perspektivität, von der wir hier sprechen, ist ihrer Her-
kunft nach ein optischer Begriff. Alle optischen Urteile, also
382 Heinrich Scholz,
alle Aussagen über groß und klein, hoch und niedrig, nah und
fern u. s. f., sind relativ, weil sie perspektivisch bedingt sind.
Es wird erlaubt sein, diesem räumlichen PerspektivitätsbegrifF
den zeitlichen zur Seite zu stellen. Alle subjektiven Aussagen
über die „Dauer" eines Zeitraums, d. i. über seine „Länge" oder
„Kürze" sind gleichfalls relativ — diesmal, insofern sie durch die
jeweilige Bewußtseinslage des urteilenden Subjektes bedingt sind.
Man kann diesen zeitlichen Perspektivitätsbegriff erweitern.
Jedes Zeitalter hat seinen eigentümlichen Gesichtskreis, der es in
seinem geistigen und sittlichen Gehalt ebenso bestimmt wie be-
grenzt. Es war der Irrtum des Rationalismus, zu glauben, daß
im Grunde alles zu allen Zeiten möglich sei. Alle Geschichtsfor-
schung im ernst zu nehmenden Sinne ruht auf der Voraussetzung
auf, daß es sich nicht so verhält; und was den Rationalismus
betrifft, so kann man sagen, er habe durch sein relativitätsvernei-
nendes Grunddogma seine eigene Relativität nur um so deutlicher
ausgesprochen.
Wir übergehen die Relativität der Empfindungen und der
ihnen zugeordneten Wahrnehmungsurteile, weil sie sich von selber
aufdrängt, und heben in dieser allgemeinen Charakteristik nur
noch eine Komponente hervor, die wegen ihrer prinzipiellen Be-
deutung hier nicht unterdrückt werden darf. Der Perspektivitäts-
begriff ist nicht nur einer räumlichen und zeitlichen, sondern auch
einer logischen Ausdeutung fähig.
Wir exemplifizieren am Wirklichkeitsbegriff. Was wirklich
ist oder so genannt zu werden verdient, hängt in jedem charak-
teristischen Falle vom Standort des urteilenden Subjektes ab.
Wie verschieden ist der Wirklichkeitsbegriff des Psychologen von
dem des Physikers! Für den Psychologen ist alles wirklich, was
subjektiv erlebt wird; für den Physiker nur das, was sich messen
läßt. Was den Metaphysiker seit Plato vom Positivisten unter-
scheidet, ist sein eigentümliches Wirklichkeitsbewußtsein. Derselbe
Unterschied trennt das religiöse Subjekt vom Metaphysiker, we-
nigstens in allen charakteristischen Fällen, wo beide in der Rein-
heit ihrer Eigenart so hervortreten, daß eine Differenzierung nicht
nur möglich, sondern notwendig wird.
Wenn man auch nur die vier Wirklichkeitsbegriffe betrachtet,
die wir hier angedeutet haben, so wird man die ernstesten Be-
denken tragen, sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, der
mehr als die Gegebenheitskomponente enthält; denn daß diese
Zur Analysis des Relativitätsbegriffs. 383
und nicht die widerspruchslose Einfügbarkeit in einen bewährten
Urteilszusammenhang das Gj-rundmerkmal alles "Wirklichen ist, ist
deshalb gewiß, weil die mathematischen Urteile, die diesem Ein-
ordnungsideal auf das vollkommenste genügen, zweifellos keine
Wirklichkeitsurteile sind.
Natürlich ist e£ ein leichtes Kunststück, die unbequeme Man-
nigfaltigkeit dieser Wirklichkeitsbegriffe dadurch aus der Welt zu
schaffen, daß man die übrigen auf Kosten eines einzigen, etwa des
physikalischen, unterdrückt. Aber Philosophie ist das nicht. Die
Aufgabe der Philosophie ist eine ganz andere. Fragt man nämlich,
woher jene Mannigfaltigkeit stammt, so gibt es nur Eine hinrei-
chende Antwort. Sie stammt aus der Mannigfaltigkeit der Ein-
stellungen, mit denen wir dem Gregebenen gegenübertreten können.
Das Integral dieser Einstellungen liefert uns erst den vollen
Begriff der menschlichen Entelechie. Der Philosoph hat das
stärkste Interesse daran, diesem Begriff nicht auszuweichen. Er
ist ein Objekt, das ihn mehr als ein anderes verpflichtet, und an
dessen Klärung er mit allen Kräften zu arbeiten hat. Es gibt
hier nur einen einzigen Weg. Dieser Weg ist der immer wieder-
holte Versuch einer Schichtung und Rangordnung dieser konstitu-
tiven Gesichtspunkte. Durchführbar aber ist eine solche Rang-
ordnung nur dann, wenn man den Mut hat, sich einzugestehen,
daß jeder zur Geltung zu bringende Gesichtspunkt, an sich be^
trachtet, relativ ist, und daß ein absoluter Charakter höchstens
dem Ganzen zukommen kann.
Wer über diese Dinge nachdenkt, stößt alsbald auf eine wei-
tere Frage, die ihn über die Kategorien des Standortes und Ge-
sichtspunktes hinausführt. Es fragt sich: woher stammen die
Einstellungen, die uns zur Bildung des perspektivistischen Rela-
tivitätsbegriffs genötigt haben? Die Antwort kann sehr ver-
schieden ausfallen. Wir müssen uns hier damit begnügen, zwei
Antworten zu diskutieren, die für die innere Gliederung des per-
spektivistischen Relativitätsbegriffs von prinzipieller Wichtigkeit
sind.
Die Wahl des Standpunktes und das Ausmaß des Gesichts-
kreises kann von der Lebensverfassung abhängen. Sie kann
abhängen von dem Inbegriff der Bedingungen, unter denen ein
Menschenleben sich abspielt, und mit der Basis dieses Lebens iden-
tisch sein. In diesem prägnanten Falle vertieft sich der perspek-
384 Heinrich Scholz,
tivistische Relativitätsbegriff zum konstitutionellen. Der
konstitutionelle Relativitätsbegriff bringt also die Abhängigkeit
von der Lebensverfassung und den Lebensbedingungen
zum Ausdruck. Wir philosophieren hier nicht über das Verhältnis
von Lebensverfassung und Lebensbedingung. Wir setzen lediglich
voraus, daß die persönliche Lebens Verfassung mehr ist, als das
Resultat der objektiven Lebensbedingungen, und daß sie selbst
eine Lebensbedingung erster Ordnung ist.
Die ungeheure Bedeutung dieses ontologischen Faktors wird
niemand übersehen können, der ihn sich einmal zum Bewußtsein
gebracht hat. Die ganze Welt der Werturteile rückt ihn uns
handgreiflich nahe. Sie ist ohne diesen Faktor überhaupt nicht
zu begreifen; und es ist um so auffallender, daß der ernste Ver-
such gemacht werden konnte, sie nicht nur von dieser Kompo-
nente, sondern von allen Relationen zu befreien. Der Wert
eines Wertes und dieser selbst soll unabhängig davon sein, ob er
erlebt und anerkannt wird oder nicht. Wir erwidern: ein uner-
lebter Wert ist ebenso undenkbar, wie eine ungedachte Wahrheit
und eine unvernommene Norm. Natürlich sind alle echten Werte
unabhängig davon, ob sie von irgend einem zufälligen Subjekt
als solche erlebt werden oder nicht. Der Wert einer Raffaelschen
Madonna, einer Beethovenschen Symphonie, eines Goethischen Ge-
dichtes wird nie dadurch in Frage gestellt werden, daß ein Frie-
sischer Bauer oder ein Galizischer Handelsmann diesen Wert nicht
erlebt — auch dann nicht, wenn man ihn darauf aufmerksam
macht. Aber was man sich unter einem Wert denken soll, der
auch dann nicht aufhört, als Wert zu existieren, wenn er von
niemandem erlebt und bejaht wird, ist noch niemals gezeigt worden
und wird vermutlich auch nicht gezeigt werden, weil es nicht ge-
zeigt werden kann. Goethe, der es wissen konnte, hat einmal
von der Kunst gesagt: sie verschwinde, wenn der Kunstsinn er-
lischt. Man wird von der Religion, von der Metaphysik, vom
Recht, ja von der Moral dasselbe sagen dürfen. Alle die unge-
heuren Werte, die in diesen Bereichen investiert sind, verschwinden
mit der Menschheit, die sie erlebt. Sie erhalten sich nur durch
die Charaktere, in denen sie als gefühlte Werte lebendig sind und
denen aus diesem Grunderlebnis die Kraft erwächst, sich mit der
Energie des Selbsterhaltungstriebes, ja mit Gefährdung und Hin-
gabe des eigenen Lebens, für ihre Erhaltung einzusetzen.
Noch deutlicher wird der Relativitätscharakter aller echten
Zur Analysis des Relativitätsbegriffs. 385
Werturteile, wenn wir von den Urphänomenen zum einzelnen
übergehen. Ein Beispiel aus der Geschichte der Kunst mag ge-
nügen. Die Zeitgenossen haben Bernini als einen zweiten
Michelangelo gepriesen. Winckelmann hat ihn einen Esel ge-
nannt und durchgesetzt, daß ein ganzes Jahrhundert seiner Barock-
kunst den Rücken kehrte. Philipp Hackert, der Landschafts-
maler, ist heute nur noch dem Kunsthistoriker bekannt. Goethe
hat ihn für einen Meister gehalten, der es verdiente, daß kein
geringerer als er selbst ihm ein biographisches Denkmal stiftete.
Was steht hinter solchen Werturteilen, und wie erklärt sich
überhaupt das Phänomen ihres Wandels ? Hier kann nur der kon-
stitutionelle Faktor in Frage kommen, der auf die allgemeinen
Lebensbedingungen und auf die individuelle Lebensverfassung hin-
deutet. Das klassizistische Werturteil, das Winckelmann und
Goethe geprägt haben, ist auch deshalb so wichtig für uns, weil
man daran erkennen kann, wie viel in diesem Urteilsbereich dar-
auf ankommt, von wem eine solche Wertung ausgeht. Die so-
kratische Wertung der sittlichen Ideen würde schwerlich auf
Plato den Eindruck gemacht haben, der sich in seiner Ideen-
lehre unvergleichlich objektiviert hat, wenn Sokrates nicht der
Mensch gewesen wäre, an dessen Wertungen das ganze Gewicht
eines geborenen großen Menschen hing.
Für die Philosophie ist das Beispiel Fi cht es beweisend.
Das Bekenntnis zu einer bestimmten Metaphysik, ja zur Meta-
physik überhaupt, wird von der Lebensverfassung des urteilenden
Subjektes niemals losgelöst werden können. Es versteht sich,
daß jeder die Pflicht hat, seine Stellung so scharf zu begründen,
wie er kann, und keine Anstrengung und Mühe des Denkens scheuen
darf, die ihm durch die Tatsachen aufgezwungen wird. Aber
selbst der Pflichtbegriff ist ein relativer Begriff, und es ist eines
der schönsten Worte, die Nietzsche geprägt hat, daß man sich
wohl hüten solle, seine Pflichten zu jedermanns Pflichten zu
machen.
Es ist also nicht nur die Werturteilsbildung, sondern die
Urteilsbildung überhaupt, die in gewissen Dimensionen durch den
konstitutionellen Faktor unwidersprechlich mitbestimmt wird.
Wer die Philosophie mit den exakten Wissenschaften unbefangen
vergleicht, wird nicht leugnen können, daß sie sich in diesen Di-
mensionen befindet. Und wenn man erweiternd sagen kann, daß
selbst jede exakte Wissenschaft in ihrer konkreten Gestalt die
386 Heinrich Scholz,
Wissenschaft ihrer Zeit ist, also abhängig von dem erreichten Er-
kenntnisstande, den leitenden Erkenntnis zielen nnd zur Verfügung
stehenden Erkenntnismitteln, so wird man der Philosophie erst
recht eine solche temporäre Komponente zuschreiben müssen.
Jede Philosophie ist die Philosophie ihrer Zeit, wie Hegel zuerst
mit voller Klarheit gesehen hat. Worauf es ankommt, ist dies,
daß sie nicht nur die Philosophie ihrer Zeit sei. Sofern diese
Möglichkeit besteht und durch die Geschichte beglaubigt ist, lohnt
es sich, zu philosophieren und allen Relativitäten zum Trotz die
Kraft eines Lebens für sie zu opfern.
Aber die Relativitäten als solche bleiben; und sie sind ernst
und wichtig genug, um immer wieder bedacht zu werden. Daß sie
uns nicht zermürben müssen, hängt mit Folgendem zusammen. Die
Lebens Verfassung und die Lebensbedingungen, die wir einsetzen
müssen, um die Situation zu verstehen, sind etwas, was niemand
sich selber gibt. Sie sind letzte Determinanten, die man entweder
resignierend als Schicksal oder ehrfürchtig als Setzung eines als
sinnvoll empfundenen höchsten Waltens hinzunehmen hat. Be-
trachtet man sie als Schicksal, so sind sie Schranken, die man so
wenig, wie seinen Schatten überspringen kann. Noch niemand hat
daran gedacht, das Wandern deshalb aufzugeben, weil er nicht
über seinen Schatten hinwegkommt. Man wird also auch von
keinem erwarten können, daß er auf das Philosophieren verzichtet,
weil er bei klarer Selbstbesinnung auf Grenzen stößt, die mit der
Tatsache des Subjektseins zusammenfallen, folglich bei jedem etwas
anders verlaufen und oft genug weit von einander abweichen.
Empfindet man jene Determinanten als Setzung, so können sie
nicht nur als Schranken, sondern als Kraft zum Bewußtsein kommen,
insofern sie als die Elemente empfunden werden, aus denen die
Person eines Menschen sich aufbaut. Man erkennt diese Auf-
fassung im Allgemeinen daran, daß sie das Gefühl der Verant-
wortung steigert und die intellektuellen Kräfte, deren Deter-
miniertheit empfunden wird, zu irgend einer Höchstleistung spannt.
Diese Sätze waren erforderlich, um zu zeigen, wie weit der
Gedankengang, den wir hier durchgeführt haben, von jenen Folgen
entfernt ist, die man ihm gern als Konsequenzen aufbürdet. Ab-
hängigkeit von der Konstitution ist nicht Abhängigkeit von Will-
kür und Augenblicks Stimmung, sondern vielmehr ihr Gegenstück.
Es ist eine ganz andere und neue Form des perspektivischen Re-
Zur Analysis des Relativitätsbegriffs. 387
lativitätsbegriffs, die diese Abhängigkeit von der Willkür des
Subjekts hervorhebt. Wir nennen ihn, mit Rücksicht auf dieses
Willkürmoment, den arbiträren Relativitätsbegriff. Der Hin-
weis auf Pr otagoras und die Pyrrhoneische Skepsis er-
spart uns seine Analysis. Es kommt uns lediglich darauf an, den
Artunterschied hervorzuheben, der innerhalb des gemeinsamen per-
spektivistischen Rahmens zwischen diesem unendlich oft diskutierten
und dem viel zu wenig beachteten konstitutionellen Relativitäts-
begriff besteht. Auf eine Kritik des arbiträren Relativitäts-
begriffs müssen wir an dieser Stelle verzichten, obschon es sich
lohnen würde, zu zeigen, wie sehr sie trotz ihres ehrwürdigen
Alters einer gründlichen Neugestaltung bedarf.
3.
Als Zentralbegriff der physikalischen Relativitätslehre läßt sich
der Relativitätsbegriff am besten im Anschluß anNewton analy-
sieren. Denn Newton hat diesen Begriff geschaffen, obschon er ihn
selbst nur als Requisit in das System der absolutistischen Physik
eingebaut hat. In dem berühmten Scholion, auf welches wir hinzielen,
geht Newton vom Begriff der Bewegung aus. Bewegung ist die
Ortsveränderung eines Körpers im Räume mit der Zeit. Es gibt
nach Newton zwei in physikalischer Hinsicht gänzlich verschiedene
Bewegungsformen, die absoluten und die relativen Bewegungen.
Folglich muß es auch zwei entsprechende Existenzformen des
Raumes und der Zeit geben: den absoluten und den relativen
Raum, und ebenso die absolute und die relative Zeit. Denn die
absolute Bewegung ist bei Newton definiert als die Ortsverände-
rung eines Körpers im absoluten Raum mit der absoluten Zeit;
die Relativbewegung entsprechend als Ortsveränderung im relativen
Raum mit der relativen Zeit.
Über diese beiden, für seine Bewegungslehre konstitutiven
Existenzformen von Zeit und Raum drückt Newton sich folgender-
maßen aus : *)
1) Da die eingerückte Übersetzung zugleich als Interpretation des Urtextes
gedacht ist, so setze ich diesen zur Kontrolle hierher; und zwar in der Ortho-
graphie und Interpunktion der zweiten Ausgabe von 1713 (p. 5 ff). Ich bedaure
es sehr, daß ich meine auf einer genauen Analysis des Scholions und der Prole-
gomena überhaupt beruhende Auffassung des Newtonschen Kelativitätsbegriffs
mit Rücksicht auf den mir zur Verfügung stehenden Raum hier nicht näher be-
gründen kann.
388 Heinrich Scholz,
Die absolute, wahre und mathematische Zeit ist die Zeit an sich — d. i.
die Zeit, die vermöge ihrer Natur ohne Beziehung auf irgend einen äußeren
Vorgang gleichmäßig abfließt. Sie wird auch mit dem Namen Dauer belegt.
Die relative, scheinbare und gewöhnliche Zeit ist die Zeit, die im ge-
wöhnlichen Leben an die Stelle der wahren Zeit tritt — die Zeit, die man
meint, wenn man die Dauer eines Ereignisses in einem Zeitmaß ausdrückt,
das sich auf die Beobachtung eines wahrnehmbaren, von außen her gegebenen
Bewegungsvorganges stützt: wie Stunde, Tag, Monat, Jahr. Die in einem
solchen Zeitmaß ausgedrückte Zeit ist stets relativ — nicht nur dann, wenn
das Zeitmaß ungleich, sondern auch dann, wenn es genau ist.
Der absolute Raum ist der Raum, der vermöge seiner Natur ohne Be-
ziehung auf irgend einen äußeren Gegenstand stets sich selbst gleich und un-
beweglich bleibt.
Der relative Raum ist der Raum, der im täglichen Leben an die Stelle
des wahren Raumes tritt — der Raum, den man meint, wenn man den ab-
soluten Raum zu Messungszwecken in irgendwelche beweglichen Teilgebiete
zerlegt, die mit Hilfe der sinnlichen Wahrnehmung durch ihre Lage zu realen
Bezugskörpern bestimmt werden können: wie die Teilgebiete des irdischen
und des kosmischen Raumes durch ihre Lage zur Erde.
Absoluter und relativer Raum sind nach Gestalt und Größe miteinander
identisch; aber sie bleiben es nicht immer in numerischer Hinsicht.
Tempus Absolutum, verum, et mathematicum, in se et natura sua absque
relatione ad externum quodvis, aequabiliter fluit, alioque nomine dicitur Du-
ratio: Relativum, apparens, et vulgare est sensibilis et externa quaevis Du-
rationis per motum mensura (seu accurata seu inaequabilis) qua vulgus vice
veri temporis utitur; ut Hora, Dies, Mensis, Annus.
Spatium Absolutum, natura sua absque relatione ad externum quodvis,
semper manet similare et immobile: Belativum est spatii huius mensura seu
dimensio quaelibet mobilis, quae a sensibus nostris per situm suum ad corpora
definitur, et a vulgo pro spatio immobili usurpatur : uti dimensio spatii sub-
terranei, aerei vel coelestis definita per situm suum ad Terram. Idem sunt
spatium absolutum et telativum, specie et magnitudine ; sed non permanent
idem semper numero.
Ich will es nicht unterlassen, an dieser Stelle ausdrücklich vor der nach-
lässigen Übersetzung zu warnen, die A. v. Oettingen in den „Abhandlungen
über jene Grundsätze der Mechanik, die Integrale der Differentialgleichungen
liefern", 1914 in Ostwalds Klassikern der exakten Wissenschaften Nr. 191 ge-
liefert hat. So lehrreich die beigesteuerten Anmerkungen sind, so wenig darf
man den dargebotenen deutschen Text des Newtonschen Scholions für authentisch
halten. Viel zuverlässiger ist die schöne Übersetzung des Newtonschen Haupt-
werkes von J. Ph. Wolfers 1872, die nur leider vergriffen und auch antiquarisch
nicht mehr zu haben ist. — Eine sorgfältige, an einigen Stellen über Wolfers
hinausführende Verdeutschung des Scholions findet sich auch in den „Vorreden
und Einleitungen zu den klassischen Werken der Mechanik", übersetzt und her-
ausgegeben von Mitgliedern der Philosophischen Gesellschaft an der Universität
zu Wien, Leipzig 1899.
Zur Analysis des Relativitätsbegriffs. 389
Fragt man auf Grund dieser Exposition, was Newton unter
der absoluten und relativen Zeit, sowie unter dem absoluten und
relativen Raum verstanden habe, so wird man nach einem gründ-
lichen Studium des ganzen Scholions Folgendes antworten dürfen.
Die absolute Zeit im Newtonschen Sinne ist die in erhabener Un-
abhängigkeit von allen realen Bewegungsvorgängen existierende
Zeit an sich. Ebenso ist der absolute Raum der in gleicher Un-
abhängigkeit von allen Bezugskörpern, also von aller Materie,
existierende Raum an sich. Relative Zeiten im Newtonschen Sinne
sind die mit Hilfe realer Bewegungs Vorgänge gemessenen Inter-
valle der absoluten Zeit. Ebenso sind relative Räume die mit
Hilfe realer Bezugskörper abgegrenzten Teilräume des absoluten
Raumes. Oder noch kürzer: die relative Zeit ist die von
realen periodischen Bewegungsvorgängen abhängige
Zeit; der relativeRaum der zu realen Bezugskörpern
gehörige Raum1).
Ein Bewegungs Vorgang ist demnach im Newtonschen Sinne
absolut, wenn er ohne realen Bezugskörper vor sich geht und als
solcher erkannt werden kann. Er ist relativ, sofern er das Dasein
1) Zur Rechtfertigung der vorstehenden Interpretation des Newtonschen Ke-
lativitätsbegriffs führe ich noch folgende Stelle an (Newton, p. 7):
Quoniam spatii dbsoluti partes videri nequeunt, et ab invicem per sensus
nostros distingui; earum vice adhibemus mensuras sensibiles. Ex positionibus
enim et distantiis rerum a corpore aliquo, quod spectamus ut immobile, defi-
nimus loca universa: deinde etiam et omnes motus aestimamus cum respectu
ad praedicta loca, quatenus corpora ab iisdem transferri concipimus. Sic
vice locorum et motuum absolutorum relativis utimur, nee incommode in rebus
humanis; m Philosophicis autem abstrdhendum est a sensibus. Fieri enim
potest, ut nullum revera quiescat corpus, ad quod loca motusque referantur.
In dieser Kritik ist der relative Raum mit absoluter Eindeutigkeit als der
von realen Bezugskörpern durchsetzte Raum charakterisiert.
Dasselbe gilt von der Zeit. Auch die relativ absolute Zeit, die die Astronomie
mit Hilfe der Zeitgleichung errechnet, ist für Newton wegen ihrer wenigstens
indirekten Abhängigkeit von realen Bewegungsvorgängen immer noch nicht die
„wahre", folglich auch nicht die absolute, sondern nur die „wahrere" (absolutere)
Zeit.
Tempus Absolutum (zu übersetzen mit: Eine Art von absoluter Zeit) a
relativo distinguitur in Astronomia per Aequationem temporis vulgi. Inae-
quales enim sunt dies Naturales, qui vulgo tanquam aequales pro mensura
temporis habentur. Hanc inaequalitatem corrigunt Astronomi, ut ex veriore
tempore mensurent mOtus coelestes (p. 7).
Kantstudien. XXVII. 26
390 Heinrich Scholz,
eines solchen voraussetzt und sich nur unter dieser Voraussetzung
erkennen läßt.
Dieser Newtonsche Relativitätsbegriff liefert uns einen ganz
neuen Gesichtspunkt, nämlich die Abhängigkeit vom Dasein
realer Bezugskörper. Bisher ist unsere Analysis immer nur
auf Subjekte gestoßen. Hier stößt sie zum ersten Mal auf Ob-
jekte. Wir werden daher den Newtonschen Begriff als den ob-
jektivistischen Relativitätsbegriff bezeichnen dürfen. "Wie
wenig er trotz der erkenntnistechnischen Komponente mit dem
erkenntnistheoretischen Relativitätsbegriff gemein hat, kann fol-
gende Überlegung zeigen. Man kann die Kantische Raum- und
Zeitlehre als eine erkenntnistheoretische Relativitätslehre auf-
fassen. Sie setzt an die Stelle der absoluten die empirische, das
heißt aber die relative Realität von Raum und Zeit. Allein was
bedeutet hier relativ? Es bedeutet die Abhängigkeit der raum-
zeitlichen Auffassung der Dinge von der Existenz eines an diese
Auffassungsformen gebundenen, in seiner Sinnlichkeit durch sie
charakterisierten Subjekts. Newtons Relativität hat hiermit nicht
das Geringste zu schaffen. Nicht die Existenz von auffassenden
Subjekten, sondern das Dasein wahrnehmbarer Objekte (Bezugs-
körper) ist sein Relativitätskriterium.
Es ist auch das Relativitätskriterium der modernen Relativitäts-
lehre ; und zwar insofern, als es die Basis liefert, auf der man den
modernen Relativitätsbegriff mit dem geringsten Kraftaufwand auf-
bauen kann. Bekanntlich unterscheidet sich die neue relativistische
Physik von der Newtonschen vor allem durch den Satz von dem
Relativcharakter aller Bewegungs Vorgänge. Dieser Satz, so um-
wälzend er in seinen Konsequenzen geworden ist, enthält aber
an sich nur eine gegenständliche Erweiterung des Newton-
schen Relativitätsbegriffs. Dieser selbst wird in seiner Bedeutung
nicht angetastet. „Alle Bewegungen sind relativ" bedeutet auch in
der Relativitätslehre grundsätzlich nichts anderes, als daß sie das
Dasein realer Bezugskörper voraussetzen.
Denn daß sie, sobald diese Voraussetzung gilt, mindestens
theoretisch umkehrbar sind, also mit dem Bewegungszustande
des jeweiligen Bezugkörpers vertauscht werden können, mithin
in ihrer Auffassung prinzipiell vom Ermessen des auffassen-
den Subjektes abhängen, ist eine selbstverständliche Konsequenz,
die nicht erst Newton, sondern schon Euklid in seiner Optik ge-
Zur Analysis des Relativitätsbegriffs. 391
zogen hat1). Und bekanntlich hat schon Newton gesehen, daß
diese prinzipielle Umkehrbarkeit nicht nur theoretisch, sondern
auch praktisch, d. i. vom physikalischen Standpunkt aus,
allen gleichförmig gradlinig fortschreitenden Bewegungen und Be-
zugsystemen zukommt. Da sich alle bekannten Naturvorgänge in
einem solchen Bezugsystem genau so wie in einem ruhenden ab-
spielen, so gibt es zwischen Ruhe und gleichförmig gradliniger Be-
wegung keinen physikalischen Unterschied2). Daher kann der Be-
wegungszustand eines solchen Systems nur mit Hilfe eines Bezug-
körpers festgestellt werden, der seinerseits als ruhend gedacht wird.
Es steht aber dem Beobachter jederzeit frei, dieses Verhältnis um-
zukehren und sich selbst als ruhend, hingegen den Bezugskörper
als im entgegengesetzten Sinne bewegt zu betrachten.
Dies ist das „klassische" Relativitätsprinzip. Man sieht aus
unserer Herleitung, wie die arbiträre Komponente, die ihm in
dieser Formulierung innewohnt, mit dem objektivistischen Rela-
tivitätsfaktor zusammenhängt. Wenn also das klassische Rela-
tivitätsprinzip in etwas anderer Formulierung die Abhängigkeit
des Urteils über den Bewegungszustand eines dem Trägheitsprinzip
1) Euclid, Optik (opp., ed. Heiberg, vol. VII p. 110):
(1) 'Eav xivmv tpsgofi^vcov 7iXsl6vg)V aviGta xä%u avpnaQuysQritui snl xa
avxä %al xb ö(i(icc, xa filv xat öptiaxi laoxa%ä>g cpSQÖfisva dö&L §6xcivcu, xa 8s
ßgccddxsQOv slg xohvavxlov (p£QS6&ca, xa 8s %axxov slg xa itQoriyov[isva.
Si aliquibus latis pluribus inaequali celeritate simul transportetur in eas-
dem partes et oculus, quae quidem oculo aequali celeritate feruntur, videbuntur
stare, tardiora vero in contrarium ferri, celeriora vero in praecedentia.
(2) 'Edv xivav ysqops'vnv 8iatpaCvr\xaC xi pjjj cpe'QOfisvov, 86£si xb yt,r\ cpsgd-
fisvov stg xa Ö7tio&sv cpiQsad'ai'
Si aliquibus latis appareat aliquid, quod non feratur, videbitur illud non
latum retrorsum ferri.
Das heißt zusammengefaßt: was einem Beobachter, der sich als bewegt be-
trachtet, als ruhend erscheint, erscheint demselben Beobachter, sofern er sich als
ruhend betrachtet, als rückläufig bewegt. Damit ist das Prinzip der geometrischen
Vertauschbarkeit'der Bewegungszustände von Bezugssystem und Bezugskörper zum
ersten Mal deutlich ausgesprochen.
Ich verdanke den Hinweis auf diese interessante Stelle einer Arbeit des
belgischen Forschers PaulMansion, Note sur le caractere giometrique de Van-
cienne astronomie, die in der Festschrift zum 70. Geburtstag Moritz Cantors
1899 enthalten ist. Vgl. daselbst S. 280 Anm. 6.
2) Corollarium V (a. a. 0. p. 18) : Corporum dato spatio inclusorum iidem
sunt motus inter se, sive spatium illud quiescat, sive moveatur idem uniformiter
in directum absque motu circulari.
26*
392 Heinrich Scholz,
und seinen Konsequenzen genügenden Bezugssystems vom indi-
viduellen Ermessen des urteilenden Subjektes zum Ausdruck bringt,
so zieht es nur die Konsequenz aus der Tatsache, daß solche Sy-
steme in Hinsicht auf ihren Bewegungszustand nicht von sich aus,
sondern nur mit Hilfe realer Bezugskörper beurteilt werden können,
da der Ablauf des Naturgeschehens in ihnen für eine solche Be-
urteilung nichts abwirft.
Es versteht sich, daß man diese wichtige Tatsache auch als
Identität s- oder Invarianz phänomen formulieren kann. Etwa
so : die Gesetze, nach denen sich die Bewegungsvorgänge abwickeln,
sind in allen gleichförmig-gradlinig gegen einander bewegten Sy-
stemen (allen sogenannten Galilei-Systemen) identisch dieselben.
Das einzige, was sich beim Übergang von einem solchen System
zu einem andern von anderem Bewegungszustande ändert, ist der
Gesamtbetrag der Geschwindigkeit; und zwar ändert er sich um
eine additive Konstante mit positivem oder negativem Vorzeichen.
Unverändert bleiben hingegen die Bewegungsformen als solche; ja
selbst die Geschwindigkeitsbeträge der Beschleunigungen ändern
sich nicht. Nennt man die Gleichungen, die allgemein den Über-
gang von einem Galilei-System zu einem andern vermitteln, Galilei-
Transformationen, so sind die Differentialgleichungen der Mechanik
als solche gegen Galilei-Transformationen stets invariant.
Analytisch ausgedrückt : wenn die Kraftkomponenten eines frei
beweglichen Massenpunktes P(X, Y, Z) in einem beliebig vorgege-
benen System S den Gleichungen genügen:
~r d*x _, d2y „ d2z
X = M1F' ¥=mW z=müf'
so ändert sich an diesen Gleichungen nichts, wenn der Massenpunkt
P auf ein beliebiges zweites System S' bezogen wird, in dem
seine Koordinaten lauten:
x' = x — ut, y" = y — vt, z' = z — wt\
vorausgesetzt, daß u, v, w Konstanten sind1).
1) Beweis. Setzt man die Werte von x', y', z' in die Gleichungen der Kraft-
komponenten ein, so erhält man
x -m{ *« + dp )
z -m\-d^-rs^r
Zur Analysie des Relativitätsbegriffs. 393
Wir mußten diese einfachsten Formeln hier anschreiben, weil
sich allein mit ihrer Hilfe eine Frage beantworten läßt, die wohl
schon jedem selbstdenkenden Anfänger, der die analytischen Aus-
drücke nicht kennt, und vielleicht nicht nur diesem, zu schaffen
gemacht hat. Invarianz ist, logisch betrachtet, doch wohl das Gegen-
teil von Relativität? Wie kann eine Wissenschaft, die wegen ihrer
logischen Strenge als Muster geschätzt wird, ein Prinzip als Rela-
tivitätsprinzip auszeichnen, dessen Inhalt das Invarianzphänomen
ist? Liegt hier nicht schon an der Schwelle der Analysis eine
merkwürdige Unklarheit vor?
Hierauf ist Folgendes zu erwidern. Vom Standpunkt der
„reinen" Logik ist diese Ausdrucks weise in der Tat nicht zu recht-
fertigen. Denn, logisch betrachtet, ist das Invarianzphänomen nicht
der Inhalt, sondern vielmehr die Grundlage des Relativitätsprinzips.
Weil die Naturvorgänge sich in Hinsicht auf ihre Gesetzlichkeit
in allen gleichförmig-gradlinig gegeneinander bewegten Bezugs-
systemen identisch abspielen, darum ist das Urteil über den Be-
wegungszustand aller derartigen Systeme relativ oder arbiträr
(nämlich abhängig von der Wahl eines realen Bezugskörpers, der
willkürlich so gewählt werden kann, daß er gegen die beurteilten
Systeme entweder ruht oder eine translatorische Bewegung voll-
führt). Der Philosoph darf in diesem Falle wohl fragen, ob es nicht
zweckmäßiger gewesen wäre, jene Grundlage des Relativitätsprinzips
auch begrifflich von ihm zu unterscheiden und etwa im Abschluß
an Newtons Formulierung als mechanisches Identitäts-
gesetz auszuzeichnen1). Er darf es mit demselben Rechte, mit dem
er die Frage stellen darf, ob „Differentialquotient" ein logisch zweck-
mäßiger Ausdruck ist für den Grenzwert eines Differenzenquotienten,
der seinen Quotientencharakter vor dem Vollzug des Grenzüberganges
abgestreift hat, oder ob die übliche Einteilung der Mechanik in Statik
Nun ist aber ' = u und — = 0 (wegen u = const.), folglich — —-— = 0.
Dasselbe gilt von (vt) und (wt).
Folglich ist
X = m~w> Y = m~dh Z = m1^'
Die Kraftkomponenten bleiben mithin beim Übergang von S zu Sf unter
Voraussetzung der Konstanz von w, v, w invariant.
1) Siehe oben S. 391 Anm. 2: Corporum dato spatio inclusorum iidem sunt
motus mter se usf.
394 Heinrich Scholz,
und Dynamik nicht durch eine bessere ersetzt werden konnte, die
die Begriffe der Kinematik und Dynamik zu Oberbegriffen erhebt
und die Dynamik selbst in Statik und Kinetik gliedert *). Allein es
wird wohl richtiger sein, sich durch Eindringen in die Grundlagen
des klassischen Relativitätsprinzips mit der zunächst paradoxen
Gestalt seiner Formulierung zu befreunden, als im Namen der
Philosophie Begriffe zu bilden, die der Psysiker nicht braucht,
und die dem Laien nicht weiter helfen, da er sie in der For-
schung nicht antrifft.
Denn diese Formulierung verliert ihren paradoxen Charakter
auf der Stelle, sobald man ihren analytischen Ursprung erkannt
hat. Analytisch läßt sich das Relativitätsprinzip gar nicht
anders ausdrücken, als durch drei Gleichungen, welche besagen:
Wenn zwei gleichförmig-gradlinig gegen einander bewegte Systeme
S und S' gegeben sind und die Komponenten X, Y, Z einer in S wir-
kenden Kraft K beim Übergang zu S' in die Komponenten X', Y*, Z'
der Kraft K' übergehen, so ist
X' = X, Y'= Y'}Z' = Z, also auch K'= K.
Der große Schritt, den Einstein getan hat, besteht bekannt-
lich in der radikalen Verallgemeinerung dieses klassischen Rela-
tivitätsprinzips. Er fällt mit der grundsätzlichen Relativierung
aller realen Bewegungen zusammen und führt zu einem Ergebnis,
das sich so formulieren läßt:
(1) Jede reale Bewegung ist eine Bewegung gegen einen re-
alen Bezugskörper.
(2) Folglich hat jedes Urteil über reale Bewegungen die Exi-
stenz realer Bezugskörper zur Voraussetzung.
(3) Die Wahl des Bezugskörpers ist arbiträr, das Verhältnis
seines Bewegungszustandes zu dem des Urkörpers jederzeit um-
kehrbar, mithin die Beurteilung desselben grundsätzlich relativ.
Diese drei Sätze haben vor andern, an sich genau so berech-
tigten Formulierungen den Vorzug, daß sie den inneren Zusammen-
hang zwischen dem objektivistischen Relativitätsfaktor und der
subjektivistischen Relativitätskomponente unmittelbar hervortreten
lassen. Denn wenn keine Bewegung durch sich ks eiber als Be-
1) Sehr bemerkenswerte Ansätze zu einer solchen verbesserten Gliederung
finden sich in Marcolongos schöner Theoretischer Mechanik; deutsch von H»
E. Timerding. 2 Bde. 1911 und 12.
Zur Analysis des Relativitätsbegriffs. 395
wegung erkannt werden kann, wenn jede eines Bezugskörpers be-
darf, so folgt mit Notwendigkeit, daß die Wahl des Bezugs-
körpers, folglich auch die Interpretation der Bewegungsverhältnisse
dem persönlichen Ermessen anheimgestellt ist. Selbstverständlich
waltet dabei die Voraussetzung ob, daß gezeigt werden kann, in
welchem Sinne das Naturgeschehen und mit ihm die Gleichungen
der theoretischen Physik einer Auffassung fähig sind, die gegen
jede Standpunktsverschiebung invariant ist.
Die ungemeine Gedankenarbeit, die an dieser entscheidenden
Stelle einsetzen mußte, kann hier, wo uns nur der Relativitäts-
begriff interessiert, auch nicht einmal andeutungsweise analysiert
werden. Einen authentischen Hinweis auf die Bedeutung, die dem
Invarianzproblem zukommt, kann man in der Tatsache erblicken,
daß Hermann Minkowski schon 1908, als erst die spezielle Re-
lativitätslehre existierte, den Vorschlag -gemacht hat, an die Stelle
des Ausdrucks „Relativitätspostulat" den kräftigeren und bezeich-
nenderen Ausdruck „Postulat der absoluten Welt" zu setzen1).
Aber wir kehren zum Relativitätsbegriff zurück. Sofern im
Zusammenhang der Relativitätslehre von einer Relativierung des
Raumes zu sprechen ist — des Raumes und nicht der Längen-
maße, deren Anwendung das Dasein des Raumes voraussetzt — ,
ist es wieder der objektivistische Relativitätsbegriff New-
tons, der hier allein in Frage kommt. Unter der Relativität des
Raumes hat man also die Abhängigkeit des realen, d. i. des meß-
baren Raumes — denn nur der meßbare Raum ist physikalisch
real — vom Dasein materieller Bezugskörper zu verstehen. Durch
sie allein wird die Deutung der Zentrifugalkräfte als Gravitations-
wirkungen ermöglicht, und damit die Vertauschbarkeit der Begriffe
Trägheit und Schwere, die in der allgemeinen Relativitätslehre
eine so große Rolle spielt.
Was bedeutet nun schließlich die Relativität, die aus der Re-
lativierung der Gleichzeitigkeit und ihren denknotwendigen
Konsequenzen, der Kontraktion der Längen- und der Di-
latationderZeitmaße, hervorgeht ? Sie bedeutet die Abhän-
gigkeit dieser drei Dinge vom jeweiligen Bewegungszustande des
urteilenden Beobachters. Es läßt sich leicht zeigen, wie auch
diese Bedeutung mit dem objektivistischen Relativitätsbegriff zu-
sammenhängt. Ein Bezugskörper kann nicht existieren ohne einen
1) Lorentz, Einstein, Minkowski, Das Relativitätsprinzip. *1922 S. 60.
396 Heinrich Scholz,
Bewegungszustand. Es tritt also in dieser kinematologischen
Wendung, wie wir sie kurz nennen können, nur eine besonders
hervorzuhebende Komponente des objektivistischen Relativitäts-
begriffs hervor, die in diesem eigentlich schon analytisch enthalten
ist. Wir können aber um der Deutlichkeit willen die Abhängigkeit
vom Dasein eines realen Bezugskörpers als den ontologischen
Faktor des objektivistischen Relativitätsbegriffs auszeichnen.
Die Relativität der Zeit als solcher ist mit der Relativität
der Zeitmessung identisch. Auch hier wiederholt sich das
Axiom, daß nur die gemessene und meßbare Zeit im physikalischen
Sinne real ist. In diesem Sinne aber ist sie es wirklich. Folglich
besteht ihre Relativität in ihrer Abhängigkeit von dem Bewegungs-
zustande des jeweiligen Bezugssystems, während Newtons Relati-
vitätsbegriff hier lediglich die Existenz periodischer Bewegungs-
vorgänge voraussetzt.
Was endlich die durch die spezielle Relativitätslehre an-
gebahnte, in der allgemeinen vollzogene Zusammenfassung
von Raum, Zeit und Materie betrifft, so dürfen wir uns
hier mit zwei Bemerkungen begnügen. Die erste betrifft das Objekt
dieser Zusammenfassung. Daß wirklich Raum und Materie zu einem
unzertrennlichen G-ebilde zusammengefaßt werden, ergibt sich aus
dem relativistischen Raumbegriff, wie er prinzipiell von Newton ge-
prägt und als Gegenstück des absolutistischen, von der modernen
Relativitätslehre verworfenen Raumbegriffs aufgestellt worden ist.
Der Ausdruck „Verschmelzung von Raum und Zeit" entstammt hin-
gegen einem mathematischen Sprachgebrauch, den man besser nicht
übernehmen wird. Gemeint ist bekanntlich die Zusammenfassung
der drei räumlichen Koordinaten eines Ereignisses mit seiner zeit-
lichen Koordinate in der Minkowskischen Weltlinie. Man wird diesen
Sachverhalt deutlicher ausdrücken, wenn man von einer konse-
quenten Verschmelzung der räumlichen und zeitlichen Bestim-
mungsstücke eines Ereignisses spricht1).
1) Die berühmten und oft zitierten Worte Minkowskis: „Von Stund an
sollen Raum und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch
eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren" sind so zu interpre-
tieren: „Von Stund an sollen alle Einzelaussagen über den räumlichen oder zeit-
lichen Abstand zweier Ereignisse zu wissenschaftlicher Bedeutungslosigkeit herab-
sinken, und nur noch eine konsequente Verknüpfung beider Arten von Aussagen
durch den Begriff des raumzeitlichen Weltabstandes soll statthaft sein". An
irgend etwas Mystisches wird bei dem Wort ,Union' wohl niemand denken, der
das Minkowskische Hyperboloid studiert hat.
Zur Analysis des Relativitätsbegriffs. 397
Unsere zweite Bemerkung gilt der Bedeutung, die man
dem Relativitätsbegriff an dieser Stelle zuzuschreiben hat. Re-
lativität ist hier gleichbedeutend mit wechselseitiger Ab-
hängigkeit, also mit Korrelativität.
Wir fassen zusammen. Der für die moderne Relativitätslehre
charakteristische Relativitätsbegriff, in seinen Fundamenten von
Newton geschaffen , besteht aus einem objektivistischen
und einem subjektivistischen Faktor. Als objektivistisches
Prinzip zerfällt er in eine ontologische und eine kinemato-
logische Komponente, je nachdem er die Abhängigkeit von der
Existenz eines realen Bezugskörpers oder neben dieser aus-
drücklich die Abhängigkeit von seinem Bewegungszustande
zum Ausdruck bringt. Der ontologische Relativitätscharakter
kommt nach der verallgemeinerten Relativitätslehre allen Bewe-
gungen überhaupt, ferner dem physikalischen Räume zu, in dem
sich die realen Bewegungen abspielen. Die Relativität der Gleich-
zeitigkeit, des Zeitverlaufs, sowie der Zeit- und Längenmaße ist
kinematologischer Art. Ebenso die der Masse und Energie, worauf
hier nicht näher eingegangen werden kann.
Aus diesem objektivistischen Relativitätsbegriff läßt sich der
subjektivistische herleiten , der die Abhängigkeit vom Er-
messen des urteilenden Beobachters ausspricht; und zwar auf dem
Wege über das Invarianzphänomen. Weil alle Bewegungs Vor-
gänge so aufgefaßt werden können, daß ein Standpunkts Wechsel
ihre Gesetzlichkeit nicht affiziert, so hängen alle Bewegungs-
urteile von der arbiträren Wahl eines Bezugskörpers ab 1).
1) Es ist heute wieder lehrreich zu sehen, wie unter den Hauptstößen, die
einst Copernicus gegen die Aristotelische Physik geführt hat, das Relativitäts-
prinzip hervortritt. „Omnis quae videtur secundum locum mutatio aut est propter
spectatae rei motum aut videntis aut certe disparem utriusque mutationem" (I, 5).
Natürlich fehlt diesem Trumpf noch das ganze Gewicht einer Kenntnis der Phä-
nomene, um derentwillen Newton hernach eine absolutistische Physik gefordert
hat. Ganz im Newtonschen Sinne drückt sich hingegen Ptolemaeus aus. Nur
ist es nicht die Newtonsche, sondern selbstverständlich die Aristotelische Physik,
um derentwillen er den radikalen Relativismus der antiken Kopernikaner verwirft.
AsXri&s ccbxovg, Zxi x&v filv nsgl xa äoxgcc cpccivofisvcov %vey,ev ovdhv ccv l'cag
xcoXvoi ncixci ys xr\v ccitXovaxegccv imßoXi}v roütf ovxtog £%sivt catb 8s x&v negl
7](i&s ccbxo'bg %al x&v iv &sql aviinxcoficixav xcci ndvv "kv yeXoidxccxov ötpfteiri xb
xoiovxov (Syntaxis math. I 7 ; ed. Heiberg, p. 24).
Unter den neueren Physikern ist wohl Huygens der erste konsequente
Relativist gewesen (vgl. L. L a n g e , Die geschichtliche Entwicklung des Bewegungs-
398 Heinrich Scholz, Zur Analysis des Relativitätsbegriffe.
Aber wie man seinen Standpunkt auch wählen möge : die Bewegungs-
gesetze als solche lassen sich stets so formulieren, daß sie von
dieser Wahl nicht betroffen werden.
Dieses Invarianz ergebnis ist für die abschließende Beurteilung
der ganzen Relativitätslehre von so entscheidender Wichtigkeit,
daß man eben so gut von einer Invarianztheorie wie von einer
Relativitätslehre sprechen könnte. Der innere Zusammenhang von
Relativität und Invarianz macht sich hier noch einmal geltend.
Man kann diesen Zusammenhang doppelt ausdrücken. Entweder
man sagt: die prinzipielle Darstellbarkeit des gesamten Natur-
geschehens in Invarianten ist die Grundlage der relativistischen
Physik; oder: der grundsätzliche Ausdruck alles Naturgeschehens
in Invarianten ist das Ziel der umfassenden Relativierungsprozesse,
denen die neue Physik ihren Namen verdankt. Beides ist im
Grunde dasselbe.
Es versteht sich, daß diese begriffliche Analysis himmelweit
entfernt davon ist, den philosophischen G-ehalt der Relativitätslehre
erleuchten zu wollen. Nach der grundlegenden Arbeit, die Moritz
Schlick, Hans Reichenbach und Ernst Cassirer in dieser Hin-
sicht geleistet haben, wird man entscheidende Fortschritte jetzt vor
allem von der Axiomatisierung der Relativitätslehre erwarten dürfen,
die Hans Reichenbach eingeleitet hat. In diesen Prozeß irgendwie
eingreifen zu wollen, liegt der vorstehenden Analysis gänzlich fern.
Sie will lediglich der Klärung des Relativitätsbegriffs dienen und
einerseits die Modalitäten desselben im Bereich der physikalischen
Relativitätslehre aufhellen, andrerseits die Beziehungen des physika-
lischen Relativitätsbegriffs zur philosophischen Relativitätskategorie
auf einen möglichst bestimmten Ausdruck bringen. Das Ziel wäre
erreicht, wenn sich der Eindruck erzeugte, daß dies ohne Inanspruch-
nahme scholastischer Distinktionen und Vorurteile gelungen ist.
begriffs 1886 S. 72 ff. ; dazu die sehr interessanten Dokumente, die A. Schouten
im Jahresbericht der deutschen Mathematiker- Vereinigung, 29. Bd. 1920 S. 136 ff.
unter dem Titel: „Die relative und absolute Bewegung bei Huygens" aus dessen
Nachlaß veröffentlicht hat. Indessen ist sein konsequenter Relativismus selbst-
verständlich nicht über die Stufe eines kritischen Anti - Absolutismus hinausge-
kommen, so wenig wie derjenige Berkeleys. Den entscheidenden Schritt, die
Identifizierung von Trägheit und Gravitation, hat keiner dieser „Vorläufer" auch
nur von fern ins Auge gefaßt. Auch nicht Ernst Mach, dessen ganzen Rela-
tivismus man überhaupt nicht mehr allzu ernst nehmen wird, wenn man die zwar
ehrliche, aber schroffe Absage an die Relativitätslehre in der Vorrede seiner
nachgelassenen Optik gelesen hat.
Mythus und Kultur.
Von Arthur JLiebert, Berlin.
„Alles ist ja nur symbolisch zu nehmen und überall
steckt noch etwas Anderes dahinter" (Goethe, Ge-
spräch mit dem Kanzler von Müller vom 8. Juni 1821).
. „Nicht nur unsere Kunst und Dichtung, unser ganzes
Vorstellungsleben, Denken und Keden könnte den Schatz
von Mythen, der uns mit dem Glauben des klassischen
Altertums, der Germanen, der Kelten, der ganzen Re-
ligions- und Phantasiewelt des Mittelalters überliefert
ist, nicht mehr entbehren". (FriedrichTheodor
Vi seh er, Kritische Gänge; herausg. von Robert
Vischer ; 4. Band S. 430.) —
Inhalt.
Seite
Einleitung 399—401
I. Die allgemeine Bedeutung des Mythus überhaupt für die Kultur . 401—414
II. Typische Sondermythen auf einzelnen geschichtlichen Kulturstufen 415—429
III. Unsere Zeit und das Problem des Mythus 429—445
Einleitung1.
G-erade für eine Hans Vaihinger, dem Philosophen der
Fiktion und dem gegenwärtigen Führer der Als Ob-Lehre, ge-
widmete Festschrift dürfte ein Beitrag nicht nnangemessen sein,
der sich grundsätzlich mit dem Problem des Mythus beschäftigt.
Zwar wird keine eingehendere Untersuchung die tiefen, bis in das
Prinzipielle hinabreichenden Unterschiede außer Acht lassen oder
übersehen dürfen, die zwischen Fiktion und Mythus obwalten. Auf
der anderen Seite besteht zwischen der Fiktion im Sinne Vai-
hingen und dem Mythus aber insofern eine gewisse, unverkenn-
bare Gemeinschaft, als sie beide zwar aus nicht bloß theoretischen
Absichten des menschlichen Geistes entspringen, auf nicht bloß
theoretischen Funktionen und bloß wissenschaftlich-begriffsmäßigen
400 Arthur Liebert,
Leistungen des Bewußtseins beruhen, beide trotzdem bestimmte
Begriffselemente und Erkenntnisformen in sich tragen und den An-
spruch erheben, als eine eigentümliche „Erkenntnis" zu gelten.
Ihre gemeinsame Wurzel ist die produktive Einbildungskraft, die
je nach Wunsch und Erforderlichkeit sich gewisser wissenschaft-
licher Begriffe und Erkenntniswerte bedient. Gemeinsam ist ihnen
ihre außerordentlich bedeutungsvolle weltanschauliche Rolle inner-
halb der menschlichen Kultur und Gesellschaft, die über alle von
der engeren und strengeren Wissenschaft beherrschte Zone des
Lebens hinausreicht, auch das Gebiet der Kunst und der Religion
in sich umfaßt, und die den Abschluß ihrer Aufgabe und den Sinn
ihres Spieles in der Errichtung eines aus den verschiedenartigsten
geistigen Tendenzen zusammengewobenen Weltbildes findet.
Die folgenden Ausführungen wollen keinen Beitrag zur Psy-
chologie oder zur Philosophie des Mythus darstellen. Nach jener
Richtung ist bereits höchst Wertvolles geleistet worden. Hinge-
wiesen sei auf den 2. Band von Wilhelm Wundts „Völkerpsycho-
logie", der im besonderen die psychologische Begründung und Ab-
leitung von < Mythus und Religion > unternimmt, und auf Konstantin
Oesterreichs „Religionspsychologie". Was die Philosophie des
Mythus anlangt, so darf hier auf diejenigen Werke der spekula-
tiven Ästhetik verwiesen werden, die ihre Aufmerksamkeit dem
Begriff und dem Phaenomen des Symbols zuwenden, wie das z. B.
bei Schelling und in der Ästhetik von Friedrich Theodor Vischer
der Fall ist. Vischer hat außerdem seinen „Kritischen Gängen" ein
fesselndes Kapitel über „Das Symbol" eingereiht. Schließlich sei
noch die vortreffliche Schrift von Johannes Volkelt: „Der Sym-
bolbegriff in der neuesten Ästhetik" (1876) erwähnt. Der Zweck
der folgenden Darlegungen ist vielmehr der, die eigentümliche,
oft entscheidungsvolle, stets ungemein charakteristische Stellung
des Mythus innerhalb der geschichtlich-gesellschaftlichen Kultur
zum mindesten anzudeuten. Etwa im Sinne einer etwas genaueren
Ausführung des unserer Untersuchung vorangestellten Wortes von
Fr. Th. Vischer oder jenes Satzes von Friedrich Nietzsche in der
< Geburt der Tragoedie> : „Ohne Mythus aber geht jede Cultur
ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit
Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Culturbewegung
zur Einheit ab" (W. I, S. 160). Was unserer wissenschaftlichen
Literatur fehlt, das ist eine umfassende Kulturgeschichte des
Mythus, die den Wandel und die Abwandlung des Grundmythus
Mythus und Kultur. 401
durch die Entwicklung des europäischen Geisteslebens verfolgt,
die ferner die geschichtlichen Motive und Voraussetzungen für
diese Abwandlung aufzeigt und endlich die Rolle beleuchtet, die
der in der »Enge einer historischen Wirklichkeit" (Nietzsche) ent-
standene besondere Mythus für die betreffende geschichtliche Le-
bensstufe besitzt.
In drei gedrängten Kapiteln sei nun von dem „Los des Mythus"
auf Erden unter besonderer Berücksichtigung der eigentümlichen
Beziehung unserer Zeit zu dem Problem des Mythus gehandelt.
Gerade in dieser Beziehung nämlich ruht und offenbart sich eine
der entscheidenden Voraussetzungen für die schwere geistige
Krisis, in der wir uns gegenwärtig befinden.
Die allgemeine Bedeutung des Mythus überhaupt für die Kultur.
Der ganzen äußerlichen Mannigfaltigkeit der europäischen
Kulturentwicklung entspricht ein ihr gemäßer, in ungemeiner
Folgerichtigkeit verlaufender Zusammenhang von Werken der
Kunst, Gedankensystemen, Schöpfungen des religiösen, politischen,
rechtlichen, wissenschaftlichen Bewußtseins. Und man begreift
die konkreten Geschehnisse und den empirischen Gang der Kultur
erst dann, wenn man die Voraussetzungen und den Sinn jener
ideellen Hervorbringungen zu erfassen und zu würdigen vermag.
Einen eigentümlichen, in seiner Wichtigkeit kaum hoch genug zu
veranschlagenden Ausdruck dieser Arbeit der geschichtlichen Ver-
nunft stellen die verschiedenen Mythen dar, die in den mannig-
fachsten Ausprägungen den Verlauf, das Auf und Ab unserer ge-
schichtlichen Entwicklung begleiten. Wenn für diese Entwicklung
etwas notwendig und geeignet ist, ihr zur inneren Rechtfertigung,
zur Festigung ihres Wellenspieles zu dienen, dann sind es die in
ihr auftretenden, durch sie bedingten und dann auf sie wieder zu-
rückwirkenden Mythen. Was in ihnen seinen Niederschlag findet,
und was sie wiederspiegeln, das sind die tiefsten Hoffnungen,
Sehnsüchte, Gläubigkeiten und Überzeugungen, das sind die cha-
rakteristischen Begabungen, Neigungen, Forderungen und Erkennt-
nisse eines bestimmten geschichtlichen Lebenskreises. Wem sich
die Voraussetzungen, der Sinn und der Wert der Mythen er-
schließen, dem offenbaren sich die wesenhaften Gründe aller ge-
schichtlichen Leistungen. Denn sowohl das, was eine Zeit oder
402 Arthur Liebert,
ein Geschlecht will, worauf die Anspannung gerichtet ist, was dem
Wollen als Grundlage dient, nicht zuletzt auch das, was als
Schwäche und Unzulänglichkeit empfunden oder erkannt wird, er-
klingt aus den Mythen mit vernehmlicher Stimme. Es entspricht
einem unmittelbaren, elementaren menschlichen Bedürfnis, die Nei-
gungen und Wünsche, die Interessen und Erwartungen der Seele
zu einem Idealgemälde zu verbinden und zu verdichten und diesem
in der Form einer naiven und unbewußten Hypostasierung und
Objektivierung irgend eine Realität, meistens in der Gestalt einer
geschichtlichen Lebenslage, zu verleihen. Man glaubt das, was
einem fehlt, aber was man erstrebt, in irgend einer anderen Zeit,
bei irgend einem Volk in fruchtbarer Tatsächlichkeit zu erblicken.
So bildete sich Nietzsche, der so bitter unter dem „chaotischen
Durcheinander aller Stile" der Deutschen seiner Tage litt, den
Mythus von der „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebens-
äußerungen eines Volkes". Er nannte diese Form der Einheit
„Kultur" und schuf den weiteren Mythus, daß die Griechen diese
Einheit, also Kultur, erreicht hätten. Auch darin ein Schüler
Goethes, eines der größten Mythenschöpfer aller Zeiten. Unbe-
kümmert um die strengeren Ergebnisse der philologischen und
historisch-kritischen Erforschung der griechischen und hellenisti-
schen Welt gestalteten sie den so außerordentlich wirkungsvollen
Mythus vom Hellenismus und vom klassischen Griechentum. Sie
ersannen ihn aus dem Bedürfnis heraus, die ihnen vorschwebende
Kulturidee zur geschichtlichen Wirklichkeit zu erheben und ihre
geschichtliche Möglichkeit darzutun.
Der tiefste Sinn des Mythus beruht auf dem Streben nach
einer idealen Ergänzung und Vollendung unseres Wesens und
Schicksals. Kein Mensch, dem nicht alle Spannkraft, Gläubigkeit,
alle Fähigkeit zu einer konstruktiven Deutung der geschichtlichen
Welt abhanden gekommen ist, vermag auf die Dauer die Ein-
spannung in den Umkreis des Bloß- Sachlichen zu ertragen und
sich an der konkreten Gegenständlichkeit des ihn umgebenden
Lebenszusammenhanges genügen zu lassen. Denn man will für
sein Dasein nickt nur äußere Fülle und Abwechselung, sondern
auch innere Tiefe, nicht nur die Form des Gesetzes, sondern auch
sinnhafte Begründetheit und Endgültigkeit haben. Wir wollen in
ihm nicht nur Wechsel, sondern auch Gehalt, nicht nur Notwen-
digkeit, sondern in allem Ablauf und Tun auch Wert. Wir hegen
darnach deshalb Verlangen, weil wir immer auch des „Gegenteils"
Mythus und Kultur. 403
bedürftig und begierig sind und nur in der Verbindung von Re-
lativität und Absolutheit, nur in der Synthese des Empirisch-
Diesseitigen mit seinem symbolhaften Anschluß an ein Unbedingtes,
ganz gleich wie dieses aufgefaßt, ausgedeutet, anerkannt werden
mag, das Ganze des Lebens erblicken und nur in einem solchen
Ganzen überhaupt des Lebens froh und gewiß werden können.
Die ewige Dialektik der Kultur prägt sich in der synthetisch- an-
tithetischen Verwebung von Notwendigkeit und Freiheit, Erschei-
nung und Idee, Endlichkeiten und Unendlichkeiten, wechselnden
und jeweiligen Inhalten und ewigen Formen, wechselnden und je-
weiligen Formen und ewigen Inhalten aus. Aus der Welt des
Geschichtlich-Tatsächlichen nährt unser Geist seine Unruhe; denn
diese "Welt ist kein Ganzes, und sie ermangelt ferner des sinn-
haften Erfülltseins. Über den Geist Europas wäre nicht jene Über-
bewegtheit und Aufgewühltheit gekommen, hätte er nicht in allzu
energischer und allzu einseitiger Weise sich nur auf Tatsächlich-
keiten eingestellt. Der Beziehung auf das Bloß-Tatsächliche ent-
keimt die Problematik, wenn auch die Gewinnung und Bewahrung
des Empirischen und die Herrschaft über das Erfahrungsmäßig-
Gegenständliche eine der Hauptaufgaben aller Kultur ist und bleibt.
