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Full text of "Kant und Goethe zur Geschichte der modernen Weltanschauung"

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KANT  UND  GOETHE 

ZUR  GESCHICHTE 
DER  MODERNEN 
WELTANSCHAUUNG 

VON 

» 

GEORG  SIMMEL 


KURTWOLFF  VERLAG 
LEIPZIG 


öenmy 


DEM  HAUSE  JASTROW 
IN  ALTER  FREUNDSCHAFT 


IN  die  Zustände  der  Halbkulturen,  aber  auch 
in  dieKultur  vor  der  Herrschaft  desChristen* 
tums  pflegen  wir  die  Einheit  von  Lebensele^ 
menten  zu  verlegen,  die  die  spätere  Entwicklung 
auseinandergetrieben  und  zu  Gegensätzen  aus* 
gestaltet  hat.  So  hart  der  Kampf  um  die  phy* 
sischen  Existenzbedingungen,  so  unbarmherzig 
die  Vergewaltigung  des  Individuums  durch  die 
gesellschaftlichen  Forderungen  gewesen  sein 
mag  —  zu  dem  Gefühl  eines  fundamentalen 
Risses  innerhalb  des  Menschen  und  innerhalb 
der  Welt,  zwisdien  dem  Menschen  und  der  Welt, 
scheint  es  vor  dem  Verfall  der  klassischen  Welt 
nur  ganz  vereinzelt  gekommen  zu  sein.  Selbst 
Piatos  Loslösung  einer  jenseitigen  Welt  der 
„Ideen'7  von  der  empirischen  —  die  sich  ihm  so 
wendete,  als  wäre  die  letztere  von  der  ersteren, 
der  allein  im  vollen  Sinne  realen,  abgespalten 
wurde  zunächst  wieder  rückgängig  gemacht.  Das 
Christentum  erst  hat  den  Gegensatz  zwisdien 

5 


dem  Geist  und  dem  Fleisch,  zwischen  dem  na* 
türlichen  Sein  und  den  Werten,  zwischen  dem 
eigenwilligen  Ich  und  dem  Gott,  dem  Eigenwille 
Sünde  ist,  bis  in  das  Letzte  der  Seele  hinein 
empfunden.  Aber  da  es  eben  Religion  war,  hat 
es  mit  derselben  Hand,  mit  der  es  die  Ent* 
zweiung  stiftete,  die  Versöhnung  gereicht.  Es 
mußte  erst  seine  bedingungslose  Macht  über  die 
Seelen  verlieren,  seine  Lösung  des  Problems 
mußte  erst  mit  dem  Beginn  der  Neuzeit  zweifeU 
haft  geworden  sein,  ehe  das  Problem  selbst  in 
seiner  ganzen  Weite  auftrat.  Daß  der  Mensch 
von  Grund  aus  ein  dualistisches  Wesen  ist, 
daß  Entzweiung  und  Gegensatz  die  Grundform 
bildet,  in  die  er  die  Inhalte  seiner  Welt  auf* 
nimmt  und  die  deren  ganze  Tragik,  aber  auch 
ihre  ganze  Entwicklung  und  Lebendigkeit  be* 
dingen  —  das  hat  das  Bewußtsein  erst  nach  der 
Renaissance  als  seine  Ägide  erfaßt.  Mit  diesem 
Herabreichen  des  Gegensatzes  in  die  tiefste 
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und  breiteste  Schicht  unser  selbst  und  unseres 
Bildes  vom  Dasein  wird  die  Forderung  seiner 
Vereinheitlichung  umfassender  und  heftiger/  in** 
dem  sich  das  innere  und  äußere  Leben  in  sich 
bis  zum  Brechen  spannt,  sucht  es  nach  einem 
um  so  kräftigeren,  um  so  lückenloseren  Bande, 
das  über  den  Fremdheiten  der  Seinselemente 
ihre  trotz  allem  gefühlte  Einheit  wieder  begreif* 
lieh  mache. 

Zunächst  ist  es  das  Gegenüber  von  Subjekt 
und  Objekt,  das  die  Neuzeit  zu  schärfstem 
Gegensatz  herausarbeitet.  Das  denkende  Ich 
fühlt  sich  souverän  gegenüber  der  ganzen,  von 
ihm  vorgestellten  Welt,  das:  „Ich  denke,  und 
also  bin  ich  —  und  also  ist  auch  die  Welt"  ~> 
wird,  wie  umgestaltet  und  weiterentwickelt  auch 
immer,  zur  einzigen  Unbezweifelbarkeit  des 
Daseins.  Aber  andrerseits  hat  diese  objektive 
Welt  doch  eine  unbarmherzige  Tatsächlichkeit, 
gerade  nach  dieser  Trennung  erscheint  das  Ich 

7 


als  ihr  Produkt,  zu  dem  ihre  Kräfte  sich  nicht 
anders  als  zu  der  Gestalt  einer  Pflanze  oder 
einer  Wolke  verwebt  haben.  Und  so  entzweit 
lebt  nicht  nur  die  Welt  der  Natur,  sondern  auch 
die  der  Gesellschaft.  In  ihr  fordert  der  Einzelne 
das  Recht  der  Freiheit  und  Besonderheit,  während 
sie  ihn  nur  als  ein  Element,  das  ihren  über** 
persönlichen  Gesetzen  Untertan  ist,  anerkennen 
will.  In  beiden  Fällen  droht  die  Selbstherrlichkeit 
des  Subjekts  entweder  von  einer  ihm  fremden 
Objektivität  verschlungen  zu  werden  oder  in 
anarchistische  Willkür  und  Isolierung  zu  ver^ 
fallen.  Neben  oder  über  diesen  Gegensatz  stellt 
die  moderne  Entwicklung  den  zwischen  dem 
natürlichen  Mechanismus  und  dem  Sinn  und 
Wert  der  Dinge.  Die  Naturwissenschaft  deutet, 
seit  Galilei  und  Kopernikus,  das  Weltbild  mit 
steigender  Konsequenz  als  einen  Mechanismus 
von  strenger,  mathematisch  ausdrückbarer  Kau<* 
salität.  Mag  dies  unvollkommen  durchgeführt 
8 


oder  durchführbar  sein,  mögen  Druck  und  Stoß, 
auf  die  alles  Weltgeschehen  schließlich  reduzierbar 
schien,  noch  anderen  Prinzipien  neben  sich  Raum 
geben  —  mindestens  bis  zu  den  Weltanschau- 
ungsversuchen der  letzten  Gegenwart  bleibt 
dieses  Geschehen  prinzipiell  ein  naturgesetzlich 
determiniertes  Hin**  und  Herschieben  von  Stoffen 
und  Energien,  ein  abrollendes  Uhrwerk,  das 
aber  nicht,  wie  das  von  Menschen  konstruierte, 
Ideen  offenbart  und  Zwecken  dient.  Durch 
das  mechanistisch** naturwissenschaftliche  Prinzip 
scheint  die  Wirklichkeit  in  völligen  Gegensatz 
zu  allem  gestellt,  was  dieser  Wirklichkeit  bis 
dahin  Sinn  zu  geben  schien :  sie  hat  keinen  Raum 
mehr  für  Ideen,  Werte,  Zwecke,  für  religiöse 
Bedeutung  und  sittliche  Freiheit.  Aber  da  der 
Geist,  das  Gemüt,  der  metaphysische  Trieb 
ihre  Ansprüche  an  das  Dasein  nicht  aufgeben, 
so  erwächst  dem  Denken,  seit  dem  17.  und  be^ 
sonders  dem  18.  Jahrhundert  die  große  Kultur** 

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aufgäbe,  die  verlorene  Einheit  zwischen  Natur 
und  Geist,  Mechanismus  und  innerem  Sinne, 
wissenschaftlicher  Objektivität  und  der  gefühlten 
Wertbedeutung  des  Lebens  und  der  Dinge  auf 
einer  höheren  Basis  wiederzugewinnen. 


ON  zwei  prinzipiellen  Gesinnungen, 
z  in  sehr  mannigfaltigen  Ausgestal* 
tungen  die  Kultur  durchziehen,  gehen  die  nächst* 
liegenden  Vereinheitlichungen  des  Weltbildes 
aus :  von  der  materialistischen  und  der  spiritua* 
listischen  —  jene  alles  Geistige  und  Ideelle  in 
seiner  Sonderexistenz  leugnend  und  die  Körper* 
weit  mit  ihrem  äußeren  Mechanismus  für  das 
allein  Seiende  und  Absolute  erklärend,  diese  um* 
gekehrt  alles  Äußerlich*  Anschauliche  zu  einem 
nichtigen  Schein  herabsetzend,  und  in  dem 
Geistigen  mit  seinen  Werten  und  Ordnungen 
die  ausschließliche  Substanz  des  Daseins  er* 
blickend. 

Neben  beiden  haben  sich  zwei  Weltanschau* 
ungen  gebildet,  deren  Einheitsgedanke  jenem 
Dualismus  unparteiischer  gerecht  wird:  die  Kan* 
tische  und  Goethesche.  Es  ist  die  ungeheure 
Tat  Kants,  daß  er  den  Subjektivismus  der  neueren 
Zeit,  die  Selbstherrlichkeit  des  Ich  und  seine  Un* 

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zurückführbarkeit  auf  das  Materielle  zu  ihrem 
Gipfel  hob,  ohne  dabei  die  Festigkeit  und  Be~ 
deutsamkeit  der  objektiven  Welt  im  geringsten 
preiszugeben.  Er  zeigte,  daß  zwar  alle  Gegen- 
stände des  Erkennens  für  uns  in  nichts  anderem 
bestehen  können,  als  in  den  erkennenden  Vor^ 
Stellungen  selbst,  und  daß  alle  Dinge  für  uns 
nur  als  Vereinigungen  sinnlicher  Eindrücke,  also 
subjektiver,  durch  unsere  Organe  bestimmter 
Vorgänge  existieren.  Aber  er  zeigte  zugleich, 
dal)  alle  Zuverlässigkeit  und  Objektivität  des 
Seins  gerade  erst  durch  diese  Voraussetzung 
begreiflich  würde.  Denn  nur,  wenn  die  Dinge 
nichts  sind  als  unsere  Vorstellungen,  kann  unser 
Vorstellen,  über  das  wir  niemals  hinauskönnen, 
uns  ihrer  sicher  machen,-  nur  so  können  wirun- 
bedingtNotwendiges  von  ihnen  aussagen,  nämlich 
die  Bedingungen  des  Vorstellens  selbst,  die  nun 
von  ihnen,  weil  sie  eben  unsere  Vorstellungen 
sind,  unbedingt  gelten  müssen. Müßten  wirdarauf 
12 


warten,  daß  die  Dinge,  uns  wesensfremde  ExU 
stenzen,  in  unsern  Geist  von  außen  hineinge^ 
schüttet  würden,  wie  in  ein  passiv  aufnehmendes 
Gefäß,  so  könnte  das  Erkennen  nie  über  den 
Einzelfall  hinausgehen.  Indem  nun  aber  die  vor^ 
stellende  Tätigkeit  des  Idh  die  Welt  bildet,  sind 
die  Gesetze  unseres  geistigen  Tuns  die  Gesetze 
der  Dinge  selbst.  Der  Verstand,  so  drückt  er 
es  mit  unerhörter  Kühnheit  aus,  schreibt  der 
Natur  ihre  Gesetze  vor,-  denn  „Natur",  d.  h.  ein 
begreiflich  ^gesetzmäßiger  Zusammenhang  des 
Daseins,  wird  das  Chaos  der  Sinneneindrücke, 
eines  bloßen  blinden  Materials,  erst  dadurch,  daß 
es  von  den  ordnenden  Kräften  unseres  Ver* 
Standes  in  geordnete  Reihen  eingestellt  wird, 
Das  Idh,  die  nidit  weiter  erklärliche  Einheit  des 
Bewußtseins,  bindet  die  sinnlichen  Eindrücke  zu 
Gegenständen  der  Erfahrung  zusammen,  die 
unsere  objektive  Welt  restlos  ausmachen.  Da** 
hinter,  jenseits  aller  Möglichkeit  des  Erkennens, 

13 


mögen  wir  uns  die  Dinge*an*sich  denken,  d.  h. 

also  die  Dinge,  die  nicht  mehr  für  uns  da  sind/ 

und  in  ihnen  können  alle  Absolutheiten  der  Ver* 

nunft,  alle  Forderungen  des  Gemüts,  alle  Ideale 

der  Phantasie  verwirklicht  sein,  während  sie  in 

der  Welt  unserer  Brfahrungen,  die  für  uns 

allein  Objekt  sein  kann,  keine  Stelle  finden. 

Genauer  angesehen,  ist  die  Kantische  Lösung 

des  Hauptproblems,  des  Dualismus  von  Sub* 

jekt  und  Objekt,  Geistigkeit  und  Körperlichkeit, 

die:  daß  diesem  Gegensatz  die  Tatsache  des 

Bewußtseins  und  Erkennens  überhaupt  unter* 

gebaut  wird,-  die  Welt  wird,  mit  allen  Fremd* 

heiten  ihrer  Inhalte,  durch  die  Tatsache  be^ 

stimmt,  dal)  wir  sie  wissen.  Denn  auch  die 

Bilder,  in  denen  wir  uns  selbst  erkennen  und 

für  uns  selbst  existieren,  sind,  ebenso  wie  die 

körperliche  Welt,  die  Erscheinungen  eines  Et* 

was,  das  uns  in  seinem  An-sich  verborgen  ist. 

Körper  und  Geist  sind  Erscheinungen,  Erfah* 
14 


rungen  innerhalb  eines  allgemeinen  Bewußtseins^ 
Zusammenhangs,  aneinander  gebunden  durch 
das  Faktum,  dal)  sie  beide  vorgestellt  werden 
und  den  gleichen  Bedingungen  des  Erkennens 
unterliegen.  In  der  Erscheinungswelt  selbst, 
innerhalb  deren  allein  sie  unsere  Objekte  sind, 
sind  sie  nicht  aufeinander  zurückführbar,  weder 
der  Materialismus,  der  den  Geist  durch  den 
Körper,  noch  der  Spiritualismus,  der  den  Körper 
durch  den  Geist  erklären  will,  sind  zulässig, 
jedes  muß  vielmehr  nach  den  ihm  allein  eigenen 
Gesetzen  verstanden  werden.  Aber  dennoch 
fallen  sie  nicht  auseinander,  sondern  bilden  eine 
Erfahrungswelt,  weil  sie  von  dem  erkennenden 
Bewußtsein  überhaupt,  dem  sie  erscheinen,  und 
seiner  Einheit  zusammengehalten  werden,  und 
weil  jenseits  beider  die  zwar  nie  erkennbaren, 
aber  doch  immerhin  denkbaren  Dinge*»  an  *  sich 
ruhen,-  und  diese  mögen  —  so  können  wir 
glauben  <—  in  ihrer  Einheit  den  Grund  jener 

15 


Erscheinungen  bewahren,  die  nun,  von  unseren 
Erkenntniskräffen  ergriffen  und  zerlegt,  in  die 
Zweiheit  von  Geist  und  Körper,  von  empiri** 
schem  Subjekt  und  empirisdiem  Objekt  aus** 
einandergehen.  Während  also  die  äußere  Na** 
tur,  als  Objekt  für  uns,  keine  Spur  von  Geist 
enthalten  darf,  so  daß  die  vollendete  Wissen** 
Schaft  von  ihr  nur  Mechanik  und  Mathematik 
wäre,  und  während  der  Geist  seinerseits  völlig 
anderen,  immanenten  Gesetzen  folgt,  binden  die 
beiden  Gedanken  des  übergreifenden,  erkennen** 
den  Bewußtseins  und  des  Dinges** an* sich,  in 
dem  ideale  Ahnungen  den  gemeinsamen  Grund 
aller  Erscheinungen  finden,  beide  zu  einer  ein** 
heitlichen  Weltanschauung  zusammen.  Damit 
ist  die  wissenschaftlich**intellektualistische  Deu** 
tung  des  Weltbildes  auf  ihren  Höhepunkt  ge** 
kommen:  nicht  die  Dinge,  sondern  das  Wissen 
um  die  Dinge  wird  für  Kant  das  Problem 
schlechthin.  Die  Vereinheitlichung  der  großen 
16 


Zweiheiten:  Natur  und  Geist,  Körper  und 
Seele  gelingt  ihm  um  den  Preis,  nur  die  wissen** 
schafilichen  Erkenntnisbilder  ihrer  vereinen  zu 
wollen,-  die  wissenschaftliche  Erfahrung  mit  der 
Allgleichheit  ihrer  Gesetze  ist  der  Rahmen,  der 
alle  Inhalte  des  Daseins  in  eine  Form:  die  der 
verstandesmäßigen  Begreifbarkeit,  zusammen** 
faßt. 

Nach  einer  ganz  anderen  Norm  mischt  Goethe 
die  Elemente,  um  aus  ihnen  eine  gleich  beruhig 
gende  Einheit  zu  gewinnen.  Allerdings  fehlt  ihm 
nicht  nur  die  Systematik,  sondern  die  ganze  Ab** 
sieht  der  Philosophie  als  Wissenschaft:  unser 
Gefühl  vom  Wert  und  Zusammenhang  des. 
Weltganzen  in  die  Sphäre  abstrakter  Begriffe 
zu  erheben,-  unser  unmittelbares  Verhältnis  zur 
Welt,  das  innere  Anklingen  und  Mitfühlen  ihrer 
Kräfte  und  ihres  Sinnes  spiegelt  sich,  wenn  wir 
wissenschaftlich  philosophieren,  in  dem  ihmgleich^ 
sam  gegenüberstehenden  Denken,-  dieses  drückt 
2  17 


in  der  ihm  eigenen  Sprache  jenen  Sachverhalt 
aus,  mit  dem  es  direkt  gar  nicht  verbunden  ist. 
Wenn  ich  aber  Goethe  recht  verstehe,  handelt  es 
sich  bei  ihm  immer  nur  um  eine  unmittelbare 
Äußerung  seines  Weltgefühles  ,•  er  fängt  es  nicht 
erst  in  dem  Medium  des  abstrakten  Denkens  auf, 
um  es  darin  zu  objektivieren  und  in  eine  ganz 
neue  Existenzart  zu  formen,  sondern  sein  un* 
vergleichlich  starkes  Empfinden  der  Bedeutsame 
keit  des  Daseins  und  seines  inneren  Zusammen** 
hanges  nach  Ideen  treibt  seine  „philosophischen" 
Äußerungen  hervor  wie  die  Wurzel  die  Blüte. 
Mit  einem  ganz  freien  Gleichnis:  Goethes  Philo** 
sophie  gleicht  den  Lauten,  die  die  Lust**  und 
Schmerzgefühle  uns  unmittelbar  entlocken,  wäh** 
rend  die  wissenschaftliche  Philosophie  den  Worten 
gleicht,  mit  denen  man  jene  Gefühle  sprachlich*» 
begrifflich  bezeichnet.  Da  er  nun  aber  zuerst  und 
zuletzt  Künstler  ist,  so  wird  jenes  natürliche 
Sich** Geben  von  selbst  zu  einem  Kunstwerk. 
18 


Er  durfte  „singen,  wie  der  Vogel  singt",  ohne 
daß  seine  Äußerung  ein  unförmig  zudring** 
licher  Naturalismus  wurde,  weil  die  Kunstform 
sie  von  vornherein,  an  ihrer  Quelle,  gestaltete  — 
gerade  wie  das  wissenschaftliche  Erkennen  von 
vornherein  durch  bestimmte  Verstandeskate* 
gorien  geformt  wird,  die  in  der  sachlich  vorließ 
genden  Erkenntnis  als  deren  Formen  aufzeigbar 
sind,  Er  selbst  benutzt  diesen  Vergleich  zur 
Erklärung  eines  Satzes,  den  er  einmal  zu  Schiller 
ausspricht:  „Nicht  allein  die  Gegenstände  der 
Kunst,  sondern  schon  die  Gegenstände  zur 
Kunst  haben  eine  gewisse  Idealität  an  sich,- denn 
indem  sie  bezüglich  zur  Kunst  betrachtet  werden, 
so  werden  sie  durch  den  menschlichen  Geist  schon 
auf  der  Stelle  verändert/'  Sein  Betrachten  der 
Dinge  bedeutete  schon,  daß  sie  in  künstlerische 
Formen  <im  weitesten  Sinne  des  Wortes)  auf* 
genommen,  in  sie  hineingebildet  wurden,-  sie 
selbst,  wie  sie  als  Vorstellungen  in  ihm  zustande 
v  19 


kamen,  waren  künstlerische,  weil  sein  Vor* 
stellen  ein  künstlerisches  war.  Es  ist  deshalb  in 
Hinsicht  auf  die  letzte  und  entscheidende  Ge* 
sinnung  vollkommen  richtig,  was,  äußerlich  ge* 
nommen,  ganz  unbegreiflich  scheint,  wenn  er 
sagt:  „Von  der  Philosophie  habe  ich  mich  immer 
frei  erhalten."  Darum  wird  eine  Darstellung 
der  Philosophie  Goethes  bis  zu  einem  gewissen 
Grad  ganz  unvermeidlich  eine  Philosophie  über 
Goethe  sein.  Nicht  um  Systematisier ung  seines 
Denkens  handelt  es  sich  —  das  wäre  ihm  gegen* 
über  ein  sehr  minderwertiges  Unternehmen  ~- 
sondern  darum,  die  unmittelbare  Fortsetzung 
und  Äußerung  des  Gefühls  für  Natur,  Welt 
und  Leben  bei  ihm  in  die  mittelbare,  abge* 
spiegelte,  einer  ganz  anderen  Region  und  Dirnen* 
sion  angehörige  Form  des  begrifflichen  Denkens 
überzuführen. 