Aber diese Problematik muß überwunden werden, weil das
Empirische und Gegebene, das Endliche und Konkret-Notwendige
nur die eine Seite in der Universalität des Lebens ist, weil es
seine Hinausführung zu einem Absoluten innerlich verlangt. Denn
wo von einer Einheit und Gesetzlichkeit der Erscheinungen ge-
sprochen, wo nach einer- solchen Einheit und Gesetzlichkeit gesucht
wird — und auf welchem Gebiet des geschichtlichen Lebens könnte
ein derartiges Suchen und Forschen unterlassen oder unterbunden
werden? — da wird das Gegebene an ein Ewiges angeknüpft, da
vollzieht sich die Erhebung zum Reich des Absoluten. Welche
Gestalt aber auch immer diese, unter jedem Betracht gebotene Er-
hebung aufweisen mag, stets und unweigerlich erfolgt sie in der
Form und unter der Voraussetzung eines Mythus. Das soll keines-
wegs heißen, daß das Absolute zu einem Mythus gestempelt oder
nur als ein Mythus angesehen würde. Geschähe dies, so würde
man ja aus dem Relativismus nicht hinauskommen, dem man doch
gerade durch die Bildung jenes Mythus entrinnen will. Jene für
alle Kultur schicksalshafte Wendung des Geisteslebens bedeutet
vielmehr, daß man sich des Absoluten in der Form des Mythus
wieder bemächtigt. Denn der Mythus ist in allen Kulturen der
404 Arthur Liebert,
Weg, auf dem der Menschengeist zum Absoluten emporsteigt. Er
mythologisiert also so wenig das Absolute, daß dieses geradezu
seine Voraussetzung darstellt, daß seine Realität die Bedingung
aller Mythen, daß der Wahrheits- und Geltungswert und daß der
Sinn aller Mythen und das menschliche Suchen nach ihnen von
der Realität des Absoluten abhängig ist. Nur ein in einem extrem-
einseitigen und doktrinären Empirismus und Positivismus befan-
genes Zeitalter oder Geschlecht verwässert und verkennt die Idee
des Absoluten und verkleinert sie zu einer subjektiven Glaubens-
vorstellung oder Einbildung, die durch den Fortschritt der Auf-
klärung und Intellektualität angeblich aus der Welt geschafft
werden würde. Aber auch umgekehrt ist nicht einem sich in
starker Gläubigkeit bewegenden Zeitalter oder Geschlecht die
Pflege und Bewahrung des Mythus ausschließlich vorbehalten, als
besitze es ihn als ein unantastbar eigentümliches Vorbehaltsgut.
Denn alle Züge und Schichten, alle Richtungen und Gestalten
der Kultur sind vom Mythus erfüllt und umrankt, und es ist ein-
fach ein Vorurteil oder ein Mißverständnis, seine Existenz gewissen
Stufen und Abschnitten der geschichtlichen Entwicklung abzu-
sprechen. Ohne Mythus verliert eine Kultur eine ihr wesentliche
Bedingung, weil ihr dadurch der so notwendige Weg der Her-
stellung des Verhältnisses zu einem Absoluten fehlen würde. Auch
der Rationalismus hat in sich einen deutlich erkennbaren Mythus.
So kann man dem Nietzsche der ersten und dritten Periode seiner
philosophischen Entwicklung nicht recht geben, dem der ,Sokra-
tismus' als Verkörperung einer blutlosen, negierend und zweifel-
süchtig gerichteten Aufklärerei erschien, und der behauptete,
der abstrakt geleitete Mensch, die abstrakte Erziehung, die ab-
strakte Sitte, das abstrakte Recht, der abstrakte Staat ermangelten
des Mythus. Und man kann ebensowenig Friedr. Theodor Vischer
in seiner Behauptung zustimmen: „Kritik ist der Tod alles My-
thus" (Kritische Gänge, 3. Band S. 34, herausg. von Robert Vischer).
Denn durch die Kritik wird nicht aller und jeder Mythus ver-
nichtet, sondern nur eine bestimmte Ausprägung und Erscheinung
desselben. Die Kritik selber, sofern sie nur irgendwie schöpferisch
ist, also einen bestimmten wissenschaftlichen Gesichtspunkt in me-
thodischer Folgerichtigkeit durchführt und zu dem Fortschritt der
menschlichen Erkenntnis und Einsicht beiträgt, m. a. W. : positive
Arbeit leistet, beruht ebenfalls auf einem Mythus und betätigt
sich in dem Rahmen eines solchen. So stimme ich durchaus Ernst
Mythus und Kultur. 405
Bertram zu, der in seinem eindrucksvollen Werk: «Nietzsche,
Versuch einer Mythologie > sagt: „Selbst in sehr bewußten, ana-
lytisch gerichteten Zeiten, in Perioden sogenannter Allgemeinbil-
dung, wird die Legende (die B. ganz im Sinne unseres Begriffes
Mythus gebraucht) nicht ausgeschaltet, ja nicht einmal zurückge-
drängt. Die zunehmende Bewußtheit, die Selbstkontrolle, das phi-
lologische Wissen um die tatsächlichen Lebensumstände einer großen
Erscheinung, all das hat nur einen recht schmalen Einfluß auf die
Entstehung der Legende. Weder hemmend noch fördernd ist dieser
Einfluß wesentlich. Der überwache und überwachende Intellekt
hat, wo ein Mythus sich durchsetzen will, auch heute nicht anders
als früher seine unverrückbaren Schranken" (S. 3).
Auch in der ,Kritik' verbirgt sich ein Mythus. Er hat die
Grestalt der unbedingten Überzeugung von der Greltung und dem
Wert der Wissenschaft, von der Kulturbedeutung der" Erkenntnis.
Und diese Überzeugung gelangt in der wissenschaftlichen Kritik
zu theoretischem Ausdruck. Daß die Wissenschaft eine solche
Bedeutung hat, ist, wenn man sich von der banalen Feststellung
ihrer äußeren Erfolge und von dem empirischen Hinweis auf ihren
unvergleichlichen Siegeszug fernhält, rein begriffsmäßig nicht be-
weisbar. Hier äußert sich vielmehr die mythenbildende Kraft
eines Postulates, das sein Eecht aus der Idee der sittlichen Be-
stimmung des Menschen, aus dem G-edanken, daß die wahre Natur
des Menschen im Eeiche der Intelligibilität liegt, zieht. Das Ein-
treten des 18. Jahrhunderts für das Werk der Aufklärung und
für die Ersetzung der dogmatischen, auf Offenbarung sich be-
rufenden Gläubigkeit durch die Vernunftreligion und Vernunft-
theologie beruhte auf keinem geringeren Mythus als die Geistes-
verfassung und das ganze System der mittelalterlichen Katholizität.
Hier wie dort waren Voraussetzungen im Spiel, die ihr Recht und
ihr Ansehen auch durch keinerlei Nützlichkeitserwägungen be-
glaubigen lassen. Läßt^ es sich doch mit nichten in endgültiger
und einwandfreier Entscheidung ausmachen, daß die Aufklärung
bzw. die Vertretung uud Beibehaltung der mittelalterlich-kirch-
lichen G-esinnung und Stimmung „nützlich" waren oder sind. Auch
an diesem Punkt leuchtet die theoretische Unzulänglichkeit, ja
Ambiguität aller pragmatistisch - utilitaristischen Beweisführung
ohne weiteres ein.
Gesinnung, G-eistesart, Wertungen, theoretisches und prak-
tisches Verhalten einer Zeit oder eines Lebenskreises, eines Ge-
Kantstudien. XXVII. 27
406 Arthur Liebert,
schlechtes oder eines einzelnen Menschen stehen ihrem letzten Sinn
nach jenseits der Möglichkeit einer rein begriffsmäßigen Begrün-
dung und Ableitung. Sie sind eben in ein System mythischer
Voraussetzungen eingebettet, die darin ihr Wesen haben und ihre
Kraft darin auswirken, daß sie dem ganzen äußeren und inneren
Wollen und Tun die Sicherung der Unbedingtheit gewähren. Durch
sie wird die empirische Gegebenheit der Lebenszustände und Le-
bensbetätigungen verankert in einem Zusammenhang, dessen Struk-
tur erhaben ist über die Zufälligkeiten des geschichtlichen Wandels,
weil seine Gesetze den Charakter von Sinnbeziehungen oder Sinn-
bezogenheiten der äußeren Lebenserscheinungen auf irgendeinen
als unbedingt gültig anerkannten oder geglaubten Wert besitzen.
Selbst ein in der Stimmung des Relativismus und Skeptizismus auf-
gehendes Zeitalter hat in der Hypothesis der Geltung des Re-
lativismus und Skeptizismus eine Anknüpfung an ein Unbedingtes.
(Der Begriff der Hypothesis in platonischem Sinne verstanden, wie
er in der Philosophie der Gegenwart besonders von den Marbur-
gern, hier in erster Linie von Hermann Cohen und Natorp, her-
ausgearbeitet und vertreten wird.) Darin bekundet sich der grund-
sätzliche und unverwischbare Unterschied desjenigen Zusammen-
hanges, den wir Geschichte nennen, gegenüber allen Bezügen na-
turhaften Seins, daß jede seiner Stufen und Begebenheiten, daß
jeder seiner Zustände und jede in ihm auftretende Person sich
nicht restlos darin erschöpft und ausspricht, daß sie bloß da ist und
wirkt. Sie hat vielmehr eine immanente Beziehung auf einen Sinn
oder ein Ziel, deren Erfassung und Feststellung nicht sowohl eine
Tat der Erkenntnis als vielmehr eine Aufgabe mehr oder minder
konstruktiver Deutung ist. Die Einsicht darin, daß die empirische
Geschichte in jedem ihrer Momente und Elemente, sofern diese
wirklich von historischer Zuständigkeit sind, auf einen Zusammen-
hang hinweisen und hinarbeiten, den wir einmal der Kürze halber
als einen intelligibelen bezeichnen wollen, verdanken wir bekannt-
lich der spekulativ-idealistischen Geschichtsphilosophie. Deren
Wesen besteht darin, daß sie den sinnhaften, absoluten Hinter-
grund alles Empirischen und Peripheren in der Geschichte in me-
thodischer Konstruktion gedeutet hat. Diese konstruktive, speku-
lative Einstellung war es, der es gelang, über die empirisch-histo-
rische Erkenntnis der Geschichte hinauszugehen und die Geschichte
zur Idee zu erheben und damit erstmalig die Kultur als Idee zu
sehen und in ihrem ideellen Gehalt zu entwickeln.
Mythus und Kultur. 407
Dieses Aufgraben des Absoluten in allem Relativen, dieses Er-
blicken eines ewigen Sinnes in allen Zeitlichkeiten ist seinem
Prinzip und Wesen nach nichts anderes als jene Fälligkeit und
Funktion, die wir gewöhnlich als ein Vorrecht und als eine Eigen-
tümlichkeit mythologisch gerichteter Zeitalter anzusprechen pflegen.
Jedoch selbst ein G-eschlecht, das einem vollkommenen Positivismus
nnd Naturalismus verfallen ist, und das die Aufgabe und Kraft
der menschlichen Erkenntnis auf die Feststellung der Gesetzmäßig-
keit der Erscheinungen beschränkt wähnt, hat in der notwendig
vorauszusetzenden Geltung der Gesetzlichkeit seinen Mythus.
Deshalb kann nicht der religiöse Glaube für sich den Vorzug und
die Besonderheit in Anspruch nehmen, daß er allein ein Anrecht
auf den Mythus besäße. Was ihn auszeichnet, ist nur eine spe-
zifische Form des Mythus, vielleicht eine solche von der größten
Inhaltlichkeit und Innigkeit und darum begabt mit dem stärksten
Antrieb zur Erlösung, zur Weltüberwindung. Überall da, wo sich
innerhalb des geschichtlichen Lebens eine Beziehung zu einem, in
diesem Leben nicht ganz eingebetteten und sich ihm nicht restlos
ausliefernden Sinnhaft-Absoluten eröffnet, stehen wir vor der
Wirksamkeit eines Mythus. Und da sich diese Durchbrechungen
der empirischen Lebenszone an hunderttausend Ecken zeigen, da
die Dialektik und Paradoxie der Kultur in einer unaufhörlichen
Transzendierung ihrer Bestandteile und Vorgänge besteht, worauf
besonders Georg Simmel und Heinrich Rickert aufmerksam ge-
macht haben, bekundet sich in zahllosen Fällen und in allen
Schichten und Bewegungen der Kultur die schöpferische und un-
vermeidliche Leistung des Mythus. Man muß ihn geradezu als
eine für alle Kultur wesentlich bestimmende Bedingung bezeichnen ;
und keine Philosophie der Kultur oder im philosophischen Geiste
gehaltene Geschichte der Kultur kann an dieser konstitutiven Be-
deutung des Mythus vorübergehen.
So läßt sich in Zusammenfassung der bis jetzt gebotenen Aus-
führungen als Ergebnis aussprechen: Überall da machen sich das
Auftreten und die Betätigung eines Mythus geltend, wo die Re-
lativität und die geschichtliche Gebundenheit eines Glaubens-,
Vorstellungs-, Gedankenkreises überschritten wird, wo irgendein
Bezirk der Kultur, über das Empirische seines Bestandes und An-
sehens hinausgreifend, nach seinen ewigen Vernunftbedingungen
als den Prinzipien seiner Phaenomenalität fragt, wo er sich zur
Unbedingtheit erhebt. Der geschichtlich am häufigsten zu be-
27*
408 Arthur Liebert,
obachtende Prozeß dieses Unbedingtwerdens oder auch nur dieses
Verlangens nach Unbedingtheit hat die Form, daß ein einzelnes
Kulturgebiet, sagen wir die Philosophie oder die Religion, über
das ursprüngliche Feld seiner Entstehung und Geltung hinaus zur
Herrschaft über die ganze geistige Ebene und Tiefe einer Zeit
strebt, sich in die Stellung der Allgemeinheit und Allgemein-
gültigkeit einschiebt und nun alle übrigen Tendenzen, Arbeiten,
Einrichtungen der Zeit mit seinem Wesen erfüllt, sie gleichsam
umklammert. Der Akt der Annahme und Anerkennung solcher
Grundbedingungen, denen metaphysische Geltung innewohnt, dient
allem empirischen Gebahren und Verhalten zur Voraussetzung : er
hat durchaus konstruktiv-mythische Bedeutung und stellt eine
völlig autonome Geistestat dar. Die sich in ihm und mittels seiner
vollziehende prinzipielle Wendung des Lebens ist mit Hilfe der
Wissenschaft nicht weiter erklärbar. Wir stehen hier vor einer
durchaus spontanen Freiheitshandlung, die allein, wie die idealisti-
sche Philosophie uns gelehrt hat, die Erscheinungen des Lebens
zur Hohe des Wertes und der Würde steigert und ohne deren
Vollzug nicht einmal von einem Seienden mit Vernunft und Sinn
gesprochen werden kann. Diese Wendung kann religiösen Cha-
rakter haben und zu einem religiös gearteten Mythus führen,
braucht es aber mit nichten. Sie kann ebensogut einen ethischen,
aesthetischen, politischen, intellektuell-wissenschaftlichen Charakter
aufweisen und hat einen solchen im Laufe der geschichtlichen
Entwicklung oft genug aufgewiesen und dann eine Verabsolutierung
und Verewigung der sittlichen, der künstlerischen, der staatlichen,
der wissenschaftlichen Prinzipien gezeitigt.
Der metaphysische Sinn, der in dieser durch den Mythus sich
vollziehenden Wendung des Lebens ruht, und um dessentwillen
das Leben zur Schöpfung eines Mythus greift, läßt sich auch durch
folgende Überlegung klarstellen oder zum mindesten umschreiben.
Der übliche Ablauf der geschichtlichen Bewegung verstrickt
Menschen und Zeiten immer unerbittlicher in das Netz empirischen
Geschehens, starrer, seelenloser Konventionen, formaler Bindungen,
hingenommener Größen und Autoritäten, deren Recht und Aner-
kennung schließlich nur auf der äußeren Dauer ihres Daseins und
nur auf einer durch Gewohnheit gestützten Tradition gegründet
scheinen. Mit einem starken Wort: Das Reich der Schatten und
die Gesetze der Schattenwelt breiten sich immer mehr aus. Alle
Mythus und Kultur. 409
geschichtlichen Geltungen scheinen alsdann ihr Ansehen und ihre
Bürgschaft lediglich aus der Tatsächlichkeit des Umstandes zu
ziehen, daß sie unter bestimmten historischen Bedingungen ent-
standen sind und damit einem bestimmten historischen Zusammen-
hang angehören. Aus der Tatsache, daß sie geworden sind und
einen Teil des geschichtlichen Bestandes darstellen, suchen sie
ihren "Wert abzuleiten und zu beglaubigen.
Da jedoch keine Tatsächlichkeit einen Wert, eine Bedeutung
zu schaffen imstande ist, und mag sie einen noch so großen histori-
schen Raum einnehmen, so gerät das geschichtliche Leben, wenn es
einmal keiner anderen Leitung unterstellt ist als den empirischen
Gesetzen seines konkreten Daseins und Dahingetriebenwerdens, in
einen schließlich blut- und seelenlosen Relativismus ; es wird zu
nichts anderm als zur bloßen „ Geschichte ". Denn das alsdann
herrschende Gesetz kennt und umfaßt nichts anderes als Erschei-
nungen. Die nackten Gegebenheiten in ihrem Vorhandensein und
Wirken rücken in ein Scheinrecht ein, und- alle Geltung ver-
äußerlicht sich zu dem leeren Charakter eines in reiner Macht
verankerten Seins, das sittliche, ästhetische, religiöse, metaphy-
sische Sinnbeziehungen und alle Begründungen in einem Absoluten
nicht duldet oder geradezu verschmähen zu dürfen glaubt. Man
kann diese Bewegung des geschichtlichen Lebens, die in tausend
Fällen zu beobachten ist, als den Weg der Verendlichung und
Empirisierung einer Kultur oder einer Periode bezeichnen: Die
wesenhaften Rechtsgründe der geschichtlichen Arbeit geraten mehr
und mehr in Vergessenheit, höchstens daß versucht wird, die Be-
strebungen und Errungenschaften der Geschichte durch einen mehr
oder minder banalen Pragmatismus zu beglaubigen. Das Leben
erhält einen stetig zunehmenden Zug an Unwirklichkeit und Un-
wesentlichkeit, es beginnt, gleichsam in der Luft zu schweben ; die
Momente seiner Wirklichkeit erstarren und veräußerlichen sich
zu selbstgenugsamen Faktizitäten und zu bloß-zeitlichen Stellen in
einem empirischen Zusammenhang.
Damit aber büßt es seine Substanz ein. Denn die Substanz
des geschichtlichen Lebens besteht in dessen Beziehung auf das
Absolute. Nur in dieser Beziehung gewinnt und bewahrt es seinen
Gehalt ; nur aus seiner Beziehung zu dem wahrhaft Wirklichen ge-
winnt und bewahrt es selber eine Wirklichkeit. Die ihm aus
seinem notwendig zu postulierenden Sinn gestellte Aufgabe besteht
demnach in dem unnachlaßlichen und unermüdlichen Bestreben, die
410 Arthur Lieber t,
ihm ständig drohende Relativierung um jeden Preis fernzuhalten
bezw. zu überwinden. Es ist das der beständige gigantische Kampf
der Geschichte gegen die Vergewaltigung durch leere Schatten
und Formen, damit ihr ideeller Gehalt, damit ihre Idee, damit ihre
Vernunft nicht unterdrückt, nicht erdrosselt werde. Diese im-
manent geforderte Erhebung zu seinem Sinn, zu seiner Vernunft
kann das Leben jedoch auf keinem anderen und keinem sichereren
Wege erreichen als dadurch, daß es eine seiner empirischen Ge-
stalten und Erscheinungsformen aus ihrer bloß zeitlichen Ver-
klammerung und Tatsächlichkeit befreit und es zur Unbedingtheit
steigert. Das kann das eine Mal die Religion, das andere Mal
die Kunst, ein drittes Mal die Philosophie, ein viertes Mal die
Wissenschaft usw. sein bezw. durch diese geschehen.
Diese Steigerung eines Kulturgebietes, einer Gesinnungsweise,
eines Betätigungskreises zur Unbedingtheit vollzieht sich nämlich
alle Male dann, wenn wieder die Entdeckung gemacht und ein
Verständnis dafür wieder gewonnen ist, daß sich die betreffende
Lebensform auf der Ewigkeit vernünftiger Prinzipien gründet, also
mehr ist als das lockere Ergebnis historischer Entwicklungen und
Konventionen, mehr ist als der Ausdruck menschlicher Wünsche
und Bedürfnisse, wenn also alles Psychologische und Anthropolo-
gische, das ihr in noch so auffälliger Auflagerung anhaften mag,
als ein zeitlicher Zusatz erkannt wird. Geschieht das, und dieses
Geschehen ist ebenso notwendig, wie in zahlreichen Fällen nach-
weisbar, dann pflegt das betreffende Kulturgebiet seinen ursprüng-
lichen Herkunfts- und Geltungskreis zu überschreiten, seinen Cha-
rakter als Sonderfach abzustreifen, die Züge seines Wesens zur
Allgemeinherrschaft über den ganzen Bereich einer Kultur zu
bringen. So tritt z. B. zu bestimmten Zeiten die ganze Fülle des
geschichtlichen Lebens unter das Licht der Religion, die dann das
maßgebende Prinzip für alle Bestrebungen und Leistungen wird.
Wir kennen auch Zeiten, die der Philosophie oder außer ihr der
Wissenschaft diese überragende Stellung und Geltung einräumten.
Steht doch fast die ganze Weite des 17. und 18. Jahrhunderts so-
wohl der Gesinnung als der theoretischen und praktischen Ein-
stellung nach unter dem bestimmenden Einfluß des Rationalismus,
der in den mathematischen Naturwissenschaften und den konstruk-
tiven Systemen von Descartes und Leibniz seinen höchsten Aus-
druck fand und eine im nahezu uneingeschränkten Sinne tyran-
nische Macht ausübte. Was sich hier begab, war nichts weniger
Mythus und Kultur. 411
als eine zwar grandiose, aber doch auch wieder gewaltsame Ra-
tionalisierung und Verwissenschaftlichung des ganzen geschicht-
lichen Lebens in allen dessen Formen und Zweigen, ein Vorgang
von ungeheuerer Tragweite und Folgewichtigkeit, der seine nach-
haltige Auswirkung bis in die Gegenwart erstreckt. —
Wenn man nun den metaphysischen Sinn einer solchen inneren
und äußeren Potenzierung eines Sondergebietes zur normgebenden
Größe und zum Regulativ für eine ganze geschichtliche Periode
zu erfassen und zu deuten sucht, so wird man unschwer gewahr,
daß sich in dem Prozeß dieser Wertsteigerung die Schöpfung einer
Weltanschauung und die Gewinnung eines Weltbildes vollziehen,
mag es sich dabei in dem einen Falle um eine mehr religiös, im
andern um eine mehr wissenschaftlich - rationalistisch, vielleicht
speziell naturwissenschaftlich geartete Weltanschauung handeln.
Wesen und Sinn dieses Prozesses aber, von dessen Verlauf und
Gelingen fast ausnahmslos das Schicksal seiner ganzen Zeit und
aller in dieser tätigen Geschlechter abhängt, bestehen nun eben
in der Erreichung und in der Konstruktion einer Absolutheit, sei
es, daß es die der Religion, sei es, daß es die der Wissenschaft
oder der Kunst oder der Philosophie ist, wodurch inmitten des
geschichtlichen Gewirres und seiner gleichmacherisch-empirischen
Tendenz ein intelligibler Halt und Maßstab aufgerichtet, d. h. der
Weg zur Unbedingtheit aufgewiesen, angebahnt oder unter Um-
ständen auch schon beschritten wird. Die Bildung einer Weltan-
schauung besitzt ihre wohl wichtigste sachliche Voraussetzung in
der Anknüpfung an ein besonderes Wertgebiet, das nun die so-
wohl in intensiver als in extensiver Beziehung möglichst größte
Ausweitung und Stärkung erfährt. So hat die naturalistisch-kos-
mologische Weltanschauung ihre Voraussetzung zum Hauptteil in
der Naturwissenschaft und Naturphilosophie. Für den Piatonismus
stellt die Mathematik eine der wesentlichen grundlegenden Funk-
tionen dar. Diejenige Weltanschauung, die wir Klassizismus und
Hellenismus nennen, ruht auf einer humanistisch gefärbten Ästhetik,
die romantische Weltanschauung auf der Absoluterklärung der
Kunst bezw. der Verbindung von Kunst und Religion, die histo-
rische Weltansicht, wie sie besonders im 19. Jahrhundert hervor-
getreten ist, auf der Übersteigerung der Geisteswissenschaften;
der Rationalismus, einer der macht- und bedeutungsvollsten Typen
der Weltanschauung überhaupt, auf der Verabsolutierung der ma-
thematisch-mechanischen Naturwissenschaft und ihrer Methodik.
412 Arthur Liebert,
Hat man doch — übrigens in zutreffender Weise — die mechanistische
Weltansicht geradezu die Religion jener Zeit genannt, ebenso wie
— nicht ohne ironisierenden Unterton — das Systeme de la Na-
tur e von Holbach als „Bibel" des Atheismus und Materialismus
bezeichnet wurde.
Diese Wendung zur Weltanschauung ist in sich, ist in ihrer
Bedeutung ein intelligibler Vorgang, der also nicht psychologisch
verstanden, nicht anthropologisch oder subjektivistisch aufgefaßt
werden darf, mag er sich auch innerhalb der menschlichen Seele
vollziehen. Denn wo anders sollte er denn vonstatten gehen?
Aber nicht das Wo, Wie und Wann, sondern der Sinn ist auch
hier maßgebend. Dieser Sinn besteht darin und wirkt sich stets
dahin aus, daß jene Wendung von der Absicht, von der Zielein-
stellung auf Erfassung der Intelligibilität, auf Gewinnung eines
sinnhaft-absoluten Wertes als des wahrhaft Wirklichen erfüllt ist.
Indem aber inmitten der Empirie des geschichtlichen Lebens dieser
Zug zur Geltung gelangt, indem das Geschichtliche die Steigerung
zum Metaphysischen erfährt, wird das Empirische und Alltägliche,
wird die Erscheinung und das Durchschnittliche überwachsen und
durchtränkt, vom Bloß-Geschichtlichen erlöst und zu geschichtlicher
Bedeutsamkeit erhoben durch die Kraft des Mythus, wobei es
nebensächlich ist, ob derselbe in den traditionellen Formen eines
solchen auftritt oder nicht.
Seine vergleichsweise wichtigste und interessanteste Verwirk-
lichung erlebt eine Zeit oder ein Geschlecht jedoch immer dann,
wenn sich der Mut und die Begabung zur Metaphysik zeigen und
es zur Schöpfung einer konstruktiven Metaphysik kommt. Wie
denn auch umgekehrt eine Zeit geistig verarmt und dem seelischen
und sittlichen Zusammenbruch rettungslos entgegentreibt, wenn
jene Schöpfung auf die Dauer ausbleibt oder alle auf sie gerich-
teten Bemühungen mißachtet bezw. als ein vergnügliches, aber
aussichtsloses Spiel hingestellt werden. Metaphysikfreie oder meta-
physikfeindliche Zeiten sind unfruchtbar im höheren Sinne dieses
Begriffes; das Merkmal geistiger Fadheit ist ihnen unverwischbar
aufgeprägt. Denn sie sind dadurch gekennzeichnet, daß sich der
Geist nicht zur Freiheit, nicht zum Absoluten durchzukämpfen
vermag, daß ihn die Bürde der Tatsachen allzu stark bedrückt und
fesselt, um in diesen nur Symbole eines Ewigen zu erblicken.
Prägt sich im Mythus ganz allgemein die Wendung des Geistes
zum Absoluten aus, so ersteht eine Metaphysik dann, wenn diese
Mythus und Kultur. 413
Wendung sich des Mittels des Gedankens, also der Form der Er-
kenntnis und des Begriffes bedient. So stellt die Metaphysik den
speziellen theoretischen Versuch der Erfassung des Absoluten dar ;
sie ist m. a. W. der begriffsmäßige, in theoretischer Entwicklung
und in systematischer Methode durchgeführte Ausdruck des Mythus ;
also keineswegs seine volle, restlose Darstellung und Umsetzung.
Sie ist von ihm und aus seiner ungeheueren Fülle nur das, was
in die Gestalt des systematisch gefaßten Gedankens eingeht, was
von seinem Sinn und Inhalt sich mit den Werkzeugen methodisch
und begrifflich geleiteter und geregelter Deutung und Konstruk-
tion aussagen, einfangen läßt. Daneben bleibt die Möglichkeit
anders gerichteter Einstellungen zum Inhalt und Zweck des My-
thus offen, jener Einstellungen, die in der Kunst, in den Einzel-
wissenschaften, in der Religion, in der wahren Sittlichkeit, in den
höchsten Formen der Liebe, der Freundschaft, der Verehrung, der
Pietät, der wertschaffenden Arbeit ihren objektiven Niederschlag
und ihre befreiende Verwirklichung finden. In ihnen allen ist die
Kraft des Mythus wirksam u. z. in jenem, in den vorangehenden
Zeilen entwickelten Sinne: Überwindung der empirisch-psycholo-
gischen Gegenständlichkeit einer Handlung oder eines Vorganges
durch die Anknüpfung an ein Absolutes, wodurch jene Handlung
oder jener Vorgang über ihre empirische Tatsächlichkeit hinaus-
weisen und den Wert von Symbolen gewinnen. Ohne die trans-
zendierende Wirksamkeit des Mythus bleiben wir rettungslos der
Zone der bloßen Erscheinungen verfallen, gibt es keine Erhebung
zum Reiche der Ideen. So ist also auch der Mythus selber nicht
als ein subjektiv- empirisches Vorstellungsgebilde aufzufassen, dem
man mit der Betrachtungsweise der üblichen, naturwissenschaftlich
orientierten Psychologie nahekommen könnte. Es gilt vielmehr,
ihn als dasjenige Sinngebilde zu begreifen, in dem die intelligibele
Freiheit als Urtat des Menschen ihre allgemeinste Bekundung
ausübt.
Und als diese allgemeinste Bekundung ist er nun in allen
besonderen Sinngefügen der Kultur wirksam, gleichsam ihrer aller
Grundzug, der es ihnen ermöglicht, mehr als nur empirische Voll-
züge in dem Bewußtsein der Menschen zu sein. Daß die Idee der
Freiheit in die Sphäre irgendeiner empirischen Betätigung ein-
strahlt und in dieser eine metaphysische Wendung hervorruft,
beruht auf der Funktion des Inbegriffes jener konstruktiven Sinn-
deutungen des Lebens, den wir Mythus nennen.
414 Arthur Liebert,
Die theoretische Spezialform jener konstruktiven Spekulation
ist die Metaphysik. An dieser Stelle sei Abstand davon genommen,
dem Verhältnis zwischen Mythus und Metaphysik genauer nach-
zugehen. Durchschaut man aber dieses Verhältnis, dann erledigt
sich auch der alte Streit über die Eigentümlichkeit des Geltungs-
charakters der Metaphysik, zugleich auch der über die Frage, ob
Metaphysik Wissenschaft sei oder nicht. Wenn wir hier durchaus
dafür eintreten, daß zwischen Mythus und Metaphysik eine imma-
nente Beziehung obwalte, so ist nicht die Meinung, daß die Meta-
physik ein Mythus sei. Sie ist mehr, und sie ist weniger. Mehr :
Den allgemeinen Transzendierungen, die sich im Mythus begeben,
verleiht sie die systematische Gedankenform, die begriffsmäßige
Einkleidung; ohne sie würde der Mythus nicht zu theoretischer,
vernünftiger Gestaltung gelangen. Weniger: Die Metaphysik ist
nur eine der möglichen Vernunftformen des Mythus, der überhaupt
alles Historische zu einem symbolischen Bild verklärt u. z. da-
durch, daß er es in das Reich der Idee erhebt oder von der Idee
als dem Absoluten aus begründet. So ist denn auch der ewige
Sinn des Mythus nur aus der einen oder der andern der ihm mög-
lichen und gewährten symbolischen Verkörperungen zu begreifen,
die seine historischen und historisch bedingten Objektivationen
darstellen, während er selber sich in keiner von ihnen erledigt.
Man muß die schöpferische Geistes einstellung und Geistesmacht
begreifen, die in dem Begriff des Mythus zusammengefaßt wird;
man muß verstehen, was sie für die menschliche Geschichte und
das menschliche Leben bedeuten, und man braucht dann nicht mehr
bänglich zu erwägen, ob zu ihrer Bezeichnung das Wort Mythus
mit Recht gewählt ist. Wenn nach der tiefsinnigen Auffassung
und Deutung Hegels der Mythus das Anschauen des Weltgeheim-
nisses in der Form der Person ist, so bedarf es nur der vollstän-
digen Durchführung dieses 'personalistischen' Gedankenzuges, wozu
in der Philosophie des deutschen Idealismus die wertvollsten Hand-
haben und Richtlinien geboten werden (in der Gegenwart in erster
Linie von William Stern), um den Begriff des Mythus ganz in
dem in dem vorliegenden Zusammenhang entwickelten und ver-
tretenen Sinn zu verstehen. (Vgl. auch weiter unten S. 437.)
Mythus und Kultur. 415
II.
Typische Sondermythen auf einzelnen geschichtlichen Kultur-
stufen.
Der auf Verabsolutierung eingestellte und auf das Absolute
hinzielende Prozeß der Mythologisierung der Kultur nimmt nun
nämlich teil, an dem dialektischen und antinomischen Schicksal aller
schöpferischen und im metaphysischen Sinne spontanen und auto-
nomen Funktionen. D. h. : Auch er vermag seine volle Freiheit nicht
uneingeschränkt zu betätigen, sondern er erfährt eine Abwandlung
und Einengung durch die besonderen Verhältnisse und Strukturen
der an ihm interessierten Zeiten, Geschlechter, Menschen. Man
sieht das ewige Bild des Mythus stets gleichsam gefärbt durch
eine bestimmte geschichtliche Brille; man historisiert und konkre-
tisiert es und sucht es jeweiligen Forderungen, Lebensstimmungen,
Zweckvorstellungen, Zeitempfindungen und Zeitströmungen anzu-
gleichen, sogar es durch diese beeinflussen zu lassen und von ihnen
abhängig zu machen.
Auf diese Weise entstehen jene Sonderformen des Mythus,
die für bestimmte geschichtliche Lagen und Verhältnisse so sehr
charakteristisch sind, daß sie geradezu einen Wesensbestandteil
dieser Lagen und Verhältnisse darstellen und herangezogen und
genau berücksichtigt werden müssen, soll eine innere Erfassung
der betreffenden historischen Perioden und ihrer Vertreter gelingen.
Die in Ausführung von Andeutungen Nietzsches und besonders
Diltheys in Angriff genommenen, sehr wertvollen und aussichts-
reichen Bemühungen um die Entwicklung einer Struktur- und
Typenpsychologie als Grundlage der Geisteswissenschaften — hier
wäre in vorderster Linie Eduard Sprangers Werk : „Lebensformen"
zu nennen — muß es sich angelegen sein lassen, die maßgebenden
Hauptarten der Mythen zu studieren, weil gerade ihre Erfassung
ungemein geeignet ist, unser historisches Verständnis zu fördern.
In den Hauptmythen der Kultur liegen charakteristische Verdich-
tungen typisch-menschlicher Einstellungen zur Wirklichkeit "vor,
die oft wie mit einem Blitz die Grundverfassung ganzer Zeitab-
schnitte und Generationen erhellen. —
*
a) Einen interessanten Beleg für die Richtigkeit dieser Behaup-
tungen bietet der in den mannigfachsten Gestalten und Abwand-
lungen immer wieder auftretende Mythus von Piaton und vom
Piatonismus. Fast regelmäßig macht sich auf hervorstechenden
416 Arthur Liebert,
Stufen der abendländischen Greistesgeschichte eine bestimmte Aus-
prägung dieses Mythus geltend. So wird gewöhnlich angenommen,
seit der durch Cosimo von Medici bewirkten Gründung der Pla-
tonischen Akademie zu Florenz datiere die vertiefte Erneuerung
der Kenntnis und des Studiums der Philosophie Piatos. Tatsächlich
aber haben wir hier, wie ich an anderer Stelle darzutun versucht
habe, eine legendarische Zurechtmachung der eigenen Lebensstim-
mung und Weltanschauung unter der Führung und dem bestim-
menden Einfluß eines Symbols vor uns, dem man einzelne, an Piaton
anklingende Züge lieh. Die besondere Lage und Geistesverfas-
sung der Renaissance verlangte nach einer Heiligenfigur und nach
einer Philosophengestalt, die möglichst stark von dem im Mittel-
alter als unbedingten Meister verehrten Aristoteles abwich, zu-
gleich aber gewisse Möglichkeiten und Voraussetzungen gab, um
als Vertreter und Verkörperer der eigenen Gedanken und Gefühle
zu erscheinen. Der Prozeß der Deutung und Umdeutung Piatos
und dessen Angleichung an den Ideen- und Erlebniskreis der Re-
naissance floß aus einer tiefen mythologisierenden Quelle. Und das
auf diesem Wege entstandene Gemälde entsprach nicht sowohl der
Philosophie Piatos als vielmehr einem dynamischen und emana-
tistischen Pantheismus, der viel mehr von Plotin und aus der
Mystik des Neuplatonismus stammte als aus dem Geiste des
Schöpfers die Ideenlehre. Denn in dem Bilde dieses neuplatonisch
umstilisierten Piaton waren z. B. die Beziehungen der Ideenlehre zur
Mathematik und die Bedeutung derselben als Wissenschaftslehre
bis auf den letzten Grund getilgt. Umgekehrt zeigte die Formung,
die in den letzten Jahrzehnten mit Piaton etwa von der Marburger
Schule vorgenommen wurde, eine wiederum aus konstruktiver Deu-
tung erfolgende Interpretation, die den Mythus von Piaton als
dem Erkenntnis theoretiker und dem Vorläufer der kritisch- trans-
zendentalen Logik schuf, also gleichsam nach der der Renaissance-
auffassung entgegengesetzten Seite gerichtet ist, wie sie in der
Hauptsache Paul Natorp in seinem bekannten Piatonbuch entwickelt.
Welche von beiden Auffassungen und Darstellungen ist im
Recht? Wenn wir antworten: beide, so geschieht das nicht in der
Meinung, daß sich nun durch ihre Vereinigung ein adäquates Bild
des ,ganzen' Piaton herstellen ließe. Sie haben beide Recht, weil
sie die Auslegung unter Heranziehung der aus ihrer Zeit oder aus
ihrem besonderen, ihnen zugehörigen Gedanken- und Lebenskreise
hervorgehenden Auffassungs- und Interessenrichtungen vornehmen.
Mythus und Kultur. 417
Diese methodische Einseitigkeit ist natürlich einem in methodischen
Dingen geradezu vorbildlichen Kopfe wie Hermann Cohen durch-
aus bewußt. Sagt er doch in seiner Schrift: «Piatos Ideenlehre
und die Mathematik> : „Denn das ist ja eine füglich anerkannte
Sache, daß es in letzter Instanz kein anderes zureichend objektives
Kriterium gibt für die Beurteilung des Echten, des Reifen, des
Hauptsächlichen, ja beinahe muß man sagen, des ernsthaft Ge-
meinten in Piaton, als die eigene wissenschaftliche Subjektivität,
als die erkenntnistheoretische Einsicht, über die ein jeglicher zu
verfügen hat" (S. 6). (Vgl. auch den wertvollen Aufsatz von
Julius Stenzel, Zum Problem der Philosophiegeschichte j Kant-
Studien Band XXVI, Heft 3—4 S. 416 ff.).
Demgemäß also wäre auch die Vereinigung der verschiedenen
Interpretationsformen ein Akt systematischer Deutung, der der
Eigenart einer vornehmlich synkretistischen Denkart entsprechen
würde. Von einer Platon-Legende reden, heißt also nicht etwa, die
Existenz Piatons in Abrede stellen, ebenso wenig die Möglichkeit
einer objektiven Erkenntnis der philosophischen Leistung Piatons
bezweifeln. Die geisteswissenschaftliche Hermeneutik, dieses bei-
nahe wichtigste Kapitel einer theoretischen Grundlegung der Ge-
schichtswissenschaft, zeigt, daß es eine Reihe wissenschaftlich ein-
ander gleichberechtigter Formen und Typen der Auffassung und
Auslegung gibt, und daß das ,Recht' und die Objektivität einer
jeden in der inneren Folgerichtigkeit und in der methodischen
Strenge des in ihr sich erfüllenden Bildes begründet sind. —
Die ewige Aktualität der ganz großen Geister der Weltge-
schichte prägt sich darin aus, daß jedes Zeitalter und jedes Ge-
schlecht sie nach seinen Bedürfnissen sich zurechtlegen kann. Es
entdeckt an ihnen irgendwelche Momente, die zu seinem Wesen
eine besondere fesselnde Beziehung haben, und die es nun in umdeu-
tender Vereinseitigung aus der Gesamtheit des Originals heraus-
löst. Das im praktischen und wissenschaftlichen Leben unendlich
häufig geübte Verfahren der Auslegung dient den sehr starken
mythologisierenden Neigungen der menschlichen Natur und unter-
steht in weitem Umfange der mythologisierenden Phantasie.
Außer Piaton sind es von den Philosophen im wesentlichen
wohl in erster Linie noch Spinoza und Kant, deren Leistung in
die Form des Mythus eingegangen ist. Lediglich auf diese Weise
gedieh ihr Werk zu seiner außerordentlichen geschichtlichen und
weltanschaulichen Wirksamkeit. Wenn Georg Simmel seine Dar-
418 Arthur Liebert,
Stellung der Philosophie Kants mit der Erklärung einleitet: „Die
Absicht dieses Buches ist keine philosophie-geschichtliche, sondern
eine rein philosophische. Es gilt ausschließlich, diejenigen Kern-
gedanken, mit denen Kant ein neues Weltbild gegründet hat, in
das zeitlose Inventar des philosophischen Besitzes einzustellen",
so erwächst hier ein aus der antihistoristisch gerichteten Einstel-
lung Simmeis und einer in ihm sich verkörpernden ganzen Zeit-
strömung gestaltetes Kant-Bild. Diesem eignet unter den Voraus-
setzungen seines Greformtwerdens sachlich und sinnhaft derselbe
Wahrheitswert wie etwa einem Werk über Kant, bei dessen Ab-
fassung die Philologie und die historische Kritik Pate gestanden
haben. Aus der Relativität und konkreten Gegenständlichkeit der
geschichtlichen Urkunden, wie uns solche in den einzelnen Werken
Kants vorliegen, soll dasjenige, was an der kritischen Philosophie
den Charakter absoluter Bedeutsamkeit trägt, herausgeschält
werden. Es könnte diesem Beginnen entgegengehalten werden:
Ist das denn überhaupt möglich und durchführbar? Kann jene
, Absolutheit' ein für allemal einwandfrei und eindeutig festgestellt
werden? Was der Simmelschen Auslegung als absolut gilt, kann
von einem anderen Standpunkt aus oder einer anderen Interessen-
und Zeitrichtung als verhältnismäßig äußerlich und zufällig er-
scheinen. Diese Einwände berühren aber nicht das Wesen der
Sache. Denn das Kant-Bild Simmeis stellt erstens keine Abschrift
einer geschichtlichen Wirklichkeit dar, obwohl es als solche auch
bereits eine synthetische Formung bedeuten würde, d. h. eine Über-
windung des mit allen Zügen der Relativität behafteten Stoffes
als einer in gewissen geschichtlichen Büchern niedergelegten, unter
bestimmten individuellen und geschichtlichen Umständen ins Leben
getretenen Tatsache durch die zeitlosen Kategorien und Methoden
der wissenschaftlichen Erkenntnis. Zweitens erschließt sich in
jener Interpretation eine Gestalt des Denkens, die deshalb ewig
ist, weil nicht das, was sie ihrem empirischen Bestand nach ist und
als was sie erscheint, an ihr geschätzt und beachtet wird, sondern
weil sich für jene Auslegung in ihr die Vernunft des Absoluten
und das Absolute der Vernunft in eine der ihnen möglichen Strah-
lungen spiegelt. Es interessiert keineswegs lediglich der Tatbestand
der Lehre Kants selber, der schon wegen seiner unvergleichlich
verwickelten Struktur, wegen der Mannigfaltigkeit seiner syste-
matischen und geschichtlichen Voraussetzungen und Motive von
sich aus eine Vielheit von Deutungen erlaubt, ja geradezu fordert,
Mythus und Kultur. 419
sondern mit dieser Möglichkeit verschwistert sich jene Fülle her-
meneutisch zulässiger Standpunkte, die ein Ausdruck der Ver-
schiedenartigkeit des Weltgefühls der an der Auslegung beteiligten
Zeiten und Menschen ist.
Und indem diese Verschiedenartigkeiten in die Formen des Be-
griffes eingehen, erwachsen die Mythen von Kant und seiner
Philosophie. Die Entstehung der zahlreichen Kantischen Schulen
erklärt sich nicht nur daraus, daß aus dem höchst verschlungenen
Bau des Kantischen Systems von diesem die eine, von einem an-
dern eine andere Tendenz und Linienführung herausgelesen und
herausgehoben und zur Entwicklung gebracht wurde, sondern der
Geist der Arbeit an Kant und die Versuche der Fortbildung der
kritischen Philosophie unterstanden und unterstehen zugleich eigen-
tümlichen Gesichtspunkten und Betrachtungsweisen, die sich aus
der wissenschaftlichen Bildung, der metaphysischen Gesinnung, der
Zugehörigkeit zu bestimmten Zweigen und Forschungsrichtungen
der Wissenschaft, aus der Persönlichkeit und Begabungsart des
betreffenden Interpreten und Fortbilders ergeben. Die Weiter-
führung der Philosophie Kants im 19. Jahrhundert verfolgen, heißt
nicht nur, den in jener Philosophie gelegenen sachlichen Tendenzen
nachgehen und die systematische und historische Ausbreitung der-
selben zu dem riesigen Geflecht verschiedenartigster, dennoch durch
ihre gemeinsame Beziehung auf Kant untereinander verbundener
philosophischer Systeme darstellen, sondern zugleich auf fast die
gesamte Fülle von Gedankenmotiven, Überzeugungen, religiösen
Glaubensformen, wissenschaftlichen und metaphysischen Stand-
punkten, ja selbst von politischen Bewegungen und Parteien Bezug
nehmen, die im Laufe der genannten Zeit hervorgetreten ist.
Von allen diesen Standpunkten aus hat man es unternommen,
sich mit Kant auseinanderzusetzen, sei es in zustimmender, sei es
in bekämpfender oder ablehnender Hinsicht. Und in dem Prozeß
dieser nach Zahl wie Qualität außerordentlich reichen Auseinander-
setzungen hat sich eine ganze Reihe der merkwürdigsten Kant-
Bilder und Kant-Mythen herauskristallisiert. Es wäre eine nicht
nur reizvolle, sondern auch wichtige kultur- und philosophiege-
schichtliche Aufgabe, einmal unter diesem Gesichtspunkt die ver-
schiedenen Auslegungsarten des Kritizismus, ihre inneren Voraus-
setzungen, ihren Wert und das Maß ihrer Fort- bezw. Umbildung
der Philosophie Kants zu beleuchten. —
420 Arthur Liebert,
b) Neben denjenigen Mythen, die sich um einzelne Persönlich-
keiten ranken und die Schöpfungen derselben aus dem Fluß der
geschichtlichen Endlichkeit und Gregebenheit herausheben, stehen
solche, in denen ein ganzer Kulturkreis zur Legende geformt
wurde. Die vergleichsweise wichtigste und am reichsten ausge-
stattete Legende ist diejenige vom klassischen Griechen-
tum und vom Hellenismus. Oft ist das Schicksal ganzer
Zeiten und hochstehender Individuen gerade von diesem Mythus
bestimmt worden (Hölderlin), an dem man der kulturschöpferischen
und kulturtragenden Funktion des Mythus überhaupt so recht ge-
wahr zu werden vermag. Nicht handelt es sich hier um eine be-
wußtfalsche Auffassung der Antike, die durch eine nüchtern-kri-
tische Nachprüfung richtiggestellt wäre oder richtiggestellt werden
könnte, sondern, wie Hermann Diels sich ausdrückt, um eine „op-
timistische Verklärung, mit dem unser Neuhumanismus die antike
Welt betrachtete" (Hermann Diels, Der antike Pessimismus S. 4).
Dieser idealisierten Auffassung hat Friedrich Schiller den ge-
hobensten Ausdruck mit den Worten verliehen:
Da ihr noch die schöne Welt regieret,
An der Freude leichtem Grängelband
Selige Greschlechter noch geführet,
Schöne Wesen aus dem Fabelland;
Ach, da euer Wonnedienst noch glänzte,
Wie ganz anders war es da!
Da man deine Tempel noch bekränzte,
Venus Amathusia. (Die Grötter Griechenlands)
Es ist nicht schwer zu erkennen, was dem Zeitalter des
Humanismus oder dem des Neuhumanismus, was Winckelmann,
Goethe, Schiller, Wilhelm von Humboldt jene zum Ideal umge-
schaffene und zum Ideal verklärte Welt, die sie Griechentum
nannten, bedeutete. Sie erschauten in einer Phantasiewirklichkeit
das als erreicht und bewährt, was ihnen als Sinn und Gehalt des
Lebens galt, und zwar sowohl in Hinsicht auf die Gesinnung als
auch in Bezug auf die Form.
Wilhelm von Humboldt hatte das Ziel der Erziehung zur Hu-
manität mit den berühmten Worten umschrieben: „Der wahre
Zweck des Menschen, nicht der, welchen die wechselnde Neigung,
sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt
— ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte
zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und
Mythus und Kultur. 421
unerläßliche Bedingung. Allein außer der Freiheit erfordert die
Entwicklung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich
mit der Freiheit eng Verbundenes — Mannigfaltigkeit der Situa-
tionen. Auch der freieste und unabhängigste Mensch, in einför-
mige Lagen versetzt, bildet sich minder aus". Die Idee dieser
Erziehung sieht er bei den Griechen verwirklicht1). Zwar weiß
er natürlich, daß das, was er von dem Charakter der Griechen
sagt, „unmöglich von einer ganzen Nation in allen ihren einzelnen
Individuen buchstäblich wahr sein kann". Dennoch gilt der Ge-
danke als Richtschnur: „Die griechische Vorwelt dient uns zu
einem Ideal". Denn was sie uns als erreicht, als möglich zeigt,
das ist die „schöne Einheit des Gemüts". Uns Moderne quält „das
Mißverhältnis zwischen innerem und äußerem Dasein — die Grie-
chen dagegen „verdienen schlechtweg das Ideal zu heißen, weil
... der vorherrschende Zug in ihrem Geist, ja der, welchen man
immer wählen würde, wenn man nur einen einzigen anzuführen
hätte, Achtung und Freude an Ebenmaß und Gleichgewicht ist,
auch das Edelste und Erhabenste nur da aufnehmen zu wollen,
wo es mit einem Ganzen zusammenstimmt . . . sie kannten nicht
das Umtreiben in Gedanken und Empfindungen, hinter denen jeder
Ausdruck zurückbleibt". Und wie bis ins einzelne gehend Hum-
boldt sich diesen Griechen-Mythus ausmalt, und wie sehr er in
ihm lebte, erhellt nicht nur aus den Anweisungen, die er für das
Studium der Griechen erteilt, sondern auch aus der Überlegung,
die er anstellt, um die den Griechen nachgesagte Ablehnung alles
Maßlosen zu begründen. Der „Widerwille gegen das Un verhältnis-
mäßige entsprang aber bei den Griechen nicht eigentlich aus einem
oft nur von Schwäche und Verweichlichung zeugenden Abscheu
vor dem übermäßig Hervorragenden oder dem sich von der ge-
wöhnlichen Natur Entfernenden, sondern unmittelbar aus dem Be-
dürfnis, überall auf das höchste Leben zu dringen, das nur aus
der Übereinstimmung quillt, die nichts ausschließt, und aus dem
tiefen Gefühl der Natur, die durchgängiger Organismus ist." Das
ist ein Mythus in reinster Gestalt, den Humboldt kennzeichnet:
„Die Empfindungen, mit welchen wir auf die Alten zurücksehen,
sind denjenigen ähnlich, welche der Anblick der schönen Natur
1) Vgl. außer Eduard Sprangers Werken: „Wilhelm von Humboldt und die
Reform des Bildungswesens" und „Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee"
auch Paul Hensels Aufsatz: „Wilhelm von Humboldt", Kant-Studien Bd. XXIII,
; 1918, Heft 2—3 S. 174 ff.
Kantetadien. XX VII. 28
422 Arthur Liebe rt,
überhaupt ... in uns erweckt. Es ist eine vollendete Form, die
sich uns zur Nachbildung darbietet, und wir empfinden es lebhaft,
daß der Wert alles Gehalts, den wir zu erwerben oder besitzen
vermöchten, nur auf der Möglichkeit beruht, ihn zu einer ähnlichen
zu vereinen". Die Idee der humanistischen Bildung, die Idee der
Entfaltung aller Kräfte und ihrer harmonischen Verwebung zur
Einheit einer Vollgestalt war die gedanklich-sittliche Grundlage
jenes Mythus. Das bestimmende Motiv für seine bildhafte Durch-
führung aber war die Aussicht, den Wert und das Recht dieser
Idee durch die Aufweisung ihrer geschichtlichen Wirklichkeit zu
erhärten. Mochte man auch zu dem Zugeständnis oder der Ein-
schränkung sich gedrängt sehen, daß „auch der Begriff des Ideals
es notwendig mit sich bringt, daß sich die Idee der Möglichkeit
ihres Erscheinens unterwerfe". Trotzdem hebt Humboldt die außer-
ordentliche pädagogische Bedeutung dieses Mythus mit den starken
Worten hervor: „Wer, wie der Grieche, mit Schönheit der Formen
genährt, und so enthusiastisch, wie er, für Schönheit und vor-
züglich auch für sinnliche gestimmt ist, der muß endlich gegen
die moralische Disproportion ein gleich feines Gefühl besitzen als
gegen die physische. Aus allem Gesagten ist also eine große
Tendenz der Griechen, den Menschen in der möglichsten Vielseitig-
keit auszubilden, unleugbar". „Der gefühlvolle Kenner (!) des Alter-
tums, der die harmonische Ausbildung aller Kräfte, die edle Frei-
heit der Gesinnungen, die Entfernung von allen niedrigen Be-
schäftigungen, den edlen Müssiggang und die hohe Schätzung des
inneren Menschen unter den Griechen mit hohem Erstaunen be-
wundert, wird nicht ohne Scham und Niedergeschlagenheit bemerken,
daß unter uns fast jeder nur einzelne Anlagen einseitig entwickelt,
daß die Freiheit des Geistes mancherlei Fesseln erduldet, daß eine
mühselige Geschäftigkeit einen großen Teil unseres Lebens hinweg-
nimmt und die innere Ausbildung nicht selten der äußeren Wirk-
samkeit nachgesetzt wird." Welche Abstriche die historische und
philologische Einzelforschung an diesem Gemälde vornehmen mochte,
unberührt davon bleibt seine ausschlaggebende, geradezu kultur-
sch äffende Wichtigkeit, die darin zum Ausdruck gelangt, daß es
mit seiner Hilfe Humboldt möglich wurde, nicht nur seiner Sehn-
sucht und seinen sittlichen und 'künstlerischen Forderungen eine
lebendige, wirkungsvolle Gestalt zu geben, sondern er gewann
dadurch die Grundlage für seine Erziehungspläne und seine pä-
dagogischen Reformbestrebungen. Ihm selber und seinem Kreise
Mythus und Kultur. 423
mußten das Recht und die Notwendigkeit seiner pädagogischen
Ideen und Maßnahmen umsomehr einleuchten, je mehr er ihnen in
dem Griechen - Mythus Fleisch und Blut zu verleihen vermochte
und in diesem Mythus die Wirklichkeit eines Ideals beglaubigte.
Dieser Mythus versinnlichte und sprach aus, was man kurz die
absolute Gestalt und den absoluten Sinn aller menschlichen Bildung
— unter den Bedingungen, die der Geist des Neuhumanismus diesem
Begriff der Bildung gab — nennen darf. Denn dieser Sinn gipfelte
in der griechischen Kalokagathie, die eine innere Verbindung dar-
stellt „edler, großer, eines Freien wahrhaft würdiger Gesinnungen
in der Seele und dieser lebendige Ausdruck derselben in der Sitt-
lichkeit der Bildung und der Grazie der Bewegungen des Körpers"
und „die sich bei keinem Volke wieder in dem hohen Grade findet"
wie bei den Griechen *).
*
c) Während sich in dem Bildungs-Mythus des Neuhuma-
nismus eine bezeichnende Verwebung ethischer und ästhetischer
Züge äußert und die Eigentümlichkeit dieses Mythus und das Gre-
heimnis seines Ansehens und seines Einflusses auf dieser Verwebung
beruhen, vollzieht sich die Verabsolutierung ausschließlich ästheti-
scher Momente in dem Mythus von der Kunst, den dann die Ro-
mantik schafft. Ihr ist nicht ein philosophisches System, auch nicht
der Wert sittlicher Harmonie und harmonischer Sittlichkeit das
Ewige und Unbedingte, das Vollkommene und Erlösende, das allem
Leben erst seinen Sinn und Gehalt schenkt, und auf das hin alle
Erscheinungen projiziert werden müssen, soll ihnen Charakter und
Wert zufließen: diese Rolle und Kraft ist vielmehr der Kunst
eigen. Sie übt eine durchaus mythische Funktion, wie sich denn
in dieser Wertungsart der Kunst die kulturschöpferische Leistung
des Mythus in ästhetischer Sonderausprägung bekundet. „Die
Kunst", so heißt es in Wackenroders <Herzensergießungen eines
kunstliebenden- Klosterbruders >, „schmelzt das Geistige und Un-
1) An dem Mythus vom Griechentum läßt sich als an einem hervorragenden
Sonderfall die geradezu ungemeine Bedeutung studieren und erkennen, die der
Mythus überhaupt innerhalb der menschlichen Gesellschaft und für dieselbe besitzt.
Es bedarf in dieser Beziehung nur eines kurzen Hinweises darauf, daß Wilhelm
von Humboldt zu den Schöpfern des humanistischen Gymnasiums gehört. Ist doch
durch dieses der Mythus vom Griechentum für ungezählte Geschlechter zu einer
entscheidenden pädagogischen Wertform, ja zur Substanz ihres sittlichen Wesens
und zum Halt für ihre ganze Gesinnung und Lebensführung geworden.
28*
424 Arthur Liebert,
sinnliche auf eine so rührende und bewundernswürdige Weise in
die sichtbaren Gestalten hinein, daß unser ganzes Wesen und
alles, was an uns ist, von Grund auf bewegt und erschüttert
wird". Und weiter in demselben Zusammenhang: „Die Kunst . . .
schließt uns die Schätze in der menschlichen Brust auf, richtet
unsern Blick in unser Inneres und zeigt uns das Unsichtbare, ich
meine alles, was edel, groß und göttlich ist, in menschlicher Ge-
stalt . . . Die Kunst stellt uns die höchste menschliche Vollendung
dar". In dem nur wenige Seiten umfassenden Aufsatz: <Die Ewig-
keit der Kunst>, der die Steigerung der Kunst zum sinndeutenden
und erlösenden Mythus in aller Stärke ausdrückt, heißt es geradezu :
„Alles, was vollendet ist, das heißt, was Kunst ist, ist ewig und
unvergänglich ... ein vollendetes Kunstwerk trägt die Ewigkeit
in sich selbst ... In der Vollendung der Kunst sehen wir am
reinsten und schönsten das geträumte Bild eines Paradieses, einer
unvermischten Seligkeit ... In sich selbst trägt die Gegenwart
der Kunst ihre Ewigkeit und bedarf der^Zukunft nicht, denn
Ewigkeit bezeichnet nur Vollendung". Die Kunst hebt uns, unser
irdisches Dasein über Tod und Vergänglichkeit hinaus, da sie „in
sich keine Bedingungen kennt, und ihr Ganzes keine Teile hat . . .
Laßt uns darum unser Leben in ein Kunstwerk verwandeln, und
wir dürfen kühnlich behaupten, daß wir dann schon irdisch un-
sterblich sind" *).
Diese Aufgabe und diese Funktion eignen aber deshalb der
Kunst, weil sie es ist, in der der Atem und die Kraft des Kos-
mos, des Ewigen glühen, weil sie es ist, in der der Weltgeist
sich auswirkt. Das ist der Grundgedanke und das Dogma dieses
ästhetischen Idealismus im Gegensatz zu dem ethischen Idealismus,
der in dem guten Willen, in der praktischen Vernunft den Aus-
druck des Absoluten erblickt. „Alle heiligen Spiele der Kunst
sind nur ferne Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der
Welt, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk", sagt Friedrich
Schlegel. Wir haben somit nicht die Ansicht der Aufklärung vor
uns, die den Bau des Weltalls allerdings in Analogie zu einem
Kunstwerk, aber einem solchen mechanischer Struktur vorstellte
und in diesem Sinne Gott als Weltarchitekten und Weltmechaniker
1) Ob und in welchem Sinne auf die romantische Verabsolutierung der
Kunst Schillers Kunsttheorie eingewirkt hat, die besonders in den ästhetischen
Briefen zur Größe einer Metaphysik der Kunst aufwuchs, mag hier unerörtert
bleiben.
Mythus und Kultur. 425
dachte. Indem nämlich die Aufklärung überall in der Welt Zweck-
mäßigkeiten und planvolle Zurichtungen fand, führte der Gedanke
der mechanischen Gesetzmäßigkeit zur Vorstellung, das All sei
ein aus der Vernunfttätigkeit Gottes hervorgegangenes Kunstwerk.
Es war m. a. W. der Begriff der formalen Ordnung, der das Ver-
bindungsglied zur Herstellung jener Analogie darbot. Die Ro-
mantik dagegen sah im Kunstwerk darum ein Symbol des Kosmos,
des Alls, weil ihr nichts Anderes zur Versinnlichung des Unend-
lichen genügen konnte. An die Stelle der formalen Zweckordnung
des Gesetzes trat der romantische Begriff des Unendlichen im
Sinne unerschöpflicher Tiefe und Fülle, die die Romantik ungleich
mehr reizten und ihr ungleich viel mehr sagten als alle gesetzliche
Strenge und Ordnung. So definiert Wilhelm Schlegel in seinen
grundlegenden Berliner Vorlesungen: «Über schöne Literatur und
Kunst> das Schöne als die symbolische Darstellung des Unend-
lichen. Auch in diesem entscheidenden Punkt Schüler und Nach-
folger Schellings, der in seinem «System des transzendentalen
Idealismus» in dem Kapitel über die Deduktion der Hauptsätze
der Philosophie der Kunst (6. Hauptabschnitt) von dem Künstler
gesagt hatte, er „scheint, so absichtsvoll er ist, doch in Ansehung
dessen, was das eigentlich Objektive in seiner Hervorbringung ist,
unter der Einwirkung einer Macht zu stehen, die ihn von allen
andern Menschen absondert und ihn Dinge auszusprechen und dar-
zustellen zwingt, die er selbst nicht vollständig durchsieht, und
deren Sinn unendlich ist". „Der Grundcharakter des Kunstwerks
ist eine bewußtlose Unendlichkeit (Synthesis von Natur und Frei-
heit). Der Künstler scheint in seinem Werk außer dem, was er
mit offenbarer Absicht darein gelegt hat, instinktmäßig gleichsam
eine Unendlichkeit dargestellt zu haben, welche ganz zu entwickeln
kein endlicher Verstand fähig ist: Um uns nur durch Ein Beispiel
deutlich zu machen, so ist die griechische Mythologie, von der es
unleugbar ist, daß sie einen unendlichen Sinn und Symbole für
alle Ideen in sich schließt *), unter einem Volk und auf eine Weise
entstanden, welche beide eine durchgängige Absichtlichkeit in der
Erfindung und in der Harmonie, mit der alles zu Einem großen
Ganzen vereinigt ist, unmöglich annehmen lassen. So ist es mit
jedem wahren Kunstwerk, in dem jecles, als ob eine Unendlichkeit
1) Auf diese Weise hätte ein Vertreter der neuhumanistischen Interpretation
den Sinn der griechischen Mythologie kaum ausgelegt.
426 Arthur Liebert,
von Absichten darin wäre, einer unendlichen Auslegung fähig ist,
wobei man doch nie sagen kann, ob diese Unendlichkeit im Künst-
ler selbst gelegen habe oder aber bloß im Kunstwerk liege". Und
wenige Seiten später: „Es ist nichts im Kunstwerk, was nicht ein
Unendliches unmittelbar oder wenigstens im Reflex darstellt". —
*
d) Indem die mythische Verabsolutierung der Kunst
seitens der Romantik durch das Bedürfnis nach einem Symbol
für das Erlebnis überrationaler Tiefe entsteht, ist nun auch der
zweite große, für sie charakteristische Mythus gegeben, der von
der Religion. Wären für die Romantik die Grenzen zwischen
Kunst und Religion nicht so fließend, ginge nicht durch die Ver-
mittelung der Idee der Unendlichkeit ein G-ebiet notwendig und
organisch in das andere über, so könnte man im Zweifel sein,
welcher Mythus, der der Kunst oder der der Religion, von tieferer
Bedeutung für sie sei. Jedenfalls hat ihr Mythus von der Kunst
entschieden religiöse Färbung und ihr Mythus von der Religion
künstlerische Färbung. So wird es verständlich, daß trotz und
neben aller Verabsolutierung der Kunst und der Lobpreisung ihres
Unendlichkeits- und Ewigkeitscharakters Wilhelm Schlegel in den
Vorlesungen < Über dramatische Kunst und Literatur > sagen kann:
„Die Religion ist die Wurzel des menschlichen Daseins. Wäre es
dem Menschen möglich, alle Religion, auch die unbewußte und un-
willkürliche zu verleugnen, so würde er ganz Oberfläche werden
und kein Inneres mehr haben. Wenn dieses Zentrum verrückt
wird, so muß sich folglich darnach die gesamte Wirklichkeit der
Gemüts- und Geisteskräfte anders bestimmen". Und in den
<Ideen> Friedrich Schlegels heißt es (Athenäum III, 1) : „Die Re-
ligion ist nicht bloß ein Teil der Bildung, ein Glied der Mensch-
heit, sondern das Zentrum aller übrigen, überall das Erste und
Höchste, das schlechthin Ursprüngliche". Ferner ebenda: „Die Idee
der Gottheit ist die Idee aller Ideen".
Die reine, sozusagen ungemischte und ungebrochene Heraus-
stellung der Absolutheit der Religion gelang innerhalb des Kreises
der Romantiker im Grunde jedoch nur dem einen Schleiermacher,
der bezeichnenderweise von sich bekannte, daß er zur Kunst noch
weniger ein eigentliches Vefhältnis habe als zur Natur (Haym,
Die Romantische Schule, 2. Aufl., S. 459). Denn was in dem merk-
würdigen Fragment von Novalis: < Die Christenheit oder Europa>
an religiösen Stimmungen und Ideen vorhanden ist, ist bis in seine
Mythus und Kultur. 427
Glaubens Voraussetzungen hinein von Schleiermachers Reden ab-
hängig. Doch erübrigt es sich, an dieser Stelle auf Schleiermachers
Verhältnis zur Religion und auf die absolute Bedeutung einzu-
gehen, die sie für ihn hatte. (Ebenso bleibt hier natürlich seine
religionsphilosophische und religionspsychologische Leistung uner-
wähnt.) Er gehört in die Reihe jener ausschließlichen und unbe-
dingten Naturen, deren Leben, wie das z. B. bei Mose, Jesus, Mo-
hammed, Franz von Assisi, Luther der Fall war, bis in die ein-
zelnen, auch unwichtigen Züge und Handlungen hinein, die aber
dadurch alle Unwesentlichkeit verloren, von einem geradezu persön-
lichen Verhältnis zum Ewigen erfüllt, durch ein unmittelbares Be-
sitzergreifen und Gewißsein des Absoluten gekennzeichnet ist. Bei
ihnen ist das Transzendieren zum Absoluten so sehr das Alpha und
Omega ihres Seins, es stellt einen so unaufhörlichen und dabei
unantastbar sicheren Prozeß dar, daß hier, vergleichsweise stärker
als bei den Absolutisten des Logos oder der Bildungsidee oder
der Kunst, die Grenze zwischen Erscheinung und Idee wie auf-
gehoben ist und der Symbolcharakter und Gleichniswert alles
Seienden bereits wieder als eine Seinsgestalt hervortritt und sich
zu geschichtlicher Wirklichkeit formt. In ihnen wird die Religion
und die religiöse Absolutheit gleichsam Fleisch und Blut. Sie wan-
deln in einer Sphäre, die ebenso jenseits der Zone der Erscheinungen
und bereits im Reiche der Erfüllung als auch sozusagen diesseits
alles Jenseits liegt. Die Zweifel, von denen sie heimgesucht werden,
ruhen auf dem Grunde der Gewißheit ; ihre endliche Existenz weiß
sich mit unerschütterlicher Sicherheit, so oft auch sie vor dem
Sturz in das Nichts zu stehen scheinen, bereits in aller ihrer Em-
pirie im Unbedingten geborgen. Aber dieses Wissen ist kein
intellektueller Vorgang, sondern eine persönliche Seligkeit; jede
Verrichtung, auch die äußerlichste, hat bei ihnen den Sinn einer
Kulthandlung und erhebt sich zur Bedeutung eines Gleichnisses
und Mythus.
Deshalb ist es auch kein Zufall oder Wunder, daß es gerade
ihr Leben und ihr Schicksal sind, die so leicht und so gern in das
Licht des Mythus und der Legende gerückt werden und so schnell
und bequem den Charakter des Mythus und der Legende annehmen.
Überhaupt ruht der Sinn jeder geschichtlichen Leistung, wie schon
oben angedeutet wurde, in der Übersteigerung des geschichtlichen
Bestandes zur Intelligibilität irgendeines Wertes. Diese Über-
steigerung läßt sich an sich auch an dem Philosophen-Mythus, an
428 Arthur Liebert,
dem humanistisch -ethisch -ästhetischen Bildnngs - Mythus, an dem
Mythus der Kunst erkennen. Die aber in sich absolute Form dieser
auf Verabsolutierung gerichteten Lebenssteigerung verwirklicht sich
doch erst im Leben der Religion, da in diesem alle Dissonanzen
und Antinomien des Seins zu einer im Prinzip restlosen Über-
windung gebracht werden. Das ist das Wunder, das der Religion
erreichbar ist, erreichbar sowohl in der Subjektivität des religiösen
Gefühls, als auch im Gebet und in der Objektivität der Glaubens-
gemeinschaft. Wenn nach dem Johannes - Evangelium der Logos
Fleisch, also Erscheinung ward, wenn sich das Wunder der Offen-
barung begibt — und ohne „Offenbarung" gibt es keine Religion
und kann es keine geben — dann vollzieht sich der mystische
Ausgleich zwischen dem Ewigen und dem Endlichen, dann findet
dieses seinen Eingang und seine Versöhnung in jenem.
Darin bekundet sich nun die Paradoxie des religiösen Mythus :
Auf der einen Seite übt er die stärkste, die endgültige Über-
windung aller irdischen Unzulänglichkeiten; man denke an den
Mythus der Trans substantiation oder an die im Gesinnungskreis
der Mystik vertretene Deifikation. Aber andererseits macht er
sich zugleich, indem nach ihm das Göttliche eine endliche Gestalt
annimmt und im irdischen Gewand erscheint, damit entbehrlich,
ja er wird dadurch geradezu hinfällig. Er ist der stärkste und
dauerndste und zugleich der am unbedingtesten, radikalsten über-
windliche und ausschaltbare Mythus. Indem er lehrt und zeigt,
daß die ewige Wahrheit, daß die Idee Wirklichkeit wird und in
die Erscheinung eingeht, löscht er die Grundantinomie alles Seien-
den aus, die doch die Voraussetzung für seine Entstehung und für
sein Anerkanntwerden darstellt. Er ruht einerseits auf der rück-
haltlosen und rücksichtslosen Hervorhebung des Gegensatzes zwi-
schen dem Irdischen und dem Unvergänglichen. Darin ist das
eine Moment seines gewaltigen Reizes und Einflusses begründet.
Er führt in tausendfältiger Ausmalung die Verweslichung des
Menschen und die Unverweslichkeit des Göttlichen vor Augen. Da-
durch schreckt er das Gewissen, die Angst, die Hoffnung auf. Zu-
gleich läßt er andererseits alles Sterben vergehen und trägt alle „ver-
lorenen Kinder" mit feurigen Armen zur Ewigkeit empor. Dadurch
beruhigt er die Sorgen, tilgt er die Ängste und schafft sich eine
ungleich größere Gefolgschaft als durch alle Betonung der empi-
rischen und der metaphysischen Zwiespältigkeiten und Antinomien.
Er ist aus allen diesen Gründen ohne Frage der lebendigste, der ein-
Mythus und Kultur. 429
drucksvollste, der wuchtigste Mythus, eine Gestalt von unerhörter
kulturschöpferischer Macht. Das läßt sich aus seinem Begriff a priori
deduzieren ; das läßt sich auch rein erfahrungsgemäß durch zahllose
Beispiele der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit belegen. Will
man die unermeßliche Bedeutung begreifen, die der Idee des Abso-
luten für alle Formen und Zweige der geschichtlichen Kultur eignet,
so bietet sich kaum ein ergiebigerer Untersuchungsgegenstand dar
als der religiöse Mythus. Und es wird verständlich, daß er gerade
dann sich meldet, wenn eine Zeit ganz tief, sozusagen rettungslos
an den Relativismus sich verloren und die Beziehung zum Ab-
soluten völlig preisgegeben zu haben scheint. Nur muß man im-
stande sein, sein Wesen auch dann zu erkennen und seine Funktion
auch dann zu würdigen, falls er in solchen scheinbar abgeirrten,
weil scheinbar ganz unmetaphysisch gewordenen Zeitaltern in
grotesken Gestalten auftritt, die wie eine Fratze des Religiösen
aussehen.
Im Gebiet des Ethischen bleibt die Antinomie zwischen Sinn-
lichkeit und Sittlichkeit, Bindung und Freiheit in irgendeiner Form
dauernd akut, so sehr, daß diese Antinomie geradezu als konsti-
tutive Bedingung des Ethischen bezeichnet werden muß. In der
Religion jedoch wird sie „aufgehoben". Wie das möglich ist, vermag
keines Menschen Geist zu enträtseln: wir stehen hier vor der
vollendeten Kraft des Mythus selbst. Was wir zu erkennen ver-
mögen, ist nur die Tatsache, daß jene Aufhebung möglich ist, und
daß sie sich oft begeben hat. Aber gerade diese Aufhebung ist
es, in der die Autonomie der Religion besteht und die erlö-
sende Kraft des religiösen Mythus zutage tritt. In dieser Auto-
nomie aber betätigt sich in Verbindung mit der Erlösungsfunktion
das, was wir die Realität und Wahrheit der Religion zu nennen
pflegen.
III.
Unsere Zeit und das Problem des Mythus.
Verfügt nun auch unsere Zeit über einen für sie charakte-
ristischen oder überhaupt über einen Mythus?
Auf Grund der vorstehenden Ausführungen, die die Unent-
behrlichkeit des Mythus für jede Kulturperiode, sogar für jeden
Lebenszusammenhang darzutun und die inneren Bedingungen für
diese Unentbehrlichkeit aufzudecken versuchten, müßte das der
Fall sein. Wie könnte sonst die Gegenwart vor dem Richterstuhl
430 Arthur Liebert,
der Geschichte bestehen? Ja, wie wäre es sonst möglich, ihr
Wesen zu erfassen und über sie eine Erkenntnis auszusprechen,
ganz gleich in welchem Geiste dies geschähe, und ob man ihr den
Aufstieg oder den Untergang prophezeie? Denn jede einzelne
in ihr auftretende Erscheinung und Erscheinungsgruppe läßt sich,
je nach der Gesinnungsweise und dem Temperament des Deutenden,
nach dieser oder jener Richtung auslegen. Inbezug auf das Ein-
zelne bleibt der Willkür der Interpretation ein ziemlich erheblicher
Spielraum. Nicht aber inbezug auf die Ganzheit, auf die innere
Totalität. Diese innere Totalität erschließt sich jedoch dann, wenn
es gelingt, denjenigen Grundmythus zu bestimmen, an dem sich
die Gesamtstruktur unserer Zeit in all der Fülle ihres Wollens
und Ringens, ihrer Unfertigkeiten und ihrer Leistungen, ihres
Plauens und ihres Vollbringens erleuchtet. —
a) Nun scheint aber nichts ausgemachter, nichts sicherer zu
sein als die Behauptung, daß unserer Zeit ein solcher, sie kenn-
zeichnender Mythus fehle. Mögen, so könnte eingewendet werden,
die Geschichtsphilosophen noch so sehr die Notwendigkeit und die
kulturschöpferische Bedeutung des Mythus betonen, sogar nach-
gewiesen zu haben glauben (vgl. die Einleitung und das 1. Kapitel
dieser Abhandlung), trotzdem könne man nicht umhin, einzuräumen,
daß alle Bemühungen, einen solchen Mythus in der Gegenwart auf-
zufinden, ergebnislos bleiben würden.
Zwei Gründe ließen sich zur Stützung dieser Behauptung bei-
bringen. Erstens dulde die immer mehr zunehmende Aufklärung
und die doch zu außerordentlicher Höhe emporgestiegene Aus-
bildung der Kritik das Fortbestehen eines Mythus einfach nicht.
Jeder von uns sei von der modernen geisteswissenschaftlichen
Schulung unmittelbar oder mittelbar berührt. Ist deren Haupt-
arbeit und Hauptabsicht aber nicht darauf gerichtet, und zwar
mit dem größten Erfolge, die Mehrzahl der sogenannten histori-
schen „ Wahrheiten a als Sagen und Mythen abzutun, oft ohne auch
nur den leisesten Versuch zu unternehmen, ihren Sinn und damit
ihr Recht aufzuhellen ? In der Wissenschaft und in der durch sie
veranlaßten, nahezu uferlosen Rationalisierung unseres ganzen
Geisteslebens haben wir uns, allerdings in unabweisbarer Zwangs-
läufigkeit, den Erb- und Erzfeind des Mythus herangezogen. Des-
halb müßte man Fr. Th. Vischer zustimmen, der da erklärt: „Der
Tod eines Mythus ist nur die in die Majorität eingedrungene Ein-
sicht, daß es eben ein Mythus ist" (Kritische Gänge, 3. Bd.
Mythus und Kultur. 431
S. 31 f.). Das Begreifen beseitige den Mythus, da es alles jenseits
des Pormalen und Begrifflichen Liegende grundsätzlich in den
Kreis des Begriffs hineinzieht. Welche paradoxen Folgen er-
gaben sich daraus, daß David Friedrich Strauß in seinem < Leben
Jesu> (1835) die Berichte über Jesu als „Mythen" entschleierte!
Denn dadurch, daß jene Erzählungen als Mythen erkannt und
durchschaut wurden, wurden alle geheimnisvolle Realität und die
Realität des Geheimnisses, die nur so lange bestehen, als sie in
ihrem Mythus- Sein von der Kritik und dem Intellekt nicht be-
rührt werden, dem Wissen und dem Wissenden ausgeliefert. Damit
jedoch verblaßte und zerstob ihr „Mythus". Der Mythus ist eine
natürliche und organische Äußerung des religiösen Bewußtseins;
es lebt in ihm und mit ihm. Für das wissenschaftliche Bewußt-
sein ist er ein Untersuchungsgegenstand, wie deren es für dasselbe
zahllose gibt, und denen allen es in kritischer Neutralität gegen-
übersteht. Indem es den Mythus in diese wertfreie Zone der
sachlichen Untersuchung hineinzieht, ihn hinsichtlich seiner Ent-
stehung und Entwicklung und hinsichtlich der Umstände seines
ästhetischen und literarischen Geformtwerdens ins Auge faßt,
ihn mit Glossarien und Kommentaren begleitet, raubt es ihm bei
diesem Vorgang seiner intellektuellen Durchdringung gerade die-
jenigen Momente, wegen deren er dem religiösen Bewußtsein so
wert ist. Während das religiöse Bewußtsein sich in einem Mythus
verklärt, sucht das wissenschaftliche ihn zu erklären. Während die
mythenbildende und für Mythen begabte und empfängliche Phantasie
in der Realität des Mythus sich darstellt, streben wir „ aufgeklärte ",
durch einen ungeheueren Intellektualisierungsprozeß hindurchge-
gangene Menschen des 19. und 20. Jahrhunderts darnach, uns diese
Form der Realität durch gelehrte Forschung zu verdeutlichen. Wir
tun das mit den Mitteln derjenigen Wissenschaft, die in diesen Zeiten
zu so starker Ausbildung und so hohem Ansehen gekommen ist,
der Psychologie. Dadurch aber werden die Objektivität und die
Realität auch des Mythus in Verbindung mit der menschlichen
Subjektivität gebracht und von dieser abhängig gemacht. Von
hier aus erscheint der Mythus als eine willkürliche, biologisch und
utilitaristisch begründete Schöpfung subjektiven Beliebens, als eine
Fiktion. Diese Erkenntnis seines Wesens, so könnten die Ver-
treter dieser kurz angedeuteten positivistisch -naturwissenschaft-
lichen Beweisführung abschließend sagen, hat. sich in unwidersteh-
licher Ausbreitung der Allgemeinheit mitgeteilt, die in ihrer Geistes-
432 Arthur Liebert,
Verfassung nun in das Zeitalter des Positivismus eingetreten sei,
um mit Auguste Comte zu sprechen.
Im engsten Zusammenhang mit dieser, unter naturwissenschaft-
licher Führung vollzogenen Rationalisierung des modernen Zeit-
bewußtseins steht nun, so könnte weiter eingewendet werden, der
zweite Gegengrund gegen die Möglichkeit eines Mythus für unsere
Tage. Der Fortschritt der wissenschaftlichen Forschung hat uns
die gesamte Wirklichkeit immer mehr als eine nach festen Ge-
setzen aufgebaute Einheit erkennen gelehrt, die — ihrer erkennt-
nistheoretischen Begründung nach — in den kategorialen Formen
des Verstandes ihre Voraussetzungen habe. Der Begriff der Ge-
setzlichkeit sei das Losungswort für alles wissenschaftliche Ver-
fahren geworden, ganz gleich, welche Unterscheidungen nun inner-
halb dieses Begriffes als notwendig befunden und vorgenommen
werden. Ist aber alles Sein in diesen undurchbrechbaren Gesetzes-
rahmen eingespannt, verläuft es in strengen Ordnungen und nach
allgemeinen, über alles Subjektive erhabenen Prinzipien, wie kann
dann noch Raum, noch Anknüpfung für einen Mythus vorhanden
sein? Für eine solche Anknüpfung müßte eine persönliche, mensch-
liche, gemütvoll gefärbte Beziehung vorliegen. Wie sachlich, wie
unpersönlich hat sich aber das Verhältnis des Menschen zur Wirk-
lichkeit unter der Leitung des allmächtigen naturwissenschaftlichen
Rationalismus gestaltet ! Zu Allgemeinheiten, zu gesetzlichen Zu-
sammenhängen tritt man in das begriffliche Verhältnis der Er-
kenntnis. Verehren, lieben läßt sich nur Persönliches, wie denn
auch umgekehrt Verehrung, Liebe ein Ausfluß und Ausdruck un-
serer Persönlichkeit sind und nicht eines in der Zone der abstrakten
Unpersönlichkeit sich bewegenden, nur begrifflich eingestellten
Bewußtseins. Man verfolge das charakteristische Umschlagen von
Spinozas Rationalismus, der übrigens von Anfang an mit erheb-
lichen Gefühlsmomenten erfüllt war, in eine fast schwärmerische
Stimmung gegenüber der „Natur", jemehr nämlich ihm diese zu
„Gott" wird. „Der Mythus ist gläubige Personifikation" heißt es
treffend bei Friedrich Theodor Vischer (Kritische Gänge, 4. Band
S. 426). Indem jedoch das europäische Geistesleben — allerdings
mit einer Folgerichtigkeit und Strenge, denen man seine Aner-
kennung nicht vorenthalten wird — sich mit Theorien durch-
setzte, mit Begrifflichkeiten durchtränkte, nahm nicht nur die
Stärke und Unmittelbarkeit des Glaubens ab, sondern auch alle
Mythus und Kultur. 433
personifizierenden Neigungen müssen von nun an als Rückständig-
keiten und Rückartungen erscheinen.
Ferner: Die Ermattung des religiösen Glaubens in Europa
stehe nicht nur in Verbindung mit dem Anwachsen der Kritik und
des Rationalismus, sondern auch mit dem symptomatischen Vorgang
der Entpersönlichung der Wirklichkeit. Formen, Begriffe, Sche-
mata seien über uns Herr geworden, mußten es. Dieser Entwicklung
könnten wir uns nicht mehr entziehen ; wir müssen einfach mit ihr
rechnen und uns über sie klar werden. Dabei machte es fast gar-
nichts aus, ob die Wissenschaft uns anweise, die Wirklichkeit im
mechanistisch-mathematischen oder im vitalistisch-dynamischen Sinne
aufzufassen. Als Theorien seien sie nämlich beide durchaus Gegner
jeder unmittelbaren und jeder mythisch gearteten Beziehung des
Menschen zur Wirklichkeit; sie verwehren eine personifizierende
Anschauung und ein persönlich gestaltetes Verhältnis zu ihr in
jeder Hinsicht. Damit müßten wir uns eben abfinden, soweit wir
Anspruch darauf machen, an der modernen Einstellung und Arbeit
des Geistes teilzunehmen. Möge auch. Hermann Lotze noch so sehr
im Recht sein mit der tiefsinnigen Überzeugung: „Der Sehnsucht
des Gemütes, das Höchste, was ihm zu ahnen gestattet ist, als
Wirklichkeit zu fassen, kann keine andere Gestalt seines Daseins
als die der Persönlichkeit genügen oder nur in Frage kommen"
(Mikrokosmus, 3. Band S. 563), wir seien nun doch einmal dahin
gelangt, uns zu entwöhnen, das Unendliche unter den Bedingungen
der Persönlichkeit zu sehen.
Ergebe sich aber als unserer Weisheit letzter Schluß die Ein-
sicht von der in sich geschlossenen einheitlichen Gesetzlichkeit und
gesetzlichen Einheit alles Wirklichen, von seiner eindeutigen Be-
stimmtheit und Begrenzung durch ein Gefüge fester Begriffsformen,
so entfalle die Möglichkeit eines Mythus darum, weil die Möglich-
keit einer idealen Ergänzung nach der Richtung einer jenseits des
Gewebes von Kausalitäten wirkenden Absolutheit entfalle. Weil
wir zu lernen gezwungen wurden, daß das Dasein sich aus sich
selber nährt und sich in seinen eigenen Gesetzen befriedigt. Weil
wir in unserer Gesinnung und in unserem Denken nun einmal so
vertatsächlicht und historisiert sind, daß jeder Schritt zur Ewig-
keit eine Flucht ins Traumland bedeutet, das doch nur der eigent-
lich längst überwundenen metaphysischen Spekulation erreichbar
wäre. Mit der Überwindung der Metaphysik sei aber zugleich,
so meint man, aller Mythus zur Verabschiedung gebracht worden.
434 Arthur Liebert,
Die für das moderne Bewußtsein maßgebende Begrenzung des
Denkens und Handelns auf das Reich gegenständlicher Erfahrung,
und zwar eine Begrenzung, die in dem erkenntnistheoretischen
Phaenomenalismus als der herrschenden Richtung und Überzeugung
in der Erkenntnistheorie ihre prinzipielle Begründung gefunden
habe, könne die Erhebung zum Reiche der Ideen nur als ein fik-
tives Verhalten gelten und in den Ideen selber nur Fiktionen er-
blicken lassen. Übrigens sei es nur eine andere Ausdrucksweise
für dieselbe Entscheidung, wenn Friedrich Albert Lange die Me-
taphysik als „Begriffsdichtung" ansieht und angesehen wissen will.
Denn auch er will mit dieser Bezeichnung nur besagen, daß dem
Absohiten nicht die Eignung selbständiger Objektivität zukomme,
sondern daß dieses nur ein durch das menschliche Triebsystem be-
dingtes subjektives Gebilde von biologisch bestimmter Struktur sei.
Stärker aber und radikaler könne man doch vom Mythus sich
nicht lossagen als durch die naturwissenschaftliche Auffassung aller
Erscheinungen, einschließlich der Biologie, Anthropologie, Psycho-
logie, m. a. W. als durch eine ausgesprochen positivistische Geistes-
haltung und durch eine positivistische Erkenntnisweise. Indem diese
aber an die Stelle der Spekulation traten, haben sie mit aller
Spekulation auch allen Mythus aus dem Kreis moderner Bewußt-
seinstätigkeit entfernt.
b) Diese Beweisführung ist nun keineswegs ausreichend, um
die theoretische Unmöglichkeit und sachliche Überlebtheit des
Mythus darzutun. Der moderne Positivismus vermag nämlich darum
die Zulassung des Mythus nicht auszuschalten, weil er selber —
eine Form des Mythus ist. Auch er arbeitet, ob in metaphysischer
und in erkenntnistheoretischer Hinsicht mit begründetem Recht,
bleibe dahingestellt, mit einer Absolutheit, u. zw. in doppeltem
Sinne. Erstens gilt ihm die Tatsache als solche, sei das eine
naturwissenschaftlich oder geisteswissenschaftlich charakterisierte,
so wie sie als Erscheinung im gesetzlich geregelten Verband empi-
rischen Ablaufs bzw. Gegebenseins nachweisbar ist, als ein Letztes
und Unableitbares. Sie ist ihm das Grundelement zur Weltkon-
struktion, zugleich das Ziel, auf dessen Erfassung seine wissen-
schaftlichen Unternehmungen gerichtet sind. Damit jedoch tritt
sie in das Licht des Mythus, gewinnt sie mythisches Ansehen.
Das muß auch der Vertreter des Positivismus einräumen, so para-
dox dieses Zugeständnis aus seinem Munde klingen mag.
Mythus und Kultur. 435
Die Form aber für seine Weltkonstruktion ist ihm das Natur-
gesetz. Welche Bedeutung dieses innerhalb des positivistischen
Gedankenkreises besitzt, bedarf nicht längerer Ausführungen. Es
ist, mit einem Wort, neben der Absolutheit der Tatsache der zweite
Ausdruck der Absolutheit. Die ihm zugesprochene unbedingte
Geltung hat sich in der Herrschaft des theoretischen Geistes in
der europäischen Kultur ihre kräftigste, unzweideutige Bekundung
verschafft. Will man jene Geltung jedoch noch deduzieren, und
fragt man nach ihrer endgültigen Stütze, so findet sich im letzten
Grunde für sie doch keine andere Gewähr als jener nicht weiter
ableitbare geistige Typ, den wir als den abendländischen Rationalis-
mus zu bezeichnen, und als dessen höchsten legitimen Nieder-
schlag wir die Mathematik und die mathematische Naturwissen-
schaft zu betrachten pflegen.
So erscheinen diese als Symbole des Gesetzesgedankens. Dieser
Gesetzesgedanke ist ihre logische und transzendentale Bedingung.
Indem er aber im Verein mit der immer mehr zunehmenden Aus-
breitung der mathematischen und der mechanistischen Erkenntnis-
form zu immer vollerer und stärkerer Anwendung und zu der
denkbar umfassendsten systematischen Durchbildung und Durch-
setzung gedieh, weitete und vertiefte er sich zu der entscheidenden
Konstruktionsform, über die der zu nahezu uneingeschränkter An-
erkennung emporsteigende * Rationalismus verfügte. Vergrößerte
sich nun im Laufe der neuzeitlichen Entwicklung dessen Macht
mehr und mehr, so war es eben der Gesetzesgedanke, der ihm als
Mittel dieser Machtausdehnung diente. Dieser Gedanke kleidete
sich in die verschiedenartigsten Ansdrucksweisen ; er wurde das
formale, konstruktive Organ, dessen Verfeinerung gleichbedeutend
wurde mit dem Fortschritt der menschlichen Erkenntnis und mit
der Schöpfung neuer theoretischer Systeme. So wuchs er, das ist
keine Frage, zu einem Mythus empor, der Zeiten und Völker mit
seinem Bann umfing und zum guten Teil noch umfängt.
Diese auch den Faktoren des Positivismus innewohnende my-
thische Bedeutung ist es , auf der in letzter Linie dessen unver-
kennbar großen theoretischen und praktischen Leistungen und dessen
Einfluß und Stellung beruhen. Dadurch daß den Tatsachen auf
der einen Seite und den Gesetzesbeziehungen auf der andern die
Unbedingtheit zugesprochen wurde, konnte der Positivismus unter
bestimmten Bedingungen des europäischen Lebens den Charakter
und die Geltung eines allgemeinen Systems und die Bedeutung
436 Arthur Liebert,
einer Weltanschauung erreichen. So wenig verwehrt der Positi-
vismus einem Mythus die Möglichkeit oder die Existenz, daß er
selber auf einem solchen beruht und in seiner geistesgeschichtlichen
Rolle eine spezifische Ausprägung des Mythus vertritt. Das er-
hellt nicht nur aus der kurz angedeuteten eigentümlich absoluti-
stischen Geltung, die seine Faktoren beanspruchen bezw. besitzen,
sondern auch aus dem zur Höhe eines Dogmas gesteigerten An-
sehen, das er eine Zeitlang genoß. Daß aber ein Dogma allemal
die Verkörperung eines Mythus darstellt, bedarf keines eingehen-
deren Nachweises. —
c) Ferner aber ist für die geistige und seelische Lage, in der
wir uns befinden, offensichtlich nichts bezeichnender als der Um-
stand der Loslösung von diesem Positivismus, mag er in der Spiel-
art des naturwissenschaftlichen oder des geisteswissenschaftlichen
Positivismus oder mag er in der allgemeinen Form einer Weltan-
schauung auftreten oder aufgetreten sein. Die eigentümliche Krisis
der Gegenwart beruht zum mindesten in einer ausschlaggebenden
Beziehung darauf, daß wir uns von einem geistigen Verhalten und
einer wissenschaftlichen Erkenntnis- und Behandlungsart freizu-
machen streben, die viele Jahrzehnte eine außerordentliche Macht
ausgeübt hat, und die etwa seit Hegels und Goethes Tode zur
herrschenden Gedanken- und Bildungsform geworden war. Es
würde hier zu weit führen, wenn die Gründe für diese Abkehr
vom Positivismus und für seinen notwendigen Ersatz durch eine
andere Gestalt des geistigen Lebens ausführlicher erörtert werden
würden. Versuche der verschiedensten Art und von sehr ver-
schiedenartigem Wert liegen vor. Und wenn auch nicht wenige
derselben zu einem bisweilen schmerzlichen Lächeln nötigen oder
sogar eine entschiedene Abfertigung und Ablehnung erheischen, so
bleibt dennoch das innere Bedürfnis nach einer anderen Einstel-
lung zum Leben, das in ihnen als eine ihrer Voraussetzungen
wirksam ist, ernsterer Berücksichtigung würdig.
Ist die Abkehr vom Positivismus ein Motiv und ein Symptom
— neben manchen anderen — für die geistige Krisis der Gegen-
wart, so besteht das zweite Motiv und Symptom nicht sowohl in
dem Erreichen und Besitz einer neuen geistigen Lebensform, als
vielmehr in dem schicksalshaften Suchen nach ihr, in der Erwar-
tung ihrer. Man pflegt dieses Suchen als das Verlangen nach
einer Metaphysik zusammenzufassen. Doch das ist nicht ganz zu-
Mythus und Kultur. 437
treffend, weil der Tatbestand nicht in ausreichendem Maße damit
umspannt wird. Nicht als wenn jenes Verlangen nach einer Meta-
physik auch nur im geringsten geleugnet oder verkannt werden
sollte. Sind doch die Anzeichen für eine Wendung des Geistes in
der Richtung nach einer Metaphysik zu auffällig, zu stark und zu
zahlreich, und so manche Bemühungen dahin haben ein zu großes
Gewicht und sind von zu hohem theoretischen Wert und gedank-
lichen Reiz, als daß sie eindruckslos bleiben und leichthin ge-
nommen werden dürften. Aber jene Hinweise auf die zunehmende
Teilnahme für die Metaphysik, auf die Erkenntnis ihrer Notwen-
digkeit und auf die Versuche zu ihrer Erneuerung berücksichtigen
nur die eine, gleichsam die intellektuelle Seite jenes allgemeinen
Bedürfnisses und Suchens. Es ist schon richtig, daß uns kaum
etwas nötiger ist, daß unser Schicksal kaum etwas gebieterischer
fordert als eine von konstruktivem Geist erfüllte Metaphysik, als
eine spekulative Deutung der Erscheinungen. Denn das Zeitalter
des Positivismus hat unter allen Umständen das Verdienst, daß es
uns kraft seiner Methode in den Besitz eines ungeheueren, fast
unübersehbaren Reichtums an Einzelwissen, Einzelkenntnissen,
von Tatsachen gesetzt hat. Doch nunmehr handelt es sich nicht nur
darum, diese Fülle zu gedanklichen Einheiten zusammenzufassen,
sondern auch den Sinn dieser Welt von Tatsachen deutend zu er-
fassen. Damit jedoch ist Platz geschaffen für die neue Metaphysik,
und eine der wichtigsten Aufgaben aller metaphysischen Unter-
nehmungen ist wiederum anerkannt und erneuert.
In dem Prozeß dieser Deutung gewinnt der endliche Geist
ein Verhältnis zum Absoluten. Denn in ihm wird keine empi-
rische, keine kausale Ableitung der Tatsachen aus gesetzlich be-
stimmten Ursachen vorgenommen. Ein solches Verfahren würde uns
im Reiche der Erscheinungen zurückhalten und selber im positi-
vistischen Fahrwasser verbleiben. Sondern sein Wesen ist ein da-
von völlig verschiedenes und zwar in dreifacher Beziehung: er-
stens soll die vernünftige Einheit der Tatsachen logisch erfaßt, es
soll diese Einheit in der Form der Konstruktion erkannt werden;
zweitens soll der Wert dieses Gefüges unter dem Gesichtspunkt
einer höchsten Idee bestimmt werden, wobei natürlich keinerlei
Utilitarismus irgendein Wort verstattet ist ; drittens endlich muß
der Sinn dieser Einheit und dieses Wertes gedeutet werden. Viel-
leicht läßt sich zur genaueren Klärung dieser Aufgabe davon
sprechen, daß es sich darum handele, allem Seienden unter Vor-
Kantstudien XXVft. 29
438 Arthur Liebert,
aussetzung seiner immanenten Vernünftigkeit, d. h. des Waltens
eines Allgeistes ein bestimmtes Schicksal zuzusprechen. Wenn nun
die Durchführung dieser dreifachen, doch in sich einheitlichen Auf-
gabe die Gestalt des Begriffes und der methodischen Regelung
annimmt, so befinden wir uns grundsätzlich im Arbeitsbereich der
Metaphysik. Diese stellt diejenige Geisteshaltung in dem Verhält-
nis zum Absoluten dar, die ausgesprochenermaßen die Form der
Erkenntnis trägt. Wir erwägen hier, wie ohne weiteres ersicht-
lich ist, nicht die wissenschaftliche Möglichkeit, nicht den Geltungs-
wert dieser Erkenntnisform, sondern wir weisen nur darauf hin,
daß diejenige Form der Beziehung zum Absoluten, die sich theo-
retischer Mittel und der Gestalt des Gedankens bedient, innerhalb
der menschlichen Kultur als Metaphysik auftritt. Und die außer-
ordentliche Wichtigkeit der Metaphysik für unsere Zeit erhellt
nun eben daraus, daß sie uns überhaupt von dem Druck der nichts-
sagenden Tatsächlichkeiten und aus der Verstrickung in die kau-
salen Endlichkeiten befreit und in jedem Falle eine, wenn auch
nur einseitige Beziehung zur Welt der Ideen herstellt.
Nun war bereits oben S. 414 dargetan worden, daß alle Meta-
physik auf dem Grund eines Mythus ruht. In ihr spricht sich ein
Mythus aus, dem sie die spezifisch systematische Form verleiht. Der
Mythus selber ist hingegen die überhaupt allgemeinste Gesinnungs-
richtung des endlichen Geistes inbezug auf das Unendliche, ein
umfassendes Verhalten, das z. B. auch in den Objektivationen der
Kunst und der Religion seine geschichtliche Wirklichkeit, seine
Sonderausprägungen besitzt. Diese allgemeinste Gesinnungsrich-
tung muß sich dann bemerkbar zu machen und zur Auswirkung
zu gelangen suchen, wenn erstens ein Überdruß an der zu ausge-
dehnt gewordenen und schließlich keine neuen Fruchtbarkeiten
zeitigenden positivistischen Geisteshaltung eintritt, zweitens die
errungene Fülle an Tatsächlichkeiten eine so große Hohe erreicht
hat, daß alle auf sie verwendeten Bemühungen zum mindesten
zur Hälfte dann nutzlos zu werden drohen, sobald das Verbot er-
geht, diese ganze schwere Arbeit nach ihrem Sinn zu befragen
und sie aus einem dem Leben überlegenen Wert und Zweck zu
rechtfertigen. Bloße Tatsachen sind, von einem höheren Stand-
punkt aus gesehen, an sich belanglos, selbst diejenige Tatsache,
auf die der moderne Biologismus einen so nachdrücklichen Ton zu
legen pflegt, der Wille zum Leben. Denn wir erfassen und ge-
nießen nirgendwo einen „Sinn" des Lebens, wenn wir über seinen
Mythus und Kultur. 439
Bestand und sein erscheinungsmäßiges Gregebensein nicht hinaus-
zugehen vermögen. —
d) Diese innerlichste wurzelhafte Erhebung über die Nichtigkeit
eines Bestandes, dieses tiefste Freiwerden von allen äußeren kau-
salen Gebundenheiten, diese reinste Überwindung aller empirischen
Determiniertheit vollzieht sich nun ohne Zweifel in den Formen
und Erlebnissen religiösen Charakters. Daß dem so ist, ergibt
sich- sowohl aus der Idee der Religion, in der der endliche Geist
die größte, soweit ihm überhaupt mögliche Annäherung an das
Schlechthinnige erreicht, als auch aus zahlreichen Fällen der ge-
schichtlichen Entwicklung. Nirgends sonst werden wir so gewiß,
daß alle Erscheinungen nur Symbole sind, also nirgends sonst
bleibt die Erscheinung als solche, als wesenloser Schein, so weit
hinter uns als im Reiche und vor dem Richterstuhl der Religion.
Daraus aber folgt, daß je mehr ein Zeitalter sich dem Posi-
tivismus verschrieben sah und Jahrzehnte hindurch in seinem
Geiste tätig war, es gerade nach der Religion die stärkste Sehn-
sucht verspüren muß, vorausgesetzt, daß in ihm nicht alles Be-
dürfnis nach dem Absoluten und alle Fähigkeiten, in irgendeine
Beziehung zu ihm zu gelangen, erloschen sind. Regen sich aber
in unseren Tagen nicht diese Bedürfnisse und Fähigkeiten u. z.
mit charakteristischer Entschiedenheit? Geht nicht durch unsere
Zeit ein bis zur Verehrung erhöhtes Interesse — für den Orient ?
Diese Teilnahme erschöpft sich ihrem tieferen Sinn nach nicht in
dem ästhetischen Genuß an der orientalischen Kunst oder in der
intellektuellen Freude an den Leistungen des Orients auf dem Ge-
biete der Metaphysik. Sondern aus einem unmittelbaren meta-
physischen Verlangen sucht und fragt die Gegenwart nach dem
Geist des Orients. Der einzelne Europäer, der sich mit persischer,
indischer, chinesischer Kunst, mit der Philosophie der Veden, der
Religion und Lebensweisheit Buddhas beschäftigt, weiß in der
Regel kaum etwas von dem metaphysischen Grund und Sinn seiner
Neigung, seiner Tätigkeit. Und doch tragen die orientalischen
Farben und Formen, Gedichte und Bildnisse, Gestalten und Lebens-
auffassungen, die Predigten . und Weisungen morgenländischer
Denker für uns Abendländer die Bedeutung wegbahnender Sym-
bole.
Was nämlich dem Neuhumanisten und Klassi-
zisten sein Hellas und sein Griechenland, was dem
Renaissancemenschen sein Piaton, was dem Roman-
29*
440 Arthur Liebert,
tiker das Mittelalter, die gotischen Dome und das
ganze Wesen der Katholizität war, das ist für uns
Heutige in beträchtlichem Maße derOrient, in erster
Linie der indische Orient. Nicht sein geographisches,
ethnographisches, geschichtliches Sein, wie dieses sich im Spiegel
der kritischen Forschung darstellt, weckt und unterhält unsere
Stimmung und Teilnahme für ihn, sondern es handelt sich bei
dieser Beziehung zu ihm um etwas Anderes. Dieses Andere soll
nicht sowohl der Erweiterung unseres wissenschaftlichen Horizontes,
nicht der Mehrung unserer Kenntnisse, dem Verlangen nach in-
tellektuellem Aufschluß über merkwürdige Völker und merkwür-
dige Einrichtungen und Gewohnheiten dienen, als vielmehr dem
Bedürfnis nach Erfüllung und Vollendung unseres Seins, nach Ver-
tiefung und Sicherung unseres Schicksals, das während der Herr-
schaft des Positivismus und Relativismus zu einem halt- und wert-
losen Moment in einem halt- und wertlosen Werden zu zerfallen
drohte.
Deshalb kann man diesem Ruf nach dem Orient auch nicht da-
durch Einhalt gebieten oder seine Unangebrachtheit damit belegen
wollen, daß man auf die tiefe, unüberbrückbare Wesensverschieden-
heit zwischen Abend- und Morgenland hinweist. Etwa als ob wir
die Vertreter eines unentwegten Aktivismus und einer in immer
neuen Errungenschaften sich entladenden aktiven Spontaneität
seien, während dem Orient nur Ruhe, Ergebung, Verzicht, Quietismus
als Ideale vorschwebten. Wir wissen- jetzt, daß eine solche Gegen-
überstellung unter den genannten Gesichtspunkten dem Tatbestand
ganz einfach widerspricht. Ich lasse hier einem Sachkenner das
Wort. Nachdem Leopold Ziegler in seinem Buche: <Der ewige
Buddho> gefordert hat, daß man „zuvörderst alle die ungefügen
und grobschlächtigen Schlagworte vergessen haben muß, mit wel-
chen seit Jahrhunderten jeder Europäer dumm geprügelt wird,
der in Gesellschaft den Begriff Buddhismus zu erwähnen sich ge-
traut" (S. 18), und nachdem er einige andere Mißverständnisse
richtiggestellt hat, so das, daß der Buddhismus die Religion des
Pessimismus sei, fährt er fort (S. 20): „Man hat in dem Buddhis-
mus schlecht und recht eine der geschichtlichen Spielarten des aus
der Mystik aller Zeiten und Völker fließenden Quietismus zu er-
blicken sich gewöhnt, und wird jetzt, angesichts dieses Buddho,
überraschend inne, daß Gotama von der Person des dem Orden
verpflichteten bhiMu eine unausgesetzte Höchstanspannung und
Mythus und Kultur. 441
Höchststeigerung sämtlicher Kräfte des Leibes und des Geistes
und der Seele fordert; eine Höchstanspannung und -Steigerung,
die, wenn sie auch nicht geradezu Arbeit im Sinn des europäi-
schen Berufsmenschen zu nennen ist, doch auch erst recht nicht
als Ruhe oder gar als Müssiggang, am ehesten vielleicht noch als
,tätige Muße' bezeichnet werden darf, und die zu ihrem Teil den
Mönch, dem es bitter ernst ist, ausschließlich Tag und Nacht be-
ansprucht, bis jeder Rest von Kraft für andere Lebensäußerungen
aufgezehrt ist. > Wohlan denn, ihr Mönche: unermüdlich mögt ihr
da kämpfen«, — das ist die Summe der Gebote, das ist das Gebot
aller Gebote, in welches der Buddho selbst im Augenblick der
Erlöschung die gesamte Lehre knapp und einprägsam zusammen-
faßt. Und abermals untersteh' ich mich zu behaupten, daß so
kein Quietismus und nicht einmal die Mystik an und für sich
sprechen würde!"
Und dennoch darf man sagen, daß wir einen Schuß Quietismus
recht gut gebrauchen könnten, nicht zur Beförderung unseres Selbst
in das Nichts tatenloser Ruhe, sondern im Sinne von Beruhigung,
um ein Verhältnis zu uns und zu den anderen Menschen zu ge-
winnen, das nicht das Kainszeichen qualvoller Ungeschlossenheit
und pragmatistischer Wetterwendigkeit trägt. Wir müßten nach
einer Einstellung zu der Welt der Erscheinungen streben, die sich
nicht verzehrt in atemloser Dialektik, und die nicht jede tiefere
sinnhafte Beziehung zu uns selber und zu den anderen ausschließt
oder zerstört.
Wer die Krisis der Gegenwart wirklich mit allem Ernst durch-
leidet und ihre eigentümliche Beschaffenheit durchschaut, der wird
nicht nur das Bedürfnis nach einem erlösenden Mythus erkennen,
sondern auch verstehen, wieso die Sehnsucht nach dem Absoluten
ihre Erfüllung gerade in der Wendung unseres Geisteslebens zum
Orient zu finden meint. Denn der neue Mythus, der im Werden
begriffen ist, trägt orientalisches Gepräge: Es ist der Orient,
vornehmlich in seiner indischen Gestalt, der als My-
thus vor unseren Blicken emporsteigt; es ist ein
Mythus, der sich in die Form und in das Wesen des
asiatischen Orients kleidet. —
e) Warum aber muß es gerade der Orient sein, der uns als
Symbol des Absoluten gilt, gleichsam als dessen geschichtliche
Verkörperung? Weshalb nicht Hellas oder die Gestalt eines Phi-
losophen? Weil weder die Kunst noch die Wissenschaft noch die
442 Arthur Liebert,
Philosophie diejenige Versinnlichungsform des Absoluten darstellen,
die wir eben heute so nötig haben. Unser Verlangen nach dem
Absoluten und die in uns jetzt wirkende Notwendigkeit eines Ver-
hältnisses zu einem in jeder Hinsicht Wesentlichen sind gleichbe-
deutend mit der Notwendigkeit der Religion. Der Orient aber
ist das uralte Schöpferland und der geheiligte Heimatboden der
Religion. Und weil er das ist, ward er das Land der Weisheit
und der menschlichen Vollendung. Man beachte doch, daß das,
was wir in Europa und in unserer Mitte an religiösen und religiös
verankerten metaphysischen Systemen besitzen, letzten Endes aus
dem Orient stammt. Und man sollte einmal dem Einfluß nach-
geben, den der orientalische Geist, wie immer er bei dem einzelnen
europäischen Denker wirksam sein mag, auf die Ausbildung der
verschiedenen Formen und Typen der Metaphysik ausgeübt hat.
Die orientalische Form der Geisteshaltung gehört ohne Frage
mit zu den konstitutiven Bedingungen für die Entwicklung ge-
wisser metaphysischer Systeme, sowie für die eigentümliche Art
ihrer Geltung. Spinozas einzig- und eigenartige Stellung im euro-
päischen Geistesleben beruht im tiefsten Grunde auf der charak-
teristischen Bestimmtheit, mit der jene Form in seiner Metaphysik
zum Ausdruck gelangt. Man kann fast jeden Einzelzug seines
Systems aus den Schöpfungen seiner Vorgänger ableiten, in ihm
Beziehungen zur Stoa, Abhängigkeiten von Giordano Bruno, Des-
cartes, Hobbes nachweisen: seine Originalität beruht auf der Ein-
stellung zu allen diesen Einzelheiten, eigentlich darauf, daß alle
jene Abhängigkeiten und Entlehnungen, und deren Zahl ist nicht
gering, doch für das Ganze des Systems nebensächlich sind. Wo
nämlich gibt es innerhalb der Ideenwelt Europas einen Denker,
der so unmittelbar, gleichsam so unbedenklich, so jenseits aller
Dialektik, so unumwunden, so wirklich ganz dogmatisch auf das
Sein, auf die Substanz gerichtet war, diese nicht erst auf dem
Wege irgendeiner Begründung oder Erschließung erkenntnistheo-
retischer, psychologischer, ethischer Natur näher zu führen und
ihrer gewiß zu werden brauchte. Das Sein der Substanz steht
bei ihm da, wie aus der Pistole geschossen, um einen von Hegel
inbezug auf Schelling gebrauchten Ausdruck hier auf Spinozas On-
tologismus anzuwenden. Vom allerersten Atemhauch und Schritt
an sind wir in Spinozas Ethik in der Sicherheit des Seins, der
keine Vermittelung von irgendeinem außerhalb der Substanz lie-
genden Ableitungspunkt vorgelagert ist. Spinozas Sein ist in der
Mythus und Kultur. 443
Tat über jeglichen Bezug zu irgendeinem Werden in jeder Hin-
sicht erhaben. Man wird kaum einen anderen abendländischen
Philosophen treffen, der den Gedanken des Seins so primär, so
absolut, so deduktionslos, so unkritisch, so unkantisch, so gänzlich
naiv, so in sich geschlossen gedacht hat wie Spinoza. Um einen
solchen zu finden muß man schon nach dem Orient sich wenden.
Europas Geist und Sehnsucht kreisen gleichsam unermüdlich
um das Absolute, ohne sich seiner je in voller Tiefe bemächtigen
zu können. Wir leben in dem Prozeß des ewigen Werdens. Hat
doch Goethe sogar den Gedanken eines > werdenden Gesetzes < ge-
formt, den Gundolf mit Recht als einen ungeheuren bezeichnet
(Gundolf, Goethe, S. 563). Ungeheuer aber ist er, dem sich zahl-
lose ähnliche an die Seite stellen ließen, besonders aus der Samm-
lung „Gott und Welt", nicht nur wegen seiner spekulativen Kühn-
heit, ja Verwegenheit, sondern als überwältigende Zusammenfas-
sung der für Europas Gesinnung charakteristischen Auffassungs-
und Bewertungs weise des Seienden. Der Sinn des Werdens ist
das Suchen nach dem Absoluten. Und keinen Mythus haben die
vergangenen Jahrzehnte, also die der Vorrangstellung des Histo-
rismus und des Relativismus, in denen der Begriff der Entwick-
lung der leitende und bestimmende Gesichtspunkt für alle Unter-
nehmungen des Geisteslebens war, stärker und umfassender, ein-
heitlicher und folgerichtiger ausgebildet als den Mythus vom
ewigen Werden.
Des Orientalen, des religiösen Menschen Wesen dagegen ruht
stets im Absoluten. Er nimmt die Welt der Erfahrung niemals so
schwer und so ernst, daß er darüber ihren Charakter als bloße
Erscheinung vergessen, ihre Unwesentlichkeit übersehen würde.
Während sich der Europäer mit ihrer Problematik herumschlägt
und ihr schon damit einen entschiedenen Wert zubilligt, steht der
Orientale, steht der religiöse Mensch jenseits dieser Problematik,
steht er im Sein, richtet er sich auf das Wesen der Dinge. Für
den Sinn dieser Leistung und dieses Verhaltens dürfte aber keine
Bezeichnung angemessener sein als die, daß hier der andere ty-
pische Mythus zur Entwicklung gelangt ist, der Mythus vom
ewigen Sein.
Sollte das nicht der neue Mythus sein, den wir suchen und
gebrauchen, nachdem wir den Mythus vom ewigen Werden nach
allen Richtungen und in allen denkbaren Abstufungen ausgebildet
und selber in dem Gedanken des unaufhörlichen Werdens und
444 Arthur Liebert,
seiner unabschließbaren Entwicklung uns selber nahezu restlos ver-
loren haben? Wie aber lassen sich Wesen und Sinn dieses Mythus
vom ewigen Sein genauer verdeutlichen ? Wohl durch nichts besser
als durch die Ideen von Gott und von Natur. So sind
zwei, aber untereinander eng verbundene Formen der Ausprägung
und Entfaltung jenes Mythus gegeben: denMythus von Gott
und den Mythus von der Natur. Sie beide, zusammengefaßt
und in spekulativer Deutung durchgeführt, zeitigen die W e n d u n g
zur Religion, d.h. zu dem größten, hinreißendsten
Mythus der Kultur. —
Wie nun unter den allgemeinen Eigentümlichkeiten des euro-
päischen Geistes und unter den Besonderheiten unserer gegenwär-
tigen Lage ein solcher Mythus in konkreter Gestalt sich entfalten
und zu umgreifender Wirksamkeit gelangen könnte, das läßt sich
in eindeutiger und einwandfreier Weise nicht ausmachen. Keinen
Augenblick können die Ungeheuern Schwierigkeiten verkannt werden,
die der Geburt und der Durchsetzung des notwendig gewordenen
neuen religiösen Mythus in der heutigen Weltlage im Wege stehen.
Wie wird sich seine Auseinandersetzung mit dem verwissenschaft-
lichten Greist unserer Kultur, d. h. sein Verhältnis zum „Logos"
gestalten? „Ohne Logos kann eine große religiöse Lebenswelt
ebensowenig bestehen wie ohne Mythos", sagt Ernst Troeltsch,
der der Spannung zwischen Denken und Leben, Systematik und
Geschichte, Logos und Mythos, wie überhaupt der religiösen Pro-
blematik unserer Tage tiefstgreifende Überlegungen gewidmet hat
(vgl. u. a. die grundlegende Abhandlung < Logos und Mythos in
Theologie und Religionsphilosophie >; abgedruckt in Gesammelte
Schriften, 2. Band : «Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und
Ethik > S. 805 ff.). Ferner : Welche Momente werden in den neuen
Mythus aus dem Christentum einfließen, und welche Rolle wird
und kann überhaupt bei seiner Entstehung und Verbreitung das
Christentum spielen ? Die Zukunft des Christentums, Art und Grad
seiner Beteiligung an der werdenden Kultur sind in den letzten
Jahren mit begreiflicher Lebhaftigkeit erörtert worden.
Aber sowohl hier als bei der zuerst aufgeworfenen Frage läßt
sich mit rein wissenschaftlichen Mitteln eine Entscheidung nicht
fällen (so auch Troeltsch, u. a. S. 824). Alle derartigen Erörte-
rungen würden wie eine Voraussage der Zukunft erscheinen.
Erstens aber kann die Vorherbestimmung zukünftigen Geschehens
Mythus und Kultur. 445
nicht als eine wissenschaftlich mögliche oder zulässige Aufgabe
gelten. Zweitens würde das Genie, das uns den erhofften reli-
giösen Mythus brächte, alle Voraussagen, mögen sie noch so um-
sichtig vorgenommen sein, über den Haufen werfen, weil es aus
Tiefen des Lebens und Erlebens schöpft, die jenseits der wissen-
schaftlichen Erfassung liegen.
Die Überwindung des Religionsbegriffs
in der Religionsphilosophie1).
Von Paul Tillich, Berlin.
Es ist meine Pflicht, die Paradoxie in der Formulierung meines
Themas zu begründen. „Paradox" kann den Sinn von „geistreich"
haben, dann beruht die Paradoxie auf der widerspruchsvoll zwei-
deutigen Wortform und gehört in die ästhetische Sphäre. Sie
kann auch dialektisch sein. Dann beruht sie auf dem Zusammen-
stoß zweier widerspruchsvoller, aber in sich notwendiger Gedanken-
reihen, und gehört in die logische Sphäre. In beiden Fällen liegt
die Paradoxie im Subjekt, einmal in der Willkür der künstlerischen
Phantasie , das anderemal in der Notwendigkeit der logischen
Konstitution. Nun aber gibt es einen Punkt, wo Paradoxie nicht
im Subjekt, sondern durchaus im Objekt begründet ist, wo Para-
doxie zur Aussage ebenso notwendig gehört , wie Widerspruchs-
losigkeit zu jeder erfahrungswissenschaftlichen Aussage : Der Punkt,
in dem das Unbedingte zum Objekt wird. Denn daß es das wird,
ist ja eben die Urparadoxie, da es als Unbedingtes seinem Wesen
nach jenseits des Gegensatzes von Subjekt und Objekt steht. Para-
doxie ist also die notwendige Form jeder Aussage über das Un-
bedingte. Die ästhetische wie die logische Paradoxie ist grund-
sätzlich auflösbar, beide stellen eine Aufgabe, sei es an den Witz,
sei es an das Denken. Die Paradoxie des Unbedingten ist nicht
auflösbar. Sie stellt eine Aufgabe an das Schauen.
Das scheint die philosophische Aussage über das Unbedingte
zu einer religiösen zu machen. Dazu ist zu bemerken: Religions-
philosophie, die außerhalb der religiösen Wirklichkeit steht, ist so
sinnwidrig, wie Ästhetik, die außerhalb der künstlerischen Wirk-
1) Die folgenden Ausführungen stellen die Ausarbeitung eines in der Ber-
liner Abteüung der Kant-Gesellschaft am 25. Jan. 1922 gehaltenen Vortrages dar.
\
\
Paul Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs usw. 447
lichkeit steht, denn beides hieße; Über einen Gegenstand reden,
dessen einzige Gegebenheitsform unzugänglich bliebe. Dabei kann
die Berührung mit der Sache die Form des schärfsten Gegensatzes
annehmen, wenn dieser Gegensatz nur aus der Sache selbst stammt.
So hatte Nietzsche ein Recht, Gott zu bekämpfen, denn er tat es
im Namen des Gottes, der durch ihn sprach, während Strauß kein
Recht dazu hatte, denn durch ihn sprach das Menschliche, allzu
Menschliche. Es ist darum sachlich begründet , wenn ich auf die
geistige Gemeinschaft hinweise, in der ich mich in den folgenden
Gedanken mit Männern des religiösen Wortes, wie Barth und Go-
garten befinde. Es war überraschend für mich, zu sehen, wie
ohne gegenseitige Beeinflussung das unbedingte „Ja" zum Unbe-
dingten in dem religionsphilosophischen, wie in dem religiösen
Denken zu der prinzipiell gleichen Stellung geführt hat. Dennoch
sind die folgenden Gedankengänge ganz aus sich heraus zu ver-
stehen; sie sind Philosophie und sie sollen nichts sein als Philo-
sophie. Die Paradoxie aller letzten Aussagen über das Unbedingte
hindert nicht die Rationalität und Notwendigkeit der Begründungs-
zusammenhänge, aus denen diese Paradoxie hervorwächst.
Es steht zu beweisen, daß der Begriff der Religion in sich
selbst eine Paradoxie enthält. „Religion" ist der Begriff einer
Sache, die eben durch diesen Begriff zerstört wird. Und doch ist
er unvermeidlich; es käme also darauf an, ihn so zu verwenden,
daß er einem höheren Begriff untergeordnet wird, der ihm seine
zerstörende Kraft nimmt. Das aber ist der Begriff des Unbe-
dingten. Es wird nun freilich infolge der inneren Dialektik des
Religionsbegriffs eine gewisse Zweideutigkeit unvermeidlich sein,
insofern das eine Mal der Begriff neutral, orientierend gebraucht
wird, das andere Mal prägnant, polemisch. Dem ist nicht abzu-
helfen, denn jeder etwa nea geschaffene Begriff würde der gleichen
Dialektik anheimfallen, der Zusammenhang muß entscheiden, was
gemeint ist.