Der  entscheidende  und  ihn  von  Kant  absolut 
scheidende  Grundzug  seiner  Weltanschauung  ist 
20 


der,  daß  er  die  Einheit  des  subjektiven  und  des 
objektiven  Prinzips,  der  Natur  und  des  Geistes, 
innerhalb  ihrer  Erscheinung  selbst  sucht. 
Die  Natur  selbst,  wie  sie  uns  anschaulich  vor 
Augen  steht,  ist  ihm  das  unmittelbare  Produkt 
und  Zeugnis  geistiger  Mächte,  formender  Ideen. 
Sein  ganzes  inneres  Verhältnis  zur  Welt  ruht, 
theoretisch  ausgedrückt,  auf  der  Geistigkeit  der 
Natur  und  der  Natürlichkeit  des  Geistes.  Der 
Künstler  lebt  in  der  Erscheinung  der  Dinge  als 
in  seinem  Element,-  die  Geistigkeit,  das  Mehr** 
als^Materie  und  ^Mechanismus,  das  seinem 
Hinnehmen  und  Behandeln  der  Welt  allerdings 
erst  einen  Sinn  gibt,  muß  er  in  der  greifbaren  Wirk*» 
lichkeit  selbst  suchen,  wenn  es  für  ihn  überhaupt 
bestehen  soll.  Dies  bestimmt  seine  besondere 
Bedeutung  für  die  Kulturlage  der  Gegenwart. 
Die  Reaktion  auf  den  spekulativen  Idealismus  der 
Weltanschauung  vom  Beginn  des  19.  Jahrhun^ 
derts  war  der  Materialismus  der  50er  und  60er 

21 


Jahre.  Das  Verlangen  nach  einer  Synthese,  die 
beide  in  ihrem  Gegensatz  überwand,  rief  in  den 
70er  Jahren  den  Ruf:  zurück  zu  Kant!  hervor. 
Aber  die  wissenschaftliche  Lösung,  die  dieser 
allein  geben  konnte,  forderte  einen  Ausgleich,- 
und  den  Weg  zu  einem  solchen  schienen  die 
ästhetisdien  Interessen  zu  weisen,  die  um  die 
Jahrhundertwende  die  Führung  des  geistigen 
Lebens  in  weitem  Ausmaß  übernahmen  und 
deren  Weiterwirkung,  in  welchen  Umsetzungen 
auch  immer,  aus  den  bevorstehenden  Wen* 
düngen  des  deutschen  Geistes  nicht  ausgelöscht 
werden  kann.  Indem  sie  eine  Form  boten,  den 
Geist  wieder  in  die  Realität  aufzunehmen,  die 
sich  der  Kantischen  entgegensetzte  und  sie 
irgendwie  ergänzte,  verdichteten  sie  sich  in  den 
Ruf:  zurück  zu  Goethe!  Für  ihn  sind  die  beiden 
Wege  verschlossen,  auf  denen  Kant  jenen  fun* 
damentalen  Dualismus  überwindet:  er  steigt 
nicht  unter  die  Erscheinungen  hinab,  um  sie,  als 
22 


bloße  Vorstellungen,  durch  das  Ich  oder  die 
Erkenntnisfunktion  umschließen  zu  lassen,  noch 
kann  er  sich,  über  sie  hinweg,  mit  der  Idee  der 
Dinge* an * sich  und  ihrer  unanschaulichen,  ab* 
soluten  Einheit  begnügen.  An  dem  ersteren 
hindert  ihn  die  Unmittelbarkeit  seines  geistigen 
Wesens,  die  ihm  alles  Theoretisieren  über  das 
Erkennen  fernstellt. 

„Wie  hast  du's  denn  so  weit  gebracht? 
Sie  sagen,  du  habest  es  gut  vollbracht/' 
„Mein  Kind,  ich  habe  es  klug  gemacht: 
Ich  habe  nie  über  das  Denken  gedacht/' 
Und: 

„Ja,  das  ist  das  rechte  Gleis, 

Daß  man  nicht  weiß,  was  man  denkt, 

Wenn  man  denkt: 

Alles  ist  als  wie  geschenkt.'' 

Seiner  im  höchsten  Sinne  praktischen  Natur 

war  die  Beschäftigung  mit  den  Vorbedingungen 

des  Denkens  widrig,  weil  diese  das  Denken 

selbst,  seinen  Inhalten  und  Resultaten  nach,  nicht 

23 


förderten.  „Das  Schlimmste  ist/'  sagt  er  zu 
Eckermann,  „daß  alles  Denken  zum  Denken 
nichts  hilft,-  man  muß  von  Natur  richtig  sein,  so 
daß  die  guten  Einfälle  immer  wie  freie  Kinder 
Gottes  vor  uns  dastehen,  und  uns  zurufen:  da 
sind  wir."  Die  Abneigung  gegen  Erkenntnis^ 
theorie,  die  aus  solchen  Gründen  seiner 
inneren  Praxis  hervorging,  entfernte  ihn  von 
dem  Kantischen  Weg,  in  den  Bedingungen  des 
Erkennens,  in  dem  Bewußtseinszusammenhang, 
der  die  empirische  Welt  trägt,  die  Versöhnung 
ihrer  Diskrepanzen  zu  suchen  —  obgleich  er 
sich  der  Tiefe  und  Bedeutung  dieses  Gedankens 
keineswegs  verschloß.  Das  Absolute  aber,  in 
dem  diese  Versöhnung  gefunden  wird,  aus  der 
Erscheinung  heraus  in  die  Dinge- an*» sich  zu 
verlegen,  würde  für  ihn  die  Welt  sinnlos  machen. 
„Vom  Absoluten  im  theoretischen  Sinne  wag' 
ich  nicht  zu  reden,-  behaupten  aber  darf  ich: 
daß,  wer  es  in  der  Erscheinung  anerkannt 
24 


und  immer  im  Auge  behalten  hat,  sehr  großen 
Gewinn  davon  erfahren  wird."  Und  ein  andere 
mal:  „Ich  glaube  einen  Gott.  Das  ist  ein  schönes 
und  löbliches  Wort,-  aber  Gott  anerkennen,  wie 
und  wo  er  sich  offenbare,  das  ist  eigentlich  die 
Seligkeit  auf  Erden."  Nicht  außerhalb  der  Er^ 
scheinungen,  sondern  in  ihnen  fallen  Natur  und 
Geist,  das  Lebensprinzip  des  Ich  und  das 
des  Objekts  zusammen.  Dieser  anschauende 
Glaube  hat  in  ihm  sein  äußerstes,  das  ganze 
Weltfühlen  durchdringendes  Bewußtsein  erlangt. 
Auf  der  Voraussetzung,  daß  Natur  und  Geist, 
oder  Wirklichkeit  und  Wert  nicht  ihrem  Wesen 
nach  auseinanderklaffen,  sondern  daß  ihre  tiefe 
Einheit  an  dem  einzelnen  Werk  nur  eine  be^ 
sonders  überzeugende  Deutlichkeit  gewinne  — 
darauf  steht  die  Existenz  jedes  Künstlers.  Sie 
würde  leer  und  sinnlos  sein,  wäre  er  nicht  über^ 
zeugt,  daß  die  Schönheit  und  Bedeutsamkeit,  die 
die  Erscheinung  unter  seinen  Händen  annimmt, 

25 


kein  äußeres  Hinzufägsel  ist,  sondern  die  eigent> 
lidie  Wahrheit,  das  von  allen  Verfälschungen 
befreite  Wesen  dieser  Wirklichkeit  ausspricht.  In 
diesem  Sinne  ist  freilich  jede  Kunst  „Naturalis* 
mus",  weil  für  den  Künstler  als  solchen  „Natur" 
eben  von  vornherein  die  Einheit  des  Realen 
und  des  Idealen  bedeutet.  Wenn  Goethe,  nach 
seinem  eignen  Wort,  „die  Idee  mit  Augen  sieht/' 
so  heißt  das,  dal)  ihm  Wert  und  Vollendung 
der  Dinge,  die  für  uns  andre  nur  wie  ein  mehr 
oder  weniger  traumhaftes  Gebilde  über  ihnen  zu 
schweben  scheint,  in  ihrer  Wirklichkeit  wohnte, 
wie  er  sie  zu  sehen  verstand. 

Der  tiefe  Gegensatz  der  beiden  Weltan* 
schauungen,  die  doch  dem  gleichen  Problem 
gegenüberstehen,  tritt  in  dem  Verhältnis  hervor, 
das  sie  beide  zu  dem  berühmten  Satz  Hallers 
haben,  daß  „kein  erschaffener  Geist  ins  Innere 
der  Natur  dringt".  Beide  bekämpfen  ihn  mit 
förmlicher  Entrüstung,  weil  er  jenen  Abgrund 
26 


zwischen  Subjekt  und  Objekt  verewigen  möchte, 
den  es  gerade  auszufüllen  galt.  Aber  auf  wie 
verschiedene  Motive  hin !  Für  Kant  ist  der  ganze 
Ausspruch  ein  logischer  Widersinn,  weil  er  die 
Unerkennbarkeit  eines  Objekts  beklagt,  das  es 
als  Objekt  für  uns  gar  nicht  gibt.  Denn  da  die 
Natur  von  vornherein  nur  Erscheinung,  d.  h, 
Vorstellung  in  einem  vorstellenden  Subjekt  ist,  so 
hat  sie  überhaupt  kein  Inneres.  Wenn  man  von 
einem  Inneren  ihrer  Erscheinung  sprechen  wollte, 
so  sei  es  dasjenige,  in  das  Beobachtung  und  Zer^ 
gliederung  der  Erscheinungen  wirklich  dringen. 
Wenn  die  Klage  sich  aber  auf  dasjenige  be** 
zieht,  was  hinter  aller  Natur  liegt,  also  nicht 
mehr  Natur,  weder  ihr  Außeres  noch  ihr  Inneres 
ist  —  so  ist  sie  nicht  weniger  töricht,  weil  sie 
etwas  zu  erkennen  verlangt,  was  seinem  Begriff 
nach  sich  den  Bedingungen  des  Erkennens  ent** 
zieht.  Das  Absolute  hinter  der  Natur  ist  eine 
bloße  Idee,  die  niemals  angeschaut,  also  audi 

27 


nicht  erkannt  werden  kann.  Goethe  hingegen, 
solcher  erkenntnistheoretischen  Überlegung  ganz 
fern,  verwirft  jenen  Spruch  aus  dem  unmitteU 
baren  Mitfühlen  mit  dem  Wesen  der  Natur 
heraus : 

Natur  hat  weder  Kern 

Noch  Schale. 

Alles  ist  sie  mit  einem  Male. 

Und: 

Denn  das  ist  der  Natur  Gestalt, 
Daß  innen  gilt,  was  außen  galt. 

Und: 

Müsset  im  Naturbetrachten 
Immer  eins  wie  alles  achten, 
Nichts  ist  drinnen,  nichts  ist  draußen, 
Denn  was  innen,  das  ist  außen. 
Dal)  das  Tiefste,  Innerste  und  Bedeutsamste, 
nach  dem  man  sich  sehnen  kann,  nicht  auch  in 
der  Wirklichkeit  ergreitbar  sein  sollte,  ist  ihm 
schlechthin  unerträglich.  Der  ganze  Sinn  seiner 
künstlerischen  Existenz  wäre  ihm  dadurch  er-* 
28 


schüttert.  Wenn  er  deshalb  jenem  Spruch  ent> 
gegenhält: 

Ist  niefit  der  Kern  der  Natur 
Mensdien  im  Herzen  — 

so  ist  dies  nur  scheinbar  der  Kantischen  Ansicht 
gleich,  die  die  Natur  und  ihre  Gesetze  in  das 
menschliche  Erkenntnisvermögen,  als  dessen 
Produkte,  hin  ein  verlegt.  Denn  Goethe  will  sagen: 
das  Lebensprinzip  der  Natur  ist  zugleich  auch 
dasjenige  der  menschlichen  Seele,  beides  sind 
gleichberechtigte  Tatsachen,  aber  hervorgehend 
aus  der  Einheit  des  Seins,  die  die  Gleichheit  des 
schöpferischen  Prinzips  in  die  Mannigfaltigkeit 
der  Gestaltungen  entwickelt,-  so  dal)  der  Mensch 
in  seinem  eigenen  Herzen  das  ganze  Geheimnis 
des  Seins  und  vielleicht  auch  seine  Lösung  zu 
finden  vermag.  Der  ganze  künstlerische  Rausch 
der  Einheit  von  Innen  und  Außen,  von  Gott  und 
Welt,  bricht  in  ihm,  aus  ihm  hervor.  Solcher 
Behauptungen  über  die  Dinge  selbst  enthält  sich 

29 


Kant.  Er  sagt  nur  das  über  sie  aus,  was  sich 
aus  den  Bedingungen  ihres  Erkanntwerdens 
ergibt.  Nicht  weil  Natur  und  Menschenseele 
ihrem  Wesen,  ihrer  Substanz  nach  einheitlich 
sind,  kann  man  das  eine  aus  dem  andern  ab«* 
lesen,  sondern  weil  die  Natur  eine  Vorstellung 
in  der  Menschenseele  ist,  so  dal)  die  Form  und 
Bewegung  dieser  allerdings  die  allgemeinsten 
Gesetze  jener  bedeuten  muß.  Man  kann  den 
Gegensatz,  um  den  es  sich  handelt,  im  Hinblick 
auf  jenen  Hallerschen  Spruch  zu  einer  kurzen 
Formel  zuspitzen,-  fragt  man  nach  dem  eigenen 
Wesen  der  Natur,  so  antwortet  Kant:  sie  ist 
nur  Außeres,  da  sie  ausschließlich  aus  räumlich* 
mechanischen  Beziehungen  besteht,-  und  Goethe: 
sie  ist  nur  Inneres,  da  die  Idee,  das  geistige 
Schöpfungsprinzip,  auch  ihr  ganzes  Leben  aus* 
macht.  Fragt  man  aber  nach  ihrem  Verhältnis 
zum  Menschengeist,  so  antwortet  Kant:  sie  ist 
nur  Inneres,  weil  sie  eine  Vorstellung  in  uns 
30 


ist/  und  Goethe:  sie  ist  nur  Äußeres,  weil  die 
Anschaulichkeit  der  Dinge,  auf  der  alle  Kunst 
beruht,  eine  unbedingte  Realität  haben  muß. 
Goethe  meint  nicht,  wie  Kant,  daß  das  geistige 
Innere  des  Subjekts  das  Zentrum  der  Natur  sei,- 
sondern  daß  dieses  letztere,  wie  und  weil  überall, 
so  auch  im  Menschengeist  zu  finden  sei.  Beides  sind 
gleichsam  parallele  Darstellungen  des  göttlichen 
Seins,  das  sich  in  der  Natur,  dem  Äußeren,  mit 
derselben  Realität  entwickelt,  wie  in  der  Seele, 
dem  Inneren,-  so  daß  die  Natur  ihre  unbedingte 
äußere,  anschauliche  Wirklichkeit  behält,  ohne 
ihre  Wesenseinheit  mit  dem  Menschenherzen  auf* 
zugeben,  und  dazu  nicht  erst,  wie  von  Kant,  in 
eineVorstellung  in  diesem  verwandelt  zu  werden 
braucht.  Beide  stellen  sich  gleichmäßig  jenseits 
des  Gegensatzes  von  Materialismus  und  Spiri* 
tualismus.  Kant,  weil  sein  Prinzip  die  Materie 
und  den  Geist,  die  beide  bloße  Vorstellungen 
sind,  gleichmäßig  und  gegensatzlos  unter  sich 

31 


begreift,  Goethe,  weif  beide,  die  er  als  absolute 
Wesen  hinnimmt,  doch  unmittelbar  eines  bildeten,- 
er  meint  zu  Schiller,  die  materialistischen  Philo** 
sophen  kämen  nicht  zum  Geiste,  die  idealistischen 
aber  nicht  zu  den  Körpern,  „und  dal)  man  also 
immer  wohltut,  in  dem  philosophischen  Natura 
Stande  zu  bleiben  und  von  seiner  ungetrennten 
Existenz  den  besten,  möglichen  Gebrauch  zu 
machen". 

Soll  aber  eine  objektive,  d.  h.  hier,  über 
dem  Bewußtsein  gelegene  Einheit  des  Seins  ge*» 
sucht  werden,  so  könnte  sie  für  Kant  nur  in 
Gott  liegen,  den  er  ja  auch  ausdrücklich  heran*» 
zieht,  wo  es  sich  um  die  Vereinigung  der  dU 
vergentesten  Lebenselemente,  der  Sittlichkeit  und 
der  Glückseligkeit  handelt:  ein  transszendenter 
Gott,  ein  Ding^an^sich,  jenseits  aller  Anschau*» 
lichkeit  des  Seins.  Für  Goethe  aber  kommt  alles 
darauf  an,  dal)  die  Einheit  der  Dinge  nicht  jen** 
seits  der  Dinge  selbst  liegt,-  er  verwirft  nicht  nur 
32 


den  Gott,  „der  nur  von  außen  stieße7'  —  das 
würde  auch  Kant  tun/  sondern,  indem  er  das 
„Bedrängtsein"  des  göttlichen  Prinzips  in  der 
Erscheinung  anerkennt,  betont  er  doch,  wie  sehr 
wir  uns  verkürzen,  wenn  wir  es  „in  eine  vor 
unserem  äußern  und  innern  Sinne  verschwind 
dende  Einheit  zurückdrängen".  Er  kann  sich  die 
Einheit  der  Welt  nur  retten,  wenn  sie  nicht  in 
die  Einheit  eines  Wesens  projiziert  wird,  das, 
indem  es  der  ihm  gegenüberstehenden  Welt  die 
Einheit  erst  verliehe,  sie  in  Wirklichkeit  aus  ihr 
heraussaugen  würde. 

Bei  allen  scheinbaren  Analogien  zwischen 
Goetheschen  und  Kantischen  Anschauungen 
darf  diese  Grundverschiedenheit  nie  übersehen 
werden,  daß  Goethe  die  Gleichung  zwischen 
Subjekt  und  Objekt  von  der  Seite  des  Objekts 
her  löst,  Kant  aber  von  der  Seite  des  Subjekts, 
wenngleich  nicht  des  zufälligen  und  personal^ 
differenzierten,  sondern  des  Subjekts,  das  der 
3  33 


überindividuelle  Träger  der  objektiven  Erkennt** 
nis  ist. 