Wir sprechen I) Von dem Protest der Religion gegen den
Religionsbegriff. II) Von der Herrschaft des Religionsbegriffs in
der Religionsphilosophie. III) Von der Überwindung des Reli-
gionsbegriffs. IV) Von der Dialektik der Autonomie.
448 Paul Tillich,
I.
Der Protest der Religion gegen den Religionsbegriff.
Es sind vier Einwände, die die Religion gegen den Religions-
begriff erhebt. 1. Er macht die Gottesgewißheit relativ gegenüber
der Ichgewißheit. 2. Er macht Gott relativ gegenüber der Welt.
3. Er macht die Religion relativ gegenüber der Kultur. 4. Er
macht die Offenbarung relativ gegenüber der Religionsgeschichte.
Insgesamt : Durch ihn wird das Unbedingte gegründet auf das Be-
dingte, es wird selbst bedingt, d. h. zerstört.
1. Die Gewißheit des Unbedingten ist unbedingt. Wo aber
der Religionsbegriff das Denken leitet, soll es eine Gewißheit geben,
die grundlegender ist als die des Unbedingten : — Die Gewißheit
des Ich. Die Selbstgewißheit des Subjekts soll vor der Gottesge-
wißheit stehen. Vom Gottesbewußtsein losgelöst soll das Ich sich
selbst erfassen. — Aber auch die Ichgewißheit ist kein Fundament
unbedingter Gewißheit. Sie wird von einem Traumschleier über-
deckt, wenn die Außenwelt, auf die sie bezogen ist, sich in Schein
auflöst. Mit dem Objekt wankt auch das Subjekt. Das Unbe-
dingte aber steht jenseits von Subjekt und Objekt. Nur wo das
Ich als Stätte der Selbsterfassung des Unbedingten gemeint ist,
nimmt es teil an der unbedingten Gewißheit, sei es des absoluten
Lebens, wie bei Augustin, sei es der absoluten Form, wie bei Car-
tesius. Immer aber ist das Unbedingte das Begründende, das Ich
das Medium und das Begründete. Wo es anders ist, wo das Ich
sich loslöst, entsteht zwar — Religion, aber das Ich verliert mit
Gott zuletzt auch sich selbst.
2. Mit der Gewißheit des Unbedingten geht auch die Wirk-
lichkeit des Unbedingten verloren. Die Religion ruht als Funktion
des Bedingten in der Welt des Bedingten. Und sie geht von dieser
ihrer Welt aus, um zum Unbedingten zu gelangen. Sie hat einen
selbstgenügsamen Weltbegriff, der nur an seinen Rändern einer
Ergänzung bedarf. Und so wird Gott zu einem Korrelat der
Welt, dadurch aber selbst Welt. Und das wahre Unbedingte
liegt jenseits von diesem Gott und der Welt. Es entsteht ein
Gott unter Gott ; der Gott des Deismus. — Oder der Weltbegriff
bedarf keiner Ergänzung ; das Universum ist in sich vollendet und
Gott identisch mit ihm, die Totalität, die Synthesis aller endlichen
Formen, das Universum des Bedingten, das aber niemals das Un-
bedingte sein kann, der Gott des Pantheismus. — Wo der Welt-
Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. 449
begriff ohne Gott fertig ist, da ist Gott ein bloßer Name, den
man um der Religion willen ausspricht, den man aber auch weg-
lassen kann, ganz gleich, ob das Universum Geist oder Materie
genannt wird.
3. Der Geist des Religionsbegriffs vernichtet Gottes gewißheit
und Gottes Wirklichkeit, und er vernichtet die Religion selbst.
„Religion" ist eine Funktion des menschlichen Geistes. Sie bleibt
es auch, wenn man sie (mit Scholz) zu einer Schöpfung Gottes
im Menschen macht. Denn zum mindesten muß der menschliche
Geist die funktionelle Möglichkeit zur Religion haben, und mehr
ist ja so wie so nicht gemeint. Sie steht also neben den übrigen
Geistesfunktionen. Aber wo? Zuerst suchte sie ihre Heimat in
einer anderen, der praktischen ; aber die autonome Ethik ist fertig
ohne sie, löst sie in sich auf oder schickt sie weiter; zu der theo-
retischen; aber die autonome Philosophie braucht sie nicht, stellt
sie unter sich als Vorstufe, als Übergang, löst sie in sich auf und
schickt sie weiter, zum Gefühl; aber Gefühl begleitet jede Funk-
tion; also ein bestimmtes Gefühl; etwa für das Univerum; aber
damit ist es nicht mehr die Funktion, sondern der Gegenstand,
der die Religion bestimmt. So wird der Heimatlosen eine eigne
Stätte gesucht, eine Provinz im Geistesleben (Schleiermacher) ein
religiöses „Apriori" (Tröltsch) die höchste Aktklasse (Scheler);
und so ist man ethisch, wissenschaftlich, ästhetisch, politisch und
ist auch religiös. Das Unbedingte steht neben dem Bedingten;
aber die Religion gestattet nicht, daß man auch religiös ist, sie
gestattet überhaupt nicht, daß man „religiös" ist. Sie erträgt
keine Nebenordnung, auch nicht in der Form einer Rangordnung,
wo sie an erster Stelle steht. Sie ist ein verzehrendes Feuer
gegen alle autonomen Geistesfunktionen, und wer ein religiöses
Apriori sucht, der muß wissen, daß damit alle anderen Apriori's
im Abgrund versinken. Davon aber weiß der Religionsbegriff
nichts.
4. Wie der Religionsbegriff die Unbedingtheit des Glaubens
in die Relativität der Geistesfunktionen auflöst, so löst er die
Unbedingtheit der Offenbarung in das Werden und Wandeln der
Religions- und Kulturgeschichte auf; die Religion als Allgemein-
begriff ist indifferent gegen den Offenbarungsanspruch jeder Re-
ligion. Absolute Religion ist hölzernes Eisen ; war das Christentum
Religion geworden , so war es seiner Absolutheit a priori ent-
kleidet. Und Tröltsch tat recht daran, das a posteriori festzu-
450 Paul Tillich,
stellen. Der Glaube gibt das Prädikat „Religion" höchstens der-
jenigen Religion, die das Heil nicht bringt, der falschen Religion.
Es ist ein herabsetzendes Wort nnd bezeichnet das Minderwertige
in der Religion, daß sie im Subjekt stecken bleibt, daß sie lediglich
Intention auf Gott hin ist, daß sie Gott nicht hat, weil Gott sich
in ihr nicht gegeben hat. Und dieses Wort der Herabsetzung
wird nun zu dem Fundament, auf das die Offenbarung sich gründen
soll — und doch nicht gründen kann. Denn entweder wird Offen-
barung zur Mitteilung eines Wissens, das der autonome Geist
auch sonst gefunden hätte. Sie löst sich auf in Rationalismus mit
gelegentlicher Nachhilfe supranaturaler Art, oder sie wird Geistes-
geschichte und löst sich auf in] die Bedingtheiten des Kulturpro-
zesses. Ist Offenbarung ein „religiöser" Begriff, so ist sie über-
haupt kein Begriff mehr.
Das ist der Widerspruch der Religion gegen den Geist des
Religionsbegriffs. Sehen wir zu, wie sich die bisherige Religions-
philosophie dazu gestellt hat.
II.
Die Herrschaft des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie.
Die Religionsphilosophie ist im Abendland in drei Perioden
verlaufen: die rationale, die kritische und die intuitive. Die em-
piristische Religionsphilosophie geht neben allen drei Perioden
einher, kann aber hier außer Acht bleiben, da sie konsequenter-
weise nur über die Verwirklichung der Religion im seelischen und
geschichtlichen Leben, nicht über sie selbst etwas aussagen kann.
Sobald sie es versucht, macht sie Anleihen bei einer der anderen
Methoden.
1. Die rationale Periode ist die der unbewußten Herrschaft
des Religionsbegriffes, die kritische die seiner bewußten Herrschaft
und die phänomenologische die seiner schwindenden Herrschaft. In
der Philosophie der Renaissance ist das Weltbewußtsein noch ein-
geschlossen in ein mystisches oder ekstatisches Gottesbewußtsein.
Es gibt keine Welt abgesehen von Gott, wie es freilich im Unter-
schied vom Mittelalter keinen Gott abgesehen von der Welt gibt.
Der Unterschied von Natur und Übernatur ist aufgehoben. Die
Natur ist übernatürlich ; das Übernatürliche Natur. Aber das war
ein Übergang. — Die mathematische Naturwissenschaft seit Galilei
bannte das Übernatürliche. Die Natur wird rein gegenständlich,
rein rational, rein technisch, sie wird außergöttlich. Es wird
Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. 451
möglich, einen Weltbegriff ohne Grottesbegriff zu vollziehen. Da-
mit aber ist der Herrschaft des Religionsbegriffs freie Bahn ge-
schaffen. Sie zeigt sich sofort am Ausgangspunkt der ganzen
Entwicklung, bei Cartesius. Das Ich ist die Gewißheitsgrundlage ;
vom Ich wird auf Gott geschlossen. Nicht das ist das Verhängnis-
volle, daß in der Selbstgewißheit des Ich das Prinzip aller Ratio-
nalität gefunden wird: darin ist ja die Unbedingtheit der logi-
schen Form enthalten, die als Unbedingtheit Heiligkeitsqualität in
sich birgt. Aber daß nicht das Unbedingte daraus entnommen wird,
um in ihm Gott zu erfassen, sondern das Rationale, um mit ihm
G-ott zu deduzieren, das zeigt die Veränderung der ganzen Lage,
z. B. gegenüber Augustin. Sie kommt zu voller Deutlichkeit erst
in der Aufklärungsphilosophie, die mit Hilfe der technisch-gegen-
ständlichen Kategorie Ursache und Zweck Gott aus der Welt er-
schließen will. Die Gottesgewißheit soll ruhen auf der Weltge-
wißheit und der Kraft des logischen Schlusses. Das ist Herrschaft
des Religiosbegriffs ; freilich in verhüllter Form, da überhaupt noch
von Gott und nicht von Religion die Rede ist.
Kant hat richtig gesehen, daß ohne ontologischen Beweis dieses
Ziel unerreichbar ist. Aber der ontologische Weg war versperrt ;
er ist nur da möglich, wo das Bewußtsein in unmittelbarer Ein-
heit mit dem Unbedingten steht, er ist dann kein logischer Schluß
vom Denken] aufs Sein des Unbedingten, der natürlich unmöglich
ist, sondern er ist der Ausdruck für die unbedingte Gewißheit,
die das Unbedingte allem Bedingten gegenüber hat, insofern es
jenseits des Gegensatzes von Denken und Sein steht. Mit der
Verselbständigung des Weltbewußtseins, mit dem Auseinanderfallen
von Denken und Sein, mit der Vergegenständlichung Gottes wird
dieser Ausdruck einer realen Bewußtseinslage zu einem Syllogis-
mus, dessen Prämisse nicht zutrifft. So wurde die Kritik des on-
tologischen Beweises das Fazit der Geistesentwicklung vom Mittel-
alter zur Neuzeit, vom Gottesbewußtsein zum autonomen Welt-
bewußtsein ; und sie wurde zugleich das Ende der rationalen Periode.
Der verhüllten Aufhebung der Gottesgewißheit entspricht die
verhüllte Aufhebung der Gottes Wirklichkeit. Gott wird im Welt-
bild fast aller Philosophen dieser Periode das zentrale Moment
der Weltkonstruktion: der Träger der Weitharmonie, der geniale
Uhrmacher des kosmischen Systems, der Vermittler von Subjekt
und Objekt, immer technisch, immer gegenständlich, ein Ding auch
wenn er der Ort der Ideen oder das Jenseits von Denken und
452 Paul Tillich,
Ausdehnung genannt wird. Denn auch das Denken ist durch den
Determinismus der vorherbestimmten Harmonie dinghaft geworden.
Der Gott, der die Welt ergänzen soll, ist Welt und nicht Gott.
Allein Spinozas religiöse Tiefe überwindet diese Gottes unwürdigen
Begriffe und weist in die folgende Periode ; er selbst aber bleibt
überwunden von dem dinghaften Weltbegriff seiner Zeit, durch
den Gott gerade bei ihm zum absoluten Ding wird. Er enthüllt
die Tendenz des Religionsbegriffs und mit Recht empfand ihn
seine Zeit als ihre eigentliche Gefahr.
Auch die Unbedingtheit der Religion gegenüber der Kultur
ist in verhüllter Weise aufgehoben. Das „colere et intelligere
Deuma steht neben den „colere et intelligere a von Welt und Men-
schen. Wie Gott neben der Welt steht, steht die Religion neben
Wissenschaft und Politik, neben Kunst und Sittlichkeit. Auch
hier bleibt die zerstörende Konsequenz des Religionsbegriffs ver-
hüllt. Man erkennt die Welt — und auch Gott; man hat den
Staat — und auch die Kirche, man hat die Kunst — und auch
den Kultus. Die Religion ist noch überall, aber sie ist überall
ein Teil, und hat ihre Allgegenwart verloren. Dieselbe Verhül-
lung im vierten Punkt. Die Absolutheit der Offenbarungs Wahr-
heit tritt auf als Absolutheit der Vernunftreligion. D. h. die
Offenbarung ist ein Kapitel der Metaphysik geworden, hineinge-
zogen in die Dialektik des Widerlegens und Begründens. So lange
trotz alier Widersprüche der Glaube an die absolute Vernunft
herrschte, blieb die Konsequenz des Religionsbegriffs verhüllt. Als
die Vernunft geschichtlich wurde, ward die Vernunftreligion zur
Religionsgeschichte .
2. In der kritischen Periode brechen die relativistischen Kon-
sequenzen des Religionsbegriffs offen hervor. Die Gottesgewißheit
verliert ihren theoretischen Sinn. Der moralische Gottesbeweis
kann seinem wahren Gehalt nach nichts anderes leisten, als der
sittlichen Autonomie die Weihe des Unbedingten zu geben: Alle
Versuche aber, philosophischer und theologischer Kantianer, aus
ihm mit ethischen Postulaten eine theoretische Existenz Gottes
herauszuholen, sind vergeblich. Der Neukantianismus hat darin
die klare Konsequenz der kritischen Grundlage gezogen. Und es
ist das religionsphilosophische Verdienst der „Philosophie des Ais-
Ob", diesen theoretisch existierenden Gott, der mit ethischen Postu-
laten erwiesen werden soll, als Fiktion durchschaut zu haben. —
Eür die idealistischen Kantianer kommt eine Gottesgewißheit, ab-
Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. 453
gesehen von der Weltgewißheit nicht in Frage. Die Religion ist
eine besondere Art des Welterlebens, die; entweder in der Philo-
sophie aufgehoben ist, wie bei Hegel oder eine dauernde eigentüm-
liche Bedeutung hat, wie bei Schleiermacher. Am deutlichsten ist
die Wirkung des Religionsbegriffs da, wo nominalistisches Denken
einen gegenständlichen Weltbegriff überhaupt nicht kennt, wie bei
Simmel, und demgemäß die Religion ausschließlich ins Subjekt ge-
legt wird: die Religion ein Rythmus, eine Färbung der Seele, ein
Ausdruck ihrer metaphysischen Bedeutsamkeit. Also eine Weihe
nicht der gegenständlichen Welt, wie im Realismus, sondern des
subjektiven Lebens. Der Religionsbegriff, der vom Ich zu Gott
führen wollte, ist zum Ich zurückgesunken.
In der Fassung des Gottesgedankens senkt sich die drohende
Wolke der vergangenen Periode, des Spinozismus nieder, seiner
Dinghaftigkeit durch den idealistischen Ausgangspunkt entkleidet.
Es gibt keinen Gott mehr abgesehen von der Welt. Der Deismus
wird zum Pantheismus. Gott ist die Weltidee, die Form der
Formen, die letzte Synthesis, die als Realität oder unendliche Auf-
gabe gedacht wird; er ist die Welt sub specie aeternitatis. Da-
durch ist wieder die Einheit von Gott und Welt hergestellt, aber
nicht, wie in der Renaissance von Gott aus, der die Welt in sich
aufgenommen, sondern von der Welt aus, die Gott in sich aufge-
nommen hat. Darum ist hier die gegenständlich-wissenschaftliche
Begriffsbildung der Durchgang zu Gott. Der Weltbegriff schafft
den Gottesbegriff und hält ihn in Abhängigkeit von. sich. So ist
es im Idealismus, so weiterhin : Der Gottesbegriff bleibt abhängig
vom Weltbegriff: er geht mit ihm die materialistischen, volunta-
ristischen, naturalistischen, positivistischen Wege, also die Uner-
füllbarkeit der romantischen Sehnsucht offenbarend, von der Welt-
form zu Gott zu kommen, eine neue Unmittelbarkeit, eine neue
ontologische Geisteslage von der wissenschaftlichen Welterfassung
her zu erreichen. Und wieder ist es die „Philosophie des Als-Ob",
die in klarer Erkenntnis der Sachlage die Entwurzelung durch-
schaut hat, die den Gottesbegriff in dem Augenblick treffen muß,
wo er zu einer abgeleiteten Wirklichkeit herabgedrückt ist, anstatt
das Urgegebene selbst zu sein.
Daraus ergibt sich nur auch das Verhalten der kritischen
Periode zu dem dritten Punkt: Entsprechend dem Pantheismus
geht die Religion über in Kultur. Sie wird einer der Geistesfunk-
tionen angehängt, und es bleibt nicht aus, daß sie sich in diese
Kantetudien XXVII. 30
454 Paul Tillich,
auflöst. Der Erfolg in der geistigen Lage des Jahrhunderts ist
deutlich sichtbar: In einzelnen von Hegel abhängigen Denkern
und in der von Hegel-Marx bestimmten Arbeiterschaft nimmt die
Wissenschaft die Stelle der Religion ein, in den ethisch-bürgerlich
bestimmten Kreisen tritt die Moral in die Lücke, in den Schichten
der höchsten Bildung die Kunst. Die Versuche, der Religion eine
Sonderfunktion zu retten, mißlingen, weil ihre Absolutheit eine
Relativisierung nicht verträgt, weil die geforderte religiöse Funk-
tion genau so in Kultur umschlagen muß, wie der geforderte
deistische Gott in "Welt. Es ist freilich nicht zu verkennen, daß
auf diese Weise die Kultur religiöse Weihe erhält; aber diese
Färbung erhält sie nachträglich; sie kann auch fehlen und fehlt,
sobald der Weltbegriff aus idealistischen in materialistische und
voluntaristische Fassungen übergegangen ist.
Der Sieg der historischen Vernunft im Idealismus bedeutet
auch den Sieg der Religionsgeschichte in dieser Periode. Sie war
durchaus als Offenbarungsgeschichte gemeint, natürlich nicht im
supranaturalen, aber im immanent-geistesgeschichtlichen Sinn ; es ist
Gott selbst, der in ihr zum Selbstbewußtsein im Endlichen kommt ;
es sind die Weltpotenzen, die der Reihe nach in der Mythologie
und Offenbarung sich kundgeben. — Mit dem Zerbrechen der idea-
listischen Voraussetzung wird die Offenbarungsgeschichte ein Stück
menschlicher Geistesgeschichte, dessen Sinn es ist, sich in Kultur-
geschichte aufzulösen. Auch hier der völlige Sieg des Religions-
begriffes. — Die kritische Periode ist konsequenter als die ratio-
nale; das ist ihr Vorzug; sie enthüllt die religionszerstörenden
Folgen des Religionsbegriffes, aber sie leistet auch etwas Positives.
Sie ist eine machtvolle Reaktion gegen die gegenständliche Ent-
leerung und Entheiligung der Welt. Diese Reaktion bleibt zwar
romantisch und ästhetisch und schlägt wieder in ihr Gegenteil um ;
denn das zerstörte religiöse Bewußtsein kann nicht durch Wille
einzelner, sondern nur durch Schicksale von Völkern und Massen
wiedergewonnen werden. Aber die romantische Religionsphilo-
sophie gibt dennoch die Brücke und schafft Formen, über die
wieder der neue Geist ontologischen Gottesbewußtseins sich er-
gießen könnte.
Welt, Kultur, Geschichte haben Heiligkeitsqualitäten, können
sie haben, aber brauchen sie nicht zu haben. Wie aber, wenn die
Ordnung umgekehrt würde; wenn es hieße: Müssen sie haben: wenn
vor allem das Religiöse Unbedingtheit und Gewißheit hätte und
Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. 455
die Welt und die Kultur und die Geschichte zeitliche, zweifel-
hafte, zu überwindende Profanisierungen des Heiligen wären ? Mit
dieser Frage wenden wir uns der dritten, intuitiven Periode zu.
3. Sie beginnt mit der Jahrhundertwende; nicht nur durch
die im engeren Sinne phänomenologische Philosophie, sondern durch
die allgemeine Bewegung des Geisteslebens hinweg von der gegen-
ständlich-technischen zu einer urständlich-intuitiven Welterfassung.
Es ist schwerer über sie etwas zu sagen, da sie erst in Entfaltung
begriffen ist ; aber es ist doch schon möglich, sie in den weitesten
Umrissen zu erschauen. Für die Religionsphilosophie hat sie die
Bedeutung, gegen die Herrschaft des Religionsbegriffs bewußt an-
zugehen. Es scheint sich eine neue ontologische Geisteslage an-
zubahnen. Die Erfassung des Numinösen durch Otto als einer
alle Gegenstandsformen durchbrechenden Wirklichkeit, die Erhe-
bung des Heiligkeitswertes über die übrigen Wertstufen durch
Scheler, die völlige Trennung des religiösen von dem theoretischen
Existentialurteil durch Scholz liegen in dieser Richtung. Wir
stellen nun die Frage, wieweit gelingt es hier, den Geist des Re-
ligionsbegriffs zu bannen?
Scheler wie Scholz wollen die funktionelle Begründung der
Religion mit Energie überwinden, Scheler, indem er dem religiösen
Objekt die primäre Gewißheit gegenüber dem religiösen Akt zu-
schreibt und die Gottesfrage vor der Religionsfrage erledigt, Scholz,
indem er die Auffassung der Religion als autonomer Geistesschöp-
fung bestreitet und in dem Satze „Gott ist" das erste Wesens-
merkmal der Religion sieht. Es könnte eingewandt werden, daß
damit eine Wiederkehr der rationalen Methode droht; aber die
Gefahr besteht in Wirklichkeit nicht. Nicht mit Hülfe von Syl-
logismen soll aus einem feststehenden Weltbegriff Gott erschlossen
werden, sondern ohne Berücksichtigung der Welt soll seine Wirk-
lichkeit erschaut werden. — Um die Scheidung dieses Anschauens
von der reflektiv-gegenständlichen Welterkenntnis hervorzuheben,
baut Scheler die Wirklichkeitserfassung in Stufen auf: die wissen-
schaftliche, die metaphysische und die religiöse Erkenntnis. Zweifellos
ist damit eine Überwindung sowohl der rationalen wie der kriti-
schen Methode angebahnt. Aber doch nicht erreicht. Denn es ist
nicht deutlich, wie sich die Stufen zu einander verhalten. Welche
Schwierigkeiten hier vorliegen, zeigt Scheler, wenn er die Meta-
physik mit einem sacrificium intellectus sich selbst aufheben läßt,
zu Gunsten der Religion. Damit ist das Gottesbewußtsein ab-
30*
456 Paul Tillich,
hängig gemacht von einem sich selbst vernichtenden Weltbewußt-
sein; die Gottesgewißheit lebt vom Opfer der Weltgewißheit; die
Gotteswirklichkeit vom Opfer der Welt Wirklichkeit. Aber dieses
Opfer bringt die Welt. Gott lebt vom Opfer und er schwindet,
wenn der autonome Geist das Opfer weigert. Der aber muß es
weigern, um nicht durch theoretische Urteile, die fremder Quelle
entspringen, in sich zweispaltig zu werden.
Der protestantische .Religionsphilosoph Scholz fordert nicht
ein sacrificium intellectus, sondern er sucht dem Intellect die Glaub-
würdigkeit der Religion zu beweisen. Er setzt also ein Bewußt-
sein voraus, für das die Glaubwürdigkeit bewiesen werden müßte.
Dieses Bewußtsein aber ist das der sittlichen Persönlichkeit. An
der ethischen Qualität der Offenbarungsträger hat sich das Ver-
trauen auf die Wahrheit ihrer Offenbarung zu entzünden. Wer
sieht hier nicht den ins Persönliche transponierten moralischen
Gottesbeweis, der dem Protestantismus so tief im Blut sitzt? —
In beiden Fällen ist die Weltgewißheit und die Weltwirklichkeit
als das Grundlegende beibehalten gegenüber der Gottesgewißheit
und Gotteswirklichkeit, einmal als Stufe, das andere Mal als Kri-
terium. Erreicht ist nur ein doppeltes. Gott wird weder er-
schlossen, wie in der rationalen, noch in die Welt hineingezogen,
wie in der kritischen Periode.
Auch in den beiden anderen Punkten, Religion und Kultur,
Offenbarung und Geschichte, hilft sich Scheler durch den Stufen-
gedanken: die religiösen Werte sind die höchsten in der Wert-
reihe; Heiligkeitswerte stehen noch über Persönlichkeits werten.
Und innerhalb der Heiligkeits werte steht wieder die im Christus
gegebene Gotteswirklichkeit an erster Stelle über Propheten und
Heiligen: die Religion der höchste Kulturwert, die christliche
Religion der höchste Heiligkeitswert. — Offenbar herrscht auch
hier noch der Religionsbegriff. Die Stufenreihe läßt die höhere
Stufe auf die niederen gegründet sein im Sinne des Bildes, wie
im Sinne der Sache, die es veranschaulichen soll; es bleibt ein
Denken von unten, ein Emporsteigen; aber es gibt keine Stufen,
die zum Unbedingten führen; die höchste wie die niedrigste ist
von dem Unbedingten gleich weit entfernt.
Bei Scholz tritt auch hier an Stelle der Stufenlehre, deren
katholisch- mittelalterlicher Ursprung ja deutlich ist, die ethisch-
kulturelle Persönlichkeitsidee, deren protestantische Wurzel offen
liegt: die Religion ist eine dem übrigen Geistesleben gegenüber
Die Überwindung des Eeligionsbegriffs in der Keligionsphilosophie. 457
selbständige Sache, die da sein, aber auch fehlen kann; ist sie
aber da, so ist das Maß ihrer Wertung die Erlebbarkeit durch
den Kulturmenschen der Gegenwart, d. h. durch die geistig-ethisch
geformte Persönlichkeit. An. erlebbaren Religionen aber kommen
schließlich nur drei in Betracht ; das Christentum, der Pantheismus,
die Mystik. — Es widerspricht nun schlechterdings der Unbedingt-
heit des Unbedingten, daß es in seiner Art und seinem Maß ab-
hängig gemacht wird von dem Maß einer bestimmten geistig-ethi-
schen Persönlichkeits- oder Kulturlage. All diese Gedanken ent-
stammen noch einem Denken, das nicht auf das Unbedingte, son-
dern Bedingte sieht, um an ihm das Unbedingte zu messen. Sie
haben den Geist des Religionsbegriffes nicht bannen können. —
Aber ist er überhaupt zu bannen? Oder ist es das Verhängnis
der Religionsphilosophie, ihm verfallen zu sein? Ist es das Ver-
hängnis der menschlichen Geschichte, daß es nur eines in ihr geben
kann, Religion oder Religionsphilosophie?
in.
Die Überwindung des Religionsbegriffs.
Der entscheidende Einwand, den wir gegen die bisherige Re-
ligionsphilosophie erhoben, ist der, daß sie das Unbedingte auf
das Bedingte gründet entweder durch Nebenordnung oder, da diese
unerträglich ist, durch Auflösung des Unbedingten in das Bedingte.
Eine Religionsphilosophie, die dem Wesen des Unbedingten gerecht
werden will, muß das Unbedingte in allem Bedingten erfassen, als
das, was sich selbst und das Bedingte begründet. Das Bedingte
ist das Medium, in dem und durch das hindurch das Unbedingte
erfaßt wird. Zu diesem Medium gehört auch das erkennende Sub-
jekt. Auch dieses tritt in keiner Weise als begründend auf, son-
dern nur als der Ort, in dem das Unbedingte im Bedingten offenbar
wird. Daraus folgt, daß der Sinn jeder Aussage über das Unbe-
dingte prinzipiell unterschieden sein muß von dem Sinn jeder
Aussage über Bedingtes. Da aber jede Aussage als solche in dem
Schema von Subjekt und Objekt, also in den Formen des Bedingten
verläuft, so muß die Aussage über das Unbedingte diese Formen
zwar benutzen, aber doch so, daß ihr Unzulängliches offenbar
wird, d. h. sie muß die Form der systematischen Paradoxie tragen.
1. Die Selbstgewißheit des Ich ist unter der Herrschaft des
Religionsbegriffs begründend für die Gottesgewißheit. Nun aber
ist in der Selbstgewißheit des Ich ein Doppeltes enthalten: Das
458 Paul Tillich,
Unbedingte einer Realitätserfassung, die jenseits von Subjekt und
Objekt liegt und das Teilhaben des subjektiven Ich an diesem
Unbedingt- Wirklichen, auf dem es ruht. Das Ich ist das Medium
der unbedingten Realitätserfassung; und es nimmt als Medium
teil an der Gewißheit dessen, was es vermittelt ; aber es nimmt
nur als Medium teil; es ist nicht das Tragende, sondern das Ge-
tragene. — Es besteht nun für das Ich die Möglichkeit , seine
Selbstgewißheit so zu erleben, daß die unbedingte Realitätsbezie-
hung, die darin enthalten ist, im Vordergrund steht: die a priori
religiöse Art der Selbsterfassung ; es besteht andererseits die Mög-
lichkeit, seine Selbstgewißheit so zu erleben, daß die Beziehung
auf das Sein des Ich im Vordergrund steht, die a priori unreligiöse
Art der Selbsterfassung; im ersten Fall dringt das Ich gleichsam
durch die Form ■ seiner Bewußtheit hindurch, zu dem Realität s-
grund, auf dem es ruht, im zweiten Fall bleibt dieser Untergrund
zwar wirksam — ohne ihn gäbe es keine Selbstgewißheit — aber
er wird nicht angetastet; das Ich bleibt in seiner Losgelöstheit,
in der Bewußtseinsform. Kann man diese zweite Stellung auch
mit Recht unreligiös nennen, so doch nur, insofern die Intention
in Betracht kommt, nicht soweit es sich um den Erfolg handelt.
Ein der Substanz nach unreligiöses Bewußtsein gibt es nicht, wohl
aber der Intention nach. In jeder Ich-Erfassung ist die Beziehung
auf das Unbedingte als Realitätsgrund enthalten; aber nicht in
jeder ist sie gemeint; danach unterscheiden sich die beiden Lagen
des Bewußtseins.
Die Aussage, daß in der Selbstgewißheit die Gewißheit des
Unbedingten erfaßt wird, ist paradox; denn sie hat die Form des
Theoretischen und ist doch dem Theoretischen schlechterdings fremd.
Wenn gesagt wird, daß Ich erfasse in sich das Unbedingte als
Grund seiner Selbstgewißheit, so ist in der Form dieser Aussage
der Gegensatz von Subjekt und Objekt enthalten; aber der Ge-
halt dieser Aussage steht dem gerade entgegen: das Unbedingte
ist nicht Objekt, es ist auch nicht Subjekt, sondern es ist die
Voraussetzung jedes möglichen Gegensatzes von Subjekt und Ob-
jekt. Darum steht die Erfassung des Unbedingten auch vor jedem
theoretischen Urteil. Und ist in Grund und Folgen unabhängig
von aller theoretischen Gewißheit. Ob der Geist die religiöse oder
unreligiöse Intention in sich trägt, ist theoretisch indifferent, da
das Unbedingte zwar das Tragende auch alles theoretischen Ur-
teils ist, selbst als absolute Voraussetzung aber niemals Gegenstand
Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. 459
der Theorie sein kann. Wird es das doch — und es muß es ja
werden, da sonst überhaupt nichts ausgesagt werden könnte — so
hat diese Aussage notwendig paradoxe Form : Grottesgewißheit ist
die in der Selbstgewißheit des Ich enthaltene und sie begründende
Gewißheit des Unbedingten. Damit ist die Gottesgewißheit schlechter-
dings unabhängig von jeder anderen vorausgesetzten Gewißheit.
Das Ich und seine Religion steht unter dem Unbedingten; es ist
erst möglich durch das Unbedingte. Es gibt deswegen überhaupt
keine Gewißheit, in der nicht die Gottesgewißheit implicite ent-
halten wäre; aber ob sie auch explicite enthalten ist, das macht
den entscheidenden religiösen Unterschied aus. Objektiv ist jedes
Bewußtsein Gott-gebunden, aber subjektiv kann das Bewußtein
Gott-los sein. J Es gibt also keinen Weg vom Ich zu Gott ; aber es
gibt — der Richtung, nicht der Substanz nach — einen Weg von
Gott weg zum Ich. Ist dieser Weg einmal beschritten, so gibt
es auf ihm freilich kein Zurück: Nur der Durchbruch des im Ich-
Bewußtsein enthaltenen Grundes durch die autonome Bewußtseins-
form befreit von dem Zwang der Gottesferne ; die Religion nennt
diesen Durchbruch Gnade. Sie weiß, daß kein theoretisches Hin-
weisen auf das aller Theorie zu Grunde Liegende das Unbedingte
im Bewußtsein lebendig machen kann; denn die Theorie hat das
Unbedingte als Objekt, also als das, was es nicht ist.
2.- Die Weltwirklichkeit begründet unter der Herrschaft des
Religionsbegriffs die Gotteswirklichkeit. Nun steht jedes Wirk-
liche in den Formen der Gegenständlichkeit, zu denen auch die
Existenz gehört; zugleich aber ist durch jedes Wirkliche erfaßbar
ein Unbedingt- Wirkliches , das nicht in den Formen der Gegen-
stände steht, also auch keine Existenz hat. Wo der Geist sich so
auf die Welt und ihren Inhalt richtet, daß er das Moment der
Unbedingtheit, das in allem enthalten ist, ins Bewußtsein erhebt,
da ist er auf Gott gerichtet. Dieses Moment der unbedingten
Wirklichkeit in allem Bedingt- Wirklichen, ist das, was tragend ist
in jedem Ding; es ist seine Seienswurzel, seine Ernsthaftigkeit,
seine Unergründlichkeit, seine Heiligkeit. Es ist sein Realitäts-
gehalt im Unterschied von seiner zufälligen Form.
Jedes gegenständliche Denken ist hier streng auszuschließen.
Es ist nicht von einem Gegenstand neben den Dingen, oder über
den Dingen oder in den Dingen die Rede ; es ist überhaupt von
keinem Gegenständlichen, sondern von dem Urständlichen schlecht-
hin die Rede, dem was aller Form, auch der Existenz enthoben
460 Paul Tillich,
ist. Aber auch hier gilt, daß jede Aussage gegenständliche
Form hat, und darum nur als gebrochene, paradoxe Aussage
wahr ist.
So ist die Aussage „Gott ist" der Form nach eine theoretische
Aussage und keine Stufenordnung kann das ändern; es ist die
Einreihung Gottes in die Gegenstands weit ; aber diese Einordnung
ist Gottlosigkeit. Ist die Aussage „Gott ist" auch dem Gehalt
nach theoretisch, so vernichtet sie die Gottheit Gottes. Ist sie
aber als Paradoxie gemeint, so ist der notwendige Ausdruck für
die Bejahung des Unbedingten; denn es ist nicht möglich, sich
anders auf das Unbedingte zu richten als durch Vergegenständ-
lichkeit. — Damit ist Deismus und Pantheismus überwunden. Der
Deismus, der nicht nur eine Zeit-Richtung, sondern ein Element ist
in jeder Gottes Vorstellung, das Moment der Vergegenständlichung.
Verendlichung Gottes, das überall auftritt, wo der paradoxe
Sinn des göttlichen Seins nicht mehr erfaßt wird; und des Pan-
theismus, der das Unbedingte mit der universalen Dingform, der
Welt, gleichsetzt, weil das Unbedingte durch jedes Wirkliche hin-
durch erfaßbar ist, der aber dann doch bei einer Gegenstandsform,
der universalen, stehen bleibt, und nicht sieht, daß das Unbedingte
der Totalität so fern ist, wie der Einzelheit. Es ist Platz für
einen Theismus, der nichts gemein hat mit dem üblichen kirchlichen
Semi-Deismus, sondern der nur sagt, daß das Unbedingte — das
Unbedingte ist.
Auch für diese Haltung gibt es keine theoretische Notwendig-
keit. Es ist möglich, sich auf das System des Bedingten zu
richten und es in seiner Selbstheit zu bejahen, wie das autonome
Ich. Es ist möglich, sich von der Beziehung auf das Unbedingt-
Wirkliche, das allem innewohnt, abzuwenden zu der Existenz und
der Form des Gegenständlichen ; denn jedes Ding in der Welt hat
die Form der Existenz und des Objektiven. Es ist das möglich
ohne theoretische Bedenken, denn das Unbedingte ist nie und
nirgends ein theoretisches Streitobjekt; man kann von der Theorie
weder dafür noch dagegen Partei nehmen ; es begibt sich nicht in
die Kampfarena der Existential-Urteile, der Fragen nach Dasein
oder Nichtsein. Ist man aber einmal unter Verzicht auf die
Gotteswirklichkeit zu einer Weltwirklichkeit gekommen, die der
Absicht nach — der Substanz nach ist es es unmöglich — außer-
göttlich ist, so gibt es keinen Weg zur Gotteswirklichkeit zurück.
Denn Gott ist entweder der Anfang oder er ist nicht.
Die Überwindung des Keligionsbegriffs in der Religionsphilosophie. 461
3. Die Religion wird unter der Herrschaft des Keligionsbegriffs
aus der Kultur begründet, entweder als einzelne Kulturfunktion
oder als Synthesis der Kulturfunktionen. Das ist durchaus analog
der deistischen und pantheistischen Grottesauffassung. Nun gibt
es aber eine Funktion des Geistes, die weder neben dem andern
steht noch ihre Einheit ist, sondern in ihnen und durch sie hin-
durch zum Ausdruck kommt: die Funktion der Unbedingtheit ; sie
ist die Wurzelfunktion, diejenige, in der der Geist durch alle seine
Formen hindurchbricht bis auf seinen Grund. Sie ist deswegen
auch keine Geistesform und kann nur durch Paradoxie Funktion
genannt werden. Phänomenologisch gesprochen : es gibt eine Akt-
klasse, die aus einer Tiefe stammt, in welcher der Gegensatz von
Akt zu Akt aufgehoben ist, und die infolgedessen nur durch
Brechung im Medium des Bewußtseins zu eigenen Akten kommen
kann. Ihrem "Wesen nach aber ist sie nichts anderes als die Be-
ziehung auf das Unbedingte, die jedem Akt innewohnt. — Es gibt
also keine besondere religiöse Funktion neben der logischen, ästhe-
tischen, ethischen, sozialen ; sie ist auch nicht in einer oder in der
Einheit aller enthalten, sondern sie ist der Durchbruch durch jede
und die Realität, die unbedingte Bedeutung einer jeden. Die
Kultur ist das Medium des Unbedingten im Geistesleben, wie die
Dinge das Medium des Unbedingten in der Welt sind.
Damit ist aufs Nachdrücklichste bestritten, daß durch die Re-
ligion ein neuer Wert in das System der Werte eingeführt ist.
Es gibt keine Heiligkeits werte, sondern das Heilige ist das, was
den Werten den Wert gibt, die Unbedingtheit ihres Geltens, die
Absolutheit ihrer Realitätsbeziehung. — Es ist die Religionsphilo-
sophie also nie und nimmer eine Ergänzung der Geistes- oder
Wertphilosophie. Auch an diesem Punkte tritt das Unbedingte
nicht in die Diskussion der Bedingtheiten. Die Heiligkeitsqua-
lität, die Unbedingtheitsfunktion kann fehlen, ohne daß das
System der Werte im Mindesten verändert wird ; sie kann fehlen,
freilich nur der Intention, auch hier wie überall — nicht der
Substanz nach; denn fehlte .sie, wäre das Denken wahrheits-
und das Anschauen wesenlos, das Handeln ziel- und die Gemein-
schaft seelenlos. Aber sie braucht nicht gemeint zu sein. Der
Geist kann sich richten auf die Autonomie seiner Funktionen,
deren Realitätswurzel er nicht anführt, deren Form er durchsetzt.
Der Geist kann autonome Kultur schaffen, mit einem autonomen
Ich, in einem autonomen Universum. Damit aber hat er sich den
462 Paul Tillich,
Weg zu Gott versperrt. Auf dem Boden der autonomen Kultur
gibt es höchstens — Religion.
Hier ist nun der Ort, die Dialektik des Religionsbegriffs zu
völliger Durchsichtigkeit zu bringen: Sobald das Bewußtsein sich
auf das Unbedingte richtet, entsteht die Doppelheit von Akt und
Gegenstand. Nun ist der religiöse Akt aber kein besonderer; er
ist nur in den übrigen Akten wirklich. Er muß diesen also eine
Formung geben, an der die religiöse Qualität sichtbar ist. Diese
Formung ist die Parodoxie, d. h. zugleich die Bejahung und Ver-
neinung der autonomen Form. Das religiöse Denken, Anschauen
ist also ein Denken, ein Anschauen, das die autonomen Formen
des Denkens und Anschauens zugleich benutzt und zerbricht. Das
G-leiche gilt von den sittlichen und sozialen Formen.
Das Erkennen unter der Gegenwart des Unbedingten ist In-
spiration. Das Anschauen ist Mj'sterium, das Handeln Gnade, die
Gemeinschaft Reich Gottes. Alles das sind paradoxe Begriffe,
d.h. solche, die sofort ihren Sinn verlieren, wenn sie gegenständ-
lich gemacht werden; Inspiration als eine übernatürliche Art der
Erkenntnisvermittlung ist ein einfacher Widerspruch. Mysterium
im Sinne einer materiell-realen Gegenwart, das Unbedingte im Be-
dingten ist eine sinnlose Aussage ; die Gnade als übernatürliche
Kraftmitteilung ist ein ethischer Nonsens und das Reich Gottes
als reale Größe eine Utopie mechanistischen Denkens. An Stelle
des Parodox ist der Supranaturalismus getreten ; d. h. der Versuch,
ein Bedingtes unbedingt zu machen. Dem Supranaturalismus aber
entspricht immer der Naturalismus, d. h. der Versuch, das Unbe-
dingte überhaupt auszuschalten.
Und doch kann die Religion nicht anders, als mit diesen Be-
griffen arbeiten; sie muß vergegenständlichen, um aussagen zu
können; daß sie aussagen will, ist ihre Heiligkeit; daß sie gegen-
ständlich aussagen muß, ist ihre Profanheit. Gerechtfertigt ist
sie nur da, wo sie diese ihre Dialektik durchschaut und dem Un-
bedingten allein die Ehre gibt. — Wo sie es nicht tut, führt sie
das Unbedingte in die Niederung und die Kampfarena des Be-
dingten herab, in der es notwendig unterliegen muß : Es wird eine
Kultur, die die Beziehung auf das Unbedingte verloren hat, ein
Denken, das nichts mehr weiß von Inspiration als dem Durch-
bruch der unbedingten Realität, ein Anschauen, das nichts mehr
weiß vom Mysterium des Grundes in den Formen der Dinge, ein
Handeln, das ohne Gnade dem Gesetz verfallen ist, eine Gemein-
Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. 463
schaft, die fern ist von dem Durchbrechen der unbedingten Liebe
— das anf der einen Seite; und eine Religion, die aus all diesen
Begriffen supranaturale Gesetze, Objektivierungen der Paradoxie,
Verendlichungen des Unbedingten gemacht hat: das ist der Zu-
stand des Geistes unter der Herrschaft des Religionsbegriffs. —
Erlösung der Religion vom Verhängnis der Objektivierung, Er-
lösung der Kultur vom Verhängnis der Profanisierung, Durchbruch
des Unbedingten durch alle Arten der Relativisierung, das ist Sieg
über den Geist des Religionsbegriffs.
4. Unter der Herrschaft des Religionsbegriffs gründet sich die
Offenbarung auf das autonome Geistesleben, sei es im Sinne einer
offenbarten Vernunftreligion, sei es im Sinne der Religionsge-
schichte. Dadurch wird die absolute Tat Gottes zu einer rela-
tiven Entwicklung des religiösen Geistes. Die Religion aber will
nicht Religion, auch nicht absolute Religion, sondern sie will Er-
lösung, Offenbarung, Heil, Wiedergeburt, Leben, Vollendung, sie
will das unbedingt Reale, sie will Gott. Und sie nennt wahre
Religion die, in welcher Gott sich gibt, und falsche die, in welcher
er vergeblich gesucht wird. — Der Religionsbegriff aber kann der-
artige Unterschiede nicht anerkennen, auch nicht in der verhüllten
Form von erlebbarer und nichterlebbarer Religion. Der Religions-
begriff macht gleich, bringt Göttliches und Menschliches auf eine
Ebene. — Nun aber ist es selbst schon eine Wirkung des Reli-
gionsbegriffs, selbst schon eine Bedingtmachung des Unbedingten,
wenn eine bestimmte Religion unbedingt gesetzt, mit der gött-
lichen Offenbarung gleich gestellt wird. Jede Religion ist als
Religion relativ, denn jede Religion ist Vergegenständlichung des
Unbedingten. Aber jede Religion kann als Offenbarung absolut
sein; denn Offenbarung ist das Durchbrechen des Unbedingten in
seiner Unbedingtheit. Jede Religion ist insoweit absolut, als sie
Offenbarung ist, d. h. insoweit als das Unbedingte in ihr als Un-
bedingtes herantritt im Gegensatz zu allem Relativen, was ihr als
Religion zukommt.
Es ist nun aber die Eigenschaft jeder lebendigen Religion,
daß sie eine ständige Opposition gegen das Religiöse in ihr in
sich trägt. Der Protest gegen die Vergegenständlichung ist der
Pulsschlag der Religion. Erst wo er fehlt, ist nichts Absolutes
mehr in ihr, ist sie ganz Religion, ganz Menschliches geworden.
— Es sind aber drei Formen, in denen sich der typische Protest
der lebendigen Religion gegen ihre Vergegenständlichung als Re-
464 Paul Tillich,
ligion erhebt: die Mystik, die Prädestination, die Gnade. Die
Mystik durchschaut den paradoxen Sinn aller Aussagen über das
Unbedingte. Sie sucht die Einheit mit dem absolut Gegenständ-
lichen, dem Abgrund, dem Überseienden, dem reinen „Nichts".
Sie weiß auch, daß diese Einheit nur vom Unbedingten her ge-
schaffen werden kann, sie weiß, daß sie Gnade ist. — Aber sie
bereitet sich doch vor, der Gnade würdig zu werden und sie be-
nutzt dazu die Formen der Religion und schafft selbst Formen.
Sie verläßt den Boden der Religion nicht. Das ist ihre Grenze.
— Die Prädestination überläßt alles Handeln zum Heil des Ein-
zelnen und der Menschheit Gott. Weder Kirche noch Religion
sind Bedingungen der Erwählung und des Reiches Gottes, sie sind
höchstens ihre Gott-geordnete Vermittlung; dadurch sinkt ihre
Bedeutung dahin und da der göttliche Ratschluß im Verborgenen
geschieht, so ist alles religiöse Handeln und Vorstellen des Men-
schen entwertet, und kommt bald dem Punkt nahe, wo es ganz
aufhört und übergeht in profanes, kulturelles Handeln ; das ist die
Gefahr, wenn das Religiöse ganz ins Verborgene und Absolute
gestellt wird. — Die konkrete Gnade (von Gnade lebt ja auch
Mystik und Prädestination) stellt das Heil gleichfalls schlechter-
dings in das Unbedingte ; aber nicht in seinen Abgrund und nicht
in seinen verborgenen Willen, sondern in seine konkrete geschicht-
liche Selbstmitteilung. Es fällt von hier aus ein starkes Ja auf
die kirchlich-religiösen Medien, auf Offenbarungsmittler und Offen-
barungsmittel, auf Gebet und lebendige Gemeinschaft mit Gott.
Hier ist der Abweg fast unvermeidlich, daß diese Medien ins Ab-
solute erhoben und aus der Offenbarung der Gnade Religion der
Gnadenmittel wird.
Jede der drei Formen, in denen innerhalb der Religion die
Religion überwunden wird, haben also die gleiche Dialektik wie
die Religion selbst, sie können sich an Stelle Gottes setzen. Es
ist deswegen auch falsch, diese Formen zur absoluten Religion zu
machen, Sie sind Ausdrucksformen für das absolute Element jeder
lebendigen Religion, aber sie werden selbst relativ, sobald sie Re-
ligionsformen werden. Die absolute Religion geht durch alle
Religionen hindurch; die wahre Religion ist überall da, wo das
Unbedingte als Unbedingtes bejaht und die Religion vor ihm ver-
nichtet wird.
Wo das geschieht, ist im Allgemeinen verborgen. Offenbar
wird es dann und wann in Form der großen mystischen oder pro-
Die Überwindung des Religionsbegriifs in der Religionsphilosophie. 465
phetischen Reaktionen gegen die bloße Religion. Das Maß, in
dem eine Religion zu solchen Reaktionen fähig ist, entscheidet
über ihren relativen Rang. Absolute Religion ist niemals ein
gegenständliches Faktum, sondern ein jeweils lebendiger Durch-
bruch des Unbedingten. Den Beweis der Absolutheit führt Gott
selbst, indem er den Absolutheitsanspruch einer Religion zerbricht,
nicht durch Skepsis und Religionsgeschichte, sondern durch die
Offenbarung seiner Unbedingtheit, vor der alle Religion nichts ist.
Es ist also auch hier das Unbedingte das Tragende, das Han-
deln Gottes die Substanz der Religion, ohne die sie nicht sein
kann; aber sie kann sich von ihr abwenden; sie kann mit und
ohne Bewußtsein diese Substanz unangerührt lassen und sich ihrer
eigenen autonomen Form zuwenden. Sie kann autonome, selbst-
genügsame, Gott-ferne Religion werden, und den Götzendienst
dadurch vollenden, daß sie sich absolute Religion nennt.
Damit sind die vier Vorwürfe der Religion gegen die Reli-
gionsphilosophie in ihrem Rechte anerkannt; aber es ist nicht die
Folgerung daraus gezogen, daß um der Religion willen die Reli-
gionsphilosophie sich selbst aufgeben müßte, sondern es ist der
Versuch gemacht, eine Religionsphilosophie auf die Forderungen
zu gründen, die in jenen Vorwürfen enthalten sind, d. h. eine
Religionsphilosophie, die nicht vom Bedingten, sondern vom Un-
bedingten, die nicht von der Religion, sondern von Gott ausgeht.
An dem Gelingen oder Mißlingen nicht dieses meines, aber eines
solchen Versuches überhaupt hängt das Schicksal der Religions-
philosophie und damit der Stellung des Geisteslebens zur Religion.
Wir stehen vor der Alternative: Entweder Aufhebung der Re-
ligion durch die Kultur, oder Durchbrechen des Unbedingt- Wirk-
lichen als des Grundes oder der Realität aller Kultur in all ihren
Funktionen. Die Art, wie innerhalb der Wissenschaft sich dieser
Durchbruch vollziehen könnte, sollten die ausgesprochenen Ge-
danken andeuten. Was das Ziel betrifft, so kann es für mich
keinen Zweifel geben; was die Form betrifft, so ist sie ein Ver-
such, und nicht mehr.
IV.
Die Dialektik der Autonomie.
Alles Gesagte hat im Grunde das Ziel, einer Bewußt-
seinslage den Weg zu bereiten, in der die Selbstgewißheit des
Bedingten zerbrochen ist vor der Gewißheit und Wirklichkeit
466 Paul Tillich,
des Unbedingten. Nicht die Lösung eines theoretischen Problems
war mir die Hauptsache, sondern die Aufweisung einer Geisteslage,
auf die meiner Überzeugung nach schicksalsmäßig die Geistesbe-
wegung hindrängt. Um so mehr ist es meine Pflicht, Rechenschaft
zu geben über die Denkmittel, die zur Anwendung gekommen sind.
Es ist aber ein Doppeltes, was dabei herauszustellen ist, eine be-
stimmte Methode und eine bestimmte Geschichtsphilosophie, eine
logische und eine metaphysische Voraussetzung.
1. Die Methode, die am schärfsten in der Analyse der Selbst-
gewißheit, aber auch an den anderen Punkten zur Anwendung
gebracht ist, kann als kritisch-intuitive Methode angesprochen
werden. Sie geht davon aus, daß sowohl die kritische, wie die
intuitive Methode in Absonderung unfähig zur Lösung des reli-
gions- und damit kulturphilos optischen Zentralproblems ist: der
Frage nach dem Sinn oder besser der Realität, der unbedingten
Ernsthaftigkeit des Geistes und durch ihn hindurch die Wirklich-
keit überhaupt. — Die kritische Methode nicht, weil es ihr unter
keinen Umständen möglich ist, über die Formen der Gegebenheit
hinauszukommen zu dem Gegebenen selbst. Die intuitive Methode
nicht, weil sie über der Versenkung in jedes mögliche Gegebene
die Form der Gegebenheit überhaupt außer Acht lassen muß. Die
kritische Methode kommt nicht zum „Was" der Dinge, die intui-
tive nicht zu ihrem „daß". Die kritische Methode verliert über
dem Problem der Realität die Realität selbst. Sie wird Forma-
lismus ; die intuitive verliert über der Anschauung des Wirklichen
das Problem der Realität ; sie wird Romantik und Reaktion. Das
Problem des Unbedingten aber ist der Punkt, wo der Unterschied
von Existenz und Wesen aufgehoben und damit das Nebeneinander
der Methode unmöglich ist. Hier ist gebieterisch eine Methode
gefordert, in der beide eins sind; „kritisch-intuitiv" das ist eine
Forderung ; und wenn sie ganz erfüllt ist, wird auch der adäquate
Name geboren sein. Es scheint mir aber in Folgendem ihr Wesen
zu bestehen: Sie ruht auf dem Boden der kritischen Methode; sie
geht aus von den Funktionen des Geistes als den Formen aller
Gegebenheit. Aber sie wendet sich auf sich selbst zurück und
sieht, daß alle diese Formen mehr als leere Formen nur dadurch
sind, daß sie erfüllt sind mit dem Gehalt eines Unbedingt-Wirk-
lichen, das jeder Einzelform, wie der Totalität aller Formen un-
erfaßbar ist. Das in Allem Sinngebende ist nicht selbst ein Sinn,
auch nicht die Gesamtheit, auch nicht die Unendlichkeit des Sinnes ;
Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie. 467
das in Allem Reale ist nicht selbst ein Reales, auch nicht die Ge-
samtheit, auch nicht die Unendlichkeit des Realen. Das zu sehen
aber ist nicht mehr Sache der Kritik, sondern der Intuition; wo
die Kritik ihre Grenzbegriffe, d. h. die Dokumente ihrer Begrenzt-
heit setzt, da schaut die Intuition das Unbedingt-Wirkliche, das
freilich für sie nicht jenseits der Grenzpfähle, sondern mitten im
Lande der Kritik die Realitätswurzel darbietet, von der alle Kritik
lebt. Es ist die Methode des Paradox, der ständigen Durch-
brechung und Aufhebung der Form zu Grünsten des Wirklichen
in ihr. Nicht Formlosigkeit, nicht fremde Formherrschaft darf
die kritische Form durchbrechen ; das wäre Verzicht auf Methode,
d.h. auf Philosophie; sondern bei vollem Ja zur autonomen, kri-
tischen Form soll der Gehalt des Unbedingten hervorbrechen und
zerbrechen, nicht formlos, sondern paradox. Leben in dieser höchsten
Spannung ist Leben aus Gott. Anschauen dieser unendlichen Pa-
radoxie ist Denken über Gott, und wenn es methodisch wird, Re-
ligionsphilosophie oder Theologie. Niemand freilich kann metho-
disch zu dieser Methode gezwungen werden, wie er zur bloß kri-
tischen Methode gezwungen werden kann ; es ist möglich zu leben
und zu denken, ohne die Wurzel zu sehen, aus der man lebt und
denkt, es ist möglich, das Unbedingte zum Grenzbegriff, zum Ideal-
begriff und dgl. zu machen, es in die Peripherie zu schieben und
in der Autonomie der bloßen Form zu bleiben. Es ist möglich,
aber es ist in seinen Konsequenzen Selbstzerstörung, und das führt
zum zweiten, der Geschichtsphilosophie.
2. Theonom möchte ich eine Geisteslage nennen, in welcher
alle Formen des geistigen Lebens Ausdruck des in ihnen durch-
brechenden Unbedingt- Wirklichen sind. Es sind Formen, also Ge-
setze, v6\hoi darum theonom. Aber es sind Formen, deren Sinn
nicht in ihnen selbst liegt, es sind Gesetze, die das alles Gesetz
Durchbrechende fassen; darum theonom. In gewissen Perioden
z. B. des abendländischen Mittelalters war diese Geisteslage an-
nähernd verwirklicht. Sobald eine Periode der Theonomie ihrem
Ende zugeht, sucht sie die Formen, die einmal der adäquate Aus-
druck ihres Gehaltes waren, zu konservieren; diese Formen aber
sind leer geworden; werden sie mit Gewalt aufrecht erhalten, so
entsteht Heteronomie. Heteronomie geht immer von der Religion
aus, die Gott verloren hat, die bloße Religion geworden ist. Im
Gegensatz zu Heteronomie wächst die Autonomie. Autonomie ist
immer der Rückschlag gegen die Autonomie der bloßen Religion,
468 Paul Tillich,
die alle Kultur unter ihre Heteronomie bringen will. Autonomie
der Religion gegen Gott schafft Autonomie der Kultur gegen die
Religion. Der Ausgang des Mittelalters ist typisch für diese
G-eisteslage. Die autonome Kultur ist im Recht gegen die Reli-
gion; es ist das Recht der logischen Form gegen eine ehemals
paradoxe, dann ihres Sinnes beraubte Form, die nun als einfacher
Widersinn das Logische vergewaltigen will. Hier ist der Sieg
der autonomen Form, im Logischen wie im Ästhetischen, im Recht-
lichen wie im Ethischen von vornherein entschieden. Und dieser
Sieg bedeutet Einsicht in die gegenständlichen Formen der Dinge,
bedeutet exakte Wissenschaft, bedeutet technisch-rationale Welt-
beherrschung.
Aber der Sieg ist teuer erkauft. Das Recht der Autonomie
gegenüber der Heteronomie wird zum Unrecht gegenüber der Theo-
nomie, denn die autonome Form ist Gesetz. Mit dem Gesetz kann
man technisieren und rationalisieren, aber unter dem Gesetz kann
man nicht leben. Wo das Unbedingte in keiner anderen Weise
erfaßt wird, als in der unbedingten Geltung der logischen oder
ethischen oder ästhetischen Form, da tötet es das Leben ; denn da
ist es der Richter, der jede einzelne Form verurteilt, weil sie das
Gesetz nicht erfüllt, weil sie die Bedingtheit des Unbedingten
nicht erreicht. Darum muß jede autonome Periode zerbrechen:
Sie kann mit ihrer formalen Unbedingtheit alles Lebendige töten
und rationalisieren; aber sie kann nicht einen einzigen Lebens-
inhalt schaffen. Sie verliert die Wahrheit und bleibt in der leeren
Form der Identität, sie verliert die Persönlichkeit und bleibt in
der leeren Form des „Du sollst u. Sie verliert die Schönheit und
bleibt in der leeren Form der Synthesis: sie verliert die Gemein-
schaft und bleibt in der leeren Form der Gleichheit. Alles ver-
zweifelte Ringen aber um die Erfüllung dieser Formen im Logi-
schen wie im Ethischen, im Denken, wie im Handeln ist nur der
Ausdruck für die Tragik der Autonomie.
Dieses Ringen ist von überwältigender Größe und diese Tragik
von erschütternder Tiefe. Es sind die Zeiten der großen indivi-
duellen Kulturschöpfungen; aber das Ende ist das Schwanken
zwischen anspruchsvollem Rationalismus und verzweifelnder Skepsis
im Logischen, und zwischen Pharisäismus und Gesetzlosigkeit im
Ethischen. Die Autonomie bricht auseinander in Nomismus und
Antinomismus. Lebensfähig bleiben nur diejenigen, welche sich
den großen Spannungen des Geistes entziehen und die autonome
Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Keligionsphilosophie. 469
Form benutzen zu Technik und Taktik in Wissenschaft und "Wirt-
schaft, in Politik und Kunst. Sie haben ihren Lohn dahin. Der
Lohn aber des Geistes, der ausharrt, ist das Durchbrechen des
Unbedingten durch alle Formen, nicht als Gesetz, sondern als
Gnade, als Schiksal, als unmittelbare überwältigende Wirklichkeit
— wie es z. B. der Antike beschieden war, in der Doppelform der
neuplatonischen Mystik auf logischem und des Christentums auf
ethischem Boden.
Das Thema der Geistesgeschichte ist der Kampf von Theo-
nomie und Autonomie. Die Theonomie ist sieghaft, solange sie
lebendiger Durchbruch ist, solange die Paradoxie als Paradoxie
erlebt wird. Sie ist aber dem Verhängnis verfallen, immer wieder
aus dem lebendigen Paradox einen objektiven Widerspruch machen
zu müssen; dann steigt aus dem Kampf gegen ihre Heteronomie
die Autonomie der Form sieghaft empor, um schließlich ihrem
eignen Verhängnis, der Auflösung entgegenzugehen. Das ist nicht
bloß im Nacheinander gemeint. In jedem Augenblick der Geistes-
geschichte tobt dieser Kampf. Aber der Sieg und die Niederlage
des einen oder anderen gibt auch ein Nacheinander, eine Geschichts-
philosophie nicht nur des Querschnitts, sondern auch des Längs-
schnitts.