Wissenschaftlich  methodisch  angesehen,  ist 
Kant  natürlich  der  objektive,  unparteiische  Den** 
ker,  Goethe  der  subjektive,  das  Daseinsbild  nach 
seiner  leidenschaftlichen  Individualität  gestaltende. 
Weltanschaulich  aber,  nach  dem  inhaltlichen  Re** 
sultat,  ist  Kant  der  Subjektivist,  der  die  Welt 
in  das  menschliche  Bewußtsein  hineinlegt  und  von 
dessen  Formen  gestalten  läßt,  während  Goethe 
nur  die  selbstgenugsame  Objektivität  des  Da** 
seins  anerkennt,  innerhalb  dessen  auch  das  Sub** 
jekt  und  sein  Leben  ein  Pulsschlag  des  All* 
Lebens  der  Natur  ist. 
Wenn  Goethe  also  sagt: 
„War7  nicht  das  Auge  sonnenhaft, 
Wie  könnt'  die  Sonne  es  erblicken? 
War'  nicht  in  uns  des  Gottes  eigne  Kraft, 
Wie  könnt'  uns  Göttliches  entzücken?" 

so  erscheint  dies  zwar  als  eine  Paraphrase  der 
34 


Kantischen  Idee,  daß  wir  die  Dinge  der  Welt 
nur  erkennen,  weil  und  insofern  ihre  Formen 
a  priori  in  uns  ruhen.  Tatsächlich  aber  ist  es 
etwas  ganz  anderes.  Goethe  greift  unter  den 
Gegensatz  von  Subjekt  und  Objekt  hinunter 
und  gründet  die  Erkenntnisbeziehung  zwischen 
ihnen  auf  eine  Wesensgleichheit  zwischen  ihnen, 
wie  es  in  primitiver  Form  schon  Empedokles 
getan  hatte,  als  er  lehrte :  dadurch,  dal)  die  Ele- 
mente aller  Dinge  in  uns  selbst  sind,  können 
wir  die  Dinge  erkennen:  das  Wasser  durch  das 
Wasser,  das  Feuer  durch  das  Feuer  in  uns, 
den  Streit  in  der  Natur  durch  den  Streit  in 
uns,  die  Liebe  durch  die  Liebe.  Nicht  das  Auge 
bildet  die  Sonne,  und  kann  sie  deshalb  erkennen 
—  wie  man  jenen  Vers  Kantisdi  interpretieren 
müßte  —  sondern  Auge  und  Sonne  sind  gleichen 
objektiven  Wesens,  gleichberechtigte  Kinder  gött^ 
licher  Natur,  und  dadurch  befähigt,  sich  mir-* 
einander  zu  verständigen,  sich  ineinander  auk* 
y  ..  35 


zunehmen.  Die  Kantische  und  die  Goethesche 
Lösung  des  Weltproblems,  die  erkenntnistheo^ 
retische  und  die  metaphysische  —  wobei  Goethe 
sozusagen  keine  Metaphysik  hat,  sondern 
Metaphysik  ist  —  verhalten  sich  wie  zweierlei 
-  Beziehungen  von  Menschen,  die  äußerlich  an** 
gesehen  den  gleichen  Inhalt  und  Bedeutung  dar*» 
bieten,  von  denen  die  eine  aber  durch  die  sug** 
gestive  Aktivität  der  einen  Partei  —  so  daß  sie 
die  andere  gleichsam  nach  ihrem  Bilde  und  ihrem 
Ideal  des  Verhältnisses  formt  —  aufrecht  erhalt 
ten  wird,  die  andere  aber  durch  die  wurzelhafte 
Einheit  und  natürliche  Harmonie  beider  Parteien. 

Gerade  in  Hinsicht  des  Verhältnisses  zwi^ 
sehen  der  mitgebrachten  Innerlichkeit  des  Geistes 
und  der  Äußerlichkeit  seiner  Gegenstände  ist 
die  Polarität  der  beiden  Weltanschauungen  um 
so  "bedeutsamer,  je  mehr  eine  gewisse  formale 
Ähnlichkeit  sie  verdecken  möchte.  Daß  Kant 
keine  andere  gegenständliche  Welt  als  die  innere 

36 


halb  unseres  Bewußtseins  anerkennt,  gibt  doch 
dem  Tiefsten,  Eigensten,  Entscheidenden  in 
uns  keine  andere  Macht,  als  dal)  es  die  Formen 
bietet,  denen  das  passiv  hinzunehmende  Sinnes« 
material  sich  fügt,  die  es  zu  einer  Gegenstands« 
weit  gestalten.  Wo  dieses  Material  im  letzten 
Grunde  herkommt,  ist  für  Kant  gleichgültig,-  es 
ist  einfach  gegeben,  und  zwar  „von  außen7'  — 
wenn  dieses  Außen  auch  nicht  räumlichen  Sinn 
hat,  sondern  nur  den  Ursprung  außerhalb  der 
geistigen  Machtsphäre  bedeutet,  und  wenn  die 
besondere  Qualität  dieser  Eindrücke  auch  durch 
die  Verfassung  unserer  Sinnesorgane  bestimmt 
ist.  Aus  einer  unbedingt  eigenen  geistigen  Ge« 
staltungskraft  und  einem  nur  Aufzunehmenden 
webt  die  Erkenntnis  sich  zusammen.  Wie  an« 
ders  Goethe  die  Rollen  des  mitgebrachten  Inne« 
ren  und  des  hinzugebrachten  Äußeren  verteilt, 
zeigt  am  besten  ein  Wort,  das,  zunächst  nur 
ein  Selbstbekenntnis,  doch  die  Art,  wie  er  sich 

37 


Erkenntnis  da  Ate,  ganz  allgemein  verkündet: 
„Hätte  ich  nicht  die*  Welt  durch  Antizipation 
bereits  in  mir  getragen,  ich  wäre  mit  sehenden 
Augen  blind  geblieben,  und  alle  Erforschung 
und  Erfahrung  wäre  nichts  gewesen  als  ein  ganz 
totes  und  vergebliches  Bemühen." 

Hier  ist  es  also  nicht  die  Form,  sondern  das 
ganze  Dasein,  die  Einheit  von  Form  und  In** 
halt,  die  in  irgendeiner  geheimnisvollen  Weise 
von  dem  Innern  des  Menschen  mitgebracht  wird. 
Das  „Gesetz,  nach  dem  du  angetreten",  ent^ 
wickelt  auch  das  jedem  mögliche  und  notwen^ 
dige  Weltbild  in  ihm.  Und  Siegel  und  Vollen^ 
dung  dieses  innerlich  Erwachsenden  schildert  er 
—  wenn  auch  zunächst  nur  für  „besonders  be^ 
gabte  Menschen"  —  so,  dal)  sie  „zu  allem,  was 
die  Natur  in  sie  gelegt  hat,  noch  in  der  äußeren 
Welt  die  antwortenden  Gegenbilder  suchen 
und  dadurch  das  Innere  völlig  zum  Ganzen  und 
Gewissen  steigern".  Was  außerhalb  des  Ich 
38 


liegt,  liefert  also  nicht  den  Stoff  zu  dessen  for** 
malen  Funktionen,  sondern  zeigt  die  Ganzheit 
des  wirklichen  Daseins  als  Gegenbild  des  gei*> 
stigen,  Der  Leistungsvereinigung  der  Formung 
von  innen  und  des  Stoffes  von  außen  bedarf  es 
nicht  —  „denn  was  innen,  das  ist  außen7'.  Mög^ 
lieh  aber  ist  das,  weil  es  ein  Leben  der  göttlichen 
Natur  ist,  das  sich,  vollständiger  oder  bruch^ 
stückhafter,  so  in  den  Gebilden  des  Geistes  dar** 
lebt,  wie  in  den  angeschauten  Wirklichkeiten. 
Goethe  gibt  dem  Geiste  mehr  und  weniger  als 
Kant.  Er  löst  ihn  nicht  von  dem  Wurzelgrund 
der  Natur  los,  um  ihm  dann  eine  gewissere 
maßen  in  der  Welt  einsame  und  für  sich  allein 
noch  leere  Formungsgewalt  zu  geben,-  er  läßt 
die  erkannte  Ganzheit  des  Daseins  aus  ihm 
sich  entfalten,  aber  nur,  weil  und  insofern  die 
objektive  Ganzheit  des  Daseins  sich  durch  ihn 
hindurch  ausspricht.  Den  Gegensatz  des  Innen 
und  Außen,  den  Kant  innerhalb  des  Geistes 

39 


versöhnt,  indem  er  dem  Außen  nur  den  „blin* 
den"  Stoff  entlehnt,  den  erst  der  Verstand  zur 
„Natur"  formt,  hebt  er  von  vornherein  auf,  weil 
das  Innen  und  das  Außen  nur  zwei  Pulsschläge 
des  einen  „so  natürlichen  wie  göttlichen"  Lebens 
sind.  Daß  sich  für  Kant  wie  für  Goethe  das 
Sein  aus  dem  Bewußtsein  gebiert,  erscheint  so 
nur  als  die  einheitlich  erscheinende  begriffliche 
Hülle,  unter  der  sich  zwei  völlig  verschiedene 
Verhältnisse  zwischen  Sein  und  Bewußtsein 
verbergen. 

An  diesem  Punkt  tritt  die  persönliche  Wesens** 
richtung  Goethes  ganz  besonders  deutlich  als 
Träger  seiner  Weltanschauung  hervor.  Als  die 
glücklichste  Beanlagung  des  Menschen  in  seinem 
Verhältnis  zur  Natur  kann  es  wohl  gelten,  wenn 
die  eigenste,  nur  den  Bedürfnissen  und  Ten** 
denzen  des  Ich  folgende  Entwicklung  zu  einem 
reinen  Aufnehmen  und  Bilde  der  Natur  führt, 
als  ob  die  Kräfte  beider  sich  wie  in  einer  vor* 
40 


bestimmten  Harmonie  äußerten,  die  einen  den 
Index  für  die  anderen  bildeten.  Diese  Konstel^ 
lation  traf  bei  Goethe  auf  das  vollendetste  zu. 
In  allem,  was  er  äußerte  und  wirkte,  entwickelte 
er  nur  seine  Persönlichkeit/  den  ganzen  Umkreis 
seiner  Betrachtung  und  Deutung  des  Daseins 
erfüllte  er,  weil  er  sich  selbst  auslebte,  und  man 
hat  den  Eindruck,  als  ob  ihm  sein  Bild  der  Na- 
tur, das,  bei  allen  sachlichen  Einwänden,  immer*» 
hin  eines  von  unvergleichlicher  Geschlossenheit, 
Beobachtungstreue  und  Hoheit  der  Auffassung 
ist  —  entstanden  wäre,  indem  er  nur  die  eigene 
Richtung  seiner  mitgebrachten  Denk-  und  Ge*» 
fühlsenergien  entfaltet  hätte.  So  schreibt  er  am 
Anfang  der  italienischen  Reise:  „Manchmal 
macht's  mich  fürchten,  daß  so  viel  auf  mich 
gleichsam  eindringt,  dessen  ich  mich  nicht  er** 
wehren  kann  -~  und  doch  entwickelt  sidi 
alles  von  innen  heraus."  Deshalb  beglückt  es 
ihn  auch  so  sehr,  wenn  er  aus  Schillers  Äußerung 

41 


über  den  Meister  entnehmen  kann,  „dal)  ich  im 
Ganzen,  was  meiner  Natur  gemäß  ist,  auch  hier 
der  Natur  des  Werkes  gemäß  hervorgebracht 
habe".  Nur  deshalb  darf  er  vom  Künstler  for* 
dem  —  was  nachher  noch  näher  zu  deuten  ist  ~, 
daß  er  „höchst  selbstsüchtig"  verfahre.  Diese, 
glückliche,  zur  objektiven  Natur  harmonische 
Richtung  seines  subjektiven  Wesens  rechtfertigt 
es,  daß  er,obwohl  dieses  letztere  mit  völliger  FreU 
heit  entfaltend,  überall  die  Natur  zum  Spiegel  der 
eigenen  Vergeistigung  machend,  doch  immer  be* 
haupten  kann:  er  gäbe  sich  der  Natur  mit  der 
größten  Selbstlosigkeit  und  Treue  hin,  er  spräche 
nur  aus,  was  sie  ihm  diktiert,  er  vermeide  jede 
subjektive  Zutat,  die  die  Unmittelbarkeit  ihres 
Bildes  trübte.  Wir  wissen  von  vielen  der  größten 
bildenden  Künstler,  und  zwar  auch  solcher,  die  die 
strengste  Stilisierung,  die  souveränste  Umfor* 
mung  des  Gegebenen  übten,  daß  sie  sich  für  Na* 
turalisten  hielten,  ausschließlich  das,  was  sie  sahen, 
42 


abzuschreiben  meinten. Tatsächlich  sehen  sie  von 
vornherein  so,  dal)  es  zu  dem  Gegensatz  innere 
halb  des  unkünstlerischen  Lebens:  zwischen  der 
inneren  Anschauung  und  dem  äußeren  Objekt 

—  bei  ihnen  nicht  kommt.  Vermittelst  der  ge* 
heimnisvollen  Verbindung  des  genialen  Men* 
sehen  mit  dem  Wesen  alles  Daseins  ist  sein  ganz 
individuelles,  eigengesetzliches  Sehen  für  ihn  — 
und,  im  Maße  seiner  Genialität,  auch  für  andere 

—  zugleich  die  Ausschöpfung  des  objektiven 
Gehaltes  der  Dinge.  In  Goethe  war  es  tatsädi* 
lieh  ein  ganz  einheitlicher  Prozeß,  der  sich  von 
der  einen  Seite  als  Entwicklung  seiner  eigenen 
Geistesrichtung,  von  der  anderen  als  Auf* 
nehmen  undErkennen  der  Natur  darstellte.  Dar* 
um  muß  jene  Kantische  Vorstellung,  daß  unser 
Verstand  der  Natur  ihre  allgemeinen  Gesetze 
vorschreibt,  ihm  innerlich  völlig  fremd,  ja  eigent* 
lieh  widrig  sein.  Der  Gegensatz  von  Subjekt 
und  Objekt  muß  ihm  damit  unsäglich  übertrieben 

43 


erscheinen:  jenes  viel  zu  selbständig,  statt  de*» 
mütig  aufnehmender  Hingabe  an  die  Natur  ein 
vergewaltigendes  Vorgreifen  in  sie,-  dieses,  mit 
der  letzten  Absolutheit  seines  Wesens  dennoch 
nicht  in  das  Subjekt  aufgehend,  der  ungeheuren 
Anstrengung  des  Subjekts,  es  in  sich  einzu^ 
ziehen,  spottend.  Ihm,  der  sein  Ich  von  vorn** 
herein  gleichsam  in  Parallelität  mit  der  Natur 
fühlte,  mußte  es  scheinen,  als  ob  die  Kantische 
Lösung  dem  Subjekt  einerseits  zu  viel,  andrere 
seits  zu  wenig  zuspräche,  und  als  ob  sie  dem 
Objekte  einerseits  Gewalt  antäte,  statt  sich  ihm 
in  Treue  hinzugeben,  während  es  ihr  andrer** 
seits  doch  als  ein  Unerfaßbares  —  ein  „Ding 
an  sich"  —  aus  den  Händen  glitte. 

Mit  dieser  Konsequenz  zeigen  die  beiden  Welt** 
anschauungen  auch  in  bezug  auf  die  Grenzen 
des  Erkennens  die  gleiche  Entgegengesetztheit 
bei  scheinbarer  Verwandtschaft. Wie  Kant  fort** 
während  die  Unerkennbarkeit  dessen  betont, 
44 


was  die  Welt  jenseits  unsrer  Erfahrung  von 
ihr  sei,  so  Goethe,  daß  hinter  allem  Erforsch^ 
liehen  noch  ein  Uner forschliches  liege,  dal)  wir 
nur  „ruhig  verehren"  könnten,  ein  Letztes,  Un^ 
sagbares,  an  dem  unsre  Weisheit  ein  Ende  habe. 
Für  Kant  bedeutet  dies  die  absolute,  durch 
die  Natur  unsres  Erkennens  logisch  gesetzte 
Grenze  desselben,-  für  Goethe  bedeutet  es  nur 
jene  Schranke,  die  aus  der  Tiefe  und  dem  ge^ 
heimnisvollen  Dunkel  des  letzten  Weltgrundes 
hervorgeht  —  wie  auch  der  Fromme  sich  be** 
scheidet,  Gott  hienieden  ni cht  schauen  zu  können, 
aber  nicht  eigentlich,  weil  er  sich  prinzipiell  dem 
Schauen  entzöge,  sondern  weil  unser  Schauen 
dazu  einer  erst  im  Jenseits  gewährten  Steige- 
rung, Kräftigung,  Vertiefung  bedürfte.  Darum 
sagt  er: 

„Sieh,  so  ist  Natur  ein  Buch  lebendig. 
Unverstanden,  doch  nicht  unverständlich." 

Von  den  letzten  Mysterien  der  Natur  trennt 

45 


uns  freilich  eine  unendliche  Entfernung,  aber  sie 
liegen  doch  gleichsam  in  derselben  Ebene  mit 
der  erkennbaren  Natur,  weil  es  ja  nichts  als 
Natur  gibt,  die  zugleich  Geist,  Idee,  das  Göti> 
liehe  ist.  Für  Kant  aber  liegt  das  Ding^an^sich 
in  einer  völlig  anderen  Dimension  als  die  Natur, 
als  das  Erkennbare,  und  man  mag  in  dieser 
Region  bis  ans  Ende  fortschreiten,  so  wird  man 
nie  auf  jenes  treffen.  Goethe  schreibt  einmal  an 
Schiller:  „Die  Natur  ist  deswegen  unergründ^ 
lieh,  weil  sie  nicht  ein  Mensch  begreifen  kann, 
obgleich  die  ganze  Menschheit  sie  wohl  begreifen 
könnte.  Weil  aber  die  liebe  Menschheit  niemals 
beisammen  ist,  so  hat  die  Natur  gut  Spiel,  sich 
vor  unsern  Augen  zu  verstecken/'  Nach  den 
Kantischen  Voraussetzungen  aber  ist  dasjenige 
allerdings  vorhanden,  was  Goethe  hier  als  das 
Beisammensein  der  Menschheit  vermißt.  Jene 
Formen  und  Normen,  deren  Anwendung  Er^ 
kennen  bedeutet,  weil  durch  sie  eben  erst  das 
46 


Vorstellungsobjekt  für  uns  geschaffen  wird,  sind 
nichts  Persönliches,  sondern  sie  sind  das  allge* 
mein  Menschliche  in  jedem  Individuum,-  in  ihnen 
liegt  das  Verhältnis  restlos  beschlossen,  das  die 
Menschheit  überhaupt  zu  ihren  Erkenntnis* 
objekten  hat.  Der  Natur  im  allgemeinen  gegen* 
über  bestehen  also  nicht  jene  individuellen  Un* 
zulänglichkeiten,  die  Goethe  erst  durch  das  Bei* 
sammensein  aller  auszugleichen  glaubt.  Deshalb 
ist  für  Kant  die  Natur  prinzipiell  völlig  durch* 
sichtig  und  nur  die  Empirie  über  sie  ist  unvoll* 
ständig.  Da  für  Goethe  aberdieNatur  selbst  von 
der  Idee,  vom  Absoluten  durchdrungen  ist,  so 
kommt  in  der  Natur  selbst  der  Punkt,  an  dem  die 
Intensität  und  Tiefe  der  Vorgänge  uns  weiteres 
Eindringen  versagt,-  für  Kant,  der  das  Über* 
sinnliche  völlig  aus  der  Natur  hinausverlegt, 
liegt  die  Grenze  des  Erkennens  nicht  mehr  inner- 
halb  ihrer,  sondern  erst  dort,  wo  sie  Natur  zu 
sein  aufhört.  Für  Goethe  ist  es  deshalb  nur  so* 

47 


zusagen  eine  quantitative,  keine  prinzipielle  In** 
konsequenz,  wenn  er  gelegentlich  zu  Schiller 
äußert,  die  Natur  habe  kein  Geheimnis,  das  sie 
nicht  irgendwo  dem  aufmerksamen  Beobachter 
nackt  vor  die  Aupn  stellte,  und  ein  andermal 
meint:  „Isis  zeigt  sich  ohne  Schleier  —  nur  der 
Mensch,  er  hat  den  Star"  — während  Kant  ab** 
solut  inkonsequent  wird,  wenn  er  uns  doch  einen 
Blick  in  das  Reich  des  Intelligiblen  verstattet/ wo*» 
von  wir  übrigens  hier  nicht  untersuchen,  ob  es 
ihm  mit  Recht  oder  Unrecht  insinuiert  wird. 

Wenn  man  den  Rhythmus  der  inneren  Be<* 
wegungen  dieser  beiden  Geister  nach  ihrem  End** 
ziel  bezeichnen  darf  ~-  obgleich  solche  letzten 
Ziele  nur  der  Ausdruck  der  Wesenskräfte  und 
ihrer  inneren  Gesetze  sind,  nicht  aber  das  selb** 
ständig  gesetzte  Ziel,  das  von  sich  aus  jenen  die 
Richtung  gäbe  —  so  ist  die  Formel  des  Kantig 
sehen  Wesens:  Grenzsetzung,  die  des  Goethes 
sehen:  Einheit.  Für  Kant  kam  alles  darauf  an, 
48 


und  so  läßt  sich  seine  gesamte  Leistung  zu** 
sammenfassen,  die  Kompetenzen  der  inneren 
Mächte,  die  das  Brkennen  und  die  das  Handeln 
bestimmen,  gegeneinander  abzugrenzen:  der 
Sinnlichkeit  ihre  Grenze  gegen  den  Verstand,  dem 
Verstand  die  sein  ige  gegen  die  Vernunft,  der 
Vernunft  die  ihrige  gegen  den  Glückseligkeits** 
trieb,  der  Individualität  die  ihre  gegen  das 
Allgemeingültige  zu  setzen.  Damit  sind  zugleich 
in  der  Objektivität  von  Welt  und  Leben  die 
Grenzstriche  für  die  Kräfte,  Ansprüche  und 
Bedeutsamkeiten  der  Dinge  selbst  gezogen,-  es 
gilt  für  ihn,  das  praktische  wie  das  theoretische 
Leben  vor  den  Übergriffen,  Ungerechtigkeiten 
und  Verschwommenheiten  zu  schützen,  die  aus 
dem  Mangel  genauer  Grenzen  zwischen  den 
subjektiven  ebenso  wie  zwischen  den  objektiven 
Faktoren  hervorgehen.  Als  so  grundlegend  er 
die  Bedeutung  der  Synthese  anerkennt,  so  ist 
sie  ihm  doch  sozusagen  nur  die  natürliche  Tat* 
4  49 


sache,  die  er  vorfindet,  und  an  der  nun  erst 
seine  Aufgabe,  die  Analyse  und  Grenzsetzung 
zwischen  den  Elementen  des  Seins  beginnt.  Zu 
jener  großen  Absicht,  das  Subjekt  mit  dem 
Objekt  in  ein  einheitliches  Verhältnis  zu  setzen, 
brachte  er,  als  Werkzeuge  seiner  Detailarbeit 
daran,  von  Natur  gleichsam  die  Instrumente 
des  Markscheiders  mit.  Ersichtlich  verhält  sich 
der  Künstler  den  Erscheinungen  gegenüber  um** 
gekehrt.  So  sehr  er  auch  zunächst  das  verwirrende 
Ineinander  der  Qualitäten,  Betätigungen  und 
Bedeutungen  der  Dinge  auseinanderlegen  muß, 
so  macht  doch  seine  innere  Bewegung  erst  an 
der  wiedergewonnenen  Einheit  Halt,  der  gegen** 
über  alle  Grenzsetzungen  Interessen  zweiten 
Ranges  sind  und  die  nur  das  Gegenbild  der  von 
vornherein  bestehenden,  durch  den  ganzen  Prozeß 
hindurchwirkenden  kosmischen  Einheit  ist.  Ge- 
wiß ist  die  schließliche  Einheit  der  Elemente  und 
damit  der  Weltanschauung  auch  für  Kant  das 
50 


Definitivum.  Aber  die  persönliche  Note,  mit 
der  er  gleichsam  die  Tonart  der  dahin  mündenden 
Bewegungen  bestimmt,  ist  doch  das  Interesse  an 
der  Grenzsetzung/  dies  ist  die  große  Geste, 
die  seine  Arbeit  charakterisiert,  wie  die  inneren 
Bewegungen  Goethes  in  der  Vereinheitlichung 
der  Elemente  ihren  letzten  Ausdruck  finden: 
„Trennen  und  Zählen",  bekennt  Goethe,  „lag 
nicht  in  meiner  Natur",-  und  ausdrücklich  sagt 
er :  „Dich  im  Unendlichen  zu  finden,  mußt  untere 
scheiden  und  dann  verbinden",  während  Kant 
die  Verbindung  vorfindet,  und  ihre  Sdieidung 
für  sein  dringlichstes  Problem  hält.  Für  Goethe 
ist  die  Einheit  das  Helle,  die  Getrenntheit  das 
Dunkle  ~  für  Kant  umgekehrt. 

Wie  in  Kant  das  Prinzip  der  Grenzsetzung, 
so  setzt  sich  bei  Goethe  das  der  Einheit  aus 
der  allgemeinen  Anschauung  der  Natur  in  die 
Einzelheiten  fort.  Indem  die  Einheit  der  Natur 
sich  in  diesen  dokumentiert,  muß  sich  unter  ihnen 
4-  51 


eine  durchgehende  Verwandtschaft  zeigen,  die 
höchstens  einer  Abstufung  des  Entwidklungs» 
maßes,  aber  keiner  prinzipiellen  Verschiedenheit 
mehr  Raum  gibt.  Die  „Gott>Natur",  die  „göti> 
liehe  Kraft,  die  überall  entwickelt,  die  ewige  Liebe, 
die  überall  wirksam  ist",  läßt  keinen  Punkt  des 
Daseins  aus  der  Umfaßtheit  durch  ihren  abso** 
luten  Wert  heraus  —  während  für  Kant  aller** 
dings  gleichfalls  in  der  Natur  keinerlei  Unter** 
schiede  des  Wertes  bestehen,-  nun  aber  nicht, 
weil  alles  gleich  wertvoll,  sondern  alles  gleich 
wertfremd  ist,  Denn  seine  mechanistische  An«» 
schauung  verlegt  alle  Werte  aus  der  Natur  heraus, 
und  noch  am  Menschenwesen  in  dasjenige,  was 
an  ihm  über  alles  „Naturhafte"  hinaus  liegt.  Zu 
jener,  auf  der  Göttlichkeit  der  Natur  gegründeten 
Wesensverwandtschaft  aller  Existenzen  will  ich 
nur  ein  paar  Äußerungen  Goethes  hervorheben, 
die  zugleich  das  plumpe  Mißverständnis:  seine 
angeblich  hochmütig  *  aristokratische  Weltan* 
52 


schauung,  zurückweisen.  Er  betont  einmal,  daß 
zwischen  dem  gewöhnlichen  Menschen  und  dem 
Genie  doch  eigentlich  nur  ein  sehr  geringer  Unten* 
schied,  gegenüber  dem,  was  ihnen  gemeinsam 
wäre,  bestünde.  „Das  poetische  Talent",  sagt 
er  ein  anderes  Mal,  „ist  dem  Bauer  so  gut  ge~ 
geben  wie  dem  Ritter,  es  kommt  nur  darauf  an, 
dal)  jeder  seinen  Zustand  ergreife,  und  ihn  nach 
Würden  behandle." 

„Wollen  die  Menschen  Bestien  sein, 

So  bringt  nur  Tiere  zur  Stube  herein/ 

Das  Widerwärtige  wird  sich  mindern, 

Wir  sind  eben  alle  von  Adams  Kindern/' 

Und  endlich  ganz  umfassend:  „Auch  das  Un*» 
natürlichste  ist  Natur.  Auch  die  plumpste  PhU 
listerei  hat  etwas  von  ihrem  Genie.  Wer  sie 
nicht  allenthalben  sieht,  sieht  sie  nirgendwo 
recht."  Die  Einheit  der  Natur  ergreift  für  ihn 
also  auch  das,  was  nach  der  Skala  der  Werte 
aufs  äußerste  einander  entgegengesetzt  scheint. 

53 


Weil  Äußeres  und  Inneres  des  gleichen  Wesens 
sind,  und  zwischen  ihren  letzten  Gründen  keine 
Grenzsetzung  möglich  ist,  so  kann  die  Ver** 
schiedenheit  des  Maßes,  in  dem  sie  sich  zu  den 
einzelnen  Erscheinungen  mischen,  keine  wesent** 
liehe  Verschiedenheit  dieser  begründen.  Und  wie 
zwischen  den  Menschen,  so  innerhalb  des  ein^ 
zelnen  Menschen.  Er  äußert  den  „Unmut",  den 
ihm  die  Lehre  von  den  unteren  und  oberen 
Seelenkräften  erregt  habe.  In  dem  menschlichen 
Geist,  sowie  im  Universum,  sei  nichts  oben 
noch  unten,-  alles  fordere  gleiche  Rechte  an  einen 
gemeinsamen  Mittelpunkt,  der  sein  geheimes 
Dasein  eben  durch  das  Verhältnis  aller  Teile 
zu  ihm  manifestiert.  „Alle  Streitigkeiten  der 
Älteren  und  Neueren  bis  zur  neuesten  Zeit  ent** 
springen  aus  der  Trennung  dessen,  was  Gott 
in  seiner  Natur  vereint  hervorgebracht.  Wer 
nicht  überzeugt  ist,  daß  er  alle  Manifestationen 
des  menschlichen  Wesens,  Sinnlichkeit  und  Ver^ 
54 


nunft,  Einbildungskraft  und  Verstand  zu  einer 
entschiedenen  Einheit  ausbilden  müsse,  der  wird 
sich  in  einer  unerfreulichen  Beschränkung  immer** 
fort  abquälen."  Alles  dieses  würde  Kant  wohl 
prinzipiell  auch  zugeben,-  allein  gerade  an  dieser 
Tatsache  hebt  sich  die  Divergenz  der  Denkrich^ 
tungen  am  deutlichsten  ab.  Für  Goethe  kommt 
es  auf  die  Einheit  an,  die  trotz  der  Grenzen 
der  Seelenvermögen  besteht,-  für  Kant  auf  die 
Grenzen  der  Seelen  vermögen,  die  trotz  ihrer 
Einheit  bestehen.  Die  Grenzsetzung  ist  für  ihn 
das  unmittelbare  Korrelat  der  Einheit,-  er  sagt 
einmal,  nachdem  er  zwischen  nahe  benachbarten 
Wissensgebieten  eine  scharfe  Grenze  gtzogtn 
hat:  „Diese  Absonderung  hat  noch  einen  be** 
sonderen  Reiz,  den  die  Einheit  der  Erkenntnis 
bei  sich  führt,  wenn  man  verhütet,  dal)  die 
Grenzen  der  Wissenschaft  nicht  ineinanderlau^ 
fen,  sondern  ihre  gehörig  abgeteilten  Felder  ein^ 
nehmen." 

55 


Es  wird  für  immer  ein  Schauspiel  von  weit- 
geschichtlicher  Symbolik  sein,  wie  zwei  der 
größten  Geister  aller  Zeiten  um  die  Verein- 
heitlichung  der  in  Zersplittertheit  sich  darbieten- 
den  Welt  rangen,-  wie  die  errungenen  GestaU 
tungen,  letzte  und  vorletzte,  sich  oft  in  sozusagen 
zwillingshafter  Ähnlichkeit  darbieten,-  und  wie 
zu  dieser  Ähnlichkeit  in  dem  einen  Richtungen 
des  Seins  und  Wollens  gewirkt  haben,  die  denen 
des  anderen  im  tiefsten  fremd  und  entgegen** 
gesetzt  sind.  So  entgegengesetzt,  daß  man  von 
Feindseligkeit  sprechen  müßte,  wenn  nicht  die 
Sphäre  der  höchsten  Geistigkeit  auch  die  un* 
versöhntesten  Scheidungen  in  einen  Burgfrieden 
schlösse.  Niemand  freilich  wird  sich  unterfangen, 
zu  entscheiden,  ob  unterhalb  soldier  Polaritäten 
doch  noch  eine  letzte  Einheit  allen  Geistes^ 
lebens  liegt,  die  sich  in  jenen  gleichsam  punk^ 
tuellen  Begegnungen  wie  aus  der  Ferne  an^ 
deutet.  So  wenden  beide  sich  gegen  jene  Ge^ 

56 


trenntheit  der  Erkenntniskräfte,  auf  der  die 
überlieferten  Theorien  des  Erkennens  ruhten. 
Die  Sinnesempfindungen,  mit  denen  allein  die 
äußere  Welt  sich  uns  kundzutun  scheint,  waren 
für  den  Sensualismus  auch  die  alleinige  Quelle 
und  Gewähr  des  Wissens  um  die  Welt,-  der 
Rationalismus  umgekehrt,  alle  sinnliche  Er- 
kenntnis für  bloßen  Schein  erklärend,  sucht  Wahr** 
heit  allein  in  dem  verstandesmäßigen,  der  lo- 
gischen Notwendigkeit  nachgehenden  Denken. 
Dem  gegenüber  erwies  Kant  die  Erfahrung  als 
das  einzige  uns  gegebene  Erkennen  der  Wirkliche 
keit  —  zugleich  aber,  daß  Erfahrung  nicht  das 
Hinnehmen  der  Sinneseindrücke  ist,  sondern 
deren  Formung  durch  jene  Notwendigkeiten 
des  Verstandes.  Nur  wo  der  Verstand  nach  den 
ihm  eigenen  Kategorien  die  Synthese  an  den 
sinnlichen  Gegebenheiten  übt,  entsteht  uns,  über 
deren  Subjektivität  und  Zufälligkeit  hinaus, 
das  verläßlidie  Erkenntnisbild  der  Gegenstände. 

57 


Wenn  nun  auch  für  Goethe,  wie  ich  anführte, 
die  Getrenntheit  der  Seelenkräfte  höchst  ver*» 
werflich  ist,  wenn  er  ihr  Wirken  nur  in  Ein** 
heit  anerkennt  —  so  spiegelt  sich  der  tiefste 
Unterschied  beider  Wesenheiten  darin,  daß  für 
Goethe  das  Erkennen  eine  unmittelbare  orga** 
nische  Funktion  des  Lebens  ist,  in  dem  Maße 
zulänglich  und  wahr,  in  dem  es  aus  der  Einheit 
des  Grundes  und  des  Weltverhältnisses  eben 
dieses  Lebens  aufsteigt.  Wird  das  Leben  also  in 
seiner  Auseinanderzweigung  in  einzelne  Seelen** 
kräfte  angesehen,  so  wirken  freilich  diese  alle 
zum  Erkennen  zusammen  ,•  allein  in  jeder  einzelnen 
wirkt  das  ganze  Leben  und  dessen  einheitliche 
Wurzel  ist  doch  schließlich  das  Her  vortreibende 
und  Bestimmende.  Für  Kant  ist  Erkenntnis  die 
Synthese  von  eigentlich  einander  fremden,  von 
verschiedenen  Himmelsrichtungen  des  Geistes 
herkommenden  Kräften,-  auf  Goethes  Bild  des 
Erkennens,  mag  er  seine  Geistesart  auch  selbst 
58 


als  eine  synthetische  bezeichnen,  paßt  dieser  Be- 
griff nicht.  Denn  er  fügt  nicht  zuvor  Getrenntes 
zusammen,  sondern  behauptet  ein  Ursprünge 
liches,  vor  aller  Scheidung,  die  eine  nachträgliche 
Synthese  forderte,  gelegnes  Einssein.  Die  geistige 
Einheit,  von  der  beide,  im  Gegensatz  zu  Sen** 
sualismus  und  Rationalismus,  das  Erkennen 
tragen  lassen,  ist  bei  Kant  im  Grunde  eine 
mechanistische,  bei  Goethe  dagegen  eine  vita*» 
listische  zu  nennen. 

Entsprechend  wenden  sich  beide  gegen  die 
Vorstellung  von  den  „Naturzwecken".  Dal)  in 
der  Natur  geistige  Kräfte  in  einer  Art,  die  der 
menschlichen  Zwecktätigkeit  entspricht,  real  wirk*? 
sam  walten,-  daß  Bau  und  Funktion  der  Or** 
ganismen  die  Absicht  eines  Baumeisters  ver** 
raten,  der  sie  menschlichen  Maschinen  analog 
konstruiert  habe,-  daß  das  Universum  von  einem 
göttlichen  Bewußtsein  darauf  angelegt  sei,  als  ein 
Mittel  für  das  Wohl  des  Menschen  zu  dienen  — 

59 


die  Gegnerschaft  gegen  die  Weltanschauung,  von 
der  dies  die  Äußerungen  sind,  offenbart  die 
Gemeinsamkeit  der  Kantisdien  und  der  Goethe^ 
sehen  Kulturtendenz  ,■  ihre  Begründungen  dieser 
Gegnerschaft  offenbaren  freilich  ihre  Differenz. 
VonNaturzwecken  in  einem  irgendwie  konkreten 
Sinne,  so  meint  Kant,  kann  nur  für  die  innere 
Struktur  der  Lebewesen  die  Rede  sein.  Denn 
nur  an  ihnen  findet  sich  das  Merkwürdige,  daß 
der  einzelne  Teil  und  seine  Wirksamkeit  über*» 
haupt  nur  durch  seine  Beziehung  auf  das  Ganze 
begriffen  werden  kann,-  ein  jeder  dient  in  Wechsel** 
Wirksamkeit  jedem  anderen,  d.  h.  er  dient  dem 
Ganzen,  und  nur  indem  wir  Leben  und  Er- 
haltung dieses  Ganzen  als  Endziel  denken,  wird 
unsdie Funktion  jedes  einzelnen  Teiles  verstände 
lieh  —  im  Unterschied  gegen  allen  Medianismus, 
dem  gemäß  jedes  Element  einfach  mit  den  in  ihm 
gesammelten  Energien  weiterwirkt,  so  daß  ein 
Ganzes  sich  nur  als  die  Summe  von  Elementen 
60 


und  Effekten  ergibt,  nicht  aber  zum  Verständnis 
der  einzelnen  Wirkungen  schon  vorausgesetzt 
werden  muß.  Nun  können  wir  uns  aber  ein 
Ganzes,  das  gewissermaßen  vor  seinen  Teilen 
da  wäre  und  deren  Leistungen  nach  seinem 
Lebenszweck  bestimmte,  in  keiner  realen  Weise 
denken.  Dieses  Ganze  und  sein  Leben  als  Zweck 
besteht  vielmehr  nur  als  Idee  eines  mensch^ 
liehen  Betrachters,  der  diese  als  Leitfaden  für  das 
Begreifen  der  organischen  Funktionen  benutzt. 
Als  objektiv  und  in  empirischer  Anschauung 
gültig  können  wir  nur  das  mechanistische  Prinzip 
zulassen,-  wenn  wir  aber  dem  Organismus  gegen*» 
über  jeden  Teil  fragen  müssen;  wozu  dient  er 
innerhalb  des  Ganzen?  ~  so  ist  das  ein  sub^ 
jektives  Hilfsmittel,  das  einzige,  das  nach  der 
Art  unseres  Verstandes  uns  die  Struktur  des 
Lebewesens  allmählich  verstehen  läßt.  Daß  dies 
in  der  Natur  selbst  objektiv,  als  eine  bestimmende 
Absicht  ihrer  wirke,  dürfen  wir  nicht  behaupten. 