Wir haben das Ringen beider in der Religionsphilosophie be-
trachtet; sie ist der Ort, wo der Kampf am deutlichsten sichtbar
ist. Sie ist selbst in ihrer Entwicklung ein Teil dieses Kampfes.
Nur weil ihr die autonome Entwicklung die Formen gegeben hat,
kann sie Philosophie sein; nur wo ihr die Theonomie den Gehalt,
die — Wurzelung im Unbedingten gibt, kann sie Religions-Philo-
sophie sein. Sie kann es aber nur, wenn sie sich der Herrschaft des
Begriffs entzieht, der das typische Symbol der autonomen, Gott
abgewandten Periode ist, des Begriffs der Religion, wenn sie einsieht,
daß nicht die Religion der Anfang und das Ende und die Mitte
in allem ist, sondern Gott, und daß jede Religion und jede Reli-
gionsphilosophie Gott verlieren, wenn sie sich nicht auf den Boden
des Wortes stellen: Impossibile est, sine deo discere deum. Gott
wird nur erkannt aus Gott.
Kantstudien XXVII. 31
Zur
„Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie,
Von Emil Utitz - Rostock.
Vaihinger zufolge dient die künstlerische Fiktion dem Zwecke
„gewisse erhebende oder sonst wichtige Empfindungen in uns zu
wecken. u Sie ist demnach gleich der wissenschaftlichen „nicht
Selbstzweck, sondern Mittel zur Erreichung höherer Zwecke." Wir
dürfen vielleicht sagen : die Struktur des Kunstwerks ist eine te-
leologische, denn sein Sinn erfüllt sich in einem bestimmten geistigen
Verhalten, dem — gegenständlich — eine bestimmte Gestaltung
entspricht. (Vergl. meine „Grundlegung der allgemeinen Kunst-
wissenschaft" 1914 und 1920) Nach drei Richtungen könnte man
darnach Bedeutung und Grenzen der künstlerischen Fiktion zu
erforschen trachten: für das Schaffen des Künstlers, für die ob-
jektive Formung des Kunstwerks, für das künstlerische Genießen.
Wie weit die rein tatsächliche Wertung der Kunst Fiktionen ir-
gendwelcher Art beeinflussen, scheidet hier aus, weil diese Frage
mehr kulturpsychologisch interessant ist, als kunstphilosophisch oder
kunstpsychologisch.
Daß wir innerhalb der Kunst weithin Fiktionen — in Vaihin-
gen Auffassung — begegnen, entzieht sich jedem Zweifel. Bäume
und Häuser auf einem Gemälde sind doch keine „wirklichen" Bäume
oder Häuser ; eine Marmorstatue ist doch kein „wirklicher" Mensch
usw. Der Schauspieler ist doch kein „wirklicher" König, und er
stirbt auf den Brettern der Bühne keinen „wirklichen" Tod. Man
hat darum häufig von dem „Scheincharakter" des Aesthetischen
und Künstlerischen gesprochen. Daraus folgt aber gewiß nicht,
daß wir den „Schein" einfach für gewöhnliche Wirklichkeit hin-
nehmen sollen; denn gerade dadurch ginge der Kunstcharakter
völlig verloren. Diese Frage ist in der wissenschaftlichen Litera-
tur der letzten Jahrzehnte lebhaft erörtert worden. Da ich selbst
Emil Utitz, Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 471
eingehend zu ihr Stellung genommen habe, darf ich mich wohl
auf wenige "Worte beschränken. Die äussersten Extreme sind : der
eine sieht — von vorwiegend stofflichen Interessen geleitet —
den nackten Menschen im Marmor, „als ob" er lebend wäre. Der
andere zeigt sich lediglich formal gefesselt ; er beobachtet nur, wie
der Marmor behandelt ist. Das Gegenständliche tritt zurück; es
wirkt bloß als Träger formaler Werte. Zwischen diesen Stand-
punkten (dem des völlig Ungebildeten und künstlerisch Blinden und
jenem des virtuosen Artistentums) pendelt nun die Eeichweite
jener Einstellungen, die den gemeinten Sinn aus der Gestaltung
heraus erleben ; in ihr beschlossen. Sie bewegen sich in der Wirk-
lichkeitssphäre der Kunst, machen ihre „Fiktion" mit. Ich bin
gewohnt, hierbei von der „Seins-Schicht" des Kunstwerkes zu
sprechen. Für die Lehre vom angemessenen künstlerischen Ver-
halten ergeben sich daraus ganze Reihen phänomenologischer
und psychologischer Probleme. Es liegt mir fern, ihnen — im
Rahmen dieser Abhandlung — nachzugehen. Ich will vielmehr
ein einziges Beispiel — und auch das nicht erschöpfend — analysie-
ren, um an seiner Hand einige für die Gesamtheit der Kunst we-
senhafte Sachverhalte einsichtig zu machen, die zu der Frage der
künstlerischen Fiktionen in enger Beziehung stehen.
Nirgends tritt das Fiktive in der Kunst dem denkenden Be-
wußtsein (nicht etwa dem schlicht erlebenden) stärker entgegen
als im Theater. Handlungen rollen vorüber ; Menschen lachen und
leiden, ringen und straucheln, heiraten und sterben; und es sind
bloß eingelernte Rollen, aufeinander in zäher Probenarbeit abge-
stimmt. Die Menschen sind Schauspieler, die eben zur Schau
spielen. Die aufgehende Sonne ist elektrisches Licht; das wogen-
de Meer, der krachende Donner — lauter Fiktionen. Ein Blick
in die technische Apparatur entschminkt gleichsam den Glanz dieser
Welt ; wir müssen jene zu „vergessen" suchen, solange wir mitfüh-
lende Zuschauer sind. Sonst achten wir nur auf den szenischen
und organisatorischen Betrieb, bewundern vielleicht sein vollendetes
und reibungsloses Funktionieren ; aber das eigentliche Theaterstück
entzieht sich uns dabei. „Vergessen" wir jedoch wirklich, verlieren
wir auch das Theaterstück. Denn die Bühne wird zur realen
Welt. Ist hier nun alles ein dichtes Gewebe von Fiktionen (man
könnte sagen : von Fiktionen verschiedener Ordnung, die sich über-
31*
472 Emil TJtitz,
einander bauen), dem wir uns anzuvertrauen haben oder das wir
tunlichst übersehen sollen; oder liegen die Verhältnisse ver-
wickelter?
Wie steht der Schauspieler zu seiner Rolle? (Vgl. meine
„Psychologie der Simulation" 1918 und „die Kultur der Gegen-
wart" 1921). Die Ansicht ist heute verlassen, daß er völlig in
seiner Rolle versinkt, daß also eine restlose Verwandlung in eine
andere Person stattfindet. Er glaubt nicht ein wirklicher König
oder ein wirklicher Mörder zu sein, sondern verharrt in seiner
Rolle. Nach zwei Seiten kann er aus der Rolle „herausfallen" :
etwas reizt ihn zum Lachen, und er gibt dieser Regung nach.
Sie gehört nicht zur dramatischen Aufgabe. Die Gestaltung
wird — vielleicht nur für einen Augenblick — unterbrochen.
Oder: das Publikum hustet, wird unruhig, verärgert; der Mime
nervös. Seine ängstliche Zerfahrenheit hemmt das „Spiel", wider-
streitende Züge schleichen ein. In diesen Fällen schiebt sich die
nackte Wirklichkeit vor. Die andere — viel seltenere — Gefahr ist
das Echtwerden der Rolle: sie packt ihren Vertreter so, daß er
ihrer Gewalt unterliegt. Das leidenschaftliche Toben steigert sich
zu unverständlichem Schreien, ungezügelten Bewegungen; die
Rücksicht auf Mitspieler und Publikum zerreißt. Das Stichwort
setzt aus. Manchmal glättet sich diese Verwirrung gleich; in
Ausnahmefällen hält sie an : erschwert das Spiel oder macht es
unmöglich. Auch hier drängt nackte Wirklichkeit vor, aber solche
ganz anderer Art. Bei den ersten Beispielen stört die Fernstel-
lung zur Rolle; bei den letzten die Identifizierung mit ihr.
Vor weiterer Betrachtung gebe ich zunächst noch eine ein-
fache Beobachtung aus angrenzendem Gebiet: wird ein Redner in
einer Trauerversammlung selbst von tiefem Schmerz übermannt,
versiegt der Fluß der Worte; das wunderbare Instrument der
Sprache gehorcht nicht mehr; ein Würgen, Schluchzen und Ver-
stummen. — Vor uns steht ein leidender Mensch; wir sind die
verlegenen oder mitleidigen Zeugen seiner Ergriffenheit; aber
dieser Mensch ist dann gewiß unfähig, die Trauer zu gestalten mit
den Mitteln der Rede; mit der dunkelnden Untermalung seiner
Stimme, mit dem langsam getragenen Rhythmus der Worte, mit der
gedämpften Glut sprachlicher Bilder usw. Zur höchsten schöpfe-
rischen Leistung taugt weder jener, der den Stürmen der Affekte
unterliegt, noch auch der Teilnahmslose ; bloß der glücklich Begabte,
dem Rührung und Begeisterung Form seines Werkes werden, der
Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 473
sie bändigt in die Darstellung seines Vortrages. Man sagt bis-
weilen: der „ Künstler u spiele mit seinem „Herzblut". Beides muß
da sein : Erlebnis und Gestaltung ; nur die Akzente verschieben sich
in verschiedenen Fällen. Der Romane „spielt" mehr: der Germane
hat mehr „Herzblut". Jenen bedräut die Gefahr der leeren,
weit ausladenden Geste, diesen eine dumpfe, verschlossene Inner-
lichkeit. Zwischen diesen beiden Polen treibt die Kunst des Mimen.
Sie ist weder Verstecken in einer Rolle wie unter einer Tarn-
kappe (dieser falsche Naturalismus des Verwandlungskünstlers),
noch das Illuminieren einer Rolle mit Effekten gleich Knallbonbons
(dieser dekorative Apparat des Virtuosentums) ; jene Wege rühren
nicht an das Geheimnis mimischer Kunst. Wie der Dichter seine Er-
schütterungen hineinführt in die objektivierende Konstellation sugge-
stiver Worte, und in diesem Erleben und Können — das Erleben
wird durch das Können möglich; und das Erleben entsiegelt das
Können — sein Künstlertum wurzelt; so macht die passende
Rolle dem Schauspieler die Bahn frei, um Ichseiten auszuwirken
durch Prägung jener Gestalt. Es sind also „wirkliche" Ichquali-
täten, die hier zum Durchbruch gelangen, so wirklich wie das
hohe C des Sängers oder das silberne Kichern der Operetten-
diva.
* *
*
Wir beachten vorerst ein Extrem: der Schauspieler rezitiert
bloß seine Rolle, er „verkörpert" sie nicht. Er trägt nur die
Worte vor, ist lediglich Sprecher. Die theatralische Gestaltung
fehlt. Auch hierbei stoßen wir noch auf grundsätzliche Unter-
schiede: das Interesse verankert sich im Rhetorischen; es soll
klar vorgebracht werden, wechselnd im Rhythmus, anschwellend
und abklingend. Man fahndet nach rednerischen Effektmöglich-
keiten und wählt die Stoffe, die jenen entgegenkommen. Nicht
ihre geistige Wesenheit steht in Frage, vielmehr ihre Verwert-
barkeit für virtuose Sprachtechnik. Man könnte meinen, es
handle sich um Studien für Vortragskunst, aber es wären doch
äußerliche Studien: sie loten nicht in die Tiefe, sondern „verzie-
ren* die Oberfläche. Der Zuhörer soll — von den Effekten ge-
blendet und überrumpelt — das Können bewundern. Die Rolle
ist Fiktion — ihr Träger nimmt sie nicht ernst, das Publikum
darf dies auch nicht — aber diese Fiktion ist das Mittel, das jene
Künsteleien gestattet. Wie auch bisweilen in der Wissenschaft
Annahmen gemacht werden, um aus ihnen ein blitzendes Feuer-
474 Emil Utitz,
werk von Geistreichelei herauszuschlagen; eine intellektuelle
Spielerei, zuchtlos und unfruchtbar. Und nun der andere Fall:
den Vortragenden packt der geistige Gehalt der Worte; er wühlt
sich in ihn ein. Gleich einer Explosion schleudert er die Rede
hinaus; oder die Satze schleppen sich mühsam, weil ungestaltetes
Bleigewicht an ihnen lastet. Der Sprecher lebt innere Spannung
und Erschütterung aus, indem er die Worte sich abringt, oder sie
ihm entsprudeln. Nennt man da die Rolle eine Fiktion, scheint
die Bedeutung verschoben: denn jetzt ist die „Rolle" nicht mehr
fast gleichgültiger Anlaß, aber immer noch Mittel, um jenes Er-
leben auszulösen und dem Hörer den Eindruck zu gewähren,
einen bestimmten Inhalt in dieser persönlich zugespitztesten Form
aufzunehmen. Auf das Wort Form lege ich Nachdruck, weil da
Differenzen sich erschließen : der Redner ist vom Inhalt ergriffen ;
nun kann er ihn entweder chaotisch abstoßen, oder gestalten. Der
erste Vorgang steht außerhalb der Kunst; der zweite gehört ihr
an. Mischtypen verknüpfen in allmählicher Abwandlung den einen
mit dem anderen. Ich zeige ein Beispiel : ein junger Mann ist von
politischen Sorgen geängstigt, von politischen Hoffnungen bewegt ;
da findet er einen Aufruf, in dem all das klar formuliert ist, was
ihn bedrängt; er liest seinen Gefährten diesen Aufruf vor; Wort
für Wort möchte er ihnen einhämmern; die Gedanken schreit er
heraus, daß die Stimme überkippt ; vieles wird undeutlich, weil er
ein fieberndes Tempo anschlägt, dem seine Sprachgeläufigkeit
nicht folgt usw. Wir merken keine Spur „Künstelei", alles unver-
dorben, echt; wir genießen vielleicht aesthetisch diese Persönlich-
keitsoffenbarung ; aber der Inhalt der Rolle bleibt ungeformt. Er
strebt auch kein künstlerisches Erlebnis an ; glaubt er doch heilige
Wahrheit zu verkünden, die zu Taten aneifern soll. Bedient er
sich überhaupt künstlerischer Gestaltung — soweit er hierzu
fähig ist — erscheint sie lediglich als Hilfsmittel, das eigentlich
unmerklich zu bleiben hat. Der Fromme genießt ja auch nicht
den Gottesdienst aesthetisch, sondern eben religiös. Je stärker
das Aesthetische vordrängt, um so mehr verblaßt das echt Religiöse.
Nur als ancilla theologiae hat jenes hier Daseinsrecht. Nun kann
aber das gleiche Manifest nur künstlerisch vorgetragen werden,
wenn es auch selten dazu besondere Eignung besitzen wird. Dann
verrückt sich der Schwerpunkt auf die Gestaltung ; und der Hörer
schließt sich auf für die Art, wie ein geistiger Gehalt seinem
Fühlen entgegengebracht wird; ein Gehalt, der nicht mehr von
Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 475
der Form abzulösen ist, sondern von ihr her Sinngebung empfängt.
Denn nicht mehr handelt es sich um das gedruckte Manifest, das
irgendwie nachdrücklich verbreitet wird, sondern um das so und
nicht anders gesprochene, das in dieser Seinsschicht begriffen, er-
lebt und beurteilt werden muß.
Ich darf vielleicht an die Poesie der Pubertätsjahre erinnern
oder an die der Bräutigamszeit. Drängende Spannungen heischen
Entladung; und da ihnen jede andere versperrt ist, flüchten sie in
die Kunst. Aber diese Kunstwelle ebbt bald ab; rückschauend
schämen sich ihrer viele. Die Kunst ist da bloß ein „Notausgang".
Es wäre jedoch völlig falsch, diese Auffassung auch für den
„echten" Künstler gelten zu lassen. Gewiß; auch ihn bewegt Un-
ruhe ; allein diese Unruhe befriedet nur das Kunstwerk, die künst-
lerische Tat, nichts anderes. Warum aber ? weil das Erleben — so-
weit es überhaupt künstlerische Sphären ergreift und nicht le-
diglich der bürgerlichen Existenz angehört — schon angelegt ist
auf künstlerische Reifung. Es ist nicht auf der einen Seite ein
Erleben und auf der anderen die künstlerische Form, in die es
hineingeschüttet oder hineingepreßt wird, vielmehr eine Bewußt-
seinsstruktur, deren Funktionieren nur in diesen Formen abläuft,
sonst gehemmt und zerstört wird. Dieses Erleben kann sich nur
auswirken, indem es im Kunstwerk sich objektiviert. Solange dies
nicht erfolgt, brennt Unruhe, peinigt Ungenügen. (Vgl. die ein-
gehenden Untersuchungen über das Schaffen des Künstlers im
zweiten Bande meiner „Grundlegung der allgemeinen Kunst-
wissenschaft").
Ein Beispiel soll diesen Sachverhalt beleuchten: ein Tanzfest.
Der gewöhnliche Mensch gibt sich dem Vergnügen der Ballnacht
hin, verliebt sich vielleicht; und den Alltag umsonnt eine schöne
Erinnerung, bis sie verlöscht, oder die angeknüpften Beziehungen
erfahren ihre Fortsetzung. Der Künstler — soweit er gewöhn-
licher Mensch ist — kann in genau gleicher Weise sich verhalten ;
aber eben nicht als Künstler. Da packt ihn vielleicht der farbige
Zusammenklang ; er erspäht den Schicksalszug einer Geste, die
nackt sich enthüllt; aus dem Treiben löst sich ihm eine Melodie,
in der Jugend lacht und Sehnsucht schluchzt, und in deren Rhyth-
mus das ganze Treiben schwingt. Oder er ist bloß von gärender
Unruhe ergriffen, aus der dann jener zündende Funke entspringt,
vielleicht längst nach verklungenem Feste. Diese künstlerische Sinn-
gebung wächst also von Anfang an auf einem Boden, der gar
476 Emil Utitz,
keinen Weg in „wirkliches" Handeln nnd Tun gestattet. Denn die
Tat, in der jene Erlebnisse ihre Erfüllung gewinnen, zu der sie
emporwachsen und reifen, kann nur das Kunstwerk sein; sie sind
gleichsam schon von Geburt aus zu eben diesem Schicksale be-
stimmt. Keine andere Äußerung schüfe hier Befreiung; denn sie
steckt nicht in dem Abwälzen des Erlebnisses an andere. Es ist
überhaupt ausgeschlossen, daß diese Abwälzung gelingt; denn sie
verharrte doch im Stofflichen. Die Loslösung, die jetzt in Frage
steht, hängt von der formalen Kristallisation ab, daß eben die Aus-
druckskraft einer Geste ganz Bild, ganz "Wortleib wird, daß dieses
Erlebnis zur reinen Gestalt sich klärt. Was der Künstler einem
anderen mitzuteilen vermag, ist bloß die Absicht einer Gestaltung ;
die Angst, sie nicht vollziehen zu können, die Beseligung ihrer
Verwirklichung. Aber all dies ist peripherer Schaum, der ans
Ufer schlägt, nicht Wellenbewegung des Meeres. Nicht als Zwei-
heit haben wir „Objektivieren" und „Gestalten" zu denken; sondern
dieses Gestalten wird durch das Objektivieren möglich, und das
Objektivieren durch das Gestalten.
Immer wieder habe ich nachdrücklich betont, daß wir das
Wesen des Künstlertums nicht in einer einzelnen Eigenschaft zu
suchen haben, sondern in der Angelegtheit seiner ganzen Persön-
lichkeit auf die spezifische Art der Gestaltung. Der Künstler
kann sich eben gar nicht anders ausleben als in dieser Weise;
keine andere glättet seine Spannungen. Will man hier von Fik-
tion sprechen, muß man jeden Charakter als Fiktion betrachten,
auch den des Handelnden, der von Tat zu Tat schreitet. Sicher-
lich darf man die Konzeption des Charakterbegriffes als eine Fik-
tion bezeichnen, um die eigentliche Teleologie einer seelischen
Totalität zu deuten. Aber sie selbst ist ein Gewebe von psy-
chischen Realvorgängen; also auch das künstlerische Schaffen.
Es ist jedoch — eine solche Argumentation wäre möglich — auf
Fiktionen gerichtet; diese setzen es erst gleichsam in Bewegung.
Denn ringt nicht der Musiker darum, Gestalten von Tönen so zu
bauen, daß Leidenschaft in ihnen braust und Sehnsucht weint ; der
Maler darum, durch Linien und Farben auf Leinwand oder Holz
eine gegenständliche Welt vorzuzaubern ; der Schauspieler eine
Rolle so anzulegen, daß der Eindruck entsteht, hier schreite ein
König oder hier ducke sich ein feiger Mörder. Nach zwei Seiten
hin könnte die Berechtigung solcher Fiktionen verteidigt werden :
in Rücksicht auf den Kunstbetrachter — davon war bereits die
Zur „Als-Ob-Theorie in der Kunstphilosophie. 477
Rede — und im Hinblick auf den Künstler selbst, weil sie eben
die Form seines Lebens ermöglicht. Es ist dann leicht, Vergleiche
heranzuziehen : zu jenen, die ihr Dasein auf die Fiktion gründen,
geliebt, geachtet, bewundert zu sein, oder auf die Fiktion, un-
schuldig zu leiden usw. Bis weit ins Pathologische hinein zeigt
sich diese Auffassung abwandlungsfähig. Und nun lassen sich
beide Seiten verknüpfen: dem Auswirken und Entfalten eines
Charakters korrespondiert die Leistung für eine Gemeinschaft.
Auf beiden Seiten stehen also Werte; und die seltsame Verknüp-
fung soll einer Fiktion vorbehalten sein. Man könnte weiter
differenzieren: manche Eigentümlichkeiten des Kunstwerks ver-
danken ihr Sein oder So- sein lediglich den individuellen Bedürf-
nissen des Künstlers; sie sind nicht "Wirkungsfaktoren; andere
wieder scheinen lediglich dieser Absicht entsprungen. Erstere
sind Schlacken, deren restfreie Gestaltung nicht geglückt ist, letz-
tere äußerliche Mache, Routine, Berechnung. Es eröffnet sich also
eine reich verzweigte Problematik — hier nur dürr und kurz
skizziert — und trotzdem genügt sie nicht, die Bedeutung der
künstlerischen Fiktion wahrhaft zu erfassen. Wir kehren darum
auf einem Umwege zu unserem „Beispiel" zurück und nähern uns
ihm von einer anderen Seite.
Verstellung — Simulation — ist bewußte Vorspiegelung nicht
vorhandener Sachverhalte. Der kleine Schuljunge, der besorgt —
weil völlig unvorbereitet — das „Aufgerufenwerden" durch den
Lehrer ahnt, schützt Kopfschmerzen vor. Weit entfernt davon,
Kopfschmerzen wirklich zu haben, bedient er sich bloß dieser List
in dem für ihn entscheidenden Kampfe ums Dasein, dessen tiefere
Bedeutung er vielleicht mißversteht. Er wählt die Darstellung
des Kopfschmerzes, weil sie relativ leicht eindrucksvoll arrangier-
bar und ein schlagender Gegenbeweis schwer zu führen ist. Hat
er sein Ziel erreicht — wird er etwa von dem Lehrer zur Er-
holung auf eine Weile in den Schulgarten beurlaubt — meldet er
vielleicht durch fröhliche Grimassen seinen Kollegen die Sieger-
freude. Die Rolle, die er spielte, war also ganz eine Maske; es
fiel ihm in keiner Weise ein, sich mit ihr zu identifizieren; nach
Bedarf wird diese Maske vorgebunden und abgelegt. Ein anderer
Typus von Kindern „braucht" nicht — um es grob zu sagen
— diese Maske. Die Furcht daranzukommen — obwohl die Lek-
478 Emil Utitz,
tion nicht gelernt ist — jagt ihnen tatsächlich den rettenden
Kopfschmerz ein. Sie pochen dann auf ihr „gutes* Recht, wenn
sie wehleidig ihre Beschwerden äußern. Das nähere Studium psy-
chogener Symptome und hysterischer Mechanismen beleuchtet grell
diese jedem Psychiater bekannten Erscheinungen. Ob hier nun im
Einzelfall mangelndes Gesundheitsgewissen mitspielt, ein mehr oder
minder bewußter "Wunsch — ach, würde ich doch erkranken! —
kommt in diesem Zusammenhange weiter nicht in Betracht. Denn
aufschlußreicher sind für uns gewisse Mischformen, in denen die
Verstellung — die Fiktion — zwar nicht erlischt, aber keineswegs
ständig durch den antreibenden Willen wachgehalten werden muß,
sondern eher „triebartig" und „wie von selbst" aus einer be-
stimmten inneren und äußeren Konstellation sich entwickelt. Der
Schuljunge in seinem vorgetäuschten Kopfschmerz kann jede Be-
wegung, jede Geste genau kontrollieren und auf Grund scharfer
Überlegung tunlichst zweckmäßig und wirksam ausführen. Dazu
gehört Energie. Lockert sich die Spannung, wird das Benehmen
falsch; der Betreffende verrät sich leicht. Es ist ja auch aus der
Graphologie geläufig, daß eine absichtliche Verstellung der Schrift
im Schreiben abklingt, und immer neue Willensvorstöße müssen
helfend und korrigierend eingreifen. Noch ein weiterer Umstand
ist bekannt: die Reichweite solcher Simulation begrenzt das Wissen.
Wo es versagt — meist bei „Nebensachen", die darum besonders
charakteristisch sind — wird das Gesamtbild verzerrt; und da
hakt der Verdacht ein. Die Rolle, die hierbei vorgeführt wird,
ist an sich dem Betreffenden fremd; und er bleibt stets in Ge-
fahr, daß sie ihm entgleitet. Spielt er sie öfter, wird sie ein-
gelernt; er wird sicherer, und die Anstrengung geringer. Aber
über das durch Berechnung und Willen Erreichbare kommt er
nicht hinaus. Glücklicher — in dieser Hinsicht — ist nun eine
andere Veranlagung; der Schuljunge — durch die Situation be-
drängt — ergreift das schützende Mittel des Kopfschmerzes, mimt
jedoch den Patienten, ohue sich immer innerlich dessen versichern
zu müssen, was er in jedem Augenblick zu tun oder zu lassen hat.
Er spielt die Rolle gleichsam aus sich heraus, indem er sich in
ihre Möglichkeiten einlebt. Nicht nur die Aussicht, der Prüfung
zu entrinnen oder den Lehrer zu betrügen, leitet ihn, sondern die
Freude an der Rolle selbst. Indem er sie nun nicht von außen,
sondern von innen ergreift, sie „liegt" ihm eben, braucht er sich
Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 479
auch bloß ihrer Führung zu überlassen. Er muß gar nicht viel
arrangieren; er gehorcht ihren Antrieben und Anweisungen.
Deutlicher wird dies durch ein weiteres Beispiel: wir kennen
die häufigen Wirkungen der Verkleidungen auf Maskenfesten. Der
elegante Student wird zum Strolch, wenn er dessen Grewand anlegt, die
vornehme Dame zur Dirne, das Stubenmädchen zur Gräfin. Dabei
muß es sich keineswegs um eine vollendete, den gewiegten Kenner
auf die Dauer täuschende Darstellung jener Rollen handeln; wir
achten an dieser Stelle lediglich darauf, daß der als Strolch mas-
kierte Student oder die als Kokotte verkleidete vornehme Dame
nicht unaufhörlich ihre Handlungen vorsätzlich zu regeln haben.
Dank einer einzigen durch die Änderung des Gewandes und durch
die besonderen Umstände bedingten Einstellung erfolgt der Sprung
in das andere „Leben". Wie der gebildete Student sich nicht bei
jeglicher Gelegenheit die Frage vorlegen muß : „wie handelt da
der wohlerzogene Student?", sondern er handelt als wohlerzogener
Student; so handelt er jetzt als Strolch. Und das gleiche gilt
von der eleganten Dame. Ähnlichen Erscheinungen begegnen wir
oft auch in anderen Lebenslagen: Jeder, der z. B. den Betrieb
in den Familienbädern unserer Seekurorte kennt, weiß, mit welch
völliger Ungeniertheit sich auch „sehr anständige" Frauen und
Mädchen im bloßen Trikot bewegen, also in einem Kostüm, das
höchstens mit dem von Nackttänzerinnen zu vergleichen ist. Mit
dem Badeanzug hat man sich förmlich einen neuen Menschen an-
gezogen, der sich dieser neuen Situation völlig anpaßt, so daß
auch die Regungen des Schamgefühls ausbleiben, die unter anderen
Umständen gewiß zutage treten. Der entrüstete Ruf einer Mutter
zu ihrer halbwüchsigen Tochter, die das erste Mal das Bad be-
sucht: „Schämst du dich nicht, daß du dich schämst!" ist be-
zeichnend : du sollst dich schämen, weil du nicht besser die richtige
Einstellung findest. Darum scheuen auch so viele, als Arzt je-
manden heranzuziehen, mit dem sie gesellschaftlich verbunden sind ;
es erschwert die eigentümliche Einstellung des Patienten, weil
eine andere, geläufigere, erst unterdrückt werden muß.
Die Aoisicht, jede Simulation fuße auf einem Nachleben, läßt
stets nach der Vorlage fahnden. Die Verstellung soll die Kopie
liefern, mag dabei das Original mehr oder minder hell dem Be-
wußtsein vorschweben, sei es auch nur in der unanschaulichen
Form einer „Aufgabe". Es ist der gleiche Fehler wie die An-
nahme, künstlerisches Schaffen sei immer nur ein Ausführen der
480 Emil Utitz,
in der Phantasie konzipierten Bilder, und die formende Tätigkeit
sei ein Nachbilden, ein Streben nach Konkretisierung des innerlich
fertig vorliegenden Originals. Jedenfalls ist diese Auffassung ge-
eignet, den Blick für jene Simulationen zu versperren, die ich
als „auslebende" bezeichne. Es wird nicht irgend etwas nachge-
ahmt, nachgebildet, nacherlebt, nachgefühlt usw. ; sondern die Ge-
staltung wächst frei aus ihren eigenen Bedingungen heraus. Die
eine Kokotte spielende Dame muß nicht den Erfahrungen folgen,
die sie an Kokotten gemacht hat; sie gibt sich Neigungen und
Trieben ihres Wesens hin, befreit geradezu gewisse Seiten ihres
Seins. Natürlich werden Erfahrungen auf die Verhaltungsweisen
abfärben, diese modifizieren usw. Wir müssen immer wieder be-
tonen, das Wirklichkeit oft verknüpft, wo Theorie zu sondern hat.
Doch ohne jene Sonderungen verstehen wir nicht die Wirklichkeit.
Die erstaunte Frage: „woher kann das der Simulant, er hat doch
Ahnliches nie gesehen?" beantwortet sich oft leicht, wenn wir
nicht die gewagtesten Vermutungen aushecken, einer vermeintlich
durchgängigen Abbildtheorie zu Ehren, sondern uns der beschei-
denen Einsicht vergewissern, daß hier innere Anlagen sich aus-
wirkend entfalten. Oft spinnt sich ein im einzelnen unentwirr-
bares Netz, dessen Fäden gezogen sind aus Begabung, Neigung,
Trieb, Erfahrung und äußerem Anlaß.
Vergessen aber jene verkleideten Studenten oder Damen völlig
ihren wahren Stand, daß eigentlich die Simulation verschwindet ? Vor
allem ist in jedem Augenblick die Möglichkeit gegeben, die Rolle
abzuwerfen und in die „Wirklichkeit" zurückzukehren. Es kommt
plötzlich eine wichtige Nachricht, und trotz Kostüm und Maske
ist das Alltagsleben sofort ' da. Das Spiel wird abgeschüttelt ;
oder es endet mit dem Glockenschlag, mit dem Abschluß des
Festes. Die Betreffenden haben es in der Hand, zu beginnen, wann
sie wollen, und nach Belieben aufzuhören. Oft führen sie auch
ihre Rolle nicht allen gegenüber durch, so z.B. nicht bei nahen
Verwandten, Bekannten, denen Ehrfurcht gezollt wird, oder solchen,
die keinen „Spaß" verstehen. Da bleiben sie die „Alten". Eben-
sowenig wie der Mime in den Pausen seiner Rolle im allgemeinen
hinter der Kulisse weiterspielt, es sei denn zum Scherz. Auch
wissen die Beteiligten meist ganz genau, wie weit sie gehen dürfen,
wie weit ihre Maskenfreiheit sie deckt. Werden auch die Grenzen
nicht eng gezogen, sie werden doch mehr oder minder beachtet;
denn Aufhebung der Spielregel beendet das Spiel. Die Rolle des
Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 481
Lumpen führt nur selten zu „wirklichen" Gemeinheiten, die ge-
spielte Kokotte gibt sich nicht jedem für Greld hin. Es ist klar,
wie hier allenthalben die Pforten zum Pathologischen sich öffnen.
Mancher findet den Weg aus der Simulation nicht mehr zurück:
das „Spiel" beherrscht ihn, erfüllt ihn, er identifiziert sich völlig
mit demselben, oder er hat die Macht verloren, es zu beenden.
Als äußerste Extreme stehen vor uns: die Simulation, deren jeden
Schritt das kontrollierende Bewußtsein überwacht, das niemals
die Aufgabentendenz verliert; und jene Fälle, wo das Bewußtsein
der Simulation immer mehr einschläft. Aber es sind Extreme,
zwischen denen unzählige Zwischenstufen vermitteln.
Der Student, der den Lumpen auf dem Maskenfest mimt, die
Dame, welche die Kokotte spielt, das Nähmädchen, welches die
Prinzessin darstellt, der kleine Verkäufer, der den reichen und
blasierten Lebemann kopiert, oder auch der Maler, der in der
Tracht Botticellis sich gefällt, sie folgen alle vielleicht einer ge-
heimen, tiefer oder oberflächlicher verborgenen Sehnsucht, oder
auch einem mit Liebe gehegten Ideal. Sie wissen, daß sie spielen,
aber die Rolle ist ihnen nicht entgegengesetzt, feindlich, nicht
einmal innerlich fremd. Sie leben sich nach einer Richtung hin
aus, kosten eine Möglichkeit des Seins, die der Alltagsbetrieb
sperrt. Ohne den Rollencharakter ganz abzustreifen, ohne das
Bewußtsein der Maskierung völlig einzubüßen, können sie doch
empfinden — ob mit Recht oder Unrecht kommt da gar nicht in
Frage — daß gerade dies ihr eigentlicher Sinn ist, daß sie im ge-
wöhnlichen Leben an falscher Stelle stehen und sich verstecken
müssen usw. In tieferer Bedeutung erscheint ihnen dann die Si-
mulation als echteres Verhalten; und sie können doch dabei der
Simulation bewußt bleiben. Diese Sehnsüchte schweifen — wenn
man so sagen darf — sowohl nach „oben", wie nach „unten". Der
Bürger möchte König sein, der König ungekannt durch die Menge
dahingehen, Freuden und Leiden einfachen bürgerlichen Seins
durchkostend. Die Sehnsucht nach der Maske — die oft nur eine
Sehnsucht ist, die Maske fallen zu lassen — gewinnt Hintergründe
und Ausblicke in dunkle Schichten der Seele. Selbst den engen
Philister, der im Kino sich erhitzt, bedrängen Sehnsüchte nach
Fülle und Buntheit des Lebens, die der Alltag nicht gewährt; und
der Philister weicht doch den grellen und großen Ereignissen aus,
er will den umfriedeten Winkel, und die Grluten der Leidenschaft
nur im Theater, nur im Roman. So können auch Student und
482 Emil Utitz,
Dame, Nähmädchen und Verkäufer mit ihrer Simulation spielen.
Es sind gewünschte Lebensmöglichkeiten, auf Zeit und Kündigung ;
passend für den Sonntag, lächerlich für den Montag.
Es liegt nahe, die ganzen eigentlichen Simulationsvorgänge als
periphere Erlebnisse aufzufassen, wenn wir auf das Moment der
absichtlichen Vorspiegelung achten. Das Zentrale; z. B. der Willen
zur Simulation, der sie strafft, spannt, vorwärtsschiebt, das Be-
gehren, zu täuschen, die Lust an der anscheinend glücklichen Si-
mulation; ist offenbar — wenn auch in innigem Zusammenhang
mit der Simulation — doch außerhalb, nicht in sie eingebettet.
Mit dem simulierten Kopfschmerz identifiziere ich mich nicht,
ebensowenig mit der geheuchelten, schmeichlerischen Freundlichkeit^
wie mit der gespielten Trunkenheit. Der periphere Charakter
dieser Erlebnisse ist unbestreitbar. Und man darf wohl sagen : er
ist für die ganz reine Simulation auch bezeichnend. Aber denken wir
nun an das Ladenmädchen, das am Feiertag die elegante Dame von
Welt mimt, an den Kellner, der „ Ausgang" hat und nun den vol-
lendeten Edelmann markiert ! Es sind vielleicht tiefste Sehnsüchte,
geheimste Wünsche, geliebteste Ideale, die hier eine — wenn auch
groteske und tragikomische — Verwirklichung gewinnen; also
Regungen, die aus dem Zentrum der Persönlichkeit herrühren und
die nur der Alltag zurückdämmt, die Zensur unterbindet, wenn
wir uns eines psychoanalytischen Terminus bedienen wollen. Das
Ladenmädchen und der Kellner empfinden ihre Maskierung als
echtere — sagen wir — sein sollendere Wirklichkeit, im Ver-
hältnis zu der das kärgliche und demütigende Aschenbrödeldasein
am Wochentag verblaßt, wie ein schlimmer Halbtraum. Sie passen
auf, ob der Trug gelingt ; und das Gelingen ist ihnen neuer Beweis
nicht nur für die Güte ihrer Simulation, sondern für die Legiti-
mität ihrer Wünsche, für die in einem höheren Sinne geltende
Wahrheit der Simulation. Auch hier kann und wird — wenn wir
von den Abzweigungen ins Pathologische absehen — ein Grund-
gefühl gegeben sein, daß „man" nicht „tatsächlich" Gräfin oder
Graf sei, ein schmerzlich — süßes Grundgefühl vielleicht; schmerz-
lich, weil das Spiel nur Spiel, und süß, weil in dem Spiel Ver-
heißungen aufglühen, Ahnungen einer hohen Sendung, verlockende
Perspektiven eines Lebens in großem Stil. In dieser Simulations-
form wirken sich jedenfalls echte Ichseiten aus, und darum be-
zeichnen wir sie auch als zentrale Simulation. Das hat an sich
nichts zu tun mit der Fähigkeit zur begrenzten oder allgemeinen
Zur „Als-Ob- Theorie" in der Kunstphilosophie. 483
Simulation. Wer alle Rollen meistert, muß noch nicht sein „Herz-
blut" in sie vergießen. Sie können alle peripher sein. Nicht jene
Fähigkeit steht da in Frage, sondern die Stellung des Ich in und
zur Simulation. Faßt man ihre Gebilde als Fiktionen auf, handelt
es sich erstens um Fiktionen verschiedener Art und zweitens ver-
schiedenen Grades. Der Sinn der Fiktion verschiebt sich, je nach-
dem sie zweckvolle Täuschung ausschließlich intendiert oder vor-
nehmlich ein Ausleben bestimmter Wesenszüge ermöglicht. Damit
wandelt sich aber auch ihr Charakter. Ist er dort in Reinkultur
gegeben, kann er hier die mannigfachsten Komplikationen erfahren,
bis zur Selbstvernichtung. Eine allgemeine Psychologie der Fik-
tionen, die diese differentiellen Ergebnisse in umfassendere Zu-
sammenhänge einzubauen vermöchte, ist noch nicht geschrieben.
Diese meiner „Psychologie der Simulation" entlehnten Be-
trachtungen gilt es für die Erkenntnis mimischer Kunst zu ver-
werten und darüber hinaus für die der Kunstgesamtheit. Doch
scheinen mir die meisten Analogien so selbstverständlich, daß wir
es uns wohl ersparen dürfen, sie im einzelnen auszumalen. Ein
Hauptpunkt ist die Stellung zur Rolle. Zeigt sich die Rolle
fremd, bloß als Erfüllung von außen gesetzter Aufgabe zu be-
stimmten — wiederum — äußeren Zwecken, betätigen sich an ihr
lediglich Wille, Wirkungsabsicht, Ehrgeiz, Technik usw. Verstand
und Energie übernehmen die Führung; fleißigstes Studium sorgt
für möglichst tadellose Gestaltung. Das Akademische herrscht
vor oder das dem Effekt zugewandt Yirtuosistische. Aus keinem
ursprünglichen Erlebnis wächst das „Spiel" ; aber vielleicht ent-
faltet sich hohes Können ; vielleicht packt der herbe Ernst straffer
Disziplin und unsäglicher Arbeit ; oder es blendet der Instinkt für
das Ausnutzen jeglicher Eindrucksmöglichkeit. Zu all dem gehört
Begabung; und doch bleibt derartige Kunst an der Oberfläche:
die Nacktheit des Fiktiven ernüchtert. Die Rolle verharrt durch-
aus in der Sphäre der Fiktion ; sie wird aufgeputzt, hergerichtet,
drapiert, instrumentiert usw. „Dahinter" steht der Mensch, der
sich eben darum bemüht. Die scharfe Zweiheit liegt offen zutage.
Man unterschätze aber nicht die Bedeutung solcher Kunst, die in
formaler Hinsicht Vollkommenes zu leisten vermag. Wie viel
auch an ihr — in ihren besten Vertretern — rein errechnet und
ausgeklügelt erscheint, so rechnen und klügeln kann nur jemand,
484 Emil Utitz,
dem eben ein starkes Talent diese Betätigungen gestattet. Grad
gehen die Rechnungen nicht auf; die Klügeleien stimmen nicht
ganz ; Unklarheiten, Verschwommenheiten schleichen sich ein ; es
fehlen letzte Prägnanz, künstlerische Ökonomie und Durchsichtig-
keit. Das „Menschliche" der Rolle kommt wenig in Betracht, umso
stärker das Artistische; im guten und Übeln Sinne. Das Arti-
stische verletzt, wenn etwa ordinäre, eitle Tendenzen aus ihm
hervorlugen, schleuderhafte Mache oder mangelndes Können sich
verraten. Es wird geadelt durch vornehme Weisheit, ausgeglichene,
reife Beherrschung usw. Diese Qualitäten beziehen wir nun na-
türlich nicht auf die Rolle, sondern ganz auf ihren Träger. Wir
nennen bloß die Rolle „dankbar", die dem Artistischen fruchtbare
Aufgaben zuweist; und wir rühmen es besonders, wenn einer an
sich undankbaren Rolle doch starke Wirkungen abgerungen werden.
Die nun in jenen Träger projizierten Eigenschaften halten wir
nicht für Fiktion; wir glauben: der Schauspieler hat sie „wirk-
lich". Meist geben wir uns aber keine Rechenschaft darüber, was
dieses „wirklich" hier bedeutet. Der Schauspieler kann ja der
nachlässigste Mensch sein, aber von stärkstem Verantwortlichkeits-
gefühl, wo es sich um seine Kunst handelt. Er ist etwa ferner
dumm im gewöhnlichen Verstände des Wortes, aber überraschend
klug, wenn er an seiner Rolle arbeitet. Und : wiederum alle bürger-
liche Intelligenz schützt und feit ihn nicht vor absurdesten Tor-
heiten in künstlerischer Hinsicht. Was ist nun das „Wirkliche" ?
Manchmal beides, wie auch der strenge, hartherzige Beamte da-
heim in Güte und Milde fast zerfließen kann. Man muß nur das
charakterologische Problem tief genug fassen, um diesen Ver-
ästelungen und dem bunten Wechselspiel ihrer Beziehungen nach-
zuspüren. Bisweilen wird die strenge Hartherzigkeit nur einem
Panzer gleichen, um nicht den Regungen der milden Grüte aus-
geliefert zu sein, wie ja auch bisweilen unverschämte Lüge nur
innere Scham und Keuschheit deckt. Und sie bilden dann die
tiefste Schicht, das andere erscheint übergelagert. Aber um die
artistischen Eigenschaften steht es doch anders: künstlerische
Weisheit ist keine Maske, die sich allgemeine Dummheit vorhält.
Künstlerischer, unverdrossener Fleiß ist kein Mäntelchen, das Faul-
heit um sich drapiert. Ebenso wenig muß aber künstlerische Un-
vornehmheit Zeichen dafür sein, daß der Betreffende sonst niedrig
und gemein ist. Gewiß kann man künstlerische Qualitäten simu-
lieren; der Kenner wird auf die Dauer selten getäuscht, mag
Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 485
auch dem Schwindel der Tag Beifall klatschen. Im Schützengraben
hört die Mnt- Simulation gewöhnlich bald auf; bei vielen schon
bei der Musterung. Jedenfalls wird sie gemeinhin leicht durch-
schaut. Auch das Kunstschaffen ist so ein Ernstfall, bei dem das
Unechte seinen fehlenden Gehalt schwer zu verbergen vermag.
Ein Wort wird zum Verräter; eine falsche Geste; eine zu kurze
oder zu lange Pause. All das Gesagte gilt nun wieder nicht allein
von der Kunst des Mimen, sondern von jeglicher Kunst. Es ist
ein vom einzelnen Kunstzweig ganz unabhängiger Typus : gekenn-
zeichnet durch seine Stellung zur „Bolle", zum Gegenstand.
Uns zeigte sich noch ein zweiter Typus : jener, wo der Simu-
lant echte Ich-Seiten in der Rolle durchlebt, wo sie Mittel — unter
Umständen unersetzliches und unersetzbares Mittel — wird, um
jenen Ich-Seiten die ihnen angemessene Auswirkung zu schaffen.
Vergessen wir nicht — denn es erscheint mir sehr wichtig — daß
auch in den eben erörterten Fällen echte Ich-Seiten sich betätigten :
aber „an" der Rolle, nicht „in" der Rolle. Ich brauche wohl nicht
eingehend gegen den Vorwurf mich zu verteidigen, daß ich über-
scharf trenne, wo die Wirklichkeit zart in unzähligen Schattie-
rungen verbindet. Die polaren Unterschiede sind' unverwischbar;
und auch für die Übergänge schulen wir den Blick, wenn wir die
ganzen Skalen gleichsam durchspielen. Gewiß ist die Rolle der
Gräfin dem Stubenmädchen eine Fiktion, aber ihr ganzes Bedürfnis
nach Vornehmheit, Eleganz, Weltgeltung usw. vermag sie in diese
Rolle hineinzulegen; sie spielt diese Rolle und spielt doch gleich-
sam sich selbst, oder wenigstens eine Richtung ihrer selbst. Die
Rolle ist ihr auf den „Leib" geschrieben; „aus ihrer Seele" heraus,
wie man wohl zu sagen pflegt. Von dem so gearteten Schau-
pieler sprechen wir jetzt: eine innere Verwandtschaft erhellt ihm
intuitiv die Rolle; von innen her wird sie ergriffen; aus seiner
Persönlichkeit wächst sie dann hervor. Ohne Studium geht das
nicht reibungslos ; das Studium dient nur dazu, die ganzen inneren
Spannungen in die Formung der Rolle aufzulösen und damit zu
befreien. Es ist nun kein feilendes Arbeiten an der Rolle, sondern
wieder in der Rolle, auf daß jener Zusammenklang voll harmonisch
sich entfalte. Der Mime würde ersticken oder verbrennen, wäre
es ihm versagt, seine verschiedenen Ich-Seiten auszuströmen in
seine Rollen. Denn sie allein ermöglichen jenes Ausströmen. Und
Kantstudien XXYU. 32
486 Emil Utitz,
der Schauspieler braucht eben bestimmte Rollen, sei es nur solche
einer gewissen Art, sei es bunt verschiedene. Immer wird er sie
dieser seiner Bestimmung gemäß anlegen. Denn er verschwindet
nicht in ihnen, gerade weil er und kein anderer sich in ihnen aus-
wirkt. Ein anderer täte das nicht in genau gleicher Weise, weil
er eben eine andere menschliche und künstlerische Persönlichkeit
ist; daher auch das Ungenügende bloßer Kopie. Hier sei nur
kurz an bereits Ausgeführtes erinnert: das Ausleben in der Rolle
ist zugleich künstlerisches Formen ; und dieses Formen ist zugleich
jenes Ausleben. Eine Zweiheit — Rolle und Rollenträger — finden
wir auch da ; aber sie stellt sich doch wesentlich anders dar. Denn
an der Rolle wird von außen gar nichts gemacht; das erschiene
in diesem Zusammenhange bloß aufgesetzt, aufgeleimt. Einheitlich
ist sie von einem ursprünglichen Erleben durchtränkt, das sie bis
ins letzte Detail hinein durchglüht. Doch dieses wird Offenbarung
jener Innerlichkeit. Wäre es dies nicht, bliebe es Fremdkörper;
tote Stelle, die unbewältigt verharrte. Wobei hier ununtersucht
bleiben mag, ob im Einzelfalle Dichter oder Schauspieler die Schuld
tragen. Was ist nun aber jene Innerlichkeit, dieses ursprüngliche
Erlebnis, das durch Intuition — wenigstens meistens — die Aus-
drucksqualität der Rolle bestimmt? Sagen wir: das Verlangen
nach keuscher, spröder Liebe. Aber der Schauspieler kann im
Alltag brutal und zynisch sein. Oder: die heroische Leidenschaft
opferbereiten Mutes. Aber der Mime kann wieder ein erbärmlicher
Angsthase sein. Zweifellos haben wir nicht das Recht, dem Hel-
dentenor etwa alle jene Eigenschaften anzudichten, die er auf der
Bühne verkörpert. Jene Sehnsüchte müssen jedoch in ihm schlum-
mern; sie werden durch die Rolle geschürt und entfacht und ver-
brennen in ihr. Wir denken dabei an keine wilde Feuersbrunst,
vielmehr an eine reine Flamme. Denn die Rolle, die sie nährt,
bändigt sie zugleich ; vorausgesetzt, daß es um echte Künstlerschaft
sich handelt. Es sind doch Wesensseiten, die im gewöhnlichen
Leben keinen Abfluß finden, oder bloß verzerrten und perver-
tierten; und die in der Kunst ihre volle Ausstrahlung gewinnen.
Das macht zugleich die Stellung vieler Mimen zum Leben so ko-
misch oder tragikomisch. Sie nehmen das Leben immer wieder
als „Rolle", aber die richtigen Stich worte bleiben aus. Dadurch
werden die Rollen falsch. Sie spielen etwa — vielleicht sogar —
„echtes" Mitleid, statt einfach zu helfen. Denn ihr Charakter lebt
sich in jenem Spiel aus ; die Tat ist ihm weniger wichtig, sie kann
Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 487
schließlich auch fortfallen. Auf dem künstlerischen Durchfühlen
und Durchgestalten rnht der Nachdruck. Darum muß auch Hel-
dentum einer Rolle nicht zum „wirklichen" Heldentum anfeuern;
es wird in der Rolle erledigt, verspritzt da sein Feuer. Nachher
kommt vielleicht der aufgeschlagene Rockkragen, der vor Erkäl-
tung schützt, der warme Grog und die Sorge um das Honorar.
Sicherlich kann herbe Keuschheit im Leben auch im „Spiele" sich
zeigen; aber der Fall braucht nicht so einfach zu liegen. Ja,
manchmal stimmt er sogar bedenklich. "Wer nur sich selbst gibt,
und dessen Selbst wenige Seiten hat, dessen Rollenfach wird meist
sehr beschränkt sein, vielleicht eingeengt auf eine einzige Rolle.
Die anderen geraten matt und blaß und werden nur artistisch
bezwungen. Tieferes klingt bloß an, wenn jene eine Seite berührt
wird. Wieder andere haben gegen aufquellende Schamhaftigkeit
anzukämpfen, wenn eine Rolle zu stark in G-eheimbezirke ihres
Ich eingreift. Sie fühlen sich ungehemmter und freier, soweit
zwar Ich-Seiten angeschlagen werden, aber diese letzte Selbstent-
hüllung nicht in Frage kommt.
In der Skizzierung weiterer Typen will ich hier nicht fort-
fahren : sie differenzieren sich wieder durch die Stellung zur Rolle,
nach ihrem Echtheitsgrade, nach ihrer Fiktionsstufe. Zweifellos:
sie alle tun so, „als ob" sie Könige oder Verbrecher wären, ver-
zweifelnde Liebende oder leidenschaftliche Hasser. Diese Fiktion
bleibt gewahrt ; sie verschwindet nicht. Aber der königliche Edel-
mut, seine Herrschsucht, sein Machthunger, dann wieder die jeg-
liche umfriedete Gesellschaft befehdende Rachsucht, die Verderben
säet, das Aufrauschen seelischer Gluten; sie sind nicht bloß von
der Rolle vorgeschrieben, sondern drängen auch aus dem Rollen-
träger hervor, und sie verschmelzen ineinander: die Rolle gleicht
sich ihrem Träger an, und wieder umgekehrt. Nicht nur äußeren
Geboten — die Verstand, Erfahrung und Energie diktieren —
folgt der Schauspieler, sondern inneren Antrieben, weil Möglich-
keiten seines Seins sich hier erfüllen. Weitere Fragen knüpfen
an: welchen Schichten entstammen diese Seinsmöglichkeiten? wer-
den sie nur Wirklichkeit in der Kunst, oder decken sie sich mit
dem Verhalten im Leben? Und wo verankert sich die tiefste
Schicht ? Gibt es doch Mimen, für die allein die Kunst den echten
Ernstfall bedeutetf das „Leben" nur etwas Wirres, Dumpfes, eigent-
lich Gewichtsloses. Sie sind ganz Berufsmenschen, und was außer-
halb des Berufes liegt, erscheint als das nicht Wahre. Ihr tiefstes
32*
488 Emil TJtitz,
Wesen : das ist die Rolle und die Art, wie sie die Rolle meistern.
Alles andere zählt wenig mit. Problematisch bleibt, ob nicht
künstlerische Erfüllung unter dieser menschlichen Aushöhlung lei-
det, ob nicht alle Gefühle, Leidenschaften, Affekte nur artistischen
Oberflächencharakter empfangen, ob nicht darum Unechtes, Fik-
tives — weil nicht genügend seelisch Unterbautes — einschleichen.
Die Erscheinung des Literaten ist bekannt, aber ebenso die des
verknöcherten Beamten, denen schließlich das schlicht-Menschliche
immer ferner rückt. So entsteht beamtenhafte Artistik. Doch
müssen wir es uns wieder versagen, diesen Problemen nachzugehen.
Wir fassen vielmehr einen anderen Typus ins Auge, der ganz
gegenteilige Eigenschaften zeigt, und damit trennen wir uns nun
völlig von der Simulation, die bisher die Vergleichsflächen bot. Der
Mime bringt jetzt seine ,, wirkliche" Persönlichkeit mit in die Rolle;
und diese ist bloß ein Mittel, daß diese Persönlichkeit zur Geltung
kommt: einerseits für das Publikum und andererseits für den
Künstler selbst, der sich so auslebt, wie ein anderer im beflügelnden
Gespräch oder im geschäftlichen Tatendrang. Auf niedrigster Stufe
handelt es sich allein um körperliche Vorzüge: die schönen Beine
einer Tänzerin, um ihren gelenkig-sehnigen Körper, weiter aber
um die Anmut ihrer Bewegungen usw. Diese Realwerte werden
zur Schau gestellt und in einer ihnen angemessenen Weise. Schon
die Kostümierung verfolgt diesen Zweck. Es liegt mir fern, ihn
irgendwie herabzusetzen. Die Bewunderung schönen Menschentums
ist gewiß nicht unberechtigt ; von sehr naheliegenden Entgleisungen
dürfen wir hier absehen. Aber dieses schöne Menschentum kann
auch in einer inneren Fröhlichkeit bestehen, die alles mitreißt.
Und sie tollt sich nun auf der Bühne aus. Der Zuschauer atmet
beglückt. Ein andermal ist es die herbe Männlichkeit, die einfach
packt. In diesen Fällen ist die Rolle — in sich Fiktion — will-
kommene Gelegenheit, jene Menschlichkeit kennen zu lernen; diese
strömt ihre Fülle durch die Rolle aus, keineswegs immer in die
Rolle. Ein „Zu-viela an Kunst würde hier nur verschleiern, über-
decken, Schwerpunkt verschieben. Die Kunst ist da gleichsam
heimlich am Werk ; sie fehlt sicherlich nicht. Der schönste Körper
— im obigen Beispiel — bliebe steif, ungelenk; fehlte ihm das
Könnerische des Tanzes. Dieses ganze Können frommt dabei letzt-
lich dem Ziele, gerade jene Schönheit ihrer höchsten Entfaltung
entgegenzuführen. Hier — wo am meisten Naturgegebenes ist —
tritt das Fiktive der Rolle ebenso scharf hervor wie bei jenem
Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 489
Typus, der die Rolle von außen formt behufs stärkster Effekt-
ausnutzung. Die äußersten Gegensätze treffen aufeinander an
diesem kritischen Punkte. Ist die Persönlichkeit nur ein wenig
unbedeutend oder unsympathisch, wird ihre Verherrlichung durch
die Rolle unangenehm, oft widerlich. Sie hat kein Recht dazu,
sich selbst auszutrumpfen. Der Widerstand versteift sich, mischt
gar Eitelkeit sich ein. Und — zum zweiten — versagt nur ein
wenig die Technik, wird jene Instrumentation der Rolle schwülstig,
peinlich, uninteressant. Weil eben in diesen Fällen die Rolle selbst
wenig bedeutet, entscheiden die anderen Faktoren. Hier muß am
ehesten ein Fiktionalismus anknüpfen. Wie gründlich er auf künst-
lerischem Felde mißverstanden wurde, beweist deutlich die Tat-
sache, daß all diese Fragen ihm mehr oder minder fremd blieben.
Was aber nicht Schuld Vaihingers ist sondern derer, die seine
Formeln auf kunstphilosophisches oder aesthetisches Gebiet an-
wandten, ohne genügende Analyse der überaus komplizierten Ver-
hältnisse.
Wir versuchten diese Problemverwicklungen an der Hand
eines Beispiels zu beleuchten, ohne der Fülle der möglichen Aspekte
gerecht werden zu wollen. Eine Übertragung unserer Ergebnisse
auf die Gesamtheit der Kunst begegnet keinen Schwierigkeiten.
Selbstverständlich dürfte man nicht einfach überpflanzen, sondern
bei Wahrung des Prinzipiellen der Eigengesetzlichkeit der ver-
schiedenen Bedingungen zu genügen trachten. Hiermit erschlössen
sich zugleich wohl wichtige Einsichten in das Strukturgefüge der
einzelnen Künste. Nur auf einige Andeutungen muß ich mich hier
beschränken.
Die gemalte Landschaft ist gewiß eine Fiktion: die Häuser,
Bäume, das Meer, die untergehende Sonne, der Wind, der über
die Felder streicht. Real sind: Rahmen, Leinwand, Farbmaterial,
Der Rahmen rundet nicht nur das Bild, sondern sein mattes
Leuchten hat Eigenwert; ebenso der körnig-feste Malgrund oder
die sinnliche Leuchtkraft des Kolorits. Stärker tritt dieses Natur-
gegebene — im Gegensatz zum Fiktiven — hervor etwa im Holz-
schnitt, bei kostbarem Pergament, auf das Silberstift zarte Linien
zieht, im Kunstgewerbe, das mit Gold, Silber und Edelsteinen ar-
beitet. Diese Materialien werden ihrer höchsten Steigerung ent-
gegengeführt, der stärksten Entfaltung ihrer Wirkungsmöglich-
490 Emil Utitx,
keiten. Wie auch in der Dichtung Worte und Wortfolgen klang-
lichen und rhythmischen Eigenwert gewinnen. Entscheidendes
Gewicht fällt auf jene Qualitäten nur bei einem bestimmten Kunst-
typus; aber gleichgültig werden sie nie. Marmor, Bronze, Holz
usw. sind eben Persönlichkeiten, die einmal mehr, das anderemal
weniger zur Geltung gelangen , doch stets abfärben. Auch der
Schauspieler verschwindet niemals in seiner Rolle, denn damit
verschwände ja seine Kunst. Diese Analogie liegt also offen zu-
tage, aber auch die anderen sind unschwer zu entdecken. Für den
Maler kann die Landschaft oder ein Akt nur erwünschte Gelegen-
heit schaffen, seine technischen, perspektivischen, kompositioneilen
Kräfte zu erproben und vorzuführen; ebenso für den Dichter ein
Stoff, an dem er sich in solcher Weise betätigt. Auch hier — wo
die Gefahr hohlen und spielerischen Artistentums in unmittelbare
Nähe gerückt ist — darf man nicht ohne weiteres absprechen:
sehr hohes, edles Können vermag sich zu offenbaren, zäher Eifer,
leidenschaftlicher Arbeitsdrang, manchmal sogar eine fast heilige
Liebe zur künstlerischen Sache. Es werden meist jene Motive
gewählt, die in diesem Sinne dankbar sind; oft in sich völlig un-
scheinbar und uninteressant, weil der Anreiz stärker ist, etwas
aus ihnen zu „machen". Man will auch nicht, daß die Motive an
sich wirken, nein die Wirkung soll ganz allein der künstlerischen
Arbeit entstammen. Nur ihr gebührt der Dank. Nun aber ge-
denken wir kurz der Fälle, wo das Motiv — die „Rolle", um den
Vergleich fortzuspinnen — den Künstler packt, erfüllt. Dieses
sein Erleben schmilzt in den Stoff ein. Das einfachste Beispiel
liefert die Stimmungslandschaft oder ein ausdrucksbeladener Kopf.