61 


Dieser  Kantisdien Theorie  bekennt  Goethe  „eine 
höchst  frohe  Lebensepoche  schuldig"  zu  sein  — 
vielleicht  aber  doch  nur,  weil  er  sie  gar  zu  sehr 
in  seinem  eigenen  Sinne  deutete.  Er  hat  nicht 
empfunden,  daß  das  eigentliche  Ideal,  mit  dessen 
Erreichung  Kant  das  Verständnis  auch  der  or** 
ganischen  Natur  für  abgeschlossen  halten  würde, 
doch  der  Mechanismus  des  Geschehens  ist,-  nur 
daß  Kant  die  Unmöglichkeit  hiervon  wohl  zu^ 
gab,  aber  nur,  weil  unser  Verstand  eben  nicht 
anders  eingerichtet  sei  und  sich  deshalb  der 
Teleologie  als  einer  wie  wir  heute  sagen 
würden  —  bloßen  Arbeitshypothese  bedienen 
müsse.  Goethe  aber  weist  Wirklichkeit  und  Wirk^ 
samkeit  von  Naturzwecken  aus  ganz  anderen 
Motiven  zurück:  Die  Natur,  sagt  er,  „ist  zu 
groß,  um  auf  Zwecke  auszugehen,  und  hat  es 
auch  nicht  nötig".  Gründe  für  oder  gegen  die 
Teleologie,  die  in  unserer  Erkenntnisart  liegen, 
entscheiden  für  ihn  nicht.  Aus  dem  Wesen  der 
62 


Natur  selbst  heraus  urteilt  er,  weil  er  in  ihr  seine 
Brkenntnis  wurzeln  fühlte,sodal)  er  in  der  letzteren 
gar  keineBedingungen  zu  suchen  brauchte,  die  nicht 
unmittelbar  mit  denen  der  ersteren  zusammen* 
fielen  —  eine  Überzeugung,  die  seiner  anderen 
von  der  Individualisiertheit  und  dem  rastlosen 
Wechsel  menschlicher  Einsicht  eben  darum  nicht 
widersprach,  weil  ihm  dieNatur  selbst  einfließen* 
des  und  sich  ewig  neu  gestaltendes,  umgestalten* 
des  Leben  war.  Er  überwindet  den  Gegensatz 
zwischen  den  Erklärungen  nacfi  mechanistischen 
und  nach  Zweckprinzipien,  indem  ihm  das  Leben 
—  der  Organismen  wie  des  Weltganzen  *-  etwas 
Einziges,  Unvergleichbares  wie  Unzerlegbares 
ist,  das  jenseits  solcher  einseitigen,  der  Ab* 
straktion  verdankten  Begriffe  steht.  Er  findet 
zwar  in  der  Natur  „große  Maximen ":  Polarität 
und  Steigerung,  Metamorphose  und  Typen* 
bildung  und  andere,-  allein  damit  beschreibt  er 
nur  die  Formen,  in  denen  sich  ihr  Leben  voll* 

63 


zieht,  nicht  aber  die  Triebkräfte  dieses  Lebens 
selbst,  die  vielmehr  nur  die  eine  sind  —  das 
AlULeben  überhaupt,  das  wir  nicht  weiter  be* 
schreiben  oder  mit  einem  einzelnen  Begriff  decken 
können.  So  entfernt  ist  er  von  allem  Mechanist 
mus,  daß  er  den  Naturgesetzen,  wie  er  sie  sich 
denkt,  „Ausnahmen"  zugesteht,  auch  diese  freilich 
umfaßt  von  einem  höchsten  unaussprechlichen 
„Gesetz,  von  dem  in  der  Erscheinung  nur  Aus*' 
nahmen  aufzuweisen  sind"  —  so  entfernt  auch 
von  allerTeleologie,  daß  er  auch  das  Unnütze  und 
Schädliche  als  ein  Sinnvolles  im  „notwendigen 
Kreis  des  Daseins"  anspricht.  —  So  ist  die 
Zurückweisung  der  Naturzwecke  bei  beiden  in 
den  Grundpositionen  und  deren  Unterschied  ver*» 
ankert:  Kant  spricht  aus  unserer  Wissenschaft* 
liehen  Erkenntnismöglichkeit  heraus,  die  für  ihn 
das  Sein  einschließt,  Goethe  aus  dem  Sein  heraus, 
das  für  ihn  auch  unsere  Erkenntnis  einschließt 
Alle  Analogie  der  erscheinenden  Resultate 
64 


also  findet  ihre  innere  Grenze  von  Seiten  des 
letzten  Motivs  her,  aus  dem  überhaupt  ihre  An* 
schauungsweise  quillt  und  das  bei  dem  einen  ein 
wissenschaftliches,  bei  dem  andern  ein  künstle* 
risches  ist.  Die  Wissenschaft  befindet  sich  immer 
auf  dem  Wege  zu  der  absoluten  Einheit  des 
Weltbegriffes,  kann  sie  aber  niemals  erreichen,- 
auf  welchem  Punkte  sie  auch  stehe,  es  bedarf 
von  ihr  aus  immer  eines  Sprunges  in  eine  andre 
Denkweise:  religiöser,  metaphysischer,  mora* 
lischer,  ästhetischer  Art  —  um  das  unvermeid* 
lieh  Fragmentarische  ihrer  Ergebnisse  zu  einer 
völligen  Einheit  zu  ergänzen  und  zusammen* 
zuschließen.  Das  hat  Kant  sehr  gut  gewußt,  und 
er  bestimmt  deshalb  mit  großer  Entschiedenheit 
die  Schranken  nicht  nur  innerhalb  seines  Welt* 
bildes,  sondern  auch  dieses  Weltbildes  selbst,  so* 
weit  er  es  als  wissenschaftlich  anerkennt,  gegen* 
über  demldealder  unbedingten  Einheit  der  Dinge. 
Für  Goethe  andrerseits  wird  die  Grenze,  bis 

65 


zu  der  die  Analyse  gehen  darf,  durdi  ein  nicht 
weniger  bestimmtes  Kriterium  gegeben/  sie  ist 
ihm  von  dem  Punkt  an  unzulässig,  wo  sie  die 
Schönheit  der  Dinge  zerstört.  Schönheit,  so 
könnte  man  in  Goethes  Sinne  sagen,  ist  die 
Form,  in  der  Stoff  und  Idee,  oder  Materie  und 
Geist  sich  gegenseitig  innewohnen.  Daß  Schön* 
heit  da  ist,  daß  wir  sie  empfinden,  daß  wir  sie  selbst 
bilden  können,  istdieGewähr  dafür,  daß  jene  Ein* 
heit  der  Weltelemente  besteht,  nach  der  die  Ideen* 
bewegung  der  Zeit  suchte,  ist  die  Gewähr  dafür, 
daß  das  geistige  Subjekt  und  die  objektive  Natur 
sich  begegnet  sind,-  und  sie  können  sidh  nur  be* 
gegnen  —  so  darf  man  ihn  weiter  ausdeuten 
wenn  und  weil  sie  von  vornherein  identisch  sind. 
Wir  müssen  vielleicht  auf  die  geheimnisvolle  Ge* 
stalt  Lionardo  da  Vincis  zurückgehen,  um  einen 
Zweiten  zu  finden,  der  die  Welt  so  restlos  ästhe* 
tiscfi  genossen,  so  jede  Wirklichkeit  zugleich  als 
Schönheit  empfunden  hat.  Weil  Schönheit  die 
66 


Verkörperung  ideellen  Gehalts  im  realen  Sein 
ist,  so  bedeutet  die  Durchgängigkeit  ihrer  Herr** 
schaff  die  Auflösung  jenes  fundamentalenGegen* 
satzes  zwischen  dem  geistigen  und  dem  natür* 
liehen,  dem  subjektiven  und  dem  objektiven  Prin* 
zip  des  Seins,  bedeutet  die  Erkenntnis  seiner 
Nichtigkeit.  Darum  findet  Goethe  in  der  Schön* 
heit  das  niemals  trügende  Kriterium  für  die 
Richtigkeit  der  Erkenntnis:  in  dem  Augenblick, 
wo  die  ~-  äußere  oder  intellektuelle  —  Zer* 
gliederung  des  Objekts  die  Schönheit  seiner  Er* 
scheinung  nicht  mehr  bestehen  ließe,  wären  auch 
die  Ergebnisse  jener  als  unwahre  erwiesen.  Das 
Auseinanderreißen  der  Natur  „mit  Hebeln  und 
mit  Schrauben"  ist  ihm  sozusagen  theoretisch 
falsch,  weil  es  ästhetisch  falsch  ist.  Die  Aner* 
kennung  der  Geognosie  ringt  er  sich  nur  schwer 
ab,  da  sie  „doch  den  Eindruck  einer  schönen  Erd* 
Oberfläche  vor  dem  Anschauen  des  Geistes  zer* 
stückelt".  Daher  auch  sein  Haß  gegen  die  Zer* 
5»  67 


Stückelung  Homers,-  er  will  ihn  „als  Ganzes  den* 
ken",  weil  er  nur  so  seine  Schönheit  bewahre.  Von 
analytischen  Geistern,  die  die  dichterisch  synthe* 
tische  Auffassung  der  Dinge  zerstören,  meint  er: 

„Was  wir  Dichter  ins  Enge  bringen, 
Wird  von  ihnen  ins  Weite  geklaubt. 
Das  Wahre  klären  sie  an  den  Dingen, 
Bis  niemand  mehr  dran  glaubt.". 

In  sehr  tiefgreifender  Weise  bezeichnet  dies  das 
kleine  Gedicht:  „Die  Freude."  Er  entzückt  sich 
an  den  Farben  einer  Libelle,  will  sie  in  der  Nähe 
sehen,  verfolgt  und  faßt  sie  undsieht  —  ein  traurig, 
dunkles  Blau.  „So  geht  es  dir,  Zergliederer  deiner 
Freuden  !"Mit  der  zu  weit  getriebenen  Zergliede* 
rung,  die  den  ästhetischen  Genuß  zerstört,  ent* 
schwindet  also  nicht  etwa  eine  Illusion,  sondern 
das  ganz  reale  Bild  des  Gegenstandes.  Ja,  seine 
Abneigung  gegen  Brillen  ist  schließlich  doch  auch 
nur  die  gegen  das  scharfe  Zerfasern  der  Er<* 
scheinungen,  gegen  das  Zerstören  des  natürlich 
68 


schönen  Verhältnisses  zwischen  den  Objekten 
und  dem  aufnehmenden  Organ.  Mit  mindestens 
teilweisem  Recht  meint  Helmholtz,  das  letzte 
Motiv  für  seine  Polemik  gegen  Newtons  Farben*» 
lehre  verrieten  die  Stellen,  wo  er  über  die  durch 
viele  enge  Spalten  und  Gläser  hindurchgequälten 
Spektra  spottet,  und  die  Versuche  im  Sonnen* 
schein  unter  blauem  Himmel  nicht  nur  als  be* 
sonders  ergötzlich,  sondern  auch  als  besonders 
beweisend  preist.  Die  Zerstörung  des  ästhe~ 
tischen  Bildes  ist  ihm  zugleich  die  Zerstörung 
der  Wahrheit.  Die  rechnerische  Vorstellung  der 
Dinge,  wie  die  mathematische  Naturwissenschaft 
sie  durch  Zerlegung  in  ihre,  womöglich  qualitäts* 
losen,  Elemente  gewinnt,  muß  ihm  wegen  ihres 
Mankos  an  ästhetisch*anschaulichem  Werte  ein 
ebenso  großer  Frevel  und  Irrweg  sein,  wie  um* 
gekehrt  für  Kant  dieses  ästhetische  Kriterium 
ein  solcher  gegenüber  den  Gegenständen  des 
Naturerkennens  wäre. 

69 


DER  großen  Zweiheit  der  Weltelemente, 
durch  deren  mannigfaltige  Versöhnungen 
hin  sich  die  Weltanschauung  der  neueren  Zeit 
entwickelt,  steht  eine  andere  zur  Seite,  die  sich 
viel  früher  als  jene  aufarbeitet,  in  ihrem  Bildungs** 
Schicksal  aber  mit  ihr  verwandt  ist:  der  prak*» 
tische  Dualismus  zwischen  dem  Ich  und  der  ge*» 
sellschafilichen  Gesamtheit,  aus  dem  man  die 
Probleme  der  Sittlichkeit  entspringen  zu  lassen 
pflegt.  Auch  hier  beginnt  die  Entwicklung  mit 
einem  Indifferenzzustand:  die  Interessen  des  Ein*» 
zelnen  und  der  Gesamtheit  haben  in  primitiven 
Kulturen  überhaupt  noch  keine  nennenswerte 
oder  bewußte  Entgegengesetztheit:  der  naive 
Egoismus  hat  zwar  gelegentlich,  aber  noch  nicht 
prinzipiell  einen  anderen  Inhalt  als  der  Gruppen*» 
egoismus.  Sehr  bald  freilich  bildet  sich  mit  der 
anhebenden  Individualisierung  der  Persönlich*» 
keiten  ein  Gegensatz  zwischen  beiden  heraus, 
und  damit  die  Forderung  an  den  Einzelnen, 
70 


sein  persönliches  Interesse  dem  der  Allgemein** 
heit  unterzuordnen:  dem  Wollen  tritt  ein  Sollen 
gegenüber,  der  natürlichen  Subjektivität  ein  ob*» 
jektives  Moralgebot.  Und  abermals  erhebt  sich 
die  Einheitsforderung:  diesen  Dualismus  durch 
Unterdrückung  der  einen  Seite  oder  durch  gleich** 
mäßige  Befriedigung  beider  aufzuheben/  wobei 
es  sich  hier  ersichtlich  um  eine  Lösung  handelt, 
die  den  Wert  des  Lebens  überhaupt  auf  sein 
Maximum  bringt. 

Die  Antwort  vollzieht  sich  bei  Kant  und 
Goethe  in  fast  genauem  Parallelismus  mit  dem 
Verhältnis  ihrer  theoretischen  Weltanschauungen. 
Bei  Kant  durch  ein  objektives  Moralgebot,  das 
jenseits  jeglichen  besonderen  Interesses  steht,aber 
in  der  Vernunft  des  Subjekts  wurzelt,-  bei  Goethe 
durch  eine  unmittelbare  innere  Einheit  der  siti> 
lich**praktischen  Lebenselemente,  durch  eine  die 
Gegensätze  einschließende  Natur  des  Menschen 
und  der  Dinge.  Kants  zentraler  Gedanke  be** 

71 


ruht  hier  auf  der  völligen  Scheidung  zwischen 
der  Sinnlichkeit  und  der  Vernunft/  einen  Wert 
erhalte  das  Handeln  erst  dadurch,  dal)  es  unter 
absoluter  Rücksichtslosigkeit  gegen  die  erstere 
ausschließlich  der  letzteren  gehorche.  Diese  aber 
enthält  zwei  Momente:  einmal  die  Selbständige 
keit  des  Menschen,  die  verneint  ist,  sobald  sinn** 
liehe  Motive  uns  bestimmen,  deren  Anregung 
und  Befriedigung  von  außen,  von  der  Gegen* 
wart  bestimmter  Objekte  abhängig  ist,-  zweitens 
die  völlige  Objektivität  des  Sittengesetzes,  das 
mit  allen  individuellen  Reserven,  Besonderheiten 
und  Velleitäten  schonungslos  aufräumt  und  den 
ganzen  Wert  des  Menschen  ausschließlich  dar** 
auf  gründet,  daß  er  seine  Pflicht  erfüllt,  und  zwar 
nicht  nur  äußerlich  erfüllt,  sondern  auch  um  der 
Pflicht  willen,-  sobald  sich  irgendein  anderes 
Motiv  als  dieses  in  die  Handlung  mischt,  hat 
sie  keinen  Wert  mehr.  Ist  diese  Bedingung  aber 
erfüllt,  so  ist  der  Mensch  in  eine  höhere,  über* 
72 


empirische  Ordnung  eingestellt,  und  gewinnt  so 
durch  sein  Handeln  einen  Wert,  eine  absolute 
Bedeutung,  hinter  der  all  sein  bloßes  Denken 
und  Erkennen,  das  sich  nur  auf  Empirisches 
und  Relatives  bezieht,  weit  zurücksteht. 

An  diesem  letzteren,  äußerst  charakteristischen 
Punkte  der  Kantischen  Lehre,  dem  „Primat  der 
praktischen  Vernunft  vor  der  theoretischen"  ist 
Goethe  mit  ihm  völlig  einverstanden.  Unaufhör** 
lieh  betont  er,  wieHandeln  im  sittlichen  Sinne  unser 
erstes  Interesse  zu  bilden  habe.  Wie  er  es  als  der 
Weisheit  letzten  Schluß  erklärt,  daß  man  sich  das 
Leben  täglich  praktisch  erobere,  wie  er  den  Begriff 
des  Menschen  mit  dem  des  Kämpfers  identifiziert, 
so  erklärt  er,  daß  er  überhaupt  nur  handelnd 
denken  könne,  und  daß  ihm  alle  bloße  Belehrung 
direkt  verhaßt  wäre,  wenn  sie  nicht  zugleich  seine 
Tätigkeit  belebte.  Der  Primat  der  sittlich  **prak^ 
tischen  Tüchtigkeit  vor  aller  bloßen  Intellektua** 
lität  und  Theorie  steht  ihm  ebenso  fest  wie  Kant. 