Auch hier bleibt die Fiktion ; sie wird nicht aufgehoben, aber ver-
geistigt oder beseelt. Sie wird Träger dieser Werte; sie sind in
ihr beschlossen und sprechen, klingen, tönen aus ihr. Alles tech-
nische Mühen dient nun diesem Ziele. Und ähnlich wie im Falle
des Schauspielers verlegen wir jene Erlebenswerte nicht nur in
das Bild, sondern lassen sie aus dem Erleben des Künstlers ent-
springen. Wir „wiederholen" gleichsam — wie manche meinen —
sein Erleben, wenn wir das Kunstwerk genießen. Diese Wieder-
holungstheorie ist fraglos falsch; denn wir erleben doch nicht die.
Studien des Künstlers nach, seine Qualen und Beglückungen, seine
Unruhe und seine Entspannungen. Auch die ursprüngliche Intui-
tion ist uns nicht unmittelbar gegeben, sondern bloß die ins Werk
Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 491
ausgereifte und in ihm objektivierte. Nur auf Pfaden nicht immer
sicherer Rekonstruktion dringen wir zu jenem Kern vor.
Von diesem Auswirken „in" der Rolle — der Melancholie des
Herbstabends, der Heiterkeit des Frühlings, die peripher bleiben,
treffen sie nicht auf Ich-Seiten, durch deren künstlerische Entfal-
tung das Bild hervorwächst, sei es in mehr objektiver oder sub-
jektiver Akzentuierung — scheiden wir wieder das Auswirken
„durch" die Rolle. In der gemalten Landschaft rast der Maler
„seine" Leidenschaft aus; die Felder sind wie gepeitscht; Bäume
züngeln wie Flammen; jeder Pinselstrich ist wie Aufruhr, Auf-
schrei. Dieser Sturm, der da hinfegt, ist ein Sturm des „Herzens",
seelische Erschütterung, die sich nur kraft dieses Mediums mani-
festiert. In einem anderen Falle ist es etwa die ruhige, abgeklärte
Weisheit, welche die ganze Erzählung durchfließt und ihr Bedeu-
tungsschwere verleiht. In einem dritten ist es das erschütternde
Ringen um Wahrheit, das sittliche Pathos, die religiöse Glut,
welche die Formung des Stoffes durchleuchten. Der „Stoff" allein
wiegt leicht ; er ist ja auch nur die Fiktion, die jene Offenbarungen
ermöglicht. Sonst werden sie nicht „ offen" -bart, und die Gesetz-
lichkeit der Gestaltung erstickt in einem brodelnden Chaos.
So haben wir auch hier jene drei Grundstellungen zur Rolle,
zum Stoff, die sich mannigfach differenzieren und verschlingen:
das Formen „an" der Rolle, „in" und „durch" die Rolle. Davon
hängt es ab, wie weit die Rolle fertig übernommen, wie weit sie
erst erzeugt wird. All diesen Verschiedenheiten entspricht der
Fiktionsgrad der Rolle, ihr Sinn. Achteten wir bisher in erster
Linie auf den Künstler, ist doch ohne längere Erwägung klar
— schlechthin evident — daß diese Unterschiede die objektive
Gegenständlichkeit des Kunstwerks wesentlich bestimmen. Täten
sie dies nicht, hätten wir sie schwerlich auffinden können. Zum
Künstler gelangen wir immer vom Kunstwerk geführt. Seine Ge-
staltung gibt erst sichere Leitung. Ihre genaue Analyse liefert
demnach einen weiteren Beitrag zum Fiktionalismus in der Kunst.
Diese Umorientierung unserer Betrachtung wollen wir aber an
dieser Stelle nicht vornehmen, denn sie liegt grundsätzlich klar.
Auch ein Vergleich mit den „Weltanschauungen der Malerei", wie
sie Hermann Nohl entwickelt, würde uns zu weit abführen, wenn
auch sehr interessante Parallelen enthüllen.
492 Emil Utitz,
Wir kehren zu unserem „Beispiel" zurück, um uns an ihm
noch ein Problem einsichtig zu machen, das rückwirkend die an-
deren belichtet. Wie ist es, wenn ein Schauspieler die Rolle eines
ganz abgefeimten, niedrigen Schurken zu mimen hat? Betätigt
er sich bloß „an" der Rolle, ergeben sich keine Schwierigkeiten.
Sie kann artistische Möglichkeiten erschließen. Kurz, ein Sonder-
fall scheint nicht gegeben. Der Mime wahrt die gleiche Fernstel-
lung, aus der er auch sonst heraus schafft ; und das Was der Fik-
tion entscheidet nicht, nur das Wie ihrer artistischen Ausnutzung.
Widersteht dem Schauspieler innerlich die Rolle, wird er — viel-
leicht an sich anderem Typus zugehörig — sei es triebartig, sei
es verstandesmäßig hier diesen Weg einschlagen und nun mit Rou-
tine, Technik, Wirkungsberechnung usw. arbeiten. Die klare Zwei-
heit ist da; der Schauspieler und die Rolle. Die abstoßenden
Eigenschaften der Rolle wird man nichts in den Schauspieler pro-
jizieren, man müßte denn schon sehr naiv sein. Aber nun findet
vielleicht auch diese Rolle inneres Entgegenkommen ; eine Wesens-
seite des Schauspielers wirkt sich auch hier aus; er lebt also in
der Rolle. Gewiß, er muß nicht im gewöhnlichen Leben diese
Eigenschaften „wirklich" haben, aber jene Wesensseite ist da,
knetet und formt die Rolle, durchglüht und beseelt sie. Da fühlen
wir uns leicht abgestoßen, da werden wir empfindlich: es ist „zu
echt". Wie wir es auch auf einem Maskenfeste ablehnen, wenn
jemand eine „niedrige" Maske „zu echt" darstellt. Daß er dies
so echt kann, berührt uns peinlich. Er verrät sich unwillkürlich.
Daß er sogar diese Wesensseite hat, das verzeihen wir ihm nicht.
In rasender Sinnlichkeit, dämonischer Rachsucht, verzehrendem
Machthunger erleben wir kräftige Vitalität ; aber gegen schmutzige
Lüsternheit und hartherzigen Greiz lehnen wir uns auf. Hier
scheint das Menschliche geschwächt, verdunkelt, fast erloschen.
Sicherlich sind wir abhängig von Kulturhöhe, gesellschaftlichem
Milieu und individueller Sittlichkeit. Es ist ja auch bekannt, daß
Komik — welche die einen zum schallenden Gelächter reizt —
andere anwidert. Was die einen komisch finden, erscheint anderen
traurig, und es befremdet sie, daß man darüber scherzen kann.
Aber: aus heitersten Melodien schluchzt zuweilen geheime Melan-
cholie ; aus stolzestem Antlitz sprechen Züge verhaltenen Leidens ;
in wildester Grausamkeit weint manchmal Schmerz um vergeudete
Güte. Hier bahnen sich dem Mimen neue Pfade : er darf die Rolle
nicht entfärben, den Bösewicht nicht abmildern und seine Schärfen
Zur „Als-Ob-Theorie" in der Kunstphilosophie. 493
nicht glätten; aber der innere Zusammenklang erfolgt nicht an
den Stellen, wo nur das Negative in Frage steht, sondern wo das
Positive schlummert. Von diesem her wird die Gestalt erhellt
und durchleuchtet; der Schauspieler lebt dann in der Rolle; aber
diese Ich-Seiten wird man ihm wahrlich nicht als persönliches Ver-
schulden buchen, sondern als persönliches Verdienst. Natürlich,
soweit sie nicht den Eindruck gespreizter Eitelkeit erwecken oder
den absichtlicher Mache. Zugleich kann sich aber damit das
Spielen „in" der Rolle verschieben zum Spielen „durch" die Rolle.
Seine Menschlichkeit interpretiert gleichsam die Rolle. Der „schöne,
wertvolle" Mensch spielt den „häßlichen, wertlosen" ; und Schimmer
seiner Schönheit und seines Wertes breitet er noch über die Um-
nachtung des anderen. Im Organismus des Dramas kann das ein
Fehler sein; aber von diesen höchst verwickelten Problemen der
Regie, der Inszenierung sei nicht die Rede. Das Niedrige, Ge-
meine, Häßliche an sich hat niemals seine Heimatstätte in der
Kunst; es ist immer bloß Dissonanz, die sich irgendwie löst in
Wohllaut. Nur daß eben im Theater jene Auflösung durch die
Gegenspieler oder das ganze Stück kommen kann. Da erwachsen
die schwierigsten Aufgaben.
Sehr klar — bisweilen mit erschreckender Deutlichkeit —
begegnen wir jenen Erscheinungen, wo „in" der Rolle oder „durch"
die Rolle minderwertige Seiten sich offenbaren. Sie verlangt etwa
„gute Kinderstube", das zwanglos -sichere Benehmen eines Mannes
der großen Welt; und sie wird herabgedrückt auf die Stufe klein-
bürgerlichen Spießertums mit schlechten, steifen Manieren. Oder
sie erfordert triebhafte Leidenschaft, und diese verkehrt sich in
geile Frivolität. Was dort Sturm der Natur sein soll, wird hier
unappetitliche Verworfenheit. Naivität wandelt sich in schamlose
Koketterie. Das sind Gefahren, die nicht nur den Mimen bedrohen,
sondern ebenso den Dichter. Er kann dumme Gestalten darstellen,
aber er darf nicht dumm darstellen. Er kann ordinäre Personen
vorführen, aber er darf nicht ordinär sie vorführen. Wo er dem
Abwegigen sich zuwendet, entzündet sich das unerbittliche Streben
nach Wahrheit, souveräne Lebensweisheit, nachfühlende Liebe zu
allem Menschlichen, selbst wo es in Fratzen uns entgegengrinst,
erlösende Komik oder erschütternde Tragik. So zeigt sich gerade
auch hier die Bedeutung des Fiktiven „als Mittel zur Erreichung
höherer Zwecke", wie Vaihingen sagt. Doch sie selbst sind keine
Fiktionen mehr.
494 Emil Utitz,
Das Publikum, an das sich all die so verschieden gearteten
Kunstwerke wenden, ist eigentlich nicht jenes, das applaudiert
oder zischt — das ist bloß psychologisches Ereignis — sondern
der „ideale Betrachter", von dem ein „ideales Kunst verhalten"
erwartet wird. Dabei handelt es sich gewiß um „Fiktionen",
nicht nur weil Kunsterziehung niemals jenes Ziel zu erreichen
vermag, vielmehr stets mit Annäherungen sich begnügen muß,
und daher hier Seiendes und Sein-sollendes immer auseinanderfallen
werden. Nein, der ideale Kunstgenuß (vgl. wieder den ersten Band
meiner „Grundlegung der allgemeinen Kunstwissenschaft" und den
Vortrag auf der Hallenser Kant-Tagung 1922) ist eine „heuristi-
sche Abstraktion", keineswegs realer Kunstgenuß. "Wie jede Rolle
von jedem bedeutenden Schauspieler anders gefaßt wird, dank
seiner menschlichen und artistischen Persönlichkeit, dank kultu-
reller und nationaler Besonderheiten, und sie zwar immer dasselbe
Thema abgibt, das aber in ständig erneuter Variation erklingt;
so verschiebt sich auch die Wirkung des Kunstwerkes — ja dieses
selbst — je nach dem Menschen, der jene in sich erfüllt. Sein
Charakter, sein Milieu, seine kulturelle und nationale Zugehörig-
keit, seine sittliche und künstlerische Reife sind da mitbestim-
mend. Dieses innere Verhältnis zwischen Kunstwerk und Kunst-
genießer — vergleichbar dem zwischen Schauspieler und Rolle —
schafft erst lebendige Wechselbeziehung, macht hellsichtig für be-
stimmte Qualitäten des Kunstwerkes, während anderen gegenüber
Blindheit herrscht. Wissenschaftliche Forschung mag und muß
diese subjektiven „Fehlerquellen" abbauen und wegräumen; ihre
Aufgabe ist es, sie zu „erklären" aus persönlichen oder irgendwie
typischen Faktoren. Aber die nackten Formeln, die sie übrig
läßt, sind nur ein Gerippe, gewiß nicht lebendiger Kunstbetrieb
und wirklicher Kunstgenuß. Doch ist es durchaus berechtigt, „an-
gemessenes" und „nicht angemessenes" Kunstverhalten zu scheiden.
Letzteres geht an der Formung des Kunstwerkes und den in ihr
beschlossenen, durch sie erzeugten Werten achtlos vorüber; es
genießt entweder rein subjektive Reaktionen (z.B. liebe Erinne-
rungen an gefühlsumrauschte Landschaften und Situationen) oder
das Fiktiv-Stoffliche als Real-Geltendes ; oder es stiftet dem Kunst-
werk gegenüber irrige Zusammenhänge. Der angemessene Kunst-
genuß quillt aber aus inneren: Zusaramenprall mit dem Kunstwerk ;
seine gestalteten Werte werdend riebt — nicht nur gedacht, ge-
meint, verstanden — weil verwandte Aufgeschlossenheit sie em-
Zur „Als-Ob- Theorie" in der Kunstphilosophie. 495
pfängt. Damit werden sie aber in einer besonderen Weise erlebt ;
und diese Besonderheit abstreifen zu wollen, hieße das volle Er-
leben entfärben oder gar zerstören. Das ist — man mag dies
bewundern oder beklagen — unerläßliche Aufgabe der Wissen-
schaft ; denn sie kann mit dem bloßen Erleben sich nicht begnügen.
Umso deutlicher wird der Fiktionscharakter des idealen Kunst-
genusses: seine reale Unmöglichkeit, die nicht letzte Zielsetzung
bedeutet. Ihn umweht Nüchternheit, Kälte, Sachlichkeit der Wis-
senschaft. Wer diesem Typus in seinem Kunstverhalten sich nä-
hert, dessen Kunstverhalten ist kein voll dahinströmender, aus
tiefen Ichquellen rauschender und in sich wieder zurückströmender
Kunstgenuß. Hier erglänzt keine Seligkeit und hier wuchtet nicht
letzte Erschütterung.
So glaube ich, daß wir nach verschiedenen Richtungen hin
Bedeutung und Geltung der Fiktionen innerhalb der Kunst und
Kunstphilosophie verfolgen konnten, und daß der heuristische Wert
solcher Betrachtungsweise wahrlich nicht gering ist. Ihre Vor-
züge werden sich erst erweisen, wenn sie nicht in dürrer Pro-
grammatik verharrt; sie lädt im Gregenteil dazu ein, in feinsten
Differenzierungen die fraglichen Sachverhalte zu schattieren. Doch
handelt es sich dabei nicht um Detail, sondern um Grundprobleme
von entscheidendem Gewicht. Die Kunstphilosophie hat es bisher
verabsäumt, Vaihingers Anregungen aufzugreifen und zu verwerten.
Die wenigen Versuche, die unternommen wurden, sind mißglückt
und haben der Theorie mehr geschadet als genützt. Ihren posi-
tiven Kern herauszustellen — wenn auch nur andeutungsweise —
waren Zweck und Ziel dieses Aufsatzes.
Realismus und Positivismus.
Von Ernst v. Aster, Gießen.
Die Erkenntnistheorie, die sich in enger Berührung mit der
mathematischen Physik auf der einen Seite, unter Rückgang auf
Kantische Ideen auf der anderen Seite in den 90 Jahren des ver-
gangenen Jahrhunderts etwa entwickelte, war vorwiegend positi-
vistisch und idealistisch. Heute sind wir offenbar in einer nicht
unbedeutenden entgegengesetzten, realistischen Strömung, der auch
eine Reihe von bedeutenden Physikern nahe steht (Planck u. a.),
obgleich die an Mach und Kirchhoff sich knüpfende phänomena-
listische Tradition in der Physik keineswegs erloschen ist. In der
philosophischen Literatur hat diese realistische Erkenntnistheorie
ihre hervorragendsten Vertreter in Volkelt und Külpe gefunden,
zugleich spinnen sich Fäden zwischen ihr und der Phänomenologen-
schule. Letzteres aus naheliegenden Gründen, obgleich Husserl
selbst in der bekannten Abhandlung im 1. Band des phänomeno-
gischen Jahrbuchs sich bezüglich der Körperwelt auf Grund einer
scharfsinnigen Analyse auf einen idealistischen Standpunkt stellt
(der Körper ist wesensgesetzlich auf ein ihn in abschattenden
"Wahrnehmungen erfassendes Bewußtsein bezogen): Wenn der Re-
alismus möglich sein soll, so muß er voraussetzen, daß es nicht
nur „Bewußtseinsinhalte" gibt, sondern auch Gegenstände
für ein Bewußtsein; oder daß Bewußtsein, Wissen, nicht ein ab-
straktes Merkmal von Inhalten, von Lockeschen Ideen, sondern
ein intentionales Bezogensein auf Gegenstände ist, welche
Gegenstände danach prinzipiell auch ohne diese Beziehung zu einer
solchen Intention als seiend gedacht werden können, während eine
„Idee" Lockes oder Berkeleys nicht ohne das Merkmal des bewußt
(== Idee)seins denkbar ist. Daß Bewußtsein ein intentionaler Akt
ist, ist ja aber die Grundbehauptung der Phänomenologie.
Die Absicht der folgenden Ausführungen nun ist es, die Haupt-
argumente, in denen die Widerlegung des Phänomenalismus durch
Ernst v Aster, Realismus und Positivismus. 497
Volkelt und Külpe zu gipfeln scheint, hervorzuheben und die Frage
zn erörtern, ob sie als Widerlegung einer positivistischen Erkennt-
nistheorie wirklich zwingend sind. Die These der positivistischen
Erkenntnistheorie fasse ich kurz in den Satz zusammen: Jeder
Versuch, uns endgiltig und letztlich die Gegenstände, von denen
wir überhaupt handeln, die wir denken können, inhaltlich oder
sachlich vorzustellen, also sie nicht nur in leeren Worten zu be-
zeichnen, endet in der Vorstellung von Inhalten, die wir nur als
Inhalte eines individuellen Bewußtseinslebens vorzustellen vermögen.
Alle Worte, die nicht solche 'Inhalte bezeichnen, sind bei genauerer
Betrachtung „leer", d. h. ihre Beziehung auf Gegenstände, die sie
bezeichnen oder benennen sollen, ist fiktiv. Ich füge jedoch aus-
drücklich hinzu, dass der genaue Sinn dieser These sich erst in
der folgenden Begründung derselben ergeben muß.
In drei Hauptargumenten scheint sich mir die Kritik Volkelts
und Külpes zusammenzufassen. Das erste betrifft den Begriff des
Gegebenen, den der Positivismus vorauszusetzen genötigt ist.
Das, was der Positivist als „gegeben" und damit als im eigent-
lichen Sinn existierend annehme und annehmen müsse, sei selbst
schon das Resultat einer gedanklichen Verarbeitung und keineswegs
die unmittelbare Bewußtseinswirklichkeit, es sei selbst ein Reales,
realiter existierende Ideen, die da sind auch ohne daß sie gedacht
werden. „Die einzige unbestreitbare Grundlage aller empirischen
Wissenschaften ist die Bewußtseinswirklichkeit nur insofern, als
sie das Material darstellt, vor dem alle empirische Forschung
ausgeht. Für sich allein aber kann sie keine Wissenschaft zustande
bringen. Erkenntnis, wie sie schon in den einfachsten Urteilen
einer Erfahrungswissenschaft niedergelegt ist, läßt sich nicht rest-
los und adäquat auf Bestandteile jener Wirklichkeit zurückführen,
sondern hängt nur irgendwie von ihr ab. Die Methoden der For-
schung zeigen gleichfalls in ihrer ungeheuren Mannigfaltigkeit, daß
sehr verschiedene Operationen eingeschlagen werden, um das Ge-
gebene zu einem Besitz der Wissenschaft zu machen. Alle diese
Operationen gehören somit auch zu den Grundlagen der empirischen
Wissenschaften. Ohne Beobachtung, ohne Schlüsse, ohne Abstraktion
und Kombination, ohne Analyse und Kritik sind die Bewußtseins-
tatsachen für die Realwissenschaften unverwendbar. Diese Ope-
rationen führen alsbald zu Gegenständen."
Nebenbei bemerkt : Külpe berührt sich in diesem Gedankengang
mit dem Neukantianismus Marburger Richtung. Auch er anerkennt
498 Ernst v. Aster,
ja kein Gegebenes im Sinn des Positivismus, sondern nimmt dies
„Gregebene" selbst als Produkt eines objektivierenden Erkenntnis-
prozesses, an dessen Anfang kein für sich faßbares Gegebenes,
sondern ein hypothetisches „Aufgegebenes" steht und der in gerad-
liniger Fortsetzung gleichsam vom „gegebenen" „Dies" zum beharr-
lichen Ding und weiter zum gültigen Naturgesetz führt. Der obigen
Kritik Külpes würde sich also auch der Neukantianismus anschließen,
nur daß für ihn „gegebener" Wahrnehmungsinhalt und „reales"
Ding nur als Produkte jenes Objektivationsprozesses gedacht
werden können (das Denken ein Schaffen von Gegenständen ist),
während für Külpe der Realisierungsprozeß ein Reflexionsprozeß
ist, der aus der unmittelbaren Erfahrung fixierbare Inhalte heraus-
schält, die dann aber als „real" auch unabhängig vom Realisierungs-
prozeß selbst gedacht werden.
Mit dieser Kritik des Gegebenheitsbegriffes hängt
ein zweites Argument eng zusammen, das ich als Kritik des
Immanenzgedankens bezeichne. Ist alle Existenz eine Existenz
unmittelbar gegebener Inhalte im Bewußtsein und alles Hinaus-
gehen des Denkens und Erkennens über diese Inhalte unmöglich,
so ist der Solipsismus, ja noch mehr: der Illusionismus in Bezug
auf die eigne Erinnerung und Erwartung die notwendige Konse-
quenz. Fremdes Bewußtsein, eigne Vergangenheit und Zukunft
sind meinem Augenblicksbewußtsein transzendente Realitäten,
werden also mit aller Transzendenz zugleich aufgehoben.
Endlich das 3. Hauptargument: Das menschliche Denken ist
zur Setzung von Realitäten gezwungen, weil ohnedem nur ein
zusammenhangloses, lückenhaftes, gesetzloses Chaos als „Wirklich-
keit" übrig bliebe. Auch nach dem Realismus soll die Wissen-
schaft /Jie Gesetze der „Inhalte" entdecken, aber die Inhalte des
Bewußtseins rein als solche genommen sind gar nicht gesetzmäßig,
sondern werden es für unser Bewußtsein erst, wenn wir sie in eine
sie weit überragende reale Welt gleichsam einbauen.'
Der erste Einwand kann und muß zum Anlaß dienen, den
Begriff des „Gegebenen" genauer zu fixieren. Wir stellen zu diesem
Zweck zunächst das Gegebene dem nur symbolisch, dem nur in
Wortbedeutung Gemeinten gegenüber. Ich kann einmal von einem
Gegenstand nur sprechen, ihn nur nennen, ein andres Mal ihn
selbst vor Augen haben. Ein Gegenstand kann gegenwärtig —
selbstgegeben — ohne genannt, er kann genannt ohne gegeben, er
kann endlich zugleich genannt und gegeben sein, d. h. das gebrauchte
Realismus und Positivismus. 499
Wortsymbol kann sich nennend auf ein „Gregebenes", Selbstgegen-
wärtiges beziehen. In dem letzteren Fall ist uns der Anlaß ge-
geben, eben das mit dem "Wort (oder der Wortverbindung) x Ge-
meinte als „gegeben", oder das „Gegebene" als eben das mit dem
Wort x „Gemeinte", als seinen Sinn zu bezeichnen.
Bei jedem Wort können und müssen wir nach seiner Bedeutung
fragen. Eben diese Frage verlangt letzten Endes, den Gegenstand
selbst an die Stelle des ihn vertretenden Symbols zu setzen,
verlangt also ein Nebeneinander von Wort und gegebenem
Gegenstand, der durch das Wort benannt wird. Umgekehrt: setze
ich zu einem Gegebenen ein sprachliches Symbol in diese Beziehung,
die das Symbol zum Namen des Gegebenen macht, so ist dieses
sprachliche Symbol damit seiner Bedeutung nach für mich ein-
deutig festgelegt.
Das Gesagte bedarf nun einer doppelten Ergänzung. Ich
sehe einmal eine Farbe, ein anderes Mal nenne ich sie nur, ein
drittes Mal erinnere ich mich ihrer, erwarte sie, stelle sie vor.
Das Erinnerungs- oder Phantasiebild, das ich in diesem Fall vor
mir habe, ist wie das Wort etwas, mit dem ein anderes (im Er-
innerungsbild das früher Dagewesene) gemeint ist, also ein Symbol,
das eine Bedeutung hat, aber es ist kein künstliches und ver-
tretendes Symbol, wie das Wort, sondern ein natürliches und dar-
stellendes Symbol, ein Symbol, durch das eben damit das Gemeinte
nicht nur symbolisch gemeint, sondern „mittelbar gegeben"
ist. Diese Bezeichnungen, die ich im Wesentlichen der Erkennt-
nistheorie von H. Cornelius entnehme, bedürfen wol keiner näheren
Erläuterung. Zweitens: Gegenstände können nur symbolisch ge-
meint, sie können unmittelbar und mittelbar gegeben, sie können
endlich noch durch ihreRelationen zu anderen Gegen-
ständen bestimmt sein. Ich denke einen Gegenstand x, der
einem andern, mittelbar oder unmittelbar gegebenen a zeitlich
folgt oder ich denke einen Gegenstand x, der einem gegebenen a
ähnlich oder von ihm verschieden sein soll. Was ich mir hier be-
wußt vergegenwärtige, ist das a mit einer sich an dasselbe
schließenden, in einem zweiten Glied Erfüllung ver-
langenden Relation, ich meine einen Gegenstand, der diese
Relation erfüllen oder zu dem der von dem a ausgehende Relations-
schritt führen würde. Dieser letzte Fall steht in gewisser Weise
zwischen dem des bloß symbolischen Meinens und dem des mittel-
baren Vorstellens. Mittelbar (oder unmittelbar) vorgestellt ist
500 Ernst v. Aster,
das a und die Relation, der Schritt, wie ich es eben nannte, um
es im Beispiel zu sagen : das sich abheben und in Gegensatz treten
und wiederum das sich einfügen und gleichmäßige Fortgleiten des
Bewußtseins, das ich erlebe, wenn ich von einem Gegenstand ein-
mal zu einem verschiedenen, ein andres Mal zu einem ähnlichen
übergehe. Der Gegenstand selbst aber, zu dem dieser Schritt
führt, ist nur genannt oder symbolisch gemeint. Die Relationen
selbst aber zerfallen wieder in zwei Gruppen, nämlich solche, die
zu einem Vorstellen des gedachten Gegenstandes hinführen können
und solche, bei denen das nicht der Fall ist. "Weiß ich, der ge-
meinte Gegenstand x ist einem mir bekannten a gleich oder doppelt
so groß als a (und im übrigen a gleich), so ist mir in dieser Be-
stimmung zugleich die Möglichkeit, x vorzustellen oder mir mittel-
bar, in einem Phantasiebild zur Gegebenheit zu bringen geboten;
dagegen bietet mir die Bestimmung des x als eines dem a zeitlich
folgenden oder voraufgehenden keine solche Möglichkeit.
"Wir haben also zu unterscheiden : das unmittelbare oder Selbst-
gegebensein, das mittelbare (durch ein darstellendes Vorstellungs-
bild) Gegebensein eines Gegenstandes, das denkende Bestimmen
(durch Relationen) und das nur symbolische Meinen desselben. Die
Frage nach dem „"Was" eines Gegenstandes findet sozusagen ihre
endgiltig befriedigende Antwort erst im Selbstgegebensein, alle
andern Formen der Vergegenwärtigung sind eine Vergegenwärti-
gung durch Mittel, also durch Symbole, die schließlich auf
ein Selbstgegebenes zurück- (oder vor-) weisen. Ein scharfer und
wesentlicher Unterschied aber besteht zwischen denjenigen Mitteln
oder Symbolen, die, weil sie den betreffenden Gegenstand direkt
(Vorstellungsbild) oder indirekt (Gleichheits-, mathematische Ahnlich-
keitsrelation) zur Darstellung bringen, geeignet sind, ihn kennen
zu lernen, und denjenigen, die nur auf ihn hinweisen oder ihn
vertreten (bloße äußerliche Zusammenhangsrelation, "Wortsymbol).
Man kann hier noch die Frage stellen, ob nicht auch der Gegen-
stand, den wir nur symbolisch, durch ein "Wort meinen, von uns
„gedacht", wenn auch „unanschaulich" gedacht sei. In ganz be-
stimmtem Sinn ist das zuzugeben, wir können nämlich den Fall
des nur symbolischen Meinens unter den des durch Relationen
bestimmenden Denkens einreihen. Der Gegenstand „A" ist dann
eben von uns bestimmt als der Gegenstand, der zu dem Wort A
in der bekannten Beziehung des durch A benanntseins steht oder
als der Gegenstand, dem das Wort A in der "Weise seines Namens
Eealismus und Positivismus. 501
(Eigennamens) aufliegt. Es ist indessen ohne weiteres klar, daß
die Beziehung, durch die der Gegenstand hier gedacht wird, keine
darstellende oder zu einer solchen führende Beziehung ist. Wir
wissen bei einem Wort, das wir „sinnvoll", d. h. in der Über-
zeugung, daß ihm ein Sinn zukommt, gebrauchen, nicht einmal, ob
es einen solchen Gegenstand wirklich gibt. Wir brauchen Worte,
glauben einen Sinn damit zu verbinden und merken erst nach-
träglich, daß das gebrauchte Wort völlig inhaltsleer für uns war.
Dem „Selbstgegebenen" stehen die verschiedenen Formen des
„Gemeinten" gegenüber, dem nur Gemeinten die verschiedenen
Formen des mittelbar und unmittelbar Gegebenen. Nun gründet
in dem Unterschied des Gegebenen und Gemeinten noch eine
wichtige Beziehung. Ich stelle etwas vor, dessen Eintritt ich er-
warte und jetzt tritt das Erwartete ein und zwar so, wie ich es
erwartete. Meine Erwartung „erfüllt" sich. Dann habe ich das
Bewußtsein, daß das von mir Erwartete eben dasselbe ist, das
ich jetzt wahrnehme, das Bewußtsein einer Identität. Identisch
ist das jetzt Selbstgegebene und — nicht mein Vorstellungsbild,
aber — das im Vorstellungsbild Gemeinte und eben diese Identität
erlebe ich in dem Zusammenfallen, dem zur Deckung kommen der
Vor stellungsintention und des selbstgegebenen Gegenstandes.
Ebenso: ich suche unter einer Gruppe von Gegenständen einen
bestimmten, der einem vorgegebenen Gegenstand gleich sein soll;
habe ich ihn gefunden, so habe ich das Bewußtsein, es sei eben
derselbe, den ich suche; die intendierende Relation erfüllt sich
in jenem Inhalt. Endlich: das Wort fügt sich als Name einem
selbstgegebenen Gegenstande an; auch hier besteht Identität, der
Gegenstand ist eben dasselbe, wie das im Wort Gemeinte. Iden-
tität ist uns da und nur da gegeben, wo wie in allen diesen Fällen
eine Intention sich in einem Inhalt erfüllt. Es wird auf diesen
Punkt noch zurückzukommen sein.
Alle Erkenntnis muß ausgehen vom „Gegebenen" — diese
Forderung bedeutet nach dem Ausgeführten nichts andres als : alle
Erkenntnis darf nicht ausgehen von Worten, sondern von dem
mittelbar oder unmittelbar zur Gegebenheit gebrachten Sinn der
Worte.
Fassen wir noch einmal zusammen: was ein „gegebener"
Tatbestand ist, erkennen wir, wenn wir uns eine gesehene Farbe
und Form, einen gehörten Ton, ein erlebtes Gefühl vergegen-
wärtigen und auf das Gemeinsame dieser Dinge achten im Unter-
Kantstudien. XXVII. 33
502 Ernst v. Aster,
schied zu dem Fall, daß wir von den genannten Tatsachen nur
sprechen. Diese Festlegung des Begriffs „gegeben" ist ganz analog
derjenigen Art, wie wir einen Begriff wie Farbe, oder rot oder
süß fixieren (wir haben in dem obigen Hinweis was das Wort
„gegeben" bedeuten soll, selbst zur Gregebenheit gebracht). Nicht
was Gegebenheit überhaupt bedeutet, sondern nur noch was in
einem bestimmten Fall tatsächlich gegeben oder nicht gegeben ist,
kann jetzt umstritten sein, oder was dasselbe bedeutet: wie das
in einem solchen Fall Gregebene genau zu beschreiben ist. Hier
kommt dann die von uns hervorgehobene Frage zur Behandlung,
ob wirklich die von uns zur Beschreibung des Gregebenen ge-
brauchten Worte in dem Gregebenen selbst zur identischen Er-
füllung kommen.
Stellt man sich nun die Aufgabe, das in einem bestimmten
Augenblick oder Zusammenhang unmittelbar Gregebene zu be-
schreiben, so entsteht eine besondere Schwierigkeit, die zu dem
ersten Argument Külpes führt. Etwas beschreiben und bestimmen
heißt: es „beobachten", „abgrenzen", „vergleichen", kurz jene
Tätigkeiten üben, von denen Külpe in der angezogenen Stelle
spricht. Wenn ich nun etwa die Wahrnehmungen, Empfindungen,
Gefühle meines Gesamtbewußtseins in einem bestimmten Augenblick
in dieser Weise analysiere : darf ich dann nachträglich behaupten,
daß mir im Moment vorher eben das gegeben sei, was mir die
nachfolgende Analyse zeigt, und eben so, wie sie es mir zeigt?
Hat nicht vielmehr die Analyse selbst das im Bewußtsein Gegebene
verändert bezw. setzt nicht die Behauptung, daß das „Gegebene"
so und so näher zu bestimmen sei, ein andres an die Stelle des
eigentlich „Gegebenen", ist nicht jenes Beschreiben ein „Objekti-
vieren" im Sinne des Setzens gedachter Objekte? Darauf ist nun
m. M. u. Folgendes zu erwidern. Erstens : Es ist sicherlich unzu-
lässig, das Ergebnis einer nachträglichen Analyse ohne Weiteres
zur Beschreibung eines vorgängigen gegebenen Tatbestandes zu
verwenden. Mir sind zwei Strecken in der Wahrnehmung gegeben,
in vergleichender Einstellung geben sie sich mir nachträglich als
gleich — dann darf ich darum nicht sagen, daß mir vorher zwei
gleiche Strecken gegeben gewesen seien, es sei denn, daß diese
Behauptung nur ein andrer Ausdruck dafür ist, es habe sich um
zwei Strecken gehandelt, an die sich nachher, unter bestimmten
weiteren Bedingungen ein Gleichheitsbewußtsein geheftet habe
(auch diese Beschreibung bedarf indessen noch einer näheren, gleich
Realismus und Positivismus. 503
zu gebenden Erläuterung). Zweitens: Auf der andern Seite aber
ist zu betonen, daß nie ein Inhalt gegeben ist, ohne daß er zu-
gleich auch in gewisser Weise von seiner Umgebung abgehoben
(„unterschieden") und mit ihr verglichen (als ähnlich und gleich
erkannt) wäre, genau so wie kein Inhalt gegeben sein kann, ohne
mehr oder weniger „einer" und mehr oder weniger ein „Mannig-
faltiges" zu sein.^ Einheit und Vielheit, Ähnlichkeit und Ver-
schiedenheit sind mit allem Gregebenen mitgegeben, sie sind
„Formen" des Gegebenen überhaupt. Man lasse einen Inhalt sich
weniger und weniger von seiner Umgebung abheben — was ist
die Folge? Er verschwindet in dieser Umgebung, er ist als dieser
Inhalt auch gar nicht mehr gegeben. Alles Gregebene ist also
innerhalb gewisser Grenzen zugleich ein „Beurteiltes" in diesem
ganz bestimmten Sinn des Verglichenen und Unterschiedenen. Das
nur Gegebene, „vor" aller Beurteilung, die „reine Empfindung"
wäre in der Tat ein hypothetisch Angenommenes, also eben nicht
mehr gegeben. Dafür können wir auch sagen: Alles Gegebene ist
ein „Objekt", ein „Objektiviertes", wenn wir unter einem Objekt
etwas verstehen, das verglichen, unterschieden, in sich bestimmt
ist. Aber alles Gegebene ist auch nur mehr oder weniger Objekt:
eine gefärbte geometrische Figur, die ich sehe, ist in höherem
Grade Bewußtseinsobjekt, d. h. bestimmt sich abgrenzender, durch
bestimmte Eelationen mit anderem Gegebenen verknüpfter einheit-
licher Inhalt, als etwa ein diffuser Schmerz im Innern unseres
Körpers oder gar als ein „Erlebnis" der Freude oder der Trauer.
Dem gegebenen Objekt, das sich abgrenzt und schärfer oder
weniger scharf abhebt, steht hier gegenüber die fließendePhase
eines Ganzen, die in dies Ganze ohne Grenze verläuft und andern
„Teilen" dieses Ganzen nicht in der Weise des Gleichen oder Ver-
schiedenen gegenübersteht. Dem Wahrgenommensein jenes Objekts
unter andern Objekten entspricht das „Erlebtsein" einer solchen
Phase eines Erlebnisstroms, eines subjektiven Erlebnisstroms,
wie wir nun auch sagen können. Der Gegensatz des Subjektiven
und Objektiven ist aber hier, wie nochmals hervorgehoben sei, kein
absoluter, sondern ein fließender und relativer : auch ein Gefühl
ist indem es erlebt wird, innerhalb gewisser Grenzen als dieser
bestimmte Inhalt erlebt, d. h. verglichen und unterschieden; Sub-
jekt und Objekt, das Erlebte und das Wahrgenommene, sind nicht
zwei Sphären, sondern zwei Pole des Gegebenen; das nur Objektive
wie das nur Subjektive ein Grenzbegriff im Sinne der Neukantianer.
33*
504 Ernst v. Aster,
Endlich fügt sich hier nun noch ein dritter Punkt ein. Dürfen
wir mit Sinn sagen, daß „derselbe" Inhalt einmal erlebt und
einmal wahrgenommen sei? Oder daß er einmal so und einmal
anders aufgefaßt und beurteilt sei? Diese Ausdrucksweise hat
einen bestimmten Sinn, aber man muß sich über denselben klar
sein. Ich erlebe einen bohrenden Zahnschmerz und dann mache
ich mir diesen Zahnschmerz gegenständlich, vergleiche, beurteile
ihn. Dann muß ich sagen, daß hier das Gregebene im ersten und
zweiten Moment ein verschiedenes war. Aber: es hoben sich hier
nicht zwei Inhalte scharf gegeneinander ab, wie dann, wenn ich
erst einen hohen, dann plötzlich einen tiefen Ton höre, sondern
die zwei Inhalte werden als Phasen eines Stromes erlebt, es sind
nicht zwei verschiedene, sondern es ist ein sich ver-
ändernder Inhalt da. Ein andres Beispiel: ich betrachte ein
auf Papier gezeichnetes Quadrat und hebe bald die eine, bald die
andre Seite, bald die Fläche besonders „beachtend" hervor, bald
sehe ich das Quadrat auf der einen, bald auf der andern Seite
„stehend" usw. Dann habe ich das Bewußtsein, daß ich hier nicht
mehrere, sondern einen G-egenstand, dasselbe Rechteck sehe, nur
in verschiedener Auffassung. Aber ist es nun möglich, irgend
einen dieser Inhalte herauszugreifen und von ihm zu sagen, daß
er das Rechteck selbst sei, das in den verschiedenen andern Wahr-
nehmungen nur gemeint wäre ? Offenbar nicht, das Wahrnehmungs-
bild eines Quadrats kann mir ebenso wenig ohne ein bestimmtes
„Beachtungsrelief" gegeben sein, wie ein Haus von mir wahr-
genommen werden kann, ohne von einem bestimmten Standpunkt
und entweder von vorn oder von hinten oder von einer Seite
wahrgenommen zu sein. Aber auch wenn ich um das Haus herum-
gehe und es betrachte, ist mir nur „ein Objekt" und innerhalb
desselben sich wandelnde Phasen, nicht eine Summe von Inhalten
gegeben.
Kehren wir nun noch einmal zu einem vorher erwähnten Fall
zurück : wir sehen eine Figur, in der zwei Strecken enthalten sind
— im nächsten Moment erfassen wir, was vorher nicht der Fall
war, beide Linien als einander gleich oder die eine als größer
usw. Sagen wir nun, es seien hier die ganze Zeit über dieselben
zwei gleichen oder ungleichen Linien gegeben gewesen, so bedienen
wir uns einer „Begriffsbildung", die über das Gregebene als solches
hinausgeht, d. h. wir sprechen von einem Gegenstand, der nicht
mehr „gegeben" ist: die dauernd vorhandenen, dauernd im Ver-
Realismus und Positivismus. 505
hältnis der Gleichheit oder Ungleichheit stehenden Linien sind
nicht gegeben, sondern zur Gregebenheit bringen kann ich nur,
wenn ich mich so ausdrücken darf, ihre wechselnden „Beachtungs-
erscheinungen", die sich mir als Phasen eines Objektes darstellen,
genau so, wie ich mir nicht das Ding, sondern nur seine Erschei-
nungen (seine „Abschattungen") von verschiedenen Standpunkten
aus zur Gegebenheit bringen kann. Das Quadrat, das auf keiner
Seite einseitig steht und doch auf jeder stehen kann, das vier
gleiche und je zwei gleichgerichtete Seiten, das vier gleiche rechte
Winkel dauernd hat — dies Quadrat ist kein jemals zur Gegeben-
heit gebrachter Inhalt, sondern ein „Ding an sich". (Husserl
würde nach den Ausführungen seiner „Ideen" diese Analogisierung
des objektivierten Wahrnehmungs- oder Empfindungsinhalts mit
dem „Ding", der unmittelbar gegebenen Beachtungserscheinung
mit der Dingerscheinung freilich ablehnen als phänomenologisch
unzutreffend, mir scheint gerade die phänomenologische Analyse
durchaus für diese Analogie zu entscheiden.)
"Was ist das „Ding"? Nicht die Summe seiner Erschei-
nungen, denn wenn ich die Erscheinungen zu einer Summe ge-
trennter Summanden mache, habe ich das Ding gerade zerstört.
Und ich stelle das „Ding" auch nicht wieder her, wenn ich durch
Relationen die getrennten Erscheinungen wieder verknüpfe („ge-
setzmäßiger Zusammenhang"). Das Ding „ist" aber auch nicht
das eine „Objekt", als dessen Phasen ich seine Erscheinungen
erlebe, denn dies Objekt ist ja ein fließendes, in wechselnden Phasen
sich veränderndes, ist ein Prozeß, wenn man so will, während das
Ding ein Beharrliches, Dauerndes, sich gleich Bleibendes ist.
M. a. W. die obige Frage ist unbeantwortbar : das Ding selbst ist
kein zur Gegebenheit zu bringendes Gebilde, sondern ein Fictum,
es gibt nur das zusammenfassende Wortsymbol, keine ihm ent-
sprechende Sache.
Wir knüpfen an die Erscheinungen „desselben Dinges" das
gleiche Wortsymbol, sprechen von „dem Apfel hier", gleichgiltig
ob wir ihn von der einen oder andern Seite sehen oder betasten.
Dies gleiche Symbol scheint auf einen identischen Gegenstand hin-
zudeuten, an dessen Stelle uns jedoch nie etwas andres, als eine
der wechselnden Dingerscheinungen faßbar wird. Mit demselben
Wort aber belegen wir jene Erscheinungen, weil und soweit
sie mit einander vertauschbar sind oder einander vertreten
können. Vertauschbar sind sie, insofern ich von jeder Erscheinung
506 Ernst v. Aster,
zu jeder beliebigen andern übergehen kann : ob ich den Apfel von
der einen oder andern Seite ansehe, jedesmal wird er sich als hart
erweisen, wenn ich das Gesehene mit dem tastenden Finger be-
rühre und als süß, wenn ich hineinbeiße. Die Erscheinungen sind
vertauschbar hinsichtlich der Fortsetzung, die sie in weiteren
Erscheinungen finden, hinsichtlich ihrer diese weiteren Erschei-
nungen anzeigenden Funktion; dafür können wir auch sagen:
sie sind identisch, soweit sie nur als Träger dieser anzeigenden
Funktion, als Symbole des Kommenden erscheinen : wir wissen ja,
Identität ist das sich-Treffen der Bedeutungen zweier Symbole in
einem Punkt. Wir können uns also nicht das „identische Ding",
aber wir können uns die Identität (die identische Bedeutung) der
verschiedenen Erscheinungen desselben Dinges zur Gregebenheit
bringen.
Machen wir uns dieselbe Sachlage noch an einem andern Fall
klar. Ich erwarte jetzt, daß morgen etwas Bestimmtes geschehen,
sagen wir gutes Wetter sein wird. Ich hege dann die gleiche
(dieselbe) Erwartung noch mehrfach im Laufe des Tages. Dann
habe ich hier offenbar eine Mehrheit verschiedener Erwartungs-
erlebnisse, diese Erwartungserlebnisse aber stellen alle dasselbe
zukünftige Geschehen vor und sind insofern identisch, ganz im
Sinn des Identitätsbegriffs, den wir festgestellt haben. Sie sind
„dieselbe Erwartung". Wollte nun aber Jemand wissen, wie
eigentlich diese identische eine „Erwartung" aussieht, die „in"
allen jenen Erwartungserlebnissen angeblich „steckt", so wäre
diese Frage natürlich sinnlos — genau so sinnlos wie die Frage
nach dem „Ding an sich" hinter seinen Erscheinungen. Es gibt
nicht diese Erwartung selbst, auch nicht oder gerade nicht als
abstraktes Teilmoment jener Erlebnisse, es gibt nur die Erwartungs-
erlebnisse (Erwartungsbilder) und ihre Identität, d. h. ihre Be-
ziehung auf dasselbe Erwartete. Diese Identität aber läßt uns
von derselben Erwartung sprechen und legt dadurch die Fiktion
eines für sich existierenden psychischen oder außerpsychischen
G-ebildes nahe, das nun wirklich diese Erwartung wäre.
Fassen wir das Ergebnis noch einmal speziell mit Rücksicht
auf den Külpeschen Einwand zusammen, so können wir sagen :
wir dürfen nicht im eigentlichen Sinn behaupten, es seien uns
zwei gleiche oder verschiedene Strecken oder Farben etwa ge-
geben, sondern nur, es seien uns zwei Strecken als gleich oder
„als" verschieden, durch das Grleichheits- bezw. Verschiedenheits-
Realismus und Positivismus. 507
bewußtsein an einander gebunden gegeben, dabei ist natürlich auch
der weitere Fall möglich, daß zwei Strecken oder Farben gegeben
sind, die weder als verschieden sich von einander abheben, noch
als gleich jene eigentümliche Einheit bilden, die eben das Wesen
der unmittelbar erlebten Gleichheitsrelation ausmacht, es können
auch* Linien oder Farben gegeben sein, ohne überhaupt als „zwei"
sich dem Bewußtsein darzustellen usw. (obgleich wie wir wissen
jeder Inhalt, indem er gegeben, auch von andern unterschieden
und auf sie bezogen ist). Das Urteil, das auf Grund hinter-
her kommender Vergleichung von „gleichen" oder „verschiedenen"
(gleich- usw. seienden) Strecken spricht, die im Moment vorher
wahrgenommen gewesen seien, setzt an die Stelle des unmittel-
bar Greg ebenen ein „Ding", d.h. beschreibt nicht einfach das
Gegebene, sondern bezeichnet (beurteilt) es sprachlich im Hinblick
eben auf jene weiteren Gegebenheiten, mit denen es in die Einheit
der Dingwahrnehmung sich zusammenfügt.
Das Gegebene, von dem wir auszugehen haben, ist in einem
individuellen Bewußtsein gegeben, es ist ferner ein jetzt
und hier Gregebenes. Auch diese Behauptung, die uns zum zweiten
Einwand hinüberführt, bedarf indessen der genaueren Erläuterung.
„Ich nehme zwei Farben als gleich wahr" und „ich nehme zwei
Farben wahr, die gleich sind" — wir wissen, es sind zwei ver-
schiedene Gregebenheiten, auf die in diesen beiden Wendungen hin-
gedeutet wird. Das im zweiten Fall Gegebene wird bezeichnet
oder beurteilt im Hinblick auf eine zu erwartende weitere Ge-
gebenheit, in die es sich unter bekannten Bedingungen („Ver-
gleichen", entsprechende Einstellung der Aufmerksamkeit) jederzeit
verwandeln kann. Entsprechendes ist zu sagen, wenn wir die
Wendungen gegenüberstellen: „ich nehme einen Inhalt als jetzt
gegeben (und nicht zu irgend einer andern Zeit) wahr" und „ich
nehme einen Inhalt wahr, der tatsächlich jetzt gegeben ist". Oder
ebenso: „ich erlebe einen Inhalt als Inhalt meines Bewußtseins
(und nicht eines fremden Bewußtseins)" und „ich erlebe einen In-
halt der tatsächlich Inhalt meines Bewußtseins ist." Die zweiten
Wendungen weisen vordeutend auf eine mögliche Gegebenheit hin,
die bei der ersten Wendung als tatsächlich gegeben vorausgesetzt
ist. Als jetziger Bewußtseinsinhalt ist mir ein Inhalt nur ge-
geben, indem er sich als unmittelbar gegebener von einer mittelbar
gegebenen (vorgestellten) Vergangenheit und Zukunft abhebt —
der Gegensatz des unmittelbar und mittelbar Gegebenen wurde
508 Ernst v. Aster,
weiter oben erörtert. Ebenso nun freilich, wie jeder Inhalt, am
überhaupt gegeben zu sein, sich von einer Umgebung abheben, wie
jedes Bewußtsein ein Unterscheiden sein muß, so muß auch jeder
gegebene Inhalt für das Bewußtsein anheben zu sein, d. h. sich
von einer erlebten Vergangenheit abheben, also „als" jetzt erlebt
sein. Aber dies Jetzt, als dessen Inhalt er erlebt wird, braucht
sich nicht von einer Mannigfaltigkeit bestimmt geordneter Zeit-
momente abzuheben, und insofern einem zeitlich bestimmbaren
Augenblicke anzugehören. Die objektive Zeit, als kontinuierliche
Abfolge auf einander folgender Augenblicke, in der jeder einzelne
Inhalt zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, in seiner Zeitbeziehung
zu jedem andern Inhalt eindeutig fixiert „existiert" — diese Zeit
mit allen „Erlebnissen", oder „Wahrnehmungsinhalten", die sie er-
füllen, ist nichts Gegebenes, sondern etwas, das wiederum in
die Sphäre der „Dinge" gehört.
Es ist sinnvoll und möglich, jedem gegebenen Inhalt gegenüber
die Aufgabe zu stellen, ihn in seiner zeitlichen Stellung zu be-
stimmen, genau so wie die Aufgabe sinnvoll ist, eine im Gesichts-
feld gegebene Form mit allen sonstigen im Gesichtsfeld gegebenen
Formen zu vergleichen. Die eine wie die andre Aufgabe aber
führt in eine unendliche Reihe von weiteren Gegebenheiten hinein,
die aus der ersten hervorwachsen, mit ihr in jener früher charak-
terisierten Weise zur Einheit verbunden. Jeder gegebene Inhalt
ist zeitlich fixierbar, d. h. es ist möglich, ihn in seiner zeitlichen
Folge oder seinem Voraufgehen in Bezug auf andre Inhalte zu
erleben, diese dann ihrerseits auch wieder erinnernd oder erwartend
in ihre zeitliche Umgebung hineinzustellen und so einen immer
umfassenderen Zeitrahmen um den zu bestimmenden Inhalt zu
spannen, der schließlich alle Inhalte des betreffenden Bewußtseins-
lebens umfassen würde. In Wahrheit bestimmen wir natürlich
nie einen Inhalt zeitlich in dieser vollständigen Weise, die voll-
ständige Bestimmung würde auch, wie eben hervorgehoben, zu
einer unendlichen Aufgabe führen. Die jederzeitige Möglich-
keit aber, in ein Urteil über den betreffenden Inhalt gleichsam
übersetzt, als „seiende Eigenschaft" desselben gefaßt, führt dazu,
ein fingiertes Ding an die Stelle des unmittelbaren Erlebnisses zu
setzen.
Ein Inhalt kann unmittelbar, er kann aber auch wie wir
wissen mittelbar, durch einen Vorstellungsinhalt gegeben sein.
Nun kann aber dies mittelbare Gegebensein noch verschiedene
Eealismus und Positivismus. 509
Formen annehmen. Auch jeder vorgestellte Inhalt — nicht das
unmittelbar gegebene Vorstellungsbild, sondern der mit ihm ge-
meinte, erinnerte, phantasierte Inhalt muss in eine wenn auch noch
so unbestimmte Umgebung hineingestellt, er muß von dieser Um-
gebung unterschieden, abgehoben sein. Ferner aber kann dieser
Inhalt mit seiner Umgebung erinnert, erwartet oder „ein-
gefühlt" sein, d. h. er kann als eigne Vergangenheit, eigne Zu-
kunft oder fremdes Bewußtsein vorgestellt sein. Im Erinnerungs-,
Erwartungs- und Einfühlungsbild stellen wir einen Inhalt als im
eignen vergangenen oder zukünftigen oder im fremden Bewußt-
seinsleben wirklich vor. Was das heißt, kann nur erlebt, nicht
weiter erklärt oder verdeutlicht werden und zwar in der Form
des Erinnerungs-, Erwartungs- und Einfühlungsbildes erlebt werden.
Wer nie ein Erinnerungsbild erlebt hätte, dem würde auch der
Begriff der eignen Vergangenheit und ihrer Wirklichkeit völlig
unbekannt sein.
Es ist nun nicht zu leugnen: in Erinnerung, Erwartung und
Einfühlung haben wir das Bewußtsein einer Transzendenz,
gehen wir über das unmittelbar Gegebene hinaus. Die „Möglich-
keit" dieses Transzendierens ruht auf der Möglichkeit bezw. Tat-
sächlichkeit eines „mittelbar Gegebenen". Das aber, was hier
vorgestellt und als „wirklich" vorgestellt wird, ist wiederum ein
Bewußtseinsinhalt, der in einer Kette oder einem Strom andrer
sich abhebt, ein Inhalt, den wir im bisher bereits erörterten Sinn
als Inhalt eines individuellen Bewußtseins bestimmen können. Es
gibt eben zwei ganz verschiedene Arten der Trans-
zendenz: die Transzendenz des vorgestellten Bewußt-
seinsinhalts und die des Dinges, der erstere ist mittel-
bar gegeben, das letztere nur im vertretenden Symbol gemeint,
also fiktiv.
Erinnerung, Erwartung und Einfühlung habe ich an andrer
Stelle (in meinen „Principien der Erkenntnislehre") als unmittel-
bar erlebte (im Gegensatz zu den sprachlich formulierten) Ur-
teile bezeichnet. Sie sind Urteile, wenn wir Urteil alles nennen,
was wahr oder falsch sein, d. h. „mit einem Gegenstand überein-
stimmen oder nicht übereinstimmen" kann. Im Erinnerungs- und
Erwartungsbild stelle ich etwas vor — einen Gegenstand — und
kann mit Sinn fragen, ob dies Etwas wirklich so war oder sein
wird, wie ich es vorstelle. Freilich hebt sich nun aus jenen drei
Formen die Erwartung dadurch hervor, daß sie allein (natür-
510 Ernst v. Aster,
lieh auch nicht in allen, sondern nur in bestimmten Fällen) auf
ihre Wahrheit hin geprüft werden kann: ich kann das sich-Er-
füllen oder -Enttäuschen einer Erwartung, das Zusammenfallen
von Erwartung und Erwartetem (die Identität beider) erleben.
Erinnerung und Einfühlung bleiben auf ihre Wahrheit hin nicht
prüfbar und insofern einem — jedoch nur theoretischen — Zweifel
ausgesetzt.
Alles unmittelbar Gegebene hebt sich ab von einem erinnerten,
erwarteten, eingefühlten mittelbar Gegebenen. Es wird eben in
diesem sich Abheben oder Unterscheiden zu einem „mir" und „jetzt"
Gegebenen. Fassen wir andrerseits alles unmittelbar und mittel-
bar Gegebene zusammen, so erhalten wir als „Gegebenes" den
Inbegriff der Bewußtseinsinhalte verschiedener Bewußtseinsabläufe.
Diese Bewußtseinsabläufe und ihre Inhalte sind aber selbst nur
erlebbar von einem bestimmten Punkt (einem „Jetzt") eines
bestimmten Bewußtseinslebens aus — von einem unmittelbar
gegebenen Icherlebnis aus, für das alle übrigen Inhalte vergangene
oder zukünftige Icherlebnisse oder Duerlebnisse sind. Nur in der
Centriertheit auf ein Augenblicksich ist das Gegebene faßbar.
Anderseits können wir aber jeden vorgestellten Inhalt unter Ab-
straktion von der ihn repräsentierenden Vorstellung zum Aus-
gängspunkt, zum Augenblicks-ich machen, dann wird alles andre
zu einem von hier aus mittelbar Gegebenen. Das Gegebene teilt
mit den Formen des Raumes und der Zeit diese Eigentümlichkeit
der Centriertheit (der Centriertheit auf ein unmittelbar Gegebenes,
für das alles übrige mittelbar gegeben ist, welches mittelbar Ge-
gebene aber selbst wieder in allen seinen Teilen zum num. Geg.
werden kann — wie jeder Zeitpunkt um bestimmt zu werden,
der Beziehung auf ein „ Jetzt" bedarf (einen zeitlichen Koordinaten-
Anfangspunkt) , aber auch selbst zum „Jetzt" gemacht werden
kann). Genauer ist die Centrierung von Raum und Zeit auf einen
Koordinaten- Anfangspunkt, auf ein „Hier" und „Jetzt", das be-
liebig verschoben werden kann, ein Stück der Centrierung aller
Erfahrungswelt auf ein unmittelbar Gegebenes, auf das gleichfalls
beliebig verschiebbare „Augenblicksich" : eben darauf beruht der
Nerv der Beweisführung in Kants transzendentaler Ästhetik. Raum
und Zeit sind die Formen der Körperwelt, die Bedingungen der
Möglichkeit ihrer Existenz, Raum und Zeit aber haben eine un-
aufhebbare Beziehung auf jenen Mittelpunkt, der genauer der
Standpunkt des erfahrenden Ich ist, also eignet auch der Körper-
Realismus und Positivismus. 511
weit diese unaufhebbare Beziehung, ist sie nur als Welt möglicher
Erfahrung, bezogen auf ein erfahrendes Ich, denkbar. In der hier
gegebenen Darstellung nimmt dieser Gedankengang die folgende
Form an: Alles "Wirkliche ist ein Wirkliches in der Zeit — in
einem bestimmten Zeitmoment — jeder Zeitmoment erhält seine
Stellung durch seine Vergangenheits- und Zukunftsbeziehungen zu
einem „Jetzt" — „Vergangenes" und „Zukünftiges" in Beziehung
und Gegensatz zu einem „Jetzt" bedeutet: in der Weise der Er-
innerung und in der Weise der Erwartung mittelbar Gegebenes
sich abhebend von einem unmittelbar Gegebenen. (Für ein Be-
wußtsein, das keine Erinnerung besäße, wäre „Vergangenheit" ein
ebenso sinnleeres Wort, wie das Wort „rot" für den Farben-
blinden).
Vielleicht wendet man nun hiergegen ein: das Gesagte gelte
für die unmittelbar erlebte, aber eben nicht für die real existierende
Zeit. Ich erlebe einen Gegenstand als vergangen heißt: ich er-
innere mich seiner — dagegen: der Gegenstand ist vergangen
heißt: ihm kommt diese bestimmte Seinsweise zu, die ich als
Grund dafür betrachte, daß ich ihn nur in der Weise des Er-
innerns zu erleben vermag, die aher nicht mit jenem Erlebtsein
zusammenfällt. Der Einwand kann offenbar erweitert werden:
das Reale ist der gedachte Grund des Gegebenen und seiner
Zusammenhänge. Die reale rote Farbe, die als Eigenschaft des
vor mir liegenden Löschblatts wirklich existiert, ist das dem ge-
sehenen oder gegebenen Farbquale „zu Grunde liegende", das sich
seiner Ähnlichkeit und Verschiedenheit nach zu dem andern realen
(den gegebenen Farbquales Grün, Blau usw. zu Grunde liegenden)
Farben verhält, wie das gegebene Rot zum gegebenen Blau usw.,
das überhaupt zu den sonstigen realen Gegenständen in Beziehungen
steht, die den Beziehungen der gegebenen Inhalte entsprechen,
denen jene Realien zu Grunde liegen. Die „erschlossene" Welt
des Realen wäre danach eine Welt, die in ihrem Quäle nicht selbst
dem Quäle der Welt des Gegebenen ähnlich oder gleich ist, die
aber in den Beziehungen ihrer Bestandteile zu einander den Be-
ziehungen der gegebenen Inhalte entspricht und die endlich in dem
besonderen Verhältnis des „Grundes" zum „Gegründeten" zur
Welt des Gegebenen steht.
Hiergegen wäre nun zunächst die Frage zu stellen, was denn
das für ein Verhältnis von Grund und Folge sein soll, von dem
hier die Rede ist? Für die Worte, die Beziehungen oder Ver-
512 Ernst v. Aster,
hältnisse benennen, gilt doch zunächst offenbar dasselbe wie für
alle Worte: sie müssen ihren Sinn irgendwie zurGegebenheit
bringen, sonst bleibt das Wort leer. Wo und wann erleben wir
denjenigen Zusammenhang von „Grund und ,Folge', der Reales"
und phänonomenal Gegebenes verknüpfen soll (und der natürlich
kein Zusammenhang zeitlicher Folge sein kann) ? Nun, diese Frage
ließe sich vielleicht noch beantworten: Von dem phänomenal ge-
gebenen Wahrnehmungsinhalt erstreckt sich eine nach Erfüllung
gleichsam suchende Relation, die wir unmittelbar erleben — das
andre Glied dieser Relation freilich kann nicht gegeben, es kann
eben nur als Endglied dieser Relation — als „ Grund" des Wahr-
nehmungsinhalts — bestimmt oder gedacht sein. Allein hier ent-
steht nun eine tiefere Schwierigkeit: Das „Reale" ist selbst rea-
liter Grund der Phänomene, nicht blos phänomenaliter, wir sagen,
das Reale sei Grund des Wahrnehmungsphänomens, nicht etwa,
es werde als solcher erlebt, das Relationserlebnis ist also nur der
im Bewußtsein gegebene Ausgangspunkt, von dem aus wir zur An-
nahme eines realen Verhältnisses zwischen dem realen Ding und
dem Wahrnehmungsphänomen kommen. Damit aber wiederholt sich
hier offenbar genau dieselbe Frage wie oben: Was meinen wir
mit der real bestehenden Relation, von der uns die phänomenal
gegebene Kunde gibt, mit welchem Recht und Sinn sprechen wir
von der ersteren? Soll auch hier das Phänomenale — das phä-
nomenale Relationserlebnis — für unser Bewußtsein in einem Re-
alen — einer realen Relation — „gründen" ? Dann sind wir offen-
bar bei einem unendlichen Regreß angelangt.
Und nun noch weiter. Soll der „Grund" der Wahrnehmungs-
phänomene nicht in einem ewig unbekannten und unbestimmbaren
Ding an sich liegen, soll das Reale irgend eine positive Bedeutung
für die Erkenntnis, im Besondren die wissenschaftliche Erkenntnis
haben, so müssen wir auf die Realen, wie schon hervorgehoben,
die Beziehungen übertragen, die zwischen den entsprechenden
Phänomenen bestehen, wir müssen sie also als ähnlich, gleich und
verschieden, als einheitlich und mannigfaltige Teile in sich schließend
etwa betrachten. Es müssen solche Relationsbegriffe auf sie an-
wendbar sein. Was heißt aber „gleich" und „verschieden"? Es
sind offenbar Bewußtseinsphänomene, auf die uns diese Worte
zurückweisen, Phänomene, von denen schon andeutungsweise ge-
sprochen wurde: die „Verschiedenheit" zweier Inhalte erleben wir
in ihrem sich von einander Abheben im Ganzen eines Bewußtseins-
Realismus und Positivismus. 513
lebens. Und zwar handelt es sich hier, wie wir wissen, nicht nur
um Bewußtseinsinhalte beliebiger Art, wie Farben und Töne, son-
dern um die Phänomene d e s Bewußtseins, ohne die kein Bewußt-
sein vorstellbar ist: alles „Bewußtsein" ist zugleich ein „Unter-
scheiden" „eines" Inhalts , der zugleich eine „ Mannigfaltigkeit "
enthält und seiner Umgebung als mehr oder weniger ähnlich ge-
funden wird. Ohne diese Relationsphänomene, die zugleich den
einzelnen Inhalt in ein Bewußtseinsganzes eingliedern, ist kein Be-
wußtsein möglich, aber auch jedes Unterscheiden, Zergliedern,
Wiedererkennen — alle diese Tatbestände, ohne die die Begriffe
der Gleichheit, Verschiedenheit usw. ebenso zu sinnleeren Worten
werden , wie der Begriff der Vergangenheit ohne den Tatbestand
der Erinnerung — ist nur innerhalb eines Bewußtseinslebens mög-
lich. Jene Relationsphänomene sind Konstituentien , wenn man
will „Formen" eines Bewußtseins überhaupt und damit auch jedes
Bewußtseinsinhalts. So wird auch jeder Gegenstand, an den solche
Relationsphänomene sich knüpfen, eben damit als „Bewußtseins-
inhalt" in einem Bewußt seinsieben charakterisiert.
Es ist möglich, hier noch einen Schritt weiter zu gehen. Jedes
Bewußtsein ist Ichbewußtsein — Bewußtsein eines Ich- und Gegen-
standsbewußtsein — Bewußtsein von Gegenständen. Oder jedes
Bewußtsein hat eine Ich- und eine Gegenstandsseite, einen subjek-
tiven und einen objektiven Pol. Es ist Gegenstandsbewußtsein,
sofern sich in ihm einheitliche, unterschiedliche Gegenstände ab-
zeichnen, Inhalte, die als umschlossene Einheiten einander und der
fließenden Bewußtseinseinheit, in der sie sich abheben, „gegenüber
stehen," es ist Ichbewußtsein, sofern es eben als fließende Einheit
mit kontinuierlich wechselnden Phasen, als ein Bewußtseinsleben
(bezw. als Phase desselben) erlebt wird. Nun sind es eben die
Relationsphänomene, die die „Gegenstände" zur Abhebung vonein-
ander bringen : ohne Verschiedenheits- und Gleichheitserlebnis keine
Mannigfaltigkeit von Gegenständen. Aber ohne die verknüpfenden
Relationsphänomene würden die Gegenstände sich auch wiederum
nicht als Inhalte eines Bewußtseins, als Glieder eines und des-
selben Bewußtseinslebens darstellen. So sind die Relationserleb-
nisse zugleich wenn auch in verschiedener Weise, die Konstituen-
tien des Ich- und des Gegenstandsbewußtseins, sie sind Kantisch
gesprochen die Formen der „Einheit der transzendentalen Apper-
zeption", die sowohl Gegenstands- wie Icheinheit ist. Dasselbe
verknüpfende und scheidende Relationsbewußtsein, das die Summe
514 Ernst v. Aster,
der Gegenstände, läßt auch das eine sie denkende Ich in unserm
Bewußtsein entstehen.
Was bedeutet es nun, wenn wir zwei Inhalten gegenüber nicht
nur behaupten, daß an sie sich ein Gleichheits- oder Verschieden-
heitsbewußtsein knüpfe , sondern daß sie gleich oder verschieden
;; seien"? Wir betrachten zwei Farben bei Lampenlicht , die
„gleich aussehen". Wir behaupten, daß sie „in Wirklichkeit"
nicht gleich, sondern verschieden seien. Es ist klar, daß wir uns
in dieser Behauptung auf weitere, zukünftige Vergleiche beziehen,
erwartend beziehen und zugleich ist klar, daß diese weiteren Ver-
gleiche in ihrer Gesamtheit nicht mehr den jetzt und hier ver-
glichenen zwei Inhalten, -sondern Dingeinheiten und damit auf kon-
tinuierlich sich wandelnden Inhaltsganzen gelten. Diese „Farbe",
d. h. das Ding, das ich diese Farbe nenne, sieht in der Dämme-
rung grau, in der Nacht schwarz, bei Lampenlicht grün und bei
Tageslicht blau aus, sie ist realiter blau im Unterschied zu jener
anderen Farbe, die auch in der Dämmerung grau, im Dunkeln
schwarz und im Lampenlicht grün erscheint. Und ebenso sind
diese beiden Farben verschieden — d. h. es werden sich Bedin-
gungen finden lassen, unter denen sie sich dem Vergleich ver-
schieden darstellen, obgleich sie wie Jeder weiß, unter andern Be-
dingungen gleich erscheinen.
Es ist also zweierlei festzuhalten : Wenn wir von zwei Gegen-
ständen sagen, sie „seien" gleich oder verschieden, so bezieht sich
dieses Urteil nicht auf gegebene Inhalte als solche — diese In-
halte können als gleich oder verschieden erlebt werden, aber sie
können es nicht sein — sondern auf „Dinge" , die als „dieselben"
Dinge unter verschiedenen Bedingungen betrachtet werden, also
in einer kontinuierlichen Abfolge wechselnder Inhalte sich dar-
stellen können. Diese Dinge selbst als identische Einheiten
sind fiktive Gebilde, fingierte Gegenstände, die in unserm Denken
oder vielmehr in unserm Sprechen entstehen, indem wir ein ein-
heitliches Wort für die wechselnden Erscheinungen setzen, sofern
diese selbst sich wechselseitig vertreten können. „Vertreten" aber
bedeutet hier allemal : Vertreten in Bezug auf das Kommende, das
Zukünftige, das zu Erwartende, als Anzeichen oder Vorzeichen
des Kommenden. Als solches Vorzeichen, in dieser symbolischen
Bedeutung des Kommenden sind die Erscheinungen „desselben"
Dinges identisch und in dieser Identität bezeichnet sie der Ding-
name. (Daß dieser Dingname vielfach mit dem Namen der cha-
Realismus und Positivismus. 515
rakteristischen Erscheinung gleichlautend ist, wie bei den Farbbe-
zeichnungen etwa, bedarf wohl keiner besondren Erklärung). Diese
Dinge „sind" gleich und verschieden, das will sagen: ihre Gleich-
heit und Verschiedenheit, die wir in unsern Grleichheits- und Ver-
schiedenheitserlebnissen erkennen , verhält sich zu diesen Erleb-
nissen, wie eben das „Ding" überall sich zur „Erscheinung" ver-
hält, sie ist in demselben Sinn eine Fiktion und in demselben Sinn
gegründet auf einen Erwartungszusammenhang von Phänomenen,
wie das von dem „Ding" gesagt werden kann. —
Je*tzt ist es endlich möglich, die letzte noch übrig bleibende
Frage zu beantworten. Alles Erkennen stellt sich die Aufgabe,
seinen Gegenstand, die „Welt", in seiner Gesetzmäßigkeit zu er-
kennen. Nun ist das Gegebene selbst wesentlich zufällig, unzu-
sammenhängend (unzusammenhängend im Sinn des durch die Wissen-
schaft gesuchten Funktional- und Kausalzusammenhangs, also ab-
gesehen von dem unmittelbar erlebten Zusammenhang des Bewußt-
seinslebens, in das alles Gregebene als „Phase" oder „Gegenstand"
eingebettet ist). Nie wäre es möglich, die gegebenen Inhalte
allein in einen geschlossenen Kausalzusammenhang zu bringen.
Andrerseits weisen sie unverkennbar hin auf das Bestehen eines
solchen Zusammenhangs, der aber im Gegebenen selbst eben nur
bruchstückweise sich darstellt, weil die „Welt" im „Gregebenen"
nur bruchstückweise uns entgegentritt.
Die Argumentation hat etwas Überzeugendes und ist auch in
gewisser Weise durchaus richtig. Die Flamme, die ich vor einer
Viertelstunde im Ofen sah und die Asche, die ich jetzt in ihm
sehe, werden zu Gliedern eines gesetzmäßigen Zusammenhangs erst,
indem ich sie durch den Gedanken eines die ganze Zeit hindurch
im Ofen brennenden Feuers verknüpfe. Dieses Feuer aber ist eben
nicht wahrgenommen, kein Gegebenes, es existierte realiter, ohne
gegeben zu sein. Indessen: das was ich hier phantasiemäßig
ergänzend hinzufüge, ist gleichwohl ein Inbegriff, eine Kette
von Wahrnehmungen, die das zuerst gesehene Feuer und die zu-
letzt gesehene Asche zum Ganzen einer kontinuierlichen Ding-
erscheinung ergänzen. Diese Wahrnehmungen sind in derselben
Weise als zu erwartende vorgestellt, wie die übrigen Erscheinungen
eines Dinges, das von einer Seite gesehen vor uns steht. Jene
Wahrnehmungen wären zu erwarten gewesen, wenn wir zur
rechten Zeit hingesehen hätten, sie sind noch jetzt zu erwarten,
nämlich als Erinnerungsbilder im Bewußtsein eines Andern, der
516 Ernst v. Aster,
das Feuer in der Zwischenzeit etwa betrachtete. Genauer hegen
wir diese Erwartungen nicht ausdrücklich, aber sie sind impliziert
sobald wir das brennende Feuer und die Asche als „dasselbe",
nämlich dasselbe Ding (denselben dinglichen Vorgang) identifizieren.
Wir wissen: zwei gegebene Inhalte als Erscheinungen „desselben
Dinges" auf einander beziehen und identifizieren heißt: sie als an-
zeigende Symbole derselben Inhalte, also als Ausgangspunkt der-
selben Erwartungen (Erwartungen nach vorwärts und nach rück-
wärts) sprachlich bezeichnen und identifizieren. So ist also in der
Tat die Welt des Gregebenen unzusammenhängend, die des ding-
lich Realen funktionell und kausal zusammenhängend, ein Zu-
sammenhang, der uns auch tatsächlich durch den fragmentarischen
Zusammenhang der gegebenen Wahrnehmnngen nahe gelegt wird,
aber dieser Zusammenhang entpuppt sich dann bei genauerem Zu-
sehen doch als ein Zusammenhang von Gregebenem, nämlich er-
wartetem Gregebenen.
Fordert indessen nicht die Gesetzmäßigkeit der Wahrnehmungs-
inhalte eine Erklärung? Und kann diese Erklärung nicht nur ge-
funden werden in der Bedingtheit der Wahrnehmungen durch eine
kausal zusammenhängende dinglich reale Welt? Mir scheint die
hier vorliegende Frage und Antwort so wenig sinnvoll zu sein,
wie die bekannte „Erklärung", die die Erde auf dem Elefanten,
diesen auf der Schildkröte ruhen läßt. Bleiben wir bei der Ge-
setzmäßigkeit der Wahrnehmungsinhalte nicht stehen, sondern
führen sie auf eine Gesetzmäßigkeit der Dinge zurück, so ist nicht
einzusehen, warum nicht auch nach einem weiteren Grunde dieser
Gesetzmäßigkeit gefragt werden sollte u. s. f. Allerdings hat es
einen guten Sinn, auf die Frage, „ warum u ytiv an jener Stelle
erst einen leuchtenden Schein, dann rauchende Asche sahen, zu
antworten: „weil" dort ein Feuer brannte, das wir sahen. Die
Erklärung, die wir hier geben, hat die Bedeutung, daß sie einfach
die hier gegebene Wahrnehmungsfolge als Spezialfall eines allge-
meinen Gesetzes anspricht. Der Sinn der Behauptung, das Wahr-
genommene „sei" Feuer, ist kein andrer, als der, es sei der Aus-
gangspunkt dieser und jener gültiger Erwartungen (Erwartungen-
nicht Erwartungserlebnisse: der Unterschied wurde weiter oben
genannt und begründet), als deren Erfüllung eben auch der leuch-
tende Schein, wie die rauchende Asche angesehen werden kann. —
Die vorigen kurzen Ausführungen sollten weder die positivi-
stische Erkenntnistheorie beweisen, noch den realistischen Stand-
Kealismus und Positivismus. 517
punkt widerlegen. Sie sollte sich nur gegen die oben angeführten
Argumente wenden. Die tiefere Entgegensetzung beider Stand-
punkte müßte mit der Diskussion des Gegenstandsbegriffs und da-
mit zugleich des Bewußtseins auf beiden Seiten einsetzen. Der
Standpunkt, von dem der Positivismus hier gefaßt ist, dürfte klar
sein. Er ruht auf der Fassung, die H. Cornelius der Erkennt-
nistheorie gegeben hat und zugleich auf der Fiktionenlehre H. Yai-
hingers.
Kantutudien. XXVU. 34
Kant-Gesellschaft.
Bericht über die Generalversammlung der Kant-
Gesellschaft am 7. und 8. Juni 1922 in Halle a. S,
Am Mittwoch, den 7. Juni abends, begann die satzungsmäßige, Ton
inländischen und ausländischen Mitgliedern außerordentlich reich besuchte
Generalversammlung mit einem zwanglosen Beisammensein im Vereinshaus,
Halle, Mittelstraße. —
Die geschäftliche Sitzung fand unter Leitung des Vorstandes,
des Geh. Oberreg.-Rates Dr. med. h. c. Meyer, Kurators der Universität
Halle- Wittenberg, dann am Donnerstag, den 8. Juni in der Aula der Uni-
versität statt. Die einzelnen Punkte der Tagesordnung wurden wie folgt
erledigt :
a) Auf Antrag der Geschäftsführer wurde von der Versammlung für
die Jahresrechnung 1920 Entlastung erteilt. Sie war in den Kant-
Studien Bd. XXVI, Heft 3—4, S. 513—517 vollständig veröffentlicht und
nach Prüfung durch das Kuratorium der Universität Halle- Wittenberg vom
Verwaltungsausschuß genehmigt worden.
b) Die Jahresrechnung 1921, die ebenfalls schon geprüft und
vom Verwaltungsausschuß genehmigt war, wurde nach Verlesung auch von der
Versammlung genehmigt; der Geschäftsführung wurde Entlastung erteilt. Sie
ist abgedruckt in den Kant-Studien, Band XXVII, Heft 3—4, S. 521—524.
C) Die wechselnden Mitglieder des Verwaltungs-Ausschusses:
Stammler, Cassirer, Lehmann, Liebert wurden einstimmig wieder-
gewählt.
An Stelle des verstorbenen Geh. -Rat Gerhard -Halle wurde der
Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Abderhalden, o. ö. Professor an der Uni-
versität Halle, einstimmig in den Verwaltungsausschuß gewählt.
Sodann wurde auf Antrag des stellv. Geschäftsführers Liebert Priv.-
Doz. Dr. Ottomar Wichmann- Halle, der Vorsitzende der Hallenser
Ortsgruppe der K.-G., einstimmig in den Verwaltungsausschuß gewählt.
d) Die beiden Geschäftsführer Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. H. Vai-
hinger-Halle und Prof. Dr. A. Liebert-Berlin, werden einstimmig wieder-
gewählt.
e) Die Erörterung über eine Erweiterung des Verwaltungs-
ausschusses wurde von der Tagesordnung abgesetzt.
f) Prof. Dr. Liebert berichtete über die Entwicklung der K.G.
und der Ortsgruppen:
Die Zahl der Mitglieder der K.G. ist in ständigem, sehr lebhaftem
Wachstum begriffen. 1920 waren es 2427, 1921 über 3000 und in diesem
Kant-Gesellschaft. 519
Jahre werden die 4000 überschritten. Bis zum Tage der Generalversamm-
lung sind im Jahre 1922 über 300 neue Jahresmitglieder und 80 neue
Förderer eingetreten. So ist die K.G-. die größte philosophische Gesell-
schaft der "Welt. Dies dauernde Wachstum der K.G. bezeugt das große,
immer noch zunehmende Interesse für die Philosophie. Das zeigt sich
auch in der ständig zunehmenden Zahl der Ortsgruppen, über deren Ver-
anstaltungen regelmäßig in den Kant-Studien berichtet wird.
Von besonderer Bedeutung ist in dieser Hinsicht die kürzlich erfolgte
Gründung der Landesgruppe Holland. (Vgl. den eingehenden Bericht
darüber in den Kant-Studien Band XXVII, Heft 1—2, S. 242—243.)
g) Auf die Veranstaltungen in Erlangen und die Gründung der
Akademie für Philosophie auf dem Burgberg in Erlangen wurde hinge-
wiesen.
h.) Endlich erfolgte noch eine vorläufige Mitteilung über eine Preis-
aufgabe, die voraussichtlich im Herbst dieses Jahres ausgeschrieben
werden wird: „Personalistische Strömungen in der Philosophie der Gegen-
wart". Preisstifter ist Herr Prof. Dr. Ph. Kohnstamm von der
Universität Amsterdam. Näheres vgl. in diesem Heft S. 532 ff.
Nach einer kurzen Pause begann dann der zweite, von Prof. Liebert
geleitete Teil, der die wissenschaftlichen Mitteilungen und
Vorträge umfaßte.
i) Als Erstes wurde das Ergebnis derJubiläums-Preisauf-
g a b e verkündigt : „Der Einfluß Kants und der von ihm ausgehenden
idealistischen Philosophie auf die Männer der Reform- und Erhebungszeit
(1806 — 1815)". Von drei eingereichten Arbeiten war eine preisgekrönt
worden, deren Verfasser, Studienrat Dr. Wagner-Cöln, anwesend
war. Das von den drei Preisrichtern erstattete eingehende Gutachten und
die Beschlußfassung über die Zuerteilung des Gesamtpreises an Dr. Wagner
sind abgedruckt in diesem Heft der Kant-Studien (Band XXVII, Heft 3 — 4,
S. 524 ff.).
k) Dann erstattete Studienrat Dr. Schmitt-Königsberg im
Auftrage der Ortsgruppe Königsberg der Kantgesellschaft Bericht über
die Vorbereitungen der Kantstadt zur Feier von Kants
zweihundert jährigem Geburtstag im Jahre 192 4. Es ist
beabsichtigt, die StoaKantiana am Dom zu Königsberg, Kants Grabmal,
neu herzurichten, sowie in der Universität ein Kantzimmer einzu-
richten, das Andenken aller Art an Kant aufnehmen soll. Ferner plant
die Ortsgruppe Königsberg der K.G. die Herausgabe eines Sammel-
werkes : „K ant im Bilde", das eine möglichst vollständige Sammlung
aller Bilder von Kant bieten soll. Die Vorarbeiten dazu sind seit einiger
Zeit im Gange; die Ortsgruppe Königsberg bittet um allseitige Unter-
stützung ihres Unternehmens. — (Die Kant- Gesellschaft hat diesen Plan
durch Ueberweisung von 10000. — Mk. gefördert.)
1) Nach dieser Einleitung erfolgten dann die wissenschaftlichen Vor-
träge. Am Vormittag sprachen:
1) Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Ernst Troeltsch-Berlin über: „Die Logik
34*
520 Kant-Gesellschaft.
des historischen Entwicklungsbegriffes". (Der Vortrag ist in dem vorlie-
genden Heft der Kant- Studien veröffentlicht.)
2) Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Theodor Ziehen-Halle : „Zum Begriff und
zur Methode der Geschichtsphilosophie". (Dieser Vortrag wird voraus-
sichtlich im ersten Heft des nächsten Jahrganges der Kant -Studien er-
scheinen.)
An beide Vorträge schloß sich eine äußerst angeregte Aussprache an,
bei der Vertreter der verschiedensten philosophischen Richtungen zu Worte
kamen.
Vor dem Mittagessen wurde auf der Freitreppe der Universität eine
vortrefflich gelungene Gruppenaufnahme gemacht. (Das Bild ist gegen Nach-
nahme von 50 Mk. zu beziehen von Photograph A. Pieperhoff, Halle,
Poststr. 15.)
m) Nach dem gemeinsamen Mittagessen sprachen
1) Prof. Dr. Emil Utitz-Rostock „Zur Grundlegung einer
allgemeinen Kunstwissenschaft" und
2) Den Schlußvortrag hielt Graf Hermann-Keyserling-
Darmstadt über das Thema : „Der Weg des wahren Fort-
schritts". Die Ausführungen dieses Vortrages finden sich in größerem
Umfange in dem im Herbst erscheinenden Buche des Grafen Keyserling
„Schöpferische Erkenntnis".
Damit schloß die eigentliche Tagung.
Am Freitag Vormittag wurde dann noch von einer Anzahl von Teil-
nehmern ein gemeinsamer Ausflug nach Merseburg unternommen und dort
der Dom, das Domkapitel und das Schloß besichtigt. Der Dom, der mit
seinen ältesten Teilen bis ins 11. Jahrhundert zurückreicht, ist kunst-
geschichtlich recht interessant und birgt viele Schätze. In der Bibliothek
des Domkapitels finden sich viele alte Handschriften, u. a. die „Merse-
burger Zaubersprüche", das älteste althochdeutsche Literaturdenkmal.
Durch Vermittlung von Herrn Prof. Utitz war es dann am Nachmittag
noch möglich, die Kunstwerkstätten auf der Unterburg Giebichenstein zu
besichtigen, wozu sich noch ein Kreis zusammenfand, der dort viel Schönes
und Interessantes zu sehen bekam. —
Damit war die diesjährige Generalversammlung zu Ende.
Wie dieses Mal so wird es hoffentlich auch zur nächsten General-
versammlung gelingen, Privatquartiere in genügender Anzahl zu beschaffen,
so daß die Kostenfrage für den einzelnen Teilnehmer eine angenehme
Lösung finden kann.
Halle a. S. Kurt Nitzschke.
Kant-Gesellschaft.
521
XVIII. Jahresbericht 1921
I. Einnahmen.
1. Jahresbeiträge: 1921 (einschließlich der freiwilligen
Erhöhungen)
2. Jahresbeiträge: Nachzahlungen für frühere Jahre .
3. Zinsen der Kant-Stiftung (durch die Universitäts-
kasse Halle a. S.)
4. Bankzinsen in Halle u. Berlin aus verschiedenen Kontos
5. Einnahmen durch den Verkauf von Veröffentlichungen :
a) Ergänzungshefte: 608.50
b) Vorträge: 749.40
c) Neudrucke: 430.40 <
d) Ergänz.-Heft 50 (Adickes): 1236.25'
e) Teuerungs- und Valutazu-
schläge: 867.95
6. Zuschuß von Dr. Konrad Wiederhold zur Herstellung
seines Ergänzungsheftes 52 (vgl. Punkt 3 der Ausgaben)
7. Zuschuß von Dr. Rudolf Carnap zur Herstellung seines
Ergänzungsheftes 56 *) (vgl. Punkt 9)
8. Zuschuß von Dr. Karl Mannheim zur Herstellung seines
Ergänzungsheftes 57: 1. Kate1)
9. Beisteuer seitens verschiedener Mitglieder zur Her-
stellung des Ergänzungsheftes 56 (Carnap); vgl. Punkt 7
10. Beisteuer von F. A. Waldmann, Osnabrück für eine
beabsichtigte Veröffentlichung von Erich Adickes; wahr-
scheinlich für „Kant und die Naturwissenschaften" . .
11. Spende: Universitäts-Bibliothek Basel
12. Spende: Dr. Brandt, Hedemora
13. Spende: Fred Braun, Zürich
14. Spende: Frau Dr. Alma Brunies, Basel
15. Spende: Prof. Clav, Bandong ........
16. Spende: Rechtsanwalt Goldberg, Berlin
17. Spende: Dr. Felix Groß, Wien
18. Spende: Prof. Dr. Joerges, Halle
19. Spende: Prof. Dr. Kohnstamm, Amsterdam ....
20. Spende: Prof. Dr. Kuhn, Kopenhagen
21. Spende: Magistrat Königsberg i. Pr
22. Spende: Magistrat Königsberg i. Pr.
Uebertrag Mk.
100390
690
1606
2062
3892
9930
1500
3000
900
2000
118
100
107
100
200
100
100
200
60
00
32
15
50
00
00
00
00
00
00
00
00
00
00
00
00
00
35000
20000
200
200
127946 57
00
00
1) Die Ergänzungshefte 56 (Carnap) und 57 (Mannheim) wurden den Mit-
gliedern der Kant-Gesellschaft im Laufe des Jahres 1922 zugestellt.
522
Kant-Gesellschaft.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
38.
39.
40.
41.
42.
Uebertrag Mk.
Spende: Schaffhausen, Munot- Verein
Spende: Prof. Nef, St. Gallen
Spende: Dr. Ninck, Winterthur
Spende: Prof. Oyama, Freiburg
Spende: Dr. H. J. Pos, Amsterdam
Spende: Dr. M. Simmen, Luzern
Spende: Robert Sostberg, Berlin
Spende: Prof. Dr. Tumarkin, Bern
Spende: Dr. Vannerus, Stockholm
Spende: Prof. Wolff, Basel
Spenden in geringerer Höhe
Einnahmen durch den Verkauf einzelner Veröffent-
lichungen an verschiedene Mitglieder
Einnahmen durch den direkten Verkauf des Ergänzungs-
heftes 50 (Adickes) (vgl. Punkt 5 d) durch Einzahlung
bei der Geschäftsstelle
Einnahmen durch nachträgliche Gutschrift auf frühere
Papierlieferung und für früher bezahlte Verpackung der
Papierballen (betrifft die Lieferung des Papiers für die
„Kant-Studien")
Zinsen der Emil Sidler-Preisaufgabe : 2 Jahre . . .
(Kapital der Stiftung: 5000 Mk.). Die Preisauf-
gabe gelangt erst zu einem späteren Termin zur
Ausschreibung.
Beiträge für die Ortsgruppe Berlin .
Für das Verleihen der Mitgliederliste an verschiedene
Verlagsbuchhandlungen
Spende: Ministerium für Kunst, Wissenschaft und Volks-
bildung
Zinsen vom Fernsprechamt für den Fernsprecher . .
Einnahme aus dem Kapital des Fördererfonds; ent-
nommen zur Deckung des Unterschusses und zum Aus-
gleich zwischen den Einnahmen und Ausgaben des Jahres
1921 J)
Gesamteinnahmen Mk.
127946
200
100
100
200
200
460
100
200
100
100
1205
1310
432
696
898
1074
401
2000
21
37377 33
57
00
00
00
00
00
00
00
00
00
00
90
50
00
10
75
00
00
00
60
17512375
1) Nach den Bestimmungen der „Förderer" werden die Mittel des „Förderer-
fonds" der Geschäftsführung zur Verfügung gestellt zur Ermöglichung der Zwecke
der Kant-Gesellschaft ; die Geschäftsführung ist verpflichtet, über die Verwendung
dem Verwaltungsausschuß und der Allgemeinen Mitglieder- Versammlung Rechen-
schaft abzulegen. — Die Einrichtung dieses Fördererfonds ist auf Grund eines
Berichtes seitens der Geschäftsführung vom Vewaltungsausschuß der Kant-Gesell-
schaft genehmigt worden (26. Januar 1920). Vgl. Kant- Studien, Band XXV, Heft 1
S. 84 ff. — lieber die Höhe dieses Fonds und über die demselben zugeführten
Beträge wird regelmäßig in den Kant-Studien Bericht erstattet.
Vaihinger. Lieber t.
Kant-Gesellschaft.
523
IL Ausgaben.
1. Honorare an die Mitarbeiter
2. Kant-Studien; Gesamtherstellungskosten : Papier, Satz,
Druck, Umschlag, Broschur
3. Drei Ergänzungshefte: Satz, Druck, Papier, Bro-
schur, Redaktion usw.
a) Nr. 52 (Wiederhold) = 9940.90 *) )
b) „ 53 (Ewald) = 6978.25 2) }
c) „ 54 (Goedeckemeyer) = 12356.00 )
4. Zwei Vorträge: Satz, Druck, Papier, Broschur, Re-
daktion usw.
a) Nr. 24, 2. Aufl. (Radbruch-Tillich) = 4345.00 j
b) Nr. 26 (Scholz) = 7587.70 j
5. Versendungskosten für die Veröffentlichungen
der Kant-Gesellschaft (Generalversendung): Kant-Studien;
Ergänzungshefte, Vorträge; Porti, Verpackungspappen,
Bindfaden, Arbeitslohn
6. Frachtkosten, bes. für den Verkehr usw. mit der Papier-
fabrik und den Druckereien : Porti für Fracht der Papier-
ballen auf der Eisenbahn an die verschiedenen Druckereien
7. Verschiedene Drucksachen: Neujahrsmitteilungen,
verschiedene Prospekte, Werbe- und Auskunftsmaterial,
Interessentenformulare, Eintrittskarten zu den Vorträgen,
Mitgliedskarten, Postkarten, Mahnbriefe, Satzungen usw.
8. Repräsentationsausgaben und Reisen des stell-
vertr. Geschäftsführers nach Halle und nach anderen Städten
zu Vorträgen in verschiedenen Ortsgruppen, verschiedener
Redner zu Vorträgen usw
9. Beiträge an wissenschaftliche Gesellschaften und Unter-
nehmungen
10. Verschiedenes: Zustellungs- und Einziehungsgebühren
für die Jahresbeiträge; Gebühren an die Deutsche Bank
für die Verwaltung der Gelder; Abonnement auf die
Deutsche Literatur - Zeitung ; Beschaffung einzelner Zeit-
schriften und Rezensionsexemplare für die Kant - Studien ;
Buchbinderarbeiten; Aktenpapier; Briefbogen; Umschläge;
Tinte; Federn; Bleistifte; Packmaterial; Bindfaden; Gummi-
stempel; Klammern; Telegramme; Versicherungsmarken für
Uebertrag Mk.
8659
51684
29275
11933
18317
5158
4712
2894
189
65
05
15
70
85
45
50
45
00
13282480
1) Vgl. Nr. 6 der Einnahmen: Zuschuß des Verfassers: 9930.00 Mk.
2) Laut Jahresbericht 1920, No. 9 der Einnahmen wurden zur Herstellung
dieses Ergänzungsheftes von verschiedenen Mitgliedern beigesteuert: 4550.00 Mk.
(Diese Summe bereits unter den Einnahmen des Rechnungsjahres 1920 gebucht.)
524
Kant-Gesellschaft.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
Uebertrag Mk.
die Sekretärin ; Gebühren für die Ortskrankenkasse ; Farb-
bänder; Veranstaltung der Vorträge; Kontobücher für die
Mitgliederlisten; Formulare für die Auslandssendungen;
Zahlkarten usw
Lieferung früherer Jahrgänge der Kant-Studien,
Ergänzungshefte, Vorträge, Neudrucke an Universitäts-
seminare und an verschiedene Mitglieder und Bibliotheken
Zuschüsse für die Ortsgruppen Karlsruhe i. B.
Hannover, Stuttgart, Heidelberg
Schreibhilfe: a) Vaihinger = 486.00 )
b) Frischeisen-Köhler = 950.50 |
c) Liebert = 6419.90 )
Porto-Ausgaben:
a) Vaihinger = 264 Nummern = 197.50 )
b) Frischeisen-Köhler = 321 „ = 261.75 |
c) Liebert = 15018 „ = 4300.65 )
Fernsprecher
Entschädigung für den stell v. Geschäftsführer Prof. Liebert
Entschädigung für den Assistenten
Gesamtausgaben Mk
Zusammenstellung:
Einnahmen 175123.75 Mk.
Ausgaben 175123.75 „
132824
4131
910
1200
7856
4759
990
20000
2450
175123
80
25
90
00
40
90
50
00
00
75
Siebente (Jubiläums-)Preisaufgabe.
Urteile der Preisrichter.
Die Kant-Gesellschaft hat im Oktober 1913 als Preisaufgabe
das Thema gestellt:
„Der Einfluß Kants und der von ihm ausgehenden deutschen idealistischen
Philosophie auf die Männer der Heform- und Erhebungszeit."
Nach wiederholter Fristverlängerung sind bis zum endgiltigen Ab-
lieferungstermin, dem 22. April 1921, folgende drei, durch Kennworte be-
zeichnete Arbeiten eingegangen:
1. „Das Zeitalter kann nur durch den. Geist geheilt und gekräftigt
werden". E. M. Arndt, 120 Seiten, Folio, Handschrift.
2. „Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein ganzes strahlendes
Sonnensystem auf einmal". Jean Paul, 179 Seiten Quart, Hand-
schrift.
3. „Zur Form". 91 Seiten Folio, Maschinenschrift,
Die unterzeichneten Preisrichter stimmen in der Auffassung überein,
daß wesentlich neue Zusammenhänge in Bezug auf das Thema nicht mehr
Kant-Gesellschaft. 525
zu entdecken waren, daß aber die Aufgabe, die Fülle quellenmäßig fest-
stehender Einzelzüge zu einem historischen Gemälde zu vereinigen, um so
schwieriger war, als dabei die verschiedensten Geistesgebiete durchschritten
werden mußten. Auch lag die Gefahr nahe, die Kraft bloß literarischer
Einflüsse zu überschätzen, oder alles auf Kant als eine Art Zentralsonne
zurückzuführen, während vieles in "Wahrheit aus der Aufklärung, der fran-
zösischen Revolution, dem Physiokratismus usw. abzuleiten ist. Umgekehrt
bestätigen die eingegangenen Arbeiten, daß das Ethos großer Denker auch
auf solche Zeitgenossen ausstrahlen kann, die in die strenge rationale Be-
gründung ihrer philosophischen Systeme niemals eingedrungen sind.
Die wünschenswerte Verbindung von Quellenforschung, philosophischem
Geist und zusammenschauender Darstellungsgabe findet sich in keiner der
vorliegenden Abhandlungen. Infolgedessen sind auch gewisse philosophische
Hauptpunkte nicht so herausgekommen, wie es der historische Sachverhalt
forderte. Man hätte vor allem eine genaue Abgrenzung erwartet, wie groß
der Anteil der strengen Kantischen Lehre einerseits, der besonders von
Fichte und Schelling ausgehenden spekulativen Philosophie andererseits ein-
zuschätzen ist. Das Kriterium für die über Kant hinausgehenden Lehren
hätte sich vermutlich in folgenden drei Hauptpunkten gefunden: in der
neuplatonisch gefärbten Ideenlehre, nach der die Ideen metaphysische
Weltmächte und nicht bloß Regulative oder Postulate sind; in der Ge-
schichtsphilosophie, die die Vernunft selbst in einen planmäßig be-
stimmten Entfaltungsprozeß hineinzieht; und endlich in der Konstruktion
der Rationalität als einer individuellen Darstellung der ewigen Mensch-
heitsidee unter den Bedingungen der Zeit. Eine ganze Anzahl von Re-
formen steht auf dem Boden dieser Grundansichten und gehört deshalb
mehr in den Einflußbezirk von Fichte als von Kant. Besonders das an-
geblich orthodoxe Kantianertum von Th. Schön hätte unter diesem Ge-
sichtspunkt nachgeprüft werden müssen. Zusammenhängend sind diese
Fragen in keiner der Preisaufgaben behandelt worden. Wohl aber be-
handelt die zweite die Einzelabhängigkeiten im allgemeinen richtig, während
die dritte das Verdienst hat, von der grundsätzlichen Frage auszugehen, in
welchem Sinne von einem „Einflußhaben" auf Geistesformen überhaupt die
Rede sein kann.
Im einzelnen sind die Preisrichter zu folgenden Urteilen gelangt:
1. Die erste Arbeit mit dem Motto: „Das Zeitalter ..." gibt eine an-
genehm lesbare Darstellung in einer Reihe von Einzelbildern, die die Philo-
sophen, philosophisch beeinflußten Staatsmänner und einige Dichter dieser
Reformzeit an uns vorüberziehen läßt. Jedoch mangelt durchgängig
eigentliche Quellenforschung, die die Arbeit erst zu einer wissenschaftlichen
erheben würde. Dies gilt schon von dem ersten Teil, der sich mit Kant,
Schiller und Fichte in recht populärer und zum Teil oberflächlicher Form
beschäftigt. Im Abschnitt über die Staatsmänner ist zwar Vollständigkeit
der Namen angestrebt, dabei aber mancher herangezogen, der zu dem Geist
der preußischen Reform nur in sehr entfernten Beziehungen steht. Die
flüchtigen Schlußbemerkungen über die Dichter müßten, wenn man diese
überhaupt berücksichtigt, wesentlich vertieft werden, besonders unter' Ver-
wertung der inzwischen neu erschienenen Untersuchungen von Ernst Cassierer.
526 Kant-Gesellschaft.
— Als Ganzes hat die Arbeit nur den Wert einer anregenden Uebersicht,
nicht aber einer wissenschaftlichen Forschung oder auch nur einer ab-
schließenden gründlichen Verarbeitung fremder Ergebnisse.
2. Wesentlich höher steht die Arbeit mit dem Motto: „Kant ist . . .
ein ganzes Sonnensystem". Sie beruht auf eigener Quellenbenutzung, die
sich allerdings auf gedrucktes Material beschränkt und auch dies nicht er-
schöpfend heranzieht. Die Darstellung ist so angelegt, daß die Persönlich-
keiten der Politiker in den Vordergrund gerückt werden, von Stein, Harden-
berg und Altenstein an über Humboldt, Süvern und eine Anzahl mehr in
zweiter Linie stehender Männer bis zu den Trägern der Heeresreform. Ihre
geistige und politische Individualität wird im allgemeinen zutreffend ge-
schildert ; auch Einzelheiten der Verfassungsgeschichte werden sorgfältig be-
richtet, wobei freilich sehr oft auf Kant und Fichte zurückgeführt wird,
was ebenso gut der allgemeinen Zeitatmosphäre oder der ursprünglichen
Veranlagung des Betreffenden entstammen kann. Der Hauptmangel der
Arbeit liegt darin, daß sie in eine Reihe zusammenhangloser Einzelbilder
zerfällt. Sie behandelt den Gegenstand mosaikartig, ohne wirklich durch-
dringende und beherrschende Gedanken. Schon die Hauptsache: das philo-
sophische Denken der Zeit, gelangt gleichsam nur gelegentlich und nach
Personen zerstückt zur Darstellung. Es fehlt aber auch sonst an gestalten-
der Phantasie und bildgebender Formkraft. Der Verfasser ist sich dieser
Mängel selbst bewußt. In einer Vorbemerkung entschuldigt er sie mit
Kriegsbehinderungen und Verwundung. Er ist nicht über eine Folge von
Einzelabhandlungen hinausgekommen, in der manches sich wiederholt, an-
deres (z. B. der Abschnitt über Altenstein) zu weitschweifig geraten ist,
während wieder anderes (z. B. der abschließende Süvernsche Gesetzentwurf
von 1819) ergänzt werden müßte. Zur Drucklegung in der vorliegenden
Gestalt können die Beurteiler unter keinen Umständen raten. Ob aber eine
wirkliche Formgebung gelingt, bleibt abzuwarten.
3. Die dritte Abhandlung endlich mit dem Kennwort „Zur Form"
zeigt das größte spekulative Talent, beschäftigt sich aber leider zu wenig
mit dem gestellten Thema. Der Verfasser beginnt mit der allerdings
interessanten Vorfrage, was man sich unter dem Einfluß einer Philosophie
auf Männer und Zeiten zu denken habe, und gibt im übrigen mehr seinen
eigenen philosophischen Standpunkt, als daß er Kant oder Fichte oder gar
die Politiker der Reformzeit behandelte. Seine Arbeit hat daher etwas
Modern-Expressionistisches. Sie ergeht sich in einer überphilosophischen,
sich fortwährend verschränkenden, drehenden und windenden Darstellungs-
weise, aus der nur das eine greifbar herausspringt, daß Kant als die
schlechtweg entscheidende Wendung des deutschen Geisteslebens vergöttert
wird. An den historisch gegebenen Zusammenhang des Kantischen Sy-
stems hält sich der Verfasser dabei sehr wenig. Er widmet fast zwei
Artikel der Arbeit dem Nachweis, daß Kant in seiner apriorischen Frei-
heitslehre eine neue „Form" für den deutschen Geist geschaffen habe.
Sein Verdienst liege ausschließlich in dieser Richtung, also in seiner
Metaphysik, nicht in der Kritik der Wissenschaft, die er zu Unrecht
damit verkoppelt habe und die bei Hume viel besser geleistet sei. Auch
seine Wirkung auf das öffentliche Leben der Zeit stamme allein aus
Kant-Gesellschaft. 527
dem schöpferischen Willen zur Form: „Die Ethik Kants ist eine Anleitung
dazu, das Leben in bejahender Form zu leben". — Obgleich nicht ge-
leugnet werden kann, daß sich in diesen Ausführungen mancher starke und
fruchtbare Gedanke verbirgt, so vermißt man doch zu sehr die Ehrfurcht
vor der historischen Tatsache.
Schon in die Philosophie Kants wird des Verfassers eigener Stand-
punkt mehr durch Willensentscheidungen hineingedrückt, als daß eine histo-
risch einführende Interpretation auch nur versucht würde. Aber auch sonst
werden die Tatsachen in einer Weise vergewaltigt, daß man sich nichts
geschichtsfremderes denken kann. Die moderne Meinung, daß man eine
Philosophie nicht darstellen, sondern über sie philosophieren solle, wird hier
anscheinend auf die Geschichte überhaupt ausgedehnt; offenbar sind dabei
jungdeutsche Konstruktionen der Nationalidee stärker maßgebend gewesen
als der historische Sinn. Da nun überdies nach einer so umständlichen Ein-
leitung dem Thema selbst, nämlich den Männern der Reformzeit, am Schluß
nur etwa zehn Seiten sehr flüchtiger und allgemeiner Bemerkungen ge-
widmet werden, so kann die ganze Arbeit nicht eigentlich als Erfüllung
der Preisaufgabe betrachtet werden. Sie scheidet — trotz der angedeuteten
philosophischen Originalität — für die Beurteilung aus, da sie sich grund-
sätzlich nicht auf den Boden der historischen Forschung stellt. — —
Nach eingehender Erwägung kommen die Preisrichter sonach zu dem
Ergebnis, daß zwar keine der Arbeiten die Hoffnungen ganz erfüllt, die
zur Themastellung Anlaß gegeben haben. Denn keine gibt ein wirklich
abschließendes Bild des Anteiles der Philosophie an der politischen Be-
wegung der preußischen Reformzeit. Jedoch steht die zweite Arbeit (mit
dem Motto: „Kant... ist ein ganzes Sonnensystem") infolge ihrer fleißigen
und sorgfältigen Einzeluntersuchungen so weit vor den anderen voran, daß
ihr trotz der hervorgehobenen Einschränkungen der erste Preis im Betrage
von 1500 Mark erteilt werden soll.
Die Preisrichter stellen es dabei dem Vorstand der „Kant-Gesellschaft"
anheim, wie weit er aus Rücksicht auf den inzwischen erheblich gesunkenen
Geldwert den Preis aus den verfugbar bleibenden Summen des zweiten und
dritten Preises zu erhöhen geneigt ist.
gez. Lenz. Meinecke. Spranger.
Anmerkung der Geschäftsführung: Als Verfasser der zweiten
Arbeit, also als Preisträger ergab sich, wie bereits oben S. 519 mitgeteilt wurde,
Herr Studienrat Dr. Wagner in Cöln, dem von dem Vorstand der Kant-Gesellschaft
die Summe von 4000 Mk. eingehändigt wurde.
Lebenslauf. (Dr. Wagner.)
Am 27. 1. 78 zu Darmstadt geboren, machte ich Ostern 1896 meine
Reifeprüfung an dem Realgymnasium meiner Heimatstadt und studierte
dann deutsche, englische, romanische Philologie und Geschichte an den
Universitäten Berlin und Gießen. Hier bestand ich S.S. 1900 das Staats-
examen für das höhere Lehramt im Großherzogtum Hessen. Im Winter
1904/5 promovierte ich mit einer germanistischen Arbeit bei Prof. Dr.
528 Kant-Geseilschaft.
Behaghel in Gießen, trat dann aus dem Großh. Hess. Staatsdienst aus und
übernahm Ostern 1905 eine Stelle am Schillergymnasium in Köln -Ehren-
feld, die ich zur Zeit noch verwalte. Zu meinen unvergeßlichen Lehrern
gehört der nun verstorbene Vertreter der Philosophie in Gießen, Prof. Dr.
Siebeck, dessen sämtliche Vorlesungen ich hörte. Er war kein Redner,
aber der Gedankengang seiner Vorlesungen kam in so klarer und fein
geschliffener Form zum Ausdruck, daß von ihm eine Fülle von Anre-
gungen auf seine Hörer ausging. Er steht mir auch heute noch so lebhaft
vor der Seele, daß ich sagen darf, er war es, der mir zuerst und aufs
Nachhaltigste eine Brücke zur Philosophie schlug. Diese Beziehung wurde
genährt durch meine berufliche Tätigkeit, durch den deutschen Unterricht
in Prima, namentlich durch die mehrjährige Ausdeutung von Schillers
Gedankenlyrik und vor allem seines Wallenstein. Eine eingehendere Be-
schäftigung mit Kant, mit Werken von Windelband, Kuno Fischer, Paulsen
u. a. war die Folge. Durch den Krieg aus meiner Amtstätigkeit und pri-
vaten Beschäftigung herausgerissen, trat ich nach meiner Entlassung aus
dem Lazarett, als ich meine berufliche Tätigkeit wieder aufgenommen hatte,
1917 in die Kantgesellschaft ein. Bei der Durchsicht der Kantstudien
stieß ich auf das Preisausschreiben, welches mich bestimmte, vorliegende
Arbeit in Angriff zu nehmen. In den allerersten Anfängen stehend, wurde
ich Ende 1917 wieder eingezogen, sodaß ich erst nach unserm Zusammen-
bruch fortfahren konnte. Die Verschiebung des Endtermins auf den 20. 4. 21
durch die Geschäftsleitung machte es mir möglich, zu einem vorläufigen
Abschluß zu kommen. Bitter schwer war es für mich, neben der beruf-
lichen Tätigkeit noch genügend Zeit zu angestrengter wissenschaftlicher
Tätigkeit zu finden. Manchmal wollte der letzte Funken des Muts er-
löschen. Der Drang nach Betätigung in rein geistiger Sphäre siegte.
Liegt nun auch der Haupterfolg einer derartigen wissenschaftlichen Arbeit
in der geistigen Selbstbereicherung, so soll mir die äußere Anerkennung,
die ihr durch den Spruch der Preisrichter zuteil geworden ist, ein Ansporn
zu weiterer Arbeit sein. Dr. phil. Wilhelm Wagner.
Akademie für Philosophie in Erlangen.
Am Montag, den 12. Juni 1922 wurde die auf dem Burgberg zu
Erlangen gelegene und von Dr. Rolf Hoffmann gestiftete Akademie er-
öffnet. Eine Aufforderung zur Teilnahme an den Eröffnungsfeierlichkeiten
in Erlangen waren an die Mitglieder der Kant - Gesellschaft zugleich mit
der Einladung zur Teilnahme an der Generalversammlung in Halle ergangen.
Das Programm der Veranstaltungen in Erlangen gestaltete sich wie folgt:
Montag, den 12. Juni 1922.
Nachm. 5 Uhr: 1. Eröfmungsworte : Dr. Rolf Hoff mann. 2. Ansprache:
Der Oberbürgermeister von Erlangen, Herr Dr. Klippel. 3. An-
sprache: Geh. Reg.-Rat Herr Prof. Dr. Hans Vai hinger -Halle im
Namen der Kant- Gesellschaft. 4. Ansprache: Herr Prof. Dr. Paul
H e n s e 1 - Erlangen, Ehrenvorsitzender der Ortsgruppe Nürnberg-
Fürth- Erlangen. — Besichtigung der Akademie.
Kant-Gesellschaft. 529
7 Uhr: Konzert (Kammermusik).
8 Uhr: Bewirtung der Gäste im Park der Akademie (unentgeltlich).
Dienstag, den 13. Juni 1922.
Vormittags: Besichtigung Erlangens: Schloß — Seminargehäude der Uni-
versität — Orangerie — Gemäldegalerie — Altes Rathaus — Haus
des Volksbildungsbundes — des Instituts für Röntgentiefentherapie
(Professor Wintz). Dieses Röntgen-Institut ist das größte der Erde.
Bei der Besichtigung hielt Professor Wintz einen eingehenden Vortrag,
"Waldspaziergang nach Spardorf und Schloß Marioffstein, wo für Mittag-
essen Vorsorge getroffen war.
Nachmittags ^5 Uhr: Vortrag des Herrn Prof. Dr. Paul Hensel:
„Wilhelm von Humboldt".
6 Uhr: Vortrag des Herrn Prof. Dr. Arthur Liebert: „Die
geistige Krisis der Gegenwart".
8 Uhr: Bewirtung der Gäste im Park der Akademie (unentgeltlich).
3/49 Uhr: Klavier-Konzert: Winfrid Wolf -Berlin.
OKÜT" Anfragen wegen der Veranstaltungen auf der Akademie und
wegen der Akademie sind ausschließlich an Dr. Rolf Hoff mann,
Akademie auf dem Burgberg, Erlangen, zu richten.
Ueber die wissenschaftliche Leitung, über die ins Auge gefaßten
Pläne und Arbeiten, wie überhaupt über die ganze Einrichtung und Betä-
tigungsform der Akademie können voraussichtlich erst in einem späteren
Heft der Kant-Studien genauere Angaben gemacht werden. —
Ortsgruppe Tübingen.
Bericht vom Winter-Semester 1921/22.
Seit dem S.-S. 1921 fanden hier regelmäßig Zusammenkünfte der
Mitglieder der allgemeinen Kantgesellschaft statt. Da sich unsre Vortrags-
abende im W.-S. 1921/22 eines regen Besuches erfreuten und in weiteren
Kreisen Beifall fanden, entstand das Bedürfnis nach einem festeren Zu-
sammenschluß. So wurde am 27. Januar 1922 eine Ortsgruppe der Kant-
gesellschaft in Tübingen gegründet, deren Ehrenvorsitz Herr Prof. E. Adickes
übernahm. Die aktive Vorstandschaft führt Herr E. Keller, Repetent am
Tübinger Stift.
Der Zweck unsrer Vereinigung ist die gemeinsame Pflege der philo-
sophischen Interessen. Wir nehmen daher außer den Mitgliedern der Kant-
gesellschaft auch Ortsmitglieder auf. Der Semesterbeitrag ist auf 6 Mk.
festgesetzt. Das dankenswerte Entgegenkommen der Stuttgarter Ortsgruppe
ermöglicht uns ein engeres Zusammengehen mit der schwäbischen Schwester
in der Form, daß wir unsren Mitgliedern beiderseits dieselben Vergünsti-
gungen bei unsren Veranstaltungen gewähren.
Den Eröffnungsvortrag hielt Herr Repetent Keller über das Thema
„Spengler als Philosoph". Weitere Vorträge hielten die Herren cand. theol.
Hof mann: „Vaihingers Philosophie des Als ob", cand. phil. Spiegel-
530 Kant-Gesellschaft.
berg: „Hegels Geschichtsphilosophie", Professor Häring jr.: „Der Begriff
Intuition in den modernen Geistesströmungen", Professor Dr. E. M e t z g e r :
„Der Neukantianismus in der Rechtsphilosophie", Dr. phil. Paret: „Das
Wesen des Individuellen in der Geschichte", Stadtpfarrer Lic. G. Paber:
„Husserls Phänomenologie und ihre Bedeutung für die Religionsphilosophie". —
Der Vorstand der Ortsgruppe Tübingen.
Ortsgruppe München.
Im Jahre 1921 sind in der Münchner Ortsgruppe der Kantgesellschaft
folgende Vorträge gehalten worden :
Prof. Dr. Emil Wolff, Hamburg, sprach am 3. Januar 1921 über
„Hegel und die Philosophie unserer Zeit".
Professor Dr. I. M. Verweyen, Bonn, sprach am 14. Februar 1921
über „Die Beziehungen der mittelalterlichen und der modernen Erkenntnislehre".
Professor Dr. E. von Aster, Gießen, sprach am 7. März 1921 über
„Idealistische und realistische Philosophie".
Professor Dr. Erich Becher, München, sprach am 24. Mai 1921 über
„Die Führerrolle des Seelischen im Organismus".
Dr. Friedrich Seifert, München, sprach am 30. Juli 1921 über
„Prinzipielle Bemerkungen zur Philosophie des Lebens".
Professor Dr. Karl Voßler, München, sprach am 21. Juli 1921 über
„Poesie und Prosa".
Professor Dr. Richard Hamann, Marburg, sprach am 28. Oktober 1921
über „Die Kategorie des Künstlerischen".
Im Jahre 1922 sind in der Münchner Ortsgruppe der Kantgesellschaft
folgende Vorträge gehalten worden:
Professor Dr. Janentzky, München, sprach am 20. Februar 1921
über „Mystik und Rationalismus".
Geheimrat Professor Dr. von Beling, München, sprach am 9. Mai
1922 über „Rechtswirklichkeit und Rechtsideal".
Dr. Alfred Baeumler, München, sprach am 26. Juni 1922 über
„Hegel und Kierkegaard".
Dr. Felix Noeggerath, München, sprach am 22. Juli über „Pro-
bleme des Relativismus in den exakten Wissenschaften".
Ortsgruppe Heidelberg 1922/23.
I. Diskussionsabende über „Hauptrichtungen der
Geschichtsphilosophie".
2. November 1922: Einleitungsvortrag von Dr. Rothacker.
7. Dezember 1922: Augustin, Dr. Salin.
11. Januar 1923: Montesquieu und Rousseau, Dr. Bosch.
1. Februar 1923: Kant, Prof. Ernst Hoffmann.
15. Februar 1923: Der deutsche Idealismus, Dr. GHockner.
26.
Kant-Gesellschaft. 531
April 1923: Marx und Comte, Dr. Kraus.
17. Mai 1923: Die Fachhistorie (Droysen und seine Schule),
Dr. Rothacker.
7. Juni 1923: Diskussionsabend über Spengler.
5. Juli 1923: Das historische Verstehen (Simmel, Max, Weber
Troeltsch, Spranger und Scheler), Dr. Mannheim
II. Öffentliche Vorträge.
In Aussicht genommen sind Vorträge von den Professoren Liebert,
Joel, Ungerer und Hensel. Dieselben werden durch Anschläge be-
sonders bekanntgegeben. Die Geschäftsleitung.
NB. Die Diskussionsabende finden abends 8 Uhr c. t. im Hörsaal des geo-
graphischen Instituts ( Seminariengebäude) statt. — Anfragen und
Anmeldungen an den Schriftführer stud. phil. Herr mann, Bergstr. 114.
Ortsgruppe Erlangen-Nürnberg-Fürth.
Ab Montag, den 7. August 1922 um 774 abends hält Professor Dr.
Paul H e n s e 1 - Erlangen eine Woche lang täglich um dieselbe Zeit in der
Akademie auf dem Burgberg eine Vorlesung:
„Einführung in die Kantische Philosophie".
Für Mitglieder frei. Nichtmitglieder, die eingeführt werden können,
zahlen 50 Mk. für den Kurs.
Der Vorstand der Ortsgruppe.
Anmeldungen zu dieser Ortsgruppe sind zu richten an Dr. Rolf
Hoffmann, Erlangen, Akademie auf dem Burgberg.
Preisänderung.
In unseren Allgemeinen Mitteilungen in den „Kant- Studien", Band
XXVH, Heft 1 — 2 Seite 250 war angegeben, daß der Verlag von Felix
Meiner, Leipzig das Heft 4 des 2. Bandes der „Annalen der Philosophie"
auf Wunsch den Mitgliedern der Kant-Gesellschaft zu dem Vorzugspreis
von 5. — Mk. statt eines Ladenpreises von 8. — Mk. zustellt.
Wie uns die Verlagsbuchhandlung jetzt mitteilt, kostet das Heft nun-
mehr regulär im Buchhandel 40. — Mk. Der Verlag will aber den Mit-
gliedern der Kant-Gesellschaft das Heft zu einem Vorzugspreis von 20 Mk.
zustellen (der Geldentwertung entsprechend). Interessenten wollen sich gef.
nicht an die Geschäftsführung der Kant-Gesellschaft, sondern direkt an den
Verlag von Felix Meiner, Leipzig, Kurzestr. 8 wenden.
Das Heft enthält unter anderm eine Reihe von Aufsätzen über die
„Philosophie des Als Ob" von Hans Vaihinger, so den Vortrag von Professor
Julius Schultz : „Die Fiktion vom Universum als Maschine und die Korre-
lation des Geschehens" und eine Arbeit von Geheimrat Vaihinger: „Ist
die Philosophie des Als Ob Skeptizismus?"
Zehntes Preisausschreiben der
Kant- Gesellschaft.
Thema:
Personalismus und Idealismus als Grundtypen
der Weltanschauung,
erläutert und beurteilt an den gegenwärtigen Versuchen
einer personalistischen Philosophie.
Preise :
1. Preis: 9000. — Mk. ) Gerechnet u. eingezahlt an die Kasse der Kant-
2. Preis: 6000. — Mk. ( Gesellschaft zu einem Dollarstand von 250 Mk.
Die Preise werden bei der Auszahlung eventuell dem dann
gültigen Dollarstand entsprechend erhöht.
Erläuterung.
Es lassen sich zwei Typen der Weltanschauung danach unterscheiden
ob das Gültige in der Form des Allgemeinen, Abstrakten (der absoluten
Vernunft, der Idee, des Gesetzes) oder in der Form einmaliger, konkreter
Ganzheiten (Personen, Persönlichkeiten) gefaßt wird. Man kann jenen als
den idealistischen, diesen als den personalistischen Typus bezeichnen.
In der Geschichte des philosophischen Denkens ist bis jetzt der erste
Typus weitaus am stärksten vertreten worden. Wohl finden sich bei
Aristoteles und Leibniz, in neuerer Zeit bei Eduard von Hartmann, Lotze,
Nietzsche, sowie an einzelnen Stellen idealistischer Systeme (z. B. in Kants
Lehre von der sittlichen Persönlichkeit) Ansätze zum Personalismus. Die
eigentliche Vertretung dieser Ueberzeugung wurde aber bisher meist dem
naiven Personalismus überlassen, wie er sich, abseits von der Philosophie,
in Mythus, Religion, Kunst, tätigem Leben äußert. Erst in unserer Zeit
hat sich die Philosophie die Aufgabe gesetzt, personalistische Ueberzeu-
gungen mit den Hilfsmitteln systematischer und kritischer Methodik zu
durchdenken. Hierbei haben sich eigenartige Beziehungen positiver und
negativer Art zu den Kategorien des abstrakten Idealismus herausgebildet.
Diese Beziehungen zu untersuchen, soll die Aufgabe der Preisschrift sein.
Hierfür ist es nicht erwünscht, daß die Gedankengänge der idealistischen
Systeme, die ja bereits in aller Gründlichkeit philosophisch durchgearbeitet
Kant-Gesellschaft. 533
sind, nochmals ausführlich behandelt werden. Vielmehr sind die persona-
listischen Ansätze und Systemversuche unserer Zeit zum Mittelpunkt der
Arbeit zu machen. Von diesem Mittelpunkt aus soll der Bearbeiter die
genannten Beziehungen zum Idealismus darlegen und zu ihnen kritisch
Stellung nehmen.