73 


Für  ihre  ethische  Anschauung  bedeutet  dies 
die  gleiche  Übereinstimmung  wie  für  ihre  allge** 
meine  Weltanschauung  die  Überwindung  des 
oberflächlichen  Dualismus  der  inneren  und  der 
äußeren  Natur.  Aber  sogleich  trennen  sich,  hier 
wie  dort,  die  Wege  oberhalb  —  oder  unterhalb 
—  dieser  gleichsam  nur  punktuellen  Gemein^ 
samkeit.  Wie  für  Kant  das  Unerkennbare  des 
Daseins  ein  absolutes  Jenseits  ist,  von  allem 
Gegebenen  brückenlos  geschieden,  für  Goethe 
aber  nur  die  in  das  Mystische  sich  verlierende 
Tiefe  der  Anschauungswelt,  in  die  der  Weg  von 
dieser,  wenn  auch  unbeendbar,  so  doch  ohne 
Sprung  fährt  —  so  liegt  für  Kant  der  sittliche 
Wert  in  einer  dem  Wesen  nach  anderen  Welt, 
als  alles  andere  Dasein  und  seine  Bedeutungen, 
von  diesen  aus  nur  durch  eine  radikale  Wendung 
und  innere  „Revolution"  zu  erreichen.  In  der 
Goetheschen  Anschauung  aber  ist  der  sittliche 
Wert  mit  den  übrigen  Lebensinhalten  in  einer 
74 


einheitlichen,  kontinuierlich  aufsteigenden  Reihe 
verbunden,  und  sein  auch  für  ihn  unbezweifel*» 
barer  Primat  ist  jenen  gegenüber  der  Rang  des 
primus  inter  pares.  Jener  fundamentale  und  un*» 
versöhnliche  Wertunterschied  zwischen  der 
sinnlichen  und  der  vernünftigen  Seite  unseres 
Wesens,  auf  dem  die  ganze  Kantische  Ethik 
steht,  muß  Goethe  ein  Horror  sein  —  wie  über** 
haupt  sein  eigentlicher  Todfeind  der  christliche 
Dualismus  ist,  der  die  Sichtbarkeit  der  Welt  und 
ihren  Wert  auseinanderreißt.  Die  metaphysische 
Einheit  der  Lebenselemente  muß  sich  für  ihn 
praktisch  in  eine  Werteinheit  derselben  umsetzen. 
Daß  er,  wie  wir  sahen,  das  Innere  und  das  Äußere 
nicht  trennen  kann,  daß  er  statt  der  „oberen  und 
unteren  Seelenkräfte"  einen  gemeinsamen  MitteU 
punkt  des  psychischen  Daseins  fordert  —  das 
entstammt  doch  wohl  der  in  die  letzten  Tiefen 
seiner  Persönlichkeit  hineinreichenden  und  allem 
Beweisen  und  Widerlegen  unzugänglichen  Emp** 

75 


findung  einer  Gleichheit  und  Harmonie  aller 
unserer  Wesensseiten  in  bezug  auf  den  Wert,  den 
jede  besitzt.  Wie  für  ihn  in  der  anschaulichen 
Welt  nichts  so  klein,  flüchtig  oder  abseitsliegend 
ist,  daß  sich  nicht  seine  ganze  Aufmerksamkeit 
darauf  richten  könnte  und  dal)  es  ihm  nicht  zum 
Spiegel  ewiger  Gesetze,  zum  Repräsentanten  der 
Gesamtheit  des  Alls  würde,  so  läßt  es  in  der 
subjektiven  Welt  die  gewaltige  Einheit  seines 
Lebensgefühles  nicht  zu  einem  prinzipiellen  Wert- 
unterschiede seiner  einzelnen  Energien  kommen. 
Goethes  Existenz  wird  durch  das  glücklichste 
Gleichgewicht  der  drei  Richtungen  unserer  Kräfte 
charakterisiert,  deren  mannigfaltige  Proportionen 
die  Grundform  jedes  Lebens  abgeben:  der  auf« 
nehmenden,  der  verarbeitenden,  der  sich  äußern^ 
den.  In  diesem  dreifachen  Verhältnis  steht  der 
Mensch  zur  Welt:  zentripetale  Strömungen,  das 
Außere  dem  Inneren  vermittelnd,  führen  die 
Welt  als  Stoff  und  Anregung  in  ihn  ein,  zen- 
76 


trale  Bewegungen  formen  das  so  Erhaltene  zu 
einem  geistigen  Leben  und  lassen  das  Außere 
zu  einem  Ich  und  seinem  Besitz  werden,  zentri* 
fugale  Tätigkeiten  entladen  die  Kräfte  und  In* 
hafte  des  Ich  wieder  in  die  Welt  hinein.  Wahr* 
scheinlich  hat  dieses  dreiteilige  Lebensschema 
eine  unmittelbare  physiologische  Grundlage,  und 
der  seelischen  Wirklichkeit  seiner  harmonischen 
Erfüllung  entspricht  eine  gewisse  Verteilung  der 
Nervenkraft  auf  diese  drei  Wege  ihrer  Betäti* 
gung.  Beachtet  man  nun,  wie  sehr  das  Über* 
gewicht  eines  derselben  die  anderen  und  die  Ge* 
samtheit  des  Lebens  irritiert,  so  möchte  man  ihre 
wundervolle  Ausgeglichenheit  in  Goethes  Natur 
als  den  physisch^psychischen  Ausdruck  für  deren 
Schönheit  und  Kraft  ansehen.  Er  hat  innerlich 
sozusagen  niemals  vom  Kapital  gezehrt,  sondern 
seine  geistige  Tätigkeit  war  fortwährend  von 
der  rezeptiven  Hinwendung  zur  Wirklichkeit  und 
allem,  was  sie  bot,  genährt,-  seine  inneren  Be* 

77 


wegungen  haben  sich  nie  gegenseitig  aufgerieben, 
sondern  seine  ungeheure  Fähigkeit,  sich  nach 
außen  hin  handelnd  und  redend  auszudrücken, 
verschaffte  jeder  die  Entladung,  in  der  sie  sich 
völlig  ausleben  konnte:  in  diesem  Sinne  hat  er 
es  so  dankbar  hervorgehoben,  daß  ihm  ein  Gott 
gegeben  hat,  zu  sagen,  was  er  leidet.  So  könnte 
man  in  seiner  Denkrichtung  aussprechen:  wenn 
irgendeine  Lebensenergie  prinzipiell  einer  an** 
deren  untergeordnet  ist,  so  sei  sie  eben  dadurch, 
daß  sie  diese  ihr  zukommende  Stelle  ausfüllt,  ge* 
rade  so  wertvoll  wie  die  höhere,  die  auch  nichts 
kann,  als  ihre  Funktion  ausüben,  und  das  eben 
erst  im  Zusammenwirken  mit  der  ersterenkann,- 
so  daß  jene  antiaristokratische  Meinung  über 
die  annähernde  Gleichwertigkeit  der  Menschen 
—  vor  der  er  übrigens  selbstverständlich  im  Em** 
pirischen  und  nach  dem  einmal  rezipierten  Maß** 
Stab  den  Unterschied  zwischen  der  blöden  Menge 
und  den  großen  Menschen  nie  übersieht  ~*  ihre 
78 


Analogie  innerhalb  des  einzelnen  Menschen,  in 
Beziehung  auf  seine  Wesenselemente  findet. 
Wenn  ich  vorhin  die  Einheit  des  Inneren  und 
des  Äußeren,  des  Subjektiven  und  des  Objekt 
tiven,  des  Ideellen  und  des  Realen  als  die  Vor** 
aussetzung  der  künstlerischen  Weltanschauung 
hervorhob,  so  kommen  wir  hier  vielleicht  auf  die 
noch  tiefere  Fundamentierung  dieses  Funda^ 
ments,-  jenes  In^  und  Miteinander  der  Welt«* 
elemente  ist  doch  vielleicht  nur  der  Ausdruck, 
man  könnte  sagen:  die  metaphysische  Rechtfertig 
gung  ihrer  Wertgleichheit,  die  er  empfindet.  Das 
mag  auch  der  Grund  sein,  weshalb  das  antike Un^ 
verhülltsein  seiner  sinnlichen  Derbheiten  immer 
künstlerisch  wirkt,  weil  es  jene  Gleichberechti^ 
gung  der  Wesensseiten  aufs  schärfste  verdeut* 
licht,  die,  zu  einer  allgemeinen  Weltanschauung 
geformt,  die  Metaphysik  aller  Kunst  ausmacht. 

Indem  ihm  so  das  auf  das  eigene  und  sinnliche 
Glück  gerichtete  Ideal  mit  dem  Vernunftideal 

79 


eine  Einheit  bildet,  erhebt  er  sich  ganz  über  den 
Gegensatz  zwischen  eudämonistischer  und  ra* 
tionalistischer  Moral,  auf  dem  die  Kantische  Ethik 
ruht.  Vielen  Mißverständnissen  gegenüber  muß 
durchaus  betont  werden,  daß  seine  Fremdheit 
gegen  die  logische  Strenge  der  Vernunftethik  ab* 
solut  nicht  bedeutet,  er  habe  das  Leben  einem 
sinnlichen  und  Genußideal  Untertan  machen 
wollen.  Ja,  um  seinen  Abstand  hiervon  zu  be* 
greifen:  er  kann  es  direkt  aussprechen  <1818), 
es  sei  Kants  unsterbliches  Verdienst,  daß  er  die 
Moral  „dem  schwankenden  Kalkül  einer  bloßen 
Glückseligkeitsrheorie  entgegengestellt'7  und  sie 
in  ihrer  höchsten  übersinnlichen  Bedeutung  erfaßt 
habe.  Das  widerstreitet  gar  nicht  dem  Ausruf 
in  den  Lehrjahren:  „O  der  unnötigen  Strenge 
der  Moral,  da  die  Natur  uns  auf  ihre  liebliche 
Weise  zu  allem  bildet,  was  wir  sein  sollen/' 
Denn  die  Ubersinnlichkeit,  die  er  dort  meint,  ist 
eben  nicht  die  Kantische,  die  einerseits  eine  ex* 
80 


klusive  Vernunftherrschaft,  andrerseits  unsere 
Einstellung  in  eine  transszendente  Ordnung  der 
Dinge  bedeutet.  Goethes  Übersinnliches  will  hier 
nur  die  allumfassende  Natur  besagen,  die  freilidi 
ebensowenig  einseitige  Sinnlichkeit  ist  wie  ein* 
seitige  Vernünftigkeit.  Das  spricht  er  ganz  un* 
zweideutig  einige  Jahre  später  in  einem  Briefe 
an  Carlyle  aus:  „Einige  haben  den  Eigennutz 
als  Triebfeder  aller  sittlichen  Handlungen  an** 
genommen  /  andere  wollten  den  Trieb  nach  Wohl* 
behagen,  nadi  Glückseligkeit  als  einzig  wirksam 
finden,-  wieder  andere  setzten  das  apo* 
diktische  Pflichtgebot  obenan:  und  keine 
dieser  Voraussetzungen  konnte  allgemein  an* 
erkannt  werden,  man  mußte  es  zuletzt  am  ge* 
ratensten  finden,  aus  dem  ganzen  Komplex  der 
gesunden  menschlichen  Natur  das  Sittliche  sowie 
das  Schöne  zu  entwickeln,"  Die  eigentliche  Gr oß* 
artigkeit  des  Kantischen  Moralismus,  die  uns 
immer  wieder  über  seine  Verengerung  und  V er* 
6  81 


einseitigung  der  Wertsphären  tröstet,  hat  Goethe 
freilich  niemals  erfaßt.  Das  sittliche  Sollen  ist  für 
Kant  die  eine  Karte,  auf  die  der  ganze  Wert 
des  Lebens  gesetzt  ist,-  und  daran  mußte  Goethe 
vor  allem  die  ungeheure  Vergewaltigung  aller 
anderen  Lebensgebiete  fühlen.  „Alles  Sollen  ist 
despotisch/'  sagt  er,  und  ihm,  dem  aus  der  tiefen 
EinheitlichkeitdesSeinsdiegleichbereditigteFreU 
heit  all  seiner  Elemente  quoll,  erschien  dies  un<* 
erträglich,  weil  er  nicht  in  die  Tiefe  der  Kan** 
tiscfien  Lehre  drang,  in  der  dieses  Sollen  sich 
als  die  äußerste  und  unbedingte  Freiheit  des  Ich 
offenbarte.  Denn  den„Despotismus"  jenesSollens 
kann  nach  der  Kantischen  Deutung  weder  ein 
Gott  noch  ein  Staat,  weder  ein  Mensch  noch 
eine  Sitte  uns  auferlegen,  sondern  allein  wir 
selbst.  Die  ganze  Peripherie  des  Lebens  erscheint 
Kant  von  Mächten  mindestens  mitbestimmt,  die 
außerhalb  des  tiefsten  Ich  liegen,  und  nur  an 
dem  Punkte  der  sittlichen  Freiheit,  d.-  h.  an  dem 
82 


Gesetze,  das  wir  uns  selbst  auferlegen,  bricht 
dieses  hervor  —  in  unversöhnlichem  Gegen« 
satz  freilich  zu  dem  Künstler,  dem  alles  schein« 
bar  Äußerliche  der  Ort  für  die  Bewährung  seiner 
tiefsten  Persönlichkeitskräfte  ist 

Wenn  unsere  Natur  einheitlich  ist,  weil 
die  Natur  überhaupt  es  ist,  so  zeigt  sich  damit 
der  ethisch«praktische  Konflikt  nicht  nur  in  uns, 
sondern  auch  außerhalb  unser  als  nichtig.  Sie 
muß  das  Ich  und  seine  Interessen  mit  der  so« 
zialen  Gesamtheit  ebenso  versöhnen,  wie  die 
Sinnlichkeit  mit  der  Vernunft.  Daraus  erklärt 
sich,  daß  Goethe  den  eigentlich  sozialen  Pro« 
blemen  auch  in  ihren  allgemeinsten  Formen  ganz 
fremd  gegenübersteht.  Denn  immer  handelt  es 
sich  in  diesen  darum,  das  unzulängliche  oder 
verschobene  Gleichgewicht  zwischen  dem  Indi« 
viduum  und  seinem  sozialen  Kreise  herzustellen. 
Goethe  steht  hier  ganz  auf  dem  Boden  seiner 
Zeit,  die  von  dem  Einzelnen  als  Sozialwesen 

6-  83 


nur  zu  fordern  pflegte,  dal)  er  seine  persönliche 
Kraft  und  Einzelinteresse  ganz  individuell  be- 
währe. Völlig  im  Tone  des  landläufigen  Liberalis- 
mus bemerkt  er  gegen  die  Saint ^Simonisten, 
dal)  jeder  bei  sich  anfangen  und  zunächst  sein 
eigenes  Glück  machen  müsse,  woraus  denn 
zuletzt  das  Glück  des  Ganzen  unfehlbar  ent* 
stehen  werde.  Allein  ein  tiefstes  metaphysisches 
Motiv  liegt  dem  zugrunde.  „Glück"  versteht  er 
nicht  als  ein  isoliertes  Wohlbefinden  desMenschen, 
sondern  als  sein  harmonisches  Verhältnis  zum 
Ganzen  des  Seins,  mit  dem  allein  dieVollendet** 
heit  des  individuellen  Seins  zustande  kommt. 
„Wenn  man  mit  sich  selbst  einig  ist,"  sagt  er 
einmal,  „ist  man  es  auch  mit  andern."  Sein 
Gefühl  für  die  Einheit  des  Weltlebens  duldet 
es  nicht,  daß  zuhöchst,  definitiv,  die  Vollen** 
dung  einer  persönlidien  Existenz  der  Vollendung 
der  andern  widerspräche.  Darum  ist  es  allen* 
dings  unmöglich,  dal)  jemand  „Glück"  in  diesem 
84 


tiefen,  den  Umfang  des  Wesens  erfüllenden  Sinne, 
finde,  ohne  daß  der  Kreis,  der  für  ihn  die  Welt 
bedeutet,  die  gleiche  Entwicklung  erführe,  Diese 
vielleicht  allzuschnelle  Übertragung  eines  meta^ 
physischen  A1U  Gefühles  auf  empirische  Ver** 
hältnisse  wird,  wie  ich  glaube,  bei  ihm  durch  ein 
ästhetisches  Moment  ergänzt.  Er  verlangt  einmal 
vom  Künstler,  er  solle  „höchst  selbstsüchtig" 
verfahren,  nur  das  tun,  was  ihm  Freude  und 
Wert  ist  Für  die  Kunst  ist  dieser  Liberalismus 
auch  völlig  angebracht,  weil  hier  tatsächlich  ein 
Maximum  von  Gesamtwert  entsteht,  wenn  jeder 
Künstler  seinem  individuellen  Ideale  nachgeht,- 
und  weil  das  objektiv  Wertvolle  der  Kunst,  das 
j  enseits  des  Gegensatzes  von  Idi  und  Du  steht 
sich  dem  Künstler  allerdings  in  der  Form  eines 
persönlich  leidenschaftlichen  Begehrens  darstellt. 
Für  ästhetisch  angelegte  geringwertige  Naturen 
droht  hiermit  freilich  die  Gefahr  eines  Liberi 
tinismus,  der  die  ästhetischen  Werte  ausschliel)lidi 

85 


ihrer  subjektiven  Genußseite  wegen  kultiviert, 
unter  dem  Selbstbetrug,  dal)  sie,  als  ästhetische, 
an  sich  selbst  etwas  Überindividuelles,  objektiv 
Wertvolles  seien.  Solche  Tendenz  auf  den  Genuß 
als  das  Letztentscheidende  lag  Goethe  völlig 
fern,  wenn  er  das  egoistische  Prinzip  betonte. 
Er  war  sich  bewußt,  nur  seine  einheitliche  Pen» 
sönlichkeit  zu  entwickeln  —  und  dasselbe  von 
andern  zu  verlangen  —  die  freilich  eine  sub*» 
jektive  und  eine  objektive  Seite  hatte,-  wobei 
es  denn  sozusagen  nur  eine  technische  Frage 
war,  welche  von  beiden  gelegentlich  die  Führung 
übernahm.  Der  künstlerische,  der  Produktion 
objektiver  Werte  sich  bewußte  Egoismus  verhält 
sich  deshalb  durchaus  kühl  den  Aufgaben  gegen;* 
über,  die  aus  der  Spaltung  der  Individuen  hervor*» 
gehen  und  deren  Versöhnung  nun  gerade  durch 
.  den  Verzicht  aufallen  Egoismus  gewinnen  wollen. 
Statt  der  Versuche,  jenem  sozialen  Antagonist 
mus  der  Menschen  eine  bestimmte  Form  zu  geben 
86 


oder  ihn  zu  überwinden,  interessiert  Goethe 
vielmehr  das  „Allgemein *M  enschliche"  als  der 
unmittelbare  Ausdruck,sozusagen  als  die  mensch* 
licheForm  der  metaphysischen  Einheit  der  Natur,- 
die  menschliche  Natur  ist  ebensowenig  eigentlich 
zu  korrigieren,  sondern  nur  zu  entwickeln,  wie 
unsere  Theorie  sie  sich  nicht  durch  künstliche, 
ihr  Wesen  alterierende  Experimente,  sondern 
nur  durch  ruhige  Beobachtung  ihrer  freiwilligen 
Entfaltung  nahe  zu  bringen  habe.  „In  jedem 
Besonderen", so  hofft  er, „wird  man  durch Natio* 
nalität  und  Persönlichkeit  hindurch  jenes  A1U 
gemeine  immer  mehr  durchleuchten  sehen."  In 
ähnlicher  Gesinnung  hat  dann  Nietzsche,  trotz 
oder  wegen  des  leidenschaftlichen  Interesses  für 
den  Menschen  und  die  Gesamtentwicklung  der 
Menschheit,  eine  absolute  Gleichgültigkeit  gegen 
alle  sozialen  Fragen  an  den  Tag  gelegt.  Dagegen 
ist  für  den  Sozialforscher  oder  ^politiker  der 
Mensch  überhaupt  kein  Problem,  sondern  nur 

87 


die  Menschen.  Kants  Moralgesetz  ist,  wie 
Schleiermacher  sagte,  „nur  ein  politisches":  es 
gibt  die  präzise  und  erschöpfende  Formel  für 
denMenschen,  der  seinen  sozialen  Pflichten  gleidi** 
sam  von  Natur  feindlich  gegenübersteht  und 
ein  Verhalten  sudit,  mit  dem  dennodi  ein  Zu** 
sammenleben  aller  möglich  ist.  Der  äußere  wie 
der  innere  Dualismus  des  Menschen  bleibt  für 
Kant,  im  Praktischen  nicht  weniger  als  im  Theo*» 
retischen,  im  Vordergrund  des  Bewußtseins,  und 
seine  Lösung  ist  gleichsam  nur  eine  labile,  die  , 
mit  dem  Weiterbestand  des  Konflikts  rechnet. 
Wenn  Goethe  aber  es  als  sein  Ideal  bezeichnet, 
„eine  gewisse  sittlich^freisinnige  Übereinstim^ 
mung  durch  die  Welt  zu  verbreiten/'  so  ist 
die  Voraussetzung  dafür  die  Negation  eben  jener 
Scheidung  und  Entgegengesetztheit  zwischen 
Individuum  und  Gruppe  und  zwischen  Gruppen 
untereinander,  aus  der  die  sozialen  Probleme 
entspringen.  Das  kosmopolitische  Ideal  Goethes 
88 


ist  Ausdruck  und  Gegenbild  der  einheitlichen 
Menschennatur,  deren  Wesensseiten  sich  gleich^ 
berechtigt  durchdringen  und  so  sehr  der  Aus** 
druck  eines  metaphysischen  Sinnes  sind,  wie 
die  Elemente  der  menschlichen  Gesellsdiaft  und 
der  Welt  überhaupt. 

Da  nun  aber  die  Moral  in  dem  landläufigen 
Sinne  des  Wortes  sich  auf  jener  von  Kant  ak^ 
zeptierten  Spaltung  innerhalb  des  Menschen 
und  zwischen  den  Menschen  erhebt,  so  kann 
die  Goethesche  Weltanschauung  in  diesem 
Sinne  keine  moralische  heißen,-  selbstverständ^ 
lieh  ist  sie  darum  keine  unmoralische,  sondern 
steht  jenseits  dieses  Gegensatzes.  Da  die  Na«» 
tur  an  sidi  schon  Ort  und  Darstellung  der  Idee 
ist,  so  ist  das  Höchste,  wozu  Menschen  ge* 
langen,  der  Inhalt  der  höchsten  Forderung  an 
sie,  daß  sie  das,  was  die  Natur  in  sie  gelegt 
hat,  aufs  vollständigste  und  reinste  ausbilden. 
Das  Moralische  im  engeren  Sinne  ist  wohl 

89 


eine  Seite  davon,  aber  weil  es  eben  nur  eine 
Seite  ist,  kann  sie  gelegentlich  hinter  einer  an*» 
ders  gerichteten  zurücktreten  müssen,  wenn  da- 
durch eine  vollständigere  Entwicklung  der  Na- 
tur oder  der  Idee  der  Person  erreicht  wird.  Von 
Klopstock  sagt  er  einmal,  er  wäre,  „von  der 
sinnlichen  wie  von  der  sittlichen  Seite  betrachtet, 
ein  reiner  Jüngling"  gewesen.  Daß  er  so  die 
sinnliche  Reinheit  noch  von  der  sittlichen  unter- 
scheidet, zeigt  einen  Sittlichkeitsbegriff,  der  über 
die  Moral  im  engeren  Sinne  weit  hinausgeht: 
er  deutet  damit  an,  daß  die  sinnliche  Reinheit 
noch  lange  keine  sittliche,  vielleicht  sogar,  daß 
die  sittliche  noch  keine  sinnliche  zu  sein  braucht. 
So  sind  auch  seine  Vorstellungen  über  das  Ver- 
hältnis der  Geschlechter  oder  über  die  Taten 
Napoleons  oder  über  die  Verbindung  des  Ein- 
zelnen mit  seiner  Nation  sicher  den  gewöhn- 
lichen ethischen  Idealen  keineswegs  adäquat/  sie 
werden  eben  ganz  von  dem  darüber  gelegenen 
90 


Ideal  der  Natur  beherrscht:  dal)  der  Mensch  — 
so  könnte  man  In  Goethes  Sinne  sagen  —  seine 
Triebe  und  Anlagen  in  der  Art  und  mit  der 
Auswahl  zu  entwickeln  habe,  daß  ein  MaxU 
mum  von  Gesamtentwicklung  herauskommt. 
Da  das  Sein  und  der  Wert  nichts  Getrenntes 
sind  —  „am  Sein  erhalte  dich  beglückt!7'  —  so 
ist  die'  höchste  Steigerung  des  Seins  auch  die 
des  Wertes.  Ihren  tiefsten  Ausdruck  scheint 
mir  diese  übermoralische  Moral  in  dem  folgen** 
den  merkwürdigen  Satz  zu  gewinnen,  den  er 
sich  aus  antiker  Quelle  aneignet:  „Was  die 
Menschen  gesetzt  haben  (nämlich  als  Gesetze), 
das  will  nicht  passen,  es  mag  recht  oder  unrecht 
sein,-  was  aber  die  Götter  setzen,  das  ist  immer 
am  Platz,  recht  oder  unrecht."  Uber  den  Gegen** 
satz  von  Recht  und  Unrecht,  also  über  den  am 
Kriterium  der  Moral  entstandenen,  stellt  er  hier 
einen  höheren  Begriff:  das  „Passen",  d.  h.  die 
Fähigkeit  der  Einzelheit,  sich  in  den  letzten, 

91 


höchsten  Zusammenhang  und  Harmonie  der 
Dinge  einzustellen.  Hiermit  ist  aufs  entschied 
denste  bezeichnet,  wie  weit  er  über  den  Mora^ 
lismus  Kants  hinausgeht.  Kant  sieht  in  dem 
sittlichen  Menschen  den  Endzweck  der  Welt, 
den  alleinigen,  absoluten  Wert.  Der  sittliche 
Mensch  hat  für  ihn  etwas  Unendliches,  weil  er 
die  Lösung  eines  eigentlich  unlösbaren  Konflikts 
ist.  Diesen  fundamentalen  Zwiespalt  gibt  es  für 
Goethe  nicht.  Darum  kann  audi  die  Moral  nicht 
sein  Absolutes  und  Letztes  sein,  sondern  nur 
eines  der  Lebensprobleme  und  andern  koordU 
niert  —  während  sie  bei  Kant  die  schlechthin  ein*» 
zige  Stellung  einnimmt:  allein  aus  der  Welt  des 
Lebens  in  die  transszendente  hinaufzureidien,  in 
dem  der  Mens  ch  im  sittlichen  Handeln  alle  sinnlich** 
empirischen  Triebfedern  hinter  sich  läßt.  Während 
er  mit  Goethe  in  dem  negativen  Teile  derWerU 
frage  übereinstimmt,  und  beide  die  Glücksemp** 
findung  als  definitiven  Lebenswert  weit  von  sich 
92 


weisen,  bleibt  Kant  an  dem  Gegenteil  haften, 
indes  Goethe  sich  über  den  ganzen  Gegensatz 
erhebt  und  die  harmonische  Einheit  des  Seins,  in 
der  Glück  und  Unglück,  Sittlichkeit  und  Unsitte 
lichkeit  nur  einzelne  Momente  sind,  als  den 
letzten  Sinn,  das  absolute  Mal)  alles  Lebens  er* 
kennt  ~~  auch  dies  also  einer  der  Fälle,  in  denen 
die  Gleichheit  eines  erscheinenden  Resultates 
oder  eine  gemeinsame  Feindschaft  nicht  über  die 
Gegenrichtung  der  Quellen  täuschen  darf,  aus 
denen  diese  schließliche  Gleichheit  sich  speist.  Ich 
stehe  nicht  an,  jenen  angeführten  Satz  für  eine  der 
tiefsten  und  größten  Deutungen  vom  Sinn  des 
Daseins  zu  halten,-  er  läßt  uns  einen  fundamen* 
talen  Zusammenhang,  eine  gegenseitige  Be* 
ziehung  aller  Dinge  ahnen,  in  dem  die  Einheit  der 
Natur  besteht  oder  sich  offenbart  und  demgegen* 
über  es  ein  kleinlicher  Anthropomorphismus  ist, 
in  dem  zufälligen  Ausschnitt,  den  wir  als  Moral 
bezeichnen,  den  Höhepunkt  des  Seins  zu  erblicken. 

93 


Niemand  wird  die  Kraft  und  Größe  der 
Kantischen  Überzeugungen  leugnen  wollen,  daß 
nichts  innerhalb,  ja  außerhalb  der  Welt  denkbar 
wäre,  was  ohne  Einschränkung  gut  genannt 
werden  dürfe,  als  allein  ein  guter  Wille,-  daß 
aller  religiöse  Glaube  nur  als  Folge  und  als 
Forderung  der  Moral  ein  Recht  habe,-  daß, 
wenn  man  einen  Bndzweck  der  Natur  über* 
haupt  denken  wollte,  dies  nur  der  Mensch 
unter  moralischen  Gesetzen  sein  könne.  Dennoch 
ist  es  nicht  ohne  weiteres  abzuweisen,  daß  hierin 
vielleicht  ein  Größenwahn  des  Menschen  zum 
Durchbruch  kommt.  Man  mag  die  Würde  und 
Heiligkeit  der  sittlichen  Freiheit  und  der  Pflicht 
innerhalb  des  menschlichen  Seins  noch  so  hoch 
steigern,-  aber  daß  sie  über  dessen  Umkreis  hin* 
ausgreift,  um  das  metaphysische  Weltbild  zu 
dominieren  —  das  ist  eine  eigenartige  Über* 
Steigerung,  begreiflich  aus  einer  Philosophie  her* 
aus,  der  die  Welt  ein  Bewußtseinsinhalt  und 
94 


der  Verstand  der  Gesetzgeber  der  Natur  ist. 
Trotz  der  Verehrung,  die  Goethe  stets  für 
die  Kantische  Moral  ausgesprochen  hat  —  die 
übrigens,  soviel  ich  sehe,  immer  nur  ihrer  mensch*» 
lich^sittlichen.  Bedeutung,  nicht  ihrer  metaphysU 
sehen  gilt  ~,  müßte  ihm  diese  letztere  als  eine 
Unfrömmigkeit  und  Überhebung  gelten.  Denn 
es  hat  einen  ganz  anderen  Sinn,  wenn  auch 
Goethe  gelegentlich  den  Menschen  als  das  End** 
ziel  der  Welt  bezeichnet.  Nach  der  Schilderung 
eines  harmonisch  vollendeten  Menschen,  dessen 
„gesunde  Natur  als  ein  Ganzes  wirkt",  fährt 
er  fort:  „Dann  würde  das  Weltall,  wenn  es 
sich  empfinden  könnte,  als  an  sein  Ziel  gelangt, 
aufjauchzen  und  den  Gipfel  des  eignen  Wer*» 
dens  und  Wesens  bewundern.  Denn  wozu  dient 
all  der  Aufwand  von  Sonnen  und  Planeten,  von 
gewordenen  und  werdenden  Welten,  wenn  sich 
nicht  zuletzt  ein  glücklicher  Mensch  unbewußt 
seines  Daseins  erfreute?"  Offenbar  ist  die  Rieh** 

95 


tung  des  Wertgefühles  hier  die  umgekehrte  als 
bei  Kant.  Für  diesen  kommt  der  Wert  vom 
Menschen  her  über  die  Natur,  für  Goethe  aber 
von  der  Natur  her  über  den  Menschen,  dessen 
Vorzugstellung  gerade  nur  darauf  ruht,  daß  die 
Natur  sich  zu  ihm,  als  zu  ihrem  höchsten  Ge** 
bilde,  emporentwickelt  hat.  Daß  der  Mensch  als 
Endziel  der  Weltentwicklung  gilt,  setzt  ihn  bei 
Kant  allem  sonstigen  Dasein  gegenüber  und  in 
eine  absolute  Höhe,  deren  Schroffheit  nach  der 
Seite  der  Natur  hin  dadurch  keineswegs  ge^ 
mildert  wird,  daß  nicht  der  empirische  Mensch, 
sondern  nur  sozusagen  die  Idee  seiner  —  aber 
eben  doch  die  Idee  seiner  —  auf  ihr  thront. 
Und  dieses  selbe,  daß  der  Mensch  als  das  End** 
ziel  der  Weltentwicklung  gilt,  stellt  ihn  für 
Goethe  ganz  in  diese  Entwicklung  ein,  läßt  ihm 
aus  dem  Ganzen  des  natürlichen  Seins  den 
Wert  zufließen,  den  Kant  umgekehrt  diesem  Sein 
nur  als  eine  Art  ihm  innerlich  fremden  Abglanzes 
96 


mens chlich  vernünftiger  Würde  zu  gewinnen 
weil). 

Dal)  das  Handeln  des  Menschen  eine  Wert> 
bedeutung  hat,  die  den  bloß  theoretischen  Inhalt 
seines  Wesens  überragt,  daß  mit  jenem  sozu^ 
sagen  seine  Weltstellung  eine  tiefer  gegründete, 
in  die  letzten  Zusammenhänge  enger  verflocht 
tene  ist,  als  wenn  er,  als  Wissender,  ein  noch 
so  treuer  Spiegel  der  Wirklichkeit  wäre  —  das 
steht  mit  alledem  freilich  für  beide  Geister  fest. 
Allein  wenn  man  dies  den  „Primat  der  prak** 
tischen  Vernunft  vor  der  theoretischen"  nennen 
kann,  so  hat  dieser  Ausdruck  Kants  für  ihn 
einen  anderen  Sinn,  als  er  für  Goethe  haben 
kann.  Er  bedeutet  bei  Kant,  dal)  wir  aus  den 
ethischen  Interessen  heraus  einen  Glauben  an 
Gott,  an  unsere  Freiheit,  ja,  an  eine  Existenz 
nach  dem  Tode  gewinnen,  die  uns  als  Realie 
täten,  d.  h.  als  Gegenstände  des  Wissens  völlig 
versagt  sind.  Wie  uns  die  Sittlichkeit  schon  durch 
7  97 


die  Selbstlosigkeit  der  Pflicht  in  eine  übersinn** 
liehe  Ordnung  einstellt,  so  öffnet  sie  uns  durch 
den  moralischen  Glauben  den  Blick  in  ein  Reich 
der  Gerechtigkeit,  der  Ausgleichung  von  Tu* 
gend  und  Glückseligkeit,  das  nicht  von  dieser 
Welt  ist,  und  das  dem  auf  die  Erscheinungen 
der  Wirklichkeit  eingeschränkten  Wissen  ver* 
schlössen  ist.  Für  Goethe  aber  handelt  es  sich 
darum,  dal)  wir  mit  der  Tätigkeit  und  den  durch 
sie  realisierten  Werten  gerade  erst  unser  Ver* 
hältnis  zu  der  Gesamtheit  der  Welt  —  eben 
der  erscheinenden,  der  realen  —  ganz  vollziehen. 
Kants  Primat  der  praktischen  Vernunft  vor  der 
theoretischen  besiegelt  die  abgründige  Fremd* 
heit  zwischen  dem  sittlichen  Werte  unserer 
Existenz  und  der  Realität  des  Daseins,  indem 
nur  jener  uns  an  eine  Welt  der  Ideen,  des 
Seinsollenden,  des  Metaphysisch- Guten  rühren 
läßt,  an  die  alle  unsere  auf  Wirklichkeit  ge* 
richtete  Erkenntnis  nicht  heranreicht.  Von  der 
98 


ebenso  zu  benennenden  Uberzeugung  Goethes 
wird  umgekehrt  jene  Kluß  gerade  überbaut, 
weil  die  rechte  Wirksamkeit  des  Menschen  ihn 
in  die  Totalität  des  Daseins  einstellt,  in  der 
Sinnliches  und  Ubersinnliches,  Brfahrung  und 
Idee  eine  undurchbrochene  Einheit  bilden*  ) .  Wäh* 
rend  bei  Kant  die  Tat  des  Menschen  zwei  Seiten 
hat,  die  innere,  unserem  „Ding*  an*  sich"  an* 
gehörige,  und  die  äußere,  allein  wirklich  erkenn* 
bare,  und  damit  in  zwei  unversöhnten  Welten 
wohnt,  ist  für  Goethe  die  reine  Tätigkeit,  die 
im  Sichtbaren  verläuft  und  in  das  Empirische 
hineinwirkt,  eben  damit  die  Offenbarung  der 
Idee  des  Menschen,  mit  ihr  wird  unser  Sein  ein 
Element  und  eine  Kraft  innerhalb  der  Welt,  unser 
Letztes  und  Eigentlichstes  in  diese  einordnend, 

*>Ich  sehe  hier  von  gewissen  dualistisch  gestimmtenAußerungen 
Goethes,  namentlich  aus  seiner  Spätzeit,  ab,  da  es  sich  hier  nicht 
um  Goethes  Gesamterscheinung,  sondern  um  diejenigen  ihrer 
Seiten  handelt,  mit  denen  sich  eine  jedenfalls  in  sich  geschlossene 
Weltanschauung,  die  das  Gegenbild  der  Kantischen  bietet,  aufbaut. 

?•  99 


und  im  Maße  unsres  sittlichen  Wertes,  d,  h.  uns** 
rer  „Reinheit"  den  absoluten  Sinn  des  Seins  über** 
haupt  verwirklichend.  Das  Tun  hat  hier  den 
Primat  vor  dem  Erkennen,  weil  es  die  Welt  in 
ihrer  zugleich  physischen  und  metaphysischen 
Vollendung  bilden  hilft,  die  am  Erkennen  erst 
ein  nachträgliches  Abbild  gewinnt. 

Und  hier  kann  auch  darauf  hingedeutet  wer** 
den,  dal)  Goethes  Weltanschauung  in  letzter 
Instanz  nicht  nur  über  dem  Moralismus,  sondern 
auch  über  dem  Asthetizismus  stehen  dürfte. 
Gewiß  überragt  das  ästhetische  Motiv  bei  ihm 
an  Wirksamkeit  alle  in  dem  gleichen  Niveau 
stehenden,  und  man  kann  es,  wie  wir  es  getan 
haben,  überall  zur  Interpretation  seines  Stande 
punktes  benutzen  alle  Einzelheiten  führen  dar- 
auf wie  auf  ihren  Schnittpunkt  hin.  Allein  den* 
noch  liegt  unterhalb  seiner  eine  noch  tiefere,  so* 
zusagen  elementarere  Beschaffenheit,  sein  eigent* 
liebstes  Sein,  von  dem  auch  das  künstlerische 
100 


Motiv  nur  die  Erscheinung  und  Darstellung 
in  empirischem  Material  ist.  Wenn  sich  nämlich 
das  Goethesche  Existenzbild  so  darbietet,  dal) 
die  Identität  von  Natur  und  Geist,  das  pan^ 
theistische  Eins  in  Allem,  Alles  in  Einem 
als  Konsequenz  seiner  ästhetischen  Grundten^ 
denz  auftritt,  so  kann  sehr  wohl  im  letzten  Fun** 
damente  der  Zusammenhang  der  umgekehrte 
sein :  die  tiefste  Schicht  seiner  Natur,  jenes  ganz 
Primäre  und  Absolute,  in  dem  alles  eigentlich 
Benennbare  des  Wesens  erst  wurzelt,  mag  eben 
ein  Gefühl  von  dem  elementaren  und  ihn  selbst 
einschließenden  Zusammenhang  alles  Seins  ge*» 
wesen  sein.  Mehr  als  irgend  jemand,  von  dem  wir 
wissen  —  auch  Spinoza  nicht  ausgeschlossen  T-, 
scheint  jene  geheimnisvolle  Einheit  aller  Exi** 
Stenz,  an  der  die  Philosophie  von  jeher  herum** 
getastet  hat,  in  ihm  den  Inhalt  des  Lebensgefühls 
selbst  ausgemacht  zu  haben.  Gerade  wie  man 
von  religiös  begeisterten  Menschen  sagt,  dal)  der 

101 


Gott  in  ihnen  lebt,  so  war  offenbar  in  seinem 
subjektiven  Existenzgefühl  dasjenige  lebendig, 
was  man,  um  irgendeinen  Ausdruck  dafür  zu 
haben,  nur  die  metaphysische  Einheit  der  Dinge 
nennen  kann,-  ja,  daß  sie  so  in  ihm  lebt,  das  machte 
ihn  eben  aus,  das  war  es.  Dieser  Bestimmtheit 
seines  Seins  überhaupt  gegenüber,  die  sich  im 
Selbstbewußtsein  erst  spiegelt,  erscheint  seine 
künstlerische  Anschauung  und  Betätigung  doch 
nur  als  das  Verhältnis,  das  eine  so  qualifizierte 
Natur  zu  der  besonderen  Richtung  ihrer  Talente, 
zu  ihrer  kulturell  und  historisch  bestimmten  Um* 
gebung,  zu  äußeren  Anregungen  und  Wirkungs** 
möglichkeiten  gewinnt,  als  ein  Ausdruck 
seines  eigentlichen  Wesens,  aber  nicht  als  das 
Wesen  selbst.  Als  Existenz  überhaupt,  gleichsam 
als  Substanz,  mit  der  er  in  die  Formen  und  Be* 
wegungen  der  Welt  eintritt,  steht  er  jenseits  des 
Ästhetischen,  das  sich  vielmehr  erst  im  Zu*» 
sammenschlage  jener  mit  diesen  Formen  und 
102 


Bewegungen  ergab  und  sein  empirisches  Bild 
gestaltete.  Diese  letztinstanzliche  Bedeutsamkeit 
des  Lebens,  auf  die  man  schließlich  nur  von  einer 
unüberwindlichen  Distanz  her  hinzeigen,  die  man 
aber  nie  mit  unzweideutigen  Begriffen  ergreifen 
kann,  muß  der  merkwürdigen  Äußerung  zu** 
gründe  liegen,  die  er  zu  Eckermann  tut,  als  von 
seiner  Theaterleitung  und  den  vielen,  für  sein 
künstlerisches  Schaffen  dadurch  verlorenen  Jahren 
die  Rede  ist.  Im  Grunde  gereue  ihn  dieser  Ver* 
lust  doch  nicht,  sagt  er.  „Ich  habe  all  mein  Wir** 
kenundLeisten  immer  nur  symbolisch  angesehen, 
und  es  ist  mir  im  Grunde  ziemlich  gleichgültig 
gewesen,  ob  ich  Töpfe  machte  oder  Schüsseln." 
So  erscheint  ihm  selbst  also  sein  künstlerisches 
Tun  als  ein  bloßes  Sich* Ausprägen,  Sich^Um* 
setzen  einer  tiefer  gelegenen  Realität,  statt  dieses 
Letzte,  eigentlich  Wirkliche  und  Wirksame  selbst 
zu  sein.  Von  hier  aus  verstehen  wir  nun  noch 
gründlicher  sein  fortwährendes  Drängen  auf 

103 


praktische  Betätigung,  sein  Fühlen  und  Werten 
seiner  selbst  als  handelnden  Wesens.  Denn  das 
Handeln  ist  die  Form,  durch  die  jener  absolute 
Urgrund  des  persönlichen  Seins  in  die  sichtbare 
Wirklichkeit  tritt  und  die  deshalb  im  allerum- 
fassendsten  Sinn  die  Einheit  des  Subjektiven 
und  Objektiven  ausmacht,  das  in  der  bloßen 
Theorie  getrennt,  einander  gegenübergestellt 
erscheint. 