Es wird vorausgesetzt, daß die der eigentlichen Philosophie angehö-
rigen Ansätze zu einem Personalismus, wie sie etwa in der Dilthey sehen,
in der südwestdeutschen Schule, bei Eucken, Simmel, Troeltsch, in der
Ethik Schelers zu finden sind, dann besonders der Ausbau der Idee des
Personalismus in dem metaphysischen System William Sterns berücksichtigt
werden. "Weiterhin ist den Bearbeitern die Heranziehung verwandter
Gedankengänge aus der nichtdeutschen Philosophie freigestellt. Ebenso ist
es ihnen überlassen, in welchem Umfange sie analoge Gedanken in den
Spezialwissenschaften (z. B. die vitalistische Hypothese in der Biologie,
das Gestaltsprinzip in der Psychologie, die verstehende Methode in der
Geschichtsschreibung, den Begriff der juristischen Persönlichkeit in der
Rechtswissenschaft usw.) einbeziehen wollen. —
Dies sind im großen und ganzen die Richtlinien, die für die Bear-
beitung des Themas maßgebend sind. Sie bezeichnen aber nur den allge-
meinen Rahmen, innerhalb dessen nun die freie Gestaltung der Darlegungen
erfolgen wird.
Für die Bewerbung an diesem Preisausschreiben gelten folgende Be-
stimmungen :
1. Die Bewerbungsschriften sind an das „Kuratorium der Universität
Halle a. S." einzusenden.
2. Die Ablieferungsfrist läuft bis zum 1. April 1925. Die Preie-
verkündigung findet möglichst in der darauf folgenden General-
versammlung, spätestens bis Pfingsten 1926 statt.
3. Jede Arbeit ist mit einem Kennwort zu versehen. Name und An-
schrift des Verfassers dürfen nur in geschlossenem Umschlag bei-
gefügt werden, das mit dem gleichen Kennwort zu überschreiben ist.
4. ÜTur deutlich hergestellte Manuskripte werden be-
rücksichtigt. Jeder Arbeit ist ein Verzeichnis der benutzten
Literatur, sowie eine recht genaue Inhaltsangabe beizufügen.
5. Die Blätter des Manuskripts müssen mit Seitenzahlen und mit Rand
versehen sein. Nur die Vorderseite der Blätter soll beschrieben
werden. Das Manuskript kann aus losen Blättern in einer mit
Bändern versehenen Mappe bestehen. Herstellung der Bewerbungs-
schriften durch Schreibmaschine ist sehr erwünscht.
6. Die Arbeiten müssen in deutscher Sprache abgefaßt sein.
7. Preisrichter sind:
Prof. Dr. William Stern -Hamburg
Prof. Dr. Karl Jaspers -Heidelberg
Prof. Dr. Theodor L i 1 1 - Leipzig.
~8. Der erste Preis beträgt 3/ö, der zweite 2/ö der ausgesetzten Summe.
Entsprechen jedoch die eingelaufenen Arbeiten in ihrem wissen-
schaftlichen Wert nicht diesem Verhältnis, so können die Preis-
richter nach freiem Ermessen Preise in einer anderen Abmessung
Kantetndien XXVH. 35
534 Kant-Gesellschaft.
austeilen oder eventuell die Gesamtsumme einer einzigen, besonders
wertvollen Arbeit zuweisen. Ist keine der eingelaufenen Arbeiten
eines Preises würdig, so fällt die Summe an die Kant-Gesellschaft
und zwar an den „Fördererfonds" derselben zur freien Verfügung
für die Zwecke der Gesellschaft. Die Entscheidung über die Ver-
wendung der Summe steht dann der Geschäftsführung zu. Die
Kant - Gesellschaft behält sich vor, falls dazu Mittel vorhanden
sind oder zusammengebracht werden können, nach Vorschlag der
Preisrichter die Preise zu erhöhen und ev. noch weitere Preise
hinzuzufügen. Die Preisrichter haben auch das Recht, solchen
Arbeiten, denen zwar kein Preis zuerkannt werden kann, die aber
doch eine Auszeichnung ihrer bes. Vorzüge wegen verdienen, eine
„Ehrenvolle Erwähnung" zuzuerkennen und sie dadurch auszuzeichnen.
9 . Zurückziehung einer eingelieferten Bewerbungsschrift i st nicht gestattet .
10. Das Urteil wird in den „Kant- Studien" und in den größeren Tages-
zeitungen des deutschsprachigen Gebietes veröffentlicht.
11. Die Leitung der „Kant-Studien" ist berechtigt, aber nicht verpflichtet,
preisgekrönte Arbeiten in ihrer Zeitschrift (oder in den zugehörigen
„Ergänzungsheften") abzudrucken. Macht sie von diesem Recht
keinen Gebrauch, so bleiben die preisgekrönten Arbeiten Eigentum
ihrer Verfasser. Doch sind dieselben verpflichtet, ihre Arbeiten bei
einer Veröffentlichung als von der Kant-Gesellschaft preisgekrönt
zu bezeichnen. Das gilt auch für diejenigen Arbeiteu, die eine
„ehrenvolle Erwähnung" gefunden haben.
12. Nichtgekrönte Arbeiten werden durch die Geschäftsführung der
Kant-Gesellschaft dem zurückgegeben, der sich als Verfasser nach
dem Urteil der genannten Stelle genügend ausweist. Die Namen
der betr. Verfasser werden nur der Geschäftsführung der Kant-Ge-
sellschaft bekannt, welche verpflichtet ist, die betr. Namen geheim-
zuhalten. Will ein Verfasser ganz unbekannt bleiben, so kann er
seiner Arbeit einen mit demselben Kennwort versehenen zweiten
verschlossenen Umschlag hinzufügen, in welchem eine Deckadresse
angegeben ist, an die das Manuskript zurückgesendet werden soll,
„für den Fall der Nichtprämiierung", wie auf diesem Umschlag
ausdrücklich zu bemerken ist. Nicht zurückgeforderte Arbeiten
werden samt dem zugehörigen ungeöffneten Umschlag nach dem
1. April 1927 vernichtet.
Halle und Berlin, im September 1922.
Die Geschäftsführung der Kant-Gesellschaft.
Prof. Dr. H. Vaihinger. Prof. Dr. Arthur Liebert.
Abzüge dieses Preisausschreibens versendet auf Wunsch im Auf-
trag der Kant- Gesellschaft unentgeltlich der stellvertretende Geschäfts-
führer Prof, Dr. Arthur Liebert, Berlin W. 15, Fasanenstr. 48.
Kant-Gesellschaft. 535
An die Mitglieder der Kant-Gesellschaft
Betrifft Nachzahlung zum Jahresbeitrag 1922.
Als zu Beginn dieses Jahres den Mitgliedern der Kant-
G-esellschaft die Mitgliedskarte für 1922 nebst dem Ersuchen
um freiwillige Erhöhung des Jahresbeitrages zugestellt wurde,
glaubte die Geschäftsführung angesichts der damaligen Wirtschafts-
lage die Heraufsetzung des Beitrages auf 50 Mk. als ausreichend
vorschlagen zu können.
Die in der Zwischenzeit eingetretene gewaltige Entwertung
der Mark auf der einen Seite und die ununterbrochene Steigerung
der Ausgaben für die Herstellung und Versendung unserer Ver-
öffentlichungen auf der anderen, veranlaßt nun die Geschäfts-
führung zu der dringenden Bitte an die Mitglieder, noch einen
kleinen Betrag von etwa 30—40 Mk. nachzuzahlen. Wir benötigen
eine solche Nachzahlung um so mehr, als die Postverwaltung eine
erneute, sehr erhebliche Erhöhung des Portos, abgesehen von der
am lv Juli eingetretenen, wahrscheinlich zum 1. Oktober ins Auge
gefaßt hat.
Wir bitten, diese Einzahlung mittels Zahlkarte wie folgt vor-
zunehmen : An die Deutsche Bank, Depositenkasse W, Berlin W. 15
Uhlandstr. 57, Postscheckkonto 1023, Konto Kant -Gesellschaft.
Auf der Rückseite des Zahlkartenabschnitts die* Angabe: Nach-
zahlung. Alle Angaben in recht deutlicher Schrift. Die auslän-
dischen Mitglieder wollen die Nachzahlung in einer größeren Höhe
vornehmen, am besten durch Scheck oder Postanweisung an den
mitunterzeichneten Liebert.
Die Geschäftsführung:
Vaihingen Liebert.
P.S, Weitere freiwillige Gaben sind hochwillkommen, weil
hochnotwendig. Der buchhändlerische Wert unserer Jahresveröffent-
lichungen beträgt nach den jetzigen Ladenpreisen mindestens
300 Mk.
35*
Kant-Gesellschaft.
Neuangemeldete Jahresmitglieder für 1922.
IL Ergänzungsliste: Juni— September.
A.
Prof. Dr. Emil Abderhalden, o. ö. Prof. a. d. Univ. Halle, Halle a. Saale,
Kaiserplatz 5.
Dr. Wilhelm Ahlmann, Kiel, Niemanns weg 102.
Prof. Dr. Antonio Aliotta, ordinario di Filosofia teoretica R. Universität
Neapel, Italien.
Anton, Kiel, Körnerstr. 9.
B.
Prof. Dr. Ferdinand Bährens, Köln, Deutscher Ring 82.
stud. phil. G. Barang, Berlin W. 50, Passauerstr. 15 III
Frau Hedwig Beckh, Konstanz, Hofhalde 1.
Dr. Bruno Berneis, Nürnberg, Lindenaststr. 19.
Schwester Rose Bernstein, Eckernförderstr. 4.
Musikdirektor Bienert, Konstanz, Gartenstr. 19.
H. Heinrich Birner, Wien XIII, Hütteldorferstr. 118.
Studienassessor Heinrich Bittner, Breslau IX, Hirschstr. 43.
Rektor Block, Hannover, Sextrostr. 14.
Geheimer Hofrat Direktor Dr. Blum, Baden-Baden.
Prof. Dr. Otto Blumenthal, Prof. a. d. Technischen Hochschule, Aachen,
Rütscherstr. 38.
cand. phil. Kurt Bona, Berlin NW., 87, Sickingerstr. 8 III.
Frau H. Bormann, Magdeburg, Goethestr. 14.
Pfarrer Boesel, Krevese, Krs. Osterburg.
Dr. Bouma, Berlin W. 30, Lindauerstr. 4—5 bei Prof. Biltz.
Dr. H. Brandt, Aachen,
stud. phil. Hellmut Braun, Berlin W. 15, Düsseldorf erstr. 19—20.
Dr. Brauns, Pattensen i. Hannover.
Dr. Brückner, Crawinkel bei Ohrdruf i. Thür.
stud. phil. Fr;itz Brunner, Berlin-Lichterfelde, Dürerstr. 26.
Geh.-Rat Prof. Dr. Adolf Busse, Berlin SW. 11, Kleinbeerenstr. 2.
c.
Hugo Cahn, Gelsenkirchen, Bochumerstr. 44.
Dr. med. Adolf W. Calm, Hannover, Warmbücherstr. 24.
Giovanni Maria De Caria, Palermo 16, Italien, Via Siracusa 16.
Geh. Reg.-Rat M. Conrad, Charlottenburg, Luisenplatz 4.
Prof. Dr. Aurelio Covotti, ord. Prof. a. d, Universität Neapel, Ariano di
Puglia, Italien.
Prof. Dr. Benedetto Croce, Neapel, Italien, Trinitä Maggiore 12.
Kant-Gesellschaft. 537
D.
Dr. med. Bruno Deckert, Wörlitz in Anhalt,
cand. rer. pol. Bruno Deppe, Hamburg 30, Neumünsterstr. 22.
Studienrätin Anna Dernehl, Halle a. Saale, Yorkstr. 73 III.
Dr. med. Dohrendorff, Uelzen, Hanover, Veersserstr. 20.
Lehrer Otto Donath, Gohrau i.A. Post Wörlitz, Krs. Dessau.
Dr. E. Dornfeld, Köln, Humboldtstr. 42.
E.
cand. med. Alfred Ebel, Wien IV, Alserstr. 25.
Adolf Eberbach, Bern, Schweiz, Dapplesweg 15.
cand. sc. pol. Walter Ebert, Kiel, Feldstr. 13.
Sekretär Wilhelm Eckhardt, Halle a. S., Huttenstr. 96.
Bankier Heinrich Emden, Frankfurt a. Main, Im Trutz 42.
Dr. Engel, Berlin W. 8, Budapesterstr. 21.
Dr. Gerhard Erdsick, Berlin W. 30, Heilbronnerstr. 22.
J. F. van Essen, Zandvoort bei Amsterdam, Holland, Boulevard Farange 22.
F.
Kapellmeister E. Faust, Falkenstein i. Vogtl., Kaiser Wilhelmstr. 16.
Geh.-Rat Prof. Dr. Finger, o. ö. Prof. a. d. Univ. Halle a. Saale, Reichardtstr. 2.
Elisabeth Franck, Magdeburg, Schenckendorfstr. 16.
Dr. Freund, Halle a. Saale, Blumenstr. 19.
cand. phil. Theodor Frey, Dorpat, Estland, Karlowstr. 47.
G.
Dr. Gadamer, Marburg a. d. Lahn, Marbacherweg 15.
Dr. Ettore La Gatta, Priv.-Doz. a. d. Univ. Rom, Italien, Via Nazionale 89
Fräulein Lotti Gauss, Halle a. Saale, Reichardtstr. 15 bei Geh.-Rat Vaihinger.
Dr. Francesco di Gennaro, Advokat, Neapel, Italien, Via Kernbaker 53, Vomero.
Dr. Max Gerber, Charlottenburg, Kantstr. 34.
Dr. Gerhards, Aachen, Preußweg 99.
cand. jur. Lutz Gielhammer, Berlin NW. 60, Alsenstr. 7.
Graf W. von Görtz, Wrisbergholzen, Krs. Ahlfeld.
Werner Gottschalk, Berlin-Steglitz, Forststr. 54.
Obersteuersekretär Friedrich Gottsmann, Erlangen, Neuestr. 16.
Rosa Grab, Wien VII, Kaiserstr. 83.
Rudolf Gröber, Hohndorf, Bezirk Chemnitz, Rödlitzerstr. 13.
Regisseur Dr. Edgar Groß, Halle a. Saale, Staudestr. 7.
Lehramtspraktikant Karl Güntert, Villingen, Schwarzwald, Marbacherstr. 6.
stud. ing. Erwin Gurke, Wien III, Fasang 49—26.
Dr. Wilhelm Grebe, Fechenheim bei Frankfurt a. Main.
cand. phil. Horst Grüneberg, Berlin W. 30, Neue Winterfeldstr. 7.
Professor Dr. Ernst Grünfeld, Halle a. Saale, Lafontainestr. 23.
Prof. Dr. Augusto Guzzo, Neapel, Italien, Via Carlo de Cesare 53.
H.
Obersteiger Otto Haase, Halle a. Saale, Huttenstr. 96.
stud. phil. Walter Hahne, Wansdorf bei Nauen.
Studienrat Dr. R. Hanewald, Magdeburg, Pappelallee 18.
Studienrat G. Härtung, Hannover, Gneisenaustr. 3.
Lehrerin Hedwig Hecker, Burg bei Magdeburg, Kaiser Wilhelmstr. 28.
Bibliothekar Dr. Heimes, Paderborn, Leostr. 21.
Superintendent J. Hellwig, Halle a. Saale.
Dr. Adolf Herfs, Köln a. Rh., Jülicherstr. 21.
Dr. Max Herre, Falkenstein i.V., Hotel Pohland.
Dr. Herz, Berlin- Wilmersdorf, Brandenburgischestr. 37.
stud. jur. Walther Heß, Höchst am Main, Kleine Brüningstr. 2.
538 Kant-Gesellschaft.
Studienrat Hesselmann, Eilenburg, Wilhelmstr. 11.
Prof. Dr. GeorgHeymans, o. ö. Professor an der Universität Groningen, Holland.
Walther Heyn, Berlin N. 31, Wattstr. 10, bei Sperling.
Regierungsbaumeister Felix Hirschberg, Berlin-Charlottenburg, Lohmeyerstr. 23.
Direktor Siegfried Hirschberg, Berlin- Wilmersdorf, Helmstedterstr. 12.
Dr. med. Georg Hirschfeld, Halle a. Saale, Lindenstr. 48.
Ilse Hoffmeister, Magdeburg, Fürstenufer 16.
Redakteur Paul Hopfer, Burg bei Magdeburg, Zerbsterstr. 28.
cand. phil. Max Horkhenner, Cronberg, Taunus, Hauptstr. 3.
Studienrat Dr. Max Hörn, Neuhaldensleben, Bez. Magdeburg, Bülstringerstr. 16.
Fräulein Hörtig, Konstanz, Braun eggerstr. 70.
Frau Franziska Hundel, Düsseldorf, Karolingerstr. 73.
J.
Professor Dr. W. Jellinek, Kiel, Esmarchstr. 59.
Frau Annnie Joachim, Berlin, Hitzigstr. 9, bei Heilbut.
Dr. Ernst Jörin, Bezirkslehrer, Lenzburg, Kanton Aargau, Schweiz.
Bernhard Juretschke, Regensbrrg, Beraiterweg 2.
Johannes Junge, Schriftleiter u. Buchdruckereibesitzer, Erlangen.
K.
Lehrer Heinrich Kamien, Berlin- Friedenau, Bornstr. 15.
Herr Kampmann i. Fa. Kampmann & Schnabel, Prien am Chiemsee, Oberbayern.
Ella Kappenbusch, Jena, Kaiserin Augustastr. 16.
Prof. Dr. von Karman, Aachen, Technische Hochschule.
Frau Dr. Kaufmann, Braunschweig, Goßlarstr. 31, Pfarramt St. Jacobi.
Dr. Hans von K ei tz, Magdeburg.
Prof. Dr. Edmund Kern, Freiburg i. Br., Bürgerwehrstr. 15.
Max Klein, Berlin NO. 43, Am Friedrichshain 26 H.
Richard Kleiß, Berlin SW. 61, Tempelhof er Ufer 1 bei Frau Justizrat Benedict.
Oberlehrer W. Kloot jr., Rotterdam, Holland, Oudedijk68a.
Dr. Knabe, Elberfeld, Handelskammer.
Lehrerin Hanni Knauer, Burg bei Magdeburg, Berlinerstr. 42.
Prof. Paul Knauer, Künzelsau i. Wttmbg.
Rektor Fr. Kohlhase, Magdeburg-S., Staßfurterstr. 16.
cand. theol. Walter Kohls chmidt, Frankfurt a. Main, Tiergarten 6.
Will Kord- Ru wisch, Charlottenburg 2, Knesebeckstr. 20, bei Pluentsch.
Dr. F. W. A. Kor ff jr., Heemstede, Holland.
Stadtrat Johannes Korn, Berlin SW., Halleschestr. 22.
Studienassessor Waldemar Koschinski, Berlin N. 20, Badstr. 9 III.
Maria Kratz, Wandsbeck i. Holstein, Löwenstr. 3a.
cand. phil. Max Kreuzberger, Beuthen O./S., p. Adr. Adolf Kreuzberger.
Studienrat Dr. Krippendorf, Plauen i.V., Pestalozzistr. 701.
Theodor Krische, Universitätsbuchhandlung, Erlangen, Hauptstr. 33.
stud. rer. pol. Wilhelm Krompfardt, Kiel, Blücherplatz 4.
cand. phil. Martin Kruse, Leipzig, Sophienstr. 30.
Staatsanwalt Krusinger, Düsseldorf, Grunerstr. 36.
Jürgen Kuczynski, Berlin-Schlachtensee, Terrassenstr. 17.
Dr. phil. Walter Kurenbach, Naumburg a. Saale, Schönburgerstr. 3.
Frau Dr. Olga Kuttner, Staad bei Konstanz a. B.
L.
Else Lange, Koblenz a. Rh., Kasinostr. 2.
Studienrat Edmund Lantz, Saarbrücken, Feldmannstr. 38.
stud. phil. Otto Lehmann, Königsberg i. Pr., Vorder Roßgarten 63.
Studienrat Karl Leonhardt, Leipzig-Gohlis, Blumenstr. 51.
Fritz Lepke, Hagen i. Westf., Südstr. 1.
cand. jur. H. Lieb au, Hannover, Marschnerstr. 20.
Rechtsanwalt Dr. Julius Lippmann, Hamburg 39, Leinpfad 4.
Kant-Gesellschaft. 539
cand. phil. Hermann Loeb, Cöln, Kleingedankstr. 4.
Dipl.-Ing. Eduard Lohmann, Braunschweig, Gauß-Str. 28.
Prof. D. Dr. Ernst Lohmeyer, Breslau 18, Lohensteinerstr. 9.
Prof. Dr. Heinrich Loewe, Berlin NW. 52, Flemmingstr. 12.
M.
Rudolf Freiherr von Maltzahn, Halle a. Saale, Kaiserstr. 5.
Lehrer Gustav Mangold, Mannheim-Neckarau, Friedhofstr. 15.
Geh. Justizrat Prof. Dr. A. Manigk, Breslau 18, Kleinburgstr. 28.
Professor Julius Maerker, Konstanz, Brauneggerstr. 32.
Pfarrer P. Marti, Innerskirchen, Pfarramt, Berner Oberland, Schweiz.
stud. jur. Yalo May, Erlangen, Postschließfach 6.
stud, theol. Meinicke, Berlin NW. 6, Charite'str. 2.
Hermann Meyer, Batavia auf Java, holl. Indien, Weltevreden, Salembaplein 7.
Polizeirat Meyer, Hannover, Drostestr. 6.
Dr. Walter Misch, Berlin- Wilmersdorf, Trautenaustr. 16.
Dr. Walter Miethke, Elsterwerda.
Realschullehrer Arnulf Molitor, Perchtoldsdorf bei Wien, Leonhardsberg-
gasse 376.
stud. phil. Otto Monsheimer, Frankfurt a. Main, Schneckenhofstr. 9.
Dr. rer. pol. Moraht, Berlin- Wilmersdorf, Rüdesheimerplatz 9.
Studienrat Möricke, Magdeburg, Regierungsstr. 4 — 6.
Alfred Moerstede, Düsseldorf, Helmholtstr. 14.
Willy Moser, Berlin N. 54, Zehdenickerstr. 13.
Kurt Müller, Ragnit, Seminar.
Lehrer Richard Müller, Spandau, Schönwalderstr. 10.
Lehrer Karl Münchmeyer, Magdeburg - Buckau, Schönebeckerstr. im Hause
der Post.
N.
Ministerialrat Dr. Namslau, Potsdam, Birkenstr. 1.
Dr. Ernst Nathan, Nowawes, Wilhelmstr. 29.
cand. theol. Fritz Neifer, Hunspach bei Weißenburg, Elsaß, Frankreich.
Dr. F. Neu mark, Groß-Flottbeck bei Hamburg, Lindenstr. 7.
stud. phil. Fritz Neunhoeffer, Marburg, Lahn, Universitätsstr. 48.
Ing. C. G. Noack, Halle a. Saale, Martinstr. 26.
Lotte Noetzel, Oldenburg i. 0., Kastanienallee 23.
o.
Regierungsrat von Oppen, Düsseldorf, Tempelforterstr. 22.
stud. phil. Hans Oppenheimer, Freiburg i. Br., Ludwigstr. 5.
Direktor M. Oppenheimer, Berlin W. 56, Schinkelplatz 1—4, Bank für Handel
und Industrie.
Dr. Maria Ortiz, Neapel, Italien, Salita Arendia 9, Villa Garzille.
Ferdinand Oster tag, Berlin W. 50, Augsburgerstr. 28.
P.
Dr. AugustGrafvonPestalozza, Oberstudiendirektor am Friedrich- Wilhelm-
Gymnasium, Berlin SW. 68, Kochstr. 13.
Dr. Michele Petrone, Berlin- Wilmersdorf, Uhlandstr. 77.
Gymnasialdirektor Dr. Pilling, Merseburg.
Erich Popper, Hamburg 30, Curschmannstr. 6.
Rechtsanwalt Prael, Harburg a. Elbe, Lüneburgerstr. 4.
cand. phil. Joachim Prinz, Oppeln, O./S., Krakauerstr. 13.
Oberstudienrat Hedwig von Probst, Berlin-Charlottenburg, Marchstr. 10.
E.
Bd. R. F. Reiche, Berlin-Steglitz, Althoffstr. 21.
cand. phil. Hans Reiner, Freiburg i. Br., Kunigundenstr. 3.
540 Kant-Gesellschaft.
Reinhold Renschel, Kiel, Goethestr. 6.
Heinz Rheinhard, Hannover, Hindenburgstr. 35.
Dr. Richarz, Essen, Ruhr, Schützenbahn 7.
Seminardirektor Prof. Dr. Adolf Richter, Schneeberg, Erzgeb., Seminarstr.
Othmar Richter, Wien X, Triesterstr. 11.
Studienassessor Rohrbach, Hamm i. Westf., Südenwall 17.
cand. paed. Richard Röscher, Leipzig, Arndtstr. 571.
Ludwig Rösl, Verlagsbuchhändler, München, Georgenstr. 28.
Professor Dr. Nicola De Ruggiero, Neapel, Italien, Salvator Rosa 264.
S.
Dr. phil. Enar S ahlin, Lektor, Stockholm, Schweden, Thulegatan 27.
cand. phil. Richard Samuel, Berlin W. 62, Burggrafenstr. 14.
Justizrat Sandberg, Eberswalde, Pfeilstr. 11.
Studienrat H. Sauer, Kiel, Scharnhorststr. 8.
Studienrat R. Sautter, Backnang i. Wtbg., Obere Marktstr. 10.
Studienrat Seiler, Hagen i./Westf., Lessingstr. 1.
Studienassessor Siebecke, Egeln, Bez. Magdeburg, Aschersieb enerstr. 13.
stud. theol. Wilhelm Siebel, Barmen, Kothenerschulstr. 9.
Fräulein Margarethe Siebert, Lehrerin, Magdeburg, Schrotdorf erstr. la.
stud. phil. Karl S öl In er, Wien I, Schottengasse 3a.
stud. theol. Kurt Sontag, Stettin, Elisabethstr. 17.
Dr. M. Spanier, Magdeburg, Walter Rathenaustr. 65.
Dr. Emil Spiegel, Prag II, Tschechoslowakei, Tyrsova 7.
Landgerichtsrat Dr. Eduard Springmann, Elberfeld, Sadowastr. 61.
Sek
J. Schaefer, Wetter a. d. Ruhr, Königstr. 94.
Dr. Hugo Schiff, Landesrabbiner, Braunschweig, Steinstr. 4.
Lehrer W. Schildhauer, Berlin N. 113, Schönfließerstr. 14.
Professor Otto Schmidt, Lyck, Ostpreußen, Myluckerweg 6.
Obersekretär Ottomar Schmidt, Halle a. Saale, Am Bergmannstrujst 13.
Ria Schmidt, Berlin SW. 29, Gneisenaustr. 102, bei Herbarth.
Studienrat Theodor Schmidt, Künzelsau i. Wttmbg.
Dr. Hans Schnaß, Hannover, Josefstr. 10.
Wilhelm Schneider, München, Clemensstr. 66.
Oskar Schnell, Magdeburg, Gneisenaustr. 1.
Albert Schorer, Fürth i. Bayern, Uhlandstr. 19.
Frau Rechtsanwalt Schreiber, Halle a. Saale, Neuwerk 10.
Priv.-Doz. Dr. Fr. Schuh, Rostock, Friedrich Franzstr. 64.
Studienrat Dr. Hans Schuhardt, Berlin- Steglitz, Düppelstr. 37.
Lehrer F. W. Schulze, Berlin- Wilmersdorf, Laubacherstr. 35.
stud. theol. Otto Schumacher, Hamburg 25, Malzweg 5.
Dr. Michael Schwarz, Berlin W. 15, Württembergischestr. 25—26, bei Klein.
Fräulein Schwarz, Hannover, Nicolaistr. 19.
Lehrerin B. Schweitzer, Luthe bei Wunstorf.
Ignatz Schweitzer, München, Königinstr. 43.
St.
Studienrat Ruth Stammler, Bydgoszcz, Polen, Garbary 33.
cand. theol. A. Steenbeek, Utrecht, Holland, Merwedekade 8.
Wolfgang Steidel, Architekt, Erlangen, Palmstr. 8.
Professor Dr. J. P. Stein, Luxemburg, Hollericher Ring 49.
cand. rer. pol. Ewald Steinkrüger, Kiel, Adolfstr. 38.
Dr. Fritz Sternberg, Heidelberg, Plöck 32.
Studienassessor Fritz Steudel, Wittenberge, Bez. Potsdam, Chausseestr. 45.
Dr. Otto Strasmann, Rechtsanwalt, Barmen, Cronenbergerstr. 24.
Professor Dr. Oskar Stümper, Luxemburg, Arsenalstr. 25.
Kant-Gesellschaft. 541
Fräulein Emmy Theine, Lehrerin, Magdeburg, Lüneburgerstr. 25a.
Schriftsteller Axel Thorstad, Berlin- Wilmersdorf, Mainzerstr. 11.
cand. theol. Treusei, Reutlingen i. Wttmbg., Ringelbachstr. 16.
u.
Prof. Dr. Otto Ullrich, Cöln, Roonstr. 40.
V.
Dr. Angelico Venuti, Neapel, Italien, Via Mondella Gaetani 27.
W. J. Vi ss er, Haag, Holland, Nicolaas Tulpstraat 22.
w.
Dr. G. J. Waardenburg, Pfarrer, Hansweert, Holland.
cand. phil. Ludwig Wagner, Marien werder, Westpr., Kehrwiederstr. 5.
Carl Walther, Bibliothekar a. d. Technischen Hochschule Aachen, Malteserstr.
Richard Walther, Verlagsbuchhändler, Konstanz, Rosgartenstr. 18.
Viktor Wasservogel, Wien VII, Neustiftgasse 62.
Studienrat Wedig, Lyck i. Ostpr., Kaiser Wilhelmstr. 86.
Dr. Edmund Weyers, Allershausen bei Freising; Oberbayern.
Professor Leopold Weil, Villingen, Schwarzwald, Waldhotel.
Frau H. Wertheimer, Düsseldorf, Haroldstr. I.
stud. math. Hans Westphal, Hannover, Ferd. Wallbrechtstr. 27.
Dr. Hermann Weyl, Frankfurt a. Main, Rückertstr. 44.
Studienrat Dr. Rudolf Wilckens, Hannover, Sallstr. 31.
cand. rer. pol. Arno Winter, Hamburg-Eppendorf, Voldsenweg 2.
Justizrat Dr. Paul Wittkowsky, Berlin W. 8, Kronenstr. 72.
Lehrer Witt wer, Delitzsch, Eilenburgerstr. 82.
Prof. Dr. Wohltat, Düsseldorf-Oberkassel, Düsseldorferstr. 60.
Referendar Hans Wolff, Elberfeld, Bismarckstr. 45.
Generalleutnant von Wolff, Exzellenz, Baden-Baden.
Dr. Friedrich Würzbach, München, Schackstr. 4.
Y.
Prof. Dr. T. Yukiyama, Leipzig, Schreberstr. 4.
z.
Prof. "Dr. W. Zenkowsky, Belgrad, Jugoslavien, Takowska 57.
Mittelschullehrer Paul Ziegler, Nienburg a. d. Saale.
Studienrat Dr. F. Zillmann, Berlin N. 20, Wollankstr. 64 a.
Dr. Rudolf Zocher, Radeburg, Bez. Dresden Nr. 54.
Institute.
Altenplathow bei Genthin, Junglehrer- Arbeitsgemeinschaft, Lehrer Fritz
Leue.
Belgrad, Philosophisches Seminar der Universität, Sendungen an Prof. Dr.
B. Petrowievics-Belgrad, Jugoslavien, Kapitän Miliana ul. 12.
Budweis, Verein Deutscher Akademiker, Deutsches Haus.
Halle a. Saale, Philosophisches Seminar der Universität.
Jena, Philosophisches Seminar der Universität.
Paderborn, Bischof 1. Akademische Bibliothek.
Petrograd, Rußland, Philosophische Gesellschaft an der Universität.
Wien, Volksheim, Philosophische Fachgruppe, Wien XVI, Koflerpark 7.
Würzburg, Philosophisches Seminar der Universität, Direktor Prof. Dr. Hans
Meyer.
Absolutes 23 f., 27 f., 35,
40, 42, 238, 403, 409,
424, 427, 437, 443, Ab-
solutismus 142, 153
Allgemeines 13, 16, 24 f.,
29,33,47,50, 56, 308 ff.,
A.gültigkeit 134, 175 f.,
287, A.heit 175 f., 305
Als Ob 3, 18, 237, 399,
452 f., 470 ff.
Antinomien 283, 285, 429
Apperzeption , transzen-
dentale 53, 513
Apriori 25, 28, 288, 449
Artbegriff 86 ff.
Ästhetik 229, 400, 411,
transzendentale 14, 41
Aufklärung 144, 405
Autonomie 4, 12, 14, 26,
30, 52, 146, 153, 168,
240, 429, 452, 465 ff.
Begriff 29, 36, 42, 192,
303 ff., 369
Bewußtsein 10, 19, 54 f.,
197, 280 f., 282, 379,
431, 496 ff., 507 ff. B.
überhaupt 182, 281
Biologie 86 ff., 104 f., 107 f.,
130, 234 f., 271 ff., 296,
B.ismus 107 f., 129
Buddhismus 440 f.
Chemie 31, 276, 337, 349
Christentum 200, 223, 457
Darwinismus 86 ff., 186
Deduktion 29, 81 ff., 291
Denken 27, 280, 325 f.,
376 ff., 448 ff., 462, D.U.
Anschauen 268, D. u.
Sein 15, 17, 451
Dialektik 16, 36, 40, 52,
122, 184, 267, 317, 403,
462, 465 ff.
Ding an sich 56, 61, 214,
379
Register.
1. Sachregister.
Dogmatismus 11, 17 f., 34,
214
Einheit 16 f., 24, 31, 35,
54, 305, 508, 513, syn-
thetische 13, E. der
Apperzeption 53, E. der
Vernunft 49
Empirismus 11, 52, 179,
213 f., 224, 231, 271
Entelechie 130, 273, 383
Entwicklung 192, 265 ff.
Erfahrung 9 f., 13 ff., 28,
51 ff., 60, 86, 184
Erkenntnis 3, 14 ff., 24, 50,
50 f., 56, 117 f., 180 f.,
191 f., 283, 285, 501,
E. kritik 9, E. theorie
36, 56, 85, 179 ff., 204,
232, 280, 285 f., 379 f.,
496 ff.
Ethik 114, 141 ff., 194,-
220ff., 225, 227, 232ff.,
239 f., 271, 429
Evolutionstheorie 2, 269 ff.
Existenz 459 f., Existential-
urteil 181
Fiktion 166 ff., 178, 193,
399, 452, 470 ff., F.alis-
mus 285, 489, 491, 517
Form 10, 13, 50, 56
Freiheit 19, 21, 28, 31,
146, 150, 159 f., 163,
165, 168 f., 270, prak-
tische 14, F. u. Natur
10, 25, 30, 36
Gegebenes 498 ff, 509 ff.
Gegenstand 28, 54 f., 59 ff.,
313, 496 ff.
Geist 17, 29, 37, 46, 190,
277, absoluter 18, 23,
33 ff., G. u. Natur 30 f.,
G.eswissenschaften 185
Geltung 4, 61, 74, 197 f.,
296, 370 ff., 406
Geschichte 35, 102ff., 190ff.,
309, 406, G.philosophie
103ff, 183ff.,205,265ff..
406, G.wissenschaften
63 ff., 101 ff, 191
Gesellschaft 166 ff, 186,
205 ff., 220 ff., G.svertrag
165 ff., G.swissenschaft
205 ff.
Gesetz 30, 55, 64, 498
Gott 27, 29, 197, 199, 270,
276, 282 f., 425, 443 f.,
447 ff.
Gültigkeit 179ff., 280, 313ff.,
325 f.
Heterogeneität 70 ff.
Historie 265 ff.
Homogeneität 70 ff.
Humanismus 420 ff.
Hypothese 166, 406
Ich 19, 21, 26, 29, 33, 38,
52, 236, 238, 270, 282,
288, 309, 448, 451, 453,
457 ff.
Idealismus 154, 164, 185,
414, 453 f., absoluter 7,
llff,, ästhetischer 424,
kritischer lff, 8 ff., 235,
monistischer 15, speku-
lativer lff., subjektiver 10
Idee 10, 16 f., 27 f., 26, 44,
55, 149, 152, 171, 370 f.,
384 f., 413, 428, 496,
absolute 26, platonische
121, 416
Identität 20, 31, 236, 309,
317, 468, 501, 506, I.
Philosophie 30 ff., 36
Individualismus 142, 156,
288, 308
Individualität 191 ff., 293
Individuum 55, 153, 205,
236 f., 267, 309.
Induktion 29, 77 ff., 82,
111, 231, 291
Register.
543
intellectusarchetypus 16,93
Intuition 35, 130, 467
Irrationales 12, 32, 57, 63ff.,
193, 308
Kant-Gesellschaft 242 ff.,
518 ff.
Kategorien 11, 15, 28, 67,
120, 166 f., 193, 277 f.,
289, 300
Kausalität 11, 14, 67 f.,
87, 231, 268
Kontinuität 19, 92, 117,
120, 124
Körper 336 ff., 496
Kritizismus 3, 11 ff., 184,
194, 230, 238, 419
Kultur 3, 35, 77, 104 ff.,
143 ff., 167 ff., 190, 196,
296, 399 ff., 461 f., 453 f.,
K.philosophie204, K.wis-
senschaft 59 ff, 205,309
Kunst 114 f., 124, 130,229,
279, 384, 400, 423 ff,
470 ff, K.philosophie
470ff., K.wissenschaft279
Leben 3, 46, 104, 129, 190,
193, 233 f., 267, 275,
384, 405, 408, 468
Logik 36 ff, 184 f., 232,
236, empirische 280, tran-
szendentale 280, L. der
Biologie 234 f., L. des
historischen Entwick-
lungsbegriffs 265 ff., Lo-
gismus 3, 38, 179 ff., 182,
Logistik 70, Logos 427f.,
444
Macht u. Recht 206 ff., 213,
221
Marburger Schule 211, 304,
406, 497
Materialismus 2, 9, 185 f.
Materie 10, 13, 31, 50, 56,
98, 337 ff., 396 ff.
Mathematik 19, 61, 72, 81ff.,
114ff, 124,129, 277,281,
411, 416, 435
Mechanismus 2, 231 f., 235,
239, 276, 281, 284
Metaphysik 1 ff, 129 f.,
179 f., 190,194,201,213,
219 ff, 224, 229 f., 236,
239, 268 f., 271 ff, 283,
293, 384, 412 ff., 433 ff.,
452
Methode 15ff, 42, 59ff, 466f.
Modalität 298 ff.
Möglichkeit 325 f.
Monade 282, 284
Moral 114, 139, 221, 227,
281, 384
Morphologie 1 13ff., 228, 235
Mystik 129, 290, 310, 416,
457
Mythus 399 ff.
Natur 31, 44 f., 46 f., 52,
69,77, 139, 143 ff., 166ff.,
195, 286, 444, 450, N.
u. Freiheit 10, 25, 30,
36, N. u. Geschichte 102ff.,
132, N. u. Verstand 16,
N.alismus 2, 134, 273,
292, 308, 462, N.gesetze
lllf.,435, N.philosophie
31,45,N.rechtl61, 169ff,
N.wissenschaft 2, 16, 31,
61 ff, 77 ff., 86 ff., 101,
105, 111, 130, 167, 184,
189, 265 ff., 292, 308 f.,
328, 411, 435, 450, N.
zustand 166 ff.
Neukantianismus 3, 102,
132, 135, 212 ff., 268,
281, 317, 452, 497
Nominalismus 89f., 288, 308
Normen 197, 208 ff, 213 ff.,
225 ff., 374
Objekt 30, 317 f., 446 ff.,
457 ff., 503, O.ivismus
179, O.ivität 3, 37, 43,
280, 282
Ontogenie 271 f.
Ontologismus 10, 35, 442
Organismus 30, 55, 86 ff.,
104 f., 126
Pantheismus 416, 453, 457,
460
Parallelismus, psychophysi-
scher 193
Pessimismus 136, 167, 440
Phänomenologie 292, 455,
496, Hegels Ph. 23, 36ff.
Philosophie .1, 119, 385,
408, idealistische 4 f.,
Ph. u. Politik 225, Ph.
und Rechtswissenschaft
216f.
Physik 31, 46, 55, 106,
114 ff., 124, 276, 337,
387 ff, 496
Politik 218 f., 224, 225,
234
Positivismus 2, 174, 185,
273, 281, 432, 434 ff.,
496 ff.
Psychologie 62, 267 f., 270,
281, 317, 431, experi-
mentelle 106 f., morpho-
logische 187 ff.
Psychologismus 11, 107,
129, 179 f., 233
Qualität 298 ff.
Quantität 298 ff., 336
Rationalismus 179, 240,
411, 432 f., 435
Raum 131, 133 f., 231, 234,
379, 387 ff., 510
Reales 57, Realismus 201 f.,
295, 496 ff, Realität 10,
43 f., 57, 190, 197, 280,
284, Real wissenschaf t290
Recht 145, 149, 158 ff.,
169 ff, 205 ff., 384, R.s-
philosophie 202 ff.
Rehmke-Gesellschaft 240 f.
Relation 61, 82, 288ff,
371 f., 499, 512 f., R.s-
theorie 61, 83
Relatives 28, Relativismus
213, 398, 403, 406, 409,
Relativität 369 ff., Rela-
tivitätstheorie 64, 74,
128, 234, 369 ff.
Religion 35, 49, 124, 196 ff.,
279, 384, 400, 410. 426 ff.,
442 ff., 446 ff, R.sphilo-
sophie 196 ff., 446 ff.
Romantik 135, 426 ff.
Schematismus d. r. Ver-
standesbegriffe 16
Schopenhauer- Gesellschaft
229, neue deutsche 235
Seele 61, 193, 231 f.
Sein 40 f., 180 f., 191, 280,
370 f., 442 f., S.u. Denken
15, 17, 451, S. u. Sollen
172, 206 f.
Selbstbewußtsein 19, 31,
38, 236 ■
Sensualismus 10, 285, 288
Sinnlichkeit 16, 156 f.
Sittengesetz 139 ff, 197,
Sittlichkeit 167, 228
Skeptizismus 20, 117 f., 406
Solipsismus 133, 289
Sollen 21, 145, 155, 156 ff.,
172, 206 f.
Sozialismus 184ff, 203, 223f.
544
Register.
Soziologie 185, 187, 196,
205 ff., 211 ff., 225 ff., 267,
286, 288
Sprachwissenschaft 232 f.,
287 ff.
Staat 35, 150 ff., 165 ff.,
205 ff., 239 f., 273 f., S.s-
philosophie 165 ff., 202 ff.
Strukturwissenschaft 59 ff.
Subjekt 9, 13, 28, 33, 303 ff.,
372 ff., 446 ff, 457 ff., S.
ivismus 179, 225, 228,
369,S.ivität3,37,43,354f.
Substanz 34, 38, 282, 442
Synthesis 15, 28, 33 ff., 38,
300 f., 306, 310, 468
Teleologie 30, 234 f.
Theodizee 35, 199
Theologie 62, 196 ff, 21
Transzendentalismus 3,
Transzendentalphiloso-
phie 7, 53
Transzendentes 2, Tran-
szendenz 18, 509
Unbedingtes 27 f., 30, 446 ff.
Unendlichkeit 20, 121, 195,
305, 425
Unsterblichkeit 198 f.
Urteil 29, 60, 181, 298 ff,
370 ff, 507 f.
Vernunft 4, 11 f., 24, 49 f.,
141, 149, 238, V.einheit
26 f., V.recht 161, 163
Vitalismus 231, 235, 273
Völkerpsychologie 107,
187 ff., 400
Völkerrecht 215 ff.
Wahrheit 4, 9, 74, 118,
180, 182, 238, 369 ff., 380
Wahrnehmung 9 f., 60, 382,
515 f.
Wärme 328 ff.
Weltanschauung 179, 412,
504
Wert 3 f., 61 f., 65, 68 ff.,
105, 125, 191, 225 ff.,
277, 280, 296, 384 f.,
W.philosophie 196
Widerspruch, Satz des W.s
317
Wille 14, 148 f., 152 f.,
159 f., 171 ff.
Wirklichkeit 3, 8 f., 11,
18 f., 21, 31, 37, 45, 47 f.,
61, 70 ff., 197, 280, 382,
433, 459
Wissenschaft 2, 18 f., 25,
54, 59 ff.. 191, 232 f.,
432 f., W.slehre 22 f.
Zeit 63 f., 131, 133, 234,
387 ff., 508. 510 f.
Zweck 226, 235, Z.mäßig-
keit 17, 27.
2. Personenregister.
Adler, Max 223
Alexander 109
Alexejew 141, 148
Aenesidem 18
Althusius 142, 160,
169
Aristoteles 10, 109ff.,
130,188,211,308,
316f., 319, 397
Arnoldt, E. 341, 343,
347, 367 .
Augustin 112, 451
Baader, Fr. H. 348
Bacon 190, 308, 328,
352 f., 358, 365
Bahnsen 236 f.
Bain 192
Bär, K. E. v. 272
Barth 447
Barth, P. 185
Batbie 210
Bauer, 0. 223
Bäumler, A. 126,134
Becher, E. 286
Beck 18
Below, v. 296
Bergmann 313
Bergson 129 ff., 190,
267, 269, 291
Berkeley 10 f., 89,
308, 358, 398
Bernini 385
Bernoulli, D. 362 f.
Bernstein, Ed. 186,
223
Berthold, G. 356, 363
Bertram, E. 405
Binder, Jul. 213,
Bismarckl28[215f.
Black, J. 345, 347
Boerhaave, H. 332,
334, 350, 366
Böhme, Jak. 47
Bois - Reymond, du
335, 363
Bolland, G. J. 236 f.
Bolzano 374, 380
Bordenave 365
Bourguin 142
Boutmy, E. 188
Boyle 356 ff.
Bruno, Giordano 442
Buckle 185, 273 f.
Buddha 190
Campanella 203
Cantor, M. 391
Cardanus, H. 308
Cartesius s. Des-
cartes
Cassirer,E.7ff.,398
Cat, le 340, 366
Chätelet, Marquise
de 334 f.
Cohen, H. 117, 139,
185,302,406,417
Comtell2, 123, 187,
266, 296, 432
Cornelius, H. 180,
517
Cosimo v. Medici 416
Couturat 70
Crawford 344 ff.
Crequy, Graf de 334
Croce, B. 269
Crusius, Ch. A.
338 ff., 366
Dante 109
Darwin, Ch. 86 ff.,
123, 190, 226, 275
Davy, H. 365 f.
Delbos, V. 138
Descartes 10, 280 ff.,
309,328,334,353f.,
410, 442, 451.
Deussen 235
Diels, H, 420
Dietzgen 185 f.
Dilthey,W.180,184,
197,239,268,289,
415
Diodoros Kronos 325
Doß, A. L. v. 229
Dreyfuß- Brisac 141,
147 f.
Driesch,H.236,266,
271ff„289,291,293
Dukmeyer,Fr.363f.
Eberhard, J.P.341ff.
Einstein 394 ff,
Engels, G. 184 ff.,
187, 224 f.
Erdmann, B. 315
Erxleben, J. Ch. P.
343 f., 366 [390 f.
Euklid 115, 378,
Euler, L. 334, 336 f.,
361, 364, 366
Faiguet 142
Fermat 65
Fester 154
Fichte 8, 19 ff., 29 f.,
44, 103 f., 138 ff,
154 ff, 181, 188,
202 f., 232, 296,
300, 308 f., 317,
321, 385
Register.
545
Fichte, J. H. 202 f.,
221
Fiese, Lozeran de
Fouillee 187 f. [334
Franz v. Assisi 427
Frazer, A. C. 358
Friedrich d. Gr. 128
Frischeisen-Köhler
197
Galen 188
Galilei 111, 392,450
Gassendi 328 ff.
Gauß 93
Gebhardt, C. 229
Gehler, J.S.T. 349 ff.
Gerhardt, C. J. 361
Gierkel42,160,169,
176, 189
Girardin,Saint-Marc
142
Goethe 8, 46 f., 55,
109 f., 308, 384 f.,
399, 420, 443
Gogarten 447
Gottl, v. 269, 291
Greef, de 187
Gren, Fr. A. C. 348
Grimm, Jak. 277
Großmann, C. 229
Guizot 295
Gundolf 443
Gwinner, W. v. 235
Häckel 235
Hackert, Ph. 385
Hamberger, G. E.
331 f., 366
Hamilton 315
Hartmann, Ed. v.
201 f., 236f., 269,
271
Hartmann, L.M. 270
Haym 194, 426
Haymann 147, 154,
165, 173
Hegel 4, 7 f., 13, 19,
21 ff., 31 ff, 103 f.,
116,122,126,150,
182 ff., 187 f., 190,
194,209,218,221,
229, 238, 267,
269 ff, 291, 296,
300,308,386,414,
442, 453 f.
Hensel, P. 212, 421
Heraklit 122, 124 f.
Herbart 236,288, 304
Herder 3, 188 f.
Hobbes 167 ff., 177,
353 ff, 442
Höffding 139
Hofmann, P. 179 ff.
Hölderlin 420
Hönigswald, R. 118
Hooke, R. 358 ff.
Humboldt, W.v. 203,
420 ff. [301
Hume 89, 139, 269
Husserl 214, 496
Hutcheson 139
Huyghens 397
Jacobi 3, 18
Janet, P. 142
Jellinek, G. 150,
Jennings 192 [161 f.
Jerusalem 313, 315,
317, 326
Johannsen,W.94,98
Justi, J.H.G.V. 364
Kant 2 ff, 7 f., 11 ff.,
24 ff, 30, 33, 35 f.,
41, 46, 48, 52 f.,
58, 86, 91, 97 f.,
103 f., 109 f., 117,
124, 132 ff., 138 ff.,
157 f., 160, 164,
168, 179, 185, 188,
192,194,198,202f.,
211ff.,221f.,229f.,
232ff.,237ff.,239f.,
271,281,283,285,
298 ff., 328 f., 339,
341, 343 ff., 347,
366 ff, 390, 417 ff.,
451, 513
Karsten, W. J. G.
347 f.
Kästner 345
Kautsky 223
Kelles-Kranz 185
Kelsen, H. 213 ff.
Kemmerich, M. 128,
Kepler 185 [135
Kerner, A. v. Mari-
laun 99
Keyserling, GrafH.
229 f.
Kirchhoff 496
Kistiakowski 152
Kratzenstein, Ch. G.
365
Krüger, J.G. 338, 366
Külpe 496 ff, 502,
506
Lamprecht 271,
273 f., 278 f.
Lange, F. A. 185,434
Lange, L. 397 f.
Laplace 348
Lask,E.,236,299f.,
304, 313, 324 ff.
Lasson, A. 215
Lavoisier 348
Leibniz8, 16 f., 117,
141, 195, 230, 239,
282 f., 289, 308 f.,
325, 361 f., 373,
Leist,B.W.210[410
Lemery 330
Leonhardi, J. G. 365
Leroy-Beaulieu 188
Lesage, G. L. 362
Lessing 373 [344
Lichtenberg, G. C.
Liebert,A.4,17,122,
129, 134 f.
Liepmann, M. 154,
Linne" 99, 226 [162
Lippmann, E. 0. v.
229
Locke 353, 355 f.
Lomonsow, M. 363 f.
Lorenz, F. A. 365
Lotze 239, 268, 271,
298,301,304,312,
314, 318 ff, 323,
369ff.,375ff.,380,
433
Luc, J.A. de 345,347
Mach 185, 270, 398,
496
Macquer, P. J. 365
Maier, H. 266
Maimon 18 f.
Malebranche 283,
Mansion,P.391[289
Marcks, E. 240
Marx 184 ff., 190,
224 f., 454
Masaryk 185
Maupertuis 235
Medicus,F. 156,158,
Meinecke 278 f. [202
Mendel, G. 96
Menschukin, B. N.
Menzer, P. 289 [363
Meyer, A. 0. 240
Michelangelo 385
Michelson 234
Mill, J. St. 90, 315
Minkowski 64, 395 f.
Mockrauer, W. 229
Mohammed 427
Molesworth 354 f.
Morley 142
Morus, Th. 203
Müller, Kanzler v.
399
Münsterberg 188
Muschenbroek,
P. van 333 f. 366
Napoleon 109, 128
Natorp 165,224,236,
406, 416
Neeff, F. 68
Nelson, L. 216
Neumann, C. 279
Newton 64, 101, 139,
155, 302, 360 f.,
387 ff.
Nicolai, Fr. 665
Nietzsche 121, 134,
190, 221, 232 ff,
385, 400 ff, 415,
Nohl, H. 491 [447
Nollet,J.A.338,350,
366
Nowgorodzeff,P. 150
Oesterreich, K. 400
Oettingen, A. v. 388
Otto 199, 455
Paul, Jean 203
Paul, Herrn. 288 f.
Philo 235
Pictet, M. A. 348
Planck 496
Piaton 9, 58, 109 f.,
116,119,121,136,
166,188,198,219f.,
234,321,370f.,382,
385, 406, 415 ff.,
439
Plotinl08,235f.,416
Pörner, K. W. 365
Prantl 319
Prevost, P. 348, 362
Priestley 344
Protagoras 387
Prüfer, Ad. 229
Ptolemaeus 397
Pyrrhon 387
Pythagoras 378
Rachfahl 278
Radbruch, G. 170
Ranke 183, 185, 279,
295
Rehmke, 214, 240 f
546
Register.
Keichenbach, H. 398
Reinach, A. 210
Reinhold 13, 18
Renouvier, Ch. 141
Reuschle, G. 328
Rickert60,60ff.,102,
132, 182, 191 f.,
194,199,211,268f.,
277,279,299,304,
309, 313 ff., 317,
324, 407
Riehl, A. 175, 315
Rosenberger,F 33 lf.
Rosenkranz 138, 184
Rosenthal, O.M. 270
Rothacker 277
Rousseau 109, 138ff.,
165 ff., 203
Rühlmann, R. 366
Rumforo', Graf 351,
356, 363, 365 f.
Saint-Simon 185
Scheele, C. W. 346
Scheid, Ch. L. 362
Scheler,M.188,236,
286, 449, 455 f.
Schelling8,19,29ff.,
39, 46, 269, 271,
300, 400, 425
Schiller 44, 420, 424
Schlegel, A.W. 425 f.
Schlegel, Fr. 426
Schleiermacher 302,
314,325,427,449,
453
Schlick 374, 398
Schlözer, A. L. v.
240
Schmalenbach 283
Schmidt, M. 201 f.
Scholz, H. 110, 116,
123, 449, 455 ff.
Schopenhauer 110,
132 f., 190, 229,
235,237,274,317.
Schouten, A. 398
Schultz, Jul. 238 f,
Schuppe 299, 303,
311, 323, 325
Segner, J. A. 340,
366
Shaftesbury 139.
Sigwart 298, 301,
304, 306, 313,
315ff., 320, 322ff.
Silberschlag, J. E.
344 f.
Simmeil 23, 190, 199,
268,309,407,417 f.,
453
Sokrates 109, 190,
219 f., 385
Somlö, F. 216
Spencer 112, 187,
269, 288, 296
Spengler,O.73,101ff.,
190, 195 f., 309
Spinoza 8, 238, 282 f.,
309, 417, 442 f.
Spranger 286, 415,
421
Stahl 142, 215
Stammler 152, 165,
174, 177, 185,
210 f., 213, 216
Steinwehr, W. B.
A. v. 330
Stern, W. 414
Stirner 237
Strauß, D. F. 431
Strindberg 128
Stromer-Reichen-
bach, Fr. t. 128,
135
Swedenborg 58
Sybel 287, 292, 294
Tacitus 188
Taine 273 f., 284
Timerding, E. 394
Tönnies, F. 354
Treitschke 183, 292
Trendelenburg 319
Troeltsch, E. 68,
122 f., 187, 444,
449
Überweg 303, 305
Vaihinger236,261ff.,
302, 312, 315, 326,
399, 470, 493, 495
Vischer,F.Th.399f.,
404, 430, 432
Volkelt, J. 400, 496 ff.
Voltaire 109, 145,
334 ff.
Vorländer 138, 185
Vries, de 96, 99
Wackenroder 423 f.
Wagner, R. 123, 128,
229
Weber, Max 225
Weininger 132
Wellhausen 279
Wenzel, M. 208
Werner, G. F. 365
Whewell 90
Wiesner, J. v. 271 f.
Wilamowitz 220
Wilke, Jh. C. 345 f.
Winckelmann 385,
420
Windelband 83, 102,
182, 299 ff., 303 f.,
309, 313, 315 f.,
324
Winkler, J.H. 340 f.,
366
Wolfers, J. Ph. 388
Wolff, Chr. 141, 300,
317, 319 f., 325,
331, 366
Wundt,W.188,268f.,
299, 302, 312 ff.,
320, 327, 400
Xenophon 219
Xenopol 268 f., 291
3. Besprochene Kantische Schriften.
(In zeitlicher Folge.)
De igne (1755) 328, 345, 366 ff.
Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und des Erhabenen (1763) 138 ff.
Rezension v. Silberschlags Theorie der am 23. Juli 1762 ersch. Feuerkugel (1764) 344.
Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen 1765/6 139 f.
Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781, 2. Aufl. 1787) 14, 16 ff., 22, 24 f., 41,
52 f., 91 f., 192, 202, 214, 235, 238, 298 ff., 451, 513.
Prolegomena (1783) 13 f., 305, 311.
Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) 142 ff.
Was ist Aufklärung? (1784) 240.
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) 221.
Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1785) 142 f., 144.
Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786) 233.
Kritik der praktischen Vernunft (1788) 17, 202 f., 221.
Register.
547
Kritik der Urteilskraft (1790) 16 ff., 30, 36, 235, 300.
Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein usw. (1793) 143,
149 f.
Zum ewigen Frieden (1795) 143, 149, 203.
Metaphysik der Sitten (1797) 143, 149 ff., 222.
Über ein vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen (1797) 149.
Anthropologie (1798) 143 f.
Reflexionen 142 ff, 339.
4. Verzeichnis der Verfasser
besprochener Neuerscheinungen.
Adler, M. 184 ff.
Barth, P. 187.
Bäumler, A. 229.
Bendix, L. 203 ff.
Brandenburg, E. 186 f.
Brinkmann, C. 205 ff.
Brodmann, E. 207 f.
Bruhn, W. 196 f.
Enckendorff, M. L. 199 ff.
Feldkeller, P. 229 f.
Fränkel, R. 212.
Guastella, C. 230 f.
Heinemann, F. 235 f.
Holldack, F. 208 f.
Hurwicz, E. 187 ff.
Jaensch, E. R. 189.
Israel, W. 211 f.
Kaufmann, E. 212 ff.
Kelsen, H. 215 ff.
Koppelmann, W. 218 f.
Lasson, G. 183 f.
Latte, K. 219.
Lehmann, G. 236 f.
Lessing, Th. 190 f.
Marquardt, H. 231 f.
Messer, A. 232.
Metzger, W. 220 ff.
Müller-Freienfels, R. 191 ff,
Pos, H. J. 232 f.
Reininger, R. 233.
Richter, G. 234.
Scholz, H. 198 f.
Schuck, K. 195 f.
Schulz, H. 202 f.
Schulze-Soelde W. 194 f.
Siegel, C. 219 f.
Stammler, R. 223 f.
Steffes, J. P. 201 f.
Sternberg, K. 234.
Unger, E. 224.
üngerer, E. 234 f.
Wichmann, 0. 225.
Wilbrandt, R. 225 ff.
5. Verzeichnis der Mitarbeiter.
Adickes, Erich 328—368.
Aster, E. v. 179—182, 496
—517.
Bäumler, Alfr. 205—207,
229.
Berger, Siegfr. 202—203.
van den Bergh van Eysinga,
G. A. 237—238.
Broch, Herrn. 184—186.
Calinich, Margarete 218—
219.
Caspary, Adolf 224.
Feldkeller, Paul 229—230.
Guastella, Cosmo 230—231.
Gurwitsch, Georg 138—164.
Heinemann, Fritz 235—236.
Joel, Karl 298—327.
Kraus, Emil 195—196.
Lasson, Georg 1—58.
Lehmann, Gerhard 236
237.
Liebert, Arthur 187, 239
—240, 399-445.
Löwe, Adolf 225—228.
Marck, Siegfr. 165—178.
Marcuse, Ludw. 187—189.
Marquardt, Hans 231—232.
Merkl, Adolf 215—217.
Messer, Aug. 201—202, 232.
Moog, Willy 203.
Müller, Aloys 59—85.
Müller - Freienfels , Rieh.
193 i99f
Pagel, Albert 207—208,
208—211, 212—215.
Pos, H. J. 232—233.
Reininger, Rob. 233—234.
Richter, Gustav 234.
Rosenzweig, Fr. 183—184.
Scholz, Heinr. 196—198,
369—398.
Schultz, Jul. 191—194.
Seifert, Friedr. 190—191.
Sternberg, Kurt 101—137,
194—195,211—212,234.
Tillich, P. 203—205, 446
—469.
Troeltsch, Ernst 265—297.
üngerer, Emil 86—100,
234—235.
Utitz, Emil 470—495.
Vierkandt, A. 189, 199
—201, 220—222.
Vorländer, K. 223—224.
Winternitz, Jos. 186—187.
Wichmann, Ottomar 219,
219—220.
Dieterichsche Universitäts-Buchdruckerei (W. Fr. Kaestner) in Göttingen.
B Kant-Studien
2750
K3
Bd. 26-27
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