Wenn  für  ihn  nach  alledem  die  Aufgabe  des 
Menschen  nur  ist,  seine  Kräfte  bis  zum  vollen 
Ausschöpfen  aller  Möglichkeiten  zu  entwickeln, 
damit  gleichsam  die  Natur  in  ihm  zu  ihrem  vollen 
Sinn  komme,  so  zeigt  doch  jeder  Blick  auf  das 
empirische  Leben,  daß  es  die  Zeit  und  die  Be*» 
dingungen  zu  einer  so  vollständigen  Entwicklung 
nur  sehr  wenigen,  vielleicht  niemandem  gewährt. 
In  Wirklichkeit  ist  dies  eine  der  großen  Menschen** 
tragödien,  daß  die  menschlichen  Kräfte  sich  in 
menschlichen  Verhältnissen  nicht  vollkommen 
104 


ausleben  und  entfalten  können.  Was  als  Be* 
gabung,  als  Spannkraft  in  uns  lebt  —  ganz  ab** 
gesehen  von  Velleitäten  könnte  nur  durch  den 
merkwürdigsten  Zufall  die  Möglichkeit  restloser 
Bewährung  finden /  es  fehlt  hier,  sichtbarer  als 
sonstwo,  die  vorbestimmte  Harmonie  oder  die 
nachbestimmende  Anpassung.  Und  es  handelt 
sich  nicht  nur  darum,  dal)  das  vollendete  Werk 
Befriedigung  auf  uns  zurückstrahle,  sondern  um 
diejenige  eigentlich  unerläßliche  Genugtuung,  die 
in  der  Lösung  der  gespannten  Kräfte,  in  der 
Funktion,  die  unser  Können  ganz  zum  Ausdruck 
bringt,  gelegen  ist.  Wo  diese  Inkommensurabilität 
zu  vollem  Bewußtsein  gelangt,  muß  der  Mensch 
untergehen.  Das  drückt  Faust  aus,-  bliebe  er  in 
seinen  ursprünglichen  empirischen  Verhältnissen, 
so  würde  er  sich  verzehren,  die  unentfalteten 
Kräfte  würden  ihn  töten.  Das  Bündnis  mit  Me** 
phisto,  die  Herstellung  seines  Lebenswerkes 
durch  dämonische  Kräfte  ist  nur  die  positive 

105 


Wendung  davon:  überempirische  Verhältnisse 
müssen  herbeigerufen  werden,  um  die  Ent> 
wicklung  der  Kräfte  zu  ermöglichen.  Aus  der 
Forderung  an  die  Natur,  daß  es  bei  diesem 
Widerspruch  nicht  sein  Bewenden  haben  könnte, 
entspringt  die  Äußerung  zu  Eckermann  über 
die  Unsterblichkeit:  „Wenn  ich  bis  an  mein  Ende 
rastlos  wirke,  so  ist  die  Natur  verpflichtet,  mir 
eine  andere  Form  des  Daseins  anzuweisen,  wenn 
die  jetzige  meinem  Geist  nidit  ferner  auszuhalten 
vermag."  Und  eine  spätere  Bemerkung  betont 
nochmals  den  besonderen  Sinn  und  Grund  dieser 
Unsterblichkeit:  wir  seien  zwar  unsterblich,  aber 
doch  nicht  alle  „auf  gleiche  Weise",-  vielmehr  nur 
nach  dem  Maße  der  Kraft,  die  wir  einzusetzen 
und  auszuleben  haben. 

Es  ist  nun  sehr  merkwürdig,  wie  auch  an 
diesem  Punkt  Kantische  Argumente  eine  äußere 
Ähnlichkeit  mit  den  Goetheschen  zeigen,  bei  vöU 
liger  Divergenz  der  grundlegenden  Gesinnung. 
106 


Kant  stellte  fest,  daß  wir,  als  endliche  und  natura 
liehe  Wesen,  den  Trieb  nach  Glückseligkeit  als 
eine  nicht  zu  leugnende  und  nicht  zu  beseitigende 
Tatsache  in  uns  finden,  gerade  wie  als  moralisdie 
Wesen  die  Forderung  des  Sittengesetzes.  Über 
diesen  beiden  Tatsachen  erhebt  sich  das  Verlangen 
nach  ihrer  Harmonie:  die  Weltordnung  wäre  nichts 
als  eine  große  Dissonanz,  wenn  nicht  das  Mal) 
des  genossenen  Glücks  dem  Mal)  der  sittlichen 
Vollendung  entspräche.  Tatsächlich  aber  ist  diese 
Proportion  im  irdischen  Leben  nicht  vorhanden,- 
zwischen  Sittlichkeit  und  Glückseligkeit  zeigt  die 
Erfahrung  keinerlei  gerechtes  und  harmonisches 
Verhältnis.  Da  man  aber  bei  dieser  Unerträglich** 
keit  schledithin  nicht  Halt  machen  und  sie  nicht 
der  Ordnung  der  Dinge  als  ein  Endgültiges 
aufbürden  kann,  so  postuliert  Kant  die  Un^ 
Sterblichkeit  der  Seele,  weil  diese  nur  in  einem 
Jenseits  und  durch  den  Maditwillen  eines  Gottes 
ihre  Vollendung:  die  Harmonie  ihres  sittlichen 

107 


und  ihres  eudämonistischen  Seins  finden  kann. 
Es  ist  also  sozusagen  das  gleiche  Schema,  in 
dem  sich  die  Kantische  und  die  Goethesche  Un* 
Sterblichkeitslehre  vollzieht/  beide  finden  gewisse 
Forderungen  in  der  Wirklichkeit  des  mensch* 
liehen  Wesens  unmittelbar  angelegt,  zu  deren 
Erfüllung  es  unter  den  empirischen  Verhältnissen 
nicht  kommen  kann,-  da  sie  aber  bei  diesem 
Widerspruch  nicht  stehen  bleiben  können,  so 
beanspruchen  sie  von  der  Ordnung  der  Dinge, 
das  Versprechen,  das  sie  mit  der  Organisation 
unseres  Wesens  gegeben  hat,  wenigstens  in  einem 
Jenseits  einzulösen.  Nun  aber  zeigt  sich  sofort 
die  tiefe  Unterschiedenheit  der  Weltbilder:  für 
Goethe  könnte  die  Natur  nichts  so  Sinnloses 
tun,  als  uns  Kräfte  zu  verleihen,  denen  sie  die 
Entwicklung  abschneidet,-  für  Kant  könnte  sie 
nichts  so  Unmoralisches  tun,  als  der  Sittlichkeit 
ihr  Äquivalent  vorzuenthalten.  Kant  fordert  die 
Unsterblichkeit,  weil  die  empirische  Entwicklung 
108 


des  Menschen  einer  Idee  nicht  genügt,  Goethe, 
weil  sie  den  wirklich  vorhandenen  Kräften  nicht 
genügt,-  Kant,  weil  die  an  sich  getrennten  Ele* 
mente,  Sittlichkeit  und  Glückseligkeit,  doch  eine 
Binheit  gewinnen  müßten,  Goethe,  weil  der 
ganze  einheitliche  Mensch  doch  das  in  Wirk* 
lichkeit  werden  müßte,  was  er  der  Möglichkeit 
nach  von  vornherein  sei.  Man  erkennt  auch  hier, 
daß  Kant  die  Elemente  des  menschlichen  Wesens 
außerordentlich  weit  auseinander  treibt,  so  daß 
sie  nur  in  ganz  fernen  und  neuen  Dimensionen 
und  Ordnungen  sidi  wieder  zusammenfinden 
können,  während  diese  Einheit  für  Goethe  in 
unserer  unmittelbaren  Wirklidikeit  gegeben  ist 
und  es  sich  sogar  in  der  Unsterblichkeitsfrage 
nur  um  eine  konsequente  Weiterentwicklung 
schon  gegebener  Richtungen  handelt.  Der  Über* 
gang  der  Seele  von  dem  irdischen  in  den  trans* 
szendenten  Zustand  ist  für  Kant  der  radikalste, 
für  den  sein  Denken  Raum  hat,  für  Goethe 

109 


ein  Fortschreiten  in  umgeänderter  Richtung,  ein 
bloßes  Freiwerden  vorhandener  Energien.  Auch 
dieser  vorgeschobenste  Posten  der  beiden  Welt* 
anschauungen  spiegelt  ebenso  den  Rhythmus 
des  Kantischen  Wesens,  das  die  Momente  des 
Seins  untereinander  und  von  ihrem  Wert  schei* 
det,  um  sie  erst  oberhalb  oder  unterhalb  der 
Wirklichkeit  wieder  zu  versöhnen,  wie  den  des 
Goetheschen,  für  den  das  Sein  in  sich  und  mit 
seinem  Wert  von  vornherein  ein  einheitliches  ist. 
Hier  wie  überall  ist  das  Schema  ihrer  Diver* 
genzen  dies,  dal)  Kant  der  Entwicklung  eines 
analytischen  Zustandes,  Goethe  der  eines  syn* 
thetischen  —  genauer :  eines  noch  vor  dem  Gegen* 
satz  von  Analyse  und  Synthese  gelegenen  ~ 
nachgeht.  Goethe  steht  mit  dem  gesteigertsten 
Bewußtsein  und  der  vertieftesten  Begründung 
auf  dem  Boden  undifferenzierter  Einheitlichkeit, 
die  der  Ausgangspunkt  aller  geistigen  Bewe* 
gungen  gewesen  ist.  Kant  akzentuiert  die  Zwei* 
110 


heit,  in  die  diese  auseinandergegangen  ist;  gegen« 
über  jenem  sozusagen  paradiesischen  Zustand 
hat  bei  ihm  das  scientes  bonum  et  malum  die 
äußerste  Schärfe  erlangt,  die  Einheit,  die  er  ge^ 
winnt,  trägt  die  Spuren  der  Entzweiung,  die 
Nähte  sind  nicht  völlig  verwachsen*). 

Aber  eben  jener  Flug  an  ein  äußerstes  Ziel 
des  Betrachtens  und  Empfindens  der  Welt  hat 
Goethe  über  so  manche  Stationen  sich  hinweg* 
setzen  lassen,  die  das  langsame  geschichtliche 
Vorschreiten  nicht  übergehen  kann,-  so  mögen 
auf  dem  Zickzackweg  der  Geistesentwicklung 
Strecken  kommen,  die  der  Richtung  des  Goethe* 
sehen  Weges,  selbst  wenn  diese  die  definitive 
und  objektiv  richtige  wäre,  direkt  entgegenlaufen. 
Und  so  stand  es  in  der  Wissenschaft  der  letzten 
hundert  Jahre.  Denn  diese  will  —  oder  wollte 

•>  Die  ausführlichere  Entwicklung  dieses  wie  anderer  hier 
berührter  Motive  findet  sich  in  meinen  Büchern :  Kant,  3.  Aufl. 
1913,  und:  Goethe,  1913. 

111 


wenigstens  —  wirklich  der  Natur  ihre  Geheim* 
nisse  mit  Hebeln  und  mit  Schrauben  abzwingen,- 
sie  will  wirklich  das  Wahrheitsinteresse  davon 
ganz  unabhängig  machen,  ob  es  die  Schönheit  der 
Erscheinung  zerstört  oder  nicht,-  sie  will  wirk* 
lieh  nicht  von  einer  Idee  des  Ganzen,  sondern 
von  möglichst  atomisierten  Elementen  ihren 
Ausgang  nehmen,-  sie  sieht  wirklich  den  seelen* 
losen  Mechanismus  zweckfremder  Stoffe  und 
Kräfte  als  einziges  Konstruktionsprinzip  des 
Naturbildes  an,-  ihr  liegt  aller  Sinn,  alle  über* 
mechanische  Bedeutung  derselben  hinter  der 
Erscheinung,  in  dem  Reich  des  Intelligiblen,  das 
in  das  der  Sichtbarkeit  und  Erfahrung  nie  und 
nirgends  hineinreiche,-  sie  hat  weder  im  Theo* 
retischen  noch  im  Ethischen  jenes  Zutrauen 
zu  dem  unmittelbar  harmonischen  Verhältnis 
zwischen  der  Natur  und  unseren  Idealen.  In 
alledem  ist  dagegen  Kant  der  Mitbegründer 
und  Genosse  des  modernen  wissenschaftlichen 
112 


Geistes,-  er,  der  einerseits  in  allem  Wissen  nur 
so  viel  wirkliche  Wissenschaft  sah,  wie  Mathe** 
matik  darin  ist,  und  der  andrerseits  die  Gültig* 
keit  der  Mathematik  auf  unsere  Anschauungsart 
beschränkte  und  Erkennbarkeit  allem  absprach, 
was  nicht  unmittelbar  erscheinen  kann,-  er,  der 
den  Geist  und  Zweck  in  der  Natur  für  eine 
bloße  „subjektive  Maxime"  ihrer  Beurteilung 
erklärte,  die  ihr  eigenes  Sein  gar  nicht  berühre/ 
er,  der  das  Auseinanderklaffen  unserer  tiefsten 
Wesensbedürfnisse  mit  erbarmungsloser  Schärfe 
erkannte,  um  dem  Verlangen  nach  ihrer  Har* 
monie  schließlich  das  Almosen  eines  transszen* 
dierenden  Glaubens  zu  gewähren.  Wir  können 
uns  nicht  verhehlen,  daß  die  Gleichung  zwischen 
diesen  beiden  Weltanschauungen  noch  nicht  ge* 
fanden  ist,  so  sicher  erst  mit  ihr  alles  erfüllt 
wäre,  was  wir  von  unserem  geistigen  Verhält* 
nis  zur  Welt  begehren.  Vielleicht  aber  ist  es 
irrig,  nach  einem  stabilen  Gleichgewicht  beider 
8  113 


zu  suchen,-  vielleicht  ist  es  der  eigentliche  Rhyth* 
mus  und  Formel  des  modernen  Lebens,  daß  die 
Grenzlinie  zwischen  der  mechanistischen  und 
der  Goetheschen  Auffassung  der  Welt  —  mag 
man  sie  metaphysisch,  künstlerich  oder  vita- 
listisch nennen  —  in  fortwährender  Verschiebung 
bleibe,  so  dal)  die  Bewegung  zwischen  ihnen, 
der  Wechsel  ihrer  Ansprüche  auf  das  Einzelne, 
die  Entwicklung  ihrer  Gegenwirkungen  ins  Un* 
endliche  dem  Leben  den  Reiz  gewährt,  den  wir 
von  der  unauffindbaren  definitiven  Entscheid 
dung  zwischen  ihnen  erhofften. 

Dies  erscheint  freilich  als  Epigonentum,  wenn 
auch  zugleich  als  Ausnutzung  der  Gunst,  die 
die  Natur  der  Sache  den  Epigonen  gewährt: 
dal)  sie,  wenn  ihnen  die  Größe  der  Einseitig* 
keit  mangelt,  dafür  der  Einseitigkeit  der  Größe 
entgehen.  Vielleicht  aber  ist  es  doch  noch  mehr. 
Denn  zunächst  handelt  es  sich  nicht  um  ein 
willkürliches  Schwanken  zwischen  dem  mecha- 
114 


nistischen  und  dem  künstlerische  vitalistischen 
Prinzip,  sondern  um  die  Anwendung  des  einen 
und  des  anderen  auf  getrennte  Problemgruppen. 
Hier  fehlt  freilich  das  einheitliche  Definitivum  — 
aber  die  Notwendigkeit  eines  solchen,  ent* 
gegen  einer  auch  in  den  Prinzipien  pluralisti* 
sehen  Anschauungsweise,  ist  ein  bloßes  Dogma,- 
und  dieses  selbst  zugegeben,  könnte  die  Einheit 
noch  immer  ein  für  uns  im  Unendlichen  liegen** 
des  Ziel  sein,  eines,  das  nicht  prinzipiell,  son* 
dem  nur  tatsächlich  für  uns  unerreichbar  ist. 
Allein  der  Kampf  und  die  Alternierung  zwischen 
den  beiden  Weltauffassungen  fände  noch  tiefere 
Begründung,  wenn  man  gewissen  letzten  Inten* 
tionen  der  Philosophie  nachginge,  die  den  Be* 
griff  des  Lebens  in  das  metaphysische  Zentrum 
rücken.  Denn  nun  könnte  die  wechselnde  Zu* 
wendung  zu  dem  einen  und  dem  anderen  Mo* 
tiv  unmittelbar  der  Pulsierung  des  Lebens  über* 
haupt  entsprechen,  seinem  überall  bewährten 

115 


Rhythmus,  dessen  einfachstes  Zeichen  das  Bin** 
und  Ausatmen  ist/  oder  der  Kampf  zwischen 
beiden  offenbarte  den  kämpferischen  Charakter 
aller  Lebensbewegtheit,  die  unvermeidliche  Par*» 
teiung,  die  deren  äußere  wie  innere  Form  ist/ 
aber  auch  ohne  eigentlichen  Kampf  sei  es  das 
Wesen  des  Lebens,  den  Widerspruch  gegen  den 
Inhalt  jedes  Momentes  zu  erzeugen,  jedes  Ge** 
setzte  durch  seinen  Gegensatz  und  diesen  wieder 
durch  jenes  zu  ergänzen.  Was  man  die  Einheit 
beider  nennen  könnte,  liege  dann  in  dem  Leben 
das  sie  gebiert  und  erlebt,  eine  Einheit,  die  ihrer 
Gegensätzlichkeit  nicht  das  geringste  abträgt, 
sondern  gerade  an  dieser  sich  vollzieht.  Ein 
Kompromiß,  ein  Halb**  und  Halbtum  zwischen 
ihnen,  das  die  Einheit  wieder  in  die  Sachgehalte, 
statt  in  deren  Erleben  legte,  wäre  gerade  damit 
beseitigt.  Für  die  Weltanschauung  der  jetzt 
wohl  abgeschlossenen  Geistesperiode  bleibt  der 
Besitz,  den  wir  an  den  Parteien  haben,  an  die 
116 


Formel  gebunden:  Kant  oder  Goethe!  Die 
kommende  Epoche  aber  wird  vielleicht  im  Zei* 
chen  von  Kant  und  Goethe  stehen,  jede  flaue 
Vermittlung  zwischen  ihnen  ablehnend,  ihre  be** 
grifflichen  Gegensätze  nkht  „versöhnend",  aber 
sie  durch  die  Tatsache  ihres  Brlebtwerdens  ver^ 
neinend. 


117 


KURT  WOLFF  VERLAG  /  LEIPZIG 


REMBRANDT 


Ein  kunstphilosophisdher  Versuch 


3.  —  5.  Tausend 


IESER  kunstphilosophische  Versuch  ist 


-L^  ein  Meisterwerk,  weil  selbst  seine  kühnsten 
Abstraktionen  sich  stets  in  innigster  Nähe  des 
Kunstwerkes  selber  vollziehen,  da  sie  sich  nie** 
mals  auf  eine  abgeleitete  Theorie,  sondern  stets 
auf  den  beweglichen  und  bewegenden  Ursprung 
des  gegenwärtigen  Erlebnisses  gründen. 


von 


GEORG  SIMMEL 


{Leipziger  Tageblatt.) 


GEDRUCKT  BEI 
POESCHEL  <&>  TREPTE 
IN  LEIPZIG 


CD 
C\2 


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